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Werner Skolaut Hrsg.

Maschinenbau
Ein Lehrbuch
für das ganze Bachelor-Studium
2. Auflage
Maschinenbau
TUNAP INDUSTRY

SPEZIALSCHMIERSTOFFE FÜR IHRE


INDUSTRIE UND ANWENDUNG

BERATUNG, ENTWICKLUNG UND PRODUKTION AUS EINER HAND

TUNAP steht seit mehr als 40 Jahre für Leidenschaft und Kompetenz im Bereich
chemischer Produkte. Als Spezialist für chemisch-technische Anwendungen liegen
unsere Stärken insbesondere im Bereich der Schmierfette, -öle und -pasten sowie
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TUNAP Chemie, die bewegt. www.tunap.com
Werner Skolaut
(Hrsg.)

Maschinenbau
Ein Lehrbuch für das ganze
Bachelor-Studium

2., aktualisierte und überarbeitete Auflage


Herausgeber
Werner Skolaut
Heidelberg, Deutschland

Bonusmaterial und Aufgaben mit ausführlichen Lösungen finden Sie unter


http://www.springer.com/springer+vieweg/maschinenbau/book/978-3-662-55881-2

ISBN 978-3-662-55881-2 ISBN 978-3-662-55882-9 (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9

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Redaktion: Bernhard Gerl


Einbandabbildung: © JustContributor – Fotolia.com
Zeichnungen: Günther Hippmann, Wolfgang Zettlmeier, Valentina Ansel
Einbandentwurf: eStudio Calamar
Fotos: siehe Abbildungsnachweis

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

Springer Vieweg ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer
Nature.
Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Geleitwort

Der Maschinenbau – mit allen seine Branchen und Technologien – ist für die Bundesrepublik
Deutschland Wirtschaftsmotor Nummer eins. Der Erfolg der Firmen, ob Klein-, Mittel- oder
Großunternehmen, wird Jahr für Jahr an den Exportzahlen und dem Exportüberschuss, den
Deutschland dadurch erwirtschaftet, jedem deutlich.
Die Position im internationalen Wettbewerb, die besonders durch die Leistungen des In-
genieurfachpersonals in den Unternehmen erreicht wurde, muss für die Zukunft gesichert
werden. Dieses Ziel lässt sich am besten und vorausschauend realisieren, besonders auch
mit einem hohen Wirkungsgrad und überschaubaren Investitionsleistungen, wenn die Inge-
nieursausbildung weiterhin auf höchstem Niveau erfolgt.
Die Umstellung an den Hochschulen auf Bachelor- und Masterabschluss hat der Qualität
der Ausbildung aufgrund des Verantwortungsbewusstseins der Lehrenden gegenüber den
Studierenden und deren beruflicher Zukunft bisher keinen messbaren Schaden zugefügt.
Dieser Umstand ist auch dem Angebot an begleitendem Lehrmaterial geschuldet.
Normen, VDI-Richtlinien und die studienbegleitenden Lehrbücher werden für die Studie-
renden inhaltlich abgestimmt und kontinuierlich mit neuestem Fachwissen erweitert, so
dass die Absolventinnen und Absolventen der technischen Ausbildungsberufe, Ingenieur-
akademien und Hochschulen sich den neuesten Technologiestand in Kombination mit den
jeweiligen Lehreinheiten aneignen können.
Das vorliegende Springer Lehrbuch Maschinenbau bietet den Studierenden eine hervorra-
gende Möglichkeit, sich Wissen eigenständig zu erarbeiten, erlerntes Wissen zu vertie-
fen bzw. studienbegleitend in Übungen und Seminaren anzuwenden. Darüber hinaus ist
der erläuternde Text in Verbindung mit den vielfältigen, sehr eindrucksvoll dargestellten
Konstruktions- und Berechnungsbeispielen für eine Auffrischung der Thematiken des Ma-
schinenbaus sehr hilfreich. In Kombination, z. B. mit dem DUBBEL – Taschenbuch für den
Maschinenbau oder der grundlagenorientierten HÜTTE – beide ebenfalls aus dem Springer
Verlag – wird den Lesern der umfassende, gefestigte und wissenschaftlich nachgewiesene
Technologiestand geboten.
Von den Autoren des Springer-Lehrbuchs Maschinenbau ist unter der Leitung des Heraus-
gebers eine eindrucksvolle Studienliteratur in der nun vorliegenden 2. aktualisierten und
überarbeiteten Auflage erarbeitet worden, die sich in die oben genannte Zielsetzung des
deutschen Maschinenbaus, die Technologieführerschaft für Deutschland zu sichern, nahtlos
und überzeugend einbringt.

Magdeburg, 12. September 2017

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Karl-Heinrich Grote


Mitherausgeber des DUBBEL – Taschenbuch für den Maschinenbau

V
Vorwort zur zweiten Auflage

In der vorliegenden aktuellen 2. Auflage des Lehrbuches wurden alle Kapitel von den
Autoren überarbeitet, aktualisiert und, da wo notwendig, erweitert. Ermuntert durch die
zahlreichen positiven Reaktionen der Rezensenten wurde das didaktische Konzept mit Leit-
beispiel, Vertiefungen, gerechneten Aufgaben, Anwendungsbeispielen und Übersichten in
Kästen vom Text abgegrenzt und mit verschiedenen Farben verdeutlicht, festgehalten. Die
Stilelemente mit den Farben blau für Beispiele, violett für vertiefende Darstellungen und
gelb für Übersichten sowie die gelb unterlegten Merksätze sind geblieben. Verständnisfragen
im Text sind weiterhin zur Selbstkontrolle des Gelernten vorhanden. Erweitert wurden die
Querverweise zwischen den Kapiteln, speziell was die Abhängigkeit zwischen Materialei-
genschaften, Konstruktion und Fertigung betrifft. Besonders wurden die genannten Normen
sowie alle weiteren Quellen auf Aktualität geprüft und auf den neuesten Stand gebracht;
speziell der geometrischen Produktspezifikationen, die als besonders wichtig für die globa-
le Ausrichtung des Maschinenbaus gelten. Zukunftsweisend wurde die additive Fertigung
aufgenommen und der Teil zur Industrie 4.0 detaillierter dargestellt. Ebenso widmet sich ei-
ne Übersicht den Speichern elektrischer Energie im Teil Elektrotechnik. Dankenswerterweise
sind die gleichen 20 Autoren aus Universitäten und Fachhochschulen wieder beteiligt, deren
ergänzte Kurzbiografien am Ende des Buches zu finden sind. Dort befinden sich auch die
Danksagungen der Autoren.
Als Herausgeber möchte ich mich an dieser Stelle bei den Autoren für die erneute Mitwir-
kung und hervorragende Zusammenarbeit sowie die Termintreue bedanken. Weiterhin gilt
mein Dank le-tex publishing services GmbH, insbesondere Frau Steffi Siebert-Hohensee und
Herrn Julian Meyer. Mein besonderer Dank gilt auch Herrn Günther Hippmann von der
Hippmann GbR, für die fachkundige und zuverlässige Gestaltung der Abbildungen. Er hat
als Grafiker einen besonderen Anteil am Aussehen des Buches. Bedanken möchte ich mich
zusammen mit den Autoren bei allen Beteiligten des Springer-Verlages und besonders bei
Frau Hestermann-Beyerle und Frau Kollmar-Thoni von Springer Vieweg. Ganz besonderer
Dank gilt auch meiner Frau, die die Zeit bis zum Erscheinen der zweiten Auflage wieder
ermunternd begleitet hat.

Heidelberg im April 2018

Werner Skolaut

VII
Vorwort zur ersten Auflage

Seit der Umsetzung des Bologna-Prozesses als europäische Hochschulreform hat sich das
klassische Maschinenbaustudium durch Einführung spezieller Profile in eine große Anzahl
eigenständiger Studiengänge aufgefächert. Daher findet man heute eine Vielfalt an Unter-
gliederungen in der Organisation der Maschinenbau-Fakultäten. Aus der Perspektive der
Studierenden stehen andere Probleme im Vordergrund. Zunächst ist die Interdisziplinari-
tät des Maschinenbaus zu nennen. Es gilt, viele Wissensgebiete parallel zu erschließen, wie
zum Beispiel Technische Mechanik, Werkstoffkunde oder Thermodynamik, die wiederum
mit dem Grundlagenwissen aus Mathematik, Physik und Chemie verknüpft sind. Zu diesen
Wissensgebieten lassen sich hervorragende einzelne Lehrbücher finden – meist verfasst von
mehreren Autoren aus dem jeweiligen Fachgebiet und versehen mit Aufgaben zur Verdeut-
lichung des Stoffes und dessen Anwendung. Ein umfassendes Lehrbuch, das einführend die
gesamten Grundlagen des Maschinenbaus enthält, fehlte bisher.
Das vorliegende Lehrbuch des Maschinenbaus schließt diese Lücke. Alle Kapitel wurden
von Autoren verfasst, die als Professoren Lehrerfahrung in ihren jeweiligen Fachgebieten
besitzen. Versehen mit vielen Beispielen, ausführlichen Berechnungen und in die Tie-
fe gehenden Darstellungen wichtiger Hintergründe werden alle Fachgebiete ausführlich
behandelt. Ein Thema zieht sich durch das gesamte Buch: der Antriebsstrang. Als ein kom-
plexes System zur Übertragung von Energie zur Fortbewegung, bestehend aus zahlreichen
Elementen mit unterschiedlichen Funktionen, werden daran Funktionsweisen und Prinzipi-
en, Fertigungsverfahren sowie Materialeigenschaften demonstriert. Wie und welche dieser
Elemente in den einzelnen Kapiteln genutzt werden, ist im ersten Kapitel beschrieben.
Symbolisiert wird dieses Anwendungsbeispiel durch einen Kasten mit einem stilisierten An-
triebsstrang auf grünem Hintergrund. Andere Stilelemente haben ebenfalls eigene Farben:
blau sind Beispiele, violett vertiefende Darstellungen und gelb Zusammenfassungen.
Insgesamt sind 20 Autoren aus Universitäten und Fachhochschulen beteiligt, deren Kurz-
biografien am Ende des Buches zu finden sind. Dort finden sich auch die Danksagungen der
Autoren.
Als Herausgeber möchte ich mich an dieser Stelle bei den Autoren für die hervorragende
Zusammenarbeit, geprägt von vielen Diskussionen und auch Kompromissen bezüglich des
Inhalts und einer möglichst widerspruchsfreien Nomenklatur, bedanken. Weiterhin gilt mein
Dank le-tex publishing services GmbH, insbesondere Frau Dana Minnemann und Frau An-
ne Strohbach zusammen mit den Grafikern Herrn Wolfgang Zettlmeier, Frau Valentina Ansel
und Herrn Günther Hippmann, die dem Buch das Aussehen gegeben haben. Ganz beson-
ders bedanken möchte ich mich aber zusammen mit den Autoren bei allen Beteiligten des
Springer-Verlages für die Unterstützung und besonders für die kreative und umsichtige Pro-
jektleitung durch Frau Hestermann-Beyerle von Springer Vieweg. Ganz besonderer Dank
gilt auch meiner Frau, die die letzte, doch sehr arbeitsintensive Zeit der Endkorrekturen
ebenso ermunternd begleitet hat wie die Zeit der Vorbereitung.

Heidelberg, Oktober 2014

Werner Skolaut

IX
Inhaltsverzeichnis

1 Maschinenbau – seine Vielfalt und die Motivation für dieses Lehrbuch . . . . 1


1.1 Berufsfeld Maschinenbau-Ingenieur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1.2 Der Produktentstehungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.3 Bachelor-Studium Maschinenbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.4 Maschinenbaustudium an Fachhochschule und Universität . . . . . . . 6
1.5 Aufbau dieses Lehrbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.6 Didaktische Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.7 Leitbeispiel Antriebsstrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Teil I Technische Mechanik

2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik 19


2.1 Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.2 Ebenes Kräftegleichgewicht am Punkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.3 Statisches Gleichgewicht am ebenen starren Körper . . . . . . . . . . . . 26
2.4 Räumliche Kraftsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.5 Reibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
2.6 Schwerpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern . . . . . . . . . . 59


3.1 Schnittgrößen in ebenen geraden Balken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
3.2 Rahmen und Bögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
3.3 Räumliche Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
3.4 Fachwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
3.5 Seilstatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
XI
XII Inhaltsverzeichnis

4 Spannungen, Verzerrungen und Materialgesetz –


wenn Werkstoffe versagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
4.1 Spannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
4.2 Verzerrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
4.3 Das Materialgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen


und Verformungen berechnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
5.1 Zentrischer Zug oder Druck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
5.2 Biegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
5.3 Schub durch Querkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
5.4 Torsion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
5.5 Statisch überbestimmte Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
5.6 Dünnwandige Behälter unter Innendruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
5.7 Überlagerte Beanspruchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

6 Energiemethoden und Knicken – Verformungen und Kräfte berechnen . . . 149


6.1 Arbeit und Potenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
6.2 Der Arbeitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
6.3 Formänderungsarbeit und -energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
6.4 Sätze von Castigliano und Menabrea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
6.5 Euler’sches Knicken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung . . . . . . . . 165


7.1 Bewegungen beziehen sich immer auf ein Bezugssystem . . . . . . . . 166
7.2 Bahn, Geschwindigkeit und Beschleunigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
7.3 Geradlinige Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
7.4 Räumliche Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
7.5 Bewegungen auf vorgegebener Bahn. Beschreibung einer Bewegung
in natürlichen Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
7.6 Relativkinematik des Massenpunktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
Inhaltsverzeichnis XIII

8 Kinetik des Massenpunktes – wie beeinflussen Kräfte und Momente


die Bewegung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
8.1 Impuls und Impulssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
8.2 Drall und Drallsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
8.3 Relativkinetik des Massenpunktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
8.4 Arbeit, Leistung und Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
8.5 Massenpunktsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen . . . . . . . 201


9.1 Lage und Orientierung eines starren Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . 202
9.2 Kinematik der Drehung bei ebener Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . 203
9.3 Kinematik von Körperpunkten bei ebener Bewegung . . . . . . . . . . 205
9.4 Kinematik der räumlichen Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
9.5 Bewegung relativ zu einem starren Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen . . . . . . . . . . . . . . 223


10.1 Kinetik für eine Drehung um eine feste Achse . . . . . . . . . . . . . . . . 224
10.2 Massenträgheitsmomente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
10.3 Kinetik für eine allgemeine ebene Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . 229
10.4 Kinetik der allgemeinen Bewegung eines starren Körpers . . . . . . . . 239
10.5 Stoßprobleme und Systeme veränderlicher Masse . . . . . . . . . . . . . 242
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

11 Analytische Mechanik – über effiziente Algorithmen


Bewegungsgleichungen herleiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
11.1 Generalisierte Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
11.2 Zwangsbedingungen und Zwangskäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
11.3 Virtuelle Verschiebungen, virtuelle Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
11.4 Prinzip von d’Alembert in Lagrange’scher Fassung . . . . . . . . . . . . . 260
11.5 Lagrange’sche Gleichungen 2. Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
XIV Inhaltsverzeichnis

12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen


und beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
12.1 Beschreibung von Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
12.2 Klassifikation von Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
12.3 Freie Schwingungen linearer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . 286
12.5 Schwingungen nichtlinearer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312

13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche


Schwingungsmoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
13.1 Mehrläufige Schwingungen mit konzentrierten Parametern . . . . . . 316
13.2 Kontinuumsschwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

Teil II Werkstoffkunde

14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus . . . . . 345


14.1 Werkstoffe für die Produkt- und Bauteilentwicklung . . . . . . . . . . . 346
14.2 Werkstoffanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
14.3 Werkstoffhauptgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
14.4 Werkstoffe im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen . . . . . . . . . . . . . 369


15.1 Werkstoffe und ihr Innovationspotenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
15.2 Werkstoffangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
15.3 Werkstoffanforderungen und Kenngrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
15.4 Dichte und thermische Ausdehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
15.5 Elastische Verformung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
15.7 Härteprüfung zur Werkstoffidentifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 420
15.8 Plastische Verformbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430
15.9 Bruchvorgänge in Werkstoffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
15.10 Festigkeit spröder Werkstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447
15.11 Werkstoffschäden durch Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
Inhaltsverzeichnis XV

15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466


15.13 Abnutzung der Werkstoffe – Verschleiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
15.14 Werkstoffschädigung durch Korrosion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
15.15 Mehrfachbelastung der Werkstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508
Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516

16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen . . . . . . . . . 527


16.1 Die Erstarrung wichtiger Legierungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
16.2 Aluminium-Legierungen mit Eutektikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533
16.3 Das Eisen-Kohlenstoff-Zustandsdiagramm für Stähle und Gusseisen . 536
16.4 Mischkristalle und Legierungselemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540
16.5 Gefüge und Wärmebehandlungen der Stähle . . . . . . . . . . . . . . . . 543
16.6 Ungleichgewichtsumwandlungen allotroper Metalle . . . . . . . . . . . 545
16.7 Die Vielfalt der Stähle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551
Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558

Teil III Thermodynamik

17 Grundlagen der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563


17.1 Geschichte und Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564
17.2 Wie man Systeme beschreibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
17.3 Temperatur und Gleichgewichtspostulate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569
17.4 Energiearten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570
17.5 Die allgemeine Form von Bilanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577

18 Die Hauptsätze der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579


18.1 Der nullte Hauptsatz der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580
18.2 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581
18.3 Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588
18.4 Der dritte Hauptsatz der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
18.5 Das chemische Potenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595
18.6 Folgerungen aus den Hauptsätzen und Bilanzen . . . . . . . . . . . . . . 596
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608
XVI Inhaltsverzeichnis

19 Stoffe und deren thermodynamische Beschreibung – Materialgesetze . . . 611


19.1 Das Verhalten realer Stoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612
19.2 Zustandsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617
19.3 Das ideale Gas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619
19.4 Das reale Gas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620
19.5 Der reale Stoff im Nassdampfgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625

20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . 627


20.1 Der Carnot-Prozess als idealer Kreisprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628
20.2 Ideale Gase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631
20.3 Reale Gase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639
20.4 Der reale Stoff im Nassdampfgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646

21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse . . . . . . . . . . . . . 649


21.1 Kreisprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650
21.2 Arbeits- und Kraftmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653
21.3 Wärmekraftprozesse und thermische Wirkungsgrade . . . . . . . . . . . 656
21.4 Kälteprozesse und Leistungszahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664
21.5 Gas-Dampf-Gemische: Feuchte Luft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683

Teil IV Strömungsmechanik

22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687


22.1 Die Bedeutung der Strömungsmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688
22.2 Begriffe und Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689
22.3 Hydrostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693
22.4 Hydrodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706
22.5 Hydrodynamische Ähnlichkeitsgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719
22.6 Innenströmung und Rohrhydraulik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729
22.7 Einführung in die Gasdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749
Inhaltsverzeichnis XVII

Teil V Maschinenelemente/Konstruktionslehre

23 Die technische Zeichnung – die Sprache des Ingenieurs . . . . . . . . . . . . . . 755


23.1 Die Elemente einer technischen Zeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756
23.2 Das Finden der richtigen Blattgröße und die Nutzung
von Zeichnungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758
23.3 Die Darstellung von Werkstücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767
23.4 Wie bemaßt man ein Werkstück? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773
23.5 Technische Oberflächen und Kanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777
23.6 Darstellung von Normteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781

24 Toleranzen – Geometrische Produktspezifikationen schaffen Qualität . . . . 783


24.1 Was sind Toleranzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784
24.2 Passungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788
24.3 Form- und Lagetoleranzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793
24.4 Geometrische Produktspezifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801
24.5 Toleranzanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810

25 Konstruieren – Produkte methodisch entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811


25.1 Einführung in die Produktentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812
25.2 Aufgabe klären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815
25.3 Produkt konzipieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819
25.4 Produkt entwerfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832
25.5 Produkt ausarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 844
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 845

26 Verbindungselemente – aus Bauteilen werden Maschinen . . . . . . . . . . . . 847


26.1 Stoffschlüssige Verbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 848
26.2 Schraubenverbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857
26.3 Nietverbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 870
26.4 Reibschlüssige Welle-Nabe-Verbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 874
26.5 Formschlüssige Welle-Nabe-Verbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881
26.6 Elastische Verbindungen – Federn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 896
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 896
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 898
XVIII Inhaltsverzeichnis

27 Antriebselemente – so gelangt Leistung zur Arbeitsmaschine . . . . . . . . . 901


27.1 Achsen und Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 902
27.2 Lager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 908
27.3 Kupplungen und Bremsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 922
27.4 Zahnradgetriebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 934
27.5 Zugmittelgetriebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953
Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 962
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 962
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 964

28 Dichtungen – damit Medien bleiben wo sie hingehören . . . . . . . . . . . . . 967


28.1 Berührungsdichtungen zwischen ruhenden Bauteilen . . . . . . . . . . 968
28.2 Berührungsdichtungen zwischen bewegten Bauteilen . . . . . . . . . . 970
28.3 Berührungsfreie Dichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 977
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 977
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 978

Teil VI Fertigungstechnik

29 Fertigungstechnik – Werkstücke wirtschaftlich und nachhaltig herstellen . 981


29.1 Begriffe und Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 982
29.2 Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 982
29.3 Übersicht über die Industriezweige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 984
29.4 Einteilung der Fertigungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 985
29.5 Genauigkeit und Oberflächengüte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 987
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 990

30 Fertigungsverfahren – der Weg zum Werkstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 991


30.1 Verfahrenseinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 992
30.2 Urformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 993
30.3 Umformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1022
30.4 Trennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1049
30.5 Fügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1075
30.6 Beschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1078
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1084
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1084
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1087
Inhaltsverzeichnis XIX

31 Werkzeugmaschinen – Werkstücke mit formgebenden


Werkzeugen bearbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1091

31.1 Bedeutung von Werkzeugmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1092

31.2 Auswahlkriterien für Werkzeugmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1092

31.3 Fräsmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1093

31.4 Drehmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1100

31.5 Dreh-Fräsmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1104

31.6 Schleifmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1105

31.7 Umformmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1106

31.8 Belastungen auf Werkzeugmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1112

31.9 Maschinenkomponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1114

31.10 Steuerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1122

31.11 NC-Programmierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1127

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1130

Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1131

Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1132

32 Fertigungsprozesse – Produkte fertigen und montieren . . . . . . . . . . . . . 1135

32.1 Wandel der Produktionstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1136

32.2 Fertigungs- und Stückkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1139

32.3 Arbeitsplanung und -steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1139

32.4 Automatisierung von Produktionsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1146

32.5 Digitale Fabrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1149

32.6 Industrie 4.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1152

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1156

Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1157

Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1158

33 Nachhaltige Produktion – Emissionen vermeiden und Ressourcen schonen 1161

33.1 Grundlagen und Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1162

33.2 Rezyklieren: Wieder- und Weiterverwendung . . . . . . . . . . . . . . . . 1163

33.3 Analyse des Produktlebenszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1168

33.4 Rezyklieren wichtiger Werkstoffgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1173

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1178
XX Inhaltsverzeichnis

Teil VII Elektrotechnik

34 Gesetze der Elektrotechnik – wie ihre Bauelemente funktionieren . . . . . . 1181


34.1 Ladung und Strom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1182
34.2 Die elektrische Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1183
34.3 Ladung im Raum: Das statische elektrische Feld . . . . . . . . . . . . . . . 1184
34.4 Ladung im elektrischen Feld: der Kondensator . . . . . . . . . . . . . . . 1188
34.5 Ströme im elektrischen Feld: Widerstände, Quellen, Arbeit
und Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1190
34.6 Ströme im Raum: das statische Magnetfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1192
34.7 Die magnetische Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1196
34.8 Wechselfelder, Induktion und die Spule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1197
34.9 Die Maxwell’schen Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1199
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1201
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1202

35 Lineare Netze – wie der Strom sein Ziel findet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1205


35.1 Die Regeln von Kirchhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1206
35.2 Maschenstrom- und Knotenpotenzialverfahren . . . . . . . . . . . . . . . 1207
35.3 Komplexe Wechselstromlehre: Vom Widerstand zur Impedanz . . . . 1210
35.4 Energie und Leistung im Wechselstromkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . 1213
35.5 Transformatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1216
35.6 Drei-Phasen-Wechselstrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1219
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1221
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1222

36 Halbleiterelektronik – wie Schaltungen schlau werden . . . . . . . . . . . . . . 1225


36.1 Halbleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1226
36.2 Dioden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1228
36.3 Bipolar-Transistoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1232
36.4 MOS-Transistoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1236
36.5 Leistungshalbleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1239
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1243
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1245

37 Motoren und Generatoren – wie von 0 auf 300 km/h beschleunigt wird . . 1247
37.1 Physikalische Grundlagen von Motoren und Generatoren . . . . . . . . 1248
37.2 Typen, Randbedingungen und Einsatzgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . 1253
37.3 Gleichstrommaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1254
37.4 Asynchronmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1259
37.5 Synchronmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1261
Weiterführende Literatur für die Kapitel 34 bis 37 . . . . . . . . . . . . . . . . . 1266
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1267
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1268
Inhaltsverzeichnis XXI

Teil VIII Regelungstechnik

38 Begriffe und Modelle – dynamische Systeme beschreiben . . . . . . . . . . . . 1273


38.1 Dynamische Systeme, Steuerung und Regelung . . . . . . . . . . . . . . . 1274
38.2 Das Zustandsraummodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1281
38.3 Das Blockschaltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1284
38.4 Lineare zeitinvariante Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1286
Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1293
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1293
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1295

39 Analyse der Dynamik – Systemantworten ermitteln und verstehen . . . . . 1299


39.1 Die Laplace-Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1300
39.2 Systemantworten und Stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1313
39.3 Pole, Nullstellen, Modellreduktion und Identifikation . . . . . . . . . . 1319
39.4 Frequenzgang und Bode-Diagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1323
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1332
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1333

40 Entwurf im Frequenzbereich – Stabilität und gutes Einschwingen erreichen 1337


40.1 Der Standardregelkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1338
40.2 Regelkreisstabilität und Robustheit der Stabilität . . . . . . . . . . . . . . 1341
40.3 Anforderungen an das Regelverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1347
40.4 Grundtypen linearer Regler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1351
40.5 Regelungsentwurf im Bode-Diagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1357
40.6 Gütekriterien und optimale Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1359
40.7 Erweiterte Regelungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1361
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1366

41 Entwurf im Zustandsraum – alle Systemgrößen einbeziehen . . . . . . . . . . 1369


41.1 Konstante Zustandsrückführung und Vorsteuerung . . . . . . . . . . . . 1370
41.2 Zustandsbeobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1373
41.3 Dynamische Vorsteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1374
41.4 Konstante und dynamische Störgrößenaufschaltung . . . . . . . . . . . 1375
41.5 Ausblick und Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1377
41.6 Nichtlineare Zustandsregelung durch Ein-/Ausgangslinearisierung . . 1380
41.7 Digitale Realisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1382
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1386

Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1389

Autorenbiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1405

Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1411

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1417
Autoren

1 Jörg Wallaschek, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover; Werner Sko-


laut, Heidelberg
2–6 Michael Heinzelmann, Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Sankt Augustin
7, 8 Wolfgang Stelzle, Hochschule Osnabrück
9, 10, 11 Wolfgang Seemann, Karlsruher Institut für Technologie
12, 13 Michael Beitelschmidt, Technische Universität Dresden
14 Kay Weidenmann, Alexander Wanner, Karlsruher Institut für Technologie
15, 16 H. Peter Degischer, Technische Universität Wien (Emeritus)
17 Bernhard Weigand, Universität Stuttgart; Jens von Wolfersdorf, Universität Stutt-
gart; Jürgen Köhler, Technische Universität Braunschweig
18 Jürgen Köhler, Technische Universität Braunschweig; Bernhard Weigand, Jens von
Wolfersdorf, Universität Stuttgart
19 Bernhard Weigand, Universität Stuttgart; Jürgen Köhler, TU Braunschweig; Jens
von Wolfersdorf, Universität Stuttgart
20 Bernhard Weigand, Universität Stuttgart; Jürgen Köhler, TU Braunschweig; Jens
von Wolfersdorf, Universität Stuttgart
21 Jens von Wolfersdorf, Universität Stuttgart; Jürgen Köhler, TU Braunschweig;
Bernhard Weigand, Universität Stuttgart
22 Jost Braun, Hochschule Kempten
23, 24, 25 Peter Gust, Bergische Universität Wuppertal
26 Bernd Künne, Technische Universität Dortmund
27, 28 Horst Haberhauer, Hochschule Esslingen
29 Thomas Fechter, Harald Jaich, Christian Glockner, Hochschule RheinMain, Rüs-
selsheim
30 Thomas Fechter, Harald Jaich, Hochschule RheinMain, Rüsselsheim
31 Christian Glockner, Hochschule RheinMain, Rüsselsheim
32 Thomas Fechter, Harald Jaich, Christian Glockner, Hochschule RheinMain, Rüs-
selsheim
33 H. Peter Degischer, Technische Universität Wien (Emeritus)
34–37 Martin Poppe, Fachhochschule Münster, Steinfurt
38–41 Boris Lohmann, Technische Universität München, Garching

XXIII
Maschinenbau – seine
Vielfalt und die Motivation
1
für dieses Lehrbuch
Was erwartet Sie im
Maschinenbaustudium?
Wie ist das Buch
aufgebaut?
Welche didaktischen
Elemente erleichtern das
Lernen?

1.1 Berufsfeld Maschinenbau-Ingenieur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2


1.2 Der Produktentstehungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.3 Bachelor-Studium Maschinenbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.4 Maschinenbaustudium an Fachhochschule und Universität . . . . . . 6
1.5 Aufbau dieses Lehrbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.6 Didaktische Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.7 Leitbeispiel Antriebsstrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 1


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_1
2 1 Maschinenbau – seine Vielfalt und die Motivation für dieses Lehrbuch

Für optimalen Lesefluss sehen wir im gesamten Buch von der Nen- Auch wenn die Frage nach der „richtigen“ Struktur des
nung weiblicher und männlicher Formen der Berufsbezeichnungen Faches zuweilen heftig diskutiert wird, erscheint sie doch
(Ingenieure und Ingenieurinnen) ab. Ebenso verzichten wir auf die mit etwas Abstand betrachtet als nicht so elementar wich-
Benutzung des Kunstwortes IngenieurIn. Sämtliche Personenbe- tig. Viel wichtiger ist ein anderer Aspekt, der aus der
zeichnungen gelten für beide Geschlechter. Perspektive des Studierenden betrachtet manchmal pro-
blematisch ist: das Fach Maschinenbau ist interdiszipli-
Auf die Frage, was denn nun das Besondere sei am Be- när, viele Wissensgebiete spielen eine wichtige Rolle, und
ruf des Ingenieurs, erhält man häufig die Antwort: „Dem es ist schwer, sich anhand von Literatur und Lehrbüchern
Ingenieur ist nichts zu schwer!“. Und in der Tat sind es einen Überblick zu verschaffen. Es gibt hervorragende
dieser Optimismus und die Begeisterung für die vielfäl- Lehrbücher zu einzelnen Fächern, wie z. B. Werkstoffkun-
tigen beruflichen Herausforderungen, die für Viele die de, Technische Mechanik, Thermodynamik, usw., und es
Faszination dieses Berufsfeldes ausmachen. In seinem In- ist jedem Studierenden nur zu raten, die entsprechende
genieurlied, dem die oben zitierte Zeile entnommen ist, Literatur kennenzulernen und möglichst viele der ein-
beschreibt Heinrich Seidel (1842–1906) die Situation am schlägigen guten Fachbücher zu studieren.
Ende des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit, als es noch kei- Aber bisher fehlte ein einführendes Lehrbuch, in dem
ne Computertechnik gab, und viele der Dinge, die heute die Grundlagen des Maschinenbaus zusammenfassend
alltäglich sind, noch unvorstellbar waren. Heute sind die- dargestellt sind. Das vorliegende Lehrbuch des Maschi-
se Technologien Bestandteil der Ingenieurwissenschaften nenbaus schließt diese Lücke. Es enthält (mit Ausnahme
und prägen insbesondere auch den Maschinenbau. der Mathematik) die Grundlagen aller Lehrfächer, die
typischerweise Gegenstand eines Bachelor-Studiums an
Der Maschinenbau hat sich als eigenständiges Studien-
Universitäten und Fachhochschulen sind und bietet da-
fach mit der zunehmenden Entwicklung von Technik und
mit einen idealen Einstieg in dieses Studium.
Wissenschaft seit Ende des 18. Jahrhunderts herausge-
bildet. Ferdinand Redtenbacher (1809–1863) in Karlsruhe
und Karl Karmarsch (1803–1879) in Hannover sind be-
kannte Persönlichkeiten, die den Maschinenbau in der
Mitte des vorletzten Jahrhunderts als Studienfach an
1.1 Berufsfeld
den damals entstehenden Technischen Hochschulen in Maschinenbau-Ingenieur
Deutschland begründeten (Abb. 1.1).

Meist wird das Fach Maschinenbau in die Einzeldiszi- Das Berufsfeld des Maschinenbau-Ingenieurs ist extrem
plinen Konstruktion und Entwicklung, Produktion und breit. Maschinenbau-Ingenieure arbeiten an der Konzi-
Logistik sowie Energie- und Verfahrenstechnik unter- pierung neuer Produkte, erstellen Machbarkeitsstudien
teilt. Diese klassische Struktur findet man dementspre- zu Fertigungstechnologien, treffen Entscheidungen über
chend heute in der Organisation vieler Maschinenbau- Produktions- und Lieferketten, gestalten Fabriken und
Fakultäten wieder. Aber natürlich gibt es auch andere Anlagentechnik, optimieren den Wirkungsgrad von Pro-
Möglichkeiten, für eine Differenzierung. So kann man zessen, analysieren funktionale Zusammenhänge in tech-
das Fach z. B. in Fahrzeugtechnik, Luft- und Raumfahrt- nischen Systemen, führen Gespräche mit Kunden und
technik, Schiffs- und Meerestechnik, Medizintechnik, und Lieferanten, um Anforderungen an Bauteile und Systeme
weitere Bereiche gliedern. zu klären, verhandeln über Preise und Lieferkonditionen,

Abb. 1.1 a Ilse Knott-ter Meer


(1899–1996); b Ferdinand Red-
tenbacher (1809–1863) und c Karl
Karmarsch (1803–1879)

a b c
1.2 Der Produktentstehungsprozess 3

Tab. 1.1 Ingenieurbranchen und volkswirtschaftliche Indikatoren. Ergebnisse der fünf Branchen mit dem höchsten Anteil der Ingenieure an allen Erwerbstätigen
Erwerbstätige erwerbstätige Innovations- Ausfuhr und Überschuss bei
Ingenieure ausgaben Einnahmen aus Ausfuhr und
in Mrd. Euro Dienstleistungen in Dienstleistungen
Mrd. Euro in Mrd. Euro
Fahrzeugbau 1.296.000 163.000 33,68 225,7 108,7
Maschinenbau 1.123.000 148.000 11,81 161,2 90,8
Elektroindustrie 824.000 109.000 13,62 151,1 18,8
Technische/F&E-Dienstleistungen 652.000 231.000 3,41 10,4 2,7
EDV/Telekommunikation 682.000 72.000 10,47 13,4 1,6
fünf Ingenieurbranchen gesamt 4.579.000 723.000 72,99 561,8 222,6
Volkswirtschaft gesamt 41.550.000 1.603.000 121,26 1252,8 151,6

Quellen: Institut der deutschen Wirtschaft Köln; eigene Berechnungen auf Basis von FDZ der statistischen Ämter des Bundes und der Länder;
Mikrozensus 2009; ZEW Innovationserhebung 2011 (Datenstand 2010); Statistisches Bundesamt 2012; Deutsche Bundesbank, 2012

nehmen Anlagen in Betrieb, überwachen den Zustand si- Produkt entstehen zu lassen. Der Produktentstehungs-
cherheitskritischer Bauteile, führen Berechnungen durch, prozess lässt sich, einem Leitfaden der Wissenschaftlichen
um die Verlässlichkeit technischer Systeme zu beurteilen, Gesellschaft für Produktentwicklung (WiGeP) folgend,
und treffen unternehmerische Entscheidungen. Die Lis- grob in die Phasen
te könnte noch weiter fortgesetzt werden, und bringt uns
doch nur zu einem Ergebnis: Die Vielfalt der späteren Be- Produktplanung (Bedarfsermittlung, Ideenfindung,
rufstätigkeit ist enorm (Tab. 1.1). So schwierig dies die Machbarkeitsstudie),
Orientierung bei der Frage „In welchem dieser Bereiche Produktentwicklung (Auslegung, Design),
will ich später einmal tätig werden?“ macht, vermittelt Produktion (Fertigungsplanung, Fertigung, Montage,
dieser Umstand doch aber auch gleichzeitig die Zuver- Inbetriebnahme)
sicht, dass im Grunde jeder Studierende die Möglichkeit
hat, im späteren Berufsfeld eine Aufgabe zu finden, die zu gliedern. Er ist damit Teil des Produktlebenszyklus, der
ihm und seinen persönlichen Neigungen passt. über die Produktentstehung hinaus noch den Betrieb,
Nach einer Studie des Verbands Deutscher Ingenieure die Instandhaltung und die Entsorgung oder die Wieder-
VDI waren in Deutschland im Jahr 2013 ca. 1,6 Millionen verwendung bzw. die Wiederverwertung des Produktes
Ingenieure erwerbstätig. Nur gut die Hälfte davon ist aber umfasst.
in einem traditionellen Ingenieurberuf in der Industrie In der ersten Phase des Produktentstehungsprozesses
beschäftigt. Die andere Hälfte übt eine Tätigkeit im Ma- wird unter Berücksichtigung der Marktbedingungen, der
nagement, im öffentlichen Dienst oder als Selbständiger Wettbewerbsposition des Unternehmens sowie technolo-
aus. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, gischer und gegebenenfalls politischer Randbedingungen
dass der häufigste Bildungshintergrund von Geschäfts- der Bedarf an einem neuen oder verbesserten Produkt
führern in der Industrie ein Studienabschluss in den In- bestimmt. Darauf aufbauend werden verschiedene Pro-
genieurwissenschaften ist und fast 10 % aller Ingenieure duktideen generiert, deren Machbarkeit und Rentabilität
als Unternehmensleiter, Geschäftsführer oder Bereichslei- untersucht wird. Am Ende steht dann die Entscheidung
ter tätig sind. für ein oder mehrere Produkte und die Ermittlung von
Anforderungen, die als Grundlage für die nachfolgende
Die wirtschaftliche Bedeutung der Branchen Fahrzeug-
Phase der Produktentwicklung dienen.
und Maschinenbau ist in den letzten Jahren in Deutsch-
land noch weiter gestiegen. So betrug der Umsatz der Im Rahmen der Produktentwicklung erfolgt zunächst in
deutschen Firmen im Fahrzeugbau im Jahr 2016 ca. 320 der Regel eine Beschreibung (Modellierung) der Funk-
Mrd. €. Im Maschinenbau lag er bei 220 Mrd. €. tionen, die von dem zu entwickelnden Produkt erfüllt
werden müssen. In der Regel gibt es mehrere Funktions-
strukturen, mit denen die Anforderungen an das Produkt
erfüllt werden können; deshalb erfolgt meist auch eine
1.2 Der Produktentstehungsprozess Optimierung, um die für das Produkt besonders wich-
tigen Ziele möglichst gut zu erreichen. Dieses Vorgehen
wird auch als Design for X bezeichnet, wobei es sich
Um einen Eindruck von der Komplexität des modernen bei X z. B. um minimale Kosten, möglichst geringes Ge-
Maschinenbaus zu vermitteln, werden wir im Folgenden wicht, maximale spezifische Leistung, minimalen Ener-
den Produktentstehungsprozess betrachten, mit dem die gieverbrauch oder Ähnliches handeln kann. In gleicher
Schritte bezeichnet werden, die notwendig sind, um ein Weise wie bei der Modellierung der Funktionsstruktur
4 1 Maschinenbau – seine Vielfalt und die Motivation für dieses Lehrbuch

wird auch die Gestalt des Produktes modelliert und op- und produktionstechnische Randbedingungen berück-
timiert. Man spricht hier von funktionsorientiertem Ent- sichtigt.
wurf (logische Funktionsanalyse) und gestaltorientiertem Typische Berufsbilder von Maschinenbauingenieuren in
Entwurf (Synthese der physikalischen Baustruktur). Die der Produktion sind:
damit verbundenen Arbeitsschritte sind vielfältig und
haben zur Herausbildung verschiedener typischer Berufs- Fertigungsplaner: Projektierung von Fertigungsstätten,
bilder des Maschinenbauingenieurs in der Produktent- Festlegen von Arbeitsabläufen, Auswahl von Produk-
wicklung geführt, wie z. B.: tionsmaschinen und Fertigungseinrichtungen, Ge-
staltung von Montagelinien,
Konstrukteur: Modellieren von Funktionen, Festlegen Technologe: Optimierung und ständige Verbesserung
der Gestalt, Auswahl der Werkstoffe, Dimensionie- der eingesetzten Fertigungstechnologien, Entwick-
rung von Bauteilen und Komponenten, Klären der lung neuer Produktionsverfahren,
fertigungstechnischen Randbedingungen für die spä- Qualitätsmanager: Überwachung der laufenden Ferti-
tere Produktion, gung, Sicherstellung gleichbleibend hoher Produkt-
Berechnungsingenieur: rechnerische Bestimmung der in qualität, Analyse von Risikofaktoren und Schwach-
Bauteilen auftretenden Beanspruchungen, Berech- stellen im Produktionsprozess,
nung von Eigenfrequenzen, rechnerische Bestim- Produktionssteuerer: Kapazitätsplanung, Sicherstellen,
mung von Strömungs- und Temperaturfeldern, dass Liefertermine eingehalten werden.
Versuchsingenieur: experimentelle Validierung von Re-
chenmodellen und Bestimmung der darin auftreten- Auch diese Aufzählung ist lediglich ein Auszug, nicht
den Parameter, Durchführung von Versuchen zur vollständig. Und auch in der Produktion gibt es viele un-
Ermittlung von Verschleiß und zur Vorhersage der terschiedliche Ausprägungen der Organisationsstruktur
Lebensdauer, Bewertung von Produkteigenschaften in den verschiedenen Industrieunternehmen.
in Testfahrten und Probandenversuchen,
Patentingenieur: Prüfen des Neuheitsgrades technischer Zur Erfüllung der vielfältigen Anforderungen in der be-
Entwicklungen, Formulieren und Anmelden von ruflichen Praxis brauchen Maschinenbauingenieure, die
gewerblichen Schutzrechten, Verteidigung eigener im Bereich der Produktentstehung arbeiten, eine sehr gu-
Schutzrechte und Überwachung fremder Schutzrech- te Ausbildung. Niemand kann in allen oben genannten
te, Vergabe und Erwerb von Lizenzen. Tätigkeitsfeldern ein Spezialist sein. Arbeiten im Team
ist ein wesentliches Merkmal des Produktentstehungs-
prozesses. Dabei sind die Teams nicht nur abteilungs-,
Diese Aufzählung ist nicht vollständig; die genannten sondern oft auch unternehmensübergreifend und interna-
Tätigkeiten sind nur typisch und keineswegs strikt wört- tional zusammengesetzt. Deshalb werden bei Ingenieuren
lich zu verstehen. Große Unterschiede bestehen auch in in der Regel auch sehr hohe Anforderungen an die Kom-
der betrieblichen Organisation des Produktentwicklungs- munikationsfähigkeiten und gute Fremdsprachenkennt-
prozesses. In vielen Unternehmen gehören zur Organi- nisse gefordert.
sationseinheit Produktentwicklung verschiedene Unter-
einheiten, wie z. B. Forschung und Vorentwicklung, Kon- Der hier näher betrachtete Prozess der Produktentste-
struktion, Berechnung, Prototypenbau, Versuch, Produkt- hung ist eines der Haupttätigkeitsfelder von Ingenieuren.
datenmanagement. Zur Unterstützung der dort tätigen Es gibt darüber hinaus aber sehr viele weitere Berei-
Ingenieure werden zahlreiche Werkzeuge eingesetzt, zu che, in denen Ingenieure tätig sind, auf die hier nicht
denen beispielweise Datenverarbeitungs- und Visualisie- näher eingegangen wurde. Zu diesen zählen Führungs-
rungsprogramme wie CAD (Computer Aided Design) und Leitungsaufgaben in Unternehmen, Aus- und Weiter-
oder VR (Virtual Reality), Berechnungs- und Optimie- bildung, Vertrieb, Service und Instandhaltung sowie Tä-
rungsprogramme wie CAE (Computer Aided Enginee- tigkeiten als Unternehmensberater oder Sachverständige.
ring), sowie Rapid Prototyping oder Hardware-in-the- Auch wenn all diese Berufsbilder im Detail ganz unter-
Loop zählen. schiedliche Kompetenzen erfordern, haben sie doch auch
viele Gemeinsamkeiten und erfordern einen Mindest-
Am Ende des Produktentwicklungsprozesses steht die umfang an technischem Fachwissen, die Fähigkeit zum
Produktdokumentation, zu der auch die Erstellung der strukturierten und zielorientierten Arbeiten sowie ein ge-
Fertigungsunterlagen gehört. Es wäre nun aber falsch wisses Maß an Sozialkompetenz.
anzunehmen, dass die dritte Phase des Produktentste-
hungsprozesses, die Produktion, strikt von den ersten
beiden Phasen getrennt sei. In den meisten Fällen spie-
len Fragestellungen zur in der Produktion eingesetz- 1.3 Bachelor-Studium Maschinenbau
ten Fertigungstechnik eine wichtige Rolle bei der Pro-
duktentwicklung. Dies gilt insbesondere bei Fragen zu Im Zuge der Bologna-Reform haben die meisten Univer-
Herstellkosten, Produktionsmengen und Qualität. Häufig sitäten und Fachhochschulen die traditionellen Diplom-
werden sogar schon in der Produktplanung fertigungs- Studiengänge auf Bachelor- und Master-Studiengänge
1.3 Bachelor-Studium Maschinenbau 5

Forschungs- und
fachwissenschaftliche planerische Beurteilungs- Selbst- und
Problemlösungs-
Kompetenz Kompetenzen kompetenzen Sozialkompetenzen
kompetenzen

Verständnis Fähigkeit Strukturierung und Kompetenz zum


ingenieurwissen- zur Abstraktion, Organisation von Beurteilen tech- Teamarbeit und
schaftlicher zum Denken Arbeits- und nischer Entwürfe, Führungsaufgaben
Zusammenhänge in Systemen, Lernprozessen Konstruktionen und
zum Umgang mit Lösungsvarianten
Modellvorstellungen
verschiedenster Art Sprache und
Fähigkeit zum Befähigung zu
Fähigkeit, die Kommunikation,
interdisziplinären Projektplanung und
Grenzen der Gültig- Fähigkeit zur
Denken Projektmanagement
Konkretisierung und keit von Theorien Visualisierung
Präzisierung von und Lösungen zu
Fragestellungen, erkennen und Persönlichkeitsent-
Aufgaben und Zeitmanagement, Ergebnisse kritisch
mathematisches wicklung: Eigen-
Problemen, Erkennen Priorisieren von zu hinterfragen
Verständnis ständigkeit, Eigen-
von offenen Fragen Aufgaben
verantwortlichkeit,
bzw. Flexibilität,
Forschungslücken Fähigkeit zur
Verallgemeinerung Selbstdisziplin,
Verständnis
sachkundiger Einsatz von Ergebnissen und Leistungsbereitschaft,
der Physik und
von Methoden zum Übertragen von Belastbarkeit,
weiterer Natur- vorhandene
Lösungen auf andere Frustrationsresistenz
wissenschaften Sachverhalte kritisch
hinterfragen Anwendungsfelder
Talent: Improvisation,
eigenständige
Neugier,
Informations-
Fähigkeit zum Finden Technik-Folgen- Technikbegeisterung,
beschaffung und
neuer Lösungswege, Abschätzung Kreativität
-aneignung
Fähigkeit zum
kreativen Arbeiten

Formulieren,
Zusammenfassen,
Kontextualisierung
von Ergebnissen

Abb. 1.2 Kompetenzfelder des Maschinenbauingenieurs

umgestellt. Während in den Diplom-Studiengängen das Promotion abgeschlossen haben. Damit lag die Anzahl
Vordiplom typischerweise nach vier Semestern und das der Absolventen insgesamt bei ca. 38.000.
Diplom nach zehn Semestern der Regelstudienzeit er- Trotz großer Bedenken in weiten Teilen der Hochschul-
reicht wurde, sind typische Bachelor-Studiengänge auf landschaft haben sich die neuen Abschlüsse am Arbeits-
sechs Semester und typische Master-Studiengänge auf markt durchgesetzt und auch dazu beigetragen, die Dis-
weitere vier Semester Regelstudienzeit ausgelegt. Mit die- kussion über die Qualität von Studiengängen an Uni-
ser Umstellung der Studiengänge waren weitreichende versitäten und Fachhochschulen zu beleben. Eine nahezu
Veränderungen in der Struktur der Studiengänge ver- gleiche Akzeptanz von Absolventen aus Fachhochschu-
bunden, die jedoch in den meisten Fällen keine Aus- len und Absolventen aus Universitäten spiegelt sich in
wirkungen auf die Fächer hatten, die zum klassischen den Einstiegsgehältern wieder. So hängt nach einer Studie
Kanon des Vordiploms gehörten und heute oft zusam- des VDI aus dem Jahr 2012 die Höhe der Einstiegsgehäl-
menfassend als Grundlagen des Maschinenbaus bezeichnet ter stärker von der Größe der Unternehmen ab als von der
werden. Herkunft der Ingenieure oder ihrem jeweiligen Abschluss
Im Jahr 2015 haben im Fachbereich Maschinenbau und (Bachelor, Master, Diplom).
Verfahrenstechnik ca. 10.500 Studierende einen Masterab- Hatte es Ilse Knott-ter Meer (1899–1996) (Abb. 1.1a),
schluss, ca. 22.500 Studierende einen Bachelor-Abschluss die erste deutsche Diplom-Ingenieurin und später erstes
erreicht. Hinzu kamen ca. 3300 Studierende, die einen Di- weibliches Mitglied im Verein Deutscher Ingenieure, in
plomabschluss erlangt und knapp 2000 Personen, die eine ihrem Studium an den Technischen Hochschulen in Han-
6 1 Maschinenbau – seine Vielfalt und die Motivation für dieses Lehrbuch

nover und München noch schwer, liegt heute der Anteil petenz, wie z. B. die Fähigkeit, die Grenzen der Gültigkeit
weiblicher Absolventen im Maschinenbau bei über 20 %. von Theorien und Lösungen zu erkennen oder Lösungen
Dieser Anteil ist deutlich niedriger als in anderen Län- auf neue Anwendungsfelder zu übertragen, ist in uni-
dern. Es ist jedoch zu hoffen, dass sich dies in Zukunft versitären Studiengängen in der Regel deutlich höher als
ändert und noch mehr Frauen sich für ein Studium des in Studiengängen an Fachhochschulen. Demgegenüber
Maschinenbaus entscheiden. steht an Fachhochschulen oft ein größerer Stoffumfang in
speziellen, für die Praxis besonders relevanten Anwen-
dungsfeldern.

1.4 Maschinenbaustudium an Die Breite des Wissens, im Sinne der Stoffauswahl, ist
in den Grundlagenfächern des Maschinenbaus an Fach-
Fachhochschule und Universität hochschulen und Universitäten nahezu gleich. Die Tiefe
der Durchdringung des Wissens ist jedoch an Universi-
Es mag erstaunen, dass ein Buch den Anspruch erhebt, täten meist wesentlich stärker, was sich z. B. darin zeigt,
sowohl für Studierende an Universitäten als auch an dass Theorien in Lehrveranstaltungen nicht nur prä-
Fachhochschulen gleichermaßen geeignet zu sein. Aber sentiert, sondern auch in ihrer Entwicklung diskutiert
bei näherer Betrachtung des Faches und der Lehrpläne werden, bis hin zu dem Punkt, an dem die Studieren-
kommt man zu dem Ergebnis, dass es nur wenige Un- den in die Lage versetzt werden, selbst wissenschaftliche
terschiede im Stoffumfang gibt. Daraus darf jedoch nicht Theorien zu entwickeln (Abb. 1.3). Die stärkere Vermitt-
der Schluss gezogen werden, das Studium an Universitä- lung dieser wissenschaftlich orientierten Kompetenzen
ten und Fachhochschulen sei vergleichbar. Im Gegenteil! hat zwar enorme Auswirkungen auf die Art der Wis-
Der methodische Anspruch und die vermittelten Kompe- sensvermittlung in den Grundlagenfächern, aber meist
tenzen unterscheiden sich deutlich (Abb. 1.2). nur geringe Auswirkungen auf die zur Unterstützung
der Lernprozesse genutzten Lehrmaterialien. Die Autoren
Betrachtet man die in der Abb. 1.2 dargestellten Kom- des vorliegenden Buches lehren zum Teil an Fachhoch-
petenzfelder von Studiengängen des Maschinenbaus, so schulen und zum Teil an Universitäten. Sie haben dieses
zeigen sich Unterschiede zwischen Studiengängen an Lehrbuch für Studierende an beiden Bildungseinrichtun-
Fachhochschulen und an Universitäten: Der Anteil der gen geschrieben und darauf geachtet, dass die Inhalte der
Forschungs- und Problemlösungskompetenzen, wie z. B. heute in Bachelor-Studiengängen des Maschinenbaus ge-
die Fähigkeit zur Abstraktion und zum Umgang mit Mo- lehrten Grundlagenfächer in hoher didaktischer Qualität
dellvorstellungen, sowie der Anteil der Beurteilungskom- dargestellt wurden.

Abb. 1.3 Unterschiedliche


Durchdringung des Wissens an Produkt nur als
Fachhochschulen und Universitäten vage Idee
zunehmender Neuheitsgrad der Anwendung

beschreibbar, völlig
neue Technologie
Universität
relativ neues
Produkt,
Technologie in
Entwicklung

etabliertes
Produkt,
ausgereifte
Technologie Fachhochschule

etablierte neueste Methoden, Methoden,


Methoden, seit „Stand des unbekannt,
langem bekannt Wissens“ Theorie muss erst
noch erarbeitet
werden

Komplexität und Umfang des Wissens zunehmend


1.5 Aufbau dieses Lehrbuches 7

1.5 Aufbau dieses Lehrbuches müssen sie das Anforderungsprofil möglichst gut erfüllen
und haben eine effiziente Funktionalität zum Ziel. Da-
zu sind ökologische Randbedingungen zu beachten, die
Grundlegende theoretische Konzepte haben eine lange einen möglichst geringen Materialeinsatz erfordern, so-
Halbwertszeit – sie tragen durch ein ganzes langes In- wohl bei der Herstellung als auch im Einsatz und in der
genieursberufsleben. Auch wenn es vielen Studierenden Nachnutzung, bzw. beim Rezyklieren.
als sehr abstrakt und theoretisch erscheint, hat es sich
als sinnvoll erwiesen, dass man von den vielen Gebieten Die Effizienz von Maschinen wird durch deren Wir-
des Maschinenbaus im ersten Studienjahr vor allem Tech- kungsgrad beschrieben. Die Umwandlung von Energie
nische Mechanik unterrichtet. Dieses Fach ist nicht nur ist elementar für Bau und Betrieb von Maschinen und
deshalb wichtig, weil die Technische Mechanik die Ba- Anlagen. Die dabei auftretenden Prozesse werden durch
sis für viele weiterführende Fächer, wie z. B. Konstruktion Gesetze der Thermodynamik beschrieben. Es ist daher
und Maschinenelemente ist, sondern vor allem, weil man konsequent, dass die Kapitel der Thermodynamik und
daran den Prozess der Abstraktion und Modellbildung Strömungsmechanik folgen (Kap. 17–22).
lernt, der typisch ist für die Ingenieurwissenschaften.
Dazu werden gute Kenntnisse der Mathematik vorausge- Nach den Grundlagen folgen die Fachgebiete Konstrukti-
setzt, wobei sich beide Fächer durchaus ergänzen und die on und Maschinenelemente (Kap. 23–28) gefolgt von der
Lösung der Aufgaben der Technischen Mechanik das Ver- Fertigungstechnik (Kap. 29–33). Diese Kapitel sind unter-
ständnis mathematischer Inhalte erhöhen kann. einander eng verzahnt. Sie unterliegen, obwohl es sich
Erfahrungsgemäß haben es Studierende des Maschinen- um etablierte Fachgebiete handelt, einem steten Wandel.
baus in den ersten Semestern damit nicht leicht. Die Das zeigt Kap. 24, das die Normen zur Geometrischen
Mathematik, die benutzt wird, ist zwar zum größten Teil Produktspezifikation und -prüfung (GPS) beschreibt. GPS
bekannt, ihre Anwendung ist aber neu. Die Angebote, die hat eine international einheitliche Symbolsprache festge-
Mathematik zu wiederholen, sind für die ersten Semes- legt, um Toleranzen in technischen Zeichnungen eindeu-
ter an allen Universitäten und Fachhochschulen vielfältig, tig festzuhalten und vollständig zu beschreiben. In den
sodass wir in diesem Lehrbuch gänzlich auf Kapitel dazu Kap. 23 bis 33 wird deshalb großer Wert auf die Nennung
verzichtet haben. Auch wäre der Umfang dieses Lehrbu- und Erläuterung der zu berücksichtigenden Normen ge-
ches sicherlich stark angewachsen. legt. In der Fertigungstechnik gilt die Aufmerksamkeit
in letzter Zeit verstärkt auch der Nachhaltigkeit, wobei
In diesem Buch bilden die Kap. 2 bis 21 die Grundlage die besonderen Eigenschaften der Werkstoffe (Kap. 14–
für das Verständnis des gesamten Stoffes. Sie stellen die 16) eine entscheidende Rolle spielen. Das führt dazu, dass
Basis für alle weiteren Kapitel dar. So ist der Maschinen- vertiefende Darstellungen zu den Materialeigenschaften
bau ohne das grundlegende Verständnis der wirkenden eingeflochten sind.
Kräfte und Momente zur Erklärung der Bewegungs- und
Beanspruchungsarten nicht vorstellbar (Kap. 2–11). Die Elektrotechnik und Maschinenbau waren schon immer
Beschreibung und Analyse der Bewegung von Körpern eng verzahnt. Der Elektrotechnik kommt heute jedoch
durch Gleichungen und Methoden zur Berechnung dieser eine zunehmende Bedeutung im Maschinenbau zu. Zu-
komplexen Vorgänge verlangt nach effizienten Algorith- grunde liegen die Fortschritte in der Halbleiterelektronik
men (Kap. 11). Periodische Vorgänge und Schwingungen und Kommunikationstechnik. Aber auch die zunehmen-
sind dabei für einen Großteil der Fragestellungen relevant de Leistungsfähigkeit sowohl der Schaltungs- als auch
(Kap. 12 und 13). der Leistungselektronik ist von großer Relevanz. Kap. 34
bis 37 widmen sich den Grundlagen elektrischer Bau-
Die Auswahl der Materialien, die im Maschinenbau für
elemente, linearer Netze, der Halbleiterelektronik sowie
einen bestimmten Zweck verwendet werden, verlangt
Motoren und Generatoren. Auch die Verknüpfung dieser
eine eingehende Beschäftigung mit den Materialeigen-
Elemente, z. B. in Regelkreisen, wird hier behandelt, so-
schaften. Dabei spielen sowohl innere Struktur, physi-
dass die Kapitel zur Regelungstechnik (Kap. 38–41) den
kalische aber auch chemische Eigenschaften eine Rolle.
Abschluss des Lehrbuches bilden. Die Regelungstechnik
Häufig ergeben sich Lösungen für innovative und nach-
beschäftigt sich mit der gezielten Beeinflussung des Ver-
haltig einsetzbare Maschinen und Systeme auf Grund
haltens von technischen Systemen und ist Grundlage der
neuer oder weiterentwickelter Materialien. Daher folgen
Automatisierungstechnik. Sie wiederum steht in engem
den Kapiteln der Technischen Mechanik die Kapitel der
Zusammenhang mit der Fertigungstechnik aber auch der
Werkstoffkunde (Kap. 14–16).
Elektrotechnik.
Werkstoffe sind ein Innovationsmotor. Viele Errungen-
schaften wären ohne neue oder verbesserte Materialien Dieser kurze Abriss zeigt, wie der Aufbau des Lehr-
nicht möglich gewesen. Das Angebot an neuen Mate- buches die einzelnen Fachgebiete inhaltlich miteinander
rialien steigt ständig, ebenso wie die Anforderungen an verzahnt, unterstützt durch zahlreiche Querverweise in
bestehende Werkstoffe. Zur Realisierung von Maschinen den einzelnen Kapiteln.
8 1 Maschinenbau – seine Vielfalt und die Motivation für dieses Lehrbuch

Die Zugehörigkeit der Kapitel zu den verschiedenen Frage 8.2


Fachgebieten erkennen Sie am Daumenregister am Seiten- Ändert sich das Vorzeichen der Arbeit der Federkraft,
rand. wenn man eine Feder dehnt oder staucht?

Abb. 1.4 Verständnisfragen erleichtern das Rekapitulieren


Symbole müssen mehrfach benutzt werden
Kinetische Energie des starren Körpers
Der Maschinenbau besteht aus vielen Teildisziplinen, was Die kinetische Energie des starren Körpers hängt
dazu führt, dass eine einheitliche Symbolik der Varia- quadratisch von der Schwerpunktsgeschwindigkeit
blen unmöglich ist. Daher müssen verschiedene Symbole und quadratisch von der Winkelgeschwindigkeit ab.
mehrfach und in anderer Bedeutung benutzt werden.
Dies ist am Beispiel des Symbols für die Geschwindig-
keit im Kapitel Strömungsmechanik (Kap. 22) in einem Abb. 1.5 Gelb unterlegter Text hebt wichtige Merksätze hervor
Übersichtskasten dargestellt. Symbollisten zu den einzel-
nen Fachgebieten finden Sie am Ende des Buches. Unterbrochen wird der Text durch gelb unterlegte Text-
passagen (Merkkästen), die meist Definitionen enthalten
Für die imaginäre Zahl wird durchweg das im Maschi- oder auf Besonderheiten hinweisen (Abb. 1.5).
nenbau und der Elektrotechnik genutzte Symbol j in
aufrechter Schreibweise verwendet. Dies vermeidet die Auch wichtige Formeln werden durch gelbe Farbe her-
Verwechslung mit laufenden Indizes. Generell sind alle vorgehoben.
Indizes, die eine Abkürzung darstellen, aufrecht geschrie-
ben. So kann zum Beispiel ein Index i eine beliebige
Zahl bedeuten – also kursiv gesetzt sein – aber auch als Beispiel Eine 900 N schwere Person steht auf einem
Sprungbrett (Abb. 2.7). Zu zeichnen ist das Freikörper-
Abkürzung für „innen“ Verwendung finden. Zur Unter-
bild.
scheidung muss letzteres Letzteres aufrecht geschrieben
werden.

1.6 Didaktische Elemente


Eine Reihe didaktischer Elemente in diesem Lehrbuch
unterstützen das Verständnis des Stoffes. Hier sei kurz er- 3m 2m
klärt, welche Überlegungen dahinter stecken.
900 N
Bx

Blaue Überschriften in Satzform geben


Ay By
Aufschluss über den Inhalt des Abschnitts 3m 2m

Abb. 2.7 Person auf Sprungbrett (oben ) und zugehöriges Freikörperbild (un-
Nach den nummerierten Hauptüberschriften folgen un- ten )
nummerierte Überschriften, deren Abschnitte einen wich-
tigen Teilbereich behandeln. Sie sind als Satz formuliert Wir sehen das Sprungbrett als einen Balken an und er-
und stellen eine Lerneinheit in dem Hauptabschnitt dar. setzen Person und Lager wie folgt: Das Lager A, das das
Sprungbrett ausschließlich in vertikale Richtung abstützt,
durch die Lagerkraft Ay , das Lager B, das das Sprungbrett
in horizontaler und vertikaler Richtung abstützt, durch
Verständnisfragen, Merksätze und Beispiele die Lagerkräfte Bx und By , und die Person durch eine nach
erleichtern das Lernen unten gerichtete Kraft des Betrags 900 N. Damit ergibt
sich das abgebildete Freikörperbild, mit dessen Hilfe wir
nun die Kräfte berechnen könnten, die von den Lagern
Es ist sinnvoll, am Ende einer Lerneinheit das Gelernte zu auf das Sprungbrett ausgeübt werden. In den folgenden
rekapitulieren, wobei die Verständnisfragen unterstützen Kapiteln wird gezeigt, wie das geht.
(Abb. 1.4). Die Lösungen dazu finden Sie am Ende des
jeweiligen Kapitels. Abb. 1.6 Kleine Beispiele sind in den Text integriert
1.6 Didaktische Elemente 9

Abb. 1.7 Ausführliche Beispiele


oder Anwendungsbeispiele sind
in einem Kasten untergebracht

Zur Verdeutlichung neuer Begriffe, Ergebnisse oder Vor- Es gibt Themen, die den zu lernenden Inhalt stark auswei-
gehensweisen haben die Autoren zahlreiche Beispiele im ten und damit den Lese- und Lernfluss unterbrechen wür-
Text integriert. Diese Beispiele beginnen mit der blauen den. Für das Verständnis des großen Zusammenhangs
Überschrift Beispiel und enden mit einem kleinen blauen sind sie aber beim ersten Lesen nicht unbedingt erforder-
Dreieck (Abb. 1.6). lich und können auch später noch unabhängig studiert
werden. Diese Themen sind in Vertiefungs-Kästen unter-
gebracht (Abb. 1.8).

Kästen enthalten Beispiele, Übersichten


Im Gegensatz dazu treffen Sie in vielen Kapiteln auf
und Zusatzwissen in kleinen Portionen Übersichtskästen. Sie enthalten jeweils einen Überblick
über den vorgestellten Inhalt und ergänzen auf kompak-
Neben diesen Beispielen im Text gibt es (große) Beispiele, te Weise das bereits Erklärte. Sie werden auch benutzt,
die meist komplexere oder allgemeinere Probleme behan- um mathematische Grundlagen, wie z. B. die Matrizen-
deln (Abb. 1.7). rechnung oder den Umgang mit komplexen Zahlen, kurz
10 1 Maschinenbau – seine Vielfalt und die Motivation für dieses Lehrbuch

Abb. 1.8 Vertiefungen beschrei-


ben Themen im Detail

Abb. 1.9 In Übersichten werden


verschiedene Begriffe oder das
Hintergrundwissen zu einem
Thema zusammengestellt
1.7 Leitbeispiel Antriebsstrang 11

Niederhalterkraft
Flansch σz
σr σt
σt
σr
σz σz
σt
σt Ziehstempel-
σz kraft
Wand

Boden
a b

Abb. 1.10 Farbige Darstellung nach Farbschema verbessert das Verständnis; a Werkstück (gelb ) und Bewegung (grün ); b Werkstück (gelb ) und Kraft (rot )

darzustellen. Die Auswahl beruht auf der Lehrerfahrung


der Autoren (Abb. 1.9).
1.7 Leitbeispiel Antriebsstrang
Die erlernten Inhalte können Sie an zahlreichen Aufgaben Neben dem „wie“ während des Maschinenbaustudiums
am Ende eines jeden Kapitels erproben. Je nach Kapitel steht als zweite wichtige Frage das „warum“. Warum
ist es eine größere oder geringere Anzahl. Meist sind die muss ich das lernen, wozu ist es wichtig, warum muss
Aufgaben gruppiert in jeweils drei verschiedene Schwie- ich mich damit herumplagen? Aus diesem Grund haben
rigkeitsgrade. Versuchen Sie sich zuerst selbstständig an wir fast alle Kapitel nicht nur mit vielen Beispielen, son-
den Aufgaben. Zur Kontrolle finden Sie die Resultate, so- dern auch mit einem speziellen Leitbeispiel ausgestattet.
fern es sich um Rechenaufgaben handelt, am Ende des Gewählt wurde dafür aus dem vorhandenen Bezug vie-
Buches. Sollten Sie trotzdem nicht mit der Aufgabe fer- ler technisch interessierter Studenten zum Auto der An-
tig werden, finden Sie auf der Homepage des Buches auf triebsstrang eines modernen Kraftfahrzeugs. Am Beispiel
https://www.springer.com/de/book/9783662558812 die des Antriebsstranges eines Fahrzeugs soll gezeigt wer-
Lösungswege. den, welche ingenieurwissenschaftlichen Fragestellungen
bei der Entwicklung und Produktion auftreten und wel-
che Relevanz die im Studium vermittelten Fachkenntnisse
dafür haben.
Konsequente Farbgebung erleichtert Dieses Leitbeispiel wird dabei aus der Sicht des jeweiligen
das Verständnis der Abbildungen Faches betrachtet. So werden z. B. in der Technischen Me-
chanik die Kräfte im Triebwerk eines Hubkolbenmotors
berechnet (Kap. 2), und im Kapitel über Werkstoffkunde
Alle Abbildungen sind vierfarbig gestaltet und folgen ei- werden die typischerweise bei der Auswahl von Werk-
nem bestimmten Schema. Alle Pfeile für Kräfte, Momente stoffen im Antriebsstrang zu lösenden Fragestellungen
und Wärmegrößen erscheinen in rot. Grüne Pfeile symbo- analysiert (Kap. 15, Kap. 30–33).
lisieren Bewegungen und Transportströme, z. B. Wärme-
Sie erkennen die Leitbeispiele an der grünen Kopfzeile
oder Volumenströme in der Thermodynamik. Werkstücke
des entsprechenden Kastens (Abb. 1.11).
oder Teile, die für das Verständnis wichtig sind werden
grundsätzlich gelb dargestellt, Befestigungen und Halte- Der Tab. 1.2 können Sie entnehmen, welcher Teil des An-
rungen sind grau gehalten (Abb. 1.10). triebsstrangs in welchem Kapitel behandelt wird. Dabei

Abb. 1.11 Der Kopf des Kastens


eines Leitbeispiels enthält das Bild
eines stilisierten Antriebsstranges
12 1 Maschinenbau – seine Vielfalt und die Motivation für dieses Lehrbuch

Tab. 1.2 Zusammenstellung der Leitbeispiele in den einzelnen Kapiteln


Bild Thema Kapitel
Kräfte im Triebwerk eines Hubkolbenmotors 2
In Hubkolbenmotoren werden die Gaskräfte aus der Kraftstoffverbrennung vom Kol-
ben auf die Kurbelwelle übertragen, wo sie schließlich das Drehmoment des Motors
erzeugen. Welche Kräfte wirken dabei auf die einzelnen Bauteile im Motor, und welcher
Zusammenhang besteht zwischen der Gaskraft am Kolben und dem Drehmoment an der
Kurbelwelle?
Wie ändern sich Drehzahl, Drehmoment und Leistung in einem Getriebe? 3
Wenn der Wagen nicht mehr richtig zieht, muss man runter schalten. Dann zieht der Wa-
gen wieder besser, aber der Motor wird lauter, weil er schneller dreht. Ein guter Grund,
sich zu überlegen, wie Drehzahl, Drehmoment und Leistung von der Getriebeüber-
setzung abhängen. Die Frage, wie sich Drehzahl, Drehmoment und Leistung in einem
Getriebe ändern, wird beantwortet.
Kräfte in einer Schraubenverbindung am Beispiel der Pleuelverschraubung 5
Wie groß ist in einer Schraubenverbindung die durch eine bestimmte Betriebskraft her-
vorgerufene Schraubenkraft? Die Kräfteverhältnisse in einer Schraubenverbindung lassen
sich im sogenannten Verspannungsdreieck sehr gut grafisch darstelllen. Wir sehen, dass
sich die Kräfte in einer Schraubenverbindung vermindern.
Fahrwerksfedern tragen die gesamte Last von Karosserie und Zuladung 5
Besonders wichtige Anschlusskomponenten an den Antriebsstrang sind die Fahr-
werksfedern, da diese die gesamte Last von Karosserie und Zuladung tragen. Zu deren
wichtigsten Eigenschaften gehören die Federkonstante, welche maßgeblich den Fahrzeug-
komfort des Fahrzeugs bestimmt, sowie die Tragfähigkeit der Feder.
Ein Differenzialgetriebe dient bei einem Fahrzeug zum Ausgleich der unterschied- 9, 10
lichen Drehzahlen der Räder bei einer Kurvenfahrt. Wir bestimmen im Beispiel die
Winkelgeschwindigkeit und die Winkelbeschleunigung des Verbindungsritzels. Aus der
Winkelgeschwindigkeit des Ritzels lässt sich bestimmen wie groß die Winkelbeschleu-
nigung des Ritzels ist, was bei einer Geradeausfahrt passiert und was sich ergibt, wenn
aufgrund von Eisglätte das linke Rad blockiert und das rechte Rad durchdreht.

Der Antriebsstrang in einem Kraftfahrzeug ist die Abfolge aller Elemente, die dafür ver- 13
antwortlich sind, das Antriebsmoment des Motors zum Reifen-Fahrbahn-Kontakt zu
übertragen, wo es letztlich als Antriebskraft seine Wirkung entfaltet. Elemente eines An-
triebsstrangs sind Wellen, die häufig als torsionselastisch zu betrachten sind, drehende
Massen wie Schwungräder und Zahnräder sowie weitere Bauteile wie Kupplungen und
Gelenke. Den Abschluss des Antriebsstrangs bilden die Räder mit elastischen Reifen. Ein
Antriebsstrang ist aufgrund der darin verbauten Abfolge von elastischen und trägen Ele-
menten ein schwingungsfähiges System.

Turbolader dient der Leistungs-/Effizienzsteigerung 14, 15


Kurbelwellengehäuse mit den Zylindern
Ölwanne aus Polypropylen
Getriebezahnräder sind aus oberflächengehärtetem Stahl
Getriebe. Wenig Verschleiß, lange Lebensdauer, Präzision

Thermodynamische Darstellung eines Motors als System mit Systemgrenze. 17, 18


Die technische Thermodynamik betrachtet Maschinen mithilfe makroskopischer Größen.
Dies hat enorme Vorteile, dadafür nur wenige Größen bekannt sein müssen. Als Beispiel
wird ein Verberennungsmotor betrachtet. Zunächst ist es wichtig das Objekt, das wir
betrachten wollen, klar zu definieren, indem die Systemgrenze festgelegt wird. Wenn die
Vorgänge im Kolbenraum interessieren, legen wir eine Systemgrenze so wie im Bild fest.
Alles was sich außerhalb der Systemgrenze befindet bezeichnen wir als Umgebung.
Es wird der Kreisprozess eines Verbrennungsmotors am Beispiel des Diesel-Prozesses 20
genauer betrachtet. Beim Diesel-Prozess wird der Brennstoff nach der reversibel adiaba-
ten Verdichtung der angesaugten Luft eingespritzt. Während der Verbrennungsvorgang
abläuft, bewegt sich der Kolben nach unten sodass man eine Gleichdruckverbrennung
erreichen kann. Der thermische Wirkungsgrad lässt sich in Abhängigkeit des Verdich-
tungsverhältnisses und des Einspritzverhältnisses berechnen.
1.7 Leitbeispiel Antriebsstrang 13

Bild Thema Kapitel


Vergleich des Otto- und den Diesel-Prozesses und Bewertung anhand des thermischen 21
Wirkungsgrades. Der Vergleich ergibt, dass bei gleichen Verdichtungsverhältnis der
Diesel-Prozess einen kleineren thermischen Wirkungsgrad aufweist. Der Otto-Prozess
weist eine höhere mittlere Temperatur bei der Wärmezufuhr auf, und bei gleicher Wär-
meabgabe für beide Prozesse ergibt sich ein höherer Wirkungsgrad (größere spezifische
Kreisprozessarbeit bei gleicher spezifischer Wärmeabgabe) gegenüber dem Diesel-
Prozess. Dieselmotoren weisen daher größere thermische Wirkungsgrade auf, da hier
das Verdichtungsverhältnis deutlich höher als bei Ottomotoren ist.
Abgasturbolader – Berechnung der notwendigen Leistung 22
Im Leitbeispiel Abgasturbolader wird die Berechnung der notwendigen Leistung durch
die Kontinuitäts- und Energiegleichung sowie der notwendigen Leistung aus der Dre-
himpulserhaltung gezeigt. Aufgabe des Turboladers ist es, die Ladeluft bereits vor dem
Einlass in den Zylinder auf höheren Druck und höhere Dichte zu bringen, sodass sich
je Kolbenhub (Hubraum) mehr Luft im Zylinder befindet. Der Verbrauch und der CO2 -
Ausstoß wird daturch deutlich reduziert.
Technische Zeichnung einer Getriebewelle für ein Kfz Schaltgetriebe zur Übertragung von 23
Drehmomenten
Eine Welle dient zur Übertragung von Drehmomenten. In Fahrzeugen müssen zur opti-
malen Leistungsübertragung die Drehmomente durch die Änderung der Übersetzung an
die Geschwindigkeit angepasst werden. Daher sind auf Wellen immer mehrere Zahnrä-
der angeordnet, die je nach geforderter Übersetzung durch Verschieben der Zahnräder
zueinander in Eingriff gebracht werden. In der Abbildung ist die Zeichnung einer Getrie-
bewelle für ein Kfz-Schaltgetriebe dargestellt.

Der Antriebsstrang besteht aus den verschiedensten Maschinenelementen, die durch 26


Verbindungselemente erst ihre Wirkungsweise erhalten. Weder ein Kraftfahrzeug noch
sein Antriebsstrang wären ohne Verbindungselemente denkbar. Schraubenverbindun-
gen dienen dazu, alle wesentlichen Komponenten aneinander zu befestigen. Damit sie
diese Funktion erfüllen können, müssen hinreichend große Vorspannkräfte aufgebracht
werden. Damit kann die Dichtheit des Getriebes gegen Ölverlust gewährleistet werden.
In einem Antriebsstrang müssen die Antriebselemente die Energie vom Motor auf die 27
Räder übertragen. Ohne diese Elemente könnte ein Kraftfahrzeug nicht fahren. Die Funk-
tion, die Berechnung und die Gestaltung von Antriebselementen werden in Kap. 27
behandelt. Dazu gehören die Schaltkupplung, die direkt hinter dem Motor angeordnet
ist. Darauf folgt das Zahnradgetriebe. Die Grundelemente für ein Getriebe sind Wellen,
auf denen die Zahnräder befestigt werden. Damit sich die Wellen drehen können, benö-
tigt man Lager. Um das Drehmoment vom Getriebe auf die Hinterräder zu übertragen,
wird eine Gelenkwelle benötigt. Die Räder werden an feststehenden Achsen befestigt und
müssen natürlich auch gelagert werden.
Komponenten des Antriebsstrangs und ihre Fertigungsverfahren. 29
Der Antriebsstrang eines Fahrzeugs umfasst alle Komponenten zur Übertragung des
Drehmoments des Motors auf die Straße. Alle diese Komponenten müssen auf die eine
oder andere Art und Weise hergestellt und gefertigt werden. In Abb. 29.16 sind exempla-
risch einige Komponenten aufgeführt. In den Kap. 30 bis 32 werden diese Komponenten
als Anwendungsbeispiele der jeweils typischen Fertigungsverfahren behandelt und in
Tab. 29.3 die jeweiligen typischen Fertigungsverfahren aufgeführt. Das schließt jedoch
nicht aus, dass gleiche oder ähnliche Komponenten auch mittels anderer Verfahren herge-
stellt werden können.
Turbinenrad und die Keramikform für das Feingießen des Turbinenrades eines Abgas- 30.2
turboladers. Der Turbolader besteht aus einer Turbine und einem Verdichter. Die Abgase
durchströmen die Turbine und treiben sie an. Über eine Wellenverbindung wird das Ver-
dichterrad angetrieben, das die Ansaugluft dem Verbrennungsraum zuführt. Dadurch
wird der Luftdurchsatz erhöht und die Ansaugarbeit des Motors vermindert.

Aluminiumfelgen hergestellt mittels Schwerkraft- oder Niederdruck-Kokillenguss 30.2


Aluminiumfelgen sind optisch ansprechender als Stahlfelgen und bringen darüber hin-
aus Gewichtsvorteile. Die Herstellung von Aluminiumfelgen erfolgt in der Regel mittels
Schwerkraft- oder Niederdruck-Kokillenguss. Als Verfahrensvariante kommt noch das
direkte Pressgießen infrage. Alternativ können sie aber auch geschmiedet und aus strang-
gepressten Ringen und einem Stern durch Schweißen zusammengebaut werden.
14 1 Maschinenbau – seine Vielfalt und die Motivation für dieses Lehrbuch

Bild Thema Kapitel


Sinterformteile für Motor und Getriebe: für Zahnräder, Nockenwellenversteller 30.2
Zahlreiche Bauteile in Motor und Getriebe werden heutzutage gesintert, um deren Poro-
sität zu verringern und die geforderten physikalischen Bauteileigenschaften zu erreichen.
So können Verzahnungen von Zahnrädern direkt gepresst und bei der Verwendung von
sinterhärtbaren Stählen sogar ohne nachträgliche Wärmebehandlung gehärtet werden.
Mögliche Einsatzbereiche sind Zahnräder zum Transport von Flüssigkeiten (Öl- und
Kraftstoffpumpen), aber auch Komponenten für variable Nockenwellenversteller.
Fertigungsprozess einer Kurbelwelle 30.3
Die Kurbelwelle gehört zu den am stärksten belasteten Bauteilen innerhalb eines Motors
und nimmt die von dem Kolben bei der Verbrennung auftretenden und über die Pleu-
elstangen übertragen Druckkräfte auf. Bei der Fertigung eines modernen Pkw-Motors
kommen unterschiedliche Fertigungsverfahren zum Einsatz. Um die große Belastung
möglichst gering zu halten, werden Kurbelwellen in mehreren Stufen geschmiedet, um
einen zusammenhängenden Faserverlauf zu erzielen, der kombiniert mit dem dichten
Gefüge eine große Festigkeit ergibt.
Fertigung einer Getriebewelle. Das Fahrzeuggetriebe ist eine zentrale Komponente im 30.4
Antriebsstrang eines Fahrzeuges. Es übersetzt die Motordrehzahl auf die Antriebsdreh-
zahl. Klassische Werkstoffe für solche Wellen sind Vergütungsstähle, wie z. B. 42CrMo4
oder 37MnSi5. Die Herstellung erfolgt, ausgehend von einem zylindrischen Rohteil (Stan-
genmaterial) über eine kombinierte Dreh- und Wälzfräsbearbeitung der Funktionsflächen.
Bearbeitung der Kolbenlaufflächen von Zylindern von Verbrennungsmotoren mittels Ho- 30.4
nens; Honen der Zylinderlaufbahnen. Die bekannteste Anwendung des Honens ist die
Bearbeitung der Kolbenlaufflächen von Zylindern von Verbrennungsmotoren. Durch das
Honen wird die Genauigkeit der Zylinderlaufbahnen erhöht, und die charakteristische
Oberfläche des Langhubhonens verbessert die Gleiteigenschaften wesentlich. Das Hon-
ergebnis wird zu einem großen Teil von den Eigenschaften der Werkzeugmaschine, der
Geometrie des Werkstückes und dem Werkstückwerkstoff bestimmt.
Komplettbearbeitung des Getriebegehäuses 31
Auswahl eines geeigneten Maschinenkonzepts für die Komplettbearbeitung des Getrie-
begehäuses. Das Getriebegehäuse des Leitbeispiels soll mit einer Stückzahl von 250.000
Einheiten pro Jahr hergestellt werden. Es sollen die Bearbeitungen mit notwendigen Auf-
spannungen und Bearbeitungen festgelegt und eine geeignete Maschine oder Anlage
ausgewählt werden. Zuerst wir die Bearbeitungszeit einer Einheit berechnet und auf die
Gesamtbearbeitungszeit pro Jahr der 250.000 Einheiten erweitert.
Rezyklieren der Werkstoffe eines Antriebsstranges. 33
Turbolader: Umschmelzen in artgleiche Legierung Pulverisieren, Reinigen, Sintern
Kurbelwellengehäuse: Primärlegierung Umschmelzen in gleiche Legierung,
Sekundärlegierung umschmelzen in Sekundärlegierung
Ölwanne: Regranulieren, Primärzusatz, Umformen/Schreddern, Schrottzugabe
für Roheisen
Getriebezahnräder: Umschmelzen für hochlegierten Stahl oder zur Roh- bzw.
Gusseisenherstellung
Der Zündtransformator. Das Benzin-Luftgemisch in einem Verbrennungsmotor: wird 35
durch eine Hochspannungsentladung gezündet. Dazu wird die in der Abbildung gezeigte
Schaltung verwendet. Deren Zeitverhalten wird von einem Hall-Sensor bestimmt, wel-
cher die Stellung der Kurbelwelle feststellt. Die Zündung wird vorbereitet, indem der
Hall-Sensor den Steueranschluss des Leistungstransistors auf Masse zieht. So kann ein
Strom von der Batterie durch die Primärspule und den Leistungstransistor zur Masse
fließen. Da die Sekundärspule in dieser Zeit keinen Strom führt, verhält sich der Transfor-
mator wie eine einzelne Spule der Induktivität.
Die von einer Solaranlage aufgeladene Batterie eines Elektroautos ermöglicht eine der 36
umweltfreundlichsten Arten, Auto zu fahren. Von der Sonne erreicht uns bei gutem
Wetter ein Energiestrom mit einer Flächenleistungsdichte von 1 kW/m2 . Im Jahresdurch-
schnitt, bei jedem Wetter, ist der Wert deutlich kleiner. Die elektrische Energie wird in
einem Akku gespeichert und später mit einem bestimmten Wirkungsgrad an den Elek-
tromotor abgegeben. Der Aktionsradius hängt von mehreren Faktoren ab, die diskutiert
werden.
Modell der Geschwindigkeitsregelung eines Elektrofahrzeugs 38
Ein Elektrofahrzeug sei mit einem permanenterregten Gleichstrommotor ausgerüstet,
der dem Fahrzeug eine gewünschte Geschwindigkeit verleihen soll. Dabei fungiert der
Verstärker als Regler.
Literatur 15

werden Sie feststellen, dass manche Teile in verschie- Weiterführende Literatur


denen Kapiteln vorkommen, jeweils beleuchtet aus dem
Blickwinkel des Kapitelthemas. So wird verständlich, wie
sehr die einzelnen Wissensgebiete verknüpft sind. WiGeP (2013) Universitäre Lehre in der Produktent-
wicklung – Leitfaden der Wissenschaftlichen Gesell-
schaft für Produktentwicklung, Wissenschaftliche Ge-
sellschaft für Produktentwicklung
Literatur VDI (2013) Ingenieure auf einen Blick – Erwerbstätig-
keit, Innovation, Wertschöpfung, Verein Deutscher In-
Verband der Automobilindustrie (VDA) (2017) Jahreszah- genieure
len 2016; https://www.vda.de/de/services/zahlen-
und-daten/jahreszahlen.html. Zugegriffen: 31.7.2017
Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau
(VDMA) (2017) Maschinenbau in Zahl und Bild
2017; https://www.vdma.org/article/-/articleview/
12874852. Zugegriffen: 31.7.2017
Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VD-
MA): Absolventen ingenieurwissenschaftlicher Stu-
diengänge an deutschen Hochschulen; https://www.
vdma.org/documents/105628/778064/Absolventen+
ingenieurwissenschaftlicher+Studiengänge. Zugegrif-
fen: 31.7.2017
Technische Mechanik Teil

Technische Mechanik
I
Inhaltsverzeichnis

2 Grundbegriffe und Kraftgruppen –


der Einstieg in die Technische Mechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern . . . . . 59
4 Spannungen, Verzerrungen und Materialgesetz –
wenn Werkstoffe versagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen
und Verformungen berechnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
6 Energiemethoden und Knicken – Verformungen und Kräfte berechnen 149
7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung . . . . 165
8 Kinetik des Massenpunktes – wie beeinflussen Kräfte
und Momente die Bewegung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen . . . 201
10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen . . . . . . . . . 223
11 Analytische Mechanik – über effiziente Algorithmen
Bewegungsgleichungen herleiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen,
berechnen und beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete
und kontinuierliche Schwingungsmoden . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

17
Grundbegriffe und
2

Technische Mechanik
Kraftgruppen – der Einstieg
in die Technische Mechanik
Was ist eigentlich eine
Kraft?
Warum würde ein
einachsiger Anhänger an
einer gelenkig am
Anhänger gelagerten
Deichsel wackeln?
Wie aus einer Büroklammer
ein rasanter Kreisel wird.

2.1 Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.2 Ebenes Kräftegleichgewicht am Punkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.3 Statisches Gleichgewicht am ebenen starren Körper . . . . . . . . . . 26
2.4 Räumliche Kraftsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.5 Reibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
2.6 Schwerpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 19


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_2
20 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

Die Statik ist das Teilgebiet der Technischen Mechanik, das sich mit
dem Einfluss von Kräften und Momenten auf ruhende oder gleich-
Technische Mechanik

förmig bewegte Körper beschäftigt. Typische Aufgaben der Statik


sind die Bestimmung von Lagerreaktionen (den Kräften und Mo-
menten, mit denen eine Struktur gelagert ist) und Schnittgrößen
(den inneren Kräften und Momenten).
Im vorliegenden Kapitel werden wir uns vor allem damit befassen,
wie man für einen unter Belastung stehenden Körper die Lagerreak-
Kraft F
tionen berechnet, welche den Körper im statischen Gleichgewicht
halten. Dabei ist zwischen sehr kleinen (punktförmigen) Körpern, Angriffspunkt
ebenen Körpern, die nur in ihrer Ebene belastet werden, und
räumlichen Körpern zu unterscheiden, da sich auch die statischen
Gleichgewichtsbedingungen für diese Arten von Körpern unter-
Körper
scheiden. Schließlich werden wir uns mit verschiedenen Arten von Wirkungslinie
Reibung – Gleitreibung, Haftung, Rollreibung und Seilreibung –
und der Ermittlung des Schwerpunktes befassen. Die Kenntnis des
Schwerpunktes ist wichtig bei auf Strecken, Flächen und Volumina Abb. 2.1 Kräfte sind Vektoren. Beschrieben werden sie durch Betrag (der sich
verteilten Lasten sowie später in der Festigkeitslehre bei der Be- z. B. durch die Pfeillänge darstellen lässt), Wirkungslinie, Richtung und Angriffs-
punkt
schreibung von Biegespannungen.

ren. Wie bei Vektoren üblich veranschaulicht man Kräfte


2.1 Grundbegriffe in Zeichnungen und Skizzen durch Pfeile. Hierbei las-
sen sich Betrag und Richtung des Kraftvektors durch die
Anfangen wollen wir mit einer Reihe von Grundbegrif- Länge und die Orientierung des Vektorpfeils darstellen.
fen, die wir kennen müssen, um uns vernünftig miteinan- Die quasi „unendliche“ Verlängerung des Pfeils in bei-
der verständigen zu können. de Richtungen wird Kraftwirkungslinie oder einfach nur
Wirkungslinie genannt (Abb. 2.1).
Man wird intuitiv vermuten, dass der Kraftangriffspunkt,
Eine Kraft bewirkt Veränderungen den es ja ganz real gibt, wichtiger ist als die Kraftwir-
kungslinie, die ja nur eine gedachte Verlängerung des
Kraft ist die in der Technischen Mechanik wohl be- Kraftpfeiles ist. Doch das Gegenteil ist der Fall. In der
deutsamste physikalische Größe. Kräfte können die Ge- Statik ist die Wirkungslinie weit wichtiger als der ei-
schwindigkeit eines Körpers in Betrag und Richtung ver- gentliche Kraftangriffspunkt, der natürlich immer auf der
ändern oder Körper verformen. Mit ein paar Beispielen Wirkungslinie liegt.
aus unserer alltäglichen Erfahrung wird diese Definition Um das zu verstehen, müssen wir uns zunächst aber mit
anschaulicher: Wird ein Ball geworfen oder prallt auf dem einer weiteren wichtigen Modellvorstellung der Statik be-
Boden auf, so ist die Ursache für die geänderte Geschwin- schäftigen, dem starren Körper.
digkeit (beim Werfen) oder die geänderte Bewegungs-
richtung (beim Aufprall) jeweils eine Kraft. Beispiele für
die Verformung von Körpern durch an ihnen angreifende Der starre Körper
Kräfte sind das Einfedern einer Mountainbikegabel oder
Starre Körper sind streng genommen definiert als Kör-
das Modellieren von Knetmasse.
per, die sich unter Belastung nicht verformen. Auch wenn
Kräfte lassen sich in äußere und innere Kräfte einteilen. diese Modellvorstellung in der Realität niemals mit ma-
Äußere Kräfte wiederum kann man in eingeprägte Kräfte thematischer Exaktheit zutrifft – selbst ein massiger Ha-
und Zwangs- oder Reaktionskräfte unterscheiden. Ein- fenkran verformt sich ein wenig, wenn er irgendeine,
geprägte Kräfte sind die an einem Bauteil angreifenden auch noch so kleine Masse anhebt – so ist sie dennoch
Kräfte wie zum Beispiel Gewichtskräfte oder Windlasten. für die statische Analyse fast aller technischer Strukturen
Als Zwangskräfte bezeichnet man die durch die Lagerung eine weitgehend zutreffende und äußerst nützliche Idea-
des Bauteils hervorgerufenen Kräfte. lisierung.
Zum einen, weil sich reale technische Strukturen un-
Angriffspunkt und Wirkungslinie ter üblichen Betriebslasten in der Regel nur um einen
Kräfte besitzen einen Betrag, eine Richtung und einen Bruchteil ihrer eigenen Abmessungen verformen, sodass
Kraftangriffspunkt; man sagt, sie sind gebundene Vekto- statische Berechnungen (z. B. von Lagerreaktionen oder
2.1 Grundbegriffe 21

inneren Kräften) mit und ohne Berücksichtigung der Bau-


teilverformung praktisch identische Ergebnisse liefern.

Technische Mechanik
Zum anderen, weil man Kräfte in der Statik starrer Kör-
per nicht mehr als gebundene Vektoren auffassen muss,
sondern, wie wir gleich sehen werden, sie entlang ihrer
Wirkungslinie verschieben darf.

Frage 2.1
Nennen Sie zwei technische Strukturen, die sich nicht als
starre Körper ansehen lassen.

Abb. 2.3 Wirken Kräfte auf deformierbare Körper, so erzeugen sie bei einer
Welche Auswirkung hat die Modellvorstellung des star- Verschiebung entlang ihrer Wirkungslinie unterschiedliche Verformungszustän-
ren Körpers nun auf die Bedeutungen von Kraftangriffs- de und sind somit nicht mehr linienflüchtig
punkt und Wirkungslinie in der Statik? Sehen wir uns
hierzu an einem Beispiel an, was passiert, wenn eine Kraft
entlang ihrer Wirkungslinie verschoben wird.
Verschiebbarkeit von Kräften
Beispiel Auf einen starren Körper wirkende Kräfte können
entlang ihrer Wirkungslinie verschoben werden, oh-
ne dass dies Einfluss auf das statische Gleichgewicht
1000 N des Körpers hat.

Man sagt dazu auch, dass auf starre Körper wirkende


Kräfte linienflüchtige Vektoren sind.
Aber Vorsicht: Sobald wir deformierbare Körper betrach-
ten, gilt die Linienflüchtigkeit der Kraftvektoren nicht
mehr. So verformt sich ein deformierbarer Körper, wenn
er an seiner Unterseite durch eine Druckkraft belastet
wird, gänzlich anders, als wenn er an seiner Oberseite
durch eine Zugkraft belastet wird, obwohl sich diese bei-
den Lastfälle auch nur dadurch unterscheiden, dass die
äußere Kraft entlang ihrer Wirkungslinie verschoben wur-
de (Abb. 2.3).
1000 N

Einheit
Abb. 2.2 Für die Statik des abgebildeten starren Trägers ist es gleichgültig, ob
die angreifende Kraft auf dem Träger liegt oder unter ihm aufgehängt ist. In der Die Einheit der Kraft ist das Newton (Formelzeichen N,
Statik darf man auf starre Körper wirkende Kräfte entlang ihrer Wirkungslinie
nach Sir Isaac Newton, 1643–1727). Es setzt sich nach dem
verschieben
zweiten Newton’schen Axiom „Kraft gleich Masse mal
Beschleunigung“ aus den Einheiten von Weg, Masse und
Eine Gewichtskraft von 1000 N soll von einem Träger Zeit zusammen als:
getragen werden, und zwar im ersten Fall, indem das Ge-
wicht mittig auf den Träger gelegt wird, und im zweiten
Fall, indem das Gewicht an einer Schnur mittig unter den Definition der Krafteinheit Newton
Träger gehängt wird (Abb. 2.2). Mechanisch gesehen ent-
spricht die unterschiedliche Positionierung des Gewichts m
1 N = 1 kg .
einer Verschiebung des Kraftangriffspunktes entlang der s2
Kraftwirkungslinie, und diese Verschiebung ist für die
Statik des Trägers – die Lagerkräfte an linker und rech-
ter Trägerseite – ohne irgendeine Auswirkung, denn die Auf der Erdoberfläche, wo die Erdbeschleunigung g mit
Lagerkräfte betragen in beiden Fällen jeweils 500 N.  9,81 m/s2 in etwa konstant ist, gilt für die Gewichtskraft G
22 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

Fy = Fsinα F3
Technische Mechanik

F
α
F2
Fx = Fcosα
R
Abb. 2.4 Kräfte lassen sich mit den geeigneten Winkelfunktionen in ihre Kom-
ponenten zerlegen

F1

einer Masse m der Zusammenhang G = 9,81 m/s2 · m, so-


dass eine Masse von 1 kg genau die Gewichtskraft 9,81 N
hat. Abb. 2.5 Kräfte kann man grafisch addieren, indem man die einzelnen Kraft-
pfeile hintereinanderreiht

Komponentenzerlegung
Es ist vielfach zweckmäßig, eine Kraft in ihre Komponen-
ten zu zerlegen, bei ebenen Problemen beispielsweise in F1x + F2x + ... + Fnx = Rx ,
die x- und y-Komponente. Hierzu brauchen wir die geeig- F1y + F2y + ... + Fny = Ry und
nete Winkelfunktion, und es stellt sich die Frage „Sinus
F1z + F2z + ... + Fnz = Rz .
oder Kosinus?“. Zwei Möglichkeiten gibt es vorzugehen
(Abb. 2.4).
Für die Variante 1 müssen Sie die Definition von Sinus-
Grafisch werden Kraftvektoren zur Resultierenden R ad-
und Kosinusfunktion kennen: Sinus = Gegenkathete/ diert, indem man die zu addierenden Kräfte durch Paral-
Hypothenuse und Kosinus = Ankathete/Hypothenuse. lelverschiebung nach dem Muster „Startpunkt des neuen
Da in Abb. 2.4 die Horizontalkomponente Fx am Winkel α
Vektors an den Endpunkt des vorhergehenden“ aneinan-
angreift, muss Fx über die Ankathete, also den Kosinus derreiht (Abb. 2.5).
definiert sein. Und Fy muss, da gegenüber von α lie-
gend (nämlich dann, wenn man Fy zwischen die beiden Greifen alle zu addierenden Kräfte im selben Punkt an
anderen Pfeilspitzen nach rechts verschiebt) über die Ge- (bzw. treffen sich alle Kraftwirkungslinien in einem ein-
genkathete, also den Sinus definiert sein. zigen Punkt), so greift auch die Resultierende in diesem
Die Variante 2 funktioniert ohne diese Definitionen, da- Punkt an. Kreuzen sich die Wirkungslinien der zu addie-
für müssen Sie aber die grafischen Verläufe von Sinus- renden Kräfte hingegen nicht in einem einzigen Punkt, so
und Kosinusfunktion vor Augen haben. Wir merken uns: ist die Wirkungslinie der Resultierenden so zu legen, dass
Für 0° sind sin 0◦ = 0 und cos 0◦ = 1, und für 90° sind die Momentenwirkung der Kräfte erhalten bleibt. Mit der
sin 90◦ = 1 und cos 90◦ = 0. So wie der Winkel α in Momentenwirkung von Kräften werden wir uns in Ab-
Abb. 2.4 gegeben ist, liegt er näher an 0° als an 90°. Wir schn. 2.3 näher befassen.
stellen uns daher vor, was aus den Komponenten Fx und
Fy würde, wenn α tatsächlich gegen 0° ginge. Fx würde
genauso groß wie F werden, wir benötigen für Fx also ei- Statisches Gleichgewicht
ne Winkelfunktion, die für 0° den Wert 1 annimmt, das
Statisches Gleichgewicht liegt immer dann vor, wenn ein
ist der Kosinus. Und Fy würde zu null werden, wir brau-
Körper nicht beschleunigt wird, also insbesondere dann,
chen für Fy also eine Winkelfunktion, die für 0° den Wert
wenn ein Körper ruht. Alle auf den Körper wirkenden
0 annimmt, also den Sinus.
Kräfte und Momente gleichen sich dann zu null aus.
Achtung Sehen Sie zu, dass Sie die Winkelfunktionen
aus dem „Effeff“ beherrschen. Sie werden Sie in sehr
vielen Aufgaben der Technischen Mechanik anwenden Balken
müssen. 
In technischen Anwendungen werden Kräfte sehr oft
von schlanken Trägern aufgenommen. Ein Träger, dessen
Kräfteaddition
Querschnittsabmessungen deutlich kleiner als seine Län-
Die Addition von Kräften geschieht nach den Gesetzen ge sind, wird allgemein als Balken bezeichnet. So würde
der Vektoraddition. Rechnerisch werden also schön ge- man beispielsweise ein Stuhlbein, einen Schlagbaum, aber
trennt alle x-, y- und gegebenenfalls z-Koordinaten der zu auch ein Sprungbrett oder die Fahrbahn einer Brücke in
addierenden Kräfte F 1 bis F n zur entsprechenden Koordi- der Terminologie der Technischen Mechanik als Balken
nate der Resultierenden R addiert. bezeichnen.
2.1 Grundbegriffe 23

Freischneiden und Freikörperbilder


Ist ein Problem der Statik schon so weit aufbereitet,

Technische Mechanik
dass alle an einen Körper angreifenden Kräfte als Pfeile
eingezeichnet sind, dann kann man mit diesen Kräften
rechnen. Wir könnten beispielsweise die Resultierende
R dieser Kräfte berechnen oder – wie das in den Ab-
schn. 2.2 und 2.3 erklärt ist – Lagerreaktionen ermitteln.
Aber die Realität ist anders: In der technischen Praxis ist
die zu analysierende Struktur eben nicht nur durch aller-
10 kg
lei Kraftpfeile belastet, sondern auch durch Lagerungen
und Festhaltungen in ihrer Umgebung verankert. Um die
angreifenden Kräfte dann analysieren zu können, müssen
wir diese Lagerungen erst durch die von ihnen ausgeüb-
ten Kräfte ersetzen.
Damit sind wir beim Prinzip des Freischneidens: Alles,
was auf den betrachteten Körper eine Kraft oder ein Mo-
ment ausübt, wird durch eben diese Kraft (bzw. dieses
Moment) ersetzt. In der Regel betrifft dies alle Lager,
Festhaltungen, Personen, Rollen, das im Schwerpunkt an-
zunehmende Eigengewicht eines Körpers etc.
Das Ergebnis eines Freischnitts ist ein Freikörperbild.
Abb. 2.6 Durch reibungsfrei drehbar gelagerte Rollen werden Kräfte nur um-
gelenkt. Auf beiden Seiten der Rolle ist die Kraft im Seil gleich groß Ein Körper ist immer dann ordnungsgemäß freigeschnit-
ten, wenn er im Freikörperbild völlig losgelöst „in der
Luft schwebt“ und nur noch durch verschiedene Kräf-
te, Momente und dergleichen belastet wird. In ein gutes
Stäbe und Seile
Freikörperbild sind auch alle wichtigen Abmessungen
Ein Stab ist ein Spezialfall eines Balkens. Ein Balken wird einzuzeichnen, sodass sich eine Aufgabe der Technischen
immer dann als Stab bezeichnet, wenn er an beiden Seiten Mechanik schließlich vollkommen auf Basis des Freikör-
gelenkig eingespannt ist und nur an den Einspannstellen perbildes und ohne weiteres Nachschlagen in der Aufga-
belastet wird. Ein Stab kann nur Kräfte in Stabrichtung benstellung lösen lässt.
aufnehmen, und zwar entweder Zug- oder Druckkräfte.
Beispiel Eine 900 N schwere Person steht auf einem
Frage 2.2 Sprungbrett (Abb. 2.7). Zu zeichnen ist das Freikörper-
bild.
Nennen Sie Beispiele für die technische Anwendung von
Stäben.

Ähnlich wie ein Stab kann auch ein straff gespanntes Seil
nur Kräfte in Längsrichtung aufnehmen, wobei aber die
Fähigkeit zur Kraftübertragung beim Seil auf Zugkräfte
beschränkt ist.

3m 2m
Reibungsfrei drehbar gelagerte Rollen
Wird ein Seil über eine reibungsfrei drehbare Rolle ge- 900 N
führt, so lenkt die Rolle die Richtung der Seilkraft nur Bx
um, ohne dabei den Betrag der Seilkraft zu ändern. So
muss die in Abb. 2.6 am Seil ziehende Person das 10 kg Ay By
3m 2m
schwere Gewicht mit eben dieser Gewichtskraft 10 kg ·
9,81 m/s2 = 98,1 N festhalten, damit es nicht zu Boden Abb. 2.7 Person auf Sprungbrett (oben ) und zugehöriges Freikörperbild (un-
fällt. Durch die drehbare Rolle ändert sich somit nur ten )
die Richtung der erforderlichen Haltekraft. Müsste die
Haltekraft ohne die Rolle senkrecht nach oben ausgeübt Wir sehen das Sprungbrett als einen Balken an und er-
werden, so ist sie nun aufgrund der Umlenkrolle nach setzen Person und Lager wie folgt: Das Lager A, das das
links unten orientiert. Sprungbrett ausschließlich in vertikale Richtung abstützt,
24 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

Übersicht: Tipps zur Bearbeitung von Aufgaben der Technischen Mechanik


Technische Mechanik

Die Technische Mechanik ist ein typisches Textaufga- Zweifelsfall lieber zu groß als zu klein. Denken Sie
benfach. Bitte beherzigen Sie die folgenden einfachen daran: Das Freikörperbild ist Ihr Lösungsansatz. Oh-
Ratschläge, die Ihnen wesentlich dabei helfen werden, ne korrektes Freikörperbild keine richtige Lösung.
die Übersichtlichkeit einer Berechnung zu erhöhen und Rechnen Sie so lange wie möglich mit Formelzei-
die Fehleranfälligkeit zu verringern. chen Setzen Sie konkrete Zahlenwerte erst zum
Schluss der Rechnung ein. Sie reduzieren so den
Zeichnen Sie Freikörperbilder liebevoll Der Schreibaufwand, erhöhen die Übersichtlichkeit und
Schlüssel zur Lösung jeder Textaufgabe ist der richti- minimieren unnötige Flüchtigkeitsfehler.
ge Ansatz, und für die weitaus meisten Aufgaben der Rechnen Sie immer mit Einheiten Wenn Sie
Technischen Mechanik ist der Ansatz das Freikörper- konkrete Zahlenwerte einsetzen, vergessen Sie die
bild. Zeichnen Sie Freikörperbilder also stets sorgfäl- Einheiten nicht. Die Kontrolle, ob die Einheit Ih-
tig und groß genug, um alle Pfeile, Formelzeichen res Ergebnisses passt, ist immer eine wichtige erste
und Bemaßungen bequem eintragen zu können. Im Kontrolle des Ergebnisses auf Richtigkeit.

durch die Lagerkraft Ay , das Lager B, das das Sprungbrett In der Statik interessiert die Frage, wie groß die angrei-
in horizontaler und vertikaler Richtung abstützt, durch fenden Kräfte sein müssen, bzw. in welche Richtung sie
die Lagerkräfte Bx und By , und die Person durch eine nach wirken müssen, damit sich der betrachtete Körper im sta-
unten gerichtete Kraft des Betrags 900 N. Damit ergibt tischen Gleichgewicht befindet. Die Beantwortung dieser
sich das abgebildete Freikörperbild, mit dessen Hilfe wir Frage kann rechnerisch oder grafisch erfolgen.
nun die Kräfte berechnen könnten, die von den Lagern
auf das Sprungbrett ausgeübt werden. In den folgenden
Kapiteln wird gezeigt, wie das geht.  Rechnerische Bestimmung
Einheiten Befindet sich ein Körper im statischen Gleichgewicht,
Mit Einheiten kann man wie mit Zahlen rechnen. Und so müssen sich die an ihm angreifenden Kräfte in ih-
Sie sollten dies auch tun, denn eine falsche, weil gerate- rer Summe zu null ergänzen, denn andernfalls würde
ne Einheit bedeutet, dass das Ergebnis (grob) falsch ist. der Körper dem 2. Newton’schen Axiom F = m · a gemäß
Eine Anwendung für das Rechnen mit Einheiten ist das beschleunigt werden. Für Vektoren heißt das, dass alle
Umrechnen von Einheiten, wie im folgenden Beispiel. Komponenten, jeweils für sich aufsummiert, null ergeben.
Wir erhalten somit als
Beispiel In Großbritannien und der Vereinigten Staa-
ten wird der Luftdruck oft in psi („pounds per square
inch“) angegeben. Hierbei entsprechen 1 lbf = 4,448 N Gleichgewichtsbedingungen in ebenen Problemen
und 1 in = 25,4 mm. Wie vielen Pascal entspricht ein psi?
→ ∑ Fix = 0 und
Zur Umrechnung der Einheiten denken wir uns die
anglo-amerikanischen Einheiten jeweils eingeklammert ↑ ∑ Fiy = 0 .
und ersetzen sie durch die SI-Einheiten. Wir erhalten
lbf 4,448 N N
1 psi = 1 = = 6894 = 6894 Pa. Für räumliche (dreidimensionale) Fragestellungen käme
in2 (25,4 (0,001 m))2 (m)2 als dritte Gleichgewichtsbedingung noch das Kräfte-

gleichgewicht in z-Richtung hinzu. Die Pfeile vor den
Summenzeichen zeigen an, welche Kraftrichtung jeweils
als positiv gewertet wird. Beispiel x-Richtung: Horizonta-
2.2 Ebenes Kräftegleichgewicht le Kraftkomponenten, die von links nach rechts wirken,
am Punkt gehen mit positivem Vorzeichen und solche, die von
rechts nach links wirken, mit negativem Vorzeichen in die
Kräftebilanz ein.
Wir betrachten in diesem Kapitel Körper, an denen ver-
schiedene Kräfte so angreifen, dass sich ihre Wirkungs- Wie diese Gleichgewichtsbedingungen anzuwenden sind,
linien in einem Punkt schneiden. Ebenfalls gebräuchlich erschließt sich am besten an einem Beispiel, wie es in der
sind die Begriffe zentrales Kräftesystem oder zentrale Box Freischneiden und Anwendung der Gleichgewichtsbedin-
Kraftgruppe. gungen zu finden ist.
2.2 Ebenes Kräftegleichgewicht am Punkt 25

Beispiel: Freischneiden und Anwendung der Gleichgewichtsbedingungen

Technische Mechanik
Eine Straßenbeleuchtung mit dem Gewicht G = 80 N S1
S2
ist wie skizziert an zwei Seilen befestigt, die um die α = 20° β = 25°
Winkel α = 20◦ und β = 25◦ zur Horizontalen geneigt
sind. Bestimmen Sie die Kräfte in den Seilen.

Seil 1, Seil 2,
α = 20° β = 25° G

Damit lässt sich nun rechnen. Das Aufsummieren aller


x-Komponenten führt auf

→ ∑ Fix = −S1 cos α + S2 cos β = 0 ,


und bei den y-Komponenten erhalten wir

↑ ∑ Fiy = S1 sin α + S2 sin β − G = 0 .


Problemanalyse und Strategie: Eine typische Aufgabe Das sind zwei Gleichungen für die zwei Unbekannten
zur Berechnung von Lagerreaktionen. In einem ersten S1 und S2 ; das lässt sich lösen. Aus dem Gleichgewicht
Schritt müssen wir den betrachteten Körper freischnei- in x-Richtung ergibt sich
den, um so zu einem Freikörperbild zu gelangen,
cos β
das alle auftretenden Kräfte enthält. Die unbekannten S1 = S2 ,
Kräfte dieses Freikörperbildes berechnen wir dann mit cos α
den Gleichgewichtsbedingungen. woraus wir, eingesetzt in das y-Gleichgewicht,
G
Lösung: Aus Erfahrung wissen wir, dass sich Stra- S2 =
cos β tan α + sin β
ßenlaternen – wenn nicht gerade ein schwerer Orkan 80 N
herrscht – nicht einfach so von ihrem Platz entfernen, = = 106,31 N
sich also im statischen Gleichgewicht befinden. Da al- cos 25◦ tan 20◦ + sin 25◦
le Kräfte an der Lampenaufhängung angreifen – die sowie
Gewichtskraft G der Lampe und die beiden Seilkräf- cos β cos 25◦
te – handelt es sich um ein Problem des Kräftegleich- S1 = S2 = 106,31 N = 102,54 N
cos α cos 20◦
gewichts an einem Punkt.
berechnen. Wir erhalten als Lösung (mit vernünfti-
Beginnen wir mit dem Freikörperbild. Hierfür schnei- ger Genauigkeit, nicht der überhöhten Genauigkeit der
den wir die Lampenaufhängung frei. Es wird also – wie Zwischenergebnisse) 103 N für S1 und für 106 N S2 .
mit einem schweren Seitenschneider – Seil 1 an der
Aufhängung abgeschnitten und ganz schnell, damit Beachten Sie, dass diese Lösung den in der Übersicht
die Lampe das sozusagen gar nicht merkt, durch die Tipps zur Bearbeitung von Aufgaben der Technische Mecha-
Seilkraft S1 ersetzt. Selbiges passiert mit Seil 2, das wir nik aufgeführten Tipps folgt, insbesondere wurde ein
durch die Seilkraft S2 ersetzen. Schließlich schneiden sorgfältiges Freikörperbild gezeichnet, dann wurde so
wir noch die Lampe selbst weg und ersetzen sie durch lange wie möglich mit Formelzeichen (G, α und β) ge-
ihre Gewichtskraft G. Wir tragen noch alle relevanten rechnet, und die konkreten Werte wurden erst ganz zu
Abmessungen ein – das sind hier nur die Winkel α und Schluss eingesetzt und in den Taschenrechner einge-
β – und erhalten das folgende Freikörperbild: tippt.
26 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

Grafische Methode Startpunkt von G). Wir erhielten dann ein Krafteck, das
links (und nicht rechts) von G liegt, aber die gleichen
Technische Mechanik

Ergebnisse für S1 und S2 liefert. 


Wie die rechnerische Methode baut auch die grafische
Methode auf dem Freikörperbild auf. Nehmen wir erneut
das Beispiel der Straßenbeleuchtung aus der Beispielbox
Achtung Zentrale Kraftgruppen können auch dann vor-
Freischneiden und Anwendung der Gleichgewichtsbedingun-
liegen, wenn die Kräfte nicht alle an einem einzigen Punkt
gen.
angreifen, es brauchen sich ja nur die Wirkungslinien der
angreifenden Kräfte in einem Punkt zu schneiden. Das
Beispiel Das Freikörperbild können wir von der rech- ist immer dann der Fall, wenn genau drei nicht parallele
nerischen Lösung übernehmen. Grundidee der grafischen Kräfte an einem Körper angreifen und sich dieser Körper
Lösung ist es, alle auftretenden Kräfte als maßstäbliche im statischen Gleichgewicht befindet. Die Wirkungslini-
Kräfte so hintereinander zu legen (d. h. zu addieren), dass en dieser drei Kräfte können gar nicht anders als sich
sie in Summe den Nullvektor ergeben, also einen Vektor- in einem einzigen Punkt zu schneiden weil der Körper
pfeil, bei dem Spitze und Startpunkt aufeinanderfallen. nämlich andernfalls in Drehbewegung versetzt werden
Einfacher gesagt: Die Spitze des letzten Pfeils muss auf würde. Es handelt sich dann also ebenfalls um eine Auf-
den Startpunkt des ersten Pfeils treffen. Man sagt dann, gabe zum Kräftegleichgewicht am Punkt. 
die auftretenden Kräfte bilden ein geschlossenes Krafteck.
Beim Beispiel der Straßenbeleuchtung funktioniert das
wie folgt: Dem Freikörperbild entnehmen wir, dass ge- 2.3 Statisches Gleichgewicht
nau drei Kräfte an der Lampenaufhängung angreifen, S1 ,
S2 und G. Von diesen ist nur die Kraft G in Betrag und am ebenen starren Körper
Richtung bekannt (Betrag 80 N, Richtung senkrecht nach
unten), von S1 und S2 kennen wir dagegen nur die jewei- Wir kommen nun zum statischen Gleichgewicht für einen
ligen Richtungen. Wir zeichnen daher zuerst G auf, dann ebenen starren Körper. Wie schon bei den zentralen Kraft-
als dünne Hilfslinien die um 20° bzw. 25° zur Horizon- gruppen lässt sich dieses auf grafische oder auf rechneri-
talen geneigten Wirkungslinien von S1 und S2 (eine Linie sche Weise behandeln. In vielen Fällen geht es dabei um
an den Startpunkt, die andere an die Spitze von G, welche die Ermittlung von Lagerreaktionen, das sind diejenigen
wohin kommt, ist egal) und tragen S1 und S2 schließlich Kräfte und Momente, mit denen der betrachtete Körper
so auf die Wirkungslinien ein, dass sich ein geschlossenes festgehalten wird. Wir wollen zunächst die zwei wich-
Krafteck ergibt (Abb. 2.8). Aus der Länge der Pfeile kön- tigsten Grundbegriffe, anschließend behandeln wir die
nen wir nun die Beträge der Seilkräfte ablesen. rechnerische Bestimmung von Lagerreaktionen.

S1

Kräfte mit Hebelarm: das Moment


G S2
Betrachten wir einen Schraubenschlüssel, wie er z. B.
zum Anziehen und Lösen von Radmuttern verwen-
det wird (Abb. 2.9). Beim Anziehen einer Radmutter wird
Abb. 2.8 Grafische Aufspaltung der Gewichtskraft G in die Seilkräfte S1
und S2

Noch zwei Anmerkungen zur grafischen Lösung:

Beim Einzeichnen der Kraftpfeile wird von einem


Kräfteplan gesprochen: „Die Stabkräfte S1 , S2 und G
werden in einen Kräfteplan eingezeichnet.“ Kräfteplä-
ne sind stets maßstäblich. Der oft als mF bezeichnete
Kräftemaßstab hat Einheiten von Kraft pro Länge. So
bedeutet z. B. mF = 10 N/cm, dass jeder Zentimeter F
Pfeillänge einer Kraft von 10 N entspricht. F
Wir hätten in den Kräfteplan der Beispielaufgabe auch
die Anordnung der Wirkungslinien von S1 und S2 ver- Abb. 2.9 Ein Kräftepaar – zwei entgegen gesetzt gerichtete Kräfte gleichen
tauschen können (d. h. S1 an die Spitze und S2 an den Betrags – entfaltet eine drehende Wirkung, die man als Moment bezeichnet
2.3 Statisches Gleichgewicht am ebenen starren Körper 27

der Schraubenschlüssel an beiden Hebelarmen mit gleich Kraftangriffspunkt und Momentenbezugspunkt. Wir er-
großen, entgegengesetzt gerichteten Kräften – einem so- innern uns: In der Statik starrer Körper ist der Kraftan-

Technische Mechanik
genannten Kräftepaar – belastet. Da sich offensichtlicher griffspunkt völlig unerheblich, viel wichtiger ist die Lage
Weise alle Kraftkomponenten jeweils zu null ausgleichen, der Kraftwirkungslinie. Folgerichtig ist der Hebelarm ei-
herrscht Kräftegleichgewicht. Aber der Schraubenschlüs- ner Kraft definiert als der Abstand der Kraftwirkungslinie
sel befindet sich trotzdem nicht im statischen Gleichge- zum betrachteten Momentenbezugspunkt (Abb. 2.10).
wicht, denn er wird ja gedreht.
Achtung Wenn Sie Schwierigkeiten haben, den Hebel-
Zur Beschreibung des statischen Gleichgewichts eines arm einer Kraft zu bestimmen: Zeichnen Sie in das
starren Körpers reichen also die Kräftegleichgewichte al- Freikörperbild einfach zu jedem Kraftpfeil auch die Wir-
lein nicht aus. Es wird noch eine weitere Bedingung kungslinie ein, dann geht’s ganz einfacher. 
benötigt, die die Drehwirkung der angreifenden Lasten
beschreibt. Mit dem Momentengleichgewicht als dritter Bedingung
erhalten wir die folgenden
Aus Erfahrung wissen wir: Je weiter außen ein solcher
Schraubenschlüssel angefasst wird, desto leichter lässt
sich die Schraube einschrauben. Die Drehwirkung der an- Gleichgewichtsbedingungen für den ebenen starren
greifenden Kräfte hängt also von ihrem Hebelarm ab. Die Körper
diese Erfahrung beschreibende physikalische Größe ist
→ ∑ Fix = 0 ,
das Moment bzw. Drehmoment.
Ein Moment ist ein Vektor, dessen Richtung der Richtung ↑ ∑ Fiy = 0 und
entspricht, um die das Moment dreht. Physikalisch kor-
rekt ist das von einer Kraft bzgl. eines Punktes ausgeübte  ∑ M(O)
i =0.
Moment definiert als Vektorprodukt aus Orts- und Kraft-
vektor, eine Definition, auf die wir im Kapitel Räumliche
Statik zurückkommen werden. Bei den hier betrachteten Diese Gleichungen haben recht anschauliche Bedeutun-
ebenen Problemen reicht es aus, wenn wir uns auf die Be- gen. Sie besagen, dass ein Körper im statischen Gleichge-
träge der Momente beschränken. wicht

nicht in x-Richtung beschleunigt wird, da alle x-Kom-


Betrag eines um einen Bezugspunkt ausgeübten Mo- ponenten der angreifenden Kräfte in Summe null erge-
ments ben,
nicht in y-Richtung beschleunigt wird, da alle y-Kom-
|Moment| = Kraft × Hebelarm ponenten der angreifenden Kräfte in Summe null erge-
ben, und
auch nicht in Rotation versetzt wird, da alle auf den
Vorsicht ist bei der Bestimmung des Hebelarms geboten. Körper ausgeübten Drehwirkungen – die Momente –
Der Hebelarm ist nämlich nicht der Abstand zwischen ebenfalls in Summe null ergeben.

Der hochgestellte Index (O) im Momentengleichgewicht


steht für den Momentenbezugspunkt. Das Momenten-
gleichgewicht besagt somit: „Im statischen Gleichgewicht
Bezugspunkt
ergänzen sich alle um den Bezugspunkt O auf einen
Körper wirkenden Momente in ihrer Summe zu null.“ Be-
Hebelarm
sonders wichtig ist dabei die

Freie Wahl des Momentenbezugspunktes


Die Lage des Momentenbezugspunktes kann voll-
kommen frei gewählt werden. Wichtig ist lediglich,
Kraft dass sich alle Momente innerhalb eines Momenten-
gleichgewichts immer auf denselben Bezugspunkt
beziehen.

Abb. 2.10 Der Hebelarm einer Kraft ist definiert als der Abstand der Kraftwir- Man kann also bei der Wahl des Bezugspunktes nichts
kungslinie zum betrachteten Momentenbezugspunkt grundfalsch machen – jeder Bezugspunkt ist erlaubt –,
28 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

Leitbeispiel Antriebsstrang
Technische Mechanik

Kräfte im Triebwerk eines Hubkolbenmotors:


. . . zur Berechnung des Drehmoments eines Motors aus der
Gaskraft der Kraftstoffverbrennung

In Hubkolbenmotoren werden die Gaskräfte aus der Damit zu den Kräften. Auf den Kolben wirken:
Kraftstoffverbrennung vom Kolben über den Kolben-
Die Kolbenkraft FK , welche im Wesentlichen aus der
bolzen, die Pleuelstange und den Kurbelzapfen auf die
Gaskraft durch die Kraftstoffverbrennung sowie in
Kurbelwelle übertragen, wo sie schließlich das Dreh-
kleinerem Maße aus der Trägheitskraft des Kolbens
moment des Motors erzeugen. Welche Kräfte wirken
besteht.
dabei auf die einzelnen Bauteile im Motor, und wel-
Die Reaktionskraft der Zylinderwand, welche, da
cher Zusammenhang besteht zwischen der Gaskraft
der Kolben durch den Schmierfilm zwischen Zylin-
am Kolben und dem Drehmoment an der Kurbelwelle?
derwand und Kolben weitgehend reibungsfrei läuft,
Verschaffen wir uns zunächst einmal einen Überblick senkrecht zur Zylinderwand wirkt. Sie ist deswegen
über die für unsere Fragestellung wichtigen Abmes- als Normalkraft FN bezeichnet.
sungen sowie die an den genannten Bauteilen wirken- Die Pleuelstangenkraft FP . Diese wirkt, da die Pleu-
den Kräfte. Hierzu sind in der folgenden Abbildung elstange in Kolbenbolzen und Kurbelzapfen jeweils
alle am Kolben sowie alle am Kurbelzapfen angreifen- gelenkig gelagert ist und auch nur dort belastet
den Kräfte eingezeichnet. wird, die Pleuelstange also aus mechanischer Sicht
ein Stab ist, genau in Richtung der Pleuelstange.
Die Wirkungslinien dieser drei Kräfte müssen sich
in einem einzigen Punkt schneiden, denn andernfalls
Kolbenbolzen würde der Kolben in Drehung versetzt werden, was
Kolben
FK
aufgrund seiner Führung im Zylinder nicht passieren
FN kann. Aus den Gleichgewichtsbedingungen für zentra-
le Kraftgruppen erhalten wir
FP ↑ ∑ Fiy = −FK + FP cos β = 0
FK
l

β
=⇒ FP =
Pleuel- cos β
stange
FP sowie
Kurbelzapfen → ∑ Fix = FN − FP sin β = 0
=⇒ FN = FP sin β = FK tan β .
α
α FT Damit hätten wir die am kolbenseitigen Ende der Pleu-
FR
elstange wirkenden Kräfte berechnet. Am anderen En-
Kurbel-
wange de der Pleuelstange, dem Kurbelzapfen, wirken nun:
r
Ebenfalls die Pleuelstangenkraft FP , welche genau
in die entgegengesetzte Richtung wie am Kolben-
bolzen wirkt. (Wenn die Pleuelstange am einen En-
de eine Kraft nach oben ausübt, dann muss sie am
Die Geometrie des Hubkolbenantriebs ist gegeben anderen Ende eine Kraft nach unten ausüben, um im
durch die Pleuellänge l, den Kurbelradius r und den statischen Gleichgewicht zu sein.)
Kurbelwinkel α. Aus diesen drei Abmessungen ergibt Die Kraft zwischen Kurbelwange und Kurbelzap-
sich der Pleuelwinkel β über den Sinussatz zu β = fen, die wir zweckmäßiger Weise in eine Radialkraft
arcsin( rl · sin α). FR und eine Tangentialkraft FT aufspalten.
2.3 Statisches Gleichgewicht am ebenen starren Körper 29

Natürlich schneiden sich auch die Wirkungslinien der mit den Lösungen
drei auf den Kurbelzapfen wirkenden Kräfte in einem
FR = FP (cos α cos β − sin α sin β) = FP cos(α + β)

Technische Mechanik
Punkt, und wir erhalten
und
→ ∑ Fix = FR sin α − FT cos α + FP sin β = 0
FT = FP (sin α cos β + cos α sin β) = FP sin(α + β) .
und Das auf die Kurbelwelle übertragene Drehmoment er-
gibt sich – ein kleiner Vorgriff auf Abschn. 2.3 – aus der
↑ ∑ Fiy = FR cos α + FT sin α − FP cos β = 0 , Tangentialkraft FT schließlich als FT · r.

aber man kann sich sehr wohl geschickter oder unge-


schickter anstellen und dadurch in Aufgaben viel Zeit
gewinnen oder verlieren. In der Beispielbox Berechnung
von Lagerreaktionen wird gezeigt, was damit gemeint
ist.
Der drehende Pfeil vor dem Momentengleichgewicht
zeigt übrigens die als positiv angesetzte Drehrichtung an.
Die übliche Konvention ist, dass gegen den Uhrzeigersinn
drehende Momente mit positivem Vorzeichen und mit
dem Uhrzeigersinn drehende Momente mit negativem
Vorzeichen in das Momentengleichgewicht eingehen.

Frage 2.3
Weswegen müssen die Stäbe in Mobiles (siehe Abb. 2.11)
nach unten gebogen sein, damit das Mobile das Gleichge-
wicht halten kann?

Lager reagieren auf Kräfte und Momente

Praktisch alle technischen Bauteile sind mehr oder weni-


ger fest mit ihrer Umgebung verbunden. Autos über Rä-
der mit der Straße, eine Laterne über die Einbetonierung
ihres Fußes mit dem Boden oder ein Hängeschrank über
Dübel und Schrauben mit der Wand. In der Technischen
Mechanik werden diese Festhaltungen Lager genannt,
und die Bestimmung der von den Lagern ausgeübten
Kräfte und Momente – der sogenannten Lagerreaktio-
nen – ist eine der Hauptaufgaben der Statik.
Abb. 2.11 Mobile
Die erste entscheidende Frage bei einem Lager ist: „In
welche Richtungen kann das Lager überhaupt Kräfte oder
Momente übertragen?“ Hierbei gilt folgendes Prinzip: Die folgenden Lager sind von besonderer Wichtigkeit:
Kann sich der gelagerte Körper am Lager ungehindert in
eine bestimmte Richtung bewegen, so übt das Lager in Ein Loslager stützt einen Körper in genau eine Rich-
eben diese Richtung keine Kraft aus. Umgekehrt übt das tung ab. Betrachten wir als Beispiel ein ungebremstes
Lager in jede Richtung, in die es die Bewegung des Kör- Fahrzeugrad, etwa das Vorderrad eines Tretrollers. Es
pers unterbindet, eine Kraft aus. Diese sorgt nämlich gera- verhindert die vertikale Bewegung des Rollers (in den
de dafür, dass die entsprechende Bewegung unterbunden Boden kann er nicht eindringen), während die horizon-
wird. Auch für vom Lager zugelassene oder unterbun- tale Bewegung und die Drehung des Rollers um das
dene Rotationen gilt dieser Gedankengang, wobei wir es Vorderrad durch dieses nicht behindert werden. Vom
dann aber nicht mehr mit vom Lager ausgeübten Kräften, Lager wird daher weder eine horizontale Kraft, noch
sondern Momenten zu tun haben. ein Moment auf das Lager ausgeübt, wohl aber eine
30 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

Tab. 2.1 Übersicht über die Lager Beispiel Sinnbild Lagerreaktionen


wichtigsten Lagerungen ebener Loslager (Wertigkeit 1) Rad eines Tretrollers
Technische Mechanik

starrer Körper und die dazugehö-


rigen Lagerreaktionen

Pendelstütze (Wertigkeit 1) Hubzylinder eines Kipplasters

straff gespanntes Seil (Wertigkeit 1)

Festlager (Wertigkeit 2) Schlagbaum

verschiebbare Hülse (Wertigkeit 2)

feste Einspannung (Wertigkeit 3) einbetonierter Fuß einer Ampel

vertikale Kraft, die Aufstandskraft. Das Lager übt nur Kraftrichtung in der Pendelstütze ist bekannt, denn sie
eine Lagerreaktion aus (hier Fy ); man sagt dann, es hat kann nur in Stabrichtung verlaufen.
die Wertigkeit 1. Auch ein straff gespanntes Seil ist ein einwertiges
Auch die Pendelstütze ist ein Lager der Wertigkeit 1. Lager, wobei beim Seil im Gegensatz zu den ande-
Unter einer Pendelstütze versteht man einen beidseitig ren einwertigen Lagerarten bereits die Richtung der
gelenkig gelagerten abstützenden Stab, beispielsweise Kraft bekannt ist, nämlich eine Zugkraft in Seilrich-
den Hubzylinder zur Ladefläche eines Kipplasters. Die tung.
2.4 Räumliche Kraftsysteme 31

statisch statisch statisch wenig in seinen Abmessungen ändert. In statisch überbe-


bestimmt überbestimmt unterbestimmt stimmten Systemen hätte dies in aller Regel zusätzliche

Technische Mechanik
innere Spannungen zur Folge. Aber statisch bestimmt ge-
lagerte Systeme können die entstehende Längenänderung
ungehindert mitmachen.
Abbildung 2.12 zeigt am Beispiel des unten rechts ab-
gebildeten Trägers übrigens auch, dass die Bedingung
„Zahl der Lagerwertigkeiten = Zahl der Gleichgewichts-
Abb. 2.12 Beispiele statisch bestimmt, statisch überbestimmt und statisch un- bedingungen“ keine hinreichende Bedingung für stati-
terbestimmt gelagerter Träger sche Bestimmtheit ist, denn der Träger ist zwar mit in
Summe drei Lagerwertigkeiten (aus drei Loslagern) ge-
lagert, doch in horizontale Richtung ist er trotzdem frei
Bei einem Festlager, z. B. der Lagerung eines Schlag-
verschiebbar, sodass statische Unbestimmtheit vorliegt.
baums, werden beide translatorischen Bewegungen
Wir erhalten also:
(horizontal und vertikal) unterbunden, die Rotation
um das Lager hingegen zugelassen. Ein Festlager übt
somit zwei Lagerreaktionen aus – eine Kraft Fx , die die Notwendige Bedingung für statische Bestimmtheit in
horizontale Bewegung unterbindet, und eine Kraft Fy , der Ebene
die die vertikale Bewegung unterbindet.
Eine verschiebbare Hülse unterbindet die Drehung sowie Zahl der Zahl der
die Bewegung der gelagerten Struktur senkrecht zur Lagerwertig- = Gleichgewichts- = 3
Hülse, übt somit zwei Lagerreaktionen aus und hat die keiten bedingungen
Wertigkeit 2.
Bei der festen Einspannung, z. B. dem einbetonierten
Fuß einer Ampel, werden alle drei in der Ebene mögli- Wichtig ist außerdem:
chen Bewegungsrichtungen durch die Lagerreaktionen
Fx , Fy und das Einspannmoment M unterbunden. Die
Wertigkeit der festen Einspannung ist somit 3. Woran erkennt man statische Bestimmtheit?
Ob statische Bestimmtheit oder Unbestimmtheit
vorliegt, ist einzig eine Frage der Lagerung des Trag-
Statische Bestimmtheit werks, die äußere Belastung spielt keine Rolle.

Stellen wir uns die Frage, warum die Aufgabe mit dem
Klappbrett aus der Beispielbox Berechnung von Lagerreak-
tionen überhaupt lösbar war, sich also alle Unbekannten
aus den Gleichgewichtsbedingungen berechnen ließen. 2.4 Räumliche Kraftsysteme
Aus mathematischer Sicht war dies der Fall, weil die
Zahl der Unbekannten – die drei Lagerreaktionen Ax , Ay Nun lassen sich zahlreiche Probleme der Statik als ebene
und S – der Zahl der Gleichgewichtsbedingungen ent- Probleme auffassen und mit den im vorigen Kapitel be-
spricht. schriebenen drei Gleichgewichtsbedingungen lösen. Das
dort betrachtete Klappbrett ist ein derartiges Beispiel.
Derartige Systeme, bei denen sich die Lagerreaktionen
Wenn aber ein wirklich dreidimensionales Problem vor-
aus den Gleichgewichtsbedingungen bestimmen lassen,
liegt, eines das sich nicht ohne Weiteres auf eine ebene
heißen statisch bestimmt gelagert. Alle anderen Systeme
Fragestellung zurückführen lässt, dann müssen wir drei-
werden als statisch unbestimmt gelagert bezeichnet, wo-
dimensional rechnen.
bei ebene Systeme mit weniger als drei Lagerwertigkei-
ten beweglich sind und statisch unterbestimmt genannt
werden, und ebene Systeme mit mehr als drei Lagerwer-
tigkeiten in sich verspannt sein können und als statisch Statik in drei Dimensionen
überbestimmt bezeichnet werden. Abbildung 2.12 zeigt
Beispiele von statisch bestimmt und statisch unbestimmt
gelagerten Tragwerken. Die räumliche Statik beinhaltet aber nichts wirklich Neu-
es, die Gesetzmäßigkeiten der ebenen Statik werden ein-
Wesentlicher Vorteil statisch bestimmt gelagerter Trag- fach auf die dritte Dimension erweitert. Dabei stehen uns
werke ist, dass in ihnen keine zusätzlichen Verspannun- zwei gleichermaßen zum Ziel führende Vorgehensweisen
gen entstehen, wenn sich der Träger im Laufe der Zeit zur Verfügung: zum einen die vektorielle Beschreibung
beispielsweise durch Wärmeausdehnung, Kriechen, Ma- des statischen Gleichgewichts, zum anderen die kompo-
terialveränderungen (z. B. Abbinden von Beton) o. Ä. ein nentenweise Beschreibung des statischen Gleichgewichts.
32 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

Beispiel: Berechnung von Lagerreaktionen


Technische Mechanik

Zu berechnen sind die Lagerreaktionen in einem Schritt 3, Aufstellen und Lösen der Gleichgewichtsbe-
Klappbrett des Gewichts G, das durch ein Scharnier dingungen: Es hieß, man könne sich beim Lösen
drehbar gelagert und am gegenüberliegenden Ende der Gleichgewichtsbedingungen geschickt oder unge-
durch zwei Seile gehalten wird. schickt anstellen. Die ungeschickte – wenn auch nicht
minder richtige – Variante zuerst:
Problemanalyse und Strategie: Die Schritte zur Berech-
Wir beginnen mit dem Kräftegleichgewicht in
nung der Lagerreaktionen sind (1) das Abbilden des
x-Richtung,
realen Problems als mechanisches Modell, (2) Frei-
schneiden und (3) die Berechnung der Unbekannten. → ∑ Fix = Ax + S · cos 45◦ = 0 ,
Besonderes Augenmerk wollen wir dabei auf das Mo-
mentengleichgewicht legen und zeigen, wie man sich setzen dann das Kräftegleichgewicht in y-Richtung,
bei diesem mehr oder weniger geschickt anstellen kann. ↑ ∑ Fiy = Ay − G + S · sin 45◦ = 0 ,
Lösung: an und kommen schließlich zum Momentengleichge-
Schritt 1, mechanische Modellbildung: Zur Bildung des wicht, für das ein Bezugspunkt zu wählen ist. Der
mechanischen Modells ersetzen wir das Scharnier Bezugspunkt kann frei gewählt werden, z. B. in der
durch ein Loslager, da dieses die Rotation des Brettes Brettmitte.
zulässt, aber beide Translationen an dieser Stelle ver-
Für das Momentengleichgewicht erhalten wir dann:
hindert.
l l
 ∑ M(Brettmitte)
i = −S · sin 45◦ + Ay · = 0 .
2 2
Wir haben es also mit drei Gleichungen zur Bestim-
mung der drei Unbekannten Ax , Ay und S zu tun.
Nach längerer Rechnerei – z. B. mit dem Gauß’schen
Eliminationsverfahren oder ähnlichem – erhalten wir
als Lösung:
G G G
45° Gewicht G Ax = − , Ay = und S= .
45° 2 2 2 sin 45◦
A
Das war die ungeschickte Variante. Ungeschickt, weil
l l aus keiner der drei Gleichgewichtsbedingungen un-
mittelbar ein Ergebnis folgte und wir deshalb das kom-
plette System aus drei gekoppelten Gleichungen lösen
Schritt 2, Freischneiden und Freikörperbild: Beim Frei- mussten. Aber dem lässt sich mit einer besser durch-
schneiden des Brettes entfernen wir alles, was in ir- dachten Wahl des Momentenbezugspunktes abhelfen.
gendeiner Art mit dem Brett verbunden ist und erset-
zen es durch die jeweiligen Kräfte oder Momente. Im Wo platziert man den Momentenbezugspunkt am ge-
Einzelnen sind dies: schicktesten? Am besten so, dass das Momentengleich-
gewicht zu einer handlichen, übersichtlichen Glei-
das Festlager, welches durch die Lagerreaktionen Ax chung mit wenigen, möglichst nur einer Unbekann-
und Ay ersetzt wird, ten wird. Der Momentenbezugspunkt sollte deshalb
die Seile, welche durch die Seilkraft S ersetzt wer- auf möglichst vielen Wirkungslinien der unbekannten
den, und schließlich Lagerkräfte liegen, da diese dann aus dem Momen-
das Brett selbst, das wir durch seine Gewichtskraft tengleichgewicht verschwinden. Das Lager A ist ein
G ersetzen, die wir im Schwerpunkt des Brettes, al- solcher sinnvoller Momentenbezugspunkt (keine He-
so in der Brettmitte, angreifen lassen. belarme für Ax und Ay ).
Wir tragen noch alle wichtigen Abmessungen ein und Das Momentengleichgewicht lautet dann
erhalten als Freikörperbild:
l
 ∑ M(A)
i = −S · l sin 45◦ + G · =0,
S 2
wodurch wir unmittelbar S = G/2 sin 45◦ erhalten.
45° G Dieses Ergebnis in die beiden Kräftegleichgewichte
Ax
eingesetzt ergibt dann ebenso schnell die Ergebnis-
Ay
se für die beiden verbleibenden Unbekannten, Ax =
l/2 l/2
−G/2 und Ay = G/2.
2.4 Räumliche Kraftsysteme 33

Übersicht: Richtiges Freischneiden

Technische Mechanik
Die allermeisten Aufgaben der Technischen Mechanik stand des Kraftangriffspunktes, sondern der Abstand
beginnen mit einem Freikörperbild. Wie schneidet man der Wirkungslinie zum Momentenbezugspunkt.
richtig frei, und wie geht man am geschicktesten mit ei-
nem Freikörperbild um?
Geschicktes Rechnen mit den Gleichgewichtsbedingungen

Das Freikörperbild Mit welcher Gleichgewichtsbedingung beginnt


man? Beginnen Sie die Berechnung der Lagerreak-
Bedeutung: Freikörperbilder sind die Ansätze zur tionen mit dem Momentengleichgewicht und wählen
Lösung. Anders ausgedrückt: Mit einem falschen Sie hierzu in aller Ruhe den Momentenbezugspunkt
Freikörperbild wird man zwangsläufig falsche Er- so aus, dass er im Schnittpunkt von möglichst vielen
gebnisse erhalten. Zeichnen Sie deshalb Ihre Frei- Wirkungslinien unbekannter Kräfte liegt. Sie erhal-
körperbilder entsprechend liebevoll und besser zu ten so eine Gleichung mit wenigen, oft genug nur
groß als zu klein. einer einzigen Unbekannten, welche dann unmittel-
Was wird freigeschnitten? Ersetzen Sie in Ihrem bar berechenbar ist und die folgenden Kräftegleich-
Freikörperbild alles, was sich durch Kräfte oder gewichte vereinfacht.
Momente ersetzen lässt, durch eben diese Kräfte Wie erkennt man, ob das von einer Kraft aus-
und Momente. Üblicherweise sind das die Lager, geübte Moment positiven oder negativen Dreh-
die durch die entsprechenden Lagerreaktionen (vgl. sinn aufweist? Wenn Sie Schwierigkeiten haben,
Tab. 2.1) ersetzt werden und alle Dinge mit einem sich die Momentenwirkung einer Kraft vorzustel-
relevantem Eigengewicht, die durch eben dieses Ei- len: Betrachten Sie den freigeschnittenen Körper so,
gengewicht ersetzt werden. als sei er ausgeschnitten und lose baumelnd im Mo-
Zur Richtung der Lagerreaktionen: Die Richtung, mentenbezugspunkt an die Wand genagelt. Dann ist
in welche die Lagerreaktionen wirken, kennen wir es einfach, die Drehrichtung einer Kraft zu erken-
beim Zeichnen des Freikörperbildes noch nicht (erst nen. Nehmen wir als Beispiel das Freikörperbild des
mit der Lösung). Setzen Sie deswegen alle Lager- Klappbrettes. Die Seilkraft S „schießt links am La-
reaktionen stur in die positive Richtung an (Kräfte ger A vorbei“, würde also das freigeschnittene Brett
in positive x- und y-Richtung, Momente gegen den im Uhrzeigersinn drehen und geht somit mit negati-
Uhrzeigersinn.) Wenn eine Lagerreaktion in die ent- vem Vorzeichen in das Momentengleichgewicht ein.
gegengesetzte Richtung orientiert ist, erkennen wir Die Gewichtskraft G „schießt dagegen rechts am Mo-
das in der Lösung am Minuszeichen. mentenbezugspunkt vorbei“ und geht mit positivem
Ein Seil ist eine Ausnahme: Die Ausnahme zum Vorzeichen in das Momentengleichgewicht ein.
sturen Ansetzen aller Lagerreaktionen in positive Was passiert mit äußeren Momenten und Ein-
Koordinatenrichtung ist das Seil. Seilkräfte können spannmomenten im Momentengleichgewicht?
nur Zugkräfte sein und werden deswegen als Kräf- Greifen äußere Momente an einer Struktur an, so
te, die am freigeschnittenen Körper ziehen (und nicht gehen sie – ganz egal, wo sie angreifen und ohne
drücken), eingezeichnet. Berücksichtigung irgendwelcher Hebelarme – in ih-
Was gehört noch ins Freikörperbild? Tragen Sie al- rer vollen Größe in das Momentengleichgewicht ein
le wichtigen Abmessungen (Längen und Winkel) in (vgl. Aufgabe 2.8).
das Freikörperbild ein. Sie werden sie zur Berech-
nung der Momente benötigen. Und ganz besonders wichtig: Üben Sie die Berechnung
Wie ermittelt man zuverlässig den Hebelarm einer von Lagerreaktionen schon jetzt so lange, bis Sie sie
Kraft? Wenn es Ihnen schwer fällt, den Hebelarm sicher beherrschen (nicht erst in der Woche vor der
einer Kraft zum Momentenbezugspunkt zu ermit- Prüfung). Fast alle weiteren Themen der Technischen
teln: Tragen Sie die Wirkungslinie der Kraft mit Mechanik benötigen die Berechnung von Lagerreaktio-
ins Freikörperbild ein (am besten mit dünnem Blei- nen als einen ersten Aufgabenteil. Wer diese jetzt nicht
stiftstrich, damit es nicht zu unübersichtlich wird). sicher beherrscht, wird schnell den Anschluss verlie-
Denken Sie daran: Der Hebelarm ist nicht der Ab- ren.
34 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

M=r×F den Uhrzeigersinn, hat also nach der Rechtsschrauben-


regel eine Richtung, die in der Tat senkrecht auf r und
Technische Mechanik

F steht, nämlich für eine Drehung im Uhrzeigersinn in


die Zeichenebene hinein und für eine Drehung gegen den
φ Uhrzeigersinn aus der Zeichenebene hinaus.
F
r Nun zum Betrag des Momentenvektors: In der ebenen
Statik ist das Biegemoment als Kraft mal Hebelarm de-
Abb. 2.13 Der Momentenvektor ist definiert als das Vektorprodukt von Orts- finiert, wobei der Hebelarm der Abstand des Momenten-
und Kraftvektor bezugspunktes zur Kraftwirkungslinie ist. Wie man sich
aus obiger Zeichnung leicht herleiten kann (auch wenn es
im Interesse besserer Übersichtlichkeit nicht eingezeich-
Vektorielles Vorgehen net ist), beträgt dieser Abstand gerade |r | · sin ϕ, d. h., der
Beginnen wollen wir mit der vektoriellen Vorgehenswei- Betrag des Drehmoments entspricht genau der oben an-
se, da sich aus dieser das komponentenweise Vorgehen gegebenen Definition über das Vektorprodukt. Aus der
unmittelbar ergibt. Hierzu führen wir zunächst den Be- Vektordefinition des Momentenvektors lassen sich also al-
griff des Momentenvektors M einer Kraft F bezüglich le Eigenschaften des Drehmoments, die wir in der ebenen
eines Bezugspunktes O ein. Dieser ist aus dem Ortsvek- Statik angewendet hatten, herleiten.
tor r (ein Vektor, der vom Bezugspunkt O zu irgendeinem Vektoriell formuliert, lauten damit die vektoriellen
auf der Kraftwirkungslinie von F gelegenen Punkt weist – Gleichgewichtsbedingungen:
meist wird man den Kraftangriffspunkt wählen) und dem
Kraftvektor F definiert als
Vektorielle Gleichgewichtsbedingungen der räumli-
chen Statik
Definition des Momentenvektors M einer Kraft F

∑ Fi = 0 ∑ Mi
(O)
und =0
M (O) = r × F

Der Drehsinn des Momentenvektors ist durch die Rechts- Komponentenweises Vorgehen
schraubenregel festgelegt: Dreht man eine Rechtsschrau-
be so, dass sie sich in Richtung des Momentenvektors Setzen wir die beiden vektoriellen Gleichgewichtsbedin-
bewegt, so entsprechen sich der Drehsinn der Schraube gungen skalar für jede Koordinatenrichtung an, so erhal-
und der Drehsinn des Momentes. ten wir die folgenden sechs skalaren Gleichgewichtsbe-
dingungen:
Über die aus der analytischen Geometrie bekannte geo-
metrische Deutung des Vektorproduktes wollen wir uns
diese Definition zunächst veranschaulichen, um dann zu Skalare Gleichgewichtsbedingungen der räumlichen
sehen, wie sie mit der Momentendefinition der ebenen Statik
Statik – „Kraft mal Hebelarm“ – in Einklang steht.
Das Vektorprodukt zweier Vektoren – hier der Ortsvektor ∑ Fix = 0, ∑ Fiy = 0 und ∑ Fiz = 0
r und der Kraftvektor F – lässt sich in Bezug auf den Be-
trag und die Richtung sehr schön anschaulich deuten. Das sowie
Vektorprodukt F × r ergibt einen Vektor M (Abb. 2.13)
∑ Mix ∑ Miy ∑ Miz
(O) (O) (O)
= 0, = 0 und =0.
mit einer Richtung, die senkrecht auf r und F steht, und
mit einem Betrag |M | = |r| · |F | · sin ϕ, wobei ϕ der von
r und F eingeschlossene Winkel ist. Hierbei bedeuten die Indizes Folgendes:

∑ Fix = 0 bedeutet, dass im statischen Gleichgewicht


Passen diese Eigenschaften zu dem, was wir über das die Summe aller Kraftkomponenten in x-Richtung null
Drehmoment aus der ebenen Statik kennen? ergibt (analog für y- und z-Richtung).
(O)
Betrachten wir zunächst die Richtung des Momentenvek- ∑ Mix = 0 bedeutet, dass im statischen Gleichgewicht
tors: In der ebenen Statik liegen alle Orts- und Kraftvek- die Summe aller Momente um eine durch den Momen-
toren in einer Ebene (der „Zeichenebene“). Das Moment tenbezugspunkt (O) in x-Richtung verlaufende Dreh-
dreht in dieser Zeichenebene entweder im oder gegen achse null ergibt (analog für y- und z-Richtung).
2.4 Räumliche Kraftsysteme 35

Achtung Welche der beiden Methoden – vektoriell oder angesprochene und im Übrigen recht einfach anzuwen-
komponentenweise – führt in Aufgaben schneller zum dende Prinzip zur Ermittlung, welche Reaktionen von

Technische Mechanik
Ziel? einem bestimmten Lager ausgeübt werden, an folgender
kurzen Selbstfrage:
Die vektorielle Vorgehensweise verlangt kein gehobenes
räumliches Vorstellungsvermögen, sondern lediglich die
sichere Beherrschung des Vektorproduktes. Diese lässt Frage 2.4
sich mit ein wenig Übung aber gut erlernen. Zu merken Welche Lagerreaktion kann das abgebildete Scharnier
brauchen Sie sich nur die Bildungsregel ausüben?
⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞
ax bx ay bz − az by z
a × b = ⎝ay ⎠ × ⎝by ⎠ = ⎝ az bx − ax bz ⎠ .
az bz ax by − ay bx y
x

Jede Komponente des Vektorproduktes wird also aus den


beiden Faktoren a und b durch die kreuzweise Differenz
der beiden anderen Komponenten gebildet, weswegen
das Vektorprodukt ja auch als Kreuzprodukt bezeichnet Statische Bestimmtheit: Da es in der räumlichen Statik
wird. sechs skalare Gleichgewichtsbedingungen gibt, muss ein
dreidimensionales Tragwerk mit sechs Lagerwertigkei-
Beim komponentenweisen Vorgehen ist dagegen die ma-
ten gelagert sein, damit statische Bestimmtheit vorliegen
thematische Behandlung der Gleichgewichtsbedingun-
kann, es gilt also:
gen im Allgemeinen unproblematisch, aber die Aufstel-
lung der Gleichgewichtsbedingungen kann sehr wohl
schwierig werden. Die Ermittlung des Hebelarms, den ei- Notwendige Bedingung für räumliche statische Be-
ne Kraft zur betrachteten Drehachse aufweist, erfordert stimmtheit
nämlich in aller Regel ein gutes räumliches Vorstellungs-
vermögen. Am Beispiel eines Klappbretts (siehe Beispiel-
Zahl der Zahl der
box Berechnung der Lagerreaktionen eines Klappbretts) wer-
Lagerwertig- = Gleichgewichts- = 6
den wir dieses zeigen.
keiten bedingungen
Man wird also insbesondere bei komplizierteren Aufga-
ben mit der vektoriellen Vorgehensweise deutlich schnel-
ler als mit der komponentenweisen Methode ans Ziel Im Beispiel des Klappbrettes sind dies das fünfwertige
kommen.  Scharnier und das einwertige Seil.

Lager und Lagerreaktionen


Beim Erstellen eines Freikörperbildes ist wieder das Erset- Viele Systeme bestehen aus mehreren Teilen
zen der Lager durch die entsprechenden Lagerreaktionen
von zentraler Bedeutung. Wie in der ebenen Statik gilt da-
bei das Prinzip, dass ein Lager Ob menschlicher Körper, ein Kraftfahrzeug mit angekup-
peltem Anhänger oder eine Schere: In zahllosen Fällen
in jede Richtung, in die das Lager eine Bewegung un- sind mehrere Körper beweglich miteinander verbunden.
terbindet, eine Reaktionskraft ausübt und Was aber ist aus Sicht der Statik das Besondere an mehr-
in jede Richtung, in die sich der Körper ohne Behinde- teiligen System? Wie lassen sie sich mechanisch beschrei-
rung durch das betrachtete Lager bewegen kann, keine ben?
Reaktionskraft ausübt.
Gelenkreaktionen
Auch für vom Lager unterbundene bzw. zugelassene Ro-
In mehrteiligen Systemen sind Körper zwar miteinan-
tationen gilt dieser Zusammenhang, wobei das Lager
der verbunden, können sich dabei aber eingeschränkt
dann natürlich keine Reaktionskräfte, sondern Reaktions-
gegeneinander bewegen. In welche Richtung dabei ei-
momente ausübt.
ne Relativbewegung zwischen den Körpern möglich ist,
Aufgrund der Vielzahl der im Dreidimensionalen mögli- hängt von der Art des Verbindungselements ab. Die im
chen Lagerarten sei an dieser Stelle auf eine ausführliche Rahmen der Statik dabei interessierende Fragestellung ist:
Darstellung der Lagerarten und der dazugehörigen Re- Welche Kräfte und Momente wirken in den Verbindungs-
aktionen verzichtet. Testen Sie stattdessen das soeben elementen, und wie ermittelt man sie?
36 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

Beispiel: Berechnung der Lagerreaktionen eines Klappbretts


Technische Mechanik

Für das abgebildete Klappbrett sind die Lagerreaktio- Momentengleichgewichts um die x-Achse seien die Zu-
nen zu berechnen. sammenhänge deshalb noch einmal in Ruhe erläutert.

Problemanalyse und Strategie: Wir wollen die Lager- S


reaktionen sowohl nach komponentenweiser, als auch
nach vektorieller Vorgehensweise berechnen, um die
Vor- und Nachteile beider Wege besser einschätzen zu α Sz
F
können. Sx

Lösung: Grundlage der Lösung ist auch hier ein lie-


x
bevoll gezeichnetes Freikörperbild. Welche Lagerreak- l l
tionen sind darin im Punkt A für das Scharnier ein-
zutragen? Nun, das Scharnier lässt die Drehung um
die Scharnierachse (die y-Achse) zu, verhindert aber Wir betrachten eine in x-Richtung durch das Scharnier
die Drehungen um die x- und z-Achse sowie alle drei verlaufende Drehachse. Die Kraft F hat den Hebelarm
Translationen. Jede verhinderte Bewegung entspricht l und ist bestrebt, das freigeschnittene Brett im nach
einer Lagerreaktion, sodass sich für das Scharnier die der Rechten-Hand-Regel negativen Drehsinn um die
Reaktionen Ax , Ay , Az , MAx und MAz ergeben. Drehachse zu drehen. Die Seilkraft S hat zwei Kom-
ponenten, Sx = S cos α und Sz = S sin α. Von diesen
z M Az beiden Komponenten übt Sx gar keine Drehwirkung
Az um die Drehachse aus – in welche Richtung sollte das
y S Ay auch sein, Sx verläuft schließlich parallel zur Dreh-
l l
α Ax MAx achse –, und Sz ist bestrebt, mit dem Hebelarm l das
l

x F
α A freigeschnittene Brett im negativen Drehsinn um die
l

F
l

Drehachse zu drehen. Die drei Lagerkräfte Ax , Ay und


l l
l

Az schließlich üben mangels Hebelarm keine Momente


um die Drehachse aus.
Und nun zur Berechnung der Lagerreaktionen. Und nun zum vektoriellen Vorgehen:
Zunächst das komponentenweise Vorgehen: Zunächst stellen wir die Vektoren der angreifenden
Wir beginnen auch in räumlichen Problem mit den Kräfte,
Momentengleichgewichten und entscheiden uns für ⎛ ⎞ ⎛ ⎞
− cos α 0
den Scharnierpunkt A als Momentenbezugspunkt, da
S = ⎝ 0 ⎠ S und F = ⎝ 0 ⎠ ,
durch ihn die drei unbekannten Scharnierkräfte ver-
sin α −F
laufen. Wir erhalten
2F sowie die dazugehörigen Ortsvektoren,
∑ Miy = F · 2l − S sin α · l = 0 =⇒ S = sin α ,
(A)
⎛ ⎞ ⎛ ⎞
l 2l
∑ Mix
(A)
= MAx − Fl − S sin α · l = 0 ⎝−l⎠ und ⎝ l ⎠ ,
2F 0 0
=⇒ MAx = Fl + sin α · l = 3Fl ,
sin α
∑ Miz = MAz − S cos α · l = 0 auf. Damit lautet das vektorielle Momentengleichge-
(A)
wicht
2F 2Fl ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞
=⇒ MAz = cos α · l = , MAx l − cos α
sin α tan α
∑ M i = ⎝ 0 ⎠ + ⎝ −l⎠ × ⎝ 0 ⎠ S
(A)
woraus sich für die Kräftegleichgewichte MAz 0 sin α
⎛ ⎞ ⎛ ⎞
∑ Fiy = Ay = 0 , 2l 0
2F +⎝l⎠×⎝ 0 ⎠ = 0 ,
∑ Fix = Ax − S cos α = 0 =⇒ Ax = tan α und 0 −F
∑ Fiz = Az + S sin α − F = 0 =⇒ Az = −F woraus sich nach Auflösen der Vektorprodukte genau
ergibt. Sie werden es gemerkt haben: Die richtige Er- dieselben Gleichungen wie nach komponentenweisem
mittlung der zu den Kräften gehörenden Hebelarme Vorgehen ergeben. Der große Vorteil der vektoriellen
ist nicht immer einfach, es erfordert in der Tat ein gu- Vorgehensweise ist also, dass sie auch ohne gehobenes
tes räumliches Vorstellungsvermögen. Am Beispiel des räumliches Vorstellungsvermögen zum Ziel führt.
2.4 Räumliche Kraftsysteme 37

Tab. 2.2 Übersicht über die wichtigsten Verbindungselemente in mehrteiligen Beispiel Betrachten wir als Beispiel für die Ermitt-
Systemen lung von Lager- und Verbindungsreaktionen das abge-

Technische Mechanik
Verbindungselement: Sinnbild: Reaktionen: bildete Gespann aus PKW und einachsigem Anhänger
Pendelstütze (Abb. 2.14):
(Wertigkeit 1)
Zunächst schneiden wir das Gelenksystem als Gan-
Gelenk zes frei. Es ist also unter dem Gespann die Fahrbahn
(Wertigkeit 2) zu entfernen und durch die entsprechenden Kräfte
zu ersetzen. Dies sind die vertikalen Achslasten Ay
(Anhänger), Hy (PKW-Hinterachse) und Vy (PKW-
Hülsenführung Vorderachse) sowie – unter der Annahme, dass nur die
(Wertigkeit 2) Hinterachse des PKWs gebremst ist – die Horizontal-
kraft Hx .
Jetzt folgt der Freischnitt mitten durch das Gelenk.
Hierdurch erhalten wir zwei getrennte Systeme, An-
hänger sowie PKW, auf die im Gelenk jeweils die
Die Frage nach der Art der in einem Verbindungselement Gelenkkräfte Gx und Gy wirken.
wirkenden Kräfte und Momente beantworten wir so, wie
wir es schon bei den Lagern getan haben: In jede Rich-
tung, in die sich die verbundenen Systeme ungehindert 5 kN
zueinander bewegen können, übt das Verbindungsele- 15 kN
ment keine Kraft (bzw. bei Rotationen: kein Moment) aus.
Umgekehrt übt das Verbindungselement in jede Rich-
tung, in die es die Relativbewegung der Körper unterbin- A H V
det, sehr wohl eine Kraft (bzw. ein Moment) aus. Diese 4 kN 8,9 kN 7,1 kn
Kraft (bzw. dieses Moment) unterbindet nämlich gerade 0,25m 1m 1m 1,4 m 1,4 m
die entsprechende Relativbewegung.

So wird in einer Pendelstütze nur eine Kraft in Richtung 5 kN Gy


der Stütze übertragen (weil sich die Körper quer dazu Gx Gx 15 kN
gegeneinander bewegen, sowie sich drehen können) in
einem Gelenk eine horizontale und eine vertikale Kraft Gy Hx H V
(weil sich die Körper am Gelenk weder horizontal noch
Ay Hy Vy
vertikal gegeneinander verschieben, sich aber sehr wohl
zueinander verdrehen können), und in einer horizontal 0,25m 1m 1m 1,4 m 1,4 m
verschieblichen Hülsenführung eine vertikale Kraft und
ein Moment (weil sich die Körper am Gelenk weder ver- Abb. 2.14 Beim Freischneiden von Gelenksystemen wird nicht nur an allen
Lagerungen, sondern auch genau durch die Gelenke freigeschnitten
tikal gegeneinander verschieben noch sich umeinander
drehen können, sich aber horizontal zueinander verschie-
ben können (Tab. 2.2)). Den Freikörperbildern von Anhänger und PKW entneh-
men wir, dass sechs unbekannte Lager- und Gelenk-
reaktionen (Ay , Hx , Hy , Vy , Gx und Gy ) zu berechnen
Der Berechnung zugänglich werden diese Reaktionen bei sind. Hierzu stehen pro Freikörperbild die bekannten
einen Freischnitt genau durch das Verbindungselement. drei Gleichgewichtsbedingungen der ebenen Statik – zwei
Durch diesen Freischnitt erhalten wir zwei getrennte Sys- Kräfte- und ein Momentengleichgewicht – zur Verfügung,
teme, bei denen am Freischnitt jeweils die Verbindungs- die Aufgabe ist also lösbar.
reaktionen wirken. Wichtig: Die Verbindungsreaktionen
wirken auf beide Körper in gleicher Größe, aber entgegen- Beginnen wir mit dem einfacheren der beiden Freikörper-
gesetzter Orientierung. Dies ergibt sich formal aus dem bilder, dem des Anhängers:
3. Newton’schen Axiom („Übt ein Körper A auf einen
Körper B eine Kraft aus, so wirkt eine gleichgroße aber  ∑ M(G)
i = −Ay · 1,25 m + 5 kN · 1 m = 0
entgegengerichtete Kraft von Körper B auf Körper A.“), =⇒ Ay = 4 kN ,
ist aber auch von der Anschauung her leicht zu begreifen.
Wenn sich beispielsweise ein Anhänger auf einen PKW → ∑ Fi,x = Gx = 0 ,
abstützt, dann wird der Anhänger vom PKW mit einer ↑ ∑ Fi,y = Ay − 5 kN + Gy = 0 mit Ay = 4 kN
Kraft nach oben hin abgestützt, der PKW aber vom Anhän-
ger mit genau derselben Kraft nach unten gedrückt. =⇒ Gy = 1 kN .
38 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

Übersicht: Tipps zur Berechnung von Gelenkreaktionen


Technische Mechanik

Beachten Sie bei Aufgaben zu gelenkigen Systemen die prüfung der Ergebnisse wie folgt aus:
folgenden zwei Hinweise:

5 kN
Beginnen Sie bei der Berechnung von Lager- 15 kN
und Gelenkreaktionen beim einfachsten der beiden
(oder mehr) Freikörperbilder. Beim danach folgen-
den schwierigeren Freikörperbild sind dann in aller
Regel schon die Gelenkkräfte bekannt und die Rech- 4 kN 8,9 kN 7,1 kN
nerei wird deutlich einfacher. 0,25 m 2m 1,4 m 1,4 m
Die berechneten Ergebnisse lassen sich an einem
Freikörperbild des Gesamtsystems, also ohne einen
Schnitt durch das Gelenk, überprüfen. In dieses Man kann sich leicht davon überzeugen, dass das
Freikörperbild werden die berechneten Lagerreak- Kräftegleichgewicht in y-Richtung exakt aufgeht
tionen eingezeichnet, und es wird überprüft, ob die und dass auch das Momentengleichgewicht mit
Kräfte- und Momentengleichgewichte auch tatsäch- kleiner Ungenauigkeit durch das Runden der Er-
lich aufgehen. In unserem Beispiel sähe die Über- gebnisse aufgeht.

Und nun zum Freikörperbild des PKWs: 2.5 Reibung


∑ M(H)
i = Gy · 1 m − 15 kN · 1,4 m + Vy · 2,8 m = 0 ,
mit Gy = 1 kN =⇒ Vy = 7,1 kN , Reibung wird überwiegend als negativ wahrgenommen.
Gilt sie doch nur allzu oft als unerwünscht, entste-
→ ∑ Fi,x = −Gx + Hx = 0 mit Gx = 0 kN hen Schwergängigkeit und Reibungsverlust doch immer
=⇒ Hx = 0 kN , dann, wenn zu viel Reibung vorliegt, sozusagen Sand im
Getriebe ist.
↑ ∑ Fi,y = −Gy + Hy − 15 kN + Vy = 0 ,
mit Gy = 1 kN und Vy = 7,1 kN Doch ohne Reibung ginge auch nicht viel. Sind Sie schon
einmal auf einer Bananenschale ausgerutscht? Da war
=⇒ Hy = 8,9 kN .  die Reibungskraft zwischen Schale und Boden (oder zwi-
schen Schale und Schuhsohle) zu gering. Immer wenn
Statische Bestimmtheit es auf die Griffigkeit von Bauteilen ankommt – etwa bei
Reifen, Bremsbelägen oder Kupplungen – soll Reibung
Wir übertragen die Regeln für statische Bestimmtheit auf
möglichst groß sein. Und ganz ohne Reibung wäre Fortbe-
Gelenksysteme und erhalten so als
wegung nur noch formschlüssig (wie bei einer Zahnrad-
bahn) oder per Rückstoßprinzip (wie bei einem Flugzeug)
Notwendige Bedingung für statische Bestimmtheit von möglich, nicht aber „normal“ kraftschlüssig.
Gelenksystemen
Wir befassen uns in diesem Kapitel mit vier wichtigen Ar-
Zahl der Zahl der ten von Reibung, der Gleitreibung, Haftung, Rollreibung
Lager- und Gelenk- = Gleichgewichts- . und Seilreibung.
wertigkeiten bedingungen

Hierbei beträgt die Zahl der Gleichgewichtsbedingungen Gleitreibung bremst Bewegung


für ebene Systeme mit einem einzigen Gelenk (zweiteilige
Systeme) 6, für ebene Systeme mit zwei Gelenken (drei- Steigen wir mit einem winterlichen Gedankenexperiment
teilige Systeme) 9, und für ebene Systeme mit noch mehr in die Gleitreibung ein. Zwei Schlitten, ein leichter und ein
Gelenken entsprechend mehr. schwerer, seien durch den Schnee zu ziehen (Abb. 2.15).
Frage 2.5 Das kostet Kraft, weil die Reibung zwischen Kufen und
Weswegen haben zweiachsige Anhänger eine gelenkig Schnee die Bewegung hemmt. Und damit sind wir bei
mit dem Anhänger verbundene Deichsel, einachsige An- der ersten wichtigen Eigenschaft der Gleitreibung, näm-
hänger dagegen nicht? lich ihrer Richtung. Die Gleitreibungskraft ist stets gegen
die Bewegungsrichtung orientiert.
2.5 Reibung 39

Abb. 2.15 Es ist viel schwerer,


einen schweren Schlitten durch

Technische Mechanik
den Schnee zu ziehen als einen
leichten

der Oberflächen ab. Ein paar Zahlenwerte wichtiger Ma-


G terialpaarungen sind im Abschnitt Haftung tabellarisch
F aufgeführt (Tab. 2.3).

Beispiel Ein Kind mit dem Körpergewicht G rutscht


eine Rutsche hinunter (Abb. 2.17). Der Gleitreibungs-
FR FN koeffizient zwischen der Kleidung des Kindes und der
Rutschbahn betrage 0,5. Um welchen Winkel α muss die
Rutschbahn zur Horizontalen geneigt sein, damit das
Abb. 2.16 Freikörperbild des Schlittens Kind, wenn es losgerutscht ist, mit konstanter Geschwin-
digkeit weiterrutscht?
Die genaueren Kraftverhältnisse treten im Freikörperbild
zutage (Abb. 2.16).
Auf den Schlitten wirken y

die Gewichtskraft G (bestehend aus dem Gewicht der


auf dem Schlitten sitzenden Person und dem Eigenge-
wicht des Schlittens), x
die Aufstandskraft FN (die im Allgemeinen als Nor- α
malkraft bezeichnet wird, weil sie senkrecht zur Reib-
fläche orientiert ist, daher der tiefgestellte Index N),
die äußere Kraft F durch die ziehende Person und
schließlich
Abb. 2.17 Für welchen Winkel α rutscht das Kind mit konstanter Geschwin-
die Reibungskraft FR . digkeit?

Die Beträge von Gewichtskraft G und Normalkraft FN so- Ansatz zur Lösung ist wie immer das Freikörperbild.
wie die Beträge von äußerer Kraft F und Reibungskraft Hierzu ersetzen wir den Körper des Kindes durch die Ge-
FR sind, wenn keine Beschleunigungen auftreten, aus wichtskraft G, und wir entfernen die Rutsche, welche wir
Gründen des Kräftegleichgewichts jeweils gleich groß. Bei durch die Normalkraft FN und die Gleitreibungskraft FR
genauerer Messung würden wir feststellen, dass wir zum ersetzen. Dabei setzen wir FN und FR nicht irgendwie an,
Ziehen eines beispielsweise fünfmal schwereren Schlit- sondern in die Richtungen, in die sie tatsächlich auftreten.
tens eine fünfmal größere Zugkraft benötigen. Normal- Die Normalkraft ist senkrecht zur Rutschbahn orientiert,
kraft FN und Reibungskraft FR sind also zueinander pro- die Gleitreibungskraft gegen die Bewegungstendenz, also
portional, es gilt der folgende entlang der Rutsche nach oben gerichtet (Abb. 2.18).

Zusammenhang zwischen Normal- und Gleitreibungs-


y FR = μ FN
kraft
G
FR = μFN ,
α

x
mit dem dimensionslosen Gleitreibungskoeffizienten μ. FN
α
Die Größe des Gleitreibungskoeffizienten hängt von den
aneinander reibenden Werkstoffen – über Schnee zieht
es sich leichter als über Asphalt – und von der Rauheit Abb. 2.18 Das Freikörperbild des rutschenden Kindes
40 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

Für die Gleitreibungskraft gilt FR = μFN . Wir erhalten so- Tab. 2.3 Übersicht über die Haft- und Gleitreibungskoeffizienten einiger wich-
mit für das Kräftegleichgewicht in Richtung der Rutsch- tiger Materialparungen
Technische Mechanik

bahn Materialpaarung: μ0 : μ:
Stahl-Stahl 0,45–0,8 0,4–0,7
∑ Fix = −μFN + G sin α = 0 Stahl-Grauguss 0,18–0,24 0,17–0,24
Lederdichtung-Metall 0,6 0,2–0,25
und für das Kräftegleichgewicht quer dazu Holz-Metall 0,5–0,65 0,2–0,5
Holz-Holz 0,4–0,65 0,2–0,4

∑ Fiy = FN − G cos α = 0 , Stahl-Eis 0,027 0,014

woraus als Lösung α = arctan μ = 27◦ folgt. 


Achtung Wie sich an den Gleichungen zur Cou-
lomb’schen Reibung erkennen lässt, hängen Gleitrei-
bungs- und Haftkräfte nicht von der Größe der Reibungs-
Haftung will Bewegung verhindern fläche ab. 
Wie bei anderen Zwangskräften auch, darf man Normal-
und Reibungskräfte in beliebiger Orientierung in ein Frei-
Unter der Haftkraft FR versteht man die auf einen ruhen-
körperbild eintragen. Nach dem Auswerten der Gleich-
den Körper wirkende Reibungskraft, welche verhindert,
gewichtsbedingungen zeigt dann das Vorzeichen der er-
dass sich dieser Körper in Bewegung setzt. Die Gesetz-
rechneten Kraft, ob die Kraft tatsächlich in die im Freikör-
mäßigkeiten von Haftung und Gleitreibung sind einander
perbild angesetzte Richtung wirkt (positives Vorzeichen)
sehr ähnlich; in beiden Fällen spricht man von trockener
oder in entgegengesetzte Richtung (negatives Vorzei-
bzw. Coulomb’scher Reibung (nach Charles A. de Coulomb,
chen). Nun ist aber in halbwegs übersichtlichen Problem-
1736 – 1806).
stellungen die Kraftrichtung bei Normal- und Reibungs-
Auch die Haftkraft ist gegen die Bewegungsrichtung des kräften a priori bereits klar – Normalkräfte müssen so
Körpers, beziehungsweise – korrekt ausgedrückt – gegen orientiert sein, dass die beiden reibenden Körper gegen-
die Bewegungstendenz gerichtet. Die Bewegungstendenz einander drücken, und Reibungskräfte so, dass sie gegen
ist diejenige Richtung, in die sich der ruhende Körper be- die Bewegungsrichtung bzw. Bewegungstendenz wirken.
wegen würde, wenn ihn die Reibungskraft nicht daran Es empfiehlt sich dann, die Normal- und Reibungskräfte
hinderte. nicht in positive Koordinatenrichtungen, sondern in den
tatsächlich vorliegenden Richtungen in das Freikörper-
Die maximal mögliche Haftkraft ist ähnlich wie bei der bild einzuzeichnen.
Gleitreibung durch den Zusammenhang

FR,max = μ0 FN Der Reibkegel


Das Erreichen der Haftgrenze, d. h. der Übergang von
mit dem dimensionslosen Haftkoeffizienten μ0 gegeben. Haftung zu Gleitreibung, lässt sich sehr schön durch den
Diese maximal mögliche Haftkraft tritt allerdings nicht in sogenannten Reibkegel veranschaulichen. Hierzu führen
allen Fällen von Haftung auf. Wird mit einer sehr klei- wir zunächst den Haftungswinkel ρ ein. ρ beschreibt, wie
nen Kraft F an einem ruhenden Körper gezogen, so ist stark die Resultierende von F N und FR,max gegen die Flä-
die aus Gründen des Kräftegleichgewichts gleich große chennormale der Unterlage eines Körpers geneigt ist.
Haftkraft FR kleiner als das Produkt aus μ0 und FN , und
der Körper verharrt in Ruhe. Steigt die äußere Kraft F, so An der Haftgrenze gilt
steigt auch FR , bis die Haftkraft schließlich ihren größt-
möglichen Wert FR,max erreicht und sich der Körper in FR,max
= tan ρ ,
Bewegung setzt. FN
Der allgemeine Zusammenhang zwischen Normal- und woraus sich mit FR,max = μ0 FN der Zusammenhang
Haftkraft lautet somit
ρ = arctan μ0
FR ≤ μ0 FN .
ergibt.
Nur an der sogenannten Haftgrenze, an der sich der Kör-
per in Bewegung setzt, gilt das Gleichheitszeichen. Befindet sich nun ein Körper auf einer Unterlage, an der
er entweder haften oder auf der er gleiten könnte, so be-
Typische Zahlenwerte für Gleitreibungs- und Haftkoeffi- trachtet man die Wirkungslinie der von der Unterlage auf
zienten sind in Tab. 2.3 aufgeführt. den Körper ausgeübten Kraft. Liegt diese Wirkungslinie
2.5 Reibung 41

Leitbeispiel Antriebsstrang

Technische Mechanik
Der Keilriemen:
. . . ein eleganter Trick zur Verstärkung der Reibung

Keilriemen sind Antriebsriemen mit trapezförmigem gleichgewicht in vertikale Richtung ergibt sich
Querschnitt. Ihr Vorteil liegt in der im Vergleich zu
Flachriemen wesentlich höheren Reibung an den um FD
FN = ,
einen Winkel α geneigten Riemenflanken (siehe auch 2 sin α
Abschn. 27.5). Sehen wir uns die auf einen Keilriemen
sodass die maximal übertragbare Haftkraft
wirkenden Kräfte einmal näher an.
μ0
FR0,max = 2μ0 FN = · FD
sin α
FD
beträgt. Beschreibt man die Kraftübertragung eines
Keilriemenantriebs in Form der bekannten Gleichung
α FR0,max = μ0,eff FN über einen effektiven haftreibungs-
koeffizienten μ0,eff , so beträgt dieser effektive Haftko-
FN FN effizient
μ0
μ0,eff =
sin α
und liegt für einen typischen Flankenwinkel von α =
19◦ beim Dreifachen des tatsächlichen Haftkoeffizien-
ten. Das bedeutet, dass ein Keilriemen im Vergleich
zu einem gleich stark vorgespannten Flachriemen ein
Die Kraft, mit der der gespannte Keilriemen in die Rie- dreimal so großes Drehmoment übertragen kann, bzw.
menscheibe gedrückt wird, sei mit FD bezeichnet. Ihr dass ein Keilriemen für das Übertragen eines gegebe-
entgegen wirken die Normalkräfte FN an den beiden nen Drehmoments nur ein Drittel der Vorspannkraft
um den Winkel α geneigten Flanken. Aus dem Kräfte- eines vergleichbaren Flachriemens benötigt.

innerhalb der von ρ umrandeten Fläche, so haftet der Kör-


per auf seiner Unterlage; liegt sie außerhalb dieser Fläche,
ϱ ϱ ϱ ϱ so gleitet der Körper. Da im Dreidimensionalen der durch
ρ umrandete Raum ein Kegel ist, spricht man in diesem
Zusammenhang auch von dem Reibkegel.
F

F Beispiel Eine Leiter mit vernachlässigbar kleinem Ei-


FR FR gengewicht lehne an einer Wand (bodenseitiger Auf-
standspunkt drei Meter vor der Wand, wandseitiger An-
lehnpunkt fünf Meter über dem Boden). Dabei herrsche
FN
FN zwischen Leiter und Wand sowie zwischen Leiter und Bo-
den jeweils der Haftkoeffizient μ0 = 0,4. Wie weit kann
man die Leiter emporsteigen, ohne dass diese rutscht?
Abb. 2.19 Liegt die Wirkungslinie der Kraft F innerhalb des Reibkegels (links ), Lösung: An der Leiter greifen genau drei Kräfte an,
verbleibt der Körper in Ruhe, liegt sie außerhalb des Reibkegels, rutscht er nämlich die Gewichtskraft G der Person und die bei-
(rechts )
den Aufstandskräfte (deren x- und y-Komponenten die
entsprechenden Normal- und Haftkräfte sind). Bei Ein-
wirkung dreier Kräfte kann statisches Gleichgewicht nur
42 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

dann herrschen, wenn sich diese Kräfte in einem Punkt


schneiden.
Technische Mechanik

Soll die Leiter des Weiteren nicht rutschen, also Haf-


tung herrschen, muss sich dieser Schnittpunkt innerhalb
der beiden Reibkegel „Leiter auf Boden“ und „Leiter an
Wand“ befinden.
G

ϱ F
FN
ϱ R
FR
G
FR

f FN
4m ϱ ϱ

Abb. 2.21 Die Kräfte an einem schlecht aufgepumpten Reifen

3m FR0
überwinden. An der Fahrbahn wirken die Normalkraft
FN FN und die Haftkraft FR .
Das Rad sei schlecht aufgepumpt, sodass es sich stark
Abb. 2.20 Ermittlung des höchstmöglichen Standorts einer Person auf der an-
gelehnten Leiter, wenn die Leiter nicht rutschen darf
deformiert und an der Fahrbahn einen Wulst vor sich her-
schiebt. Dadurch greifen die Kräfte an der Fahrbahn in
x-Richtung gesehen um einen kleinen Abstand f vor den
Wir zeichnen also die beiden Reibkegel des Haftwinkels Kräften an der Achse an.
ρ = arctan 0,4 = 21,8◦ , schraffieren das „erlaubte“ Gebiet
für den Schnittpunkt von Aufstandskräften und ermit- Die Gleichgewichtsbedingungen ergeben:
teln die durch den eingezeichneten Kraftvektor von G
markierte Stelle der Leiter als höchstzulässigen Punkt der  ∑ M(Achse)
i = FN · f − FR · R = 0
Person auf der Leiter.  f
=⇒ FR = FN ,
R
↑ ∑ Fiy = −G + FN = 0
Rollreibung macht es leichter =⇒ G = FN sowie
→ ∑ Fix = F − FR = 0
Rollreibung kann um Größenordnungen kleiner sein als f
=⇒ F = FR = FN .
Gleitreibung, das weiß jeder, der schon mal versucht hat, R
sein Fahrrad mit fest angezogenen Handbremsen (also
Als Ergebnis erhalten wir für die
gleitend statt rollend) zu schieben.
Im Vergleich zur Coulomb’schen Reibung zeichnet sich Rollreibung
Rollreibung aber nicht nur durch die sehr viel geringeren
Reibungskräfte, sondern auch durch einen gänzlich an- Der Rollreibungswiderstand wächst mit zunehmen-
deren mechanischen Hintergrund aus. So hängt die Roll- dem Versatz (oder zunehmender Wulstgröße, wenn
reibungskraft nicht allein von der Normalkraft und den man so sagen möchte) f gemäß
beiden aneinander reibenden Werkstoffen (beim Beispiel
des geschobenen Fahrrades die von Rad und Fahrbahn), f
FR = FN
sondern vor allem von der Deformation von Reifen und R
Fahrbahn ab. Betrachten wir hierzu exemplarisch einen
schlecht aufgepumpten Fahrradreifen (Abb. 2.21).
Das Moment, das die Rollreibung dabei der rollenden Be-
Auf das Rad wirken an der Radachse die Stützlast G und wegung entgegensetzt, beträgt
die Vortriebskraft F. Letztere ist die Kraft, die vom Fah-
rer aufzubringen ist, um den Rollreibungswiderstand zu MRollreibung = FN · f .
2.5 Reibung 43

Beispiel: Der „Zaubertrick“ mit dem Besenstiel

Technische Mechanik
. . . ein schönes Spielchen mit Haftung und Gleitrei- Bewegung verhindernde Kraft. Der Stab wird also stets
bung an demjenigen Finger haften, der die größere Rei-
bungskraft aufbringen kann.
Problemanalyse und Strategie: Es gibt einen netten
Bezeichnen wir die beiden Finger im Folgenden als
„Zaubertrick“, an dem sich sehr schön das Zusammen-
Finger A und Finger B. Wenn die Finger nach innen
spiel von Haftung, Gleitreibung und Lagerreaktionen
zusammengeführt werden, dann üben sie auf den Stab
zeigt. Auch wenn man nervös oder ein wenig tollpat-
nach innen gerichtete Reibungskräfte aus. Nehmen wir
schig ist, der Trick gelingt praktisch immer, er kennt
einmal an, zu Anfang des Experiments rutsche der Stab
quasi keinen Vorführeffekt.
über den Finger A, während er am Finger B einstweilen
haften bleibt.
Lösung: So funktioniert der Zaubertrick:

FRA = μFNA FRB ≤ μ0FNB


FNB
FNA

Mit den Normal- und Reibungskräften geschieht nun


Folgendes:
An Finger A herrscht Gleitreibung. Die Gleitrei-
bungskraft beträgt FRA = μFNA .
An Finger B herrscht Haftung. Da der Haftkoeffi-
zient größer als der Gleitreibungskoeffizient ist, ist
die maximal mögliche Haftkraft am Finger B größer
Wir legen einen langen Stab möglichst weit außen lo-
als die Gleitreibungskraft am Finger A, und der Stab
se auf die Zeigefinger beider Hände. Was für einen
wird weiter am Finger B haften.
Stab wir nehmen ist egal – Bleistift, Lineal, Eisenstange,
Der Finger A nähert sich nun immer mehr der
. . . alles funktioniert. Aber je länger der Stab ist, desto
Stabmitte und überträgt deshalb (Momentengleich-
eindrucksvoller wird das Experiment, daher die Emp-
gewicht!) eine größere Normalkraft als Finger B:
fehlung zum Besenstiel.
FNA > FNB . Wenn der Finger A nahe genug an der
Jetzt führen wir langsam und gleichmäßig die Hän- Stabmitte ist, erreicht die Gleitreibungskraft an Fin-
de zusammen. Was geschieht? Abwechselnd bleibt der ger A die maximal mögliche Haftkraft an Finger B.
Stab an einem der beiden Finger haften und rutscht
Sobald die Haftkraft an Finger B die immer größer
über den anderen weg, bis sich nach einer Reihe von
werdende Gleitreibungskraft an Finger A nicht mehr
Wechseln zwischen Haften und Rutschen schließlich
aufbringen kann, kehren sich die Verhältnisse um: Der
beide Finger genau in der Mitte des Stabes treffen. Im-
Besenstiel bleibt nun an Finger A haften und gleitet
mer bleibt ein Finger am Stab haften, nie rutscht der
über den Finger B hinweg.
Stab über beide Finger gleichzeitig. Am besten Sie pro-
bieren es vor dem Weiterlesen gleich mal aus. Mit immer kürzer werdenden Gleitstrecken geht dieses
Wechselspiel noch eine Zeit lang weiter, bis sich beide
Der mechanische Hintergrund: Knackpunkt des Ver- Finger schließlich im Schwerpunkt des Besenstiels tref-
ständnisses ist das Begreifen von Reibung als eine fen.

Das heißt: Ein hart aufgepumpter Reifen, welcher auf Theoretisch würde der Rollwiderstand, wenn Rad und
der Fahrbahn wenig Deformation erfährt und somit ei- Fahrbahn vollkommen starr sind, sogar gänzlich ver-
ne kleinen Hebelarm f aufweist, bewirkt einen kleinen schwinden. Aber auch wenn das in der Praxis natürlich
Rollwiderstand. Wer Fahrrad fährt, wird dies aus eigener nicht der Fall ist – für Stahlräder von Schienenfahrzeugen
Erfahrung bestätigen können. rechnet man z. B. mit ungefähr f /R ≈ 0,001 bis 0,002, bei
44 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

ds

FR dφ dφ
Technische Mechanik

2 2
α dFR
dFN
S S + dS

kleinere dφ
Seilkraft S1
größere
Seilkraft S2
Abb. 2.23 Zur Herleitung der Eytelwein’schen Gleichung

Abb. 2.22 Seil- und Reibungskräfte bei Seilreibung Für infinitesimal kleine Winkel dϕ werden cos dϕ/2 = 1
und sin dϕ/2 = dϕ/2. Zudem ist dS · dϕ/2 als Produkt
zweier infinitesimal kleiner Größen klein von höherer
Wälzlagern mit f /R ≈ 0,0005 bis 0,001 – so ist Rollreibung Ordnung und kann vernachlässigt werden. Wir erhalten
in aller Regel doch sehr viel kleiner als Gleitreibung. somit
dS − μ0 dFN = 0 und
dFN − S dϕ = 0 .
Seilreibung unterstützt kleine Kräfte Eliminieren von dFN führt schließlich zu
dS
μ0 dϕ =.
Wird ein Seil über eine reibungsfrei drehbar gelagerte Rol- S
le umgelenkt, so sind, wie wir wissen, die Seilkräfte zu Wir integrieren beide Seiten über die Umschlingung – den
beiden Seiten der Rolle gleich groß. Findet diese Umlen- Winkel ϕ von 0 bis α und die Seilkraft S von S1 bis S2 – und
kung jedoch um einen starren Pfosten statt, so ist dem erhalten
nicht mehr so.
μ0 α = ln S2 − ln S1 ,
Die Seilkräfte können nun zu beiden Seiten des Pfos-
tens unterschiedlich groß sein, ohne dass das Seil um was wir zu S2 = S1 · exp(μ0 α) umformen.
den Pfosten rutscht. Grund hierfür sind die Reibungs- Wenn S1 > S2 ist, müssen wir die Indizes in diesen Glei-
kräfte zwischen Pfosten und Seil, die, da sie gegen die chungen vertauschen, und wir erhalten als Ergebnis S2 =
Bewegungstendenz des Seils orientiert sind, die kleinere S1 · exp (−μ0 α). Ganz allgemein verbleibt das Seil also
Seilkraft unterstützen. dann in Ruhe, wenn bei einer vorgegebenen Seilkraft S1
die gegenhaltende Seilkraft S2 um weniger als den Faktor
Bezeichnen wir die kleinerer Seilkraft zunächst als S1 und
exp (μ0 α) von S1 abweicht.
die größere Seilkraft als S2 . Zur Herleitung des Zusam-
menhangs zwischen den Seilkräften, dem Haftkoeffizien-
ten μ0 und dem Umschlingungswinkel α betrachten wir Eytelwein’sche Ungleichung
einen infinitesimal kleinen Abschnitt des um den Pfosten
Ein Seil bleibt so lange im statischen Gleichgewicht,
geschlungenen Seils.
wie sich S2 innerhalb der Grenzen (Abb. 2.23)
Die Länge des betrachteten Seilabschnitts sei ds, der Um-
schlingungswinkel des Abschnitts dϕ. Die Seilkräfte seien S1 · e(−μ0 α) ≤ S2 ≤ S1 · e(μ0 α)
an der linken Seite mit S und an der rechten Seite, an der
die Seilkraft ein klein wenig größer ist, mit S + dS bezeich- bewegt.
net. Der betrachtete Seilabschnitt befinde sich gerade an
der Haftgrenze, d. h., es wirken die Normalkraft dFN und
die Haftkraft dFR = μ0 dFN . Beachten Sie, dass der Umschlingungswinkel α in dieser
nach Johann A. Eytelwein (1764–1848) benannten Glei-
Die Gleichgewichtsbedingungen lauten chung stets in Bogenmaß anzusetzen ist.
Mit der Eytelwein’schen Gleichung werden unter an-
dϕ dϕ
→ ∑ Fix = −S cos + (S + dS) cos − μ0 dFN = 0 derem Riemenantriebe ausgelegt. Aber auch im nicht-
2 2 technischen Bereich kann die Seilreibung durchaus von
dϕ dϕ Bedeutung sein, wie das folgende Beispiel vom Klettern
und ↑ ∑ Fiy = dFN − S sin − (S + dS) sin = 0.
2 2 zeigt (Abb. 2.24).
2.6 Schwerpunkt 45

Beispiel Ihr 700 N schwerer Kommilitone klettert an ei-


ner Kletterwand, Sie sichern.
2.6 Schwerpunkt

Technische Mechanik
Aus der bloßen Anschauung wissen wir, was ein Flächen-
schwerpunkt ist. Wird eine Fläche lose in ihrem Schwer-
α ≈ 180° punkt an eine Wand gepinnt, dann kippt die Fläche unter
dem Einfluss der Schwerkraft nicht. Bei einem anderen
Aufhängepunkt würde die Fläche so lange pendeln, bis
sich der Schwerpunkt wieder genau unterhalb des Auf-
hängepunktes befindet.

Berechnung des Flächenschwerpunktes

Nun gilt es, diesen Gedankengang in die Mechanik um-


zusetzen. Betrachten wir hierzu eine beliebige Fläche, die
wir gedanklich in viele kleine Flächenelemente ΔA unter-
teilen (Abb. 2.25).
Wenn diese Fläche um ihren Schwerpunkt nicht kippt,
sich also nicht dreht, muss um den Schwerpunkt das
Momentengleichgewicht erfüllt sein. Über alle Flächen-
elemente aufsummiert gilt demnach

∑ ΔA · (Hebelarm zum Schwerpunkt) = 0 .


Im Grenzübergang zu infinitesimal kleinen Flächenele-
menten werden ΔA zu dA und das Summenzeichen zum
Integral. Mit dem Hebelarm eines jeden Flächenelements,
welcher x − xS beträgt, erhalten wir

Abb. 2.24 Einfache Sicherung eines Kletterers an einer Kletterwand (x − xS )dA = 0 .
(A)
Dabei wird das Sicherungsseil ganz oben an einem Kara-
biner um 180° umgelenkt. Es betragen der Haftkoeffizient Hierbei bedeutet der Integrationsbereich A, dass über die
μ0 = 0,4 und der Gleitreibungskoeffizient μ = 0,3. ganze Fläche integriert wird. Wir formen weiter um zu
  
Mit welcher Kraft müssen Sie gegenhalten, wenn Ihr (x − xS )dA = x dA − xS dA
Kommilitone abstürzt? (A) (A) (A)
Wenn Sie Ihrem abgestürzt im Seil hängenden Kom- 
militonen etwas Gutes tun und ihn nach oben ziehen = x dA − xS A = 0 .
wollen: Welche Kraft ist jetzt erforderlich? (A)

Zur Lösung: In der ersten Fragestellung liegt Gleitreibung


y
vor (ein sich bewegender, weil abstürzender Kletterer
muss aufgefangen werden). Dabei ist die Gewichtskraft
y ∆A
des Kletterers die größere Seilkraft S2 und die Gegen-
haltekraft die kleinere Seilkraft S1 . Diese beträgt S1 =
700 N/ exp (0,3 π ) = 273 N. yS SP

In der zweiten Fragestellung erschwert dagegen die Seil-


reibung das Hochziehen des Kletterers, zudem liegt Haf-
tung vor. Die Verhältnisse kehren sich somit um, und
die Gewichtskraft des Kletterers ist nun die kleinere Seil-
kraft S1 und die Gegenhaltekraft die größere Seilkraft S2 .
x
Diese beträgt S2 = 1300 N · exp (0,4 π ) = 2460 N. Lieber x xS
also nur sichern und das Hochziehen gar nicht erst ver-
suchen.  Abb. 2.25 Zur Herleitung des Flächenschwerpunktes
46 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

Unter Beachtung, dass sich für die y-Koordinate des Flä- h


chenschwerpunktes, yS , ein der x-Koordinate des Flächen-
y(x) = h – h x
Technische Mechanik

schwerpunktes analoges Ergebnis ergibt, erhalten wir b


schließlich für die
y

Koordinaten des Flächenschwerpunktes x b

  Abb. 2.27 Der Integrationsweg für ΔA


1 1
xS = x dA und yS = y dA
A A
(A) (A) Das heißt, es ist zunächst entlang y zu integrieren,

h− hb x

Diese Gleichungen mögen abstrakt und schwierig wir- x dy ,
ken – man integriert nicht alle Tage über eine Fläche –
y= 0
aber in Wirklichkeit sind sie gut zu lösen. Die Integrale
über die Fläche bedeuten letztlich nichts weiter, als dass
eine gegebene Fläche A lückenlos mit kleinen Flächenele- um dann dieses Integral von x = 0 bis x = b erneut zu in-
menten der Größe dA zu überstreichen ist und zu jeder tegrieren. Wir erhalten somit
Position die x- bzw. y-Koordinate notiert und nachher auf-
b  h− b x
h
summiert (integriert) wird. An zwei Beispielen werden  
wir gleich sehen, wie das geht. x dA = x dy dx .
(A) x= 0 y= 0
Ist eine Fläche übrigens symmetrisch, kann man sich die
Berechnung einer Schwerpunktkoordinate sparen, denn
es gilt für den Dieses Integral ist einfacher, als es auf den ersten Blick er-
scheint. Im inneren Integral wird entlang y integriert. Der
Flächenschwerpunkt bei symmetrischen Flächen Integrand x,ist aber von y unabhängig und kann somit als
Konstante vor das innere Integral gezogen werden. So er-
Bei spiegelsymmetrischen Flächen liegt der Flächen- gibt sich
schwerpunkt stets auf der Symmetrieachse.
b  h− b x
h
  b  h 
x dA = x 1 dy dx = x h − x dx
b
(A) x= 0 y= 0 x= 0
Beispiel Zu berechnen sind die Schwerpunktkoordina-
1 1h 3
b 1 2
ten xS und yS des in Abb. 2.26 abgebildeten rechtwinkli-
= hx2 − x = hb .
gen Dreiecks der Breite b und der Höhe h. 2 3b 0 6

Zusammen mit der Dreiecksfläche, A = 1/2bh, erhalten


wir als Schwerpunktkoordinate
h
y 1 2
6 hb b
yS xS = 1
= .
2 bh
3
x xS
b
Für die y-Koordinate des Schwerpunktes ergibt sich ana-
Abb. 2.26 Zu berechnen ist der Flächenschwerpunkt eines rechtwinkligen log
Dreiecks
h
yS = .
Zunächst zur Berechnung von xS : Am geschicktesten be- 3

streichen wir die Dreiecksfläche mit unserem kleinen Flä-
chenelement ΔA, wenn wir dieses zunächst entlang einer
Säule von y = 0 bis zur Oberkante des Dreiecks laufen las- Beispiel Schwerpunkt eines Viertelkreises Gegeben
sen und dann alle Säulen entlang der Breite des Dreiecks sei ein Viertelkreis mit dem Radius R. Gesucht sind die
aufsummieren (Abb. 2.27). Schwerpunktkoordinaten xS und yS .
2.6 Schwerpunkt 47

Tab. 2.4 Übersicht über die Rechteck rechtwinkliges Dreieck Viertelkreis Parallelogramm Dreieck
Schwerpunkte wichtiger Flächen

Technische Mechanik
h h y h h
x b y
y y
b b1 x b2 b1
b1 x b2
x R
2b1 +b2
xS = b
2 xS = b
3 xS = 4
3π R xS = b1 + 12 b2 xS = 3

yS = h
2 yS = h
3 yS = 4
3π R yS = h
2 yS = h
3

Der Schwerpunkt zusammengesetzter Flächen


Ist eine Fläche aus mehreren Teilflächen mit jeweils bekann-
ter Schwerpunktlage zusammengesetzt, so lässt sich die
Lage des Gesamtschwerpunktes auch ohne Integration be-
rechnen. Der Grundgedanke ist dabei im Prinzip derselbe,
der auch der Integralformel zur Berechnung des Flächen-
schwerpunktes zugrunde liegt: Um den Gesamtschwer-
rdφ punkt gleichen sich die Drehwirkungen (die Momente) al-
y ler Teilflächen zu null aus. Und so ist dann die Bestim-
r mungsgleichung für den Schwerpunkt zusammengesetz-
φ ter Flächen den Gleichungen zur Schwerpunktberechnung
durch Integration über die Querschnittsfläche sehr ähnlich.
x dr R

Schwerpunkt zusammengesetzter Flächen


Abb. 2.28 Der Integrationsweg zur Schwerpunktberechnung eines Viertelkrei-
1 1
ses
xS =
Ages ∑ (xSiAi ) und yS =
Ages ∑ (ySiAi ) .

Wir rechnen in Polarkoordinaten und wählen das skiz-


zierte Flächenelement dA mit den Kantenlängen dr und Hierin sind Ages der Flächeninhalt der Gesamtfläche, xSi
rdϕ zum Überstreichen der Viertelkreisfläche (Abb. 2.28). und ySi die x- und y-Koordinaten der Schwerpunkte der
Wir lassen es zunächst in Umfangsrichtung entlang ei- einzelnen Teilflächen und Ai die Flächeninhalte der Teil-
nes Kreisbogens von ϕ = 0◦ bis ϕ = 90◦ laufen (inneres flächen.
Integral), um anschließend alle inneren Integrale vom Aufgaben zum Schwerpunkt zusammengesetzter Flächen
Kreismittelpunkt bis nach außen zum Kreisbogen auf- lassen sich zumeist ohne größere Probleme lösen, wenn
zuintegrieren (äußeres Integral). Das bedeutet man alle für die Berechnung erforderlichen Daten (xSi , ySi ,

Ai und Ages ) übersichtlich in einer kleinen Tabelle zusam-
 R  90  menfasst.
x dA = r cos ϕrdϕ dr
Am folgenden Beispiel sei das illustriert.
(A) r= 0 ϕ = 0 ◦

R
90◦ Beispiel Für die skizzierte Fläche (Abb. 2.29), die aus
1 3
= r2 sin ϕ dr = R . den einem Rechteck (Fläche 1), einem rechtwinkligen
0◦ 3
r= 0

Mit der Fläche des Viertelkreises, A = π/4 R2 , erhalten


wir als Ergebnis
100 R40
4 y
xS = R.

x
Das Ergebnis für xS ist aus Symmetriegründen identisch. 50
 150 60

Die Schwerpunkte dieser und weiterer wichtiger Flächen Abb. 2.29 Ein Beispiel für eine aus mehreren Teilflächen zusammengesetzte
sind in Tab. 2.4 aufgeführt. Fläche
48 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

Beispiel: Büroklammerkreisel bauen


Technische Mechanik

. . . ein nettes Spielzeug, wenn der Schwerpunkt ds = Rdφ


stimmt.

y φ
Problemanalyse und Strategie: Kreisel zählen zu den
erklärten Lieblingsspielzeugen des Autors, und ganz
besonders mag er solche, die man aus einer Büroklam- α
x
mer selber biegen kann. Als gut sortierter Beamter hat
er immer ein paar Büroklammern in Griffweite, und
das Verarbeiten derselben in rasante Kreisel hat ihn
schon in manch „spannender“ Sitzung wach gehalten.
Wie aber muss eine Büroklammer gebogen werden, da- R
mit ein gut laufender Kreisel aus ihr wird?

Die beiden geraden Enden des Kreisels bilden die


Lösung: Auch ohne tieferen Einblick in die Kreiselme- Kreiselachse, liegen deswegen automatisch im Schwer-
chanik sind zwei Forderungen an einen gut laufenden punkt und brauchen für die Schwerpunktberechnung
Kreisel plausibel: nicht weiter berücksichtigt zu werden. Der Winkel α,
in dem die Speichen angeordnet sind, ist somit derart
Ein guter Büroklammerkreisel dreht sich mit viel zu wählen, dass der Schwerpunkt von Speichen und
Schwung, d. h. einem großen Massenträgheitsmo- Kreissegment im Ursprung des abgebildeten Koordi-
ment (vgl. Abschn. 10.2). Dafür muss möglichst viel natensystems liegt.
Masse weit weg von der Kreiselachse liegen.
Ein guter Büroklammerkreisel dreht sich ohne Un- Aufgrund der Symmetrie ist dies für die y-Koordinate
wucht, d. h. sein Schwerpunkt liegt auf der Kreisel- des Schwerpunktes gegeben. Aber bezüglich der x-
achse. Koordinate bleibt uns eine Schwerpunktberechnung
nicht erspart.
Der erste Punkt, die Forderung nach großer Massen- Die Schwerpunkte der Speichen (Segmente 1 und 2)
trägheit, wird sehr schön von der 1986 von T. Sakai liegen jeweils in der Mitte der Speichen; den Schwer-
vorgeschlagenen Geometrie erfüllt. Bei ihr wird die punkt des Kreissegmentes (Segment 3) berechnen wir
Büroklammer zu einem Kreisel gebogen, der aus der mit der Integraldefinition
Kreiselachse, zwei Speichen und einem trägen, weil 
weit von der Kreiselachse entfernten Kreissegment be- 1
xS3 = x ds .
steht. l
(l )

Hierin beträgt die Bogenlänge l des Kreissegments 2αR


(α in Bogenmaß); das Weginkrement ds entspricht Rdϕ.
Wir erhalten somit

1 R sin α
xS3 = R cos ϕ · R dϕ = .
2αR α
−α

Der Gesamtschwerpunkt von Streben und Kreisseg-


ment berechnet sich somit aus den folgenden Daten:

Teilsegment: xSi li
R
1: untere Speiche 2 cos α R

2 cos α
R
2: obere Speiche R
Damit zum zweiten Punkt, der Schwerpunktlage. Wie R sin α
3: Kreissegment α 2αR
ist die Kreiselgeometrie zu gestalten, damit der Krei-
2R + 2αR
selschwerpunkt auf der Drehachse liegt?
2.6 Schwerpunkt 49

Und wir erhalten für den Gesamtschwerpunkt xS Büroklammerkreisel sind schöne Spielzeuge. Wenn
man sich beim Biegen der Klammer Mühe gibt, kön-

Technische Mechanik
1   nen sie länger als 20 Sekunden lang laufen.
xS = R2 cos α + 2R2 sin α = 0
2R + 2αR Gewöhnliche Büroklammern lassen sich leicht von
 1 Hand zu Kreiseln biegen, am besten über eine Rol-
=⇒ α = arctan − = 153,4◦ . le, damit das Kreissegment auch tatsächlich kreisrund
2 wird. Trägere und länger laufende Kreisel erhält man
aus den größeren und stabileren Aktenklammern. Um
Dies entspricht einem Öffnungswinkel zwischen den diese zu verbiegen benötigt man allerdings zwei Zan-
Speichen von 53,2°. gen.

Dreieck (Fläche 2) und einem kreisförmigen Loch (Flä- Volumenschwerpunkt


che 3) zusammengesetzt ist, ist die Lage des Flächen-
Für homogene Körper lauten die entsprechenden Glei-
schwerpunktes zu bestimmen.
chungen zur Schwerpunktbestimmung
Wir tragen alle wichtigen Daten in eine übersichtliche Ta-
 
belle ein (Tab. 2.5). 1 1
xS = x dV, yS = y dV
V (V )
Tab. 2.5 Zusammenstellung der Schwerpunktlagen und Flächeninhalte der (V ) V
Teilflächen 
1
und zS = z dV ,
Teilfläche: xSi [mm] ySi [mm] Ai [mm2 ] (V )
V
1: Rechteck 150 × 100 75 50 15.000
2: rechtwinkliges Dreieck 170 33,3 3000 bzw.
60 × 100 1 1
3: Kreisloch R40 50 50 −5027 xS =
Vges ∑ (xSiVi ) , yS =
Vges ∑ (ySiVi )
Ages = 12.973mm2 1
und zS =
Vges ∑ (zSi Vi )
Jetzt setzen wir die Gleichungen für die Schwerpunktbe-
stimmung zusammengesetzter Flächen an und erhalten bei zusammengesetzten Volumina.
1  
xS = 75 · 15.000 + 170 · 3000 − 50 · 5027 mm Massenmittelpunkt
12.973
= 107 mm Bei inhomogenen Körpern wird es ein wenig kompli-
zierter, denn die unterschiedliche Dichteverteilung ist zu
sowie berücksichtigen. Es gelten nun die Gleichungen
1  
 
yS = 50 · 15.000 + 33,3 · 3000 − 50 · 5027 mm 1 1
12.973 xS = x dm = ρ x dV ,
m m
= 46 mm . (m ) (V )
 
1 1
Diesem Beispiel können wir auch entnehmen, wie bei zu- yS = y dm = ρ y dV
sammengesetzten Flächen mit Löchern umzugehen ist. m m
(m ) (V )
Diesen wird ein negativer Flächeninhalt zugewiesen, und  
sonst werden sie behandelt wie jede andere Teilfläche 1 1
und zS = z dm = ρ z dV ,
auch.  m m
(m ) (V )

bzw.
In anderen Dimensionen: Volumenschwerpunkt, 1 1
Massenmittelpunkt und Linienschwerpunkt
xS =
mges ∑ (xSimi ) , yS =
mges ∑ (ySimi )
1
Alle für Flächen hergeleiteten Gleichungen zur Schwer-
und zS =
mges ∑ (zSimi )
punktbestimmung gelten sinngemäß auch für Linien (et-
wa Rohrleitungen) und dreidimensionale Körper. bei zusammengesetzten Volumina.
50 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

Linienschwerpunkt bzw.
Für Linien (z. B. dünne Rohrleitungen konstanter längen-
Technische Mechanik

1 1
bezogener Masse) gilt xS =
lges ∑ (xSili ) , yS =
lges ∑ (ySili )
  1
xS =
1
x ds, yS =
1
y ds und zS =
lges ∑ (zSi li )
l l
(l ) (l )
 bei Linien, die aus mehreren Segmenten mit jeweils be-
1
und zS = z ds , kannter Schwerpunktlage zusammengesetzt sind.
l
(l )

Weiterführende Literatur
Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils
Technische Mechanik befindet sich am Ende von Kap. 9.

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 2.1 Technische Strukturen, die sich nicht als star- Antwort 2.4 Das abgebildete Scharnier verhindert, dass
re Körper idealisieren lassen, kommen vergleichsweise sich ein Körper in x-, y- oder z-Richtung translatorisch be-
selten vor. Beipiele sind ein Stab für den Stabhochsprung wegen kann. An Rotationen verhindert es weiterhin die
oder eine Angelrute nach dem Anbeißen eines kapitalen Drehungen um die y- und z-Achse, wogegen es einer Ro-
Fisches, die sich beide sehr stark durchbiegen. tation um die x-Achse keinen Widerstand entgegensetzt.
Das Scharnier kann also die Lagerreaktionen Fx , Fy , Fz , My
Antwort 2.2 Wir suchen Balken, die an beiden Enden und Mz ausüben.
gelenkig gelagert sind und dazwischen keine Belastung
erfahren. Das sind z. B. eine an beiden Seiten gelenkig ge- Antwort 2.5 Aus Gründen der statischen Bestimmtheit.
lagerte Deichsel eines Anhängers oder der Hubzylinder Würde man einen einachsigen Anhänger mit einer an
eines Kipplasters, sofern die Eigengewichte von Deichsel beiden Seiten gelenkig gelagerten Deichsel – aus me-
bzw. Hubzylinder im Vergleich zu den sonstigen angrei- chanischer Sicht ist das eine Pendelstütze – mit dem
fenden Kräften vernachlässigbar klein sind. Zugfahrzeug verbinden, lägen vier Lager- und eine Ge-
lenkwertigkeit vor. Das ist weniger als die für statische Be-
Antwort 2.3 Aus Gründen des Momentengleichgewichts. stimmtheit von zweiteiligen Systemen erforderliche Zahl
Senkt sich z. B. das rechte Ende eines Mobilestabs ab, so von sechs Wertigkeiten, sodass das Gespann statisch un-
verkürzt sich durch die Stabbiegung sein Hebelarm zur terbestimmt gelagert wäre. Zum gleichen Schluss kommt
Aufhängung, während sich der Hebelarm des nach oben man auch mit gutem ingenieurmäßigen Vorstellungsver-
steigenden linken Stabendes verlängert. Der Stab wird mögen, denn man erkennt, dass ein einachsiger Anhänger
sich dann wieder in seine Ausgangslage zurückdrehen. mit gelenkiger Deichsel wackelig wäre.
Aufgaben 51

Aufgaben

Technische Mechanik
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

2.1 • Berechnen Sie die in Abb. 2.6 auftretenden Bestimmen Sie die Winkel α und β (a) grafisch und (b)
Lagerkräfte. Mit welcher Kraft ist die Rolle an der Decke rechnerisch.
befestigt, wenn die Person in einem Winkel von α = 50◦
zur Horizontalen am Seil zieht? Hinweis: Zur rechnerischen Lösung: Mit den beiden
Gleichgewichtsbedingungen für das statische Gleichge-
Resultat: Ax = 63 N, Ay = 173 N. wicht am Punkt erhalten Sie zwei Gleichungen für die
beiden Unbekannten α und β. Lösen Sie dieses Glei-
chungssystem, indem Sie beide Gleichungen quadrieren
2.2 • Ein Frachtschiff wird von zwei Hafenschlep- und miteinander addieren.
pern (A und B) abgeschleppt. Die Seilkräfte betragen
FA = 32 kN im Seil zu Schlepper A und FB = 21 kN im Für die zeichnerische Lösung benötigen Sie einen Zirkel.
Seil zu Schlepper B.
Resultat: α = 7, 18◦ , β = 48, 59◦ .
B
2.4 • Ein 1600 N schwerer Stahlträger wird wie
40° skizziert über zwei Seile mit einem Kran angehoben. Be-
25° rechnen Sie die Seilkräfte.

Berechnen Sie die auf das Frachtschiff wirkende resultie-


rende Abschleppkraft.
Seil 1 Seil 2
Resultat: Rx = 45,1 kN, Ry = 0 kN. 30° 30°

2.3 •• Ein Seil ist über zwei reibungsfrei drehbar 30 cm 30 cm


gelagerte Rollen A und B geführt. An den Enden des 2m
Seils hängen die Gewichte FA = 400 N und FB = 600 N,
zwischen den Rollen das Gewicht FC = 500 N. Das Eigen-
gewicht des Seils sei vernachlässigbar.
Resultat: S1 = S2 = 1600 N.

2.5 • Beim Rodeln müssen Sie einen Schlitten mit


Kind den Berg hinaufziehen. Welche Kraft ist hierfür er-
forderlich? Zahlenwerte: Gewichtskraft von Schlitten und
Kind: 300 N, α = 25◦ , β = 30◦ .
FA
α β FB
FC
52 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

Hinweis: Die Behandlung des Momentengleichgewichts


fällt einfacher, wenn Sie die Gewichtskraft G in ihre Kom-
Technische Mechanik

ponenten aufspalten: Gx entlang des Hangs und Gy senk-


recht zum Hang.

Resultat:
1. Ay = G4 (2 cos α − sin α), By = 4 (sin α + 2 cos α ),
G

S = G sin α.
2. αmax = 37◦ .

β 2.7 • Ein Träger der Länge 2 l ist im Punkt A zwei-


wertig und im Punkt B mit einer Pendelstütze gelagert.
Belastet wird er durch zwei Kräfte des Betrags F.

l l

α F

F
A α B

Hinweis: Nehmen Sie vereinfachend an, dass die Kufen


reibungsfrei auf dem Schnee gleiten.

Resultat: 127 N.

2.6 •• Sie schieben einen Wagen der bekannten Ge-


wichtskraft G einen Berghang hinauf. 1. Ist der Träger statisch bestimmt gelagert?
2. Berechnen Sie die Lagerreaktionen in den Punkten A
und B.
l Hinweis: Beachten Sie, dass eine Pendelstütze eine einwer-
l tige Lagerung ist. Zeichnen Sie deswegen die Lagerreak-
2 tion der Pendelstütze in ihrer tatsächlichen Orientierung
SP
in Ihr Freikörperbild ein.
B
l Resultat: Ax = −F − 2F
tan α , Ay = −F, B = 2F
sin α .
y x
A l
2.8 • Der skizzierte, in den Punkten A und B in
Fest- und Loslagerung gelagerte Träger wird durch zwei
α Kräfte des Betrags F und ein Moment des Betrags F l be-
lastet.

1. Berechnen Sie die Achslasten Ay und By sowie die


Schubkraft S in Abhängigkeit des Winkels α und des F
F∙l
F
Wagengewichts G.
α
2. Welchen Hangwinkel können Sie den Wagen gerade
eben noch hinaufschieben, wenn das Wagengewicht A B
500 N beträgt und Sie nicht stärker als S = 300 N schie-
ben wollen?
l l l l
Nehmen Sie an, dass die Schubkraft S in der Höhe l über
dem Boden angreift und in x-Richtung wirkt, dass die
Gewichtskraft G des Wagens im um l/2 über dem Bo- Berechnen Sie die Lagerreaktionen.
den liegenden Schwerpunkt SP angreift und dass Reibung
vernachlässigt werden kann. Beachten Sie, dass das Koor- Hinweis: Äußere Momente gehen in ihrer vollen Größe in
dinatensystem entlang der Hangschräge orientiert ist. das Momentengleichgewicht ein, egal wo sie angreifen.
Aufgaben 53

Resultat: Ax = −F cos α, Ay = 2 F − 2 F sin α,


1
By = 2.10 •• Berechnen Sie die Lagerreaktionen des skiz-
1, 5 F sin α − F. zierten Trägers.

Technische Mechanik
2.9 • Es ist Frühsommer, die Sonne scheint und Sie F
F
verbringen den Nachmittag lieber in der Hängematte als
60°
im Hörsaal. Bevor Sie die Müdigkeit vollends übermannt,
versuchen Sie, die Kräfte in den beiden Halteseilen der A B
Matte sowie die durch die Hängematte verursachten La- l l l
gerreaktionen im Wurzelwerk der Bäume zu berechnen.

Resultat: Ax = F2 , Ay = 0, 96 F, By = 0, 91 F.

2.11 •• Berechnen Sie die Lagerreaktionen des skiz-


zierten Trägers.

l
F
45°
A

l l

Die geometrischen Abmessungen entnehmen Sie bitte der √ √


folgenden (nicht maßstäblichen) Skizze: Resultat: Ax = 0, Ay = 1
2 2 F, Bx = − 12 2 F.

S1 S2
2.12 •• Ein Winkeleisen mit vernachlässigbar kleiner
Masse ist in den Punkten A und C durch ein Scharnier
1,5 m bzw. ein Seil gelagert, und im Punkt B durch die senk-
0,7 m 750 N rechte Kraft 40 N belastet.
A B
3m 2m 60 cm
y
40 N
x Seil

A B
1. Ermitteln Sie die Seilkräfte S1 und S2 rechnerisch. 50 cm
2. Ermitteln Sie die Seilkräfte S1 und S2 zeichnerisch. C
Verwenden Sie für Ihre Zeichnung den Kräftemaßstab
50 N
mF = 1 cm/100 N. z
y
3. Berechnen Sie die durch die Hängematte verursachten
Lagerreaktionen im Wurzelwerk der Bäume. x

Hinweis: Bei der Berechnung der Seilkräfte handelt es sich


um eine Aufgabe zum Gleichgewicht am Punkt (da genau 1. Untersuchen Sie das System auf statische Bestimmtheit.
drei nicht parallele Kräfte an der Hängematte angreifen), 2. Berechnen Sie die Lagerreaktionen.
bei der Berechnung der Lagerreaktionen um eine Aufgabe Hinweis: Stellen Sie als erste Gleichgewichtsbedingung
zum Gleichgewicht am starren Körper. das vektorielle Momentengleichgewicht auf und wählen
Sie einen günstigen Bezugspunkt.
Resultat: 1: S1 = 1164 N, S2 = 1212 N
2. und 3: Ax = −1125 N, Ay = 300 N, MA = 1687 N m, Resultat: Ax = −50 N, Ay = 0, Az = 0, S = 40 N, MAx =
Bx = 1125 N, By = 450 N, MB = −1687 N m. 20 N m, MAz = −25 N m.
54 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

2.13 • Das Gewicht eines Konzertflügels betrage Gegeben: LKW-Gewicht FLKW = 150 kN, Anhängerge-
3,6 kN. Der Flügel steht auf drei Beinen, die sich jeweils wicht FAnh = 30 kN.
Technische Mechanik

reibungsfrei über den Boden rollen lassen. Die genauen


Positionen der Beine und des Schwerpunktes entnehmen
Sie bitte der folgenden Skizze:
G
A H V
B
C F Anh F Lkw
3,6 kN
0,5 m 1,5 m 1m 2m 3m
1,4 m

1m
0,9 m

1. Überprüfen Sie den Lastzug auf statische Bestimmtheit.


y 2. Berechnen Sie die Achslasten.
A x
Hinweis: Beginnen Sie mit dem einfacheren der beiden
Freikörperbilder.
0,6 m
1,8 m Resultat: Ay = 22, 5 kN, Gx = 0, Gy = 7, 5 kN, Hx = 0,
Hy = 99 kN, Vy = 58, 5 kN.

1. Ist der Flügel statisch bestimmt gelagert? 2.16 •• Ein Gelenkträger ist in den Punkten A und B
2. Berechnen Sie die Lagerreaktionen. jeweils zweiwertig gelagert. An ihm greift eine Kraft F an.

Hinweis: Kann eine Struktur, die sich frei verschieben G


lässt, weil sie auf Rollen steht, statisch bestimmt gelagert
sein?
F
Resultat: Az = 0, 94 kN, Bz = 1, 46 kN, Cz = 1, 2 kN.
a

2.14 • An der skizzierten, in den Punkten A und B in


Fest-/Loslagerung gelagerten Kegelradwelle greifen die
Zahnkräfte Fax = 260 N (Axialkraft), Fr = 1000 N (Radial- A B
kraft) und Ft = 2800 N (Tangentialkraft) an.
a
Fax Ft 4

a a
50 mm 2 2
Fr
Festlager A Loslager B
1. Überprüfen Sie den Träger auf statische Bestimmtheit.
160 mm 60 mm
2. Bestimmen Sie die Lager- und Gelenkreaktionen.

Resultat: Ax = F8 , Ay = F4 , Bx = − F8 , By = 34 F, Gx = − F8 ,
Berechnen Sie die Lagerreaktionen sowie das übertragene Gy = − F4 .
Moment.

Resultat: Ax = 260 N, Ay = −294 N, Az = 1050 N, By = 2.17 • Berechnen Sie für den skizzierten Gelenkträ-
1294 N, Bz = −3850 N, Mübertragen = 140 Nm. ger die Lager- und Gelenkreaktionen.

2.15 • Zu berechnen sind die Achslasten V, H und


A (Vorder-, Hinter- und Anhängerachse) eines stehen- F
A G B
den Lastzuges. LKW und Anhänger sind in der An-
hängerkupplung G gelenkig miteinander verbunden. Die
M = Fl
angezogene Handbremse des LKW blockiert dessen Hin-
l l l
terräder.
Aufgaben 55

Resultat: Ax = 0, Ay = −2 F, MA = −2 F l, By = 3 F,
F
Gx = 0, Gy = 2 F.

Technische Mechanik
2.18 • Eine Kiste mit der Gewichtskraft G stehe in
den Punkten A und B auf einer um den Winkel α = 40◦
zur Horizontalen geneigten schiefen Ebene. Bestimmen 3R
Sie grafisch, wie groß der Haftkoeffizient μ0 zwischen Kis-
te und schiefer Ebene mindestens sein muss, damit die
Kiste nicht die schiefe Ebene hinabrutscht.
R

B
B
SP

α A

Resultat: μ0 = tan α = 0, 84. Resultat: FNB = G


= 39,2 N,
μ0 − 41 + 4 μ3
3 0
FNA = 4 μ0 − 14 FNB = 88,2 N,
2.19 •• Bis zu welchem Winkel α lässt sich ein Stab
F = 14 (1 + μ0 )FNB = 12,7 N.
(Gewicht G, Länge l) an eine Wand lehnen, ohne hinun-
terzurutschen? Die Haftkoeffizienten zwischen Stab und
Boden sowie Stab und Wand seien gleich groß und betra- 2.21 • In den wie immer viel zu kurzen Semester-
gen jeweils μ0 = 0, 3. ferien jobben Sie als Hafenarbeiter. Jetzt sollen Sie ein
Frachtschiff mal schnell am Tau gegen Abdriften festhal-
ten. In Ermangelung höherer Kenntnisse zu Seemanns-
knoten schlingen Sie das Seil ein paar Mal um den Poller
B und halten so stark Sie können gegen.

α =?
α S1 = 400 N

S2 = 12 000 N

A Wie oft ist das Tau um den Poller zu wickeln?

μ0 G
Zahlenwerte:
Resultat: FNA = G
1+ μ20
, FNB = 1+ μ20
,
Abdriftkraft Frachtschiff: S2 = 12.000 N,

α = arctan 1−μ02 = 33, 4◦ . Ihre Gegenhaltekraft: S2 = 400 N,
Haftkoeffizient: μ0 = 0, 25.
0

2.20 •• Eine G = 100 N schwere Scheibe mit dem Ra- Resultat: 2,2 Umschlingungen.
dius R liegt wie skizziert in einer Ecke zwischen Boden
und Wand. Die an einem starr mit der Scheibe verbunde- 2.22 •• Ein Riemenantrieb bestehe aus zwei mit ei-
nen Hebelarm angreifende Kraft F versucht die Scheibe zu nem Riemen verbundenen Scheiben der Durchmesser
drehen. Die Haftkoeffizienten zwischen Scheibe und Bo- 150 mm und 400 mm. Der Achsabstand der beiden Rie-
den sowie Scheibe und Wand betragen jeweils μ0 = 0, 3. menscheiben betrage 800 mm, der Haftkoeffizient μ0 =
Wie groß muss die Kraft F mindestens sein, damit sich die 0, 4.
Scheibe dreht? Wie groß sind dann die Normalkräfte zwi- Die kleinere Riemenscheibe soll mit einem Drehmoment
schen Scheibe und Boden (Punkt A) sowie Scheibe und von maximal 140 Nm angetrieben werden können, ohne
Wand (Punkt B)? dass der Riemen rutscht.
56 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik

400 mm Hinweis: Integrationshilfe: cos2 xdx = 1
2 (x + sin x cos x).
150 mm
π
Resultat: xS = 0, yS =
Technische Mechanik

8.

2.25 •• Bestimmen Sie die Schwerpunktkoordinate


α
M = 140 Nm
xS der skizzierten Schreibtischlampe (alle Längenmaße in
mm). Es wiegen der Lampenfuß 400 g, der laufende Meter
Rohr jeweils 100 g und der Lampenschirm mit Glühbirne
800 mm 120 g.

240
1. Berechnen Sie den Umschlingungswinkel α der kleinen
Scheibe.
2. Wie groß sind die Kräfte im Riemen? 135°
50
3. Berechnen Sie die durch die Riemenkräfte hervorgeru-
fenen Lagerreaktionen im Lager der kleineren Riemen- 100
scheibe.
Resultat: α = 162◦ , S1 = 889 N, S2 = 2755 N, Ax =

300
3599 N, Ay = 292 N.

2.23 •• Gegeben ist der skizzierte trapezförmige Flä-


chenquerschnitt.
30 mm

Resultat: xS = 54,3 mm.


y
2.26 •• Berechnen Sie die Schwerpunktlage zS einer
x Pyramide der Höhe h und der Breite b.
30 mm 15 mm

z
1. Berechnen Sie die Lage des Flächenschwerpunktes mit-
hilfe der Integraldefinition des Schwerpunktes.
2. Unterteilen Sie das Trapez in zwei Teilflächen und be-
h
rechnen Sie die Lage des Flächenschwerpunktes.
Hinweis: Verwenden Sie bei der Integration horizontale
Streifen als Flächenelemente dA.
Resultat: xS = 19 mm, yS = 14 mm. b

b
2.24 •• Berechnen Sie die Schwerpunktkoordinaten
xS und yS der abgebildeten, durch die Funktion f (x) =
cos x im Bereich −π/2 ≤ x ≤ π/2 umrandeten Fläche.
Hinweis:
y
Beachten Sie, dass die Koordinate z ihren Ursprung in
1 der Spitze der Pyramide hat.
Verwenden Sie bei der Integration über das Volumen
f (x) = cos x der Pyramide horizontale Scheiben als Volumenele-
mente dV.
Das Volumen V einer Pyramide beträgt
1
V= · Höhe · Grundfläche .
3
–π 0 π x
2 2 Resultat: zS = 3
4 h.
Aufgaben 57

2.27 • • • Berechnen Sie die Schwerpunktlage einer ho- 1. Was hat diese Aufgabe mit dem Schwerpunkt zu tun?
mogenen Halbkugel des Radius R. 2. Welche Höhe Hzul darf die Mütze höchstens haben?

Technische Mechanik
z Hinweis: Die Bestimmungsgleichung für den Schwer-
punkt eines Kegels ist identisch mit derjenigen für den
Schwerpunkt einer Pyramide (siehe Aufgabe 2.26)).

Resultat: Hzul = 3 R.

2.29 • Auf einen Körper aus Stahl soll ein Haken an-
geschweißt werden, um den Körper mit einem Kran anhe-
ben zu können. Der Körper besteht aus einer 10 cm hohen
x y fünfeckigen Basis, einem ebenfalls 10 cm hohen quadra-
tischen Aufsatz und einer durchgehenden Bohrung des
Durchmessers 5 cm. Die anderen Maße entnehmen Sie bit-
Hinweis: Wählen Sie als Volumenelemente dV parallel zur te der Zeichnung.
x-y-Ebene liegende Kreisscheiben.

Resultat: xS = yS = 0, zS = 3
8 R. 10 cm

2.28 •• Ein Stehaufmännchen ist ein prima Kinder- z 10 cm


y
spielzeug. Man kann es stundenlang aufs Neue kippen, x
und es richtet sich stets alleine wieder auf.

10 cm
Sie haben sich nun entschlossen, Ihrer niedlichen kleinen 5 cm
Nichte zum ersten Geburtstag ein Stehaufmännchen zu
basteln. Es soll aus einem Stück bestehen, mit einer Halb-
kugel mit dem Radius R für das Gesicht und einem Kegel

20 cm
der Höhe H als Mütze.

20 cm
10 cm 20 cm 10 cm
25 cm
40 cm

An welche Stelle ist der Haken anzuschweißen, damit der


Körper beim Anheben nicht kippt?

Resultat: Der Haken muss genau über dem Schwerpunkt


verschweißt werden. Die Schwerpunktkoordinaten betra-
gen xS = 21, 4 mm, yS = 18, 5 mm.
Schnittgrößen – die inneren
3

Technische Mechanik
Kräfte und Momente
in Trägern
Wie schneidet man mitten
durch einen Träger frei?
Wie groß sind die Kräfte in
den Tragseilen der Golden
Gate Bridge?

3.1 Schnittgrößen in ebenen geraden Balken . . . . . . . . . . . . . . . . . 60


3.2 Rahmen und Bögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
3.3 Räumliche Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
3.4 Fachwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
3.5 Seilstatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 59


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_3
60 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern

Ein unter Last stehendes Tragwerk kann grundsätzlich an zwei ver- a b


schiedenen Stellen versagen: Es kann aus seinen Verankerungen M(x) M(x) Q(x)
Technische Mechanik

gerissen werden oder an irgendeiner Stelle in seiner Mitte durch-


brechen. Im ersten Fall wären die Lagerreaktionen unzulässig hoch,
im zweiten Fall die inneren Kräfte und Momente im Tragwerk. Diese N(x) N(x)
werden auch als Schnittgrößen bezeichnet, da sie in ein Freikör- Q(x)
perbild immer dann eingetragen werden, wenn ein Träger an einer x
Stelle in seinem Inneren durchschnitten wird. Um sie geht es in die-
sem Kapitel. Abb. 3.2 Schnittgrößen in ebenen Problemen sowie Vorzeichenkonvention für
das positive (a) und negative (b) Schnittufer. Als positives Schnittufer wird das-
jenige bezeichnet, aus dem die in Balkenrichtung verlaufende Koordinatenachse
3.1 Schnittgrößen in ebenen herauszeigt. In horizontalen Trägern ist so das linke Schnittufer in aller Regel das
positive und das rechte Schnittufer das negative
geraden Balken
Sechs verschiedene Schnittgrößen können im allgemei- dann erhalten wir zwei Freikörperbilder, eines für den
nen dreidimensionalen Fall in einem Träger auftreten: Trägerteil links des Schnitts und eines für den Träger-
drei Kräfte – je eine in jede Koordinatenrichtung – und teil rechts des Schnitts. An beide Freikörperbilder sind
drei Momente – je eines um jede Koordinatenrichtung im Schnittufer – quasi ganz schnell, damit der verblei-
(Abb. 3.1). bende Trägerteil „nicht merkt“, dass der andere Trägerteil
weggeschnitten wurde – die Schnittgrößen N, Q und M
Hierbei findet das bei der Balkenbiegung übliche Koor-
einzutragen.
dinatensystem mit einer in Trägerrichtung verlaufenden
x-Achse sowie bei horizontalen Trägern einer senkrecht Wie wir das bei der Berechnung von Gelenksystemen
nach unten weisenden z-Achse und einer horizontal quer schon kennengelernt haben, wirkt dann jede Schnittgröße
zum Träger weisenden y-Achse Anwendung. Die Kraft in sowohl auf das linke als auch auf das rechte Freikör-
Trägerrichtung wird, da sie normal zum Schnittufer orien- perbild, und zwar in gleicher Größe aber entgegenge-
tiert ist, als Normalkraft N bezeichnet und die beiden quer setzter Richtung. Das ist letztlich das Gleiche wie bei
zum Schnittufer orientierten Kräfte in y- und z-Richtung einem durch ausströmende Luft davondüsenden Luftbal-
als Querkräfte Qy und Qz . Das Moment um die Trägerach- lon. Der Luftballon lässt die Luft nach hinten ausströmen
se wird als Torsionsmoment MT bezeichnet. und wird dadurch nach vorne getrieben. Bezüglich der
Für zweidimensionale Probleme reduziert sich die Zahl Vorzeichenkonvention richten wir uns stur nach der in
der Schnittgrößen auf drei, nämlich zwei Kräfte – die Abb. 3.2 gezeigten.
Normalkraft N, die normal (senkrecht) zur Schnittfläche An welchem der beiden Freikörperbilder wir dann die
durch den Balken orientiert ist, und die Querkraft Q, die Schnittgrößen ausrechnen, ist gleichgültig, denn aus bei-
quer zur Balkenrichtung verläuft – sowie ein Moment, das den folgen dieselben Schnittgrößenverläufe.
Biegemoment M.
Achtung Es lohnt sich immer, vor dem Losrechnen in
Wenn wir einen Träger nicht nur wie in Kap. 2 gelernt Ruhe zu überlegen, welches der beiden Freikörperbilder
von seiner Umgebung freischneiden (Lager und derglei- das einfachere ist und dann nur dieses zu zeichnen, um
chen), sondern ihn auch im Inneren entzweischneiden, daran die Schnittgrößen zu berechnen. 
Damit hätten wir bereits die allerwichtigsten Grundlagen
besprochen. Das Weitere wird an einem Beispiel deutlich.

Qy
N Die grafische Darstellung veranschaulicht die
y My Lage der höchstbeanspruchten Querschnitte
Qz MT

In der Regel begrenzen diejenigen Stellen im Träger,


x an denen die Schnittgrößen Extremwerte annehmen, die
Mz Tragfähigkeit des Trägers. Am besten lassen sich die-
se Stellen erkennen, wenn die berechneten Verläufe der
z Schnittgrößen grafisch dargestellt werden. Hierfür wer-
den wie bei einer Landkarte Maßstäbe benötigt. Diese
Abb. 3.1 Innere Kräfte und Momente in einem dreidimensional belasteten Bal- legen fest, in welcher Größe die tatsächlichen Abmessun-
ken gen des Trägers (Längenmaßstab mL ), die inneren Kräfte
3.1 Schnittgrößen in ebenen geraden Balken 61

Beispiel: Berechnung der Schnittgrößen in einem Sprungbrett

Technische Mechanik
Für das schon in Kap. 2 betrachtete Einmeter-Sprung- 600 N 900 N
QI
brett sollen die inneren Kräfte und Momente berechnet MI MI
werden.
NI NI
Problemanalyse und Strategie: Zunächst müssen wir QI
1500 N
als Voraufgabe die Lagerreaktionen ermitteln, dann
x 3m–x 2m
folgen die Schnittgrößen. Für die Schnittgrößenberech-
nung werden wir jeweils das Freikörperbild auswäh-
len (positives vs. negatives Schnittufer), das die einfa-
cheren Gleichgewichtsbedingungen nachsichzieht. Wir erhalten folgende Gleichgewichtsbedingungen
und Ergebnisse:

900 N → ∑ Fix = NI (x) = 0 ,


↑ ∑ Fiy = −600 N − QI (x) = 0
A B =⇒ QI (x) = −600 N ,
3m 2m  ∑ M(Schnittufer)
i = MI (x) + 600 N · x = 0
=⇒ MI (x) = −600 N · x .
x

Für den Bereich II ist das rechte Freikörperbild das ein-


Lösung: Als erstes berechnen wir die Lagerreaktionen, fachere.
was Ihnen jetzt nicht mehr schwerfallen sollte. (Sonst
sollten Sie Kap. 2 wiederholen, denn der Stoff muss sit- 600 N QII 900 N
zen, wenn es an die Schnittgrößen geht.) Wir erhalten MII MII

Ax = 0 , Ay = −600 N und By = 1500 N . NII NII


QII
Nun folgt der Schnitt an irgendeiner Stelle x im Träger. 1500 N
Mit einem einzigen Schnitt ist es dabei allerdings nicht 3m x–3m 5m–x
getan. Schneiden wir links des Lagers B, so ergibt sich x
ein anderes Freikörperbild als bei einem Schnitt rechts
des Lagers B. Man kann das im Vergleich der Freikör-
perbilder leicht erkennen. Beim Freischnitt links des
Lagers B taucht die Lagerkraft By im rechtsseitigen Wir erhalten
Freikörperbild auf, bei einem Freischnitt rechts des La-
gers B dagegen im linksseitigen Freikörperbild. → ∑ Fix = −NII (x) = 0 ,
Wir haben es also mit zwei Bereichen zu tun. Da ↑ ∑ Fiy = QII (x) − 900 N = 0
unterschiedliche Freikörperbilder unterschiedliche Er- =⇒ QII (x) = 900 N ,
gebnisse zur Folge haben, sind die Schnittgrößen für
beide Bereiche separat auszurechnen.  ∑ M(Schnittufer)
i =
Für den Bereich I (in der folgenden Abbildung sind − MII (x) − 900 N · (5 m − x) = 0
zum besseren Verständnis das linke wie das rechte =⇒ MII (x) = −900 N · (5 m − x) .
Freikörperbild eingezeichnet) ist das linke Freikörper-
bild das einfachere, sodass wir die Gleichgewichtsbe- Mit diesen Ergebnissen kennen wir nun die Verläufe
dingungen auf dieses aufbauen werden. der Schnittgrößen im gesamten Träger.
62 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern

F (N) M (Nm) der Querkraftverlauf am Lager B einen Sprung auf-


weist (von −600 N auf +900 N), der genau der dort in
Technische Mechanik

900 1200 den Träger eingeleiteten Lagerreaktion (By = 1500 N)


600 800 QII(x) entspricht.
300 400
0
1 2 3 4 5 x (m)
–300 –400
–600 –800
QI(x) Von Streckenlasten spricht man, wenn eine
MII(x)
–900 –1200 Kraft auf eine Strecke verteilt angreift
MI(x) 1 cm
–1600
–2000 Von Streckenlasten spricht man, wenn ein Tragwerk
durch linienförmig verteilte Lasten belastet wird. Stre-
ckenlasten haben die Einheit Kraft pro Länge, also z. B.
Abb. 3.3 Verlauf der Schnittgrößen im Träger N/m.

Frage 3.1
(Kräftemaßstab mF ) und die inneren Momente (Momen-
tenmaßstab mM ) zu Papier gebracht werden. Nennen Sie Beispiele für Streckenlasten.

Nehmen wir als Beispiel das Sprungbretts in der Beispiel-


box Berechnung der Schnittgrößen in einem Sprungbrett , und Streckenlasten selbst sind noch keine Kräfte, ihre Einheit
wählen wir als Maßstäbe: ist ja auch nicht das Newton, sondern z. B. Newton pro
Meter. Aber aus Streckenlasten werden Kräfte, wenn sie
für mL : 2 cm=
 1 m, (bzw. mL = 21cm
m ),
entlang der Strecke, auf der sie wirken, integriert werden.
für mF : 1 cm=
 300 N, (bzw. mF = 300 N ) und
1 cm
Hierzu ein einfaches Beispiel:
für mM : 1 cm= 400 N m, (bzw. mM = 400 N m ).
1 cm

Beispiel
Zuerst zeichnen wir das Achsenkreuz. Bei dem vorge-
gebenen Längenmaßstab werden aus dem 5 m langen
Sprungbrett 10 cm auf der x-Achse. Auf der Ordinate
q0
(y-Achse) tragen wir zwei Skalen auf: eine für die Kraft-
verläufe (N- und Q-Linien) und eine für den Momenten-
verlauf. Jetzt können wir die berechneten Ergebnisse für l
N (x), Q(x) und M(x) einzeichnen, und zwar die Ergeb-
nisse für den Bereich I im Intervall 0 ≤ x < 3 m und die x, x
Ergebnisse für den Bereich II im Intervall 3 m ≤ x < 5 m.
Abb. 3.4 Gesucht sind die Lagerreaktionen und Schnittgrößenverläufe im
Lineare Funktionen zeichnen wir schnell und fehler- Kragträger
frei, indem wir zunächst die Funktionswerte am linken
und rechten Bereichsrand einzeichnen und diese dann
mit einer Geraden verbinden. Beispiel MII (x): Wir be- Ein Kragträger wird wie in Abb. 3.4 skizziert durch ei-
rechnen als Funktionswerte an den Bereichsrändern ne konstante Streckenlast belastet. Zu berechnen sind die
MII (3 m) = −1800 Nm und MII (5 m) = 0 Nm, zeichnen Lagerreaktionen sowie die Schnittgrößenverläufe N (x),
beide Funktionswerte ein und verbinden sie. Für quadra- Q(x) und M(x).
tische und kubische Funktionen (welche für Träger unter
Zunächst zu den Lagerreaktionen (Abb. 3.5):
Streckenlasten auftreten können) berechnen wir zu den
Funktionswerten an den Bereichsrändern noch zwei bis
drei Funktionswerte im Innern des Bereichs und legen
MA q0
dann mit gesundem Menschenverstand eine Kurve durch
diese Punkte. Ax

Die Kurvenverläufe (Abb. 3.3) zeigen, dass x dx


Ay l
das Sprungbrett am Lager B die größte Beanspruchung
erfährt (Maximum der Momentenlinie) und Abb. 3.5 Freikörperbild zur Ermittlung der Lagerreaktionen
3.1 Schnittgrößen in ebenen geraden Balken 63

Die beiden Kräftegleichgewichte lauten =⇒ Q(x) = q0 (l − x) ,


l
→ ∑ Fix = A(x) = 0 ,

Technische Mechanik
∑ M(SU)
i = −M (x ) − q0 (x − x) dx = 0
l
x= x
↑ ∑ Fiy = Ay − q0 dx = 0
1 l−x
0 =⇒ M(x) = − q0 (l − x)2 = −q0 (l − x) · .
2 2
=⇒ Ay = q0 · l .
Am Kräftegleichgewicht in y-Richtung erkennen wir, dass Auch bei den Schnittgrößen zeigt sich also, dass man die
die Wirkung der Streckenlast – das Integral von 0 bis l Streckenlast durch eine Kraft ersetzen kann, die die Grö-
über q0 – genau der Rechteckfläche entspricht, mit der ße des die Streckenlast im Freikörperbild darstellenden
die Streckenlast im Freikörperbild grafisch dargestellt ist, Rechtecks hat und die im Schwerpunkt eben dieses Recht-
nämlich einem Rechteck der Breite l und der Höhe q0 . ecks angreift. 
Man könnte hier also die Streckenlast durch eine Er-
satzkraft der Größe q0 · l ersetzen. Zunächst aber zum
Momentengleichgewicht. Dieses lautet Die Verwendung derartiger Ersatzkräfte ist im Allgemei-
nen ausgesprochen vorteilhaft, denn man spart sich da-
l durch die Integration der Streckenlast. Auch ohne einen
(A )
 ∑ Mi = MA − q0 · x dx = 0 allgemeinen Beweis halten wir fest, dass eine Streckenlast
0 stets durch eine Ersatzkraft FErs ersetzt werden kann, die
l die Größe der im Freikörperbild eingezeichneten „Last-
1 2 l fläche“ hat und im Schwerpunkt eben dieser Lastfläche
=⇒ MA = q0 x dx = q0 l = q0 l · .
2 2 angreift. Es ergibt sich somit für konstante Streckenlasten
0
die Ersatzkraft
Hier erkennen wir nun, dass die Wirkung der Streckenlast
auf das Einspannmoment der im Kräftegleichgewicht in FErs = q0 · l ,
y-Richtung identifizierten Ersatzkraft q0 · l mal einem vom
Schnittufer bis zur Mitte der Streckenlast (d. h. bis zum die in der Mitte der Streckenlast angreift, und für dreieck-
Schwerpunkt des die Streckenlast darstellenden Recht- förmige Streckenlasten die Ersatzkraft
ecks) gehenden Hebelarms entspricht.
Nun zur Berechnung der Schnittgrößen: Wir schneiden an 1
einer beliebigen Stelle x durch den Träger und tragen in FErs = qmax · l ,
2
den Schnittufern jeweils die Schnittgrößen an. Das ein-
fachere der beiden Freikörperbilder ist das rechte, da in
die im Schwerpunkt des Dreiecks angreift, also auf 1/3-
diesem keine Lagerreaktionen auftreten, weshalb wir die-
Position zur Seite von qmax hin (Abb. 3.7).
ses zur Schnittgrößenberechnung heranziehen (Abb. 3.6).
Mit diesen Ersatzkräften lassen sich Lagerreaktionen und
Q q0 Schnittgrößen sehr viel einfacher berechnen als über die
M
Integration. Aber aufpassen! Bei der Berechnung der
N
Schnittgrößen dürfen die Merkregeln für Größe und Posi-
tion der Ersatzkräfte nicht ohne Nachdenken angewendet
x werden. Im folgenden Beispiel wird klar warum.
x l

Abb. 3.6 Freikörperbild zur Ermittlung der Schnittgrößen durch Integration der
Streckenlast
FErs = q0 ∙ l FErs = 1 qmax ∙ l
2
Beim Integrieren der Streckenlast verwenden wir x als
die Stelle des Freischnitts und x als Integrationsvariable
zwischen x und dem Trägerende. Damit erhalten wir als qmax
q0
Gleichgewichtsbedingungen und Ergebnisse:

→ ∑ Fix = −N (x) = 0 , l l 2
l
l
2 2 3 3
l
↑ ∑ Fiy = Q(x) − q0 dx = 0 Abb. 3.7 Größe und Position der Ersatzkräfte für konstante und dreieckförmige
x= x Streckenlast
64 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern

Beispiel: Schnittgrößenberechnung in einem Träger unter Streckenbelastung


Technische Mechanik

Ein in Fest- und Loslagerung gelagerter Balken wird Stelle x geschnitten, und die Schnittgrößen N (x), Q(x)
durch eine dreieckförmige Streckenlast belastet. Ge- und M(x) angesetzt.
sucht sind die Lagerreaktionen und der Verlauf der
Schnittgrößen. q(x)
M(x)
Problemanalyse und Strategie: Wir berechnen erst die
Lagerreaktionen, dann die Schnittgrößen. Bei der N(x)
Schnittgrößenberechnung – dem schwierigeren Teil – x Q(x)
werden wir besonderes Augenmerk darauf legen, dass
1 q ∙l
die Ersatzkraft in richtiger Größe und an der richtigen 6 max
Position angesetzt wird und dabei auch auf die Fehler
eingehen, die dabei am häufigsten gemacht werden.
Bis hierhin stimmt noch alles. Wer nun aber die
Streckenlast ohne weiteres Nachdenken durch FErs =
1/2 qmax l auf l/3-Position ersetzt, macht es leider
qmax
falsch. So sähe dann das fehlerhafte Freikörperbild
aus:
A B
FErs = 1 qmax ∙ l
2
l M(x)

x
2 N(x)
l
3 Q(x)
Lösung:
x
Lagerreaktionen Wir schneiden an den Lagern frei,
ersetzen die Streckenlast durch eine Ersatzkraft der
Größe FErs = 12 qmax · l auf l/3-Position und erhalten so- Dieses Freikörperbild ist gleich mehrfach fehlerhaft.
mit das folgende Freikörperbild: Grund hierfür ist, dass man nicht stur FErs = 1/2 qmax l
ansetzen darf, sondern man muss statt qmax den tat-
FErs = 1 qmax ∙ l sächlich im Freikörperbild auftretenden Maximalwert
2
der Streckenlast und statt l die tatsächlich im Frei-
Ax körperbild auftretende Länge, auf der die Streckenlast
wirkt, ansetzen.
1 2
Ay l By
3 3 Wir verwenden also für die Ersatzkraft

Das Ansetzen der drei Gleichgewichtsbedingungen q(x) anstelle von qmax und
(Momentengleichgewicht immer zuerst, ein geeigneter x anstelle von l.
Bezugspunkt ist z. B. das Lager A) führt zu den Ergeb- Und schließlich ist FErs natürlich an der Stelle x/3
nissen und nicht an der Stelle l/3 einzuzeichnen.

1 1 Für q(x) gilt der funktionale Zusammenhang q(x) =


Ax = 0 , Ay = qmax l und By = qmax l . qmax x/l, mit welchem wir nun das folgende, jetzt ab-
6 3
solut fehlerfreie Freikörperbild erhalten:
Schnittgrößen Hier kann man sich beim Ansetzen
2
der Ersatzkraft sehr leicht vertun. Damit Ihnen das FErs = 1 q(x) · x = 1 qmax x
nicht passiert, sehen wir uns erstmal die falsche Rech- 2 2 l
nung mit den am häufigsten gemachten Fehlern an,
M
analysieren diese und machen es dann richtig.
Das Freikörperbild erstellen wir in zwei Schritten: erst 2 1 N
das eigentliche Freischneiden, dann das Ersetzen der x x
3 3 Q
Streckenlast durch die Ersatzkraft. Beim eigentlichen
Freischneiden werden die Lager durch die bekannten 1 q ∙l
Lagerreaktionen ersetzt, der Balken an einer beliebigen 6 max
3.2 Rahmen und Bögen 65

Stimmt das Freikörperbild, ist das Berechnen der 1 l x2 


Schnittgrößen ein Leichtes: =⇒ Q(x) = qmax − .
2 3 l

Technische Mechanik
1 1 x2 x
→ ∑ Fix = N (x) = 0 ,  ∑ M(SU)
i = − qmax lx + qmax · + M(x) = 0
6 2 l 3
 x3 
1 1 x2 1
↑ ∑ Fiy = qmax l − qmax − Q(x) = 0 =⇒ M(x) = qmax l x − .
6 2 l 6 l

q(x) der Zusammenhang zwischen M(x) und Q(x) nach wie


Q(x) vor. Der Zusammenhang zwischen Q(x) und q(x) gilt
M(x) M(x) + dM allerdings nur noch für die zum Balken senkrechte Kom-
ponente der Streckenlast. Ein Beispiel für eine derartige
Streckenlast ist der windschiefe Pfosten von Aufgabe 3.7.
x dx Q(x) + dQ
Wir merken uns:
Abb. 3.8 Zum Zusammenhang zwischen M (x ), Q (x ) und q (x )
Zusammenhang zwischen M (x ), Q (x ) und q (x )

Zwischen M , Q und q bestehen einfache Unter zum Träger lotrechten Streckenlasten gelten
die Zusammenhänge
differenzielle Zusammenhänge
dM(x) dQ(x)
= Q(x) und = −q (x ) .
Fällt Ihnen an den Ergebnissen des letzten Beispiels et- dx dx
was auf? M(x) abgeleitet ergibt Q(x), und Q(x) abgeleitet
ergibt −q(x). Man kann leicht zeigen, dass dies kein Zu-
fall ist, sondern ein allgemeingültiger Zusammenhang
(Abb. 3.8). Aus diesen Beziehungen folgt, dass

Betrachten wir hierzu ein sehr kleines, freigeschnittenes


Balkenelement unter einer Streckenlast q(x). Im linken Q(x) relative Extremwerte annimmt, wo q(x) = 0 ist,
Schnittufer wirken die Schnittgrößen Q(x) und M(x); bis und
zum rechten Schnittufer haben sich die Schnittgrößen ein M(x) relative Extremwerte annimmt, wo Q(x) = 0 ist.
ganz klein wenig geändert und liegen nun bei Q(x) + dQ
und M(x) + dM.
Aus dem vertikalen Kräftegleichgewicht ergibt sich 3.2 Rahmen und Bögen
↑ ∑ Fiy = Q(x) − q(x)dx − (Q(x) + dQ(x)) = 0
dQ(x) Träger mit einem Knick nennt man Rahmen, solche mit
=⇒ = −q (x ) . gekrümmten Mittellinien Bögen. Für Rahmen und Bögen
dx
gelten bei der Schnittgrößenberechnung im Wesentlichen
Das Momentengleichgewicht lautet alle Gesetzmäßigkeiten, die wir schon von geraden Trä-
gern kennen. Lediglich auf ein paar Besonderheiten muss
 ∑ M(rechtes
i
SU) man achten, auf die wir im Folgenden eingehen werden.
dx Bei Rahmen liegen an den Knicken Bereichsgrenzen vor.
= −Q(x)dx − M(x) + q(x)dx · + M(x) + dM(x) = 0 .
2 Des Weiteren weisen die Normal- und Querkraftlinie an
einem Knick im Allgemeinen Sprünge auf, auch wenn am
Hierin ist der Term q(x)dx2 /2 klein von höherer Ord- Knick keine Kraft in den Träger eingeleitet wird. Am fol-
nung. Weil nämlich dx an sich schon sehr klein ist, ist dx2 genden Beispiel sei dies illustriert:
noch viel kleiner und darf vernachlässigt werden. Wir er-
halten somit
dM(x)
= Q (x ) . Beispiel
dx
Diese Herleitung bezog sich auf lotrechte Streckenlas- Für den in Abb. 3.9 gezeigten Rahmen sind die Schnitt-
ten. Wirkt die Streckenlast schief zum Balken, dann gilt größenverläufe N (s), Q(s) und M(s) zu berechnen.
66 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern

Beispiel: Schnittgrößenverläufe auf die Schnelle zeichnen


Technische Mechanik

Man kann Schnittgrößenverläufe zeichnen, ohne sie Lager oder ein äußeres Moment), um eben dieses
vorher berechnet zu haben. Moment und
Querkraft Q(x) ungleich
in Bereichen, in denen die
null ist, gemäß M(x) = Q(x)dx.
Problemanalyse und Strategie: Eine Funktion zeichnen,
die man gar nicht kennt, das – so denkt sicher jeder –
kann doch gar nicht gehen. Bei den Schnittgrößenver- Betrachten wir als Beispiel den folgenden Träger:
läufen geht es aber doch. Diese lassen sich nämlich
q0 = 20 kN/m
zeichnen, ohne dass man sie explizit berechnen muss.
F = 60 kN
Lediglich die Lagerreaktionen muss man berechnen,
die Schnittgrößenverläufe selber aber nicht. Wir zeigen
anhand eines Beispiels, wie das geht. A B

Lösung: Zuerst müssen die Lagerreaktionen berechnet 2m 1m 1m


werden. Danach zeichnen wir zunächst den Verlauf
von Q(x). Hierzu beginnen wir an der Stelle x = 0 (al- x
so in der Regel am linken Trägerende). Hier ist Q(0)
entweder Als Lagerreaktionen berechnen wir Ax = 0, Ay =
90 kN und By = 10 kN. Nun beginnen wir mit dem
gleich der an der Stelle x = 0 eingeleiteten vertika- Startwert der Querkraftlinie. An der Stelle x = 0 be-
len Lagerreaktion oder vertikalen äußeren Punktlast trägt die Querkraft Q(0) = 0, da hier keine vertika-
(wenn hier ein Lager mit einer vertikalen Lagerreak- le Punktlast eingeleitet wird. Mit zunehmendem x
tion vorliegt oder eine vertikale Punktlast angreift) wird über die folgenden 2 m die Streckenlast q0 =
oder 20 kN/m in den Träger eingeleitet,
gleich null, wenn die Stelle x = 0 ein freies, nicht
sodass der Betrag
der Querkraft gemäß Q(x) = − q(x)dx wächst und
durch eine vertikale Punktlast belastetes Balkenen- diese unmittelbar vor dem Lager A den Wert Q(2 m) =
de ist. −20 kN/m · 2 m = −40 kN annimmt. Am Lager A
wird nun die vertikale Reaktionskraft Ay = 90 kN ein-
Von diesem Startwert aus gehen wir nun in positive x- geleitet, sodass die Querkraftlinie von −40 kN auf
Richtung los. Dabei verändert sich der Betrag von Q(x) +50 kN springt. Durch die Krafteinleitung von −60 kN
springt die Querkraftlinie an der Stelle x = 3 m erneut,
an Stellen, an denen eine vertikale Punktlast einge- und zwar von +50 kN auf −10 kN. Schließlich bringt
leitet wird (sei es durch ein Lager oder eine äußere die Lagerreaktion By = 10 kN die Querkraftlinie am
Kraft), um eben diese Kraft und Trägerende wieder auf null.
in Bereichen, in denen eine vertikale Strecken-
Damit haben wir die folgende Querkraftlinie erhalten:
last q(x) eingeleitet wird, gemäß Q(x) = − q(x)dx.
Q(x) (kN)
Wenn wir auf diese Weise die Querkraftlinie gezeichnet 50
haben, kommt die Momentenlinie. Auch hier beginnen
wir an der Stelle x = 0. Hier ist M(0) entweder

gleich dem an der Stelle x = 0 eingeleiteten Moment 0


(sei es durch ein Lager, das ein Reaktionsmoment –10 1 2 3 4 x (m)
ausübt, oder ein äußeres Moment) oder
gleich null, wenn die Stelle x = 0 ein freies, nicht
–40
durch ein Moment belastetes Balkenende ist.

Wie zuvor geht es von diesem Startwert in positive x- Nun zur Momentenlinie: Diese beginnt der Stelle x = 0
Richtung los. Der Betrag von M(x) verändert sich mit M(0) = 0, da hier kein Biegemoment in den Träger
eingeleitet wird. Als Stammfunktion der Querkraftlinie
an Stellen, an denen ein Biegemoment in den Trä- ändert sich die Momentenlinie nun immer um die Flä-
ger eingeleitet wird (sei es durch ein entsprechendes che unter der Querkraftlinie. Das bedeutet, dass M(x)
3.2 Rahmen und Bögen 67

für x ≤ 2 m einer quadratischen Funktion folgt – Das entspricht das dem folgenden grafischen Verlauf:
und zwar wegen Q(0) = 0 erst mit waagerechter

Technische Mechanik
und danach immer steiler abfallender Tangente – M(x) (kNm)
und an der Stelle x = 2 m den Wert −40 kN m an- 10
nimmt (die dreieckförmige Fläche über der Quer-
kraftlinie im Intervall 0 ≤ x ≤ 2 m), 0
für 2 m ≤ x ≤ 3 m aufgrund der hier konstanten 1 2 3 4 x (m)
Querkraft einer linearen Funktion folgt und an der
Stelle x = 3 m den Wert −40 kN m + 50 kN · 1 m =
10 kN m annimmt,
für 3 m ≤ x ≤ 4 m wieder auf 10 kN m − 10 kN ·
1 m = 0 kN m zurückfällt.
–40

s II Und im Bereich II (Abb. 3.11) gilt

→ ∑ Fix = −NII (s) = 0 =⇒ NII (s) = 0 ,


↑ ∑ Fiy = QII (s) − F = 0 =⇒ QII (s) = F ,
F
b  ∑ M(SU)
i = −F · (h + b − s) − MII (s) = 0
h
=⇒ MII (s) = F · (s − h − b) .
I
s QII
MII

NII
Abb. 3.9 Gesucht sind die Schnittgrößenverläufe im Rahmen F
h+b–s
Im Bereich I erhalten wir als Freikörperbild (Abb. 3.10)
und Ergebnisse: Abb. 3.11 Freikörperbild für den Bereich II

→ ∑ Fix = −QI (s) = 0 Es erfahren also die Normal- und Querkraftlinie am Knick
einen Sprung, während die Momentenlinie stetig verläuft.
=⇒ QI (s) = 0 , Des Weiteren können wir erkennen, dass die differenziel-
↑ ∑ Fiy = −NI (s) − F = 0 len Beziehungen zwischen M(s), Q(s) und q(s) Gültigkeit
besitzen. 
=⇒ NI (s) = −F ,
 ∑ M(SU)
i = − F · b − MI ( s ) = 0 Bei Bögen ist es vielfach geschickt, die Schnittgröße in
Abhängigkeit des Polarwinkels ϕ zu beschreiben, und es
=⇒ MI (s) = −F · b . ist praktisch immer vorteilhaft, die Kräftegleichgewichte
nicht in die globalen x- und y-Richtungen, sondern ein die
lokalen Richtungen von Normal- und Querkraft auszu-
werten. Hierzu das folgende Beispiel:

F
Beispiel
b
Für den dargestellten in Abb. 3.12 dargestellten Viertel-
QI kreisbogen sind die Schnittgrößenverläufe N ( ϕ), Q( ϕ)
und M( ϕ) zu berechnen.
MI
NI Als Freikörperbild erhalten wir Abb. 3.13. Die Kräfte-
gleichgewichte werten wir wie oben empfohlen in die
Abb. 3.10 Freikörperbild für den Bereich I Richtungen von Normal- und Querkraft aus:
68 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern

Übersicht: Tipps und Tricks


Technische Mechanik

Die folgenden Tipps machen das Berechnen von vollen Bezugspunkt: das Schnittufer. Nur hier ver-
Schnittgrößen leichter. schwinden die Hebelarme von Normal- und Quer-
kraft.
Zum Freikörperbild: Passen Sie auf, wenn Sie beim Ansetzen der Ersatz-
kräfte die Merkregeln FErs = q0 l für konstante und
Entscheiden Sie bewusst und in Ruhe, ob Sie die FErs = 1/2qmax l für dreieckförmige Streckenlasten
Berechnung der Schnittgrößen am positiven oder verwenden. Bei der Schnittgrößenberechnung ist
negativen Schnittufer vornehmen wollen. Die Wahl statt der gesamten Balkenlänge die tatsächlich im
des einfacheren Freikörperbildes kann viel Zeit er- Freikörperbild auftretende Balkenlänge und statt
sparen. qmax der tatsächlich im Freikörperbild auftretende
Bereichsgrenzen existieren überall da, wo sich die Maximalwert der Streckenlast zu verwenden.
Freikörperbilder bei einem Schnitt dies- bzw. jen-
seits der Grenze unterscheiden. Dies ist z. B. an
Lagern, Punktlasten, am Anfang oder Ende einer
Streckenlast oder an scharfen Knicken im Träger
Zu den Ergebnissen:
der Fall. Die Laufkoordinate x (o. ä.) hat in allen
Bereichen denselben Ursprung; sie beginnt an den Schnittgrößenverläufe können an Lagern sowie
Bereichsgrenzen nicht erneut. punktförmig eingeleiteten Kräften oder Momenten
Die häufig gemachten Fehler bei Größe und Position Sprünge aufweisen. Wird (a) eine Kraft längs des
der Ersatzkraft lassen sich oft dadurch vermeiden, Trägers, (b) eine Kraft quer zum Träger oder (c) ein
dass der Verlauf der Streckenlast im Freikörper- Moment eingeleitet, so ändern sich (a) der Normal-
bild durch eine dünne gestrichelte Linie angedeutet kraftverlauf, (b) der Querkraftverlauf und (c) der
wird. Momentenverlauf um die eingeleitete Kraft bzw.
das eingeleitete Moment.
Kontrollieren Sie Ihre Ergebnisse. Diese können nur
Zur Berechnung:
stimmen, wenn die Zusammenhänge dM(x)/dx =
Bei der Bestimmung des Schnittmoments gibt es Q(x) (gilt immer) und dQ(x)/dx = −q(x) (gilt nur
für das Momentengleichgewicht genau einen sinn- für lotrechte Streckenlasten) erfüllt sind.

=⇒ M( ϕ) = −F · R cos ϕ .
F
φ

Q F

M
R
φ
N

90° – φ

Abb. 3.12 Gesucht sind die Schnittgrößenverläufe im Viertelkreisbogen

∑ FiN = N ( ϕ) + F cos ϕ = 0 Abb. 3.13 Freikörperbild zur Ermittlung der Schnittgrößen


=⇒ N ( ϕ) = −F cos ϕ ,
∑ FiQ = Q( ϕ) − F sin ϕ = 0 Die differenziellen Beziehungen zwischen M(x), Q(x)
=⇒ Q( ϕ) = F sin ϕ , und q(x) lassen sich hier nicht ohne weiteres anwenden,
da sie nur für Längenkoordinaten (z. B. x, y oder s) gelten,
∑ Mi
(SU)
= −M( ϕ) − F · R cos ϕ = 0 nicht aber für die Winkelkoordinate ϕ. 
3.2 Rahmen und Bögen 69

Leitbeispiel Antriebsstrang

Technische Mechanik
Wie ändern sich Drehzahl, Drehmoment
und Leistung in einem Getriebe?

Jeder Autofahrer kennt das: Wenn der Wagen nicht Mit dem Drehmoment ist die Umfangskraft gemäß
mehr richtig zieht, muss man runterschalten. Dann
zieht der Wagen wieder besser, aber der Motor wird d
lauter, weil er schneller dreht. Ein guter Grund, sich zu MT = FT ·
2
überlegen, wie Drehzahl, Drehmoment und Leistung
von der Getriebeübersetzung abhängen (siehe auch verknüpft, wobei d der Teilkreisdurchmesser des be-
Abschn. 27.4). trachteten Zahnrades ist. Es gilt also
Sehen wir uns hierfür ein einfaches Getriebe an, wie es
d2 d z
durch die beiden abgebildeten Zahnräder angedeutet MT2 = FT = 2 MT1 = 2 MT1 .
ist. Angenommen, das linke Zahnrad habe die Zäh- 2 d1 z1
nezahl z1 und werde mit der Leistung P1 bzw. dem
Drehmoment MT1 angetrieben, und es drehe sich mit Für die Leistung P setzen wir den aus der Expe-
der Drehzahl n1 . Wenn dieses Zahnrad nun das rechts rimentalphysik bekannten Zusammenhang P = MT ·
abgebildete Zahnrad 2 mit der Zähnezahl z2 antreibt: ω = MT · 2πn – wobei ω die Winkelgeschwindigkeit
Wie groß sind Drehzahl, Drehmoment und Leistung ist – in obige Gleichung ein und erhalten
am Zahnrad 2?
P2 z P
= 2 1 =⇒ P2 = P1 .
2πn2 z1 2πn1

Wir merken uns: In einem Getriebe ändert sich das


Drehmoment entsprechend der Übersetzung des Ge-
triebes; die Leistungen an An- und Abtriebswelle än-
dern sich (bei Vernachlässigung von Verlusten durch
den Wirkungsgrad) nicht.

Frage 3.2
Weshalb werden bei Fahrrädern mit Nabenschaltung
die Schaltnaben oft mit einem Haltearm am Rahmen
abgestützt?

Für die Änderung der Drehzahl gilt der offenkundige


Zusammenhang
n1 z
= 2 .
n2 z1
Beispiel: Hat das Zahnrad 1 z1 = 15 Zähne und das
Zahnrad 2 z2 = 30 Zähne, so muss sich das Zahnrad 1
zweimal drehen, um eine einzige Drehung des Zahn-
rades 2 zu bewirken. Der Quotient n1 /n2 wird auch als
Übersetzung i bezeichnet.
Damit zu Drehmoment und Leistung: Aufgrund des
3. Newton’schen Axioms („actio est reactio“) sind die
im Zahneingriff auf die Zahnräder 1 und 2 wirken-
den Umfangs- oder Tangentialkräfte (entgegengesetzt)
gleich groß:
FT1 = FT2 .
70 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern

3.3 Räumliche Probleme ∑ Fix = −NI (s) = 0 ,


∑ Fiy = −QyI (s) = 0 ,
Technische Mechanik

Kurz eingehen wollen wir auch auf die Schnittgrößen- ∑ Fiz = QzI (s) − 50 N = 0
ermittlung in räumlichen Problemen. Die Überlegungen
=⇒ QzI (s) = 50 N ,
der ebenen Schnittgrößenberechnung lassen sich auf den
∑ Mix
(SU)
räumlichen Fall übertragen, wobei sich aber die Zahl der = −MTI (s) − 50 N · 140 mm = 0
Schnittgrößen im Träger erhöht auf drei Kräfte (eine pro =⇒ MTI (s) = −7000 Nmm = −7 N m ,
Koordinatenrichtung, also eine Normal- und zwei Quer-
∑ Miy
(SU)
kräfte) und drei Momente (je eines um jede Koordinaten- = −MyI (s) + 50 N · (30 mm − s) = 0
richtung, wobei das Moment um die Trägerlängsachse als
=⇒ MyI (s) = 50 N · (30 mm − s) ,
Torsionsmoment MT bezeichnet wird).
∑ Miz
(SU)
= −MzI (s) = 0 .

Beispiel Und für den Bereich II (Abb. 3.16):

Mit einem Inbusschlüssel wird wie abgebildet mit der 50 N


Kraft F = 50 N eine Schraube angezogen. Zu berechnen
sind die Schnittgrößen im Inbusschlüssel.

50 N Mz

m
0m
14
My
Qz
m

MT N
0m

30 mm – s
Qy
14

Abb. 3.16 Freikörperbild für den Bereich II des Inbusschlüssels

30 mm ∑ Fix = NII = 0 ,
∑ Fiy = −QyII (s) = 0 ,
Abb. 3.14 Inbusschlüssel ∑ Fiz = −QzII (s) + 50 N = 0
=⇒ QzII (s) = 50 N ,
Wir legen den Koordinatenursprung für die s-Achse in
∑ Mix = −MTII (s) = 0 ,
(SU)
die Einspannung, und erhalten für den Bereich I das in
∑ Miy = −MyII (s) + 50 N · (170 mm − s) = 0
(SU)
Abb. 3.15 gezeigte Freikörperbild und folgende Werte für
die Schnittgrößen.
=⇒ MyII (s) = 50 N · (170 mm − s) ,
∑ Miz
(SU)
50 N
= −MzII (s) = 0 .


Mz 3.4 Fachwerke
m
0m
14

My
Qz Fachwerke kennt jeder. Ob in Fachwerkhäusern, Bau-
kränen, Brücken oder Strommasten, schon seit Alters
MT N her werden mit Fachwerken stabile und vergleichsweise
30 mm – s leichte Strukturen gebaut.
Qy
In der Technischen Mechanik werden bei der Behandlung
Abb. 3.15 Freikörperbild für den Bereich I des Inbusschlüssels von Fachwerken ein paar Idealisierungen vorgenommen,
3.4 Fachwerke 71

a b

Technische Mechanik
Abb. 3.18 Beispiele statisch bestimmter Fachwerke

statisch bestimmt) oder stabil, aber in sich verspannt (in-


nerlich statisch überbestimmt) ist.
Abb. 3.17 Dreieckskonstruktionen sind in sich fest, Viereckskonstruktionen
wackelig. Fachwerke bestehen deswegen vor allem aus Dreiecken Die Grundstruktur für innerlich statisch bestimmte Fach-
werke ist das Dreieck, da dieses im Gegensatz zum Vier-
eck nicht wackelig ist.
die die Berechnung wesentlich vereinfachen. Es wird an-
Das in Abb. 3.17a skizzierte einfache Fachwerk besteht
genommen, dass
aus drei Knoten und drei Stäben. Erweitert man es um
alle Knoten (die Verbindungsstellen der Stäbe) rei- weitere Dreiecke – also jeweils um einen Knoten und zwei
bungsfreie Gelenke sind, Stäbe – so erhalten wir größere Fachwerke, die gleichfalls
äußere Kräfte nur in Knoten angreifen und innerlich statisch bestimmt sind (Abb. 3.18).
alle Stäbe geradlinig verlaufen. Es ist leicht ersichtlich, dass die

In der Praxis sind diese Annahmen natürlich nicht immer


streng erfüllt. Insbesondere werden Fachwerkstäbe nicht Bedingung für innerliche statische Bestimmtheit
durch reibungsfreie Gelenke, sondern in aller Regel starr 2K − S = 3
miteinander verbunden, etwa durch Nieten, Schweißen
oder Verschrauben. Die durch die Idealisierung entste-
henden Fehler sind aber für schlanke Fachwerkstäbe sehr lautet, wobei K die Zahl der Knoten und S die Zahl
klein. der Stäbe im Fachwerk ist. Obige Gleichung ist eine not-
Aufgrund der Idealisierungen sind die Fachwerkstäbe wendige Bedingung für das Vorliegen innerer statischer
aus mechanischer Sicht auch wirkliche Stäbe, d. h., sie Bestimmtheit eines Fachwerks.
können nur Zug- oder Druckkräfte übertragen, jedoch
keine Querkräfte oder Momente. Stäbe, die Zugkräfte
übertragen werden als Zugstäbe, solche die Druckkräfte
übertragen als Druckstäbe und kraftfreie Stäbe schließlich Am effektivsten berechnet man Stabkräfte
als Nullstäbe bezeichnet. mit dem Ritterschnitt

Stabkräfte sind Schnittgrößen und lassen sich durch Frei-


Bei Fachwerken unterscheidet man zwischen schneiden ermitteln. Hierzu bieten sich zwei Vorgehens-
innerer und äußerer statischer Bestimmtheit weisen an:
Bei der Knotenpunktmethode werden alle Knoten freige-
Äußere statische Bestimmtheit bezieht sich – so wie wir schnitten und dabei die an den Knoten angreifenden
das bisher immer unter statischer Bestimmtheit verstan- Stäbe durch die jeweiligen Stabkräfte und die Lager durch
den haben – allein auf die Lagerung der Struktur. Ein die jeweiligen Lagerkräfte ersetzt. Man erhält so für jeden
Fachwerk ist dann äußerlich statisch bestimmt, wenn sich freigeschnittenen Knoten ein Freikörperbild eines zen-
die Lagerreaktionen aus den Gleichgewichtsbedingun- tralen Kraftsystems und kann dann mit insgesamt 2 · N
gen der Statik bestimmen lassen. Es kommt also nicht Kräftegleichgewichten, wobei N die Zahl aller Knoten ist,
darauf an, wie das Fachwerk im Inneren aufgebaut ist; alle Stabkräfte und Lagerreaktionen bestimmen. Das geht
wir dürfen uns das Fachwerk getrost als strukturlosen ohne ein einziges Momentengleichgewicht, kann aber den
Starrkörper vorstellen, um wie gewohnt allein aus der La- Nachteil haben, dass dabei größere Systeme gekoppelter
gerung auf die statische Bestimmt- oder Unbestimmtheit Gleichungen zu lösen sind.
zu schließen.
Um das Gleichungssystem zur Berechnung der Stabkräfte
Bei der inneren statischen Bestimmtheit geht es darum, ob übersichtlich zu halten und möglichst wenig Unbekann-
ein Fachwerk in sich wackelig (das wäre innerlich sta- te in einer Gleichung zu haben, bietet sich das Ritter’sche
tisch unterbestimmt), stabil und unverspannt (innerlich Schnittverfahren an. Dieses folgt dem üblichen roten Faden
72 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern

Beispiel: Bestimmung der Stabkräfte in einer ebenen Fachwerkbrücke


Technische Mechanik

a
Mithilfe geeigneter Ritterschnitte sind die Stabkräfte in  ∑ M(RPII)
i = −F − S2 a sin 60◦ = 0
der skizzierten, aus lauter gleichseitigen Dreiecken be- 2
stehenden Fachwerkbrücke zu bestimmen F
=⇒ S2 = − und
2 sin 60◦
↑ ∑ Fiy = F + S3 sin 60◦ = 0
Problemanalyse und Strategie: Wir berechnen zunächst
die Lagerreaktionen und anschließend die Stabkräfte. F
=⇒ S3 = − .
Hierbei müssen wir die Ritterschnitte so legen, dass ge- sin 60◦
nau drei Stäbe aber kein Knoten geschnitten werden.
Einen weiteren Ritterschnitt legen wir durch die Stä-
be 4, 5 und 6, womit wir das folgende Freikörperbild
erhalten:

a F
2 6 10
RP I
60°
A B
60° S6
1 3 5 7 9 F
11 S5
4 8
60° S4
RP II
a
a

Lösung: Die Berechnung der Lagerreaktionen ergibt


Ax = 0, Ay = F und By = F. Die Gleichgewichtsbedingungen lauten:

Den ersten Ritterschnitt legen wir durch die Stäbe 2, 3


 ∑ M(RPI)
i = −F a + S4 a sin 60◦ = 0
und 4 und erhalten das folgende Freikörperbild, in das
auch die beiden Ritterpunkte eingetragen sind: Ritter- F
=⇒ S4 = ,
punkt I im Schnittpunkt der Stabkräfte S2 und S3 und sin 60◦
a
Ritterpunkt II im Schnittpunkt der Stabkräfte S3 und  ∑ M(RPII)
i = −F · 1,5 a + F − S6 a sin 60◦ = 0
S4 . Einen dritten Ritterpunkt gibt es aufgrund der Par- 2
allelität der Stäbe 2 und 4 nicht. F
=⇒ S6 = − und
sin 60◦
a ↑ ∑ Fiy = F − F − S5 sin 60◦ = 0 =⇒ S5 = 0 .
S2
RP I Die Stabkraft S1 lässt sich nicht per Ritterschnitt be-
F
60° stimmen, da sich in der vorliegenden Fachwerkbrücke
S3 kein Freischnitt genau so führen lässt, dass der Stab 1
und genau zwei weitere Stäbe, die nicht mit dem Stab
a

S4 1 an einem Knoten zusammenhängen, durchschnitten


werden. An Lagern – hier ist es das Lager A – treten
RP II
derartige Fälle regelmäßig auf.

Die Gleichgewichtsbedingungen lauten


F 60° S2
 ∑ M(RPI)
i = −F a + S4 a sin 60◦ = 0
F
=⇒ S4 = , S1
sin 60◦
3.4 Fachwerke 73

Wir bestimmen S1 daher mit einem Freischnitt um das Stabkräfte berechnet. Die Ergebnisse lauten zusam-
Lager A und erhalten mengefasst

Technische Mechanik
↑ ∑ Fiy = F − S1 sin 60◦ = 0
F F
F S1 = S11 = ◦
, S2 = S10 = − ,
=⇒ S1 = . sin 60 2 sin 60◦
sin 60◦ F F
S3 = S9 = − ◦ , S4 = S8 = ,
In den Stäben 7 bis 11 herrschen schließlich dieselben sin 60 sin 60◦
Kräfte in den ihnen symmetrisch gegenüberliegenden F
S5 = S7 = 0 und S6 = − .
Stäben der linken Brückenhälfte. Damit haben wir alle sin 60◦

der Schnittgrößenberechnung, es werden zuerst die La-


gerreaktionen berechnet, dann die Schnittgrößen. Mit den
zur Verfügung stehenden drei Gleichgewichtsbedingun-
gen der ebenen Statik können natürlich nicht beliebig vie-
le Stabkräfte auf einmal berechnet werden, mehr als drei
Stabkräfte sind pro Freischnitt nicht drin. Der Freischnitt
wird deswegen durch genau drei Stäbe gelegt. Das Anset- Abb. 3.19 Nullstäbe (schraffiert eingezeichnet) lassen sich oft auch ohne
Rechnerei erkennen
zen der Gleichgewichtsbedingungen wird dann durch den
Trick von August Ritter (1826 – 1908) – den Ritterschnitt –
sehr vereinfacht. Dieser beruht darauf, dass man nicht stur
zwei Kräfte- und ein Momentengleichgewicht ansetzen Ergebnissen daran, dass die in ihnen wirkenden Stabkräf-
muss, denn drei Momentengleichgewichte tun es auch, so- te negativ sind.
fern die drei Momentenbezugspunkte nicht auf einer gera-
den Linie liegen. Falls Sie’s nicht glauben: nehmen Sie sich
irgendeine Übungsaufgabe der ebenen Statik vor und be-
rechnen Sie Lagerreaktionen und/oder Schnittgrößen aus Nullstäbe lassen sich oft auf Anhieb
drei Momentengleichgewichten, das geht tatsächlich. identifizieren
Drei Momentengleichgewichte bedeuten, dass drei ver-
schiedene Bezugspunkte auszuwählen sind. Am ge- Nullstäbe lassen sich vielfach auch ohne Rechnerei, qua-
schicktesten liegen diese jeweils in den Schnittpunkten si mit bloßem (aber natürlich fachlich geschultem) Auge
der Wirkungslinien der unbekannten Stabkräfte; sie wer- erkennen. Ganz egal, wie die äußere Belastung des Fach-
den Ritterpunkte genannt. werks ist, liegen sie nämlich immer dann vor, wenn
Die Vorgehensweise beim Ritterschnitt ist dann wie folgt:
ein unbelasteter Knoten genau zwei Stäbe verbindet,
Als Voraufgabe: Bestimmen Sie die Lagerreaktionen. die nicht in gleicher Richtung liegen,
Schneiden Sie so durch das Fachwerk, dass genau drei an einem unbelasteten Knoten genau drei Stäbe angrei-
Stäbe aber kein Knoten geschnitten wird. Die drei Stä- fen, von denen zwei in gleicher Richtung liegen, und
be dürfen nicht alle an einem Knoten hängen (weil es an einem belasteten Knoten zwei Stäbe in verschiedene
dann keine Ritterpunkte gäbe). Richtungen sowie eine Kraft angreifen, und die Kraft in
Die sogenannten Ritterpunkte liegen in den Schnitt- Richtung eines der beiden Stäbe wirkt.
punkten der Wirkungslinien der gesuchten Stabkräfte.
Im Allgemeinen ergeben sich drei Ritterpunkte. Nur
wenn zwei der geschnittenen Stäbe parallel verlaufen, Diejenigen Stäbe, die aus Gründen des Kräftegleichge-
existieren lediglich zwei Ritterpunkte. wichts in diesen Fällen dann Nullstäbe sein müssen, sind
Berechnen Sie aus den Momentengleichgewichten um in Abb. 3.19 schraffiert eingezeichnet.
die Ritterpunkte die Stabkräfte.
Nullstäbe übertragen zwar keine Kräfte, das heißt aber
Für den Fall, dass nur zwei Ritterpunkte existieren: Be- nicht, dass sie nutzlos sind. So ist beispielsweise der
rechnen Sie die dritte Stabkraft aus einem geeigneten
mittlere senkrechte Stab der in Abb. 3.20 skizzierten Fach-
Kräftegleichgewicht.
werkbrücke ein Nullstab (unbelasteter Knoten an drei
Stäben, von denen zwei in gleicher Richtung liegen).
Dabei setzen wir in den Freikörperbildern alle Stabkräfte Gleichwohl ist dieser Stab wichtig für die innere statische
als Zugkräfte, also mit aus dem Schnittufer herauswei- Bestimmtheit des Fachwerks. Ohne ihn wäre das Fach-
senden Kraftpfeilen an. Druckstäbe erkennen wir bei den werk statisch unterbestimmt und damit wackelig.
74 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern

V(x) + dV(x)
Technische Mechanik

q(x) S(x) + dS(x)

H(x) + dH(x)
H(x)

a V(x)
S(x)
dx x

Abb. 3.21 Kräfte in einem Seil unter senkrechter Streckenlast

H(x) dy
b
dx
Abb. 3.20 Nullstäbe sind wichtig, auch wenn sie keine Kräfte übertragen. In
innerlich statisch bestimmten Fachwerken (a) bewirkt der Wegfall eines Nullsta-
bes nämlich statische Unterbestimmtheit (b) S(x) V(x)

Abb. 3.22 Geometrischer Zusammenhang zwischen den Komponenten der


Seilkraft und der Steigung der Seillinie
3.5 Seilstatik
Wir teilen beide Gleichungen durch dx und erhalten aus
Seile haben wir bisher stets als straff gespannt betrachtet,
dem Kräftegleichgewicht in x-Richtung
und als Belastung hatten wir stets Kräfte in Seilrichtung
angesetzt. Das ist sicher sehr oft, aber längst nicht im- dH (x)
mer der Fall. Die Tragseile einer Hängebrücke oder frei =0,
hängende Stromleitungen beispielsweise werden durch dx
vertikale Streckenlasten belastet – bei der Hängebrücke woraus folgt, dass die Horizontalkomponente H (x) der
vor allem durch das Gewicht der Fahrbahn, bei der Strom- Seilkraft konstant ist. Es gilt für die
leitung durch das Eigengewicht der Leitung selbst. Unter
derartigen Lasten sind Seile nicht mehr straff gespannt,
sie hängen durch. Wir werden in diesem Kapitel untersu- Horizontalkomponente des Seilkraft
chen, welche Kräfte dann im Seil wirken und wie groß die
In Seilen unter senkrechten Streckenlasten ist die
Seildurchhänge sind.
Horizontalkomponente konstant. Sie wird als Hori-
zontalzug H0 bezeichnet.

H (x) = H0 = konstant .
Grundlegende Zusammenhänge

Betrachten wir einen infinitesimal kleinen Abschnitt eines Da die Seilkraft stets in Seilrichtung wirkt (Abb. 3.22), gilt
durch eine senkrechte Streckenlast q(x) belasteten Seils zudem der geometrische Zusammenhang
(Abb. 3.21). Im linken Schnittufer des Seilabschnitts wirkt
die in Seilrichtung orientierte Schnittkraft S(x), welche V (x ) dy
aus der Horizontalkomponente H (x) und der Vertikal- = .
H (x ) dx
komponente V (x) besteht. Bis zum rechten Schnittufer
haben sich diese Kräfte unter Einwirkung der Strecken- Wir setzen dies in das Kräftegleichgewicht in y-Richtung
last q(x) zu S(x) + dS(x), H (x) + dH (x) und V (x) + dV (x) ein und erhalten mit der Konstanz des Horizontalzuges
geändert.
Stellen wir die Kräftegleichgewichte auf. Sie lauten d2 y
q ( x ) = H0 .
dx2

→ ∑ Fix = −H (x) + H (x) + dH (x) = 0 und Diese Gleichung ist die Differenzialgleichung der Seilkur-

ve y(x) bei Belastung durch beliebige vertikale Strecken-
↑ ∑ Fiy = −V (x) − q(x) dx + V (x) + dV (x) = 0 . lasten q(x).
3.5 Seilstatik 75

Die gesamte Seilkraft ergibt sich aus der vektoriellen Ad- y


dition von Horizontal- und Vertikalkomponente als cosh x 4

Technische Mechanik
 2
S(x ) = H02 + V (x)2 . sinh x
1

Mit –2 2 x
dy
V (x ) = H (x ) –2
dx
–4
erhalten wir für die Seilkraft S(x) schließlich

 2 Abb. 3.23 Die Grafen von Sinus hyperbolicus und Kosinus hyperbolicus
dy
S ( x ) = H0 1+ .
dx
Bei einer Freileitung ist die Streckenlast
Diese Gleichung besagt, dass die Seilkraft S(x) mit zu- pro laufendem Meter Seil konstant
nehmender Steigung der Seillinie y(x) zunimmt. Ihren
Maximalwert erreicht S(x) deshalb an der Stelle der ma-
Den Belastungsfall q(s) = konstant, wie er etwa bei ei-
ximalen Steigung der Seillinie. Dieser liegt im höchsten
ner frei hängenden Stromleitung auftritt, beginnen wir
Punkt der Seillinie.
mit einem kurzen mathematischen Exkurs zu den hyper-
In der technischen Anwendung sind zwei Arten von Stre- bolischen Winkelfunktionen, wir werden sie in diesem
ckenlasten von besonderer Bedeutung. Die erste ist die Kapitel gebrauchen.
Belastung durch eine in x-Richtung konstante Strecken- Sinus hyperbolicus (sinh) und Kosinus hyperbolicus
last, q(x) = q0 = konstant, wie es z. B. bei einer Hänge- (cosh) sind definiert als
brücke der Fall ist, wenn das Fahrbahngewicht deutlich
größer ist als das Gewicht von Tragseilen und Hängern. 1 x 1 x
Die zweite wichtige Streckenlast ist die Belastung durch sinh(x) = e − e−x und cosh(x) = e + e−x .
2 2
das Eigengewicht des Seils. In diesem Fall ist die Strecken-
last nicht hinsichtlich der horizontalen Richtung, sondern Die Graphen beider Funktionen sind in Abb. 3.23 skiz-
„pro laufendem Meter Seil“ konstant, sodass q(s) = q0 = ziert.
konstant gilt, wobei s die Bogenlänge entlang des Seils ist.
Sinh(x) und cosh(x) weisen eine Reihe von Eigenschaften
auf, die denen der „gewöhnlichen“ Sinus- und Kosinus-
funktion ähneln, daher auch ihre Bezeichnungen. Die im
Rahmen der Seilstatik wichtigsten Eigenschaften sind
Bei einer Hängebrücke ist die Streckenlast
bezogen auf die x -Richtung konstant cosh2 x − sinh2 x = 1 ,
d
sinh x = cosh x und
Wir setzen in die Differenzialgleichung der Seilkur- dx
ve q(x) = q0 ein, integrieren zweimal unbestimmt und d
cosh x = sinh x .
erhalten für die dx

Des Weiteren werden wir auch die Ableitungen der Um-


Seillinie im Belastungsfall „Hängebrücke“ kehrfunktionen, die sogenannten Areafunktionen, ver-
q0 2 wenden, dies sind
y (x ) = x + C1 x + C2 .
2 H0 d 1
arsinh x = √ und
dx x +1
2

Die Integrationskonstanten C1 und C2 sind aus den Rand- d 1


arcosh x = √ .
bedingungen zu ermitteln. Wie das vonstatten geht, sei dx x2 11
am Beispiel der wohl bekanntesten Hängebrücke der Welt
gezeigt, der Golden Gate Bridge am Eingang der San Wir schneiden nun ein kleines Stückchen Seil der Bogen-
Francisco Bay in Kalifornien (vgl. Beispielbox Berechnung länge ds frei, das entlang ds durch sein Eigengewicht dG
der Kräfte in den Tragseilen der Golden Gate Bridge). belastet wird (Abb. 3.24).
76 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern

Beispiel: Berechnung der Kräfte in den Tragseilen der Golden Gate Bridge
Technische Mechanik

. . . mal sehen, ob sie hält. außerhalb der Pylone stammt und erhalten so 56.000 t
als Fahrbahnmasse zwischen den Pylonen. Zusammen
mit der maximalen Nutzlast der Brücke von 553 kg/m
Problemanalyse und Strategie: Die Kräfte und Span-
ergibt sich pro Tragseil eine Streckenlast von
nungen in Tragseilen der Golden Gate Bridge lassen
1  56.000 t t 
sich mit den bisher behandelten Zusammenhängen der
m kN
Seilstatik berechnen. Zur richtigen Lösung der Auf- q0 = + 0,553 · 9,81 2 = 217 .
gabe ist es sehr hilfreich, den Koordinatenursprung 2 1280 m m s m
geschickt zu platzieren, sodass die Integrationskon-
stanten einfach berechnet werden können. Damit sind alle Daten zusammengestellt, und wir kön-
nen sie schön übersichtlich in einer Skizze darstellen.
Den Koordinatenursprung legen wir in Brückenmitte
Lösung: auf das Seil.

150 m
y
x
kN
q0 = 435 m
1280 m

Nun an’s Rechnen: In der zweifach integrierten Dif-


ferenzialgleichung sind drei Unbekannte zu bestim-
men – die des Horizontalzugs H0 und die Integra-
tionskonstanten C1 und C2 . Hierzu benötigen wir
drei Gleichungen, die wir in der Lage des Koordi-
natenursprungs, y(0) = 0, sowie den beiden Rand-
bedingungen, y(−l/2) = 150 m und y(l/2) = 150 m,
finden.
Aus y(0) = 0 ergibt sich unmittelbar C2 = 0.
Der offiziellen Website des Betreibers entnehmen wir
die für unsere Berechnung relevanten Daten. An Ab- Aus den beiden Randbedingungen erhalten wir
messungen sind dies
 2
q0 l l
eine Spannweite von 1280 m, − − C1 · = 150 m und
2 H0 2 2
eine Pylonhöhe von jeweils 227 m über dem Meer,  2
eine lichte Durchfahrtshöhe für die Schifffahrt von q0 l l
+ C1 · = 150 m ,
67 m und 2 H0 2 2
eine Überbauhöhe (Höhe der Fahrbahn und der sie
auf ihrer Unterseite stützenden Konstruktion) von wobei uns q0 = 217 kN
m und l = 1280 m gegeben sind.
7,60 m.
Wir lösen nach C1 und H0 auf und erhalten
Aus den drei Abmessungen schließen wir, da die
Tragseile in Brückenmitte bis sehr nahe an die Fahr- C1 = 0 sowie
bahn herunterhängen, auf einen Seildurchhang von ca. q0 l2
150 m (= 227 m − 67 m − ca. 10 m). H0 = = 296.277 kN .
8 · 150 m
Die Belastung der Pylone durch die von ihnen zu
tragenden Seilkräfte gibt der Brückenbetreiber mit Die Gleichung der Seillinie lautet damit
56.000 t pro Pylon an. Wir nehmen vereinfachend an,
dass diese Last zu gleichen Teilen aus dem Brückenge- q0 2 217 kN
y (x ) = x = m
x2 = 3,66 · 10−4 m−1 · x2 .
wicht zwischen den Pylonen und dem Brückengewicht 2 H0 2 · 296.277 kN
3.5 Seilstatik 77

Die maximale Seilkraft tritt am höchsten Punkt des Tragseils, 920 mm, können wir die im Seil herrschende
Tragseils auf, also an den beiden Pylonen und beträgt Spannung als Quotient von Kraft und Fläche berech-

Technische Mechanik
 nen. Sie beträgt
 2
dy
Smax = H0 1 + |
dx x=± 2
l
Smax
 σmax = = 492 N/mm2 = 492 MPa .
π R2
= 296.277 kN 1 + (2 · 3,66 · 10−4 · 640)2
Die Streckgrenze der Tragseile beträgt übrigens 1260
= 327.212 kN .
MPa, liegt also mit beruhigendem Abstand über der
Eine ansehnliche Kraft also. Mit dem Durchmesser des von uns ermittelten Spannung.

dG Wir integrieren ein erstes Mal,

q0
dy arsinh y = x + C1 ,
H0
ds
y
dx bilden von beiden Seiten den sinh x,
x
q 
Abb. 3.24 Ein infinitesimal kleines Stückchen Seil unter Belastung durch sein y = sinh 0 x + C1 ,
Eigengewicht H0

und integrieren ein zweites Mal, wodurch wir schließlich


Die Streckenlast q0 ist als
dG H0 q 
q0 = y (x ) = cosh 0 x + C1 + C2
ds q0 H0
definiert, wobei für ds der geometrische Zusammenhang
 erhalten. Hierin sind die Konstanten x0 und y0 aus des
ds = dx2 + dy2 Randbedingungen zu bestimmen, was eine komplizierte
Angelegenheit werden kann, und so ist die folgende Vor-
gilt. Für dG gilt des Weiteren
gehensweise geschickter:
dG = q(x) dx .
Wir platzieren den Koordinatenursprung nicht an ir-
Wir führen diese drei Gleichungen zu
gendeiner Stelle, sondern ganz genau um den Quotien-
ds ten H0 /q0 , welcher von seiner Einheit her eine Länge ist,
q ( x ) = q0 unter den tiefsten Punkt der Kettenlinie (vgl. die Zeich-
dx
nung im Beispiel Elbekreuzung 2), denn dann werden
zusammen und formen die Gleichung für ds zu sowohl C1 als auch C2 zu null.

 2
ds dy
= 1+
dx dx
Frage 3.3
um und setzen darin obige Gleichung sowie die Differen-
zialgleichung der Seilkurve ein. Wir erhalten Machen Sie sich klar, warum C1 und C2 in obiger Glei-
 chung verschwinden, wenn man den Koordinatenur-
 2 sprung um H0 /q0 unter den tiefsten Punkt der Kettenlinie
d2 y dy
H0 2 = q0 1 + . legt.
dx dx
Wir bezeichnen dy/dx als y und trennen die Veränderli-
chen. Es ergibt sich
Damit erhalten wir für das unter seinem Eigengewicht
dy q durchhängende Seil die folgende, im Allgemeinen als
 = 0 dx .
1 + y 2 H0 Kettenlinie bezeichnete Gleichung:
78 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern

Beispiel: Elbekreuzung 2
Technische Mechanik

. . . die Freileitung mit den höchsten Masten in Europa. der Kettenlinie sowie den Kräften im Stromkabel in-
teressiert. Zur besseren Übersicht zeichnen wir die
folgende Skizze. Diese enthält alle Abmessungen so-
Problemanalyse und Strategie: Bei der Berechnung wie – ganz wichtig – den in einem Abstand von H0 /q0
von Freileitungen darf man den Koordinatenursprung unter dem tiefsten Punkt der Stromleitung (aus Sym-
nicht an einer beliebigen Stelle platzieren, sondern um metriegründen ist das genau in der Mitte) liegenden
genau H0 /q0 unter dem tiefsten Punkt der Leitung. Die Koordinatenursprung.
sich dann ergebende Gleichung lässt sich nicht analy- Ausgangspunkt unserer Berechnung ist, dass das Seil
tisch lösen, muss also numerisch gelöst werden. genau in der Mitte zwischen den Strommasten um
97 m durchhängt:
Lösung: Mit den Gleichungen der Seilstatik wollen wir
die Funktion der Kettenlinie sowie die Größe der Seil- y(600 m) − y(0) = 97 m
kräfte in der „Elbekreuzung 2“ berechnen. Nehmen H q  H
wir als Beispiel für eine Berechnung der Kettenlinie die =⇒ 0 cosh 0 · 600 m − 0 = 97 m .
östlich von Stade über die Elbe führenden Hochspan- q0 H0 q0
nungsleitungen der Elbekreuzung 2. Die beiden 1,2 km
entfernt stehenden Tragmasten der Elbekreuzung 2 Dies ist eine transzendente (nicht analytisch lösbare)
gelten mit einer Höhe von jeweils 227 m als die höchs- Gleichung zur Bestimmung von H0 /q0 . Wir lösen sie
ten Freileitungsmasten Europas und als die sechst- deshalb numerisch, z. B. durch planvolles Ausprobie-
höchsten der Welt (die weltweit höchsten stehen mit ren und erhalten als Ergebnis
einer Höhe von 346,5 m an der Jangtse-Freileitungs-
kreuzung in der ostchinesischen Provinz Jiangsu). H0
= 1872 m .
Die große Höhe der Tragmasten der Elbekreuzung 2 q0
ist erforderlich, um der Elbeschifffahrt eine Mindest-
durchfahrtshöhe von 75 m unter den Stromleitungen Nun setzen wir die Gleichung für die Seilkraft an und
zu gewährleisten, die an Traversen in 172 m , 190 m und erhalten für die Stelle der maximalen Seilkraft, d. h. die
208 m Höhe aufgehängt sind. Aufhängepunkte,
Wir betrachten nun die unteren, in 172 m Höhe auf- H0 q 
0
gehängten Stromleitungen und sind an der Gleichung S(600 m) = q0 · y(600 m) = q0 · cosh 600 m
q0 H0
 600 
= q0 · 1872 m cosh = 1969 m · q0 .
1872

Die Streckenlast des Kabels beträgt q0 = ρ A g, woraus


für die maximale Spannung im Stromkabel
172 m

75 m Smax 1.969 m ρ A g
σmax = = = 1969 m · ρ · g
Fläche A
H0
q0
y mit der Dichte des Kabelwerkstoffs ρ und der
x
Erdbeschleunigung g folgt. Für Aluminium (ρ =
600 m 600 m
2700 kg/m3 ) ergibt dies eine maximale Spannung von
52 MPa im Stromkabel.

Der größte Durchhang der Kettenlinie beträgt


Gleichung der Kettenlinie: H0 q
0


q  f = y ( xA ) − y ( 0 ) = cosh xA − 1 ,
H0 0 q0 H0
y (x ) = cosh x .
q0 H0 wobei xA die x-Koordinate der höheren der beiden Auf-
hängepunkte (Masten) ist. Zur Ermittlung der Seilkraft
Antworten zu den Verständnisfragen 79

Übersicht: Tipps und Tricks zur Seilstatik

Technische Mechanik
Als transzendente Gleichung ist die Gleichung der spiel für die Elbekreuzung 2 zu lösenden Gleichung sei
Kettenlinie nicht auf analytischem Wege, sondern nur dies nebenstehend gezeigt:
numerisch lösbar. Wie macht man das am geschicktes-
ten?
 
H0 H0 q0 H0
In der beruflichen Praxis wird man die Kettenlinie Lösungsversuch q0 [m] q0 cosh H0 · 600 m − q0 − 97 m
mithilfe geeigneter Anwenderprogramme nach der 1 1000 88,47
Unbekannten (im Beispiel der Elbekreuzung 2 der 2 2000 −6,32
Quotient H0 /q0 ) numerisch auflösen. Wenn derartige 3 1500 24,61
Programme nicht zur Verfügung stehen (z. B. in einer 4 1750 6,87
Prüfungssituation), kann die numerische Lösung auch 5 1875 −0,17
nach der Methode von Versuch und Irrtum gesche- 6 1825 2,52
hen. Dafür setzen wir zunächst mit großer Schrittweite 7 1850 1,15
mögliche Lösungen ein. Sobald ein Vorzeichenwechsel 8 1865 0,35
auftritt, tasten wir uns durch Teilen des Intervalls nä- 9 1870 0,085
her an die Lösung heran, bis das Ergebnis schließlich 10 1872 −0,020
mit genügender Genauigkeit eingekreist ist. Am Bei- 11 1871 0,033

leiten wir die Gleichung für y(x) nach x ab und setzen Wie beim Lastfall „Hängebrücke“ tritt die maximale Seil-
y (x) in die Gleichung für S(x) ein. Wir erhalten kraft wieder im höchsten Punkt des Seils auf, also am
 höheren der beiden Aufhängepunkte.
q  q 
0 0
S ( x ) = H0 1 + sinh2 x = H0 cosh x
H0 H0 Weiterführende Literatur
= q0 · y ( x ) .
Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils
Technische Mechanik befindet sich am Ende von Kap. 9.

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 3.1 Beispiele für Streckenlasten sind das Eigen- ein Kräftepaar vom Fahrradrahmen aufgenommen, und
gewicht von Trägern, Schneelasten, o. Ä. Aber auch sehr je größer hierfür der Hebelarm ist, desto kleiner sind die
viele eng beieinanderliegende Punktlasten, wie z. B. Pas- Kräfte.
sagiere in einer vollbesetzten Straßenbahn oder Fahrzeu-
ge im Stau, lassen sich als Streckenlast behandeln.
Antwort 3.3 C1 verschwindet, weil die Ableitung an der
Antwort 3.2 Zum Absetzen des Differenzmoments. Die Stelle x = 0 verschwindet, und C2 verschwindet, weil der
Differenz zwischen Ein- und Ausgangsmoment wird über Funktionswert an der Stelle x = 0 gerade H0 /q0 beträgt.
80 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern

Aufgaben
Technische Mechanik

Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

3.1 •
1. Berechnen Sie die Schnittgrößen Q(x) und M(x) in ei- 2m
C
ner durch zwei gleich große Kräfte F belasteten symme-
trischen 4-Punkt-Biegeprobe der Längenabmessungen 2m
45°
li und la . B
2. Zeichnen Sie die Grafen von Q(x) und M(x).
A D
F F
18 kN
2m 1,5m

A li B

x 1. Schneiden Sie den Pkw frei, und berechnen Sie die Seil-
la kraft S, mit der dieser angehoben wird.
2. Mit welcher Kraft lastet die im Punkt C reibungsfrei
Resultat: Bereich I: QI (x) = F, MI (x) = F x, Bereich II: drehbar gelagerte Rolle auf dem Kranausleger?
3. Schneiden Sie den Kranausleger (Träger A–C) frei und
QII (x) = 0, MII (x) = F · la − li
2 , Bereich III: QIII (x) = −F, berechnen Sie die Lagerreaktionen des Kranauslegers.
MIII (x) = F (la − x).
4. Berechnen Sie die Schnittgrößen N (s), Q(s) und M(s)
im Kranausleger.
3.2 • Berechnen Sie die Schnittgrößen in einem
durch sein Eigengewicht G belasteten Kragträger der Län- Anmerkung: Betrachten Sie der Einfachheit halber Ab-
ge l. schleppwagen und Pkw im Stillstand und vernachlässi-
gen Sie dynamische Effekte wie Anfahr- oder Abbrems-
Hinweis: vorgänge. Vernachlässigen Sie auch das Eigengewicht des
Kranauslegers.

Hinweis: In welche Richtung muss die Abstützkraft der


Pendelstütze orientiert sein?
x

l
Resultat:
1. 7,7 kN
2. Mit jeweils 7,7 kN senkrecht nach unten sowie nach
Resultat: N (x) = 0, Q(x) = G 1 − x
l , links unten parallel zum Kranausleger.
M(x) = − 2Gl (l − x)2 . 3. Ax = 5,4 kN, Ay = −2,3 kN, B = 15,4 kN,
4. NI (s) = −2,2 kN, QI (s) = −5,4 kN,
MI (s) = −5,4 kN · s, NII (s) = −13,1 kN,
3.3 •• Auf einer Spritztour mit Papas geliehenem
QII (s) = 5,4 kN, MII (s) = 5,4 kN · (s − 4 m).
Oberklassewagen setzen Sie diesen peinlicherweise vor
einen Baum und müssen den Abschleppdienst rufen. Zu
allem Überfluss bezweifelt der Abschleppwagenfahrer, 3.4 •• Die Tragfläche eines Sportflugzeugs kann
dass sein Kran überhaupt der Belastung des Fahrzeugs vereinfacht als ein gewichtsloser, durch eine konstante
gewachsen ist. Überzeugen Sie ihn, indem Sie die Schnitt- Streckenlast q0 belasteter Balken, der durch ein Festlager
größen N, Q und M im Kran berechnen. Gehen Sie dabei und eine Pendelstütze abgestützt wird, modelliert wer-
wie folgt vor: den.
Aufgaben 81

3.6 •• Auf Ihrer Paddeltour durch die Mecklen-


burger Seenplatte müssen Sie leider feststellen, dass die

Technische Mechanik
Strecke neben erfrischend klaren Seen auch mit einer Rei-
he von Umtragestellen aufwartet. Der schweißtreibenden
Tätigkeit und den Semesterferien zum Trotz abstrahieren
Sie aus Ihrem Kanu das folgende mechanische Modell
und begeben sich an die Analyse:

q0

A 45° B

C
1 3
l l
4 4

1. Berechnen Sie die Lagerreaktionen.


2. Berechnen Sie die Verläufe der Schnittgrößen.
3. Zeichnen Sie die Verläufe der Schnittgrößen und geben
Sie Rand- und Extremwerte an.

Resultat:
√ N
qmax = 60 m
1. Lagerreaktionen: Ax = 2 q0 l, Ay = q0 l, B = −2 2q0 l.
II
2. Schnittgrößen:
Bereich I: NI (x ) = −2 q0 l,
QI (x) = q0 (l + x), I III
2
MI (x) = 12 q0 l2 xl + 2 xl
Bereich II: NII (x) = 0, QII (x) = q0 (x − l),
MII (x) = 12 q0 (l − x)2 .
A B
x
3.5 • • • Berechnen Sie die Lagerreaktionen und 0,8 m 3,4 m 0,8 m
Schnittgrößen des abgebildeten Trägers in Abhängigkeit
der Größen qmax und l.

2 1. Ist das Kanu statisch bestimmt gelagert? Begründen Sie


q(x) = qmax 1 – x
l kurz ihre Antwort.
qmax 2. Welchen Verlauf hat die Streckenlast q(x) in den Berei-
chen I und III?
3. Berechnen Sie die Lagerreaktionen.
4. Berechnen Sie den Verlauf der Schnittgrößen Q(x) und
M(x) im Kanu.
x, ξ
l Resultat:
1. Nein, es kann ja vorwärts getragen werden.
Hinweis: Wann kann man für eine Streckenlast eine Er- 2. qI (x) = 75 mN2 · x, qIII (x) = 375 m
N
− 75 mN2 · x.
satzkraft ansetzen, wann muss man integrieren? 3. Ay = By = 126 N.
4. QI (x) = −37,5 mN2 · x2 , MI (x) = −12,5 mN2 · x3 ,
Resultat: Lagerreaktionen: Ax = 0, Ay = 12 5
qmax l, By = QII (x) = 150 N − 60 m N
· x,
1
4 q max l. MII (x) = −107,2 Nm + 150 N · x − 30 m N
· x2 ,

QIII (x) = 937,5 N − 375 m · x + 37,5 m2 · x2 ,
N N
3
Schnittgrößen: N (x) = 0, Q(x) = qmax l 13 xl − xl + 12 5
,

MIII (x) = −1.562,5 Nm + 937,5 N · x − 187,5 m N
· x2 +
1 x 4 2
M(x) = qmax l2 12 l − 12 xl + 12
5 x
l . 12,5 m2 · x .
N 3
82 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern

3.7 •• Auf dem Nachhauseweg überfahren Sie ver- 1. Berechnen Sie die Lager- und Gelenkreaktionen.
sehentlich ein Stoppschild. Nun steht es da, das arme 2. Berechnen Sie die Schnittgrößen im waagerechten Trä-
Technische Mechanik

Schild, um 35° abgeknickt. gerteil.


1. Berechnen Sie die Lagerreaktionen. Resultat:
2. Berechnen Sie den Verlauf der Schnittgrößen N (s), Q(s)
und M(s). 1. Ax = 2 kN, Ay = 1,3 kN, MA = −2,4 kN m,
By = 0,7 kN, Gx = 0, Gy = −1,3 kN.
2. NI (x) = −2 kN, QI (x) = 1,3 kN,
MI (x) = 2,4 kN m + 1,3 kN · x,
NII (x) = 0 QII (x) = 1,3 kN,
MII (x) = −2,6 kNm + 1,3 kN · s,
NIII (x) = 0 QIII (x) = 2 kN
m2
(3 m − x)2 − 0,7 kN,
MIII (x) = − 23 kN
m2
(3 m − x)3 + 0,7 kN (3 m − x)
(Ergebnisse gerundet).

mm

3.9 Berechnen Sie die Schnittgrößen N, Q und M


in Abhängigkeit des Winkels ϕ im abgebildeten Haken.
00
16

35°

s
400 mm

s
A R
φ

Hinweis: In welche Richtungen setzt man bei schiefen Trä- F


gern am besten die Kräftegleichgewichte an?
Resultat:
Resultat: N ( ϕ) = F sin ϕ, Q( ϕ) = −F cos ϕ,
1. Ax = 0, Ay = 180 N, MA = 77,1 N m. M( ϕ) = −FR sin ϕ.
2. NI (s) = −180 N + 80 mN
· s, QI (s) = 0, 3.10 • Eine als ebenes Fachwerk konstruierte
MI (s) = −77,1 N m, T, NII (s) = −147 N + 65,5 mN
· s, Brücke ist im Punkt A zwei- und im Punkt B einwer-
QII (s) = 103 N − 46 m · s,
N
tig gelagert. Im Knoten C greift die Vertikalkraft 3 kN,
MII (s) = −23 mN
(2 m − s)2 − 11,5 N (2 m − s). im Knoten D die um 30° zur Horizontalen geneigte Kraft
4 kN an.
3.8 •• Ein 3 m langer Gelenkträger ist im Punkt A 4
drei- und im Punkt B einwertig gelagert. Im Punkt G sind
die beiden Trägerhälften durch ein zweiwertiges Gelenk 2 5 8
miteinander verbunden. 3 7 1m

M = 3 kN m kN 1 6 9
qmax = 4
m A 30° B
F = 2 kN 4 kN
1m 3 kN
1m 1m 1m

B
Ay G
1. Überprüfen Sie das Fachwerk auf äußere und innere
x
1m 1m 1m statische Bestimmtheit.
2. Bestimmen Sie die Lagerreaktionen.
Aufgaben 83

3. Bestimmen Sie mit einem Ritterschnitt die Stabkräfte in Resultat: Ax = 56 F, Ay = F, Bx = − 56 F.


den Stäben 4, 5 und 6. S1 = −3,44 F, S2 = 2,34 F, S3 = 0,

Technische Mechanik
4. Bestimmen Sie mit einem weiteren Ritterschnitt die S4 = 2,33 F, S5 = −2,61 F, S6 = 2 F,
Stabkräfte in den Stäben 1 und 3. S7 = 0, S8 = 2 F, S9 = −2,24 F.
5. Schneiden Sie das Lager A frei und bestimmen Sie die
Stabkraft in Stab 2.
3.13 •• Die skizzierte zweiteilige Fachwerkbrücke
Resultat: wird durch fünf senkrechte Kräfte F belastet. Berechnen
Sie die Stabkräfte.
1. Äußere und innere statische Bestimmtheit liegen vor.
2. Ax = −3,5 kN, Ay = 2,7 kN, By = 2,3 kN.
3. S4 = −2,7 kN, S5 = 0,4 kN, S6 = 5,9 kN. F F F F F
4. S1 = 6,2 kN, S3 = 2,7 kN.
4 6
5. S2 = −3,8 kN.
3 5 G
a
3.11 • Berechnen Sie die Lagerreaktionen und Stab- 7
kräfte des skizzierten Fachwerkträgers. 1

1m 1m a 2

4 kN 4 kN A A
4 8
A a a a a
32°

3 5 7 9 0,8 m
1
Resultat: Ax = F, Ay = 2,5 F, Bx = −F, By = 2,5 F,
Gx = −F, Gy = 0.
B
2 6 S1 = −1,5 F, S2 = −1,41 F, S3 = 0,71 F,
S4 = −0,5 F, S5 = −F, S6 = −0,5 F, S7 = −0,71 F.
0,5 m 1m

3.14 •• Die beiden Tragseile einer Spielplatz-Hän-


Resultat: Ax = −15 kN, Ay = 8 kN, Bx = 15 kN. gebrücke sind an 3,50 m hohen und 8 m voneinander
S1 = 0, S2 = −15 kN, S3 = 9,43 kN entfernt stehenden Masten aufgehängt. Zu berechnen ist
S4 = 10 kN, S5 = −9,43 kN, S6 = −5 kN die maximal zulässige Belastung q0,zul eines jeden Trag-
S7 = 4,72 kN, S8 = 2,5 kN, S9 = −4,72 kN. seils unter den folgenden Voraussetzungen:
Die Tragseile sollen in Brückenmitte (x = 0) genau bis
3.12 • Der skizzierte Wanddrehkran wird durch auf 1 m über den Brückenweg durchhängen.
eine senkrechte Kraft F belastet. Berechnen Sie die Lager- Der Horizontalzug im Seil soll maximal 9 kN betragen.
reaktionen und Stabkräfte.
1m 4m H0 ≤ 9 kN
B 3,5 m
6 8 y

5 x
7 F 1m
2m 4 q0,zul = ? 8 m
9
3

1. Berechnen Sie q0,zul sowie die Gleichung y(x) der Seil-


y linie im angegebenen (x, y)-Koordinatensystem.
2
4m 2. Welcher größten im Tragseil auftretenden Seilkraft Smax
1 x entspricht H0 = 9 kN?

Resultat: q0,zul = 2,8 kN


m pro Tragseil,
A y(x) = 0,16 m 1
· x2 + 1 m,
Smax = 14,4 kN.
84 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern

3.15 •• Welcher Horizontalzug H0 muss im Spiel-


zeugdackelseil herrschen, damit dieses am Dackel eine
Technische Mechanik

horizontale Tangente hat und somit auf keinen Fall auf


dem Boden schleift?
0,5 m
5m
hmin
x0
25 m

Tun Sie bitte Ihrer Nichte den Gefallen und berechnen


0,3 m Sie die Stelle x0 des größten Kordeldurchhangs sowie die
kleinste Höhe hmin der Telefonkordel über dem Erdboden.
Gehen Sie dabei wie folgt vor:
1,5 m
1. Welcher Belastungsfall des Seils liegt vor: konstante
Streckenlast q(x) oder konstante Streckenlast q(s)?
2. Berechnen Sie die Stelle x0 des größten Kordeldurch-
Resultat: H0 = 1,8 N.
hangs.
3. Berechnen Sie die kleinste Höhe hmin der Telefonkordel
3.16 •• Wie das nun mal so ist, telefoniert Ihre kleine über dem Erdboden.
Nichte für ihr Leben gerne. Vom Fenster ihres Kinderzim-
mers aus (Höhe: 5 m über dem Boden) möchte sie nun Weitere Angabe: Das spezifische Gewicht der Telefonkor-
ein Büchsentelefon zu ihrer im Nachbarhaus wohnenden del beträgt q0 = 0,1 N/m.
Freundin spannen (Höhe Kinderzimmerfenster Freundin:
4,5 m über dem Boden). Da sie ihre Telefonbüchse mit Resultat:
einer Horizontalkraft von höchstens 4 N in den Händen
halten will – sonst wird der jungen Dame das Telefonieren 1. q(s) = konstant.
zu unbequem – macht sie sich Sorgen um den maximalen 2. x0 = 13,29 m.
Durchhang der Telefonleitung. 3. hmin = 2,77 m über dem Erdboden.
Spannungen, Verzerrungen
4

Technische Mechanik
und Materialgesetz – wenn
Werkstoffe versagen
Was ist ein
Spannungstensor?
Wie dreht man ein
Koordinatensystem?
Wie beschreibt man
elastische Verformung?

4.1 Spannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
4.2 Verzerrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
4.3 Das Materialgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 85


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_4
86 4 Spannungen, Verzerrungen und Materialgesetz – wenn Werkstoffe versagen

In den bisherigen Kapiteln der Technischen Mechanik hatten wir ∆N


uns mit der Ermittlung von Kräften und Momenten – vor allem mit
Technische Mechanik

Lagerreaktionen und Schnittgrößen – befasst. Aber als Grundlage, ∆F


∆A
die Tragfähigkeit eines Bauteils zu ermitteln, eignen sich Schnittgrö-
ßen nicht so ohne Weiteres. So wird ein Träger mit einem großen
Querschnitt sehr viel größere Schnittkräfte ertragen können als ein ∆T
äußere Lasten
Träger mit einem zierlichen. Für die Festigkeitsrechnung ist es also
auch erforderlich, den Einfluss der Bauteilgeometrie zu berücksich-
tigen. Abb. 4.1 Die auf ein kleines Flächenelement ΔA wirkende Schnittkraft ΔF
lässt sich in einen Normalanteil ΔN und einen Tangentialanteil ΔT zerlegen
Das Teilgebiet der Technischen Mechanik, das sich diesen Frage-
stellungen widmet, ist die Festigkeitslehre. Sie befasst sich damit, F F
welche Spannungen die inneren Kräfte und Momente (die Schnitt- σ
größen) in Bauteilen bewirken und wie sich diese Bauteile dabei
verformen.
F

τ
4.1 Spannungen
Eine zentrale Größe der Festigkeitslehre ist die Span- Abb. 4.2 Normalspannungen σ kann man erzeugen, indem man an einem
nung. Diese ist – bildlich gesprochen – ein Maß für die Stab zieht (oben ). Schubspannungen τ entstehen in einem Körper, indem man
Dichte des Kraftflusses im Bauteil. Je größer die pro Quer- z. B. einen Streifen Klebefilm auf diesen klebt und am Klebefilm zieht (unten )
schnittsfläche übertragenen inneren Kräfte sind, desto
größer sind die Spannungen. Spannungen sind entschei-
dend dafür, ob ein Bauteil seinen Betriebslasten standhält und aus dem Tangentialanteil ΔT die mit dem griechi-
oder unter diesen versagt. Nur wenn die im Bauteil herr- schen Buchstaben τ (tau) bezeichnete Schubspannung
schenden Spannungen mit genügender Sicherheit unter
der einschlägigen Festigkeit des Werkstoffs liegen (z. B. ΔT
Streckgrenze, Zugfestigkeit oder Dauerfestigkeit), kann τ= .
ΔA
eine sichere Funktion des Bauteils gewährleistet sein. Die
Spannungsberechnung ist somit ein ganz entscheidender Spannungen haben Einheiten von Kraft pro Fläche. Am
Bestandteil der Bauteilauslegung. gebräuchlichsten ist die Angabe in Pascal (Pa) oder Me-
gapascal (MPa). Es gelten die Zusammenhänge 1 Pa =
Im vorliegenden Kapitel wollen wir uns mit einigen
grundlegenden Eigenschaften von Spannungen beschäfti- 1 N/m2 bzw. 1 MPa = 1 N/mm2 .
gen. Im Anschluss daran folgt für die wichtigsten Grund- Da viele Werkstoffe unterschiedlich auf Normal- und
beanspruchungsfälle dann in Kap. 5 die konkrete Berech- Schubspannungen reagieren – duktile Metalle und die
nung der jeweiligen Spannungen. meisten Kunststoffe z. B. empfindlich auf Schubspannun-
gen, Keramiken empfindlich auf Normalspannungen –,
ist es wichtig, diese sauber voneinander unterscheiden zu
Je nach Kraftrichtung unterscheidet man können. Zwei Methoden bieten sich hierfür an:
zwischen Normal- und Schubspannungen Eine Möglichkeit ist die Unterscheidung anhand der
Kraftrichtung. Wirkt eine Kraft senkrecht zur Schnittflä-
che, wie z. B. in einem Zug- oder Druckstab, so besteht
Legen wir durch einen belasteten Körper einen Frei-
die Schnittkraft ΔF allein aus der Normalkomponente
schnitt, dann wirkt auf jedem kleinen Flächenelement ΔA
ΔN, und es wirken auf dieser Schnittfläche ausschließ-
eine kleine Schnittkraft ΔF, die sich in einen Kraftan-
lich Normalspannungen. „Schrappt“ die Kraft dagegen
teil ΔN senkrecht (normal) zur Schnittfläche und einen
tangential an der Schnittfläche entlang, wie das beispiels-
Kraftanteil ΔT entlang der (tangential zur) Schnittfläche
weise der Fall ist, wenn man einen Streifen Klebefilm auf
zerlegen lässt (Abb. 4.1).
die Schnittfläche klebt und an diesem zieht, so herrschen
Aus dem Normalanteil ΔN ergibt sich die mit dem grie- Schubspannungen (Abb. 4.2).
chischen Buchstaben σ (sigma) bezeichnete Normalspan-
nung Die andere, anschaulichere Möglichkeit zur Unterschei-
dung zwischen Normal- und Schubspannungen beruht
ΔN auf den von den Spannungen hervorgerufenen Verfor-
σ=
ΔA mungen. Stellen wir uns hierfür einen Körper aus ei-
4.1 Spannungen 87

σ σy
σy

Technische Mechanik
τ τyx τyx
τ τyz
τxy τxy
τzy σx σx
y σx
τzx τxz τxy
x σz y
τ z τyx
τ x
a b σy
σ
a b c Abb. 4.4 Darstellung der Spannungen in einem Lageplan; a dreidimensionaler,
b zweidimensionaler Lageplan
Abb. 4.3 Wenn wir uns auf einen Körper ein kleines quadratisches Gitter auf-
gezeichnet denken, dann wird es unter Belastung zu einem Parallelogramm
verformt. Dabei bewirken Normalspannungen (b) eine Längenänderung der Git- Bei der Pfeilrichtung gilt die Konvention, dass positive
terkanten und die Schubspannungen (c) eine Änderung der rechten Winkel
Spannungen an den positiven Schnittufern in die positive
und an den negativen Schnittufern in die negative Koor-
dinatenrichtung zeigen. Bei negativen Spannungen ist die
nem isotropen Werkstoff vor, auf den ein kleines qua- Pfeilrichtung jeweils umzudrehen.
dratisches Gitter eingezeichnet ist. Normalspannungen
dehnen oder stauchen den Körper, ändern aber nicht
die Winkel des aufgezeichneten Gitters. Bei Beanspru-
chung durch Schubspannungen ändern sich dagegen nur Im Spannungstensor sind alle Spannungen
die Winkel im Körper, während die Längenabmessungen zusammengefasst
gleich bleiben (Abb. 4.3).
Wie viele und welche Normal- und Schubspannungen Die neun Spannungen werden im sogenannten Span-
kann es denn in einem beliebig beanspruchten Körper ge- nungstensor S zusammengefasst. Er lässt sich als Matrix
ben? schreiben:
⎛ ⎞
σx τxy τxz
Normalspannungen: Kräfte können in alle drei Raum- S = ⎝τyx σy τyz ⎠
richtungen wirken, und wir erhalten für jede Richtung τzx τzy σz xyz
eine Normalspannung, σx , σy , und σz .
Schubspannungen: Wollen wir eine Schubspannung Die Bezeichnung Spannungstensor besagt, dass die
vollständig definieren, so müssen wir erstens die Flä- Normal- und Schubspannungen den mathematischen Ge-
che, auf der sie wirkt, und zweitens die Richtung, in die setzmäßigkeiten der Tensorrechnung folgen, insbesonde-
sie wirkt, angeben. Schubspannungen erhalten deswe- re bei einer Drehung des Koordinatensystems. Wir wer-
gen zwei Indizes: Der erste steht für die Richtung der den uns diesem Thema in ein paar Seiten widmen.
Flächennormalen, der zweite für die Kraftrichtung (die Es macht Sinn, zum Spannungstensor stets das Koordi-
„Richtung des Spannungspfeils“). Da Flächennormale natensystem als tiefgestellte Indizes anzugeben, da sich,
und Kraftrichtung bei Schubspannungen nicht über- wie wir sehen werden, die Komponenten des Spannungs-
einstimmen (das tun sie nur bei Normalspannungen), tensors bei einer Drehung des Koordinatensystems verän-
gibt es insgesamt sechs Schubspannungen, τxy , τxz , τyx , dern.
τyz , τzx und τzy .
Zunächst aber zu einer wichtigen Eigenschaft des Span-
nungstensors, seiner Symmetrie. Betrachten wir hierzu
Um darzustellen, auf welchen Flächen und in welche ein kleines quaderförmiges Volumenelement der Kanten-
Richtungen diese neun Spannungen wirken, kann man längen Δx, Δy und Δz, auf dessen Stirnflächen die entspre-
sie in einen Lageplan einzeichnen. Im Dreidimensionalen chenden Spannungskomponenten wirken (Abb. 4.5).
entspricht dieser Lageplan einem kleinen Würfel, auf des- Für das Momentengleichgewicht um den Koordinatenur-
sen Flächen die Spannungen angreifen (Abb. 4.4a), wobei sprung multiplizieren wir die Spannungen zunächst mit
man sich auf den drei verdeckten Würfelflächen dieselben der Fläche, auf die sie jeweils wirken – z. B. τxy mit ΔyΔz –,
Spannungen wie auf den jeweils gegenüberliegenden Flä- und dann mit dem Hebelarm. Wir erhalten
chen, nur mit umgekehrter Pfeilrichtung, vorstellen muss.
Δx Δy
∑ Mi
(Koo.urspr.)
Beschränken wir uns auf zwei Dimensionen, erhalten wir = 2τxy ΔyΔz · − 2τyx ΔxΔz · =0
ein Quadrat (Abb. 4.4b), auf dessen Kanten die jeweiligen 2 2
Normal- und Schubspannungen angreifen. =⇒ τxy = τyx .
88 4 Spannungen, Verzerrungen und Materialgesetz – wenn Werkstoffe versagen

σy Die Normalspannung σz muss null sein, denn sie kann


τ yx nicht in die Luft hinein übertragen werden.
Technische Mechanik

Gleichfalls müssen auch die Schubspannungen τzx und


y
τ xy τzy null sein, denn diese könnten nur dadurch hervor-
σx
∆y x gerufen werden, dass eine äußere Kraft an der freien
σx Oberfläche „entlangschrappt“, aber dann wäre diese
τ xy
Oberfläche nicht mehr frei und unbelastet.
τ yx
σy Im abgebildeten Fall verschwinden also aus dem Span-
∆x nungstensor alle Spannungen mit dem Index z (dem
Index der freien Oberfläche) und wir erhalten
Abb. 4.5 Die Symmetrie des Spannungstensors ergibt sich aus dem Momen- ⎛ ⎞
tengleichgewicht σx τxy 0
S = ⎝ τxy σy 0⎠ ,
0 0 0 xyz
Da die Momentengleichgewichte um die y- und z-Achse
entsprechende Ergebnisse liefern, gilt die was wir vereinfacht als
 
σx τxy
Symmetrie des Spannungstensors S=
τxy σy xy

τxy = τyx , τxz = τzx und τyz = τzy . darstellen. Dieser als ebener Spannungszustand (Abkür-
zung ESZ) bezeichnete Spannungszustand ist technisch
sehr wichtig, da er nicht nur an allen freien Oberflä-
Aufgrund der Symmetrie besteht der Spannungstensor chen auftritt, sondern in sehr guter Näherung auch in
also nur aus sechs voneinander unabhängigen Kompo- allen dünnwandigen Bauteilen wie Blechen, Brettern und
nenten, dergleichen, bei denen zwei freie Oberflächen sehr nahe
beieinanderliegen.
⎛ ⎞
σx τxy τxz Weil der ESZ derart wichtig ist – und auch weil er ein gu-
S=⎝ σy τyz ⎠ . tes Stück einfacher als der räumliche Spannungszustand
symm. σz xyz zu behandeln ist –, befassen wir uns im Rest dieses Kapi-
tels ausschließlich mit dem ESZ.

An allen freien Oberflächen herrscht ein ebener


Spannungszustand Bei einer Drehung des Koordinatensystems
ändern sich die Werte der Normal- und
An freien, unbelasteten Oberflächen, vereinfacht sich der
Schubspannungen
Spannungstensor weiter, denn es werden drei der sechs
Spannungskomponenten zu null. Betrachten wir hierzu Wir werden nun sehen, dass (und wie) sich die Span-
ein kleines Volumenelement an einer solchen Oberfläche nungskomponenten bei einer Drehung des Koordinaten-
(in Abb. 4.6 mit der Flächennormalen z): systems ändern. Was aber bedeutet das eigentlich? Ma-
chen wir hierzu ein kleines Gedankenexperiment.
σz = 0 Stellen Sie sich vor, Sie stehen 10 m von einem Baum
entfernt und gucken gerade auf diesen zu. Der Ortsvek-
Luft τ zx = 0 tor von Ihnen zum Baum hin verläuft dann 10 m nach
Werkstoff vorne und hat keine Komponente zur Seite. Drehen Sie
σx σx sich nun um 30° nach links, ändern sich diese Zahlen-
werte. Der Ortsvektor zum Baum verläuft nun 8,66 m
(10 m · cos 30◦ ) nach vorne und 5 m (10 m · sin 30◦ ) nach
z rechts. Und das, obwohl weder Sie, noch der Baum ihren
x Standort verlassen haben. Geändert hat sich einzig ihre
Betrachtungsrichtung. Und genau so kann man sich die
Abb. 4.6 An freien, unbelasteten Oberflächen verschwinden drei der sechs Drehung eines Koordinatensystems anschaulich vorstel-
Spannungskomponenten len.
4.1 Spannungen 89

und

Technische Mechanik
φ τ ξη ∑ Fiy = σξ sin ϕΔA + τξη cos ϕΔA
σξ
− σy ΔA sin ϕ − τxy ΔA cos ϕ = 0.
σx

∆Acosφ
∆A
Das sind zwei Gleichungen für die zwei Unbekannten
σξ und τξη . Die dritte Komponente des gedrehten Span-
nungstensors, ση , würden wir an einem Keil der Seiten-
τ xy
flächen x, y und η in gleicher Vorgehensweise ermitteln
∆A sinφ
können.

y φxy Als Lösungen der obigen Gleichungen erhalten wir für


η ξ die
φ σy
x

Abb. 4.7 Kräftegleichgewicht am Keil


Spannungen bei einer Drehung des Koordinatensys-
tems

1  1 
σξ = σx + σy + σx − σy cos 2ϕ + τxy sin 2ϕ,
Drehung des Koordinatensystems 2 2
1  1 
Wenn das Koordinatensystem eines Spannungsten- ση = σx + σy − σx − σy cos 2ϕ − τxy sin 2ϕ
2 2
sors gedreht wird, bedeutet das, dass ein und der-
und
selbe Spannungszustand bezüglich einer anderen
(gedrehten) Betrachtungsrichtung beschrieben wird. 1 
τξη = − σx − σy sin 2ϕ + τxy cos 2ϕ.
2

Bevor wir zur Frage kommen, wie sich die Spannungen


bei einer Drehung des Koordinatensystems ändern, noch
eine kurze Bemerkung zur Nomenklatur: Um mit den Ko-
ordinatensystemen nicht durcheinanderzukommen, be-
zeichnen wir nur das ungedrehte Koordinatensystem mit Mit dem Mohr’schen Spannungskreis kann man
den lateinischen Buchstaben x, y und z. Für gedrehte Ko- Spannungstensoren in gedrehten
ordinatensysteme verwenden wir die griechischen Buch- Koordinatensystemen grafisch bestimmen
staben ξ, η und ζ (xi, eta und zeta).
Und nun zur Frage: Wie ändern sich die Spannungen
Die Änderung des Spannungstensors bei einer Drehung
bei einer Drehung des Koordinatensystems? Ein Kräfte-
des Koordinatensystems lässt sich nicht nur rechnerisch,
gleichgewicht an einem Keil führt uns zu den gesuchten
sondern auch zeichnerisch beschreiben. Die entsprechen-
Zusammenhängen (Abb. 4.7).
de Vorgehensweise wird als Mohr’scher Spannungskreis
Die drei Seitenflächen des Keils weisen in die x-Richtung, bezeichnet zu Ehren ihres Erfinders Christian O. Mohr
in die y-Richtung und in eine um den Winkel ϕ zur x- (1835–1918), der erkannte, dass die Gleichungen für die
Achse gedrehte ξ-Richtung. Wenn der Flächeninhalt der Spannungskomponenten in einem gedrehten Koordina-
ξ-Seite die allgemeine Größe ΔA hat, dann betragen die tensystem bei geeigneter grafischer Umsetzung Kreisglei-
Flächeninhalte der beiden anderen Seiten ΔA · cos ϕ (für chungen beschreiben.
die x-Seite) und ΔA · sin ϕ (für die y-Seite). Auf allen drei
Keilflächen wirken die jeweilige Normal- und Schubspan- Am besten, wir empfinden die Entdeckung des Herrn
nung. Mohr an einem Beispiel nach.

Die Gleichgewichtsbedingungen in x- und y-Richtung


lauten Beispiel Gegeben sei der Spannungstensor
 
∑ Fix = σξ cos ϕΔA − τξη sin ϕΔA 30 −40
S= MPa.
− σx ΔA cos ϕ − τxy ΔA sin ϕ = 0 −40 90 xyz
90 4 Spannungen, Verzerrungen und Materialgesetz – wenn Werkstoffe versagen

Es ist Ihre Aufgabe, τ in MPa


Technische Mechanik

die um 15°, 30°, 45°, 60° und 75° gegen den Uhrzeiger- 50 ungedreht
sinn gedrehten Spannungstensoren zu ermitteln, und
sodann
für jeden der sechs Spannungstensoren die beiden φ = 15°
Punkte (σx | − τxy ) und (σy |τxy ) – bzw. (σξ | − τξη ) und
(ση |τξη ) im Falle der gedrehten Koordinatensysteme – σ in MPa
in einen sogenannten Spannungsplan einzutragen (ei- 50 100
ne Grafik, bei der die Normalspannungen σ auf der φ = 30°
Abszisse („x-Achse“) und die Schubspannungen τ auf
der Ordinate („y-Achse“) aufgetragen werden), und φ = 45°
schließlich
die beiden Punkte eines jeden Spannungstensors je- –50 φ = 60° φ = 75°
weils zu verbinden.

Für die fünf Koordinatendrehungen erhalten wir nach et- Abb. 4.8 Bildet man aus den Spannungstensoren in den verschiedenen ge-
drehten Koordinatensystemen Punkte nach der Vorschrift ( σξ | − τξη ) und
was Rechnerei (ση |τξη ), so liegen diese auf einem Kreis
 
14 −20
S= MPa,
−20 106 ϕ=15◦
  nachzuvollziehen. Der Mohr’sche Spannungskreis kann
10 6
S= MPa, vielmehr als eigenständige Methode zur Ermittlung von
6 110 ϕ=30◦
  Spannungstensoren in gedrehten Koordinatensystemen
20 30 eingesetzt werden. Das geht dann wie folgt:
S= MPa,
30 100 ϕ=45◦
  Vorgehensweise beim Mohr’schen Spannungskreis
40 46
S= MPa und
46 80 ϕ=60◦ Tragen Sie die Punkte (σx |−τxy ) und (σy |τxy ) in
  den Spannungsplan ein.
66 50
S= MPa. Schlagen Sie um die beiden eingezeichneten
50 54 ϕ=75◦
Punkte den Mohr’schen Spannungskreis. Dabei
Aus den Spannungstensoren im ungedrehten und in liegt der Mittelpunkt des Spannungskreises stets
den fünf gedrehten Koordinatensystemen sind insgesamt auf der σ-Achse zwischen den beiden eingezeich-
zwölf Punkte zu bilden und in den Spannungsplan einzu- neten Punkten.
tragen. Für das ungedrehte Koordinatensystem z. B. die Eine Drehung des Koordinatensystems um
Punkte (30|40) und (90| − 40). den Winkel ϕ entspricht einer Drehung im
Mohr’schen Spannungskreis um 2ϕ.
Abbildung 4.8 zeigt alle zwölf in den Spannungsplan Lesen Sie die Koordinaten des gedrehten Span-
eingetragenen Punkte mit den dazugehörigen Verbin- nungstensors aus dem gedrehten Kreisdurchmes-
dungslinien. Zur besseren Übersicht ist dabei vermerkt, ser ab.
auf welchen Spannungstensor sich die jeweilige Verbin-
dungslinie bezieht (ob ungedreht oder um welchen Win-
kel gedreht). Wir sehen – und genau das war die Entde- Mit dem Mohr’schen Spannungskreis lassen sich aber
ckung des Herrn Mohr – dass nicht nur gedrehte Spannungstensoren bestimmen; auch
eine ganze Reihe von sehr wichtigen Eigenschaften des
alle Punkte auf einem Kreis liegen, Spannungstensors wird am Mohr’schen Spannungskreis
sich die beiden Punkte eines Spannungstensors jeweils deutlich. Hierzu zeigt Abb. 4.9 noch einmal ganz allge-
genau gegenüberliegen, die Verbindungslinie der bei- mein einen Mohr’schen Spannungskreis.
den Punkte eines Spannungstensors also stets durch
den Kreismittelpunkt verläuft und Wenn sich die Normal- und Schubspannungen bei einer
die einzelnen Verbindungslinien um genau den dop- Drehung des Koordinatensystems ändern, dann vermö-
pelten Winkel (30° statt 15°) zueinander gedreht gen sie dies nur in ganz bestimmten Grenzen. Es gibt
sind.  Extremwerte, die von den Spannungen, wie auch im-
mer man das Koordinatensystem drehen mag, nicht über-
bzw. unterschritten werden können. Diese Extremwerte
Natürlich ist es nicht Sinn und Zweck des Mohr’schen sind die größtmögliche Normalspannung σ1 , die kleinst-
Spannungskreises, bereits errechnete Resultate grafisch mögliche Normalspannung σ2 und die größtmögliche
4.2 Verzerrungen 91

Technische Mechanik
τ max
(σ x|– τ xy) dy′
β

dy
2φ (σ ξ |–τξ η ) α
σ y
σ2 M σ1
dx dx′
(σ η | τ ξ η ) x

Abb. 4.10 Zur Definition der Verzerrungen


(σ y|–τ xy)
–τ max

Abschließende Bemerkung: Worin liegt die Motivation


Abb. 4.9 Mohr’scher Spannungskreis für diese ausführliche Betrachtung der Drehung des Ko-
ordinatensystems und des Mohr’schen Spannungskrei-
ses?
Schubspannung τmax . σ1 und σ2 werden als 1. und 2.
Nun, wir haben gesehen, dass je nach Drehwinkel entwe-
Hauptspannung, τmax wird als Hauptschubspannung be-
der die Normalspannungen oder die Schubspannungen
zeichnet.
Extremwerte annehmen können. Aus der Werkstoffkun-
Für die Hauptspannungen und die Hauptschubspannun- de weiß man, dass spröde Werkstoffe (z. B. Keramiken,
gen gilt: Gläser oder Gusseisen) empfindlich auf Normalspannun-
gen und duktile Werkstoffe (wie z. B. die meisten Stäh-
Die beiden Hauptspannungen σ1 und σ2 liegen sich le und Kunststoffe) empfindlich auf Schubspannungen
im Mohr’schen Spannungskreis genau gegenüber und reagieren. Folglich ist bei der Dimensionierung von Bau-
treten deshalb gleichzeitig (im selben Koordinaten- teilen aus spröden Werkstoffen zu überprüfen, ob die
system) auf. Dieses Koordinatensystem wird auch größtmögliche Normalspannung unterhalb ihres zulässi-
als Hauptachsensystem bezeichnet. Die Achsen des gen Wertes liegt, und bei Bauteilen aus duktilen Werk-
Hauptachsensystems werden statt mit x und y (oder ξ stoffen, ob die größtmögliche Schubspannung unterhalb
und η) üblicherweise mit 1 und 2 indiziert. Im Haupt- ihres zulässigen Wertes liegt. Und genau das leistet der
achsensystem treten keine Schubspannungen auf. Mohr’sche Spannungskreis. Wir werden in Abschn. 5.7
Die Hauptschubspannung τmax tritt in einem Koor-
(Überlagerte Beanspruchung) noch einmal näher darauf
dinatensystem auf, das um 45° zum Hauptachsen-
zurückkommen.
system geneigt ist (90° im Mohrkreis). In diesem als
Hauptschubspannungssystem bezeichneten Koordina-
tensystem treten auch Normalspannungen auf, die
stets gleich groß sind. Die Achsen des Hauptschub- 4.2 Verzerrungen
spannungssystems werden üblicherweise mit 1∗ und
2∗ indiziert.
Wird ein Körper belastet, so steht er nicht nur unter Span-
σ1 , σ2 und τmax lassen sich über einfache trigonome-
nung, er verformt sich auch.
trische Beziehungen aus dem Mittelpunkt und dem
Radius des Mohr’schen Spannungskreises berechnen.
Dafür gelten die folgenden Gleichungen:
Der Verzerrungstensor beschreibt alle in einem
Berechnung von σ1 , σ2 und τmax im ESZ bestimmten Punkt herrschenden Verzerrungen

σx + σy  σ − σ 2 Sehen wir uns einmal an, wie sich ein kleines Rechteck,
x y
σ1 = + + τxy
2 ,
das auf einen Körper aufgezeichnet ist, bei Belastung ver-
2 2

σx + σy  σ − σ 2 formen kann.
x y
σ2 = − + τxy
2 und Es lassen sich zwei Arten von Verformungen unterschei-
2 2

 σ − σ 2 den. Zum einen haben sich die Kantenlängen dx und dy
τmax =
x y
+ τxy
2 . des Rechtecks zu dx und dy verformt. Das Verhältnis
2 von Längenänderung zu Ausgangslänge wird als Deh-
nung ε bezeichnet. Es gilt also als
92 4 Spannungen, Verzerrungen und Materialgesetz – wenn Werkstoffe versagen

Übersicht: Ein-, zwei- und dreiachsige Spannungszustände


Technische Mechanik

Je nach vorliegender Mehrachsigkeit werden Span- τ


τ xy = τ max τ xy
nungszustände als ein-, zwei- oder dreiachsig klassifi-
ziert. Dabei bezeichnet man einen Spannungszustand
mit τ xy
σ
σ2 σ1
genau einer von null verschiedenen Hauptspan- σ1 = τ xy
nung als einachsig, 45°
zwei von null verschiedenen Hauptspannungen als
zweiachsig und σ2 = τ xy
drei von null verschiedenen Hauptspannungen als
dreiachsig.
Die Hauptspannungen treten unter einem Winkel von
45◦ zur Hauptschubspannungsrichtung auf und betra-
Wir wollen uns nun einen kleinen Überblick über diese gen σ1 = τxy und σ2 = −τxy .
Arten von Spannungszuständen und ein paar wichtige
Beispiele verschaffen.
Dreiachsiger Spannungszustand Beim dreiachsigen
Spannungszustand sind alle drei Hauptspannungen
von null verschieden. Der Mohr’sche Spannungs-
τ kreis besteht – ohne dies näher herzuleiten – aus
τmax drei ineinander geschachtelten Kreisen durch die drei
σ1 σ1 Hauptspannungen. Der durch σ1 und σ2 gehende Kreis
beschreibt beispielsweise die Änderung der Span-
σ nungskomponenten, wenn die z-Achse in σ3 -Richtung
σ2 σ1 σ1/2
festgehalten wird und die x und y-Achsen um die z-
Achse gedreht werden.
45° σ1/2
τ
σ1/2 τ max

Einachsiger Spannungszustand Die maximale Schub-


spannung tritt in einem Winkel von 45◦ zum Haupt- σ3 σ2 σ1 σ
achsensystem auf und beträgt τmax = 12 σ1 für einachsi-
gen Zug und τmax = − 12 σ2 für einachsigen Druck.

Zweiachsiger Spannungszustand Beim zweiachsigen


oder ebenen Spannungszustand ist der Mohr’sche Für die maximale Schubspannung gilt τmax =
Spannungskreis von der in Abb. 4.9 gezeigten Gestalt.
2 ( σ1 − σ3 ).
1

Beispiel reiner Schub Ein wichtiger Sonderfall des ESZ Beispiel hydrostatischer Spannungszustand Der hydro-
ist der reine Schub, der beispielsweise in einem auf statische Spannungszustand ist durch in alle drei Ko-
Torsion belasteten Stab auftritt. Reiner Schub ist durch ordinatenrichtungen identische Hauptspannungen ge-
das Vorliegen einer Schubspannung τxy bei verschwin- kennzeichnet. Der Mohr’sche Spannungskreis entartet
denden Normalspannungen gekennzeichnet. dabei zu einem Punkt, welcher für hydrostatischen
Druck links der τ-Achse und für hydrostatischen Zug
rechts der τ-Achse liegt.
4.2 Verzerrungen 93

σ spannung σl und eine im Vergleich zu σϕ und σl viel-


τ σ fach vernachlässigbar kleine Radialspannung σr .
σ

Technische Mechanik
σ bel.
σ
τ
σφ
τ max =
2

Die Spannungskomponenten eines hydrostatischen


σ
Spannungszustandes ändern sich bei einer Drehung σr ≈ 0 σl σφ
des Koordinatensystems nicht, es sind stets alle Nor-
malspannungen gleich groß und alle Schubspannun-
gen gleich null.

Beispiel Dünnwandiges Rohr unter Innendruck In einem


dünnwandigen Rohr unter Innendruck (Abschn. 5.5) Die maximale Schubspannung beträgt τmax = 12 σϕ .
herrschen eine Umfangsspannung σϕ , eine im Ver- τmax tritt in einem um 45 ◦ um die Rohrlängsachse ge-
gleich zur Umfangsspannung halb so große Längs- drehten Koordinatensystem auf.

y
Merkregel für die Definition der Dehnung x

η
Δl
ε=
l
ξ

So sind die Dehnungen in x-, y- und z-Richtung in der Abb. 4.11 Die Abhängigkeit der Verzerrungen vom Koordinatensystem kann
man sich durch zwei verschieden ausgerichtete quadratische Gitter veranschau-
obigen Abbildung definiert als
lichen
dx − dx dy − dy
εx = und εy = ,
dx dy
sich mit folgendem Gedankenexperiment leicht klarma-
und für die z-Koordinate gilt entsprechend chen kann: Betrachten wir einen Stab unter Zugbelastung.
Durch die angreifende Zugkraft F dehnt sich der Stab,
dz − dz und durch die Querkontraktion (siehe Abschnitt Das Ma-
εz = .
dz terialgesetz) verjüngt er sich. Welche Verzerrungen liegen
im x, y-Koordinatensystem vor? Hierzu zeichnen wir ein
Aber in obiger Abbildung haben sich nicht nur die Län- am x, y-Koordinatensystem ausgerichtetes Gitter auf den
gen geändert. Auch die Orientierung der Rechteckkanten, Stab. Unter Belastung werden die Kanten in x-Richtung
die unverformt parallel zur x- und y-Achse verliefen, hat länger, es verkürzen sich die Kanten in y-Richtung, und
sich um die Winkel α und β zur jeweiligen Koordina- die rechten Winkel des Gitters bleiben erhalten. Es liegen
tenachse geneigt. Diese Winkeländerungen werden als somit eine positive Dehnung ε x und eine negative Deh-
Gleitungen γ bezeichnet. In der x, y-Ebene entspricht die nung ε y vor, die Gleitung γxy ist null.
Gleitung der Summe aus α und β,
Ein um 45° gedrehtes ξ, η-Koordinatensystem bedeutet
γxy = α + β. nichts anderes, als dass auf den Stab ein um 45° geneigtes
Gitter einzuzeichnen ist. In dieser Orientierung werden
Die Gleitungen in der x, z- bzw. y, z-Ebene werden mit
nun bei Belastung die Kanten sowohl in ξ-, als auch in η-
γxz bzw. γyz bezeichnet. Der sowohl Dehnungen als auch
Richtung länger – und zwar in gleichem Maße – und auch
Gleitungen umfassende Oberbegriff lautet Verzerrungen.
die vormals rechten Winkel ändern sich. Es liegen somit
Die Zahlenwerte von Dehnungen und Gleitungen hän- zwei gleich große Dehnungen ε ξ und ε η sowie eine von
gen von der Wahl des Koordinatensystems ab, wie man null verschiedene Gleitung γξη vor.
94 4 Spannungen, Verzerrungen und Materialgesetz – wenn Werkstoffe versagen

Fassen wir kurz zusammen: Es gibt drei Verzerrungen mit γ/2


einem Index, die Dehnungen ε x , ε y und ε z , sowie drei Ver- 1 γ /2
Technische Mechanik

zerrungen mit zwei Indizes, die Gleitungen γxy , γxz und 2


max

γyz . All diese Verzerrungen ändern bei einer Drehung des (ε η | 1 γ ξ η )


2
Koordinatensystems ihre Größe. Das erinnert sehr an den
zuvor behandelten Spannungstensor.
In der Tat ist es so, dass sich auch die Verzerrungen in (ε y| 1 γ xy)
2 2φ
einem Tensor, dem sogenannten Verzerrungstensor V, an- ε
ε2 ε1
ordnen lassen, wenn anstelle der Gleitungen γ jeweils die M
halben Gleitungen in den Verzerrungstensor eingehen. (ε x|– 1 γ xy)
2
Wie der Spannungstensor ist auch der Verzerrungstensor
symmetrisch. Er lässt sich als Matrix schreiben:
(ε x |– 1 γ ξ η )
⎛ ⎞ 2
εx 1
2 γxy
1
2 γxz – 1 γ max/2
⎜1 ⎟ 2
V=⎜ ⎝ 2 γyx εy ⎟ .
2 γyz ⎠
1
Abb. 4.12 Der Mohr’sche Verzerrungskreis
2 γzx 2 γzy εz
1 1
xyz

Volumendehnung Bei einer Drehung des Koordinatensystems gelten für den


Durch die Dehnungen in x-, y- und z-Richtung ändert sich Verzerrungstensor die gleichen Gesetzmäßigkeiten wie
das Volumen eines Körpers. Wenn wir die Kantenlängen für den Spannungstensor. Es lauten also die Gleichungen
für die
eines kleinen Volumenelements ΔV mit Δx, Δy und Δz be-
zeichnen und sich diese Kantenlängen auf Δx , Δy und
Δz dehnen, dann beträgt das gedehnte Volumen Verzerrungen bei einer Drehung des Koordinatensys-
tems
ΔV = Δx · Δy · Δz
= (1 + ε x )Δx · (1 + ε y )Δy · (1 + ε z )Δz. 1  1  1
εξ = εx + εy + ε x − ε y cos 2ϕ + γxy sin 2ϕ,
2 2 2
Hierin lassen sich nach dem Ausmultiplizieren der Klam- 1  1  1
mern die Dehnungsprodukte vernachlässigen, da sie als εη = εx + εy − ε x − ε y cos 2ϕ − γxy sin 2ϕ,
2 2 2
1 
Terme höherer Ordnung sehr klein sind, und wir erhalten
1 1
für die γ = − ε x − ε y sin 2ϕ + γxy cos 2ϕ.
2 ξη 2 2

Relative Volumenänderung (Volumendehnung) e


Alternativ kann man den Mohr’schen Verzerrungskreis
ΔV − ΔV ansetzen. Bei diesem sind im Vergleich mit dem Span-
e= = εx + εy + εz. nungskreis anstelle der Spannungen σ die Dehnungen ε
ΔV
und anstelle der Schubspannungen τ die halben Gleitun-
gen γ/2 zu verwenden.
Die größt- bzw. kleinstmöglichen Dehnungen werden als
Hauptdehnungen ε 1 bzw. ε 2 bezeichnet. Sie betragen
Ebener Verzerrungszustand und Mohr’scher
Verzerrungskreis Hauptdehnungen im EVZ


Ähnlich wie es beim Spannungstensor den ebenen Span- εx + εy  ε − ε 2  1 2
x y
nungszustand gibt, gibt es beim Verzerrungstensor einen ε1 = + + γxy und
2 2 2
ebenen Verzerrungszustand (EVZ). Dieser herrscht im- 
εx + εy  ε − ε 2  1 2
mer dann, wenn in eine Koordinatenrichtung alle Verzer- ε2 = −
x y
+ γxy .
rungen verschwinden. Ist dies die z-Richtung, so verein- 2 2 2
facht sich der Verzerrungstensor zu
 
ε 2 γxy
1
V= 1 x . Man kann zeigen, dass die Hauptachsen von Spannungs-
2 γyx ε y xy und Verzerrungstensor in isotropen Materialien (Materia-
4.3 Das Materialgesetz 95

lien, deren Eigenschaften in alle Richtungen gleich groß σ


sind) übereinstimmen.

Technische Mechanik
Wie beim Spannungstensor entspricht eine Drehung um
den Winkel ϕ am Bauteil einer Drehung um den doppel- Re
ten Winkel im Mohr’schen Verzerrungskreis. Zwischen
dem Koordinatensystem der größten Dehnungen und
demjenigen der größtmöglichen Gleitung liegt wieder ein
45° Winkel (90° im Mohr’schen Verzerrungskreis).
Noch eine Schlussbemerkung zum ebenen Spannungs- ε
und ebenen Verzerrungszustand: Herrscht der ESZ an
Abb. 4.13 Schematisches σ-ε-Diagramm eines Baustahls. Bis zur Streckgrenze
freien Oberflächen und in dünnwandigen Bauteilen, so ist
Re verhält sich der Werkstoff linear-elastisch
es beim EVZ gerade umgekehrt: Er liegt gerade dann vor,
wenn die Verformung in eine der Koordinatenrichtungen
unterbunden ist, und das ist bei eingezwängten Oberflä-
chen oder sehr dicken Strukturen der Fall.
Wird z. B. ein Dichtungsband zwischen Fenster und Fens-
Abb. 4.14 Zugversuch
terrahmen eingequetscht, so wird es platt und breit ge-
drückt, es dehnt sich also in x- und y-Richtung, aber seine
Länge ändert sich nicht (keine Dehnung in z-Richtung).
Des Weiteren betrachten wir ausschließlich isotrope Ma-
terialien. Dies sind Materialien, deren Eigenschaften in
alle Richtungen gleich sind. Das Gegenteil von Isotropie
4.3 Das Materialgesetz ist Anisotropie. Anisotrope Materialien haben in unter-
schiedliche Materialrichtungen unterschiedliche Eigen-
schaften, wie z. B. Holz, das in Faserrichtung wesentlich
Unter Belastung entstehen in einem Körper Spannungen steifer und fester ist als quer zur Faser.
und Verzerrungen. Der Zusammenhang zwischen ihnen
hängt vom Werkstoff ab. Ein steifer Werkstoff wie z. B. Der wichtigste Versuch zur Ermittlung des Materialgeset-
Stahl verformt sich unter jeweils gleicher Last weit schwä- zes ist der Zugversuch (Abb. 4.14).
cher als ein nachgiebiger Werkstoff wie z. B. Schaumstoff. In ihm wird eine Zugprobe in einer Werkstoffprüfma-
Man bezeichnet den Zusammenhang zwischen Spannun- schine mit in der Regel konstanter Dehnrate bis zum
gen und Verzerrungen daher als Material- oder Stoffge- Probenbruch gedehnt. Die Prüfmaschine misst fortlau-
setz. Die Ermittlung von Materialgesetzen ist zunächst fend Kraft und Probenverlängerung und rechnet diese
einmal Aufgabe der Werkstoffprüfung; wir beschäftigen Werte in Spannungen und Dehnungen um. Im linear-
uns hier damit, welche mechanischen Gesetzmäßigkeiten elastischen Bereich lautet der Zusammenhang zwischen
aus den einschlägigen Versuchen der Werkstoffprüfung Spannung und Dehnung
abgeleitet werden können und wie man diese Gesetzmä-
ßigkeiten anwendet (siehe auch Abschn. 15.6). σx = E ε x

mit dem Elastizitätsmodul E. Der Elastizitätsmodul hat


die Einheit einer Spannung und liegt für die gebräuch-
Das Hooke’sche Gesetz beschreibt den lichsten Konstruktionswerkstoffe im GPa-Bereich.
Zusammenhang zwischen Spannungen und Doch im Zugversuch verlängert sich die Probe nicht nur.
Verzerrungen im linear-elastischen Bereich Quer zur Zugrichtung kontrahiert sie sich auch. Es zeigt
sich, dass diese Querkontraktion proportional zur Längs-
dehnung ist, es gilt somit
Aus der Werkstoffkunde wissen wir, dass viele Werk-
stoffe bei Belastung zunächst einen linear-elastischen ε y = −ν ε x und ε z = −ν ε x
Zusammenhang zwischen Spannungen und Verzerrun-
gen aufweisen, der nach Überschreiten eines kritischen mit der Querkontraktionszahl ν. Diese ist ein dimensi-
Grenzwertes in einen nichtlinearen Zusammenhang über- onsloser Werkstoffparameter, der für isotrope Werkstoffe
geht. Hierzu ist als Beispiel schematisch das Spannungs- stets zwischen 0 und 0,5 liegt. An der Untergrenze ν = 0
Dehnungs-Diagramm eines Baustahls wiedergegeben würde sich ein Zugstab gar nicht quer kontrahieren, bzw.
(Abb. 4.13). Wir beschränken uns in im Folgenden aus- für ν < 0 würde ein Zugstab, wenn er länger wird, sich
schließlich auf den anfänglichen, linear-elastischen Be- nicht kontrahieren, sondern in Querrichtung breiter wer-
reich. den, was es bei isotropen Werkstoffen nicht gibt. Die
96 4 Spannungen, Verzerrungen und Materialgesetz – wenn Werkstoffe versagen

Tab. 4.1 Übersicht über die Elastizitätsmoduln einiger gebräuchlicher Kon- rung verformen, wofür der Zusammenhang
struktionswerkstoffe
Technische Mechanik

Werkstoff Elastizitätsmodul in GPa ε = α ΔT


Wolframcarbid 450–650
Nickel 214 gilt. Hierin sind ε die Dehnung in x-, y- und z-Richtung,
Stähle 205
α der Wärmeausdehnungskoeffizient mit der Einheit K−1
Titanlegierungen 80–130
Aluminiumlegierungen 70
und ΔT die Temperaturänderung des Körpers. Wenn wir
Natronglas 69
all diese Gleichungen zusammenführen, erhalten wir das
GFK, in Faserrichtung 35–45 Hooke’sche Gesetz (nach Robert Hooke, 1635–1703). Zur
Beton 30–50 Berechnungen der Verzerrungen aus den Spannungen
Bauholz, in Faserrichtung 9–16 lautet es
Epoxidharze 2,6–3
PVC 0,2–0,8
Allgemeines Hooke’sches Gesetz; Verzerrungen aus
Spannungen
τ xy
1

εx = σx − ν (σy + σz ) + αΔT,
E
1

τ xy
εy = σy − ν (σx + σz ) + αΔT,
E
γ xy 1

εz = σz − ν (σx + σy ) + αΔT,
τ xy E
τxy τxz τyz
γxy = , γxz = und γyz = .
τ xy G G G

Abb. 4.15 Ein Stückchen Material im Schubversuch


Löst man diese sechs Gleichungen nach den Spannungen
auf, so erhält man das
Obergrenze ν = 0,5 beschreibt den Grenzfall der Volu-
menkonstanz. Ein Werkstoff mit ν > 0,5 würde sich im
Zugversuch so stark quer kontrahieren, dass sein Volu- Allgemeines Hooke’sche Gesetz; Spannungen aus Ver-
men trotz äußerer Zugspannung insgesamt abnimmt. zerrungen

E ν
E
σx = εx + (ε x + ε y + ε z ) − αΔT,
Die Querkontraktionszahl ν ist in den meisten isotro- 1+ν 1 − 2ν 1 − 2ν
pen Werkstoffen ähnlich groß. E ν
E
σy = εy + (ε x + ε y + ε z ) − αΔT,
Für die meisten Konstruktionswerkstoffe liegt ν bei 1+ν 1 − 2ν 1 − 2ν
etwa 0,3. E ν
E
σz = εz + (ε x + ε y + ε z ) − αΔT,
1+ν 1 − 2ν 1 − 2ν
Wenn ein Werkstoff ausschließlich durch Schubspannun- τxy = Gγxy , τxz = Gγxz und τyz = Gγyz .
gen beansprucht wird, wie es beispielsweise bei reiner
Torsion der Fall ist, kann man den Zusammenhang zwi-
schen Schubspannungen und Gleitungen experimentell
ermitteln (Abb. 4.15). Auch hier existiert für nicht zu
große Werkstoffbeanspruchungen ein linear-elastischer
Zusammenhang zwischen der Schubspannung τ und der Im ebenen Spannungszustand gelten
durch sie verursachten Gleitung γ. Er lautet handlichere Formeln für das Hooke’sche Gesetz
τxy = G γxy
Die Gleichungen des allgemeinen Hooke’schen Gesetzes
mit dem Schubmodul G. Wie der Elastizitätsmodul E hat
gelten für allgemeine dreiachsige Spannungszustände.
auch G die Einheit einer Spannung.
Für ebene Spannungszustände vereinfachen sich diese
Schließlich kann sich ein Körper nicht nur als Folge von Gleichungen ein wenig. Wir setzen σz , τxz und τyz gleich
Spannungen, sondern auch durch eine Temperaturände- null und erhalten das
4.3 Das Materialgesetz 97

a ·γ xy σ 2 = –τ xy σ 1 = τ xy
τ xy

Technische Mechanik
a τ xy a d
τ xy γ xy
y a
x τ
xy η ξ
σ 1 = τ xy σ 2 = –τ xy
Abb. 4.16 Verformung eines Flächenelements unter Schub 45°

Abb. 4.17 Identischer Spannungszustand nach Drehung des Koordinatensys-


tems um 45°

Hooke’sches Gesetz für den ESZ; Verzerrungen aus


Spannungen √
Diagonale von ihrer Ausgangslänge a 2 auf den Wert d.
1  Für kleine Verformungen beträgt die Dehnung in Diago-
εx = σx − νσy + αΔT, nalenrichtung
E
1 
 √ 
εy = σy − νσx + αΔT, √ √
E d−a 2 a 2 + aγxy sin 45◦ − a 2
ν  ε= √ = √
εz = − σx + σy + αΔT, a 2 a 2
E γxy τxy
τxy = = .
γxy = , γxz = 0 und γyz = 0. 2 2G
G
Der gleiche Spannungszustand wird in einem um 45°
gedrehten Koordinatensystem durch zwei Normalspan-
sowie das nungen beschrieben, deren Beträge beide τxy entsprechen
und von denen die eine in ξ-Richtung am gedrehten Flä-
Hooke’sches Gesetz für den ESZ; Spannungen aus Ver- chenelement zieht und die andere in η-Richtung auf das
zerrungen Flächenelement drückt (Abb. 4.17).

E   E
σx = ε x + νε y − αΔT, Frage 4.1
1 − ν2 1−ν
E   E Machen Sie sich am Mohr’schen Spannungskreis klar,
σy = ε y + νε x − αΔT, dass die beiden Spannungszustände tatsächlich identisch
1−ν 2 1−ν
sind.
und τxy = Gγxy .

Die Dehnung in ξ-Richtung beträgt hier

1
τxy
Zwischen E , G und ν besteht ein einfacher εξ = τxy − ν (−τxy ) = (1 + ν ) .
E E
mathematischer Zusammenhang
Wir setzen beide Dehnungen gleich und erhalten so den
Bei den drei Materialparametern E, G und ν handelt es gesuchten
sich nicht um voneinander unabhängige Größen. Betrach-
ten wir, um den Zusammenhang zwischen diesen drei
Größen herzuleiten, noch einmal ein durch Schub belaste- Zusammenhang zwischen E , G und ν
tes kleines Quadrat (in (Abb. 4.16) mit der Kantenlänge a).
E
Infolge der Schubbelastung gleitet das Material um den G= .
Winkel γxy , und die rechte obere Ecke verschiebt sich ho- 2 (1 + ν )
rizontal um den Betrag a · γxy . Dadurch verlängert sich die
98 4 Spannungen, Verzerrungen und Materialgesetz – wenn Werkstoffe versagen

Beispiel: Spannungen mit Dehnungsmessstreifen bestimmen


Technische Mechanik

Spannungen lassen sich an belasteten Bauteilen nicht Der DMS (b) ist um jeweils 45° zu den DMS a und
unmittelbar messen. Aber man kann an der Oberfläche c gedreht, sodass der zu ε b gehörende Punkt (b) des
eines Bauteils die Dehnungen messen und dann aus Mohr’schen Verzerrungskreises auf einem um 90°
den Dehnungen die Spannungen errechnen. zur Linie (a) − (c) verlaufenden Kreisdurchmesser
liegt.
Problemlösung und Strategie: Aus den gemessenen
Dehnungen ermitteln wir mithilfe des Mohr’schen Ver- Damit können wir den Mohr’schen Spannungskreis ei-
zerrungskreises die Hauptdehnungen, aus welchen ner DMS-Rosette wie folgt zeichnen:
wir dann mit dem Hooke’schen Gesetz für den ebenen
Spannungszustand die Hauptspannungen bestimmen. 1γ
2 (b)

Lösung Dehnungsmessstreifen (abgekürzt DMS) wer-


den eingesetzt, um Spannungen an der Oberfläche
von Bauteilen zu ermitteln. Ein DMS besteht aus ei- (c)
ner Trägerfolie mit einem mäanderförmig verlaufen-
εb εa
den dünnen Metalldraht, die zur Messung auf das ε
ε2 εc εM α ε1
Bauteil geklebt wird. Wenn sich das Bauteil unter Be-
lastung dehnt, ändern sich Länge und Querschnitt (a)
und mit ihnen der elektrische Widerstand des Drahtes.
Aus Letzterem kann man auf die Dehnung des Bau-
teils schließen. Aus den Dehnungen werden schließlich
mithilfe des Hooke’schen Gesetzes die Spannungen be-
rechnet.
Da die drei im Mohr’schen Verzerrungskreis gelb mar-
(c) kierten rechtwinkligen Dreiecke kongruent sind, ist
45° (b) γac
= εb − εM.
2

Ω
45° Damit haben wir die uns bislang für die gewohn-
te Konstruktion des Mohr’schen Verzerrungskreises
(a) fehlende Gleitung und können nun den Mohr’schen
Trägerfolie Draht Verzerrungskreis zeichnen, die Hauptdehnungen be-
stimmen und diese in Hauptspannungen umrechnen.
Übliche Bauformen von DMS sind einachsige DMS
(links), mit denen die Dehnung in eine bestimmte Rich- Beispiel An einem Bauteil aus Stahl (E = 205 GPa,
tung gemessen werden kann, sowie aus drei DMS ν = 0,3) werden mit einer DMS-Rosette die Dehnun-
bestehende Rosetten (rechts). Wir betrachten im Fol- gen ε a = 0,8424 · 10−3, ε b = 0,255 · 10−3 und ε c =
genden eine Rosette mit zwei 45° Winkeln zwischen 0,0976 · 10−3 gemessen.
den drei DMS. Die Ermittlung des Mohr’schen Ver-
zerrungskreises ist ein wenig verzwickt, weil mit einer Wie groß sind die Hauptspannungen, und in welche
DMS-Rosette nicht zwei Dehnungen und eine Glei- Richtung sind sie orientiert?
tung gemessen werden, wie es unserem Schema zu
den Mohr’schen Kreisen entspricht, sondern drei Deh- Zunächst beschaffen wir uns den Mittelpunkt des
nungen. Aber auch das geht. Entscheidend ist das Mohr’schen Kreises. Dieser liegt bei
Verständnis dafür, wie die drei Dehnungen im Verzer-
1
rungskreis zueinander liegen. εM = (ε a + ε c )
2
Die DMS (a) und (c), die am Bauteil rechtwinklig 1
zueinanderliegen, liegen sich im Mohr’schen Ver- = (0, 8424 · 10−3 + 0, 0976 · 10−3 )
2
zerrungskreis genau gegenüber. Der Mittelpunkt
des Verzerrungskreises liegt bei 1/2(ε a + ε c ). = 0, 47 · 10−3.
Antworten zu den Verständnisfragen 99

Die zum Zeichnen des Mohr’schen Verzerrungskreises Mit dem Hooke’schen Gesetz für den ESZ errechnen
fehlende Gleitung γac berechnen wir nun nach wir für die Hauptspannungen schließlich

Technische Mechanik
γac
= εb − εM E  
2 σ1 = ε 1 + νε 2
1 − ν2
= 0, 255 · 10−3 − 0, 47 · 10−3
205.000 MPa  −4 −5

= −0, 215 · 10−3 . = 9 · 10 + 0, 3 · 4 · 10
1 − 0, 32
Nun können wir den Mohr’schen Verzerrungskreis = 205 MPa und
zeichnen und aus diesem die Hauptdehnungen ε 1 = E  
0,9 und ε 2 = 0,04 ablesen. σ2 = ε 2 + νε 1
1 − ν2
205.000 MPa  −5 −4

1 γ in ‰ = 4 · 10 + 0, 3 · 9 · 10
2 1 − 0, 32
0,4 = 70 MPa
0,3
0,2 Im Mohr’schen Verzerrungskreis lesen wir zudem ab,
0,1 εc εb εM εa ε2
dass diese Hauptspannungen in einem Koordinaten-
0 ε in ‰ system auftreten, das um den Winkel α = 15◦ zu den
ε 1 0,2
–0,1 0,4 0,6 0,8 1 DMS (a) und (c) gedreht ist. 
–0,2
–0,3
–0,4

Weiterführende Literatur
Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils
Technische Mechanik befindet sich am Ende von Kap. 9.

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 4.1 Der Mohr’sche Spannungskreis hat seinen Hauptspannungen und Hauptschubspannung sind daher
Mittelpunkt im Koordinatenursprung. Die Beträge von gleich groß.
100 4 Spannungen, Verzerrungen und Materialgesetz – wenn Werkstoffe versagen
Technische Mechanik

Aufgaben

Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.

Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

4.1 • Zugproben duktiler Werkstoffe reißen im 4.3 • Am dargestellten, 4 mm starken, quadrati-


Zugversuch regelmäßig mit einer größtenteils um 45° zur schen Blech der Seitenlängen 100 mm wird mit gleich-
Kraftrichtung geneigten Bruchfläche. mäßig über die jeweiligen Stirnseiten verteilten Kräften
F1 = 32 kN gezogen und F2 = 12 kN gedrückt.
F F
F1 = 32 kN

45°
y
x y
F2 = 12 kN z F2 = 12 kN
x
Analysieren Sie die Spannungsverhältnisse in einer sol-
chen Zugprobe des Querschnitts 20 mm2 , die unter einer
Zugkraft von F = 8 kN gebrochen ist, in den folgenden
Schritten: F1 = 32 kN

1. Schneiden Sie ein Stück der Zugprobe frei und tra- 1. Welche Art von Spannungszustand liegt vor?
gen Sie die angreifenden Spannungen in einen x, y- 2. Wie lautet der Spannungstensor im x, y-Koordinaten-
Lageplan ein. system?
2. Wie lautet der Spannungstensor? 3. Tragen Sie die vorliegenden Spannungskomponen-
3. Zeichnen Sie den Mohr’schen Spannungskreis. ten in einen Lageplan ein und zeichnen Sie den
4. In welchem Winkel treten die Hauptschubspannun- Mohr’schen Spannungskreis.
gen τmax auf und wie groß sind sie? Zeichnen Sie für 4. Um welchen Winkel ist das Koordinatensystem zu
das 1∗ , 2∗ -Hauptschubspannungssystem einen entspre- drehen, damit die größtmöglichen Schubspannungen
chend gedrehten Lageplan und tragen Sie in diesen alle auftreten?
auftretenden Spannungen ein. 5. Wie lautet der Spannungstensor im 1∗ , 2∗ -Hauptschub-
5. Was ist aus werkstoffkundlicher Sicht der Grund für spannungssystem?
die um 45° geneigte Bruchfläche? 6. Tragen Sie Komponenten des in das Hauptschubspan-
nungssystem gedrehten Spannungstensors in einen
Resultat: Die Hauptschubspannungen betragen τmax = entsprechend gedrehten Lageplan ein.
200 MPa.
Resultat: σx = −30 MPa, σy = 80 MPa, τxy = 0 MPa.
4.2 • Auf der freien Oberfläche eines Bauteils herr-
Zwischen dem x, y-Koordinatensystem und dem Haupt-
schen die Spannungen σx = 60 MPa, σy = −45 MPa und
schubspannungssystem liegt ein Winkel von 45°.
τxy = 50 MPa.
σ1∗ = σ2∗ = 25 MPa, τmax = 55 MPa.
1. Tragen Sie die Spannungen in einen Lageplan ein.
2. Zeichnen Sie den Mohr’schen Spannungskreis. 4.4 • Im Kampf gegen die Langeweile sitzen Sie in
3. Wie groß sind die Hauptspannungen σ1 und σ2 sowie der letzten Reihe des Hörsaals und zerren an einem Blatt
die Hauptschubspannung τmax ? karierten Papiers. Dabei verformt sich das Blatt wie folgt:
4. Welcher Winkel liegt zwischen dem x, y-Koordinaten-
system und den Hauptachsensystem? Unverformter Zustand: quadratisches Karomuster mit
Linienabständen von jeweils 5 mm.
Resultat: σ1 = 80 MPa, σ2 = −65 MPa, Verformter Zustand: siehe folgende, nichtmaßstäbliche
τmax = 72,5 MPa, ϕ = 22◦ . Skizze:
Aufgaben 101

5. Welche Eigenschaft haben demnach Stoffe der Quer-


kontraktionszahl ν = 0,5?

Technische Mechanik
Hinweis: Rechnen Sie in Aufgabenteil 1 mit einer Erdbe-
schleunigung von 9,81 m
s2
und einer Dichte von 1,02 mt 3
γ = 4°
Resultat:

5,3 mm
y 1. σx = σy = σz = −110,4 MPa.
3. Stahl: ε x = ε y = ε z = −0,215 ‰.
x 4,8 mm Alu: ε x = ε y = ε z = −0,631 ‰.
PVC ε x = ε y = ε z = 0.
1. Wie lautet der Verzerrungstensor in der x, y-Ebene? 4. ΔVStahl = −0,081 cm3 , ΔVAlu = −0,237 cm3 , ΔVPVC =
2. Zeichnen Sie die vorliegenden Verzerrungen in einen 0 cm3 .
Lageplan ein.
3. Zeichnen Sie den Mohr’schen Verzerrungskreis. 4.8 •• Eine quadratische dünne Stahlstange der
4. Wie groß sind die Hauptdehnungen ε 1 und ε 2 ? Zeich- Länge l = 1 m (Materialdaten: E = 205 MPa, ν = 0,3, α =
nen Sie die im Hauptachsensystem herrschenden Deh- 10−5 K−1 ) wird zwischen zwei starren Betonwänden ein-
nungen in einen entsprechend gedehnten Lageplan ein. gemauert. Nach der Montage erwärmt sich die Stahlstan-
ge um ΔT = 40 K.
Resultat: ε x = −4 %, ε y = 6 %, ε xy = 3,5 %, ε 1 = 7,1 %,
ε 2 = −5,1 %.

4.5 • Leiten Sie eine für die meisten gängigen Kon- l=1m Querschnitt:
struktionswerkstoffe gültige, einfache Faustformel zur
Berechnung des Schubmoduls G allein aus dem Elastizi- y
tätsmodul E her.
x
Hinweis: In welchen Grenzen bewegt sich die Querkon-
traktionszahl ν?
1. Wie groß sind die Dehnung ε x sowie die Spannungen
Resultat: G = E
2,6 σy , σz und alle Schubspannungen im Stab? Begründen
Sie kurz Ihre Antwort.
2. Berechnen Sie mithilfe des Hooke’schen Gesetzes alle
4.6 • Welcher der beiden Verzerrungstensoren ist
anderen Komponenten von Spannungs- und Verzer-
„schlimmer“, V 1 oder V 2 ?
rungstensor.
 
0,2 0,3
V1 = %, Hinweis: Sehen Sie sich für den Aufgabenteil 2 die insge-
0,3 1 samt 12 Gleichungen des Hooke’schen Gesetzes (Span-
 
0,3 −0,4 nungen aus Verzerrungen und Verzerrungen aus Span-
V2 = %
−0,4 0,9 nungen) in Ruhe an und beginnen Sie mit derjenigen, die
die wenigsten Unbekannten enthält.
Resultat: Keiner, beide beziehen sich auf denselben Ver- Resultat:
zerrungszustand.
1. ε x = 0. Die y- und z-Flächen sind freie Oberflächen. Al-
le Spannungskomponenten mit den Indizes y oder z
4.7 • Drei gleich große Würfel der Kantenlänge a = verschwinden: σy = σz = τxy = τxz = τyz = 0.
5 cm, von denen der erste aus Stahl (E = 205 GPa, ν = 2. σx = −82 MPa, ε y = ε z = 0,52 ‰
0,3), der zweite aus Aluminium (E = 70 GPa, ν = 0,3) und
der dritte aus PVC (E = 0,5 GPa, ν = 0,5) besteht, fallen
im Marianengraben auf die mit 11.034 m tiefste Stelle des 4.9 •• An einem Bauteil aus Aluminium (E =
Meeresgrundes. 70 GPa, ν = 0,3) werden mit einer DMS-Rosette die Deh-
nungen ε a = 0,6 ‰, ε b = 0,45 ‰ und ε c = 0,1 ‰ gemes-
1. Wie groß ist dort der Wasserdruck p in N/mm2 ? sen. Zwischen den DMS-Streifen (a), (b) und (c) liegen
2. Wie lautet der Spannungstensor? jeweils Winkel von 45◦ gegen den Uhrzeigersinn.
3. Bestimmen Sie mithilfe des Hooke’schen Gesetzes den
Wie groß sind die Hauptspannungen und in welche Rich-
dazugehörigen Verzerrungstensor.
tung sind sie orientiert?
4. Welche Volumenänderung (in cm3 ) erfahren die drei
Würfel? Resultat: σ1 = 49,5 MPa und σ2 = 20,5 MPa.
Beanspruchungsarten – wie
5

Technische Mechanik
man Spannungen und
Verformungen berechnet
Wie berechnet man aus
Schnittgrößen Spannungen
und Verformungen?
Wozu dient dabei der
Mohr’sche
Spannungskreis?
Warum platzen
Brühwürstchen stets in
Längsrichtung auf?

5.1 Zentrischer Zug oder Druck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104


5.2 Biegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
5.3 Schub durch Querkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
5.4 Torsion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
5.5 Statisch überbestimmte Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
5.6 Dünnwandige Behälter unter Innendruck . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
5.7 Überlagerte Beanspruchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 103


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_5
104 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

In diesem Kapitel behandeln wir nacheinander die vier Grundbean- F F


spruchungsarten eines Balkens – Zug/Druck, Biegung, Schub durch
Technische Mechanik

Querkraft und Torsion – sowie die Druckbelastung kreiszylindrischer


Behälter. Im Mittelpunkt werden jeweils die Fragen stehen, welche
Spannungen im Bauteil auftreten und wie es sich verformt. Danach σ (x )
wird es schließlich um Bauteile gehen, die einer überlagerten Bean- F N(x) F
spruchung der behandelten Grundbeanspruchungsarten ausgesetzt bzw.
sind.
x x

5.1 Zentrischer Zug oder Druck Abb. 5.1 In einem zugbelasteten Stab ist die Spannung an jeder Stelle des
Balkenquerschnitts gleich groß

Die einfachste der vier Grundbeanspruchungsarten ist


zentrische Zug- bzw. Druckbelastung. Die Spannungsver- Betrachten wir in einem Stab der Länge l zwei nah bei-
teilung eines derart belasteten Stabes kennen Sie bereits einanderliegende Querschnitte; der Querschnitt 1 befinde
aus Kap. 4; sie folgt der bekannten Regel Kraft pro Fläche. sich an einer beliebigen Stelle x, der Querschnitt 2 ein
Für die Dehnung gilt Ähnliches: sie folgt der gleichfalls klein wenig entfernt davon an der Stelle x + Δx. Unter
aus Kap. 4; bekannten Regel Längenänderung pro Aus- Zugbelastung verschieben sich der Querschnitt 1 um die
gangslänge. Strecke u(x) und der Querschnitt 2 um die ein klein wenig
größere Strecke u(x) + Δu nach rechts. Die Verschiebung
des Stabendes, u(l), ist die Stabverlängerung Δl (Abb. 5.2).
Die Spannungen folgen der Merkregel Die Dehnung an der Stelle x, (x), entspricht definiti-
onsgemäß der Änderung des Abstands zwischen den
„Kraft durch Fläche“ Querschnitten 1 und 2 bezogen auf ihren Ausgangsab-
stand,
Schneiden wir an einer beliebigen Stelle quer durch einen
zentrisch zug- bzw. druckbelasteten Stab, so erhalten wir Δu
 (x ) = .
ein Freikörperbild mit der im Schnittufer auftretenden Δx
Normalkraft N (x) oder aber – anstelle der Normalkraft – Wir formen nach Δu um und ersetzen (x) zunächst mit
mit der auf der Querschnittsfläche A wirkenden Spannung dem Hooke’schen Gesetz durch die Spannung σ(x) und
σ (x) (Abb. 5.1). Hierbei ist, sofern der Freischnitt nicht zu diese ihrerseits durch die Normalkraft N (x). So erhalten
nah an Kraftangriffspunkten, Festhaltungen oder Kerbstel- wir
len durchgeführt wurde, die Spannung σ an jeder Stelle des
σ (x ) N (x )
Balkenquerschnitts gleich groß. Wir erhalten somit für die Δu = (x) · Δx = · Δx = Δx.
E E A(x )

Spannung in einem zug- oder druckbelasteten Stab Mit diesem Zusammenhang kennen wir die Verlänge-
rung eines kleines Abschnitts der Länge Δx. Die gesamte
N (x ) Verlängerung des Stabes, Δl, entspricht der Summe aller
σ (x ) = . einzelnen Verlängerungen,
A(x )
N (x )
Δl = ∑ Δu = ∑ E A(x) Δx.

1 2
Die Verformung eines Zugstabes hängt ab von
Belastung, Geometrie und E-Modul

Ein zugbelasteter Stab wird länger, druckbelastete Stäbe x x + ∆x


werden gestaucht. Der Betrag dieser Verformungen ist für u(x) u(x) + ∆u u( l ) = ∆ l
viele Anwendungen wichtig, z. B. für Fahrradspeichen,
Gebäudestützen oder Schrauben. Aber auch bei Bungee- F
Seilen, die, da in ihnen ebenfalls nur Zugkräfte herrschen,
aus mechanischer Sicht ebenfalls wie ein Zugstab behan-
delt werden können, ist die Verformung das entscheiden- 1 2
de Auslegungskriterium, soll der Springer doch tunlichst
vor Erreichen des Bodens sicher abgebremst werden. Abb. 5.2 Zur Verformungsberechnung in einem Zugstab
5.1 Zentrischer Zug oder Druck 105

Im Grenzübergang von endlich großen Δx zu infinitesi- a b


mal kleinen Abschnitten dx erhalten wir schließlich für

Technische Mechanik
die 20 m – z G = γ A(l – z)

Verlängerung eines Zug- oder Druckstabes l = 20 m


N(z)
z
l
N (x )
Δl = dx.
E A(x )
0
Abb. 5.3 Betonsäule unter Eigengewicht (a) und Freikörperbild zur Ermittlung
des Normalkraftverlaufs (b)
Mit dieser Gleichung können wir die Verlängerung ei-
nes Zug- bzw. Druckstabes der Länge l berechnen, in
Schritt 1 zunächst die Lagerreaktionen zu berechnen,
dem die Querschnittsfläche A(x) und der Normalkraft-
damit mit diesen in
verlauf N (x) entlang des Stabes veränderlich sind. In sehr
Schritt 2 der Schnittgrößenverlauf N (x) berechnet wer-
vielen Fällen weist der betrachtete Stab aber einen kon-
den kann, aus dem schließlich in
stanten Querschnitt A und einen ebenfalls konstanten
Schritt 3 der Spannungsverlauf σ (x) bzw. die Stabver-
Normalkraftverlauf N auf. Dann ist der gesamte Inte-
formung Δl berechnet werden kann.
grand konstant, kann vor das Integral gezogen werden,
und es ergibt sich für die
Beispiel Eine senkrechte, l = 20 m hohe Betonsäule
(Querschnitt A = 100.000 mm2 , Elastizitätsmodul E =
Verlängerung eines Zug- oder Druckstabes bei konstan- 30 GPa, spezifisches Gewicht γ = 27.000 mN3 ) wird durch
ten N, E und A
ihr Eigengewicht belastet. Wie groß sind die Spannungen
in der Säule und die Stauchung Δl der Säule (Abb. 5.3)?
Nl
Δl = . Zunächst zum Normalkraftverlauf: Wir schneiden an ei-
EA ner beliebigen Stelle z im Träger frei und erhalten

N (z) = −γA(l − z).


Mit dieser Gleichung ersparen wir uns die Integration. Sie
lässt sich allerdings nur dann anwenden, wenn N (x), A(x) Hieraus berechnen wir den Spannungsverlauf
und E(x) konstant sind.
N (z)
Frage 5.1 σ (z) = = − γ (l − z).
A
Weswegen kann die vereinfachte Gleichung zur Berech-
nung der Verlängerung eines Zug- oder Druckstabes nur Die maximale Spannung tritt im Fußpunkt der Säule auf
angewendet werden, wenn das Eigengewicht des Stabes und beträgt
vernachlässigbar ist?
N
σ (z)max = −γl = −27.000 · 20 m = −0,54 MPa.
m3
Achtung Rechnen Sie nicht vorschnell los, wenn die
Verlängerung Δl eines Zug- oder Druckstabes zu bestim- Zur Berechnung der Stauchung müssen wir, da die Nor-
malkraft veränderlich ist, entlang der Säule integrieren.
men ist. Überprüfen Sie zuerst, ob Normalkraft, Quer-
Wir erhalten
schnittsfläche und Elastizitätsmodul des Stabes verän-
derlich oder konstant sind. Sind alle drei Größen (ab- l
schnittweise) konstant, können Sie Δl ohne Integration N (z)
Δl = dz
bestimmen.  E A(z)
0
Aus den Gleichungen zur Berechnung von σ (x) und Δl l
lässt sich gut erkennen, welchem roten Faden sowohl 1 −γ l2
=− γ(l − z)dz = = −0,18 mm
Spannungs- als auch Verformungsberechnung im All- E 2E
0
gemeinen folgen. In die Gleichungen geht jeweils ein 
Schnittgrößenverlauf – in diesem Kapitel N (x) – ein. Des-
wegen sind – und dieser rote Faden gilt sinngemäß auch
für die Spannungs- und Verformungsberechnung bei Bie- Beispiel Der Stab in Abb. 5.4 (Abmessungen Bereich 1:
gung, Schub und Torsion – in D1 = 40 mm und l1 = 0,6 m, Bereich 2: D2 = 25 mm und
106 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

Leitbeispiel Antriebsstrang
Technische Mechanik

Kräfte in einer Schraubenverbindung:


. . . die wundersame Kraftverminderung

Wie groß ist in einer Schraubenverbindung die durch a b c


Nur Vorspannung Unter Betriebskraft
eine Betriebskraft FA hervorgerufene Schraubenkraft FA
FSA ? Intuitiv wird man antworten, dass diese selbst- σ σ
verständlich der äußeren Belastung geteilt durch die
Anzahl der Schrauben entspreche. Doch die tatsäch-
liche Schraubenkraft ist meist viel kleiner. So haben
z. B. die hier skizzierten zwei Schrauben einer Pleu-
elverschraubung einen deutlich geringeren Anteil als FA
die Hälfte der Betriebskraft zu tragen (siehe auch Ab-
schn. 26.2).
F FA steht mit beiden Spannungsänderungen im Gleich-
gewicht, es gilt FA = FSA + FPA , wobei FSA und FPA
die Schraube und verspannten Platten getragene An-
teile der Betriebslast sind. Wie groß sind FSA und FPA ?
Nun, die Verlängerungen von Schrauben und Platten
sind stets gleich groß, ΔlS = ΔlP . Hieraus folgt

FSA lK F l
= PA K .
F
ES AS EP AP

Hierin sind lK die Klemmlänge der Schraubenverbin-


dung, ES und EP die Elastizitätsmoduln und AS und
Der Grund hierfür ist letztlich, dass die verspannten AP die (wirksamen) Querschnittsflächen von jeweils
Platten (hier Pleuelfuß und Pleuellagerdeckel) durch Schraube und Platten. Mit FPA = FA − FSA lässt sich
das Anziehen der Schrauben erst kräftig gegeneinan- FPA eliminieren und wir erhalten
der gepresst werden. Die Betriebskraft FA erhöht dann
nicht nur die Schraubenkraft FSA , sie verringert auch  1 1  F
die Flächenpressung der verspannten Platten. Und was FSA + = A .
sich an Flächenpressung verringert, braucht nicht von ES AS EP AP EP AP
der Schraube getragen zu werden.
Schauen wir uns hierzu die entsprechenden Freikör- Die folgenden Gleichungen werden übersichtlicher,
perbilder an. Wird die Schraube angezogen, so steht wenn wir δS = 1/ES AS und δP = 1/EP AP als die Nach-
diese unter Zug und die gegeneinander gepressten giebigkeiten von Schraube und Platten einführen. Wir
Platten unter Druck (b). Da noch keine äußere Kraft erhalten
wirkt, ist die Zugkraft in der Schraube (die Vorspann-
kraft FV ) genauso groß wie die Druckkraft in den δP δS
FSA = FA und FPA = FA .
Platten (Die Spannungen sind natürlich unterschiedlich δS + δP δS + δP
groß, da sich die Querschnittsflächen unterscheiden.).
Greift nun die Betriebskraft FA an, so steigen die Zug- Die Kräfteverhältnisse in einer Schraubenverbindung
spannungen in der Schraube, und die Druckspannun- lassen sich im sogenannten Verspannungsdreieck sehr
gen in den verspannten Platten sinken (c). schön grafisch darstellen.
5.2 Biegung 107

F
Platten
Schraube 1/δS lK und die Stauchung der Platte einer Geraden der
negativen Steigung −1/δP lK .

Technische Mechanik
FSA
FV
Da ohne äußere Last die Beträge von Schrauben- und
FA Plattenkraft gleich groß sind, kreuzen sich beide Ge-
FPA
raden in eben dieser Kraft, der Vorspannkraft FV . Auf
der Abszisse können wir nun die beim Anziehen der
Schraube verursachte Verlängerung ΔlS der Schraube
und die Stauchung ΔlP der Platten ablesen.
∆lS ∆lP ∆l Nach obigen Gleichungen entspricht der Quotient von
Schraubenkraft zu Plattenkraft, FSA /FSA , dem Quoti-
enten der Steigung der Schraubengeraden durch die
Beim Zeichnen des Verspannungsdreiecks beginnen Steigung der Plattengeraden. Wir erhalten FSA und FPA
wir mit dem Anziehen der Schraube. Beim Anziehen somit, indem wir den Kraftpfeil der Betriebskraft FA
verlängert sich die Schraube, während die Platte sich zunächst zwischen die Schrauben- und die Plattenge-
um den gleichen Betrag verkürzt. Nach obigen Glei- rade einpassen und ihn dann durch eine horizontale
chungen entspricht die Schraubenverlängerung einer Linie auf Höhe von FV in den Schraubenanteil FSA und
Geraden der positiven Steigung ΔF/Δl = ES AS /lK = den Plattenanteil FPA aufteilen.

F1 M M
Druck
25
40

x
F2 = 20 kN neutrale Faser

F1 = 45 kN
z Zug
0,6 m 0,2 m
Abb. 5.5 In Biegebalken liegen sich Zug- und Druckfaser gegenüber. Dazwi-
Abb. 5.4 Ein Zug-/Druckstab unter Belastung durch zwei zentrische Kräfte schen liegt die neutrale Faser

l2 = 0,2 m, Elastizitätsmodul E = 100 GPa) wird durch die


5.2 Biegung
beiden Kräfte F1 = −45 kN und F2 = 20 kN belastet. Wie
groß sind die Spannungen im Stab und die Stabverlänge- Unter Biegebeanspruchung biegt sich ein Balken durch,
rung Δl? und es entstehen Spannungen in Balkenrichtung. Betrach-
ten wir exemplarisch den skizzierten Balken: An seiner
Für den Normalkraftverlauf erhalten wir im Bereich 1 Oberkante herrschen Druckspannungen, da sich hier die
NI = −25kN und im Bereich 2 NII = 20kN. Die Spannun- Fasern des Balkens verkürzen, und an seiner Unterkante
gen ergeben sich hieraus zu σI = −19,9 MPa und σII = verlängern sich die Fasern des Balkens, sodass dort Zug-
40,7 MPa. spannungen herrschen. Irgendwo dazwischen gibt es eine
Faser, die ihre Länge nicht ändert. Man bezeichnet sie als
Die Berechnung der Stauchung können wir, da die geo- neutrale Faser. Diese ist, weil ohne Dehnung, spannungs-
metrischen Abmessungen, der Elastizitätsmodul und die frei (Abb. 5.5).
Normalkraft abschnittsweise konstant sind, mit der ver- Wir werden uns in diesem Abschnitt näher mit den
einfachten Gleichung ohne Integration ermitteln. Wir er- Gesetzmäßigkeiten von Biegespannungen und Durchbie-
halten gung befassen. Dabei gehen wir von der Bernoulli’schen
Annahme aus, dass die Querschnittsflächen eines biege-
NI l1 N l beanspruchten Trägers eben bleiben und senkrecht zur
Δl = + II 2 neutralen Faser stehen. Es ist üblich, für die Berechnung
E A1 E A2
von Biegeträgern ein Koordinatensystem mit in Balken-
= −0,12 mm + 0,08 mm = −0,04 mm. richtung weisender x-Achse, nach unten weisender z-
Achse und aus der Zeichenebene nach vorne weisender
 y-Achse zu verwenden.
108 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

a b woraus, da die Steigung m der Spannungsverteilung un-


M M
gleich null ist,
Technische Mechanik


x z dA = 0
(A)
z
folgt. Dieses Integral ist uns bereits bei der Bestimmung
des Flächenschwerpunktes begegnet. Ist es wie hier gleich
Abb. 5.6 Zur Herleitung der Spannungsverteilung
null, bedeutet das – siehe Abschn. 2.5 – dass die z-
Koordinate des Flächenschwerpunktes gleich null ist. Da
M wir den Koordinatenursprung in die neutrale Faser gelegt
haben, gilt somit für die
σ

Lage der neutralen Faser


Die neutrale Faser der Biegung liegt im Schwer-
z punkt des Balkenquerschnitts.
Abb. 5.7 In Biegebalken herrscht ein linearer Spannungsverlauf

Damit zur Bestimmung der maximalen Spannung: Das


Momentengleichgewicht lautet
Bei gerader Biegung gibt es im Balken 
eine Zugfaser, eine Druckfaser  ∑ M(SU)
i = M− σ (z) · z dA = 0
und eine neutrale Faser (A)
 
σmax
⇒M= m z2 dA = z2 dA.
Wie sieht nun die Spannungsverteilung im Balkenquer- |z|max
(A) (A)
schnitt aus? Betrachten wir hierzu zwei nahe beieinander-
liegende Querschnitte eines Biegebalkens (Abb. 5.6).
Hierin bezeichnet man das Flächenintegral von z2 als
Im unbelasteten Zustand (a) verlaufen die beiden Quer- axiales Flächenträgheitsmoment Iy . Eine andere, ebenfalls
schnitte parallel zueinander. Unter Biegebeanspruchung sehr gebräuchliche Bezeichnung für Iy ist „Flächenmo-
(b) werden die Querschnitte an der Druckseite zueinan- ment zweiten Grades“. Für das axiale Flächenträgheits-
der hingedrückt, während sie an der Zugseite vonein- moment bei Biegung um die z-Achse, Iz , gilt nach analo-
ander weggezogen werden. Da jeder Querschnitt gerade ger Herleitung ein ähnlicher Zusammenhang.
bleibt, ändert sich der Abstand der Querschnitte linear
mit der Balkenhöhe z. Wenn wir den Koordinatenur-
sprung in die spannungsfreie neutrale Faser legen, liegt Definition der Flächenträgheitsmomente
eine Spannungsverteilung der Form  
σ (z) = m · z Iy = z2 dA, Iz = y2 dA.
(A) (A)
vor. Hierin ist m = σmax /|z|max die Steigung der linearen
Spannungsverteilung, wobei σmax die maximale Biege-
spannung im Balkenquerschnitt und |z|max der Randfa- Flächenträgheitsmomente haben Einheiten von Länge
serabstand (der Abstand zwischen der neutralen Faser hoch 4, üblicherweise mm4 oder cm4 . Für einfache Quer-
und der ihr am weitesten entfernten Faser) sind. Um obi- schnittsgeometrien (Rechteck, Kreis) gibt es handliche
ge Gleichung sinnvoll anzuwenden, müssen wir erstens Formeln zu ihrer Berechnung (siehe folgender Abschnitt);
wissen, wo die neutrale Faser liegt und zweitens wie groß bei komplizierteren Geometrien helfen Tabellenbücher
die maximale Biegespannung σmax ist. oder der Satz von Steiner weiter.
Schneiden wir hierzu einen Biegebalken frei und tragen Mit den bisher hergeleiteten Gleichungen erhalten wir die
wir im Schnittufer die auftretenden Biegespannungen ein Spannungsverteilung an einer beliebigen Stelle des Bal-
(Abb. 5.7). kenquerschnitts als
Das Kräftegleichgewicht in x-Richtung ergibt
M(x )
  σ (z) = z
→ ∑ Fix = σ (z) dA = m z dA = 0, Iy
(A) (A) und daraus weiter die
5.2 Biegung 109

Randfaserspannung bei Biegung

Technische Mechanik
M(x)|z|max
σmax = . y +y –y
Iy

Es ist üblich, die maximale Biegespannung über das soge-


nannte Widerstandsmoment W auszudrücken. Dieses ist z
definiert als
Abb. 5.9 Das Deviationsmoment Iyz eines zur y - oder z -Achse symmetrischen
Iy Querschnitts verschwindet
W= ,
|z|max
sodass sich die Gleichung zur Berechnung der Randfaser-
spannung zu Biegemoment My die Waage. So wie wir die Beanspru-
chung des Balkens eingangs angesetzt hatten, soll im
M(x ) Balken ja auch ausschließlich ein um die y-Achse drehen-
σmax = .
W des Moment wirken. Aber die Biegespannungen könnten
vereinfacht. durchaus auch ein Moment um die z-Achse hervorrufen.
Dies ist nur dann nicht der Fall, wenn

Frage 5.2
Weswegen sind Fachwerkträger, beispielsweise der Aus- Mz = σ · y dA = 0
leger eines Baukrans, biegesteif und leicht (Abb. 5.8)? (A)

ist. Wir setzen in σ die Biegespannungsverteilung ein und


erhalten:

Mz
− yz dA = 0.
Iy
(A)

Das Flächenintegral in dieser Gleichung wird als Deviati-


onsmoment Iyz bezeichnet. Es ist definiert als:

Iyz = − yz dA.
(A)

Achtung Die hergeleiteten Formeln für die Biegespan-


nungsverteilung und die Randfaserspannung gelten nur
für Querschnitte, die die Bedingung Iyz = 0 erfüllen! Man
spricht in diesen Fällen auch von „gerader Biegung“. 
Ob gerade Biegung vorliegt, ist eine Frage der Ausrich-
tung des Balkenquerschnitts. Man kann sich schnell klar-
machen, dass Iyz aufgrund seiner Definition stets dann
verschwindet, wenn der Balkenquerschnitt entweder zur
y-Achse oder zur z-Achse symmetrisch ist. In diesen Fäl-
len findet sich (am Beispiel der Symmetrie zur z-Achse)
nämlich zu jedem Flächenelement dA mit negativer y-
Koordinate ein Element mit einer gleich großen positiven
y-Koordinate (Abb. 5.9).
Aber auch in unsymmetrischen Querschnitten kann Iyz
Abb. 5.8 Baukran in Fachwerkbauweise verschwinden, und zwar genau dann, wenn die Quer-
schnittsfläche entlang ihrer Hauptträgheitsachsen orien-
tiert ist. Wir werden hierauf später bei der Behandlung
Nun hält die eben hergeleitete Spannungsverteilung dem der Tensoreigenschaften der Flächenträgheitsmomente
in der Zeichenebene, also um die y-Achse drehenden noch zurückkommen.
110 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet
Technische Mechanik

y h dr
r
dA
y


φ
z
R rdφ
b

Abb. 5.10 Zur Berechnung des axialen Flächenträgheitsmomentes eines


Rechteckquerschnitts z

Abb. 5.11 Zur Berechnung des axialen Flächenträgheitsmoments eines Kreis-


Das Flächenträgheitsmoment gibt an, querschnitts
wie steif ein Träger aufgrund seiner
Querschnittsfläche ist
Es ergibt sich
Die Berechnung des Flächenträgheitsmomentes erfordert  R  2π 
wie schon in Abschn. 2.5 (Schwerpunkt) die Integrati- Iy = z2 dA = (r sin ϕ)2 dϕ dr
on über die Querschnittsfläche. Und wieder besteht die
(A) r= 0 ϕ = 0
Kunst darin, das kleine Flächenelement dA lückenlos den
Querschnitt bestreichen zu lassen und dabei den Inte- R 1
2π R
π 4
granden, hier die Funktion z2 , aufzusummieren. Dazu = r3 ( ϕ − sin ϕ cos ϕ) dr = r3 πdr = R .
zwei Beispiele: 2 0 4
r= 0 r= 0

Beispiel Axiales Flächenträgheitsmomentes eines Recht-
eckquerschnitts: Betrachten wir ein Rechteck der Breite b Frage 5.3
und der Höhe h. Das Flächenelement dA lassen wir der- Demonstrieren Sie an einem einfachen Beispiel, dass in
art das Rechteck bestreichen, dass es zunächst zeilenwei- die Höhe h eines Rechteckquerschnitts mit höherer Potenz
se entlang der y-Achse vom linken bis zum rechten Rand in das axiale Flächenträgheitsmoment eingeht als die Brei-
des Rechtecks wandert (inneres Integral), um anschlie- te b.
ßend entlang der z-Achse alle Zeilen vom unteren bis zum
oberen Rand aufsummieren (äußeres Integral, Abb. 5.10). In der Tab. 5.1 sind diese und einige weitere wichtige
Wir erhalten Flächenträgheits- und Widerstandsmomente aufgeführt.

h b
Beachten Sie, dass die in dieser Tabelle aufgeführten Glei-
 2  2  chungen für Iy und W nur gelten, wenn die y-Achse (die
Iy = z2 dA = z2 dy dz neutrale Faser) im Schwerpunkt des Trägerquerschnitts
(A)
liegt. Verschiebt oder rotiert man das Koordinatensystem,
z=− 2h y=− 2b
so ändert sich das Flächenträgheitsmoment. Die entspre-
h
2 chenden Gesetzmäßigkeiten werden wir im Folgenden
b h3 behandeln.
= b z2 dz =
12
z=− 2h

Mit dem Satz von Steiner berechnet man
Beispiel Axiales Flächenträgheitsmoment für einen zusammengesetzte Querschnitte
Kreisquerschnitt: Wir integrieren in Polarkoordinaten, in-
dem wir dA zunächst entlang eines Rings von ϕ = 0 Komplizierte Trägerquerschnitte kann man sich oft als aus
bis 2π wandern lassen und dann alle Kreisringe von mehreren geometrisch einfachen Querschnitten zusam-
ganz innen (r = 0) bis ganz außen (r = R) aufintegrieren mengesetzt vorstellen. So besteht z. B. der Querschnitt des
(Abb. 5.11). Doppel-T-Trägers in Abb. 5.12 aus drei Rechteckprofilen.
5.2 Biegung 111

Tab. 5.1 Übersicht über einige Rechteck: Kreis: Kreisring: sehr dünner Kreisring: gleichschenkliges Dreieck:
wichtige Flächenträgheits- und

Technische Mechanik
Widerstandsmomente R Rm
h Ra h
Ri t

b b
 
b h3 π 4 π b h3
Iy = 12 Iy = 4R Iy = 4 R4a − R4i Iy ≈ πR3m t Iy = 36
 
R4a −R4i
b h2 π 3 π b h2
W= 6 W= 4R W= 4 Ra W ≈ πR2m t W= 24

Gerade so, wie sich die Flächeninhalte der drei Teil- Wir gehen von der Definition des axialen Flächenträg-
querschnitte zum Flächeninhalt des Gesamtquerschnitts heitsmoments,
ergänzen, addieren sich auch die Flächenträgheitsmo- 
mente der Teilquerschnitte zum Flächenträgheitsmoment Iy = z2 dA,
des Gesamtquerschnitts. Es gilt also (A)

aus. z lässt sich durch


Iy,ges = ∑ Iyi .
i z = z + zs

Also einfach für jeden Teilquerschnitt bh3 /12 einsetzen ersetzen, und wir erhalten
und aufsummieren? Leider nicht, denn die Gleichung 
Iy = bh3 /12 gilt nur, wenn der Schwerpunkt der betrach- Iy = (z + zs )2 dA
teten Fläche in der neutralen Faser liegt. Dies ist aber beim (A)
oberen und unteren Teilquerschnitt des Doppel-T-Trägers   
erkennbar nicht der Fall. Bevor wir die Flächenträgheits- = z2 dA + 2zs zdA + zs 2 dA.
momente der Teilquerschnitte zum Flächenträgheitsmo- (A) (A) (A)
ment des Gesamtquerschnitts aufsummieren, müssen wir
also klären, wie groß das Flächenträgheitsmoment bezüg- Die drei Integrale auf der rechten Seite der Gleichung las-
lich einer parallel verschobenen, nicht durch den Flächen- sen sich wie folgt ersetzen:
schwerpunkt verlaufenden Achse ist.
z2 dA = Iy , denn so ist Iy definiert.
(A)
Betrachten wir hierfür eine beliebige Querschnittsfläche
des Flächeninhalts A. Ein y, z-Koordinatensystem liege im zdA = 0, denn dieses Integral verschwindet für
Flächenschwerpunkt, und das Flächenträgheitsmoment (A)
Iy bezüglich dieses Koordinatensystems sei bekannt. Für im Schwerpunkt liegende Koordinatensysteme, und
ein um die Strecken ys und zs parallel verschobenes Koor- schließlich

dinatensystem ist das Flächenträgheitsmoment Iy gesucht dA = A.
(Abb. 5.13). (A)

ys
y

y S
zs
z
y
dA

z z
Abb. 5.12 Einen Doppel-T-Träger kann man als aus drei Rechteckprofilen zu-
sammengesetzt ansehen Abb. 5.13 Zur Herleitung des Satzes von Steiner
112 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

Beispiel: Leichtbaueignung von Werkstoffen


Technische Mechanik

Unter den unzähligen Eigenschaften, durch die sich hierfür relevanten Werkstoffparameter sind die Dichte
Werkstoffe charakterisieren lassen, gewinnt die Leicht- ρ und die zulässige Spannung σzul des Werkstoffs.
baueignung aus wirtschaftlichen und ökologischen Die Gleichung für die zu verbauende Masse lautet
Gründen zunehmend an Bedeutung. So sparen leichte-
re Fahrzeuge Kraftstoff, bieten mehr Reserven für eine m = ρ · V = ρlbh.
größere Nutzlast und schonen die Umwelt. Wie aber Die maximale Spannung tritt an der Einspannstelle auf
ermittelt man die Leichtbaueignung eines Werkstoffs? und beträgt
1
Mmax q0 l2 3q l2
Problemanalyse und Strategie: Für die zu untersuchen- σmax = = 21 2 = 0 2 .
W 6b h
bh
de Struktur berechnen wir diejenige Masse, die ver-
baut werden muss, damit es gerade eben zu keiner Bei voller Ausnutzung der Tragfähigkeit erreicht σmax
Überschreitung der zulässigen Spannung bzw. Verfor- gerade die zulässige Spannung σzul , sodass
mung kommt. Anschließend bilden wir aus dem Kehr- 3q0 l2
wert dieser Masse eine Leichbaukennzahl. Je höher σzul =
b h2
die Leichtbaukennzahl, desto besser die Leichtbaueig- gilt. Mit den Gleichungen für m und σzul stehen uns die
nung des Werkstoffs (siehe auch Abschn. 14.4, 15.3 erforderlichen zwei Gleichungen zur Bestimmung der
und 15.11). beiden Unbekannten m und h zur Verfügung. Wir lösen
die Gleichung für σzul nach h auf, setzen sie in die Glei-
Lösung: Wie also ermittelt man die Leichtbaueignung chung für m ein und erhalten für die zu verbauende
eines Werkstoffs? Auf den ersten Blick ist dies eine rein Masse
werkstoffkundliche Fragestellung. Soll man doch aus 
3q0 b
den einschlägigen Datenblättern Festigkeit und Dich- m = ρl 2
.
te eines Werkstoffs entnehmen. Je größer der Quotient σzul
aus Festigkeit und Dichte, desto besser wird die Leicht- Zur Beschreibung der Leichtbaueignung ist die Ein-
baueignung sein. führung einer Leichtbaukennzahl M üblich (aus dem
Aber ganz so einfach ist es nicht. Wie wir sehen wer- Englischen von material index). Hierzu wird zunächst
den, führt an einer genaueren Betrachtung der Mecha- der Kehrwert der zu verbauenden Masse gebildet – je
nik kein Weg vorbei. Und da im Leichtbau vor allem besser die Leichtbaueignung, desto größer ist dann die
sehr dünne und schlanke Strukturen eingesetzt wer- Leichtbaukennzahl – und daraus alles gestrichen, was
den, welche empfindlich auf Biegung reagieren, haben keine Werkstoffeigenschaft ist, im vorliegenden Fall al-
wir es sehr oft mit einer Fragestellung der Balken- so alles außer der Dichte und der zulässigen Spannung.
biegung zu tun. Am besten, wir betrachten gleich ein Wir erhalten √
konkretes Beispiel. σzul
M=
ρ
Ein Kragträger der gegebenen Länge l hat eine gleich-
falls gegebene Streckenlast q0 zu tragen, ohne dass als Leichtbaukennzahl für den betrachteten Kragträger.
dabei die zulässige Spannung σzul des Trägerwerk- Und das ist ein durchaus anderer Zusammenhang als
stoffs überschritten wird. Der Trägerquerschnitt sei der „intuitive“ Quotient σzul /ρ.
rechteckig, wobei die Breite b fest vorgegeben und die Wie wenden wir Leichtbaukennzahlen an? Für die in-
Höhe h variabel seien. Variabel bedeutet, dass sie an frage kommenden Werkstoffe suchen wir die zulässige
die zulässige Spannung des Werkstoffs anzupassen ist: Spannung σzul und die Dichte ρ heraus und bilden
je mehr der Werkstoff aushält, desto kleiner darf die daraus M. Der Werkstoff mit der größten Leichtbau-
Trägerhöhe ausfallen. kennzahl M ist der für den Leichtbau dieses Trägers
geeignetste.
Querschnitt:
Abschließende Bemerkung: Die Leichtbaueignung vom
q0
Werkstoffen ist eine kompliziertere Angelegenheit, als
h (variabel) es auf den ersten Blick erscheinen mag, denn sie hängt
sehr genau von den geometrischen Vorgaben ab. Än-
dert man die Geometrie nur ein klein wenig, indem
l b (fest) man z. B. einen quadratischen Balkenquerschnitt vor-
gibt, so ergibt sich ein anderes Ergebnis für M. Und
Für einen beliebigen Werkstoff rechnen wir nun dieje- natürlich sind auch Kriterien wie mögliche Gestal-
nige Masse aus, die zu verbauen ist, damit der Träger tungsprinzipien, Bauweisen und Fertigungsverfahren
die vorgegebene Belastung gerade eben aushält. Die von großer Wichtigkeit.
5.2 Biegung 113

Das Teilprofil 2 weist, da lokaler und globaler Schwer-

10
punkt übereinstimmen, keinen Steineranteil auf. Wir

Technische Mechanik
summieren alles auf und erhalten

Iy,ges = 2(4,1 · 103 mm4 + 450 · 103 mm4 )

50
+ 104 · 103 mm4
= 1,01 · 106 mm4 .

10
Das ist rund neunmal so viel wie die Summe der
10 drei Flächenträgheitsmomente um ihre jeweiligen lokalen
Schwerpunkte. Ein Doppel-T-Träger besitzt also, wenn er
50 um seine y-Achse gebogen wird, eine besonders biegestei-
fe Geometrie. 
Abb. 5.14 Doppel-T-Träger
Frage 5.4
Erklären Sie anschaulich – ohne Rechnung – warum
Der gesuchte Zusammenhang wird als Satz von Steiner Doppel-T-Träger so biegesteif sind.
(nach Jakob Steiner, 1796–1863) bezeichnet. Er lautet:

Satz von Steiner Achtung Aufgaben zur Steiner’schen Ergänzung sind


meist gar nicht so schwer, man darf nur nicht mit den vie-
len Abmessungen durcheinander kommen. Ein saubere
Iy = Iy + zs 2 A Skizze mit übersichtlich eingetragenen Bemaßungen hilft
hier sehr, Fehler zu vermeiden. 
und für Iz und Iyz entsprechend

Iz = Iz + ys 2 A, Iyz = Iyz − ys zs A.
Die Drehung des Koordinatensystems folgt den
Beachten Sie, dass die Steineranteile zs 2 A und ys 2 A der
Regeln des Mohr’schen Kreises
axialen Flächenträgheitsmomente immer positiv sind. Es
ist daher stets so, dass die axialen Flächenträgheitsmo- Der Satz von Steiner beschreibt, wie sich Flächenträg-
mente für durch den Schwerpunkt verlaufende Achsen heitsmomente bei einer Parallelverschiebung des Koor-
am kleinsten sind. dinatensystems ändern. Im Folgenden geht es nun um
eine Drehung des Koordinatensystems. Hierzu betrach-
Beispiel Zu berechnen ist das axiale Flächenträgheits- ten wir ein ungedrehtes, im Schwerpunkt des betrachte-
moment des Querschnitts in Abb. 5.14. ten Trägerquerschnitts liegendes x, y-Koordinatensystem,
dessen Flächenträgheitsmomente Iy , Iz und Iyz bekannt
Zunächst teilen wir den Flächenquerschnitt in drei Teil- sind. Gesucht sind die Flächenträgheitsmomente Iη , Iζ
profile ein (Teilprofil 1 Obergurt, Teilprofil 2 Steg und und Iηζ bezüglich eines um den Winkel ϕ gedrehten η, ζ-
Teilprofil 3 Untergurt). Die Flächenträgheitsmomente der Koordinatensystems (Abb. 5.15).
drei Teilprofile berechnen sich nach der Merkregel bh3 /12
und betragen Wie bei der Herleitung des Satzes von Steiner gehen wir
von den Definitionen der Flächenträgheitsmomente,
Iy1 = Iy3 = 4,1 · 103 mm4 und   
Iy2 = 104 · 10 mm .
3 4 Iη = ζ 2 dA, Iζ = η 2 dA und Iηζ = ηζdA
A A A
Die Steineranteile für die Teilflächen 1 und 2 betragen je-
weils aus und ersetzen η und ζ durch

z2S A = (30 mm)2 · 500 mm2 = 450 · 103 mm4 . η = y cos ϕ + z sin ϕ und ζ = −y sin ϕ + z cos ϕ.
114 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet


y co
φ
z sin
Technische Mechanik

y
φ

z co

ρ
φ

y sin
h

φ
M M
dA
neutr. ds0
Faser
ξ z
z ds(z)

Abb. 5.15 Zur Herleitung des Mohr’schen Trägheitskreises


Abb. 5.16 Aus der Krümmung eines infinitesimal kleinen Balkenabschnitts
lässt sich die Durchbiegung des gesamten Balkens herleiten

Mit etwas Rechnerei erhalten wir


1 1 Biegemoment M in Form eines Kreissegments mit dem
Iη = (Iy + Iz ) + (Iy − Iz ) cos 2ϕ + Iyz sin 2ϕ, Biegeradius ρ. Hierbei ändert sich die Länge der neutralen
2 2 Faser aufgrund der dort herrschenden Spannungsfreiheit
1 1
Iζ = (Iy + Iz ) − (Iy − Iz ) cos 2ϕ − Iyz sin 2ϕ nicht, aber eine in einem Abstand z zur neutralen Fa-
2 2 ser verlaufende Faser ändert ihre Länge von ds0 zu ds(z)
und (Abb. 5.16).

1 Für den von den Querschnittsflächen des infinitesimal


Iηζ = − (Iy − Iz ) sin 2ϕ + Iyz cos 2ϕ. kleinen Trägerabschnitts eingeschlossenen Winkel dϕ gel-
2 ten nun nach der Definition „Winkel gleich Bogenlänge
Diese Gleichungen traten in analoger Form bereits bei durch Radius“ die Beziehungen
den Mohr’schen Spannungs- und Verzerrungskreisen auf.
Es ist in der Tat so, dass die Flächenträgheitsmomente ds(z) ds0
dϕ = sowie dϕ = ,
und die Koordinaten des Spannungstensors in gleicher ρ+z ρ
Weise auf eine Drehung des Koordinatensystems rea-
gieren. Demzufolge kann das Prinzip des Mohr’schen woraus sich durch Gleichsetzen für die Faserlänge ds(z)
Kreises auch für Flächenträgheitsmomente angewendet der Zusammenhang
werden – man spricht dann vom Mohr’schen Trägheits-
kreis –, wobei dann die axialen Flächenträgheitsmomente ρ+z
ds(z) = · ds0
die Rollen der Normalspannungen und die Deviations- ρ
momente die Rollen der Schubspannungen übernehmen.
Als Hauptträgheitsmomente bezeichnet man in Analo- ergibt. Die Dehnung dieser Faser, deren Länge im unbe-
gie zu den Hauptspannungen des Spannungstensors die lasteten Zustand ds0 ist, beträgt somit
axialen Flächenträgheitsmomente desjenigen Koordina-
tensystems, in dem die Deviationsmomente verschwin- ds(z) − ds0 z
ε x (z) = = ,
den. Besitzt ein Flächenquerschnitt eine Symmetrieachse, ds0 ρ
so bilden die Symmetrieachse und die dazu rechtwinklige
Achse ein Hauptachsensystem dieser Fläche. woraus sich für die Spannung in dieser Faser

z
σx (z) = E · ε x (z) = E ·
ρ
Berechnung der Durchbiegung
ergibt. Gleichzeitig gilt für die Spannung aber auch der
Wie verbiegen sich Träger unter Biegebelastung? Betrach- weiter vorne hergeleitete Biegespannungsverlauf
ten wir hierzu einen Trägerabschnitt der infinitesimal
M
kleinen Länge ds0 . Wenn dieser Trägerabschnitt im unbe- σx (z) = · z.
lasteten Zustand gerade ist, so krümmt er sich durch das Iy
5.2 Biegung 115

Wir setzen die rechten Seiten der letzten beiden Glei-


chungen gleich und erhalten so für die Krümmung des
F

Technische Mechanik
Balkens:

1 M
= .
ρ E · Iy x

Nun weiß man aus der Mathematik, dass der Krüm- l


mungsradius ρ einer Funktion w(x) gemäß
Abb. 5.17 Für einen Kragträger soll die Durchbiegung berechnet werden
d2 w
1 dx2
= −  2
3/2 Wir beginnen mit der Berechnung des Biegemomenten-
ρ
1+ dw
dx
verlaufs M(x) und erhalten M(x) = −F(l − x). Wir setzen
dies in die Differenzialgleichung der Biegelinie ein und
erhalten
mit den ersten beiden Ableitungen der Funktion ver-
knüpft ist. Da die Durchbiegungen der meisten techni- F
schen Strukturen vergleichsweise klein sind, lässt sich aus w = (l − x ).
E Iy
dieser Gleichung der Term (dw/dx)2 als klein von hö-
herer Ordnung vernachlässigen, und wir erhalten für die Wir integrieren einmal,
Krümmung des Trägers:
 
F
w (x ) = w (x)dx = (l − x)dx
1 d2 w E Iy
=− 2
ρ dx F  1 2 
= − x + lx + C1 ,
E Iy 2
und schließlich:
und ein weiteres Mal, womit wir für die Durchbiegung
d2 w M
=− 
dx2 E Iy
w(x ) = w (x)dx
als Differenzialgleichung der Biegelinie für kleine Verfor- F  1 3 1 2 
mungen. = − x + lx + C1 x + C2
E Iy 6 2

Frage 5.5 erhalten. Dies ist eine Gleichung mit zwei unbekannten
Lässt sich die Differenzialgleichung der Biegelinie für Konstanten C1 und C2 . Als Lösung kann sie nur dann
die Verformungsberechnung einer Angelrute verwenden? stimmig sein, wenn C1 und C2 auch tatsächlich zur be-
Wie wäre die Differenzialgleichung der Biegelinie ggf. zu trachteten Struktur und hier insbesondere seiner Einspan-
modifizieren? nung passen. Die feste Einspannung bewirkt zweierlei:

An ihr kann sich der Balken nicht absenken, und


Um nun die Durchbiegung zu ermitteln, ist w (x) zwei- der Balken ragt mit waagerechter Tangente aus der
mal unbestimmt zu integrieren. Hierbei ist entscheidend, Wand.
die Integrationskonstanten richtig an die Randbedingun-
gen anzupassen. Wie das geschieht, sehen wir am besten Die Randbedingungen lauten folglich
an einem Beispiel.
w(0 ) = 0 und w (0) = 0.
Beispiel Ein Kragträger der Länge l wird an seinem
freien Ende durch die Kraft F belastet (Abb. 5.17). Das Wir setzen die Randbedingungen in die Gleichungen für
Flächenträgheitsmoment Iy des Balkenquerschnitts sowie w(x) und w (x) ein und erhalten
der Elastizitätsmodul E des Werkstoffs seien bekannt. Zu
F
berechnen sind die Biegelinie w(x) und die maximale w(0 ) = C2 = 0 =⇒ C2 = 0
Durchbiegung wmax . E Iy
116 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

sowie
F
w (0 ) =
Technische Mechanik

C1 = 0 =⇒ C1 = 0.
E Iy 3q0
Somit lautet die Gleichung der Biegelinie q0
F  1 3 1 2
w(x ) = − x + lx .
E Iy 6 2

Ihr Maximum nimmt w(x) am freien Balkenende (x = l) x


ein mit l

Fl3
wmax = w(l) = . Abb. 5.18 Für diesen Träger soll die Durchbiegung als Überlagerung zweier
3E Iy
Einzellastfälle bestimmt werden


Frage 5.6
Wie lauten die Randbedingungen für die Durchbiegung Zur Ermittlung der maximalen Durchbiegung dürfen wir
an Fest- und Loslagern? die Einzelergebnisse für wmax aber nicht addieren, da die
maximalen Durchbiegungen an unterschiedlichen Stellen
im Träger auftreten: bei der konstanten Streckenlast genau
Für einige gängige Biegefälle sind die Ergebnisse für w(x) in Balkenmitte, bei der dreieckförmigen Streckenlast aber
und wmax in Tab. 5.2 aufgeführt, was uns für diese das etwas rechts der Mitte. Wir ermitteln deshalb zunächst die
Lösen der Differenzialgleichung der Biegelinie erspart. Stelle x0 der maximalen Durchbiegung als die Stelle des
Tabelle 5.2 hilft uns auch weiter, wenn der betrachtete Balkens mit einer horizontalen Tangente, d. h. wir leiten
Lastfall eine Überlagerung zweier in der Tabelle aufge- w(x) einmal ab und setzen w (x0 ) = 0:
führter Lastfälle ist. Die Ergebnisse für M(x) und w(x)
ergeben sich dann als Überlagerung der Einzelergebnisse. q0 l4
w ( x0 ) =
Für wmax können die in der Tabelle aufgeführten Ergeb- 360EIy
 
nisse allerdings nur dann addiert werden, wenn sie an 29 150  x0 2 60  x0 3 30  x0 4
der gleichen Position im Balken auftreten. Hierzu ein Bei- · − + + = 0,
l l l l l l l
spiel:
woraus wir als Stelle der größten Durchbiegung x0 =
Beispiel Ein Träger mit gegebener Länge l und Biege- 0,51 l erhalten. Dies in w(x) eingesetzt ergibt schließlich
steifigkeit EIy wird wie skizziert durch eine trapezförmige
Streckenlast q(x) belastet (Abb. 5.18). Gesucht sind w(x),
q0l4
wmax sowie diejenige Stelle x0 , an der wmax auftritt. wmax = w(0,51 l) = 0,026 .
EIy
Wir zerlegen q(x) in die folgenden zwei elementaren Last- 
fälle:
Zwei- und Mehrfeldbalken: Unter zwei- bzw. Mehrfeldbal-
eine konstante Streckenlast q0 (Lastfall 2) und
ken versteht man Balken mit zwei oder mehr Bereichen
eine dreieckförmige Streckenlast des Maximalwertes
für die Schnittgrößenverläufe oder die Biegesteifigkeit
qmax = 2q0 (Lastfall 3).
EIy . Wir beschränken uns im Folgenden der Einfachheit
halber auf Zweifeldbalken. Dreifeldbalken oder Balken
Wir entnehmen der Durchbiegungstabelle die jeweiligen mit noch mehr Bereichen würden nach demselben Sche-
Ergebnisse für w(x) und überlagern diese zu ma behandelt werden. Bei Zweifeldbalken integrieren
  x 3  x 4  wir die Differenzialgleichung der Biegelinie für jeden Be-
q l4 x
w(x ) = 0 −2 + reich zweimal unbestimmt und erhalten somit vier statt
24EIy l l l zwei Integrationskonstanten. Diese bestimmen wir aus
4     x 5 
2q0 l x x 3 den Randbedingungen und den beiden Übergangsbedin-
+ 7 − 10 +3
360EIy l l l gungen an der Bereichsgrenze (im Folgenden als xI/II
     x 5  bezeichnet). Diese lauten
q0 l4 x x 3 x 4
=⇒ w(x) = 29 − 50 + 15 +6 .
360EIy l l l l wI (xI/II ) = wII (xI/II ) und wI (xI/II ) = wII (xI/II ).
5.2 Biegung 117

Tab. 5.2 Übersicht über die Belastungsfall w(x) und wmax


Durchbiegungen wichtiger Biege- 1 Fl3
x 3 Fl3
l F 0≤x≤ l
: w ( x) = 48EIy [3 l
x
−4 ], wmax =

Technische Mechanik
fälle 2
2 l 48EIy

x
l

2 q0 l4 x x 3 x 4 5 q0 l
4
w ( x) = 24EIy [ l −2 l +4 l ], wmax = 384 EIy
q0

x
l

3 qmax l4 x 3 x 5 qmax l4
w ( x) = 360EIy [7 l
x
− 10 l +3 l ], wmax = 153,3EIy
qmax

x
l

4 Fl3
x 3 Fl3
F w ( x) = 6EIy [2 − 3 xl + l ], wmax = 3EIy

x
l

5 Ml2
x 2 Ml2
M w ( x) = 2EIy [1 − 2 xl + l ], wmax = 2EIy

x
l

6 q0 l4 x 4 q0 l4
w ( x) = 24EIy [3 − 4 xl + l ], wmax = 8EIy
q0

x
l

7 qmax l4 x 5 qmax l4
qmax w ( x) = 120EIy [4 − 5 l
x
+ l ], wmax = 30EIy

x
l

8 qmax l4 x 4 x 5 11 qmax l
4
w ( x) = 120EIy [11 − 15 l
x
+5 l − l ], wmax = 120 EIy
qmax

x
l

9 Fal2 x
3 2
F Bereich I: wI (x) = − 6EI [ − xl ], wmax,I = − 9√Fal3EI
y l
      y
2 3 Fa2 (l+a)
Fa3
I II Bereich II: wII (x) = 6EIy 2 a a + 3 a − a
l x x x
, wmax,II = 3EIy

x x
l a

Anschaulich bedeuten diese Gleichungen, dass der Träger Beispiel Ein Träger der Länge 4l mit gegebener Bie-
an der Bereichsgrenze zusammenhängt – deshalb sind die gesteifigkeit EIy wird wie skizziert durch eine Kraft der
Durchbiegungen gleich – und dort keinen scharfen Knick Größe 4F belastet (Abb. 5.19). Gesucht ist der Verlauf der
aufweist – deshalb sind die Ableitungen der Durchbie- Durchbiegung w(x).
gungen gleich.
118 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

Zur Bestimmung der Integrationskonstanten stehen uns


die folgenden Rand- und Übergangsbedingungen zur
Technische Mechanik

4F Verfügung:

A B
wI (0) = 0 =⇒ C2 = 0,
wII (4l) = 0 =⇒ EIFy (4lC3 + C4 ) = 0,
x wI (l) = wII(l) 
l 3l =⇒ −3 6 l + lC1 + C2
1 3
= 16 (−3l)3 + lC3 + C4 und
wI (l) = wII (l)
Abb. 5.19 Dieser Balken ist ein Zweifeldbalken, da zwei Bereiche für den Ver- 

lauf des Biegemoments vorliegen =⇒ − EI


3F 1 2
y 2l + C1 = F
EIy 2 (−3l)
1 2 + C3 .

Das sind vier Gleichungen für vier Unbekannte. Als Er-


Zunächst bestimmen wir die Lagerreaktionen sowie die gebnisse erhalten wir
Biegemomentverläufe in den Bereichen I und II. Diese be-
tragen 7 5
C1 = − l2 , C2 = 0, C3 = − l2 und C4 = 10l3 .
6 2

Ax = 0, Ay = 3F und By = F Damit lautet der gesuchte Verlauf der Durchbiegung

3F  1 3 7 2 
für die Lagerreaktionen sowie wI (x) = − x − l x
EIy 6 6
im Bereich 0 ≤ x ≤ l und
MI (x) = 3Fx und MII (x) = F(4l − x) F 1 5

wII (x) = (x − 4l)3 − l2 x + 10l3


EIy 6 2
für das Biegemoment. Zweifaches unbestimmtes Integrie- im Bereich l ≤ x ≤ 4l. 
ren der Differenzialgleichung der Biegelinie führt für den
Bereich I auf

 Bei schiefer Biegung verformt sich ein Träger


MI
wI (x) = − dx auch quer zur Richtung der Belastung
EIy

3F 3F  1 2 
=− xdx = − x + C1 Von schiefer Biegung spricht man, wenn das Biegemo-
EIy EIy 2
ment nicht in Richtung der Hauptträgheitsachsen des
Trägerquerschnitts angreift. Dies ist beispielsweise bei
und dem in Abb. 5.20 gezeigten Kragträger der Fall, dessen
rechteckiger Flächenquerschnitt um den Winkel ϕ zur
  
3F 1 2 3F  1 3  Lastrichtung gedreht ist.
wI (x) = − x + C1 dx = − x + C1 x + C2
EIy 2 EIy 6 Bei schiefer Biegung zerlegt man das Schnittmoment im
Träger in die Anteile entlang der beiden Hauptachsen
und berechnet Spannungen und Durchbiegungen aus der
und im Bereich II auf Überlagerung dieser beiden Lastfälle.

 
MII F
wII (x) = − dx = (x − 4l)dx Beispiel Für den in Abb. 5.20 gezeigten Kragträger sind
EIy EIy die Spannungsverteilung an der Einspannung und die
F 1
Durchbiegung des freien Trägerendes gesucht.
= (x − 4l)2 + C3 und
EIy 2 Zahlenwerte: F = 800 N, l = 1 m, b = 20 mm, h = 50 mm,


F 1 ϕ = 30◦ , E = 205 GPa2 .


wII (x) = (x − 4l)2 + C3 dx
EIy 2 Wir zerlegen die äußere Kraft F in ihre Komponenten

=
F 1
(x − 4l)3 + C3 x + C4 . entlang der Hauptachsen des Trägerquerschnitts, Fy =
EIy 6 −F sin ϕ und Fz = F cos ϕ. Die in der Einspannung wir-
5.2 Biegung 119

Technische Mechanik
F C
l y

A
φ

z B
z
Abb. 5.20 Wenn ein rechteckiger Trägerquerschnitt zur Lastrichtung geneigt
ist, liegt schiefe Biegung vor
Abb. 5.21 Lage der Spannungsnulllinie

kenden Schnittmomente betragen My = −Fl cos ϕ (um


und im Punkt D (y = b/2, z = −h/2)
die y-Achse drehend) und Mz = Fl sin ϕ (um die z-Achse
drehend). Die Spannungen in der Einspannung ergeben
σ = 406 MPa.
sich aus der Überlagerung dieser beiden Lastfälle und be-
tragen
Zur Durchbiegung des Trägerendes: Die Durchbiegungen
vmax in y-Richtung und wmax in z-Richtung entnehmen
12Fl cos ϕ 12Fl sin ϕ
σ=− ·z+ · y. wir aus Tab. 5.2 (jeweils Lastfall 4). Sie betragen
bh3 hb3

Die Lage der Spannungsnulllinie ergibt sich aus der Be- Fy l3 hb3
vmax = mit Iz = und Fy = −F sin ϕ
dingung σ (y, z) = 0, 3EIz 12
4F sin ϕl3
12Fl cos ϕ 12Fl sin ϕ =⇒ vmax = −
·z = ·y Ehb3
3 hb3
bh
 h 2 4 · 800 N sin 30◦ (1000 mm)3
=− = −19,5 mm
=⇒ z = tan ϕ · y, 2 · 50 mm · (20 mm)
N 3
205.000 mm
b

und wird mit den konkreten Zahlenwerten für h, b und ϕ sowie


zu
Fz l3 bh3
 5 2 wmax = mit Iy = und Fz = F cos ϕ
3EIy 12
z= tan 30◦ · y = 3,61y.
2 4F cos ϕl3
=⇒ wmax =
In Abb. 5.21 ist die Lage der Spannungsnulllinie in den Ebh3
Querschnitt eingezeichnet. Man erkennt, dass die Punk- 4 · 800 N cos 30◦ (1000 mm)3
= = 5,4 mm.
2 · 20 mm · (50 mm)
te B und D den größten Abstand zur Spannungsnullli- N 3
205.000 mm
nie aufweisen, sodass hier die größten Biegespannungen
herrschen. Diese betragen im Punkt B (y = −b/2, z = Trotz vertikal orientierter äußerer Last verbiegt sich der
h/2): Träger also auch horizontal, daher die Bezeichnung schie-
fe Biegung, wenn die Biegebeanspruchung nicht entlang
12Fl cos ϕ h 12Fl sin ϕ b der Hauptträgheitsachsen des Trägerquerschnitts orien-
σ=− · − ·
bh3 2 hb3 2 tiert ist. 
12Fl  cos ϕ sin ϕ 
=− +
bh h b Achtung Insbesondere die Gleichungen zur Berech-
12 · 800 N · 1000 mm  cos 30◦ sin 30◦  nung von Biegespannungen treten in vielen Disziplinen
=− +
20 mm · 50 mm 50 mm 20 mm des Maschinenbaus immer wieder auf – neben der Tech-
= −406 MPa nischen Mechanik z. B. in der Konstruktions-, Werkstoff-
120 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

und Fertigungstechnik. Es lohnt sich, folgende Gleichun- σ (z ) τ (z) σ (z ) + ∂σ dx


gen auswendig zu lernen: ∂x
Technische Mechanik

b
M(x ) x
σ (z) = z, A*
Iy
M(x)|z|max M(x )
σmax = bzw. σmax = , x dx
Iy W z,z
b h3 b h2 Abb. 5.23 Zur Herleitung der Schubspannungsverteilung
Iy = , W= (jeweils für Rechteckquerschnitte)
12 6
und Iy = Iy + zs 2 A.
 In Vollquerschnitten sind die Schubspannungen
in der Querschnittmitte maximal

5.3 Schub durch Querkraft Um die Größe der Schubspannungen zu ermitteln, schnei-
den wir aus einem biege- und schubbelasteten Träger ein
kleines Flächenelement der Länge dx und einer von der
Ist in einem Träger der Biegemomentverlauf M(x) verän- Koordinate z bis zur Trägerunterkante reichenden Höhe
derlich, so existiert gemäß dem in Abschn. 2.2 hergeleite- aus (Abb. 5.23).
ten Zusammenhang dM/dx = Q(x) auch eine Querkraft
im Träger, und es treten nicht nur Biege-, sondern auch Die am Trägerende angreifenden Spannungen tragen wir
Schubspannungen auf. in das Freikörperbild ein. Dies sind
Machen wir uns zunächst an einem anschaulichen Gedan- an der linken Seite die Biegespannungen σ (z),
kenexperiment klar, dass es tatsächlich Schubspannungen an der rechten Seite (x + dx) die Biegespannungen
sind, die bei Querkräften entstehen. Aus einem Stapel auf- σ (z) + ∂σ
∂x dx und
einanderliegender Bretter soll ein Kragträger hergestellt an der Oberseite die Schubspannungen τ.
werden. Wir überlegen uns, was bei Belastung passiert,
wenn die Bretter lose und unverleimt aufeinander auflie- Das Kräftegleichgewicht in x-Richtung lautet
gen (Abb. 5.22a) oder aber fest miteinander verleimt sind
 
(Abb. 5.22b). ∂σ

− σ (z)dA + σ (z) + dx dA − τ (z) · b(z)dx = 0


Ohne die Verleimung gleiten die Bretter aufeinander ab, ∂x
(A∗ ) (A∗ )
und der Träger wird nur eine geringe Tragfähigkeit auf- 
∂σ
weisen. Erst bei stabiler Verleimung bilden die Bretter ⇒ τ (z) · b (z) = dA.
einen tragfähigen Verbund. ∂x
(A∗ )
Was bewirken dabei die Verleimungen in mechanischer ∂σ z ∂M(z) z
Hinsicht? Sie übertragen Spannungen, die die Bretter in Mit = = Q (x )
∂x Iy ∂x Iy
der oberen Trägerhälfte dehnen und die Bretter in der 
unteren Trägerhälfte stauchen. Die von der Verleimung Q (x )
folgt τ (z) = · zdA.
übertragenen Spannungen wirken auf der verleimten Flä- b(z) Iy
che (Flächennormale z) in Trägerrichtung x, es handelt (A∗ )
sich also um Schubspannungen τxz , welche wir im Fol-
Das Integral auf der rechten Seite dieser Gleichung wird
genden der Einfachheit halber aber nur als τ bezeichnen
als statisches Moment Sy des abgeschnittenen Flächen-
wollen.
stücks A∗ bezüglich der y-Achse bezeichnet. Damit erhal-
ten wir für die
a b
Schubspannungsverteilung in Vollprofilen unter
Querkraft
Q(x)Sy (z)
τ (z) =
Iy b(z)

mit Sy (z) = zdA.
Abb. 5.22 Bei einem Kragträger aus übereinander geschichteten Brettern
(A∗ )
müssen diese miteinander verleimt sein, damit sie durch die Übertragung von
Schubspannungen einen tragfähigen Verbund ergeben
5.3 Schub durch Querkraft 121

Nach diesem Zusammenhang gehen in die Ermittlung τ =0


der Schubspannungen die Größen Q(x), Sy (z), Iy und

Technische Mechanik
b(z) ein. Da die Querschnittsform b(z) im Allgemeinen
gegeben ist und wir in der Berechnung von Schnittgrö-
ßen – hier Q(x) – und Flächenträgheitsmomenten mittler-
weile recht geübt sein sollten, liegt der Knackpunkt in der Q
τ max = 1,5
Berechnung des statischen Moments Sy (z). Hierzu als Bei- A
spiel die Schubspannungsverteilung in einem Träger mit
rechteckigem Querschnitt.

Beispiel Für einen Rechteckquerschnitt der allgemei-


nen Abmessungen b × h sind das statische Moment τ =0
Sy (z) und die Schubspannungsverteilung zu bestimmen
Abb. 5.25 Die Schubspannungsverteilung in einem Träger mit rechteckigem
(Abb. 5.24). Querschnitt

F
h l
2

y
z
h Abb. 5.26 In schlanken Trägern sind die durch die Querkraft verursachten
z~ 2 Schubspannungen im Vergleich mit den Biegespannungen in aller Regel ver-
nachlässigbar

dz~
z Welche Art Spannungen dominiert, wenn sowohl Schub-
b spannungen als auch Biegespannungen in einem Trä-
ger herrschen? Vergleichen wir hierzu exemplarisch
die Biege- und Schubspannungen in einem Kragträger
der Länge l und des rechteckigen Querschnitts b × h
Abb. 5.24 Das statische Moment Sy (z ) in einem Träger mit rechteckigem (Abb. 5.26).
Querschnitt
Die maximale Biegespannung tritt in den Randfasern auf
Höhe der Einspannung auf und beträgt
Für Sy (z) gilt
6Fl
σmax =.
   h2 z2 
h/2
1  2 h/2 b h2
Sy (z) = zdA = zbdz = b z z =b − , Die Schubspannungsverteilung ist in jedem Trägerquer-
2 8 2
(A∗ ) z schnitt gleich und weist einen in der Querschnittmitte
liegenden Maximalwert von
und wir erhalten für die Schubspannungsverteilung
F
  τmax = 1,5
6 Q (x ) h2 bh
τ (z) = · − z2 . auf. Damit beträgt das Verhältnis von Biege- zu Schub-
b h3 4
spannungen
Es liegt also eine parabolische Schubspannungsvertei-
σmax l
lung vor, bei der die Schubspannungen an der Oberseite =4 .
(z = −h/2) und der Unterseite (z = h/2) des Trägers ver- τmax h
schwinden und in der Querschnittmitte (z = 0) den Maxi- Für große Werte von l/h sind die Schubspannungen also
malwert 1,5 Q/A einnehmen (Abb. 5.25). sehr viel kleiner als die Biegespannungen. In der Regel
dürfen Schubspannungen durch Querkraft deswegen in
Eine kurze Plausibilitätsbetrachtung bestätigt dieses Er- schlanken Trägern vernachlässigt werden.
gebnis: Der Quotient Q/A ist die mittlere Schubspannung
im Trägerquerschnitt. Da die Ober- und Unterseite des Frage 5.7
Trägers freie Oberflächen sind, muss dort die Schubspan- In welchen Bauteilen spielen Schubspannungen durch
nung verschwinden und folglich an anderer Stelle im Querkraft eine entscheidende Rolle?
Träger oberhalb des Mittelwertes liegen. 
122 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

a s b
τ
Technische Mechanik

s=0
τ (s)
Q
x r*
σ (z ) τ (z) σ (z ) + ∂σ dx
t(s) ∂x
A*

s = l* x dx
z,z
s = l*
Abb. 5.27 Zur Herleitung der Schubspannungsverteilung
yM

Abb. 5.28 Zur Ermittlung des Schubmittelpunktes


In dünnwandigen offenen Profilen folgen
die Schubspannungen dem Trägerquerschnitt
Wie wir im Abschnitt Torsion noch sehen werden, kön-
In offenen dünnwandigen Profilen folgen die Schubspan- nen Torsionsmomente in offenen dünnwandigen Profilen
nungen dem Querschnittverlauf. Dieser sei charakteri- erhebliche Spannungen hervorrufen. Man kann aber das
siert durch die Wandstärke t in Abhängigkeit der Bogen- Torsionsmoment kompensieren, indem die Wirkungslinie
länge s. In Analogie zur Herleitung der Schubspannungs- der Querkraft so platziert wird, dass die Momentenwir-
verteilung in Vollquerschnitten schneiden wir aus dem kung der Querkraft bei entgegengesetztem Drehsinn ge-
Träger ein kleines Element der Länge dx ab, das von der nauso groß ist wie das Torsionsmoment durch die Schub-
Position s bis zum Ende des dünnwandigen Trägerquer- spannungen. Hierzu muss die Querkraft – am Beispiel
schnitts (Position l∗ ) reicht. In das Freikörperbild tragen von Abb. 5.28 – um eine Strecke yM links des Schwerpunk-
wir alle angreifenden Spannungen ein (Abb. 5.27). tes wirken.

Wir setzen das Kräftegleichgewicht in x-Richtung an und Aus dem Momentengleichgewicht um die Trägerachse er-
erhalten für die Schubspannungen in offenen dünnwan- gibt sich
digen Profilen ein zur Schubspannungsverteilung in Voll-

querschnitten analoges Ergebnis. l
Q · yM = tτr∗ ds.
Schubspannungsverteilung in offenen dünnwandigen 0

Profilen unter Querkraft


Wenn wir hierin t τ nach der eben hergeleiteten Schub-
spannungsverteilung in offenen dünnwandigen Profilen
Q(x)Sy (s) ersetzen, erhalten wir für die
τ (s) =
Iy t(s)
 
mit Sy (s) = zdA = ztds. Lage des Schubmittelpunktes
(A∗ ) (A∗ ) Der Schubmittelpunkt ist der um die Strecke

l
1
yM = Sy (s)r∗ ds
Iy
0
Nur wenn die äußere Last im Schubmittelpunkt
angreift, tordieren dünnwandige offene Profile vom Schwerpunkt des Trägerquerschnitts versetzte
nicht Punkt M.

Betrachten wir erneut Abb. 5.27a. Ganz offensichtlich übt Bei offenen dünnwandigen Trägern müssen die Wir-
der in dieser Abbildung in etwa entlang einer Halbkreis- kungslinien äußerer senkrechter Kräfte durch den Schub-
linie verlaufende Schubfluss auf den Träger ein Moment mittelpunkt verlaufen, damit sich der Träger nicht ver-
um die Träger-Längsachse aus, er verdrillt ihn (Näheres drillt (Abb. 5.29). Ist ein Trägerquerschnitt symmetrisch,
dazu im folgenden Abschnitt, Torsion). liegt der Schubmittelpunkt auf der Symmetrieachse.
5.3 Schub durch Querkraft 123

s=a

Technische Mechanik
s
a
a
4
y

Abb. 5.29 Zur Ermittlung des Schubmittelpunktes a


z

Beispiel Ermitteln Sie die Lage von Flächenschwer- s = 3a s = l* = 4a


punkt und Schubmittelpunkt des in Abb. 5.30 skizzierten
Profils. Nehmen Sie hierfür an, dass t a ist. Abb. 5.31 Zur Berechnung von Sy im Obergurt

Den Flächenschwerpunkt berechnen wir nach den Glei-


chungen für zusammengesetzte Querschnitte. Er liegt um
a/4 rechts des mittleren Steges. Für den mittleren Steg erhalten wir

In die Schubspannungsverteilung gehen Iy und Sy ein. Iy l



3a 4a
berechnen wir mit der Steiner’schen Ergänzung als Sy = ztds = t · (s − 2a)ds + ta ds
s s 3a
t(2a)3 at3 s2
3a
Iy = +2 + 2a2 at t
12 12 =t − 2as +ta2 = (4as − a2 − s2 ).
2 s 2
2ta3 8
≈ + 2a3 t = ta3 für t a.
3 3 Und für den Untergurt erhalten wir schließlich
Sy ist für die drei Abschnitte des Trägerprofils – Obergurt

(der obere horizontale Teil), mittlerer Steg (der mittle- l 4a
re vertikale Teil) und Untergurt (der untere horizontale Sy = ztds = ta ds = ta(4a − s).
Teil) – separat zu berechnen. s s

Für den Obergurt (Abb. 5.31) erhalten wir


Hieraus ergeben sich die folgenden Spannungsverläufe:
l∗ a 3a 4a Im Obergurt
Sy = ztds = t · (−a) ds + t · (s − 2a)ds + ta ds
s s a 3a Q (x ) 3 s
s2
3a τ (s) = ats = Q(x) 2 ,
t · 3 ta
8 3 8 ta
= −ta(a − s) + t − 2as +ta(4a − 3a) = a t s.
2 a
im mittleren Steg

Q (x ) t 3 4as − a2 − s2
s τ (s) = (4as − a2 − s2 ) = Q(x)
t · 3 ta
8 3 2 16 ta3
t

2a y und im Untergurt

Q (x ) 3 4a − s
τ (s) = ta(4a − s) = Q(x) .
t · 83 ta3 8 ta2
z

Zur Lage des Schubmittelpunktes: Hier gehen wir nicht


a vom Schwerpunkt, sondern, da dies die Rechnung ver-
einfacht, von der Stegmitte aus. In den Gurten beträgt
Abb. 5.30 Für einen C-förmigen Flächenquerschnitt ist der Schubmittelpunkt der Abstand r∗ des Schubspannungsflusses vom Bezugs-
zu berechnen punkt jeweils a, im Steg verschwindet er.
124 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

Wir erhalten Q
M M
MT MT

Technische Mechanik

l
1
Sy (s)r∗ ds
N N
yM =
Iy Q
0
 a  4a Abb. 5.32 In Freikörperbildern wird das Torsionsmoment durch einen Pfeil mit
1 doppelter Spitze dargestellt
= 8 3 ats · ads + at(4a − s) · ads
3 ta 0 3a
 a  4a 
3 1 2 2 1 2 3 Die Schnittgröße der Torsion
= a ts − a t(4a − s) 2
= a.
8ta3 2 0 2 3a 8 ist das Torsionsmoment

Zunächst zu der Schnittgröße, die Torsion bewirkt, dem
Torsionsmoment. Unter dem Torsionsmoment MT ver-
steht man ein um die Trägerachse drehendes Moment.
5.4 Torsion In Freikörperbildern wird es durch einen in Trägerach-
se verlaufenden Pfeil mit doppelter Spitze dargestellt
(Abb. 5.32). Pfeilrichtung und Drehwirkung des Torsi-
Unter Torsion versteht man die Verdrillung von Stäben. onsmoments ergeben sich aus der Rechtsschraubenregel:
Als Erstes wollen wir versuchen ein anschauliches Ver- Dreht man eine Rechtsschraube so, dass sie sich in Rich-
ständnis für Torsion zu gewinnen. Mit einem Beispiel, tung des Momentenvektors bewegt, so entsprechen sich
wie wir Torsion in unserer Kindheit erfahren haben, so- der Drehsinn der Schraube und der Drehsinn des Mo-
wie einer Analogie zur Strömungslehre sollte dies recht ments (vgl. auch Abschn. 2.4).
gut gehen.
Zur Berechnung von Torsionsmomenten ist als zusätz-
Torsion haben wir in unserer Kindheit in der Tat alle am liche Gleichgewichtsbedingung das Gleichgewicht aller
eigenen Leib erfahren. Die allseits gefürchtete „Brenn- um die Trägerachse drehender Momente anzusetzen, wie
nessel“ ist nichts anderes als die schmerzhafte Torsion im folgenden Beispiel gezeigt wird.
des Unterarms, und die in technischen Fragestellungen
zur Torsion wichtigsten Größen finden hier anschauliche Beispiel Welche Verläufe haben die Schnittgrößen N (x),
Entsprechungen: das Torsionsmoment in der „Verdreh- Q(x), M(x) und MT (x) im Bereich I des in Abb. 5.33 abge-
kraft“ der angreifenden Hände, die Torsionsspannungen bildeten Winkelträgers?
in den Schmerzen im Unterarm des Opfers und der Ver-
2l
drehwinkel einer tordierten Welle in der Verdrehung der
angreifenden Hände zueinander.
I
Die für ein anschauliches Verständnis von Torsion hilfrei-
che Analogie ist der hydrodynamische Vergleich. Dieser l
vergleicht die Torsionsspannungen in einem Träger mit F
den Stromlinien in einem wassergefüllten Behälter glei- x
II
chen Querschnitts. Er lautet: „Die Schubspannungslinien
in tordierten Querschnitten verlaufen analog den Strom-
linien in einer stationären zirkulierenden Flüssigkeits- Abb. 5.33 Der Abschnitt I des Winkelträgers wird durch ein Torsionsmoment
strömung, wenn der Querschnitt des tordierten Stabes beansprucht
dem Querschnitt des mit Flüssigkeit gefüllten Behälters
Wir schneiden an einer beliebigen Stelle x innerhalb des
entspricht. Die Fließgeschwindigkeit der Flüssigkeitsströ-
Bereichs I frei und erhalten das in Abb. 5.34 gezeigte Frei-
mung ist ein Maß für die Schubspannungen im tordierten
körperbild:
Träger.“
x 2l – x
Wollen wir also Torsionsspannungen in einem Träger
sichtbar machen, so können wir ein Gefäß mit gleicher
M Q
Querschnittsform nehmen, es mit Wasser füllen und die-
ses durch kräftiges Rühren in eine zirkulierende Strö-
mung versetzen. Das Strömungsprofil, das sich nach einer MT N l
Weile einstellt (wenn der störende Einfluss des Rührens F
abgeklungen ist), entspricht der Spannungsverteilung im
tordierten Träger: je größer die Strömungsgeschwindig-
keit, desto größer die Torsionsspannungen. Abb. 5.34 Das Freikörperbild zur Berechnung der Schnittgrößen im Bereich I
5.4 Torsion 125

Aus diesem leiten wir die folgenden Gleichgewichtsbe- R


dingungen und Ergebnisse her:

Technische Mechanik
→ ∑ Fix = −N (x) = 0, r
↑ ∑ Fiy = Q(x) − F = 0
=⇒ Q(x) = F,
∑ M(SU)
i = −F(2l − x) − M(x) = 0
=⇒ M(x) = −F(2l − x) und
∑ (SU)
MTi = −MT (x) + Fl = 0
=⇒ MT (x) = Fl. 
MT

Abb. 5.36 In tordierten kreiszylindrischen Wellen herrschen Schubspannun-


Kreiszylindrische Wellen erfahren Torsion gen, die in Wellenmitte verschwinden und zum Rand hin linear zunehmen
in Motoren, Getrieben oder Maschinen

Torsion erzeugt, wie wir uns am Kinderspiel Brennnes- wird als Drillung χT bezeichnet. Für γ(r) gilt ferner das
sel leicht versichern können, Schubspannungen. Denn der Hooke’sche Gesetz τ (r) = Gγ(r), sodass wir folgenden
tordierte Unterarm verlängert oder verkürzt sich nicht, er Zusammenhang erhalten:
verdrillt sich vielmehr, und diese Verdrillung ist nach dem
Hooke’schen Gesetz die Folge von Schubspannungen. τ (r) = GχT r,
Wir befassen uns nun mit den Zusammenhängen zwi-
also einen linearen Verlauf der Schubspannungen. Die-
schen Torsionsmoment und Schubspannungen sowie Tor-
se nehmen in der Wellenmitte den Wert null und an der
sionsmoment und Verdrehwinkel in zylindrischen Voll-
Wellenoberfläche ihren Maximalwert τmax an. Wir erhal-
wellen. Hierzu betrachten wir eine zylindrische Welle
ten somit für den
(Länge l, Radius R), die an ihren Enden durch das Tor-
sionsmoment MT tordiert wird (Abb. 5.35).
Bei der Herleitung der Spannungsverteilung geht man Schubspannungsverlauf in einer kreiszylindrischen
davon aus, dass sich die Querschnitte der tordierten Welle
Welle wie starre Scheiben gegeneinander verdrehen und
dass sich die Stabachse dabei nicht verschiebt. Die vor- r
τ (r) = τmax .
her geraden Mantellinien der Welle gehen dann unter R
Torsionsbelastung in Schraubenlinien über, die an der
Wellenoberfläche um den Gleitwinkel γ(R) zur Stabach-
se geneigt sind. Für γ, l, ϑ und R besteht der kinematische
Zusammenhang γ(R) · l = ϑ · R, welcher auch für jeden Frage 5.8
beliebigen Radius r innerhalb der Welle gilt. Es gilt also Wie kann man mithilfe des hydrodynamischen Gleich-
nisses die Schubspannungsverteilung in einer tordierten
ϑ kreiszylindrischen Welle qualitativ ermitteln?
γ (r) = r.
l
Der Quotient ϑ/l ist hierin konstant – je länger die Wie groß ist nun τmax ? Aus dem Momentengleichgewicht
Welle, desto stärker die Verdrehung ihrer Enden – und um die Stabachse,

∑ MTi = τ (r) · rdA − MT = 0,
(A]
MT R MT
ϑ folgt
γ

 
l r2 τmax
MT = τmax dA = r2 dA.
R R
Abb. 5.35 Zur Berechnung von τmax (A] (A]
126 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

Das Flächenintegral auf der rechten Seite dieser Glei- MT


chung wird in Anlehnung an das sehr ähnlich definierte
Technische Mechanik

Flächenträgheitsmoment der Biegung als Torsionsträg-


heitsmoment IT bezeichnet. dϑ
ds

Torsionsträgheitsmomente kreiszylindrischer Wellen dx


π
IT = R4 für Vollwellen und γ
2
π 4
IT = (Ra − R4i ) für Hohlwellen.
2

MT
Hierin sind Ra der Außen- und Ri der Innenradius der R
Hohlwelle.
Die maximale Torsionsspannung erhalten wir, wenn wir Abb. 5.37 Zur Verformungsberechnung
das oben aufgeführte Momentengleichgewicht um die
Stabachse nach τmax auflösen. Wir erhalten:
Mit diesen Gleichungen erhalten wir
Maximale Torsionsspannung in einer kreiszylindrischen
MT
Welle dϑ = dx.
GIT
MT R MT
τmax = bzw. τmax = . Hat die betrachtete Welle die Gesamtlänge l, so beträgt
IT WT der Verdrehwinkel ϑ der gesamten Welle

l
Darin ist WT das Torsionswiderstandsmoment. Es beträgt MT
ϑ= dx.
GIT
IT π 0
WT = = R3 für Vollwellen bzw.
R 2
Diese Gleichung gilt für Verdrehwinkel in kreiszylindri-
IT π
WT = = (R4 − R4i ) für Hohlwellen. schen Wellen, in denen sich der Verlauf des Torsionsmo-
Ra 2Ra a ments MT (x) und Radius R(x) entlang der Welle ändern
dürfen. In den allermeisten Fällen wird dem aber nicht so
Zur Verformungsberechnung: Wir betrachten ein infini-
sein – Radius und Torsionsmoment werden in praktisch
tesimal kurzes Stück einer Welle der Abmessungen dx
allen technisch relevanten Fällen zumindest abschnitts-
(Länge) und R (Radius), welches tordiert wird (Abb. 5.37).
weise konstant sein –, und wir erhalten für den
Eine im unbelasteten Zustand gerade, in Wellenrichtung
verlaufende Mantellinie wird sich unter dem angreifen-
den Torsionsmoment um den Winkel γ zur Welle neigen Verdrehwinkel einer kreiszylindrischen Welle
und diese wie eine Spirale umschlängeln. Gesucht ist der
MT l
Verdrehwinkel dϑ des kleinen Stückchens Welle. ϑ= .
GIT
Nach dem Hooke’schen Gesetz gilt

τ
γ= ,
G Beispiel Eine abgesetzte Welle aus Stahl (1. Abschnitt:
Länge l1 = 200 mm, Durchmesser D1 = 15 mm, 2. Ab-
woraus mit der Bestimmungsgleichung für τmax
schnitt: Länge l2 = 150 mm, Durchmesser D2 = 10 mm,
Schubmodul G = 80 GPa) ist an einem Ende fest einge-
MT R
γ= spannt. Am anderen Ende wird sie durch ein Kräftepaar
GIT mit dem Hebelarm a = 80 mm belastet. Die Torsionsspan-
nung in der Welle darf den Grenzwert τmax = 150 MPa
folgt. Des Weiteren gelten die kinematischen Beziehungen
nicht überschreiten (Abb. 5.38).
ds ds Wir wollen die maximal zulässige Kraft Fzul und den da-
γ= und ϑ = .
dx R bei vorliegenden Verdrehwinkel der Welle berechnen.
5.4 Torsion 127

l1 MT

Technische Mechanik
r t1
ds
t2
l2
t (s) τ 1 t1 d x
D1 l τ 2t2dx dx

D2
F

MT

a Abb. 5.39 Die Schubspannungen in einem dünnwandigen geschlossenen


a Hohlprofil folgen der Umfangsrichtung und sind an der dünnsten Stelle des Pro-
F
fils maximal

Abb. 5.38 Zu berechnen sind die höchstzulässige Belastung und der sich dabei
einstellende Verdrehwinkel der abgebildeten Welle
erhalten wir ein dünnwandiges geschlossenes Hohlprofil,
von dem wir annehmen dürfen, dass es deutlich leichter
als das entsprechende Vollprofil ist und dabei nur wenig
an Steifigkeit und Tragfähigkeit einbüßt.
Die Torsionsspannungen sind im Bereich des kleinsten
Wellendurchmessers am größten und betragen dort Wie groß dann die Spannungen und Verformungen sind,
wollen wir im Folgenden herleiten.
MT 2MT
τmax = = , Zunächst zur Spannungsverteilung: Wir betrachten einen
WT πR3 Träger mit einem dünnwandigen geschlossenen Quer-
schnitt unter Torsionsbelastung. Die Wandstärke t kann
sodass sich für das zulässige Torsionsmoment
dabei variieren, jedoch nur entlang des Trägerumfangs
und nicht in Trägerlängsrichtung (Abb. 5.39).
π π N
MT,zul = τzul R3 = 150 (5 mm)3 = 29,5 Nm
2 2 mm2 Aus dem Kräftegleichgewicht an einem kleinen Trägerele-
ment ergibt sich, dass das Produkt aus Schubspannung
ergibt. Zur Ermittlung des Verdrehwinkels addieren wir und Wandstärke, der sogenannte Schubfluss, konstant ist:
die Verdrehwinkel der beiden Wellenabschnitte:
  → ∑ Fix = τ1 t1 dx − τ2 t2 dx = 0 =⇒ τ1 t1 = τ2 t2 .
MT l1 MT l2 2MT l1 l2
ϑ= + = + 4
GIT1 GIT2 πG R41 R2
  Schubfluss
2 · 29.452 N mm 200 mm 150 mm
= + In dünnwandigen geschlossenen Hohlprofilen ist
π · 80.000 mm
N (7,5 mm)4 (5 mm)4
2 der Schubfluss konstant.
= 0,071 = 4,1◦ .
 τ · t = konstant.

Frage 5.9
Dünnwandige geschlossene Hohlprofile Wie kann man mithilfe des hydrodynamischen Vergleichs
sind leicht und torsionssteif auf die Konstanz des Schubflusses schließen?

Wir haben gelernt, dass in kreiszylindrischen Wellen die Das Torsionsmoment, das die Schubspannung entlang ei-
Torsionsspannungen an der Wellenoberfläche maximal nes kleinen Abschnitts mit der Bogenlänge ds ausübt,
sind und in der Wellenmitte verschwinden. Anders aus- beträgt
gedrückt: In kreiszylindrischen Wellen trägt der Werkstoff
umso mehr mit, je weiter außen in der Welle er sich be- dMT = Kraft × Hebelarm = (τtds)r.
findet, Werkstoff ganz im Welleninneren trägt gar nicht
mit. Wenn wir den nicht bzw. wenig mittragenden Werk- Um hieraus das gesamte Torsionsmoment des Profils zu
stoff im Welleninneren in Gedanken herauszuschneiden, ermitteln, müssen wir einmal geschlossen entlang der
128 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

Leitbeispiel Antriebsstrang
Technische Mechanik

Fahrwerksfedern:
. . . torsionsbelastete Bauteile, die die gesamte Masse von
Karosserie und Zuladung tragen.

Besonders wichtige Anschlusskomponenten an den jeder beliebigen Stelle in der Feder befinden, aber die
Antriebsstrang sind die Fahrwerksfedern, tragen diese Position unmittelbar am unteren Ende der Feder ist am
doch die gesamte Last von Karosserie und Zuladung. anschaulichsten.
Zu den wichtigsten Eigenschaften einer Fahrwerksfe-
der gehören die Federkonstante c, welche maßgeblich dϑ
den Fahrkomfort des Fahrzeugs bestimmt, sowie die df
Tragfähigkeit der Feder, also die Frage nach den durch
eine äußere Kraft F hervorgerufenen Spannungen im
Federdraht. R

Die Federkonstante c ist definiert als Quotient aus an- F


greifender Kraft F und Auslenkung f :
F
c= . Unter Beanspruchung durch das Torsionsmoment im
f Federdraht verdrillt sich die betrachtete dünne Scheibe
Um die Auslenkung f der Feder zu ermitteln, müssen um den kleinen Winkel dϑ = (MT /GIT )ds, und das un-
wir uns zunächst einen Überblick über die Schnitt- tere Ende der Feder senkt sich um df = R·dϑ ab. Nun
größen im Federdraht verschaffen. Das Freikörperbild steht aber nicht nur ein dünnes Scheibchen unter Tor-
zeigt, dass im Federdraht die Querkraft Q = F und das sionsbeanspruchung, sondern die gesamte Feder. Für
Torsionsmoment MT = F · R wirken, wobei R der mitt- flache Schraubenfedern beträgt die Länge des abgewi-
lere Wicklungsradius der Feder ist. Q und MT sind an ckelten Federdrahtes l = 2πRn mit der Windungszahl
jeder Stelle des Federdrahtes gleich groß. Man kann n. Wir erhalten somit für die Verlängerung f der Feder:
zeigen, dass der Einfluss der Querkraft auf die Verfor-
mung deutlich kleiner ist als derjenige des Torsionsmo-  
2πRn
FR2 2πFR3 n
ments, sodass wir den Federdraht in guter Näherung f = df = ds = ,
GIT GIT
als rein torsionselastisch auffassen dürfen. 0

F
woraus sich mit IT = π2 r4 , wobei r der Durchmesser
des Federdrahtes ist, die Größe der Federkonstanten c
zu

Gr4
c=
4nR3
MT
ergibt.
Q
Damit zu den Spannungen: im Fedrdraht herrschen
R Schubspannungen, die durch das Torsionsmoment
und die Querkraft hervorgerufen werden. Die maxima-
le Torsionsspannungen beträgt
Wie lautet der Zusammenhang zwischen dem Torsi-
onsmoment MT im Federdraht und der Auslenkung MT FR
f ? Betrachten wir hierzu ein kleines Scheibchen Feder- τmax = = π 3
draht der Länge ds. Dieses Scheibchen kann sich an WT 2r
5.4 Torsion 129

und die maximale Schubspannungen durch Querkraft sich für das Verhältnis der beiden Spannungsanteile:

Technische Mechanik
4 Q 4F FR
τmax = = . τTorsion π 3 3R
3 πR2 3πr2 2r
= = ,
τQuerkraft 4F 2r
3πr2
Die insgesamt maximale Schubspannung im Draht tritt
an der Feder-Innenseite auf, da die Schubspannungen d. h., dass in Federn mit dünnem Federdraht (großes
aus Torsion und Querkraft hier in die gleiche Richtung R/r) die Torsionsspannungen deutlich größer als die
orientiert sind und sich somit addieren. Dabei ergibt Querkraftspannungen sind.

Bogenlänge integrieren. Man spricht dabei von einem der Länge l mit einem konstanten Querschnitt. Die äuße-
Umlaufintegral und zeigt dies durch einen Kreis im In- re Arbeit, die ein angreifendes Torsionsmoment MT beim
tegralzeichen an. Wir erhalten unter Beachtung, dass der Verdrillen des Stabes verrichtet, beträgt 12 MT ϑ – in Ana-
Schubfluss τ · t konstant ist, logie zur bekannten Merkregel 12 Fs für die Energie einer
  gespannten Feder – und wird in der Verzerrungsenergie
MT = τtrds = τt rds, des tordierten Stabes gespeichert. Mit der im Träger ge-
speicherten Verzerrungsenergie,
wobei das Produkt von r und ds gerade doppelt so groß  
1 1 τ2
ist wie das schraffierte kleine Dreieck der Fläche dAm . Wir W= τγdV = dV,
2 2 G
formen weiter um zu (V ) (V )

dem geometrischen Zusammenhang dV = ltds und der 1.
MT = τt 2dAm = 2τtAm
Bredt’schen Formel lösen wir nach dem Verdrehwinkel ϑ
auf. Wir erhalten die 2. Bredt’sche Formel,
und erhalten so für die Schubspannungen 
MT l 1
ϑ= ds,
MT 4GA2m t
τ= .
2tAm welche sich in der gewohnten Form

Diese Gleichung ist als 1. Bredt’sche Formel bekannt (nach MT l


ϑ=
Rudolf Bredt, 1842–1900). In ihr sind MT das Torsions- GIT
Schnittmoment im betrachteten Querschnitt, t die Wand-
darstellen lässt, wenn das Torsionsträgheitsmoment wie
stärke und Am die von der Profil-Mittellinie eingeschlos-
folgt angesetzt wird:
sene Fläche. Die 1. Bredt’sche Formel bestätigt die Fol-
gerung aus dem hydrodynamischen Vergleich, dass die
Torsionsspannungen an der Stelle der geringsten Wand- Torsionsträgheitsmoment dünnwandiger
stärke maximal werden. geschlossener Profile

Wie bei der Torsion von Kreisprofilen lässt sich auch die 4A2
IT =  1 m .
1. Bredt’sche Formel so darstellen, dass die maximale
t ds
Spannung als Quotient von Torsionsmoment durch Wi-
derstandsmoment dargestellt wird.
Achtung Die 2. Bredt’sche Formel mag ungewohnt sein,
man sieht Umlaufintegrale nicht alle Tage. Haben Sie aber
Maximale Torsionsspannung in dünnwandigen
vor dem Umlaufintegral keine Angst. Für die allermeisten
geschlossenen Profilen
technisch relevanten Träger ist die Wandstärke zumin-
destens abschnittsweise konstant, und aus dem beängs-
MT tigenden Umlaufintegral wird dann der simple Quotient
τmax = mit WT = 2Am tmin .
WT aus Bogenlänge durch Wandstärke. Im folgenden Beispiel
und in den Übungsaufgaben werden Sie dies bestätigt fin-
den. 
Die Berechnung der Verdrehung gelingt am einfachsten
mit einem kleinen Vorgriff auf Kap. 6, wenn wir nämlich Beispiel Der in Abb. 5.40 skizzierte kastenförmige Trä-
die Arbeit betrachten, die ein Torsionsmoment am ver- ger wird durch das Torsionsmoment MT = 400 Nm belas-
drillten Stab leistet. Betrachten wir hierzu einen Träger tet. Der Schubmodul des Werkstoffs beträgt 80 GPa. Wie
130 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

Beispiel: Ermittlung des Schubmoduls eines Stahldrahtes aus der Torsionseigenfrequenz


Technische Mechanik

. . . ein Versuch, den man mit einfachen Mitteln selbst Drehschwingungen der Schubmodul es Drahtes be-
durchführen kann. stimmen?

Problemanalyse und Strategie: Aus den Gleichungen Aus mechanischer Sicht stellen Draht und Holzklotz
für den Verdrehwinkel eines torsionsbelasteten Stabes einen Feder-Masse-Schwinger dar, bestehend aus dem
berechnen wir zunächst die Drehfedersteifigkeit des Draht als praktisch masseloser Drehfeder und dem
Stabes. Diese setzen wir in die aus der Experimental- Holzklotz als Drehmasse. Die Eigenfrequenz f dieses
physik bekannten Gleichung für die Eigenfrequenz ei- Systems beträgt
nes Feder-Masse-Schwingers ein und erhalten so einen 
1 cD
Zusammenhang zwischen Eigenfrequenz und Schub- f = ,
modul. 2π J
wobei cD die Drehfedersteifigkeit und J das Mas-
Lösung: Wie misst man den Schubmodul von Werkstof-
senträgheitsmoment des Holzklotzes ist. Die Dreh-
fen? Am naheliegendsten ist es sicherlich, in einem Tor-
federsteifigkeit ist definiert als Quotient aus angrei-
sionsversuch das Torsionsmoment über dem Verdreh-
fendem Torsionsmoment MT und Verdrehwinkel ϑ,
winkel aufzunehmen und den Schubmodul aus der Stei-
cD = MT /ϑ. Das Massenträgheitsmoment einer dün-
gung der Hooke’schen Geraden zu bestimmen. Aber
derartige Versuche können ungenau sein. Im Allgemei- nen Platte (vgl. Abschn. 10.1) beträgt J = 12
1
mL2 .
nen sind die auftretenden Verformungen im linearen Be- Wie groß die Drehfedersteifigkeit eines runden Stabes
reich recht klein und daher schwer zu messen, und auch der Länge l und des Radius R ist, können wir mit der
die Nachgiebigkeit der Prüfmaschine kann das Mess- Gleichung für den Verdrehwinkel kreiszylindrischer
ergebnis verfälschen. Genauere Ergebnisse erhält man Wellen ermitteln. Es ergibt sich
über die Messung der Eigenfrequenz der Probe.
MT GI
Die Messung des Schubmoduls aus der Eigenfrequenz cD = = T.
eines drehschwingenden Stabes lässt ich mit sehr ein- ϑ l
fachen Mitteln durchführen. Alles, was Sie benötigen, Wir lösen nach G auf, ersetzen cD mit der vorherigen
sind ein knapp 1 m langer Metalldraht, wie er in Bas- Gleichung und erhalten
telgeschäften erhältlich ist, und zwei ca. 8 cm × 8 cm
große und 1 cm starke Holzstücke. 4π 2 Jl 2
G= ·f .
Ein Ende des Drahtes kleben wir zwischen die bei- IT
den Holzstücke ein, das andere Ende spannen wir fest π 4
Mit IT = 2R und J = 1
12 mL
2 ergibt sich schließlich
ein, beispielsweise mit einer Schraubzwinge, sodass
der Draht mit den Holzstücken frei nach unten hängt. 2 πmlL2 2
Jetzt verdrehen wir die Holzstücke um die Drahtachse, G= ·f
3 R4
sodass der Draht tordiert wird.
als Gleichung für die Berechnung des Schubmoduls
aus der gemessenen Eigenfrequenz f .

Aufgrund seiner einfachen Durchführung eignet sich


der Versuch gut als Vorführversuch, beispielsweise
in einer Vorlesung. Bei seinem letzten Versuch hat
l, R der Autor einen Metalldraht der Länge l = 78 cm und
des Durchmessers 0,65 mm sowie zwei Holzklötze mit
einer Breite von jeweils l = 94 mm und einer Mas-
se von zusammen m = 62 g verwendet. Als Eigenfre-
quenz hatten wir f = 0,95 Hz gemessen, woraus sich
der Schubmodul zu
2 π · 0,062 kg · 0,78 m · (94 mm)2
G= · (0,95 s−1 )2
3 (0,325 mm)4
L
= 72 GPa
ergab. Im Vergleich zum Literaturwert für Stahl von ca.
Sobald wir loslassen, vollführen Draht und Klotz Dreh- 80 GPa ist das für eine derart einfache Versuchsdurch-
schwingungen. Wie lässt sich aus der Frequenz dieser führung kein schlechtes Ergebnis.
5.4 Torsion 131

Technische Mechanik
4
5 mm
10 2 40
2
00
4

40 MT = 400 Nm
60 mm

Abb. 5.40 Rechteckrohre sind ein Beispiel für dünnwandige geschlossene Pro- Abb. 5.41 Dünnwandige Rohre können sowohl als kreiszylindrisches als auch
file als dünnwandiges geschlossenes Profil angesehen werden

groß sind die größten Spannungen im Träger und der Ver- Zunächst zur Spannungsberechnung: Die Widerstands-
drehwinkel des Stabes? momente betragen
Zu den Spannungen: Diese sind im Bereich der kleinsten π
WT, Kreisprofil = (R4 − R4i )
Wandstärke maximal und betragen 2Ra a
π
= [(30 mm)4 − (25 mm)4 ]
MT 400 Nm 2 · 30mm
τmax = = = 73 MPa.
WT 2 · 36 mm · 38 mm · 2 mm = 21.958 mm3 und
WT, Hohlprofil = 2Am tmin
Zum Verdrehwinkel: Das Umlaufintegral spalten wir in
vier einzelne Integrale mit jeweils konstanter Wandstär- = 2π (27,5 mm)2 · 5 mm
ke auf (linke, obere, rechte und untere Wand). Jedes der
vier Integrale entspricht aufgrund der jeweils konstanten
= 23.758 mm3 .
Wandstärke dem Quotienten aus Länge durch Wandstär- Die Gleichungen für dünnwandige geschlossene Hohl-
ke und wir erhalten profile ergeben also ein um den den Faktor 1,08 zu großes
 Widerstandsmoment und die so berechneten Spannungen
1 36 mm 38 mm 36 mm 38 mm sind folglich um eben diesen Faktor kleiner als der exakte
ds = + + + = 55.
t 2 mm 4 mm 2 mm 4 mm Wert.
Wir setzen alles in die Bestimmungsgleichung für ϑ ein Zum Verdrehwinkel: Der nach den Gleichungen für kreis-
und erhalten zylindrische Wellen berechnete exakte Wert des Torsions-
trägheitsmoments beträgt

M l MT l 1t ds π
ϑ= T = IT, Kreisprofil = (R4a − R4i )
GIT 4GA2m 2
400 N m · 1000 mm · 55 π
= ˆ 2,1◦ .
= 0,037 = = [(30 mm)4 − (25 mm)4 ] = 658.753 mm4 .
2
4 · 80.000 mm
N
2 · (36 mm · 38 mm)
2
 Nach den Gleichungen für dünnwandige geschlossene
Hohlprofile wird IT gemäß

Beispiel Dünnwandige Rohre kann man sowohl nach 4A2


IT, Hohlprofil =  1 m
den Gleichungen für Kreisquerschnitte als auch nach de- t ds
nen für dünnwandige geschlossene Hohlprofile berech-
berechnet. Hierin ist Am die von der Mittellinie des Profils
nen. Hierbei sind die Gleichungen für Kreisquerschnitte
umschlossene Fläche – π (27,5 mm)2 – und das Umlauf-
exakt und die für dünnwandige Hohlprofile Näherungs-
integral ist tatsächlich einfacher zu berechnen, als man
lösungen, die erst im Grenzwert zu verschwindend klei-
denkt. Die Wandstärke t ist nämlich konstant, kann vor
nen Wandstärken gegen die exakte Lösung konvergieren.
das Integral gezogen werden, und das verbleibende Inte-
Wie groß sind jeweils die Abweichung von der exakten
gral über die Funktion 1 entspricht schlicht und einfach
Lösung, wenn beim in Abb. 5.41 skizzierten Profil Span-
dem mittleren Kreisumfang:
nungen und Verformungen nach den Gleichungen für  
dünnwandige geschlossene Hohlprofile berechnet wer- 1 1 π · 55 mm
ds = ds = .
den? t t 5 mm
132 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

Kraftflusslinie, die in einer beliebigen Entfernung y von


der Profilmitte verläuft und die infinitesimal kleine Breite
Technische Mechanik

dy aufweist, lautet dieser Zusammenhang

dMT = 2τ (y)Am (y)dy.

τ max Hierin setzen wir Am (y) = 2yh sowie τ (y) ein und inte-
y h grieren über alle Kraftflusslinien von ganz innen (y = 0)
bis außen an der Trägerwand (y = t/2). Wir erhalten

t/2
y 1
MT = 2 τmax 2yhdy = τmax ht2 .
t/2 3
0

t Nach τmax aufgelöst und wie gewohnt als Quotient von


Torsions- durch Widerstandsmoment ausgedrückt ergibt
sich:
Abb. 5.42 Die Torsionsspannungen in einem dünnwandigen offenen Profil ha-
ben ihren Maximalwert an den Profilrändern
Maximale Torsionsspannung in dünnwandigen offenen
Profilen
Damit ergibt sich MT 1 2
τmax = mit WT = ht .
WT 3
4[π (27,5 mm)2 ]2
IT, Hohlprofil = π ·55 mm
= 653.353 mm4 .
5 mm
Auch für die Berechnung des Torsionsträgheitsmomen-
Nach den Gleichungen für dünnwandige geschlossene tes IT können wir den schmalen Rechteckquerschnitt als
Hohlprofile ergibt sich also ein um den Faktor 1,01 klei- aus vielen ineinandergeschachtelten dünnwandigen ge-
neres als das exakte Torsionsträgheitsmoment, sodass der schlossenen Hohlprofilen bestehend auffassen. Dann ist
Verdrehwinkel um eben diesen Faktor oberhalb des exak-
ten Wertes liegt.  t/2
4A2
IT =  1m
y= 0 t ds

Dünnwandige offene Profile sind torsionsweich
mit t = dy, Am = 2yh und 1ds = 2h,

Betrachten wir zunächst einen Träger mit einem schma- t/2 t/2
4 · 4y2 h2
len Rechteckprofil, dessen Breite t klein gegenüber der IT =  dy = 8y2 hdy.
ds
Höhe h sei. Ähnlich wie bei einem Kreisprofil ist die Tor- y= 0 y= 0
sionsspannung in der Profilmitte gleich null, um von dort
aus linear zum Maximalwert am Profilrand anzusteigen
Und wir erhalten für das
(Abb. 5.42).
Für die Schubspannungsverteilung gilt somit
Torsionsträgheitsmoment eines dünnwandigen
y offenen Profils
τ (y) = τmax .
t/2 1 3
IT = ht .
3
In Abbildung 5.42 erkennen wir, dass das Schubspan-
nungsfeld – bildlich gesprochen – aus lauter geschlos-
senen Kraftflusslinien besteht. Wir können uns also den Abschließend – ohne Herleitung – noch zwei Erweite-
Trägerquerschnitt so vorstellen, als bestehe er aus inein- rungen dieser Gleichungen: Ist ein Träger aus mehreren
andergeschachtelten dünnwandigen geschlossenen Hohl- schlanken Rechteckprofilen zusammengesetzt, so berech-
profilen. nen sich IT und WT als
Für jedes dieser einzelnen geschlossenen Hohlprofile be-
1 IT
3∑ ii
schreibt die 1. Bredt’sche Formel den Zusammenhang IT = h t3 und WT = ,
zwischen Torsionsmoment und Schubspannung. Für eine tmax
5.5 Statisch überbestimmte Systeme 133

60 5.5 Statisch überbestimmte Systeme

Technische Mechanik
8
In statisch überbestimmten Systemen übersteigt die Zahl
der Lagerreaktionen die Zahl der Gleichgewichtsbedin-
gungen, und es lassen sich nicht mehr alle Lagerreak-
tionen aus den Gleichgewichtsbedingungen berechnen.

60
Zwei (oder je nach Grad der Überbestimmtheit auch
4
mehr) Verformungsberechnungen können dann aber die
zur Berechnung aller Lagerreaktionen erforderlichen zu-
sätzlichen Gleichungen liefern. Im Falle eines einfach
statisch überbestimmten Systems – wenn die Zahl der

10
Lagerwertigkeiten um eins größer ist als die Zahl der
75
Gleichgewichtsbedingungen – geht dies in den folgenden
Schritten vor sich:
Abb. 5.43 Ein I-Träger in Torsion lässt sich nach den Gleichungen für dünn-
wandige offene Profile analysieren Schritt 1: Eine Lagerwertigkeit wird durch seine als
äußere Last angesetzte Lagerreaktion ersetzt. Man
bezeichnet diese Lagerreaktion als „statische Unbe-
wobei die maximale Spannung im Profilabschnitt mit der stimmte“.
größten Wandstärke auftritt. Schritt 2: Die verbleibenden Lagerreaktionen werden
mit den Gleichgewichtsbedingungen der Statik als
Beispiel Für den in Abb. 5.43 skizzierten Träger betra- Funktion der äußeren Belastung und der statischen
gen IT und WT Unbestimmten berechnet.
Schritt 3: Es werden nun zwei Verformungsberechnun-
1 gen durchgeführt, nämlich in Schritt 3a die Verfor-
3∑ ii
IT = h t3
mung allein unter der ursprünglich aufgebrachten Last
1  und in Schritt 3b die Verformung allein durch die stati-
= 60 · 83 + 60 · 43 + 75 · 103 mm4 = 36.520 mm4 , sche Unbestimmte.
3
Schritt 4: Die statische Unbestimmte entspricht genau
IT 36.520 mm4 dann der Lagerreaktion, wenn die Überlagerung der
WT = = = 3652 mm3 .
tmax 10 mm beiden in Schritt 3 berechneten Verschiebungen an der
 Stelle des Lagers null ergibt. Denn im ursprünglichen
statisch überbestimmten System verschwindet die Ver-
Frage 5.10 schiebung am Lager naturgemäß auch.
Die Bauweise der Spiralfeder Slinky ist noch immer die-
selbe wie zu seiner Markteinführung in den 1940er Jahren Die sich aus Schritt 4 ergebende Gleichung – Verschie-
und seine Faszination als Spielzeug ungebrochen. Wun- bung unter der ursprünglichen Last plus Verschiebung
derschön gemächlich schwingt es auf und ab, und wenn durch die statische Unbekannte gleich null – ist genau die
man sich geschickt anstellt, kann es auch ganz alleine, Stu- zusätzliche Gleichung, die zur Ermittlung aller Lagerre-
fe für Stufe eine Treppe hinabgehen. Weshalb kann Slinky aktionen benötigt wird. Man nennt sie auch Kompatibili-
das, andere Schraubenfedern aber nicht? tätsgleichung, weil die statische Unbestimmte nur dann
mit der Lagerreaktion verträglich ist, wenn eben diese
Gleichung erfüllt ist.
Hierzu folgendes Beispiel:

Beispiel Die Lagerreaktionen des in Abb. 5.44 darge-


stellten Biegeträgers sind zu berechnen.

q0

A B
x

Abb. 5.44 Beispiel eines statisch überbestimmten Biegeträgers


134 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

Den drei Gleichgewichtsbedingungen der ebenen Statik σφ


stehen vier Unbekannte (Ax , Ay , MA und By ) gegenüber. σφ
Technische Mechanik

t
Das System ist also statisch überbestimmt gelagert. σφ

2R
pi
pi
Schritt 1: Wir wählen ein Lager aus, hier das Lager B, und

t
ersetzen es durch seine als äußere Kraft angesetzte Lager-
l
reaktion By . Damit erhalten wir das in Abb. 5.45 gezeigte t 2R t
statisch bestimmte System:
Abb. 5.46 Freikörperbild zur Ermittlung der Umfangsspannungen

facher statischer Überbestimmtheit drei Verformungs-


l berechnungen – je eine für die ursprüngliche Belastung
und die beiden statischen Unbekannten. Diese drei
By
A
x Verformungsberechnungen führen dann zu zwei Kom-
patibilitätsgleichungen, dass nämlich die Überlage-
Abb. 5.45 Eine Lagerwertigkeit wird durch seine als äußere Last angesetzte rung der drei Verformungen an den Angriffspunkten
Lagerreaktion ersetzt der beiden statischen Unbekannten jeweils verschwin-
det.
Die Überlagerbarkeit der Verschiebungen unter der
Schritt 2: Die verbleibenden Lagerreaktionen lauten in
ursprünglichen Belastung und der statischen Unbe-
Abhängigkeit der statischen Unbekannten By :
kannten setzt voraus, dass sich der Werkstoff linear-
elastisch verformt.
1 2
Ay = q0 l − By und MA = q0 l − By · l.
2
Schritt 3: Der Biegemomentenverlauf ist

1 5.6 Dünnwandige Behälter


M(x) = By (l − x) − q0 (l − x)2 .
2 unter Innendruck
Schritt 4: Aus der Tabelle der Durchbiegungen lesen wir
als Verschiebungen des freien Trägerendes ab: Im Abschn. 5.2 hatten wir gelernt, dass lange und dünne
Träger aufgrund der großen Hebelarme und des kleinen
q0 l4 axialen Flächenträgheitsmoments sehr empfindlich auf
w= für die Streckenlast und
8EIy Biegebeanspruchung reagieren. Das gilt sinngemäß auch
für dünnwandige Druckbehälter. Diese sollten tunlichst
By l3
w=− für die Punktlast. so konstruiert sein, dass sich ihre Behälterwand durch
3EIy die Druckbelastung nicht verbiegt. Es gibt zwei technisch
wichtige Behälterformen, die diese Anforderung erfüllen,
Wir setzen die Summe dieser beiden Durchbiegungen den zylindrischen und den kugelförmigen Druckbehälter.
gleich null und erhalten so für die statische Unbestimmte
By = 38 q0 l sowie aus den Gleichgewichtsbedingungen der
ebenen Statik die weiteren Lagerreaktionen:
Zylindrische Behälter
5 1
Ay = q0 l und MA = q0 l2 .
8 8
Bei zylindrischen Behältern empfiehlt es sich, die auftre-
 tenden Spannungen in Polarkoordinaten zu betrachten.
In der Behälterwand liegen dann Radialspannungen σr ,
Anmerkungen: Umfangsspannungen σϕ und Längsspannungen σl vor
(Abb. 5.46).
Bei mehrfach statisch überbestimmten Systemen sind
entsprechend mehr Verformungsberechnungen und Die Umfangsspannung σϕ lässt sich aus dem Kräfte-
Kompatibilitätsgleichungen zur Ermittlung aller La- gleichgewicht eines längs durchgeschnittenen Behälters
gerreaktionen erforderlich. So benötigt man bei zwei- ermitteln. Die Kraftwirkung des Innendrucks berechnen
5.7 Überlagerte Beanspruchung 135

σ Kugelbehälter
t

Technische Mechanik
In der Wand eines Kugelbehälters unter Innendruck sind
pi
2R die Spannungen aus Symmetriegründen in alle Richtun-
gen gleich groß. Man kann sich anhand eines entspre-
chenden Freikörperbildes leicht davon überzeugen, dass
t die Kesselformel für die Längsspannung auch für Kugel-
σ
behälter gilt. Die Spannungen in einem dünnwandigen
Kugelbehälter unter Innendruck betragen somit
Abb. 5.47 Freikörperbild zur Ermittlung der Längsspannungen
pi R
σ= .
2t
wir per „Druck mal projizierte Fläche“ und erhalten so
für das Kräftegleichgewicht in vertikaler Richtung
5.7 Überlagerte Beanspruchung
↑ ∑ Fi = σϕ · 2tl − pi · 2Rl = 0
pR
=⇒ σϕ = i . Bei der Dimensionierung von Bauteilen geht es darum,
t berechnete Spannungen hinsichtlich ihrer Zulässigkeit zu
beurteilen. Dabei kann die Mehrachsigkeit der Spannun-
Hierin ist pi der Innendruck im Behälter; R und t sind der gen ein Problem darstellen.
Radius und die Wandstärke des Behälters. Die Diskussion dieses Themas fällt leichter, wenn wir
Für die Längsspannung σl setzen wir das Kräftegleichge- zunächst die drei Arten der Spannungsmehrachsigkeit
wicht in horizontaler Richtung an (Abb. 5.47) und erhal- sauber definieren. Wir wissen (Kap. 4), dass sich die Ko-
ten ordinaten des Spannungstensors bei einer Drehung des
Koordinatensystems ändern und dass sich jeder Span-
→ ∑ Fi = σl · 2πRt − pi · πR2 = 0 nungstensor in sein Hauptachsensystem drehen lässt, in
welchem alle Schubspannungen zu null werden.
pR
=⇒ σl = i . Ein Spannungszustand mit
2t
genau einer von null verschiedenen Hauptspannung
Diese Gleichungen für σϕ und σl sind unter der Bezeich- heißt einachsig,
nung Kesselformeln bekannt. Es lohnt sich, sie auswendig zwei von null verschiedenen Hauptspannungen heißt
zu können: zweiachsig (oder ebener Spannungszustand),
drei von null verschiedenen Hauptspannungen heißt
dreiachsig.
Kesselformeln
In dünnwandigen zylindrischen Druckbehältern ist Warum ist die Betrachtung der Mehrachsigkeit wich-
die Umfangsspannung σϕ doppelt so groß wie die tig bei der Bauteildimensionierung? Nun, die gängigsten
Längsspannung σl . Es gilt Werkstoffwiderstände wie Streckgrenze, Zug- oder Biege-
festigkeit und Dauerfestigkeit werden an Proben gewon-
pi R pi R nen, in denen einachsige Spannungszustände herrschen
σϕ = und σl = .
t 2t (jeweils eine Normalspannung in Probenlängsrichtung).
In realen Bauteilen sind die Spannungszustände dagegen
oft mehrachsig.
Dass die Umfangsspannungen doppelt so groß wie die
Längsspannungen sind, äußert sich auch bei aufplatzen- Die im Bauteil herrschende Spannung kann aber nur
den Brühwürstchen. Diese platzen quer zu den größten dann ohne Weiteres mit der zulässigen Spannung σzul des
Spannungen auf, also stets in Längsrichtung der Wurst. Werkstoffs verglichen werden, wenn die Spannungszu-
stände in Bauteil und Probe die gleichen, also jeweils ein-
Die Radialspannung σr entspricht an der Behälterinnen- achsige Spannungszustände sind. Einachsige Spannungs-
wand dem Innendruck −pi und verschwindet an der zustände sind beispielsweise Zug-Druck-Beanspruchung,
Behälteraußenwand, da diese eine freie, unbelastete Ober- Biegebeanspruchung sowie überlagerte Zug-Druck- und
fläche ist. Sie ist in dünnwandigen Behältern (t R) sehr Biegebeanspruchung, da in diesen Fällen jeweils als ein-
viel kleiner als Längs- und Umfangsspannung und kann zige Spannung eine Normalspannung in Trägerlängsrich-
somit in aller Regel vernachlässigt werden. tung herrscht.
136 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

τ
Technische Mechanik

σ2 σ1 σ

45°

Abb. 5.48 Mohr’scher Spannungskreis für Torsion


Abb. 5.50 In Biegung (a) und Torsion (b) bricht ein spröder Werkstoff zwar
l1 mit unterschiedlich orientierter Bruchfläche, aber die Bruchfläche ist in beiden
Fällen genau senkrecht zur Richtung der größten Hauptspannung ausgerichtet

I
Für die Bildung von σV gibt es verschiedene Festigkeits-
l2
hypothesen. Die drei bekanntesten sind die Normalspan-
F nungs-, die Schubspannungs- und die Gestaltänderungs-
II energie-Hypothese, welche wir im Foglenden als N-, S-
und GE-Hypothese abkürzen wollen.

Abb. 5.49 Überlagerung von Biegung und Torsion

Die Normalspannungs-Hypothese beschreibt


Ist der Spannungszustand im Bauteil dagegen mehrach- das Bruchverhalten spröder Werkstoffe
sig, wird es schwierig. Das ist schon bei einfacher Torsion
der Fall, denn Torsionsspannungen sind Schubspannun-
gen. Im Hauptachsensystem treten zwei Hauptspannun- Spröde Werkstoffe reagieren besonders empfindlich auf
gen σ1 und σ2 auf, die im Betrag gleich groß sind, aber Normalspannungen. An einem sehr einfachen Experi-
unterschiedliche Vorzeichen haben (Abb. 5.48). ment mit einem spröden (und billigen) Werkstoff, ge-
wöhnlicher Tafelkreide, lässt sich das schön zeigen. Zer-
Noch schwieriger wird es, wenn mehrere Spannungen bricht man ein Stück Kreide ganz normal mit den Hän-
gleichzeitig vorliegen, beispielsweise wie in Abb. 5.49 ge- den – das geschieht unwillkürlich in Biegung – so bricht
zeigt Biegung und Torsion. So herrschen im Bereich I des es stumpf durch. In Torsion ist die Bruchfläche dagegen
abgebildeten Winkelträgers Normalspannungen durch um 45° zur Probenlängsrichtung geneigt. Welches Prinzip
Biegung und Schubspannungen durch Torsion. ist dahinter erkennbar? In Biegung zerbricht die Kreide
Wie geht man nun vor, einfach die größere der beiden ganz offensichtlich senkrecht zu den Biegespannungen,
Spannungen mit σzul vergleichen? Oder erst beide Span- also senkrecht zur Richtung der größten Hauptspannung.
nungen addieren? Am besten machen wir uns erst einmal Und in Torsion geschieht dies ebenfalls, denn in der tor-
einige grundlegende Gedanken zur Mechanik und Festig- dierten Kreide herrschen Schubspannungen, zu denen die
keit von Werkstoffen. Hauptspannungen, wie wir das im Mohr’schen Span-
nungskreis gesehen hatten, stets im 45°-Winkel orientiert
Das Prinzip der nun vorgestellten Festigkeitshypothesen sind (Abb. 5.50a).
ist das Folgende:
Diesem experimentellen Befund folgend lautet die
Aus allen im Bauteil herrschenden Normal- und Schub-
spannungen wird ein einzelner Wert gebildet, die soge-
nannte Vergleichsspannung σV . Wenn σV für sich allei- N-Hypothese
ne genommen die gleiche Gefährlichkeit entfaltet, wie
die vorhandenen Normal- und Schubspannungen in ih- In spröden Werkstoffen ist die größtmögliche Nor-
rem Zusammenwirken, dann kann σV mit der zulässi- malspannung σ1 ausschlaggebend für das Werk-
gen Spannung σzul verglichen werden. Die Dimensionie- stoffversagen. Es gilt
rungsgleichung lautet also
σV = σ1 .
σV = σzul .
5.7 Überlagerte Beanspruchung 137

Mit anderen Worten: Die äußere Zugspannung ist doppelt


45° so groß wie die in der Zugprobe herrschenden Schub-

Technische Mechanik
spannungen. Dementsprechend erhalten wir als Definiti-
on für die

Abb. 5.51 Zugproben duktiler Werkstoffe versagen unter 45° zur Zugrichtung S-Hypothese
entlang der Ebenen der größten Schubspannungen
In duktilen Werkstoffen ist die größtmögliche
τ Schubspannung τmax ausschlaggebend für das
τ max Werkstoffversagen. Es gilt

σV = 2τmax .

σ zul σ
Frage 5.11
Welche Bruchflächenorientierung erwarten Sie, wenn ein
Stab aus duktilem Material in Torsion bis zum Bruch be-
ansprucht wird?

Abb. 5.52 Mohr’scher Spannungskreis einer Zugprobe, die genau mit der zu-
lässigen Spannung σzul belastet wird Ebenfalls auf duktile Werkstoffe anwendbar ist die
Gestaltänderungsenergie- (GE-) Hypothese. Sie lässt sich
nicht im Mohr’schen Spannungskreis darstellen, und des-
wegen verzichten wir hier auf die Herleitung. Sie lautet:
Schubspannungs- und
Gestaltänderungsenergie-Hypothese
beschreiben das Fließen duktiler Werkstoffe GE-Hypothese
In duktilen Werkstoffen setzt plastische Verformung
Im Gegensatz zu spröden Werkstoffen reagieren duktile dann ein, wenn die Gestaltänderungsarbeit pro
(verformungsfähige) Werkstoffe anfällig auf Schubspan- Werkstoffvolumen einen kritischen Wert erreicht.
nungen. Lassen Sie sich im werkstoffkundlichen Institut Für die Vergleichsspannung nach der GE-Hypothese
einmal die gerissene Zugprobe eines duktilen Metalls, gilt
etwa eines Baustahls zeigen (Abb. 5.51). Bis auf einen 
kleinen Bereich in der Mitte der Bruchfläche ist der größ- 1
σV = √ (σ1 − σ2 )2 + (σ2 − σ3 )2 + (σ3 − σ1 )2 .
te Teil der Bruchfläche um 45° zur Zugrichtung geneigt, 2
verläuft also entlang der größten Schubspannungen. Auf
mikrostruktureller Ebene findet diese Anfälligkeit auf
Schubspannungen ihren Grund darin, dass die plasti-
sche Verformung auf Versetzungsbewegungen beruht, die
ihrerseits zu großen Teilen ein Abgleiten von Gitterebe-
nen sind, welche durch Schubspannungen vorangetrie- Im ebenen Spannungszustand mit nur einer
ben werden. Normalspannung gelten besonders handliche
Werkstoffversagen setzt also dann ein, wenn die maxi- Formeln für σV
male Schubspannung im Bauteil einen kritischen Wert
erreicht. Die soeben hergeleiteten Gleichungen gelten für beliebi-
Sehen wir uns, um daraus eine handliche Gleichung abzu- ge ebene Spannungszustände. Reale Spannungszustände
leiten, den Mohr’schen Spannungskreis einer Zugprobe sind aber vielfach einfacher. Liegt, wie häufig der Fall,
an, die genau mit der zulässigen Spannung σzul belastet ein ebener Spannungszustand mit nur einer von null ver-
wird (Abb. 5.52) (siehe auch Abschn. 15.9). schiedenen Normalspannung σ sowie einer Schubspan-
nung τ vor, so lassen sich besonders handliche Formeln
Die maximale Schubspannung in der Probe beträgt für σV herleiten.
1 Der Mohr’sche Spannungskreis eines derartigen Span-
τmax = σ .
2 zul nungszustandes hat die in Abb. 5.53 gezeigte Gestalt.
138 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

τ Trägers (oben auf Höhe der Einspannung) im zulässigen


τ max Bereich liegen. Dabei dürfen Schubspannungen durch
Technische Mechanik

–τ Querkraft vernachlässigt werden.


Zunächst berechnen wir die Schnittgrößen auf Höhe der
Einspannung. Bei Vernachlässigung der Querkraft sind
σ σ1 σ
dies das Biegemoment M = Fl1 und das Torsionsmoment
M
MT = Fl2 .
Aus den Schnittgrößen berechnen wir für die Biegespan-
τ
nung

Fl1 h 2300 N · 800 mm


Abb. 5.53 Mohr’scher Spannungskreis für einen ebenen Spannungszustand σ= · =
· 30 mm
Iy 2 1
(60 mm)4 − (50 mm)4
mit nur einer Normalspannung 12

= 99 MPa
Für σ1 und τmax gelten die Zusammenhänge und für die Torsionsspannung

σ1 = Mittelpunkt + Radius MT Fl2 2300 N · 1200 mm


 τ= = = = 91 MPa.
1  σ 2 1   WT 2Am tmin 2 · 2(55 mm)2 · 5 mm
= σ+ + τ2 = σ + σ2 + 4τ 2 sowie
2 2 2 Weitere Spannungen existieren im betrachteten Punkt
τmax = Radius nicht. Es liegt also ein ebener Spannungszustand vor,

 σ 2 1 2
bei dem eine Normalspannung gleich null ist, und wir
= + τ2 = σ + 4τ 2 können die Vergleichsspannungen mit den vereinfach-
2 2 ten Gleichungen berechnen. Wir erhalten für die N-
Hypothese
Damit lassen sich nun unmittelbar die Vergleichs- 
spannungen nach der N- und S-Hypothese berechnen. 1  2  2

Wir nehmen die entsprechende Gleichung für die GE- σV = 99 MPa + 99 MPa + 4 91 MPa
2
Hypothese ohne Herleitung der Vollständigkeit halber = 153 MPa,
mit auf und fassen zusammen:
für die S-Hypothese

ESZ mit nur einer Normalspannung  2  2
σV = 99 MPa + 4 91 MPa = 207 MPa
Liegt in einem ebenen Spannungszustand nur eine
von null verschiedene Normalspannung vor, so gel-
ten für die Vergleichsspannungen und für die GE-Hypothese

 2  2
1  
σV = 99 MPa + 3 91 MPa = 186 MPa.
σV = σ + σ2 + 4τ 2 N-Hypothese,
2

σV = σ2 + 4τ 2 S-Hypothese, Die Beanspruchung befindet sich nach der N- und GE-
 Hypothese also im zulässigen Bereich. Nach der S-
σV = σ2 + 3τ 2 GE-Hypothese.
Hypothese wäre der Balken hingegen an der Einspann-
stelle überbeansprucht.
Als Alternative zu den Gleichungen können wir auch den
Beispiel Berechnen wir den eingangs des Abschnitts Mohr’schen Spannungskreis ansetzen. Aus ihm lesen wir
skizzierten Winkelträger (Abb. 5.49). Bei diesem betra- σ1 = 153 MPa, σ2 = −54 MPa und τmax = 103,5 MPa ab
gen die geometrischen Abmessungen l1 = 800 mm und und erhalten somit dieselben Werte wie zuvor (Abb. 5.54).
l2 = 1200 mm. Das Trägerprofil sei ein quadratisches Vier-
Das Beipiel zeigt, dass die verschiedenen Festigkeits-
kantrohr der äußeren Kantenlänge 60 mm und der Wand-
hypothesen ein und denselben Spannungszustand un-
stärke 5 mm. Die Kraft F betrage 2300 N und die aus einem
terschiedlich streng beurteilen. In nicht absolut allen,
Zugversuch ermittelte zulässige Spannung des Werk-
aber doch den weitaus meisten Fällen wird die Wir-
stoffs 200 MPa.
kung eines mehrachsigen Spannungszustands durch die
Überprüfen Sie anhand der N-, S- und GE-Hypothese, S-Hypothese am strengsten und die N-Hypothese am we-
ob die Spannungen im höchstbeanspruchten Punkt des nigsten streng beurteilt. 
Antworten zu den Verständnisfragen 139

τ (MPa) τ τ τ
τ max

Technische Mechanik
91

σ2 σ1 σ σ2 σ1 σ σ2 σ1 σ

σ2 M 99 σ 1 σ (MPa)

Abb. 5.55 Die drei Möglichkeiten für die Lage der Mohr’schen Spannungskrei-
se bei ebenen Spannungszuständen
–91

Für jeden dieser drei Fälle ergibt sich eine andere Bestim-
Abb. 5.54 Mohr’scher Spannungskreis für die höchstbelastete Stelle des Win-
kelträgers mungsgleichung für τmax . Es gilt:

Berechnung von τmax


Abschließende Bemerkungen zur S-Hypothese
Die maximale Schubspannung τmax ergibt sich aus
Nach der S-Hypothese beträgt die Vergleichsspannung den Hauptspannungen σ1 und σ2 als
σV = 2τmax . In Abschn. 3.1 hatten wir gelernt, dass τmax
1
der Hauptspannungsdifferenz σ1 − σ2 entspricht. Aber τmax = σ1 für σ2 > 0 und σ1 > 0,
Vorsicht, dies gilt nur für eine Drehung des Koordina- 2
tensystems in der Spannung führenden Ebene! Wenn wir 1 
τmax = σ1 − σ2 für σ2 < 0 und σ1 > 0
auch Drehungen aus dieser Ebene heraus zulassen, kann 2
τmax größer als σ1 − σ2 sein.
sowie
Der Grund hierfür liegt im Mohr’schen Spannungskreis
für dreiachsige Spannungszustände. Dieser besteht – oh- 1
ne tiefer ins Detail einzusteigen – aus drei ineinander τmax = |σ2 | für σ2 < 0 und σ1 < 0.
2
geschachtelten Kreisen durch die drei Hauptspannungen.
Wir haben in diesem Kapitel ausschließlich ebene Span-
nungzustände betrachtet, also Spannungszustände, bei
denen eine der drei Hauptspannungen gleich null ist. Weiterführende Literatur
Dies kann wie in Abb. 5.55 gezeigt entweder die kleinste
Hauptspannung (a), die mittlere Hauptspannung (b) oder Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils
die größte Hauptspannung sein (c). Technische Mechanik befindet sich am Ende von Kap. 9.

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 5.1 Wenn das Eigengewicht des Stabes nicht Antwort 5.3 Nehmen Sie einen Träger mit einem sehr
vernachlässigbar ist, ist N (x) veränderlich und die Ver- schlanken Rechteckquerschnitt, z. B. einen Streifen Papier.
längerungsberechnung muss durch Integration erfolgen. Wenn Sie diesen mit flacher Querschnittorientierung (die
Papierstärke ist also die Trägerhöhe) wie einen Kragträ-
Antwort 5.2 Weil viel Werkstoff in den Randfasern an- ger in der Hand halten, so hängt er schlaff nach unten.
gebracht ist (durchgehende horizontale Stäbe) und we- Halten Sie den Papierstreifen dagegen mit hochkant ste-
nig Werkstoff in Trägermitte (Diagonalstreben mit viel hendem Querschnitt in der Hand, geschieht das nicht,
Luft dazwischen). Das Material ist also überwiegend da nun die im Vergleich zur Papierstärke sehr viel grö-
da eingesetzt, wo es Biegespannungen ausüben und ßere Streifenbreite die Trägerhöhe ist und dem Träger
so dem angreifenden Biegemoment Widerstand leisten ein sehr viel größeres axiales Flächenträgheitsmoment
kann. verleiht.
140 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

Antwort 5.4 Bei Doppel-T-Trägern befindet sich beson- keiner Stelle des Kanals staut, muss es in engen Berei-
ders viel Material weit weg von der neutralen Faser, also chen entsprechend schneller fließen als in breiten. In der
Technische Mechanik

genau da, wo sich nennenswerte Biegespannungen bilden Flüssigkeitsströmung ist deshalb das Produkt aus Strö-
können, die dem angreifenden Biegemoment wirkungs- mungsgeschwindigkeit und Breite konstant, sodass im
voll Paroli bieten können. tordierten Träger das Produkt aus Schubspannung τ und
Wandstärke t, eben der Schubfluss, konstant ist.
Antwort 5.5 Die Verformung einer Angelrute kann, wenn
ein kapitaler Fisch anbeißt, leicht ähnlich groß wie ihre Antwort 5.10 Das Besondere an Slinky ist, dass es so
Länge sein und ist damit nicht mehr klein. In der analyti- schön langsam schwingt. Andere Schraubenfedern, bei-
schen Beschreibung der Krümmung, spielsweise die Federn eines Garagentors, schwingen um
ein Vielfaches schneller, viel zu schnell, um ihnen geruh-
d2 w sam zuzuschauen. In Analogie zur Eigenfrequenz eines
1 dx2
= −  2
3/2 , Feder-Masse-Systems, die gemäß
ρ
1+ dw
dx 
1 c
ν=
2
kann (dw/dx) dann nicht mehr vernachlässigt werden, 2π m
und es ergibt sich die auch für große Verformungen gülti-
ge Differenzialgleichung von der Federsteifigkeit c und der angehängten Masse m
abhängt, ist die Eigenfrequenz einer Feder umso niedri-
d2 w/dx2 M ger, je kleiner die Federkonstante und je größer die Dichte
 2
3/2 = − E I . des Federwerkstoffs – und damit die Masse der Feder –
y
1 + dxdw sind.
Für die Federsteifigkeit hatten wir
Antwort 5.6 Auch an Fest- und Loslagern kann sich ein
GIT
Träger nicht absenken. Im Gegensatz zur festen Einspan- c= .
nung kann er sich aber um den Lagerpunkt drehen, d. h. 2πR3 n
die Trägerneigung wird bei Belastung ungleich null sein.
hergeleitet. Können wir daraus Rückschlüsse ziehen, wel-
Die einzige Randbedingung eines Fest- oder Loslagers ist
che Drahtquerschnitte für Slinky am geeignetsten sind?
somit w(x0 ) = 0, wobei x0 die Stelle der Lagerung ist.
Nun, Slinky soll langsam schwingen und deshalb bei
Antwort 5.7 Nur in sehr kurzen Bauteilen, wie z. B. Niet- großer Masse m eine kleine Federsteifigkeit c aufweisen.
oder Bolzenverbindungen. In die Gleichung für die Federsteifigkeit geht der Draht-
querschnitt allein über das Torsionsträgheitsmoment IT
Antwort 5.8 Wir müssen einen kreisrunden Topf mit Was- ein. Günstig sind deshalb Querschnitte mit einem kleinen
ser füllen, kräftig umrühren, Papierschnipsel einstreuen Torsionsträgheitsmoment bei großer Querschnittsfläche
und das Profil der Strömungsgeschwindigkeit beurteilen. (im Interesse großer Masse), und dies ist am Besten bei
Sie werden sehen: In der Mitte ist die Strömungsge- dünnwandigen offenen Profilen gegeben.
schwindigkeit gleich null (In welche Richtung sollte das
Wasser auch fließen?), am Rand fließt das Wasser am Genau so ist Slinky auch tatsächlich aufgebaut. Im Gegen-
schnellsten, und zwischendrin nimmt die Geschwindig- satz zu gewöhnlichen Schraubenfedern, die aus rundem
keit von der Mitte zum Rand hin linear zu. Letzteres lässt Draht gewickelt sind, besitzt Slinky einen dünnen Recht-
sich daran erkennen, dass die Papierschnipsel sich nicht ecksquerschnitt.
überholen, sich also mit konstanter Winkelgeschwindig-
Antwort 5.11 Der Stab würde entlang der Ebenen der
keit bewegen.
größten Schubspannungen versagen und somit stumpf
Antwort 5.9 Als Analogie für den Kraftfluss im tordierten durchbrechen. Dieser Versuch lässt sich übrigens recht
Träger betrachten wir einen in sich geschlossenen Ka- schön mit einer Christbaumkerze aus Wachs nachvollzie-
nal, in dem Wasser zirkuliert. Damit sich das Wasser an hen.
Aufgaben 141

Aufgaben

Technische Mechanik
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

5.1 • Ein Bergsteiger wird an einem 300 m langen Materialparameter: Elastizitätsmodul E = 20.000 MPa,
Seil in die Tiefe abgeseilt. Das Gewicht des Bergsteigers spezifisches Gewicht γ = 22.000 mN3 .
betrage 800 N. Das Seil habe ein spezifisches Gewicht von
γ = 0,7 N/m (Kraft pro laufende Seillänge). Zur Ermitt-
lung der Struktursteifigkeit E A wurde zuvor im Labor ein
Zugversuch durchgeführt. Bei einer Belastung von 1000 N
dehnte sich dabei das Seil um 2 %. z

145 m
g
z
229 m

Berg
300 m

1. Berechnen Sie den Verlauf der Normalkraft N (z) in der


Pyramide.
2. Berechnen Sie den Verlauf der Normalspannung σ(z)
in der Pyramide. An welcher Stelle ist σ (z) maximal?
Wie groß ist der Maximalwert?
3. Um wie viele Millimeter wird die Pyramide allein
durch ihr Eigengewicht gestaucht?

1. Bestimmen Sie den Verlauf der Normalkraft N (z) im Hinweis:


Seil.
2. Bestimmen Sie aus dem Ergebnis des Laborversuchs Beachten Sie, dass die Koordinate z ihren Ursprung in
die Struktursteifigkeit E A des Seils. der Spitze der Pyramide hat.
3. Bestimmen Sie die Längenänderung des den Bergstei- Die Berechnungsformel für das Volumen V einer Pyra-
ger haltenden Seils. mide lautet
1
Resultat: V= · Höhe · Grundfläche.
3
1. N (z) = 800 N + 0,7 m
N
(300 m − z).
2. E A = 50 kN. Resultat:
3. Δl = 5,43 m. 1. N (z) = −18.291 mN3 · z3 .
2. σ (z) = −7333 mN3 · z.
σ (z) wird an der Basis maximal, σ (z)max = −1 MPa.
5.2 •• Die Cheops-Pyramide in Gizeh ist mit einer
3. Δl = −3,85 mm.
Höhe von 145 m und einer quadratischen Grundfläche
der Abmessungen 229 m × 229 m die höchste Pyramide
der Welt. Betrachten Sie die Pyramide in dieser Aufga- 5.3 •• Eine Zugprobe bestehe aus einem zylindri-
be bitte sehr grob vereinfachend als einen homogenen schen Kern aus Stahl des Durchmessers 10 mm und einer
Druckstab mit veränderlichem Querschnitt, der durch 1 mm starken Beschichtung aus Emaille. Die Länge der
sein Eigengewicht belastet wird. Probe betrage 100 mm.
142 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

5.5 • Gegeben ist der folgende spiegelsymmetri-


F 1 mm F sche Flächenquerschnitt (alle Abmessungen in mm):
Technische Mechanik

10 mm
1 mm
100 mm

20
0
R1
Berechnen Sie
1. die Spannungen in Stahlkern und Emailleschicht sowie

30
2. die Verformung Δ l der Probe,
wenn die Zugkraft auf die Probe F = 15 kN beträgt.
Materialparameter:

10
EStahl = 205.000 MPa, EEmaille = 70.000 MPa.
10 20 10
Hinweis: Die Vorgehensweise bei dieser Aufgabe ist wie
bei einer Schraubenberechnung, denn so wie sich Schrau-
be und Platte unter einer Betriebslast um den gleichen Be- 1. Bestimmen Sie die Koordinaten des Flächenschwer-
trag dehnen, dehnen sich auch Stahlsubstrat und Emaille- punktes.
schicht gleich stark. 2. Die y-Achse sei nun diejenige horizontale Achse, die
durch den soeben berechneten Flächenschwerpunkt
Resultat: σStahl = 166 MPa, σEmaille = 57 MPa, verläuft. Berechnen Sie das Flächenträgheitsmoment Iy .
Δ l = 81 μm.
Resultat:
1. Der Flächenschwerpunkt liegt 31 mm oberhalb der Pro-
5.4 • Die abgebildete Schraube soll die Betriebs-
filunterkante.
kraft FA = 20 kN aufnehmen. Betrachten Sie die Schraube
2. Iy = 552.245 mm4 .
als einen zylindrischen Stab des Durchmessers 16 mm mit
einer Klemmlänge von 64 mm und die Platten als Hohlzy-
linder mit dem Innendurchmesser 18 mm und dem effek- 5.6 • Ein Kragträger aus Stahl (ρ = 8000 kg/m3 )
tiven Außendurchmesser 32 mm. Schrauben und Platten der Länge l des abgebildeten T-förmigen Querschnitts
bestehen aus Stahl (Elastizitätsmodul EP = 205.000 MPa). wird durch sein Eigengewicht belastet.

6 mm
m
g = 9,81
FA = 20 kN s2
54 mm

6 mm
lK = 64 mm l 60 mm

Bei der zu ermittelnden maximal zulässigen Länge des


Trägers lmax wird an der Einspannstelle gerade die zuläs-
FA = 20 kN sige Spannung σzul = 200 MPa erreicht.
1. Bestimmen Sie das für die Durchbiegung des Trägers
maßgebliche Flächenträgheitsmoment Iy des T-Profils.
1. Berechnen Sie die auf die Schraube wirkende Kraft FSA . 2. Wie groß ist die sich aus Dichte, Querschnitt und
2. Zeichnen Sie für eine Vorspannkraft von FV = 35 kN Erdbeschleunigung ergebende Streckenlast q0 , die den
das Verspannungsdreieck. Träger belastet? Setzen Sie für die Erdbeschleunigung
9,81 m/s2 an.
Resultat: FSA = 10,34 kN. 3. Wie groß ist lmax ?
Aufgaben 143

Hinweis: Zur Berechnung von q0 : Wie viele Newton wiegt N


q0 = 1500 m
ein laufender Meter des Trägers?

Technische Mechanik
Resultat:
1. Iy = 233.286 mm4 . A B
2. q0 = A ρ g = 53,68 N/m.
3. lmax = 6,37 m. x
l=5m
5.7 •• Ein im Punkt A los- und im Punkt B festgela-
gerter Träger der Länge l wird durch eine dreieckförmige
Streckenlast sowie in Trägermitte durch eine Punktlast be- Zahlenangaben: Elastizitätsmodul E = 12.000 MPa (Holz),
lastet. Querschnitt b × h = 200 mm × 150 mm.

F
1. Berechnen Sie den Verlauf des Biegemoments M(x) im
Träger. An welcher Stelle nimmt M(x) seinen Maximal-
wert ein, und wie groß ist dieser?
qmax
2. Wie groß ist die Randfaserspannung in der Balkenmit-
te?
A B 3. Berechnen Sie durch zweifache Integration der Diffe-
renzialgleichung der elastischen Linie die Durchbie-
gung w(x) des Trägers. Wie groß ist die Durchbiegung
x
l in der Balkenmitte?
Hinweis: Rechnen Sie so lange wie möglich mit Formelzei-
chen, und setzen Sie Zahlenwerte erst zum Schluss ein.
1. Berechnen Sie den Verlauf der Schnittgrößen N (x),
Q(x) und M(x). Resultat:
2. Bestimmen Sie den Verlauf der Durchbiegung w(x). 1. M(x) = 12 q0 l x − 12 q0 x2 .
3. Es gelten nun für Geometrie und Belastung die unten Maximales Biegemoment in Balkenmitte mit Mmax =
aufgeführten konkreten Werte. Wie groß ist die Rand- 4687,5 N m.
faserspannung in Trägermitte? 2. σ = 6,25 MPa.
 4  3

Zahlenwerte: Länge l = 1 m, Trägerquerschnitt: 30 mm q l4


3. w(x) = 240E Iy xl − 2 xl + xl .
Höhe und 20 mm Breite, F = 500 N, qmax = 600 N/m.
In Balkenmitte ist w = 18,1 mm.
Resultat:
5.9 •• Zur Ermittlung von Festigkeit und Elasti-
1. NI (x) = NII (x) = 0.
zitätsmodul eines spröden Werkstoffs wird eine Probe
qmax l qmaxx2
QI ( x ) = F
2 +
6 − 2l . rechteckigen Querschnitts in einem 3-Punkt-Biegeversuch
qmax l q x2 bis zum Bruch belastet. Eine Skizze des Versuchs und das
QII (x) = − 2 + 6 − max
F
.
  2 l
im Versuch gemessene Kraft-Verformungs-Diagramm (F:
qmax l qmax x3
MI ( x ) = 2 + 6
F
x − 6l . Belastung der Probe; w: Durchbiegung in der Probenmit-
    te) sind Ihnen wie folgt gegeben:
q l qmax x3
MII (x) = F2 + max 6 x − F x − 2 −
l
6l .
2. F
F l3 x  x 3
F Probenbruch
w(x ) = 3 −4 Fmax
48 E Iy l l
q l4 x  x 3  x 5
h
+ max 7 − 10 +3 . x b
360 E Iy l l l l l
2 2
  Wmax W
3. σ l
2 = 54 MPa.

1. Berechnen Sie den Verlauf des Biegemoments M(x) in


5.8 • Für den sikizzierten Träger sollen die Span-
der Probe. Wie groß ist das Biegemoment in der Pro-
nungen und die Durchbiegung berechnet werden.
benmitte?
Zahlenangaben: Elastizitätsmodul E = 12.000 MPa (Holz), 2. Wie lautet der Zusammenhang zwischen der maxima-
Querschnitt b × h = 200 mm × 150 mm. len Kraft Fmax und der Festigkeit σmax des Werkstoffs?
144 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

3. Berechnen Sie durch zweifache Integration der Diffe-


renzialgleichung der elastischen Linie die Durchbie- A
Technische Mechanik

gung w(x) des Trägers.


4. Wie lautet der Zusammenhang zwischen der maxi-
F
malen Kraft Fmax und der Durchbiegung wmax in der
Probenmitte?
5. Es seien nun l = 60 mm, b = 5 mm, h = 10 mm, Fmax =
2,2 kN und wmax = 0,085 mm. Wie groß sind Festigkeit B

60 mm
σmax und Elastizitätsmodul E des Werkstoffs? η 1m
φ
Hinweis: Sie können sich bei der zweifachen Integration y
der Differenzialgleichung der Biegelinie aus Symmetrie-
z
gründen auch auf den halben Träger beschränken. Beach- ξ
ten Sie dann anstelle der 2. Randbedingung, dass sich der 85 mm
Träger in der Mitte aus Symmetriegründen mit horizonta-
ler Tangente durchbiegt. Der DIN 1027 kann man die folgenden Flächenträgheits-
momente entnehmen:
Resultat:
  Iη = 44,7 cm4 , Iζ = 30,1 cm4 und Iηζ = 28,8 cm4 .
1. linke Probenhälfte: MI (x) = F
2
l
2 +x
 
rechte Probenhälfte: MII (x) = F l
−x , 1. Bestimmen Sie mit dem Mohr’schen Trägheitskreis die
2 2
Hauptträgheitsmomente Iy und Iz und die Lage der
M (x = 0) = 14 F l Hauptträgheitsachsen.
2. σmax = 32 Fbmax
h2
l
2. Bestimmen Sie die Spannungen in den Punkten A
 3 und B.
F l2 x F l3
3. w(x) = − 12 FE Iy 2l − x − 16 E Iy + 32 E Iy
Fmax l3 Resultat:
4. E = 48 wmax Iy
1. Iy = 67,1 cm4 , Iz = 7,7 cm4 , ϕ = 37,9◦ .
5. σmax = 396 mm
N
2 , E = 280.000 MPa
2. σA = −62 MPa, σB = 62 MPa.

5.10 •• Ein statisch überbestimmt gelagerter Träger 5.12 • • • Berechnen Sie die durch eine Querkraft her-
wird durch eine konstante Streckenlast q0 belastet. Gege- vorgerufene Schubspannungsverteilung in einem Voll-
ben seinen q0 und l. kreisquerschnitt des Radius R.

q0

y
l R α α z
z*S

S
Berechnen Sie die Lagerreaktionen. A*

Hinweis: Ersetzen Sie das Loslager durch seine Lagerre- z,z


aktion und zerlegen Sie diesen Lastfall sodann in zwei b
Einzellastfälle, die Streckenlast q0 und die Punktlast der
Lagerreaktion, deren Durchbiegungen sich an der Stelle
des Loslagers zu null überlagern müssen. Hinweis: Flächeninhalt und Schwerpunktskoordinate ei-
nes Kreisabschnitts betragen
Resultat: Ax = 0, Ay = 58 q0 l, MA = 18 q0 l2 , By = 38 q0 l.
R2
A∗ = (2 α − sin 2 α) und
2

5.11 • • • Ein 1 m langer Kragträger des Normprofils 1 4 sin3 α
Z60 (Höhe 60 mm, Breite 85 mm) wird an seinem freien zS∗ = ∗ z̃dA = R .
A 3 2 α − sin 2 α
Ende durch die lotrechte Kraft F = 1 kN belastet. A∗
Aufgaben 145

Resultat: 5.15 • Bei gewöhnlichen Garagentoren sorgen zwei


4 Q(x) · sin2 α bei geschlossenem Tor gespannte Zugfedern dafür, dass
τ (α) = .

Technische Mechanik
3 π R2 sich die Tore trotz hohen Gewichts mit vergleichsweise
wenig Kraft öffnen und schließen lassen.
Es bestehe nun die Schraubenfeder eines Garagentors
5.13 • • • Gegeben ist das skizzierte dünnwandige aus 7 mm starkem Stahldraht (G = 80.000 MPa), der in 67
Hohlprofil (Radius R, Wandstärke t, t R). Windungen mit einem mittleren Windungsdurchmesser
von D = 52 mm gewickelt ist. Bei geschlossenem Ga-
ragentor verlängern sich die Federn von im entspannten
s
Zustand 500 mm auf 800 mm. Berechnen Sie die Feder-
konstante c, die Federkraft F bei geschlossenem Tor und
R die in der Feder bei geschlossenem Tor herrschenden Tor-
φ
sionsspannungen.

y Resultat: c = 2,5 N/mm, F = 765 N, τ = 295 MPa.


M
5.16 • Eine Hohlwelle soll wie in der folgenden Ab-
t bildung links skizziert aus zwei miteinander verschweiß-
ten Halbkreisprofilen (Außendurchmesser 80 mm, Wand-
stärke 4 mm) hergestellt werden, um ein Torsionsmoment
z
MT zu übertragen. Berechnen Sie, um welchen Faktor
sich die Torsionsspannungen und der Verdrehwinkel er-
höhen, falls eine der beiden Schweißnähte fehlerhafter
1. Berechnen Sie die durch eine Querkraft hervorgerufene Weise nicht gelegt wird (Abbildung rechts).
Schubspannungsverteilung.
2. Berechnen Sie die Lage des Schubmittelpunktes. a b
Soll: Ist:
Hinweis: Es ist einfacher, die Lage des Schubmittelpunk-
tes als Abstand zum Kreismittelpunkt zu berechnen, da

80
für den Kreismittelpunkt r∗ = R = konstant ist.

Resultat: 4

1.
2 Q (x )
τ ( ϕ) = sin ϕ. Resultat: τ erhöht sich um den Faktor 27, ϑ um den Faktor
πRt
272.
2.
4R
yM bzgl. Kreismittelpunkt = . 5.17 •• Eine konische Welle (Länge l, Radien an den
π
Enden 2 R und R) soll ein Torsionsmoment MT übertra-
gen. Berechnen Sie den Verdrehwinkel ϑ.
5.14 • Eine zylindrische Vollwelle des Durchmes-
sers D soll mit einem Bohrungsdurchmesser von D/2
hohl gebohrt werden. MT 2R MT
R

MT MT
D/2

x
l

1. Um wie viele Prozent verringert sich das Wellenge- Hinweis: Kann die einfache Formel zur Berechnung des
wicht? Verdrehwinkels verwendet werden, wenn der Wellen-
2. Um wie viele Prozent erhöhen sich die Torsionsspan- durchmesser veränderlich ist?
nungen?
3. Um wie viele Prozent erhöht sich der Verdrehwinkel? Resultat:
7 MT l
ϑ= .
Resultat: 1: 25%, 2 und 3: 7%. 12 π G R4
146 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

5.18 • Die Eingangswelle eines einstufigen Getrie- 5.20 • Ein Träger der Länge l sei an beiden Seiten
bes (Teilkreisdurchmesser Zahnrad 1: 60 mm, Teilkreis- fest eingespannt. Im Punkt C (im Abstand von cl, 0 < c <
Technische Mechanik

durchmesser Zahnrad 2: 180 mm) überträgt das Drehmo- 1 vom linken Trägerende) wird er durch das Torsionsmo-
ment MT,ein = 100 N m. ment MT belastet. Berechnen Sie die Lagerreaktionen.
20
C

60
MT
MT, ein cl
A B
l

Resultat: MTA = −MT (1 − c), MTB = −MT · c.


30

5.21 • Der abgebildete Träger der Länge l ist im

180
Punkt A durch ein Loslager und im Punkt B durch eine
MT, aus
feste Einspannung gelagert. Er wird durch eine dreieck-
förmige Streckenlast belastet. Berechnen Sie die Lagerre-
aktionen.

qmax

1. Berechnen Sie das Drehmoment MT,aus in der Aus-


gangswelle des Getriebes. A B
2. Berechnen Sie die Torsionsspannungen in Ein- und
Ausgangswelle. l

Hinweis: Zu 1: Die Zahnkräfte sind an beiden Zahnrädern


gleich groß.
Resultat: Ay = 1
10 qmax l, By = 25 qmax l, MB = − 15
1
qmax l2 .
Resultat:
1. MT,aus = 300 Nm.
2. τein = 64 MPa, τaus = 57 MPa. 5.22 • Ein zylindrischer Druckbehälter des Durch-
messers 2 m mit halbkugelförmigen Stirnseiten soll einen
5.19 •• Ein Stab mit der Länge l und dem Gewicht G Innendruck von 30 bar aufnehmen. Welche Wandstärken
sei unten (Punkt A) sowie auf der Position z = b · l (mit sind
0 < b < 1, Punkt B) jeweils vertikal abgestützt. Berechnen 1. für den (mittleren) zylindrischen Teil des Druckbehäl-
Sie die Lagerreaktionen. ters und
2. für die halbkugelförmigen Stirnseiten
erforderlich, wenn die größte Hauptspannung jeweils den
zulässigen Wert σzul = 200 MPa nicht überschreiten darf?
t1 = ?

B
?
=
t2
l

2m
bl

pi = 30 bar

A Resultat:
1. 15 mm.
2. 7,5 mm.
Resultat: Az = G (2 − b), Bz = G
2 (b − 2 ).
Aufgaben 147

5.23 •• In einem in 10.000 m Höhe fliegenden Flug- Fr


zeug herrscht bei einem Umgebungsdruck von 260 hPa

Technische Mechanik
Ft
ein Kabinendruck von 750 hPa. Der Rumpf des Flugzeugs
lässt sich – ein wenig vereinfacht – als dünnwandiger zy-
lindrischer Druckbehälter auffassen.

Berechnen Sie

100 mm
1. die Spannungen im Flugzeugrumpf sowie
2. die durch den Druckunterschied hervorgerufene Ver-
formung des Flugzeugrumpfes.

Zahlenwerte: Rumpflänge l = 40 m, Rumpfdurch- A


messer D = 4 m, Wandstärke t = 1,6 mm, Material y m
0m
Aluminium(E = 70.000 MPa, ν = 0,3). 15
x B

Hinweis: Welche Dehnungskomponente beschreibt die re- z


lative Durchmesseränderung?

Resultat: 1. Bestimmen Sie die Schnittgrößen auf Höhe des La-


1. σϕ = 61 MPa, σl = 31 MPa. gers A.
2. Δl = 7 mm, ΔD = 3 mm. 2. Bestimmen Sie die maximale Biege- und Torsionsspan-
nung auf Höhe des Lagers A.
3. Bestimmen Sie die Vergleichsspannungen nach der N-,
5.24 • Eine zylindrische Vollwelle des Radius R = S- und GE-Hypothese.
10 mm wird an beiden Enden durch eine im Abstand R/2
zur Mittellinie angreifende Kraft F = 20 kN belastet. Die
zulässige Spannung des Wellenwerkstoffs betrage σzul = Hinweis:Das resultierende Biegemoment wird gemäß
200 MPa.
Mges = M2y + M2z aus den Biegemomenten um die y-
F F und z-Achse gebildet.
R
R/2

Resultat:
1. My = 66 N m (für Biegung um die y-Achse),
Mz = 180 N m (für Biegung um die z-Achse),
1. Welche Spannungen herrschen in der Welle? Mges = 192 N m (resultierendes Biegemoment),
2. Liegt die Beanspruchung der Welle im zulässigen Be- MT = 12 N m (Torsionsmoment).
reich? 2. Biegespannung σ = 30,6 MPa,
Torsionsspannung τ = 9,5 MPa.
Hinweis: Wie sind die Spannungen zu überlagern? 3. N-Hypothese: σV = 33 MPa,
S-Hypothese: σV = 36 MPa,
GE-Hypothese: σV = 35 MPa.
Resultat:
1. σZug = 64 MPa, σBiegung = 127 MPa.
2. σgesamt = 191 MPa, also zulässig.
5.26 • Wie dem passionierten Weintrinker bekannt
5.25 •• Eine in den Punkten A und B gelagerte Ge- ist, lässt sich eine Weinflasche mit einem gewöhnli-
triebewelle trägt ein geradverzahntes Zahnrad des Teil- chen Korkenzieher einfacher entkorken, wenn der Korken
kreisradius 100 mm, an dem die Kräfte Fr = 440 N (Radi- beim Herausziehen etwas gedreht wird. Der Korkenzie-
alkraft) und Ft = 1200 N (Tangentialkraft) angreifen. Der her wird dann durch die den Korken herausziehende
Radius der Getriebewelle betrage 20 mm. Kraft Fax und die beiden den Korken drehenden Kräfte
FT belastet.
Zu untersuchen sind die Spannungen in der Welle auf
Höhe des Lagers A. Schubspannungen durch Querkraft Für Fax = 100 N, FT = 7 N, d = 3 mm (Schaftdurchmes-
dürfen dabei vernachlässigt werden. Gehen Sie wie folgt ser) und l = 30 mm (Hebelarm der Verdrehkräfte) ist die
vor: Beanspruchung im Schaft des Korkenziehers zu ermitteln.
148 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet

FV 5.27 •• Auf einem 1 m hohen Pfosten ist eine quadra-


tische, 400 mm × 400 mm große Platte befestigt. An der
Technische Mechanik

FT l Platte greifen die Kräfte F1 = 2700 N und F2 = 800 N an.


Der Pfosten bestehe aus einem kreisförmigen Rohr des
Außendurchmessers Da = 80 mm und des Innendurch-
messers Di = 70 mm.

200 mm
FT F2 Draufsicht:
d
200 mm F2

F1

1m
A
F1
s

1. Berechnen Sie den Verlauf der Schnittgrößen N (s),


Q(s), M(s) und MT (s) im Pfosten.
2. Berechnen Sie die im Punkt A an der Einspannung des
Pfostens herrschenden Spannungskomponenten. Der
durch Querkraft erzeugte Schub ist dabei vernachläs-
sigbar.
1. Bestimmen Sie die Schnittgrößen im Korkenzieher- 3. Wie groß sind die im Punkt A herrschenden Ver-
schaft. gleichsspannungen nach der N-, S- und GE-Hypothe-
2. Bestimmen Sie die an einem beliebigen Punkt an se?
der Oberfläche des Korkenzieherschaftes herrschenden
Spannungen. Resultat:
3. Berechnen Sie die Vergleichsspannungen in diesem 1. N (s) = −2700 N, Q(s) = 800 N,
Punkt nach der N-, S- und GE-Hypothese. M(s) = 1,34 · 106 N mm − 800 N · s,
MT (s) = 160.000 N mm.
Resultat: 2. Zug- /Druckspannung: σ = −2,3 MPa,
1. N = 100 N, |MT | = 420 Nmm. Biegespannung: σ = −64,4 MPa,
2. σ = 14 MPa, τ = 79 MPa. Torsionsspannung: τ = 3,8 MPa.
3. N-Hypothese: σV = 86 MPa, 3. N-Hypothese: σV = 0,2 MPa,
S-Hypothese: σV = 159 MPa, S-Hypothese: σV = 67,1 MPa,
GE-Hypothese: σV = 138 MPa. GE-Hypothese: σV = 67,0 MPa.
Energiemethoden
6

Technische Mechanik
und Knicken – Verformungen
und Kräfte berechnen
Wie man aus der inneren
Energie einer Struktur auf
seine Lagerreaktionen
schließt.
Wie man die
Lagerreaktionen statisch
überbestimmt gelagerter
Systeme bestimmt.
Wann knicken Stäbe aus?

6.1 Arbeit und Potenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150


6.2 Der Arbeitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
6.3 Formänderungsarbeit und -energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
6.4 Sätze von Castigliano und Menabrea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
6.5 Euler’sches Knicken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 149


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_6
150 6 Energiemethoden und Knicken – Verformungen und Kräfte berechnen

Auch über die Betrachtung der an einem System verrichteten Ar- z


beit bzw. der in einem System gespeicherten Energie lassen sich
Technische Mechanik

in Statik und Festigkeitslehre Lagerreaktionen, Schnittgrößen und F


Verschiebungen ermitteln. Drei wichtige Anwendungen werden wir P
kennenlernen: den Arbeitssatz zur Bestimmung von Lagerreaktio- 1 α
nen und Schnittgrößen, den Satz von Castigliano zur Bestimmung
von Verschiebungen an Kraftangriffspunkten und den Satz von dr
r
Menabrea zur Bestimmung von Lagerreaktionen.
2
Mit dem Euler’schen Knicken befassen wir uns schließlich mit einem
weiteren Versagensmechanismus, der für schlanke Strukturen unter
Druckbeanspruchung von großer Bedeutung ist. Diese können näm-
lich durch plötzliches Ausknicken bereits bei Spannungen versagen, y
die deutlich unterhalb der zulässigen Werkstoffspannung liegen.
x

Abb. 6.1 Die an einem Körper verrichtete Arbeit berechnet sich aus dem Kraft-
vektor und einem Weginkrement
6.1 Arbeit und Potenzial
Bevor wir in diesem Kapitel den Arbeitssatz behandeln, negativ, wenn F und dr einen Winkel von mehr als
90° einschließen, d. h., wenn Kraftvektor F und Weg-
müssen wir ein paar Begriffe, insbesondere Arbeit und
Potenzial, sauber definieren. inkrement dr einen entgegengesetzten Richtungssinn
haben.

Zur Ermittlung der auf dem Weg von Punkt 1 nach


Arbeit ist das Skalarprodukt aus Kraft- Punkt 2 insgesamt verrichteten Arbeit müssen wir alle in-
finitesimal kleinen Arbeitsanteile dW zwischen 1 und 2
und Wegvektor aufintegrieren und erhalten so das Kurvenintegral
 
Beginnen wir mit der Definition der Arbeit für eine infi- W= dW = F · dr.
nitesimal kleine Verschiebung, und betrachten wir hierzu 1→ 2 1→ 2
einen punktförmigen Körper, der sich entlang einer belie-
bigen Bahn bewegt und auf den dabei eine Kraft F wirkt Achtung Nur wenn Kraftvektor F und Weginkrement
(Abb. 6.1). dr dieselbe Richtung haben und sich F mit r nicht ändert,
gilt für die am Körper verrichtete Arbeit die bekannte
Wenn sich der Körper nun von einem Punkt P in eine Merkregel „Arbeit gleich Kraft mal Weg“. 
infinitesimal nahe Nachbarlage bewegt, so ist die da-
bei verrichtete differenzielle Arbeit als Skalarprodukt aus Kommen wir zur Arbeit eines Moments (Abb. 6.2). Im
Kraft und Weginkrement definiert. Es gilt also: ebenen Fall lässt sich diese recht anschaulich aus der

Differenzielle Arbeit einer Kraft F F F

dW = F · dr.

a a
Nach der mathematischen Definition des Skalarprodukts
ist dW ein Skalar der Größe dW = |F | · |dr | · cos α, wobei
α der von den Vektoren F und dr eingeschlossene Winkel F
ist. Die von der Kraft F verrichtete differenzielle Arbeit ist
also
F dφ a dφ
positiv, wenn F und dr einen Winkel von weniger als a dφ dφ
90° einschließen, d. h., wenn Kraftvektor F und Wegin-
krement dr den gleichen Richtungssinn haben,
gleich null, wenn cos α = 0 ist, d. h., wenn F und dr Abb. 6.2 Die von einem Moment verrichtete Arbeit kann man sich mithilfe
senkrecht aufeinander stehen, und einer Wippe veranschaulichen
6.1 Arbeit und Potenzial 151

Arbeit einer Kraft herleiten. Betrachten wir hierzu die ab- z


gebildete Wippe, an deren Enden zwei gleich große Kräfte

Technische Mechanik
F angreifen.
Verdreht sich die Wippe um einen kleinen Winkel dϕ aus P
1
der Horizontalen, so verschieben sich die Kraftangriffs-
punkte um jeweils a dϕ, und zwar an der linken Seite dr
der Wippe in Richtung der Kraft und an der rechten Sei- r G
te der Wippe gegen die Richtung der Kraft. Die an der
2
linken Seite angreifende Kraft F verrichtet also die Arbeit
dW = F · a dϕ, was sich, da F · a dem Moment der Kraft F
um den Drehpunkt der Wippe entspricht, auch als
y
dW = M · dϕ
x
ausdrücken lässt. Mit gleicher Argumentation verrichtet
die am rechten Ende der Wippe angreifende Kraft F, bei Abb. 6.3 Zur Herleitung der von der Gravitationskraft verrichteten Arbeit
welcher Kraftvektor und Verschiebungsvektor in genau
entgegengesetzte Richtungen orientiert sind, die differen-
zielle Arbeit
woraus sich für die gesamte Bewegung von
1 nach
2
dW = −F · a dϕ = −M · dϕ.
 
Diese beiden Gleichungen entsprechen formal denjenigen W= dW = −G · dz = −G · (z2 − z1 )
für die Arbeit einer Kraft, wenn der Verschiebungsvek- 1→ 2 1→ 2
tor dr in bzw. gegen die Kraftrichtung orientiert ist. Diese
formale Gleichheit gilt auch für die allgemeine vektoriel- ergibt. Die von der Gravitation verrichtete Arbeit hängt
le Definition der von einem Moment M bei einer kleinen also nur von der Lage von Anfangspunkt 1 und End-
Verdrehung dϕ verrichteten differenziellen Arbeit dW. Sie punkt 2 ab, nicht jedoch vom Verlauf der Bahn zwischen
lautet: Anfangs- und Endpunkt. Sie ist wegunabhängig.

Differenzielle Arbeit eines Moments M Kräfte, deren Arbeiten wegunabhängig sind, werden kon-
servative Kräfte genannt. Eine ebenfalls gebräuchliche
Bezeichnung ist Potenzialkräfte, da man für diese Kräfte
dW = M dϕ,
ein Potenzial Π– oft auch potenzielle Energie genannt –
definieren kann, hinter dem die Vorstellung steht, dass die
an einem Körper von konservativen Kräften verrichtete
woraus wir durch Integration für eine endlich große Dre-
Arbeit einem Verlust an Potenzial dieses Körpers ent-
hung
 
spricht.
W= dW = M · dϕ
1→ 2 1→ 2 Das Potenzial Π einer konservativen Kraft beträgt
erhalten.
Π = −W.

Konservative Kräfte besitzen ein Potenzial


Frage 6.1
Betrachten wir die Arbeit, die die in der Nähe der Erd- Wie lässt sich aus dem Potenzial Π und der Bahnkurve
oberfläche konstante Gewichtskraft G eines Körpers ver- auf die Kraft F schließen?
richtet, wenn dieser auf einer beliebigen Bahn von einem
Punkt 1 zu einem Punkt 2 bewegt wird.
Bei einer infinitesimal kleinen Bewegung entlang der So erhält man im vorangegangenen Beispiel das Potenzi-
Bahn beträgt die Arbeit al der Gewichtskraft G als Π = −W = G (z2 − z1 ). Legt
⎛ ⎞ ⎛ ⎞ man den Ursprung der z-Achse in den Anfangspunkt
0 dx der Bahn, d. h., z1 = 0, so hängt das Potenzial der Ge-
dW = G · dr = ⎝ 0 ⎠ · ⎝dy⎠ = −G · dz, wichtskraft G an einer beliebigen Position allein von der
−G dz z-Koordinate dieses Punktes ab und beträgt Π = G z.
152 6 Energiemethoden und Knicken – Verformungen und Kräfte berechnen

veränderten System angreifenden Kräfte und Momen-


te können nun Arbeit verrichten, und man nennt diese
Technische Mechanik

Arbeit virtuelle Arbeit δW, da sie nicht das tatsächliche


System, sondern das in Gedanken (also virtuell) verän-
derte System betrifft. Die virtuellen Verschiebungen und
Verdrehungen (der Oberbegriff für beides ist die virtuel-
le Verrückung) werden mit dem delta-Symbol bezeichnet,
z. B. als δs oder δϕ. Bei virtuellen Verrückungen handelt
Abb. 6.4 Die Gleichgewichtslage einer in einer Mulde liegenden Kugel befin- es sich stets um infinitesimal kleine Verrückungen.
det sich im tiefsten Punkt der Mulde So lautet nun der

Arbeitssatz der Statik


6.2 Der Arbeitssatz
Ein mechanisches System befindet sich im stati-
schen Gleichgewicht, wenn die äußeren Kräfte und
Wir lernen nun mit dem Arbeitssatz ein Prinzip kennen, Momente bei einer virtuellen Verrückung aus der
das sich als Alternative zu den Gleichgewichtsbedingun- Gleichgewichtslage heraus in Summe keine Arbeit
gen der Statik zur Berechnung von Lagerreaktionen und verrichten,
Schnittgrößen verwenden lässt. Wirken auf einen Körper
ausschließlich konservative Kräfte ein, so lässt sich aus δW = 0.
dem Arbeitssatz das Prinzip vom Minimum der potenzi-
ellen Energie herleiten. Für dieses Prinzip finden wir in
der alltäglichen Erfahrung recht anschauliche Beispiele, Lagerreaktionen verrichten übrigens, da die Verformung
und mit einem solchen wollen wir nun beginnen. in Richtung der Lagerreaktionen eben aufgrund der La-
Betrachten wir eine in einer Mulde liegende Kugel gerung gleich null ist, keine virtuelle Arbeit.
(Abb. 6.4). Die Gleichgewichtslage der Kugel liegt genau
im tiefsten Punkt der Mulde. Weswegen? Weil dort die
potenzielle Energie der Kugel minimal ist.
Zur Berechnung von Lagerreaktionen
Ein Minimum an potenzieller Energie bedeutet, dass und Schnittgrößen muss das statische System
sich – wie bei einem lokalen Minimum einer algebrai- beweglich gemacht werden
schen Funktion, an dem die erste Ableitung der Funktion
gleich null ist – die potenzielle Energie des Systems nicht
ändert, wenn es ein ganz klein wenig aus seiner Gleichge- Um virtuelle Arbeiten berechnen zu können, müssen wir
wichtslage verschoben wird. Da die potenzielle Energie Bewegung in das statische System bringen – Verschie-
der negativen Arbeit entspricht, gilt diese Folgerung auch bungen für Kräfte und Verdrehungen für Momente. Die
für die am mechanischen System verrichtete Arbeit. Wird Berechnung der Lagerreaktionen mit dem Prinzip der vir-
ein Körper ein ganz klein wenig aus seinem Gleichge- tuellen Arbeit umfasst daher die folgenden Schritte:
wichtszustand verrückt, so verrichten die angreifenden
Kräfte dabei in der Summe keine Arbeit. Schritt 1: Das statische System wird beweglich ge-
macht, indem die Lagerwertigkeit in Richtung der
Das ist eigentlich auch schon der Arbeitssatz. Um seine gesuchten Lagerreaktion entfernt und durch diese er-
Formulierung aber speziell auf die Statik zuzuschneiden, setzt wird.
bedarf es noch einer kleinen Vorbetrachtung. Schritt 2: Das System wird virtuell verrückt und die da-
bei verrichtete Arbeit δW berechnet.
Nach der alten Faustformel „Arbeit gleich Kraft mal
Schritt 3: Die gesuchte Lagerreaktion ergibt sich aus
Weg“ wird an einem Körper nur dann Arbeit verrich-
der Bedingung δW = 0.
tet, wenn sich der Körper bewegt. Das Wesen der Statik
ist aber, dass sich nichts bewegt. In der Statik kann Ar-
beit folglich erst dann verrichtet werden, wenn man sich Wir wollen uns diese Vorgehensweise am folgenden Bei-
Veränderungen am System vorstellt, die den Körper be- spiel einmal ansehen und dabei insbesondere darauf
weglich machen. Eine derartige Veränderung ist z. B. die achten, wo Vor- und Nachteile zum bisher angewand-
Verminderung einer Lagerwertigkeit, die durch die ent- ten Schema der Statik – Freischneiden und Ansetzen der
sprechende Lagerreaktion ersetzt wird. Die am derartig Gleichgewichtsbedingungen – liegen.
6.3 Formänderungsarbeit und -energie 153

Beispiel Für den in Abb. 6.5 skizzierten dreiteiligen Zusammenfassend können wir zu den Vor- und Nachtei-
Gerberträger soll die Lagerreaktion MA ermittelt werden. len der Anwendung des Arbeitssatzes festhalten, dass

Technische Mechanik
die geschickte Wahl der virtuellen Verrückung zu ei-
F1 F2 ner Gleichung mit nur einer Unbekannten führte (im
Gegensatz zu einem Gleichungssystem aus neun Glei-
G1 G2 chungen für neun Unbekannte),
andererseits aber die kinematischen Beziehungen zwi-
A B C
a a a a a a schen den einzelnen virtuellen Verschiebungen der
Kraftangriffspunkte bzw. Verdrehungen der Momen-
tenangriffspunkte kompliziert sein können. 
Abb. 6.5 Dreiteiliger Gerberträger

Fragen wir uns, bevor wir den Arbeitssatz anwenden,


wie MA nach der erprobten Methode „Freischneiden und Die Bestimmung von Schnittgrößen verläuft nach einem
Ansetzen der Gleichgewichtsbedingungen“ zu ermitteln ganz ähnlichen Schema. Der wesentliche Unterschied zur
wäre. Nun, durch die beiden Gelenke liegt ein dreiteiliges Bestimmung von Lagerreaktionen ist, dass das statische
System vor, wir müssten die drei Teilsysteme freischnei- System nicht durch die Verminderung von Lagerwer-
den und dann ein Gleichungssystem aus 3 mal 3 gleich tigkeiten beweglich gemacht wird, sondern durch den
9 Gleichgewichtsbedingungen zur Berechnung der neun Einbau eines geeigneten Gelenks. An beiden Seiten des
Unbekannten (fünf Lager- und vier Gelenkreaktionen) lö- Gelenks lassen wir die gesuchte Schnittgröße als äuße-
sen. re Kraft bzw. äußeres Moment angreifen und halten uns
dabei an die in Abschn. 2.3 eingeführte Vorzeichenkon-
Wenden wir mit diesem Wissen im Hinterkopf nun den
vention. Dann verrücken wir wie gewohnt das statische
Arbeitssatz an. Im ersten Schritt machen wir das System
System und berechnen die gesuchte Schnittgröße aus der
beweglich, indem wir die feste Einspannung am Punkt A
Bedingung δW = 0.
durch ein Festlager und dabei die weggefallene Lagerre-
aktion durch das eingeprägte Moment MA ersetzen. Der
Gerberträger kann sich dann wie in Abb. 6.6 gezeigt be-
wegen. 6.3 Formänderungsarbeit
F1 dzG1 F2
und -energie
dz1
MA
dφ B dφ C
Die Kenntnis der Formänderungsarbeiten der äußeren
dφ A dz2 Kräfte und Momente sowie der inneren Spannungen lie-
A B C fert die Grundlagen für die Sätze von Castigliano und
Menabrea, mit denen sich die Verformungen von Balken
dzG2 punktweise berechnen lassen bzw. in Verbindung mit den
Gleichgewichtsbedingungen der Statik Lagerreaktionen
Abb. 6.6 Ersetzt man eine Lagerwertigkeit durch die entsprechende als einge- und Schnittgrößen in statisch überbestimmten Systemen
prägte Last angesetzte Lagerreaktion (hier das Moment MA ), so wird das System berechnen lassen.
beweglich

Hierbei verrichten die eingeprägten Lasten F1 , F2 und MA


die virtuelle Arbeit Die Formänderungsarbeit äußerer Kräfte
δW = MA · δϕA − F1 · δz1 + F2 · δz2 , berechnet sich aus der Kraft und der
wobei die virtuellen Verrückungen über folgende kinema- Verschiebung ihres Angriffspunktes
tische Beziehungen zusammenhängen:
δz1 δz2 Betrachten wir zunächst einen Zugstab. Wenn man diesen
δϕA = , δϕB = langsam mit einer von null bis zum Endwert F ansteigen-
a a
den Kraft F belastet, verformt sich der Stab um den Betrag
sowie δzG1 = 2a δϕA = a δϕB −→ δϕB = 2 δϕA .
Δl, und es wird die Arbeit
Damit ergibt sich
Δl
δW = MA · δϕA − F1 · a δϕA + F2 · 2a δϕA = 0 W= Fdu
−→ MA = (F1 − 2F2 ) a. 0
154 6 Energiemethoden und Knicken – Verformungen und Kräfte berechnen

Beispiel: Berechnung von Lagerreaktionen und Schnittgrößen eines Kragträgers mit dem Prinzip
Technische Mechanik

der virtuellen Arbeit

Für den abgebildeten, durch eine Punktlast an seinem MA


freien Ende belasteten Kragträger sind die Lagerreak-
tionen und die Schnittgrößen zu bestimmen.
δφ
F l δφ
Problemanalyse und Strategie: Knackpunkt des Prin-
zips der virtuellen Arbeit ist es, den Träger so zu verän-
dern, dass dieser in Richtung der jeweils gesuchten La- l
gerreaktion (bzw. Schnittgröße) beweglich wird. Dafür
sind anstelle von Freikörperbildern jeweils Zeichnun-
gen des virtuell verrückten Trägers zu erstellen.
Schließlich können wir in Schritt 3 die bei der jeweili-
gen virtuellen Verrückung verrichtete virtuelle Arbeit
Lösung:
δW berechnen und gleich null setzen. Wir erhalten
F
1. δW = Ax δs = 0
=⇒ Ax = 0,
A 2. δW = Ay δs − F δs = 0

l
=⇒ Ay = F und
3. δW = −MA δϕ + F l δϕ = 0
Zunächst zur Berechnung der Lagerreaktionen: In =⇒ MA = F l.
Schritt 1 ist die Einspannung so zu verändern, dass
der Träger in Richtung der gesuchten Lagerreaktion be- Für das eben behandelte Beispiel des Kragträgers sol-
weglich wird. Wir verändern die Starre Einspannung len die Schnittgrößen bestimmt werden.
des Trägers also in
Der Einbau der Gelenke und die jeweilige virtuelle Ver-
1. eine horizontal bewegliche Hülse, um Ax zu bestim- rückung gestaltet sich wie folgt:
men,
2. eine vertikal bewegliche Einspannung, um Ay zu
bestimmen und F
3. eine drehbewegliche Einspannung (ein Festlager),
um MA zu bestimmen.
N N
x δs
Dabei setzen wir die gesuchte Lagerreaktion jeweils als
äußere Last an. F
Q
In sauberen Skizzen zeichnen wir nun ein, wie sich die
drei modifizierten Systeme bewegen können (Schritt 2,
δs
die virtuelle Verrückung).
Q
x
F
Ax M
M
δs
δs δφ F
l δφ

F x x–l

δs

Ay
6.3 Formänderungsarbeit und -energie 155

Hieraus liefert das Ansetzen der virtuellen Arbeit Achtung Beachten Sie, dass es sich bei virtuellen Ver-
rückungen um differenziell kleine Verrückungen han-
1. δW = −N δs = 0

Technische Mechanik
delt. Für virtuelle Verdrehungen gelten daher sin δϕ =
=⇒ N (x) = 0, δϕ und cos δϕ = 1. Nehmen Sie als Beispiel das un-
2. δW = Q δs − F δs = 0 tere Bild (das zur Bestimmung des Schnittmoments):
=⇒ Q(x) = F und Die virtuelle Verschiebung der äußeren Kraft F beträgt
streng genommen (l − x) sin δϕ, kann aber zu (l − x)δϕ
3. δW = M δϕ + F (l − x) δϕ = 0 vereinfacht werden. 
=⇒ M(x) = −F (l − x).

F
l

F A F wmax
l

Abb. 6.8 Biegebalken


∆l
l

MT MT
F
∆l u
Abb. 6.9 Tordierte Welle

Abb. 6.7 Zugprobe und Kraft-Verformungs-Diagramm für linear-elastisches


Materialverhalten und wir erhalten mithilfe des Zusammenhangs zwischen
äußerer Kraft F und der Durchbiegung wmax des Balken-
endes, wmax = (Fl3 )/(3EIy ),
verrichtet. Für linear-elastisches Materialverhalten ist der
Zusammenhang zwischen F und u linear, sodass das 1 1 F2 l3
Kraft-Verformungs-Diagramm den in Abb. 6.7 gezeichne- W= F wmax = .
2 6 E Iy
ten Verlauf hat.
Die Formänderungsarbeit entspricht der Fläche unter der Für eine tordierte Welle (Abb. 6.9) gilt schließlich
Kraft-Verformungs-Kurve und beträgt
1
W= MT ϑ,
1 2
W= F Δl.
2 wobei ϑ der Verdrehwinkel der Welle ist, und mit dem
Frage 6.2 Zusammenhang zwischen MT und ϑ, ϑ = (MT l)/(G IT ),
erhalten wir
Wie kann man sich den Faktor 12 in der Gleichung der
Formänderungsarbeit noch plausibel machen? 1 M2T l
W= .
2 G IT
Mit der Beziehung zwischen F und Δl, Δl = (Nl)/(EA),
wird daraus
Die Formänderungsarbeit der inneren
1 Fl 1 F2 l
W= F = . Spannungen berechnet sich aus den
2 EA 2 EA
Spannungen und Verzerrungen
Diese Gleichung gilt sinngemäß auch für Träger unter
Biege- und Torsionsbeanspruchung.
Für linear-elastisches Materialverhalten wird die gesamte
So gilt für den abgebildeten Biegebalken (Abb. 6.8) von den äußeren Lasten verrichtete Formänderungsarbeit
als innere Energie in den Spannungen und Verzerrun-
1 gen gespeichert. Man bezeichnet diese innere Energie als
W= F wmax ,
2 Formänderungs- oder Verzerrungsenergie Wi .
156 6 Energiemethoden und Knicken – Verformungen und Kräfte berechnen

a b Biegebalken der Länge l


τ
A  l  
Technische Mechanik

M(x )2 2 
σ σ ∆l
γ 1 σ2 1
A Wi = dV = 2
z dA dx
2 E 2 E Iy
l ∆l (V ) x = 0 (A)
τ
l
l   
1 M(x )2
= z2 dA dx,
Abb. 6.10 Zur Herleitung der spezifischen Formänderungsenergie 2 E Iy2
x= 0 (A)

woraus
Da die Spannungen und Verzerrungen nur in seltenen
l
Ausnahmefällen an jedem Punkt im Bauteil gleich groß 1 M(x )2
sind, macht es Sinn, zunächst die auf das Volumen bezo- Wi = dx,
2 E Iy
gene spezifische Formänderungsenergie Wi∗ zu betrach- x= 0
ten.
folgt.
Die in den Normalspannungen gespeicherte spezifische
Formänderungsenergie Wi∗ (Abb. 6.10a) beträgt Tordierte kreiszylindrische Welle der Länge l

1 F Δl 1 F Δl 1 σ2  l  
MT ( x ) 2 2 
1
Wi∗ = = = σ = . 1 τ2 1
2 V 2A l 2 2 E Wi = dV = 2
r dA dx
2 G 2 G IT
(V ) x = 0 (A)
Bei Schubspannungen (Abb. 6.10b) beträgt die spezifische
Formänderungsenergie l   
1 MT ( x ) 2
= r2 dA dx,
2 G IT2
1 F Δl 1 τA·lγ 1 1 τ2 x= 0 (A)
Wi∗ = = = τγ = .
2 V 2 V 2 2G woraus
Aus den vorherigen zwei Gleichungen lässt sich die in l
einem Bauteil insgesamt gespeicherte Formänderungs- 1 MT ( x ) 2
Wi = dx,
energie durch die Integration über das Bauteilvolumen V 2 G IT
x= 0
ermitteln:
 folgt.
Wi = Wi∗ dV.
(V )
6.4 Sätze von Castigliano
Für die elementaren Lastfälle Zug/Druck, Biegung und
Torsion wollen wir diese Integration nun durchführen. und Menabrea

Zug/Druck-Stab der Länge l Gehen wir kurz zu den in Abschn. 6.3 hergeleiteten
Formänderungsarbeiten bei Zug-, Biege- und Torsionsbe-
 l   anspruchung zurück, und leiten wir diese Gleichungen
1 σ2 1 N (x )2 
nach der jeweiligen äußeren Belastung ab. Wir erhalten
Wi = dV = dA dx
2 E 2 E A2
(V ) x = 0 (A) ∂W Fl
= = Δ l für den Zugstab,
l  N (x )2   ∂F EA
1 ∂W 3
= dA dx, =
Fl
= wmax für den Biegebalken und
2 E A2 ∂F 3 E Iy
x= 0 (A)
∂W M l
woraus = T =ϑ für die tordierte Welle.
∂MT G IT
l Die Ableitungen nach der äußeren Belastung ergeben al-
1 N (x )2
Wi = dx so jeweils die Verformung des Kraftangriffspunktes (bzw.
2 EA
x= 0 des Momentenangriffspunktes). Dieser Zusammenhang
wurde von Carlo A. P. Castigliano (1847–1884) im nach ihm
folgt. benannten Satz allgemein formuliert als
6.4 Sätze von Castigliano und Menabrea 157

a b
Satz von Castigliano FH

Technische Mechanik
q0

∂W ∂W q0 FH
ui = bzw. ϕi = .
∂Fi ∂Mi
A A l
w=?

x
Hierin sind ui die Verschiebung des Kraftangriffspunk- l
tes in Richtung der Kraft Fi und ϕi der Verdrehwinkel
des Momentenangriffspunktes um die Drehachse des Mo- Abb. 6.11 Durchbiegungsberechnung bei einem Kragträger (a Aufgabenstel-
ments Mi . W ist die am Tragwerk verrichtete Formände- lung; b bereits mit eingezeichneter Hilfskraft)
rungsarbeit.
Der Verlauf des Biegemoments lautet in Abhängigkeit
Da bei elastischem Materialverhalten die (äußere) Form-
von FH
änderungsarbeit der (inneren) Formänderungsenergie
entspricht, können wir im Satz von Castigliano die Form-
1
änderungsarbeit W durch die Formänderungsenergie Wi M(x) = − q0 (l − x)2 − FH (l − x),
ersetzen und erhalten so 2

und wir erhalten für die Durchbiegung an der Stelle l


Berechnung von Verschiebungen mit dem Satz
l 
M ∂M 
von Castigliano
∂Wi
w(l) = = dx
∂FH E Iy ∂FH
l 
∂Wi N ∂N M ∂M M ∂MT  x= 0
ui = = + + T dx l

∂Fi E A ∂Fi E Iy ∂Fi G IT ∂Fi 1 1


x= 0 = q0 (l − x)2 + FH (l − x) (l − x)dx.
E Iy 2
x= 0
bzw.

l  Wir setzen nun FH = 0 und erhalten


∂Wi N ∂N M ∂M M ∂MT 
ϕi = = + + T dx.
∂Mi E A ∂Mi E Iy ∂Mi G IT ∂Mi l
x= 0 1 1
w(l) = q0 (l − x)3 dx
E Iy 2
x= 0

Mit diesen Formulierungen des Satzes von Castigliano 1 1


l q0 l4
=− q0 ( l − x ) 4 = .
können wir zunächst nur die Verschiebungen eines Trä- E Iy 8 0 8 E Iy
gers an den Stellen berechnen, in denen äußere Kräfte 
oder Momente am Träger angreifen (und zwar jeweils
nur in die Richtung der angreifenden Kraft bzw. des an- Lagerreaktionen verrichten keine Arbeit, da die Verfor-
greifenden Moments). Um mit dem Satz von Castigliano mung in Richtung der Lagerreaktionen eben aufgrund
Verschiebungen an unbelasteten Punkten zu berechnen, der Lagerung gleich null ist. Für sie gilt deshalb der fol-
führen wir eine Hilfskraft FH ein (bzw. ein Hilfsmoment gende, als Satz von Menabrea (nach F. L. Conte Menabrea,
MH , wenn Verdrehungen zu berechnen sind), leiten die Marquis de Valdora, 1809–1896) bekannte Zusammenhang:
Formänderungsarbeit nach FH (bzw. MH ) ab und setzen
FH (bzw. MH ) schließlich gleich null.
Satz von Menabrea

∂W ∂W
Beispiel Ein Kragträger mit gegebenen Werten für l =0 bzw. = 0,
und E Iy wird mit einer gleichfalls gegebenen konstanten ∂Fi ∂Mi
Streckenlast q0 belastet (Abb. 6.11a). Mit dem Satz von
Castigliano ist die Durchbiegung w des freien Trägeren-
des zu berechnen. wobei Fi und Mi die Lagerreaktionskräfte bzw. -momente
sind. Der Satz von Menabrea lässt sich in energetischer
Am freien Trägerende greift keine Kraft an, sodass hier Sicht dergestalt deuten, dass die Formänderungsarbeit ein
eine Hilfskraft FH anzusetzen ist (Abb. 6.11b). Minimum annimmt (Abb. 6.12).
158 6 Energiemethoden und Knicken – Verformungen und Kräfte berechnen

W Schritt 1: Wir wählen ein Lager aus, hier das Lager B, und
ersetzen es durch seine als äußere Kraft angesetzte Lager-
Technische Mechanik

reaktion By . Damit erhalten wir das in Abb. 6.14 gezeigte


statisch bestimmte System.

F bzw. M
Schritt 2: Die verbleibenden Lagerreaktionen lauten in
tatsächliche Abhängigkeit der statischen Unbekannten By
Lagerreaktion
1 2
Abb. 6.12 Energetische Deutung des Satzes von Menabrea
Ay = q0 l − By und MA = q0 l − By · l.
2

Mit dem Satz von Menabrea kann man die q0


Lagerreaktionen in statisch überbestimmten
Systemen sehr effektiv berechnen
By
In statisch überbestimmten Systemen übersteigt die Zahl A
der Lagerreaktionen die Zahl der Gleichgewichtsbedin- x
gungen, sodass sich nicht mehr alle Lagerreaktionen aus l
den Gleichgewichtsbedingungen berechnen lassen. Der
Satz von Menabrea kann dann die zusätzlichen Gleichun- Abb. 6.14 Eine Lagerwertigkeit wird durch eine eingeprägte Kraft ersetzt (hier
gen liefern, die zur Berechnung aller Lagerreaktionen das Lager B durch die Kraft By )
erforderlich sind. Dies geht in den folgenden Schritten vor
sich: Schritt 3: Der Biegemomentenverlauf ist
Schritt 1: Eine Lagerwertigkeit (bei einfacher statischer 1
Überbestimmtheit, sonst entsprechend mehrere) wird M(x) = By (l − x) − q0 (l − x)2 .
2
durch seine als äußere Last angesetzte Lagerreaktion
ersetzt. Man bezeichnet diese Lagerreaktion als „stati- Schritt 4: Wir setzen den Satz von Menabrea an und erhal-
sche Unbestimmte“. ten
Schritt 2: Die verbleibenden Lagerreaktionen werden l
mit den Gleichgewichtsbedingungen der Statik als ∂W M ∂M
= dx
Funktion der äußeren Belastung und der statischen ∂By E Iy ∂By
x= 0
Unbestimmten berechnet.
Schritt 3: Die relevanten Schnittgrößenverläufe werden l  
1 1
berechnet. = By (l − x) − q0 (l − x)2 (l − x)dx
E Iy 2
Schritt 4: Mit dem Satz von Menabrea wird die stati- x= 0
sche Unbestimmte berechnet. 1 1 1
l
= − By (l − x)3 + q0 (l − x)4
E Iy 3 8 0
Beispiel Die Lagerreaktionen des in Abb. 6.13 darge-
1  1 3 1 4
stellten Biegeträgers sind zu berechnen. = By l − q0 l = 0
E Iy 3 8
1 1 3
q0 =⇒ By l3 − q0 l4 = 0 =⇒ By = q0 l.
3 8 8
Hieraus folgen dann aus den Gleichgewichtsbedingun-
gen der ebenen Statik die weiteren Lagerreaktionen
5 1 2
A
x
B Ay = q0 l und MA = q0 l .
8 8
l


Abb. 6.13 Statisch überbestimmt gelagerter Biegeträger Frage 6.3


Mit welcher anderen Vorgehensweise hätten Sie im vor-
Den drei Gleichgewichtsbedingungen der ebenen Statik angegangenen Beispiel ebenfalls die Lagerreaktion Ay
stehen vier Unbekannte (Ax , Ay , MA und By ) gegenüber. bestimmen können?
Das System ist also statisch überbestimmt gelagert.
6.5 Euler’sches Knicken 159

6.5 Euler’sches Knicken F


w(x) M(x)

Technische Mechanik
Lange und dünne Träger können unter Druckbelastung
knicken. Dabei ist mit Knicken nicht etwa das scharfe x
Abknicken eines Stabes an einer ganz bestimmten Stel-
le gemeint, so wie man einen Strohhalm an einer Stelle Abb. 6.15 Statisches Gleichgewicht am ausgeknickten Stab
„durchknicken“ kann, sondern ein plötzliches Ausbiegen
des gesamten Trägers. Wenn Sie beispielsweise einen dün-
nen Holzstab (ca. 1 m lang und 3 bis 5 mm im Durchmes- Bei knickgefährdeten Stäben ist die Stabkraft
ser) zwischen beide Handflächen nehmen und langsam
die Druckkraft auf den Stab steigern, dann geschieht erst FK entscheidend, bei der der Stab knicken
einmal nichts Sichtbares, bis es plötzlich „plopp“ macht würde
und der Stab ausknickt.
In welche Richtung der Stab dabei ausknickt, kann man Knicken ist mit großen Verformungen verbunden, und so
nicht vorhersagen. Ob nach vorne, hinten, oben oder un- müssen wir das statische Gleichgewicht anders als bisher
ten: Bei symmetrischer Versuchsdurchführung sind alle am verformten Stab aufstellen. Nehmen wir als Beispiel
Richtungen möglich. Rein theoretisch, bei wirklich abso- einen zwischen zwei Handflächen genommenen Holzstab
luter Symmetrie, müsste der Stab gar nicht knicken – für (Abb. 6.15). Der Stab werde an seinen Enden durch zentri-
welche Richtung sollte er sich auch entscheiden? – aber sche Druckkräfte belastet, das Eigengewicht des Stabs sei
die Realität kennt keine absolute Symmetrie. Schon ein vernachlässigbar.
ganz kleiner Fluchtungsfehler oder eine minimale Er-
schütterung reichen aus, um Knicken auszulösen. Das Biegemoment an einer beliebigen Position x im Stab
beträgt
Letztlich ist das wie bei einem gut gespitzten Bleistift, der
auf seiner Spitze stehenbleiben soll. Theoretisch könnte
M (x ) = F · w(x ),
das gelingen, aber in der Praxis klappt es einfach nicht.
Man spricht in derartigen Fällen von Instabilität, denn ei-
wobei w(x) die Durchbiegung des ausgeknickten Stabes
ne kleine Abweichung von der Ideallage reicht aus, um
das ganze System schlagartig zu verändern. ist. Des Weiteren gilt die Differenzialgleichung der elasti-
schen Linie,
Knicken ist gefährlich, denn es setzt schlagartig und ohne
deutliche Vorankündigung ein, zudem verliert ein ausge- M(x )
knickter Stab sofort einen Großteil seiner Tragfähigkeit. So w (x) = − .
E Iy
kann das Knicken von tragenden Bauteilen spektakuläre
Folgenhaben. Dergroße Stromausfall im Münsterlandvom Wir führen beide Gleichungen zu
November 2005, von dem 250.000 Menschen zum Teil meh-
rere Tage lang betroffen waren, wurde durch das Knicken
F(x )
von einzelnen Streben und dem darauffolgenden Kollaps w (x) + w(x ) = 0
von rund 50 Hochspannungsmasten verursacht. Extreme E Iy
Vereisung der Leitungen ließ die von den Streben zu tragen-
den Lasten über ihre jeweiligen Knicklasten ansteigen. zusammen und erhalten somit eine homogene Differen-
zialgleichung 2. Ordnung zur Bestimmung von w(x) und
Frage 6.4 FK . Ihre Lösung lautet
Was ist mit den abgebildeten Schienen passiert? Hinweis:
Die Schienen sind durchgehend geschweißt, und die Auf-  
 F   F 
nahme entstand im Hochsommer. w(x) = A · cos · x + B · sin ·x .
E Iy E Iy

Hierin sind die Konstanten A und B an die Randbedin-


gungen des Stabes anzupassen. Aus der 1. Randbedin-
gung, w(0) = 0, folgt

A = 0,

und aus der 2. Randbedingung, w(l) = 0, folgt



 F 
B sin · l = 0.
E Iy
160 6 Energiemethoden und Knicken – Verformungen und Kräfte berechnen

Die mögliche Lösung B = 0 ist nicht von Interesse, da Tab. 6.1 Übersicht über die vier Eulerfälle und die dazugehörigen Knicklängen
dann in jedem Punkt des Stabes w(x) = 0 wäre und der Eulerfall: Knicklänge lK :
Technische Mechanik

Stab gar nicht ausgeknickt wäre. Es muss somit 1 lK = 2 l



 F 
sin ·l = 0
E Iy
F

werden, woraus für die Knicklast die Bedingung 2 lK = l


F
n2 π 2 E Iy
F= mit n = 1, 2, 3, . . .
l2
3 lK = √l
folgt. Wir erhalten also unendlich viele Knicklasten. Wel- 2

che Bedeutung haben diese? Angenommen, wir belasten F


den Stab mit einer Druckkraft, die wir bei null anfangend
langsam steigern. Der Stab wird ausknicken, wenn die äu-
ßere Last die niedrigste 4 lK = l
2

F
Knicklast
π 2 E Iy
FK =
l2
Für den Werkstoff wird zunächst eine zulässige Druck-
spannung σP gebildet, die sicherstellt, dass die Spannun-
erreicht. Alle höheren Knicklasten (für n = 2, 3, . . .) wer- gen im Stab ausreichend weit unterhalb der Streckgrenze
den erst erreicht, wenn der Stab längst ausgeknickt ist, liegen. Eine häufig verwendete Gleichung zur Bildung
und sind daher technisch uninteressant. von σP ist
Wenn ein Druckstab anders als in Abb. 6.15 gelagert ist, so σP = 0,8 Re ,
hat er auch eine andere Knicklast. Vier Lagerungen sind
von besonderem technischen Interesse, die nach Leonhard wobei Re die Streckgrenze ist. Unter der Kraft
Euler (1707–1783) als Eulerfälle bezeichnet werden.
FP = σP · A
Für jeden Eulerfall lässt sich die Knicklast mit obiger Glei-
chung berechnen, wenn anstelle der tatsächlichen Länge würde im Druckstab die zulässige Druckspannung er-
des Stabes eine effektive Länge, die sogenannte Knick- reicht werden. Soll der Stab knicken, bevor σP erreicht
länge lK verwendet wird. In der Tab. 6.1 sind die vier wird, muss
Eulerfälle mit ihren jeweiligen Knicklängen aufgeführt.
Eines darf dabei aber nicht vergessen werden. Die Glei- π 2 E Iy
FK < FP =⇒ < σP A
chung zur Berechnung der Knicklast gilt nur für linear- l2K
elastisches Materialverhalten. Und hierin kann ein Pro-
blem liegen. Sollte die Streckgrenze vor dem Ausknicken gelten. Wir stellen diese Ungleichung um – Materialpa-
des Stabes überschritten werden, so würde der Stab schon rameter auf die linke und Geometrieparameter auf die
bei kleineren Lasten als FK knicken. rechte Seite – und erhalten
 
Man kann sich das in etwa so vorstellen: Nach Überschrei- E A
ten der Streckgrenze flacht die Spannungs-Dehnungs- π < lK .
σP Iy
Kurve ab, der Werkstoff hat gewissermaßen einen nied-
rigeren effektiven Elastizitätsmodul und der Knickstab
folglich eine kleinere Knicklast als berechnet. Für die Die linke Seite dieser Ungleichung wird als Grenzschlank-
Gültigkeit der Euler-Gleichung muss daher sichergestellt heitsgrad λ0 , die rechte Seite als Schlankheitsgrad λ
sein, dass die Spannungen im Druckstab mit Sicherheit bezeichnet. Der Grenzschlankheitsgrad ist ein dimensi-
unterhalb der Streckgrenze liegen. onsloser Materialparameter, für den Baustahl S235 (E =
205 GPa, Re = 235 MPa) beträgt er beispielsweise 104.
Dies wird in der ingenieurtechnischen Praxis mithilfe des Der ebenfalls dimensionslose Schlankheitsgrad λ ist ein
sogenannten Schlankheitsgrades gewährleistet. Damit hat reiner Geometrieparameter; je länger und dünner ein
es Folgendes auf sich: Stab, desto größer λ.
6.5 Euler’sches Knicken 161

Übersicht: Tipps und Tricks für Knickstabberechnungen

Technische Mechanik
In vielen Fällen wird dem Stab durch die Lagerung den. (Ein Beispiel einer eher seltenen Ausnahme, bei
keine Vorzugsrichtung für das Ausknicken vorge- der die Eulerfälle nach oben oder unten sowie nach
geben. So könnte zum Beispiel ein vertikal verlau- vorne oder hinten unterschiedlich sind, ist Aufgabe
fender Stab sowohl nach rechts oder links als auch 6.8.)
nach vorne oder hinten nach dem gleichen Eulerfall Zur korrekten Identifizierung des Eulerfalls kann es
ausknicken. Der Stab knickt dann in die Richtung sehr hilfreich sein, den ausgeknickten Stab in die
des kleinsten axialen Flächenträgheitsmoments aus. Zeichnung der Aufgabenstellung mit einzuzeich-
Für Rechteckquerschnitte bedeutet das: Für die Be- nen und die Form des ausgeknickten Stabes mit der
rechnung von Iy ist als Breite b die größere und Tabelle der Eulerfälle zu vergleichen.
als Höhe h die kleinere Rechteckseite zu verwen-

Zusammenfassend wird die kritische Knicklast eines die dieser Druckkraft entsprechende Temperaturdifferenz
Druckstabes wie folgt berechnet: ΔTK .
Schritt 1: Eulerfall 4 liegt vor:
Schritt 1: Eulerfall identifizieren. Hierzu kann es sehr
hilfreich sein, die ausgeknickte Form des Stabes zu
l
skizzieren. lK = = 500 mm.
Schritt 2: Schlankheitsgrad λ und Grenzschlankheits- 2
grad λ0 berechnen. Für λ > λ0 versagt der Stab durch
Knicken, für λ < λ0 durch Erreichen der kritischen Schritt 2:
Druckspannung.   
Schritt 3: Kritische Last berechnen. Dies ist bei λ > λ0 A bh 12
λ = lK = lK = 500 mm = 173,
die Knicklast Iy b h3 10 mm2
12

π 2 E Iy E
FK = λ0 = π mit σP = 0,8 Re
l2K σP

205.000 MPa
und für λ < λ0 die Kraft, bei der die kritische Druck- =⇒ λ0 = π = 84.
0,8 · 355 MPa
spannung erreicht wird,
Da λ > λ0 ist, wird der Stab durch Knicken und nicht
FP = σP · A. durch plastische Verformung versagen.
Schritt 3:
Beispiel Eine rechteckige dünne Stahlstange (Län-
ge l = 1 m, Breite b = 20 mm, Höhe h = 10 mm, Elas- 20 mm (10 mm)3
π 2 E Iy π 2 205.000 N/mm2
tizitätsmodul E = 205 GPa, Streckgrenze Re = 355 MPa, FK = = 12
Wärmeausdehnungskoeffizient α = 10−5 K−1 ) wird span- l2K (500 mm)2
nungsfrei zwischen zwei starre Betonwände eingemauert = 13,5 kN.
(Abb. 6.16).
Die dieser Kraft entsprechende Temperaturdifferenz be-
Querschnitt: trägt
l=1m

FK 13.500 N
ΔTK = =
EAα 205.000 N/mm2 · 200 mm2 · 10−5 K−1
Abb. 6.16 Zwischen zwei starre Wände eingemauerte Stahlstange = 33 K. 

Gesucht ist die Temperaturdifferenz ΔTK , bei der der Stab


knickt. Weiterführende Literatur
Lösung: Wir berechnen zuerst die kritische Druckkraft Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils
FK , die den Stab zum Knicken bringt, und anschließend Technische Mechanik befindet sich am Ende von Kap. 9.
162 6 Energiemethoden und Knicken – Verformungen und Kräfte berechnen

Antworten zu den Verständnisfragen


Technische Mechanik

Antwort 6.1 Durch Ableiten: Aus der Definition des Po- beide Lastfälle die Durchbiegung des freien Trägerendes
tenzials erhalten wir dann F = −dΠ/dr, bzw. in Koordi- berechnen, und wir erhielten Ay durch Gleichsetzen die-
naten: Fx = −dΠ/dx, Fy = −dΠ/dy und Fz = −dΠ/dz. ser beiden Durchbiegungen.

Antwort 6.2 Da die Kraft F von null beginnend auf den


Stab aufgebracht wird, beträgt ihr Mittelwert während Antwort 6.4 Die Schienen sind ausgeknickt. Große Hit-
der Lastaufbringung genau F2 . ze setzt die Schienen unter Druckspannung, da diese
dann bestrebt sind sich auszudehnen, daran aber von
Antwort 6.3 Wir könnten Ay als äußere Kraft ansetzen den benachbarten Schienen gehindert werden. Werden
und die Belastung in zwei Lastfälle aufspalten: die Stre- die Druckspannungen zu groß, kann der Gleiskörper kni-
ckenlast q0 und die Punktlast Ay . Dann müssten wir für cken.
Aufgaben 163

Aufgaben

Technische Mechanik
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

6.1 • Berechnen Sie mithilfe des Arbeitssatzes die 6.4 • • • Ein Biegeträger der Länge l ist auf drei La-
Lagerreaktionen des abgebildeten Trägers. gern abgestützt und trägt eine konstante Streckenlast q0 .
Berechnen Sie die Lagerreaktionen.
F

q0

A B C
A D
2l l
x
l l
Resultat: 2 2
F 2
Ax = 0, Ay = , By = F.
3 3
Resultat:
3 5
6.2 •• Berechnen Sie mithilfe des Arbeitssatzes die Ay = Cy = q0 l, By = q0 l.
Verläufe von Querkraft und Biegemoment von Aufgabe 16 8
6.1.
Resultat: 6.5 • • • Der skizzierte Träger ist im Punkt A fest ein-
F 1 gespannt und im Punkt B von der Pendelstütze B-C
QI = , MI = F x. abgestützt. An seinem freien Ende greift die Vertikalkraft
3 3
2 2 F an. Die Werte von Biegesteifigkeit E Iy im horizontalen
QII = − F, MII = F (3l − x). Trägerteil und Dehnsteifigkeit E A in der Pendelstütze sei-
3 3
en gegeben. Berechnen Sie mit dem Satz von Menabrea
die Kraft in der Pendelstütze.
6.3 • • • Für einen 3-Punkt-Biegeträger mit gegebenen
Werten für E, Iy und F sind die Durchbiegungen in den l l
Punkten B und C zu berechnen. Der Einfluss der Quer- F
kraft kann vernachlässigt werden.

A C
F
l

A D
B C

l l l B
x
2 4 4

Resultat:
Resultat: 5 l2
6 Iy
F l3 11 F l3 · F.
wB = , wC = . l2
+ 1
48 E Iy 768 E Iy 3 Iy A
164 6 Energiemethoden und Knicken – Verformungen und Kräfte berechnen

6.6 • Ein Kran soll als ebenes Fachwerk mit 15 mm × 15 mm. An Materialparametern seien gegeben:
Vierkantrohren des Querschnitts 50 mm × 50 mm × E = 205.000 MPa, Re = 355 MPa
Technische Mechanik

4 mm (Höhe × Breite × Wandstärke) aus Stahl (E =


1. Berechnen Sie die Lagerreaktionen. Wie groß ist die
205.000 MPa, Re = 300 MPa) gebaut werden. Zu berech-
Druckkraft im Stützbalken B-C?
nen ist diejenige äußere Kraft F, bei der eine 4-fache
2. Berechnen Sie die vorliegende Sicherheit S gegen Kni-
Sicherheit gegen Knicken von Stab 1 gewährleistet ist.
cken des Stützbalkens.
4
Resultat:
1. Ay = 300 N, Cy = 900 N. Der Stützbalken wird mit der
Druckkraft 900 N beansprucht.
1m 5 3 2 2. S = 12.

1
6.8 •• Ein rechteckiger Balken (Länge 500 mm,
Querschnitt 10 mm × 20 mm) aus Stahl (E = 205.000 MPa,
Re = 355 MPa) ist an einem Ende fest eingespannt. Am
1m 1m anderen Ende steckt er in einer eng anliegenden Führung.
F Diese ermöglicht es dem Balken, in vertikale Richtung frei
auszuweichen, während ein Ausweichen in horizontale
Richtung sowie die entsprechende Winkelbeweglichkeit
1. Bestimmen Sie die Stabkraft in Stab 1. unterbunden werden. Der Balken wird durch eine Druck-
2. Berechnen Sie die für den Kran maximal zulässige Kraft kraft F belastet.
Fzul , bei der in Stab 1 gerade 4-fache Sicherheit gegen
Knicken vorliegt. 10 mm

Resultat:
S1 = −F, Fzul = 33 kN.
20 mm

50
0
6.7 • Die abgebildete, in den Punkten A und C

m
m
gelagerte Struktur wird durch die Streckenlast q0 =
2 N/mm belastet. Zu untersuchen ist die Knickgefähr-
dung des Stützbalkens zwischen den Punkten B und C.
Der Stützbalken habe den quadratischen Querschnitt

q0 = 2 MPa F

A B

1. Welche Eulerfälle liegen vor?


2. Bei welcher Kraft F knickt der Balken aus?

Hinweis: Zwei Eulerfälle konkurrieren.

Resultat:
C
1. Eulerfall 1 für vertikales Ausknicken, Eulerfall 4 für ho-
rizontales Ausknicken.
400 mm 200 mm
2. 13,5 kN.
Kinematik des
7

Technische Mechanik
Massenpunktes –
Grundbegriffe der Bewegung
Wie kann man
Bewegungen beschreiben?
Welche Geschwindigkeit
erreicht ein Sprinter?
Welche Beschleunigungen
wirken bei einer
Kurvenfahrt?

7.1 Bewegungen beziehen sich immer auf ein Bezugssystem . . . . . . . 166


7.2 Bahn, Geschwindigkeit und Beschleunigung . . . . . . . . . . . . . . . 166
7.3 Geradlinige Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
7.4 Räumliche Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
7.5 Bewegungen auf vorgegebener Bahn. Beschreibung einer Bewegung
in natürlichen Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
7.6 Relativkinematik des Massenpunktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 165


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_7
166 7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung

Kinematik und die im nächsten Kapitel besprochene Kinetik schlie- z Zeitmarke


ßen die Grundlagen der Mechanik ab, die in diesem Lehrbuch
P
Technische Mechanik

behandelt werden. In der anfangs behandelten Statik befassten wir


uns mit der Frage, welche Kräfte und Momente auf einen starren
oder erstarrt gedachten Körper wirken, wenn dieser in der Gleich-
gewichtslage ist. Darauf aufbauend wurde in der Festigkeitslehre
Durchlaufsinn
untersucht, wie sich ein Körper unter der Wirkung dieser Lasten
r = r ( t)
verformt und welche Spannungen dadurch im Körper hervorgeru-
fen werden. Auch die Kinematik und Kinetik befasst sich mit den O
Änderungen eines Körpers, allerdings nicht wie die Festigkeitslehre Bahn
mit den Änderungen der geometrischen Gestalt in Abhängigkeit ei-
ner Ortskoordinate, sondern mit den Änderungen der Position eines
Körpers in Abhängigkeit der Zeit. In anderen Worten: Wir wollen die x y
Bewegung eines Körpers untersuchen.
Abb. 7.1 Bahn eines Massenpunktes
Unter einem Massenpunkt versteht man einen Körper, dessen
Lage im Raum durch Angabe eines Punktes hinreichend genau
beschrieben werden kann. Gleichbedeutend damit ist, dass nur Für die Grundgesetze der Kinetik ist darüber hinaus ein
Koordinaten zur Beschreibung der Position des Punktes im Raum Inertialsystem von entscheidender Bedeutung. Denn die
erforderlich sind. Die Lage eines ausgedehnten Körpers liegt dage- im Newton’schen Grundgesetz F = ma ausgesprochene
gen erst fest, wenn zusätzlich zur Position auch die Orientierung Verknüpfung der physikalischen Grundbegriffe Masse m,
des Körpers beschrieben ist. Ob man einen Körper als punktförmig Beschleunigung a und Kraft F gilt nur für die gegenüber
annehmen kann, ist keine Frage der räumlichen Ausdehnung des einem Inertialsystem gemessene Absolutbeschleunigung.
Körpers, sondern wird von der zu untersuchenden Aufgabenstel-
lung bestimmt. Beispielsweise kann man die Erde als Massenpunkt Jedes absolut im Raum ruhende Bezugssystem ist ein
modellieren, wenn man die Himmelsbewegungen rechnerisch be- Inertialsystem. Man kann aber zeigen, dass auch jedes ge-
schreiben möchte. Zur Planung des Landeanflugs einer Raumschiffs genüber diesem System mit nach Betrag und Richtung
sollte man dagegen die Erde besser nicht als einen Punkt auffassen. konstanter Geschwindigkeit bewegte Bezugssystem ein
Inertialsystem ist. Für die Belange dieses Buches ist es
ausreichend, sich unter einem Inertialsystem ein absolut
im Raum ruhendes Bezugssystem vorzustellen. Für die
7.1 Bewegungen beziehen sich meisten technischen Problemstellungen kann sogar ein
erdfestes Bezugssystem in hinreichender Genauigkeit als
immer auf ein Bezugssystem Inertialsystem angenommen werden.

Die Frage, ob sich ein Körper bewegt, hängt nicht nur


vom Bewegungszustand des Körpers ab, sondern auch
davon, welches Bezugssystem wir gewählt haben, re- 7.2 Bahn, Geschwindigkeit
lativ zu dem wir die Bewegung messen. Wollen wir und Beschleunigung
beispielsweise beschreiben, wie sich ein Reisender in ei-
nem Zugwaggon bewegt, so kommt man offensichtlich
zu verschiedenen Ergebnissen, wenn man die Bewegung Die Bahn eines Autos können wir im Winter verfolgen,
relativ zu einem waggonfesten Bezugssystem (körperfestes indem wir den Reifenspuren im Schnee folgen. Wenn
Bezugssystem) oder relativ zu einem bahnsteigfesten Be- wir zusätzlich wissen, zu welcher Zeit das Auto an wel-
zugssystem (erdfestes Bezugssystem) beschreibt. Bleibt der cher Stelle war, sind auch Aussagen darüber möglich, wie
Reisende beispielsweise auf seinem Sitz sitzen, so hat er schnell das Auto unterwegs war und wann beschleunigt
relativ zum Waggon die Geschwindigkeit null, während oder gebremst wurde.
er sich relativ zum Bahnsteig mit der Fahrgeschwindig-
keit des Zuges bewegt. Die mathematische Beschreibung von Bewegungen be-
nutzt Methoden der Vektorrechnung. Dazu geben wir
die Position eines Punktes auf seiner Bahn durch einen
Frage 7.1 Ortsvektor an, den wir vom Ursprung eines gewählten
Ein Zug fährt auf einem geraden Gleisabschnitt mit der Bezugssystems aus messen.
Geschwindigkeit 100 km/h. Ein Reisender geht im Zug in
Fahrtrichtung des Zuges mit der Geschwindigkeit 2 km/h Eine Bewegung des Massenpunktes relativ zu dem Be-
in Zugrichtung. Welche Geschwindigkeit hat der Reisen- zugssystem äußert sich darin, dass der Ortsvektor sich im
de gegenüber der Umgebung? Laufe der Zeit ändert (Abb. 7.1). Wir fassen das Ergebnis
zusammen:
7.3 Geradlinige Bewegungen 167

Ortsvektor und Bahn eines Massenpunktes Beschleunigungsvektor eines Massenpunktes

Technische Mechanik
Die Bewegung eines Punktes P im Raum lässt sich Der Beschleunigungsvektor ist die erste Ableitung
beschreiben, indem man den Ortsvektor des Geschwindigkeitsvektors nach der Zeit

r = r ( t) dv
a= = v̇
dt
in Abhängigkeit der Zeit t angibt. Die Verbindungs- bzw. die zweite Ableitung des Ortsvektors nach der
linie der Spitzen des Ortsvektors stellt die Bahn des Zeit
Massenpunktes dar. An der Abfolge der Zeitmarken
auf der Bahn kann man den Durchlaufsinn der Bahn d2 r
a= = r̈ .
erkennen. dt
Wie die Geschwindigkeit ist auch die Beschleunigung
eine vektorielle Größe. Im Gegensatz zum Geschwin-
Wenn zwischen zwei Zeitmarken auf der Bahn das Zeit- digkeitsvektor ist der Beschleunigungsvektor aber
intervall Δt vergangen ist, dann ist die mittlere Geschwin- nicht stets parallel zur Bahn gerichtet. Er steht aber
digkeit vmittel = Δr/Δt in diesem Zeitintervall umso grö- auch nicht beliebig zur Bahn; wie sich in Abschn. 7.5
ßer gewesen, je stärker sich der Ortsvektor in diesem zeigen wird, hat er vielmehr im Allgemeinen neben
Zeitintervall geändert hat. der Tangentialkomponente auch eine Normalkom-
ponente, die senkrecht auf der Bahn steht und immer
Die momentane Geschwindigkeit zu einem gewissen zum Krümmungsmittelpunkt der Bahn zeigt.
Zeitpunkt t entsteht aus der mittleren Geschwindigkeit,
indem man sich das Messintervall Δt beliebig klein vor-
stellt, d. h. im Grenzübergang Δt → 0 aus der Ableitung Um Bewegungen konkret berechnen zu können, wählt
des Ortsvektors nach der Zeit. Wir können also sagen: man einen Satz von Koordinaten und beschreibt zu-
nächst, wie sich der Ortsvektor in diesen Koordinaten
ausdrücken lässt. Anschließend kann man durch Ablei-
Geschwindigkeitsvektor eines Massenpunktes
ten den Geschwindigkeits- und Beschleunigungsvektor
Wenn die Bahn r = r(t) des Punktes bekannt ist, berechnen. Wir beginnen mit einem einfachen Sonderfall,
kann man den Geschwindigkeitsvektor nämlich der geradlinigen Bewegung eines Körpers.

Δr dr
v = lim = = ṙ
Δt→0 Δt dt 7.3 Geradlinige Bewegungen
durch Ableiten des Ortsvektors nach der Zeit t be-
rechnen. Die Geschwindigkeit ist eine vektorielle Grö- Eine geradlinige Bewegung liegt vor, wenn die Bahn des
ße. Da die Änderung Δr des Ortsvektors für Δt → 0 Massenpunktes ungekrümmt ist. Wie bei allen Bewegun-
in Richtung der Tangente an die Bahn zeigt, ist der gen längs einer vorgegebenen Bahn so genügt auch im
Geschwindigkeitsvektor parallel zur Bahn gerichtet. Sonderfall der geradlinigen Bewegung eine Koordinate,
die Wegkoordinate s, um die Position des Punktes auf
der Bahn festzulegen. Je nach Aufgabenstellung wird man
aber auch andere Bezeichnungen benutzen und dann bei-
Frage 7.2 spielsweise von der Höhenkoordinate h reden.
Die Dimension der Geschwindigkeit ist Länge/Zeit; ihre Bei allen kinematischen Fragestellungen lassen sich zwei
SI-Grundeinheit ist m/s. Im Alltagsleben werden Ge- Grundaufgaben unterscheiden:
schwindigkeiten dagegen oft in der Einheit km/h ange-
geben. Rechnen Sie die Geschwindigkeit v = 100 km/h in
die Einheit m/s um! Kinematik der geradlinigen Bewegung
Ist der Funktionsverlauf s = s(t) bekannt, so kann
durch Differenziation berechnet werden, welche
Beschleunigung ist ein Maß, wie stark sich der Geschwin- Geschwindigkeit
digkeitsvektor v im Laufe der Zeit t ändert. Ausgehend
von der mittleren Beschleunigung amittel = Δv/Δt im v ( t) =
ds
Zeitintervall Δt erhält man durch den Grenzübergang dt
Δt → 0 den momentanen Beschleunigungsvektor.
168 7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung

Geschwindigkeit (gleichförmige Bewegung) oder mit kon-


und welche Beschleunigung stanter Beschleunigung (gleichförmig beschleunigte Bewe-
Technische Mechanik

gung) handelt.
dv d2 s
a ( t) = =
dt dt Gleichförmige Bewegung: Für eine gleichförmige Bewe-
gung mit v(t) = v0 = konst. liefert die Lösung der Inte-
der Massenpunkt zu einem Zeitpunkt t hat.
grale das Weg-Zeit-Gesetz zu
Soll umgekehrt aus einem bekannten Beschleu-
nigungsverlauf a(t) die Geschwindigkeit und
s(t) = s0 + v0 (t − t0 ) .
die Position rekonstruiert werden, so muss in-
tegriert werden. Dabei muss zusätzlich durch Wenn man den Anfangszeitpunkt zu t0 = 0 wählt und
Anfangsbedingungen festgelegt sein, ab welchen den Weg ab diesem Zeitpunkt misst, dann gilt s0 = 0 und
Zeitpunkt t0 die Bewegung betrachtet wird und die Beziehung vereinfacht sich zu
welche Geschwindigkeit v0 = v(t0 ) und welche
Position s0 = s(t0 ) zu diesem Zeitpunkt vor- s ( t ) = v0 t .
liegen. Eine erste Integration des Zusammen-
hangs dv = a(t)dt mit der Anfangsbedingung
v0 = v(t0 ) liefert zunächst die Geschwindigkeit Gleichförmig beschleunigte Bewegung: Im Fall einer
gleichförmig beschleunigten Bewegung mit a(t) = a0 =
t
konst. erhält man durch zwei hintereinander ausgeführte
v ( t ) = v0 + a(t̄) dt̄ Integrationen als Geschwindigkeit-Zeit-Gesetz
t0
v(t) = v0 + a0 (t − t0 )
und durch erneute Integration folgt aus
ds = v(t)dt mit der Anfangsbedingung s0 = s(t0 ) und als Weg-Zeit-Gesetz
die Position zu
1
t s(t) = s0 + v0 (t − t0 ) + a0 (t − t0 )2 .
2
s ( t ) = s0 + v(t̄) dt̄ .
t0 Falls zusätzlich t0 = 0, s0 = 0, v0 = 0 gelten, vereinfacht es
sich zu
1 2 1
Für eine mathematisch korrekte Darstellung müssen für a(t) = a0 , v(t) = a0 t , s ( t) = a0 t = vt .
2 2
die Integrationsvariable und die obere Integrationsgrenze
unterschiedliche Formelsymbole verwendet werden. Die Durch Elimination der Zeit t folgt
Integrationsvariable wurde deshalb mit t̄ bezeichnet, um
sie von der oberen Grenze t zu unterscheiden. v2 v2 
s= , a0 = , v= 2a0 s.
2a0 2s
Frage 7.3
Der letzte Formelsatz ist besonders für Aufgabenstellun-
Wenn die Geschwindigkeit v = v(t) in Abhängigkeit der
gen nützlich, bei denen der Zeitraum, in der die Bewe-
Zeit gegeben ist, dann folgt die Beschleunigung durch Ab-
gung stattfindet, keine Rolle spielt.
leiten, a = v̇.
Wie kann man die Beschleunigung berechnen, wenn die Beispiel Ein Fahrzeug beschleunigt aus dem Stand her-
Geschwindigkeit v = v(s) in Abhängigkeit des Weges s aus in T = 10 s auf die Geschwindigkeit v1 = 100 km/h.
gegeben ist? Wie groß ist die über den Beschleunigungszeitraum als
konstant angenommene Beschleunigung?
Wir führen eine Wegachse entlang der Fahrtrichtung des
Autos ein und messen die Zeit und die Wegstrecke ab
Bei gleichförmigen Bewegungen dem Beschleunigungsbeginn, es gelten daher die An-
sind die Zeitintegrationen besonders einfach fangsbedingungen t0 = 0, s0 = 0. Da das Fahrzeug aus
dem Stand heraus beschleunigt, gilt für die Anfangsge-
schwindigkeit v0 = 0. Wegen der als konstant angenom-
Die Auswertung der Integrale ist dann besonders ein- menen Beschleunigung handelt es sich um eine gleich-
fach, wenn es sich um eine Bewegung mit konstanter förmig beschleunigte Bewegung. Unter den aufgeführten
7.3 Geradlinige Bewegungen 169

Anwendung: Kinematische Diagramme

Technische Mechanik
Die grafische Darstellung der Funktionsverläufe 20
a = a(t), v = v(t) und s = s(t) bezeichnet man als 10
Nullstelle
die kinematischen Diagramme einer Bewegung. Auf- 0
grund der Verwandtschaft der Differenziation mit der –10
m
Steigungsberechnung einer Funktion und der Integral- a –20
s2
rechnung mit der Flächeninhaltsberechnung unterhalb –30
des Graphen einer Funktion lassen sich die kinemati- –40
–50
schen Gleichungen auch grafisch interpretieren. 0 2 4 6 8 10 12 14 16
Die Fläche, die der a = a(t)-Verlauf bzw. der v = v(t)-
Verlauf im Intervall t0 ≤ t̄ ≤ t mit der t-Achse ein- a (t) > 0 a(t) < 0
schließt, entspricht dem Zuwachs der Geschwindigkeit v(t) hat v(t) hat
bzw. der Wegstrecke in diesem Zeitraum. Unterhalb positive Steigung negative Steigung
der t-Achse gelegene Flächen zählen dabei negativ. 150
Die Steigung im s = s(t)-Diagramm bzw. v = v(t)- 100 horizontale Tangente
Diagramm zu einem gewissen Zeitpunkt entspricht 50
Nullstelle
der Geschwindigkeit bzw. der Beschleunigung zu die- 0
v m
s –50
sem Zeitpunkt. Umgekehrt hat der v(t)-Verlauf in In-
–100
tervallen, in denen a(t) > 0 bzw. a(t) < 0 ist, positive
–150
bzw. negative Steigung; an Stellen mit a(t) = 0, besitzt
–200
der v(t)-Verlauf eine horizontale Tangente; es hängt 0 2 4 6 8 10 12 14 16
vom Einzelfall ab, ob es sich um eine Extrem- oder ei-
ne Sattelstelle handelt. Entsprechend sind anhand des v(t) > 0 v(t) < 0
Vorzeichens von v(t) Aussagen über das Steigungsver- s(t) hat s(t) hat
halten im s(t)-Diagramm möglich. positive Steigung negative
Steigung
In den gezeichneten Diagrammen sind die Zusammen- 800
hänge für den Fall horizontale Tangente
600

a ( t) =
a0   für 0 ≤ t ≤ t1 , s (m)
400
t−t1
a0 1 − t2 −t1 für t ≥ t1 , 200
 0
v0 + a0 t für 0 ≤ t ≤ t1 ,
v ( t) =  
(t−t1 )2 –200
v0 + a0 t − 2(t −t ) für t ≥ t1 , 0 2 4 6 8 10 12 14 16
2 1

s0 + v0 t + 12 a0 t2 für 0 ≤ t ≤ t1 , t (s)
s ( t) =  
(t−t1 )3
s0 + v0 t + 2 a0 t − 3(t −t )
1 2 für t ≥ t1
2 1 Abb. 7.2 Kinematische Diagramme
dargestellt, wobei die Parameter zu t1 = 4 s, t2 =
6 s, a0 = 10 m/s2 , v0 = 25 m/s, s0 = 50 m gewählt wur-
den.

Anfangsbedingungen gilt für das Geschwindigkeit-Zeit- Schritt 1: Einführung einer Wegachse in Bewegungsrich-
Gesetz v(t) = a0 t. Speziell zur Zeit T hat das Fahrzeug die tung.
Geschwindigkeit v(T ) = a0 T = v1 . Durch Auflösen folgt Schritt 2: Formulierung der Anfangsbedingungen für die
Bewegung.
v1 27,7 m/s Schritt 3: Aufstellen der Geschwindigkeit-Zeit- und Weg-
a0 = = = 2,7 m/s2 .
T 10 s Zeit-Gesetze.

Schritt 4: Auswerten der Gesetze zu speziellen Zeitpunk-
An diesem einfachen Beispiel kann man die typischen ten.
Arbeitsschritte erkennen, die für diesen Aufgabentyp er- Schritt 5: Auflösen des entstandenen Gleichungssystems
forderlich sind: nach den unbekannten Größen.
170 7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung

Das systematische Vorgehen hilft insbesondere, wenn sich bzw. s20 = S und v20 = −v2 . Das Minuszeichen berück-
die Bewegung eines Körpers aus verschiedenen Bewe- sichtigt, dass die Geschwindigkeit des Fahrzeugs 2 entge-
Technische Mechanik

gungsabschnitten zusammensetzt oder mehrere Körper gen der positiven Zählrichtung der s-Koordinate gerichtet
an der Bewegung beteiligt sind. Wir betrachten hierzu die ist. Die kinematischen Gesetze für gleichförmige Bewe-
folgenden beiden Beispiele. gungen liefern für die beiden Fahrzeuge die Weg-Zeit-
Gesetze
Beispiel Ein Sprinter läuft S = 100 m in T = 10 s. Wir
nehmen an, dass auf den ersten s1 = 10 m die Beschleu- s1 ( t ) = v 1 t , s2 ( t ) = S − v 2 t .
nigung konstant ist und der Sprinter dann mit konstanter
Geschwindigkeit bis ins Ziel weiterläuft. Wie groß ist die Das Zusammentreffen ist durch
Geschwindigkeit im zweiten Teil der Strecke?
s1 ( T ) = s2 ( T ) : v1 T = S − v2 T
Wir wählen die Wegachse entlang der Sprintstrecke. Die
Bewegung setzt sich aus einer gleichförmig beschleunig- charakterisiert. Daraus folgt, dass sich die Fahrzeuge nach
ten Bewegung mit noch unbekannter Beschleunigung a0
für 0 ≤ t ≤ t1 und einer gleichförmigen Bewegung für S 1
t1 ≤ t ≤ T zusammen. Dabei bezeichnet t1 den noch un- T= = h = 6 min
v1 + v2 10
bekannten Zeitpunkt, an dem die beiden Bewegungsab-
schnitte ineinander übergehen. Auf den ersten 10 m gel- im Abstand
ten die Anfangsbedingungen t0 = 0, v(t0 ) = 0, s(t0 ) = 0.
v1
Die kinematischen Gesetze v(t) = a0 t, s(t) = 12 a0 t2 liefern, s1 ( T ) = S = 9 km
dass zum Zeitpunkt t1 gilt v1 + v2

1 2 von A-Dorf treffen. 


s(t1 ) = a0 t = s1 , v(t1 ) = a0 t1 = v1 . (a),(b)
2
Frage 7.4
Diese Ergebnisse stellen zugleich die Anfangsbedingun- Im vorigen Beispiel wurde die Aufgabe gelöst, indem eine
gen für den zweiten Bewegungsabschnitt dar, der deshalb
von A-Dorf nach B-Stadt gerichtete s-Achse benutzt wur-
nach den kinematischen Gesetzen v(t) = v1 = konst.,
de. Zeigen Sie, dass man zum gleichen Ergebnis kommt,
s(t) = s1 + v1 (t − t1 ) abläuft. Speziell zum Zeitpunkt T wenn man eine entgegengesetzt orientierte Achse be-
des Zieleinlaufs gilt
nutzt.
s(T ) = s1 + v1 (T − t1 ) = S . (c)

Mit (a) bis (c) stehen 3 Gleichungen für die 3 Unbekann-


ten a0 , v1 , t1 zur Verfügung. Durch Auflösen folgt: Kinematische Grundaufgaben
s1 + S
v1 = = 11 m/s = 39,6 km/h ,
T Bisher haben wir nur den Fall behandelt, dass die kinema-
2s1 s tischen Grundgrößen explizit von der Zeit abhängen. Der
t1 = = 2 1 T = 1,82 s ,
v1 s1 + S Zusatz explizit betont, dass die kinematische Größe „ohne
v1 (s + S)2 Umwege“ direkt aus dem Wert der Zeitvariablen berech-
a1 = = 1 2 = 6,05 m/s2 . net werden kann. In mathematischer Form drückt sich
t1 2s1 T diese Voraussetzung so aus, dass beispielsweise für die
 Beschleunigung der Zusammenhang zur Zeit über eine
explizite Funktionsvorschrift der Form a = a(t) bekannt
sein muss. Nur unter dieser Voraussetzung kann man
Beispiel Ein Fahrzeug 1 fährt von A-Dorf in Rich-
durch zwei hintereinandergeschaltete Integrationen über
tung B-Stadt mit der konstanten Geschwindigkeit
die Zeit die Geschwindigkeit und die Position berech-
v1 = 90 km/h. Gleichzeitig fährt ein anderes Fahrzeug 2
nen. Genau diese Voraussetzung wird aber in technischen
von B-Stadt nach A-Dorf mit der Geschwindig-
Fragestellungen häufig nicht erfüllt sein. Dazu müssen
keit v2 = 70 km/h. Die Entfernung zwischen A-Dorf
wir bedenken, dass die Beschleunigung über das New-
und B-Stadt beträgt S = 16 km. Zu welchen Zeitpunkt
ton’sche Grundgesetz mit der Kraft auf den Massenpunkt
und an welcher Stelle treffen sich die beiden Fahrzeuge?
verbunden ist. In der bislang angegebenen Form lassen
Wir führen eine von A-Dorf nach B-Stadt gerichtete sich die Beziehungen nur dann verwenden, wenn alle
s-Achse ein, deren Ursprung in A-Dorf liegt. Dann gel- Kräfte konstant sind oder explizit von der Zeit abhän-
ten zum gewählten Anfangszeitpunkt t0 = 0 für die bei- gen. Der letzte Fall tritt beispielsweise auf, wenn durch
den Fahrzeuge die Anfangsbedingungen s10 = 0, v10 = v1 eine Steuerung die Antriebskraft eines Motors direkt als
7.4 Räumliche Bewegungen 171

Funktion der Zeit vorgegeben ist. Wir müssen aber zur sodass sich die Kugel für t → ∞ asymptotisch der Grenz-
Kenntnis nehmen, dass viele eingeprägte Kräfte nicht di- geschwindigkeit

Technische Mechanik
rekt, sondern nur auf dem „Umweg“ über kinematische
Größen von der Zeit abhängen. In der Mathematik spricht lim v(t) = v1
t→ ∞
man davon, dass die Kraft und wegen des Newton’schen
Grundgesetzes auch die Beschleunigung implizit von der nähert. 
Zeit abhängen. Betrachten wir beispielsweise eine Fe-
der, die zwischen zwei sich bewegende Massenpunkte
gespannt ist, dann hängt die Federkraft nur implizit,
nämlich auf dem „Umweg“ über den zeitveränderlichen 7.4 Räumliche Bewegungen
Abstand der Massenpunkte von der Zeit ab. Das typi-
sche Beispiel für eine implizite Zeitabhängigkeit auf dem Nach der Bewegung eines Massenpunktes längs einer
„Umweg“ über die Geschwindigkeit stellt ein fahrendes Geraden wollen wir jetzt gleich den allgemeinen Fall
Auto dar, bei dem die Luftwiderstandskraft von der Fahr- behandeln: der Massenpunkt soll sich längs einer im drei-
geschwindigkeit und diese wiederum vom betrachteten dimensionalen Anschauungsraum eingebetteten Bahn be-
Zeitpunkt abhängt. wegen. Eine ebene Bewegung können wir als Sonderfall
Deshalb sind Beziehungen erforderlich, mit denen man daraus leicht ableiten. Selbstverständlich ist die geradli-
nicht nur im Sonderfall der expliziten Zeitabhängigkeit nige Bewegung ihrerseits wiederum einer Sonderfall der
die kinematischen Grundgrößen auseinander berechnen ebenen Bewegung. Dass sie zuvor trotzdem in einem ei-
kann. Die sechs wichtigsten Fälle dieser sogenannten ki- genen Abschnitt dargestellt wurde, diente in erster Linie
nematischen Grundaufgaben sind in Tab. 7.1 dargestellt. dazu, Sie am einfachsten Beispiel einer Bewegung mit den
Gesetzmäßigkeiten der Kinematik vertraut zu machen.
Während es bei der geradlinigen Bewegung bis auf die
Beispiel Für das Absinken einer Kugel in einer zähen Skalierung nur eine sinnvolle Wahl der einen Koordinate
Flüssigkeit gilt das Bewegungsgesetz gibt, gibt es bei räumlichen Bewegungen mehr als einen
sinnvollen Koordinatensatz. In den Anwendungen sind
  hierfür kartesische Koordinaten und Zylinderkoordina-
v
a = a(v ) = g 1 − ten – ihr ebener Sonderfall sind die Polarkoordinaten –
v1
gebräuchlich. Eine besondere Rolle spielt die Darstellung
einer Bewegung in natürlichen Koordinaten.
Die konstante Geschwindigkeit v1 hängt dabei vom Ra-
dius der Kugel und der Zähigkeit der Flüssigkeit ab. Die
Kugel wird aus der Ruhe heraus losgelassen. Bestimmen
Sie das Geschwindigkeits-Zeit-Gesetz v = v(t) der Bewe- Darstellung in kartesischen Koordinaten
gung der Kugel.

Der Übersicht entnehmen wir, dass wir ausgehend von Bei einer Beschreibung in kartesischen Koordinaten führt
der bekannten Beschleunigungsfunktion a = a(v) zu- man als Bezugssystem ein Rechtskoordinatensystem mit
nächst durch Integration die Funktion senkrecht aufeinander stehenden Achsen ein; die Bewe-
gung des Massenpunktes liegt dann fest, sobald die kar-
v
tesischen Koordinaten x, y, z des Massenpunktes als Funk-
1 tion der Zeit bekannt sind. Weil das Newton’sche Grund-
t( v ) = dv̄
a(v̄) gesetz nur bezüglich eines Inertialsystems gilt, wollen wir
0 das Koordinatensystem als ein solches annehmen.

bestimmen können. Dabei wurde die Anfangsbedingung Der Ortsvektor zum Massenpunkt kann dann über eine
v(0) = 0 ausgenutzt. Durch Integration erhalten wir zu- Gleichung der Form
nächst
r(t) = x(t)ex + y(t)ey + z(t)ez
v  
1 1 v1 v in den kartesischen Koordinaten ausgedrückt werden.
t( v ) = dv̄ = − ln 1 − . Beachten Sie, dass die Basisvektoren nicht von der Zeit
g 1 − vv̄1 g v1
0 abhängen, weil wir das Bezugssystem als inertial voraus-
gesetzt haben. Deshalb können wir bei der Berechnung
Die Umkehrfunktion lautet der Zeitableitung die Basisvektoren als konstante Größen
  behandeln und erhalten die Absolutgeschwindigkeit zu
gt
−v
v ( t ) = v1 1 − e 1 , v(t) = ẋ(t)ex + ẏ(t)ey + ż(t)ez
172 7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung

Übersicht: Kinematische Grundfunktionen


Technische Mechanik

Die kinematischen Grundgrößen Weg, Geschwin- Tab. 7.1 Grundaufgaben der geradlinigen Punktbewegung
digkeit und Beschleunigung gehen definitionsgemäß Gegeben Anleitung zur Ermittlung der übrigen Funktionen
durch Differenziation nach der Zeit bzw. Integration ds dv
über die Zeit auseinander hervor. In vielen technischen s = s ( t) v( t) = a ( t) =
dt dt
Anwendungsfällen hängt eine kinematische Grund- t
dv
größe aber nicht von der Zeit ab. In der folgenden v = v( t) s ( t ) = s0 + v(t̄) dt̄ a ( t) =
dt
Tabelle ist zusammengestellt, nach welchen Zusam- t0
menhängen dann die Grundgrößen ineinander umge- t t
rechnet werden können. a = a ( t) v(t) = v0 + a(t̄) dt̄ s ( t ) = s0 + v(t̄) dt̄
t0 t0
Falls erforderlich folgen weitere Zusammenhän- s
ge, indem man die Umkehrfunktion bildet. Wenn 1 dv(s)
v = v( s ) t(s) = t0 + ds̄ a ( s ) = v( s )
z. B. t = t(s) gegeben oder berechnet wurde, so erhält v(s̄) ds
s0
man s = s(t) durch Bilden der Umkehrfunktion (sofern s s
1
die Umkehrfunktion überhaupt existiert). a = a (s) v2 (s) = v20 + 2 a(s̄) ds̄ t(s) = t0 + ds̄
v(s̄)
s0 s0
v v
1 v
a = a ( v) t(v) = t0 + dv̄ s ( v ) = s0 + dv̄
a(v̄) a(v̄)
v0 v0

z
Darstellung einer räumlichen Bewegung in kartesi-
P
schen Koordinaten
r = r ( t) Wenn man die Bewegung eines Massenpunktes
in kartesischen Koordinaten beschreibt, so gilt für
den Ortsvektor die Darstellung
⎛ ⎞
z x ( t)
O r = ⎝ y ( t) ⎠ .
x z ( t)
y
Ist das Bezugssystem ferner ein Inertialsys-
x y tem, so folgen die Absolutgeschwindigkeit und
-beschleunigung
Abb. 7.3 Kartesische Koordinaten ⎛ ⎞ ⎛ ⎞
ẋ(t) ẍ(t)
v = ⎝ ẏ(t) ⎠ , a = ⎝ ÿ(t) ⎠
und durch erneute Differenziation die Absolutbeschleu- ż(t) z̈(t)
nigung zu
durch koordinatenweise Differenziation des Orts-
a(t) = ẍ(t)ex + ÿ(t)ey + z̈(t)ez . vektors.
Sind umgekehrt die Koordinaten ax , ay , az der Ab-
Wenn die Basisvektoren nicht von der Zeit abhängen, solutbeschleunigung
⎛ ⎞
erhält man die Absolutgeschwindigkeit und -beschleuni- ax (t)
gung, indem nur die Koordinaten des Ortsvektors ein- a = ⎝ ay (t) ⎠
bzw. zweimal nach der Zeit differenziert werden. In die- az (t)
sem Fall kann man ohne die Gefahr von Missverständnis-
sen auch eine Darstellung verwenden, die nur die Koordi- als Funktion der Zeit t bekannt, dann liefert ei-
naten, nicht aber die Basisvektoren explizit aufführt. Wir ne koordinatenweise Integration die Absolutge-
nutzen dies in der folgenden Zusammenfassung aus.
7.4 Räumliche Bewegungen 173

z wieder in den Basisvektoren ausdrücken lassen. Alle an-


ez deren Ableitungen sind null.

Technische Mechanik

Nach diesen rein mathematischen Vorarbeiten können
eρ wir damit beginnen, eine Bewegung in Zylinderkoordina-
ten zu beschreiben. Die Arbeitschritte sind dieselben wie
bei kartesischen Koordinaten; wir müssen aber bedenken,
dass im Gegensatz zu den kartesischen Koordinaten sich
O die Basisvektoren ändern, wenn sich die Koordinaten än-
φ dern. Wir beginnen damit, den Ortsvektor

ρ r(t) = r(ρ (t), ϕ(t), z(t)) = ρeρ ( ϕ) + zez

zum Massenpunkt aus den Zylinderkoordinaten und


Abb. 7.4 Zylinderkoordinaten ihren Basisvektoren aufzubauen. Um daraus den Ge-
schwindigkeitsvektor berechnen zu können, muss der
Ortsvektor nach der Zeit differenziert werden. Im vorigen
Abschnitt war dies ganz einfach, weil nur die Koordina-
schwindigkeit und -position ten differenziert werden mussten. Dagegen müssen wir
⎛ ⎞ jetzt im ersten Summanden ρ (t)eρ ( ϕ(t)) die Produkt- und
tax (t̄) Kettenregel anwenden sowie die Ableitungen der Basis-
v = v0 + ⎝ ay (t̄) ⎠ dt̄ , vektoren einsetzen und erhalten dann
t0 az (t̄)
⎛ ⎞ dr deρ dϕ
 t vx (t̄) v= = ρ̇e ϕ + ρ + żez
dt dϕ dt
r = r0 + ⎝ vy (t̄) ⎠ dt̄ ,
vz (t̄) = ρ̇eρ + ρ ϕ̇e ϕ + żez .
t0

Ebenso können wir in den folgenden Schritten


wobei zusätzlich Anfangsbedingungen für die
Position und die Geschwindigkeit bekannt sein deρ dϕ
dv
müssen. a= = ρ̈eρ + ρ̇
dt dϕ dt
de ϕ dϕ
+ (ρ̇ ϕ̇ + ρ ϕ̈)e ϕ + ρ ϕ̇
dϕ dt
Darstellung in Zylinderkoordinaten + z̈ez

Bei einer Beschreibung der Bewegung in Zylinderkoordi- den Beschleunigungsvektor


naten wird die Position des Massenpunktes durch eine
Radialkoordinate ρ, eine Zirkular- oder Umfangskoordi- a = ρ̈ − ρ ϕ̇2 eρ + ρ ϕ̈ + 2ρ̇ ϕ̇ e ϕ + z̈ez
nate ϕ und eine Axialkoordinate z beschrieben (Abb. 7.4).
bestimmen. Wir fassen das Ergebnis zusammen:
Dabei legt die Zirkularkoordinate ϕ den Winkel zu einer
gewählten Bezugsrichtung fest, die Radialkoordinate ρ
beschreibt den Abstand von der z-Achse, und die Axial- Darstellung einer räumlichen Bewegung in Zylinderko-
koordinate z gibt die Höhe über dem Ursprung an. ordinaten
Ferner führen wir in jedem Punkt P eine lokale kartesische Bei der Beschreibung in Zylinderkoordinaten liegt
Basis eρ , e ϕ , ez ein, deren Basisvektoren immer tangen- die Bewegung eines Punkts fest, wenn die Radial-,
tial zu den Koordinatenlinien in Richtung wachsender Zirkular- und Axialkoordinate dieses Punktes als
Koordinatenwerte gerichtet sind. Der entscheidende Un- Funktion der Zeit t bekannt sind:
terschied zu den kartesischen Koordinaten ist, dass nur
der Basisvektor ez stets dieselbe Orientierung hat, wäh- ρ = ρ ( t) , ϕ = ϕ ( t) , z = z ( t) .
rend die beiden anderen Basisvektoren sich ändern, wenn
sich die Zirkularkoordinate ϕ ändert. Wir entnehmen der Der Ortsvektor zum Massenpunkt lässt sich dann
Mathematik, dass sich die Ableitungen der Basisvektoren durch

deρ de ϕ r = r (t) = ρeρ + zez


= eϕ = −e ρ (7.1)
dϕ dϕ
174 7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung

Beispiel: Schiefer Wurf


Technische Mechanik

Welche Flugbahn hat ein Körper, der schräg nach oben bedingung für v0 folgt der Geschwindigkeitsvektor
geworfen wird? Der Luftwiderstand wird vernachläs-
  t    
sigt. Diese klassische Problemstellung der ebenen Ki- v0 cos α 0 v0 cos α
v= + dt̄ = .
nematik ist unter dem Namen schiefer Wurf bekannt. v0 sin α −g v0 sin α − gt
0

Ortsvektor: Eine erneute Integration liefert ausgehend


v
y von r0 = 0 den Ortsvektor
v0
t    
v0 cos α v0 t cos α
a r= dt̄ = .
x v0 sin α − gt̄ v0 t sin α − 12 gt2
0

Dies ist die Parameterdarstellung der Flugbahn, wo-


Problemanalyse und Strategie: Um diese Bewegung be- bei die Zeit t als Kurvenparameter auftritt. Zu jedem
schreiben zu können, führen wir ein sinnvoll gewähl- Zeitpunkt t ≥ 0 kann man die kartesischen Koordina-
tes Koordinatensystem ein. Danach können wir die ten x = x(t), y = y(t) des Ortes bestimmen, an dem der
Anfangsbedingungen formulieren. Ausgehend von der Punkt zu diesem Zeitpunkt ist.
Beschleunigung, die auf den Körper wirkt, erhalten wir
durch zweifache Integration die Parameterdarstellung Explizite Form der Bahn: Um zu einer expliziten Dar-
der Bahn. Durch Elimination der Zeit können wir herlei- stellung y = y(x) der Bahn zu kommen, muss man in
ten, dass die Flugbahn eine Parabel ist. Aus den Ergeb- der Parameterdarstellung die Zeit t eliminieren. Durch
nissen lässt sich ableiten, unter welchem Winkel man Auflösen von x = x(t) nach t erhält man t = v0 cosx
α.
werfen muss, um die maximale Wurfweite zu erzielen. Setzt man in das Ergebnis für y = y(t) folgt
g
y(x) = x tan α − x2
Lösung: Koordinatensystem einführen: Wir legen den 2v20 cos2 α
Ursprung in die Abwurfstelle, wählen die x-Achse g
bzw. y-Achse in horizontaler bzw. vertikaler Richtung. = x tan α − (1 + tan2 α)x2 .
2v20
Anfangsbedingungen bestimmen: Im gewählten Ko- Dies ist eine Polynomfunktion zweiten Grades in der
ordinatensystem nehmen die Anfangsbedingungen Variablen x; die Flugbahn ist also eine Parabel.
die einfache Form
    Steigzeit tS und maximale Wurfhöhe H: Aus der Be-
x0 0
r0 = = dingung vy (tS ) = 0 folgt
y0 0
   
v0x v0 cos α v0 v20
v0 = = tS = sin α , H = y(tS ) = sin2 α .
v0y v0 sin α g 2g
an, da der Körper zum Zeitpunkt t0 = 0 aus dem Flugzeit T und Wurfweite w: Aus der Bedin-
Ursprung des Koordinatensystem mit der Anfangs- gung y(T ) = 0 folgt
geschwindigkeit v0 unter dem Winkel α gegen die
v0
x-Achse abgeworfen wird. T=2 sin α = 2tS ,
g
Beschleunigungsvektor: Der Körper ist der nach un-
2v20 v2
ten gerichteten Erdbeschleunigung g ausgesetzt, so- w = x (T ) = sin α cos α = 0 sin 2α .
dass für den Beschleunigungsvektor g g
    Abwurfwinkel für maximale Wurfweite: Aus der Be-
ax 0
a= = = konst.
ay −g dα = 0 folgt
dingung dw

gilt. Das Minuszeichen berücksichtigt, dass die Erd- v20


α = 45◦ , wmax = .
beschleunigung entgegen der nach oben gerichteten g
y-Achse wirkt.
Die größte Wurfweite wird also bei vorgegebener An-
Geschwindigkeitsvektor: Durch Integration des Be- fangsgeschwindigkeit für einen Abwurfwinkel von 45◦
schleunigungsvektors unter Ausnutzen der Anfangs- erzielt.
7.4 Räumliche Bewegungen 175

eφ eρ v aφ Für die Beschleunigung erhält man:


P

Technische Mechanik
r dv d
φ R aϱ a= = ω × r = ω̇ × r + ω × v
dt dt
O O O
R = ω̇ × r + ω × ω × r .

Dabei ist ω̇ = ϕ̈ez der Vektor der Winkelbeschleunigung.


Abb. 7.5 Bewegung auf einer Kreisbahn
Wir fassen die Ergebnisse zur Kreisbewegung zusammen:

Kinematik der Kreisbewegung eines Massenpunktes


in den Zylinderkoordinaten ausdrücken. Durch Dif-
ferenziation nach der Zeit folgen daraus der Ge- Bewegt sich ein Massenpunkt auf einer Kreisbahn
schwindigkeitsvektor zu (Radius R), so lassen sich mithilfe des Winkelge-
schwindigkeitsvektors bzw. des Winkelbeschleuni-
dr gungsvektors
v= = ρ̇eρ + ρ ϕ̇e ϕ + żez
dt
ω = ϕ̇ez , ω̇ = ϕ̈ez ,
und der Beschleunigungsvektor zu
die Geschwindigkeit und Beschleunigung des Mas-
dv senpunktes nach den Beziehungen
a= = ρ̈ − ρ ϕ̇ eρ + ρ ϕ̈ + 2ρ̇ ϕ̇ e ϕ + z̈ez .
2
dt
v = ω×r
Eine ebene Bewegung ist in den vorher angegebenen
a = ω̇ × r + ω × ω × r
Beziehungen als Sonderfall z = 0, ż = z̈ = 0 enthal-
ten. aus dem Ortsvektor r = Reρ zum Massenpunkt be-
rechnen. Dabei ist ϕ der Zirkularwinkel, der angibt,
an welcher Stelle der Kreisbahn der Punkt sich mo-
mentan befindet. Wertet man die Kreuzprodukte
aus, erhält man:
Kinematik der Bewegung auf einer Kreisbahn
v = R ϕ̇e ϕ , a = −R ϕ̇2 eρ + R ϕ̈e ϕ
Einen technisch wichtigen Sonderfall einer ebenen Be-
wegung stellt die Bewegung auf einer Kreisbahn dar
(Abb. 7.5).
Die charakteristischen Eigenschaften der Kreisbewegung
Die Bewegung auf einer Kreisbahn (Radius R) lässt sich sind:
durch die spezielle Wahl z = 0, ż = z̈ = 0 sowie ρ = R =
konst., ρ̇ = ρ̈ = 0 als Sonderfall einer Bewegung in Zylin- Die Geschwindigkeit hat nur eine zirkulare Koordina-
derkoordinaten darstellen. Man erhält damit: te v ϕ = ϕ̇R; der Geschwindigkeitsvektor ist daher stets
tangential zur Bahn gerichtet.
r = Reρ , v = R ϕ̇e ϕ , a = −R ϕ̇2 eρ + R ϕ̈e ϕ . Die Beschleunigung hat in Tangentialrichtung die Ko-
ordinate a ϕ = R ϕ̈ und in radialer Richtung die Koor-
Alternativ lässt sich die Kreisbewegung auch durch einen dinate aρ = − ϕ̇2 R = −v2 /R. Das Minuszeichen zeigt,
Winkelgeschwindigkeitsvektor ω = ϕ̇ez beschreiben. Da- dass die Radialbeschleunigung zum Kreismittelpunkt
bei sind ϕ̇ die skalare Winkelgeschwindigkeit und ez ein hin gerichtet ist. Man sagt deshalb auch, dass ein
Vektor in Richtung der Drehachse. Bildet man nun das Massenpunkt, der sich auf einer Kreisbahn mit der
Kreuzprodukt Geschwindigkeit v bewegt, eine Zentripetalbeschleuni-
gung (centrum (lat.): Mitte; petere (lat.): suchen) vom
ω × r = ϕ̇ez × Reρ = R ϕ̇ez × eρ = R ϕ̇e ϕ Betrag ϕ̇2 R erfährt. Diese Beschleunigung muss durch
eine von außen auf den Körper wirkende Kraft erzeugt
erhält man das zuvor angegebene Ergebnis für die Ge- werden, z. B. durch ein Seil, das den Körper auf der
schwindigkeit, und es gilt: Bahn hält oder durch die Reifenkräfte bei der Kurven-
fahrt eines Fahrzeugs.
dr Im Sonderfall konstanter Winkelgeschwindigkeit hat die
v= = ω×r.
dt Geschwindigkeit längs der Kreisbahn den konstanten
176 7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung

Betrag ϕ̇R. Trotzdem tritt eine Zentripetalbeschleuni- z


gung vom Betrag ϕ̇2 R auf. Sie ist erforderlich, um die s lokaler
Technische Mechanik

s=0
Richtung der Geschwindigkeit zu ändern. Krümmungskreis
M
en
vorgegebene
eb Bahn
P et
O
7.5 Bewegungen auf vorgegebener
x
Bahn. Beschreibung einer y

Bewegung in natürlichen Abb. 7.6 Lokale Frenet’sche Basis

Koordinaten
Wir übernehmen aus der Mathematik das Ergebnis, dass
In den vorigen Abschnitten wurden verschiedene Dar- sich die natürliche Basis aus dem Tangentenvektor et =
stellungsarten von Bewegungen betrachtet. Dabei wur- dr
ds (er ist tangential zur Bahn in Richtung wachsender
de stillschweigend vorausgesetzt, dass die Koordinaten s-Werte gerichtet und vom Betrage eins), dem Hauptnor-
zur Beschreibung der Bewegung unabhängig voneinander malenvektor en = 1κ de t
sind. Bewegt sich der Punkt aber entlang einer vorgege- ds (er ist senkrecht zur Bahn in Rich-
tung des Krümmungsmittelpunktes gerichtet und vom
benen Bahn, so legt die Kontur der Bahn Abhängigkeiten Betrage eins) und dem Binormalenvektor eb = et × en zu-
zwischen den Koordinaten fest. Dann genügt eine Koordi- sammensetzt.
nate, um die Position des Punktes auf der Bahn eindeutig
festzulegen; man spricht deshalb auch von eindimensiona- Dabei bezeichnet κ = | de
ds | die Krümmung der Bahnkurve
t

len Bewegungen. Als Koordinate besonders geeignet ist die im gerade betrachteten Kurvenpunkt. Sie stimmt mit dem
längs der vorgegebenen Bahn gemessene Bogenlänge s. Kehrwert des Radius des Krümmungskreises in diesem
Punkt überein, κ = 1/R. Die drei Basisvektoren bilden ei-
Man unterscheidet die folgenden Fälle: ne kartesische Basis, die auch als begleitendes Dreibein
Freie Bewegung: In diesem Fall liegt die Bahn nicht fest, oder Frenet’sche Basis bezeichnet wird (Abb. 7.6). Ihrer
sondern stellt sich aufgrund der auf den Massenpunkt Konstruktion nach handelt es sich bei der Frenet’schen
wirkenden Kräfte ein. Aufgabe der Mechanik ist es, aus Basis um eine lokale Basis, d. h. ihre Basisvektoren haben
den wirkenden Kräften zu bestimmen, welche Bahn der im Allgemeinen an jedem Punkt der Bahn eine andere
Körper nimmt und nach welchem Zeitgesetz er sich auf Orientierung. Wie schon bei der Beschreibung in Zylin-
dieser Bahn bewegt. Dies ist die Fragestellung der direkten derkoordinaten müssen wir für kinematische Fragestel-
Kinetik. Beispiele für freie Bewegungen sind der schiefe lungen zusätzlich wissen, wie sich der Ortsvektor und der
Wurf oder eine Ballonfahrt. Basisvektor et mit der Bogenlänge ändern. Aus den vor-
her angegebenen Beziehungen folgt dafür
Geführte Bewegung: In diesem Fall liegt die Bahn von
vornherein fest, da sich der Punkt längs einer vorgege- dr det
benen Bahn bewegen muss. Die Aufgabe der Mechanik = et , = κen .
ds ds
ist es dann, die Kräfte zu berechnen, die erforderlich
sind, damit der Massenpunkt sich auf der vorgegebenen Nach diesen Vorarbeiten können wir beginnen, die Ki-
Bahn nach einen ebenfalls vorgegebenen Zeitgesetz be- nematik eines Punktes, der sich auf einer vorgegebenen
wegt. Man bezeichnet diese Fragestellung auch als inverse Bahn bewegt, zu untersuchen. Als Koordinate benutzen
Kinetik. Eine geführte Bewegung liegt beispielsweise bei wir die längs der Bahn gemessene Bogenlänge s, die sich
einem Linienflug oder bei einer Achterbahnfahrt vor. aufgrund der Bewegung des Punktes im Lauf der Zeit än-
Für freie Bewegungen wurden in den letzten Abschnitten dert, s = s(t). Die Position des Punktes auf der Bahn wird
dann durch den Ortsvektor
die Beschreibung in kartesischen und in Zylinderkoordi-
naten vorgestellt. Für eine Bewegung auf einer vorgege-
benen Bahn gibt es eine alternative Beschreibungsform. r = r (s(t))
Es lassen sich nämlich in diesem Fall Koordinaten definie-
ren, die nicht willkürlich gewählt sind, sondern sich allein beschrieben. Er hängt implizit von der Zeit ab. Um den
aus der Form der Bahnkurve r = r (s) ableiten lassen; Geschwindigkeitsvektor berechnen zu können, benötigen
die Beschreibung einer Bewegung in diesem Koordina- wir deshalb zunächst die Kettenregel
tensatz wird als Beschreibung in natürlichen Koordinaten
bezeichnet. Als Basis zur Zerlegung der Vektoren wird ei- dr dr ds
v= = .
ne natürliche Basis verwendet. dt ds dt
7.5 Bewegungen auf vorgegebener Bahn. Beschreibung einer Bewegung in natürlichen Koordinaten 177

Die skalare Ableitung ds Wenn die Form r = r (s) der Bahnkurve in der Bogenlän-
dt ist die Bahngeschwindigkeit, mit
der sich der Punkt auf der Bahn bewegt. Die vektoriel- ge s parametrisiert ist und die Bewegung auf der Kurve

Technische Mechanik
le Ableitung dr durch ein Bewegungsgesetz vom Typ s = s(t) vorgegeben
ds stimmt mit dem Tangentenvektor an die
Bahn überein, sodass für den Geschwindigkeitsvektor ist, dann verläuft die kinematische Analyse der Bewe-
gung in folgenden Schritten:
v = vet
1. Bestimmung der skalaren kinematischen Größen
durch Differenziation des Bewegungsgesetzes s = s(t)
folgt. Der Beschleunigungsvektor folgt durch Differenzia-
nach der Zeit t:
tion zu
Bahngeschwindigkeit: v = ṡ .
dv d
dv det ds Bahnbeschleunigung: at = v̇ = s̈ .
a= = v(t)et (s(t)) = et + v
dt dt dt ds dt
dv 2. Bestimmung der differenzialgeometrischen Größen
= et + κv en .
2
der Raumkurve r = r(s) durch Differenziation nach
dt der Bogenlänge s:
dr
Tangentenvektor: et = .
Wir fassen die Ergebnisse zusammen: ds
det d2 r
Krümmung: κ= = .
ds ds
Beschreibung einer Bewegung auf vorgegebener Bahn 1 det
in natürlichen Koordinaten Hauptnormalenvektor: en = .
κ ds
Bewegt sich ein Massenpunkt längs einer vorgege-
benen Bahn, so genügt eine Koordinate, die Bogen- 3. Bestimmung der vektoriellen kinematischen Größen
länge s = s(t) in Abhängigkeit der Zeit t, um die durch Kombination der skalaren kinematischen Grö-
Bewegung des Punktes auf der Bahn zu beschreiben. ßen mit den differenzialgeometrischen Größen:
Darauf aufbauend kann man durch Differenziation Geschwindigkeitsvektor: v = vet .
nach der Zeit die Bahngeschwindigkeit v = ṡ und Beschleunigungsvektor: a = at et + κv2 en .
die Bahnbeschleunigung at = v̇ = s̈ bestimmen, mit
der sich der Körper längs der Bahn bewegt.
Der Geschwindigkeitsvektor Sonderfall: Ebene Bahn in kartesischen oder
v = vet
Polarkoordinaten

ist stets parallel zur Bahntangente, sein Betrag ist die Natürliche Koordinaten können selbstverständlich auch
Bahngeschwindigkeit v = ṡ. verwendet werden, wenn die Bewegung in einer Ebene
Der Beschleunigungsvektor stattfindet. Bei ebenen Bewegungen wird man die Kontur
der Bahn meist nicht in der Form r = r (s) angeben, son-
a = at et + an en dern sie durch eine Funktionsgleichung y = y(x) in kar-
tesischen Koordinaten bzw. ρ = ρ ( ϕ) in Polarkoordinaten
hat die folgenden beiden Koordinaten: beschreiben. Der Mathematik kann man entnehmen, dass
die Krümmung sich dann aus
Bahnbeschleunigung at = v̇ = s̈:
y d(·)
Die zugehörige Komponente at et ist parallel zur κ=  3/2 , (·) = (7.2)
Bahn gerichtet; man bezeichnet at deshalb auch 1 + (y )2 dx
als Tangentialbeschleunigung. Die Koordinate kann
positiv, null oder negativ sein. Wenn die Koordi- ρ2 + 2(ρ )2 − ρρ d(·)
nate negativ ist, bedeutet dies, dass der Massen- κ=  3/2 , (·) = (7.3)
ρ 2 + ( ρ )2 dϕ
punkt verzögert wird.
Normalbeschleunigung an = κv2 :
Die zugehörige Komponente an en steht senkrecht berechnen lässt.
auf der Bahn und ist wegen an ≥ 0 vom Kurven-
punkt zum lokalen Krümmungsmittelpunkt, also Frage 7.5
stets „nach innen“, gerichtet. Sie wird deshalb Eine spezielle ebene Bewegung ist die Bewegung auf
auch als Zentripetalbeschleunigung bezeichnet. einer Kreisbahn (Radius R). Dabei ist die Krümmung kon-
stant und gleich dem Kehrwert des Kreisradius R. Setzt
178 7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung

man κ = 1/R in die vorher angegebenen Beziehungen zI


ein, folgt für die Normalbeschleunigung an = v2 /R.
Technische Mechanik

Die Bewegung auf einer Kreisbahn haben wir schon


zF
einmal untersucht, nämlich als Sonderfall der Beschrei-
bung einer Bewegung in Polarkoordinaten. Wir er- yF
hielten als Ergebnis, dass eine Radialbeschleunigung rF
aρ = − ϕ̇2 R = −v2 /R auftritt, während sich in natürlichen OF
OI xF
Koordinaten eine Normalbeschleunigung an = v2 /R er-
gab.
Wie lässt sich das unterschiedliche Vorzeichen erklären? xI yI

Abb. 7.7 Koordinatensysteme für die Relativbewegung


Beispiel Ein Fahrzeug durchfährt eine Kurve (R =
200 m) mit der konstanten Geschwindigkeit v =
140 km/h. Welche Normalbeschleunigung wirkt auf das Inertialsystem KI : Im Karussellbeispiel können wir uns
Fahrzeug? darunter ein fest am Kassenhäuschen angebracht ge-
dachtes Koordinatensystem vorstellen. (Dass es streng
Die Normalbeschleunigung beträgt an = v2 /R = genommen wegen der Bewegung der Erde im Weltall
2
7,56 m/s . Um diese Normalbeschleunigung aufzubrin- nicht inertial ist, wollen wir vernachlässigen.)
gen, muss nach dem Newton’schen Grundgesetz über die Führungssystem KF : Im Karussellbeispiel kann dies
Reifen eine nach innen wirkende Kraft auf das Fahrzeug beispielsweise ein fest am Karussellsitz angebracht ge-
ausgeübt werden. Wenn die Reibverhältnisse zwischen dachtes Bezugssystem sein. Der Ortsvektor rF = rF (t)
Reifen und Fahrbahn dies nicht zulassen, kommt das beschreibt die Bahn des Ursprungs OF des Führungs-
Fahrzeug ins Schleudern und kann die vorgegebene systems. Das Führungssystem dreht sich relativ zum
Kreisbahn nicht mehr einhalten.  Inertialsystem mit einer Winkelgeschwindigkeit ωF =
ω F ( t) .

7.6 Relativkinematik des Eine Relativableitung von vektoriellen Größen tritt in


der Mechanik nicht nur bei kinematischen Größen auf,
Massenpunktes sondern wird beispielsweise in der Kinetik des starren
Körpers auch auf den Drallvektor eines Körpers ange-
Die im Newton’schen Grundgesetz F = ma ausgespro- wendet.
chene Verknüpfung der physikalischen Grundbegriffe Wir erklären der Begriff der Relativableitung deshalb
Masse m, Beschleunigung a und Kraft F gilt nur für zunächst für irgendeinen Vektor b und wenden die Er-
die gegenüber einem Inertialsystem gemessene Absolut- gebnisse anschließend speziell auf relativkinematische
beschleunigung. Wir müssen uns deshalb im folgenden Fragestellungen an. Die Koordinaten des Vektors b im
darum kümmern, wie wir erstens aus der bekannten Führungssystem KF wollen wir mit bFx , bFy , bFz bezeichnen.
Bewegung eines Bezugssystems relativ zu einem Inerti-
alsystem und zweitens aus einer bekannten Bewegung Aus den Koordinaten und den Basisvektoren exF , eyF , ezF
eines Punktes relativ zu dem bewegten Bezugssystem auf des Führungsystem KF kann der Vektor nach der Bezie-
die Absolutbewegung des Punktes schließen können. hung

Als illustratives Beispiel betrachten wir ein Kind, das Ka- b = bFx exF + bFy eyF + bFz ezF
russell fährt und dabei seine Beine baumeln lässt. Als
„Massenpunkt“, dessen Bewegung wir beschreiben wol- aufgebaut werden. Für die Zeitableitung müssen wir be-
len, wählen wir die Spitze des rechten großen Zehs des achten, dass sich im Allgemeinen sowohl die Koordinaten
Kindes. als auch die Basisvektoren im Laufe der Zeit ändern kön-
In den bisherigen Abschnitten hatten wir immer nur ein nen. Die Produktregel der Differenziation liefert damit
Bezugssystem; deshalb konnten wir eine vereinfachte No- zunächst, dass sich die Ableitung
tation wählen, in der nicht angezeigt wurde, relativ zu
F
welchem Bezugssystem wir die Bewegung messen. Da- db de F dey de F
gegen treten bei der Relativbewegung verschiedene Be- = ḃFx exF + ḃFy eyF + ḃFz ezF + bFx x + bFy + bFz z
dt dt dt dt
zugssysteme auf, die wir in der Notation durch einen
tiefgestellten Index unterscheiden. Im Einzelnen führen aus zwei Anteilen zusammensetzt, die sich darin un-
wir die folgenden Bezugssysteme ein (Abb. 7.7): terscheiden, ob die Koordinaten oder die Basisvektoren
7.6 Relativkinematik des Massenpunktes 179

differenziert werden. Der erste Anteil ḃFx exF + ḃFy eyF + ḃFz ezF
gibt die Änderung an, die allein aus der Zeitableitung der über dem Inertialsystem gemessene absolute Ablei-

Technische Mechanik
Koordinaten herrührt. Er stellt daher physikalisch die Än- tung eines Vektors b nach der Beziehung
derung dar, die ein Beobachter misst, der sich mit dem
Führungssystems mitbewegt. Man bezeichnet diesen An- db dF b
= + ωF × b (7.4)
teil deshalb auch als die Relativableitung dt dt
F
dF b additiv aus der Relativableitung ddtb und der Füh-
= ḃFx exF + ḃFy eyF + ḃFz ezF rungsableitung ωF × b zusammen. Die Relativablei-
dt
tung
des Vektors b bezüglich des Koordinatensystems KF . In
der Notation zeigen wir durch einen hochgestellten Index dF b
beim Differenziationssymbol an, dass nur die Koordina- = ḃFx exF + ḃFy eyF + ḃFz ezF
dt
ten, nicht aber die Basisvektoren des jeweils angegebenen
Koordinatensystems zu differenzieren sind. Die Notation beschreibt dabei physikalisch die Änderung, die ein
ist konsistent zu der früheren Schreibweise ohne Angaben mit dem Führungssystem mitbewegter Beobachter
eines Koordinatensystems, wenn wir vereinbaren, dass misst. Man erhält sie, indem man nur die Koordina-
der Index weggelassen wird, wenn das Bezugssystem ein ten des Vektors zum Führungssystem nach der Zeit
dI b ableitet.
Inertialsystem KI ist; db
dt ≡ dt .

de F de F de F
Auch der Änderungsanteil bFx dtx + bFy dty + bFz dtz kann Kommentar Bislang wurde ein Koordinatensystem, das
noch weiter umgeformt werden. Die Winkelgeschwindig- Inertialsystem, als ruhend vorausgesetzt. Die Ergebnisse
keit, mit der sich das Koordinatensystem KF dreht, haben lassen sich aber auf den Fall übertragen, dass zwei Koor-
wir mit ωF bezeichnet. Für die Zeitableitungen der Basis- dinatensysteme KA und KB betrachtet werden, die beide
vektoren gilt dann: bewegt sind. Dann besteht zwischen den Relativableitun-
gen eines Vektors b relativ zu den beiden Koordinatensys-
deiF temen der Zusammenhang
= ωF × eiF ; i = x, y, z .
dt dA b dB b
= + A ωB × b .
Damit lässt sich der Anteil durch die Umformungen dt dt
Dabei ist A ωB die Winkelgeschwindigkeit, mit der sich
bFx (ωF × exF ) + bFy (ωF × eyF ) + bFz (ωF × ezF ) das Koordinatensystem KB relativ zum Koordinatensys-
tem KA dreht. Auch für die Winkelgeschwindigkeit ist die
= ωF × (bFx exF + bFy eyF + bFz ezF ) = ωF × b Notation zur früheren Schreibweise konsistent, wenn wir
vereinbarungsgemäß bei einem Inertialsystem KI den In-
in der Winkelgeschwindigkeit ωF ausdrücken. dex für das Koordinatensystem weggelassen, ωB ≡ I ωB .
Durch Einsetzen aller Zwischenergebnisse folgt abschlie- 
ßend für die gegenüber einem Inertialsystem gemessene Die für irgendeinen Vektor angegebenen Beziehungen
Änderung eines Vektors die Darstellung wollen wir jetzt in der Relativkinematik speziell auf
den Geschwindigkeits- und Beschleunigungsvektor an-
db dF b wenden. Der Ortsvektor rFP (t) beschreibt die Bahn des
= + ωF × b . Massenpunktes gemessen vom Ursprung OF des Füh-
dt dt
rungssystems aus. Ziel des Abschnitts ist es, Aussa-
gen über die Absolutbeschleunigung des Massenpunktes
Wir fassen das Ergebnis zusammen: zu machen, wenn die Bewegung des Führungssystems
und die Relativbewegung des Massenpunktes bekannt
sind. Wir stellen uns also vor, dass die Zeitfunktionen
Zusammenhang zwischen relativer und absoluter Än-
rF (t), ωF (t) und rFP (t) bekannt seien und wollen die Ab-
derung einer vektoriellen Größe
solutbeschleunigung aP des Massenpunktes bestimmen
Wenn sich ein Führungskoordinatensystem KF re- (Abb. 7.8).
lativ zu einem Inertialsystem KI mit der Winkelge- Wir beginnen damit, den Ortsvektor zum Massenpunkt
schwindigkeit ωF dreht, dann setzt sich die gegen-
rP = rF + rFP
180 7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung

zI wieder in den relativen Ableitungen ausdrücken und man


P erhält für die Absolutbeschleunigung
Technische Mechanik

rFP
zF d2 vF dωF
aP = + × rFP + ωF × (ωF × rFP )
dt2 dt
yF d2F rFP dF rFP
rF
OF
+ 2
+ 2ωF × .
dt dt
OI xF
Wir fassen die Ergebnisse zusammen:

xI yI
Relativkinematik des Massenpunktes
Abb. 7.8 Relativbewegung Ein Massenpunkt bewege sich relativ zu einem
Führungssystem KF , wobei die Bahn durch den
Ortsvektor rFP = rFP (t) beschrieben ist, der vom
als Summe der beiden Ortsvektoren rF und rFP zu schrei- Ursprung OF des Führungssystems zum Massen-
ben. Die Zeitableitung liefert dann punkt P gerichtet ist. Der Ursprung OF bewege
sich relativ zu einem Inertialsystem KF längs der
vP =
drF dr
+ FP . Bahn rF = rF (t), und die Achsen des Führungssys-
dt dt tems drehen sich relativ zum Inertialsystem mit
der Winkelgeschwindigkeit ωF = ωF (t). Dann gel-
Da der Ortsvektor rF vom Ursprung des Inertialsystems
ten die folgenden kinematischen Zusammenhänge:
aus gemessen wurde, liefert die Zeitableitung die Abso-
lutgeschwindigkeit
Absolutgeschwindigkeit vP des Massenpunktes:
dr
vF = F vP = vFhg + vrel ,
dt
des Ursprungs OF . Den zweiten Summanden wollen wir mit vFhg = vF + ωF × vFP ,
so umformen, dass darin die Relativgeschwindigkeit auf- dF vFP
tritt. Dazu werten wir (7.4) für die spezielle Wahl aus vrel = .
dt
b ≡ rFP und erhalten
Absolutbeschleunigung aP des Massenpunktes:
drFP dF rFP
= + ωF × rFP .
dt dt aP = aFhg + arel + aCor ,
Damit gilt für die Absolutgeschwindigkeit dωF
mit aFhg = aF + × rFP + ωF × (ωF × rFP ) ,
dt
dF r FP
vP = vF + ωF × rFP + . dF vFP d2F rFP
dt arel = = ,
dt dt2
Durch eine erneute Zeitableitung erhält man für die Ab- aCor = 2ωF × vrel .
solutbeschleunigung aP zunächst
 
dvP d dF rFP Die Führungsgrößen vFhg bzw. aFhg beschreiben die Ge-
aP = = vF + ωF × rFP +
dt dt dt schwindigkeit bzw. Beschleunigung, die der Massen-
2     punkt hätte, wenn er fest mit dem Führungssystem ver-
d vF dωF drFP d dF rFP
= + × r FP + ω F × + . bunden wäre. Wenn der Massenpunkt sich relativ zum
dt2 dt dt dt dt
Führungssystem bewegt, kommen noch die Relativgrö-
Wegen (7.4) lassen sich die absoluten Zeitableitungen ßen vrel bzw. arel hinzu. Sie entsprechen derjenigen Ge-
schwindigkeit bzw. Beschleunigung, die ein mitbewegter
drFP dF rFP Beobachter misst. Man kann sie aus der Bahn rFP = rFP (t)
= + ωF × rFP berechnen, indem man zunächst die Koordinaten des Vek-
dt dt
 F    tors rFP zum Führungssystem KF bestimmt und dann nur
d d rFP dF dF rFP dF rFP
= + ωF × diese Koordinaten einmal bzw. zweimal nach der Zeit
dt dt dt dt dt differenziert. Auf Beschleunigungsebene tritt zusätzlich
d2F rFP dF rFP die Coriolisbeschleunigung aCor auf. Sie verschwindet nur,
= 2
+ ωF × wenn vrel = 0 oder ωF = 0 oder ωF  vrel ist.
dt dt
Antworten zu den Verständnisfragen 181

Weiterführende Literatur
Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils

Technische Mechanik
Technische Mechanik befindet sich am Ende von Kap. 9.

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 7.1 Da beide Geschwindigkeiten in die glei- Die Produktregel der Differenziation liefert, dass sich der
che Richtung zeigen, darf man sie einfach addieren. Die Zusammenhang alternativ auch in der Form
Geschwindigkeit des Reisenden gegenüber der Umge-
bung ist also 102 km/h. Würde er sich entgegen der 1 d  2
a= v
Fahrrichtung bewegen, würde man eine Geschwindigkeit 2 ds
von 98 km/h messen. Bei Bewegungen nahe der Licht-
geschwindigkeit gilt dieses Additionsprinzip nicht mehr. angeben lässt.
Natürlich sprechen wir aber im Folgenden immer von Ge-
schwindigkeiten, die weit unter der des Lichtes liegen. Antwort 7.4 Für eine von B-Stadt nach A-Dorf ge-
richtete s̄-Achse mit dem Ursprung in B-Stadt gel-
ten für die beiden Fahrzeuge die Anfangsbedingun-
Antwort 7.2 Wegen 1 km = 1000 m und 1 h = 3600 s gilt
gen s̄10 = S, v̄10 = −v1 bzw. s̄20 = 0 und v̄20 = v2 . Die
Weg-Zeit-Gesetze s̄1 (t) = S − v1 t und s̄2 (t) = v2 t lie-
km 1000m 100 m
v = 100 = 100 = = 27,7 m/s . fern für den durch s̄1 (T ) = s̄2 (T ) charakterisierten Zeit-
h 3600s 3,6 s punkt des Zusammentreffens wieder das Ergebnis
T= v+ S
= 6 min. Zu diesem Zeitpunkt hat das Fahr-
Es lohnt sich, die Umrechnungsformeln 1 v2
zeug 2 die Strecke s̄2 (T ) = S v v+2v = 7 km von B-Stadt aus
1 2
v 1 v v v zurückgelegt; das Zusammentreffen findet damit wie vor-
= · , = 3,6 · her in S − s̄2 (T ) = 9 km Entfernung von A-Dorf statt.
m/s 3,6 km/h km/h m/s
Antwort 7.5 Bei einer Beschreibung in natürlichen Koor-
auswendig zu lernen.
dinaten ist der Basisvektor en stets vom Kurvenpunkt zum
lokalen Krümmungsmittelpunkt gerichtet, während der
Antwort 7.3 Ausgehend von v = v(s(t)) erhält man mit- Basisvektor eρ der Zylinderkoordinaten entgegengesetzt
hilfe der Kettenregel der Differenziation den Zusammen- orientiert ist. Beide Ergebnisse liefern wegen eρ = −en
hang deshalb dieselbe physikalische Aussage, nämlich dass ein
Massenpunkt, der sich auf einer Kreisbahn (Radius R) mit
dv ds dv der Bahngeschwindigkeit v bewegt, eine Zentripetalbe-
a= =v .
ds dt ds schleunigung vom Betrag v2 /R erfährt.
182 7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung

Aufgaben
Technische Mechanik

Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

7.1 • Ein Kraftfahrzeug beschleunigt aus dem 3. Berechnen Sie den Weg-Zeit-Verlauf s = s(t). Welchen
Stand heraus in T = 10 s auf v1 = 100 km/h. Wie groß ist Weg s1 hat der Aufzug zurückgelegt, wenn er seine Ma-
die durchschnittliche Beschleunigung a0 ? Welchen Weg S ximalgeschwindigkeit v1 erreicht hat?
hat es bis zum Ende der Beschleunigung zurückgelegt?
Hinweis: Gehen Sie vom Ansatz v(t) = A(1 − cos ωt) aus.
Hinweis: Rechnen Sie die Endgeschwindigkeit zuerst in Welche Bestimmungsgleichungen für die Kreisfrequenz ω
die SI-Grundeinheit m/s um. Der Begriff „durchschnitt- und die Amplitude A können Sie aus der Skizze des
liche Beschleunigung“ bedeutet, dass wir die Beschleuni- Funktionsverlaufs ablesen? Die Berechnung der ande-
gung als konstant annehmen. In Wirklichkeit sinkt sie mit ren kinematischen Größen folgt durch Differenziation
zunehmender Geschwindigkeit ab. bzw. Integration des Geschwindigkeitsverlaufs.

Resultat: a0 = 2,7 m/s2 , S = 138,8 m . Resultat:  


v1 t
v ( t) = 1 − cos π ,
2 t1
7.2 • Ein Kraftfahrzeug fährt mit v0 = 100 km/h  
und bremst dann in S = 39,8 m bis zum Stillstand. Wie πv1 t v1 t1 t
a ( t) = sin π , s(t) = t − sin π ,
groß war die durchschnittliche Verzögerung a0 ? 2t1 t1 2 π t1
1
Hinweis: In der Aufgabenstellung ist nach der Bremszeit s1 = s(t1 ) = v1 t1 .
2
nicht gefragt. Es ist daher sinnvoller, nicht von den ki-
nematischen Grundgleichungen a = v̇, v = ṡ sondern von 7.4 • • • Oft kann man die Erdbeschleunigung g als
der Beziehung a = v dvds auszugehen. konstant annehmen, obwohl sie streng genommen qua-
dratisch vom Abstand r des Körpers vom Erdmittelpunkt
v2
Resultat: a0 = − 2S1 = −9,69 m/s2 . abhängt. Für Bewegungen über große Strecken muss die
Abhängigkeit g = g(r) berücksichtigt werden, um eine
7.3 •• Um ein sanftes Anfahren eines Aufzugs zu gute Übereinstimmung mit den Messwerten zu erreichen.
gewährleisten, wird die Anfahrgeschwindigkeit so ge- Für den freien Fall im Newton’schen Schwerefeld gilt ein
steuert, dass der Geschwindigkeits-Zeit-Verlauf dem an- Bewegungsgesetz der Form
steigenden Bereich einer Kosinus-Funktion folgt.
r20
a = a ( r ) = − g0 .
v r2
v1
~ cos Dabei ist g0 = 9,81 m/s2 die Erdbeschleunigung an der
Erdoberfläche im Abstand r0 = 6500 km vom Erdmittel-
punkt.
0
0 t1 t 1. Eine Kugel wird mit großer Anfangsgeschwindig-
keit v0 von der Erdoberfläche aus nach oben geschos-
Seine Maximalgeschwindigkeit v1 soll der Aufzug zum sen. Wie ändert sich die Geschwindigkeit v in Abhän-
gigkeit des Abstands r vom Erdmittelpunkt?
Zeitpunkt t = t1 erreichen.
2. Welchen maximalen Abstand vom Erdmittelpunkt
1. Wie lautet die Funktion v = v(t) mit den gegebenen Pa- kann die Kugel erreichen?
rametern v1 und t1 ? 3. Mit welcher Geschwindigkeit v0 müsste man die Ku-
2. Welcher Beschleunigungs-Zeit-Verlauf a = a(t) stellt gel mindestens abschießen, sodass sie das Schwerefeld
sich ein? Wie groß ist die maximale Beschleunigung der Erde überwindet und in den Tiefen des Weltraums
und zu welchem Zeitpunkt wird sie erreicht? verschwindet?
Aufgaben 183

4. Zeigen Sie, dass für kleine Schusshöhen r = r0 + s, 7.6 • Ein Projektil wird horizontal abgeschossen.
s r0 das aus der Schulphysik bekannte Ge- Seine Bahn senkt sich auf L = 100 m um H = 1 m ab.

Technische Mechanik
setz v2 (s) = v20 − 2g0 s folgt.
v0
Hinweis: Das Beschleunigungsgesetz ist nicht in Abhän-
H L
gigkeit der Zeit, sondern des Weges gegeben. Sie müssen
deshalb das in Tab. 7.1 angegebene Lösungsschema an-
wenden. Für den letzten Aufgabenteil benötigt man die
Taylorentwicklung einer Funktion. Wie lautet der Ent-
Bestimmen Sie die Flugzeit T und die Anfangsgeschwin-
wicklungspunkt der Taylorentwicklung?
digkeit v0 .
Resultat:
   Hinweis: Es bietet sich an, die Aufgabe mit den ange-
1. v(r) = v20 + 2g0 r20 1
r − 1
r0 . gebenen Gleichungen des schiefen Wurfes zu lösen. Wo
muss dann der Ursprung des Koordinatensystems liegen?
2g0 r20
2. rmax = 2g0 r0 −v20
= 6503 km von Erdmittelpunkt aus, Welche Koordinaten hat der bekannte Auftreffpunkt des
Δrmax= rmax − r0 = 3,19 km von Erdoberfläche aus. Projektils in diesem Koordinatensystem?
3. v0 = 2g0 r0 = 40.655 km/h.
4. Linearisierung von v = v(r) um den Entwicklungs- Resultat: T = 0,45 s , v0 = 221 m/s .
punkt r = r0 .

7.5 • Ein Stein wird senkrecht nach oben geworfen 7.7 • Ein Fahrzeug durchfährt eine Kurve mit der
und schlägt nach T = 8 s wieder auf dem Boden auf. konstanten Geschwindigkeit v = 140 km/h. Dabei erfährt
es eine Normalbeschleunigung an = 7 m/s2 . Wie groß ist
1. Wie groß war die Anfangsgeschwindigkeit des Steins? der Radius R der Kurve?
2. Welche Steighöhe erreicht der Stein?
Hinweis: Beachten Sie, dass die Flugzeit der doppelten Hinweis: Vergessen Sie nicht die Geschwindigkeit in die
SI-Einheit m/s umzurechnen.
Steigzeit entspricht.
Resultat: v0 = 39,24 m , H = 78,5 m Resultat: R = 216 m .
Kinetik des Massenpunktes –
8

Technische Mechanik
wie beeinflussen Kräfte und
Momente die Bewegung?
Die Aussagen von Impuls-
und Drallsatz
Welche Kräfte wirken bei
einer Achterbahnfahrt?
Arbeit und Energie in der
Mechanik

8.1 Impuls und Impulssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186


8.2 Drall und Drallsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
8.3 Relativkinetik des Massenpunktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
8.4 Arbeit, Leistung und Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
8.5 Massenpunktsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 185


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_8
186 8 Kinetik des Massenpunktes – wie beeinflussen Kräfte und Momente die Bewegung?

Nach der Kinematik wenden wir uns nun der Kinetik zu; die Kine- Richtung der Kraft erfolgt:
tik beschäftigt sich mit der Frage, welcher Zusammenhang zwischen
dp
Technische Mechanik

den kinematischen Größen und den auf einen Massenpunkt wirken- = F.


den Kräften besteht. Es entspricht der Alltagserfahrung, dass ein dt
Körper einer Änderung seines Bewegungszustandes einen Wider- Da für einen Massenpunkt die Masse während der Bewe-
stand, seine „Massenträgheit“, entgegengesetzt. Die für das Bewe- gung konstant bleibt, folgt
gungsverhalten eines Körpers grundlegenden Gesetzmäßigkeiten
gehen ebenso wie das Gegenwirkungsprinzip „actio = reactio“ aus dv
m = ma = F .
der Statik auf Isaac Newton (1643–1727) zurück. dt

Kommentar Bei Bewegungen nahe der Lichtgeschwin- Zusammenfassend gilt also:


digkeit weichen die von den Newton’schen Axiomen
postulierten Bewegungen deutlich von den gemessenen Impulssatz (2. Newton’sches Gesetz)
ab. Diese Abweichungen werden durch die Einsteinsche
Relativitätstheorie erfasst.  Für einen Massenpunkt ist das Produkt aus Masse
und Absolutbeschleunigung gleich der einwirken-
den äußeren Kraft:
ma = F .
8.1 Impuls und Impulssatz
Führt man die d’Alembert’sche Trägheitskraft F T = −ma
Für den Zusammenhang zwischen der Masse und dem ein, kann man den Impulssatz auch in der Form
Bewegungsverhalten eines Körpers formulierte Newton
den folgenden axiomatischen Zusammenhang: ma + F T = 0
schreiben und spricht dann vom dynamischen Gleich-
Trägheitsaxiom (1. Newton’sches Gesetz) gewicht der Kräfte. Die d’Alembert’sche Trägheitskraft
ist keine Kraft im Newton’schen Sinne, da zu ihr keine
Jede Masse bleibt im Zustand der Ruhe oder der Gegenkraft existiert und sie deshalb das Gegenwirkungs-
gleichförmigen geradlinigen Bewegung, sofern kei- axiom verletzt. Man bezeichnet die d’Alembert’sche Träg-
ne äußeren Kräfte auf sie wirken. heitskraft deshalb auch als Scheinkraft.

Das Trägheitsaxiom stellt nur den qualitativen Zusam-


menhang zwischen der Kraft und der Bewegungsände- Im Impulssatz muss die Beschleunigung
rung her; es gibt aber nicht an, wie stark der Bewegungs- die Absolutbeschleunigung sein
zustand durch eine Kraft geändert werden kann. Um auch
diese Frage beantworten zu können, ist als Vorbereitung In der Form ma = F gilt der Impulssatz nur bezüglich
der Begriff des Impulses erforderlich. eines ruhenden Systems (Inertialsystem) und a ist dann
die bezüglich des ruhenden Systems gemessene Beschleu-
Impuls eines Massenpunktes: nigung (Absolutbeschleunigung). Für die meisten tech-
nischen Anwendungen kann ein erdfestes System mit
Der Impuls hinreichender Genauigkeit als ruhendes System ange-
nommen werden. Im Abschnitt über die Relativkinematik
p = mv wurde aber gezeigt, wie man die Absolutbeschleunigung
rekonstruieren kann, wenn man die Bewegung eines Be-
ist das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit: zugssystems gegenüber einem Inertialsystem sowie den
relativ zum bewegten Bezugssystem gemessenen Bewe-
gungszustand kennt.
Bislang ist das Wort Impuls nur eine Abkürzung für
das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit. Man hätte
dafür keinen eigenen Begriff eingeführt, wenn dieses Pro- Die Newton’sche Mechanik beginnt
dukt nicht von überragender Bedeutung für die Mechanik
wäre. Diese Bedeutung wird erst deutlich, wenn man den mit dem Freischneiden
Impuls nach der Zeit ableitet. Es gilt nämlich im axioma-
tischen Sinne, dass die zeitliche Änderung des Impulses Im Impulssatz tritt die Summe aller auf den Massenpunkt
der einwirkenden äußeren Kraft proportional ist und in wirkenden äußeren Kräfte auf. Wie schon in der Statik
8.1 Impuls und Impulssatz 187

Übersicht: Anwendungsschema für den Impulssatz

Technische Mechanik
Die im Impulssatz auftretende Absolutbeschleuni- ma ϕ = m(ρ ϕ̈ + 2ρ̇ ϕ̇) = ∑ F ϕi ,
gung a kann man in verschiedenen Koordinaten, von i
denen in diesem Buch kartesische, Zylinder- und na-
türliche Koordinaten behandelt wurden, angeben. Die maz = mz̈ = ∑ Fzi .
i
verschiedenen Darstellungsarten sind zusammen mit
anderen Empfehlungen im folgenden Anwendungs-
schema für den Impulssatz zusammengestellt. Bei der Beschreibung in Zylinderkoordinaten
ist zu beachten, dass die ρ-Koordinate von der
1. Massenpunkt freischneiden, alle Kräfte auf den z-Achse zum Massenpunkt P zu orientieren ist.
Massenpunkt einzeichnen. Es ist dies derselbe Frei- c) Natürliche Koordinaten:
schnitt, den Sie in der Statik verwenden.
2. Koordinaten zur Beschreibung der Bewegung wäh- mat = mv̇ = ∑ Fti ,
len. Je nach Aufgabenstellung wird man problem- i
angepasst kartesische, Zylinder- oder natürliche
Koordinaten wählen. man = mκv2 = ∑ Fni ,
i
3. Koordinatendarstellung des Impulssatzes:
Im Impulssatz tritt die äußere Kraft F auf. Wirken mab = 0 = ∑ Fbi .
auf den Körper mehrere Kräfte, so können diese i
durch Vektoraddition zu einer Kraft zusammen-
gefasst werden. Um dies zu betonen, ist in den Bei der Beschreibung in natürlichen Koordinaten
folgenden Koordinatendarstellungen des Impuls- ist zu beachten, dass die t-Koordinate in Bahn-
satzes ein Summenzeichen geschrieben; das Symbol richtung und die n-Koordinate vom Massen-
ist so zu verstehen, dass über alle Kräfte zu sum- punkt P zum lokalen Krümmungsmittelpunkt M
mieren ist, die in die jeweilige Koordinatenrichtung der Bahn zu orientieren ist. Außerdem ist die
zeigen. Summe der Kraftkoordinaten in Binormalenrich-
a) kartesische Koordinaten x, y, z: tung stets null.
4. Anschließend liegen die Koordinaten des Beschleu-
max = mẍ = ∑ Fxi , nigungsvektor a vor. Daraus folgen durch Integra-
i
tion unter Beachtung der Anfangsbedingungen der
may = mÿ = ∑ Fyi , Geschwindigkeits- und Ortsvektor des Punktes in
i Abhängigkeit der Zeit t.
Verwendet man Zylinder- oder natürliche Koor-
maz = mz̈ = ∑ Fzi . dinaten ist zu beachten, dass es nicht genügt die
i Koordinaten zu integrieren, da für diese Koordina-
b) Zylinderkoordinaten ρ, ϕ, z: tensätze die Basisvektoren lokale Basisvektoren sind.
Die Integrationen kann man in einfachen Fällen
maρ = m(ρ̈ − ρ ϕ̇2 ) = ∑ Fρi , formelmäßig durchführen, in allen anderen Fällen
nimmt man eine numerische Lösung vor.
i

ist deshalb das Freischneiden der Startpunkt der New- Kreisbahn am besten in Zylinder- oder in natürlichen Ko-
ton’schen Mechanik, um die in den Kontaktstellen zur ordinaten beschreiben lassen, richtig ist.
Umgebung wirkenden inneren Kräfte zu äußeren Kräften Als Anwendungsbeispiel betrachten wir anschließend ei-
zu machen. Das Anwendungsschema in der Box Anwen- ne Skateboardfahrer in der Halfpipe und fragen nach der
dungsschema für den Impulssatz stellt die typischen Schritte Kraft, die auf die Halfpipe ausgeübt wird.
vor, die für die Anwendung des Impulssatzes auf einen
Massenpunkt erforderlich sind.

Es lässt sich keine allgemeingültige Regel angeben, wel- Direkte und inverse Kinetik
che Form des Impulssatzes für welche Fragenstellung
am besten geeignet ist. Das folgende Beispiel zeigt aber, Am Ende der Anwendung des Impulssatzes hat man den
warum die Faustregel, dass sich Bewegungen auf einer Zusammenhang zwischen den auf den Massenpunkt wir-
188 8 Kinetik des Massenpunktes – wie beeinflussen Kräfte und Momente die Bewegung?

Beispiel: Bewegung auf einer Kreisbahn


Technische Mechanik

Welche Kräfte wirken auf eine Kugel, die an einem Fa- 2. Impulssatz in Zylinderkoordinaten: Für die kine-
den geführt ist? matischen Größen gilt

Problemanalyse und Strategie: Eine Kugel (Masse m) ρ = R = konst. =⇒ ρ̈ = 0 ,


bewegt sich reibungsfrei auf einer horizontalen Unter- ϕ̇ = ω0 = konst. =⇒ ϕ̈ = 0 ,
lage. Sie ist an einem Faden (Länge R) befestigt und soll
z = 0 = konst. =⇒ z̈ = 0 .
sich mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ϕ̇ = ω0 auf
der Kreisbahn bewegen. Für den Drehwinkel gilt des-
halb ϕ(t) = ϕ0 + ω0 t, wobei ϕ0 = 0 gesetzt werden Damit liefert der Impulssatz in Zylinderkoordina-
kann. ten

g −mRω02 = −FZ , 0 = 0, 0 = FN − mg .
R
ω0
m 3. Impulssatz in natürlichen Koordinaten: Für die ki-
nematischen Größen gilt

v = ω0 R = konst. =⇒ v̇ = 0 ,
κ = 1/R =⇒ κv2 = ω02 R .
Die Kräfte folgen durch Anwendung des Impulssatzes
auf die freigeschnittene Masse. Es soll gezeigt werden,
dass alle Formulierungen des Impulssatzes zum selben Damit liefert der Impulssatz in natürlichen Koordi-
Ergebnis führen, sich aber im Rechenaufwand unter- naten:
scheiden.
eb

ez mg ez mg mg
ey
FZ FZ eφ FZ et
eρ en
φ r φ r r
FN FN FN

ex

1. kartesische Koordinaten 2. Zylinderkoordinaten 3. natürliche Koordinaten

0 = 0, mω02 R = FZ , 0 = FN − mg
Lösung:
1. Impulssatz in kartesischen Koordinaten: Für die ki-
nematischen Größen gilt Alle Formen des Impulssatzes liefern natürlich dassel-
be Ergebnis
x = R cos ω0 t =⇒ ẍ = −ω02 R cos ω0 t ,
y = R sin ω0 t =⇒ ÿ = −ω02 R sin ω0 t , FZ = mω02 R , FN = mg
z = 0 = konst. =⇒ z̈ = 0 .
Damit liefert der Impulssatz in kartesischen Koor- für die auf den Massenpunkt wirkenden Kräfte, aber
dinaten die Auflösung des Gleichungssystem ist für kartesi-
sche Koordinaten am aufwendigsten. Wie erwartet ist
−mω02 R cos ω0 t = −FZ cos ω0 t , die Zentripetalkraft wegen FZ > 0 nach innen gerich-
−mω02 R sin ω0 t = −FZ sin ω0 t , tet; nach dem Gegenwirkungsprinzip wirkt auf den
Faden eine nach außen gerichtete Kraft, die ihn auf Zug
0 = FN − mg . belastet.
8.2 Drall und Drallsatz 189

Beispiel: Ein Skateboardfahrer in der Halfpipe

Technische Mechanik
Welche Kräfte übt ein Skateboardfahrer bei seiner Fahrt der Kettenregel die doppelte Zeitableitung um:
in der Halfpipe (Kreis mit Radius R) auf die Bahn aus?
Wir nehmen an, dass der Skateboardfahrer am höchs- d d ϕ̇ dϕ d ϕ̇
ten Punkt der Halfpipe ohne Anfangsgeschwindigkeit ϕ̈ = ϕ̇( ϕ(t) = = ϕ̇
dt dϕ dt dϕ
startet und vernachlässigen Reibungskräfte.
Da nach Kräften gefragt ist, beginnen wir mit dem Frei- Damit können wir die Tangentialkoordinate in der
schnitt des punktförmig angenommenen Skateboard- Form
fahrers.
d ϕ̇ g
ϕ̇ = cos ϕ
dϕ R
φ

R
schreiben und durch Trennen der Variablen und nach-
folgende Integration
FN
mg
ϕ̇ ϕ
g
ϕ̄˙ d ϕ̄˙ = cos ϕ̄ d ϕ̄
R
Der Impulssatz in Polarkoordinaten liefert die beiden 0 0
Gleichungen
ausgehend von der Anfangsbedingung ϕ̇(0) = 0 die
−mR ϕ̇2 = −FN + mg sin ϕ , Winkelgeschwindigkeit
mR ϕ̈ = mg cos ϕ . 
g
ϕ̇( ϕ) = 2 sin ϕ
Die Radialkoordinate des Impulssatzes können wir zur R
Berechnung der gesuchten Normalkraft FN benutzen:
in geschlossener Form berechnen. Die Normalkraft hat
FN = m(g sin ϕ + R ϕ̇2 ) . damit den Verlauf

Wir müssen aber noch die Winkelgeschwindigkeit ϕ̇ FN ( ϕ) = 3mg sin ϕ


bestimmen. Dazu steht uns die Tangentialkoordinate
des Impulssatzes zur Verfügung. Um den Zusammen- und nimmt insbesondere für ϕ = π/2, also am tiefsten
hang ϕ̇ = ϕ̇( ϕ) herstellen zu können, formen wir mit Punkt der Bahn, den Maximalwert FN,max = 3mg an.

kenden Kräften und seiner Beschleunigung hergestellt.


Unter dem Oberbegriff direkte Kinetik fasst man die Aufga-
8.2 Drall und Drallsatz
benstellungen zusammen, in denen aus bekannten Kräf-
ten die Bewegung des Massenpunktes berechnet werden Der Impulssatz liefert die Aussage, dass die Translations-
soll. Ausgehend von der aus dem Impulssatz folgenden geschwindigkeit eines Massenpunktes sich ändert, wenn
Beschleunigung erhält man durch zwei hintereinander eine Kraft auf ihn einwirkt. Wir klären nun die Frage, wel-
ausgeführte Integrationen unter Beachtung der Anfangs- che mechanische Größe durch Momente beeinflusst wird.
bedingungen die Geschwindigkeit und Lage des Massen-
punktes als Funktion der Zeit. Ist dagegen umgekehrt der
Bewegungsverlauf als Funktion der Zeit bekannt, so kann Drall eines Massenpunktes
man zunächst durch Differenziation die Absolutbeschleu-
nigung berechnen und anschließend über den Impulssatz Für das Moment einer Kraft F, deren Wirkungslinie durch
bestimmen, welche Kräfte auf den Massenpunkt einwir- den Punkt P geht, bezüglich eines Bezugspunktes O wurde
ken müssen, um den vorgegebenen Bewegungsverlauf zu in der Statik gezeigt, dass es sich aus dem Vektorprodukt
erzwingen. Dies ist die Aufgabenstellung der inversen Ki-
netik. M (O) = rOP × F
190 8 Kinetik des Massenpunktes – wie beeinflussen Kräfte und Momente die Bewegung?

M(O) = rOP × F Drallsatz für einen Massenpunkt


Technische Mechanik

Wirkungslinie
von F Bis jetzt ist das Wort Drall nur eine Abkürzung für das
Vektorprodukt aus Ortsvektor und Impuls. Die Bedeu-
F tung des Dralls für die Mechanik und sein Zusammen-
O rOP
hang zum Moment wird erst deutlich, wenn man die
P Definition des Dralls nach der Zeit t differenziert. Durch
die folgenden Umformungen kann eine Verbindung zum
Abb. 8.1 Moment einer Kraft bezüglich eines Punktes O
Moment der Kraft, die auf den Massenpunkt wirkt, auf-
gezeigt werden:

berechnen lässt. Der Ortsvektor rOP ist vom Bezugs- L(O) = m rOP × v (Definition des Dralls)
punkt O zum Kraftangriffspunkt P gerichtet (Abb. 8.1). d (O) d
L = m rOP × v (Schritt 1)
dt dt
Auch der Drall eines Punktes ist durch ein Vektorprodukt
d
definiert, das aber anstelle der Kraft F den Impuls p = mv =m rOP × v (Schritt 2)
enthält: dt
v a
 dr  dv
Drall für einen Massenpunkt bezüglich eines Punktes O:
=m OP
× v + rOP ×  (Schritt 3)

dt

dt
Bewegt sich ein Massenpunkt P der Masse m mit der =m v × v +r × a
! "# $ OP
(Schritt 4)
Geschwindigkeit v, so besitzt er den Impuls p = mv. 0
Das Vektorprodukt = rOP × (ma) (Schritt 5)
= rOP × F (Schritt 6)
L(O) = rOP × p = m rOP × v
= M (O) (Schritt 7)
aus Ortsvektor und Impuls wird als Drall des Mas-
senpunktes bezüglich des Punktes O bezeichnet. Ausgehend von der Definition des Dralls wurden zu-
Dabei ist der Ortsvektor rOP vom Bezugspunkt O nächst beide Gleichungsseiten nach der Zeit differenziert
zum Massenpunkt P gerichtet. Aufgrund der Defini- (Schritt 1) und die zeitkonstante Masse vor das Diffe-
tion des Vektorprodukts ist der Drall ein Vektor, der renziationssymbol gezogen (Schritt 2). In Schritt 3 wurde
auf den beiden Vektoren rOP und v senkrecht steht zunächst die Produktregel der Differenziation benutzt; in
(Abb. 8.2). den dabei entstehenden beiden Summanden treten dann
die Geschwindigkeit bzw. Beschleunigung des Massen-
punktes auf. Wegen der Vektoridentität v × v = 0 ver-
Da der Ortsvektor rOP vom gewählten Bezugspunkt O schwindet der erste Summand (Schritt 4). Beim Übergang
abhängt, hängt auch der Drall vom Bezugspunkt ab. von Schritt 5 nach Schritt 6 ist besonders zu beachten,
Man muss deshalb, wie schon beim Moment, beispiels- dass diese Umformung an die zusätzliche Voraussetzung
weise durch einen oberen Index angeben, auf welchen gebunden ist, dass a die Absolutbeschleunigung ist. Denn
Bezugspunkt der Drall sich bezieht. Neben der Namens- nur dann kann nach dem Impulssatz das Produkt ma
gebung Drall sind auch die Bezeichnungen Drehimpuls der Kraft F auf den Massenpunkt gleichgesetzt werden
und Impulsmoment gebräuchlich, die den mechanischen (Schritt 6). Im letzten Schritt 7 kann abschließend das Vek-
Sachverhalt treffender beschreiben als die der Umgangs- torprodukt r × F als das Moment der Kraft bezüglich des
sprache entnommene Bezeichnung Drall. Punktes O identifiziert werden.

Drallsatz für einen Massenpunkt bezüglich eines festen


(O)
Punktes O:
L = rOP × p
Die zeitliche Änderung des Dralls eines Massen-
punktes P bezüglich eines festen Punktes O ist gleich
dem Moment der resultierenden Kraft F auf den
O rOP p = mv
Massenpunkt bezüglich desselben Punktes O:
v
dL(O)
Bahn m = rOP × F = M (O) .
dt
Abb. 8.2 Drall eines Massenpunktes bezüglich eines Punktes O
8.2 Drall und Drallsatz 191

Beispiel: Rotierende Kugel, die an einem Faden in ein Loch gezogen wird

Technische Mechanik
Wir greifen dazu das Beispiel Bewegung auf einer Kreis- Lösung: Die Zentripetalkraft ist antiparallel zum Orts-
bahn wieder auf, lassen aber jetzt zusätzlich zu, dass vektor gerichtet; das Vektorprodukt der beiden Vekto-
der Faden im Zentrum der Kreisbewegung in ein Loch ren ist also null. Damit bleibt nach dem Drallsatz der
gezogen wird. Zu Beginn soll sich der Massenpunkt Drall während der Bewegung konstant. Bei der Kreis-
auf dem Radius r0 mit der Winkelgeschwindigkeit ω0 bewegung hat der Drallvektor nur eine Komponente,
bewegen. Welche Winkelgeschwindigkeit hat der Mas- die senkrecht zur Bewegungsebene steht. Zu Beginn
senpunkt, wenn er durch den Faden auf einen Kreis hat der Massenpunkt die Winkelgeschwindigkeit ω0
mit Radius r gezogen worden ist? Wie verändert sich und befindet sich im Abstand r0 , sein Drall beträgt al-
dabei die Zentripetalkraft? (O)
so L0 = mω02 r0 . Wenn der Massenpunkt im Abstand r
kreist, besitzt er den Drall L(O) = mω 2 r. Da der Drall
Problemanalyse und Strategie: Wir können den Frei- konstant ist, folgt durch Gleichsetzen
schnitt unverändert von Beispiel Bewegung auf einer  r 2
Kreisbahn übernehmen; Gewichtskraft mg und Normal- ω = ω0 0
.
kraft FN heben sich gegenseitig auf, sodass wir im r
Folgenden nur noch die Zentripetalkraft FZ betrachten
müssen. Wir lösen die Aufgabe mit dem Drallsatz; die Die Translationsgeschwindigkeit beträgt dann
entscheidende Erleichterung wird sein, dass der Drall r0
konstant ist. v = ωr = v0 .
r

eb Der Impulssatz in natürlichen Koordinaten lieferte Bei-


spiel Bewegung auf einer Kreisbahn für die Zentripetal-
kraft
mg  r 4  r 3
0
FZ = mω 2 r = mrω0 = FZ0 0 ,
FZ et r r
en
r wobei im letzten Schritt ausgenutzt wurde, dass zu
Beginn die Zentripetalkraft FZ0 = mω02 r0 beträgt. Man
FN = mg
erkennt daran, dass die Zentripetalkraft umgekehrt
proportional zur dritten Potenz des Abstands ist.

dL(O)
= M(O) = rOP × F
Die zeitliche Änderung des Dralls steht deshalb im- dt
mer senkrecht auf den beiden Vektoren rOP und F F = ma
(Abb. 8.3).

O rOP a

Im Drallsatz muss der Bezugspunkt Bahn m


ein Fixpunkt sein
Abb. 8.3 Drallsatz für einen Massenpunkt

Bei der Definition des Dralls durfte der Bezugspunkt O


oben angegebene Form annimmt und welche Zusatzterme
ein beliebiger Punkt sein. Dagegen muss im Drallsatz
dL(O)
auftreten, wenn man im Drallsatz andere Bezugspunkte
(O) der Bezugspunkt O ein Fixpunkt, d. h. ein
dt = M wählt.
örtlich und zeitlich unveränderlicher Punkt sein, da nur
dann die Ableitung dvdt die Absolutbeschleunigung a liefert
und damit in der weiteren Herleitung das Produkt ma nach Für einen Massenpunkt ist der Drallsatz
dem Impulssatz durch die Kraft F ersetzt werden kann. keine eigenständige Gleichung
Bei der Behandlung des Dralls eines ausgedehnten Kör-
pers in Abschn. 10.3 wird aber gezeigt werden, dass auch Vorne wurde ausgehend von der Definition des Dralls
bezüglich des Körperschwerpunktes der Drallsatz die durch Differenziation nach der Zeit der Drallsatz herge-
192 8 Kinetik des Massenpunktes – wie beeinflussen Kräfte und Momente die Bewegung?

leitet, wobei der letztlich entscheidende Zusammenhang z


zum Moment durch den Impulssatz hergestellt wurde.
Technische Mechanik

Arbeitet man die Schritte in umgekehrter Reihenfolge ab,


kann der Drallsatz aus dem Impulssatz hergeleitet wer-
den. Für einen Massenpunkt ist der Drallsatz daher keine
eigenständige Vektorgleichung, sondern zwangsweise er- P = (x, y, z)
füllt, wenn der Impulssatz erfüllt ist. Die Bewegung eines Bahn
Massenpunktes ist damit bereits durch den Impulssatz mg
vollständig beschrieben. Die Bedeutung des Drallsatzes für
den Massenpunkt liegt darin, dass sich gewisse Frage-
stellungen damit einfacher als mit dem Impulssatz beant-
worten lassen. Als Beispiel beschäftigen wir uns mit der
Frage, welche Fadenkraft an einer rotierenden Kugel an- P0 = (x0, y0, z0)
greift, die in ein Loch gezogen wird.

x y
8.3 Relativkinetik
des Massenpunktes Abb. 8.4 Arbeit der Gewichtskraft

In der Absolutbeschleunigung ausgedrückt lautet der Im-


pulssatz maabs = ∑i F i . Einsetzen von aabs = aFhg + arel + definiert ist (Abschn. 6.1). Das Kurvenintegral
aCor (vgl. Abschn. 7.6) und Umstellen führt auf eine al-
ternative Darstellung des Impulssatzes, in der statt der

2 r2
Absolut- die Relativbeschleunigung auftritt:
W= dW = F · dr
marel = F Fhg + F Cor + ∑ F i .
1 r1
i

Dabei sind: liefert dann die gesamte Arbeit, die die Kraft F am Mas-
senpunkt verrichtet, wenn sich dieser vom Raumpunkt 1
F Cor = −maCor = −2mωF × vrel , zum Raumpunkt 2 bewegt hat.

F Fhg = −maFhg
Frage 8.1
= −maF − mω̇F × rFP − mωF × (ωF × rFP ) .
Wie vereinfacht sich das Wegintegral, wenn sich die
Das Ergebnis lässt sich wie folgt deuten: Formuliert man Kraft F längs des Weges nicht ändert? Wann ist die Arbeit
den Impulssatz nicht in einem Inertialsystem, sondern in positiv, wann ist sie negativ? Kann die Arbeit auch null
einem bewegten Bezugssystem, müssen zu den objektiven sein, obwohl weder Kraft noch Verschiebung null sind?
Kräften ∑i F i noch die Führungskraft F Fhg und die Coriolis-
kraft F Cor als sogenannte Scheinkräfte hinzugefügt werden.
Als Beispiele betrachten wir im folgenden zwei Kräfte,
Eine Aufgabe mit dem Impulssatz im mitbewegten Sys- deren Arbeit für viele Anwendungen besonders hilf-
tem zu lösen, empfiehlt sich dann, wenn sich die Bahn reich ist. Wir beginnen mit der Arbeit der Gewichtskraft
des Massenpunktes P relativ zum Führungssystem KF (Abb. 8.4).
und die Bahn von KF relativ zum Inertialsystem KI ge-
trennt voneinander einfacher beschreiben lassen als die Führen wir ein Koordinatensystem ein, dessen z-Achse
überlagerte Bahn, die der Massenpunkt P relativ zum In- entgegen der Schwerkraftrichtung orientiert ist, so gelten
ertialsystem KI beschreibt. in diesem Koordinatensystem die Koordinatendarstellun-
gen G = [0,0, −mg]T und dr = [dx, dy, dz]T . Das Arbeits-
differenzial ist dW = F · dr = −mgdz und wir erhalten für
8.4 Arbeit, Leistung und Energie die bei der Verschiebung von der Schwerkraft verrichtete
Arbeit
Wir übernehmen aus dem Statik-Teil des Buchs die Aus-
z
sage, dass das Arbeitsdifferenzial durch
WG = −mg dz̄ = −mg(z − z0 ) .
dW = F · dr z0
8.4 Arbeit, Leistung und Energie 193

Beispiel: Bewegung einer Kugel in einer kreisförmigen Nut

Technische Mechanik
Ein rotierendes System bestehend aus einer Stange schleunigung setzt sich aus der Tangentialbeschleuni-
und einem Kreisring dreht sich in einer horizontalen gung v̇rel , gerichtet entgegen dem Basisvektor exF , und
Ebene. In der Führung bewegt sich reibungsfrei ein der nach innen, also entgegen dem Basisvektor eyF ge-
Massenpunkt P (Masse m). Im betrachteten Moment
richteten Normalbeschleunigung v2rel /R zusammen:
dreht sich die Anordnung mit der Winkelgeschwindig-
keit ω und erfährt die Winkelbeschleunigung ω̇. Der v2rel F
Massenpunkt bewegt sich momentan mit der Transla- vrel = −vrel exF , arel = −v̇rel exF − e .
R y
tionsgeschwindigkeit vrel .
Die Bahn des Führungssystems KF relativ zum Inerti-
Gesucht ist die Normalkraft, die in der Bewegungsebe- alsystem KI ist ein Kreis mit Radius 2R. Deshalb gilt
ne auf den Massenpunkt wirkt. Zusätzlich wirkt auf für die kinematischen Größen der Führungsbewegung
den Massenpunkt eine senkrecht zur Bewegungsebene
stehende Normalkraft, die sich aber aus dem statischen vF = ω · 2ReyF , aF = ω̇ · 2ReyF − ω 2 · 2RexF .
Gleichgewicht unmittelbar zu mg ergibt.
Mit ωF = ωez und ω̇F = ω̇ez sowie rFP = ReyF erhält
man für die auf der rechten Seite des Impulssatzes ste-
Problemanalyse und Strategie: Wenn wir den Ursprung henden Scheinkräfte die Ausdrücke:
des Führungssystems KF in den Kreismittelpunkt M
und den Ursprung des Inertialsystems KI in den La- F Cor = −2mωF × vrel = 2mωvreleyF ,
gerpunkt A legen, dann lässt sich sowohl die Bahn
F Fhg = −maF − mω̇F × ReyF − mωF × (ωF × ReyF )
des Massenpunktes P relativ zum Führungssystem KF
(Kreis mit Radius R) als auch die Bahn des Führungs- = mR(2ω 2 + ω̇ )exF − mR(2ω̇ − ω 2 )eyF .
systems KF relativ zum Inertialsystem KI (Kreis mit
Radius 2R) mit den Gesetzen aus Abschn. 7.5 auf ein- In der Bewegungsebene wirkt als einzige objektive
fache Weise kinematisch beschreiben. Kraft auf den Massenpunkt eine Normalkraft FN , die
wir nach innen, also entgegen dem Basisvektor eyF ori-
P entiert annehmen:
m
vr
yF ∑ Fi = −FN eyF .
i
xF
Der Impulssatz im mitbewegten System liefert damit:
M R
m(−v̇rel ) = mR(2ω 2 + ω̇ ) ,
yI  
R v2rel
ω, ω
m − = −mR(2ω̇ − ω 2 ) + 2mωvrel − FN .
xI R
A
Das sind zwei Gleichungen für die beiden Unbekann-
ten v̇rel und FN . Durch Auflösen folgt:
Lösung: Die Bahn des Massenpunktes P relativ zum
Führungssystem KF ist ein Kreis mit Radius R, der v̇rel = −R(2ω 2 + ω̇ ) ,
mit der Geschwindigkeit vrel durchlaufen wird. Die % &
Relativgeschwindigkeit ist tangential zur Bahn, also v2rel
FN = m − R(2ω̇R − ω ) + 2ωvrel .
2
entgegen dem Basisvektor exF gerichtet. Die Relativbe- R

Wir fassen das Ergebnis zusammen:


Masse die Arbeit

WG = −mg(z − z0 ) .
Arbeit der Gewichtskraft
Wird eine Masse m um die Höhendifferenz z − z0 be- Dabei ist die z-Achse entgegen der Schwerkraftrich-
wegt, so verrichtet dabei die Gewichtskraft an der tung, also vertikal nach oben orientiert.
194 8 Kinetik des Massenpunktes – wie beeinflussen Kräfte und Momente die Bewegung?

Übersicht: Anwendungsschema zur Berechnung der Arbeit


Technische Mechanik

Die Arbeit ist formal über ein Kurvenintegral definiert. 3. Im Sonderfall, dass die Kraft sich längs des Weges
Im folgenden Anwendungsschema ist aber gezeigt, nicht ändert und ihre Wirkungslinie stets gleichsin-
dass man in vielen technisch wichtigen Sonderfällen nig parallel, orthogonal oder gegensinnig parallel
mit einem geringeren mathematischen Aufwand ans zum Verschiebungsdifferenzial dr steht, berechnet
Ziel kommt. sich die Arbeit aus:
Um die Arbeit der auf den Körper wirkenden Kräfte ⎧

⎨ F · Δr12 falls F ↑↑ dr ,
zu berechnen, empfiehlt es sich in folgenden Schritten
W= 0 falls F ⊥ dr ,
vorzugehen: ⎪
⎩−F · Δr
12 falls F ↑↓ dr .
1. Körper freischneiden, alle Kräfte auf den Körper
einzeichnen. 4. In den anderen Fällen berechnen Sie zunächst das
2. Reaktionskräfte müssen Sie nicht berücksichtigen, Arbeitsdifferenzial dW = F · dr. Führen Sie dafür
denn sie leisten keine Arbeit! ein günstig gewähltes Koordinatensystem ein und
Aus der Statik ist bekannt, dass sich die auf einen werten Sie das Skalarprodukt aus. Lösen Sie an-
Körper wirkenden Kräfte in eingeprägte Kräfte F e schließend das Wegintegral; häufig kommt man da-
und Reaktionskräfte F r einteilen lassen. Reaktions- bei mit dem Integralbegriff aus, der aus den Grund-
kräfte leisten keine Arbeit, da die differenzielle lagenvorlesungen der Mathematik bekannt ist.
Verschiebung stets senkrecht zur Kraft steht. Das 5. Falls auf den Massenpunkt mehrere eingeprägte
einfachste Beispiel ist die Normalkraft bei Gleitrei- Kräfte wirken, so wiederholen sie das Vorgehen
bung, die nach Definition diejenige Komponente für jede eingeprägte Kraft. Die von allen Kräften
der Berührkaft ist, die normal zur Berührebene und verrichtete Arbeit ist dann die Summe der Einzel-
damit auch normal zum Wegdifferenzial steht. arbeiten.

c FF FF Es ist für die Anwendungen zweckmäßiger, unter der Ar-


beit der Federkraft nicht die an der Feder, sondern die am
Körper verrichtete Arbeit zu verstehen. Wir müssen dann
s das Arbeitsdifferenzial dWF = −c(s − s0 )ds mit negati-
vem Vorzeichen ansetzen und erhalten durch Integration:
Abb. 8.5 Arbeit beim Dehnen einer Feder
s
WF = −c (s̄ − s0 ) ds̄
s0
Das Ergebnis zeigt: Zwei Bahnen führen zu demselben
1
s 1
Ergebnis für die Arbeit, sobald die Differenz der z-Werte = − c (s̄ − s0 )2 = − c(s − s0 )2 .
von Anfangs- und Endpunkt der Bahn dieselbe ist. Für 2 s0 2
das Ergebnis spielt die konkrete Form der Bahnkurve zwi-
schen diesen Punkten keine Rolle. Wir fassen das Ergebnis zusammen:

Als weiteres Beispiel betrachten wir die Arbeit der Fe-


Arbeit der Federkraft
derkraft. In Abb. 8.5 ist ein Körper dargestellt, an dem
eine Feder (Federkonstante c, ungespannte Federlänge s0 ) Wird die Länge einer Feder (Federkonstante c, un-
befestigt ist. Wir führen eine nach rechts gerichtete Ko- gespannte Federlänge s0 ) um die Strecke Δs = s − s0
ordinate s ein, um die Verlängerung Δs = s − s0 angeben verändert, so verrichtet die Federkraft am Körper
zu können. Die durch die Federkraft FF = c(s − s0 ) an der die Arbeit
Feder verrichtete Arbeit ist positiv, da Kraft und Verschie-
bung ds gleichsinnig parallel sind. Dagegen ist die am 1 1
WF = − c Δs = − c(s − s0 )2 .
Körper verrichtete Arbeit negativ, da nach dem Gegen- 2 2
wirkungsprinzip die auf den Körper wirkende Federkraft
nach links orientiert ist.
8.4 Arbeit, Leistung und Energie 195

Beispiel: Eine Kiste auf einer Rutsche

Technische Mechanik
Eine Kiste (Masse m) rutscht um eine Strecke S entlang 1. Die Arbeit der Normalkraft ist null, da sie eine Re-
einer schiefen Ebene (Neigungswinkel α). Zwischen aktionskraft ist:
Kiste und Ebene tritt Gleitreibung (Gleitreibungskoef-
fizient μ) auf. Welche Arbeit leisten alle auf die Kiste WN = 0
wirkenden Kräfte?
2. Die Gleitreibungskraft FR = μFN = μmg cos α ist
Problemanalyse und Strategie: Wir schneiden die Kis- während der Bewegung konstant und entgegen der
te zunächst frei. Neben der Gewichtskraft wirken die Bewegungsrichtung gerichtet; die von ihr während
Normalkraft FN sowie die Reibkraft FR . Den Start- des Rutschwegs S verrichtete Arbeit ist daher:
und Endpunkt der Bewegung kennzeichnen wir mit 0
bzw. 1. WR = −FR · S = −μmgS cos α

z 3. Für die Arbeit der Gewichtskraft erhalten wir aus-


0 μ
mg gehend von WG = −mg(z1 − z0 ) das Ergebnis

WG = −mg(−S sin α − 0) = mgS sin α ,


dr FN
S wobei wir die nach oben gerichtete z-Koordinate
FR
1 vom Anfangspunkt der Bewegung aus gemessen
haben.
α 4. Während der Bewegung vom Startpunkt 0 zum
Endpunkt 1 leisten alle Kräfte zusammen die Ar-
beit
Lösung: Wir betrachten die einzelnen Kräfte nachein-
ander und zählen anschließend die Einzelarbeiten zu- W01 = WN + WR + WG = mgS(sin α − μ cos α) .
sammen:

Das Ergebnis wurde am Sonderfall hergeleitet, dass die Dämpfungskräfte. Konservative Kräfte lassen sich von ei-
Feder nur in Richtung der Feder gedehnt oder gestaucht nem Potenzial ableiten, das durch Epot = −W definiert ist.
wurde. Da die Federkraft aber stets parallel zur Längs- Wichtige Potenziale sind:
richtung der Feder ist, gilt das Ergebnis auch dann, wenn
sich die Federenden auf irgendeiner Bahn bewegen.
Potenzial der Gewichtskraft und der Federkraft
Frage 8.2 Bei konservativen Kräften besteht zwischen der Ar-
Ändert sich das Vorzeichen der Arbeit der Federkraft, beit W und dem Potenzial Epot nach Definition der
wenn man eine Feder dehnt oder staucht? Zusammenhang Epot = −W. Wichtige Beispiele für
Potenziale sind:
Potenzial der Gewichtskraft: Epot = mg(z − z0 )
1
Konservative Kräfte und Potenzial einer Kraft Potenzial der Federkraft: Epot = c(s − s0 )2
2

Verschiebt sich der Angriffspunkt einer Kraft, so wird


dabei im Allgemeinen eine Arbeit verrichtet. Eine Kraft
heißt konservativ, wenn die Arbeit nur vom Anfangs- und
Endpunkt der Bahn abhängt, aber nicht von der Form Arbeits- und Energiesatz
der Bahn zwischen den Punkten. Wie die oben angege-
benen Ergebnisse zeigen, sind die Gewichtskraft und die Mit der Arbeit haben wir im vorigen Abschnitt eine me-
Federkraft konservative Kräfte. Zu den nichtkonserva- chanische Größe kennengelernt, die als Maß dafür dienen
tiven Kräften zählen alle Widerstands-, Reibungs- und kann, wieviel Aufwand erforderlich ist, um z. B. eine
196 8 Kinetik des Massenpunktes – wie beeinflussen Kräfte und Momente die Bewegung?

Feder zu spannen oder ein Gewicht anzuheben. Jetzt wen- Frage 8.3
den wir uns der Frage zu, welche mechanische Größe Wie vereinfacht sich der Arbeitssatz im Sonderfall der Sta-
Technische Mechanik

durch die verrichtete Arbeit verändert wird. tik?


Dazu beginnen wir mit dem Impulssatz m dv dt = F und
multiplizieren beide Seiten skalar mit dem Wegdifferen-
zial dr. Wir erhalten zunächst: Eine besonders einfache Form nimmt der Arbeitssatz an,
wenn alle Kräfte ein Potenzial besitzen. Für konservative
dv Kräfte gilt nämlich dW = −dEpot , sodass durch Integrati-
m · dr = F · dr
dt on
Setzt man den kinematischen Zusammenhang dr = v dt 1 1
ein und integriert, so folgt: W01 = dW = − dEpot = −(Epot1 − Epot0 )
v1 r1 0 0
m v · dv = F · dr
folgt. Durch Einsetzen in den Arbeitssatz erhält man
v0 r0
Ekin1 − Ekin0 = Epot0 − Epot1 , was sich durch Umstellen
Wir haben dabei angenommen, dass die Masse in den auch als Ekin1 + Epot1 = Ekin0 + Epot0 schreiben lässt. Dies
beiden Bahnpunkten r0 und r1 die Geschwindigkeit v0 ist die Aussage des Energiesatzes der Mechanik:
und v1 besitzt. Der auf der rechten Seite stehende In-
tegralausdruck stellt die Arbeit W01 dar, die von der
Energiesatz der Mechanik
Kraft verrichtet wird, während ihr Angriffspunkt vom
Anfangspunkt r0 zum Endpunkt r1 verschoben wurde. Besitzen alle eingeprägten Kräfte, die auf einen Kör-
Für das links stehende Integral erhält man zunächst: per wirken, ein Potenzial, so bleibt bei der Bewe-
gung des Körpers die Summe aus potenzieller und
v1
1 1 kinetischer Energie konstant:
m v · dv = m v1 · v1 − v0 · v0 = m v21 − v20 ) (8.1)
2 2 Ekin1 + Epot1 = Ekin0 + Epot0 = konst.
v0

Der auf der rechten Gleichungsseite entstehende Aus-


druck gibt Anlass zu folgender Definition: Die Anwendung des Energiesatzes bzw. des Arbeitssatzes
empfiehlt sich immer dann, wenn die Geschwindigkeit in
Kinetische Energie einer Punktmasse Abhängigkeit des Weges gesucht ist.

Bewegt sich ein Punkt der Masse m mit der Ge-


schwindigkeit v, so ist in ihm die kinetische Energie
8.5 Massenpunktsysteme
1
Ekin = mv2
2 Wir wollen nun ein Massenpunktsystem, also einen Ver-
gespeichert. bund von einzelnen Punktmassen besprechen. Abbil-
dung 8.6 zeigt das Massenpunktsystem im freigeschnitte-
nen Zustand. Auf einen Massenpunkt mi wirkt zum einen
Damit entspricht die rechte Seite von (8.1) gerade der eine äußere Kraft F i , die die Umgebung auf ihn ausübt;
Differenz der kinetischen Energien. Damit haben wir die
Antwort auf unsere eingangs gestellte Frage gefunden:
Wenn Arbeit an einem mechanischen System verrichtet
mk
wird, ändert sich die kinetische Energie des Systems. Dies
ist die Aussage des Arbeitssatzes der Mechanik:

Arbeitssatz der Mechanik


mi
Die Arbeit, die Kräfte an einem Massenpunkt zwi- Fij
schen zwei Bahnpunkten verrichten, ist gleich der Fji
ri mj
Änderung der kinetischen Energie des Massenpunk- Fi
tes:
O
Ekin1 − Ekin0 = W01 .
Abb. 8.6 Massenpunktsystem
8.5 Massenpunktsysteme 197

Beispiel: Arbeit der Zentripetalkraft, wenn eine kreisende Kugel in ein Loch gezogen wird

Technische Mechanik
In Beispiel Rotierende Kugel, die an einem Faden in ein Für die Alternativlösung mit dem Arbeitsintegral müs-
Loch gezogen wird hatten wir das Beispiel einer Kugel sen wir beachten, dass die nach innen gerichtete Zen-
behandelt, die sich auf einer Kreisbahn bewegt und mit tripetalkraft entgegen der Radialkoordinate r gerichtet
einem Faden nach innen gezogen wird. Welche Arbeit ist, sodass dW = −FZ (r)dr ist. Mit
verrichtet die Zentripetalkraft an der Kugel?
v2 1
FZ (r) = m = mv20 r20 3
Problemanalyse und Strategie: Von Beispiel Bewegung r r
auf einer Kreisbahn ist uns bekannt, wie sich die
Geschwindigkeit v = v(r) und die Zentripetalkraft ergibt sich die Arbeit durch Integration zu:
FZ = FZ (r) in Abhängigkeit des Abstands r ändern.
Darauf aufbauend können wir die Arbeit der Zen- r r
1
tripetalkraft auf zwei verschiedene Arten berechnen: W=− FZ (r̄) dr̄ = −mv20 r20 dr̄
r̄3
durch Lösen des Arbeitsintegrals oder mithilfe des Ar- r0 r0
beitssatzes. Beide Lösungswege führen natürlich zum     
1 r 1 r0 2
gleichen Ergebnis, unterscheiden sich aber im Auf- = −mv20 r20 − 2 = mv20 −1
wand. 2r̄ r0 2 r

Das Beispiel zeigt deutlich, dass sich diese Aufgaben-


Lösung: Nach dem Arbeitssatz ist die von der Zentri- stellung mit dem Arbeitssatz viel eleganter lösen lässt,
petalkraft an der Kugel verrichtete Arbeit gleich der da man die Integration „schon hinter sich hat“.
Differenz der kinetischen Energien der Kugel. Zu Be-
ginn kreist die Kugel im Abstand r0 mit der Geschwin- Wenn man die Kugel nach innen zieht, erhält man we-
digkeit v0 ; wenn sich der Abstand auf r verändert hat, gen r < r0 für die Arbeit ein positives Vorzeichen. Dies
ist die Geschwindigkeit v = v0 rr0 . Für die Arbeit folgt zeigt, dass dem System „kreisende Kugel“ Energie
dann: zugeführt wird. Dies passt zum Ergebnis von Beispiel
   Rotierende Kugel, die an einem Faden in ein Loch gezogen
1 1 r0 2
W = m(v2 − v20 ) = mv20 −1 wird, das ergab, dass die Kugel sich auf kleineren Radi-
2 2 r en mit höherer Geschwindigkeit bewegt.

sie steht für die Resultierende der Gewichtskraft sowie eines Massenpunktsystems aus n Massenpunkten als
aller Lagerkräfte. Zum anderen wirken auch Kräfte zwi- Summe der Einzelimpulse. Aus der Statik ist bekannt,
schen den Massenpunkten. Sie können ihre Ursache in dass der Massenschwerpunkt eines Systems von n Mas-
der Massenanziehungskraft haben oder durch Freischnitt senpunkten durch den Ortsvektor
entstanden sein, z. B. wenn zwei Massenpunkte vor dem
Freischnitt durch eine Feder verbunden waren. Wir be- 1 n n

m i∑ ∑ mi
zeichnen mit F ij die Kraft, die vom Massenpunkt mj auf rS = mi r i , m=
den Massenpunkt mi ausgeübt wird. Nach dem Gegen- =1 i=1
wirkungsprinzip gilt dann F ji = −F ij .
angegeben werden kann. Für die Summe auf der rechten
Unser Ziel ist es, den bislang für den einzelnen Massen- Gleichungsseite von (8.2) gilt deshalb ∑ni=1 mi vi = mvS .
punkt formulierten Impuls- und Drallsatz auf ein Mas- Das Ergebnis
senpunktsystems zu verallgemeinern und anschaulich zu
deuten. p = mvS

Wie in Abschn. 8.1 angegeben, ist pi = mi vi der Impuls sagt daher aus, dass der Gesamtimpuls eines Massen-
eines einzelnen Massenpunktes mi , der sich mit der Ge- punktsystems gleich dem Produkt aus seiner Gesamtmas-
schwindigkeit vi bewegt. Wir definieren den Gesamtim- se und der Geschwindigkeit seines Schwerpunktes ist.
puls
An jedem Massenpunkt greifen genau n Kräfte an, näm-
n n lich die äußere Kraft F i sowie (n − 1) Kräfte F ij , i = j
p= ∑ pi = ∑ mi vi (8.2) aufgrund der Wechselwirkung des Massenpunktes mit
i=1 i=1 seinen (n − 1) Nachbarpunkten. Der Impulssatz für einen
198 8 Kinetik des Massenpunktes – wie beeinflussen Kräfte und Momente die Bewegung?

einzelnen Massenpunkt liefert deshalb Die Herleitung des Drallsatzes für ein Massenpunktsys-
tem erfolgt in denselben Schritten wie beim Impulssatz.
Technische Mechanik

n
dpi Wir definieren in Anlehnung an Abschn. 8.2 zunächst den
= F i + ∑ F ij . Gesamtdrall
dt j= 1
j = i
n

Durch Summation über alle Massenpunkte folgt L(O) = ∑ mi rOPi × vi (8.4)


i=1
n n n n
dpi
∑ dt
= ∑ Fi + ∑ ∑ Fij . eines Massenpunktsystems bezüglich eines Punktes O als
i=1 i=1 i = 1 j= 1 Summe der Drallbeiträge der einzelnen Massenpunkte.
j = i
Für einen einzelnen Massenpunkt angeschrieben lautet
der Drallsatz
Die Summe auf der linken Seite ist die zeitliche Ablei-
tung des Gesamtimpulses. Wegen F ji = −F ij heben sich in (O) n
dLi (O)
der Doppelsumme auf der rechten Seite alle zwischen den = Mi = ri × F i + ri × ∑ F ij . (8.5)
Massenpunkten wirkenden Kräfte gegenseitig auf und es dt j= 1
bleibt nur j = i

n Bei der Summation über alle Massenpunkte


dp
= ∑ Fi (8.3)
dt i=1  
n (O) n n  n 
dLi
übrig. Die zeitliche Änderung des Gesamtimpulses eines ∑ dt
= ∑ ri × F i + ∑ ri × ∑ F ij (8.6)
i=1 i=1 i=1 j= 1
Massenpunktsystems ist gleich der Summe der auf das j = i
Massenpunktsystem wirkenden äußeren Kräfte.
treten in der Doppelsumme auf der rechten Seite wegen
Frage 8.4 F kl = −F lk Vektorprodukte der Form (rk − rl ) × F kl auf,
Was gilt, wenn die Summe aller äußeren Kräfte ver- wobei der Differenzvektor rlk = rk − rl parallel zur Wech-
schwindet? selwirkungskraft F kl ist und daher das Vektorprodukt
verschwindet. Bei der Summation über alle Massenpunk-
te wird daher in (8.6) die Doppelsumme auf der rechten
Mit p = mvS kann (8.3) auch in folgender Form geschrie- Gleichungsseite zu null. Die Summe auf der linken Glei-
ben werden: chungsseite ist die zeitliche Ableitung des Gesamtdralls.
Es gilt also:
Impulssatz für ein Massenpunktsystem
Drallsatz für ein Massenpunktsystem
Für ein Massenpunktsystem ist das Produkt aus Ge-
samtmasse und Absolutbeschleunigung gleich der Die zeitliche Ableitung des Gesamtdralls eines Mas-
Summe aller äußeren Kräfte, die auf das System wir- senpunktsystems bezüglich eines festen Punktes O
ken: ist gleich der Summe der Momente aller am Massen-
n punktsystem angreifenden Kräfte bezüglich dessel-
maS = ∑ Fi . ben Punktes:
i=1
dL(O) n
(O)
n
= ∑ M i = ∑ ri × F i .
dt i=1 i=1
Wenn man den Impulssatz für den Schwerpunkt des Mas-
senpunktsystems formuliert, stimmt er formal mit dem
Impulssatz für einen einzelnen Massenpunkt überein.
Das Ergebnis kann deswegen auch so formuliert werden: Weiterführende Literatur
Der Schwerpunkt eines Massenpunktsystems bewegt sich
so, als ob die Gesamtmasse in ihm vereinigt wäre und alle Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils
äußeren Kräfte an ihm angreifen würden. Technische Mechanik befindet sich am Ende von Kap. 9.
Antworten zu den Verständnisfragen 199

Antworten zu den Verständnisfragen

Technische Mechanik
Antwort 8.1 Da die Kraft als konstant vorausgesetzt wur- und Richtung konstant ist sowie Kraft und Weg gleichsin-
de, kann man sie vor das Integral ziehen und erhält: nig parallel sind.

r2
Antwort 8.2 Da die Längenänderung Δs quadriert wird,
W=F· dr = F · (r2 − r1 ) = F · Δr12 = FΔr12 cos α . ist die Arbeit, die die Federkraft am Massenpunkt verrich-
r1 tet, unabhängig davon, ob die Feder gedehnt (s > s0 ) oder
gestaucht (s < s0 ) wird, stets negativ. Null ist sie nur im
Die Arbeit ist daher positiv, wenn der Kraftvektor F Sonderfall, dass man die Feder weder dehnt noch staucht.
einen Anteil in Richtung des Verschiebungsvektors Δr12
besitzt, da dann wegen 0 ≤ α < 90◦ der Kosinusterm
positiv ist. Wenn der Kraftvektor dagegen einen Anteil Antwort 8.3 Die Gesetze der Statik gelten für unbewegte
entgegen des Verschiebungsvektors hat, ergibt sich we- Systeme oder für Systeme, die sich mit konstanter Ge-
gen 90◦ < α ≤ 180◦ eine negative Arbeit. Wenn Kraft- schwindigkeit bewegen. In beiden Fällen ist die Differenz
und Verschiebungsvektors senkrecht aufeinanderstehen, der kinetischen Energie gleich null. Aus W01 = 0 folgt in
ist wegen α = 90◦ die Arbeit stets null, selbst wenn Kraft- Übereinstimmung mit Abschn. 6.2, dass im Sonderfall der
oder Verschiebungsvektor ungleich null sind. Für die Statik die virtuelle Arbeit δW gleich null ist.
speziellen Winkel α = 0◦ , 90◦ , 180◦ erhalten wir insbeson-
dp
dere: Antwort 8.4 Im Sonderfall ∑ni=1 F i = 0 ist dt = 0; der Ge-
⎧ samtimpuls ändert sich nicht. Dies ist die Aussage des

⎨ F · Δr12 falls F ↑↑ dr , Impulserhaltungssatzes: Der Gesamtimpuls eines Massen-
W= 0 falls F ⊥ dr , punktsystems ist nach Betrag und Richtung konstant,

⎩−F · Δr
12 falls F ↑↓ dr . wenn die Resultierende der auf das Massenpunktsystem
wirkenden äußeren Kräfte gleich null ist. Der Impulser-
Die einfache Merkregel „Arbeit ist Kraft mal Weg“ darf haltungssatz wird bei der Untersuchung von Stoßvorgän-
daher nur verwendet werden, wenn die Kraft nach Betrag gen eine Rolle spielen.
200 8 Kinetik des Massenpunktes – wie beeinflussen Kräfte und Momente die Bewegung?

Aufgaben
Technische Mechanik

Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

8.1 •• Eine Kiste (Masse m = 100 kg) hängt an ei- 2. Welche Geschwindigkeit besitzt die Punktmasse im
nem Seil. Die Kiste wird innerhalb von T = 5 s um die Punkt B, wenn die Ebene reibungsbehaftet (Gleitrei-
Höhe H = 9 m angehoben. Das Geschwindigkeits-Zeit- bungskoeffizient μ) ist?
Gesetz v = v(t) hat dabei den gezeichneten Verlauf.
Hinweis: Wenn Reibungsfreiheit vorliegt, können Sie die
v Aufgabe mit dem Energiesatz lösen, da alle Kräfte, die auf
v1 die Kiste wirken, konservativ sind. Andernfalls muss der
Arbeitssatz verwendet werden, da die Gleitreibungskraft
nicht konservativ ist.

0 1 2 3 4 5 t (s) Resultat: vglatt = 2gS sin α ,

vReib = 2gS(sin α − μ cos α) .
1. Welche Maximalgeschwindigkeit v1 erreicht die Kiste?
Wie groß ist die Beschleunigung in den beiden Ab- 8.3 •• Die dargestellte Murmelbahn setzt sich aus
schnitten der Bewegung? einer Geraden AB und dem Kreisbogen BC zusammen.
2. Wie groß ist die Seilkraft in den beiden Abschnitten der Der Abstand der beiden Punkte C und D beträgt in ho-
Bewegung? rizontaler Richtung c und in vertikaler Richtung d. Die
Hinweis: Stellen Sie zunächst die kinematischen Gleichun- Bahn sei glatt, sodass die Murmel nicht rotiert.
gen für die beiden Abschnitte der Bewegung auf. Die
Seilkraft folgt aus dem Impulssatz. Kann man die Seilkraft vA = 0
A
im zweiten Abschnitt der Bewegung auch einfacher ange-
ben? H
Resultat: v1 = 2,25 m/s, a1 = 1,125 m/s2 , D
S1 = 1093,5 N, S2 = 981 N .
vC
β α d
8.2 • Eine Punktmasse setzt sich ohne Anfangs- B c
geschwindigkeit im Punkt A einer schiefen Ebene (Nei- C
gungswinkel α) in Bewegung und legt bis zum Punkt B
die Strecke S zurück. α = 60◦ , β = 70◦ , c = 30 cm , d = 40 cm

m
v=0 1. Mit welcher Mindestgeschwindigkeit vC muss die Mur-
A
mel die Kreisbahn verlassen, damit sie die Tischkante D
erreicht?
2. Aus welcher Höhe H über der Tischkante D muss man
α die Murmel ohne Anfangsgeschwindigkeit loslassen,
damit sie im Punkt C die Mindestgeschwindigkeit vC
S erreicht?
Hinweis: Die Berechnung der Geschwindigkeit vC geht
man am Besten an, indem man die explizite Darstellung
B der Wurfparabel ausnutzt. Da das System konservativ ist,
bietet sich zur Berechnung der Höhe H der Energiesatz
an.
1. Welche Geschwindigkeit besitzt die Punktmasse im
Punkt B, wenn die Ebene glatt ist? Resultat: vC = 3,84 m/s , H = 0,87 m .
Kinematik des starren
9

Technische Mechanik
Körpers – wie Gegenstände
sich bewegen
Warum benötigt ein Auto
ein Differenzialgetriebe,
nicht jedoch ein Zug?
Wie können wir Lage und
Orientierung eines
Roboterarmes
beschreiben?
Wo liegt beim rollenden
Rad der Momentanpol?

9.1 Lage und Orientierung eines starren Körpers . . . . . . . . . . . . . . . 202


9.2 Kinematik der Drehung bei ebener Bewegung . . . . . . . . . . . . . . 203
9.3 Kinematik von Körperpunkten bei ebener Bewegung . . . . . . . . . . 205
9.4 Kinematik der räumlichen Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
9.5 Bewegung relativ zu einem starren Körper . . . . . . . . . . . . . . . . 218
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 201


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_9
202 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen

Nachdem der Massenpunkt und Systeme von Massenpunkten be-


handelt wurden, soll als nächstes Element der Modellierung der
Technische Mechanik

starre Körper betrachtet werden. Obwohl wir wissen, dass es in


Wirklichkeit keine ideal starren Körper gibt, stellt er doch eine
nützliche Idealisierung der Wirklichkeit dar, da die elastischen Ver-
formungen bei sehr vielen Anwendungen vernachlässigt werden
können oder nur in speziellen Situationen, z. B. bei Stoßproblemen
wichtig sind. Die Beschreibung der Bewegung der einzelnen Punkte
des starren Körpers kann dann über die Beschreibung der Bewe-
gung eines Referenzpunktes auf dem starren Körper und mithilfe
der Orientierung des Körpers erfolgen. Damit genügen wenige Para-
meter zur Beschreibung der Lage aller Punkte eines starren Körpers.
Während die Beschreibung der Lage eines Punktes im Raum einfach
durch die Angaben von drei Koordinaten erfolgen kann, gestaltet
sich die Beschreibung der Orientierung des starren Körpers im All-
gemeinen schwieriger. Trotzdem ist die Orientierung eines starren
Körpers wichtig. So müssen z. B. die Satelliten bezüglich der Er-
de genau ausgerichtet sein, damit die Signale von der Erde mit Abb. 9.1 Die Flasche muss entsprechend ausgerichtet sein, damit sie in den
der Antenne empfangen und anschließend zurückgesendet werden Kasten gestellt werden kann
können.
Zur Bestimmung der Geschwindigkeit eines allgemeinen Punktes
nicht kollineare Punkte, so kann der erste Punkt in drei
des starren Körpers muss die Winkelgeschwindigkeit eingeführt
Richtungen verschoben werden, er hat also 3 Freiheits-
werden. Im Falle der ebenen Bewegung ist diese ein Vektor, der
grade (Abb. 9.2). Der zweite Punkt kann sich aber bei
stets senkrecht zur Bewegungsebene steht und deshalb über eine
gegebener Lage von Punkt 1 nur noch auf einer Kugel-
skalare Größe beschrieben werden kann. Bei einer allgemeinen Be-
fläche um den ersten Punkt bewegen und hat somit 2
wegung sind sowohl die Beschreibung der Orientierung als auch die
Freiheitsgrade. Liegen die Koordinaten der ersten beiden
Beschreibung der Winkelgeschwindigkeit wesentlich schwieriger als
Punkte fest, so kann sich der dritte Punkt nur noch auf ei-
im ebenen Fall. Wenn Lage, Geschwindigkeit und Beschleunigung
ner Kreisbahn um eine durch die ersten Punkte gehende
eines Bezugspunktes auf dem Körper und die Orientierung, Win-
Drehachse bewegen. Dies entspricht einem Freiheitsgrad.
kelgeschwindigkeit und Winkelbeschleunigung des Körpers bekannt
Insgesamt ergeben sich deshalb für den starren Körper
sind, lassen sich Lage, Geschwindigkeit und Beschleunigung eines
f = 3 + 2 + 1 = 6 Freiheitsgrade.
beliebigen Punktes auf dem Körper angeben.

Frage 9.1
Wie viele Freiheitsgrade hat der Körper, wenn ein Punkt
9.1 Lage und Orientierung des Körpers festgehalten wird? Wie viele Freiheitsgrade
eines starren Körpers hat der Körper, wenn seine Verdrehung durch ein Pris-
mengelenk eingeschränkt wird?
Um ein Verständnis für den Begriff der Orientierung eines
starren Körpers zu erhalten, betrachten wir einige Bei- Damit ist aber noch nicht geklärt, wie die Orientierung
spiele, die uns aus dem täglichen Leben bekannt sind. des starren Körpers beschrieben werden kann. Um die
Wollen wir das Auto in eine bestehende Parklücke rangie-
ren, so ist am Ende nicht nur die Position des Fahrzeuges
wichtig, sondern das Fahrzeug sollte auch so ausgerich-
tet sein, dass es nicht quer oder schräg zur Parklücke P2
steht. Dass dies mitunter nicht ganz leicht ist, wissen
wir aus Erfahrung. Auch wenn wir eine Schraube in z
eine Schraubenmutter drehen wollen, müssen zunächst
Schraube und Mutter genügend genau zueinander aus-
gerichtet sein, bevor sich die Schraube eindrehen läßt. P3
r1 K
Nicht zuletzt basieren viele Geschicklichkeitsspiele für Er- O
P1
wachsene und Kinder darauf, dass Gegenstände in eine y z
bestimmte Lage und Orientierung gebracht werden müs- x
sen (Abb. 9.1). y
x
Bei einer allgemeinen Bewegung besitzt ein Körper sechs
Freiheitsgrade. Wählt man nämlich auf dem Körper drei Abb. 9.2 Bewegung dreier Punkte des starren Körpers
9.2 Kinematik der Drehung bei ebener Bewegung 203

i3 = k 3
k2

Technische Mechanik
k3
φ
k2 φ i2
i3 k1 i1
k1
K

Abb. 9.4 Drehung des starren Körpers bei einer ebenen Bewegung

i2
i1
dessen Lage bei einer ebenen Bewegung durch zwei und
bei einer räumlichen Bewegung durch drei Koordinaten
Abb. 9.3 Basis des Bezugssystems und körperfeste Basis
beschrieben werden kann. Benötigt wird außerdem die
Orientierung des Körpers im Raum.
Orientierung des starren Körpers in einem Bezugssystem,
z. B. dem Inertialsystem, zu beschreiben, führen wir so-
wohl für das Bezugssystem wie auch für den Starrkörper Wie die Orientierung eines starren Körpers
jeweils eine orthonormale Basis i1 , i2 , i3 und k1 , k2 , k3 ein
(Abb. 9.3). Wenn der Zusammenhang zwischen den Ba-
bei einer ebenen Bewegung beschrieben
sisvektoren bekannt ist, kennt man die Orientierung des werden kann
starren Körpers. Für den Basisvektor kj gilt:
Bei der ebenen Bewegung eines starren Körpers im Raum
kj = m1j i1 + m2j i2 + m3j i3 , j = 1, 2, 3. (9.1) kann er sich um eine Achse senkrecht zur Bewegungs-
Die Koordinaten mlj in (9.1) lassen sich leicht bestimmen, ebene drehen. Diese Drehung kann durch einen Winkel
wenn diese Gleichung skalar mit dem Einheitsvektor il ϕ beschrieben werden. Wird für das Inertialsystem wie-
multipliziert wird. Das Skalarprodukt von zwei dieser Ba- der die orthonormale Basis i1 , i2 , i3 eingeführt, so liegt
sisvektoren des Inertialsystems ist nämlich entweder null es nahe, einen der Basisvektoren, z. B. i3 , so zu wählen,
oder eins, und es ergibt sich: dass er senkrecht zur Bewegungsebene steht. Wird ein Be-
zugssystem fest mit dem Körper verbunden, für welches
mlj = il · kj . ebenfalls eine Basis k1 , k2 , k3 so gewählt wird, dass k3
in Richtung von i3 zeigt, dann erfolgt die Drehung des
Da das Skalarprodukt durch das Produkt der Beträge und Körpers um eine Achse in Richtung dieser beiden Basis-
dem Kosinus des eingeschlossenen Winkels gebildet wird vektoren, wobei die Drehachse durchaus außerhalb des
und beide Vektoren Einheitsvektoren sind, entspricht mej Körpers liegen kann (Abb. 9.4).
genau dem Kosinus des Winkels zwischen den Einheits-
vektoren il und kj . Ein beliebiger Vektor b kann dargestellt werden als:

Wie die Umrechnung im Allgemeinen erfolgt, und wie b = α1 i1 + α2 i2 + α3 i3 , (9.2)


man sie, z. B. durch Einführung von Verdrehwinkeln, be- b = β 1 k1 + β 2 k2 + β 3 k3 . (9.3)
rechnen kann, wird später im Kapitel über die allgemeine
Bewegung eines starren Körpers gezeigt. Zunächst wird Die Koordinaten α3 und β 3 stimmen überein, wogegen
die sogenannte ebene Bewegung eines starren Körpers sich die anderen Koordinaten im Allgemeinen unterschei-
betrachtet, bei welcher der Körper neben der Translation den (Abb. 9.5).
nur noch eine Drehbewegung um eine Achse ausführen
kann, deren Richtung stets senkrecht zur Bewegungsebe- Zur Umrechnung der Basisvektoren betrachten wir
ne steht. Abb. 9.6. Es gilt:

i1 = cos ϕk1 − sin ϕk2 ,


i2 = sin ϕk1 + cos ϕk2 ,
9.2 Kinematik der Drehung
beziehungsweise:
bei ebener Bewegung
k1 = cos ϕi1 + sin ϕi2 , (9.4)
Bei der ebenen Bewegung eines starren Körpers bewegen k2 = − sin ϕi1 + cos ϕi2 . (9.5)
sich alle Punkte des Körpers auf parallelen Ebenen. Zur
Beschreibung der Bewegung eines beliebigen Punktes des Diese Beziehungen werden später für die Ableitung der
Körpers wählen wir auf dem Körper einen Bezugspunkt, Vektoren nach der Zeit benötigt.
204 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen

Richtung nicht ändert. Deshalb gilt:


k3
ḃ = β̇ 1 k1 + β̇ 2 k2 + β̇ 3 k3 + β 1 k̇1 + β 2 k̇2 . (9.6)
Technische Mechanik

K Im Gegensatz dazu sieht ein Beobachter, der sich mit dem


k2
i3
b Körper bewegt, lediglich die Änderung
ḃrel = β˙1 k1 + β̇ 2 k2 + β̇ 3 k3 ,
k1 da für ihn die Basisvektoren im körperfesten System kon-
stant sind. Dies zeigt, dass es wichtig ist, anzugeben, in
i2 welchem Bezugssystem eine Zeitableitung gebildet wird.
i1 Deshalb definieren wir
Abb. 9.5 Vektor b mit den Basisvektoren des Inertialsystems und des körper- dI b
= α̇1 i1 + α̇2 i2 + α̇3 i3
festen Bezugssystems dt
und
dK b
i2 = β̇ 1 k1 + β̇ 2 k2 + β̇ 3 k3
dt
k2
k1 als die Zeitableitung des Vektors v im Bezugssystem I
φ (Inertialsystem I), beziehungsweise als die Ableitung im
φ Bezugssystem K (starrer Körper K). In (9.6) werden die
K Ableitungen der Basisvektoren k1 und k2 benötigt. Aus
i1
(9.4) und (9.5) folgt:
dI k1
Abb. 9.6 Abhängigkeit der Basisvektoren
= − ϕ̇ sin ϕi1 + ϕ̇ cos ϕi2 ,
dt
dI k2
= − ϕ̇ cos ϕi1 − ϕ̇ sin ϕi2
Beispiel Ein Fräser soll mit einer Geschwindigkeit von dt
v = vF über ein Werkstück unter einem Winkel von 30◦ und damit:
zur x-Achse bewegt werden. Mit welchen Geschwindig-
dI k1
keiten müssen die x-, beziehungsweise die y-Achsen ver- = ϕ̇k2 ,
schoben werden, damit sich diese Vorschubgeschwindig- dt
keit vF ergibt? Die Geschwindigkeit im werkstückfesten dI k2
= − ϕ̇k1 ,
Koordinatensystem ist mit v = vF k1 gegeben, wenn k1 dt
in Fräsrichtung zeigt. Diese Geschwindigkeit kann mit wie es ähnlich schon in Kap. 8 gezeigt wurde. Führen wir
(9.4) dargestellt werden als v = vF cos 30◦ ex + vF sin 30◦ ey . den Winkelgeschwindigkeitsvektor ω = ϕ̇k3 ein, so fol-
Damit liegen die Koordinaten der Geschwindigkeit im gen die Ableitungen:
fräsmaschinenfesten Bezugssystem fest.
dI k1
= ω × k1 ,
dt
dI k2
Die Ableitung von Vektoren in verschiedenen = ω × k2 .
dt
Bezugssystemen erfordert die
Damit folgt für die Ableitung ḃ des Vektors b im Inertial-
Winkelgeschwindigkeit system I:
dI b dK b
Oft müssen in der Mechanik Vektoren im Inertialsystem = + ω × b. (9.7)
abgeleitet werden, obwohl sie in einer körperfesten Basis dt dt
dargestellt sind. Für die Ableitung des Vektors b im Iner-
tialsystem gilt mit (9.2): Winkelgeschwindigkeit und Zeitableitung bei einer
ebenen Bewegung
ḃ = α̇1 i1 + α̇2 i2 + α̇3 i3 .
Bei einer ebenen Bewegung ist die Winkelgeschwin-
Wird stattdessen (9.3) abgeleitet, so muss berücksichtigt digkeit ein Vektor, der senkrecht zur Bewegungsebe-
werden, dass k1 und k2 zeitabhängig sind, da sie im All- ne steht. Seine Koordinate ist die Ableitung des Ver-
gemeinen die Richtung ändern. Lediglich k3 ist aufgrund drehwinkels, mit dem die Orientierung des starren
der ebenen Bewegung ein konstanter Vektor, da er seine
9.3 Kinematik von Körperpunkten bei ebener Bewegung 205

Körpers beschrieben wird. Mithilfe der Winkelge-

Technische Mechanik
B k3
schwindigkeit kann die Zeitableitung eines Vektors k2
im Inertialsystem sehr leicht berechnet werden, auch rB
wenn der Vektor im körperfesten Bezugssystem dar-
gestellt ist. rAB k1
i3
rA A
K
Beispiel Eine Generatorwelle W wird beschleunigt und
dreht sich während des Beschleunigungsvorganges so,
dass der Verdrehwinkel ϕ = at2 beträgt. Auf der Ge- i2
neratorwelle ist ein Permanentmagnet befestigt, der ein i1
bezüglich der Welle konstantes Magnetfeld B = Bk1 be-
wirkt. Hierbei ist k1 , k2 , k3 eine wellenfeste Basis, wobei Abb. 9.7 Beschreibung der Lage eines beliebigen Punktes B
k3 in Wellenlängsrichtung zeigt. Wie groß ist die Winkel-
geschwindigkeit und wie groß ist die Zeitableitung des
Magnetfeldes in der Umgebung, ausgedrückt in der wel- Frage 9.2
lenfesten Basis? Woraus setzt sich die zeitliche Änderung von ω bei einer
Die Winkelgeschwindigkeit der Generatorwelle ist ω = allgemeinen räumlichen Bewegung zusammen?
ϕ̇k3 = 2atk3 . Der Betrag der Winkelgeschwindigkeit ist in
diesem Fall zeitabhängig, und die Richtung ist in Wel-
lenlängsrichtung. Das Magnetfeld ist bezüglich der Welle
konstant, sodass 9.3 Kinematik von Körperpunkten
dW B bei ebener Bewegung
=0
dt
gilt. Für die Zeitableitung im Inertialsystem bedeutet dies: Wie wir gesehen haben, genügen zur Beschreibung der
Lage und der Orientierung eines starren Körpers bei ei-
dI B dW B ner ebenen Bewegung drei Koordinaten. Demzufolge ist
= + ω × B = 2atB(k3 × k1 ) = 2atBk2 . durch diese drei Koordinaten auch die Lage eines belie-
dt dt
 bigen Punktes auf dem Körper gegeben. Wählen wir den
Punkt A auf dem Körper als Bezugspunkt, so ist die Lage
eines beliebigen Punktes B des Körpers gemäß Abb. 9.7
Die Winkelbeschleunigung gibt die zeitliche durch
Änderung der Winkelgeschwindigkeit an rB = rA + rAB (9.8)

In analoger Weise ergibt sich durch Ableitung der Win- gegeben. Hierbei nehmen wir zunächst an, dass der Punkt
kelgeschwindigkeit die sogenannte Winkelbeschleuni- A und der Punkt B in der selben Bewegungsebene liegen.
gung α: Die Geschwindigkeit vB des Punktes B ergibt sich durch
Ableitung von (9.8):
dI ω
α= .
dt dI (rA + rAB ) dI rA dI rAB
vB = = + .
Da ω bei einer ebenen Bewegung die Richtung nicht än- dt dt dt
dert, ergibt sich eine zeitliche Änderung lediglich aus der Der erste Term auf der rechten Seite der Gleichung ent-
zeitlichen Änderung der Koordinate: spricht gerade der Geschwindigkeit des Punktes A. Beim
d ϕ̇ zweiten Term ist zu beachten, dass der Vektor rAB im
α = ω̇ = k3 = ϕ̈k3 . körperfesten Bezugssystem konstant ist. Eine zeitliche
dt
Sehr oft führen wir für die Winkelgeschwindigkeit ω und Änderung ergibt sich deshalb nur infolge der Verdrehung
die Winkelbeschleunigung ω̇ gemäß des Vektors rAB . Somit erhalten wir:

ω = ωez , dI rA dK rAB
vB = + + ω × rAB = vA + ω × rAB .
ω̇ = α = ω̇ez = αez dt dt
die Skalare ω und α ein, die dann nicht den Beträgen der Dies ist die Grundgleichung der Kinematik. Sie gilt auch,
Vektoren entsprechen, sondern auch negativ sein können. falls A und B nicht in derselben Bewegungsebene liegen,
206 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen

da eine Komponente von rAB in Richtung der Drehachse


beim Kreuzprodukt keinen Anteil liefert.
Technische Mechanik

Geschwindigkeit eines Punktes B


Die Geschwindigkeit des Punktes B ergibt sich als
Geschwindigkeit des Punktes A plus einer Ge-
schwindigkeit infolge der Drehung des Punktes B
um eine Achse durch den Punkt A. Der letzte An-
teil steht somit senkrecht auf dem Vektor rAB von A
nach B.

Abhängig von der Winkelgeschwindigkeit und der Ge-


schwindigkeit des Bezugspunktes lassen sich im Folgen-
den einige Fälle unterscheiden.

Abb. 9.8 Der fliegende Teppich bewegt sich rein translatorisch (Photo: Wolf-
Bei einer reinen Translationsbewegung gang Heuser, Gladenbach)
hat der Körper keine Winkelgeschwindigkeit
Die Rotationsbewegung um eine raumfeste
Im Falle einer reinen Translationsbewegung ist die Win- Achse ist ein weiterer Sonderfall
kelgeschwindigkeit des Körpers ω = 0. Damit ergibt sich
für die Geschwindigkeit des Punktes B: Bei sehr vielen Anwendungen drehen sich Körper um
vB = vA + ω × rAB = vA . raumfeste Achsen. Beispiele sind Zahnräder in Getrieben,
ein Riesenrad oder die Welle einer Turbine zur Stromer-
Somit haben alle Punkte des Körpers dieselbe Geschwin- zeugung. In diesem Fall wird als Bezugspunkt A ein
digkeit wie der Bezugspunkt. Dies bedeutet allerdings Punkt des Körpers auf der Drehachse gewählt, der somit
nicht, dass sich die Punkte auf einer Geraden bewegen. Im die Geschwindigkeit null hat. Für einen beliebigen Punkt
Gegenteil, die Bewegung kann relativ kompliziert sein, des Körpers gilt demnach:
aber sie ist für alle Punkte gleich.
vB = ω × rAB .
Beispiel Bei dem in Abb. 9.8 dargestellten Beispiel ei- Wir führen jetzt ähnlich wie in Kap. 8 ein polares Koor-
nes fliegenden Teppichs wird eine Parallelführung der dinatensystem ein. Anders als in Kap. 8 verwenden wir
Kabine durch die beiden Führungsarme erreicht. Der Auf- hier die Einheitsvektoren er , e ϕ und ez , um die Verwechs-
bau bewegt sich nur translatorisch ohne sich zu drehen. lung von radialer Koordinate und Dichte ρ beim starren
Es handelt sich somit um eine reine Translationsbewe- Körper zu vermeiden. In Abb. 9.9 sind diese am Punkt
gung des Körpers. Allerdings bewegen sich alle Punkte B ersichtlich, und es wird deutlich, dass sich B auf einer
auf Kreisbahnen.  Kreisbahn mit Mittelpunkt auf der Drehachse bewegt und
er in radialer, e ϕ in Umfangsrichtung zeigen, sodass diese
In analoger Weise folgt für die Beschleunigung eines be- Einheitsvektoren anders als die Einheitsvektoren k1 , k2 ,
liebigen Körperpunktes: k3 vom betrachteten Punkt abhängen. Der Körper selbst
muss dabei nicht rotationssymmetrisch sein. Wegen ω =
dvB dvA
aB = = = aA . ωez und rAB = rer + zez folgt mit
dt dt
rB = rA + rAB
Damit erfahren alle Körperpunkte dieselbe Beschleuni-
gung. für die Geschwindigkeit:
vB = vA + ω × rAB = ωez × (rer + zez ) = ωre ϕ .
Geschwindigkeit und Beschleunigung bei reiner Trans-
lationsbewegung In analoger Weise erhalten wir die Beschleunigung durch
Ableiten der Geschwindigkeit. Dies führt auf:
Bei einer reinen Translationsbewegung haben alle
Punkte des starren Körpers dieselbe Geschwindig- dI (ω × rAB ) dI ω dI rAB
aB = = × rAB + ω ×
keit und dieselbe Beschleunigung. dt dt dt
= α × rAB + ω × (ω × rAB )
9.3 Kinematik von Körperpunkten bei ebener Bewegung 207

K B
ω = ωez

Technische Mechanik
rB
rAB

rA A
K
ez
r
B O

rB
rAB er
Abb. 9.10 Darstellung des Ortsvektors zum Punkt B
A
rA
B
O
rB
rAB = rer

er


Abb. 9.9 Drehung eines Körpers um eine raumfeste Achse y
A K
rA

oder unter Zuhilfenahme der oben eingeführten Einheits-


vektoren auf: O x

aB = αre ϕ − ω rer .
2
Abb. 9.11 Bewegungsebene senkrecht zu ω

Dies sind die schon bekannten Beschleunigungsanteile


bei einer Bewegung auf einer Kreisbahn, bei der Beschleu-
Führen wir wie in Abb. 9.11 einen Einheitsvektor er in
nigungsanteile aufgrund einer Änderung des Geschwin- Richtung von A nach B ein und einen Einheitsvektor e ϕ
digkeitsbetrages und aufgrund einer Richtungsänderung senkrecht dazu, so ergibt sich mit dem zu beiden senk-
auftreten können. rechten Vektor ez in Richtung von ω für den Ortsvektor,
die Geschwindigkeit und die Beschleunigung:

rB = rA + rer ,
Eine allgemeine ebene Bewegung setzt sich
vB = vA + ωre ϕ ,
zusammen aus Translation und Rotation
aB = aA + αre ϕ − ω 2 rer .

Bei einer allgemeinen ebenen Bewegung werden Transla- Hierbei wurde vorausgesetzt, dass der Vektor rAB in der
tionsbewegung und Rotationsbewegung überlagert. Spä- Bewegungsebene liegt, d. h. dass sowohl der Punkt A wie
ter werden wir sehen, dass im Falle einer ebenen Bewe- der Punkt B in derselben Ebene liegen. Die Gleichun-
gung diese immer als Drehung um einen momentanen gen zeigen dann, dass sich die Bewegung des Punktes
Drehpunkt, den Momentanpol, aufgefasst werden kann. B bei einer allgemeinen ebenen Bewegung aus der Be-
Wir beginnen wieder mit mit der Darstellung des Orts- wegung des Punktes A und einer Rotation von B um A
vektors rB durch den Vektor rA und den Relativvektor rAB zusammensetzt. Grafisch läßt sich dies sehr leicht, wie
gemäß Abb. 9.10: in den Abb. 9.12 und 9.13 dargestellt, anschaulich zei-
gen. Eingezeichnet sind dort in der Bewegungsebene die
rB = rA + rAB . Punkte A und B sowie der Vektor rer , auf dem der Vek-
tor e ϕ senkrecht steht. Im Geschwindigkeitsplan setzt sich
Der Vektor rAB ist in einem körperfesten Bezugssystem die Geschwindigkeit des Punktes B zusammen aus der
konstant. Dies führt auf: Geschwindigkeit des Punktes A und einer Geschwin-
digkeitskomponente, die in Richtung von e ϕ zeigt. Im
dI rB dI rA dI rAB Beschleunigungsplan setzt sich die Beschleunigung aus
vB = = + = vA + ω × rAB .
dt dt dt der Beschleunigung des Punktes A und den zwei Be-
208 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen

vA
vB K
φ·reφ
Technische Mechanik

A
B vA
rer vB
y

γ B
A vA
γ
rAP
x
P
Abb. 9.12 Geschwindigkeitsplan bei einer allgemein ebenen Bewegung
Abb. 9.14 Momentanpol P und Geschwindigkeitsverteilung im Körper
aA

φ·· reφ die Beziehung


aB – φ· 2rer
y rer B ω × vA + ωez × (ωez × rAP er ) = 0
– φ· 2rer aA folgt. Unter Berücksichtigung von
A ez × (ez × er ) = −er
x führt dies auf
Abb. 9.13 Beschleunigungsplan bei einer allgemein ebenen Bewegung ω × vA − ω 2 rAP er = 0

und damit auf


schleunigungskomponenten infolge der Rotation von B
1
um A zusammen, wobei eine Komponente in positive rAP er = rAP = (ω × vA ).
oder negative e ϕ -Richtung zeigt und die andere immer in ω2
negative er Richtung. Der Vektor zum Momentanpol steht also senkrecht auf
dem Geschwindigkeitsvektor am Punkt A. Wird statt des
Vektors rAP der Vektor rPA vom Momentanpol zum Punkt
A bestimmt, so ergibt sich prinzipiell dasselbe Ergebnis,
Der Momentanpol ist der Punkt, um den sich nur das Vorzeichen ändert sich. Wegen
ein Körper bei einer ebenen Bewegung
momentan dreht vB = vP + ω × rPB = ω × rPB

nimmt die Geschwindigkeit eines beliebigen Punktes B


Bei einer ebenen Bewegung haben verschiedene Punkte mit dem Abstand vom Momentanpol zu und steht senk-
des Körpers aufgrund der Drehung des Körpers unter- recht auf dem Vektor vom Momentanpol zu diesem
schiedliche Geschwindigkeiten. Als Momentanpol P des Punkt. In Abb. 9.14 ist dies angedeutet. Die Geschwindig-
Körpers wird derjenige Punkt bezeichnet, der momentan keit des Punktes A steht senkrecht auf der Verbindung
die Geschwindigkeit null hat. Dieser Punkt muss nicht von P nach A, die Geschwindigkeit von Punkt B steht
unbedingt auf dem Körper selbst liegen, und er ändert senkrecht auf der Geraden von P nach B. Die Dreiecke,
seine Lage im Allgemeinen während der Bewegung. Für gebildet von der Geschwindigkeit in A und dem Mo-
den Momentanpol gilt: mentanpol sowie der Geschwindigkeit in B und dem
Momentanpol sind ähnlich.
vP = vA + ω × rAP = 0.
Hierin ist A wieder der Bezugspunkt zur Beschreibung
der Bewegung des Körpers. Vektormultiplikation von Beispiel Das in Abb. 9.15 dargestellte Rad bewegt sich
links mit ω liefert: mit der Nabengeschwindigkeit vN und rollt dabei auf
dem Untergrund ab. Aufgrund der Rollbedingung hat der
ω × vA + ω × (ω × rAP ) = 0, Kontaktpunkt dieselbe Geschwindigkeit wie der Unter-
woraus mit grund und deshalb die Geschwindigkeit null. Das ist aber
die Bedingung für den Momentanpol. Der Kontaktpunkt
rAP = rAP er , ω = ωez entspricht also beim rollenden Rad dem Momentanpol P.
9.3 Kinematik von Körperpunkten bei ebener Bewegung 209

A vA Wir hätten die Ergebnisse auch leicht aus der Anschauung


erhalten können. Das Rad dreht sich im Uhrzeigersinn,

Technische Mechanik
vB R weshalb ω negativ ist. Die Strecken vom Momentanpol √
zu den Punkten B und C haben eine Länge, die dem 2-
ey Fachen der Strecke von P nach N entsprechen. Die√ Beträge
B N der Geschwindigkeiten sind deshalb auch das 2-Fache
vN C
der Nabengeschwindigkeit. Da die Strecken jeweils einen
vC
Winkel von 45◦ mit der Horizontalen einschließen, sind
die Richtungen der Geschwindigkeiten ebenfalls um 45◦
ez ex gegenüber der Horizontalen geneigt. 

P Beispiel Das Modell eines Lastenaufzugs besteht aus


zwei Rollen, bei denen ein Seil auf einer Walze mit den Ra-
Abb. 9.15 Geschwindigkeit beim rollenden Rad dien R1 beziehungsweise R2 auf- oder abgewickelt wird.
Die Winkelgeschwindigkeiten der Walzen sind mit ω1
Die Geschwindigkeit des oberen Radpunktes A hat die und ω2 gegeben. Das undehnbare Seil ist um eine drit-
doppelte Entfernung vom Momentanpol wie die Nabe te Walze mit dem Radius R3 geschlungen, an dem der
und deshalb die doppelte Geschwindigkeit, die wie die Lasthaken befestigt ist. Die Geometrie der Anordnung ist
Nabengeschwindigkeit horizontal gerichtet ist. Die Punk- so gestaltet, dass sich die dritte Rolle nur drehen und
te B und C haben in horizontaler Richtung die selbe auf- und abbewegen kann (Abb. 9.16). Gesucht sind die
Komponente wie die Nabe. Hinzu kommt jedoch noch Geschwindigkeit und die Winkelgeschwindigkeit dieser
eine Vertikalkomponente, die aufgrund der Geometrie Rolle.
denselben Betrag hat wie die Horizontalkomponente und ω2
die im Punkt B nach oben und im Punkt C nach unten vA
ω1
gerichtet ist. 
R2
R1
Frage 9.3 A B
Wo liegt der Momentanpol, wenn sich das Rad beim
Bremsen nicht mehr dreht, sondern blockiert?
vB
vC
Beispiel Bestimmt werden sollen die Geschwindigkei-
ten der Punkte A, B und C des rollenden Rades bei
R3
gegebener Nabengeschwindigkeit vN . Für die Lösung
y C D
wird zunächst mit vN = vex , rPN = Rey und ω = ωez eine ω3
Gleichung zur Bestimmung der Winkelgeschwindigkeit
angegeben: H vD
vN = ω × rPN = ωR(ez × ey ) = −ωRex . x

Daraus folgt Abb. 9.16 Modell eines Aufzuges

v Zur Lösung betrachten wir die Geschwindigkeiten der


ω=− .
R Punkte, an denen das Seil auf die Rollen aufläuft. Die
Geschwindigkeiten der Punkte A und B infolge der Dreh-
Mit den Vektoren rPA = 2Rey , rPB = −Rex + Rey und
bewegungen der Rollen 1 und 2 ergeben sich zu:
rPC = Rex + Rey ergibt sich dann:
v vA = R1 ω1 ey ,
vA = − ez × 2Rey
R vB = −R2 ω2 ey .
= 2vex ,
Da vorausgesetzt wurde, dass das Seil undehnbar ist,
v
vB = − ez × (−Rex + Rey ) entspricht die Geschwindigkeit des Punktes C der Ge-
R schwindigkeit von Punkt A und die Geschwindigkeit von
= v(ex + ey ), D derjenigen von B:
v
vC = − ez × (Rex + Rey ) vC = vA = R1 ω1 ey ,
R
= v(ex − ey ). vC = vB = −R2 ω2 ey .
210 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen

Anwendung: Kinematik eines Schubkurbeltriebes


Technische Mechanik

Im Folgenden wird ein Schubkurbelgetriebe in zwei womit


Stellungen betrachtet, bei dem sich die Kurbel mit
der (zeitabhängigen) Winkelgeschwindigkeit γ̇ = ω1 Rω1 + lω2 = 0
dreht. In der Stellung a zeigt die Koppelstange zwi-
schen dem Gelenkpunkt A und dem Schublager in B oder
in Richtung der Kurbel (ϕ = γ). In der Stellung b zeigt
die Koppelstange in Richtung der eingezeichneten y- R
Achse, während die Kurbel mit der Horizontalen gera- ω2 = − ω1
l
de den Winkel γ einschließt. Der Radius der Kurbel und
die Länge der Koppelstange sind mit R und l gegeben, und damit ebenfalls
wie in der Abbildung angedeutet. Die Winkelgeschwin-
digkeit der Kurbel ist in beiden Fällen zum dargestell- vBy = 0
ten Zeitpunkt mit ωKurbel = ω1 gegeben. Gesucht sind
die Winkelgeschwindigkeit ω2 = ϕ̇ der Koppelstange folgen. Damit sind die Winkelgeschwindigkeit und die
und die Geschwindigkeit des Schublagers in B. Geschwindigkeit vB = 0 bestimmt.
a b Bei der graphischen Lösung ist die Geschwindigkeit
B vA des Gelenkpunktes tangential an die Kreisbahn ge-
geben. Deren Richtung ist dieselbe wie diejenige der
B Geschwindigkeit infolge der Drehung von B um A.
Die Überlagerung beider Anteile muss einen Vektor in
y y l
l Richtung der y-Achse ergeben, da das Lager nur in die-
ser Richtung eine Verschiebung erlaubt. Die Aufgabe
besteht dementsprechend darin, einen gegebenen Vek-
A φ φ tor in zwei Vektoren gegebener Richtung zu zerlegen.
A
R R Die Lösung ist in folgender Abbildung dargestellt.
γ γ
x x


vAB
vA
Lösung für die Stellung a: Die Geschwindigkeit des
Punktes A ist mit
B
y
vA = −Rω1 sin γex + Rω1 cos γey l

gegeben. Für die Geschwindigkeit des Punktes B folgt vA


mit ϕ = γ A φ , ω2 = φ

vB = vA + ω2 le ϕ R
γ , ω1 = γ
= −Rω1 sin γex + Rω1 cos γey
x
− ω2 l sin γex + ω2 l cos γex
= −(Rω1 + lω2 ) sin γex + (Rω1 + lω2 ) cos γey
= vBx ex + vBy ey .

Da das Lager B sich nur in y-Richtung bewegen kann, Lösung für die Stellung b: Die Geschwindigkeit des
gilt: Punktes A ist in diesem Fall wieder mit

vBx = 0, vA = −Rω1 sin γex + Rω1 cos γey


9.3 Kinematik von Körperpunkten bei ebener Bewegung 211

gegeben. Für die Geschwindigkeit des Punktes B folgt: Die graphische Lösung ist in folgender Abbildung an-
gegeben.

Technische Mechanik
vB = vA + ω2 le ϕ
= −Rω1 sin γex + Rω1 cos γey − ω2 lex vAB

= −(Rω1 sin γ + lω2 )ex + Rω1 cos γey


vA vB
= vBx ex + vBy ey ,
eφ B
woraus aus der Forderung

vBx = 0
y l ω2
folgt:
vA
R φ, ω 2 = φ
ω2 = − ω1 sin γ. A
l
R
γ, ω1 = γ
Mit diesem Ergebnis ergibt sich die Geschwindigkeit
von B zu x

vB = Rω1 cos γey .

Die Beziehungen zwischen den Geschwindigkeiten in C die Winkelgeschwindigkeiten ω2 der Kurbel, ω3 der Kop-
und D und für die Geschwindigkeit des Gelenkpunktes pelstange und die Geschwindigkeit des Punktes B.
zum Haken sind mit

vD = vC + ω3 × rCD ,
D
und R2

vH = vC + ω3 × rCH ω2
l
gegeben, woraus nach Einsetzen der Geschwindigkeiten B A
ω3
von C und D sowie mit rCD = 2R3 ex , rCH = R3 ex und ω1
ω3 = ω3 ez sofort folgt: 45°
R1
C
−R2 ω2 ey = R1 ω1 ey + 2R3 ω3 ey ,
vH = R1 ω1 ey + R3 ω3 ey .
Abb. 9.17 Koppelviereck
Die Auswertung der Gleichungen liefert:

ω 1 R1 + ω 2 R2 Die Momentanpole der Kurbeln sind sehr leicht zu be-


ω3 = − , stimmen, denn die Punkte, die momentan die Geschwin-
2R3
digkeit null haben, sind die Lagerpunkte C und D. Dem-
ω 1 R1 − ω 2 R2 nach ist C der Momentanpol von Kurbel 1, und D ist der
vH = ey .
2 Momentanpol von Kurbel 2. Diese beiden Punkte bleiben

Momentanpole während einer gesamten Umdrehung der
Antriebskurbel. Etwas schwieriger ist die Bestimmung
Beispiel Das in Abb. 9.17 dargestellte Koppelgetriebe des Momentanpols der Koppelstange. Allerdings kennen
besteht aus der angetriebenen Kurbel 1 mit der Länge wir die Richtungen der Geschwindigkeiten der Punkte
R1 , der Abtriebskurbel 2 der Länge R2 und der Koppel- A und B. Die Geschwindigkeit von A steht senkrecht
stange der Länge l. Die Antriebskurbel dreht sich in der auf der Kurbel 1. Der Momentanpol der Koppelstange
dargestellten Stellung mit der Winkelgeschwindigkeit ω1 wiederum liegt auf einer Geraden, die senkrecht auf der
entgegen dem Uhrzeigersinn. Wo liegen die Momentan- Geschwindigkeit im Punkt A steht. Der Momentanpol der
pole der Kurbeln und der Koppelstange? Bestimmen Sie Koppelstange liegt damit auf einer Geraden in Richtung
212 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen

der Kurbel 1. Genauso kennen wir die Richtung der Ge-


schwindigkeit von Punkt B. Sie ist horizontal gerichtet,
9.4 Kinematik der räumlichen
Bewegung
Technische Mechanik

der Momentanpol liegt damit auf einer Geraden in Rich-


tung von Kurbel 2. Der Momentanpol der Koppelstange
liegt damit auf dem Schnittpunkt der Geraden in Rich-
Im Folgenden werden wir sehen, dass die Untersuchung
tung von Kurbel 1 und Kurbel 2 (Abb. 9.18).
der allgemeinen räumlichen Bewegung eines starren Kör-
pers im Allgemeinen wesentlich komplizierter ist als die
P2 = D der ebenen Bewegung. Zu Anfang dieses Kapitels wur-
den für das Inertialsystem I Basisvektoren und für den
Körper K eine zweite Basis mit zugehörigen Einheitsvek-
toren eingeführt. Dies ist auch der Ausgangspunkt für die
vA
folgende Vorgehensweise.
vB
A
B

Die Orientierung eines starren Köpers


P1 = C
kann über die Richtungen von körperfesten
Einheitsvektoren beschrieben werden

Wir hatten gesehen, dass die Zusammenhänge zwischen


den Basisvektoren durch (9.1) gegeben sind. Damit er-
gibt sich sofort eine Matrix (mlj ), mithilfe derer sich die
P3 Koordinaten eines Vektors zwischen den beiden Bezugs-
systemen über eine Matrizenmultiplikation bestimmen
Abb. 9.18 Momentanpole der Kurbeln und der Koppelstange lassen. Mit den Koordinaten αi und β k aus (9.2) und (9.3)
folgt:
Für die Geschwindigkeiten der Punkte A und B lassen ⎛ ⎞ ⎛ ⎞⎛ ⎞
sich drei Gleichungen angeben: α1 m11 m12 m13 β1
⎝ α2 ⎠ = ⎝ m21 m22 m23 ⎠ ⎝ β 2 ⎠ . (9.9)
1√ 1√ α3 m31 m32 m33 β3
vA = − 2R1 ω1 ex + 2R1 ω1 ey ,
2 2 Wir bezeichnen diese Matrix am besten mit I mK , da sie
vB = R2 ω2 ex , die Umrechnung der Koordinaten vom körperfesten Sys-
vB = vA + ω3 ez × (−lex ) tem in das Inertialsystem ermöglicht. Da die Elemente
1√ 1√ durch die Skalarprodukte der Einheitsvektoren und da-
=− 2R1 ω1 ex + 2R1 ω1 ey − ω3 ley , mit durch die Kosinus der Winkel gebildet werden, nennt
2 2
man sie auch die Matrix der Kosinus oder Drehmatrix.
wobei die ersten beiden Gleichungen aus der Drehung der Sollen die Koordinaten vom Inertialsystem in das körper-
beiden Kurbeln und die dritte aus der Beziehung zwischen feste System umgerechnet werden, so zeigt (9.9), dass dies
den Geschwindigkeiten zweier Punkte eines Körpers re- mit der Matrix
sultieren. Ein Vergleich der Komponenten liefert: K
mI = ( I mK ) − 1
1√ möglich ist. Da diese Matrix jedoch auch wieder die Ska-
− 2R1 ω1 = ω2 R2 ,
2 larprodukte der Einheitsvektoren enthält, erhält man sie
1√ auch durch Transponieren der Matrix I mK und es gilt:
2R1 ω1 − ω3 l = 0,
2
( I mK ) − 1 = ( I mK ) T .
und damit das Ergebnis:
Die Matrix selbst hat neun Elemente. Werden mithilfe der
1 √ R1 Matrix die Koordinaten der Einheitsvektoren des körper-
ω2 = − 2 ω1 , festen Bezugssystems bezüglich der Einheitsvektoren des
2 R2
Inertialsystems bestimmt, so müssen die 6 paarweisen
1 √ R1
ω3 = 2 ω1 , Skalarprodukte dieser Einheitsvektoren jeweils 0 oder 1
2 l ergeben. Dies entspricht sechs Zwangsbedingungen für
1 √ die Matrizenelemente, sodass bei der Matrix nicht al-
vB = − 2R1 ω1 ex . 
2 le neun Elemente beliebig sind, sondern nur noch drei
9.4 Kinematik der räumlichen Bewegung 213

Leitbeispiel Antriebsstrang

Technische Mechanik
Planetengetriebe

Ein Planetengetriebe besteht aus einem Sonnen-, einem gegeben. Gleichzeitig gilt aufgrund der Rotation des
Hohl- und mehreren Planetenrädern. Die Planetenrä- Planetenrades:
der rollen sowohl am Hohl- als auch am Sonnenrad
ab. Die Planetenräder sind auf einem Steg gelagert, vC = vA + 2RP ωP .
dessen Drehzahl durch die Geschwindigkeit der Plane-
tenräder bestimmt wird. Mit einem derartigen Getriebe Dies führt auf:
lassen sich sehr große Drehzahlunterschiede realisie- (RS + 2RP )ωH = RS ωS + 2RP ωP .
ren.
In der Abbildung ist der prinzipielle Aufbau eines Pla- Aufgelöst nach ωP ergibt sich:
netengetriebes zu sehen.
(RS + 2RP )ωH − RS ωS
ωH
ωP = .
2RP
C
ωP Der Steg dreht sich um den Mittelpunkt des Son-
nenrades beziehungsweise des Hohlrades, sodass die
RP
RH Hohlrad Geschwindigkeit des Stegpunktes B
B
A
vB = ωSt RSt = ωSt (RS + RP )
RS Steg
RSt beträgt. Diese ist identisch mit der Geschwindigkeit
ωS Sonnenrad
des Punktes B als Punkt des Planetenrades, die sich
über
ωSt
Planetenrad v B = v A + ω P RP

berechnet. Einsetzen von vA und ωP ergibt:

1 1
ωSt (RS + RP ) = RS ωS + (RS + 2RP )ωH − RS ωS
2 2
Die Winkelgeschwindigkeiten von Hohlrad, Sonnen-
rad, Planetenrad und Steg sind ωH , ωS , ωP und ωSt , oder:
die zugehörigen Radien sind RH , RS , RP und RSt . Auf-
(RS + 2RP )ωH + RS ωS
grund der Geometrie gilt: ωSt = .
2 ( RS + RP )
RH = RS + 2RP ,
RSt = RS + RP . Für den Sonderfall eines sich mit ωS drehenden Son-
nenrades und eines feststehenden Hohlrades führt dies
Wir bestimmen die Winkelgeschwindigkeiten der Pla- auf:
netenräder und des Steges in Abhängigkeit der Win-
RS
kelgeschwindigkeiten von Hohl- und Sonnenrad. ωP = − ωS ,
2RP
Die Geschwindigkeiten der Kontaktpunkte A und C RS
sind durch ωSt = ωS ,
2 ( RS + RP )
v A = RS ω S
und und wir erkennen, dass z. B. für RS RP die Winkel-
geschwindigkeiten der Planetenräder und des Steges
vC = RH ωH = (RS + 2RP )ωH sehr viel kleiner sind als die des Sonnenrades.
214 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen

i3 mit der Matrix


⎛ ⎞
Technische Mechanik

cos ψ sin ψ 0
mψ = ⎝ − sin ψ cos ψ 0 ⎠.
0 0 1

Für die Drehung um den Winkel θ um die k1 -Achse ergibt


sich analog:
i1 i2
kj = mj1
θ θ
k1 + mj2 θ
k2 + mj3 k3
k3′ = i3
mit der Matrix
⎛ ⎞
1 0 0
mθ = ⎝ 0 cos θ sin θ ⎠ .
0 − sin θ cos θ
ψ
ψ k′2 Die dritte Drehung führt schließlich mit dem Verdrehwin-
i1
k′1
i2 kel ϕ und der Drehachse k3 auf:
k′3 ϕ ϕ ϕ
k′′3 kk = mk1 k1 + mk2 k2 + mk3 k3
ϑ
mit der Matrix
k′′2
⎛ ⎞
cos ϕ sin ϕ 0
ϑ m ϕ = ⎝ − sin ϕ cos ϕ 0 ⎠.
0 0 1
k′2
k 1′′ = k1′
Die gesamte Drehmatrix mE , mit der sich die Beziehung
zwischen den Einheitsvektoren k1 , k2 , k3 und den Ein-
k3 = k 3′′
heitsvektoren i1 , i2 , i3 angeben lässt, erhalten wir durch
k2 einfache Matrizenmultiplikationen:
φ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞
k′′2 k1 i1
⎝ k2 ⎠ = mE ⎝ i2 ⎠
k1 k3 i3
φ
k′′1 mit

Abb. 9.19 Die drei Elementardrehungen zur Beschreibung der Orientierung mE = m ϕ mθ mψ ,


mit Eulerwinkeln, verdeutlicht am Beispiel eines starren Körpers in Form einer
Pyramide wobei die Elemente von mE durch

mE11 = cos ψ cos ϕ − sin ψ cos θ sin ϕ,


Größen innerhalb der Matrix vorgegeben werden kön-
nen. Eine Möglichkeit, die Matrix zu beschreiben, besteht mE12 = sin ψ cos ϕ + cos ψ cos θ sin ϕ,
darin, drei aufeinanderfolgende Drehungen um verschie- mE13 = sin θ sin ϕ,
dene Achsen einzuführen. Exemplarisch werden wir dies
für die sogenannten Eulerwinkel vorführen. In diesem mE21 = − cos ψ sin ϕ − sin ψ cos θ cos ϕ,
Fall wird zunächst um die 3-Achse des Inertialsystems mE22 = − sin ψ sin ϕ + cos ψ cos θ cos ϕ,
gedreht, danach um die aus der Drehung hervorgegan-
gene 1 -Achse und zum Schluss um die neue 3 -Achse mE23 = sin θ cos ϕ,
(Abb. 9.19). Für die erste Drehung um den Winkel ψ um mE31 = sin ψ sin θ,
die i3 -Achse folgt:
mE32 = − cos ψ sin θ,
ψ ψ ψ
ki = mi1 i1 + mi2 i2 + mi3 i3 mE33 = cos θ
9.4 Kinematik der räumlichen Bewegung 215

gegeben sind. Mithilfe dieser Matrix lassen sich Vektoren, Bewegung ist die Richtung, wie wir gesehen haben, senk-
die mit den Einheitsvektoren des Inertialsystems darge- recht zur Bewegungsebene. Im Falle einer räumlichen

Technische Mechanik
stellt sind, in das körperfeste System transformieren: Bewegung ist der Betrag der Winkelgeschwindigkeit ein
Maß, wie schnell sich ein Körper dreht und die Richtung
kk = mk1 i1 + mk2 i2 + mk3 i3 . der Winkelgeschwindigkeit kennzeichnet die Achse, um
welche sich der Körper momentan dreht. Beide, sowohl
Um die Einheitsvektoren des körperfesten Bezugssystems der Betrag als auch die Richtung, ändern sich im Allge-
in die Einheitsvektoren des Inertialsystems umzurechnen, meinen mit der Zeit.
ergibt sich wegen der Orthogonalität der Drehmatrix:
Da sich die Winkelgeschwindigkeit zu jeder der drei Ele-
⎛ ⎞ ⎛ ⎞ mentardrehungen bei Eulerwinkeln sehr leicht angeben
i1  T k1
⎝ i2 ⎠ = mE ⎝ k2 ⎠ läßt, nämlich wie bei der ebenen Bewegung als Zeitablei-
i3 k3 tung des jeweiligen Winkels um die zugehörige Drehach-
se, müssen diese nur vektoriell aufsummiert werden. Für
die Winkelgeschwindigkeit des Körpers im Inertialsystem
und damit:
gilt deshalb bei Verwendung von Eulerwinkeln:
ik = m1k k1 + m2k k2 + m3k k3 . ω = ψ̇i3 + θ̇k1 + ϕ̇k3 .

Mit den Matrizen mE und (mE )T lassen sich somit auch Durch Umrechnen der Einheitsvektoren in die körperfes-
die Koordinaten bezüglich verschiedener Basissysteme te Basis folgt die Darstellung:
wie in (9.9) umrechnen. Hat der Körper eine Anfangsori-
ω = ω1 k1 + ω2 k2 + ω3 k3
entierung im Raum, so müssen zunächst die zugehörigen
Eulerwinkel ψ, θ und ϕ bestimmt werden. Bezüglich der mit den Koordinaten
Verfahren, mit denen diese bestimmt werden können,
wird auf Spezialliteratur verwiesen. ω1 = ψ̇ sin θ sin ϕ + θ̇ cos ϕ,

Außer der Beschreibung der Orientierung über Euler- ω2 = ψ̇ sin θ cos ϕ − θ̇ sin ϕ, (9.10)
winkel können auch Drehungen um die Achsen in einer ω3 = ψ̇ cos θ + ϕ̇.
anderen Reihenfolge eingeführt werden. Ein bekanntes
Beispiel sind Kardanwinkel, bei denen zunächst um die Wenn später der Drallsatz für den starren Körper ausge-
1-Achse, dann um die neue 2 -Achse und zum Schluss um wertet wird, ist es zweckmäßig, die Winkelgeschwindig-
die 3 -Achse gedreht wird. keit bezüglich der körperfesten Einheitsvektoren anzuge-
ben. Dann ergeben sich aus dem Drallsatz Differenzial-
gleichungen für ω1 , ω2 und ω3 , die normalerweise nume-
Frage 9.4
risch gelöst werden müssen. Um von diesen Koordinaten
Wenn Eulerwinkel gemäß der Reihenfolge der Drehach- ω1 , ω2 , ω3 auf die Orientierung des Körpers zu kommen,
sen mit 313 bezeichnet werden, welche anderen Drehrei- sind die Gleichungen (9.10) nach den Zeitableitungen der
henfolgen gibt es noch? Eulerwinkel aufzulösen, sodass diese ebenfalls numerisch
integriert werden können. Umformen von (9.10) ergibt:
sin ϕ cos ϕ
Verdrehungen und Drehreihenfolge ψ̇ = ω1 + ω2 ,
sin θ sin θ
Endliche Verdrehungen haben keine Vektoreigen- θ̇ = cos ϕω1 − sin ϕω2 ,
schaft, da der Körper bei gleichen Verdrehwinkeln
ψ, θ und ϕ um die zugehörigen Achsen bei un- sin ϕ cos ϕ
ϕ̇ = − ω1 − ω2 + ω3 ,
terschiedlichen Drehreihenfolgen am Ende unter- tan θ tan θ
schiedliche Orientierungen hat. und wir erkennen, dass dies zu Problemen führt, wenn
der Winkel θ in der Nähe von θ = 0 oder θ = ±π liegt, da
dann der Nenner in den Gleichungen sehr klein wird. Der
Grund liegt darin, dass die erste und die dritte Drehung
in diesem Fall praktisch um dieselben Achsen erfolgt und
Die Winkelgeschwindigkeit eines Körpers deshalb die Eulerwinkel nicht mehr eindeutig sind. Im
ist ein Vektor, der die Drehrichtung und die Falle der Darstellung der Orientierung mit Winkeln ande-
rer Drehreihenfolge tritt dieses Phänomen ebenfalls auf.
momentane Drehgeschwindigkeit angibt
Es kann vermieden werden, wenn sogenannte Quater-
nionen, z. B. in Form von Eulerparametern, eingeführt
Im Gegensatz zu Winkelverdrehungen haben Winkel- werden, wozu aber auf die Spezialliteratur verwiesen
geschwindigkeiten Vektoreigenschaft. Bei einer ebenen wird.
216 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen

Leitbeispiel Antriebsstrang
Technische Mechanik

Differenzialgetriebe

Ein Differenzialgetriebe dient bei einem Fahrzeug zum Bezüglich des Fahrzeugs haben Punkte auf der Achse
Ausgleich der unterschiedlichen Drehzahlen der Rä- der Räder keine Geschwindigkeit. Die Geschwindig-
der bei einer Kurvenfahrt. In diesem Beispiel bestim- keit des Ritzelmittelpunktes bezüglich des Fahrzeugs
men wir die Winkelgeschwindigkeit und die Winkel- beträgt deshalb:
beschleunigung des Verbindungsritzels.
vV = ωGehäuse × RA ey = ωA ez × RA ey = −ωA RA ex .
In der Abbildung ist der prinzipielle Aufbau des Dif-
ferenzialgetriebes zu sehen. Das ganze Getriebe dreht Die Geschwindigkeiten der Kontaktpunkte B und C
sich mit der Winkelgeschwindigkeit ωA , die durch den zwischen den Achszahnrädern und dem Ritzel relativ
Antriebsstrang vorgegeben wird. Die Achsen der Rä- zum Fahrzeug sind analog zu bestimmen:
der drehen sich mit ωL auf der linken und mit ωR
auf der rechten Seite. Beide Achsen sind über Zahnrä- vB = −ωL RA ex ,
der (Zahnkreisradius RA ) mit dem Verbindungsritzel
vC = −ωR RA ex .
(Zahnkreisradius r) verbunden. Zunächst bestimme
man die Winkelgeschwindigkeit ωV des Ritzels in Ab-
Für die Kontaktpunkte als Punkte des Ritzels gilt:
hängigkeit von ωA und ωL . Wie groß ist die Winkelbe-
schleunigung αV des Ritzels? Wie groß sind ωV und αV
vB = vV + ωV × (−rez ),
bei einer Geradeausfahrt? Was ergibt sich, wenn auf-
grund von Eisglätte das linke Rad blockiert und das vC = vV + ωV × (rez )
rechte Rad durchdreht?
und damit:

ex′ vB = −ωA RA ex + (ωA ez + ωE ey ) × (−rez ),


ωL
ωA vC = −ωA RA ex + (ωA ez + ωE ey ) × (rez )
ez′
ωR
ey′ oder:

ez vB = −ωA RA ex − ωE rex = (−ωA RA − ωE r)ex ,


ωE ex vC = −ωA RA ex + ωE rex = (−ωA RA + ωE r)ex .
ey
ex′′ Da an den Kontaktpunkten die Geschwindigkeiten
ez′′
gleich sind, ergeben sich die beiden Gleichungen:
ey′′ −ωL RA = −ωA RA − ωE r,
−ωR RA = −ωA RA + ωE r.

Die Winkelgeschwindigkeit ωV des Ritzels bezüglich Dies sind zwei Gleichungen für die vier Größen ωA ,
des Fahrzeugs setzt sich zusammen aus der Winkel- ωL , ωR und ωE , sodass zwei Größen vorgegeben wer-
geschwindigkeit ωA ez , mit der sich das Gehäuse des den können. Im Allgemeinen ist eine davon die Win-
Differenzials dreht, und der Eigendrehung des Ritzels kelgeschwindigkeit ωA , die durch den Antriebsstrang
ωE ey : vorgegeben wird. Im Falle einer Geradeausfahrt sind
bei gleichen Radien der Bereifung ωL und ωR gleich
(bei ungleicher Bereifung oder einer Kurvenfahrt ist
ωV = ωA ez + ωE ey = ωA ez + ωE ey . dies nicht mehr der Fall). Bei einem blockierenden
9.4 Kinematik der räumlichen Bewegung 217

linken Rad ist ωL = 0. Somit folgt bei Geradeausfahrt Für die Winkelbeschleunigung des Ritzels folgt:
(ωL = ωR = ω):
dI ωV

Technische Mechanik
−ωE r + ωRA = ωA RA , αV =
dt
ωE r + ωRA = ωA RA = (ω̇A ez + ω̇E ey ) + ω × (ωA ez + ωE ey ),
und damit: wobei ω = ωA ez die Winkelgeschwindigkeit des
x y z -Systems und damit des Differenzialgehäuses ist.
ω = ωA , Im Falle der Geradeausfahrt ergibt dies wegen ωE = 0
ωE = 0. und somit ω̇E = 0:
Bei blockierendem linken Rad gilt: αV,geradeaus = ω̇A ez ,

− ω E r = ω A RA , da das Ritzel sich dann einfach um die raumfeste Rad-


ω R RA = ω A RA − ω E r achse dreht. Im Falle des blockierenden Rades gilt mit
RA
und folglich: ω̇E = − ω̇A
r
RA schließlich:
ωE = − ωA ,
r
RA R
ωR = 2ωA . αV,block = ω̇A ez − ω̇A ey + A ωA
2
ex .
r r

Bei der Winkelbeschleunigung ist es somit egal, ob wir die


Schraubenbewegung Ableitung der Winkelgeschwindigkeit im Inertialsystem
oder im körperfesten Bezugssystem bilden. Wir können
Im Gegensatz zur ebenen Bewegung läßt sich die all- deshalb einfach die Koordinaten ω1 , ω2 und ω3 ableiten
gemeine räumliche Bewegung eines starren Körpers und erhalten:
nicht mehr nur als Drehung um einen Momentanpol
darstellen. Stattdessen ist die allgemeine Bewegung
α = ω̇1 k1 + ω̇2 k2 + ω̇3 k3
eine Schraubenbewegung, bei der sich der Körper
um eine Achse dreht und sich gleichzeitig transla-
torisch in Richtung dieser Drehachse bewegt. mit den körperfesten Einheitsvektoren k1 , k2 und k3 .

Winkelbeschleunigung
Beispiel Für eine Schraubenbewegung können wir uns Um die Winkelbeschleunigung eines Körpers zu be-
als Beispiel eine Schraubenmutter vorstellen, die sich auf stimmen, kann die Winkelgeschwindigkeit im Iner-
einer feststehenden Gewindestange bewegt. Sie rotiert tialsystem oder im körperfesten System abgeleitet
um die Gewindelängsachse und bewegt sich gleichzeitig werden. Sie hat im Allgemeinen eine andere Rich-
in Längsrichtung. Es gibt somit keinen Punkt der Schrau- tung als die Winkelgeschwindigkeit.
benmutter, der momentan in Ruhe ist. 

Achtung Ist die Winkelgeschwindigkeit über Koordi-


Die Winkelbeschleunigung beschreibt naten bezüglich nicht körperfester Einheitsvektoren an-
gegeben, dann führt die Gleichung zur Ableitung eines
die zeitliche Änderung von Betrag und Richtung Vektors im Inertialsystem auf die Beziehung:
der Winkelgeschwindigkeit
dI ω dZ ω
α= = + Ω × ω.
Die Winkelbeschleunigung α des starren Körpers ergibt dt dt
sich aus der Ableitung der Winkelgeschwindigkeit im In-
ertialsystem. Unter Berücksichtigung von (9.7) erhalten Hierin ist Z das Bezugssystem, mit dem sich die Einheits-
wir: vektoren drehen, und das die Winkelgeschwindigkeit Ω
gegenüber dem Inertialsystem hat. Im Allgemeinen gilt
dI ω dK ω dK ω für das Kreuzprodukt Ω × ω = 0, da Ω und ω verschie-
α= = +ω×ω = .
dt dt dt den sind. 
218 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen

9.5 Bewegung relativ zu einem


rP P
starren Körper
Technische Mechanik

rAP
Sehr oft liegt der Fall vor, dass ein Punkt P sich relativ zu O
einem Körper bewegt. Dies kann zum Beispiel bei einem rA A
Gelenk der Fall sein, wobei die beiden Kontaktpunkte
der Körper zueinander eine Relativgeschwindigkeit ha-
ben, die sich meistens im körperfesten Bezugssystem sehr Abb. 9.20 Auf einem Körper sich bewegender Punkt P
leicht beschreiben läßt. Auch bei anderen Anwendun-
gen kann es vorkommen, dass sich die Bewegung eines
Punktes bezüglich eines Körpers und damit in einem be- Starrkörper verbunden ist. Durch erneute Zeitableitung
wegten Bezugssystem sehr leicht angeben läßt. Dennoch erhalten wir die Beschleunigung:
sind sehr oft die Geschwindigkeit und die Beschleuni-
gung des Punktes im Inertialsystem von Interesse. Bei- dI vP
spiele hierfür finden sich viele im täglichen Leben. Wenn aP =
dt
wir uns z. B. in einer Straßenbahn oder in einem ande-
ren Fahrzeug befinden, so lassen sich die Bewegungen dI vrel dI ω dI rAP
= aA + + × rAP + ω ×
im fahrzeugfesten Bezugssystem sehr einfach beschrei- dt dt dt
ben. Die Bewegung im Inertialsystem hängt indes noch = aA + α × rAP + ω × (ω × rAP ) + 2ω × vrel + arel .
von der Bewegung des Fahrzeugs ab. Des Weiteren sind
bei Systemen, die aus mehreren starren Körpern beste- Hierin sind aA die Beschleunigung des Bezugspunk-
hen, z. B. bei Industrierobotern, die einzelnen Körper über tes A, α die Winkelbeschleunigung des Körpers K im
Dreh- oder Schubgelenke verbunden. Bei den Schubge- Inertialsystem I und arel die Beschleunigung des Punk-
lenken tritt dann eine Relativbewegung im Gelenk auf, tes P relativ zum Körper. Die ersten drei Anteile der
die sich in körperfesten Bezugssystemen leicht darstellen Beschleunigung sind diejenigen, die ein Punkt des star-
läßt. ren Körpers erfährt, der sich an derselben Stelle befindet
In diesem Fall kann der Ortsvektor zu einem auf dem Kör- wie P. Die Relativbeschleunigung ist die Beschleunigung,
per bewegten Punkt P durch den Ortsvektor rA zu einem die ein mitbewegter Beobachter misst. Die Coriolisbe-
Bezugspunkt A des Körpers und einem Relativvektor rAP schleunigung
zwischen dem Bezugspunkt auf dem Körper und dem be-
wegten Punkt aufgeteilt werden (Abb. 9.20). Allerdings ist aCor = 2ω × vrel
dieser Relativvektor jetzt im körperfesten Bezugssystem
nicht mehr konstant, sondern ändert sich mit der Zeit. Die hängt sowohl von der Bewegung des Körpers wie auch
Geschwindigkeit des Punktes P im Inertialsystem ergibt von der Bewegung des Punktes auf dem Körper ab.
sich aus:
dI (rA + rAP )
vP = Geschwindigkeit und Beschleunigung bei Relativbewe-
dt gungen
dK rAP
= vA + + ω × rAP Bewegt sich ein Punkt auf einem starren Körper, so
dt
setzt sich die Geschwindigkeit des Punktes aus der
= vA + vrel + ω × rAP .
Geschwindigkeit des zugehörigen Punktes des Kör-
Diese Darstellung ergab sich auch in Kap. 8 bei der pers und der Relativgeschwindigkeit zusammen.
Relativkinematik des Massenpunktes. Im Vergleich zu ei- Bei der Beschleunigung tritt neben der Beschleuni-
nem Punkt des Starrkörpers, der sich an derselben Stelle gung des entsprechenden Körperpunktes und der
befindet wie der Punkt P, kommt also noch die Relativ- Relativbeschleunigung noch die Coriolisbeschleuni-
geschwindigkeit vrel hinzu. Dies ist diejenige Geschwin- gung auf.
digkeit, die ein Beobachter sieht, wenn er fest mit dem
Antworten zu den Verständnisfragen 219

Technische Mechanik
Literatur

Weiterführende Literatur für die Kap. 2 bis 13 –


Technische Mechanik

Beitelschmidt m, Dresig H (Hrsg) (2017) Maschinendyna-


mik – Aufgaben und Beispiele, 2. Auflage, Springer
Dresig H, Holzweißig F (2016) Maschinendynamik,
12. Auflage, Springer
Gordon JE (1989) Strukturen unter Stress, Spektrum Aka-
demischer Verlag
Gross D, Hauger W, Schröder J, Wall WA (2017) Techni-
sche Mechanik 1: Statik, 13. Auflage, Springer-Vieweg
Gross D, Hauger W, Schröder J, Wall WA (2017) Techni-
sche Mechanik 1: Elektrostatik, 13. Auflage, Springer-
Vieweg
Isler L, Ruoß H, Häfele P (2003) Festigkeitslehre – Grund-
lagen, 2. Auflage, Springer
Magnus K, Popp K, Sextro W (2016) Schwingungen,
10. Auflage, Springer
Wittenburg J, Pestel E (2011) Festigkeitslehre, 3. Auflage,
Springer
Woernle C (2016) Mehrkörpersysteme, 2. Auflage, Sprin-
ger
Young W, Budynas R, Sadegh A (2011) Roark’s Formulas
for Stress and Strain, 8. Auflage, McGraw-Hill

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 9.1 3, 3 Antwort 9.3 Das Rad dreht sich nicht mehr und führt eine
reine Translationsbewegung aus. Damit liegt der Momen-
Antwort 9.2 Änderung des Betrages, Änderung der Rich- tanpol im Unendlichen.
tung.
Antwort 9.4 121, 123, 131, 132, 212, 213, 231, 232, 312, 321,
323.
220 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen

Aufgaben
Technische Mechanik

Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

9.1 • Gegeben ist der abgebildete Schubkurbelme- 9.3 •• Bei welchem Winkel führen die Umrechnun-
chanismus gen der Winkelgeschwindigkeiten ω1 , ω2 und ω3 bei
Verwendung von Kardanwinkeln (vgl. Aufgabe 9.2) zu
Schwierigkeiten, da Singularitäten auftreten?
Resultat: β = ±90◦

9.4 • Oft nehmen wir an, dass die Erde ein Inertial-
y l system ist. Näherungsweise ist diese Annahme natürlich
gerechtfertigt. Bei einer genaueren Betrachtung ist die Er-
de jedoch ein Körper, der eine Winkelgeschwindigkeit um
die Polachse hat. In welche Richtung kann ein Mensch auf
der Erdoberfläche am Äquator gehen, sodass aufgrund
r
der Erddrehung keine Coriolisbeschleunigung auftritt?
φ Tritt am Nord- oder am Südpol eine entsprechende Co-
x riolisbeschleunigung auf? Wie sieht es aus, wenn man am
Äquator beziehungsweise an einem der Pole einen Stein
in einen tiefen Brunnen fallen läßt?
Resultat: Richtungen ohne Coriolisbeschleunigung: nord-
Bestimmen Sie die Koordinaten des Momentanpols der süd-Richtung am Äquator. Am Nord- und am Südpol tritt
Koppelstange in der augenblicklichen Stellung. Coriolisbeschleunigung auf. Stein in Brunnen: am Äqua-
tor tritt Coriolisbeschleunigung auf, an den Polen nicht.
Hinweis: Führen Sie den Winkel ψ zwischen der Pleuel-
stange und der y-Achse ein 9.5 • • • Wie lautet die Drehmatrix bei Kardanwin-
keln, wenn die Drehwinkel um die 1-Achse mit α, um
Resultat: die 2 -Achse mit β und um die 3 -Achse mit γ bezeich-
 net werden?
r2
yP = r sin ϕ + l 1 − 2 cos2 ϕ
l Hinweis: Führen Sie Zwischensysteme ein

l r2 Resultat: ⎛ ⎞ ⎛ ⎞
xP = r cos ϕ + 1 − 2 cos2 ϕ
tan ϕ l k1 i1
⎝k2 ⎠ = mK ⎝i2 ⎠
k3 i3
9.2 • Bei Kardanwinkeln wird ein Körper zunächst
mit
um die 1-Achse, dann um die neue 2 -Achse und zum
Schluss um die 3 -Achse gedreht. Wie läßt sich die Win- 11 = cos β cos γ,
mK 12 = sin α sin β cos γ + cos α sin γ,
mK
kelgeschwindigkeit des Körpers mit den Einheitsvektoren
i1 , k2 und k3 ausdrücken, wenn die Verdrehwinkel α, β 13 = − cos α sin β cos γ + sin α sin γ,
mK
und γ sind? 21 = − cos β sin γ,
mK 22 = cos α cos γ − sin α sin β sin γ,
mK
Hinweis: Es handelt sich um drei Elementardrehungen 23 = sin α cos γ + cos α sin β sin γ,
mK

Resultat: 31 = sin β,
mK 32 = − sin α cos β,
mK
ω = α̇i1 + β̇k2 + γ̇k3 33 = cos α cos β.
mK
Aufgaben 221

9.6 •• Zwei Zahnräder sind auf einer Stange dreh- Hinweis: Führen Sie den Winkel ψ zwischen der Vertika-
bar in den Punkten A und B gelagert. Die Stange selbst len und der Pleuelstange ein.

Technische Mechanik
kann sich um den Punkt O drehen. Zahnrad 1 ist im Ein-
satz mit einer außenverzahnten Scheibe, Zahnrad 2 mit Resultat: Ergebnisse für die Stellung ϕ = 30◦ :
einem Hohlrad. Die Mittelpunkte von Scheibe und Hohl- 1
rad sind ebenfalls in O. Die Radien der Zahnräder sind r, ωKoppel = − √ ϕ̇,
33
der Radius von Scheibe und Hohlrad R.
vS = (−0,25ex + 0,791ey )r ϕ̇,
αKoppel = −0,2924 ϕ̇2,
r ω1
aS = (−0,433ex − 0,417ey )r ϕ̇2 .
R ψ
Zahnrad 1 Ergebnisse für die Stellung ϕ = 60◦ :
C
O 
r ex 3
ωKoppel = − ϕ̇,
Zahnrad 2 35
ey vS = (−0,433ex + 0,427ey )r ϕ̇,
D ω2
αKoppel = −0,155 ϕ̇2 ,

Zunächst sind die Winkelgeschwindigkeiten der beiden aS = (−0,25ex − 0,954ey )r ϕ̇2 .


Zahnräder gesucht, wenn die Winkelgeschwindigkeit ψ̇
gegeben ist. Mithilfe der Winkelgeschwindigkeiten sind
die Vektoren der Geschwindigkeiten der Punkte C und D 9.8 •• Bei einem Zylinderrollenlager dreht sich
zu ermitteln. der Außenring mit der Winkelgeschwindigkeit ωA , der
Innenring mit der Winkelgeschwindigkeit ωI . Der Außen-
Hinweis: Werten Sie die Rollbedingungen aus. radius des Innenrings ist R, der Durchmesser der Rollen d.

Resultat: ωR d
vC = (R + r)(cos ψ − 1)ψ̇ex + (R + r)ψ̇ sin ψey , ωA

vD = (R − r)(1 − cos ψ)ψ̇ex − (R − r)ψ̇ sin ψey .

9.7 •• Die Kurbel des abgebildeten Schubkurbelme- R ωI


ωK
chanismus dreht sich mit konstanter Winkelgeschwindig-
keit. Käfig

Wie groß sind die Winkelgeschwindigkeit ωR der Wälz-


körper und die Winkelgeschwindigkeit ωK des Käfigs?
Hinweis: Die Wälzkörper rollen ab.

y l Resultat:
RωI + (R + d)ωA
ωK = .
2R + d

9.9 •• Ein Betonlaster fährt mit konstanter Ge-


r schwindigkeit v eine Kurve mit Radius R. Die Betontrom-
φ mel dreht sich dabei mit konstanter Winkelgeschwindig-
x keit ωT bezüglich des Fahrzeugs um eine Achse, die par-
allel zur Längsachse des Fahrzeugs verläuft. Wie lautet
der Winkelgeschwindigkeitsvektor der Trommel bezüg-
lich der Umgebung? Welchen Betrag hat er? Wie groß ist
die Winkelbeschleunigung α der Trommel?
Wie groß sind die Winkelgeschwindigkeit der Koppel-
stange und die Geschwindigkeit ihres Schwerpunktes für Hinweis: Führen Sie Einheitsvektoren er , e ϕ und ez ein.
ϕ = 30◦ beziehungsweise für ϕ = 60◦ ? Wie groß sind Resultat:
in diesen Stellungen Winkelbeschleunigung und Schwer- v
αTrommel − ωT er
punktsbeschleunigung? Es gilt l = 3r. R
222 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen

9.10 • • • Ein Frisbee ist eine Jahrmarktattraktion, bei Resultat:


der sich eine Stange der Länge l ähnlich einem Pendel um aA = (l ϕ̈ + R ϕ̇2 + RωS2 )ey + (l ϕ̇2 − R ϕ̈)ez ,
Technische Mechanik

eine horizontale Achse dreht. Der Winkel zwischen der


aB = (−RωS2 )ex + l ϕ̈ey + (l ϕ̇2 + 2R ϕ̇ωS )ez .
Pendelstange und der Vertikalen beträgt ϕ. Am Ende der
Stange ist eine Scheibe mit Radius R angebracht, die sich
bezüglich der Stange um deren Längsachse mit der kon- 9.11 •• Eine Welle mit Radius RW rollt auf dem Un-
stanten Winkelgeschwindigkeit ωS dreht. Der Drehwinkel tergrund ab. An ihr ist eine Scheibe mit dem Radius RS
ϕ der Stange ist wie bei einem Pendel von der Zeit abhän- angebracht, die sich in einer Nut des Untergrundes bewe-
gig. gen kann. Der Mittelpunkt der Welle bewegt sich mit der
konstanten Geschwindigkeit vW entlang des Untergrun-
des.
ey

Welle
RW v ex
W
Scheibe
RS

Wie groß sind die Geschwindigkeiten und die Beschleu-


nigungen der Punkte A und B?
Hinweis: Am Punkt B liegt Rollen vor.
Resultat:
RS v2W v2W
aA = ey , aB = ey .
R2W RW

9.12 • Ein Propeller besteht aus drei Flügeln und


wird beim Hochlaufen des Motors mit der Winkelbe-
schleunigung α beschleunigt. Dabei beträgt die augen-
blickliche Winkelgeschwindigkeit ω. Wie groß ist die Be-
schleunigung des Punktes A?

ez′ A

l
ey′
l

φ
ωS
ω, α
ex′
R B

A
Wie groß ist der Vektor ωF der Winkelgeschwindigkeit
des Frisbees? Wie groß ist dessen Winkelbeschleunigung,
wenn ϕ̇ und ϕ̈ gegeben sind? Wie groß sind die Ge-
schwindigkeiten der Punkte A und B, wie groß deren
Beschleunigung? Hinweis: Führen Sie ein zylindrisches Koordinatensystem
ein.
Hinweis: Verwenden Sie die nicht körperfesten Einheits-
vektoren ex , ey , ez . Resultat: aA = αle ϕ − ω 2 ler
Kinetik des starren Körpers –
10

Technische Mechanik
Dinge kraftvoll bewegen
Warum dreht sich eine
Eiskunstläuferin bei einer
Pirouette so schnell?
Warum hat ein
Verbrennungsmotor ein
Schwungrad?
Wo muss eine Billardkugel
gestoßen werden, damit
sie nach dem Stoß rollt
ohne zu gleiten?

10.1 Kinetik für eine Drehung um eine feste Achse . . . . . . . . . . . . . . 224


10.2 Massenträgheitsmomente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
10.3 Kinetik für eine allgemeine ebene Bewegung . . . . . . . . . . . . . . 229
10.4 Kinetik der allgemeinen Bewegung eines starren Körpers . . . . . . . 239
10.5 Stoßprobleme und Systeme veränderlicher Masse . . . . . . . . . . . . 242
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 223


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_10
224 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen

Im letzten Kapitel hatten wir die Kinematik zunächst für eine ebene ez
Bewegung und dann für eine allgemeine Bewegung eines starren
Technische Mechanik

Körpers betrachtet. Der wichtige Sonderfall der ebenen Bewegung


erwies sich dabei als besonders einfach, da dann die Winkelge-
schwindigkeit die Richtung nicht ändert. Im vorliegenden Kapitel
soll jetzt untersucht werden, wie sich ein Körper unter der Wirkung ω
von Kräften und Momenten bewegt. Dies schließt auch den Fall ein,
in dem die Kräfte und Momente gesucht werden, die notwendig r
sind, um eine gewünschte Bewegung zu erreichen. dm v

Im ersten betrachteten Sonderfall, der Drehung um eine raumfeste K r


Achse, zeigt sich, dass das Verhalten des Körpers wesentlich durch
seine Massenverteilung bestimmt ist, die mit dem sogenannten O
Massenträgheitsmoment beschrieben wird. Mithilfe des Drallsatzes
läßt sich damit eine Bewegungsgleichung für den Körper angeben.
Für eine allgemeine ebene Bewegung ist neben der Rotation auch
die Translation von Bedeutung. Hierbei zeigt sich, dass der Im-
pulssatz wie für einen Massenpunkt ausgewertet werden kann,
wenn die Beschleunigung des Schwerpunktes des Körpers verwen-
det wird. Der Drallsatz, der am besten bezüglich des Schwerpunktes Abb. 10.1 Massenelement dm bei einer Rotation um eine raumfeste Achse
ausgewertet wird, erfordert wiederum die Kenntnis des Massen-
trägheitsmoments. Beide Sätze sind wichtig, wenn es darum geht,
dass sich ein Körper, z. B. ein Rotor oder eine Turbinenwelle, mög-
differenziell kleine Massenelement ergibt sich als differen-
lichst so bewegt, dass er keine Kräfte auf die Umgebung ausübt.
zieller Drall:
Beim Arbeitssatz zeigt sich, dass sich die kinetische Energie des
starren Körpers aus einem Anteil infolge der Translation und ei- dL(O) = r × vdm
nem Anteil infolge der Rotation zusammensetzt. Während der eine = (rer + zez ) × ωrdme ϕ
Anteil proportional zum Quadrat der Geschwindigkeit des Schwer-
= r2 ωdmez − zrωdmer ,
punktes ist, hängt der andere vom Quadrat der Winkelgeschwin-
digkeit ab. Insbesondere ist deshalb z. B. bei schnelldrehenden sodass der Drallsatz für das Massenelement
Elektromotoren der Anteil der Läuferwelle wichtig, selbst wenn de-
ren Massenträgheitsmoment klein ist. d
(dL(O) ) = r2 ω̇dmez − zrω̇dmer − zrω 2 dme ϕ = dM (O)
dt
Auch bei der allgemeinen räumlichen Bewegung sind die Bewe-
gungsgleichungen durch Auswertung von Impuls- und Drallsatz liefert, wobei dM (O) die Momentenwirkung aller exter-
von Interesse. Eventuell auftretende Zwangskäfte oder -momente nen und internen Kräfte und Momente auf das Massen-
müssen dazu eliminiert werden. Bei Kenntnis aller Parameter und element bezüglich des Bezugspunkts O bezeichnet.
aller Anfangsbedingungen können die nichtlinearen Bewegungs-
gleichungen integriert werden. Eine analytische Lösung der Be- Wir integrieren über die gesamte Masse des Körpers.
wegungsgleichungen gelingt nur nach Linearisierung oder in Son- Hierbei ist zu beachten, dass die Einheitsvektoren er
derfällen. Bei einer gewünschten Bewegung können so die dazu und e ϕ zwar beide in der Bewegungsebene liegen, aber
notwendigen Kräfte und Momente bestimmt werden, oder es kann vom betrachteten Massenelement dm abhängen. Ledig-
die Bewegung ermittelt werden, die sich infolge gegebener Kräfte lich ez ist unabhängig von dm. Die Integration der er - und
und Momente einstellt. e ϕ -Komponenten kann deshalb nicht so ohne Weiteres
durchgeführt werden. Die Auswertung der Integration
über diese Komponenten
 
(O) (O)
10.1 Kinetik für eine Drehung − (zrω̇er + zrω 2 e ϕ )dm = (dMr er + dM ϕ e ϕ )
um eine feste Achse (m ) (m )

führt demnach auf ein Gesamtmoment, das in der r-ϕ-


Bei der Kinetik der Bewegung eines starren Körpers be- Ebene liegt und den sogenannten Schleudermomenten
trachten wir zunächst wieder den Fall einer Rotation um entspricht. Sie verschwinden bei einem Körper, der be-
eine raumfeste Achse. Gemäß Abb. 10.1 wählen wir da- züglich der Rotationsachse symmetrisch ist. Später wer-
bei als Bezugspunkt für den Drallsatz einen Punkt O, den wir sehen, dass sie auch im unsymmetrischen Fall
der auf der Drehachse liegen soll. Für das eingezeichnete verschwinden, wenn die Rotationsachse eine Hauptachse
10.1 Kinetik für eine Drehung um eine feste Achse 225

σ+φ Boltzmann-Axiom, d. h. die Symmetrie des Spannungs-


τ+rφ tensors als Axiom eingeführt werden.

Technische Mechanik
σ–r τ+rφ
Axiome für die Bewegung des starren Körpers
+
τ–rφ σr Bei der Kinetik des starren Körpers ist neben dem
Newton’schen Axiom noch ein weiteres Axiom not-
τ–rφ wendig. Dies ist im Allgemeinen das Euler’sche
σ–φ Axiom (Drallsatz) oder die Symmetrie des Span-
nungstensors.
Abb. 10.2 Innere Kräfte (Spannungen) am freigeschnittenen Massenelement

Die Momentenbilanz bezüglich der z-Achse führt folglich


des Trägheitstensors ist. Falls diese Anteile nicht ver- auf:

schwinden, müssen sie im Allgemeinen von der Lagerung (O)
aufgebracht werden, sodass deren Kenntnis durchaus
ω̇ r2 dm = ∑ Mz .
praktische Bedeutung hat. (m )

In dieser Gleichung fällt auf, dass das Integral


Beispiel Ein gutes Beispiel hierfür ist ein rotierender 
Autoreifen, der auf der Auswuchtmaschine ausgewuchtet JO = r2 dm
wird. Im ideal ausgewuchteten Zustand sind keine Mo-
(m )
mente von der Lagerung auf den Reifen notwendig, um
die Rotationsbewegung zu realisieren. Wenn der Reifen von der Bewegung unabhängig ist und somit nur von
nicht ausgewuchtet ist, sind Momente von der Lagerung der Massenverteilung des Körpers abhängt. Es kann un-
auf den Reifen notwendig, die in der Bewegungsebene lie- abhängig von der Bewegung ausgewertet werden und
gen. Wir kommen hierauf später noch einmal zurück.  wird als Massenträgheitsmoment JO bezeichnet. Wie wir
später sehen werden, hängt es sowohl von der Richtung
Zunächst konzentrieren wir uns aber auf die z- der Drehachse bezüglich des Körpers ab wie auch vom
Komponente der Gleichung. Eine Integration über alle Bezugspunkt O, durch den die Drehachse geht. Deshalb
Massenelemente des Körpers ergibt für die Anteile in wird meistens der Bezugspunkt bei der Bezeichnung mit
z-Richtung: angegeben, außer in Fällen, bei denen der Bezugspunkt
   eindeutig festliegt. Letztendlich erhalten wir als wichti-
(O)
r2 ω̇dm = ω̇ r2 dm = dMz . ges Ergebnis aus dem Drallsatz für eine Rotation um eine
(m ) (m ) (m ) raumfeste Achse die Gleichung
(O)
Die Ableitung der Winkelgeschwindigkeit kann dabei vor ω̇JO = αJO = ∑ Mz .
das Integral gezogen werden, da diese für den Körper und
damit für alle Massenelemente dieselbe ist. Bei der Integra-
tion der Momente über alle Massenpunkte muss sowohl Beispiel Als Beispiel betrachten wir das Anfahren ei-
über die äußeren wie auch die inneren Momente integriert ner belasteten Turbine, die durch ein drehzahlabhängiges
werden. Die inneren Momente zwischen den benachbar- Moment um die Drehachse angetrieben wird. Wir neh-
ten Massenelementen können nur von den Spannungen men an, dass sich die Last aus einem konstanten Anteil
zwischen den Massenelementen hervorgerufen werden. M0 und einem drehzahlproportionalen Anteil M1 = k1 ω
Tragen wir an einem Freischnitt des Massenelementes dm zusammensetzt. Das Antriebsmoment sei durch Ma =
alle Spannungen an, so erkennt man in Abb. 10.2, dass die- k2 − k3 ω gegeben. Der Drallsatz liefert in diesem Fall die
se aufgrund der Symmetrie des Spannungstensors jeweils Bewegungsgleichung
paarweise auftreten, sodass die Spannungen am Massen-
element in der Summe auf ein verschwindendes Moment
J ω̇ = ∑ Mi .
führen. Die Integration der differenziellen Momente über Hierbei ist zu beachten, dass M0 und M1 der Bewegung
den ganzen Körper entspricht damit gerade der Sum- entgegen, also in negative z-Richtung weisen. Dies führt
me der äußeren Momente bezüglich O. An dieser Stelle auf:
wird jedoch darauf hingewiesen, dass im Allgemeinen die
Symmetrie des Spannungstensors aus einer Momentenbi- J ω̇ = −M0 − k1 ω + k2 − k3 ω
lanz am freigeschnittenen Element hergeleitet wird. Des- und damit auf die Bewegungsgleichung:
halb muss entweder das Euler’sche Axiom, dass die in-
neren Momente in der Summe verschwinden, oder das J ω̇ + (k1 + k3 )ω = −M0 + k2 .
226 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen

Wir erhalten hier eine Differenzialgleichung erster Ord-


nung für ω, die sogar analytisch gelöst werden kann. Die cDφ
Technische Mechanik

zugehörige Lösung lautet: Ax


k +k
− 1J 3t k2 − M0 x
ω = Ae + ,
k1 + k3 Ay

wobei A eine Integrationskonstante ist, die von der An- JAφ


fangsbedingung für ω abhängt. 

Die Auswertung des Drallsatzes kann auch in der ge-


wohnten Form einer Momentenbilanz erfolgen, wenn
im Sinne von d’Alembert ein Trägheitsmoment definiert mg
wird. Führen wir in der Gleichung y

(O) Abb. 10.4 Freikörperbild des physikalischen Pendels mit Drehfeder


JO ω̇ = Mz = MO
das Trägheitsmoment
das also entgegengerichtet zu ϕ gerichtet ist. Eine Mo-
MT = −JO ω̇ mentenbilanz bezüglich Lagerpunkt A ergibt:
ein, so kann die Momentenbilanz kompakt durch
∑ MA = 0 = −cD ϕ − JA ϕ̈ − mgl sin ϕ,
MO + M T = 0
und wir erhalten die Bewegungsgleichung:
geschrieben werden.
JA ϕ̈ + cD ϕ + mgl sin ϕ = 0.
Beispiel Ein physikalisches Pendel ist im Punkt A dreh- 
bar gelagert. Der Abstand zwischen dem Lager und dem
Schwerpunkt S des Pendels beträgt l. Auf das Pendel
wirkt neben der Gewichtskraft noch eine Drehfeder mit
der Federkonstanten cD , die für ϕ = 0 entspannt ist. Als 10.2 Massenträgheitsmomente
Koordinate zur Beschreibung der Bewegung wird der
Winkel ϕ gemäß Abb. 10.3 eingeführt. Dies kann als Mo- Da die Berechung der Massenträgheitsmomente in der
dell für eine Pendeluhr dienen, bei der die Federsteifigkeit Praxis sehr wichtig ist, soll dieses Thema in einem eigenen
null zu setzen ist oder als Unruhe einer Uhr, bei welcher Unterkapitel behandelt werden. Die Definition des Träg-
die Schwerkraft im Allgemeinen keine Rolle spielt und heitsmoments lautet:
statt dessen eine Drehfeder angebracht ist.

JO = r2 dm.
A (m )

cD g
Bei gleicher Masse können zwei Körper unterschied-
liche Massenträgheitsmomente haben. Entscheidend ist
der Abstand r der einzelnen Massenelemente von der
φ
Drehachse. Bei einem Körper, bei dem die Masse einen
l
großen Abstand von der Drehachse hat, ist das Massen-
trägheitsmoment entsprechend groß. Dies ist ähnlich wie
S bei Flächenträgheitsmomenten in Abschn. 5.2. Im konkre-
m, JA
ten Fall ist es bei Körpern komplizierter Geometrie nur
noch numerisch oder experimentell möglich, das Massen-
Abb. 10.3 Physikalisches Pendel mit Drehfeder trägheitsmoment zu bestimmen. Bei einem CAD-Modell
liegt der Körper im Allgemeinen als Summe vieler ein-
Ein Freikörperbild in Abb. 10.4 zeigt, dass lediglich die facher Teilkörper vor, sodass dann die numerische Aus-
Gewichtskraft und die Drehfeder jeweils ein Moment be- wertung einfach wird. Wir beschränken uns hier auf die
züglich des Lagerpunkts A haben. Mit eingezeichnet ist Auswertung des Integrals für einfache Geometrien. In
auch das Trägheitsmoment diesem Fall werden am besten zunächst möglichst große
Massenelemente gewählt, bei denen alle Punkte den glei-
MT = −JA ϕ̈, chen Abstand von der Drehachse haben.
10.2 Massenträgheitsmomente 227

wendet werden kann, ist ein Hohlzylinder der Länge d,


Massenträgheitsmomente der Dicke dr und mit Radius r. Die Masse dieses Massen-

Technische Mechanik
elementes beträgt:
Das Massenträgheitsmoment eines Körpers hängt ab
von der Richtung der Drehachse bezüglich des Kör- dm = 2πrdρdr.
pers und vom Bezugspunkt, durch den diese Achse
geht. Aufgrund seiner Definition ist es immer posi-
Eingesetzt in die Definitionsgleichung führt dies auf:
tiv.
 R
π
JS = r2 dm = 2πr3 dρdr = ρdR4 .
Beispiel Dass das Massenträgheitsmoment eines dün- 2
(m ) 0
nen Stabes von der Drehachse abhängt, wissen wir aus
Erfahrung. Wenn wir den Stab um seine Längsachse dre- Berücksichtigen wir, dass die Masse der Scheibe durch
hen, ist das zum Beschleunigen notwendige Moment
verschwindend gering. Für eine Drehung um eine Achse
senkrecht zur Längsachse ist ein relativ großes Moment m = πρdR2
zur Beschleunigung notwendig. Ein Seiltänzer mit Balan-
cierstange nützt diese Trägheit gezielt aus (Abb. 10.5). gegeben ist, dann erhalten wir als einfaches Ergebnis:
m 2
JS = R .
2


Beispiel Für den in Abb. 10.7 dargestellten, dünnen Stab


kann angenommen werden, dass die ganze Masse auf
der Stablängsachse konzentriert ist. Wird die Koordinate
x in Stablängsrichtung eingeführt, so hat das Massenele-
ment dm = (m/l)dx den Abstand x von der Drehachse,
die senkrecht zur Stablängsachse durch das Stabende in
A geht; m bezeichnet dabei die Gesamtmasse des Stabes.

Abb. 10.5 Hochseilartisten mit Balancierstangen A


dm

l, m

ω
Beispiel Bei der in Abb. 10.6 dargestellten homogenen
Scheibe der Dicke d und dem Außenradius R soll das Mas-
senträgheitsmoment bezüglich einer Achse durch den Abb. 10.7 Massenelement zur Bestimmung des Massenträgheitsmoments ei-
Schwerpunkt S in Dickenrichtung bestimmt werden. Ein nes dünnen Stabes bezüglich einer Achse durch ein Stabende
Massenelement, das zur Auswertung des Integrals ver-
Die Auswertung ergibt dann:

dm l
m m l3 m
JA = x2 dx = = l2 .
dr
R l l 3 3
r 0
Dicke d 

Frage 10.1
ω Wie groß ist das Massenträgheitsmoment eines dünnen
Stabes für eine Achse, die senkrecht auf der Längsachse
Abb. 10.6 Massenelement zur Bestimmung des Massenträgheitsmoments ei- steht und durch den Schwerpunkt des Stabes geht?
ner Scheibe
228 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen

In vielen Fällen kann man sich den Körper aus n einzelnen


Teilkörpern zusammengesetzt denken. Wenn wir von die- y
Technische Mechanik

sen Teilkörpern die jeweiligen Massenträgheitsmomente y


dm
JAi bezüglich der gegebenen Drehachse durch den Punkt
A kennen, so ergibt sich das resultierende Massenträg- r r
heitsmoment einfach als Summe der einzelnen Anteile: S x
rS
A x
n
JA = ∑ JAi .
i=1

Abb. 10.9 Zur Bestimmung des Massenträgheitsmoments bezüglich einer par-


Beispiel Ein Beispiel, bei dem dies ausgenützt wird, ist allelen Achse durch den Punkt A
die Bestimmung des Massenträgheitsmoments einer ho-
mogenen Kugel bezüglich einer Drehachse durch ihren
Schwerpunkt S. Die Kugel hat den Radius R und die Dich- Im Folgenden untersuchen wir den Fall, dass die Dreh-
te ρ. Gemäß Abb. 10.8 führen wir entlang der Drehachse achse parallel verschoben wird und durch einen Punkt A
die z-Koordinate mit Ursprung im Mittelpunkt der Ku- geht, der nicht mit dem Schwerpunkt S übereinstimmt. In
gel ein. Dann zerlegen wir die Kugel in dünne Scheiben diesem Fall führen wir neben den Koordinaten x und y
der Dicke dz, von denen wir die Massenträgheitsmomen- mit Ursprung in A auch die Koordinaten x̄ und ȳ ein, de-
te kennen, wenn wir berücksichtigen, dass sowohl der ren Ursprung im Schwerpunkt S liegt (Abb. 10.9). Für das
Radius einer Scheibe wie auch deren Masse von der z- Massenträgheitsmoment bezüglich A gilt:
Koordinate abhängen.  
JA = r2 dm = (x2 + y2 )dm.
dz (m ) (m )

z
Mit den Beziehungen
R
C r (z) x = xS + x̄,
y = yS + ȳ
folgt hieraus:

Abb. 10.8 Bestimmung des Massenträgheitsmoments einer Kugel JA = (x2S + y2S + 2xS x̄ + 2yS ȳ + x̄2 + ȳ2 )dm
(m )
Diese Abhängigkeiten  
 = (x2S + y2S ) dm + 2xS x̄dm
r(z) = R2 − z2 ,
(m ) (m )
 
dm = πr2 (z)ρdz = π (R2 − z2 )ρdz
+ 2yS ȳdm + (x̄ + ȳ2 )dm
2

führen auf das differenzielle Massenträgheitsmoment dJS (m ) (m )


der Scheibe:
und unter Berücksichtigung von
dm 2 π
dJS = r = (R2 − z2 )2 ρdz. 
2 2 x̄dm = 0,
Eine Summation über alle Scheiben ist hier gleichbedeu- (m )
tend mit einer Integration, sodass das Ergebnis für die 
Scheibe ȳdm = 0
 R (m )
π 2 8
JS = dJS = (R − z2 )2 ρdz = πρR5 schließlich der Satz von Steiner:
2 15
(m ) −R
JA = a2 m + JS ,
ergibt. Unter Berücksichtigung von m = 4πρR3 /3 führt 
dies auf die einfache Form: wobei a = x2S + y2S der Abstand zwischen den Achsen
2 durch die Punkte A und S ist. Für Massenträgheitsmo-
JS = mR2 . mente ist der Satz von Steiner also ganz ähnlich formuliert
5
 wie für Flächenträgheitsmomente in der Festigkeitslehre.
10.3 Kinetik für eine allgemeine ebene Bewegung 229

Steiner’sche Ergänzung dFi dm dFa

Technische Mechanik
Das Massenträgheitsmoment JA bezüglich einer
Achse durch den Punkt A setzt sich zusammen Abb. 10.11 Freikörperbild eines Massenelementes des starren Körpers
aus dem Massenträgheitsmoment JS bezüglich einer
parallelen Achse durch den Schwerpunkt und der
sogenannten Steiner’schen Ergänzung ma2 , wenn a und bezüglich einer Achse durch den Punkt A:
der Abstand der Achsen durch die Punkte S und A 
ist. Da ma2 immer positiv ist, nimmt das Massen- 3
trägheitsmoment dann den kleinsten Wert für eine kScheibe,A = R.
2
gegebene Richtung der Drehachse an, wenn die Ach-
se durch den Schwerpunkt geht. Bei beliebigen Körperformen wird das Massenträgheits-
moment oft durch numerische Integration oder experi-
mentell bestimmt.

Beispiel Als Anwendung soll das Massenträgheitsmo-


ment einer Scheibe bezüglich einer zur Scheibenebene
senkrechten Achse durch den Randpunkt A bestimmt 10.3 Kinetik für eine allgemeine
werden (Abb. 10.10).
ebene Bewegung
Drehachse
In diesem Unterkapitel wird die Kinetik eines starren Kör-
pers untersucht, der sowohl eine Translations- wie auch
A R S eine Rotationsbewegung ausführen kann, bei dem die
Richtung der Winkelgeschwindigkeit sich während der
m
Bewegung aber nicht ändert.

Abb. 10.10 Bestimmung des Massenträgheitsmoments bezüglich einer Achse Der Impulssatz für den starren Körper führt zum
am Rande der Scheibe Zusammenhang zwischen der Beschleunigung
des Schwerpunktes und den Kräften
Das Massenträgheitsmoment bezüglich des Schwerpunk-
tes S wurde zuvor zu JS = 12 mR2 bestimmt. Der Abstand
zwischen dem Bezugspunkt A und dem Schwerpunkt S Bei der ebenen Bewegung eines Punktes eines starren
beträgt a = R, sodass sich mit der Steiner’schen Ergän- Körpers ergab sich die Beschleunigung eines Punktes P
zung zu

1 3 aP = aA + ω̇ × rAP + ω × (ω × rAP ),
JA = mR2 + mR2 = mR2
2 2
wobei A ein Bezugspunkt auf dem starren Körper ist.
ergibt.  Wird ein Massenelement am Punkt P freigeschnitten
(Abb. 10.11) und alle an ihm wirkenden äußeren und in-
neren Kräfte angetragen, so folgt mit dem Newton’schen
Oftmals wird noch der Trägheitsradius k eingeführt, der
Axiom:
so definiert ist, dass
[aA + ω̇ × rAP + ω × (ω × rAP )]dm = dF i + dF a .
J = mk2
Hierin bezeichnen dF i die inneren Kräfte im Körper, die
gilt. Für die zuvor betrachtete Scheibe erhalten wir des-
von den umgebenden Massenelementen auf das betrach-
halb im Falle einer Achse senkrecht zur Scheibenebene
tete Massenelement wirken, und dF a die äußeren Kräfte
durch den Schwerpunkt:
auf das Massenelement. Letztere können sowohl einge-
prägte als auch Zwangskräfte sein. Bei der Integration
R
kScheibe,S = √ über den gesamten Körper heben sich die inneren Kräfte
2 dF i von benachbarten Massenelementen gegenseitig auf,
230 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen

da sie betragsmäßig gleich groß, aber entgegengesetzt ge-


dm
richtet sind. Deshalb verbleibt:
η
Technische Mechanik

  
aA dm + ω̇ × rAP dm + ω × (ω × rAP )dm y
η
ξ

(m ) (m ) (m ) ξ
 K φ
= dF a . A
(m )

Bei der Integration über alle Massenelemente ist die Be- x


schleunigung des Bezugspunktes A zwar zeitabhängig,
aber unabhängig vom Massenelement, sodass aA vor das Abb. 10.12 Lage eines Massenelementes des starren Körpers in einem körper-
Integral gezogen werden kann. Ebenso ist die Winkelbe- festen Koordinatensystem
schleunigung ω̇ nicht davon abhängig, welches Massen-
element betrachtet wird. Auch sie kann deshalb vor das
Integral gezogen werden, analog die Winkelgeschwin- Daraus folgen mit ω = ϕ̇ die Beschleunigungskoordina-
digkeit ω. Die Integration über alle Kräfte dF a ergibt ten im Inertialsystem:
schließlich die Summe ∑ F a aller äußeren am Körper an-
greifenden Kräfte. Somit erhalten wir: ẍ = ẍA − ξ ω̇ sin ϕ − ξω 2 cos ϕ − η ω̇ cos ϕ + ηω 2 sin ϕ,
  
ÿ = ÿA + ξ ω̇ cos ϕ − ξω 2 sin ϕ − η ω̇ sin ϕ − ηω 2 cos ϕ.
aA dm + ω̇ × rAP dm + ω × (ω × rAP dm)
(m ) (m ) (m ) Einsetzen der Beschleunigungen in das Newton’sche
Grundgesetz, Integration und Berücksichtigung, dass ω,
= ∑ Fa . ω̇, ẍA und ÿA bei der Integration Konstanten sind und
Das erste Integral entspricht der Gesamtmasse m des Kör- die inneren Kräfte sich auch hier wechselseitig aufheben,
pers, das zweite und das dritte Integral ergeben mit der führt auf:
Definition des Schwerpunktes S (siehe Abschn. 2.6) gera- 
de mrAS , sodass sich mẍA − (ω̇ sin ϕ + ω 2 cos ϕ ) ξdm
maA + mω̇ × rAS + mω × (ω × rAS ) = ∑ Fa (m )

und damit +(−ω̇ cos ϕ + ω 2 sin ϕ) ηdm = Fx ,
maS = mr̈S = ∑ Fa (10.1) (m )

ergibt. In ähnlicher Weise führte dies auch bei Massen- mẍA + (ω̇ cos ϕ − ω 2 sin ϕ) ξdm
punktsystemen auf dasselbe Ergebnis (siehe Kap. 8).
(m )

Impulssatz für einen starren Körper −(ω̇ sin ϕ + ω 2 cos ϕ) ηdm = Fy ,
(m )
Das Newton’sche Axiom führt bei einem starren
Körper auf eine Gleichung, die ähnlich der Glei-
wobei hier Fx und Fy die Summen aller äußeren Kräfte auf
chung für einen Massenpunkt ist. Da die einzelnen
den Körper in x beziehungsweise y-Richtung bezeichnen.
Punkte eines starren Körpers im Allgemeinen un-
Wird als Bezugspunkt A der Schwerpunkt S gewählt, so
terschiedliche Beschleunigungen haben, muss bei
dieser Formulierung unbedingt beachtet werden, verschwinden die Integrale, und es ergibt sich:
dass die Beschleunigung as = r̈S des Schwerpunk-
mẍS = Fx , (10.2)
tes einzusetzen ist: Masse mal Beschleunigung des
Schwerpunktes gleich Summe aller äußeren am Kör- mÿS = Fy . (10.3)
per angreifenden Kräfte.
Diese Gleichungen entsprechen der zuvor aus der Im-
pulsbilanz hergeleiteten Gleichung, allerdings in skalarer
Auf diese Beziehung kommen wir auch, wenn wir wie in Form.
Abb. 10.12 angedeutet die Lage des Massenelementes in
körperfesten ξ, η-Koordinaten darstellen. Für die Koordi- Frage 10.2
naten x und y des Inertialsystems gelten die Beziehungen: Auf wie viele skalare Gleichungen führt der Impulssatz
für den starren Körper im ebenen Fall, auf wie viele bei
x = xA + ξ cos ϕ − η sin ϕ,
einer räumlichen Bewegung?
y = yA + ξ sin ϕ + η cos ϕ.
10.3 Kinetik für eine allgemeine ebene Bewegung 231

vP ey dFi5 = σ y+ hdx
dm

Technische Mechanik
dFi7 = τ + hdx
P
rP
dFi3 = τ + hdy
rAP dFi2 = σx– hdy dFi1 = σ x+ hdy

dFi4 = τ hdy
A ex
dFi8 = τ – hdx
rA
O
dFi6 = σ y– hdx

Abb. 10.13 Zum Drall eines Massenelementes des starren Körpers


Abb. 10.14 Innere Kräfte aufgrund der Schub- und Normalspannungen am
freigeschnittenen Massenelement der Dicke h in der Draufsicht

Aus dem Impulssatz folgen bei einem Körper, der sich


um eine raumfeste Achse dreht, sofort zwei Schlußfolge- Diese Gleichung wird über die Masse des gesamten Kör-
rungen: Falls sich der Schwerpunkt S des Körpers auf der pers integriert. Dies ergibt:
Drehachse befindet, so ist die zugehörige Beschleunigung ⎡
r̈S = 0, sodass die Summe der Lagerkräfte ebenfalls null  
sein muss, wenn keine weiteren Kräfte angreifen. Dies be- d ⎢
⎣ (rA × vA )dm + rA × (ω × rAP )dm
deutet nicht, dass die einzelnen Lagerkräfte für sich null dt
(m ) (m )
sind. Falls der Schwerpunkt S außerhalb der Drehachse ⎤
liegt, bewegt er sich auf einer Kreisbahn und wird des-  
halb ständig beschleunigt. In diesem Fall können also die ⎥
+ (rAP × vA )dm + rAP × (ω × rAP )dm⎦
Lagerkräfte nicht null sein.
(m ) (m )
 
(O) (O)
= dM i + dM a .
(m ) (m )
Der Drehimpulssatz gibt den Zusammenhang
zwischen Dralländerung und Drehmomenten an Betrachten wir zunächst das Massenelement in der Drauf-
sicht (Abb. 10.14), so erkennen wir, dass die inneren Kräfte
aufgrund der Schubspannungen und Normalspannungen
Für das Massenelement in Abb. 10.13 führt das New- wegen der Symmetriebedingung des Spannungstensors
ton’sche Axiom auf die Beziehung sich gegenseitig aufheben. Die mit einem Minuszeichen
versehenen Normal- und Schubspannungen sind jene an
der Stelle x beziehungsweise y, jene mit einem Plus-
d(dL(O) )
= dM (O) , zeichen bei x + dx und y + dy. Wir müssen allerdings
dt beachten, dass die Symmetrie des Spannungstensors über
eine Momentenbilanz hergeleitet wurde. Dies setzt aber
mit dem ortsfesten Bezugspunkt O und dem Drall des
voraus, dass die inneren Kräfte beim Drallsatz sich gegen-
Massenelementes
seitig kompensieren. Am besten formulieren wir dieses
Axiom in der Form, dass das Integral über die Momen-
dL(O) = rP × vdm = (rA + rAP ) × (vA + ω × rAP )dm. te der inneren Kräfte verschwindet.

(O)
Teilen wir die Momente wieder in Momente dM i auf- Drallsatz als Axiom
(O)
grund innerer Kräfte und Momente infolge äu- dM a
Beim Drallsatz setzen wir als Axiom entweder vor-
ßerer Belastungen auf, so ergibt sich zunächst für das
aus, dass die Momente der inneren Kräfte sich ge-
Massenelement:
genseitig kompensieren oder dass der Spannungs-
d+
tensor symmetrisch ist.
(rA × vA )dm + (rAP × vA )dm
dt
,
+[rA × (ω × rAP )]dm + [rAP × (ω × rAP )]dm Im Folgenden wird berücksichtigt, dass ω ein Vektor
ist, der bei einer ebenen Bewegung senkrecht zur Bewe-
(O) (O)
= dM i + dM a . gungsebene steht. Zusätzlich wird der Vektor rAP in einen
232 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen

ω = ωez Da ω bezüglich der Integration konstant ist, ergibt sich:



Technische Mechanik

P dm d (S )
z (ω r2 dm) = Ma,z ,
zez dt
(m )
ez rer

er und wir erkennen, dass auch hier das Massenträgheits-
A moment JS bezüglich des Schwerpunktes auftritt:

d (S )
(ωJS ) = Ma,z . (10.4)
Abb. 10.15 Aufteilung des Relativvektors rAP in einen Anteil in der Bewe- dt
gungsebene und einen Anteil senkrecht dazu
Für einen Starrkörper hängt JS nicht von der Zeit ab, so-
dass schließlich verbleibt:
Anteil in Richtung der z-Achse und einen Anteil in der Be- (S )
JS ω̇ = Ma,z .
wegungsebene aufgeteilt (Abb. 10.15)
ω = ωez , Da bei einer ebenen Bewegung sowieso im Allgemeinen
rAP = rer + zez . nur die Momente senkrecht zu Bewegungsebene interes-
sieren, liegt es nahe, diese äußeren Momente mit MS zu
Als Zwischenergebnis erhalten wir: bezeichnen, wenn der Bezugspunkt der Schwerpunkt S
ist. Die Gleichung nimmt dann die eingängige Form
d+
m(rA × vA ) + rA × (ω × mrAS ) + mrAS × vA
 dt , JS ω̇ = MS
(O)
+ (rer + zez ) × [ωez × (rer + zez )]dm = ∑ M a .
an.
(m )
Damit stehen insgesamt drei skalare Gleichungen zur Be-
Zur Vereinfachung wählen wir sowohl für den Bezugs- stimmung der Bewegungsgleichungen für einen starren
punkt O wie auch für den Bezugspunkt A auf dem Körper Körper bei einer ebenen Bewegung bereit. Mit ihnen kön-
den Schwerpunkt S des Körpers. Dadurch folgt rAS = 0, nen je nach Lagerungsart des Körpers die bis zu drei
vA = vS und rAS = 0. Auf der linken Seite ist somit nur Bewegungsgleichungen oder die bis zu drei Zwangsreak-
noch das Integral auszuwerten. Unter Berücksichtigung, tionen in den Lagern bestimmt werden.
dass die Einheitsvektoren er , e ϕ und ez paarweise senk-
recht aufeinander stehen und ein Rechtssystem bilden, Falls kein starrer Körper vorliegt, so kann sich dessen
folgt: Form und damit auch das Massenträgheitsmoment ver-
 ändern. Gleichung (10.4) gilt dann immer noch. Falls kein
d  (S ) (S ) Moment auf den Körper wirkt, führt eine Änderung von
(ωr2 ez − ωrzer )dm = M a,z + M a,rϕ .
dt JS somit zu einer Änderung von ω.
(m )

Hierbei wurde das Moment schon in eine Komponente


Beispiel Zieht eine Eiskunstläuferin oder eine Tänzerin
in Richtung der z-Achse und eine Komponente in der
die Arme eng an die Achse ihres Körpers (Abb. 10.16),
Bewegungsebene unterteilt. Man erkennt, dass für einen
verringert sie JS . Da keine äußeren Momente wirken,
Körper, dessen Dicke sehr klein ist oder der symmetrisch
muss bei einer Drehung der Drall in beiden Stellungen
bezüglich einer Ebene senkrecht zur z-Achse ist, die Kom-
gleich sein. Deshalb ist eine Pirouette mit angezogenen
ponenten in der Bewegungsebene auf der linken Seite der
Armen und Beinen sehr schnell. Ähnlich verhält sich ein
Gleichung verschwinden und deshalb auch die Summe
der Momente in dieser Richtung. Wenn diese Komponen-
Turner, wenn er einen Salto schlägt. 
ten nicht verschwinden, dann führen diese Anteile zu den
sogenannten Schleudermomenten, die in der r, ϕ-Ebene
liegen. Doch auch in diesem Fall können die Kompo-
nenten in z-Richtung getrennt betrachtet werden. Eine Die Behandlung nach d’Alembert erfordert
Auswertung in dieser Richtung führt auf die skalare Glei- Trägheitskräfte und Trägheitsmomente
chung

d (S) Wie schon bei der Rotation des starren Körpers um
ωr2 dm = Ma,z .
dt eine raumfeste Achse ein entsprechendes Trägheitsmo-
(m ) ment eingeführt wurde, können auch bei der allgemeinen
10.3 Kinetik für eine allgemeine ebene Bewegung 233

Impuls- und Drallsatz können bezüglich der Zeit


integriert werden

Technische Mechanik
Werden Impuls- und Drallsatz bezüglich der Zeit inte-
griert, so führt dies auf:

t1 t1
Fx dt = mẍS dt,
t0 t0

t1 t1
Fy dt = mÿS dt,
t0 t0

t1 t1
MS dt = JS ω̇dt.
t0 t0

Die Auswertung der Integrale auf der rechten Seite liefert


die Geschwindigkeitskoordinaten vSx = ẋS , vSy = ẏS und
die Winkelgeschwindigkeit ω, jeweils zu den Zeitpunkten
t0 und t1 . Das Zeitintegral über die Kraft wird ebenso wie
das Produkt von Masse und Geschwindigkeit mvSx oder
mvSy als Impuls bezeichnet und sehr oft z. B. mit

t1
Fdt = F̂
t0

Abb. 10.16 Eine Tänzerin mit ausgetreckten Armen hat ein großes JS . Durch abgekürzt, um nicht ständig bei der Auswertung der
Anziehen der Arme und Beine wird es verringert Gleichungen die Integrale anschreiben zu müssen. Damit
folgt:

ebenen Bewegung eines starren Körpers entsprechende t1


Trägheitswirkungen angegeben werden, sodass die Aus- F̂x = Fx dt = m(vSx1 − vSx0 ), (10.5)
wertung der Gleichungen auf zwei Kräftegleichgewichte t0
und eine Momentenbilanz zurückgeführt werden kann. t1
Dazu werden die Trägheitskräfte F̂y = Fy dt = m(vSy1 − vSy0 ), (10.6)
FTx = −mẍS , t0

FTy = −mÿS t1


M̂S = MS dt = JS (ω1 − ω0 ). (10.7)
sowie das Trägheitsmoment t0

MT,S = −JS ω̇ Wir erkennen, dass sich die Geschwindigkeitskomponen-


ten des Schwerpunktes nicht ändern, wenn die resul-
entgegen der positiven Koordinatenrichtungen einge- tierende Kraft auf den Körper verschwindet. Falls das
führt. Mit diesen ergeben sich dann die Kräfte- und Mo- resultierende Moment bezüglich des Schwerpunktes ver-
mentenbilanzen zu: schwindet, bleiben der Drall JS ω und damit auch die
Winkelgeschwindigkeit konstant.
Fx + FTx = 0,
Fy + FTy = 0, Beispiel Wenn wir im Winter in einer Kurve auf ei-
MS + MT,S = 0. ne Eisfläche kommen, werden die Reibkräfte zwischen
Reifen und Straße sehr klein, sodass sie vernachlässigt
Solche Kräfte- und Momentenbilanzen haben den Vorteil, werden können. Die Geschwindigkeit des Schwerpunktes
dass sie schon in der Statik intensiv angewendet wurden ist daraufhin nach Betrag und Richtung konstant, sodass
und deshalb dem Anwender vertraut sind. das Auto in den Graben fährt. Gleichzeitig dreht sich das
234 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen

Beispiel: Zylinder auf schiefer Ebene


Technische Mechanik

Betrachtet wird ein Zylinder, der sich entlang einer Rollen: Wenn der Zylinder auf der schiefen Ebene ab-
schiefen Ebene nach unten bewegt. Je nach Reibko- rollt, hat er nur noch einen Freiheitsgrad, da die Koor-
effizient μ zwischen Zylinder und Untergrund und dinaten xS und ϕ über die Gleichung
Steigungswinkel α der schiefen Ebene kann dabei Rol-
len oder Gleiten vorliegen. Der Zylinder ist homogen ẋS = R ϕ̇
und hat den Radius R und die Masse m. gekoppelt sind, und so für die Beschleunigungen gilt:
Zunächst führen wir entlang der schiefen Ebene eine
ẍS = R ϕ̈.
Koordinate x und für den Verdrehwinkel die Winkel-
koordinate ϕ ein, wie in der Abbildung dargestellt. Zunächst folgt aus der Momentenbilanz für die Reib-
kraft unter Berücksichtigung von JS = m2 R2 :
φ
JS m m
FR = ϕ̈ = R ϕ̈ = ẍS .
g
S R 2 2
Eingesetzt in die erste Kräftebilanz führt dies zu:
x
2
α ẍS = g sin α,
3
2g
Dann wird der Zylinder freigeschnitten und alle an ϕ̈ = sin α.
3R
ihm wirkenden Kräfte und Momente angetragen. Dies
sind die Gewichtskraft mg, die Normalkraft FN und Die Beschleunigung ist also kleiner als bei einem Mas-
die Reibkraft FR . Falls der Zylinder auf der schiefen senpunkt oder einem Körper, der auf der schiefen
Ebene abrollt, ist die Reibkraft eine Zwangskraft, so- Ebene reibungsfrei hinabgleiten kann. Die zweite Kräf-
dass es im Freischnitt egal ist, welche Richtung sie tebilanz spielt für die Berechnung der Beschleunigung
hat. Im Falle des Gleitens ist die Reibkraft eine ein- keine Rolle. Mit ihr läßt sich jedoch die Normalkraft be-
geprägte Kraft und muss mit der korrekten Richtung stimmen, die wie die Reibkraft ebenfalls eine Zwangs-
(in diesem Fall die schiefe Ebene aufwärts) eingetra- kraft darstellt. Sie beträgt:
gen werden. Zusätzlich werden die Trägheitskraft mẍS FN = mg cos α.
und das Trägheitsmoment JS ϕ̈ entgegen der Richtun-
gen von x und ϕ eingetragen. Zusammen mit der Reibkraft
m 1
JSφ
mxS
FR = ẍS = mg sin α
2 3

S FR kann überprüft werden, ob die Reibkraft innerhalb des


Reibkegels liegt (vergleiche Statik, Abschn. 2.5). Dann
muss
FN
G FR ≤ μ0 FN
erfüllt sein. Eingesetzt folgt:

Kräftebilanzen in Richtung und senkrecht zur schiefen 1


mg sin α ≤ μ0 mg cos α
Ebene sowie eine Momentenbilanz um den Schwer- 3
punkt S ergeben:
oder:
mg sin α − FR − mẍS = 0, tan α ≤ 3μ0 .
FN − mg cos α = 0,
RFR − JS = 0. Gleiten: Falls der Zylinder auf der schiefen Ebene glei-
tet, sind die Koordinaten xS und ϕ unabhängig von-
Dies sind zunächst drei Gleichungen für die vier Un- einander, der Zylinder hat also zwei Freiheitsgrade. In
bekannten FN , FR , xS und ϕ. Es fehlt also noch eine diesem Fall gilt bei Coulomb’scher Reibung:
Gleichung, die sich jedoch in den Fällen Rollen und
Gleiten unterscheidet. FR = μFN = μmg cos α.
10.3 Kinetik für eine allgemeine ebene Bewegung 235

Hier wurde die zuvor schon berechnete Normalkraft Da im Allgemeinen μ0 > μ gilt und im Falle von Glei-
von der Ebene auf den Zylinder eingesetzt. Die erste ten tan α > 3μ0 erfüllt sein muss, ist ẍS > 0. Als Bewe-

Technische Mechanik
Kräftebilanz liefert dann: gungsgleichung für den Winkel ϕ folgt nach Einsetzen
mẍS = mg sin α − μmg cos α der Reibkraft in die Momentenbilanz:

und somit:
g
ẍS = g cos α(tan α − μ). ϕ̈ = 2μ cos α.
R

Auto um seinen Schwerpunkt mit der Winkelgeschwin- ω = ωez


digkeit, die es aufgrund der Kurvenfahrt hatte. 
P dm
Beispiel Ein anderes Beispiel verdeutlicht die Anwen- z
zez
dung von Impuls- und Drallsatz in integraler Form.
Springt ein Stuntman mit einem Auto von einer schiefen ez rer

Ebene ab, so hat das Auto zunächst eine Geschwindig- er
keit, aber keine Winkelgeschwindigkeit, soweit die schie- A
fe Ebene wirklich eben ist. Nachdem die Vorderachse die
schiefe Ebene verlassen hat, führt die Kraft der Hinter-
achse zu einem Moment bezüglich des Schwerpunktes. Abb. 10.17 Aufteilung des Relativvektors r AP in einen Anteil in der Bewe-
Dieses Moment wirkt, bis die Hinterachse ebenfalls die gungsebene und einen Anteil senkrecht dazu
schiefe Ebene verlässt. Das Auto hat also nach Verlassen
der Rampe die Winkelgeschwindigkeit
M̂S Der Vektor vom Bezugspunkt A auf dem Körper zum
ωEnde = ,
JS Massenelement kann aufgeteilt werden in eine Kompo-
wobei M̂S dem Zeitintegral des Moments entspricht, so- nente zez in Richtung der Winkelgeschwindigkeit und
lange nur die Hinterräder mit der schiefen Ebene Kon- in eine Komponente rer = ξeξ + ηeη senkrecht dazu. In
takt haben. Nach Verlassen der Rampe ändert sich zwar Abb. 10.17 ist dies angedeutet, wobei die ebenen, karte-
die Geschwindigkeit, da auf das Auto die Gewichtskraft sischen, körperfesten ξ, η-Koordinatenachsen nicht einge-
wirkt (ähnlich zum schiefen Wurf), bezüglich des Schwer- zeichnet sind, um das Bild übersichtlich zu halten. Für die
punktes wirkt jedoch kein Moment mehr, sodass die Geschwindigkeit v des Massenelementes gilt dann:
Winkelgeschwindigkeit ωEnde sich nicht verändert. Wenn
das Auto sehr tief fällt, beginnt es deshalb sich zu über- v = vA + ωez × (rer + zez ) = vA + ωre ϕ
schlagen.  = vA + ω (−ηeξ + ξeη ).
Große Bedeutung haben die Gleichungen in integraler
Form auch bei Stoßproblemen, auf die später im Detail ein- Die gesamte kinetische Energie erhalten wir durch Inte-
gegangen wird. Im Beispiel: Bei der Bestimmung des Stoß- gration über alle Massenelemente und damit zu:
mittelpunktes, handelt es sich zwar nicht direkt um ein

Stoßproblem zweier Körper, dennoch wird das darin be- 1
Ekin = (vA + ωre ϕ )2 dm
schriebene Problem bei stoßartigen Anwendungen wich- 2
tig. Auf Stöße zwischen zwei Körpern wird später einge- (m )
 
gangen. 1
= v2A dm + vA ω (−ηeξ + ξeη )dm
2
(m ) (m )
Die kinetische Energie des starren Körpers bei 
1
ebener Bewegung setzt sich aus zwei Anteilen + ω 2 r2 dm
2
(m )
zusammen  
1
= v2A dm + vA ω (−ηeξ + ξeη )dm
Um die kinetische Energie des starren Körpers bei ei- 2
ner ebenen Bewegung zu bestimmen, betrachten wir zu- (m ) (m )

nächst ein differenziell kleines Massenelement dm. Des- 1
+ ω2 r2 dm
sen differenzielle kinetische Energie beträgt, wie in Kap. 7 2
gezeigt: (m )
1 1 1
dEkin = v2 dm. = mv2A + vA ω (ez × rAS ) + JS ω 2 .
2 2 2
236 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen

Leitbeispiel Antriebsstrang
Technische Mechanik

Getriebe mit Schwungrad

Das Getriebe besitzt an seinem Eingang ein Dy


Schwungrad, dessen Achse mit einem Zahnrad 1 (Ra- MA
dius r1 ) verbunden ist. Dieses Zahnrad ist im Eingriff
mit dem Zahnrad 2 (Radius r2 = 4r1 ), auf dessen Welle Dx
JAα A
das Zahnrad 3 (Radius r3 ) befestigt ist. Dieses bildet F1
mit dem vierten Zahnrad (Radius r4 = 4r3 ) die zweite
F1
Getriebestufe. Das Gehäuse des Getriebes ist in Ruhe. JZα Z
Das Getriebe ist im Bild dargestellt, und wir er- F2
kennen, dass sich alle Wellen und Zahnräder um
raumfeste Achsen drehen. Winkelgeschwindigkeiten
Bx
von Antriebswelle, Zwischenwelle und Lastwelle sind By
ωA , ωZ , ωL , die alle in derselben Richtung angenom-
men werden. Die Massenträgheitsmomente der Ach-
sen mit Zahnrädern beziehungsweise Schwungrad ML
sind JA , JZ , JL . Am Schwungrad wirkt das Moment MA ,
Cy
an der Lastwelle das Lastmoment ML
JLα L
Cx

Schwungmasse F2

D C
Für die Momentenbilanzen um die Lagerpunkte B, C
ωA MA ωL ML und D erhalten wir:

MA − JA αA − F1 r1 = 0,
B F2 r3 − F1 4r1 − JZ αZ = 0,
ML + F2 4r3 − JL αL = 0.
ωZ
Einsetzen der Kinematik und Elimination der Zwangs-
kräfte ergibt:
MA − JA 16αL F1 4r1 + JZ (−4αL )
F1 = , F2 = ,
r1 r3
M + F2 4r3
Aufgrund der Kinematik gilt: αL = L .
JL
ωZ = −4ωL , ωA = −4ωZ = 16ωL Für die Winkelbeschleunigung der Lastwelle ergibt
und damit: dies:
αL = ω̇L , αZ = −4αL , αA = 16αL . ML + 16MA
αL = ω̇L = .
256JA + 16JZ + JL
Wir zeichnen die Freikörperbilder aller drei Wellen in
der Draufsicht und tragen alle Kräfte und Momente an. Hier wurde das Lastmoment in Richtung von ωL an-
Die Lagerreaktionen sind hier nicht von Interesse, so- genommen, also in positive Drehrichtung. Im Allge-
dass es hier genügt, jeweils eine Momentenbilanz um meinen wirkt das Lastmoment der Drehung entgegen,
den Lagerpunkt aufzustellen. sodass dann ML negativ ist.
10.3 Kinetik für eine allgemeine ebene Bewegung 237

Vertiefung: Lösung der Bewegungsgleichungen

Technische Mechanik
Impuls- und Drallsatz liefern bei einer ebenen Bewe- Als Beispiel wird die nichtlineare Bewegungsglei-
gung für jeden Körper zunächst drei skalare Gleichun- chung des mathematischen Pendels betrachtet. Dieses
gen, die eventuell noch Zwangskräfte oder Zwangs- hat einen Freiheitsgrad, es liegt somit nur eine Bewe-
momente enthalten. Nach deren Elimination ergeben gungsgleichung
sic genauso viele Bewegungsgleichungen wie das Sys-
tem Freiheitsgrade hat. g
ϕ̈ + sin ϕ = f (t)
Die Bewegungsgleichungen selbst sind gewöhnliche l
Differenzialgleichungen, die in Sonderfällen linear, im
Allgemeinen aber nichtlinear sind. Jede Bewegungs- vor. Wir führen die Zustandsvariablen x1 = ϕ und x2 =
gleichung ist dabei zweiter Ordnung. Im Falle linea- ϕ̇ ein. Dies ergibt das Differenzialgleichungssystem
rer Differenzialgleichungen, zum Beispiel bei einem erster Ordnung:
Schwingungssystem mit kleinen Amplituden, können
diese noch analytisch gelöst werden. Im Falle nicht-
ẋ1 = x2 ,
linearer Gleichungen bleibt meist nur noch die Mög-
lichkeit einer näherungsweisen Lösung durch eine so- g
ẋ2 = f (t) − sin x1 .
genannte numerische Integration. Dazu werden die l
Differenzialgleichungen zweiter Ordnung in ein Dif-
ferenzialgleichungssystem erster Ordnung überführt. Allerdings erfordert die numerische Integration die
Dies kann erfolgen, wenn für die ersten Ableitun- Vorgabe aller Anfangsbedingungen für die Zustands-
gen neue Variablen eingeführt werden. Zur Lösung variablen und auch die Vorgabe numerischer Werte
solcher Gleichungen in Zustandsform existieren zahl- aller Systemparameter. In unserem Beispiel sind das
reiche Verfahren, die in Computerprogrammen als Un- die Anfangsbedingungen x1 (t = 0) = ϕ(t = 0), x2 (t =
terprogramme zur Verfügung stehen. 0) = ϕ̇(t = 0) und einen Wert für g/l.

Die kinetische Energie setzt sich also aus Translations-, sodass die Summe aus kinetischer Energie und potenziel-
Rotations- und Koppelenergie zusammen. Ein besonders ler Energie konstant bleibt.
einfaches Ergebnis, das sich auch gut merken läßt, ergibt
sich, wenn wie schon beim Drallsatz der Schwerpunkt als
Bezugspunkt gewählt wird: Beispiel Als Beispiel betrachten wir ein Pendel, das
beim Winkel ϕ = ϕ0 mit der Winkelgeschwindigkeit ϕ̇ =
1 2 1 ω = ω0 losgelassen wird. Das Pendel hat den Schwer-
Ekin = mv + JS ω 2 . punkt in S. Das Pendel hat die Masse m und das Mas-
2 S 2
senträgheitsmoment JS bezüglich einer Achse durch den
Schwerpunkt (Abb. 10.18).
Kinetische Energie des starren Körpers
Die kinetische Energie des starren Körpers hängt A
quadratisch von der Schwerpunktsgeschwindigkeit
und quadratisch von der Winkelgeschwindigkeit ab. l
g

Mit der kinetischen Energie Ekin des starren Körpers kön- φ


nen wir wieder den Arbeitssatz m, JS
S
W = Ekin1 − Ekin0
ω
mit der Arbeit W der äußeren Kräfte und Momente ange-
ben. Für ein konservatives System, für das den Kräften Abb. 10.18 Pendel im Schwerefeld der Erde
und Momenten Potenziale zugeordnet werden können,
ergibt sich mit dem Gesamtpotenzial Epot : Uns interessiert, wie groß die Winkelgeschwindigkeit bei
ϕ = 0 ist und wie groß die Anfangsgeschwindigkeit ω0
Ekin1 + Epot1 = Ekin0 + Epot0 , sein muss, damit das Pendel rotiert und nicht schwingt.
238 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen

Beispiel: Bestimmung des Stoßmittelpunktes


Technische Mechanik

Betrachtet wird ein Pendel, das in Punkt A gelagert ist wie zuvor eingeführt mit
und auf das infolge eines Stoßes eine Kraft F wirkt. Es 
soll die Lage des Punktes A bestimmt werden, sodass F̂ = Fdt
bei gegebenem Angriffspunkt und gegebener Richtung (ΔtS )
der Kraft F die Lagerkräfte möglichst verschwinden.
abgekürzt. Außerdem sind die Geschwindigkeiten des
Das Pendel mit dem Schwerpunkt in S ist in der Abbil- Schwerpunktes mit der Winkelgeschwindigkeit ver-
dung dargestellt. Es liegt nahe, die x-Achse in Richtung knüpft, da das System nur einen Freiheitsgrad hat:
der Kraft anzunehmen und die y-Achse senkrecht dazu.
Die Abstände des Punktes A vom Schwerpunkt S in die- vSxE = ηωE ,
sen Richtungen sind mit ξ und η bezeichnet. Dies sind vSyE = ξωE .
die gesuchten Größen. Gemäß der bei Stoßproblemen
getroffenen Annahme einer kurzen Stoßzeit ändert sich Damit folgt aus der zweiten Impulsbilanz:
die Lage des Pendels während des Stoßes nicht. mξωE = 0.
Dies ist für ωE = 0 nur für ξ = 0 möglich. Aus der ers-
A ten Gleichung ergibt sich entsprechend:
η F̂ = mηωE .
ξ
S Aus der Drallgleichung erhalten wir:
b
F bF̂ = JS ωE .
Eine Kombination der beiden Gleichungen führt auf:
mbηωE = JS ωE
Ein Freischnitt während des Stoßes ist in der zweiten oder:
Abbildung angegeben. Die Gewichtskraft wird ver- JS
nachlässigt. η= .
mb
Dieses Ergebnis können wir anwenden, wenn wir be-
Ay
stimmen wollen, wo eine Billardkugel anzustoßen ist,
sodass sie nach dem Stoß direkt rollt, auch wenn die
Ax Unterlage sehr glatt ist. Dem Bild entnehmen wir, dass
in diesem Fall η = R gilt, das Massenträgheitsmoment
einer Kugel wurde zu JS = 25 mR2 bestimmt.

F
b S
R

Die Impuls- und Drallgleichungen führen auf glatte Unterlage



F + Ax dt = m(vSxE − 0), Lagerpunkt
(ΔtS )

Ay dt = m(vSyE − 0), Damit folgt:
(ΔtS )
 JS 2
mR2 2
Fb − Ax η − Ay ξdt = JS (ωE − 0). b= = 5 = R.
mη mR 5
(ΔtS )
Die Kugel muss also in der Höhe h = 75 R über der Un-
Hierbei wurde angenommen, dass das Pendel am An- terlage angestoßen werden.
fang in Ruhe ist. Die Rechnung vereinfacht sich, wenn
wir an dieser Stelle direkt annehmen, dass die Lager- Ähnliche Anwendungen sind der Gebrauch eines
kräfte Ax und Ay und damit auch die zugehörigen In- Hammers oder eines Tennisschlägers, sodass die Ge-
tegrale verschwinden. Das verbleibende Integral wird lenke möglichst wenig belastet werden.
10.4 Kinetik der allgemeinen Bewegung eines starren Körpers 239

Reibungsverluste in den Lagern sollen vernachlässigt Wenn wir die Energiebilanz für das Pendel einmal nach
werden. Wir führen zunächst für die potenzielle Energie der Zeit differenzieren, dann fallen die konstanten Terme

Technische Mechanik
das Nullniveau am Lager ein. Die potenzielle Energie be- auf der rechten Seite heraus und wir erhalten:
trägt somit:
(ml2 + JS )ω ω̇ + mgl sin ϕω = 0,
Epot = −mgl cos ϕ.
sodass sich nach Kürzen von ϕ̇ = ω die Bewegungsglei-
chung
Die kinetische Energie des Pendels beträgt:
(ml2 + JS ) ϕ̈ + mgl sin ϕ = 0
1 1
Ekin = mv2S + JS ω 2 .
2 2 ergibt, eine nichtlineare Differenzialgleichung für den
Winkel ϕ, die wir auch mit dem Impuls- und/oder Drall-
Mit der Schwerpunktsgeschwindigkeit vS = lω führt dies satz hätten herleiten können. 
auf:

1
Ekin = (ml2 + JS )ω 2 .
2 10.4 Kinetik der allgemeinen
Auf dieses Ergebnis kommen wir auch, wenn wir beach- Bewegung eines starren
ten, dass das Pendel um eine raumfeste Achse durch das
Lager A dreht. Die kinetische Energie beträgt dann: Körpers
1 Bei der Kinetik der allgemeinen räumlichen Bewegung ei-
Ekin = JA ω 2 .
2 nes Körpers wird zunächst wieder ein differenziell kleines
Massenelement betrachtet, woraus dann die Beziehungen
Mit der Steiner’schen Ergänzung JA = JS + ml2 führt dies für den starren Körper durch Integration bestimmt wer-
auf das zuvor berechnete Ergebnis. Die Anwendung des den.
Energiesatzes

Ekin + Epot = Ekin0 + Epot0


Der Impulssatz für den starren Körper hat bei
liefert: einer räumlichen Bewegung dieselbe Form
wie bei der ebenen Bewegung
1 1
(ml2 + JS )ω 2 − mgl cos ϕ = (ml2 + JS )ω02
2 2
− mgl cos ϕ0 . Für die Auswertung des Impulssatzes ergibt sich gegen-
über der ebenen Bewegung keine Änderung. Dieselbe
Die Auflösung nach ω ergibt: Herleitung wie für die Gleichung (10.1) führt auf

2mgl(cos ϕ − cos ϕ0 ) + (ml2 + JS )ω02


mr̈S = maS = ∑ Fa ,
ω2 = .
ml2 + JS wobei m wieder die Gesamtmasse des Körpers, r̈S die
Schwerpunktbeschleunigung und ∑ F a die Summe aller
Für ϕ = 0 erhalten wir: am Körper angreifenden Kräfte sind. Dies erstaunt nicht,
da zur Herleitung von (10.1) an keiner Stelle einging, dass
2mgl(1 − cos ϕ0 ) ω ein Vektor ist, der immer in die selbe Richtung zeigt.
ω 2 ( ϕ = 0) = + ω02 .
ml2 + JS

Das Pendel überschlägt sich, wenn ω ( ϕ = π ) > 0 gilt. Der Drallsatz führt bei einer räumlichen
Dies bedeutet, dass dann
Bewegung des starren Körpers zum
(ml2 + JS )ω02 > 2mgl(1 + cos ϕ0 ) Trägheitstensor
sein muss, also: Um den Drallsatz für den starren Körper
2mgl(1 + cos ϕ0 ) dL(O)
ω02 > . = M (O)
(ml2 + JS ) dt
240 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen

v ey , ez und schreiben die Koordinaten in Matrizen, d. h.:


Technische Mechanik

r
dm ω = ( ωx , ωy , ωz )T ,
rrel rrel = (x, y, z)T .

S Für das doppelte Kreuzprodukt erhalten wir so:


rS
O ⎛ ⎞
(y2 + z2 )ωx − xyωy − xzωz
Abb. 10.19 Vektoren zur Bestimmung des differenziellen Dralls des Massen- rrel × (ω × rrel ) = ⎝ −xyωx + (x2 + z2 )ωy − yzωz ⎠ .
elementes dm −xzωx − yzωy + (x2 + y2 )ωz

Eingesetzt in den Drall folgt:


auszuwerten, wird zunächst der Drall des Körpers L(O) ⎛ ⎞
bezüglich des raumfesten Bezugspunktes O bestimmt. ⎛ ⎞ (y2 + z2 )ωx − xyωy − xzωz dm
Wir erhalten für den differenziellen Drall des Massenele- (S) ⎜ (m) ⎟
Lx ⎜ ⎟
ments dm (Abb. 10.19) ⎜ (S) ⎟ ⎜ −xyωx + (x2 + z2 )ωy − yzωz dm ⎟
⎝ Ly ⎠ = ⎜ ⎟.
⎜ (m ) ⎟
(S)
Lz ⎝ −xzω − yzω + (x2 + y2 )ω dm ⎠
dL(O) = r × vdm. x y z
(m )
Mit den Beziehungen
Die Koordinaten der Winkelgeschwindigkeit sind bei der
r = rS + rrel , Integration über die gesamte Masse des Körpers konstant,
sodass daraus folgt:
v = vS + ω × rrel
⎛ ⎞
folgt so: L(S)
x
⎜ (S) ⎟
 ⎝ Ly ⎠
(S)
L(O) = (rS + rrel ) × (vS + ω × rrel )dm. Lz
⎛ ⎞
(m ) ωx (y2 + z2 )dm − ωy xydm − ωz xzdm
⎜ (m ) (m ) (m ) ⎟
⎜ ⎟
Wir beschränken uns an dieser Stelle auf den einfachen ⎜ − ωx xydm + ωy (x2 + z2 )dm − ωz yzdm ⎟
=⎜ ⎟,
Fall, dass wir als Bezugspunkt O den Punkt des Inerti- ⎜ (m ) (m ) (m ) ⎟
alsystems wählen, der augenblicklich mit dem Schwer- ⎝ −ω xzdm − ω yzdm + ω (x2 + y2 )dm ⎠
x y z
punkt S zusammenfällt. Der Vektor rS verschwindet dann, (m ) (m ) (m )
und wir erhalten:
  was leicht als Matrizenprodukt
L(S) = rrel × vS dm + rrel × (ω × rrel )dm
(m ) (m )
L(S) = I · ω
 
= rrel dm × vS + rrel × (ω × rrel )dm oder
(m ) (m ) ⎛ (S)
⎞ ⎛ ⎞⎛ ⎞
 Lx Jxx Jxy Jxz ωx
⎜ (S) ⎟ ⎝
= rrel × (ω × rrel )dm. ⎝ Ly ⎠ = Jxy Jyy Jyz ⎠ ⎝ ωy ⎠
(m )
(S)
Lz Jxz Jyz Jzz ωz

Das Integral, das verbleibt, kann mithilfe der Vektorrech- mit den Massenträgheitsmomenten
nung so umgeformt werden, dass die Winkelgeschwin- 
digkeit vor das Integral gezogen werden kann. Wir be- Jxx = (y2 + z2 )dm,
schränken uns aber an dieser Stelle auf den einfacheren
Weg, das doppelte Kreuzprodukt zunächst auszuwer- (m )

ten und anschließend die Integration durchzuführen. Wir
Jyy = (x2 + z2 )dm,
müssen dann aber sowohl den Vektor rrel als auch die
Winkelgeschwindigkeit ω bezüglich derselben Basisvek- (m )

toren darstellen. Als Ergebnis ergeben sich somit die
Jzz = (x2 + y2 )dm
Koordinaten des Dralls ebenfalls bezüglich dieser Basis-
vektoren. Wir wählen die körperfesten Basisvektoren ex , (m )
10.4 Kinetik der allgemeinen Bewegung eines starren Körpers 241

und den Deviationsmomenten eine Diagonalmatrix wird:


 ⎛ ⎞

Technische Mechanik
Jxy = − xydm, J11 0 0
I=⎝ 0 J22 0 ⎠
(m )
 0 0 J33
Jxz = − xzdm,
und wir erhalten:
(m )

Jyz = − yzdm L(S) = J11 ω1 k1 + J22 ω2 k2 + J33 ω3 k3 .
(m )
Wenn der Drallvektor in dieser Form in den Drallsatz ein-
gesetzt wird, müssen wir beachten, dass die Einheitsvekto-
formuliert werden kann. Sowohl die Massenträgheitsmo- ren zeitabhängig sind und (9.7) verwendet werden muss,
mente als auch die Deviationsmomente hängen von der um den Drall im Inertialsystem abzuleiten. Dazu führen
Massenverteilung des Körpers ab. Die Matrix wir neben der Trägheitsmatrix noch die Matrizen ω und
⎛ ⎞ M (S) ein, welche die Koordinaten des Winkelgeschwindig-
Jxx Jxy Jxz
keitsvektors und des Moments enthalten. Da die Trägheits-
I = ⎝ Jxy Jyy Jyz ⎠
matrix eines starren Körpers in einem körperfesten Be-
Jxz Jyz Jzz
zugssystem konstant ist, und die Zeitableitung der Winkel-
geschwindigkeit im Inertialsystem gleich der Ableitung im
ist die Trägheitsmatrix, welche die Koordinaten des soge- körperfesten Bezugssystem ist, führt (9.7) auf
nannten Trägheitstensors I bezüglich der Basis ex , ey , ez
enthält. Wenn die Deviationsmomente nicht verschwin-
Iω̇ + ω × (Iω) = M (S)
den und die Winkelgeschwindigkeit nur eine Komponen-
te in Richtung von einem der Einheitsvektoren hat, z. B. oder bei Verwendung von Hauptachsen auf die drei ska-
in Richtung von ez , dann hat der Drall Komponenten in laren Gleichungen
Richtung aller Basisvektoren:
⎛ ⎞ ⎛ ⎞ J11 ω̇1 − (J22 − J33 )ω2 ω3 = M1 ,
(S)
Lx Jxz J22 ω̇2 − (J33 − J11 )ω1 ω3 = M2 ,
⎜ (S) ⎟ ⎝
⎝ Ly ⎠ = Jyz ⎠ ωz .
J33 ω̇3 − (J11 − J22 )ω1 ω2 = M3 .
(S)
Lz Jzz
Dies sind die sogenannten Euler’schen Kreiselgleichun-
Drall und Winkelgeschwindigkeit haben deshalb im All- gen. Wenn der Drall eine andere Richtung als die Winkel-
gemeinen verschiedene Richtungen. geschwindigkeit hat, dann ist der Drall im Inertialsystem
ein konstanter Vektor, wenn alle Momente verschwinden.
Demzufolge ändert sich die Winkelgeschwindigkeit in die-
Trägheitseigenschaften eines Körpers sem Fall. Auf der anderen Seite gibt es Fälle, bei denen
der Winkelgeschwindigkeitsvektor im Inertialsystem kon-
Impuls und Schwerpunktgeschwindigkeit des star- stant ist und der Drallvektor sich um den Winkelgeschwin-
ren Körpers haben dieselbe Richtung, wohingegen digkeitsvektor dreht. Damit ändert sich der Drall ständig,
Drall und Winkelgeschwindigkeit des starren Kör- wozu in den Lagern des Körpers Kräfte oder Momente wir-
pers im Allgemeinen verschiedene Richtungen ha- ken müssen. Im Allgemeinen sind das umlaufende Lager-
ben. Bei der Translation genügt deshalb zur Be- kräfte, die bei Maschinen vermieden werden sollten.
schreibung der Trägheit die Masse m, bei der Ro-
tation wird der Trägheitstensor notwendig, dessen
Koordinaten bezüglich gegebener Richtungen in der Beispiel Als Beispiel betrachten wir das Auswuchten ei-
Trägheitsmatrix mit sechs unabhängigen Elementen nes Reifens. Ein Autoreifen soll bei einer Geradeausfahrt
dargestellt werden können. so beschaffen sein, dass außer dem Anteil der Gewichts-
kraft des Wagens keine Kräfte vom Lager auf den Rei-
fen wirken müssen. Gemäß dem Impulssatz muss der
Schwerpunkt des Reifens eine konstante Geschwindig-
Besonders einfach wird die Trägheitsmatrix, wenn wir die keit haben. Dies ist nur erfüllt, wenn der Schwerpunkt
Richtungen der Einheitsvektoren ex bis ez nicht beliebig auf der Drehachse des Reifens liegt, da er sich sonst auf
wählen, sondern in Richtung der sogenannten Hauptach- einer Kreisbahn um die Drehachse des Reifens bewegt
sen. Die Richtungen der Hauptachsen seien mit k1 , k2 und und dazu ständig in Richtung der Achse beschleunigt
k3 bezeichnet. Bezüglich dieser Hauptachsen verschwin- werden muss. Dies genügt jedoch nicht, denn wenn der
den die Deviationsmomente, sodass die Trägheitsmatrix Schwerpunkt auf der Drehachse liegt, kann der Reifen
242 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen

aufgrund von Fertigungs- und Montageungenauigkeiten ziehung vP = vS + ω × rSP und somit für die kinetische
Deviationsmomente bezüglich der Drehachse haben. Der Energie Ekin nach Integration über alle Massenelemente:
Technische Mechanik

Drallvektor zeigt dann nicht in Richtung des Winkelge- 


1
schwindigkeitsvektors und ändert deshalb ständig die Ekin = v2P dm
Richtung, wozu Momente vom Lager auf den Reifen wir- 2
(m )
ken müssen. Lediglich wenn die Drehachse des Reifens 
1
eine Hauptachse ist, sind Drall und Winkelgeschwindig- = (vS + ω × rSP )2 dm
keit des Reifens gleichgerichtet und keine Momente in 2
(m )
den Lagern notwendig. Beim Auswuchten des Reifens  
muss der Monteur deshalb durch Anbringen von Gewich- 1
= v2S dm + vS · (ω × rSP dm)
ten in zwei verschiedenen Ebenen den Schwerpunkt des 2
(m ) (m )
Reifens auf die Drehachse legen und die Drehachse zur 
Hauptachse machen.  +
1
(ω × rSP )2 dm.
2
Besonders bei Körpern, die eine Eigendrehung um eine (m )
Symmetrieachse aufweisen, ist es unter Umständen güns-
Der mittlere Term verschwindet wegen (m) rSP dm = 0,
tig, den Drall bezüglich einem nicht körperfesten Bezugs-
system Z aufzustellen. Falls dieses Bezugssystem Z durch für den dritten Term ergibt sich mithilfe der Vektorrech-
eine Basis z1 , z2 , z3 beschrieben wird, bei welcher der Ein- nung (hier ohne Beweis):
heitsvektor z3 in Richtung der Symmetrieachse zeigt, hat 
1 1
die Trägheitsmatrix dieselben Koordinaten wie im Falle (ω × rSP )2 dm = ω · L(S) .
2 2
von körperfesten Koordinaten. Die Winkelgeschwindig- (m )
keit des Körpers wird in der Form ω = ω1 z1 + ω2 z2 +
ω3 z3 dargestellt. Hat dieses nicht körperfeste Bezugssys- Für die gesamte kinetische Energie erhalten wir also:
tem Z im Inertialsystem die Winkelgeschwindigkeit Ω = 1 2 1
Ω1 z1 + Ω2 z2 + Ω3 z3 , dann ergibt der Drallsatz: Ekin = mv + ω · L(S) = Ekin,Trans + Ekin,Rot . (10.8)
2 S 2
dZ L(S) Die Rotationsenergie Ekin,Rot beträgt bei allgemeinen Ach-
+ Ω × L(S) = M (S) , sen:
dt
1
und bei einem symmetrischen Kreisel, bei dem die z- Ekin,Rot = (Jxx ωx2 + Jyy ωy2 + Jzz ωz2 )
Achse die Symmetrieachse ist und die Trägheitsmatrix 2
durch + Jxy ωx ωy + Jxz ωx ωz + Jyz ωy ωz .
⎛ ⎞ Sehr einfach wird die Rotationsenergie bei Verwendung
A 0 0
I=⎝ 0 A 0 ⎠ von Hauptachsen:
0 0 B 1
Ekin,Rot = (J11 ω12 + J22 ω22 + J33 ω32 ).
2
gegeben ist, folgen dann die modifizierten Kreiselglei-
chungen: Frage 10.3
Wie setzt sich die kinetische Energie des starren Körpers
Aω̇1 + Ω2 ω3 B − Ω3 ω2 A = M1 , zusammen, wenn als Bezugspunkt A für die Geschwin-
Aω̇2 + Ω3 ω1 A − Ω1 ω3 B = M2 , digkeit nicht der Schwerpunkt S, sondern ein beliebiger
Punkt A verwendet wird?
Bω̇3 + A(Ω1 ω2 − Ω2 ω1 ) = M3 .
Zahlreiche Effekte, die wir bei Kreiseln beobachten kön-
nen, haben den Ursprung im Drallsatz des starren Kör-
pers bei räumlicher Bewegung.
10.5 Stoßprobleme und Systeme
veränderlicher Masse
Kinetische Energie des starren Körpers
Stoßprobleme oder Systeme, bei denen ein Massenstrom
bei räumlicher Bewegung zu einer Beschleunigung führt, treten in Anwendungen
sehr oft auf. Die grundlegenden Annahmen und Model-
Wenn wir zur Bestimmung der kinetischen Energie des le zur Behandlung derartiger Probleme werden in diesem
starren Körpers als Bezugspunkt auf dem starren Kör- Unterkapitel vorgestellt. Dabei muss beachtet werden,
per dessen Schwerpunkt S verwenden, so gilt mit der dass beim Newton’schen Axiom immer dieselbe Masse
Geschwindigkeit des Massenelements am Punkt P die Be- betrachtet werden muss.
10.5 Stoßprobleme und Systeme veränderlicher Masse 243

Leitbeispiel Antriebsstrang

Technische Mechanik
Differenzialgetriebe

Bei einem Differenzialgetriebe soll abgeschätzt wer- bestimmt. Für die Lösung haben wir prinzipiell zwei
den, welche Lagermomente sich für das Ritzel auf- Möglichkeiten. Entweder wir bestimmen die Koordi-
grund der Drehbewegung von Antriebsachse und Rit- naten der Winkelgeschwindigkeit bezüglich der kör-
zel ergeben. perfesten Basis und werten dann den Drallsatz aus,
oder wir nutzen die Symmetrie des Ritzels aus, wo-
Die Trägheitsmatrix bezüglich der Achsen in Richtung
durch die Trägheitsmatrix im x , y , z System dieselbe
ex , ey , ez ist wegen der Symmetrie des Ritzels bezüg-
Form hat wie im körperfesten System. Wir wählen hier
lich der y -Achse durch die zweite Variante und betrachten zunächst die Gera-
⎛ ⎞ deausfahrt. Der Drall beträgt in diesem Fall:
A 0 0
I=⎝ 0 B 0 ⎠
LV,gerade = IωV,gerade
0 0 A

gegeben. und damit:

LV,gerade = AωA ez = AωA ez .


ex′
ωA
ωL Aus dem Drallsatz folgt mit der Summe M V,gerade der
ez′
ey′
ωR Momente auf das Verbindungsritzel:

M V,gerade = Aω̇A ez .
ez
ωE ex In diesem Fall ergeben sich also bei konstanter An-
ey
triebsdrehzahl keine Kreiselmomente. Lagerkräfte tre-
ex′′ ten also nur aufgrund der äußeren Kräfte in den Kon-
ez′′
taktpunkten zwischen den Ritzeln auf.
ey′′ Im Falle des blockierenden Rades ergibt sich für den
Drall:
Wir nehmen an, dass die Antriebswinkelgeschwindig- RA
keit ωA und die Winkelbeschleunigung αA = ω̇A gege- LV,block = AωA ez − B ωA ey .
r
ben sind. Zuvor hatten wir die Winkelgeschwindigkeit
und die Winkelbeschleunigung des Verbindungsritzels Bei der Ableitung dieses Ausdrucks muss beachtet
für eine Geradeausfahrt zu werden, dass das x y z -System mit der Winkelge-
schwindigkeit ω = ωA ez rotiert. Die Zeitableitung im
ωV, gerade = ωA ez , Inertialsystem in den Drallsatz eingesetzt ergibt des-
αV, gerade = ω̇A ez halb:

und für ein blockierendes Rad zu RA R


M V,block = Aω̇A ez − B ω̇A ey + B A ωA
2
ex .
r r
RA
ωV, block = ωA ez − ωA ey ,
r Wir erkennen, dass in diesem Fall selbst bei konstanter
R R Drehzahl sogenannte Kreiselmomente auftreten, die
αV, block = ω̇A ez − A ω̇A ey + A ωA
2
ex
r r von der Lagerung aufgebracht werden müssen.
244 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen

Vertiefung: Nutzung von Computeralgebraprogrammen


Technische Mechanik

Besonders bei räumlichen Problemen ergeben sich meinen sowieso nur noch numerisch gelöst werden
schon bei relativ wenigen Freiheitsgraden komplizierte können, direkt dem Programm zur Verfügung stehen.
Bewegungsgleichungen. Die Umformung der Gleichungen in eine Form, in
der die numerische Integration möglich ist, können
Deshalb wurden zahlreiche Computerprogramme ent-
diese Programme ebenfalls leisten. Die Untersuchung
wickelt, mit deren Hilfe die Bewegungsgleichungen in
von Systemen mit mehreren Körpern, den sogenannten
symbolischer Form hergeleitet werden können. Dies
Mehrkörpersystemen, wird dadurch enorm erleichtert.
hat den Vorteil, dass die Gleichungen, die im Allge-

Die Modellierung von Stoßvorgängen erfordert Berührebene


ω2
die Auswertung von Impuls- und Drallsatz in ω1
integraler Form P
Stoßnormale
v1
Sehr oft treten in der Technik Stoßvorgänge auf, bei denen v2
S1
Körper während eines sehr kleinen Zeitintervalls in Kon-
takt sind. In der Kontaktfläche treten Spannungen auf, die S2
von der Nachgiebigkeit der Körper abhängig sind. Da die
Körper elastisch sind, spielt die Wellenausbreitung in den
Körpern und die Reflexion der Wellen an den Körper- Abb. 10.20 Allgemeine Stoßsituation zweier stoßender Körper
berandungen eine Rolle, sodass die Geschwindigkeiten
und die Winkelgeschwindigkeiten nach dem Stoß neben
den Materialeigenschaften auch von der Form der Kör- änderung des gestoßenen Körpers. Dasselbe können wir
per abhängen können. Da wir uns auf die Modellierung beim Stoß zweier Billardkugeln beobachten. 
von starren Körpern beschränkt haben, führen wir für die
Stoßvorgänge entsprechend vereinfachte Modelle ein und
berücksichtigen Einflüsse von den Materialeigenschaften
Eine allgemeine Stoßsituation ist in Abb. 10.20 dargestellt.
und den Körperformen über eine noch zu definierende
Mit eingezeichnet sind die Stoßnormale und die Berühr-
Stoßzahl.
ebene, die senkrecht aufeinander stehen. Die Schwer-
Als Voraussetzung für die Modellierung nehmen wir an, punkte der Körper sind S1 und S2 . Wir unterscheiden
dass die Kontaktzeit sehr klein ist. Dadurch werden die folgende Fälle: Falls die Geschwindigkeiten der Kontakt-
Kräfte in der Kontaktzone und eventuell in Gelenken und punkte auf einer Geraden liegen, nennen wir dies einen
Lagern sehr groß, sodass nicht stoßrelevante Kräfte wie geraden Stoß, andernfalls einen schiefen Stoß. Wenn die
Gewichtskräfte, Federkräfte, Dämpferkräfte etc. gegen- Stoßnormale durch beide Schwerpunkte geht, sprechen
über den stoßrelevanten Kräften vernachlässigt werden wir von einem zentralen oder zentrischen Stoß, andern-
können. Aufgrund der kurzen Stoßzeit wird angenom- falls von einem exzentrischen Stoß.
men, dass sich die Lage und die Orientierung der Körper
während des Stoßes nicht ändern. Ein Stoß führt des- Im Folgenden beschränken wir uns auf ebene Stoßpro-
halb zu sprungartigen Geschwindigkeitsänderungen. Die bleme, sodass die Geschwindigkeiten der Schwerpunkte
Auswirkung der Verformung der Körper auf die Bewe- jeweils zwei Komponenten haben, die im Allgemeinen
gung des Schwerpunktes wird in unserem Modell ver- vor dem Stoß bekannt sind. Hinzu kommen die Winkel-
nachlässigt. Deshalb ändert sich die potenzielle Energie geschwindigkeiten, die bei ebenen Bewegungen nur eine
des Systems während des Stoßes nicht. Änderungen der Komponente senkrecht zur Bewegungsebene haben. Wir
mechanischen Energie infolge des Stoßes beziehen sich bezeichnen die Größen von Körper 1 beziehungsweise
deshalb auf die Änderung der kinetischen Energie. Diese Körper 2 mit entsprechenden Indizes. Ein Freikörperbild
hängt im Wesentlichen von den Geschwindigkeiten und während des Stoßes zeigt Abb. 10.21.
den Winkelgeschwindigkeiten der Körper ab.
Zunächst ergibt eine Auswertung von Impuls- und Drall-
satz in integraler Form für jeden Körper drei Gleichungen.
Beispiel Wenn wir mit dem Hammer ein Bauteil an- Wir führen die x-Achse in Richtung der Stoßnormalen ein
stoßen, führt dies zu einer plötzlichen Geschwindigkeits- und die y-Achse senkrecht dazu. Die Gleichungen (10.5)
10.5 Stoßprobleme und Systeme veränderlicher Masse 245

bis (10.7) ergeben dann: Tab. 10.1 Typische Stoßzahlen für verschiedene Materialpaarungen
 Materialpaarung Stahl/Stahl Glas/Glas

Technische Mechanik
−F̂x = −Fx dt = m1 (vS1 xE − vS1 xA ), Stoßzahl 0,56 0,94
ΔtS

−F̂y = −Fy dt = m1 (vS1 yE − vS1 yA ), formuliert werden kann. Mit den Geschwindigkeiten vP1
ΔtS und vP2 der kontaktierenden Punkte in Richtung der Stoß-
 normalen gilt für die Stoßzahl ε:
b1 F̂ = b1 Fdt = JS1 (ω1E − ω1A )
ΔtS vP2E − vP1E
ε=− .
vP2A − vP1A
für Körper 1 und
 Die Stoßzahl ε entspricht also dem Verhältnis der relativen
F̂x = Fx dt = m2 (vS2 xE − vS2 xA ), Trenngeschwindigkeit und der relativen Annäherungsge-
ΔtS schwindigkeit. Damit  positiv ist, wurde noch das nega-
 tive Vorzeichen eingeführt. Die Stoßzahl liegt mit dieser
F̂y = Fy dt = m2 (vS2 yE − vS2 yA ), Definition zwischen 0 und 1. Sie ist wie oben erwähnt von
ΔtS den Materialien der Körper und deren Form abhängig.
 Falls Massenpunkte untersucht werden, ist deren Aus-
−b2 F̂ = −b2 Fdt = JS2 (ω2E − ω2A ) dehnung vernachlässigbar, und die Stoßzahl hängt nur
ΔtS noch von den Materialien ab. Typische Werte sind in
Tab. 10.1 angegeben.
für Körper 2. Hierin bezeichnen Größen mit Index E Ge-
schwindigkeiten und Winkelgeschwindigkeiten am Ende Mit den beiden Zusatzbedingungen liegen acht Gleichun-
des Stoßes und Größen mit Index A diejenigen am An- gen vor, sodass alle Unbekannten bestimmt werden kön-
fang direkt vor dem Stoß. Wenn wir annehmen, dass nen.
die Geschwindigkeiten und die Winkelgeschwindigkei-
Um einige grundlegende Aussagen treffen zu können,
ten direkt vor dem Stoß bekannt sind, dann sind die vier
betrachten wir im Folgenden zwei Massenpunkte, die
Komponenten der Geschwindigkeiten und die zwei Win-
aufeinander stoßen, und wir nehmen an, dass ein zen-
kelgeschwindigkeiten
 sowie die zwei Kraftkomponenten
traler Stoß vorliegt, sodass nur noch die Geschwindig-
(für F gilt F = F2x + F2y ) unbekannt. Dies sind 8 Un- keitskomponenten in Stoßrichtung von Interesse sind.
bekannte, wofür nur sechs Gleichungen zur Verfügung Dementsprechend bezeichnen wir die Geschwindigkei-
stehen. Dies bedeutet, dass wir noch zwei weitere Annah- ten vor (am Anfang) und nach dem Stoß (am Ende) mit
men oder kinematische Zusammenhänge benötigen. Dies vA1 , vA2 , vE1 , vE2 . Die Massenpunkte m1 und m2 sind in
muss auch so sein, da ja sonst kein Einfluss des Materials Abb. 10.22 vor (a), während (b) und nach dem Stoß (c)
auf den Stoß möglich wäre. Eine Möglichkeit besteht zum dargestellt. Abbildung 10.23 zeigt ein Freikörperbild der
Beispiel darin, einen glatten Stoß anzunehmen, sodass Massenpunkte während des Stoßes. Die Impulsbilanzen
die Kontaktkraft keine Komponente in y-Richtung hat. In
Normalenrichtung wird sehr oft eine sogenannte Stoßzahl
eingeführt, mit deren Hilfe eine kinematische Bedingung a vor dem Stoß
vA1 vA2

Fy m1 m2

F
b während des Stoßes
Fx
Fx
b1
F
Fy m1 m
2

S1 b2
c nach dem Stoß
vE1 vE2

S2 m1 m2

Abb. 10.21 Freikörperbild während des Stoßes Abb. 10.22 Zwei Massenpunkte vor (a), während (b) und nach dem Stoß (c)
246 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen

F(t ) F(t) Vollplastischer Stoß: Beim vollplastischen Stoß ist die Ge-
schwindigkeit der Massenpunkte direkt nach dem Stoß
Technische Mechanik

m1 m2 gleich. Für die Stoßzahl gilt ε = 0. Somit ergibt sich für


die Geschwindigkeit nach dem Stoß:
Abb. 10.23 Freikörperbild während des Stoßes
m1 vA1 + m2 vA2
vE1 = vE2 = vE = ,
m1 + m2
in integraler Form ergeben:
und der Verlust an mechanischer Energie beträgt:
−F̂ = m1 (vE1 − vA1 ),
1 m1 m2
F̂ = m2 (vE2 − vA2 ). ΔEkin = (vA1 − vA2 )2 .
2 m1 + m2

Eine Addition beider Gleichungen ergibt mit


Vollelastischer Stoß: Für den vollelastischen Stoß gilt
ε = 1. Einsetzen in die Gleichungen für die Geschwindig-
m1 vE1 + m2 vE2 = m1 vA1 + m2 vA2
keiten am Ende des Stoßes ergibt:
eine Beziehung, die wir auch aus dem Schwerpunktsatz 2m2 vA2 + (m1 − m2 )vA1
hätten herleiten können, da die Stoßkraft eine innere Kraft vE1 = ,
für das aus beiden Massenpunkten bestehende System ist. m1 + m2
Zusammen mit der Stoßzahlgleichung 2m1 vA1 + (m2 − m1 )vA2
vE2 = .
m1 + m2
ε(vA1 − vA2 ) = vE2 − vE1
Da die mechanische Energie erhalten bleibt, gilt zusätz-
liegen zwei Gleichungen für die Unbekannten vE1 und vE2 lich:
vor. Die Lösung dieser Gleichungen ergibt:
ΔEkin = 0.
m1 vA1 + m2 vA2 − εm2 (vA1 − vA2 )
vE1 = , Wenn wir weiterhin annehmen, dass beide Massenpunk-
m1 + m2 te dieselbe Masse m1 = m2 = m haben, dann vereinfachen
m v + m2 vA2 + εm1 (vA1 − vA2 ) sich die Beziehungen für die Geschwindigkeiten weiter,
vE2 = 1 A1 .
m1 + m2 und wir erhalten das einfache Ergebnis:

Bei der Modellierung des Stoßes haben wir angenom- vE1 = vA2 ,
men, dass sich die Lage während des Stoßes nicht ändert, vE2 = vA1 .
sodass bei einer Energiebilanz lediglich die kinetischen
Energien vor und nach dem Stoß betrachtet werden müs- Im Fall gleicher Massen tauschen die Massenpunkte beim
sen. Für die Differenz ΔEkin der kinetischen Energie erhal- vollelastischen Stoß die Geschwindigkeiten aus. Ähnli-
ten wir aus ches können wir bei Billardkugeln beobachten, wenn sie
ohne sich zu drehen aufeinanderstoßen.
1 1 1 1
ΔEkin = m1 v2A1 + m2 v2A2 − m1 v2E1 − m2 v2E2
2 2 2 2

nach Einsetzen der Geschwindigkeiten nach dem Stoß: Bei Systemen mit veränderlicher Masse
ist die Relativgeschwindigkeit der ein- oder
1 − ε 2 m1 m2
ΔEkin = (vA1 − vA2 )2 . ausströmenden Masse wichtig
2 m1 + m2

Wir erkennen, dass der Verlust an kinetischer Energie für Aus Erfahrung wissen wir, dass ein aufgeblasener Luft-
ε = 1 verschwindet. Dieser Fall entspricht dem vollelas- ballon durch den Raum fliegt, wenn die Luft aus ihm
tischen Stoß, bei dem die mechanische Energie erhalten entweicht. Der Effekt der austretenden Luft ist derselbe
bleibt. Der Verlust an mechanischer Energie wird maxi- wie derjenige zum Antrieb einer Rakete. Aber auch beim
mal für ε = 0. In diesem Fall ist die relative Trennge- Strahltriebwerk eines Flugzeuges oder bei einem Jetski
schwindigkeit null, er entspricht also dem vollplastischen tritt auf der einen Seite ein konstanter Massenstrom in
Stoß, bei dem die beiden Massenpunkte nach dem Stoß das Triebwerk ein, während auf der anderen Seite ein kon-
die selbe Geschwindigkeit haben. Im Folgenden betrach- stanter Massenstrom ausströmt. Wir behandeln diese Sys-
ten wir diese Sonderfälle genauer. teme im Folgenden als Systeme mit veränderlicher Masse.
10.5 Stoßprobleme und Systeme veränderlicher Masse 247

Beispiel: Antrieb einer Rakete

Technische Mechanik
Eine Rakete stößt Verbrennungsgase mit großer Ge- vrel = –vD
schwindigkeit nach hinten aus, wodurch ein Schub m
m = –μ
nach vorne entsteht. Dabei verringert sich die Masse v
der Rakete stetig mit dem Massenstrom ṁ < 0. Beim
Start der Rakete muss dieser Schub die Gewichtskraft
übersteigen, damit die Rakete überhaupt abhebt. Der Da keine sonstigen Kräfte auf die Rakete wirken, ergibt
Einfachheit halber betrachten wir in diesem Beispiel die Grundgleichung für massenveränderliche Systeme:
den Fall, dass sich die Rakete im Weltraum befindet
ṁvrel = (−μ)(−vD ) = μvD
und zum Zeitpunkt der Zündung des Triebwerks t = 0
keine Geschwindigkeit hat. Der Massenstrom durch dv
= m(t)a = m(t)v̇ = m(t) .
das Raketentriebwerk ṁ = −μ sei konstant, wobei die dt
austretenden Gase nach der Düse eine Geschwindig-
Wenn wir annehmen, dass die Masse sich am Anfang
keit vD relativ zur Rakete nach hinten haben.
aus der Masse mSt der Struktur inklusive der Nutzlast
Die Rakete hat während ihres Fluges die Geschwindig- und aus der Treibstoffmasse mTr zusammensetzt, dann
keit v(t). Der Massenstrom ṁ = −μ ist negativ, da die gilt für die Masse zum Zeitpunkt t:
Masse abnimmt. Die Relativgeschwindigkeit der aus-
strömenden Gase ist mit vrel = −vD ebenfalls negativ. m(t) = mSt + mTr − μt.
Aus der Bewegungsgleichung folgt somit:
dv μvD
=
dt mSt + mTr − μt
oder nach Trennung der Veränderlichen:
vD dt
dv = mSt +mTr .
μ −t

Die Lösung ergibt:


 
mSt + mTr
v(t) = −vD ln −t +K
μ
mit der noch zu bestimmenden Integrationskonstanten
K. Die Integrationskonstante kann aus der Anfangsbe-
dingung v(t = 0) = 0 zu
 
mSt + mTr
K = vD ln
μ
bestimmt werden, sodass als Gesamtlösung
    
mSt + mTr mSt + mTr
v(t) = vD ln − ln −t
μ μ
 
mSt + mTr
= vD ln
mSt + mTr − μt
folgt. Nachdem der gesamte Treibstoff nach der Brenn-
dauer T verbrannt ist, gilt wegen mTr = μT:
   
mSt + mTr m
v(T ) = vD ln = vD ln 1 + Tr ,
mSt mSt
sodass bei genügend großer Treibstoffmenge v(T ) >
vD erreicht werden kann.
248 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen

Beispiel: Schub eines Jetantriebes


Technische Mechanik

Bei einem Jetantrieb tritt Luft in das Triebwerk ein, ver- zum Flugzeug nach hinten gerichtet ist und den Betrag
brennt dort zum Teil mit dem Kerosin und verlässt das vD hat. Somit ergibt sich vrel,ab = −vD . Zu- und abflie-
Triebwerk mit einer großen Geschwindigkeit wieder, ßende Massenströme sind aufgrund der Vernachlässi-
wobei im Allgemeinen nur ein kleiner Teil der Luft gung des Kerosins betragsmäßig gleich, woraus ṁzu =
durch den Brennraum strömt, der größere Teil fließt μ und ṁab = −μ folgen. Eingesetzt in die Grundglei-
um den Brennraum herum. Im Vergleich zum Massen- chung für massenveränderliche Systeme folgt unter
strom der durch das Triebwerk strömenden Luft kann Berücksichtigung der Widerstandskraft W:
der Massenstrom des verbrannten Kerosins vernach-
lässigt werden. dv
−W + ṁzu vrel,zu + ṁab vrel,ab = m
dt
Wie man in der Abbildung erkennen kann, handelt
es sich beim Flugzeugtriebwerk um ein System mit beziehungsweise:
Massenzu- und Massenabfuhr. dv
−W + (−μ)(−vD ) + μ(−v) = m
dt
oder:
mab = –μ W mzu = μ dv
− W + μ ( vD − v ) = m .
vrel, ab = –vD vrel, zu = –v dt
m
Für die Schubkraft S des Triebwerks folgt somit:
v
S = μ ( vD − v ) ,

Die Relativgeschwindigkeit der einströmenden Luft und wir erkennen, dass die Schubkraft nur für vD > v
entspricht gerade der Geschwindigkeit des Flugzeugs, positiv ist, sodass v = vD die maximale Geschwindig-
allerdings strömt die Luft dem Flugzeug entgegen, keit des Flugzeuges ist, die bei einem Horizontalflug
sodass vrel,zu = −v gilt. Für die Geschwindigkeit der erreicht werden kann, selbst wenn die Widerstands-
ausströmenden Luft nehmen wir an, dass sie relativ kraft W verschwindet.

Dabei müssen wir beachten, dass das Newton’sche Axi- mal darauf hingewiesen, dass sich die Masse m aufgrund
om nur gilt, wenn dabei stets die gleiche Masse betrachtet des Massenstromes ständig ändert und deshalb m = m(t)
wird. Deshalb nehmen wir zunächst an, dass ein kon- gilt. Während des Zeitintervalls dt stößt das Massen-
stanter Massenstrom ṁ zufließt, sodass die Masse des element dm auf die Masse m und bewegt sich danach
sich nur translatorisch bewegenden Körpers ständig zu- mit ihr fort. Es handelt sich also um einen vollplasti-
nimmt. Während eines differenziell kleinen Zeitintervalls schen Stoß, wobei die Stoßkraft S aufgrund des stetigen
dt erhöht sich deshalb die Masse um dm = ṁdt. Damit die Massenstromes während dt konstant ist (Abb. 10.25). In
Masse dm den Körper erreicht, muss deren Geschwindig- dieser Abbildung ist die Resultierende der am Körper
keit v0 größer sein als die momentante Geschwindigkeit v in Richtung des Stoßes auftretenden äußeren Kräfte mit
des Körpers (Abb. 10.24). An dieser Stelle wird noch ein- F bezeichnet. Beispiele hierfür sind Gewichtskräfte oder
Reibungs- und Widerstandskräfte. Eine Auswertung der
Impulsbilanz in integraler Form über das Zeitintervall dt
m(t) ergibt für das Massenelement:
dm F

v0 > v −Sdt = dm(v + dv) − dmv0 .


v
m + dm
F
m
dm S S F
v + dv

Abb. 10.24 Die Massen vor und nach dem plastischen Stoß zwischen dm und Abb. 10.25 Kräfte auf das Massenelement dm und auf die zeitveränderliche
m (t ) Masse m (t )
Antworten zu den Verständnisfragen 249

Da das Produkt dmdv von quadratischer Ordnung ist, bei der Relativgeschwindigkeit sind unterschiedliche Fäl-
kann es gegenüber den Gliedern erster Ordnung vernach- le möglich. Für v0 > v ist vrel > 0, wenn v0 < v ist, dann

Technische Mechanik
lässigt werden und wir erhalten: ist auch vrel < 0. In einem Strahlantrieb entspricht die vor-
ne einströmende Luft einer Massenzufuhr, allerdings mit
−Sdt = (v − v0 )dm negativer Relativgeschwindigkeit, wohingegen die aus-
strömende Luft einer Massenabfuhr ṁ < 0 entspricht mit
oder:
ebenfalls negativer Relativgeschwindigkeit. Wir kommen
dm darauf in einem Beispiel zurück.
S = ( v0 − v ) = (v0 − v)ṁ.
dt
Falls zu- oder abströmende Massen in verschiedenen
Die Relativgeschwindigkeit vrel = v0 − v der Masseteil- Raumrichtungen auftreten, muss die oben skalar her-
chen gegenüber dem Körper ist dabei positiv, da v0 > v geleitete Gleichung für die jeweiligen Raumrichtungen
gilt. Wir bezeichnen die Kraft S im Folgenden als Schub. angewandt werden. Im Falle starrer Körper sind die
Die Auswertung des Impulssatzes für m(t) ergibt: Schubkräfte auch in den Momentenbilanzen zu berück-
sichtigen.
(F + S)dt = m(t)(v + dv) − m(t)v = m(t)dv
Da wir Systeme mit veränderlicher Masse über plasti-
oder: sche Stöße hergeleitet haben, bei denen wie zuvor gezeigt
mechanische Energie dissipiert wird, muss den Masseteil-
dv
F + S = m ( t) = m ( t) a chen hier die entsprechende Energie zugeführt werden,
dt damit diese sich beim Strahlantrieb mit großer Geschwin-
digkeit vom Körper wegbewegen. Dazu muss die Energie
mit der Beschleunigung a in Richtung der Bewegung.
im Triebwerk letztendlich aufgebracht werden.
Nach Einsetzen von S folgt daraus die Grundgleichung
für Systeme mit veränderlicher Masse:

F + ṁvrel = m(t)a. Weiterführende Literatur


Hierbei müssen wir beachten, dass sowohl Massenzufuhr Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils
ṁ > 0 wie auch Massenabfuhr ṁ < 0 möglich ist. Auch Technische Mechanik befindet sich am Ende von Kap. 9.

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 10.1 m 2
12 l . Antwort 10.3 Ekin = 12 mv2A + mvA · (ω × rAS ) + 12 ω · L(A) .
Es tritt also neben Translations- und Rotationsenergie
Antwort 10.2 Eben 2, räumlich 3. noch eine sogenannte Koppelenergie auf.
250 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen
Technische Mechanik

Aufgaben

Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.

Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

10.1 • Der Faden eines Jo-Jo wird festgehalten, wäh- Resultat: 


rend das Jo-Jo nach unten beschleunigt. 4gh
ϕ̇ =
11R2
Faden
10.3 •• Eine homogene Walze wird am oberen Punkt
bei A aus der Ruhe losgelassen und rollt auf einer kreis-
förmigen Unterlage ab. Die Unterlage hat den Radius R,
3R die Walze den Radius r.
R
ψ

A
m
g r
φ
Wie groß ist die Beschleunigung des Schwerpunktes, wenn R
der Radius der Walze, auf dem der Faden aufgewickelt ist,
R beträgt und das Jo-Jo selbst als homogene Scheibe der
Masse m mit Radius 3R betrachtet werden kann?

Hinweis: Zwischen der Winkelgeschwindigkeit und der Bei welchem Winkel ϕ hebt die Walze von der Unterlage
Schwerpunktgeschwindigkeit besteht ein kinematischer ab?
Zusammenhang.
Hinweis: Beim Abheben wird die Normalkraft zwischen
Resultat: Walze und Unterlage null.
2
ẍ = g
11 Resultat:
4
cos ϕ = , ϕ = 55,15◦
7
10.2 • Mithilfe des Energiesatzes bestimme man die
Winkelgeschwindigkeit eines Jo-Jos, das aus der Ruhe los- 10.4 • • • Zwei Bälle werden wie abgebildet aus einer
gelassen wird, und sich um h nach unten bewegt. Höhe h losgelassen.
m1
Faden
m2

h
3R
R g
h

Das Jo-Jo kann als homogene Scheibe mit Masse m und


Radius 3R betrachtet werden. Der Radius der Walze, auf Es gilt m1 < m2 . Wir nehmen an, dass zunächst der untere
die der Faden aufgewickelt ist, beträgt R. Ball auf die Unterlage stößt und dann nach dem Rück-
prall auf den zweiten Ball. Für beide Stöße liegt dieselbe
Hinweis: Drehbewegung und Translation sind gekoppelt. Stoßzahl vor. Wie hoch steigt der zweite Ball, wenn die
Aufgaben 251

Stoßzahl für beide Stöße ε = 1 ist? Wie groß muss die die Winkelbeschleunigung? Das Jo-Jo kann als homogene
Stoßzahl mindestens sein, dass der obere Ball mindestens Scheibe mit Masse m und Radius 3R betrachtet werden.

Technische Mechanik
auf die ursprüngliche Höhe steigt? Der Radius der Walze, auf die der Faden aufgewickelt ist,
beträgt r. Wie groß ist die Kraft im Faden, wenn der Faden
Hinweis: Verwenden Sie die im Text angegebenen For- nicht nach oben gezogen wird, sondern nur festgehalten
meln. wird?
Resultat:   Faden
m1 − 3m2 2
hnach = h,
m1 + m2

m
ε min = 2 + 2 1 − 1. 3R
m2 r

10.5 •• Zwei Entwürfe von Windrädern, ein zweiflü-


geliges und ein dreiflügeliches, sollen untersucht werden. m

y y Resultat: Schwerpunkt fix:


F = mg
Faden festgehalten:
9R2
F = mg
+ 9R2
2r2
z
z 10.7 • Der Faden des Jo-Jos wird festgehalten. Der
x x Schwerpunkt bewegt sich momentan mit der Geschwin-
digkeit v nach oben.

Faden

3R
r
Wie groß sind die Massenträgheitsmomente der zwei
Windräder bezüglich der Koordinatenachsen durch die
Nabe? Wie sehen die Trägheitsmatrizen für diese Koor-
dinatenrichtungen aus? Die einzelnen Flügel können als m
dünne Stäbe der Masse m und der Länge l angenommen
werden. Wie hoch steigt das Jo-Jo bis es zur Ruhe kommt?
Hinweis: Drehbewegung und Translation sind gekoppelt.
Hinweis: Integrieren Sie eventuell entlang der Stabachsen.
Resultat:  
Resultat: Entwurf 1: 1 9R2 v2
⎛2 2
⎞ h= + 2
3 ml 0 0 2 4r g
I=⎝ 0 0 0 ⎠
0 0 2
3 ml2 10.8 •• Ein Auto (Masse m, Massenträgheitsmoment
JS um eine Achse senkrecht durch den Schwerpunkt S)
Entwurf 2: soll während einer Kurvenfahrt (Radius R) von der Ge-
⎛ ⎞
ml2 schwindigkeit v1 auf die Geschwindigkeit v2 beschleunigt
0 0
⎜ 2 ⎟
I=⎝ 0 ml2
0 ⎠ werden. Wie groß muss die Leistung des Autos sein,
2 wenn dies während der Zeit T erfolgen soll?
0 0 ml2
Hinweis: Geschwindigkeit und Winkelgeschwindigkeit
10.6 • Beim abgebildeten Jo-Jo wird der Faden nach sind gekoppelt.
oben bewegt. Resultat:  
1 J v22 − v21
Wie groß muss die Kraft im Faden des Jo-Jos sein, damit P= m + S2 .
sich der Schwerpunkt nicht bewegt? Wie groß ist dann 2 R T
252 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen

10.9 • • • Das abgebildete System dient als Modell ei- 10.11 • • • Ein Massenpunkt m stößt mit der Geschwin-
nes Überkopfpendels. Es besteht aus einem Wagen, der digkeit v mittig auf eine Platte (Masse M, Massenträg-
Technische Mechanik

sich horizontal bewegt und der mit einer Kraft F ange- heitsmoment JS bezüglich des Schwerpunktes). Ein Ende
trieben wird. An ihm ist ein dünner Stab der Länge l und der Platte wird so geführt, dass es sich nur vertikal bewe-
Masse mS drehbar angebracht. Der Wagen selbst hat die gen kann. Der Stoß verläuft glatt.
Masse mW . Zwischen Stab und Wagen ist ein Drehdämp-
fer mit der Dämpferkonstanten kD angebracht. m

v
mS, JS
y
a
l
2 S 45°
S2
φ
kD ω a M, JS
l
mW 2

S1 F(t) x

x y

Die Koordinaten zur Beschreibung des Systems sind die Wie groß sind die Geschwindigkeit von Massenpunkt
Verschiebung x für den Wagen und der Winkel ϕ zwi- und Plattenschwerpunkt sowie die Winkelgeschwindig-
schen der Vertikalen und dem Stab. Wie lauten die zwei keit der Platte nach dem Stoß? Was ergibt sich für die
Bewegungsgleichungen für die Bewegung von Wagen Grenzfälle vollplastischer oder vollelastischer Stoß?
und Stab? Hinweis: Zeigen Sie zunächst, dass das Massenträgheits-
Hinweis: Zuerst ist zweckmäßigerweise die Beschleuni- moment der Platte JS = 16 Ma2 beträgt.
gung des Stabschwerpunktes zu bestimmen. Wählen Sie Resultat:
geschickt gewählte Kräfte- und Momentenbilanzen. 5m + 4εM 5 (1 + ε )m
Vm = v, VMx = v,
5m − 4M 5m − 4M
Resultat:
l l (1 + ε )m 6 (1 + ε )m
(mS + mW )ẍ + mS ϕ̈ cos ϕ − mS ϕ̇2 sin ϕ = F(t), VMy = v, ωE = − v.
2 2 5m − 4M (5m − 4M)
1 l l
mS l ϕ̈ + mS cos ϕẍ + kD ϕ̇ − mS g sin ϕ = 0.
2
10.12 •• Mithilfe eines ballistischen Pendels soll die
3 2 2
Geschwindigkeit eines Geschosses bestimmt werden. Da-
10.10 •• Eine Billardkugel stößt ohne sich zu drehen zu wird das Geschoß auf das Pendel geschossen und
unter einem Winkel von 30◦ auf eine zweite Billardkugel bleibt dort stecken.
gleicher Masse. Der Stoß verläuft glatt. Das Pendel hat die Masse M und den Schwerpunkt in S.
Der Schwerpunkt hat den Abstand l vom Lager, das Ge-
y schoß trifft das Pendel im Abstand b vom Lager. Nach
30° dem Stoß schwingt das Pendel, dessen Dämpfung ver-
nachlässigt werden kann, bis zum Winkel ϕ = ϕ0 . Wie
v x groß ist die Geschwindigkeit v des Geschosses vor dem
Stoß bei gemessenem ϕ0 ?
Wie groß sind die Geschwindigkeitskomponenten der
Kugeln nach dem Stoß?

Hinweis: Führen Sie Koordinatenachsen in Richtung der


Stoßnormalen und senkrecht dazu ein.
l
φ0
b
Resultat: √
1 3
v1x,nach = (5 − 3ε)v1 , v1y,nach = −(1 + ε) v1 , S
8 8 m0

3 3 M
v2x,nach = ( 1 + ε ) v1 , v2y,nach = ( 1 + ε ) v1 . v
8 8
Aufgaben 253

Hinweis: Der Energiesatz gilt erst nach dem Stoß.

Technische Mechanik
Resultat:

2(Mgl + m0 gb)(1 − cos ϕ0 )(JS + Ml2 + m0 b2 )
v= .
m20 b2

10.13 •• Ein Auto (Masse m1 ) stößt mit der Geschwin-


digkeit v auf ein stehendes Auto (Masse m2 ), wobei der
Stoß plastisch verläuft. Wie groß ist die Stoßkraft während
des Stoßes, wenn diese als konstant über die Stoßzeit an-
genommen wird und die Knautschzone von beiden Autos
zusammen sK beträgt? Vergleichen Sie die Werte, die sich
ergeben für v = 50 km/h, m1 = 1000 kg, m2 = 1200 kg
und sK = 0,2 m, beziehungsweise sK = 1 m.

Hinweis: Beide Autos werden während des Stoßes mit


einer konstanten Beschleunigung verzögert beziehungs-
weise beschleunigt.

Resultat: Knautschzone sK = 0,2 m: F = 263 kN


Knautschzone sK = 1 m: F = 52,6 kN

10.14 •• Ein hantelförmiger Körper stößt wie abge-


bildet im Abstand l vom Schwerpunkt auf eine glatte
Unterlage.

m, JS
v

umstürzender Kamin
l

Wie groß sind Schwerpunktsgeschwindigkeit und Win-


kelgeschwindigkeit nach dem Stoß, wenn sich die Hantel g
vor dem Stoß mit der Geschwindigkeit v ohne sich zu dre-
hen bewegt. Die Stoßzahl für den Stoß ist mit ε gegeben.
Die Hantel hat die Masse m und das Massenträgheitsmo-
ment JS bezüglich dem Schwerpunkt.
An welcher Stelle entlang des Kamins ist das Biegemo-
Hinweis: Stellen Sie die Impulsbilanzen um den Schwer-
ment am größten, so dass er an dieser Stelle eventuell
punkt auf.
brechen wird? Der Kamin kann als homogener Stab der
Resultat: Länge l und Masse m angenommen werden.
lm(1 + ε)
Ω= v, Hinweis: Die Längskraft aufgrund von Fliehkräften wird
ml2 + JS vernachlässigt.
ml2 − εJS
V= v. Resultat: x = l
ml2 + JS 3

10.16 •• Ein Frisbee ist eine Jahrmarktattraktion, bei


10.15 • • • Beim Sprengen eines Kamins kann angenom- der sich eine Stange der Länge l ähnlich einem Pendel um
men werden, dass er sich nach der Sprengung wie ein Stab eine horizontale Achse dreht. Am Ende der Stange ist ei-
um sein unteres Ende bewegt. ne Scheibe mit Radius R angebracht, die sich bezüglich
254 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen

der Stange um deren Längsachse mit der konstanten Win- ez′


kelgeschwindigkeit ωS dreht. Der Verdrehwinkel ϕ der
Technische Mechanik

Stange ist wie bei einem Pendel von der Zeit abhängig.
ey′
l

φ
ωS

ex′
R B

Hinweis: Bestimmen Sie zunächst den Drall.

Resultat:
M = A ϕ̈ex − B ϕ̇ωS ey

10.17 •• Eine Rakete (Masse m = 50 t) soll beim Start


mit a = 20 m/s2 im Schwerefeld der Erde (g = 10 m/s2 )
beschleunigt werden. Wie groß muss der Massenstrom
μ sein, damit diese Beschleunigung erreicht wird, wenn
die Austrittsgeschwindigkeit der Gase aus der Düse vD =
5000 m/s beträgt?

Hinweis: Massenänderung und Relativgeschwindigkeit


sind negativ.

Resultat: μ = 300 kg/s

10.18 •• Eine Hantel besteht aus zwei Kugeln und


einer Verbindungsstange. Die Massen und die Abmessun-
gen sind im Bild angegeben. Wie groß ist das Massenträg-
heitsmoment um eine Achse, die durch den Mittelpunkt
Die Winkelgeschwindigkeit und die Winkelbeschleuni- der Stange geht und senkrecht zu dieser steht?
gung des Frisbees wurden zu

ωF = ϕ̇ex + ωS ez , R m R
αF = ϕ̈ex − ϕ̇ωS ey
S
bestimmt. Wie groß sind die Momente im Lager der Schei-
2R 2R
be, wenn die Trägheitsmatrix des Frisbees aufgrund der 5m 5m
Symmetrie bezüglich nicht körperfester x y z -Achsen mit
⎛ ⎞
A 0 0 Hinweis: Unterteilen Sie die Hantel in Einzelkörper.
I = ⎝ 0 A 0⎠
0 0 B Resultat:
286
gegeben ist. JS = mR2
3
Analytische Mechanik – über
11

Technische Mechanik
effiziente Algorithmen
Bewegungsgleichungen
herleiten
Wie hängen die
Bewegungen der Kolben
von der Drehung der
Kurbelwelle ab?
Drehen sich Kurbel- und
Nockenwelle unabhängig
voneinander?
Müssen die Zwangskräfte
und die Zwangsmomente
immer bestimmt werden?

11.1 Generalisierte Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256


11.2 Zwangsbedingungen und Zwangskäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
11.3 Virtuelle Verschiebungen, virtuelle Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
11.4 Prinzip von d’Alembert in Lagrange’scher Fassung . . . . . . . . . . . 260
11.5 Lagrange’sche Gleichungen 2. Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 255


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_11
256 11 Analytische Mechanik – über effiziente Algorithmen Bewegungsgleichungen herleiten

Bei der Herleitung von Bewegungsgleichungen von starren Körpern Deshalb liegt es nahe, zur Beschreibung der Lage und
stehen für jeden Körper bei einer ebenen Bewegung drei skalare der Orientierung aller Körper sogenannte generalisierte
Technische Mechanik

Gleichungen und bei einer räumlichen Bewegung sechs Gleichun- oder verallgemeinerte Koordinaten zu verwenden. Der
gen zur Verfügung. Sind mehrere Körper über Gelenke verbunden, Ausdruck „generalisierte Koordinate“ wird verwendet,
dann müssen aus diesen Gleichungen die Zwangsreaktionen in den da es sich um Verschiebungen, Drehwinkel oder eine
Lagern und den Gelenken eliminiert werden, um letztendlich auf Kombination von beiden handeln kann. Wir führen am
die Bewegungsgleichungen zu kommen. Dabei ergeben sich genau- besten soviele verallgemeinerte Koordinaten ein, wie das
so viele Bewegungsgleichungen wie das System Freiheitsgrade hat. System Freiheitsgrade hat. Man spricht dann auch von
Effizienter ist es, wenn diese Zwangskräfte und Zwangsmomente Minimalkoordinaten und bezeichnet die generalisierten
bei der Herleitung von Bewegungsgleichungen nicht berücksich- Koordinaten in diesem Fall auch als die Freiheitsgrade. Im
tigt werden müssen, insbesondere bei Anwendungen, bei denen Folgenden beschränken wir uns stets auf Minimalkoordi-
das System aus sehr vielen Körpern besteht, aber nur wenige Frei- naten. Wenn wir zum Beispiel die Schwerpunktkoordina-
heitsgrade hat, reduziert sich dadurch der Aufwand erheblich. Über ten xSi , ySi , zSi und die Eulerwinkel ψi , θi und ϕi für Lage
die Methoden der analytischen Mechanik werden wir Verfahren und Orientierung eines starren Körpers verwenden, dann
kennenlernen, bei denen für derartige Systeme die Bewegungsglei- hängen diese von den gewählten generalisierten Koordi-
chungen hergeleitet werden können, ohne die Zwangsreaktionen naten ab. Bezeichnen wir die Freiheitsgrade mit q1 bis qn ,
bestimmen zu müssen. Dazu führen wir wieder die virtuelle Ar- dann gilt:
beit von Kräften und Momenten ein. Beim Prinzip von d’Alembert
in Lagrange’scher Fassung muss die Summe aus virtueller Arbeit xSi = xi ( q1 , . . . , qn , t ) ,
von eingeprägten Kräften und Momenten und virtueller Arbeit der ySi = yi ( q1 , . . . , qn , t ) ,
Trägheitskräfte verschwinden. Zwangskräfte und Zwangsmomente
leisten in der Summe bei einer virtuellen Verschiebung des Systems zSi = zi (q1 , . . . , qn , t),
keine Arbeit und müssen deshalb nicht berücksichtigt werden. Nach ψi = ψi (q1 , . . . , qn , t),
entsprechender Umformung resultieren die Lagrange’schen Glei- θ i = θ i ( q1 , . . . , qn , t ) ,
chungen zweiter Art, bei denen das kinetische Potenzial, das sich
aus der Differenz von kinetischer Energie und potenzieller Energie ϕ i = ϕ i ( q1 , . . . , qn , t ) ,
ergibt, formal differenziert werden muss, um dann unter Einarbei-
wobei noch die Zeit t auftritt, da eine explizite Abhängig-
tung der verallgemeinerten Kräfte direkt die Bewegungsgleichun-
keit von der Zeit vorliegen kann.
gen zu erhalten. Es sind also lediglich die kinetische Energie und
die potenzielle Energie des Systems und die virtuelle Arbeit der nicht
konservativen Kräfte zu bestimmen, davon abgesehen muss nur der Frage 11.1
mathematische Algorithmus angewendet werden. Wie viele generalisierte Koordinaten benötigen wir zur
Beschreibung eines Roboters mit sechs Segmenten, die je-
weils durch ein Drehgelenk verbunden sind?

11.1 Generalisierte Koordinaten


Zur Beschreibung der Lage und der Orientierung ei- 11.2 Zwangsbedingungen
nes starren Körpers benötigen wir im Allgemeinen sechs
Koordinaten, z. B. drei Koordinaten, um die Lage eines und Zwangskäfte
Referenzpunktes auf dem Körper zu bestimmen, und
drei Eulerwinkel für die Orientierung. Bei einem System
Wie zuvor schon angedeutet wurde, liegen im Allgemei-
mit K starren Körpern sind somit n = 6K Koordinaten
nen für ein System von starren Körpern noch Bedingun-
erforderlich. Bei einer ebenen Bewegung reichen zwei
gen vor, welche die Lage- und Winkelkoordinaten der
Koordinaten des Referenzpunktes und ein Drehwinkel,
einzelnen Körper erfüllen müssen. Jede dieser Bedingun-
sodass dann n = 3K Größen notwendig sind. Im Allge-
gen reduziert die Zahl der Freiheitsgrade um den Wert
meinen sind diese Koordinaten aber nicht unabhängig,
eins. Damit eine Zwangsbedingung erfüllt werden kann,
sondern müssen noch sogenannten Zwangsbedingungen
ist eine zugehörige Zwangskraft oder ein Zwangsmoment
in den Lagern und in den Gelenken genügen.
notwendig. So hat z. B. ein Massenpunkt, der sich auf ei-
ner Ebene bewegt, statt drei Freiheitsgrade nur noch zwei.
Beispiel Ein gutes Beispiel hierfür ist ein Motor, bei dem Damit der Massenpunkt aber auf der Ebene bleibt, muss
die Drehung der Kurbelwelle mit der Drehung der No- eine Zwangskraft von der Ebene auf den Massenpunkt
ckenwelle, aber auch mit den Bewegungen der Pleuel und wirken, damit diese Bedingung auch wirklich eingehal-
der Kolben gekoppelt ist. Obwohl sehr viele Körper be- ten wird. Im Allgemeinen hängt dabei die Zwangskraft
teiligt sind, hat das System, wenn wir es als ein System von der Bewegung des Massenpunktes ab, insbesonde-
starrer Körper modellieren, nur einen Freiheitsgrad.  re, wenn die Ebene gekrümmt ist. Ähnlich verhält es sich
11.2 Zwangsbedingungen und Zwangskäfte 257

bei Gelenken, bei denen je nach Gelenkart Zwangskräfte Sehr oft sind die Zwangsbedingungen zeitabhängig, z. B.,
und Zwangsmomente mit Komponenten in verschiede- wenn sich ein Massenpunkt auf einer Ebene bewegt, die

Technische Mechanik
nen Richtungen wirken müssen. Diese Zwangskräfte und sich dreht oder die selbst eine vorgegebene Bewegung im
-momente sind es, welche die Lager belasten und deshalb Raum ausführt.
ist ihre Kenntnis durchaus wichtig, wenn es zum Beispiel
um die Auswahl eines Wälzlagers für eine Anwendung
geht. Beispiel Wenn ein Massenpunkt M sich auf einem rotie-
renden Stab in der x,y-Ebene bewegt, wobei der Verdreh-
winkel ϕ(t) des Stabes vorgegeben ist, dann gilt für die
Beispiel Ein physikalisches Pendel kann sich in der x, y- Koordinaten xM und yM (Abb. 11.2):
Ebene um das Lager A drehen, wobei die Drehachse in
Richtung der z-Achse zeigt (Abb. 11.1). Als starrer Körper y
werden die Lage und die Orientierung des Pendels ei-
gentlich durch sechs Koordinaten beschrieben. Aus Erfah-
rung wissen wir, dass das Pendel nur einen Freiheitsgrad
hat und zur Beschreibung von Lage und Orientierung der q
Verdrehwinkel ϕ um die z-Achse genügt. Somit müssen yM
fünf Zwangsbedingungen vorliegen. Wenn wir anneh- M
men, dass der Schwerpunkt S ebenfalls in der x, y-Ebene
liegt, dann sind die Zwangsbedingungen durch
φ = ωt
xM x
y

Abb. 11.2 Massenpunkt bewegt sich entlang eines rotierenden Stabes

yM
A
= tan ϕ
x xM
l
φ oder die implizite Zwangsbedingung:

yM cos ϕ = xM sin ϕ.
S
Der Winkel ϕ ist dabei kein Freiheitsgrad, da er explizit
vorgegeben ist, z. B. bei gegebener konstanter Drehzahl ω
Abb. 11.1 Physikalisches Pendel mit einem Freiheitsgrad durch ϕ = ωt. Der Massenpunkt hat also einen Freiheits-
grad, z. B. die Koordinate q entlang des Stabes, sodass als
explizite Zwangsbedingungen gelten:
zS = 0,
xA = 0, xM = q cos ϕ,
yA = 0, yM = q sin ϕ.
ψ = 0, 
θ =0
Zwangsbedingungen und Zwangsreaktionen
gegeben, wobei ψ und θ die Verdrehungen des Pendels
um die x- bzw. die y-Achse darstellen, die ja aufgrund Liegen in einem System Lager oder Gelenke vor,
der Lagerung nicht zugelassen sind. Diese Zwangsbedin- so führen diese zu Zwangsbedingungen sowie zu
gungen erforden aber eine Kraft im Lager A, die Kom- Zwangskräften und Zwangsmomenten. Diese kön-
ponenten in drei Richtungen hat, sowie ein Moment mit nen von der Zeit und der Bewegung abhängen. Wird
Komponenten um die x- bzw. die y-Achse. Die zugehöri- ein Satz von Minimalkoordinaten als generalisier-
gen Koordinaten Ax , Ay , Az , MAx , MAy müssen mithilfe te Koordinaten gewählt, dann entspricht deren Zahl
der Newton-Euler’schen Gleichungen bestimmt werden der Zahl der Freiheitsgrade des Systems. Die gene-
und hängen von der Bewegung ab. Wir wissen aus Er- ralisierten Koordinaten müssen dann so eingeführt
fahrung, dass die Lagerkraft in A bei einer schnellen werden, dass alle Zwangsbedingungen auf Lageebe-
Drehung des Pendels größer ist als bei einer langsamen ne erfüllt sind.
Drehung. 
258 11 Analytische Mechanik – über effiziente Algorithmen Bewegungsgleichungen herleiten

Beispiel auch Zwangsbedingungen auf Geschwindigkeitsebene,


die nicht durch Integration auf Positionsebene dargestellt
Technische Mechanik

werden können. In diesem Fall sprechen wir von nicht


x
holonomen Zwangsbedingungen. Auch im Fall nicht ho-
lonomer Zwangsbedingungen sind zu deren Erfüllung
yA entsprechende Zwangskräfte oder Zwangsmomente not-
wendig, und jede Bedingung reduziert die Zahl der Frei-
A
heitsgrade des Systems beziehungsweise die Zahl der
Bewegungsgleichungen, die das System beschreiben. Die
φ Zahl der Bewegungsgleichungen, die sich ergeben, ist
l
dann nicht gleich der Zahl der Koordinaten, die wir benö-
tigen, um das System zu beschreiben. Wir gehen darauf
nicht näher ein und geben nur noch ein Beispiel für eine
S
nicht holonome Zwangsbedingung an.
y
Beispiel Eine Schlittschuhläuferin (Abb. 11.5) bewegt
Abb. 11.3 Elastisch aufgehängtes Pendel (zwei Freiheitsgrade yA , ϕ)
sich als starrer Körper auf einer Ebene, wobei zwischen
der Kufe des Schlittschuhs und der Eisfläche ein punkt-
x
förmiger Kontakt vorliegen soll und der Schlittschuh sich
trotzdem nur in Längsrichtung der Kufe bewegen kann.
yA = u0 sin (Ω t) Die Geschwindigkeit v weist also immer in Richtung der
Kufe. Senkrecht zur Kufe kann eine Zwangskraft wirken.
A

φ l

Abb. 11.4 Pendel, dessen Aufhängepunkt sich mit vorgegebener Zeitabhän-


gigkeit bewegt (ein Freiheitsgrad ϕ)

Bei dem in Abb. 11.3 dargestellten Pendel ist der Auf-


hängepunkt A so gelagert, dass er sich vertikal bewegen
kann. Das elastisch gelagerte Pendel hat deshalb die Frei-
heitsgrade yA und ϕ. Bei dem in Abb. 11.4 dargestellten
Pendel ist die Bewegung des Lagerpunktes A explizit vor-
gegeben. Damit ist die Bewegung des Lagerpunktes in
diesem Fall kein Freiheitsgrad, sodass das System nur den
Freiheitsgrad ϕ hat. Später, wenn wir die virtuellen Ver-
schiebungen einführen, wird dies von Bedeutung sein. 

Die Zwangsbedingungen, die wir bisher betrachtet ha-


ben, können alle auf Positionsebene, d. h. mit Lage-
oder Winkelkoordinaten formuliert werden. Wir nennen
solche Zwangsbedingungen auf Koordinatenebene holo-
nome Zwangsbedingungen. Diese sind im Allgemeinen
nichtlinear in den Koordinaten. Wenn diese Zwangsbe-
dingungen nach der Zeit differenziert werden, ergeben
sich Zwangsbedingungen, die linear in den Zeitablei-
tungen der Positionskoordinaten sind und deren Koef-
fizienten normalerweise von den Positionskoordinaten
abhängen. Diese Zwangsbedingungen für die Zeitablei-
tungen können natürlich sofort wieder durch Integrati-
on auf Positionsebene formuliert werden. Es gibt jedoch Abb. 11.5 Schlittschuhläuferin
11.3 Virtuelle Verschiebungen, virtuelle Arbeit 259

Aus Erfahrung wissen wir, dass die Schlittschuhläuferin zunächst verschiebbar oder verdrehbar gemacht, sodass
jede beliebige Position und Orientierung auf der Ebene es genau einen Freiheitsgrad hat. Die virtuellen Ver-

Technische Mechanik
erreichen kann. Diese können z. B. durch zwei kartesische schiebungen aller Kraftangriffspunkte und die virtuellen
Koordinaten x und y sowie einen Winkel ϕ zwischen der Verdrehungen aller Momente können dann als Funktion
x-Achse und der Längsrichtung der Schlittschuhläuferin der virtuellen Änderung dieses Freiheitsgrades ausge-
beschrieben werden (Abb. 11.6). drückt werden. Im Falle von Systemen mit mehreren
Freiheitsgraden wird dies etwas komplizierter, da jeder
y Freiheitsgrad unabhängig von den anderen Freiheitsgra-
den virtuell verändert oder variiert werden kann. Die
v
virtuellen Verschiebungen von Punkten oder die virtuel-
len Verdrehungen von Körpern hängen deshalb von den
φ virtuellen Änderungen aller Freiheitsgrade ab. Die ma-
thematische Grundlage hierzu ist die Variationsrechnung,
FN auf welche an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegan-
gen wird. Hat das System die n Freiheitsgrade q1 bis qn ,
Kontaktpunkt
dann gilt für die Koordinaten xP , yP und zP eines Punktes:

xP = xP ( q1 , . . . , qn , t ) ,
x yP = yP ( q1 , . . . , qn , t ) ,
Abb. 11.6 Kinematik und Zwangskraft bei der Bewegung mit einem Schlitt- zP = zP (q1 , . . . , qn , t).
schuh
Wir verändern die verallgemeinerten Koordinaten q1 bis
Die Läuferin kann aber nur die Drehung und die Be- qn um virtuelle (gedachte) Änderungen δq1 bis δqn . Bei
wegung in Kufenrichtung beeinflussen. Die zugehörige diesen virtuellen Änderungen δq1 bis δqn der verallgemei-
implizite Zwangsbedingung nerten Koordinaten nehmen wir an, dass sie infinitesimal
klein sind, damit sich die Geometrie des Systems als
ẋ sin ϕ = ẏ cos ϕ Ganzes nicht zu stark ändert. In diesem Fall hängen die
virtuellen Verschiebungen und Verdrehungen von Punk-
kann nicht nach der Zeit integriert werden, da ϕ nicht ten und Körpern linear von den virtuellen Änderungen
konstant ist, sondern von der Bewegung der Schlittschuh- der verallgemeinerten Koordinaten ab. Außerdem muss
läuferin abhängt. Die zugehörige Zwangskraft senkrecht beachtet werden, dass bei einer expliziten Zeitabhängig-
zur Kufe wurde zuvor schon erwähnt und ist in Abb. 11.6 keit (z. B. bei einer Ebene, deren Lage zeitveränderlich
eingetragen. Bei diesem Beispiel liegen somit drei Mini- vorgegeben wird) während der virtuellen Verschiebung
malkoordinaten x, y und ϕ, aber nur zwei Minimalge- derselbe Zeitpunkt betrachtet wird. Die Zeit wird also
schwindigkeiten v und ϕ̇ gemäß nicht variiert. Deshalb folgt für die virtuellen Änderun-
gen der oben eingeführten Koordinaten ähnlich wie bei
ẋ = v cos ϕ, einem Differenzial:
ẏ = v sin ϕ
∂xP ∂xP ∂xP
vor.  δxP = δq1 + δq2 + . . . + δqn ,
∂q1 ∂q2 ∂qn
∂y ∂y ∂y
Frage 11.2 δyP = P δq1 + P δq2 + . . . + P δqn ,
∂q1 ∂q2 ∂qn
Wie lautet die Zwangsbedingung bei einem rollenden
∂zP ∂zP ∂zP
Rad? δzP = δq1 + δq2 + . . . + δqn .
∂q1 ∂q2 ∂qn

Neben dieser sehr formalen Herleitung der Beziehun-


gen zwischen den virtuellen Verschiebungen und den δqi
11.3 Virtuelle Verschiebungen, kann man bei einfachen Systemen die Zusammenhänge
meist relativ leicht aus einer Zeichnung ablesen.
virtuelle Arbeit
In Abschn. 6.1 wurden schon die Begriffe virtuelle Arbeit, Beispiel Für das Pendel mit elastischer Aufhängung
virtuelle Verschiebung und virtuelle Verdrehung einge- (Abb. 11.7) ergeben sich die Koordinaten des Schwer-
führt. Dort wurde das statisch bestimmt gelagerte System punktes zu:
260 11 Analytische Mechanik – über effiziente Algorithmen Bewegungsgleichungen herleiten

Wenn die virtuellen Verschiebungen von Kraftangriffs-


x punkten und die virtuellen Verdrehungen von Körpern in
Technische Mechanik

yA Abhängigkeit der virtuellen Änderung der verallgemei-


δ yA nerten Koordinaten bestimmt sind, dann kann auch die
zugehörige virtuelle Arbeit δW der Kräfte und Momente
A
berechnet werden:
φ l
δW = ∑ δr · F + ∑ δϕ · M,
wobei die Summen andeuten sollen, dass einfach über al-
S
le eingeprägten Kräfte und Momente zu summieren ist.
y δφ Werden die Abhängigkeiten der virtuellen Verschiebun-
gen und Verdrehungen von den δqi eingesetzt, kann die
Abb. 11.7 Virtuelle Verschiebungen eines elastisch gelagerten Pendels virtuelle Arbeit über
   
n n
∂r ∂ϕ
δW = ∑ ∑ δq · F + ∑ ∑ δq · M
x j=1
∂qj j j=1
∂qj j
 
n
∂r ∂ϕ
=∑ ∑ ·F+∑
yA = u0 sin(Ωt)
· M δqj
j=1
∂qj ∂qj
A
in der Form
φ l
δW = Q1 δq1 + Q2 δq2 + . . . + Qn δqn (11.1)

S mit
y δφ ∂r ∂ϕ
Qj = ∑ ∂qj · F + ∑ ∂qj · M
Abb. 11.8 Virtuelle Verschiebungen beim Pendel mit vorgegebener Bewegung
des Aufhängepunktes
ausgedrückt werden. Diese Form der Darstellung ist spä-
ter hilfreich bei der Herleitung der Bewegungsgleichun-
xS = l sin ϕ, gen mit Hilfe der Lagrange’schen Gleichungen zweiter
Art. Die Qj werden als verallgemeinerte Kräfte bezeich-
yS = yA + l cos ϕ
net, da sie sowohl die Dimension einer Kraft als auch die
und damit die virtuellen Verschiebungen: eines Moments haben können, je nachdem, ob qj einer Ver-
schiebung oder einer Verdrehung entspricht.
δxS = l cos ϕδϕ,
δyS = δyA − l sin ϕδϕ. Frage 11.3
Wie groß ist die virtuelle Arbeit bei einem viskosen
Die virtuelle Verschiebung des Schwerpunktes setzt sich Dämpfer, bei dem ein Ende mit der Geschwindigkeit ẋ
also zusammen aus der virtuellen Verschiebung δyA des in x-Richtung verschoben wird? Wie groß ist die virtuelle
Punktes A sowie einer virtellen Verschiebung aufgrund Arbeit, wenn trockene Reibung vorliegt?
einer virtuellen Verdrehung δϕ des Pendels. Im Gegensatz
dazu ist die virtuelle Verschiebung bei vorgegebener Be-
wegung des Aufhängepunktes (Abb. 11.8) wegen δyA = 0
durch
11.4 Prinzip von d’Alembert
δxS = l cos ϕδϕ,
δyS = −l sin ϕδϕ
in Lagrange’scher Fassung
gegeben, da die Bewegung yA vorgegeben ist und deshalb Mit dem Prinzip von d’Alembert in Lagrange’scher Fas-
nicht variiert werden kann. Die virtuelle Verschiebung sung werden wir eine erste Möglichkeit kennenlernen, bei
des Schwerpunktes resultiert deshalb in diesem Fall nur welcher die Zwangskräfte und die Zwangsmomente bei
aus einer virtuellen Verdrehung des Pendels um den der Herleitung von Bewegungsgleichungen nicht berück-
Punkt A.  sichtigt werden müssen. An dieser Stelle beschränken
11.4 Prinzip von d’Alembert in Lagrange’scher Fassung 261

wir uns auf die Herleitung der Gleichungen für Massen- Da die Summe der virtuellen Arbeiten der Zwangskräfte
punktsysteme, geben das Ergebnis aber auch für Systeme null ist, verbleibt:

Technische Mechanik
mit starren Körpern an. Die am i-ten Massenpunkt mi
K K
wirkenden Kräfte unterteilen wir in eingeprägte Kräf-
te F ei wie Gewichtskräfte, Dämpfungskräfte, Federkräfte, ∑ δri · Fei + ∑ δri · FTi = 0.
i=1 i=1
Antriebskräfte etc. und Zwangskräfte F Zi aufgrund von
Lagern, Führungen oder Gelenken. Wenn nur ein einziger In diesen Gleichungen treten die Zwangskräfte nicht
Massenpunkt betrachtet wird, der sich auf einer Ebe- mehr auf. Mit den Abhängigkeiten der virtuellen Ver-
ne bewegen kann, dann zeigt die Zwangskraft zwischen schiebungen von den δqj :
diesem Massenpunkt und der Ebene stets in eine Rich-
tung senkrecht zur Ebene und damit auch senkrecht zu n
∂r
einer möglichen virtuellen Verschiebung δri dieses Mas- δri = ∑ ∂qij δqj
senpunktes. Entsprechend der Definition der virtuellen j=1
Arbeit ist δWZi für diese Zwangskraft null:
folgt:
δWZi = δri · F Zi = 0. % &
K n
∂ri
Wenn das System aus mehreren Massenpunkten oder ∑ ∑ δq · (F e,i − mi r̈i ) = 0.
∂qj j
aus mehreren Körpern besteht, dann ist die virtuelle Ar- i=1 j=i
beit der Zwangskräfte nicht für jeden Massenpunkt oder
Körper für sich genommen null. Lediglich wenn die virtu- Änderung der Summationsreihenfolge führt auf:
ellen Arbeiten der Zwangskräfte aller Massenpunkte oder % &
Körper addiert werden, ergibt sich in der Summe null: n K
∂ri
K
∑ ∑ (Fei − mir̈i ) · ∂qj δqj = 0. (11.2)
j=1 i=1
δWZ = ∑ δWZi = 0,
i=1 Falls das System nur einen Freiheitsgrad q hat, bedeutet
wobei K die Zahl der Körper beziehungsweise der Mas- dies:
senpunkte ist. Anhand eines Schubkurbeltriebes wird % &
K
∂ri
dies in der Beispielbox exemplarisch vorgeführt.
∑ (Fei − mir̈i ) · ∂q δq = 0,
i=1
Virtuelle Arbeit der Zwangskräfte
sodass wir wie beim Prinzip der virtuellen Arbeit in der
In der Summe ergeben die virtuellen Arbeiten der Statik wegen δq = 0 fordern:
Zwangskräfte und Zwangsmomente gerade null.
K
∂ri
∑ (Fei − mi r̈i ) · ∂q
= 0.
i=1
Frage 11.4
Normalerweise rollt ein Rad auf der Unterlage ab. Bei ent- Wir erhalten so direkt die Bewegungsgleichung ohne
sprechenden Witterungsbedingungen kann es zu Schlupf Kenntnis der Zwangskräfte. Falls das System mehrere
kommen. In welchem Fall ist die Reibkraft eine Zwangs- Freiheitsgrade besitzt, hat (11.2) die Form:
kraft, wann eine eingeprägte Kraft?
( . . . )δq1 + ( . . . )δq2 + . . . + ( . . . )δqn = 0,
Bei einem Massenpunktsystem gilt für jeden Massen- die erfüllt sein muss für alle möglichen Werte von δq1
punkt i das Newton’sche Axiom:
bis δqn . Da diese virtuellen Änderungen unabhängig von-
F Zi + F ei − mi r̈i = 0, einander sind, da wir Minimalkoordinaten vorausgesetzt
haben, muss der Klammerterm vor jedem δqj für sich null
oder mit der Trägheitskraft FTi = −mi r̈i : werden. Dies ergibt insgesamt n Gleichungen der Form:
F Zi + F ei + F Ti = 0. K
∂r
Wir multiplizieren jede Gleichung mit der virtuellen Ver- ∑ (Fei − mi r̈i ) · ∂q1i = 0,
i=1
schiebung des jeweiligen Massenpunktes und summieren
über alle Massenpunkte: .. .. ..
. . .
K K K K
∂r
∑ δri · FZi + ∑ δri · Fei + ∑ δri · FTi = 0. ∑ (Fei − mir̈i ) · ∂qni = 0.
i=1 i=1 i=1 i=1
262 11 Analytische Mechanik – über effiziente Algorithmen Bewegungsgleichungen herleiten

Beispiel: Virtuelle Arbeit der Zwangskräfte bei einem Schubkurbeltrieb


Technische Mechanik

Das in Abb. 11.9 dargestellte Modell eines Kolben- Nachdem der Zusammenhang zwischen den virtuel-
motors besteht aus einer in A gelagerten Kurbel mit len Verschiebungen der einzelnen Punkte bestimmt
Radius R, die in G1 mit der Pleuelstange verbunden wurde, wird im Folgenden die virtuelle Arbeit der
ist. Die Pleuelstange hat die Länge l und ist über das Zwangskräfte und Zwangsmomente ermittelt. Für die
Gelenk G2 mit dem Kreuzkopf und dem Zylinder Z drei Bauteile Kurbel, Pleuel und Zylinder sind die
verbunden. Freischnitte in den Abb. 11.10 bis 11.12 dargestellt.
Die Komponenten der Zwangskräfte in den Gelen-
ken werden in den entsprechenden Vektoren zusam-
G1 l a mengefasst, wobei zu beachten ist, dass F G1 ,Kurbel =
R δrG1 Zylinder −F G1 ,Pleuel und F G2 ,Pleuel = −F G2 ,Zyl gelten, wogegen
die virtuellen Verschiebungen gleich sind δrG1 ,Kurbel =
δrG1 ,Pleuel , δrG2 ,Pleuel = δrG2 ,Zyl .
A φ
ψ
G2

ey δφ J1 δrG2 G1y
δrG2 δrZyl

G1x
ex

Abb. 11.9 Virtuelle Verschiebungen verschiedener Punkte bei einer Schub- Ax


kurbel.
δrA = 0

Um die virtuellen Verschiebungen der Lager- und Ge- Ay


lenkpunkte bestimmen zu können, werden zunächst
die Vektoren vom Lager A zu den Punkten G1 , G2 , und
Abb. 11.10 Zwangskräfte der Kurbel
zum Zylinder bestimmt:
rG1 = R cos ϕex + R sin ϕey ,
δrG1
rG2 = (R cos ϕ + l cos ψ)ex ,
rZyl = (R cos ϕ + l cos ψ + a)ex .
G1x
Dabei gilt für den Zusammenhang zwischen ϕ und ψ:
G1y G2y
R sin ϕ = l sin ψ
und damit: G2x
R
sin ψ =
sin ϕ, δrG2
l

R2
cos ψ = 1 − 2 sin2 ϕ. Abb. 11.11 Zwangskräfte am Pleuel
l
Für die virtuellen Verschiebungen ergibt dies:
δrG2 δrG1
δrA = 0,
∂rG1
δrG1 = δϕ = (−R sin ϕex + R cos ϕey )δϕ,
∂ϕ
G2x
∂rG2
δrG2 = δϕ G2y
∂ϕ
  FZyl
R2 sin ϕ cos ϕ
= −R sin ϕ −  δϕex , FK
l 2
1 − Rl2 sin2 ϕ
∂rZyl
δrZyl = δϕ = δrG2 .
∂ϕ Abb. 11.12 Zwangskräfte an Kreuzkopf und Zylinder
11.4 Prinzip von d’Alembert in Lagrange’scher Fassung 263

Die gesamte virtuelle Arbeit der Zwangskräfte aller schiebung am Kreuzkopf und am Zylinder jeweils
drei Körper ergibt somit: senkrecht aufeinander stehen, erhalten wir somit:

Technische Mechanik
δWZ = δrA · F A + δrG1 ,Kurbel · F G1 ,Kurbel
+ δrG1 ,Pleuel · F G1 ,Pleuel + δrG2 ,Pleuel · F G2 ,Pleuel δWZ = 0,
+ δrG2 ,Zyl · F G2 ,Zyl + δrG2 · F K + δrZyl · F Zyl .
Mit den oben genannten Zusammenhängen und δrA = auch wenn die Abhängigkeiten der virtuellen Verschie-
0, sowie der Tatsache, dass Kraft und virtuelle Ver- bungen von δϕ nicht explizit eingesetzt werden.

Besonders vorteilhaft ist diese Methode zur Herleitung Beispiel


der Bewegungsgleichungen, wenn das System aus vielen
Massenpunkten oder Körpern besteht, aber nur wenige δy1 2R R
Freiheitsgrade hat. In diesem Fall können die Skalar- y1
produkte von eingeprägten Kräften und Trägheitskräften
mit den zugehörigen virtuellen Verschiebungen oft direkt
aus der Anschauung gebildet werden. Sowohl die an- m1y1 m2y2 y2 δy2
schauungsmäßige wie auch die formale Vorgehensweise
werden anhand zweier Beispiele im Folgenden vorge- FR1
führt. Bei der anschaulichen Vorgehensweise wird oft die α m1g FR2
gesamte virtuelle Arbeit von eingeprägten und Trägheits-
kräften bestimmt und dann unter der Voraussetzung von β
δqj = 0 null gesetzt. F0
m2g
Im Folgenden wird das Prinzip von d’Alembert, das für
Massenpunktsysteme hergeleitet wurde, für Systeme star-
Abb. 11.15 Zwei Massenpunkte auf zwei schiefen Ebenen
rer Körper angegeben. Es hat die Form:
K Zwei Körper bewegen sich auf schiefen Ebenen. Die Kör-
∑ [(Fei + FTi ) · δrSi + (Mei + MTi ) · δϕi ] = 0,
S S
per sind über ein undehnbares Seil über ein masseloses
i=1 Getriebe so verbunden, dass für die Verschiebungen y1
wenn wir die virtuelle Arbeit bestimmen. Nach entspre- und y2 die kinematische Zwangsbedingung ẏ1 = 2ẏ2 gilt.
chenden Umformungen erhalten wir die Bewegungsglei- Zwischen den Körpern und den schiefen Ebenen liegt
chungen direkt aus trockene Reibung vor. Am Körper 2 wirkt die Kraft F0
% & in Ebenenrichtung. Eine Verdrehung der Körper ist aus-
K ∂rSi Si ∂ϕi geschlossen. Das System hat einen Freiheitsgrad, zum
∑ (Fei + FTi ) · ∂qj + (Me + MT ) ∂qj = 0,
Si
Beispiel q = y2 . Für die virtuellen Verschiebungen der
i=1
Massenpunkte gilt aus der Anschauung:
j = 1, . . . , n
δy1 = 2δq,
mit den Trägheitskräften und Trägheitsmomenten
δy2 = δq.
F Ti = −mi r̈Si ,

Ihre Richtungen sind in (Abb. 11.15) mithilfe der zugehö-
S
M Ti = − JSi · ω̇i + ωi × (JSi · ωi ) . rigen Pfeile eingetragen. An eingeprägten Käften gibt es
die Gewichtskräfte, die Reibkräfte, sowie die äußere Kraft
Im Falle einer ebenen Bewegung stehen die Winkelge- F0 . Ebenfalls eingetragen sind die Trägheitskräfte ent-
schwindigkeiten und die virtuellen Verdrehungen senk- gegen den positiven Beschleunigungsrichtungen. Gemäß
recht auf der Bewegungsebene. Zudem interessieren dann dem Prinzip von d’Alembert in Lagrange’scher Fassung
nur eingeprägte und Trägheitskräfte in der Bewegungs- gilt:
ebene, sodass sich in diesem Fall die Bewegungsgleichun-
gen aus −FR1 δy1 − m1 g sin αδy1 − m1 ÿ1 δy1
% & +F0 δy2 − FR2 δy2 + m2 g sin βδy2 − m2 ÿ2 δy2 = 0,
K ∂rSi Si ∂ϕi
∑ (Fei + FTi ) · ∂qj + (Me + MT ) ∂qj = 0,
Si
sodass sich mit
i=1
j = 1, . . . , n, ÿ1 = 2q̈,
ergeben. ÿ2 = q̈
264 11 Analytische Mechanik – über effiziente Algorithmen Bewegungsgleichungen herleiten

Beispiel: Wagen mit angehängtem Stab


Technische Mechanik

An einem Wagen der Masse m1 ist wie in Abb. 11.13 δφ 1 = 0


dargestellt ein schlanker Stab der Masse m2 und der kDφ
Länge l drehbar befestigt. Zwischen Stab und Wagen
ist ein Drehdämpfer mit der Dämpfungskonstanten kD S1
δrS1 F
angebracht. Am Wagen greift die äußere Kraft F an.
m1g
mS, JS
z
δφ 2 = δφ

l
s S2 2

φ
kD
S2 δrS2
l
m1 2

S1 y m2g
F kDφ

Abb. 11.13 Horizontal bewegter Wagen mit pendelndem Stab


Abb. 11.14 Eingeprägte Kräfte und Momente am Wagen und am Stab
Wagen und Stab bewegen sich in der y, z-Ebene. Das
Dabei muss beachtet werden, dass das Moment infolge
System hat zwei Freiheitsgrade, für die wir die Ver-
des Dämpfers zwar ein Moment zwischen dem Wagen
schiebung q1 = s des Wagens und die Verdrehung q2 =
und dem Stab ist, aber kein Zwangsmoment. Es tritt
ϕ des Stabes wählen. Die Ortsvektoren zu den Schwer-
sowohl am Wagen wie am Stab auf, allerdings in ent-
punkten sind mit
gegengesetzter Richtung. Die Bewegungsgleichungen
folgen deshalb aus:
rS1 = sey ,
l l (F e1 − m1 r̈S1 ) · ey + (Me1 − JS1 ϕ̈1 ) · 0
r S2 = ( s + sin ϕ)ey + cos ϕez
2 2 +(F e2 − m2 r̈S2 ) · ey + (Me2 − JS2 ϕ̈2 ) · 0 = 0,
gegeben. Hieraus berechnen sich die virtuellen Ver- (F e1 − m1 r̈S1 ) · 0 + (Me1 − JS1 ϕ̈1 ) · 0
 
schiebungen und Verdrehungen: l l
+(F e2 − m2 r̈S2 ) · cos ϕey − sin ϕez
2 2
δrS1 = δsey ,
  +(Me2 − JS2 ϕ̈2 ) · 1 = 0,
l l
δrS2 = δs + cos ϕδϕ ey − sin ϕδϕez , mit den eingeprägten Kräften und Momenten:
2 2
δϕ1 = 0, F e1 = Fey − m1 gez ,
δϕ2 = δϕ F e2 = −m2 gez ,
Me1 = kD ϕ̇,
und die Beschleunigungen:
Me2 = −kD ϕ̇.
r̈S1 = s̈ey ,
  Nach Einsetzen ergeben sich die Gleichungen:
l
r̈S2 = s̈ + ( ϕ̈ cos ϕ − ϕ̇2 sin ϕ) ey l
2 (m1 + m2 )s̈ + m2 ( ϕ̈ cos ϕ − ϕ̇2 sin ϕ) = F,
2
l  
− ( ϕ̈ sin ϕ + ϕ̇2 cos ϕ)ez , m2 l2 l l
2 JS2 + ϕ̈ + m2 cos ϕs̈ + kD ϕ̇ − m2 g sin ϕ = 0.
ϕ̈1 = 0, 4 2 2
ϕ̈2 = ϕ̈. Wenn die Kraft F in Abhängigkeit des Systemzustands
geregelt wird, lässt sich der Stab in der vertikalen Posi-
Um die Bewegungsgleichungen herzuleiten, genügt es, tion balancieren. Dies steht jedoch nicht im Fokus die-
wie in Abb. 11.14 die eingeprägten Kräfte und Momen- ses Abschnitts. Methoden, um eine entsprechende Re-
te zu berücksichtigen. gelung zu realisieren, werden im Kap. 41 bereitgestellt.
11.5 Lagrange’sche Gleichungen 2. Art 265

die Bedingung sind deshalb die zwei Terme

Technische Mechanik
(−2FR1 − 2m1 g sin α − 4m1 q̈ K n n  K  n
∂r ∂ri
+F0 − FR2 + m2 g sin β − m2 q̈)δq = 0 ∑ ∑ Fei · ∂qij δqj = ∑ ∑ Fei · ∂qj δqj = ∑ Qjδqj,
i=1 j=1 j=1 i=1 j=1
ergibt, aus der die Bewegungsgleichung K n
∂r
−2FR1 − FR2 − 2m1 g sin α + m2 g sin β
∑ ∑ mir̈i · ∂qij δqj
i=1 j=1
−(4m1 + m2 )q̈ + F0 = 0 n K     
d ∂r d ∂ri
= ∑ ∑ mi dt
ṙi · i − ṙi ·
∂qj dt ∂qj
δqj
folgt. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Bewe- j=1 i=1
gungsgleichungen letztendlich zum Teil dennoch von den
Zwangskräften abhängig sein können, zu deren Bestim- zu betrachten. Hierin ist der erste Term die virtuelle Ar-
mung Impuls- und Drallsatz notwendig sind. Hier sind beit der eingeprägten Kräfte. Dass die letzte der beiden
dies die Reibkräfte FR1 und FR2 , die von den Normal- Gleichungen gilt, zeigt sich, wenn die Differenziation des
kräften FN1 und FN2 abhängen. In unserem Beispiel sind ersten Termes auf der rechten Seite der Gleichung nach
diese Abhängigkeiten mit FR1 = μm1 g cos α und FR2 = der Zeit mithilfe der Produktregel ausgewertet wird. Zu-
μm2 g cos β sehr einfach.  dem werden in beiden Gleichungen die Reihenfolgen der
Summationen vertauscht. Um die Terme weiter umzufor-
men bestimmen wir die Geschwindigkeit

11.5 Lagrange’sche Gleichungen n


dri ∂r ∂r
2. Art ṙi = = ∑ i q̇k + i (11.4)
dt k=1
∂q k ∂t

In diesem Kapitel wird eine Methode vorgestellt, bei wel-


cher die Bewegungsgleichungen mithilfe der kinetischen von Massenpunkt i. Wenn wir die n generalisierten Ko-
Energie, der potenziellen Energie und der virtuellen Ar- ordinaten qk und die n Zeitableitungen q̇k der generali-
beit der potenziallosen Kräfte hergeleitet werden können. sierten Koordinaten als unabhängige Variablen auffassen
Da die Methode über das Prinzip von d’Alembert in (obwohl die einen durch Zeitableitung aus den anderen
Lagrange’scher Fassung hergeleitet wird, ist auch hier hervorgehen), dann folgt aus der partiellen Ableitung von
die Kenntnis der Zwangskräfte und der Zwangsmo- (11.4) nach q̇j :
mente nicht notwendig. Erneut wird die Herleitung nur
für Massenpunktsysteme vorgeführt, wobei das Ergeb-  
n
∂ṙi ∂ ∂ri ∂r ∂ri
nis auch für Systeme starrer Körper gilt. Wir leiten die
∂q̇j
=
∂q̇j ∑ ∂qk
q̇k + i
∂t
=
∂qj
,
Methode für ein System mit n Freiheitsgraden her. In k=1
den Gleichungen treten deshalb oft Summen über alle n
Freiheitsgrade auf. Der Leser, der mit den daraus resul-
sodass
tierenden Doppelsummen Schwierigkeiten hat, sollte die
Gleichungen zunächst für ein System mit nur einem Frei-
heitsgrad q herleiten, da dann alle Summationen über j ∂ṙi ∂r
= i
entfallen. ∂q̇j ∂qj
Wir beginnen wieder mit dem Impulssatz für den Mas-
senpunkt i. Die zugehörige Gleichung wird mit δri skalar gilt. Ebenso erhalten wir für die partielle Ableitung von ṙi
multipliziert, und es wird über alle K Massenpunkte sum- nach qj :
miert:
K
 
∑ (Fei − mir̈i ) · δri = 0. (11.3)
∂ṙi n
∂2 r i ∂2 ri
i=1 = ∑ q̇ +
∂qj k=1
∂qk ∂qj k ∂t∂qj
Hierbei wurde schon berücksichtigt, dass die Summe    
n
über die virtuellen Arbeiten aller Zwangskräfte ver- ∂ ∂ri ∂ ∂ri
schwindet. Mit = ∑ q̇k +
k=1
∂qk ∂qj ∂t ∂qj
 
n
∂r d ∂ri
δri = ∑ ∂qij δqj =
dt ∂qj
.
j=1
266 11 Analytische Mechanik – über effiziente Algorithmen Bewegungsgleichungen herleiten

Beispiel: Wagen mit Stab, Lösung über Lagrange’sche Gleichungen 2. Art


Technische Mechanik

Wir betrachten wieder den Wagen mit der Masse m1 , sodass sich für das kinetische Potenzial
an dem, wie in Abb. 11.16 dargestellt, ein schlanker 1 1
Stab der Masse m2 und der Länge l drehbar befestigt L= (m1 + m2 )ṡ2 + m2 lṡ ϕ̇ cos ϕ
2 2
ist. Zwischen Stab und Wagen ist ein Drehdämpfer mit  2 
der Dämpfungskonstanten kD angebracht. Am Wagen 1 l l
+ JS2 + m2 ϕ̇2 − m2 g cos ϕ
greift die äußere Kraft F an. 2 4 2
ergibt. Die virtuelle Arbeit der potenziallosen Kräfte
mS, JS
z und Momente setzt sich aus je einem Anteil der Kraft F
und des Drehdämpfers
l
s S2 2 δWnk = Fδs − kD ϕ̇δϕ
φ zusammen und wird verglichen mit der virtuellen Ar-
g
kD beit der verallgemeinerten Kräfte
l
m1 2 δWnk = Qs δs + Q ϕ δϕ.
S1 F y
Der Vergleich ergibt:
Qs = F,
Abb. 11.16 Horizontal bewegter Wagen mit pendelndem Stab Q ϕ = −kD ϕ̇.
An dieser Stelle sehen wir auch, weshalb wir von ver-
Um die Bewegungsgleichungen herzuleiten, müssen
allgemeinerten Kräften sprechen, da Qs die Dimension
wir zunächst die Freiheitsgrade festlegen. Dies sind
einer Kraft, aber Q ϕ die Dimension eines Momentes
q1 = s und q2 = ϕ. Für das kinetische Potenzial benö-
hat. Als Nächstes werden die partiellen Ableitungen
tigen wir die kinetische Energie Ekin des Systems und
berechnet:
die potenzielle Energie Epot . Die kinetische Energie be-
rechnet sich aus: ∂L
= 0,
1 1 1 1 ∂s
Ekin = m1 ṙS21 + JS1 ϕ̇21 + m2 ṙS22 + JS2 ϕ̇22 , ∂L 1 l
2 2 2 2 = − m2 lṡ ϕ̇ sin ϕ + m2 g sin ϕ,
mit ϕ̇1 = 0 und ϕ̇2 = ϕ̇. Die Berechnung der Schwer- ∂ϕ 2 2
punktgeschwindigkeit ist für den Wagen sehr einfach: ∂L 1
= (m1 + m2 )ṡ + m2 l ϕ̇ cos ϕ,
ṙS1 = ṡey . ∂ṡ 2
 
∂L 1 l2
Um die Schwerpunktgeschwindigkeit des Stabes zu = m2 lṡ cos ϕ + JS2 + m2 ϕ̇,
bestimmen, wird am besten zunächst der Ortsvektor ∂ ϕ̇ 2 4
 
über die generalisierten Koordinaten ausgedrückt: d ∂L
  = (m1 + m2 )s̈
l l dt ∂ṡ
rS2 = s + sin ϕ ey + cos ϕez 1 1
2 2 + m2 l ϕ̈ cos ϕ − m2 l ϕ̇2 sin ϕ,
und nach der Zeit differenziert:   2 2
  d ∂L 1
l l = m2 ls̈ cos ϕ
ṙS2 = ṡ + ϕ̇ cos ϕ ey − ϕ̇ sin ϕez . dt ∂ ϕ̇ 2
2 2  
1 l2
Eingesetzt ergibt dies die kinetische Energie: − m2 lṡ ϕ̇ sin ϕ + JS2 + m2 ϕ̈.
  2 4
1 1 l2 2 1
Ekin = m1 ṡ + m2 ṡ + lṡ ϕ̇ cos ϕ + ϕ̇ + JS2 ϕ̇2 . Als Letztes werden alle Terme in die Lagrange’schen
2 2
2 2 4 2
Gleichungen
Für die potenzielle Energie legen wir das Nullniveau  
bei z = 0 fest. Als potenzielle Energie verbleibt so nur d ∂L ∂L
das Schwerepotenzial von m2 : − = Qs ,
dt ∂ṡ ∂s
 
l d ∂L ∂L
Epot = m2 g cos ϕ, − = Qϕ
2 dt ∂ ϕ̇ ∂ϕ
11.5 Lagrange’sche Gleichungen 2. Art 267

eingesetzt, und wir erhalten die Bewegungsgleichun- Der Term m2 lṡ ϕ̇ sin ϕ/2 tritt in der letzten Gleichung
gen: zweimal mit unterschiedlichem Vorzeichen auf, so-

Technische Mechanik
dass sich diese Terme gegenseitig aufheben und in
1 1
(m1 + m2 )s̈ + m2 l ϕ̈ cos ϕ − m2 l ϕ̇2 sin ϕ = F, der Gleichung nicht mehr berücksichtigt wurden. Die
2 2 hergeleiteten Gleichungen sind natürlich identisch mit
 
1 l2 l denen, die wir mithilfe des Prinzips von d’Alembert in
m2 ls̈ cos ϕ + JS2 + m2 ϕ̈ − m2 g sin ϕ = −kD ϕ̇.
2 4 2 Lagrange’scher Fassung erhalten haben.

Somit können wir wie folgt umformen: gelten. Gleichung (11.5) wird die Lagrange’sche Glei-
    chung zweiter Art genannt. Oft ist es besser, die verallge-
K K
d ∂ri d ∂ṙi meinerten Kräfte durch Berechnung der virtuellen Arbeit
∑ mi dt ṙi · ∂qj = ∑ mi dt ṙi · ∂q̇j δWe der eingeprägten Kräfte direkt über eine virtuelle
i=1 i=1
  Verschiebung des Systems zu ermitteln. Die virtuelle Ar-
K
mi d ∂ṙi2 beit δWe der eingeprägten Kräfte ist dann nach den δqj zu
=∑ ordnen und mit
i=1
2 dt ∂q̇j
% &
δWe = Q1 δq1 + Q2 δq2 + . . . + Qn δqn
d ∂ K  mi 2 
dt ∂q̇j i∑
= ṙ
=1
2 i zu vergleichen, siehe (11.1). In vielen Fällen ist diese Vor-
  gehensweise anschaulicher als die formale Berechnung
d ∂Ekin der Qj .
= ,
dt ∂q̇j Ein Sonderfall liegt vor, wenn sich eine Kraft F aus einem
 
K
d ∂ri K
∂ṙ zugehörigen Potenzial ableiten läßt. In diesem Fall gilt für
− ∑ mi ṙi · = − ∑ mi ṙi · i die Kraft:
i=1
dt ∂q j i=1
∂q j  
  ∂Epot ∂Epot ∂Epot
∂ K
mi 2 F=− ex + ey + ez ,
∂x ∂y ∂z
∂qj i∑
=− ṙ
=1
2 i
wobei Epot die potenzielle Energie ist. Mit der zugehöri-
∂E gen virtuellen Verschiebung der Kraft
= − kin ,
∂qj δr = δxex + δyey + δzez
     
n n n
wobei Ekin die Summe der kinetischen Energien der Mas- ∂x ∂y ∂z
senpunkte, also die gesamte kinetische Energie des Sys- = ∑ δq ex + ∑ δq ey + ∑ δq ez
j=1
∂qj j j=1
∂qj j j=1
∂qj j
tems bezeichnet. Einsetzen aller Terme in (11.3) ergibt:
%   & folgt für die virtuelle Arbeit dieser Kraft F:
n
d ∂Ekin ∂Ekin
∑ Qj − dt ∂q̇j + ∂qj δqj = 0, δW = δr · F
 
j=1
n ∂Epot ∂x ∂Epot ∂y ∂Epot ∂z
mit den zuvor eingeführten verallgemeinerten Kräften
= ∑ −
∂x ∂qj

∂y ∂qj

∂z ∂qj
δqj
j=1
K
∂r
n ∂Epot
Qj = ∑ Fei · i . =−∑ δqj .
∂q j j=1
∂qj
i=1
Wir können also die Qj aufteilen in Anteile, die sich durch
Da die virtuellen Änderungen δqj der verallgemeinerten
Ableiten der potenziellen Energie Epot nach der verallge-
Koordinaten beliebig und unabhängig voneinander sind,
meinerten Koordinate ergeben und Anteile Qj,nk , welche
muss
  die Anteile der nicht konservativen Kräfte enthalten:
d ∂Ekin ∂E ∂Epot
Qj − + kin = 0, j = 1, . . . , n, Qj = − + Qj,nk .
dt ∂q̇j ∂qj ∂qj

oder Einsetzen in (11.5) liefert:


   
d ∂Ekin ∂Ekin d ∂Ekin ∂E ∂Epot
− = Qj , j = 1, . . . , n, (11.5) − kin = − + Qj,nk .
dt ∂q̇j ∂qj dt ∂q̇j ∂qj ∂qj
268 11 Analytische Mechanik – über effiziente Algorithmen Bewegungsgleichungen herleiten

Da die potenzielle Energie nur eine Funktion der verall-


gemeinerten Koordinaten, nicht aber der Ableitung der auszudrücken, müssen im Allgemeinen noch die ki-
Technische Mechanik

Koordinaten ist, nematischen Zusammenhänge ausgewertet werden.


Zum Schluss müssen noch die verallgemeinerten
Epot = Epot (q1 , . . . , qn ), Käfte bstimmt werden, entweder über eine formale
Rechnung oder über die Berechnung der virtuellen
folgt:
Arbeit und Vergleich mit δWnk = Q1,nk δq1 + . . . +
∂Epot Qn,nk δqn . Für die weitere Auswertung sind dann le-
= 0. diglich mathematische Umformungen in Form von
∂q̇j Differentiationen notwendig, die z. B. in Computer-
programmen automatisiert werden können.
Wir können deshalb die Lagrange’schen Gleichungen in
der Form
 
d ∂ (Ekin − Epot ) ∂ (Ekin − Epot ) Eine Besonderheit der Herleitung der Bewegungsglei-
− = Qj,nk chungen mithilfe der Lagrange’schen Gleichungen 2. Art
dt ∂q̇j ∂qj
liegt darin, dass diese in der Form
oder mit dem kinetischen Potenzial L = Ekin − Epot als M (q)q̈ = f (q, q̇, t)
 
d ∂L ∂L mit der symmetrischen, von q = (q1 , . . . , qn )T abhängi-
− = Qj,nk , j = 1, . . . , n, (11.6)
dt ∂q̇j ∂qj gen, positiv definiten Massenmatrix M dargestellt werden
können. Für das Beispiel des Wagens mit pendelndem
formulieren. Besonders einfach werden die Gleichungen Stab ergibt sich zum Beispiel:
für konservative Systeme, bei denen für alle Kräfte eine  
zugehörige potenzielle Energie eingeführt werden kann m1 + m2 1
m2 l cos ϕ
und deshalb Qj,nk = 0 gilt. M (q ) = 2
2 ,
1
2 m2 l cos ϕ JS2 + m2 l4
Obwohl wir die Gleichungen für Massenpunktsysteme  
s
hergeleitet haben, gelten sie auch für Systeme starrer Kör- q= ,
ϕ
per. Allerdings wird dann die Berechnung der kinetischen  
Energie etwas komplizierter, vor allem bei räumlichen F + 12 m2 l ϕ̇2 sin ϕ
f = .
Drehungen. Wie die kinetische Energie in diesem Fall be- m2 g 2l sin ϕ − kD ϕ̇
rechnet wird, wurde in Kap. 10 gezeigt.
Falls die Bewegungsgleichungen mithilfe des Impuls-
und Drallsatzes hergeleitet werden, ist ihre Form je nach
Vorgehensweise zur Auswertung der Lagrange’schen Elimination der Zwangskräfte und -momente anders, so-
Gleichungen dass dann die Massenmatrix sich unter Umständen in
Bei der Herleitung der Bewegungsgleichungen mit- unsymmetrischer Form ergibt. Mit symmetrischer Mas-
tels der Lagrange’schen Gleichungen müssen zu- senmatrix lassen sich aber zum Beispiel bei Schwingungs-
nächst das kinetische Potenzial L und dafür die kine- systemen bestimmte Eigenschaften des Systems relativ
tische und die potenzielle Energie berechnet werden. leicht zeigen. Zudem kann eine symmetrische Matrix
Die potenzielle Energie setzt sich oft aus der po- numerisch einfacher invertiert werden als eine unsymme-
tenziellen Energie von Federn und der potenziellen trische Matrix.
Energie von Gewichtskräften zusammen. Für Letz- Falls die Zwangsreaktionen berechnet werden sollen,
tere muss jeweils ein geeignetes Nullniveau defi- kann ähnlich wie in der Statik verfahren werden. Wir ma-
niert werden. Die Berechnung der kinetischen Ener- chen das System in Richtung der interessierenden Kraft
gie ist bei einer ebenen Bewegung relativ einfach oder in Richtung des Moments beweglich, indem wir
und muss bei räumlichen Bewegungen mithilfe von einen zusätzlichen Freiheitsgrad einführen. Die Zwangs-
(10.8) erfolgen. Notwendig sind dazu die Ermittlung kraft oder das Zwangsmoment wird dadurch zu einer äu-
der Schwerpunktsgeschwindigkeiten in Abhängig- ßeren Kraft oder einem äußeren Moment, dessen virtuelle
keit der qj und der q̇j . Dabei ist es oft am einfachsten, Arbeit bei einer virtuellen Verschiebung nicht unbedingt
den Ortsvektor zum jeweiligen Schwerpunkt aufzu- null ist. Als Ergebnis erhalten wir n + 1 Bewegungsglei-
stellen und diesen dann nach der Zeit zu differenzie- chungen. In allen Bewegungsgleichungen können dann
ren. Um die kinetische Energie und die potenzielle der zusätzliche, künstlich eingeführte Freiheitsgrad und
Energie nur noch in Abhängigkeit der verallge- seine Zeitableitungen null gesetzt werden. Aus einer der
meinerten Koordinaten und deren Zeitableitungen Gleichungen wird dann die Zwangsreaktion bestimmt
und kann in die anderen Gleichungen eingesetzt werden.
11.5 Lagrange’sche Gleichungen 2. Art 269

Beispiel: Lagerkraft bei einem physikalischen Pendel

Technische Mechanik
Wie man Lagerreaktionen mithilfe der Lagrange’schen Die potenzielle Energie infolge des Gewichtes beträgt:
Gleichungen 2. Art bestimmen kann, zeigen wir am
Beispiel eines physikalischen Pendels, für welches wir Epot = (−u − l cos ϕ)mg.
die Lagerkraft FA,y in vertikaler Richtung bestimmen
wollen. Dazu werden das Lager A in dieser Rich- Somit erhalten wir für das kinetische Potenzial:
tung verschiebbar gemacht und die Lagerkraft FA,y als
äußere Kraft eingeführt (Abb. 11.17). Das Pendel hat 1
die Masse m, das Massenträgheitsmoment JS , und der L= m(u̇2 − 2lu̇ ϕ̇ sin ϕ + l2 ϕ̇2 )
2
Schwerpunkt S liegt im Abstand l vom Lagerpunkt A. 1
+ JS ϕ̇2 + (u + l cos ϕ)mg.
2

FA,y
Aus der virtuellen Arbeit aller Anteile von eingepräg-
ey
ten Kräften und Momenten, die nicht in der potenziel-
u len Energie berücksichtigt sind,
g
A
ex δWnk = −FA,y δu,

φ erhalten wir durch Vergleich:

Qu = −FA,y ,
S
Q ϕ = 0.

Ohne die mathematischen Umformungen explizit vor-


Abb. 11.17 Bestimmung der Lagerkraft FA,y bei einem physikalischen Pen- zuführen geben wir nur die Gleichungen an, die sich
del aus dem Lagrange’schen Formalismus ergeben:
Mit dem verschiebbaren Lager hat das Pendel zwei
Freiheitsgrade, die Verschiebung u und die Winkelver- mü − ml ϕ̈ sin ϕ − ml ϕ̇2 cos ϕ − mg = −FA,y ,
drehung ϕ. Die kinetische Energie berechnet sich zu: −mlü sin ϕ + (ml2 + JS ) ϕ̈ + mgl sin ϕ = 0.
1 2 1
Ekin = mv + JS ϕ̇2 , Wir hatten den Freiheitsgrad u künstlich eingeführt,
2 S 2 den wir jetzt zu null setzen, u = 0, u̇ = 0 und ü = 0.
wobei wir für die Bestimmung von v2S zunächst den Somit resultieren zwei Gleichungen:
Ortsvektor rS zum Schwerpunkt bestimmen:
mg + ml ϕ̈ sin ϕ + ml ϕ̇2 cos ϕ = FA,y ,
rS = l sin ϕex + (−u − l cos ϕ)ey
(ml2 + JS ) ϕ̈ + mg sin ϕ = 0,
und ableiten:
sodass mithilfe der ersten Gleichung die Lagerkraft
ṙS = l ϕ̇ cos ϕex + (−u̇ + l ϕ̇ sin ϕ)ey . bei bekannter Lösung für ϕ bestimmt werden kann.
Die zweite Gleichung ist die bekannte Differenzialglei-
Dies führt auf: chung eines physikalischen Pendels. Der Term ml2 + JS
entspricht dem Massenträgheitsmoment des Pendels
v2S = u̇2 − 2lu̇ ϕ̇ sin ϕ + l2 ϕ̇2 . für eine Drehung um den Lagerpunkt A.

Weiterführende Literatur
Die Literatur für alle Kapitel des Teils Technische Mecha-
nik befindet sich am Ende von Kap. 9.
270 11 Analytische Mechanik – über effiziente Algorithmen Bewegungsgleichungen herleiten

Antworten zu den Verständnisfragen


Technische Mechanik

Antwort 11.1 6, z. B. die Verdrehwinkel in den Gelenken. Antwort 11.3 Viskoser Dämpfer: δW = −kD ẋδx, trockene
Reibung: δW = −μFN δx.
Antwort 11.2 Geschwindigkeit des Kontaktpunktes muss
null sein. Antwort 11.4 Bei Rollen: Zwangskraft, bei Schlupf: einge-
prägte Kraft.
Aufgaben 271

Aufgaben

Technische Mechanik
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

11.1 • Der Faden eines Jo-Jos wird festgehalten, Hinweis: Auswertung über Skalarprodukte.
während das Jo-Jo nach unten beschleunigt.
Resultat:
Faden
δW = [F1 + sin( ϕ1 − ϕ2 )F2 ]l1 δϕ1

3R 11.4 •• Der abgebildete Zweischlag besteht aus zwei


R Stäben der Länge l. Die Punkte A und B können sich hori-
zontal verschieben, ihre Lage wird durch die Koordinaten
xA und xB beschrieben. Am Gelenk G greift die Kraft F1
m
unter dem Winkel α an. Am linken Stab wirkt mittig die
Kraft F2 stets senkrecht zur Stablängsachse und am Punkt
Wie groß ist die Beschleunigung des Schwerpunktes, B die horizontale Kraft F3 .
wenn der Radius der Walze, auf dem der Faden aufge-
wickelt ist, R beträgt und das Jo-Jo selbst als homogene F1
Scheibe der Masse m mit Radius 3R betrachtet werden α
G
kann? Zur Lösung soll das Prinzip von d’Alembert in La-
grange’scher Fassung verwendet werden.
F2
Hinweis: Drehung und Translation sind gekoppelt. B F3
A
Resultat:
2
ẍ = g xA
11
xB
11.2 • Lösen Sie Aufgabe 11.1 mithilfe der Lagran-
ge’schen Gleichungen.
Hinweis: Drehung und Translation sind gekoppelt. Wie groß ist die virtuelle Arbeit? Was ergibt sich für die
verallgemeinerten Kräfte?
Resultat:
2 Hinweis: Bestimmen Sie zunächst die Ortsvektoren zu den
ẍ = g Kraftangriffspunkten in Abhängigkeit von xA und xB .
11
11.3 •• An dem abgebildeten Doppelpendel greifen Resultat:
die Kräfte F1 und F2 an. Wie viele Freiheitsgrade hat das 1 xB − xA
System? Wie groß ist die virtuelle Arbeit bei einer virtuel- FA = cos αF1 +  F1 sin α
2 2 4l − (xB − xA )2
2
len Verrückung? 
3 ( xB − xA ) 2
+ 4l2 − (xB − xA )2 F2 −  F2 ,
8l 8l 4l2 − (xB − xA )2
1 xB − xA
FB = cos αF1 +  F1 sin α
F1 2 2 4l − (xB − xA )2
2

1
φ1 + 4l2 − (xB − xA )2 F2
8l
( x − xA ) 2
F2 +  B F2 + F3 .
φ2 8l 4l2 − (xB − xA )2
272 11 Analytische Mechanik – über effiziente Algorithmen Bewegungsgleichungen herleiten

11.5 •• Über den abgebildeten Klappmechanismus Resultat:


wird der Massenpunkt mithilfe der Kraft F beschleunigt.
Technische Mechanik

4 2 1
ml ϕ̈1 + ml2 (cos ϕ1 cos ϕ2 + sin ϕ1 sin ϕ2 ) ϕ̈2
3 2
1
F + ml2 (− cos ϕ1 sin ϕ2 + sin ϕ1 cos ϕ2 ) ϕ̇22
2
3
+ mgl sin ϕ1 = [F1 + sin( ϕ1 − ϕ2 )F2 ]l,
2
g
1 2 1
5m ml ϕ̈2 + ml2 (cos ϕ1 cos ϕ2 + sin ϕ1 sin ϕ2 ) ϕ̈1
3 2
1
φ + ml2 (− sin ϕ1 cos ϕ2 + cos ϕ1 sin ϕ2 ) ϕ̇21
2
1
+ mgl sin ϕ2 = 0.
2

Der Massenpunkt hat die Masse 5m, die Stäbe jeweils die
Masse m/2 und die Länge l beziehungsweise m/4 und 11.7 •• Das Modell eines Aufzuges besteht aus drei
l/2. Leiten Sie die Bewegungsgleichung mithilfe des Prin- Walzen mit den Radien r1 , r2 , r3 und den Massen m1 ,
zips von d’Alembert her. Überprüfen Sie das Ergebnis mit m2 , m3 . Die Last mit der Masse m4 hängt an der unteren
den Lagrange’schen Gleichungen 2. Art. Scheibe. Die oberen beiden Walzen sind fest verbunden,
sodass sie sich mit derselben Winkelgeschwindigkeit ω
Hinweis: Stellen Sie zunächst die Ortsvektoren zu den drehen. An ihnen wirkt das Antriebsmoment MA und ein
Schwerpunkten auf. Dämpfungsmoment kD ω aufgrund eines viskosen Dreh-
dämpfers.
Resultat:
r1
25 2 275 2 275 2 2
ml ϕ̈ + ml ϕ̈ sin2 ϕ + ml ϕ̇ sin ϕ cos ϕ m2
12 8 8
r2
15 m1 M(v )
+ mgl cos ϕ + Fl cos ϕ = 0 A B
4

11.6 •• Das Doppelpendel besteht aus zwei dünnen


Stäben mit jeweils Masse m und Länge l. Belastet wird g
das Doppelpendel durch die zwei Kräfte F1 und F2 . Die r3
Schwerkraft wirkt vertikal nach unten. m3

C D

F1

φ1
g m4

F2
φ2

Wie viele Freiheitsgrade hat das Doppelpendel? Ge-


ben Sie die Bewegungsgleichungen mithilfe der Lagran-
ge’schen Gleichungen 2. Art an. Mit dem Prinzip von d’Alembert ist die Bewegungsglei-
chung herzuleiten.
Hinweis: Verwenden Sie die verallgemeinerten Kräfte aus
Aufgabe 11.3. Hinweis: Werten Sie zunächst die Kinematik aus.
Aufgaben 273

Resultat: hat das System? Die Bewegungsgleichungen sind mithilfe


  2  der Lagrange’schen Gleichungen zweiter Art herzuleiten.

Technische Mechanik
r1 − r2 m1 2 m2 2 m3 2
(m3 + m4) +
r1 + r2 + r3 ϕ̈
2 2 2 2 x
r1 − r2
+(m3 + m4 )g + kD ϕ̇ = MA . φ g
2
mSch
11.8 •• Leiten Sie mit den Angaben aus Aufgabe r
11.7 die Bewegungsgleichungen nun auch mithilfe des 2r kDφ
Langrange’schen Formalismus her.

Hinweis: Werten Sie zunächst die Kinematik aus.


mSt
Resultat:
  2  2 
m1 2 m2 2 m3 2 r1 − r2 r1 − r2
r + r + r + m3 + m4 ϕ̈ Hinweis: Die Drehung der Stange entspricht der Drehung
2 1 2 2 2 3 2 2
der Scheibe.
r − r2
+(m3 + m4 )g 1 + kD ϕ̇ = MA
2 Resultat:
 
11.9 •• Für die abgebildete Schwingerkette leite man 3 7
mSch + mSt − 2mSt cos ϕ r2 ϕ̈
die Bewegungsgleichungen mithilfe des Lagrange’schen 2 3
Formalismus her und überprüfe das Ergebnis mithilfe des
Prinzips von d’Alembert in Lagrange’scher Fassung. Wie
+ mSt sin ϕr2 ϕ̇2 + kD ϕ̇ + mSt gr sin ϕ = 0
lautet das Ergebnis für n = 4?

x1 x2 xn–1 xn 11.11 • • • Eine Scheibe kann auf dem Untergrund ab-


rollen. Die Scheibe hat den Radis r und die Masse mSch .
c1 c2 c3 cn–1 cn Im Mittelpunkt der Scheibe ist ein Stab der Länge 2r und
m1 m2 ... mn–1 mn der Masse mSt über ein Gelenk reibungsfrei drehbar befes-
tigt. Zur Beschreibung der Lage werden die horizontale
Koordinate x des Scheibenschwerpunktes und die Ver-
drehwinkel ϕ der Scheibe und ψ des Stabes eingeführt.
Alle Koordinaten sind null, wenn der Stab vertikal nach
Hinweis: Die Bewegungen der einzelnen Massenpunkte unten zeigt und der Scheibenschwerpunkt sich bei x = 0
sind unabhängig voneinander. befindet. Der Drehung der Scheibe wirkt ein Dämpfer-
moment kD ϕ̇ entgegen. Wie viele Freiheitsgrade hat das
Resultat: System? Die Bewegungsgleichungen sind mithilfe der La-
⎛ ⎞⎛ ⎞ grange’schen Gleichungen zweiter Art herzuleiten.
m1 0 0 0 ẍ1
⎜0 m2 0 0 ⎟ ⎜ẍ2 ⎟
⎝0 0 m3 0 ⎠ ⎝ẍ3 ⎠ x
0 0 0 m4 ẍ4 φ
⎛ ⎞⎛ ⎞ ⎛ ⎞ g
c1 + c2 −c2 0 0 x1 0
⎜ −c2 c2 + c3 −c3 0 ⎟ ⎜ x2 ⎟ ⎜ 0⎟ mSch
+⎝ =
0 −c3 c3 + c4 −c4 ⎠ ⎝x3 ⎠ ⎝0⎠ r
0 0 −c4 c4 x4 0 kDφ
2r
ψ
11.10 •• Eine Scheibe kann auf dem Untergrund abrol-
len. Die Scheibe hat den Radis r und die Masse mSch . An mSt
der Scheibe ist ein Stab der Länge 2r und der Masse mSt
angeschweißt. Zur Beschreibung werden die Koordinaten
x und ϕ eingeführt. Beide sind null, wenn der Stab verti-
kal nach unten zeigt. Der Drehung der Scheibe wirkt ein Hinweis: Die Stange kann sich bezüglich der Scheibe um
Dämpfermoment kD ϕ̇ entgegen. Wie viele Freiheitsgrade deren Mittelpunkt verdrehen.
274 11 Analytische Mechanik – über effiziente Algorithmen Bewegungsgleichungen herleiten

Resultat: Resultat:
 
Technische Mechanik

3 δW = −J1 ϕ̈δϕ − JP ψ̈δψ − mPl (r̈Pl,x δrPl,x + r̈Pl,y δrPl,y )


m + mSt r2 ϕ̈ − mSt r2 ψ̈ cos ψ
2 Sch − mZyl ẍZyl δxZyl − FδxZyl − ML δϕ
+mSt r ψ̇ sin ψ + kD ϕ̇ = 0,
2 2
=0
4
mSt r2 ψ̈ − mSt r2 ϕ̈ cos ψ + mSt gr sin ψ = 0.
3 11.13 •• Beim sympathischen Pendel sind zwei identi-
sche mathematische Pendel über eine Feder miteinander
verbunden. Die Pendel haben die Länge l und die Mas-
se m. Die Feder ist jeweils in der Mitte der Pendelstangen
11.12 • • • Beim abgebildeten Einzylindermotor wirkt
angebracht. Vertikal nach unten wirkt die Erdbeschleuni-
auf die Kolbenfläche die Druckkraft F( ϕ). Am Abtrieb
gung.
ist eine Schwungscheibe angebracht, die starr über die
Motorwelle mit der Kurbel verbunden ist, und an der
a
das Lastmoment ML wirkt. Das Massenträgheitsmoment
von Schwungscheibe, Motorwelle und Kurbel beträgt zu-
g
sammen J1 . Die Pleuelstange hat die Länge l, die Masse
mP und das Massenträgheitsmoment JP bezüglich dem c
Schwerpunkt, der in der Mitte des Pleuels liegt. Kreuz-
l
kopf und Zylinder haben zusammen die Masse mZyl .
l ψ
φ
m
m
G1 l a
Zylinder
R
Leiten Sie die nichtlinearen Bewegungsgleichungen mit-
A φ
ψ F(φ) hilfe der Lagrange’schen Gleichungen zweiter Art her.
Linearisieren Sie diese für ϕ 1 und ψ 1.
G2
ey J1 mρ,l Hinweis: Nehmen Sie der Einfachheit halber an, dass der
Abstand der Lager sehr viel größer ist als die Pendellän-
mZyl
ge, sodass für die Federverlängerung nur die horizontalen
Verschiebungen von deren Enden berücksichtigt werden
ex
muss.

Resultat:
cl2
Geben Sie die Bewegungsgleichung an. ml2 ϕ̈ + mglϕ + ( ϕ − ψ) = 0,
4
cl2
Hinweis: Führen Sie entsprechende Abkürzungen ein. ml2 ψ̈ + mglψ + (ψ − ϕ) = 0.
4
Einfache
12

Technische Mechanik
Schwingungen – periodische
Vorgänge verstehen,
berechnen und beeinflussen
Wie entstehen
Schwingungen
Schwingungen von
Maschinen und Fahrzeugen
berechnen
Wie können Schwingungen
beeinflusst werden

12.1 Beschreibung von Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276


12.2 Klassifikation von Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
12.3 Freie Schwingungen linearer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme . . . . . . . . . . . . . . 286
12.5 Schwingungen nichtlinearer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 275


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_12
276 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

Schwingungen begegnen uns im alltäglichen Leben in vielfältiger Tab. 12.1 Ausgewählte periodische Vorgänge in Natur und Technik
Weise. Der klingelnde Wecker, die Musik aus dem Radio, der trop- Vorgang/Gerät Frequenz in Hz Periode in s
Technische Mechanik

fende Wasserhahn, das Quietschen der U-Bahn in der Kurve, das Präzession der Erdachse 1,23 · 10−12 8,1·1011
schaltende Relais eines Kfz-Blinkers, das Flattern einer Flugzeug- (25.700 Jahre)
tragfläche, das Schwanken eines Hochhauses, das Pendeln einer Umlauf Erde um Sonne = Jahr 3,169 · 10−8 3,15 · 107
Standuhr, der Flügelschlag einer Libelle – wir sind umgeben von ei- Sonnentag 1,15740 · 10−5 86.400
ner Vielzahl natürlicher und künstlich herbeigeführter oszillierender mechan. Uhrenpendel l = 1 m 0,5 2
Vorgänge, die unter dem Begriff Schwingungen zusammengefasst Kolbenhub Dampflok (max.) 7 0,142
werden. Sogar die Ökonomie und die Natur zeigen periodische Strom-Netzfrequenz 50 0,02
Vorgänge, wie Konjunkturzyklen und Populationsschwankungen in Kolbenhub im Motor 100 0,01
Räuber-Beute-Systemen. Ihre Ursachen sind ebenso vielfältig wie bei 6000 U/min
die Phänomene, die hierbei entstehen können - seien sie erwünscht Quarz in Quarzuhr 32.768 = 215 3,05 · 10−5
Radio-Kurzwelle 3 · 106 3,3̄ · 10−7
oder unerwünscht. Im folgenden Kapitel werden wir uns mit der
Mikrowelle/WiFi 2,455 · 109 4,07 · 10−10
Beschreibung von Schwingungen befassen und mathematisch fun-
dierte Lösungen für technische Schwingungsprobleme mit einem
q
Freiheitsgrad oder zwei beschreibenden Zustandsgrößen herleiten
und interpretieren.
qmax
q +
qm q
12.1 Beschreibung q –
qmin
von Schwingungen
T T
Ein natürlicher oder physikalischer Prozess wird durch
t
eine Zustandsgröße q(t) beschrieben, z. B. eine Auslen-
kung eines sich bewegenden Körpers, einen Druck an Abb. 12.1 Zeitverlauf einer einfachen Schwingung
einer Stelle eines Fluids oder eine elektrische Spannung.
Als Schwingung oder Oszillation wird gemäß DIN 1311
ein Vorgang bezeichnet, bei dem die Zustandsgröße ei-
die jedoch nicht mit dem arithmetischen Mittelwert q̄ ver-
ne zeitliche Änderung erfährt und dabei im Allgemeinen wechselt werden darf, der sich aus dem Integral über eine
abwechselnd zu- und abnimmt. Diese Definition ist rein Periode T
beobachtungsorientiert, sie betrachtet zunächst nicht die
Ursache oder die physikalischen Prozesse, die dazu füh- t+T
1
ren, dass die Schwingung stattfindet. q̄ = q(τ )dτ
T
t
Zunächst sollen stationäre Schwingungen betrachtet wer-
den, bei denen sich der Zustand ergibt. Der Mittelwert ist anschaulich der Wert, für den
die in Abb. 12.1 farbig markierten Flächen oberhalb und
q ( t + T ) = q ( t) unterhalb des Graphen gleich groß sind. Die Amplitude q̂
beschreibt den Ausschlag der Schwingung gegenüber der
nach Ablauf der Periodendauer T absolut gleich wieder- Mittellage und wird durch
holt. Wird q(t) über der Zeit aufgetragen, ergibt sich das
Ausschlag-Zeit-Diagramm eines Schwingungsvorgangs. 1
q̂ = (qmax − qmin )
2
Der Kehrwert f = T1 wird als Schwingungsfrequenz be-
zeichnet und in der Einheit Hz (Hertz) angegeben. So- berechnet. Eine weitere Kenngröße zur Beschreibung ei-
wohl die Periodendauer als auch die Frequenz können in ner Schwingung und des mit ihr verbundenen Ener-
einem großen Variationsbereich liegen; in Tab. 12.1 sind gieumsatzes ist der Effektivwert qeff einer oszillierenden
Beispiele zusammengefasst. Größe, der sich mit
3
4 t+ T
In Abb. 12.1 sind einige wichtige Werte zur Beschreibung 4 
41
einer Schwingung eingezeichnet. Die Zustandsgröße er- qeff = 5 q(τ )2 dτ (12.1)
reicht einen Minimalwert qmin sowie einen Maximalwert T
t
qmax . Die Mittellage qm ergibt sich als:
als quadratischer Mittelwert aus der Wurzel der Quadrate
qm
1
= (qmax + qmin ) , der Größe q(t) ergibt. Aus diesem Grund ist der Effektiv-
2 wert niemals negativ.
12.3 Freie Schwingungen linearer Systeme 277

Frage 12.1 Schwingungsform einstellen, bei der zugeführte und dissi-


Wie groß ist der Effektivwert einer Sinusschwingung pierte Energie pro Zyklus gleich groß sind. Erzwungene

Technische Mechanik
q(t) = A sin Ωt mit der Amplitude A? Schwingungen können im Fall der Resonanz aufklingen
und die Amplituden sehr groß werden, im theoretischen
Grenzfall der Dämpfungsfreiheit sogar unendlich groß.
Zur Berechnung der integralen Mittelwerte ist aufgrund Schwingungen sind eng mit Wellen verwandt. Exempla-
der angenommenen Periodizität der Startpunkt t für die risch kann dies an einer schwingenden Oberfläche an der
Mittelung beliebig. Die Integration muss lediglich über ei- Luft dargestellt werden: Die periodische Bewegung der
ne volle Schwingungsperiode T erfolgen. Festkörperoberfläche regt die benachbarten Luftmolekü-
le zu Schwingungen an, die zu einer Schallwelle führen
und die Energie des Systems in der Welle wegtragen. Ab-
12.2 Klassifikation strahlung von Schallwellen durch eine Struktur ist somit
ein spezieller Dämpfungsmechanismus. Wellenphänome-
von Schwingungen ne werden in Abschn. 13.2 kurz beschrieben.

Eine Klassifikation von technischen und natürlichen Lässt sich der Zustand des Schwingers eindeutig durch
Schwingungsphänomenen lässt sich vornehmen, wenn zwei Zustandsgrößen oder eine Zustandsgröße und ih-
zugrunde gelegt wird, dass diese sich auf einen sich wie- re Zeitableitung beschreiben, handelt es sich um einen
derholenden Austausch von Energie zwischen zwei oder einläufigen Schwinger (Abschn. 12.3, 12.4 und 12.5). Ty-
mehr Speichern zurückführen lassen (Abb. 12.2). Dieser pischerweise existieren dabei zwei Differenzialgleichun-
meist periodische Austauschprozess kann von Energie- gen erster Ordnung, welche die zeitliche Änderung der
dissipation begleitet sein, bei der bei jedem Austausch Zustandsgrößen, häufig der „Füllungsgrad“ der Ener-
dem Prozess ein Teil der Energie entzogen wird, z. B. in giespeicher, beschreiben. Diese lassen sich in der Regel
Form von Wärme. Schwingungen ohne diesen Verlust zu einer einzigen Differenzialgleichung zweiter Ordnung
werden als ungedämpft bezeichnet, andernfalls sind sie zusammenfassen. Dies wird im folgenden Abschnitt be-
gedämpft. Als Sonderfall sind auch Schwingungen zu be- schrieben. Handelt es sich bei den Gleichungen, die den
obachten, die eine Energiequelle anzapfen können, diese Schwinger beschreiben, um lineare Differenzialgleichun-
werden als angefachte Schwingungen bezeichnet. gen, liegt ein lineares Schwingungssystem vor. Andern-
falls wird es als nichtlineares System bezeichnet. Oft lassen
Wird der Schwingungsprozess nicht von außen angeregt, sich nichtlineare Gleichungen für kleine Auslenkungen li-
handelt es sich um eine freie Schwingung (Abschn. 12.3). nearisieren.
Eine äußere Anregung kann der Schwingung von au-
Wird ein Schwingungssystem durch mehr als zwei
ßen Energie zuführen. Ist die Erregung rückwirkungsfrei
Zustandsgrößen-Paare beschrieben, wird es als mehrläu-
und rein zeitabhängig, d. h., sie wirkt unabhängig vom
figer Schwinger (Abschn. 13.1) bezeichnet. Schwinger, bei
Zustand des Schwingungssystems, liegt eine erzwungene
denen unendlich viele Zustandsgrößen benötigt werden,
Schwingung (Abschn. 12.4) vor. Beeinflusst der Schwin-
stellen Feldprobleme dar und werden als Kontinuums-
gungsprozess die Energiezufuhr selbst, kann eine selbst-
schwinger bezeichnet (Abschn. 13.2). Auch bei diesen
erregte Schwingung entstehen. Derartige Schwingungen
Schwingern ist immer ein Energieaustauschmechanismus
werden in diesem Buch nicht behandelt.
zu beobachten, es sind jedoch kontinuierlich verteilte
Die freie, ungedämpfte Schwingung ist ein theoretischer Speicher vorhanden.
Grenzfall. In der Realität wird ein freier Schwingungsvor-
gang immer abklingen. Sowohl bei erzwungenen als auch
bei selbsterregten Schwingungen kann sich eine stationäre 12.3 Freie Schwingungen
linearer Systeme
externe Quelle
Als freie Schwingungen werden Phänomene bezeichnet,
bei denen ein schwingungsfähiges System aus Anfangs-
Anregung bedingungen ohne weitere Anregung sich selbst überlas-
sen wird. Schwingungsfähige Systeme lassen sich in der
Speicher 1 Austausch Speicher 2
Regel durch ein System von Differenzialgleichungen be-
innere Prozesse schreiben, die im Fall der freien Schwingungen homogen
sind. Die Methodik zur Aufstellung dieser Gleichungen
Dissipation (Anfachung) variiert von Domäne zu Domäne, die entstehenden Glei-
chungen sind jedoch immer von gleicher Gestalt. Für die
Mechanik soll zunächst der bekannte Weg mit dem New-
Abb. 12.2 Energieflüsse einer einfachen Schwingung ton’schen Gesetz gewählt werden.
278 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

Übersicht: Einläufige technische Schwingungssysteme


Technische Mechanik

Übersicht über verschiedene technische Schwingungs- kommenden Energiespeicher und Dämpfungmecha-


systeme mit einem Freiheitsgrad sowie die darin vor- nismen

Schwingungssystem Abbildung Speicher 1 Speicher 2 Dämpfungs-


Energieform, Energieform, mechanismus
Zustandsgröße Zustandsgröße
Feder-Masse-System träge Masse Feder Luftwiderstand,
kinetisch, elastisches Potenzial, Materialdämpfung
m Geschwindigkeit v Kraft F der Feder
x(t)

c d

Drehfeder- träge Drehmasse Drehfeder Luftwiderstand,


Drehmasse-System kinetisch, elastisches Potenzial, Materialdämpfung
Winkelgeschwin- Moment M der Drehfeder
cr digkeit ω
J

φ(t)

Pendel träge Masse schwere Masse Luftwiderstand,


kinetisch Gravitationspotenzial Reibung im Gelenk
Geschwindigkeit v Kraft F

φ(t) l

m
elektrischer LCR- R Induktivität L Kapazität C elektrischer
Schwingkreis Magnetfeld, el. Feld, Widerstand R
Stromstärke I Spannung U in den Leitungen
U(t) I(t)
e–

C L

Druckschwingungen p(t) träges Fluid kompressibles Fluid Zähigkeit des Fluids,


in Fluidsystemen Q(t) in Leitungen elastisches Potenzial, Turbulenzen
kinetisch, Druck p
Volumenstrom Q
V
A
L
12.3 Freie Schwingungen linearer Systeme 279

q (t) Bei einem Torsionsschwinger stehen anstelle der Masse


m das Trägheitsmoment J und anstelle der Steifigkeit c

Technische Mechanik
c
und der Dämpfung d die Verdrehsteifigkeit cR und die
F F Drehdämpfung dR . Gleichung (12.3) lautet mit der Ver-
m drehkoordinate ϕ:
d

J ϕ̈ + dR ϕ̇ + cR ϕ = 0,

Abb. 12.3 Mechanischer Einmassenschwinger mit der Masse m , der Federstei- woraus sich
figkeit c und der Dämpfungskonstanten d
cR dR
ω02 = und δ=
J 2J
Systemgleichungen für mechanische ableiten lässt.
Schwingungssysteme werden mit dem Impuls-
oder Drehimpulssatz sowie einem Federgesetz
aufgestellt Der Zeitverlauf der Schwingung ist die Lösung
der Differenzialgleichung
Die Differenzialgleichungen mechanischer Systeme
(Abb. 12.3) werden in der Regel mithilfe des Impulssatzes
Die Differenzialgleichung (12.4) eines ungedämpften, li-
in der Form mq̈ = −F mit der zweiten Ableitung der Zu-
nearen Schwingungssystems wird durch
standsgröße aufgestellt. Dabei stellt q(t) die Auslenkung
der Masse dar. Die Kraft des Feder-Dämpfer-Elements
q(t) = A cos ω0 t + B sin ω0 t (12.5)
lässt sich allgemein immer in der Form F(q, q̇) und
im linearen Fall durch F = cq + dq̇ beschreiben. Dabei gelöst, wobei A und B die Integrationskonstanten sind,
bezeichnen c die Federkonstante und d die Dämpfungskon- die sich aus Anfangsbedingungen bestimmen lassen. Die
stante. Eigenkreisfrequenz ω0 des Schwingers hängt mit der Ei-
Dieses Vorgehen verbirgt allerdings das Vorhandensein genfrequenz f0 und der Periodendauer T gemäß
von zwei Zustandsgrößen und zugehörigen Speichern
gemäß Abb. 12.2: der Lage q und der Geschwindig- 2π
ω0 = 2πf0 und ω0 =
keit q̇ oder v. Die Lage q beschreibt den potenziellen T
Energiespeicher der Feder Epot = 12 cq2 . Es könnte alter-
zusammen. Eine gleichwertige Darstellung der Lösung
nativ die Zustandsgröße F = cq mit Epot = 2c 1 2
F verwen- (12.5) ist
det werden. Die Geschwindigkeit v ist dem kinetischen
Energiespeicher Ekin = 12 mv2 zugeordnet. Die momentan q(t) = C cos (ω0 t − ψ)
während der Bewegung dissipierte Leistung im Dämpfer
ergibt sich zu Pdiss = FD v = dv2 . mit den Konstanten C und ψ, die sich durch die Beziehun-
gen
Auf die Masse wirkt die Kraft von Feder und Dämpfer in
negativer Koordinatenrichtung, somit ergibt sich  B
C= A2 + B2 , tan ψ = ,
mq̈ + dq̇ + cq = 0 (12.2) A
A = C cos ψ, B = C sin ψ
als homogene Bewegungsgleichung. Diese Gleichung
wird durch die Masse m dividiert und es ergibt sich: ineinander überführen lassen, wobei C die Amplitude und
ψ die Phase der Schwingung sind.
q̈ + 2δq̇ + ω02 q = 0, (12.3)
Die zwei Konstanten sind mit den zwei Speichern des
wobei die Größen Schwingers verknüpft, die tatsächliche Form der Schwin-
c d gung ergibt sich aus dem Anfangszustand der beiden
ω02 = und δ= Speicher. Beim mechanischen Schwinger sind die geeig-
m 2m
neten Anfangsbedingungen die Lage, die über die Stei-
eingeführt wurden. Mit ω0 wird die Eigenkreisfrequenz des figkeit c mit der Speichergröße Kraft verknüpft ist, sowie
ungedämpften Schwingers bezeichnet, δ ist die Abkling- die Geschwindigkeit. Beide Größen zusammen beschrei-
konstante. Für das System ohne Dämpfer verbleibt: ben den Zustand des Schwingers zu einem Zeitpunkt
t0 . Vereinfachend soll im Folgenden t0 = 0 gesetzt wer-
q̈ + ω02 q = 0. (12.4) den. Sind die Anfangsbedingungen mit der Anfangslage
280 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

q Steigungsdreieck der
∆t ∙ v0 Anfangssteigung Freie Schwingungen ungedämpfter, linearer Systeme
Technische Mechanik

q0 Der Schwinger führt eine stationäre, harmonische


∆t
Bewegung, d. h. eine Sinusschwingung mit der
t Eigenkreisfrequenz ω0 aus.
Amplitude und Phase ergeben sich aus den An-
fangsbedingungen, z. B. der Lage und Geschwin-
digkeit zu einem Zeitpunkt t0 .
Abb. 12.4 Verlauf einer harmonischen Schwingung eines linearen Systems Die Anfangsbedingungen repräsentieren die Zu-
ausgehend von Anfangsbedingungen zum Zeitpunkt t0 stände der beiden Speicher zu Beginn des
Schwingungsvorgangs.

q(0) = q0 sowie der Anfangsgeschwindigkeit q̇(0) = v0


gegeben, muss zunächst die Lösung (12.5) zu

q̇(t) = ω0 (−A sin ω0 t + B cos ω0 t) Der gedämpfte Schwinger verliert Energie,


und seine Amplitude verringert sich
differenziert werden, um die Lösung an beide Anfangs-
bedingungen anpassen zu können. Es ergeben sich die
beiden Gleichungen Wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt, lässt sich ein
gedämpftes, lineares Schwingungssystem immer durch
eine Differenzialgleichung der Form
q0 = A cos ω0 t0 + B sin ω0 t0 ,
v0 = ω0 (−A sin ω0 t0 + B cos ω0 t0 ) , q̈ + 2δq̇ + ω02 q = 0 (12.7)
beschreiben. Die Lösung dieser Differenzialgleichung ist
die für t0 = 0 unmittelbar zu etwas komplizierter als im ungedämpften Fall, da eine
Fallunterscheidung vorgenommen werden muss: Es wird
v0
A = q0 und B = für die Lösung der Ansatz
ω0
q = Ceλt
führen. Somit lautet die Lösung mit Anfangsbedingungen
q0 und v0 zum Zeitpunkt t0 : mit den Konstanten λ und C gewählt und in (12.7) einge-
setzt, wobei q̇ = λCeλt und q̈ = λ2 Ceλt verwendet wird.
v0 Nach der Division durch Ceλt verbleibt die charakteristi-
q(t) = q0 cos ω0 t + sin ω0 t. (12.6)
ω0 sche Gleichung:

In Abb. 12.4 ist der Zeitverlauf der Schwingung darge- λ2 + 2δλ + ω02 = 0. (12.8)
stellt: q0 entspricht der Anfangslage und v0 der Anfangs- Es handelt sich um eine quadratische Gleichung für die
steigung. Unbekannte λ, die durch

Abschließend soll noch die Verteilung der Energie in der λ1,2 = −δ ± δ2 − ω02 (12.9)
Schwingung q(t) = A sin ω0 t und q̇(t) = Aω0 cos ω0 t ei-
nes Feder-Masse-Schwingers wie in Abb. 12.3 mit d = 0 gelöst wird. Es wird nun der dimensionslose Dämpfungs-
betrachtet werden. Die maximale potenzielle Energie in parameter, auch bekannt als Lehr’sches Dämpfungsmaß, D
der Feder wird in den Momenten der maximalen Auslen- eingeführt, der durch
π
kung t = 2ω , 3π , . . . erreicht und beträgt Epot = 12 cA2 .
0 2ω0
δ
Dort sind die Geschwindigkeit und somit auch die kineti- D= (12.10)
sche Energie null. Das Maximum der kinetischen Energie ω0
besitzt die Masse bei maximaler Geschwindigkeit und bei mechanischen Systemen mit ω02 = c
m
sie beträgt Ekin = 12 mω02 A2 . Dieser Zustand wird für t =
0, ωπ , 2π d dω0 d
0 ω , . . . erreicht.
0 D= = = √
2mω0 2c 2 mc
Frage 12.2 definiert wird. Wird aus der rechten Seite von (12.9) ω0
Zeigen Sie, dass für ungedämpfte Schwingungen Epot = ausgeklammert, ergibt sich:
Ekin gilt. 
λ1,2 = ω0 −D ± D2 − 1 . (12.11)
12.3 Freie Schwingungen linearer Systeme 281

Hier ist nun eine Fallunterscheidung in Abgängigkeit des q


Wurzelterms erforderlich. Grundsätzlich kann auch δ < 0

Technische Mechanik
und somit D < 0 gelten, was einer negativen Dämpfung C e–δt
oder Anfachung des Systems entspricht. Diese Situation
ist im Prinzip in der folgenden Fallunterscheidung ent- q1 q2
halten. T1 q3 t

Schwingungsfähiges System, D < 1


Gilt 0 < D < 1, was bedeutet, dass die Dämpfung in- Abb. 12.5 Gedämpfte Schwingung
nerhalb bestimmter Schranken liegt, ist der Radikand
in (12.11) negativ. In diesem Fall wird vorteilhaft mit
komplexen Zahlen weitergerechnet. Mit der imaginären Konstanten A und B aus der Lage q0 und der Geschwin-
Einheit j lässt sich (12.11) als digkeit v0 zum Zeitpunkt t0 = 0 bestimmt werden, ergibt
 sich
λ1,2 = ω0 −D ± j 1 − D2
v + δq0
A = q0 und B = 0 . (12.17)
schreiben. Es wird nun die Eigenkreisfrequenz des gedämpf- ωd
ten Systems Der Spezialfall des ungedämpften Systems d = δ = D = 0
 mit der Folge ωd = ω0 ist hier vollständig enthalten. So-
ω d = ω 0 1 − D2 (12.12) gar der Sonderfall negativer Dämpfung mit −1 < D < 0,
auch Anfachung genannt, lässt sich mit den Formeln die-
eingeführt, und es ergibt sich: ses Abschnitts berechnen. Lediglich die Konstante δ wird
 negativ, damit wir der Exponent von e−δt positiv und die
λ1,2 = −δ ± jω0 1 − D2 = −δ ± jωd . (12.13)
Schwingungsamplitude steigt exponential an.
Unter Verwendung von ejx = cos x + j sin x kann die Ge-
Frage 12.3
samtlösung q(t) = C1 eλ1 t + C2 eλ2 t als Innerhalb welcher Zeit T klingt die Amplitude des
Schwingers auf die Hälfte ab?
q(t) = C1 e−δt (cos ωd t + j sin ωd t)
+ C2 e−δt (cos ωd t − j sin ωd t)
Aperiodisch gedämpftes System, D > 1
mit zunächst komplexen Integrationskonstanten C1 und √
C2 angeschrieben werden. Die Lösung q(t) muss aber reell Gilt D > 1, ist der Wurzelterm D2 − 1 reell und positiv,
sein. Dazu werden zwei neue reelle Integrationskonstan- der gesamte Klammerausdruck
√ in (12.11) ist stets kleiner
ten A und B eingeführt, die als Null, da D > D − 1 gilt. Ähnlich
2
√ zum vorangegan-
genen Abschnitt wird ωD = ω0 D2 − 1 eingeführt, und
1 1
C2 = (A + jB) und C1 = C2∗ = (A − jB) (12.14) es ergibt sich als Lösung
2 2
q(t) = C1 e−(δ +ωD)t + C2 e−(δ −ωD)t (12.18)
ersetzen. Die sich ergebende, gleichwertige, rein reelle Lö-
sung lautet: eine Summe aus zwei abklingenden Exponentialfunktio-
nen. Ein derartig stark gedämpftes System ist somit nicht
q(t) = e−δt (A cos ωd t + B sin ωd t) , (12.15) schwingungsfähig, es kehrt aus einer Anfangslage „krie-
chend“ in seine Ruhelage zurück.
wobei A und B analog zum Vorgehen im letzten Abschnitt
an die Anfangsbedingungen angepasst werden müssen. Mit den hyperbolischen Funktionen und Ersetzung der
Wie beim ungedämpften Fall ist Integrationskonstanten A = C1 + C2 sowie B = C2 − C1
kann (12.18) zu
q(t) = Ce−δt cos (ωd t − ψ) (12.16)
q(t) = e−δt [A cosh(ωD t) + B sinh(ωD t)] (12.19)
mit den Konstanten C und ψ eine gleichwertige Dar- vereinfacht werden. Die Bestimmung der Integrations-
stellung der Lösung. Die gedämpfte Schwingung des konstanten A und B erfolgt aus der Lage q0 und der
linearen Systems ist somit eine harmonische Schwingung, Geschwindigkeit v0 zum Zeitpunkt t0 = 0, und es ergibt
deren Amplitude mit der Zeit exponentiell abnimmt sich analog zu (12.17):
(Abb. 12.5). Ihre Frequenz weicht von der Frequenz ohne
Dämpfung ab. Sollen analog zum Vorgehen beim unge- v0 + δq0
A = q0 und B= .
dämpften Schwinger im vorangegangenen Abschnitt die ωD
282 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

Es ist zu erkennen, dass die Lösungen des schwach bzw. Eine konstante Last auf den Schwinger kann
stark gedämpften Systems ((12.15) bzw. (12.19)) struk-
durch eine Koordinatentransformation aus der
Technische Mechanik

turell sehr ähnlich sind. Während beim schwach ge-


dämpften System die Lösung die Summe einer Kosinus- Bewegungsgleichung eliminiert werden
und einer Sinus-Funktion ist, ergibt sich für den stark
gedämpften Fall die Summe einer hyperbolischen Kosi-
nusfunktion und einer hyperbolischen Sinusfunktion. Die Bei der Betrachtung mechanischer Feder-Masse-Systeme
Berechnung der Integrationskonstanten A und B aus den tritt oft die Situation auf, dass auf die Masse des Schwin-
Anfangsbedingungen führt für beide Fälle auf identische gers neben der Federkraft noch eine weitere konstante
Gleichungen. Kraft FK , z. B. die Schwerkraft wirkt. Die Bewegungsglei-
chung lautet dann:

Aperiodischer Grenzfall, D = 1 mq̈ + dq̇ + cq = FK .

Abschließend soll noch der Fall D = 1 behandelt werden,


bei dem die Lösungen der charakteristischen Gleichung Generell können Schwinger mit zusätzlicher Konstantlast
(12.11) zu immer in die Form

λ1,2 = −δ q̈ + 2δq̇ + ω02 q = K (12.20)

zusammenfallen. Aus der Theorie linearer, gewöhnlicher gebracht werden. Die Gleichung ist somit zunächst inho-
Differenzialgleichungen folgt im Fall doppelter Eigenwer- mogen, da sie den Term K auf der rechten Seite hat. Dieser
te die Fundamentallösung Term lässt sich durch eine Koordinatentransformation aus
der Gleichung eliminieren; die Bewegungsgleichung wird
q(t) = e−δt (A + Bt) . wieder homogen.

Die Gesamtauslenkung q(t) = qG + qS (t) wird in einen


Mit den Anfangsbedingungen q(0) = q0 und q̇(0) = v0 er- konstanten Gleichgewichtsanteil qG sowie die überlager-
gibt sich: te Schwingungsauslenkung qS (t) zerlegt. Die stationäre
Gleichgewichtslage ergibt sich durch Einsetzen von q =
A = q0 und B = v0 + δq0 . qG , q̇ = 0 und q̈ = 0 in (12.20), was zu

Auch in diesem Fall tritt keine Schwingung auf, in einem K


Übergangsprozess wird der Gleichgewichtszustand ange- qG =
ω02
strebt, aber nie erreicht.

führt. Für die Ableitungen gilt q̇ = q̇S sowie q̈ = q̈S , was


Freie Schwingungen eines gedämpften, linearen Sys- eingesetzt in (12.20) zunächst auf
tems
 
K
Abhängig von der Größe der Dämpfung führt q̈S + 2δq̇S + ω02 + qS =K
der gedämpfte Schwinger entweder eine Schwin- ω02
gung oder eine aperiodische „Kriechbewegung“
aus. und schließlich zu
Kommt es zur Schwingung, führt der Schwinger
eine abklingende, harmonische Bewegung mit
der Eigenkreisfrequenz ωd aus. q̈S + 2δq̇S + ω02 qS = 0
Die Amplitude der Schwingung klingt mit einem
exponentiellen Zeitgesetz ab und erreicht deshalb führt. Somit kann der Schwinger mit konstanter Last auf
theoretisch nie die Amplitude null. einen Schwinger ohne zusätzliche Last mit verschobener
Anfangsamplitude und Phase ergeben sich aus Nullage zurückgeführt werden. Die Gleichung ist iden-
den Anfangsbedingungen, z. B. der Lage und Ge- tisch mit (12.7) und für d = δ = 0 mit (12.4) und kann mit
schwindigkeit zu einem Zeitpunkt t0 . den in den vorangegangenen Abschnitten behandelten
Die Anfangsbedingungen repräsentieren die Zu- Methoden gelöst werden. Die Gesamtlösung lautet somit
stände der beiden Speicher zu Beginn des für den ungedämpften Fall
Schwingungsvorgangs.
q(t) = qG + A cos ω0 t + B sin ω0 t. (12.21)
12.3 Freie Schwingungen linearer Systeme 283

Beispiel: Experimentelle Bestimmung der Dämpfung durch einen Ausschwingversuch

Technische Mechanik
Die Dämpfung mechanischer Systeme beeinflusst die Dämpfungsdekrement Λ wird der natürliche Logarith-
Schwingungen und deren Auswirkungen in erhebli- mus des Amplitudenverhältnisses zweier aufeinander-
chem Maß. Um den Schwingungsvorgang zu berech- folgender Maxima einer Schwingungsfunktion
nen oder den Arbeitsprozess des Systems besser zu
analysieren und zu simulieren, ist mitunter die expe- x̂i Ce−δt
rimentelle Ermittlung der Dämpfung erforderlich. Λ = ln = ln = δT1
x̂i+1 Ce−δ (t+T1)

bezeichnet. Allgemein kann für beliebige, weiter aus-


Problemanalyse und Strategie: Bei einer geschwindig- einander liegende Amplitudenpaare
keitsproportional gedämpften Schwingung nehmen
die Auslenkungen exponentiell ab. Die Abklingrate 
wird durch die Abklingkonstante δ bzw. den Dämp- x̂i 1 x̂
Λ = ln n
= ln i
fungsgrad D beschrieben. Die Dämpfung D und die x̂i+n n x̂i+n
Eigenkreisfrequenz ω lassen sich aus dem Zeitverlauf
einer abklingenden, freien Schwingung, einem soge- geschrieben werden. Ist das logarithmische Dämp-
nannten Ausschwingversuch ermitteln. fungsdekrement konstant, also für beliebige Amplitu-
denpaare gleich, kann von geschwindigkeitsproportio-
naler Dämpfung ausgegangen werden.
Lösung: Die zeitliche Ausschwingfunktion eines vis-
kos gedämpften Einmassenschwingers mit unterkriti- Mit (12.10) und (12.13) wird ein Zusammenhang zum
scher Dämpfung entspricht (12.16). Dämpfungsmaß D und Dämpfungsdekrement herge-
stellt:
x Λ
D= √ .
Ce –δt 4π 2 + Λ2

Für schwache Dämpfungen (D 1) gilt dann nähe-


x1 x2 rungsweise:
T1 x3 t
Λ
D≈ .

Schließlich lässt sich der Dämpfungskennwert für


Die Periodendauer T1 der Ausschwingfunktion lässt schwache Dämpfung durch
sich aus dem Zeitsignal bestimmen. Abweichend zur
2mΛ
Abbildung kann es günstiger sein, den Zeitabstand d≈
aufeinanderfolgender Nulldurchgänge zu messen. Die T1
genaue Zeitpunktbestimmung des Maximums ist un-
genauer, als die Feststellung der Schnittpunkte mit der ausdrücken.
Ordinatenachse. Daraus kann die Eigenkreisfrequenz Kommentar Das logarithmische Dekrement ist zur
des gedämpften Systems experimentellen Bestimmung der Dämpfung eines
Einfreiheitsgradsystems besonders gut geeignet. Dazu
2π werden bei einem Ausschwingversuch mehrere Maxi-
ωd =
T1 ma eines Schwingungsvorgangs gemessen. Eine Verän-
derung von Λ zwischen verschiedenen benachbarten
bestimmt werden. Für die Ermittlung des Dämpfungs- Höchstwerten wäre dann ein Maß für die Abweichung
werts werden die aufeinanderfolgenden Maxima der von der angenommenen geschwindigkeitsproportio-
Ausschwingfunktion betrachtet. Als logarithmisches nalen Dämpfung. 
284 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

Beispiel Der in Abb. 12.6 dargestellte Schwinger soll aus


der Lage q = 0, in der die Feder entspannt ist, aus der Ru-
Technische Mechanik

he, d. h. mit q̇ = 0, losgelassen werden. L


I(t)
C U(t)
q qS
–qG R
t
m 0
qG
g 0 q (t )
c

Abb. 12.7 Einfacher elektrischer Schwingkreis mit Kapazität C , Induktivität L


und Widerstand R

Abb. 12.6 Schwinger mit zusätzlicher, konstanter Last. Die Bewegung des
Schwingers q (t ) ist im schwarzen System eine Bewegung um die Gleichge-
wichtslage qG beginnend aus der Nullage. Im verschobenen blauen System der Zwei Differenzialgleichungen erster Ordnung
Koordinate qS findet die Bewegung um die Nullage und Ruhelage qS = 0 statt können schwingungsfähige Systeme
beschreiben
Die Bewegungsgleichung lautet mq̈ + cq = −mg, gemäß
(12.20) ergibt sich:
In der Übersichts-Box Einläufige technische Schwingungs-
systeme sind schwingungsfähige Systeme dargestellt, bei
mg g
K = −g und qG = − = − 2. denen die Zustandsgrößen, allgemein als q1 und q2 be-
c ω0 zeichnet, nicht einfach durch Ableitung auseinander her-
vorgehen. Eine Differenzialgleichung zweiter Ordnung
Aus der Perspektive der Koordinate qS lauten die An- ist nicht ohne Weiteres formulierbar.
fangsbedingungen qS (0) = −qG sowie q̇S (0) = 0, was ge-
mäß (12.6) zu
Das System der Bewegungsgleichungen
g
qS (t) = −qG cos ω0 t = 2 cos ω0 t Die Austauschprozesse der beiden Speicher mit ihren Zu-
ω0 standsgrößen q1 und q2 ohne Anregung von außen lassen
sich immer durch ein autonomes, homogenes Differenzi-
führt. Die Lösung in der Koordinate q lautet somit: algleichungssystem erster Ordnung der Form

g q̇1 = f1 (q1 , q2 ), (12.22)


q(t) = qG (1 − cos ω0 t) = − (1 − cos ω0 t) .
ω02 q̇2 = f2 (q1 , q2 ) (12.23)

Der Schwinger erreicht in jeder Periode wieder seinen beschreiben. Dieses kann im linearen Fall mit bekannten
ursprünglichen Startpunkt als Umkehrpunkt. Dieses Bei- Methoden der linearen Algebra gelöst werden. Dies soll
spiel hat bereits eine enge Verwandschaft zur Sprungant- am Beispiel des elektrischen Schwingkreises in Abb. 12.7
wort des Schwingers, welche in Abschn. 12.4 gezeigt wird. mit einer Spule der Induktivität L, einem Kondensator
 der Kapazität C und einem Widerstand R dargestellt wer-
den: Die Variable q1 ist die Stromstärke I, Zustandsgröße
des magnetischen Energiespeichers Spule. Die Variable
Schwingungen linearer Systeme mit zusätzlicher, kon- q2 ist die Spannung U, Zustandsgröße des Kondensa-
stanter Last tors als Speicher elektrischer Feldenergie. Der Widerstand
wirkt als Energiedissipator. Die linearen Systemgleichun-
Eine konstante Last ändert die Frequenz des gen lauten in Analogie zu (12.22) und (12.23):
Schwingers nicht.
Der Schwinger hat eine Ruhelage, die sich aus der 1
Größe der konstanten Last bestimmt. İ = − (U + RI ), (12.24)
L
Die Schwingung erfolgt um die Ruhelage.
1
U̇ = I, (12.25)
C
12.3 Freie Schwingungen linearer Systeme 285

die als Gleichungssystem in der Form Wird die Abklingkonstante des elektrischen Schwingkrei-
   R   ses mit 2δ = RL eingeführt und ω0 gemäß (12.26) einge-

Technische Mechanik
İ − L − L1 I setzt, zeigt sich, dass (12.27) völlig identisch mit (12.8)
= 1
U̇ 0 U wird. Der Dämpfungsparameter D = ωδ0 kann an dieser
! "# $ ! C "# $ ! "# $
q̇ A q Stelle ebenfalls analog zum mechanischen Schwinger ein-
geführt werden. In der Elektrotechnik wird jedoch gerne
zusammengefasst werden können. Es handelt sich um die Güte Q = 2D 1
zur dimensionslosen Beschreibung der
ein lineares Differenzialgleichungssystem erster Ordnung Dämpfung eines Schwingkreises verwendet. Die Eigen-
mit dem Zustandsvektor q(t) und der Systemmatrix A. werte als Lösung von (12.27) lauten somit:
Die wechselseitige Kopplung beider Zustandsgrößen ist
durch die Terme mit Kapazität und Induktivität auf der  
Nebendiagonale der Matrix A zu erkennen. Der Wider- R R2 1
λ1,2 =− ± − = −δ ± δ2 − ω02 ,
stand taucht nur auf der Hauptdiagonalen auf. 2L 4L2 LC

wobei auch hier für den schwingungsfähigen


 Fall δ ≤ ω0
Zeitlösung des Systems erster Ordnung
die Eigenkreisfrequenz ωd = ω02 − δ2 eingeführt wer-
Zunächst soll das System ohne Dämpfung, d. h. für R = 0 den kann. Mit den zugehörigen Eigenvektoren y1,2 =
gelöst werden. Dazu werden die Eigenwerte der Matrix A
(Cλ2,1 , 1)T lässt sich allgemein die Lösung
mithilfe des charakteristischen Polynoms
 
−λ − L1 1 q(t) = K1 y1 eλ1 t + K2 y2 eλ2 t
det(A − λE) = det 1 = λ2 + =0
C − λ LC
aufbauen. Im schwingungsfähigen Fall lässt sich wieder
bestimmt, was mit stets positiven C und L auf die zwei eine rein reelle Lösung
konjugiert komplexen Werte
   
I ( t) C(δA − ωd B)
λ1,2 = ±j √
1
= ±jω0 = e−δt cos ωd t
(12.26) U ( t) A
LC   
C(δB − ωd A)
führt. Mit ω0 wird hier die Eigenkreisfrequenz des un- + sin ωd t
−B
gedämpften elektrischen Schwingkreises bezeichnet. Die
zugehörigen Eigenvektoren lauten y1,2 = (Cλ1,2 , 1)T = mit reellen Integrationskonstanten A und B bilden.
(±Cjω0 , 1)T , womit die Lösung zunächst komplex in der
Form Häufig können die Gleichungen so ineinander eingesetzt
werden, dass aus dem System von zwei Differenzialglei-
q(t) = K1 y1 ejω0 t + K2 y2 e−jω0 t chungen erster Ordnung ein System zweiter Ordnung
wird. Das ist besonders einfach, wenn eines der Elemente
dargestellt werden kann. Analog zum Vorgehen im vor- der Systemmatrix A den Wert null hat. Wird (12.24) noch-
angegangenen Abschnitt werden gemäß (12.14) neue re- mals nach der Zeit abgeleitet und (12.25) eingesetzt, ergibt
elle Integrationskonstanten A und B eingeführt und eine sich:
rein reelle Lösung
 
      1 1
I ( t) −Cω0 B −Cω0 A Ï = − I + Rİ
q ( t) = = cos ω0 t + sin ω0 t L C
U ( t) A −B

gebildet. Beide Zeilen der Gleichung beschreiben harmo- was auf die Form
nische Schwingungen für I (t) und U (t), die gegenein-
ander um π2 phasenverschoben sind. Die Konstanten A R 1
Ï + İ + I=0
und B können aus Anfangsbedingungen bestimmt wer- L LC
den. Sind U (0) = U0 und I (0) = I0 gegeben, folgt sofort
I0 gebracht werden kann. Wird hier wie oben erwähnt 2δ =
A = U0 und B = − Cω .
L und ω0 = LC eingeführt, ergibt sich eine Gleichung, die
0 R 2 1

Wird im Schwingkreis der Widerstand R berücksichtigt, mit (12.3) identisch ist. Es kann nun I (t) mit den oben
führt die Bestimmungsgleichung der Eigenwerte det(A − beschriebenen Methoden bestimmt werden. U (t) kann
λE) = 0 auf anschließend durch Zeitintegration von (12.25) ermittelt
werden. Nachteilig bei diesem Verfahren ist die kompli-
R 1 ziertere Berechnung der Integrationskonstanten aus den
λ2 + λ+ = 0. (12.27)
L LC Anfangsbedingungen.
286 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

Tab. 12.2 Regeln für die Lösungen linearer Differenzialgleichungen


Systemgleichungen von Schwingern Anregung partikuläre Lösung
Technische Mechanik

Einfache, freie Schwinger können durch zwei gekop- bekannte Grundlösung f ( t) → qp ( t )


pelte Differenzialgleichungen erster Ordnung Proportionalität αf (t) → αqp (t)
Superpositionsprinzip f1 ( t ) + f2 ( t ) → qp1 (t) + qp2 (t)
q̇1 = f1 (q1 , q2 ), df (t) dqp (t)
Ableitungsregel dt → dt
q̇2 = f2 (q1 , q2 )
Verschiebungsregel f (t − t0 ) → qp (t − t0 )

beschrieben werden. Durch ineinander Einsetzen


der Gleichungen kann daraus eine Gleichung zwei-
Differenzialgleichung (12.28), setzt sich aus zwei Anteilen
ter Ordnung der Standardform q̈ + 2δq̇ + ω02 q = 0
zusammen:
gebildet werden.
1. Eigenschwingungen, verursacht durch Anfangsbedin-
gungen und ggf. äußere Anregung, entsprechend der
Lösung der homogenen Differenzialgleichung. Diese
wird im Folgenden auch vereinfacht als homogene Lö-
12.4 Erzwungene Schwingungen sung bezeichnet.
2. Bewegungen, die durch die äußere Anregung erzwun-
linearer Systeme gen werden, entsprechend einer partikulären Lösung
der Differenzialgleichung.
Erzwungene Schwingungen sind Phänomene, bei denen
Eine lineare Differenzialgleichung wie (12.28) hat somit
ein schwingungsfähiges System von einer rheonomen,
eine Lösung q(t) = qh (t) + qp (t) mit dem homogenen An-
d. h. rein zeitabhängigen Funktion f (t), rückwirkungsfrei
teil qh (t) und dem partikulären Anteil qp (t). Daraus ergibt
angeregt wird. Der eigentliche Anregungsmechanismus
sich folgendes Lösungsverfahren:
kann vielfältige Formen haben und wird im Folgenden an
Beispielen erläutert. Die allgemeine Form der inhomoge- 1. Die homogene Lösung qh (t) ist die Lösung der Dif-
nen Bewegungsgleichung lautet: ferenzialgleichung q̈ + 2δq̇ + ω02 q = 0, wie sie im Ab-
schn. 12.3 beschrieben ist.
q̈ + 2δq̇ + ω02 q = f (t). (12.28) 2. Eine partikuläre Lösung qp (t) wird mit den aus der
Mathematik bekannten Verfahren wie „Variation der
Der Sonderfall des ungedämpften Systems soll in die- Konstanten“ oder „Ansatz vom Typ der Anregung“
sem Abschnitt nicht explizit vorgestellt werden. Er kann gesucht.
jederzeit durch Setzen von δ = 0 oder D = 0 und dar- 3. Die Gesamtlösung wird an die Anfangsbedingungen
aus folgend ωd = ω0 in den folgenden Formeln gebildet angepasst, wobei die Integrationskonstanten der ho-
werden. Gesucht ist, wie in Abb. 12.8 dargestellt, das Ver- mogenen Lösung bestimmt werden.
halten q(t) des Schwingers, die sogenannte Systemantwort,
unter dem Einfluss von f (t), der Anregung oder Erreger- Die Eigenschwingungen, d. h. der homogene Lösungs-
funktion. anteil qh klingen in der Realität durch die immer vor-
handene Dämpfung ab; längerfristig wird das Verhalten
eines Schwingers ausschließlich durch die äußere Erre-
gung bestimmt. Somit ergeben sich folgende typische
Die Lösung liefert die Theorie linearer Aufgabenstellungen:
Differenzialgleichungen
Gesamtreaktion des Schwingers auf eine einsetzende
oder transiente äußere Anregung, zusammengesetzt
Die Lösung inhomogener, linearer Differenzialgleichun- aus Eigenschwingungen und erzwungenen Schwin-
gen mit rein zeitabhängiger rechter Seite ist eine Stan- gungen. Dieses Einschwingproblem wird im Zeitbereich
dardaufgabe der höheren Mathematik. Deswegen können gelöst.
die vorhandenen Erkenntnisse hier sofort eingesetzt wer- Reaktion des Schwingers auf eine stationäre äußere
den. Das Verhalten des Schwingers, d. h. die Lösung der Anregung nach dem Abklingen der Eigenschwingung.
Diese stationäre Lösung wird im Frequenzbereich ge-
sucht.
f (t) schwingungs- q (t)
fähiges Ein besonders wichtiges Hilfsmittel zum Auffinden von
Anregung System Systemantwort Systemantworten sind die Regeln, die sich aus dem li-
nearen Charakter der Gleichungen ergeben. Sie sind in
Abb. 12.8 Erzwungene Schwingung als System mit Eingang und Ausgang Tab. 12.2 zusammengefasst.
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme 287

Zunächst soll die Systemantwort auf eine Sprunganre-


1 gung der Stärke k durch Lösung der Gleichung

Technische Mechanik
σ (t)
0 q̈ + 2δq̇ + ω02 q = kσ(t) (12.30)
0 t
bestimmt werden. Hier lautet der „Ansatz vom Typ der
1
s ∞ Anregung“ qp = K, da die Sprunganregung für alle Zeit-
δ (t) punkte t > 0 eine konstante Funktion mit dem Wert k ist.
Somit lautet die Lösung mit dem partikulären Ansatz für
0 den schwach gedämpften Fall mit D < 1:
0 t
q(t) = e−δt (A cos ωd t + B sin ωd t) + K (12.31)
Abb. 12.9 Sprungfunktion und Dirac-Distribution
mit den zunächst unbekannten Konstanten A, B und K.
Wird der Ansatz in (12.30) eingesetzt, heben sich die ho-
mogenen Anteile in der Gleichung gegenseitig auf, und
Auch Impulse und Sprünge als Anregung für t > 0 verbleibt nur der partikuläre Teil Kω02 = k, wo-
verursachen harmonische Schwingungen mit
k
In diesem Abschnitt sollen die Antworten des Schwin- K=
ω02
gers auf zwei spezielle, unstetige Anregungsereignisse
gesucht werden: Den Anregungssprung und den Impuls,
bestimmt ist; A und B werden mithilfe der Anfangsbedin-
die jeweils zum Zeitpunkt t0 = 0 auf den in Ruhe befind-
gungen q(0) = 0 und q̇(0) = 0 bestimmt. Das System
lichen Schwinger, d. h. q(0) = 0 und q̇(0) = 0, einwirken.
Diese Anregungen sind idealisiert, liefern aber grund- k
q (0 ) = A + = 0,
sätzliche Erkenntnisse über das Verhalten des Schwingers ω02
im Allgemeinen. Deswegen sind sie in der Systemtheorie
q̇(0) = −δA + ωd B = 0
sowie der Regelungstechnik von großer Bedeutung und
werden im Kap. 41 nochmals aufgegriffen. Näherungs- führt auf
weise kann die Sprunganregung z. B. bei einem elektri-
schen Schwingkreis durch das Einschalten einer Versor- k k δ
gungsspannung realisiert werden. Die Impulsanregung A=− und B=− .
ω02 ω02 ωd
beschreibt bei einem mechanischen Schwinger einen idea-
lisierten Hammerschlag auf die Masse. Werden A und B in (12.31) eingesetzt, ergibt sich die
Mathematisch wird die Sprunganregung durch die Sprungantwort des Systems:
Sprungfunktion σ(t) und die Impulsanregung durch die   
Dirac-Distribution δ̄(t) repräsentiert (Abb. 12.9). Sie sind k − δt δ
q ( t) = 1 − e cos ω d t + sin ω d t , (12.32)
durch ω02 ωd
6
0, für t < 0 die folgende Eigenschaften besitzt:
σ ( t) = und
1, für t ≥ 0
∞ Die Sprungantwort ist eine abklingende Schwingung
f (t)δ̄(t − t0 )dt = f (t0 ) um die Mittellage q = k/ω02 , die für t → ∞ als Ruhela-
−∞
ge erreicht wird.
Die Lösung ist mit dem Faktor k skaliert: Eine ver-
definiert, wobei besonders zu beachten ist, dass größerte Anregung, hier ein höherer Sprung, führt zu
einer proportional vergrößerten Schwingung.
∞
dσ(t)
= δ̄(t) und somit δ̄(t)dt = 1 (12.29)
dt Die Anregung eines schwingungsfähigen Systems mit ei-
−∞ nem Impuls und die daraus resultierende Impulsantwort
hat eine große Bedeutung in der experimentellen Unter-
gilt.
suchung der Eigenschaften eines Systems auch mit meh-
Achtung In diesem Abschnitt ist die Dirac-Distribution reren Freiheitsgraden (Abschn. 13.1): Durch den Impuls
δ̄(t) sorgfältig von der Abklingkonstanten δ zu unter- werden alle Frequenzen angeregt. Das System antwor-
scheiden!  tet in seinen Eigenfrequenzen, die dadurch bestimmt und
288 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

vH– Zeitableitung der Sprungantwort (12.32) gewonnen wer-


vH+ den, da die Dirac-Distribution δ̄(t) gemäß (12.29) die
Technische Mechanik

Zeitableitung der Sprungfunktion σ(t) darstellt (Ablei-


tungsregel in Tab. 12.2). Durch Vergleich von (12.30) und
Kontakt p
m m
F(t)
m (12.33) lässt sich erkennen, dass k = m gesetzt werden
v+ muss. Die Impulsantwort lautet somit:

p −δt
q ( t) = e sin ωd t. (12.34)
mωd

t – < t0 Stoß t + > t0


Auch hierbei handelt es sich um eine abklingende Si-
nusschwingung, allerdings um die Mittellage q = 0. Wi-
Abb. 12.10 Ablauf eines Stoßes zwischen Impulshammer und Schwinger dersprüchlich scheint zunächst die Berechnung der Ge-
schwindigkeit der Impulsantwort
F F(t ) F
p
v(t) = q̇(t) = (e−δt ωd cos ωd t − δe−δt sin ωd t)
mωd
p p ∙ δ (t)
aus der Zeitableitung von (12.34) zu sein: Wird t = 0 ein-
p
gesetzt, ergibt sich v(0) = m , was scheinbar nicht mit
t– t+ t t0 t der Anfangsbedingung übereinstimmt. Hier ist zu beach-
ten, dass (12.34) nur für t > 0 gültig ist. Zum Zeitpunkt
Abb. 12.11 Übergang eines zeitaufgelösten Kontaktkraftverlaufs in einen t = 0 findet der idealisierte Stoß statt, bei dem die Masse
aus der Ruhe v = 0 auf die Geschwindigkeit v+ = m be-
Kraftstoß unter Beibehaltung des Impulses p

schleunigt wird.

gemessen werden können. Technisch realisiert wird die Frage 12.4


Impulsanregung durch einen Stoß, z. B. einen Hammer-
Wie lauten Sprung- und Impulsantwort für den stark ge-
schlag. Der Ablauf des Prozesses, der in der Nähe des
dämpften Fall?
Zeitpunkts t0 stattfindet, ist in Abb. 12.10 dargestellt. Wei-
tere Details zu Stoßvorgängen können im Abschn. 10.5
nachgelesen werden. Unmittelbar vor dem Kontakt zum
Zeitpunkt t− ist der Schwinger in Ruhe und der Ham- Sprung- und Impulsantwort
mer der Masse mH bewegt sich mit der Geschwindigkeit
− Die Sprung- und die Impulsantwort eines Schwin-
vH auf den Schwinger zu. Während des Kontakts wirkt
gers sind die Antworten auf idealisierte unstetige
eine Kontaktkraft F(t). Im Moment des Lösens bei t+ be- Anregungsereignisse. Beide sind im schwach ge-
+
wegt sich der Hammer mit der Geschwindigkeit vH und dämpften Fall harmonische Schwingungen mit der
+
die Schwingermasse ist auf v beschleunigt worden. Ist Eigenkreisfrequenz ωd des Schwingers.
der Zeitraum von t− bis t+ so kurz, dass die Ortsverän-
derungen des Systems in diesem Intervall vernachlässigt
werden können, kann der Kontaktkraftverlauf in einen
Kraftstoß
t
+ Harmonische Anregungen sind ein Standardfall
F(t) = pδ̄(t − t0 ) mit p = F(t)dt der Schwingungslehre
t−

zum Zeitpunkt t0 komprimiert werden (Abb. 12.11). Die Die Berechnung der Systemantwort auf harmonische An-
Impulsänderung des Hammers beträgt unter den ge- regungen ist aus zwei Gründen von besonderer Bedeu-
+ −
machten Annahmen pH = mH (vH − vH ). Auf den Schwin- tung:
ger wirkt aufgrund der Impulserhaltung der Gegenim-
puls p = −pH . Die Impulsantwort auf einen Stoß bei t = 0 1. In der Technik treten oft sinusförmige Anregungen
ist somit die Lösung der Bewegungsgleichung auf, z. B. mechanisch aufgrund von rotierenden Ma-
schinen mit Unwucht oder elektrisch infolge der Ver-
p
q̈ + 2δq̇ + ω02 q = δ̄(t) (12.33) sorgung aus dem Wechselstromnetz.
m 2. Mithilfe der Fourier-Analyse kann jedes beliebige pe-
mit den Anfangsbedingungen q = 0 und q̇ = v = 0 vor riodische oder nicht periodische Anregungssignal in
dem Einwirken des Kraftstoßes. Die Lösung kann durch eine endliche oder unendliche Summe harmonischer
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme 289

F(t) finden und diese gegebenenfalls dann um den Nullpha-


senwinkel ϕ zu verschieben. Für diese partikuläre Lösung

Technische Mechanik
wird der Ansatz
m qp = A sin Ωt + B cos Ωt, (12.37)
q(t)
q̇p = AΩ cos Ωt − BΩ sin Ωt,
c d q̈p = −AΩ2 sin Ωt − BΩ2 cos Ωt

verwendet und in (12.36) mit ϕ = 0 eingesetzt.

−AΩ2 sin Ωt − BΩ2 cos Ωt


Abb. 12.12 Einmassenschwinger mit Kraftanregung +2δ(AΩ cos Ωt − BΩ sin Ωt)
+ω02 (A sin Ωt + B cos Ωt) = f̂ sin Ωt. (12.38)
Anregungen zerlegt werden. Deren Schwingungsant- Der gewählte Ansatz (12.37) stellt die partikuläre Lösung
worten können mithilfe des Superpositionsprinzips dar, wenn sich die Konstanten A und B eindeutig bestim-
(Tab. 12.2) zu einer Gesamtlösung aufsummiert wer- men lassen. Gleichung (12.38) enthält zwei unabhängig zu
den. lösende Teilgleichungen: Alle Terme die mit sin Ωt bzw.
cos Ωt multipliziert sind, müssen jeweils für sich die Glei-
Die entstehende Differenzialgleichung lautet bei einer chung erfüllen. Daraus folgen die Teilgleichungen
zunächst beliebigen Zahl nA von harmonischen Anregun-
gen: −AΩ2 − 2δBΩ + ω02 A = f̂ ,

nA
−BΩ2 + 2δAΩ + ω02 B = 0,
q̈ + 2δq̇ + ω02 q = ∑ f̂i sin (Ωi t + ϕi ) . (12.35)
die sich als ein lineares Gleichungssystem für A und B in
i=1
der Form
Jede Teilanregung i ist gekennzeichnet durch ihre Anre-  2    
ω0 − Ω2 −2δΩ A f̂
gungsfrequenz Ωi , die Anregungsamplitude f̂i sowie die =
2δΩ ω02 − Ω2 B 0
Phasenlage ϕi .
Im Folgenden sollen zunächst Lösungen für typische Ein- umschreiben lassen. Die Lösungen lauten:
zelanregungen mechanischer Schwingungssysteme ge-
sucht werden: ω02 − Ω2
A= f̂ , (12.39)
(ω02 − Ω2 )2 + 4δ2 Ω2
Kraftanregung, 2δΩ
Fußpunkterregung, B=− 2 f̂ . (12.40)
(ω0 − Ω2 )2 + 4δ2 Ω2
Unwuchterregung.
Eingesetzt in den Ansatz (12.37) ergibt sich die partikuläre
Die Kraftanregung wird ausführlich dargestellt, die bei- Lösung
den anderen Anregungsformen können wesentliche Teile
der Ergebnisse übernehmen. Die Ergebnisse aller drei An- (ω02 − Ω2 ) sin Ωt − 2δΩ cos Ωt
qp = f̂ ,
regungsformen sind am Ende des Kapitels in Tab. 12.4 (ω02 − Ω2 )2 + 4δ2 Ω2
nochmals zusammengefasst. √
die mithilfe von q̂p = A2 + B2 und tan ψ = − AB auf die
Form
Bewegungslösung bei Kraftanregung
Bei harmonischer Kraftanregung (Abb. 12.12) wirkt auf qp = q̂p sin(Ωt − ψ) (12.41)
die Masse des Schwingers eine Kraft F(t) = F̂ sin(Ωt + ϕ).
gebracht werden kann, wobei
Nach Division durch m lautet die Bewegungsgleichung:

F̂ q̂p =  , (12.42)
q̈ + 2δq̇ + ω02 q = f̂ sin (Ωt + ϕ) mit f̂ = . (12.36) (ω02 − Ω2 )2 + 4δ2 Ω2
m
2δΩ
Aufgrund der Verschiebungsregel (Tab. 12.2) ist es ausrei- tan ψ = (12.43)
chend, eine Lösung für die Anregung f (t) = f̂ sin Ωt zu ω02 − Ω2
290 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

Abb. 12.13 Zeitverläufe von


zwei Anregungungen f1 (t )
sowie f2 (t ) und den zugehöri- ψ2 Ω 2
Technische Mechanik

gen Schwingungen q1 (t ) sowie 1


q2 (t ). Es gilt η1 = 0,53 und

Anregung f (t) bzw. Systemantwort q (t)∙ ωd2


η2 = 1,58. Für beide Paare gilt
D = 0,2 q1
f1 f2
q2

0
t

–1 f 1 (t)
q1(t)
f 2 (t) ψ 1 Ω1
q2(t)

gilt. Es wird nun das dimensionslose Frequenzverhältnis der Steifigkeit oder die Nachgiebigkeit, was dem Verhält-
oder das Abstimmungsverhältnis nis Weg pro Kraft entspricht. In Tab. 12.5 sind weitere
Verhältnisse zwischen Anregungen und Antworten zu-
Ω sammengestellt. Der Winkel ψ ist die Phasenverschiebung
η=
ω0 zwischen Anregung und Antwort. Das Amplitudenver-
hältnis (12.47) als Funktion von η wird auch Amplituden-
δ
eingeführt. Damit können unter Verwendung von D = ω0
gang genannt. Gleichung (12.45) wird entsprechend als
die Gleichungen (12.42) und (12.43) in die Form Phasengang bezeichnet. In Abb. 12.13 sind zwei Paare i =
1, 2 von Anregungsfunktion fi (t) und Systemantwort qi (t)
f̂ 1 dargestellt. Werden, wie in Abb. 12.13, die Anregungs-
q̂p =  , (12.44) funktion und die Systemantwort verglichen, können sich
ω02 (1 − η 2 )2 + 4D2 η 2 diese in Amplitude und Phase unterscheiden. Die Ver-
2Dη größerungsfunktion und die Phasenverschiebung sind in
tan ψ = (12.45)
1 − η2 Abhängigkeit von Ω in Abb. 12.14 dargestellt. Es wird
grundsätzlich der unterkritische Bereich, in dem die An-
gebracht werden. Der dimensionslose Term regungsfrequenz Ω kleiner ist als die Eigenkreisfrequenz
ω0 bzw. η < 1, vom überkritischen Bereich mit Ω > ω0
1 bzw. η > 1 unterschieden. Für η = 0 ist V1 = 1, nach
V1 (η ) =  (12.46)
(1 − η 2 )2 + 4D2 η 2 Überschreiten von η = 1 gilt V1 (η → ∞ ) = 0. Im Grenz-
fall des ungedämpften Schwingers mit δ = 0 vereinfacht
wird Vergrößerungsfunktion Typ 1 genannt. Die Fälle, in de- sich das Übertragungsverhalten zu:
nen in (12.42), (12.43), (12.44) und (12.45) Nenner mit dem
Wert null auftreten, werden im folgenden Abschnitt „Re- 1
V1 (η ) = , (12.48)
sonanz“ untersucht. |1 − η 2 |
6
Damit lässt sich das Amplitudenverhältnis von Anre- 0, für η<1
ψ= . (12.49)
gungs- zu Antwortamplitude in der Form π, für η>1

q̂p 1 q̂p 1 1
= V1 (η ) bzw. = V1 (η ) = V1 (η ) Resonanz
f̂ ω02 F̂ mω02 c
(12.47) Zu beachten ist, dass in (12.42), (12.43), (12.44), (12.45)
und (12.48) Nenner mit dem Wert null oder nahe bei
schreiben. Es ist typischerweise aus einem dimensions- null auftreten können. Dies ist der Fall, wenn ω0 = Ω
losen Anteil, hier V1 , und einem dimensionsbehafteten gilt, und gegebenenfalls noch δ = 0 hinzukommt. Werden
Faktor zusammengesetzt. Dieser Teil ist hier der Kehrwert die Nenner der Amplidudengänge singulär, bedeutet das
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme 291

Abb. 12.14 Vergrößerungsfunk- Vergrößerungsfunktion V1(η )


tion V1 und Phasenverschiebung 5

Technische Mechanik
eines linearen Schwingers. Die D = 0,00
4,5
markierten Punkte entsprechen D = 0,02
den Lösungen in Abb. 12.13. Die 4 D = 0,05

Amplitudenverhältnis
gestrichelte Kurve ist die Lage 3,5 D = 0,10
aller Maxima D = 0,20
3 D = 0,50
2,5 D = 0,71
D = 1,00
2 Max.
1,5
1
1
0,5 2
0
0 0,5 1 1,5 2 2,5
Phasengang ψ (η )
180
2
Grad

90

1
0
0 0,5 1 1,5 2 2,5
Frequenzverhältnis η

strenggenommen, dass (12.37) keine gültige partikuläre


Lösung darstellt. Im theoretischen Grenzfall mit δ → 0 Linearer Schwinger mit harmonischer Kraftanregung
geht V1 (η ) für Ω → ω0 bzw. η → 1 gegen unendlich. Mit
Dämpfung verschwindet diese Singularität, dennoch ist Die Antwortamplitude des Schwingers ist pro-
in der Nähe von Ω = ω0 für kleine Dämpfungswerte eine portional zur Anregungsamplitude.
deutliche Überhöhung von V1 zu erkennen, die Resonanz. Die Größe der Antwortamplitude hängt stark von
Das Maximum Vmax der Vergrößerungsfunktion√ liegt der Anregungsfrequenz ab.
bei der √Anregungsfrequenz Ωmax = ω0 1 − 2D2 bzw. In der Nähe von η = 1, d. h. Ω ∼ = ω0 , tritt Re-
ηmax = 1 − 2D2 und beträgt Vmax = 1/ 1 − ηmax 4 . Die sonanz auf: Der Schwinger zeigt eine große, im
Lage aller Maxima ist als gestrichelte Linie in Abb. 12.14 Grenzfall verschwindender Dämpfung, unendli-
eingezeichnet. che Antwortamplitude.
Im unterkritischen Bereich η < 1 ist die Antwort
Es ist zu beachten, dass die Höhe der Antwortamplitu- gleichphasig zur Anregung, für η > 1 ist sie ge-
de bei gegebener Anregungsamplitude und Frequenz vor genphasig mit dem Grenzwert ψ → 180◦ für η →
allem in der Nähe der Resonanz stark von der Größe ∞. Dazwischen gibt es einen kontinuierlichen
des Dämpfungsparameters abhängt. Da dieser Parameter Übergang. Bei η = 1 gilt immer ψ = 90◦ .
schwer bestimmbar ist, haben gerade Simulationsrech- Das Verhältnis von Antwort- zu Anregungsam-
nungen mit Resonanzdurchlauf ein erhebliches Fehlerpo- plitude als Funktion von η wird als Amplituden-
tenzial. gang bezeichnet, ψ(η ) als Phasengang.
Die Phasengänge (12.43) und (12.45) haben für ω0 =
Ω bzw. η = 1 und δ > 0 die Form tan ψ = >00 , woraus
grundsätzlich der Phasenwinkel ψ = π2 folgt. Im unge- Fundamentkraft bei Kraftanregung
dämpften Fall ist der Bruch für den Resonanzfall von der Gerade beim krafterregten Schwinger stellt sich oft die
Form 00 . Deshalb ist in (12.49) für den Fall η = 1 keine Lö- Frage nach der Fundamentkraft:
sung angegeben.
FF = cqp + dq̇p ,
welche die Feder und der Dämpfer gemeinsam auf den
Frage 12.5
Boden ausüben. Wird hier die Lösung von (12.41) einge-
Ab welchem Wert des Dämpfungsparameters D hat V1 setzt, ergibt sich:
kein Maximum mehr mit η > 0?
FF = q̂p [c sin(Ωt − ψ) + dΩ cos(Ωt − ψ)] ,
292 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

Abb. 12.15 Vergrößerungsfunk- Vergrößerungsfunktion V2( η)


tion V2 und Phasenverschiebung 5
Technische Mechanik

eines linearen Schwingers D = 0,00


4,5
D = 0,02
4 D = 0,05

Amplitudenverhältnis
3,5 D = 0,10
D = 0,20
3 D = 0,50
2,5 D = 0,71
D = 1,00
2 Max.
1,5
1
0,5
0
0 0,5 1 1,5 2 2,5
Phasengang ψ (η ) – a (η )
Grad 180

90

0
0 0,5 1 1,5 2 2,5
Frequenzverhältnis η

was durch Ausklammern von c zunächst die Form Tab. 12.3 Maxima der Vergrößerungsfunktionen
 
dm Vmax ηmax V ( η = 1)
FF = q̂p c sin(Ωt − ψ) + Ω cos(Ωt − ψ) √
m c V1 √1 1 − 2D2 1
2D
2D 1−D2
√ √ √
Ω
und durch Zusammenfassen von 2D = d
mω0 und η = ω0 V2  k
2
k −1 1+4D2
2D 2D
die Form 1− k−21 +k−1
4D

V3 √1 √ 1 1
FF = q̂p c [sin(Ωt − ψ) + 2Dη cos(Ωt − ψ)] (12.50) 2D 1 − D2 1−2D2 2D

1+4D2
V4 zu kompliziert zu kompliziert 2D
erhält. Es wird nun q̂p mit (12.46) und f̂ gemäß (12.36) er- √
setzt, und es ergibt sich: Bei V2 wurde k = 1 + 8D2 verwendet
grobe Näherung für alle: Vmax = 1
2D für D < 0,1
FF = F̂V1 [sin(Ωt − ψ) + 2Dη cos(Ωt − ψ)] .

Der Klammerausdruck lässt sich als


Die sich aus (12.52) und (12.53) ergebenden Funktionen
[sin(Ωt − ψ) + 2Dη cos(Ωt − ψ)] von η sind in Abb. 12.15 dargestellt. Die Formeln der

= 1 + 4D2 η 2 sin(Ωt − ψ + α) (12.51) Resonanzmaxima (gestrichelte Kurve in Abb. 12.15) sind
in Tab. 12.3 zusammengestellt. Da F̂ und F̂F die gleiche
mit tan α = 2Dη darstellen. Es wird eine neue Vergröße- physikalische Dimension haben, ist V2 (η ) bereits der di-
rungsfunktion Typ 2 mensionslose
√ Amplitudengang. Oberhalb des Wertes η =
 2 ist die resultierende Fundamentkraft kleiner als die
 1 + 4D2 η 2 Anregungskraft. Dieser Effekt kann für die Isolation von
F̂F
V2 (η ) = = 1 + 4D2 η 2 V1 (η ) =  periodischen Kräften ausgenutzt werden.
F̂ (1 − η 2 )2 + 4D2 η 2
(12.52)
Bewegungslösung bei Unwuchterregung
eingeführt. Der zugehörige Phasengang lautet:
Die Unwuchterregung ist ein Modell für Maschinen oder
2Dη
ψ − α = arctan − arctan 2Dη. (12.53) Anlagen, die durch Unwucht sogenannte Massenkräfte
1 − η2 erzeugen. Die Federung kann entweder eine gezielt einge-
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme 293

Abb. 12.17 Vergrößerungs- Vergrößerungsfunktion V3(η )


funktion V3 und zugehörige 5

Technische Mechanik
Phasenverschiebung eines linea- D = 0,00
4,5
ren Schwingers D = 0,02
4 D = 0,05

Amplitudenverhältnis
3,5 D = 0,10
D = 0,20
3 D = 0,50
2,5 D = 0,71
D = 1,00
2 Max.
1,5
1
0,5
0
0 0,5 1 1,5 2 2,5
Phasengang ψ (η )
Grad 180

90

0
0 0,5 1 1,5 2 2,5
Frequenzverhältnis η

mu/2 Erkennbar ist die enge Verwandtschaft zu (12.36), wenn


Ω f̂ = Û
m ω0 η gesetzt wird. Somit kann sofort auf (12.44) zu-
2 2

m rückgegriffen und die Lösung für die Unwuchterregung

q(t)
Û η2 Û
q̂p =  = η 2 V1 (η ) (12.54)
c d
m (1 − η 2 )2 + 4D2 η 2 m

angegeben werden. Die Phasenbeziehung ist identisch


mit (12.45). An dieser Stelle wird die Vergrößerungsfunk-
tion Typ 3
Abb. 12.16 Einmassenschwinger mit Unwuchtanregung
η2
V3 (η ) = η 2 V1 = 
(1 − η 2 )2 + 4D2 η 2
brachte elastische Aufstellung oder z. B. eine nachgiebige
Gebäudedecke sein.
eingeführt, die in Abb. 12.17 dargestellt ist. Im Unter-
Die Unwucht U = mU rU eines Rotors ist eine vektori- schied zu V1 führt V3 bei geringen Werten von η bzw.
elle Größe aus dem Produkt der Masse mU und dem Ω nur zu einer geringen Antwortamplitude, weil die
kürzesten Ortsvektor rU von der Drehachse zum Schwer- Anregungskraft proportional zu Ω2 ist und bei geringer
punkt der Rotormasse. Sie hat die Dimension kg m. Die Drehfrequenz gegen Null geht. Die Formeln der Reso-
Unwuchtamplitude lautet somit Û = mU |rU |. Durch ge- nanzmaxima (gestrichelte Kurve in Abb. 12.17) sind in
genläufige Rotoren, wie in Abb. 12.16 angedeutet, lässt Tab. 12.3 zusammengestellt.
sich eine ausschließlich vertikal wirkende Unwucht er-
zeugen. Die Bewegungsgleichung lautet in diesem Fall
mit Û = mU |rU | und der Gesamtmasse m: Fundamentkraft bei Unwuchterregung
mq̈ + dq̇ + cq = Ω Û sin Ωt
2
Auch bei der Unwuchterregung ist die Fundamentkraft,
und nach der Division durch m: die ja die tatsächliche dynamische Belastung des Unter-
grunds unter der Maschine beschreibt, von großer Be-
Û 2 Û deutung. Die Herleitung erfolgt analog zum Abschnitt
q̈ + 2δq̇ + ω02 q = Ω sin Ωt = ω02 η 2 sin Ωt.
m m „Fundamentkraft bei Kraftanregung“. In (12.50) wird q̂p
294 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

Beispiel: Vertikalbewegung eines Fahrzeugs beim Übergang auf eine Schlechtwegstrecke


Technische Mechanik

Gerade bei Fahrzeugen und deren Federung ist nicht die Lösung für die vertikale Bewegung des Fahrzeugs
nur das stationäre Verhalten bei einer konstanten Anre- aus homogenem und partikulärem Anteil:
gung entscheidend, sondern auch die unmittelbare Re-
aktion auf eine Fahrbahn-Störung. Hierbei kommt es y(t) = e−δt (A cos ωd t + B sin ωd t)
zu einer Überlagerung von angeregten Eigenschwin- + ûV2 (η ) sin(Ωt − ψ + α).
gungen und erzwungenen Schwingungen, die in der
Summe kurzfristig eine große Amplitude hervorbrin- Zu bestimmen sind nun die Integrationskonstanten
gen können. Die Maximalamplitude ist aber wesentlich A und B aus den Anfangsbedingungen y(0) = 0 und
für die Auslegung der Festigkeit von Komponenten ẏ(0) = 0: Das Fahrzeug soll vertikal in Ruhe und im
und den Komfort des Fahrzeugs. Gleichgewicht sein, bevor es in die Schlechtwegstrecke
einfährt. Um (12.59) und (12.60) anwenden zu können,
Problemanalyse und Strategie: Betrachtet wird die müssen
Fahrt eines Fahrzeugs mit konstanter Geschwindigkeit
v von einer ideal glatten Fahrbahn auf eine Schlecht- yp (0) = ûV2 (η ) sin(−ψ + α) und
wegstrecke, die vereinfachend als Sinuswelle mit kon- ẏp (0) = ûΩV2 (η ) cos(−ψ + α)
stanter Wellenlänge λ angenommen wird. Das Fahr-
zeug wird als linear-viskoelastisch gefedertes Viertel- ausgewertet werden.
fahrzeug modelliert. Das ist ein Einmassenschwinger,
der eine Radaufhängung als Feder sowie ein Viertel Ein beispielhaftes Fahrzeug hat ungedämpft eine typi-
der Fahrzeugmasse enthält. Wenn sich das Fahrzeug sche Aufbau-Eigenfrequenz von f = 1,2 Hz, was einer
mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, verursacht Eigenkreisfrequenz von ω0 = 7,54 rad/s entspricht.
die Fahrbahnwelle eine harmonische Fußpunktanre- Das Fahrzeug hat ein Dämpfungsmaß D = 0,3. Die
gung. Kreisfrequenz des gedämpften Systems beträgt somit
ωd = 7,1925 rad/s. Die Wellenlänge der Fahrbahn soll
λ = 2 m, die Amplitude û = 50 mm und die Fahrge-
Lösung:
schwindigkeit v = 10 m/s betragen. Daraus resultie-
v ren eine Anregungsfrequenz Ω = 31,415 rad/s und ein
v Frequenzverhältnis η = 4,1667.
m
Damit werden die Vergrößerungsfunktion V2 =
y c d
0,1627, die Phasenwinkel ψ = 2,99 rad = 171◦ sowie
u
λ
α = 1,19 rad = 68,2◦ berechnet. Wie im überkritischen
Bereich gewünscht, hat V2 einen Wert deutlich kleiner
x als Eins. Dadurch wird nach dem Ausschwingen die
0
Anregungsamplitude û = 50 mm auf die Aufbauam-
plitude von lediglich ŷ = 8,135 mm reduziert.
Die Schlechtwegstrecke wird durch die Funktion Einschwingen Schlechtwegstrecke
 x 20
u(x) = û sin 2π für x ≥ 0 homogene Lösung
λ partikuläre Lösung
15
mit der Amplitude û der Fahrbahnwellen beschrieben. Gesamtbewegung
Aufbaubewegung (mm)

Wird hier der Weg des Fahrzeugs, der sich aus der 10
Fahrgeschwindigkeit x(t) = vt ergibt, eingesetzt, ergibt
sich: 5
 v 
u (x(t)) = û sin 2π t , 0
λ
was sich als –5
v
u(t) = û sin(Ωt) mit Ω = 2π –10
λ
schreiben lässt. Die Vertikalbewegung des Fahrzeugs –15
soll hier durch die Koordinate y(t) beschrieben wer- 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2 1,4 1,6 1,8 2
den. Unter Verwendung der Daten aus Tab. 12.4 lautet Zeit (s)
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme 295

Die grüne Kurve zeigt yp (t), eine harmonische Schwin- Eigenschwingung des Systems ist. Die Eigenschwin-
gung mit der Kreisfrequenz Ω, die blaue Kurve gung klingt durch Dämpfung immer ab, langfristig

Technische Mechanik
den durch den Übergang angeregten abklingenden verbleibt als stationäre Lösung die partikuläre Lösung.
Anteil yh (t) (A = 7,922 mm, B = 10,552 mm) mit der Bei hochfrequenten und langfristigen Vorgängen ist so-
Kreisfrequenz ωd . Die rote Gesamtlösung erreicht mit häufig die partikuläre Lösung ausreichend.
einmalig eine Maximalamplitude ymax = 18,37 mm Das Viertelfahrzeug ist eine grobe Vereinfachung, die
im Vergleich zum stationären Zustand mit ŷ = hier verwendete Wellenlänge ist geringer als der ty-
8,135 mm. pische Radstand. Das Fahrzeug würde sowohl zu
Vertikal- als auch zu Nickschwingungen angeregt, was
Kommentar Die Aufgabe zeigt, dass ein Einschwing- aber ein Modell mit mindestens zwei Freiheitsgraden
vorgang eine Überlagerung von Systemantwort und erfordert. 

Abb. 12.18 Vergrößerungs- Vergrößerungsfunktion V4(η )


funktion V4 und zugehörige 5
Phasenverschiebung eines linea- D = 0,00
4,5
ren Schwingers D = 0,02
4 D = 0,05
Amplitudenverhältnis
3,5 D = 0,10
D = 0,20
3 D = 0,50
2,5 D = 0,71
D = 1,00
2 Max.
1,5
1
0,5
0
0 0,5 1 1,5 2 2,5
Phasengang ψ (η ) – α (η )
180
Grad

90

0
0 0,5 1 1,5 2 2,5
Frequenzverhältnis η

gemäß (12.54) eingesetzt, und es ergibt sich: Dämpfungswerte gegen Unendlich gehen. Wird ein Un-
wuchtschwinger mit extrem „harter“ Dämpfung an das
Û 2 Fundament angebunden, wird die Unwuchtkraft, die mit
FF = η V1 c [sin(Ωt − ψ) + 2Dη cos(Ωt − ψ)] .
m steigender Drehzahl immer weiter steigt, hart auf den
Boden übertragen. Hier zeigt sich, dass eine große Dämp-
Das Amplitudenverhältnis von Unwucht und Kraft lau- fung eines Schwingungssystems einen Nachteil darstellen
tet: kann.

F̂F
= ω02 η 2 V1 1 + 4D2 η 2 ,
Û Bewegungslösung bei Fußpunkterregung
woraus sich die Vergrößerungsfunktion Typ 4 Der fußpunkterregte Schwinger oder auch Schwinger
  mit rheonomer Weganregung ist ein technisch wichtiger
η 2 1 + 4D2 η 2 Fall, der vor allem für Schwingungs-Isolationsprobleme
V4 (η ) = η 2
1 + 4D η V1 = 
2 2
(1 − η 2 )2 + 4D2 η 2 bei äußeren Anregungen das geeignete Modell ist
(Abb. 12.20). Dieses tritt z. B. in folgenden Situationen auf:
ableiten lässt. Der zugehörige Phasengang ist identisch
mit (12.53). Zusammen mit dem Amplitudengang ist Die schwingungsisolierte Aufstellung von empfindli-
er in Abb. 12.18 dargestellt. Diese Vergrößerungsfunkti- chen Maschinen und Anlagen in rauer Umgebung, z. B.
on beginnt für Ω = 0 mit V4 = 0, kann aber für große auf schwingenden Hallenböden.
296 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

Tab. 12.4 Einmassenschwinger


Allgemeine Bewegungsgleichung: q̈ + 2δq̇ + ω02 q = f (t)
mit verschiedenen Anregungskon-
Technische Mechanik

figurationen äußere Kraftanregung Unwuchterregung Wegerregung


F(t) mu/2
Ω m
m q(t)
m
q(t) q(t) c d

c d c d

u (t)

Allgemeine Erregungsfunktion der Form f (t) = f̂ sin( Ωt + α), ggf. α = 0

m (c sin Ωt + dΩ cos Ωt) =


F̂ Û 2 û
m sin Ωt mΩ sin Ωt

ûω02 1 + 4D2 η 2 sin ( Ωt + α)

Partikuläre Lösung qp (t) = V ( η ) sin( Ωt − ψ +
ω02 1
α)

c V1 ( η ) sin( Ωt − ψ ) m V3 ( η ) sin( Ωt − ψ ) ûV2 ( η ) sin( Ωt − ψ + α)


F̂ Û

Komplexe Übertragungsfunktion G( η )
q̂ q̂ q̂
p

= 1c V1 (η )e−jψ p

= m V3 ( η )e
1 −jψ p
û = V2 (η )e−jψ

Fundamentkraft bzw. Anregungskraft der Wegerregung FF (t)


F̂V2 ( η ) sin( Ωt − ψ + α) Ûω02 V4 ( η ) sin( Ωt − ψ + α) −ûcV4 (η ) sin(Ωt − ψ + α)
Vergrößerungsfunktionen Phasengänge

V1 ( η ) = √ 1
(1− η 2 )2 +4D2 η 2
 √
1+4D2 η 2
1 + 4D2 η 2 · V1 ( η ) = √
2Dη
V2 ( η ) = tan ψ = 1− η 2
(1− η 2 )2 +4D2 η 2
η2
V3 ( η ) = η 2 · V1 ( η ) = √ tan α = 2Dη
(1− η 2 )2 +4D2 η 2

η 2 1+4D2 η 2
V4 ( η ) = η 2 · V2 ( η ) = √
(1− η 2 )2 +4D2 η 2

Die Auslegung von Fahrzeugfahrwerken, die Uneben- F(t)


heiten der Fahrbahn möglichst vom Fahrgast oder der
Nutzlast fernhalten sollen.
m
Die Bewegungsgleichung bei einer Anregung mit u(t) = q(t)
û sin Ωt lautet:

mq̈ + dq̇ + cq = û (c sin Ωt + dΩ cos Ωt) . c d

Nach Division durch m und Umformung der rechten Seite


verbleibt:
u (t)
q̈ + 2δq̇ + ω02 q = ûω02 (sin Ωt + 2Dη cos Ωt) .

Der Klammerausdruck auf der rechten Seite kann analog


Abb. 12.20 Einmassenschwinger mit Fußpunktanregung
zu (12.51) in


q̈ + 2δq̇ + ω02 q = ûω02 1 + 4D2 η 2 sin(Ωt + α) ûω02 1 + 4D2 η 2 . Bei der Übernahme des Lösungswegs ab
(12.41) muss aber auf die Phasenverschiebung α geachtet
mit α = arctan 2Dη umgeformt werden. Somit ist auch werden, wobei
die Bewegungsgleichung des fußpunkterregten Schwin-
gers strukturell identisch mit (12.35), es gilt f̂ = qp (t) = q̂p sin(Ωt − ψ + α)
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme 297

Vertiefung: Komplexe Zeiger als Darstellungsform harmonischer Signale

Technische Mechanik
Jedes harmonische Signal q(t) = q̂ sin(Ωt + ϕ) der imaginäre Achse entspricht, verbleibt von der Rotati-
Kreisfrequenz Ω wird durch seine Amplitude q̂ und on des Zeigers eine harmonische reelle Bewegung q(t)
die Phase ϕ vollständig beschrieben. Diese beiden In- über der Zeit mit der Amplitude q̂ und der Phase ϕ:
formationen lassen sich in einer komplexen Zahl zu-    
sammenfassen. Damit lassen sich Anregungssignale q(t) = q̂ sin(Ωt + ϕ) = q̂Im ej(Ωt+ ϕ) = Im q̂ejΩt
und Systemantworten linearer Schwinger einfach dar-
stellen. Diese Gleichung kann grundsätzlich in beide Richtun-
Eine komplexe Zahl lässt sich als Zeiger oder kom- gen ausgewertet werden: Reelle Funktionen können
plexe Amplitude q̂ in der komplexen Ebene darstellen. komplex erweitert werden, um Operationen im Kom-
plexen durchzuführen und werden anschließend wie-
Komplexe Größen werden gemäß DIN 1311 und wie
der zurück in die reelle Welt projiziert (Abb. 12.21).
in der Elektrotechnik üblich (Abschn. 36.3) mit Unter-
strich geschrieben. Die Länge des Zeigers ist der Betrag Für die komplexe Erweiterung einer Kosinus-Funktion
q̂ = q̂ , als Phase ϕ = ∠ q̂ wird der Winkel zur reellen muss zunächst cos x = sin(x + π2 ) angewendet wer-
π π
Achse bezeichnet: den. Aus ej(x+ 2 ) = ejx ej 2 = jejx lässt sich schließen,
dass die komplexe Amplitude einer Kosinus-Funktion
q̂ = q̂ejϕ = q̂(cos ϕ + j sin ϕ). q̂ = jq̂ das Produkt der entsprechenden Amplitude q̂
c s s
einer Sinusfunktion mit der imaginären Einheit ist.
Die komplexe Amplitude enthält somit eine Ampli-
tuden- und eine Phaseninformation. Die Multiplika- Zwei harmonische Signale gleicher Frequenz q(t) =
tion des Zeigers q̂ mit ejα dreht den Zeiger um den q̂ sin(Ωt + ϕq ) und f (t) = f̂ sin(Ωt + ϕf ) lassen sich im
Winkel α weiter. Die komplexe Funktion q(t) = q̂ejΩt Komplexen leicht durch die Multiplikation mit einer
beschreibt somit einen konstant mit der Winkelge- komplexen Konstanten G in Beziehung setzen: Es gilt
schwindigkeit Ω rotierenden Zeiger. Wird unter Aus- q(t) = Gf (t) und somit auch q̂ = Gf̂ . Der Betrag |G|
nutzung von ejx = cos x + j sin x nur der Imaginärteil skaliert die Amplitude q̂ = |G| f̂ und der Winkel ϕG =
q(t) = Im(q(t)) betrachtet, was einer Projektion auf die ∠G beschreibt die Phasenverschiebung ϕq = ϕf + ϕG .

Projektion q(t) = q · sin (Ωt + φq)


q(t) = q · e jΩt Im
f (t) = f · sin (Ωt + φq)
f(t) = f · e jΩt f

q φF
f
Ωt1 φ q
Ωt1 φq
φF
Re 2 t
q·e jΩt1 φq Ω

f · e jΩt1

Abb. 12.19 Komplexe Zeiger und zugehörige harmonische Schwingungen

gilt. Die Antwortamplitude q̂p ergibt sich aus (12.44) zu regung zeigt im Weg-Amplituden-Verhältnis q̂p /û ein
 identisches Verhalten zum Kraft-Amplituden-Verhältnis
1 + 4D2 η 2 F̂F /F̂ des krafterregten Schwingers: Im Bereich der Re-
q̂p = û  = ûV2 (η ), sonanz führt die Dämpfung zu einer Verminderung
(1 − η 2 )2 + 4D2 η 2
des Amplituden-Verhältnisses,
√ im überkritischen Bereich
was auf die Vergrößerungsfunktion Typ 2 führt. Der ab η > 2 erhöht die Dämpfung die Anwortamplitu-
Phasengang ist identisch mit (12.53). Die Fußpunkter- de.
298 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

Zwangskraft der Fußpunkterregung reell komplex

Anregung
Gerade beim Rad-Fahrbahn-Kontakt ist die Kraft zwi-
Technische Mechanik

f (t) = f sin Ω t f (t) = f e j Ωt


schen Schwinger-Fußpunkt und anregenden Bodenwel-
len von großem Interesse. Mechanisch gesehen ist das die
Zwangskraft, die der rheonomen Bindung u(t) beigeord-

Übertragung
q
= |G(Ω )|
net ist. Die Relativauslenkung qr (t) zwischen Masse und f
q = G(Ω ) f
Anregung ergibt sich zu: q = |G(Ω )| e–jψf
ψ = – G((Ω )
qr (t) = qp (t) − u(t) = −ûV3 (η ) sin(Ωt − ψ).

Antwort
q(t) = q sin(Ω t – ψ ) q (t) = q e j Ω t
Daraus folgt für die Bodenkraft (Zwangskraft):

FF = cqr (t) + dq̇r (t), Abb. 12.21 Ablauf der Bildung einer reellen Systemantwort q (t ) durch
Übertragung der Anregung f (t ) in den Raum der komplexen Zahlen, und Rück-
was sich zu übertragung der gefundenen Antwort

FF = −ûcV3 (η ) [sin(Ωt − ψ) + 2Dη cos(Ωt − ψ)]


gelöst werden. Es wird ein Lösungsansatz vom Typ der
und schließlich rechten Seite q(t) = q̂ejΩt gemacht, wofür noch dessen
 Ableitungen
FF = −ûcV3 (η ) 1 + 4D2 η 2 sin(Ωt − ψ + α)
q̇(t) = jΩq̂ejΩt ,
FF = −ûcV4 (η ) sin(Ωt − ψ + α)
q̈(t) = (jΩ)2 q̂ejΩt = −Ω2 q̂ejΩt
mit α = arctan 2Dη zusammenfassen lässt. gebildet werden müssen. Es werden nun in die Differen-
In der Tab. 12.3 sind nochmals die Maxima der Vergrö- zialgleichung für f (t) sowie q(t) und dessen Ableitungen
ßerungsfunktionen V1 bis V3 zusammengefasst. Zudem die komplexen Funktionen eingesetzt, und es ergibt sich
liefert die Tabelle Näherungsformeln für den Maximal- zunächst:
wert von V bei Resonanz. −Ω2 q̂ejΩt + 2δjΩq̂ejΩt + ω02 q̂ejΩt = f̂ ejΩt ,

was nach Division durch ejΩt zu


Berechnung mit komplexen Zahlen und komplexen  
Übertragungsfunktionen q̂ −Ω2 + 2δjΩ + ω02 = f̂
Bei der bisherigen Darstellung des Übertragungsverhal- zusammengefasst werden kann. Die Lösung lautet:
tens wurde immer eine Lösung im Reellen gefunden. Die
Verwendung komplexer Amplituden kann die Berech- 1 q̂
nung jedoch erheblich vereinfachen. q̂ = f̂ bzw. = G( Ω ) (12.55)
(ω02 − Ω2 ) + 2jδΩ f̂
! "# $
Zur Lösung linearer Schwingungssysteme lässt sich fol- G( Ω )
gendermaßen vorgehen: Die partikuläre Lösung der Dif-
ferenzialgleichung infolge einer komplexen Anregungs- mit der komplexen Übertragungsfunktion G. Nach den Re-
funktion f (t) ist eine komplexe Lösung q(t). Wenn die tat- chenregeln der komplexen Zahlen skaliert der Betrag von
sächliche, reelle Anregung f (t) der Imaginärteil von f (t) G die Amplitude von f̂ auf q̂ und die Phase von G ver-
ist, dann ist die reelle Zeitlösung q(t) ebenfalls der Imagi- schiebt die Phase zwischen f (t) und q(t). Für komplexe
närteil von q(t). Dieser Lösungsprozess ist in Abb. 12.21 Zahlen der Form c = a+1 jb mit reellen a und b gilt:
dargestellt.
1 b
| c| = √ und tan ∠c = − .
Hier soll die normierte Differenzialgleichung a2 + b2 a
Somit gilt
q̈ + 2δq̇ + ω02 q = f̂ sin Ωt,
q̂ 1
|G(Ω)| = =  , (12.56)
wie sie z. B. als (12.36) hergeleitet wurde, komplex in der f̂ (ω02 − Ω2 )2 + (2δΩ)2
Form
2δΩ
tan ∠G(Ω) = tan ϕG = − tan ψ = − . (12.57)
q̈ + 2δq̇ + ω02 q = f̂ ejΩt ω02 − Ω2
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme 299

Diese Gleichungen sind identisch mit (12.42) und (12.43), schwingenden Systemen, wie bei gefederten Fahrzeug-
wobei das negative Vorzeichen der Phase daher kommt, aufbauten, verwendet wird.

Technische Mechanik
dass die Phasenverschiebung ψ in (12.41) negativ defi-
niert ist: Eine Systemantwort muss ihrer Anregung immer Die Schwinggeschwindigkeit und -beschleunigung eines
nacheilen. Im komplexen Zeigerdiagramm (Abb. 12.19) ist harmonischen Signals ergeben sich aus der Multiplikation
deshalb der Antwortzeiger q̂ immer mathematisch nega- mit Ω sowie einer Phasenverschiebung
tiv gegenüber dem Anregungszeiger f̂ gedreht.
q(t) = q̂ sin(Ωt − ψ),
 π
Komplexe Übertragungsfunktion q̇(t) = q̂Ω cos(Ωt − ψ) = q̂Ω sin Ωt − ψ + ,
2
Die komplexe Übertragungsfunktion q̈(t) = −q̂Ω2 sin(Ωt − ψ) = q̂Ω2 sin(Ωt − ψ + π ).

1 Es kann somit eine Geschwindigkeitsamplitude v̂ =


G( Ω ) =
(ω02 − Ω2 ) + 2jδΩ Ωq̂ sowie eine Beschleunigungsamplitude â = Ωv̂ = Ω2 q̂
eingeführt werden.
stellt den vollständigen Zusammenhang zwischen
der komplexen Amplitude der Systemantwort q̂ und Mit (12.47) und (12.55) können neue Übertragungsfunk-
tionen gebildet werden, die eine Beziehung zwischen
der Anregung f̂ dar. Sie beinhaltet den Amplituden-
Kraft und Geschwindigkeit oder Kraft und Beschleuni-
und Phasengang. gung angeben. Die Beziehung

Ω v̂ q̂ v̂ q̂
Durch Einführung von η = ω0 kann die Übertragungs- =Ω oder komplex = jΩ
funktion als F̂ F̂ F̂ F̂

1 1 wird als mechanische Admittanz bezeichnet. Die Beziehung


G( η ) =
ω02 (1 − η 2 ) + 2jDη
â q̂ â q̂
dargestellt werden, was sich mit Rückgriff auf (12.56), = Ω2 oder komplex = − Ω2
F̂ F̂ F̂ F̂
(12.57) und (12.46) auch als

1 trägt den Namen Akzeleranz. In Tab. 12.5 sind die Namen


G(η ) = V1 (η )e−jψ aller Übertragungsfunktionen zwischen Kraft und den ki-
ω02
nematischen Größen dargestellt.
schreiben lässt. Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass die
Lösungen A und B der Gleichungen (12.39) und (12.40) Harmonisch erregte, lineare Schwingungssysteme
den mit f̂ multiplizierten Real- und Imaginärteil der Über-
tragungsfunktion bilden: Eine harmonische Anregung eines linearen
Schwingers führt zu einer harmonischen Sys-
1 temantwort in der Anregungsfrequenz.
G( η ) = (A + jB).
f̂ Anregung und Antwort hängen durch ein Am-
plitudenverhältnis und einen Phasenunterschied
Frage 12.6 zusammen. In einer komplexen Übertragungs-
Wie lautet die reelle Übertragungsfunktion G für D = 0? funktion können beide Informationen vereinigt
werden.
Anregung und Antwort können eine unterschied-
liche physikalische Dimension haben. Anregun-
Schwinggeschwindigkeit und -beschleunigung
gen bei mechanischen Systemen sind zumeist
In den vorangegangenen Abschnitten ist immer das Über- Kräfte oder Wege. Die gesuchten Systemantwor-
tragungsverhalten von Anregungskraft zu Schwingweg ten sind Wege, Geschwindigkeiten, Beschleuni-
oder Anregungsweg zu Schwingweg betrachtet worden. gungen oder Kräfte.
Für viele technische Fragestellungen ist allerdings die Das Amplitudenverhältnis besteht jeweils aus ei-
Schwinggeschwindigkeit oder -beschleunigung von In- ner dimensionslosen Vergrößerungsfunktion und
teresse. Gerade die Beschleunigung ist besonders wichtig, systemspezifischen dimensionsbehafteten Fakto-
da sie einerseits messtechnisch sehr einfach zu erfassen ren.
ist und andererseits für die Bewertung des Komforts von
300 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

Tab. 12.5 Bezeichnung von von/zu Kraft als Antwort Kraft als Anregung
Übertragungsfunktionen gemäß Schwingweg dynamische Steifigkeit dynamische Nachgiebigkeit, Rezeptanz
Technische Mechanik

DIN 1311
Schwinggeschwindigkeit mechanische Impedanz Admittanz, Mobilität
Schwingbeschleunigung dynamische Masse dynamische Trägheit, Akzeleranz
Kraft Quellenisolation

Mit dem Superpositionsprinzip kann die x


Systemantwort auf beliebige Anregungen 4f
π
aufgebaut werden

Bereits bei (12.35) wurde angedeutet, dass ein Schwin- 1 2 3 4 5 6 ω


gungssystem Ω

nA
Abb. 12.22 Diskretes Spektrum eines Rechtecksignals mit der Grundkreisfre-
q̈ + 2δq̇ + ω02 q = ∑ fi (t) quenz Ω. Dargestellt sind die ersten drei Harmonischen
i=1

durch eine Summe von Funktionen angeregt werden


kann, wobei nA die Zahl der Anregungsfunktionen ist.
Sind nun die separaten partikulären Lösungen qpi (t) für bestimmt; für die geraden Ordnungen gilt q̂pi = 0 und
jede der Anregungen fi (t) bekannt, ergibt sich die kom- ψi = 0. Die partikuläre Lösung ergibt sich aus der Sum-
plette partikuläre Lösung als Summe der Teillösungen me der Teillösungen für alle Ordnungen:

nA ∞
4F̂ V1 (ηi )
qp ( t ) = ∑ qpi (t). qp ( t ) = ∑ sin(iΩt − ψi ).
i=1 cπ i=1,3,...
i

Die Möglichkeit, bei linearen Systemen die Gesamtlösung
für eine Summe von Anregungen aus der Summe der
Teillösungen für jede Anregung zu bilden, wird als Su- Es ist auch bei der Addition vieler partikulärer Teillösun-
perpositionsprinzip bezeichnet (Tab. 12.2). gen zu beachten, dass die Gesamtlösung

nA
Beispiel Ein Schwinger mit der Eigenkreisfrequenz ω0
und dem Dämpfungsmaß D soll durch ein symmetrisches q(t) = e−δt (A cos ωd t + B sin ωd t) + ∑ qpi (t)
i=1
rechteckförmiges Kraftsignal mit der Grundfrequenz Ω
und der Amplitude F̂ angeregt werden. Die Fourier-Reihe
aus der Lösung der homogenen Differenzialgleichung
dieses Signals lautet:
und einem partikulären Teil zusammengesetzt ist. Häu-
  fig treten in der Praxis Einschwingvorgänge auf, bei denen
4F̂ 1 1
F ( t) = sin Ωt + sin 3Ωt + sin 5Ωt + . . . . ein Schwinger zum Zeitpunkt t = 0 in Ruhe ist (q(0) = 0,
π 3 5 q̇(0) = 0) und ab diesem Moment die Anregung einsetzt.
(12.58) Dabei darf die homogene Lösung nicht vernachlässigt
werden. Die Bestimmungsgleichungen für die Integrati-
Die Anregungsamplituden lassen sich daraus zu onskonstanten der homogenen Lösung lauten in diesem
6 Fall analog zu (12.17):
4F̂
f̂i = mπi , für i ungerade
0, für i gerade nA
A = − ∑ qpi (0), (12.59)
ablesen, zudem gilt die Phase ϕi = 0 für alle Summanden i=1
der Reihe (siehe Abb. 12.22). Für den Aufbau der Lösung 1 nA

werden Amplitude und Phase der ungeraden Ordnungen B=−


ωd ∑ δqpi (0) + q̇pi (0) , (12.60)
i=1
unter Verwendung von ηi = iΩ ω0 durch

wobei qpi (0) und q̇pi (0) die Lagen bzw. Geschwindigkei-
f̂i 2Dηi
qpi = V1 (ηi ) sowie ψi = arctan . ten der Anteile der partikulären Lösung zum Zeitpunkt
ω02 1 − ηi2 t = 0 darstellen.
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme 301

Beispiel: Auslegung der schwingungsisolierten Aufhängung eines Geräts

Technische Mechanik
Ein empfindliches Steuergerät, ein Messsystem oder Gerät
eine Präzisionswaage ist in einer vibrierenden Umge-
bung so zu montieren oder aufzustellen, dass die Um- m
gebungsschwingungen möglichst wenig darauf ein- q(t)
wirken. Naheliegend ist es, das zu isolierende Gerät
mit einer Feder-Dämpfer-Kombination nur indirekt an c d
die Umgebung zu koppeln. Zusammen mit der Eigen-
masse des Geräts stellt dieses System einen fußpunkt-
erregten Einmassenschwinger dar. Maschine
u(t)

Problemanalyse und Strategie: Bei einer einfachen Her-


angehensweise mit der Theorie der linearen Schwinger Der Blick auf die Vergrößerungsfunktion des fuß-
können die Steifigkeit und Dämpfung der Aufstel- punkterregten Schwingers zeigt, dass eine effektive
lung variiert werden, um die gewünschte Isolation Reduktion der Schwingung des Geräts nur im über-
zu erreichen. Bei stationären Mess- und Wägesyste- kritischen
√ Bereich möglich ist. Für Werte von η >
men kann auch die Masse, z. B. durch eine zusätzliche 2 ist die Amplitude des Schwingers kleiner als die
massive Fundamentplatte modifiziert werden. In Fahr- der Anregung. Somit muss der Schwinger tieffrequent
zeugen kommt die Zusatzmasse aus Gewichtsgründen oder „weich“ abgestimmt werden: Seine Eigenfre-
i. d. R. nicht infrage. Mit Variation von Steifigkeit und quenz muss deutlich geringer sein, als die relevante
Dämpfung wird ein „Betriebspunkt“ in der Vergröße- Anregungsfrequenz. Allerdings wird dieser Effekt mit
rungsfunktion eingestellt, um das gewünschte Schwin- einer Resonanzspitze im Betriebsbereich erkauft, die
gungsverhalten zu erreichen. gerade bei Hochläufen des anregenden Systems durch-
fahren werden kann.

Lösung: Als Beispiel für eine derartige Auslegung soll Somit ergeben sich bei der Auslegung der Aufhängung
ein kleines Steuergerät der Masse m = 1 kg betrach- drei zu erfüllende Kriterien:
tet werden, das an einem Verbrennungsmotor mon-
1. Der Wert der Vergrößerungsfunktion im Dauer-
tiert werden soll. Das Gerät ist empfindlich gegen
betriebspunkt muss so klein sein, dass die dabei
Lasten durch Schwingungen. In der Spezifikation des
auftretende Amplitude kleiner oder gleich der zu-
Geräts ist eine maximale Beschleunigungsamplitude
lässigen Amplitude ist.
âGmax,d = 5 m/s2 im Dauerbetrieb sowie kurzfristig 2. Die Dämpfung muss so gewählt werden, dass beim
âGmax,k = 30 m/s2 angegeben. Durchfahren der Resonanz keine unzulässig große
Amplitude entsteht.
Der Motor läuft im Dauerbetrieb mit einer stationären 3. Die statische Auslenkung des Geräts in der wei-
Drehzahl, die an der Montagestelle des Geräts ei- chen Aufhängung darf nicht zu groß sein, trotz
ne Schwingungsanregung von âM = 10 m/s2 bei fd = Schwingungsisolation muss das Gerät mechanisch
20 Hz verursacht. Bei gelegentlichem Start und Stopp festgehalten werden.
des Motors wird der Drehzahlbereich vom Stillstand
bis zur stationären Betriebsdrehzahl durchlaufen. Da-
Der dritte Punkt soll erst am Ende der Berechnung be-
bei soll vereinfachend angenommen werden, dass die
rücksichtigt werden. Die beiden Forderungen 1. und 2.
Anregungsamplitude ebenfalls konstant âM = 10 m/s2 führen im Grenzfall jeweils zu folgenden Gleichungen:
im Bereich von 0 Hz bis 20 Hz beträgt.
âGmax,d 1 2πfd
Der Vergleich der zulässigen Beschleunigungsampli- V2 (η ) = = mit η= , (12.61)
tude âGmax,d des Geräts mit der Anregungsamplitude âM 2 ω0
des Motors âM zeigt sofort, dass das Gerät nicht di- âGmax,k
V2max = =3 (12.62)
rekt auf dem Motor montiert werden kann. Es ist eine âM
Schwingungsisolation durch eine elastische Montage,
z. B. mit Gummielementen erforderlich. Diese soll mit Aus diesen beiden Gleichungen sollen im ersten Schritt
einem Ersatzmodell ausgelegt werden, d. h., es sollen D und η bestimmt werden, die dann weiter über ω0
die erforderliche Steifigkeit c und die Dämpfung d be- schließlich in die konkreten Werte von c und d umge-
stimmt werden. rechnet werden können.
302 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

Zweckmäßig wird mit (12.62) begonnen, da aus Anregungsfrequenz (Hz) für ω0 = 69,216 rad/s
Tab. 12.3 abgelesen werden kann, dass V2max unab- 0 5 10 15 20 25

Geräteamplitude aG (m/s2) bei aM = 10,00 m/s2


Technische Mechanik

hängig von η ist. Sie stellt aber eine sehr komplizierte Vmax = 3, h max = 0,971
Formel dar, die nach D aufgelöst werden müsste. Hier 3 30
empfiehlt sich eine numerische Lösung, z. B. durch
2,5 25

V2: aG/aM sowie xG/xM


Darstellung der Kurve in einem graphischen Taschen-
rechner und Ablesung des Wertes für D beim Funkti-
2 20
onswert 3 der Kurve.
1,5 15
Maximum von V2 in
Abhängigkeit von D
5,5 1 10

5 0,5 5
Vbetr = 0,5, η betr = 1,816
4,5
0 0
4 0 0,5 1 1,5 2 2,5
η = Ω /ω0
3,5
V2,max

3
2,5 Die Vergrößerungsfunktion für das berechnete D ist
2
hier dargestellt. Die schwarzen Achsen skalieren V2 di-
mensionslos über η. Die roten Achsen stellen V2 über
1,5 der tatsächlichen Anregungsfrequenz Ω dar und zei-
1
D = 0,179 gen die sich ergebende Antwortamplitude âG für âM =
0,1 0,2 0,3 0,4 10 m/s2 . Die schwarz markierten Punkte sind die bei-
D
den Auslegungspunkte aus der Aufgabenstellung.
Mit der Kenntnis von D und η können alle weiteren
Mit einer Genauigkeit von drei Stellen kann D = 0,179 Größen berechnet werden:
abgelesen werden, damit wird ηmax = 0,971 berechnet.
2πfd
Eigenkreisfrequenz: ω0 = η = 69,215 rad/s,
Die Verwendung der Näherungsformel aus Tab. 12.3
liefert D = 0,16̄ und liegt somit außerhalb ihres Gültig- Eigenfrequenz: f0 = ω0
= 11,013 Hz,

keitsbereichs. Alternativ kann vernachlässigt werden,
dass das Maximum von V für D = 0 nicht genau bei Resonanzfrequenz: fmax = f0 ηmax = 10,696 Hz,
η = 1 liegt, sodass als Näherung
√ Resonanzkreisfrequenz:
1 + 4D2 Ωmax = ω0 ηmax = 67,207 rad/s
V2max ≈ V2 (1) = =3
2D Aufhängungs-Steifigkeit: c = ω02 m = 4791 N/m,
verwendet werden, was sich zu
Aufhängungs-Dämpfung: d = 2Dω0 m = 24,829 Ns/m,
1 1
D =
2
und damit D = √ ≈ 0, 177 Damit kann nun die Aufhängung konstruktiv ausge-
4 ( 32 − 1 ) 32
legt werden. Für den Raumbedarf des Geräts mit seiner
auswerten lässt, was sehr nahe an der exakten Lösung Aufhängung müssen die Lageänderungen in verschie-
D = 0,179 liegt. Diese Näherung bietet sich vor allem denen Betriebszuständen berechnet werden:
bei Problemen an, die eine Umformung von V4 erfor- mg
dern. statische Auslenkung: x0 = c = 2,05 mm,
Wird (12.61) nach η aufgelöst, ergibt sich eine quadra- Resonanzamplitude: q̂max =
âGmax,k
= 6,6418 mm,
Ω2max
tische Gleichung für η 2 :
âGmax,d
η 4 − (12D2 + 2)η 2 − 3 = 0 Daueramplitude: q̂d = (2πfd )2
= 0,317 mm.

die auf die Lösungen Die Daueramplitude ist unkritisch. Als Freiraum für
 das Gerät muss, damit beim Resonanzdurchlauf kei-
2
η1,2 = 6D2 + 1 ± (6D2 + 1)2 + 3 ne Kollisionen stattfinden, q̂max − q0 nach oben und
q̂max + q0 nach unten vorgesehen werden. Auch die
führt. Wird hier D = 0,179 eingesetzt, verbleibt als ein- verwendeten Federn und Dämpfer müssen diese Aus-
zige sinnvolle Lösung η = 1,816. lenkungen schadlos überstehen.
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme 303

Kommentar Das Beispiel zeigt die erfolgreiche Ab- Mit geeigneter Dämpfung kann die Resonanzspitze
stimmung einer Aufhängung eines Geräts in schwin- begrenzt werden. Eine höhere Dämpfung verschiebt

Technische Mechanik
gender Umgebung. Die Daueramplitude des Geräts ist allerdings auch den Isolationsbereich zu höheren Fre-
geringer als die Anregungsamplitude. Dieser Isolati- quenzen, was wiederum eine weichere Lagerung erfor-
onseffekt entsteht durch die sogenannte überkritische dert.
oder weiche Aufhängung: Die Resonanzfrequenz des
Geräts in seiner Aufhängung muss tiefer sein als die Unrealistisch vereinfachend an diesem Beispiel ist die
typische Anregungsfrequenz, was i. d. R. durch eine Annahme einer konstanten Anregungsamplitude über
weiche Federung erreicht wird. Nachteilig an die- den gesamten Frequenzbereich. Ein Motor als schwin-
sem Konzept ist, dass die Resonanzfrequenz des Sys- gendes System ist selbst elastisch gelagert und wird ei-
tems unterhalb der Betriebsfrequenz liegt: Ändert sich ne drehzahlabhängige Anregungskurve durchfahren.
die Anregungsfrequenz der Umgebung, z. B. durch Dann wäre allerdings die hier vorgestellte halbanaly-
Hochlauf einer Maschine, welche die Schwingungen tische Lösung unter direkter Verwendung von V2 nicht
verursacht, kann die Resonanz durchlaufen werden. möglich. 

a x x
Anfangsbedingungen bei Einschwingvorgängen x1 x1
Wird ein Schwinger zu einem Zeitpunkt t mit ei- t
ner neuen Anregung beaufschlagt, die nicht zum
momentanen Schwingungszustand des Schwingers ω
Ω
passt, werden immer auch Eigenschwingungen, die
b x x
durch die homogene Lösung beschrieben werden,
angeregt. Die Integrationskonstanten, welche die
homogene Lösung skalieren, können mit (12.59) und
t
(12.60) bestimmt werden.

Ω 2Ω 3Ω ω
c x x

Spektrum und Übertragungsfunktion sind


wichtige Hilfsmittel der Schwingungslehre t
im Frequenzbereich
ω
d x x
Ein Signal, das aus einer endlichen Summe von har-
monischen Signalen aufsummiert ist, kann als diskretes
Spektrum dargestellt werden, wobei hier nur das Amplitu-
t
denspektrum betrachtet werden soll. Dabei ist die Ordinate
die Frequenzachse, und auf der Abszisse werden die Am-
ω
plituden des jeweiligen Frequenzanteils aufgetragen.
Abb. 12.23 Verschiedene Amplitudenspektren mit zugehörigen Signalen. Die
Spektren und Übertragung in linearer Darstellung Phaseninformation, darstellbar in einem Phasenspektrum ist hier nicht darge-
stellt. a Signal mit einer Frequenz, entspricht einer harmonischen Funktion, „Si-
Verschiedene typische Signale, die in der Technik auf-
nuswelle“. Die Amplitude entspricht der Balkenhöhe. b Periodisches Signal mit
treten, sind in Abb. 12.23 dargestellt. Im Grenzfall kann Grundfrequenz Ω und ganzzahligen Obertönen, bzw. höheren Harmonischen.
ein Signal aus unendlich vielen Teilsignalen zusammen- Typisch für Musikinstrumente und Maschinendynamik mit Grundfrequenz aus
gesetzt sein, es entsteht dann ein kontinuierliches Spek- Drehfrequenz und höheren Harmonischen z. B. aus nichtlinearen Mechanismen.
trum. In der Schwingungstechnik werden Signale, wie c Aperiodisches Signal, zusammengesetzt aus Teilsignalen mit gebrochenen oder
z. B. Schwingwege oder -beschleunigungen als Zeitsigna- irrationalen Frequenzverhältnissen. d Kontinuierliches Spektrum, zugehörige Si-
le mit einer festen Abtastrate messtechnisch erfasst. Mit- gnale können stochastisches Rauschen, z. B. aus dem Überfahren von rauen
Fahrbahnen, oder Impulse sein
hilfe der diskreten Fourier-Transformation (DFT) können
daraus die diskreten Spektren gewonnen werden. Das
periodische Rechtecksignal aus (12.58) hat z. B. das in
Abb. 12.22 dargestellte Spektrum. Wird ein Schwingungs-
system mit einem derartigen Signal angeregt, kann die
304 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

f, x V( η )
Verstärkung x > f
Technische Mechanik

LF

Pegel (dB)
Anregung f
Übertragungsf. lg η
Antwort x V1 (η )
Lq
Abschwächung x < f
1
1
2

Abb. 12.25 Eingangspegel (blau ), logarithmierte Vergrößerungsfunktion, zu-


gleich dimensionsloser Amplitudengang (grün ) sowie Ausgangspegel (rot )
1 2 3 4 5 6 ω
Ω

Abb. 12.24 Veränderung des Amplitudenspektrums durch die Über-


1 mm und F̂0 = 1 N. In der Akustik existieren für einige
tragungsfunktion. Das Anregungsspektrum (blau) wird durch die Amplitude der Größen genormte Bezugsgrößen. Werden die Bezugsgrö-
Übertragungsfunktion (grün) modifiziert, indem die Höhe des Balkens mit dem ßen in (12.63) eingeführt, ergibt sich:
Betrag der Übertragungsfunktion an dieser Stelle multipliziert wird. Ergebnis ist
das (rote) Antwortspektrum. Die Relationen x̂ > f̂ bzw. x̂ < f̂ sind nur sinnvoll, q̂p F̂ F̂
= 0 V1 (η ) ,
wenn beide Größen die gleiche Dimension, z. B. Anregungs- und Antwortweg q̂0 cq̂0 F̂0
haben
was durch Logarithmieren zu

Amplitude der Übertragungsfunktion, d. h. der Amplitu- F̂0


Lq = 20 lg + 20 lg V1 (η ) + LF
dengang, in das Anregungsspektrum eingezeichnet werden cq̂0
und aus der Multiplikation jedes Anregungsspektral- F̂0
werts mit dem entsprechenden Amplitudengangwert der umgeformt werden kann. Der Term cq̂ 0
ist eine dimen-
Ausgangswert und somit das Antwortspektrum gewonnen sionslose Konstante, die von der Systemsteifigkeit sowie
werden (Abb. 12.24). Lage und Form der Übertragungs- den Bezugswerten der Pegelbildung abhängt und durch
funktion sind von den Eigenschaften Eigenfrequenz und geeignete Wahl der Bezugswerte F̂0 = cq̂0 zu 1 gesetzt
Dämpfung des angeregten Systems abhängig. Einzelne werden kann, womit der Logarithmus verschwindet und
Signalkomponenten und damit der zugehörige Frequenz-
Lq = 20 lg V1 (η ) + LF
inhalt können verstärkt, andere abgeschwächt werden.
Die Übertragungsfunktion kann bei Systemen mit einem verbleibt. Somit ergibt sich das Spektrum der Antwort-
Freiheitsgrad größer eins auch eine komplexere Form ha- pegel durch Addition der Anregungspegel mit der lo-
ben, wie in Abschn. 13.1 gezeigt wird. garithmierten Vergrößerungsfunktion. In Abb. 12.25 ist
dieser Prozess dargestellt. Die doppellogarithmische Dar-
Darstellung von Spektren und stellung von V1 (η ) lässt sich für D > 0, 05 durch eine ho-
Übertragungsfunktionen im logarithmischen Maßstab rizontale Gerade bis η = 1, d. h., lg η = 0, und ab diesem
Besonders einfach wird der Übergang von Anregung zu Knickpunkt durch eine Gerade mit der Steigung −2 : 1
Antwort, wenn logarithmisch gerechnet wird. Diese Vor- gut approximieren. Die Übertragungsfunktion zeigt das
gehensweise ist in der Akustik üblich und kann auch auf klassische Tiefpassverhalten des Einmassenschwingers:
Schwingungsprobleme angewendet werden. Die Weg- Hochfrequente Kraftanregungen führen aufgrund der
Antwortamplitude des krafterregten Einmassenschwin- Trägheit der Schwingermasse nur zu kleinen Antwortam-
gers lautet gemäß (12.47): plituden, während tieffrequente Anregungen quasista-
tisch zu großen, nur durch das Gleichgewicht zur Feder-
1 1
q̂p = V1 (η )F̂ = V1 (η )F̂. (12.63) kraft bestimmten Auslenkungen führen.
mω02 c
Nun werden die Amplituden auf Bezugsamplituden nor-
Systemidentifikation aus der gemessenen
miert und durch dekadisches Logarithmieren die soge-
Übertragungsfunktion
nannten Signalpegel gebildet. Diese werden mit 20 mul-
tipliziert und es ergeben sich die Pegel Der in den beiden vorangegangenen Abschnitten dar-
q̂p F̂ gestellte Zusammenhang zwischen Anregungsspektrum,
Lq = 20 lg dB sowie LF = 20 lg
dB Antwortspektrum und Amplitudengang kann auch
q̂0 F̂0 zur experimentellen Identifikation der Parameter eines
in der Einheit Dezibel dB. Die Bezugsamplituden q̂0 und Schwingungssystems benutzt werden. Dazu wird das
F̂0 können prinzipiell beliebig gewählt werden, z. B. q̂0 = System mit einer bekannten oder gemessenen Anregung
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme 305

|G| le analytisch von Hand oder durch Verwendung eines


Computer-Algebra-Systems gewonnen werden.

Technische Mechanik
Gmax
Die Idee des Verfahrens ist, dass die Lösung des Schwin-
gungssystems auf einen Impuls zum beliebigem Zeit-
punkt t0 der zeitverschobenen Impulsantwort (12.34)
k −δ (t−t0)
Gmax qimp (t) = e sin ωd (t − t0 ) für t > t0
ωd
2
∆f entspricht. Jede Anregung f (t) kann nun aus einer Sum-
me von unendlich vielen skalierten Einheitsimpulsen
t
f ( t) = f (t̄)δ̄(t − t̄)dt̄
fRes f (Hz)
0

Abb. 12.26 Amplitudengang eines Schwingungssystems. Die Resonanzfre- zusammengesetzt betrachtet werden. Mit dem Superpo-
quenz fRes liegt beim Maximum der Funktion. Die Halbwertsbreite der Reso- sitionsprinzip führt das Integral über alle Teillösungen
nanzspitze ist Δf qimp (t − t̄) zu:
t
q ( t) = f (t̄)qimp (t − t̄)dt̄.
angeregt, die gleichzeitig oder nacheinander einen breiten
Frequenzbereich abdeckt. Geeignet ist z. B. ein sogenann- 0
ter Sweep, ein harmonisches Signal, dessen Frequenz Frage 12.7
langsam gesteigert wird. Berechnen Sie die Sprungantwort des ungedämpften
Ebenfalls zu messen ist die Systemantwort, die wie die Schwingers durch Anwendung des Duhamel-Prinzips.
Anregung in ein Spektrum verwandelt wird. Aus dem Da nur für Zeiten t > 0 gerechnet wird, können Sie
Verhältnis der Werte der Spektren bei jeder Frequenz er- f (t) = 1 setzen.
gibt sich der experimentell bestimmte Amplitudengang
|G|, der für diese Auswertung linear über der Frequenz
in Hz aufgetragen wird (Abb. 12.26). Lineare Schwingungen
ωRes
Die Resonanzfrequenz fRes = des Systems liegt an

Der lineare Schwinger kann eine freie Schwin-
der Stelle des Maximums von |G|. Die Dämpfung kann, gung in seiner Eigenkreisfrequenz ωd ausführen.
wenn diese gering ist und somit ωRes ≈ ω0 gilt, mit Diese wird entweder durch ein einmaliges Ereig-
der sogenannten Halbwertsbreite der Resonanzspitze be- nis, wie z. B. einen Stoß, oder durch Anfangsbe-
stimmt werden. In Abb. 12.26 ist Δf eingezeichnet: Die dingungen ausgelöst und klingt beim gedämpf-
Breite der Resonanzspitze bei der Höhe Maximalamplitu- ten Schwinger exponentiell ab.
de skaliert mit √1 . Das dimensionslose Dämpfungsmaß Wird ein Schwinger von außen harmonisch mit
2 der Frequenz Ω angeregt, antwortet er mit einer
kann daraus zu
erzwungenen Schwingung in eben dieser Fre-
Δf quenz Ω. Es stellt sich eine stationäre Amplitude
D=
2fRes und eine Phasenverschiebung zur Anregung ein.
Ein Schwinger führt bei mehreren, gleichzeitig
bestimmt werden.
wirkenden, äußeren harmonischen Anregungen
auch parallel mehrere erzwungene Schwingun-
Hinweis: Der Begriff Halbwertsbreite stammt aus der Ana- gen überlagert aus. Die einzelnen Bewegungen
lyse von quadrierten Übertragungsfunktionen. In diesem beeinflussen sich gegenseitig nicht.
Ĝ2max Da sich jede Anregung mit einer Fourier-
Fall kann Δf tatsächlich bei 2 abgelesen werden.
Entwicklung in eine Summe von harmonischen
Signalen zerlegen lässt, kann aus der Überlage-
rung der einzelnen Systemantworten auch die
Das Duhamel’sche Integral liefert direkt
gesamte Systemantwort auf ein beliebiges Anre-
analytische Lösungen im Zeitbereich gungssignal berechnet werden.
Allgemein kann sich die Bewegung eines Schwin-
Lösungen von Schwingungssystemen für beliebige An- gers aus einer freien Schwingung sowie einer
regungen können auch durch Anwendung des Duha- Summe von beliebig vielen Systemantworten zu-
mel’schen Prinzips gewonnen werden. Da es auf ein Fal- sammensetzen.
tungsintegral führt, können Lösungen für einfache Fäl-
306 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

12.5 Schwingungen nichtlinearer F


linear
progressiv
Systeme
Technische Mechanik

degressiv
gestuft
Nichtlineare Systeme treten in der Praxis häufig auf. Die
Betrachtung der linearen Systeme in den vorangegange-
nen Abschnitten ist in der Regel nur durch vereinfachen-
de Annahmen zu rechtfertigen. Bereits das mathemati-
sche Pendel hat für große Auslenkungen die nichtlineare
g
Bewegungsgleichung ϕ̈ + L sin ϕ = 0.
Allerdings sind für die allgemeine Berechnung nicht-
linearer Schwingungen Methoden erforderlich, die den
Rahmen dieses Buches sprengen würden. Deshalb sollen
nichtlineare Schwingungsphänomene an drei einfachen
Beispielen gezeigt werden, die letztlich durch Anwen-
dung bereits eingeführter Methoden gelöst werden kön- q
nen.
Abb. 12.27 Verschiedene Federkennlinien

Beispiel Abbildung 12.28 zeigt eine vereinfachte Dar-


Nichtlineare Federkennlinien
stellung einer typischen Anwendung einer nichtlinearen
treten in der Praxis häufig auf Federrückstellkraft in der Fahrzeugtechnik. Dabei soll die
Federkennlinie des Fahrzeugs so gestaltet werden, dass
Bei der Aufstellung der Bewegungsgleichung des Ein- die Aufbaueigenkreisfrequenz ω0 unabhängig vom Be-
massenschwingers im Abschn. 12.3 wurde bei (12.2) da- ladungszustand des Fahrzeugs bleibt. So hat z. B. ein
von ausgegangen, dass die Kraft des Feder-Dämpfer- typischer, vierachsiger Eisenbahnkesselwagen eine Leer-
Systems linear von der Auslenkung q und der Auslen- masse von 22 t, gefüllt kann er 90 t wiegen. Bei einer
kungsgeschwindigkeit q̇ abhängt. Eine allgemeine Feder- konstanten Federsteifigkeit c würde sich die Aufbauei-
Dämpfer-Kraft gehorcht dem Zusammenhang FFD = genkreisfrequenz zwischen voll und leer um den Faktor
F(q, q̇) wobei F eine Funktion von zwei Eingangsgrößen ≈ 2 unterscheiden.
ist. Werden nur ungedämpfte Federn betrachtet, kann die
FF (q)
Federkraft als Federkennlinie FF = F(q) dargestellt werden mZ cv ≈
∂F(q)
(Abb. 12.27). Die Kennlinie kann verschiedene Verläufe mF ∂q q = qv
FF (qv) = (mF + mZ) g
aufweisen, die Gerade für die lineare Feder ist ein Son-
derfall.
mF
Häufig treten bei nichtlinearen Federsystemen nur kleine FF ( ql ) = mF g ∂F(q)
cl ≈
∂q q = ql
Auslenkungen auf, die eine Linearisierung der Feder-
kennlinie F(q) um einen Punkt q0 zulassen. Die Taylor-
Entwicklung ql qv q

dF(q) Abb. 12.28 Leerer und beladener Lkw und zugehöriger Federweg und Feder-
FF (q) = F(q0 ) + ( q − q0 ) + . . . kraft auf der Kennlinie. Die Auslenkungen ql und qv bezeichnen jeweils die
dq q0 statischen Ruhelagen auf der Federkennlinie für den leeren und den beladenen
Zustand. g bezeichnet die Erdbeschleunigung
wird nach dem ersten Glied abgebrochen, und der Aus-
druck Um ω0 konstant zu halten, wird ausgenutzt, dass die
Ruhelage auf der Federkennlinie von der statischen Ge-
dF(q)
c= wichtskraft und damit der zugeladenen Masse m des
dq q0 Fahrzeugs abhängt. Es muss nun die Kennline so gestaltet
werden, dass die Steigung an jedem Gleichgewichtspunkt
ist die Steigung der Kennlinie und damit die lineare Er- proportional zur Gesamtmasse des Fahrzeugs ist. Damit
satzsteifigkeit für kleine Auslenkungen in der Nähe von bleibt das Verhältnis aus Masse und Steifigkeit konstant
q0 . Gilt zudem F(q0 ) = 0, ist q0 ein Gleichgewichtspunkt. gleich ω02 . Es gilt:
Für kleine Schwingungen um q0 ist das System wieder
linear und kann durch die neue Koordinate qS = q − q0 dF(q)
F = (mF + m)g sowie c = ,
beschrieben werden. dq q
12.5 Schwingungen nichtlinearer Systeme 307

was in c = ω02 (mF + m) eingesetzt die Differenzialglei-


q FN
chung

Technische Mechanik
ω2 c
dF
= 0F (12.64) m
dq g Reibung

ergibt. Sie ist trennbar, was auf


Abb. 12.29 Feder-Masse-System mit Coulombscher Reibung
FF q
dF ω2
= 0 dq
F g
Fl ql Bei trockener Reibung kommt ein Schwinger
führt und durch
in endlicher Zeit zur Ruhe
% &
ω02 In den Abschn. 12.3 und 12.4 wurde zur Beschreibung dis-
FF (q) = Fl exp ( q − ql ) sipativer Prozesse die viskose Dämpfung verwendet, bei
g
der Kraft und Geschwindigkeit in der Form F = dq̇ pro-
gelöst werden kann. Fl sowie ql sind dabei die Gewichts- portional sind. Dieses Gesetz ist aber eine Idealisierung
kraft bzw. die Federauslenkung des leeren Fahrzeugs. Die und in dieser Reinform technisch schwierig zu realisieren.
erforderliche Federkennline ist somit eine Exponential- Praktisch wird in jedem technischen Schwingungssystem
funktion. Die Steifigkeit ergibt sich aus: auch immer sogenannte Coulomb’sche oder trockene Rei-
bung auftreten. Die trockene Reibung ist in Abschn. 2.5
% & erläutert, soll hier jedoch erweitert werden.
dF ω02 ω02
c(q ) = = Fl exp ( q − ql ) , Betrachtet werden soll ein Einmassenschwinger, bei dem
dq g g
zwischen Masse und Unterlage Coulomb’sche Reibung
ω2
vorliegt.
wobei Fl g0 = cl auch als Federsteifigkeit im Leerzustand
Eine analytische Lösung der Bewegung des Schwingers
betrachtet werden kann. Eine Feder mit exponentiellem ist möglich, wenn das einfachste Reibgesetz mit μ = μ0 =
Kraftverhalten ist natürlich nicht unmittelbar technisch const. angenommen wird, das sich dann in der Form
zu realisieren; eine progressive Feder mit ähnlichem Stei-
figkeitsverhalten kann das Problem näherungsweise lö- 6
−μFN , für q̇ > 0
sen.  FR = (Gleiten) (12.65)
μFN , für q̇ < 0
Ungelöst bei diesem Beispiel bleibt die Anpassung der q̇ = 0, für |FR | ≤ μFN (Haften)
Dämpfung an verschiedene Fahrzeugmassen. Wird nur
die Steifigkeit an die Zuladung angepasst, wird das mit der Reibkraft FR und der Normalkraft FN schreiben
Dämpfungsmaß D über den zulässigen Zuladebereich lässt. Für den Reibschwinger in Abb. 12.29 lautet die Be-
deutlich variieren. wegungsgleichung:

mq̈ + cq = FR ,
Nichtlineare Kennlinien von Federn
die mit (12.65) in Form von zwei Teilgleichungen
Nichtlineare Federkennlinien treten in der Praxis oft
auf. Führt ein System jedoch nur kleine Schwing- FN
bewegungen um einen Betriebspunkt aus, kann es q̈ + ω02 q = − μ, für q̇ > 0,
m
linearisiert werden. Die Ersatzsteifigkeit ist die Stei- FN
gung der Federkennlinie am Betriebspunkt. q̈ + ω02 q = μ, für q̇ < 0 (12.66)
m
geschrieben werden kann. Beide Teilgleichungen sind li-
Frage 12.8 near und entsprechen in ihrer Struktur jeweils (12.20) im
Die nichtlineare Bewegungsgleichung eines mathemati- Abschn. 12.3, wobei hier K = ∓ FmN μ gilt.
g
schen Pendels im Schwerefeld lautet ϕ̈ + l sin ϕ = 0. Li- Somit kann die Lösung nach folgendem Schema ab-
nearisieren Sie die Bewegungsgleichung um die Gleichge- schnittsweise aufgebaut werden: Bewegungsabschnitte
wichtslagen ϕ0 = 0 und ϕ0 = π. Welche Aussagen lassen mit negativer Schwinggeschwindigkeit sind Bewegun-
sich für beide Lagen treffen? gen um die Mittellage qG = ωF2Nm μ = FcN μ, Abschnitte mit
0
308 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

q cq1 < −mgμ gilt, d. h. die Federkraft größer als die Reib-
Abschnitt 1 Abschnitt 2 kraft ist. Ist das der Fall, lautet die Lösung:
Technische Mechanik

q0 q<0 q>0
2μ F q(t) = − qG + A cos ω0 t + B sin ω0 t,
Steigung – ω mN
q2 0 q̇(t) = − Aω0 sin ω0 t + Bω0 cos ω0 t,
qG
–qG
die angepasst an die Anfangsbedingungen
π 2π 3π 4π ω0 t
q(t) = − qG − (q1 + qG ) cos ω0 t,
Haftzone
q1 q̇(t) = (q1 + qG ) ω0 sin ω0 t

lautet und für π < ω0 t < 2π gültig ist. Dieser Lösungsab-


Abb. 12.30 Zeitverlauf der Auslenkung eines Einmassenschwingers mit schnitt ist als blaue Kurve in Abb. 12.30 eingezeichnet. Im
trockener Reibung. Rote Kurvenabschnitte zeigen Bewegungsabschnitte mit letzten gültigen Moment dieses Lösungsabschnitts t2 →
q̇ < 0, blaue mit q̇ > 0. Schwarz schraffiert ist die Haftzone, in der die Be-
ω0 beträgt die Lage q2 = −q1 + 2qG .

wegung endet
Nun kann, wenn q2 > qG gilt, wieder eine Halbschwin-
gung mit q̇ < 0 stattfinden. Dieses Wechselspiel wird sich
positiver Geschwindigkeit besitzen die negative Mittel- wiederholen, bis der Schwinger nach einer Halbwelle im
lage −qG . Die Wechsel zwischen den Bewegungsabschnit- Bereich −qG < q < qG zu liegen kommt. Dann reicht die
ten finden jeweils an den Umkehrpunkten mit q̇ = 0 Federkraft nicht dafür aus, die Reibkraft zu überwinden,
und entsprechendem Richtungswechsel statt. Die dort er- und die Masse wird haftend liegen bleiben.
reichte Endlage ist zugleich Lage-Anfangsbedingung des
nächsten Bewegungsabschnitts (Abb. 12.30). Aus dem Übergang q0 → q1 sowie q1 → q2 kann abgele-
sen werden, dass die Amplitude pro Halbwelle um 2qG
Dieses Verfahren wird als Anstückelverfahren bezeichnet, kleiner wird. Die Amplitude nimmt somit mit konstanter
weil die Gesamtlösung aus einfachen Teillösungen durch Rate ab, und die Einhüllende einer mit konstantem μ rei-
Hintereinanderschaltung gewonnen wird. bungsgedämpften Schwingung ist eine Gerade. Mit den
Betrachtet wird hier der Aufbau der Lösung ausgehend Formeln
von einer Anfangslage q0 > 0 und q̇ = 0 zum Zeitpunkt
F μ π q0 1 q0
t = 0. Für die Auslenkung muss q0 > Nc = qG gelten, tmax ≈ und nmax ≈
2ω0 qG 4 qG
damit tatsächlich ein Losgleiten mit q̇ < 0 stattfindet.
Dann ist die Teilgleichung (12.66) gültig und die allgemei- kann die Zeit tmax bis zum Ende der Schwingung und die
ne Lösung gemäß (12.21) Zahl der bis dahin stattfindenden Schwingungsperioden
q(t) = qG + A cos ω0 t + B sin ω0 t, nmax abgeschätzt werden.
q̇(t) = −Aω0 sin ω0 t + Bω0 cos ω0 t
Frage 12.9
muss an die Anfangsbedingungen angepasst werden. Wie verändert sich das Systemverhalten, wenn weiterhin
Aus q̇(0) = 0 folgt unmittelbar B = 0. Die Anfangsbedin- für die Gleitreibung μ ein konstanter Wert gilt, aber die
gung q(0) = q0 führt zu A = q0 − qG , womit die Lösung Haftreibung μ0 > μ ist?
ab t = 0
q(t) = qG + (q0 − qG ) cos ω0 t,
q̇(t) = − (q0 − qG ) ω0 sin ω0 t (12.67) Schwingungen mit Coulomb’scher Reibung
Schwingungssysteme, in denen Coulomb’sche Rei-
lautet. Dabei ist zu erkennen, dass die Geschwindigkeit
bung auftritt, sind nichtlinear. Ein Ausschwingvor-
in (12.67) wirklich nur dann für t ≥ 0 negativ ist, wenn
gang endet im Gegensatz zu viskos gedämpften
A > 0 und damit wie oben gefordert q0 > qG gilt. Dieser
Systemen nach einer endlichen Zeit von Schwin-
Lösungsabschnitt ist als rote Kurve in Abb. 12.30 einge-
gungsperioden. Die Endlage des Schwingers liegt
zeichnet.
innerhalb einer Haftzone und ist von den Anfangs-
Die Lösung ist gültig, solange q̇ < 0 gilt. Das ist mit Blick bedingungen abhängig. Bei konstantem Reibungs-
auf (12.67) für ω0 t < π der Fall. Im letzten gültigen Mo- koeffizienten kann eine analytische Lösung durch
ment t1 → ωπ0 beträgt die Lage q1 = −q0 + 2qG . Nun kann Anstückeln von harmonischen Teilbewegungen ge-
eine Bewegung mit q̇ > 0 einsetzen, die aus den Anfangs- wonnen werden. Die Einhüllende ist in diesem Fall
bedingungen q(t1 ) = q1 und q̇(t1 ) = 0 startet. Vorausset- eine Gerade.
zung für ein erneutes Losrutschen ist allerdings, dass
12.5 Schwingungen nichtlinearer Systeme 309

F resultierende
Federkennlinie

Technische Mechanik
Spiel
Eingriffsrichtung 1
c2
Eingriffsrichtung 2
1

s1 s2 x
Spiel

c1

Abb. 12.33 Federkennlinien der Einzelfedern links und rechts sowie resultie-
Abb. 12.31 Stirnradpaar mit den beiden möglichen Eingriffsgeraden. Die last- rende geknickte Kennlinie
freie Richtung hat Spiel

q Durch Zusammensetzen der Federkennlinien der zwei


s1 s2 Einzelfedern ergibt sich hierbei die in Abb. 12.33 gezeigte,
resultierde Federkennlinie, welche infolge des vorhande-
c1 c2 nen Spiels einen abgeknickten Verlauf aufweist. Somit
m liegt ein nichtlineares System vor, weshalb die bisher vor-
gestellten Methoden keine geschlossene Lösung zulassen.
In Anbetracht der abschnittsweisen linearen Steifigkeit
s1 < 0 reibungsfrei bietet sich jedoch die Untergliederung der Bewegung in
drei Teilbereiche an, für welche die Bewegungsgleichun-
Abb. 12.32 Minimalmodell eines Einmassenschwingers mit Spiel. Die Masse gen in der Form
m ist in der Lage q = 0 dargestellt. Bei der Lage q = s2 berührt die Masse die
rechte Feder, bei q = s1 , s1 < 0 die linke Feder
mq̈ + c2 q = c2 s2 , für q > s2 ,
mq̈ = 0, für s1 ≤ x ≤ s2 ,
mq̈ + c1 q = c1 s1 , für q < s1
Systeme mit Spiel: Wenn es klappert
aufgestellt werden können. Hierbei fällt für den ersten
und dritten Bereich die Analogie der Bewegungsglei-
In technischen Systemen tritt mitunter Spiel zwischen be-
chung zum linearen, ungedämpften System mit Konstant-
wegten Maschinenteilen auf. Prominentes Beispiel sind
last (12.20) auf, womit die zugehörige Lösung aus (12.21)
Stirnradgetriebe, deren Zahnkontakt als elastisch ange-
direkt übertragbar ist. Aufgrund der verschwindenden
nommen werden kann. Dabei werden Verzahnungen so
Beschleunigung für das mittlere Intervall resultieren an
ausgelegt, dass zwischen den Zähnen immer etwas Spiel
dieser Stelle eine konstante Geschwindigkeit sowie ein li-
herrscht, um Klemmen bei thermischer Ausdehnung zu
nearer Zusammenhang für die Lage. Die Einführung der
vermeiden. Detaillierte Informationen hierzu finden sich
Eigenkreisfrequenzen
in Abschn. 27.4.
 
Wechselt die Lastrichtung im Getriebe, heben die bisher c1 c2
ω01 = und ω02 =
tragenden Flankenpaare ab und nach einer kurzen Frei- m m
flugphase durch den Spielbereich kommen die anderen
Zahnflankenpaare in Kontakt. Wechselt die Lastrichtung führt auf die abschnittsweise Lösung:
periodisch, kann es zu einem Schwingungsphänomen, ⎧
dem „Getrieberasseln“ kommen. ⎨ Ak cos ω02 t + Bk sin ω02 t + s2 q > s2 ,
q ( t) = A t+B s1 ≤ q ≤ s2 ,
Der in Abb. 12.32 dargestellte Einmassenschwinger soll ⎩ Ak cos ωk t + B sin ω t + s q < s1 .
k 01 k 01 1
beispielhaft für ein System mit Spiel betrachtet werden.
Der Körper der Masse m, welcher in seiner Nulllage das Durch Aneinanderreihung der Teillösungen für die ein-
Spiel s1 und s2 gegenüber den linearen Federn der Stei- zelnen Bereiche k = 1, 2, . . . lässt sich die Gesamtlösung
figkeiten c1 und c2 aufweist, führt freie Schwingungen im Zeitbereich gewinnen, wobei die Konstanten aus den
aus, Reibung und Dämpfung sollen vernachlässigt wer- jeweiligen Anfangsbedingungen für Lage und Geschwin-
den. Zudem soll s1 < 0 gelten. digkeit zu bestimmen sind. Als Beispiel soll nachfolgend
310 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

der Fall c1 = c2 = c, −s1 = s2 = s und somit zwangsläufig meiner Form angeben:


ω01 = ω02 = ω0 mit den Anfangsbedingungen q(t = 0) =  (k − 1 ) π
Technische Mechanik

v0 + 2ω0
ks
0 und q̇(t = 0) = v0 betrachtet werden. Zu Beginn befin- k = 1,3,. . .
tk+1 = ,
det sich der Körper folglich im Bereich −s ≤ q ≤ s, sodass (k − 1 )s
+ 2ω0 k = 2,4,. . .

v0
sich die Konstanten zu A1 = v0 und B1 = 0 ergeben. Nach  k− 1
Zurücklegen des Weges x(t2 ) = s erfolgt der Übergang in (−1) 2 v0 k = 1,3,. . .
Ak =
den Abschnitt x > s. Die Einarbeitung der daraus resul- − ωv00 sin(k − 1) ωv00s k = 2, 4, . . .
tierenden Übergangszeit t2 = s/v0 in q(t) und q̇(t) führt
auf das Gleichungssystem: und
 k− 1
−(−1) 2 (s + v0 tk ) k = 3, 5, . . .
Bk = ω0 s .
A2 cos ω0 t2 + B2 sin ω0 t2 + s = s, v0
ω0 cos(k − 1) v0 k = 2, 4, . . .

−ω0 A2 sin ω0 t2 + ω0 B2 cos ω0 t2 = v0 Somit können nun Lage- und Geschwindigkeitsverlauf


berechnet werden. Die gesamte Periode einer Schwin-
mit der Lösung: gung beträgt T = 2πω0 + 2 v0 . Somit ist die Schwingungs-
s

frequenz von der Anfangsgeschwindigkeit v0 abhängig.


Diese Eigenschaft unterscheidet dieses System grundsätz-
v0 v0
A2 = − sin ω0 t2 und B2 = cos ω0 t2 . lich von linearen Schwingungssystemen.
ω0 ω0

Wird dieses Vorgehen unter Nutzung der getroffenen Ver- Weiterführende Literatur
einfachungen fortgesetzt, lassen sich die Übergangszeiten Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils
zum nächsten Bereich tk+1 und die Konstanten in allge- Technische Mechanik befindet sich am Ende von Kap. 9.

Antworten zu den Verständnisfragen

Ω
Anwort 12.1 Die Periode beträgt T = 2π . Für das Integral (12.19) kann für die Lösung der Sprungantwort anstelle
über eine Periodenlänge der quadrierten Sinusfunktion von (12.31)
T +t π
gilt t (A sin Ωτ )2 dτ = A2 Ω . Wird dies in (12.1) ein-
 q(t) = e−δt (A cosh ωD t + B sinh ωD t) + K
Ω 2π
gesetzt, ergibt sich qeff = 2π A Ω = √A .
2
Bei der üblichen Wechselstrom-Netzspannung von U = angesetzt werden. Da auch die Bestimmung der Inte-
230 V beträgt der Effektivwert√230 V. Die Amplitude der grationskonstanten A und B für den schwach und stark
Spannung beträgt somit Û = 2 · 230 V ≈ 325 V. gedämpften Fall identisch ist, können

k k k δ
Anwort 12.2 Wird in Ekin = 12 mω02 A2 für die Eigenkreis- K= , A=− und B = −
ω02 ω02 ω02 ωD
frequenz ω02 = mc eingesetzt, ergibt sich Ekin = 12 m mc A2 ,
was unmittelbar auf Ekin = 12 cA2 = Epot führt. von der Lösung des schwach gedämpften Falls übernom-
men werden. Damit ergibt sich die Sprungantwort:
Anwort 12.3 Für die Veränderung der Amplitude ist der   
Term e−δt verantwortlich. Für die Halbierung der Ampli- k − δt δ
q ( t) = 2 1 − e cosh ωD t + sinh ωD t .
tude muss somit e−δT = 12 gelten. Diese Gleichung lässt ω0 ωD
sich durch bilden des natürlichen Logarithmus auf beiden
Seiten in −δT = − ln 2 und schließlich T = lnδ 2 umfor- Die Impulsantwort ist auch hier die Zeitableitung der
p
men. Sprungantwort, wobei noch k = m gesetzt werden muss
und lautet:
Anwort 12.4 Mithilfe der Ähnlichkeit der Lösungen für p −δt
den schwach bzw. stark gedämpften Fall in (12.15) bzw. q ( t) = e sinh(ωD t).
mωD
Antworten zu den Verständnisfragen 311

Anwort 12.5 Für V1 gilt Ωmax = ω0 1√− 2D2 . Der Term Setzt man die Linearisierungspunkte ein, erhält man:
unter der Wurzel hat für Werte D > 1/ 2 keine reelle Lö-

Technische Mechanik
sung mehr. Vergrößerungsfunktionen V1 mit D > 1/ 2 ϕ0 = 0 : sin ϕ̃ ≈ ϕ̃ und
haben ihr Maximum bei η = 0. ϕ0 = π : sin ϕ̃ ≈ − ϕ̃.
Anwort 12.6 Unter Verwendung von (12.48) und (12.49) Für die Bewegungsgleichungen in den Gleichgewichtsla-
gilt: g
gen mit ω02 = l gilt dann:
1
G( η ) = . ϕ0 = 0 : ϕ̃¨ + ω02 ϕ̃ = 0 bzw.
ω02 (1 − η 2 )
ϕ0 = π : ϕ̃¨ − ω02 ϕ̃ = 0.

Anwort 12.7 Im ungedämpften Fall lautet die Impulsant- Die für die Gleichgewichtslage ϕ0 = 0 gültige Gleichung
wort qimp (t) = ωk0 sin ω0 t. Für f (t) = 1 lautet damit das entspricht in ihrer Gestalt einer Schwingungsdifferenzial-
Faltungsintegral (12.4): gleichung. Dies trifft für ϕ0 = π aufgrund des negativen
Vorzeichens vor dem Term ω02 nicht zu. Die homogenen
t Lösungen lauten für beide Fälle:
k
q ( t) = 1· sin ω0 (t − t̄)dt̄.
ω0 ϕ0 = 0 : ϕ̃(t) = A · cos(ω0 t) + B · sin(ω0 t) bzw.
0
ϕ0 = π : ϕ̃(t) = A · cosh(ω0 t) + B · sinh(ω0 t).
Die Integration wird ausgeführt, und es ergibt sich
Es ist zu erkennen, dass das Pendel um ϕ0 = 0 (hängend)
ω0
k
t
k mit der Frequenz f0 = 2π schwingt. Die Bewegung um
q ( t) = cos ω0 (t − t̄) = (1 − cos ω0 t) die Ruhelage ϕ0 = π (stehend) ist instabil, die Amplitu-
ω02 ω02 de wächst durch die hyperbolischen Funktionen schnell
0
an. Dabei wird auch der zulässige Bereich einer Lineari-
als Sprungantwort. sierung verlassen. Das Pendel kippt.
Anwort 12.8 Die Linearisierung des nichtlinearen Terms Anwort 12.9 Das prinzipielle Bewegungsverhalten und
sin ϕ liefert mit ϕ̃ = ϕ − ϕ0 : die Abklingrate ändern sich nicht. Lediglich die Haftzo-
ne um die Nullage wird breiter. Ihre Grenzen liegen bei
d(sin ϕ) qhaft = ± ωF2Nm μ0 . Die Schwingung kann also früher zur
sin ϕ̃ ≈ sin ϕ0 + · ϕ̃ = sin ϕ0 + cos ϕ0 · ϕ̃. 0
dϕ ϕ0 Ruhe kommen.
312 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

Aufgaben
Technische Mechanik

Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

12.1 • An einer am oberen Ende fest eingespann- und bringen Sie die Gesamtgleichung wieder auf die
ten Feder mit der Federkonstanten c hängt eine Masse Form m∗ ϕ̈ + c∗ ϕ = 0.
m im Schwerefeld mit der Gravitationskonstanten g =
9,81 m/s2 . Resultat:  
g c g
a) ω0 = b) ω0 = +
l 4m l
 
c 2c g 2c g
c) ω0 = + d) ω0 = +
g m l 9m l

m
12.3 •• Ein Torsionsschwinger besteht aus einer ein-
seitig fest eingespannten Welle mit dem Durchmesser
Die statische Verlängerung der Feder unter dem Einfluss D = 30 mm und der Länge l = 500 mm aus Stahl mit
der Gewichtskraft beträgt qst = 8 mm. Bestimmen Sie die dem Schubmodul G = 70 GPa. Am freien Ende der Wel-
Eigenkreisfrequenz des Schwingers. le befindet sich eine Stahlscheibe, Dichte ρ = 7800 kg/m3 ,
mit dem Durchmesser DS = 400 mm und der Dicke d =
Hinweis: Betrachten Sie das statische Gleichgewicht zwi- 60 mm. Wie groß ist die Eigenkreisfrequenz dieses Torsi-
schen Federkraft und Gewichtskraft. onsschwingers?

g
Resultat: ω0 = qst
Hinweis: Die Torsionssteifigkeit cT = MϕT wird in Ab-
schn. 5.4 vorgestellt. Beachten Sie bei der Berechnung die
12.2 • Auf ein mathematisches Pendel mit der Mas- unterschiedlichen Angaben in SI-Einheiten bzw. in mm.
se m und der Länge l wirkt die Erdbeschleunigung g. Für
kleine Auslenkungen ϕ lautet die Bewegungsgleichung Resultat: Die Eigenkreisfrequenz beträgt ω0 = 97,29 rad/s.
aus dem Drehimpulssatz ml2 ϕ̈ + mglϕ = 0. Zwischen der
Pendelstange und der Umgebung werden in verschiede-
nen Konfigurationen Federn der Steifigkeit c angebracht. 12.4 • Ein ungedämpftes Feder-Masse-System wird
Berechnen Sie die Eigenkreisfrequenzen ω0 der Konfigu- durch eine harmonische Kraft erregt. Bei der Erregerkreis-
rationen. frequenz Ω1 = 10 rad/s tritt Resonanz auf. Wird auf dem
Körper eine Zusatzmasse Δm = 2 kg befestigt und der
Hinweis: Berechnen Sie die Federkräfte als Funktion der gleiche Versuch wiederholt, tritt die Resonanz bei Ω2 =
Auslenkung ϕ des Pendels. Fügen sie die resultierenden 9,535 rad/s auf. Bestimmen Sie die Masse und Federstei-
Momente der Federkräfte in die Bewegungsgleichung ein figkeit des ursprünglichen Systems.

a b c d
1/2 l

2/3 l

c
l

c c

c c

m m m m
Aufgaben 313

Hinweis: Resonanz tritt dann auf, wenn die Erregerfre- können andere Teile der Maschine in Schwingungen ver-
quenz mit der Eigenfrequenz des Systems übereinstimmt. setzen. In dieser Aufgabe sind schwingungsfähige Teile

Technische Mechanik
der Maschine vereinfacht durch einen Einmassenschwin-
Resultat: ger abgebildet.
m = 20,02 kg; c = 2,00 · 105 N/cm.
l
12.5 • Experimentell wurde die Eigenkreisfrequenz r
Ωt c d
eines gedämpften Einmassenschwingers ωd bestimmt. m
Bei harmonischer Anregung stellt man fest, dass der
Schwinger bei der Erregerfrequenz ωr die maximale Am-
plitude aufweist. Ermitteln Sie daraus das Dämpfungs- u(t)
q(t)
maß D, das logarithmische Dekrement Λ sowie die Eigen-
kreisfrequenz ω0 des ungedämpften Systems.
Die Bewegungsgleichung für die Masse dieses Systems
Hinweis: Bei einem gedämpften System ist die Eigenfre- lautet mq̈ + dq̇ + cq = cu(t), wobei u(t) die Hubkurve ist,
quenz etwas größer als die Resonanzfrequenz. die von der Schubkurbel verursacht wird. Diese ist keine
einfache harmonische Funktion. Mit dem Pleuelstangen-
Resultat:  verhältnis λ = rl lautet sie
ωd2 − ωr2    
D= , ω0 = 2ωd2 − ωr2 , 1
2ωd2 − ωr 2 u(t) = r cos Ωt + 1 − λ2 sin2 Ωt
λ

 
ωr 2 mit der konstanten Drehgeschwindigkeit Ω des Antriebs.
Λ = 2π 1 − .
ωd Diese lässt sich als harmonische Reihe der Gestalt

12.6 • Ein Einmassenschwinger wird durch eine u ( t) = r ∑ uk cos kΩt (12.68)
k=0
harmonische Kraft F(t) und eine Wegerregung u(t) aus
der Ruhelage erregt, wobei entwickeln, wobei die Glieder mit Ordnung k > 4 in
der Regel vernachlässigt werden können. Die Fourier-
F(t) = F0 sin Ω1 t, u(t) = û cos Ω2 t
Koeffizienten uk lauten genähert u0 = − λ4 + 3λ
3
64 − λ ,
1

λ λ3
u3 = 0, und u4 = − λ64 .
3
sind. Bestimmen Sie die stationäre Schwingungsantwort u1 = 1, u2 = +
4 16 ,
der Masse m.
Berechnen Sie die stationären Amplituden der Beschleu-
Gleichgewichtslage q (t) nigung der Masse m für folgende Winkelgeschwindigkei-
ten der Kurbel: Ω = ω40 , ω30 , ω20 und ω0 .
c
m
Verwenden Sie die Zahlenwerte m = 0,25 kg, c = 103 N/m,
F(t)
d = 15 · 10−3 N s/m, λ = 13 und l = 0,25 m.
Hinweis: Die Antwort setzt sich gemäß des Superposi-
tionsprinzips aus den Teilantworten auf die harmoni-
u(t) schen Anteile des Anregungssignals zusammen. Für die
Berechnung der Beschleunigungsantwortamplituden ent-
fällt der Gleichanteil (k = 0) der Erregerfunktion nach
Hinweis: Es handelt sich um eine erzwungene Schwin- (12.68), da dieser lediglich den Mittelwert des Schwing-
gung mit harmonischer Krafterregung. weges beschreibt und damit keinen Einfluss auf das dy-
namische Systemverhalten hat.
Resultat:
q ( t ) = q1 ( t ) + q2 ( t ) Resultat: Für die Amplituden q̈ˆ k der Beschleunigung der
F 1 1 Masse m gilt:
= 0 sin Ω1 t + û cos Ω2 t.  
c 1 − η12 1 − η22 kΩ
q̈ˆ k = −r(kΩ)2 V1 uk , für k = 1, 2, 4.
ω0
12.7 • • • In Textil- und Verarbeitungsmaschinen wer-
den häufig ungleichförmig übersetzende Getriebe oder Man erkennt, dass auch für Drehfrequenzen Ω = ω0 Re-
Mechanismen eingesetzt, um eine gewünschte periodi- sonanzen auftreten, wenn für das Argument von V1 der
ω0
sche Bewegung zu erzeugen. Einfachster Vertreter davon ω0 = 1 gilt. Das ist z. B. für Ω = 4 für die vier-
Wert kΩ
ist die Schubkurbel, die eine Drehung in eine Transla- te Ordnung (k = 4) der Fall. In der folgenden Abbildung
tionsbewegung umsetzt. Die periodischen Bewegungen sind die Amplituden graphisch dargestellt.
314 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen

106 Der Unwuchterreger hat eine Unwucht von mU und einen


Ω = ω0 Radius rU zum Schwerpunkt der Unwucht. Die Drehzahl
Technische Mechanik

105 n des Erregers wird bei einem Schwingversuch aus dem


Ω = 1/2 ∙ ω 0
Stillstand langsam gesteigert. Dabei wird eine maximale
10 4 Ω = 1/3 ∙ ω 0 Amplitude der Masse von q̂max = 1,60 cm gemessen. Bei
Ω = 1/4 ∙ ω 0 weiterer Steigerung der Drehzahl stellt sich schließlich ei-
103 ne konstante Amplitude q̂∞ = 0,32 cm ein. Gegeben sind
mU = 12 kg, rU = 15 cm und c = 1000 N/cm. Ermitteln Sie
102
qkj

das Dämpfungsmaß D sowie die vertikale Schwingungs-


amplitude des Systems, wenn der Unwuchterreger mit
101 einer Drehzahl n = 300 U/min läuft.
100 Hinweis: Benutzen Sie die Bewegungslösung bei
Unwuchterregung.
10–1
Resultat: D = 0,10; q̂ = 0,388 cm.
–2
10
1 2
Ordnung k
3 4 12.10 • • • Ein System aus einer Masse, zwei Federn c1
und c2 sowie einem Dämpfer d wird durch einen No-
cken mit Stößel angeregt. Der Nocken rotiert mit der
12.8 •• Die mit einer Feder der Konstanten c ge- konstanten Winkelgeschwindigkeit Ω und erzeugt am
haltene, ungedämpfte Masse M befindet sich in ihrer masselosen Stößel eine sägezahnförmige Hubkurve us (t)
Gleichgewichtslage in Ruhe. Sie wird von einem Projek- mit der maximalen Hubhöhe A.
til der Masse mP mit der unbekannten Geschwindigkeit
vP getroffen. Das Projektil bleibt in der Masse M stecken.
Danach schwingt die Masse M + mP mit einer Amplitude
c1 d
von q̂. Ermitteln Sie die Energie EP des Projektils und den
Anteil der Geschossenergie, der auf den Schwingungsvor- q (t)
gang übertragen wird.
m Gleichgewichtslage
Gleichgewichtslage q (t)
vp uS(t)
c c2
M A
mp
2π 4π t
Ω Ω
Hinweis: Benutzen Sie die Impulsantwort (12.34)
Resultat:
1 2 M + mP ES mP
EP = cq̂ , =
2 mP EP M + mP

12.9 •• Auf einer Maschine, die von zwei Federn mit


der gleichen Federkonstanten c/2 sowie einem Dämpfer
gestützt ist, wird ein Unwuchterreger befestigt, um die
Schwingungseigenschaften der Maschine zu ermitteln. Ω

Ermitteln Sie die stationäre Bewegung q(t) der Masse m.


q
Hinweis: Entwickeln Sie die Hubkurve in eine Fourier-
M Gleichgewichtslage Reihe.
Resultat:
c2 A
c d c q ( t) =
c1 + c2
2 2 % &

1 1
2 k∑
· −  sin(kΩt − ψk )
=1 kπ (1 − k η ) + (2Dkη )
2 2 2 2
Schwingungen mit mehreren
13

Technische Mechanik
Freiheitsgraden – diskrete
und kontinuierliche
Schwingungsmoden
Wie werden Schwingungen
mit mehreren
Freiheitsgraden
beschrieben?
Was sind Eigenfrequenzen
und Eigenformen
komplexer Schwinger?
Wie erklärt man Wellen
und kontinuierliche
Schwingungen?

13.1 Mehrläufige Schwingungen mit konzentrierten Parametern . . . . . . 316


13.2 Kontinuumsschwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 315


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_13
316 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden

In der Praxis haben schwingende Systeme häufig mehr als einen


Freiheitsgrad. In einem Antriebsstrang eines Fahrzeugs wirken bei-
Technische Mechanik

spielsweise zahlreiche Drehmassen zusammen. Komplexe räum-


elastische Verdrehung
liche Gebilde werden mit der Methode der Finiten Elemente
diskretisiert und führen auf Schwingungssysteme mit vielen Frei-
heitsgraden. Für einfache räumliche Anordnungen sind mitunter
analytische Lösungen der kontinuierlichen Wellenausbreitung oder
der Schwingformen möglich. Aus Kap. 12 kann der Begriff der Ei-
genfrequenz übernommen werden, wobei ein System mit mehr als φi M (t)
einem Freiheitsgrad in der Regel genau so viele Eigenfrequenzen
wie Freiheitsgrade hat. Bei einer Schwingung in einer der Eigen- Trägheit
frequenzen führen alle Freiheitsgrade eine harmonische Bewegung
mit dieser Frequenz aus, ihre Amplituden und Phasen können
sich jedoch unterscheiden. Die zu einer Eigenfrequenz gehörigen Abb. 13.2 Modell eines Antriebssystems, bestehend aus starren, trägheitsbe-
Amplituden- und Phasenbeziehungen werden als Eigenform be- hafteten Scheiben und Wellenabschnitten, die als Federn wirken. Die tangentiale
Verbindung zweier Räder ist die Modellierung einer elastischen Verzahnung
zeichnet. Um das Schwingungsverhalten eines Systems mit vielen
Freiheitsgraden zu beschreiben, ist die Kenntnis aller Eigenfrequen-
zen und Eigenformen erforderlich. Die Gesamtbewegung ergibt sich Einfachste Beispiele sind sogenannte Schwingerketten, die
aus einer Überlagerung dieser Schwingformen. aus einer Abfolge von (Dreh-)Massen und Steifigkeiten
aufgebaut sind.

13.1 Mehrläufige Schwingungen mit Antriebstränge von Fahrzeugen können als Torsionssys-
teme, von denen ein Beispiel in Abb. 13.2 dargestellt ist,
konzentrierten Parametern modelliert werden. Auch die Diskretisierung einer kon-
tinuierlichen Torsionswelle ergibt ein derartiges System.
Mehrläufige Schwinger sind Systeme, bei denen mehrere Die translatorische Schwingerkette kann z. B. das Ersatz-
oszillierende Bewegungen gleichzeitig ablaufen können; modell eines langen Rohres mit kompressiblem, trägem
das System hat mehrere Freiheitsgrade. Die Anzahl der Fluid sein.
Zustandsvariablen ist jedoch endlich, sie beschreiben die
Auslenkungen der Schwinger an diskreten Punkten. Der-
artige Systeme entstehen auf zwei verschiedene Arten: Bewegungsgleichungen mehrläufiger
Mehrere einfache Schwinger, wie sie in Abschn. 12.2 Schwinger sind Systeme von
vorgestellt wurden, werden gekoppelt oder hinterein- Differenzialgleichungen
ander geschaltet. Beispiele für derartige Systeme sind
Antriebstränge, die aus einer Folge von Drehmassen
Exemplarisch soll die Gewinnung der Bewegungsglei-
und Drehsteifigkeiten gebildet werden.
chung am Torsionsschwingungssystem dargestellt wer-
Komplexe, kontinuierliche Schwinger (siehe Ab-
den: Der Drallsatz wird auf eine freigeschnittene Dreh-
schn. 13.2) werden mit der Methode der Finiten
masse (Abb. 13.3) angewendet:
Elemente (FEM) diskretisiert, es entsteht ein System,
bei dem die Verschiebungen der Knoten die schwin-
Ji ϕ̈i = ci ( ϕi+1 − ϕi ) − ci−1 ( ϕi − ϕi−1 )
gungsfähigen Auslenkungen darstellen (Abb. 13.1).
+ di ( ϕ̇i+1 − ϕ̇i ) − di−1 ( ϕ̇i − ϕ̇i−1 ) + MAi ,

MA
=

X φ i–1 φi φ i+1
Z
ci–1, di–1 ci, di

Abb. 13.1 Einseitig eingespannter elastischer Balken mit zusätzlichen Mas-


sen diskretisiert als Finite-Elemente-Modell. Koordinaten zur Beschreibung der Ji
Bewegung sind die Verschiebungen der Knoten zwischen unverformter (Draht-
modell) und verformter Konfiguration Abb. 13.3 Scheibe eines Torsionschwingungssystems
13.1 Mehrläufige Schwingungen mit konzentrierten Parametern 317

wobei ϕi , ϕi−1 und ϕi+1 die Verdrehungen der Scheibe i Das Eigenverhalten des Systems beschreibt
bzw. ihrer Nachbarn beschreiben. Ji ist das Trägheitsmo-
die möglichen freien Schwingungen

Technische Mechanik
ment der Scheibe, ci und di die Torsionsfedersteifigkeiten
und -dämpfungen zwischen den benachbarten Scheiben.
Werden alle n Gleichungen der n Drehmassen zusammen- Bei schwach gedämpften Systemen ist es erfolgverspre-
gefasst, ergibt sich das Differenzialgleichungssystem: chend, zunächst das Eigenverhalten des Systems unter
Vernachlässigung der Dämpfung zu suchen, da hier ein-
M q̈ + Bq̇ + Kq = F (13.1) fach zu interpretierende, rein reelle Lösungen entstehen.
mit den Größen:
Das ungedämpfte System
Vektor der Koordinaten q:
Für lineare Schwingungssysteme mit mehr als einem Frei-
q = ( ϕ 1 , . . . , ϕ n )T , heitsgrad gelten ähnliche Gesetze wie für das einläufige
System. Es wird für das System
Massenmatrix M (Diagonalmatrix):
⎛ ⎞ M q̈ + Kq = 0 (13.2)
..
⎜ . 0⎟ der Lösungsansatz
M=⎜ ⎝ Ji ⎟,

.. q(t) = ŷ cos ωt oder q(t) = ŷ sin ωt
0 .
mit dem Amplitudenvektor ŷ gemacht. Wird dieser An-
Steifigkeitsmatrix K (symmetrische Bandmatrix):
satz mit q̈(t) = −ω 2 ŷ cos ωt bzw. q̈(t) = −ω 2 ŷ sin ωt in
⎛ ⎞ (13.2) eingesetzt, ergibt sich nach Division durch cos ωt
.. .. ..
⎜ . . . 0 ⎟ bzw. sin ωt die Gleichung:
⎜−ci−2 ci−2 + ci−1 −ci−1 ⎟
⎜ ⎟  
K=⎜⎜ −ci−1 ci−1 + ci −ci ⎟, K − ω 2 M ŷ = 0,
⎟ (13.3)
⎜ − c c + c i+1 − c ⎟
i+1 ⎠
⎝ i i
.. .. .. die ein verallgemeinertes Eigenwertproblem darstellt. Derar-
0 . . .
tige Probleme sind im Vergleich zum speziellen Eigen-
Dämpfungsmatrix B, ist strukturell identisch mit K mit wertproblem der Form (A − λE) x̂ = 0 numerisch einfach
di anstelle ci , zu lösen, wenn M und K, wie im vorliegenden Fall gege-
Vektor der äußeren Lasten F: ben, symmetrisch und positiv (semi-)definit sind. Abgese-
hen von pathologischen Sonderfällen führt das spezielle
F = ( M1 , . . . , Mn ) T . Eigenwertproblem (13.3) auf n Eigenwerte ωi2 mit zuge-
hörigen Eigenvektoren ŷi . Die Wurzeln ωi aller Eigen-
Frage 13.1 werte sind die Eigenkreisfrequenzen des Systems und die
Wie ändert sich die Dämpfungsmatrix B, wenn auf jeweils zugehörigen Eigenvektoren ŷi die Eigenformen des
jede Drehmasse noch ein Absolut-Dämpfungsmoment Schwingungssystems. Ein Paar aus Eigenfrequenz und
Mabs,i = −dabs,i · ϕ̇i wirkt? Eigenform wird auch als Schwingungsmode bezeichnet.
Die zwei ersten Eigenformen eines komplexen Schwin-
FEM-Modelle allgemeiner, deformierbarer Körper führen gungssystems sind in Abb. 13.4 dargestellt.
unmittelbar auf ein Gleichungssystem der Form (13.1), Somit ergibt sich die Lösung des Systems als Überlage-
wenn folgende Voraussetzungen, die aber für Schwin- rung von n Eigenschwingungen in der Form:
gungsprobleme typisch sind, erfüllt sind:
n
Die makroskopischen Auslenkungen sind klein, nicht- q( t ) = ∑ ŷi (Ai cos ωit + Bi sin ωit) , (13.4)
lineare Terme verschwinden. i=1
Für den Zusammenhang zwischen Verzerrungen und
wobei Ai und Bi die Integrationskonstanten jeder Schwin-
Spannungen im Inneren der Körper kann ein linear
gungsmode sind, die aus Anfangsbedingungen, z. B.
elastisches Materialgesetz angenommen werden.
q(0) = q0 und q̇(0) = v0 , für alle Teilschwinger oder Kno-
tenkoordinaten gewonnen werden können.
Die Massenmatrix ist im allgemeinen Fall nicht mehr rein
diagonal besetzt, aber immer noch symmetrisch und posi- Für die Bestimmung der Integrationskonstanten wird
tiv definit. Die Steifigkeits- und Dämpfungsmatrizen sind zweckmäßig die Modalmatrix Y = (ŷ1 , · · · , ŷn ) einge-
bei Abwesenheit von Kreiseleffekten ebenfalls noch sym- führt, welche die n Eigenvektoren spaltenweise zusam-
metrisch, können aber eine deutlich größere Bandbreite menfasst und somit eine (n × n)-Matrix ist. Die Integra-
aufweisen. tionskonstanten werden zu Vektoren a = (A1 , · · · , An )T ,
318 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden

a eingeführt werden. Jede Modalkoordinate beschreibt an-


schaulich die Auslenkung einer Schwingungsform (Mo-
Technische Mechanik

de) i des Systems

n
q ( t) = ∑ ŷi qm,i (t) = Yqm (t) (13.7)
i=1

und die sich mithilfe der Modalmatrix ergebende Gesamt-


bewegung q(t). Die Gleichung (13.7) kann auch als Koor-
b dinatentransformation aufgefasst werden, die auf (13.2) in
der Form

Y T MY q̈m + Y T KYqm = 0

angewendet werden kann. Da die Transformation mit der


Modalmatrix Y ausgeführt wird, wird sie Modaltransfor-
mation genannt. Die Terme Y T MY und Y T KY sind, wenn
Abb. 13.4 Typische Schwingformen von Eisenbahnradsätzen, berechnet mit Y aus dem ungedämpften System gewonnen wurde, im-
der finie Elemente Methode: Axiale Radschwingungen bei 1448 Hz (a) und Bie- mer Diagonalmatrizen. Die Spalten der Modalmatrix Y
geschwingung der Welle mit gekoppelten Radschwingungen bei 670 Hz (b)
sind beliebig skalierbar. Bei geeigneter Skalierung ergibt
sich:

bzw. b = (B1 , · · · , Bn )T zusammengefasst. Werden die Y T MY = E und Y T KY = diag(ωi2 ) = ω2 ,


Anfangsbedingungen in (13.4) eingesetzt, ergeben sich
zwei Bestimmungsgleichungen: womit sich das System durch n entkoppelte Gleichungen
der Form
n
q0 = ∑ ŷi ai = Ya → a = Y − 1 q0 , (13.5)
i=1
q̈m,i + ωi2 qm,i = 0 (13.8)
n
v0 = ∑ ŷi ωibi = Yωb → b = ω−1 Y −1 v0 . (13.6) beschreiben lässt, von denen jede einen verallgemeiner-
i=1 ten Einmassenschwinger repräsentiert. Die Koordinaten-
transformation mit der Modalmatrix Y kann auch auf
Mit ω wird eine Diagonalmatrix mit allen ωi bezeichnet. gedämpfte Systeme angewendet werden. Liefert Y T BY
Die Modalmatrix Y ist bei den hier vorgestellten Syste- eine Diagonalmatrix, ist das System modal gedämpft und
men immer invertierbar. (13.5) und (13.6) zeigen, dass ein entkoppelbar.
Anfangslagevektor q0 alle Eigenschwingungsformen des
Systems anregen kann.
Eigenverhalten des Systems mit Rayleigh-Dämpfung
Freie Schwingungen ungedämpfter, mehrläufiger Sys- Die Lösung des Systems (13.1) mit allgemeiner Dämp-
teme fungsmatrix B ist möglich, führt aber auf schwierig zu
interpretierende Ergebnisse, auf die in diesem Lehrbuch
Die Bewegung eines mehrläufigen Schwingers setzt
nicht eingegangen werden soll. Es gibt jedoch einen
sich aus einer Überlagerung gleichzeitig stattfinden- durchaus praxisrelevanten Sonderfall, bei dem angenom-
der, unabhängiger Teilschwingungen, den Eigen- men wird, dass die Dämpfungsmatrix
schwingungen oder Moden, zusammen. Jede Eigen-
schwingung hat ihre charakteristische Eigenkreisfre-
B = dM M + dK K
quenz ωi sowie eine Eigenform ŷi . Die Eigenform
beschreibt, welche Amplitude jeder einzelne Teil-
eine Linearkombination der Massen- und Steifigkeits-
schwinger in einer Eigenschwingung besitzt.
matrix mit den skalaren, dimensionsbehafteten Faktoren
dM und dK ist. Es wird dann als System mit Rayleigh-
Dämpfung bezeichnet. Ein anderer Begriff für dieses
Modale Entkopplung Dämpfungsmodell ist „Bequemlichkeitshypothese“. Die
Vorstellung hierzu ist z. B., dass in einem System mit
Um Schwingungssysteme mit mehr als einem Freiheits- Gummifedern „dicke“ Elemente sowohl steifer sind als
grad zu beschreiben, können Modalkoordinaten qm,i (t) auch stärker dämpfend wirken. Für dieses System wird
13.1 Mehrläufige Schwingungen mit konzentrierten Parametern 319

Beispiel: Homogene Schwingerketten

Technische Mechanik
Als besonders einfaches Beispiel für mehrläufige le Verdreh-Auslenkung der Massen in einer Schwin-
Schwinger können sogenannte Schwingerketten die- gungsperiode an. Bei der ersten Eigenform schwingen
nen. Darin folgen immer abwechselnd Massen bzw. alle Massen synchron in die gleiche Richtung. Bei der
Drehmassen auf Federn bzw. Drehfedern. Sind alle zweiten Eigenform schwingen die linken drei Massen
Massen und Steifigkeiten jeweils gleich, wird das Sys- in eine Richtung, die rechten drei Massen in die andere
tem als homogene Schwingerkette bezeichnet. Richtung. Die mittlere Masse bleibt in Ruhe, sie liegt in
einem Schwingungsknoten. Bei der dritten Eigenform
Problemanalyse und Strategie: Die Massenmatrix und sind bereits zwei Schwingungsknoten erkennbar, sie
die Steifigkeitsmatrix der Schwingerkette erhalten bei liegen zwischen dem Massen 2 und 3 bzw. 5 und 6. Bei
jeweils identischen Parametern J und cT eine beson- ungedämpften, mehrläufigen Schwingern erreichen al-
ders einfache Form: Die Massenmatrix ist eine skalierte le Massen gemeinsam ihre maximale Auslenkung und
Einheitsmatrix J · E, und die Steifigkeitsmatrix ist eine haben einen gemeinsamen Nulldurchgang.
Bandmatrix mit den Bandwerten −1, 2, −1 multipli-
ziert mit cT . Für die Eigenfrequenzen und Eigenformen 1. Eigenform, ωi /ω 0 = 0,390
sind hier sogar analytische Lösungen möglich.

Lösung: Abb. 13.5 zeigt das zu analysierende System.

cT cT cT cT 2. Eigenform, ωi /ω 0 = 0,765
J J J J

1 2 3 n

Abb. 13.5 n Drehmassen mit dem Trägheitsmoment J sind durch n + 1


Drehfedern der Steifigkeit cT untereinander und mit festen Rändern verbun- 3. Eigenform, ωi /ω 0 = 1,111
den

Es wird zunächst als Hilfsgröße die Kreisfrequenz


ω02 = cJT eingeführt. Damit lautet die analytische Lö-
sung für die Eigenkreisfrequenzen: 1 2 3 4 5 6 7
 

ωi = 2ω0 sin Abb. 13.6 Drei Eigenformen für ein System mit sieben Drehmassen
2 (n + 1 )
und die Eigenformen (Auslenkung der Drehmasse k Vergleichbare Lösungsformeln existieren auch für
bei der Eigenform i): Schwingerketten, die einseitig oder beidseitig frei sind.
  Kommentar Die homogene Schwingerkette ist auch
kiπ
yki = sin . ein diskretes Näherungsmodell für eindimensionale
n+1
kontinuierliche Schwinger, die durch die partielle Dif-
In Abb. 13.6 sind die ersten drei Eigenformen für ein ferenzialgleichung ẅ − c2 w = 0 beschrieben werden.
System mit n = 7 Drehmassen dargestellt. Die Hö- Diese Systeme werden ausführlich im Abschn. 13.2 be-
he der Balken in Abb. 13.6 zeigt dabei die maxima- schrieben. 

der Lösungsansatz q(t) = ŷeλt gewählt, und es ergibt sich und schließlich durch Division durch λdK + 1 zu
zunächst:  

λ2 + λdM
K+ M ŷ = 0
λ2 M + λ(dM M + dK K ) + K ŷ = 0, λdK + 1
zusammenfassen lässt. Wird nun
was sich zu

λ2i + λi dM
(λ2 + λdM )M + (λdK + 1)K ŷ = 0 ωi2 = − (13.9)
λ i dK + 1
320 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden

ersetzt, entsteht ein mit (13.3) identisches Problem. Somit


besitzt ein rayleigh-gedämpftes System die gleichen, re-
Technische Mechanik

ellen Eigenvektoren ŷ wie das zugehörige ungedämpfte


System. Wird (13.9) nach λ umgeformt, entsteht zunächst:
  M3 (t)
dM
λ2i + ωi + dK ωi λi + ωi2 = 0, (13.10) φ3
ω
! i "# $ M2 (t) φ2
2Di
M1 (t)
φ1
woraus sich das modale Dämpfungsmaß Di und, analog
zum Einmassenschwinger, die modale Abklingkonstante
δi = Di ωi bilden lassen. Im Weiteren soll davon ausgegan- Abb. 13.7 System aus drei Drehmassen. An jeder der Massen wirkt ein äußeres
Moment Mi (t )
gen werden, dass alle 0 < Di < 1 und somit alle Moden
schwingungsfähig sind. Gleichung (13.10) führt schließ-
lich auf:
 Frage 13.2
(λi )1,2 = −Di ωi ± D2i ωi2 − ωi2 Ist jedes System mit modaler Dämpfung durch Rayleigh-
Dämpfung beschreibbar?
und weiter auf die Eigenwerte des gedämpften Systems:

(λi )1,2 = −δi ± jωi 1 − D2i .
Es entstehen viele Systemantworten,
Analog zum Einmassenschwinger (12.12) werden die wenn ein mehrläufiger Schwinger
Eigenkreisfrequenzen der gedämpften Moden ωd,i = von außen angeregt wird

ωi 1 − D2i eingeführt. Somit wird das Zeitverhalten je-
der Schwingungsform durch Ein mehrläufiger Schwinger kann, wie in (13.1) be-
reits vorgesehen, durch einen Anregungsvektor F (t) von
außen angeregt werden. Dabei entstehen erzwungene
qi (t) = q̂i e−δit (ai cos ωd,i t + bi sin ωd,i t)
Schwingungen, die durch die partikuläre Lösung der
beschrieben. Mithilfe der Modaltransformation analog zu Bewegungsgleichung beschrieben werden. Da auch im li-
(13.7) lässt sich das gedämpfte System in n entkoppelte, nearen, mehrdimensionalen Fall das Superpositionsprin-
gedämpfte modale Schwinger der Form zip gilt, genügt es, die allgemeine Systemantwort auf
eine harmonische Erregerfunktion einer Kreisfrequenz Ω
zu bestimmen. Gegebenenfalls muss eine beliebige An-
q̈m,i + 2δi q̇m,i + ωi2 qm,i = 0 (13.11)
regung F (t) als Summe harmonischer Funktionen dar-
gestellt werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die
bringen. Rayleigh-Dämpfung führt somit zu modaler
Anregung simultan an mehreren Stellen mit unterschied-
Dämpfung.
licher Phasenlage wirken kann. Betrachtet werden soll
hierzu das System aus drei Drehmassen in Abb. 13.7.
Systeme mit Rayleigh-Dämpfung Die drei Massen werden mit harmonischen Momenten
der Kreisfrequenz Ω untereinander phasenverschoben
Rayleigh-Dämpfung ist ein Spezialfall, bei dem mit M1 (t) = M̂1 cos Ωt, M2 (t) = M̂2 sin Ωt und M3 (t) =
die Dämpfungsmatrix aus skalierter Massen- und M̂3 sin(Ωt + 2π
3 ) angeregt.
Steifigkeitsmatrix zusammengesetzt wird: B =
dM M + dK K Eine Darstellung der Anregung im Reellen würde
Derartige Systeme haben die gleichen, rein re- ⎛ ⎞ ⎛ ⎞
0 M̂1
ellen Eigenvektoren und somit dieselben Eigen-
F (t) = ⎝ M̂2 ⎠ sin Ωt + ⎝ 0 ⎠ cos Ωt
schwingformen wie das ungedämpfte System.
M̂3 cos 2π
3 M̂ 3 sin 2π
3
Die Eigenfrequenzen des gedämpften Systems
sowie die modale Dämpfung jeder Eigenschwin- lauten. Nach dem Superpositionsprinzip könnte die Sys-
gung lassen sich einfach aus dem ungedämpften temantwort unabhängig für den sin Ωt- und den cos Ωt-
System berechnen. Anteil und sogar für die Anregung jeder Masse einzeln
Rayleigh-gedämpfte Systeme lassen sich modal berechnet werden. Allerdings empfiehlt es sich, alle Anre-
entkoppeln. gungen einer Frequenz zu einem komplexen Anregungs-
term zusammenzufassen. So lässt sich die Anregung, wie
13.1 Mehrläufige Schwingungen mit konzentrierten Parametern 321

im Abschn. 12.4 beschrieben, komplex als Berechnung mit Modalkoordinaten


⎡⎛ ⎞ ⎤ Wird die Modaltransformation auf ein von außen erregtes

Technische Mechanik
jM̂1   System angewendet, ergibt sich in Erweiterung von (13.1)
F (t) = Im ⎣⎝ M̂2 ⎠ ejΩt ⎦ = Im f̂ ejΩt zunächst:

M̂3 ej 3
Y T MY q̈m + Y T BY q̇m + Y T KYqm = Y T F (t),
mit dem komplexen Gewichtsvektor f̂ darstellen.
was unter der Annahme modaler Dämpfung und geeig-
neter Skalierung von Y analog zu (13.8) und (13.11) in n
Berechnung mit Systemkoordinaten entkoppelte Teilgleichungen
 
Für die Lösung wird der Ansatz q(t) = Im q̂ejΩt ge- q̈m,i + 2δi q̇m,i + ωi2 qm,i = ŷTi F (t)
macht. Werden die Anregung und der Antwortansatz in zerfällt. Ist die Anregung harmonisch in der Form
(13.1) eingesetzt, ergibt sich:
 
F (t) = Im f̂ ejΩt ,
−Ω2 M q̂ + jΩBq̂ + Kq̂ = f̂ . (13.12)
kann
Diese Gleichung kann mit  
qm,i = Im q̂ ejΩt
  −1 m,i
q̂ = −Ω2 M + jΩB + K f̂ (13.13)
! "# $ gesetzt werden, und es ergibt sich:
G( Ω )  
ωi2 − Ω2 + 2jδi Ω q̂ = ŷTi f̂ . (13.14)
m,i
gelöst werden, wobei die Frequenzgangmatrix G(Ω) ein-
geführt wird. Der Zeitverlauf der Lösung lautet: Besondere Beachtung ist dabei dem Skalarprodukt ŷTi f̂
    zwischen dem i. Eigenvektor und dem Gewichtsvektor
q(t) = Im q̂ejΩt = Im G(Ω)f̂ ejΩt . der Anregung zu schenken. Ergibt dieses Produkt null, ist
die i. Eigenform durch die äußere Anregung paradoxer-
weise nicht anregbar. Dieser Fall tritt z. B. auf, wenn die
Die komplexe (n × n)-Matrix G(Ω) enthält die komple-
äußere Last nur an einem einzigen Ort wirkt, die Eigen-
xen Übertragungsfunktionen Gkl (Ω), die jeweils die Aus-
form aber gerade dort keine Auslenkung zeigt.
lenkung am Ort k infolge Anregung am Ort l beschreiben.
Somit enthält G(Ω) die Amplituden- und Phaseninforma-
Frage 13.3
tion zwischen allen Anregungsorten und Antworten. Für
−1 Ein System mit zwei Freiheitsgraden hat einen Eigenvek-
ein ungedämpftes System ist G(Ω) = −Ω2 M + K tor mit y = (1, −1)T . Mit welcher Anregung kann diese
rein reell. Im Fall Ω = ωi , wenn die Anregungskreisfre- Form nicht angeregt werden?
quenz genau einer Eigenkreisfrequenz entspricht, exis-
tiert die Inverse
nicht, da wegen der Eigenwertbedingung

det K − ω 2 M = 0 die Matrix −Ω2 M + K genau dann Gleichung (13.14) weist noch einen weiteren Weg zur
singulär ist. Diese Situation ist die Resonanz eines Sys- Berechnung der Frequenzgangmatrix G(Ω). Werden die
tems mit einem Freiheitsgrad größer als eins. Da ein Teilgleichungen für alle Moden zu einem Gleichungssys-
System mit mehr als einem Freiheitsgrad in der Regel tem zusammengesetzt, ergibt sich zunächst:
mehrere Eigenfrequenzen besitzt, sind Resonanzen bei  
verschiedenen Anregungsfrequenzen zu erwarten. Typi- diag ωi2 − Ω2 + 2jδi Ω q̂ = Y T f̂ ,
m
sche Frequenzgänge mit mehreren Resonanzen werden
im folgenden Abschnitt, der den Schwingungstilger be- was mit der Transformation q̂ = Y q̂ auf die Form
m
schreibt, dargestellt.
  −1
Wirkt eine beliebige Zahl von Anregungen jeweils mit q̂ = Y · diag ωi2 − Ω2 + 2jδi Ω Y T f̂
Kreisfrequenz Ωk und Vektor f̂ auf ein System, kann die
k
partikuläre Systemantwort mit gebracht werden kann. Wird dies mit (13.13) verglichen,
zeigt sich eine zweite Darstellungsform der Frequenz-
  gangmatrix, die bei modal gedämpften Systemen gültig
q( t ) = ∑ Im G(Ωk )f̂ ejΩk t
k ist:
k
  −1
berechnet werden. G(Ω) = Y · diag ωi2 − Ω2 + 2jδi Ω Y T.
322 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden

Wird von einem System ohnehin eine Analyse der Eigen- u (t) F (t) cT
kreisfrequenzen und Eigenformen vorgenommen, sind
Technische Mechanik

die ωi sowie Y bekannt. Die modale Dämpfung ist dann m mT


c
in der Regel vorgegeben oder kann mittels (13.10) aus dT
den Rayleigh-Parametern bestimmt werden. Damit lässt
sich die Frequenzgangmatrix ohne Inversion einer vol-
len Matrix bilden, da für die Inverse der Diagonalmatrix Abb. 13.8 Einmassenschwinger mit m und c , der z. B. durch die Kraft F (t )
lediglich die Kehrwerte der Diagonalelemente gebildet oder den Weg u (t ) angeregt werden kann. Angebaut ist der Tilger mit der Masse
werden müssen. Bei sehr großen Systemen ergibt sich zu- mT und der Federsteifigkeit cT und der Dämpfungskonstante dT
dem die Möglichkeit, gezielt nur einzelne Elemente Gij
von G zu bilden, ohne die volle Matrix aufstellen zu müs-
sen. Dazu wird von der Matrix Y nur die i. Zeile und von Schwingungen zur Verfügung. Da ein Tilger den Energie-
der Matrix Y T nur die j. Spalte verwendet. fluss von der Anregung in das schwingungsfähige System
verhindert, ist es eine Methode zur Dämmung eindrin-
Im ungedämpften System gilt: gender Anregungsleistung.
  −1
G(Ω) = Y · diag ωi2 − Ω2 Y T, Ein Schwingungstilger ist ein zusätzlicher Einmassen-
schwinger, der auf ein schwingungsfähiges System, das
Basissystem, aufgebaut wird. Er wird immer auf eine spe-
was unmittelbar erkennen lässt, dass im Fall einer Re-
zielle Schwingungsfrequenz abgestimmt. Ist das Basis-
sonanz ωi = Ω die Frequenzgangmatrix G aufgrund der
system selbst ein Einmassenschwinger, kann die Schwin-
Singularität nicht bildbar ist.
gung in dessen Eigenfrequenz getilgt werden, bei einem
mehrläufigen Basissystem kann eine der Moden des Ba-
Erzwungene Schwingungen mehrläufiger, linearer Sys- sissystems ausgewählt werden. Ein Tilger kann aber auch
teme auf eine spezifische äußere Anregungsfrequenz des Sys-
tems abgestimmt werden. Ein Tilger führt immer zu ei-
Systeme mit mehreren Freiheitsgraden antworten ner zusätzlichen Eigenfrequenz des Systems, die selbst
auf äußere harmonische Anregungen mit harmo- wieder Probleme verursachen kann. Das einfachste Er-
nischen Schwingungen der gleichen Frequenz. satzmodell eines Basissystems mit Tilger ist in Abb. 13.8
Da Systeme mit mehreren Freiheitsgraden meh- dargestellt.
rere Eigenfrequenzen haben können, sind Reso-
nanzen bei mehr als einer Anregungsfrequenz
möglich. Bewegungsgleichung des Systems mit Tilger
Die sich einstellende Schwingung ist auch von
der räumlichen Verteilung der Anregung auf ver- Die Bewegungsgleichung des krafterregten Basissystems
schiedene Freiheitsgrade in Amplitude und Pha- lautet mẍ + cx = F(t), die durch den zusätzlichen Tilger
se abhängig. zu
Die gesamte Information, wie alle Freiheitsgra-
     
de des Schwingungssystems auf beliebig verteilte m 0 ẍ c + cT −cT x
harmonische Anregungen einer Kreisfrequenz Ω +
0 mT ẍT −cT cT xT
antworten, ist in der komplexen Frequenzgang-     
matrix G(Ω) enthalten, die bei ungedämpften dT − dT ẋ F ( t)
+ =
Systemen reell wird. − dT dT ẋT 0
Die Frequenzgangmatrix kann entweder aus den (13.15)
Systemmatrizen M, B und K oder, bei modal ge-
dämpften Systemen, aus der Modalmatrix Y und erweitert wird. Der Tilger bringt einen zusätzlichen Frei-
den Eigenfrequenzen bestimmt werden. heitsgrad ein, Systeme mit Tilger haben somit immer
mindestens zwei Freiheitsgrade. Gleichung (13.15) wird
für den Sonderfall des ungedämpften Tilgers mit dT = 0
vereinfacht, indem die erste Zeile durch m und die zwei-
te Zeile durch mT dividiert wird, das Massenverhältnis
Mit einem Tilger können Schwingungen μ = mmT eingeführt und die Kreisfrequenzen ω02 = mc so-
durch Schwingungen bekämpft werden wie ωT2 = mcTT benannt werden. Es verbleibt von (13.15):

      
Die Tilgung von Schwingungen stellt neben Dämpfung ẍ ω02 + μωT2 −μωT2 x f ( t)
+ = . (13.16)
und Isolation ein weiteres Verfahren zur Reduktion von ẍT −ωT2 ωT2 xT 0
13.1 Mehrläufige Schwingungen mit konzentrierten Parametern 323

Leitbeispiel Antriebsstrang

Technische Mechanik
Torsionsschwingungen in einem Pkw-Antriebsstrang

Der Antriebsstrang eines Kraftfahrzeugs ist die Abfol- ders prominent hierbei sind die Räder: Dringen Dreh-
ge aller Elemente, die dafür verantwortlich sind, das schwingungen bis zu den Rädern durch, führen sie
Antriebsmoment des Motors zum Reifen-Fahrbahn- zwangsläufig zu Fahrzeug-Längsschwingungen, die
Kontakt zu übertragen, wo es letztlich als Antriebs- als stark komfortmindernd wahrgenommen werden.
kraft seine Wirkung entfaltet. Elemente eines Antriebs-
strangs sind Wellen, die häufig als torsionselastisch zu Antriebsstränge lassen sich für die eher im tieffrequen-
betrachten sind, drehende Massen wie Schwungräder ten Bereich liegenden Fragestellungen mit guter Nähe-
und Zahnräder sowie weitere Bauteile wie Kupplun- rung als Torsionsschwingerketten abbilden (Abb. 13.9).
gen und Gelenke. Den Abschluss des Antriebsstrangs

ReifenFahrbahnHR
bilden die Räder mit elastischen Reifen. RadVR
ReifenFahrbahnVR RadHR
RadiusVR RadiusHR
Ein Antriebsstrang ist aufgrund der darin verbau-

WelleFluidKopplung1

WelleFluidKopplung2
SeitenwelleVR2 SeitenwelleHR2

ten Abfolge von elastischen und trägen Elementen

FluidKopplung
MotorSteuerung
ein schwingungsfähiges System. Eine Anregungsquel- y SeitenwelleVR SeitenwelleHR

Welle1
le von Schwingungen ist der Verbrennungsmotor, da

Welle
x
SeitenwelleVR2 SeitenwelleHR1

er infolge periodischer Massen- und Gaskräfte ein zeit-

Fahrzeugmasse
Getriebe

variables Drehmoment erzeugt. Der häufig in Pkw Motor

KegelradgetriebeH
verbaute Vierzylinder-Reihenmotor erzeugt Massen- Gang f ( x) KegelradgetriebeV DifferenzialV
DifferenzialH

Schwungrad
momente der 2. und 4. Ordnung, sowie Gasmomente

ElastSchwungrad
SeitenwelleVL1 SeitenwelleHL1

der 2., 4. und höherer gerader Ordnungen. Der Dreh-


zahlbereich eines beispielhaften Motors reicht vom

ReifenFahrbahnHL
SeitenwelleVL SeitenwelleHL

Leerlauf bei 900 1/min bis zur Maximaldrehzahl bei SeitenwelleVL2 SeitenwelleHL2

6000 1/min, was einem Drehfrequenzbereich von 15 ReifenFahrbahnVL RadHL


Hz bis 100 Hz entspricht. Der Motor erzeugt somit fol- RadVL
RadiusVL RadiusHL
gende Anregungen: 2. Ordnung: 30 Hz bis 200 Hz und
4. Ordnung: 60 Hz bis 400 Hz. Abb. 13.9 Torsionsmodell des Antriebsstrangs eines Fahrzeugs mit Allrad-
antrieb in einem kommerziellen Simulationswerkzeug
Schwingungen im Antriebsstrang sind aber immer un-
erwünscht: Sie können je nach Frequenz und Ampli-
tude den Komfort des Fahrzeugs durch Vibrationen Wichtigstes Element der Schwingungsreduktion ist das
beeinträchtigen, Lärm verursachen oder im schlimms- Motorschwungrad. Es wirkt als mechanischer Tiefpass
ten Fall zu vorzeitigem Verschleiß oder Versagen von und unterdrückt die Ausbreitung höherer Anregungs-
Elementen des Strangs führen. frequenzen aus dem Motor. Mit einem Zweimassen-
schwungrad, das zusätzlich eine weiche Drehfeder
Jede Stelle, an welcher der Strang mit dem Fahr- enthält, ist es möglich, den Strang tieffrequent abzu-
zeug verbunden ist, kommt als Übertragungspfad für stimmen, sodass die Anregungen des Motors immer
Schwingungen in den Fahrgastraum infrage. Beson- im überkritischen Frequenzbereich des Strangs liegen.

Ungedämpfter Tilger für die Eigenfrequenz regung durch Verkehr, Fußgänger oder Erdbeben aber
des Systems nicht.
Dazu wird ωT = ω0 gewählt, d. h., dass die Eigenkreisfre-
quenz des nicht montierten Tilgers genau der Eigenkreis-
Ist die Erregerfrequenz nicht genau bekannt oder breit- frequenz des Basissystems entspricht. Gleichung (13.16)
bandig, wird der Tilger so ausgelegt, dass er die Eigen- vereinfacht sich zu:
frequenz des Basissystems bedämpft. Dieses Vorgehen ist       
ẍ 2 1 + μ −μ x f ( t)
vor allem bei Bauten, Brücken und Strukturen üblich, bei + ω0 = . (13.17)
denen eine Resonanzfrequenz genau bekannt ist, die An- ẍT −1 1 xT 0
324 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden

Gilt nun f (t) = f̂ sin Ωt, kann die Matrix aus (13.17) mit Amplitude
103
M = E und B = 0 in (13.13) eingesetzt werden, und es er- μ = 0,20
Technische Mechanik

gibt sich: DTilger = 0 1

    −1   102 2
3
x̂ ω02 (1 + μ) − Ω2 −μω02 f̂

Auslenkung/Anregung
q̂ = = ,
x̂T −ω02 ω02 − Ω2 0
101
Ω
was sich durch das Abstimmungsverhältnis η = ω0 zu
100
  −1  
1 (1 + μ ) − η 2 −μ f̂
q̂ =
ω02 −1 1 − η2 0 10–1 System ohne Tilger
System mit Tilger
vereinfachen lässt. Für dieses System ist eine analytische Tilger
Lösung möglich, die auf die zwei Frequenzgänge 10–2
100
Frequenz
1 1 − η2
x̂ = · 4 f̂ , (13.18)
ω0 η − (2 + μ ) η 2 + 1
2
Abb. 13.10 Doppellogarithmisch dargestellte Amplitudengänge des Systems
1 1 ohne Tilger, des ungedämpften Tilgers und des Systems mit Tilger. Das System
x̂T = 2 · 4 f̂ (13.19) ohne Tilger weist eine Resonanz (Punkt 2 ) auf. Durch den Tilger hat das System
ω0 η − (2 + μ ) η 2 + 1 zwei Resonanzen (Punkte 1 und 3 ), bei der ursprünglichen Resonanz ist das
System in Ruhe, nur der Tilger bewegt sich
führt. Dabei sollen die Frequenzgänge hier als Amplitu-
denfrequenzgänge mit Vorzeichen interpretiert werden: 1,2
Ein negativer Zahlenwert zeigt an, dass Anregung und 1,15
Antwort gegenphasig sind. Der Frequenzgang des Basis-
systems ohne Tilger lautet gemäß (12.48) 1,1
1,05
1 1 η
x̂ = · f̂ . (13.20) 1,0
ω02 1 − η 2
0,95
Die Amplitudengänge (13.18), (13.19) und (13.20) sind in 0,9
Abb. 13.10 dargestellt.
0,85
In den Amplitudengängen in Abb. 13.10 sind typische 0 0,02 0,04 0,06 0,08 0,1
Phänomene schwingungsfähiger Systeme mit mehr als μ
einem Freiheitsgrad zu erkennen: Amplitudengänge wei-
sen zwei oder mehr Maxima auf (Punkt 1 bzw. 3 in Abb. 13.11 Aufspaltung der Eigenwerte eines Systems mit Tilger in Abhängig-
Abb. 13.10), die den Resonanzfrequenzen des Systems keit der Tilgermasse. Der rote und der grüne Ast stellen jeweils eine Lösung von
mit zwei Freiheitsgraden entsprechen. Das System kann (13.21) dar
somit bei mehr als einer Frequenz in Resonanz gera-
ten. Diese Frequenzen entsprechen den Eigenwerten der
Matrix (K − Ω2 M ) gemäß (13.3), was hier den Werten ent- Resonanzen beobachtet werden: Die beiden neuen Reso-
spricht, bei denen die Frequenzgangmatrix G aufgrund nanzfrequenzen liegen oberhalb bzw. unterhalb der Reso-
Singularität nicht bildbar ist. Das ist genau dann der Fall, nanzfrequenz ohne Tilger:
wenn die Nenner der Frequenzgänge (13.18) und (13.19)  
gleich null sind. Mithilfe der Lösungsformel für quadrati- μ μ2
sche Gleichungen kann diese Bedingung als quadratische η1,2 = 1 + ± μ + . (13.21)
2 4
Gleichung mit
 Die Lösungen von (13.21) sind in Abb. 13.11 graphisch
 2 dargestellt.
2+μ 2+μ
2
η1,2 = ± −1
2 2 Bei η = 1 kann im Frequenzgang von x̂ ein Nulldurch-
gang (Punkt 2 in Abb. 13.10) gefunden werden, eine
gelöst werden. Es genügt die Betrachtung der positiven sogenannte Antiresonanz bzw. der Tilgungspunkt. Das
Werte für η. Es kann die „Aufspaltung“ der Resonanz Basissystem zeigt bei einer Anregung mit seiner ur-
des Systems ohne Tilger mit μ → 0 bei η = 1 in zwei sprünglichen Resonanzfrequenz keine Auslenkung mehr.
13.1 Mehrläufige Schwingungen mit konzentrierten Parametern 325

Dieser Effekt wird zur Schwingungstilgung ausgenutzt. Amplitude


Der Tilger selbst führt an dieser Stelle eine Bewegung mit 102
μ = 0,05 2

Technische Mechanik
der Amplitude x̂T = − μω 1
2 f̂ aus. Der zugrundeliegende DTilger = 0,127
0
physikalische Effekt ist, dass die Tilgermasse der Anre-
gungskraft so entgegen schwingt, dass die Federkraft des 101 1

Auslenkung/Anregung
Tilgers die Anregungskraft genau aufhebt. Die Tilgeram- 3
plitude ist umso größer, je kleiner die Masse des Tilgers
im Vergleich zu der Systemmasse ist. 100

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass ein Til-


ger in der Lage ist, eine unerwünschte Schwingungsfre-
quenz eines Systems vollständig auszulöschen, dabei aber 10–1
zwei andere Resonanzfrequenzen in das System „einge- System ohne Tilger
System mit Tilger
schleppt“ werden. Der ungedämpfte Tilger eignet sich Tilger
somit dann, wenn bei einem System eine Resonanz mit 10–2
einer immer gleichen äußeren Anregung zusammenfällt. 100
Frequenz

Der gedämpfte Tilger für die Eigenfrequenz Abb. 13.12 Doppellogarithmisch dargestellte Amplitudengänge des Systems
des Systems ohne Tilger, des gedämpften Tilgers und des Systems mit Tilger. Die Kurve des
Systems ohne Tilger mit Resonanz im Punkt 2 ist identisch mit Abb. 13.12. Die
Die Nachteile des ungedämpften Tilgers – zusätzliche un- neuen Resonanzen (Punkte 1 und 3 ) sind infolge der Tilgerdämpfung nicht so
gedämpfte Resonanzen in der Nähe der ursprünglichen – stark ausgeprägt. Allerdings ist keine Totalauslöschung bei der ursprünglichen
können unter Preisgabe der idealen Auslöschung vermie- Frequenz erkennbar
den werden, wenn ein gedämpfter Tilger eingesetzt wird.
Auf die Herleitung der Auslegungsformeln wird hier ver-
zichtet. Stattdessen werden direkt die Ergebnisse, wie sie abgestimmt werden. Wird das Vorgehen aus (13.12) hier
z. B. in der VDI-Richtlinie 3833 dargestellt sind, angege- sinngemäß angewendet und ωT = Ω gesetzt, ergibt sich:
ben. Die Eigenkreisfrequenz des Tilgers muss leicht von
der zu tilgenden Kreisfrequenz abweichen:
    −1  
x̂ ω02 + (μ − 1)Ω2 −μΩ2 f̂
1 q̂ = = ,
ωT = ω0 . (13.22) x̂T − Ω2 0 0
1+μ

Das Dämpfungsmaß des Tilgers soll


Amplitudengänge
 104
3μ μ = 0,1 3
DT = DTilger = 0,0
8 (1 + μ )3 10 3 1
4
Auslenkung/Anregung

betragen. Werden für ein derartig ausgestattetes Tilger- 102


system die Frequenzgänge analog zu Abb. 13.10 auf-
getragen, ist zu erkennen, dass die ideale Auslöschung
verschwunden ist, aber auch die neuen Resonanzen stark 101
gedämpft sind. Das getilgte System zeigt in einem brei-
ten Frequenzbereich geringere Schwingungsamplituden 100
als das ungetilgte. Vorteil des gedämpften Tilgers ist, dass
eine vorhandene Dämpfung generell Bewegungsenergie 10–1 System ohne Tilger
dissipieren kann und somit auch Einschwingvorgänge System mit Tilger
Tilger
abseits der idealen Tilgungswirkung gedämpft werden 2
10–2
können. 10 0

Frequenzverhältnis h = V /v 0

Ungedämpfter Tilger für eine spezifische Abb. 13.13 Doppellogarithmisch dargestellte Amplitudengänge des Systems
Anregungsfrequenz ohne Tilger, des ungedämpften Tilgers und des Systems mit Tilger. Die Kurve
des Systems ohne Tilger√mit Resonanz im Punkt 1 ist identisch mit Abb. 13.12.
Hat die Anregung des Systems (13.16) genau die Form Beim Punkt 2 bei η = 3 liegt der gewünschte Tilgungspunkt mit totaler Aus-
f (t) = f̂ sin Ωt, kann der Tilger auf die Kreisfrequenz Ω löschung. Die neuen Resonanzen liegen bei den Punkten 3 und 4
326 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden

Beispiel: Tilger in der Praxis


Technische Mechanik

Schwingungstilger werden heute an vielen Stellen ein-


gesetzt. Hohe Häuser und Strukturen aus Stahl wie
Brücken oder Schornsteine können mit Tilgern gegen
Schwingungen geschützt werden. In der Antriebstech-
nik von Pkw kommen ebenfalls Tilger zum Einsatz.

Gebäude Ein Hochhaus kann in erster Näherung als


vertikal stehender einseitig fest eingespannter elasti-
scher Balken modelliert werden. Das Gebäude kann
durch Windlasten, was einer Kraftanregung entspricht,
oder Erdbeben, entsprechend einer Fußpunkterre-
gung, in Schwingungen versetzt werden. Gebäude ha-
ben den Vorteil, dass ihre Eigenfrequenzen sehr genau
bestimmbar und konstant sind. Deshalb bietet es sich
an, z. B. die erste Biegeeigenfrequenz des Gebäudes mit
einem Tilger zu dämpfen (Abb. 13.14). Abb. 13.15 Hochhaus Taipei 101 mit kugelförmigem Tilgerpendel, das
zwischen 88. und 92. Stockwerk eingebaut ist

1. Eigenform
Fahrzeug-Antrieb Kurbelwellen in Pkw-Motoren sind
ω1
dT lT Torsionsschwinger. Ein einfaches Ersatzmodell besteht
mT aus einer Drehmasse pro Kröpfung, in die auch die ro-
F (t) tierenden bzw. oszillierenden Massenanteile des Pleu-
g F (t)
cT els und des Kolbens gemittelt eingerechnet werden,
u (t) sowie Drehfedern dazwischen. Das Schwungrad am
Wind m
c
c dT mT
ω1 = m
a 2 b

1 3
u (t) Erdbeben J1 J2 J3

Abb. 13.14 Pendel als Tilger in einem Hochhaus


c1 c2 c3

Der Tilger kann z. B. als großes Pendel im oberen d c


Bereich des Gebäudes angebracht werden. Die Pendel-
kreisfrequenz ωP = g/lT muss der ersten Gebäude- JT
eigenfrequenz entsprechen oder, wenn das Pendel als
gedämpfter Tilger wirken soll, mit Formel (13.22) be- cT
rechnet werden. Ein mathematisches Pendel der Länge
l und der Masse m wirkt wie ein Feder-Masse-System
mg
mit der Steifigkeit c = l . Berühmtes Anwendungsbei-
Abb. 13.16 a Mehrzylinder-Reihenmotor mit Schwungmasse, b Ersatz-
spiel ist das Hochhaus Taipei 101. Hier befindet sich im modell als Torsionsschwinger mit drei Drehmassen, c Erste Eigenform, alle
oberen Bereich ein Tilgerpendel aus einer 660 t schwe- Drehmassen bewegen sich gleichsinnig mit zunehmender Amplitude zum
ren Stahlkugel (Abb 13.15). freien Wellenende, d Torsionssystem mit Tilger am freien Wellenende
13.2 Kontinuumsschwingungen 327

einen Ende der Kurbelwelle wirkt aufgrund der großen


Trägheit im Vergleich zu den anderen Komponenten

Technische Mechanik
dynamisch wie eine feste Einspannung.

Die erste Eigenform der Kurbelwelle kann z. B. bei 300


Hz liegen, was durch die 4. Motorordnung bei einer
Drehfrequenz von 75 Hz, entsprechend 4500 1/min
angeregt werden kann. Lösung für dieses Problem ist
die Anbringung eines Torsionstilgers am freien En-
de der√Kurbelwelle, der mit seiner Eigenkreisfrequenz
ωT = cT /JT genau auf die erste Eigenkreisfrequenz
der Kurbelwelle abgestimmt ist.

Als Drehmasse des Tilgers kann eine zusätzliche Schei-


be am Ende der Kurbelwelle mit einer Drehfeder mon-
tiert werden. Eine besonders kompakte Konstruktion,
welche den Tilger in eine Ausgleichsmasse am Ende Abb. 13.17 Konstruktive Umsetzung des Kurbelwellentilgers in besonders
der Kurbelwelle integriert, zeigt Abb. 13.17. platzsparender Bauweise (Schaeffler)

woraus sich die hier einfach zu bildende Frequenzgang-


matrix G(Ω) Anwendung von Schwingungstilgern
    
x̂ 1 0 Ω2 f̂ Ein Tilger ist ein Einmassenschwinger der auf ein
=−
x̂T μΩ4 μΩ2 ω0 + ( μ − 1) Ω2
2 0 schwingungsfähiges System aufgesetzt wird.
Der Tilger kann entweder auf eine Eigenfrequenz
ergibt. Die Amplituden für System und Tilger lauten: des Systems oder eine spezifische Anregungsfre-
quenz abgestimmt werden.
1 Die Abstimmungsfrequenz des Tilgers entspricht
x̂ = 0 und x̂T = − f̂ , genau seiner Eigenfrequenz.
Ω2 Der ungedämpfte Tilger kann die Schwingung
was auch in diesem Fall bedeutet, dass die Systemmasse des Basissystems in der Abstimmungsfrequenz
trotz Anregung in Ruhe ist und der Tilger eine Bewegung vollständig auslöschen, erhöht aber den System-
ausführt, die der Anregung entgegen gerichtet ist. Ohne freiheitsgrad um eins und führt zu neuen Reso-
den Tilger würde die Antwortamplitude des Systems x̂ = nanzen bei anderen Frequenzen.
1 Gedämpfte Tilger können keine vollständige
ω 2 − Ω2
f̂ betragen.
0 Auslöschung einer Frequenz mehr erreichen, sie
wirken dafür breitbandiger und verursachen kei-
Allerdings ist gerade bei dieser Tilgerapplikation in der ne ungedämpften hohen neuen Resonanzen.
Praxis zu beachten, dass einerseits der Tilger die zu tilgen-
de Frequenz nicht immer exakt trifft und andererseits die
Anregung nicht nur aus der idealisierten harmonischen
Anregung mit der Kreisfrequenz Ω besteht.
13.2 Kontinuumsschwingungen
In Abb. 13.13 ist zu erkennen, dass auch in diesem Fall ei-
ne Aufspaltung der Resonanz des Grundsystems bei η = Als Kontinuumsschwinger werden Systeme bezeichnet,
1 stattfindet und zwei neue Resonanzen entstehen. Der bei denen nicht der Zeitverlauf von diskreten Zustands-
Tilgungspunkt liegt aber bereits nahe an einer der neu ein- größen, z. B. der Verschiebung einer Masse, von Interesse
geführten Systemresonanzen. Kleine Abstimmungsfehler ist, sondern die Auslenkungen von kontinuierlichen Feld-
oder Abweichungen der Anregungsfrequenz vom Aus- größen zu beschreiben sind. Beispiele hierfür sind:
legungswert kehren den gewünschten Tilgungseffekt in
sein Gegenteil um. Dieses Problem wird umso ausgepräg- eindimensional:
ter, je weiter die Auslegungsfrequenz von der Resonanz schwingende Saite (Musikinstrumente),
des Basissystems entfernt liegt und je kleiner die Tilger- Druckschwingungen in Rohren mit Fluiden (Hydrau-
masse gegenüber der Masse des Basissystems ist. lik- und Pneumatiksysteme, Orgelpfeifen),
328 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden

w (x,t) g (x + 2c ∆t)
F0 g (x + c ∆t)
Technische Mechanik

g (x) f (x – c ∆t)
x
f (x) f (x – 2c ∆t)
l

Abb. 13.18 Schwingende Saite x

Abb. 13.19 Zwei laufende Wellenberge der Form f (x ) bzw. g (x ), die sich mit
der Geschwindigkeit c nach rechts bzw. links fortbewegen
Longitudinale Dehnschwingungen in Stäben und Sei-
len (Aufzüge),
Torsionsschwingungen in langen Wellen (Antriebssys-
teme), werden. Die Bewegungsgleichung für die Auslenkung
Biegeschwingungen von Balken (Brücken, transversal w(x, t) lautet:
schwingende Achsen und Wellen).
∂2 w ∂2 w
− c2 2 = 0 oder kurz ẅ − c2 w = 0 (13.23)
zweidimensional: ∂t 2 ∂x

schwingende Membranen (Musikinstrumente), mit der Wellenausbreitungsgeschwindigkeit


Flachwasserwellen (Hafenbecken), 
Biegeschwingungen von Platten und Schalen (ebene F0
und gebogene Bleche). c= ,
ρl

dreidimensional: wobei ρl die Masse pro Länge der Saite und F0 die Vor-
räumliche, elastische Körper (Maschinen-Bauteile), spannung der Saite darstellen. Die Länge der Saite tritt in
Druckschwingungen in Räumen (Raumakustik). (13.23) nicht auf.
Die Bewegungsgleichung ist eine lineare, partielle Dif-
In all diesen Beispielen können sich, wie bei allen Kontinu- ferenzialgleichung. Die beschreibende Zustandsgröße w
umsschwingern, auch Wellen ausbreiten. Damit sich eine hängt vom Ort x und der Zeit t ab. In der Bewegungs-
klassische Schwingung ausbilden kann, muss durch reflek- gleichung (13.23) sind noch keine Randbedingungen be-
tierende Ränder im System eine stehende Welle entstehen rücksichtigt, sie liefert sowohl stehende als auch laufende
können. Für einfache Systeme sind analytische Lösungen Wellenlösungen. Einfaches Einsetzen zeigt, dass beliebige
möglich. Komplexere Systeme werden z. B. mit der Metho- Funktionen des Typs f (x − ct) und g(x + ct) Lösungen von
de der Finiten Elemente diskretisiert und können dann mit (13.23) darstellen (Abb. 13.19).
den Methoden aus Abschn. 13.1 als diskrete Schwinger mit
vielen Freiheitsgraden weiter behandelt werden. Die Lösung f beschreibt eine rechts- und g eine linkslau-
fende Welle, jeweils mit der Form f (x) und g(x). Diese
Lösungen sind z. B. bei der Berechnung von Druckwellen
in langen Rohren in Wasserkraftanlagen relevant. Sobald
Die Saite schwingt und klingt mit vielen Tönen sie an ein offenes oder geschlossenes Rohrende auflaufen,
werden sie dort reflektiert und beginnen sich zu überla-
Als Beispiel für die analytische Lösung eines kontinuierli-
gern, was die Lösung zunehmend kompliziert macht.
chen Schwingungsproblems soll hier die homogene Saite
betrachtet werden (Abb. 13.18). Sie ist, wenn sie als biege-
schlaff angenommen wird und nur kleine Auslenkungen Lösung für stationäre freie Schwingungen
zulässt, ein besonders einfacher Repräsentant für ein li-
neares, ungedämpftes, kontinuierliches Schwingungssys- Bei der schwingenden Saite sind infolge der Einspannung
tem. Die eindimensionale Fluidsäule im Rohr oder der links und rechts stehende Wellen zu erwarten. Dafür wird
Torsionsschwinger führen auf eine identische Bewegungs- ein reeller Separationsansatz gemacht. Da (13.23) linear
gleichung. Der Euler’sche Biegebalken führt auf eine ähn- ist, gilt das Superpositionsprinzip. Es kann angenommen
lich einfach zu lösende Differenzialgleichung, die später werden, dass sich die Gesamtlösung
im Kapitel dargestellt wird. Die Konzepte der Lösungsfin-
dung lassen sich außerdem auf mehrdimensionale, konti- w(x, t) = ∑ w̄i (x)qi (t) (13.24)
nuierliche Schwingungsprobleme übertragen. i

Auf die Herleitung der Bewegungsgleichung wird hier aus einer Summe von Moden zusammensetzt. Jede Mo-
verzichtet, sie kann in Physik-Lehrbüchern nachgelesen de ist ein Produkt aus Ortsfunktion w̄i (x), welche die
13.2 Kontinuumsschwingungen 329

Schwingungsform darstellt, und Zeitfunktion qi (t), wel- Die ersten drei Eigenformen sind in Abb. 13.20 im Teil-
che deren zeitliche Entwicklung beschreibt. Im Folgenden bild „fest–fest“ dargestellt. Höhere Eigenformen weisen

Technische Mechanik
wird eine Mode als Teillösung gesucht und zur Über- sogenannte Schwingungsknoten auf, Orte an denen trotz
sichtlichkeit zunächst der Index i weggelassen. Wird die Schwingbewegung keine Auslenkung stattfindet. Nun
Teillösung in (13.23) eingesetzt, ergibt sich: kann zu jeder Wellenzahl κi einer Eigenform die zugehö-
rige Eigenkreisfrequenz
w̄(x)q̈(t) − c2 w̄ (x)q(t) = 0, (13.25) 
was sich zu F0 iπ
ωi = cκi = (13.32)
ρl l
q̈(t) w̄ (x)
= c2 = −ω 2 (13.26)
q ( t) w̄(x) bestimmt werden. Damit lässt sich die Gesamtlösung ge-
umformen lässt. Da die eine Seite von (13.26) ausschließ- mäß (13.24) als
lich von t, die andere ausschließlich von x abhängt, müs- ∞
sen sie konstant sein. Diese Konstante wurde bereits mit w(x, t) = ∑ sin κi x(Ai cos ωi t + Bi sin ωi t) (13.33)
−ω 2 eingeführt. Damit ergeben sich die unabhängigen i=1
Teilgleichungen für das Zeitverhalten und die Ortsabhän-
gigkeit: schreiben, worin noch die zeitlichen Integrationskonstan-
ten Ai und Bi aus Anfangsbedingungen zu bestimmen
q̈(t) w̄ (x) ω2 sind.
= −ω 2 sowie = − 2 = −κ 2 , (13.27)
q ( t) w̄(x) c
wobei für die Ortsgleichung die Wellenzahl κ = ωc einge- Frage 13.4
führt wurde. Die Lösungen der Differenzialgleichungen Können Sie (13.33) in eine Form mit f (x − ct) und g(x + ct)
(13.27) sind sowohl für das Zeitverhalten q(t) als auch für bringen?
die Schwingungsform w̄(x) harmonische Funktionen:
q(t) = A cos ωt + B sin ωt, (13.28)
w̄(x) = C cos κx + D sin κx (13.29) Dies soll hier beispielhaft für das Ausschwingen ab t =
0 aus einer Anfangslage, d. h. Anfangsform w0 (x) ohne
mit an dieser Stelle noch unbekannten Parametern ω Anfangsgeschwindigkeit demonstriert werden. Die Be-
und κ. dingungen lauten somit:

w(x, 0) = w0 (x) und ẇ(x, 0) = 0.


Anpassung an Rand- und Anfangsbedingungen
Kontinuierliche Schwingungen führen auf Rand- Die zweite Bedingung führt eingesetzt in die Ableitung
Anfangswertprobleme; in diesem Sinn sind die Inte- von (13.33) zu:
grationskonstanten A bis D in (13.28) und (13.29) zu ∞
interpretieren: A und B sind aus Anfangsbedingungen ẇ(x, 0) = ∑ Bi ωi sin κi x = 0,
zu bestimmen und C sowie D aus Randbedingungen des i=1
konkreten Problems. Bei der schwingenden Saite der Län-
ge l sind die Randbedingungen einfach zu bilden: Sie soll was nur durch Bi = 0 für alle i erfüllbar ist. Die Lagerand-
bei x = 0 sowie bei x = l unverschieblich sein, was zu bedingung führt somit auf:
w̄(0) = 0 und w̄(l) = 0 führt. 
∞ ∞
x
Die Randbedingung w̄(0) = 0 führt eingesetzt in (13.29)) ∑ Ai sin κi x = ∑ Ai sin iπ
l
= w0 (x),
i=1 i=1
unmittelbar zu C = 0. Aus der zweiten Randbedingung
w̄(l) = 0 folgt: was auf die Aufgabe einer Fourier-Zerlegung führt: Die
Anfangslage w0 (x) muss als harmonische Reihe von Si-
D sin κl = 0, (13.30)
nusfunktionen mit den Fourier-Koeffizienten Ai darge-
was zur nicht-trivialen Lösung stellt werden. Im vorliegenden Fall lautet die Bestim-
mungsgleichung:

κi l = iπ ↔ κi =
l l  x
2
führt. Somit existieren unendlich viele κi und entspre- Ai = w0 (x) sin iπ dx. (13.34)
l l
chend unendlich viele normierte Ortslösungen oder Ei- 0
genformen (D = 1) der Form:
Ein konkretes Beispiel wird im Aufgabenblock am Ende
w̄i (x) = sin κi x. (13.31) dieses Kapitels berechnet.
330 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden

Tab. 13.1 Resonanzkreisfrequenzen eindimensionaler Kontinuumsschwinger bei gegebener Länge l und Wellenausbreitungsgeschwindigkeit c

c2 Kreisfrequenz ωi
Technische Mechanik

Typ Randbedingung Anwendung


F0 ciπ
Saite ρl fest–fest Musikinstrument l

2i−1 cπ
geschlossen–offen Orgelpfeife, Rohr mit Vorratsvolumen an einem Ende 2 l

K ciπ
Luftsäule/Fluidsäule ρF geschlossen–geschlossen Rohr mit zwei geschlossenen Enden l

ciπ
offen–offen Rohr mit zwei offenen Enden l

ciπ
kubischer Raum c2L geschlossen–geschlossen akustische Raumresonanzen l

F0 : Vorspannung der Saite, ρl : Masse/Länge der Saite


K: Kompressibilität des Fluids, ρF : Dichte des Fluids cL : Luft-Schallgeschw.
Hinweis: Bei schwingenden Fluidsäulen können die beschreibenden Differenzialgleichungen wahlweise für die Verschiebung der Fluidpar-
tikel w(x, t) oder für den Druck p(x, t) aufgestellt werden. Die Gleichungen sind strukturell identisch. Die Randbedingungen sind jedoch
komplementär: Ein geschlossenes Rohrende führt z. B. zu einer Dirichlet-Bedingung w = 0 für die Verschiebung, jedoch zu einer Neumann-
Bedingung p = 0 für den Druck.

fest–fest fest–frei
Verhalten kontinuierlicher Schwinger

Auslenkung

Auslenkung
Kontinuierliche Schwinger haben unendlich viele
Moden, d. h. Eigenformen mit zugehörigen Eigen-
frequenzen. Die Randbedingungen bestimmen we-
sentlich die Eigenfrequenzen und Eigenformen.
0 Länge l 0 Länge l
frei–fest frei–frei
Auslenkung

Auslenkung
Andere Randbedingungen führen zu neuen
Schwingungsformen

Die im vorangegangenen Abschnitt verwendeten fes- 0 Länge l 0 Länge l


ten Randbedingungen werden als Dirichlet-Bedingungen
bezeichnet. Bei schwingenden Fluidsäulen können z. B. Abb. 13.20 Übersicht über die jeweils ersten drei Eigenformen des eindimen-
an offenen Enden von Rohren auch Randbedingungen sionalen Kontinuumsschwingers mit der Bewegungsgleichung ẅ − c 2 w = 0
vom Typ w̄ (xRand ) = 0, sogenannte Neumann-Randbe- bei verschiedenen Randbedingungen
dingungen auftreten. Auf komplexere, mögliche Randbe-
dingungen soll in diesem Buch verzichtet werden. Eine In der Technik ist oft die tiefste Eigenfrequenz (Grundton)
Neumann-Randbedingung bei x = l würde (13.30) zu mit der zugehörigen Schwingform, d. h. die Lösung mit
i = 1 von Interesse. Diese ist im Fall der fest-fest Einspan-
Dκ cos κl = 0 nung mit w̄1 (x) = sin πl x eine Sinushalbwelle. Wird mit
λ die Wellenlänge bezeichnet, ist die erste Eigenform die
modifizieren, welche die Lösungen sogenannte λ/2-Resonanz, da sie eine halbe Wellenlän-
ge besitzt. Bei Systemen mit fest-frei Randbedingungen
π 3π 5π besitzt die tiefste Resonanzfrequenz als Eigenform eine
κi l = , , , ... viertel Sinuswelle. Diese Resonanz wird deshalb auch
2 2 2
als λ/4-Resonanz bezeichnet. Die Resonanzfrequenzen
hat. Die entstehenden Eigenformen sind in Abb. 13.20 im einfacher eindimensionaler Schwinger sind in Tab. 13.1
Teilbild „fest–frei“ dargestellt. zusammenfassend dargestellt.
13.2 Kontinuumsschwingungen 331

Der elastische Balken kann Biegeschwingungen welche die Lösungen


von Antriebswellen und anderen schlanken q(t) = A cos ωt + B sin ωt,

Technische Mechanik
Bauteilen beschreiben w(x) = C1 cos κx + C2 sin κx + C3 + C4 sinh κx (13.39)
besitzen. Die Ortsdifferenzialgleichung des Balkens hat
Die im vorangegangenen Abschnitt vorgestellte Saite ist die Ordnung vier, deswegen entsteht eine Lösung mit vier
als Modell zum grundsätzlichen Verständnis einiger Phä- Integrationskonstanten.
nomene kontinuierlicher Schwinger geeignet, tritt jedoch
in technischen Systemen selten auf. Der in Abschn. 5.2
eingeführte Biegebalken hingegen ist ein geeignetes Mo- Randbedingungen
dell, um Biegeschwingungen z. B. von Antriebswellen Die Lösung w(x) muss noch an die Randbedingungen
oder Streben zu beschreiben. angepasst werden, die sich aus den konkreten Lage-
rungsbedingungen des Balkens an seinen beiden Enden
Bewegungsgleichung des Balkens ergeben. Die üblichen festen Balkenlagerungen und ihre
zugehörigen Randbedingungen sind in Tab. 13.2 zusam-
Die Bewegungsgleichung des Biegebalkens kann durch mengestellt, die eine große Ähnlichkeit zu Tab. 2.1 hat. Es
eine einfache Erweiterung der statischen Gleichungen fällt auf, dass jede Lagerung einen Kraft/Lage-Term so-
und der Anwendung des Prinzips von d’Alembert (sie- wie einen Momenten/Winkel-Term am Lagerort zu Null
he Abschn. 10.3) gewonnen werden. Die Biegelinie eines setzt. Die Kraft/Lage-Terme sind die Auslenkung w sowie
Balkens wird (siehe Abschn. 5.2) durch die Gleichung die 3. Ableitung w , die mit der Lagerkraft korrespon-
EIw (x) = −M(x) (13.35) diert. Die Momenten/Winkel-Terme sind die Neigung w
des Balkens sowie die Krümmung w , die über (13.35) mit
beschrieben. Wird hier noch (siehe Abschn. 3.1) der Zu- dem Einspannmoment verknüpft ist. Die Vertikalführung
sammenhang q(x) = −M (x) zwischen Streckenlast und an sich ist technisch schwierig zu realisieren, tritt aber
Biegemoment eingesetzt, ergibt sich zunächst: als Randbedingung bei symmetrischen Problemen an der
Symmetrieebene auf.
EIw (x) = qS (x). (13.36) Aus diesen Lagern kann nun eine beliebige Kombination
Die Streckenlast qS (x, t) setzt sich im dynamischen für das Lager bei x = 0 und das Lager bei x = l, der Länge
Fall aus zwei Anteilen zusammen: Einer externen Last des Balkens, ausgewählt werden. Da aus jeder Lagerung
qSe (x, t) sowie der Trägheitskraft pro Längeneinheit nach zwei Randbedingungen folgen, führt dies mit Gleichung
d’Alembert −ρAẅ(x, t), welche sich aus der Beschleu- (13.39) bzw. ihren Ableitungen auf vier Gleichungen, de-
nigung multipliziert mit der Masse pro Längeneinheit nen die Integrationskonstanten C1 . . . C4 genügen müs-
ρA des Balkens ergibt. Wird dies in Gleichung (13.36) sen. Diese ergeben ein homogenes Gleichungssystem
eingesetzt und ein homogener Balken mit EI = konstant A·C = 0 (13.40)
betrachtet, ergibt sich die Bewegungsgleichung
ρAẅ(x, t) + EIw (x, t) = qSe (x, t) (13.37)
Tab. 13.2 Randbedingungen des Balkens
des homogenen Biegebalkens. Die Streckenlast qSe (x) be- Lagertyp Kraft/Lage-RB Moment/
schreibt alle äußeren Lasten auf den Balken. Mit qSe (x) = Winkel-RB
F(t) · δ(x − x0 ) kann darin z. B. auch eine Punktlast F an Feste Einspannung w=0 w = 0
der Stelle x0 berücksichtigt werden, wobei δ die Dirac-
Distribution darstellt. Für einen lastfrei schwingenden
Balken gilt qSe (x) = 0 und Gleichung (13.37) kann als
Drehgelenk w=0 w = 0
ρAẅ + EIw = 0

geschrieben werden, womit sie große Ähnlichkeit zu Glei-


chung (13.25) aufweist. Die Lösung der partiellen Diffe-
Vertikalführung w = 0 w = 0
renzialgleichung gelingt durch einen Separationsansatz
w (x, t) = ∑ wi (x) · qi (t), analog der Lösung für die Saite
gemäß Gleichungen (13.27) bis (13.28). Es entstehen eine
Zeit- und eine Ortsdifferenzialgleichung (Index i wegge-
lassen)
Freies Ende w = 0 w = 0

q̈(t) w (x ) ρA
= −ω 2 sowie = ω2 = κ4 (13.38)
q ( t) w(x ) EI
332 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden

mit der Matrix A und dem Vektor C, in dem die Kon- EI, ρA(x) m1, J1
stanten C1 . . . C4 zusammengefasst sind. Dieses homo- m2
Technische Mechanik

x
gene System hat nur dann eine nicht-triviale Lösung,
wenn det (A) = 0 gilt. Diese Forderung liefert ein tran-
szendentes Eigenwertproblem mit dem die κi und damit c
die Eigenkreisfrequenzen ωi gemäß Gleichung (13.38) ab-
geleitet werden können. Die Ci eingesetzt in Gleichung
Abb. 13.21 Getriebewelle als Balken mit veränderlichem Querschnitt, Zusatz-
(13.39) ergeben die zugehörige Eigenform wi (x). Analog massen und elastischer Abstützung
zum klassischen Eigenwertproblem liefert die Gleichung
(13.40) auch im nicht-trivialen Fall nur die Verhältnisse
der Ci untereinander und keine Absolutwerte.
Lösungen der Ortsdifferenzialgleichung und damit die
Aus einer beliebigen Kombination der Lager in Tabelle Eigenschwingungsformen lauten nach Normierung der
13.1 können statisch bestimmte, aber auch über- oder un- Maximalamplitude auf eins
terbestimmte Balken entstehen. Unterbestimmte Balken
können zusätzlich zu den Schwingungen noch freie Starr- wi (x) = sin κi x.
körperbewegungen ausführen. Überbestimmte Systeme
Werden die Eigenwerte κi in (13.38) eingesetzt, ergeben
sind, je nach Einspannbedingung, zusätzlichen Lasten un-
sich die zugehörigen Eigenkreisfrequenzen
terworfen, die aber im Rahmen der hier vorgestellten
linearen Theorie keinen Einfluss auf die Schwingbewe-    
gung haben. EI 2 EI iπ 2
ωi = κ = . (13.42)
ρA i ρA l
Bewegungsgleichung des Biegebalkens Im Vergleich mit der Saite (13.31) fällt auf, dass die
Die Dynamik eines Biegebalkens wird durch eine Schwingformen ebenfalls Sinus-Bögen sind. Die Zunah-
partielle Differenzialgleichung beschrieben, die eine me der Eigenkreisfrequenz mit der Ordnung erfolgt aller-
2. Zeitableitung und eine 4. Ortsableitung der Aus- dings nicht linear wie in (13.30), sondern quadratisch.
lenkungsvariablen enthält. Die Einspannungen am Für weitere technisch wichtige Balkenkonfigurationen
Rand liefern insgesamt vier Ortsrandbedingungen. sind die Lösungen in Tab. 13.3 zusammengefasst.

Frage 13.5
Lösung für ein Beispiel Vergleichen Sie die beiden ersten Eigenfrequenzen eines
homogenen Balkens, der entweder beidseitig gelenkig ge-
Technisch besonders relevant ist der Biegebalken mit zwei lagert ist oder frei schwebt.
Drehgelenken am Ende. Das ist z. B. das Modell einer
beidseitig gelenkig gelagerten Getriebewelle. Auf den
Einfluss einer Zusatzmasse, wie z. B. ein auf der Welle
befindliches Zahnrad, soll im nächsten Abschnitt einge-
gangen werden. Aus Tab. 13.1 folgen w(0) = 0, w (0) =
Der Rayleigh-Quotient ermöglicht
0, w(l) = 0 und w (l) = 0. Werden diese 4 Randbedin- die Abschätzung der ersten Eigenfrequenz
gungen in die Gleichung (13.39) bzw. ihre Ableitungen eines Biegeschwingers
eingesetzt, entsteht das Gleichungssystem
⎛ ⎞ ⎛ ⎞ Die im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten For-
1 0 1 0 C1
⎜ −1 0 1 0 ⎟ ⎜
C2 ⎟ meln und Lösungen gelten nur für einen homogenen
· =0
⎝ cos κl sin κl cosh κl sinh κl ⎠ ⎝
C3 ⎠ Balken ohne zusätzliche Massen oder weitere elastische
− cos κl − sin κl cosh κl sinh κl C4 Abstützungen. Eine typische Getriebewelle wird aber
(13.41) unterschiedliche Querschnitte und zusätzliche Massen,
aus dem offensichtlich sofort C1 = C3 = 0 folgt. Das tran- sowie ggf. weitere Abstützungen oder elastische Lager
szendente Eigenwertproblem det(A) = 2 sin κl sinh κl = aufweisen (Abb. 13.21).
0 mit den Lösungen Die erste Eigenkreisfrequenz ω1 einer solchen Welle kann
mit dem Rayleigh-Quotienten für den Balken
lκi = iπ, i = 1, 2, 3, . . . ∞
l
EI (x)w 2 (x)dx + ∑ ci w2 xj
0
führt auf die nicht-triviale Lösung von Gleichung (13.41). ω12 < l
2
Wird einer der Eigenwerte dort eingesetzt folgt C4 = 0 0 ρA(x)w (x)dx + ∑ mj w xj + ∑ Jk w (xk )
2 2

und C2 kann beliebig, z. B. C2 = C gewählt werden. Die (13.43)


13.2 Kontinuumsschwingungen 333

Tab. 13.3 Lösungen der Balkenschwingung für technisch relevante Lagerungsbedingungen


Lagerung Eigenwertgleichung Eigenfunktion Eigenwerte κi l
T

Technische Mechanik
x = 0/x = l f (x) = C · cos κx sin κx cosh κx sinh κx
4,73004
frei/frei C= 1 −γ 1 −γ
7,85320
cosh κl cos κl = 1 cosh κl−cos κl π
γ= sinh κl−sin κl κi l = 10,9956 ≈ (2n + 1) 2
14,1372
eingespannt/ C= 1 −γ −1 γ
eingespannt 17,2788

gelenkig/ sin κl = 0 C= 0 γ 0 0 γ= 2 κi l = iπ
gelenkig
1,87510
sinh κl−sin κl 4,69409 π
eingespannt/ cosh κl cos κl = −1 C= 1 −γ −1 γ γ= cosh κl+cos κl κi l = ≈ (2n − 1) 2
7,85476
frei
10,9955
3,92660
eingespannt/ C= 1 −γ −1 γ
gelenkig 7,06858
π
tan κl = tanh κl γ = cot κl κi l = 10,2102 ≈ (4n + 1) 4
13,3518
frei/ C= 1 −γ 1 −γ
gelenkig 16,4934
l
Hinweis: alle Eigenfunktionen sind so normiert, dass 0
f (x)2 dx = l gilt.

abgeschätzt werden. Darin sind mj Zusatzmassen, die an Damit folgt für die Teilterme aus (13.44):
den Orten xj angebracht sind und Jk die Trägheitsmomen-
te von Körpern an den Orten xk , deren Trägheitsmomente l
so groß sind, dass sie beim Neigen infolge der Durchbie- EI (x)w 2 (x)dx = 313.790 N/m,
gung der Welle nicht vernachlässigbar sind. Die ci sind die 0
Steifigkeiten von externen, elastischen Abstützungen an
den Ortenxi . Die Integrale können abschnittsweise ausge- l
wertet werden, um z. B. wechselnde Balkenquerschnitte ρA(x)w2 (x)dx = 7,65763 kg,
zu berücksichtigen. 0

Zur Anwendung der Formel muss die erste Eigenform ms w2 (xS ) = 2,5 kg,
mit einer Ansatzfunktion (ASF) w(x) geschätzt werden. Js w 2 (xS ) = 0,24674 kg.
In Frage kommen dazu trigonometrische Funktionen wie
Sinusbögen oder Polynomansätze. Es kann z. B. die Eigen- Es fällt auf, dass der Anteil, der aus der Neigung der
funktion aus Tab. 13.3 gewählt werden, die der Situation Scheibe folgt, am geringsten ist, aber nicht vernachläs-
am nächsten kommt. Die Normierung von w(x) ist da- sigt werden kann. Es ergibt sich ω1 < 173,7 1/s. Wird als
bei unerheblich, da sich Vorfaktoren aus dem Quotienten Ansatzfunktion ein quadratisches Polynom mit w(x) =
in (13.44) herauskürzen. Die Formel liefert dabei eine x · (l − x)/l2 gewählt, ergibt sich ω1 < 192,4 1/s, was die-
Abschätzung für ω1 , die stets zu groß ist. Je besser die se Ansatzfunktion als schlechtere Näherung ausweist. Die
Ansatzfunktion geschätzt wurde, desto kleiner, und da- analytische Lösung für die Welle ohne Scheibe liefert mit
mit näher am exakten Ergebnis, ist die Schätzung. So (13.42) einen Wert von ω1 = 202,43 1/s.
können verschiedene Ansatzfunktionen miteinander ver-
glichen werden.
Als Beispiel soll eine Welle aus Stahl mit der Länge l =
1 m und dem Durchmesser von d = 50 mm betrachtet Mit lokalen und globalen Ansatzfunktionen
werden. Im Abstand von xS = 0,25 m vom linken Rand können mehrere Eigenfrequenzen
ist eine dünne Scheibe mit der Masse mS = 5 kg und und Eigenformen berechnet werden
dem Durchmesser D = 0,4 m befestigt. Es soll die erste
Eigenfrequenz mit einem Sinusbogen sowie einer quadra-
tischen Parabel als Ansatzfunktion abgeschätzt werden. Eine Erweiterung des Rayleigh-Quotienten führt auf das
Verfahren von Ritz, mit dem die Eigenwerte und Ei-
Aus den gegebenen Daten folgt ρA = 15,315 kg/m und genformen eines kontinuierlichen Schwingungssystems
EI = 6442,72 N m2 . Das axiale Massenträgheitsmoment approximiert werden können. Das Verfahren ist für alle
der Scheibe beträgt JS = 16
1
mD2 = 0,05 kg m2 . Als Ansatz- Kontinua anwendbar. In der Variante mit globalen An-
funktion wird w(x) = sin(πx/l) (dimensionslos) gewählt. satzfunktionen ist es aber für Körper einfacher Geometrie
334 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden

wie Balken oder Platten besonders geeignet. In der Vari- Zur Bildung der Massen- und Steifigkeitsmatrizen müs-
ante mit lokalen Ansatzfunktionen auf Stützstellen führt sen geeignete Ansatzfunktionen wi (x) eingesetzt werden.
Technische Mechanik

es auf die Methode der Finiten Elemente. Diese müssen lediglich die kinematischen Randbedin-
gungen, d.h. Forderungen nach w = 0 oder w = 0 erfül-
Die kinetische Energie eines schlanken Balkens berech-
len. Sind die Funktionen nur abschnittsweise definiert,
net sich, unter Vernachlässigung der Drehträgheit, aus der
müssen sie sowie ihre Ableitungen an den Abschnitts-
Summation der kinetischen Energie der Translationsge-
grenzen stetig ineinander übergehen. Zudem können bei
schwindigkeit aller Balkenelemente zu
der Auswertung der Integrale beliebige Verläufe von
EI (x) oder ρA(x), z. B. bei veränderlichem Querschnitt,
l
1 berücksichtigt werden.
Ekin = ρAẇ2 dx. (13.44)
2
0 Werden mit (13.46) und (13.49) die Lagrange’schen Glei-
chungen (11.5) angewendet, ergibt sich die Bewegungs-
Wird nun der Separationsansatz (13.24) in der Form gleichung

w (x, t) = w(x)T · q(t) (13.45) M q̈ + Kq = 0 .


mit den Vektoren von Ortsfunktionen w und Zeitfunktio-
nen q geschrieben, lässt sich (13.44) in die Form Dieses System kann mit den Methoden aus Abschn. 13.1
ab Gleichung (13.2) wie ein diskretes System weiter be-
l handelt werden.
1 T 1 T
Ekin = q̇ ρAw wT dxq̇ = q̇ M q̇ (13.46) Im Gegensatz zu Abschn. 13.1 sind die Koordinaten q hier
2 2
0 jedoch mitunter keine physikalisch anschaulichen Aus-
lenkungen an einzelnen Stellen des betrachteten Systems,
mit der Massenmatrix M bringen. Das dyadische Produkt sondern sie beschreiben die Auslenkung einer Ansatz-
w wT multipliziert alle Ansatzfunktionen paarweise mit- funktion. Somit ist ein Eigenvektor ŷi nicht direkt als
einander in einer Matrix. geometrische Schwingform interpretierbar.
Die kinetische Energie einer Zusatzmasse an der Stelle xm
Wird z. B. die Lösung des Systems gemäß Gleichung (13.4)
auf dem Balken beträgt
in den Separationsansatz (13.45) eingesetzt, ergibt sich
1 T 1
Ekin = q̇ mw (xm ) wT (xm ) q̇ = q̇T M m q̇ (13.47) n
2 2 w(x, t) = w(x)T · ∑ ŷi (Ai cos ωi t + Bi sin ωi t) .
i=1
woraus sich die Massenmatrix M m gewinnen lässt. Ana-
log lässt sich die Massenmatrix
Daraus kann abgelesen werden, dass die geometrische Ei-

M J = Jw (xM ) w (xM ) T
(13.48) genschwingungsform zum Eigenvektor ŷi

einer rotatorischen Trägheit auf dem Balken am Ort xm wi (x) = w(x)T · ŷi
gewinnen. Die gesamte Massenmatrix des Schwingungs-
problems wird aus der Summe der Matrix aus (13.46) lautet.
sowie gegebenenfalls mehreren Matrizen aus (13.47) und
(13.48) gewonnen. Wird nur eine einzige Ansatzfunktion Bei diesem Verfahren ist allerdings darauf zu achten, dass
gewählt, entsteht damit genau der Nenner von (13.44). es sich hier bei der Lösung um eine Näherung handelt.
Die Qualität hängt unter anderem von der Sinnhaftigkeit
Analog lautet die potenzielle Energie des Balkens, wieder- der gewählten Ansatzfunktionen ab. Generell sind vor al-
um ohne Zusatzsteifigkeiten lem die niedrigen Eigenfrequenzen und die zugehörigen
Eigenformen sinnvoll, die höheren Moden sind in der Re-
l
1 gel zu ungenau.
Epot = EIw 2 dx,
2
0
Lösung von Balkenschwingungsaufgaben
was nach Einsetzen des Separationsansatzes zu
Technisch relevante Balkenschwingungsaufgaben
l lassen sich oft nicht analytisch lösen. Sie werden
1 T 1 T
Epot = q EIw w T dxq = q Kq (13.49) mit Diskretisierungsverfahren auf Schwingungspro-
2 2 bleme mit einer endlichen Zahl von Freiheitsgraden
0
zurückgeführt.
mit der Steifigkeitsmatrix K führt.
13.2 Kontinuumsschwingungen 335

Beispiel: Berechnung der Eigenfrequenzen und Eigenformen einer Getriebewelle mit lokalen und

Technische Mechanik
globalen Ansatzfunktionen, Methode der Finiten Elemente

Schwingungsprobleme von Balken mit unterschiedli- Aufgrund der Teilung des Balkens in drei Abschnitte
chen Querschnitten sowie Zusatzmassen lassen sich mit unterschiedlicher Geometrie müssen die Integrale
in der Regel nicht mehr analytisch lösen. Mit Hilfe zur Bestimmung der Massenmatrix (13.46) sowie der
von Diskretisierungsverfahren kann eine Näherungs- Steifigkeitsmatrix (13.49) abschnittsweise ausgewertet
lösung gewonnen werden, mit der besonders die nied- werden. So lautet das Element in Zeile i und Spalte j
rigen Eigenfrequenzen und –formen gut approximiert der Massenmatrix:
werden können. ⎛ ⎞
l 3l
Betrachtet wird eine Getriebewelle der Länge l, die aus 4 4 l
⎜ ⎟
drei Abschnitten der Längen l/4, l/2 und l/4 besteht Mij = ρA ⎝ wi wj dx + 2 wi wj dx + wi wj dx⎠
(Abb. 13.22). Im längeren Abschnitt ist der Durchmes- 0 l 3l
4 4
ser im Vergleich zu den anderen Abschnitten größer,
sodass dort die doppelte Querschnittsfläche A und
Die Auswertung kann analytisch z. B. mit einem
das vierfache Flächenträgheitsmoment I vorliegen. Das
Computer-Algebra-System ausgeführt werden. Es
Material der Welle ist homogen, sodass ρ und E für die
folgt für die Massenmatrix des Balkens ohne Zahnrad:
gesamte Welle gleich sind. An der Übergangsstelle der
beiden linken Abschnitte ist das Zahnrad, modelliert ⎛ 2π +2 ⎞
als eine dünne Scheibe der Masse m mit dem Trägheits- 4π 0 − 2π
1
0
⎜ 0 3
0 2 ⎟
− 3π
moment J um die Kippachse, angebracht. M B = ρAl ⎜
⎝ − 1
4 ⎟.
2π 0 9π −2
12π 0 ⎠
m, J 0 − 3π
2
0 3
4

A, I 2A, 4I A, I
Hinzu kommen die Terme für die Masse des Zahnra-
x des gemäß (13.47) mit xm = l/4
⎛ √ ⎞
√1 2 √1 0
m⎜ 2 2 2 0 ⎟
Mm = ⎜ √ ⎟
2 ⎝ 1 2 1 0 ⎠
L/4 L/2 L/4
0 0 0 0
Abb. 13.22 Getriebewelle
und der Kippträgheit des Zahnrades gemäß (13.48)
Globale Ansatzfunktionen (ASF) Als Ansatzfunktionen ⎛ √ ⎞
werden wi = sin(iπx/l), i = 1 . . . 4 verwendet. 1 0 −3 −4 2
π2 ⎜ 0 0 0 0√ ⎟
MJ = J 2 ⎜ ⎟.
1 2l ⎝ −√ 3 0 9√ 12 2 ⎠
−4 2 0 12 2 32

Auffällig ist, dass in M m die vierte Zeile und Spalte nur


Nullelemente enthält. Das liegt daran, dass die 4. An-
0
satzfunktion w4 bei xm = l/4 keine Auslenkung hat.
w1 Vergleichbares gilt für die zweite Spalte und Zeile von
w2 M J , da w2 an dieser Stelle keine Steigung aufweist. Die
w3 gesamte Massenmatrix ist M = M B + M m + M J .
w4
–1 Die Integrale der Steifigkeitsmatrix müssen ebenfalls
0 1/4 3/4 1 abschnittsweise ausgewertet und aufsummiert wer-
den. Es ergibt sich:
Abb. 13.23 Globale Ansatzfunktionen des Biegebalkens
⎛ ⎞
Diese Funktionen erfüllen die kinematischen Rand- 5π + 6 0 −54 0
EIπ 3 ⎜ 0 80π 0 −512 ⎟
bedingungen w(0) = 0 sowie w(l) = 0 und sind die K= ⎝ −54 ⎠.
analytischen Lösungen des homogenen Balkens mit 4l3 0 81(5π − 2) 0
konstantem Querschnitt ohne Zahnrad. 0 −512 0 1280π
336 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden

Lokale Ansatzfunktionen, Finite Elemente Die Betrach- Die Massenmatrix des Balkenelements kann gemäß
tung mit lokalen Ansatzfunktionen ist auch als Metho- Gleichung (13.46) berechnet werden, wobei der Vek-
Technische Mechanik

de der Finiten Elemente bekannt. Dazu wird die Welle tor w die vier Ansatzfunktionen (13.50) enthält. zudem
in drei Abschnitte, die Elemente aufgeteilt. Als Koor- wird dxlok = Ldξ substituiert:
dinaten dienen die Auslenkung und die Neigung an
jedem Elementrand bei x = 0, 4l , 3l4 , l. 1
1
Betrachtet wird ein allgemeines Element der Länge L, M = ρA wwT Ldξ
für das eine lokale Längenkoordinate xlok eingeführt 2
0
wird. Mit der Koordinatentransformation ξ = xlok /L ⎛ ⎞
156 22L 54 −13L
wird es auf die Länge 1 normiert. Die Verformung wird
ρAL ⎜
⎜ 22L 4L2 13L −3L2 ⎟
⎟.
durch vier Ansatzfunktionen, jeweils Polynome 3. Ord- =
nung, 420 ⎝ 54 13L 156 −22L ⎠
−13L −3L2 −22L 4L2
H1 (ξ ) = 2ξ 3 − 3ξ 2 + 1, (13.51)
 
H2 (ξ ) = L −ξ 3 + 2ξ 2 − ξ ,
(13.50) Die Steifigkeitsmatrix kann aus (13.49) abgeleitet wer-
H3 (ξ ) = −2ξ 3 + 3ξ 2 , den. Hier ist noch zu beachten, dass w die zweite
  Ableitung nach der Ortskoordinate xlok darstellt. Die
H4 ( ξ ) = L ξ 3 − ξ 2 , Ansatzfunktionen sind jedoch mit der normierten Ko-
ordinate ξ aufgestellt. Es gilt die Kettenregel
angenähert. Jede der Ansatzfunktionen hat genau an
einem der beiden Ränder entweder die Auslenkung 1
oder die Steigung 1 (Abb. 13.24).  2
d2 Hi dξ d2 Hi 1
Hi = · = ·
dξ 2 dxlok dξ 2 L2
1

0,8 und somit für die zweite Ableitung der Ansatzfunktio-


H1
nen:
0,6
H2
0,4
H3 H1 (ξ ) = (12ξ − 6)/L2 ,
H4
H2 (ξ ) = (−6ξ + 2)/L,
0,2
H3 (ξ ) = (−12ξ + 6)/L2 ,
0
H4 (ξ ) = (6ξ − 2)/L.
–0,2
0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1
ξ Die Steifigkeitsmatrix lautet:

Abb. 13.24 Ansatzfunktionen des Biegebalkenelements mit L = 1


1
1
K = EI w w T Ldξ
Alle anderen Randwerte sind gleich Null. Somit lässt 2
0
sich die Verformung des Elements durch w(ξ, t) = ⎛ ⎞
6 3L −6 3L
∑ Hi · qi beschreiben, wobei EI ⎜ 3L 2L2 −3L L2 ⎟
=2 3⎜ ⎟ (13.52)
q = (wl ϕl wr ϕ r )T L ⎝ −6 −3L 6 −3L ⎠
3L L2 −3L 2L2
die Verschiebungen w und die Neigungen ϕ jeweils am
linken und rechten Elementrand enthält.
Die Elementmatrizen (13.51) und (13.52) gelten allge-
0 1 mein für jedes homogene Biegebalkenelement.
ξ
wl wr Für die Beschreibung der Welle müssen die Massen-
und Steifigkeitsmatrizen für die drei Abschnitte gebil-
det werden. Dabei muss für die Abschnitte 1 und 3 L =
l/4 und für den Mittelabschnitt L = l/2 gesetzt wer-
φl φr
den. Zudem muss für den Mittelabschnitt die größere
Fläche und das größere Trägheitsmoment berücksich-
Abb. 13.25 Randwerte des Biegebalkens tigt werden.
13.2 Kontinuumsschwingungen 337

Das Zahnrad wird durch Anwendung von (13.47) zum Tab. 13.4 Eigenfrequenzen bei globalen und lokalen Ansatzfunktionen
rechten Rand des Elements 1 hinzugefügt. Mit ξ = 1 Eigenfrequenz f i in Hz

Technische Mechanik
verbleibt nur H3 (1) = 1, somit gilt w = (0, 0, 1, 0)T . Die Nummer Globale ASF Lokale ASF
daraus ermittelte zusätzliche 4 × 4 Massenmatrix ent- 1 137,272 126,757
hält M33 = m, ansonsten nur Nullelemente. Des weite- 2 464,407 421,628
ren gilt an dieser Stelle w = (0, 0, 0, 1)T ; somit enthält 3 1138,460 888,722
die zusätzliche Massenmatrix aus der Neigung gemäß 4 2195,478 2502,540
(13.48) nur M44 = J, ansonsten nur Nullelemente. 5 5398,459
6 7544,934
Für die Zusammensetzung der Elementmatrizen zu
den Systemmatrizen sind die Randbedingungen zwi-
schen den Elementen zu beachten. So muss z. B. am
Aus dem Ansatz mit 4 globalen Ansatzfunktionen fol-
Übergang von Element 1 zu Element 2 bei x = l/4
gen 4 Eigenfrequenzen, die lokalen Ansatzfunktionen
berücksichtigt werden, dass w1l = w2r und ϕ1r = ϕ2l
mit 6 verbliebenen Freiheitsgraden liefern 6 Frequen-
gelten muss. Vergleichbares gilt für den Übergang von zen. Da es sich bei den vorgestellten Verfahren um
Element 2 zu Element 3 bei x = 3l/4. Des Weiteren Näherungslösungen handelt, weisen sie deutliche Un-
müssen die Randbedingungen an den Lagerstellen mit terschiede in der Lösung auf. Zudem nimmt die Lö-
w1l = 0 und w3r = 0 einbezogen werden. sungsqualität hin zu höheren Frequenzen ab.
Die Assemblierung der Massenmatrix aus den Ele-
mentmatrizen ist in Abb. 13.26 dargestellt.

w1l
φ1l
M1
w1r w2l m
φ1r φ2l J
M2
w2r w3l
φ2r φ3l 1. EF glob.
M3 0 2. EF glob.
w3r
3. EF glob.
φ3r 1. EF lok.
2. EF lok.
Abb. 13.26 Assemblierung der Massenmatrix aus den Elementmatrizen 3. EF lok.

0 0,2 0,6 0,8


Länge x in m
Die Teilmatrizen der Elemente M1 bis M3 werden zu ei-
ner Gesamtmatrix aufaddiert, wobei die Matrizen bei
Abb. 13.27 Eigenformen der Welle
den gleichzusetzenden Koordinaten überlappen. Die
Einträge, die aus m und J des Zahnrads folgen, sind
zusätzlich gekennzeichnet. Zuletzt werden die Spalten
und Zeilen 1 und 7, die zu den Koordinaten w1l = 0 Die ersten beiden Eigenformen stimmen für beide Her-
und w3r = 0 gehören, gestrichen (graue Balken). Es angehensweisen gut überein, was die Glaubwürdigkeit
verbleibt eine 6 × 6 Matrix. Der Zusammenbau der der zugehörigen Eigenfrequenzen unterstreicht. Be-
Steifigkeitsmatrix erfolgt analog. reits die dritte Eigenform ist nicht mehr als brauchbar
zu bezeichnen, die große Diskrepanz der Eigenfre-
quenzen spiegelt sich im Unterschied der Eigenformen
Vergleich der Verfahren Die Ergebnisse beider Verfah- wider. Eine Verbesserung des Ergebnisses wäre durch
ren sollen an einem Zahlenbeispiel verglichen wer- mehr globale Ansatzfunktionen oder eine feinere Auf-
den. Die Länge der Welle aus Stahl (ρ = 7800 kg/m3 , teilung der Welle in mehr finite Elemente zu erreichen.
E = 210 GPa) beträgt l = 0,8 m, ihr Durchmesser ist
D = 0,05 m, woraus ρA = 15,32 kg/m und EI = 6,4 · Die Schwingformen der Welle sind asymmetrisch, das
schwere außermittige Zahnrad bei x = 0, 2 m verän-
104 N m2 folgen. Das Zahnrad ist eine Stahlscheibe mit
dert das Schwingungsverhalten. Die Krümmung der
dem Durchmesser 0,3 m und der Breite 0,04 m, woraus
Welle ist im mittleren Bereich geringer, da hier die Stei-
sich m = 22,054 kg und J = 0,124 kg m2 ergeben.
figkeit der Welle aufgrund des größeren Durchmessers
Für die Eigenwerte ωi gemäß (13.3) bzw. die Eigenfre- deutlich höher ist. Das ist besonders bei der 2. Eigen-
quenzen fi ergibt sich form gut erkennbar.
338 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden

Weiterführende Literatur
Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils
Technische Mechanik

Technische Mechanik befindet sich am Ende von Kap. 9.

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 13.1 Der Term auf der Hauptdiagonalen in Zeile des Additionstheorems und ω = κc zunächst zu:
i lautet dann di−1 + di + dabs,i .
sin κx cos ωt − cos κx sin ωt + sin κx cos ωt + cos κx sin ωt,
Antwort 13.2 Nein. Die Umkehrung gilt nicht. Das wird
z. B. dadurch klar, dass die Zahl der erforderlichen Para- was sich zu 2 sin κx cos ωt zusammenfassen lässt. Der
meter verglichen wird. Ein System mit n Freiheitsgraden Teilterm 2 sin κx sin ωt ergibt sich analog durch die Über-
hat bei Rayleigh-Dämpfung nur die zwei Dämpfungspa- lagerung von zwei Kosinuswellen.
rameter dM und dK , jedoch n frei wählbare Dämpfungspa-
rameter Di . Rayleigh-Dämpfung ist somit ein Spezialfall
Antwort 13.5 Für die erste Eigenfrequenz
 eines Balkens
der modalen Dämpfung.
gilt gemäß Gleichung (13.42) ω1 = ρA κ1 . Somit genügt
EI 2

Antwort 13.3 Die Eigenform ist eine Bewegung, bei der es, für zwei identische Balken bei unterschiedlichen La-
sich die Freiheitsgrade genau gegenläufig bewegen. Wenn gerungen die Werte von κ1 l in Tab. 13.2 zu vergleichen.
beide Freiheitsgrade gleichsinnig in Phase angeregt wer- Für den Fall frei/frei ergibt sich κ1 l = 4,73004 und für den
den, lautet der Gewichtsvektor f̂ = (1, 1)T . Damit ist das Fall gelenkig/gelenkig κ1 l = π. Das Verhältnis der bei-
System nicht anregbar. Es gilt yT · f̂ = 0. den κ-Werte beträgt ca. 1,5. Da der Faktor κ quadratisch
in die Eigenkreisfrequenz eingeht, ist die erste Eigenfre-
Antwort 13.4 Die Überlagerung von zwei Sinuswellen quenz des frei/frei gelagerten Balkens damit ca. 2,25 mal
sin [κ (x − ct)] + sin [κ (x + ct)] führt durch Anwendung so hoch wie die des gelenkig gelagerten Balkens.
Aufgaben 339

Aufgaben

Technische Mechanik
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

13.1 •• Ein vereinfachtes Aufzugmodell besteht aus Reaktion auf harmonische Anteile des Antriebsmoments
der Treibscheibe mit der Trägheit J, dem Radius R, der darstellt.
Kabine, dem Gegengewicht sowie einem Seil. An der
Scheibe wirkt das Antriebsmoment M(t). Für geringe Ge- Hinweis: Führen Sie eine neue Koordinate yT = Rϕ ein
bäudehöhen mit kurzen, leichten Seilen können die freien und entfernen damit R aus der Bewegungsgleichung.
Seilstrecken durch zwei masselose Federn modelliert wer-
Resultat: Eigenkreisfreqzenzen:
den, deren Steifigkeiten aber von der jeweiligen Länge
und damit von der Fahrposition des Aufzugs abhängen.  
c (2 + κ )c
ω1 = 0, ω2 = , ω3 = .
m κm
J
R φ Eigenvektoren:
M(t) ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞
1 0 − κ2
y1 = ⎝−1⎠ , y2 = ⎝1⎠ , y3 = ⎝ −1 ⎠ .
1 1 1

c1 c2 Grafische Darstellung der Eigenvektoren. Schwarz ist die


unverformte Konfiguration, rot die Auslenkung der Ei-
Kabine Gegengewicht genform.

m m
yK yG

Gleichgewichtslage

Mit der vereinfachenden Annahme, dass Kabine und


Gegengewicht die gleiche Masse m besitzen, spielt die
Schwerkraft keine Rolle und die Bewegungsgleichung für
die Freiheitsgrade ϕ, yK und yG lautet:
⎛ ⎞⎛ ⎞
J 0 0 ϕ̈
⎝0 m 0 ⎠ ⎝ÿK ⎠
0 0 m ÿG
⎛ ⎞⎛ ⎞ ⎛ ⎞
(c1 + c2 )R2 c1 R −c2 R ϕ M ( t)
+⎝ c1 R c1 0 ⎠ ⎝ yK ⎠ = ⎝ 0 ⎠ .
−c2 R 0 c2 yG 0 Amplitudengang:

ÿˆ K 1 1 − η2
Zu untersuchen ist das Schwingverhalten des stehenden = .
Aufzugs. Bestimmen Sie die Eigenkreisfrequenzen und M̂ Rm κη 4 − 2(1 + κ )η 2 + (2 + κ )
Eigenformen für den Sonderfall J = κmR2 und c1 = c2 =
c. Stellen Sie die Eigenformen grafisch dar. Bestimmen Sie 13.2 • • • Hub- und Nickschwingungen eines Kfz auf
weiter den Amplitudengang |ÿˆ K /M̂|, der die vertikale Ka- welliger Fahrbahn können mit einem Halbfahrzeug-
binenbeschleunigung, ein wichtiges Komfortmerkmal, als Modell untersucht werden.
340 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden

als harmonische Funktionen vom Ort x und der Fahrge-


schwindigkeit v ausgedrückt werden. Sie unterscheiden
Technische Mechanik

sich nur um eine Phasendifferenz, die von der Wellenlän-


ge λ und dem halben Radstand l abhängt. Für bestimmte
φ Verhältnisse von v, l und λ wird jeweils eine der Kompo-
S nenten von q̂ zu null.

m, JS Resultat: Für Fall a, λa = 4l:


c2 
λ c21 + c22
vay = ,
c1 y π 2m(c1 + c2 )
2l 
λ c1 + c2
y vaϕ = .
π 2m

Für Fall b, λb = 2l:


x
s1 (t) s2 (t)
vby = vaϕ und vbϕ = vay

Der Wagenkasten ist ein starrer Körper mit den zwei 13.3 • Die schwingende Länge der Saiten (Mensur)
Freiheitsgraden Vertikalhub y und Nickwinkel ϕ. In einer typischen E-Gitarre misst l = 0,628 m. Die tiefe A-
x-Richtung bewegt sich das Fahrzeug mit konstanter Saite hat eine Längendichte von ρl = 5,12 · 10−3 kg/m.
Geschwindigkeit x = vt. Der Radstand beträgt 2l, der Welche Zugkraft F0 muss in der Saite wirken, damit der
Schwerpunkt liegt in der Mitte zwischen den Rädern. Grundton die Frequenz f = 110 Hz hat? Wie groß ist die
Das Fahrzeug hat die Masse m und das Trägheitsmoment Wellenausbreitungsgeschwindigkeit c in der Saite?
JS = ml2 . Die Steifigkeiten der Radaufhängungen betra-
Hinweis: Formen Sie (13.32) geeignet um.
gen c1 und c2 . Das Fahrzeug soll hier vereinfacht ohne
Dämpfung und mit linearisierter Kinematik bei kleinen Resultat: Für die notwendige Zugkraft und die zugehöri-
Verdrehungen von ϕ untersucht werden. ge die Ausbreitungsgeschwindigkeit ergibt sich
Der Koodinatenvektor q = (y, ϕ )T fasst die Vertikalaus- F0 = 97,73 N und c = 138,16
m
.
lenkung des Schwerpunktes und die Verdrehung zusam- s
men. Die Massen- und Steifigkeitsmatrix der Bewegungs-
gleichung M q̈ + Kq = F lauten: 13.4 •• Die Saite eines Musikinstruments mit der
Länge l und der Wellenausbreitungsgeschwindigkeit c
   
m 0 c1 + c2 l (c2 − c1 ) wird in der Mitte angezupft und losgelassen. Die Saite hat
M= K= .
0 JS l (c2 − c1 ) l2 (c2 + c1 ) unmittelbar vor dem Loslassen eine symmetrische „Dach-
form“ mit der Maximalauslenkung h in der Mitte. Welche
Moden werden durch diese Anfangsbedingungen ange-
Der Lastvektor folgt aus der Fusspunkterregung zu: regt und welche Amplitude haben sie jeweils?
  Hinweis: Stellen Sie die Anfangsform als Funktion w0 (x)
c1 s1 (t) + c2 s2 (t)
F ( t) = . dar und werten Sie die Integrale gemäß (13.34) aus. Es
−l [c2 s2 (t) − c1 s1 (t)]
empfiehlt sich w0 (x) abschnittsweise von 0 . . . 2l und 2l . . . l
zu definieren und entsprechende Teilintegrale zu bilden
Für die Fahrbahn soll analog zum Beispiel des Fahrzeugs und zu summieren.
auf Schlechtwegstrecke im Kap. 12 eine Strecke in Sinus-
form der Wellenlänge λ angenommen werden. Resultat: Für die geraden Koeffizienten gilt A2 = A4 =
A6 = . . . = 0. Für die ungeraden Koeffizienten gilt:
Berechnen Sie für die zwei Fälle der Wellenlängen der 
Straße λa = 4l und λb = 2l jeweils jene Fahrgeschwindig- 8h + für i = 1, 5, 9, . . .
keiten vy und v ϕ , bei denen vom Fahrzeug ausschließlich Ai = ± mit
(iπ )2 − für i = 3, 7, 11, . . .
Hub- bzw. Nickbewegungen ausgeführt werden.

Hinweis: Berechnen Sie den Frequenzgang von q̂ gemäß


13.5 •• Ein Satellit besteht aus einem Zentralkörper
(13.13). Formen sie F (t) in den Gewichtsvektor f̂ um. Die mit der Masse m = 500 kg sowie zwei symmetrisch an-
Anregungen s1 (t) und s2 (t) sind dabei nicht unabhän- gebrachten Solarpanelen, die als homogene Biegebalken
gig. Beide können zunächst wie im Beispiel im Kap. 12 betrachtet werden können.
Aufgaben 341

Auslenkung des Satellitenkörpers zur Panelspitze bei die-


ser Eigenform.

Technische Mechanik
Hinweis: Betrachten Sie das Problem als durchgehenden,
komogenen Biegebalken mit einer Punktmasse in der Mit-
te und nutzen Sie die Symmetrie aus.
Die Panele haben die Länge l = 20 m, die Masse ρAl = Resultat:
50 kg und die Biegesteifigkeit EI = 100.000 N m2 . Berech-
nen Sie die erste Eigenkreisfrequenz und die zugehörige w(l)
ω1 = 1,8552 s−1 , = −14,3643.
symmetrische Eigenform. Ermitteln Sie das Verhältnis der w (0 )
Werkstoffkunde Teil
II

Werkstoffkunde
Inhaltsverzeichnis

14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus . 345


15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen . . . . . . . . 369
16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen . . . . 527

343
Die Welt der Werkstoffe –
der Grundbaukasten des
14
Maschinenbaus

Werkstoffkunde
14.1 Werkstoffe für die Produkt- und Bauteilentwicklung . . . . . . . . . . 346
14.2 Werkstoffanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
14.3 Werkstoffhauptgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
14.4 Werkstoffe im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 345


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_14
346 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus

Neue Materialien haben die Kulturgeschichte schon immer nach Vor-


ne gebracht. Mit der Eisen- und Bronzezeit sind ganze Abschnitte
der Ur- und Frühgeschichte nach einer bestimmten Werkstoffgrup-
pe benannt. Auch heute sind es Werkstoffe, die für neue Technolo-
gien und Entwicklungen entscheidend sind. Silizium ist Grundlage wirtschaftlicher und
der Halbleitertechnologie, und vor allem Kunststoffe, die erst in der gesellschaftlicher Nutzen
Mitte des 20. Jahrhunderts entdeckt wurden, sind aus sehr vielen
technischen Produkten nicht mehr wegzudenken. Heute kennen wir
mehr als 100.000 Konstruktions- und Funktionswerkstoffe, und fast
täglich werden neue entdeckt oder patentiert. Dazu gehören vor al- Bauteil-
entwicklung Konstruktion und
lem die gängigen metallischen Werkstoffe, wie Stahl, Aluminium, Modellierung
Magnesium aber auch die ganze Bandbreite der Polymere und der
Werkstoffkunde

technischen Keramiken. Andere Werkstoffe, wie Holz, Beton oder Werkstoffauswahl-


Stein sind als Naturmaterialien für den Maschinenbau weniger wich- und prüfung
tig – im Bereich des Bauingenieurwesens jedoch nicht wegzuden-
ken. Gleichzeitig basieren auch heute noch viele Innovationen auf
werkstoff- und
neuen Werkstoffen. Trotz dieser Vielfalt ist die Welt der Werkstof- formoptimierte Fertigung
fe von einer strengen Systematik geprägt: Es sind zum einen die
verschiedenen Bindungsarten, die es ermöglichen die Werkstoffe in
verschiedene Gruppen – die Werkstoffhauptgruppen – einzuteilen. ökologischer Gebrauch und
Zum anderen ist die innere Struktur, das Gefüge, für die Material- Wiederverwertung
eigenschaften wesentlich verantwortlich. Dieses Gefüge lässt sich
durch verschiedene Methoden gezielt beeinflussen, womit die Ei- Abb. 14.1 Aspekte der Bauteilentwicklung. Bauteilentwicklung erfordert die
genschaften von Werkstoffen auch an bestimmte Anforderungen an- Interaktion der Marktexperten mit den Konstrukteuren, die ihrerseits das Know-
gepasst werden können. Umgekehrt sind die Ingenieurswerkstoffe how der Werkstoff- und Fertigungsfachleute brauchen, die gemeinsam nach öko-
heute wachsenden Ansprüchen ausgesetzt. Geeignete Werkstoffe zu logisch und ökonomisch vertretbaren Lösungen suchen
entwickeln, das Verhalten von Werkstoffen zu verstehen und Werk-
stoffe für bestimmte Anwendungen richtig auszuwählen, gehört zu
den Kernkompetenzen von Maschinenbauingenieuren. zeug am Markt verfügbar sind, durch Schweißen mitein-
ander zu einer Rahmenstruktur verbunden wurden. CFK-
Fahrradrahmen hingegen werden integral gefertigt, d. h.,
es finden die Formgebung und der Fügeprozess in einem
14.1 Werkstoffe für die Produkt- Schritt statt. Üblicherweise werden CFK-Halbzeuge um
eine Kernstruktur gewickelt, die die Form des Rahmens
und Bauteilentwicklung vorgibt und im Anschluss wieder entfernt wird. Die ver-
stärkenden Kohlenstofffasern können so an die spätere Be-
Die Auswahl geeigneter Werkstoffe spielt eine Schlüs- lastung angepasst über den gesamten Rahmen gewickelt
selrolle im Produktentstehungsprozess. Werkstoff und werden, sodass eventuelle Schwachstellen durch nachge-
Fertigungsverfahren stehen naturgemäß in einem direk- schaltete Fügeprozesse wie Schweißen oder Kleben ent-
ten Zusammenhang und gemeinsam beeinflussen sie die fallen. Die beiden Fahrradrahmenkonzepte unterscheiden
Möglichkeiten und Grenzen bei der funktionsgerechten sich hinsichtlich mehrerer Aspekte; alle wesentlichen Un-
Gestaltung und Auslegung von Bauteilen und Systemen. terschiede sind auf die eine oder andere Weise durch das
Diese Wechselbeziehungen sind in Abb. 14.1 schematisch Zusammenspiel aus Werkstoffauswahl, Design und Fer-
dargestellt. tigbarkeit begründet oder eng mit diesem verknüpft. 

Frage 14.1
Beispiel: Werkstoffauswahl, Gestaltung, Fertigung Welche Werkstoffe werden heute in Fahrradrahmen ein-
Die Zusammenhänge zwischen Werkstoffauswahl, Ge- gesetzt? Was sind Ihre spezifischen Vorteile?
staltung und Fertigung lassen sich an verschiedenen tech-
nischen Produkten aufzeigen. Ein einfaches Beispiel sind
Fahrradrahmen. Sollen diese besonders leicht sein, kom-
men neben Aluminium- oder Titanrahmen auch kohlen-
stofffaserverstärkte Kunststoffe (CFK) zur Anwendung.
14.2 Werkstoffanforderungen
In Abb. 14.2 ist ein Fahrradrahmen aus einer hochfesten
Aluminiumlegierung im Vergleich zu einem CFK-Rahmen Im modernen Maschinenbau findet eine breite Palette
dargestellt. Der Aluminiumrahmen wurde durch Fügen von Werkstoffen Verwendung. Die Werkstoffauswahl ori-
gefertigt, d. h., dass prismatische Rohrstücke, die als Halb- entiert sich in den seltensten Fällen an einer einzigen
14.2 Werkstoffanforderungen 347

a b

Werkstoffkunde
Abb. 14.2 Auswirkung der Werkstoffwahl auf Gestalt und Dimensionierung am Beispiel des Fahrradrahmens (siehe Beispiel in Abschn. 15.1); a Aluminiumlegie-
rung, prismatische Rohre, Fügung durch Schweißen (© nerthuz – Fotolia.com); b Kohlenstoffaser/Epoxidharz-Faserverbundwerkstoff, integrales Fertigungsverfahren

Anforderung, sondern an einem Anforderungsprofil, zu


dem das Eigenschaftsprofil des Werkstoffes hinreichend
gut passen muss. Dies wird im Folgenden anhand des
Automobilantriebsstranges erläutert, der in diesem Lehr-
buch als Leitbeispiel dient. Der Antriebstrang setzt sich
aus mehreren Komponenten zusammen, an die sehr un-
terschiedliche Anforderungen gestellt werden. Vier Kom-
ponenten mit Ihrem Anforderungsprofil und gängigen
Grundstähle
Werkstofflösungen werden im Folgenden vorgestellt. An- ultra-höchstfest
9,1% 30,8%
höchstfest
schließend werden mit der Fahrzeugkarosserie und ei- 3,3%
nem Rotorblatt einer Windkraftturbine zwei weitere An- höher fest
12,3%
wendungsfälle für Werkstoffe gezeigt, aus denen sich ein
a hochfest
Anforderungsprofil ableiten lässt. b 44,5%

Die Karosserie trägt das Fahrzeug

Die Karosserie bezeichnet den Aufbau eines Fahrzeugs.


Dabei gibt es verschiedene konstruktive Konzepte, um
diesen Aufbau zu realisieren. Eine Möglichkeit ist die Ver-
wendung eines sogenannten Spaceframes – einer Trag-
werkstruktur (Abb. 14.3), die z. B. aus geschlossenen
Hohlprofilen gefertigt sein kann, die direkt miteinan-
der verbunden sind. Die Karosserie ist ein wesentlicher
Teil des Fahrzeugs und trägt einen dementsprechend c
großen Teil zum Fahrzeuggewicht bei. Daher zielen die
Leichtbaubestrebungen im Zusammenhang mit der Ver- Abb. 14.3 Leichtbau-Karosserien; a, b Einsatz hochfester und höchstfester
besserung der Energieeffizienz und des Umweltschutzes Stahlsorten für selbsttragende Karosserien; c Aluminium-Space-Frame
insbesondere auf die Reduktion des Karosseriegewichtes.
Vor allem bei Elektrofahrzeugen ist diese Gewichtsreduk-
tion notwendig, da die Batterien einen hohen zusätzlichen digkeit besitzen, die zusätzlich durch Beschichtungen
Gewichtsbeitrag liefern. Trotz des angestrebten geringen (Lacke) verbessert wird. Für eine kostengünstige Ferti-
Gewichts der Karosserie soll diese eine hohe Steifigkeit gung – es handelt sich ja um Bauteile mit mittleren bis
und Festigkeit besitzen und eine hohe Crashsicherheit großen Stückzahlen – sollten eine leichte Verarbeitbarkeit
gewährleisten. Neben diesen mechanischen Anforderun- und ein einfaches Fügen (z. B. durch Schweißen) möglich
gen müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden: Die sein. Während des Lebenszyklusses spielt die Repara-
Fahrzeugkarosserie ist verschiedenen Umwelteinflüssen turfähigkeit eine große Rolle und dann schlussendlich
ausgesetzt und muss daher eine hohe Korrosionsbestän- auch die Rezyklierbarkeit. Alle diese Faktoren haben da-
348 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus

Leitbeispiel Antriebsstrang
Werkstoffe

Unterschiedliche Einsatzgebiete von Werkstoffen er- b) Kurbelwellengehäuse Das Kurbelwellengehäuse


fordern angepasste Eigenschaftsprofile. In den folgen- (Abb. 14.5) muss hohen Brennraumtemperaturen
den Abschnitten ist anhand von Beispielen gezeigt, (bis ca. 900 °C) und Innendrücken (bis ca. 50 bar)
Werkstoffkunde

welche Werkstoffanforderungen in der Praxis auftreten standhalten und dennoch möglichst leicht sein, die
können und welche Werkstoffe diesen Anforderungen Wärmeabfuhr gut ermöglichen, damit die Zylinder-
gewachsen sind. wandtemperatur unter 250 °C bleibt, und zugleich
die Betriebsgeräusche dämmen. Es soll zudem che-
misch beständig gegenüber alle Umgebungsmedien
a) Turbolader-Rotor Ein Turbolader wird mittels ei-
(Kraftstoff, Öl, Kühlwasser, Spritzwasser) sein. An den
ner Turbine (Abb. 14.4) angetrieben, die den Abgas-
Zylinderlaufflächen wird zusätzlich hohe Verschleiß-
strom nutzt. Dabei können Abgastemperaturen von
beständigkeit benötigt, und schließlich soll es trotz
bis zu 1000 °C auftreten. Dazu sind die Motorabgase
komplexer Formgebung in Großserie kostengünstig
wasserdampfhaltig und chemisch aggressiv, weshalb
gefertigt werden können. Alle diese Anforderungen
auch bei diesen hohen Temperaturen eine ausreichen-
werden von Gusseisen und von bestimmten Alumini-
de Korrosionsbeständigkeit gegeben sein muss. Die
umlegierungen erfüllt. Kurbelwellengehäuse werden
hohen Rotationsgeschwindigkeiten erfordern ein mög-
aus diesen Werkstoffen durch Gießen hergestellt und
lichst geringes Gewicht, damit die Fliehkräfte nicht
durch zerspanende Verfahren (Bohren, Fräsen, Honen,
zu hoch werden, die Turbinenform ist komplex. Vor
Schleifen etc.) nachbearbeitet, um die erforderlichen
allem wegen der geforderten Hochtemperaturbestän-
Maßhaltigkeiten und Oberflächenqualitäten zu ge-
digkeit sind diese Abgasturboladerturbinen ein Ein-
währleisten.
satzgebiet technischer Keramik (z. B. Siliziumnitrid),
intermetallischer Phasen (z. B. FeAl) oder Hochtem-
peraturmetalllegierungen (Nickelbasis-Superlegierun-
gen). Zur Fertigung werden vor allem bei Keramiken
pulvermetallurgische Fertigungsrouten verwendet, die
eine komplexe Formgebung ermöglichen, ohne dass
man den Werkstoff in den schmelzflüssigen Zustand
überführen muss. Bei intermetallischen Phasen und
Metallen ist Gießen üblich. Diese Bauteile werden in
b
relativ kleinen Serien hergestellt, wodurch die Wahl re-
lativ aufwendiger Fertigungsverfahren wirtschaftlich Abb. 14.5 Kurbelgehäuse. Das größte und schwerste Bauteil eines Otto-
sinnvoll sein kann. oder Diesel-Verbrennungsmotors ist das Kurbelwellengehäuse, in dem inner-
halb der Zylinder die Verbrennung des Kraftstoffes stattfindet. Es besteht aus
einer Aluminiumgusslegierung

a c) Ölwanne Eine Ölwanne (Abb. 14.6) muss leicht, che-


misch beständig gegenüber Öl und dabei alterungs-
und temperaturbeständig (−40 bis +80 °C) sein, zu-
Abb. 14.4 Turbolader mit Rotor. Ein Turbolader dient der Leistungs- bzw. gleich sollte die Ölwanne in ihrer geometrischen Kom-
Effizienzsteigerung von Verbrennungsmotoren und ist einem komplexen An- plexität leicht und kostengünstig herstellbar sein. Dies
forderungsprofil ausgesetzt. Der Rotor besteht aus Siliziumnitrid oder einer wird von einem thermoplastischen Kunststoff sehr
Nickelbasislegierung gut erfüllt. Dabei muss jedoch bei der Auswahl vor
14.2 Werkstoffanforderungen 349

allem auf die Temperaturbeständigkeit geachtet wer- sich um Standardbauteile handelt, werden Zahnräder
den, da Thermoplaste bei hohen Temperaturen erwei- in großen Serien produziert. Dabei ist vor allem die
chen. Gleichzeitig ermöglicht jedoch das Spritzgießen hohe Präzision bei einer großen Stückzahl eine ferti-
die kostengünstige Großserienfertigung solcher Öl- gungstechnische Herausforderung. Das spanende Her-
wannen. Um die Festigkeit zu steigern, können dem ausarbeiten der Zähne ist Stand der Technik, ebenso
Kunststoff Fasern zugesetzt werden. Solche Polymer- wie eine endkonturnahe Fertigung durch Spritzgießen
matrixverbundwerkstoffe sind dann mechanisch stär- (v. a. bei Kunststoffzahnrädern) oder durch pulverme-
ker belastbar. tallurgische Verfahren. Sofern die mechanischen Be-
anspruchungen nicht allzu hoch sind, können Kunst-
stoffe verwendet werden, wobei hier vor allem Hoch-
leistungspolymere, wie Polyoxymethylen (POM), zum
Einsatz kommen. Bei metallischen Getriebezahnrädern

Werkstoffkunde
werden bei hohen Beanspruchungen Stähle gewählt,
die durch Einsatzhärten, d. h. dem gezielten Einlagern
von härtesteigernderm Kohlenstoff in den Zahnflan-
ken, zusätzlich in ihrer Verschleißfestigkeit verbessert
werden. Ein komplettes Härten des Zahnrades samt
c
Zahnfuß und -kern ist nicht sinnvoll, da die zyklische
Abb. 14.6 Ölwanne. Die Ölwanne aus Polypropylen ist ein Bauteil, das im
Beanspruchung am Zahnfuß durch ein hartes, sprödes
Vergleich zu den bereits genannten Motorenbauteilen geringeren Tempera- Material nicht gut ertragen wird. Daher müssen die Ei-
turbelastungen ausgesetzt ist, aber dennoch eine komplexer Geometrie hat genschaften lokal gezielt auf den jeweils herrschenden
Lastfall (Verschleiß an der Flanke, Biegeschwingung
am Fuß) angepasst werden.
d) Zahnrad Zahnräder sind Standardelemente in me-
chanischen Konstruktionen wie Getrieben oder Mo-
toren (Abb. 14.7). Um deren Funktion lange zu ge-
währleisten, müssen Zahnräder präzise gefertigt sein
und vor allem eine lange Lebensdauer besitzen. Dies
bezieht sich vor allem auf einen möglichst geringen
Verschleiß an den Zahnflanken, wo sich die Zahn-
räder im Eingriff mit den gepaarten Bauelementen
wie anderen Zahnrädern oder Zahnstangen befinden.
Gleichzeitig wird durch die mechanische Belastung d
im Betrieb der Zahnfuß am Übergang zum Kern des
Zahnrades zyklisch unter Biegung beansprucht. Auch Abb. 14.7 Zahnrad als Getriebebauteil. Das Getriebe ist ebenfalls ein
Bauteil des Antriebsstranges, welches jedoch vergleichsweise geringen Be-
hier wird häufig auf eine gewichtsoptimierte Ausfüh-
lastungen ausgesetzt ist. Durch die komplexen mechanischen Vorgänge sind
rung geachtet, weshalb vor allem große Zahnräder hier jedoch Aspekte wie der Verschleiß, die Lebensdauer und die Präzision
Bohrungen im Zahnkern aufweisen, um in wenig be- wichtig für die Wahl des Werkstoffes. Die Zahnräder sind daher aus oberflä-
anspruchten Bereichen Material zu entfernen. Da es chengehärtetem Stahl

zu geführt, dass bis heute vor allem Metalle in Fahr- Rotorblatt einer Windkraftanlage ist großen
zeugkarosserien eingesetzt werden. Im Speziellen sind
Belastungen ausgesetzt
dies im Wesentlichen aushärtbare Aluminiumlegierungen
und auch hochfeste Stähle. Für die Blechbeplankung der
Karosserie (Motorhauben, Türen, Heckdeckel) kommen Moderne Windkraftanlagen haben eine enorme Größe
jedoch auch niedrigfeste Stähle und Aluminiumlegierun- (Abb. 14.8), da eine große Windkraftanlage aufgrund von
gen zur Anwendung, die ein gutes Umformvermögen Einsparungen in der Infrastruktur (weniger Masten, we-
besitzen. Werden für diese Anwendungen primär Knetle- niger Versorgungsleitungen, insgesamt geringere Anzahl
gierungen verwendet, gibt es gerade im Spaceframe heute zu wartender Anlagen) effizienter ist als mehrere kleine.
auch Fahrzeugkonzepte mit einem hohen Anteil an Guss- Das Rotorblatt ist im Betrieb hohen mechanischen Be-
bauteilen. Wachsende Bedeutung kommt den Verbund- anspruchungen ausgesetzt: Dies ist zum einen bedingt
werkstoffen zu: diese ermöglichen den Bau sehr leichter durch die Windlasten, zum anderen durch die hohen
und steifer Strukturen, jedoch müssen hierzu die großse- Fliehkräfte, die mit steigender Anlagengröße (d. h. stei-
rienfähigen Fertigungsverfahren und Reparaturkonzepte gendem Rotordurchmesser) sehr stark anwachsen. Er-
noch weiterentwickelt werden. schwerend kommt hinzu, dass diese Lasten nicht nur
350 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus

noch mit Holz – vor allem dem leichten Balsaholz – zu


leistungsfähigen Werkstoffverbunden kombiniert. Auch
konstruktive Aspekte helfen dabei das Gewicht der Struk-
tur zu reduzieren, indem die Flügel hohl ausgeführt
werden, was die Biegesteifigkeit bei gegebenem Gewicht
noch zusätzlich erhöht.

Frage 14.2
Definieren Sie das Anforderungsprofil, dass sich für einen
Werkstoff ergibt, der für LEGO-Bausteine eingesetzt wer-
den soll.
Werkstoffkunde

14.3 Werkstoffhauptgruppen
Abb. 14.8 Rotorblatt einer Windkraftanlage
Die Zahl der heute verfügbaren Werkstoffe ist beträcht-
lich, und täglich kommen neue hinzu. Die Werkstof-
statisch, sondern zyklisch auftreten, und solche zyklische fe können in drei große Hauptgruppen eingeteilt wer-
Lasten auf Dauer zu einer Materialermüdung führen kön- den, die für den Maschinenbau große Relevanz besitzen
nen. Um dies zu verhindern, müssen solche Anlagen sehr (Abb. 14.9):
robust sein und auch hohen Sicherheitsanforderungen
genügen. Gleichzeitig erfordert auch die einfache Mon- 1. Metalle und Legierungen,
tage solcher Anlagen die Verwendung möglichst leichter 2. Keramiken und keramische Gläser und
und gleichzeitig steifer Materialien. Da es sich um ver- 3. Polymere.
gleichsweise kleine Serien handelt, werden hier in der
Regel zumindest im Bereich der Rotorblätter Faserver- Neben diesen technischen Werkstoffen, bilden die Natur-
bundwerkstoffe eingesetzt. Diese glasfaser- oder kohlen- stoffe eine weitere Werkstoffhauptgruppe, die als Voll-
stofffaserverstärkten Kunststoffe werden zudem häufig werkstoffe im Maschinenbau weniger Relevanz besitzen.

Abb. 14.9 Werkstoffe können


in vier Hauptgruppen eingeteilt
werden: Metalle, Keramiken/Gläser,
Polymere und Hybride (Verbund-
werkstoffe, zelluläre Materialien
(Schäume), Sandwichstrukturen etc.) Stähle Holz,
Gusseisen Stein
Al-Legierungen Naturstoffe
Metalle CFK, GFK Naturfasern
Cu-Legierungen Verbund- (Flachs, Hanf,
Ni-Legierungen werkstoffe Basalt,
Ti-Leg. keramische Verbund- Baumwolle)
werkstoffe,
MMC
Schaumstoffe Sperrholz
zellulare Metalle Werkstoff-
zellulare verbunde
Werkstoffe Sandwichverbunde,
Keramik- Laminate
schäume
Hybride
(Verbundwerkstoffe, Polyethylen,
Aluminiumoxid Polypropylen,
Siliziumkarbid Werkstoffverbunde und zellulare
Werkstoffe aus mehr als zwei Polyamid (Nylon)
Keramiken, Werkstoffhauptgruppen) Polymere
keram. Gläser Bakelite,
Fensterglas Epoxy,
Pyrex Butyl-Gummi
Neopren
IA Edelgase
1 Schmelzpunkt 26 2
Ordnungszahl (...) Dichte bei Schmelz-bzw. Siedepunkt
H (Gase: Siedepunkt) 1536° Fe He
Atomgewicht (gerundet) + für Diamant
1.01 55.85 Dichte g/cm³ ++ für weißen Phosphor 4.00
-3
0.0899 10 -3- Umwandlungs- 1402° 7.87 Elastizitätsmodul GPa ** für gelben Schwefel 0.1785 10--
1 - 213 -6 -1 -
temperaturen thermische Ausdehnung in 10 K * für tetraedrisch-kovalenten Radius
- 14.0 -
-259.2° - 910° 1.26 Atomradius Å in (10-10 m) -269.7° -
3.75 Kristallstruktur 2.86 Gitterkonstante a in Å -
6.25 - bei 20 °C
} -
IIA Gitterkonstante c in Å IIIA IVA VA VIA VIIA
1s 3d 6 4s 2 1s2
3 4 92 5 6 7 8 9 10
180°
Elektronenkonfiguration 1133°
Li Be U B C N O F Ne
6.94 9.01 238.04 10.81 12.01 14.01 16.00 19.00 20.18
2 + -3 -3 -3 -3
0.534 1.848 772° 19.07 2.34 3.51-- 1.250 10-- 1.429 10-- 1.696 10-- 0.8999 10--
11.5 310 kubisch-flächenzentriert kubisch-primitiv Metalle 205 - - - - - -
46.6 11.5 14.8 2.3 - - - - -
He -195° 1.55 1284° 1.12 665° 1.42 2300° 0.88* 0.77 * -210° 0.70* -218.8° 0.66* -219.6° 0.64* -248.6° -
3.51 2.29 kubisch-raumzentriert tetragonal Halbmetalle - 8.93 - - - - -
- - - 5.06 - - - - -
2s 2s2 hexagonal-dichtgepackt hexagonal Nichtmetalle 6d 7s 2 2s22p 2s2 2p2 2s22p3 2s2 2p4 2s2 2p5 2s22p 6
11 12 13 14 15 16 17 18
Na Mg Diamantstruktur rhomboedrisch trigonal Li Feststoff Al Si P S Cl Ar
22.99 24.31 26.98 28.09 30.97 32.07 35.45 39.95
++ -3 -3
3 98° 0.9712 1.74 orthorhombisch Hg Flüssigkeit 2.70 2.33 1.83-- 2.07** 3.214 10-- 1.784 10--
8.93 44.3 70.5 113 - - - -
72 26 Gas 23.3 - - - - -
Ne -237° 1.90 650° 1.60 Cl 660° 1.43 1423° 1.32 1.28 119° 1.27 -101° 0.99* -189.4° -
4.28 3.20 4.04 5.43 - - - -
- - IIIB IVB VB VIB VIIB VIII IB IIB - - - - - -
3s 3s2 3s23p 3s2 3p2 3s23p3 3s2 3p4 3s2 3p5 3s23p6
19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36
K Ca Sc Ti V Cr 1243° Mn 1536° Fe Co Ni Cu Zn Ga Ge As Se Br Kr
39.10 40.08 44.96 47.88 50.94 52.00 54.94 55.85 58.93 58.69 63.55 65.39 69.72 72.61 74.92 78.96 79.90 83.80
4 -3
0.86 850° 1.55 400° 2.99 1660° 4.507 6.1 7.19 1138° 7.43 1402° 7.87 1495° 8.85 8.90 8.96 7.13 5.91 5.32 5.72 4.79 3.12 3.743 10--
3.53 19.6 - 106 127 186 208 213 204 202 123 92.2 (9.8) - - - - -
83 22 - 10 7.8 - 21 14.0 12 12.5 16.5 - 18 - - - - -
Ar 2.35 1.97 1.62 1.47 1.34 1.27 1.26 1.26 1.25 1.24 1.28 1.38 1.41 1.37 1.39 1.40 1.11 -
5.33 5.56 - 2.95 3.03 2.89 727 8.89 2.86 2.51 3.52 3.61 2.66 - 5.66 4.14 - - -
α
- - - 4.73 - - - - 4.07 - - 4.95 - - - - - -
4s 4s2 3d 4s2 3d 24s2 3d34s 2 3d 54s 3d54s2 3d64s2 3d 74s2 3d84s 2 3d104s 3d104s2 3d104s24p 3d 104s24p2 3d104s2 4p3 3d104s24p4 3d104s2 4p5 3d104s24p 6
37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54
Rb 770° Sr Y Zr Nb Mo Tc Ru Rh Pd Ag Cd In Sn Sb Te I Xe
85.47 87.62 88.91 91.22 92.91 95.94 (98.91) 101.07 102.91 106.42 107.87 112.41 114.82 118.71 121.75 127.60 126.90 131.29
5 -3
1.53 540° 2.60 4.47 1845° 6.49 8.57 10.22 11.49 12.2 12.44 12.02 10.49 8.65 7.31 232° 7.30 6.62 6.24 4.94 5.896 10--
(2.35) 15.7 - 92.2 104 301 407 (432) 379 113 79 50 10.5 54.3 54.9 41.2 - -
90 - - 7.2 7.1 6.5 - 9.8 8.5 11.2 18.7 - 40 - - - - -
Kr 39° 2.48 235° 2.15 1475° 1.80 852° 1.60 2415° 1.46 2600° 1.39 2200° 1.36 1950° 1.34 1966° 1.34 1552° 1.37 961° 1.44 321° 1.54 156.2° 1.66 13° 1.62 630° 1.59 450° 1.60 113,7° 1.28* -111.9° -
5.62 6.09 3.66 3.23 3.30 3.15 2.74 2.70 3.80 3.88 4.08 2.97 4.59 5.82 4.50 4.45 - -
- - 5.81 5.15 - - 4.39 4.27 - - - 5.61 4.94 3.18 - 5.91 - -
14.3

5s 5s2 4d 5s2 4d 25s2 4d45s 4d 55s 4d65s2 4d75s2 4d 85s 4d10 4d105s 4d10 5s2 4d10 5s25p 4d105s25p2 4d105s25p3 4d105s2 5p4 4d105s 25p5 4d105s25p 6
55 56 57 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
Cs Ba La Hf Ta W Re Os Ir Pt Au Hg Tl Pb Bi Po At Rn
132.91 137.33 138.91 178.49 180.95 183.85 186.21 190.20 192.2 195.08 196.97 200.59 204.38 207.20 208.98 (208.98) (209.99) (222.02)
6 1.903 3.5 920° 6.19 2130° 13.09 16.6 19.3 21.04 22.57 22.5 21.45 19.32 13.55 303° 11.85 11.36 9.80 (9.2) - 9.960 10 -3-
(1.47) 12.7 37.5 138 175 388 461 560 528 168 78.7 - 8.0 16.2 31.9 - - -
- 19 5.8 (6.0) 3.6 7.0 6.8 - 6.6 8.94 14.2 - 29 28 - - - -
30° 2.67 710° 2.22 350° 1.87 1310° 1.58 3000° 1.46 3400° 1.39 3160° 1.37 2500° 1.35 2454° 1.36 1773° 1.38 1063° 1.44 -38.9° 1.57 232° 1.71 327° 1.75 271° 1.70 246° 1.76 302° - (-71)° -
Xe - 5.02 3.76 3.20 3.30 3.16 2.76 2.73 3.83 3.92 4.07 3.0 3.45 4.95 4.74 - - -
- - 6.06 5.06 - - 4.46 4.31 - - - - 5.52 - - - - -
6s 6s2 5d 6s2 5d 26s2 5d36s 2 5d 46s2 5d56s2 5d66s2 5d 76s2 5d96s2 5d106s 5d106s2 5d106s26p 5d106s26p2 5d106s26p3 5d106s26p4 5d106s2 6p5 5d106s26p6

Abb. 14.10 Hauptgruppen 1–6 (Insert : Uran aus der 7. Hauptgruppe) des Periodensystem der Elemente. Diese Version enthält zahlreiche für den Werkstoffkundler interessante Zusatzinformationen (©
Hellmut Fischmeister, MPI für Metallforschung, Stuttgart, 1995; mit freundlicher Genehmigung des Urhebers, 12/2013)
Werkstoffhauptgruppen
351

Werkstoffkunde
352 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus

Auf Basis der verschiedenen Werkstoffe können auch zel- besonders hoher Packungsdichte (siehe Abb. 14.15) an
lulare Materialien (Schäume) generiert werden. Durch (in der Regel kubisch flächenzentriert (kfz), hexagonal
Kombination verschiedener Werkstoffe entstehen die ma- dichtest gepackt (hdp) oder kubisch raumzentriert (krz)).
kroskopisch homogenen aber mikroskopisch inhomoge- Wie Abb. 14.11 zeigt, ist die metallische Bindung auch der
nen Verbundwerkstoffe. Entsteht ein makroskopisch in- Grund dafür, dass Metalle im Vergleich zu anderen Werk-
homogener Werkstoff, bei dem die einzelnen Materialien stoffen sehr gut plastisch verformbar sind. Beim Gleiten
deutlich räumlich getrennt angeordnet in makroskopi- der Versetzungen (siehe Vertiefung: Versetzungen und
schen Formen miteinander verbunden werden, wird dies Abschn. 15.6) auf Kristallebenen unter äußerer Schub-
als „Werkstoffverbund“ bezeichnet. Verbundwerkstoffe beanspruchung bleiben die Bindungskräfte erhalten. Der
und Werkstoffverbunde, die aus mehr als zwei Werk- metallische Bindungstyp ermöglicht auch Kristallstruktu-
stofftypen bestehen, werden als „Hybride“ bezeichnet. ren aus unterschiedlichen Atomsorten, ohne dass dabei
Hierzu gehören z. B. die Faserkunststoffverbund-Metall- ein bestimmtes stöchiometrisches Mengenverhältnis ein-
Werkstoffkunde

Laminate. Bei der Fertigung von Hybriden kommen auch gehalten wird. Wie in den nachfolgenden Kapiteln noch
Fügetechnologien zum Einsatz. gezeigt wird, sind solche Substitutionsmischkristalle tech-
nologisch von hohem Interesse, da sie in der Regel fester
Die Einteilung in diese Hauptgruppen orientiert sich
sind als reine Metalle und sich daher besser als Konstruk-
an vorherrschenden chemischen Bindungstypen, der von
tionswerkstoffe eignen. Die Kombination unterschiedli-
der Stellung der beteiligten chemischen Elemente im Pe-
cher metallischer Elemente (d. h. das „Legieren“) kann in
riodensystem (Abb. 14.10) abhängt. Bei Verbundwerkstof-
Verbindung mit gezielten Wärmebehandlungen zu zahl-
fen, Werkstoffverbunden oder Hybriden, die ja aus meh-
reichen anderen Mikrostrukturen und Effekten führen,
reren Materialien der erstgenannten drei Gruppen be-
die sich gezielt für anwendungsgerechte Kombinationen
stehen, treten verschiedene Bindungstypen auf. Dadurch
von Eigenschaften einsetzen lassen. Die Legierungskunde
ist die Kombination von verschiedenen Werkstofftypen
(siehe Kap. 16) ist deshalb eine wichtige Teildisziplin in
zu Hybriden nicht immer einfach und die Frage nach
Materialwissenschaft und Werkstofftechnik. Die Kombi-
den Grenzflächeneigenschaften für Verbunde tritt in den
nation von metallischen und nichtmetallischen Elementen
Vordergrund. Der Bindungstyp hat große Auswirkungen
führt im Allgemeinen zu keramischen Materialien, die
auf die Verarbeitungs- und Gebrauchseigenschaften der
später besprochen werden. In geringen Konzentrationen
Werkstoffe. Im Folgenden werden Metalle, Keramiken
können die besonders kleinen nichtmetallischen Atome
und Polymere unter diesem Blickwinkel betrachtet.
Wasserstoff, Stickstoff, Kohlenstoff und Sauerstoff aber in
Metallgittern auf Zwischengitterplätzen eingebaut wer-
den, ohne dass dadurch die metallische Bindung und
Wie werden die Werkstoffe eingeteilt? der metallische Charakter verloren gehen. Solche Inter-
stitionsmischkristalle (Einlagerungsmischkristalle) haben
ebenfalls eine große Bedeutung in der Werkstoffkunde.
Die Zuordnung der Werkstoffe zu den Werkstoffhaupt- So wird die gesamte Technologie der Stähle maßgeblich
gruppen lässt eine systematische Einteilung der Welt der dadurch geprägt, dass Eisen in zwei unterschiedlichen
Werkstoffe zu. Im Folgenden sind die Werkstoffhaupt- Kristallstrukturen existiert (bei tieferen Temperaturen in
gruppen kurz charakterisiert. der krz Struktur, bei hohen Temperaturen in der kfz Struk-
tur), in denen sich Kohlenstoff unterschiedlich gut löst.
Metalle Die wichtigsten metallischen Konstruktionswerkstoffe
Mehr als drei Viertel aller chemischen Elemente sind Me- (Abb. 15.3) sind die Eisenbasiswerkstoffe (Stähle und
talle. Es handelt sich dabei um alle Elemente, die im Gusseisen), gefolgt von Aluminium-, Kupfer-, Nickel-,
Periodensystem (Abb. 14.10) links und unterhalb einer ge- Magnesium- und Titanlegierungen. Bauteile aus metal-
dachten Linie mit den Elementen B, Si, Ge, Sb, At liegen. lischen Werkstoffen lassen sich hierbei sowohl durch
Metallatome sind elektropositiv, d. h., sie neigen dazu, im urformende (Gießen, Sintern) als auch umformende (Wal-
Kontakt mit anderen Atomen ihre Valenzelektronen abzu- zen, Schmieden, Strangpressen) Verfahren herstellen (sie-
geben. Handelt es sich bei den anderen Atomen ebenfalls he Kap. 30).
um Metalle, kommt es zu einer Aufteilung von Valenz-
elektronen unter allen beteiligten Atomen. Die Valenz- Keramiken
elektronen sind delokalisiert, d. h., sie sind frei beweglich
zwischen den Atomrümpfen. Dieses Elektronengas ist der In Keramiken sind die Atome durch ionische oder kova-
Grund vieler metalltypischer Eigenschaften, wie z. B. der lente Bindungen gebunden. Ionische Bindungen kommen
hohen elektrischen und thermischen Leitfähigkeit, des zu Stande, wenn ein metallisches (z. B. Aluminium) und
Glanzes und der Intransparenz. Die Bindungen zwischen ein nichtmetallisches chemisches Element (z. B. Sauer-
den Atomen sind räumlich ungerichtet. Im festen Zu- stoff) miteinander reagieren. Dabei treten Elektronen von
stand ordnen sich die Atomrümpfe auf Kristallgittern mit den Metallatomen zu den Nichtmetallatomen über, es
14.3 Werkstoffhauptgruppen 353

niedrigen thermischen Ausdehnungskoeffizienten sowie


zu einem hohen Elastizitätsmodul und hoher Festigkeit.
Letzteres scheint der alltäglichen Beobachtung zu wider-
sprechen, dass Keramiken leicht zerbrechlich sind. Dies
ist aber ihrer hohen Sprödigkeit bzw. der geringen Bruch-
zähigkeit geschuldet (siehe Abschn. 15.10).
Neben den mechanischen Eigenschaften ist bei Kerami-
ken vor allem noch die geringe elektrische Leitfähigkeit
erwähnenswert, die im Fehlen von freien Elektronen be-
gründet ist, da die kovalenten und ionischen Bindungen
jeweils die Elektronen bei den Atomrümpfen festhalten.

Werkstoffkunde
Die hohen Schmelzpunkte keramischer Materialien füh-
ren dazu, dass die Keramiken mithilfe der Pulvertech-
nologie (siehe Abschn. 30.2) verarbeitet werden. Hierzu
wird ein keramisches Pulver entweder direkt oder als Teil
einer plastifizierbaren Masse verdichtet und anschließend
gebrannt. Beim hierbei ablaufenden Sintervorgang ver-
Abb. 14.11 Vergleich des plastischen Verformungsvermögens. Bei Metallen binden sich die ursprünglich separaten Teilchen zu einem
bleiben die Bindungskräfte erhalten (hohes Verformungsvermögen), bei Ionen- festen Bauteil. Ausnahme sind hier wiederum die Gläser,
gittern kommen gleichartig geladene Ionen übereinander zu liegen (Sprödbruch) die in der Regel aus dem schmelzflüssigen Zustand her-
aus verarbeitet werden.

entstehen positiv und negativ geladene Ionen. Diese bil-


Polymere
den Kristallstrukturen, in denen sich die positiv und die
negativ geladenen Ionen in allen drei Raumrichtungen Im Gegensatz zu den Metallen und den Keramiken sind
abwechseln. Der zweitgenannte Bindungstyp, die kova- Polymere Werkstoffe organisch-chemischer Natur, wenn-
lenten Bindungen findet man vor allem in sogenannten gleich die häufigsten technisch verwendeten Polymere
Elementkeramiken, die nur aus einer Atomsorte bestehen, keine natürlichen Werkstoffe sind. Bis auf wenige Aus-
wie z. B. Diamant, oder in Keramiken mit vergleichs- nahmen sind Polymere erdölbasiert. Vor dem Hinter-
weise geringen Elektronegativitätsunterschieden. Daher grund der Frage nach der Ressourcenschonung gibt es
zählen auch Siliziumcarbid oder Aluminiumnitrid zu den jedoch inzwischen verstärkt Forschungsaktivitäten, um
kovalent gebundenen Keramiken. Bei einer kovalenten sogenannte Biokunststoffen aus nachwachsenden Roh-
Bindung „teilen sich“ benachbarte Atome gemeinsame stoffen herzustellen.
Elektronen. So bildet sich eine gerichtete Bindung aus,
was dann dreidimensional ebenfalls zur Bildung von ge- Polymere bestehen im Wesentlichen aus den Atomen
ordneten Raumgittern führt. Keramiken sind somit wie Sauerstoff, Wasserstoff und Kohlenstoff. Hinzu kommen
die Metalle in der Regel kristalline Werkstoffe. Eine sehr noch viele andere mögliche Atomsorten, darunter vor
wichtige Ausnahme jedoch bilden die keramischen Glä- allem Halogene, Stickstoff oder Silizium (Silikone). Das
ser, die auch Mineralgläser genannt werden, da auch bei Aufbauprinzip von Polymeren unterscheidet sich grund-
den Metallen (selten) oder bei den Polymeren (häufiger) sätzlich von jenem der Keramiken oder Metalle. In einer
glasartige Strukturen gebildet werden. Polymerisationsreaktion werden aus organischen Vorstu-
fen, den Monomeren, lange Molekülketten mit Millionen
Auch wenn bei technischen Keramiken, wie bei Me- von Atomen gebildet. Diese Molekülketten (Makromo-
tallen, geordnete Kristallgitter entstehen, so unterschei- leküle) bilden dann den Polymerwerkstoff und können
den sich die Eigenschaften hingegen grundsätzlich. Wie dabei regellos vorliegen (amorpher Kunststoff) oder in
in Abb. 14.11 gezeigt, führt eine Ionenbindung zu einem einigen Bereichen auch geordnet vorliegen (teilkristalli-
spröden Versagen. Gleiches gilt bei kovalenten Bindun- ner Kunststoff). Die Eigenschaften der Polymerwerkstoffe
gen, die aufgebrochen werden müssten, um ein Verschie- sind dann nicht allein durch die chemische Zusammen-
ben der Atome zuzulassen. Da ein Aufbrechen der Atom- setzung der Makromoleküle bestimmt, sondern vielmehr
bindungen sehr hohe Energien erfordert, ist dies nicht durch deren Beweglichkeit. Diese wird vor allem be-
einfach möglich. Keramiken sind daher nur bei hohen stimmt durch die Bindung der Molekülketten unterein-
Temperaturen durch Diffusion (siehe Abschn. 15.12) plas- ander. Durch die chemische Verknüpfung herrschen ent-
tisch verformbar. Aus demselben Grund besitzen Kerami- lang der Makromoleküle starke kovalente Bindungen vor.
ken auch sehr hohe Schmelzpunkte, sofern sie überhaupt Zwischen den einzelnen Makromolekülen sind die Bin-
schmelzbar sind und sich nicht bei höheren Temperaturen dungsverhältnisse jedoch unterschiedlich: In Plastome-
zersetzen. Die starken Bindungen führen auch zu einem ren (Thermoplaste) liegen zwischen den Molekülketten
354 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus

Übersicht: Bindungarten

In Festkörpern existieren im Wesentlichen vier Bin- ist, andererseits jedoch die Atomrümpfe entlang von
dungsarten. Drei dieser Bindungsarten beruhen auf Versetzungen leicht aneinander abgleiten können und
dem Prinzip, dass die Atome bestrebt sind, ihre plastische Verformung relativ leicht möglich ist. Der
äußeren Elektronenschalen aufzufüllen, um so eine Elastizitätsmodul eines Materials kann dabei als Feder-
möglichst stabile Elektronenkonfiguration zu erhalten. konstante zwischen den Atomen verstanden werden:
Diese drei Bindungsarten nennt man auch Primär- Ist diese Feder sehr steif (hohe Bindungsenergie) und
bindungen. Die Sekundärbindungen – der vierte Bin- sind viele Federn vorhanden (hohe Bindungsdichte),
dungstyp – beruht auf elektrostatischer Wechselwir- dann bedeutet dies, dass der Elastizitätsmodul sehr
kung zwischen permanenten oder temporären Dipo- hoch ist. Ein wesentlicher Effekt der Metallbindung
Werkstoffkunde

len. Diese Bindungen sind auch im Vergleich zu den ist die elektrische Leitfähigkeit. Durch die hohe Be-
Primärbindungen schwach. Abbildung 14.12 zeigt zu- weglichkeit der Elektronen und dank der fehlenden
sammenfassend einen Überblick über die Bindungs- Zuordnung zu einem bestimmten Atom sind diese
typen und stellt nochmals dar, welche Bindungen in mobil und können sich beim Anlegen eines elektri-
den verschiedenen Werkstoffhauptgruppen überwie- schen Feldes sehr leicht bewegen. Es entsteht ein ge-
gend wirksam sind. richteter Elektronenfluss, der in einem geschlossenen
Kreis einen elektrischen Stromfluss zur Folge hat.
Metallbindung Metalle mit geringer Elektronegativi-
tät geben ihre Valenzelektronen in die Umgebung ab Kovalente Bindung In kovalenten Bindungen nutzen
(Elektronengas), wobei ein positiv geladener Atom- mehrere Atome mindestens zwei Elektronen gemein-
rumpf verbleibt. Aluminium ist beispielsweise drei- sam mit ihren Bindungspartnern. Zum Beispiel kann
wertig und gibt drei Elektronen ab. Die Valenzelektro- ein Kohlenstoffatom seine äußere Elektronenhülle von
nen „gehören“ allen Atomen gemeinsam, sie sind delo- vier vorhandenen Elektronen auf acht Elektronen
kalisiert. Die Bindung ist daher auch ungerichtet. Das (Edelgaskonfiguration) auffüllen, indem es vier Bin-
Elektronengas hält durch die gemeinsame Anziehung dungspartner nutzt, mit dem jeweils ein gemeinsa-
der Elektronen die positiven Atomrümpfe zusammen, mes Elektronenpaar gebildet wird. Es entstehen dann
es entsteht so eine sehr dichte Packung der Atomrümp- vier gerichtete kovalente Bindungen mit den vier
fe (bis hin zu einer Packungsdichte von 74 %, was den Nachbaratomen. Die Richtungsabhängigkeit ist dabei
höchsten Wert für die Packungsdichte gleich großer ein wesentliches Merkmal der kovalenten Bindung.
Atome darstellt) und eine starke Bindung. Dies führt Bei Kohlenstoff entsteht eine tetraedrische Anord-
dazu, dass Metalle einerseits hohe Dichten sowie hohe nung. Da diese Bindung sehr stabil ist, besitzen auch
Steifigkeiten besitzen, d. h., dass der Widerstand gegen kovalent gebundene Werkstoffe hohe Elastizitätsmo-
eine elastische Verformung (Elastizitätsmodul) groß duln (Abb. 14.13). Diamant besitzt gar den höchsten
ionisch kovalent metallisch Van der Waals + H-Brücken

6 – 11 eV 6 – 13 eV 1 – 5 eV 0,01 – 1 eV

NaCl, etc., Oxide Diamant, Si, Metalle, aber teilweise zwischen Polymer-Ketten,
(mit kovalenten Anteilen) intermetallische Phasen, mit kovalenten Anteilen Eis, Edelgase
MgO, Al2O3, ZrO2 C-C-C- in Polymeren

≈ 1015 Ω m ≈ 1–1010 Ω m ≈ 10–7 Ω m ≈ 1020 Ω m


ungerichtet gerichtet ungerichtet (nur zwei Partner)

Keramik Keramik Metalle Polymere


Polymere
Metalle

Abb. 14.12 Überblick Bindungsarten


14.3 Werkstoffhauptgruppen 355

Elastizitätsmodul aller Werkstoffe, da die C-C-Bindung Jedoch sind dann die Atome nicht mehr elektrisch neu-
sehr kurz und sehr fest ist, womit wieder eine hohe tral, sondern das Natriumion einfach positiv (Kation)
Bindungsdichte entsteht. Jedoch sind die Atome nur und das Chloratom einfach negativ (Anion) geladen.
schwer beweglich, was eine plastische Verformung er- Dieser Ladungsunterschied verursacht eine elektrosta-
schwert. Daher sind kovalent gebundene Materialien tische Anziehungskraft. Die unterschiedlich geladenen
eher spröde. Auch die Elektronen sind ortsfest, wes- Ionen können nun ein Ionengitter bilden, sodass der
halb die elektrische Leitfähigkeit in der Regel gering Werkstoff insgesamt elektrisch neutral bleibt. Ionen-
ist. Um Elektronen freizusetzen, muss viel Energie zu- bindungen sind aufgrund der dicht gepackten Ionen-
geführt werden. Bei Halbleitern ist dies noch möglich, gitter und der starken Anziehungskräfte ebenfalls star-
ohne die Struktur zu zerstören. Bei vielen anderen ke Bindungen. Die elektrische Leitfähigkeit ist trotz des
kovalent gebundenen Materialien nicht. Kovalent ge- Vorhandenseins geladener Spezies (Kationen und An-
bundene Keramiken gehören daher zu den besten elek- ionen) gering, da die Ladungsträger im Vergleich zu

Werkstoffkunde
trischen Isolatoren in der Welt der Werkstoffe. den Elektronen in Metallen eine viel geringere Beweg-
lichkeit aufweisen. Im schmelzflüssigen oder gelösten
Zustand hingegen sind ionisch gebundene Materialien
Elastizitätsmodul E in GPa

1000 sehr gute elektrische Leiter.


kovalent

metallisch Sekundärbindungen: van-der-Waals-Kräfte und Was-


100
serstoffbrückenbindung Die elektrostatischen Anzie-
ionisch
hungskräfte in ionischen Bindungen sind sehr stark.
Energie-elastisch Es existieren in Werkstoffen auch noch sehr viel schwä-
104 m/s
10 chere elektrostatische Anziehungskräfte. Diese treten
immer dann auf, wenn die Pole der Ladungsschwer-
Van-der-Waals punkte in Molekülen nicht zusammenfallen. Ist dies
3 103 m/s
permanent der Fall, dann spricht man von polaren
oder polarisierten Stoffen. Wasser ist das prominentes-
Entropie-elastisch te Beispiel für einen polaren Stoff. Der Zusammenhalt
103 m/s 3 103 m/s zwischen Wassermolekülen ist daher sehr gut. Dies
0,1
0,1 1 10 begründet den vergleichsweise hohen Schmelzpunkt
Dichte ρ in Mg/m3 von Eis im Vergleich zu anderen niedermolekularen
Technische Keramik Elastomere Verbindungen. In Anlehnung an dieses Beispiel spricht
Metalle, Legierungen Polymere, Duromere, Plastomere
man bei der elektrostatischen Anziehung von perma-
nenten Dipolen von einer Wasserstoffbrückenbindung.
Abb. 14.13 Bindungstyp und elastisches Verhalten. Die Elastizitätsmoduln Es ist aber auch möglich, dass durch gegenseiti-
von Keramiken, Metallen und Polymeren umfassen mehrere Größenordnun- ge Beeinflussung kurzzeitig in eigentlich unpolaren
gen. Die Dichten liegen vergleichsweise nahe beieinander (1–2 Größenord- Stoffen Dipole induziert werden. Diese temporäre
nungen) Polarität führt auch zu elektrostatischen Anziehungs-
kräften, die Van-der-Waals-Kräfte genannt werden.
Auch diese Bindungen sind entsprechend schwach.
Ionenbindung Kovalente und metallische Bindungen Trotzdem spielen diese Sekundärbindungen vor allem
sind zwischen Atomen der gleichen Sorte prinzipi- in Polymeren eine wichtige Rolle. Eigentlich müss-
ell denkbar. Die ionische Bindung hingegen nutzt ten Polymere generell spröde sein, da die kovalenten
den Elektronegativitätsunterschied zwischen verschie- Bindungen in den Molekülen fest und unbeweglich
denen Atomen. Sie wird daher auch heteropolare Bin- sind. Bei den dreidimensional engmaschig vernetzten,
dung genannt. Auch hier ist das Ziel eine stabile d. h. kovalent gebundenen, Duromeren ist das auch
Elektronenkonfiguration (Edelgaskonfiguration) in der tatsächlich der Fall. Thermoplaste hingegen besitzen
äußeren Atomhülle zu erreichen. Hierzu werden je- zwischen den Ketten nur vergleichsweise schwache
doch die Elektronen zwischen den Bindungspartnern Sekundärbindungen, die leicht durch thermische Ener-
übertragen. Ein gängiges Beispiel sind die Elemente gie überwunden werden können. Thermoplaste sind
Natrium und Chlor. Überträgt ein Natriumatom sein daher bei ausreichend hoher Temperatur plastisch ver-
einziges Außenelektron auf ein Chloratom mit sieben formbar. Bei tiefen Temperaturen jedoch sind auch
Außenelektronen, besitzen nach dieser Übertragung Thermoplaste spröde, da die Sekundärbindungen ein-
beide Elemente eine stabile Elektronenkonfiguration. gefroren sind.
356 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus

nur schwache Nebenvalenzbindungen, wie Wasserstoff- wesentliche Rolle und sind häufig Grundwerkstoffe für
brückenbindungen oder Van-der-Waals-Kräfte vor. Bei faserverstärkte Kunststoffe.
Elastomeren oder Duromeren hingegen sind die Makro-
moleküle auch untereinander durch kovalente Bindungen
Verbundwerkstoffe, Werkstoffverbunde, zellulare
vernetzt. Bei Duromeren ist dieses Netzwerk engmaschi-
Materialien und Hybride
ger vernetzt als bei den Elastomeren. Dies führt zu einem
breiten und auch durch den Vernetzungsgrad einstellba- Unter Hybride werden heutzutage verschiedene Arten
ren Eigenschaftsprofil. Thermoplaste sind schmelzbar, da von Verbundwerkstoffen und Werkstoffverbunde zusam-
bei hohen Temperaturen die Ketten mangels Vernetzung mengefasst, sofern diese aus mehr als zwei Werkstoffty-
aneinander abgleiten können. Thermoplaste besitzen dar- pen bestehen. Zu ihnen werden häufig auch die zellularen
über hinaus geringe Elastizitätsmoduln und Festigkei- Materialien (Schäume) gezählt, obwohl diese eigentlich
ten, ausgenommen als Fasern mit gestreckten Molekülen. nur aus einem Werkstoff bestehen und die Luft in den
Werkstoffkunde

Elastomere verhalten sich gummiartig und sind aber wie Hohlräumen kein Material im Sinne eines festen Werk-
die Duromere nicht schmelzbar, da die Ketten unterein- stoffes ist. Die Verbundwerkstoffe werden häufig nach
ander verbunden sind. Führt man Wärme hinzu, werden der Hauptgruppe der verwendeten Matrixwerkstoffe ein-
alle kovalenten Bindungen gebrochen, und der Werkstoff geteilt: Man unterscheidet in Polymermatrixverbunde
zersetzt sich. Hinsichtlich der mechanischen Eigenschaf- (PMC, polymer matrix composites), Metallmatrixverbun-
ten sind vor allem die Duromere relativ steif und fest. de (MMC, metal matrix composites) und Keramikmatrix-
verbunde (CMC, ceramic matrix composites).
Vergleicht man jedoch die Festigkeiten und Steifigkei- Da diese Materialien aus verschiedenen Werkstoffen zu-
ten mit jenen von Metallen und Keramiken, dann sind sammengesetzt sind, wirken hier verschiedene Bindungs-
die Unterschiede gravierend. Dies liegt daran, dass zwar kräfte im Zusammenspiel zwischen den Verbundpart-
kovalente Bindungen in Polymeren vorliegen, aber zwi- nern. Verbundwerkstoffe sind aus verschiedenartigen,
schen den Ketten nur schwache Bindungen vorhanden untereinander fest verbundenen Materialien aufgebaut,
sind bzw. die Bindungsdichte, d. h. die Zahl der Bindun- und ihre chemischen und physikalischen Eigenschaften
gen pro Volumen, niedrig ist. Dies führt auch dazu, dass übertreffen jene der Einzelkomponenten. Für einfache
vor allem die schwachen Bindungen zwischen den Ketten Verbundarchitekturen und Beanspruchungen lassen sich
mit wenig Energie überwunden werden können. Daher die mechanischen und physikalischen Eigenschaften mit-
sind die Schmelzpunkte bzw. Zersetzungstemperaturen hilfe spezieller Mischungsregeln abschätzen (siehe Ab-
von Polymeren sehr niedrig. Jedoch ist auch die Dichte schn. 15.5). Ein Werkstoffverbund hingegen besteht aus
von Polymeren strukturbedingt gering, da einerseits nur Komponenten unterschiedlicher Werkstoffe, die zu einem
leichte Atome beteiligt sind und diese in einer Struktur Bauteil mit neuem Eigenschaftsprofil kombiniert werden,
mit sehr viel freiem Volumen zwischen den Ketten inte- wobei häufig eine werkstoffgerechte Fügetechnik zum
griert sind. Einsatz kommt. Vor allem komplexe Eigenschaften wie
das Ermüdungsverhalten sind dann nicht mehr einfach
Durch die kovalenten Bindungen sind auch die Elektro- aus jenen der Einzelkomponenten abzuleiten.
nen in den Molekülketten lokalisiert, weshalb Polymere
in der Regel nicht elektrisch leitend sind. Ausnahmen Im Wesentlichen sind die Eigenschaften von Verbund-
sind gefüllte Polymere, denen z. B. Ruß- oder Kupferpar- werkstoffen, Werkstoffverbunden und Hybriden immer
tikel hinzugegeben werden, um den elektrischen Wider- durch folgende Charakteristika der Komponenten be-
stand abzusenken. stimmt:

Die niedrigen Schmelzpunkte der Thermoplaste erlau- Welche Materialien mit welchen Eigenschaften kombi-
ben ein gute Verarbeitbarkeit von thermoplastischen Po- niert werden
lymeren, die heute in zahlreichen Produkten eingesetzt In welcher geometrischer Form sie räumlich angeord-
werden, da z. B. durch Spritzgießen oder Extrusion mit net sind
kurzen Taktzeiten eine große Zahl von baugleichen Teilen Wie ist die Verbindung – die Grenzflächen – zwischen
hergestellt werden können. Bei Duromeren hingegen ist den Komponenten gestaltet?
die Verarbeitung etwas komplexer, da durch die fehlende
Schmelzbarkeit diese Verarbeitungsrouten nicht funktio- Dies sind zentrale Punkte, die die Eigenschaften von
nieren. Hier wird daher die Polymerisationsreaktion in Verbundwerkstoffen, Werkstoffverbunden und Hybriden
die Fertigung integriert, d. h., die Monomere reagieren bei bestimmen, weshalb deren Eigenschaften nicht immer
der Formgebung zu Makromolekülen oder längere Ket- einfach aus den Eigenschaften der Einzelkomponenten
ten werden vernetzt. Insbesondere auch beim Recycling abzuleiten sind. Durch eine Funktionstrennung von phy-
entstehen hier Nachteile, da diese Reaktion irreversibel sikalischen und strukturellen Aufgaben (z.B. elektrische
ist. Dennoch spielen Duromere vor allem auch wegen der Leitfähigkeit und mechanische Festigkeit) können teilwei-
besseren Festigkeiten und Steifigkeiten im Leichtbau eine se bessere Eigenschaften erzielt werden als dies aus den
14.3 Werkstoffhauptgruppen 357

Eigenschaften der beteiligten Komponenten vorhersagbar zentraler Bedeutung für die konstruktive Auslegung ei-
wäre. Dies erschwert verlässliche Eigenschaftsprognosen nes Bauteils ist, welche Widerstände der Werkstoff der
oder Berechnungen von komplexen Bauteilen und Struk- elastischen und plastischen Verformung entgegensetzt.
turen aus hybriden Werkstoffen, weshalb das volle Po- Diese Werkstoffwiderstände lassen sich im Zugversuch
tenzial solcher Werkstofflösungen nicht immer optimal ermitteln (siehe Vertiefung Zugversuch).
genutzt wird.
Technisch relevant sind heute vor allem die Faserver-
bundwerkstoffe mit Polymermatrix. Als Verstärkungs-
werkstoffe werden hier vor allem Glasfasern oder die Struktur und Gefüge beschreiben
leistungsfähigeren aber teureren Kohlenstofffasern ein-
gesetzt. Diese Verbundwerkstoffe finden sich heute in Der strukturelle Aufbau kristalliner Materialien wie Me-
zahlreichen Anwendungen, darunter bei Sportgeräten, im

Werkstoffkunde
tallen oder Keramiken erscheint auf den ersten Blick
Automobil- oder Flugzeugbau sowie in Windkraftanla- einfach. Zum Beispiel kann die räumliche Anordnung
gen (vgl. Abb. 14.8 und Abschn. 15.5 Beispiel Rotorblät- der Atome in einem Aluminiumkristall durch eine re-
ter). gelmäßige Aneinanderreihung kubisch-flächenzentrierter
Obwohl faserverstärkte Polymermatrixverbundwerkstof- Elementarzellen beschrieben werden, die jeweils nur vier
fe vor allem in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark Atome enthalten: acht Atome an den Ecken, die jeweils
an Bedeutung für verschiedene technische Produkte ge- zu einem Achtel zu einer bestimmten Zelle gehören, und
wonnen haben, sind kostengünstige Fertigungsverfahren sechs Atome in den Zentren der Seitenflächen, die je-
für große Bauteilstückzahlen bislang noch nicht verbrei- weils zur Hälfte zu dieser Zelle gehören (Abb. 14.15).
tet. Dies verhindert heute noch eine stärkere Marktdurch- Neben dieser Atomanordnung gehören zu den häufig
dringung dieser Werkstoffgruppe. bei Metallen auftretenden Gitterstrukturen die kubisch-
raumzentrierte Elementarzelle (z. B. bei α-Fe, β-Ti).
Frage 14.3
Bei Aluminium beträgt die Kantenlänge der Elementar-
Stellen Sie den Zusammenhang zwischen den Bindungs-
typen, den Werkstoffhauptgruppen und deren Eigen- zelle etwa 4 · 10−10 m. Ein würfelförmiger Aluminium-
schaften dar. kristall mit einer Kantenlänge von 4 mm hätte somit eine
107 -mal größere Kantenlänge als eine einzelne Elementar-
zelle und bestünde aus (107 )3 = 1021 Elementarzellen
Gläser bzw. aus 4 · 1021 Aluminiumatomen. Zum Vergleich: Der
Durchmesser der Erde beträgt ca. 13.000 km, das ist et-
Gläser sind generell nicht kristallin, sondern bilden ei- wa das 3 · 107 -Fache von 4 mm. Der relative Größen-
ne amorphe Struktur. Dies bedeutet, dass zwar lokal auf unterschied zwischen einer Elementarzelle und einem
Atomebene definierte Struktureinheiten bestehen können Würfelchen mit der Kantenlänge 4 mm ist demnach also
(Nahordnung), global jedoch keine geordnete Gitterstruk- vergleichbar mit dem relativen Größenunterschied zwi-
tur entsteht. Es fehlt die Fernordnung. Gläser treten bei schen diesem Würfelchen und unserem gesamten Pla-
allen Werkstoffhauptgruppen auf; man unterscheidet me- neten (Abb. 14.16). Dieser Vergleich illustriert den unge-
tallische, keramische und polymere Gläser. Erstere spie- heuren Skalenumfang von rund sieben Zehnerpotenzen
len technisch keine große Rolle und sind nur in einigen auf der Längenskala und rund 21 Zehnerpotenzen auf
komplexen Legierungen durch hohe Abkühlraten zu er- der Volumenskala, mit dem wir es bei der Beschreibung
reichen. Die keramischen Gläser wurden im Zusammen- des sogenannten Gefüges von Werkstoffen zu tun haben.
hang mit den Keramiken bereits beschrieben und basie- Das Gefüge beinhaltet die vielfältigen mikroskopischen
ren in der Regel auf einem silikatischen Netzwerk mit Strukturen zwischen der Betrachtungsebene eines ganzen
verschiedenen Zuschlagstoffen. Polymere Gläser besitzen Bauteils und der atomaren Betrachtungsebene. Ein ma-
eine große technische Relevanz. Transparente Polymere schinenbauliches Bauteil besteht nämlich generell nicht
sind grundsätzlich amorph und werden in Vitrinen, als aus einem einzigen perfekten Kristall sondern aus einem
Brillengläser oder Folien verwendet. Hier sind vor al- Polykristall, d. h. aus sehr vielen eng aneinandergefügten
lem große Seitengruppen in den Makromolekülen für die unterschiedlich orientierten Kristalliten, von denen jeder
Ausbildung einer amorphen Struktur verantwortlich. einzelne viel kleiner als das Bauteil und viel größer als
eine Elementarzelle ist und die in der Werkstoffkunde
auch als Körner bezeichnet werden. Aber auch bei diesen
einzelnen Körnern handelt es sich nicht um perfekte peri-
Mechanische Eigenschaften von Werkstoffen odische Anordnungen von Elementarzellen. Sie enthalten
vielmehr null-, ein- und zweidimensionale Baufehler (so-
Im Maschinenbau spielen vor allem die mechanischen genannte Punkt-, Linien- und Flächendefekte), durch die
Eigenschaften von Werkstoffen eine wichtige Rolle. Von die physikalischen und mechanischen Eigenschaften der
358 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus

Vertiefung: Zugversuch

Der Zugversuch ist das wichtigste Prüfverfahren zur wichtiger Werkstoffwiderstand und wird Zugfestig-
Charakterisierung der mechanischen Eigenschaften keit Rm genannt. Erreicht die Spannung diesen Wert,
von Werkstoffen. Der Versuch ist für die verschiede- setzt bleibende Schädigung und in Folge der Bruch ein.
nen Werkstoffklassen grundsätzlich genormt, wobei Wichtige Maßzahlen zur Beschreibung der plastischen
sich insbesondere die Probengeometrien voneinander Verformbarkeit sind die Gleichmaßdehnung Ag und die
unterscheiden. Vor allem bei Metallen und Polyme- Bruchdehnung A. Letztere hängt auch von der Proben-
ren werden „knochenförmige“ Proben des zu unter- gestalt ab, weshalb hier häufig das Verhältnis aus Länge
suchenden Werkstoffes verwendet. Diese werden in und Durchmesser der Probe im unverformten Anfangs-
eine geeignete Prüfvorrichtung eingespannt. Die zur zustand als Index angegeben wird.
Werkstoffkunde

Verlängerung der Probe erforderliche Zugkraft wird


gemessen, es ergibt sich eine für die Probe charak-

Spannung σ
teristische Kraft-Verlängerungs-Kurve. Zur Ermittlung
der von der Probenform und -größe unabhängigen Rm
Werkstoffeigenschaften wird aus der Kraft F N normal Keramik
zur Anfangsquerschnittsfläche und der Anfangsquer-
schnittsfläche A0 die Spannung berechnet; aus der Ver-
längerung Δl und der Anfangslänge l0 die Dehnung in Metall
Rm
Spannungsrichtung.
Die axiale Spannung und die Dehnung sind dabei wie
Rp
folgt definiert:
FN Δl
Spannung: σ = , Dehnung: ε = . (14.1)
A0 l0
Aus dem so erhaltenen Spannungs-Dehnungs-Dia- E
gramm können die Werkstoffwiderstände herausge- Kunststoff (Thermoplast)
lesen werden (vgl. Abb. 14.14). Der Widerstand gegen
elastische Verformung wird durch den Elastizitätsmo-
dul E beschrieben. Dieser entspricht der Steigung im Ag A Dehnung ε
linearen Anfangsbereich der Kurve. Die Spannung, bei Abb. 14.14 Spannungs-Dehnungs-Kurven aus Zugversuchen. Keramiken
der die Kurve vom linearen Verlauf abweicht, ist die besitzen einen hohen Elastizitätsmodul und können nur elastisch verformt
Elastizitätsgrenze. Sie beschreibt den Widerstand gegen werden. Metalle haben etwas geringere Elastizitätsmoduln und können
einsetzende plastische Verformung. Bei den verschie- elastisch und plastisch verformt werden. Kunststoffe haben sehr geringe
denen Werkstoffen ergeben sich dabei Unterschiede Elastizitätsmoduln und können meist auch etwas plastisch verformt werden
in der Bezeichnung dieser Grenze: Die plastische Ver-
formung bleibt erhalten, wenn die Probe nach einer Tabelle 14.1 zeigt einen Vergleich verschiedener cha-
Belastung über die Elastizitätsgrenze (Rp ) wieder kom- rakteristischer Werkstoffkennwerte von typischen Ver-
plett entlastet wird. Bei Metallen, die eine deutlich er- tretern der verschiedenen Werkstoffkategorien. Diese
kennbare Elastizitätsgrenze im Spannungs–Dehnungs- Auflistung spiegelt das bereits dargestellte gut wie-
Diagramm zeigen, spricht man von der Streckgrenze Re, der. Bei Aluminiumoxid finden wir wegen des spröden
andernfalls wird die Ersatzdehngrenze Rp 0,2 bestimmt. Verhaltens keine Bruchdehnung, das thermoplastische
Bei Thermoplasten wiederum spricht man ebenfalls Polymer Polyethylen hingegen besitzt eine sehr ho-
von der Streckgrenze (die dann jedoch neben einem he Bruchdehnung. Die Dominanz der Sekundärbin-
linearen elastischen Anteil auch einen nichtlinearen vis- dungen und die geringen Bindungsdichten führen je-
koelastischen Anteil enthält); bei spröden Werkstoffen, doch zu einem geringen Elastizitätsmodul. Auffällig
wie den Keramiken und Duromeren, setzt keine plas- ist auch, dass sich die Elastizitätsmoduln von Kera-
tische Verformung ein, weshalb die Elastizitätsgrenze miken und Metallen nicht variieren lassen. Hingegen
direkt durch das Maximum im Spannungs-Dehnungs- sind die Festigkeitskennwerte und die Bruchdehnun-
Diagramm bestimmt wird, das von der Verteilung gen von Metallen in weiten Grenzen einstellbar. Dies
von Materialfehlern abhängt (vgl. Abschn. 15.10). Die- hängt mit dem strukturellen Aufbau zusammen, wie
ses Maximum ist bei allen Werkstoffen ein weiterer im Folgenden ausgeführt wird.
Tab. 14.1 Vergleich verschiedener charakteristischer Werkstoffkennwerte von typischen Vertretern der Werkstoffhauptgruppen
Werkstoff Stahl C15 (Metall) Aluminiumleg. (Metall) Aluminiumoxid (Keramik) Polyethylen (Polymer)
Elastizitätsmodul E in GPa 210 70 360 0,6–0,9
Elastizitätsgrenze in MPa 380–890 (Re ) 30–500 (Rp 0,2 ) 350–588 (Rm ) 17–29 (Re )
Zugfestigkeit Rm in MPa 670–1240 60–550 350–588 20–45
Bruchdehnung A in % 7–24 1–44 0 200–800
14.3 Werkstoffhauptgruppen 359

kubisch raumzentriertes Gitter (krz) kubisch flächenzentriertes Gitter (kfz) hexagonal dichtest gepacktes Gitter (hdp)

Werkstoffkunde
Abb. 14.15 Kugelmodelle häufiger Kristallstrukturen; a kubisch-raumzentrierte Elementarzelle; b kubisch-flächenzentrierte Elementarzelle; c hexagonal dichtest
gepackte Elementarzelle

Atome Gitterdefekte Gefüge, Mikrostruktur Proben Bauteile blauer Planet

10–9 10–6 10–3 100 103 106 m


Werkstoffkunde und Werkstofftechnik

Abb. 14.16 Werkstoffe und Bauteile des Maschinenbaus sind in der Regel nicht aus einzelnen, perfekten Kristallen aufgebaut, sondern besitzen ein „Gefüge“.
Die relevanten Mikrostrukturen umfassen mehrere Größenordnungen

Kristallite und des daraus zusammengesetzten Polykris- re Spannungen die Festigkeit von Metallen indem sie die
talls stark beeinflusst werden. Zu den nulldimensionalen Versetzungsbewegung behindern (siehe Abschn. 15.6).
Fehlern zählen die sogenannten Leerstellen, also Gitter-
plätze, an denen Atome fehlen, oder auch Fremdato- Wechselwirkungen zwischen Versetzungen Bewegen sich
me, die im Gitter der regulären Atome eingelagert sind. Versetzungen durch das Kristallgitter, dann treffen sie
Eindimensionale Fehler sind die Versetzungen, die für auf andere Versetzungen (vgl. Abb. 15.26a). Da Verset-
die plastische Verformung eine wesentliche Rolle spie- zungen das Kristallgitter grundsätzlich etwas verzerren,
len. Zweidimensionale Fehler sind die Grenzen zwischen besitzen sie ein Spannungsfeld. Die Spannungsfelder der
den einzelnen Körnern (Korngrenzen), dreidimensionale sich begegnenden Versetzungen wechselwirken mitein-
Fehler sind Poren (z. B. in Keramiken), Einschlüsse oder ander, was die von außen aufzubringende Kraft, um die
Mikrorisse. Versetzungen zu bewegen, erhöht. Dieser Mechanismus
ist sowohl in reinen Metallen als auch in Legierungen
Die Frage nach der Festigkeit eines Werkstoffes ist immer aktiv. Dieser Mechanismus führt gleichzeitig auch zur
eng mit den darin enthaltenen Baufehlern verbunden. Um Erhöhung der Versetzungsdichte, da sich schneidende
die Festigkeit eines metallischen Werkstoffes zu erhöhen, Versetzungen Quellen für die Bildung neuer Versetzun-
müssen die Versetzungen in ihrer Bewegung gehindert gen sein können.
werden. In Keramiken werden vor allem deswegen so
hohe Festigkeitswerte erreicht, da eventuell auftretende
Versetzungen aufgrund der ionischen oder kovalenten Wechselwirkung von Korngrenzen und Versetzungen Ver-
Bindungen per se nicht beweglich sind. Da Polymere setzungen sind in ihrer Bewegung auf im Kristallgitter
kein durchgängiges Kristallgitter besitzen und die Ei- vorhandene Gleitebenen gebunden. An den Korngrenzen
genschaften vor allem im Wechselspiel zwischen Primär- innerhalb eines Polykristalls ist die Ordnung lokal gestört,
und Sekundärbindungen bestimmt werden, spielt hier die da hier benachbarte Kristalle mit unterschiedlicher räum-
Modellvorstellung der Versetzungsbewegung keine Rol- licher Ausrichtung aneinanderstoßen. Demnach können
le. Bei Metallen hingegen ist die Versetzungsbewegung Versetzungen Korngrenzen nicht ohne Weiteres überwin-
der dominierende Mechanismus zur Beschreibung der den. Sind die Körner in einem Werkstoff klein, dann
plastischen Verformung. Im Wesentlichen erhöhen inne- können die Versetzungen nur kurze Wege zurücklegen,
360 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus

Vertiefung: Versetzungen

Zum grundsätzlichen Verständnis der Verformungs- entstandene Lücke wird dann durch eine zusätzlich
mechanismen in Metallen ist das Wissen um das Ver- eingeschobene Halbebene gefüllt. Die im Kristall en-
halten und die Eigenschaften der sogenannten Ver- dende Kante der eingeschobenen Halbebene ist dann
setzungen wesentlich. Versetzungen sind lineare (ein- die sogenannte Versetzungslinie, weshalb es sich hier-
dimensionale) Fehler im sonst perfekten Kristallgitter bei um eine eindimensionale Störung handelt. Charak-
und entstehen bereits beim Abkühlen aus der Schmel- terisiert wird eine Versetzung durch den sogenannten
ze. Jedoch multiplizieren sich diese, wenn die Verset- Burgersvektor: Läuft man im Uhrzeigersinn um die
zungen in Bewegung sind und dabei miteinander in Versetzungslinie so herum, dass man in jede Richtung
Wechselwirkung treten. (nach rechts, nach unten, nach links, nach oben) gleich
Werkstoffkunde

viele Schritte im Atomgitter zurücklegt, dann ist dieser


Es gibt grundsätzlich zwei verschiedene Versetzungs-
Umlauf wegen der eingeschobenen Halbebene nicht
typen: Die Stufenversetzung und die Schraubenverset-
geschlossen. Der Schließvektor ist der Burgersvektor.
zung. In der Realität treten auch gemischte Versetzun-
Er ist in einer Stufenversetzung senkrecht zur Verset-
gen auf, die Anteile beider Versetzungstypen besitzen.
zungslinie orientiert. Ist nun die Schubspannung in
Man kann sich die Bildung von Versetzungen einfach einem Kristall ausreichend hoch, kann die Versetzung
durch Spreizung bzw. Scherung perfekter Kristallberei- wandern, indem die Bindungen lokal um die Verset-
che vorstellen (Abb. 14.17). zungslinie aufgebrochen werden und die eingeschobe-
ne Halbebene um einen Atomabstand weiterwandert.
Stufenversetzung Dieser Vorgang wird dann makroskopisch als plasti-
sche Verformung des Werkstoffes wahrgenommen.

b Bei einer Schraubenversetzung folgt der partiellen, mo-


dellmäßigen „Auftrennung“ des perfekten Kristalls ei-
ne Scherung um einen Atomabstand. Führt man dann
wie oben beschrieben einen Umlauf durch, wird auch
dieser nicht geschlossen. Dieser endet dann aber nicht
Schraubenversetzung in derselben Atomebene wie der Startpunkt, sondern
um einer Ebene versetzt. Mehrere Umläufe hinterein-
ander würden zu einer schraubenförmigen Umlauf-
b
linie führen, daher der Name Schraubenversetzung.
Auch hier gibt es eine Versetzungslinie: Es ist die Ach-
se bzw. Linie, um die sich der Umlauf windet. Wie aus
Abb. 14.17 zu ersehen ist dann der Schließvektor des
Umlaufs – der Burgersvektor – parallel zu dieser Li-
Abb. 14.17 Versetzungen; Modellmäßige Vorstellung zur Beschreibung nie orientiert. Wie bei der Stufenversetzung bewegen
von a Stufen- und b Schraubenversetzungen in Kristallen sich diese Versetzungen ebenfalls durch äußere Span-
nungen durch das Kristallgitter und verursachen so
Bei einer Stufenversetzung wird ein perfekter Kris- makroskopisch eine plastische Verformung. Details zur
tall gespreizt (real passiert dieser Vorgang so nicht, plastischen Verformung durch Versetzungsbewegung
es geht hier lediglich um eine Modellvorstellung). Die finden sich in Abschn. 15.6.

bevor sie auf eine Korngrenze treffen und sich aufstau- dass das Gitter lokal verzerrt wird. Es entsteht so wieder-
en. Dieser Mechanismus ist sowohl in reinen Metallen als um ein Spannungsfeld, welches mit dem Spannungsfeld
auch in Legierungen aktiv. der Versetzungen in Wechselwirkung treten kann (vgl.
Abb. 15.26b und Abb. 15.28). Die Bewegung der Verset-
Wechselwirkung von Mischkristallatomen und Versetzungen zung wird dadurch erschwert, und von außen ist wieder
Sind Legierungsatome in einem Metallgitter gelöst, dann eine größere Kraft notwendig, um die Versetzung durch
herrscht zwischen den Atomen der gitterbildenden Kom- das Gitter zu bewegen. Dieser Mechanismus ist nur in
ponente und den gelösten Legierungsatomen ein gewis- Legierungen aktiv, die Mischkristalle (feste Lösungen) bil-
ser Größenunterschied. Dieser Unterschied führt dazu, den können.
14.3 Werkstoffhauptgruppen 361

Wechselwirkung von Teilchen oder Ausscheidungen und Ver- σ


setzungen In Legierungen kann noch ein weiterer Me- Ausscheidungen
chanismus wirksam sein, der die Versetzungsbewegung
wirksam behindert. In bestimmten Legierungssystemen
(z. B. Aluminium-Kupfer-Legierungen) ist die Löslich- Teilchen
(Dispersionen)
keitsgrenze der Legierungsatome sehr niedrig. Dies führt
dazu, dass aus einem zunächst homogenen Mischkristall
Legierungsatome ausgeschieden werden können. Diese Feinkorn
Ausscheidungen sind dann Bereiche mit eigener Gitter-
struktur innerhalb des Korns der Matrix. Je nachdem, wie Mischkristall
eng die Verwandtschaft dieser Gitterstruktur mit jener
des Gitters der Umgebung ist, bzw. wie groß die Aus-

Werkstoffkunde
scheidung ist, können die Versetzungen entweder durch Korngrenzen
Verformung
die Ausscheidung hindurchgleiten oder müssen diese Versetzungen σ
umgehen (vgl. Abb. 15.26c und Abb. 15.30). Beide Mecha- Gleitebenen
nismen erschweren die Bewegung der Versetzung, was
wiederum zur Verfestigung des Werkstoffes führt. Abb. 14.18 Verfestigungsmechanismen; die Streckgrenze, d. h. der Wider-
stand gegen einsetzende plastische Verformung, wird durch Versetzungshinder-
Für Teilchen (Dispersionen) gilt dasselbe, mit dem Unter- nisse erhöht. Hiervon gibt es vier Grundtypen
schied, dass Dispersionen nicht durch Ausscheiden von
Legierungsatomen aus dem Mischkristall gebildet wer-
den, sondern z. B. durch Einrühren in die Schmelze oder der elastischen Gerade in den elastisch-plastischen Be-
mechanisches Legieren dem Werkstoff schon bei der Her- reich der Kurve) besitzt. Durch ein feineres Korn wird
stellung zugegeben werden. die Streckgrenze erhöht. Weitere Verbesserungen werden
durch Mischkristallhärtung oder Ausscheidungshärtung
(vgl. Abschn. 16.4) erreicht. Dabei sind zwei wesentli-
Beispiel: Experiment zur Versetzungsverfestigung
che Effekte festzuhalten: Erstens führt eine Steigerung der
Ein dünner, gerader Kupferdraht wird mithilfe einer Ker-
Streckgrenze bzw. der Festigkeit in Metallen in der Regel
zenflamme erwärmt, bis er glüht und dann an Luft abge-
zu einer Abnahme der Duktilität (Bruchdehnung), ausge-
kühlt. Anschließend wird dieser in der Hand langsam hin
nommen bei der Feinkornhärtung, da das Verformungs-
und her gebogen.
vermögen durch die eingeschränkte Mobilität der Ver-
Was ist festzustellen?
Durch das Glühen wurden die Versetzungen im Kupfer-
σ Ausscheidungs-
draht ausgeheilt, so dass er leicht verformbar („weich“)
härtung (Al-Cu)
wird. Verformt man nun den Draht plastisch, entstehen
wieder neue Versetzungen, deren Anzahl durch die Wech-
selwirkung zwischen den Versetzungen schnell ansteigt.
Dadurch wird die Verformung des Drahtes zunehmend
erschwert. Nach mehrmaligem Hin- und Herbiegen ist Al-Mg-
das Verformungsvermögen des Drahtes erschöpft, und er Mischkristalle
bricht. 
feinkörniges
Aluminium
Abbildung 14.18 zeigt zusammenfassend eine schema-
tische Darstellung der hier besprochenen, wesentlichen
grobkörniges
Verfestigungsmechanismen in metallischen Werkstoffen. Aluminium
Das Maß für die einsetzende plastische Verformung und
damit für den Widerstand gegen Versetzungsbewegung, ε
der in einem Metall vorliegt, ist die Elastizitätsgrenze. Ab-
bildung 14.19 zeigt schematisch am Beispiel einer Alumi- Abb. 14.19 Einfluss des Gefüges auf die Eigenschaften; Die Festigkeit wird
vom Gefüge beeinflusst. Unverformtes, grobkörniges Aluminium hat eine gerin-
niumlegierung, wie jeweils die wirksamen Verfestigungs-
gere Elastizitätsgrenze und Zugfestigkeit als feinkörniges Aluminium. Weitere
mechanismen die Gestalt der Spannungs-Dehnungs-Kur- Festigkeitssteigerungen sind möglich durch Fremdatomzusätze, die Mischkris-
ve verändern. Referenz ist das grobkörnige Aluminium, tallhärtung oder Ausscheidungshärtung hervorrufen, wobei zusätzliche plasti-
welches eine niedrige Elastizitätsgrenze (Übergang von sche Verformung die Elastizitätsgrenze weiter steigert
362 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus

setzungen reduziert ist. Zweitens beeinflussen alle Maß-


nahmen zur Festigkeitssteigerung den Elastizitätsmodul N N
nicht. Der Elastizitätsmodul ist eine Materialkonstante, da
er auf die Bindungsdichte und den Bindungstyp zurück- Fläche A
zuführen ist. Diese physikalischen Gegebenheiten bleiben l0
durch die Maßnahmen zur Festigkeitssteigerung im We-
sentlichen unbeeinflusst. Abb. 14.20 Zugbeanspruchter Stab mit Querschnittsfläche A und Länge l0

Frage 14.4
Welche wichtigen Kennwerte lassen sich aus der Span- bei der Dichte finden wir Unterschiede im Spektrum von
nungs-Dehnungs-Kurve (vgl. Abb. 14.14) eines Metalles rund zwei Größenordnungen. Sollen nun Bauteile ausge-
ablesen wählt werden, die möglichst leicht und steif sind, ist ein
Werkstoffkunde

Ziel die Dichte möglichst gering zu halten und gleichzei-


tig Werkstoffe mit hohem Elastizitätsmodul auszuwählen.
Intuitiv landet man dann beim spezifischen Elastizitäts-
modul als Auswahlkriterium für Werkstoffe, die diese
Kriterien am besten erfüllen. Der spezifische Elastizitäts-
14.4 Werkstoffe im Vergleich modul definiert sich hierbei als der Quotient
E
Um das Potenzial eines Werkstoffes optimal zu nutzen, M1 = . (14.2)
ρ
ist es notwendig, den für den jeweiligen Anwendungs-
fall geeigneten Werkstoff auszuwählen. Diese Auswahl Dieser Quotient ist jedoch kein allgemeingültiges Werk-
muss allen Aspekten des Produktentwicklungsprozes- stoffauswahlkriterium für den Leichtbau sondern nur
ses Rechnung tragen und ist daher sinnvollerweise mit eine von vielen denkbaren Leichtbaukennzahlen (Werk-
diesem Prozess verknüpft. Design, Fertigungsprozess- stoffindizes), die sich in Abhängigkeit der herrschen-
auswahl und Werkstoffauswahl bilden eine Einheit und den bzw. vorgegebenen Belastungssituation ergeben. Der
werden iterativ betrieben. Trotzdem ist es sinnvoll, am oben aufgeführte Werkstoffindex M1 ist dann für die
Anfang eines Produktentwicklungsprozesses eine Vor- Auswahl leichter und steifer Werkstoffe relevant, wenn
auswahl für den Werkstoff zu treffen, die im Folgenden das Bauteil einachsig und über den Querschnitt homo-
verfeinert wird. Diese systematische Werkstoffauswahl gen unter Zug beansprucht wird. Gleichzeitig dürfen
bedient sich sogenannter Werkstoffindizes, die auf Basis keine Einschränkungen hinsichtlich der Bauteilabmes-
einfacher Lastfälle systematisch abgeleitet werden. Diese sungen vorgegeben sein. Häufig herrschen jedoch kom-
Herangehensweise ist im Folgenden dargestellt. plexere Beanspruchungen in einem Bauteil vor, die je-
doch vorteilhafterweise auf eine Kombination einfacher
Grundbeanspruchungen zurückgeführt werden können.
In Kap. 3 wurden die wichtigsten Grundbeanspruchun-
Werkstoffindizes dienen der systematischen gen Zug, Druck, Biegung, Schub und Torsion ausführlich
Werkstoffauswahl behandelt. Für diese einfachen Beanspruchungsarten las-
sen sich jeweils Leichtbaukennzahlen ableiten. Es ist bei
der Auswahl dann in der Regel nicht notwendig, alle
Da der Leichtbau im Moment ein aktueller Aspekt für Indizes gleichzeitig zu berücksichtigen. Dominiert eine
die Substitution etablierter Werkstoffe ist, werden an Grundbeanspruchung, dann ist vor allem diese für die
diesem Beispiel der Vorauswahlprozess und die Ablei- Auswahl relevant, und der entsprechende Werkstoffindex
tung einfacher, relevanter Werkstoffindizes dargestellt. wird als Kriterium für die Werkstoffauswahl verwendet.
Leichtbaukonstruktionen sollen, wie der Name sagt, ein
möglichst geringes Gewicht haben. Darüber hinaus ist je- Im obigen Beispiel reichte schon eine intuitive Herange-
doch notwendig, dass sie gewisse Vorgaben hinsichtlich hensweise, um die relevante Leichtbaukennzahl (Werk-
eines Mindestmaßes an Steifigkeit und mechanischer Be- stoffindex) zu finden. Dies ist in der Regel nicht ausrei-
lastbarkeit erfüllen. Zwei Kenngrößen bestimmen dabei chend, jedoch existiert eine systematische Herangehens-
im Wesentlichen die Gebrauchseigenschaften hinsichtlich weise zur Ableitung von Werkstoffindizes. Hierzu ist in
des Gewichtes und der Steifigkeit. Es sind dies die Dichte Abschn. 3.1 das Beispiel eines biegebeanspruchten Bal-
und der bereits in Abschn. 14.3 vorgestellte Elastizitäts- kens gezeigt. Im Folgenden wird zunächst ein einfacherer
modul E. In Abb. 14.13 wurde bereits gezeigt, dass die Fall, der zugbeanspruchte Stab, vorgestellt (Abb. 14.20).
Bandbreite der Elastizitätsmoduln gängiger Ingenieurs- Der Stab soll in der Lage sein, eine bestimmte Last F max zu
werkstoffe rund fünf Größenordnungen umfasst. Auch tragen. Hinsichtlich des Leichtbaus ist das Ziel, die Masse
14.4 Werkstoffe im Vergleich 363

m des Stabes möglichst gering zu halten. Darüber hinaus N


sollen mehrere Randbedingungen vorgegeben sein (An-
forderungskatalog, Lastenheft): Die Stablänge l0 sei fest-
gelegt, und unter der Last N darf die elastische Längen- b
änderung maximal Δlc betragen. Hinsichtlich der Form
und der Fläche des Stabquerschnitts gelten keine Vorga- b
ben. Damit ist die Querschnittsfläche A eine freie Variable.
Der Werkstoff selbst kann als weitere freie Variable aufge-
fasst werden. l0

Um den gesuchten Werkstoffindex zu finden, wird zu- Abb. 14.21 Biegebeanspruchter Balken mit Länge l0 und Querschnittsflä-
nächst eine Zielgleichung aufgestellt. Das vorgegebene che b 2
Ziel ist in diesem Fall die Reduktion der Masse m des Zug-

Werkstoffkunde
stabes. Diese berechnet sich nach:

m = Al0 ρ. (14.3)
Stelle die „Zielgleichung“ auf.
Als Randbedingung ist vorgegeben, dass der Stab eine ge- Falls außer der Werkstoffwahl noch eine andere
wisse Mindeststeifigkeit besitzt, die sich aus einer maxi- Variable vorhanden ist: Finde heraus, durch wel-
mal erlaubten elastischen Verformung unter Last ableitet. che Randbedingungen diese Variable beschränkt
Diese Forderung kann mathematisch wie folgt formuliert wird.
werden (Abschn. 6.5): Eliminiere diese Variable aus der Zielgleichung.

Nl0
 Δlc (14.4)
AE Als häufiger Lastfall in technischen Bauteilen begeg-
Wird (14.3) nach A aufgelöst und dann für A in Unglei- nen uns Komponenten unter Biegebeanspruchung. Für
chung (14.4) eingesetzt, kann die sich ergebende Unglei- den Fall des leichten, steifen Balkens (vorgegebene Min-
chung nach m umgestellt werden: deststeifigkeit) unter Biegung leiten wir im Folgenden
  den Werkstoffindex ab. Für diesen Fall wurde die Fes-
Nl20 ρ
tigkeitsbetrachtung bereits in Abschn. 3.1 gemacht. Ab-
m · (14.5) bildung 14.21 zeigt exemplarisch einen biegebelasteten
Δlc E
Balken mit quadratischem Vollquerschnitt und der Kan-
Auf der rechten Seite der Ungleichung können die be- tenlänge b unter der Biegelast N.
teiligten Größen in zwei Gruppen eingeteilt werden, die
Unser Ziel ist es erneut, die Masse zu reduzieren, weshalb
in zwei multiplikative Terme zusammengefasst werden
die Leichtbau-Zielgleichung in diesem Fall wie folgt defi-
können: Durch die Randbedingungen vorgegeben Grö-
niert ist:
ßen stehen in runden Klammern; in eckigen Klammern
finden sich die werkstoffabhängigen Kennwerte. Diese m = Al0 ρ = b2 l0 ρ.
werden erst durch die Werkstoffauswahl in ihrer Größe
festgelegt. Damit ist die untere Grenze für das Gewicht
Auch hier soll eine maximale Durchbiegung von Δlc unter
des Stabes m umso kleiner, je kleiner der Quotient ρ/E ist.
der Last N erlaubt sein. Damit definiert sich die Steifig-
Damit suchen wir nach Werkstoffen, deren Werkstoffin-
keitsanforderung als:
dex ρ/E möglichst klein bzw. dessen Werkstoffindex E/ρ
möglichst groß ist. Letzterer entspricht dem bereits oben
eingeführten Werkstoffindex M1 . Nl30
 Δlc .
CEJ
Ganz generell lässt sich die Vorgehensweise zur Identi-
fizierung des Werkstoffindexes für eine gegebene Werk- Hierbei ist die Konstante C von der konkreten Belastungs-
stoffauswahl-Fragestellung in Form eines Rezeptes for- form (3-Punkt, 4-Punkt, Punktlast, Linienlast etc.) abhän-
mulieren, das im Folgenden präsentiert wird (Wanner gig. J ist das relevante axiale Flächenträgheitsmoment für
et al. 2006). die gewählte Balkenform. Bei einem quadratischen Bal-
kenquerschnitt berechnet sich J nach:
Rezept zur Identifizierung des Werkstoffindexes nach
Ashby b4
J= .
12
Identifiziere Funktion, Randbedingungen, Ziel
und freie Variablen. Auch hier wird die freie Variable b (die Balkenquer-
schnittsfläche sei frei einstellbar) mithilfe der Leichtbau-
364 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus

Tab. 14.2 Vergleich verschie- Werkstoff CFK-Laminat Aluminium- Titan- Stähle


dener Werkstoffe anhand des (Kreuzgewebe 0°/90°, 60 Vol.-%) legierung legierung
Werkstoffindexes Elastizitätsmodul E in GPa 80 70 115 200
Dichte ρ in Mg/m 3
1,6 2,7 4,5 7,9
M1 = E/ρ in GPa/Mg m−3 50 26 26 25
√ √
M2 = ρE in GPa/Mg m−3 5,6 3,1 2,4 1,8

Zielgleichung eliminiert, und man erhält: Querschnittform unabhängig von der Wahl des Werkstof-
⎛ ⎞ fes ist. Dies ist in Wirklichkeit nicht der Fall. Manche
  Werkstoffe eignen sich zur Herstellung dünnwandiger
12l50 N
m⎝ ⎠ · √ρ .
Werkstoffkunde

Hohlprofile, andere taugen bevorzugt für Massivbauteile.


CΔl0 E Auch diese Aspekte müssen natürlich bei der endgültigen
Werkstoffauswahl systematisch berücksichtigt werden.
Für biegebeanspruchte Balken in Leichtbaukonstruktio-
nen eignen sich somit Werkstoffe, die einen möglichst
hohen Werkstoffindex
√ Wie benutzt man ein
E
M2 = (14.6) Werkstoffauswahldiagramm?
ρ

besitzen. Für die hier diskutierten Fälle des leichten, stei- Da sich Werkstoffe hinsichtlich fast jeder wichtigen Ei-
fen Zugstabes und Biegebalken sind in Tab. 14.2 die ab- genschaft um mehrere Größenordnungen unterscheiden
geleiteten Werkstoffindizes M1 und M2 für Aluminiumle- können, sind logarithmisch skalierte Werkstoffauswahl-
gierungen, Titanlegierungen, Stähle und einen typischen diagramme hilfreich. Die logarithmische Skalierung hat
CFK-Verbundwerkstoff als Vertreter typischer Ingenieurs- außerdem den Vorteil, dass die Werkstoffauswahl dann
werkstoffe für den Leichtbau gezeigt. Für die M1 -Wer- anhand von geraden Hilfslinien erfolgen kann, deren Stei-
te der drei metallischen Werkstoffe ergeben sich keine gungen unmittelbar mit den Werkstoffindizes verknüpft
wesentlichen Unterschiede, weshalb diese Werkstoffe für sind. Nehmen wir als Beispiel den Werkstoffindex M2 ge-
Leichtbaukonstruktionen ähnlich gut geeignet sind, so- mäß (14.6) für die Werkstoffauswahl für einen leichten
fern Zugbeanspruchung dominiert. Vergleicht man die und steifen Biegebalken. Diese Gleichung lässt sich durch
M2 -Werte, so liegt dieser für Aluminiumlegierungen um Logarithmieren umformen in:
ca. 30 % über dem von Titanlegierungen und ca. 70 % über
dem von Stahl. Bei biegebeanspruchten Bauteilen zeigen
log E = 2 log ρ + 2 log M2 . (14.7)
sich Aluminiumlegierungen damit als deutlich besser ge-
eignet im Vergleich zu Stählen oder Titanlegierungen. In je-
der Hinsicht überlegen ist der CFK-Verbundwerkstoff, der Trägt man nun in einem x-y-Diagramm log E über
bei beiden Werkstoffindizes deutlich an der Spitze liegt. log ρ auf (sogenannte doppelt-logarithmische Auftra-
gung), dann ergibt sich aus (14.7), dass die Hilfslinien für
Dieser Vergleich ist ein Beispiel dafür, wie Werkstoffindi- diese Werkstoffauswahl eine Steigung von 2 haben. In das
zes eingesetzt werden können, um die relative Eignung in Abb. 14.22 dargestellte Elastizitätsmodul-Dichte-Dia-
von Werkstoffen für einen bestimmten Anwendungsfall gramm ist exemplarisch diese Linie mit Steigung 2 ein-
zu bestimmen. Mit den beiden bisher eingeführten Werk- gezeichnet, die so in das Diagramm hineingelegt wurde,
stoffindizes M1 und M2 lassen sich aber bei Weitem dass sie den Werkstoff Stahl beinhaltet. Alle Werkstoffe,
nicht alle Werkstoffauswahl-Fragestellungen im Leicht- die auf ein und derselben Linie liegen, eignen sich somit
bau beantworten. Zum einen sind weitere Grundbean- gleich gut (oder gleich schlecht) für biegebeanspruchte
spruchungsarten und Randbedingungen denkbar, zum Leichtbauteile mit Steifigkeitsvorgabe wie Stahl. Entlang
andern orientiert sich die Werkstoffauswahl nicht immer einer Linie ändert sich nur der Wert der freien Variablen;
an der Steifigkeit. M2 ist dagegen konstant.
Andere Anforderungen können im Mittelpunkt stehen, Alle Werkstoffe, die sich oberhalb dieser eingezeichne-
wie z. B. eine bestimmte mechanische Belastbarkeit oder ten Linie befinden, besitzen einen höheren Wert für den
ein bestimmtes elastisches Energiespeichervermögen pro Werkstoffindex M2 und eignen sich somit besser für bie-
Gewichts- oder Volumeneinheit. Eine unvollständige Lis- gesteife Leichtbauteile. Um einen oder mehrere geeigne-
te von Werkstoffindizes für den Leichtbau ist in Tab. 14.3 te Werkstoffe zu finden bzw. um mehrere vorgegebene
zusammengestellt. Bei diesen einfachen Betrachtungen Werkstoffe bezüglich ihrer Eignung für den jeweiligen
wurde stillschweigend angenommen, dass die Wahl der Anwendungsfall zu bewerten (Ranking erstellen), wird
14.4 Werkstoffe im Vergleich 365

Tab. 14.3 Einige Werkstoffindizes für den Leichtbau


Funktion Festgelegte Variable Freie Variable Werkstoffindex bei Werkstoffindex bei
Steifigkeitsvorgabe Belastbarkeitsvorgabe
Stab Maximallast Querschnittsfläche E Re
(Zugbeanspruchung) Länge ρ ρ
E, R, Balken Maximallast Querschnittsfläche E1/2 R2/3
e
(Biegebeanspruchung) Länge ρ ρ
Welle max. Drehmoment Querschnittsfläche G1/2 R2/3
e
(Torsionsbeanspruchung) Länge ρ ρ
Säule Maximallast Querschnittsfläche E1/2 Re
(Druckbeanspruchung) Länge ρ ρ
Versagen durch elastisches Ausknicken

Werkstoffkunde
oder plastische Druckverformung
Platte, Balken (Breite festgelegt, Herlei- Maximallast Dicke E1/3 R1/2
e
tung Kap. 5) Länge ρ ρ
(Biegebeanspruchung) Breite

E
Al2O3 technische
SiC Keramiken ρ
Al-Leg. Si3N4
1000 B4 C WC
Glas
Stähle Wolfram-Legierungen
Verbund-
werkstoffe Ni-Legierungen
100 Mg-Legierungen
Kupfer-Legierungen
Geschwindigkeit GFRP
longitudinaler Holzlängs Metalle TI-Legierungen
Schallwellen PMMA
Elastizitätsmodul E in GPa

10 Polyester Beton Blei-Legierungen


steifer und Natur- PA PEEK Zink-Legierungen
leichter stoffe PET
PS Epoxidharze
PP E 1/3
104 m/s PE Polycarbonate ρ
1
steife Kunst- Polytetrafluorethen
E 1/2
stoffschäume
ρ
10–1 2 Leder
Polymere E
Holz- ρ
quer
–2 103 m/s zellulare Ethlen- Silikon Elastomere
10_ vinylacetat
Materialien
Kork Leitlinien für
Polyurethan Leichtbau
–3
Isopren
10_
weiche Kunst- Neopren
stoffschäume
Butylgummi
–4
10_ 102 m/s

0,01 0,1 1 10
Dichte ρ in Mg/m3

Abb. 14.22 Elastizitätsmodul-Dichte-Diagramm in doppelt-logarithmischer Auftragung; Werkstoffauswahldiagramm für leichte, steife Bauteile

die Gerade parallel verschoben. Je weiter die Gerade Fahrradrahmen für Hochleistungssportler und von Ro-
nach oben links verschoben wird, desto höher ist die torblättern von Windkraftanlagen zum Einsatz kommt.
Eignung für eine Anwendung, bei der ein Bauteil mög-
lichst steif und leicht sein soll. Wir erkennen auch hier, Die systematische Werkstoffauswahl mithilfe von Werk-
dass CFK ein höheres Leichtbaupotenzial bietet als Stäh- stoffindizes (Leichtbaukennzahlen) und Werkstoffaus-
le, weshalb dieser Werkstoff bevorzugt z. B. beim Bau von wahldiagrammen beschränkt sich keineswegs auf den
366 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus

Leichtbau. Unter Einbeziehung anderer charakteristischer Wanner A, Fleck C, Ashby MF (2006) Materials Selection
Werkstoffeigenschaften lassen sich Werkstoffindizes zur in Mechanical Design: Das Original mit Übersetzungs-
Eignung für nahezu beliebige Anwendungen definieren. hilfen: Easy-Reading-Ausgabe, Springer
Werkstoffindizes stellen eine anwendungsorientierte Er-
gänzung zu den sonstigen Werkstoffeigenschaften dar. Reuter, M (2006) Methodik der Werkstoffauswahl: Der
systematische Weg zum richtigen Material, Hanser
Ashby MF, Jones DRH, Heinzelmann M (Hrsg.) (2006)
Werkstoffe 1: Eigenschaften, Mechanismen und An-
wendungen, 3. Aufl., Springer Spektrum
Ashby MF, Jones DRH, Heinzelmann M (Hrsg.) (2006)
Werkstoffe 2: Metalle, Keramiken und Gläser, Kunst-
Werkstoffkunde

stoffe und Verbundwerkstoffe, 3. Aufl., Springer Spek-


Weiterführende Literatur trum
Schwab, R (2006) Werkstoffkunde und Werkstoffprüfung
Callister WD, Rethwisch DG (2012) Materialwissenschaf- für Dummies, 2. Aufl., Wiley-VCH
ten und Werkstofftechnik: Eine Einführung, Wiley-
VCH Merkel M, Thomas KH (2008) Taschenbuch der Werkstof-
fe, 7. Aufl., Hanser
Ashby MF, Shercliff H, Cebon D (2013) Materials: En-
gineering, Science, Processing and Design, 3. Aufl., Weitze MD, Berger C (2013) Werkstoffe: Unsichtbar, aber
Butterworth-Heinemann unverzichtbar, Springer

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 14.1 Festigkeit, hohe Schmelzpunkte, geringe elektrische Leit-


CFK: leicht, steif und fest, fähigkeit, schlechte Verformbarkeit
Titan: leicht, korrosionsbeständig, fest, Kovalente Bindung: hohe Bindungsstärke, gebundene
Stahl: kostengünstig, einfach verarbeitbar, Elektronen → Keramiken: hohe Festigkeit, hohe Schmelz-
Aluminium: leicht, kostengünstig, gut verarbeitbar, kor- punkte, geringe elektrische Leitfähigkeit, schlechte Ver-
rosionsbeständig. formbarkeit → Polymere: entlang der Kette hohe Bin-
dungsstärke, fehlende elektrische Leitfähigkeit
Antwort 14.2 Kostengünstig, große Formenvielfalt, gut Van der Waals-Bindung, Wasserstoffbrückenbindung:
einfärbbar, nicht gesundheitsschädlich, korrosionsbestän- schwache Bindungen → Polymere: zwischen den Ketten
dig, waschbar, . . . nur schwache Bindungskräfte, daher niedrige Schmelz-
punkte und geringe Festigkeit, gute Verformbarkeit
Antwort 14.3 Metallische Bindung: bewegliche Elektro-
nen, hohe Packungsdichte → Metalle: hohe Festigkeit,
leichte Verformbarkeit, hohe thermische und elektrische
Leitfähigkeit Antwort 14.4 Elastizitätsmodul, Elastizitätsgrenze
Ionische Bindung: hohe Bindungsstärke, gebundene (Streckgrenze oder Ersatzdehngrenze), Zugfestigkeit,
Elektronen, Ionen als Gitterbausteine → Keramiken: hohe Bruchdehnung
Aufgaben 367

Aufgaben

Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

Werkstoffkunde
14.1 • Nennen Sie die gängigen Gitterstrukturen 14.4 •• Wenn Sie ein reines Metall in seiner Festig-
von metallischen Werkstoffen und fertigen Sie dazu je- keit steigern möchten, welche Verfestigungsmechanismen
weils eine Handskizze an. stehen Ihnen zur Verfügung, wenn ein nachträgliches Zu-
legieren von Fremdatomen ausgeschlossen ist?
Resultat: Die gängigen Gitterstrukturen sind kubisch-
raumzentriert, kubisch-flächenzentriert und hexagonal Resultat: Wechselwirkungen zwischen Versetzungen
dichtest gepackt. oder Wechselwirkung von Korngrenzen und Versetzun-
gen.
Zeichnungen nach Abb. 14.15.

14.5 • • • Der Werkstoffindex für eine leichte, steife


14.2 • Nennen Sie je ein Anwendungsbeispiel für Platte lautet E1/3 /ρ. Welche Steigung der Auswahlgera-
einen Polymermatrixverbund (PMC), einen Metallma- den ergibt sich hierbei im Werkstoffauswahldiagramm?
trixverbund (MMC) und einen Keramikmatrixverbund
(CMC). Hinweis: Werkstoffauswahldiagramme werden logarith-
misch aufgetragen. Hier ist das Diagramm log E vs. log ρ
Resultat: relevant
PMC: Fahrradrahmen, Sportgeräte, Automobilkarosserie- Resultat: Steigung 3.
bauteile (Stoßstangen, Kotflügel).
MMC: Zylinderbuchsen, Wärmesenken, Schneidwerk- 14.6 • • • Wie lautet der Werkstoffindex für einen leich-
stoffe. ten, steifen Zugstab? Wenn Sie die Werkstoffe Alumini-
umlegierungen, Titanlegierungen und Stähle miteinander
CMC: Stahlbeton, Bremsscheiben.
vergleichen, stellen Sie dann nennenswerte Unterschiede
in der Eignung fest? Welcher wesentliche Unterschied er-
14.3 •• Beschreiben Sie die wichtigsten Verfesti- gibt sich, wenn Sie jeweils Zugstäbe gleicher Steifigkeit
gungsmechanismen. aus diesen Materialien fertigen?

Resultat: Der Werkstoffindex lautet E/ρ. Die drei


Resultat:
Werkstoffe Titanlegierungen, Aluminiumlegierungen
1. Wechselwirkungen zwischen Versetzungen. und Stähle besitzen jeweils einen Werkstoffindex von
2. Wechselwirkung von Korngrenzen und Versetzungen. ca. 25 GPa/(g/cm3 ) und sind damit alle ähnlich geeig-
3. Wechselwirkung von Mischkristallatomen und Verset- net. Die Zugstäbe sind bei gleicher Steifigkeit daher alle
zungen. ungefähr gleich schwer, jedoch steigt der notwendige
4. Wechselwirkung von Teilchen oder Ausscheidungen Querschnitt mit sinkender Dichte, wenn die Steifigkeit
und Versetzungen. gleich bleiben soll.
Werkstoffe –
Leistungspotenziale
15
erkennen und nutzen
Homo sapiens Julius Cäsar Karl V. Wilhelm II. + Franz Josef Adenauer + DeGaulle Mao Zedong Barack Obama Welche Rolle spielen
Werkstoffe für

Werkstoffkunde
Innovationen?
Mit welchen Werkstoffen
keine Leichtmetalle etwa hunderttausend Metalle werden Maschinen
Aluminium Ti-Legierungen
Al-Li Legierungen gebaut?
Zinn Eisen Baustahl amorphe Metalle
Metalle Gold Kupfer Bronze Gusseisen legierte Stähle Superlegierungen mikroleg. Stähle
Magnesium
Zircalloy zellulare Metalle
Wie werden Werkstoffe
keine Polymere
ausgewählt?
mehr als 50.000

Nylon PS Acryl PTFE temperarturbeständige Welche Kennwerte sind für


organische Holz Textilien Polymere (PEEK)
Klebstoffe Elastomere Bakelite PMMA PP Epoxide Polyester Konstruktionswerkstoffe
Stoffe Leder
PE PC steifkettige
zellulare Polymere Polymere wichtig?
zahlreiche lokale Varianten viele Tausende

Keramik Feuerstein Glas feuerfeste Portland- Quarz- Hart- Glas- technische Keramik
Gläser Steine Tonerde Zement Keramik zement glas stoffe keramik Al2O3, SiC, Si3N4, PSZ etc.

kaum Verbundwerkstoffe viele Hunderte

GFRP Kevlar-FRP Keramikmatrix-


Verbund- Strohziegel Papier CFRP Metallmatrix-
werkstoffe
Polymermatrix-Verbundwerkstoffe

Steinzeit Bronzezeit Eisenzeit mehrere Hundert > 160.000 Konstruktionswerkstoffe


5000 v. Chr. 0 1500 1800 1900 1940 1960 1980 1990 2000 2010

15.1 Werkstoffe und ihr Innovationspotenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370


15.2 Werkstoffangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
15.3 Werkstoffanforderungen und Kenngrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
15.4 Dichte und thermische Ausdehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
15.5 Elastische Verformung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
15.7 Härteprüfung zur Werkstoffidentifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420
15.8 Plastische Verformbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430
15.9 Bruchvorgänge in Werkstoffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
15.10 Festigkeit spröder Werkstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447
15.11 Werkstoffschäden durch Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466
15.13 Abnutzung der Werkstoffe – Verschleiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
15.14 Werkstoffschädigung durch Korrosion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
15.15 Mehrfachbelastung der Werkstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508
Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 369


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_15
370 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Die Verfügbarkeit von Werkstoffen bestimmte die Menschheitsge- eine effiziente Funktionalität zum Ziel. Dazu sind ökolo-
schichte und die aktuelle technische Entwicklung. Ihr Einsatz sowie gische Randbedingungen zu beachten, die sowohl bei der
ihre Herstellung und Entsorgung beeinflussen unsere Lebensweise, Herstellung als auch im Einsatz einen möglichst gerin-
aber auch die Natur wesentlich. gen Materialeinsatz und Energieaufwand fordern. Über-
dimensionierung von Maschinen verbraucht nicht nur
Maschinen müssen bestimmte Anforderungsprofile erfüllen, die die
unnötigerweise Werkstoffe, sondern bewirkt auch Ener-
Werkstoffauswahl für deren Bauteile festlegen. Dafür soll der Kon-
gieverschwendung. Der Einfluss der Maschine auf die
strukteur das Angebot an Werkstoffen und deren Eigenschaftspro-
Umwelt ist in ihrem gesamten „Produktlebenszyklus“
file kennen. Im 20. Jahrhundert erhöhte sich die Werkstoffvielfalt
von der Produktion über den Einsatz mit dem erzielba-
enorm und mit ihr die Innovationsrate (Ashby et. al. 2006).
ren Nutzen bis zu Maßnahmen zur Außerbetriebnahme
Im Maschinenbau ist die mechanische Belastbarkeit der Konstruk- zu analysieren und zu bewerten (siehe Kap. 33).
tionswerkstoffe am wichtigsten, wobei meist auch die thermo-
Abbildung 15.1 stellt die Interaktion zwischen Werk-
Werkstoffkunde

physikalischen Eigenschaften eine Rolle spielen. Wegen der Vielfalt


stofftechnik und Konstruktion dar, um einen effizienten
der Werkstoffe ist es hilfreich, wenn man die Ursachen der wichtigs-
Werkstoffeinsatz zu verwirklichen. Die wirtschaftliche
ten Eigenschaften sowie ihre Veränderlichkeit bei der Verarbeitung
Effizienz spielt dabei eine wesentliche Rolle. Der Roh-
und im Gebrauch versteht. Die Schädigungsmechanismen, die in
stoffhandel unterliegt häufig den aktuellen Bewertungen
den Werkstoffen ablaufen können, schränken die Belastbarkeit der
der Finanzwirtschaft (z. B.: Leicht-, Bunt- und Edelme-
Bauteile ein (Ashby et. al. 2013. Die Funktionstüchtigkeit eines Ma-
talle werden an der Börse gehandelt, daher hat deren
schinenteiles wird durch die Werkstoffeigenschaften im gefertigten
Preis oft wenig mit den Gewinnungskosten zu tun). Das
Zustand gewährleistet, den der Hersteller am besten kennt und auf
politische Umfeld und der Markt verlangen einen gewis-
den sich auch die vom Konstrukteur herangezogenen Datenblätter
sen gesellschaftlichen Nutzen (Gemeinwohlorientierung)
beziehen sollen.
von Maschinen. Die Gesetzgebung bezüglich Umwelt-
und Konsumentenschutz beeinflusst die Werkstoffaus-
wahl immer mehr (z. B.: Emissions-, Sicherheits- und Ab-
15.1 Werkstoffe und ihr fallverwertungsvorschriften für Kraftfahrzeuge).

Innovationspotenzial Die Deckung eines Bedarfes bzw. der Nachfrage sind


Voraussetzung für den Markterfolg eines Produktes.
Das Konsumverhalten ist gesellschaftlichen Trends unter-
Zur Realisierung von Maschinen sind geeignete Werk- worfen. Die Anforderungen gemeinschaftlich genutzter
stoffe auszuwählen, damit sie das Anforderungsprofil Maschinen unterscheiden sich von denen, die auf in-
möglichst gut erfüllen. Diese Ingenieuraufgaben haben dividuelle Bedürfnisse ausgerichtet sind (vergleiche die

Abb. 15.1 Ingenieuraufgaben Ingenieuraufgabe


zum effizienten Maschinenbau
werden über den Markt durch
die Gesellschaft und die Wirt-
Werkstofftechnik effiziente, Minimierung Konstruktion
schaftsverhältnisse sowie durch die
nachhaltige des Material- und
Gesetzgebung wesentlich beein-
Gewinnung Energieeinsatzes
flusst, sodass die Werkstoffeffizienz Entwicklung,
unter verschiedensten Gesichtspunk- Herstellung, Funktionalität,
ten zu bewerten ist Formgebung Zuverlässigkeit

Wieder- Produktlebens-
verwertung zyklusbewertung
Werkstoff-
effizienz
Rohstoffhandel, Privat- oder
Arbeitsbedingungen, Gemeinschafts-
Preis/Kosten nutzung

Umweltschutz, Gesellschaftspolitik,
Rezyklier- Gemeinwohl-
vorschriften orientierung
Marktbedarf Konsum-
Konsumenten- verhalten
Wirtschaft Gesellschaft
schutz
Gesetzgebung Lebensweise
15.1 Werkstoffe und ihr Innovationspotenzial 371

Abb. 15.2 Mehrdimensionale


Anforderungen und Variablen bei
der interaktiven Werkstoffaus- Funktionen
wahl mechanische Stabilität,
Lastübertragung,
Wärme-/Stromleitung,
Energiespeicher,
Reibung, Umgebung,
Werkstoff ästhetisch etc.
Verfügbarkeit,
Bauteilauslegung
Herstellungsbedingungen, Geometrie/ Abmessung,
Gefüge, mechanische, Konstruktion,
physikalische, Modellierung/Simulation,
thermische, Verschleiß-, Teilevielfalt, Lastenheft,

Werkstoffkunde
Korrosionseigenschaften Komplexität, Wartung

Ökologie/Ökonomie Verarbeitung
Kosten, Gestalt, Formgebung,
Wieder-/Weiterverwertung, Fertigungstoleranzen,
ökologischer Fußabdruck Eigenspannungen,
und Umwelteinflüsse, Fügetechnik, Oberflächen-
Energieeinsatz bei veredelung, herstellungs-
Herstellung und bedingte Eigenschafts-
im Gebrauch veränderungen

Anforderungen an ein Sammeltaxi mit denen eines Sport- Vom Maschinenbau- und Wirtschaftsingenieur werden
wagens). Die Beurteilung der Werkstoffeffizienz richtet Grundkenntnisse der Prozesskette verlangt, damit er
sich demnach nicht nur nach technischen Bewertungen, die kritischen Parameter erkennt und bei der Werk-
sondern ist darüber hinaus gesellschaftlichen Wandlun- stoffauswahl in Zusammenarbeit mit den Werkstoffex-
gen unterworfen (vergleichen Sie die Ausstattung der perten effiziente Lösungen suchen kann. Die Auswahl
Kraftfahrzeug vor 50 Jahren mit der heutigen). des Werkstoffes und seiner Formgebung steht in enger
Wechselbeziehung mit der Konstruktion eines Bauteiles.
Abbildung 14.1 stellt das Ziel eines funktionstüchtigen,
Auf der Basis der genauen Analyse des Marktbedarfs und
marktfähigen Produktes voran. Für seine Entwicklung
des realen Belastungsspektrums der Einsatzbereiche einer
sind Korrelationen erforderlich zwischen den Gebrauchs-
Maschine wird ein Bauteilkonzept erstellt (siehe Kap. 32).
werten (z. B.: steif, fest, leicht etc.) und den zugehöri-
Über die Konstruktionsidee werden Anforderungsprofile
gen Werkstoffkennwerten (Elastizitätsmodul, Dehngren-
für die Bauteile erarbeitet, wonach die Werkstoffe aus-
ze, Dichte etc.) in Abhängigkeit vom Fertigungspro-
gewählt werden können. Da die Anforderungsprofile im
zess (Gießen, Umformen, Bearbeiten usw.) des Bauteiles.
Allgemeinen komplex sind, müssen sowohl in der Ausle-
Mit den Kennwerten, Gestaltvarianten und erwarteten
gung als auch in der Werkstoffauswahl Kompromisse ge-
Betriebsbedingungen können theoretische Auslegungs-
schlossen werden. Möglicherweise werden Pflichtenhef-
und Belastungssimulationen durchgeführt werden, um
te (Ausschreibungs- bzw. Bestellspezifikationen) für den
den Konstruktionsvorschlag zu prüfen. Die Bauteillösun-
Werkstofflieferanten erst nach mehreren Entwicklungs-
gen sind im Allgemeinen mit verschiedenen Werkstof-
schleifen festgelegt. Der Konstrukteur kann in Zusam-
fen realisierbar, aber werden unterschiedliche Konstruk-
menarbeit mit dem Bauteil- bzw. den Werkstofflieferanten
tionen erfordern. Dabei werden Erfahrung und „Trial-
die wirtschaftliche Machbarkeit seines Entwurfs verifi-
and-error-Methoden“ zunehmend durch vorausschauen-
zieren. Daraufhin wird er entweder seine Konstruktion
de Modellierung und anforderungsgerechte Simulation
entsprechend modifizieren und/oder geeignetere Werk-
ersetzt.
stoffe und Fertigungsverfahren auswählen. In jedem Fall
werden dafür Werkstoffkennwerte benötigt, die nicht nur Abbildung 15.2 erläutert die fünf Eckpunkte des „Dia-
vom Werkstoff sondern auch vom infrage kommenden manten“ in Abb. 14.1, die bei der Werkstoffauswahl in
Formgebungsprozess abhängen. Für die ökologischen Be- Betracht gezogen werden müssen: Materialeigenschaf-
wertungen sind Kenntnisse über die Fertigungskette der ten, die der angestrebten Funktion durch entsprechende
Bauteile und deren Werkstoffe erforderlich (Umweltrele- Bauteilauslegung gerecht werden; die vom Werkstoff ab-
vanz der Werkstoffe siehe Kap. 33). hängigen Verarbeitungsverfahren, die die Konstruktion
372 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Tab. 15.1 Vorlage zur Beantwortung der Frage 15.1 mit den Gebrauchseigenschaften und Marktkriterien für Werkstoffbeispiele der beiden Fahrradtypen
Einsatzbereiche der Fahrräder Rahmen für Stadtfahrrad Rahmen für Mountainbike
Werkstoffvorschlag Aluminium-Knetlegierung: kohlenstofffaserverstärkte Kunststoffe
AW6061 (AlMg1SiCu)a (CFK) für Rahmen
Auswahlkriterien
Formgebung
Fügeverfahren
Erforderliche Einbauteile
Oberflächenbehandlung
Erforderliche Werkstoffkennwerte (Angaben zum (Art der erforderlichen Kennwerte – (Tab. 15.5), relative Höhe der Werte der
Mindestniveau): beiden Werkstofflösungen)
Festigkeit
Steifigkeit
Werkstoffkunde

Ermüdungsresistenz
Bruchzähigkeit
Massenbezug
Korrosionsbeständigkeit
ästhetische Gestaltbarkeit (relativ)
Materialpreis/(-niveau)
Fertigungskosten (relativ)
Materialmenge (relativ)
Herstellungs-Footprint (relativ)
Betriebsmittelerfordernis
Weiter-/Wiederverwertung (prinzielle Verfahren und
Deponierungs- bzw. Emissionsanfall bezeichnen)
alternative Werkstofflösungen üblicher 24CrMo4-Stahl höchstfeste Al-Legierung AW7075
(AlZn5,5MgCu)a
Wichtigste Konsequenz gegenüber obiger Lösung?
a
Bezeichnung nach DIN EN 573-2

und die Funktion ermöglichen; die ökologischen Konse-


quenzen sowohl der Herstellung als auch des Maschinen- Die Werkstoffauswahl erfolgt nach Abb. 15.2:
einsatzes und der Außerbetriebnahme, sowie die markt-
gerechte Erfüllung der Funktion der Maschine. aufgrund der Bauteilfunktion gemäß Anforde-
rungen, Anwendungsnutzen und Auslegung,
Geeignete Werkstoffe sind erforderlich, um zur Lösung unter Berücksichtigung der geeigneten Verarbei-
globaler Herausforderungen beizutragen, wofür folgende tungsverfahren für die gewünschte Form,
Beispiele stehen: mithilfe der Werkstoffeigenschaften im gefertig-
ten Bauteil gemäß Anforderungen,
Energietechnik: Hochtemperaturwerkstoffe, Solarzel-
unter Berücksichtigung der Umwelteinflüsse bei
lenmaterial, Stromleiter . . .
Herstellung, Verwendung und Außerbetriebnah-
Ernährung: verschleißfeste Werkstoffe, Verpackungs-
me,
material, Behälterwerkstoffe . . .
gemäß Werkstoffverfügbarkeit und seinen Kosten
Medizin: Implantatwerkstoffe, Formgedächtnislegie-
für die Bauteilfertigung.
rungen, Aktuatorwerkstoffe . . .
Wohnen: Stähle, Isolationsmaterial, Glas . . .
Mobilität: Leichtbauwerkstoffe, Verbundwerkstoffe,
Frage 15.1
Akkumulatormaterialien . . .
Informationstechnologie: Halbleiter, nanostrukturierte Versuchen Sie aus Ihren Erfahrungen, die in Tab. 15.1
Materialien, Wärmeleiter . . . vorgegebenen Werkstoffe qualitativ nach den im Beispiel
Produktionstechnologie: Beschichtungen, Fügetech- angegebenen Kriterien für die beiden Fahrradtypen zu
nik, Formgebungsverfahren . . . bewerten. Vergleichen Sie die Eignung der vorgegebe-
Sicherheit: Stoßabsorbermaterialien, Sensorwerkstoffe, nen Werkstofflösungen relativ zu einander. Tragen Sie die
schlagresistente Verbundwerkstoffe . . . Kriterien in jeder Entscheidungsstufe der Werkstoffaus-
wahl Ihrem Wissensstand gemäß nach den in Tab. 15.1
und Abb. 15.2 angegebenen Anforderungen und Varia-
Zahlreiche technische Errungenschaften, die neue An- blen für die unterschiedlichen Einsatzbereiche der beiden
forderungen erfüllen, wurden erst durch die Verfügbar- Fahrradtypen ein (beraten Sie sich mit anderen vor dem
keit geeigneter Werkstoffe ermöglicht. Die Werkstofffor- Studium des Kap. 15 und überprüfen Sie Ihre Eintragun-
schung hat im vorigen Jahrhundert enorm viele Materiali- gen danach).
en für die maschinenbaulichen Anwendungen entwickelt.
15.2 Werkstoffangebot 373

Beispiel: Anforderungsprofile für zwei Fahrradvarianten; einem in städtischen Bereichen


nützlichen Transportmittel und einem Sportgerät für unwegsames Gelände

Kriterien Rahmen für Stadtfahrrad Rahmen für Mountainbike


Hauptfunktionen: Fortbewegung auf Straßen Fortbewegung im Gelände
1) Mensch und Gepäck tragen <150 kg + 20 kg <100 kg
2) kann getragen werden <15 kg <10 kg
3) braucht wenig Kraft, bremst sicher einfache Gangschaltung großer Übersetzungsbereich, starke Bremsen
4) korrosionsbeständig witterungsbeständig, einfach zu pflegen witterungs- und morastbeständig
5) Licht und Reflektoren beschmutzt nicht
Konstruktionsidee (prinzipielle Ge- Trapezrahmen Rahmen mit Federung

Werkstoffkunde
stalt und Form des Rahmens, siehe
Abschn. 14.1)
Belastungssimulationen Biege- und Torsionsteifigkeit höhere Biege- und Torsionssteifigkeit
(hauptsächliche Krafteinwirkungen) Traglast <150 kg Traglast <100 kg
korrosionsbeständig Schlag- und Ermüdungsresistenz
leicht sehr leicht
Randbedingungen des Marktes: großserientauglich Kleinserie, Spezialitätenmarkt
1) Preisniveau (Limit ja/nein) so billig wie möglich Preis relativ zum Wettbewerb
2) Einsatzdauer 10 Jahre, reparaturfähig, 1–2 Jahre
3) Prestigeträchtig im Design in der Funktionalität
Umweltrandbedingungen (qualitativ): Lebenszyklus der Bestandteile
1) Materialmenge Rohre geringer Masse
2) Herstellungs-Footprint Werkstoffherstellung, Formgebung, Oberflächenbehandlung
3) Einsatz-Footprint (Betriebsmittel) Schmiermittel, Reinigung, Reparaturen
4) Außerbetriebnahme Werkstoffe trennen, Werkstoffweiterverwertung, Entsorgung

15.2 Werkstoffangebot rakterisiert werden können. Werkstoffverbunde hingegen


werden aus Ausgangsstoffen zusammengefügt, beispiels-
weise lamellenartig (Schichtstrukturen) oder als Langpro-
Eine Übersicht der verfügbaren Konstruktionswerkstoffe dukte (z. B. Kabel).
zeigt Abb. 15.3. Unter dem Begriff Konstruktionswerk-
stoffe werden jene eingeordnet, die vorwiegend mecha- Die monolithischen (massiv, aus einem Stück) Werkstof-
nischen Belastungen ausgesetzt sind, also Werkstoffe für fe werden gemäß ihrer vorherrschenden, atomistischen
den Maschinenbau und das Bauwesen. In diesen Markt- Bindungsart unterschieden (Abschn. 14.3). Die metalli-
segmenten werden auch Funktionswerkstoffe (elektrische schen Werkstoffe werden im Maschinenbau als Legie-
Leiter, Sensor- und Aktuatorwerkstoffe . . . ) eingesetzt, de- rungen mit dominanter metallischer Bindung eingesetzt.
ren physikalische Eigenschaften im Vordergrund stehen. Tabelle 15.2 zeigt, dass die Eisen-Basislegierungen den
In Abb. 15.3 werden die Werkstoffhauptgruppen Na- jährlichen Bauholzverbrauch gewichtsmäßig etwas über-
turstoffe, Verbundwerkstoffe, Werkstoffverbunde, metal- treffen, aber nur etwas weniger als die Hälfte der globalen
lische Werkstoffe, Polymere, Kohlenstoffmodifikationen Zementproduktion erreichen. Etwa 50 % des Stahls wird
und Keramiken mit ihren Gruppen und Untergruppen als Flachprodukt (Warmwalzprodukte) hergestellt, 45 %
angeführt. als Langprodukte (Stangen, Drähte), und der Rest fällt
auf Schmiede- und Gussprodukte. Die Stahluntergruppen
Die Naturstoffe bestehen meist aus mehreren organischen werden nach ihrer Verwendung bezeichnet (Abb. 15.3),
Stoffen und können somit auch zu den Verbundwerk- und zusätzlich gibt es die Untergruppe der Eisen-Basis-
stoffen gezählt werden. Holz ist mikroskopisch ein Faser- legierungen für das Urformen (Gießen, Sintern).
verbundwerkstoff. Tabelle 15.2 zeigt seine mengenmäßige
Bedeutung, vor allem im Bauwesen. Naturstoffe sind Die Werkstoffgruppe der intermetallischen Verbindungen
mehr oder weniger porös. Zu den technischen porösen ist relativ klein. Intermetallics gewinnen erst in jüngster
Stoffen zählen beispielsweise feuerfeste Keramiken, wäh- Zeit Bedeutung als Aluminide und Silizide, die stöchio-
rend zellulare Materialien mehr als 50 % Porosität auf- metrische Verbindungen (mit kovalentem Bindungsan-
weisen, wie Schaumstoffe. Aus entwicklungshistorischen teil) metallischer Elemente mit Al bzw. Si sind. Sie zeich-
Gründen werden die porösen und zellularen Materiali- nen sich durch hohe Warmfestigkeit aus.
en der Hauptgruppe der Verbundwerkstoffe zugeordnet. Die heterogene Gruppe der Nichteisenmetalle enthält die
Die Kombinationsmöglichkeiten von Materialien brin- Leichtmetalle auf Magnesium-, Aluminium- oder Titan-
gen eine große Vielfalt an Verbundwerkstoffen hervor, Basis, die im Transportwesen Energieeinsparungen er-
die makroskopisch mit einheitlichen Eigenschaften cha- möglichen. Magnesium und Titan erhielten erst in der
374 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Konstruktionswerkstoffe

Naturstoff Verbundwerkstoff (Polymer-, Metall-, Keramikmatrix) Werkstoffverbund Hybride

Holz faserverstärkte Werkstoffe poröse Materialien beschichtete Werkstoffe Verbundwerkstoffe,


Werkstoffverbunde,
Naturstein Partikelverbundwerkstoffe (inkl. Hartmetall) zellulare Werkstoffe (> 50 Vol. %) gradierte Materialien zellulare Materialien
aus mehreren
Naturfasern interpenetrierende Verbundwerkstoffe Schichtverbunde, Laminate
Verbundkomponenten
gefügte Materialien
metallischer Werkstoff

Fe- Basislegierungen Nichteisenmetall


Werkstoffkunde

Grundstahl Stahl für thermische Werkzeugstahl Guss-/ Leichtmetall Schwermetall eisenähnliche


und korrosive Sintereisen Legierungen
Karosserieblech Beanspruchung Kaltarbeitsstahl Magnesiumlegierung Zinnlegierung
Stahlguss Chrom-
Einsatzstahl kaltzähe Stähle Warmarbeitsstahl Aluminiumlegierung Zink-, legierungen
Grauguss Cadmiumlegierung
Vergütungsstahl warmfester Stahl Schnellarbeitsstahl Titanlegierung Mangan-
Lamellenguss Kupferlegierung legierungen
Federstahl zunderbeständiger
Stahl Vermikularguss Nickel-, Vanadium-
Automatenstahl Kobaltlegierung legierungen
druckwasserstoff- Sphäroguss
Sonderstahl beständiger Stahl Refraktärlegierung
korrosionsbeständiger weißes Gusseisen
Edelmetalllegierung
Stahl
Hartguss
Keramik Temperguss
intermetallische Verbindungen
Kohlenstoff
modifikationen Sinterstähle Aluminide
Polymere poröse Keramik

Graphit Steinzeug Silizide


Thermoplast Graphen
Porzellan
Elastomer C-Fasern
C-nanotubes High-Tech Keramik
Duromer
Diamant Oxide

Karbide

Nitride

Boride

keramische Gläser

Abb. 15.3 Das Werkstoffmenü der Werkstoffhauptgruppen(Naturstoffe, Verbundwerkstoffe, Werkstoffverbunde, Hybride, metallische Werkstoffe, Polymere, Koh-
lenstoffmodifikationen und Keramiken) unterteilt in Werkstoffgruppen und -untergruppen

zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts großtechnische rungen, da sie Nachbarelemente von Eisen sind. Vanadi-
Bedeutung, aber wie Tab. 15.2 und Abb. 15.4 zeigen, ist um-Basislegierungen werden großtechnisch nicht einge-
ihr Marktanteil relativ gering. Die Produktion primärer setzt.
und sekundärer Aluminium-Legierungen erreicht 2015
Zu den Schwermetallen zählen alle Legierungen auf der
mit 67 Mio. Jahrestonnen etwas mehr als 1/30 der Stahl-
Basis von Elementen, deren Atomgewichte schwerer sind
produktion. Leichtwerkstoffe (Leichtmetalle und Polyme-
als Eisen (Fe), wie Kupfer (Cu), Zink (Zn), Nickel (Ni), Ko-
re) zeigen ein relativ hohes Wachstum und veränderten
in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts den Ma- balt (Co), Edelmetalle, Übergangselemente der 5. Haupt-
schinenbau vor allem den Fahrzeugbau. Die Produktion gruppe (ab Yttrium) und der hochschmelzenden Refrak-
von Sekundäraluminium aus umgeschmolzenen Alumi- tärmetalle der 6. Hauptgruppe (ab Hafnium) (siehe Peri-
nium-Abfällen hinkt der Primäraluminiumverarbeitung odensystem Abb. 14.10). Ihr Gebrauchs- und Marktwert
um etwa 30 Jahre nach, da dies die Nutzungsperiode ein- ist zwar in vielen Fällen hoch, aber die Verbrauchsmen-
schließt. gen sind relativ gering.
Die nichtmetallischen Werkstoffe bestehen aus den
Legierungen mit Mangan (Mn) oder Chrom (Cr) als Hauptgruppen Keramiken, Kohlenstoffmodifikationen
Hauptelemente werden für spezielle Anwendungen ent- und Kunststoffe. Diese zeichnen sich durch kovalente Bin-
wickelt und verhalten sich ähnlich wie Eisen-Basislegie- dungen aus, aber bei den Polymeren bestimmen die Se-
15.2 Werkstoffangebot 375

Vertiefung: Werkstoffproduktion

Die Werkstoffproduktion wuchs im vorigen Jahrhun- 2008 hat das Wachstum kurzzeitig beeinträchtigt und
dert um Größenordnungen. danach wieder steigt.
Die jährlichen Produktionsmengen der Werkstoffe er- Aufgrund der unterschiedlichen spezifischen Massen
fuhren im 20. Jahrhundert ein enormes Wachstum (Dichte) unterscheiden sich die Produktionsmengen in
(Abb. 15.4). War der Werkstoff des 19. Jahrhunderts Jahrestonnen von denen in Produktionsvolumina be-
neben Holz vor allem Stahl (ca. 30 · 106 t). Die Jah- trächtlich (vergleiche die Massenprozent mit den Vol.-
resproduktion von Stahl verzehnfachte sich während %: Zement 50 Massen-%, Holz 42 Vol.-%). Preisunter-
des Zweiten Weltkriegs bis etwa 1950. Die Leichtme- schiede ergeben eine unterschiedliches Marktvolumen,

Werkstoffkunde
talle, Polymere und die korrosionsbeständigen Stähle das von den Eisen-Basislegierungen (Stählen) mit 58 %
erreichten erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr- angeführt wird, weit abgeschlagen gefolgt von Zement
hunderts signifikante Marktanteile. Die Finanzkrise ab (13 %) und Kunststoffen (12 %).

Tab. 15.2 Vergleich der globalen Jahresproduktion der gebräuchlichsten Werkstoffe nach Daten der Produktbranchen 2015
Werkstoffgruppe spez. Masse der relative Volumen relative Durchschnittl. Wirtschafts- rel. Werte
Masse Produktion Massen der Pro- Volu- auf Stahl volumen des Markt-
in in 106 t in % duktion mina in normierter in 109 Ξ volumens
t/m3 in 106 m3 % Preis/kg in Ξ in %
Eisenbasislegierungen 7,9 1700 23 215 7 1 1700 58
Aluminiumbasislegierungen 2,72 55 0,7 20 0,7 5 275 9,3
Sekundäre Al-Legierungen 2,72 14 0,2 5 0,2 4 70 2,2
Magnesiumlegierungen 1,75 0,9 ~0,01 0,5 0,02 6 5 0,2
Polymere 1,1 320 4 290 9 1,1 350 12
Bauholz 0,5–1 1600 22 1300 (fma ) 42 <0,1 160 5,3
Zement 3 3700 50 1230 41 0,1 370 13
Ungefähre Gesamtmengen – 7400 100 3000 100 – 2920 100
a Festmeter
Millionen Jahrestonnen

1000 Stahl

100 Polymere
2. Weltkrieg

Aluminium
Wirtschaftskrise

10
sekundäres
Aluminium
1 rostfreier
Stahl Magnesium

0,1

Titan
0,01
1900 1920 1940 1960 1980 2000 2015

Abb. 15.4 Marktwachstum der wichtigsten Konstruktionswerkstoffe im 20. Jahrhundert und bis 2015 mit den markanten Ereignissen des 2. Weltkrieges
und der Finanzkrise 2008/09
376 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Übersicht: Einteilung der Werkstoffe

Es stehen an die 200.000 Werkstoffe zur Auswahl, Die gebräuchlichsten metallischen Werkstoffe sind mit
daher werden sie nach ähnlichen Zusammensetzun- DIN-Kurzbezeichnungen angegeben, da diese die Zu-
gen und Eigenschaften in Werkstoffkategorien und sammensetzung anzeigen. Wo angebracht, werden
-gruppen eingeteilt. genormte Symbole verwendet, um Sie mit diesen
Bezeichnungen vertraut zu machen. Stichwortartig
Die Vielfältigkeit des Werkstoffmenüs ist schwer dar- werden dies Werkstoffe und ihr Einsatz charakteri-
stellbar. In Tab. 15.3 sind typische Beispiele für Werk- siert (für detailliertere Beschreibungen konsultieren
stoffe aus verschiedenen Werkstoffhauptgruppen und Sie das Internet unter den angegebenen Bezeichnun-
-gruppen in alphabetischer Reihenfolge angeführt. gen).
Werkstoffkunde

Tab. 15.3 Werkstoffbeispiele, mit Stichworten zur Charakterisierung (Werkstoffe für die Leitbeispiele sind fett hervorgehoben und mit (a)–(d) gemäß
Abb. 14.4–14.7 gekennzeichnet; die leeren Felder mit Fragezeichen sind als Frage 15.2 zu beantworten)
Werkstoffbezeichnung Hauptgruppe/Gruppe/Untergruppe Beschreibung/Zusammensetzung Anmerkung
Acheson-Grafit Kohlenstoff- Grafit künstlicher Grafit durch Zersetzung von Trockenschmier-
modifikation Siliziumkarbid hergestellt stoff
(a,d) AlSi9Cu3(Fe) ? Aluminium-Legie- ? Gussteile
(226D, EN-AC46000) rung
Aluminiumoxid Keramik Hightech Keramik Korund: Al2 O3 Düsen
(d) AZ91 ? Magnesium-Legie- ? Gussteile
rung
Balsa Naturstoff Holz Malvengewächsstamm, 0,1–0,2 g/cm3 anisotrop
Bast Naturstoff Naturfaser Siebröhrenzellen mit Zellulosefibrillen Textilien
Borkarbid Nichtmetall anorgan., Keramik B4 C mit hoher Verschleißresistenz Schleifmittel
Bronze Nichteisen- Kupfer-Legierung historisch: Cu mit 9–22 % Zinn (andere: Gussteile
Metall Al-, P-, Glocken-Bronze)
Cermet Verbund- Partikel verstärktes TiCN-, TiC- und/oder TaC-Partikeln in Schneidwerkzeug
werkstoff Metall <10 vol.% Mo- oder Co-Matrix
(d) C10 (EN 10132-2) ? Einsatzstahl ? Getriebeteil
(d) C22E (Ck22, EN 10132-3) Vergütungsstahl ? fest und zäh
DC04 (EN 10139, früher St14) Karosserieblech Rp0,2 = 140–220 MPa, A80 > 37 % tiefziehfähig
Epoxy (EP) Polymer Duromer Umsetzung von Epichlorhydrin mit gehärtet
Bisphenol A und Aminen als Härter
glasfaserverstärkte Polymere Verbund- faserverstärkter E-Glas Kurzfasermatten (GM) oder End- anisotrop
(GFK) werkstoff Kunststoff (im All- losfasergeweben vf < 60 vol% (GC) in
gemeinen Duromer) EP oder UP (Polyesterharz)
GJH X300CrNiSi9-5-2 Eisen- weißes Gusseisen Ca.3 % C, 9 % Cr, 5 % Ni, 2 % Si verschleißfest
(EN-GJN-HV600) Basis- (Ni-) Hartguss Härte 600 HV, E ~210 GPa
(EN-) GJS700-2 legierung Sphäroguss 3,4–3,8 % C, 2–3 % Si, kugeliger Grafit Kurbelwelle
<60 µm ∅, Rm >700 MPa, A >2 %
(b) GJV300 (EN-GJV-300) ? ? Kurbelgehäuse
GS38 (EN 10293) Fe-Basis- Stahlguss 0,1–0,2 % C, ~0,5 % Si, ~0,4 % Mn, wärmebeh.- u.
legierung Rm >380 MPa, A ~25 %, E ~205 GPa schweißbar
Hartzinn Nichteisen- Schwermetalllegie- >80 % Sn, 2–6 % Cu, (Pb, Sb), Gussleg. umformbar
Metall rung.
HS10-4-3-10 (EN-ISO 4957) Fe-Basis- Schnellarbeitsstahl 10 % W, 4 % Cr, 3,5 % Mo, 10 % Co, hohe Warmhärte
legierung 1,3 % C, pulvermetallurgisch
Messing Nichteisen- Kupfer-Legierung α-CuZn30-Knetlegierung, β =kubisch-
α = kubisch-flächenzentriert Metall α + β CuZn37-Gusslegierung raumzentriert
MoSi2 Intermetall. Silizid tetragonale Überstruktur, Ts >2000 °C, Heizelemente
Verbindung pulvermetallurgisch hergestellt
Multiwallnanotubes (MWNT) Kohlenstoff- C-Nanotube konzentrische, hexagonale C-Lagen ∅ < 0,1 µm
PAN-Fasern modifikation C-Faser pyrolisierte Nylon(PAN)-Faser, gezogen longitudinal hohe
in Bündeln >1000 Fasern à ∅ ∼ = 7 µm E, Rm
Polykrist. Diamant (PKD) synthet. Diamant Kohlenstoff in Diamantstruktur Schneiden
(c) Polypropylen (PP) ? ? Polymeris. Propen [C3 H6 ], teilkristallin transparent
15.2 Werkstoffangebot 377

Werkstoffbezeichnung Hauptgruppe/Gruppe/Untergruppe Beschreibung/Zusammensetzung Anmerkung


P235GH (EN 10216) Fe-Basisleg. Druckbehälterstahl Mikrolegiert, Streckgrenze >235 MPa Rohre
Schamott Keramik poröse Keramik Al2 O3 + SiO2 (Mullit) feuerfest
Schaumstoff Verbundwst., zellularer Kunst- >70 Vol.-% Porosität kompressibel
Nichtmetall, stoff
Polymer
Silikonkautschuk (SIR) anorgan. Elastomer Polysiloxane Rn SiO(4−n)/2 Gummi
Polymer
Siliziumkarbid Keramik Karbid SiC gesintert Schmiergel
(c) Siliziumnitrid ? ? Turbine
Sint-B00 Verbundwst. Sintereisen <20 % Porosität, Gleitlagerschalen
poröser Wst. Zugfestigkeit >80 MPa
Sperrholz Werkstoffver- Schichtverbund planare Holzfaserorientierung 0/90° anisotrop

Werkstoffkunde
bund
Steingut Keramik poröse Keramik Ton+Quarz+Feldspat+Füllst. gesin- Tiegel
tert
Sterlingsilber Nichteisen- Edelmetall-Legie- 92,5 % Ag, Rest Cu u. a. Münzlegierung
Metall rung
(a) Superlegierung IN718 ? ? 50–55 % Ni, 17–21 % Cr, 3 % Mo, Gasturbine
1 % Co, 0,7–1 % Ti, 0,2–0,8 % Al,
5 % Nb, Rest Fe
S235JR (EN10025-2) Grundstahl unlegierter Quali- <0,2 % C, 1,4 % Mn; P,S <0,035 % Maschinenteile
tätsstahl Re  235 MPa,
Kerbschlagarbeit (RT)  27 J
TiAl intermetall. Aluminid tetragonale Überstruktur γ-TiAl mit Verbrennungs-
Verbindung 48-55 % Ti, bis ca. 800 °C warmfest motorventile
Ti6Al4V Nichteisen- Leichtmetall, Ti- zweiphasige Legierung: hdp α- und Turbinen-
(TiAl6V4, Ti64, Ti grade 5) Metall Legierung krz β-Phase, bis ca. 400 °C einsetzbar schaufeln
TZM Mo-Legierung 0,5 % Ti, 0,1 % Zr, Rest Mo, pulvermet. Heißkanaldüsen
Karbid dispersionsverstärkt, warmfest
Weißblech Werkstoffver- Baustahl mit Sn- elektrolytisch verzinntes, kalt gewalz- Lebensmittel-
bund Oberfläche tes Baustahlblech verpackung
X10NiCrAlTi 32-21 Eisen- hochlegierter, 0,1 % C, 32 % Cr, 21 % Ni; Al, Ti <1 %, thermische
(EN 10297-2) Basislegierung austenitischer hochwarmfest durch Ausscheidungen Kraftwerke
X5CrNi 18-10 (V2A, AISI 304, Stahl (kubisch- 0,05 % C, 18 % Cr, 10 % Ni, korrosions- „rostfreie“ Stähle
1.4301, EN10088-2) flächenzentriert) beständig
ZnAl4Cu3 (Zamak) Nichteisen- Schwermetall- 5 % Al, 1–3 % Cu, Gusslegierung, Beschläge,
Metall legierung, Zn-Basis Rp0,2 = 290–350 MPa, E = 85 GPa Modelle
Zündkerze Werkstoff- Aluminiumoxid + Zur Masse-Elektrode keramisch iso- Verbundbauteil
verbund Cu− + Superlegie- lierte Mittel-Elektrode
rung
(d) 100Cr6 (EN-ISO 683-17) Eisen- ? ? Wälzlager
11SMn30 (9SMn28; EN 10087) Basislegierung, Automatenstahl 0,08–0,1 % C, 0,3 % S, 1 % Mn gut spanbar
12CrMo19-5 (EN 10025-5) niedriglegierte warmfester Stahl 0,12 % C, 4–5 % Cr, 0,5 % Mo Kesselrohre
Stähle
12Ni14 (EN 10028-4) kaltzäher Stahl 0,12 % C, 3,5 % Ni, KV (−100 °C) > 27 J Kühlrohre
55NiCrMoV7 (EN-ISO 4957) Warmarbeitsstahl 0,55 % C, 1,8 % Ni, 1 % Cr, Mo, V < 1 % Schmiedeform
61SiCr7 (EN 10089) Federstahl 0,6 % C, 1,8 % Si, Cr < 1 %, Blattfedern
Re = 1400 MPa

kundärbindungen deren mechanische Eigenschaften. Bei das Bauwesen mit Stahlbeton und Holzprodukten. Holz
den Keramiken werden die Hightech-Keramiken hoher und Zement stellen zusammen über 80 % des gesamten
Reinheit als eigene Untergruppe geführt und nach ihrer Werkstoffvolumens dar.
chemischen Verbindung mit Sauerstoff, Stickstoff, Koh-
lenstoff oder Bor bezeichnet. Zum Vergleich ist in Tab. 15.2 Kohlenstoff wird zwar kaum als Konstruktionswerkstoff
die poröse Keramik Beton aus Zement für das Bauwesen eingesetzt, liefert aber wichtige Bestandteile für Verbund-
angeführt, dessen Produktion mehr als doppelt so hoch ist und Funktionswerkstoffe. Das Element Kohlenstoff kann
wie die Stahlproduktion. Zement nimmt gewichtsmäßig in unterschiedlichen Strukturmodifikationen mit unter-
50 % der gesamten Werkstoffjahresproduktion ein. Der schiedlichen Eigenschaften auftreten: Grafit aus ebenen
größte Einsatzbereich für Verbundwerkstoffe ist ebenfalls Schichten mit hexagonaler Atomanordnung (neuartige
378 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Vertiefung: Bezeichnungen für Stähle

Stähle sind Eisen-Basislegierungen, in denen geringe nach der Norm sehr informativ; für alle Werkstoffe gibt
Gewichtsprozente an Kohlenstoff eine wesentliche Rol- es Werkstoffnummern mit Leitziffern für das Basisele-
le spielen. Ihre Bezeichnung ist sehr uneinheitlich: ment (1 = Fe-Basis, 2 = Nichteisen-Schwermetall (Ni), 3
= Leichtmetall). Als Edelstähle werden besonders rei-
Bei unlegierten Stählen wird nur der Kohlenstoffge-
ne Stähle bezeichnet, deren Gehalt an P und S jeweils
halt in 0,0x % (C0x) ältere Bezeichnungsweisen mit
< 0,025 Gew.-% beträgt, was auch deren Schweißarbeit
St und einem Mindestzugfestigkeitswert in kp/mm2 erleichtert. Zu weiterer Verwirrung tragen die Lie-
wurden ersetzt durch S und dem für den Einsatz ferfirmen bei, die ihre eigenen Bezeichnungssysteme
wichtigeren Streckgrenzenwert in MPa (N/mm2 ); für entwickeln. Stähle werden in Kap. 16 beschrieben.
Werkstoffkunde

legierte Stähle ist die Angabe der Zusammensetzung

Tab. 15.4 Beispiele für DIN-Kurzbezeichnungen und Werkstoffnummern für Eisenbasislegierungen (siehe auch Abschn. 16.7 und Tab. 15.3)
Stahlgruppe Leitsymbol DIN-Kurzzeichen Werkstoff- Erläuterungen
nummern
Unlegierte C C10 1.0301 C-Gehalt × 100 (Gew.-%)
Grundstähle C22 1.0402
Unlegierte, DC DC01, 02 bis DC07 1.0330, . . . , 1.0898 Verformbare Feinbleche, abnehmender C-, P-, S-Gehalt
mikrolegierte ZSt. ZStE260 1.0480 0,2 %-Dehngrenze ≥ 260 MPa, mikrolegiert (z. B. Nb, V)
Qualitätsstähle S S235 1.0038 u. a. Streckgrenze ≥ 235 MPa (früher St37: Rm ≥ 370 Mpa)
S355 1.0045 u. a. Streckgrenze ≥ 355 MPa
Unlegierte Endsymbol C45E 1.1191 u. a. P, S je < 0,025 Gew.-%, sowie besondere Gebrauchseigen-
Edelstähle E schaften
Niedrig legierte Zahl 11SMn30, 1.0715 Multiplikatoren für Legierungselemente:
Stähle 61SiCr7, 12Ni14, 1.7108, C (wie Ca, N, P, S) × 100 (Gew.-%)
12CrMo19-5, 1.5637 Cr, Co, Mn, Ni, Si, W × 4 (Gew.-%)
55NiCrMoV7 1.7362 Al, Cu, Mo, Ti, V, Zr × 10 (Gew.-%), B × 1000 (Gew.-%)
1.2714
Hochlegierte X X5CrNi 18-10, 1.4301 C × 100 Gew.-%, sonst keine Multiplikatoren der Kon-
Stähle X10NiCrAlTi 32-20 2.4856 zentrationen, Zahlenangaben in der Reihenfolge der
(1.4876) Elemente, <1 % keine Zahlenangabe
Schnellarbeits- HS HS10-4-3-10 1.3207 Gew.-% in Elementreihenfolge 10W-4Mo-3V-10Co
stahl
Stahlguss G GS38 1.0420 Symbol GS, Rm ≥ 38 kp/mm2 = 380 MPa

Grafene sind mono-atomare Schichten), rohrförmige he-


xagonale Strukturen als Fasern (oder fehlerfrei als einla- Werkstoffhauptgruppen und -gruppen der Konstruk-
gige und mehrlagige Carbon-Nanotubes = Kohlenstoff- tionswerkstoffe
nanoröhrchen), sphärische Fullerene (Moleküle mit 60 Naturstoffe: Holz, Gestein, Naturfasern,
bis 84 Kohlenstoffatomen) oder kubisch kristallisierender metallische Werkstoffe: Eisen-Basislegierungen,
Diamant. intermetallische Verbindungen, Nicht-Eisen-Me-
talle (Leichtmetalle, eisenähnliche Legierungen
Die Kunststoffe (Polymere, DIN EN ISO 11469) beste-
und Schwermetalle),
hen aus organischen Molekülketten (siehe Abschn. 14.3).
Kunststoffe (Polymere),
Nach dem Grad der dreidimensionalen Verkettung wer-
Kohlenstoffmodifikationen,
den die stark vernetzten, spröden Duromere, die weniger
Keramiken,
vernetzten Elastomere und die warmverformbaren, amor-
Verbundwerkstoffe: faser- und teilchenverstärk-
phen oder teilkristallinen Thermoplaste unterschieden.
te Matrixverbundwerkstoffe, interpenetrierende
Die Polymere übertreffen die Aluminium-Produktion ge-
Verbunde, poröse und zellulare Materialien,
wichtsmäßig fast um das 5-Fache, machen aber nur etwa
Werkstoffverbunde: Beschichtungen, Schichtver-
1/5 des Gewichts der Stahlproduktion aus. Das Volumen
bunde, Laminate, gefügte Werkstoffe,
der jährlich produzierten Polymere erreicht das 15-Fache
Hybride sind komplexe Verbunde aus mehre-
Produktionsvolumen von Aluminium und das 1,3-Fache
ren Komponenten (z. B. Verbundwerkstoffe mit
(Abb. 15.4) von Stahl.
15.3 Werkstoffanforderungen und Kenngrößen 379

Bauwesen 1
Teilchen und Fasern, Werkstoffverbunde mit Ver-

Marktvolumen
bundwerkstoffen, zellulare Verbundwerkstoffe). Kraftfahrzeug 3

Frage 15.2 Elektronik 50

Ergänzen Sie die leeren Zellen in Tab. 15.3 (mit Fragezei-


Sport/Medizin 300
chen markiert), die sich auf Werkstoffe für die Bauteile
der Leitbeispiele (Abb. 14.4–14.7) beziehen, indem Sie
Abb. 15.3 und für Eisenbasislegierungen Tab. 15.4 kon- Luftfahrt 500
sultieren sowie für die Beschreibung/Zusammensetzung
z. B. im Internet nachschlagen. Raumfahrt 5000

Werkstoffkunde
0 3000 6000
relative Währungseinheit in Ξ ~
= Preis von 1 kg Baustahl
15.3 Werkstoffanforderungen Abb. 15.5 Durchschnittlicher relativer Marktwert der Produkte pro kg Masse
und Kenngrößen (normiert auf den Stahlpreis) mit der Tendenz des zugehörigen Marktvolumens
(für Bauwesen am größten); Kraftfahrzeug bezieht sich auf einen Großserien-
Pkw
Maschinenversagen ist in ca. 90 % der Fälle auf Kon-
struktionsfehler zurückzuführen, insbesondere auf Fehl-
einschätzungen der Werkstoffbelastungen bzw. der Werk- als Sportgeräte einzustufen), Flugzeuge und Raumfahr-
stoffeigenschaften. Relativ wenige Schadensfälle werden zeuge, sodass hierfür auch teure Leichtwerkstoffe (Alu-
durch herstellungsbedingte Werkstoffdefekte verursacht. minium-, Titan-Legierungen, Kohlenstofffaser verstärkte
Abbildung 15.6 zeigt Beispiele von Eisenbahnunfällen Kunststoffe) rentabel eingesetzt werden können. Im All-
aufgrund der unterschätzten Wirkung der schwingenden gemeinen gilt, je größer das Marktvolumen, umso gerin-
Belastung (Abschn. 15.11) der rollenden Räder. Bauteil- ger muss der Preis der einzusetzenden Werkstoffe sein.
versagen leitet im Allgemeinen konstruktive Verbesse-
Die Materialpreise sind zwar ein wichtiger Kostenfaktor,
rungen oder eine anforderungsgerechtere Werkstoffaus-
aber wesentlich stärker wirken sich die Verarbeitungs-
wahl ein, aber es kann auch dazu führen, dass Beschrän-
kosten auf die Produkte aus. Beispielweise kann eine
kungen für den Bauteileinsatz auferlegt werden. Die
Instrumententafel eines Pkw aus einem Druckgussteil
Kenntnis der Bauteilbelastungen und das entsprechen-
(Druckgießen siehe Kap. 30) aus einer Magnesium-Legie-
de Lastenheft (Aufzählung der Mindestanforderungen an
rung gegenüber einer aus vielen, umgeformten Einzeltei-
einen Bauteil) für die Werkstoffeigenschaften sind die
len gefügten Stahlblechversion unter Berücksichtigung ei-
Voraussetzung für erfolgreichen Maschinenbau.
ner 30-prozentigen Gewichtseinsparung konkurrenzfähig
sein, obwohl der Magnesium-Preis sechsmal höher ist als
der für Stahl (Klingauf 2010).
Eine Werkstofflösung ist rentabel, wenn ihr
Marktwert höher ist als die Kosten
Bilanz des Energieaufwandes für Herstellung
Tabelle 15.2 gibt auch den durchschnittlichen Marktwert
der Werkstoffe pro kg an, der ein wichtiges Auswahl-
und Betrieb
kriterium für deren industriellen Einsatz darstellt. In der
Tabelle sind Titan-Legierungen nicht enthalten, weil sie Die nachhaltige Rentabilität einer Werkstofflösung kann
mehr als 40 Ξ (2013: 40 €/kg) kosten. Der Preis der Leicht- aus der Energiebilanz für ein Produkt abgeschätzt werden.
metalle auf der Basis von Magnesium, Aluminium und Diese setzt sich aus dem Aufwand für die Werkstoffbereit-
Titan ist die größte Hürde für ihren großtechnischen Ein- stellung, für die Fertigung und den Zusammenbau, für den
satz. Die Rentabilität der Werkstoffe richtet sich nach dem Betriebseinsatz und die Instandhaltung, sowie letztlich
Marktwert der Produkte, der vereinfacht in Abb. 15.5 dar- für die Außerbetriebnahme zusammen. Abbildung 15.7
gestellt ist. Im Bauwesen werden im Allgemeinen billige vergleicht diese Anteile des Energieverbrauchs für Trans-
Materialien eingesetzt, außer der architektonische Wert portmittel mit denen für stationäre Produkte. Der Ent-
ist von Bedeutung (z. B.: Titan-Verkleidung des Muse- sorgungsaufwand verdient insofern Beachtung, da Rezy-
ums in Bilbao). Großserien-Pkw unterscheiden sich nicht kliermöglichkeiten genutzt werden können, die einer teil-
nur im Preis wesentlich von Luxuslimousinen in Klein- weisen Energierückgewinnung gleichkommen, was bei-
serien, sondern auch in den Verarbeitungstechniken für spielsweise beim Umschmelzen von Legierungen der Fall
große und kleine Stückzahlen. Besonders wertvoll ist die ist. Neben dem Energieaufwand muss auch der Einfluss
Gewichtseinsparung für Sportgeräte (Rennfahrzeuge sind der globalen Erwärmung durch die Werkstoffherstellung
380 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Beispiel: Wenn die gewählten Werkstoffe den realen Beanspruchungen nicht standhalten, weil
das reale Anforderungsprofil für die Bauteilauslegung unterschätzt wurde

Zahlreiche Fälle von Bauteilversagen werden Werk- Schwingfestigkeitsuntersuchungen im Labor durchzu-


stofffehlern zugeschrieben, doch der Großteil der führen, mit denen er die Dauerfestigkeit (siehe Ab-
Schadensfälle lässt sich auf falsche Bauteilauslegung schn. 15.11) von ferritischen Eisenwerkstoffen entdeck-
zurückführen, die auf einem Anforderungsprofil be- te, die wesentlich niedriger ist als die Streckgrenze
ruht, das den realen Beanspruchungen häufig nicht bei statischer Zugbeanspruchung. Der ICE-Unfall in
gerecht wird oder die Werkstoffeigenschaften über- Abb. 15.6d,e war die Folge der Unterschätzung der
schätzt. Kombination von Verschleiß- und Ermüdungsbelas-
tung (Verschleiß siehe Abschn. 15.13) der Radreifen.
Werkstoffkunde

Abbildung 15.6 zeigt zwei Eisenbahnunfälle, die auf Der Aufbau eines modernen Eisenbahnrades ist in
Radbrüche zurückzuführen sind. Nach dem Unfall Abb. 15.6c dargestellt, wo auch die Rissbildung ange-
in Abb. 15.6a wurde A. Wöhler beauftragt, erstmals deutet ist.

Risse
Radreifen
Gummi
Haltering
Radkörper

Risse

a c d

b e

Abb. 15.6 Eisenbahnunfälle durch Ermüdungsschädigung an Radreifen; a Entgleisung der Lokomotive auf der Strecke Salzburg-Linz 1875; b ICE-Hochge-
schwindigkeitszug; c Aufbau der ICE-Räder mit Ermüdungsrissen im Radreifen; d gebrochener Radreifen als Unfallursache bei Enschede 1998; e Achse mit
Rädern und Bremsscheiben des ICE nach dem Unglück von Eschede 1998 aufgrund eines Radreifenbruchs

berücksichtigt werden (Nuss 2014). Der ökologische Fuß- ca. 70 %. In diesen Fällen ist der Energieverbrauch im Be-
abdruck ausgedrückt in CO2 beträgt 1,5 kg CO2 /kg Stahl trieb wesentlich größer als der für die Herstellung. Für
(Stahl-Weltproduktion ca. 2 × 1012 kg CO2 ) und 8,2 kg derartige Produkte ist eine Werkstoffauswahl erstrebens-
CO2 /kg Aluminium (Al-Weltproduktion 3 × 1011 kg CO2 ) wert, die den Energieaufwand im Gebrauch reduziert.
Eine Gewichtseinsparung von 100 kg eines Kraftfahrzeu-
Der Aufwand für den Betrieb umfasst beim Flugzeug ges rechtfertigt Preise je kg Werkstoff bis zum Dreifa-
mehr als 95 %, beim Auto ca. 85 % und beim Kühlschrank chen des Literpreises der Treibstoffe. Für die Gebäude
15.3 Werkstoffanforderungen und Kenngrößen 381

100

Energie Anteil in %

.
.

g.

g.
.

g.
.

dg

dg
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Werkstoffkunde
er

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100
Energie Anteil in %

0
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En

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H
H

H
A
W
A

A
W

E
Abb. 15.7 Schematischer Vergleich der Anteile des Energieaufwands für Produkte unterschiedlicher Einsatzbereiche (Flugzeug, Personenkraftwagen, Kühlschrank,
Parkhaus, Wohnhaus, Teppich); relativer Energieaufwand für die Werkstoffbereitstellung (grün ), die Produktherstellung (hellblau ), die Anwendung (rosa ) und die
Entsorgung (braun, eventuell mit Energiegewinn beim Rezyklieren) von Produkten

Tab. 15.5 Liste der wichtigsten Eigenschaften der Konstruktionswerkstoffe mit ihren Symbolen und Einheiten, sowie der Verweis auf den entsprechenden Abschnitt
Gebrauchsanforderung/-eigenschaft Eigenschaftskenngrößen Symbol Maßeinheit Abschnitte
Wirtschaftlich (preisgünstig oder ex- Relativer Preis (bezogen auf 1 kg Ξ 2010: ca. 1 €/kg 15.2
klusiv) Baustahl)
Leicht Spezifische Masse (Dichte) ρ g/cm3 = Mg/m3 15.4
Steif Elastizitäts-, Schub-, Kompressionsmodul E, G, K kN/mm2 = GPa 15.5
Volumenänderung bei elast. Verfor- Poisson-Zahl ν – 15.5
mung
Dämpfend oder in Resonanz schwin- Dämpfungskonstante η – 15.5
gend
Fest, Verformungs-/Bruchwiderstand Streck-/Dehngrenze (Elastizitätsgrenze), Re , Rpx , Rm N/mm2 = MPa 15.6, 15.8
Zug-/Druckfestigkeit
Plastisch verformbar Gleichmaßdehnung, Bruchdehnung; Ag , A; wF %; J/m3 15.6, 15.8
Formänderungsarbeit

Versagenstolerant Bruchzähigkeit (linear elastische KIc , KIIc , KIIIc MPa m = 15.9, 15.10
Dehnung; I=Zug, II, III=Schub) N/mm3/2
Ermüdungsbeständig Dauer- bzw. Zeitfestigkeitsverhältnis sD , sNG σD /Rm , σNG /Rm (–) 15.11
Temperatur
Kriechbeständig Zeitdehngrenze bei best. Temperatur u. σeT (t) MPaDehnung (Zeit) 15.12
Belastungsdauer
Temperaturbeständig Schmelz- bzw. Erweichungstemperatur Ts K oder °C 15.4
Formstabiltät Temperatur-Ausdehnungskoeffizient β(T ) /αT2
T1 1/K oder ppm/K 15.4
(physikal./technisch)
Thermischer Stofftransport Diffusionskoeffizient D m2 /s 15.12, 18.5, 19.5
Thermische Energieaufnahme Spezifische Wärme bei konstantem Druck cp J/(kg K) 18.6
Wärmetransportfähigkeit Wärmeleitfähigkeit λ W/(m K) 15.4
Chemische Beständigkeit Korrosionsrate (Masseverlust pro Fläche ΔmK g/(s m2 ) 15.14
und Zeit)
Gleit- und Haftfähigkeit Reibungs- bzw. Haftungskoeffizient μG , μS – 15.13
Verschleißbeständigkeit Verschleißrate (Masseverlust pro Weg) ΔmV g/m 15.13
382 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

und Einrichtungen dominiert der Energieaufwand für die

Dichte in g/cm3
ρ Legierung ~
= Σ ci (Gew.-%) · ρi (Elemente)
Werkstoffbereitstellung: Parkhaus (ca. 90 %), Wohnhaus 9,0
Fe-Basis (>50 Gew.-% Fe) Ni-Basis
(ca. 50 %), Teppich (ca. 70 %). Beim Wohnhaus beträgt der
8,8
Betriebsaufwand ca. 40 %, wobei besser isolierende Bau-
stoffe die Betriebsenergie herabsetzen können, wodurch 8,6
der Anteil des Materialaufwands steigen kann.
8,4
Frage 15.3 8,2
Wie verändern sich die Kostenanteile für die Werkstoffe
in Bezug zu den Fertigungskosten mit der Seriengröße? 8,0

7,8

l
rte Fe

rT 5
15

i
iM ahl)

oM 2-2
Werkstoffkunde

iA

N
1M

eM
-
Die Gebrauchseigenschaften eines Produktes resultieren

6N 18-8
-

6-

0T
in

1
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i2

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rS

7-

r2
Re

r2
1

o
aus der Konstruktion des Bauteils, für den die Werk-

iC

r3
o

iC
iC

iC
ie

N
iC
stoffauswahl aufgrund der Werkstoffkennwerte getroffen

N
eg

rN

3N
nl

X
6C
(u
wird. Tabelle 15.5 listet die wichtigsten Gebrauchseigen-

X
X
Ni-Gehalt

0
C4
schaften von Werkstoffen auf und ordnet ihnen Werk-
stoffkennwerte, ihre Symbole und Maßeinheiten zu. Die
Abb. 15.8 Beispiele für Dichtewerte von Eisen- und Nickel-Basislegierungen,
Werkstoffeigenschaften werden in den angeführten Ab- die mit der eingetragenen Mischungsregel näherungsweise abgeschätzt werden
schnitten näher beschrieben. Die Eigenschaftsprofile der können. Die Legierungskurzzeichen geben die Gew.-% der Elemente in der Rei-
Werkstoffe zeigen deren Stärken und Schwächen auf. In henfolge ihrer Aufzählung an, X und C stehen für 10−2 % Kohlenstoff (z. B.:
den seltensten Fällen stimmen die Anforderungsprofile X6NiCrTi 26 15 enthält 0,06 % C, 26 % Ni, 15 % Cr, <1 % Ti); bei den Nickelba-
eines Bauteils mit den Eigenschaftsprofilen eines Werk- sislegierungen steht die Konzentration nach dem jeweiligen Legierungselement;
stoffes vollständig überein. Die Anforderungen müssen keine Zahlenangabe bedeutet unter 1 Gew.-%
nach Prioritäten gereiht werden, um die günstigsten Ei-
genschaftskombinationen auswählen zu können. Dabei
sind der Preis der Werkstoffe und ihrer Verarbeitung Frage 15.4
meist entscheidender. Im Allgemeinen müssen Kompro- Maßeinheiten für spezifische Masse und spezifisches Ge-
misse eingegangen werden. wicht. Bitte ergänzen Sie:

Die Dichte 1 g/cm3 = ? Mg/m3 = ? kg/m3 = ? mg/mm3


entspricht dem spezifischen Gewicht ? kN/m3 = ? N/cm3 .
15.4 Dichte und thermische
Ausdehnung
Da sich die Atomabstände mit der Temperatur ändern,
hängt die spezifische Masse von der Temperatur ab. Man-
Aufgrund der Atommassen und der räumlichen Abstän- che Materialien (z. B. Eisen, siehe Abb. 15.11) ändern
de zwischen den Atomen ergibt sich für jeden Stoff eine ihre Atomanordnung bei bestimmter Temperatur, was
Masse m pro Volumen V: die spezifische Masse oder Dich-
ebenfalls die Dichte verändert. Erfolgt die Änderung der
te ρ = m/V (kg/m3 = mg/cm3 , Mg/m3 = g/cm3 ). Auf Atomabstände in Festkörpern in allen Richtungen gleich
Breitengraden wie in Mitteleuropa erfährt 1 kg die Ge- (isotrop), kann die Volumenänderung über die Längen-
wichtskraft 9,81 N, sodass das spezifische Gewicht dieses änderung einer Probe mit einem Dilatometer (siehe Bei-
Körpers 9,81 N/m3 beträgt, wenn er 1 kg/m3 Dichte auf- spielbox) gemessen werden. Eine Messkurve der relativen
weist. Der Einfluss der Atommassen auf die Dichte von Längenänderung einer Aluminiumprobe ist in Abb. 15.9
Legierungen wird am Beispiel von Eisen- und Nickel-Ba- bis zu deren Schmelzpunkt dargestellt. Diese ist repro-
sislegierungen in Abb. 15.8 gezeigt, wo sich die Dichte duzierbar für den Aufheiz- und Abkühlvorgang, solange
je nach den Anteilen der Legierungsbestandteile ändert. während des Versuches keine plastischen Verformungen
Die in der Abbildung angeführte Mischungsregel ergibt auftreten. Die Atomabstände in kristallinen Materialien
mit den Gewichtsprozenten nur näherungsweise Dich- können durch Röntgenbeugung bestimmt werden. Die
tewerte von Legierungen mit relativ geringen Anteilen Änderung der Atomabstände entlang der Würfelkante
von Legierungselementen. Richtigerweise sollten Vol.-% der kubisch flächenzentrierten (kfz) Aluminiumkristalle
eingesetzt werden, aber diese sind kaum messbar. Da in- (Δa der Gitterkonstante a) mit der Temperatur ist eben-
termetallische Legierungen wie chemische Verbindungen falls in Abb. 15.9 eingetragen.
bezeichnet werden, sind die Atomprozent (At.-%) und
Atomgewichte in der Mischungsregel einzusetzen (siehe Die Differenz zwischen der makroskopisch gemesse-
Aufgabe 15.4h). nen Längenänderung und der Änderung der Gitter-
15.4 Dichte und thermische Ausdehnung 383

Beispiel: Mehrfache Werkstoffanforderungen

Anforderungen an Werkstoffe für Fahrradrahmen und serien aus geformten und geschweißten Stahlblechen,
Bewertung der entsprechenden Werkstoffeigenschaf- die größtenteils auch die Außenhaut der Karosserie
ten verschiedener Werkstofflösungen im Vergleich mit umfassen und in die der Antriebsstrang eingebaut
Karosserierahmen. wird; Rahmenstruktur (Fachwerkprinzip, Space-Fra-
Am Beispiel eines Fahrradrahmens (siehe Abb. 14.2 me, vgl. Abb. 14.3b), die sowohl den Antriebsstrang
und Aufgabe 15.1a) werden Werkstoffeigenschaften in als auch die Außenhautbleche trägt; diese eignet sich
einer „Datenspinne“ relativ bewertet. Welche Werk- bevorzugt für die Aluminium-Bauweise. Der hier dar-
stofflösung entspricht den verschiedenen Marktan- gestellten Datenspinne folgend sind alle angegebenen
forderungen (z. B.: Stadtfahrrad oder Mountainbike) Eigenschaften für die tragende Karosserie nach bei-

Werkstoffkunde
am ehesten? Aus technischer Sicht wäre das Eigen- den Bauweisen wichtig. Das Gewicht der Aluminium-
schaftsprofil einer Titan- oder Aluminium-Legierung Variante kann leichter sein wegen der günstigen spe-
wegen deren Ausgeglichenheit am besten für das zifischen Biegesteifigkeit (siehe Abschn. 14.4), bzw.
Stadtfahrrad geeignet, aber der Preis für einen Titan- Biegefestigkeit von Aluminium gegenüber Stahl. An-
Rahmen ist um ein Vielfaches höher als der eines dererseits erbringt Stahl eine höhere Zähigkeit und
Stahlrahmens. Das Großserienprodukt wird somit aus somit ist die Crash-Resistenz leichter zu erhöhen als
Stahl gefertigt, Aluminium-Rahmen sind etwas teurer, beim Aluminium-Space-Frame. Die Korrosionsbestän-
während der Titan-Rahmen als prestigeträchtiges Lu- digkeit von Al-Legierungen ist höher als die von Stahl,
xusprodukt seinen Nischenmarkt findet. wofür Beschichtungen entwickelt wurden. Hinsicht-
lich der Fertigung ist die Umformbarkeit von Stahl
Eine relative Bewertung der Werkstoffeigenschaftspro- wesentlich besser als die von Aluminium-Profilen
file für Stahl, Aluminium- und Titan-Legierungen, so- und -Blechen. Die Kosten für Werkstoff und Ferti-
wie kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff (CFK) hin- gung liegen für Stahlkarosserien günstiger als für die
sichtlich der Anforderungen eines Fahrradrahmens Aluminium-Variante. Für hochpreisige Produkte wird
kann in einer so genannten Datenspinne dargestellt Aluminium eingesetzt, um das Gewicht der Zusatzein-
werden. bauten durch die Leichtbauweise zu kompensieren.
Für Automobilkarosserien sind zwei Bauweisen von Karosserien für Großserien werden weiterhin aus Stahl
Bedeutung (vgl. Abb. 14.3a): selbstragende Stahlkaros- gefertigt werden.

Dichte
5
Preis Festigkeit
4
er
ativ
rel teil
r
3 Vo
Rezyklierbarkeit Zähigkeit
2
hochfester Stahl

1 Aluminiumlegierung
Titanlegierung
Oberfläche Steifigkeit C-faserverstärkter
Kunststoff CFK

5 = optimal
1 = schlechteste
Korrosions-
Designfähigkeit
beständigkeit

Bearbeitbarkeit Formbarkeit
Fügbarkeit
384 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Leitbeispiel Antriebsstrang
Werkstoffe für ausgewählte Bauteile:
a) Turbolader, b) Kurbelgehäuse, c) Ölwanne,
d) Getriebezahnrad

Aus dem Antriebstrang eines Pkw wurden Bautei- re Rolle spielen als bei Großserienteilen. Weiterhin ist
le (Abb. 14.4–14.7) ausgewählt, für die verschiedene es für die Fertigungstechnik bedeutend, wie komplex
Werkstoffe eingesetzt werden: die Turbine des Turbo- der Konstrukteur die Form des Bauteils wünscht und
Werkstoffkunde

laders, das Kurbelgehäuse, die Ölwanne und Getriebe- wie eng die Fertigungstoleranzen sind. Davon hängt
teile stellen sehr verschiedene Anforderungen an die die Wahl des Fertigungsverfahrens und gegebenenfalls
dafür eingesetzten Werkstoffe. Die Hauptfunktionen des erforderlichen Fügeverfahrens ab.
der ausgewählten Bauteile der Leitbeispiele sind in der
In unten stehender Tabelle sind die wichtigsten Ge-
Tabelle angeführt, weiterhin die daraus abgeleiteten
brauchseigenschaften qualitativ angegeben. Da alle
allgemeinen Anforderungen.
Leitbeispiele bewegte Teile darstellen, soll der Energie-
Die Losgröße der Produkte stellt einen wichtigen Kos- bedarf im Betrieb gering sein, sodass Leichtbau-Prin-
tenfaktor in der Fertigungstechnik (siehe Kap. 30) dar. zipien anzuwenden sind. Vor allem die Steifigkeits-
Es macht beispielsweise einen großen Unterschied für und Festigkeitskennwerte müssen auf das Bauteilge-
die Investition von Fertigungsmaschinen, ob ein Au- wicht bezogen werden, sodass das spezifische Gewicht
to in Stückzahlen von 100.000, 10.000 oder 1000 pro des Werkstoffes wesentlich ist. Die spezifischen Werte
Jahr hergestellt wird. Andererseits werden hochpreisi- für E-Modul, Elastizitätsgrenze, Zähigkeit, Zeitfestig-
ge Produkte im Allgemeinen in geringen Stückzahlen keit und Ermüdungsbeständigkeit stellen wesentliche
hergestellt, wobei die Werkstoffkosten eine geringe- Auslegungsdaten dar.

Bauteil

Betrachter Teil a) Turbine b) Kurbelgehäuse c) Ölwanne d) Zahnrad


Hauptfunktion Verdichterpumpe im Verbrennungsraum für Ölsammler, -behälter Drehzahl-, Drehmoment-
Abgasstrom Kolbenmotor übersetzung
Seriengröße Mittel Groß Groß Groß
Form Komplex, Hinterschnei- Komplex, Hohlräume, Komplexe Schale, Achsial, Zahnflanken
dungen Hinterschneidungen Hinterschneidungen
Maßgenauigkeit Hoch, sehr hoch Zylinderbohrung und Passflächen hoch, Zahnflanken sehr hoch,
für Achse Passflächen hoch, sonst gering Achse hoch
außen gering
Mechanische Fest, zäh, torsionssteif, Biegesteif, zähe, Schall dämpfend, Hochfest, biegesteif, zäh,
Eigenschaften ermüdungsbeständig ermüdungsbeständig Schalensteifigkeit ermüdungsbeständig
Temperatur- −40–1200 °C −40–150 °C −40–130 °C −40–150 °C
belastung
Chemische Abgase der Verbrennung Öl, Verbrennungsgase, Motoröl, außen salziges Getriebeöl
Beständigkeit in Kanälen Kühlwasser, Wasser
außen salziges Wasser
Verschleißsystem Abgaspartikeln Kolbenringe – Öl Sand, Steinschlag Abrieb, Gegenkörper
Werkstofflösungen Superlegierung, Keramik Al-Si-Guss, Thermoplast Einsatzgehärtete Stähle
Grauguss GJV
15.4 Dichte und thermische Ausdehnung 385

Alle Bauteile sind Temperaturschwankungen ausge- fen, sowie der Systemtemperatur ab. Relativbewegun-
setzt, die nicht nur die Werkstoffeigenschaften verän- gen gegenüber anderen Bauteilen bzw. der Auflage
dern, sondern auch thermische Spannungen induzie- stellen unter mechanischer Belastung ein Verschleiß-
ren können, wenn sich die thermischen Ausdehnungen system (Abschn. 15.13) dar, das Werkstoffabnützung
bei Temperaturgradienten oder im Verbund verschie- und somit Schwächung hervorrufen kann.
dener Werkstoffe lokal unterscheiden (wird in Ab-
schn. 15.4 ausgeführt). Die Korrosionsempfindlichkeit Sowohl Korrosions- als auch Verschleißbeständigkeit
(Abschn. 15.14) hängt von der Reaktivität der Bautei- hängen von der Beschaffenheit der Bauteiloberfläche
loberfläche mit dem umgebenden Medium bzw. von ab, die durch Beschichtungen resistenter gemacht wer-
galvanisch verbundenen, unterschiedlichen Werkstof- den kann.

Werkstoffkunde
konstanten ist auf die mit der Temperatur exponen- die Ausgangslänge l(T1 ) in einem Temperaturintervall
tiell zunehmende Leerstellenkonzentration in den Kris- ΔT = T2 − T1 nach (15.1) berechnet:
tallen zurückzuführen, deren Erhöhung in Aluminium ab
T l(T2 ) − l(T1 )
ca. 200 °C signifikant wird (siehe Abschn. 15.12; bei Me- αT21 = → Δl = αTT21 · l(T1 ) · ΔT (15.1)
tallen ca. 0,5 TS , Anschmelztemperatur in K). Eine Leer- l(T1 ) · (T2 − T1 )
stelle ist dabei eine unbesetzte Atomposition in einem T2
Kristallgitter wie in Abb. 15.9 skizziert. Die Längenän- 1 dl(T )
β (T ) = → Δl = (T1 ) β(T )dT (15.2)
derung pro K (oder °C) wird der Einfachheit in „parts l(T ) dT
T1
per million pro Kelvin“: ppm/K = 10−6/K angegeben.
Da der Ausdehnungskoeffizient temperaturabhängig ist, Erfolgt die Längenänderung im Material isotrop, dann
T
wird der lineare, technische Ausdehnungskoeffizient αT21 ändert sich das Volumen um das Dreifache des linearen
aus der Längenänderung Δl = l(T2 ) − l(T1 ) bezogen auf Ausdehnungskoeffizienten: ΔV (ΔT ) = 3 · αTT21 · ΔT. Der
physikalische Ausdehnungskoeffizient – bei konstantem
Druck (isobar) β(T ) bei einer bestimmten Temperatur T –
Längenzunahme aufgrund der Volumenver-
9 wird durch Ableitung der Längenänderungskurve l(T )
größerung durch Anstieg der Leerstellen
bei der Temperatur T gemäß (15.2) ermittelt. Die Ergebnis-
Δl se der Längenänderungen Δl nach (15.1) und (15.2) sind
8 l für dasselbe Temperaturintervall ΔT gleich. Ursächlich
Leerstelle hängt die Größe der temperaturabhängigen Ausdehnung
7 vom Abstand der Minima des Bindungspotenzials ab,
Δa
a durch welches die Bindungskräfte zwischen den Ato-
Δl/l bzw. Δa/a ∙ 10–3

6 men und bei chemischen Verbindungen auch zwischen


den Molekülen bestimmt sind (siehe Abschn. 14.3). Je
be

stärker die Bindungskräfte, desto geringer ist die Asym-


te
ro

5
tan
rP

metrie des Bindungspotenzials, und desto kleiner ist der


ns
de

ko

thermische Ausdehnungskoeffizient. Da die Bindungs-


ng

er
ru

4
itt

kräfte mit steigender Temperatur abnehmen, steigt der


de

rG
än

de

Ausdehnungskoeffizient von Festkörpern mit der Tem-


en

ng
ng

peratur (z. B. für Aluminium: α373RT = 23 ppm/K, gemäß


3
ru

de

=
Än

Abkühlung Abb. 15.9 α800 30 ppm/K zwischen 427 und 527 °C).
2
Δl
l
Kurve { Erwärmung
Abkühlung
700
Starke Bindungskräfte verursachen auch hohe Schmelz-
temperaturen. Daraus ergibt sich, dass Materialien mit
1
Δa Kurve
a { Abkühlung
Erwärmung
höherer Schmelztemperatur einen kleineren Temperatur-
ausdehnungskoeffizienten aufweisen. Tabelle 15.6 führt
0
die Kennwerte einiger Werkstoffe aus unterschiedlichen
400 450 500 550 600 650 Werkstoffkategorien an, wobei die „Anschmelztempe-
Temperatur in °C ratur“ TS (Solidustemperatur), bei der zumindest lo-
kal eine flüssige Phase entsteht) angegeben ist, ab der
Abb. 15.9 Beim Aufheizen und Abkühlen einer Aluminium-Probe zwischen diese nicht mehr als Werkstoffe einsetzbar sind. Für
400 °C und dem Schmelzpunkt ergibt sich eine reproduzierbare Differenz zwi-
schen dilatometrischer Längenänderung (Δl /l = 0,92 %) und röntgenografisch
amorphe Stoffe (Polymere, Gläser) ist auch die „Glas-
gemessener Änderung der Gitterkonstanten (Δa /a = 0,88 %) aufgrund der mit übergangstemperatur“ angegeben, unter ihr sind diese
der Temperatur exponentiell ansteigenden Leerstellenzahl; Skizze einer Leerstel- spröde, darüber werden sie viskos. Die Höhe dieser
le anstelle einer Atomposition Grenztemperaturen liefert einen Indikator für die Stärke
386 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Ts in °C
Diamant
3500

3000
Grafit
TZM
2500 SiC
Werkstoffkunde

Al2O3
2000
αRT100° E Si3N4
Polymer
Keramik Ti6Al4V
1500 18-10 C45
Metall
IN718

GS700
1000
CuZn30
AgCu7
Duran
AlMgSi1
AlSi12
AZ91
SIR PA66 SIR
PP PP
EP
300 250 200 150 100 50 0 150 300 450 600 750 900 1050 1200
αRT100° in ppm/K E in GPa

Abb. 15.10 Zusammenhang zwischen Anschmelztemperatur TS , dem linearen technischen Ausdehnungskoeffizient α zwischen Raumtemperatur und 100 °C sowie
dem Elastizitätsmodul E bei Raumtemperatur (Kennwerte aus Tab. 15.6)

der Bindungskräfte in diesen Materialien. Die Maximal- ratur (steigende Bindungskräfte) mit einem fallenden
temperaturen für den festen Zustand von Werkstoffen Ausdehnungskoeffizienten verbunden ist. Andererseits
aus den drei Kategorien der Bindungstypen sind für steigt der Elastizitätsmodul E (siehe Abschn. 15.5) mit
Kunststoffe unter 300 °C (Polyimide), für Metalle un- der Anschmelztemperatur, wie das Achsensystem TS -E
ter 3420 °C (Wolfram) und für Keramiken unter 3800 °C zeigt. Eine Ausnahme stellt Grafit dar, der zwar ho-
(Diamant). Teilkristalline Thermoplaste werden zwischen he Temperaturbeständigkeit aufweist, aber wegen seiner
der Glasübergangstemperatur und der Schmelztempe- hexagonalen Schichtstruktur mit geringer Bindungskraft
ratur eingesetzt, während amorphe Thermoplaste und zwischen den Schichten nur einen niedrigen E-Modul
Duromere unterhalb der Glasübergangstemperatur Ver- erreicht. Wie Keramiken haben Gläser niedrige Ausdeh-
wendung finden. Elastomere erfüllen ihre Funktion ober- nungskoeffizienten, aber wegen ihrer amorphen Struktur
halb der Glasübergangstemperatur bis zur Zersetzungs- relativ niedrige Anschmelztemperaturen. Für Verbund-
temperatur. werkstoffe aus verschiedenen Werkstoffkategorien gelten
diese Beziehungen nur für die Verbundwerkstoffkompo-
Im Temperaturbereich von Raumtemperatur (RT) bis nenten, während für deren Kombination entsprechende
100 °C (373 K) überstreicht der lineare, technische Aus- Mischungsregeln für Ausdehnungskoeffizienten und E-
dehnungskoeffizient für Kunststoffe einen weiten Bereich Moduln gelten. Genau genommen sind Mischungsregeln
über 30 ppm/K, für Metalle 5–30 ppm/K und für Ke- auch für Legierungen mit signifikanten Mengenantei-
ramiken 0–10 ppm/K. Abbildung 15.10 zeigt im Ach- len an unterschiedlichen Phasen (z. B.: Gusseisen (GJS),
sensystem α-TS , dass eine steigende Anschmelztempe- Ti6Al4V) heranzuziehen.
15.4 Dichte und thermische Ausdehnung 387

Beispiel: Thermo-physikalische Kennwerte einiger Werkstoffe

Kristallografische Struktur, Dichte, Wärmeleitfähigkeit schen Dichte und E-Modul (siehe Abb. 14.22). Tabel-
und Wärmekapazität, sowie Zusammenhang zwischen le 15.6 führt einige Werkstoffe und ihre Kurzzeichen
Anschmelztemperatur, technischem Ausdehnungsko- aus den unterschiedlichen Werkstoffhauptgruppen an.
effizient und Elastizitätsmodul. Die Strukturangaben beziehen sich auf die Atom- oder
Die meisten Werkstoffe besitzen keinen einfachen Molekülanordnungen (siehe Abb. 14.15). Der Dichte-
Schmelzpunkt beim Übergang vom festen in den bereich überstreicht mehr als eine Dekade.
flüssigen Zustand, sondern weisen ein Temperatur- Die spezifische Wärme ist jener Energieaufwand, der
intervall zwischen Solidus (Grenztemperatur für fes- notwendig ist, um die Temperatur von 1 kg eines Stof-
ten Zustand des Werkstoffes) und Liquidus (untere

Werkstoffkunde
fes um 1 K (= 1 °C) zu erhöhen, wobei konstanter
Grenztemperatur für den flüssigen Zustand) auf (siehe Außendruck herrscht. Die Zahlenwerte für die iso-
Kap. 16). Für die Einsatzgrenze der Werkstoffe ist die bare spezifische Wärme (Wärmekapazität) cp ist für
Solidus- bzw. Erweichungstemperatur (Anschmelz- Kunststoffe höher als für Metalle, dazwischen liegen
temperatur TS ) ausschlaggebend. Für Duromere und Keramiken. Wärmeleitfähigkeit λ, auch Wärmeleitko-
amorphe Thermoplaste bildet die Glasübergangstem- effizient genannt, ist eine Stoffeigenschaft zur Berech-
peratur die Einsatzgrenze. Elastomere beginnen sich ab nung des Wärmestroms aufgrund der Wärmeleitung:
einer bestimmten Temperatur zu zersetzen. Die Tem- Die Wärmestromdichte ist direkt proportional zum
peraturstabilität (Formstabilität) der Werkstoffe steigt Temperaturgradienten über eine Distanz l und der Pro-
mit deren atomaren Bindungskräften, was durch einen portionalitätsfaktor ist die Wärmeleitfähigkeit. In der
kleineren, linearen Ausdehnungskoeffizienten quanti- eindimensionalen Differenzenschreibweise gilt, dass
fiziert wird. Analog steigt der Elastizitätsmodul mit der Wärmestrom durch eine Fläche A
den Bindungskräften und somit mit der Anschmelz-
temperatur (siehe Abschn. 15.5 und Abb. 15.10). Bei ΔT
den Metallen besteht auch eine Proportionalität zwi- Q̇ = λA
l
Tab. 15.6 Beispiele für Dichte bei Raumtemperatur ρ, Temperaturgrenze des festen Zustandes T S (ergänzt durch Glasübergangstemperatur (teil-)amorpher
◦C
Stoffe), linearer Temperatur-Ausdehnungskoeffizient (zwischen 25 und 100◦ C) α100
RT , spezifische Wärmekapazität (bei konstantem Druck) c p , Wärme-
leitfähigkeit λRT und Elastizitätsmodul E bei Raumtemperatur einiger wichtiger, massiver, monolithischer Werkstoffe (Werkstoffe aus dem Leitbeispiel
Antriebsstrang (LB) sind fett hervorgehoben)

Massivwerkstoffe Struktur ρ in Anschmelztemp. αRT
100 C in cp in λRT in E in GPa
Mg/m3 in °C (Glasüberg. ppm/K J/(kg K) W/(m K) (= kN/mm2 )
Temp.)
Silikonkautschuk (SIR) Elastomer 1,1–1,5 <300 (<–100) 250–300 1050–1300 0,16 (1–50) · 10−3
Polypropylen (PP) Thermoplast 0,9 175 (<–10) 50–180 1680–2100 0,23 0,9–2
Polyamid (PA 66) in LB(c) Thermoplast 1,1 260 (<60) 80 1700 0,25–0,35 2 ± 0,5
konditioniert
Epoxy (EP) Duromer 1,2–1,3 <150 (80–150) 35–60 1040–1300 0,2 2,5–4
Acheson-Graphit Hexagon. Schichten 1,8–2,3 >2500 0–3 700 120–160 5–25
Diamant (CD) Kub. Diamantgitter 3,2–3,5 3800 1 510–525 2300 1200
γ-Al2 O3 (Tonerde) Kubisch 3,5–4 1900–2050 6–7 800–1050 28 240–380
Siliziumkarbid α-SiC Rhombisch 3,1–3,2 2300–2500 4–4,8 600–1100 350 350–450
Silziumnitrid β-Si3 N4 in LB (a) Hexagonal 3,2–3,4 1700–1900 2,5–3,5 700–850 100 290–330
Borsilikat-Glas (Duran) Amorph 2,2 <825 (525) 3–4 830 1 64
Mg-Gusslegierung AZ91 hcp 1,8 420 26 1000 26 45
Al-Gussleg. AlSi12 (230) in LB(b) kfz 2,7 575 21 970 130–160 73–75
Al-Knetleg. AlMgSi1 (AW6082) " 2,7 590 23 920 230 70
in LB(e)
Ti6Al4V (α+β)-Legierung hrz + krz 4,4 1600 9 530 7 115 ± 10
Messing CuZn30 kfz 8,55 900 19 385 120 114
Sphäroguss GJS700 Grauguss: Stahl mit 7,1–7,3 1150 8–9 460 32–36 160–185
Graphit
Un-/niedriglegierter Stahl Krz (Ferrit) 7,85 1420 11 460 42–55 210 ± 10
in LB(d)
Rostfreier Stahl X5CrNi18-10 (INOX) Kfz .(Austenit) 7,9 1410 16 510 15 200
Inconel 718 in LB (a) " 8,2 1330 13 400 11 205
Ni-Basis-Superlegierung
Mo-Legierung TZM krz 10,2 2610 5,5 260 140 320
Sterlingsilber 925 (AgCu7) kfz 10,5 800–900 19 235 420 80
388 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Leitbeispiel Antriebsstrang
Thermo-physikalische Eigenschaften der Werkstoffe
Werkstoffkunde

Ein Abgasturbolader kann bis zu 975 °C heiß werden.


Andererseits kann er im stehenden Auto im Winter Kurbelgehäuse werden aus Gusseisen (GJS oder GJV
−35 °C kalt werden. Vergleichen wir die Keramiktur- siehe Kap. 16) oder Al-Si-Gusslegierungen hergestellt,
bine mit der aus einer Superlegierung. Nehmen wir wobei in die meisten Aluminium-Kurbelgehäuse Zy-
an, beide Versionen werden in ein Grauguss-Gehäuse linderlaufbüchsen aus Gusseisenn eingesetzt werden.
(GJS) eingebaut. Die technischen Ausdehnungskoef- Nehmen wir ideale Kühlverhältnisse an, sodass die
fizienten unter 100 °C entnehmen wir der Tab. 15.6, Zylinderlauffläche aus Gusseisen maximal 125 °C an-
während über 100 °C bis 975 °C etwas größere Werte nimmt. Der technische Ausdehnungskoeffizient ent-
einzusetzen sind. Vergleichen wir die Durchmesserän- spricht dem in Tab. 15.6 für Sphäroguss angegebenen.
derungen der Turbine und der entsprechenden Gehäu- Die Zylinderbohrung betrage bei RT 80 mm, in der sich
seausnehmung von ca. 70 mm bei RT bis 975 °C nach ein Al-Si-Gusskolben (α wie AlSi12 in Tab. 15.6) mit ei-
(15.1). Es wird angenommen, dass die Temperaturver- nem Durchmesser von 79 mm bewegt. Bei Abkühlung
teilung in den Bauteilen ausgeglichen ist. Der Spalt von RT auf −35 °C schrumpft die Gusseisen-Bohrung
zwischen Turbine und Gehäuseausnehmung beträgt um fast 40 µm (siehe Turboladergehäuse), während der
allseitig die Hälfte der Durchmesserdifferenz: Durchmesser des Aluminium-Kolbens um 0,1 mm klei-
∗ ner wird. Der Al-Si-Kolben vergrößert seinen Spalt zum
Δl(−35 ◦ C bis RT)/l = −αRT
−35 ◦ C 60 ( ΔT = 60) Gusseisenzylinder bzw. zur Gusseisenlaufbüchse bei
(negativ, daher Schrumpfung): −35 °C von 0,5 mm auf 0,53 mm, was bei Kaltstart von
→ GJS: Bedeutung ist. Bis 125 °C dehnt sich die Bohrung im
GJS gegenüber RT um ca. 70 µm, während der Durch-
− (0,048 ÷ 0,054 %)l ∼
= Δl = −(34 ÷ 38 μm), messer des Aluminium-Kolbens bis 125 °C um 0,17 mm
Si3 N4 : größer wird. Da der Kolben im Betrieb bis 250 °C heiß
− (0,015 ÷ 0,021 %)l ∼
= Δl = −(15 ÷ 21 μm), werden kann, vergrößert sich sein Durchmesser um bis
zu 0,34 mm, sodass die Durchmesserdifferenz gegen-
IN718:
über dem 125 °C warmen Gusseisenzylinder nur mehr
− 0,078 %l ∼
= Δl = −55 μm. 0,73 mm beträgt, womit sich der allseitige Spalt auf

Δl(RT bis 975 ◦ C)/l = αRT
975 C
950 (Dehnung): 0,36 mm vermindert. Den Ausgleich zwischen der Zy-
linderbohrung und dem Kolben müssen die federnden
→ GJS:
Kolbenringe herbeiführen.
975 ◦ C ∼
(αRT = 11 ppm/K): 1,05 %l ∼
= Δl = 735 μm,
Si3 N4 :

(α975 C = ∼ 5 ppm/K): 0,48 %l =
∼ Δl = 333 μm,
RT
IN718:
975 ◦ C ∼
(αRT = 15 ppm/K): 1,46 %l ∼
= Δl = 1,024 mm. Die Ölwanne wird mit dem Kurbelgehäuse in Ab-
Daraus wird erkennbar, dass die Keramikturbine bis ständen von l0 =100 mm verschraubt. Nehmen wir an,
−35 °C um ca. 20 µm weniger schrumpft als das Ge- dass beide eine Temperaturschwankung von 100 °C
häuse, sodass bei RT mindestens 10 µm Spalt zwischen erfahren. Zwischen den Verschraubungspunkten erge-
Turbine und Gehäuse sein muss, damit sie bei −35 °C ben sich dann folgende Längenänderungsdifferenzen
nicht klemmt. Dieser Spalt erweitert sich bis 975 °C zwischen der Polyamid-Ölwanne und dem Gusseisen-
auf 0,21 mm. Die Superlegierungsturbine dehnt sich oder dem AlSi12-Kurbelgehäuse:
gegenüber dem GJS-Gehäuse von RT bis 975 °C um
Δl(ΔT = 100 ◦ C)/l0 =
ca. 0,29 mm mehr aus, sodass diese bei Raumtempera-
tur etwa 0,15 mm Spalt braucht, der sich bei −35 °C um [α(PA) − α(GJS)]ΔT = 0,7 % → Δl = 0,7 mm,
weitere 10 µm vergrößert. [α(PA) − α(AlSi12)]ΔT = 0,6 % → Δl = 0,6 mm.
15.5 Elastische Verformung 389

Zellulare Materialien besitzen zwar die gleichen An-


schmelztemperaturen und Ausdehungskoeffizienten wie
15.5 Elastische Verformung
im kompakten Zustand, haben aber wegen ihrer Porosität
signifikant niedrigere E-Moduln (quasi ein Verbundwerk- Wirkt eine mechanische Kraft auf einen Bauteil, so er-
stoff aus Matrix und Gasporen). zeugt sie in diesem eine mechanische Spannung. Die
inneren Spannungen sind aufgrund der Bauteilgeometrie
Nicht nur Temperaturänderungen und Phasenumwand-
und eventueller Werkstoffinhomogenitäten im Bauteil lo-
lungen führen zu Materialausdehnung oder -kontrak- kal unterschiedlich. Wird die Spannung auf die Fläche der
tion, sondern auch elektrische und/oder magnetische
Krafteinwirkung bezogen, ergibt dies eine mittlere Span-
Felder können die Abmessungen mancher Materialien
nung. Zum Vergleich des Werkstoffverhaltens unter äu-
verändern. Diese Wechselwirkungen bzw. Formänderun- ßeren Kräften werden im Folgenden die mittleren Span-
gen sogenannter Funktionswerkstoffe können für me-
nungen betrachtet (siehe Abschn. 4.1 und Abschn. 5.1).
chanische Funktionen als Aktoren und Sensoren genützt

Werkstoffkunde
Axial wirkende Zug- bzw. Druckkräfte FN werden auf
werden (Janocha 2010). Der piezo-elektrische Effekt ei- die Fläche AN normal zur Krafteinwirkung bezogen, um
niger Keramiken und Polymere beruht auf ihrem Auf-
die mittleren Zug- bzw. Druckspannungen zu berech-
bau aus Molekülen, deren unsymmetrische elektrosta-
nen σ = FN /AN (N/mm2 = MPa). Solange die Spannung
tische Ladungsverteilung zu Dipolen führt. Die Dipole
auf den ursprünglichen Querschnitt vor der Belastung
sind innerhalb regellos verteilter Domänen parallel ausge-
bezogen ist, wird sie als technische Spannung σn be-
richtet. Die Dipolrichtungen der Domäne werden durch
zeichnet. Diese verursacht eine Längenänderung, die auf
ein äußeres elektrisches Feld ausgerichtet, was in pie-
die Ausgangslänge l0 bezogen, eine technische Dehnung
zo-elektrischen Materialien makroskopische Längenän-
ε n = Δl/l0 ergibt (siehe Abschn. 4.1): Zug- und Druckbe-
derungen bewirkt. Variationen eines elektrischen Feldes
lastungen rufen zumindest elastische Verformungen der
können somit in mechanische Schwingungen umgewan-
Werkstoffe hervor, die reversibel verschwinden, sobald
delt werden (Anwendungsbeispiele: Quarzuhren, akus-
die Kraft weggenommen wird. Die in Maschinen auftre-
tische Signale, Druckertintenzufuhr). Andererseits kann
tenden Spannungen sollen fast nie den elastischen Bereich
dieser Werkstofftyp durch elastische Druck- oder Zug-
überschreiten, um dauerhaften Betrieb zu gewährleis-
beanspruchung ein entsprechendes elektrisches Feld er-
ten. Die elastischen Eigenschaften der Werkstoffe sind
zeugen (Beispiele: Kraftmessdose, Mikrofon). Der piezo-
daher für die Werkstoffwahl für Maschinen und Kom-
elektrische Effekt wird in ferro-elektrischen Materialien
ponenten besonders wichtig: Wie viel Verformung ruft
(BaTiO3 = BTO, Pb(Zrx Ti1−x )O3 = PZT) ebenso durch
eine angelegte Spannung hervor? Bis zu welcher Span-
ein elektrisches Feld ausgelöst, was kleine Atomver-
nung (Elastizitätsgrenze) ist die plastische Verformung
schiebungen und somit eine Längenänderung hervorruft
vernachlässigbar? Steifigkeit beschreibt den Widerstand
(Beispiele: Rasterkraftmikroskop, FeRAM-Speicher). Zur
von Bauteilen gegen elastische Verformungen und ist so-
Vergrößerung der Dimensionsänderung werden meist
wohl vom Werkstoff als auch von der Belastungsart und
ferro-elektrische Schichten in Stapeln aufgebaut. Ana-
der Bauteilgeometrie abhängig (siehe Kap. 5).
loge Effekte werden bei magnetischen Materialien (Fe-
Ni-Co-Legierungen) erzielt, deren magnetische Domänen
(Weiss’sche Bezirke) in einem Magnetfeld ausgerichtet
werden. Dies verursacht in einer Richtung eine Verlänge-
rung, die durch eine Querkontraktion kompensiert wird,
Linear elastische Verformung nach dem
sodass das Volumen konstant bleibt (Beispiel: Einspritz- Hooke’schen Gesetz und was ist Dämpfung?
düse).
Zug- bzw. Druckversuche an Materialproben ergeben
Spannungs-Dehnungsdiagramme (siehe Kap. 14), aus
Werkstoffe verändern ihre Abmessungen mit der denen Kennwerte für die Werkstoffbelastbarkeit ermit-
Temperatur gemäß dem thermischen Ausdehnungs- telt werden können (Tab. 15.5). In Abb. 15.12 sind re-
koeffizienten, aber auch bei Strukturänderungen. versible, linear elastische Verformungssituationen dar-
Funktionswerkstoffe können ihre Abmessungen bei gestellt. Im linear elastischen Verformungsbereich gilt
Änderungen des elektrischen und/oder magneti- das Hooke’sche Gesetz (15.3)–(15.5) (publiziert 1676 von
schen Feldes erfahren und damit mechanische Ar- Robert Hooke), mit dem Elastizitätsmodul (E-Modul,
beit verrichten. engl. Young’s modulus nach Thomas Young) als Pro-
portionalitätsfaktor zwischen Spannung und Dehnung
390 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Beispiel: Bestimmung der thermischen Ausdehnung mittels Dilatometrie

Strukturumwandlung in Eisen und Stahl von kubisch keit von unter 1 ppm/K ist für den Ausdehnungskoef-
raumzentriert in kubisch flächenzentriert und umge- fizient erreichbar.
kehrt:
Dilatometrie ist ein einfaches Verfahren zur Bestim-
Die Veränderung der Länge eines Materials mit der mung der Umwandlungstemperaturen von Stahl (sie-
Temperatur l(T ) kann mit einem Dilatometer ge- he Kap. 16). Die Umwandlung des kubisch raumzen-
messen werden (Abb. 15.11a). Aus den Ergebnissen trierten Ferrit (krz α) in den kubisch-flächenzentrierten
Δl/l(T ), wie in Abb. 15.9 und 15.11b dargestellt, wer- Austenit (kfz γ) ist mit einer Dichteerhöhung ver-
bunden (ΔV ∼
T
den sowohl die mittleren technischen αT12 als auch der = 0,9 %, siehe Abb. 15.11b), da die kfz
Werkstoffkunde

kontinuierliche Verlauf des physikalischen Ausdeh- Kristallstruktur eine dichtere Atompackung aufweist
nungskoeffizienten β(T ) errechnet. Eine Messgenauig- als krz (siehe Abschn. 14.3).

Längenmesssystem Probenhalter Ofen Probe


(meist Quarzstab)

Thermoelemente

Temperaturregler und Messverstärker EDV-Datenauswertung


a

1,8 7,45
/K
m
pp
1,6 23

22
γ )=
1,4 Rein-Fe β( 7,55
Dehnung Δl/l0 in %

Dichte in g/cm3
1,2 Längenunter- Volumen-
schied ≈ 0,3 % unterschied ≈ 0,9 %
C16-Stahl
1
s α γ 7,65
K/
0,8 20
/s
C16-Stahl K
1
0,6 K
m/
5 pp
2 –1 α γ 7,75
0,4 =1 α = kfz
α) Ar1 Ar3 Ac1 Ac3 911°C
β(
γ = kfz
0,2

7,85
0
0 100 200 300 400 500 600 700 800 900 1000 1100 1200 1300
b Temperatur in °C

Abb. 15.11 a Prinzip eines Dilatometers zur Messung der Längenänderung im Verlauf der Temperaturänderung einer gleichmäßig temperierten Probe
mithilfe einer Schubstange (meist aus temperaturstabilem Quarz oder Keramik); b Dehnung (linke Skala ) der Dilatometerproben (Rein-Eisen (grün ) und
unlegierter Stahl C16 (blau ) mit 0,16 % C) in Abhängigkeit von der Temperatur mit einer entsprechenden Dichteänderung (rechte Skala ); Reineisen zeigt bei
911 °C eine reversible Änderung der Kristallstruktur α ⇔ γ (bei den angegebenen Heiz- und Kühlraten) verbunden mit einer Dichteänderung um ca. 1 %.
Die Längenänderung einer C16-Stahlprobe (blau ) zeigt Umwandlungsintervalle: beim Aufheizen mit 20 K/s erfolgt die Umwandlung von Ac1 bis Ac3 ; beim
Abkühlen mit 1 K/s von Ar3 bis Ar1
15.5 Elastische Verformung 391

Die kubisch raumzentrierte Struktur α weist laut aus dem γ-Phasenbereich beginnt die Umwandlung
Abb. 15.11 einen physikalischen Ausdehnungskoeffi- bei Ar3 , bis bei Ar1 die ganze Probe kubisch raumzen-
zienten von β(α/ < A1 ) = 12−15 ppm/K auf, wäh- triert ist. Der gelöste Kohlenstoff wird aus dem Gitter
rend dieser für die kubisch-flächenzentrierte Struktur verdrängt und bildet Karbide, wofür Diffusion (siehe
β(γ/ > A3 ) = 22−23 ppm/K beträgt. Reines Eisen än- Abschn. 15.12) erforderlich ist. Wegen der unterschied-
dert bei 911 °C seine Kristallstruktur während einer lichen Keimbildung für die Phasen beim Aufheizen
Haltezeit isotherm. Bei Stahl (Legierung Fe-C, siehe und Abkühlen, unterscheiden sich die Umwandlungs-
Kap. 16) beginnt die Umwandlung in Austenit (γ), temperaturen beim Aufheizen (Ac , c = chauffage) von
der eine wesentlich höhere Kohlenstofflöslichkeit als denen beim Abkühlen (Ar , r = refroidissement). Die
Ferrit (α) besitzt, schon unter 911 °C. Die Legierung Umwandlungstemperaturen polymorpher Stoffe hän-
wandelt in einem Temperaturintervall allmählich um, gen sowohl von der Legierungszusammensetzung als
während sie das α + γ-Zweiphasengebiet durchläuft: auch von den Aufheiz- bzw. Abkühlgeschwindigkeiten

Werkstoffkunde
beim Aufheizen beginnt die Umwandlung von α in γ ab.
bei Ac1 und ist bei Ac3 abgeschlossen. Beim Abkühlen

(Abb. 15.12a): angelegten, mechanischen Spannung lässt die Werkstof-


fe elastisch rückfedern. Für den technischen Gebrauch
σ = E · ε, (15.3) wird eine Spannung als Dehngrenze (Ersatzstreckgrenze)
τ = G · γ, (15.4) oder Stauchgrenze definiert, die bei erstmaliger Belas-
tung eine praktisch vernachlässigbar kleine plastische
p = K · ΔV/V0 (15.5) Verformung hervorruft. Häufig wird die 0,2-%-Dehngren-
ze Rp0,2 (bei Bedarf Rp0,1 = 0,1 %-Dehngrenze) einer Zug-
oder Stauchprobe angegeben, die bei der Entlastung nach
Allseitig gleicher (hydrostatischer) Druck p bewirkt eine
der erstmaligen Belastung mit der Spannung Rp0,2 bzw.
elastische Kompression eines Volumens V0 , dessen re-
Rp0,1 0,2 % bzw. 0,1 % plastische Verformung hinterlässt,
lative Änderung ΔV/V0 über den Kompressionsmodul wie in Abb. 15.13 dargestellt. Eine nochmalige Belastung
K berechenbar ist ((15.5), Abb. 15.12c). Für Werkstoffe bis zur Dehngrenze soll keine weitere plastische Verfor-
mit der Poisson-Zahl ν = 1/3 (Abb. 15.15) gilt E = K. Ei- mung hervorrufen, sondern die Probe soll sich reversibel
ne Scherkraft FT wirkt entlang einer Fläche durch einen gemäß dem Hooke’schen Gesetz nach Gleichung (15.3)
Festkörper und erzeugt eine Schubspannung τ, die in linear elastisch verformen. Die Spannung der Elastizi-
Scherung oder Torsion einen Scherwinkel ϑ verursacht. tätsgrenze (Re , Rp0,2 bzw. Rp0,1 , oder Rm bei spröden
Die daraus definierte Scherdehnung γ bezogen auf die Werkstoffen) wird zur Vereinfachung mit Rp bezeichnet.
Höhe des Teiles ist über den Schubmodul G proportional Tangenten an die Spannungs-Dehnungskurve am Beginn
zur Schubspannung ((15.4), Abb. 15.12b). der Belastung oder der Entlastung entsprechen der Stei-
Die elastische Verformung energieelastischer Materialien gung der Hooke’schen Geraden und können zur relativ
hängt von der Stärke der Atom- bzw. Molekülbindun- genauen Bestimmung des E-Moduls als Tangentenmo-
gen ab (siehe Abb. 14.12), die in technischer Näherung dul herangezogen werden. Näherungsweise, aber expe-
ein linear elastisches Verhalten bewirken (Hooke’sches rimentell zuverlässiger, kann der E-Modul aus kleinen
Gesetz). Sie zeigt sich bei Metallen, intermetallischen Ver- Hystereseschleifen als Sekantenmodul bestimmt werden
bindungen, Keramiken, bei Gläsern und Kunststoffen un- (Abb. 15.13).
terhalb der Glasübergangstemperatur (siehe Tab. 15.6).
Keramiken, Gläser, Duroplaste sind unterhalb der An-
schmelztemperatur bzw. der Glasübergangstemperatur Das Kräftegleichgewicht der Maschinenteile gegen-
bis zur Schädigung nur elastisch verformbar. Der Elasti- über äußeren Kräften wird durch eine elastische
zitätsmodul E bzw. der Schubmodul G dieser Werkstoffe Verformung hergestellt, die im linear elastischen Be-
ist daher direkt aus der Steigung ihrer Spannungs-Deh- reich über das Hooke’sche Gesetz eine Gegenspan-
nungskurven ablesbar (Abb. 15.12a, b). Ferritische Stähle nung aufbaut. Der Proportionalitätsfaktor zwischen
verformen sich ebenfalls linear elastisch bis zur Streck- elastischer Dehnung und Spannung ist der werk-
grenze (Re wird in Abschn. 15.6 erklärt), die eine de- stoffabhängige E-Modul.
finierte Elastizitätsgrenze darstellt. Eine Reduktion der
392 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Zug σ

astizität)
Spannung σ
Δl

= E ∙ε
σ

e
Hooke‘sch
Geraden σ
(Energieel
AN

Δl

l0 l0

Tangentenmodul
σ
bei Lastumkehr
Rp0,2
–ε ε 0,2 % Dehngrenze
Werkstoffkunde

σ = E∙ ε Sekantenmodul
Druck –σ

Hystereseschleife
a entspricht Dämpfung
(Energieverlust durch
innere Reibung)
Scherung und Torsion τ

τ
λ λ
= γ = tan ϑ
AT l0

l0 ϑ d∙ ϑ

2l0 elastische Energiedichte
d Rp0,2 εe/2
ϑ l0 εe elastische Rückfederung ε
0,2 % plastische Dehnung

τ=G∙γ γ Abb. 15.13 Spannungs-Dehnungsverlauf einer Zugbelastung: Definition der


0,2-%-Dehngrenze, die nach der linear elastischen Rückfederung einer voraus-
b Schubmodul G = E/2 (1 + v)
gehenden Verformung eine plastische Dehnung von 0,2 % hinterlässt; Entlas-
~ 0,38 E
für Metalle G = tung und Wiederbelastung bis zur gleichen Spannung kann eine mechanische
~E
K = E/3 (1–2v) = Hystereseschleife verursachen, deren Flächeninhalt den Energieverlust durch
Dämpfung zeigt. Bestimmung des E -Moduls aus der Steigung der Hooke’schen
Geraden bei Belastungsbeginn, in den Umkehrpunkten (Tangentenmodul) oder
Kompression p

–(σ1 + σ2 + σ3) näherungsweise aus der Sekante (Sekantenmodul) der Hystereseschleife


p=
3
σ1

V0 – ΔV Werkstoffe besitzen eine Elastizitätsgrenze, deren


σ2
V0 Überschreitung plastische Verformung und/oder
Bruch hervorruft.
σ3

Je nach Werkstoff weicht die Belastung und die Ent-


lastung in der Spannungs-Dehnungskurve von der
ΔV ΔV Hooke’schen Geraden ab und erzeugt eine Hysterese-
p = K·
c V0 V0
schleife (mechanische Hysterese). Dies stellt einen Ener-
gieverlust durch innere Reibung bei der elastischen Ver-
Abb. 15.12 Linear elastische Verformung eines Volumenelementes unter ver-
schiedenen Krafteinwirkungen (Hooke’sches Gesetz); a einachsiger Spannungs-
formung dar, der als Dämpfung bezeichnet wird. In
Dehnungsverlauf in Zug oder Druck (mittlere Normalspannung pro Fläche AN ) Abb. 15.13 ist eine Be- und Entlastungsschleife nach be-
mit Elastizitätsmodul E ; b Scher- und Torsionsspannung τ auf der Fläche AT als liebiger, plastischer Verformung eines Metalls qualitativ
Funktion der Schubdehnung γ (Tangens des Scherwinkels ϑ) mit Schubmodul G dargestellt. Die statische Messung des E-Moduls ist sys-
und dessen Abhängigkeit vom E -Modul und von der Poisson-Zahl ν; c hydrosta- tematischen Fehlern unterworfen (Messgenauigkeit, elas-
tischer Druck p mit Kompressionsmodul K toplastisches Verhalten, Viskoelastizität), daher empfiehlt
15.5 Elastische Verformung 393

es sich bei energieelastischen Werkstoffen (Metalle, Kera-


mik) den anerkannten Datenbanken zu vertrauen (z. B.: als Komponenten des komplexen Elastizitätsmoduls
Granta 2014). das linear elastische (Speichermodul üblicherweise
als E-Modul bezeichnet) und das dämpfende Verfor-
mungsverhalten (siehe Bonusmaterial Energieelasti-
zität).
Kunststoffe verformen energieelastisch,
viskoelastisch oder entropieelastisch

Gegenüber Metallen sind die E-Moduln der Kunststoffe Elastizitätskennwerte sind für den
um Größenordnungen kleiner und streuen relativ stark
(siehe Tab. 15.6, Abb. 15.10). Duromere sowie Thermo- Maschinenbau wesentlich

Werkstoffkunde
plaste und Elastomere unterhalb der Glasübergangstem-
peratur zeigen energieelastisches Verhalten wie Metalle. In Tab. 15.6 sind die E-Moduln (Speichermoduln) ausge-
Thermoplaste weisen über der Glasübergangstempera- wählter Werkstoffe bei Raumtemperatur aufgelistet und
tur viskoses Verhalten auf, das heißt, dass die Rückfe- in Abb. 15.10 mit der Anschmelztemperatur korreliert. Bei
derung Zeit braucht (Viskoelastizität). Die Bestimmung Werkstoffen mit energieelastischem Verhalten (Metallen,
eines linear elastischen E-Moduls ist dabei nicht nur von Keramiken, Polymeren unterhalb der Glasübergangstem-
den Versuchsbedingungen (Prüfgeschwindigkeit, Tempe- peratur) steigt der E-Modul mit der Bindungskraft. Die
ratur) sondern auch von der Struktur und dem Feuch- E-Moduln der Polymere sind entsprechend der niedrigen
tigkeitszustand des Polymers (Grellmann 2011) abhängig. Sekundärbindungskraft bzw. wegen der zumindest teil-
Ebenso unsicher ist die Bestimmung einer Elastizitäts- weise amorphen Strukturen wesentlich kleiner als die der
grenze. Die Streckgrenze von Thermoplasten ist mit dem Metalle und Keramiken. Da die atomaren und moleku-
ersten Spannungsmaximum definiert (Abb. 15.14). Eine laren Bindungskräfte mit steigender Temperatur abneh-
Besonderheit der Elastomere ist ihre Rückfederung auf- men, sinkt auch der E-Modul mit steigender Temperatur,
grund der Vernetzung der Polymerketten. Der gestreckte insbesondere bei der Glasübergangstemperatur bei amor-
Ordnungszustand der Vernetzung wird bei Entlastung phen Stoffen, sodass die Glasübergangstemperatur an-
wieder in einen ungeordneten, verflochtenen Zustand der hand der E-Modulmessung bestimmt werden kann (sie-
Polymerketten zurückgeführt (Entropieelastizität des Ver- he Bonusmaterial Energieelastizität). Wegen der starken
netzungszustandes). Die mechanische Hysterese ist für Atombindungen in Keramiken sind die Elastizitätskon-
Thermoplaste und Elastomere in Abb. 15.14 skizziert, stanten relativ temperaturstabil und bleiben mindestens
die die Energieabsorption durch Dämpfung charakteri- bis zur halben Anschmelztemperatur (in K) konstant.
siert.
In Tab. 15.7 sind charakteristische Elastizitätskennwerte
Unterhalb der Glasübergangstemperatur und im Zustand (ohne Streuung) einiger typischer Werkstoffe und Verstär-
gestreckter Polymerketten dominiert die Energieelastizi- kungsfasern aufgelistet: E-Modul (Speichermodul), spe-
tät. Thermoplaste und Elastomere können durch Stre- zifischer E-Modul E/ρ, Querkontraktionszahl (Poisson-
ckung der Polymerketten eine energieelastische Steifig- Zahl) ν, Schubmodul G, Kennwerte für die Elastizitäts-
keitserhöhung erfahren. Sehr lange Polymerketten errei- grenze Rp . Die maximale, linear elastische Dehnung bei
chen im gestreckten Zustand bei der Faserherstellung dieser Elastizitätsgrenze und die zugehörige elastisch ge-
hohe E-Moduln (Aramide: E = 60–130 GPa) durch die speicherte Energiedichte e wurden aus den angegebenen
Atombindungen in den Molekülen und die annähernd Größen berechnet. Bemerkenswert sind die niedrigen spe-
kristalline Struktur (siehe Skizze der gestreckten Polymer- zifischen E-Moduln der Polymere und die relativ hohen
ketten in Abb. 15.14). longitudinalen, spezifischen E-Moduln der Fasern, die
auch die höchsten Festigkeiten in Faserrichtung (Festig-
Elastische Verformungen verlaufen in vielen Werk- keitsmodul siehe Abschn. 15.9) aufweisen. Die Korrela-
stoffen nicht nur nach dem linear elastischen tion der E-Moduln mit der Dichte der Werkstoffe ist in
Hooke’schen Gesetz der Energieelastizität, sondern Abb. 14.22 dargestellt,√dort ist die Bedeutung der spezifi-
enthalten oft auch viskoelastische Anteile. Elastome- schen Biegesteifigkeit E/ρ oder E/ρ2 bei der Werkstoff-
re zeichnen sich noch durch Entropieelastizität aus auswahl für leichte Biegebalken ausgeführt.
(Abb. 14.13). Nicht lineare reversible Verformungen Eine Besonderheit der elastischen Dehnung von Festkör-
absorbieren Energie, was eine Dämpfung bewirkt. pern (ausgenommen Elastomeren) ist, dass das Materi-
Der Speicher- und der Verlustmodul quantifizieren alvolumen mit der Dehnung leicht zunimmt. Die Quer-
kontraktion des Querschnittes durch den Druck senkrecht
Werkstoffkunde
394


Tab. 15.7 Beispiele für typische elastische Kennwerte (E -Modul = Speichermodul, spezifischer E -Modul, spezifische Biegesteifigkeit eines Balkens ( E /ρ), Poisson-Zahl ν, Schubmodul (G ) und für
Elastizitätsgrenze Rp (Ersatzstreckgrenze), Federkenngröße Rp /E , spezifische elastische Energie e (elastische Energiedichte) bei Rp und spezifische Elastizitätsgrenze Rp /ρ (alle bei Raumtemperatur, longitu-
dinale Fasereigenschaften , Zahlenwerte für die Berechnung der abhängigen Größen im Allgemeinen ohne Angabe einer Streuung eingetragen); Werkstoffe der Bauteile des Leitbeispiels (LB(a)–(d)),
Abb. 14.4– 14.7 fett hervorgehoben

E in GPa E in GPa Rp in MPa
Werkstoff Werkstoffkategorie E-Modul Poisson G-Modul Spannungswerte der Rp /E = ε p R2p /2E elast.
ρ in Mg/m3 ρ in Mg/m3 ρ in Mg/m3
in GPa Zahl ν in GPa Elastizitätsgrenze Rp in 10 MPa/GPa Energie/Vol.
bzw. Re max. elast. ε in % in kJ/m³
in MPa (= N/mm2 )
Silikonkautschuk (SIR) Elastomer 0,01 0,008 0,08 0,5 0,003 Reißfestigkeit = 3 30 450 2,3
Polyamid (PA 66) LB(c) Thermoplast kondito- 2 1,8 1,3 0,35 0,7 Streckgrenze Re = 60 3 900 55
niert
Epoxidharz (EP) Duromer 3 2,4 1,4 0,3 1 Zugfestigkeit Rm = 80 1 1070 64
Aramidfaser (PA, Kevlar ®) kristallin, ρ = 1,45 g/cm3 70–160  50–110  5,8–8,7  ? ? Zugfestigkeit Rm ∼
= 3000  2–4  (25–65)103  2070 
S-Glasfaser amorph, ρ = 2,55 g/cm3 80 31 3,5 0,2 36 Festigkeitsmodul σ0 = 4000  5 105  1570 
15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

HM-Kohlenstofffaser Kohlenstoffmodifikation 300  167  9,6  ? ? Festigkeitsmodul σ0 = 2300  0,8  8820  1280 
HT-Kohlenstofffaser (longitudinal Grafitbasis- 230  128  8,4  ? ? Festigkeitsmodul σ0 = 3500  1,5  27 · 103  1940 
ebenen) ρ = 1,8 g/cm3
Diamant Kohlenstoffmodifikation 1100 333 10 0,1 500 Festigkeitsmodul σ0 = 750 0,07 256 230
Siliziumnitrid β-Si3 N4 Keramik 300 91 5,2 0,25 120 4P.-Biegefestigkeit σB = 700 0,2 817 210
LB(a)
Al-Gussleg. AlSi12 LB(b) Leichtmetall 73 27 3,2 0,33 28 0,2-%-Dehngrenze Rp0,2 = 150 0,2 154 56
Al-Knetleg. AW6082T6 70 26 3,1 0,32 27 0,2-%-Dehngrenze Rp0,2 = 280 0,4 560 100
Karosseriestahl DC04 Grundstahl 210 27 1,8 0,3 81 0,2-%-Dehngrenze Rp0,2 = 185 0,1 82 24
Einsatzstahl LB(d) 210 27 1,8 0,3 81 Streckgrenze Re = 600 0,3 860 76
X5CrNi 18-10 Austenit, ρ =7,9 g/cm3 200 25 1,8 0,3 77 0,2-%-Dehngrenze Rp0,2 = 250 0,13 156 32
Inconel 718 LB(a) Nickellegierung 205 25 1,7 0,31 78 0,2-%-Dehngrenze Rp0,2 = 1000 0,5 2440 120
15.5 Elastische Verformung 395

Beispiel: Statischer Biegeversuch und dynamische Bestimmung des E -Moduls

Beim Biegeversuch an dünnen Proben können die elas- ΔF


tischen Verformungen genauer gemessen werden als Prüfvolumen
im Zug- oder Druckversuch. Dynamische Messungen
beruhen auf kleinen mechanischen Hysteresen unter
Resonanzbedingungen.
f
ΔF/2 m m ΔF/2

Zur Bestimmung des Elastizitätsmoduls eines ho- l0


mogenen Werkstoffes eignen sich Biegeversuche, da

Werkstoffkunde
die Randfaserdehnung über die elastische, reversi- Mb
ble Durchbiegung f mit hoher Genauigkeit gemessen
werden kann. Außerdem lässt sich der Biegeversuch Mbmax = ΔF ∙ m
relativ einfach in einer Temperaturkammer durchfüh-
ren, um die Temperaturabhängigkeit des E-Moduls zu
bestimmen. Voraussetzung ist, dass die ebene Probe bei „Viertelpunktbiegung“ mit
gleichmäßige Dicke h ( l0 , sodass Schubspannungen
vernachlässigbar sind, sie Abschn. 5.2) und Breite B 3l30 ΔF
aufweist, sowie die Auflageabstände genau gemessen m = l0 /4: E=
64f · Bh3
werden. Die Skizze der Prüfanordnung zeigt die Ver-
teilung des Biegemoments Mb in Flachproben vom 3-Punkt-Biegeversuch (Abb. 14.21):
Querschnitt B × h und dem äußeren Auflagerabstand
l0 eines 4-Punktbiegeversuchs. Daraus ist das Prüfvo- l30 ΔF
lumen (l0 − 2 m)hB ersichtlich, in dem ein gleichmä- E= (15.7)
ßiges Biegemoment vorliegt (im 3-Punkt-Biegeversuch 4f · Bh3
wird nur der Bereich unter dem Druckstempel in der
Probenmitte geprüft, wobei m = l0 /2). Erfolgt die Be- Longitudinale Schwingungsbelastungen im energie-
lastungsänderung ΔF im elastischen Bereich, lässt sich elastischen Bereich erlauben eine sehr gut reproduzier-
der E-Modul für eine Verschiebung f des Mittelpunktes bare Bestimmung des E-Moduls: eine dünne, stabför-
der Probe wie folgt berechnen: mige Probe der Länge l wird in Eigenresonanz ver-
setzt, so dass l = n(λS /2) = ncS /2f (Wellenlänge der
akustischen Schwingung λS = cS /f , f = Frequenz, cS
= Schallgeschwindigkeit, n = Schwingungsordnung)
3m2 · l0 ΔF und aus der Messung der Frequenz und der Dichte ρ
4-Punktbiegeversuch: E = (15.6)
4f · Bh3 wird der E-Modul errechnet (Macherauch 2011).

zur axialen Zugkraft ist kleiner als die Längsdehnung, betragen, wenn das Volumen konstant bliebe, wie es bei
was mit der Querkontraktionszahl (Poisson-Zahl) quanti- Elastomeren der Fall ist. Aus Tab. 15.7 ist ersichtlich, dass
fiziert wird. Die Poisson-Zahl ν wird durch das Negative für Kunststoffe ν = 0,3–0,5, für Keramiken ν = 0,1–0,25,
des Verhältnisses der Querkontraktion (< 0) zur Längs- für Metalle ν = 0,28–0,35 beträgt. Für die Berechnung des
dehnung definiert und ist somit größer Null. Für einen Schubmoduls und des Kompressionsmoduls ist die Pois-
quadratischen Querschnitt ly = lz eines isotropen Materi- son-Zahl erforderlich (Abb. 15.12).
als gilt ε y = ε z . Gemäß Abb. 15.15 ergibt sich:
εy εz Die maximale elastische Dehnung eines Werkstoffes ε p
ν=− =− . errechnet sich gemäß dem Hooke’schen Gesetz aus dem
εx εx
Quotient der Elastizitätsgrenze Rp und dem E-Modul:
Bei einer Zugverformung eines Würfels der Kantenlänge ε p = Rp /E. Die ε p -Werte sind in Tab. 15.7 angeführt, die
l würde bei einer Dehnung von Δl eine Querkontraktion eine Normierung der Streckgrenze auf den E-Modul des
von Δly = Δlz (Abb. 15.15) nur dann ein Verhältnis Werkstoffes darstellen. Elastomere sind natürlich am elas-
tisch dehnbarsten. Die Glasfaser sticht wegen ihrer hohen
Δly,z Festigkeit und dem relativ geringen E-Modul (geringfü-
ν=− = 0,5
Δl gig höher als der von Aluminium) mit ε p = 5 % heraus.
396 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

technische Spannung σn
Stahl

Kettenknäuel
Energieelastizität werden gestreckt
Duromer

gestreckte Ketten

nichtlineare elastische
Werkstoffkunde

Deformation

Streckgrenze

Einschnürung Streckung
der Ketten

Visko-
elastizität Thermoplast

linear-elastische Streckung
Deformation der Netze
Elastomer
reversibles Verflechten
Entropieelastizität
Entflechtung
der Ketten

technische Dehnung εn

Abb. 15.14 Qualitative Spannungs-Dehnungskurven der Polymere mit linear elastischen Bereichen unterschiedlichen Ursprungs: Duromere (sowie Thermoplaste
und Elastomere unter der Glasübergangstemperatur) mit Energieelastizität (analog zu Keramik und Metallen), Thermoplaste mit einer Streckgrenze und einem
Beispiel viskoelastischer Entlastung im entfestigenden Einschnürbereich, Elastomere mit Entropieelastizität und Entlastungshysterese

l Mit Ausnahme der Kunststoffe und der Glasfasern sind


σ die elastischen Dehnungen  1 % bei der Elastizitätsgren-
Δlz ze. Die gespeicherte elastische Energie pro Materialvolu-
Δl
2 2 men e (elastische Energiedichte, Federpotenzial) bei axial
Δly
wirkender Spannung bis zur Elastizitätsgrenze errechnet
lz 2
sich mit (15.8) aus der Fläche unter der linear elastischen
Δl
Strecke im Spannungs-Dehnungsdiagramm (Abb. 15.13):
2
z
σ
e = Rp ε p /2 = R2p /2E (15.8)
y
mit den Einheiten für Rp (MPa = N/mm2 ) und für E (GPa
x = kN/mm2 ):

Abb. 15.15 Schematische Darstellung der elastischen Dehnung ε x = Δl /l ei- (MPa)2 /GPa = (N/mm2 )2 /103 N/mm2
nes Würfels der Kantenlänge l durch die Zugspannung σ in x -Richtung, die eine
Kontraktion der Seitenkanten in Querrichtung um Δly und Δlz (ε y = Δly /ly , = 10−3 N/mm2 = 103 N/m2
ε z = Δlz /lz ) bewirkt = kN · m/m3 = kJ/m3 .
15.5 Elastische Verformung 397

Diese elastische Energiedichte e ist für die Werkstoffbei- Die Steifigkeit kann durch Verbundwerkstoffe
spiele in Tab. 15.7 angeführt: e ist für hochfeste Materiali-
erhöht werden
en am höchsten, was hohe Rückfederungskräfte zulässt.
Sie ist für Kunststoffe in etwa in der gleichen Größen-
ordnung wie für Metalle, bei denen sie im Wesentlichen Kohlenstofffasern sind sehr anisotrop: beispielsweise un-
mit der Festigkeit steigt. Analoge Werte können mit dem terscheidet sich der E-Modul in Faserrichtung E = 200–
Schubmodul für die Scherung und Torsion bis zur Elasti- 800 GPa beträchtlich von dem in Faserdicke E⊥ ∼ = 10 GPa.
zitätsgrenze berechnet werden (siehe Bonusmaterial Tor- Die Faserrichtung hat ihre hohe Steifigkeit und Festig-
sionssteifigkeit): keit, weil die hexagonalen Grafitebenen mit hoher Bin-
dungsenergie parallel zu ihr verlaufen, während die Bin-
eG = τp γp /2 = τp2 /2Gτ. (15.9) dungskräfte senkrecht zur Grafitebene relativ gering sind.
Der innere Aufbau der Kohlenstofffasern ergibt sich aus
Einkristalle weisen meist entsprechend der Kristallstruk-

Werkstoffkunde
der Herstellung und dem Grafitisierungsgrad. Es werden
tur elastische Anisotropie auf. Kubisch raumzentrierte gemäß dem Ausgangsmaterial PAN (Nylon)- und Pech
(krz) Eisenkristalle weisen eine signifikante Anisotropie (pitch)-Fasern unterschieden, die als hochfeste (HT), mitt-
auf: E111 = 290 GPa in der Richtung der dichtest ge- lere (IM), oder hochmodulige (HM) Qualitäten am Markt
packten Raumdiagonalen der würfeligen Einheitszelle sind. Keramische Fasern (Glasfasern, SiC, Al2O3) sind
(Abb. 15.22a), E110 = 217 GPa in der Flächendiagonale, isotrop.
E100 = 135 GPa in Richtung der Würfelkante. In polykris-
tallinem Material mitteln sich meist die Eigenschaften Beispiele für den inneren Aufbau von Metallmatrix-Ver-
der statistisch orientierten Kristallkörner, sodass makro- bundwerkstoffen sind in Abb. 15.16 dargestellt, wobei
skopisch für ferritischen Stahl E = 210 ± 10 GPa gemes- Schliffbilder kohlenstofffaserverstärkter Polymere denen
sen wird. Legierungselemente verändern diesen kaum, in Abb. 15.16c und e ähnlich sind. Der E-Modul von
jedoch kann er durch die Textur der Kornorientierun- Verbundwerkstoffen lässt sich über Mischungsregeln ab-
gen nach Kaltverformung bis 180 GPa sinken, während schätzen, solange sich beide Komponenten im linear elas-
das Maximum etwa 45° zur Walzrichtung bis 220 GPa tischen Bereich verformen. Wenn sich die E-Moduln der
steigen kann. Geordnete Kristallorientierungen können Komponenten unterscheiden, kommt es zur dehnungs-
in polykristallinen Metallen beim Walzen oder Ziehen oder spannungskontrollierten Lastübertragung, die in
entstehen, die eine anisotrope, elastische Dehnung zur Abb. 15.18 schematisch dargestellt ist.
Folge haben (Orientierungstextur durch Anisotropie des Für die elastische Belastung σ in Faserrichtung
Verformungsgefüge, siehe Abschn. 30.3). Der E-Modul (Abb. 15.18a) ergibt sich der E-Modul des Verbundwerk-
austenitischer Stähle und Nickel-Basislegierungen ist we- ||
gen der kubisch flächenzentrierten (kfz) Struktur 5–10 % stoffes EV aus dem Volumenanteil der Fasern vf mit dem
||
kleiner als der der ferritischen Stähle im ferromagne- E-Modul Ef in dieser Richtung und dem Volumenanteil
tischen Zustand (unterhalb der Curie-Temperatur). Ti- vm = 1 − vf der Matrix mit dem isotropen E-Modul Em :
tan-Legierungen bestehen bei Raumtemperatur entweder
hauptsächlich aus hexagonaler α-Phase und/oder aus der σ = vf · σf + vm · σm
kubisch raumzentrierten β-Phase. Die α-Phase ist stark
anisotrop mit E = 105–140 GPa, was bei statistisch ori- mit σ = E · ε:
entierten Kristallen makroskopisch E ∼ = 115 GPa ergibt,  
EV · ε = vf · Ef · ε f + vm · Em · ε m ,
aber bei Orientierungstexturen durch Umformung aniso-
trope Abweichungen zeigt. Die kubisch raumzentrierte da ε = ε f = ε m folgt daraus die lineare Mischungsregel
β-Phase hat einen geringeren E-Modul, sodass Legie- nach Voigt:
rungen mit dominanter β-Phase E-Moduln zwischen 80
und 100 GPa aufweisen. Legierungen mit beiden Pha-  
EV = vf · Ef + (1 − vf ) · Em. (15.10)
sen verhalten sich in ihren elastischen Eigenschaften wie
Verbundwerkstoffe. Bei Belastung quer zur Faserrichtung (Abb. 15.18b) wer-
den die Dehnungen summiert, um aus dem E-Modul der
Bei der elastischen Verformung der Werkstoffe ist zu Fasern in Querrichtung Ef⊥ den transversalen E-Modul
beachten, dass die Längsdehnung nicht vollkommen des Verbundwerkstoffes EV⊥ zu errechnen:
durch die Querkontraktion kompensiert wird.

ε = vf ε f + vm ε m = σ/EV = vf · σf /Ef⊥ + vm · σm /Em ,
Alle Werkstoffe mit Ausnahme der Elastomere mit
ν = 0,5 erfahren bei elastischer Dehnung eine Vo- da σ = σf = σm folgt daraus die reziproke Mischungsre-
lumenzunahme, die mit der Poisson-Zahl (ν < 0,5) gel nach Reuss:
quantifiziert wird.

1/EV = vf /Ef⊥ + (1 − vf )/Em . (15.11)
398 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Vertiefung: Verbundwerkstoffe mit Teilchen-, Kurzfaser-, Endlosfaserverstärkung in Kunststoff-


oder Metallmatrix

Hochfeste, hochmodulige diskontinuierliche oder kon- tiefgestellten Symbolen (p Partikel, s Kurzfasern, m


tinuierliche Verstärkungskomponten (im Allgemeinen Monofilaments, f kontinuierliche bzw. Langfasern mit
keramisch) werden in Leichtmetall- oder Kunststoff- Orientierungsangaben und Mengenverhältnis) wie in
matrix eingebettet. Abb. 15.16 angegeben. Ausführliche Beschreibungen
von Polymermatrix-Verbundwerkstoffen (PMC) gibt
(AVK 2010) und von Metallmatrix-Verbundwerkstof-
International wurde folgende Bezeichnungsweise für fen (MMC) (Kainer 2003). Eine Keramikmatrix kann
Verbundwerkstoffe vorgeschlagen: Matrixbezeich- mit Kurzfasern verstärkt werden (CMC), um die Zä-
Werkstoffkunde

nung/Verstärkungskomponente/Volumenanteile mit higkeit zu erhöhen (Krenkel 2003).

a PRM

b SFRM d MFRM 100 μm

c CFRM
100 μm e CFRM-Gewebe 200 μm

Abb. 15.16 Lichtmikroskopische Schliffbilder einiger Metallmatrix-Verbundwerkstoffe mit Kurzbezeichnungen (a–d in gleicher Vergrößerung, Ver-
bundwerkstoffe mit Polymermatrix ergeben ähnliche Bilder); a PRM (particle reinforced matrix); mit 15 Vol.-% Aluminiumoxid-Teilchen verstärkte
Aluminium-Knetlegierung (AW6061/Al2O3/15p); b SFRM (short fiber reinforced matrix); mit 10 Vol.-% Aluminiumoxid-kurzfaserverstärkter Aluminiumguss
(AC1070/Al2O3/10s) mit bevorzugt planarer Faserorientierung (horizontal); c CFRM (continuous fiber reinforced matrix); Querschliff einer unidirektional mit
70 Vol.-% hochmoduligen Kohlenstofffasern verstärkten Aluminium-Probe (Al/C-M40B/70f UD); d MFRM (monofilament reinforced matrix); Querschliff einer
mit 40 Vol.-% SiC-Einzelfasern verstärkten Kupfer-Probe (Cu/SiC/40m); e 0/90°-CFRM; Schliff durch eine mit ebenem 0/90°-Gewebe von 60 Vol.-% Kohlen-
stofffasern verstärkten Magnesiumprobe (Magnesium/C-T300J/60f-0/90° 1 : 1), wobei die quergeschnittenen Faserbündeln (6000 Fasern/Bündel) erkennbar
sind
Tab. 15.8 Beispiele des spezifischen E -Moduls von Verbundwerkstoffen und ihren Komponenten (longitudinal  , transversal ⊥ ) sowie der ungefähren Kosten für die Verbundwerkstoffe und ihre Steifigkeit
(1 Ξ = Grundstahlpreis/kg)
Verbundwerkstoff Matrix-Werkstoff Verstärkungskomponente Verbundwerkstoff
Kurzbezeichnung Bezeichnung E-Modul Dichte Bezeichnung E-Modul Dichte Elong. - Dichte ca. Preis spez. E- Preis in Ξ
in GPa in in GPa in Modul in in Ξ/kg Modul / ρ pro E/ρ
Mg/m3 (E /E⊥ ) Mg/m3 in GPa Mg/m3 E in MPa/ Ξ · ρ in Mg/m3
E in GPa
(Mg/m3 )
PA66/Aramid/50f-0/90° Polyamid 2 1,1 Aramidfaser 120 /5⊥ 1,45 36 1,3 100 28 3,5
EP/C-HM/60f-UD Epoxidharz 3 1,25 C-Faser HM 300 /10⊥ 1,8 181 1,8 200 115 1,7
EP/C-HT/65f-UD (EP) C-Faser HT 230 /15⊥ 151 100 94 1,1
EP/C-HT/60f-0/90° (hochfest) 72 80 45 1,8
EP/C-HT/60f-0° 50 % / ± 45° 25 % 91 80 56 1,4
EP/S-G/60f-0° 50 % / ± 45° 25 % S-Glasfaser 80 2,55 32 2,0 10 16 0,6
Mg/C-HT/60f-0/90° (Abb. 15.16e) Magnesium 45 1,7 C-Faser HT 230|| /15⊥ 1,8 119 1,8 250 68 3,7
Al/C-HM/70f-UD (Abb. 15.16c) Aluminium 70 2,7 C-Faser HM 300 231 2,1 350 112 3,1
Al/C-HM/60f-UD (hochmodulig) 208 2,2 300 96 3,1
Al/Al2O3-N610/60f-UD α-Al2 O3 Faser 380 4,0 256 3,5 400 74 5,4
Cu/SiC/40m-UD (Abb. 15.16d) Kupfer 110 8 SiC-Monofilament 400 3,1 226 6,0 5 · 104 37 1300
AlSi7/Al2O3-Saffil/10s Al-Si-Gussleg. 72 2,73 δ-Al2 O3 Kurzfaser 100 2,8 75 2,7 20 27 0,7
(Abb. 15.16b)
AW6061/Al2O3/15p (Abb. 15.16a) Al-Knetleg. 70 2,7 Al2 O3 Partikeln 380 4,0 80 2,9 10 28 0,4
Aluminium 5 26 0,2
Epoxidharz 3 1,25 1,1 2,4 0,5
15.5
Elastische Verformung
399

Werkstoffkunde
400 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Beispiel: Rotorblätter für Windturbinen werden aus mehreren Lagen von Prepregs
mit Endlosfaserverstärkung gefertigt

Mit Epoxidharz getränkte Fasermatten aus Kohlen- verbunde nehmen wir an, dass in 45° zur Faserrichtung
stoff- und/oder Glasfasern werden halbautomatisch in noch 30 % der longitudinalen Fasersteifigkeit nutzbar
eine Form gelegt und ausgehärtet. werden. Die radiale Steifigkeit Er für diese vier Faser-

Das Rotorblatt einer Windkraftanlage wird im Fol- lagen wird somit abgeschätzt mit Er = 0,39Ef + 0,4Em .
genden als Beispiel für mit Endlosfasern verstärkte Als Matrix wird Epoxy eingesetzt mit Em = 3 GPa
Kunststoffe betrachtet, um die Besonderheiten dieses und ρ = 1,25 g/cm3 . Die Verstärkung kann durch S-
Werkstoffes aufzuzeigen. Abbildung 15.17b illustriert Glasfasern mit Ef = 80 GPa und ρ = 2,55 g/cm3 erfol-
Werkstoffkunde

die Dimensionen und die manuelle Fertigung einer 


gen und/oder durch HT-Kohlenstofffasern mit Ef =
Halbschale eines Rotorblattes (bis zu 60 m Länge).
In Dauerformen werden die mit Epoxidharz getränk- 230 GPa und ρ = 1,8 g/cm3 . Tabelle 15.10 stellt die ge-
ten Fasermatten (Prepregs) gelegt. Aus Kostengründen schätzten Steifigkeitsergebnisse denen für die Epoxi-
werden Glasfasern (GFK) eingesetzt, die bei Bedarf lo- Matrix und für Aluminium gegenüber.
kal mit einzelnen Lagen von Kohlenstofffasermatten
(CFK) verstärkt werden. Die allgemeinen Anforderun-
gen an dieses Bauteil sind in Tab. 15.9 angeführt.
Wegen der kleinen Serien wäre eine automatisierte Fer-
tigung bzw. die Anwendung von Umformtechnik für
Bleche zu aufwendig. Die Prepregs aus mit Matrix
getränkten Fasermatten (Glas- und Kohlenstofffasern)
werden so einzeln in große Formen eingelegt, dass die
Faserorientierungen bestmögliche spezifische Steifig-
keit und Festigkeit in den Beanspruchungsrichtungen
ergeben. Die Hauptbeanspruchung ist Biegung, Torsi-
on und longitudinale Zentrifugalkraft. Fasern sollten
somit radial und schräg ausgerichtet sein. Nehmen wir
der Einfachheit halber an, dass der Faservolumenan-
teil 60 Vol.-% beträgt, wobei 50 % der Fasern radial
und jeweils 25 % ± 45° dazu ausgerichtet seien. Wir
zerlegen ein Faserpacket in zwei unidirektional radi- a b
al verstärkte und je eines im 45°-Winkel dazu. Für die
Fasern in radialer Richtung lautet die Mischungsregel Abb. 15.17 a Rotorblatt einer Windkraftanlage; b Innenseite einer fa-
 serverstärkten Rotorblatthälfte mit Arbeiterin zur Veranschaulichung der
E = 0,6Ef + 0,4Em . Wegen der Anisotropie der Faser- manuellen Bauweise und der Größe

Tab. 15.9 Technische Anforderungen an ein Rotorblatt aus Faserverbundwerkstoffen


Bauteil Haupt- Serien- Form Maßge- Werkstoff- Mechanische Temperatur- Chem. Be- Verschleiß-
funktion größe nauigkeit beispiele Eigenschaften belastung ständigkeit system
GFK/CFK- Windströ- Klein Kom- Gering Endlosfaser Biege- und −50 °C– Regen, Sand,
Rotorblatt mung in plex, verstärkter torsionssteif, 100 °C Sonnenbe- Hagel,
Rotation hohl Duromer schlagfest, ermü- strahlung Vogelschlag
wandeln dungsbeständig
Wichtige Konse- Fertigungsverfahren mit Leicht: Steifigkeit E, E/ρ, T-abh. Da- Korrosion Oberfläche
quenzen für die geringen Investitionskosten, hohe spe- E/ρ2 , ten KIc (T ), an Ober- schlagfest
Werkstoffauswahl Fügeverfahren mit Achse zifische Festigkeit Rm , Ausdehnung fläche u.
◦C
(wesentliche Kenn- Kennwerte Rm /ρ, R2/3
m /ρ, α100
−50
Verbindung
werte): Zähigkeit KIc , KIIc , ΔmK
Zeitfestigkeitsver-
hältnis sNG
15.5 Elastische Verformung 401

Durch die Glasfaserverstärkung resultiert mehr als die fischem E-Modul in Tab. 15.8: 0,2 (Al) : 0,6 (GFK) : 1,4
10-fache Steifigkeit der Matrix, durch die HT-Kohlen- (CFK) Ξ pro GPa/Mg/cm3 ). Um die Beständigkeit ge-
stofffaserverstärkung die 30-fache Steifigkeit in radia- gen Vogelschlag zu erhöhen, wird die Oberfläche der
ler Richtung. Der E-Modul eines Aluminium-Bleches Vorderkante oft mit einer hochfesten, zähen Folie über-
liegt dazwischen. Die radiale, spezifische Steifigkeit zogen. Es wird auch an der Entwicklung von endlosen
wird durch die Glasfasern fast 7-mal so hoch und Kohlenstofffaser verstärkten Kunststoffen und Metal-
durch die HT-Kohlenstofffasern 23-mal so hoch, aber len (CFRP und CFRM) für Verdichterschaufeln von
der spezifische E-Modul von Aluminium liegt wie- Strahltriebwerken gearbeitet.
der dazwischen. Die spezifische Biegesteifigkeit der
Epoxid-Matrix wird durch die Glasfasern verdoppelt Tab. 15.10 Radiale Steifigkeitswerte für eine Faserlagenkombination mit
60 Vol.-% Endlosfasern in 050◦ /−45◦ /+45◦ -Richtungen für ein Ro-
und durch die HT-Kohlenstofffasern mehr als vervier- % 25 % 25 %
torblatt im Vergleich zur Matrix und zu Aluminium
facht. Die spezifische Biegesteifigkeit von Aluminium √
Er in Dichte ρ

Werkstoffkunde
ist nur 10 % höher als die des EP/S-Glas/60f-Geleges. Verbund- Er in GPa Er in GPa
werkstoff 3
GPa in Mg/m ρ in Mg/m ρ in Mg/m33
Da die Festigkeit von Endlosfaserverbundwerkstoffen
fast nur in Faserrichtung erhöht wird, beträgt die ra- EP-Matrix 3 1,25 2,4 1,4
diale Festigkeit des Geleges etwa 1 GPa sowohl für S- EP/S-Glas/60f 32 2,03 16 2,8
Glasfasern als auch HT-Kohlenstofffasern, bei denen – 0°50 % /
30 Vol.-% in radialer Richtung verlaufen. Mit Alu- −45°25 % /
+45°25 %
minium-Legierungen ist etwa 50 % dieser Festigkeit
EP/HT-C/60f 91 1,6 56 6
zu realisieren, aber sie wäre isotrop. In der Praxis – 0°50 % /
hat sich die Fertigung von Rotorblättern aus Gele- −45°25 % /
gen von Endlosfaserverbundwerkstoffen durchgesetzt, +45°25 %
meist aus kostengünstigen GFK (siehe Preis pro spezi- Aluminium 70 2,7 26 3,1

Im Bonusmaterial „Longitudinale und transversale E- stärkungen: um das 3- bis 4-Fache für Polymermatrix und
Moduln“ ist die Abhängigkeit der longitudinalen und um das 15- bis 20-Fache für Aluminium- und Magnesi-
transversalen E-Moduln vom Volumenanteil von Endlos- um-Matrixlegierungen. Extrem hoch sind die Kosten für
fasern in Aluminium- und Epoxidmatrix in Abb. 15.3 Monofilament-Verstärkungen von Metallen, die für Fusi-
dargestellt. Die gleiche reziproke Mischungsregel (15.11) onsreaktoren und Gasturbinentriebwerke in Entwicklung
gilt für diskontinuierliche Verstärkungskomponenten wie sind. Der Preis für eine Aluminium-Legierung verdop-
z. B. für Teilchen mit dem E-Modul Ep und dem Volumen- pelt sich mindestens bei 10–20 % Teilchenverstärkung.
anteil vp (Abb. 15.18c). Für die betrachteten Mischungsre- Daraus folgt, dass Verbundwerkstoffe nur für spezielle
geln wird angenommen, dass die Haftung zwischen den Leichtbauanwendungen einsetzbar sind, bei denen sich
Komponenten innerhalb des Belastungsbereiches perfekt derartige Preise amortisieren.
ist (siehe Bonusmaterial Torsionssteifigkeit).
Frage 15.5
Die einzige Möglichkeit den spezifischen E-Modul der Vergleichen Sie die linear elastischen Dehnungen, die eine
Kunststoffe und Metalle zu erhöhen, besteht im gleichmä- Zugspannung von 70 MPa in folgenden Werkstoffen her-
ßigen Einbetten von keramischen Partikeln, Kurzfasern vorruft (entnehmen Sie die Kennwerte den Tab. 15.7 und
oder kontinuierlichen Fasern mit Durchmessern in der 15.8): Epoxidharz, Aluminium, Grundstahl, α-Al2 O3 und
Größenordnung zwischen 1 und hunderten µm. Handelt EP/C-HM/60f-UD in Faserrichtung.
es sich um Nanopartikeln (<0,1 µm) so dominieren nicht
deren Eigenschaften, sondern die ihrer Grenzflächen. Sie
können Dispersionsverstärkung bewirken (Abschn. 15.6). Den Einfluss der beiden Verbundwerkstoffkomponenten
Bei Metallen ist legierungstechnisch keine wesentliche Er- auf Dichte, Steifigkeit und Preis der Verbundwerkstoffe
höhung des E-Moduls erzielbar, obwohl für mehrphasige zeigt Tab. 15.8. Unidirektionale Faserverstärkungen sind
Werkstoffe die Mischungsregeln für Phasen über 5 Vol.- deutlich effizienter als bidirektionale und dreidirektiona-
% anwendbar sind (z. B.: Grauguss). Tabelle 15.8 zeigt, le (Beispiel 50 %: 0°/je 25 %: ± 45°). Planarisotrope Fa-
dass für Polymermatrix-Verbundwerkstoffe die spezifi- seranordnungen (0°/± 60° je 1/3) werden „Faserbleche“
schen E-Moduln in Faserrichtung um das 20-Fache ge- genannt und weisen maximal 20 % höheren spezifischen
genüber der Kunststoffmatrix erhöht werden können, bis E-Modul auf als Aluminiumbleche. In der letzten Spalte
zum 4-Fachen gegenüber einer Leichtmetallmatrix. Der der Tab. 15.8 sind die relativen Preise für die spezifischen
Preis für die Erhöhung des spezifischen E-Moduls ist E-Moduln angegeben, indem der auf Baustahl bezogene
für Glasfaserverstärkung unwesentlich höher als für die Preis/kg (Ξ) für die Erhöhung des spezifischen E-Moduls
Matrix, aber er steigt beträchtlich bei Kohlenstofffaserver- um eine Einheit berechnet ist. Das zeigt, dass der Preis
402 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

σ
Belastung in Richtung der Fasern: Belastung bei diskontinuierlicher Verstärkung (Teilchen,
Spannungsumlagerung Kurzfasern, quer zu kontinuierlichen Fasern): Em < EVerstärkung
bei gleicher Dehnung gleiche Spannung (isostress) σ = σm = σf
der Matrix (m) und aber unterschiedliche Dehnungen in Matrix und Verstärkung:
Fasern ( f ) = isostrain: σ σ σ
ε
ε = (l – l0)/l0 = εm = εf

Partikelvolumenanteil vp
Verstärkung
Matrix
Werkstoffkunde

l l
Verstärkung

l0
Matrix

l0

a Faservolumenanteil vf || σ b Faservolumenanteil vf σ c σ

Abb. 15.18 Modelle für Verbundwerkstoffe; a Belastung in Faserrichtung führt zu gleicher Dehnung in Matrix und Fasern (isostrain), aber ungleichen Spannungen
wegen des höheren E -Moduls der Fasern; b Belastung quer zur Faserrichtung erzeugt in beiden Komponenten gleiche Spannungen (isostress), aber unterschiedliche
Dehnungen; c analoge Dehnungsverteilung zwischen diskontinuierlichen Verstärkungen (Partikeln) bei isostress Zustand

für die Erhöhung des spezifischen E-Moduls für CFK das


7 bis 9-Fache des Preises des spezifischen E-Moduls für schätzt werden. Faserverstärkungen von Keramiken
Aluminium beträgt. erhöhen deren Zähigkeit.
Geringe Volumenanteile von Einschlüssen setzen im All-
gemeinen die Werkstoffqualität herab (reduzieren die
Zähigkeit), aber keramische Phasen in Volumenanteilen Zellulare Werkstoffe sind besonders leicht
von mehr als 5 % in Verbundwerkstoffen können diesen
Nachteil durch andere nützliche Eigenschaften kompen- Porosität in Werkstoffen wirkt qualitätsvermindernd be-
sieren. Diskontinuierliche Verstärkungen von beispiels- züglich Festigkeit und Steifigkeit, führt aber zu anderen
weise Aluminium-Legierungen bringen nur mäßige Stei- physikalischen Eigenschaften. Bei weniger als 50 Vol.-%
gerungen des spezifischen E-Moduls, aber diese sind Poren spricht man von porösen Materialien. Mit Vo-
dafür relativ preiswert (E/ρ ist für Teilchen verstärk- lumenanteilen über 50 Vol.-% offenere oder geschlos-
te Aluminium-Gusslegierungen doppelt so teuer wie für sener Poren entsteht die Werkstoffklasse der zellularen
unverstärktes Aluminium). Die Attraktivität dieser Ver- Materialien. Der E-Modul der zellularen Materialien Es
bundwerkstoffe wird durch die zusätzliche Verbesserung (eigentlich eine Struktursteifigkeit der dreidimensional
anderer Gebrauchseigenschaften (erhöhte Verschleißbe- in Zellwänden und Knoten verteilten Masse) mit einer
ständigkeit und Warmfestigkeit, reduzierter thermischer scheinbaren Dichte ρs kann aus dem E-Modul des Zell-
Ausdehnungskoeffizient) erhöht. strukturwerkstoffes Em und dessen Dichte ρm abgeschätzt
werden (Ashby 2000):

Durch das Einbetten von keramischen Partikeln, Es ≈ Em (ρs /ρm )2 . (15.12)


diskontinuierlichen oder kontinuierlichen Fasern in
Kunststoffe oder Metalle können Verbundwerkstof- Der spezifische E-Modul des zellularen Materials ist zwar
fe hergestellt werden, die sowohl höhere Steifigkeit geringer als der des Strukturwerkstoffes, aber die spe-
als auch höhere Elastizitätsgrenzen aufweisen als die zifische Biegesteifigkeit eines Stabes (siehe Abb. √14.22)
3
Matrixwerkstoffe. Für den Leichtbau ist die hohe wird gleich groß, und vor allem die einer Platte ( E/ρ,
spezifische Steifigkeit attraktiv. Die Verstärkungs- Tab. 14.3) höher als für den gleichen Werkstoff in mas-
wirkung kann mithilfe von Mischungsregeln abge- siver Ausführung. Außerdem weisen zellulare Materiali-
en hohe Dämpfungseigenschaften und außergewöhnliche
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung 403

Absorption kinetischer Energie auf. Polymere Schaum- Versagen verformen, wobei sie sich meist verfestigen.
stoffe sind weit verbreitet. Hoch poröse Keramik wird als Dies verleiht dem Bauteil ein Energieaufnahmevermögen
Filter eingesetzt. Zellulare Metalle haben Nischenanwen- während der plastischen Verformung bis zum Versagen,
dungen zur Erhöhung der spezifischen Steifigkeit und der was eine hohe Zähigkeit (siehe Abschn. 15.9) bewirkt,
Schwingungsdämpfung, sowie zur Stoßabsorption gefun- die Keramiken und Duromeren fehlt. Die meisten Metal-
den. le verhalten sich auch bei niedrigen Temperaturen duktil
(< 0,4Ts ).

15.6 Festigkeit unter quasi-


Die elastische und plastische Zugverformung
statischer Belastung von Werkstoffen

Werkstoffkunde
Sobald die Elastizitätsgrenze von Metallen und Polyme-
Alle Werkstoffe sind elastisch verformbar (Abb. 15.13).
ren überschritten wird, beginnt deren bleibende, plasti-
Metalle und Thermoplaste (Abb. 15.14) sind bis zu ei-
sche Verformung. Keramiken sind unterhalb 0,5Ts (Ts =
nem bestimmten Ausmaß auch plastisch verformbar oh-
Grenztemperatur des festen Zustands in K, darüber wird
ne Schädigung des Gefüges. Im einachsigen Zugversuch
Diffusion wirksam, siehe Abschn. 15.12) nicht plastisch
an genormten Proben lassen sich die Verformungsei-
verformbar, sondern brechen bei Überschreiten der Elas- genschaften messen. In Abb. 15.19 ist das technische
tizitätsgrenze. Die theoretische Festigkeit aufgrund der Spannungs-Dehnungsdiagramm eines Zugversuches ei-
Atombindungen (ca. E/10) wird auch bei Keramiken nes duktilen Metalls mit seiner typischen Ausprägung
nicht erreicht (siehe Abschn. 15.10). Metalle und Ther- dargestellt. Die Norm DIN EN ISO 6892-1:2009 schreibt
moplaste werden schon bei wesentlich niedrigeren Span- die Versuchsdurchführung und die Ermittlung der Kenn-
nungen als deren theoretische Festigkeit bleibend ver- werte vor.
formt. Die plastische Verformbarkeit (Duktilität, siehe
Abschn. 15.8) von Metallen und Thermoplasten erlaubt Wie in Abschn. 15.5 ausgeführt, ist die Bestimmung der
den Einsatz von Umformverfahren für die Formgebung Grenze zwischen ausschließlich elastischer Verformung
(siehe Kap. 30). Andererseits gewährleistet die Duktili- (Hooke’sche Gerade) und dem Beginn des plastischen
tät Sicherheit beim Einsatz dieser Werkstoffe, da sie sich Fließens bei den meisten Metallen und Thermoplasten
bei Beanspruchung über der Elastizitätsgrenze vor dem unscharf, sodass die Spannung, bei der die plastische

Abb. 15.19 Schematisches technische Spannung = Kraft /Ausgangsquerschnitt A0


technisches Spannungs-Dehnungs- σn = FN /A0
diagramm eines Zugversuches an dσn
=0
einem duktilen Metall nach DIN dεn
EN ISO 6892: Hooke’sche Gerade Steigung E-Modul Beginn der Einschnürung
(σ = E ε), parallele Rückfede- Schäd
Rm igu
erade

rungsgerade, Plastifizierungs- ng
g
und Schädigungs-(Einschnür-) gun
e st i Bruch
verf
‘sche G

bereich; Definitionen der Zug- g s g


un run
versuchskenngrößen: 0,2-%-
f o rm i f i zie
r st
Dehngrenze Rp0,2 (Ersatzstreckgren- Ve P la
Hooke

ze), Zugfestigkeit Rm , bleibende


Gleichmaßdehnung Ag (mit Berück- Rp0,2
sichtigung der Rückfederung) und
Agt (elastische + plastische = totale
ge A

Dehnung beim Spannungsmaxi-


n

mum), bleibende Bruchdehnung A Rp0,2 Zugfestigkeit


Messlä

0,2 % Rm
Dehn-
grenze ungefähre
elastische plastische Dehnung
Fließgrenze
Rück- bei Höchstkraft, elastische
dehnung „Gleichmaßdehnung“ Rückfederung
setzt Energie frei
εt Gesamtdehnung Ag Agt εn = Δl /l0
0,2 %
εp plastische Dehnung Bruchdehnung A technische Dehnung =
Längenänderung durch
plastische Dehnung nach dem Bruch Anfangsmesslänge l0
404 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Verformung einsetzt (Elastizitäts- oder Fließgrenze) nicht Wirkt eine Schubspannung auf einen Kristall, würde ei-
klar ablesbar ist. Deshalb wird aus praktischen Grün- ne Verschiebung ganzer Kristallteile relativ hohe Kräf-
den eine Ersatzstreckgrenze Rpx bei kleiner, plastischer te erfordern. Aber nur relativ kleine Schubspannungen
Verformung x definiert (x wird bei Metallen meist mit sind quer zur Stufenversetzung erforderlich, um diese
0,2 % festgelegt). Eine Abnahme der Spannung in jedem in der Gleitebene zu verschieben, indem sie ihre Bin-
Stadium der Verformung bis zum Bruch bewirkt eine dungsnachbarn schrittweise Gitterebene für Gitterebene
elastische Rückfederung bis zur bleibenden Dehnung ε p . gleichartiger Atome wechselt. Dadurch ändert sich deren
Solange der Werkstoff in seiner Struktur nicht beschä- Bindungszustand nicht. Dieses sogenannte Gleiten einer
digt wurde, was bis zur totalen Gleichmaßdehnung Agt Versetzung ruft eine bleibende (plastische) Verformung
bzw. deren plastischem Anteil Ag gilt, verläuft die Rück- des Kristallkornes hervor, sobald die Stufenversetzung
federung entlang der Hooke’schen Geraden. Je nach Grad den Kristallrand erreicht (Abb. 15.21). An der Korngren-
der darauffolgenden Schädigung, kann die Steifigkeit des ze kann dies eine weitere Versetzung im Nachbarkorn
Werkstoffkunde

Werkstoffes durch innere Schädigung (Verformungsporen erzeugen, die durch dieses gleitet und so weiter bis die
werden in Abschn. 15.9 beschrieben) abnehmen und die ganze Probe um einen Gitterebenenabstand verformt ist.
Rückfederung bei Bruch bis zur Bruchdehnung A etwas Zahlreiche Gleitvorgänge in die gleiche Richtung erzeu-
größer sein als die Hooke’sche Gerade ergeben würde. gen eine maroskopische, plastische Verformung.
Die Versetzungen gleiten in die Richtung der dichtes-
Zugspannung erzeugt elastische Dehnungen. Über ten Atomreihe dieser Gitterebene, weil die Rauhigkeit
die Elastizitätsgrenze duktiler Werkstoffe (Rp ) stei- der Atompotenziale dort am geringsten ist. Die kritische
gende Zugspannungen rufen zusätzlich gleichmäßi- Schubspannung für das Versetzungsgleiten in reinen Me-
ge plastische Dehnung mit Verfestigung hervor, bis tallen wird Peierls-Spannung genannt. Ein Gleitsystem
die maximalen Zugfestigkeit Rm bei der maximalen besteht aus der Gleitebene und einer kristallografischen
Gleichmaßdehnung Agt erreicht wird. Eine weite- Gleitrichtung in dieser Ebene. Abbildung 15.22a skiz-
re plastische Verformung schädigt zähe Werkstoffe, ziert die 12 Gleitsysteme für ein kubisch raumzentriertes
so dass der Verformungswiderstand bis zum Bruch Kristallsystem, die aus 6 gleichwertigen Diagonalebenen
sinkt. mit jeweils zwei Gleitrichtungen gebildet werden. Koh-
lenstoffarmes, kubisch raumzentriertes, ferritisches Ka-
rosserieblech (beispielsweise DC04 in den Tab. 15.3, 15.4
Frage 15.6.1 und 15.7) ist ausgezeichnet verformbar. Abbildung 15.22b
Wie wird die Elastizitätsgrenze beschrieben? Wie sind stellt die 12 Gleitsysteme für ein kubisch flächenzentrier-
Zugfestigkeit und Gleichmaßdehnung definiert? Was ist tes Kristallsystem dar, die aus vier räumlichen Diagonal-
der Unterschied zwischen Ag und Agt ? ebenen mit jeweils drei Gleitrichtungen gebildet werden.
Die Gleitebenen des flächenzentrierten Kristallgitters sind
absolut dichtest gepackt, sodass reine flächenzentrier-
te Metalle, wie Gold, Silber, Kupfer, und Aluminium,
sehr duktil sind, aber relativ geringe Elastizitätsgrenzen
Das Gleiten von Versetzungen ermöglicht aufweisen: Rp0,2 der reinen Metalle, inklusive Reinstei-
die plastische Verformung der Metalle sen, ist kleiner als 50 MPa. Hexagonale Kristallsysteme
(Abb. 14.15c) haben nur die dichtest gepackte Basisebene
als Hauptgleitebene, während das Quergleiten auf dazu
Weshalb beginnen sich Metalle ab einer gewissen Span-
geneigten Gitterebenen hoher Schubspannungen bedarf.
nung plastisch zu verformen? Warum werden die meisten
Hexagonal dichtest gepacktes (hdp) Magnesium lässt sich
Metalle durch die plastische Verformung noch fester?
wegen der einzigen Gleitebenenschar bei Raumtempera-
Kristalle, in polykristallinem Material als Körner bezeich-
tur kaum plastisch verformen.
net, enthalten Kristalldefekte, wie linienförmige Gitter-
verschiebungen, sogenannte Versetzungen (siehe auch Das Versetzungsgleiten auf parallelen, dichtest gepack-
Abschn. 14.3). Abbildung 15.20 stellt schematisch eine ten Ebenen in hexagonal dichtest gepackten und flä-
Stufenversetzung dar (vergleiche Abb. 14.17): eine ein- chenzentrierten Strukturen, kann zur Bildung von Kris-
geschobene Extrahalbebene einer periodischen Atoman- tallzwillingen (zur Zwillingsebene symmetrische Atom-
ordnung (Bonusmaterial Durchstrahlungselektronenmi- anordnungen) führen, sogenannten Verformungszwillin-
kroskopie, Abb. 15.5d). Die Größe der Versetzung der gen (im Gegensatz zu Wachstumszwillingen, die bei der
Kristallstruktur wird durch den Burgersvektor b beschrie- Kristallisation entstehen können). Eine Stufenversetzung
ben (Gitterebenenabstand in der Größenordnung von kann in der Gleitebene in eine dazu senkrechte Schrau-
0,2–0,3 nm). Der Rand dieser Halbebene ist die Verset- benversetzung (Abb. 14.17b) mit gleichem Burgersvektor
zungslinie, entlang der sich Druckspannungen aufbauen, übergehen. Versetzungsringe bestehen aus Stufen- und
während darunter Zugspannungen herrschen, die einen Schraubenversetzungskomponenten, die an gegenüber-
linienförmigen Spannungsdipol ergeben. liegenden Seiten gegensätzliche Burgersvektoren auf-
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung 405

eingeschobene
Burgersvektor Halbebene
b eingeschobene
Halbebene Burgersvektor
b Gleitebene

Gleitebene

Gleitbereich der
Stufenversetzung

Werkstoffkunde
a b Gleitebene

Abb. 15.20 Schematische Darstellungen eines Abschnitts einer Stufenversetzung; a Der Rand einer Halbebene (Stufenversetzung) ist vom Kristallrand über den
Gleitbereich (dunkelblau ) ins Innere verschoben und hinterlässt eine Stufe der Höhe des Burgersvektors b, der die Stufenversetzung charakterisiert; b atomistische
Darstellung der Stufenversetzung mit den Verzerrungen in einer hypothetischen, primitiv kubischen Atomanordnung

Zug
Druck τ τ τ
b b

Gleitebene
ϑ

a b c d e

Abb. 15.21 Schematische Veranschaulichung des Gleitvorganges einer Stufenversetzung, die in einem primitiv kubischen Kristallgitter senkrecht zur Bildebene
verläuft; a ungestörte primitiv kubische Gitterebene; b Schubspannung τ drückt eine Halbebene in den Kristall und erzeugt eine Stufenversetzung mit Druck- und
Zugspannungen (senkrecht zur Bildebene); c, d Stufenversetzung verschiebt sich entlang der Gleitebene bis in e eine spannungsfreie Stufe mit Burgersvektor b am
Kristallrand entsteht, die eine plastische Schubdehnung γ = tan ϑ hervorruft

weisen (die Summe der Burgersvektoren eines Verset- spannungskomponente in der Gleitebene und ihrer Ori-
zungsringes ist null). Versetzungsringe entstehen in allen entierung zur Gleitrichtung ab. Die Schubspannung ver-
Kristallen, bei deren Erstarrung und bei Verformungen schwindet sowohl in Gleitebenen parallel als auch senk-
(Abb. 15.30 und Bonusmaterial: Durchstrahlungselektro- recht zur Zugachse. Die maximale Schubspannung wirkt,
nenmikroskopie, Abb. 15.6b). Sie werden durch Schub- wenn die Gleitrichtung 45° zur Zugachse geneigt ist, wor-
spannungen verschoben und vergrößert, bis sie beim Er- aus sich das Schmid’sche Schubspannungsgesetz ergibt:
reichen des Kristallrandes das Korn plastisch verformen
und ausgelöscht werden. Versetzungsringe können auch
1
durch Zuwanderung von Atomen verkleinert und ausge- τmax = σ. (15.13)
löscht werden. 2

Frage 15.6.2 Konstruktionswerkstoffe sind polykristallin, sodass die


Eine kritische Schubspannung wirkt in der Gleitebene Orientierungen der Gleitsysteme statistisch verteilt sind.
eines Versetzungsringes mit dem Burgersvektor b im In- Abbildung 15.23 zeigt schematisch verschieden orien-
neren eines Kristallkornes, so dass dieser Versetzungsring tierte Kristallkörner, bei denen für jedes Korn parallele
wächst, bis er die Korngrenzen erreicht. Wie groß ist die Gleitebenen angedeutet sind. Die gleichmäßig verteil-
Verformung des Kornes in der Richtung der Schubspan- ten Kornorientierungen ergeben den sogenannten Taylor-
nung? Faktor = 3 für die Beziehung zwischen kritischer Schub-
spannung in der Gleitebene und einer auf das Metall
wirkenden äußeren Zugspannung: die Elastizitätsgrenze
Wenn ein Kristall einachsigem Zug ausgesetzt wird, hängt Rp (Re oder Rp0,2 ) eines polykristallinen Metalls ist bei
der Beginn der plastischen Verformung von der Schub- Zugbelastung 3-mal so groß wie die kritische Schubspan-
406 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

– –
(110) (110) (111) (111)

– – –
(011) (011) (111) (111)
Werkstoffkunde

– b
(101) (101)

Abb. 15.22 Koordinatensysteme von Kristallstrukturen mit markierten Atompositionen (rot ) und Gleitebenen (braun, rosa ) mit den zugehörigen Miller’schen
Indizes (hkl = Zahlentripel normierter, reziproker Achsenabschnitte); a kubisch raumzentriertes (krz) Kristallgitter mit den relativ dichtest gepackten Diagonalebenen
{110} (braun ) und den Gleitrichtungen der Raumdiagonalen (grün ); b kubisch flächenzentriertes (kfz) Kristallgitter mit den dichtest gepackten Diagonalebenen {111}
(rosa ) und den möglichen Gleitrichtungen der Flächendiagonalen (grün )

1 3
τmax τmax

σ σ

2 τmax τmax
a b σ c

Abb. 15.23 a Schematische Darstellung verschieden orientierter Gleitebenen in polykristallinem Metall; b Symbolische Darstellung des Versetzungsgleitens in
drei angrenzenden Körnern bei Zugspannung σ > Rp (Rp0,2 oder Re ); c Scherbänder in einer Zugprobe in Richtung der maximalen Schubspannung τmax unter 45°
zu σ gemäß (15.13)

nung τkrit in den Gleitsystemen der Kristalle: Erhöhen der Elastizitätsgrenze von Metallen
1
durch Verfestigungsmechanismen
Rp = 3 τkrit → τkrit = Rp . (15.14)
3 Die wirksamste Methode die Elastizitätsgrenze von Me-
tallen zu erhöhen, ist das Gleiten der Versetzungen zu
behindern (vgl. Abschn. 14.3). In Abb. 15.24 werden der-
Technische Metalle enthalten in jedem Zustand zahl- artige Versetzungshindernisse (Kristalldefekte) in einer
reiche Versetzungen. Die plastische Verformbarkeit Gleitebene skizziert: punktförmige Fremdatome, Verset-
der Metalle beruht auf Versetzungsgleiten durch die zungslinien (senkrecht zur Bildebene), Schnitte durch
Kristallkörner. Je mehr Gleitsysteme verfügbar sind, flächige Grenzen zwischen Subkörnern, Körnern, Anti-
umso duktiler sind die Metalle. phasen, Zwillingen und dreidimensionalen Phasen. Diese
Kristalldefekte erzeugen innere Spannungen in den Gleit-
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung 407

ZG Kleinwinkelkorngrenze
KP
KP
KG Korngrenze

ZG kohärente Zwillingsgrenze

q KP kohärente Phasengrenze
Q
KA kohärente Ausscheidung

Q großes
Substitutionsatom
q kleines
t
geordne z Zwischengitteratom

Werkstoffkunde
et z
geordn
Versetzungen ± b

z
q
KA

KG

geor
dnet

Anti
A phas
engr Atom A
enze
A Atom B
vollkommen mischbar
0,2 – 0,4 nm

Abb. 15.24 Schematische Darstellung von Kristalldefekten: Atompositionen einer einfachen Gitterebene mit zwei Atomarten in geordneten (mit im Antiphasenbe-
reich geänderter Ordnung) und teilweise ungeordneten Mischkristallbereichen; eine Großwinkelkorngrenze (KG, rot punktiert ), eine Reihe von Stufenversetzungen
(⊥) bilden eine Kleinwinkelkorngrenze (blau punktiert ), zwei kohärente Phasengrenzen (KP) zwischen abweichenden Kristallstrukturen, eine Zwillingsgrenze (ZG),
an der sich die Atomanordnungen spiegeln; eine kohärente Ausscheidung (KA) mit Anreicherungen an B-Atomen umgeben von Gitterverzerrungen; größere (Q) und
kleinere (q) Substitutionsatome, sowie Zwischengitteratome (z)

ebenen oder unterbrechen diese, sodass sie Hindernis- Frage 15.6.3


se für das Versetzungsgleiten darstellen. Die Erhöhung Die Erhöhung der kritischen Schubspannung Δτkrit hängt
der kritischen Schubspannung Δτkrit ist in allen Fällen wie von den mittleren Abständen l der Versetzungshin-
umgekehrt proportional zum Abstand l zwischen Kris- dernisse ab?
talldefekten, die die Versetzungsbewegung behindern
(Abb. 15.25).

Kleine plastische Verformungen der Metalle unterhalb


der Ersatzstreckgrenze kommen durch eine anfänglich Metalle werden durch plastische Verformung
vorhandene Anzahl leicht beweglicher Versetzungen zu- fester
stande. Die Elastizitätsgrenze eines Metalls (die Streck-
grenze oder die 0,2-%-Dehngrenze als Ersatzstreckgren-
ze) wird umso mehr erhöht, je mehr Hindernisse für Die Versetzungen unterschiedlicher Gleitsysteme können
das Gleiten der Versetzungen in das Kristallgefüge ein- sich gegenseitig beim Gleiten behindern (Abb. 15.26). Die
gebracht werden. Versetzungsdichte ρv ist die Summe der Gesamtlänge der
408 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Abbildung 15.27a zeigt, wie die Verfestigung im Zug-


5 versuch messbar ist. Eine Zugprobe wird innerhalb der
totalen Gleichmaßdehnung Agt elastisch und plastisch
4 verformt. Die gleichmäßige, plastische Dehnung von x %
(< Ag ) ist mit einer proportionalen Querschnittsvermin-
τkrit/ τP

3
derung verbunden, da das Volumen der Messlänge einer
2 τkrit 1/l massiven Probe bei plastischer Verformung ohne Schädi-
gung konstant bleibt (die Poisson-Zahl beträgt im plas-
1 tischen Bereich 0,5). Eine danach wieder angelegte Kraft
wirkt auf den verminderten Probenquerschnitt A0 < A0 ,
1 10 100 1000
sodass sich die technische Spannung bei gleicher Kraft
Versetzungshindernisabstand l in nm entsprechend erhöht. Die neue Spannungs-Dehnungskur-
ve σ (ε ) des zweiten Zugversuches liegt über der ur-
Werkstoffkunde

Abb. 15.25 Schematische Abhängigkeit der kritischen Schubspannung (nor- sprünglichen σ(ε), die auf A0 bezogen war. Rp0,2 wird
miert auf die Peierls-Spannung τP ) vom Abstand l zwischen den Versetzungs-
hindernissen
auf die neuerliche Verformung ε bezogen und ergibt eine
signifikant erhöhte Dehngrenze (Rp0,2 > Rp0,2 ) aufgrund
der mit der Verformung steigenden Versetzungsdichte.
Versetzungen in einem Kristallvolumen (m/m3 = m−2 ). Stellen wir uns ein Stahlblech vor, das in mehreren Schrit-
In einem unverformten oder weichgeglühten, polykristal- ten kaltgewalzt wird und aus dem nach jedem Walzschritt
linem Metall beträgt sie etwa 1013 –1014 m−2 . Versetzun- Zugproben entnommen werden. Die Ergebnisse der Zug-
gen bewirken die plastische Verformbarkeit beim Errei- versuche an diesen unterschiedlich stark verformten Ble-
chen der kritischen Schubspannung. Durch ausreichend chen sind schematisch in Abb. 15.27b dargestellt. Mit
hohe Schubspannungen schneiden Versetzungen in einer jedem Walzschritt steigt die Versetzungsdichte und somit
Gleitebene dort kreuzende Versetzungen eines anderen die Streckgrenze. Nach der Kaltverformung ε 2 wird die
Gleitsystems, die durch Gleitebenensprünge unbeweg- scharfe Streckgrenze Re durch Rp0,2 ersetzt, die weiter mit
lich werden (Abb. 15.26a). Außerdem entstehen durch die der Verformung steigt. Mit zunehmender Verformungs-
fortschreitende Verformung weitere Versetzungen (Ver- verfestigung wird die Duktilität des Bleches verbraucht,
setzungsmultiplikation), sodass die Versetzungsdichte er- und die Bruchdehnung sinkt mit zunehmender Verfesti-
höht wird (siehe Bonusmaterial: Durchstrahlungselektro- gung.
nenmikroskopie, Abb. 15.5f). Deshalb nimmt die Festig-
keit im Spannungsbereich zwischen der (Ersatz-) Streck-
grenze und der Zugfestigkeit Rm mit der Dehnung zu Überkritische Schubspannungen verursachen nicht
(Abb. 15.19). Der Werkstoff erfährt eine Verformungsver- nur das Gleiten von Versetzungen sondern auch de-
festigung durch Erhöhung der Versetzungsdichte ρv : je ren Vervielfältigung. Je höher die Versetzungsdichte
mehr Versetzungen auf verschiedenen Gleitebenen sind, um so höher ist die Ersatzstreckgrenze Rp0,2 (Fließ-
umso höher ist die kritische Schubspannung, um Verset- grenze).
zungen durch ein Kristallkorn zu bewegen. Der mittlere
Abstand l zwischen den Hindernisversetzungen beträgt

1/ ρv . Die erforderliche Schubspannung, um Versetzun- Frage 15.6.4
gen durch ein Kristallkorn zu bewegen, steigt mit wach- Weshalb verfestigen duktile Metalle mit zunehmender

sender Versetzungsdichte Δτv ∝ ρv . plastischer Verformung bis zur Zugfestigkeit?

Die Versetzungsdichte kann durch Kaltverformung um


bis zu vier Größenordnungen erhöht werden. Kaltge-
walzte und tiefgezogene Bleche, sowie gezogene Drähte Fremdatome verfestigen die Wirtskristalle –
besitzen eine höhere Festigkeit als das Ausgangsmaterial
(z. B. erreichen gezogene Stahldrähte für Fahrzeugreifen Mischkristalllegierungen
etwa 2000 MPa Festigkeit, verlieren dabei aber weiteres
plastisches Verformungsvermögen). Die Verformungsver- Die kritische Schubspannung kann durch gelöste Le-
festigung erhöht die Bauteilsicherheit, indem Überbelas- gierungselemente erhöht werden, die im Inneren der
tungen zu einer plastischen Verformung führen, deren Wirtskristalle statistisch verteilt sind, da sie die Gleich-
Verfestigung womöglich der Überbelastung standhält. mäßigkeit der Atompotenziale in der Gleitebene stören.
Hochreine, defektfreie kubisch flächenzentrierte Metalle In Abb. 15.24 sind die Verzerrungen des Wirtsgitters
(z. B. Edelmetalle) verfestigen sich bei der Verformung durch verschiedene Fremdatome schematisch dargestellt:
wenig und verhalten sich nahezu ideal plastisch, sodass Substitutionsatome mit größeren Atomradien (Q) als die
sie Überlastungen kaum standhalten können. der Atome des Wirtsgitters erzeugen Druckspannungen;
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung 409

Schubspannung
Stufenversetzungen
Versetzungen mit senkrecht zur Gleitebene
Gleitebenensprung schneidbare Ausschei- Versetzung krümmt sich
Versetzungsdichte Schubspannung dungen oder nicht in Gleitebene zwischen
ρv Fremdatome schneidbare Dispersoide Hindernissen
Gleitebene
2rF d
l l
l l l
l
Gleitbereich der Gleitbereich der Fortschritt der Stufenversetzung
Versetzung Versetzung mit steigender Schubspannung
a b c

Werkstoffkunde
Abb. 15.26 Beispiele für Versetzungsgleiten über Hindernisse im Abstand l in der Gleitebene; a Versetzungen (Versetzungsdichte ρv ), die zur Gleitebene einer
gleitenden Versetzung geneigt sind, werden geschnitten, was einen Gleitebenensprung in der Richtung der Stufenkomponente der gleitenden Versetzung hervorruft;
b substitutionelle oder interstitielle Fremdatome (rF  = Atomradius des Wirtsgitters); c Ausscheidungen oder Dispersoide mit Durchmesser d halten eine Versetzung
unter steigender Schubspannung zurück bis sie geschnitten oder umgangen werden

2. Zugversuch mit x% Achsenverschiebung


σ'
Spannung σ

σ = F /A N 0
R'm
R'p0,2 Br
uc
hd
σ = FN /A0 eh
nu
stigung ng
V erfe Rp0,2 A
wi
rd
kle
ine
ng

r
stung

Zugspannung
tlastu
Entla
2. En

Rp0,2 Rm
Re

Ka ε3 ε3
ltv ε ε2 A
erf 2
0 0,2 % x% Gesamtdehnung εt orm ε1 ε1
g
un
g 0% Dehnun
Ausgangsquerschnitte 0 0,2 % εt'
a A0 > A0' b

Abb. 15.27 Verformungsverfestigung; a Technisches Spannungs-Dehnungsdiagramm einer Zugprobe, die bei x % plastischer Dehnung entlastet und neu ver-
messen wird (Querschnitt A0 < A0 ); bei der 2. Belastung (rot ) zeigt die Probe eine höhere Festigkeit Rp0,2
> Rp0,2 und Rm > Rm ; b schematische Spannungs-
Dehnungsdiagramme für einen Stahl nach verschiedenen Stufen der Kaltverformung (ε 1,2,3 ), mit denen die Festigkeit Rp0,2 aufgrund der Verformungsverfestigung
zunimmt, jedoch die Bruchdehnung A abnimmt

kleinere Substitutionsatome (q) Zugspannungen; Zwi- im Druckspannungsbereich der Versetzung bevorzugt,


schengitteratome (z) rufen Druckspannungen hervor. Ab- wie in Abb. 15.28c dargestellt. Diese, die inneren Span-
bildungen 15.26b und 15.28 skizzieren die Wechselwir- nungsfelder vermindernden Positionen der Fremdatome
kungen zwischen dem Spannungsfeld einer Stufenver- üben eine Bindungskraft auf die Versetzungen aus. Die
setzung und den Spannungsfeldern dieser Punktdefekte: Erhöhung der erforderlichen Schubspannung, damit ei-
gleichsinnige Spannungen stoßen sich ab, wie beispiels- ne Versetzung über diese Fremdatome gleiten bzw. sich
weise ein großes Fremdatom die Druckspannungsseite von diesen lösen kann, wie es Abb. 15.26b zeigt, ist wie-
der Versetzung in Abb. 15.28b, andererseits nimmt das der umgekehrt proportional zum mittleren Abstand der
Spannungsfeld ab, wenn sich dieses Fremdatom an der Fremdatome
√ mit der
√ Konzentration c in der Gleitebene
Zugseite der Versetzung einlagert (Abb 15.28d). Ein Zwi- l = 1/ c: Δτc ∝ G c (G, Schubmodul). Die Mischkris-
schengitteratom reduziert die Spannungsfelder, wenn es tallverfestigung hängt natürlich auch vom Atomradien-
sich an der Zugseite einlagert (Abb. 15.28e). Hingegen unterschied der Legierungselemente ab. Mehr als eine
ist für ein kleineres Substitutionselement eine Position Verdopplung von Rp0,2 durch gelöste Legierungselemente
410 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Stufenversetzung substitutionelle Fremdatome 0,2 – 0,3 nm

Abstoßun
g
Anziehun
g b
Werkstoffkunde

Gleitrichtung interstitielles Fremdatom


a b c d e

Abb. 15.28 Wechselwirkungen zwischen Stufenversetzungen (a senkrecht zur Bildebene) und punktförmigen Kristalldefekten; b Druckspannungszentrum eines
Substitutionsatoms mit größerem Durchmesser als die Atome des Wirtsgitters stößt die Druckseite einer Versetzung ab und wird von deren Zugspannungsseite
(c) angezogen; c kleineres Substitutionsatom baut an der Druckseite einer Versetzung Spannungen ab; d Druckspannung eines größeren Fremdatoms wird an der
Zugspannungsseite der Versetzung abgebaut; e Zwischengitteratom vermindert die Zugspannung an der Zugseite einer Versetzung; Stufenversetzung erzeugt am
Kristallrand eine stufenförmige Verformung in der Größe des Burgersvektors b

ist in vielen Systemen erzielbar. Kubisch flächenzentrier- Sobald sich die Versetzungen von den Cottrell-Wolken
tes α-Messing (Basis Kupfer) kann bis etwa 32 Atom-% entfernen, lösen sich diese Kohlenstoffanhäufungen auf
(At.-%) Zink als Substitutionselement aufnehmen, da die (Abb. 15.29d). Es kommt lokal zu hohen plastischen Ver-
Zink-Atome nur um ca. 4 % größer sind als die Kupfer- formungen ohne Verfestigungseffekt, sogenannten Lü-
Atome. Dadurch kann die Elastizitätsgrenze Rp0,2 auf das dersbändern, die auch an der Probenoberfläche als schräg
5-Fache des reinen Kupfers erhöht werden. verlaufende Gleitbänder erkennbar werden. Die Lüders-
dehnung (x % in Abb. 15.29a) hängt von der Vorverfor-
Das Zwischengitteratom Kohlenstoff ist halb so groß wie mung, der Kohlenstoffkonzentration, den weiteren Le-
das Eisenatom und kann die Streckgrenze des kubisch gierungselementen und der Korngröße des Stahls ab.
raumzentrierten Eisens um ein Vielfaches erhöhen, ob- Durch die Gleitbehinderung der zunehmenden Verset-
wohl es nur bis zu 0,1 At.-% löslich ist. Die Beweglichkeit zungsdichte schreitet die Verformungsverfestigung vor-
des Kohlenstoffatoms im ungestörten Eisen-Kristall ist an, und die kritische Schubspannung übersteigt ab Rpx
sehr hoch (wird unter Diffusion in Abschn. 15.12 er- das Niveau von ReL . Bei Zugversuchen nach einer Kalt-
klärt). Wenn das Kohlenstoffatom aber in Bereiche mit verformung über die Lüdersdehnung der Stähle hinaus
Zugspannung kommt, wie beispielsweise in den Zug- tritt ohne Alterungswärmebehandlung kein Lüdersband
spannungsbereich einer Versetzung (Abb. 15.28e), nimmt mehr auf und somit weder eine obere noch eine untere
es eine relativ stabile Position ein, da es das Energiepo- Streckgrenze. Bei der Formgebung von Karosserieblechen
tenzial der elastischen Verzerrungen vermindert. Deshalb sind Lüdersbänder unerwünscht, sodass diese (z. B. Stahl-
werden die Versetzungen in ferritischen Stählen durch blech DC04 in Tab. 15.7) mit extrem niedrigem Kohlen-
die sogenannten Cottrell-Wolken der Kohlenstoffatome stoffgehalt oder vorgestreckt geliefert werden. Unter den
im Zugspannungsbereich (Abb. 15.29b) in ihrer Position Konstruktionswerkstoffen beschränkt sich das Phänomen
festgehalten. Dieser Vorgang der Ansammlung von Koh- der Lüdersbänder mit ReL und ReH auf unverformte fer-
lenstoffatomen in der Umgebung von Versetzungen in ritische Stähle. Daher wird für alle anderen Metalle und
Stahl bewirkt eine Festigkeitserhöhung, die als Alterung für verformte Stähle eine Ersatzstreckgrenze als Elastizi-
bezeichnet wird (Diffusion braucht Zeit). Wie Abb. 15.29a tätsgrenze definiert, meist Rp0,2 .
zeigt, wird der elastische Verformungsbereich bis zur obe-
ren Streckgrenze ReH erhöht. Wegen der Unbeweglichkeit
der Versetzungen ist der E-Modul ferritischer Stähle im
Fremdatome stellen ein Gleithindernis dar und er-
Zugversuch gut messbar.
höhen die kritische Schubspannung. Das dipolartige
Wenn die äußere Kraft groß genug ist, dass sich Ver- Spannungsfeld um eine Versetzung (Abb. 15.21) hat
setzungen von den Kohlenstoffatomen losreißen kön- eine anziehende Wirkung auf Fremdatome. Intersti-
nen, vermindert sich die kritische Schubspannung für tielle Fremdatome lagern sich bevorzugt an Stufen-
das Versetzungsgleiten im Eisen mit statistisch verteilten versetzungen ab und erhöhen die kritische Schub-
Kohlenstoffatomen. Die weitere Verformung erfolgt auf spannung.
dem Niveau der unteren Streckgrenze ReL (Abb. 15.29c).
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung 411

Abb. 15.29 Streckgrenze fer-


ritischer Stähle; a Spannungs-
Dehnungskurve mit oberer Streck-
grenze ReH durch die Bindung Verfestigung durch

Spannung
der Stufenversetzungen an „Cottrell-Wolken“
(Alterung)
Cottrell-Wolken von Kohlen-
stoffatomen (b ); c werden die (b) obere
Versetzungen durch ausreichen- Streckgrenze
de Schubspannungen von den (b)
Kohlenstoffatomen weg bewegt,
ReH
entfestigt der Stahl bis zur unte-
ren Streckgrenze ReL (1. Minimum
nach einer überschwingenden Rpx
ReL
Rückfederung der Prüfmaschine)

Werkstoffkunde
und wird im Lüdersband ohne Stufenversetzung
Verfestigung bis x % der Lüders-
dehnung plastisch verformt (c ); (c) Lüdersband
d die Kohlenstoffatome vertei-
len sich im Korn statistisch, die (c)
Schubspannung muss nur die
Mischkristallverfestigung der
gelösten Kohlenstoffatome über-
winden; ab Rpx dominiert die
Verformungsverfestigung durch Verformungs- &
(d) Mischkristall-
die Versetzungsmultiplikation
verfestigung
interstitielle
Kohlenstoffatome
(b)
a x% Dehnung

Frage 15.6.5 deren Kristallstruktur der des Wirtsgitters ähnlich ist. So-
lange die Gleitebenen des Wirtsgitters auch durch diese
Weshalb weisen ferritische Stähle eine Streckgrenze auf?
Ausscheidungen verlaufen, spricht man von Kohärenz
Wann verlieren sie diese mechanische Eigenschaft? Was
der Kristallstrukturen (KA in Abb. 15.24, kfz Ni3 Al-Aus-
geht in einem verformten Stahl beim Altern vor?
scheidungen in Superlegierungen, siehe Bonusmaterial:
Durchstrahlungselektronenmikroskopie, Abb. 15.6a). Ko-
härente Ausscheidungen weisen nur geringe Unterschie-
de zu den Gitterebenenabständen des Wirtsgitters auf, er-
zeugen aber dreidimensionale Spannungsfelder. Dadurch
Überschreitet die Fremdatomkonzentration wird die kritische Schubspannung signifikant erhöht, be-
ihre Löslichkeitsgrenze scheiden sich die vor die Versetzungen diese Ausscheidungen in den kohä-
Fremdatome in neuen Kristallstrukturen aus renten Gleitebenen schneiden können. Dieser Schneidme-
chanismus kann zu scheibchenweise zerteilten Ausschei-
dungen führen (Bonusmaterial: Durchstrahlungselektro-
Je nach der Größe der Störung der Atompotenziale durch nenmikroskopie, Abb. 15.6a). Verläuft nur ein Teil der
ein Legierungselement ist dessen Löslichkeit im Wirtsgit- Gitterebenen des Wirtsgitters durch die Ausscheidungen,
ter begrenzt (Abschn. 16.4). Übersteigt die Legierungs- so werden diese als teilkohärent bezeichnet. Diese drei-
konzentration die Löslichkeitsgrenze, so scheidet das dimensional ausgedehnten Versetzungshindernisse be-
Wirtsgitter diese Elemente in einer neuen Phase aus, so- wirken eine Ausscheidungsverfestigung (Abb. 15.26c).
bald die Legierungselemente diffundieren können (Diffu- Die Entwicklung von Al2 Cu-Ausscheidungen in Al–Cu-
sion wird in Abschn. 15.12 behandelt). Beispielsweise ent- Legierungen ist in Abb. 16.15 ihrer Verfestigungswirkung
stehen Fe3 C-Karbide in Stahl mit ca. 0,1 At.-% gelöstem gegenübergestellt. Die Erhöhung der kritischen Schub-
Kohlenstoff zwischen 300 und 700 °C (Abschn. 16.3). Die- spannung ist wieder umgekehrt proportional zum mitt-
se Ausscheidungen keimen bevorzugt an vorhandenen leren Abstand der Ausscheidungen. Bei einem Volumen-
Gitterstörungen (heterogene Keime), wie Versetzungen anteil v√A beträgt der mittlere Abstand in einer Gleitebene
und Korngrenzen. Ist die Leerstellenkonzentration relativ l = 1/ vA . Außerdem erhöht sich die kritische Schub-
hoch, können auch im ungestörten Kristall Fremdatoman- spannung
√ mit dem Durchmesser d der Teilchen: ΔτA ∝
häufungen homogene Keime für Ausscheidungen bilden, Gb dvA .
412 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

l höhung der kritischen


√ Schubspannung nach der Bezie-
Versetzung Versetzungshindernisse im hung: ΔτD ∝ Gb vD /d. Wenn zahlreiche Versetzungen
mit Krümmung r Abstand l das Dispersoid passieren und Versetzungsringe hinter-
Schubspannungen lassen (Abb. 15.30b), wird auch die Versetzungsdichte
r >> rmin τ1 < τ2 < τmax > τ3 > τ4 erhöht, die eine zusätzliche Verfestigung bewirkt. Der
Orowan-Mechanismus ist auf Teilchen kleiner als 1 µm
τ1 Versetzungsringe (Dispersoide, Nano-Partikeln) beschränkt, modisch oft als
Nano-Composites bezeichnet.
τ2 Grenzflächen größerer Teilchen (über 1 µm) können selbst
r > rmin als Versetzungsquellen fungieren, dabei verlieren diese
Teilchen ihre direkte Hinderniswirkung. Diese Funktion
als Versetzungsquelle wird in durch Teilchen verstärkten
Werkstoffkunde

τ
Metallmatrix-Verbundwerkstoffen genutzt, die sich auf-
0,5 μm grund einer erhöhten Versetzungsdichte um spröde Teil-
r = rmin b chen verfestigen (analog zur Verformungsverfestigung).
τmax Längliche, höherfeste und steifere Einlagerungen als die
Metallmatrix (z. B.: in eutektischen Gefügen einer Al-Si-
τ3 Legierung oder in Schnellarbeitsstählen mit Karbiden, sie-
he Abschn. 16.2 und 16.3) verstärken diese, indem sie
Auslöschung höhere innere Spannungen tragen als die Matrix. Diese
der Versetzungssegmente Gefüge verhalten sich wie Metallmatrix-Verbundwerk-
mit gegensätzlichem stoffe, die einen höheren E-Modul aufgrund der rezi-
freie Versetzung Burgers-Vektor
proken Mischungsregel (Abschn. 15.5) und eine höhere
τ4 Versetzungsringe Elastizitätsgrenze aufweisen als die metallische Matrix,
aber an Duktilität einbüßen.
a
Frage 15.6.6
Abb. 15.30 Nicht schneidbare Versetzungshindernisse; a Skizze der Wech- Welche Wechselwirkungen zwischen Versetzungen unter
selwirkung einer Versetzung mit zwei inkohärenten Teilchen bei zunehmender Schubspannung und intrakristallinen kohärenten bzw. in-
Schubspannung (Orowan-Mechanismus, τi nimmt von oben nach unten zu): die kohärenten Ausscheidungen treten auf?
Versetzung biegt sich mit dem Radius r zwischen zwei Teilchen bis τmax , wor-
auf sie diese umzingelt, sodass sich die gegensätzlichen Versetzungssegmente
auslöschen; die Versetzung gleitet weiter und es bleibt je ein Versetzungsring
um die Teilchen; b TEM-Aufnahme einer ODS-Messingprobe mit eingelagerten
Al2 O3 -Teilchen (schwarz ), die von Versetzungsringen (schwarze Linien ) umge- Das dreidimensionale Spannungsfeld einer kohären-
ben sind und bei denen sich eine Versetzung zwischen zwei Teilchen unter der
ten Ausscheidung erhöht die kritische Schubspan-
wirkenden Schubspannung τ krümmt
nung wesentlich, bis sie von der Versetzung ge-
schnitten werden kann. Inkohärente Ausscheidun-
gen sind Gleithindernisse, die umgangen werden
Inkohärente Einlagerungen (Gitterebenen sind an der müssen (Orowan-Mechanismus), wobei sich die Ver-
Grenzfläche der Einlagerungen wie an Korngrenzen un- setzungsdichte um die Teilchen erhöht. Letzteres
terbrochen) sind durch Versetzungen nicht schneidbar. verstärkt die Verformungsverfestigung.
Eine Schubspannung drückt die Versetzungen gegen in-
kohärente Ausscheidungen (z. B. Karbide in Stahl, sie-
he Abschn. 16.3) oder Dispersoide (pulvermetallurgisch
eingebrachte intermetallische oder keramische Teilchen,
beispielsweise in oxiddispersionsverstärkten (ODS) Le- Je kleiner die Körner umso höher die
gierungen, siehe Abb. 30.67). Bei weiterer Erhöhung der
Schubspannung umzingeln die Versetzungen die Teil-
Elastizitätsgrenze und die Duktilität
chen nach dem sogenannten Orowan-Mechanismus, der
in Abb. 15.30a veranschaulicht ist (Bonusmaterial: Durch- Eine Versetzung, die an Korngrenzen endet (siehe
strahlungselektronenmikroskopie, Abb. 15.6b). Die dar- Bonusmaterial: Durchstrahlungselektronenmikroskopie,
aus resultierende Dispersionsverfestigung nimmt mit zu- Abb. 15.6c), kann nur mit erhöhter Schubspannung durch
nehmender Teilchengröße bei gleichem Volumenanteil vD das Korn gleiten, da die Gleitebenen an der Korngren-
ab, da die Anzahl der Teilchen mit steigendem Durch- ze enden. Die Korngrenzen halten Versetzungen fest,
messer abnimmt. Der Kraftaufwand für das Umgehen die dort enden, während parallel verlaufende Verset-
eines Dispersoids durch eine Versetzung ergibt eine Er- zungen die Korngrenzen durch plastische Verformung
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung 413

überwinden müssen. Somit entspricht der Hindernisab- denen Verfestigungsmechanismen akkumuliert werden
stand dem Korndurchmesser dKG (Bonusmaterial: Korn- können, indem die Anzahl der Gitterfehler pro Volu-
gefüge metallischer Werkstoffe, Abb. 15.7 und 15.8). meneinheit des polykristallinen Materials erhöht wird.
Experimentelle Untersuchungen ergaben für die damit Umwandlungshärtung ist auf Metalle beschränkt, die
verbundene Schubspannungserhöhung
√ die sogenannte bei bestimmten Temperaturen ihre Kristallstruktur verän-
Hall-Petch-Beziehung: ΔτK ∝ GdKG . Diese wird z. B. in dern (allotrope Metalle wie Eisen, Titan, Messing). Diese
Feinkornstählen (dKG < 45 µm) und Feinstkornbaustäh- Umwandlung kann durch rasche Abkühlgeschwindigkeit
len (dKG < 15 µm) erfolgreich genutzt. Ihr besonderer unterdrückt werden und führt zu Ungleichgewichtszu-
Vorteil liegt darin, dass die Feinkornhärtung den einzi- ständen aus verspannten, versetzungsreichen Kristallen,
gen Verfestigungsmechanismus darstellt, der die Duk- die als Martensit bezeichnet werden (Abschn. 16.6). Die
tilität (Bruchdehnung) nicht vermindert, sondern durch Versetzungsbewegung in diesen lamellenförmigen Mar-
die statistische Verteilung der Orientierungen der klei- tensitkörnern ist nahezu unterbunden (Bonusmaterial:

Werkstoffkunde
nen Kristallkörner sogar erhöht. Nicht nur Großwinkel- Korngefüge metallischer Werkstoffe, Abb. 15.8a), wes-
korngrenzen, sondern auch Kleinwinkelkorngrenzen (sie- halb durch derartige Wärmebehandlungen hohe Festig-
he Bonusmaterial: Durchstrahlungselektronenmikrosko- keiten bei abnehmender Duktilität erzielt werden können.
pie, Abb. 15.6c) und Zwillingskorngrenzen (Abb. 15.24, Versetzungsfreie Einkristalle haben ebenfalls hohe Fes-
siehe auch Bonusmaterial: Korngefüge metallischer Werk- tigkeiten, da keine Plastifizierung durch Versetzungsbe-
stoffe, Abb. 15.7c: austenitischer Stahl, Abb. 15.7d: Ni- wegungen möglich ist, was für Hochtemperaturturbinen-
Legierung, Abb. 15.8c: Messing) stellen Gleithindernisse schaufeln genützt wird (Abschn. 15.12). Tabelle 15.11 gibt
für Versetzungen dar und erhöhen die Elastizitätsgrenze eine Übersicht über die Verfestigungsmechanismen für
durch Feinkornverfestigung. Metalle: die maßgeblichen Versetzungshindernisse, die
Strukturkenngrößen und wie diese veränderbar sind, die
Frage 15.6.7 Berechnung des mittleren Hindernisabstandes l und der
Weshalb steigt die kritische Schubspannung mit kleiner zugehörigen Erhöhung der kritischen Schubspannung,
werdenden Körnern? sowie einige Anwendungsbeispiele.

Die Elastizitätsgrenze polykristalliner Metalle er-


Mit abnehmender Korngröße steigt die Elastizitäts-
höht sich mit dem Gehalt an Kristalldefekten:
grenze von Metallen. Zum Unterschied zu den ande-
substitutionelle und interstitielle Fremdatome, in-
ren Verfestigungsmechanismen erhöht feineres Korn
trakristalline Ausscheidungen und Dispersoide,
auch die Duktilität.
Zwillings-, Subkorn- und Korngrenzen. Die Span-
nungsfelder dieser Defekte behindern das Gleiten
Im Bonusmaterial: Korngefüge metallischer Werkstoffe von Versetzungen. Mit fortschreitender plastischer
werden verschiedene metallografische Schliffe verschie- Verformung erhöht sich die Versetzungsdichte, wo-
dener Legierungen gezeigt. Die ASTM-Korngrößenklas- durch das Gleiten einzelner Versetzungen erschwert
sifizierung für Kreis äquivalente Korndurchmesser von 7 wird, was die Dehngrenze erhöht (Verformungs-
bis 800 µm ist in die Schliffbilder jeweils eingetragen. verfestigung). Durch die Kombination von Verfes-
tigungsmechanismen kann die Elastizitätsgrenze ei-
In den letzten Jahrzehnten wurde entdeckt, dass Kris- nes reinen Metalls oft um ein Vielfaches erhöht wer-
tallkorngrößen unter 0,1 µm keine Versetzungsbewegung den. Dadurch wird die Beweglichkeit der Versetzun-
mehr erlauben, sodass diese sogenannten nanokris- gen stark reduziert, was im Extremfall Sprödigkeit
tallinen Metalle sehr hohe Festigkeiten erreichen. Der verursacht.
technischen Nutzung stehen die hohen Herstellungskos-
ten und die beschränkte Größe der Produkte entgegen.
Ihre relativ gute Verformbarkeit beruht auf Verschiebun-
Abbildung 15.32a zeigt die in verschiedenen Legierungs-
gen der Körner entlang der Korngrenzen (Korngren-
systemen real erzielbaren Verfestigungsbereiche im Ver-
zengleiten). Bei Korngrößen unter 50 nm sinkt die Festig-
gleich zu den Basismetallen. Zum Beispiel ist ein Stahl-
keit wieder durch leichteres Korngrenzengleiten.
blech durch interstitielle Kohlenstoffatome und durch
Substitutionselemente wie Mangan und Silizium misch-
kristallverfestigt. Stahl wird durch Wärmebehandlung
Die Verfestigungsmechanismen der Metalle nach dem Kaltwalzen feinkörnig, wobei fein verteilte
Karbide ausgeschieden werden. Das weiche Karosserie-
können kombiniert werden stahlblech enthält sehr wenige Karbide und ist durch
das Substitutionselement Mangan und geringe Mengen
Abbildung 15.31 zeigt schematisch die Möglichkeiten von interstitiellen Kohlenstoffatomen michkristallverfes-
für die Verfestigung von Metallen, wobei die verschie- tigt. Es wird durch die Umformung stark verfestigt. Das
414 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Abb. 15.31 Schematische Dar-

verformter, feinkörniger
stellung der additiven Wirkung

und wärmebehandelt
Polykristall., legiert
der Verfestigungsmechanismen
zur Erhöhung der Elastizitätsgren-

Festigkeit log Rp
ze von Metallen mit steigender

Polykristall., legiert
Dichte an Kristallfehlern durch nano-
kristallin
Verformung, Kornfeinung, Misch-
Rp, max
kristalle, Ausscheidungen und für

feinkörniger
verformter,
Einkristall (verformt)

polykristallin
allotrope Metalle durch Umwand-

versetzungsreicher

feinkörnig,
verformt,
lungshärtung

(nur bei allotropen Metallen: Fe, Messing)


Umwandlungsverfestigung: Martensit
Werkstoffkunde

versetzungsarmer
Real-Einkristall
versetzungsfreier
Kristall

Rp, min
+ Ausscheidungen
3 τP
Versetzungen + Mischkristall (Ausscheidungs- oder
Peierls (Verformungs- + Korngrenzen (Mischkristall- Dispersions-
verfestigung) (Feinkornhärtung) verfestigung) verfestigung)

Gehalt an Gitterfehlern

Einbrennlackieren bildet an den Versetzungen feine Kar- ziehen erfährt das Blech eine Verformungsverfestigung
bide (bake-hardening-Effekt). Kohlenstoffstähle können (Abschn. 30.3).
durch eine Umwandlungshärtung durch Martensit hoch-
fest gemacht werden (siehe Abschn. 16.6) oder in einem Die nachfolgende Einbrennlackierung verstärkt die Aus-
weiteren Kaltwalzschritt verformungsverfestigt werden. scheidungshärtung (bake hardening).
Korrosionsbeständiger, austenitischer Stahl kann die Um-
wandlungshärtung nicht nützen, aber die Festigkeitsun- Frage 15.6.8
tergrenze ist durch die substitutionellen Legierungsele-
mente höher als bei un- bzw. niedrig legierten Stählen. Die Schätzen Sie aus Abb. 15.32a den Faktor der erzielba-
1000-MPa-Linie kann von Stählen, Nickel-, Molybdän- ren Verfestigung (maximale Balkenhöhe der Legierung)
und Titan-Basislegierungen überschritten werden. Eine gegenüber dem Basismetall (minimale Balkenhöhe des
Al-Si-Gusslegierung enthält steife, hochfeste Silizium- Reinmetalls) für Fe, Ni, Cu, Al.
Teilchen und wird beim Druckgießen (Abschn. 30.2)
durch die rasche Abkühlung feinkörnig. Durch eine Aus-
scheidungswärmebehandlung werden Mg2 Si-Ausschei- Für den Leichtbau ist es wichtig, die mechanischen Kenn-
dungen zur Festigkeitssteigerung erzeugt, sodass die 0,2- werte auf das spezifische Gewicht zu beziehen. Abbil-
%-Dehngrenze über 300 MPa liegen kann. Gussteile kön- dung 15.32b stellte die spezifischen Elastizitätsgrenzen
nen jedoch nicht verformungsverfestigt werden, ebenso der Legierungen und Basismetalle aus Abb. 15.32a ge-
wenig wie Magnesium-Knetlegierungen wegen ihrer he- genüber. Trotz des hohen spezifischen Gewichts der un-
xagonalen Kristallstruktur. Al-Zn-Mg-Cu-Knetlegierun- und niedrig-legierten Stähle liegen die Obergrenzen ih-
gen (AW7xxx) können durch Kombination der Ausschei- rer spezifischen Streckgrenzen im gleichen Bereich wie
dungshärtung mit einer Verformungsverfestigung 0,2-%- die höchsten spezifischen Dehngrenzen der Leichtmetal-
Dehngrenzen von 700 MPa überschreiten, verlieren aber le. In diesem Vergleich werden die höchstfesten Varianten
stark an Duktilität. Karosseriebleche aus Aluminium-Le- der Aluminium-Legierungen, Kohlenstoffstähle, Nickel-
gierungen weisen eine Grundfestigkeit auf: z. B. enthält und Titan-Basislegierungen nahezu ebenbürtig. Die aus-
AW6082T4 bereits feine Ausscheidungen, die nach dem tenitischen Stähle fallen zurück, liegen aber hauptsächlich
Lösungsglühen bei Raumtemperatur entstehen (T4-Zu- wegen deren Mischkristallverfestigung über den spezifi-
stand, siehe Abschn. 16.4). Bei Umformung durch Tief- schen Festigkeitswerten des reinen Eisens.
Tab. 15.11 Übersicht über die Verfestigungsmechanismen metallischer Werkstoffe
Verfestigungs- Gleitwiderstand Versetzungs- Einflussgröße Herstellung Hindernisabstand Schubspannungs- Anwendungs-
mechanismen hindernis erhöhung beispiele
Widerstand der Atomabstände, Kristallstruktur, Grundeigenschaft Versetzungsgröße Peierls-Spannung Reine, defektfreie
Gleitsysteme gegen Gleitsysteme Innere Reibung auf liegt immer vor Burgersvektor b τπ ∝ G · b Metalle
Gleitebene Versetzungsgleiten Gleitebenen

Mischkristall- Gelöste Fremd- Substitutionelle Atomradienunter- Legieren bis zur Mittlerer Abstand ΔτC ∝ G · b · c Fe-Cr-Ni-Mo. . . ,
verfestigung atome mit Atomra- Δr < 15 % schied, Löslichkeitsgrenze der Fremdatome in Al-Mg, Cu-Zn. . . ,. . .
dienunterschied Δr Konzentration c der Gleitebene

zum Atomradius r Interstitielle rz < gelösten l = 1/ c(At.-%) Fe-C,N,B, Ti-O,C,N
des Wirtes 0,35r Fremdatome

Versetzungen fixie- Fremdatome an Versetzungsdichte Wärmebehandeln Versetzungsdichte ΔτL ∝ G · b · c · ρV Altern von Stahl,
ren Versetzungen ρV , Konzentration c T < Ts /2, „altern“ mit Fremdatomen β-Ti-Legierungen

Verformungs- Plastische Ver- Andere Versetzungsdichte Kaltverformung Mittlerer Abstand Δτρ ∝ G · b · ρV Kaltverformung,
verfestigung formung erhöht Versetzungen ρV = Versetzungs- Δσ ∝ εn (n Verfesti- der Versetzungen ∝ G · b · εn Kaltumformung

Versetzungsdichte längen pro Korn- gungsexponent) l = 1/ ρV
l volumen (m−2 )
l

Ausscheidungs- Versetzungen Durch Gleiten Gitterparameter- Lösungsglühen- Mittlerer ΔτA ∝ G · b vA · d Al-Cu, Al-Mg-Si,
verfestigung schneiden drei- schneidbare, differenz zum Abschrecken-Aus- Teilchenabstand
 Al-Zn-Mg, Cu-Be,
dimensionale kohärente Kristalle Wirtsgitter, lagern: kohärente l = d/vA,D Ni-Al-Ti
Kristallbereiche im Wirtsgitter Volumenanteil vA , Ausscheidungen
ene
(Ausscheidungen) Teilchendichte,
iteb
Gle Teilchengröße d

Dispersions- Versetzungen umge- Nicht schneidbare, Volumenanteil vD , Wärmebehandlung ΔτD ∝ G · b vD /d Karbide, Nitride,
verfestigung hen 3-dimensionale inkohärente Teil- Teilchendichte, Teil- für inkohärente Boride in Fe-/Ni-
15.6

Einschlüsse (Aus- chen chengröße d Ausscheidungen, Basislegierungen,


scheidungen/ Dispersoide < 1 µm Oxidpartikeln
Dispersoide) mittels pulvermetallurgisch in Nichteisen-
Orowan Mechanis- einbetten legierungen
men
Feinkornhärtung Bindung von Ver- Korn-, Zwillings-, Kristallit- (Zwil- Abschrecken Mittlerer Durchmes- Hall-Petsch-Regel
√ Druckgussteile,
setzungsenden an Kleinwinkelkorn-, lings-, Korn-, beim Gießen, kalt ser der (Zwillungs-, ΔτK ∝ G/dKG Feinkornbleche,
Kristallgrenzen, Ver- Phasengrenzen Subkorn-) Durch- verformen und re- Sub-)Körner dKG = l Sub-µm-Körner,
setzungen müssen messer dKG , kristallisieren erhöht Duktilität
Grenzen überwin- Korngrenzenver-
den unreinigungen
Umwand- Innere Spannung Verspannte Kris- Volumenanteil vM , Abschrecken allo- Mittlere Abstand ΔτM ∝ f (vM , τP ) Stahl härten, Mes-
lungshärtung von Ungleichge- tallbereiche, Martensitnadel- troper Legierungen zwischen Martensit- sing verspröden,
wichtszuständen übersättigte Misch- dichte aus Hochtempera- nadeln Ti-Martensit
allotroper Legierg. kristalle, hohe turphase
(Martensit) Versetzungsdich-
te
Festigkeit unter quasi-statischer Belastung
415

Werkstoffkunde
416 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Rp max in MPa
Rp min in MPa
1000
Dehn-/Streckgrenze Rp in MPa

100
Werkstoffkunde

austenitischer Stahl

10

Mo-Legierungen

Mg-Legierungen
Cu-Legierungen

Al-Legierungen
Ni-Legierungen

Ti-Legierungen

Aluminium
Gusseisen
Reineisen

Rein-Ni

Kupfer
Stähle

Silber
a 1
Rp max
MPa
in
Rp min g/cm3
1000
g/cm3
MPa
spezifische Dehn-/Streckgrenze Rp /ρ in

100
austenitischer Stahl

10
Mo-Legierungen

Mg-Legierungen
Cu-Legierungen

Al-Legierungen
Ni-Legierungen

Ti-Legierungen

Aluminium
Gusseisen
Reineisen

Rein-Ni

Kupfer
Stähle

Silber
b 1

Abb. 15.32 Vergleich der Festigkeitswerte (logarithmische Auftragung) ausgewählter Legierungssysteme und der Basismetalle einschließlich deren Verfestigungs-
möglichkeiten (dunkle Bereiche ); a Streck- bzw. 0,2-%-Dehngrenze (Elastizitätsgrenzen); b spezifische Streck- bzw. 0,2-%-Dehngrenze (auf die Dichte bezogen)

Zugverformung nach Stauchung ergibt durch Ausgangszustandes ohne Stauchung. Diese Festigkeits-
Bauschinger-Effekt reduzierte Festigkeit verminderung wird als Bauschinger-Effekt BEx % bezeich-
net. Diese Kennzahl lässt sich vereinfacht aus den tech-
nischen Zugversuchsdiagrammen durch Vergleich der
Aus den Wechselwirkungen der inneren Spannungsfel- Veränderung der Elastizitätsgrenze nach x % plastischer
der der Versetzungen mit denen anderer Kristallfehler Stauchung Rxp0,2
% gegenüber der des Ausgangszustandes
in Metallen verändert sich die kritische Schubspannung
beim Vorzeichenwechsel der äußeren Spannung, also Rp0,2 oder Re errechnen:
beim Wechsel von Druck- auf Zugverformung. Metal-
le, die weniger als 5 % stauchverformt werden, erfahren % −R
Rxp0,2 p0,2
% −R
Rxp0,2 e
eine Reduzierung der Elastizitätsgrenze bei einer nachfol- BEx % = bzw. (15.15)
genden Zugbelastung gegenüber der Zugverformung des Rp0,2 Re
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung 417

Leitbeispiel Antriebsstrang
Genutzte Verfestigungsmechanismen für die
Legierungen für ausgewählte Bauteile

IN718 ist eine komplexe Nickel-Basislegierung, die den bei einer Warmauslagerung nach dem Gießen
durch die zahlreichen Substitutionselemente misch- verfestigende Ausscheidungen (siehe Abschn. 16.4,
kristallverfestigt ist. Durch Feingießen (oder Schmie- Abb. 16.15). Kurbelgehäuse aus Grauguss haben we-

Werkstoffkunde
den) entsteht ein Korngefüge, das durch Rekristal- gen der Stahlmatrix höhere Festigkeit als jene aus Alu-
lisationswärmebehandlung vergrößert werden kann. minium-Legierungen. Die Grafitausscheidungen un-
Große Körner sind kriechresistenter als kleine, was terdrücken die Lunkerbildung und tragen zur Dämp-
für die Hochtemperaturanwendung günstig ist (siehe fung der Motorgeräusche bei (siehe Abschn. 16.3).
Abschn. 15.12). Durch die Wärmebehandlung wer- Getriebezahnräder aus Einsatzstahl werden nach der
den sowohl Korngrenzenkarbide als auch intrakris- Bearbeitung am Rand aufgekohlt und gehärtet (Um-
talline Überstrukturausscheidungen erzeugt, die aus- wandlungshärtung durch Martensitbildung, siehe Ab-
gezeichnete Warmfestigkeit ergeben. Die Motorlegie- schn. 16.6) und meist danach angelassen (Wärmebe-
rungen des Al-Si-Systems enthalten in den eutek- handlung zur Karbidbildung), um die Zähigkeit zu
tischen Gefügebereichen hochfeste, netzartige Silizi- verbessern. Die Verfestigungsmechanismen der aus-
um-Einlagerungen, die die Warmfestigkeit erhöhen gewählten, metallischen Bauteile sind in der Tabelle
(siehe Abschn. 16.2, Abb. 16.7). Geringe Mengen von gegenübergestellt.
Legierungselementen wie Magnesium und Kupfer bil-

Bauteil des Leitbei-


spiels

Betrachteter Teil Turbine Kurbelgehäuse Zahnrad


Werkstofflösungen Superlegierung Inconel 718 (oder Al-Si-Guss Al- Grauguss GJV (Ver- Einsatzhärtbare Stähle z. B.
Si3N4-Keramik) Si12(Mg) miculargrafit) C22E
Ausgangszustand Ni-Mischkristall mit Mo, Co, Cr, Feinkornhärtung, Stahlmatrix mit Stahl mit Ausscheidungs-
Fe mit Ausscheidungsverfesti- Verstärkung durch Grafiteinlagerungen verfestigung durch Karbide
gung (Ni3 (Al,Ti), Ni3 Nb) durch eutektisches
Si
Elastizitätsgrenze Rp0,2 ∼
= 900 MPa Rp0,2 ∼
= 150 MPa Re ∼
= 450 MPa Re ∼
= 600 MPa
Verfestigungsme- Feinguss und Wärmebehandlung Spannungsarm- Wärmebehandlung Umwandlungsverfestigung
chanismen durch zum Kornwachstum (Kriechbe- glühen, Ausschei- der Stahlmatrix des Stahls, Randschicht-
die Weiterverarbei- ständigkeit Abschn. 15.12) sowie dungshärtung durch härtung (Aufkohlung und
tung Überstrukturausscheidungen Mg2 Si Martensitbildung)
Festigkeitssteige- +25 % +30 % +20 % +50 %
rung durch die
Verarbeitung

BEx % ist beispielsweise dann von Bedeutung, wenn ein Stahls X70 in Abb. 15.33 dargestellt. Die Zugversuchs-
Grobblech gebogen wird, sodass die Innenseite stauch- kurve des Ausgangszustandes ist der nach einer 2 %-igen
verformt, während die Außenseite zugverformt wird. Die Stauchung gegenübergestellt. Die Elastizitätsgrenze des
Elastizitätsgrenze bei Zugbeanspruchung der Innenseite Ausgangszustandes ist durch die obere Streckgrenze ReH
kann sich signifikant von der der Außenseite unterschei- gegeben, während nach 2 % Stauchung kein Lüdersband
den. Dies wird am Beispiel eines hochfesten Pipeline- mehr auftritt, sondern die Elastizitätsgrenze mit R2p0,2
%
418 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Stauch-/Zugkurve
Rm Rm2%
550 ReH

450

technische Spannung in MPa 350 2%


Rp0,2
Stauchung
250 2 Rückfederung
Zug unverformt
150
Zug nach 2 % Stauchung
Werkstoffkunde

50

–3 –2 –1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
technische Dehnung in %
–150

–250

1 –350

–450
ReH Stauch
–550

Abb. 15.33 Verformungseigenschaften des hochfesten Stahls X70 (L485 EN mit Re = 483–621 MPa, Einsatzbereich bei Pipeline-Rohren); technische Zugversuchs-
kurve des Ausgangszustandes (schwarz ) mit ReH und Lüdersband; 1: technische Stauchkurve bis 2 % bleibender Verformung, bei der entlastet wurde (blau ); diese
2 % < R bestimmt wird. Beide Zugversuchskurven sind nur bis zur Zugfestigkeit
gestauchte Probe ergab die Zugversuchskurve 2 ohne Lüdersband (rot ), aus der Rp0,2 eH
Rm dargestellt

definiert wird, die wesentlich kleiner als ReH ist, d. h., Polymere – Die Bindungskräfte bestimmen die
die plastische Zugverformung des gestauchten Zustan-
Festigkeit
des beginnt bei wesentlich kleinerer Spannung als vor
der Stauchung (Berechnung in Aufgabe 15.6g). Der Un-
terschied wäre nicht so groß, wenn der Ausgangszustand Die atomar gebundenen Polymerketten in Thermoplas-
keine Streckgrenze aufwiese. Die Zugfestigkeiten der bei- ten werden durch Sekundärbindungen verbunden. In
den Zustände unterscheiden sich kaum. teilkristallinen Strukturen erzeugt auch die periodische
Anordnung der Polymermoleküle einen Verformungs-
widerstand, aber ermöglicht auch deren gegenseitige
Der Bauschinger-Effekt sagt aus, dass die Rp0,2 - Verschiebung für plastische Verformung. Darüber hin-
Dehngrenze bei Zugbelastung eines Metalles nach aus können Polymerketten gestreckt werden, was die
einer Stauchverformung kleiner ist als ohne vorher- Sekundärbindungen zwischen den Ketten wegen der
gehender Stauchverformung. geringeren Abstände erhöht und somit Thermoplaste
etwa ab 0,75 Tg (Glasübergangstemperatur) verfestigt.
Während der Zugverformung werden die Polymerketten
in der Verformungsrichtung verschoben und gestreckt,
Frage 15.6.9 können aber bei Entlastung wegen viskoelastischer Ver-
Ein Werkstoff, der einen Bauschinger-Effekt zeigt, wird formung nur begrenzt zurückfedern (Abb. 15.14). Bei
plastisch um einen Winkel gebogen. Danach werden Zug- Thermoplasten wird das erste Maximum in der Span-
proben quer zum Biegewinkel entnommen und geprüft. nungs-Dehnungskurve als Streckgrenze Re bezeichnet
Welche Probe wird eine höhere 0,2-%-Dehngrenze auf- (Abb. 15.34), obwohl bereits bleibende Verformung auf-
weisen, jene der Innenseite oder jene der Außenseite? tritt. Das lokalisierte Verschieben der Polymerketten in
Scherbändern (ähnlich den Lüdersbändern in Stahl) ist
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung 419

Polypropylen-Copolymer


technische Spannung σ in MPa



Streckgrenze Re

 20

Werkstoffkunde
15

σ in MPa
 10

 0 5 10 15 20 25 %

  
    
technische Dehnung in %

Abb. 15.34 Spannungs-Dehnungskurve eines thermoplastischen Polypropylen-(PP)-Copolymers ermittelt mit 10 mm/min Verformungsgeschwindigkeit (Proben-
form gemäß 5A nach ISO 527-2); der Abfall der technischen Spannung nach dem Erreichen der Streckgrenze wird hauptsächlich durch Verminderung des
Probenquerschnitts hervorgerufen; ab der 5-fachen Verlängerung verfestigt sich die Probe, bis sie bricht; Detailansicht des Anfangsbereichs zeigt Re bei ca. 15 % Deh-
nung; Auswertung siehe Aufgabe 15.6b

nach dem Überschreiten der Streckgrenze mit einer Ent- plaste und eines Duromers, sowie die Elastizitätsgrenzen
festigung (ca. 20 % in Abb. 15.34, ca. 50 % in Abb. 15.14) eines Elastomers in Abb. 15.35 verglichen. Mit Ausnahme
und Einschnürung verbunden. Kristalline Bereiche ori- der Aramidfaser stellen 100 MPa die höchste erzielbare
entieren sich lamellenartig parallel zur Zugspannung, Festigkeit für gebräuchliche, unverstärkte Thermoplaste
worauf eine Verfestigung aufgrund der Zunahme ge- und Duromere bei Raumtemperatur dar. Diese Kunst-
streckter Polymerketten folgt. Kunststofffasern sind im stoffe erreichen somit nur das Dehngrenzenniveau der
Zustand vollständig gestreckter Molekülketten und er- Reinmetalle. Die durch die Dichte dividierten Kennwer-
reichen daher in Längsrichtung hohe Festigkeiten (siehe te sind als spezifische Streck- bzw. Dehngrenze ebenfalls
Aramidfasern in Tab. 15.7 und Abb. 15.35. in Abb. 15.35 eingetragen, was die relativen Unterschie-
de kaum verändert, da die Dichte aller Beispiele unter
Duromere bestehen aus fest vernetzten Molekülketten, 1,5 g/cm3 liegt (siehe Tab. 15.7). Die spezifischen Festig-
die unterhalb Tg , wo sie eingesetzt werden, nicht ver- keitswerte der isotropen Polymere (PA 66, PP, EP) bewe-
schiebbar sind. Eine Zugversuchskurve (Abb. 15.14) be-
gen sich zwischen 20 und 100 MPa pro g/cm3 , erreichen
steht wie bei Keramiken nur aus der elastischen Geraden also den unteren Bereich der spezifischen Dehngrenzen
bis der spröde Werkstoff bricht. der Legierungen (vergleiche Abb. 15.32b).
Elastomere sind dadurch charakterisiert, dass Polymer-
ketten weitmaschig vernetzt sind, sodass sie oberhalb Tg Thermoplaste verfestigen bei Streckung der Poly-
verschoben und gestreckt werden können. Mit zuneh- merketten. Alle Kunststoffe können durch Verstär-
mender Dehnung steigt der Widerstand gegen weitere kung mit höherfesten Teilchen oder Fasern (Ver-
Streckung. Sie federn bei Entlastung mit Dämpfungsver- bundwerkstoffe) verfestigt werden.
lusten entropieelastisch zurück (Abb. 15.14), wobei häufig
eine plastische Verformung zurückbleibt. Bei Überdeh-
nung werden Vernetzungspunkte aufgerissen, und das Frage 15.6.10
Elastomer verliert an Entropieelastizität. Vergleichen Sie die spezifische Festigkeit von PA66
(Abb. 15.35) mit der von Al-Legierungen und von Stahl
Als Kunststoffbeispiele (Tab. 15.7) werden die Streckgren- (Abb. 15.32b).
zen der Aramidfasern in Faserrichtung, zweier Thermo-
420 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

g/cm3
MPa
Streckgrenze Re in MPa, spezifische Streckgrenze Remin/ρ in 10.000

Streckgrenze
spezifische Streckgrenze

1000

Elastomer Silikonkautschuk
100

spezifische Festigkeit
Werkstoffkunde

spezifische Festigkeit

spezifische Festigkeit

spezifische Festigkeit

spezifische Festigkeit
Polyamid (PA 66)
10
Aramidfasern

Polypropylen

Epoxyd (EP)
1

Abb. 15.35 Streubereiche der Streckgrenzen für einige unverstärkte Thermoplaste (Aramidfaser in Fasserrichtung, Nylon PA 66, Polypropylen PP), der Zugfestigkeit
für Epoxidharz EP als Duromer, sowie der Elastizitätsgrenze eines Elastomers (SIR); daneben sind die spezifischen Festigkeitskennwerte in MPa pro g/cm3 eingetragen

15.7 Härteprüfung zur in den Formen der Eindringkörper. Die kugelförmigen


Hartmetall-Eindringkörper sind eher für die Werkstof-
Werkstoffidentifizierung fe geringer Festigkeit (Polymere, Leichtmetalle, Kupfer-
Legierungen, ungehärtete Stähle etc.) geeignet, während
die Diamantspitzen für höher feste Werkstoffe (gehärtete
Bei einer Härteprüfung einer Proben- oder Werkstück- Stähle, Keramik etc.) bevorzugt werden. Der Eindruck-
oberfläche wird der Widerstand des Werkstoffes gegen durchmesser für die Bewertung der Werkstofffestigkeit
fortschreitende plastische Verformung durch einen hoch- mittels Martens-, Brinell-, Vickers- oder Rockwell-Härte
festen Eindringkörper gemessen der mit definierter Kraft soll sich über mehrere Kristallkörner ausdehnen, um
in die Oberfläche gedrückt wird. Der Eindrückkörper auch den Verfestigungseffekt der Korngröße (siehe Ab-
selbst darf sich dabei nur elastisch verformen, während schn. 15.6) zu berücksichtigen.
ein oberflächennahes Volumen des Werkstückes mehr-
achsig elastisch und plastisch verformt wird. Die Pro- Mit einer stabilen Versuchsanordnung kann ein Kraft-
bendicke muss daher ein Mehrfaches der Eindringtiefe Eindringtiefen-Diagramm erstellt werden, das makrosko-
sein. Die Härtewerte sind mit den unter einachsiger Be- pisch mit der Martens-Härteprüfung (HM) durchgeführt
lastung gemessenen Streck- oder Dehngrenzen, sowie wird, wobei unterschiedliche Prüfkörper einige µm tief in
den Zug- oder Stauchfestigkeiten nicht direkt vergleich- das Werkstück gedrückt und der Weg des Prüfkörpers so-
bar, aber ermöglichen eine relative Festigkeitsabschät- wie die zugehörige Anpresskraft gemessen werden, wie
zung innerhalb der Werkstofftypen (Stähle, Alumini- schematisch in Abb. 15.38 dargestellt ist. Als Ergebnis
um-Knetlegierungen, Keramiken, Duromere, Elastomere, zählt das Wertepaar maximale, aufgebrachte Zusatzkraft
Thermoplaste), für die es jeweils abgeschätzte Korrelatio- F1 und bleibende Eindringtiefenänderung gegenüber der
nen zwischen Festigkeit und Härtewert gibt (für Stähle Ausgangsposition Δh. Aus der Neigung der Kurve bei Be-
Abb. 15.45). Die Härteprüfung ist relativ einfach durch- ginn der Entlastung kann der E-Modul abgeschätzt wer-
zuführen, kann auch mobil (ambulant) und praktisch zer- den. Analog erfolgt die Nanohärteprüfung, bei der die
störungsfrei (es bleiben kleine, oberflächliche Eindrücke) Eindringtiefe einer drei- oder vierseitigen Diamantpyra-
durchgeführt werden. Sie dient meist zur Identifikation mide kleiner als 1 µm ist, sodass lokale Härteunterschiede
des Werkstoffes und seines Wärmebehandlungszustan- der Gefügebestandteile gemessen werden können, und
des. Abbildung 15.37 gibt einen Überblick über die ge- auch ebenso wie in Abb. 15.38 angedeutet, der lokale
bräuchlichsten Härteprüfverfahren. Weitere Details der E-Modul abgeschätzt werden kann. Dies erfordert aber
Prüfverfahren sind in den Beispielboxen und in Tab. 15.12 spezielle, stabile Prüfeinrichtungen mit hoher Messge-
angeführt. Die wesentlichen Unterschiede der Prüfmetho- nauigkeit im Bereich von 50 nN und Bruchteilen von
den bestehen einerseits in den Messgrößen andererseits Nanometern mittels Nano-Indenter (Abb. 15.39).
15.7 Härteprüfung zur Werkstoffidentifizierung 421

Vertiefung: Vergleich der auf die Dichte der Werkstoffe bezogenen E -Moduln und
Elastizitätsgrenzen: spezifische E -Moduln und spezifische Elastizitätsgrenzen

Statisch belastete Bauteile sollten sich nur elastisch ver- Faserrichtung. Deshalb weisen auch die unidirektio-
formen, daher sind für ihre Auslegung der Elastizitäts- nal verstärkten Verbundwerkstoffe nur in Faserrich-
modul, die Poisson-Zahl und die Streck- bzw. Dehn- tung hohe spezifische Kennwerte auf (Abschn. 15.5).
grenze die wesentlichen Kennwerte. Für den Leichtbau Die niedrigen spezifischen Kennwerte der Polymere,
von statisch durch Zug und Druck belastete Bauteile aber auch die der Leichtmetalle können durch Fa-
sind die auf das spezifische Gewicht der Werkstoffe serverstärkungen wesentlich erhöht werden. Bei den
(Tab. 15.7 und 15.8) bezogenen Kennwerte die tech- metallischen Legierungen unterscheiden sich nur die
nisch ausschlaggebenden Größen: der spezifische E- Gusseisen- und Kupferlegierungen im spezifischen E-

Werkstoffkunde
Modul und die spezifische Streck- oder Dehngrenze. Modul von den gebräuchlichsten Knetlegierungen, de-
ren spezifische Dehngrenzen jedoch mehr als eine De-
Abbildung 15.36 vergleicht diese in doppellogarithmi- kade überspannen. Die Keramiken, speziell Diamant,
scher Skala für Polymere, Metalle, Keramiken, Hölzer, zeichnen sich durch hohe spezifische E-Moduln aus.
Fasern und Verbundwerkstoffe. Kohlenstofffasern bie- Die spezifischen Festigkeitsmodule der technischen
ten die höchsten spezifischen Kennwerte (im Bereich Keramiken sind aber nicht höher als die Festigkeiten
von Diamant) wegen ihrer Anisotropie nur in der hochfester Stähle.

10–2 Elastomere
Diamant
E/ρ

Kohlenstofffasern

10–3

1 10
100 Rm/ρ Keramiken
spezifischer E-Modul in GPa pro g/cm3

CFRP längs Vf = 50 % UD
Aramidfasern

Al-Li-Leg.
Al-Gussleg.
Stähle
Glasfasern
Al-Knetleg.

Ni-Basisleg. Hölzer längs


Gusseisen GFRP längs Vf = 50 % UD

10

SMC (sheet molding compound:


Vf geschnittene Glasfasern in Duromermatrix)

Duromere

amorphe Thermoplaste

teilkristalline Thermoplaste

1
10 100 1000
spezifische Festigkeit in GPa pro g/cm3

Abb. 15.36 Spezifische E -Moduln und spezifische Elastizitätsgrenzen (Streck- bzw. Dehngrenzen für Metalle und Polymere, Bruchfestigkeiten für Hölzer
( zur Maserung), Fasern in longitudinaler Richtung, Verbundwerkstoffe und Keramiken) in doppellogarithmischer Skala; weiterhin mit 50 Vol.-% unidi-
rektional mit kontinuierlichen Kohlenstofffasern (CFRP  vf = 50 % UD) und anlog mit Glasfasern (GFRP vf = 50 % UD) verstärkte Polymere; Duromere
mit regellos in der Ebene eingebetteten, geschnittenen Glasfasern unterschiedlicher Volumenanteile (SMC); Elastomere sind in einer Detailgraphik kleinerer
Größenordnung links oben eingefügt
422 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

dynamische Härteprüfung
statische Härteprüfung
(auch mobil einsetzbar)

unter Prüfkraft
nach Entlastung Rücksprunghärte
Kraft-Weg

Martens HM Eindruckaufsicht Skleroskop etc.


Eindringtiefe
(Universalhärte) (Prüfkraft) (Energie)

Leeb HL
Nanohärte
(Geschwindigkeit)
Werkstoffkunde

Brinell HBW Poldihammer


HV5 bis100 Shore HSA, HSD
(Hartmetallkugel) (Schlaghärte)

Kleinlast Vickers HV Diamantkegel


Rockwell
(HV0,3 bis 3) (Diamantpyramide) HRA, HRC, HRD

Mikrohärte Knoop HK Hartmetallkugel


IRHD*
(HV0,01 bis 0,2) (Diamantspitze) HRB, HRE, HRF, HRG

* International Rubber Hardness Degree

Abb. 15.37 Übersicht über die für Konstruktionswerkstoffe gebräuchlichsten Härteprüfmethoden, die meist mit den Namen der Erfinder bezeichnet werden
(ausgenommen Martens-Härte, die früher Universalhärte hieß); weiterhin sind die Kurzzeichen angegeben

Bei der Shore-Härte (HS) wird nicht der Kraft-Weg-Ver-


lauf gemessen (Abb. 15.41), sondern der Endzustand einer
Fmax plastischen Eindringtiefe eines Prüfkörpers, ebenso bei
der Rockwell (HR)- und IRHD-Messung nach definier-
ter Vorbelastung: Fmax und h bzw. Zusatzkraft F1 und
Eindringtiefendifferenz Δh in Abb. 15.40. Die Rockwell-
Härte kann mit einer Hartmetallkugel (HRB, -E, oder -G)
F1 Zustandskraft

oder bei höherfesten Werkstoffen mit einem Diamantke-


gel (HRA,-C, oder -D) gemessen werden. Die Eindring-
tiefe wird zwischen 0 (Eindringtiefe einer Vorlast) und
Prüfkraft

0,2 mm nach einer Skala bis 100 in Stufen von 2 µm an-


gegeben. Analog verläuft das IRHD-Prüfverfahren, das
wie die Shore-Härtemessung für Elastomere und Thermo-
plaste angewendet wird. Wegen deren visko-elastischem
ade

Verhalten ist die Einwirkdauer der Kraft (üblicherweise


he Ger

unter 15 s) zu beachten.
F0 Prüfvorkraft Bei den Härteprüfverfahren nach Brinell (HB, Abb.
elastisc

Δh
15.42b, ähnlich bei der ambulanten Vergleichsmessung
h nach Entlastung hmax mit dem Poldi-Hammer), Vickers (HV, Abb. 15.42a) und
Knoop (HK) wird nicht die Eindringtiefe sondern die
Eindringtiefe maximale Druckspannung gemessen, die sich aus der auf-
gebrachten Kraft und der Fläche des Eindrucks ergibt.
Abb. 15.38 Schematisches Kraft-Weg-Diagramm für eine Härteprüfung nach
Die Messgenauigkeit für einen Vickers-Eindruck ist groß
Martens; zu Beginn der Entlastung dominiert die elastische Rückfederung, aus
der näherungsweise der E -Modul abgelesen werden kann. Die Zusatzkraft F1 = genug, dass auch kleine Lasten aufgebracht werden, die
Fmax − F0 entspricht der Eindringtiefenzunahme Δh (blau ) Eindrücke unter 1 mm Durchmesser erzeugen. Durch die
15.7 Härteprüfung zur Werkstoffidentifizierung 423

Beispiel: Härtemessung über die Eindringtiefe

Härtemessung über Eindringtiefe eines Eindringkör- Die Martens-Härteprüfung liefert den kontinuierlichen
pers unter vorgegebenen Belastungsstufen: Martens-, Verlauf des Eindringens eines Eindruckkörpers in die
Nano-, Rockwell- und Shore-Härte. Werkstückoberfläche unter zunehmender Belastung.
Der Eindruckkörper kann je nach zu prüfendem Werk-
stoff eine Vickers-Pyramide, ein Rockwell-Kegel oder
eine Brinell-Kugel sein. Das Messergebnis ist ein Kraft-
500 Si3N4 Weg-Diagramm bis zur maximal aufgebrachten Kraft
Fmax und während der darauffolgenden Entlastung.
Die Entlastungskurve wird durch die elastische Rück-

Werkstoffkunde
400
federung dominiert, sodass aus der Kraftänderung pro
Eindruckoberfläche der E-Modul abgeschätzt werden
300 kann (Abb. 15.38 und 15.39), wobei die Messunsicher-
P in mN

heit relativ groß ist. Sobald der Eindruckkörper voll-


ständig entlastet ist verbleibt der plastisch geformte
200
Pa
Eindruck mit der Tiefe h. Dieser Endzustand kann auch
00 G

analog zur Brinell- oder Vickers-Härte mikroskopisch


vermessen werden. Mit speziell stabilen und empfind-
E=3

100
lichen Geräten (Nano-Indenter) können mit scharfen
drei- oder vierseitigen Diamantpyramiden unter Be-
0 lastungen im Millinewton-Bereich Kraft-Eindringtie-
0 300 600 900 1200 fen Kurven aufgenommen werden (Abb. 15.39). Die-
h in nm se sogenannten Nano-Härtemessungen erzeugen Ein-
drücke mit ca. 1 µm Durchmesser bei Eindringtiefen
Abb. 15.39 Beispiel einer Nanohärteprüfung an einer Keramikprobe aus
Siliziumnitrid, deren Makrohärte 20.000 HV10 beträgt; dynamische Kraft- unter 0,2 µm und können sowohl für Härtegradienten-
Wegdiagramme mit schrittweise erhöhter Maximalkraft und E -Modulbe- messungen als auch für Härtemessungen und E-Mo-
stimmung aus der Tangente im Entlastungspunkt dulabschätzungen dünner Schichten eingesetzt wer-
den (Yang 2008).

Eindringkörper: Prüfvorkraft + Zusatzkraft Wegnahme der


Stahlkugel (HRB) 98,07 N HRC: 150 kp Zusatzkraft,
oder (10kp) (oder A: 60 kp Prüfvorkraft
Diamantkegel D:100 kp) bleibt
(HRA, HRC, HRD) Messung der Differenz
Δh zur bleibenden
120° Eindringtiefe der HR Skala
Gesamtlast
0 100
1

F = F0 F = F 0 + F1 F = F0

0,04 80
Eindringtiefe in mm

Härte HRC
0,076 62
Werkstück Eindringiefe = Nullpunkt 0,08
mit fein geschliffener
Oberfläche 0,12 40

0,16 20
maximal elasto-plastischer elastische
0,2 mm Eindruck Rückfederung
Eindringtiefe der Gesamtlast der Zusatzkraft 0,2 0

Abb. 15.40 Schematische Darstellung der Rockwell-Härteprüfung (HRC, -A oder D) mit Diamantkegel als Eindringkörper; Prüfablauf: 1. F = 10 kp Vorkraft,
Nullpunkt einstellen; 2. Zusatzkraft aufbringen (F + F1 = 60, 100 oder 150 kp); 3. Zusatzkraft entfernen, bleibende Eindrucktiefe zwischen 0 und 0,2 mm
unter Vorkraft ablesen und der HR-Skala zuordnen (DIN EN ISO 6508). Das blau markierte Beispiel ergibt für die Gesamtlast von 150 kp über die Eindringtiefe
Δh = 76 µm den Härtewert 62 HRC
424 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Die Eindringtiefe eines Eindruckkörpers unter vor- des Messvorgangs. Als maximal zulässige Eindringtie-
definierter Belastung ergibt eine Härteskala für die fe durch die Zusatzkraft wurde 0,2 mm festgelegt. Der
Rockwell- und Shore-Härte, sowie für IRHD-Werte Eindringtiefenbereich Δh zwischen 0,2 mm und 0 wird
(Abb. 15.41). Die Rockwell-Härte (Abb. 15.40) kann so- mit der linearen Härteskala 0 bis 100 unterlegt (50 ≡
wohl mit Hartmetallkugeln (HRB, E, F, G) als auch mit 0,1 mm, 75 ≡ 0,05 mm). HRC-Messungen sind für ge-
Diamantkegeln (HRA, C, D) gemessen werden, wobei härtete Stähle wie Werkzeug- und Schnellarbeitsstähle
in beiden Fällen eine Vorkraft (10 kp) aufgebracht wird, üblich. Die Shore-Härtemessung (Abb. 15.41) erfolgt
um einen Anfangswert für die weitere Tiefenmessung ähnlich, wobei sich die Härteskala auf 2,5 mm Maxi-
beim Aufbringen einer Zusatzkraft (50, 90 oder 140 kp) maltiefe (0 HS) bezieht. Wegen des viskosen Verhaltens
zu definieren. Abbildung 15.40 beschreibt die Schritte der Polymere ist die Eindringdauer mit 15 s festgelegt.

Shore A (12,5 N) Shore D (50 N)


Werkstoffkunde

definierte für weiche für zähe


Prüfkraft Elastomere D = 1,1–1,4 mm Polymere

35° 30°

Eindring-
körper
Eindringtiefe

aus Stahl
Messung der

Werkstück

D = 0,79 mm R = 0,1 mm

Abb. 15.41 Prinzip der Shore-Härtemessung (HS) über die Eindringtiefe von mit Federkraft belasteten Stahlstiften (Geometrie HSA und HSD) in Polymeren

Härtemessung über den Eindruckdurchmesser messers verursachen. Die Durchmesser der Eindrücke
sollen nur einen Bruchteil des Durchmessers des Ein-
Härtemessung aus dem Durchmesser eines Eindruckes druckkörpers erreichen, sollen aber größer als einige
eines Eindringkörpers: Brinell- und Vickers-Härteprü- Korndurchmesser des Werkstückes sein. Die Eindruck-
fung. kräfte werden traditionellerweise in kp angegeben,
Ein Eindringkörper, der höhere Festigkeit aufweist als wobei bestimmte Kraftniveaus laut Norm vorgeschrie-
das Werkstück, wird mit einer bestimmten Kraft in die ben sind. Brinell-Hartmetallkugeln (DIN EN ISO 6506)
Oberfläche der Werkstoffprobe oder des Werkstückes werden für die weniger festen Werkstoffe verwen-
gedrückt. Die Größe des resultierenden Eindruckes ist det, während Vickers-Diamantpyramiden (DIN EN
das Maß für den Verformungswiderstand eines Volu- ISO 6507) besonders für hochfeste Werkstoffe einge-
mens nahe der Werkstückoberfläche. Bei Polymeren setzt werden. Tabelle 15.12 gibt die wichtigsten Infor-
und Metallen mit Schmelzpunkten unter 700 °C ist we- mationen zur Klassifizierung dieser Härteprüfungen
gen möglicher Diffusionsvorgänge (Abschn. 15.12) die und ihre Einsatzbereiche. Die Vickers-Härteprüfung
Einwirkdauer der Kraft zu beachten (im Allgemeinen ist auch mit niedrigen Belastungen gut auswertbar,
kleiner 15 s). um den Verformungswiderstand in gradierten Schich-
ten (z. B. Oberflächenhärtung) oder unterschiedlichen
Zu den gebräuchlichsten Härteprüfmethoden zählen Phasen einer Probe zu bestimmen, wenn die Pro-
Brinell- und Vickers-Härteprüfung, die in Abb. 15.42 benoberfläche poliert ist. Eine kleine Kraftbeaufschla-
dargestellt sind. Da durch den Eindringkörper Mate- gung zwischen 0,03 N und 0,3 N (Kleinkrafthärte) er-
rial plastisch verdrängt wird, entstehen am Rand der gibt Eindrücke in der Größenordnung von 0,1 mm.
Eindrücke kleine Wülste, die einerseits dessen mikro- Abbildung 15.44b zeigt Reihen von HV1-Eindrücken
skopischen Kontrast erhöhen, andererseits eine Mess- am Querschliff einer oberflächengehärteten Stahlpro-
unsicherheit für die Bestimmung des Eindruckdurch- be. Das Aufkohlungsprofil ist in Abb. 15.44a eingetra-
15.7 Härteprüfung zur Werkstoffidentifizierung 425

Vickers Brinell
136°

D
Diamantpyramide Eindruck: Eindruck: Stahlkugel
quadratische Kugel
Pyramide
Probenquerschnitt
d d

Werkstoffkunde
d1 d1
d1 + d2
d2 d= d2
a 2 b

210 HV 50 30 195 HBW 2,5 / 187,5 / 30

Härte- Härte Prüfkraft Einwirkdauer Härte- Brinell Kugeldurch- Prüfkraft Einwirkdauer


wert nach F = 50 · 9,81 N in s wert Härte messer in mm 187,5 kp in s
Vickers = 490,3 N (Kugel) = 1839 N

Abb. 15.42 Schematische Darstellung der Härteprüfung mittels Messung der Eindruckdurchmesser; a HV-Vickers (Diamantpyramide) nach DIN EN ISO
6507; b HB-Brinell (Hartmetallkugel) nach DIN EN ISO 6506; darunter jeweils Ergebnisbeispiele für Eindrücke mit gleichen Durchmessern in normgerechter
Beschreibung

1000 1
Härte nach Härtung

Kohlenstoffgehalt in Gew.-%
Härte nach Aufkohlung
α 800 0,8
C-Gehalt
HV1 in MPa

600 0,6
β
α
α 400 0,4
α β

α 200 0,2

a 0 0
0 500 1000 1500
Cu-Zn 20 µm Abstand von Oberfläche in m
β

Abb. 15.43 Vickers-Kleinkrafthärtemessungen HV0,05 in den Körnern der


α- und der härteren β-Phase in Messing, in dem die Eindruckdurchmesser
um ca. 25 % kleiner sind als in der α-Phase

gen, das einen Härtegradient nach langsamer Abküh-


lung und nach Härtebehandlung ergibt. Ein Beispiel
für die Unterscheidung der α- und der β-Phase in Mes- Aufkohlungstiefe
sing wird in Abb. 15.43 gezeigt. Eine Kraftreduktion 100 µm
unter 0,03 N misst eine lokale Mikrohärte, die Ein- b
drücke zwischen 5 und 50 µm hervorruft. Kleinkraft-
Abb. 15.44 a Vickers-Kleinkrafthärteprofil (HV1) in die Tiefe eines auf-
und Mikrohärtemessungen werden auch an kerami- gekohlten Stahls vor und nach der Härtung als Folge des Verlaufs des
schen Werkstoffen durchgeführt, wobei oft die Knoop- Kohlenstoffgehalts; b zugehöriges metallografisches Bild der aufgekohlten
Härte aus Eindrücken schmaler Diamantspitzen ge- Schicht (dunkel) und der annähernd quadratischen Eindrücke der Vickers-
messen wird. pyramide
426 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Abb. 15.45 Korrelation der 2800


Brinell-, Vickers- und Rockwell-Härte
untereinander sowie von Vickers-
und Brinell-Härte mit den Zugfes- 600 Rockwell 2400
tigkeitswerten (blau ) unlegierter Brinell
(Stahlkugel) HB Rm Zugfestigkeit
und niedrig legierter Stähle; Beispiel HRB ~ 3,2 HV
Rm =
für die Korrelation der Härtewer- 500 2000

Rockwellhärte HRB u. HRC


100

Brinellhärte HB in kp/mm2
te (ca. 140 HBW ∼

Zugfestigkeit Rm in MPa
= 130 HV) des
verformungsverfestigten Karosse- Rockwell
riestahls DC04 mit seiner Festigkeit 80 400 (Diamantkegel) 1600
(ca. 500 MPa) HRC
~ 3,5 HB
Rm =
60 300 1200
Werkstoffkunde

40 200 800
DC04
kaltgewalzt
20 100 400

0 0 0
0 100 200 300 400 500 600 700 800 900 1000
Vickershärte HV in kp/mm2

kleinen Abstände zwischen den Eindrücken können mit- Für die ambulante (mobile) Messung direkt an massi-
tels Kleinkrafthärte (0,03–0,3 N) Härteverläufe gemessen ven Bauteilen eignen sich nicht nur Schlaghärteverfahren
werden z. B. quer zu einer Schweißnaht oder gehärte- (z. B. Poldihammer, bei denen ein Kugeleindruck vermes-
ten Oberflächen (Abb. 15.44) oder Mikrohärte (10–20 mN, sen wird), sondern insbesondere Rücksprungmessungen
d = 5–20 µm) innerhalb von Körnern unterschiedlicher eines Fallkörpers, der nach elasto-plastischer Verformung
Phasen (Abb. 15.43). Mikrohärtemessungen sind auch des Werkstückes elastisch rückfedert. Es kann die Rück-
zur mechanischen Charakterisierung von Oberflächenbe- sprunghöhe (Abb. 15.46) eines kleinen Hammers oder
schichtungen geeignet. die Geschwindigkeitsdifferenz eines Fallkörpers vor und
nach dem Aufprall (Leeb-Härte – HL) gemessen werden.
Aufgrund der unterschiedlichen Verformungsmechanis-
men und Messgrößen bei den verschiedenen Härteprü- Härtemessungen liefern keine konstruktionsrelevanten
fungen ist eine Korrelation zwischen Härtewerten ver- Kennwerte, sind aber sehr dienlich bei der Identifizierung
schiedener Prüfmethoden nur näherungsweise jeweils von Werkstoffen und ihres Wärmebehandlungszustan-
für ähnliche Werkstoffe möglich. Abbildung 15.45 zeigt des, sowie des Werkstoffzustandes eines Bauteiles im
die Gegenüberstellung der Härtewerte für nicht gehär- Laufe seines Einsatzes, da sie als praktisch zerstörungs-
tete un- bzw. niedrig legierte Stähle, für die sich eine freie Methode durchgeführt werden können. Darüber
Proportionalität zwischen Brinell- und Vickers-Härtewer- hinaus ist es eine wichtige Prüfmethode bei Schadensfall-
ten ablesen lässt: HV ∼
= 1,1 HB. Wegen des Unterschieds untersuchungen, da wegen des kleinen Prüfvolumens lo-
der HB- und HV-Messung zu den auf die Eindringtiefe kale Werkstoffzustände verglichen werden können. Tabel-
skalierten Rockwell-Härtewerten gibt es keine Propor- le 15.12 führt die am häufigsten verwendeten Prüfmetho-
tionalität zwischen diesen. Selbst die HR-Messergebnis- den für die verschiedenen Werkstoffe und Größenskalen
se mit einer Stahlkugel (nicht mehr normgerecht, durch mit einigen Detailangaben an, sodass Härteprüfergebnis-
Hartmetallkugel ersetzt) unterscheiden sich beträchtlich se leichter nachvollziehbar werden.
von denen mit einem Diamantkegel gemessenen, es gibt
jedoch Umwertungstabellen in der Literatur für unter- Härteprüfung an keramischen Materialien ist im Allge-
schiedliche Legierungen. Für das in Abb. 15.45 gezeigte meinen mit lokaler Schädigung verbunden, da Keramik
Beispiel eines Stahls lässt sich sogar eine Proportiona- bei mäßigen Temperaturen nicht plastisch verformbar
lität zwischen den Zahlenwerten der Zugfestigkeit und ist. Mikrohärteprüfung wird trotzdem eingesetzt, um
der HV-, sowie HB-Werte ablesen: Rm (MPa) ∼ = 3,2 HV ∼
= den Materialwiderstand gegen das Eindringen eines Ein-
3,5 HB(kp/mm ). Das eingetragene Wertepaar für den
2 dringkörpers aus Diamant (Vickers oder Knoop) zu mes-
Karosseriestahl DC04 passt trotz der Kaltverformung sen, aber auch um eine damit verbundene Rissbildung zu
gut. bewerten (siehe Beispiel: Härtemessung an Keramik).
Tab. 15.12 Beschreibung der Härteprüfmethoden
Kurzzeichen Bezeichnung, Charakteristika Eindringkörper Messgrößen hauptsächliche Anwendung
MH (DIN EN ISO 14577) Martenshärte je nach Eignung Kraft vs. Eindringtiefe h > 0,2 µm, Metalle, Polymere E-Modulab-
(vormals Universalhärte) Kraft-Weg-Diagramm, schätzung
(Abb. 15.38)
nH (F < 0,5 N) Nanohärte Diamantpyramide, Kraft/Fläche in GPa vs. Ein- Mikroskop. Phasen, Oberflächen-
Berkovich-Indenter dringtiefe h in nm (< 0,2 µm), schichten, Härtegradienten
(Abb. 15.39)
HBW 1, 2, 2,5, 5, oder Brinell-Härte d1 Wolframkarbidkugel Kraft/Eindruckkugelkalotte Leichtmetalle, Blei-, Zinn-, Zink-,
10/100,. . . 1000, oder 1. Ziffer = Kugel-∅ in mm (Stahlkugeln sind nicht aus dem Eindruckdurchmesser Kupferlegierungen, Stähle, Holz,
3000 (DIN EN ISO 6506) 2. Ziffer Prüfkraft in kp mehr normgerecht) (Abb. 15.42b) Duromere
ähnlich HB-Werten Poldihammer Stahlhammer mit kuppel- Vergleich der Härteeindrücke Ambulante Härteprüfung wie
förmiger Bahn mit einer Vergleichsprobe HBW
HV5, HV10, HV30, Vickers-Härte d1 quadratische Diamant- Kraft/Eindringpyramidenfläche Hochfeste Metalle, Keramiken,
HV100 Zahl = Prüfkraft in kp, pyramide aus dem Eindruckdurchmesser, Phasen in Werkstoffen,
Kleinkrafthärte HV0,3-3 HV ∼= 1,1 HB bei gleicher Prüf- (Abb. 15.42a) Härtegradienten
Mikrohärte HV0,01-0,2 kraft
(DIN EN ISO 6507)
HK 0,01–1 Knoop-Mikrohärte rhombische Diamant- Kraft/(Eindrucklänge)2 Gehärtete Stähle, Keramiken
d1
(DIN ISO 4516) (Prüfkraft in N) pyramide

HRB, HRE, HRF, HRG, Rockwell-Härte Hartmetallkugel, skalierte Eindringtiefendifferenz Stähle, hochfeste Legierungen,
HRA, HRC, HRD (DIN (Gesamtlast A ,F= 60; B, D, E Diamantkegel (A, C, D) zwischen Vor- und Zusatzkraft Duromere
EN ISO 6508) =100; C, G = 150 kp) F = F0 (Abb. 15.40)
15.7

HSA, HSD Shore-Härte Stahlstift mit Kegelspitze Eindringtiefe (Abb. 15.41) Elastomere und weiche
(DIN ISO 76199) der Form A oder D Thermoplaste

IRHD (DIN ISO 48) International Rubber Hardness Stahlkugel Eindringtiefendifferenz zwischen Elastomere
Degree m h Vor- und Zusatzkraft

SHC , SHD Skleroskop, Duroskop nach Fall- o. Pendelhammer Rücksprunghöhe im Vergleich zu mobile (ambulante)
Shore (Rückprallhärte) m mit runder Diamantspitze Eichprobe (Abb. 15.46) Härteprüfung an Stählen,
HL (DIN 50156-1,2,39) Leeb-Härte vR Hartmetallspitze hochfesten Legierungen
hR
Härteprüfung zur Werkstoffidentifizierung
427

Werkstoffkunde
428 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Beispiel: Dynamische Härtemessung

Härtemessung mittels der plastischen Energieaufnah- Eine dynamische Messgröße ist die Rücksprunghöhe
me eines Werkstückes aufgrund der Aufprallenergie eines Aufschlagkörpers als Fallkörper oder als Pen-
eines Prüfkörpers: Poldi-Hammer, dynamische Shore- delhammer, der eine kleine plastische Oberflächenver-
Härte und Leeb-Härte. formung und eine elastische Rückfederung bewirkt
(Abb. 15.46). Die Differenz aus der Fallhöhe und der
Die dynamischen Härteprüfmethoden wurden vor al- Rücksprunghöhe entspricht der vom Werkstück durch
lem für die ambulante Härtemessung direkt an Bau- plastische Verformung absorbierten Energie, die als
teiloberflächen entwickelt. Dazu zählen auch Messun- Rückprallhärte gemessen wird (auch als dynamische
gen der Schlaghärte, bei der ein Eindringkörper mit Shore-Härte bezeichnet). Die Fallgeschwindigkeit und
Werkstoffkunde

der Spitzengeometrie wie bei Brinell- oder Vickers- die Rückprallgeschwindigkeit eines Eindringkörpers
Prüfgeräten mit einem Schlagimpuls sowohl in einen können induktiv gemessen werden. Das Verhältnis
Testkörper bekannter Härte als auch in das Werk- der Geschwindigkeiten ist als Leeb-Härte (HL) defi-
stück eindringt. Die Eindruckgrößen werden vergli- niert (Abb. 15.46). Der Vorteil dieser Messmethode ist,
chen und aus dem Unterschied wird die Härte des dass sie von der Schwerkraft unabhängig durch einen
Werkstückes abgeschätzt. Beim Poldi-Hammer wer- Abschlagmechanismus auch an schwer zugänglichen
den die Eindrücke mit der Brinell-Härte verglichen. Stellen durchgeführt werden kann.

Aufprall Rücksprung

Epot = mghi Ekin = mvi2/2 Ekin, R = mvR2/2 Epot, R = mghR

HL = 1000 vR /vi
Fallkörper m
vR m

hi m hR
m

vi

Werkstück: Eelast + Eplast ~ mg (hi – hR)


Eplast =

Abb. 15.46 Energiebilanz der dynamischen Prüfung der Rückprallhärte (Differenz aus Fallhöhe und Rücksprunghöhe hi − hR z. B. mit Skleroskop gemessen)
und der Leeb-Härte (LH = 1000 vR /vi )

Frage 15.7
Welche Härteprüfmethode empfehlen Sie für folgende Härtemessungen stellen eine einfache, praktisch zer-
Werkstofftypen: störungsfreie Werkstoffprüfmethode dar. Die Ergeb-
nisse dienen vor allem der Identifikation der Werk-
Aluminium-Legierungen, stoffe und ihres Gefügezustandes (verformt, wär-
un- bzw. niedrig legierte Stahlbleche, mebehandelt oder geschädigt). Je nach plastischer
gehärtete Stahlteile, Verformbarkeit der Werkstoffe wurden Messmetho-
Duromere, den entwickelt, die den Widerstand eines kleinen
Thermoplaste, oberflächennahen Volumens gegen das Eindrücken
Keramik? eines Eindringkörpers quantifizieren.
15.7 Härteprüfung zur Werkstoffidentifizierung 429

Beispiel: Härtemessung an Keramik und Rissausbreitung

Härtemessung an Keramiken verursacht die Ausbrei- In der Abb. 15.47 werden die Vickers-Härtewerte mit
tung von Mikrorissen von Vickers- oder Knoop-Ein- relativ großer Kraft (HV10) von verschiedenen High-
drücken. Tech-Keramiken mit denen von Metallen verglichen.
Siliziumnitrid zeichnet sich durch etwa 5-mal so hohe
Eine Härtemessung an keramischen Werkstoffen kann Härtewerte wie für ungehärteten Stahl aus. Die Här-
mit einem Diamanteindringkörper vorgenommen wer- tewerte der Keramiken steigen mit deren E-Moduln,
den. Nur bei hohen Temperaturen (> 0,5Ts ) kann ein somit mit den atomaren Bindungskräften.
Eindruck durch eine langsame plastische Verformung
erzielt werden. Bei mäßigen Temperaturen verursacht

Werkstoffkunde
der harte, kantige Eindringkörper eine lokale Materi-
alschädigung. In der Eindringrichtung entstehen vor Siliziumkarbid
25
dem Eindringkörper Mikrorisse und das Material wird
seitlich verdrängt, sodass im inneren des Materials vor
Si3N4
und seitlich des Eindringkörpers Schubspannungsrisse
entstehen: sogenannte laterale Risse. Seitlich bewir- 20
ken die Kanten des pyramidenförmigen Eindringkör-

HV10 in GPa
pers Zugspannungen, die radiale Risse hervorrufen.
Die Rissbildung kann im Bereich der Mikro-Härte- 15
prüfung HV0,01–0,2 und HK0,01–1 (siehe Tab. 15.12) Aluminiumoxid
auf Probenoberflächen am besten verfolgt werden. Ab-
bildung 15.48a zeigt schematisch die radiale Rissbil-
10
dung von den Kanten eines Vickers-Eindruckes auf Silikat-Keramik
einer Keramikoberfläche. Abbildung 15.48b zeigt eine
lichtmikroskopische Auflichtaufnahme eines Härteein-
druckes in eine hochqualitative Aluminiumoxidprobe 5
Metalle
mit radial verlaufenden Rissen. Abb. 15.48c skizziert
die Rissbildung unterhalb des Härteeindruckes: dichte
radiale und laterale Mikrorisse. Die bleibende Verfor- 0
mung des Härteeindruckes ist auf derartige Rissver- 0 100 200 300 400 500
teilungen zurückzuführen. Radiale Risse können zur Elastizitätsmodul in GPa
Bewertung der Bruchzähigkeit (siehe in Abschn. 15.10) Abb. 15.47 Gegenüberstellung der HV10-Werte von Hi-Tech Keramiken in
von Keramiken herangezogen werden. Abhängigkeit der E -Moduln

Abb. 15.48 Vickers-Mikrohärte-


eindruck in Keramik, von dem Risse
ausgehen; a schematische Darstel-
lung der radialen Rissbildung in Vickers
der Aufsicht; b Lichtmikroskopie Eindruck
eines Härteeindruckes in einer Alu-
miniumoxidprobe mit Mikrorissen
von den Kanten; c schematischer
Längsschnitt im Bereich des Eindring-
körpers mit radialen und lateralen
Rissen ins Material hinein a
laterale
Risslänge

cL cR radiale
Risslänge

b 50 µm

cL
durch Mikrorisse
plastisch verformt cR
c
430 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Leitbeispiel Antriebsstrang
Härtewerte der Werkstoffe der ausgewählten Bauteile

Die Härtewerte der folgende Werkstoffe der ausge- Vickershärte (HV) für Turbinen-
wählten Bauteile des Leitbeispiels werden in die- schaufeln aus Superlegierung IN718
ser Abbildung dargestellt, wobei die für die jeweili-
Werkstoffkunde

gen Werkstoffe geeigneten Messmethoden angewandt


wurden. Den Härtewerten sind die Elastizitätsgrenzen Brinellhärte für die Gusslegierun-
aus Tab. 15.7 zugeordnet. gen (AlSi12(Mg) und GJV450) für
Kurbelwellengehäuse
500
IN718
SH D
400 HBW Shore-Härte für die PA66-Ölwanne
HV
Härtewerte

300
HRC
C22 aufgehärtet
200 GJV450
Rockwellhärte für das aufgekohlte,
DC04 kaltgewalzt
100 PA66 gehärtete Stahlzahnrad
AlSi12(Mg)
0
0 250 500 750 1000 1250
Festigkeit in MPa

15.8 Plastische Verformbarkeit Wahre Spannung und wahre Dehnung beziehen


sich auf den jeweiligen Verformungszustand
Der Verformungsbereich, in dem sowohl Dehnung als
auch Querschnittsverminderung gleichmäßig erfolgen, Die Kraft F wirkt im Laufe der Verformung nicht mehr
wird im technischen Spannungs-Dehnungs-Diagramm auf den Anfangsquerschnitt, sondern auf den sich verän-
(Abb. 15.19) mit der Gesamtdehnung Agt bei maxima- dernden Materialquerschnitt, der sich beim Zugversuch
ler Spannung Rm begrenzt. Sobald nach einer Dehnung quer zur Dehnung vermindert bzw. quer zu einer Stau-
bis Agt vollständig entlastet wird, erfolgt die elastische chung erhöht. Die auf den jeweiligen Querschnitt AN
Rückfederung. Es verbleibt der plastische Dehnungsan- bezogene Spannung wird mit wahrer Spannung σw be-
teil Ag (Gleichmaßdehnung). Die elastische Rückfederung zeichnet, während sich die technische Spannung σn auf
beträgt Agt − Ag = Rm /E. Bis zur plastischen Dehnung den Ausgangsquerschnitt A0 bezieht. Da im plastischen
Ag ist eine metallische Probe ohne bleibende Schädigung Verformungsbereich das Materialvolumen gleich bleibt,
verformbar. Die Umformtechnik nützt diesen Dehnungs- solange keine Schädigungen auftreten, ergibt sich aus der
bereich (Abb. 15.52) für unterschiedliche Verfahren der Volumenkonstanz: A0 l0 = AN l. Wobei l0 die Anfangspro-
Kaltumformung aus (siehe Abschn. 30.3). benlänge bezeichnet, die auf die Länge l gedehnt wird.
Aus den technischen Kennwerten ε n = (l − l0 )/l0 und σn
wird die wahre Spannung berechnet:
A0 F
AN = → σw =
1 + εn AN
(15.16)
F
= (1 + ε n ) = (1 + ε n )σn .
A0
15.8 Plastische Verformbarkeit 431

σ
Stauch- Zugkurve
σwlokal
1000

Spannung in MPa
Verfestigung AN
800 σ wConsidère = dσ w /dεw
σw ≈ εwn σwlokal
σw
600 σwmittlere
Rm
σn

Hooke‘sche Gerade
400 dσn /dεn|Rm = 0

200
εw = n
Stauchung in %
0

Werkstoffkunde
Ag A
–20 –15 –10 –5 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45
Reibungsbehinderung –200 Dehnung in %
durch Stempel
–400 techn. Zugverformung mittlere, 'wahre' Zugspannung
Scherung
σw gleichmäßige, wahre Dehnung lokale, wahre
–600 Spannung und Dehnung
Aus-
bauchung σn techn. Stauchkurve extrapol., wahre Stauchung
Verfestigung gleichm., wahre Stauchung Hooke'sche Geraden
–800

Abb. 15.49 Vergleich der technischen Spannungs-Dehnungskurven (schwarz für Zug, rot für Druck) mit den zugehörigen wahren Zug- und Stauchkurven (blau
bzw. braun ) eines hochfesten Stahls (X70); im Zugversuch verfestigt sich der Stahl gemäß Potenzgesetz der wahren Variablen nach Ludwik (durchgezogen blau ); ab
dem Considère-Kriterium, bzw. Ag schnürt die Probe ein: wahrer Spannungs-Dehnungsverlauf im lokalen Einschnürbereich (blau gestrichelt, AN gemäß Skizze rechts
oben) und die „mittlere, wahre“ (violett gestrichelt ) Spannungs-Dehnungskurve bezüglich dem über die Messlänge gemittelten Querschnitt; Hooke’sche Geraden
(grün ) für Entlastungen bei bestimmten Spannungen

Bei Zugverformung ist die wahre Spannung größer als schen Spannungs-Dehnungsdiagramm dem Spannungs-
die entsprechende technische Spannung. Die zugehörige maximum entspricht, sodass die Ableitung der Spannung
wahre Dehnung ε w bezeichnet die Gesamtheit der in- nach der Dehnung null ist, gilt im wahren Spannungs-
krementellen Längenänderungen, die die Probe erfährt. Dehnungsdiagramm das sogenannte Considère-Kriteri-
Die wahre Dehnung wird auch als logarithmische Deh- um als Schädigungs- bzw. Einschnürungsbeginn. Es ist
nung bezeichnet und ist für Zugverformung kleiner als dadurch definiert, dass die Ableitung der wahren Span-
die technische Dehnung: nung nach der wahren Dehnung gleich dem wahren
Spannungswert an dieser Stelle ist:
l l
dl Considère
dσw
εw = dε = Considère
σw = . (15.18)
l dε w
l0 l0 (15.17)
l Bei einer Einschnürung treten Scherverformungen auf,
= ln l − ln l0 = ln = ln(1 + ε n )
l0 die den Querschnitt bei Zugverformung lokal vermin-
dern. Die lokale wahre Spannung ist auf den lokalen
Die obigen Beziehungen sind nur solange gültig als keine Querschnitt zu beziehen, sodass sich eine ständig stei-
Rissbildung oder Volumenänderung durch Schädigung gende Kurve der lokalen, wahren Spannung ergibt (in
eintritt, bei Zugversuchen im Allgemeinen bis zur Zug- Abb. 15.49 hellblau gestrichelt). Die Spannung im Ein-
festigkeit. Beim Stauchversuch ist die wahre Stauchung in schnürbereich ist höher als eine mittlere Spannung, die
ihrem Betrag größer als die technische Stauchung (negati- sich auf einen fiktiven mittleren Probenquerschnitt in der
ve Vorzeichen für Stauchung). Abbildung 15.49 vergleicht Messlänge bezieht. Das Gleiche gilt für die lokale Deh-
die technischen mit den wahren Spannungs-Dehnungs- nungsüberhöhung im Einschnürbereich gegenüber der
kurven im Zug- und Stauchversuch. Beim Stauchver- Gesamtdehnung der Probe. Bezogen auf die Messlänge
such behindert die Reibung an den Auflageflächen de- einer Zugprobe ergibt sich eine „mittlere, wahre“ Span-
ren Querschnittsvergrößerung, sodass ein mehrachsiger nungs-Dehnungskurve, die bei größeren Dehnungen als
Spannungszustand entsteht, der eine tonnenförmige Aus- die technische Spannungs-Dehnungskurve eine Entfesti-
bauchung in der Probenmitte verursacht (diagonale Sche- gung zeigt (in Abb. 15.49 violett strichliert). Der Bereich
rungen erzeugen ein zylindersymmetrisches „Schmiede- über das Considère-Kriterium hinaus, ist für Berechnun-
kreuz“ Abb. 30.87). Während die Zugfestigkeit im techni- gen des Energieaufnahmevermögens im Versagensfall
432 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Rm
1000 gehärtet
wahres Diagramm σw(z): z (Rp0,2 + Rm)/2
lokale Spannung σw

Spannung σ in MPa
Spannung σ in MPa

900 näherungsweise
in der Einschnürung z
spezifische
800 Rp0,2 Formänderungsarbeit
σwahr = σn (1+εn )
σw = dσw /dz Rm
normalgeglüht
700
1+2z (ReL + Rm)/2
σwahr = σn
1+ z
600 ReL näherungsweise
totale, spezifische
techn. Spannung σn = F(z)/A0
Verformungsarbeit
Werkstoffkunde

Rm wF wS
wF + wS (Zähigkeit)
Re
400
0,2% A Ag A
Dehnung ε
300
gleichmäßige örtliche Abb. 15.51 Schematische, technische Zugversuchsdiagramme zum nähe-
200 Querschnitts- Querschnittsabnahme rungsweisen Vergleich der spezifischen Verformungsarbeit eines Stahls im
abnahme (Einschnürung) gehärteten Zustand mit der im normalisierten Zustand. Die spezifische Formän-
derungsarbeit bis Rm entspricht der Fläche wF = Ag [(ReL oder Rp0,2 ) + Rm ]/2
100 Rückfederung (grün gestrichelte Rechtecke ); die spezifische Schädigungsarbeit im normal ge-
Brucheinschnürung Z bei Bruch glühten Zustand (von Ag bis Bruchdehnung A ) entspricht der Fläche wS (rot );
die Zähigkeit des Werkstoffes ist die gesamte, spezifische Verformungsarbeit
w∼
0
= A (ReL + Rm )/2 (gestrichelte Rechtecke, grün für den gehärteten, wo
0 10 20 30 40 50 60 70 ws = 0, blau für den normal geglühten Zustand für wF + wS )
Querschnittsabnahme z in %

Abb. 15.50 Technische (schwarz ) und wahre (blau ) Spannung aufgetragen


über die lokale, technische Einschnürung z einer duktilen Stahlzugprobe Näherungsweise Bestimmung
der Verformungsarbeit
(Zähigkeit) eines Werkstoffes von Bedeutung. Die Verfor-
mung mit Schädigung stellt ein Sicherheitsmaß dar, da Abbildung 15.51 vergleicht schematisch die technische
Zugversuchkurve eines kaum verformbaren, gehärteten
auch bei Überlastung Energie aufgebracht bzw. absorbiert
wird. Stahles, der bei der Maximalspannung Rm spröde bricht,
mit der desselben Stahls in duktilem, normal geglüh-
tem Zustand (siehe Abschn 16.5). Solange die Dehnung
Die wahre und die technische Spannung lassen sich
im Gleichmaßbereich Ag bleibt, ist sie für die Formge-
als Funktion der lokalen, technischen Einschnürung z =
bung nutzbar. Dieser Bereich beschreibt die Duktilität
(A0 − AN )/A0 in Abb. 15.50 gut vergleichen. Diese Dar-
eines Werkstoffes. Die zugehörige Formänderungsarbeit
stellung zeigt den lokalen Spannungsanstieg mit dem
pro Volumen des Werkstoffes, die spezifische Formände-
Wendepunkt beim Considère-Kriterium und in dem an-
rungsarbeit, entspricht näherungsweise der Fläche wF in
schließenden Schädigungsbereich. In Abb. 15.50 ist die
Abb. 15.51:
Rückfederung beim Bruch eingetragen, die den Quer-
schnitt der Bruchfläche elastisch vergrößert (komplemen- 1
tär zur elastischen Längenkontraktion). wF = (Rp + Rm )Ag . (15.19)
2

Die Formänderungsarbeit des hochfesten, gehärteten


Die wahre Spannung ist die tatsächliche Spannung Stahls ist wegen seiner geringen Gleichmaßdehnung we-
im Werkstoff während seiner Verformung. Die wah- sentlich kleiner als die des normal geglühten Zustandes.
re Dehnung ist das Integral über die erfolgten in- Daher ist auch das Energieaufnahmevermögen des dukti-
krementellen Dehnungen, was eine logarithmische len Zustandes im Versagensfall größer als die des gehärte-
Dehnung ergibt. Mit dem Considère-Kriterium ist ten Stahls, dessen Schädigungsarbeit wS praktisch null ist.
die gleichmäßige Verformung ohne Schädigung be- Nicht nur die verformungstechnisch nutzbare Duktilität
endet (analog zur Maximalspannung im technischen des normal geglühten Zustandes ist größer, sondern auch
Spannungs-Dehnungsdiagramm). seine gesamte Verformungsarbeit bis zum Bruch, seine
Zähigkeit.
15.8 Plastische Verformbarkeit 433

Abb. 15.52 Schematische

wahre Spannung
Duktilität σw

σw = (1+ εn)σn
wahre Spannungs-Dehnungs- gleichmäßige,
diagramme im gleichmäßig plastische Dehnung σ wConsidère = Rm (1+ Agt) = dσw /dεw
plastischen Verformungsbe- bei gleichmäßiger Verjüngung
reich bis zum Considère-Kriterium
(Duktilitätsbereich); die elastische
Energiedichte bei Rückfederung
(grün markierte Dreiecke) für

ng
Dehngrenze und technische

astu
Zugfestigkeit; a spezifische σwp

erade

Entl
Verformungsarbeit inklusive = (1+x+Rpx /E)Rpx
elastischer Verformung (grün );

eG
b Vergleich mit der spezifischen,

e’sch
rein plastischen Formände-

Werkstoffkunde
Ho o k
rungsarbeit mit den Variablen
Fließspannung kf und logarithmi- spezifische Verformungsarbeit (J/m³)
sche Dehnung ϕ (rot ) elastische Rückfederung
bei Entlastung εw = ln(1+ εn)
εn = x =~ ln(1+x) εwp = ln(1+x+Rpx /E) ln(1+Agt) = εwm wahre Dehnung
für kleine plastische bei Dehngrenze bei Zugfestigkeit
a Dehnung durch Rpx

σw wahre
Spannung
kf Fließ-
σw
spannung
σ wConsidère = Rm (1+ Agt) = dσw /dεw

kfm = (1+Ag)Rm Duktilität


ung
max. Fließ- estig
verf
spannung ungs
orm
Verf

kf0 = (1+x)Rpx
Beginn der
Plastifizierung
spezifische
Formänderungsarbeit
(J/m³)

εw = ln(1+ εn)
εn = x logarithmische Dehnung ln(1+εplast.) = φ εwm wahre Dehnung
=~ ln(1+x) = φx ln(1+A ) = φ
= ln(1+Agt)
g m
b bei Zugfestigkeit

Die sicherheitstechnisch relevante, spezifische Schädi- Spannungen, die der Dehngrenze und der Zugfestigkeit
gungsarbeit (Fläche wS ) wird nach Überschreiten des entsprechen (dunkelgrüne Dreiecke). Die unterschiedli-
Considère-Kriteriums erbracht. Die gesamte spezifische che Größe dieser Dreiecke spiegelt die unterschiedliche,
Verformungsarbeit bis zur Bruchdehnung A errechnet elastische Energiedichte wider, die bei Entlastung frei-
sich näherungsweise aus der technischen Spannungs- gesetzt wird. Bei unterschiedlichen Werkstoffen, die mit
Dehnungskurve mit: gleicher Verformungsspannung belastet werden, ist e um-
1 so größer, je kleiner der E-Modul ist (entsprechend der
wF + wS = (Rp + Rm )A. (15.20) Neigung der Hypotenuse des Dreiecks der elastischen
2
Energiedichte). Bei mehrachsiger plastischer Verformung
Der bei der plastischen Verformung eingebrachte, elasti- (z. B. Biegen) bleiben im Allgemeinen nach der Entlastung
sche Anteil wird bei Entlastung als Rückfederung wieder elastische Verformungen im Inneren des Bauteils zurück,
freigesetzt. Die gespeicherte, elastische Energie pro Mate- wenn die plastische Verformung des Bauteils über den
rialvolumen (elastische Energiedichte, siehe Abschn. 15.5) Querschnitt nicht gleichmäßig erfolgt. Die verbleibenden
bei axial wirkender Spannung errechnet sich aus e(σ ) = inneren Spannungen sind sowohl für die nutzbare Bau-
σ2 /2E. Diese ist für einen Werkstoff umso größer je teilfestigkeit als auch für die weitere Verformung und die
höher die aufgebrachte Verformungsspannung ist. Ab- Maßhaltigkeit (Verzug) bei der spanabhebenden Bearbei-
bildung 15.52a zeigt die Rückfederung bei den wahren tung von Bedeutung.
434 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Abb. 15.53 Technische Keramik (Si3N4) C45 unlegierter Stahl


Spannungs-Dehnungskurven X5CrNi18-10 austenitischer Stahl
C45 gehärtet
unterschiedlicher Werkstoffe GJS 400 Sphärogusseisen
mit großen Unterschieden in der AC230 AlSi12-Gusslegierung

techn. Spannung σn in MPa


Festigkeits- AW6082 AlSiMg1-Knetlegierung
Duktilität, Festigkeit und im E - unterschiede
Modul 1000
Duktilitätsunterschiede

C45 vergütet
500 C45 normal-
GJS 400 X5CrNi18-10
geglüht
AC230
AW6082T4 PA66 Thermoplast
EP Duromer
Werkstoffkunde

Reißdehnung (feucht) > 200%


0
E 0 10 20 30 40 50 60
unt -Mod Dehnung εn in %
ers ul-
chi
ede

Fließkurven für die Umformtechnik Je höher die Verfestigung von Metallen


zeigen die Duktilität umso geringer wird die Duktilität

Die Abb. 15.52a stellt den Duktilitätsbereich in einem


Als Maß für die Duktilität ohne Werkstoffschädigung gilt
Zugversuchsdiagramm für die wahre Spannung und die
die Gleichmaßdehnung Ag , jedoch lässt auch die leich-
wahre Dehnung dar. Der umformtechnisch nutzbare Ver-
ter messbare Bruchdehnung A bei ähnlichen Einschnü-
formungsbereich wird durch das Considère-Kriterium be-
rungsbereichen (siehe Beispiel: Duktilitäts-Festigkeits-Zä-
grenzt. Die Fläche unter dem Spannungsverlauf drückt
higkeits-Banane) eine relative Bewertung der Duktilität
die Verformungsarbeit pro Materialvolumen aus. Diese
zu. Werkstoffe mit hoher Gleichmaß- bzw. Bruchdehnung
beinhaltet sowohl die plastische als auch die elastische
und niedriger Festigkeit sind für die Kaltumformung
Verformungsarbeit. Bei Entlastung wird die elastische
besonders gut geeignet. Abbildung 15.53 vergleicht tech-
Energie durch Rückfederung wieder freigesetzt. Für die
nische Zugversuchskurven unterschiedlicher Werkstoffe:
Formgebung ist die bleibende Verformung wesentlich.
Die rein plastische Fließkurve zeigt Abb. 15.52b als Fließ-
spannung kf in Abhängigkeit von der plastischen, loga-
rithmischen Dehnung ϕ (ohne elastische Verformungen,

s-
siehe Abschn. 30.3) im Vergleich zum wahren Spannungs-

g
reines Messing-

gt un
sti m
Dehnungsdiagramm: weichgeglühtes Knet-
rfe for
Bruchdehnung A in %

100 Kupfer legierung


ve ver
 σw 
r
fe

kf = 1 + ε n − σn < σw ; Messing-
p
Ku

E Knetlegierung
lplast  σw 
(15.21) verformungs-
ϕ = ln = ln 1 + ε n − < εw Mischkristall- verfestigt
l0 E verfestigung
10
Verformungs-
Die Fließspannung ist jener wahre Spannungsanteil, verfestigung
der eine plastische Verformung erzeugt, exklusi-
Ausscheidungs-
ve elastischer Rückfederung. Die Fließkurve stellt härtung
die Fließspannung in Funktion der logarithmischen
Dehnung nach der Rückfederung dar. 1
Kupfer-Beryllium-Legierung

Frage 15.8
20 50 100 200 500 1000 2000
Schreiben Sie die Definitionen für folgende Spannungs-
Rp0,2 in MPa
und Dehnungswerte an:
σn , σw , kf , ε n , ε w , ϕ. Abb. 15.54 Mit steigender Verfestigung von Kupfer-Legierungen (siehe Ab-
schn. 15.6) nimmt die Duktilität (Maßzahl Bruchdehnung) ab
15.8 Plastische Verformbarkeit 435

Beispiel: Wie werden Dehnungen an Zugproben gemessen?

Bei genormten Proportionalprüfstäben (DIN 50125 und zeichnet: A5 , A10 , A50 , A80 . Sie werden an den ausge-
DIN EN 10002-1) wird die Dehnungsmessung an einer bauten, gebrochenen Proben, deren Bruchstücke zu-
Messlänge l0 vorgenommen, die proportional zum Pro- sammengelegt werden, zwischen den ursprünglichen
benquerschnitt ist (Abb.
√ 15.55). Beim kurzen Proportio- Messlängenmarkierungen gemessen. Eine Drahtprobe
nalstab l0 = 5d0 = 5,65 A0 , dabei sind d0 der Durchmes- aus höchstfestem Stahl (z. B. Reifendraht) wird übli-
ser einer Rundprobe und A0 die Querschnittsfläche der cherweise mit 150 mm Messlänge geprüft. Die dukti-
Messlänge; fürProbenmit rechteckigem Querschnitt gilt le Einschnürung ist aber sehr lokal, sodass die auf die
A0 = a · b. Beim langen Proportionalstab für äquivalente
√ Messlänge bezogene Bruchdehnung etwa 1 % beträgt,
Probendurchmesser über 4 mm ist l0 = 10d0 = 11,3 A0 . was den Eindruck eines spröden Materials vermittelt.

Werkstoffkunde
Streifenproben aus dünnen Blechen werden mit Mess- Stark verformungsverfestigte Stähle können nicht mehr
längen von 50 mm oder 80 mm geprüft. Die Längen- weiter verfestigen, sondern verhalten sich nahezu ide-
änderung gegenüber der Anfangsmesslänge Δl = l − l0 al plastisch, deshalb wird der Bruch durch eine loka-
wird mit Dehnungsmessern bestimmt. Die technische le Spannungskonzentration eingeleitet, was dort zu ei-
Dehnung ergibt sich aus ε n = Δl/l0 . nem duktilen Scherbruch führt, der bei einer Messlänge
von 5 mm eine Bruchdehnung von etwa 30 % ergäbe.
Bei Einschnürung einer Zugprobe hängt ihr Bruch-
dehnungswert A von der Relation der Länge ihres Bei Kunststoffen und Fasern wird die Dehnung der
Einschnürbereiches zur Messlänge ab. Die bleibenden Ausgangslänge bei Bruch Reißdehnung ε R (bzw. nach
Bruchdehnungen werden entsprechend der Messlän- Rückfederung AR ) genannt, bei der die Reißfestigkeit
ge l0 = 5d0 oder 10d0 , bzw. l0 = 50 oder 80 mm be- σR überschritten wird.

l0 = Anfangsmesslänge, lc = Versuchslänge, lt = Gesamtlänge, h = Kopfhöhe


a
Rz 6.3 Rz 6.3

d0 d1 b bK

R4 min Rz 6.3
R35 min
l0 h h
l0
h h
lc lc
a lt b lt

Abb. 15.55 Beispiele für Proportionalprüfstäbe nach DIN 50125; a Rundprobe mit Gewindekopf
√ und Messlängendurchmesser d0 , l0 = 5d0 ; b Flachprobe
mit Schulterkopf und Messlängenquerschnitt a · b , kurzer Proportionalitätsstab l0 = 5,65 a · b für a < 4 mm

Keramiken und gehärtete Stähle sind weder duktil noch a linear elastisch bis zur Dehn- bzw. Streckgrenze und
zäh, Gusslegierungen und Duromere zeichnen sich durch dann ideal plastisch ohne Verfestigung (Verfestigungs-
geringe Duktilität und Zähigkeit aus, dafür sind Thermo- exponent n = 0, am ehesten für reine Edelmetalle und
plaste leicht verformbar bei geringer Zähigkeit. Knetle- Stähle mit sehr niedrigem Kohlenstoffgehalt (< 0,02 %)
gierungen (Stähle, Aluminium-, Kupfer-Legierungen, . . . ) geeignet);
weisen je nach Wärmebehandlungszustand sehr unter- b linear elastisch bis zur Dehn- bzw. Streckgrenze und
schiedliche Duktilität und Zähigkeit auf. Werkstoffe mit dann linear plastisch mit konstantem Verfestigungs-
hoher Festigkeit und hoher Duktilität liefern das höchs- modul H (n = 1, am ehesten für Gusslegierungen, be-
te Zähigkeitsverhalten. Abbildung 15.54 gibt Beispiele für sonders Magnesium-Legierungen, aber nur für relativ
unterschiedlich verfestigte Kupfer-Legierungen. Dieses kleine, plastische Dehnungen geeignet);
Diagramm der 0,2-%-Dehngrenzen vs. Bruchdehnungen c Die Ramberg-Osgood-Näherung (RO) ermöglicht die
zeigt, dass höhere Festigkeit im Allgemeinen mit geringe- Berücksichtigung eines elastischen Bereiches mit nach-
rer Verformbarkeit (Duktilität) und Zähigkeit verbunden folgender Verfestigung nach einer Potenzfunktion der
ist. auf den E-Modul normierten Spannung mit einem Ver-
stärkungsfaktor CRO :
Die Verformungsbereiche der Metalle sind in Tab. 15.13
zusammengefasst. Die Duktilitätsbereiche können durch
σw  σ mRO
unterschiedliche Modelle simuliert werden, wie es εw = + CRO w .
Abb. 15.57 zeigt: E E
Werkstoffkunde
436

Tab. 15.13 Verformungsstadien und zugehörige Kenngrößen der Metalle [EN 10 002-1]
Verformungs- Mechanismen, Technische Technische Querdehnung Wahre Spannungs- Wahre Dehnung
bereich Energiedichte Spannungsbereiche Längsdehnung (Kontraktion) bereiche
Elastischer Bereich, Energie-Elastizität; Erstbelastung: Elastische Verformung Elastische Querkon- σw = AF ε w = ln(1 + ε n ) ∼
= εn
Hooke’sches Gesetz Verzerrung der σ = 0 bis Re oder Rpx ≡ innere Spannungen; traktion N Unterschied im
ΔA = σn 1 + σEn ∼ = σn
σ = Eε Atomabstände; (Ersatzstreckgrenze bei Δσn elastischen Bereich
Δεelast
n = Δl
l = E
ζ = 2AN < 0
0 Vernachlässigbare Dif-
0
σn Rpx σn ReH E-, G-, K-Modul; x = 0,2 % plastischer Ver- Poisson-Zahl ferenz zur technischen vernachlässigbar
elast
elast. Energiedichte formung); ν = −εζelast Spannung
σel ReL ep = R2p /2E; Rückfederung bei Entlas- im Allgemeinen
E E Spaltbruch, wenn

tung (bis zur verbleibenden ν < 0,5 ∼ =
K  Kc = σ πakrit. Dehnung); Volumenzunahme bei
x εn εn Bruchzähigkeit bei ungleichmäßigen plast. elast. Dehnung
(Abschn. 15.10) Verformungen bleiben Ei-
genspannungen
Plastische Verfor- Versetzungsbewegung σn = AF = f ( ε n ) plast. Dehnung bei Gleichmäßige Quer- σw = σn (1 + ε n ) < σn ε w = ln(1 + ε n ) →
0
mung (Duktilität) & -multiplikation: von ReH bzw. Rp0,x bis Rm ; maximaler Spannung schnittsverringerung, bei Zugverformung; ε w < ε n bei Zugverfor-
Verformungs- Verformungspotenzial aus Rm = Ag konst. Volumen durch σw ∝ εnw Verfesti- mung;
15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Rm verfestigung: Dehngrenzenverhältnis: (Gesamtdehnung bei plastische Verformung gungsexponent n bei Considère-Kriteri-


Spezifische Formände- ReH Rp0,x Rm = Agt ) ΔAN = − Δl; maximal bis Con- um: ε w = n |ε n | < |ε w |
Rp
rungsarbeit ungefähr: Rm oder Rm  1 Sprödbruch bei Rm : Verformungs- sidère-Kriterium bei Stauchverformung:
Ag Bei ferritischen Stählen Lü- w lplast
wF ∼
= 12 Ag (Rp + Rm ) Ag ∼
= A Bruchdehnung anisotropie bei σw = dσdε w ohne elast. ϕ = ln oder ln AN
dersband (Lüdersdehnung ε l0 A0
Blechen: rz = εbs Bereich Fließspannung
AL ) ReH bis ReL
ln kf = n. ln ϕ + ln Rp

Plastische Verfor- instabile Verformung: Schädigungsbeginn bei verbleibende Bruch- Bei duktilen Werk- Schädigungsbeginn ab Bei Volumenkonstanz
mung + Schädigung Einschnürung, Po- σn = Rm , anschließend dehnung A(> Ag ) ist stoffen lokale Considère Kriterium: (Scherverformung,
bis Bruch renbildung, innere & plastische Verformung mit von l0 abhängig; Querschnitts- Spannungsloka- Verformungs-
äußere Risseinleitung; Schädigung bis Bruchspan- übliche Angabe
√ verminderung lisierung durch porenvolumen
Rm „Zähigkeit“ ist nung (< Rm ) = duktiler A5 (l0 = 5,65 √A0 ) (Einschnürung) bis Einschnürung (σlokal vernachlässigbar)
z
gesamte Verformungs- Bruch; A10 (l0 = 11,3 A0 ) Brucheinschnürung steigt), mittlere εmax
w = (1 −z )
energiedichte bis Rückfederung von oder bei Blechen (A −A ) Spannung aus ε n bere-
z = 0A
0
Bruch: Bruchspannung bis Bruch- A50(mm) , A80(mm) (Sprödbruch z ∼ chenbar (sinkt):
= 0)
w∼= 12 A(Rp + Rm ) dehnung A (Freisetzung σ̄w = σn (1 + ε n );
Ag A elastischer Energie) σwmax = F = σn
A 1 −z
15.8 Plastische Verformbarkeit 437

Beispiel: Duktilitäts-Festigkeits-Zähigkeits-Banane

Je höher die Festigkeit von Metallen desto geringer um-Legierungen aufweisen (siehe Legierungstechno-
sind ihre Duktilität und Zähigkeit. Das ergibt die so- logie in Kap. 16). Die Duktilitäts- und Festigkeitswerte
genannte Duktilitäts-Festigkeits-Zähigkeits-Banane. der Stähle liegen innerhalb des gelb markierten Be-
reichs, der als „Duktilitäts-Banane“ bezeichnet wird.
Metalle können durch die Verfestigungsmechanismen
(siehe Abschn. 15.6) auf verschiedene Festigkeitsni- Die Bruchdehnung multipliziert mit einer mittleren,
veaus gebracht werden. Je höher die Festigkeit eines technischen Festigkeit ergibt für Metalle ein Maß
Metalls ist, umso geringer ist sein Verformungsvermö- für die gesamte, spezifische Verformungsarbeit w =
gen. Dieser Trend ist in Abb. 15.56 für gebräuchliche A[(ReL oder Rp0,2 ) + Rm ]/2 ((15.20), Abb. 15.51), die

Werkstoffkunde
Legierungen dargestellt. Die Bruchdehnung wird an- eigentlich aus dem Integral der wahren Spannungs-
stelle der Gleichmaßdehnung als Maß für das Verfor- Dehnungskurve vom Anfang der Verformung bis
mungsvermögen, die Duktilität, dargestellt. Die Zug- zum Bruch zu berechnen wäre. Die aus dem tech-
festigkeit repräsentiert den Verformungswiderstand. nischen Zugversuchskennwerten errechneten Energie-
Abbildung 15.56 zeigt den großen Wertebereich der werte stellen ein vergleichendes Zähigkeitsmaß dar,
Kohlenstoffstähle im Vergleich zu den relativ gerin- dessen Obergrenze vereinfacht mittels ARm errechen-
gen Duktilitäts- und Festigkeitswerten der Alumini- bar ist, wie es durch die rosa unterlegten Rechtecke
um-Knetlegierungen. Die austenitischen Stähle liegen in Abb. 15.56 dargestellt ist. Die höchstfesten Stähle
in der Duktilität signifikant über den anderen Stäh- weisen ein hohes Energieaufnahmevermögen bei plas-
len. Zwischen den Aluminium-Legierungen und den tischer Verformung auf und werden daher für crash-
austenitischen Stählen liegen die Aluminium-legier- taugliche Fahrzeugteile eingesetzt. Die gesamte Verfor-
ten Stähle. Die neuen, mehrphasigen Stähle zeichnen mungsenergie für die Karosseriebleche mit sehr nied-
sich durch höchste Festigkeit aus, wobei die Stähle mit rigem Kohlenstoffgehalt ist im unverformten Zustand
„transformation induced plasticity“ (TRIP) eine höhere fast ebenso hoch, wie das der thermomechanisch ge-
Duktilität und die vierfache Festigkeit von Alumini- walzten Bleche mit hoher Festigkeit.

100
90 Fe-Al-Stähle
IF
80
Bruchdehnung A80 in %

BH
70 LC
ULC austenitische Stähle
60
50
40
30 TRIP Stähle
Al-Blec
h
20 AW5xx e
x, 6xxx Dualphasenstähle
ZStE 260
10 mikroleg. Stähle ZStE 340 Komplexphasenstähle
thermomech. gewalzte Stähle
0
0 200 400 600 800 1000 1200
Zugfestigkeit Rm in MPa

Abb. 15.56 Die Abhängigkeit der Bruchdehnung A80 von der Zugfestigkeit zeigt für verschiedene Konstruktionslegierungen einen reziproken Verlauf. Die
rötlich unterlegten Rechtecke ARm dienen zum Vergleich der Zähigkeit der Stahlbeispiele mit niedrigster (ULC) und höchster Festigkeit (thermomechanisch ge-
walzte Stähle). Die Bruchdehnungs- und Zugfestigkeitswerte der Stähle (ausgenommen der austenitischen) liegen in dem gelb markierten Feld („Duktilitäts-
Festigkeits-Banane“). Stahlkurzzeichen: IF = interstitial free (ohne gelösten Kohlenstoff), BH = bake hardening (verfestigt beim Einbrennlackieren), LC = low
carbon (C < 0,02 %), ULC = ultra low carbon (C < 0,01 %), TRIP = transformation induced plasticity (Restaustenit klappt bei Verformung in Martensit um)

d Das Potenzgesetz nach Ludwik σw = CL εnw kann über bzw. Streckgrenze ergänzt werden. Die Verfestigung
den Verformungsbereich bis zum Schädigungsbeginn wird in einem bestimmten Dehnungsbereich durch den
beim Considère-Kriterium angewandt werden. Es kann Verfestigungsexponenten n (∼
= 1/mRO ) charakterisiert,
mit einem linear elastischem Beginn ε · E bis zur Dehn- der aus einer doppellogarithmischen Darstellung der
438 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Abb. 15.57 Modelle zur


σ σw H · εw dul
Simulation der wahren Span- σ w = ngsmo
nungs-Dehnungskurve; a ideal σn = σw = konst. g u
esti
plastisch; b linear plastisch; Rp Rp
H Verf
c Ramberg-Osgood Näherung

ε
(mit Spannungsexponent m für linear elastisch + linear elastisch +

ε


die Verfestigung); d Potenzgesetz ideal plastisch linear plastisch

σ=

σ=
nach Ludwik (Verfestigungsexpo- (keine Verfestigung) (lineare Verfestigung)
nent n für die wahre Dehnung) a ε b ε

Verfestigungsexponenten “n”: σw = CL · εwn


σw σw
“m”: bzw. ln σw = ln CL + n ·ln εw
Rp εw = σw/E + CRO (σw/E )m
Werkstoffkunde

Ramberg-Osgood Gesetz Potenzgesetz nach


(additiver elastischer Ludwik (kein linear
Bereich zu Potenzgesetz) elastischer Bereich)

c εw d εw

wahren Spannungs-Dehnungskurve abgelesen werden beispielsweise durch Tiefziehen (siehe Abschn. 30.3) ist
kann: ln σw = n ln ε w + ln CL . Wird nur die plastische nicht nur ein hoher n-Wert von Vorteil, sondern auch ei-
Verformung betrachtet, stellt das Potenzgesetz eine Be- ne geringe Anisotropie bei der plastischen Verformung
ziehung zwischen Fließspannung und logarithmischer (Anisotropiefaktor r im Bonusmaterial: Verformungsani-
Dehnung dar: ln kf = n ln ϕ + ln C , wobei C ∼ = Rp sotropie und Gl. (30.85)).
gilt. Für Stauchverformungen (Ziehen, Walzen) kann
die logarithmische Verformung aus der Querschnitts-
verminderung ermittelt werden (ϕ = ln AN /A0 ). Der Verfestigungsexponent n (nach Ludwik) und
der r-Wert (Lankford-Koeffizient) sind zusammen
mit Ag (bzw. A) wichtige Kenngrößen für die Kalt-
verformbarkeit von Blechen.
Kennwerte für die Umformbarkeit von Metallen
In Tab. 15.14 sind Umformbarkeitskennwerte ausgewähl-
Die Verfestigung während der Verformung verteilt die ter Knetlegierungsbeispiele angeführt: Rp0,2 ist vernach-
plastischen Dehnungen in einem Blech gleichmäßiger, lässigbar größer als der minimale Wert der Fließspannung
wenn der n-Wert (Verfestigungsexponent aus dem Po- kf für plastische Verformung; die Gleichmaßdehnung Ag
tenzgesetz nach Ludwik, Abb. 15.57d) relativ hoch ist gibt die maximale Dehnbarkeit bei einachsiger Verfor-
(n > 0,2), da in den höher verformten Bereichen auch der mung an, wobei keine Werkstoffschädigung eintreten soll;
Verformungswiderstand wächst, sodass sich die Verfor- die bei der Verformung maximal erforderliche, spezi-
mung in die weniger festen Bereiche verlagert. Maße für fische Formänderungsarbeit wF wurde näherungsweise
das Verfestigungsvermögen durch Verformung sind auch aus dem technischen Spannungs-Dehnungsdiagramm er-
das Streckgrenzenverhältnis Re /Rm und das Dehngren- mittelt; aufgeführt ist auch der Verfestigungsexponent
zenverhältnis Rp0,2 /Rm . Je kleiner es ist, umso größer ist n nach Ludwik. Aus dem Dehngrenzenverhältnis ergibt
das Potenzial der Verformungsverfestigung. Werte nahe sich die maximale Verfestigung der technischen Span-
1 ergeben sich sowohl für nahezu ideal plastische Werk- nung (Rm ). Aus dem Vergleich zwischen dem AW6082-
stoffe, die sich kaum verfestigen, als auch für spröde Blech und dem Feinblech aus Stahl ist zu erkennen, dass
Materialien, die keine oder nur eine geringe Plastifizie- sich das Stahlblech bei geringer Kraft 2,5-fach mehr ver-
rung zulassen. Bei Blechen, die verformt werden sollen, formen lässt als das Aluminium-Blech, das aber einen

Tab. 15.14 Umformbarkeitskennwerte typischer Knetlegierungen und für den Turbolader-Turbinenwerkstoff IN718
Knetlegierungen 0,2 % Dehngrenze Gleichmaßdehnung Formänderungsarbeit Verfestigungs- Dehngrenzen-
Rp0,2 in MPa Ag in % näherungsweise wF exponent n verhältnis
in MJ/m3 Rp0,2 /Rm
AW6082 (AlMgSi1) 280 12 38 0,2 0,8
DC04 Feinblech (S185) 185 30 80 0,15 0,5
IN 718 Superlegierg. (LB a) 1000 15 110 0,1 0,8
15.9 Bruchvorgänge in Werkstoffen 439

etwas höheren Verfestigungsexponenten bietet. Die Ni- a


ckel-Basis-Superlegierung ist in der Tab. 15.14 als Beispiel
einer höchstfesten kubisch flächenzentrierten Legierung
angeführt, die im Allgemeinen warm umgeformt wird,
um geringere Verformungsenergie zu benötigen.

15.9 Bruchvorgänge in Werkstoffen


Was einem Maschinenbau-Ingenieur nicht passieren darf,
ist der Bruch eines von ihm ausgelegten Bauteils, wäh-

Werkstoffkunde
rend es ordnungsgemäß eingesetzt wird. Oft wird die
Versagensursache in Materialfehlern vermutet, aber die
Schadensstatistik zeigt, dass abgesehen von nicht geplan-
ten Überlastungen durch den Maschinenbetreiber, etwa b c
90 % der Schadensfälle auf ungenügende Berücksichti-
gung der normalen Beanspruchung und somit auf Fehler Abb. 15.58 Beispiele für Maschinenbruch; a Aufpralltest eines Pkw mit
in der Bauteilauslegung bzw. in der Werkstoffauswahl zu- Knautschzone zum Schutz der Passagiere ; b Bruchstück eines Zahnrades (Insert )
aus gehärtetem Stahl in einem Getriebe; c Windkraftanlage mit gebrochenem
rückzuführen sind. Für sicherheitsrelevante Bauteile ist Rotorblatt aus Kunststoffmatrix-Faserverbundwerkstoff mit vielen, zerklüfteten
sogar der Versagensfall so zu berücksichtigen, dass mög- Rissen
lichst wenig Schaden angerichtet wird, besonders dass
das Leben und die Gesundheit der involvierten Personen
geschützt wird. lastung höchstfester Werkstoffe auf, die nur eine gerin-
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Versagens- ge Zähigkeit besitzen (z. B. gehärtete Stähle, Abb. 15.51).
mechanismen der Werkstoffe haben in der zweiten Hälf- Zur Veranschaulichung einer sicherheitsbewussten Kon-
te des vorigen Jahrhunderts wesentlich dazu beigetragen, struktion betrachten Sie eine Vorderradgabel eines Fahrra-
dass Maschinen trotz der gestiegenen Leistungsanforde- des: Wenn sie durch zu rasches Fahren über ein größeres
rungen sicherer wurden. Abbildung 15.58a veranschau- Schlagloch oder über den Randstein überlastet wird, dann
licht ein allgemein bekanntes Beispiel dafür: die sogenann- soll sie nicht gleich nach Überschreiten der Dehngrenze
te Crash-Sicherheit eines Pkws. Ein Kleinwagen aus den des Werkstoffes brechen. Sie soll sich verformen und kann
Jahren vor 1980 wurde im Allgemeinen nur darauf aus- Risse bekommen, aber nicht komplett brechen. Aufgrund
gelegt, ausreichend schnell zu fahren und die Passagie- der Zähigkeit des Werkstoffes soll die Verformungsenergie
re vor Unwettern zu schützen, aber weniger gegen Ver- verhindern, dass der Radfahrer abrupt vornüber herunter-
letzungen bei Zusammenstößen (denken Sie an den 2CV fällt und schwere Verletzungen erleidet.
von Citroen, den Mini von Cooper oder das Goggomobil
vom Hersteller Glas). Heute ist das Bestehen von Aufprall-
tests vorgeschrieben und die Konstrukteure sehen stabi-
le Kabinenrahmen vor, aber auch Knautschzonen, durch Duktiler Bruch nach Überschreiten
deren Verformung soviel Aufprallenergie absorbiert wer- der maximalen Werkstofffestigkeit
den kann, dass die Passagiere durch den Aufprallimpuls
keinen zu großen Schaden erleiden. Die Karosserie um
die Passagierkabine muss Verformungsenergie aufneh- Abbildung 15.59a skizziert einen Werkstoffquerschnitt mit
men können, was mit festen und zähen Werkstoffen er- Einschlüssen, deren E-Modul und Elastizitätsgrenze hö-
zielt wird, die während der Verformung viel Stoßenergie her sind als die der umgebenden Matrix. Unter einer äu-
(Impuls) absorbieren können. Die quantifizierbare Werk- ßeren Zugspannung verformt sich das Metall mehr als
stoffkenngröße hierfür ist die gesamte Verformungsener- die Einschlüsse. Die Versetzungsstaus an den Grenzflä-
gie bis Bruch, die Zähigkeit (Abschn. 15.8, (15.20)). Selbst chen erzeugen Poren (Abb. 15.59b), was auch an Korngren-
ein allfälliger Bruch eines Rotorblattes einer Windturbine zen zwischen unterschiedlichen Gleitsystemen geschehen
(Abb. 15.58c) soll nicht zulassen, dass große Bruchstücke kann (Abb. 15.59c). Mit zunehmender Verformung wach-
durch die Zentrifugalkraft in die Umgebung geschossen sen die Poren und die Scherverformung nimmt mit der
werden. Der Bruchvorgang soll soviel Zeit beanspruchen, lokalen Querschnittsschwächung zu. Es kommt zur Ein-
dass die Turbine rechtzeitig automatisch gestoppt wird. schnürung und schließlich zum Bruch des Restquerschnit-
Abbildung 15.58b zeigt ein Getriebe, das durch den sprö- tes zwischen den Poren (Abb. 15.59d–g). Dieses Versagens-
den Bruch eines Zahnrades versagte. Brüche ohne vor- modell nach A. L. Gurson (Gurson-Modell) kann mittels
hergehende, plastische Verformung treten meist bei Über- Röntgen-Computertomografie (Abb. 15.59f, g) abgebildet
440 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

innerhalb der Gleichmaßdehnung:


F
steifere und festere Ein-
schlüsse als Matrixmetall

e 10 ˜m

Einschnürung Bruchfläche
im durch duktiler Bruch:
Poren Grübchen mit Einschlüssen f
geschwächten
Querschnitt

a b d
1 mm
plastisch verformtes Korn Nachbarkorn
Werkstoffkunde

(oder harter Einschluss) g


Porenbildung an schwer
Korngrenze
verformbaren Einschlüssen
g
(Versetzungsstau) nnun ngsstau
bspa u
Schu Versetz nicht aktivierte
Gleitebene
le
quel
etzungs Gleitebene
Vers
lokalisierte Abscherung
der Matrix an festeren Bereichen Verformungspore
c (z.B. Nachbarkorn, 2. Phase, Einschlüsse) 1 mm

Abb. 15.59 Schematische Darstellung eines duktilen Bruchs eines Metalls mit Porenbildung nach Gurson; a Messlängenabschnitt eines Zugstabes mit spröden Ein-
schlüssen (Punkte ); b Porenbildung an den Einschlüssen in Verformungsrichtung (rot ); die lokale Abnahme des tragenden Querschnittes erhöht die wahre Spannung
und damit die Verformung um die Einschlüsse; c Entstehung von Verformungsporen: Ähnlich wie Einschlüsse wirken Korngrenzen, an denen sich Versetzungsstaus
und Poren zwischen verschieden orientierten Gleitsystemen bilden; d Wachsende Poren verursachen Dehnungslokalisierungen bis der verbleibende Querschnitt
abschert. Metallografische Befunde hierzu für eine gebrochene Stahlzugprobe: e REM-Fraktografie zeigt Grübchen und Zipfeln; f Röntgen-Computer-Tomografie
einer Zugprobenhälfte zeigt in Zugrichtung gestreckte Poren im Längsschnitt und g in dreidimensionaler Rekonstruktion der Verteilung der Poren (rot, > 25 µm
Durchmesser) im Einschnürbereich

werden. Die Verformungsporen werden wegen der gerin- Bereich plastisch, sodass er dabei eine Verformungsver-
gen Röntgenabsorption deutlich sichtbar. Der Volumen- festigung erfährt, die den Riss stoppen kann. Steigt die
anteil der Verformungsporen nimmt mit der Einschnü- Spannung an der Rissspitze aber weiter, wird der Riss
rung zu. Nach dem Bruch werden die aufgerissenen Po- durch lokale Versetzungsbewegungen entlang Scherbän-
ren als Grübchen in der duktilen Bruchfläche im Raste- dern vergrößert. In Abb. 15.60b schreitet der Riss über
relektronenmikroskop sichtbar (Abb. 15.59e, siehe auch sich bildende Poren voran (analog zum Gurson-Modell
Abb. 15.66c, im Bonusmaterial: Rasterelektronenmikro- in Abb. 15.59). Das Metall verformt sich über Verset-
skopie Abb. 15.10a, sowie im Bonusmaterial: Fraktografie zungsbewegung zwischen den Poren, bis der Material-
und Zeitfestigkeit, Abb. 15.14), in denen mit REM gele- querschnitt so klein wird, dass die Zugfestigkeit lokal
gentlich Einschlüsse erkennbar werden, an denen die Po- überschritten wird und die Metallbrücken vollkommen
ren entstanden. abscheren. Die Rissfläche erhält eine duktile Grübchen-
Zipfel-Struktur wie in Abb. 15.59e und 15.66c gezeigt. Ein
Die lokalen Spannungsverhältnisse an einer Rissspitze derartiger Rissfortschritt kann auch auf Korngrenzen be-
(sowohl an einem äußeren Riss wie an einem inneren schränkt bleiben, wo er mikroduktile Rissflächen entlang
Riss oder einer Pore) sind in Abb. 15.60 skizziert. Ursache der Korngrenzen bildet (siehe Bonusmaterial: Rasterelek-
für den Rissfortschritt ist die Konzentration der Zugspan- tronenmikroskopie, Abb. 15.10a).
nung am inneren Oberflächensegment der Rissspitze, das
in etwa parallel zur globalen Spannung orientiert ist. Der Rissfortschritt in Thermoplasten erfolgt ähnlich.
Diese Spannungskonzentration erzeugt in Metallen lokal Wenn keine spröden Einschlüsse enthalten sind, an de-
plastische Verformungen, obwohl die äußere Kraft den nen sich Poren bilden könnten, entstehen innere Ris-
Gesamtquerschnitt nur elastisch dehnt. In Abb. 15.60a se durch das Aufbrechen der Van-der-Waals-Bindungen
wird der duktile Rissfortschritt über lokale plastische Ver- (siehe Abschn. 14.3) zwischen den Polymerketten. Die
formung der Kristallkörner dargestellt. Die Spannung in Spannungskonzentrationen an den Rissspitzen steigen
einem kleinen Materialvolumen an der Rissspitze über- mit der äußeren Spannung und der Rissgröße, bis auch
schreitet die Elastizitätsgrenze, dabei verformt sie diesen die Primärbindungen des Materials aufbrechen.
15.9 Bruchvorgänge in Werkstoffen 441

Abb. 15.60 Schematische Dar- σlokal σ > Rp0,2 Fließgrenze σlokal Rissfortschritt
stellung des duktilen Wachstums an der Rissspitze des verfestigten σlokal Rm durch Gleit-
eines Risses a um δa ; a Rissspit- F Rp(rp) Werkstoffes an vorgänge (analog
Plastifizierung Rp(rp)
ze mit Spannungslokalisierung der Rissspitze Einschnürung)
im plastischen Verformungsbe- σ σ
reich (σSpitze >Rp ) führt zu einer
Rissaufweitung mit lokaler Ver- r r
festigung vor der Spitze, bis der a a + δa
Riss durch Scherbänder weiter
wächst, sobald σSpitze ∼ = Rm a
F F
erreicht; b Plastifizierung der
Rissspitze führt zur Porenbildung σlokal Rm Zusammenwachsen von
σlokal = Rm
an Einschlüssen bis zwischen den F vor der F an der Hohlräumen in der
Poren σSpitze ∼= Rm ist und sich Rissspitze plastische Zone plastischen Zone
Rissspitze

Werkstoffkunde
ein mit Grübchen behafteter Riss Rissfortschritt
ausbreitet
Einschlüsse
Poren
rp F
F
b

Der Rissfortschritt kann in Verbundwerkstoffen Spannungskonzentration an der Rissspitze reicht nicht,


behindert werden um die Verstärkungsfaser zu brechen, aber um die Haf-
tung zwischen Faser und Matrix zu lösen. Die abge-
lenkten Risse entwickeln ein verzweigtes Rissnetzwerk.
Verbundwerkstoffe können so ausgelegt werden, dass die Die Zunahme der inneren Rissoberfläche nimmt relativ
Verstärkungskomponente ein Hindernis für den Rissfort- hohe mechanische Energie auf, was den Rissfortschritt
schritt darstellt. Abbildung 15.61a zeigt das Beispiel einer quer zur äußeren Kraft verzögert. Das CFK-Monocoque
spröden Matrix (Duromer oder Keramik) mit elastisch eines Formel-1-Fahrzeuges absorbiert relativ große Schä-
verformbaren Einlagerungen, die die Rissflächen verbin- digungsenergie beim Totalversagen, sodass es für den
den und somit die Spannungskonzentration an der Riss- Lenker hohe Crash-Sicherheit bietet. Die zerklüfteten Ris-
spitze vermindern. Elastomere oder hochfeste Fasern in se im Rotorblatt der Windkraftanlage in Abb. 15.58c sind
Duromeren bzw. Kurzfasern in Keramiken können Risse auf den Mechanismus der Rissverzweigung zwischen Fa-
überbrücken und damit die Rissspitze entlasten. Das Bei- sern und der Duromermatrix zurückzuführen.
spiel einer Matrix (Thermoplaste, Duromere, Metalle) mit
spröden, hochfesten Fasern (Kohlenstofffasern oder Kera-
mikfasern) ist in Abb. 15.61b schematisch dargestellt. Die
Innere und äußere Kerben erhöhen die
Rissempfindlichkeit von Bauteilen
F Spannungsabbau durch
Rissüberbrückung
Abrupte Querschnittsveränderungen von Bauteilen rufen
bei äußerer Belastung Spannungskonzentrationen hervor,
die Risse einleiten können. Die Kerbempfindlichkeit von
F Flachprodukten und Rundproben kann mit einem Kerb-
a Elastomere in Polymeren oder Fasern in Keramik zugversuch geprüft werden. Abbildung 15.62 zeigt sche-
matisch Längsschnitte mit äußeren Kerben einer Flach-
F duktile probe oder mit einer Ringnut einer Rundprobe, sowie
Matrix eine Bohrung (innere Kerbe), die die Querschnitte A0 auf
Faser

Faser

Faser

Ak vermindern. Der angelegten Zugkraft F entspricht in


der ungekerbten Probe eine mittlere Spannung σ0 . Im
F
Rissumlenkung verjüngten Querschnitt, der der gleichen Kraft F ausge-
b Faserverbundwerkstoffe entlang der Fasern setzt ist, ergibt sich eine Spannungserhöhung auf σmax
am Kerbgrund, die von Ausmaß und Form der Verjün-
Abb. 15.61 Schematische Erklärung der Zähigkeitserhöhung in Verbundwerk-
stoffen; a spröde Matrix mit elastisch verformbaren Einlagerungen, die den Riss
gung abhängt. Das Verhältnis dieser Spannung σmax zur
überbrücken; b Ablenkung des Rissfortschritts quer zur äußeren Spannung in die Nennspannung σ0 charakterisiert die Kerbwirkung und
Faser-Matrix-Grenzfläche, was zu einer Rissverzweigung führt, die die Energie- wird als Formzahl αk bezeichnet. Wenn σ (Ak ) die Elas-
freisetzungsrate erhöht und damit den Rissfortschritt erschwert tizitätsgrenze eines duktilen Werkstoffes überschreitet,
442 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

σ F σ F σlokal
σ σ σ~ (theoretische Festigkeit
aufgrund der Atombindungen)
σ'max σ'max
σmax σ' σmax σ
σ'
Rp0,2 Rp0,2 F r
r = r0 Atomabstand
Spannung σ

σ0 a
A0 A0

a
Ak
Atomreihen lassen
Ak sich trennen bei ca. E/15
Werkstoffkunde

σmax F σ
αk = σ0 < E/15

F F E = σ/ε
b
Abb. 15.62 Schematische Darstellung der Spannungserhöhung an äußeren
und inneren Kerben einer Kerbzugprobe und Definition der Formzahl αk . Über- σ
schreiten die Spannungsspitzen die Dehngrenze, erfährt die Probe dort Verfesti-
gung (Rp0,2 ), und es kommt zu einer Spannungsumlagerung (rot ) c
ε
δa Uelastisch = (σ 2/2E) · a2π· t/2
wird der Kerbgrund stärker verformungsverfestigt, so- spannungsfreies Volumen
t
dass dort Rp0,2 erhöht wird. Die plastische Verformung
wird dann nur bei weiterer Belastungssteigerung fortge- δU/δa = aπ · σ 2 t/2E =
setzt. Erst wenn σmax die Zugfestigkeit Rm überschreitet, a
|K2I = aπ · σ 2|
kommt es zu fortschreitender Schädigung an der Kerbe
bis zum Bruch. Bei kleiner Formzahl (nahe 1) und duk- = K2I t/2E = GK · t/2
tilen, stark verfestigenden (hoher Verfestigungsexponent
d
n) Werkstoffen kann die Kerbzugfestigkeit Rkm (αk ) die
Zugfestigkeit einer ungekerbten, nicht verformten Probe Abb. 15.63 Schematische Darstellung der Spannungskonzentration an einer
geringfügig übersteigen. Für sprödes Material bedeutet Rissspitze: a, b Vergleich der Spannungskonzentration mit Atombindungen, die
eine Kerbe oft den frühzeitigen Bruch ohne Anzeichen ei- die theoretische Festigkeit (∼= E /15) der Bindungskräfte übersteigt. c, d Entlang
ner Plastifizierung. der Rissspitze ist der elastisch verformte Werkstoff näherungsweise in einem Be-
reich einer Zylinderhälfte (a 2 π t /2) quer zur äußeren Kraft entlastet, dadurch
verlagert sich die elastische Energie in die Rissspitze; deren Änderung δU bei
Rissverlängerung δa definiert den Spannungsintensitätsfaktor KI und die Ener-
giefreisetzungsrate GK
Spaltbruch passiert ohne plastische
Verformung – Bruchzähigkeit
der Werkstoffe im elastischen Verformungsbereich durch
die linear-elastische Bruchmechanik zu quantifizieren.
Wenn am Kerbgrund oder an einer Anrissspitze der Span- Andererseits gibt es Anwendungen, bei denen geringe
nungsanstieg σmax nicht durch plastische Verformung Bruchzähigkeit genutzt wird: zum Abbrechen von An-
abgebaut werden kann, sondern so hoch wird, dass die guss- und Überlaufkanälen von Gussteilen, zum Öffnen
Atom- oder Molekülbindungen aufbrechen, dann tritt von Metalldosen oder Kunststoffverpackungen (Letzte-
Spaltbruch ein. Ein derartiges Werkstoffversagen ist be- res funktioniert oft nicht, weil der Kunststoff durch die
sonders gefährlich, da es bei Nennspannungen unterhalb Luftfeuchtigkeit zäher wird), Bolzen mit Sollbruchstelle
der Elastizitätsgrenze auftritt. Maschinenteile werden üb- etc.
licherweise so ausgelegt, dass die Werkstoffe unterhalb
der Elastizitätsgrenze belastet werden, sich also nur elas- Abbildung 15.63 erklärt die Ursache des Spaltbruchs: An
tisch verformen. Spaltbruch ereignet sich im elastischen der Spitze eines Risses der Länge a konzentriert sich
Verformungsbereich, wenn lokal hohe Spannungskon- die Spannung in dem Ausmaß, wie sie entlang des Ris-
zentrationen auftreten. Druckkessel, Schiffsrümpfe, Flug- ses durch diesen im Materialquerschnitt abgebaut wurde.
zeugteile, Pipelines etc. sind auf diese Weise katastrophal Die durch die Zugspannung σ erzeugte elastische Ener-
zu Bruch gegangen. Erst in der zweiten Hälfte des vo- gie muss in der Zylinderhälfte im Material der Dicke t
rigen Jahrhunderts ist es gelungen, die Leistungsgrenze (Rissbreite) mit dem Radius a von der Rissspitze aufge-
15.9 Bruchvorgänge in Werkstoffen 443

nommen werden (Abb. 15.63d): Eine Möglichkeit der Bestimmung der Bruchzähigkeit
wird im Beispiel Bruchzähigkeitsmessung beschrieben.
a2 π (f σ )2 Die kritische Risslänge für Keramiken ist am kleins-
Uelast = ·t· .
2 2E ten (<0,1 mm), für Polymere liegt sie zwischen 0,1 mm
und 10 mm, für Metalle zwischen 1 mm und 1 m. Ab-
Der dimensionslose Faktor f korrigiert die Spannung ent-
bildung 15.64 zeigt, dass√ für Keramiken, Polymere
sprechend der Form des Risses, wobei für eine scharfe,
und Hölzer KIc < 10 MPa m gilt. Polymermatrix-Ver-
geradlinige Rissspitze f = 1 ist. Zum Unterschied zur Pla-
bundwerkstoffe
√ weisen in Faserrichtung KIc -Werte über
stifizierung an der Rissspitze (Abb. 15.60) erhöht eine
10 MPa m auf, während die Eisenbasiswerkstoffe nahe-
differenzielle Rissverlängerung δa die elastische Energie
zu zwei Größenordnungen √ überstreichen: vom weißen
an der Rissspitze um
Gusseisen mit KIc ∼ = 10 MPa√ m bis zum Druckbehälter-
δU t G stahl mit KIc ∼ = 200 MPa m. Die zugehörige kritische
= K2 · = t· K.

Werkstoffkunde
(15.22) Energiefreisetzungsrate GKc = KIc 2 /2E (erforderliche
δa 2E 2
Energie zur Vergrößerung der Rissoberfläche, d. h. zur
Hierfür
√ wird der Spannungsintensitätsfaktor K = f · Rissvergrößerung) kann zum Vergleich der Zähigkeit von
σ aπ und die Energiefreisetzungsrate GK (Energieauf- Werkstoffen herangezogen werden. Werkstoffe, die auf
wand pro neu gebildeter Rissoberfläche) eingeführt. einer Linie gleicher kritischer Energiefreisetzungsrate lie-
Die Maßeinheit des Spannungsintensitätsfaktors ist nach gen, brauchen die gleiche Energie zum Risswachstum,

(15.22) daher MPa m = MNm−3/2 . Wenn die Span- d. h., je größer GKc , desto höher ist der Widerstand gegen
nungskonzentration an der Rissspitze nicht durch Plasti- das Risswachstum sowohl im elastischen als auch im plas-
fizierung abgebaut wird, sondern die Bindungskraft im tischen Bereich. Für Konstruktionswerkstoffe soll GKc zu-
Werkstoff übersteigt, bricht er mit Schallgeschwindigkeit. mindest in der Größenordnung von 1 kJ/m2 sein, sodass
Dies definiert die Obergrenze des Spannungsintensitäts- Keramiken kaum eingesetzt werden können, obwohl sie
faktors: den kritischen Spannungsintensitätsfaktor oder gleiche Bruchzähigkeitswerte wie Polymere aufweisen.
die Bruchzähigkeit Kc als Werkstoffkenngröße. Für Zug-
beanspruchung senkrecht zu einem Anriss (Richtungs-
symbol römisch eins: I wie in Abb. 15.63) ist die Bruch-
zähigkeit KIc ein Werkstoffkennwert. Da Re oder Rp0,2 die
Elastizitätsgrenze (Rp ) kennzeichnen, kann eine kritische
Elastizitätsgrenze und Bruchzähigkeit
Rissgröße akrit definiert werden, bei der Spaltbruch ein- begrenzen die statische Belastbarkeit der
tritt: Werkstoffe

KIc = f · Rp akrit π.
Die statischen Belastungsgrenzen für Konstruktionswerk-
stoffe sind einerseits die Streck- oder 0,2-%-Dehngrenze
300 (vereinfacht Elastizitätsgrenze Rp ), da für Bauteile im
rostfreier Stahl Einsatz nur elastische Verformungen zulässig sind. Dar-
Druckbehälter über hinaus besteht in Gegenwart von Kerben Spalt-
Stähle
Bruchzähigkeit KIc in MPa ¥ m

Grauguss mit
²

100 Kugelgraphit bruchgefahr, sobald der Spannungsintensitätsfaktor die


normalgeglühte
Epoxid/HS-C/65f-UD C-Stähle, Baustahl Bruchzähigkeit erreicht. Abbildung 15.65 vergleicht die
Aluminium- martensitische Kennwerte eines Baustahls (S235), mit denen einer hoch-
2 Legierungen Stähle
kJ/
m
Mg- C-Vergütungsstähle, festen AlSiMg1-Legierung und eines Druckkesselstahls.
0 0
c =1 / m
2 Legierungen hochfeste Stähle Der Baustahl ist wesentlich schadenstoleranter (kritische
GK J
= 5k weises Risslänge über 70 mm) als die Aluminium-Legierung (kri-
Kc Gusseisen
10 PolypropylenG tische Risslänge über 5 mm). Der Druckkesselstahl ist
GFRP CFRP
Si3N4
sowohl hochfest als auch zäh. Er ist erst ab Risslängen
Holz (SMC) J/m
2

1 k über 30 mm spaltbruchgefährdet (siehe Beispiel: Leck vor


= Al2O3
Polymere G Kc Bruch). Zum Vergleich sind in Abb. 15.65 auch die Be-
Keramik Diamant lastungsgrenzen für Epoxid (als Duromerbeispiel) und
Epoxid Siliziumnitrid (als Keramikbeispiel) eingetragen. Da sich
1 diese Werkstoffe nicht plastisch verformen, wird der zu-
1 10 100 1000 lässige Spannungsbereich durch eine mittlere Bruchfestig-
E-Modul in GPa
keit begrenzt, aber mehr noch durch kleine Kerben und
Abb. 15.64 Gegenüberstellung der Bruchzähigkeitswerte verschiedener Werk-
Defekte. Hochqualitatives Si3 N4 ist bereits ab 20 µm tie-
stoffe mit unterschiedlichem E -Modul in doppellogarithmischer Darstellung fen Ritzen spaltbruchgefährdet, Epoxid ab 0,2 mm tiefen
nach (Wanner 2006) mit Linien (Strichpunktlinie ) gleicher kritischer Energiefrei- Kerben. Hier zeigt sich einer der wesentlichen Sicherheits-
setzungsrate GKc vorteile metallischer Werkstoffe.
444 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

800
Keramik Baustahl AlSiMg1
bei ferritischen Stählen und Duromeren auftreten
bricht Druckbehälterstahl Epoxid (Abb. 15.66a).
700 Siliziumnitrid b) Intergranularer Spaltbruch erzeugt glatte Flächen
Zugspannung in MPa

plastische Verformung σ > Re entlang der Korngrenzenflächen; kann bei ferriti-


600
e l a s t.
Spalt schen Stählen und bei Keramiken mit Korngrenzen-

Spal
500 elastischer Verformungsbereich defekten auftreten (Abb. 15.66b).
Be re
bruc

tbruc
(Druckkesselstahl)
Duktile Brüche mit plastischer Verformung:
ic h
h Si 3 i 3N 4

hK
400 c) transgranularer Duktilbruch nach dem Gurson-Mo-
f ür
N4

>Kc
σ > Rp0,2 plastische
S

Verformung dell ist an den Grübchen und Verformungszip-

(Dr
300 (AlSiMg1)
elast. Bereich für AlSiMg1 σ > Re (S235) feln quer über die Bruchfläche erkennbar; kann

uck
ke
Sp
bei allen Metallen und Thermoplasten auftreten

sse
alt
200 elast. Bereich pa ru sta

l
für Baustahl ltb ch h
ruc
hK K > l) (Abb. 15.66c).
K
Werkstoffkunde

100 Epoxid bricht >K c


Spaltb c (AlS
iMg1) d) intergranularer Duktilbruch, bei dem nur die Korn-
elast. Bereich ruch
für Epoxid grenzen mikroduktil verformen und der Bruch ent-
0
0,01 0,1 1 10 100 1000 lang der Korngrenzenflächen verläuft; Grübchen
kritische Risslänge in mm und Zipfel sind meist so klein, dass sie nur im Raste-
relektronenmikroskop erkennbar sind (siehe Bonus-
Abb. 15.65 Vergleich der statischen Belastungsgrenzen für Baustahl S235 material Rasterelektronenmikroskopie, Abb. 15.10a).
(rot ), Aluminium-Knetlegierung AlSiMg1 (grün ), Druckkesselstahl (blau ), Silizi- Dies unterdrückt bei manchen Metallen eine ma-
umnitrid (gelb ) und Epoxid (rosa ); konstruktiv nutzbar ist der elastische Bereich
kroskopische Einschnürung, was als Sprödbruch be-
unterhalb der Streck- oder 0,2-%-Dehngrenze für Metalle bzw. der mittleren
Bruchfestigkeit für Duromere und Keramiken (horizontale Elastizitätsgrenzen) zeichnet wird.
sowie unterhalb der Bruchzähigkeit für kritische Risslängen bei Oberflächende- e) Scherbrüche (vernachlässigbare Porenbildung)
fekten oder geometrischen Unstetigkeiten durch Gleiten zahlreicher Versetzungen in den
Ebenen größter Schubspannung (ca. 45° zur äu-
ßeren Spannung); im Allgemeinen mit starker
Einschnürung verbunden; bei Elastomeren und rei-
Verschiedene Mechanismen der Rissentstehung nen Metallen beobachtbar, besonders bei höheren
und des Risswachstums Temperaturen (Abb. 15.66d). Ein duktiler Einkristall
kann entlang der zur äußeren Spannung am güns-
tigsten gelegenen Gleitebene ohne Einschnürung
Werkstoffe können auf verschiedene Weise brechen, wie
abscheren (Abb. 15.66e).
in Abb. 15.66 dargestellt ist:

Spaltbrüche ohne plastische Verformung: In Abb. 15.67 werden die Bruchmechanismen für Proben
a) Transgranularer Spaltbruch (durch die Kristallkör- mit einem inneren Riss (analog für äußeren Anriss) aus
ner) erzeugt glatte, glänzende Bruchflächen; kann verschiedenen Werkstoffen verglichen:

Abb. 15.66 Schematische Dar-


Spaltbruch duktiler Bruch mit Porenbildung Scherbruch
stellung der Bruchmechanismen
und zugehörige mikroskopische trans- inter- trans- inter- lokalisierte, makroduktile
Aufnahmen; a transgranularer granular granular granular granular Scherverformung
Spaltbruch mit REM-Fraktografie; b
intergranularer Spaltbruch mit REM- Korn- Ein-
Fraktografie; c trans- und intergra- grenzen kristall
nularer Duktilbruch, mikroduktile
Grübchen und Zipfeln in der REM- σ
Fraktografie; d Scherverformung mit
Einschnürung und zugehöriger licht-
mikroskopischer Längsschnitt einer
Bruchhälfte eines weichen Stahles: a b c d e
e Abscherung an einer Gleitebene
eines Einkristalls Fraktografien von Stählen mikroduktile Grübchen
50 µm
transkristallin interkristallin
Einschnürung
durch Abscherung

20 µm d 1 mm
a b c
15.9 Bruchvorgänge in Werkstoffen 445

linear elastische LEBM mit elastisch-


Bruchmechanik Kleinbereichs- plastische
(LEBM) fließen Bruchmechanik

Belastung

Belastung

Belastung

Belastung
(EPBM) plastische
Grenzlast
(Scherbruch,
keine
Rissausbreitung)

a Dehnung b Dehnung c Dehnung d Dehnung

F F F F

Werkstoffkunde
nur plastifizieren plastifizieren plastische
elastische der des Verformung
Dehnung bis Rissspitzen Querschnitts des gesamten
Spaltbruch Volumens

Riss
Risswachstum duktiler Riss-
bis Spaltbruch Bruch aufweitung
(Mischbruch)

Abb. 15.67 Schematisches Kraft-Dehnungsdiagramm zu den darunter skizzierten Bruchmechanismen der Werkstoffe mit innerem Riss gemäß linear-elastischer
Bruchmechanik (LEBM); a Spaltbruch bei kritischem, innerem Riss; b Spaltbruch nach Risswachstum bis zu kritischer Risslänge (LEBM) durch plastische Rissauf-
weitung (Mischbruch); c plastisches Risswachstum an den Rissspitzen bis zum duktilen, zipfeligen Bruch (elastoplastische Bruchmechanik (EPBM)); d plastische
Einformung des Risses mit lokaler Verfestigung bis zum duktilen Scherbruch

a) Der Spaltbruch erfolgt im linear elastischen Verfor-


mungsbereich, sobald für die angelegte Spannung die länge auf und führen zu plötzlichem Versagen im
kritische Risslänge erreicht wird (Abb. 15.67a). Die elastischen Bereich (Spaltbruch).
elasto-plastische Bruchmechanik (EPBM) ist anzuwen-
den.
b) Der Werkstoff kann an den Rissspitzen plastifizieren
und bis zur kritischen Risslänge anwachsen; nach dem
Kleinbereichsfließen kommt es zum Spaltbruch des
verbleibenden Querschnitts (Mischbruch mit LEBM,
Kerbschlagarbeit als Qualitätskriterium
Abb. 15.67b) wie im Fall des Bruches eines Getriebe- für die Zähigkeit
zahnrades in Abb. 15.58b.
c) Die kritische Risslänge wird beim duktilen Wachsen
Die Spaltbruchempfindlichkeit von Duromeren, Thermo-
des Risses nicht erreicht, sondern der verbleibende
plasten unter der Glasübergangstemperatur und ferriti-
Querschnitt kann sich plastisch verformen bis er duktil
schen Stählen kann relativ einfach mit Kerbschlagversu-
versagt (Abb. 15.67c). Die elasto-plastische Bruchme-
chen ermittelt werden (siehe Beispielbox „Pendelschlag-
chanik (EPBM) ist anzuwenden.
werk“). Die Spaltbruchempfindlichkeit steigt mit sinken-
d) Die plastische Verformung der Rissspitzen führt zu de-
der Temperatur, während die Duktilität abnimmt und die
ren Verfestigung, die die Querschnittsverminderung
Festigkeit steigt. Abbildung 15.69 veranschaulicht dies
durch den Riss kompensiert, sodass kein Risswachstum
qualitativ für einen ferritischen Stahl und zeigt, dass bei
eintritt. Der ganze Querschnitt verformt sich mit stei-
gender Belastung plastisch, und die Probe bricht durch einer Übergangstemperatur die Streckgrenze zu niedri-
Scherung wie ohne Rissausbreitung (Abb. 15.66d,e; geren Temperaturen hin die Bruchspannung übertreffen
EPBM Abb. 15.67d). kann, sobald Kerben kritischer Größe vorhanden sind.
Der Einsatz spaltbruchempfindlicher Werkstoffe soll da-
her nur über der Übergangstemperatur erfolgen, wo
Stabiler Rissfortschritt in plastifizierbaren Werkstof- duktiler Bruch möglich ist. Im plastischen Bereich sinkt
fen erfolgt mittels plastischer Verformung an der sowohl die Streckgrenze als auch die Zugfestigkeit mit
Rissspitze, der durch Lastreduzierung gestoppt wer- steigender Temperatur, bis sie bei der Schmelztemperatur
den kann. Instabile Risse treten beim Überschreiten gegen null geht.
des Bruchzähigkeitswertes bzw. der kritischen Riss- Kerbschlagproben können kurz vor der Prüfung gekühlt
oder erwärmt werden. Abbildung 15.70 stellt schematisch
446 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Beispiel: Wie wird Bruchzähigkeit gemessen?

Die Prüfprobe braucht einen definierten Anriss, der sen werden. Als Ersatz werden die Bruchspannungen
quer zur Zugrichtung verläuft und in der Probe einen gekerbter Rund- oder Flachzugproben (Abb. 15.62) er-
möglichst einachsigen Spannungszustand hervorruft, mittelt.
der keine plastische Verformung zulässt.
Die Bruchzähigkeit KIc stellt den Zusammenhang zwi-
schen Risslänge und einer den Riss öffnenden, senk- F
rechten Spannung bei Spaltbruch dar. Ein möglichst
spitzer Anriss (f = 1) kann durch wechselnde Belas-
Werkstoffkunde

tung (siehe Abschn. 15.10) eingebracht werden. Abbil-


dung 15.68 zeigt ein Beispiel einer Kompaktzugprobe
(CT-Probe: „compact tension“) mit einem vorgefer- scharfer Anriss a wird Rissfortschrittsfläche
tigten, scharfen Anriss, dessen Länge erst nach dem
Bruch gemessen werden kann. Die Proben müssen re- durch Ermüdung erzeugt
a
lativ dick sein (>1 cm), um einen nahezu einachsigen
Spannungszustand herzustellen. Über die Bohrungen
wird eine Zugspannung eingeleitet, die solange erhöht b 1 cm gebrochene CT-Probe
wird, bis die Probe im elastischen Bereich des Restquer- AlZn4,5Mg Grobblech
schnitts Ak = (b − a)d bei σ = F/Ak < Rp bricht. F Anrissfront Spaltbruchfläche
Die Topografie der Spaltbruchfläche unterscheidet sich
wesentlich von der Anrissfläche des Ermüdungsris- FBruch
ses der Länge a, sodass diese auf der Bruchfläche d KIc = aπ
bšd
vermessen werden kann. Aus der Anrisslänge a, der
Bruchfläche und der Bruchkraft kann der Bruchzä-
higkeitskennwert mittels der eingetragenen Formel er- Abb. 15.68 Kompaktzugprobe (Foto einer gebrochenen CT-Probe aus ei-
rechnet werden. Wegen der erforderlichen Dicke der nem dicken, warmgewalzten, hochfesten AlZn4,5Mg-Flugzeugblech) zur
CT-Probe können aus Gussstücken und Blechen keine Bestimmung der Bruchzähigkeit aus dem Anriss a und der Bruchspannung,
für das Werkstück repräsentativen KIc -Werte gemes- die Spaltbruch hervorruft; Zugbelastung erfolgt über die Bohrungen

duktiler Bruch r Bruch


Hochlage: duktile
Misch-

kfz Metalle
bruch
Spannung

Spaltbruch
Kerbschlagarbeit, Zähigkeit

plastische Verformung 50% Spaltbruchanteil


Re (T) geht in Rp (T) über und sinkt mit bei Übergangstemperatur
steigender Temperatur
ng krz, hdp Metalle, Steilabfall =
annu
b r u chsp kt mit r intermetallische Übergangsbereich:
t
Spal (K Ic) sin mperatu Phasen, duktiles Risswachstum
σ r Te Thermoplaste,
ende geht in
sink Elastomere Spaltbruch über
elastischer Verformungsbereich

TÜ Ts Tieflage: Spaltbruch
T gehärtete Stähle, Keramik (< 0,8 Ts), Duromere

Abb. 15.69 Schematische Darstellung der Bruchspannung eines ferritischen TÜ Temperatur


Stahls mit einer kleinen Kerbe, der unterhalb einer Übergangstemperatur TÜ im
elastischen Bereich mit Spaltbruch versagt, während er sich bei höheren Tem- Abb. 15.70 Schematische Darstellung der Kerbschlagarbeit als Funktion der
peraturen plastisch verformt, verfestigt und erst bei höheren Spannungen duktil Temperatur: spröde Werkstoffe, die in einem weiten Temperaturbereich durch
bricht Spaltbruch brechen (Tieflage), während duktile Werkstoffe im gesamten Tem-
peraturbereich duktil brechen (Hochlage). Kerbschlagproben aus kubisch raum-
zentrierten und hexagonal dichtest gepackten Metallen sowie intermetallischen
dar, wie sich die Bruchmechanismen gekerbter Proben Verbindungen brechen unterhalb der Übergangstemperatur, Thermoplaste und
aus Polymeren oder aus ferritischem Stahl mit der Tem- Elastomere unterhalb der Glasübergangstemperatur mittels Spaltbruch und dar-
peratur ändern. Durchgehärtete Stähle, Keramiken und über duktil
15.10 Festigkeit spröder Werkstoffe 447

Duromere versagen durch Spaltbruch und somit mit ge- Werkstoffen im Vergleich zu duktilem Stahl veranschau-
ringer Kerbschlagarbeit (geringe Zähigkeit) im gesamten licht. Ohne plastische Verformung gelten die Mechanis-
Temperaturbereich (für durchgehärteter Stähle bis zur men der linear elastischen Bruchmechanik (Abschn. 15.9),
Anlasstemperatur, siehe Abschn. 16.6). Ferritische Stähle, die Spaltbruch verursachen. In Abb. 15.65 wurde die mi-
hexagonale Metalle, Thermoplaste und intermetallische nimale kritische Risslänge von Siliziumnitrid mit 20 µm
Verbindungen brechen bei tiefen Temperaturen mit Spalt- angegeben, die bereits durch Kratzer und Schleifriefen
bruch, aber bei höheren Temperaturen duktil. Die Ursache eingebracht werden kann. Oberflächenunregelmäßigkei-
dafür ist bei den ferritischen Stählen die gleiche wie ten und innere Defekte dieser Größenordnung können
bei der Streckgrenze (siehe Abschn. 15.6): die Kohlen- den Bruch von Hightech-Keramik unter Zugbelastung
stoffatome fixieren die Versetzungen, sodass bei tiefen auslösen. Poröse Gebrauchskeramik enthält Poren, die
Temperaturen ohne Kohlenstoffdiffusion keine plastische wesentlich größer sind als die minimale kritische Risslän-
Verformung möglich ist. Im Übergangsbereich kann ein ge. Wegen der Porosität ist der E-Modul kleiner als bei

Werkstoffkunde
Riss durch plastische Verformung wachsen, bis die kriti- der Hightech-Keramik (siehe Abschn. 15.5), aber auch die
sche Risslänge für einen Spaltbruch erreicht wird. Dort, Bruchspannung wie in Abb. 15.75 skizziert.
wo die Hälfte der Bruchfläche der Kerbschlagprobe duk-
tilen Bruch und die restliche Hälfte glatten Spaltbruch Bruch auslösende Defekte in spröden Materialien sind
zeigt, wird die Übergangstemperatur TÜ definiert. Die in Abb. 15.76 dargestellt: Poren, die von unvollständiger
verschiedenen Bruchformen sind auf den Bruchflächen Konsolidierung stammen, aber auch intra- und intergra-
von Kerbschlagproben am reflektierten Licht gut erkenn- nulare Einschlüsse oder eingelagerte Fremdkörner, die
bar. Unterhalb der Übergangstemperatur dominiert Spalt- andere thermo-elastische Eigenschaften aufweisen als das
bruch an Kerben und Querschnittsveränderungen, sodass Wirtsmaterial; Mikrorisse, die durch thermische Span-
von Anwendungen dieser Werkstoffe im Bereich der Tief- nungen entstehen, besonders an Korngrenzen zwischen
lage abzuraten ist. Alle kubisch flächenzentrierten Metalle unterschiedlich orientierten, anisotropen Körnern. Die
(austenitische Stähle, Aluminium-, Kupfer- und Nickel- Häufigkeit derartiger Defekte und ihre Größenverteilung
Legierungen) brechen immer duktil und sind auch bei tie- hängen von der Herstellung ab. Abbildung 15.77 illus-
fen Temperaturen weniger spaltbruchgefährdet. triert eine Verteilung innerer Defekte (Risse) in Bezug zu
äußeren Kräften. Der größte Defekt quer zur Zugrich-
tung in Abb. 15.77a kann den Spaltbruch auslösen, so-
Frage 15.9
bald der Spannungsintensitätsfaktor die Bruchzähigkeit
Was bedeuten Kerbschlagwerte der Tieflage bzw. der KIc für Normalspannungen erreicht (Abschn. 15.9). Bei
Hochlage? Welche Werkstoffe, die keinen Übergangsbe- Druckbelastung entstehen an den inneren Rissen Schub-
reich aufweisen, sind diesen Wertebereichen zuzuord- spannungen als Komponenten des äußeren Druckes, wie
nen? sie in Abb. 15.77b angedeutet sind. Der Spannungsinten-
sitätsfaktor für Schubspannungen in der Ebene des Risses,
die quer zur Ausdehnung der Rissspitze verlaufen, wird
Die Zähigkeit von Werkstoffen kann mittels Kerbschlag- mit KII bezeichnet (wie bei Torsion Abb. 15.94d). Quer zur
werten klassifiziert werden, wobei die Übergangstem- äußeren Belastung treten entlang des Verlaufes der Riss-
peratur zur Tieflage (Spaltbruch) als untere Grenze der spitze Schubspannungen der Orientierung III auf (wie bei
Einsatztemperatur für sicheren Einsatz spaltbruchemp- Scherung in Abb. 15.77b). Wird durch die Zugkompo-
findlicher Werkstoffe zu beachten ist. Die Bruchzähigkeit nenten der Scherbeanspruchung die Bruchzähigkeit KIIc
definiert die Auslegungsgrenze für die Bauteilbeanspru- oder KIIIc erreicht, vergrößern sich kritische Risse instabil
chung. parallel zur äußeren Druckrichtung und führen zu stu-
fenartigen Bruchoberflächen wie bei Normalspannungen
der Orientierung I. Da kritische Risslängen für Schubbe-
lastungen KII und KIII größer sind als für Zugbelastungen
15.10 Festigkeit spröder Werkstoffe KI (Abb. 15.77), ist die Druckfestigkeit von spröden Werk-
stoffen wesentlich (5- bis 15-mal) größer als die Zugfestig-
Im Unterschied zum vorangegangenen Abschnitt werden keit, wie in Abb. 15.75 angedeutet.
hier Werkstoffe behandelt, die bei mäßigen Temperaturen
nicht plastisch verformbar sind, das sind Keramiken und Da die Oberflächenkerben und inneren Risse in ihrer Grö-
Gläser, aber auch ferritische Stähle unterhalb der Über- ße und Orientierung ungleichmäßig verteilt sind, hängt
gangstemperatur (Tieflage in Abb. 15.70). Die Ursache die Bruchstelle von der Lage eines kritischen Risses ab.
liegt in der Unbeweglichkeit der Bindungen zwischen den Abbildung 15.78 stellt eine Rissverteilung in einem Werk-
Atomen bzw. Molekülen in diesen Materialien. Bauteile stück dar, in dem für die Zugbelastung σZ die maximale
aus diesen Werkstoffen können im elastischen Verfor- Risslänge 2a im Werkstück dieselbe ist wie im Proben-
mungsbereich ohne plastische Verformung brechen, wie ausschnitt (P1 ). Würden die Probenausschnitte separat
es Abb. 15.75 durch Zug- und Druckversuche an spröden geprüft, würde P1 wegen des relativ zur Risslänge klei-
448 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Beispiel: Pendelschlagwerk

Ein Pendelschlagwerk dient zur Bestimmung der lativ einfach aus dem gesamten Energieverlust des
Kerbschlagarbeit und als instrumentierter Kerbschlag- Kerbschlaghammers (Masse m) über die Fallhöhen-
versuch zur Korrelation der Kraft mit der Durchbie- differenz (Δh = Ausganghöhe das Schlaghammers −
gung einer Kerbschlagprobe. Durchschwinghöhe nach dem Bruch) bestimmt wer-
den. Für die beim Durchschlag einer Charpy-Probe mit
Eine einfache Bewertung der Bruchzähigkeit erfolgt V-Kerbe aufgewendete Arbeit gilt: AV = m · g · Δh (g =
mittels der Kerbschlagarbeit (DIN EN ISO 148-1:2011- Erdbeschleunigung).
01). Das ist jene Arbeit mit der ein genormter Kerb-
schlaghammer eine genormte Kerbschlagprobe bricht. Die Kerbschlagarbeit gibt den Energieaufwand an, um
Werkstoffkunde

Abbildung 15.71b zeigt die Einspannmethode für eine eine genormte Probe mit Kerbe vollkommen zu bre-
Charpy-Probe mit V-Kerbe, die an beiden Enden auf- chen. Bei der Charpy-Probe beträgt die Bruchfläche
gelegt wird. Abbildung 15.71c zeigt die einseitige Ein- 0,8 cm2 und die für den Bruch erforderliche Gesamt-
spannmethode nach Izod. Abbildung 15.71a zeigt ei- arbeit wird in J gemessen und mit KV bezeichnet.
ne Prüfanordnung eines instrumentierten Pendelham- Viele zähe Werkstoffe brechen nicht vollkommen beim
mers, bei dem die Kraft des Hammers als Funktion der Durchschlag des Hammers. Die in Abb. 15.72 darge-
Zeit und der Durchbiegung der Probe gemessen wird. stellte Arbeit kann im instrumentierten Kerbschlag-
Das Kraft-Durchbiegungsdiagramm in Abb. 15.71d er- versuch gemessen und auf die tatsächliche Rissfläche
laubt die Separation der Plastifizierung bis zum Bruch bezogen werden, die als Kerbschlagzähigkeit in J/m2
von der elastischen Rückfederung Aelast und den Rei- gemessen wird. Für duktile Proben wird im instru-
bungsverlusten nach dem Bruch AReibung . Die gesamte mentierten Pendelschlagwerk die Verformungsarbeit
Kerbschlagarbeit kann auch ohne Probensensoren re- als J-Integral pro Probenquerschnitt gemessen.

Hammer
Kraft (F)- Kraft (F)-Durchbiegungs (f)-Diagramm
Sensor
Prüfkörper
Fmax
Schlag-
richtung Fgy
Kraft F in N

Verstärker AReibung
Agesamt = Aplast +Aelast
digital
Oszilloskop

Widerlager Aplast Aelast

fgy tB, fmax


photooptischer Durchbiegung (f )- Bruchzeit oder Durchbiegung in ms bzw. mm
a Empfänger Sensor d

F IZOD-Anordnung
F Schlagrichtung

CHARPY-Anordnung Finne

Prüfkörper

Stützweite
b Widerlager c

Abb. 15.71 Bestimmung der Kerbschlagarbeit; a Skizze eines instrumentierten Pendelschlagwerks mit einem Kraft-Zeit-Diagramm (d) mit dem Kerbschlag-
impuls bis zum Bruch, aus dem über die Durchbiegung fmax die plastische Kerbschlagarbeit Aplast (rot ) berechnet wird; im einfachen Kerbschlagversuch wird
die gesamte Kerbschlagarbeit gemessen. Anordnungen der gekerbten Prüfprobe und Position des Auftreffens der Finne des Prüfhammers: b an beiden Enden
der Probe auf einem Widerlager nach Charpy, c einseitig eingespannte Probe nach Izod
15.10 Festigkeit spröder Werkstoffe 449

Temperatur normalisiert
24 150
400
zäh Rp0,2

Kerbschlagarbeit in J
20 TÜ in MPa

Kraft in N

100 vergütet 900


16 TÜ

12
Mischbruch 50 durchgehärtet
Spaltbruch-
8 duktiler Bruch spröde
bereich 1500
Spaltbruch 27 „J”
4 „J2” „JR”
0

Werkstoffkunde
–200 –100 0 100 200
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 Prüftemperatur in °C
Durchbiegung in mm
Abb. 15.73 Kerbschlagarbeit eines ferritischen Stahls in verschiedenen
Abb. 15.72 Charakteristische Kraft-Durchbiegungsdiagramme eines in- Wärmebehandlungszuständen mit den Übergangstemperaturen TÜ und den
strumentierten Kerbschlaghammers. Die Flächen unter den Kurven entspre- Kerbschlagwertesymbolen für 27 J (vergütet J10 (bei −100 °C), normalisiert
chen der Kerbschlagarbeit: Spaltbruch eines Stahls bei tiefer Temperatur J2 (bei −20 °C), durchgehärtet JR bei Raumtemperatur)
(rot ), Mischbruch bei der Übergangstemperatur (blau ), duktiler Bruch bei
gesicherter Einsatztemperatur (gelb ) stand eine hohe kritische Schubspannung aufweist,
solange die Kohlenstoffatome unbeweglich sind. Die
Abbildung 15.72 zeigt die großen Unterschiede in der vergüteten und die normalisierten Zustände weisen
Kerbschlagarbeit eines Stahls bei Prüftemperatur, die einen Spaltbruchbereich und einen duktilen Bruchbe-
unterschiedliche Bruchmechanismen bedingen (ent- reich auf. Die Übergangstemperatur des vergüteten
spricht den Zähigkeitsunterschieden bei hoher Verfor- Stahls beträgt etwa −70 °C, die des normalisierten Zu-
mungsgeschwindigkeit): Spaltbruch, Mischbruch oder standes ca. +30 °C. Der duktile Bereich (Hochlage) des
duktilen Bruch. Abbildung 15.73 zeigt die Zähigkeits- normalisierten Zustandes liegt bei einer um 50 % höhe-
unterschiede aus Kerbschlagversuchen an einem fer- ren Kerbschlagarbeit als beim vergüteten Zustand. Die
ritischen Stahl in den Zuständen (siehe Abschn. 16.5 Zähigkeit der Baustähle wird durch die Größenklas-
und 16.6) normalisiert (von T > 800 °C abgekühlt), se der Kerbschlagarbeit bei bestimmten Temperaturen
vergütet (gehärtet und angelassen) und durchgehär- (R ≡ Raumtemperatur, 0 ≡ 0 °C, 2 ≡ −20 °C) mit Kurz-
tet (martensitisch). Der durchgehärtete Stahl besteht zeichen klassifiziert: J ≡ 27 J, K ≡ 40 J, sodass z. B. der
durchgehend aus sprödem Martensit und bleibt bis Stahl S235J2 bei RT mindestens eine Streckgrenze von
ca. 300 °C in der Tieflage des Spaltbruchmechanismus. 235 MPa aufweist und bei −20 °C eine Kerbschlagar-
Dieser kommt zustande, weil der martensitische Zu- beit von mindestens 27 J.

neren Querschnitts des Probenausschnitts bei geringerer probe, da im Gesamtvolumen der Probe mehr und teils
Spannung brechen als das Werkstück. Probenausschnitt größere Defekte enthalten sind als im von Zug belasteten
P2 wird bei höherer Spannung brechen als P1 , da der größ- Bereich der Biegeprobe. Die Wahrscheinlichkeit einen kri-
te Riss a in P2 kleiner als a in P1 ist. Probenausschnitt P3 tischen Riss in einer Faser zu finden, sinkt mit abnehmen-
ist so dünn gewählt, dass er keinen Riss enthält und sollte dem Querschnitt (siehe Bereich P3 in Abb. 15.78a). Wie
daher erst bei der theoretischen Festigkeit brechen, wenn in Abb. 15.78b dargestellt, brechen 2/3 der Zugproben
er eine perfekte Oberfläche hätte. Die Festigkeit hängt so- aus Glas mit 1 mm Durchmesser bereits unter 175 MPa,
mit von der Wahl der Prüfprobe bzw. der Verteilung der während der Großteil der Glasfasern mit 20 µm Durch-
Risse in ihr ab. Die Biegefestigkeit von keramischen Mate- messer mehr als 1000 MPa standhält. Auf diesem Prinzip
rialien ist im Allgemeinen wesentlich höher als ihre Zug- beruhen die hohen Festigkeiten von dünnen Kohlenstoff-
festigkeit, da das zugbelastete Prüfvolumen wesentlich fasern, Glasfasern, Keramikfasern und Aramidfasern, die
kleiner ist, als wenn die ganze Probe einer Zugprüfung in Längsrichtung zur Faserverstärkung von Materialien
unterworfen würde (Abb. 15.79). Der kritische Fehler im genützt werden.
zugbeanspruchten Probenbereich der Biegeprobe ist klei-
ner als viele andere innere Risse in der Probe, wirkt aber
wegen der höheren Randfaserspannung bruchauslösend. Auf dem Abmessungseffekt dünner Fasern beruht
Würde die dargestellte Probe als Zugprobe geprüft, wür- das sogenannte Faser-Paradoxon (Abb. 15.78b): „Je
de sie bei kleineren Zugspannungen (im Allgemeinen dünner eine Faser, umso fester ist sie.“
ca. 60 % der Biegebruchspannung) brechen als die Biege-
450 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Beispiel: Leck vor Bruch

Druckkessel dürfen nicht wegen Spaltbruch bersten. eines Druckkessels mit Radius r bei Anwendung der
Nach dem Prinzip „Leck vor Bruch“ soll die Kessel- statischen Belastungsgrenzen gemäß Abb. 15.65. Die-
wand dünner sein als die kritische Risslänge. se Bedingungen werden für einen Druckkessel mit
Die sicherheitstechnische Konsequenz aus der Spalt- r = 150 mm in Abb. 15.74 veranschaulicht, der aus ei-
bruchgefahr ergibt, dass Druckkessel auf keinen Fall nem zähen Druckkesselstahl oder einer hochfesten
durch Spaltbruch bersten dürfen. Die Wanddicke des AlZn4,5Mg-Legierung gefertigt ist. Der Druckkessel
Druckkessels darf keinen Riss mit kritischer Länge be- aus Stahl kann aus maximal 9 mm dickem Blech ge-
kommen. Das ist dann erfüllt, wenn die Wanddicke fertigt werden und mit bis zu 600 bar beladen werden,
während der Aluminiumtank nur aus maximal 1,5 mm
Werkstoffkunde

dünner ist als die kritische Risslänge. Die Wand muss


aber dick genug sein, dass die tangentiale Verformung dickem Blech sein darf und daher nur mit maximal
durch den Innendruck im elastischen Bereich bleibt. 40 bar sicher beladen werden kann. Dampfkessel wer-
Wenn der Druckkessel mit Radius r und Wanddicke t den daher aus Stahl, während Druckluftbehälter für
dem Druck p im elastischen Bereich standhalten soll, Nutzfahrzeuge aus Aluminium gefertigt werden. Sollte
muss p · r/t < Rp0,2 sein, anderseits muss gelten: ein derartig ausgelegter Kessel ein Leck bekommen, so
verursacht dieses keinen Spaltbruch, sondern nur eine
 
1 t · KIc 2 Undichtheit durch lokale Verformung, die den Druck
t < akrit = . abbaut. Dieses Konstruktionsprinzip wird daher „Leck
π p·r
vor Bruch“ genannt.
Aus diesen beiden Bedingungen ergeben sich die ma-
ximale Wanddicke und der maximale Beladungsdruck

pr
σ=
t Druckbehälterstahl
pr
= Rp Rp = 1000 MN m–2
1200 t
Kc = 170 MN m–3/2
(1) Beginn plastischer Verformung
Zugspannung in der
Kesselwand in MPa

1000
Wanddickenbereich für Druckkessel
aus Stahl pr Kc
800 = —
t √ πa

Kc = 25 MPa √ m
600
(2) kritische
(1) Rp Aluminiumlegierung Risslänge
400
Wanddickenbereich für (2)
200 AlZnMg-Druckkessel
t < akrit akrit (St)
0
0,01 0,1 1 10 100 1000
akrit (Al) Risslänge a in mm

Abb. 15.74 Auslegungsprinzip „Leck vor Bruch“ für Druckkessel mit Radius r , Wanddicke t und Beladungsdruck p . Die statischen Belastungsgrenzen
Rp0,2 (1 ) und KIc (2 ) der Werkstoffbeispiele Druckkesselstahl (rot ) und AlZn4,5Mg-Legierung (blau ) ergeben bei gleichem Druckkesselradius r = 150 mm
für Druckkesselstahl eine Maximaldicke t = akrit = 9 mm bei maximal 60 MPa (600 bar) Druck, für die hochfeste Aluminium-Legierung eine Maximaldicke
t = akrit = 1,5 mm bei maximal 4 MPa (40 bar)

Frage 15.10 spröden Werkstoffen ergibt sich eine Weibull-Verteilung


Weshalb ist die Biegefestigkeit keramischer Proben höher der Festigkeiten einer Vielzahl gleich großer Prüfproben.
als die Zugfestigkeit? Das Histogramm in Abb. 15.80a zeigt dementsprechend
die Anteile der Proben, die bei verschiedenen Spannun-
Weshalb ist die Zugfestigkeit keramischer Fasern von de-
gen gebrochen sind. Etwa 2/3 ∼ = (1 − 1/e) der Proben
ren Länge abhängig?
bricht bis zum sogenannten Festigkeitsmodul σ0 , wäh-
rend diesen nur 1/e (Euler’sche Zahl e ≈ 2,73) überleben.
Unter der Annahme einer statistischen Verteilung der Der Festigkeitsmodul ist nicht der Mittelwert, sondern je-
Spannungskonzentrationen durch Defekte (Abb. 15.76) in ne Spannung, bei der die meisten Proben brechen. Die
15.10 Festigkeit spröder Werkstoffe 451

Keramik Hitech-Keramik Zug teilung mit den Parametern Festigkeitsmodul σ0 und dem
bricht ohne Weibull-Modul m als Exponenten:
plastische   m 
σ

Spannung σ
Verformung, Stahl Ps0 = exp − . (15.23)
daher gilt σ0
linear elastische Je höher der Weibull-Modul m, umso enger ist die Span-
Bruchmechanik poröse nungsverteilung um den Festigkeitsmodul (Abb. 15.80c),
Gebrauchskeramik
hat kleineren E-Modul
d. h., umso zuverlässiger hält das Material bis in die Nä-
und weniger Festigkeit he von σ0 (siehe Beispiel: Überlebenswahrscheinlichkeit).
Für Werkstoffe mit m über 50 kann auf eine statistische
Dehnung ε Prüfmethode verzichtet werden, da der Festigkeitsmodul
Druck innerhalb der experimentellen Streubreite der Bruchfes-

Werkstoffkunde
tigkeit liegt. Komplementär zur Überlebenswahrschein-
lichkeit ist die Versagenswahrscheinlichkeit, die Wahr-
scheinlichkeit eines Bruchs: PB = 1 − Ps .
Einen Größenvergleich der Festigkeitsmoduln gibt
Druckfestigkeit Abb. 15.81, wobei anzumerken ist, dass die Werte auch
der Keramik von der Prüftechnik und der Qualität der Materialherstel-
wesentlich höher als ihre Zugfestigkeit lung abhängen. Wie in Abb. 15.78 bereits dargelegt, hängt
die Festigkeit von plastisch nicht verformbaren Werkstof-
Abb. 15.75 Schematischer Vergleich der Spannungs-Dehnungskurven bei Zug- fen vom Probenvolumen ab. Je größer das Volumen umso
und Druckverformung poröser Keramik und einer Hightech-Keramik mit einem höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es größere Defekte
ferritischen Stahl. Die Druckfestigkeit der Hightech Keramik (liegt außerhalb des
enthält, die Spaltbruch auslösen können. Ist die kumu-
Diagramms) ist signifikant größer als deren Zugfestigkeit
lative Überlebenswahrscheinlichkeit Ps0 aus Prüfungen
einer bestimmten Probengröße mit V0 nach Gleichung
Korngrenze einphasiges Korn (15.23) bekannt, so kann diese für ein Werkstückvolumen
V = n · V0 in folgender Weise umgerechnet werden:

V/V0
Ps (V ) = Pns0 = Ps0 ,
 m
V V σ
ln Ps (V ) = ln Ps0 = − ,
Poren, die V0 V0 σ0 (15.24)
Mikrorisse,   m 
von der die durch V σ
Herstellung Ps (V ) = exp − .
thermische V0 σ0
stammen Abkühl-
spannungen
entstanden
Da der Faktor der Volumenvergrößerung n im Expo-
nenten steht, reduziert sich die Überlebenswahrschein-
lichkeit signifikant wie Tab. 15.15 zeigt: Bei hohem Fes-
tigkeitsmodul für V0 (400 MPa) und m = 10 sinkt die
Einschlüsse einer eingelagertes Korn Spannung auf 40 % für eine Überlebenswahrscheinlich-
zweiten Phase einer anderen Phase keit von 1/e eines Bauteils mit 100-fachem Volumen der
Prüfprobe. Je höher der Weibull-Modul m und je gerin-
Abb. 15.76 Schematische Darstellung von inneren Defekten in polykristallinen ger der Festigkeitsmodul σ0 , umso weniger nimmt die
Keramiken: inter- und intragranulare Einschlüsse, Einlagerungen, Korngrenzen-
risse, Poren
Überlebenswahrscheinlichkeit mit der Volumenzunahme
ab (siehe Bonusmaterial: Überlebenswahrscheinlichkeit
spröder Werkstoffe, Abb. 15.11). Auf das Beispiel der
Glasfasern in Abb. 15.78b zurückkommend, sinkt die Fa-
Ableitung dieser Verteilung nach der Bruchspannung er- serfestigkeit mit steigender Länge einer Prüfprobe. Die
gibt die Kurve der kumulativen Überlebenswahrschein- Angaben zu Faserfestigkeiten sind daher immer dahin-
lichkeit Ps0 von gleichartigen Proben mit dem Volumen gehend zu hinterfragen, auf welche Faserlänge sie sich
V0 . Die Überlebenswahrscheinlichkeit des Materials be- beziehen (Prüfvolumen), und ob der Festigkeitsmodul
trägt 1/e bei der Belastung mit dem Festigkeitsmodul σ0 oder ein Mittelwert angegeben ist. Der Weibull-Modul
(Abb. 15.80b und c). Die mathematische Formulierung wäre auch erforderlich, um die Festigkeitseigenschaften
dieser Kurve (15.23) ergibt die exponentielle Weibull-Ver- zu vervollständigen.
452 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Spannungsintensitätsfaktor KI Schubspannungen Zugseite (Z) des Risses


— in Rissrichtung KIII Z (Richtung III)
KI = σZ √ aπ D Bruch auslösend
Druckseite
σZ Zugspannung σD D σD
Z Z Z
2a

instabile instabile
Rissausbreitung Rissausbreitung
senkrecht zur an schrägen Rissen
Zugachse in Druckrichtung
sobald sobald
KI = KIC KIII = KIIIC
Werkstoffkunde

a σZ b σD σD

Abb. 15.77 Schematische Darstellung der gleichen Verteilung innerer Risse in Längsschnitten einer Keramikprobe; a Zugbelastung σZ wirkt an dazu senkrechten
Rissen mit dem Spannungsintensitätsfaktor KI an den Rissspitzen und führt dort zu Bruch, wo KIc erreicht wird (gelber Pfeil gibt Rissfortschrittsrichtung an); b Druck-
belastung σD erzeugt Schubspannungen an den Rissspitzen (blau im extra dargestellten Riss mit Zug- und Druckkomponenten) mit dem Spannungsintensitätsfaktor
KIII (in Rissebene und Rissfortschrittsrichtung); instabile Risse in Druckrichtung (rot punktiert ) entstehen, sobald die Bruchzähigkeit KIIIc erreicht wird

P3: dünner fehlerfreier 4


Probenausschnitt
σZ maximaler Festigkeit
Zugfestigkeitsmodul σ0 in GPa

3
P3

P1: Prüfproben- 2a P2: kleiner 2


2a'
ausschnitt mit Prüfproben-
größtem Defekt ausschnitt mit
mit Durchmesser kritischem
2a Defekt 2a'
1
P3 P2

σ1B < σges, B < σ2B < σ3B



KI = σZ √ aπ größter Spannungsintensitätsfaktor in P1 Rm ~
= 175 MPa für Ø > 1 mm
0
0 50 100 150 200
a b Faserdurchmesser Ø in µm

Abb. 15.78 a Schematische Darstellung einer Verteilung innerer Risse in einem Längsschnitt einer Keramikprobe unter Zugspannung σZ , aus der verschiedene
Probenausschnitte P1 , P2 , P3 mit unterschiedlichen Rissverteilungen geprüft werden; kritische Risslängen 2a in P1 und 2a in P2 führen zu unterschiedlichen
Bruchspannungen, während P3 fehlerfrei angenommen wird; b Zugfestigkeit einer Faser aus Glas, das makroskopisch einen Festigkeitsmodul von 175 MPa aufweist,
in Funktion des Faserdurchmessers: „je dünner, desto fester“

Die Bewertung der Zugfestigkeit eines keramischen 2. Festigkeitsmodul σ0 (je größer die Bruch auslö-
Werkstoffs bedarf dreier Parameter: senden Defekte, umso kleiner σ0 ),
3. Bauteilvolumen im Vergleich zum Volumen der
1. Weibull-Modul m (je enger die Größenverteilung Prüfproben V/V0 , mit denen m und σ0 bestimmt
der Defekte, umso höher m), wurden.
15.10 Festigkeit spröder Werkstoffe 453

Beispiel: Überlebenswahrscheinlichkeit von Keramikteilen

Überlebenswahrscheinlichkeit von Keramikteilen in Prüfvolumen V0 = 100 mm3 in etwa folgende Kenn-


Abhängigkeit vom Festigkeitsmodul, dem Weibull- größen: σ0 = 700 MPa, m = 20. Das Turbinenvolumen
Modul und dem Bauteilvolumen am Beispiel der ke- beträgt etwa 10 cm3 , sodass V/V0 = 100. Die maximale
ramischen Turboladerturbine. Zugbelastung der Turbine wird mit 350 MPa angenom-
men (die Temperaturbelastung wird hier vernachläs-
Tabelle 15.15 führt Beispiele für die Belastbarkeit sigt). Aufgrund der Weibull-Statistik ergibt sich für
(Überlebenswahrscheinlichkeit) von durch Zug belas- die Prüfprobe mit V0 bei dieser Spannung eine Über-
teten Keramikteilen an. Je höher der Weibull-Modul, lebenswahrscheinlichkeit von 0,999999 bzw. eine Ver-
sagenswahrscheinlichkeit von 10−6 , d. h., 1 von 1 Mil-

Werkstoffkunde
umso zuverlässiger ist das Bauteil. Aus Zuverlässig-
keitsgründen wären Keramikqualitäten mit einen Wei- lion Proben bricht bei 350 MPa Zugbelastung. Für das
bull-Modul m = 30 wünschenswert, was kaum erreicht Volumen der Turbine ergibt sich eine Überlebenswahr-
wird. Wesentlich für die Auslegung ist daher ein mög- scheinlichkeit von 0,9999, d. h., 1 von 10.000 Turbinen
lichst kleines Bauteilvolumen. wird bei einem Testlauf mit 350 MPa Zugbelastung
brechen. Dieses Resultat ist für eine technische An-
Zum Beispiel wird Siliziumnitrid für eine Turbine eines wendung dieser Art akzeptabel. Trotzdem sollen diese
Turboladers eingesetzt (siehe Leitbeispiel). Bei hoch- Tatsachen das Risiko bei der Anwendung von durch
qualitativer Fertigung erreicht der Werkstoff bei einem Spaltbruch gefährdeten Werkstoffen veranschaulichen.

Tab. 15.15 Belastungsgrenzen (MPa) keramischer Werkstoffe in Abhängigkeit vom Bauteilvolumen im Vergleich zu Ergebnissen einer Prüfprobe
Weibull Modul m = 10: m = 20: m = 30:
VBauteil : VProbe
Keramiktyp Höchstfest Aktuelles Opti- Spitzentechnik Bedarf
mum
1:1 Festigkeitsmodul (VBauteil ) 400 (100 %) 300 (100 %) 250 (100 %) 200 (100 %)
10 : 1 σ0 in MPa 252 (63 %) 237 (79 %) 210 (84 %) 186 (94 %)
100 : 1 (Anteil des Festigkeitsmoduls für VProbe ) 160 (40 %) 189 (63 %) 197 (79 %) 172 (86 %)

bruchauslösender F bruchauslösender Ideal für den Einsatz keramischer Werkstoffe sind Kon-
Defekt bei Defekt bei struktionen, die hauptsächlich Druckbelastungen erzeu-
Zugversuch Biegeversuch gen. So werden für hochwertige Kugellager Si3 N4 Kugeln
(Druckfestigkeitsmodul ca. 3 GPa) in Stahlschalen einge-
M d M setzt, wo sie hauptsächlich druckbelastet (mit geringer
Scherbelastung) werden und somit eine 5-fach höhere Le-
σB bensdauer (siehe Abschn. 15.11) erreichen als metallische.
maximale Zugspannung Die höhere Steifigkeit und thermische Stabilität, die klei-
F/2 der Biegeprobe F/2 nere Dämpfung (geringere Geräuschentwicklung) und
in relativ kleinem Prüfvolumen das geringere, spezifische Gewicht als Stahl sind weitere
Vorteile der Keramik (siehe Bonusmaterial Überlebens-
Abb. 15.79 Schematische Darstellung einer Fehlerverteilung in einem Längs- wahrscheinlichkeiten).
schnitt einer Probe der Dicke d ; Dreipunkt-Biegung mit Biegekraft F erzeugt
über das Moment M die maximale Zugspannung σB an der Unterseite; wegen
des markierten kritischen Fehlers im Prüfvolumen (rot markierter Bereich ) bricht
sie; bei Zugbelastung in Längsrichtung der Probe würde sie wegen des größeren
Defektes (blau ) bei kleinerer Spannung brechen: Rm < σB
454 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

nB/N Ps0 Ps0


Festigkeitsmodul Weibull-Modul
σ0 0 % gebrochen (-Exponent) m
1 1
ca. 1/3
Anteil gebrochener Proben

ca. 2/3 der halten m = 20


Proben brechen höherer
bei Belastung Spannung
bis σ0 m=5
stand als σ0 mittlere m = 10
Festigkeit
1/2

1/e 1/e
Werkstoffkunde

Messpunkte
gebrochen für m = 10
100 %
0 0
0 Festigkeitsmodul Festigkeitsmodul
σ0 σ0
a angelegte Bruchspannung σ b σ c σ

Abb. 15.80 Überlebenswahrscheinlichkeit von N gleichartigen Proben des gleichen Materials; a Häufigkeitsverteilung nB ( σ ) /N der Bruchfestigkeiten; Maximal-
zahl der Brüche bei σ0 (Festigkeitsmodul); b kumulative Überlebenswahrscheinlichkeit Ps0 nach der Weibull-Statistik: Probenanteil (1 − 1/e) bricht bei Spannungen
σ  σ0 , 1/e bei σ > σ0 ; c Einfluss unterschiedlicher Weibull-Moduln (Weibull-Exponenten) m ; Kreuze stehen für die relative Anzahl der bei der jeweiligen Span-
nung gebrochenen Keramikproben mit m = 10

104
Festigkeitsmoduln σ0 keramischer Werkstoffe
Bruchfestigkeit Rm (= σ0) in MPa

103
näherungsweise statistische

102

101

100
Diamant Si-Carbid Si-Nitrid Quarzglas Al-Oxid Zr-Oxid, Fensterglas Stahlbeton Beton max.
Mullit,
Ti-Carbid

Abb. 15.81 Vergleich der Festigkeitsmoduln (näherungsweise bewertet durch Bruchfestigkeit von 37 % bei Rm (= Re für makroskopische Proben) einiger kerami-
scher Werkstoffe und Gläser mit dem Verbundwerkstoff Stahlbeton

15.11 Werkstoffschäden durch Kapitel 12 und 13 beschreiben die mechanischen Schwin-


gungen von Bauteilen. Diese mechanischen Schwingun-
Schwingungen gen erzeugen in den Werkstoffen der Komponenten Span-
nungsamplituden, die im Allgemeinen unterhalb der
Elastizitätsgrenze, jedenfalls unter der statischen Festig-
Fast alle Komponenten von Maschinen werden durch keit der Werkstoffe liegen. In Abschn. 15.5 wurde die me-
Schwingungen belastet (Fahrräder, Kraftfahrzeuge, Schie- chanische Hysterese gezeigt (Abb. 15.13), die als Dämp-
nenfahrzeuge, Schiffsrümpfe, Flugzeuge, Kräne, Produk- fung Energie durch sogenannte innere Reibung im elasti-
tionsmaschinen etc., auch die Bauteile der Leitbeispiele). schen Verformungsbereich verbraucht. Sie ist in Metallen
15.11 Werkstoffschäden durch Schwingungen 455

σm < 0 σm = 0 σm > 0

τ σ = σm + σa sin (2πt/τ) Periode σo
σa reine Wechsel- τ
≈ ε = εm + εa sin (2πt/τ) beanspruchung σa

Zug
σ reine Druck- σm
σm schwell-
t
beanspruchung
f = 1/τ σu
R = 1/5
0 t
τ' R=0
σa' R = –1/3 reine Zugschwell-
σm' t R = –1 beanspruchung

Druck

Werkstoffkunde
f ' = 1/τ' R = –3
τ'' σa''
R=∞ R = σu /σo
σm'' t R=5
–σ
f '' = 1/τ'' Druckschwell- Wechsel- Zugschwell-
a b beanspruchung beanspruchung beanspruchung

Abb. 15.82 a Zeitlicher Verlauf monotoner, sinusförmig schwingender Belastungen mit unterschiedlichen Spannungsamplituden σa (bzw. Dehnungsamplituden
ε a nach dem Hooke’schen Gesetz) bei verschiedenen Mittelspannungen σm und Frequenzen f (Periode τ); b Beispiele monotoner Schwingungsperioden gleicher
Amplituden mit unterschiedlicher Mittelspannung ergeben verschiedene Spannungsverhältnisse R

auf Versetzungsbewegungen innerhalb der Kristallkörner tritt meist unerwartet im elastischen Verformungsbereich
zurückzuführen, in denen lokal die kritische Schubspan- ein, also bei Bauteilbelastungen unterhalb der Elastizi-
nung kleiner ist als deren Mittel über die polykristalline tätsgrenze. Selbst bei Wechselbelastung im plastischen
Struktur. In Kunststoffen können Polymerketten submi- Bereich, in dem Metalle oft verfestigen, sinkt die Festig-
kroskopisch verschoben werden. In porösen Keramiken keit mit der Anzahl der Verformungszyklen. Sie werden
können innere Oberflächen aneinanderreiben (insbeson- nicht genügend Kraft haben, einen Stahldraht abzureißen,
dere in Rissen). Je höher die Dämpfungskonstante eines aber sie können ihn mehrfach hin und her biegen (ab-
Werkstoffes ist, umso größer ist die innere Reibung. An wechselnd Zug- und Druckbelastung in den Randzonen),
mikroskopischen Materialfehlern verursachen derartige bis er als Folge weniger Ermüdungsbelastungszyklen mit
elastische Vibrationen submikroskopische, bleibende Ver- plastischer Verformung bricht.
formungen. Die Wirkung dieser Defekte vergrößert sich
mit steigender Lastspielzahl. Mit der Lastspielzahl nimmt
daher die Belastbarkeit des Materials ab, was als Werk-
stoffermüdung bezeichnet wird. Belastungsspannung erzeugen
Dehnungsschwingungen
Die überwiegende Zahl der Schadensfälle im Maschi-
nenbau lässt sich auf Werkstoffschwächung durch Ermü-
dungsbelastung zurückführen. Der Schädigungsverlauf Abbildung 15.82 zeigt schematisch sinusförmige Be-
mit zunehmender Lastspielzahl wird oft nicht genügend lastungen einer Probe oder eines Werkstückes mit
berücksichtigt. Entweder werden die Einsatzbelastungen verschiedenen, gleichbleibenden Spannungsamplituden
unterschätzt, oder die Ermüdungsbeständigkeit der Bau- σa = |σo − σu |/2 zwischen der Spannungsobergrenze σo
teile wird überschätzt. Abbildung 15.6 zeigt Eisenbahn- und der Spannungsuntergrenze σu . Bei manchen Be-
unfälle, die auf Ermüdungsbrüche der Radreifen zurück- lastungsfällen bleiben die Mittelspannung σm = (σu +
zuführen waren. Erst die Untersuchungen des Lokomo- σo )/2 und die Schwingungsperiode τ bzw. die Frequenz
tivunglücks zum Ende des 19. Jahrhunderts durch Au- f = 1/τ konstant (monotone Schwingungsbelastungen in
gust Wöhler ergaben quantitative Zusammenhänge zwi- Abb. 15.82a), aber meist variieren sie (Betriebsbelastun-
schen schwingender Belastung und Werkstoffbeständig- gen). Abbildung 15.82b skizziert einzelne Perioden mo-
keit. Trotzdem kommt es immer wieder zu Schadensfällen notoner Schwingungsbelastungen mit unterschiedlichen
durch Werkstoffermüdung, wie beispielsweise beim fol- Mittelspannungen. Je nach dem Vorzeichen der Mittel-
genschweren Unglück des Hochgeschwindigkeitszuges spannung σm dominieren entweder Zug- (σm > 0) oder
ICE (siehe Abb. 15.6b), bei dem auch Materialverschleiß Druckspannungen (σm < 0). Bei symmetrischem Verlauf
(siehe Abschn. 15.13) eine Rolle spielte. Warum ist die der Zug- und Druckspannungen wird σm = 0, was als rei-
Beständigkeit der Werkstoffe unter Lastwechseln wesent- ne Wechselbelastung bezeichnet wird. Diese Unterschie-
lich geringer als unter statischer Belastung? Das Versagen de werden durch das Spannungsverhältnis R = σu /σo
456 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

σo Gesetz: die Proportionalität zwischen Schwingungen der


Spannung und der Dehnung σ (t) = E · ε(t). Die Span-

σm
=
R=0 nungsamplitude σa muss unterhalb der Elastizitätsgren-

0,
R
ze bleiben, ohne beim zweiten Zyklus eine plastische

=
–1

rein Zugschwell
Verformung hervorzurufen (ε pl (N > 1) = 0). In Metal-
Wechsel- Zugschwell- len können Versetzungen bei Spannungen unterhalb der
beanspruchung belastung Elastizitätsgrenze nicht durch verschiedene Körner einer
Probe gleiten, um sie plastisch zu verformen. Ein Teil der
R< 1 0<R< 1
Versetzungen – z. B. in einem Randkorn – kann durch
tausende, wechselnde Belastungen an eine Korngrenze
R = ∞ rein Druckschwell 0 gleiten, die an der Werkstoffoberfläche liegen kann, und
σu
dort mikroskopische Stufen in der Größe der Anzahl
σu < 0 R> 1
Werkstoffkunde

der ankommenden Burgersvektoren (Abschn. 15.6) er-


Druckschwell- zeugen, wie in Abb. 15.85a und im Werkstoffinneren in
belastung Abb. 15.59c dargestellt. Das durchstrahlungselektronen-
σo < 0
mikroskopische Bild in Abb. 15.85b zeigt, dass sich durch
Abb. 15.83 Klassifizierung der Ermüdungsbelastung nach den Vorzeichen der wechselnde Schubspannungen zahlreiche Versetzungen
Ober- und Unterspannungen (σo und σu ) und dem Spannungsverhältnis R in einzelnen Gleitebenen anhäufen und sobald diese
den Werkstückrand erreichen, Intrusionen und Extrusi-
onen erzeugen (über Transmissionselektronemikroskopie
klassifiziert (Abb. 15.82b und Abb. 15.83). Für Wechsel- (TEM) im Bonusmaterial zu Abschn. 15.6: Durchstrah-
belastungen zwischen Zug- und Druckspannungen gilt lungselektronenmikroskopie). Abbildung 15.85c skizziert
R < 0, wobei R = −1 eine symmetrische (reine) Wech- oberflächliche Primärrisse und -stufen parallel zu Gleit-
selbelastung charakterisiert. Wechselnde Zugspannungen ebenen. Ab einer bestimmten Größe der Primärrisse do-
(σo und σu > 0) werden als Zugschwellbelastungen mit miniert die Kontinuumsmechanik, wenn die Spannungs-
0  R < 1 bezeichnet, wobei für reine Zugschwellbelas- konzentration an der Rissspitze den Rissverlauf aus den
tung (σu = 0) R = 0 wird. Liegt auch die Maximalspan- Gleitebenen in senkrecht zur Zugspannung wachsende
nung σo < 0 im Druckbereich, so handelt es sich um Sekundärrisse umlenkt. Eine derartige Einleitung von Mi-
eine Druckschwellbelastung mit 1 < R < ∞, wobei R = krorissen kann erst durch hohe Lastspielzahlen (N > 104 )
∞ eine reine Druckschwellbelastungen mit σo = 0 kenn- erfolgen, weshalb dieser Ermüdungsprozess durch rein
zeichnet. elastische Amplituden High cycle fatigue (HCF) heißt.

Ähnlich kann es in Kunststoffen bei schwingenden Be-


Die Einflussparameter für Wechselbeanspruchung lastungen zu mikroskopischen Verschiebungen von
von Werkstoffen sind die Spannungs- und Deh- Polymerketten oder kristallinen Bereichen kommen, die
nungsamplitude, die Mittelspannung und die Fre- Primärrisse bilden, die in Sekundärrisse übergehen. Werk-
quenz der Schwingungen. Es wird unterschie- stoffinhomogenitäten, die lokale Steifigkeitsunterschiede
den, ob die Schwingbreite innerhalb des elasti- aufweisen (Einschlüsse, Phasenunterschiede, unter-
schen Verformungsbereichs (Zeit- oder Dauerfestig- schiedliche Kornorientierungen, Querschnittveränderun-
keit) bleibt oder in den plastischen Bereich reicht gen), stellen die Keimstellen für Primärrisse am Rand bzw.
(Niedriglastspielzahl-Ermüdung). an Poren im Inneren des Werkstückes (Abb. 15.59c) dar.
Bei Keramiken sind die Spannungskonzentrationen an
kleinen herstellungsbedingten Defekten relativ hoch, so-
Frage 15.11.1 dass sich relativ leicht Sekundärrisse ausbilden. Insofern
Was bedeuten die Begriffe: Amplitude, Schwingbreite, erhöht die Werkstoffreinheit die Ermüdungsbeständigkeit
Ober-/Unterspannung, Mittelspannung, reine Wechsel- aller Werkstoffe, besonders die Verminderung der Größe
beanspruchung, Spannungsverhältnis, Schwingfrequenz. und Häufigkeit von Einschlüssen und Poren; z. B. brechen
Kugel- oder Wälzlagerschalen durch Ermüdungsrisse, die
von einzelnen Einschlüssen (< 10−7 Vol.-%) im Kugella-
gerstahl ausgehen (Abb. 15.133).

Das Wachstum der Sekundärrisse bei Wechselbelastung


Ermüdungsrisse entstehen und wachsen
wird in Abb. 15.86 veranschaulicht. In jeder Zugpha-
se überschreitet die lokale Spannung an der Rissspitze
Betrachten wir zuerst den häufig unterschätzten Fall, in die Elastizitätsgrenze, bzw. reichen die lokal erhöhten
dem die Belastungsspannungen immer im elastischen Schubspannungen aus, um in den angrenzenden Körnern
Verformungsbereich bleiben. Es gilt also das Hooke’sche Gleitbänder zu bilden (Abb. 15.86a). Der Riss wird auf-
15.11 Werkstoffschäden durch Schwingungen 457

Beispiel: Prüfmethoden für die Ermüdungsbeständigkeit von Werkstoffproben

Ermüdungsprüfungen bedürfen wegen der wechseln- von beiden Seiten stetig abnehmenden Probenquer-
den Belastungen sowohl stabiler Prüfmaschinen als schnitt) werden auch für Niedriglastspielzahl-Prüfun-
auch genauer Messfühler wegen der kleinen Ampli- gen eingesetzt. Umlaufbiegeprüfungen mit zylindri-
tuden. Wird eine Prüffrequenz von 50 Hz. erreicht, schen Proben sind relativ einfach als 4- und 3-Punkt-
sind für 107 Zyklen 56 h Prüfzeit erforderlich. Die biegeprüfung durchführbar, wie sie Abb. 15.84b und
Ermittlung einer Wöhler-Kurve ist deshalb sehr auf- c zeigen. Einspannungen wie in Abb. 15.84c oh-
wendig. Abbildung 15.84a zeigt verschiedene Prüfan- ne Rotation, aber mit Ultraschallerregern und Pro-
ordnungen: Dreipunktbiegeprüfung (Vierpunktprüf- ben in den Abmessungen für eine Resonanzfrequenz
anordnung siehe Abschn. 15.5), Zug-Druckprüfung werden für Hochfrequenz-Schwingversuche mit über

Werkstoffkunde
für Flach und Rundproben, sowie eine Kompaktzug- 10 kHz eingesetzt, sodass 107 Zyklen mit Abkühlpau-
probe mit Anriss zur Messung des Rissfortschritts sen (die hochfrequente, innere Reibung erwärmt die
(Abb. 15.68). Zug-Druckversuche an sogenannten Uhr- Probe) schon in weniger als einer Stunde erreicht wer-
glasproben (Spannungserhöhung in der Mitte durch den.

ΔF
ΔF ΔF
F/2 F/2
M
F F

M = konst.
F F
3-Punkt- Flachzugprobe
Biegeversuch Lager Probe

ΔF ΔF
ΔF
b 2F

Lager Ein- Lager Antriebs-


spannung welle
Probe

Kompakt- Zug/Druck-
F
a zugprobe rundprobe c

Abb. 15.84 Versuchsanordnungen zur Ermüdungsprüfung; a 3-Punktbiegeproben, Zug-Druckbelastung für Flach- und Rundproben in Uhrglasform, Kom-
paktzugproben zur Rissfortschrittsmessung; b 4-Punktbiegeprüfung; c 3-Punkt-Umlaufbiegeprüfung

geweitet, und die Rissoberfläche vergrößert sich um die Rasterelektronemikroskopie (REM) siehe Bonusmaterial
Länge δ an der Rissspitze. Am Ende der Zugphase federt zu Abschn. 15.9) als Rastlinien sichtbar gemacht werden
der Riss zurück und wird in der Druckphase zusammen- können (Abb. 15.86b). Sobald auf einer Bruchfläche Rast-
gedrückt. Die im Zug vergrößerte Oberfläche wird in das linien erkennbar sind, kann bei Schadensfällen auf einen
Material hineingedrückt und verlängert dadurch den Riss durch Wechselbelastung eingeleiteten Riss geschlossen
bei jedem Zyklus um δ/2. Diese zyklische Verlängerung werden (Bonusmaterial: Fraktografie und Zeitfestigkeit,
des Sekundärrisses durch Gleitbänder erzeugt mikrosko- Abb. 15.14). Auf einer vor dem Ermüdungsversuch po-
pische Stufen in der Rissoberfläche, die im REM (über lierten Oberfläche senkrecht zum Rissfortschritt sind nach
458 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Δσ
Δσ
In
tru
Gleit- sio
ne
bänder n
Δτ Ex

Ve
s tru
Gle

Gl tzun Δ
rse
iteb sio

eit gs τ s
Ra ene ne

eb an
ndk ei n

en hä
orn nes Sekundärriss

en uf
es

Pr
m ung

im
it e

är
ris
s
n
Versetzungs-
serie erzeugt
Δσ Oberflächenstufe 0,5 µm
Werkstoffkunde

Δσ
a in einem Korn b c

Abb. 15.85 Entstehung von Primär- und Sekundärrissen in ermüdungsbelasteten Metallen mit Δσ im elastischen Bereich; a Unsymmetrische Schubspannungs-
amplituden Δτs verschieben Versetzungen eines Randkornes in die Werkstückoberfläche und erzeugen mikroskopische Stufen (Gleitlinien); b TEM-Aufnahme von
Gleitbändern mit zahlreichen Versetzungslinien in einem Korn einer Nickel-Superlegierung; c schematische Darstellung der Orientierungen der Gleitbänder, In- und
Extrusionen an den Oberflächen, sowie ein Primärriss, der als Sekundärriss senkrecht zur Zugspannung weiterwächst

vielen Ermüdungszyklen die Gleitbänder und die ent-


n= 1 2 3 4 5
sprechend orientierten Stufen der Rastlinien erkennbar
Gleitebenen (Abb. 15.86c), die in Summe den Sekundärriss ergeben,
τs
der senkrecht zur Zugspannung wächst. Damit ist ver-
σ 1 2 3 4 5
ständlich, dass schwingende Belastungen umso schädli-
τs cher sind, je höher die Zugspannungsanteile sind, sodass
Rissspitze σ > Rp0,2 Wechsel- und Zugschwellbelastungen schädlicher sind
τs als Druckschwellbelastungen.
σ 1 2 3 4 5 δ
Rastlinien Während des Rissfortschritts erhöht sich trotz gleichblei-
τs
bender äußerer Spannung der Spannungsintensitätsfak-
vergrößert Rissoberfläche um δ
τs tor (Abschn. 15.9) wegen der Verlängerung des Risses
σ 1 2 3 4 5 6
a(N ) pro Zyklus um da/dN. Die schwingende Belastung
erzeugt bei σ > 0 einen mit der gleichen Frequenz √ oszil-
Rissverlängerung δ/2 τs lierenden Spannungsintensitätsfaktor K(t) = σ (t) aπ. In
1 2 3 4 5 6 10 µm
Abb. 15.87a, b ist die Abhängigkeit des Rissfortschritts
a b Rissfortschritt von der damit verbundenen Erhöhung der Schwingbreite

Rastlinien des Spannungsintensitätsfaktors ΔK(t) = 2σa (t) a(N )π
in doppellogarithmischem Maßstab dargestellt. Die re-
en Riss lativ lange Phase der primären Rissbildung kann expe-
tla w
ng ach rimentell nicht erfasst werden, da das Wachstum unter
Gl stu
eit m 0,1 nm pro Zyklus ist. Mit diesem Wachstum würde sich
ba
nd erst nach mehr als 104 Zyklen ein Riss in der Größen-
Rissfortschritt ordnung über 1 µm entwickeln. Eine glatte Oberfläche
ien braucht eine größere Zahl an Lastwechseln, um Primär-
itlin
Gle risse zu bilden als eine raue Oberfläche. Deshalb ist auch
10 µm
c Vorsicht geboten bei der Übertragung von Ermüdungsda-
ten von polierten Laborproben auf Werkstücke. Ab einem
Abb. 15.86 Risswachstum mit jedem Zyklus einer Wechselbelastung σ in verti- für den jeweiligen Werkstoff charakteristischen Schwell-
kaler Richtung; a Riss aus fünf Belastungszyklen wird in der Zugphase geöffnet; wert der Amplitude des Spannungsintensitätsfaktors ge-
Schubspannungskonzentrationen τs in den Gleitebenen an der Rissspitze formen hen Primärrisse in Sekundärrisse über, die kontinuums-
eine plastische Ausrundung der Länge δ; in der Druckphase wird die Ausrundung
zusammengedrückt und erzeugt eine Rissverlängerung um δ/2 pro Zyklus; b
mechanisch bedingt in etwa senkrecht zur Zugrichtung
REM-Bild der Bruchfläche, in dem die schrittweise Rissverlängerung Rastlinien verlaufen. Die Sekundärrisse wachsen in diesen doppel-
hinterließ, die etwa senkrecht zum Rissfortschritt verlaufen; c REM-Bild einer logarithmischen Darstellungen (Abb. 15.87a und c) linear
Seitenfläche quer zu einem Riss mit Rastlinien, deren Flanken stufenförmig auf- und erfüllen daher ein Potenzgesetz mit dem Exponen-
grund der Gleitbänder entlang der Gleitebenen verlaufen ten gleich der Steigung dieser Geraden. Dieses Rissfort-
15.11 Werkstoffschäden durch Schwingungen 459

Spaltbruch Al-Legierungen Stähle


10–2
log (da/dN) CT-Probe bei Plastifi-

linear-elastische Bruchmechanik
a zierung der
Rissspitze
µm-Bereich

Rissfortschrittsrate log (da/dN in mm)/Schwingspiel

g1
(EPBM)

o6
uM
R≈0

iCrM
AlC

40N
10–3
Rissfortschrittsrate

Stationär-
bereich

Kontinuums-
mechanik

Werkstoffkunde
Schwellwert
10–4
da/dN ≈ ΔK p
atomist-

0,5
nm-Bereich

ische

gCu
Mechanis-

nM
men der

5E
Dämpfung Kth Risswachstum Kmax = KIc

AlZ

C4
a log ΔK
K 10–5
σa = konst.
zykl. Spannungs-
intensitätsfaktor

Kmax
Ka ΔK
Kmittel
da/dN = C·ΔK 3
Kmin –6
10
Zugschwellbelastung 102 103
b t c zykl. Spannungsintensitätsfaktor log (ΔK in N/mm3/2)

Abb. 15.87 Quantifizierung eines Ermüdungsrissfortschritts; a Kompaktzugprobe mit Anriss zur Messung der Rissverlängerung und doppellogarithmische Auf-
tragung des Risswachstums pro Zyklus da /dN über die Änderung der Schwingbreite des Spannungsintensitätsfaktors ΔK in b Nach der Risseinleitungsphase ab
dem Schwellwert Kth beginnt ein Sekundärriss
√ nach dem Paris-Gesetz zu wachsen, bis bei der Bruchzähigkeit KIc Spaltbruch eintritt; c Rissfortschrittsdiagramme
da /dN (in mm) über ΔK (in MPa mm) für einen unlegierten und einen niedrig legierten Stahl sowie für zwei ausscheidungsgehärtete Aluminium-Legierungen,
1
∼ 10−13 MPa−3 mm− 2 (15.25)
∼ 3 · 10−12 , CStahl =
alle ergeben als Exponent p = 3, aber CAl =

schrittsgesetz nach Paris (Prof. P. C. Paris, 1964) lautet: verifiziert werden, um ein Bauteil rechtzeitig vor dem in-
stabilen Risswachstum bei Kmax = KIc aus dem Betrieb zu
nehmen. Periodische Anlagenrevisionen mit Risslängen-
da da
= C · ΔKp ⇒ lg = p · lg ΔK + lg C. (15.25) prüfungen, deren Ergebnisse mit dem Paris-Gesetz für
dN dN den Werkstoff verglichen werden, sind für viele, sicher-
a2 heitsrelevante Anlagen vorgeschrieben. Die verbleibende
da 1 da
dN = ⇒ ΔN = √ p Lastspielzahl bis zum voraussichtlichen Spaltbruch lässt
C · ΔKp C2σa aπ
a1 sich mit (15.25) abschätzen, wenn für a2 = akrit die kriti-
 
1 1 1 sche Risslänge für die Bauteilspannung eingesetzt wird.
= · p/2−1
− p/2−1 .
C(2σa )p π p/2 (1 − p/2) a2 a1
Die experimentellen Daten für Stähle und Aluminium-
Legierungen ergeben das Paris-Gesetz für den Riss-
Die Konstanten C und p des Paris-Gesetzes sind experi- fortschritt, wie die doppellogarithmische Darstellung in
mentell (z. B. an CT-Proben (compact tension) Abb. 15.68 Abb. 15.87c zeigt, in der das Risswachstum in mm/
und 15.87a) aus einer doppellogarithmischen Grafik der Zyklus und die doppelte Amplitude des Spannungsinten-

Prüfergebnisse zu bestimmen, wobei die Maßeinheiten sitätsfaktors in N/mm3/2 = MPa mm aufgetragen sind.
der Skalen zu beachten sind. Über das Integral des Paris- Für beide Legierungen ist bei dieser Skala der Exponent
Gesetzes aus (15.25) kann die Lastspielzahl ΔN errech- p = 3, aber die Konstanten C sind verschieden. Das Riss-
net werden, die erforderlich ist, damit ein bereits vor- wachstum in den Aluminium-Legierungen ist bei gleicher
handener, messbarer Riss a1 bis zu einer Risslänge a2 Schwingbreite der Spannungsintensität 30 mal schneller
anwächst. Praktisch kann dies bei Revisionsprüfungen als in den Stählen.
460 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Abb. 15.88 Auslegung von Er- σa

in Zugrichtung
Spannungsamplituden σa
müdungsversuchen bis zum Bruch
bei verschiedenen monotonen Rp
Spannungsamplituden σa (nur
Zugphase dargestellt) im elasti- 0 < σa < Rp
schen Bereich zur Bestimmung
der Wöhler-Kurve (S -log N ) im
Zeitfestigkeitsbereich bis zu einer
Grenzlastspielzahl NG
σN

Zeitfestigkeit σNG

Grenzlastspielzahl NG
Werkstoffkunde

Ermüdungsversuche mit unterschiedlichen, 103 104 105 106 107


gleichbleibenden Amplituden (σm, f = konst.) Bruchlastspielzahlen NB (log)

für verschiedene Werkstoffe im Bonusmaterial Wöhler-


Kurven zu Abschn. 15.11 die Abb. 15.12 und 15.13). Dabei
sind Streuungen der Bruchlastspielzahlen innerhalb einer
Wechselbeanspruchungen können kristallografisch Größenordnung durchaus realistisch. Aus der Untergren-
orientierte Primärrisse erzeugen, auch wenn die ze des Streubandes in Abb. 15.89 kann abgelesen werden,
Spannungsamplituden unter der Elastizitätsgrenze wie vielen Lastspielen der Werkstoff bei einer bestimmten
liegen. An den Rissspitzen entstehen Spannungs- Spannungsamplitude standhält. Diese Spannungsampli-
konzentrationen, daher gehen diese in Sekundärris- tude wird als Zeitfestigkeit σN für eine bestimmte Last-
se über. Die Amplitude des Spannungsintensitäts- spielzahl N bezeichnet.
faktors wächst mit dem Riss nach dem Paris-Gesetz
bis die Bruchzähigkeit erreicht wird. Werkstoffe, die bei angestrebter Betriebsdauer einer be-
stimmten Lastspielzahl standhalten müssen, werden nach
der Zeitfestigkeit dimensioniert. Die Auslegung ihrer
Ermüdungsbeständigkeit wird mittels einer Grenzlast-
Frage 15.11.2 spielzahl NG (106 , 107 oder 108 ) festgelegt (Abb. 15.88):
Was bedeutet der Messwert da/dN? Weshalb steigt
der Spannungsintensitätsfaktor mit fortschreitender Last-
σa < Rp
spielzahl nach Überschreiten des Schwellwertes? Nennen
Sie das Risswachstumsgesetz nach Paris. lo
g
σa pB = Bruchwahrscheinlichkeit in %
=
Spannungsamplitude lg σa

–b
· lo
gN pB = 50
B
pB = 0 +
lo pB = 100
gc
Zeit- und Dauerfestigkeit bei elastischen sicherer b I
Schwingungen wird durch die Wöhler-Kurve Betriebsbereich
100

der Zeitfestigkeit
beschrieben
σa · NBb ≤ cb = konst. Übergangs-
II
festigkeit
Basquin-Lebensdauerregel
pB = 0

A. Wöhler hat eine Prüfmethode entwickelt, mit der die σD


gesamte Lebensdauer von im elastischen Bereich schwin- σa < σD … Dauerfestigkeit:
gend belasteten Werkstoffen abschätzbar wird. Einige III
sicherer Dauerbetrieb nur mit ferritischen Stählen
Versuchsanordnungen sind in der Beispielbox „Prüfme-
thoden“ beschrieben. Mindestens je fünf Proben werden 104 105 106 107 = NG
der gleichen Spannungsamplitude ausgesetzt, die in im- Bruchlastspielzahl log N
mer kleiner werdenden Schritten reduziert wird, wie in
Abb. 15.88 gezeigt. Es werden die Lastspiele einer mo- Abb. 15.89 Prinzipieller Verlauf doppellogarithmischer Wöhler-Kurven für fer-
ritische Stähle mit Streubereich der Messpunkte zwischen sicherem Überleben
notonen Spannungsamplitude bis zum Bruch der Probe (Bruchwahrscheinlichkeit pB = 0 %) und 100 % gebrochener Proben. Im Zeit-
gezählt und in ein sogenanntes S-log N-Diagramm einge- festigkeits-bereich (I) gilt die eingeschriebene Basquin-Lebensdauerregel. Bei
tragen. Beispiele für log S-log N-Diagramme bzw. Wöh- ferritischen Stählen gibt es einen unsicheren Übergangsbereich (II), darunter den
ler-Kurven sind in Abb. 15.89 zu sehen (siehe Beispiele Dauerfestigkeitsbereich (III)
15.11 Werkstoffschäden durch Schwingungen 461

Beispiel: Einfluss des Eigenspannungs- und Werkstoffzustandes auf die Ermüdungsbeständigkeit

Beispiele für Dauerfestigkeitsverhältnisse verschiede- fläche wird diese leicht plastisch komprimiert, und
ner Stahlzustände und Zeitfestigkeitsverhältnisse ver- es verbleiben Druckeigenspannungen, die sich den
schiedener Auslagerungszustände einer Aluminium- Spannungsamplituden der Ermüdungsbelastung über-
Knetlegierung. lagern und die Zugspannung reduzieren, sodass die
Bruchlastspielzahl erhöht wird.
Die Ermüdungsbeständigkeit ist nicht nur von der
Werkstoffzusammensetzung, sondern auch vom Ge-
fügezustand abhängig. Meist gilt, je höher bei einem 1,0
Werkstoff die statische Festigkeit ist, umso niedriger 0,8

Werkstoffkunde
ist seine Ermüdungsbeständigkeit. Abbildung 15.90
T4 normalisiert

Dauerfestigkeits- bzw.
Grenzlastspielfestigkeitsverhältnis
vergleicht das Dauerfestigkeitsverhältnis verschiede- 0,6
erholt 30CrNiMo8
ner Wärmebehandlungszustände eines niedrig legier- 0,5
ten Stahls (vergütete Zustände werden in Getrieben 0,4
T6
eingesetzt). Das Grenzlastspielfestigkeitsverhältnis bei
0,3
107 Lastwechseln wird durch die Ausscheidungswär-
vergütet
mebehandlung (T6) gegenüber dem lösungsgeglüh- AW 6082
ten, kalt ausgelagerten Zustand (T4) einer Aluminium- 0,2
Knetlegierung für Karosserieteile wesentlich vermin-
dert, obwohl die Grenzlastspielfestigkeit fast gleich
bleibt.
0,1
Zugeigenspannungen in Bauteilen, die bei der Fer- 0 1000 10.000
tigung oder Wärmebehandlung eingebracht werden, Streck- bzw. 0,2 %-Dehngrenze in MPa
reduzieren die Ermüdungsbeständigkeit, da sie sich
wie Zugmittelspannungen auswirken. Daher werden Abb. 15.90 Wertebereiche der Dauerfestigkeitsverhältnisse sD für ver-
schiedene Wärmebehandlungszustände eines niedrig legierten Stahls
manche Bauteile unter Druckmittelspannungen einge-
30CrNiMo8 (blau ) und Grenzlastspielfestigkeitsverhältnis sNG für den lö-
setzt, sodass die Überlagerung mit einer Wechsel- oder sungsgeglühten (T4) und den warm ausgelagerten, hochfesten (T6) Zustand
Zugschwellbelastung die Zugamplitude vermindert. der ausscheidungshärtenden Aluminium-Knetlegierung AlMgSi1 (AW6082,
Durch Kugelstrahlen einer metallischen Bauteilober- gelb )

σNG -Werte sind für eine Aluminiumknetlegierung im gen der Versetzungen mit den Kohlenstoffatomen nicht
Bonusmaterial Wöhler-Kurven (Bonusmaterial zu Ab- mehr überwinden können. Den Vorteil, dass ferritische
schn. 15.11, Abb. 15.12) eingetragen. Abbildung 15.89 Stähle einer Wechselbelastung σa < σD im Dauerbetrieb
zeigt den Verlauf einer Wöhler-Kurve (log S-log N) mit standhalten, bringen andere Metalle nicht, vor allem
den Streubreiten der Versuchsergebnisse. In der doppel- jene mit kubisch flächenzentrierten Kristallstrukturen
logarithmischen Darstellung zeigt der Zeitfestigkeitsbe- (inkl. austenitische Stähle). Keramiken und einige Kunst-
reich ein lineares Verhalten, das mit einem Potenzgesetz stoffe zeichnen sich auch durch Dauerfestigkeiten aus.
von Basquin beschrieben werden kann: σa NBb = cb , wobei Wie Abb. 15.89 zeigt, gibt es eine gewisse Unsicherheit
die Konstanten b und cb experimentell bestimmt werden über das Niveau der Dauerfestigkeit, die als Übergangs-
müssen. Unterhalb des Streubandes der Spannungsam- festigkeit bezeichnet wird. Bei Spannungsamplituden
plituden werden für die entsprechenden Lastspielzahlen unter der Übergangsfestigkeit sollen alle Proben mehr als
sichere Betriebsbedingungen erwartet. Bei glatten Proben 107 Lastwechsel überleben, sogenannte Durchläufer bei
für Wöhler-Versuche gibt es die Stadien der Einleitung Ermüdungsversuchen, die nicht brechen (siehe Bonusma-
von Primärrissen und der Ausbreitung von Sekundärris- terial: Wöhler-Kurven, Abb. 15.12).
sen (Abb. 15.85).
Reale Bauteile weisen oft fertigungsbedingte Kerben an
Die Fixierung der Versetzungen in ferritischen Stählen der Oberfläche auf (Gewindegänge einer Schraube sind
durch Kohlenstoffatome gilt als Ursache für die Streck- auch Kerben), sodass kaum Primärrisse beobachtet wer-
grenze im Zugversuch (Abschn. 15.6) und für die Tieflage den. Der Einfluss von Kerben auf die aus Wöhler-Kurven
im Kerbschlagversuch (Abschn. 15.9). Dieses Phänomen von glatten Proben bestimmte Zeit- und Dauerfestigkeit
bewirkt auch, dass ferritische Stähle eine Dauerfestigkeit kann mit definiert gekerbten Ermüdungsproben ermit-
σD aufweisen, sobald die Schubspannungen die Bindun- telt werden. Die Ergebnisse können mit denen aus glat-
462 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

ten Proben mittels der Kerbwirkungszahl β k verglichen 800


Baustahl S235 AlSiMg1
werden, die sich von der statischen Formzahl αk (Ab- Keramik bricht Druckbehälterstahl Epoxid
schn. 15.9, Abb. 15.62) unterscheidet: β k = σD /σDgekerbt 700 Siliziumnitrid

Belastungsspannung in MPa
bzw. β kN = σN /σNgekerbt , im Allgemeinen gilt β k < αk .

elast.
plastische Verformung σ > Re

Spaltb
600
σD

B ereic
ruch
Die Ermüdungsbeständigkeit eines Werkstoffes wird mit elastischer Verformungsbereich

Spal
500 (Druckkesselstahl)

h für
Si 3N 4
seiner statischen Zugfestigkeit Rm (bzw. dem Festigkeits-

tbru
modul σ0 ) durch das Dauerfestigkeitsverhältnis sD =

Si 3N

ch
400

K>
σD /Rm oder das Grenzlastspielzahlfestigkeitsverhältnis σD

Kc
plastische
sNG = σNG /Rm verglichen (Abb. 15.90). Diese Verhältnis-

(Dr
300 σ > Rp0,2 (AlSiMg1) Verformung

uck
Sp
elast. Bereich für AlSiMg1 σ > Re
werte bewegen sich bei Hightech-Keramiken im Bereich

ke
alt

sse
elast. Bereich

br
200 pa tah

ls
0,8–0,9, bei Metallen zwischen 0,3 und 0,7, bei Kunststof- hK

uc
für Baustahl ltb l)
σD ruc >K
fen zwischen 0,1 und 0,5. Für eine Bauteilauslegung bis zu h K> S2 3 c
Werkstoffkunde

100 Kc (A 5
bestimmten Lastspielen kann ein Zeitfestigkeitsverhält- σNG Spaltb
ruch lSiMg1
)
σNG elast. Bereich Epoxid
nis sN = σN /Rm definiert werden. Tabelle 15.16 ergänzt 0
die Werkstoffkennwerte in Tab. 15.7 mit Kerbschlag- 0,01 0,1 1 10 100 1000
kritische Risslänge in mm
werten, Bruchzähigkeiten und den Dauerfestigkeiten
(bzw. Grenzlastspielfestigkeiten) bei Schwingungen im Abb. 15.91 Belastungsgrenzen für Siliziumnitrid (Si3 N4 ) (gelb ), Druckkessel-
elastischen Bereich, sowie deren spezifischen Kennwer- stahl (blau ), Baustahl S235 (rot ), AW6082 (AlMgSi1, grün ) und Epoxy (rosa )
ten bezogen auf die Dichte der Werkstoffe. Daraus ist unter Berücksichtigung der Dauer- bzw. Grenzlastspielzahlfestigkeit, σD bzw.
ersichtlich, dass die Grenzen der Werkstoffbelastung bei σNG (horizontale, fette Linien ) gegenüber den Elastizitätsgrenzen (gestrichelt )
schwingender Beanspruchung wesentlich unter der stati-
schen Belastbarkeit liegen. Keramiken bieten die höchsten
spezifischen Festigkeiten (statisch und dynamisch) an, al- Zeit- und Dauerfestigkeiten sind niedriger
len voran Diamant. Wie beim statischen Festigkeitsmodul
σ0 gilt auch bei Wechsel- und Zugschwellbelastungen
als die Elastizitätsgrenzen
von Keramiken eine Überlebenswahrscheinlichkeit von
1/e (siehe Abschn. 15.10) für den Ermüdungsfestigkeits- Gegenüber den statischen Belastungsgrenzen in Abb.
modul. Unter den Metallen sticht die Titan-Legierung 15.65 sind in Abb. 15.91 die Grenzen für Wechselbelas-
Ti6Al4V mit den relativ höchsten, statischen und dynami- tungen im elastischen Bereich σD bzw. σNG eingetragen.
schen spezifischen Festigkeiten heraus. Diese Eigenschaft Die Dauerfestigkeit σD der Si3 N4 -Keramik (80 % des Fes-
ist für den Leichtbau attraktiv, kostet aber relativ viel. tigkeitsmoduls) ist wesentlich höher als die des Druckkes-
Der Unterschied in den spezifischen Elastizitätsgren- selstahls, dessen dynamische Belastungsgrenze bei 60 %
zen zwischen hochfesten Aluminium-Legierungen und der Streckgrenze liegt. Die hohe Dauerfestigkeit macht die
den angeführten Stählen ist nicht sehr groß, aber die Keramik attraktiv für die Turbine des Turboladers, sowie
spezifischen Grenzlastspielfestigkeiten der hochfesten für die druckschwellbelasteten Lagerkugeln. Die Dauer-
Aluminium-Legierungen liegen über den spezifischen festigkeit des Baustahls im ausgewählten normalisierten
Dauerfestigkeiten der Stähle. Der Nachteil der Alumi- Zustand beträgt etwa 70 % seiner Streckgrenze, während
nium-Legierungen ist das Fehlen einer Dauerfestigkeit, die Grenzlastspielfestigkeit σNG (107 ) der ausscheidungs-
aber vor allem der höhere Preis gegenüber Stählen. gehärteten Aluminium-Legierung AW6082 nur 35 % ih-
rer 0,2-%-Dehngrenze erreicht (vergleiche sD und sNG
in Abb. 15.90). Dies belegt einen wichtigen Vorteil von
Wechselbelastungen innerhalb des elastischen Ver- Stahl gegenüber Aluminium-Legierungen auch für Ka-
formungsbereiches können je nach Spannungsam- rosserieanwendungen. Der nutzbare elastische Bereich
plitude nach bestimmten Lastspielen Werkstoff- des Epoxidharzes senkt die Grenzlastspielfestigkeit bei
bruch verursachen. Das Ermüdungsverhalten wird
106 Zyklen auf 30 % seiner Streckgrenze. Die Verstärkung
mit Wöhler-Kurven (S-N-Diagrammen) beschrie-
mit Glas- oder Kohlenstofffasern erhöht die Ermüdungs-
ben. Die Zeitfestigkeit hängt von der Lastspielzahl
beständigkeit auf das Niveau der Faserstrukturen, aber
ab und ist mit der Basquin-Regel beschreibbar. Ei-
relativ große Herstellungsdefekte in Bauteilen aus fa-
nige Werkstoffe, vor allem ferritische Stähle, weisen
serverstärkten Kunststoffen limitieren die Ermüdungsbe-
eine Dauerfestigkeit auf, die aber wesentlich kleiner
ständigkeit von beispielsweise Windkraftturbinen. Damit
ist als die Elastizitätsgrenze.
wird deutlich, wie stark die Einsatzgrenzen bei schwin-
gender Belastung gegenüber den statischen Elastizitäts-
grenzen herabgesetzt werden müssen.
Frage 15.11.3
Was bedeuten die Begriffe Zeitfestigkeit, Grenzlastspiel- Mit den Ergebnissen der Wöhler-Kurve für reine Wech-
zahl, Zeitfestigkeitsverhältnis, Übergangsbereich, Dauer- selbelastungen mit der Zeitfestigkeit σN kann der Einfluss
festigkeit, Dauerfestigkeitsverhältnis? einer Mittelspannung σm = 0 auf die Zeitfestigkeit für die
gleiche Bruchlastspielzahl mit der Goodman-Regel abge-
Tab. 15.16 Beispiele wichtiger Kennwerte massiver, monolithischer Werkstoffe bei Raumtemperatur mit Zuordnung zu den Leitbeispielen (LB, fett) in Ergänzung zu Tab. 15.7: Dichte bei Raumtemperatur,
Elastizitätsmodul, Elastizitätsgrenze (Re , Rp0,2 oder Bruchmodul σ0 ), spezifische Elastizitätsgrenze, Kerbschlagarbeit KV , Bruchzähigkeitskennwert KIc , Dauer- bzw. Grenzlastspielzahlfestigkeit (σD oder mit *
markiert σNG ), Dauer- oder Grenzlastspielzahlfestigkeitsverhältnis (σD /Rm oder mit * markiert σNG /Rm ), spezifische Dauer- oder Grenzlastspielzahlfestigkeit, Grenztemperatur für Kriechvorgänge
Massivwerkstoffe ρ E Re , Rp0.2 , σ0∗ spezifische Kv KIc √ σD oder sD oder spezif. Dauer- Kriech-
in Mg/m3 in GPa in MPa Elastizitäts- in J bei RT in MPa m σNG ∗ sNG ∗ bzw. Grenz- beginn-
grenze in in MPa lastspiel*- temp.
MPa/(Mg/m3 ) Festigkeit in in °C
MPa/(Mg/m3 )
Kunststoffe
Silikonkautschuk (SIR) 1,1–1,5 (1-50) · 10−3 ca. 3 2–2,7 – 0,03–0,5 3–5 ∼
= 1/3 2–4,5 > −100
Polypropylen (PP) 0,9 0,9–2 20–37 22–41 – 3–4 12–18 ∼
= 1/2 13–20 > −10
Polyamid (PA 66 konditioniert) in 1,1 1,5–2,5 60–80 54–73 – 2–6 11–40* 0,1–0,6 10–36 > −60
LB-Ölwanne
Epoxy (EP) 1,2–1,3 2,5–4 50–80* 38–65 0,3–1 0,5–2 20–40 ∼
= 1/3 15–35 > −60
Keramiken & keramische Gläser
Acheson-Grafit 1,8–2,3 5–25 10–100* 4–55 – 0,2–0,4 8–80 ∼
= 0,8 4–40 > 1100
Diamant 3,2–3,5 1200 ca. 1200* 340–375 – 3–4 ca. 1000 ∼ 0,8
= 285–310 > 1750
γ-Al2 O3 (Tonerde) 3,5–4 240–380 350–590* 90–170 – 3–5 300–500 ∼
= 0,8 75–140 > 900
Siliziumkarbid α-SiC 3,1–3,2 350–450 400–610* 125–190 – 3–6 350–550 ∼
= 0,9 110–180 > 980
Siliziumnitrid β-Si3 N4 (Turbine) 3,2–3,4 290–330 700–900* 205–280 – 5–7 500–600 ∼
= 0,8 150–190 > 710
Borsilikat-Glas 2,2 64 22–32* 10–15 – 0,5–0,7 20–30 ∼
= 0,9 9–14 > 500
Metalle
Mg-Gusslegierung AZ91 1,8 45 125–165 70–90 – 10–20 80–110* ∼
= 0,6* 44–60* > 10
15.11

Al-Gussleg. AlSi12 (230, in LB- 2,7 73–75 120–150 44–55 7–10 15–40 90–120* ∼
= 0,4* 33–44 > 70
Motor)
Al-Knetleg. AlMgSi1 (AW6082) 2,7 70 250–300 90–110 – 40–70 120–130* ∼
= 1/2* 44–48* > 80
Ti6Al4V (α + β)-Legierung 4,4 115 ± 10 780–1080 180–245 40–60 50–100 600–700* ∼
= 0,6* 136–160* > 480
Messing CuZn30 8,55 114 300–400 35–47 60–75 30–70 200–300* ∼
= 1/2* 23–35* > 200
Grauguss GJV450 (LB-Motorblock) 7,1–7,3 160–185 450–550 60–80 25–45 30–50 200–300 ∼
= 1/2 30–45 > 300
Un-/niedriglegierter Stahl (LB- 7,85 210 ± 10 200–600 25–75 20–50 30–200 150–250 0,7–0,4 19–38 > 400
Zahnrad)
Rostfreier Stahl X5CrNi18-10 7,9 200 200–400 25–50 100–130 60–150 180–250* ∼
= 0,7* 23–32* > 390
Inconel718 Ni-Basis-Superlegierung 8,2 205 800–1100 100–135 8–12 120–150 700–900* ∼ 0,7*
= 85–110* > 380
(LB-Hochtemperaturturbine)
Werkstoffschäden durch Schwingungen
463

Werkstoffkunde
464 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Abb. 15.92 Betriebsbelas- n1


tungen mit unterschiedlichen n1 NB1
σa1

log
Spannungen; a unregelmäßige

Δσ
n2

log σa
Wechselbelastungen, die in b n2 NB2
σa2

=–
nach der Größenklasse der Span-

b·l
nungsamplituden σai geordnet n3

og
werden; c Die Anzahl der jewei- n3 NB3
σa3

NB
ligen Schwingungen ni bezogen
n4 NB4

+l
n4
auf die Bruchlastspielzahl NBi σa4

og
der entsprechenden monoto-

cb
nen Wechselbelastung aus der
Wöhler-Kurve stellt den bei σai
verbrauchten Lebensdaueranteil log n
dar, dessen Summe die Miner-
Werkstoffkunde

Regel ergibt q
n1 n2 n3 nq ni
+ + + … + = ≤1
NB1 NB2 NB3 NBq i =1 NBi

c Regel von Miner

a b

schätzt werden, solange die Oberspannung kleiner ist als im verformungsverfestigten Material im elastischen Be-
die Elastizitätsgrenze: reich. Bei Wechselbelastung bis zur Dehngrenze plastifi-
  ziert das Material durch die Spannungsumkehr bei jedem
σm
σN (σm ) = σN (σm = 0) · 1 − Zyklus in die Gegenrichtung. Tatsächlich können eini-
Rm ge Spannungsamplituden bei Metallen mit Verformungs-
bei σo = (|σm | + σa ) < Rp . verfestigung die Dehnungsamplituden vermindern. Die
Verfestigung bzw. Entfestigung eines Werkstoffes mit je-
Daraus ergibt sich, dass die Zeitfestigkeit umso mehr dem Zyklus spannungsgesteuerter Schwingungen ist in
abnimmt, je näher die Mittelspannung an die Elastizitäts- Abb. 15.93a schematisch dargestellt. Wird die Dehnungs-
grenze herankommt. amplitude mit plastischem Anteil konstant gehalten, be-
Im Bauteileinsatz sind die Schwingungsbelastungen oft wirkt die Verfestigung eine Erhöhung der Spannungs-
nicht monoton, sondern die Amplituden ändern sich amplitude, wie es in Abbildung 15.93b im unteren Dia-
regelmäßig oder statistisch (z. B. im Leitbeispiel Zahn- gramm gezeigt wird. Der umgekehrte Fall einer Entfesti-
rad). Die Bauteillebensdauer lässt sich bei derartigen gung kommt dann vor, wenn der Werkstoff bereits ver-
Betriebsbelastungen im elastischen Bereich nach der Re- formungsverfestigt ist und eine hohe Versetzungsdichte
gel von Miner abschätzen. Abbildung 15.92a zeigt eine aufweist. Dann können die Verformungszyklen Gleitebe-
unregelmäßige Folge von Spannungsamplituden, die in nen für die Versetzungen gleitfähiger machen („Schnei-
Abb. 15.92b nach Größenklassen geordnet sind. Es wird sen durch den Versetzungswald schlagen“), sodass mit
nun angenommen, dass die erfolgten Schwingungen ni den Verformungszyklen eine Entfestigung entsteht. Diese
mit einer Amplitude σa,i einen Teil NBi der Lebensdau- zeigt sich durch folgende Konsequenzen: bei konstanter
er verbrauchen, den der Werkstoff bei dieser Amplitude Spannungsamplitude erhöht sich die Dehnungsampli-
hätte, wenn diese konstant wäre. Die Summe der bei σi tude und bei konstanter Dehnungsamplitude wird die
verbrauchten Lebensdaueranteile ni /NBi darf 100 % des Spannungsamplitude vermindert (siehe Entfestigungszy-
Zeitfestigkeitspotenzials des Werkstoffs nicht überschrei- klen in Abb. 15.93).
ten, woraus sich die Miner-Regel in Abb. 15.92c ergibt.
Sowohl ver- als auch entfestigende Werkstoffe werden
durch die Lastwechsel geschädigt, indem sich Verfor-
mungsporen im Inneren und Gleitbänder an der Ober-
Ermüdungsversagen durch niedrige fläche bilden, an denen Risse entstehen und wachsen.
Plastifizierende Wechselbelastung führt nach bestimmten,
Lastspielzahlen mit plastischer Verformung relativ niedrigen Lastspielzahlen mit Amplituden unter-
halb der statischen Zugfestigkeit zum Bruch. Bei dem ein-
Was passiert, wenn die Spannungs- bzw. Dehnungsam- gangs erwähnten Beispiel eines gezogenen (verformungs-
plitude den elastischen Bereich übersteigt? Dies geschieht verfestigten) Drahtes bewirkt das plastifizierende Biegen
sicher, wenn Werkstoffe ohne Streckgrenze im ersten eine Entfestigung und mit weiteren Biegezyklen eine
Zyklus bis zur 0,2-%-Dehngrenze belastet werden. Die Schädigung durch Einschnürung und Rissbildung, die
weiteren Zyklen einer Zugschwellbelastung mit Ampli- ohne Erreichen der statischen Biegefestigkeit zum Bruch
tuden kleiner oder gleich der 0,2-%-Dehngrenze erfolgen führt. Wird ein Karosserieteil aus kaltgewalztem Stahl-
15.11 Werkstoffschäden durch Schwingungen 465

σ spannungsgesteuert σa = konst. Frage 15.11.4


σa
Welche Schwingungsamplitude ist für die Niedriglast-
Verfestigung spielzahl-Ermüdung wesentlich?
Rp0,1
εp Entfestigung
ε Wie verändert sich bei verfestigenden Werkstoffen die
HCF εa εa' < εa εa'' > εa Spannungsamplitude bei konstanter plastischer Deh-
σ = Eε nungsamplitude bzw. die Dehnungsamplitude bei kon-
stanter Spannungsamplitude?
a
σ σa''< σa
σa σa''
Rp0,1
εp'' < εp Entfestigung Temperaturwechsel erzeugen mechanische

Werkstoffkunde
ε Wechselbeanspruchungen

σa' >σa t Eine spezielle Ermüdungsbeanspruchung stellen Tem-


σ peraturwechselbelastungen dar, da die Werkstoffe bei
σa'
Temperaturerhöhung aufgrund ihres Ausdehnungskoef-
Rp0,1 σa fizienten (siehe Abschn. 15.4 und Tab. 15.6) expandieren
εp' < εp Verfestigung bzw. bei Temperatursenkung kontrahieren. Mechanische
Belastung entsteht, wenn im Bauteil Temperaturgradi-
ε enten auftreten und somit elastische Spannungen und
manchmal sogar plastische Verformungen innerhalb des
Bauteils verursachen. Besonders hohe Temperaturgradi-
εa = konst. enten treten bei raschen Temperaturänderungen auf, wie
b dehnungsgesteuert z. B. bei schnellen Kühlvorgängen (Abschrecken, Tem-
peraturschocks). Die thermischen Spannungen hängen
Abb. 15.93 Mechanische Hysteresen für Metalle bei Wechselbelastungen mit vom Ausdehnungskoeffizienten, vom E-Modul, der Elas-
plastischer Verformung (Dauerschwingbelastung im elastischen Bereich (HCF) tizitätsgrenze, der thermischen Leitfähigkeit λ und dem
zum Vergleich grün ); a Eine konstante Spannungsamplitude σa (höher als Rp0,1 Temperaturunterschied ΔT ab:
des Ausgangszustandes) erzeugt eine plastische Dehnungsamplitude ε p ; bei
konstanter Spannungsamplitude nimmt die Dehnungsamplitude bei Verfesti-
gung ab (ε a ), bei Entfestigung zu (ε a ); b eine konstante Dehnungsamplitude ε a im elastischen Bereich gilt die Basquin-Lebensdauerre-
vermindert die Spannungsamplitude bei Entfestigung (σa ), erhöht sie bei Ver- gel mit Δε el = αΔT < Elastizitätsgrenze: αE · ΔT · NBb =
festigung (σa ), Rp0,1 des Werkstoffs wird entsprechend verändert konst.
für Δσ > Elastizitätsgrenze gilt die Manson-Coffin-Re-
gel mit Δε pl = αΔT − Re /E: (αΔT − REe )NBc = konst.
blech einer Ermüdungsbelastung mit plastischer Verfor-
mung ausgesetzt (regelmäßiges Eindrücken des Koffer-
raumdeckels beim Schließen; mehrfache Unfalldellen, die Dabei werden temperaturbedingte Gefügeänderungen
wieder ausgebeult werden), so wird dieses entfestigen. vernachlässigt, die bei Metallen und Keramiken ab
Bis zu einer bestimmten, geringen Lastspielzahl mit klei- Temperaturen über 0,5 Ts zu erwarten sind (siehe Ab-
nen plastischen Verformungen können Bauteile in Ver- schn. 15.12). Die Konstanten müssen für jeden Werkstoff
wendung bleiben, ohne Risse zu bekommen. Diese Art im elastischen und plastischen Bereich separat experi-
der plastifizierenden Schwingungsbelastung wird des- mentell bestimmt werden. Je höher die thermische Leitfä-
halb Niedriglastspielzahl-Ermüdung genannt (engl. Low higkeit ist, desto kleinere Temperaturgradienten können
Cycle Fatigue = LCF) im Gegensatz zu den hohen Bruch- sich aufbauen: je höher E · α/λ, umso größer ist die
lastspielzahlen im elastischen Bereich (HCF). Thermoschockempfindlichkeit eines Werkstoffes. Hohe
Thermoschockempfindlichkeit weisen bekanntlich Glä-
ser und Keramiken auf, bei denen zwar der thermische
Zur LCF-Lebensdauerabschätzung dient die Man- Ausdehnungskoeffizient gering ist, aber auch die thermi-
son-Coffin-Regel, in der zum Unterschied zur Bas- sche Leitfähigkeit und andererseits der E-Modul relativ
quin-Regel die plastische Dehnungsamplitude ε p hoch sind. Optimal ist, wenn der Ausdehnungskoeffi-
ein Potenzgesetz der Bruchlastspielzahl NB erfüllt: zient fast null ist, dann bauen sich überhaupt keine
ε p NBc = cc = const. thermischen Spannungen auf (z. B. Glaskeramik für Koch-
platten).
466 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Beispiel: Simulation von Betriebsbelastungen

Die Belastung von Bauteilen im Einsatz umfassen a


meist unterschiedliche statische Belastungen und ein
Spektrum von Wechselbeanspruchungen. Durch die
Simulation dieser Beanspruchungen können Muster-
bauteile auf ihre Betriebsfestigkeit geprüft werden.
Betriebsfestigkeit bezeichnet den Widerstand des
Werkstoffes in einem Bauteil gegenüber den im Einsatz
auftretenden wechselnden Belastungen. Es ist dies eine
Werkstoffkunde

Kombination aus Werkstoffeigenschaft und einsatzge-


rechter Konstruktion, wobei die tatsächlichen Betriebs-
belastungen erforscht werden müssen, um sie simulie-
ren zu können. Abbildung 15.94a zeigt die Biegeprü-
fung eines am Flugzeugrumpf montierten Flügels mit
mechanischen Belastungen durch hydraulische Ak- b c ΔKI d ΔKII
tuatoren. Abbildung 15.94b zeigt die Simulation der
komplexen Belastungen eines Mountainbikes. Die häu- Abb. 15.94 Beispiele für Betriebsfestigkeitsprüfungen; a Biegewechsel-
figste Bruchursache ist der Rissfortschritt eines durch belastung eines Flügels der Boeing 787; b Belastungssimulation eines
einmalige Überbelastung entstandenen Einrisses eines Mountainbikes, der Räder, des Rahmens, des Lenkers und des Sattels; c Kom-
Flügels, eines Fahrradrahmens oder der Sattelstange, bination der Wechselbelastungen einer Sattelstange eines Fahrrads, die bei
eingeleitetem Riss durch Biegung Zug-Druckschwingungen mit ΔKI und
die sowohl wechselnden Biege- (d. h. Zug und Druck), d Torsionsbelastungen mit ΔKII erfährt (die Schnabelhälften der Ente zeigen
ΔKIc , als auch Torsionsbelastungen, ΔKIIc , ausgesetzt die am Riss angreifenden Kräfte für die Orientierung I und II). Für Ergeb-
sind, wie in Abb. 15.94c, d für eine Sattelstange veran- nisse an Ölfeldrohren siehe Bonusmaterial: Fraktografie und Zeitfestigkeit,
schaulicht wird. Abb. 15.15

Thermische Spannungen bauen sich vor allem in Werk- steigender Temperatur nehmen bei allen Werkstoffen so-
stoffverbunden mit unterschiedlichen Ausdehnungsko- wohl der E-Modul (Bonusmaterial zu Abschn. 15.5: Ener-
effizienten und E-Moduln auf, wenn also gilt: E1 α1 = gieelastizität, Abb. 15.1a) als auch die Elastizitätsgrenze
E2 α2 . Selbst bei Temperaturänderungen, die in beiden ab. Bei Polymeren ist die Abnahme der Steifigkeit und
Werkstoffen ausgeglichen verlaufen, entsteht eine ther- Festigkeit wegen der schwachen Sekundärbindungen re-
misch induzierte Spannung Δσ = (E1 · α1 − E2 · α2 )ΔT, lativ stark, besonders über der Glasübergangstempera-
was beim Bimetallthermometer genützt wird (siehe Auf- tur (Bonusmaterial zu Abschn. 15.5: Energieelastizität,
gabe 15.4f), aber bei hohen Lastspielzahlen zur Ermüdung Abb. 15.1b und Abb. 15.2). Die dominanten Atombin-
des Werkstoffpartners mit geringerer Temperaturwech- dungen der Keramiken bewirken eine geringe Tempe-
selbeständigkeit führen kann. raturabhängigkeit der mechanischen Eigenschaften. Die
Elastizitätsgrenze, also die Spannung, bei der plastische
Verformung einsetzt, sinkt bei allen Werkstoffen mit stei-
gender Temperatur proportional zu ihrer Schmelztempe-
15.12 Festigkeit bei höheren ratur, da die Beweglichkeit der Atome zunimmt.
Temperaturen
Zahlreiche Maschinen und Anlagen werden erhöhten Die Beweglichkeit der Atome
Temperaturen ausgesetzt. Abbildung 15.96 zeigt einige steigt mit der Temperatur
Beispiele für den Einsatz der Werkstoffgruppen in ver-
schiedenen Temperaturbereichen. Die Obergrenze für die
mechanische Belastbarkeit von Werkstoffen wird durch In Gasen und Flüssigkeiten sind die Atome bzw. Molekü-
deren Temperaturstabilität gesetzt. Nur kubisch raum- le leicht verschiebbar und können sich durch Konvektion
zentrierte Metalle (im Speziellen ferritische Stähle) und bewegen. In Festkörpern nehmen die Atome bestimmte
Kunststoffe erfahren eine Versprödung bei Temperatu- Positionen ein, für deren Bewegung Platzwechselvorgän-
ren unterhalb der Raumtemperatur (Abschn. 15.9). Mit ge erforderlich sind. Diese werden durch freie Atom-
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 467

Übersicht: Basquin-Regel für Zeitfestigkeit und Manson-Coffin-Regel


für Niedriglastspielzahl-Ermüdung

Wechselbelastungen mit und ohne plastischer Verfor- Niedriglastspielzahl- Zeitfestigkeits-


mung zeigt Abb. 15.95 qualitativ in doppellogarith- ermüdung (LCF) verhalten (HCF)
elasto-plastische elastische
mischen Darstellungen; Abb. 15.95a zeigt die Span- Dehnungsamplituden Dehnungsamplituden
nungsamplituden, b die Dehnungsamplituden für die
Niedriglastspielzahl-Ermüdung und die Zeitfestigkeit. Rm
In beiden Bereichen ergeben die Dehnungsamplituden Basquin:
über der zugehörigen Bruchlastspielzahl Geraden un- σa · NBb = cb

log σa

Werkstoffkunde
terschiedlicher Steigung: die Manson-Coffin-Lebens-
dauerregel im plastischen Bereich (Exponent c) und die b = (0,06–0,13)
Basquin-Lebensdauerregel im elastischen Bereich (Ex- Rp0,2
ponent b) bei Anwendung des Hooke’schen Gesetzes.
Die Spannungsamplituden ergeben nur im elastischen
Schwingungsbereich das Potenzgesetz nach Basquin.
Die Exponenten und die Konstanten müssen für jeden log σa = –b·log NB + log cb
a
Werkstoff experimentell bestimmt werden.
Manson-Coffin:
A εp · NBc = cc εa = σa / E < Rp / E

log εp c = (0,5– 0,6)


Übergangsbereich

εa = Rp /E
Abb. 15.95 Lebensdauerregeln nach Manson-Coffin für die Niedrig-Last-
spielzahlermüdung (LCF) mit plastifizierenden Amplituden (rot ) und nach
Basquin für die Zeitfestigkeit im elastischen Bereich (HCF); a doppellogarith-
log εa

mische Darstellung der Spannungsamplitude über der Bruchlastspielzahl mit log εp = –c·log NB + log cc log εa = –b·log NB + log (cb /E )
einer Geraden der Basquin-Regel unterhalb Rp ; b doppellogarithmische Dar-
stellung der Dehnungsamplituden über der Bruchlastspielzahl mit Geraden
für die plastischen Dehnungsamplituden gemäß Manson-Coffin und für die
elastischen Dehnungsamplituden gemäß Basquin 1/4 102 ~ 104
= 106
b log NB

a Verbrennungs- b Wärmetauscher c Al-Gießformen d Gasturbinen e Raketen- f Schmelztiegel


motoren Dampfturbinen, triebwerke
Warmumformwerkzeuge

RT 200 400 600 800 1000 1200 in °C

Mg-, Al-Legierungen warmfeste Stähle Superlegierungen Keramiken


Kunststoffe Ti-Legierungen Warmarbeitsstähle Mo-, W-Legierungen

Abb. 15.96 Beispiele für Maschinen und Anlagen mit erhöhten Einsatztemperaturen und die dafür geeigneten Werkstoffgruppen
468 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

II unterschieden. Für die Diffusionskoeffizienten gilt die


analoge, exponentielle Temperaturabhängigkeit wie für
die Leerstellenkonzentration: D(T ) = D0 exp (−EA /RT ).
I III Die Diffusionskonstante D0 ist ein Maß für die Sprung-
frequenz des betreffenden Atoms im Festkörper mit der
L L Einheit (m2 /s). Die Aktivierungsenergie EA für die Platz-
wechselvorgänge in einem Mol des betreffenden Materi-
a
als wird auf das Produkt aus universeller Gaskonstante
R und der absoluten Temperatur T bezogen. Abbildung
Energiezustand des Atoms

15.98 stellt die Temperaturabhängigkeit des Selbstdiffu-


Aktivierungs- sionskoeffizienten einiger Metalle den Diffusionskoeffi-
Werkstoffkunde

energie zienten von substitutionellen und interstitiellen Fremd-


eA atomen in einem Arrhenius-Diagramm (siehe Vertiefung
„Leerstellen in Kristallen – Arrhenius-Diagramm“) ge-
Grundzustand
genüber. Die Diffusionskoeffizienten von Kohlenstoff in
I II III ferritischen Stählen sind höher als in austenitischen Stäh-
len. Beide liegen bei 500 °C um vier Größenordnungen
über dem Selbstdiffusionskoeffizienten von Eisen in der
jeweiligen Struktur. Der Diffusionskoeffizient des Substi-
tutionsatoms Kupfer in Aluminium liegt zwischen dem
der interstitiellen Kohlenstoffatome in kubisch flächen-
b
und kubisch raumzentriertem Eisen.
Abb. 15.97 Platzwechselvorgänge in einem Kristallgitter; a bei einem Gitter-
atom neben einer Leerstelle; b bei einem Zwischengitteratom; ein Platzwechsel Frage 15.12.1
erfordert eine Aktivierungsenergie EA pro Atom (eA ), um von der Position I über
die energiereichere Engstelle II in die Position III zu kommen, wo diese Energie Welche Funktion beschreibt die Temperaturabhängigkeit
wieder frei wird der Platzwechselvorgänge in Festkörpern und wie wird
sie grafisch als Gerade dargestellt; was bedeutet die Stei-
gung dieser Geraden?
positionen, sogenannte Leerstellen (Abb. 15.9) bzw. bei
amorphen Stoffen über freie Volumina wesentlich er-
leichtert. Abbildung 15.97a zeigt schematisch den Wech- Aufgrund der statistisch ablaufenden Platzwechselvor-
sel eines Atoms von einer Position im Kristallgitter zur gänge in einem Festkörper sind gelöste Fremdatome be-
benachbarten Position einer Leerstelle. Zwischengitter- strebt, sich gleichmäßig zu verteilen. Der Materialfluss J
atome benötigen nur freie Zwischengitterplätze, um sich pro Fläche (mol oder g pro m2 und s) in Richtung x ist
bewegen zu können (Abb. 15.97b). Für den Platzwech- mittels des Diffusionskoeffizienten D (m2 /s) der Konzen-
sel ist vorübergehend Energie erforderlich, die danach trationsänderung in Flussrichtung ∂c/∂x (mol oder g pro
wieder frei wird: eine Aktivierungsenergie EA pro Atom m³ und m) proportional. So ergibt sich das 1. Fick’sche Ge-
(eA ), die für Atome auf Gitterplätzen höher ist als setz: Jx = −D(T )(∂c/∂x) bzw. räumlich J = −D∇c (siehe
für Zwischengitteratome. Die Platzwechsel erfolgen in Bonusmaterial Diffusionsgleichung).
amorphen Stoffen ähnlich über größere Nahordnungs-
abstände, aber mit einer lokalen Streuung der Aktivie- Wenn zwei unterschiedliche Feststoffe atomistisch in
rungsenergien. Mit steigender Temperatur nehmen die Kontakt sind, verursachen die statistischen Platzwech-
Bindungskräfte ab, die Frequenz und Amplitude der selvorgänge eine Vermischung der beiden Stoffe. Abbil-
Schwingungen der Atome, sowie die Anzahl der Leerstel- dung 15.99 zeigt schematisch, wie angrenzende Atom-
len nv steigen, somit auch die Beweglichkeit der Atome positionen verschiedener Stoffe mittels Leerstellen die
(siehe Vertiefung „Leerstellen in Kristallen – Arrhenius- Seiten wechseln können. Da der Materialfluss mit stei-
Diagramm“). gendem Diffusionskoeffizienten zunimmt, erfolgt die Ver-
mischung mit steigender Temperatur schneller. Bei kon-
Die Beweglichkeit der Atome im Festkörper wird Diffusi- stanter Temperatur wird der anfangs steile Konzentrati-
on bezeichnet. Diffusion beruht auf der ungerichteten Zu- onsgradient immer flacher, das bedeutet, dass der Ma-
fallsbewegung von Teilchen aufgrund ihrer thermischen terialfluss mit der Zeit abnimmt (siehe Bonusmaterial:
Energie, die deren Schwingungen um ihren Gitterplatz Diffusionsgleichung, Abb. 15.18). Erst nach langer Zeit
bewirken. Es wird zwischen Selbstdiffusion (Diffusion (theoretisch unendlich langer Zeit) wird im gesamten
der Atome zwischen gleichartigen Atomen) und Fremd- Körper eine gleichmäßige Konzentration der beiden Stof-
diffusion (Diffusion von Fremdatomen im Wirtsgitter) fe erzielt.
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 469

Abb. 15.98 Arrhenius- Temperatur T in °C


Diagramm von Diffusionsko- 1500 1200 1000 800 600 500 400
effizienten für Selbstdiffusion 10–4
einiger Metalle, für die Diffusion
einiger Substitutionselemente 10–6 ln D = –(EA/R) ·1/T + ln D0
(unterhalb 0,4 TS gestrichelt ):

Diffusionskoeffizient ln (D in m2/s)
Nickel in Eisen, Mangan in Eisen, 10–8
Zink in Kupfer und Kupfer in Alu- C = Einlagerungselement
minium, sowie von interstitiellem 10–10 C in
Kohlenstoff in austenitischem (ku- krz F
e
bisch flächenzentriertem) Eisen, –12
10 Cu in C in kfz Fe
in ferritischem (kubisch raumzen-
Al
triertem) Eisen (außerhalb der
10–14
Gleichgewichtsphasenbereiche Fe Ag

Werkstoffkunde
gestrichelt ) und in hexagonal –EA/R in in A C in
–16 kfz g hdp
dichtestem (hdp) α-Titan (bei 10 Fe Ti
Mn Cu
hohen Temperaturen wegen Kar- Fe in C
in in u
bidbildung gestrichelt ) 10–18 kfz krz Zn in Cu
Fe Fe
10–20
Ni in kfz Fe
10–22
Substitutionselemente
10–24
0,5 1,0 1,5
Temperatur 1/T in 1000/K

cA = 1, cB = 0 cA = 0, cB = 1 In Metallen ist die Diffusionsgeschwindigkeit entlang


Versetzungen ähnlich groß wie an Korngrenzen, wobei
der Materialfluss auf den Versetzungskern beschränkt ist.
Die diesbezüglichen Unterschiede der Diffusionskoeffizi-
enten und der zugehörigen Aktivierungsenergie EA sind
in Abb. 15.100 dargestellt. Die Diffusion an der Oberflä-

c cA = 1 cB = 1
Ts T in K 0,4 Ts
2000 1500 1000 800 700 500
cB = 0 cA = 0 10–8
Mischzone
EAK > EAKG > EAS an der –EAS /R
Oberfläche
Diffusionskoeffizient ln (D in m2/s)

10–10
–EAKG /R
an Korngrenzen
gleichmäßig cA + cB = 1 10–12 und entlang
Versetzungen

–EAK /R
10–14
im
ungestörten
Kornvolumen
10–16
Abb. 15.99 Schematische Darstellung der Interdiffusion zweier Stoffe A und B 0,5 1 1,5 2
mithilfe von Leerstellen; der Materialfluss erzeugt eine Mischzone, bis der örtli- 1/T in 1000 ∙ K–1
che Konzentrationsausgleich beider Stoffe erreicht wird
Abb. 15.100 Arrhenius-Diagramm der Selbstdiffusionskoeffizienten von Silber
als Beispiel für die Unterschiede zwischen den Diffusionskoeffizienten und de-
In Festkörpern gibt es an der Oberfläche und in polykris- ren Aktivierungsenergien im Korn EAK , an Korngrenzen und Versetzungen EAKG
tallinem Material entlang Korngrenzen wesentlich leich- sowie an der Oberfläche EAS ; Querschnitt eines Korngefüges mit Probenrand
tere Diffusionswege als im Werkstoff- bzw. Korninneren. (oben)
470 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Vertiefung: Leerstellen in Kristallen – Arrhenius-Diagramm

In einem Kristallgitter hängt im Gleichgewichtszu- T in K


stand die Anzahl der Leerstellen exponentiell von der 900 800 700
–6
Temperatur ab. Die Temperaturabhängigkeit der Leer-
stellendichte wird im Arrhenius-Diagramm als Gerade L
dargestellt. L
–7

Leerstellenkonzentration ln nv/N
L
L
Die Leerstellenkonzentration bei einer Gesamtzahl N L
von Gitterpositionen in einem Festkörper nv /N = L
–8
Cv exp(−EAV /kT ) steigt proportional mit einer Kon- Anstieg –(EAV /k)
Werkstoffkunde

stanten Cv und exponentiell mit dem Exponenten Bil-


dungsenergie EAV geteilt durch die Boltzmann-Kon- –9
stante k und die Temperatur T in K. Diese expo-
nentielle Abhängigkeit von 1/T wird in sogenannten
Arrhenius-Diagrammen mit den Achsen y = ln(nv /N ) –10
ln(nv /N) = –(EAV /k) ·1/T + ln Cv
und x = (1/T ) als Gerade dargestellt, deren Steigung
(−EAV /k) zur Bildungsenergie proportional ist.
–11
Dieses Arrhenius-Diagramm stellt die Zunahme der
Leerstellenkonzentration mit steigender Temperatur
T(K) dar; die Steigung der Geraden in der doppello- –12
1 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5
garithmischen Darstellung ergibt die Bildungsenergie
1/T in 1000 K –1
EAV für Leerstellen (L) bezogen auf die Boltzmann-
Konstante k.

che wird schon unterhalb der homologen Temperatur von Versetzungen können Gleitebenen
0,4 Ts (in K) mit relativ kleiner Aktivierungsenergie EAS
durch thermische Aktivierung verlassen
signifikant. Ab etwa 0,4 Ts gewinnt die Diffusion entlang
der Korngrenzen und Versetzungen (EAKG ) an Bedeu-
tung, aber im Korn mit der höchsten Aktivierungsenergie In Abschn. 15.6 wurde das Gleiten der Versetzungen
EAK erst ab etwa 0,7 Ts . Die Atombindungen in inter- ab einer bestimmten kritischen Schubspannung beschrie-
metallischen Phasen werden bei Temperaturen ab 0,5 Ts ben. Bei erhöhter Temperatur nehmen die Bindungskräfte
schwächer, sodass die Versetzungsbewegung in diesen zwischen den Atomen ab, was an der Abnahme des E-
Überstrukturen erleichtert wird. Werkstoffe aus interme- Moduls erkennbar ist (Bonusmaterial zu Abschn. 15.5:
tallischen Phasen verlieren bei hohen Temperaturen ihre Energieelastizität, Abb. 15.1) und eine Abnahme der kri-
Sprödigkeit und werden verformbar. In Keramiken tritt tischen Schubspannung bewirkt. Darüber hinaus wird
bei hohen Temperaturen nur Korngrenzendiffusion in die Wirkung der Gleithindernisse durch eine Tempera-
Erscheinung, was diese mit langsamer Geschwindigkeit turerhöhung vermindert. Versetzungssegmente können
verformbar macht. Je feiner ihr Korn ist, umso besser ver- ihre Gleitebene durch Diffusion über kleine Distanzen
formbar werden sie. verlassen, um Gleithindernisse zu überwinden. Abbil-
dung 15.101 skizziert, wie eine Versetzung über eine Aus-
scheidung oder ein Dispersoid „klettern“ kann. Wenn in
der Gleitebene eine Schubspannung auf eine Versetzung
Thermisch aktivierte Platzwechselvorgänge von
wirkt, entsteht eine sogenannte Kletterkraft aus der Wech-
Atomen erfolgen in kristallinen Materialien über
selwirkung mit der abstoßenden Kraft des Gleithindernis-
Leerstellen, in amorphen Stoffen durch freie Volumi-
ses. Diese Kräfte bewirken, dass die ursprünglich unge-
na. Die Diffusionsgeschwindigkeit steigt exponenti-
richteten Platzwechselvorgänge in die Zugrichtung aus-
ell mit der Temperatur. Diffusion bewirkt mit der
gerichtet werden. Das Wegdiffundieren von Atomen vom
Zeit eine Abnahme der Konzentrationsgradienten
Versetzungskern ins Korn und wesentlich schneller ent-
bzw. der chemischen Potenziale.
lang der Versetzung ermöglicht die Verschiebung der Ver-
setzung aus der Gleitebene heraus, was als nicht konser-
vative (thermisch aktivierte) Versetzungsbewegung mit
Klettern bezeichnet wird. Das Versetzungshindernis kann
durch die lokal auftretende Diffusion überwunden wer-
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 471

τb tanθ Abstoßungskraft der Ausscheidung


Kletter- Versetzung b Netzebene
kraft θ begrenzt
orn
auf die Gleitebene
n im K durch
usio Versetzung
Versetzung
Gleitkraft Diff
Ausscheidung ung
Schubspannung τ rsetz
a Dispersoid Ve

ion
Versetzung fus g Diffusion
klettert Dif ntlan an der Grenzfläche
Atome e
diffundieren der Ausscheidung
weg oder des Dispersoids
c b

Werkstoffkunde
Abb. 15.101 Schematische Darstellung des Kletterns einer Versetzung um eine Ausscheidung oder ein Dispersoid; a Eine Schubspannung τ erzeugt eine Gleitkraft,
und mit der Abstoßungskraft des Versetzungshindernisses resultiert eine Kletterkraft, die den Versetzungskern durch Diffusion verschiebt, wodurch b die Versetzung
das Hindernis überwindet; c schematische Darstellung des Klettervorganges einer senkrecht zur Zeichnungsebene verlaufenden Stufenversetzung

250 gen auch über 600 °C. Titan ist bis 500 °C den anderen
CFK Legierungen überlegen, aber wesentlich teurer. Berylli-
200 um ist wegen seiner Giftigkeit und seines hohen Preises
Rp0,2 /ρ in MPa/(g/cm³)

kein Konkurrenzwerkstoff. Über 500 °C bleiben vor allem


150 Superlegierungs- Nickel-Basislegierungen mit Überstrukturphasen (Super-
Ti-Legierungen einkristalle legierungen) einsatzfähig.
100 intermetallisches
TiAl Frage 15.12.2
fer CMC
riti
50
sch
e, a
Super- Weshalb können Versetzungen bei erhöhter Temperatur
uste legierungen
nitsch ihre Gleitebene verlassen?
Al-Legierungen e Stähle
0 Warum sinkt mit steigender Temperatur die Elastizitäts-
1 500 750 1000 1250 1500 grenze?
Temperatur T in K

Abb. 15.102 Temperaturabhängigkeit der spezifischen 0,2-%-Dehngrenzen


aus Warmzugversuchen an verschiedenen Werkstoffen; CFK = kohlenstofffaser-
verstärkte Kunststoffe, CMC = Keramikmatrix-Verbundwerkstoffe Werkstoffgefüge werden durch Diffusion
verändert: Erholung und Rekristallisation
den, worauf die Versetzung bis zum nächsten Hindernis
der Körner
gleiten kann. Dort kann ein weiterer Klettermechanismus
wirksam werden, was umso rascher abläuft, je höher die Amorphe Stoffe (Gläser, Thermoplaste) gehen über der
Temperatur ist. Glasübergangstemperatur in den kristallinen bzw. teil-
kristallinen Zustand über und entwickeln Kornstrukturen.
Die erhöhte Beweglichkeit der Versetzungen hat zur Innere Spannungen in Festkörpern können durch erhöh-
Folge, dass die Dehngrenzen (Elastizitätsgrenzen) mit te Beweglichkeit der Atome mit steigender Temperatur
steigender Temperatur sinken. Zugversuche werden bei durch Diffusion abgebaut werden, was mit Materialer-
Dehnraten zwischen 10−2 und 10−4 s−1 durchgeführt, so- holung bezeichnet wird. Verformte Metalle mit hoher
dass für die Bestimmung der 0,2-%-Dehngrenze weniger Versetzungsdichte (Abschn. 15.6) können ihr Gefüge
als 1 min erforderlich sind. In dieser kurzen Zeit können durch Umordnung der Versetzungen verändern. Abbil-
bei erhöhter Temperatur nur kleine Diffusionswege zu- dung 15.103 zeigt schematisch, wie thermisch aktivierte
rückgelegt werden, die aber ausreichen, um Versetzungs- Versetzungsbewegungen innere Spannungen abbauen
hindernisse zu überwinden. Abbildung 15.102 vergleicht können. Versetzungen mit entgegengesetzten Vorzei-
die Warmfestigkeit einiger Metalle bezogen auf ihre Dich- chen desselben Gleitsystems können sich auslöschen.
te. Aluminium- und Magnesium-Legierungen sind bei Andere Versetzungen ordnen sich so an, dass die inne-
relativ steilem Abfall der Festigkeit bis etwa 200 °C ein- ren Spannungen vermindert werden. Die Randbedingung
setzbar. Stähle sind in der spezifischen Festigkeit nicht der Kornform bleibt erhalten, aber im Inneren des Korns
nur wettbewerbsfähig sondern auch bei erhöhten Tempe- entstehen Versetzungsreihen, die die lokalen Verfor-
raturen einsetzbar, insbesondere austenitische Legierun- mungen aufnehmen. Die Körner werden in nahezu
472 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

schalteter Erholungsglühungen können durch mehrfache


Kaltumformschritte hohe Umformgrade (z. B. beim Zie-
hen, Walzen, etc., siehe Abschn. 30.3) erzielt werden.
In stark verformten Metallen, z. B. in kaltgewalztem Blech
wie in Abb. 15.104a, entsteht oberhalb der Rekristal-
a c lisationstemperatur eine neue Kornstruktur, wie Abb.
15.104b zeigt. Hierfür entstehen an Orten höchster innerer
Diffusion Spannungen, wie Korngrenzenknoten (Tripelkorngren-
von zen), Keime für neue Körner mit eigenen Kristallorien-
Atomen
tierungen. Die Diffusion ermöglicht das Wachstum dieser
Korn-Keime, bis das ursprüngliche Gefüge vollständig
Werkstoffkunde

durch neue, versetzungsarme Kornorientierungen rekris-


b d tallisiert ist. Abbildung 15.105 illustriert den Rekristalli-
sationsvorgang im Vergleich zur Erholung von Körnern.
Abb. 15.103 Schematische Darstellung der Erholung eines versetzungsreichen Vollkommen erholtes Gefüge besitzt keine Orte hoher
Kristalls; a hohe Versetzungsdichte symbolisiert durch Stufenversetzungen (⊥);
innerer Spannungen mehr, weshalb es nicht mehr gleich-
rote Pfeile zeigen Versetzungspaare, die sich auslöschen können; b Auslöschung
von Versetzungen durch spannungsinduzierte Diffusion; c erholte Versetzungs- mäßig rekristallisieren kann. Bei höherer Temperatur kön-
anordnung in Kleinwinkelkorngrenzen, die Gestalt des Kornes aus a bleibt nen einzelne Körner in erholtem oder rekristallisiertem
erhalten ebenso wie durch Subkornbildung; d Kleinwinkelkorngrenzen bilden Gefüge extrem wachsen, was mit sekundärer Rekristal-
Subkörner in einem Korn lisation bezeichnet wird (Abb. 15.104d). Die Korngröße
von statisch rekristallisiertem Gefüge hängt von mehre-
ren Faktoren ab. Grundsätzlich sind ein kritischer Ver-
versetzungsfreie Subkörner mit Kleinwinkelkorngren- formungsgrad und eine Mindesttemperatur (Rekristalli-
zen unterteilt (Abb. 15.105b). Dieser thermisch induzierte sationstemperatur) über eine gewisse Zeit erforderlich
Abbau von inneren Spannungen durch Subkornbildung (Abb. 15.104c).
wird als Erholung der Kristallkörner bezeichnet. Die
Größe der Subkörner bewirkt eine Feinkornhärtung ge- Die Abhängigkeit der Korngröße von Verformungsgrad,
genüber der ursprünglichen Korngröße (Bonusmaterial Temperatur und Glühdauer ist Abb. 15.106 dargestellt.
zu Abschn. 15.6: Durchstrahlungselektronenmikroskopie, Je höher der Verformungsgrad des Ausgangsgefüges ist,
Abb. 15.6c), jedoch baut die abnehmende Versetzungs- umso mehr Keime neuer Körner bilden sich, sodass klei-
dichte die vorhergehende Verformungsverfestigung ab. nere Körner entstehen als im Ausgangsgefüge waren. Es
Im Allgemeinen nimmt die Elastizitätsgrenze durch Erho- kommt zu einer Kornfeinung, die Feinkornhärtung be-
lung ab. Die gebildeten Subkörner erhöhen die Duktilität wirkt (Abschn. 15.6). Je höher die Glühtemperatur über
wegen der reduzierten Versetzungsdichte. Das Metall der Rekristallisationstemperatur liegt, und je länger die
kann wieder kaltverformt werden. Mittels zwischenge- Glühdauer gewählt wird, umso mehr können Körner

Glühzeit t = konst.
sekundäre
Rekristallisation

1 mm
d
a 103 600
Korngröße in mm2

500
C

1 400

Ti

300
10–3
3 10 50 90
100 µm Dickenabnahme
b c durch Walzen in %

Abb. 15.104 a Längsschliff mit gestreckten Körnern eines kaltgewalzten Stahlblechs; b rekristallisiertes Gefüge dieses Blechs; c Abhängigkeit der Korngröße von
Walzverformung und Glühtemperatur bei konstanter Glühdauer für ein Al-Blech; d Lichtmikroskopie eines rekristallisierten Gefüges mit einem Bereich sekundärer
Rekristallisation mit extremem Kornwachstum
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 473

verformtes Gefüge

t = konst.

Korngröße
T = konst.

Keimzahl

a Vkrit Verformungsgrad φ
a

Erholung Rekristallisation Wachstumsgeschwindigkeit

Werkstoffkunde
Korngröße
t = konst.
V = konst.
10%
Keimzahl

b TRekristallisation Glühtemperatur T

Subkorngrenzen Rekristallisationskeime Wachstum

Korngröße
V = konst.
T = konst.
70%

c Glühdauer t

b c Abb. 15.106 Prinzipielle Abhängigkeit der Korngröße von statischen Rekris-


tallisationsbedingungen; a Ab einem kritischen Verformungsgrad (Vkrit ) kann
Abb. 15.105 a Schematische Gefügeänderungen von Körnern mit hoher Ver- Rekristallisation erfolgen, mit steigendem Verformungsgrad erhöht sich die
setzungsdichte; b Erholung (kann nicht mehr rekristalliseren); c Rekristallisation Keimzahl, die Körner werden kleiner; b Ab der Rekristallisationstemperatur TR
bis 70 % des Gefüges nimmt die Keimzahl ab und die Körner wachsen mit steigender Temperatur
schneller; c Ab einer kritischen Glühdauer t wachsen kleine, rekristallisierte Kör-
ner mit der Rekristallisationsglühdauer; in b und c nimmt die Zahl der Körner
durch Diffusion wachsen, während energetisch ungünstig mit deren Wachstum ab, da Körner verschwinden
orientierte verschwinden. Aluminium-Legierungen re-
kristallisieren erst bei relativ hohen Temperaturen, aber
sie sind sehr empfänglich für sekundäre Rekristallisati-
on, die in Abb. 15.104d dargestellt ist. Plötzlich wachsen Diffusion ermöglicht thermisch aktivierte, nicht kon-
Millimeter große Körner. Dies passiert oft an stark ver- servative Versetzungsbewegungen aus ihrer Gleit-
formten Oberflächen stranggepresster oder geschmiede- ebene heraus, was Kristallerholung bewirken kann.
ter Teile, was die Rissempfindlichkeit eines Bauteils er- An stark gestörten Kristallbereichen können Keime
höht. Die Abhängigkeit der mechanischen Eigenschaften für neue Kristallorientierungen entstehen, die mit
vom Rekristallisationsgefüge wird in Abb. 15.107 schema- der Zeit wachsen und ein rekristallisiertes Gefüge er-
tisch gezeigt. Die Dehngrenze im Warmzugversuch und zeugen.
somit auch die Fließspannung für die Warmformgebung
(Abschn. 15.8) sinken. Im Bereich des Kornwachstums
nimmt die Duktilität ab.
Während beim Zugversuch bei Raumtemperatur Ver-
formungsverfestigung stattfindet, erfahren Metalle wäh-
rend des Warmzugversuches diffusionsgesteuerte, dyna-
Frage 15.12.3
mische Erholungs- oder Rekristallisationsmechanismen.
Weshalb und wodurch können metallische Körner von in- Mit steigender Verformungstemperatur nimmt die Elas-
neren Spannungen erholt werden? tizitätsgrenze (Fließspannung) wegen der Abnahme der
Was ist der Unterschied zwischen Erholung und Rekris- kritischen Schubspannung durch die thermisch aktivier-
tallisation von Metallen? te Beweglichkeit der Versetzungen ab. Abbildung 15.108
vergleicht temperaturabhängige Zugversuchskurven des
474 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

600 60 niedriglegierten Einsatzstahles 17CrNi6-6 (oft mit 15Cr-


Dehngrenze bzw. Ni6 bezeichnet). Mit steigender Temperatur sinkt nicht
Fließspannung nur die Fließspannung sondern auch der Verfestigungsex-
50
Fließspannung in MPa

ponent. Beim Halbwarmumformen werden die durch die

Bruchdehnung in %
500 Temperatur reduzierte kritische Schubspannung für Ver-
40 setzungsbewegung und die verminderte Verformungs-
verfestigung genutzt. Während der Warmumformung
hebt die dynamische Erholung die Verformungsverfes-
400 30 tigung großteils auf. Über 600 °C beginnt dynamische
Duktilität Rekristallisation, die die Warmumformung (Abschn. 30.3)
(Bruchdehnung) 20 bei relativ niedriger Fließspannung ermöglicht. Ab 600 °C
300
und ϕ = 0,3 (∼ = halbierter Querschnitt) wird deutliche
Werkstoffkunde

a Rekristallisation Kornwachstum Entfestigung beobachtet. Die Verformungsgeschwindig-


keit ist wegen der Verformungsleistung im Wechselspiel
kalt
gewalzt
mit den Diffusionsvorgängen ein wesentlicher Parame-
ter für die dynamischen Erholungs- und Rekristallisa-
40
tionsmechanismen (siehe Beispiel „Rekristallisation und
neue Körner
Warmumformung“).
30
Korngröße in µm

20
Korn-
10 wachstum Kriechen ist die thermisch aktivierte, plastische
0 Verformung bei elastischer Beanspruchung
0 300 400 500 600 700
b Wärmebehandlungstemperatur in °C
Kunststoffe sind nahe und über der Glasübergangstem-
Abb. 15.107 a Verlauf der Fließspannung (Dehngrenze) und der Bruch- peratur besonders anfällig für zeitabhängige Verformung
dehnung (Duktilitätsmaß) eines Stahls mit dem Rekristallisationsfortschritt;
b Korngröße in Abhängigkeit von der Wärmebehandlungstemperatur bei glei-
unter Belastung. Die Moleküle können sich in den amor-
cher Glühzeit mit Skizze der Gefügeentwicklung phen Bereichen verschieben, sodass sich Kunststoffe aber
auch Gläser visko-elastisch verhalten (Abb. 15.124). Auf-
grund der Frequenz der Platzwechselvorgänge der Ato-
Verformungsverfestigung 20 °C me in Metallen und Keramiken können sie sich ab etwa
800 0,4 Ts unter andauernder Einwirkung mechanischer Be-
Fließpannung kf in MPa

lastungen im elastischen Bereich plastisch verformen. Die


Temperaturen 0,4Ts für verschiedene Werkstoffe, ab de-
700
 Halbwarmumformen nen Kriechverformung zu berücksichtigen ist, sind in
500°C Tab. 15.16 angeführt. Die thermisch aktivierten, ungerich-
600
 Schmieden 550°C teten Platzwechsel werden durch eine elastische Span-
600°C
nung in die Richtung der Zugspannung gelenkt. Die
500 Körner dehnen sich durch Diffusion in die Richtung der
650°C Zugspannung aus, während sie quer dazu durch die
400 Druckspannungen kontrahieren, wie es Abb. 15.110 skiz-
700°C
750°C ziert ist. Sowohl die ausgerichteten Platzwechselvorgänge
300 der Atome im Korn, als auch die an den Korngrenzen
800°C
führen zu einer diffusionsgesteuerten Verformung der
200 Körner, dem sogenannten Diffusionskriechen. Die statio-
näre Geschwindigkeit der Kriechdehnung (Kriechrate ε̇ s )
100 bei konstanter Temperatur steigt für das Diffusionskrie-

φ = 38 s–1 chen linear mit der angelegten, konstanten Spannung:
ε̇ D ∝ σ (unterhalb der Elastizitätsgrenze).
0 0,2 0,4 0,6 0,8 1
logarithmischer Umformgrad φ
• Für grobkörnige und einkristalline Bauteile dominiert die
Gitterdiffusion (Diffusionskoeffizient DV ) in Körnern mit
Abb. 15.108 Temperaturabhängigkeit der Fließkurven (wahre Spannung vs. dem mittleren Durchmesser d, was als Nabarro-Herring-
logarithmische Dehnung) des Einsatzstahles 17CrNi6-6 (0,14-0,19 % C, Cr, Ni, Kriechen bezeichnet wird:
je 1,4-1,7 %) bei gleicher Verformungsgeschwindigkeit: mit Verformungsverfes-
tigung bei Raumtemperatur, mit Erholungsvorgängen bei Halbwarmumformung σ
ε̇ D,NH (σ, T, d) = ANH DV (T ) . (15.26)
und mit Rekristallisation beim Schmieden (ab ϕ = 0,3 ab 600 °C Entfestigung) d2
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 475

Beispiel: Rekristallation und Warmumformung

Nach Verformung erzeugt statische Rekristallation schwindigkeit mehr Rekristallisationskeime und somit
neue Körner; Schmieden, Warmwalzen, Strangpressen kleinere Körner als die niedrigere. Verschiedene Verfor-
werden durch dynamische Erholung und Rekristallati- mungsgeschwindigkeiten ϕ̇ zwischen Schmieden und
on ermöglicht. Warmpressen bewirken unterschiedliche, dynamische
Rekristallisation bei gleichem Verformungsgrad und
Die Temperatur, bei der statische Rekristallisation nach
gleicher Verformungstemperatur. Bei gleicher Tempe-
entsprechender Vorverformung einsetzt, hängt von der
raturführung bei der Verformung einer Legierung wird
Anschmelztemperatur ab. Abbildung 15.109 vergleicht
ihr Pressgefüge grobkörniger sein als ihr Schmiedege-
sie mit der Rekristallisationstemperatur TR der Rein-
füge.

Werkstoffkunde
metalle, die sich kaum von denen der zugehörigen
Basislegierungen unterscheidet. Die mittlere Gerade
in diesem Diagramm entspricht der Beziehung TR ∼ = TS in K
1000 2000 3000
0,4Ts . Diese homologe Temperatur (bezogen auf die 1500
Schmelztemperatur in K) gibt den Beginn signifikan- Hf

ter Diffusionsvorgänge an. Oberhalb von 0,4Ts finden


1500

Rekristallisationstemperatur in °C

TR in K
auch während der Verformung Entfestigungsvorgän- g Re W
mun
ge statt (dynamische Erholung oder Rekristallisati- 1000 for
um Mo Ta
on), die für die Warmumformung genutzt werden. arm
Magnesium- und Kupfer-Legierungen können schon rW
de Nb 1000
ch Cr
ab 200 °C rekristallisieren, während dies für Stähle und e rei
Nickel-Basislegierungen erst ab 450 °C zu erwarten rb Pd
u Ti
500 rat der
ist. Die Refraktärmetalle weisen die temperaturstabils- pe Be Pt ereich
Te
m Ni Fe
p e r aturb formung
ten Gefüge auf. Warmumformung nützt nicht nur die Au Tem armum
Mg Al Halbw 500
mit steigender Temperatur sinkende Fließspannung, Ag Cu ung
sondern auch die dynamischen Erholungs- und Rekris- Pb Zn Kaltumform
0
tallisationsvorgänge während der Verformung. Dies Cd

ermöglicht hohe Verformungsgrade in einem Verfor- –250


mungsschritt. Halbwarmumformung findet unterhalb 0 1000 2000 3000 4000
der Rekristallisationstemperatur statt, wo sie durch Schmelztemperatur in °C
die höhere Beweglichkeit der Versetzungen erleichtert
Abb. 15.109 Abhängigkeit der statischen Rekristallisationstemperatur von
wird, sodass die Fließspannung und die Verfestigung
der Schmelztemperatur reiner Metalle, TR ∼
= 0,4Ts (K); Zuordnung der Berei-
geringer sind als bei der Kaltumformung. che für Warm-, Halbwarm- und Kaltumformung
Da Erholung und Rekristallisation diffusionsgesteuert
sind, hängen sie nicht nur von der Temperaturhöhe, Die pulvermetallurgische Formgebung mittels Sintern
sondern auch vom zeitlichen Temperaturverlauf ab. (siehe Abschn. 30.2, Pulvermetallurgie) nutzt die ra-
Dies gilt nicht nur für die statische Rekristallisation sche Oberflächendiffusion auf den Pulverkörnern, um
(Abb. 15.106), sondern auch für die dynamische Re- die Partikeln durch Diffusion zu verschweißen. Da-
kristallisation. Da Schmiedeverformung relativ rasch nach rekristallisiert die poröse Kornpackung, sodass
erfolgt, muss die Schmiedetemperatur höher liegen sich neue Körner über benachbarte Partikeln erstre-
als die beim Warmpressen, um das gleiche Gefüge cken. Die Poren werden durch Oberflächendiffusion
zu erzielen. Andererseits erzeugt die hohe Umformge- verkleinert und die Dichte erhöht.

Der Proportionalitätsfaktor ANH ist materialabhängig ex- Für das Korngrenzenkriechen muss der Faktor AC ex-
perimentell zu bestimmen (siehe Beispielbox „Kriechprü- perimentell bestimmt werden. Coble-Kriechen ist umso
fung“). Aufgrund der wesentlich höheren Diffusionsge- rascher, je kleiner das Kornvolumen ist, während das
schwindigkeit an den Korngrenzen dominiert bei mittle- Nabarro-Herring-Kriechen umgekehrt proportional zum
ren und kleinen Korngrößen die raschere Korngrenzen- Kornquerschnitt ist. Für beide Mechanismen des Diffu-
diffusion (DKG ), was als Coble-Kriechen bezeichnet wird: sionskriechens gilt ein linearer Zusammenhang mit der
angelegten Spannung. Während kleine Korngrößen die
statische Festigkeit bei Raumtemperatur erhöhen (Fein-
σ kornhärtung, Abschn. 15.6), vermindern sie die Kriech-
ε̇ D,C (σ, T, d) = AC DKG (T ) . (15.27)
d3 beständigkeit. Einkristallschaufeln in Gasturbinen sind
476 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Die Messwerte von Kriechversuchen bei konstanter Span-


σ nung und Temperatur sind gemäß Abb. 15.112b die
Kriechdehnung ε k (t) (oder bei diskontinuierlicher Mes-
sung die plastische Dehnung ε p (t)) als Funktion der
Gitter
diffusion Kriechdauer (Abb. 15.114a). Die Ableitung der Kriech-
dehnungskurve nach der Zeit ergibt die Kriechgeschwin-
digkeit (Kriechrate) in Abb. 15.114b. Idealerweise ergibt
sich für das sekundäre Kriechstadium eine stationäre
σ d σ Kriechrate. Davor und danach liegt die Kriechrate hö-
her, sodass das Minimum der Kriechrate und seine Dauer
charakteristisch sind für das Kriechverhalten eines Werk-
Korngrenzen- stoffes mit gleichmäßigen durch die Spannung ausgerich-
Werkstoffkunde

diffusion teten Diffusionsvorgängen.


σ Wenn die Kriechspannung an Versetzungssegmenten,
die an Gleithindernissen hängen, eine Kletterspannung
erzeugt, die die Überwindung dieser Hindernisse er-
Abb. 15.110 Schematische Darstellung der Ausrichtung der Gitter- und Korn-
grenzendiffusion in Richtung einer Zugspannung, wodurch die Körner plastisch
möglicht (Abb. 15.101), können die Körner durch ther-
verformt werden misch aktivierte Versetzungsbewegungen (Versetzungs-
kriechen) verformt werden. Während des primären Krie-
chens werden vorhandene Versetzungen sukzessive aus-
a gelöscht (erholt), sodass die Kriechrate sinkt, bis die Ver-
setzungsdichte und -anordnung ein Niveau erreicht hat,
b das eine stationäre Kriechrate bewirkt. Im Stadium der
stationären Kriechrate halten sich die Versetzungsmul-
c tiplikation durch die Verformung und deren thermisch
aktivierte Erholung das Gleichgewicht. Die vorherrschen-
l0 l1 den Kriechmechanismen sind an der Spannungsabhän-
gigkeit der Kriechraten bei einer bestimmten Temperatur
1 zu erkennen. Das Norton’sche Potenzgesetz der statio-
1 1 nären Kriechrate bei einer bestimmten Temperatur lautet:
2 4 2 4
2 4
ε̇ s ∝ σn . (15.28)
3
3 3
Für n = 1 handelt es sich um das vorher beschriebene
Diffusionskriechen, das entsprechend der Diffusionsge-
d ε0 = 0 ε1 = 73 %
schwindigkeit im Korn (15.26) und an den Korngrenzen
(15.27) immer stattfindet. Für n = 3−5 dominiert das
Abb. 15.111 Superplastizität; Dehnung einer Probe (a) um 500 % (b) und bis
zur 12-fachen Ausgangsmesslänge beim Bruch (c); d schematische Darstellung
Versetzungskriechen, das ab einer werkstoffabhängigen
der Verschiebung von 4 Körnern durch Korngrenzendiffusion, die 73 % Dehnung Spannung die Kriechgeschwindigkeit des Diffusionskrie-
der Ausgangsmesslänge l0 ergibt chens übertrifft. Die Wertebereiche für n sind in doppello-
garithmischen Darstellungen der stationären Kriechraten
in Abhängigkeit von der angelegten Kriechspannung ab-
zulesen, wie Abb. 15.115 zeigt. Bei ausreichend vielen
im Bereich des Diffusionskriechens besonders kriechbe- experimentellen Ergebnissen können in derartigen Dar-
ständig (Abb. 15.113). Bauteile aus feinkörniger Keramik stellungen die Kriechmechanismen unterschieden wer-
können nahe der Schmelztemperatur aufgrund des Korn- den. Abbildung 15.115 zeigt, dass die stationäre Kriech-
grenzenkriechens langsam mechanisch verformt werden. rate bei einer Extrapolation des Potenzgesetzes (15.28) zu
Bei feinkörnigen Metallen kann das Nabarro-Herring- kleinen Spannungen unterschätzt wird, sobald das Dif-
Kriechen für superplastische Verformung genutzt wer- fusionskriechen dominiert. Ergeben sich im Versetzungs-
den (Abb. 15.111). Bei Temperaturen nahe 0,4 Ts werden kriechstadium höhere n-Werte als 5, liegen im Gefüge
hohe Verformungsgrade (über 100 %) bei Dehnraten im des Werkstoffes signifikante Rückspannungen vor (σi z. B.
Bereich von 10−4 bis 10−3 s−1 erzielt, was für Kleinseri- durch Dispersoide), die der Kriechspannung entgegen-
enteile im Automobilbau und im Bauwesen angewandt wirken, wobei die Spannung in (15.28) durch (σ − σi )
wird. Die Verschiebbarkeit einiger Körner durch Korn- ersetzt wird. Bei hohen Dehnraten (über 10−5 s−1 ) werden
grenzendiffusion ist in Abb. 15.111d veranschaulicht, die diese Kurven ebenfalls steiler. Hier gilt das Potenzgesetz
bei mehrfachem Ablauf superplastische Verformung er- nicht mehr (power law breakdown), da ein wesentlicher
möglicht. Teil der Verformung durch Versetzungsgleiten erfolgt.
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 477

Beispiel: Kriechprüfstand – Kontinuierliche und unterbrochene Messung der Kriechverformung

Kriechmechanismen führen bei Belastungen im elasti- derung und eventuell eine kleine nicht proportiona-
schen Bereich bei Temperaturen ab ca. 0,4 Ts zu zeitab- le Rückdehnung, sowie die thermische Kontraktion
hängiger plastischer Verformung durch Diffusionsvor- während der Abkühlung. Die Probe kann nach der
gänge in Richtung der Zugspannung. Die Temperatur- Vermessung der Längenänderung auf eventuelle Schä-
und Spannungsabhängigkeit der Kriechrate wird in digungen (z. B. Querschnittsverjüngung) untersucht
Kriechprüfständen gemäß DIN EN 10 291 und ISO 204 werden. Der unterbrochene Kriechversuch kann durch
gemessen (Abb. 15.112a). Wiedereinbau der Probe, Aufheizen und Belastung
fortgesetzt werden. Für unterbrochene Kriechversu-
Die Längenänderungen der Probe vor Beginn des che rechnet man mit etwa 6000 h Prüfdauer pro Jahr.

Werkstoffkunde
Kriechversuches sind in Abb. 15.112b veranschaulicht. Für 30.000 h Kriechzeit ist mit einer Prüfdauer von
Während des Aufheizens dehnt sich die Probe je nach ca. 5 Jahren zu rechnen, was für Kriechbeständigkeits-
Ausdehnungskoeffizient α proportional der Tempe- prognosen über Einsatzzeiten von 100.000 h erforder-
raturerhöhung ΔT (Abschn. 15.4). Bei der Belastung lich ist.
dehnt sich die Probe elastisch gemäß dem E-Modul bei
der Prüftemperatur, und sie erfährt möglicherweise ei- Für Kunststoffe wird oft ein Kriechmodul angegeben,
ne kleine plastische Anfangsdehnung wie bei einem der für eine Temperatur bei bestimmter Belastungs-
Zugversuch. Sobald die Temperatur und die Belastung dauer mit konstanter Spannung den Quotienten aus
konstant auf die Probe einwirken, beginnt die Kriech- angelegter Spannung und Gesamtdehnung angibt:
periode, in der die Kriechdehnung der Probe ε k (t) mit
einer Dehnmessuhr kontinuierlich gemessen werden σ
ETk (t) = . (15.29)
kann. Für sehr lange Kriechversuche (über 1 Jahr) ist es ε t ( t) T
zuverlässiger, den Versuch nach bestimmten Perioden
zu unterbrechen und die plastische Längenänderung Beginnend mit dem E-Modul bei der jeweiligen Tem-
ε p (t) der abgekühlten Probe zu messen. Während der peratur wird der Kriechmodul mit zunehmender
Entlastung erfährt die Probe eine elastische Rückfe- Kriechdehnung immer kleiner.

Gesamtdehnung εt
Spannung σ

Anfangsdehnung ε0 Kriechdehnung εk (t)


elast. Dehnung εi
σk ε0 = σk /E(T)
konst.
l2 l1
nicht-
proportionale

ei T
ei T

Anfangs-
gb
gb

dehnung
Probe

tun
tun

l0 T
tlas

thermische nicht-
las
Be

Dehnung
En

proportionale
beim Rückdehnung
Aufheizen
Heizelemente αΔT εi

Gewichte bleibende Dehnung εp (t) αΔT εr εe ε


bei RT = εk (t) + (εi – εr) bis RT
a b

Abb. 15.112 a Schema eines Kriechprüfstandes, in dem eine Probe mit der Ausgangsmesslänge l0 auf eine konstante Temperatur T gebracht und über
ein Gewicht mit einer konstanten Spannung belastet wird (die Form des Hebelarms (l2 :l1 ) gleicht bei konstanter Last die Spannungserhöhung durch die
Querschnittsverminderung der Probe während der Dehnung aus); b Dehnung einer Kriechprobe während des Aufheizens auf Prüftemperatur, während der
Belastung im elastischen Bereich tritt möglicherweise gleichzeitig ein plastischer Anfangsdehnungsanteil ε i auf; dann beginnt die Kriechdehnung ε k (t ), die
in-situ kontinuierlich oder bei Versuchsunterbrechungen gemessen werden kann. Bei Entlastung erfolgt die Rückfederung und möglicherweise eine kleine
plastische Rückdehnung ε r (mechanische Hysterese). Bei unterbrochener Kriechversuchsführung schrumpft die Probe während der Abkühlung und danach
wird die bleibende Dehnung ε p (t ) vermessen und mit der Ausgangsmesslänge bei Raumtemperatur verglichen
478 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Beispiel: Hochtemperaturturbine

Am Beispiel eines Strahltriebwerkes wird der Bedarf binen mittels Feingussverfahren gegossen werden (Ab-
an temperaturbeständigen Werkstoffen dargestellt. Su- schn. 30.2). Um eine möglichst hohe Brennraumtempe-
perlegierungen werden auch für Turboladerturbinen ratur zu erzielen, werden die Turbinenschaufeln von
eingesetzt. innen gekühlt. Die Kriechbeständigkeit der Turbinen-
schaufeln wird erhöht, indem die durch die Zentrifu-
Extrem hohe Temperaturen (über 1000 °C) werden galkräfte beanspruchten Korngrenzenflächen reduziert
nicht nur im Leitbeispiel des Turboladers von Verbren- werden. Die Gefüge von Brennraumturbinenschaufeln
nungsmotoren, sondern auch im Brennraum von sta- werden in Abb. 15.113 verglichen: ein konventionelles
tionären Gaskraftwerken und in Flugzeugtriebwerken Korngefüge, gerichtet erstarrtes Gefüge mit in die Zen-
Werkstoffkunde

angestrebt, um einen möglichst hohen Wirkungsgrad trifugalkraftrichtung orientierten länglichen Körnern


zu erzielen. Unterschiedliche Beanspruchungstempe- (directionally solidified, DS), optimale einkristalline
raturen in einem Triebwerk erfordern verschiedene Schaufel ohne Korngrenzenkriechen.
Werkstoffe in den einzelnen Abschnitten, die in fol-
gendem Bild dargestellt sind: In der kalten Außenhül-
le werden kohlenstoffaserverstärkte Kunststoffe, unter
200 °C Aluminium-Legierungen, bis etwa 500 °C Ti-
tan-Legierungen, bis etwa 700 °C Stähle (für diesen σ σ σ
Bereich werden vereinzelt leichtere intermetallische
TiAl-Legierungen eingesetzt), darüber Nickel-Basisle-
gierungen (Superlegierungen) verwendet.

Die mechanische Beanspruchung der Werkstoffe muss


nicht nur unterhalb der Elastizitätsgrenze und der Zeit-
festigkeit bei der Einsatztemperatur bleiben, sondern
die dabei ablaufende Kriechverformung muss einige
tausend Stunden sichere Betriebsdauer gewährleisten.
Die durch die hohen Drehzahlen bei hohen Tempe-
raturen am meisten beanspruchten Turbinenschaufeln
im Brennraum stellen eine der höchsten Herausforde- a polykristallin b gerichtet erstarrt c Einkristall
rungen für die Werkstofftechnik dar. Derzeit werden
Abb. 15.113 Fotografien von Turbinenschaufeln aus Superlegierungen für
Nickel-Basislegierungen eingesetzt, sogenannte Super-
den Brennraum eines Triebwerkes mit Metallografien des Korngefüges; a po-
legierungen mit einem hohen Volumenanteil an Aus- lykristallines Gefüge; b gerichtet erstarrte längliche Körner (DS); c Einkristall
scheidungen intermetallischer Phasen und Karbiden, ohne Korngrenzen; unten Querschnitt durch ein Strahltriebwerk mit Vertei-
aus denen die Schaufeln ebenso wie die Turboladertur- lung der Betriebstemperatur

Kohlenstofffaser verstärkte Kunststoffe


Aluminium
Titan
Stahl
Superlegierung

1500 °C
T
800 °C
Verdichter Brennraum Nachbrenner
200 °C
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 479

Bruch außerhalb Potenzgesetz


Dehnung beim Kriechversuch Au
mit konst. Spannung
T = konst.

log εs


σ0 = konst. log εs = n · log σ + A
Steigung
εe n = 3 bis 5
εt
Versetzungs-
ε2/3
kriechen
ε0
ε1/2 εk = f (σ, T, t, Struktur)
εp
εi
εr

Werkstoffkunde
primäres sekundäres tertiäres
(Übergangs-) (stationäres) Kriechen Kriechen
Extrapolations- Bereich kleiner Spannungen, n ≈ 1
Kriechen 1 2 3
fehler Diffusionskriechen
t0 t1/2 t2/3 tm
a Kriechdauer t log σ

Abb. 15.115 Doppellogarithmische Darstellung der Abhängigkeit der statio-


Dehngeschwindigkeit

nären Kriechrate von der angelegten Spannung; die Steigung der Geraden-
T = konst.
abschnitte entspricht dem Spannungsexponenten n , der charakteristisch für
σ0 = konst.
den vorherrschenden Kriechmechanismus ist. Im Bereich hoher Kriechraten
ε• in s–1

stationäre Kriechrate und Spannungen gilt kein Potenzgesetz mehr. Eine Extrapolation des Verset-
ε•s zungskriechens zu niedrigen Kriechraten im Bereich des Diffusionskriechens
unterschätzt die tatsächliche Kriechrate
1 2 3

t0 t1/2 t2/3 tm 10–1


b Kriechdauer t plastische Verformung durch
konservatives Versetzungsgleiten
Abb. 15.114 Kriechprüfergebnisse; a ε t (t ) umfasst die elastische Dehnung
σ/G

ε e sowie die plastische Anfangsdehnung ε i und die Kriechdehnung ε k (t ) bei 10–2


kontinuierlicher Messung bzw. ε p (t ) bei diskontinuierlicher Messung (die nicht Versetzungskriechen
Fließgrenze
proportionale Anfangsdehnung ε i ist meist nicht gleich der nicht proportiona-
len Rückdehnung ε r ); ε 1/2 (t1/2 ) ist die Kriechdehnung beim Übergang vom super- Kerndiffusion
primären Kriechstadium (1) zum sekundären (2), während ε 2/3 (t2/3 ) den Über- 10–3 plastisch

Gitterdiffusion
gang vom stationären zum tertiären Kriechstadium (3) kennzeichnet. b Die Ab-
leitung der Dehnungskurve nach der Kriechzeit ergibt die Kriechgeschwindigkeit
ε̇(t ), aus der die stationäre Kriechrate ε̇ s (t ) bzw. deren Minimum abzulesen ist rein elastische Diffusionskriechen
Verformung
10–4 Korngrenzen-
diffusion
Die Temperaturabhängigkeit der Verformungsmechanis-
men in Metallen ist in Abb. 15.116 dargestellt. Durch die 10–5
Normierung auf den temperaturabhängigen Schubmodul 0 0,5 1
G und die Schmelztemperatur gelten diese Verformungs- T/Ts
bereiche in etwa für alle Metalle. Bei Spannungen unter
einem Promille des Schubmoduls wird das Diffusions- Abb. 15.116 Legierungsunabhängige Übersicht über die vorherrschenden
Kriechmechanismen mittels der logarithmischen Auftragung der auf den Schub-
kriechen (n = 1) erst ab 0,5 Ts wirksam, zuerst die Korn-
modul G (T ) normierten Kriechspannung σ in Abhängigkeit von der Belastungs-
grenzendiffusion und die Diffusion entlang Versetzun- temperatur, die auf die Anschmelztemperatur Ts bezogen ist: unterhalb der
gen, bei höheren Temperaturen auch die Gitterdiffusion Elastizitätsgrenze (Fließspannung, ca. 1 % des Schubmoduls) geht die elastische
im Korn. Um 0,5 Ts bei Spannungen von etwa 10−3 G kann Verformung um 0,5 Ts in Versetzungskriechen über. Unter 1 Promille des Schub-
superplastische Verformung genutzt werden, sofern klei- moduls dominiert über 0,5 Ts das Diffusionskriechen (Gitterdiffusion im Korn,
ne Korngrößen (unter 50 µm) vorliegen. Versetzungskrie- Kerndiffusion entlang Versetzungen und Korngrenzendiffusion entlang innerer
Grenzflächen)
chen (n = 3 bis 5) wird unterhalb der Elastizitätsgrenze
(etwa bei 1 % der Schubspannungsdehnung) ab 0,5 TS do-
minant.
nen zunehmen. Im tertiären Kriechstadium steigt die
Am Ende des sekundären Kriechens treten Kriechporen, Kriechrate, und der Werkstoff wird bleibend geschä-
Querschnittsverjüngungen oder Oberflächenrisse auf, die digt. Meist beginnt die Kriechschädigung im Inneren des
durch Leerstellendiffusion und Spannungskonzentratio- Werkstoffes. An Gefügeinhomogenitäten (Korngrenzen-
480 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Abb. 15.117 a Kriechkurve


mit den Kriechstadien und stei- Au Bruch Bruchfläche
gender Kriechrate im tertiären

Kriechdehnung εk in %
Stadium; b Längsschliff einer
nach 37.000 h gebrochenen Zunahme der
Kriechprobe eines hochle- Kriechschädigung
gierten, austenitischen Stahls
X8NiMoNb16-16, der bei 650 °C
mit 180 MPa belastet war; der Po-
renanteil (schwarz ) nimmt gegen Beginn der
die Bruchfläche hin zu; die Skizze Kriechschädigung
veranschaulicht die Bildung von Korn-
grenzen-

sekundär
Korngrenzenporen

primär
poren

tertiär
Werkstoffkunde

t0 t1/2 t2/3 tm 0,1 mm


a Kriechdauer t b

tripeln, Einschlüssen etc.) werden Zugspannungskonzen- ε (analog zur Dehngrenze im Zugversuch) nach unter-
trationen wirksam. Dorthin diffundieren Leerstellen, die schiedlichen Belastungen bei einer Temperatur T darge-
Poren bilden, die den tragenden Querschnitt vermin- stellt werden. Als absolute Beanspruchungsgrenze gilt die
dern und die Spannungskonzentration erhöhen. Die Leer- Standzeit, bei der der Bruch eintritt. Mit den Kriechkur-
stellenkonzentration im Festkörper regeneriert sich im ven für verschiedene Spannungen bei einer Temperatur
thermodynamischen Gleichgewicht, während die Poren wird in Abb. 15.118a gezeigt, wie die 0,2-%-Zeitdehngren-
zunehmen. Die steigenden lokalen Spannungen führen zen abgelesen werden. Die doppellogarithmische Dar-
zu plastischen Verformungen und zu Rissfortschritt bis stellung der Zeitdehngrenzen über die Zeit ergibt eine
zum Bruch. Abbildung 15.117 korreliert die Kriechkur- Gerade mit einer Steigung mt . Die Abhängigkeit der Be-
ve in ihrem tertiären Stadium mit der Gefügeschädigung anspruchungsdauer bei den Zeitdehngrenzen für 0,2 %
durch Porenbildung im Laufe eines Langzeitversuches. und 1 % bleibende Dehnung, sowie die Zeitstandfestig-
Die Porengröße und der Porenvolumenanteil nehmen in keit über der Standzeit sind für einen warmfesten Stahl
Richtung der Bruchfläche wegen der spannungsinduzier- bei 500 °C Kriechtemperatur in Abb. 15.118 aufgetragen.
ten Diffusion um die Poren zu, sodass die lokalisierte Die Steigung der Geraden mt in dieser doppellogarith-
plastische Verformung meist eine Einschnürung bewirkt, mischen Darstellung spiegelt die Unterschiede in den
bevor die Probe bricht. Spannungsexponenten der Kriechmechanismen wider. In
diesem Beispiel wird veranschaulicht, dass eine Extrapo-
lation aus dem Stadium des Versetzungskriechens (Stei-

Werkstoffkennwerte der Kriechbeständigkeit gung mV t = 0,1) über Belastungsdauern von mehr als
sind Kriechrate, Zeitdehngrenze 1000 h in das Stadium des Diffusionskriechens (steilere

Steigung mD t = 0,15) zur Überschätzung der Betriebsdau-
und Zeitstandfestigkeit er führt. Für sehr lange Betriebszeiten (z. B. für thermische
Kraftwerksanlagen) sind auch sehr lange Prüfzeiten erfor-
Das primäre Kriechstadium ist kaum quantitativ vorher- derlich (Abb. 15.119).
sagbar, da es von der Versetzungsanordnung im Gefüge
des Ausgangszustandes des Werkstoffes abhängt. Mit der Die zeitliche Abhängigkeit der Zeitstandfestigkeit eines
stationären Kriechrate kann die Kriechdehnung im Laufe Werkstoffes bei drei verschiedenen Temperaturen wird
der Beanspruchungsdauer eines Werkstoffes bei konstan- in Abb. 15.119a gezeigt, woraus die Standzeiten tm (σ, T )
ter Spannung und Temperatur abgeschätzt werden: abgelesen werden können. Die Temperaturabhängigkeit
der Kriechrate hängt über den Diffusionskoeffizienten
ε k (t)|T,σ ∼
= ε̇ s · t,
exponentiell von der Temperatur ab. Das drückt sich
bzw. die Beanspruchungsdauer für eine bestimmte durch gekrümmte Standzeitlinien in doppellogarithmi-
Kriechdehnung: schen Darstellungen aus, wie es Abb. 15.119b für einen
ε niedriglegierten, ferritischen Stahl bei zwei Temperaturen
tε |T,σ = k . zeigt. Die zulässigen Betriebsbedingungen (Belastungs-
ε̇ s
spannung, Temperatur) können aus Bruchspannung-
Für die maschinenbauliche Anwendung werden meist Standzeit-Kurven abgelesen werden. Abbildung 15.122
experimentelle Kriechdaten herangezogen, die als Zeit- vergleicht die Bruchspannungen σB100 h (T ) verschiedener
dehngrenze σεT für eine zulässige, bleibende Dehnung Metalle und ihrer Legierungen, die nach 100 h Beanspru-
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 481

400
σ3 > σ2 T = konst.
warmfester Stahl
bei T = 500°C
σ2 > σ1 300

Zugspannung σ in MPa
Ze
εk in %

Ve itstan
rse
σ1 tzu dfest
ng i
1-% skr gkeit
0,2 -Ze iec
200 itd hen
ehn
gre Ex
nze tra
0,2 po
-% lat

Di
-Ze ion
itde

ffu
hng (n sfe
= 3 hler

sio
ren

ns
ze bis

kr
log σ T0,2 = mt · log t + At 5)

iec

Werkstoffkunde
he
(n
100
log σ

n
=
1)
Mechanismenwechsel
0
10 101 102 103 104 105
a log t b Zeit tm in h

Abb. 15.118 a Schematische Kriechkurven bei einer Temperatur mit der abgelesenen Kriechdauer für 0,2-%-Kriechdehnung für verschiedene Spannungen, die als
0,2-%-Zeitdehngrenzen in doppellogarithmischer Darstellung über die zugehörige Zeit eine Gerade mit der Steigung mt ergeben; b Linien für die Zeitdehngrenze und
Zeitstandfestigkeit eines Stahls bei konstanter Temperatur im Stadium des Versetzungskriechens (mtV ∼
= 0,1) und Übergang zum Diffusionskriechen (mtD ∼ = 0,15),
wobei eine Extrapolation des Versetzungskriechens zu einer Lebensdauerüberschätzung führt

103

500 °C
T1 < T2 < T3
Kriechspannung log σB

Kriechspannung σB in MPa

102
T
σ B3 (tm)
600 °C
T1
101

T2
T3

100
Beanspruchungsdauer bis Bruch 100 101 102 103 104 105
a Standzeit log tm b Standzeit tm in h

Abb. 15.119 a Schematische, doppeltlogarithmische Standzeitlinien eines Werkstoffes für drei Temperaturen; b Bruchspannung in Abhängigkeit von der Standzeit
des Stahls 13CrMo4-4 für zwei Beanspruchungstemperaturen in doppellogarithmischer Darstellung

chungsdauer in Abhängigkeit von der Temperatur zu Besonders hohe Anforderungen werden an Werkstoffe
erwarten sind. Aus diesem Diagramm wird die Eignung gestellt, wenn sich die elastische Belastungsspannung
verschiedener Hochtemperatur-Legierungen für relativ bei Kriechtemperatur periodisch ändert oder wenn Tem-
kurze Kriechbeanspruchungen abgelesen. peraturamplituden bei der aufgebrachten Spannung zu
Kriechverformungen führen. Dabei ist mit kleinen plas-
tischen Verformungen bei der Oberspannung bzw. beim
Kriechen ist eine zeitabhängige, plastische Verfor- Temperaturmaximum zu rechnen, was eine Kombinati-
mung, die durch Diffusion (Viskosität) in die Rich- on von Kriechverformungen und Ermüdungsschädigung
tung einer elastischen Zugspannung hervorgerufen ergibt. Derartige Kriechermüdung ähnelt daher den Vor-
wird. Die Einsatzdauer von Metallen bei Tempera- gängen bei der Niedriglastspielzahl-Ermüdung (LCF, Ab-
turen über 0,4 Ts kann mittels Kriechgesetzen für die schn. 15.11). Diese Situation tritt bei allen Hochtempe-
zugrundeliegenden Mechanismen abgeschätzt wer- raturanlagen zumindest durch die Einschalt- und Ab-
den. fahrsituationen auf. Extreme Beanspruchungen in dieser
Hinsicht sind Gießformen für das Druckgießverfahren
482 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Beispiel: Kriechdaten

Beispiele für das Kriechverhalten von 12 %-Chrom- Temperaturbelastung verändert sich auch das Gefü-
Stählen für Dampfturbinen und Nickel-Basislegierun- ge durch Diffusionsprozesse (z. B. Reifung von Aus-
gen für Heizleiter. scheidungen, was eine Verminderung der Ausschei-
dungsverfestigung bedeutet), wodurch die Kriech-
Ferritische 12-%-Cr-Stähle werden für Dampfturbinen
mechanismen und somit die Kriechraten beeinflusst
in thermischen Kraftwerken eingesetzt. Kriechdeh-
werden. Die Einsatzgrenze der aktuell kriechbestän-
nung-Zeitkurven für verschiedene Belastungsspan-
digsten, ferritischen 12-%-Cr-Stähle liegt bei 620 °C.
nungen bei 580 °C werden in Abb. 15.120a in dop-
Höhere Betriebstemperaturen thermischer Kraftwerke
pellogarithmischer Darstellung verglichen. Bei 65 MPa
können mit austenitischen Hochtemperaturlegierun-
Werkstoffkunde

Belastung wird das tertiäre Kriechstadium bereits et-


gen für Dampfturbinenschaufeln erzielt werden.
was über 1 % Kriechdehnung erreicht, d. h., dass bei
etwa 2000 h mit Kriechporenbildung zu rechnen ist.
Sollen 20.000 h Betriebszeit erreicht werden, soll die Heizleiter, dargestellt in Abb. 15.121a, sollen durch
Spannung bei mindestens 35 MPa liegen. Diese Bautei- ihren elektrischen Widerstand möglichst lange hei-
le sind spätestens ab 0,5 % Kriechdehnung auf Schädi- zen, wobei sie zumindest der Belastung ihres ei-
gung (Poren- und Rissbildung) zu untersuchen. Aus genen Gewichts ausgesetzt sind. Die stationären
diesen Kurven abgeleitet sind in Abb. 15.120b Zeit- Kriechraten (15.28) sind für verschiedene Tem-
dehngrenzen für 0,2 % und 1 % Kriechdehnung, sowie peraturen in Abb. 15.121b aufgetragen. Die dop-
die Zeitstandfestigkeit eingetragen. Soll bei 50.000 h pellogarithmische Skala erlaubt das Potenzgesetz
Betriebszeit maximal 1 % Kriechdehnung auftreten, zu identifizieren, das mit n ∼= 5 dem Versetzungs-
darf die Belastung nicht über 25 MPa liegen. Die Zeit- kriechstadium zuzuordnen ist. Da das Kriechen
standfestigkeit mit den zugehörigen Bruchdehnungen diffusionsgesteuert ist, können die gleichen expe-
zeigt, dass die Duktilität dieses Stahles mit der Stand- rimentellen Ergebnisse in einem Arrhenius-Dia-
zeit bis 100.000 h abnimmt. Im Verlauf der langen gramm (wie der Diffusionskoeffizient in Abb. 15.98)

102
Temperatur T = 580°C = konst.
Kriechbruch
dehnung A
u(tm)
Kriechdehnung εk in %

Prüfspannung σk in MPa 120 100 80 65 50 35

101 terti
äres
Krie
sek

chen
un

res

1%
Kr
iec
he
n

0,2 %
10-1
a 101 5 102 5 103 5 104 5 105
Kriechdauer t in h
Bruchdehnung Au = 55 % Temperatur T = 580°C = konst.
50 %
40 %
102 1% 33 %
31 %
0,2 %
σk in MPa

36 %
Prüfspannung

σ B580 (tm)
σ 05,820 (t) σ 1580 (t)
101 1
10 5 102 5 103 5 104 5 105
b Kriechdauer t in h c

Abb. 15.120 Kriechdaten eines 12-%-Cr-Stahls; a doppellogarithmische Darstellung der Kriechdehnung bis Bruch in Abhängigkeit von der Kriechdauer
mit Zuordnung der sekundären und tertiären Kriechstadien; b daraus abgeleitete Spannungsabhängigkeit als 0,2-%- und 1-%-Zeitdehngrenzen sowie der
Zeitstandfestigkeit mit den Angaben der Bruchdehnung; c Teilbild eines Läufers einer Dampfturbine bei der Reparatur
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 483

für konstante Spannungen in Abhängigkeit von der der Temperatur ab:


 
Temperatur dargestellt werden (Abb. 15.121c). Die Stei- EAk
gung der stationären Dehnraten spiegelt in dieser Dar- ε̇ s = Aσ exp −
n
. (15.30)
RT
stellung (15.30) die Aktivierungsenergie EAk wider, die
für die diffusionsgesteuerte Verformung erforderlich Sie hängt von der Beweglichkeit der Versetzungen und
ist. Die stationäre Kriechrate hängt exponentiell von von der Korngröße ab.

σ in MPa T in K
40 60 80 100 200 1073 1023
10–4
Ni 80 Cr 20

stationäre Kriechgeschwindigkeit ε∙S in s–1 (log)

Werkstoffkunde
σ = 140 MPa

10–5

112 MPa

T = 1023 K 89 MPa
10–6
1058 K

1093 K n≈5 EAK ≈ 260 kJ

10–7
1,6 1,8 2,0 2,2 2,4 9,1 9,3 9,5 9,7 9,9
a b log σ c 1/T in 10–3/K

Abb. 15.121 Stationäre Kriechraten einer Nickel-Basislegierung für Heizleiter; a aus Ni80Cr20; b Abhängigkeit der stationären Kriechrate von der ange-
legten Spannung in doppellogarithmischer Auftragung ergibt den Spannungsexponenten n ∼ = 5 für dominanten Versetzungskriechmechanismus (15.28);
c Temperaturabhängigkeit der stationären Kriechrate verschiedener Spannungen in einem Arrhenius-Diagramm ergibt die Aktivierungsenergie EAk für die
Kriechmechanismen (15.30)

ausgesetzt (Abschn. 30.2), die durch die Schmelze auf- konstanten Spannung ausgesetzt sind, aber auch bei be-
geheizt und nach dem Auswerfen des Bauteils durch lastungsbedingter konstanter Dehnung. Der elastische
Besprühen mit einer Schlichte gekühlt werden. Dehnungsanteil erzeugt Spannungsverhältnisse wie in
Abb. 15.110, die Diffusionsvorgänge in die Richtung der
Frage 15.12.4 Zugspannungen bzw. quer zu einer Druckrichtung aus-
Welche Funktion beschreibt die Abhängigkeit der statio- richten, die dadurch Spannungen abbauen. Typische Bei-
nären Kriechrate von der angelegten Spannung und von spiele dafür sind Schraub- oder Nietverbindungen (Ab-
der Temperatur? schn. 26.1), die über ihre elastische Verformung eine
Was versteht man unter 1-%-Zeitdehngrenze und was un- kraftschlüssige Verbindung herstellen. Abbildung 15.123a
ter Zeitstandfestigkeit? stellt den Schnitt durch eine Schraub- oder Nietverbin-
dung mit der Spannung σ dar, die eine konstante Deh-
nung ε t hervorruft (Abb. 15.123b). Wird diese Verbindung
einer Temperatur T ausgesetzt, die Kriechvorgänge aus-
Relaxation – Elastische Spannungen werden löst, so wandelt sich ein Teil der elastischen Dehnung mit
der Belastungsdauer in plastische Kriechdehnung ε k um.
durch Kriechverformung abgebaut Die zeitliche Abnahme der elastischen Dehnung bei kon-
stanter Gesamtdehnung ist verbunden mit der Abnahme
Kriechvorgänge führen zu zeitabhängiger plastischer Ver- der Spannung (Abb. 15.123c). Die Abschätzung der Re-
formung oberhalb von 0,4 Ts , wenn Werkstücke einer laxationsdauer wird in der Vertiefungsbox „Relaxation“
484 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Vertiefung: Relaxation

Die Spannkraft einer kraftschlüssigen, metallischen wenn der Spannungsexponent n größer 1 ist. Je klei-
Verbindung nimmt durch Relaxation ab. Die Zeit für ner n ist, umso rascher wirkt die Relaxation. Beim
eine zulässige Spannungsabnahme kann aus dem Po- Einsetzen einer Sicherheitsgrenzspannung σ kann die
tenzgesetz für Versetzungskriechen (15.28) abgeschätzt Einsatzdauer errechnet werden, bei der die Verbin-
werden. dung überholt werden muss. Den Spannungsabfall mit
der Zeit zeigt Abb. 15.123c, d. h. eine kraftschlüssige
Durch Integration der zeitlichen Änderung der elasti- Verbindung verliert mit der Zeit ihre Spannkraft. Die
schen Dehnung von einer Anfangsspannung σ0 bis zur Spannungsabnahme durch Relaxation lässt sich aus
Spannung σ (t) nach einer gewissen Zeit t ergibt: der umgeformten Beziehung errechnen:
Werkstoffkunde

 
1 1 1 σ 1
t= − , = mit λ = (n − 1)B · E · σ0n−1 .
( n − 1 ) B( T ) E( T ) σ n− 1 σ0n−1 σ0 1
t
λ +1 ( n− 1 )

600 σ (t) >

Ti Fe Ni
500
100-h-Zeitstandfestigkeit
B (T ) in MPa

400 Co
T
hochschmelzende
Metalle
300
h
σ 100

a
200

100
εt = konst.
Dehnung ε

0
400 600 800 1000 1200 1400 plastisch
Temperatur T in °C εk (t) <

Abb. 15.122 Vergleich der Zeitstandfestigkeit für 100 h Kriechdauer verschie- εelast. (t) >
dener Metalle und ihrer Legierungen in Abhängigkeit von der Betriebstempera-
tur b

beschrieben.
σ0
ε t = ε elast (t) + ε k (t) = konst.
Spannung σ

Hooke'sches Gesetz
σ̇ σ (t1) = E · εelast. (t1)
→ ε̇ t = ε̇ elast + ε̇ k = + B( T ) σ n = 0
E( T )

mit B = A exp − ERT Ak
.
c
t0 t1
Zeit t
Viskose Verformung (Kriechen) ist die Ursache für
Spannungsrelaxation bei aufgezwungenen Dehnun- Abb. 15.123 a Relaxation einer Schraub- oder Nietverbindung bei einer Tem-
gen. peratur T > 0,4 Ts ; b konstante Gesamtdehnung ε t , deren plastischer Anteil ε k
auf Kosten der elastischen Dehnung ε elast mit der Zeit zunimmt; c resultierende
Abnahme der Spannung mit der Zeit
Frage 15.12.5
Welche Beanspruchung ist beim Kriechversuch neben der
Temperatur konstant und welche bei der Relaxation?
Welches sind die jeweiligen veränderlichen Größen?
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 485

Übersicht: Spannungs-Dehnverlauf aufgrund verschiedener Verformungsmechanismen

Die Werkstoffe unter mechanischer Spannung verfor- Kunststoffe wird durch den Kriechmodul Ek (ε t , T )
men sich durch unterschiedliche Mechanismen elas- beschrieben (15.29). Keramiken mit hohem Atombin-
tisch, gedämpft elastisch, hyperelastisch, elasto-plas- dungsanteil sind bis 0,5 Ts kriechresistent. Darüber
tisch oder viskos-elastisch. können Diffusionskriechmechanismen zur langsamen
Umformung genutzt werden. Die Spannungsabhän-
Abbildung 15.124 vergleicht schematisch die einach- gigkeit der Kriechverformung wird mit Potenzgeset-
sigenVerformungsarten der Werkstoffe bei Zugbelas- zen (15.28) beschrieben, während die Kriechrate durch
tung. Keramiken und Duromere sind bis zur Bruch- eine Aktivierungsenergie exponentiell mit der Tempe-
spannung rein elastisch verformbar, ferritische Stähle ratur steigt (Arrhenius-Diagramm (15.30)). Die Kriech-

Werkstoffkunde
bis zur Streckgrenze, solange keine thermische Akti- beständigkeit gegenüber äußeren Spannungen sowie
vierung wirkt. Diese Werkstoffe zeichnen sich durch die Relaxation bei aufgebrachter Dehnung sind bei
eine Dauerfestigkeit aus. Fast alle Werkstoffe, beson- der Bauteilauslegung ab etwa 0,4 Ts zu berücksichti-
ders die Kunststoffe, zeigen bei Wechselbelastung ei- gen (Tab. 15.16). Im elastischen Verformungsbereich
ne Dämpfung, eine Energieabsorption durch innere treten unterschiedliche Kriechmechanismen auf: Diffu-
Reibung an Gefügedefekten, die eine reversible, un- sionskriechen (lineare Spannungsabhängigkeit (15.26),
elastische Verformung ergibt. Bei Ermüdung im elas- (15.27)), Versetzungskriechen nach einem Potenzgesetz
tischen Bereich spielt diese mechanische Hysterese ei- (15.28). Bei inneren Spannungen und bei hohen Be-
ne wesentliche Rolle (Abschn. 15.11). Elastomere und lastungsspannungen nahe der Elastizitätsgrenze stei-
einige Formgedächtnislegierungen zeigen nichtlinea- gen die Kriechraten stärker als nach dem Potenzge-
re, hyperelastische Eigenschaften. Metalle verformen setz. Lebensdauerprognosen bedürfen experimenteller
sich im Allgemeinen elasto-plastisch mit einem Dämp- Kriechdaten, die sich auf die gleichen Gefügezustän-
fungsanteil bei mechanischer Hysterese. Niedriglast- de des Werkstoffes und die gleichen Kriechmecha-
spielzahl-Ermüdung wird durch kleine plastische An- nismen beziehen, die im Einsatz ablaufen. Extrapo-
teile einer Wechselverformung hervorgerufen. Viskos- lationen experimenteller Daten sollen nur innerhalb
elastische Verformung der Kunststoffe bei konstan-
eines Kriechmechanismus erfolgen. Bei Übertragung
ter Spannung ist wie Kriechverformung bei erhöhter
von Kriechversuchen bei höheren Temperaturen als
Temperatur zeitabhängig und erzeugt bleibende Deh-
beim Einsatz, um sie zu beschleunigen, ist riskant,
nungen. Sowohl der E-Modul als auch die Elastizitäts-
da sich mit der Temperatur nicht nur die Mechanis-
grenze aller Werkstoffe sinkt mit steigender Tempera-
men ändern können, sondern auch die zugrundelie-
tur (Bonusmaterial zu Abschn. 15.5: Energieelastizität,
genden Gefügezustände. Für Kriechbeanspruchungen
Abb. 15.1).
bei hohen Temperaturen oder über sehr lange Zei-
Viskose Verformung bei konstanter Last im elasti- ten müssen auch die während dieser Zeit ablaufen-
schen Spannungsbereich tritt bei den meisten Kunst- den Gefügeänderungen durch Diffusion berücksich-
stoffen zeitabhängig im Bereich der Raumtempera- tigt werden (Bildung/Wachstum/Auflösung von Aus-
tur auf, sie ist sehr stark nahe der Glasübergangs- scheidungen), da sich dabei insbesondere bei mehr-
temperatur und darüber. Die Kriechbeständigkeit der phasigen Legierungen die Kriechrate verändert.

reversibel irreversibel

linear elastisch gedämpft elastisch hyperelastisch elastoplastisch visko-elastisch


σ σ σ σ σ

ε ε ε ε ε
Hook'sches Dämpfung Elastomere meisten Metalle zeitabhängige,
Gesetz plastische
Verformung

Abb. 15.124 Schematische Darstellung der Verformungsarten bei Zugbelastung; reversible elastische Verformungen und irreversible plastische Verformun-
gen. Jede plastische Verformung von Festkörpern schließt einen reversiblen, elastischen Verformungsanteil (elasto-plastisch) ein, wenige Werkstoffe weisen
hyperelastische Eigenschaften auf. Kriechverformungen sind visko-elasto-plastisch, da sie mit der Zeit unter konstanter Last zunehmen und ebenfalls einen
elastischen Anteil durch die Belastung unterhalb der Fließspannung aufweisen
486 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Haftungskoeffizient µS Gleitreibungskoeffizient µG
Gegenkörper Gegenkörper
FS = µSFN FN FG = µGFN FN
v

Grundkörper Grundkörper
a b

c d
Werkstoffkunde

e f

Abb. 15.125 Reibungskräfte an der Grenzfläche zwischen einem Gegen- und einem Grundkörper, die mit einer Normalkraft FN aufeinander drücken: a Haftung im
Ruhezustand; b Gleitreibung bei Relativbewegung zwischen den Körpern. Mikroskopische Struktur der Grenzflächen: c verhakte Oberflächenrauigkeit; d Diffusion
der Atome an der Grenzfläche führt zu stoffschlüssigen Brücken; e Elektronenübergang zwischen den Stoffen führt zu chemischer Bindung; f Dipole werden an der
Grenzfläche ausgerichtet und bewirken eine elektrostatische Sekundärbindung

15.13 Abnutzung der Werkstoffe – „Standfestigkeit“ einer Person, die sowohl von ihrem
Gewicht als auch von der Beschaffenheit des Grund-
Verschleiß körpers abhängt: Stellen Sie sich eine leichte und eine
schwere Person auf Eis oder am Erdboden vor. Das Ver-
schieben eines Schreibtisches kann zwar mühsam sein,
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Verschleiß an aber wenn es keine Haftung gäbe, würde er bei jeder
Bauteilen als Abnutzung verstanden. Die Ursache da- Berührung ungebremst weggleiten. Der Haftungskoeffi-
für sind Kräfte zwischen sich berührenden Grund- und zient μs hängt von der Beschaffenheit der Grenzflächen
Gegenkörper, die sich relativ zueinander bewegen. Ab- zwischen Grund- und Gegenkörper ab. Es ist eine Kombi-
bildung 15.125 zeigt das einfache Beispiel eines Gegen- nation von Formschluss durch die Oberflächenrauigkeit
körpers, der mit seinem Gewicht auf einen Grundkörper (Verhaken, Abb. 15.125c) und Kraftschluss durch loka-
drückt. Durch diese Normalkraft FN haften diese beiden le atomare oder molekulare Anziehungskräfte (Kohäsion
Körper (Abb. 15.125 a) mit einer Reibungskraft FS anein- und Adhäsion). Eine teilweise stoffschlüssige Verbindung
ander, die zu überwinden ist, um den Gegenkörper zu kann durch Diffusion während der Kontaktzeit entste-
bewegen. Um seine Bewegung aufrecht zu halten, bedarf hen (Abb. 15.125d). Elektronenübergänge zwischen den
es einer Kraft, die mindestens so groß ist wie die Gegen- Kontaktkörpern können chemische Bindungen erzeugen
kraft durch die Gleitreibung FG (Abb. 15.125b). (Abb. 15.125e). Eine Polarisierung der oberflächlichen
Moleküle kann Anziehungskräfte durch Dipolbildung
hervorrufen (Abb. 15.125f). Derartige Haftung ist ein Zu-
stand der Ruhe, sodass weder Verschleiß noch Energie-
Die Relativbewegung zweier Körper, verluste auftreten, solange die Haftung durch Schubkräf-
die gegeneinander drücken, erzeugt zwischen te nicht überwunden wird. Sobald Gegen- und Grund-
ihnen Reibung körper durch eine äußere Kraft relativ zueinander bewegt
werden, vermindert sich die Reibungskraft durch den
Übergang von der Haftung in Gleitreibung FG , die über
Die Haftung eines Körpers auf seiner Unterlage beruht den Gleitreibungskoeffizient μG (< μs ) der Normalkraft
auf der Normalkraft FN (Abb. 15.125a). Der Widerstand FN proportional ist (Abb. 15.125b).
dagegen, diesen Körper in Bewegung zu versetzen, wird
mit der statischen Reibungskraft Fs quantifiziert. Die Rei- Die Relativbewegung kann die aneinandergepressten
bungskraft ist über den Haftungskoeffizienten μs zur Grenzflächen schädigen, was zu Verschleiß führen kann.
Normalkraft FN proportional: Fs = μs · FN . Die Bedeu- Verschleiß bezeichnet den fortschreitenden Materialver-
tung der Haftung im täglichen Leben zeigt sich in der lust aus der Oberfläche (Oberflächenabtrag) eines festen
15.13 Abnutzung der Werkstoffe – Verschleiß 487

Vertiefung: Wie sind Werkstoffoberflächen mikroskopisch aufgebaut?

Wenn Werkstoffe aneinander gleiten, so berühren sich ve chemische und/oder mechanische Reinigung ent-
die beiden Oberflächen. Der Gleitwiderstand hängt fernt werden, sodass die Reaktionsschichten direkt
von der Normalkraft, der mikroskopischen Topografie aneinanderhaften. Wird von den Grenzflächen der
und dem atomistischen bzw. molekularen Aufbau der Körper auch die Reaktionsschicht entfernt und deren
Oberflächen ab. Neubildung im Vakuum (z. B. Weltraum) oder durch
innigen Kontakt verhindert, kommt es zur Adhäsion
Werkstoffe durchlaufen einen Formgebungsprozess, zwischen den atomaren Strukturen der Grundwerk-
der das Gefüge an der Oberfläche verändert (Fein- stoffe (Abb. 15.125d–f).
körnigkeit und Oxidation von Gussoberflächen (Guss-

Werkstoffkunde
haut), durch mechanische Formgebung stark verform-
te Oberflächenlagen). Eine spanende Bearbeitung er-
zeugt nicht nur eine entsprechende Oberflächenrau- 1–10 nm Adsorptionsschicht
igkeit, sondern auch verformte Körner mit erhöhter äußere
Versetzungsdichte. Diese Verformungszone kann sich Grenz- 10 nm –1 µm Oxid- oder Reaktionsschicht
einige Mikrometer tief in den Werkstoff erstrecken, schicht
wie in der Skizze dargestellt. Die chemische Wech-
selwirkung der Oberfläche mit der Umgebung in der
Fertigung und im Gebrauch erzeugt eine Reaktions-
schicht, die auch ohne Temperaturbehandlung bis zu durch Umformung oder
1 µm dick werden kann. Moleküle aus dem Umge- innere
spanende Bearbeitung
Grenz- >5 µm
bungsmedium benetzen die Oberflächenschicht (z. B. schicht
plastisch verformte Schicht
Schmiermittel) und werden von dieser mit sekundären mit Oberflächenrauigkeit
Bindungskräften adsorbiert. Diese Adsorptionsschicht
kann mit geeigneten Schmiermitteln für die Schmie-
rung genutzt werden, um die Reibungskoeffizienten
zu reduzieren.

Zwei Körper haften im Allgemeinen mit ihren Adsorp- Grundwerkstoff


tionsschichten und können sich entsprechend ihrer
Oberflächenrauigkeit verhaken, wie es Abb. 15.125c
darstellt. Adsorptionsschichten können durch intensi-

Beispiel: Mechanische Bremsen

Mechanische Bremsen übertragen die Normalkraft Die Bremsbeläge der Bremsbacken bzw. der Bremsklöt-
durch hohe Reibungskoeffizienten in hohe Reibungs- ze verschleißen mehr und werden nach bestimmter
kräfte Trommel-, Scheiben- und Felgenbremsen funk- Beanspruchungsdauer ausgewechselt.
tionieren über Gleitreibung.
Dass die Reibungskraft proportional zur Normalkraft Radbrems- Brems-
erhöht wird, nützen Bremsen durch Gleitreibung bei zylinder sattel
Trommel-, Scheiben- und Felgenbremsen. Die Brems- Brems-
reibung erfolgt zwischen Bremsbacken und -trommel trommel
Brems-
bzw. zwischen Bremsklötzen und Bremsscheibe oder Rückhol- klötze
Fahrradfelge. Der Reibungskoeffizient zwischen den feder
Brems- Brems-
Werkstoffpaarungen soll trotz Temperaturerhöhung, a backen b scheibe
die mit jeder Reibung verbunden ist, konstant bleiben.
Gleitreibungsbremsen, deren Bremskraft eingeleitet wird a über
Der Verschleiß, vor allem der Bremstrommel bzw. der Radbremszylinder bei Trommelbremsen; b über den Bremssattel bei
Bremsscheibe, soll durch Bremsung relativ gering sein. Scheibenbremsen (wirkt ähnlich wie Felgenbremse eines Fahrrades)
488 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Abb. 15.126 Schema eines FN


tribologischen Systems, das sich
aus der Reibpaarung, dem Zwi- 4
schenstoff, der Normalkraft, der 3a
5 2
Relativbewegung, dem umgeben- T1,2,3
den Medium und der Temperatur 3b
Temperatur-
auf den Reibflächen zusammen- 1 verhältnisse
setzt, das Verschleiß ergibt

Einflussgruppe

Gestalt und Stoff eingeleitete Energie


Werkstoffkunde

(Struktur) (Beanspruchungskollektiv)

1 2 3 4 5
Grundkörper Gegenkörper 3a Zwischenstoff Belastung Bewegung
3b Umgebungsmedium
Werkstoffpaarung fest, flüssig, gasförmig

Reibung
Verschleiß

Körpers (Grundkörper), hervorgerufen durch mechani- synth. Kautschuk


sche Krafteinwirkung beim Kontakt und bei der Relativ- Naturkautschuk Polymere
bewegung eines festen Gegenkörpers. Die erforderliche Blei Naturstoffe
Reibungskraft mal dem zurückgelegten Weg ergibt die C-armer Stahl Keramik
Reibungsarbeit, die einerseits den Oberflächenabtrag ge- Metalle
Fensterglas
gebenenfalls auf beiden Körpern bewirkt, andererseits Borglas
deren Reibflächen erwärmt. Die Lehre von Reibung und Leder
Verschleiß wird als Tribologie bezeichnet. Cu-Legierungen
Der Verschleißwiderstand ist keine Eigenschaft eines PMMA
Werkstoffes allein, sondern eine Systemeigenschaft min- WC
destens zweier Stoffe, die mit einer Reibungskraft gegen- Al-Legierungen
einander gedrückt und bewegt werden. Abbildung 15.126 legierte Stähle
zeigt die Komponenten eines tribologischen Systems: Art Holz
und Oberflächenstruktur des Grund- und des Gegenkör- Gusseisen
pers, Beschaffenheit des Zwischenstoffes und eventuelle PA
Einwirkungen der Umgebung. Das Beanspruchungskol- PS
lektiv setzt sich aus der Normalkraft zwischen den beiden Thermo-
PP
plaste
Körpern, dem zurückgelegten Weg und der Oberflächen- PE
temperatur der Reibpartner zusammen. Flüssigkeits- und PTFE
Gasströmungen können auch Oberflächen von Festkör-
pern abtragen (Erosion). 0,01 0,1 1 10
Reibungskoeffizient µG
Mit dem Reibungskoeffizienten wirkt die Normalkraft als gegenüber trockenem Baustahl
Reibungskraft (Beispielbox „Bremsen“). Der Reibungs-
koeffizient des Gegenkörpers auf einem Grundkörpers Abb. 15.127 Gleitreibungskoeffizienten zwischen einem Grundkörper aus
hängt von der Werkstoffpaarung und der Beschaffenheit Baustahl mit trockener Oberfläche und verschiedenen Gegenkörpern an Luft oh-
ne Zwischenstoffe
der Grenzflächen ab (siehe Vertiefung: Werkstoffoberflä-
chen). Abbildung 15.127 zeigt Beispiele für die Gleitrei-
bungskoeffizienten verschiedener Werkstoffe gegenüber
einem Grundkörper aus Baustahl ohne Zwischenstoff: für mechanismen größer als die Normalkraft); gegenüber an-
Thermoplaste ist er am geringsten, für Elastomere und deren Metallen, Keramiken, Gläsern, Plexiglas, Leder und
Blei größer 1 (die Reibungskraft ist wegen der Haftungs- Holz liegt er zwischen 0,2 und 0,9.
15.13 Abnutzung der Werkstoffe – Verschleiß 489

Tab. 15.17 Verschleißmessgrößen


Beschreibung Symbol Masseinheit Verschleißwiderstand
Direkte Oberflächenabtrag (Tiefe) ΔhV m 1/ΔhV
Verschleiß- Volumenverlust ΔVV m³ 1/ΔVV
messgrößen Masseverlust ΔmV g 1/ΔmV
Verschleißrate Verschleiß pro Verschleißweg s ΔhV /s, ΔVV /s, ΔmV /s m/m, m3 /m, g/m –
Verschleißgeschwindigkeit ΔhV /t, ΔVV /t, ΔmV /t m/h, m3 /h, g/h –
(bei gleichförmiger Relativbewegung)

Frage 15.13.1 Einlauf- stationärer Verschleiß instabiles


Wie wird die Reibungskraft zur Überwindung der Haf- verschleiß Versagen

Werkstoffkunde
primäres sekundäres tertiäres
tung und für die Gleitreibung berechnet?
Verschleißstadium

Verschleißbetrag
Verschleißrate
Ein tribologisches System besteht aus der Reibpaa-
rung (Grund- und Gegenkörper), den Zwischen- ΔhV, ΔVV, ΔmV
stoffen, der Normalkraft, der Art der Relativbewe-
gung, dem Umgebungsmedium und der Tempera-
tur der Reibflächen. Gemessen wird der Materialab- ΔhV/s, ΔVV/s, ΔmV/s
trag (Verschleiß) zumindest des Grundkörpers.
Bezugsgröße (Weg)

Abb. 15.128 Schematischer Verlauf des Materialabtrags durch Verschleiß mit


zunehmendem Verschleißweg: drei typische Stadien des Verschleißbetrags und
Reibungskräfte zwischen zwei gegeneinander der Verschleißrate: Einlaufphase, stationärer Verschleiß, tertiärer Bereich. Letz-
bewegten Körpern verschleißen deren terer führt durch steigende Verschleißrate zu Werkstückversagen

Oberflächen

Die Reibungskraft erzeugt auf den relativ zueinander be- verläuft wie in Abb. 15.128 dargestellt analog zu Kriech-
wegten Körpern fortschreitenden Materialverlust aus der kurven (Abschn. 15.12): eine Einlaufphase (primäres Ver-
Oberfläche eines oder beider Reibpartner. Dieser Materi- schleißstadium), in der vor allem die Oberflächentopo-
alverlust wird in der Technik als Verschleiß bezeichnet. grafie an den Grenzflächen angepasst wird, auf die ein
Verschleiß eines festen Grundkörpers wird durch me- stationäres (sekundäres) Verschleißstadium des gleich-
chanische Belastung (Reibungskraft) über einen festen, mäßigen Materialabtrags mit näherungsweise konstanter
flüssigen oder gasförmigen Gegenkörper hervorgerufen Verschleißrate folgt. Sobald Oberflächenschäden (Risse,
und als Masseverlust (Oberflächenabtrag) einer Stoffober- Ausbrüche etc.) auftreten, beschleunigt sich der Materi-
fläche gemessen. Als Verschleißmessgröße kann der Mas- alabtrag durch lokales Werkstoffversagen (tertiäres Ver-
severlust ΔmV , der Volumenverlust ΔVV oder die Tiefe schleißstadium).
des Oberflächenabtrags ΔhV des Grundkörpers gewählt
werden (Tab. 15.17). Der reziproke Wert des Material- Für den konkreten Einsatz wird empfohlen, das tribolo-
verlustes gibt den Widerstand gegen Verschleiß an. Die gische System für die Verschleißprüfung möglichst den
Verschleißrate gibt den Materialabtrag pro zurückgeleg- realen Verschleißbedingungen in einer Maschine anzu-
tem Verschleißweg an. Für gleichförmige Relativbewe- passen. Bei mikroskopischer Betrachtung der verschlisse-
gung kann der Weg durch die Beanspruchungszeit ersetzt nen Oberflächen werden die ursächlichen Verschleißme-
werden (s = vt) und die konstante Geschwindigkeit v als chanismen identifizierbar (Abb. 15.129 und 15.130), was
Prüfparameter herausgenommen werden, sodass die Ver- helfen kann, den Verschleiß im technischen Einsatz durch
schleißrate pro Weglänge als Verschleißgeschwindigkeit Auswahl einer geeigneten Werkstoffpaarung und durch
ermittelt wird. konstruktive Maßnahmen zu vermindern.

Für den Vergleich des Verschleißwiderstands verschie-


dener Werkstoffe werden sie als Grundkörper in sonst Frage 15.13.2
gleichen tribologischen Systemen getestet. Der Anstieg Welche Messgrößen quantifizieren den Verschleiß?
des Materialverlustes mit zunehmendem Verschleißweg
490 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

µA µ

Metall A Anstieg von A


µ infolge
σA Verfestigung lokaler Bruch A

µS örtlich verschweißt
σB
Metall B B
20 µm
a b c
Werkstoffkunde

Abb. 15.129 Mikroskopische Darstellung des adhäsiven Verschleißes durch Reibung zweier Metalle: a Rauigkeitsspitzen der beiden Körper wurden durch vor-
ausgehende Abrasion von Adsorptionsschichten befreit; die Reibungskraft ruft an den Kontaktflächen eine Spannungskonzentration hervor, sodass dort die Spitzen
verformt und dadurch nicht nur verfestigt, sondern auch verschweißt werden, was kurzzeitig einen Haftungskoeffizienten μs lokal wirken lässt; b bei weiterer
Relativbewegung bricht eine Spitze; c lokale Bruchfläche nach adhäsivem Verschleiß im Sekundärelektronenbild eines Rastelektronenmikroskops (Bonusmaterial zu
Abschn. 15.9, Rasterelektronemikroskopie, REM) einer Reibungsfläche eines austenitischen Stahls

harter Gegenkörper Kraft


Kraft bewegter Gegenkörper
hartes Fragment
Partikel
Wulst

geschädigter Grundkörper 10 µm
a Grundkörper b c

Abb. 15.130 Abrasiver Verschleiß: a Mikropflügen im Grundkörper durch härteren Gegenkörper; b Abtragung durch harte Partikeln in der Zwischenschicht; c
rasterelektronenmikroskopisches Bild zeigt Schleifriefen auf dem abrasiv abgetragenen Grundkörper

Stoffliche Wechselwirkungen zwischen den reißt (Abb. 15.129b). Diese Bruchflächen sind an der
Verschleißoberfläche im REM-Sekundärelektronenbild in
Grenzflächen verursachen adhäsiven Verschleiß
Abb. 15.129c erkennbar, solange sie nicht durch weitere
Reibung verschmiert werden.
Wenn Grundkörper und Gegenkörper an ihren reinen
Oberflächen durch die Reibungskraft aneinandergepresst Frage 15.13.3
werden, so können lokal atomare oder molekulare Wech- Welche Wechselwirkungen zwischen Grund- und Gegen-
selwirkungen auftreten (Abb. 15.125d–f). Die Anpress- körper bewirkt adhäsiven Verschleiß?
drücke an Oberflächenspitzen können durch eine Haftrei-
bung so groß werden, dass dort die beiden Körper nur
mehr Atomabstände voneinander entfernt sind, sodass
Adhäsion als Bindungskraft zwischen den Atomen an der Harte Gegenkörper oder Partikel tragen einen
Grenzfläche (siehe Vertiefung: Werkstoffoberflächen und duktileren Grundkörper abrasiv ab
Beispiel: Bremsspuren) wirkt.

Abbildung 15.129a zeigt, wie Oberflächenspitzen der Wenn sich Grundkörper und Gegenkörper im Härtewert
beiden metallischen Reibpartner zuerst durch die Re- signifikant unterscheiden, verursachen Oberflächenrau-
lativbewegung abrasiv gereinigt wurden, dann durch igkeiten des härteren Werkstoffpartners mikroskopisches
die Spannungserhöhung am Punktkontakt plastisch ver- Pflügen am anderen Körper, von dem Oberflächenberei-
formt werden und verschweißen, wodurch dort die che abgetragen werden. Abbildung 15.130a illustriert die
Haftungskoeffizienten beider Körper kurzzeitig wirksam Abrasion durch das Mikropflügen. Enthält der Zwischen-
werden. Bei weiterer Relativbewegung bleiben die ver- stoff harte Partikeln, haben diese eine ähnlich abtragende
festigten und verschweißten Oberflächenspitzen haften, Wirkung (Abb. 15.130b). Fragmente, die durch das Mi-
während die Spitze im nicht verfestigten Bereich ab- kropflügen aus den Oberflächen herausgegraben werden
15.13 Abnutzung der Werkstoffe – Verschleiß 491

Beispiel: Bremsspuren

Bremsspuren stammen hauptsächlich von adhäsivem alabtrag von den Reifen. Durch eine Schnellbremsung
Verschleiß der Gummireifen mit dem Fahrbahnbelag. werden Reifen durch den Verschleiß unrund.
Vor allem Werkstoffpaarungen aus gleichartigen Werk-
stoffen neigen zu adhäsivem Verschleiß. Nutzbar ist er Genutzt wird Adhäsion beim Reibschweißen. Die Ro-
beim Reibschweißen. tation eines Gegenkörpers unter Druck auf einen
gleichartigen Gegenkörper führt zum Verschweißen
der beiden Körper ohne lokales Aufschmelzen. Das
Grund- und Gegenkörper aus gleichartigen Werkstof- Reibrührschweißen (friction stir welding, FSW) durch
fen sind besonders anfällig für adhäsiven Verschleiß. ein rotierendes Werkzeug zwischen zwei, aneinander-
Typische Beispiele für adhäsiven Verschleiß treten bei

Werkstoffkunde
gepressten Körpern nützt die Reibungswärme zum Er-
Reibung in Vakuum auf, wie beispielsweise im Welt- weichen der oberflächennahen Schichten, die dadurch
raum, wo dieser der Grund dafür sein kann, dass im festen Zustand mechanisch vermischt werden, so-
sich manchmal Antennen aus Aluminium auf Satelli- dass sie eine stoffschlüssige Verbindung eingehen.
ten nicht öffneten. Eine Verstärkung einer trennenden,
oberflächlichen Oxidschicht kann dies verhindern (sie-
he Vertiefung: Wie sind Werkstoffoberflächen aufge-
baut). Bremsspuren von Fahrzeugen auf Asphalt ent-
stehen durch adhäsiven Verschleiß der Gummireifen.
Da beide Körper aus petrochemischen Verbindungen
bestehen, ist der Haftungskoeffizient relativ hoch. Auf a b
Betonfahrbahnen bzw., wenn der Asphalt auch Steine Bremsspuren auf einer Asphaltstraße als Beispiel für dominant adhäsiven
enthält, verstärkt der abrasive Verschleiß den Materi- Verschleiß: a Gummispuren auf dem Asphalt; b Materialabtrag von den Reifen

(Abrieb), verfestigen sich durch die Verformung und wer- Abrasiver Verschleiß durch harte Partikeln, wie beispiels-
den durch Oxidation härter, sodass sie dann selbst wie ein weise Silizium-Karbidteilchen (Schmirgel) auf Schleifpa-
abrasiver Zwischenstoff wirken. Die Oberfläche des duk- pier wird in Abb. 15.132 je nach Werkstoffart und Härte
tileren Körpers wird durch Schleifriefen in der Richtung eines Grundkörpers bei gleichen Prüfmethoden klassi-
der Relativbewegung abgetragen (Abb. 15.130c). fiziert. Werkstoffe geringer Härte (Polymere und nicht
verfestigte, reine Metalle und Mischkristalllegierungen)
Abrasiver Verschleiß hängt von den Härteunterschieden
(Abschn. 15.7) zwischen Gegen- und Grundkörper bzw.
gegenüber Partikeln im Zwischenstoff ab (siehe Beispiel: Verschleißhochlage
Abrasiver Verschleiß bei der spanabhebenden Bearbei-
tung). Je größer die Härteunterschiede sind, umso größer H1 ≈HA Grundkörper
Verschleißabtrag vom Grundkörper

ist der Materialabtrag des Körpers mit der geringeren mit Härte H1
H1 < H A
Härte. Abbildung 15.131 stellt dies schematisch für Prü-
fergebnisse dar, die unter gleichen tribologischen Bedin-
ΔhV, ΔVV, ΔmV

gungen für zwei Grundkörper der Härten H1 und H2


gegenüber Gegenkörpern mit verschiedenen Härten HA Grundkörper
Verschleiß
erhalten wurden. Die Kurven verlaufen ähnlich wie Kerb- tieflage mit Härte H2
schlagarbeitsergebnisse (Abschn. 15.9, Abb. 15.73 und
15.70): der härtere Verschleißpartner verschleißt weni- H1 >HA
ger (Verschleißtieflage), während der weniger harte stark
verschleißt (Verschleißhochlage). Dazwischen ergibt sich
ein Übergangsbereich, in dem der Verschleiß stark an-
H1 H2
steigt. Werkstoffpaarungen sind somit so zu wählen, dass
Härte des abrasiven Gegenkörper HA
der leichter auswechselbare Bauteil eine geringere Här-
te aufweist als der andere. Dies wird bei Gleitlagern
Abb. 15.131 Abrasiver Materialabtrag von Grundkörpern der Härte H1 und
und mechanischen Bremsen angewandt, wo die weichen H2 (H1 < H2 ) gegenüber Gegenkörpern verschiedener Härte HA : geringer Ver-
Gleitlagerschalen bzw. die Bremsbacken leichter auszut- schleiß des Grundkörpers, solange H1 bzw. H2 > HA (Verschleißtieflage), hoher
auschen sind als die sich drehenden Teile (siehe Beispiel Verschleiß sobald H1 bzw. H2 < HA (Verschleißhochlage), Übergangsbereich
„Mechanische Bremsen“). wenn H1 bzw. H2 ∼= HA
492 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Beispiel: Abrasiver Verschleiß bei der spanabhebenden Bearbeitung

Drehen, Fräsen, Bohren, Schleifen, Honen, Läppen, Po- (Schleifkörner in einem der Kontur angepassten, wei-
lieren beruhen auf Abrasion des Werkstückes durch chen Gegenkörper) und Polieren (Schleifkörner unter
harte Werkzeuge, aber auch die Werkzeuge verschlei- 1 µm) werden Oberflächen geglättet (Kap. 31).
ßen.
Genützt wird abrasiver Verschleiß durch harte Ge-
genkörper beim Drehen, Fräsen, Bohren und Schlei-
fen von weniger harten Werkstücken als Grundkörper stark verformter
(Kap. 31). Die harten Werkzeugspitzen „pflügen“ in polykristallines
Span
Werkstück
Werkstoffkunde

metallischen Werkstücken (weniger genutzt für Ther-


moplaste). Das folgende Bild zeigt schematisch, wie
Spanfläche des
eine harte Werkzeugschneide einen Span verformt und polykristallinen
vom polykristallinen Werkstück trennt (a), wobei der Werkzeugs
verfestigte Span an der Spanfläche des Werkzeuges a
Verschleiß bewirkt (b), was zur Auskolkung führt (c).
Die Schneidenspitze wird durch Verschleiß stumpf (d),
wodurch die Schneidkräfte und die Reibungskräfte Mikrorisse
ansteigen. Auf der Spanfläche kann es zur Adhäsi- polykristallines
on von Teilen des Spanes kommen, die eine Auf- Werkstück Schneidkante
bauschneide bilden c, die ebenfalls die Schneidkräfte wird stumpf
erhöht.
b
Die abrasive Wirkung von harten Partikeln, die in ei-
nem Gegenkörper eingebettet sind, aber durch das Aufbauschneide
Schleifen auch beweglich in der Zwischenschicht wir-
Auskolkung
ken, wird zur Oberflächenbearbeitung genutzt. Beim
Schleifen mit Schleifpapier, beim Honen (bewegli-
che Schleifkörper vorgegebener Form), beim Läppen c

z un e h m Schleifpapierverfahren zeigen gegenüber Schleifpapier geringen Verschleißwi-


e nd e für verschiedene derstand (hohen Abtrag). Werden die Metalle durch Ver-
Verf
m un or Grundkörper
gsfä formung verfestigt, erhöht sich ihr Verschleißwiderstand,
Verschleißwiderstand gegen Schleifpapier

hi g
Mikropflügen verfe kei sodass Riefen durch Mikropflügen bei gleichbleibender
stigt t
eM
etal
le Reibungskraft kleiner werden. Je höher die Härte aus-
martensitische Stähle scheidungs- oder umwandlungsgehärteter Legierungen
Misc Metalle
talle

ist, umso höher ist auch ihr Verschleißwiderstand, sodass


hkris

Oberflächenabtrag

Keramiken weisen zwar die höchsten Härten auf, aber


reine

Mikropflügen, Mikrospanen
sind bruchanfällig (Abschn. 15.10), sodass ihr Verschleiß-
amik
Ker widerstand durch instabiles Versagen oft geringer ist als
Kaltverfestigung der verfestigter Metalle.
g
ungshärtun
Ausscheid
Polymere Mikrospanen, Mikrobrechen
Frage 15.13.4
Wodurch unterscheiden sich adhäsiver und abrasiver Ver-
Werkstoffhärte des Grundkörpers
schleiß?
Abb. 15.132 Schematische Abhängigkeit des Verschleißwiderstandes (rezipro-
ker Verschleißabtrag) verschiedener Werkstoffe in unterschiedlichen Zuständen Welcher Verschleißmechanismus erzeugt eine Brems-
gegenüber Schleifpapier als Gegenkörper, geprüft durch das Schleifpapierverfah- spur?
ren
15.13 Abnutzung der Werkstoffe – Verschleiß 493

Verschleiß kann durch Schmiermittel verhindert


werden. Abrasiver Verschleiß wird für die Ober-
flächenbearbeitung und die spanabhebende Bear-
beitung von Werkstücken genutzt, wobei auch die
a b
Werkzeuge verschleißen (siehe Beispiel: Abrasiver
rollende Bewegung
Verschleiß bei der spanabhebenden Bearbeitung).
Aus-
Druck punktuelle bruch
Oszillation

c Materialeinschlüsse d Risse e
Erosion von Festkörpern durch flüssige

Werkstoffkunde
oder gasförmige Gegenkörper Abb. 15.133 Beispiel für Oberflächenzerrüttung einer Kugellagerschale;
b durch den rollenden Lauf der gehärteten Kugeln (a); c Druckpunkt (rot ) und
zugehörige punktuell oszillierende, elastische Verformung der Lauffläche (blau );
Wenn sich der Gegenkörper flüssig oder gasförmig über d weiche Materialeinschlüsse unter der Lauffläche (weiß ), verformen sich mehr
die Oberfläche eines festen Grundkörpers bewegt, tref- als die Stahlmatrix, in der Risse (schwarze Linien ) entstehen; e diese rufen in der
Oberfläche Ausbrüche hervor
fen die Flüssigkeits- oder die Gasmoleküle mit kinetischer
Energie auf den Festkörper auf. Je höher der Impuls
der Strömung auf die Oberfläche des Grundkörpers ist,
desto größer ist die abtragende Wirkung, die als Erosi- werden können. Dabei entsteht eine raue, matt schim-
on bezeichnet wird. In der Natur tritt dies bei Wasser- mernde Oberfläche. Beim Wasserstrahlschneiden kön-
läufen im Gestein auf, vor allem bei Wasserfällen und nen Siliziumkarbid- oder Aluminiumoxid-Teilchen in den
durch die Meeresbrandung. Das Sprichwort „steter Trop- Wasserstrahl eingeleitet werden, sodass die Schneidleis-
fen höhlt den Stein“ beruht auf der periodischen Erosion tung wesentlich erhöht wird. Gehärtete Metalle oder Ke-
des Steins über lange Zeiträume. Auch der Wind kann ramiken, die mechanisch nicht geschnitten werden kön-
weiches Gestein abtragen und bizarre Formationen durch nen, da die Sägeblätter zu rasch verschleißen, können
„Windschliff“ erzeugen (z. B. Grand Staircase Escalante mittels Wasserstrahlschneiden mit abrasiven Partikeln ge-
National Monument, Arizona-Utah, USA). Flüssigkeits- teilt werden.
oder Gasdüsen erleiden Erosionsverschleiß, die die Öff-
nung erweitern und Riefen erzeugen. Genützt wird Erosi- Frage 15.13.5
on beim Wasserstrahlschneiden keramischer Werkstoffe, Wie wirkt Sandstrahlen und zu welchem Zweck wird es
Leichtmetalle, Verbundwerkstoffe und Kunststoffe, die eingesetzt?
sich durch spanabhebendes Sägen kaum schneiden las-
sen. Ein Wasserstrahl mit einigen Tausend bar erodiert
eine Schnittbreite, ohne dass die Schnittfläche erwärmt
wird.
Oszillierende Reibungskräfte bewirken
Eine spezielle Erosionsform wird durch Funkenentladung Oberflächenzerrüttung
an Metalloberflächen erzeugt. Hohe elektrische Spannun-
gen können Ionen aus der Oberfläche „herausziehen“.
Technische Anwendung findet die Funkenerosion beim Falls die Relativbewegung zweier Reibpartner oszillie-
verformungsfreien Schneiden von Metallen mit einem rend abläuft, entsteht eine lokale Ermüdungsbelastung
aufgeladenen Draht. Komplexe Formen können durch mit elastischen und gegebenenfalls plastischen Verfor-
lineare oder flächige Funkenerosion ohne mechanische mungen an den Berührungspunkten. An Oberflächen-
Belastung bearbeitet werden. Beim Plasmaschneiden wer- rauigkeiten (Abb. 15.125c) und/oder Gefügeinhomogeni-
den negative Ionen erzeugt, die positive Ionen aus der täten werden mikroskopische Ermüdungserscheinungen
Metalloberfläche herausschlagen, die abgesaugt werden. verstärkt. Sobald es zu lokalen Ausbrüchen an den Ober-
Damit wird die Metalloberfläche gegenüber einer schnei- flächen kommt, wird diese Art der Materialabtragung als
denden oder formgebenden Elektrode abgetragen. Schwingverschleiß oder Oberflächenzerrüttung bezeich-
net. Abbildung 15.133 illustriert ein wichtiges Beispiel
Erosion wird wesentlich verstärkt, wenn die flüssige oder für Verschleiß eines Grundkörpers durch einen harten,
gasförmige Strömung abrasive Feststoffe enthält, wie bei- rollenden Gegenkörper, nämlich ein Kugellager. Abbil-
spielsweise Geröll in Gewässern oder Sand im Wind. dung 15.133c stellt den punktuellen Druck einer auf dem
Beim Sandstrahlen werden Quarzpartikeln durch Gas- Kugellagerring laufenden Kugel dar, die lokal eine wech-
druck auf Werkstückoberflächen geschossen, wodurch selnde elastische Verformung im Grundkörper erzeugt.
Lacke oder Korrosionsschichten von Metallen entfernt Der punktuelle Druck der Kugeln läuft mit dem Abrollen
494 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Strömung
a
Kavitations-
Implosion Kav
Ka
K aviita
av ttaatio
atio
ttions-
Kavitations- nnsss-
schäden
Kavitation sch
sch
sc
chääd
äde
ddeen
schäden

Druck Fließgeschwindigkeit

Dampf-
druck
Werkstoffkunde

Unterdruck

b c

Abb. 15.134 Kavitationsverschleiß: a Strömungssituation mit Kavitation und Implosionen; b zugehöriger Verlauf des Druckes in der Strömung in Beziehung zum
Dampfdruck der Flüssigkeit (Unterdruckbereich erzeugt Kavitationen); c Implosionen führten zu Materialabtragungen auf einer Schiffsschraube

der Kugeln im Lager herum. Somit entstehen punktu- chen oder Abschälungen führen kann. Periodische Gas-
elle Ermüdungsbelastungen entlang der Lauffläche der oder Flüssigkeitsstrahlen können auf dem Grundkörper
Kugeln. Ausbrüche in Kugellagerringen entstehen da- durch oszillierende Erosion Oberflächenzerrüttung verur-
durch, dass sich im Stahl vereinzelt weiche Mangansulfid- sachen.
Einschlüsse befinden, wodurch multiaxiale Spannungs-
und Verformungszustände entstehen, an denen sich in- Frage 15.13.6
nere Risse bilden (Abb. 15.133d). Sobald diese in die Welche Komponenten eines tribologischen Systems füh-
Oberfläche wachsen, verursachen sie Ausbrüche in der ren zu Oberflächenzerrüttung?
Lagerschale (Abb. 15.133e). Die Belastungssituation ist
bei Wälzlagern und abrollenden Zahnflanken bei Zahn- Wie wirkt der Verschleiß in Wälzlagern?
rädern ähnlich. Von den Stählen für Kugel- und Wälzla-
ger sowie für hochbeanspruchte Zahnräder wird deshalb
höchste Reinheit gefordert. Tritt bei rollenden Bewegun- Wasserstrahlschneiden nützt die Erosion zum Tei-
gen zusätzlich Schlupf auf, kann die Oberflächenzerrüt- len von Werkstoffen, die sich schwer spanabhebend
tung durch abrasiven Verschleiß verstärkt werden. bearbeiten lassen. Mit kleinen Amplituden oszillie-
Mechanische Verbindungen, bei denen der Kraftschluss rende Reibungskräfte bewirken einen Materialab-
durch Relaxation nachlässt, bewegen sich dann je nach trag durch Mikro-Ermüdung auf den Kontaktflä-
Belastung mit kleinen Amplituden, wobei oszillierender chen (Oberflächenzerrüttung)
Gleitverschleiß entstehen kann. Ein typisches Beispiel
hierfür ist der sogenannte Passungsrost. Die Abriebteil-
chen einer Stahlverbindung rosten wegen ihrer relativ
großen Oberfläche beschleunigt. Der Rost (Abschn. 15.14)
bewirkt eine Volumenvergrößerung der Partikel und Beschleunigte Strömungen von Flüssigkeiten
kann die Verbindung wieder verfestigen z. B. können aus verursachen Kavitationsverschleiß
diesem Grund Schraubverbindungen nicht mehr gelöst
werden. Bei Werkstoffpaarungen, die oszillierend gleiten
Wenn Flüssigkeiten durch Düsen strömen, kann dort
sollen, kann es zu einem „Fressen“ der beiden Teile kom-
ein Unterdruck entstehen, der zum lokalen Verdamp-
men, was das Gleiten unterbindet. Bei Reibpaarungen
fen der Flüssigkeit führt. Diese Kavitationsbildung wird
aus Leichtmetallen kann oszillierendes Gleiten zu adhäsi-
in Abb. 15.134 erläutert. Sobald diese Dampfblasen wie-
ver Haftung führen, dem sogenannten „Fretting“. Durch
der kondensieren, verkleinert sich das Volumen plötz-
die Gleitreibung wird die Oxidschicht auf Aluminium-
lich: die Flüssigkeit implodiert (Abschn. 22.5). Implo-
oder Titan-Bauteilen entfernt, sodass diese punktuell ver-
dieren Gasblasen in der Nähe eines festen Gegenkör-
schweißen können.
pers, trifft eine Unterdruckwelle mit Sogwirkung auf ihn.
Bei Schlägen eines Gegenkörpers auf einen Grundkör- Die Implosionen können aufgrund der damit verbun-
per (z. B. Werkzeug auf Werkstück) wird dieser durch die denen Ermüdungsbelastung des Gegenkörpers wie bei
Stoßimpulse oszillierend belastet. Dadurch kann Oberflä- der Oberflächenzerrüttung einen Oberflächenabtrag her-
chenzerrüttung eintreten, die zu oberflächlichen Ausbrü- vorrufen. Derartiger Kavitationsverschleiß (gelegentlich
15.14 Werkstoffschädigung durch Korrosion 495

Leitbeispiel Antriebsstrang
Verschleißerscheinungen der Bauteile,
deren Reibungsbelastungen im Betrieb
sehr unterschiedlich sind

Im Turbolader dreht sich die Turbine mit sehr hohen Die Ölwanne wird vom staubigen Fahrtwind um-
Drehzahlen. strömt.
Im Zylinder des Kurbelgehäuses gleitet der Kolben

Werkstoffkunde
Im Getriebe greifen die Zahnräder ineinander und
auf und ab. werden auf gelagerten Achsen gegeneinander ver-
schoben.

Bauteile tribologisches System Verschleißmechanismus


Abgasstrom auf Turbine, die in Gleitlager mit Erosion der Turbinenschaufeln, Gleitreibung in den
hydrodynamischem Schmierfilm rotiert Lagern bei defekter Schmierung oder Verunreinigung
durch Partikeln

Kolbenringe gleiten in Zylinderinnenflächen Gleitreibung zwischen Kolbenringen und Zylinder-


oder Laufbüchsen, die gehont sind; Öl als Zwi- wand (bei Ausfall der Schmierung kann der Kolben
schenstoff festfressen – „Kolbenreiber“); Honen der Zylinderwand
erzeugt Schmiertaschen zur besseren Schmierung

Außenseite wird häufig von sandiger Luft geringe Erosion der Außenseite verstärkt durch Sand-
umströmt partikeln

gehärtete Zahnräder reiben aneinander, Achse Oberflächenzerrüttung durch Abrollen der Zahnflan-
dreht in Kugel- oder Wälzlagern, Getriebeöl als ken, die durch Schleifen geglättet wurden; Gleitreibung
Zwischenstoff beim Schalten, Rollreibung in den Lagerungen

als „Sogverschleiß“ bezeichnet) wird an Ventilen, Rühr- „Werkstoffoberflächen“, Abschn. 15.13) aufgelöst oder ab-
werken und Schiffsschrauben (Abb. 15.134c) bei hohen getragen wurde. Wird das Material dadurch geschädigt,
Strömungsgeschwindigkeiten beobachtet. indem der tragende Querschnitt durch die Reaktions-
produkte geschwächt wird, spricht man von Korrosion.
Frage 15.13.7 Abbildung 15.135 illustriert die Wechselwirkungen, die
In welchem Einsatzfall kann Kavitationsverschleiß auftre- vor allem vom Oberflächenzustand des Werkstoffes und
ten? dessen chemischen Eigenschaften gegenüber der Zusam-
mensetzung der Umgebung abhängen. Der Spannungs-
zustand durch äußere Zugbelastungen und/oder Zu-
geigenspannungen erhöht die Korrosionsempfindlichkeit
15.14 Werkstoffschädigung aufgrund verstärkter Diffusion aus dem Umgebungsme-
dium in das Kristallgitter und entlang der Korngrenzen.
durch Korrosion Derartige physikalische Effekte verstärken die chemi-
schen Wechselwirkungen. Die Vertiefung „Klimatische
Die Oberflächen der Werkstoffe können mit Gasen und Bedingungen“ vergleicht die Korrosionsempfindlichkeit
Flüssigkeiten ihrer Umgebung chemisch reagieren, nach- einiger Werkstoffe in unterschiedlichen Klimazonen. So-
dem die leicht gebundene Adsorptionsschicht (Vertiefung wohl die Reaktivität des Werkstoffes als auch die des
496 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Übersicht: Tribologische Systeme, die unterschiedliche Verschleißmechanismen hervorrufen

Die Werkstoffpaarung und die Art der Relativbewe- te der Werkstoffe, die Oberflächenbeschaffenheit und
gung unter Druckbelastung rufen mittels unterschied- eventuelle Zwischenstoffe beeinflussen die Verschleiß-
licher Verschleißmechanismen Oberflächenabtragung rate. Andererseits werden Verschleißmechanismen zur
hervor, die den verschleißenden Bauteil schwächen Werkstoffbearbeitung genutzt.
und zum Versagen führen oder beitragen. Die Här-

Tab. 15.18 Tribologische Systeme und Verschleißmechanismen, tribometrische Anordnungen zur Prüfung des Verschleißwiderstandes
Verschleiß- Relativbewegung tribometrische Anordnung Beispiele Erscheinungs- Verschleißmechanismen
paarung der Körper formen
Werkstoffkunde

feste Grund- gleitet relativ Gleitlager, Riefen, Gleitverschleiß


und zueinander Führungs- Rattermarken, Gegen- Stück vom
Gegenkörper bahnen, Fressen, körper Grundkörper
ohne abrasive Drehmeißel Bremsspur,
Zwischen- Späne Adhäsion
stoffe
Grundkörper
Gegenkörper
Abrasion

Grundkörper
Rollen aufeinan- Wälzlager, Grübchen- Oberflächenzerrüttung,
der (mit Schlupf) Zahnflanken, bildung, (Mikroermüdung),
rollende Abblättern, Wälzverschleiß
Räder Schälungen (und Gleitverschleiß)

wiederholte Ventilstößel, Grübchen, Stoßverschleiß


Stoßimpulse Ventilsitze, Ausbrüche,
Präge- Schälungen
werkzeuge,
Hammer

oszillierendes lockere Oberflächen- Schwingverschleiß und


Gleiten mechanische riefen, Gleitverschleiß
Verbindung, Fressen,
Feilen Passungsrost

Mit abrasiven wie alle oben, mit- Staub in Kratzer, Verschleißarten wie oben
Zwischen- bewegte Partikeln Gleitlagern, Riefen, und abrasiver Verschleiß
stoffen dazwischen Förderkette, Einbettung
Schleifen von Partikeln

feste Pulver Probe Flüssigkeits-, punktuelle Erosion durch hohe kineti-


Grundkörper Gas-/Luft- Dellen, sche Energie der Strömung
in gasförmiger Druckluft, ströme auf Riefen,
oder flüssiger Flüssigkeit Festkörper Streifen;
Strömung Funkenerosion Schnitte Funken induziert
mit abrasiven α Sandstrahlen, Reinigen, Erosion und Abrasion
Partikeln Strahl- Oberflächen-
Einstrahl- schneiden riefen
winkel

feste Grund- Flüssigkeit mit Kavitationsschäden Ventil, Grübchen- Kavitationsverschleiß


körper mit hoher Strömungs- Rührwerk, bildung (Sogverschleiß,
flüssigen geschwindigkeit, Turbine, durch Im- Oberflächenzerrüttung)
Gegenkörpern Unterdruck Schiffs- plosionen
Implosion schraube
Kavitation
15.14 Werkstoffschädigung durch Korrosion 497

+ + + + +
H H2O

Werkstoff negative Elektronenwolke – +
e +H

n
- Zusammensetzung
ne + + + + +O
tio
- Gefügezustand H

eak

- Oberflächen-
(bewegliche Elektronen)
R

beschaffenheit
he

- Eigenspannungen –
+ OH
isc

+ + + +
em

Ko
sch rrosi
ch

äd ons Abb. 15.136 Schematische Darstellung der elektrochemischen Reaktion eines


igu -
ng metallischen Ionengitters, dessen einfach ionisierten Atome an der Oberfläche
Medium Belastung mit OH- -Ionen des Wassers Hydroxidverbindungen (violett eingekreist ) einge-
- Zusammensetzung - Temperatur hen, während Wasserstoff durch die freien Elektronen des Metalls neutralisiert

Werkstoffkunde
- Verunreinigungen - Eigenspannungen und abgeschieden wird
- Strömungsver- - Betriebsbelastung
hältnisse
Korrosionsprodukte vermindern die Belastbarkeit von
Werkstoffen besonders dann, wenn sich an der Oberfläche
Grübchen ausbilden, die wie Kerben eine Spannungs-
konzentration hervorrufen, die instabilen Bruch einleiten
kann (Abschn. 15.9). Abbildung 15.138 erklärt die örtli-
che Abtragung von Eisen unter einem Wassertropfen und
Abb. 15.135 Chemische Wechselwirkungen der Werkstoffe mit ihrer Umge- die Rostablagerung rundherum, die sogenannten Loch-
bung, gegebenenfalls verstärkt durch mechanische Zugbelastungen und Tempe- fraß (englisch: pitting) hervorruft, wie in Abb. 15.137b)
raturerhöhung, die an Bauteilen Korrosionsschäden bewirken gezeigt. Die Intensität des Lochfraßes hängt sowohl von
der Legierung als auch vom Umgebungsmedium ab-
hängt. Lochfraß tritt auch auf Aluminium-Legierungen
Umgebungsmediums erhöhen sich mit steigender Tempe- auf, wenn punktuell die schützende Oxidschicht durch
ratur. Einlagerungen unterbrochen ist (siehe Vertiefung: Klima-
tische Bedingungen und Abb. 15.141).

Frage 15.14.1
Viele Werkstoffe korrodieren an feuchter Luft Was versteht man unter Rost und wie entsteht er?
und in Wasser
Ist der Gehalt an Oxidationsmitteln in der Umgebung er-
Das bekannteste Korrosionsprodukt ist Rost auf Stäh-
höht, wird der Korrosionsangriff verstärkt. Die Feuchtig-
len. Alle Metalle bestehen aus positiven Ionen und freien
keit und der Schadstoffgehalt verursachen unterschiedli-
Elektronen, daher sind sie anfällig auf Reaktionen mit
che korrosive Abtragungsraten von den Werkstoffober-
Atomen aus der Umgebung, die Elektronen aufnehmen.
flächen. Ein bekanntes Korrosionsmedium ist salzhalti-
Abbildung 15.136 stellt schematisch die elektrochemi-
ges Wasser mit negativen Chloridionen, die die Bildung
sche Reaktion einer Metalloberfläche mit Hydroxidionen
schützender Oxidschichten unterbinden. Werkstoffe für
dar, die durch die Abspaltung des Wasserstoffs aus dem
Straßenfahrzeuge werden mit genormten Salzsprühtests
umgebenden Wasser entstanden. Dabei werden positive
geprüft, um die Korrosionsempfindlichkeit aufgrund der
Wasserstoffionen durch Elektronen aus dem Metall neu-
Massenverluste ΔmK während einer bestimmten Expo-
tralisiert. Der entstehende Wasserstoff kann im Elektro-
nierdauer zu vergleichen.
lyt Gasblasen bilden oder in das Metall eindiffundieren.
An der Eisen-Oberfläche reagieren die Hydroxidionen Medien mit mikrobiologischen Vorgängen werden so ver-
(OH)− mit den zweifach ionisierten positiven Eisenionen ändert, dass sie auch ohne Sauerstoffzufuhr korrosive
zu Fe(OH)2 -Molekülen. Diese Reaktion an Stahloberflä- Schädigung hervorrufen, z. B. korrodieren Eisenwerkstof-
chen ohne Korrosionsschutz ist in Abb. 15.137 dargestellt. fe durch anaerobe, sulfatreduzierende Bakterien. H2 SO4
Die keramischen Reaktionsprodukte sind plastisch nicht fördert den elektrochemischen Angriff des Stahls. Diese
verformbar. Wegen der Schwellung gegenüber Eisen wei- Korrosionsart wird in der Erdölgewinnung unter Luft-
sen sie Risse auf und blättern ab, sodass die Korrosion abschluss beobachtet, wobei das entstehende Eisensulfid
voranschreitet und den tragenden Metallquerschnitt ver- einen schwarzen Belag hinterlässt. Sich bildender Schwe-
mindert. Wirksamer Korrosionsschutz besteht in der Ab- felwasserstoff kann sowohl Metalle als auch Polymere
schirmung der Metalloberfläche von Oxidationsmitteln abtragen.
(siehe Vertiefung: Korrosionsschutz).
498 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

feuchte Luft poröse Fe-Hydroxide = „Rost“


+ Fe(OH)3
(OH)–
kathodische Teilreaktion:
2e– + (H2O) + ½O2 Fe(OH)2
Fe2+  Fe3+ + e–
Keim

e–

Fe  Fe2+ + 2e–
anodische Teilreaktion
a b

Abb. 15.137 Rostbildung auf Eisen durch belüftetes Wasser; a schematische Darstellung der Bildung von Hydroxidionen, die die Elektronen aus dem Metall
Werkstoffkunde

aufnehmen (kathodische Teilreaktion), woraus sich mit doppelt und dreifach ionisiertem Eisen (anodische Teilreaktion) Fe(OH)2 und Fe(OH)3 ausgehend von Keimen
an Oberflächenunregelmäßigkeiten bilden; b rötlicher Rost mit Lochfraß

Luft Wassertropfen Kunststoffe erleiden unterschiedliche


O2 diffundiert vom (noch korrosiver mit
zugesetzten Salzen)
Schädigungsmechanismen durch die Umgebung
Rand der Tropfen
zum Metall
(Rostränder OH– Fe(O Die Luftfeuchtigkeit und Temperatur beeinflussen die
entstehen) H)
O2 Rost 2 Rost OH– mechanischen Eigenschaften von Polymeren sehr stark.
kathodisch Fe2+ kathodisch Für die Charakterisierung der Werkstoffeigenschaften bei
Fe –
e– anodisch e Raumtemperatur muss für die Durchführung der Ver-
suche das Standardklima nach DIN EN ISO 291 mit
4e– + 2H2O + O2 4OH– Fe Fe2+ + 2e– einer Lufttemperatur von 23 °C und einer relativen Luft-
feuchtigkeit von 50 % (Kennzeichnung: Klima 23/50) ein-
Abb. 15.138 Lochfraß auf Eisen unter einem Wassertropfen: kathodische Teil- gestellt werden. Ebenso verursacht die Lagerung und
reaktion am Rand des Tropfens durch Sauerstoffzufuhr; örtlicher, anodischer
Abtrag in der Mitte; Rostanhäufung rundherum
Verwendung in hoher Luftfeuchtigkeit eine Schwellung
vieler Polymere durch Wasser oder Hydroxidionen.
Die Umwelteinflüsse auf Polymere zeigt Abb. 15.139 sche-
matisch. UV-Bestrahlung sowie sichtbares Licht verän-
Elektrochemische Korrosionsschädigung der Werk- dern die Polymereigenschaften durch sogenannte Au-
stoffe erfolgt in Flüssigkeiten (oder Kondensaten) tooxidation. Dabei wird die Oxidation mit Sauerstoff
mit Ionen (Elektrolyt), die mit gegensätzlich gela- durch erhöhte Temperaturen (thermo-oxidative Alterung)
denen Ionen (positiven in Metallen) oder Dipolen oder Licht (photo-oxidative Alterung) verstärkt, sodass es
(in Polymeren) reagieren. Die Reaktionsprodukte zu Farbänderungen und Versprödung kommt. Öle, Ten-
schwächen lokal oder flächig den tragenden Quer- side und Mikroorganismen können mit den organischen
schnitt des Werkstoffes. Molekülen der Polymere reagieren. Aufgrund der Dif-

Abb. 15.139 Zusammenwirken


der schädigenden Einflüsse der Temperatur
Umgebung von Polymeren: neben Licht
Temperatur, UV- und sichtbarer mechanische Belastung • UV/VIS
Strahlung (UV/VIS) treten chemische • Kraft statisch (Zug, Druck),
Reaktionen mit der Luftfeuchtigkeit, dynamisch (Vibration, Schlag)
Ölen, Stickoxiden und Ozon, sowie • Scherung (bei der Verarbeitung)
mit Mikroorganismen auf, die durch
Schädigung natürliche Medien
die mechanischen Belastungen von • Luft und Feuchtigkeit
verstärkt werden können Polymeren (Bewitterung)
biologische Medien • Wasser
• Mikroorganismen • Erde
(Bakterien, Pilze)
• Pflanzen, Tiere
chemische Medien/
Umwelteinflüsse
• Öl, Tenside
• Schadstoffe (Ozon, NOx)
15.14 Werkstoffschädigung durch Korrosion 499

Vertiefung: Klimatische Bedingungen

Je nach klimatischen Bedingungen kann feuchte bzw. porös, mechanisch kaum belastbar und werden meist
verunreinigte Luft ungeschützte Metalle unterschied- vom Regen abgewaschen.
lich rasch flächig oder lokal punktweise abtragen.
Der Lochfraß an einer im Bauwesen eingesetzten Al-
Mg-Si Knetlegierung (AW6060) wird in Abb. 15.140b
Beispiele für flächige Materialabtragungen zeigt veranschaulicht. Die durchschnittliche Tiefe der Kor-
Abb. 15.140a mit in den USA gemessenen Korrosions- rosionsgrübchen, die in verschiedenen Gegenden der
raten (Dickenverlust pro Zeit). Die Abtragungsraten USA nach 20 Jahren Exposition gemessen wurden, sind
wurden über längere Zeiträume gemittelt. Zink, Kup- aufgetragen. Wiederum sind die örtlichen Korrosions-

Werkstoffkunde
fer, Aluminium (und nicht dargestelltes Eisen) sind tiefen in Küstennähe am größten. Die Massenverluste
an Meeresküsten am korrosionsanfälligsten wegen pro Fläche wurden auf einen hypothetischen, flächi-
des Chlor-Gehaltes der Meeresluft. Blei zeigt kaum gen Abtrag umgerechnet und ergeben über die 20-
Unterschiede in der Korrosionsempfindlichkeit in jährige Exposition weniger als 20 µm (Korrosionsra-
verschiedenen Atmosphären. Blei wurde früher für te 1 µm/Jahr), obwohl Lochfraßtiefen von mehr als
Wasserleitungsrohre verwendet, bis die Giftigkeit von 0,3 mm gemessen wurden. Geringste Korrosionsemp-
Pb+ nachgewiesen wurde. Der Materialabtrag bezieht findlichkeit besteht in trockenem, heißem Klima (bei-
sich auf das tragende Metall. Die eventuell aufwach- spielsweise in Arizona, wo Flugzeuge langfristig abge-
senden Korrosionsprodukte (vor allem Chloride) sind stellt werden).

50 0,4
Korrosionsrate verschiedener Metalle Aluminium nach 20 Jahren
in unterschiedlichen Atmosphären in unterschiedlichen
40 Atmosphären
Korrosionsrate in µm/Jahr

Korrosionstiefe in mm
Trocken heiß 0,3 Lochfraß
mäßig feucht
„pitting“
subtropisch,
30 (punktweise
Atlantikküste
Auflösung
Pazifikküste 0,2 in die Tiefe)
Atlantikküste,
20 Industrie

0,1
10
über die Oberfläche
gemittelter Abtrag

0 0
Aluminium Kupfer Blei Zink Gewichtsverlust- mikroskopische
a 99,2 99,9 99,92 98,9 b messung Messung

Abb. 15.140 Korrosionsraten für Metalle in verschiedenen Atmosphären; a flächiger Abtrag von niedriglegiertem Aluminium, technisch reinem Kupfer,
Blei und Zink; b Tiefe der Lochfraßgrübchen auf Aluminium im Vergleich zum gemittelten Abtrag pro Fläche, errechnet aus der Gewichtsverlustmessung

fusionsgeschwindigkeiten ergibt sich eine zeitabhängige Frage 15.14.2


Schädigung der Materialeigenschaften, die nicht durch Was bedeutet thermo-oxidative und photo-oxidative Al-
Materialabtrag erzeugt wird, sondern durch Veränderun- terung von Kunststoffen?
gen der Sekundärbindungen. Erhöhte Temperatur und
mechanische Belastungen verstärken diese Einflüsse.

Elektrochemische Potenzialunterschiede
Polymere sind relativ korrosionsbeständig, aber ver-
spröden thermo-oxidativ und photo-oxidativ. Flüs- verursachen galvanische Korrosion
sigkeiten können eindiffundieren und Schwellungen
erzeugen. Metalle besitzen ein elektrochemisches Potenzial, das ge-
genüber einer Normal-Wasserstoffelektrode Elektronen
500 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Vertiefung: Korrosionsschutz

Korrosionsschutz durch selbstheilende, dichte Oxid- die Oxidschicht mechanisch verletzt, wächst sie wie-
schichten auf Aluminium- und Titan- Legierungen, der nach: Sie ist selbstregenerierend. Sie kann durch
sowie auf „rostfreien“, chromreichen Stählen; lackierte Anodisieren bis Zehntel Millimeter verstärkt werden,
Werkstücke können Filiformkorrosion erleiden; Korro- ist aber dann bruchempfindlich wie Keramik. Beim
sion durch Wasser kann durch konstruktive Maßnah- Verformen wird diese Schicht rissig, sodass Flüssig-
men verhindert werden keiten eindringen können, die das Metall unter der
Oxidschicht lokal korrodieren können. Sauerstoff kann
Einige unedle Metalle haben die Fähigkeit, an Luft interstitiell in die Oberfläche von Titanlegierungen
durch Oxidation einen dichten Oxidfilm auszubil- eindiffundieren. Die entstehende Oxidschicht macht
Werkstoffkunde

den, der durch seine keramischen Eigenschaften, das die Legierung korrosionsbeständig und ist mit dem
darunterliegende Metall vor elektrochemischen Re- Werkstoff innig verbunden, d. h., sie kann nicht ab-
aktionen mit der Umgebung schützt. Auf Alumini- blättern, solange sie nicht über 400 °C erhitzt wird.
um wächst bereits bei geringem Sauerstoffgehalt in Magnesium oxidiert zwar sehr leicht, bildet aber keine
der Umgebung eine wenige Nanometer dicke Al2 O3 - dichte, schützende Oxidschicht, sondern die Oxidati-
Sperrschicht und darüber, je nach Oxidationsangebot on schreitet durch die Poren weiter ins Werkstoffinnere
und Luftfeuchtigkeit, eine poröse Deckschicht. Wird fort.

Al2O3 Sperrschicht
ca. 50 nm

Al2O3 + Al(OH)3
poröse
Deckschicht
ca. 200 nm

Deckschicht

Sperrschicht

Aluminium Aluminium
0,1 µm
a b

Wärmeeinflusszone Schweißraupe

Cr-Karbide

0,1 mm Korngrenzen mit Cr-verarmte Zone


c d Cr-verarmten Zonen Cr2O3-Deckschicht

Abb. 15.141 Aufbau der selbstregenerierenden, schützenden Oxidschicht; a Schema der dichten Sperr- und Deckschicht mit Wachstumskanälen auf
Aluminiumoberflächen; b Durchstrahlungselektronenmikroskopie quer durch eine Oxidschicht auf einer Aluminium-Probe. c Korngrenzenkorrosion in der
Wärmeausbreitungszone chromhaltiger Stähle, Querschliff mit aufgelösten Korngrenzen (schwarz ); d schematische Darstellung des Verlustes der Kor-
rosionsbeständigkeit neben Schweißnähten, in denen Chrom durch die Erwärmung zu den Korngrenzen diffundierte, dort Karbide bildete, sodass die
Korngrenzenumgebung an Chrom verarmte und dort keine Cr2 O3 -Schutzschicht (gelb ) bilden kann, somit korrosionsempfindlich wird
15.14 Werkstoffschädigung durch Korrosion 501

Stähle mit einigen Gewichtsprozent Chrom sind relativ Ständige Benetzung der Metalloberflächen und der
korrosionsbeständig, da das Chrom an der Oberflä- meisten Kunststoffe mit Wasser fördert die Korrosi-
che eine dichte Cr2 O3 -Schicht bilden kann, die den on. Konstruktionen sollen daher so ausgeführt werden,
Stahl gegen elektrochemische Korrosion schützt. Die- dass Wasser abfließen kann. Spalte, in denen Wasser
se korrosionsbeständigen Stähle werden häufig „rost- eindringen kann, aber kaum Sauerstoff hinzukommt,
freie“ Stähle bezeichnet. Trotzdem können sie neben fördern anodische Korrosion. Um den Wasserzutritt
Schweißnähten korrosionsempfindlich werden, wie zu unterbinden, können diese Spalte mit Dichtmassen
Abb. 15.141c,d zeigt: Durch Erwärmung in der Wär- gefüllt werden. Abbildung 15.142 zeigt einige korrosi-
meausbreitungszone um die Schweißnaht, können im onshemmenden Konstruktionsregeln.
Stahl gelöste Chrom-Atome an die Korngrenzen dif-
fundieren (Abschn. 15.12). Geringer Kohlenstoffgehalt
im Stahl genügt, um an den Korngrenzen Chrom-Kar-

Werkstoffkunde
bide zu bilden, die der nächsten Umgebung Chrom
entziehen. Die chromverarmten Zonen um die Korn- a
Wasser kann
b
Neigung und
c
grenzen dringen auch an die Oberflächen, wo dann sich sammeln Abfluss- Außenseiten
nicht mehr ausreichend Chrom für die Bildung von möglichkeit
Chrom-Oxid vorhanden ist. Die oberflächliche Chrom-
Oxidschicht ist dort unterbrochen und die Korrosion
des Eisens kann entlang der Korngrenzen voranschrei-
ten. Bei geringem Kohlenstoffgehalt im Stahl genügen
mindestens 12 Gew.-% Chrom, um ausreichend Chrom
im Stahl gelöst zu halten, sodass sich an der Oberfläche Außenseiten kein Spalt,
d e f
eine dichte Oxidschicht auch über die Korngrenzen bil- Dichtmasse
kein Spalt, Dichtmasse
den kann.

Karosseriebleche werden aus ästhetischen Gründen


und zum Korrosionsschutz lackiert. Wird die Lack-
schicht verletzt, kann dort das darunterliegende Stahl-
oder Aluminium-Blech oxidieren. Durch örtliche Volu- Wasser kann sich Dichtmasse Dicht-
menzunahme der Korrosionsprodukte wird die Lack- g im Spalt sammeln h i masse
schicht verdrängt, sodass die Korrosion fadenförmig Abb. 15.142 Konstruktionshinweise, die Wasserstau (a, d) vermeiden, in-
unter dem Lack fortschreiten kann und diesen abhebt. dem Wasser immer abfließen kann (b, c, e, f); Spalte in denen Wasser
Derartige Korrosion erzeugt fadenförmige Lackauf- eindringen und adsorbiert werden kann (g), sind durch Dichtmassen zu fül-
wölbungen und wird als Filiformkorrosion bezeichnet. len (f, h, i)

abgibt oder aufnimmt: unedlere Metalle geben Elektro- zeugen keine dichte Oberflächenschicht, sodass sie weiter
nen leicht ab, während edlere Metalle diese weiterleiten. Elektronen abgeben und die Metallionen mit dem Elek-
Durch den Kontakt zwischen edlen und unedlen Me- trolyten reagieren können. Grafit liegt auf der edlen Seite
tallen über einen Elektrolyten werden elektrochemische und daher auch Kohlenstofffasern. Kohlenstofffasern in
Reaktionen hervorgerufen. Für die Elemente ergibt sich Polymeren können daher ebenfalls ein Lokalelement in
die elektrochemische Spannungsreihe gemäß Abb. 15.143. Kontakt mit unedleren Metallen bilden. Passiviertes Titan
Ein Elektrodenpaar aus einem edlen und einem uned- ist am ehesten mit CFK verträglich (siehe Beispiel: Galva-
len Metall bildet in einem Ionenleiter (Elektrolyten) eine nische Elemente).
galvanische Zelle und kann als Stromquelle genutzt wer-
den, bis das unedlere Element durch die Auflösung in Das galvanische Element in Abb. 15.144a kann als Strom-
positive Ionen im Elektrolyten verbraucht ist. Magnesi- quelle dienen, solange die Kathode edler ist als Eisen,
um ist das unedelste Metall, gefolgt von Aluminium. Auf z. B. aus einem Edelmetall. Wird die anodische Wir-
der edlen Seite stehen die Edelmetalle und Grafit. Alu- kung durch eine äußere Spannung verstärkt, löst sich die
minium- und Zink-Basislegierungen sowie chromlegierte Anode beschleunigt auf. Da die Auflösung an Oberflä-
Stähle bilden an der Oberfläche Oxidschichten, die mit chenspitzen rascher abläuft als an Flächen, kann diese
ihren praktischen Potenzialen eingetragen sind. Die Pas- Anordnung zum Elektropolieren (siehe Bonusmaterial
sivierung dieser Metalle erfolgt durch die dichte, nicht lei- zu Abschn. 15.6: Durchstrahlungselektronenmikroskopie,
tende Oxidschicht (siehe Vertiefung: „Korrosionsschutz“). Abb. 15.5b) verwendet werden, wobei auf Metallen glatte,
Magnesium und Eisen bilden zwar Oxide, aber diese er- glänzende Oberflächen entstehen (Abb. 15.144b).
502 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

1,5
Au
X5CrNi18-10
1,0 Pt
elektrochemisches Potenzial
gegenüber Wasserstoff in V

Pd Ag Grafit Cr
13 CrMo
0,5 Cu
13Cr

passiv
unedel Sb

0
H

aktiv
Sn Pb
Co Ni
–0,5
Fe Cd
Cr
Werkstoffkunde

Zn
–1,0 passiviert durch dichte Oxidschicht
Mn auf der Oberfläche:
positives, praktisches Potenzial
Al
–1,5
Mg

Abb. 15.143 Elektrochemische Spannungsreihe des Normalpotenzials der Metalle gegenüber Wasserstoff; durch Oxidation bilden Aluminium, Zink, Chrom ober-
flächliche Passivierungsschichten (Al2 O3 , Zn(OH)2 , Cr2 O3 ) mit positivem, praktischem Potenzial

Die leitende Verbindung eines unedlen Metalls (z. B. Ma- geschützte


Kathode e– Opferanode
gnesium oder Zink) mit einem edleren Werkstoff schützt
Zn oder Mg
diesen vor Korrosion, da Überschusselektronen vom un-
edleren Metall die Auflösung der edleren, positiven Me-
tallionen verhindern (Abb. 15.145). Jedoch wird das un- Schutzstrom
edlere Metall durch Reaktionen mit den Hydroxidionen
aufgelöst. Sie wirkt als Opferanode bis sie verbraucht
ist oder die elektrische Verbindung unterbrochen wird.
a
Verzinken von Stahlblechen nützt einen zweifachen Kor-

O2 + 2 H2O
+ +
kathodisch Fe
e
+ + + 4e– 4 OH –
+0,401 V + + Zn, Mg Fe2+
+ 2e–
 Fe
+ +
b Zn, Mg  2e– + Zn2+, Mg2+ + 2OH–

Elektrolyt
Abb. 15.145 Funktionsweise einer Opferanode: a das zu schützende Metall
wird mit einem unedlerem elektrisch verbunden, das sich als Anode anstelle der
anodisch Kathode langsam auflöst; b Zink oder Magnesium als Opferanode auf einem
– – Stahlschiffsrumpf, der dadurch vor Korrosion geschützt wird
–0,440 V – – e
2+
– – Fe
– – Fe(OH)2
beschleunigte Auflösung fällt aus
(elektropolieren) rosionsschutz (Abb. 15.146): Die Zink-Schicht bildet kom-
a b plexe Verbindungen an Luft, die eine passivierende Wir-
kung haben (in Abb. 15.146 vereinfacht mit Zn(OH)2
Abb. 15.144 a Galvanisches Element: die Kathode weist in Bezug zum Sau- bezeichnet). Wenn die Zink-Schicht durchbrochen wird
erstoff eine positive Spannung auf und gibt Elektronen ab, an der Eisen-Anode (Kratzer, Steinschlag), bilden Zink und Eisen ein galva-
gehen positive Ionen im Elektrolyt in Lösung, sobald sie leitend verbunden sind;
Anlegen einer äußeren Spannung mit eingetragener Polarität beschleunigt die
nisches Element, wobei die Zink-Schicht als Opferanode
Auflösung der Anode durch Hydroxidbildung (elektropolieren); b Vergleich eines wirkt. Sobald sie jedoch über größere Flächen verbraucht
Wärmetauschers aus rostfreiem Stahl X5CrNi18-10 vor (oben ) und nach (unten ) ist, erzeugt die rasch fortschreitende Korrosion Löcher im
dem Elektropolieren mit angelegter Spannung ungeschützten Stahlblech.
15.14 Werkstoffschädigung durch Korrosion 503

O2 + 2H2O + 4e– = 4OH– Zugspannung σ


2+ 2+
Zn(OH)2 + Zn = Zn(OH)2 | + Fe = Fe(OH)2
Passivoxid
verzinkt Zn Metall

anodische passive
Stahl Rissflanke
2e – Auflösung
2e– am Rissgrund
Elektrolyt-
Rissaus- lösung
breitung Diffusion Konvektion
Abb. 15.146 Versagen des Korrosionsschutzes einer beschädigten Zink-Be- H Me2+ + 2 (OH)–
schichtung auf Stahl: von der freigelegten Stelle gehen zuerst Zn++ in Lösung
und im weiteren Verlauf auch Fe++ Repass
ivierun
g

Werkstoffkunde
plastische
Zone Risselektrolyt mit
Sauerstoffmangel kathodische
Teilreaktion
Bei der Kombination von galvanischen Elementen
(mit unterschiedlichem, elektrochemischem Poten-
zial) wird das unedlere Metall besonders anfällig für Zugspannung σ
elektrochemische Korrosion. Dieser Effekt kann zum
zeitlich begrenzten Korrosionsschutz durch Opfer- Abb. 15.147 Spannungsrisskorrosion in einem passivierten Metall in feuchter
anoden genutzt werden. Umgebung: Passivierung reißt durch elastische und möglicherweise lokal plas-
tische Verformung der Rissspitze, Elektrolyt löst dort anodisch das Metall, Riss
wächst, frei werdender Wasserstoff dringt ins Metall ein

Frage 15.14.3
Wie funktioniert der Korrosionsschutz von Stahlblech auf. Folglich sind hochfeste Werkstoffe besonders anfäl-
durch Verzinken? lig für Spannungsrisskorrosion. Darüber hinaus sind auch
selbstpassivierende Legierungen gefährdet, da die Oxid-
schicht in Rissen brechen kann (Abb. 15.147). So sind
sowohl rostfreie Stähle als auch höchstfeste Aluminium-
legierungen anfällig für Spannungsrisskorrosion (siehe
Elastische Dehnungen können Bonusmaterial: Spannungsrisskorrosion, Abb. 15.19).
Spannungsrisskorrosion bewirken In Dampfkesseln und in Medien mit atomarem Wasser-
stoff (bei bakterieller Korrosion, beim Beizen, beim galva-
Maschinenteile werden nicht nur im Einsatz mechani- nisch Verzinken, beim Schweißen) diffundieren Wasser-
schen Spannungen ausgesetzt, sondern auch durch ihr stoffatome als Zwischengitteratome sehr leicht und rasch
Gewicht oder durch Eigenspannungen, die bei der Fer- in die Werkstoffe (schneller als C in Abb. 15.98). Dies
tigung eingebracht wurden (Restspannungen von der wird zu einem physikalischen Korrosionsproblem, wenn
Umformung, Abkühlspannungen). Derartige Spannun- sich die H-Atome an Materialdefekten zu H2 -Molekülen
gen werden an Stellen mit Dickenänderungen des Bau- verbinden. Diese können nicht mehr diffundieren, son-
teiles konzentriert. Die dadurch hervorgerufenen elasti- dern stellen gasförmige Einschlüsse dar. Der entstehen-
schen und möglicherweise auch lokal plastischen Verfor- de Gasdruck erzeugt innere hydrostatische Spannungen,
mungen können Risse in den Oxidschichten passivierter die eine Rissbildung von innen hervorrufen können, die
Metalle erzeugen, in die Feuchtigkeit eindringen kann. Spaltbruch verursachen können.
Abbildung 15.147 zeigt schematisch, wie lokale elektro- Nicht nur Metalle sind sensibel auf Spannungsrisskorro-
chemische Korrosion das Risswachstum beschleunigt. sion, sondern auch Polymere und Keramiken. Die elas-
Die Spannung an der Rissspitze kann die Elastizitäts- tische Dehnung der Moleküle ermöglicht das Eindiffun-
grenze des Werkstoffes erreichen, ohne makroskopisch dieren von H+ und OH- -Ionen, die mit den Molekülen
plastische Verformungen zu verursachen. Diese Span- reagieren (Abb. 15.148) und primäre und/oder sekundäre
nung (von außen aufgebracht oder Eigenspannungen) Bindungen aufbrechen können.
und die damit verbundene elastische Dehnung können
also umso höher sein, je höher die Streck- bzw. Dehn- Frage 15.14.4
grenze des Werkstoffes ist. Durch die anodische Teilre- In welchem Verformungsbereich tritt Bruch durch Span-
aktion im Elektrolyten gebildeter Wasserstoff kann als nungsrisskorrosion auf?
Zwischengitteratom leicht in das Metall eindiffundieren Weshalb sind hochfeste Werkstoffe besonders gefährdet?
und die verbleibenden Hydroxidionen lösen das Metall
504 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Beispiel: Galvanische Elemente

Wenn zwei Werkstoffe mit unterschiedlichem chemi- Stahlverbindung


schen Potenzial in einem oxidierenden Medium leitend Stahlbeilagscheibe Dichtmasse
verbunden sind, löst sich der unedlere Werkstoff mit breiter
der Zeit auf. Elektrische Isolation zwischen den beiden
Werkstoffen verhindert galvanische Korrosion.
Mg oder Al überragende
Der nach den elektrochemischen Potenzialen (Abb. Isolierung
15.143) unedlere Partner einer elektrisch leitenden Dichtstoff, organischer Stahl-
Werkstoffpaarung wird durch galvanische Korrosi- Streifen oder Anstrich beilag- Stahl
breiter als Auflage scheibe
Werkstoffkunde

on aufgelöst. Oxidationsmittel in einem Elektrolyten a


(Wasser oder feuchte Luft) binden freie Elektronen der Dichtmasse Lauffläche
Metalle, so dass Hydroxidionen entstehen, die mit dem
unedleren Metall reagieren und es auflösen, wie die
Skizzen veranschaulichen. Eine Stahlbefestigung eines
Kupfer-Blechs ist daher korrosionsanfällig. Eine Ver-
bindung von Stahl mit einer Aluminium-Legierung
Mg oder Al Stahlbuchse
wird korrosionsanfällig, sobald die schützende Alumi-
numoxidschicht durch Reibung abgescheuert wird. Da
Aluminium unedler ist als Eisen, löst es sich durch
Oxidationsmittel in einem Elektrolyten in Verbindung
b
mit Stahl auf. Rostfreier Stahl ist weniger reaktiv, da
er mit einer isolierenden Chrom-Oxidschicht vom Alu- Selbst bei Verbindungen von unedlen Magnesium- oder Aluminium-Legie-
minium separiert wird. Die edleren Kohlenstofffasern rungen mit Stahl kann die galvanische Korrosion verhindert werden, indem
eines CFK-Teiles (z. B. Fahrradteile) erzeugen mit Alu- die elektrische Verbindung der beiden Werkstoffe über den Elektrolyten
minium ein galvanisches Element, sobald sie von der unterbunden wird; a isolierende Zwischenschichten, die groß genug sind,
isolierenden Kunststoffmatrix freigelegt sind (z. B. an dass sie von Wassertropfen nicht überbrückt werden können; b Stahlbüch-
sen können in Aluminium- oder Magnesium-Teile eingelegt werden, wenn
Schnittflächen) und dadurch Elektronen abgeben kön- eine isolierende Dichtmasse verhindert, dass Wassertropfen die beiden
nen. Auch in diesem Fall schreitet die galvanische Kor- Metalle elektrolytisch verbindet. Trotz dieser Maßnahmen dürfen derartige
rosion des Aluminium-Teiles voran, der keine schüt- Verbindungen nicht in elektrolytische Flüssigkeiten getaucht werden
zende Oxidschicht bilden kann.

4 Fe2+ Niet Elektrolyt


O2 + 2H2O O2 + 2H2O
+ 4e  4OH– + 4e  4OH– Stahl Korrosions-
angriff
Cu 4e Fe 4e Cu

Aluminium

Richtung des galvanische


Elektronen- Elemente
flusses

Kohlenstofffaser-
Cu Fe verstärkter Kunststoff

Kleber
Aluminium

a b

Schematische Darstellung von Werkstoffpaarungen, die zu galvanischer Korrosion führen; a Kupfer-Blech mit Stahlbefestigungen (Schrauben, Nägel, Nie-
te), die sich auflösen; b Stahl- bzw. CFK-Teile verbunden mit Aluminium, das durch den Elektrolyten aufgelöst wird
15.14 Werkstoffschädigung durch Korrosion 505

Zugspannung

Si Si Si Si
Si
langsames OH OH OH
OH OH
Si
Risswachstum OH Si Si Si Si Si Si Si Si
Wasserdampf H2O O O O O O O O O
OH Si Si Si Si Si Si Si Si
OH OH
OH OH OH Si
Si Si
Si Si Si

a b

Werkstoffkunde
Abb. 15.148 Beispiel für Wachstum eines spannungsinduzierten Risses in einer Oxidkeramik durch Aufbrechen der Bindungen aufgrund von Reaktionen mit OH- -
Ionen

korrosiven Umgebung ausgesetzt ist. Die unterschiedli-


Spannungsrisskorrosion verursacht wachsende Ris- chen Korrosionsverläufe sind in Abb. 15.149b schematisch
se, die aufgrund der Bruchzähigkeit des Werkstof- dargestellt:
fes zu katastrophalem Bruch führen können, wo-
bei auch selbstpassivierende Metalle gefährdet sind. Die blaue Gerade zeigt ein linear mit der Zeit zu-
Wasserstoffdiffusion kann innere Schädigung verur- nehmendes Gewicht durch kontinuierliches Aufwach-
sachen. sen von porösen Korrosionsprodukten, die auf der
Oberfläche haften, aber keine dichten Schichten bil-
den können, sodass das korrosive Medium beständig
an frisches Material herankommt und ins Innere fort-
schreitend reagieren kann (ähnlich wie bei der elektro-
Bei erhöhter Temperatur tritt durch chemische chemischen Rostbildung), dann kann sich eine linear
mit der Zeit wachsende Gewichtzunahme ergeben.
Reaktion Trockenkorrosion auf Hochtemperaturzunder auf Stählen kann sich so ver-
halten, aber zumeist blättert dieser teilweise ab, sodass
Der Begriff Trockenkorrosion beschreibt chemische Re- das Wachstum der haftenden Korrosionsschicht nicht
aktionsmechanismen, die ohne Feuchtigkeit, also ohne linear verläuft.
Elektrolyt, ablaufen. Trockene Dämpfe und Gase reagie- Aus der roten Kurve erkennt man eine mit der Zeit
ren mit den Oberflächen der Werkstoffe umso mehr, je parabolisch abnehmende Massenzunahme: Selbstpas-
höher die Temperatur ist. Die Reaktionsprodukte kön- sivierende Legierungen bilden in sauerstoffhaltiger At-
nen die Oberflächen zersetzen, oder sie wachsen auf, mosphäre eine dichte Oxidschicht (Sperrschicht), die
sodass es zu Abtragungen oder Aufwachsungen kommen mit steigender Temperatur nur durch Diffusion wach-
kann. In beiden Fällen wird der tragende Querschnitt ei- sen kann. Die Diffusionslänge (Abschn. 15.12) ergibt
nes Bauteiles durch die Reaktionsprodukte vermindert. eine parabolische Zeitabhängigkeit
√ für den Korrosi-
p
Abbildung 15.149a skizziert eine Anordnung zur konti- onsfortschritt ΔmK = k t, was bedeutet, dass die
p
nuierlichen Messung des Gewichtes einer Probe, die einer Korrosionsrate mit der Zeit abnimmt.

Abb. 15.149 a Korrosionswaage


mit einer Probe in temperierbarem, linear
korrosivem Medium; b verschiedene Δm Kl = klt
Platin-
Gewichtsänderung ΔmK

Ergebnisse der Gewichtsänderung draht


der Probe ΔmK mit fortschreitender
Exponierdauer; blau : lineares (l ); rot : parabolisch
p 2 p
parabolisches (p ) Aufwachsen einer (Δm K ) = k t
Korrosionsschicht; braun : linearer
Masseverlust 0
Zeit t
Probe
Heizung
korrosives Medium Gewichtsverlust
Behälter Δm Kl = –klt
a b
506 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Leitbeispiel Antriebsstrang
Korrosionserscheinungen auf den Bauteilen:
Die Umgebungsmedien der Bauteile im Antriebstrang sind
sehr unterschiedlich und unterschiedliche
Korrosionsmechanismen werden wirksam.

Antriebstrang-Bauteile Umgebungsmedien Korrosionsmechanismen


Abgasstrom bis 1000 °C auf Turbine und im Trockenkorrosion der Nickel-Basislegierung; Keramik ist
Werkstoffkunde

Turbinenraum korrosionsbeständig, aber Ablagerungen sind möglich,


die die mechanische Stabilität vermindern

Wasser in den Kühlkanälen ist mit Korrosion durch das Kühlwasser wird durch die ober-
Korrosionsinhibitoren versetzt flächliche, dichte Oxidschicht verhindert; galvanische
Korrosion sobald im Kühlkreislauf Oxidationsmittel
mit unterschiedlichem chemischen Potenzial eingeführt
werden

heißes Öl an der Innenseite, von der Außenseite Salzkorrosion von metallischen


salzhaltiges Wasser an der Außenseite Wannen; Polymere können mit Öl reagieren

Getriebe läuft in Öl; bei Undichtheiten kann bei Undichtheiten und galvanische Korrosion (Stahl
Wasser ins Getriebegehäuse eindringen gegenüber Lagerschalen aus Kupfer-Legierungen)

Fe2+ Fe2+
Die braune Kurve zeigt einen mit der Zeit zunehmen-
O 2– den Gewichtsverlust durch Materialabtragung, wenn
Fe3+ die Korrosionsprodukte nicht haften oder flüchtig
sind: Zunderschichten (Abb. 15.150) können wegen
ihres Volumenbedarfs und wegen Temperaturschwan-
kungen von der Oberfläche abplatzen. Die neue Ober-
fläche kann wieder verzundern, worauf der Zunder
FeO Fe3O4 Fe2O3 wieder abblättert. Als Konsequenz wird Material abge-
tragen, die Probe erfährt einen Gewichtsverlust, der im
Mittel linear mit der Zeit verlaufen kann. Gewichtsver-
Fe
lust erfährt ein Werkstoff auch, wenn er sich bei hoher
Temperatur zersetzt. Die Refraktäre Wolfram und Mo-
lybdän bilden in sauerstoffhaltiger Umgebung über
450 °C flüchtige Oxide, sodass sie ebenfalls oberfläch-
10 µm 50 µm lich abgetragen werden und Gewicht verlieren. Wolf-
ram- und Molybdän-Heizelemente müssen daher in
Abb. 15.150 Zunderschichten auf Gusseisen und Stählen, die durch Diffusion Hochvakuum oder unter Schutzgas betrieben werden.
von Eisen durch die Oxidlagen (Wüstit FeO und Magnetit Fe3 O4 ) und durch Dif- Duromere und Elastomere schmelzen nicht, sondern
fusion von Sauerstoff durch die äußere Hämatitschicht (Fe2 O3 ) bei Temperaturen zerfallen bei der Zersetzungstemperatur in gasförmige
über 550 °C wachsen Moleküle.
15.14 Werkstoffschädigung durch Korrosion 507

Übersicht: Korrosionsmechanismen und Erscheinungsformen der Korrosion

Die chemischen Eigenschaften der Werkstoffoberflä- nischer Elemente beschleunigt. Unter mechanischen
chen gegenüber dem Umgebungsmedium bestimmen Zugspannungen werden auch selbstpassivierende Me-
die Korrosionsrate, mit der die Korrosionsschädi- talle, Polymere und Keramiken physikalisch und che-
gung voranschreitet. Elektrochemische Korrosion ent- misch korrosionsempfindlich. Bei erhöhten Tempera-
steht in Elektrolyten, wofür feuchte Umgebung oft turen führen chemische Reaktionen zu Trockenkorro-
ausreicht. Sie wird durch Werkstoffpaarungen galva- sion.

Korrosionspartner Korrosionsangriff Erscheinungsform Beschreibung Korrosionsmechanismen


Gase mit Flächenkorrosion gleichmäßiger, flächiger Trockenkorrosion, elektro-

Werkstoffkunde
Oxidationsmitteln, Δh Abtrag chemischer Flächenabtrag
Flüssigkeiten mit
Oxidationsmitteln
(Elektrolyte) Lochfraß örtlicher Abtrag, lokale elektrochemische
Δh Lochbildung an Material- Korrosion
inhomogenitäten

Elektrolyt mit elektrisch Kontaktkorrosion bevorzugter Abtrag des galvanische Korrosion


verbundenen Materialien unedleren Materials (M− )
verschiedener chemischer M
M–
Potenziale
benetzender Elektrolyt in Spaltkorrosion (oh- Abtrag am Spaltgrund, elektrochemische Kor-
Spalten, diffusionsfähige ne Zugbelastung), Wachstum des Spaltes rosion, physikalische
Elemente (z. B. Wasserstoff) Spannungsrisskor- Wasserstoffversprödung
rosion
Flüssigkeiten (Elektrolyte) selektive Korrosion selektiver Abtrag unedlerer galvanische Korrosion in
auf mehrphasigen Metallen M– Körner (M− ) mehrphasiger heterogenem Gefüge
M M– Metalle

Elektrolyte, die diffusions- interkristalline Kor- Abtrag entlang Korn- elektrochemische oder
fähige Elemente abspalten, rosion (mit/ohne grenzen durch chemische Trockenkorrosion in poly-
z. B. Wasserstoff Zugbelastung) Reaktivität oder Potenzial- kristallinem Gefüge
differenz
transkristalline beschleunigtes Risswachs- physikalische Versprödung
Risskorrosion unter tum von innen durch H2 - durch innere Spannungen
Zugbelastung Rekombination

Abbildung 15.150 zeigt das Beispiel des komplexen barrier coating) erhöht, die so aufgebaut sind, dass sie auf
Wachstums einer Zunderschicht auf Gusseisen: Eisen rea- der Metalloberfläche auch bei Temperaturwechsel haften.
giert zu FeO (Wüstit), durch diese Schicht diffundiert TBC-Schichten schützen nicht nur vor Trockenkorrosion,
Eisen, um Wüstit bei Temperaturen über 550 °C in Fe3 O4 sondern schirmen die Nickel-Basislegierung auch von der
(Magnetit) mit Eisen-Einschlüssen umzuwandeln; das Verbrennungstemperatur ab, um die innere Kühlung zu
weitere Eindiffundieren von Sauerstoffionen von außen verbessern.
oxidiert die Eisen-Einschlüsse und wandelt Fe3 O4 in sta-
biles Fe2 O3 (Hämatit) um. Eisen-Ionen diffundieren von Frage 15.14.5
innen bevorzugt entlang Korngrenzen, sodass ein kom- Weshalb wird die Trockenkorrosion mit steigender Tem-
plexes Gefüge entsteht. peratur beschleunigt?
Gasturbinenschaufeln sind in der Brennkammer (Abb.
15.113) Temperaturen über 1000 °C in einer Kohlenwas-
serstoffumgebung mit verunreinigten Verbrennungsga- Trockenkorrosion erzeugt oberflächlich Korrosions-
sen ausgesetzt. Ihre Lebensdauer und Temperaturresis- produkte, die am Werkstück diffusionskontrolliert
tenz wir durch keramische TBC-Beschichtungen (thermal
508 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Werkstoffbeanspruchung
aufwachsen und zu einer parabolischen Gewichts-
zunahme führen. Dabei wird der tragende Quer- mechanische (elektro-) chemische
schnitt ebenso geschwächt wie durch das Abplatzen und thermische Belastung + Reaktionen mit Umgebung
der Korrosionsschicht, das durch Gewichtsabnahme
erkennbar ist. Spannungsriss-
äußere korrosion
statisch (kathodisch/anodisch)
Kräfte physikalisch-chemisch
induzierte
Wasserstoffrissbildung
15.15 Mehrfachbelastung und
zügig dehnungsindizierte
Risskorrosion
der Werkstoffe
Werkstoffkunde

Momente
schwingend Schwingungsriss-

Korrosion
(Ermüdung) korrosion
Die mechanische, thermische und chemische Belastbar-
keit der Werkstoffe hängt grundsätzlich von ihrer ato- Erosion Erosionskorrosion
maren Bindungsart ab, nach der Keramiken, Metalle,
Verschleiß Kavitation Kavitationskorrosion
organische Materialien (Naturstoffe und Polymere) un-
terschieden werden (Abschn. 15.2 bis 15.4). Maschinen-
komponenten werden hauptsächlich nach den mecha- Reibung Reiboxidation
nischen Belastungen ausgelegt. Der wesentliche mecha-
Kriechen, Abtragung
nische Belastungsbereich beschränkt sich auf die elas- Kräfte +
Relaxation,
tische Verformung (Abschn. 15.5). Durch Kerbwirkung thermische
thermische Oxidation, Auf-/Ent-
Aktivierung
können Bauteile auch im elastischen Verformungsbereich Ermüdung kohlung, Wasserstoff
spröde brechen, sobald ihre Bruchzähigkeit überschrit-
ten wird (Abschn. 15.9 bis 15.10). Schwingende Belas- Abb. 15.151 Werkstoffbeanspruchung setzt sich aus mechanischen, thermi-
tung kann auch im elastischen Bereich nach bestimm- schen und korrosiven Belastungen zusammen, deren Kombinationen sich mehr
ten Lastspielzahlen zum Versagen eines Bauteils durch als additiv verstärken
Ermüdung führen (Abschn. 15.11), was in der Ausle-
gung oft unterschätzt wird. Bauteile, die bei erhöhten
Temperaturen im elastischen Bereich eingesetzt werden, gleichzeitiger flächiger oder lokaler Schädigung durch
können sich durch Diffusion plastisch verformen (Krie- Verschleiß- und/oder Korrosionsbeanspruchung.
chen), aber auch in ihrer Tragfähigkeit Einbußen erleiden
(Abschn. 15.12). Verschleiß- und Korrosionsbeanspru- Zusammenfassend sind bei der Bauteilauslegung die Art
chungen (Abschn. 15.13 und 15.14) schädigen Werkstof- der mechanischen Belastung und die resultierende Verfor-
fe, indem lokale Querschnittsverminderungen zu plasti- mung zu kennen und zu berücksichtigen (Abb. 15.152).
schen Verformungen und/oder Bruch führen. Kriechver- Die mechanischen Beanspruchungen werden noch durch
formungen und Korrosionsschädigungen sind zeitabhän- die im Gebrauch schlechtestenfalls zu erwartenden Kor-
gig, und daher hängt die Einsatzdauer der Werkstoffe
von ihrer Kriechresistenz, sowie der relevanten Korro-
sionsbeständigkeit ab. Die plastische Verformbarkeit der
Werkstoffe (Abschn. 15.8) wird in der Umformtechnik
genützt, hat aber auch eine sicherheitsrelevante Bedeu- Verformung
tung durch die Energieaufnahmefähigkeit (Zähigkeit) im
Versagensfall. Für die Auslegung eines Bauteils muss
seine Belastung im Gebrauch bekannt sein, die sich im
Allgemeinen aus mehreren der oben angeführten Bean- Spannungsriss- abrasives
korrosion Mikrobrechen
spruchungen zusammensetzt.
Bruch-
Die Kombination mehrerer Belastungsarten beschränkt versagen
den Werkstoffeinsatz durch interaktive Verstärkung der tribochemische
Korrosion Verschleiß
Wirkungsweisen (Abb. 15.151), die bei sicherheitsrelevan- Reaktionen
ten Bauteilen experimentell geprüft werden muss: Einer
statischen Belastung kann sich schwingende Belastung
überlagern. Wenn dazu noch thermische Aktivierung ei- Abb. 15.152 Die Werkstoffschädigungen aus Verformung, chemischem An-
ne Rolle spielt, reduziert sich die Werkstoffbelastbarkeit griff und Verschleiß verstärken in ihrer Kombination die Schädigungsmechanis-
weiter. Wesentliche Beeinträchtigungen ergeben sich bei men
Weiterführende Literatur 509

Leitbeispiel Antriebsstrang
Werkstofflösungen mit Eigenschaftsprofilen, die den Bau-
teilanforderungen genügen:
Die Anforderungen sind im Leitbeispiel: Werkstoffe für
ausgewählte Bauteile angeführt. Die Kennwerte sind den
Tab. 15.7 und 15.16 entnommen.

Bauteil

Werkstoffkunde
Betrachter Teil a Turbine b Kurbelgehäuse c Ölwanne d Zahnrad
Hauptfunktion Verdichterpumpe Verbrennungsraum Ölsammler, -behälter Drehzahl-, Drehmoment-
im Abgasstrom für Kolbenmotor übersetzung
Seriengröße Mittel Groß Groß Groß
Werkstofflösungen IN718 Si3 N4 Al-Si-Guss GJV 300 Thermoplast Einsatzgehärtete Stähle
Super- Keramik Grauguss
legierung
Formgebung Feinguss Sintern Sandguss Spritzguss Sintern, Schmieden
Maßgenauigkeit Schleifen Zylinderbohrung honen, Passflächen Zahnflanken schleifen
erzielen Passflächen schleifen nachbearbeiten
Mecha- E/ρ 25 91 27 25 1,8 27 GPa/Mg/m³
√ √
nische E/ρ 1,7 5,2 3,2 1,9 1,3 1,8 GPa/Mg/m³
Eigen- Rp /ρ 120 210 56 42 60 76 MPa/Mg/m³
schaften
σD,NG /ρ 85–110 150–190 33–44 30–45 10–45 19–38 MPa/Mg/m³

KIc 120–150 5–7 50–100 30–50 2–6 30–200 MPa m
Kriechbeständigkeit < 400 °C < 700 °C < 150 °C < 300 °C < 100 °C < 200 °C
Chemische Trockenkorrosion Innen Kühlwasser, Innen Motoröl, Getriebeöl
Beständigkeit außen Salzwasser außen Schmutzwasser
Verschleißsystem Erosion Innen Abrasion durch Außen Erosion Oberflächenzerrüttung,
Kolbenringe Abrasion

rosions- und Verschleißschädigungen verschärft, was bei


der Werkstoffwahl und Dimensionierung beachtet wer-
den muss. Nicht nur die Vielfalt der Werkstoffe eröffnet Weiterführende Literatur
viele Lösungsmöglichkeiten, sondern auch die Nutzung
der verschiedenen Formgebungsarten. Die erforderlichen Ashby MF, Evans T, Fleck NA, Hutchinson JW, Wadley
Werkstoffeigenschaften sind vom geformten Bauteil zu HNG, Gibson LJ (2000) Metal Foams: A Design Guide,
erfüllen, d. h., ein diesbezügliches Werkstoffdatenblatt Butterworth-Heinemann
muss sich auf den geeigneten Werkstoff nach dem ent-
sprechenden Formgebungsverfahren beziehen. Ashby MF, Jones DRH, Heinzelmann M (Hrsg) (2006)
Werkstoffe Bd. 1 und 2, Spektrum
Für die meisten konkreten Anwendungen von Bautei-
len muss ein Kompromiss zwischen den Anforderungen Ashby MF, Shercliff H, Cebon D (2013) Materials, Butter-
und den Eigenschaftsprofilen der verfügbaren Werkstof- worth-Heinemann
fe getroffen werden. Hierfür müssen die Entsprechungen Askeland DR (1996) Materialwissenschaften, Springer-
bewertet werden, um einen geeigneten Werkstoff mit Spektrum
der passenden Fertigungsmethode auszuwählen. In der
Industrie ist dabei die technische Eignung oft weniger Bargel HJ, Schulze G (Hrsg) (2012) Werkstoffkunde,
entscheidend als die Produktionskosten. 11. Aufl., Springer
510 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Bergmann W (2002) Werkstofftechnik 1, Hanser Macherauch E, Zoch H-W (2011) Praktikum in Werkstoff-
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Engineering, Wiley Nuss P, Eckelman MJ (2014) Life Cycle Assessment of
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Degischer HP, Lüftl S (2009) Leichtbau, Wiley-VCH (https://doi.org/10.1371/journal.pone.0101298)
DIN EN 10027-1 Kurznamen der Stähle, DIN EN 10027-2 Ostermann F (2007) Anwendungstechnologie Alumini-
nach Nummernsystem um, Springer
DIN EN ISO 11469:2000-10: Sortenspezifische Identifizie- Reissner J (2010) Werkstoffkunde für Bachelors, Hanser
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Werkstoffkunde

DIN EN 12258-1:2012-08: Aluminium und Aluminium-


legierungen – Begriffe Roos E, Maile K (2015) Werkstoffkunde für Ingenieure,
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DIN EN ISO 6892 (2009) Metallische Werkstoffe – Zugver-
such Schmitt-Thomas KG (1990) Metallkunde für den Maschi-
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DIN EN ISO 6506, 6507, 6508 (2005) Härteprüfverfahren
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Verlag, Düsseldorf Kohlenstofffasern verstärkten Epoxid- Langproduktes
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mobil-Konstruktion 1 Abbildungen im Transmissionselektronenmikrokop
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Wiley-VCH Korngefüge metallischer Werkstoffe
Weiterführende Literatur 511

Vertiefung Verformungsanistropie Fraktografie und Zeitfestigkeit


Vertiefung Rasterelektronenmikroskopie Vertiefung: Haigh-Diagramm
Vertiefung: Überlebenswahrscheinlichkeit Zug bean- Vertiefung: Der Konzentrationsausgleich in Werkstoffen
spruchter, spröder Werkstoffe mit Hilfe der Weibull- ist mithilfe der Diffusionsgleichung berechenbar
Statistik aufgrund der statistischen Verteilung von
Elastische Dehnungen und Spannungsrisskorrosion
Defekten
Wöhler-Kurven für ferritische Stähle, Aluminum-
Legierungen und Kunststoffe

Werkstoffkunde
512 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 15.1
Werkstoffvorschlag Al-Knetlegierung CFK-Rahmen
Formgebung Rohre, Gussmuffen Gewickelte Rahmen
Fügeverfahren Schweißen oder Kleben Kleben
Erforderliche Einbauteile – Verstärkungsmuffen
Werkstoffkunde

Oberflächenbehandlung Lackieren, Anodisieren Lackieren


Erforderliche Werkstoffkennwerte (Art der erforderlichen Kennwerte – siehe Tab. 15.5, Datenspinne in Beispielbox
(Angaben zum Mindestniveau): „Mehrfache Werkstoffanforderungen“ in Abschn. 15.4 um die Relation der Größen
zwischen den beiden Werkstofflösungen anzugeben)
Festigkeit Dehngrenze Rp0,2 , Festigkeit Rm (Zug, Druck, Torsion)
Steifigkeit E-Modul, Anisotroper E-Modul
Ermüdungsresistenz Zeitfestigkeitsverhältnis sNG , Zeitfestigkeitsverhältnis sNG ,
Bruchzähigkeit KIc (Zugbelastung) KIc , KIIc (Torsion)
Massenbezug spezifische Steifigkeit und Festigkeit spezifische Steifigkeit und Festigkeit
Korrosionsbeständigkeit ΔmK gegenüber Salz, galvanisch ΔmK gegenüber Sonne, galvanisch
Ästhetische Gestaltbarkeit (relativ) farbig, Fügetechnik kritisch farbig, Fügetechnik kritisch
Materialpreis (-niveau) Billiger Teurer
Fertigungskosten (relativ) Billiger Teurer
Materialmenge (relativ) Volumen kleiner Masse kleiner
Herstellungs-Footprint (relativ) Primär- oder Sekundäraluminium Kohlenstofffaser, Epoxy
Betriebsmittelerfordernis Reinigungsmittel Fettabdichtungen
Weiter-/Wiederverwertung Lack abbrennen (Abgase), Verbrennnung (Abgase)
(prinzipielle Verfahren und Deponierungs- Legierung einschmelzen
bzw. Emissionsanfall bezeichnen) (sortenrein rezyklierbar)
Alternative Werkstofflösungen Üblicher 24CrMo4-Stahl Höchstfeste Al-Legierung
Wichtigste Konsequenz gegenüber Billiger, schwerer als Al-Rahmen Billiger, etwas schwerer,
obiger Lösung? korrosionsempfindlicher als CFK-Rahmen

Antwort 15.2
Antworten zu den offenen Feldern in Tab. 15.3, (a–d) bezeichnen die Leitbeispielbauteile
Werkstoffbezeichnung Kategorie/Gruppe/Untergruppe Beschreibung/Zusammensetzung in Gew.-% Anmerkung
(b,d) AlSi9Cu3(Fe) Leichtmetall Aluminium- Al mit 9 % Si, 3 % Cu, Fe < 1,3 % Gussteile
(226D, EN-AC46000) legierung Sekundärlegierung für Druckguss
(d) AZ91 Leichtmetall Magnesium- Mg mit 9 % Al, 1 % Zn, Druckguss Gussteile
legierung
(d) C10 (EN 10132-2) Grundstahl Einsatzstahl ∼
= 0,1 Gew.-% C, Oberflächen härtbar Getriebeteil
(d) C22E (Ck22, EN 10132-3) Grundstahl Vergütungsstahl ∼
= 0,2 % C; rein S, P < 0,03 %, härtbar Fest + zäh
(b) GJV300 (EN-GJV-300) Fe-Basislegierung Grauguss mit ~3,6 % C, ~2,1 % Si, „wurmartiger“ Grafit, Kurbelgehäuse
Vermikulargrafit E > 140 GPa, Rm > 300 MPa
(c) Polypropylen (PP) Polymer Thermoplast Polymeris. Propen [C3 H6 ] teilkristallin transparent
(a) Siliziumnitrid Keramik Nitrid Si3 N4 , gesintert, bis 1300 °C einsetzbar Turbine
(a) Superlegierung Schwermetall Nickel-Basis- 50–55 % Ni, 17–21 % Cr, 3 % Mo, 1 % Co, Gasturbine
legierung 0,7–1 % Ti, 0,2–0,8 % Al, 5 % Nb, Rest Fe
(d) 100Cr6 (EN-ISO 683-17) Niedrig legierter Vergütungsstahl 1 % C, 6/4=1,5 % Cr, hochrein Wälzlager
Grundstahl
Antworten zu den Verständnisfragen 513

Antwort 15.3 Kleinserien erlauben keine großen Inves- Streckgrenze erforderlich. Die untere Streckgrenze liefert
titionen für die Fertigung. Daher werden höherwertige die kritische Schubspannung der Versetzung ohne Koh-
Werkstoffe eingesetzt, die gut verarbeitbar sind. Bei Groß- lenstoffatome in ihrem Kern. Die Streckgrenze geht ver-
serien rentieren sich Investitionen für die Serienfertigung loren, sobald die Kohlenstoffatome gleichmäßig verteilt
billiger Werkstoffe (z.B. teure Druckgusseinrichtungen sind nach einer plastischen Verformung oder alle Kohlen-
für billiges Sekundäraluminium) stoffatome in Karbiden gebunden sind. Beim Altern eines
verformten Stahles wandern gelöste Kohlenstoffatome zu
Antwort 15.4 1 g/cm3 = 1 Mg/m3 = 103 kg/m3 = den Versetzungen und vermindern ihre Beweglichkeit.
1 mg/mm3 entspricht 9,81 kN/m3 = 9,81 · 10−3 N/cm3
15.6.6 Gleitet eine Versetzung an eine Ausscheidung her-
Antwort 15.5 an, so benötigt sie eine erhöhte Schubspannung, um kohä-
rente Ausscheidungen zu schneiden oder um inkohärente
Werk- Epoxid- Alumi- Grund- α-Al2 O3 EP/C- Dispersoide mittels Orowan Mechanismus zu umgehen.

Werkstoffkunde
stoff harz nium stahl HM/60f-UD
Elast. 2,3 0,1 0,03 0,02 0,04 15.6.7 Eine Versetzung, die sich zwischen gegenüberlie-
Dehng.(%) genden Korngrenzen durch das ganze Korn zieht, wird
durch die Endpunkte in den Korngrenzen im Gleiten
Antworten 15.6 behindert. Der Hindernisabstand entspricht dem Korn-
durchmesser d. Je kleiner dieser ist umso größer ist die
15.6.1 Die Elastizitätsgrenze ist jene Spannung, ab der Hinderniswirkung Δτkrit ∝ 1/d.
plastische Verformung eines Werkstoffs beginnt.
15.6.8 Fe × 30, Ni × 20, Cu × 30, Al × 20.
In Werkstoffen mit ausgeprägte Streckgrenze ist dies ReH .
In duktilen Werkstoffen wird eine Ersatzstreckgrenze de- 15.6.9 Die druckverformte Innenseite hat eine niedrigere
finiert, die eine minimale plastische Verformung zulässt: 0,2 %-Dehngrenze als die zugverformte Außenseite.
Rp0,1 , Rp0,2 . 15.6.10 Rp /ρ: PA66 : Al-Legierung : Stahl = 1 : 0,5–3 :
Zugfestigkeit Rm ist die maximale technische Zugspan- 0,3–3.
nung, die in einem Zugversuch ermittelt wird. Die zuge-
hörige Gesamtdehnung ist Agt . Bei Entlastung in diesem
Antwort 15.7 Brinellhärte für Aluminiumlegierungen,
Punkt bleibt die plastische Dehnung Ag . Agt −Ag ist die
un- bzw. niedriglegierte Stahlbleche, Rockwell- oder
elastische Rückfederung bei Entlastung von der Zugfes-
Vickershärte für gehärtete Stahlteile; Shore-Härte für Po-
tigkeit.
lymere, für Duromere auch Vickers; Knoop oder Vickers-
15.6.2 Sobald der Versetzungsring die Kornoberfläche Kleinlasthärte für Keramik.
erreicht, erzeugen die gegenüberliegenden Stufenverset-
zungen gegensätzliche Stufen der Größe eines Burgers-
vektors, was eine der Größe des Korns entsprechende Antwort 15.8 σ = F/A0 , σw = F/AN = (1 + ε n )σn , k =
plastische Scherung des Korns ergibt. (1 − 1/E)σw , ε n = Δl/l0 , ε w = ln(1 + ε n ), ϕ = ln(lplast /l0 )
oder ln(AN /A0 ).
15.6.3 Δτkrit ∝ 1/l
15.6.4 Während der plastischen Verformung entstehen Antwort 15.9 Tieflage der Kerbschlagwerte bedeutet
beim Gleiten von Versetzungen über Versetzungen an- Spaltbruch (gehärtete Stähle, Keramiken, Duromere);
derer Gleitsysteme oder andere Versetzungshindernis- Hochlage bedeutet duktiler Bruch (kfz Metalle, duktile
se neue Versetzungen (Versetzungsmultiplikation analog Zustände der Stähle und Ti-Legierungen, Thermoplaste
dem Orowan-Mechanismus), was die Versetzungsdichte oberhalb der Glasübergangstemperatur).
und somit die kritische Schubspannung weiter erhöht.
15.6.5 Stähle enthalten interstitiell gelöste Kohlenstoff- Antwort 15.10 Die Zugfestigkeit einer Probe ist kleiner,
atome. Diese nehmen auf der Zugspannungsseite der weil das Prüfvolumen größer ist als das der Randfaser der
Stufenversetzung energetisch günstige Postionen ein und Biegeprobe gleichen Querschnitts.
üben eine Bindungskraft zwischen den Kohlenstoffato-
men und den Versetzungen aus. Versetzungen können Je länger eine Faser, um so größer ist ihr Volumen und da-
erst gleiten, sobald sie diese Bindung überwunden haben. her auch die Wahrscheinlichkeit eines kritischen Fehlers.
Dafür ist eine Schubspannung entsprechend der oberen Je länger die Faser, um so kleiner deren Festigkeit.
514 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Antworten 15.11 Antworten 15.13


15.11.1 Maximaler Ausschlag σa vom Mittelwert, hal- 15.13.1 für Bewegungsrichtung x:
be Schwingungsbreite, Schwingungsbreite der Spannung Fx > FS (Haftreibungskraft) = µS (Haftreibungskoeffizi-
ist zwischen Ober- und Unterspannung (σo − σu ), Ober- ent) FN (Normalkraft)
spannung σo ist Maximalspannung, Unterspannung σu Fx > FG (Gleitreibungskraft) = µG (Gleitreibungskoeffizi-
ist Minimalspannung, Mittelspannung σm ist der Mit- ent) FN (Normalkraft)
telwert von Ober- und Unterspannung, Mittelspan-
nung = 0(R = −1), R = Unterspannung/Oberspannung, 15.13.2 Dicke der abgetragenen Schicht ΔhV ; abgetrage-
1/Schwingungsperiode (s) = Anzahl der Schwingungen nes Volumen ΔVV ; abgetragene Masse ΔmV ; reziproke
pro s. Werte dieser Messgrößen stellen den Verschleißwider-
stand dar.
15.11.2 Risswachstum pro Zyklus; weil die Risslänge
Werkstoffkunde

wächst; da/dN = CΔKp . Verschleißrate: Abtrag/Verschleißweg (nur bei gleichför-


15.11.3 Wechselspannung σN , die nach bestimmten Last- miger Bewegung Abtrag/Zeit sinnvoll)
wechseln im elastischen Bereich zum Bruch führt; vor- 15.13.3 Durch Druckkonzentrationen an Oberflächen-
gegebene Lastspielzahl N, die ohne Bruch zu erreichen spitzen treten punktuelle Materialverschweißungen zwi-
ist; Zeitfestigkeit/Zugfestigkeit σN /Rm ; Übergang zwi- schen Grund- und Gegenkörper auf. Die Haft- oder Glei-
schen Zeitfestigkeit und Dauerfestigkeit σD ; Lastspiele treibungskraft reißt diese Materialbrücken auf. Material
unter der Dauerfestigkeit führen nicht zum Bruch, Dau- bleibt am Grundkörper haften und wird somit vom Ge-
erfestigkeit/Zugfestigkeit σD /Rm . genkörper abgetragen.
15.11.4 Amplitude der plastischen Dehnung; Span-
15.13.4 Ein großer Härteunterschied zwischen Grund-
nungsamplitude σa steigt, Dehnungsamplitude ε a nimmt
und Gegenkörper bewirkt (Mikro-) Pflügen im weniger
ab.
Harten Körper. Der Abtrag erfolgt nicht durch Haftung,
Antworten 15.12 sondern durch Verformung und mechanisch verursach-
te Brüchen im mikroskopischen Abmessungen. Adhäsiv
15.12.1 ln D = −(EA /R)/T + ln D0 ; Aktivierungsener-
gie EA aus der Steigung im doppellogarithmischen Arr- losgerissene Materialteilchen können im Zwischenstoff
oxidieren und diese harten Oxide wirken dann abrasiv.
henius Diagramm −EA /R
15.12.2 Durch thermische Aktivierung (Diffusion) kön- Eine Bremsspur entsteht durch Haftung zwischen Gum-
nen Versetzungen aus der Gleitebene wandern (klettern). mi und Asphalt (adhäsiv) und durch Abrasion der Reifen
Die Elastizitätsgrenze sinkt mit steigender Temperatur, durch harte Partikeln im Straßenbelag.
da die Beweglichkeit der Versetzungen zunimmt: die kri-
15.13.5 Beim Sandstrahlen werden Sandpartikeln in ei-
tische Schubspannung sinkt, Versetzungen können ther-
nem Luftstrom auf ein Werkstück „geschossen“. Durch
misch aktiviert Hindernisse überwinden.
die kinetische Energie der Sandpartikeln wird die Werk-
15.12.3 Versetzungsreiche Körner enthalten innere Span- stückoberfläche durch Erosion „gereinigt“. (Bestrahlung
nungen, die bei Temperaturerhöhung durch Diffusion mit größeren Partikeln (shot peening) verformt zusätzlich
abgebaut werden können. Versetzungen können klettern, die Oberfläche von Metallen und erzeugt oberflächliche
gegensätzliche können sich auslöschen. Geometrisch not- Druckspannungen, die die Ermüdungsbeständigkeit des
wendige Versetzungen ordnen sich in Kleinwinkelkorn- Werkstücks erhöht).
grenzen. Bei Erholung bleiben die ursprünglichen Körner
in ihrer Form erhalten, während bei Rekristallisation neue 15.13.6 Die oszillierende Bewegung zwischen zwei Kör-
Körner gebildet werden. pern, die gegeneinander drücken (Normalkraft), führt zu
wechselnden lokalen, elastischen und eventuell plasti-
15.12.4 ε˙s ∝ σn e−EAk /RT schen Verformungen. Der Materialabtrag entsteht durch
1 %-Zeitdehngrenze ist jene Spannung σ1T (t), die bei einer lokales, mikroskopisches Ermüdungsversagen (Oberflä-
bestimmten Temperatur T nach einer vorgegebnen Zeit t chenzerrüttung).
1 % Kriechdehnung hervorruft; Die rollende Bewegung der Lagerwalzen erzeugt Druck-
Die Zeitstandfestigkeit ist jene Spannung (t), die bei
σm
T wechselbelastung an den sich bewegenden Berührungsli-
einer bestimmten Temperatur T nach einer vorgegebnen nien zwischen Walzen und Lagerlauffläche. Im Falle von
Zeit t zum Bruch führt. Einschlüssen (z. B. Mn-Sulfide niedriger Festigkeit) in der
Lagerschale, kann es dort durch lokale Ermüdung zu
15.12.5 Beim Kriechen bleibt die angelegte Spannung Ausbrüchen kommen, die das Lager zerstören.
konstant und bei der Relaxation die aufgebrachte Ge-
samtdehnung. Kriechen bewirkt plastische Verformung, 15.13.7 Kavitationsverschleiß kommt häufig an Schiffs-
Relaxation reduziert die elastische Dehnung (somit die schrauben vor, wo durch die Strömungsverhältnisse Un-
Spannung) durch Kriechen. terdruckzonen Materialabtrag bewirken.
Antworten zu den Verständnisfragen 515

Antworten 15.14 Bei photo-oxidativer Alterung bewirkt die Lichteinstrah-


lung, vor allem UV-Licht die Zersetzung von Hydroxy-
15.14.1 Rost besteht aus Eisenhydroxiden, hauptsächlich gruppen in Gegenwart von Sauerstoff. Dies verursacht
aus Fe(OH)2 und Fe(OH)3 . Bei der Sauerstoffkorrosion eine Verfärbung und Versprödung der Polymere.
reagieren freie Elektronen aus dem Fe-Basiswerkstoff mit 15.14.3 Eine Zinkoberfläche auf Stahl verhindert dessen
Wasser zu Hydroxid-Ionen (H2 O + 12 O2 + 2e− = 2OH− ). direkten Kontakt mit der Umgebung. Zn selbst schützt
Diese verbinden sich mit positiven Fe-Ionen (Fe(OH)2 , sich durch eine dünne natürliche Oxidschicht. Wird die
Fe(OH)3 ), die aus dem Werkstück herausgelöst werden, Zn-Schicht lokal durchbrochen, wirkt Zn als Opferanode
wodurch das Werkstück rostet und der tragende Quer- gegenüber Fe durch bevorzugte Zn-Hydroxidbildung. So-
schnitt abnimmt. Salze in Wasser beschleunigen die Auf- bald aber eine Zn-Fläche von einigen mm Durchmesser
lösung des Eisenwerkstückes. Zum Rostschutz muss die verbraucht ist, verliert die Zn-Schicht ihre Wirkung als
Fe-Oberfläche abgedeckt werden, damit weder Elektro- Opferanode und Rost beginnt an dieser Stelle

Werkstoffkunde
nen noch Fe-Ionen ins Wasser gelangen.
15.14.4 SRK breitet sich unter Zugspannung aus, die um
so höher sein kann desto höher die Elastizitätsgrenze des
15.14.2 Unter thermo-oxidativer Alterung versteht man
Werkstoffes ist. Deshalb sind höherfeste Metalle (auch Ke-
die Beeinflussung von Kunststoffen durch Wärmeenergie ramik und Kunststoffe) besonders SRK-anfällig.
in Anwesenheit von Sauerstoff. (Hydroxyle können sich
zersetzen, Weichmacher entweichen und der Kunststoff 15.14.5 Der Korrosionsfortschritt steigt wie die Diffusion
versprödet.) exponentiell mit der Temperatur.
516 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Aufgaben

Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema.


Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

15.1 Aufgaben zu Abschn. 15.1 15.2 Aufgaben zu Abschn. 15.2


Werkstoffkunde

15.1a Weshalb werden vom Automobilbau Gewichtser- 15.2a Was ist der Unterschied zwischen Verbundwerk-
leichterungen gefordert? – geben Sie technische, gesell- stoffen und Werkstoffverbunden? Nennen Sie jeweils 2
schaftliche bzw. gesetzliche Gründe an. Beispiele.
Bezeichnungsweise: Endlosfasern (continuous fibre rein-
15.1b Identifizieren Sie Konstruktionswerkstoffe, die im forced polymers = CFRP) oder Kurzfasern in Polymer-
20. Jh. in wichtigen Lebensbereichen Innovationen ermög- matrix (SMC = sheet molding compound; short fibre
lichten: reinforced polymers = SFRP); particle reinforced metal
(PRM). . . (weitere siehe Abschn. 15.5)
Bauwesen (z. B. für Wolkenkratzer)
Wasserversorgung (z. B. für Pumpen und Rohrleitun-
gen) 15.2b Identifizieren Sie die Gruppen der Leicht- und
Nahrungsmittelversorgung (z. B. für moderne Erntege- Schwermetalle im Periodensystem der Elemente (siehe
räte) Abschn. 14.3, Abb. 14.10)
Energieversorgung (z. B. für Windkraftanlagen)
Medizintechnik (z. B. für Stents als Gefäßstützen)
Transportwesen (z. B. für Flugzeuge) 15.2c Wie hoch ist die Jahresproduktionsmenge von rost-
Sicherheit (z. B. Kugelsichere Westen, Panzerungen) freien Stählen (Abb. 15.4)? Reihen Sie diese in den in
Kommunikation (z. B. Satelliten, Hochleistungskühl- Tab. 15.2 angeführten Werkstoffgruppen nach der Pro-
körper) duktionsmenge und nach dem kg-Preis.

15.1c Welches war der erste, industriell hergestellte 15.2d Welche Naturstoffe können als Verbundwerkstoffe
Kunststoff und das erste Großserien Al-Produkt und in bezeichnet werden ? Welches sind ihre Bestandteile?
welchem Jahrzehnt kamen diese auf den Markt?

15.2e Nennen Sie Beispiele für Schichtverbunde und de-


15.1d Nennen Sie eine aktuelle, industriell hergestellte ren Herstellung.
High Tech Keramik und einen Verbundwerkstoff.

15.2f Beschreiben Sie den Unterschied zwischen Duro-


15.1e Vervollständigen Sie die Entsprechungen in fol-
meren und Thermoplasten.
gender Tabelle:

Gebrauchswert Werkstoffkennwert 15.2g Bei den Legierungen gibt es unterschiedliche


Steifigkeit Elastizitätsmodul E Kurzbezeichnungen, die historisch entstanden sind und
Traglast in Zugrichtung durch Normen geregelt wurden (siehe Tab. 15.3). Wie sind
Witterungsbeständigkeit die DIN-Kurzbezeichnungen der Leichtmetalle zu lesen?
Schmelztemperatur (40 % Ts > 400 °C) Geben Sie je ein Beispiel für Aluminium-, Magnesium-
Ausdehnungskoeffizient (klein) und Titanlegierungen.
Aufgaben 517

Al-Knetlegierungen werden nach ISO Norm mit dem bikes (konkrete Werte finden Sie in Tab. 15.16), berück-
Symbol AW xyyy bezeichnet (Leitziffer x gibt das Le- sichtigen Sie auch die Biegeeigenschaften nach Kap. 14)?
gierungssystem an: 1 (unlegiert), 2 (Cu-legiert), 3(Mn
legiert), 5 (Mg legiert), 6 (Mg+Si legiert), 7 (Zn+Mg le-
giert), 8 (Sonderlegierung z. B. mit Li) 15.3c Erläutern Sie Ihren Werkstoffvorschlag der Ver-
ständnisfrage 15.1, indem Sie die eingegangenen Kom-
Al-Gusslegierungen werden mit den Buchstaben AC promisse bei der Kennwerteverteilung anführen und
xyyyy (Leitziffer x wie für Knetlegierungen, speziell 4 für kommentieren.
Al+Si);
Die weiteren Ziffern yyy(y) sind historisch vergebene 15.3d Eine Instrumententafel aus Stahl steht im Wettbe-
Nummern (siehe einschlägige Norm) werb mit einer aus einem Mg-Gussteil. Entnehmen Sie
Mg-Legierungen verwenden eigene Elementabkürzun- die relativen Preise aus Tab. 15.2 und errechnen Sie aus

Werkstoffkunde
gen (A = Al, Z = Zn, M = Mn) mit Gew.-% Angaben in den Angaben die Stück-kosten und die relative Gewicht-
der Reihenfolge der Elemente. seinsparung, sowie die daraus resultierende Treibstoff-
einsparung für die Fahrzeuglebensdauer von 300.000 km
Ti-Legierungen (Elemente mit Gew.-%-Angaben in ver- (100 kg brauchen ca. 0,5 l Treibstoff ∼
= 1Ξ (Schätzwert für
schiedenen Reihenfolgen), amerikanische Bezeichnungen 2010) pro 100 km).
sind „grade“
Ti2 = Grade 2 Ti mit 0,25 Gew.-% Fe; C, N, O je Werk- Ge- Mate- Fertigungs- Stück- Gewichts- Treib-
ca. 0,1 Gew.-% (höherfest als Reinst-Ti grade 1); TiAl6V4 stoff wicht rial- kosten pro kosten verhältnis stoff-
preis Stück (Ξ) u. (%) anteil
= Ti Grade 5. (Ξ) relativ (Ξ)
Stahl 15 kg ? Ca.2 h auto- ?Ξ Referenz ?
15.3 Aufgaben zu Abschn. 15.3 mat. stanzen, 100 % 100 %
biegen,
schweißen,
15.3a Berechnen Sie die Jahresproduktionsmengen und ausrichten
die Marktvolumina mit den Angaben in Tab. 15.2 für fol- . . . = 100Ξ
gende Produkte (Ξ als relative Währung zum Stahlpreis Mg- 10 kg ? Ca. 1/2 h ? ? ?
Legier- druckgießen,
pro kg):
ung entgraten,
nach-
Produkt Werkstoff Gewicht Serien- Werkstoff- Wirt- bearbeiten
größe menge in schafts- . . . = 30Ξ
pro t pro Jahr vol. pro
Jahr Jahr in Ξ
PKW- Stahl 700 kg 1 Mil- ? ? 15.3e Ein PKW „Fe“ mit 1500 kg dominant aus Fe-
Karos- lion Werkstoffen kostet in der Anschaffung 23.700 Ξ, wäh-
serie rend ein PKW „Al“ mit wesentlichem Leichtmetallanteil
Luxus- Al-Leg. 700 kg 10.000 ? ? 1200 kg wiegt, aber 31.200 Ξ kostet.
Karosse
Flugzeug- Al-Leg. 50 t 100 ? ? Berechnen Sie die Treibstoffkosteneinsparung für
rumpf 100 km Fahrweg mit dem Leichtmetall-PKW (siehe An-
Heck- CFK 8t 100 100 Ξ/kg ? gaben in Aufgabe 15.3d) und die CO2 -Verminderung
flügel (2,5 kg CO2 /l Treibstoff).
Flugzeug- Ti-Leg. 5t 100 70 Ξ/kg ?
Mit welchem km-Stand wird der „break even point“
teile
Satellit Keramik 1t 10 500 Ξ/kg ?
(Kostengleichheit) erreicht? Wieviel Treibstoff und wie-
viel CO2 -Emission würde bis zum „break even point
gespart?
15.3b Begründen Sie die unterschiedlichen Anforderun- Um wie viel verändert sich dieser Punkt, wenn die Ent-
gen für ein Stadtfahrrad und ein Mountainbike (siehe sorgungswerte berücksichtigt werden (durchschnitt-
Verständnisfrage 15.1). Setzen Sie diese mit den in der licher Ertrag: 0,1 Ξ pro kg „Fe“-PKW, 1 Ξ pro kg
Datenspinne für Fahrradrahmen und Tab. 15.5 angeführ- „Al“-PKW)?
ten Kennwerten in Beziehung. Wie unterscheiden sich die Der Einsatz von 100 kg Kohlenstofffaser verstärktem
wesentlichen Kennwerte der Werkstoffe für die beiden Kunststoff (100 Ξ/kg) statt 200 kg Leichtmetall im
Rahmenarten (Geben Sie die Kennwertsymbole an und „Al“-PKW würde diesen um wie viel verteuern und
welche größer oder kleiner sind für den Stadtfahrradrah- den break even point im Vergleich zum „Al“-PKW wie
men aus Stahl gegenüber dem Al-Rahmen des Mountain- weit verschieben?
518 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Bauteil Wichtige Kennwerte Naturstoff Verbund- Werk- Fe-Basis Nicht-Fe Keramik Polymer
(Symbole) werkst. stoffverb.
Turboladerturbine ?
Kurbelgehäuse ?
Ölwanne ?
Getriebezahnrad ?
Selbsttragende ?
Karosserie und
Spaceframe-Struktur

15.3f Fügen Sie in die obige Tabelle die wichtigsten 15.4f Ein 1 m langer Bimetallstreifen besteht aus Stahl
Werkstoffkennwerte ein, die den für die Leitbeispiel- mit α = 14 ppm/K und einer INVAR Legierung (Ni-Fe)
Werkstoffkunde

bauteile angeführten Anforderungen zugeordnet werden mit α = 2 ppm/K. Um wie viele mm verlängern sich die
können (tragen Sie die Symbole gemäß Tab. 15.5 ein) und beiden Metallstreifen unabhängig von einander bei ei-
kreuzen Sie die Werkstoffgruppen bzw. -untergruppen ner Temperaturänderung von 100 °C? Wie groß ist dabei
an, zu denen für die angegebenen Bauteile geeignete der resultierende, relative Längenunterschied zwischen
Werkstoffbeispiele gehören. Ergänzen Sie die Tabelle der den beiden Metallstreifen? Was folgt daraus, wenn diese
Gebrauchseigenschaften der Leitbeispiele für Automobil- beiden Stäbe vor der Temperaturänderung vernietet wur-
karosserien. den?

15.4 Aufgaben zu Abschn. 15.4 15.4g Ein Reineisenstab mit 100 mm Länge wird von
Raumtemperatur (25 °C) auf 1000 °C aufgeheizt. Im krz
15.4a Der spezifische Elastizitätsmodul eines Werkstof- Zustand gilt α910 RT ( α ) = 14 ppm/K und im kfz Zustand
fes ist der E-Modul dividiert durch die spezifische Masse
α1000 ( γ ) = 22 ppm/K. Um wie viel verlängert sich der
ρ des Materials. Die Maßeinheit für E/ρ ergibt sich aus 911
Stab bis 911 °C, um wie viel verkürzt er sich bei der
der direkten Division der Messgrößen zu GPa/(g/cm3 ). vollständigen Umwandlung in γ (siehe Abb. 15.11), und
Rechnen Sie diese Maßeinheit um, indem Sie statt der um wie viel verlängert sich der umgewandelte Stab bis
Dichte das spezifische Gewicht einsetzen und sich eine 1000 °C? Wie groß ist die gesamte, prozentuale Längenän-
einfache Längeneinheit ergibt. Wie groß ist der auf das derung des Stabes?
spezifische Gewicht bezogene Elastizitätsmodul für einen
hoch legierten Stahl (E = 210 GPa, ρ = 8 g/cm3 ) und für
15.4h Schätzen Sie mit der in Abb. 15.8 angegebenen
Aluminium (E = 70 GPa, ρ = 2,7 g/cm3 )? Was fällt Ihnen
Mischungsregel für Gew.-% die Dichte folgender Legie-
dabei auf?
rungen ab:

15.4b Ein Glas mit α+ Intermetallische Phase TiAl und der Legierung
−30 = 4 ppm/K ist in einen quadra-
70
Ti6Al4V (ρTi = 4,5 g/cm3 , ρAl = 2,7 g/cm3 , ρV =
tischen Aluminiumrahmen (α+ −30 = 23 ppm/K) mit 1 m
70

Seitenkante so eingespannt, dass die Passung bei −30 °C 6,1 g/cm3 ). Weshalb differiert der berechnete Wert
bündig ist. Erhitzen sich die Scheibe und der Rahmen in für TiAl von dem an den Legierung gemessenen Wert
der Sonne auf 70 °C, wie viel Spielraum entsteht zwischen ρTiAl = 3,8 g/cm3 signifikant? Setzen Sie die Atompro-
Rahmen und Glasscheibe? zent ein.
Austenitischer Stahl X6CrNiMo 17-12-2 (0,06 Gew.-% C
vernachlässigen, ρCr = 7,14 g/cm3 , ρMo = 10,2 g/cm3 ,
15.4c Leiten Sie die thermische Volumenänderung eines
ρFe und ρNi siehe Abb. 15.8). Vergleichen Sie die-
Körpers ΔV/ΔT von dem in den 3 Raumrichtungen istro-
se Näherung mit dem Dichtewert der Legierung in
pen, linearen Ausdehnungskoeffizienten α ab.
Abb. 15.8.
Schnellarbeitsstahl HS10-4-3-10 (Gew.-%-Angaben in
15.4d Bei der Umwandlung des Ferrit in den Austenit der Reihenfolge W-Mo-V-Co mit ρW = 19,3 g/cm3 ,
verändert sich die Probenlänge um ca. 0,3 %. Um wie viele
ρMo = 10,2 g/cm3 , ρV = 6 g/cm3 , ρCo = 8,83 g/cm3 ,
Prozent verändert sich das Probenvolumen?
Rest Eisen); Vergleichen Sie die Abschätzung mit dem
Realwert 8,3 g/cm3 .
15.4e Das gekühlte Kurbelgehäuse eines Motors aus
90 = 10 ppm/K) wird im Inneren des Brenn-
Gusseisen (α390
raums lokal auf 390 °C erhitzt, bleibt aber in den Wänden 15.5 Aufgaben zu Abschn. 15.5
der Kühlkanäle auf 90 °C. Wie groß ist der dadurch ent-
stehende, lineare Dehnungsunterschied zwischen Innen- 15.5a Ein Zugstab mit zylindrischer Prüflänge von
wand des Brennraums und des Kühlungskanals? 50 mm und dem Durchmesser von 10 mm wird mit einer
Aufgaben 519

Kraft von 78,5 kN gezogen (Werte aus Tab. 15.7; Berech- 15.5e Berechne mit den Angaben in Tab. 15.7 und 15.8
nungen mit max. 3 signifikanten Stellen): die E-Moduln längs mit (15.10) und quer mit (15.11) fol-
gender Verbundwerkstoffe:
Wie groß ist die mittlere Zugspannung in diesem Stab?
Wie groß ist die elastische Dehnung dieses Stabes (ab- Endlosfaserverbundwerkstoffe: PA66/Aramid/50f-
solut (µm) und relativ), wenn er aus Stahl ist, und UD, Epoxy/C-HT/65f-UD, Epoxy/S-Glas/60f-UD,
wenn er aus Aluminium ist? Epoxy/C-HT/60f-0°50 %/90°50 % (Berechne die E-
Wie groß ist die Kontraktion des Durchmessers bei Moduln der Faserlagen längs und quer separat und
dieser Dehnung (absolut (µm) und relativ) und um kombiniere die beiden Ergebnisse, vergleiche mit
wie viel verändert sich das Probenvolumen für bei- Tab. 15.10),
de Metalle? Hätte das Material dieses Zugstabes die Al/C-HM/70f-UD, Al/Al2O3-N610/60f-UD, Ti/SiC/
Poisson-Zahl ν = 0,5 bei einem E-Modul von 210 GPa, 30m-UD.
was bedeutet dies hinsichtlich des Probenvolumens Teilchenverstärkte Verbundwerkstoffe: Berechne den

Werkstoffkunde
und wie groß wäre die Querkontraktion? E-Modul für PA66/Al2O3/20p und AW6061/Al2O3/
Wie groß ist die elastische Energiedichte für Stahl und 20p (Daten gemäß Tab. 15.8).
Aluminium bei dieser Spannung? Berechne die Massendichten dieser Verbundwerkstof-
fe.
15.5b Berechnen Sie den Schubmodul für folgende Berechnen Sie die spezifischen E-Moduln und die
Werkstoffe: spezifischen Biegesteifigkeiten für Balken aus diesen
Werkstoffen. Reihe sie und vergleiche sie mit den mo-
Silikatglas (E = 72 GPa, ν = 0,2), Magnesium (E =
nolithischen Werkstoffen der Aufgabe 15.5d.
45 GPa, ν = 0,35), Kupfer (E = 120 GPa, ν = 0,34), Ti-
tan (E = 115 GPa, ν = 0,33).
Berechne den Scherwinkel (siehe Abb. 15.12b, (15.4)) 15.6 Aufgaben zu Abschn. 15.6
dieser Werkstoffe bei Einwirkung einer Scherkraft von
10 kN entlang einer Fläche von 1 cm2 .
Berechne die elastische Energiedichte dieser Werkstof- 15.6a Ein Zugstab aus einem warm gewalzten Stahl-
fe bei dieser Scherspannung (siehe (15.8)). blech X70 liefert die blaue Spannungs-Dehnungskurve in
Abb. 15.33. Lesen Sie aus der Kurve folgende Kennwerte
15.5c Eine Biegeprobe aus Kohlenstofffaser verstärktem ab:
Kunststoff mit den Abmessungen Ls = 50 mm, B = 5 mm,
h = 1 mm wird geprüft, um den E-Modul zu bestimmen: die obere Streckgrenze ReH ;
den Elastizitätsmodul;
Im 3-Punktbiegeversuch (15.7) biegt sie sich in der Mit- die untere Streckgrenze ReL und die bleibende Lüders-
te um 1 mm durch, wenn sie nach einer Vorlast mit dehnung;
zusätzlich 20 N belastet wird. die Zugfestigkeit Rm und die zugehörigen Gleichmaß-
Wie groß wäre die Durchbiegung dieser Probe im 4- dehnungen Agt , Ag (geben Sie einen Fehlerbereich an);
Punktbiegeversuche mit Ls /4 Prüfbedingung (15.7),
wenn der Druckstempel mit 2 × 20 N belastet wird? Die rote Kurve in Abb. 15.33 zeigt das Ergebnis eines
Zugversuches mit dem gleichen Blech, aber nach einer
15.5d Berechne die spezifischen E-Moduln und die spe- 2 %-igen Vorverformung. Schätzen Sie daraus folgende
zifischen Biegesteifigkeiten
√ für Biegebalken mit rechte- Kennwerte:
ckigem Querschnitt ( E/ρ, siehe Abschn. 14.4) für die
Werkstoffe in Aufgabe 15.5b), wobei folgende Dichtewer- Wie groß war die Rückfederung bei der Entlastung auf
2 %?
te eingesetzt werden: Silikatglas (ρ = 2,5 g/cm3 ), Magne-
Wie groß war dabei die frei werdende, elastische Ener-
sium (ρ = 1,7 g/cm3 ), Kupfer (ρ = 8,9 g/cm3 ), Titan (ρ =
giedichte?
4,5 g/cm3 ); die Rp0,2 -Dehngrenze (geben Sie auch einen Bereich für
Berechne den E-Modul mit Hilfe von (15.12), den spezi- den Ablesefehler an);
fischen E-Modul und die spezifische Biegesteifigkeit für die Zugfestigkeit Rm und die zugehörigen Gleichmaß-
einen Polyurethan-Hartschaum mit ρ = 0,06 g/cm3 (ent- dehnungen Agt , Ag (mit Fehlerbereich);
spricht wieviel Porosität? wenn massives Polyurethan Fassen Sie die wesentlichen Unterschiede dieser bei-
E = 2 GPa, ρ = 1,2 g/cm3 hat) und für zellulares Alumi- den Zugversuche zusammen.
nium mit 90 % Porosität (E, ρ der Zellwandstoffe siehe
Tab. 15.8).
15.6b Lesen Sie folgende mechanischen Kennwerte der
Vergleiche die berechneten Werte mit den spezifischen PP-Folie aus dem Spannungs-Dehnungsdiagramm in der
Biegesteifigkeiten für die Werkstoffe der Leitbeispiele Abb. 15.34 ab und schätzen Sie die zugehörigen Messfeh-
in Tab. 15.8 und reihe sie. ler:
520 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

Die Werte der oberen und unteren Streckgrenzen und Der Volumenanteil von Dispersoiden wird verdoppelt
die zugehörigen totalen Dehnungen. und deren Durchmesser halbiert;
Tragen Sie die Hooke’sche Gerade für E = 1 GPa in die Die Korngröße wird von einem mittleren Durchmesser
Detaildarstellung ein und lesen Sie den elastischen und von 100 µm (ASTM 4) auf 25 µm (ASTM 8) reduziert
den plastischen Dehnungsanteil bei der oberen Streck- und dann weiter auf 1 µm.
grenze ab.
Wie groß sind die Reißfestigkeit und die Reißdehnung? 15.6f Ein polykristalliner Stahl besitzt eine obere Streck-
grenze von 525 MPa. Wie groß ist die mittlere kritische
Schubspannung?

15.6g Berechnen Sie den Bauschinger-Effekt für


2 % Stauchverformung BE2 % aus den Zugversuchskur-
Werkstoffkunde

ven der Abb. 15.33 gemäß (15.15).

15.6h Vergleichen Sie die spezifischen Festigkeitswer-


te (MPa cm3 /g) und Elastizitätsmoduli (GPa cm3 /g) der
Werkstoffe aus Tab. 15.7, indem Sie diese Werte in
Abb. 15.36 eintragen.

15.7 Aufgaben zu Abschn. 15.7


15.6c Die Skizze zeigt schematisch einen Querschnitt
einer Stufenversetzung. Tragen Sie die energetisch güns- 15.7a Was bedeuten die folgenden Härtemessangaben
tigen Positionen für Fremdatome ein (siehe Abb. 15.28): für einige Werkstoffbeispiele aus Tab. 15.3?

größeres Substitutionselement, Erstellen Sie ein Diagramm der Härtewerte (unabhängig


kleineres Substitutionselement, von der Messmethode, ohne die Mikrohärtewerte; analog
Zwischengitteratom; zum Diagramm für die Werkstoffe für die Leitbeispiele:
wo herrschen Druck- und Zugspannungen um die Ver- „Härtewerte der Werkstoffe der ausgewählten Bauteile“
setzung? in Abschn. 15.7 in Abhängigkeit der Elastizitätsgrenzen
(siehe Tab. 15.7).

15.6d Zeichnen Sie entsprechend der Skizze einer Stu- Werkstoff Härte- Härte- Meth- Prüf- Kraft Ein-
angabe wert ode kraft in wirk-
fenversetzung deren schrittweise Gleitbewegung bis zur
in kp MPa dauer
plastischen Verformung für die beiden Fälle horizontal
Feinblech 120 ? ? ? ? ?
wirkender Schubspannungen von links und rechts: HBW2,5/
187,5
DC04 130 HV50/ ? ? ? ? ?
30
AW6082T6 95 HRB2,5/ ? ? ? ? ?
62,5
100 HV5 ? ? ? ? ?
Einsatz- 62 HRC ? ? ? ? ?
stahl
Messing 75 HRB ? ? ? ? ?
Rp0,2 = β:130, α:100
120 MPa HV0,05
Si3 N4 20 GPa ? ? ? ? ?
15.6e Vergleichen Sie die Festigkeitssteigerungen durch HV10
folgende Verfestigungsmechanismen (siehe Tab. 15.11), X5CrNi18- 600 HL ? ? ? ? ?
10
indem Sie angeben, um wie viel sich der Abstand l der
Epoxy 70 HSD ? ? ? ? ?
Gleithindernisse und dadurch die kritische Schubspan-
nung ändert:
15.7b Rechnen Sie die Brinell- und die Vickers-
Die Konzentration eines gelösten Legierungselementes
Härtewerten der Aufgabe 15.7a von kp/mm2 in N/mm2
wird 4-fache erhöht;
(MPa) um.
Die Versetzungsdichte wird durch Kaltverformung um
den Faktor 25 erhöht; Die Eindringtiefendifferenz der Diamantspitze in dem in
Der Volumenanteil schneidbarer Ausscheidungen Aufgabe 15.7a angeführten Einsatzstahl betrug wie viele
wird verdoppelt und deren Durchmesser halbiert; µm bei einer Zusatzlast von 140 kp?
Aufgaben 521

Wie groß ist die Eindringtiefe der HRB-Messung in der 15.8f Für Flachzugproben (Ausgangsquerschnitt 10 ×
Messingprobe? 4 mm) aus Stahl (Rp0,2 = 200 MPa, n = 0,15) und einer
Al-Legierung (Rp0,2 = 200 MPa, n = 0,2) kann die Verfesti-
gung ab der 0,2 %-Dehngrenze mittels dem Potenzgesetz
15.8 Aufgaben zu Abschn. 15.8 nach Ludwik simuliert werden. Verwenden Sie die Bezie-
hung für die Fließkurve ln kf ∼
= n ln ϕ + ln Rp .
15.8a Lesen Sie aus Abb. 15.33 näherungsweise folgende
Werte ab: Um wie viel verfestigen die beiden Proben bis 20 % Deh-
nung aufgrund der angegebenen Kennwerte?
ReH der Zugverformung und der Stauchverfor-
mung, bestimmen Sie die Spannungsdifferenz-Effekt
ReH (Druck)/ReH (Zug); 15.8g Vergleichen Sie die spezifische, elastische Energie-
Rm und Ag , dichte (kJ/m3 ) nach (15.8) und die Rückfederungsdeh-

Werkstoffkunde
σw und den zugehörigen ε w -Wert beim Considére Kri- nung (%) eines Zugstabes bei Zugfestigkeit (maximale
terium. spezifische Rückfederungsenergie bzw. maximale elasti-
Errechnen Sie näherungsweise die spezifische Formän- sche Kontraktion) für folgende Werkstoffe (entnehmen Sie
derungsarbeit in Zug und Druck nach (15.19), die E-Moduln und Festigkeiten (soweit hier nicht angege-
sowie die gesamte Verformungsenergiedichte bis ben) der Tab. 15.6 und 15.7):
Bruch im Zugversuch nach (15.20).
Silikonkautschuk;
Wie groß ist das Streckgrenzenverhältnis?
Epoxy;
Al-Knetlegierung AW6082T6 (Rm = 350 MPa);
15.8b Im Bereich der Gleichmaßdehnung beträgt die Karosserie-Stahlblech (Rm = 350 MPa);
technische Dehnung einer Al-Knetlegierung 10 % bei Korrosionsbeständiger, austenitischer Stahl (Rm =
270 MPa technischer Spannung. Wie groß sind die ent- 600 MPa);
sprechenden wahren Dehnungs- und Spannungswerte Thermomechanisch gewalzter Stahl-TMS (Rm =
nach (15.16) und (15.17)? 1100 MPa);
Berechnen Sie für die gleichen Beträge der technischen Dualphasenstahl-DP (Rm =660 MPa);
Stauchung und Stauchspannung die wahren Dehnungs- Messing CuZn30 gewalzt (Rm = 500 MPa);
und Spannungswerte. Siliziumnitrid (Festigkeitsmodul σ0 = 660 MPa, E =
310 GPa);

15.8c Die Rundprobe mit l0 = 70 mm (siehe Abb. 15.55a) Tragen Sie diese Ergebnisse in ein Koordinatensystem
erreicht eine Bruchdehnung von 30 %. Wie lang ist die elastische Energiedichte über Festigkeit, und in anderes
Messlänge über die beiden Probenhälften zusammen in mit der elastischen Kontraktion über dem E-Modul ein.
mm nach dem Bruch?
Die Messlänge der zusammengefügten Probenhälften ei- 15.8h Vergleichen Sie die spezifische, plastische Verfor-
ner anderen gebrochenen Probe der gleichen Ausgangs- mungsenergie für den gesamten Dehnungsbereich (Zä-
geometrie beträgt 84 mm. Wie groß ist die Bruchdehnung? higkeit) nach dem Produkt A80 · Rm der in Abb. 15.56
eingetragenen Werkstoffe (lesen Sie Mittelwerte ab). Tra-
Wie lang muss die Messlänge einer Probe nach Abb. gen Sie die Ergebnisse in ein Koordinatensystem Zähig-
15.55b sein, wenn der Probenquerschnitt 5 × 10 mm2 ist? keit über Festigkeit ein.

15.8d Wie groß ist die maximale Kraft bezogen auf den 15.8i Wie groß ist die relative Verfestigung der verform-
Anfangsquerschnitt (5 × 10 mm2 ) einer Stahlzugprobe, ten Messingknetlegierung gegenüber ihrem unverform-
wenn die Zugfestigkeit 360 MPa beträgt? ten (= weich geglühtem) Zustand gemäß Abb. 15.54
(Vergleich der Mittelwerte)?
Nach Überschreiten der Zugfestigkeit bricht die Zug-
probe bei 300 MPa, wobei die Brucheinschnürung z = Wie groß ist die relative Duktilitätsabnahme dabei?
50 % beträgt. Wie groß ist die wahre Bruchspannung?
Um wie viel verminderte sich die Breite des Pro-
15.9 Aufgaben zu Abschn. 15.9
benquerschnitts, wenn die Dicke auf 4 mm reduziert
wurde? Wie groß ist der zugehörige r-Wert (siehe Bo-
nusmaterial: Verformungsanisotropie und Gl. (30.85))? 15.9a Ein Aluminiumoxideinschluss mit 5 µm Aus-
dehnung in der Belastungsrichtung einer Aluminium-
15.8e Eine zylindrische Stauchprobe wird gleichförmig Knetlegierung wird wie die Al-Matrix, in der dieser einge-
verformt. Wie groß ist relative Durchmesseränderung bei bettet ist, mit 100 MPa gedehnt. Wie groß ist die Differenz
10 % technischer Stauchung? der elastischen Dehnung zwischen dem Einschluss und
522 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

der über die gleiche Länge angrenzenden Al-Legierung nung  σa = 100 MPa nach der Beziehung σ (r) =
 von
(entnehmen Sie die E-Moduln der Tab. 15.6)? σa 1 + 2ra
Wo können Versetzungsstaus bei plastischer Verfor-
mung auftreten?
15.9i Ein unidirektional mit Glasfasern verstärktes Epo-
Nehmen Sie an, dass jede Versetzung am Rande eines
xy enthält einen 5 mm großen Riss wie in Aufgabe 15.9h.
Korns eine Stufe von 0,1 nm erzeugt. 1000 Versetzun-
Die Haftung der Glasfasern in Richtung der angelegten
gen verformen diese Grenze plastisch. In welcher Grö-
Spannung kann im Riss der Epoxy-Matrix 50 MPa tragen.
ßenordnung kann eine Pore daraus entstehen?
Um wie viel wird die in Aufgabe 15.9h berechnete Span-
Wie tief kann ein Grübchen in der Bruchfläche obiger
nung an der Rissspitze dadurch reduziert?
Al-Knetlegierung in etwa werden, wenn der Alumini-
umoxideinschluss beim Bruch herausgezogen wird?
15.10 Aufgaben zu Abschn. 15.10
Werkstoffkunde

15.9b Erklären Sie die Unterschiede zwischen den 15.10a Ein Würfel von 1 mm Kantenlänge enthält nur
Bruchmechanismen: Spaltbruch, duktiler Bruch mit und einen kritischer Defekt für eine Zugspannung σ, aber
ohne Einschnürung, Scherbruch eines polykristallinen seine Position im Würfel ist unbekannt. Aus der Kom-
Metalls. bination zweier derartiger Würfel wird eine Faser mit
einem Durchmesser von 10 µm hergestellt. Wie groß kön-
15.9c Erklären Sie die Werkstoffeigenschaften: Elastizi- nen der minimale und der maximale Abstand zwischen
tät, Duktilität, Zähigkeit, Bruchzähigkeit, Kerbschlagar- den beiden kritischen Fehlern in der Faser werden? Wie
beit. groß sind die fehlerfreien Faserlängen höchster Festigkeit
in diesen Fällen?
Welche Werkstoffgruppen weisen in der Temperaturab-
hängigkeit der Kerbschlagarbeit Tieflage, Übergangsbe- 15.10b Berechnen Sie die kumulativen Überlebenswahr-
reich und Hochlage auf? Welche nur Hochlage? scheinlichkeiten für eine Si3 N4 -Keramik mit dem Festig-
keitsmodul σ0 = 700 MPa aus verschiedener Fabrikation
15.9d Welche Zähigkeitsbedingung müssen die Stähle gemäß den Angaben in der Tabelle (runden Sie Zahlen
S235KR und S235J0 erfüllen? mit 0,9 . . . erst auf die Stelle nach der letzten 9, andern-
falls auf 2 signifikante Dezimalstellen bzw. eine Stelle mit
Zehnerpotenzen).
15.9e Wenn die Bruchzähigkeit
√ dieses unverformten Ble-
ches (Abb. 15.33) 100 MPa m beträgt, wie groß ist die Weibull- m=5 m = 10 m = 20
kritische Risslänge? Modul
Zug- V/V0 = 1 V/V0 = 1 V/V0 = 10 V/V0 = 100 V/V0 = 1
In welchem Dickenbereich muss dieses Blech gewählt spannung
werden, wenn es für ein mit 10 MPa Druck beaufschlag- 350 MPa: Ps ? ? ? ? ?
tes Rohr mit 1,2 m Durchmesser eingesetzt werden soll, 490 MPa: Ps ? ? ? ? ?
wobei es die Kriterien „Leck vor Bruch“ im elastischen PBruch in % ? ? ? ? ?
Bereich erfüllen soll? 630 MPa: Ps ? ? ? – ?
700 MPa: Ps ? ? ? – ?
15.9f Erstellen Sie das Diagramm für maximale stati- 770 MPa: Ps ? ? – – ?
sche Zugbelastung σ über √ Risslänge für den Stahl der Für hohe Zugspannungen bis 350 MPa ist welche Si3 N4
Abb. 15.33 (KIc = 100 MPa
√ m) und das Polypropylen der Variante eventuell großtechnisch einsetzbar?
Abb. 15.34 (KIc = 3 MPa m) analog zu Abb. 15.74.
15.11 Aufgaben zu Abschn. 15.11
15.9g Welche der in√Abb. 15.64 eingetragenen Werkstoffe
haben KIc > 20 MPa m? 15.11a Ein Flugzeugbauteil aus der Al-Legierung Al-
Cu4SiMg (AW2014) im T6 Zustand (Rp0,2 = 340 MPa,
Wo befindet sich die Linie Gc = 10 kJ/m2 ? Welche Werk- Rm = 400 MPa) wird mit einer Amplitude von 200 MPa
stoffe haben diese kritische Energiefreisetzungsrate in Wechselbelastungen unterworfen.
Abb. 15.64?
Wie hoch ist in etwa die Bruchlastspielzahl bei reiner
Was ist der Unterschied in der Zähigkeit von Mg-, Al- Wechselbelastung gemäß Bonusmaterial Wöhlerkur-
Legierungen und Vergütungsstählen? ven, Abb. 15.12?
Wie groß sind bei dieser Amplitude die Ober- und die
15.9h Zeichnen Sie in einem Diagramm die Spannung Unterspannung bei σm = 0 und bei σm = 100 MPa?
über den Abstand r > 0,1 mm von der Spitze eines Ris- Wie groß sind die Spannungsverhältnisse R dieser bei-
ses a = 5 mm für eine Riss öffnende, äußere Zugspan- den Wechselbelastungen?
Aufgaben 523

Wie groß darf die Amplitude der Wechselbelastung Tragen Sie obiges Paris-Gesetz in das Diagramm in
bei σm = 100 MPa sein, um die gleiche Bruchlastspiel Abb. 15.87c) ein und vergleichen Sie dieses mit der
zu erzielen, wie bei der reinen Wechselspannung mit Rissfortschrittskurve für Stahl.
200 MPa? Berechnen Sie die kritische Risslänge für eine Zugspan-
nung von 510 MPa.
15.11b Eine Periode einer Wechselbelastung eines Kran- Wie groß ist ΔK (Gesamtschwingbreite der Spannungs-
armes dauert 36 s, wobei dieser 2 · 105 Lastwechseln intensität) bei der Spannungsamplitude von 510 MPa,
standhalten soll. wenn ein Riss von 4 mm Länge bei einer Anlagenrevi-
sion entdeckt wurde?
Wie groß ist die Belastungsfrequenz des Kranarmes? Wie groß ist in etwa das Risswachstum bei diesem Re-
Wie lange ist die angestrebte Lebensdauer? visionszeitpunkt nach obigem Paris-Gesetz?
Die Werkstoffprüfung kann mit einer Umlaufbiegeprüf- Wie groß soll der Riss gemäß dem Integral des Paris-

Werkstoffkunde
maschine mit 10 Hz durchgeführt werden. Gesetzes nach weiteren 500 Zyklen bzw. 1000 Zyklen
werden? Wie groß wird bei diesen Zyklenzahlen das
Wie lange dauert die Ermüdungsprüfung mindestens? Risswachstum?
In welchem Bereich der Wöhlerkurve des C45E-Stahles Unter Verwendung des Integrals des Paris-Gesetzes
in Bonusmaterial Wöhlerkurven, Abb. 15.12, liegt die sind bei einem Riss von 4 mm noch wie viele Last-
Spannungsamplitude, die in etwa obige Bruchlast- zyklen mit der gleichen Spannungsamplitude von
spielzahl erreicht? 510 MPa bis zum Spaltbruch zu erwarten?
Nach der Feststellung des 4-mm-Risses würden Sie die
15.11c Für den unlegierten Stahl C45E ergibt sich aus nächste Revision nach wie vielen weiteren Zyklen vor-
Bonusmaterial Wöhlerkurven, Abb. 15.12, die Basquin- schreiben?
Lebensdauerregel mit σa · NB0,1 = 900 MPa. 15.11f Die Nickelsuperlegierung einer Turbinenschaufel
Wie groß ist die zu erwartende Bruchlastspielzahl bei (Leitbeispielbauteil) erfährt bei gelegentlicher Maximal-
σa = 370 MPa und σa = 340 MPa? belastung eine lokale Zugspannung von 1000 MPa bei
Ein Kranarm hat bereits n1 = 3625 Schwingungen er- einer lokalen Gesamtdehnung von 0,59 %. Die Manson-
lebt, bei denen der Stahl mit 370 MPa belastet wurde. Coffin-Lebensdauerregel für diese Legierung lautet Δε pl ·
Welcher Anteil der Lebensdauer wurde dadurch ver- NBo,5 = 5 · 10−3 .
braucht?
Wie viele Schwingungen n2 können diesem Kranarm Wie groß ist die plastische Dehnungsamplitude in die-
noch zugetraut werden, wenn die Spannungsamplitu- ser Wechselbelastung (E-Modul siehe Tab. 15.7)?
de auf 340 MPa gesenkt wird? Berechnen Sie die zu erwartende Lebensdauer für die-
se Turbinenschaufel, wenn sie periodisch der angege-
benen Maximalspannung ausgesetzt wird.
15.11d In der Risseinleitungsphase erreicht pro Zyklus
(f = 0,1 Hz) 1 Stufenversetzung mit dem Burgersvektor 15.11g Mit den Festigkeitsdaten der Tab. 15.7 und
b = 0,25 nm die Oberfläche eines ferritischen Stahles. Bruchzähigkeits- und Ermüdungskennwerten der Tab.
15.16 für die Werkstoffe der Turboladerturbine (Si3 N4 und
Wie groß wird die Oberflächenstufe nach 10.000 Zy- IN718), des Kurbelgehäuses (AlSi12(Mg), GJV450), des
klen? Getriebezahnrads (Einsatzstahl) und der Karosserieble-
Wie groß ist die Risswachstumsgeschwindigkeit in die- che (AW6082 und DC04) berechnen Sie die kritischen
ser Phase, wenn pro Zyklus zwei Versetzungspaare Risslängen bei der Elastizitätsgrenze und bei der Dauer-
mit gegensätzlichem Vorzeichen im Abstand weniger oder Grenzlastspielfestigkeit, sowie die zugehörigen ma-
Gitterebenen an die Oberfläche kommen und eine In- ximalen Spannungsintensitätsfaktoren.
trusion bilden?.
Der Schwellwert des Spannungsintensitätsfaktors
√ die- Werkstoff Re , KIc in√ akrit σD , akrit Kmax
ses Stahles beträgt Kth = 5 MPa m. Wie groß ist der Rp0,2 , MPa m (Rp ) σNG (σNG ) (σNG√) in
zugehörige Anriss bei einem Spannungsmaximum von σo in in in in MPa m
500 MPa ? MPa mm MPa mm
Si3 N4 700 6 ? 500 ? ?
IN718 1000 140 ? 800 ? ?
15.11e Ein Druckkesselstahl mit Rp0,2 = 1000 MPa und AlSi12 150 30 ? 110 ? ?

KIc = 170 MPa m (siehe Abb. 15.74) verhält sich im Sta- GJV 450 450 45 ? 210 ? ?
dium des stabilen Wachstums eines Ermüdungsrisses ge- PA 66 80 5 ? 40 ? ?
mäß dem Paris-Gesetz Einsatzstahl 600 50 ? 300 ? ?
AW6082-T6 280 60 ? 130 ? ?
da √
(mm) = 10−13 [ΔK(MPa mm)]3 . Karosserie- 185 140 ? 200 ? ?
dN blech
524 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen

15.11h Berechnen Sie für den Stahl im Bimetallstreifen Wievielfach größer ist der Diffusionskoeffizient von Fe
der Aufgabe 15.4f mit der Basquin-Lebensdauerregel aus im krz Fe gegenüber dem von Fe im kfz Fe bei 1000 K?
Aufgabe 15.11c die Bruchlastspielzahl für ΔT = 100 °C Wievielfach größer ist der Diffusionskoeffizient von Ni
(beziehen Sie die Berechnung auf den Spannungszustand im kfz Fe bei 600 °C gegenüber 1200 °C?
bei Δα = 12 ppm/K).
15.12c Lesen Sie die Diffusionkoeffizienten von C in kfz
15.11i Ein Druckbehälterstahl (Re = 600 MPa, E = Fe und Ni in kfz Fe bei zirka 600 °C und 1000 °C aus
210 GPa) eines Wärmetauschers wird innen bei 600 °C Abb. 15.98 ab und berechnen Sie die zugehörigen Diffu-
betrieben und außen periodisch mit Luft- oder Wasserdu- sionslängen für 10 s und 1000 s.
sche gekühlt. (thermische Gefügeveränderungen werden
vernachlässigt).
15.12d Die Temperatur, ab der signifikante Diffusion
Werkstoffkunde

Berechnen Sie den Unterschied der thermischen Deh- und somit Kriechverformung beobachtet wird, kann aus
nung zwischen Innen- und Außenseite des Wärme- der Anschmelztemperatur der Werkstoffe abgeschätzt
tauscherrohres (α = 14 ppm/K), wenn die Luftküh- werden: 0,4 Ts für Metalle und Thermoplaste, 0,5 Ts für
lung die Außentemperatur auf 360 °C reduziert. Die- Keramiken. Errechnen Sie diese Grenztemperaturen für
ser Kühlvorgang reduziert die Innentemperatur auf die Werkstoffe in den Leitbeispielen aus den Ts -Werten in
560 °C. Wie groß ist der periodische Dehnungsunter- Tab. 15.6: Si3 N4 (Tsmin = 1700 °C), IN718, AlSi12, C22 (un-
schied zwischen innen und außen? Wie viel davon legierter Stahl) und PA66. Vergleichen Sie ihre Ergebnisse
kann durch elastische Dehnungen kompensiert wer- mit den Angaben in Tab. 15.16.
den?
Berechnen Sie die Anzahl der Kühlvorgänge, denen
dieser Stahl standhalten kann, wenn die Basquin- 15.12e Wie unterscheiden sich die Potenzgesetze für die
Lebensdauerregel aus Aufgabe 15.11c für elastische stationäre Kriechrate, wenn folgende Kriechmechanis-
Dehnungen gilt. men dominieren:
Wie groß muss das Dauerfestigkeitsverhältnis sD sein, Korngrenzenkriechen (nach Coble)
damit dieser Stahl für diesen Belastungsfall dauerfest Intrakristallines Kriechen (nach Nabarro-Herring)
ist? Versetzungskriechen.
Berechnen Sie den Unterschied der thermischen Deh-
nung zwischen Innen- und Außenseite des Wärmetau-
scherrohres, wenn die Wasserkühlung die Außentem- 15.12f Zeichnen Sie schematisch eine Kriechdehnung-
peratur auf 160 °C und die Innentemperatur auf 460 °C Zeit-Kurve und die zugehörige Dehnratenkurve. Bezeich-
reduziert. Wie groß ist der Dehnungsunterschied zwi- nen Sie die charakteristischen Stadien der Kriechverfor-
schen innen und außen? Wie hoch ist die periodische, mung.
plastische Dehnung?
Berechnen Sie die Anzahl der Kühlvorgänge, denen 15.13 Aufgaben zu Abschn. 15.13
dieser Stahl standhalten kann, wenn die Manson-
Coffin-Lebensdauerregel Δε pl .NBo,5 = 10−3 gilt.
15.13a Der Reibungskoeffizienten zwischen zwei tro-
ckenen Stahlteilen betragen ungefähr μS =0,15 bei Haf-
15.12 Aufgaben zu Abschn. 15.12 tung und μG = 0,12 beim Gleiten. Zwei Stahlkörper
werden mit einer Kraft von 1kN aneinander gedrückt.
15.12a Die Leerstellenkonzentration in einer Al- Wie groß sind Reibungskräfte für Haftung und fürs Glei-
Legierung beträgt bei Raumtemperatur (25 °C) im thermi- ten?
schen Gleichgewicht 10−13 . Die Bildungsenthalpie EAV = Haft- und Gleitreibungskoeffizienten für Aluminium auf
1,2.10−19 J/Leerstelle (k = 1,38 · 10−23 J/K). Berechnen Sie Aluminium sind etwa gleich groß und betragen μS =
gemäß Vertiefung „Leerstellen“ um wievielfach sich die μG = 1,05. Wie groß ist deren Reibungskraft unter glei-
Leerstellenkonzentration beim Lösungsglühen bei 460 °C cher Normalkraft?
erhöht? Wieviele Leerstellen kommen auf eine Million
Gitterplätze?
15.13b Aus welchen Bestimmungsstücken besteht das
tribologische System eines Zahnrades im Getriebe? Wel-
15.12b Lesen Sie aus der Abb. 15.98 ab: che Verschleißmechanismen wirken dabei?
Wievielfach größer ist der Diffusionskoeffizient von C
im krz Fe gegenüber dem von C im kfz Fe bei 1000 K? 15.13c Von der 100 cm2 großen Oberfläche eines gleiten-
Wievielfach größer ist der Diffusionskoeffizient von C den Stahl(gegen)körpers werden bei rotierender Bewe-
im krz Fe gegenüber dem von Fe im krz Fe bei 1000 K? gung, die einem Gleitweg von 100 m entspricht, 100 µm
Aufgaben 525

abgetragen. Wie groß ist der entsprechende Masseverlust? 15.14b Welcher Partner der folgenden Werkstoffpaarun-
Wie groß ist die Verschleißrate (Oberflächenabtrag und gen (Mg–Cu, Al–Fe, Cu–Ni, CFK–Al) kann galvanischer
Massenabtrag) pro m? Korrosion unterliegen?
Die Verschleißrate bleibt bis etwa 500 m Verschleißweg
gleich und steigt dann innerhalb von 10 m auf 1 g/m. Was 15.14c Im Bonusmaterial: Spannungsrisskorrosion wird
bedeutet dieser Verschleißanstieg? In welches Verschleiß- das Beispiel von Stahlkrallen angeführt. Wie unterschei-
stadium kommt das System? den sich die maximalen Spannungen im Stahl S235 gegen-
über S380?

15.14 Aufgaben zu Abschn. 15.14


15.14d Vergleichen Sie das Wachstum einer Korrosi-
onsschicht ΔmK bei Trockenkorrosion für den theoreti-

Werkstoffkunde
15.14a Bei einem Salzsprühtest beträgt die Gewichtsab- schen Fall, dass für ein lineares und ein parabolisches
nahme einer Al-Probe mit einer Oberfläche von 200 cm2 Schichtwachstum die Wachstumskoeffizienten zahlenmä-
0,27 g nach 100 h. Wie groß ist die Korrosionsrate ßig gleich wären: kl = 50 mg/h, kp = 50 mg2 /h. Wie groß
ΔmK /Woche? Wie groß ist die entsprechende Dickenab- ist die Gewichtsänderung bei linearem und paraboli-
nahme der Probe und die diesbezüglich Korrosionsrate schem Korrosionsfortschritt einer Probe nach 100 h und
ΔhK /Jahr. 1000 h Exponierdauer?
Legierungstechnologie –
Metalle an Anforderungen
16
anpassen
Wie entstehen die Gefüge

Werkstoffkunde
der Legierungen?
Wie werden die
gewünschten
Werkstoffeigenschaften
erreicht?
Wieso gibt es so viele
Stahlsorten mit
unterschiedlichen
Eigenschaften?
Wie erhalten
Aluminiumlegierungen ihre
Festigkeit?

16.1 Die Erstarrung wichtiger Legierungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . 528


16.2 Aluminium-Legierungen mit Eutektikum . . . . . . . . . . . . . . . . . 533
16.3 Das Eisen-Kohlenstoff-Zustandsdiagramm für Stähle und Gusseisen . 536
16.4 Mischkristalle und Legierungselemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540
16.5 Gefüge und Wärmebehandlungen der Stähle . . . . . . . . . . . . . . . 543
16.6 Ungleichgewichtsumwandlungen allotroper Metalle . . . . . . . . . . 545
16.7 Die Vielfalt der Stähle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551
Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 527


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_16
528 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

Reine Metalle erreichen nur relativ geringe Elastizitätsgrenzen Werkstoffe angeführt. Für einige Werkstoffgruppen wer-
(unter 50 MPa). In Abschn. 15.6 sind die Verfestigungsmechanis- den im Folgenden die grundsätzlichen Auswirkungen
men beschrieben. Die Schmelzmetallurgie nützt die Mischbarkeit der thermodynamischen Prinzipien (Kap. 19 und 20) auf
der Elemente im flüssigen Zustand zur Herstellung von Legierun- die Legierungstechnologie dargestellt. Das dominante Le-
gen. Werden unlösliche Feststoffe in die Schmelze eingebracht, gierungselement stellt die Legierungsbasis dar. Ein oder
so spricht man ab etwa 5 % Volumenanteil von der Herstel- zwei weitere Legierungselemente bestimmen das Legie-
lung von Verbundwerkstoffen. Mittels Pulvermetallurgie können rungssystem. Für die grundsätzliche Betrachtung reicht
nicht mischbare Komponenten mechanisch legiert (gemischt) wer- oft die Beschreibung eines Zwei- oder Dreistoffsystems
den (Abschn. 30.2). Jedes Metall kann durch geringe Mengen an (Tab. 16.1). Darüber hinausgehende Zusatzelemente erfül-
Legierungselementen wesentlich verfestigt werden. Während der len unterschiedliche Aufgaben bei der Schmelzebehand-
Erstarrung bilden sich in vielen Legierungen Mischkristalle und/oder lung, für die Erstarrung und die Phasenausbildung im
Entmischungsprodukte in bestimmten Gefügestrukturen. Wie groß festen Zustand und/oder für die Oberflächenbeschaffen-
Werkstoffkunde

ist die Löslichkeit von Legierungselementen in einem Mischkristall? heit des Werkstücks.
Welche Ausscheidungen bilden sich, wenn die Löslichkeitsgrenze
überschritten wird? Wie entstehen Umwandlungsgefüge in Stahl, Neben grundsätzlichen Gesetzmäßigkeiten werden nach-
folgend die Gefügeentwicklungen in einigen Aluminium-
und wo sind sie wünschenswert? Die mechanischen Eigenschaften
einer Legierung werden durch sein Basismetall, die Legierungs- Legierungssystemen (Abschn. 16.2) und im Eisen-Kohlen-
elemente und das sich aus der thermomechanischen Geschichte stoffs-System unter Bedingungen nahe dem thermodyna-
ergebende Gefüge bestimmt. Bei Gusslegierungen entsteht das mischen Gleichgewichts beschrieben (Abschn. 16.3).
Gefüge während der Erstarrung und kann durch nachträgliche Ein Werkstoff befindet sich in thermodynamischem
Wärmebehandlungen verändert werden. Bei einer Knetlegierung Gleichgewicht, wenn sein Zustand in dem betrachteten
wird das Gefüge durch die Verformung und die damit verbun- Temperaturbereich eine minimale innere Energie auf-
denen oder nachfolgenden Wärmebehandlungen eingestellt. Der weist, d. h., die Mengenverhältnisse und die Zusammen-
Werkstoffhersteller legt die Basis für die Gefügeeinstellung, die setzungen seiner Phasen sind stabil, obwohl sich die Form
durch die Weiterverarbeitung verändert wird und im Produkt das der Phasen bei Diffusion zur Reduzierung der Grenzflä-
erforderliche Eigenschaftsprofil ergeben soll. Der Maschinenbau- chenenergie verändern kann (Einformung, Reifung). In
Ingenieur soll die Möglichkeiten der Gefügeeinstellung zumindest vielen Einsatzfällen befinden sich Werkstoffe in meta-
in den Grundzügen kennen. Er muss wissen, wie temperatursta- stabilen Zuständen, die dadurch relativ stabil sind, weil
bil die durch Wärmebehandlung erzielten Gefüge und die damit Diffusion unterbunden wird und der stabile Zustand nur
verbundenen Eigenschaften sind. Besonders wichtig ist, dass bei durch thermische Aktivierung erreicht werden kann.
der Werkstoffauswahl die Temperaturgeschichte eines Bauteils im
Einsatz beachtet wird, die vor allem metastabile Gefügezustände
verändern kann, wodurch sich auch die Eigenschaften ändern. Legierungen werden schmelzmetallurgisch im ther-
modynamischen Gleichgewicht einer Schmelze im
Bereich der mischbaren Zusammensetzung herge-
stellt. Unmischbare Komponenten können im fes-
16.1 Die Erstarrung wichtiger ten Zustand pulvermetallurgisch mechanisch legiert
werden.
Legierungssysteme
Legierungselemente dienen vor allem zur Mischkristall-
bildung, aber in vielen Fällen bilden sich auch mehr- Welche Regeln gelten für die Erstarrung
phasige Gefüge mit intermetallischen Phasen aus, die
die mechanischen Eigenschaften verbessern. Bei mehr- aus der Schmelze?
phasigen Gefügen sind die örtliche Verteilung und die
Gestalt der Phasen wichtig und in gewissen Grenzen bei Alle technischen Legierungen sind im flüssigen Zustand
der Herstellung einstellbar. Die elastischen Eigenschaften im jeweiligen Zusammensetzungsbereich mischbar. Die
mehrphasiger Legierungen können mit den Regeln für Legierungselemente sind in der Schmelze des Basisme-
Verbundwerkstoffe abgeschätzt werden (Abschn. 15.5). talls gelöst. Es kommt aber vor, dass keramische Verun-
Besonders große Variationen in den Eigenschaften durch reinigungen in die Schmelze gelangen, sei es aus dem
unterschiedliche Gefüge erlauben die Eisen-Basislegie- Tiegelmaterial der Schmelze oder aus Reaktionsproduk-
rungen durch ihre Allotropie (Anwendungsbox „Dilato- ten der Schmelzeoberfläche mit der Luft (Oxide, Nitri-
metrie“ in Abschn. 15.4) und die Rolle des Legierungsele- de). Zum Großteil können diese beim Gießen durch Fil-
ments Kohlenstoff. Darüber hinaus können Legierungs- ter entfernt werden. Spülung der Schmelze mit inerten
elemente die Korrosionsbeständigkeit des Werkstoffes Gasen kann Verunreinigungspartikeln an die Schmelze-
verbessern, aber in manchem Fällen auch beeinträchtigen oberfläche bringen, wo sie mit der Krätze abgeschöpft
(Abschn. 15.14). In Abschn. 15.2 wurden gebräuchliche werden. Der Verbleib geringer Mengen mikroskopischer
16.1 Die Erstarrung wichtiger Legierungssysteme 529

Tab. 16.1 Gebräuchliche Legie- Werkstoff- Basis- wichtige Legierungselemente Schmelze-


rungssysteme gruppe element (Angaben in Gew.-%) Zusätze
Gusslegierungen
Leichtmetalle Al Si (> 5 %) Mg Sr oder Na
Cu Fe, Ni
Mg Al (< 19 %) Zn (< 1 %) Mn Schutzgas
Gusseisen Fe C (> 3 %) Si (< 5 %) Mn Mg, S
Schwermetalle Cu Zn (> 30 %)
Sn (> 9 %) Al
Ni Cr (> 10 %) Mo Nb Ti, Al
Zn Al (< 5 %) Cu
Knetlegierungen

Werkstoffkunde
Leichtmetalle Al Cu (< 7 %) Mg (< 2 %) TiB2
Mg (< 6 %)
Mg (< 1,5 %) Si (< 1,5 %)
Zn (< 8 %) Mg (< 3 %) Cu
Ti Al (< 10 %) V in Vakuum
Stähle Fe C (< 2 %) Mn Al
Cr Ni
Schwermetalle Cu Zn (< 35 %)
Ni (bis 100 %)
Ni Cr (> 10 %) Al Ti

Einschlüsse lässt sich mit vertretbarem Aufwand nicht wachstumsfähiger Keime wird Inkubationszeit für die zu
vermeiden. Feste Partikel wirken als Keime für die erstar- bildende Phase genannt. Sobald rK > rkrit ist, überwiegt
renden Kristallite. So werden beispielsweise TiB2 -Partikel die Abnahme der Enthalpie des Kristallkeims gegenüber
in Aluminium-Legierungsschmelzen zugeführt, um als der Schmelze den Enthalpiebedarf für die Bildung der
heterogene Keime eine Kornfeinung des erstarrenden Ge- Grenzfläche zwischen den beiden Phasen.
füges zu bewirken.
Bei rascher Abkühlung wird die Keimbildung zu tiefe-
Ab dem Schmelzpunkt können sich in der Schmelze ren Temperaturen verschoben, wo die Wahrscheinlichkeit
Atomgruppen in kristallografischer Ordnung als homo- der kristallografischen Anordnung der Atome steigt und
gene Keime bilden (Abb. 16.1a, b). Die freie Enthalpie die kritische Keimgröße abnimmt. Das hat zur Folge, dass
(innere Energie und Volumenarbeit eines Stoffes, Kap. 18) die Zahl der wachstumsfähigen Keime steigt (Abb. 16.1e),
eines Stoffes in geschmolzenem Zustand nimmt ab, wenn d. h., die Keimbildungsgeschwindigkeit nimmt mit zu-
er kristallisiert. Die Kristallkeime geben Energie ΔGV ab, nehmender Unterkühlung zu. Für das Wachstum der kris-
die dem erstarrten Volumen proportional (∝ r3 ) ist. Durch tallinen Keime ist Diffusion erforderlich, insbesondere,
die Änderung des Atomvolumens ist damit auch eine po- wenn es sich um eine Keimbildung für eine Phasenum-
sitive oder negative Volumenarbeit verbunden, je nach wandlung im festen Zustand handelt. Da die Diffusi-
Expansion oder Schrumpfung bei der Erstarrung. Ande- onsgeschwindigkeit mit der Temperatur zunimmt, steigt
rerseits entsteht eine Grenzfläche, die die freie Enthalpie auch die Wachstumsgeschwindigkeit der Keime mit der
des Systems um ΔGO proportional zur Grenzfläche (∝ r2 ) Temperatur. Aus der Kombination beider Effekte ergibt
erhöht. Abbildung 16.1d stellt die Bilanz der gegenläufi- sich eine maximale Geschwindigkeit für die umgewan-
gen Enthalpieentwicklungen bei der Phasenumwandlung delte (erstarrte) Materialmenge bei einer kritischen Unter-
flüssig – fest durch die Erstarrung eines Kristallkeimes kühlung. Abbildung 16.2a stellt dies verallgemeinert für
dar: jede Phasenumwandlung dar. Bei einer kritischen Tempe-
ratur Tkrit verläuft die Erstarrung (Phasenumwandlung)
ΔGgesamt = ΔGO − ΔGV .
am raschesten. Abbildung 16.2b zeigt dies anhand der
Bis zu einer kritischen Größe der Keime rkrit wächst Kurven für die Inkubationszeit der Keime, der Dauer
ΔGgesamt . Das bedeutet, dass diese Keime nicht imstande bis zur 50 %igen und vollständigen Phasenumwandlung.
sind, die Grenzflächenenergie zwischen den beiden Pha- Die sogenannte Umwandlungsnase gibt die Temperatur
sen aufzubringen. Keime mit rK < rkrit sind nicht wachs- für den minimalen Zeitbedarf für die Umwandlung an.
tumsfähig, sondern lösen sich wieder auf (Abb. 16.1e). Die kritische Abkühlgeschwindigkeit muss unterschritten
Nur solche Keime, für die aufgrund lokaler Temperatur- werden, um Keime der neuen Phase bilden zu können.
unterschreitung (Unterkühlung ΔT) rK > rkrit ist, können Für Abkühlgeschwindigkeiten gleich oder größer als die
wachsen (Abb. 16.1c, e). Der Zeitaufwand für die Bildung kritische Abkühlgeschwindigkeit erfolgt die Erstarrung
530 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

a amorphe Schmelze b instabiler Kristallkeim rK < rkrit c

Kristall-
dynamische wachstum

Bildung und rK > rkrit


Auflösung

Grenzflächenbildung rK

Keimradius rK
Änderung der freien Enthalpie

ΔGO 4 π rK2
+ ΔG
Werkstoffkunde

ΔGK Keimbildungsarbeit
instabile wachstumsfähige
0 Keime Keime
rkrit Keimradius rK rK < rkrit rK > rkrit
– ΔG

ΔGgesamt = ΔGO –ΔGV rkrit

Keimauflösung Keimwachstum und


Kristallisation zunehmende Keimdichte
ΔGV 4 π rK2/3 ΔTmin Unterkühlung ΔT
d e

Abb. 16.1 Kristallkeimbildung in Schmelze (a) durch kristallografische Atomanordnung (b), die ab der Größe rkrit wachsen (c–e); d zugehörige Enthalpiebilanz
ΔGgesamt der Enthalpie zur Bildung der Grenzflächen ΔGO abzüglich der Kristallisationsenthalpie ΔGV ; e Unterkühlung ist erforderlich, um die Keimbildungsarbeit
ΔGK aufzubringen; mit steigender Unterkühlung sinkt rkrit , während die Keimdichte steigt

Gleichgewichts-Umwandlungstemperatur Gleichgewichts-Umwandlungstemperatur
Unterkühlung

Inkubationszeit
e
ändig
Temperatur

Temperatur

Wachstums-
geschwindig- vollst dlung
ΔT

an
keit Umw

Tkrit Zeit für eine


50%ige Umwandlung
Umwandlungs-
geschwindigkeit
kritische
Keimbildungs- Abkühl-
geschwindigkeit geschwindigkeit
a Geschwindigkeit b Zeit

Abb. 16.2 Skizze der Kinetik der Phasenumwandlung; a Keimbildungs- und Wachstumsgeschwindigkeit ergibt Umwandlungsgeschwindigkeit; b Inkubationszeit
für Keime (gelb ) und zeitlicher Verlauf der Menge der neu gebildeten Phase: Umwandlungsnase bei kritischer Unterkühlung; kritische Abkühlgeschwindigkeit (rot )
für Keimbildung

mit amorpher Struktur (Glas) bzw. wird die Phasenum- genommene Tomografie. Während der Unterkühlung der
wandlung unterdrückt. Schmelze von 590–587 °C wurde die Tomografie innerhalb
von 10 s aufgezeichnet und die erstarrten Dendriten seg-
Das Wachstum von Keimen entlang einer gekühlten Ko- mentiert. Die bevorzugten Wachstumsrichtungen der ver-
killenwand ist verbunden mit verstärkter Kühlung ent- zweigten Aluminium-Kristalle sind die Würfelkanten des
lang der festen Kristalle. Die Kristalle wachsen in die kubisch flächenzentrierten Kristallgitters (Abb. 15.22b).
unterkühlte Schmelze entlang bevorzugter kristallogra- Die mittlere Temperatur der flüssigen und der festen Pha-
fischer Richtungen. Dies führt zu einer dendritischen se bleibt auf der Schmelztemperatur bis die Erstarrung
Gestalt der Kristalle, wie es in Abb. 16.3a schematisch dar- das ganze Volumen erfasst hat. Abbildung 16.3c zeigt die-
gestellt ist. Abbildung 16.3b zeigt eine mit Synchrotron- se Haltetemperatur nach der zur Bildung stabiler Keime
strahlung während der Erstarrung von Aluminium auf- notwendigen Unterkühlung.
16.1 Die Erstarrung wichtiger Legierungssysteme 531

Schmelze
587–590°C (transparent)

Festkörper (Dendrite)

hlung
Unterkü
Wärmeabfuhr
Wärmeabfuhr Al-Dendriten
µm
685
b
Wachstums- Treal
Temperatur

mittlere Temperatur
richtung

Werkstoffkunde
flüssig flüssig
fest TKeimnähe
Haltetemperatur
Ts
ΔT
Unter- fest
kühlung
unterkühlte Schmelze

kristalliner Abstand von der Grenz- Erstarrungs- Zeit t


Schmelze
a Festkörper fläche fest/flüssig c periode

Abb. 16.3 Dendritische Erstarrung a entlang einer gekühlten Wand, von der Kristallkeime in kristallografischen Richtungen in die unterkühlte Schmelzebereiche
wachsen; b Tomografie der Aluminium-Dendriten (blau ) in einer Aluminium-Schmelze (transparent ) bei etwa 590 °C; c zeitlicher Verlauf der mittleren Temperatur
mit Unterkühlung und Haltetemperatur während der Erstarrung

Die Erstarrung einer Schmelze erfolgt analog zum Ge- 103


frieren des Wassers. Ausgehend von einzelnen Punkten Strangguss
Kupfer
(Keimen) wachsen ab dem Gefrierpunkt Eiskristalle in be-
102
vorzugten Richtungen (z. B. hexagonale Strukturen der Aluminium
Dendritenarmabstand in µm

Eisblumen am Fenster). Folgende Beobachtungen sind 1


10
auch auf Metallschmelzen übertragbar:
Vakuum
1. Der Erstarrungsbeginn braucht Unterkühlung: Kris- 100
Maraging Stahl Gas
tallkeime entstehen unterhalb des Gefrierpunktes Wasser
–1
(Schmelzpunkt) und werden innerhalb einer Inkuba- 10 rostfreier Stahl Splat-
tionszeit wachstumsfähig (überkritische Keimgröße). Abschrecken
2. Die Erstarrung braucht Zeit: Nach der Inkubations- 10–2
zeit beginnt das Kristallwachstum in der verbleiben- 10–3 100 103 106 109
den Flüssigkeit am Gefrierpunkt (Haltetemperatur), Abkühlgeschwindigkeit in K/s
bis das ganze Volumen erstarrt ist (eine Lache erstarrt
Abb. 16.4 Abhängigkeit der Dendritenarmabstände (Maß für die Korngröße)
von der kälteren Oberfläche weg).
von der Abkühlgeschwindigkeit der Schmelze: gekühlte Erstarrung makroskopi-
3. Die Anzahl der Kristalle pro Fläche wird kleiner, wenn scher Querschnitte (Strangguss), Schmelze versprüht in Vakuum, Gas, Wasser
sie langsam erstarren, dafür werden sie größer (Eisblu- und auf gekühlte Kupferwalzen (Splat-Abschrecken)
men); andererseits je größer die Unterkühlung, umso
höher ist die Keimdichte.
4. Die Kristalle wachsen in bestimmten kristallografi-
schen Richtungen rascher als in anderen, vor allem Die Abkühlgeschwindigkeit von Metallen kann über
wenn sie langsam erstarren (sternförmige Schneeflo- mehrere Größenordnungen variiert werden. Mit steigen-
cken, Dendriten). der Abkühlgeschwindigkeit wird die Unterkühlung grö-
5. Auch das Wiederaufschmelzen braucht Zeit. Selbst ßer. Mit steigender Unterkühlung nimmt die kritische
wenn die Umgebungstemperatur weit über dem Ge- Keimgröße ab, was nicht nur die Keimdichte erhöht
frierpunkt ist, bleibt die Temperatur des Wasser-Eis- (Abb. 16.1e), sondern auch die Abstände zwischen den
Gemisches am Gefrierpunkt (Haltetemperatur), bis al- Dendritenarmen vermindert (Abb. 16.4). Stranggegosse-
les Eis geschmolzen ist (Eiswürfel in einem Getränk nes Vormaterial (Abschn. 30.2) erstarrt mit Dendritenar-
schmelzen wegen ihrer geringen Wärmeleitung lang- mabständen zwischen 10 µm und 1 mm. In Wasser ab-
sam). geschreckte Schmelzestrahlen zeigen feine Dendriten in
532 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

Abständen zwischen 0,1 und 10 µm. Auf gekühlten Kup- Erstarrung real nicht im Gleichgewicht erfolgt, weisen
ferwalzen gesprühte Schmelze erreicht Korngrößen unter die Kristallkörner Seigerungen auf. Die Entstehung der
1 µm, sogar nanoskopische Korngrößen (unter 0,1 µm) Konzentrationsgradienten wird im Bonusmaterial Erstar-
sind erzielbar. Komplexe Legierungen können mit dem rungstechnik in Abb. 16.2 erläutert. Derartige Mikros-
Splat-Abschreckverfahren amorph erstarren, wenn die eigerungen bewirken Konzentrationsgradienten in den
Kristallkeimbildung durch Überschreiten der kritischen Körnern und dazwischen niedrig schmelzende Bereiche
Abkühlgeschwindigkeit unterdrückt wird (Abb. 16.2b). der erstarrten Restschmelze (Beispielbox: „Seigerungen“).
Gegossenes Vormaterial und dicke Gussteile erstarren
Die Erstarrung in einer Schmelze beginnt an he- ausgehend von der gekühlten Oberfläche. Das Strang-
terogenen Keimen (Partikeln, Kokillenwand) oder gussverfahren wird dadurch möglich, dass sich am Um-
über homogene Keime bei Unterkühlung, die in- fang eine feste Randschale bildet, in der die Schmelze
eingeschlossen ist und relativ langsam erstarrt. Im Quer-
Werkstoffkunde

nerhalb der Inkubationszeit zu wachstumsfähigen


Kristallkeimen werden. Die Keimdichte bestimmt schnitt der Formate besteht ein radialer Temperaturgradi-
die Korngröße im Gusszustand. Bei fortschreitender ent, der langsam durch Wärmeleitung ausgeglichen wird.
Wärmeabfuhr bleibt die Temperatur konstant (Hal- Mit den Temperaturunterschieden sind unterschiedliche
tetemperatur, Abb. 16.3c), während die Kristalle in Liquidus- und Soliduskonzentrationen verbunden. Für
der Schmelze wachsen. Die Temperatur sinkt nach das in der Kupfer-Nickel-System (Bonusmaterial zu Ab-
einer Haltezeit, sobald die gesamte Schmelze erstarrt schn. 16.1: Erstarrungskinetik, Abb. 16.2) ergibt dies, dass
ist. eine Randschale gemittelt über die Mikroseigerungen mit
einer mittleren Nickel-Konzentration erstarrt, die über
der Ausgangskonzentration liegt. Im Inneren verarmt
die Schmelze an Nickel in Richtung der fortschreiten-
Frage 16.1
den Erstarrungsfront, sodass auch die Liquidus- und die
Wodurch kann die Korngröße einer neuen Phase bei de- Solidustemperatur sinken. Analog zur Mikroseigerung
ren Bildung verringert werden? erstarrt die Schmelze zum Zentrum des Gussformates
hin mit abnehmendem Nickel-Gehalt. Derartige über den
Gussquerschnitt auftretenden Konzentrationsgradienten
werden Makroseigerung bezeichnet.
Legierungsschmelzen erstarren zwischen
Liquidus- und Solidustemperatur Der Gusszustand von Legierungen ist an folgen-
den Gefügemerkmalen zu erkennen: dendritische
Strukturen verbunden mit Mikroseigerungen in den
Die Erstarrung von Legierungsschmelzen weist die Be- interdendritischen Bereichen. Über den Querschnitt
sonderheit auf, dass sich die Konzentrationen der Schmel- des Gussteiles ergibt sich wegen des Temperaturgra-
ze und des erstarrten Gefüges während der Abkühlung dienten bei der Erstarrung eine Makroseigerung mit
verändern. Die Schmelzpunkte der Reinstoffe werden den bei der niedrigsten Temperatur schmelzenden
bei Legierungen zu Schmelzintervallen. Bei Zweistoffsys- Phasen des Systems im Kern.
temen wird in thermodynamischem Gleichgewicht (bei
langsamer Abkühlung oder Erwärmung, wobei ausrei-
chend Zeit zur Diffusion zum Konzentrationsausgleich
und zum Temperaturausgleich besteht) die flüssige Le- Frage 16.2
gierung durch die Temperatur entlang der Liquiduslinie, Welche Grenzen geben die Liquiduslinie bzw. die Solidus-
der feste Zustand entlang der Soliduslinie begrenzt. Zwi- linie in einem Zweistoffsystem an?
schen Solidus- und Liquiduslinie koexistieren feste und
flüssige Phase im Gleichgewicht mit den Zusammenset-
zungen entsprechend der Schnittpunkte der Temperatur- Ein Ausgleich der Konzentration kann mit Homogeni-
linie mit der Solidus-und Liquiduslinie. Beispiele für das sierungsglühungen (Abschn. 16.4) erreicht werden, de-
Lesen von Zustands- bzw. Phasendiagrammen sind im ren Temperatur unter der Liquidustemperatur der nied-
Bonusmaterial zu Abschn. 16.1 „Erstarrungskinetik“ aus- rigstschmelzenden Phasen bleiben muss. Die Glühdauer
geführt, wo in Abb. 16.1 die Erstarrung der lückenlos soll lang genug sein, damit der Konzentrationsausgleich
mischbaren Cu–Ni-Legierung im Gleichgewichtszustand durch Diffusion erfolgen kann. Die Diffusionslänge muss
beschrieben ist. Die Phasengleichgewichte können in ex- mindestens dem halben Durchmesser des Gussformates
perimentell ermittelten Zustandsdiagrammen dargestellt entsprechen, um Makroseigerungen auszugleichen. Die
werden, die die Phasengrenzen in Abhängigkeit von der Glühdauer darf aber nicht zu lange sein, um sekundäres
Konzentration und der Temperatur darstellen. Da die Kornwachstum zu vermeiden (Abschn. 15.12). Bei Stählen
16.2 Aluminium-Legierungen mit Eutektikum 533

Beispiel: Seigerungen in Stranggussbrammen für Baustahl

Stahl-Stranggussbrammen kühlen wegen ihres großen größere Mengen an Karbiden in Perlitbereichen aus
Querschnittes (1,5–2,5 m × 0,2–0,5 m) trotz Wasser- (Abb. 16.5a).
kühlung relativ langsam ab. Dabei kommt es zu Mi-
kroseigerungen des Elementes Mangan (Abb. 16.5b). Die Makroseigerung bewirkt bei Stählen ebenfalls
Mangan erweitert den Bereich der Austenitphase Konzentrationsgradienten der Substitutionselemente,
zu niedrigeren Temperaturen, sodass die interdendri- von denen viele bevorzugt Karbide bilden. Beim Wal-
tischen Bereiche mit erhöhtem Mangan-Gehalt noch zen der Brammen verteilen sich diese Karbide in Walz-
austenitisch sind (Abb. 16.26a), wenn der übrige Korn- richtung und bilden flächige Karbidanhäufungen in
bereich umgewandelt ist. Die Löslichkeit von Koh- den Blechen. Beim raschen Abkühlen aus der Auste-

Werkstoffkunde
lenstoff in Austenit ist wesentlich höher als in Fer- nitphase wandeln sich diese Bereich in Martensit um
rit, weshalb in den manganreichen austenitischen Be- (Abschn. 16.6). Die Folge der Mangan-Seigerung zeigt
reichen zwischen den Dendriten auch der Kohlen- sich in Längsschliffen als Karbid- bzw. Perlitzeilen oder
stoffgehalt hoch ist. Bei der Umwandlung dieser Sei- kohlenstoffreiche Martensitstreifen (Bonusmaterial zu
gerungsbereiche in Ferrit (Abb. 16.8) scheiden sich Abschn. 15.6: Festigkeit unter quasi-statischer Belas-
tung, Korngefüge, Abb. 15.7b).

> 0,80 > 1,86


0,72 1,79
0,64 1,72
0,56 1,65
0,48 1,58
0.40 1,51
0,32 1,44
0,24 1,37
0,16 1,30
0,08 1,23
0,00 <1,16
%C % Mn

a 1 mm b 1 mm

Abb. 16.5 Ergebnisse der Mikroanalyse an einer Stahlbramme mit 0,14 % Kohlenstoff und 1,4 % Mangan in einem Querschliff. a dendritische Kohlenstoff-
verteilung mit Maxima bis 0,8 % C (dunkle perlitische Gefügebereiche), b parallele Mangan-Seigerung desselben Bereiches mit Maxima bis 1,9 % Mangan

wird auf eigene Homogenisierungsglühungen verzichtet, und Zusammensetzung), indem gleichzeitig zwei feste
da der Energieaufwand für die hohen Glühtemperaturen Phasen entstehen. Aluminium-Silizium-Legierungen ge-
relativ groß ist und die Gefahr der Grobkornbildung be- ben ein Beispiel für ein eutektisches Zustandsdiagramm
steht. (Abb. 16.7a). Ts (Al) = 660 ◦ C, Ts (Si) = 1410 ◦ C, die eu-
tektische Temperatur Te = 577 ◦ C. In der Schmelze sind
Aluminium und Silizium lückenlos mischbar, aber im fes-
ten Zustand besteht eine Mischbarkeitslücke, da sie in
16.2 Aluminium-Legierungen unterschiedlichen Kristallstrukturen erstarren. Die Liqui-
mit Eutektikum duslinie der Zweiphasenbereiche α-Aluminium-Schmel-
ze und Silizium-Schmelze trifft im eutektischen Punkt
(12 % Si, 577 °C) die Soliduslinie, wo die Restschmelze eu-
Viele Legierungen erstarren bei bestimmter Zusammen- tektisch erstarrt:
setzung bei einem Schmelzpunkt, der niedriger ist als der
beider Komponenten. Im Bonusmaterial zu Abschn. 16.1: S → α-Al + Si.
Eutektische Legierungen, ist in Abb. 16.3 ein Zustandsdia-
gramm eines Zweistoffsystems dargestellt, dessen Kom- Die eutektische Temperatur Te erstreckt sich als Solidus-
ponenten im festen nicht löslich sind. Bei dieser Erstar- linie zwischen dem Gebiet des α-Aluminium-Mischkris-
rung entsteht ein eutektisches (aus dem Griechischen: talls und Silizium (die Löslichkeit von Aluminium in Sili-
gut schmelzend) Gefüge. Eine Legierungsschmelze er- zium ist vernachlässigbar). Bei der untereutektischen Zu-
starrt im eutektischen Punkt (bei bestimmter Temperatur sammensetzung Aluminium – 7 % Silizium beginnt die Er-
534 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

Beispiel: Verschiebungen von Temperatur und Zusammensetzung

Verschiebung der eutektischen Temperatur und der gesetz 95 % α-Aluminium mit 3,5 % Kupfer gelöst
Zusammensetzungen durch Seigerungen und Unter- und 5 % Restschmelze der eutektischen Zusammen-
kühlung an Beispielen einer Stranggussbramme einer setzung mit 33,2 % Kupfer. Die Restschmelze sam-
Aluminium-Kupfer-Knetlegierung. melt sich in den interdendritischen Bereichen und
erstarrt als α + θ-Eutektikum, wie es das Schliffbild
Bei Legierungen mit eutektischer Erstarrung bewir- in Abb. 16.6a zeigt. Da das Eutektikum wesentlich
ken Mikro- und Makroseigerungen, dass eutektische kupferreicher ist als der α-Aluminium-Mischkristall,
Strukturen in den interdendritischen Bereichen er- kann es in Röntgen-Computertomografie segmentiert
starren und dass die Menge eutektischer Strukturen werden. Abbildung 16.6c zeigt das dreidimensionale
Werkstoffkunde

zum Kern eines Gussformates hin zunimmt. Am Bei- Netzwerk des Eutektikums (ohne die θ-Phase zu sepa-
spiel einer Aluminium–Kupfer-Knetlegierung mit et- rieren) in der gleichen Vergrößerung wie das Schliff-
wa 5 Gew.-% Kupfer (AW2014) wird in Abb. 16.6b die bild. Derartige eutektische Seigerungen in Knetlegie-
Abweichung vom Gleichgewichtszustandsdiagramm rungen müssen durch Homogenisierungsglühungen
für das Zweistoffsystem Aluminium und intermetalli- unter der eutektischen Temperatur aufgelöst werden,
sche Phase θ (Al2 Cu) dargestellt. Im Gleichgewichts- damit die Legierung walz-, schmied- und strangpress-
zustandsdiagramm ist Kupfer im α-Aluminium bei bar wird.
der eutektischen Temperatur bis 5,65 % als Substitu-
tionselement löslich. Die Soliduslinie verschiebt sich Analoge eutektische Seigerungen sind in Schliffbil-
wegen der Seigerungen während der Erstarrung zu dern der Gusslegierung AZ91 (Bonusmaterial zu Ab-
niedrigerer Kupfer-Löslichkeit (analog zu Abb. 16.2 schn. 15.6, Korngefüge, Abb. 15.8b) zu erkennen. Das
im Bonusmaterial Erstarrungskinetik zu Abschn. 16.2). Gleichgewichtszustandsdiagramm für das Zweistoff-
Im Beispiel in Abb. 16.6b sinkt die maximale Lös- system Aluminium-Magnesium ist im Bonusmaterial
lichkeit von Kupfer bis 3,5 % bei 548 °C. Dies ergibt zu Abschn. 16.2, Eutektische Legierungen, Abb. 16.4,
bei der eutektischen Temperatur gemäß dem Hebel- dargestellt.

700
660 °C

Cu in Al-Schmelze L gelöst
Temperatur in °C

600 Restschmelze
5%
α+L
95% α θ+L
5,65 548 °C 33,2 52,5
500 α+θ
5% Eutektikum
α
Eutektikum
400
α+θ
Zweiphasengebiet
(Mischungslücke)
300 c
0,1 mm

200
0,1 mm 0 5 10 20 30 40 50 θ
a b Al Cu in Gew.-% Al2Cu

Abb. 16.6 Zweistoffsystem Aluminium-Al2 Cu (θ) in (b) mit einer Verschiebung der Löslichkeitsgrenze im Ungleichgewicht der Seigerungen (gelb) unter
die Nennzusammensetzung von Al-5 % Cu; resultierende interdendritische Seigerungen der eutektischen Zusammensetzung sind im Schliffbild (a) und 3-
dimensional in einer Röntgen-Tomografie (α-Al transparent, Eutektikum blau) gleicher Vergrößerung in (c) dargestellt
16.2 Aluminium-Legierungen mit Eutektikum 535

Abb. 16.7 a Zweistoffsystem a 1500


1410
Aluminium-Silizium mit eutek-
tischem Punkt bei 577 °C und Si in Al-Schmelze L gelöst (lückenlos mischbar)
12 Gew.-% Silizium; Erstarrungs-
Si

Temperatur in °C
pfad der untereutektischen AlSi7- L
slinie
Legierung (blau ), der übereutek- u
uid Si
tischen AlSi17-Legierung (gelb ) unter- übereutektisch Liq
und der eutektischen AlSi12- 1000
Eutektikum
12
Legierung (rot ) mit zugehörigen AlSi12 µm
rasterelektronenmikroskopischen α+L L + Si 21
Gefügebildern gleicher Vergrö- µm
660 m
ßerung; b Eutektikum zwischen
α-Al
577 °C e 6µ
α-Aluminium-Dendriten in AlSi7; 1,6 12 eutektische Soliduslinie
c AlSi12-Eutektikum, d primäre 500 99,8% Si

Werkstoffkunde
Silizium-Kristalle in Eutektikum α-Al
in AlSi17; e rasterelektronen-
mikroskopische 3D-Darstellung
eines Volumenelementes mit ver-
zweigten, eutektischen Silizium- 50 µm
Lamellen (gelb, Al transparent) b c d
0
7 12 17
Al 40 60 80 Si
AlSi7 AlSi17 Silizium in Gew.-%

starrung beim Erreichen der Liquiduslinie bei 625 °C mit Silizium-Kristalle wachsen in der Schmelze mit sinken-
Keimen von α-Aluminium mit circa 1 % substitutionell ge- der Temperatur, wobei in der übereutektischen Schmel-
löstem Silizium gemäß der Soliduslinie. Wie in Abb. 16.7 ze der Silizium-Gehalt abnimmt. Sobald der eutektische
beschrieben, nimmt der Silizium-Gehalt im AlSi7-System Punkt erreicht wird, erstarrt die Restschmelze (circa (100 −
sowohl des Mischkristalls als auch der Schmelze mit sin- 17) : (100 − 12) ergibt 94 % Schmelze nach dem Hebelge-
kender Temperatur zu, wobei der Anteil der Schmelze setz) eutektisch. Das Gefüge der übereutektischen Legie-
gemäß des Hebelgesetzes abnimmt. Sobald die Solidusli- rung Aluminium – 17 % Silizium enthält somit 6 % primär
nie im eutektischen Punkt erreicht wird, erstarrt die Rest- erstarrte Silizium-Kristalle umgeben von AlSi12-Eutekti-
schmelze (circa 50 % mit 12 % Si) eutektisch zwischen den kum (Abb. 16.10d).
bereits erstarrten α-Aluminium-Dendriten. Das Schliffbild
in Abb. 16.7b zeigt ein fein strukturiertes zweiphasiges Frage 16.3
Gefüge aus Silizium-Lamellen mit dazwischen liegendem
Wie ist ein eutektisches Gefüge im Schliffbild erkennbar,
α-Aluminium, das die vorher erstarrten α-Aluminium-
und woraus besteht es?
Dendritenarme umgibt. Das eutektische Gefüge ist fein-
strukturiert, da α-Aluminium-Keime (Mischkristalle mit
1,6 % Silizium) und Silizium-Keime gleichzeitig entste-
hen. Das korallenartige Wachstum des Siliziums erklärt Im eutektischen Punkt eines Zustandsdiagramms er-
sich aus den kurzen Diffusionswegen zwischen den Ver- starrt die Schmelze in einer bestimmten Zusammen-
zweigungen. Abbildung 16.7e zeigt die eutektische Silizi- setzung bei einer definierten Temperatur in zwei
um-Struktur in einer dreidimensionalen Rekonstruktion ineinander vernetzten, festen Phasen (Eutektikum).
schichtweiser, rasterelektronenmikroskopischer Aufnah- Dieser eutektische Punkt sowie die Zusammenset-
men. Im Sekundärelektronenbild einer geätzten Oberflä- zung der Phasen können sich durch Seigerungs- und
che erscheint das Silizium nadelig (Abb. 16.7b,c). Gemäß Unterkühlungseffekte zu geringeren Mischkristall-
dem eutektischen Punkt beträgt die mittlere Zusammen- löslichkeiten und niedrigerer Temperatur verschie-
setzung des Eutektikums α-Aluminium – 12 % Silizium, ben (siehe Beispiel: Verschiebungen von Temperatur
das gemäß Hebelgesetz aus 10,6 Gew.-% Si-Lamellen ein- und Zusammensetzung).
gebettet in 89,4 Gew.-% α-Aluminium, in dem 1,6 % Si ge-
löst sind, besteht. Untereutektische Legierungen enthalten
dendritisch erstarrte Mischkristalle und in den interden- Motor- und Kolbenlegierungen des Systems Aluminium-
dritischen Bereichen zuletzt erstarrtes Eutektikum. Abbil- Silizium müssen warmfest sein. Dies wird durch die ver-
dung 16.7c zeigt das Schliffbild einer eutektisch erstarr- netzte, eutektische Silizium-Struktur teilweise erreicht.
ten Zusammensetzung (Al-12% Si), das keine α-Alumini- Die dreidimensionale Vernetzung der warmfesten Phasen
um-Dendritenarme enthält. Im übereutektischen Zusam- wird durch Zugabe von Nickel, Kupfer und Magnesi-
mensetzungsbereich (über 12 % Silizium) beginnt die Er- um verbessert, die intermetallische Aluminide bilden, die
starrung an der Liquiduslinie mit Silizium-Keimen. Die das Silizium-Netzwerk verstärken. Die Vernetzung dieser
536 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

Abb. 16.8 Eisen-Kohlenstoff- δ+ L Grafit


Gleichgewichtszustandsdiagramm 1500 Liqui C in Fe-Schmelze gelöst sublimiert
mit blau markiertem Kohlen- dus
δ L > 3500 °C

Temperatur in °C
stoff-Konzentrationsbereich für δ+ γ S eutektische
Stahl (entspricht dem γ-Bereich) o lid Erstarrung L + Grafit
und rötlich markiertem Gussei- us γ+ L
senbereich um den eutektischen Mischkristall L + Fe3C Grafit
Punkt (4,3 % C bei 1150 °C), wo kfz Fe + 2,1 4,3 1150 °C
interstitieller C γ + Grafit

e
neben Austenit entweder Zemen-

nz
1000 = Austenit γ

gre
tit (Ledeburit) oder Grafit (rot ) Ledeburit

its
eutektisch erstarren. Bei 723 °C 910 γ + Fe3C

ke
α+ γ

ch
wandelt sich Austenit in α-Ferrit

sli
Mischkristall


mit geringer Kohlenstoff-Löslich- krz Fe +

C-
keit um, sodass sich Zementit interstitieller C 0,02 0,8 723 °C 6,7
Werkstoffkunde

ausscheidet = Ferrit α
α
500

α + Fe3C

6,7 Gew.-% C
Stahl Gusseisen = Fe3C
Zementit
0
Fe 1 2 3 4 5 6
Kohlenstoff in Gew.-%

Phasen bewirkt die Erhöhung der Warmfestigkeit analog Stähle enthalten weniger als 2,1 Gew.-%
zu Verbundwerkstoffen mit interpenetrierenden Kompo- Kohlenstoff und sind gut umformbar
nenten.

Als Stähle werden Eisen-Basislegierungen (Hauptlegie-


16.3 Das Eisen-Kohlenstoff- rungselement Eisen) bezeichnet, die auch andere substitu-
tionelle Legierungselemente enthalten können, aber ma-
Zustandsdiagramm für Stähle ximal 2,1 % Kohlenstoff. Manche hochlegierte Stahlsor-
und Gusseisen ten werden für Gussteile eingesetzt (Stahlguss), aber ur-
sprünglich wurden Stähle nur als Knetlegierungen durch
Umformen (Kap. 30) weiterverarbeitet. In Abb. 16.8 ist
Das Legierungssystem Eisen-Kohlenstoff weist im ther- das Eisen-Kohlenstoff-Zustandsdiagramm dargestellt, in
modynamischen Gleichgewicht folgende Besonderheiten dem der Stahlbereich markiert ist. Bis etwa 0,7 % Koh-
auf: lenstoff erstarrt bei langsamer Abkühlung zuerst kubisch
raumzentrierter δ-Ferrit, der sich bei weiterer Abkühlung
1. Reines Eisen nimmt unterschiedliche Kristallstruk- in kubisch flächenzentrierten Austenit (γ) umwandelt.
turen an; Eisen ist allotrop: kubisch raumzentriert Die Schmelze mit 0,7 % bis circa 4,3 % Kohlenstoff kristal-
vom Schmelzpunkt bei 1540 °C bis 1390 °C und unter lisiert unter der Liquiduslinie als kubisch flächenzentrier-
910 °C, zwischen 910 °C und 1390 °C tritt reines Ei- ter Austenit gemäß der Soliduslinie zwischen 0,2 % Koh-
sen in kubisch flächenzentrierter Struktur auf (diese lenstoff (1490 °C) und 2,1 % Kohlenstoff (1150 °C).
Temperaturen sind auf 10 °C gerundet, da sie von den
Versuchsbedingungen abhängen). Die Maximalkonzentration von interstiell gelöstem Koh-
2. Das Legierungselement Kohlenstoff beeinflusst die Ei- lenstoff im Austenit begrenzt den Kohlenstoff-Konzen-
genschaft sehr stark, sowohl als interstitiell gelöstes trationsbereich für Stähle, da diese im kubisch flächen-
Element in beiden Strukturmodifikationen, wie auch zentrierten Zustand gut warmumformbar (Kap. 30) sind.
gebunden als Zementit (keramische Phase Fe3 C), der Unterhalb 1150 °C sinkt die Löslichkeit von Kohlenstoff
Ausscheidungen, eutektoide oder eutektische Gefüge im Austenit (Abb. 16.10b). Für Kohlenstoff-Konzentra-
bildet. tionen zwischen 0,8 und 2,1 % scheidet sich während
3. Je nach Gießbedingungen kann Kohlenstoff über der Abkühlung des Austenits bis 723 °C Zementit (Fe3 C)
2,1 Gew.-% in einem Eutektikum als Grafit erstarren aus. Unter 0,8 % Kohlenstoff beginnt unter 910 °C die
oder in Zementit gebunden werden (Abb. 16.8). Umwandlung von kubisch flächenzentriertem γ in ku-
16.3 Das Eisen-Kohlenstoff-Zustandsdiagramm für Stähle und Gusseisen 537

Abb. 16.9 Perlitbildung aus Fe3C|α |Fe3C Fe3C α


einem γ-Korn; a Unter der eu-
tektoiden Temperatur kommt es
nahe der Korngrenzen zu b Koh- c
γ γ γ Perlitlamellen
lenstoff-Anreicherungen; c dort
entstehen benachbarte Keime
C in Austenit C-Anhäufung an Keimbildung Lamellen wachsen
für α und Fe3 C, d die parallel
gelöst Korngrenzen von Fe3C und α durch C-Diffusion und
lamellenförmig wachsen
a b c d Umwandlung

Abb. 16.10 Gefüge von 1150 °C


Stählen gemäß Gleichge- E
wichtszustandsdiagramm mit
γ γ γ

Werkstoffkunde
Gefügecharekteristika; a unter- 1000

Temperatur in °C
eutektoid; b übereutektoid in γ G
910 γ
den verschiedenen Phasenge- α+γ
bieten während der Abkühlung; α Fe3C
γ A3 A3 γ
Schliffbilder von Stählen. c C15
γ 723 Ae
mit Perlitinseln im untereutektoi- P S γ
den Ferrit; d C80 mit lamellarem α
γ ≤ 0,02% C γ
Gefüge aus Ferrit und Zementit
(Perlit), e C135 mit übereutek- 500
toidem Sekundärzementit an
ursprünglichen Austenitkorngren- Fe3C
zen umgibt Perlit
unter-
übereutektoide
eutektoide
Stähle
Stähle
a Stähle Perlit
RT
b 0,15 0,5 0,8 1 1,35 2,1 Ni
Fe3C
C in Gew.-%

c 50 µm d 50 µm e 50 µm

bisch raumzentrierten α-Ferrit (Abb. 16.10a). Die maxi- stoff verdrängt und reichert sich zwischen den α-Keimen
male Kohlenstoff-Löslichkeit in α beträgt nur 0,02 % bei an, wo Karbide parallel wachsen. α und Fe3 C wachsen
723 °C, sodass der Kohlenstoffgehalt in γ während der als parallele Lamellen in das Austenitkorn hinein. Die-
Abkühlung bis 0,8 % steigt. Bei 0,8 % Kohlenstoff en- ses eutektoide Gefüge wird als Perlit bezeichnet (10 %
det die Beständigkeit von Austenit bei 723 °C. In diesem Zementit in α). Stähle mit mehr als 0,02 % Kohlenstoff
Punkt (Punkt S in Abb. 16.10b) zerfällt der vorhandene enthalten im Gleichgewichtszustand Perlit in entspre-
Austenit in α und Fe3 C. Diese Umwandlung ist der eutek- chenden Mengen (Abb. 16.10). Ein Stahl mit 0,8 % Kohlen-
tischen Erstarrung ähnlich, aber erfolgt zwischen festen stoff sollte gemäß Abb. 16.8 zu 100 % aus Perlit bestehen
Phasen: γ → α + Fe3 C. Sie wird deshalb als eutektoide (Abb. 16.10d).
Umwandlung bezeichnet. Neben der Änderung der kris-
tallografischen Struktur der Phasen muss der Kohlenstoff
aus dem Eisen-Gitter herausdiffundieren und Karbide Frage 16.4
bilden, sodass das Wachstum der Phasen entsprechende Worin besteht der grundsätzliche Unterschied zwischen
Zeit erfordert. Abbildung 16.9 skizziert diese Gleichge- Stahl und Gusseisen?
wichtsumwandlung. Wachstumsfähige Keime entstehen Welche Unterschiede resultieren daraus für die Formge-
an den Korngrenzen, wo die Diffusion am raschesten bung?
abläuft. Bei der Umwandlung von γ in α wird der Kohlen-
538 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

Gefügeunterschiede zwischen perlitischen, unter 2,1 % ist, und sie als Formteile vergossen werden,
werden diese als Stahlguss (GS) bezeichnet.
unter- und übereutektoiden Stählen
Frage 16.5
Aus welchen Gefügebestandteilen bestehen untereutek-
Die Gefügeunterschiede der im thermodynamischen toide, eutektoide und übereutektoide Stähle bei Um-
Gleichgewicht aus dem Austenitzustand abgekühlten wandlung im Gleichgewichtszustand?
Stähle beruhen gemäß Abb. 16.8 und 16.10 darauf, ob
der Kohlenstoffgehalt unter 0,8 % liegt (untereutektoide
Stähle), 0,8 % beträgt (perlitische Stähle) oder zwischen
0,8 und 2,1 % liegt (übereutektoide Stähle). Untereutek- Bei Eisengusswerkstoffen werden weißes
toide Stähle wandeln sich über das Zweiphasengebiet
α + γ zwischen der Minimalkonzentration an Kohlen- Gusseisen, Grauguss und Temperguss
Werkstoffkunde

stoff in Austenit (A3 = Linie G–S) und der Maximal- unterschieden


konzentration an Kohlenstoff in Ferrit (A1 = Linie G–P)
um. Während der Abkühlung beginnt die Umwandlung Eisenlegierungen mit mehr als 2,1 % Kohlenstoff (prak-
in Ferrit an den Austenitkorngrenzen. Die Kohlenstoff- tisch über 2,5 % Kohlenstoff) sind nach dem Guss nicht
Konzentration steigt im Austenit, bis bei 0,8 % Koh- mehr umformbar und werden daher als Formteile vergos-
lenstoff der eutektoide Punkt erreicht wird. Für die in sen. In Abb. 16.8 ist der Bereich des Kohlenstoffgehaltes
Abb. 16.10 dargestellte Kohlenstoff-Konzentration von für die gebräuchlichsten Eisengusslegierungen um den
0,15 % beginnt die Umwandlung bei circa 850 °C. Ausge- eutektischen Punkt bei 4,3 % Kohlenstoff bei 1150 °C mar-
hend von den Korngrenzen des Austenitgefüges wachsen kiert. Die Erstarrungsvorgänge unter Gleichgewichtsbe-
Ferritkörner (skizziert in Abb. 16.9), die bis zur eutek- dingungen sind denen im Bonusmaterial zu Abschn. 16.1:
toiden Temperatur Ae = 723 °C (Linie P–S) etwa 38 % Erstarrungskinetik, Abb. 16.1 bzw. dem Al-Si-System in
einnehmen (gemäß Hebelgesetz). 62 % Austenit zerfal- Abb. 16.7 im Buch beschriebenen ähnlich. Untereutek-
len eutektoid in Ferrit- und Zementitlamellen und bil- tische Legierungen erstarren während des Abkühlens
den Perlitinseln (Abb. 16.10c). Der Stahl C15 ist gut entlang der Liquiduslinie mit dendritischen Austenitkris-
umformbar und in der Randschicht durch Aufkohlung tallen, deren Zusammensetzung durch die Soliduslinie
härtbar (Abschn. 16.6). Austenit mit 0,8 % Kohlenstoff vorgegeben ist.
zerfällt beim Erreichen von 723 °C eutektoid in Perlit,
wie Abbildung 16.10d zeigt. Die unterschiedlichen La- Bei 1150 °C wird die eutektische Temperatur erreicht, bei
mellenabstände sind eine Folge der unterschiedlichen der die Restschmelze eutektisch erstarrt. Bei der eutek-
Orientierungen der ursprünglichen Austenitkörner. Per- tischen Erstarrung kristallisieren Austenit und entweder
lit besteht aus circa 12 % Zementit (Fe3 C) mit dazwischen Zementit oder Grafit. Das Eutektikum mit Austenit und
liegendem Ferrit, der maximal 0,02 % C enthält. Per- nahezu 49 Gew.-% Zementit wird als Ledeburit bezeich-
litische Stähle werden als relativ zähe Werkzeugstähle net. Zementit enthält über 93 Gew.-% Eisen, ist sehr sprö-
eingesetzt. de und im Auflichtmikroskop als weiße Phase erkennbar
(Abb. 16.11a). Gusseisen mit Ledeburit wird als weißes
Gusseisen bezeichnet. Der unter 1150 °C vorliegende Aus-
Übereutektoider Stahl beginnt an der maximalen Kohlen-
tenit verhält sich bei der weiteren Abkühlung wie übereu-
stoff-Löslichkeit des Austenit (Linie E–S in Abb. 16.10)
tektoider Stahl: Sekundärzementit wird ausgeschieden, bis
an den Korngrenzen Zementit gemäß Abb. 16.10b zu bil-
der restliche Austenit bei 723 °C in Perlit zerfällt. Weißes
den. Die in dem Temperaturbereich zwischen 1150 °C und
Gusseisen mit 4 % Kohlenstoff enthält nach der Abkühlung
723 °C in der Austenitphase gebildeten Karbide werden
unter 723 °C in thermodynamischem Gleichgewicht insge-
als Sekundärzementit bezeichnet. Für die in Abb. 16.10
samt 60 % Fe3 C im Ledeburit (41 %), als Sekundärzemen-
dargestellte Kohlenstoff-Konzentration von 1,35 % be-
tit (13 %) und im Perlit (6 %), jeweils in Ferrit eingebettet.
ginnt die Zementitbildung bei circa 970 °C. Sobald die
eutektoide Temperatur erreicht wird, sind in C135-Stahl Übereutektisches Gusseisen enthält aus der Schmelze er-
Fe3 C Korngrenzensäume von insgesamt 9 % gebildet wor- starrten, primären Zementit oder Grafit umgeben von dem
den. Der Kohlenstoff-Gehalt in den Austenitkörner ist jeweiligen Eutektikum (Ledeburit oder Austenit mit Gra-
dabei auf 0,8 % gesunken. Beim Unterschreiten von 723 °C fit, siehe Abb. 16.16).
zerfällt dieser Austenit in Perlit, der von Zementit um- Bei spezieller Schmelzebehandlung mit Magnesium-Zu-
säumt ist, wie in Abb. 16.10e ersichtlich. Wegen des hohen gabe („Impfung“) erstarrt das Eutektikum anstelle von
Gehaltes an Karbiden (circa 20 %) wird der Stahl C135 Zementit als Grafit in Austenit (rote, strichlierte Liqui-
als Kaltarbeitsstahl eingesetzt. Manche Stähle mit nahezu duslinie in Abb. 16.8), was als graues Gusseisen be-
2,1 % Kohlenstoff sind praktisch nicht mehr umformbar, zeichnet wird. Für die Abschätzung der Mengenverhält-
weshalb sie als Gusslegierungen eingesetzt werden. So- nisse ist das Zweistoffsystem Eisen-Kohlenstoff heran-
lange der Kohlenstoffgehalt dieser Eisenbasislegierungen zuziehen (statt Fe-Fe3 C). Das Eutektikum besteht somit
16.3 Das Eisen-Kohlenstoff-Zustandsdiagramm für Stähle und Gusseisen 539

C C
C

Fe 3C

Fe C
3C C
C

c 100 µm b 100 µm c 100 µm

Abb. 16.11 Metallografien von Gusseisen; a Schliffbild eines weißen Gusseisens mit großen Ledeburitlamellen und dazwischen feinstrukturiertem Perlit und
Sekundärzementit (Ferrit schwarz ); b Schliffbild eines grauen Gusseisens mit lamellarem Grafit (schwarz ) in Perlit (GJL), REM-Detailbild der Grafitlamellen; c

Werkstoffkunde
Sphäroguss-(GJS)-Schliffbild mit markierten Grafitteilchen (C), REM-Detailbild zweier Grafitkugeln

Beispiel: Interdendritische Lunker in Sphäroguss

Die dendritische Erstarrung der Primärkristalle kann Lunker an den


dazu führen, dass Restschmelze zwischen Dendriten- Probenschnittflächen
armen lokal eingeschlossen wird, ohne dass Schmelze
nachgespeist wird, um die Erstarrungsschrumpfung
zu kompensieren. Dann können auch in Grauguss- 2 mm
teilen Lunkernetzwerke entstehen. Abbildung 16.12
zeigt eine Kurbelwelle aus Sphäroguss GJS 700 (Rm
über 700 MPa), die im Bereich des 3. Hauptlagers
nicht ausreichend gespeist wurde, sodass ein Lunker- b
netzwerk zwischen Dendritenarmen entstand, das sich
über mehr als 1 cm erstreckt. Derartige Lunker tragen Speisungslunker
zur Risseinleitung bei der Biegebelastung bei und füh-
ren zu Ermüdungsbruch.
2m
m
Abb. 16.12 a Kurbelwelle aus GJS700, aus deren mittlerem Hauptla-
ger eine Probe für Röntgen-Computertomografien herausgeschnitten wurde;
b Probenausschnitt mit rot markierten Schnittflächen durch Poren (dunkle
Punkte stammen von Grafitpartikeln); c dreidimensional verzweigte Lun-
kerstruktur (rot ) im Inneren der Probe, die sich zwischen Dendritenarmen
verzweigt a c

aus 2,2 Gew.-% Grafit (circa 9 Vol.-%) in Austenit. Zum Stahles durch Grafitbildung im Eutektikum kompensiert
Unterschied zu Ledeburit sind die Grafitteilchen ver- wird (Abschn. 30.2, Vertiefung „Gussfehler“), was nicht
formbar und erhöhen dadurch die Zähigkeit. Dabei ist gelingt, wenn die Speisung des Formteils unterbrochen
die Form der Grafitteilchen von Bedeutung: Grafitlamel- wird, wie die Abb. 16.12 im Beispiel: Interdendritische
len stellen innere Kerben in der Stahlmatrix dar (GJL, Lunker zeigt. Andererseits vermindert der Grafitanteil die
Abb. 16.11b), für unförmige Teilchen ist der Kerbeffekt Steifigkeit auf 115–185 GPa (siehe Abschn. 15.5, Beispiel:
geringer (vermikularer Grafit, GJV) und verschwindet E"-Modul).
weitgehend bei kugelförmigen Teilchen (duktiler Sphä-
roguss, GJS, Abb. 16.11c). Hingegen tragen die Grafit-
teilchen nur indirekt zur Verfestigung bei: die kritische Frage 16.6
Risslänge wird erhöht (Abschn. 15.10), und der Poren- Weshalb wird Grauguss für Motorblöcke dem weißen
gehalt wird vermindert. Das Eisen-Grafit-System zeigt Gusseisen vorgezogen?
die Besonderheit, dass die Erstarrungsschrumpfung des
540 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

Eisengusswerkstoffe
Erstarrung: metastabil
stabil
GS weißes Sonder- graues
Stahlguss Gusseisen Abb. 16.11a Gusseisen Gusseisen

Kohlenstoffgehalt: < 2% 2,4– 4,5% 1,5–3,5% 2,5–5%

Kohlenstoff: sekundärer im Ledeburit hochlegiert vorwiegend als Grafit


und tertiärer und Zementit mit Zementit und ggf. Perlit
Zementit gebunden anderen Karbiden

Bruchaussehen: weiß weiß grau


Werkstoffkunde

GJM Si Al Cr GJL GJV GJS


GJH
Temper- Gusseisen mit Gusseisen mit Gusseisen mit
Hartguss
rohguss Lamellengrafit Vermikulargrafit Kugelgrafit
Abb. 16.11b Abb. 16.11c
weißer schwarzer
Temperguss Temperguss

Abb. 16.13 Eisen-Gusswerkstoffe: Stahlguss (GS), weißes Gusseisen (Hartguss GJH und Temperguss GJM), graues Gusseisen (GJL, GJV, GJS) und hochlegierte
Sondergusseisenlegierungen

Da Grafit in Gusseisen stabiler ist (kleinere innere Energie


hat) als Zementit, kann in weißem Gusseisen der Zemen-
16.4 Mischkristalle und
tit des Ledeburit durch Glühung zwischen 700 °C und Legierungselemente
1050 °C aufgelöst werden, und es bleibt Grafit im Stahlge-
füge. Dieses Wärmebehandlungsprodukt wird schwarzer
Temperguss genannt, der eine höhere Zähigkeit aufweist Bei der eutektischen Temperatur bleiben im ther-
als weißes Gusseisen. Von weißem Temperguss spricht modynamischen Gleichgewicht substitutionelle Legie-
man, wenn nur die oberflächennahen Bereiche durch rungselemente in unterschiedlichem Ausmaß gelöst: in
Glühung in einer sauerstoffreichen Umgebung diffusions- Aluminium-Silizium-Gusslegierungen bis 1,6 % Silizium
kontrolliert entkohlt werden. (Abb. 16.7a), in Aluminium-Kupfer bis 5,65 % Kupfer
(Abb. 16.6b), in Aluminium-Magnesium 17,1 % Magnesi-
Die gießbaren Eisenbasislegierungen des Zustandsdia- um in α-Aluminium und in Magnesium-Aluminium bis
gramms in Abb. 16.8 sind gemäß Abb. 16.13 Stahlguss 12,6 % Aluminium (Bonusmaterial zu Abschn. 16.1: Eu-
(GS) ohne eutektische Strukturen, weißes Gusseisen mit tektische Legierungen, Abb. 16.4). Bei der Abkühlung
Ledeburit (GJH), der durch Tempern teilweise oder ganz der Mischkristalle nimmt die Löslichkeit der Legierungs-
in Grafit umgewandelt werden kann (GJM), graues Guss- elemente meist ab, und die Entmischung erzeugt Aus-
eisen mit verschiedenen Grafitformen im Eutektikum (la- scheidungen einer weiteren Gleichgewichtsphase mit den
mellenartig (GJL), vermikular (GJV), kugelig (GJS)). Son- überschüssigen Legierungselementen meist an heteroge-
dergusseisen-Legierungen enthalten noch weitere Karbi- nen Keimen. Im Aluminium-Silizium-Zweistoffsystem ist
de der zusätzlichen Legierungselemente. bei Raumtemperatur praktisch kein Silizium löslich. Etwa
1,6 % Silizium lagern sich bei langsamer Abkühlung an
die vorhandenen eutektischen Silizium-Strukturen ohne
Gusseisen enthält über 2,1 Gew.-% Kohlenstoff und weitere Keimbildung ab. Ähnlich ist die Gleichgewichts-
bildet ein eutektisches Erstarrungsgefüge mit Lede- situation im Aluminium-Kupfer-System, wobei sich aus
burit oder Grafit (Symbol GJx) eingebettet in eine dem Gleichgewichtszustand bei der eutektischen Tem-
Stahlmatrix. Metastabiler, eutektischer Zementit des peratur 5,6 Gew.-% Al2 Cu bei langsamer Abkühlung an
weißen Gusseisens (GJH) kann getempert werden, Korngrenzen und vorhandenen Gitterdefekten ausschei-
wobei Grafit entsteht (GJM). Das Eutektikum mit den (Abb. 16.14a). Im System Aluminium–Magnesium
verschiedenen Formen des thermodynamisch stabi- (Bonusmaterial zu Abschn. 16.1: Eutektische Legierun-
leren Grafits (GJL, GJV, GJS) ergibt Grauguss. gen, Abb. 16.4) können bei Raumtemperatur 1,8 % Ma-
gnesium gelöst bleiben, was eine stabile Mischkristall-
16.4 Mischkristalle und Legierungselemente 541

Abb. 16.14 a Entmischung 700


L lösungsgeglüht
eines Mischkristalls durch langsa-
me Abkühlung oder Abschrecken 600 α+L
am Beispiel einer AlCu4-Le- α

Temperatur in °C

n
α 1 α

ge
gierung mit nachfolgender T4- 5,65% 548°C

un
Kalt- oder T6-Warmauslagerung; 500 α

eid
lösungsglühen α

h
b durchstrahlungsmikrokopi- θ

sc
us
sche Aufnahme von inter- und 400

na
intrakristallinen Ausscheidungen

ze
ren
(schwarz ) im T6-Zustand einer 300

g
θ α+θ

rn
AlZn4,5Mg-Legierung (AW7020) intrakristalline

Ko
α warm Ausscheidungen
200
3 warm auslagern αss ausgelagert
α T6

Werkstoffkunde
α 100 αss
abschrecken αss kalt
langsam 2
auslagern
abgekühlt 0 abgeschreckt
Al 2 4 6 8 T4
b 0,5 µm
a Cu in Gew.-%

verfestigung der AW5xxx-Knetlegierungen bewirkt. Das Seigerungen abgebaut und die Legierungszusammenset-
überschüssige Magnesium scheidet sich vornehmlich an zung im Guss- oder Werkstück in Richtung thermody-
den Korngrenzen als Al8 Mg5 (β-Phase) aus (aus dem namisches Gleichgewicht ausgeglichen (homogenisiert)
Gleichgewichtszustand mit maximal 17 % Magnesium in werden. Die Homogenisierung von Vormaterial für die
Lösung könnten sich nahezu 50 Gew.-% β-Phase aus- Umformung ist erforderlich, um eventuell vorhande-
scheiden). In den Magnesium-Aluminium-Gusslegierun- ne, relativ spröde eutektische Strukturen mit niedriger
gen scheidet sich bei der Abkühlung Al12 Mg17 an den Schmelztemperatur aufzulösen. Walzbarren und Strang-
bereits vorhandenen, eutektisch gebildeten δ-Phasen und pressbolzen werden vor der Umformung homogenisiert.
an Korngrenzen aus (Bonusmaterial zu zu Abschn. 16.1: Wird die Aluminium-Legierung weiterverarbeitet, stel-
Eutektische Legierungen, Abb. 16.4). Bis Raumtempera- len sich Gefügezustände je nach Temperatur und Dauer
tur bleiben weniger als 1 % Aluminium im Magnesium in des Verarbeitungsschrittes ein. Eine relativ kurze Lö-
Lösung, woraus sich von der maximalen Löslichkeit von sungsglühung sicherheitshalber knapp unter der eutekti-
13 % Aluminium bei der eutektischen Temperatur etwa schen Temperatur des Systems, die eine Durchwärmung
40 % δ-Phase ergeben. des Werkstückes gewährleistet, erzeugt wieder einen für
diese Temperatur thermodynamischen Gleichgewichts-
Im Eisen–Kohlenstoff-System bleibt im Austenit bei der zustand.
eutektischen Temperatur 1150 °C 2,1 % Kohlenstoff und
im Ferrit bei der eutektoiden Temperatur 723 °C maximal
0,02 % Kohlenstoff interstitiell gelöst (Abb. 16.8). Bei der Eine Homogenisierungsglühung dient zum Abbau
Abkühlung des Austenits endet diese nach Abb. 16.10 im der Seigerungen des Gusszustandes. Die Lösungs-
eutektoiden Punkt (S), wobei 0,8 % Kohlenstoff in Lösung glühung dient zum Auflösen von Entmischungspro-
sind. Die Löslichkeitsabnahme von 2,1 % (E) bis 0,8 % (S) dukten, die bei der Abkühlung entstanden sind.
bewirkt die Ausscheidung von 22 Gew.-% Sekundärze-
mentit, vorwiegend an den Austenitkorngrenzen (mehr
als in C135 in Abb. 16.10e). Bei der Perlitbildung in Punkt Am Beispiel Aluminium mit 4 % Kupfer (AW2024) wird
S bleiben im Ferrit 0,02 % Kohlenstoff gelöst. Durch die in Abb. 16.14 die Wärmebehandlung eines homogeni-
weitere Abkühlung bis Raumtemperatur bleibt praktisch sierten Zustandes (Seigerungen mit Eutektikum wie in
kein Kohlenstoff gelöst. Während der Abkühlung schei- Abb. 16.6 wurden abgebaut) schematisch dargestellt. Bei
det sich bis zu 0,3 Gew.-% tertiärer Zementit vornehmlich langsamer Abkühlung von der Homogenisierungstempe-
an Gitterdefekten aus. ratur (∼ 540 °C) scheiden sich entsprechend der Abnah-
me der Löslichkeit an den Korngrenzen, wo die Keimbil-
dung heterogen erfolgt und die Keime durch relativ hohe
Diffusionsgeschwindigkeit (Abschn. 15.12) rasch wach-
Aluminium-Legierungen sen, Säume aus Al2 Cu (θ) um die α-Al-Körner aus. Diese
θ-Säume werden bei einer ½- bis 1-stündigen Lösungs-
glühung zwischen 530 °C und 550 °C rasch aufgelöst. Da-
Wenn Aluminium-Legierungen mit Zusammensetzungen bei entsteht einphasiger α-Al-Mischkristall, und es stellt
im Mischkristallbereich bei der eutektischen Temperatur sich eine dieser Temperatur entsprechende, hohe Leer-
knapp unter dieser Temperatur geglüht werden, können stellenkonzentration ein (Abschn. 15.12). Beim Abschre-
542 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

cken in Wasser mit überkritischer Abkühlgeschwindig-


keit (Abb. 16.2b) wird dieser Mischkristallzustand einge-
froren, aber die hohe Leerstellenkonzentration ermöglicht
auch bei Raumtemperatur die Bildung von kupferreichen
Keimen. Die Keimdichte ist wegen der starken Unterküh-
lung relativ hoch (Abb. 16.1e). Wird die Legierung weiter
bei Raumtemperatur gelagert können diese Keime in na- a 0,05 µm 0,5 µm 2 µm 10 µm
noskopischen Dimensionen wachsen, bis nach einigen Keime θ'' θ' θ
Wochen der Leerstellenüberschuss verbraucht ist. Dieser 500
bei Raumtemperatur ausgelagerte, nach der Lösungs-
glühung abgeschreckte Zustand erfährt eine signifikante 400
3

0,2%-Dehngrenze in MPa
Ausscheidungsverfestigung und wird als kalt ausgelager-
Werkstoffkunde

ter T4-Zustand bezeichnet (zum Unterschied zu einem 300 4


2
von der Warmumformung oder nach dem Gießen an T6
Luft abgekühlten, eher undefinierten T1-Zustand ohne 200 1 maximale
Lösungsglühen und Abschrecken). Ausscheidungs-
T4 härtung
100 kalt aus-
Die nach dem Abschrecken im T4-Zustand gebildete Ato-
manhäufungen (Ausscheidungskeime) lösen sich beim gehärtet unteraltert überaltert T7
0
Anwärmen auf Temperaturen zwischen 100 und 200 °C 0 10 100 1000
wieder auf. In Abb. 16.15b ist dies durch eine Entfesti- b Auslagerungsdauer bei 150°C in h
gung zu erkennen. Aus dem mit Kupfer und Leerstellen
übersättigten Mischkristall entstehen neue kupferreiche Abb. 16.15 Ausscheidungskinetik in einer AlCu4-Legierung im T4-Zustand
Keime mit Gitterverzerrungen, die die Festigkeit gering- während der Warmauslagerung bei 150 °C; a durchstrahlungselektronenmi-
fügig erhöhen (unteralterter Zustand). Im Laufe der Zeit kroskopische Aufnahmen (siehe Bonusmaterial zu Abschn. 15.6, Durchstrah-
wachsen metastabile Vorläuferstrukturen (mit dem Alu- lungselektronenmikroskopie) von in (b) markierten Zuständen: Entfestigung (1 ),
minium-Kristall kohärente θ , teilkohärente θ ) zu inko- unvollständige Verfestigung (2 ), maximale Festigkeit T6 (3 ) und Entfestigung
durch Überalterung T7 (4 )
härenten Gleichgewichtsphase θ (Ausscheidungsfolge in
Abb. 16.15a) bis die der Löslichkeitsgrenze entsprechende
Ausscheidungsmenge gebildet ist. Die in großer Dich-
te entstandenen θ -Plättchen kleiner als 0,1 µm bewirken wird. Wegen der in Abschn. 16.1 beschriebenen Keimbil-
die höchste Verfestigung (T6). Bei weiterer Reifung der dungsmechanismen gilt generell: Je niedriger die Ausla-
Ausscheidungen (Wachstum bei gleichzeitiger Abnahme gerungstemperatur, umso höher ist die Ausscheidungs-
der Teilchendichte und konstanter Ausscheidungsmenge) dichte, aber umso langsamer verläuft das Wachstum der
Ausscheidungen. Aus Kostengründen wird im Allgemei-
nimmt die Verfestigung wieder ab, was als Überalterung
nen ein praktikabler Kompromiss zwischen Temperatur
(T7-Zustand) bezeichnet wird.
und Auslagerungsdauer eingegangen (wenige Stunden
In ähnlicher Weise wie in Aluminium-Kupfer-Legie- bei 180 °C wird häufig angewandt). Die Ausscheidungs-
rungen verläuft die Ausscheidungshärtung von Alu- kinetik ist reversibel. Die Legierungen können wieder
minium-Magnesium-Silizium-, Aluminium-Zink-Magne- lösungsgeglüht, abgeschreckt und neuerlich ausgelagert
sium- und Al–Zn–Mg–Cu-Legierungen (Gleichgewichts- werden. Tabelle 16.2 gibt eine Übersicht über die ge-
ausscheidungen Zn2 Mg, Abb. 16.14b), die die höchste bräuchlichen Aluminium-Legierungen.
Verfestigung erzielen können. Der Kaltaushärtungseffekt
dieser Legierungen kann an Schweißnähten genutzt wer- Frage 16.7
den, deren Wärmeausbreitungszone nach dem Erkal- Weshalb und wie erfolgt eine Kaltauslagerung (T4) von
ten wieder teilweise aushärtet. Der Kaltaushärtungsef- Aluminium-Legierungen?
fekt ist bei Aluminium-Magnesium-Silizium- (Gleichge-
wichtsausscheidungen Mg2 Si) nicht so stark, aber durch
Warmaushärtung werden bis 100 % Festigkeitssteige-
rung erzielt. Aluminium-Silizium-Gusslegierungen wer-
den meist etwa 1 % Magnesium zulegiert, um aushärtbare
Ausscheidungen mit Überstruktur
Gussteile zu erhalten, die manchmal nicht mehr lösungs-
geglüht, sondern im T1-Zustand warmausgelagert wer- Als Überstruktur werden kristalline Atomanordnungen
den (T5-Zustand). Für Aluminium-Silizium-Magnesium- bezeichnet, in denen sich Netzebenen mit den Atomen
Motorlegierungen wird die Ausscheidungsverfestigung A mit Netzebenen des Atoms B abwechseln. In kubisch
durch metastabile Magnesium-Silizium-Phasen nur in flächenzentrierten Strukturen sind dies intermetallische
den kalten Motorbereichen genutzt, während die Warm- Phasen der Zusammensetzung A3 B und AB. In Alumi-
festigkeit durch diese Ausscheidungen nicht verbessert nium-Legierungen können temperaturstabile Al3 (Sc,Zr)-
16.5 Gefüge und Wärmebehandlungen der Stähle 543

Tab. 16.2 Übersicht über nicht aushärtbare und aushärtbare Aluminium-Knet- und Gusslegierungen mit den Kennzeichnungen nach dem gebräuchlichen System
der American Al-Association (AA) bzw. der DIN-Nummern
Legierungs- AA DINb Hauptlegierungs- Legierungs- AA DINb Hauptlegierungs-
system seriea elemente in Gew.-% system seriea elemente in Gew.-%
nicht aushärtbare Al-Knetlegierungen nicht aushärtbare Al-Gusslegierungen
Al 1xxx 3.02–03nn < 1 Verunreinigungen Al 1xx.x 3.01–02nn < 2 Verunreinigungen
AlMn (Mg) 3xxx 3.05nn Mn 0,1–1,8 (Mg 0,2–1,3) AlSi 4xx.x 3.22nn Si 4,5–13
AlSi 4xxx 3.22nn Si 0,8-11 AlMg 5xx.x 3.33nn Mg 3,6–10,6; Si < 0,3
AlMg 5xxx 3.33nn Mg < 5,6 AlMgMn 3.35nn Mg 2,5–4,5; Mn > 0,4
AlMgMn 3.35nn Mg 0,7–5,6; Mn + Cr >
0,2
aushärtbare Al-Knetlegierungen Ausscheidung aushärtbare Al-Gusslegierungens

Werkstoffkunde
AlCu 2xxx 3.1nnn Cu 0,7–6; Mg < 1,9; Al2 Cu AlCu Al- 2xx.x 3.11nn Cu 3,5–11; Mg,Si < 0,4
Si < 1,3 Al2 CuMg CuMg 3.13nn + Mg 1,3–6,5; Si < 0,7
AlSiMg 4xxx 3.23nn Si 4,5–13,5; Mg 0,2–2 AlSiCu (Mg) 3xx.x 3.21nn Si 5–13; Cu < 5
(Mg 0,4–1,3)
Mg2 Si
AlMgSi (Cu) 6xxx 3.32nn Mg 0,4–1,5; Si < 1,5 AlMgSi 5xx.x 3.32nn Mg 2,5–8,5; Si 0,3–2,2
(Cu < 1,2)
AlZnMg 7xxx 3.43nn Zn 0,8–7,6; Mg 0,5–3,5; Zn2 Mg + AlMgZn 513.x 3.34nn Mg 3,5–4,5; Zn 1,4–2,2
AlZnMgCu 3.41nn + Cu 0,2-2,6 Al2 Cu
AlLi 809x 3.00nn Li 1–3, Cu, Mg Al3 Li AlZnMg 7xx.x 3.43nn Zn 2,7–8; Mg 0,3–1,8;
Cu < 1
a x = Ziffern; b nn = Laufnummern

Ausscheidungen und in noch nicht großtechnisch ein- gierungen (Messing) können CuZn-Überstrukturphasen
geführten Aluminium-Lithium-Legierungen Al3 Li-Aus- gebildet werden.
scheidungen (Tab. 16.2) verfestigend wirken. Den Nickel-
Basislegierungen wird Aluminium und Titan zulegiert,
die Ni3 Al- und/oder Ni3 Ti-Ausscheidungen nach dem Ausscheidungsverfestigung kann in Legierungssys-
Lösungsglühen und Warmauslagerung bei etwa 600 °C temen genutzt werden, bei denen die Löslichkeits-
bilden (Superlegierungen). Die Besonderheit dieser Aus- grenzen mit sinkender Temperatur abnehmen. Eine
scheidungen ist, dass sie mit der Nickel-Matrix soge- Lösungsglühung im Mischkristallbereich mit nach-
nannte γ -Ausscheidungen bilden, in denen sich Nickel- folgendem Abschrecken stellt einen an Legierungs-
Netzebenen mit Aluminium- oder mit Titan-Netzebenen elementen und Leerstellen übersättigten Zustand
abwechseln. Diese kohärenten Überstrukturausscheidun- her. Durch Auslagerung bei relativ niedriger Tem-
gen sind nur durch Versetzungspaare schneidbar, die die peratur scheiden sich intermetallische Phasen intra-
kristallin aus.
Überstrukturanordnung erhalten. Daraus ergibt sich ein
Gleitwiderstand, der bis zu hohen Temperaturen wirk-
sam bleibt. Es gibt auch hochlegierte, austenitische Stähle, In Eisen-Kohlenstoff-Legierungen wirken tertiäre Zemen-
deren Warmfestigkeit durch γ -Ausscheidungen der Le- titausscheidungen verfestigend. Die Aushärtung wird im
gierungselemente Nickel, Aluminium und Titan erhöht folgenden Abschnitt beschrieben. Niob- und/oder Vana-
wird (z. B. X10NiCrATi32-21 in Tab. 15.3). In Titan-Le- dium-Zusätze in mikrolegierten Stählen bewirken Aus-
gierungen mit Aluminium können sich Ti3 Al und TiAl- scheidungsverfestigung durch Sonderkarbide, die sich
Überstrukturausscheidungen bilden. bei der Umwandlung (γ → α + Karbide) bilden.

Kupfer-Basislegierungen 16.5 Gefüge und


Wärmebehandlungen
Kupfer-Basislegierungen können durch unterschiedliche
Elemente die ähnliche kubisch flächenzentrierte Struk-
der Stähle
turen haben, eine Ausscheidungsverfestigung erfahren.
Der Gleitwiderstand kohärenter Ausscheidungen ent- Als Basis für die weitere Betrachtung der für Stahl sehr
steht durch die Gitterverspannungen in ihrer Umgebung, wichtigen Ungleichgewichtszustände sind in Abb. 16.16
die von kleinen Gitterparameterdifferenzen (z. B. Kupfer- die Gefügezustände der Gleichgewichtsphasen des Ei-
Beryllium, Kupfer-Kobalt) herrühren. In Kupfer-Zink-Le- sen-Kohlenstoff-Systems dargestellt. Entsprechend der
544 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

1600
A
Tm = 1540 °C S +δ Eisen - Grafit / Fe3C - Diagramm
1490 °C H B
δ-Ferrit I
δ +γ
1400
N Schmelze Schmelze + Grafit
D
1300
Austenit Schmelze +
Temperatur in °C

(γ-Mischkristall) γ-Mischkristalle Schmelze +


1200 Primärzementit Grafit

E 1150°C C F
1100
Primärzementit
+ Ledeburit I
Werkstoffkunde

1000 Austenit + Ledeburit I


A3 = 910 °C G + oder Austenit + Grafit
900
Sekundär-
zementit
800
A2 = 770 °C M Grafit
α+γ
A1 = 723 °C
723°C
700 P S K
Ferrit + Perlit + Perlit + wie untereutektisch +

Ledeburit
α-Ferrit Sekundär- + Tertiärzementit Primärzementit
Perlit

Perlit + Sekundär-
600
+ Tertiär- + Tertiär- + Ledeburitkarbide (oder Grafit)
zementit zementit (oder Grafit)
500
Fe 0,8% 1,0 2,0 3,0 4,0 4,3% 5,0 6,0 6,7%
Kohlenstoffgehalt Fe3C
in Gew.-% Zementit

Abb. 16.16 Gleichgewichtszustände im Eisen-Fe3 C bzw. Grafit-System für Stahl und Gusseisen. Die Phasen in den jeweiligen Mischkristall- und Zweiphasenberei-
chen sind im jeweiligen Temperaturbereich eingetragen. Im übereutektischen Gusseisenbereich sind sowohl die stabile Grafitbildung als auch die metastabile Fe3 C-
Bildung dargestellt. Die resultierenden Gefügebilder sind schematisch dem Eisen-Fe3 C-Zustandsdiagramm zugeordnet

Kohlenstoffkonzentration werden untereutektoide, perli- des Austenits aus. Der bei 723 °C verbleibende Auste-
tische und übereutektoide Stähle unterschieden. Untereu- nit enthält 0,8 % Kohlenstoff und wandelt sich in Perlit
tektisches, eutektisches und übereutektisches Gusseisen, um. Bei weiterer Abkühlung scheidet sich im Ferrit des
wobei weißes (mit Zementit) von grauem (mit Grafit) Perlits tertiärer Zementit aus.
Gusseisen unterschieden wird, enthält über 723 °C ei-
ne Austenitmatrix, die sich bei weiterer Abkühlung wie
übereutektoider Stahl verhält. Stähle können bei erhöhter Temperatur in den ein-
phasigen Austenitbereich gebracht werden. Bei der
Untereutektoider Stahl entsteht aus Austenit mit weni- Abkühlung unter Gleichgewichtsbedingungen ent-
ger als 0,8 % Kohlenstoff und besteht nach der Gleich- steht in untereutektoiden Zusammensetzungen Fer-
gewichtsabkühlung aus Ferrit mit Perlit, der mit dem rit mit Perlit, mit 0,8 % Kohlenstoff nur Perlit, in
Kohlenstoffgehalt zunimmt. Der Ferrit enthält bei der übereutektoiden Zusammensetzungen Sekundärze-
eutektischen Temperatur nur 0,02 % C, dessen Löslich- mentit mit Perlit. Die Matrix des Gusseisens ent-
keit mit der Temperatur weiter abnimmt, sodass ter- spricht im Gleichgewicht einem übereutektoiden
tiäre Zementitpartikel ausgeschieden werden, was für Stahl. In allen Stählen und Gusseisensorten scheidet
den gesamten Kohlenstoff-Konzentationsbereich des sich im Ferrit unter 723 °C tertiärer Zementit aus.
Systems zutrifft.
Eutektoider (perlitischer) Stahl mit 0,8 % Kohlenstoff
Anhand des Gleichgewichtszustandsdiagramms in
besteht nur aus Perlit, der unter 723 °C aus 12 % Fe3 C Abb. 16.17 werden die Wirkungen der Gleichgewichts-
in Ferrit mit tertiärem Zementit besteht.
wärmebehandlungen erläutert:
Übereutektoider Stahl geht aus Austenit mit 0,8–
2,1 % Kohlenstoff hervor. Über der eutektoiden Tem- Diffusionsglühen zwischen 1050 °C und 1300 °C baut
peratur scheidet sich der Kohlenstoff ab einem Gehalt Seigerungen ab und löst Karbide auf. Dabei wachsen
von 0,8 % als Sekundärzementit an den Korngrenzen die Austenitkörner. Je nach Umgebungsatmosphäre
16.6 Ungleichgewichtsumwandlungen allotroper Metalle 545

Bearbeitung spannungsfrei sein, damit sie sich im Lau-


1100 Diffusionsglühen
Lösungsglühen fe der Bearbeitung nicht verziehen.
Gro Austenit Wasserstoffarmglühen dient zur Freisetzung gelösten
Temperatur T in °C

1000 bko Wasserstoffs im Temperaturbereich von 200–250 °C,


rng γ-Mischkristall
lüh um wasserstoffinduzierte Spannungsrisskorrosion zu
en
910 G
vermeiden (Abschn. 15.14). Tertiäre Karbide und gege-
Ac No E benenfalls Sonderkarbide können ausgeschieden wer-
3 rmalg
lühen Ac m den, was eine Verfestigung durch Alterung bewirkt.
800 α + γ-Mk
P S K
723
Ac1 Weichglühen
Ferrit Zu den Wärmebehandlungen von Legierungen im
α-Mk Rekristallisationsglühen thermodynamischen Gleichgewicht zählen: Diffu-

Werkstoffkunde
600 spannungsarm Glühen sions- (Homogenisierungs-), Lösungs-, Grobkorn-,
Ferrit + Perlit Perlit Perlit + Zementit Rekristallisations-, Spannungsarm- und Wasserstoff-
500 armglühung. Für Stähle werden zusätzlich Normal-
0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4
Kohlenstoffgehalt in Gew.-% und Weichglühung eingesetzt.

Abb. 16.17 Temperaturbereiche der Gleichgewichtswärmebehandlungen für


Stähle und ihre Bezeichnungen
Frage 16.8
Wie entsteht Perlit, und was ist seine charakteristische Ge-
fügeausprägung?
kommt es bei kohlenstoffreicheren Stählen zu einer Welche Ursache und Funktion hat das Weichglühen?
Randentkohlung. Die Glühung der Brammen vor dem
Warmwalzen bzw. Schmieden hat die Wirkung des Dif-
fusionsglühens. Im unteren Temperaturbereich wird es
Lösungsglühung genannt, weil es vor allem auf die
Auslösung von Ausscheidungen abzielt. 16.6 Ungleichgewichtsumwand-
Grobkornglühung zwischen 900 °C und 1100 °C löst
auch Karbide, führt aber innerhalb weniger Stunden
lungen allotroper Metalle
zu Kornwachstum im Austenit.
Normalglühen wird nur an Stählen am unteren En- Allotrope Metalle nehmen in unterschiedlichen Tempe-
de des Austenitbereichs durchgeführt, oberhalb des raturbereichen im Gleichgewichtszustand verschiedene
Zweiphasenbereichs mit Ferrit (G-S-Linie = Ac3 ) und Kristallstrukturen an. Eisen, Titan, Messing und Zinn
oberhalb der Löslichkeitsgrenze für Kohlenstoff (S-E- wechseln bei bestimmten Umwandlungstemperaturen
Linie = Acm ). Es wird Zementit aufgelöst und das zwischen zwei Kristallstrukturen. Die Umwandlung von
Werkstück über Keimbildung neuer Austenitkörner einer Kristallstruktur in eine andere beim Über- oder
vollständig austenitisiert. Die Dauer wird beschränkt Unterschreiten der Umwandlungstemperaturen braucht
durch das zulässige Kornwachstum. wie jede andere Phasenumwandlung kritische Keimgrö-
Weichglühen von Stahl erfolgt um 723 °C und hat ßen, die bei der Abkühlung eine Unterkühlung erfordern
das Ziel, die Zementitlamellen des Perlit einzuformen und beim Aufheizen eine leichte Überhitzung. Zu der
zu kugelförmigen Karbiden, die die Duktilität und zugehörigen Inkubationszeit für Keime kommt die Halte-
Spanbarkeit des Stahls erhöhen. Die Einformung der zeit (Abb. 16.3c), in der die Umwandlung bei konstanter
Karbidlamellen beruht auf dem Bestreben die Grenz- Temperatur voranschreitet. Es gibt daher auch eine kriti-
flächenenergie durch die Kugelform zu vermindern. sche Abkühlgeschwindigkeit, bei deren Überschreiten die
Gleichzeitig können auch fein verteilte intrakristalli- Umwandlung zu tieferen Temperaturen verschoben wird
ne Sonderkarbide karbidbildender Legierungszusätze oder unterdrückt wird.
ausgeschieden werden. Bei kaltverformten Zuständen
erfährt der Ferrit in diesem Temperaturbereich Erho- Bei allotropen Legierungen ist die Umwandlung meist
lung oder Rekristallisation (Abschn. 15.12). mit einer Änderung der Löslichkeit eines Legierungsele-
Rekristallisationsglühen kaltverformter Stähle unter- ments verbunden. Die maximale Löslichkeit von Kohlen-
halb 723 °C erzeugt neue Ferritkörner, die bei entspre- stoff in Ferrit ist nur 1/100 der Kohlenstoff-Löslichkeit in
chender Keimdichte eine Kornfeinung ergeben (Ab- Austenit. In der α + β-Legierung TiAl6V4 enthält die he-
schn. 15.12). xagonale α-Phase mehr Aluminium, während Vanadium
Spannungsarmglühen zwischen 500 °C und 600 °C die Bildung der kubisch raumzentrierten β-Phase bevor-
baut innere Spannungen durch Kriechvorgänge (Ab- zugt. Messing mit mehr als 50 % Zn kristallisiert in einer
schn. 15.12) ab. Werkstücke sollen vor der spanenden kubisch raumzentrierten Überstruktur und wandelt sich
546 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

Abb. 16.18 Die variable Ab-


kühlgeschwindigkeit ist senkrecht t
gehal Gleichgewichtsdiagramm
bei einer untereutektoiden off Eisen – Kohlenstoff
Kohlenstoff-Konzentration im e nst
hl
Stahlbereich des Eisen-Koh- Ko Umwandlungstemperaturen als
lenstoff-Zustandsdiagramms Funktion der Abkühlgeschwindigkeit
angefügt. Die Anfangs- und
Endtemperaturen des α + γ-
Zweistoffgebietes, A3 und A1 , A3-Linie
konvergieren bei A ; mit zuneh-
mender Abkühlgeschwindigkeit
bis zur oberen kritischen Abkühl-

Temperatur
A1-Linie A3
geschwindigkeit OK beginnt bei Umwandlungstemperaturen A1 und A3 sinken
Az die Bainitbildung (Zwischen- A1
Werkstoffkunde

A' Zweiphasengebiet α + γ verschwindet


stufe); ab der unteren kritischen
Abkühlgeschwindigkeit UK unter A3  A1 = A'
die Martensit-Starttemperatur
Ms beginnt dort diffusionslos Beginn des Zwischenstufengefüges Az bis zu OK
Az (obere kritische Abkühlgeschwindigkeit)
Martensitbildung, die bei der
Martensit-Finishtemperatur Mf C
abgeschlossen ist MS Martensitbildung bei Abschrecken auf MS
C=k (Martensit-Starttemperatur) ab UK
onst. Mf
Abkü UK (untere kritischen Abkühlgeschwindigkeit)
hlge schw bis zu Mf (Martensit-Finishtemperatur)
Fe indig
keit OK

teilweise in eine kubisch flächenzentrierte Struktur um,


in der aber maximal 39 % Zink löslich sind. Folglich erfor-
dert das Keimwachstum der sich bildendenden Struktur
auch eine Konzentrationsänderung durch Diffusion, die
zusätzlich Zeit braucht, um einen Gleichgewichtszustand
zu erreichen. Beim Überschreiten der kritischen Abkühl-
b 10 µm
geschwindigkeit kann kein Konzentrationsausgleich er-
folgen, sodass sich die Struktur bei tieferer Temperatur,
als der Gleichgewichtsumwandlung entspricht, diffusi-
onslos verändert. Diese Strukturänderung ist nicht im
thermodynamischen Gleichgewicht und wird allgemein
als Martensit bezeichnet. Martensit ist mit inneren Span- 40 µm
a c
nungen verbunden, die die Versetzungsbewegung behin-
dern, sodass Martensit die Legierung verfestigt, aber auch Abb. 16.19 Charakteristische nadelige Struktur eines martensithaltigen Gefü-
ges; a und b Schliffbilder von Stählen mit 1 % Kohlenstoff (Martensit dunkel,
spröder macht.
Ilschner 2010); c Skizze der Kristallgitterverzerrungen in nadeligen Martensitbe-
reichen (grün )

Die Ungleichgewichtszustände Bainit Austenit ein sogenanntes Zwischenstufengefüge (Bainit):


und Martensit härten Stähle Austenitkörner wandeln sich ohne Ferritkeimbildung
um (Abb. 16.20), aber im Ferritkorn bleibt keine Koh-
lenstoff-Übersättigung, sondern es werden fein verteilte
Ausgehend vom Eisen-Kohlenstoff-Gleichgewichts- Karbide ausgeschieden. Über der oberen kritische Ab-
zustandsschaubild für Stahl in Abb. 16.10 kann die kühlgeschwindigkeit (OK) bildet sich kein Bainit mehr,
variable Abkühlgeschwindigkeit in einer dazu senkrech- sondern es bleibt entweder Austenit eingefroren, oder es
ten Achse für eine bestimmte Kohlenstoff-Konzentration bildet sich unter der Ms -Temperatur Martensit. Wird der
eigetragen werden. In Abb. 16.18 ist dies für einen Stahl ab der unteren kritischen Abkühlgeschwindigkeit
untereutektoiden Stahl dargestellt. Das α + γ-Zweipha- (UK) unter die Martensit-Starttemperatur Ms abgekühlt,
sengebiet zwischen den Temperaturen A3 und A1 für bleiben die Kohlenstoff-Atome an ihren Gitterplätzen
die Gleichgewichtsumwandlung wird mit zunehmender (Abb. 16.20d). Aus dem kohlenstoffhaltigen Austenit
Abkühlgeschwindigkeit immer enger, bis die beiden Tem- entsteht dabei Martensit, der platten- oder nadelförmi-
peraturen in A zusammenfallen. Bei weiterer Erhöhung ge Bereiche mit unterschiedlichen Ausrichtungen der c-
der Abkühlgeschwindigkeit ohne wesentliche Tempera- Achse einnimmt (Abb. 16.19). Bei weiterer Unterkühlung
tursenkung entsteht entlang der Temperatur Az aus dem wandeln sich immer mehr Austenitbereiche in Martensit
16.6 Ungleichgewichtsumwandlungen allotroper Metalle 547

Vertiefung: Martensit

Ausgehend von der allotropen Kristallumwandlung ne kubisch raumzentrierte Einheitszelle des Gleichge-
von Austenit in Ferrit im Gleichgewicht bewirkt die wichtsferrits mit sehr geringer Kohlenstoff-Löslichkeit
diffusionslose Umwandlung die Bildung eines an Koh- (Abb. 16.20d):
lenstoff übersättigten Martensitgitters. √
0,79 aγ = ar (α), 1,11aγ / 2 = ar (α).
Betrachten wir die Gefügeumwandlung in Stahl von
Austenit in Ferrit in einem vereinfachten Kristallmo- In diese kubisch raumzentrierte Einheitszelle können
dell nach Bain. Abbildung 16.20a zeigt zwei anein- Kohlenstoff-Atome eingebaut werden, wenn die c-
andergrenzende kubisch flächenzentrierte Einheitszel- Achse gedehnt wird. Bei der diffusionslosen Umwand-

Werkstoffkunde
len mit dem Gitterparameter aγ und den möglichen lung von Austenit in tetragonalen Martensit ist die
Kohlenstoff-Zwischengitterplätzen in Oktaederlücken. Dehnung der Kohlenstoff-Achse cm dem Kohlenstoff-
Aus diesen kubisch flächenzentrierten Einheitszellen gehalt proportional, wie Abb. 16.20c zeigt. Sowohl für
kann eine tetragonal raumzentrierte Einheitszelle her- die Ferrit- wie auch die Martensitbildung sind nur
ausgeschnitten werden√(Abb. 16.20b), für die sich Git- geringfügige Änderungen der Atomabstände erforder-
terparameter a = aγ / 2 und c = aγ ergeben. Durch lich. Wesentliche Gleithindernisse für die Versetzungen
eine Kompression um circa 20 % in der c-Richtung und stellen die durch die Kohlenstoff-Übersättigung ver-
eine circa 10 % Expansion der Basisebene entsteht ei- zerrten Martensitbereiche dar.

2 × kfz Fe trz tertagonal


raumzentriert

C C in
aγ c' = aγ
Oktaeder-
lücken

Austenit —
a aγ b a' = aγ /√ 2

Ferrit
cm
0,30
Gitterparameter in nm

0,29 cm

am r
a3
r
a2
0,28
r am
a1
0,27
0 0,5 1,0 1,5 2,0
c Kohlenstoffgehalt in Gew.-% d kubisch raumzentriert

Abb. 16.20 Schematische Umwandlung von Austenit in Ferrit durch Verschiebung der Atompositionen nach Bain; a Aus zwei benachbarten, kubisch
flächenzentrierten Einheitszellen (Gitterparameter aγ ) mit Kohlenstoff in den Oktaederlücken ist in b ein tetragonal raumzentrierte Einheitszelle mit den
Gitterparametern a und c extrahiert, die Kohlenstoff in der c -Achse aufnehmen kann; c tetragonale Verzerrung der kubisch raumzentrierten Zelle in (d)
durch Kohlenstoff-Übersättigung ergibt die Gitterparameter von Martensit cm und am , die mit zunehmendem Kohlenstoffgehalt differieren; d Eine kubisch
raumzentrierte Einheitszelle mit Gitterparameter a r entsteht durch Kompression von c und Expansion von a , sowie die Verzerrung durch C zu cm und am
548 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

um, bis alle vorhandenen Austenitkörner beim Errei- Abb. 15.11). Die Umwandlungstemperaturen Ar3 und
chen der Martensit-Finishtemperatur im metastabilen, Ar1 sind von der Abkühlgeschwindigkeit abhängig.
martensitischen Zustand sind. Die kritischen Abkühl- Die Abhängigkeit der Gefügeumwandlung von der Ab-
geschwindigkeiten und die Umwandlungstemperaturen kühlgeschwindigkeit wird in Zeit-Temperatur-Umwand-
Az , Ms , Mf sind stark vom Kohlenstoffgehalt und den lungsschaubildern (ZTU-Diagramm) dargestellt, die
anderen Zusatzelementen der Stähle abhängig. Es gibt experimentell für jeden Stahl ermittelt werden. Das Prin-
hochlegierte Stähle, deren Mf unterhalb der Raumtem- zip der ZTU-Diagramme ist in Abb. 16.21 für einen
peratur liegt. Die Variationsbreite der Eigenschaften der eutektoiden Stahl dargestellt. Bei langsamer Abkühlung
Stähle wird durch die Abkühlparameter wesentlich er- würde der Austenit nach einer Haltezeit in ein perlitisches
weitert. Gefüge zerfallen. Mit zunehmender Abkühlgeschwindig-
keit verschiebt sich der eutektoide Punkt S (Abb. 16.10) zu
niedrigeren Temperaturen und Kohlenstoff-Konzentratio-
Obwohl das Kristallgitter bei der Gleichgewicht-
Werkstoffkunde

nen, sodass Austenitbereiche bis in tiefere Temperaturen


sumwandlung von Austenit in Ferrit expandiert,
(Ar1 ) bestehen bleiben. Die Phasenfelder werden durch
nimmt die Kohlenstofflöslichkeit stark ab. Wird die
die eingetragenen Linien begrenzt. Die eingetragene kri-
diffusionsgesteuerte Entmischung verhindert, bleibt
tische Abkühlgeschwindigkeit führt an der „Nase“ für
das metastabile, verspannte Martensitgitter, das die
Perlitbildung (Ar3 ) vorbei, sodass das Gefüge bis zum
Versetzungsbewegung behindert und dadurch die
Erreichen von MS austenitisch bleibt, wo die Martensit-
Festigkeit erhöht, aber die Duktilität vermindert.
bildung beginnt. Ab Mf besteht das gesamte Werkstück
aus Martensit (Abb. 16.21b).
Frage 16.9 Beispiele für isotherme und kontinuierliche ZTU-Dia-
Wie unterscheiden sich die Kristallstrukturen von Ferrit gramme für einen C35 Stahl sind in Bonusmaterial
und Martensit? zu Kap. 16, Zeit-Temperatur-Umwandlungsdiagramm,
Abb. 16.5 und 16.6 zu finden. Für die Austenitisierung
eines Werkstückes muss es durchwärmt werden. Die Wär-
meleitung erfordert Zeit bis die Wärme in den Kern des
Werkstückes durchdringt. In Abb. 16.22 ist der Tempera-
Zeit-Temperatur-Umwandlungsschaubilder turunterschied zwischen Außen und Innen skizziert. Die
(ZTU) – Härten, Anlassen, Vergüten Wärmebehandlungsdauer ist auf die Werkstückgröße ab-
zustimmen. Sobald die Austenitisierung voranschreitet,
Im thermodynamischen Gleichgewicht beginnt die tritt auch Kornwachstum ein, weshalb die Austenitisie-
Ferritbildung isotherm gemäß dem Zustandsschau- rungsdauer limitiert wird. Beim Abschrecken ist die Wär-
bild in Abb. 16.18 bei A3 , und die Umwandlung meabfuhr wichtig. In Abb. 16.22 sind unterschiedliche
von Austenit in Ferrit ist bei langsamer Abkühlung Abschreckmedien angeführt und die qualitativen Un-
bei A1 abgeschlossen. Wegen der unterschiedlichen terschiede in den Abkühlgeschwindigkeiten dargestellt.
Keimbildungsverhältnisse wird bei den Umwand- Beim Warmbadhärten erfolgt die Abkühlung in einem
lungstemperaturen zwischen Ar (refroidissement = heißen Salzbad, um vor allem einen Temperaturausgleich
Abkühlung) und Ac (chauffage = Anwärmung) unter- im Werkstück vor dem weiteren Abschrecken zu erzielen.
schieden (siehe thermische Ausdehnung von Stahl in Die Festigkeitssteigerung durch den Martensit hat den

Abb. 16.21 a ZTU-Diagramm des


eutektoiden Stahls C80, der nach
γ-Mischkristall im Gleichgewicht
Gleichgewichtsabkühlung (blau )
ausschließlich aus Perlit besteht, Ae
Temperatur

während er ab der kritischen Ab- γ-Mischkristall, Ar3


übersättigt Perlit
kühlgeschwindigkeit zu 100 % aus A r1
Martensit M besteht, der zwischen 1
MS und Mf diffusionslos entsteht (b) Eutektoid: α + Fe3C (Perlit)
Anteil Martensit

γ+ E

M γ
MS
·
Tkrit
Mf M γ+ M
0
kritische Abkühlungs- Mf MS
a geschwindigkeit Zeit lg t b Temperatur T
16.6 Ungleichgewichtsumwandlungen allotroper Metalle 549

Abb. 16.22 Schematische Dar- Austenitisierungstemperatur


stellung der Wärmebehandlung Werkstück- Ac3
zur Martensitbildung (rot ) mit un- oberfläche
Lufthärten

Temperatur
terschiedlichen Abschreckmedien;
eine nachfolgende Anlassbehand- im Inneren
Vorwärm- Warmbad- Ac1
lung (gelb ) erzeugt ein vergütetes Anlass-
temperatur härten
Gefüge temperatur
Ölhärten Karbid-
Ms
Wasser- bildung
Härten:
Martensit- härten
bildung

Werkstoffkunde
Austenitisierungsdauer Anlassdauer
Zeit

Nachteil der Versprödung. Eine Wärmebehandlung unter


Ac1 nach dem Härten erlaubt, dass die Kohlenstoff-Atome
diffundieren und eine hohe Keimdichte für Karbide ent- Austenit

Temperatur T
steht, während die Matrix das Ferritgitter annimmt. Diese Ar3
Anlassbehandlung wirkt ähnlich der Ausscheidungshär- Ar1
tung (Abschn. 16.4), und die fein verteilten Karbide ver- Az
festigen den Stahl und verleihen ihm wieder ausreichen-
de Zähigkeit. Die Kombination aus Härten (Kohlenstoff- Ms
Mf
Übersättigung) und Anlassen (Aushärten) wird als Vergü-
ten bezeichnet und ist in Abb. 16.22 dargestellt. UK OK
a Abkühlgeschwindigkeit v
Für die in Abb. 16.22 skizzierten Abschreckbedingun-
gen sind in Abb. 16.23 die Gefügeausbildungen im Ofen
Abkühlmedium
Vergleich zum ferritisch-perlitischen Gleichgewichtsge-
füge eines untereutektoiden Stahls (Abb. 16.10c) darge- Luft
stellt. Mit zunehmender Abkühlgeschwindigkeit vergrö-
ßert sich die Perlitmenge wegen der Annäherung zum b
Ferrit
eutektoiden Punkt. Die Zementit-Perlit-Streifen werden
wegen der durch die Unterkühlung erhöhten Keimdichte nimmt Salzbad
feiner (Abb. 16.23c, d). Sobald die untere kritische Ab-
kühlgeschwindigkeit (UK) überschritten wird, wandeln c ab
sich einige Austenitkörner ab der Temperatur Az in Fer-
rit mit fein verteilten Karbiden (Zwischenstufengefüge) Perlit
Öl
um. Aus dem verbliebenen Austenit wird ab der Mar-
tensit-Starttemperatur nadeliger Martensit, der unter der d wird
Martensit-Finishtemperatur in Abb. 16.23e) circa 85 % des zunehmend
feinstreifiger
Gefüges einnimmt. Bei Abkühlgeschwindigkeiten über Wasser
der oberen kritischen Abkühlgeschwindigkeit (OK) bleibt
der Austenit bis Ms erhalten und wandelt sich dann bis
e Bainit
Mf in 100 % Martensitgefüge um (Abb. 16.23f).

Martensit
Beim Abschrecken aus dem Austenitbereich be-
stimmt die Abkühlgeschwindigkeit das entstehen-
de Gefüge. Wird die untere kritische Abkühlge- f
schwindigkeit überschritten, beginnt die teilweise
Martensitbildung. Über der oberen kritischen Ab-
Abb. 16.23 Schematische Zuordnung der Gefügeausbildung eines unte-
kühlgeschwindigkeit wandelt sich der gesamte ver- reutektoiden Stahls (wie C35) zu den Abkühlbedingungen in Abb. 16.22;
bliebene Austenit in Martensit um. Nach Härtung a Sinken der Umwandlungstemperaturen mit steigender Abkühlgeschwindigkeit
erhöhen Spannungsarmglühen bzw. Anlassbehand- (Abb. 16.18); b Gleichgewichtsgefüge mit ca. 45 % Perlit; c über 80 % Perlit;
lungen die Zähigkeit. d 100 % feinstreifiger Perlit; e Unterhalb Mf ergeben sich circa 15 % Zwischen-
stufengefüge in Martensit, in f 100 % Martensit (Martensitphasenstahl)
550 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

Nr. Zustand Rp0,2, ReH Rm A Z Oberfläche mit hoher Härte (Abschn. 15.13). Typische
in MPa in MPa in % in % Einsatzbereiche oberflächengehärteter Stähle sind Zahn-
räder, Nockenwellen und Werkzeuge. Es bieten sich fol-
1 gehärtet ≈1200 ≈1400 ≤2 ≈0
gende Oberflächenhärtungsverfahren an:
2 vergütet ≥ 490 700–850 ≥14 ≥ 35
3 normal- ≥ 340 ≥620 ≥14 ≈60
geglüht Einsatzhärten durch Aufkohlen: Stähle mit niedrigem
1800 Kohlenstoffgehalt unter 0,35 % können durch Diffusi-
Hooke'sche on oberflächlich aufgekohlt werden. Durch Glühung
Gerade des Werkstückes in einem Grafitbett oder in Methan-
gasumgebung oberhalb von Ac3 √diffundiert Kohlen-
Spannung in MPa

1400 1
stoff gemäß der Diffusionslänge Dt (Abschn. 15.12)
in das austenitische Werkstück. Da die kritische Ab-
Werkstoffkunde

kühlgeschwindigkeit mit steigendem Kohlenstoffge-


1000 halt sinkt, kann die Abschreckung so gewählt werden,
2 dass nur eine oberflächennahe Schicht in Martensit
umgewandelt wird, während der Kern des Werk-
600 stückes ferritisch-perlitisch bleibt. Wie in Abschn. 15.7
(Abb. 15.44) dargestellt, ergibt der Gradient der Koh-
3 lenstoff-Konzentration einen nach innen abnehmen-
den Härteverlauf. Werkstücke können im austeniti-
200
schen Bereich auch nitriert werden (ähnlich dem Koh-
0 lenstoff diffundiert Stickstoff interstitiell in das Aus-
0 5 10 15 20 25 tenitgitter). Bei der Abkühlung bildet der Stickstoff
Dehnung in % gemäß dem Konzentrationsgradienten fein verteilte
Nitride, die eine Ausscheidungshärtung bewirken.
Abb. 16.24 Zugversuchskurven eines C45-Stahls in normalisiertem, vergüte-
Randschichthärtung durch Wärmeleitungsgradienten:
tem und gehärtetem Zustand, sowie die entsprechenden Festigkeits-, Bruchdeh-
nungs- und Brucheinschnürungswerte Werkstücke aus Stählen mit über 0,25 % Kohlenstoff
werden als Ganzes austenitisiert (z. B. Tauchhärten
in Metallschmelzbädern) und dann abgeschreckt. Die
Kühlung des Abschreckmediums wirkt in den ober-
Stähle mit einem Kohlenstoffgehalt zwischen 0,25 und flächennahen Bereichen am stärksten, während die
0,8 Gew.-% werden als Vergütungsstähle bezeichnet, da Kühlung über die relativ schlechte Wärmeleitfähigkeit
sie sich sehr gut für diese Wärmebehandlung eignen. langsam ins Innere wirkt. Gehärtet wird somit nur je-
Abbildung 16.24 vergleicht die Zugversuchskurven eines ne Randschicht, in der zumindest die untere kritische
C45-Stahls in den Zuständen gehärtet (Martensitgefüge), Abkühlgeschwindigkeit überschritten wird. Experi-
vergütet (gehärtet und angelassen) und normalgeglüht mentell ermittelt wird diese Einhärtungstiefe mittels
(von der Austenitisierungstemperatur langsam abgekühlt Jominy-Test (siehe Vertiefung).
mit ferritisch-perlitischem Gefüge). Hohe Festigkeitswer- Randschichthärtung durch oberflächliche Austenitiserung:
te sind verbunden mit relativ niedrigen Bruchdehnungs- Wenn nur eine oberflächliche Austenitisierung erfolgt,
und Brucheinschnürungswerten. wird nur die austenitisierte Schicht durch eine nachfol-
gende Abschreckbehandlung gehärtet. Das Erwärmen
Frage 16.10 einer Werkstückoberfläche über Ac3 kann auf verschie-
Wie erfolgt die Vergütung eines Stahls? dene Weise erfolgen: Ein induktive Erwärmung erfolgt
relativ rasch und ist auf oberflächennahe Bereich zy-
lindrischer Körper begrenzt. Ebenso kann die Ober-
fläche durch Gasbrenner (Flammhärten) austenitisiert
werden, was auf beliebigen Geometrien möglich ist.
Wie entstehen verschleißfeste, gehärtete Elektronstrahl- oder Laserstrahlerwärmung kann rela-
Randschichten auf duktilem Werkstückinneren tiv genau punktweise und zeitlich gesteuert werden,
sodass auch kleine Randschichtbereiche austenitisiert
Mit den in Abschn. 30.6 beschriebenen Verfahren kön- werden können.
nen Oberflächen von Werkstücken veredelt werden. Au-
ßer durch Hartstoffbeschichtungen können Stähle an der
Oberfläche durch Martensitbildung gehärtet werden, oh- Nach der örtlichen Erwärmung bzw. Aufkohlung
ne das Werkstück durchzuhärten. Dadurch bleibt das des Werkstückes mit einer der oben beschriebe-
Werkstück relativ zäh und erhält eine verschleißfeste
16.7 Die Vielfalt der Stähle 551

Vertiefung: Härten

Mit dem Jominy-Test wird die Aufhärt- und Einhärt- Der Querschnitt eines abgeschreckten Werkstückes
barkeit eines Stahls bestimmt. Beim Härten entstehen weist gemäß der Wärmeleitung zur gekühlten Oberflä-
innere Spannungen, die die Zugbelastbarkeit vermin- che ein Temperaturprofil auf, das mit entsprechenden
dern. Gradienten der thermischen Kontraktion verbunden
ist (Abschn. 15.4). Der heiße Kern kann sich unter
Beim Jominy-Test wird eine zylindrische Stahlprobe
den Druckspannungen der während der Abkühlung
vollkommen austenitisiert und heiß in eine Lagerung
kontrahierenden Oberfläche geringfügig plastisch ver-
gehängt, wo sie von unten mit einem auf die Stirn-
formen (Kriechen, Abschn. 15.12). Sobald der ganze
fläche auftreffenden Wasserstrahl gekühlt wird, wie
Querschnitt abgekühlt ist, bleiben Eigenspannungen:

Werkstoffkunde
in der Abbildung unten dargestellt wird. Auf einer
oberflächennahe Zugspannungen ausgeglichen durch
Schlifffläche wird entlang einer Erzeugenden der Här-
Druckspannungen im Inneren. Derartige Werkstücke
teverlauf mit dem Abstand von der Stirnfläche gemes-
weisen dann nur mehr eine Zugbelastbarkeit auf, die
sen (Abschn. 15.7). Die maximal erzielte Härte (Auf-
der Differenz der Elastizitätsgrenze zur Zugspannung
härtung) und jener Abstand werden bestimmt, bei dem
in der Oberfläche entspricht. Sie werden dadurch für
80 % der geforderten Härte erreicht wird (Einhärtungs-
schwingende Zugbelastungen (Abschn. 15.11) beson-
tiefe).
ders anfällig auf Schädigungen. Es wird daher ei-
ne Spannungsarmglühung unter Ac1 empfohlen, die
Austenitisierungs-
temperatur gleichzeitig eine Anlassbehandlung bedeutet. Vergüte-
te Bauteile sind daher auch spannungsarm geglüht.
Abkühlgeschwindigkeit

Lagerung
Abkühlgeschwindigkeit Materialdicke σ
Druck
T0
Abstand x

(gleichförmiges) (gleichförmiges)
Temperaturprofil 0 Spannungsprofil
T
Aufhärtung bei hoher bei hoher
Temperatur Temperatur)
erwünschte Mindesthärte Zug
80 % Mindesthärte
σ
Härte

Druck
Wasser

Einhärtungstiefe
T0 Temperaturprofil Spannungsprofil
a b Abstand x nach Abschrecken 0 nach
T Abschrecken
Versuchsanordnung beim Jominy-Test; a Eine zylindrische, austenitisierte
Probe wird über die untere Stirnfläche durch einen Wasserstrahl gekühlt; Zug
a b
b Härtemessung auf einer Schlifffläche entlang einer Erzeugenden zur Er-
mittlung der Aufhärtung (maximale Härte) und der Einhärtungstiefe (80 % a Aus dem Temperaturprofil im Querschnitt der abgeschreckten Probe
der geforderten Mindesthärte gelb ) resultiert b ein Spannungsprofil, das am Rand Zugspannungen hervorruft

16.7 Die Vielfalt der Stähle


nen Methoden erfolgt die Abschreckbehandlung,
in der nur die austenisierte Randschicht gehärtet
werden kann. Eine nachfolgende Spannungsarm- Die Stahlzusammensetzung beeinflusst sowohl die Pha-
glühung empfiehlt sich, da durch die Temperatur- sengleichgewichte als auch das Umwandlungsverhalten
gradienten beim Abschrecken innere Spannungen der Stähle. Neben Kohlenstoff beeinflussen viele andere
entstehen (Vertiefung: Härten). Legierungselemente die Gefügeausbildung durch unter-
schiedliche Wärmebehandlungen. Aus der Kombination
von Legierungselementen und Wärmebehandlungen er-
geben sich außerordentlich viele Möglichkeiten der Ge-
Frage 16.11 fügeeinstellung. Die sich ergebenden Gefügestrukturen
Mit welchen Wärmebehandlungsverfahren kann Rand- und ihre thermische Stabilität bestimmen nicht nur die
schichthärtung von Stahlbauteilen erzielt werden? mechanischen Eigenschaften, sondern auch die Korrosi-
onsbeständigkeit.
552 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

Tab. 16.3 DIN-Werkstoff- Stahlgruppennummern Beschreibung


nummernsystem für einige 1.00nn, 1.90nn Grundstähle unlegiert, ohne spezifizierte Gebrauchseigenschaften
Stahlgruppen (nn = Zählnum-
1.01–09nn, 1.90–99nn Qualitätsstähle mit spezifizierten Gebrauchseigenschaften
mern)
1.10–19nn unlegierte Werkzeugstähle
1.20–29nn Edelstähle übereutektoide Werkzeugstähle (mit Sekundärzementit)
1.30–39nn P, S < verschleißbeständige Stähle bzw. mit besonderen physikalischen Eigen-
0,035 % schaften
1.40–49nn korrosionsbeständige Stähle (> 12 % Cr)
1.50–67nn niedriglegierte Bau- und Maschinenbaustähle
Werkstoffkunde

Einfluss der wichtigsten Legierungselemente Grundstählen sind Angaben über Reinheit und Eigen-
schaften nicht erforderlich, hingegen sind Qualitätsstähle
der Stähle
für bestimmte Anwendungen spezifiziert, nicht jedoch
für Wärmebehandlungen. Bei den unlegierten Stählen
In Tab. 15.4 in der Vertiefung: Bezeichnung der Stähle sind mehr als 0,1 % folgender Elemente zulässig: Mangan
in Abschn. 15.2 sind die DIN-Kurzzeichen und die EN- < 1,6 %, Silizium < 0,5 %, Kupfer < 0,4 %, Chrom, Nickel
DIN-Werkstoffnummern (DIN-EN-10027) einiger Stähle je < 0,3 %. Für unlegierte Baustähle sind die Streckgrenze
angeführt. Tabelle 16.3 zeigt das allgemeine DIN-Num- und Zähigkeit (Kerbschlagarbeit) wichtig, aber auch tech-
merierungssystem am Beispiel einiger Stahlgruppen. nologische Eigenschaften wie Schweißbarkeit, Verform-
und Zerspanbarkeit. Unlegierte Stähle mit weniger als
Abbildung 16.25 zeigt eine Übersicht der Einteilung der 0,35 % Kohlenstoff können durch Aufkohlung gehärtet
Eisen-Basiswerkstoffe nach der chemischen Zusammen- werden und werden als Einsatzstähle bezeichnet. Unle-
setzung. Vor allem für die Schweißeignung werden die gierte Stähle mit 0,25–0,8 % Kohlenstoff (untereutektoid)
Verunreinigungen an Phosphor und Schwefel jeweils un- können sowohl vergütet als auch über Austenitisierung
ter 0,045 % gehalten, bei Edelstählen unter 0,035 %. Bei randschichtgehärtet werden (Vergütungsstähle). Übereu-

Eisenwerkstoffe

Gusseisen - DIN EN 1560


Stahl - DIN EN 10 027-1 z.B.: GJH-1000, GJS-700, GJV-600

nach Verwendungszweck nach chemischer


und mechanischen oder Zusammensetzung
physikalischen Eigenschaften

unlegiert legiert

niedrig hoch
Anteil der einzelnen Anteil mind. eines
Legierungselemente <5 % Legierungselements >5 %

z.B. S355JR C10 42CrMo4 X6CrTi17 X6CrNiNb18-10


Baustahl Einsatzstahl Werkzeugstahl korrosionsbeständiger Kaltarbeitsstahl
Re ≥ 355 MPa, 0,10 % C Federstahl ferritischer Stahl nichtrostender Stahl
AV(RT) ≥ 27 J C45 0,42% C + 1% Cr, 0,06 % C + 17 % Cr austenitisch,
DC04 Feinblech Vergütungsstahl + <0,3% Mo + <1 % Ti 0,06 % C + 18 % Cr + 10 % Ni
140 < Re < 220 MPa 0,45 %C + <1 % Nb

Abb. 16.25 Einteilung der gebräuchlichsten Stähle nach der Zusammensetzung gegenüber Baustählen, die nach der Festigkeit klassifiziert werden
16.7 Die Vielfalt der Stähle 553

δ δ
Temperatur T

Temperatur T

Temperatur T
A4 A4 A4

γ γ α, δ

γ
A3 A3 A3
α
α

Fe Fe Fe
Konzentration X in Gew.-% Konzentration X in Gew.-% Konzentration X in Gew.-%

Werkstoffkunde
a X = Ni, Mn, Co b X = C, N, Cu, Zn c X = Al, Si, Ti, Cr, Mo, Be, V, W

Abb. 16.26 Einfluss der Legierungselemente auf die Größe des Austenitbereichs im schematischen Zustandsdiagramm Eisen-X; a Austenitbildner; b Eutekto-
idbildner; c Ferritbildner (Verbindung der Phasenfelder δ und α)

tektoide, unlegierte Stähle werden als Werkzeugstähle nitischen Stähle der Legierungskombination 18 % Chrom
eingesetzt, da sie durch Sekundärkarbide verschleißfest und 8 bis 11 % Nickel verwendet (z. B. X5CrNi18-10 in
sind. Niedriglegierte Stähle enthalten vor allem geringe Abb. 16.27). Diese Legierungskombination erfordert den
Mengen karbidbildender Elemente (Chrom, Molybdän), geringsten Nickel-Gehalt zur Stabilisierung des Auste-
die stabilere Karbide bilden als Eisen. Sie werden als nits, solange keine extremen Abkühlgeschwindigkeiten
Werkzeugstähle eingesetzt, wobei die Ausscheidungshär- oder hohe Kaltumformgrade (z. B. Verformungsmarten-
tung durch fein verteilte Karbide genutzt wird. Um die sit beim Drahtziehen) angewandt werden. Der hohe
Legierungselemente ganzzahlig in die Kurzbezeichnung Chrom-Gehalt gewährleistet die Korrosionsbeständigkeit
aufzunehmen, werden für niedriglegierte Stähle verschie- (Abschn. 15.14). Unterhalb 650 °C sind in austenitischen
dene Multiplikatoren verwendet (siehe Beispiel 42CrMo4 Stählen nur mehr unter 0,05 % Kohlenstoff löslich. Hö-
in Abb. 16.25): herer Kohlenstoffgehalt bewirkt Karbidausscheidung im
Austenit, die zur Ausscheidungshärtung dienen kann.
Faktor 4: Cr, Co, Mn, Ni, Si, W; Hochtemperaturstähle (Einsatztemperaturen bis 1000 °C)
Faktor 10 : Al, Cu, Mo, Nb, Ti, V; sind voll austenitisch und erhalten ihre Festigkeit und
Faktor 100 : C, N, P, S; Kriechbeständigkeit durch Mischkristall- und Ausschei-
dungshärtung. X10CrNiAlTi 32-21 enthält Titan- und
Faktor 1000 : B. Chrom-Karbide (bzw. Karbonitride), zwischen 600 °C und
800 °C Ni3 (Al,Ti)-Überstrukturausscheidungen, die sich
Bei den hochlegierten Stählen ist zu unterscheiden, ob die
bei höheren Temperaturen auflösen und deren Legie-
dominanten Legierungselemente das Phasengebiet des
rungselemente dann zur Mischkristallfestigkeit beitragen.
Austenit vergrößern (kubisch flächenzentrierte Struktur
mehr stabilisiert) oder das des Ferrits (kubisch raum- Stähle mit etwa 22 % Chrom und circa 5 % Nickel (und
zentrierte Struktur mehr stabilisiert). In Abb. 16.26 sind etwas Stickstoff) können im Austenit-δ-Ferrit-Zweipha-
Zweistoffzustandsschaubilder für Eisen und einige Legie- sengebiet so geglüht werden, dass sie ungefähr zur Hälfte
rungselemente stilisiert dargestellt. Das wichtigste Auste- aus Ferrit- und Austenitkörnern bestehen (Abb. 16.27).
nit bildende Legierungselement ist Nickel (Abb. 16.26a). Das Duplexgefüge kann bei mäßiger Abkühlgeschwin-
Schon geringe Mengen an Nickel und Mangan erhöhen digkeit erhalten bleiben. Diese sogenannten Duplexstähle
die Zähigkeit bei tiefen Temperaturen (kaltzähe Stähle). (z. B. X2CrNiMoN 22-5-3) zeichnen sich durch hohe Kor-
Ab 25 % Nickel im Eisen verschwindet der ferritische rosionsbeständigkeit, Zähigkeit und Festigkeit aus.
Phasenbereich und somit auch die Tieftemperaturver-
sprödung (nur Hochlage in Abb. 15.70). In Kombination Andererseits ist das kubisch raumzentrierte Chrom ein
mit anderen Elementen sinkt diese Grenzkonzentration. Ferrit stabilisierendes Element. Bei einem Kohlenstoffge-
Abbildung 16.27 zeigt das nach Schäffler benannte Dia- halt unter 0,01 % genügen 12 % Chrom, dass der auste-
gramm zur Phasenbildung in Abhängigkeit von Auste- nitische Phasenbereich verschwindet und die Legierung
nit bzw. Ferrit stabilisierenden Elementen. Die Koordi- bis zum Aufschmelzen ferritisch bleibt. Der δ-Ferritbe-
naten der Nickel- und Chrom-Äquivalente berücksich- reich wird dann nicht mehr durch einen γ-Bereich vom α-
tigen die Wirksamkeit der Legierungselemente additiv Ferrit getrennt (Abb. 16.26c). Das Absenken des Kohlen-
mit den angegebenen Faktoren. Die austenitischen Stäh- stoff-Gehalts erhöht die Zähigkeit der ferritischen Chrom-
le sind nicht martensitisch härtbar und unmagnetisch. Stähle, die Superferrite genannt werden. Die Ferritgrenz-
Am häufigsten werden die korrosionsbeständigen, auste- konzentration verschiebt sich bei 0,1 % Kohlenstoff bis
554 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

Abb. 16.27 Schäffler-Diagramm 30


zur Phasenbildung in Abhängig-
keit von Austenit stabilisierenden
(Ni-Äquivalent) und Ferrit stabi-

Ni + 30 C + 0,5 Mn + 7,5 N in Gew.-%


24
lisierenden (Chrom-Äquivalent)
Austenit α
Legierungselementen; Position
γ 0% %
der korrosionsbeständigen, auste- 5
%

Nickel-Äquivalent:
nitischen 18-10-Legierungen (mit 18 10
gelbem Stern markiert ) α+γ
18Cr10Ni %
20
γ+M 0%
4
l
12 stah 0 %
M uplex 8
γD
härtbar α+
γ+α+M 100 %
Werkstoffkunde

6 α+M
Dualphasen- Ferrit

α+
stahl α

M
0
0 4 8 12 16 20 24 28 32 36 40
Chrom-Äquivalent: Cr + Mo + 1,5 Si + 0,5 (Ta + Nb) + Ti in Gew.-%

21 % Chrom (Abb. 16.27). Die ferritischen Chrom-Stähle hen Einsatztemperaturen weitergeht und ein sogenanntes
sind nicht umwandlungsfähig und können zur Kompen- „Sekundär“-Härtemaximum für eine gewisse Betriebs-
sation des Austenit bildenden Einflusses von Kohlenstoff dauer wirkt, bevor die Ausscheidungen überaltern. Die
und Stickstoff durch andere in Abb. 16.26c und 16.27 Zusammensetzung der Schnellarbeitsstähle (Tab. 15.4) ist
angeführte Elemente stabilisiert werden (z. B.: X6Cr17Ti folgendermaßen genormt: HSw-x-y-z, wobei die Buch-
in Abb. 16.25). Sogenannte halbferritische Stähle (z. B.: staben w-x-y-z für die Gew.-% der Hauptlegierungsele-
X10Cr13 im Dualphasenbereich in Abb. 16.27) sind auste- mente in bestimmter Reihenfolge stehen: w..W, x..Mo,
nitisierbar und somit umwandlungsfähig. Stähle mit über y..V, falls vorhanden z..Co. Neben den Sonderkarbidbild-
12 % Chrom sind korrosionsbeständig („nicht rostende nern Wolfram, Molybdän, Vanadium wirkt Kobalt zur
Stähle“). Die maximalen Einsatztemperaturen komplexer Mischkristallverfestigung. Zum Beispiel HS6-5-2-5 heißt
ferritischer Stählen liegen bei 620 °C. Bis zu dieser Tempe- FeW6Mo5V2Co5 und wird beispielsweise für HS-Bohrer
ratur können sie in Dampfturbinen eingesetzt werden. eingesetzt.

Eutektoid bildende Elemente (Abb. 16.26b) ermöglichen


die Ausscheidungshärtung (Abschn. 16.4). Kohlenstoff Nach der Zusammensetzung werden unlegierte,
kann als tertiäre Karbide und Stickstoff als Nitride aus- niedrig legierte und hochlegierte Stähle unterschie-
geschieden werden. Kupfer kann in Spezialstählen durch den. Zu Letzteren gehören ferritische Chrom-Stähle,
Lösungsglühen und Warmauslagern als kugelige Teilchen austenitische Chrom-Nickel-Stähle und Schnellar-
ausgeschieden werden. Durch Zulegieren von Elemen- beitsstähle.
ten, die stärkere Karbidbildner (Sonderkarbide) sind als
Eisen, wird die Ausscheidungshärtung wesentlich er-
höht. Die stabileren Sonderkarbide reduzieren die wasser- Frage 16.12
stoffinduzierte Spannungsrisskorrosion wesentlich (Ab- Ordnen Sie folgende Stahlkurzbezeichnungen den Stahl-
schn. 15.14). In dieser Hinsicht sind Chrom, Molybdän, gruppen zu und beschreiben Sie ihre Zusammensetzung:
Wolfram, Niob, Vanadium und Titan von Bedeutung. So- C80, 100Cr6, X10Cr13, X5NiCr32-20, HS10-4-3-10.
genannte mikrolegierte Stähle enthalten weniger als 1 %
Niob oder Vanadium, um fein verteilte tertiäre Karbi-
de zu erzeugen, die nicht nur Ausscheidungsverfesti-
gung bewirken, sondern auch zur Kornfeinung beitragen Wie stellt sich bei mehrphasigen Stählen
(Feinkornbaustähle). In Werkzeug- und Warmarbeitsstäh- das thermomechanische Gefüge ein
len (Betriebstemperatur bis 400 °C) erhöhen sekundäre
Chrom-, Molybdän- und/oder Wolfram-Karbide sowohl
die Verschleißbeständigkeit als auch die Warmfestigkeit. Die in Abschn. 16.6 beschriebenen Mechanismen zur
Entstehung von Ungleichgewichtszuständen in Stählen
Für Werkzeuge für Einsatztemperaturen bis 600 °C wer- können auch während der Verarbeitung eingesetzt wer-
den sogenannte Schnellarbeitsstähle eingesetzt, die nach den. Die Stranggussbrammen werden über 1000 °C an-
dem Zustandsdiagramm sowohl primäre, sekundäre und gewärmt und in mehreren Schritten warm umgeformt:
tertiäre Sonderkarbide enthalten. Diese werden so wär- zu Blechen oder Profilen gewalzt, oder zu Formteilen ge-
mebehandelt, dass die Ausscheidungshärtung bei ho- schmiedet. Normalerweise erfolgt dies im austenitischen
16.7 Die Vielfalt der Stähle 555

Vertiefung: TM-Walzen

Thermomechanisches Walzen (TM) bedeutet, die Küh- Die Temperaturführung nach Pfad (1) beginnt mit ei-
lung und Walzschritte so zu steuern, dass der Stahl in ner raschen Unterkühlung des Austenits und einer
bestimmten Phasengebieten der Ungleichgewichtszu- Umformung innerhalb weniger Sekunden. Wenn die-
stände umgeformt wird. ses Blech aus der Walze kommt, wird es sofort mit
Warmwalzen im Austenitzustand erlaubt hohe Verfor- Wasser abgeschreckt, sodass es sich in Martensit um-
mungsgrade mit relativ geringen Walzkräften. Abbil- wandelt. Das Produkt ist ein Martensitphasenstahl
dung 16.28 zeigt vereinfacht drei Beispiele zu Tempera- (MS) mit hoher Festigkeit, aber geringer Duktilität und
turführungen für Warmwalzschritte für einen eutektoi- Zähigkeit (Abb. 16.30e). Falls die Umwandlung nicht
vollständig ist, verbleibt metastabiler Restaustenit im

Werkstoffkunde
den Stahl, der unter Gleichgewichtsbedingungen rein
perlitisch würde. Die verschiedenen Temperaturfüh- Stahl, der diesem etwas Duktilität verleiht (TRIP-
rungspfade sind in einem isothermen ZTU-Diagramm Stahl). Bei weiterer Verformung wird der Restaustenit
eingetragen, um die Möglichkeiten der Gefügeeinstel- auch zum Martensit und erhöht die Festigkeit.
lung durch TM-Walzen zu veranschaulichen.
Die Temperaturführung nach Pfad (2) beginnt mit der
Umformung noch vor der Perlitbildung, die aber wäh-
Austenit, stabil
rend der Walzschritte abgeschlossen wird. Die Keim-
Ac3 bildungsrate für Ferrit und Karbide wird durch die Un-
Temperatur T

Ac1
2 terkühlung zusammen mit der Verformung sehr hoch,
Perlit sodass fein strukturierter Perlit ohne ausgeprägt lamel-
Austenit,
metastabil lares Gefüge entsteht. Nach der Abkühlung befindet
Bainit sich der perlitische Stahl im Gleichgewichtszustand, ist
1 3 durch die Karbide und ein feinkörniges Gefüge verfes-
tigt und relativ duktil.
MS
Martensit
Die Temperaturführung nach dem Pfad (3) beginnt
ebenfalls mit der Umformung im metastabilen Auste-
Zeit t nitbereich, aber bei tieferer Temperatur. Die Walzschrit-
te führen in den Zwischenstufenbereich, in dem die
Abb. 16.28 Skizze eines bereichsweisen isothermen ZTU-Diagramms für
dynamische Rekristallisation (Abschn. 15.12) der Aus-
einen eutektoiden Stahl mit eingetragenen Haltezeiten für thermomechani-
sche Umwandlungen des Austenit; (1 ) Walzen im γ-Zustand und Härten; tenitkörner ein feinkörnig bainitisches Gefüge ergibt.
(2 ) Walzbeginn im γ-Zustand bis zur vollständigen Perlitbildung; (3 ) Walz- Fein verteilte Karbide in feinkörnigem Ferrit ergeben
beginn im γ-Zustand bis zur vollständigen Bainitbildung hohe Festigkeit und Zähigkeit.

Zustand des Stahls, in dem er sehr duktil ist. Danach log zu Verbundwerkstoffen erzielt. Das folgende Beispiel
folgt die Abkühlung, die Gefügezustände ergibt, die dem erläutert vorerst die Herstellung von partiellem Mar-
kontinuierlichen ZTU-Diagramm entsprechen. Die Küh- tensitphasenstahl (PM) ohne gleichzeitige Umformung.
lung zwischen bzw. nach den verschiedenen Stufen der Ein untereutektoider Stahl wird im thermodynamischen
Umformung kann geregelt werden, um die Gefügeum- Gleichgewicht in das Zweiphasengebiet α + γ erwärmt.
wandlungen nach partiell isothermen ZTU-Diagrammen Entsprechend dem Kohlenstoffgehalt und der Tempera-
in bestimmte Phasengebiete zu lenken. Die Umformung tur stellt sich ein Mengenverhältnis dieser beiden Phasen
erfolgt während der Haltezeit in dem jeweiligen Pha- nach dem Hebelgesetz ein. In Abb. 16.29a ist dies für
sengebiet. In der Vertiefung TM-Walzen werden einige 30 % γ und 70 % α bei einer Temperatur TPM darge-
Beispiel für Temperaturführungen beim Warmwalzen be- stellt. Wird dieses Gefüge schneller als die obere kritische
schrieben. Abkühlgeschwindigkeit (OK, Abb. 16.18) abgeschreckt,
wandeln sich die γ-Körner in Martensit um (Abb. 16.29b
Die Gefügezustände von Stahl (ohne Berücksichtigung und c). Durch das diffusionslose Umklappen der Kris-
der Möglichkeiten der Ausscheidungshärtung) erstrecken tallstruktur erzeugen die Martensitkörner innere Span-
sich von duktilem Ferrit und Austenit über hochfeste nungen (Abb. 16.19c), die die Ferritkörner verformen
feinperlitische oder bainitische Gefüge bis zu höchstfes- und dabei verfestigen. Das Ergebnis ist ein PM-Stahl,
tem Martensit geringer Zähigkeit. Durch die Mischung der wie ein durch Teilchen verstärkter Verbundwerkstoff
dieser Gefüge werden Eigenschaftskombinationen ana- aus in Ferrit eingebetteten Martensitnadeln aufgebaut ist
556 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

Leitbeispiel Antriebsstrang
Werkstoffbeispiele für die ausgewählten Bauteile

Um die Anforderungsprofile für eine Turbine eines fahren zu wählen. Das während der Verarbeitung aus-
Turboladers, ein Kurbelgehäuse eines Verbrennungs- gebildete Gefüge bestimmt das Eigenschaftsprofil der
Werkstoffe im Bauteil (siehe Leitbeispielbeschreibun-
Werkstoffkunde

motors und seiner Ölwanne und für Getriebeteile zu


erfüllen, sind die geeigneten Werkstofftypen mit ihren gen in Abschn. 15.3 und 15.6).
speziellen Formgebungs- und Weiterverarbeitungsver-

Bauteile Legierungen Eigenschaftgebende Verarbeitung


Siliziumnitrid Si3 N4 hochrein gesintert;
Ni-Basislegierung IN718 Feinguss (Abb. 30.26–30.29), auste-
50-55 % Ni, 17-21 % Cr, 3 % Mo, 1 % Co, nitisch (Ni), korrosionsbeständig
> 1 % Ti, > 1 % Al, 5 % Nb, Rest Fe (Cr), hochwarmfester Mischkristall,
(Superlegierung) Warmauslagerung für γ -Überstruk-
turausscheidungen (Bonusmaterial zu
Abschn. 15.6: Durchstrahlungselektro-
nenmikroskopie, Abb. 15.6a)
EN-GJV-300 (Grauguss) 3,6–3,8 % C, Mg-Impfung, Sandguss, rundlicher
2,1–2,6 % Si, > 1 % Mn, 0,02–0,04 % Mg Grafit in ferritisch-perlitischer Matrix
(Rm >300 MPa, A5 >9 %);
AlSi9Cu3(Fe) 8–11 % Si; 2–4 % Cu; Sand- oder Druckguss (TiB2 -
1 % Fe; je 0,6 % Mn, Ni; > 0,6 % Mg; Kornfeinung) siehe Abschn. 30.2,
> 0,3 % Ti, nah-eutektische Legierung Al-Si12 Eutektikum vernetzt mit
Cu-Fe-Ni-(Mn-)Aluminiden ergibt
Warmfestigkeit, Spannungsarmglü-
hen ergibt Si-Einformung und Mg2 Si-
Ausscheidung (Rp0,2 >120 MPa)

Polypropylen (PP) Thermoplast Spritzguss (Abb. 30.48), teilkristalline


Struktur, dämpfend

Beispiele unlegierter Stähle: C10 Randschichthärtung der Zahnräder


(0,1 % C), und Wellen Aufkohlung (Einsatzhär-
C22E (0,22 % C) ten)
oberflächliche Austenitisierung, vergüt-
bar;
Niedrig legierter 100Cr6 (1 % C, Warmformgebung, perlitisch mit Cr-
1,5 % Cr, > 0,5 % Si, Mn; hochrein) Karbiden, Wasser- oder Ölhärtung,
Lagerschalen spannungsarmglühen
AZ91 (MgAl9Zn1) (Abschn. 16.6) Druckgusslegierung für
Gehäuse, T5 ausgelagert (siehe Bonus-
material zu Abschn. 15.6: Korngefüge,
Abb. 15.8b)
16.7 Die Vielfalt der Stähle 557

γ
A3

T
70 % α 30 % γ Ab s
TPM ch
α+γ r
α A1 α Perlit

ec
M

ken
α
γ α

Erwärmung
α + Fe3C Bainit M M
α α
M Martensit
M
a C in Gew.-% b log t c

Werkstoffkunde
Abb. 16.29 Illustration der Herstellung des Gefüges eines partiell martensitischen Stahls (PM); a Erwärmung eines untereutektoiden Stahls in das α + γ-Zwei-
phasengebiet des Eisen-Kohlenstoff-Gleichgewichtszustandsdiagramms; bei der Temperatur TPM stellt sich ein Gefüge mit 30 % γ ein; b Abschrecken dieses Gefüge
gemäß kontinuierlichem ZTU-Diagramm über der oberen kritischen Abkühlgeschwindigkeit ergibt c 30 % Martensit eingebettet in durch die Martensitumwandlung
verformte Ferritkörner mit erhöhter Versetzungsdichte

Transformation
Dual-Phasen Complex- Partiell- Martensit-
induced
Stähle Phasen martensitische Phasen
Plasticity
DP Stähle CP Stähle PM Stähle MS
Stähle TRIP

Streckgrenze Streckgrenze Streckgrenze Streckgrenze Streckgrenze


330–450 MPa 380 – 420 MPa 680 – 700 MPa 900 – 1100 MPa 1000 – 1400 MPa
Bruchdehnung Bruchdehnung Bruchdehnung Bruchdehnung Bruchdehnung
22–24 % 22–26 % 10 % 8% 5%

M
α α
α γ M
B
α α
α γ α α M
B M
B α γ B α
α B α B
α α
α + <20 % M α + γ+ B α+ B + M α + >20 % M 100 % M

T γ TDP γ A3
α+γ α+γ
α α α T Ae
α
Temperatur

Temperatur

Temperatur

α + P + Fe3C γ P γ P α α + P + Fe3C γ P
A3Fe C A3Fe C
A1 α B B A1 Temperaturlinie α B
P P
γ γ
B B
T M M M T M M
log t log t
a b Zeit c Zeit d e Zeit

Abb. 16.30 Schematische Übersicht der Mehrphasenstähle und ihrer mechanischen Eigenschaften mit skizzierten Gefügeanteilen und der qualitativen Darstellung
der Temperaturführung (rote Linien ) zu deren Herstellung: Zustands- und ZTU-Diagramm für a DP-Stahl und d PM-Stahl; kontinuierliche ZTU-Diagramme für b TRIP-
Stahl, c CP-Stahl, e MS-Stahl

(Abb. 16.30d). PM-Stahl weist höchste Festigkeit bei hö- hen Diese Stähle werden Dualphasenstahl genannt (DP,
herer Zähigkeit als 100 %-ige Martensitphasenstähle (MS, Abb. 16.30a). Beim thermomechanischen Walzen kann
Abb. 16.30e) auf. Wird das Phasenmengenverhältnis α:γ das Warmwalzen in die Ferritnase geführt werden, bis
so eingestellt, dass sich mehr als 80 % Ferrit bildet, kön- ein Teil des Austenitgefüges umgewandelt ist. Durch
nen beim Abschrecken maximal 20 % Martensit entste- das folgende Abschrecken wird der restliche Austenit in
558 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen

Martensit oder Bainit umgewandelt. Wenn der gesamte


Austenit in Martensit umwandelt wird, entsteht je nach Weiterführende Literatur
der Ausgangsmenge an Austenit DP- oder PM-Stahl. Ent-
stehen beide Umwandlungsstrukturen, wird der Stahl Askeland DR (1996) Materialwissenschaften, Springer-
Complexphasenstahl (CP, Abb. 16.30c) genannt, der sich Spektrum
aus Ferrit, Bainit und einigen Martensitinseln zusammen- Bargel HJ, Schulze G (Hrsg.) (2012) Werkstoffkunde,
setzt. Zum Unterschied zum CP-Stahl wird TRIP-Stahl 11. Auflage, Springer
dadurch erzeugt, dass er nur in das Bainitphasengebiet
abgeschreckt wird, in dem nicht der gesamte Austenit DIN EN 10027-1 Kurznamen der Stähle, DIN EN 10027-2
umgewandelt wird (Abb. 16.30b). Es verbleiben 5–10 % nach Nummernsystem; DIN EN 573-2-4, Aluminiumle-
Restaustenit, der bei nachfolgender Verformung in Mar- gierungen-Kurzzeichen, DIN EN 12258-1:2012-08: Alu-
tensit umklappt und den Stahl weiter verfestigt. Die minium und Aluminiumlegierungen
Werkstoffkunde

Bezeichnung „umwandlungsinduzierte Verformbarkeit“ Hornbogen E, Eggeler G, Werner E (2008) Werkstoffe,


(transformation induced plasticity) soll auf die Duktilität Springer
des Materials hinwiesen, die durch die verformungsindu-
zierte Umwandlung vermindert wird. Ilschner B, Singer R (2010) Werkstoffwissenschaften und
Fertigungstechnik: Eigenschaften, Vorgänge, Technolo-
gien, Springer
Frage 16.13
Welche Veränderung erfährt ein Stahl beim thermomecha- Reissner J (2012) Werkstoffkunde für Bachelors, Hanser
nischen Walzen? Roos E, Maile K (2015) Werkstoffkunde für Ingenieure,
5. Aufl., Springer

Die chemische Zusammensetzung dieser unlegierten bis Weißbach W (2010) Werkstoffkunde, 17. Aufl., Vieweg
niedrig legierten Stähle unterscheidet sich nur gering- Teubner
fügig, aber die Variation der Gefügezusammensetzun-
gen bewirkt eine Festigkeitsbandbreite zwischen 140 und
1400 MPa bei entsprechenden Duktilitätsunterschieden
(in Abb. 16.30 durch die Bruchdehnung repräsentiert). Bonusmaterial

Die Eigenschaftsprofile der Stähle können durch Bonusmaterial auf der Internetseite des Buches
Kombinationen der Gleichgewichts- und Ungleich- https://www.springer.com/de/book/9783662558812
gewichtsphasen in weiten Bereichen eingestellt wer- Vertiefung: Erstarrungskinetik eines vollkommen misch-
den: Ultralow-Kohlenstoff-Stähle, ferritisch-perliti- baren Zweistoffsystems
sche Stähle, perlitische Stähle mit Sekundärkarbi-
den, PM- und MS-Stähle, DP-, CP und TRIP-Stähle, Vertiefung: Eutektische Erstarrung im Zweistoffsystem
ferritische Chrom-Stähle, austenitische Stähle, Du- Aluminium – Magnesium
plexstähle, Schnellarbeitstähle. Vertiefung: Zeit–Temperatur-Umwandlungs-Diagramm
(ZTU)

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 16.1 Durch Erhöhung der Keimdichte bei der wicht mit einer Flüssigkeit für den Konzentrationsbereich
Phasenbildung mittels heterogener Keime (Defekte) und/ an, die Soliduslinie gibt demgegenüber die maximale
oder Unterkühlung, durch die die kritische Keimgröße Temperatur für das Gleichgewicht mit einer festen Pha-
verkleinert wird. se für den Konzentrationsbereich an. Bei Temperaturen
innerhalb des Zweiphasengebietes stehen die feste und
Antwort 16.2 Die Liquidus- und Soliduslinie begrenzen die flüssige Phase mit den jeweiligen Konzentrationen
das Zweiphasengebiet flüssig-fest durch die voneinander auf der Solidus- bzw. Liquiduslinie im Gleichgewicht. Die
abhängigen Variablen T und Konzentration. Die Liqui- Mengenverhältnisse können mit der Regel der abgewand-
duslinie gibt die minimale Temperatur für das Gleichge- ten Hebelarme abgeschätzt werden.
Antworten zu den Verständnisfragen 559

Antwort 16.3 Im Schliffbild ist eutektisches Gefüge an bide streben dabei eine kugelige Einformung an, um die
feinstrukturiertem, meist streifigem Gemenge der beiden Grenzflächenenergie zu vermindern. Die kugeligen Kar-
gleichzeitig erstarrten Phasen erkennbar. Eutektikum er- bide erhöhen die Duktilität und die Zähigkeit gegenüber
starrt im eutektischen Punkt mit zwei unterschiedlichen dem streifigen Perlitgefüge.
festen Phasen.
Antwort 16.9 Ferrit hat eine kubischraumzentrierte Struk-
Antwort 16.4 Die Grenze für Stahl ist die maximale tur mit sehr geringer Kohlenstoff-Löslichkeit. Martensit
C-Löslichkeit im Austenit. Laut Fe-C-Diagramm haben hat eine ähnliche Kristallstruktur, aber die Elementarzelle
Stähle maximal 2,1 % C (wenn Stähle mit C < 2,1 % ge- ist tetragonal verzerrt wegen der Kohlenstoff-Einlagerun-
gossen werden, heißt das Produkt Stahlguss). Gusseisen gen entlang der c-Achse.
hat um 4,3 % C in der Umgebung des eutektischen Punk-
tes. Stahl ist historisch schmiedbar, jedenfalls warm- und Antwort 16.10 Unter UK: mit steigender Abkühlge-
kaltumformbar. Gusseisen ist wegen seines eutektischen schwindigkeit feiner strukturiertes ferritisch-perlitisches

Werkstoffkunde
Gefüges nicht umformbar, weder Grauguss noch Weißes Gefüge;
Gusseisen. bei und über UK: bei Abkühlung unter Az aber über Ms
Antwort 16.5 Eutektoider Stahl besteht im Gleichge- Bainit, bei Abkühlung unter Ms auch Martensit;
wichtszustand aus Perlit und enthält 0,8 % C, untereu- bei und über OK: entsteht Martensit bei Abkühlung unter
tektoider Stahl enthält weniger C und besteht daher aus Ms , unter Mf ist der gesamte Austenit in Martensit umge-
Ferrit um Perlit, während übereutektoider Stahl zwischen wandelt.
0,8 und 2,1 % C enthält und somit Sekundärzementit um
Perlit aufweist. Alle diese Stähle scheiden unter Ae terti- Vergüten = Härten + Anlassen (Martensitnadeln scheiden
ären Zementit aus. Karbide aus und nehmen Ferritstruktur an, d. h. aus der
Umwandlungshärtung wird Ausscheidungshärtung).
Antwort 16.6 Grauguss ist zäher als weißes Gusseisen
und dämpft elastische (akustische) Schwingungen stär- Antwort 16.11 a) nur der Rand wird austenitisiert vor
ker. dem Abschrecken, b) die kritische Abkühlgeschwindig-
keit wird nur am Rand überschritten; c) nur der Rand
Antwort 16.7 Kaltauslagerung erfolgt nach dem Abschre-
wird aufgekohlt und gehärtet.
cken von der Lösungsglühtemperatur bei Raumtempe-
ratur, wo die Aluminiummatrix sowohl an Legierungs- Antwort 16.12
elementen als auch an Leerstellen übersättigt ist. Je grö-
ßer die Abschreckgeschwindigkeit desto effizienter ist Kurzbe- Stahlgruppe wichtigste Legie-
die Kaltaushärtung. Wegen der starken Unterkühlung zeichnung rungselemente
ist der kritische Keimradius für die Phasenbildung sehr C80 unlegiert 0,8 % C
klein (nm-Bereich), es besteht eine hohe Keimdichte und 100Cr6 niedrig legiert 1 % C, 1,5 % Cr
die Leerstellenübersättigung ermöglicht Wachstum dieser X10Cr13 Hoch legiert, halb ferritisch 0,1 % C 13 % Cr
Keime. Es bilden sich im Allgemeinen intrakristallin fein X5NiCr32-20 hoch legiert, austenitisch 0,05 % C, 32 % Ni,
verteilte, kohärente Ausscheidungen (< 10 nm) metastabi- 20 % Cr
ler Phasen aus Al und den Legierungselementen sowie HS 10-4-3-10 Schnellarbeitsstahl 10 % W, 4 % Mo,
Leerstellen. Im Laufe der Zeit „heilen“ die überschüssigen 3 % V, 10 % Co
Leerstellen aus und das Ausscheidungswachstum geht zu
Ende (nach etwa 2 Monaten bei Raumtemperatur).
Antwort 16.13 Das Material wird warm umgeformt, wo-
Antwort 16.8 Perlit entsteht durch Abkühlen des Austenit bei sich die Temperatur ändert. Sobald die Umwand-
im eutektoiden Punkt durch Keimbildung von Ferrit- und lungstemperatur Ar1 bzw. Az unterschritten werden, be-
Fe3 C-Lamellen. Da die C-Löslichkeit im Ferrit sehr gering ginnt die Umwandlung. Gleichzeitig entstehen durch die
ist, diffundiert Kohlenstoff heraus und bildet Karbide. Da Umformung vermehrt Keime sowohl für die Umwand-
eine lamellare Struktur kurze Diffusionswege hat, entste- lung als auch für die Rekristallisation. Die Verweilzeit
hen Lamellenpakete aus Ferrit und Fe3 C. Weichglühen in den entsprechenden Temperaturintervallen (isotherm
erfolgt nahe der eutektoiden Temperatur Te , um Diffusion oder bei kontinuierlicher Abkühlung) definiert die Men-
unterhalb des Austenitbereiches zu ermöglichen. Die Kar- ge der umgewandelten Phasen.
Thermodynamik Teil
III
Inhaltsverzeichnis

17 Grundlagen der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563


18 Die Hauptsätze der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579
19 Stoffe und deren thermodynamische Beschreibung – Materialgesetze 611
20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik . . . . . . . . . . . 627

Thermodynamik
21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse . . . . . . . . 649

561
Grundlagen der
Thermodynamik
17
Wie hilft die
Thermodynamik bei
Problemen im
Maschinenbau?
Was sind System und
Systembilanz?
Welche Systemarten gibt
es?
Welche Energiearten und
-formen gibt es?

Thermodynamik
17.1 Geschichte und Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564
17.2 Wie man Systeme beschreibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
17.3 Temperatur und Gleichgewichtspostulate . . . . . . . . . . . . . . . . . 569
17.4 Energiearten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570
17.5 Die allgemeine Form von Bilanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 563


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_17
564 17 Grundlagen der Thermodynamik

Die Kap. 17 bis 21 befassen sich mit der Technischen Thermody- pragmatische Betrachtungsweise mithilfe der makrosko-
namik. Sie geben einen Einstieg in diese allgemeine Energielehre. pischen Größen enorme Vorteile bietet. Als Beispiel sei
Im Kap. 17 werden zunächst die benötigten Grundlagen für die hier die Auslegung eines Verbrennungsmotors genannt.
Thermodynamik besprochen. Danach werden wir im Kap. 18 die Sie erfolgt auch heute noch mithilfe der Methoden der
Hauptsätze der Thermodynamik kennenlernen. Auf diesen Erfah- technischen Thermodynamik. Erst bei der Feinauslegung
rungssätzen baut das Gebäude der Thermodynamik auf. Im Kap. 19 werden dreidimensionale Effekte und lokale Verteilungen
werden wir dann auf die verwendeten Stoffe und deren ther- mitberücksichtigt. Somit kann die Thermodynamik heute
modynamische Beschreibung eingehen. Hier wird unter anderem als eine allgemeine Energielehre verstanden werden. Mit
behandelt, wann wir einen Stoff noch als ideales Gas ansehen dem ersten und zweiten Hauptsatz der Thermodynamik
können und wann wir ihn als reales Gas beschreiben müssen. In beschreibt sie die gegenseitige Verknüpfung der Energien
den Kap. 20 und 21 werden wir dann verschiedene Beispiele zur und deren Umwandlungsmöglichkeiten und -grenzen.
Verdeutlichung der Anwendung der Hauptsätze und der Anwen-
dung der Thermodynamik auf reale Systeme, wie z. B. Motoren, Das Wort Thermodynamik geht wohl auf die altgrie-
Verdichter, usw. kennenlernen. Die Thermodynamik besitzt eine chischen Wörter θερμóς thermós „warm“ sowie δύναμις
weitreichende Bedeutung in den Natur- und Ingenieurwissenschaf- dýnamis „Kraft“ zurück. Aus dem Begriff Thermodyna-
ten. Diese hat Albert Einstein in dem nachfolgenden, sehr bekannt mik folgt vielfach der Trugschluss, dass sie besonders gut
gewordenen Zitat schön beschrieben: zeitlich schnell veränderliche Prozesse beschreibt. Dem ist
allerdings nicht so. Streng genommen gilt die technische
„Eine Theorie ist desto eindrucksvoller, je größer die Einfachheit ih- Thermodynamik nur für unendlich langsam ablaufende
rer Prämissen ist, je verschiedenartigere Dinge sie verknüpft und je Prozesse. Die Prozesse sollten dabei so langsam ablaufen,
weiter ihr Anwendungsbereich ist. Deshalb der tiefe Eindruck, den dass alle Größen zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit ha-
die klassische Thermodynamik auf mich machte. Es ist die einzige ben wieder einen Gleichgewichtszustand einzunehmen.
physikalische Theorie allgemeinen Inhalts, von der ich überzeugt Also sollte man eigentlich eher von einer „Thermostatik“
Thermodynamik

bin, dass sie im Rahmen der Anwendbarkeit ihrer Grundbegriffe sprechen, was auch manchmal in der englischsprachigen
niemals umgestoßen wird (zur besonderen Beachtung der grund- Literatur der Fall ist. Wäre nun diese strikte Beschrän-
sätzlichen Skeptiker).“ kung in dieser Deutlichkeit allgemein zutreffend, würde
man wohl kaum die technische Thermodynamik so aus-
Albert Einstein führlich im Studium lehren. Vielmehr beobachtet man
in der Realität, dass die Beschreibungen im Rahmen der
technischen Thermodynamik auch für sehr schnell ab-
laufende Prozesse, wie z. B. für die Strömung oder für
17.1 Geschichte und die Verbrennung in einem Motor oder in einem Raketen-
Anwendungsbereiche antrieb, noch sehr gute Näherungen liefern. Dies ist der
Grund für die breite Anwendung, welche die Thermody-
namik heute gefunden hat.
Die phänomenologische oder Technische Thermodyna-
mik entstand vor rund zweihundert Jahren, als man be- Das Kap. 17 möchte die Grundlagen zur Thermodyna-
gann, sich mit Kraft- und Arbeitsmaschinen zu beschäfti- mik vermitteln. Das bedeutet, dass wir uns mit einigen
gen (z. B. mit Dampfkraftprozessen und etwas später mit Definitionen in der Thermodynamik auseinandersetzen
Verdichtern, Otto- und Dieselmotoren). Ein Charakteristi- werden. Dies soll so geschehen, dass auch der Bezug zu
kum der Thermodynamik ist, dass hier der Versuch unter- den anderen Disziplinen in diesem Buch klar wird.
nommen wird, die zugrunde liegenden Prozesse immer
durch möglichst wenige makroskopische Systemgrößen
(wie z. B. Temperatur T, Druck p, Dichte ρ) zu beschrei-
ben. Dies führt dazu, dass man meist nur einen Wert für Der Bezug der Thermodynamik zu anderen
eine Größe (z. B. Temperatur in einem Luftballon) für das Themen in diesem Buch
betrachtete Gebilde angibt. Es wird also zunächst nicht
versucht, die örtliche Verteilung von Größen wie Tem-
peratur oder Druck detailliert zu bestimmen. Diese im Als ein übergeordnetes Leitbeispiel ist in diesem Buch
ersten Moment sehr einfach anmutende Betrachtungs- der gesamte Antriebsstrang eines Autos gewählt wor-
weise hat jedoch zahlreiche Vorteile, da es mit ihr meist den. Hier spielt die Thermodynamik unter anderem eine
gelingt, die technischen Systeme in ihrer Funktionsweise wichtige Rolle bei der Beschreibung aller Prozesse, die im
zu durchleuchten und mithilfe der thermodynamischen Motor ablaufen. Dies werden wir in den folgenden Ab-
Betrachtung zu verstehen. schnitten immer wieder aufgreifen und vertiefen.
Der Anwendungsbereich der technischen Thermodyna- Wie schon angedeutet ist es die Aufgabe der Thermody-
mik hat sich seit den Anfängen bis heute stetig erweitert, namik, die gesamten Vorgänge der Energiewandlung im
da in verschiedensten Bereichen erkannt wurde, dass die Motor zu beschreiben. Wir werden uns also hier auch mit
17.2 Wie man Systeme beschreibt 565

dem Vorgang der Umwandlung von Wärme in mechani- Abgeschlossenes System


sche Arbeit beschäftigen. Hier sehen wir auch gleich den
Unter einem abgeschlossenen System versteht man ein
Unterschied zwischen der Thermodynamik und den an-
System, das mit seiner Umgebung weder Masse m, noch
deren Disziplinen, wie z. B. der Mechanik. Auch in der
Wärme Q oder Arbeit W austauscht. Abgeschlossene Sys-
Mechanik spielt die Energiewandlung eine große Rol-
teme kann es in der Realität praktisch nicht geben, da
le. Allerdings werden immer nur Prozesse ohne einen
sie eine unendlich gute Isolation voraussetzen. Hierzu ge-
Einfluss der Temperatur betrachtet. Der Leser sei hier-
hört auch eine perfekte Wärmeisolation des Systems. Das
zu auf die Kap. 2 bis 13 verwiesen. Die Temperatur ist
System dürfte also keinerlei Wärme mit der Umgebung
die zentrale Größe in der Thermodynamik und hierdurch
austauschen, müsste also wärmedicht (adiabat) sein. Ein
unterscheidet sie sich von anderen Disziplinen. Natür-
näherungsweise abgeschlossenes System stellt z. B. eine
lich müssen wir zur Berechnung des Wärmehaushalts im
Thermoskanne (Dewar-Gefäß) dar. Wir können uns aber
Motor auch die Strömungsvorgänge kennen. Dies ver-
auch vorstellen, dass unser Motor abgeschaltet und in ei-
kettet die Thermodynamik mit der Strömungsmechanik
ne Box aus dickem Styropor verpackt ist und irgendwo
die im Kap. 22 beschrieben wird. Will man einen Motor,
eingelagert wird (Abb. 17.1).
der auch Sicht der Thermodynamik „optimal“ ist, dann
auch wirklich bauen, dann müssen wir das Konzept na-
türlich erst einmal konstruktiv umsetzen. Dies verzahnt Geschlossenes System
die hier gemachten Untersuchungen sehr schön mit der
Für das geschlossene System können Energien z. B. in
Konstruktionslehre, die wir in den Kap. 23 bis 28 kennen-
Form von Wärme und Arbeit über die Systemgrenze in
lernen, und mit der Werkstoffkunde, die den Gegenstand
das System ein- und austreten. Die Systemgrenze ist aller-
der Betrachtungen der Kap. 14 bis 16 bildet. Schlussend-
dings für Masse undurchlässig. Betrachtet man ein Gas,
lich muss der Motor dann aber auch gebaut werden. Das
das sich in einem Zylinder (mit geschlossenen Ventilen)

Thermodynamik
verbindet die Thermodynamik dann mit der Fertigungs-
unseres Motors befindet, so ist dies ein Beispiel für ein
technik (siehe hierzu die Kap. 29 bis 33). Wichtig ist es,
geschlossenes System. Diesem System wird in Abb. 17.1
zu beachten, dass jede der oben beschriebenen Diszipli-
durch die äußeren Wände Wärme zugeführt. Eine Kol-
nen natürlich ein eigenes Optimum anstrebt. Allerdings
benbewegung würde eine Arbeitszu- oder abfuhr am
ist es die Zusammenführung aller Einzeldisziplinen, die
System zur Folge haben.
nachher eine wirklich optimale Lösung, wie z. B. einen
modernen, schadstoffarmen Motor zustande bringt, und
dies ist das wichtigste Ziel des gesamten Teams, das an Offenes System
der Auslegung arbeitet.
Bei einem offenen System können sowohl Massen als
auch Energien z. B. in Form von Wärme und Arbeit über
die Systemgrenze treten. Ein Beispiel eines offenen Sys-
17.2 Wie man Systeme beschreibt tems ist der erwähnte Zylinder eines Motors, wenn wir
gerade das brennbare Gemisch ansaugen oder die Abgase
ausschieben (Abb. 17.1). Damit tritt ein Massenstrom über
In diesem Abschnitt wollen wir auf einige für die Thermo- die Systemgrenze. Wird das Ventil geschlossen, haben wir
dynamik ganz zentralen Begriffe eingehen. Hierzu gehört es wieder mit dem oben schon beschriebenen geschlosse-
insbesondere der Begriff des Systems. nen System zu tun. Würde man noch den gesamten Motor
ausbauen und aufwändig isolieren, so hätte man schließ-
lich wieder ein näherungsweise abgeschlossenes System
erhalten.
Das thermodynamische System zeigt uns
welches Objekt wir betrachten und analysieren Sind die physikalischen und chemischen Eigenschaften
im System überall gleich, so hat man es mit einem ho-
mogenen System zu tun. Ein typisches Beispiel eines ho-
Betrachtet man eine Maschine (z. B. den Motor eines mogenen Systems ist Wasser, das sich bei 20 °C und Um-
Autos) mithilfe der Methoden der Thermodynamik, so gebungsdruck in einem mit einem Kolben verschlossenen
bezeichnet man das betrachtete Objekt als ein System. Zylinder befindet. Der Kolben liegt auf der Wasseroberflä-
Das System wird hierbei durch eine Systemgrenze um- che auf und sei frei beweglich. Auch ein Gasgemisch, wie
schlossen. Innerhalb der Systemgrenze befindet sich das z. B. Luft in einem Hörsaal, kann man als homogenes Sys-
System, außerhalb befindet sich die Umgebung. Über die tem behandeln. Besitzt ein System mehrere Phasen, also
Systemgrenze können nun Energien und Arbeiten, aber z. B. einen flüssigen und einen festen Anteil, so bezeichnet
auch Stoffströme und Informationen übertragen werden. man es als ein heterogenes System. Die Phasen sind hier-
Grundsätzlich hat es sich als sinnvoll erwiesen, die fol- bei die homogenen Bereiche des Systems. Betrachten wir
genden drei Arten von Systemen (siehe Abb. 17.1) zu zur Verdeutlichung z. B. den beschriebenen mit Wasser
unterscheiden: gefüllten Zylinder. Erhitzen wir das Wasser auf 100 °C, so
566 17 Grundlagen der Thermodynamik

mL mB mA
Q12 Q12
W12 W12

a b c

Abb. 17.1 Arten von thermodynamischen Systemen. a offenes System, b geschlossenes System, c abgeschlossenes System

bildet sich über dem flüssigen Wasser Wasserdampf, und


der Kolben verschiebt sich. Das flüssige Wasser im Zylin-
der ist also die eine Phase, während der Wasserdampf die
zweite Phase bildet.
Thermodynamik

Q12 mB
Frage 17.1
Betrachten wir ein halb voll mit Whisky gefülltes Glas.
Nun werfen wir einen Eiswürfel in das Glas. Betrachten
wir als System den Whisky mit dem Eis. Handelt es sich
hierbei um ein homogenes System?

a b

Beschreibung des Systems durch Abb. 17.2 Zustandsänderungen eines Systems bei Wärmezufuhr. a Zufuhr des
Brennstoffs; b Bewegung des Kolbens nach unten aufgrund der Ausdehnung des
Zustandsgrößen und Zustandsänderungen Gases

Nachdem wir nun wissen, wie das System von der Um-
gebung abgegrenzt wird, wollen wir im nächsten Schritt Punkte, die unterschiedliche Volumina haben, da sich der
genauer auf die Beschreibung des Zustands des Systems Kolben von 1 nach 2 bewegt hat. Nehmen wir nun an,
eingehen. Physikalische Größen, die den Zustand des Sys- dass es sich bei dem betrachteten Motor um einen Die-
tems beschreiben, nennt man Zustandsgrößen. Typische selmotor handelt, so kann man den hier betrachteten Ver-
Zustandsgrößen sind z. B.: Druck p, Temperatur T, Volu- brennungsprozess näherungsweise als isobar beschreiben
men V oder die Masse m. Den Übergang eines Systems (Gleichdruckverbrennung).
von einem Ausgangszustand in einen Endzustand be-
zeichnet man als eine Zustandsänderung. Abbildung 17.2 Streng genommen können wir nun keine Aussage dar-
verdeutlicht dies anhand des Zylinders aus Abb. 17.1. über machen, wie man von Punkt 1 zu Punkt 2 gelangt.
Durch Wärmezufuhr (Verbrennung) dehnt sich das Gas Die oben gemachte Aussage, dass der Druck konstant
aus, und der Kolben bewegt sich nach unten. Solche Zu- bleibt, gilt ja nur im Anfangs- und Endpunkt, da dort der
standsänderungen verfolgt man in der Thermodynamik Kolben in Ruhe ist. Für einen Punkt während der Wär-
gerne in Diagrammen, in denen man Zustandsgrößen mezufuhr würde sich der Kolben eventuell beschleunigt
gegeneinander aufträgt. Ein Beispiel eines solchen Dia- bewegen, was zu einem geänderten Innendruck führen
gramms ist das in Abb. 17.3 dargestellte p, V-Diagramm. würde. Geschieht die Zustandsänderung jedoch so lang-
Es beschreibt den Druck des Gases im System in Abhän- sam, dass sich nach jeder kleinen Veränderung des Zu-
gigkeit vom Systemvolumen. Kennzeichnen wir hierin stands (z. B. Volumenzunahme) immer wieder ein thermo-
mit „1“ den Ausgangspunkt und mit „2“ den Endpunkt dynamisches Gleichgewicht einstellt, so liegen ausschließ-
der Zustandsänderung, so ergeben sich in Abb. 17.3 zwei lich Gleichgewichtszustände zwischen 1 und 2 vor, und
17.2 Wie man Systeme beschreibt 567

Leitbeispiel Antriebsstrang
Thermodynamik – Der Motor als thermodynamisches
System

also sofort, dass Wärme auch eine Energieform ist.


Durch die Ausdehnung der Gase im Brennraum be-
wegt sich der Kolben im Zylinder dann periodisch auf
und ab und treibt dadurch letztendlich die Räder des
Autos an. Man erkennt sehr schön, dass die durch den
Brennstoff zugeführte Energie durch Verbrennung zu-
nächst in Wärme umgewandelt wird und anschließend
als mechanische Arbeit das Auto antreibt.
Motor eines modernen Autos
In der Aufgabe 1 am Ende dieses Kapitels wird ein fah-
Wie schon beschrieben, betrachtet die technische Ther- rendes Kraftfahrzeug als thermodynamisches System
modynamik Maschinen mithilfe makroskopischer Grö- betrachtet. Diese Aufgabe erweitert die hier beschrie-
ßen. Dies hat enorme Vorteile, da wir dafür nur wenige bene Anwendung des Systemgedankens auf ein grö-

Thermodynamik
Größen kennen müssen. Als Beispiel wollen wir hier ßeres System.
einen Verbrennungsmotor betrachten. Dies steht im
Zusammenhang mit unserem Leitbeispiel „Antriebs- Wie der erste und zweite Hauptsatz für den An-
strang“ . Hierzu ist es wichtig zunächst einmal das triebstrang angewendet wird, werden wir uns dann in
Objekt, das wir betrachten wollen, klar zu definieren, der Box zum Leitbeispiel für Kap. 18 genauer ansehen.
indem wir eine Systemgrenze festlegen. Nehmen wir
an, dass uns die Vorgänge im Kolbenraum interessie-
ren. Dann legen wir eine Systemgrenze so wie im unten
dargestellten Bild fest. Innerhalb der Systemgrenze ist Systemgrenze
das System, das wir betrachten wollen. Alles was sich
außerhalb der Systemgrenze befindet bezeichnen wir
als Umgebung.
Durch die gegebene Systemgrenze ist nun ganz klar,
dass wir bei einer zukünftigen Bilanzierung alle Ener-
gien betrachten, die über diese Systemgrenze treten.
Da Massen (z. B. bei uns durch die Ein- und Auslass-
ventile, siehe auch Abb. 17.1) über die Systemgrenze
treten, haben wir es mit einem offenen System zu tun.
Auch Energien (in Form von Wärme und Arbeiten) tre-
ten über die Systemgrenze. Letztendlich gibt der Motor
Arbeit ab, die über die Systemgrenze geführt und zum
Antrieb des Autos benutzt wird.
Im Kolbenraum des Motors wird der zugeführte
Brennstoff (Benzin oder Diesel) zerstäubt, mit Luft
vermischt und verbrannt und die darin enthaltene che-
mische Energie in Wärme umgewandelt. Wir sehen Darstellung eines Motors als System mit Systemgrenze

wir dürfen die beiden Zustände miteinander verbinden nach dem Durchlaufen mehrerer Zustandsänderungen,
(Abb. 17.3). Derart langsam ablaufende Vorgänge bezeich- wieder den ursprünglichen Zustand ein, so nennt man
net man als quasistatische Zustandsänderungen. Las- diesen speziellen Prozess einen Kreisprozess (Abb. 17.3).
sen wir mehrere Zustandsänderungen hintereinander ab- In unserem speziellen Beispiel besteht dieser Kreisprozess
laufen, so ergibt sich ein Prozess. Nimmt das System, (Dieselprozess) aus zwei Zustandsänderungen, bei denen
568 17 Grundlagen der Thermodynamik

Abb. 17.3 Darstellung von p p p Q23


Zustandsänderungen im
p,V -Diagramm. a die beiden 2 3
1 2 1 2
Zustandspunkte, b Zustandsände-
rung von dem Ausgangszustand 1
zum Endzustand 2, c Kreisprozess 4
(Dieselprozess) Q41
1

V V V
a b c

keine Wärme zugeführt wird (adiabate Zustandsände-



rungen), aus einer Zustandsänderung bei konstantem Vo- beim Durchlaufen eines Kreisprozesses, dass dZ =
lumen (isochore Zustandsänderung) und einer bei kon- 0 ist.
stantem Druck (isobare Zustandsänderung). Eine iso-
chore Zustandsänderung erhält man ganz einfach, indem
man den Kolben des Systems nach Abb. 17.2 arretiert, da
dann das Volumen gleich bleibt. Dann werden die Ab- Prozessgrößen
gase ausgeschoben. Die beiden adiabaten Zustandsände- sind wegabhängig. Es ist also stets wichtig zu wis-
rungen kennzeichnen zum einen die Verdichtungsphase, sen, auf welchem Weg die Zustandsänderung er-
wenn der Kolben nach oben fährt, und zum anderen die folgt.
Arbeitsphase, wenn der Kolben wieder nach unten geht
Thermodynamik

und Arbeit an der Kolbenstange abgenommen wird. Beide


Prozesse verlaufen so schnell, dass wir annehmen können,
dass hierbei keine Wärme nach außen übertragen wird. Beispiel Wir betrachten den unten dargestellten
Kreisprozess bestehend aus zwei isobaren und zwei iso-
Wie schon gesagt, nehmen Druck und Volumen des Ga- choren Zustandsänderungen. Wir stellen uns die Frage,
ses nach Durchlaufen des Kreisprozesses wieder die ur- ob das Volumen Veine Zustandsgröße ist?
sprünglichen Werte an. Dies bedeutet, dass für diese
Größen gilt, dass das geschlossene Kurvenintegral p
 1 2
dZ = 0 (17.1)

ist, wobei Z in (17.1) zunächst nur für p oder V steht. Tat-


sächlich stellt (17.1) aber eine eindeutige Definition der 4 3
zuvor besprochenen Zustandsgrößen dar. Jede Größe,
die (17.1) erfüllt, ist wegunabhängig und somit auto- V
matisch eine Zustandsgröße. Dies bedeutet, dass eine
solche Größe nur vom Zustand abhängt, nicht aber vom Abb. 17.4 Kreisprozess bestehend aus zwei isochoren und zwei isobaren Zu-
Weg, den wir zurückgelegt haben, um zu diesem Zustand standsänderungen
zu gelangen. Natürlich gibt es auch viele Größen, die
(17.1) nicht erfüllen. Denken wir nur an die dem System Werten wir (17.1) für diesen Fall aus, so ergibt sich
zugeführte Wärme während der Zustandsänderungen.  
Größen wie z. B. Wärme oder Arbeit, die vom speziell ge- dZ = 0 = dV
wählten Prozessweg abhängen und deshalb (17.1) nicht
generell erfüllen, bezeichnet man als Prozessgrößen. Man = (V2 − V1 ) + (V3 − V2 ) + (V4 − V3 ) + (V1 − V4 ),
kennzeichnet sie mit einem Index (z. B. 12) für den Pro- V3 = V2 , V4 = V1 .
zessweg (von 1 nach 2).
Hieraus folgt
Fassen wir dies also noch einmal kurz zusammen:
(V2 − V1 ) + (V4 − V3 ) = 0.

Zustandsgrößen Weiterhin ist



sind wegunabhängig und erfüllen immer (17.1), es (V2 − V1 ) = −(V4 − V3 ) ⇒ dV = 0.
gilt also immer für eine beliebige Zustandsgröße Z
Hieraus folgt, dass V eine Zustandsgröße ist. 
17.3 Temperatur und Gleichgewichtspostulate 569

Abb. 17.5 Thermisch miteinan- Gas (pA1, VA1, TA1) Gas (pB1, VB1, TB1)
der verbundene Systeme. a Zwei
getrennte Systeme (A und B )
mit unterschiedlichen Drücken
und Temperaturen. Die beiden
Quader sind an allen Seiten (bis
auf die Stirnflächen) gut isoliert, VA1 VB1
System A System B
b Zwei thermisch miteinander
TGG TGG
verbundene Systeme

a b

17.3 Temperatur und Thermometer über die Beziehung zwischen Temperatur-


änderung und Volumenänderung geschehen.
Gleichgewichtspostulate Das thermische Gleichgewicht unterscheidet sich hier
maßgeblich von anderen Gleichgewichtszuständen. So
Die Thermodynamik unterscheidet sich von der Mecha- sind z. B. beim mechanischen Gleichgewicht die Kräfte im
nik unter anderem durch die neu eingeführte Zustands- Gleichgewicht, nicht aber zwangsläufig die Temperaturen
größe Temperatur. Damit gelingt es, Prozesse genauer als der Körper.
in der Mechanik zu beschreiben, da man nun auch noch

Thermodynamik
zusätzlich zur Bewegung und Trägheit mitberücksichti-
gen kann, wie sich der Energieinhalt eines Körpers ändert.
Wie warm ein Körper ist, beurteilen wir subjektiv, indem Zweites Gleichgewichtspostulat
wir seine Temperatur (z. B. durch Anfassen) mit unserer
Körpertemperatur vergleichen. Die Erfahrung hat uns Folgendes gelehrt: Ist ein Kör-
per A im thermischen Gleichgewicht mit einem Körper B
und außerdem im thermischen Gleichgewicht mit einem
Körper C, so sind auch die Körper B und C miteinander
Erstes Gleichgewichtspostulat im thermischen Gleichgewicht, d. h., sie besitzen die glei-
che Temperatur. Dieses zweite Gleichgewichtspostulat ist
sehr wichtig, da es uns gestattet, die Temperaturen mehre-
Denken wir uns zwei verschiedene Systeme A und B. rer Körper, die sich an unterschiedlichen Orten befinden,
Diese Systeme bestehen z. B. aus einem Gas, das in zwei miteinander zu vergleichen. Das zweite Gleichgewichts-
quaderförmigen Behältern bei unterschiedlichem Druck postulat bezeichnet man auch als den nullten Hauptsatz
und unterschiedlicher Temperatur eingeschlossen ist. Die der Thermodynamik. Dieser wird im nächsten Kapitel
beiden Quader seien auf fünf Seiten perfekt isoliert. Bringt nochmals eingehend diskutiert.
man die beiden Systeme A und B, in welchen die einge-
schlossenen Gase über unterschiedliche Drücke, Tempe-
raturen und Volumina verfügen, in thermischen Kontakt
(Abb. 17.5), so ändern sich die Zustände durch Wechsel- Die Verwendung von Temperaturskalen
wirkung so lange, bis sich ein Gleichgewicht (thermisches
Gleichgewicht) einstellt. Das bedeutet für unseren kon-
und die Messung der Temperatur
kreten Fall, dass die Temperaturen beider Gase gleich
sind, nicht aber deren Volumina oder deren Drücke. Nach Befinden sich zwei Systeme im thermischen Gleichge-
Eintreten des thermischen Gleichgewichts ist das Gebilde wicht, dann haben sie auch die gleiche Temperatur. Man
von sich aus (ohne äußere Einwirkung) zu keiner messba- benutzt die Einstellung des thermischen Gleichgewichts
ren Änderung mehr fähig. Dieses erste Gleichgewichts- zwischen einem Thermometer und einem Körper zur
postulat ist die Grundlage der Temperaturmessung. Dies Messung der Temperatur dieses Körpers. Vielfach wird
versteht man leicht, wenn man sich klarmacht, dass die im Thermometer die Temperatur über die Ausdehnung
Messung der Temperatur (z. B. mit einem Thermometer) eines Volumens (z. B. von Quecksilber) bestimmt. Die
nichts anderes ist, als zwei Körper (das Thermometer und hierzu benutzten Temperaturskalen sind fast alle empi-
den Körper, dessen Temperatur zu bestimmen ist) mit- rischer Natur. Sie gehen zurück auf besonders markan-
einander ins thermische Gleichgewicht zu bringen. Das te Punkte in unserer Umwelt. Schon recht früh wurde
eigentliche Messen der Temperatur kann dann z. B. beim von Anders Celsius (1701–1744) eine Temperaturskala
570 17 Grundlagen der Thermodynamik

eingeführt, die die beiden Fixpunkte siedendes Wasser In der Thermodynamik betrachten wir nicht nur die Be-
und gefrierendes Wasser bei Umgebungsdruck als Re- wegung des Systems, sondern auch die Änderung seines
ferenzpunkte benutzte. Anders als heutzutage ordnete Zustands im Inneren (z. B. Temperaturänderung). Dies
Celsius jedoch dem gefrierenden Wasser zuerst den Wert bedingt die Einführung einer weiteren Energieart, der in-
100 zu, während die gerade siedende Flüssigkeit den neren Energie U.
Wert 0 bekam. Carl von Linné (1707–1778) kehrte die-
se Zählrichtung im Jahre 1745 um, sodass die heutige
„Celsiusskala“ entstand. Natürlich sind noch viele andere Die innere Energie beschreibt den Energieinhalt im
Skaleneinteilungen denkbar. Vielfach orientieren sie sich System selbst und wird im ersten Hauptsatz der
an der menschlichen Körpertemperatur. Beispiele sind Thermodynamik noch weiter erklärt werden. Damit
die „Fahrenheit-Temperaturskala“ (Daniel Gabriel Fah- ergibt sich die Gesamtenergie des Systems zu:
renheit (1686–1736)), die in den USA noch immer sehr
intensiv genutzt wird und die „Rankine Temperaturska- Eges = U + Ekin + Epot (17.5)
la“ (William John Macquorn Rankine (1820–1872)). Diese
beiden Skalen sind mit der „Celsius Temperaturskala“
durch lineare Beziehungen verknüpft
9 Tabelle 17.1 gibt einen Überblick über verschiedene Ener-
ϑ (in ◦ F) = ϑ (in ◦ C) + 32, giearten. Wie wir sehen, treten die Energiearten natürlich
5 in allen Bereichen der Technik auf (Elektrotechnik, Me-
9
ϑ (in ◦ Ra) = ϑ (in ◦ C) + 491,67. (17.2) chanik, Thermodynamik, . . . ). Sie begleiten uns sozusa-
5 gen durch den ganzen Stoff dieses Buches.
Die Rankine-Temperaturskala benutzt den gleichen Ska-
Thermodynamik

lenabstand wie die Fahrenheit Temperaturskala, hat als


Nullpunkt aber den absoluten Nullpunkt, wie die ther-
modynamische Temperatur (Kelvin Temperaturskala). Die Prozessgröße Arbeit ist wegabhängig
Die thermodynamische Temperatur T, deren Nullpunkt
mit dem sogenannten absoluten Nullpunkt zusammen-
fällt, lässt sich aus der Celsius Temperaturskala durch eine Die Gesamtenergie eines Systems kann durch die Zu- und
Verschiebung des Nullpunkts erhalten Abfuhr von Arbeit und Wärme geändert werden. Die Pro-
zessgröße Arbeit W wird allgemein definiert als (siehe
T (in K) − 273,15 K = ϑ (in ◦ C). (17.3) auch Kap. 6)

Die Kelvin-Temperaturskala hat eine große Relevanz bei 2


vielen technischen Berechnungen und ist in der Ther- δW = F · ds, W12 = F · ds. (17.6)
modynamik wichtig. Der Nullpunkt der thermodynami-
1
schen Temperatur ist von speziellen Stoffeigenschaften
unabhängig. Dies wird im nächsten Kapitel noch genauer
Man erhält sie, wenn die von außen auf das System wir-
diskutiert.
kende Kraft F über die zugehörige Verschiebung ds des
Angriffspunktes integriert wird. Die Arbeit wird als po-
sitiv vereinbart, wenn Sie dem System zugeführt wird.
17.4 Energiearten Da es sich bei der Arbeit um eine wegabhängige Größe
(Prozessgröße) handelt, kennzeichnen wir ihr Differenzial
durch δW, um dies zu verdeutlichen. Eine Zustandsgröße
Aus der Mechanik kennen wir die Begriffe der kineti- besitzt im Unterschied hierzu immer ein totales Differen-
schen und der potenziellen Energie (siehe hierzu auch zial, da sie wegunabhängig ist (z. B. dT). Dies wird im
Kap. 10). Betrachten wir ein System der Masse m, das folgenden Beispiel genauer erklärt.
sich mit der Geschwindigkeit c gleichförmig zwischen
den Punkten z1 = 0 und z im Schwerefeld mit einer kon- Fassen wir nun noch einmal das Wichtigste zum totalen
stanten Erdbeschleunigung g bewegt, so erhält man für Differenzial als Merksatz zusammen:
die Zustandsgrößen kinetische und potenzielle Energie
des Systems
Für eine wegunabhängige Größe „Z“ kann man im-
1 mer ein totales Differenzial angeben. Dieses setzt
Ekin = m c2 ,
2 sich aus den partiellen Änderungen der Größe zu-
Epot = m g z. (17.4)
17.4 Energiearten 571

Tab. 17.1 Beispiele für Energie- Bezeichnung Beziehung Variablen


arten Translationsenergie 1 2 m: Masse
einer Punktmasse mc c: Geschwindigkeit
2
Rotationsenergie 1 2 J: Trägheitsmoment
eines starren Körpers Jω ω: Winkelgeschwindigkeit
2
Energie einer Feder 1 2 k: Federkonstante
kx x: Federausdehnung
2
potenzielle Energie mgz m: Masse
im homogenen Gravitationsfeld g: Erdbeschleunigung
z : Höhenkoordinate
potenzielle Energie 1 Qe C: Kapazität
im Kondensator CV2 mit V = V: Spannung
2 C
Qe : elektrische Ladung
magnetische Energie 1 2 L: Selbstinduktion
einer Spule LI I: Stromstärke
2

Vertiefung: Totales Differenzial

Thermodynamik
Stellen wir uns vor, dass wir uns auf der Fläche in gegeben ist. Es spielt nun für eine Zustandsgröße (wie
der unten angegebenen Abbildung an einem Punkt 1 z. B. die Temperatur) keine Rolle, auf welchem Weg wir
befinden und in verschiedene Richtungen bewegen. von 1 nach 2 gehen. Es wird immer die gleiche Tempe-
Machen wir also einen Schritt in eine beliebige Rich- raturänderung herauskommen. Ganz anders wäre das
tung zu einem Punkt 2, so ändert sich die Temperatur. für die in (17.6) angegebene Arbeit. Hier sehen wir,
Dabei haben wir den Druck und das spezifische Vo- dass der Weg ganz entscheidend für die geleistete Ar-
lumen auch verändert. Wir können nun auch zu dem beit sein wird, da wir die Kraft mit der zugehörigen
gleichen Punkt 2 gelangen, indem wir zunächst ei- Verschiebung multiplizieren. Das zeigt uns noch ein-
ne Größe in der unten stehenden Gleichung, z. B. den mal, dass die Arbeit also eine Prozessgröße ist, die kein
Druck konstant halten und einen Schritt in Richtung totales Differenzial besitzt.
eines veränderlichen spezifischen Volumens machen.
Dabei ändert sich die Temperatur bei festem Druck.
T
Anschließend halten wir dann das spezifische Volu-
men konstant und machen wieder einen Schritt zum
Punkt 2. Dabei ändert sich die Temperatur bei fest ge-
haltenem, spezifischen Volumen v = V/m. Für kleine
Änderungen können wir das auch schreiben als:
   
∂T ∂T
dT = dp + dv. 2
∂p v ∂v p

Die obige Gleichung bezeichnet man als das totale Dif- ∂T


dp
ferenzial der betrachteten Zustandsgröße. Die gesamte ∂p v
p
oder totale Änderung der Temperatur setzt sich also
zusammen aus den teilweisen oder partiellen Tempe- T2
raturänderungen in v- und p- Richtung. Dies ist in der ∂T
dv
Abbildung verdeutlicht. In den partiellen Ableitungen 1 ∂v p
der Größe T nach p und v in der obigen Gleichung p2
T1
haben wir einen Index hinzugefügt, der uns die kon- p1
stant gehaltenen Größen anzeigt. Das bedeutet, dass
die partielle Änderung der Temperatur mit dem Druck
bei konstantem spezifischen Volumen durch (∂T/∂p)v v1 v2 v
572 17 Grundlagen der Thermodynamik

Tab. 17.2 Beispiele für Ener- Bezeichnung Beziehung Variablen


gieformen der Arbeit (die Verschiebearbeit F dr F: Kraft
Differenziale der Energieformen dr: Verschiebung
sind nur als Beträge dargestellt)
Translationsarbeit c dI c: Geschwindigkeit
dI: Impulsänderung
Rotationsarbeit ω dL ω: Winkelgeschwindigkeit
dL: Drehimpulsänderung
Arbeit einer Feder kx dx k: Federkonstante
dx: Änderung der Federdehnung
Arbeit eines homogenen mg dz m: Masse
Gravitationsfeldes g: Erdbeschleunigung
dz: Höhenänderung
Arbeit eines Qe C: Kapazität
V dQe mit V =
galvanischen Elements C V: Spannung
dQe : Ladungsänderung
Arbeit einer elektrischen LI dI L: Selbstinduktion
Induktivität dI: Änderung der
Stromstärke
Volumenänderungsarbeit p dV p: Druck
dV: Volumenänderung
Oberflächenänderungsarbeit σdA σ: Oberflächenspannung
dA: Oberflächenänderung
Arbeit des Stofftransports μi dni μi : chemisches Potenzial
bzw. der Stoffumwandlung dni : Molmengenänderung der Komponente i
Thermodynamik

Wie groß ist die Volumenänderungsarbeit für eine isocho-


sammen. Für Z = Z(S, T ) gilt z. B. dann: re (V = konst.) Zustandsänderung?
   
∂Z ∂Z
dZ = dS + dT. (17.7) Es gibt sehr viele verschiedene Energieformen der Arbeit.
∂S T ∂T S Tabelle 17.2 zeigt exemplarisch einige von ihnen. Ähnlich
wie mit den übertragenen Energien nach Tab. 17.1 finden
Für eine solche Größe wird auch immer (17.1) beim
wir die Energieformen der Arbeit in allen Bereichen der
Durchlaufen eines Kreisprozesses erfüllt.
Technik. Wichtig ist, dass wir uns klar machen, dass die Ar-
beit immer von dem zurückgelegten Weg (allgemein einer
Verschiebungsgröße) abhängt, also eine Prozessgröße ist!
In der Thermodynamik nimmt die Arbeit, die benötigt
wird, um das Systemvolumen zu verändern, einen ganz
besonderen Stellenwert ein. Diese Arbeit bezeichnet man
als Volumenänderungsarbeit. Sie ergibt sich aus der all- Die Prozessgröße Wärme ist wegabhängig
gemeinen Definition nach (17.6) durch Einsetzen von F =
p dA zu:
Die Prozessgröße Wärme, die einem System zwischen
2 den Zuständen 1 und 2 zugeführt wird (Abb. 17.2), wird
δWV = −p dV, WV,12 = − p dV. (17.8) mit Q12 bezeichnet. Die Wärme wird als positiv verein-
bart, wenn Sie dem System zugeführt wird.
1

Hierbei zeigt das Minuszeichen vor dem Integral an,


dass mit einem abnehmenden Volumen eine Arbeitsauf-
nahme des Systems verbunden ist (Wir denken an eine Physikalische Größen besitzen Maßeinheiten
Luftpumpe für unser Fahrrad. Wenn wir das Gas zu-
sammendrücken (Volumenabnahme), leisten wir dadurch Alle in der Technik auftretenden Größen sind physikali-
Arbeit am System). Weitere Arbeitsformen sind z. B. die sche Größen und verfügen demnach immer über einen
Reibungsarbeit, elektrische Arbeit oder Wellenarbeit. Zahlenwert und eine Maßeinheit. Nehmen wir z. B. das
Volumen V. Es wird in Kubikmeter (m3 ) gemessen. Wir
Frage 17.2 werden an manchen Stellen in den folgenden Kapiteln auf
Wie groß ist die Volumenänderungsarbeit für eine isobare dimensionslose Größen übergehen, da diese den Vorteil
Zustandsänderung (p = konst.), wenn sich das Volumen haben, dass sie nicht mehr von den wahren Abmessun-
von V1 auf V2 vergrößert? gen des Systems abhängen.
17.4 Energiearten 573

Beispiel: Kalorimetrie

Als ein Beispiel zum Umgang mit Temperaturen und Vom Körper 2 wird die gleiche Wärme abgegeben. Es
Wärmen wollen wir uns den Temperaturausgleich in gilt also:
einem Kalorimeter ansehen. Bei der Messung der Wär- Q
me, der Kalorimetrie, bestimmt man die zwischen zwei − 12 = C2 = m2 c2 . (17.10)
ΔT
Körpern übertragene Wärme aus der Temperaturände-
rung. Dabei wird z. B. der Körper 2 mit der Temperatur Die spezifische Wärmekapazität c2 stellt eine thermo-
T2 in das Kalorimeter 1 mit der Temperatur T1 gelegt. dynamische Eigenschaft des Körpers 2 dar. Sie sagt
Man beobachtet nun am Thermometer die Temperatur- aus, wie groß die zugeführte Wärme sein muss, damit
änderung ΔT (Abb. 17.6). sich die Temperatur von einem Kilogramm des Kör-
pers um 1 Grad verändert. Da wir nun die Wärme
auf ganz verschiedene Art und Weise zuführen können
(z. B. bei konstantem Volumen oder bei konstantem
Thermometer Druck), kennzeichnet man die spezifischen Wärmen
dementsprechend:
   
Rührstab 1 ∂Q 1 ∂Q
cp = , cv = . (17.11)
m ∂T p m ∂T v
Deckel

Man kann hierbei zeigen, dass die spezifische Wär-

Thermodynamik
me bei konstantem Druck (cp ) immer größer gleich
der spezifischen Wärme bei konstantem Volumen (cv )
ist. Dies liegt daran, dass sich ein Stoff bei isobarer
Erwärmung im Allgemeinen ausdehnt und hierdurch
Wasser, T1 die zugeführte Wärme noch zusätzlich für eine Volu-
menänderungsarbeit benötigt wird, man also für die
gleiche Temperaturänderung mehr Wärme zuführen
muss.
Körper 2 Interessieren wir uns für die sich einstellende Gleich-
gewichtstemperatur TGT (nach dem sich die Tempera-
turen beider Körper angeglichen haben) wenn wir den
Abb. 17.6 Kalorimeter 1 mit Körper 2 Körper 2 in das Kalorimeter 1 gelegt haben, so kön-
nen wir diese leicht berechnen, wenn wir beachten,
Hierbei gilt dass das Kalorimeter nach außen hin wärmedicht (also
Q12 adiabat) ist:
= C1 = m1 c1 , (17.9)
ΔT
wobei m1 die Masse, C1 ist die Wärmekapazität und c1 m1 c1 T1 + m2 c2 T2 = (m1 c1 + m2 c2 ) TGT ,
die spezifische Wärmekapazität des Kalorimeters sind TGT = (m1 c1 T1 + m2 c2 T2 )/(m1 c1 + m2 c2 ).
und Q12 die vom Kalorimeter aufgenommene Wärme. (17.12)

Wir haben im vorangegangenen Abschnitt schon ver- intensive Zustandsgrößen. Andere Zustandsgrößen sind
schiedene Zustands- und Prozessgrößen eines Systems der Systemmasse proportional und ändern ihren Wert bei
kennengelernt. Betrachten wir nun ein homogenes Sys- der Teilung. Solche Größen sind z. B. das Volumen, die ki-
tem, das wir durch Teilung in mehrere kleinere Teilsyste- netische und potenzielle Energie und die innere Energie.
me untergliedern. Die Zustandsgrößen lassen sich hierbei Solche Zustandsgrößen bezeichnet man als extensive Zu-
bezüglich ihres Verhaltens in zwei verschiedene Klassen standsgrößen.
einteilen. Zum einen wird es Zustandsgrößen geben, die
ihren Wert bei einer Teilung des Systems nicht ändern. Bezieht man eine Zustandsgröße auf die Masse im Sys-
Solche Größen sind z. B. der Druck oder auch die Tempe- tem, so entsteht eine spezifische Zustandsgröße. Dies
ratur. Diese Art von Zustandsgrößen bezeichnet man als macht natürlich nur für extensive Zustandsgrößen Sinn.
574 17 Grundlagen der Thermodynamik

Nehmen wir als Beispiel das Volumen V. Aus ihm ent-


steht das spezifische Volumen v: Spezifische Prozessgrößen
sind Prozessgrößen, die auf die Systemmasse bezo-
V 1
v= = . (17.13) gen wurden. Sie sind keine spezifischen Zustands-
m ρ größen!

Dieses ist gleich dem Kehrwert der Dichte ρ. Auf die


Masse bezogene Größen können jedoch nicht nur aus
Zustandsgrößen gebildet werden. Beziehen wir z. B. die Molare Größen
Wärme oder die Arbeit auf die Masse im System, so er-
halten wir die spezifische Wärme und die spezifische sind extensive Größen, die auf die Molmenge bezo-
Arbeit: gen werden

Q12 W12
q12 = , w12 = . (17.14)
m m
Frage 17.3
Da es sich bei den Ausgangsgrößen nicht um Zustands- Warum ist p keine extensive Zustandsgröße?
größen, sondern um Prozessgrößen handelt, bezeichnen
wir diese Größen (q12 , w12 usw.) als spezifische Prozess- Warum ist V eine extensive Zustandsgröße?
größen.

Statt auf die Masse des Systems kann man eine extensive
Thermodynamik

Zustandsgröße auch auf die Molmenge n (Molzahl) be-


ziehen. Da zwischen der Molmasse M und der Masse des
Systems der Zusammenhang 17.5 Die allgemeine Form
von Bilanzen
m = nM (17.15)

besteht, erhält man für die molaren Größen Die allgemeine Form einer Bilanz ist in (17.17) angegeben.
In ihr wird die zeitliche Änderung der Zustandsgröße Z,
V die den momentanen Zustand eines thermodynamischen
Vm = = vM molares Volumen, Systems beschreibt, durch vier grundsätzliche physikali-
n
U sche Effekte bestimmt: konvektiver Transport, diffusiver
Um = = uM molare innere Energie. (17.16) Transport, Feldeffekte und Quellen bzw. Senken. In
n
Abb. 17.7 ist ein thermodynamisches System zusammen
Wir kennzeichnen sie durch den Index „m“. Wir können mit diesen vier physikalischen Effekten skizziert.
also kurz zusammenfassen: Die allgemeine Form einer Bilanz lautet:

dZSystem

Extensive Zustandsgrößen
dt
= ∑ (KKonvektion )j
über Systemgrenze
sind der Systemmasse proportional. j

+ ∑ [(DDiffusion )k ]über Systemgrenze


k
+ ∑ [(FFeld )l ]auf ganzes
Intensive Zustandsgrößen l Systemvolumen wirkend
 
hängen nicht von der Systemmasse ab. +∑ SQuellen und Senken m im System
. (17.17)
m

Der Term auf der linken Seite von (17.17) beschreibt die
Spezifische Zustandsgrößen zeitliche Änderung der extensiven Zustandsgröße Z, die
den Zustand der Stoffmenge als Ganzes beschreibt, die
sind extensive Zustandsgrößen, die auf die System-
sich zum betrachteten Zeitpunkt innerhalb des Systems
masse bezogen wurden.
befindet. Für Systeme, die sich zeitlich nicht ändern (sta-
tionäres System), ist dieser Term gleich null.
17.5 Die allgemeine Form von Bilanzen 575

Systemgrenze VSystem äußeres Feld Der dritte Term auf der rechten Seite von (17.17) beinhal-
tet alle Einflüsse von Feldern, die auf das System wirken.
Hierunter sind sowohl Gravitationsfeld und Schwerefel-
der in rotierenden Systemen als auch elektrische oder
magnetische Felder zu verstehen. Durch solche Felder
werden Volumenkräfte auf das System ausgeübt, d. h.,
ZSystem die Kräfte wirken auf jedes einzelne Teilchen im gesamten
Systemvolumen unabhängig von seiner Position. Für die
KKonvektion DDiffusion Impulsbilanz sind die Kräfte selber relevant, wohingegen
für die Energiebilanz die Arbeit, die diese Kräfte pro Zeit-
einheit leisten, entscheidend ist. Durch diesen Term wird
Umgebung z. B. auch die Absorption von elektromagnetischer Strah-
Quellen und Senken lung berücksichtigt, falls diese das System durchdringt.
Man erkennt aus diesen Beispielen, dass man ein betrach-
tetes System einfach von manchen Feldern abschirmen
FFeld
kann (etwa von elektrischen und magnetischen Feldern),
während das von anderen jedoch nur schwer möglich ist
(Schwerefelder). Wie der diffusive Transport sind auch
Abb. 17.7 Thermodynamisches System, dessen Zustand von konvektivem die Feldeffekte sowohl für offene als auch für geschlos-
Transport, diffusivem Transport, Feldeffekten und Quellen bzw. Senken bestimmt sene Systeme von Bedeutung.
wird
Im vierten Term auf der rechten Seite von (17.17) werden

Thermodynamik
alle Effekte durch Quellen und Senken zusammengefasst,
also Einflüsse, die durch Prozesse innerhalb des Systems
Der erste Term auf der rechten Seite von (17.17) be- hervorgerufen werden. Solche Effekte können selbst für
schreibt den konvektiven Transport. Er erfolgt durch die ein abgeschlossenes System von Bedeutung sein. Hierun-
makroskopische Bewegung (Transport) einer Stoffmenge ter fallen für eine Stoffbilanz z. B. die Stoffvermehrung
(Massenstrom ṁ), deren Zustand ebenfalls mithilfe der bzw. -verminderung bei chemischen Reaktionen sowie
Zustandsgröße Z beschreibbar ist und durch deren Ein- die bei exothermen oder endothermen Reaktionen auftre-
bzw. Austritt über die Systemgrenze die Zustandsgrößen tenden Reaktionswärmen, die in der Bilanz der inneren
des Systems entsprechend vergrößert bzw. verkleinert Energie berücksichtigt werden müssen. Weiterhin kann
werden. Eine in ein betrachtetes System einströmende man hier die Wärmen nennen, die durch interne Rei-
Masse bringt z. B. einen gewissen Impuls und eine be- bungsprozesse entstehen sowie die damit verbundenen
stimmte Energie mit, sodass sich Impuls und Energie Entropieproduktionen. Hierunter fällt weiterhin auch ei-
des Systems entsprechend ändern. Für geschlossene und ne Umwandlung von innerer Energie in kinetische Ener-
abgeschlossene Systeme ist der konvektive Transport na- gie (und vice versa) z. B. durch einen Volumenänderungs-
türlich gleich null. prozess.

Durch den zweiten Term auf der rechten Seite von


(17.17) wird der diffusive Transport berücksichtigt. Er be- Frage 17.4
ruht auf der mikroskopischen Bewegung der Moleküle Inwieweit werden die vier grundsätzlichen Effekte in der
(Brown‘sche Molekularbewegung). Durch die stochasti- Bilanzgleichung nach (17.17) von der Art des Systems li-
sche Bewegung der Moleküle unmittelbar an der System- mitiert?
grenze (Systemoberfläche) kann ein Transport von z. B.
Impuls oder Energie über die Systemgrenze erfolgen, oh-
ne dass ein Nettostoffstrom auftritt. Durch die Wirkung
von Oberflächenkräften infolge von Druck- oder Schub- Beispiel Frau Einstein backt zum Geburtstag ihres Soh-
spannungen an der Systemgrenze, wird die zeitliche Än- nes Albert Plätzchen. Es geht ihr gut von der Hand, und
derung des Impulses des Systems beeinflusst. Durch die sie schafft es, in einer Stunde 120 Plätzchen zu backen.
Wirkung von Arbeiten pro Zeit infolge von Oberflächen- Nachdem die Plätzchen fertig sind, isst klein Einstein in-
kräften, die an der Systemgrenze auftreten, oder durch nerhalb von 6 Minuten die Hälfte davon auf. Von den
Wärmeströme, die über die Systemgrenze treten, wird die verbleibenden 60 Plätzchen legt er 45 in seine Nacht-
zeitliche Änderung der inneren Energie des Systems be- tischschublade. Den Rest steckt er in seine Tasche, um
einflusst. Es ist wichtig zu bemerken, dass der diffusive sie seinen Freunden zu schenken. Da es Winter ist und
Transport sehr wohl im gesamten System auftreten kann, er schon in jungen Jahren viel über andere Sachen nach-
für die Bilanzierung aber nur der an der Systemgrenze denkt, benötigt er eine halbe Stunde, um sich Schuhe und
von Bedeutung ist. Jacke anzuziehen und das Haus zu verlassen.
576 17 Grundlagen der Thermodynamik

Zeigen Sie an diesem typischen Beispiel, wie eine Bilanz- bedeutet, dass es eine Senke in dem System gibt mit
gleichung nach (17.17) funktioniert, unter der Vorgabe, einer Rate von 10 Plätzchen pro Minute.
dass die zu bilanzierende Zustandsgröße die Anzahl der 4. Langsames Verlassen des Hauses, um seinen Freunden
Plätzchen und das System das Einstein‘sche Haus ist.  Plätzchen zu schenken: konvektiver Transport über die
Systemgrenze mit einer Rate von 0,5 Plätzchen pro Mi-
nute.
Lösung 5. Wert der Zustandsgröße am Abend: 45 Plätzchen in
Alberts Nachttischschublade im Einstein‘schen Haus.
1. Wert der Zustandsgröße morgens vor dem Beginn des
Backens: 0 Plätzchen im Einstein‘schen Haus.
2. Backen der Plätzchen: Alle 120 Plätzchen werden in ei- Das Beispiel zeigt uns schön, dass wir mit der allgemei-
ner Stunde gebacken. Das bedeutet, dass es eine Quelle nen Bilanzgleichung nach (17.17) diesen Prozess sehr gut
in dem System gibt mit einer Rate von 2 Plätzchen pro nachverfolgen können. Die Zustandsgröße für dieses Bei-
Minute. spiel war die Anzahl der Plätzchen. Diese Zustandsgröße
3. Aufessen der Plätzchen: Albert isst die Hälfte der wurde für ein bestimmtes System (nämlich das Haus von
Plätzchen (also 60 Stück) in nur 6 Minuten auf. Dies Einstein) bilanziert.

Antworten zu den Verständnisfragen


Thermodynamik

Antwort 17.1 Es handelt sich um ein heterogenes System, Antwort 17.4


da wir eine flüssige Phase (Whisky) und eine feste Phase Konvektion: Kann nur im offenen System auf-
(Eiswürfel) haben. Ist der Eiswürfel nach einiger Zeit ge- treten (z. B. Pressluftflasche, aus der
schmolzen, so haben wir es wieder mit einem homogenen ein Massenstrom in die Umgebung
System zu tun. tritt)
Diffusion: Kann im offenen und geschlossenen
Antwort 17.2 Für eine isobare Zustandsänderung ist die System, nicht aber im abgeschlosse-
Volumenänderungsarbeit WV,12 = p (V1 − V2 ). nen System, auftreten.
Für eine isochore Zustandsänderung ändert sich das Sys- Feldeffekte: Können im offenen und geschlos-
temvolumen nicht, und die Volumenänderungsarbeit ist senen System, nicht aber im abge-
gleich null. schlossenen System, auftreten.
Quellen und Senken: Können in allen Arten von Syste-
Antwort 17.3 Teilt man das System, so bleibt der Druck men (offen, geschlossen und abge-
gleich. Er ist also nicht von der Systemgröße abhängig. schlossen) auftreten.
Das bedeutet, dass p eine intensive Zustandsgröße ist. Das
Volumen V ändert sich mit einer Systemteilung und ist
deshalb eine extensive Zustandsgröße.
Aufgaben 577

Aufgaben

Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer).
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

17.1 • Ein fahrendes Kraftfahrzeug ist als thermo- 2. Berechnen Sie in Temperaturschritten von 10 ◦ C die
dynamisches System zu betrachten. Zeichnen Sie eine Skaleneinteilung zwischen 0 ◦ C und 100 ◦ C. Es ist da-
Prinzipskizze mit folgenden Teilen: von auszugehen, dass das Thermometer vollständig in
den Bereich der zu messenden Temperatur eintaucht.
Fahrgastraum, Motor, Kühler, Einspritzpumpe, Tank, 3. Geben Sie an, welcher maximale Fehler sich einstellt,
Auspuff, Getriebe, Räder, Lichtmaschine, Batterie, Lam- wenn die Skala in gleiche Intervalle eingeteilt wird.
pe. 4. Im praktischen Gebrauch wird nur der Teil des Ther-
Zeichnen Sie für das gesamte Fahrzeug und für die ge- mometers unter der 0 ◦ C-Marke in den zu messenden
nannten Teile Systemgrenzen, und zwar für offene Sys- Temperaturbereich eingetaucht, während sich der Teil
teme blaue und für geschlossene Systeme grüne. Kenn- oberhalb der 0 ◦ C-Marke im Bereich der Raumtempe-
zeichnen Sie die grenzüberschreitenden Energie- und ratur von 20 ◦ C befindet. Welcher Messfehler stellt sich

Thermodynamik
Stoffströme durch Pfeile. ein, wenn an einem Körper mit der Temperatur von
100 ◦ C gemessen wird?
17.2 •• Es soll das Messverhalten eines Quecksilber-
thermometers untersucht werden. Die Kapillare hat einen 17.3 • • • Eine quadratische Scheibe vernachlässigba-
Durchmesser von 0,2 mm. Die Skalenlänge für die Tempe- rer Dicke mit der Seitenlänge 2x ist mit einer Bohrung
raturdifferenz zwischen Siede- und Eispunkt des Wassers vom Durchmesser 2r versehen. Die Größen x und r sind
soll 20 cm betragen. Für Quecksilber gilt die Beziehung als unabhängige Variable aufzufassen.

ρ (0)/ρ (ϑ ) = 1 + Eϑ + Fϑ2 (ϑ in ◦ C) (17.18) 1. Wie lautet die Funktion der Oberfläche A(x, r)? Die Di-
cke der Scheibe ist zu vernachlässigen.
mit folgender Bedeutung der Größen: 2. Stellen Sie das totale Differenzial der Oberfläche durch
geometrische Betrachtung auf.
ρ(0) = Dichte des Quecksilbers bei 0 ◦ C, 3. Stellen Sie das totale Differenzial durch Differenziation
auf.
ρ (ϑ ) = Dichte des Quecksilbers bei einer Temperatur ϑ im
4. Berechnen Sie die Flächendifferenzen A(x, r) −
Bereich 0 ◦ C < ϑ < 100 ◦ C,
A(x0 , r0 ) für x0 = 10 cm, r0 = 5 cm und
E = 1,8182 · 10−4 1/◦ C, (a)x = 1,001x0 , r = 1,001r0
−8 ◦ 2 (b)x = 1,01x0 , r = 1,01r0
F = 0,78 · 10 1/ C .
(c)x = 1,1x0 , r = 1,1r0 .
5. Berechnen Sie die Flächendifferenzen mit Anwendung
Es ist anzunehmen, dass das Volumen des Glaskörpers
des totalen Differenzials, indem Sie für die Differen-
des Thermometers konstant bleibt.
ziale dx und dr die Differenzen Δx und Δr einsetzen.
1. Wie groß ist das Quecksilbervolumen bei 0 ◦ C ? Geben Sie die Fehler an.
Die Hauptsätze der
Thermodynamik
18
Wie viele Hauptsätze gibt
es?
Welche Zustandsgrößen
werden durch die
Hauptsätze axiomatisch
eingeführt?
Inwiefern unterscheidet
sich der dritte Hauptsatz
von den anderen
Hauptsätzen?
Was ist der Unterschied
zwischen den Aussagen

Thermodynamik
des ersten und zweiten
Hauptsatzes und den hier
vorgestellten Bilanzen für
Energie und Entropie?

18.1 Der nullte Hauptsatz der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . 580


18.2 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . 581
18.3 Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . 588
18.4 Der dritte Hauptsatz der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
18.5 Das chemische Potenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595
18.6 Folgerungen aus den Hauptsätzen und Bilanzen . . . . . . . . . . . . . 596
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 579


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_18
580 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

In der Thermodynamik kennt man vier Hauptsätze: den nullten,


den ersten, den zweiten und den dritten Hauptsatz. Diese vielleicht
ungewöhnlich anmutende Nummerierung, die mit null beginnt,
ist historisch bedingt, da der erste Hauptsatz der Zustandsgröße
Energie und der zweite Hauptsatz der Zustandsgröße Entropie zu-
geordnet wurden, bevor man das thermische Gleichgewicht mit der
Zustandsgröße Temperatur als nullten Hauptsatz einführte. Die Gül-
tigkeit der ersten drei Hauptsätze beruht allein auf der Beobachtung
von Prozessen in Natur und Technik, d. h., sie sind reine Erfahrungs-
sätze, die nicht bewiesen, sondern nur widerlegt werden können.
Mit jedem der ersten drei Hauptsätze werden wir in diesem Kapitel
die entsprechende thermodynamische Zustandsgröße axiomatisch
einführen.
In der Mechanik und Thermodynamik kann man für verschiede-
ne Zustandsgrößen, wie z. B. Impuls, Drall, Energie und Entropie,
Bilanzen formulieren. Manche dieser Zustandsgrößen sind in ab-
geschlossenen Systemen konstant, sodass man dann auch von
Erhaltungssätzen spricht. Basierend auf den Hauptsätzen und Abb. 18.1 Ein ursprünglich kalter Kühlakku und eine ursprünglich heiße Tasse
Kaffee befinden sich in thermischem Kontakt und nehmen als Teilsysteme ei-
Bilanzen werden dann wichtige thermodynamische Relationen her- nes abgeschlossenen Gesamtsystems nach ausreichend langer Zeit die gleiche
geleitet. Temperatur an
Thermodynamik

18.1 Der nullte Hauptsatz Umgebung hin isoliert. Nach einem ausreichend langen
der Thermodynamik Zeitraum stellt man fest, dass der Kühlakku und die Tas-
se Kaffee (subjektiv empfunden) gleich „lauwarm“ sind,
mit anderen Worten: beide besitzen die gleiche Tempera-
Die Temperatur tur.
Thermodynamisch können wir dieses Experiment wie
Die Temperatur ist eine thermodynamische Zustands- folgt beschreiben: Kühlakku und Kaffeetasse sind die
größe, deren genaue physikalische Definition gewisse zwei Teilsysteme eines Gesamtsystems, das durch die
Schwierigkeiten bereitet. Die Temperatur eines Systems Kühltasche nach außen abgeschlossen ist. Die beiden Teil-
ist ein Maß für die mittlere ungerichtete Bewegung von systeme befinden sich in thermischem Kontakt, d. h., dass
Molekülen, kann aber nicht direkt mit der kinetischen sich das Gesamtsystem zu Beginn nicht im thermischen
Energie der Moleküle gleichgesetzt werden, insbesondere Gleichgewicht befand. Nach ausreichend langer Zeit ha-
dann nicht, wenn makroskopische (Drift-) Geschwindig- ben beide Teilsysteme den Zustand des gegenseitigen
keiten überlagert sind. Vor diesem Hintergrund wollen thermischen Gleichgewichts erreicht. Dies bedeutet, beide
wir hier die thermodynamische Zustandsgröße Tempe- Teilsysteme besitzen nach dem ersten Gleichgewichtspos-
ratur durch den nullten Hauptsatz der Thermodynamik tulat von Kap. 17 den gleichen Wert für die intensive
lediglich unter Angabe der charakteristischen Eigenschaf- Zustandsgröße Temperatur, die, wie alle thermodynami-
ten der Temperatur einführen. schen Zustandsgrößen, eine skalare Größe ist. Alle Versu-
che die Zustandsgröße Temperatur zu definieren, laufen
letztlich auf diese durch Beobachtungen bestätigte Er-
fahrung hinaus, die von Fowler im Jahr 1931 in Form
Die allgemeine Aussage des nullten des nullten Hauptsatzes der Thermodynamik formuliert
Hauptsatzes wurde:

Wir stellen uns ein Gedankenexperiment vor, wie es in Für jedes thermodynamische System existiert ei-
Abb. 18.1 skizziert ist. Ein (subjektiv empfunden) kalter ne Zustandsgröße, die Temperatur T genannt wird.
Kühlakku aus dem Gefrierschrank und eine (subjektiv Ihre Gleichheit ist notwendige Voraussetzung für
empfunden) heiße, weil frisch aufgebrühte, Tasse Kaffee das thermische Gleichgewicht zweier Systeme oder
werden zusammen in einer gut isolierten Kühltasche un- zweier Teile des gleichen Systems. Sie wird durch ei-
tergebracht. Der Kühlakku und die Kaffeetasse stehen in ne Zahl charakterisiert, ist also eine skalare Größe.
der Kühltasche im thermischen Kontakt, sind aber zur
18.2 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik 581

Aus dem nullten Hauptsatz ergibt sich die folgende all- vernichtet werden. Wir können die Gesamtenergie wie
gemeine Aussage des zweiten Gleichgewichtspostulates, das Geld auf unserem Bankkonto behandeln, es vermehrt
auf deren Gültigkeit letztlich alle heute bekannten Verfah- oder vermindert sich nur durch Zu- oder Abgänge, die
ren zur Messung der Temperatur beruhen: allerdings die unterschiedlichsten Formen haben können.
Es ist bislang noch nie beobachtet worden, dass die Ge-
samtenergie in einem abgeschlossenen System produziert
Zwei Systeme, die sich im thermischen Gleichge- oder vernichtet wurde, sodass wir ein universell gelten-
wicht mit einem dritten System befinden, sind auch des aber rein empirisches Gesetz formulieren können, das
miteinander im thermischen Gleichgewicht, haben wir den ersten Hauptsatz der Thermodynamik nennen:
also die gleiche Temperatur.

Jedes thermodynamische System besitzt die extensi-


ve Zustandsgröße Energie E, die für ein abgeschlos-
senes System konstant ist.
18.2 Der erste Hauptsatz
Eges = konstant (für abgeschlossene Systeme)
der Thermodynamik (18.1)

Die Energie
Abschnitt 17.2 diskutiert die Unterschiede zwischen of-
fenen, geschlossenen und abgeschlossenen Systemen. An
Etwa ab dem siebzehnten Jahrhundert begann man in dieser Stelle soll ausdrücklich nochmals darauf hingewie-
Wissenschaft und Technik den Begriff „Energie“ als die

Thermodynamik
sen werden, dass nach dem ersten Hauptsatz die Gesamt-
„Fähigkeit einen Effekt hervorzubringen“ zu verstehen. energie nur in einem abgeschlossenen System konstant
Die meisten Menschen haben heute sicherlich keine Pro- bleibt. Aufgrund der Terme auf der rechten Seite von
bleme, sich intuitiv etwas unter Energie vorzustellen. Ver- (17.17) kann sich aber die Gesamtenergie in offenen oder
suchen wir jedoch eine physikalisch saubere und umfas- geschlossenen System sehr wohl ändern.
sende Definition der thermodynamischen Zustandsgröße
Energie zu geben, so stoßen wir auf Schwierigkeiten. Eini- Ein (gedachtes) abgeschlossenes System, in dem die Ener-
ge Wissenschaftler versuchen die Energie mithilfe der ver- gie zu- oder abnehmen würde oder auch ein geschlos-
tikalen Bewegung eines Gewichtes in einem Schwerefeld senes System mit zeitlich konstantem Energieinhalt, das
zu definieren, müssen letztendlich aber doch zugeben, kontinuierlich Energie aufnimmt oder abgibt nennt man
dass es nicht möglich ist, eine physikalisch allgemeingül- ein Perpetuum mobile der ersten Art. Mit solchen ge-
tige Definition für die Energie zu geben. Schon Richard dachten Maschinen, die Arbeit aus dem Nichts erzeugen,
Feynman hat in den 1960er Jahren im Rahmen seiner be- haben sich in der Geschichte der Technik viele Wissen-
rühmten Physik-Vorlesungen darauf hingewiesen, dass schaftler und Künstler beschäftigt. Ein Beispiel hierzu ist
man in der modernen Physik nicht weiß, was Energie in Abb. 18.2 zu sehen. Solche Systeme widersprechen dem
wirklich ist. Dies ist vor allen Dingen darin begründet, ersten Hauptsatz und sind bislang noch niemals in Natur
dass Energie (und deren Übertragung) in wirklich allen und Technik beobachtet worden.
(!) natürlichen und technischen Prozessen auftritt und
Um den ersten Hauptsatz weiter zu konkretisieren, teilt
immer eine wichtige Rolle spielt. Daher werden wir an
man, wie in Abschn. 17.4 schon erwähnt, die Gesamt-
dieser Stelle die Energie nicht definieren, sondern durch
energie in Beiträge verschiedener Energiearten auf, wobei
den ersten Hauptsatz der Thermodynamik axiomatisch
man historisch bedingt üblicherweise drei Beiträge be-
einführen. Wir werden anstelle einer Definition lediglich
rücksichtigt: die kinetische und die potenzielle Energie
allgemeine Eigenschaften und Gesetzmäßigkeit der ex-
sowie die innere Energie.
tensiven Zustandsgröße Energie kennenlernen.
Eges = U + Ekin + Epot (17.5)

Die allgemeine Aussage des ersten Hauptsatzes Kinetische Energie Ekin Die kinetische Energie setzt sich
aus dem rotatorischen und dem translatorischen Anteil
Der Grund, weshalb der Umgang mit der Energie intuitiv zusammen und beschreibt die Energie, die der makrosko-
keine Probleme bereitet, liegt vermutlich darin, dass man pischen Geschwindigkeit des Systems als Ganzem (z. B.
sie wie in einer einfachen Buchhaltung bilanzieren kann. ein fester Körper oder ein zusammenhängendes Fluid-
Da die Gesamtenergie eine Erhaltungsgröße ist, kann sie element mit einer mittleren Geschwindigkeit) zugeordnet
in einem abgeschlossenen System weder erzeugt noch ist.
582 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

Systemgrenze (abgeschlossenes System)

1 kg

H2O

Abb. 18.3 Der Schaufelradversuch von Joule

In einem abgeschlossenen System bleibt nach (18.1) die


Gesamtenergie immer konstant. Es kann jedoch Energie
von einer Art in eine andere übergehen. Ein typisches Bei-
spiel hierfür ist der Schaufelradversuch von Joule, wie
Thermodynamik

er in Abb. 18.3 zu sehen ist. Ein System besteht aus ei-


nem hoch aufgehängten Gewicht, das über einen Seilzug
mit einem Rührer in einem wärmegedämmten Wasserbe-
Abb. 18.2 Ein geschlossenes, stationäres System, das ausschließlich Arbeit ab- hälter verbunden ist. Durch das Absenken des Gewichts
gibt, nennt man ein Perpetuum mobile der ersten Art. Die Abbildung zeigt einen auf den Boden wird der Rührer in Bewegung gesetzt,
Entwurf hierzu von Ulrich von Cranach aus dem Jahr 1663 d. h., es wird innerhalb des Systems potenzielle Energie
in kinetische überführt. Der Rührer wiederum bewegt das
Wasser, d. h., hier wird kinetische Energie des Rührers auf
kinetische Energie des Wassers (alles innerhalb des ab-
Potenzielle Energie Epot Die potenzielle Energie eines Sys- geschlossenen Systems) übertragen. Nach einer gewissen
tems ist die Energie, die von der Position des Systems in Zeit, nachdem das Gewicht auf dem Boden zum Stillstand
einem Feld abhängt. Hierbei kann es sich um das Gravita- gekommen ist, kommen auch Rührer und Wasser zur Ru-
tionsfeld aber auch um ein elektrisches oder magnetisches he, wobei das Wasser (inklusive Rührer) durch die Dissi-
Feld handeln. pation von kinetischer Energie in innere Energie erwärmt
wurde (unter Dissipation versteht man eine Energieüber-
tragung bei gleichzeitiger Abwertung der Energie, wobei
Innere Energie U Die innere Energie beschreibt die kineti- Details hierzu später noch ausführlich behandelt werden).
sche und potenzielle Energie aller Moleküle, die sich zum
betrachteten Zeitpunkt in dem System befinden durch ei-
ne einzige extensive makroskopische Zustandsgröße. Die Frage 18.1
kinetische Energie der Moleküle teilt sich in translatori- Sind innere Energie und kinetische Energie sogenannte
sche, rotatorische und vibratorische Beiträge auf (siehe Erhaltungsgrößen, d. h., bleiben sie in einem abgeschlos-
auch Abb. 18.11). Die potenzielle Energie der Moleküle senen System konstant?
beruht auf Wechselwirkungen zwischen den Molekülen
(z. B. infolge von Coulomb- oder van der Waals-Kräften).
Weiterhin können in manchen Fällen Energien von chemi-
Da die potenzielle Energie nicht nur von den Systemei-
schen Reaktionen, Kernspaltungen und Kernverschmel-
genschaften alleine, sondern auch von der Umgebung
zungen durch die innere Energie berücksichtigt werden.
abhängt, fassen viele Autoren in der Gesamtenergie nur
Natürlich existieren noch andere Energiearten, wie z. B. die kinetische und die innere Energie zusammen und
die Energie einer Feder, die potenzielle Energie in ei- berücksichtigen die Bewegungen in einem äußeren Feld
nem Kondensator (elektrisches Feld) oder die magneti- durch einen Arbeitsterm (FFeld ) in (17.17) in der Bilanz für
sche Energie in einer Spule (magnetisches Feld), die unter die Gesamtenergie:
bestimmten Bedingungen durch die innere Energie be-
rücksichtigt werden können. Eges = U + Ekin . (18.2)
18.2 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik 583

Beide Wege führen natürlich zu demselben Ergebnis für die Terme KKonvektion und FFeld berücksichtigt; der Zu-
die endgültige Form der Gesamtenergiebilanz eines offe- stand einer über die Systemgrenze transportierten Mas-
nen Systems. se wird durch entsprechende Zustandsgrößen beschrie-
ben). Massen werden immer gegen einen bestimmten
Druck (flächenbezogene Oberflächenkraft) über die Sys-
temgrenze ein- bzw. ausgeschoben. Hierbei werden ent-
Die Bilanz der Gesamtenergie sprechende Volumina verdrängt und Arbeiten (von bzw.
für ein offenes System an dem System) geleistet. Diese Arbeiten werden durch
den Term DDiffusion in (17.17) beschrieben und berechnen
sich (auf die transportierten Massenströme j bezogen) zu
Formt man für ein offenes System basierend auf (17.17) [(pv)j ]über Systemgrenze . Fasst man die Terme u und pv zu
eine Bilanz für die Gesamtenergie, die hier als Summe le- der Zustandsgröße spezifische Enthalpie, h = u + pv (Tab.
diglich der beiden Energiearten kinetischer und innerer 18.1), zusammen, so ergibt sich die erste Summe auf der
Energie rechten Seite von (18.3).

ZSystem = ESystem = [m(u + c2 /2)]System Der Term DDiffusion in (17.17) beinhaltet noch drei weite-
re physikalische Effekte, die in der Gesamtenergiebilanz
definiert ist, so ergibt sich (18.3): von Bedeutung sind. Diese sind erstens Wärmemengen,
die pro Zeiteinheit über die Systemgrenze strömen und
  2  die durch die zweite Summe auf der rechten Seite von
d c
U+m + gz (18.3) berücksichtigt werden. Für adiabate System ist die-
dt 2 System se Summe gleich null.
%  &
2

Thermodynamik
c Treten zweitens an der Systemoberfläche Schubspannun-
= ∑ ṁj h + + gz
j
2 j über Systemgrenze gen in sich bewegenden Systemteilen auf (z. B. Torsi-
  onsschubspannungen in einer sich drehenden Welle), so
+ ∑ Q̇ l über Systemgrenze werden durch diese flächenbezogenen Oberflächenkräfte
l Arbeiten pro Zeiteinheit geleistet. Man nennt diese Ar-
 
  dV beiten technische Arbeiten, die durch die dritte Summe
+∑ Ẇt − p . (18.3)
i über Systemgrenze dt System auf der rechten Seite von (18.3) beschrieben werden. So
i
wie die technische Arbeit hier definiert ist, umfasst sie al-
Diese Gleichung ist die Bilanzgleichung für die Gesamt- le Formen von Arbeiten mit Ausnahme der Arbeiten, die
energie eines offenen, instationären Systems. Trotz eini- mit dem Ein- bzw. Ausschieben von Massen verbunden
ger nicht unwesentlicher Umformungen kann man in die- sind, die Arbeit des Gravitationsfeldes sowie die Volu-
ser Gleichung die vier physikalischen Effekte von (17.17) menänderungsarbeit des Systems selber, da diese durch
wiederfinden. Der Term auf der linken Seite beschreibt die separate Terme in (18.3) berücksichtigt werden.
zeitliche Änderung der Zustandsgröße Gesamtenergie Ändert sich drittens das Systemvolumen VSystem mit der
(innere und kinetische Energie), die den Zustand der Mas- Zeit, so wird infolge des an der sich bewegenden System-
se (Stoffmenge, Gesamtheit aller Moleküle) beschreibt, die oberfläche herrschenden Druckes bei einer Systemexpan-
sich zum betrachteten Zeitpunkt innerhalb des System- sion (dV > 0) Arbeit pro Zeiteinheit von dem System
volumens VSystem befindet (dZSystem /dt in (17.17), siehe an der Umgebung geleistet, während durch eine Sys-
auch Abb. 17.7). Ist das betrachtete System ausschließlich temkontraktion (dV < 0) die Umgebung eine Leistung
dem zeitlich konstanten Gravitationsfeld ausgesetzt (des- an das System überträgt. Diese ebenfalls durch Ober-
sen Gravitationsvektor zudem parallel zur Koordinate z flächenkräfte hervorgerufene differenzielle Arbeit (pro
verläuft), so tritt in dem Feldterm FFeld nur die Arbeit Zeit) nennt man (differenzielle) Volumenänderungsar-
des Gravitationsfeldes auf. Dies hat zur Folge, dass sich beit, welche durch den Term −(pdV/dt)System in die
der zeitliche Änderungsterm auf der linken Seite noch um Bilanzierung eingeht. Ebenso wie der Term auf der linken
einen auf die Systemmasse bezogenen Anteil der potenzi- Seite der Bilanzgleichung ist die Leistung infolge einer
ellen Energie des Gravitationsfeldes (gz)System erweitert. Volumenänderung des Systems für stationäre Systeme na-
Für stationäre Systeme fällt der gesamte Term auf der lin- türlich null.
ken Seite natürlich weg.
Führt man einem System durch einen Rührer, dessen Wel-
Die entsprechenden drei Energiearten (Achtung, jetzt le durch die Systemoberfläche dringt, technische Arbeit
allerdings auf die transportierten Massenströme j bezo- von außen zu, so wird diese im System vollständig in in-
gen! [(u + c2 /2 + gz)j ]über Systemgrenze ) sind ebenfalls zu nere Energie dissipiert. An diesem Beispiel erkennt man
berücksichtigen, wenn Massen über die Systemgrenze leicht, dass wir der Einfachheit halber auch Dissipati-
treten und natürlich mit diesen Massen Energien trans- onsarbeiten, Wdiss , zu den technischen Arbeiten zählen
portiert werden (die Energien werden in (17.17) durch können, obwohl der eigentliche Dissipationsprozess nicht
584 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

durch einen Transport über die Systemoberfläche, son- ausströmendes Gas


dern durch einen Prozess innerhalb des Systems bedingt |dmab|
ist:

Ẇdiss im System = Ẇt über Systemgrenze bzw.
(δWdiss )im System = (δWt )über Systemgrenze . (18.4) VF = 50 l

pA
Mit einer ähnlichen Argumentation können wir auch pu VKv
elektrische Arbeiten oder den Energieaustausch bedingt Kontrollvolumen
durch den Einfluss elektrischer oder magnetischer Felder
und infolge der Absorption elektromagnetischer Strah-
lung (FFeld in (17.17)) oder infolge auftretender chemi-
scher Reaktionswärmen (SQuellen und Senken in (17.17)) ent- Q12 = ?
weder zu den technischen Arbeiten pro Zeit oder zu den dT = 0
Wärmeströmen zählen.

Wird von einem System ein bestimmter Prozess von ei- Abb. 18.4 Instationäres Ausströmen von Luft aus einer Pressluftflasche mit
nem Anfangszustand 1 bis zu einem Endzustand 2 durch- VKv = konstant
geführt, so liefert die Integration vom Anfangs- zum End-
zustand (18.5). In dieser Gleichung steht auf der linken Diese Aufgabe kann mit der Bilanz für die Gesamtenergie
Seite die Differenz der Gesamtenergie des Systems zwi- (erster Hauptsatz) eines offenen, instationären Systems
Thermodynamik

schen End- und Anfangszustand. Auf der rechten Seiten gelöst werden. Dazu verwenden wir (18.3):
stehen alle ausgetauschten Wärmen und Arbeiten sowie   2 
die Energien, die infolge von konvektiven Stoff- bzw. d c
U+m + gz
Masseübertragungen über die Systemgrenze dem System dt 2 System
zu- oder abgeführt werden. %  &
c2
     2  = ∑ ṁj h + + gz
c2 c j
2 j über Systemgrenze
U+m + gz − U+m + gz  
2 System, 2 2 System, 1 + ∑ Q̇ l über Systemgrenze
%   & l
c2  
= ∑ Δm12,j h + + gz   dV
j
2 j +∑ Ẇt i über Systemgrenze
− p
über Systemgrenze
i
dt System
+ ∑ [(Q12 )l ]über Systemgrenze
l
+ ∑ [(W12 )m ]über Systemgrenze . (18.5) und wenden sie auf das in Abb. 18.4 eingezeichnete Kon-
m trollvolumen VKv an. Kinetische und potenzielle Energien
sowohl der Masse im System als auch der Masse, die gera-
de die Systemgrenze überschreitet, können vernachlässigt
Beispiel Instationäres Ausströmen von Luft aus einer werden. Zudem wird weder technische noch Volumen-
Pressluftflasche änderungsarbeit an der Masse des zeitlich konstanten
Kontrollvolumens geleistet.
Aus einer Pressluftflasche mit dem Volumen VF = 50 l
strömt Luft bis zum Druckausgleich p = pu in die Um- d dm
gebung. Die Luft verhält sich wie ein ideales Gas. Durch dt
(U + 0 + 0 ) = ∑ h dt + Q̇ + 0 − 0.
Wärmeaustausch mit der Umgebung wird dafür gesorgt,
dass die Temperatur der Luft in der Flasche konstant Jetzt multiplizieren wir die Gleichung mit der infinitesi-
bleibt. mal kleinen Zeitdifferenz dt auf beiden Seiten:

Anfangszustand (Zeitpunkt t1 ): p = pA = 101 bar, T = dU = ∑ hdm + Q̇dt


TA = Tu = 290 K.
bzw., da nur ein Massenstrom über die Systemgrenze tritt
Endzustand (Zeitpunkt t2 ): p = pu = 1 bar, T = Tu = und die absolute innere Energie sowohl von der spezifi-
290 K. schen inneren Energie als auch von der sich ändernden
Masse im System abhängt:
Welche Wärme Q12 muss der Pressluft über den gesamten
Zeitraum des Ausströmens insgesamt zugeführt werden? d (mu) = −hdmab + Q̇dt.
18.2 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik 585

Das Differenzial auf der linken Seite können wir mit der Bilanz der inneren Energie
Produktregel ausmultiplizieren.
für ein geschlossenes System
mdu + udm = −hdmab + Q̇dt.
Analog der Bilanz für die Gesamtenergie nach (18.3)
Im Vorgriff auf Abschn. 19.3 verwenden wir nun die kann man auch für die einzelnen Energiearten (kinetische
thermische und die kalorische Zustandsgleichung für ein und innere Energie) Bilanzen aufstellen. Da die Ener-
ideales Gas: giearten auch in abgeschlossenen Systemen ineinander
überführt werden können, erscheinen in diesen Bilanzen
pV = mRL T und du = cv dT. Quellen- bzw. Senkenterme. Die Zustandsgrößen kineti-
sche und innere Energie (Ekin und U) sind also keine
Die thermische Zustandsgleichung lösen wir nach der Erhaltungsgrößen. Subtrahiert man die Bilanz der kine-
Masse, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in der tischen Energie von der der Gesamtenergie, so erhält man
Flasche befindet, auf: die Energiebilanz für ein geschlossenes System:
pVF
m= . dUSystem
RL T
dt
= ∑ Q̇j + ∑ Ẇk . (18.6)
j k
Wie man der Beziehung entnehmen kann, hängt eine Än-
derung der Masse generell von Änderungen des Druckes, Auf der linken Seite der Gleichung steht die zeitliche Än-
des Volumens und der Temperatur ab. In diesem Beispiel derung der inneren Energie des Systems. Auf der rechten
sind aber Volumen und Temperatur konstant, sodass die Seite steht zum einen die Summe aller über die System-
Masseänderung nur durch eine Druckänderung bewirkt grenze übertragenen oder durch innere Quellen auftreten-

Thermodynamik
wird. Die Änderung der Masse innerhalb des Kontrollvo- den Wärmen pro Zeit. Zum anderen steht hier die Summe
lumens dm ist natürlich die negative Masse, die aus dem aller Arbeiten pro Zeit, die die innere Energie unmittelbar
System austritt −dmab : beeinflussen. Für ein einfaches System sind dies nur die
Volumenänderungsarbeit und die Dissipationsarbeit. Bei-
VF pVF p de können Quellen- bzw. Senkenterme sein, da man durch
dm = dp − dT +
!"#$ dVF = −dmab .
RL T RL T 2 RL T !"#$ die Volumenänderungsarbeit reversibel kinetische Ener-
=0 =0 gie in innere Energie und umgekehrt überführen kann.
Durch die Dissipationsarbeit kann man irreversibel ki-
Setzen wir nun die Ergebnisse der thermischen und der netische Energie in innere Energie überführen. Integriert
kalorischen Zustandsgleichung in den ersten Hauptsatz man (18.6), so erhält man:
ein, so ergibt sich:

VF VF
U2 − U1 = ∑ Qj,12 + ∑ Wk,12 . (18.7)
j k
dT +u
mcv !"#$ dp = h dp + Q̇dt.
RL T RL T
=0 In dieser Gleichung steht auf der linken Seite die Ände-
rung der inneren Energie des Systems, während auf der
Nun können wir nach Q̇dt auflösen und den gewonnenen
rechten Seite die bei der Zustandsänderung von 1 nach 2
Ausdruck mit der Definition für die Enthalpie h = u + pv
zu- und abgeführten Wärmen und Arbeiten stehen. Tritt
nach Tab. 18.1 sowie der thermischen Zustandsgleichung
nur Volumenänderungsarbeit und eine Wärme auf, so
für ideale Gase vereinfachen:
kann man (18.7) auch vereinfachend wie folgt schreiben
⎛ ⎞
⎜ ⎟ VF 2
Q̇dt = ⎝u − h⎠ dp = −VF dp. U2 − U1 = Q12 −
! "# $ RL T pdV. (18.8)
−pv
1

Eine einfache Integration vom Anfangszeitpunkt bis zum


Endzeitpunkt bzw. vom Anfangsdruck bis zum Enddruck Beispiel Instationäres Ausströmen von Luft aus einer
führt nun zum gesuchten Ergebnis: Pressluftflasche.
Wir können die Aufgabe des Beispiels, das wir am Ende
t2 pu des letzten Abschnitts diskutiert haben, auch mit einem
Q12 = Q̇dt = −VF dp = −VF (pu − pA ) . Ansatz für ein geschlossenes System lösen. Hierzu er-
t1 pA innern wir uns an einen Luftballonverkäufer auf dem
Jahrmarkt und wählen ein System, das aus der Pressluft-
Setzt man die in der Aufgabenstellung gegebenen Werte flasche und einen Ballon (allerdings mit vernachlässig-
ein, so ergibt sich Q12 = 500 kJ.  barer Ausdehnungsarbeit der elastischen Gummihülle)
586 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

Kontrollvolumen VKv(t) woraus folgt:


Ballon mit pA
elastischer Vu = VF .
Gummihülle pu

Setzen wird diese Beziehung in die Relation für die ge-


suchte Wärmemenge ein, so ergibt sich das identische
Ergebnis, das wir schon (allerdings mit einem anderen
Lösungsweg) in unserem Beispiel am Ende des letzten
pF
pu Abschnitts erzielt hatten:
p = pu
Q12 = pu (Vu − VF ) = VF (pA − pu ) .


Q12 = ?
dT = 0

Die technische Arbeit


Abb. 18.5 Instationäres Ausströmen von Luft aus einer Pressluftflasche mit
VKv = VKv (t )
Um die in (18.3) enthaltene technische Arbeit genauer zu
diskutieren, wollen wir ein in Abb. 18.6 skizziertes Gas-
kraftwerk betrachten, das aus einem Verdichter und einer
Thermodynamik

besteht, wie es in Abb. 18.5 skizziert ist. Die Pressluft Turbine, die auf einer Welle sitzen, sowie einem Brenn-
strömt aus der Flasche in den Ballon, in dem konstan- kammerwärmeübertrager besteht. Das Kraftwerk kann
ter Umgebungsdruck herrscht. Das Kontrollvolumen ist als offenes, stationäres thermodynamisches System, das
jetzt so gewählt, dass die Luft das System nicht verlässt. mit seiner Umgebung sowohl technische Arbeit als auch
Das bedeutet, es liegt hier ein geschlossenes System vor, Wärme austauscht, beschrieben werden.
das allerdings ein zeitlich veränderliches Kontrollvolu-
men besitzt VKv = VKv (t). Ein zeitlich konstanter Massenstrom ṁ tritt an der Stelle
1 im Zustand 1 in das System ein, und ein entsprechen-
Auf dieses System wenden wir nun die Bilanz für die in-
der Massenstrom verlässt das System an der Stelle 2 im
nere Energie nach (18.6) an:
Zustand 2. Während die Masse die Anlage durchströmt,
dUSystem werden verschiedene Zustandsänderungen durchlaufen,
= Q̇ + Ẇ. die zum Energieaustausch pro Zeiteinheit mit der Umge-
dt bung führen, zum einen infolge eines (netto) technischen
Aus der kalorischen Zustandsgleichung für ideale Ga- Arbeitsprozesses Ẇt,12 und zum anderen infolge eines
se folgt, dass die linke Seite der Gleichung für den hier Wärmeübertragungsprozesses Q̇12 . Für diese so skizzier-
vorliegenden isothermen Prozess gleich null sein muss. te Anlage können wir zwei Energiebilanzen aufstellen,
Wir können also die gesuchte Wärme aus der Integration die unabhängig voneinander sind. Zum einen ist dies die
der negativen Volumenänderungsarbeit gewinnen. Hier- Gesamtenergiebilanz nach (18.3), die wir auf das offe-
bei muss die Integration von dem Anfangsvolumen VF bis ne, stationäre System anwenden. Zum anderen können
zu dem noch unbekannten Endvolumen Vu durchgeführt wir aber auch eine unveränderliche Mengeneinheit von
werden: z. B. einem Kilogramm des Stoffes betrachten, die mit
dem Zustand 1 eintritt, die Anlage mit den entsprechen-
Vu den Energieübertragungen instationär durchläuft und mit
Q12 = −W12 = pu dV = pu (Vu − VF ) . dem Zustand 2 wieder aus der Anlage austritt. Für dieses
VF geschlossene, instationäre System, das immer dieselben
Materieteilchen enthält, lässt sich eine Energiebilanz nach
Das Endvolumen Vu besteht aus dem Volumen der Fla- (18.6) aufstellen. Die Bilanz für das offene, stationäre Sys-
sche und dem Volumen des aufgeblasenen Ballons. Es tem nach (18.3) ergibt:
enthält dieselbe Masse, die zu Beginn in der Pressluftfla-  
sche enthalten war, sodass sich das Endvolumen mithilfe c21
der thermischen Zustandsgleichung für ideale Gase be- 0 = ṁ h1 + + gz1
2
rechnen lässt:  
pA VF p V c22
m= = u u, − ṁ h2 + + gz2 + Q̇12 + Ẇt,12 . (18.9)
RL T RL T 2
18.2 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik 587

Q12 Systemgrenze Q12

t3
t4 t5
t6
Wt,12 Wt,12 t2
t7
c1 2 c1
c2 c2
z1 1 z2 t1
a b

Abb. 18.6 a Darstellung eines Gaskraftwerks als offenes, stationäres thermodynamisches System, das mit seiner Umgebung sowohl technische Arbeit als auch
Wärme austauscht. b Betrachtung eines geschlossenen, instationären Systems einer konstanten Masse, die durch die Kraftwerksanlage strömt (Darstellung zu
verschiedenen Zeiten t1 bis t7 )

Teilt man diese Beziehung durch den Massenstrom ṁ und Die Kombination der Ergebnisse der beiden Energiebilan-
löst anschließend nach der spezifischen technischen Ar- zen führt zu einer Relation für die spezifische technische
beit wt,12 auf, so erhält man: Arbeit:

2
c22 c2 c22 c2
wt,12 = h2 − h1 + − 1 + gz2 − gz1 − q12 . (18.10) wt,12 = wdiss,12 + vdp + − 1 + gz2 − gz1 . (18.15)
2 2 2 2
1

Thermodynamik
Die Energiebilanz für das geschlossene, instationäre Sys-
tem einer unveränderlichen Stoffmenge von einem Ki- Multipliziert man diese Beziehung mit dem Massenstrom
logramm Fluid, das durch das offene System hindurch- ṁ, so erhält man für die technische Leistung, die wir mit
strömt, kann basierend auf (18.6) formuliert werden. dem Symbol Pt,12 bezeichnen:
Dieses geschlossene System kann als einfaches System be-
trachtet werden, sodass als Arbeiten nur die Volumenän- Ẇt,12 = Pt,12 = ṁwt,12
derungsarbeit und die Dissipationsarbeit auftreten, deren 2
 
c22 c2
differenzielle Beschreibung zusätzliche Information lie- = Ẇdiss,12 + ṁ vdp + ṁ − 1 + gz2 − gz1 .
fert: 2 2
1
(18.16)
du = δq + ∑ δwk = δq + δwdiss − pdv. (18.11)
k Für eine große Anzahl technisch relevanter Anwendun-
gen kann man sowohl die reibungsbedingte Dissipati-
Mithilfe der Relation zwischen innerer Energie und Ent-
onsarbeit als auch die Änderungen von kinetischer und
halpie, h = u + pv, kann diese Beziehung weiter umge-
potenzieller Energie vernachlässigen, sodass sich die tech-
formt werden zu:
nische Arbeit mit guter Genauigkeit aus dem Integral des
Volumens über dem Druck berechnen lässt. Dies wollen
du = d (h − pv) = dh − vdp − pdv = δq + δwdiss − pdv wir am Beispiel einer kontinuierlich arbeitenden Kolben-
(18.12) maschine verdeutlichen, in der wie in Abb. 18.7 darge-
stellt ein Fluid von hohem Druck p1 auf niedrigeren Druck
bzw. p2 expandiert wird. Die Kolbenmaschine befindet sich im
Zustand 0 am oberen Totpunkt, wenn das Einlassventil
dh = δq + δwdiss + vdp. (18.13) öffnet und Fluid mit dem Druck p1 eingeschoben wird.
Infolge der Volumenänderung V1 wird die Volumenände-
Diese Beziehung können wir nun zwischen den Punk- rungsarbeit −p1 V1 an die Kolbenstange abgegeben. Am
ten 1 und 2 integrieren. Hierbei ist zu beachten, dass der Punkt 1 schließt das Einlassventil, und es beginnt der ei-
Eintrittszustand 1 in die Anlage für das geschlossene, in- gentliche Expansionsprozess, der im Zustand 1 beginnt
stationäre System der Anfangszustand ist. Entsprechend und bis zum Zustand 2 verläuft. Der Zustand 2 wird am
stellt der Austrittszustand 2 aus der Anlage den Endzu- unteren Totpunkt erreicht. Bei diesem Prozessschritt wird
stand des geschlossenen, instationären Systems dar: die Volumenänderungsarbeit

2 2
h2 − h1 = q12 + wdiss,12 + vdp (18.14) WV,12 = − pdV (17.8)
1 1
588 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

an die Kolbenstange abgegeben. Ist der Enddruck p2 er- der Entropie verbunden sind. So ist uns z. B. allen klar,
reicht, öffnet das Auslassventil. Nun muss dem Fluid die dass sich eine heiße Tasse Kaffee, die auf dem Küchen-
Volumenänderungsarbeit p2 V2 über die Kolbenstange zu- tisch steht, nach einer Weile abkühlt. Jeder weiß, dass die
geführt werden, um es gegen den Druck p2 aus dem Herdplatte heißer sein muss als der Topf, um den Topf auf
Zylinder auszuschieben. Nachdem der obere Totpunkt er- dem Herd zu erwärmen. Auch brauchen wir niemandem
reicht ist (Zustand 3), schließt das Auslassventil, und der zu erklären, dass es viel leichter ist, einen Löffel Zucker
Zyklus kann von neuem beginnen. in den Kaffee zu geben als diesen Zucker wieder aus dem
Kaffee herauszuholen.
Die technische Arbeit, die netto über einen Zyklus vom
Fluid an die Kolbenstange abgegeben wird, ist die Summe Wie die Energie so ist auch die Entropie eine extensive
aus allen drei Volumenänderungsarbeiten: Zustandsgröße, d. h., die Systementropie kann vermehrt
oder vermindert werden, indem dem System eine Stoff-
2 menge zu- oder abgeführt wird. Allerdings kann man die
Wt,12 = p2 V2 − p1 V1 − pdV (18.17) Systementropie auch vermehren oder vermindern, indem
1 man dem System Wärme zu- oder sie aus ihm abführt.
Wie wir später noch detailliert diskutieren werden, hängt
Integrieren wir die aus der Produktregel der Differentia- die Zustandsgröße Entropie sehr eng mit der Prozessgrö-
tion folgende Relation ße Wärme zusammen.
d (pV ) = Vdp + pdV (18.18) Wie Energie so lässt sich auch Entropie nicht vernichten,
aber im völligen Gegensatz (und daher vermutlich intui-
von 1 nach 2, so erkennen wir, dass sich die technische
tiv schwerer zu verstehen) können wir Entropie erzeugen
Arbeit für einen Zyklus der Kolbenmaschine aus dem In-
und zwar durch irreversible Prozesse. Immer dann, wenn
Thermodynamik

tegral des Volumens über den Druck ergibt:


Energie dissipiert wird, wird gleichzeitig Entropie er-
2 2 zeugt. Wie wir später noch zeigen werden, ist erzeugte
Entropie das Maß der Dissipation. Da alle Prozesse, die in
Wt,12 = p2 V2 − p1 V1 − pdV = Vdp. (18.19)
Natur und Technik von selbst ablaufen, mit Energiedissi-
1 1 pation einhergehen, folgt daraus, dass die Entropie (und
Frage 18.2 der mit ihr verbundene zweite Hauptsatz der Thermo-
Wie unterscheiden sich bei einem Kolbenverdichter die dynamik) die Richtung angibt, in der Prozesse in einem
über einen Arbeitszyklus summierten Volumenände- System ablaufen, wenn wir das System sich selbst über-
rungsarbeiten von der insgesamt zugeführten techni- lassen.
schen Arbeit? Der erste Hauptsatz beschreibt somit, dass die Gesam-
tenergie erhalten bleibt, während der zweite Hauptsatz
uns die Richtung angibt, in der Prozesse ablaufen. Im
Rahmen seiner Vorlesungsreihe über theoretische Physik
hat Arnold Sommerfeld (1868–1951) daher sehr treffend
18.3 Der zweite Hauptsatz die Natur mit einer Firma verglichen. Dem ersten Haupt-
der Thermodynamik satz kommt dabei die Bedeutung der Buchhaltungsab-
teilung zu, während der zweite Hauptsatz den Vorstand
bildet.
Die Entropie
Frage 18.3
Genauso schwierig wie die Definition der Zustandsgröße Kann die Entropie eines geschlossenen thermodynami-
Energie ist auch die Definition der Zustandsgröße Entro- schen Systems abnehmen?
pie, obwohl die statistische Thermodynamik eine Defini-
tion der Entropie liefert. Hiernach ist die Entropie eines
Systems proportional zu dem Logarithmus der Anzahl
der für den thermodynamischen Zustand des Systems
möglichen Mikrozustände. Die Anzahl dieser Mikrozu-
Die allgemeine Aussage
stände, die alle Moleküle des Systems einnehmen können,
ist eine sehr große Zahl, welche oft als thermodynami- des zweiten Hauptsatzes
sche Wahrscheinlichkeit bezeichnet wird.
Anders als bei der Energie ist es schwierig, die Bedeutung Bevor wir uns dem zweiten Hauptsatz der Thermodyna-
der Entropie intuitiv zu verstehen, obwohl sehr viele Bei- mik zuwenden, ist es notwendig noch kurz den Begriff
spiele des täglichen Lebens existieren, die unmittelbar mit eines reversiblen Prozesses zu klären.
18.3 Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik 589

Abb. 18.7 Expansionsprozess p p p


einer kontinuierlich arbeitenden
Kolbenmaschine. Die Summe aus 0 1 0 1
p1 p1
a dem Einschieben (0–1) sowie 2
dem Expandieren (1–2) und b Vdp
dem Ausschieben (2–3) ergibt c p2 2 p2 3 2 p2 1
den Gesamtprozess (0–1–2–3–0) 3 2
2
–p1V1 – pdV +p2V2
1

a V1 V2 V b V c V

Systems (Index prod für Produktion):


Man nennt einen Prozess reversibel, wenn es einen
Weg gibt, diesen Prozess rückgängig zu machen δQrev
dSSystem = dSa + dSprod = + dSprod . (18.22)
und sowohl das betrachtete System als auch seine T
Umgebung (!) wieder in den Ausgangszustand zu-
rückzuführen. Auf der linken Seite dieser Gleichung steht die infinite-
simal kleine Änderung der wegunabhängigen Zustands-
größe Entropie des betrachteten Systems, die mit dSSystem
gekennzeichnet wird. Die Größe δQrev auf der rechten Sei-
Genauso wie wir schon durch den ersten Hauptsatz
te bezeichnet die Menge der wegabhängigen, reversiblen

Thermodynamik
die Zustandsgröße Energie kennengelernt haben, führen
Prozessgröße Wärme. Aus dieser Relation erkennen wir
wir die Zustandsgröße Entropie axiomatisch durch den
weiterhin, dass die Dimension der Entropie [J/K] ist. Ei-
zweiten Hauptsatz ein. Die folgende Formulierung des
ne weitere Konsequenz von (18.20) und (18.22) ist, dass
zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik stammt von
reversibel ausgetauschte Wärmen als Flächen in einem
Sommerfeld, der als einer der Väter der modernen Physik
T,S-Diagramm dargestellt werden können.
gilt und sehr viele herausragende Physiker der Neuzeit
ausgebildet hat: Multipliziert man nun die Gleichung für die Systementro-
pie mit der absoluten Temperatur T, so ergibt sich

Jedes thermodynamische System besitzt eine exten- TdSSystem = δQrev + TdSprod


sive Zustandsgröße, die Entropie S genannt wird.
Bei reversiblen Zustandsänderungen berechnet man mit der differentiellen Dissipationsenergie
die Entropieänderung eines Systems, indem man die
mit der Umgebung reversibel ausgetauschte Wärme δΨ = TdSprod . (18.23)
δQrev durch die absolute Temperatur T an der Stelle
des Wärmeaustausches dividiert: Integriert man jetzt die so erhaltene Beziehung von einem
Anfangszustand 1 bis zu einem Endzustand 2, so erhält
δQrev
dSa = . (18.20) man:
T
2 2
Bei allen irreversiblen Zustandsänderungen wird in- TdSSystem = Qrev,12 + TdSprod
folge der Energiedissipation eine positive Entropie-
1 1
produktion im Inneren des Systems hervorgerufen:
mit der Dissipationsenergie
dSprod > 0. (18.21)
2
Ψ12 = TdSprod . (18.24)
1
Wichtig ist hierbei, dass wir die Änderung der Zustands-
größe Entropie des Systems dabei aus der Summe dieser Die Dissipationsenergie beschreibt z. B. den Anteil der
beiden physikalischen Effekte berechnen: der Entropieän- Energie, der irreversibel von kinetischer Energie in innere
derung (Vermehrung oder Verminderung) infolge einer Energie umgewandelt wird, oder auch Irreversibilitäten
Wechselwirkung (Wärmeübertragung) mit der Umge- bei der Wärmeübertragung infolge von endlichen, trei-
bung (Index a für Austausch) und der Entropieproduk- benden Temperaturdifferenzen. Bezieht man in (18.22)
tion infolge von Dissipationsprozessen im Inneren des die infinitesimal kleine Änderung der Systementropie auf
590 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

ein entsprechend kleines Zeitintervall, so ergibt sich ei-


ne Gleichung für die Entropierate (Entropieänderung pro
Zeit):
 
dS
= ṠSystem
dt System
 
= Ṡa über Systemgrenze + Ṡprod . Wt
im System
(18.25)
Q
Den ersten Term auf der rechten Seite dieser Gleichung
nennt man die Entropieströmungsrate, da die Systemen- Abb. 18.8 Ein geschlossenes, stationäres System, das kontinuierlich Wärme
tropie sich pro Zeiteinheit infolge eines über die System- aufnimmt und den gleichen Energiebetrag als Arbeit abgibt, nennt man ein Per-
grenze zu- oder abgeführten Wärmestroms ändert. Die petuum mobile der zweiten Art
Entropieströmungsrate kann je nach Richtung des Wär-
mestroms positiv oder negativ sein. Für adiabate Systeme
ist sie natürlich null. des Perpetuum mobiles der zweiten Art heranziehen. Es
  wäre nämlich kein Widerspruch zum ersten Hauptsatz,
Q̇rev
Ṡa über Systemgrenze = . (18.26) wenn die ohnehin schon heiße Tasse Kaffee mit der Zeit
T über Systemgrenze immer heißer würde und der kalte Kühlakku immer käl-
ter. Erst der zweite Hauptsatz verbietet dies, da hierfür,
Thermodynamik

Der zweite Term auf der rechten Seite heißt Entropie- wie sich leicht zeigen lässt, die Entropieproduktion für
erzeugungs- oder Entropieproduktionsrate. Dieser Term das Gesamtsystem aus Kaffeetasse und Kühlakku negativ
erfasst alle innerhalb des Systems produzierte Entropie. würde. In der Natur sind bislang nur Ausgleichsprozesse
Für irreversible Prozesse ist die Entropieproduktionsrate beobachtet worden, bei denen Wärme ohne äußeres Zu-
immer größer als null. Bei einer reversiblen Prozessfüh- tun vom heißeren zum kälteren Körper strömt und beide
rung wird keine Entropie produziert, folglich ist dann die Körper ihre Temperaturen mit der Zeit an- bzw. ausglei-
Entropieerzeugungsrate gleich null: chen.
    In diesem Zusammenhang wollen wir noch den Max-
Ψ̇
Ṡprod = 0 (18.27) well’schen Dämon erwähnen. Er wurde von James Clark
im System T im System
Maxwell (1831–1879) im Jahr 1871 erdacht, um eine mögli-
che theoretische Verletzung des zweiten Hauptsatzes auf-
Die Entropieproduktionsrate kann nie negativ werden.
zuzeigen. Der Dämon ist ein hypothetisches Wesen (oder
Dies würde dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik
ein Gerät), das in der Lage ist, die Geschwindigkeit einzel-
widersprechen.
ner Moleküle zu erfassen. Für sein Gedankenexperiment
Ein (gedachtes) System mit einer negativen Entropie- geht Maxwell von zwei mit demselben Gas gefüllten Be-
produktionsrate nennt man ein Perpetuum mobile der hältern aus, die durch eine reibungsfrei verschließbare
zweiten Art. Wie das Perpetuum mobile der ersten Art ist Klappe miteinander verbunden sind und die zu Beginn
auch das der zweiten Art noch nie in Realität beobachtet die gleiche Temperatur, d. h. die gleiche mittlere Ge-
worden. Ein Perpetuum mobile der zweiten Art wäre z. B. schwindigkeit der Gasmoleküle, besitzen. Durch gezieltes
ein Boot, das kontinuierlich einem stehenden Süßwas- Öffnen und Schließen der Klappe kann nun der Dämon
sersee homogener Temperatur, der als Wärmebehälter mithilfe seiner Fähigkeit die Moleküle zu sehen bzw. de-
dient, Wärme entziehen und diese Energie vollständig in ren Geschwindigkeit zu erfassen, alle schnellen Moleküle
mechanische Antriebsarbeit umwandeln würde, wie es in den einen und alle langsamen Moleküle in den ande-
in Abb. 18.8 skizziert ist. Würde eine solche Maschine ren Behälter durchlassen (Abb. 18.9). Mit der Zeit würde
existieren, könnte man mit ihr die innere Energie eines sich die mittlere Molekülgeschwindigkeit und damit die
Sees nutzen, um damit die Boote anzutreiben, die über Temperatur in dem einen Behälter erhöhen und in dem
ihn fahren. Diese Maschine würde dem ersten Hauptsatz anderen Behälter erniedrigen, ohne dass eine Nettoar-
nicht widersprechen, doch der zweite Hauptsatz wür- beit geleistet würde. Dies wäre ein klarer Widerspruch
de verletzt, da für ein Gesamtsystem, das aus Boot und zum zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Obwohl
See besteht, die Entropieproduktionsrate negativ würde. bislang ein solcher Vorgang noch nicht einmal ansatzwei-
Auch das in Abb. 18.1 dargestellte Beispiel einer heißen se beobachtet wurde, taten sich die Wissenschaftler sehr
Tasse Kaffees und eines kalten Kühlakkus, die zusammen schwer, diesen Dämon wirklich auszutreiben. Über ein
für eine längere Zeit in einer gut isolierten Kühltasche un- Jahrhundert lang waren alle Austreibungsversuche un-
tergebracht werden, können wir zur Veranschaulichung zulänglich oder sogar völlig falsch. Man argumentierte
18.3 Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik 591

Erfinder argumentiert, dass die Energie, die dem Kühl-


schrank entzogen wird, um diesen abzukühlen, völlig
ausreicht, um den Backofen aufzuheizen. Wo liegt der Ge-
dankenfehler?

Beispiel Entropieproduktion
Zeigen Sie, dass die Entropie des abgeschlossenen und
sich selbst überlassenen Gesamtsystems aus einem kalten
Kühlakku und einer heißen Tasse Kaffee, die sich ent-
sprechend Abb. 18.1 in thermischem Kontakt befinden,
Abb. 18.9 Der Maxwell’sche Dämon bei der Arbeit (nach einer Abbildung von
zunimmt.
Darling und Hulbert aus dem Jahr 1955)
Wir betrachten ein kurzes Zeitintervall, für das wir an-
nehmen können, dass sich die Temperaturen des kalten
beispielsweise, dass der Dämon die Molekülgeschwin- Kühlakkus, TK , und des heißen Kaffees, TH , nicht (we-
digkeit messen müsste, um dann zu entscheiden, welche sentlich) räumlich und zeitlich ändern. Während des sehr
Moleküle durchgelassen werden und welche nicht. Wei- kurzen Zeitintervalls wird die infinitesimal kleine Wär-
ter folgerte man, dass dieser Messprozess irreversibel sei memenge δQH→K von dem heißen Kaffee an den kalten
und dabei mehr Entropie produziert würde als bei der Kühlakku abgegeben. Der Einfachheit halber nehmen wir
nachfolgenden Selektion an Entropieabsenkung erreicht an, dass sowohl im Kühlakku als auch in der Tasse Kaffee
werden könnte. Diese Austreibung hatte keinen Bestand, alle Prozesse reversibel ablaufen sollen. Dann lassen sich

Thermodynamik
da man Wege fand, zumindest theoretisch die Molekül- die Entropieänderungen der Teilsysteme „kalter Kühlak-
geschwindigkeit reversibel zu messen. Erst Benett gelang ku“ (Index KA) und „heiße Tasse Kaffee“ (Index HK)
1982 eine Austreibung des Dämons, die bis heute Gültig- gemäß (18.20) wie folgt schreiben:
keit besitzt. Er argumentierte, dass es zwar möglich ist,
δQHK→KA δQHK→KA
reversibel die Molekülgeschwindigkeit zu messen. Da der dSKA = und dSHK = − .
Dämon aber kontinuierlich ein Molekül nach dem anderen TKA THK
misst, muss der Dämon nach jeder Messung das Ergebnis Da die Entropie eine extensive Zustandsgröße ist, ergibt
wieder vergessen (löschen), bevor er die nächste Mo- sich die Entropieänderung des abgeschlossenen Gesamt-
lekülgeschwindigkeit messen kann. Dieser Prozess des systems als Summe der Entropieänderungen der Teilsys-
Vergessens, der Löschprozess also, ist nach Benett grund- teme, also:
sätzlich irreversibel und produziert mehr Entropie als
durch die Molekülselektion an Entropieerniedrigung er- dSGesamtsystem = dSKA + dSHK
reicht werden kann. δQHK→KA δQHK→KA
= − .
Aus dem oben Gesagten erkennen wir, dass der zweite TKA THK
Hauptsatz das universelle Naturgesetz ist, das alle Aus-
Es gilt:
gleichsprozesse beschreibt. Jeder Prozess, der von selbst,
d. h. ohne äußere Energiezufuhr, abläuft, muss nach dem TKA < THK
zweiten Hauptsatz mit der Zeit zu einem Ausgleich der
anfänglich vorhandenen Differenzen (Temperatur, Ge- Also ist die Entropieänderung des Gesamtsystems
schwindigkeit, Konzentration, Ladung, usw.) führen. Dies
bedeutet, dass der zweite Hauptsatz allen Prozessen in dSGesamtsystem > 0,
der Natur und damit auch der Zeit eine eindeutige Rich- was gezeigt werden sollte. Da über die Grenzen des
tung vorgibt. Die Zeit nimmt in Richtung wachsender Gesamtsystems keine Masse oder Wärme übertragen
produzierter Entropie zu. Das ist das Besondere an dem wird, erhöht sich die Entropie ausschließlich infolge ei-
zweiten Hauptsatz, das ihn zum einen schwer verständ- ner Entropieproduktion im Inneren des Gesamtsystems.
lich erscheinen lässt, zum anderen aber auch interessant Es ist leicht einzusehen, dass solange eine Temperatur-
macht für andere Wissenschaftsgebiete bis hin zur Philo- differenz zwischen dem kalten Kühlakku und der heißen
sophie und Theologie. Tasse Kaffee besteht, die Entropie des Gesamtsystems in-
folge des Ausgleichsprozesses (Wärmeübertragung von
Frage 18.4 heiß nach kalt) immer weiter zunimmt. Die Entropiezu-
Ein Erfinder meldet eine Maschine als Patent an, die als nahme verschwindet erst, wenn sich die Temperaturen
Kombination von Backofen und Kühlschrank keine exter- beider Teilsysteme angeglichen haben. Dann haben wir
ne Energiezufuhr benötigt, sondern völlig autark gleich- den Gleichgewichtszustand erreicht, in dem die Entropie
zeitig im Backofen heizt und im Kühlschrank kühlt. Der den Maximalwert annimmt. 
592 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

Die Bilanz der Entropie für ein offenes System Der dritte Ausdruck auf der rechten Seite von (18.28) be-
schreibt als Quellenterm (SQuellen und Senken ) die gesamte
Entropieproduktion pro Zeit Ṡprod infolge aller innerhalb
Formen wir mithilfe der Gesamtenergiebilanz für
des Systems auftretender Irreversibilitäten. Immer dann,
ein offenes, instationäres System nach (18.3) sowie
wenn Gradienten von z. B. Geschwindigkeiten (infolge
der letzten drei hergeleiteten Gleichungen für die
von reibungsbehafteten Strömungen), Temperaturen (in-
Entropieströmungs- und -produktionsrate für ein offe-
folge von Wärmetransport) oder Konzentrationen (infol-
nes System eine Bilanz der Entropie, so ergibt sich die
ge von diffusivem Stofftransport) auftreten, wird Entropie
folgende Beziehung, in der wir wie in (18.3) die vier
produziert, da diese Gradienten quadratisch (also un-
grundsätzlichen physikalischen Effekte erkennen können.
abhängig von der Gradientenrichtung immer positiv) in
Diese Bilanz bezeichnen wir als eine Form des zweiten
den Term der Entropieproduktion eingehen. Durch die-
Hauptsatzes der Thermodynamik für ein offenes Sys-
sen Term werden weiterhin alle Irreversibilitäten von
tem:
Mischungsprozessen, chemischen Reaktionen und Ver-
dSSystem brennungsprozessen erfasst. Egal welcher Art die Irrever-
dt
= ∑ ṁj sj über Systemgrenze sibilitäten sind, dieser Term ist immer positiv und erhöht
j
 damit auf jeden Fall die Systementropie. Lediglich bei rei-
Q̇l bungsfreien (ideal reversiblen) Prozessen ist dieser Term
+∑
l
Tl über Systemgrenze gleich null.
 
+ Ṡprod . (18.28) Der Entropiebilanz nach (18.28) kommt in der Thermo-
im System
dynamik eine große Bedeutung zu. Wie wir später noch
Auf der linken Seite der Gleichung steht die zeitliche detailliert zeigen werden, ermöglicht sie bei reibungsbe-
Thermodynamik

Änderung der Zustandsgröße Entropie, die den Zustand hafteten Prozessen die Bestimmung und Beurteilung der
der Masse (Stoffmenge, Gesamtheit aller Moleküle) be- entstehenden Verluste. Bei reibungsfreien Prozessen er-
schreibt, die sich zum betrachteten Zeitpunkt innerhalb möglicht die Entropiebilanz die Berechnung der maximal
der Systemgrenzen befindet. gewinnbaren bzw. minimal aufzuwendenden Arbeit. Das
heißt, mit der Entropiebilanz können wir berechnen, was
In der ersten Summe auf der rechten Seite der Gleichung unter gegebenen Randbedingungen bestmöglich zu errei-
erkennt man den Term, der den konvektiven Transport chen ist.
(KKonvektion ) beschreibt. Da die Entropie eine extensive
Zustandsgröße ist, wird der Wert der Systemzustands-
größe durch einen Zu- bzw. Abfluss einer Stoffmenge
vergrößert bzw. verkleinert. Jeder über die Systemgren- Beispiel Kühlung für einen Kühlschrank
ze tretende Massenstrom ṁj befindet sich in einem be-
Der Innenraum eines Kühl- bzw. Gefrierschranks soll auf
stimmten Zustand, der durch die spezifische Entropie sj
einer konstanten Temperatur T0 gehalten werden. Der aus
beschrieben wird.
der Küche (Umgebung) einfallende Wärmestrom wird
In der zweiten Summe auf der rechten Seite wird so- durch folgende Relation bestimmt: Q̇0 = kA (Tu − T0 ),
wohl der Einfluss durch diffusiven Transport als auch der wobei A = 8 m2 die Oberfläche des Kühlschranks ist und
durch Feldeffekte zusammengefasst. Jeder Wärmestrom k = 0,25 W/(m2 K) den Wärmedurchgangskoeffizienten
Q̇l , der infolge eines diffusiven Transportes (DDiffusion ) darstellt, der die thermische Isolationswirkung der Kühl-
über die Systemgrenze zu (bzw. von) der Umgebung schrankwände, -decke und -boden insgesamt beschreibt.
übertragen wird, hat einen entsprechenden Entropie- Der Wärmestrom Q̇0 muss von der Kälteanlage aus dem
strom zur Folge. Dieser berechnet sich aus dem jeweiligen Kühlschrank abgeführt werden. Diese arbeitet reversibel
Wärmestrom dividiert durch die absolute Temperatur an und stationär gegen eine Küchentemperatur von Tu =
der Stelle der Wärmeübertragung. Bei homogenen Syste- 300 K und nimmt dabei eine Leistung von Ẇt = 20 W auf.
men ist dies natürlich die Systemtemperatur. Die Terme Welche tiefste Temperatur T0 kann in dem Kühl- bzw. Ge-
dieser Summe können positiv oder negativ sein, d. h., je frierschrank gehalten werden. Handelt es sich um einen
nach Richtung des Wärmestromes wird die Systementro- Kühlschrank oder um einen Gefrierschrank?
pie erhöht oder erniedrigt. Nimmt das System Wärme
durch die Absorption elektromagnetischer Strahlung auf, Wenden wir die Energiebilanz (erster Hauptsatz) für
so wird auch diese Wärmezufuhr von einer entsprechen- ein geschlossenes, stationäres System nach (18.6) auf die
den Entropieerhöhung des Systems begleitet. Die Entro- Kältemaschine unseres Kühlschranks an, so müssen wir
pie der Strahlung wird dabei dem Beitrag von FFeld zu- drei Energieströme berücksichtigen: die aus dem Strom-
geordnet. Auch hier berechnet sich die Entropieänderung netz zugeführte elektrische Antriebsleistung Ẇt , den aus
des Systems (Zu- oder Abnahme) aus der vom System dem Kühlschrank-Innenraum zugeführten Wärmestrom
absorbierten bzw. emittierten Strahlungsenergie dividiert Q̇0 und den an die Küche (üblicherweise über einen an
durch die Systemtemperatur. der Kühlschrank-Rückwand angebrachten mäanderför-
18.4 Der dritte Hauptsatz der Thermodynamik 593

migen Wärmeübertrager) abgeführten Wärmestrom Q̇u : reagieren beide Elemente bei der höheren Temperatur zu
einer chemischen Verbindung. Auch hierfür lässt sich die
dUSystem Entropieänderung berechnen. Danach kühlen wir im letz-
dt
=0= ∑ Q̇j + ∑ Ẇk = Q̇0 + Q̇u + Ẇt . ten Schritt die Verbindung wieder ab, sodass auch sie
j k
am absoluten Nullpunkt in kristalliner Form den ther-
Eine entsprechende Relation erhalten wir, wenn wir nun modynamischen Gleichgewichtszustand einnimmt. Auch
auch die Entropiebilanz (zweiter Hauptsatz) für ein ge- für den dritten Schritt können wir die entsprechende
schlossenes, stationäres System nach (18.28) für die Kälte- Entropieänderung ermitteln. Da die Entropie eine (wegu-
maschine unseres Kühlschranks aufschreiben: nabhängige) Zustandsgröße ist, lässt sich aus der Summe
aller drei Entropieänderungen, die Differenz zwischen
dSSystem der Entropie der beiden Ausgangselemente und der der
dt
=0= ∑ ṁj sj über Systemgrenze chemischen Verbindung am absoluten Nullpunkt bestim-
j
 men. Für alle bisher bekannten Verbindungen stellt man
Q̇l
+∑ fest, dass diese Differenz exakt null ist. Aus dieser bislang
l
Tl über Systemgrenze unwiderlegten Beobachtung lässt sich der dritte Haupt-
  Q̇ Q̇u satz der Thermodynamik formulieren:
+ Ṡprod = 0+ + Ṡprod .
im System T0 Tu
Befindet sich ein thermodynamisches System am
Die tiefste Temperatur wird im bestmöglichen also im re-
absoluten Nullpunkt der Temperatur (T = 0 K) im
versiblen Fall erreicht, für den Ṡprod = 0 gilt. Wenn wir
thermodynamischen Gleichgewichtszustand, so be-
nun aus Energie- und Entropiebilanz den unbekannten
sitzt die zu diesem Zustand gehörige Entropie einen
Wärmestrom zur Küche Q̇u eliminieren, erhalten wir eine

Thermodynamik
festen Wert S0 , der unabhängig ist vom Volumen,
quadratische Gleichung zur Bestimmung der Kühlraum-
Druck, Zustand, Material, usw. des Systems.
temperatur T0 :
  Aus dieser Aussage ergibt sich die folgende Rela-
Tu tion, die den dritten Hauptsatz mathematisch be-
0 = Ẇt + kA (Tu − T0 ) 1 − .
T0 schreibt:
Diese Gleichung hat zwei Lösungen: T0 1,2 = +305 K ± lim S = S0 (18.29)
55 K, wobei die erste (T0 1 = 360 K) nicht sinnvoll ist. Die T →0K, p,...
gesuchte tiefste Temperatur für den reversiblen Fall ist die
zweite und lautet: T0 2 = 250 K, womit wir auch erkennen,
dass es sich bei diesem Beispiel um einen Gefrierschrank
handelt.  Im Rahmen der klassischen Thermodynamik lässt sich
dieser Absolutwert der Entropie S0 nicht weiter ermitteln
und kann somit als Konstante frei gewählt werden. Erst
die zusätzlichen Mittel der statistischen Thermodynamik
18.4 Der dritte Hauptsatz erlauben eine genaue Bestimmung des Absolutwertes zu
der Thermodynamik
J
S0 = 0 . (18.30)
K
Im Gegensatz zu dem nullten, ersten und zweiten Haupt-
satz werden wir durch den dritten Hauptsatz der Ther- Der dritte Hauptsatz der Thermodynamik legt somit ein-
modynamik keine weitere Zustandsgröße axiomatisch deutig den Absolutwert der Entropie und aller Zustands-
einführen. Der dritte Hauptsatz legt den Absolutwert der größen, die durch die Entropie bestimmt sind, fest.
Entropie eines Systems fest, das sich am absoluten Null-
punkt der Temperatur im thermodynamischen Gleich- Aus dem dritten Hauptsatz folgt weiterhin, dass alle Iso-
gewicht befindet. Der dritte Hauptsatz wird auch als baren bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt (T →
Nernst’sches Wärmetheorem bezeichnet (nach dem deut- 0 K) asymptotisch denselben Entropiewert S0 = 0 J/K an-
schen Physiker und Chemiker Walther Hermann Nernst streben. Daher kann der absolute Nullpunkt durch eine
(1864–1941)). Betrachten wir zwei Elemente, die sich am Abfolge von verschiedenen Prozessen, z. B. isotherme
absoluten Nullpunkt der thermodynamischen Tempera- (Prozessführung mit konstanter Temperatur) und isentro-
tur jeweils in kristalliner Form im thermodynamischen pe (Prozessführung mit konstanter Entropie) Zustands-
Gleichgewicht befinden. Erwärmen wir nun im ersten änderungen, die zwischen zwei Druckniveaus (p1 und
Schritt beide vom absoluten Nullpunkt auf eine bestimm- p2 ) ablaufen, nur durch unendlich viele Prozessschritte
te höhere Temperatur, so können wir die Entropieände- asymptotisch angenähert, aber niemals erreicht werden.
rung für diese Erwärmung bestimmen. Im zweiten Schritt Dies ist in Abb. 18.10 veranschaulicht.
594 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

Leitbeispiel Antriebsstrang
Der zweite Hauptsatz bestimmt die maximale Motorleistung
Energie- und Entropiebilanz eines Verbrennungsmotors

Im Leitbeispiel des Kap. 17 wurde beschrieben, dass werden natürlich über die Temperatur- und Druck-
durch die (mit einer Druckerhöhung verbundene) Ver- erhöhung im Zylinderraum die Kolben bewegt und
brennung des Kraftstoff-Luft-Gemisches im Fahrzeug- mechanische Rotationsenergie bzw. -leistung auf die
motor die Kolben bewegt und die Räder angetrieben Getriebeeingangswelle übertragen. Zum anderen wird
werden, und dass ganz generell auf diese Art und Wei- über das Kühlwassersystem und den Radiator-Wärme-
se der Vortrieb des Fahrzeugs erzeugt wird. übertrager Wärme (pro Zeiteinheit) an die Umgebung
abgegeben. Zudem wird auch noch mit dem heißen
Jetzt wollen wir diesen Vorgang durch die eben ge-
Abgasstrom Energie (die innerer Energie und die Aus-
lernten Bilanzierungen genauer beschreiben und be-
schubarbeit der ausgestoßenen Abgase pro Zeiteinheit)
trachten dazu als thermodynamisches System einen
vom Motor an die Umgebung abgeführt. Somit ergibt
einfachen Verbrennungsmotor in einem stationären Be-
sich mit (18.3) die folgende Energiebilanz (pro Zeitein-
triebszustand. Dem Motor werden über den Luftfilter
heit) für den Motor:
Umgebungsluft und vom Fahrzeugtank Kraftstoff so-
  2 
Thermodynamik

wie die damit verbundenen Energien (pro Zeiteinheit) d c


zugeführt. U+m + gz
dt 2 Motor
Zu dem Bilanzraum des betrachteten Systems gehört ! "# $
=0, da stationär
schon der Vergaser bzw. das Einspritzsystem, sodass %  &
wir uns über die Vorgänge bei der Vermischung von c2
Luft und Kraftstoff keine Gedanken machen müssen. = ∑ ṁj h + + gz
j ! 2"# $ j über Systemgrenze
Neben dem eigentlichen Motor (Motorblock, Zylinder-
kopf, Nebenaggregate, etc.) gehören auch das Wasser- ≈0,
vernachlässigbar
kühlsystem und die Auspuffanlage zum betrachteten ! "# $
System. Die Kurbelwelle verbindet über die Kupplung Eintrittsluft, Kraftstoff, Abgas
und die Getriebeeingangswelle, die aus dem System  
+∑ Q̇ l über Systemgrenze
Motor austritt, den Motor mit dem Getriebe, das nicht
l
mehr zu dem betrachteten System gehören soll. ! "# $
Radiatorwärmestrom
Durch die Verbrennung wird die chemisch im Kraft-  
  dV
stoff gebundene Energie in thermische Energie über- +∑ Ẇt i über Systemgrenze
− p
führt, die für diesen einfachen Verbrennungsmotor i
dt
!"#$ Motor
! "# $
(ohne Ladeluft- oder Ölkühler, etc.) prinzipiell über Wellenleistung =0,
drei Wege das System Motor verlässt. Zum einen da stationär

Stoffstrom
mechanische Leistung
Wärmestrom

Tank Kraftstoff Wellenleistung


betrachtetes System
Motor
Kühler
Getriebe Eintritts-
luft

Abgas

Auspuffsystem Treibstoffleitung Abgas Radiatorwärmestrom


18.5 Das chemische Potenzial 595

bzw. bzw.
0 = (ṁh)Eintrittsluft + (ṁh)Kraftstoff 0 = (ṁs)Eintrittsluft + (ṁs)Kraftstoff
 
− (ṁh)Abgas − Q̇Radiator − PWellenleistung . Q̇
− (ṁs)Abgas −
T Radiator
Die Vorzeichen in obiger Gleichung berücksichtigen  
schon die Richtung des Energieaustausches mit dem + Ṡprod Verbrennung und sonstige .
System: ein positives Vorzeichen bedeutet einen Zu- Irreversibilitäten im System
fluss und ein negatives Vorzeichen bedeutet einen Ab-
fluss. Die Massenströme sind konstruktionsbedingt gege-
ben. Die spezifischen Enthalpien und Entropien der
Der erste Hauptsatz bilanziert alle auftretenden Ener- ein- und austretenden Massenströme sind durch de-
gien (pro Zeiteinheit), er macht aber keine Aussage ren thermodynamische Stoffdaten bekannt. Die durch
darüber, wie sich diese Energien auf (nutzbare) me- die Verbrennung produzierte Entropie (pro Zeitein-
chanische und (relativ unbrauchbare) thermische Ener- heit) lässt sich durch eine Verbrennungsrechnung be-
gien aufteilen. Diese Aufteilung ist jedoch ganz ent- stimmen, die wir hier aber nicht durchführen wollen.
scheidend für die Effizienz (Kraftstoffverbrauch) des Weitere Irreversibilitäten entstehen z. B. durch den Ver-
Motors. Sie wird vom zweiten Hauptsatz der Thermo- mischungsprozess von Luft und Kraftstoff oder durch
dynamik festgelegt. Hierzu stellen wir eine Entropie- die Reibung innerhalb von Strömungen und an Wän-
bilanz (pro Zeiteinheit) für unser thermodynamisches den, die alle zumindest abgeschätzt werden können.
System Motor basierend auf (18.28) auf: Also lassen sich mit diesen beiden Bilanzen der Ra-
diatorwärmestrom und die Motorleistung bestimmen.
dSMotor Bei fixierten thermodynamischen Zuständen der Mas-
= ∑

Thermodynamik
ṁj sj über Systemgrenze
! dt
"# $ j senströme erhöht sich also mit steigender Entropiepro-
! "# $ duktion die im Radiator abzugebende Wärmeleistung,
=0,
Eintrittsluft, Kraftstoff, Abgas was die Wellenleistung entsprechend vermindert.
da stationär
 
Q̇l Fazit: Die produzierte Entropie muss infolge von
+∑ Massen- und Wärmeströmen aus dem stationären Sys-
l
Tl über Systemgrenze
! "# $ tem abgegeben werden. Das reduziert jedoch die nutz-
Radiatorwärmestrom bare Wellenleistung. Die verlustbedingte Entropiepro-
 
duktion bestimmt also die maximal mögliche Motor-
+ Ṡprod Verbrennung und sonstige leistung – je geringer die Entropieproduktion desto
Irreversibilitäten im System größer die Wellenleistung.

T 18.5 Das chemische Potenzial


onst.

st.
kon
p1 = k

p2 =

Das chemische Potenzial wurde als abstraktes Konzept


von Gibbs eingeführt, der es wie folgt definierte:

2 Das chemische Potenzial μi eines Stoffes i ist eine in-


1 tensive Zustandsgröße der Dimension Energie pro
Stoffmenge [J/mol], die angibt, um wie viel sich bei
T = konst. einer quasistatischen Zustandsänderung die innere
4 Energie eines Systems allein auf Grund des Stoff-
3 S = konst.
6
transports erhöht, wenn man dem System z. B. ein
5 Mol des Stoffes i zuführt und dabei die Entropie
7 S, das Volumen V und alle anderen Stoffmengen
nj = ni konstant hält.
S

Abb. 18.10 Eine Prozessabfolge von isentropen und isothermen Zustandsän-


derungen, die zwischen zwei Isobaren abläuft, verdeutlicht die Unerreichbarkeit Werden dem System mehrere Stoffe zugeführt (bzw. ent-
des absoluten Nullpunktes nommen), so ändert sich die innere Energie aufgrund aller
596 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

Molmengenänderungen dnk um: Reinstoffsysteme genannt:


K   K dU = TdS − pdV. (18.33)
∂U
dU = ∑ ∂nk S,V,
dnk = ∑ μk dnk . (18.31)
Für Mehrstoffsysteme lässt sich diese Relation zu dem
k=1 nj  =nk k=1
folgenden Ausdruck erweitern, der Gibbs’sche Funda-
Das chemische Potenzial μi ist also die partielle Ableitung mentalgleichung für Mehrstoffsysteme genannt wird:
der inneren Energie nach der Molmenge der Komponente K
i unter der Bedingung, dass Entropie, Volumen und alle dU = TdS − pdV + ∑ μk dnk . (18.34)
anderen Molmengen nj = ni konstant gehalten werden: k=1
  Die Gibbs’sche Fundamentalgleichung für Einstoff- bzw.
∂U
μi = (18.32) Mehrstoffsysteme ist eine Fundamentalgleichung, die die
∂ni S,V,
nj  =ni Änderung der inneren Energie in Abhängigkeit zu den
Änderungen der Entropie, des Volumens und (für Mehr-
Der Name chemisches Potenzial für diese Zustandsgrö- stoffsysteme) der Molmengen der Komponenten setzt.
ße ist sinnvoll, da man jede chemische Reaktion von Generell wird eine Fundamentalgleichung auch thermo-
bestimmten Ausgangssubstanzen zu bestimmten End- dynamisches Potenzial genannt, weil man aus ihr nur
substanzen durch einen Vergleichsprozess mit Stoffaus- durch Ableiten und algebraisches Umstellen alle ther-
tausch darstellen kann, bei dem die Ausgangssubstanzen modynamischen Zustandsgrößen (bzw. deren Relationen
aus dem System entnommen und die Endsubstanzen untereinander) gewinnen kann.
dem System zugeführt werden. Die Zustandsgröße μi be-
schreibt bei einem solchen Vergleichsprozess den Einfluss Unter den thermodynamischen Zustandsgrößen, die aus
des gedachten Stoffaustausches auf die innere Energie des der Fundamentalgleichung berechenbar sind, versteht
Thermodynamik

betrachteten Systems. man alle Größen, die den thermodynamischen Gleichge-


wichtszustand beschreiben, wie z. B. Druck, Temperatur,
Während ein Temperaturunterschied zwischen zwei mit- Volumen, innere Energie, Enthalpie, Entropie, Kompressi-
einander in Kontakt stehenden Systemen die treibende bilität, Ausdehnungskoeffizient, Wärmekapazität, Schall-
Kraft für einen Wärmeaustausch und ein Druckunter- geschwindigkeit. Aus der Fundamentalgleichung lassen
schied die treibende Kraft für Volumenänderungen ist, sich allerdings nicht die Transportgrößen Viskosität, Wär-
erweist sich ein Unterschied in den chemischen Poten- meleitfähigkeit und Diffusionskoeffizient berechnen, da
zialen als treibende Kraft für den Stoffaustausch. So wie diese für Nichtgleichgewichtszustände gelten.
Wärme von einem System höherer zu einem System tiefe-
rer Temperatur übertragen wird, ist der Materiestrom Durch die Gibbs’sche Fundamentalgleichung ist uns die
vom höheren zum niederen chemischen Potenzial gerich- Relation U = U (S, V, n1 , n2 , . . . , nK ) bis auf eine frei wähl-
tet. Bei gleicher Temperatur und gleichem Druck wird ein bare Konstante für einen thermodynamischen Gleichge-
System mit einer höheren Teilchenkonzentration ein hö- wichtszustand gegeben. Das totale Differenzial dieser Re-
heres chemisches Potenzial haben als ein System mit einer lation lautet ganz allgemein:
niederen Teilchenkonzentration. Ein Stoffzustrom erhöht    
∂U ∂U
somit das chemische Potenzial eines Systems. dU = dS + dV
∂S V,nj ∂V S,nj
K  
∂U
+∑ dnk . (18.35)
18.6 Folgerungen aus den k=1
∂nk S,V,
nj  =ni

Hauptsätzen und Bilanzen Durch einen Koeffizientenvergleich zwischen dieser Glei-


chungen und der Gibbs’schen Fundamentalgleichung für
Mehrstoffsysteme erhalten wir die folgenden drei Bezie-
Die Gibbs’sche Fundamentalgleichung hungen:
 
∂U
Setzt man für einen reversiblen Prozess die Beziehungen T= = T (S, V, n1 , n2 , . . . , nK ) , (18.36)
für die Volumenänderungsarbeit aus (17.8) und die Wär- ∂S V,nj
 
me aus dem zweiten Hauptsatz nach (18.20) in den ersten ∂U
Hauptsatz für ein geschlossenes System nach (18.11) ein, p=− = p (S, V, n1 , n2 , . . . , nK ) , (18.37)
∂V S,nj
so ergibt sich eine Beziehung für die Änderung der in-  
neren Energie als Funktion der Änderungen der Entropie ∂U
μi = = μi (S, V, n1 , n2 , . . . , nK ) . (18.32)
und des Volumens. In dieser Gleichung treten nur noch ∂ni S,V,
nj  =nk
Zustandsgrößen auf, sodass sie auch für irreversible Pro-
zesse gültig ist. Das Ergebnis ist eine Fundamentalglei- Da die partiellen Ableitungen wieder Funktionen von
chung und wird Gibbs’sche Fundamentalgleichung für Entropie, Volumen und Molmengen sind, haben wir auf
18.6 Folgerungen aus den Hauptsätzen und Bilanzen 597

diese Weise drei Gleichungen erhalten, die die Abhän- lassen sich, wie oben beschrieben, durch Differenziation
gigkeiten der drei intensiven Zustandsgrößen Tempera- und algebraischem Umstellen aus einer der Fundamen-
tur, Druck und chemisches Potenzial von den extensi- talgleichungen eindeutig berechnen. Dies wollen wir hier
ven Zustandsgrößen Entropie, Volumen und Molmengen am Beispiel der Fundamentalgleichung für die freie Ener-
festlegen. Mit anderen Worten: Wir haben auf diese Wei- gie (18.43) durchführen, die ebenfalls eine Funktion von
se Definitionen für Temperatur, Druck und chemisches Temperatur und Volumen ist. Diese Relation soll in unse-
Potenzial erhalten. Lösen wir nun die Fundamentalglei- rem Beispiel für einen reinen Stoff wie folgt lauten:
chung U = U (S, V, n1 , n2 , . . . , nK ) nach der Entropie S = 7  8
S(U, V, n1 , n2 , . . . , nK ) auf und ersetzen mit dem so ge- F = F (T, V ) = −NkB T ln (C0 V ) + ln C1 (kB T )α .
wonnenen Ausdruck die Entropie in (18.36) durch die
innere Energie, so ergibt sich die Beziehung: Wobei N die Anzahl der Moleküle darstellt und die Grö-
ßen kB , C0 , C1 > 0 und α > 1 vorgegebene Konstanten
T = T (U, V, n1 , n2 , . . . , nK ) , (18.38) sind.

die wir wiederum nach der inneren Energie auflösen kön- Schreiben wir das totale Differenzial für die freie Energie
nen. Somit erhalten wir die folgende Gleichung: als Funktion von Temperatur, Volumen und Molmengen
hin:
U = U (T, V, n1 , n2 , . . . , nK ) . (18.39)    
∂F ∂F
dF = dT + dV
Diese Beziehung wird die kalorische Zustandsgleichung ∂T V,nj ∂V T,nj
K  
genannt. Setzen wir nun noch die Fundamentalgleichung
S = S(U, V, n1 , n2 , . . . , nK ) sowie die kalorische Zustands- ∂F
+∑ dnk
gleichung in (18.37), so erhalten wir die thermische Zu- ∂nk T,V,

Thermodynamik
k=1
nj  =nk
standsgleichung:

p = p (T, V, n1 , n2 , . . . , nK ) . (18.40) und führen einen Koeffizientenvergleich mit der differen-


ziellen Relation für die freie Energie durch, die in Tab. 18.1
Aus diesen einfachen algebraischen Umformungen er- angegeben ist, so erhalten wir die folgenden Beziehungen
kennen wir, dass aus den partiellen Ableitungen der für einen Reinstoff:
Fundamentalgleichung die thermische und die kalori-    
sche Zustandsgleichung folgen. Da die Relationen für die ∂F ∂F
−S (T, V ) = und −p (T, V ) = .
chemischen Potenziale (18.32) als zusätzliche Informati- ∂T V ∂V T
on nur noch pro Stoffkomponente eine (frei wählbare)
Konstante, die den Nullpunkt der inneren Energie fest- Aus der zweiten Gleichung ergibt sich unmittelbar die
legt, enthalten, folgt daraus, dass die kalorische und die thermische Zustandsgleichung durch eine partielle Dif-
thermische Zustandsgleichung zusammen (bis auf die ferenziation der freien Energie nach dem Volumen bei
erwähnten Stoffkonstanten) die gleiche Information ent- konstant gehaltener Temperatur:
halten wie die Fundamentalgleichung.  
∂F C0 NkB T
p (T, V ) = − = NkB T = .
Frage 18.5 ∂V T C0 V V
Wieso ist die Funktion U = U (S, V, n) eine Fundamen-
talgleichung, die Funktion U = U (T, V, n) bzw. T = Zur Berechnung der kalorischen Zustandsgleichung ver-
T (U, V, n) jedoch nicht? wenden wir die absolute Beziehung zwischen innerer
Energie, freier Energie, Temperatur und Entropie, wie sie
in Tab. 18.1 angegeben ist: U = F + TS. Hier fehlt uns nur
noch die Relation für die Entropie als Funktion von Tem-
Beispiel Im nachstehenden Abschnitt werden durch
peratur und Volumen, die wir wiederum entsprechend
(18.41) bis (18.44) verschiedene Fundamentalgleichungen
des obigen Koeffizientenvergleichs aus einer partiellen
eingeführt, die alle dieselbe vollständige thermodyna-
Ableitung der freien Energie berechnen können. In die-
mische Information über einen Stoff enthalten. Folglich
sem Fall ist es eine Ableitung nach der Temperatur bei
lassen sich die kalorische und thermische Zustandsglei-
konstant gehaltenem Volumen:
chung (18.39) und (18.40) nicht nur aus der Relation
zwischen der inneren Energie, der Entropie und dem  
∂F
Volumen (18.41) gewinnen, sondern aus jedem der in S (T, V ) = − = NkB ln (C0 V )
Tab. 18.1 angegebenen thermodynamischen Potenziale. ∂T V
Die thermische Zustandsgleichung ist eine Relation zwi-   αC1 kBα T α−1
+ NkB ln C1 (kB T )α + NkB T ,
schen Druck, Temperatur und Volumen, während die C1 (kB T )α
kalorische Zustandsgleichung eine Relation zwischen in- 7   8
nerer Energie, Temperatur und Volumen darstellt. Beide S (T, V ) = NkB ln (C0 V ) + ln C1 (kB T )α + α .
598 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

Mit diesem Ergebnis ergibt sich die kalorische Zustands- Tab. 18.1 Relationen für thermodynamische Potenziale
gleichung, d. h. die Relation zwischen innerer Energie, absolut differenziell
Temperatur und Volumen, zu: K
U = H − pV = F + TS dU = TdS − pdV + ∑ μk dnk
7  8 k =1
U (T, V ) = F + TS = −NkB T ln (C0 V ) + ln C1 (kB T )α
7   8 H = U + pV
K
dH = TdS + Vdp + ∑ μk dnk
+ NkB T ln (C0 V ) + ln C1 (kB T )α + α k =1

= NkB Tα. F = U − TS dF = −SdT − pdV + ∑ μk dnk


K

k =1
Wir erkennen, dass für die kalorische Zustandsgleichung K
unseres speziellen Beispiels die innere Energie lediglich G = H − TS = U + pV − TS dG = −SdT + Vdp + ∑ μk dnk
k =1
eine Funktion der Temperatur ist, aber nicht vom Volu-
men abhängt.
Wie oben schon erwähnt, enthalten die beiden Glei- dynamischen Potenziale, die alle dieselbe Information der
chungen zusammen (die thermische Zustandsgleichung Fundamentalgleichung beinhalten, erhalten:
p = p (T, V ) und die kalorische Zustandsgleichung U =
U (T, V )) bis auf eine frei wählbare Konstante (Festlegung U = U (S, V, n1 , n2 , . . . , nK ) , (18.41)
des Energienullpunktes. Bei Mehrstoffgemischen wird ei- H = H (S, p, n1 , n2 , . . . , nK ) , (18.42)
ne Konstante pro Stoff benötigt) dieselbe vollständige F = F (T, V, n1 , n2 , . . . , nK ) , (18.43)
thermodynamische Information über einen Stoff wie eine
Fundamentalgleichung.  G = G (T, p, n1 , n2 , . . . , nK ) . (18.44)

In Tab. 18.1 werden wichtige Relationen für die thermo-


Thermodynamik

Die thermodynamischen Potenziale dynamischen Potenziale zusammengestellt.


bzw. Fundamentalgleichungen
Frage 18.6
In welcher Relation steht das chemische Potenzial zu der
Generell bezeichnet man in der Physik eine Größe als Po- freien Enthalpie?
tenzial, wenn ihre Ableitung eine andere physikalische
Größe ergibt (z. B. ergibt die Zeitableitung der Geschwin-
digkeit die Beschleunigung). Bislang haben wir als ther-
Beispiel Herleitung von thermodynamischen Zustands-
modynamisches Potenzial (bzw. Fundamentalgleichung)
größen aus der Fundamentalgleichung
nur die innere Energie als Funktion von Entropie, Volu-
men und Molmengen kennengelernt. Als Ableitungen er- Für das Edelgas Helium lässt sich eine für einen weiten
geben sich hier die thermodynamischen Zustandsgrößen Temperaturbereich gültige Fundamentalgleichung der
Temperatur, negativer Druck und chemische Potenziale freien Enthalpie wie folgt schreiben:
(siehe Tab. 18.1). Da die Variable Entropie sich sowohl  
einer konkreten Vorstellung als auch einer direkten Mess- T p
G = G (T, p, n) = n α (T − T0 ) − αT ln + βT ln ,
barkeit entzieht, ist es manchmal hilfreich, wenn man T0 p0
ein thermodynamisches Potenzial mit demselben Infor-
mationsgehalt wie das Potenzial der inneren Energie als mit der Molmenge n, den Konstanten α und β sowie den
Funktion von anderen freien Variablen verwenden kann. beliebig wählbaren Bezugswerten für Temperatur T0 und
Anstelle der Entropie sind Zustandsgrößen wie Tempera- Druck p0 , die der Forderung G (T0 , p0 , n) = 0 gehorchen.
tur oder Druck wesentlich einfacher zu messen. Wie lauten die Relationen für Volumen, Entropie und
Mithilfe der so genannten Legendre Transformation kann Enthalpie in Abhängigkeit von Temperatur, Druck und
man ohne Informationsverlust weitere thermodynami- Molmenge?
sche Potenziale in Abhängigkeit von anderen freien Varia- Das totale Differenzial für die freie Enthalpie in Abhän-
blen erzeugen. Ohne näher auf das Rechenverfahren ein- gigkeit von Temperatur, Druck und Molmengen lautet:
zugehen, sollen an dieser Stelle nur die wesentlichen Er-
gebnisse zusammengestellt werden. Durch die Legendre    
∂G ∂G
Transformation werden die drei weiteren thermodynami- dG = dT + dp
∂T p,nj ∂p T,nj
schen Potenziale Enthalpie H (als Funktion von Entropie,
Druck und Molmengen), freie Energie F (als Funktion K  
∂G
von Temperatur, Volumen und Molmengen) sowie freie +∑ dnk .
k=1
∂nk T,p,
Enthalpie G (als Funktion von Temperatur, Druck und nj  =nk
Molmengen) gleichberechtigt neben die innere Energie U
(als Funktion von Entropie, Volumen und Molmengen) ge- Mithilfe eines Koeffizientenvergleichs mit der Relation
stellt. Das bedeutet, dass wir die folgenden vier thermo- für die freie Enthalpie, wie sie in Tab. 18.1 gegeben ist,
18.6 Folgerungen aus den Hauptsätzen und Bilanzen 599

kann man die Zustandsgleichung für das Volumen V in Die Gibbs-Duhem Gleichung
Abhängigkeit von Temperatur, Druck und Molmenge be-
Ohne Herleitung soll hier die Euler’sche Gleichung
rechnen:
  (ebenfalls eine Fundamentalgleichung) genannt werden.
∂G (T, p, n) nβT Sie beinhaltet die gleiche Information wie die Gibbs’sche
V (T, p, n) = = . Fundamentalgleichung, ist im Gegensatz zu dieser aber
∂p T,n p
keine Differenzialgleichung, sondern eine algebraische
Würden wir diese Relation nach dem Druck p auflösen, Beziehung:
so würden wir die thermische Zustandsgleichung in der K
Form von (18.40) erhalten. Helium verhält sich in dem
oben erwähnten weiten Temperaturbereich wie ein idea-
U = TS − pV + ∑ μk nk . (18.45)
k=1
les Gas. Im Vorgriff auf Abschn. 19.3 über das ideale Gas
vermuten wir daher schon an dieser Stelle, dass die Kon- Differenziert man die Euler’sche Gleichung und subtra-
stante β mit der universellen Gaskonstanten Rm identisch hiert davon die Gibbs’sche Fundamentalgleichung für
sein könnte. Mehrstoffsysteme nach (18.34), so erhält man die Gibbs-
Duhem Gleichung in der Schreibweise mit extensiven
Ganz entsprechend gehen wir jetzt vor, um auch die Re- Zustandsgrößen:
lationen für die Entropie und die Enthalpie zu berechnen.
Die Entropie berechnet sich ebenfalls mithilfe eines Koef- K

fizientenvergleichs zu: 0 = SdT − Vdp + ∑ nk dμk . (18.46)


k=1
 
∂G (T, p, n) Dividiert man diese Gleichung durch die Gesamtmol-
S (T, p, n) = −
∂T p,nj menge n, so erhält man mit dem Molanteil ψi = ni /n die

Thermodynamik
  Schreibweise mit molaren Zustandsgrößen:
T p
= −n α − α ln − α + β ln K
T0 p0

T p
 0 = Sm dT − Vm dp + ∑ ψk dμk . (18.47)
= n α ln − β ln . k=1
T0 p0
Man kann für jede homogene Phase eine Gibbs-Duhem
Für die Enthalpie gilt nach Tab. 18.1 H = G + TS, was zu Gleichung formulieren, die jeweils eine Restriktion für
folgendem einfachen Ausdruck führt: die Relation zwischen den intensiven Zustandsgrößen
  Temperatur, Druck und den chemischen Potenzialen aller
T p Komponenten darstellt. Generell hat man in einem ther-
H (T, p, n) = n α (T − T0 ) − αT ln + βT ln
T0 p0 modynamischen System mit K Komponenten K + 2 Frei-
! "# $ heitsgrade (frei variierbare intensive Zustandsgrößen).
G
  Durch die Gibbs-Duhem Gleichung wird einem mehrpha-
T p sigen System (mit P Phasen) pro Phase eine Restriktion
+ T n α ln − β ln
T0 p0 auferlegt, sodass sich durch die Gibbs-Duhem Gleichung
! "# $
S
die Gibbs’sche Phasenregel nach (19.4) ergibt.
= nα (T − T0 ) .
Thermodynamische Zustandsfunktionen in
Vergleichen wir die so erhaltenen Relationen für die Abhängigkeit von Temperatur, Druck und Molmengen
Entropie und die Enthalpie des Heliums im Vorgriff mit
den entsprechenden Beziehungen für ideale Gase aus Ab- Die thermodynamischen Zustandsgrößen Temperatur
schn. 19.3, so drängt sich der Eindruck auf, dass es sich und Druck sind leicht zugänglich und messbar. Daher
bei der Konstanten α wohl um die molare Wärmekapazi- sind in Tab. 18.2 einige hilfreiche thermodynamische Zu-
tät bei konstantem Druck Cp,m handeln könnte. standsfunktionen in Abhängigkeit von Druck, Tempera-
tur und Molmengen zusammengestellt. Mit Ausnahme
Für ein ideales Gas existiert eine sehr einfache Bezie- der freien Enthalpie handelt es sich bei diesen Beziehun-
hung zwischen den Wärmekapazitäten bei konstantem gen aber nicht um Fundamentalgleichungen.
Druck und konstantem Volumen und der universellen
Gaskonstanten: Cp,m − Cv,m = Rm . Mit dieser Relation und
dem Wissen, dass U = H − pV gilt, lässt sich die Relation Beispiel Für ein reines ideales Gas sollen die Ände-
H (T, p, n) sehr leicht in die Relation U (T, V, n) überfüh- rungen von Entropie, innerer Energie und Enthalpie in
ren, die nach (18.39) die kalorische Zustandsgleichung Abhängigkeit von Temperatur und Druck berechnet wer-
darstellt, wobei für ein ideales Gas sowohl die innere den.
Energie als auch die Enthalpie reine Temperaturfunk- Die Tatsache, dass es sich um einen reinen Stoff handeln
tionen sind und weder vom Druck noch vom Volumen soll, bedeutet, dass alle Summenterme in Tab. 18.2 gleich
abhängen.  null sind, da die Molmengen der Komponenten sich nicht
600 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

Tab. 18.2 Thermodynamische Relationen als Funktion von Temperatur, Druck und Molmengen
Name thermodynamische Relationen
    K  
Volumen dV = ∂V
∂T dT + ∂V∂p dp + ∑ ∂n∂V
dnk
p,nj k T,p, T,nj k =1
nj  = nk
    K  
nCp,m ∂V ∂μk
Entropie dS = T dT − ∂T dp + ∑ ∂T dnk
p,nj k =1 p,nj
⎡ ⎤
             
∂V ⎢ K
∂μk ⎥
innere Energie dU = nCp,m − p ∂T dT − p ∂V
∂p +T ∂V
∂T dp + ∑ ⎣μk − T ∂T −p ∂V
∂nk T,p,
⎦ dnk
p,nj T,nj p,nj k =1 p,nj
nj  = nk
       
K
∂μk
Enthalpie dH = nCp,m dT + V − T ∂V
∂T dp + ∑ μk − T ∂T dnk
p,nj k =1 p,nj
⎡ ⎤
       
∂V ∂V ⎢ K
∂V ⎥
freie Energie dF = − S + p ∂T dT − p ∂p dp + ∑ ⎣μk − p ∂nk T,p,
⎦ dnk
p,nj T,nj k =1
nj  = nk

K
freie Enthalpie dG = −SdT + Vdp + ∑ μk dnk (Fundamentalgleichung)
k =1

  
ändern dnk = 0. Im Vorgriff auf Abschn. 19.3 verwenden nRm
dU = nCp,m − p dT
Thermodynamik

wir hier die thermische Zustandsgleichung für ein reines p


ideales Gas: ! "# $
nCv,m
    
nRm T nRm
pV = mRT = nRm T, − p − 2 +T dp = nCv,m dT.
p p
! "# $
um die partiellen Ableitungen zu bilden 0

    Für die letzte Umformung haben wir (19.33) Rm = Cp,m −


∂V nRm ∂V nR T Cv,m , die für ideale Gas gilt, verwendet.
= und =− m .
∂T p p ∂p T p2
Auch die Berechnung der Änderung der Enthalpie erfolgt
ganz analog:
Mit der entsprechenden Beziehung aus Tab. 18.2 können %   &
wir nun die gesuchte Änderung der Entropie berechnen: ∂V
dH = nCp,m dT + V − T dp
∂T p,nj
    K   %   &
nCp,m ∂V ∂μk K
∂μk
dS =
T
dT −
∂T
dp + ∑ ∂T
dnk + ∑ μk − T dnk
p,nj k=1 p,nj
k=1
∂T p,nj
    
nCp,m nRm
= dT − dp. = nCp,m dT + V − T
nRm
dp = nCp,m dT
T p p
! "# $
0
Genauso gehen wir bei der Berechnung der Änderung der 
inneren Energie vor:

% & Die Wärmekapazität


 
∂V
dU = nCp,m − p dT In den Relationen des vorhergehenden Abschnitts tritt die
∂T p,nj molare Wärmekapazität bei konstantem Druck Cp,m auf.
%     & Generell sind die molaren bzw. spezifischen Wärmekapa-
∂V ∂V
− p +T dp zitäten bei konstantem Druck oder Volumen, die durch
∂p T,nj ∂T p,nj (17.11) definiert werden, abhängig von Temperatur und
⎡ ⎤ Druck bzw. spezifischem Volumen. Die molare Wärme-
K    
⎢ ∂μk ∂V ⎥ kapazität bei konstantem Druck ist eine Zustandsgröße,
+ ∑ ⎣ μk − T −p ⎦ dnk , die wir als totales Differenzial in Abhängigkeit von Tem-
k=1
∂T p,nj ∂nk T,p,
nj  =nk peratur und Druck schreiben können (siehe auch (17.7) im
18.6 Folgerungen aus den Hauptsätzen und Bilanzen 601

Merksatz: Totales Differenzial). hängt die Wärmekapazität des idealen Gases nur noch
    von der Temperatur, aber nicht mehr vom Druck ab:
∂Cp,m ∂Cp,m
dCp,m = dT + dp. (18.48) p  2 
∂T p,nj ∂p T,nj ∂ Vm
Cp,m = Cp,m −T dp̃. (18.53)
ideales Gas ∂T2 p,ψj
Die partielle Ableitung nach dem Druck können wir mit- 0
hilfe eines Koeffizientenvergleichs der Relation für die
Mit einer ganz analogen Herleitung erhalten wir eine ent-
Entropieänderung aus Tab. 18.2 mit dem totalen Differen-
sprechende Beziehung für die molare Wärmekapazität bei
zial der Entropie gewinnen:
konstantem Volumen:
 
∂Sm Cp,m Vm  2 
= . (18.49) ∂ p
∂T p,ψj T Cv,m = (Cv,m )ideales Gas + T dṼm . (18.54)
∂T2 Vm ,ψj

Diese Beziehung, die auch durch (19.23) gegeben ist, lösen
wir nach Cp,m auf und leiten sie dann partiell bei kon- An diesen Gleichungen erkennen wir, dass sich die Wär-
stant gehaltener Temperatur und Molmengen nach dem mekapazität aus zwei Anteilen zusammensetzt, einem
Druck ab. Anschließend können wir sie mit dem Satz von Idealgasanteil, der nur abhängig von der Temperatur ist,
Schwarz (18.56) weiter umformen. Man erhält: und einem Integralterm, der Realgaskorrektur genannt
wird und der von Temperatur und Druck bzw. spezifi-
  %  &
∂Cp,m ∂ ∂Sm schem Volumen abhängt.
=T
∂p T,ψj ∂p ∂T p,ψj Die Realgaskorrektur lässt sich mithilfe der thermischen
T,ψj

Thermodynamik
% Zustandsgleichung berechnen, während sich die Wär-
 & mekapazität eines idealen Gases mit den Mitteln der
∂ ∂Sm
=T . (18.50) Quantenmechanik und der Statistischen Thermodynamik
∂T ∂p T,ψj
p,ψj eindeutig herleiten lässt. Auf diese (zugegeben etwas um-
fangreiche) Herleitung wollen wir an dieser Stelle nicht
Im nächsten Schritt verwenden wir eine Maxwell- eingehen, sondern nur einige grundsätzliche Anmerkun-
Relation der Tab. 18.3, um die partielle Ableitung der gen zu den physikalischen Zusammenhängen angeben.
Entropie durch eine partielle Ableitung des Volumens zu Die Herleitung findet man z. B. in der schon erwähnten
ersetzen: Vorlesungsreihe über Theoretische Physik von Sommer-
  %  & feld.
∂Cp,m ∂ ∂Vm
= −T Die innere Energie und die Wärmekapazität sind Zu-
∂p T,ψj ∂T ∂T p,ψj standsgrößen, die die Energiespeicherung auf molekula-
p,ψj
  rem Niveau beschreiben. Nach dem Gleichverteilungs-
∂2 Vm
= −T . (18.51) satz der klassischen statistischen Mechanik besitzen die
∂T2 p,ψj Atome und Moleküle die Fähigkeit, Energie in verschie-
denen Energiemoden bzw. Freiheitsgraden zu speichern.
Nun integrieren wir diese Beziehung über den Druck von Der hier verwendete Begriff Freiheitsgrad hat jedoch
0 bis p nichts mit dem Freiheitsgrad der Gibbs’schen Phasenre-
gel zu tun. Die Energiespeicherung der Freiheitsgrade
p   kann quadratischen Energiebeiträgen zugeordnet wer-
∂Cp,m
dp̃ = Cp,m (18.52) den, welche proportional zum Quadrat einer Geschwin-
∂p T,ψj digkeit oder einer Verschiebung bzw. Ausdehnung sind
0
(kinetische Energie einer Masse und Energie einer Fe-
p  2 
∂ Vm der in Tab. 17.1). Die Wärmekapazität setzt sich aus der
= Cp,m p= 0
−T dp̃.
∂T2 p,ψj
Summe aller relevanten quadratischen Energiebeiträge
0 zusammen. Jeder voll angeregte quadratische Energiebei-
trag addiert den Wert von Rm /2 zum Betrag der molaren
Die Integrationskonstante (Cp,m )p=0 ist die Wärmekapa- Wärmekapazität hinzu. Wir unterscheiden bei den Frei-
zität bei p = 0, d. h. bei unendlich niedrigem Druck. Bei heitsgraden Translation, Rotation, Vibration und Elektro-
sehr niedrigen Drücken verhält sich ein Fluid aber wie nenbeitrag. Letzterer ist nur bei extrem hohen Temperatu-
ein ideales Gas. Die Integrationskonstante ist also nichts
ren (104 K und mehr) von Bedeutung und soll daher hier
anderes als die Wärmekapazität des betrachteten Fluids
nicht weiter diskutiert werden.
in dem Bereich des Phasenraums, in dem es dem idea-
len Gasgesetz folgt, d. h. die Wärmekapazität des idealen Die Translationsfreiheitsgrade hingegen sind bei jedem
Gases. Entsprechend unserer mathematischen Herleitung Temperaturniveau effektiv und beziehen sich auf die
602 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

Cp,m Zudem besitzen mehratomige Moleküle noch die Mög-


9 lichkeit, Energie zu speichern, indem ihre einzelnen Ato-
2 Rm
me zueinander vibrieren. Die Anzahl nvib der Vibrations-
7
2 Rm freiheitsgrade hängt von der Anzahl der Atome nAtome in
5
Rm
einem Molekül und der Anzahl der Rotationsfreiheitsgra-
2
de nrot (2 oder 3) ab und berechnet sich wie folgt:

nvib = 3nAtome − 3 − nrot . (18.55)


0,05 0,1 0,25 0,5 1 2,5 5 10 T in 1000 K

Abb. 18.11 Prinzipieller Verlauf der temperaturabhängigen Wärmekapazität


Jeder Vibrationsfreiheitsgrad besitzt sowohl einen qua-
des Wasserstoffmoleküls (ohne den Einfluss von ortho- und para-Wasserstoff) dratischen Geschwindigkeits-Energiebeitrag als auch
einen quadratischen Verschiebungs-Energiebeitrag, so-
dass ihm eine Energie von jeweils Rm zugeordnet
ist. Ein zweiatomiges Gas, wie z. B. Wasserstoff, be-
Bewegungen der Moleküle in den drei Raumrichtun- sitzt zwei Rotationsfreiheitsgrade und demnach nur
gen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und daher einen Vibrationsfreiheitsgrad. Dieser hat eine Energie-
auch mit unterschiedlichen kinetischen Energien. Jeder speicherfähigkeit von Rm . Jedoch steht die Vibrations-
der drei Raumrichtungen lässt sich ein quadratischer Energiespeicherfähigkeit genau wie die der Rotation nicht
Geschwindigkeits-Energiebeitrag zuordnen. Diese qua- im gesamten Temperaturbereich zur Verfügung, da auch
dratischen Energiebeiträge sind wie gesagt immer effek- die Vibrationsfreiheitsgrade erst ab einer bestimmten
tiv und tragen insgesamt mit dem konstanten Wert von Schwellentemperatur beginnen effektiv zu werden. In
3/2 Rm zur molaren Wärmekapazität bei konstantem Vo- Abb. 18.11 können wir am Beispiel des Wasserstoffmo-
Thermodynamik

lumen bei. Die molare Wärmekapazität bei konstantem leküls sehen, wie der Vibrationsfreiheitsgrad etwa zwi-
Druck ist um Rm größer als diese, sodass der Basis- schen 700 K und 6000 K „aufgetaut“ wird und zu einer
wert der molaren Wärmekapazität bei konstantem Druck Steigerung der Wärmekapazität führt. Man erkennt aus
5/2 Rm beträgt, wie in Abb. 18.11 am Beispiel für das dieser Abbildung, dass es bestimmte Temperaturbereiche
Wasserstoffmolekül zu sehen ist. Alle Gasmoleküle – ob gibt, in denen die Wärmekapazität konstant ist, und dass
einatomig oder mehratomig – besitzen die drei translato- andere Bereiche existieren, in denen sich die Wärmekapa-
rischen Freiheitsgrade. zität (zum Teil beträchtlich) mit der Temperatur ändert.

Mehratomige Moleküle besitzen zudem noch Rotations- Beispiel Ein reiner realer Stoff besitzt die folgenden
freiheitsgrade, da sie um ihren Schwerpunkt rotieren thermodynamischen Eigenschaften:
können. Lineare Moleküle, wie z. B. Kohlendioxid, kön-
nen bei der Rotation um zwei Achsen und nichtlinea- Molare isobare Wärmekapazität im Idealgaszustand:
re Moleküle, wie z. B. Wasser, können bei der Rota-
tion um drei Achsen signifikant Energie einspeichern. Cp,m ideales Gas
= A + BT + CT2 .
Die Rotation um eine Achse entspricht einem Rotations-
freiheitsgrad, dem ein quadratischer Geschwindigkeits- Thermische Zustandsgleichung:
Energiebeitrag mit einer Energie von Rm /2 zugeordnet
ist. Jedoch steht diese Energiespeicherfähigkeit nicht im Rm T a + Tb
p= +
gesamten Temperaturbereich zur Verfügung, da quanten- Vm Vm2
mechanisch begründet Rotationsfreiheitsgrade erst ober-
halb einer bestimmten Temperatur effektiv werden. Man mit den stoffspezifischen Konstanten a, b, A, B und C.
sagt, die Rotationsfreiheitsgrade sind bei tiefen Tempe-
Berechnen Sie die molare isochore Wärmekapazität Cv,m
raturen „eingefroren“. Diese Freiheitsgrade werden erst
des realen Stoffes als Funktion der Temperatur T und des
effektiv, wenn bestimmte Schwellentemperaturen über-
molaren Volumens Vm .
schritten werden, wodurch die Energiespeicherfähigkeit
und damit die Wärmekapazität eines idealen Gases tem- Die Beziehung für die molare isochore Wärmekapazität
peraturabhängig werden. In Abb. 18.11 kann man sehen, eines reinen realen Stoffes lautet (18.54):
wie am Beispiel des Wasserstoffmoleküls H2 ab einer
bestimmten Temperatur die zwei Rotationsfreiheitsgrade Vm  2 
∂ p
gemeinsam „aufgetaut“ werden und damit mit steigen- Cv,m = (Cv,m )ideales Gas + T dṼm .
der Temperatur die Wärmekapazität zunimmt. Ab etwa ∂T2 Vm

80 K wird die Speicherfähigkeit der Rotationsfreiheitsgra-
de wahrnehmbar. Erst bei Temperaturen von etwas über In dieser Relation kommt die zweite partielle Ableitung
200 K sind die Rotationsfreiheitsgrade vollständig effek- des Druckes nach der Temperatur bei konstantem Volu-
tiv. men vor, die wir aus der thermischen Zustandsgleichung
18.6 Folgerungen aus den Hauptsätzen und Bilanzen 603

Tab. 18.3 Maxwell’sche Bezie- erste und zweite Variablen erste und dritte Variablen zweite und dritte Variablen
hungen            
∂T ∂p ∂μi ∂T ∂μi ∂p
∂V = − ∂S ∂S = ∂n S,V, ∂V = − ∂n S,V,
S,nj V,nj V,nj i S,nj i
nj  = ni nj  = ni
           
∂T ∂V ∂μi ∂T ∂μi ∂V
∂p = ∂S ∂S = ∂ni S,p, ∂p = ∂ni S,p,
S,nj p,nj p,nj S,nj
nj  = ni nj  = ni
           
∂S ∂p ∂μi ∂S ∂μi ∂p
∂V = ∂T ∂T =− ∂ni T,V, ∂V =− ∂ni T,V,
T,nj V,nj V,nj T,nj
nj  = ni nj  = ni
           
∂S ∂V ∂μi ∂S ∂μi ∂V
∂p =− ∂T ∂T =− ∂ni T,p, ∂p = ∂ni T,p,
T,nj p,nj p,nj T,nj
nj  = ni nj  = ni

berechnen können: Beispiel Bestätigung der Maxwell-Relation:


     
∂p Rm b ∂T ∂p
= − 2 2, =− .
∂T Vm Vm T Vm ∂V S,nj ∂S V,nj
 2 
∂ p 2b
= 3 2. Vergleicht man die Koeffizienten der Gibbs’schen Funda-
∂T2 Vm T Vm mentalgleichung für Gemische (18.34)
Mit Cv,m = Cp,m − Rm folgt daher: K
dU = TdS − pdV + ∑ μk dnk

Thermodynamik
 Vm
k=1
2b
Cv,m = Cp,m − Rm ideales Gas + T 2
dṼm .
T3 Ṽm mit dem totalen Differenzial für die innere Energie als

Funktion von Entropie, Volumen und Molmengen (18.35):
Nach der Integration erhalten wir schließlich das gesuchte    
Endergebnis: ∂U ∂U
dU = dS + dV
∂S V,nj ∂V S,nj
2b
Cv,m (T, Vm ) = A + BT + CT2 − Rm − . K  
T2 Vm ∂U
 +∑ dnk ,
k=1
∂nk S,V,
nj  =nk

so ergeben sich die Beziehungen (18.36) für die Tempera-


Die Maxwell’schen Beziehungen tur und (18.37) für den Druck, beide als Funktionen von
Entropie, Volumen und Molmengen:
Eine thermodynamische Zustandsgröße Z ist eine stetig  
∂U
differenzierbare, kontinuierliche Funktion mehrerer Ver- T= = T (S, V, n1 , n2 , . . . , nK )
änderlicher (z. B. Z(x, y)), für die ganz allgemein gilt, dass ∂S V,nj
die Reihenfolge der Differenziationen für die zweiten Ab-
leitungen beliebig ist (auch Schwarz’scher Satz genannt): und
 
    ∂U
∂2 Z ∂ ∂Z ∂ ∂Z p=− = p (S, V, n1 , n2 , . . . , nK ) .
= = . (18.56) ∂V S,nj
∂x∂y ∂x ∂y ∂y ∂x
Diese zwei partiellen Ableitungen der inneren Energie
Wendet man diesen mathematischen Satz auf die thermo-
kann man nun nach der jeweilig anderen Variablen ab-
dynamischen Potenziale aus Tab. 18.1 an und differenziert
leiten und nach (18.56) gleichsetzen, um die obige Max-
die Koeffizienten nach den jeweiligen anderen freien Va-
well’sche Beziehung zu erhalten:
riablen, so erhält man die sogenannten Maxwell’schen
%   & %   &
Beziehungen, die in Tab. 18.3 zusammengestellt sind.
∂ ∂U ∂ ∂U
=
Jedes thermodynamische Potenzial hat K + 2 freie Va- ∂V ∂S V,nj ∂S ∂V S,nj
S,nj V,nj
riable mit den entsprechenden Koeffizienten, die man
nach den jeweils anderen K + 1 freien Variablen ablei- und schließlich:
ten kann. Da nach dem Schwarz’schen Satz die zweiten    
Ableitungen symmetrisch sind, ergeben sich pro thermo- ∂T ∂p
=− .
dynamischem Potenzial also (K + 2)(K + 1)/2 Maxwell- ∂V S,nj ∂S V,nj
Relationen. 
604 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

Die Exergie mit der konstanten Temperatur Tu und dem konstanten


Druck pu ) abhängt. Es existiert daher für jeden Systemzu-
Aus dem ersten Gleichgewichtspostulat nach Ab- stand nur eine einzige maximal gewinnbare Arbeit.
schn. 17.3 folgt, dass ein System, das sich mit seiner Aus dem bisher Gesagten können wir also folgen-
Umgebung im thermischen Gleichgewicht befindet (Zu- de Schlüsse ziehen: Nur bei reversibler Prozessführung
stand u), nicht in der Lage ist, aus sich heraus Arbeit zu bleibt die Exergie konstant und kann entsprechend bi-
leisten. Wollen wir ein solches System in einen Zustand lanziert werden. Bei allen irreversiblen Prozessen wird
1 bringen, der sich von dem Umgebungszustand unter- Exergie unwiederbringlich in Anergie umgewandelt. Es
scheidet, so müssen wir dem System Energie zuführen. ist unmöglich, Anergie in Exergie umzuwandeln. Daraus
Im Umkehrschluss folgt daraus, dass ein System, das ergeben sich nun die folgenden Definitionen:
sich nicht im thermischen Gleichgewicht mit seiner Um-
gebung befindet, in der Lage ist, Arbeit zu leisten. Wir Die Exergie ist wie die Energie eine extensive Zustands-
stellen uns nun die Frage, welche Arbeit wir im rever- größe (die allerdings zudem vom Umgebungszustand
siblen Fall minimal aufwenden müssen (beispielsweise abhängt). Mit einem Massenstrom wird also auch Exer-
beim Befüllen einer Taucherpressluftflasche), um ein Sys- gie (bzw. Anergie) transportiert; man spricht von einem
tem einmalig vom Zustand u in den Zustand 1 zu bringen, Exergiestrom. Exergieströme können auch bei der Über-
bzw. wie viel Arbeit kann ein System (beispielsweise ei- tragung von Arbeit und Wärme auftreten.
ne gefüllte Druckluftflasche) maximal leisten, wenn es Betrachten wir ein offenes, instationäres System, das mit
einmalig vom Zustand 1 ausgehend reversibel in den N Wärmebehältern unterschiedlicher Temperaturniveaus
Umgebungszustand u überführt wird? in Wechselwirkung steht. Zudem soll das System mit
Eine ähnliche Problemstellung ergibt sich, wenn ein kon- seiner Umgebung pro Zeiteinheit Energie in Form von
Wärme Q̇u und in Form von Volumenänderungsarbeit
Thermodynamik

tinuierlich durchströmtes System mit seiner Umgebung


Wärme austauscht und eine Netto-Arbeit abführt, wie (−pu dVSystem /dt) austauschen. Der Zustand der Umge-
es z. B. bei konventionellen, geothermischen oder solaren bung ändert sich nicht (konstante Temperatur Tu und
Wärmekraftwerken der Fall ist. Hier stellt sich die Frage, konstanter Druck pu ). Außerdem treten insgesamt K Mas-
zu welchem Anteil die zugeführte Wärme bestenfalls (oh- senströme über die Systemgrenze auf, die von entspre-
ne Verluste) in Arbeit überführt werden kann. chenden Energieströmen begleitet werden. Achtung: In
diesem Fall steht K für die Anzahl der Massenströme
Die angesprochenen Fragen lassen sich durch eine sinnvol- nicht für die Anzahl der (in einem Massenstrom enthalte-
le Kombination des ersten und zweiten Hauptsatzes be- nen) Komponenten! Die weiterhin auftretende technische
antworten, wie wir es im Folgenden diskutieren werden. Leistung (Pt = Ẇt ) kann unterschiedliche Formen anneh-
Die reversible Arbeit, die ein System maximal leisten kann men, wie z. B. Wellenleistung oder elektrische Leistung.
bzw. die wir minimal aufwenden müssen, wird Exergie
genannt. Der Begriff Exergie wurde von Zoran Rant (1904– Nun stellen wir für das so beschriebene System eine Bilanz
1972) vorgeschlagen. Er leitet sich ab von den griechischen der Gesamtenergie basierend auf (18.3) und eine Bilanz der
Worten „ex ergon“, d. h. die aus einem System gewinnbare Entropie mithilfe von (18.28) auf. In beiden Bilanzen tritt
Arbeit. Der Anteil der Energie, der nicht in nutzbare Ar- ein Term auf, der den Wärmeaustausch mit der Umgebung
beit umgewandelt werden kann, wird (allerdings nur in beschreibt. Eliminieren wir nun aus der Energie- und der
der deutschsprachigen Literatur) mit dem Begriff Aner- Entropiebilanz diesen Umgebungswärmestrom und lösen
gie bezeichnet. Demzufolge besteht die innere Energie der die so erhaltene Beziehung nach der abgegebenen techni-
Umgebung zu hundert Prozent aus Anergie. schen Arbeit pro Zeiteinheit auf, so ergibt sich:
  2  
d c
−Ẇt = − U+m + gz + pu V − Tu S
Exergie ist der Anteil der Energie, der sich in einer dt 2 System
gegebenen Umgebung durch eine reversible Pro- %  &
K 2
zessführung vollständig in nutzbare Arbeit umwan- c
+ ∑ ṁj h + + gz − Tu s
deln lässt. Anergie ist der Anteil der Energie, der j=1
2 j über Systemgrenze
sich unter keinen Umständen in nutzbare Arbeit  
N
umwandeln lässt. Die Energie eines Systems ist die Tu
+ ∑ 1− Q̇ Wärmebehälter l
Summe aus Exergie und Anergie. TWärmebehälter l
l=1
 
− Tu Ṡprod . (18.57)
im System
Obwohl die Exergie nach dieser Definition oberfläch-
lich betrachtet eine Prozessgröße zu sein scheint, ist sie Der erste Term auf der rechten Seite dieser Beziehung
tatsächlich eine Zustandsgröße, da sie nicht vom (rever- berücksichtigt die Auswirkungen auf die Arbeit infolge
siblen) Prozessweg, sondern nur vom Zustand des Sys- der zeitlichen Änderungen von Zustandsgrößen des Sys-
tems (und natürlich dem gegebenen Umgebungszustand tems. Die Summe des zweiten Terms beschreibt die Kon-
18.6 Folgerungen aus den Hauptsätzen und Bilanzen 605

sequenzen durch den Energietransfer infolge von über


die Systemgrenze tretenden Massenströmen. Die Sum- 1 u
me des dritten Terms beinhaltet die Wechselwirkungen
mit den Wärmereservoirs. Der letzte Term repräsentiert Qu –Wex, 1u
entropieproduzierende Reibungsvorgänge innerhalb des
Systems. Er wird auch Arbeitsverlust durch Irreversibili- Abb. 18.12 Exergie eines offenen, stationären Systems
täten genannt. Da wir nach der vom System abgegebenen
technischen Leistung (einer wegabhängigen Prozessgröße) me ausgetauscht, und Änderungen von kinetischer und
aufgelöst haben, bedeutet ein positiver numerischer Wert als potenzieller Energie können vernachlässigt werden. Für
Summe aller vier Terme der rechten Seite, dass das System einen solchen Fall kann man obige Gleichung für die Exer-
Arbeit an der Umgebung leistet, d. h., wir gewinnen Ar- gie vereinfachen, um die maximale von dem System konti-
beit. Da die Umgebungstemperatur und die produzierte nuierlich abgegebene Arbeit pro Zeiteinheit zu berechnen:
Entropie immer positive Werte annehmen, bedeutet dies
wiederum, dass der letzte Term immer die gewinnba- −Ẇex,1u = ṁ [h1 − hu − Tu (s1 − su )] . (18.59)
re Arbeit reduziert. In anderen Worten: Wenn der letzte
Term gleich null ist, gewinnen wir die maximal mögliche Beispiel Exergie eines offenen, stationären Systems: Tur-
Arbeit aus dem betrachteten System. boverdichter
Da die Umgebungstemperatur nach dem dritten Haupt- In einem Turboverdichter werden ṁ = 1 kg/s Luft vom
satz immer größer als null ist, kann die maximale Arbeit Umgebungszustand pu = 1 bar, Tu = 298,15 K(25 ◦ C) iso-
nur dann gewonnen werden, wenn keine Entropie pro- therm (T1 = Tu = konstant) auf p1 = 6 bar verdichtet.
duziert wird, d. h., wenn die Prozessführung reversibel Für die Stoffeigenschaften der Luft gelten die folgenden

Thermodynamik
ist. An dieser Stelle wird die große Bedeutung der Entro- Relationen:
pie deutlich. Jede produzierte Entropie (die wir mithilfe
des zweiten Hauptsatzes berechnen können) reduziert die spezifische Enthalpie:
Arbeitsfähigkeit und damit die Effizienz eines Systems. kJ
Je größer die produzierte Entropie ist, desto geringer ist h1 − h0 = 1 (T1 − T0 ) ,
kg K
die Effizienz des Systems. Das wirklich Beeindruckende
an dieser Herleitung ist jedoch, dass dies für alle Systeme spezifische Entropie:
   
gilt, die durch diese sehr allgemeine Beziehung beschrie- kJ T1 kJ p1
ben werden können. Fassen wir das Ergebnis zusam- s1 − s0 = 1 ln − 0,287 ln .
kg K T0 kg K p0
men: Die maximal gewinnbare Arbeit bzw. die minimal
aufzuwendende Arbeit hängt nicht vom Prozessweg ab, Welche Antriebsleistung Ẇt min ist dem Verdichter min-
sondern nur vom Systemzustand und ist deshalb eine Zu- destens zuzuführen?
standsgröße, die wir Exergie −Wex nennen. Wir erhalten Im Austrittszustand nach dem Verdichter besitzt der
sie für eine nicht näher spezifizierte Prozessführung, die Luftmassenstrom eine bestimmte Exergie. Da der An-
nur die Bedingung der Reibungsfreiheit bzw. der Rever- saugzustand unter Umgebungsbedingungen durch eine
sibilität erfüllen muss: Exergie von null gekennzeichnet ist, muss dem Luft-
massenstrom über den Turboverdichter mindestens die
−Ẇex = −Ẇt rev
  2   spezifische Exergie des Austrittszustandes als Antriebs-
d c leistung zugeführt werden:
=− U+m + gz + pu V − Tu S
dt 2
%  &
System Ẇex,1u = Ẇt = ṁ [h1 − hu − Tu (s1 − su )]
K  min
c2 Im Gegensatz zu (18.59) bezeichnet hier der Index u den
+ ∑ ṁj h + + gz − Tu s
j=1
2 j Eintrittszustand und 1 den Austrittszustand, sodass wir
über Systemgrenze
  das Vorzeichen umkehren müssen, bevor wir den nu-
N
Tu merischen Wert der Mindestantriebsleistung berechnen
+ ∑ 1− Q̇ Wärmebehälter l .
l=1
TWärmebehälter l können:
  
(18.58) kg kJ
Ẇt min = 1 1 298,15 K − 298,15 K
s kg K
Von besonderer technischer Relevanz ist ein offenes, sta- ! "# $
tionäres System, durch das nur ein einziger Massenstrom 0
 
hindurch tritt, wie es in Abb. 18.12 skizziert ist. Der Mas- kJ 298,15 kJ 6
senstrom besitzt am Eintritt den Zustand 1 (Eintrittszu- − 298,15 K 1 ln −0,287 ln
kg K 298,15 kg K 1
stand) und verlässt das System in dem Zustand u (Aus- ! "# $
trittszustand), der sich im Gleichgewicht mit der Umge- 0
bung befindet. Außer mit der Umgebung wird keine Wär- = 153,3 kW.
606 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

Beispiel Exergie eines geschlossenen, instationären Sys-


tems: Luftgewehr
Beginn
Zustand 1 –Wex,1u In der Pressluftkammer eines Luftgewehrs befindet sich
pu komprimierte Luft vom Zustand p1 = 12 bar, T1 = Tu =
290 K und m1 = 0,15 g.
Qu Tu
Für die Stoffeigenschaften der Luft gelten die folgenden
Relationen:
Ende kJ
Zustand u u1 − u0 = 0,713 (T1 − T0 ) ,
kg K
 
kJ p0
p0 (v1 − v0 ) = 0,287 T1 − T0 ,
kg K p1
Abb. 18.13 Exergie eines geschlossenen, instationären Systems    
kJ T1 kJ p1
s1 − s0 = 1 ln − 0,287 ln .
kg K T0 kg K p0
Infolge der isothermen Verdichtung ändert sich die spe- Welche maximale Fluggeschwindigkeit cKugel kann eine
zifische Enthalpie des Luftmassenstroms nicht über den Kugel der Masse mKugel = 1 g erreichen, wenn die im
Verdichtungsprozess. Aus dem ersten Hauptsatz folgt Luftgewehr komprimierte Luft durch einen einmaligen
dann, dass die Antriebsleistung des Turboverdichters Expansionsprozess die Kugel beschleunigt und dabei auf
gleich dem (zur Kühlung des Luftmassenstroms) an die den Umgebungszustand Tu = 290 K und pu = 1 bar ex-
Umgebung abgegebenen Wärmestrom ist. Dem Luftmas- pandiert wird?
Thermodynamik

senstrom wird jedoch über die Verdichterwelle reine Exer-


gie pro Zeit zugeführt. Wohingegen der an die Umgebung Die komprimierte Luft besitzt eine bestimmte Exergie.
abgegebene Wärmestrom ein reiner Anergiestrom ist. Um die maximale Geschwindigkeit für die Luftgewehr-
Folglich findet sich der über die Welle zugeführte Exergie- kugel zu erhalten, muss diese Exergie (einmalig) vollstän-
strom vollständig im Austrittszustand des verdichteten dig in die kinetische Energie der Kugel überführt werden.
Luftmassenstroms wieder. 
Die Exergie der komprimierten Luft wird mithilfe von
(18.61) bestimmt:
Betrachten wir nun ein geschlossenes, instationäres Sys-
tem, das nur mit seiner Umgebung (reversibel) Wärme −Wex = m1 [u1 − uu + pu (v1 − vu ) − Tu (s1 − su )] ,

austauscht und für das zudem die Änderungen von ki- kJ
netischer und potenzieller Energie vernachlässigt werden −Wex = 0,15 g 0,713 (290 K − 290 K)
kg K
können, wie es in Abb. 18.13 zu sehen ist. Für ein solches  
System vereinfacht sich die Gleichung für die Exergie zu kJ 1 bar
+ 0,287 290 K − 290 K
folgender Beziehung: kg K 12 bar
 
kJ 290 K kJ 12 bar
d − 290 K 1 ln − 0,287 ln ,
−Ẇex = − (U + pu V − Tu S)System . (18.60) kg K 290 K kg K 1 bar
dt
−Wex = 0,01958 kJ.
Eine Integration dieser Gleichung über das Zeitintervall
vom Anfangszustand 1 bis zum Endzustand u ergibt: Diese Exergie muss vollständig in die kinetische Energie
der Luftgewehrkugel Ekin,Kugel überführt werden, d. h.:
−Wex,1u = U1 − Uu + pu (V1 − Vu ) − Tu (S1 − Su ) .
(18.61) c2Kugel
Ekin,Kugel = mKugel = −Wex .
Die Gleichung beschreibt die maximale Arbeit, die ein 2
geschlossenes System dann leistet, wenn es durch einen Daraus ergibt sich die gesuchte maximale Geschwindig-
einmaligen Prozess von einem Anfangszustand 1 reversi- keit für die Luftgewehrkugel:
bel ins Gleichgewicht mit seiner Umgebung (d. h. in den  
Zustand u) gebracht wird. Dieser Prozess erfolgt in zwei 2 (−Wex ) 2 · 19,58 N m
Schritten. Im ersten Schritt wird das System durch ei- cKugel = =
mKugel 1 · 10−3 kg
ne adiabat-isentrope Zustandsänderung auf Umgebungs- 
temperatur gebracht. Im zweiten Schritt erfolgt dann die kg m2 m
isotherme Wärmeübertagung mit der Umgebung bis das = 39,16 2
= 198 .
kg s s
System den Umgebungszustand erreicht. 
Antworten zu den Verständnisfragen 607

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 18.1 Die Zustandsgrößen innere Energie und ki- zufuhr) die Temperaturen von Teilsystemen auseinander
netische Energie sind keine Erhaltungsgrößen. Es ist mög- entwickelten.
lich in einem abgeschlossenen System kinetische Energie
in innere Energie zu überführen (zu dissipieren), z. B. Antwort 18.5 Die Funktion U = U (S, V, n) ist eine Fun-
indem durch Reibungsprozesse die Geschwindigkeit ein- damentalgleichung, aus der alle thermodynamischen Zu-
zelner Partikel abgebremst wird, und sich dadurch die standsgrößen ausschließlich durch Differenzieren und al-
Temperatur erhöht. Andererseits ist es aber auch möglich, gebraisches Umstellen bestimmt werden können. Es wird
innere Energie zumindest teilweise in kinetische Energie dabei keine weitere Information benötigt. Für die Funk-
zu überführen, z. B. kann man durch einen Expansions- tion U = U (T, V, n) bzw. T = T (U, V, n) trifft dies jedoch
prozess (bei dem die Temperatur absinkt) einzelne Parti- nicht zu, da sich gemäß (18.36) die Entropie nur durch
kel beschleunigen. eine Integration (mit konstant gehaltenem V und n) der
Funktion
Antwort 18.2 Wenn man bei einem Kolbenverdichter die dU
reibungsbedingte Dissipationsarbeit und die Änderungen dS =
T (U, V, n)
von kinetischer und potenzieller Energie vernachlässigen
darf, dann unterscheiden sich die über einen Arbeitszy-
ermitteln lässt. Für diese Integration benötigt man zusätz-

Thermodynamik
klus summierten Volumenänderungsarbeiten nicht von
liche Information, um die unbekannte Integrationskon-
der insgesamt über diesen Arbeitszyklus zugeführten
stante zu bestimmen.
technischen Arbeit.
Antwort 18.6 Vergleicht man die differenzielle Beziehung
Antwort 18.3 Indem man aus dem geschlossenen ther- für die freie Enthalpie aus Tab. 18.1 mit dem totalen Dif-
modynamischen System Wärme abführt, kann man seine ferenzial für die freie Enthalpie
Entropie verringern. Findet die Wärmeabfuhr bei kon-
   
stanter Systemtemperatur statt (z. B. bei gleichzeitiger ∂G ∂G
Verdichtung des Systems), so ist die reversible Entropie- dG = dT + dp
∂T p,nj ∂p T,nj
absenkung des Systems entsprechend (18.20) gleich dem
K  
Quotienten abgeführte Wärme dividiert durch absolute ∂G
Systemtemperatur (in Kelvin gemessen). + ∑ ∂nk T,p,
dnk ,
k=1
nj  =nk

Antwort 18.4 Der Erfinder hat leider den zweiten Haupt-


satz der Thermodynamik nicht bedacht. Der erste Haupt- so folgt durch einen Koeffizientenvergleich, dass für einen
satz der Thermodynamik würde keinen Widerspruch zu reinen Stoff das chemische Potenzial gleich der molaren
herrschenden Naturgesetzen sehen, wenn die Energie, freien Enthalpie ist:
die dem Kühlschrank entzogen wird, zur Aufheizung  
des Backofens dient. Jedoch würde nach dem zweiten ∂G G
μ= = = Gm .
Hauptsatz der Thermodynamik die Entropie des abge- ∂n T,p n
schlossenen Gesamtsystems sinken, was ein Widerspruch
zu den herrschenden Naturgesetzen darstellt. Der Frage Entsprechendes gilt auch für Gemische, nur dass hier
folgt im Text ein Beispiel, das die Entropieerhöhung in- die sogenannten partiellen molaren freien Enthalpien
folge eines Temperaturausgleichs erläutert. Entsprechend auftreten, die für die thermodynamischen Eigenschaften
folgt im Umkehrschluss, dass die Entropie abnehmen von Gemischen (z. B. Phasengleichgewichte) eine wichti-
würde, wenn sich ohne Einwirkung von außen (Energie- ge Rolle spielen.
608 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

Aufgaben

Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer).
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

18.1 • Eine Kaffeemaschine nimmt im stationären d) Welcher Teil der zugeführten elektrischen Leistung
Betrieb eine elektrische Heizleistung von Q̇el = 2 kW wird zur Erwärmung des Kaffeewassers verwendet?
auf. Diese Leistung wird dazu verwendet, kontinuierlich
einen Wassermassenstrom ṁ zunächst von der Tempera- Resultat:
tur T1 = 283,15 K auf seine Siedetemperatur bei Umge- b) 0 = ṁ[(hein − haus ) + g(zein − zaus )] + Q̇el − Q̇Kond .
bungsdruck, nämlich T2 = 373,15 K, zu erhitzen und ihn g
c) ṁ = 0,761 s .
dann zu verdampfen, sodass gerade gesättigter Dampf d) η = 0,1438 = 14,38 %.
bei T2 = 373,15 K entsteht. Dieser Dampf steigt dann von
der Eintrittshöhe zein = 0 auf die Höhe zaus = 0,15 m an.
Bevor er die Kaffeemaschine in der Höhe zaus verlässt, 18.2 •• In einem Raumfahrzeug arbeitet eine Wärme-
kondensiert der Dampf und gibt seine Kondensations- kraftmaschine reversibel mit dem Wirkungsgrad
Thermodynamik

wärme Q̇Kond an die Umgebung ab, sodass am Austritt


der Kaffeemaschine Wasser im siedenden Zustand mit Ẇt rev T − TK
T2 = 373,15 K vorliegt. Ein- und Austrittsgeschwindigkeit ηth = = ηmax = ηC = H .
Q̇H TH
des Wassers sind zu vernachlässigen.
Der zugeführte Wärmestrom Q̇H wird bei der Temperatur
dm/dt TH = 300 K aufgenommen, die Anlage gibt im stationären
Betrieb die Leistung Ẇt rev = 1 kW ab. Der Abwärme-
strom Q̇K kann im Weltraum nur durch Strahlung abge-
dQKond /dt geben werden, sodass gilt:

Δz Q̇K = σATK
4
,
dQel /dt
mit der Strahlungskonstanten σ = 5,67 · 10−8 mW2 K4 und
dem Emissionskoeffizienten  = 1. Die wärmeabgebende
dm/dt Fläche A soll aus Gewichtsgründen möglichst klein sein.
Schematische Darstellung einer Kaffeemaschine
a) Wie hängt die wärmeabgebende Fläche A von der Tem-
Die spezifische isobare Wärmekapazität cp des flüssigen peratur TK ab?
Wassers sei über den gesamten Temperaturbereich kon- b) Wie groß ist die Temperatur TK , bei der die wärmeab-
stant. gebende Fläche A minimal wird?
c) Wie groß ist diese wärmeabgebende Fläche A?
Stoffdaten des Wassers: d) Wie groß ist der durch die Strahlung abgegebene Wär-
mestrom Q̇K ? Sind die Ergebnisse (TK , Q̇K ) und die
Spezifische isobare Wärmekapazität: cp = 4,2 kgkJK .
Vorgaben (TH , Ẇt rev , ηmax ) miteinander verträglich?
Spezifische Verdampfungsenthalpie bei 373,15 K und
kJ
1013 mbar: r = 2250 kg . Hinweis: Stellen Sie zunächst den ersten Hauptsatz (18.3)
Erdbeschleunigung: g = 9,81 m
s2
. für die Wärmekraftmaschine auf.

a) Skizzieren Sie die Anordnung schematisch. Zeichnen Resultat:


Sie auch die ausgetauschten Wärmen in Ihre Skizze mit Ẇt rev Ẇt rev
ein. a) A = 1
σ (TH −TK )T3 = 1
σ TH T3 −T4 .
K K K
b) Stellen Sie den ersten Hauptsatz für das vorliegende b) TK = 225 K.
Problem auf. c) A = 20,6 m2 .
c) Welchen Massenstrom ṁ fördert die Kaffeemaschine. d) Q̇K = 3 kW.
Aufgaben 609

18.3 • • • Ein chemischer Reaktor ist mit einer Lösch- 18.5 •• Ein Dampferzeuger soll kontinuierlich flüssi-
anlage für kritische Notfallsituationen ausgestattet. Dazu ges Wasser vom Zustand u mit Tu = 293,15 K; pu = 1 bar
ist eine Stickstoffflasche neben dem Reaktor montiert. Im in Dampf vom Zustand 5 mit T5 = 423,15 K; p5 = 4 bar
Notfall kann der Stickstoff über ein Ventil sehr schnell umwandeln. Der Wasserdampf verhalte sich wie ein idea-
in den Reaktor eingeblasen werden. Es soll angenom- les Gas, und die Änderungen von kinetischer und poten-
men werden, dass sich Druck und Temperatur im Reaktor tieller Energie sowie die Kompressionsarbeit der Pumpe
durch das Einblasen des Stickstoffes nicht ändern. seien vernachlässigbar klein.
Im Folgenden soll eine Beziehung für die Endtemperatur
T2 in der Stickstoffflasche als Funktion von Anfangstem- Zustandspunkt p T h s
peratur T1 , Anfangsdruck p1 und Enddruck p0 sowie
1, festes Wasser 1 bar 273,15 K h1 = 100,0 kJ
kg s1 = 0,0 kJ
kg K
Stoffdaten hergeleitet werden.
2, flüssiges Wasser 1 bar 273,15 K h2 = ? s2 = ?
Stickstoffflasche: p1 , T1 , V u, flüssiges Wasser 1 bar 293,15 K hu = 517,5 kJ
kg su = 1,5177 kJ
kg K
Reaktor: p0
3, flüssiges Wasser 1 bar 373,15 K h3 = ? s3 = ?
4, Wasserdampf 1 bar 373,15 K h4 = ? s4 = ?
Hinweis: Stellen Sie für die Stickstoffflasche den ersten 5, Wasserdampf 4 bar 423,15 K h5 = ? s5 = ?
Hauptsatz (18.3) in geeigneter Form auf. Nehmen Sie an,
dass sich Stickstoff wie ein ideales Gas verhält. Es sind
keine Zahlenwerte einzusetzen. a) Vervollständigen Sie zunächst die vorstehend aufge-
führte Tabelle mithilfe der Definitionen von r (bzw.
Resultat: rE ) nach (19.9) sowie der Enthalpie-Relation nach
 

Thermodynamik
R
p0 R+ cv Tab. 18.1.
T2 = T1 b) Welche Wärme qu5 muss dem Wasser im Dampferzeu-
p1
ger zugeführt werden, um es von dem Umgebungszu-
stand u in den Zustand 5 zu überführen?
18.4 • Gegeben sei die Fundamentalgleichung der (Vergleichen Sie hierzu das obere Bild der Abbildung)
spezifischen freien Energie eines Stoffes i mit der spezi-
ellen Gaskonstanten R sowie den positiven Konstanten a, Die nötige Wärme soll dem Dampferzeuger unter Aus-
cυ,0 , s0 , f0 , υ0 und T0 . nutzung der Umgebung durch eine Wärmepumpe zuge-
  führt werden.
T
f (T, υ) = − cυ,0 T ln − (T − T0 ) c) Welche mindestens aufzuwendende spez. technische
T0
Arbeit wt,u5,min muss dem System aus Wärmepumpe
− a υ0 (T − T0 )2 − s0 (T − T0 ) und Dampferzeuger gemäß des unteren Bildes der Ab-
υ bildung zugeführt werden, um die zum Erreichen des
− R T ln − a T2 (υ − υ0 ) + f0 .
υ0 Zustandes 5 notwendige spez. Wärme qu aus der Um-
gebung reversibel übertragen zu können?
a) Beweisen Sie die Maxwell-Relation: d) Wie groß ist die spez. Exergie des im Zustand 5 vor-
liegenden Wasserdampfes unter den angegebenen Um-
   
∂s ∂p gebungsbedingungen, und wie groß ist die von der
= . Umgebung aufgenommene spez. Anergie qu , die not-
∂υ T ∂T υ
wendig ist, um den Zustand 5 ausgehend vom Zustand
b) Bestimmen Sie die thermische Zustandsgleichung, u zu erreichen?
p = p(T, v).
c) Bestimmen Sie die spezifische Entropie s(T, v). Stoffeigenschaften des Wassers:
d) Geben Sie die Gleichung zur Berechnung der spez. in-
Spezifische Schmelzenthalpie bei 1 bar und 273,15 K:
neren Energie in Abhängigkeit von Temperatur T und kJ
spezifischem Volumen v an, u = u(T, v). rE = 333,5 kg
Spezifische Verdampfungsenthalpie bei 1 bar und
Resultat: kJ
373,15 K: r = 2250,5 kg
∂( ∂ f )υ ∂ ( ∂ f )T ∂p
a) − ∂∂ υs T = ∂T
∂υ = ∂υ
∂T υ
= − ∂ T υ. Spezifische isobare Wärmekapazität der Flüssigkeit:
∂f T
kJ
b) p = − ∂v T = RT v + aT .
2 cp,fl = 4,2 kgK
∂f
c) s = − ∂T v = cv,0 ln TT0 + 2a(Tv − T0 v0 ) + R ln vv0 + s0 . Spezifische isobare Wärmekapazität des Dampfes:
kJ
d) u = cv,0 (T − T0 ) + a(vT2 − v0 T02 ) + f0 + T0 s0 . cp,g = 2,1 kgK
! "# $ kJ
=u0 Spezielle Gaskonstante des Dampfes: R = 0,462 kgK
610 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik

Systemgrenze und sich so einen gut temperierten Weinkeller (ϑWein =


Wasser Dampf +8 °C) geschaffen. Bei der nächsten Stromrechnung fällt
Dampferzeuger Mieter 1 aus allen Wolken und findet heraus, dass Mie-
Tu, pu T5, p5 ter 2 ihm „Kälte geklaut“ hat. Mieter 2 verteidigt sich vor
Gericht, „Kälte“ sei kein physikalischer sinnvoller Begriff
und existiere nicht, er habe Mieter 1 doch Energie in Form
qu5 von Wärme zugeführt und möchte dafür im Gegenteil
noch bezahlt werden.
Systemgrenze Sie sind Sachverständiger des Gerichts. Überprüfen Sie
Wasser Dampf diesen Sachverhalt.
Dampferzeuger ·
Tu, pu T5, p5 Q Umg

30 °C
qu5 ·
Wt Weinkeller Kühlraum
1 2 8 °C –20 °C
Wärme-
wt, u5, min
· ·
pumpe KM Q Wein Q kühl

qu Erdreich
Thermodynamik

Umgebung mit Tu
Weitere Angaben:
Hinweis: Im überhitzten Gebiet kann der Wasserdampf als
ideales Gas angesehen werden. Q̇Kühl = 1000 W, ε KM = ε K,Carnot /3, ṁCO2 = 0,012 kg/s.
Resultat:
Zustand des Kältemittels (CO2 ) an den Punkten 1 und 2
a) in der Zuleitung ohne Isolationsschicht:
kJ kJ
h2 = 433,5 s2 = 1,2209
kg kg K kJ kJ
ϑCO2 = −20 ◦ C, h1 = 280 , s1 = 1,329 ,
kJ kJ kg K kg
h3 = 853,5 s3 = 2,5311
kg kg K kJ kJ
pCO2 = 18,53 bar, h2 = 300 , s2 = 1,408 .
kJ kJ kg K kg
h4 = 3103,5 s4 = 8,5608
kg kg K
kJ kJ a) Welche elektrische Leistungsaufnahme Ẇt hat die Käl-
h5 = 3208,5 s5 = 8,1844
kg kg K teanlage im Normalbetrieb ohne den Weinkeller, um
den Kühlraum kühl zu halten, wenn draußen eine Um-
kJ
b) qu5 = 2691 kg gebungstemperatur von ϑUmg = +30 °C vorliegt.
kJ b) Berechnen Sie den oben beschriebenen tatsächlich vor-
c) wt,u5,min = 736,6569 kg liegenden Fall, dass ein zusätzlicher Wärmeeintrag
kJ
d) qu = 1954,3431 kg vom Weinkeller hinzukommt, die tatsächliche elektri-
sche Leistungsaufnahme Ẇt∗ der Kältemaschine.
c) Berechnen Sie die Exergieänderung des Kältemittels
18.6 •• Ein Rechtsstreit hat folgenden Tatbestand: beim Durchqueren des Weinkellers von 1 nach 2.
Der Ankläger ist Mieter 1 eines Mehrfamilienhauses, der d) Welchen Rat geben Sie dem Richter? Wer klaut? Was
seinen Keller als Kühlraum (ϑKühl = −20 °C) verwendet wird geklaut?
(siehe Abbildung). Die Kälteanlage dazu befindet sich in
einem anderen Kellerraum. Zwischen diesen beiden Räu- Resultat:
men befindet sich der Keller des Angeklagten, Mieter 2
des Mehrfamilienhauses. Ein Teil der Leitungen führt von a) Ẇt = 592,53 W.
der Kälteanlage durch den Raum des Mieters 2 in den b) Ẇt∗ges = 648,87 W.
Kühlraum von Mieter 1. Der Angeklagte, Mieter 2, hat c) Ẇex,1→2,h = −47,40 W.
an der Zuleitung zum Kühlraum die Isolation entfernt d) Mieter 2 klaut Exergie.
Stoffe und deren
thermodynamische
19
Beschreibung –
Materialgesetze
Wie lässt sich ein Stoff
thermodynamisch
beschreiben?
Wann passt jeweils das
Modell des idealen oder
realen Gases?
Wie beschreibt man ein

Thermodynamik
Mehrphasensystem?
Welche
Zustandsgleichungen gibt
es?
Wie hängt die innere
Energie von anderen
Zustandsgrößen ab?

19.1 Das Verhalten realer Stoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612


19.2 Zustandsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617
19.3 Das ideale Gas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619
19.4 Das reale Gas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620
19.5 Der reale Stoff im Nassdampfgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 611


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_19
612 19 Stoffe und deren thermodynamische Beschreibung – Materialgesetze

In den Kap. 17 und 18 haben wir zunächst wichtige grundlegende pu = konst. pu = konst. pu = konst. pu = konst.
Beziehungen in der Thermodynamik und die Hauptsätze der Ther- mKolben
modynamik kennengelernt. Allerdings haben wir bis jetzt noch nicht
mKolben
viel über das Arbeitsfluid gesprochen, das wir bei einem speziellen g
Prozess untersuchen wollen. Führen wir z. B. eine isobare Zustands-
mKolben mKolben
änderung von 1 nach 2 durch, so müssen wir festlegen mit welchem
Stoff das geschieht. Die umgesetzten Wärmen und Arbeiten führen
ja nach dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik zu einer Ände-
rung der inneren Energie. Die innere Energie ist wiederum verknüpft
mit den Zustandsgrößen Temperatur und Druck. Dieser Zusammen- Festkörper Flüssigkeit Dampf
hang wird für jeden Stoff (jedes Arbeitsfluid) unterschiedlich sein. Q Q Q Q
Aus diesem Grund wollen wir uns in diesem Kapitel eingehend a b c d
mit der thermodynamischen Beschreibung von Stoffen beschäfti-
gen. Zunächst wird das Verhalten realer Stoffe vorgestellt, und es Abb. 19.1 Erhitzen eines Stoffes bei konstantem Druck
werden allgemeine Zustandsgleichungen entwickelt. Diese werden
danach für ideale und reale Gase und reale Arbeitsfluide im Nass-
dampfgebiet angewandt. Hierbei werden wir auch kennenlernen, der Erwärmung der Flüssigkeit findet beim herrschenden
wann wir den betrachteten Stoff vereinfacht betrachten können Umgebungsdruck oft nur eine sehr geringe Volumenver-
(z. B. als ideales Gas) und wann wir kompliziertere Gleichungen her- größerung statt. Wir sehen daran, dass die Flüssigkeit
anziehen müssen, um ihn zu beschreiben. näherungsweise volumenbeständig (inkompressibel) ist.
Nachdem sich die erste Dampfblase gebildet hat, be-
obachten wir wieder, dass die Temperatur im Behälter
Thermodynamik

konstant bleibt, das Volumen des Flüssigkeit-Dampf-Ge-


19.1 Das Verhalten realer Stoffe misches allerdings stark ansteigt. Dies geschieht so lange,
bis die gesamte Flüssigkeit als Dampf (Gas) vorliegt, wo-
Als ein Beispiel eines realen Stoffs wollen wir zunächst bei das Volumen hierbei weiterhin zunimmt. Führen wir
Wasser betrachten: Wir sehen z. B. Wasser im Winter als dann weiterhin Wärme zu, steigt die Temperatur des
Festkörper, wenn wir über einen zugefrorenen See schlit- Dampfes kontinuierlich mit starker Volumenzunahme an.
tern, wir sehen es in flüssiger Form, wenn wir bei einem Wir haben also nun gesehen, wie bei dem realen Stoff
morgendlichen Spaziergang vom Regen überrascht wer- die verschiedenen Phasen bei verschiedenen Temperatu-
den. In dampfförmiger (gasförmiger) Form tritt es z. B. als ren auftreten. Allerdings haben wir unseren theoretischen
Wasserdampf in der Luft auf. Wir bestimmen den Was- Versuch nur bei einem bestimmten Druck durchgeführt.
serdampfgehalt z. B. mittels der relativen Feuchte durch Wir können nun diesen Versuch für verschiedene Druck-
ein Hygrometer, das wir in unserer kleinen elektroni- niveaus wiederholen, indem wir einfach die Kolbenmasse
schen Wetterstation zu Hause haben. Wie beschreiben wir ändern. Damit ergeben sich die in Abb. 19.2 dargestellten
nun solche realen Stoffe, die verschiedene Phasen haben Kurven, die hier exemplarisch für den Stoff Kohlendi-
können, thermodynamisch? Dies soll im Folgenden be- oxid (CO2 ) in einem T, V-Diagramm dargestellt sind. Wir
antwortet werden. erkennen, dass für Phasenwechselvorgänge (fest-flüssig,
Beginnen wir unsere Betrachtungen mit einem kleinen flüssig-gasförmig) Druck und Temperatur miteinander
Gedankenexperiment, das in Abb. 19.1 dargestellt ist. Wir gekoppelt sind.
gehen davon aus, dass wir in einem Zylinder, der mit Verbinden wir hierin die Punkte, bei denen das Kohlen-
einem beweglichen, massebehafteten Kolben verschlos- dioxid gerade schmilzt (1), gerade vollständig geschmol-
sen ist, einen Festkörper bei seiner Schmelztemperatur zen ist (2), gerade siedet (3) und gerade vollständig
eingeschlossen haben. Von außen wirkt auf den Kol- verdampft ist (4), so ergeben sich geschlossene Kurven-
ben der Masse mKolben der Umgebungsdruck pu . Der züge, die die verschiedenen Phasen voneinander tren-
Druck im System ist damit durch den Umgebungs- nen. Hierbei bezeichnet man die Linien aller Punkte (1),
druck plus den Anteil aus der Gewichtskraft des Kolbens (2), (3), (4) als Schmelzlinie, Erstarrungslinie, Siedelinie
(mKolben g/AKolben ) gegeben. Nun führen wir dem System und Taulinie. Unterschreitet man eine bestimmte Tem-
Wärme zu. Hierbei kann sich der Kolben nach oben und peratur, so kann das Kohlendioxid nicht mehr flüssig
unten bewegen, sodass der Druck im Zylinder konstant vorliegen. Es stellt sich dann ein zweiphasiges System
bleibt. Wir haben es also mit einem isobaren Prozessver- fest-dampfförmig ein. Dies geschieht unterhalb der Tri-
lauf zu tun. Nach der Wärmezufuhr stellen wir fest, dass pellinie (für welche die drei Phasen fest, flüssig und gas-
der Festkörper schmilzt, die Temperatur jedoch bei die- förmig im Gleichgewicht stehen). Unterhalb der Tripelli-
sem Vorgang konstant bleibt. Ist der Festkörper vollstän- nie bezeichnet man die Begrenzungslinien für den Pha-
dig geschmolzen, steigt die Temperatur im Behälter an, senwechsel als Sublimations- und Desublimationslinie.
bis die Flüssigkeit gerade zu Sieden beginnt. Im Bereich Innerhalb der Bereiche liegen jeweils Systeme mit zwei
19.1 Das Verhalten realer Stoffe 613

Abb. 19.2 T, V -Diagramm für T p2

Schmelzlinie

Erstarrungslinie
die Erhitzung von Kohlendioxid kritischer Punkt (K) p1
bei verschiedenen Drücken ie

Ta
elin

ul
ed

in
Si

ie
(3) (4)
p2
(1) (2)

Tripellinie
Desu

inie
blim
ation
slinie

l.-L
Sub
V′ V ′′ V

Abb. 19.3 Schematisches p,V - p


Diagramm für Kohlendioxid
fest
Bereich 1
gasförmig

flüssig
K Bereich 2
flüssig und fest

Thermodynamik
Bereich 3 TK
flüssig und
dampfförmig
Tripellinie

fest und dampfförmig

V′ V ′′ V

Phasen (z. B. Dampf und Flüssigkeit im Nassdampfge-


biet) vor. Dies zeigt Abb. 19.3 für Kohlendioxid in einem 15
p in MPa

p, V-Diagramm. In dem p, V-Diagramm nach Abb. 19.3


sind Linien für T = konst., also Isothermen, eingezeich- 12
net. Stellen wir die oben angegebenen, die jeweiligen
Gleichgewichtszustände durchlaufenden, Prozesse in ei-
nem dreidimensionalen Zustandsraum (p, ρ, T) dar, so 9
ergibt sich eine Zustandsfläche. Hierbei haben wir die
Dichte des Fluids ρ = 1/v als Variable statt dem spezi- 6
fischen Volumen benutzt. Dieses Diagramm ist z. B. für
Kohlendioxid in Abb. 19.4 dargestellt.
3
Man erkennt, dass die Zustandsfläche eine kompliziert
gestaltete Fläche im p,ρ,T-Diagramm beschreibt. Sie bildet 0
alle möglichen Zustände ab, die der spezielle Stoff (hier 330
Kohlendioxid) annehmen kann. Die prinzipielle Form T
in 280
dieser Flächen ähnelt sich für viele Stoffe. Für Wasser sieht K 30
230 25
20 l/l
sie allerdings wegen der Dichteanomalie auch qualitativ 10
15 ρ in mo
5
anders aus. 0

Wichtig ist es, darauf hinzuweisen, dass alle Zustands- Abb. 19.4 Schematisches p,ρ,T -Diagramm für Kohlendioxid
änderungen, die wir für einen speziellen Stoff durch-
führen (also z. B. Erhitzen, Abkühlen, Verdampfen), nur
ausschließlich auf dieser Zustandsfläche liegen können.
614 19 Stoffe und deren thermodynamische Beschreibung – Materialgesetze

Gelingt es uns diese Zustandsfläche mathematisch zu


beschreiben, so haben wir eine analytische thermische Zu- Alle spezifischen Zustandsgrößen lassen sich im
standsgleichung nach (18.40) für den betrachteten Stoff Nassdampfgebiet gleichartig berechnen:
gefunden. Gelingt dies nicht, so können wir die Zu-
standsfläche für einen Stoff vermessen und diese Zusam- spezifisches Volumen:
menhänge als Tabellenwerte bereithalten. Betrachten wir
zunächst einmal den Stoff in einem Zustandsbereich weit v = v + x (v − v ),
weg von der Phasenumwandlung „flüssig-gasförmig“
(Bereich 1). In diesem Bereich lässt sich der Stoff allgemein spezifische Entropie:
durch eine thermische Zustandsgleichung der Form
s = s + x (s − s ),
p = p(V, T ) (18.40)
spezifische innere Energie:
bzw.
u = u + x (u − u )
F1 (p, V, T ) = 0 (19.1)
= h − pv + x(h − h ) − xp(v − v ),
beschreiben. Im Bereich 1 (Abb. 19.3) verhält sich das
Gas „ideal“ , da die Dichte klein ist, und intermolekula- spezifische Enthalpie:
re Wechselwirkungen nur eine sehr untergeordnete Rolle
spielen. Dies ist der Bereich des idealen Gases, der in Ab- h = h + x (h − h ),
schn. 19.3 noch genauer beschrieben wird. Nähern wir
uns der Taulinie (vom Bereich 2, Abb. 19.3), so wird spezifische freie Energie:
Thermodynamik

das Verhalten des Gases immer mehr von diesem idea-


len Verhalten abweichen, da Realgaseffekte durch die f = f + x (f − f )
Wechselwirkungen zwischen den Molekülen zunehmen. = u − Ts + x (u − u ) − xT (s − s ),
Allerdings können wir auch hier weiterhin das Gas durch
eine Gleichung der Form nach (19.1) beschreiben. spezifische freie Enthalpie:
Betrachtet man das Nassdampfgebiet (Bereich 3 in
Abb. 19.3), in dem Flüssigkeit und Dampf (Gas) gleich- g = g + x (g − g )
zeitig auftreten, so hatten wir hierfür festgestellt, dass = h − Ts + x (h − h ) − xT (s − s ).
Druck und Temperatur aneinander gebunden sind, also
die Festlegung eines Wertes für den Druck auch gleich- Die benötigten Werte v , v , h , h finden man für die
zeitig den Wert der Temperatur festlegt. Dies bedeutet, Drücke p und die Temperaturen T in Tabellen (z. B.
dass eine thermische Zustandsgleichung der Form nach in Tab. 19.1 und Tab. 19.2).
(19.1) nun nicht mehr ausreicht, um das Verhalten der
Substanz eindeutig zu beschreiben, und wir uns eine an-
dere Beschreibung überlegen müssen. Hierzu führen wir
den Dampfgehalt x ein: Frage 19.1
Leiten Sie für einen realen Stoff die oben angegebenen Be-
mDampf mDampf m ziehungen für die spezifische freie Enthalpie und die spe-
x= = = . (19.2)
mGesamt mDampf + mFlüssigkeit m + m

zifische freie Energie aus den Definitionen dieser Größen
her. Gehen Sie dabei genauso vor, wie bei dem spezifi-
Der Dampfgehalt stellt das Verhältnis der Masse des schen Volumen nach (19.3).
Dampfes m zur Gesamtmasse des Fluids (m + m ) dar.
Will man also z. B. das spezifische Volumen im Nass-
dampfgebiet berechnen, so lässt sich dies leicht mithilfe Die Tab. 19.1 und 19.2 geben die Werte an den Grenz-
der bekannten spezifischen Volumina auf der Siedelinie kurven für den Stoff Wasser an. Man sieht, dass die
(Zustand ) und Taulinie (Zustand ) und dem Dampfge- Sättigungstemperatur (d. h. der Siedepunkt) mit steigen-
halt machen. Man erhält: dem Druck zunimmt. Dies erklärt, warum unsere Speisen
in einem Dampfdrucktopf unter hohem Druck schneller
V = VFlüssigkeit + VDampf = m v + m v , garen, als wenn wir sie in einem normalen Kochtopf un-
v = v + x (v − v ). (19.3) ter Umgebungsdruck auf den Herd stellen.

Wir haben vorher gesehen, dass die Freiheitsgrade des


Analog lassen sich alle anderen extensiven Zustandsgrö- Systems (z. B. p, T) mit der Anzahl der auftretenden
ßen (U, H, S, . . . ) bestimmen. Phasen zusammenhängen. Allgemein lässt sich dieser
19.1 Das Verhalten realer Stoffe 615

Tab. 19.1 Temperaturabhän- ϑ P v v h h s s


gigkeit von Sättigungsdruck P , in °C in bar in m3 /kg in m3 /kg in kJ/kg in kJ/kg in kJ/kg/K in kJ/kg/K
Sättigungstemperatur ϑ und wei- 0,0 0,0061 0,00100 206,3489 0,0 2500,5 0,0000 9,1545
teren spezifische Zustandsgrößen
5,0 0,0087 0,00100 147,1205 21,1 2509,7 0,0764 9,0234
auf den Grenzkurven für Wasser
10,0 0,0123 0,00100 106,3952 42,0 2518,9 0,1512 8,8985
15,0 0,0170 0,00100 77,9637 63,0 2528,1 0,2244 8,7793
20,0 0,0234 0,00100 57,8386 83,9 2537,3 0,2963 8,6652
25,0 0,0317 0,00100 43,4094 104,8 2546,4 0,3670 8,5561
30,0 0,0424 0,00100 32,9391 125,6 2555,5 0,4364 8,4516
35,0 0,0562 0,00101 25,2550 146,5 2564,5 0,5046 8,3514
40,0 0,0737 0,00101 19,5549 167,4 2573,5 0,5718 8,2553
45,0 0,0958 0,00101 15,2834 188,2 2582,4 0,6380 8,1631
50,0 0,1233 0,00101 12,0513 209,1 2591,3 0,7031 8,0745
55,0 0,1574 0,00101 9,5831 230,0 2600,1 0,7672 7,9893
60,0 0,1992 0,00102 7,6816 250,9 2608,8 0,8305 7,9074
65,0 0,2501 0,00102 6,2045 271,9 2617,4 0,8928 7,8286
70,0 0,3116 0,00102 5,0478 292,8 2625,9 0,9542 7,7526
80,0 0,4736 0,00103 3,4097 334,7 2642,5 1,0747 7,6088
90,0 0,7011 0,00104 2,3614 376,8 2658,7 1,1920 7,4749
100,0 1,0133 0,00104 1,6728 418,9 2674,4 1,3063 7,3500

Tab. 19.2 Druckabhängigkeit p ϑ v v h h s s


von Sättigungsdruck p , Sätti- in bar in °C in m3 /kg in m3 /kg in kJ/kg in kJ/kg in kJ/kg/K in kJ/kg/K

Thermodynamik
gungstemperatur ϑ und weiteren 0,01 6,95 0,00100 129,2093 29,3 2513,3 0,1058 8,9732
spezifischen Zustandsgrößen auf
0,03 24,10 0,00100 45,6775 101,0 2544,7 0,3543 8,5754
den Grenzkurven für Wasser
0,06 36,19 0,00101 23,7484 151,4 2566,7 0,5207 8,3283
0,08 41,54 0,00101 18,1107 173,8 2576,3 0,5922 8,2266
0,10 45,84 0,00101 14,6798 191,7 2583,9 0,6489 8,1480
0,30 69,12 0,00102 5,2308 289,1 2624,4 0,9435 7,7657
0,50 81,34 0,00103 3,2407 340,4 2644,7 1,0906 7,5903
0,80 93,51 0,00104 2,0870 391,6 2664,3 1,2325 7,4300
1,00 99,63 0,00104 1,6936 417,4 2673,8 1,3022 7,3544
2,00 120,23 0,00106 0,8852 504,6 2704,6 1,5295 7,1212
3,00 133,54 0,00107 0,6054 561,3 2723,2 1,6711 6,9859
4,00 143,63 0,00108 0,4621 604,5 2736,5 1,7758 6,8902
6,00 158,84 0,00110 0,3155 670,2 2755,2 1,9301 6,7555
8,00 170,41 0,00112 0,2403 720,6 2768,0 2,0448 6,6594
10,00 179,88 0,00113 0,1944 762,2 2777,5 2,1372 6,5843
20,00 212,37 0,00118 0,0996 908,0 2800,6 2,4455 6,3422
30,00 233,84 0,00122 0,0667 1007,8 2805,5 2,6438 6,1890
50,00 263,92 0,00129 0,0394 1154,0 2794,6 2,9189 5,9735
70,00 285,80 0,00135 0,0273 1267,0 2771,1 3,1202 5,8113
100,00 310,96 0,00145 0,0180 1407,1 2725,6 3,3584 5,6155
130,00 330,81 0,00157 0,0128 1530,5 2662,8 3,5579 5,4338
150,00 342,12 0,00166 0,0105 1609,1 2610,1 3,6818 5,3109
170,00 352,26 0,00178 0,0085 1690,7 2547,3 3,8073 5,1784
200,00 365,71 0,00205 0,0059 1823,6 2415,6 4,0096 4,9371

Zusammenhang durch die Gibbs’sche Phasenregel aus- Beispiel Wir betrachten einen reinen Stoff (also z. B.
drücken: CO2 ). Bei diesem Stoff liegen drei verschiedene Phasen
vor (fest, flüssig und gasförmig). Wir fragen uns nun, wie
F = K + 2 − P. (19.4) viele Freiheitsgrade das System besitzt?
Für das hier angegebene Beispiel haben wir:
In (19.4) gibt F die Anzahl der Freiheitsgrade frei wähl- Anzahl der Komponenten: K = 1,
barer intensiver Zustandsgrößen an, während K die
Anzahl der Phasen: P = 3,
Anzahl der Komponenten und P die Anzahl der auftre-
tenden Phasen angibt. Es ergibt sich also: F = K + 2 − P = 1 + 2 − 3 = 0.
616 19 Stoffe und deren thermodynamische Beschreibung – Materialgesetze

Tab. 19.3 Daten einiger aus- TK in K pK in bar vK in m3 /kg M in kmol/kg R in J/kg/K


gewählter Stoffe im kritischen Argon 150,86 48,98 1,867 · 10−3 39,95 208,13
Punkt
Ethan 305,42 48,84 4,864 · 10−3 30,07 276,51
Ethylen 282,37 50,2 4,587 · 10−3 28,05 296,38
Helium 5,201 2,28 1,436 · 10−2 4,00 2077,07
Kohlendioxid 304,21 73,83 2,145 · 10−3 44,01 188,92
Luft 132,51 37,66 3,195 · 10−3 28,95 287,20
Stickstoff 126,20 34,00 3,185 · 10−3 28,01 296,81
Sauerstoff 154,58 50,43 2,293 · 10−3 32,00 259,84
Wasserstoff 33,24 12,96 3,322 · 10−2 2,02 4124,26
Wasserdampf 647,10 220,64 3,106 · 10−3 18,02 461,51
Xenon 289,73 58,40 0,901 · 10−3 131,29 63,33

p kritischer p kritischer auf Drücke verdichtet, die oberhalb des kritischen Punk-
H2O Punkt CO2
Punkt tes liegen, so spricht man von einem überkritischen Fluid.
Für ein solches Fluid ist eine Unterscheidung zwischen
flüssig flüssig
fest fest
flüssiger und gasförmiger Phase nicht mehr möglich. Ob
es einen ähnlich ausgezeichneten Punkt auch für die
dampf- dampf-
förmig förmig
Schmelzdruckkurve gibt, ist bis heute nicht bekannt.
Tripelpunkt Tripelpunkt Tabelle 19.3 zeigt einige Werte ausgewählter Stoffe im
kritischen Punkt. Man erkennt deutlich, dass man für eini-
Thermodynamik

T T ge Stoffe schon bei Umgebungsbedingungen (pu = 1 bar,


a b Tu = 293 K) oberhalb der kritischen Temperatur liegt (wie
z. B. bei Helium). Bei anderen Stoffen sind die Umge-
Abb. 19.5 p,T -Diagramm für Wasser und Kohlendioxid bungsbedingungen noch deutlich unterhalb der Werte
der kritischen Temperatur (wie z. B. bei Wasserdampf).

Wir sehen, dass das System keine Freiheitsgrade hat. Zum Vergleich zeigt Abb. 19.5 auch noch ein p,T-
Dies bedeutet, dass es nur eine ausgewählte Kombina- Diagramm für Wasser. Wie man sieht, ist bei Wasser
tion von Druck und Temperatur gibt, für die alle drei (H2 O) die Grenzkurve zwischen den Zuständen fest und
Phasen für einen Reinstoff im Gleichgewicht existieren flüssig nach links geneigt. Dies zeigt, dass man bei ge-
können. Diesen ausgezeichneten Punkt bezeichnet man gebener Temperatur, Eis durch eine Druckerhöhung zum
als „Tripelpunkt“.  Schmelzen bringen kann (z. B. bei der Bewegung von
Gletschern). Bei Kohlendioxid ist dieselbe Kurve nach
Dieser Sachverhalt lässt sich für das oben gezeigte Bei- rechts gekrümmt, und ein solcher Prozess ist demnach
spiel des Stoffes Kohlendioxid sehr schön in einem p,T- unmöglich.
Diagramm darstellen. Den Zusammenhang zwischen Druck und Temperatur im
An (19.4) und Abb. 19.5 erkennt man, dass für den rei- Zweiphasengebiet (Abb. 19.3) kann man aus der Gleich-
nen Stoff (K = 1) im Zweiphasengebiet (z. B. Flüssigkeit- heit der spezifischen freien Enthalpien g = h − Ts berech-
Dampf) Druck und Temperatur nicht mehr unabhängig nen. Beim Phasengleichgewicht gelten hierbei die folgen-
voneinander wählbar sind. Für die Existenz dreier Pha- den Gleichgewichtsbedingungen:
sen ergibt sich wie oben gezeigt F = 0. Feste, flüssige und
gasförmige Phase liegen also für einen reinen Stoff nur in T = T , (19.6)

einem Punkt gemeinsam vor, dem sogenannten Tripel- p =p ,
punkt. Siede- und Taulinie laufen im kritischen Punkt
g = g .
zusammen. In diesem Punkt hat die Isotherme im p,V-
Diagramm eine Wendepunkttangente für V = VK , bzw.
mit v = V/m auch v = vK , und p = pK , T = TK (Sattel- Für die Änderung der spezifischen freien Enthalpien gilt
punkt, siehe auch Abb. 19.3), was man mathematisch für die flüssige und dampfförmige Phase:
folgendermaßen beschreiben kann:
   2  dg = v dp − s dT , (19.7)
∂p ∂ p
= 0, = 0. (19.5) dg = v dp − s dT .
∂v TK ∂v2 TK

Der kritische Punkt (Index K) ist ein ausgezeichnetes, Da sowohl die Drücke der flüssigen Phase p und der
spezifisches Merkmal eines jeden Stoffes. Wird das Fluid dampfförmigen Phase p , als auch die Temperaturen T ,
19.2 Zustandsgleichungen 617

T (T , p , T , p geben hierbei die Zustände der Tempe- Diese Gleichung lässt sich nun leicht integrieren, wenn
ratur auf der Siede- bzw. Taulinie an) im Phasenübergang wir die spezifische Verdampfungsenthalpie als konstant
gleich sind, folgt aus der Gleichheit der spezifischen freien und gleich r0 annehmen. Man erhält:
Enthalpie der flüssigen und der gasförmigen Phase, dass  
auch dg = dg ist. Damit ergibt sich mithilfe von (19.7) dp p r dp r dT r 1 1
= 2 0, = 0 2 , ln p − ln p0 = − 0 − ,
der Zusammenhang: dT T R p R T R T T0
  
r0 1 1
dp s − s p = p0 exp − .
= . (19.8) R T0 T
dT v − v
Dies ist die Steigung der Dampfdruckkurve, die man Hierbei ist p0 ein Bezugsdruck bei einer Bezugstempera-
auch als Clausius-Clapeyron’sche Gleichung bezeichnet. tur T0 . Man sieht an dieser Gleichung sehr gut, wie der
Sie gibt den Zusammenhang zwischen Temperatur und Druck mit der Temperatur bei der Verdampfung zusam-
Druck beim Verdampfungsprozess an, da ja beide Grö- menhängt. Obwohl wir viele einschränkende Annahmen
ßen nicht mehr unabhängig voneinander gewählt werden gemacht haben, stimmt die oben angegebene Gleichung
können (sie beschreibt also den Zusammenhang zwischen doch sehr gut mit der Realität überein. Der Leser kann
Sättigungstemperatur und Sättigungsdruck, den wir aus dies z. B. mithilfe der Tab. 19.1 und Tab. 19.2 selbst über-
Tab. 19.1 und Tab. 19.2 schon kennen). Da im Nassdampf- prüfen, indem er die Werte aus der hier hergeleiteten
gebiet eine isobare Zustandsänderung immer auch eine Gleichung mit den exakten Daten vergleicht! 
Isotherme ist, lässt sich die Entropiedifferenz in (19.8)
durch den zweiten Hauptsatz auch leicht durch eine Ent-
halpiedifferenz ausdrücken:
19.2 Zustandsgleichungen

Thermodynamik
dp 1 h − h 1 r
= = , r = h − h = T s − s ,
dT T v − v T v − v
(19.9) Wie schon vorher besprochen, versteht man unter der
thermischen Zustandsgleichung eine Beziehung zwi-
wobei r in (19.9) die spezifische Verdampfungsenthal- schen den Variablen p, V und T gemäß (19.1). Für den
pie darstellt. Einen ähnlichen Zusammenhang kann man realen Stoff ist dies eine komplizierte Fläche im Raum,
analog für den Phasenübergang fest-flüssig oder fest- die meist mathematisch schwierig zu beschreiben ist. Aus
gasförmig herleiten. diesem Grund ist es sinnvoll, zunächst Ableitungen die-
ser Fläche zu bestimmen. Diese sind wie folgt definiert
Beispiel Wie ändert sich der Sättigungsdruck in Ab-
hängigkeit von der Sättigungstemperatur bei der Ver- isobarer Ausdehnungskoeffizient:
dampfung? Leiten Sie aus (19.9) einen Zusammenhang    
1 ∂V 1 ∂v
unter der Annahme her, dass das spezifische Volumen β= = ,
V ∂T p v ∂T p
des Dampfes groß im Vergleich zu dem der Flüssigkeit
ist und, dass die spezifische Verdampfungsenthalpie als isochorer Spannungskoeffizient:
konstant betrachtet werden kann.  
1 ∂p (19.10)
γ= ,
Wir beginnen hierzu mit (19.9) p ∂T V
isothermer Kompressibiltätskoeffizient:
dp 1 h − h 1 r    
= = , r = h − h = T s − s . 1 ∂V 1 ∂v
dT T v − v T v − v χ=− =− .
V ∂p T v ∂p T
Vernachlässigen wir v im Vergleich zu v (da das spezi-
fische Volumen des Dampfes viel größer ist als das der
Flüssigkeit), und nehmen wir näherungsweise an, dass
wir den Dampf als ideales Gas beschreiben können (sie- Diese drei Größen bezeichnet man als isobaren Aus-
he Abschn. 19.3): dehnungskoeffizient β, isochoren Spannungskoeffizient
γ und als isothermen Kompressibilitätskoeffizienten χ.
RT Zwischen den drei Koeffizienten besteht der folgende all-
v =
p gemeine Zusammenhang:

so ergibt sich aus (19.9): β = p γ χ. (19.11)

dp 1 r 1 rp p r In Ergänzung zur thermischen Zustandsgleichung benö-


= = = 2 .
dT T v T RT T R tigt man weiterhin einen Zusammenhang zwischen der
618 19 Stoffe und deren thermodynamische Beschreibung – Materialgesetze

inneren Energie und den thermischen Zustandsgrößen, Wertet man (19.18) bei p = konst. aus, so findet man einen
um z. B. mithilfe des ersten Hauptsatzes die Temperatur- allgemeinen Zusammenhang zwischen den spezifischen
erhöhung bei der Zuführung einer gewissen Energiemen- Wärmekapazitäten cp und cv :
ge berechnen zu können. Einen Zusammenhang der Form
     
∂h ∂u ∂v
F2 (U, V, T ) = 0 bzw. U = U (V, T ) = cp = cv (v, T ) + +p
∂T p ∂v T ∂T p
bzw. u = u(v, T ) (19.12)
T v β2
= cv + . (19.19)
bezeichnet man als kalorische Zustandsgleichung (siehe χ
(18.39)). Allgemein gilt für einen Reinstoff:
      Man erkennt hieran, dass sich cp − cv berechnen lässt,
∂u ∂u ∂u wenn die thermische Zustandsgleichung eines Stoffes be-
du = dv + dT = dv + cv (v, T ) dT
∂v T ∂T v ∂v T kannt ist.
(19.13) Wir sehen also, dass man im Normalfall zwei Zustands-
gleichungen benötigt, um das Verhalten eines Stoffes
wobei cv als Abkürzung für den Differenzialkoeffizienten
beschreiben zu können, nämlich die kalorische und die
(∂u/∂T )v die spezifische Wärmekapazität bei konstan- thermische Zustandsgleichung. Allerdings ist es in spe-
tem Volumen eingeführt wurde. Aus dem ersten Haupt-
ziellen Fällen möglich, dass eine einzige Gleichung aus-
satz in der Form du = Tds − pdv nach (18.33) erhält man:
reicht, um die gesamten Stoffeigenschaften zu beschrei-
    ben. Solche Gleichungen bezeichnet man wegen ihrer
∂u ∂s
=T − p. (19.14) herausragenden Eigenschaften auch als kanonische Zu-
∂v T ∂v T standsgleichungen oder Fundamentalgleichungen, da
Thermodynamik

aus ihnen sowohl die thermische, als auch die kalorische


Hieraus ergibt sich mithilfe der Maxwell’schen Bezie-
Zustandsgleichung abgeleitet werden kann. Diese Art der
hungen nach Tab 18.3:
Zustandsgleichungen hatten wir schon im Kap. 18.6 ken-
    nengelernt.
∂u ∂p
=T − p. (19.15)
∂v T ∂T v
Frage 19.2
Nach (19.15) wird die Volumenabhängigkeit der kalori- Was ist eine Zustandsgleichung?
schen Zustandsgleichung (18.39) und (19.12) allein durch
Welche unterschiedlichen Arten von Zustandsgleichun-
die thermische Zustandsgleichung (19.1) bestimmt. Die
gen gibt es, und wie unterscheiden sie sich?
Temperaturabhängigkeit der kalorischen Zustandsglei-
chung wird nach (19.13) durch die isochore Wärmekapa-
zität festgelegt, d. h., die thermische Zustandsgleichung Zum Abschluss wollen wir noch die spezifische Entropie-
und die isochore Wärmekapazität zusammen enthalten änderung berechnen. Hierzu gehen wir von der totalen
(bis auf eine frei wählbare Stoffkonstante) die gleiche
Änderung der Größe aus:
Information, wie die Fundamentalgleichungen (siehe Ab-
schn. 18.6). Entsprechend zu (19.13) gilt für die spezifische    
∂s ∂s
Enthalpie: ds = dv + dT. (19.20)
∂v ∂T
      T v
∂h ∂h ∂h
dh = dp + dT = dp + cp (p, T ) dT Den ersten Term auf der rechten Seite der (19.20) kann
∂p T ∂T p ∂p T
man aus dem ersten Hauptsatz in der Form du = Tds −
(19.16) pdv nach (18.33) auch schreiben als:
wobei cp als Abkürzung für den Differenzialkoeffizienten    
∂s 1 ∂u p
(∂h/∂T )p die spezifische Wärmekapazität bei konstan- = + . (19.21)
tem Druck ist. Aus (19.13) folgt: ∂v T T ∂v T T
  Weiterhin folgt aus der oben angegebenen Form des ers-
du ∂u dv
= + cv (v, T ) . (19.17) ten Hauptsatzes nach (18.33) noch:
dT ∂v T dT
   
Mit der Definition der spezifischen Enthalpie (h = u + pv) ∂u ∂s
cv = =T . (19.22)
ergibt sich hieraus: ∂T v ∂T v
 
dh dp dv ∂u dv Diese Gleichung gibt uns die Steigung einer Isochoren im
−v −p = + cv (v, T ) . (19.18)
dT dT dT ∂v T dT T,s-Diagramm an. Ähnlich wie aus der Definition von cv
19.3 Das ideale Gas 619

T T Wertet man (19.10) für die thermische Zustandsgleichung


v = konst. p = konst. eines idealen Gases aus, so erhält man:
1 1 1
β= , γ= , χ= . (19.26)
T T p

Beispiel Wir wollen hier kurz zeigen, wie man die Dif-
T T ferenzialquotienten nach (19.10) recht einfach bestimmten
kann. Dies sei an der Berechnung des isobaren Ausdeh-
nungskoeffizienten β exemplarisch gezeigt. Wir schreiben
cv s cp s hierzu die thermische Zustandsgleichung zunächst in der
a b Form nach (19.1) an:

Abb. 19.6 Bestimmung der Wärmekapazitäten aus der Steigung der Isobaren pV − mRT = 0.
und der Isochoren in einem T,s -Diagramm
Nun leiten wir die Gleichung partiell nach der Tempera-
tur ab und halten den Druck konstant:
 
kann man auch cp aus der Steigung der Isobaren im T,s- ∂
(pV − mRT) = 0.
Diagramm bestimmen (Abb. 19.6). Für cp ergibt sich: ∂T p
   
∂h ∂s Hieraus folgt:
cp = =T . (19.23)    
∂T p ∂T p ∂V ∂V mR V
− mR = 0, = = .

Thermodynamik
p
∂T p ∂T p p T
Frage 19.3 Hieraus sieht man nun sofort, dass
Leiten Sie (19.23) her. Führen Sie hierzu die Enthalpie (h =  
u + pv) in (18.33) ein. 1 ∂V 1
β= =
V ∂T p T

Setzt man (19.21) in (19.20) ein, so erhält man eine Bestim- ist. Die hier gezeigte Methode des impliziten Diffe-
mungsgleichung für die spezifische Entropieänderung: renzierens ist hervorragend geeignet, um die einzelnen
    Differenzialquotienten auch für sehr komplexe Zustands-
1 ∂u p cv gleichungen auszuwerten. 
ds = + dv + dT. (19.24)
T ∂v T T T
Aus (19.13) sieht man, dass die innere Energie als ei-
Dies zeigt, dass man auch für die Bestimmung der Entro- ne Funktion von V und T dargestellt werden kann. Die
pie die thermische Zustandsgleichung und die Wärmeka- Volumenabhängigkeit von U ergibt sich aus dem so-
pazität benötigt. genannten Joule’schen Überströmversuch. Hierbei wird
ein gasgefüllter Druckbehälter plötzlich mit einem zwei-
ten, weitestgehend evakuierten Gefäß verbunden. Beide
Gefäße sind gut nach außen hin isoliert, um einen Wär-
19.3 Das ideale Gas meaustausch mit der Umgebung zu vermeiden. Da das
System während des Versuchs auch keine Arbeit nach
außen abgibt, muss seine innere Energie nach dem ers-
Für die thermische Zustandsgleichung eines idealen Ga-
ten Hauptsatz konstant bleiben. Man beobachtet nun für
ses kann man z. B. aus Versuchen, dimensionsanalyti-
ein ideales Gas, dass sich nach kurzer Zeit wieder die
schen oder gaskinetischen Überlegungen die folgende
ursprüngliche Temperatur einstellt. Dies bedeutet, dass
thermische Zustandsgleichung ableiten:
beim idealen Gas
 
∂U
pV = mRT, pv = RT, pV = nRm T (19.25) =0 (19.27)
∂V T
sein muss. Daraus folgt, dass die innere Energie des idea-
Diese Zustandsgleichung ist genau dann gültig, wenn die len Gases nur von der Temperatur abhängt, und man
Moleküle als Massepunkte ohne Ausdehnung, die nicht erhält aus (19.13):
miteinander wechselwirken, angesehen werden dürfen.  
∂U
Offenkundig ist dies näherungsweise der Fall, wenn Gase dU = dT = Cv (T ) dT = m cv (T ) dT. (19.28)
bei sehr geringer Dichte betrachtet werden. ∂T V
620 19 Stoffe und deren thermodynamische Beschreibung – Materialgesetze

Aus dieser Gleichung ergibt sich durch Integration: Dieser Ausdruck lässt sich integrieren und man erhält:
T   T
v cv (T̃ )
U − U (T = T0 ) = U − U0 = Cv (T̃ ) dT̃. (19.29) s − s0 = R ln + dT̃. (19.35)
v0 T̃
T0 T0

Für den Sonderfall, dass Cv = mcv konstant ist, erhält man Vielfach kann man die spezifische Wärmekapazität bei
für die innere Energie und für die spezifische innere Ener- konstantem Volumen als konstant betrachten. Damit er-
gie: gibt sich:
   
U − U0 = Cv (T − T0 ) = m cv (T − T0 ), v T
s − s0 = R ln + cv ln . (19.36)
u − u0 = cv (T − T0 ). (19.30) v0 T0

Frage 19.4 Verwendet man die thermische Zustandsgleichung des


Nehmen Sie an, dass für ein ideales Gas die spezifi- idealen Gases und die Beziehung cp = cv + R, so lässt sich
sche Wärmekapazität bei konstantem Volumen linear von die spezifische Entropiedifferenz s − s0 auch schreiben als:
der Temperatur abhängt (cv = a0 + a1 T). Welchen Zu-    
p v
sammenhang erhält man dann für die spezifische innere s − s0 = cv ln + cp ln
Energie nach (19.29)? p0 v0
   
T p
= cp ln − R ln . (19.37)
T0 p0
Für die spezifische Enthalpie des idealen Gases findet
man aus der Definitionsgleichung für h:
Thermodynamik

T
h = u + pv = cv (T̃ )dT̃ + u0 + RT 19.4 Das reale Gas
T0
T Die thermische Zustandsgleichung für das ideale Gas hat
= (cv (T̃ ) + R)dT̃ + u0 + RT0 , den Nachteil, dass sie für bestimmte Bedingungen ihre
T0 Gültigkeit verliert, etwa wenn sich bei hohem Druck die
Abstände der Moleküle verringern. Dies sieht man deut-
T
lich, wenn man bei (19.25) probiert für T = konst. den
h= cp (T̃ )dT̃ + h0 . (19.31) Druck p unendlich stark zu steigern. Hier würde man
T0 aus (19.25) das unsinnige Ergebnis erhalten, dass V → 0
geht. Dies kann aber nicht sein, da die Moleküle über
Für den Spezialfall cp = konst. ergibt sich:
ein Eigenvolumen verfügen. Weiterhin wurde auch die
h = cp (T − T0 ) + h0 . (19.32) Anziehung der Moleküle untereinander in (19.25) ver-
nachlässigt. Dies ist nur dann in Ordnung, wenn das
Für die Differenz der spezifischen Wärmekapazitäten Gas stark verdünnt vorliegt. Johannes Diderik van der
nach (19.19) erhält man für ein ideales Gas: Waals (1837–1923) führte 1873 eine einfache thermische
  Zustandsgleichung ein, die diese grundsätzlichen Effekte
∂v
cp (T ) − cv (T ) = p = R. (19.33) bei einem realen Fluid (Eigenvolumen, Anziehungskräf-
∂T p te zwischen den Molekülen) berücksichtigt. Diese Glei-
chung lautet:
Zum Abschluss wollen wir nun wieder die Entropieände-
rung für ein ideales Gas berechnen. Dazu gehen wir von
(19.24) aus:  a
p+ (v − b) = RT (19.38)
    v2
1 ∂u p cv
ds = + dv + dT.
T ∂v T T T
Da die innere Energie beim idealen Gas nicht von v In dieser Gleichung stellen a und b stoffspezifische Kon-
abhängt, verschwindet der erste Term in dem Klammer- stanten dar, die für jeden Stoff bestimmt werden müssen.
ausdruck auf der rechten Seite. Man erhält unter Verwen- Das spezifische Volumen v ist um das Eigenvolumen b
dung der thermischen Zustandsgleichung für das ideale der Moleküle verringert worden. Weiterhin wurde die
Gas: gegenseitige Beeinflussung der Moleküle in Form der Ko-
häsionskräfte berücksichtigt. Bei großer Entfernung der
R cv (T ) Moleküle voneinander (tiefer Druck) verschwinden Ko-
ds = dv + dT. (19.34)
v T häsionskräfte, bei kleinen Entfernungen (großer Druck)
19.4 Das reale Gas 621

Tab. 19.4 Konstanten a und b für die Van-der-Waals-Zustandsgleichung Bezieht man die Größen in (19.38) auf die Werte im kriti-
a in m2 /kg/s2 b in m3 /kg R in J/kg/K schen Punkt, so ergeben sich die sogenannten reduzierten
Argon 84,92 8,01 · 10−4 208,13 Variablen:
Ethan 616,06 2,16 · 10−3 276,51 p v T
Kohlendioxid 188,75 9,73 · 10−4 188,92 p̄ = , v̄ = , T̄ = . (19.41)
pK vK TK
Stickstoff 174,09 1,38 · 10−4 296,81
Sauerstoff 134,96 1,00 · 10−3 259,84 Setzt man diese Größen in (19.38) ein, so folgt:
Wasserstoff 6117,77 0,0132 4124,26  
3
p̄ + 2 (3v̄ − 1) = 8T̄. (19.42)

nehmen sie zu. Für Moleküle im Inneren eines Gases, Gleichung (19.42) zeigt den interessanten Sachverhalt,
die von anderen Molekülen umgeben sind, heben sich dass die Gleichung in dimensionsloser Form einen uni-
diese Kräfte auf, für die Moleküle an der Gasoberflä- versellen Charakter besitzt, also nicht mehr von den
che aber wirken sie einseitig nach innen, sodass nach stoffspezifischen Größen wie R, a und b abhängt. Wer-
außen (zur Wand) ein geringerer Druck auftritt. Die Ko- tet man für das Van-der-Waals-Gas (oder korrekterweise
häsionskraft, mit der ein Oberflächenmolekül nach innen Van-der-Waals-Fluid) die Beziehungen nach (19.10) aus,
gezogen wird, ist proportional der Dichte (ρ = 1/v). Wei- so ergibt sich:
terhin ist aber auch die Anzahl der Moleküle, die auf
eine Flächeneinheit der Oberflächenschicht entfallen, pro- (v − b)Rv2 Rv2
β= , γ = ,
portional zur Dichte. So wird eine Flächeneinheit der RTv3 − 2a(v − b)2 RTv2 − a(v − b)
Oberflächenschicht durch Molekülkräfte nach innen ge-
( v − b ) 2 v2
zogen und zwar mit einer Kraft, die proportional zum χ= . (19.43)

Thermodynamik
Quadrat der Dichte ist. Um diesen Betrag, der auch Bin- RTv3 − 2a(v − b)2
nendruck genannt wird, ist der allein messbare äußere
Frage 19.5
Gasdruck p geringer als der im Inneren des Gases herr-
Zeigen Sie, dass die in (19.43) angegebenen Größen β, γ
schende Druck pi , sodass pi = p + a/v2 .
und χ in die Beziehungen für das ideale Gas übergehen
Die beiden Konstanten a und b in (19.38) werden norma- (19.26), wenn man a und b gegen Null gehen lässt. Warum
lerweise aus der Bedingung gewonnen, dass die Isother- muss das so sein?
me durch den kritischen Punkt einen Sattelpunkt besitzt,
(19.5). Man erhält: oder unter Verwendung der reduzierten Größen nach
  (19.41):
∂p 2a RTK
=0= 3 − ,
∂v TK vK ( vK − b ) 2 8(3v̄ − 1)v̄2 v̄2
 2  βTK = , γTK = ,
∂ p 6a 2RTK 24T̄v̄3 − 6(3v̄ − 1)2 T̄ v̄2 − 3/8(3v̄ − 1)
=0=− 4 + . (19.39)
∂v TK
2 vK ( vK − b ) 3 (3v̄ − 1)2 v̄2
χpK = . (19.44)
24T̄v̄3 − 6(3v̄ − 1)2
Hieraus folgt ein Zusammenhang zwischen den Größen
im kritischen Punkt (vK , pK , TK ) und den Konstanten a Die Van-der-Waals-Zustandsgleichung nach (19.38) be-
und b: schreibt nur wenige Stoffe mit guter Genauigkeit. Aus
27 R2 TK 2 diesem Grund wurde (19.38) in der Vergangenheit er-
a = 3pK v2K = , weitert. Die erweiterten Zustandsgleichungen sind in
64 pK der Literatur unter dem Namen Van-der-Waals-Typ-
1 RTK Zustandsgleichungen bekannt (Löst man (19.38) nach
b = vK /3 = ,
8 pK dem Volumen auf, so erhält man eine kubische Glei-
pK vK 3 chung. Aus diesem Grund nennt man Van-der-Waals-
= . (19.40) Typ-Zustandsgleichungen auch kubische Zustandsglei-
RTK 8
chungen). Diese haben den folgenden allgemeinen funk-
tionalen Zusammenhang:
Da die hochgenaue Bestimmung von vK messtechnisch  
schwierig ist, werden die Konstanten a und b oft aus Mess- A
p+ 2 (v − B) = RT. (19.45)
werten von pK und TK bestimmt. Typische Werte für die v + CBv + DB2
Größen am kritischen Punkt sind in Tab. 19.3 angegeben.
In Tab. 19.4 sind für einige Stoffe noch die berechneten Für zwei heute häufig verwendete Zustandsgleichungen
Größen a und b für die Van-der-Waals-Zustandsgleichung nehmen die Konstanten A, B, C, D die Werte nach Tab. 19.5
zusammen mit der jeweiligen Gaskonstanten aufgelistet. an.
622 19 Stoffe und deren thermodynamische Beschreibung – Materialgesetze

Tab. 19.5 Parameter für die Gleichung A B C D


empirischen Zustandsgleichungen 2 
R2 TK √ 2 RT
vom Van-der-Waals-Typ, ω ist Soave-Redlich Kwong 0,42748 1 + fω (1 − T̄ 0,08664 K 1 0
der azentrische Faktor ω = pK pK
− log10 (pS /pK )T /TK =0,7 − 1,0 fω = 0,48 + 1,574ω − 0,176ω 2
2 
R2 TK √ 2 RTK
Peng-Robinson 0,45724 1 + fω (1 − T̄ 0,0778 2 −1
pK pK
fω = 0,3746 + 1,542ω − 0,2699ω 2

Darüber hinaus existiert natürlich noch eine große Viel- Für die spezifische Wärmekapazität bei konstantem Volu-
zahl von anderen Typen von thermischen Zustandsglei- men erhält man die Aussage:
chungen zur Beschreibung von realen Gasen. In der in-    
dustriellen Anwendung (z. B. auch für die Beschreibung ∂u ∂u a
cv = , = 2
des Gasverhaltens in modernen Motoren) verwendet man ∂T v ∂v T v
vielfach Beziehungen der Form ∂2 u ∂
⇒ =0= (cv ) = 0. (19.49)
pv = Z1 (p, T )RT (19.46) ∂v∂T ∂v
oder Dies bedeutet, dass auch für das Van-der-Waals-Gas cv
nur eine Funktion der Temperatur, nicht aber des spezifi-
pv B( T ) C(T )
= 1+ + 2 +... (19.47) schen Volumens ist. Für den Spezialfall eines konstanten
RT v v spezifischen cv ergibt sich aus (19.48):
Man nennt hierin die Größe Z1 (p,T ) den Realgasfaktor  
Thermodynamik

und die rechte Seite von (19.47) die Virialform der ther- a a
u − u0 = − + cv (T − T0 ). (19.50)
mischen Zustandsgleichung. Die Temperaturfunktionen v0 v
B(T ), C(T ), . . . bezeichnet man als Virialkoeffizienten.
Die Größen Z1 (p,T ), B(T ), C(T ), . . . findet man für ver- Aus (19.19) ergibt sich schließlich die kalorische Differenz
schiedene Gase in Tabellenwerken (siehe hierzu z. B. W. cp − cv :
Blanke (1989) Thermophysikalische Stoffgrößen, Sprin-    
∂u ∂v Tvβ2
ger). cp − cv = +p =
∂v T ∂T p χ
Die kalorischen Eigenschaften des Van-der-Waals-Gases
lassen sich wie folgt bestimmen. Wir beginnen unsere Un- R R
= = . (19.51)
tersuchungen mit (19.13): 2a(v−b)2 (3v̄−1)2
1− RTv3
1− 4T̄ v̄3
     
∂u ∂u ∂u
du = dv + dT = dv + cv (v, T ) dT. Frage 19.6
∂v T ∂T v ∂v T
Zeigen Sie, dass die kalorische Differenz cp − cv nach
(19.13) (19.51) für das ideale Gas gleich R wird!
Aus dem ersten Hauptsatz in der Form du = Tds − pdv
nach (18.33) erhält man:
    Zum Abschluss soll auch hier wieder die spezifische
∂u ∂s Entropiedifferenz berechnet werden. Wieder gehen wir
=T − p. (19.14) hierzu von (19.24) aus:
∂v T ∂v T
   
Hieraus erhält man mithilfe der Maxwell’schen Bezie- 1 ∂u p cv
ds = + dv + dT. (19.24)
hung nach Tab. 18.3: T ∂v T T T
   
∂u ∂p Der erste Term im Klammerausdruck auf der rechten Sei-
=T − p. (19.15)
∂v T ∂T v te der Gleichung ist durch (19.15) gegeben. Damit erhält
man unter Verwendung der thermischen Zustandsglei-
Nun lässt sich der Differenzialquotient (∂u/∂v)T mithil-
chung nach van der Waals:
fe der thermischen Zustandsgleichung bestimmen. Damit
ergibt sich für die spezifische innere Energie: a 1 cv R cv
ds = + p dv + dT = dv + dT. (19.52)
a v2 T T v−b T
du = dv + cv (v, T ) dT,
v2
Für cv = konst. ergibt sich:
  T (19.48)
a a    
u − u0 = − + cv (T̃ ) dT̃ . T v−b
v0 v s − s0 = cv ln + R ln . (19.53)
T0 T0 v0 − b
19.5 Der reale Stoff im Nassdampfgebiet 623

2,5 (hier käme es zu einer Volumenvergrößerung bei steigen-


T= dem Druck). Es sei hier aber darauf hingewiesen, dass
4,0 Teile des S-förmigen Verlaufs der Isothermen im Nass-
2,0
p 3,0 dampfgebiet auch in der Praxis beobachtet werden kön-
2,0 nen. Es handelt sich hierbei um „metastabile Zustände“
1,5 (siehe hierzu z. B. H. Vehkamäki (2006) Classical Nuclea-
tion Theory in Multicomponent Systems. Springer, Berlin,
1,5
K Heidelberg, New York). Untersuchen wir den Verlauf der
1,0 Isothermen oder Isobaren im Nassdampfgebiet, so gilt
1,0 nach (19.7) dass die spezifischen freien Enthalpien der
0,9
I II Flüssigkeit und des Dampfes gleich sind. Hieraus folgt:
0,5
0,7
g = g , u − u = −p(v − v ) + T (s − s ). (19.54)
0
0,5
Verwendet man in dieser Gleichung die Ausdrücke für
–0,5 die spezifische innere Energie und die spezifische Entro-
pie nach den Gleichungen (19.50), (19.53) so ergibt sich:
 a  
a
–1,0
v −b
p (v − v ) = − + RT ln . (19.55)
v v v − b
–1,5
0 1 2 3 4 5 6 7

Thermodynamik
v Die Gleichgewichtsbedingung nach (19.55) hat eine sehr
anschauliche Interpretation. Um dies zu sehen, werten
Abb. 19.7 Verlauf der Isothermen nach der Van-der-Waals-Gleichung in einem wir noch die umgesetzte Volumenänderungsarbeit im
p̄ ,v̄ -Diagramm Nassdampfgebiet bei einem Van-der-Waals-Gas aus:

v v v
Man sieht sehr schön an (19.53), dass im Gegensatz zu der RT a
pdv = dv − dv
Gleichung für das ideale Gas (19.36) in (19.53) das Eigen- v−b v2
v v v
volumen der Moleküle auftritt.   
v −b a a
= RT ln + − . (19.56)
v −b v v

19.5 Der reale Stoff Vergleicht man nun (19.55) mit (19.56), so sieht man sofort,
im Nassdampfgebiet dass gilt:

v
Die Beschreibung aller Größen für den realen Stoff im
pdv =p(v − v ). (19.57)
Nassdampfgebiet ist sehr einfach. Wir benutzen die schon
eingeführte Größe des Dampfgehaltes x. Damit hatten wir v
schon in (19.3) das spezifische Volumen berechnet. Alle re-
levanten Größen lassen sich analog berechnen. Hierin ist p(v − v ) die Fläche unter der Isothermen/
Es ist nun von besonderem Interesse zu untersuchen, Isobaren im Nassdampfgebiet, während das Integral die
inwieweit man die oben angegebene Van-der-Waals-Zu- Fläche unter der Isothermen des Van-der-Waals- Gases
standsgleichung benutzen kann, um auch das reale Ver- angibt. Man sieht, dass beide Flächen einander gleich
halten einer Substanz z. B. beim Vorgang der Verflüssi- sind. Dies motiviert die Einführung einer Verbindungs-
gung zu beschreiben. Dazu sehen wir uns den Verlauf geraden von I nach II, für die gilt, dass die Flächen
der Isothermen des Van-der-Waals-Gases nach (19.42) in oberhalb und unterhalb der Geraden einander gleich sein
einem p̄,v̄-Diagramm an. müssen. Diese Verbindungsgerade wird als Maxwell’sche
Gerade bezeichnet. Durch Einführung der Maxwell’schen
In Abb. 19.7 ist weiterhin der Verlauf der Phasengrenzkur- Geraden kann man somit auch das Verhalten im Nass-
ve und einiger ausgewählter Isothermen im Nassdampf- dampfgebiet beschreiben. Dies gilt ganz generell für jede
gebiet eingetragen. Man erkennt den S-förmigen Verlauf thermische Zustandsgleichung, die das Verhalten eines
der Isothermen für T̄ < 1. Hierin ist der aufsteigende Ast, realen Fluids in der Dampf- und der Flüssigkeitsphase
für den (∂p̄/∂v̄)T̄ > 0 ist, thermodynamisch nicht stabil gut wiedergibt.
624 19 Stoffe und deren thermodynamische Beschreibung – Materialgesetze

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 19.1 Wir gehen von der Definition der freien Hieraus folgt nun, dass
Enthalpie und der freien Energie aus und spalten diese
analog zum Volumen nach (19.3) in die Anteile der flüssi- 1
u − u0 = a0 (T − T0 ) + a1 (T − T0 )2
gen und dampfförmigen Phase auf:  2 
1
F = FFlüssigkeit + FDampf = a0 + a1 (T − T0 ) (T − T0 )
2
= m f + m f , f = f + x (f − f ),  
1
= cv a0 + a1 (T − T0 ) (T − T0 ) .
2
G = GFlüssigkeit + GDampf
= m g + m g , g = g + x (g − g ). Man erhält also das Ergebnis, dass man lediglich die spe-
zifische Wärme bei konstantem Volumen bei der mittleren
Temperatur (T + T0 )/2 nehmen muss.
Antwort 19.2 Eine Zustandsgleichung stellt den Zusam-
menhang zwischen thermischen und kalorischen Größen Antwort 19.5 Nach (19.43) gilt für die Größen.
her. Man unterscheidet zwischen thermischer Zustands-
gleichung (siehe (19.1)) und kalorischer Zustandsglei- (v − b)Rv2 Rv2
β= γ=
Thermodynamik

, ,
chung (siehe (19.12)). Aus einer kanonischen Zustands- RTv3 − 2a(v − b)2 RTv2 − a(v − b)
gleichung kann man die thermische und die kalorische ( v − b ) 2 v2
Zustandsgleichung ableiten. χ= .
RTv3 − 2a(v − b)2
Antwort 19.3 Zur Herleitung von (19.23) gehen wir wie Lassen wir a und b gegen Null gehen, so ergibt sich für β.
folgt vor: Der erste Hauptsatz nach (18.33) lautet:
du = Tds − pdv.
(v − b)Rv2 vRv2 1
β |a→0 = = = .
RTv − 2a(v − b)
3 2 RTv3 T
In diese Gleichung führen wir nun die Enthalpie ein und b→0
erhalten:
Für die Größe γ und χ erhält man:
dh = Tds − vdp.
Rv2 Rv2 1
Bilden wir nun den gewünschten Differenzialquotienten, γ |a→0 = = = ,
RTv2 − a(v − b) RTv2 T
so folgt: b→0

dh ds dp ( v − b ) 2 v2 v2 v2 v
=T −v . χ |a→0 = = = .
dT dT dT RTv − 2a(v − b)
3 2 RTv3 RT
b→0
Wertet man diese Gleichung bei p = konst. aus, so ergibt
sich: Aus der thermischen Zustandsgleichung, (19.38), für das
      Van-der-Waals-Fluid sieht man, dass v/(RT ) = 1/p ist,
∂h ∂s ∂p
=T −v . wenn a und b gegen null gehen. Damit ist gezeigt, dass
∂T p ∂T p ∂T p
! "# $ β, γ, χ in die Größen für das ideale Gas für diesen Fall
=0 übergehen. Dies liegt natürlich daran, dass auch die Zu-
standsgleichung nach van der Waals in die für das ideale
Hierin fällt also der letzte Term auf der rechten Seite weg;
Gas übergeht, wenn a und b gegen null gehen.
und wir erhalten (19.23).

Antwort 19.4 Wir gehen von (19.29) für spezifische Grö- Antwort 19.6 Aus (19.51) sehen wir, dass
ßen aus und setzen dort unseren Ansatz ein:
R
T T cp − cv = .
2a(v−b)2
u − u0 = cv (T̃ ) dT̃ = a0 + a1 T̃ dT̃ 1− RTv3
T0 T0
Für ein ideales Gas gilt a = b = 0. Lassen wir in die-
1 ser Gleichung a und b gegen null gehen, so erhalten wir
= a0 (T − T0 ) + a1 (T − T0 )2 .
2 cp − cv = R, also den Zusammenhang für ein ideales Gas.
Aufgaben 625

Aufgaben

Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer).
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

19.1 • Leiten Sie die Beziehung nach (19.11) her, in- 19.4 •• Es soll angenommen werden, dass das ther-
dem Sie das totale Differenzial des Druckes als Funktion mische Verhalten eines Systems mit der Masse 1 kg in
von T und v bilden. Werten Sie diesen Ausdruck dann für einem gewissen Zustandsbereich durch die thermische
p = konst. aus! Zustandsgleichung
 
19.2 • Zeigen Sie aus dem ersten Hauptsatz, dass B
pv = RT 1 −
für ein ideales Gas für v = konst. (cv = konst.) q12 = vT
cv (T2 − T1 ) und für p = konst. (cp = konst.), q12 =
cp (T2 − T1 ) gilt! wiedergegeben wird (Rankine, 1854).
1. Wie lautet die thermische Zustandsgleichung
19.3 •• Berechnen Sie anhand der in folgender Tabel-

Thermodynamik
Φ (p, V, T )für eine beliebige Masse m?
le angegebenen Zustandsvariablen für Wasser die Koeffi-
2. Leiten Sie durch Differenzieren die Funktionen β(p, V ),
zienten β, γ und χ für die Zustände 5 und 17. Ersetzen
γ(p, V ) und χ(p, V ) her!
Sie dabei die Differenzialquotienten vereinfachend durch
3. Kontrollieren Sie die Ergebnisse!
Differenzenquotienten.

Zustand Druck Temperatur Dichte


p in bar ϑ in °C ρ in kg/m3
1 flüssig 90 40 996,12
2 flüssig 90 50 991,97
3 flüssig 90 60 987,07
4 flüssig 100 40 996,61
5 flüssig 100 50 992,36
6 flüssig 100 60 987,46
7 flüssig 110 40 997,01
8 flüssig 110 50 992,75
9 flüssig 110 60 987,95
11 gasförmig 21 370 7,32
12 gasförmig 21 380 7,20
13 gasförmig 21 390 7,08
14 gasförmig 21 400 6,96
15 gasförmig 21 410 6,85
16 gasförmig 22 390 7,42
17 gasförmig 22 400 7,30
18 gasförmig 22 410 7,18
19 gasförmig 23 390 7,77
20 gasförmig 23 400 7,64
21 gasförmig 23 410 7,51
22 gasförmig 23 420 7,40
23 gasförmig 23 430 7,28
Anwendungen der
Hauptsätze der
20
Thermodynamik
Was ist der thermische
Wirkungsgrad im
Carnot-Prozess?
Wie berechnet man
einfache
Zustandsänderungen von
Gasen?
Wie beschreibt man die
adiabate Drosselung eines
Gases?

Thermodynamik
Wie berechnet man
Zustandsänderungen in
Gasgemischen?
Wie berechnet man
Zustandsänderungen realer
Stoffe im
Nassdampfgebiet?

20.1 Der Carnot-Prozess als idealer Kreisprozess . . . . . . . . . . . . . . . 628


20.2 Ideale Gase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631
20.3 Reale Gase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639
20.4 Der reale Stoff im Nassdampfgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 627


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_20
628 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik

In diesem Kapitel werden Anwendungen der in Kap. 18 dargestell- p s = konst. T


Q23 THK
ten Hauptsätze für einfache Systeme diskutiert. Der Schwerpunkt s = konst.
THK Q23
des Kapitels liegt auf der Darstellung von Beispielen mit realen 2 3 2 3
und idealen Gasen. Für reale Gase wird vereinfachend voraus- T = konst.

gesetzt, dass die Van-der-Waals-Zustandsgleichung ausreichend


genau ist, um das Fluidverhalten zu beschreiben. Diese Annahme 1 4
ist unproblematisch, da bei Bedarf nach höherer Genauigkeit die 1 4 T = konst. TKK Q41
TKK Q41
Zustandsgleichung ausgetauscht werden kann, die hier beschrie-
bene Vorgehensweise jedoch identisch bleibt. Zum Abschluss des V S
Kapitels werden noch einfache Beispiele von realen Stoffen im a b
Nassdampfgebiet gezeigt.
Abb. 20.1 Rechtslaufender Carnot Kreisprozess im a p ,V -Diagramm und im
b T ,S -Diagramm

20.1 Der Carnot-Prozess als idealer


und gibt die Wärme Q41 an einen anderen Wärmebehälter
Kreisprozess (die Umgebung bzw. Kaltkörper) ab. Auch dieser Wär-
mebehälter soll eine konstante Temperatur haben. Damit
Zunächst wollen wir uns einen für die Thermodyna- haben wir dann wieder den Ausgangszustand 1 erreicht.
mik wichtigen Kreisprozess, den Carnot-Prozess, genauer Wendet man den ersten Hauptsatz der Thermodynamik
ansehen. Die hier vorgestellten Aussagen gelten für be- auf den oben dargestellten Kreisprozess an, so erhält man
liebige Arbeitsmedien. Hierbei werden wir sehen, dass z. B. aus (18.7):
Thermodynamik

der Carnot-Prozess den bestmöglichen thermischen Wir-


    
kungsgrad hat.
dU = δW + δQ bzw. δW = − δQ. (20.1)
In Kap. 17 wurde schon kurz auf Kreisprozesse einge-
gangen. Dies sind wiederholend ablaufende Prozesse, bei Da das geschlossene Kurvenintegral der Zustandsgröße
denen das Arbeitsmedium nach dem Durchlaufen einer U gleich null wird, erhält man die Aussage, dass beim
Reihe von Zustandsänderungen wieder den ursprüng- Kreisprozess die Summe aller zu- und abgeführten Arbei-
lichen Zustand erreicht. Wie im 17. Kapitel festgestellt, ten und Wärmen gleich null ist. Werten wir (20.1) für den
muss für einen solchen Prozess immer gelten, dass das Carnot-Prozess aus, so ergibt sich:
geschlossene Kurvenintegral jeder Zustandsgröße gleich
null wird: W12 + W23 + W34 + W41 + Q23 + Q41 = 0 (20.2)

dZ = 0. (17.1) da bei den reversibel adiabaten Zustandsänderungen
keine Wärme übertragen wird. Das Verhältnis von ab-
Kreisprozesse spielen eine äußerst wichtige Rolle in tech- geführter Arbeit (Nutzen) zu der zugeführten Wärme
nischen Anwendungen (z. B. Otto- und Diesel-Motoren). (Aufwand) bezeichnet man bei einem rechtslaufenden
Wir werden diese Prozesse im nächsten Kapitel noch ge- Kreisprozess als den thermischen Wirkungsgrad:
nauer untersuchen. Hier wollen wir uns zunächst einem,
W12 + W23 + W34 + W41
für die Thermodynamik wichtigen Kreisprozess zuwen- ηth = −
den und zwar dem Carnot-Prozess. Dieser Prozess, der Q23
in Abb. 20.1 in einem p,V- und in einem T,S-Diagramm Q23 + Q41 (−Q41 )
dargestellt ist, besteht aus je zwei reversibel adiabaten = = 1− . (20.3)
Q23 Q23
und isothermen Zustandsänderungen. Zunächst erfolgt
eine reversibel adiabate Verdichtung vom Zustand 1 in Die Wärmen Q23 und Q41 können für die isothermen Zu-
den Zustand 2. Hierzu muss die Arbeit W12 aufgewandt standsänderungen direkt über die entsprechenden Tem-
werden. Danach wird das Gas durch eine isotherme Ex- peraturen und die Entropiedifferenzen ausgedrückt wer-
pansion vom Zustand 2 in den Zustand 3 gebracht. Dabei den. Wie man leicht aus Abb. 20.1 ersieht, sind die Entro-
nimmt das Gas die Wärme Q23 auf und gibt die Ar- piedifferenzen hierbei betragsmäßig gleich, und man er-
beit W23 ab. Wir stellen uns vor, dass die aufgenommene hält aus (20.3):
Wärme Q23 von einem Wärmebehälter (Heißkörper) ab-
gegeben wird, der eine konstante Temperatur hat. Danach (−Q41 ) T (S − S1 ) T
ηth = 1 − = 1− 1 4 = 1 − 1 . (20.4)
wird vom Zustand 3 in den Zustand 4 reversibel adiabat Q23 T2 (S3 − S2 ) T2
entspannt. Bei dieser Zustandsänderung wird die Arbeit
W34 abgegeben. Nun wird vom Zustand 4 in den Zustand Dieser thermische Wirkungsgrad der Carnot-Maschine
1 isotherm verdichtet. Dabei nimmt das System Arbeit auf stellt den maximal erreichbaren Wert dar. Man sieht dies
20.1 Der Carnot-Prozess als idealer Kreisprozess 629

sehr schön, wenn man die Gleichung für die maximal ge- Ersetzt man noch das Verhältnis der Wärmen durch (20.7),
winnbare Arbeit (Exergie) nach (18.58) für ein stationäres so erhält man schließlich:
System mit einem Wärmebehälter (und unterer Tempera-  
tur der Umgebung Tu ) auswertet. Man erhält dann für 1 T 1
ΔSges = −Q41 − 2 . (20.10)
die Exergie der Wärme einen Zusammenhang zwischen TKK T1 THK
maximal gewinnbarer Arbeit und zugeführter Wärme
entsprechend zu: Die (20.10) zeigt uns anschaulich, dass die Gesamt-
  entropieerhöhung in der Realität immer größer als
T
−Wex = 1 − u Q23 . (20.5) null ist, wenn es endliche Unterschiede zwischen den
T2 Wärmebehälter- und den Prozesstemperaturen gibt. Die
Gesamtentropiedifferenz strebt nur dann gegen null,
Dass die Entropiedifferenzen ΔS23 und ΔS41 in (20.4) be-
wenn die Temperatur T2 , bei der die Wärme aufgenom-
tragsmäßig gleich sind, erkennt man auch sofort aus:
men wird, gleich der Temperatur THK des oberen Wärme-
ΔSProzess = ΔS23 + ΔS41 = 0. (20.6) behälters wird und weiterhin die Temperatur T1 , bei der
die Wärme abgegeben wird, gleich der Temperatur TKK
Die Entropieänderung für den gesamten Kreisprozess ist des unteren Wärmebehälters wird. Da es in diesem Fall
also gleich null, da die Entropie eine Zustandsgröße ist keine Temperaturdifferenzen bei der Wärmeübertragung
und (17.1) hier greift. Damit ergibt sich sofort die Gleich- zwischen Heißkörper und Prozess sowie Prozess und
heit der Beträge der Entropiedifferenzen. Kaltkörper gibt, würde der Wärmeübergang aber in die-
sem Fall unendlich lange dauern. Da im theoretischen Fall
der verschwindenden Temperaturdifferenzen beim Wär-
Der bestmögliche thermische Wirkungsgrad ist der
meübergang dieser Prozess zu keiner Entropieänderung

Thermodynamik
einer Carnot-Maschine. Er ist gegeben durch:
führt, ist der Carnot-Kreisprozess somit der bestmögliche
Prozess, um Wärme in Arbeit zu wandeln. Er hat als theo-
Tmin
ηth = 1 − . retischer Vergleichsprozess eine große Bedeutung in der
Tmax Thermodynamik, denn er gibt uns Aufschluss über die
thermodynamische Güte anderer Prozesse, die bei glei-
Daraus erhält man auch die maximal gewinnbare
chen Heißkörper- und Kaltkörpertemperaturen ablaufen.
Arbeit (Exergie) für ein stationäres System, bei dem
der untere Wärmebehälter gerade die Umgebung ist.
Frage 20.1
Wie groß ist der thermische Wirkungsgrad einer Carnot-
Da die beiden Zustandsänderungen zwischen 2 → 3 und Maschine, die zwischen 1200 K und 300 K betrieben wird?
4 → 1 isotherm ablaufen, lassen sich die Entropiedifferen- Wie groß ist die Gesamtentropieerhöhung dieser Maschi-
zen in (20.6) leicht berechnen, und man erhält: ne, wenn der Heißkörper eine Temperatur von 1400 K und
Q23 Q der Kaltkörper (Umgebung) eine Temperatur von 283 K
+ 41 = 0. (20.7) hat und eine Wärme Q41 = −2000 J an die Umgebung ab-
T2 T1
gegeben wird?
Eine Wärme dividiert durch eine Temperatur bezeichnet
man als reduzierte Wärme. An (20.7) sieht man, dass
die Summe der reduzierten Wärmen für diesen rever- Bei der hier angestellten Betrachtung zum thermischen
siblen Prozess gleich null ist. Betrachten wir nun noch Wirkungsgrad und den Entropiedifferenzen des Carnot-
die Entropieänderung für den gesamten Prozess. Hier- Prozesses sind wir von einem allgemeinen Arbeitsme-
bei müssen die beiden Wärmebehälter (Heißkörper (HK) dium ausgegangen. Deshalb gelten die hier gemachten
und Kaltkörper (KK)) mit betrachtet werden. Die Gesamt- Aussagen ganz allgemein für beliebige Stoffe und nicht
entropieerhöhung ist gegeben durch: nur für ideale Gase.
ΔSges = ΔSKK + ΔSHK + ΔSProzess . (20.8)
Frage 20.2
Die beiden Entropieänderungen der Wärmebehälter las- Welchen thermischen Wirkungsgrad hätte die Carnot-
sen sich leicht berechnen, wenn man beachtet, dass die Maschine aus der letzten Frage, wenn sie vollständig
Wärmebehälter jeweils eine konstante Temperatur haben. reversibel arbeiten könnte und somit die obere Tempera-
Es ergibt sich: tur der Heißkörpertemperatur und die untere Tempera-
  tur der Umgebungstemperatur entsprechen würde? Wie
−Q41 −Q23 1 Q23 1
ΔSges = + = −Q41 + . unterscheidet sich dieser thermische Wirkungsgrad von
TKK THK TKK Q41 THK dem aus Frage 20.1?
(20.9)
630 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik

Vertiefung: Die reduzierten Wärmen und der 2. Hauptsatz der Thermodynamik

Gehen wir nun noch einmal zurück zu (20.7), die uns gleichen oberen und unteren Prozesstemperaturen ar-
eine Beziehung zwischen den reduzierten Wärmen im beiten. Eine der Maschine arbeitet reibungsfrei. Die
Prozess angibt. Wir betrachten nun einen allgemeinen zweite arbeitet reibungshaftet. Dann hat natürlich die
Kreisprozess im T,S-Diagramm. reibungsbehaftet arbeitende Maschine einen kleineren
thermischen Wirkungsgrad als die reversibel arbeiten-
T de Maschine (vergleiche hierzu auch die Frage 20.2). Es
δQA
gilt also:

ηth,irrev < ηth,rev . (20.13)

Für die reibungsbehaftete Maschine berechnen wir den


thermischen Wirkungsgrad nach (20.3) zu:

δQB (−Q41,irrev )
ηth,irrev = 1 − . (20.14)
Q23,irrev
S
In dieser Gleichung weist der Index „irrev“ noch ein-
Abb. 20.2 Allgemeiner reversibler Kreisprozess im T ,S -Diagramm
mal darauf hin, dass die Wärmen beim irreversibel
arbeitenden Prozess auftreten. Für die irreversibel ar-
Thermodynamik

Diesen reversiblen Kreisprozess können wir durch beitende Maschine gilt also nicht die Gleichheit dieses
beliebig viele „Carnot-Teilprozesse“ annähern (Abb. Ausdruckes mit den Temperaturen nach (20.4), das be-
20.2). Das zeigt uns, dass für jeden der „Carnot-Teil- deutet, dass für die irreversibel arbeitende Maschine
prozesse“ natürlich die Summe der reduzierten Wärmen nicht gleich null
ist!
δQA δQB
+ =0 (20.11) Für die reversibel arbeitende Maschine können wir
TA TB
hingegen (20.4) benutzen:
sein muss. Summieren wir nun alle reduzierten Wär-
T1
men aller „Carnot-Teilprozesse“ auf, so finden wir, ηth,rev = 1 − . (20.15)
dass das Umlaufintegral T2
 Setzen wir nun (20.3) und (20.4) in (20.13) ein, so ergibt
δQrev
=0 (20.12) sich:
T
Q23,irrev Q
sein muss. Dies zeigt, dass die in (20.7) definierte Größe + 41,irrev < 0. (20.16)
der reduzierten Wärme für den betrachteten reversi- T2 T1
blen Kreisprozess eine Zustandsgröße sein muss! Wir
Die Gleichung (20.16) zeigt uns sehr schön, dass für
kennen diese Zustandsgröße schon aus Kap. 18 und
den irreversibel arbeitenden Prozess die Summe der
haben sie dort als Entropie kennengelernt.
reduzierten Wärmen nicht mehr gleich null ist. Es ist
vielmehr so, als ob dem Prozess „etwas Wärme fehlt“.
δQrev
dS = .
T Betrachten wir nun zum Abschluss unserer Überlegun-
gen einen beliebigen Kreisprozess, der sich aus einem
Unsere oben dargestellten Überlegungen gelten für re- reversibel ablaufenden Anteil und einem irreversibel
versible Prozesse, weshalb wir den Index „rev“ bei ablaufendem Teil zusammensetzt. Dieser Prozess ist
der Wärme verwendet haben. Vergleichen wir nun schematisch in Abb. 20.3 in einem T,S-Diagramm dar-
zwei Carnot-Maschinen miteinander, die zwischen den gestellt.
20.2 Ideale Gase 631

T Das Integral von 1 nach 2 in (20.17) ist gerade gleich


reversibel
der Entropiedifferenz S2 − S1 . Damit erhält man:
1
1
δQirrev.
< S2 − S1 . (20.18)
2 T
2

irreversibel Ist der Prozess adiabat, so folgt:

S S2 > S1 . (20.19)

Abb. 20.3 Reibungsbehafteter Kreisprozess im T ,S -Diagramm Ist der Prozess vollständig reversibel, so hat man:

Bilden wir wieder das Umlaufintegral von δQ/T, so er- S2 = S1 . (20.20)


gibt sich:
Damit hat uns die Betrachtung der reduzierten Wär-
 2 1
δQ δQrev δQirrev men beim Carnot-Prozess wieder auf die Aussagen des
= + < 0. (20.17) zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik geführt, die
T T T
1 2 wir schon in Abschn. 18.3 ausführlich diskutiert haben.

Thermodynamik
20.2 Ideale Gase p
1 2
T

Im Kap. 19 wurden die thermischen und kalorischen Ei- 2


genschaften des idealen Gases vorgestellt. Hier sollen nun WV,12
einige Anwendungsbeispiele betrachtet werden, für die 1
das Medium als ideales Gas betrachtet werden kann. Q12 = H2 – H1

V1 V2 V S1 S2 S
a b
Einfache Zustandsänderungen idealer Gase
Abb. 20.4 Isobare Zustandsänderung im a p ,V -Diagramm und im b T ,S -
lassen sich durch einen allgemeinen Diagramm
Zusammenhang beschreiben

Wir gehen zunächst von einem reinen Gas aus. Für dieses
können sich nach (19.1) die thermischen Zustandsgrößen V1 T v1 T
p, V und T ändern. Für diese einfachen Zustandsände-
= 1 bzw. = 1. (20.21)
V2 T2 v2 T2
rungen des Systems nehmen wir nun an, dass eine dieser
Größen konstant gehalten wird. Weiterhin wollen wir Aus dem ersten Hauptsatz für ein geschlossenes System,
auch noch den Fall eines adiabaten Systems (δQ = 0) in (18.8), folgt:
diesem Abschnitt betrachten. Es wird angenommen, dass
U2 − U1 = WV,12 + Q12 bzw.
bei den Zustandsänderungen nur Volumenänderungsar-
beit auftritt. Die dadurch möglichen vier Zustandsände- u2 − u1 = wV,12 + q12 . (20.22)
rungen werden im Folgenden kurz betrachtet. Für die Volumenänderungsarbeit nach (17.8) ergibt sich
für eine isobare Zustandsänderung:
Die isobare Zustandsänderung (p = konstant)
2
Bei der isobaren Zustandsänderung bleibt der Druck kon- WV,12 = − pdV = −p(V2 − V1 ) bzw.
stant. In Abb. 20.4 ist eine solche Zustandsänderung 1
beispielhaft in einem p,V- und in einem T,S-Diagramm wV,12 = −p(v2 − v1 ). (20.23)
dargestellt. Zunächst folgt aus der thermischen Zustands-
gleichung (19.25) für die Zustandsänderung zwischen Dies verdeutlicht, dass die Fläche unter der Zustandsän-
dem Zustand 1 und dem Zustand 2: derung vom Zustand 1 zum Zustand 2 im p,V-Diagramm
632 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik

p T p T
1 1 2
2
2

Q12 = WV,12
1 2
1
WV,12
Q12 = U2 – U1

V S1 S2 S V1 V2 V S1 S2 S
a b a b

Abb. 20.5 Isochore Zustandsänderungen im a p ,V -Diagramm und im b T ,S - Abb. 20.6 Isotherme Zustandsänderungen im a p ,V -Diagramm und im b T ,S -
Diagramm Diagramm

der Volumenänderungsarbeit entspricht (Abb. 20.4). Setzt Das bedeutet, dass die zugeführte Wärme ausschließ-
man (20.23) in (20.22) ein, so folgt: lich zu einer Erhöhung der inneren Energie des Systems
benutzt wird. Ist die spezifische Wärmekapazität bei kon-
2 stantem Volumen konstant, so folgt:
Q12 = U2 − U1 + p(V2 − V1 ) = H2 − H1 = m cp (T ) dT.
1 u2 − u1 = q12 = cv (T2 − T1 ). (20.29)
(20.24)
Thermodynamik

Die Entropieänderung bei dieser Zustandsänderung lässt


Dies zeigt, dass bei einem isobaren Prozess die zugeführte sich mithilfe von (19.37) für ein ideales Gas mit cv =
Wärme zur Erhöhung der Enthalpie führt. Ist die spezifi- konst. bestimmen. Man erhält:
sche Wärmekapazität bei konstantem Druck konstant, so  
folgt: T2 T2
S2 − S1 = mcv ln bzw. = exp [(s2 − s1 )/cv ] .
T1 T1
Q12 = mcp (T2 − T1 ) bzw. q12 = cp (T2 − T1 ). (20.25) (20.30)
Die Entropieänderung bei dieser Zustandsänderung lässt Damit ist auch der Verlauf der Isochoren im T,S-
sich mithilfe von (19.37) für ein ideales Gas mit cp = Diagramm bestimmt (siehe auch (19.22)). Dieser ist in
konst. bestimmen. Man erhält: Abb. 20.5 eingetragen. Man sieht durch Vergleich von
  (20.26) und (20.30), dass die Isobare im T,S-Diagramm fla-
T2
S2 − S1 = mcp ln bzw. cher verläuft als die Isochore, da cv generell kleiner ist als
T1
cp . Dieser Sachverhalt gilt nicht nur für ein ideales Gas,
T2  
= exp (s2 − s1 )/cp . (20.26) sondern ganz allgemein.
T1
Damit ist auch der Verlauf der Isobaren im T,S-Diagramm Die isotherme Zustandsänderung (T = konstant)
bestimmt. Dieser ist in Abb. 20.4 eingetragen.
Hier bleibt die Temperatur konstant. Aus (19.25) folgt für
diese Zustandsänderung:
Die isochore Zustandsänderung (V = konstant)
p1 V p1 v
Bei der isochoren Zustandsänderung bleibt das Volumen = 2 bzw. = 2. (20.31)
konstant. Aus (19.25) folgt für diese Zustandsänderung: p2 V1 p2 v1

p1 T
= 1. (20.27) Die Volumenänderungsarbeit bei der isothermen Zu-
p2 T2 standsänderung lässt sich aus (17.8) berechnen:

Da das Volumen sich nicht ändert, ist die Volumenände- 2 2  


1 V2
rungsarbeit gleich null, und man erhält aus (20.22): WV,12 = − pdV = −mRT dV = −mRT ln .
V V1
1 1
2
(20.32)
U2 − U1 = Q12 bzw. u2 − u1 = q12 = cv (T ) dT.
1 Da für das ideale Gas die innere Energie nur von der
(20.28) Temperatur abhängt (siehe (19.28)), ist die Änderung der
20.2 Ideale Gase 633

inneren Energie bei dieser Zustandsänderung gleich null. p T


1
Aus dem ersten Hauptsatz, (20.22), folgt dann sofort: 1
 
V2
WV,12 = −Q12 = −mRT ln bzw.
V1
  2
2
v2
wV,12 = −q12 = −RT ln . (20.33) WV,12
v1

Diese Gleichung erhält man auch aus der Beziehung V1 V2 V S


a b
Q12 = T (S2 − S1 ) für die isotherme Zustandsänderung.
Abb. 20.7 Reversible adiabate Zustandsänderung im a p ,V -Diagramm und im
b T ,S -Diagramm
Frage 20.3
Bei einer isothermen, isobaren und isochoren Zustands-
änderung eines idealen Gases wird jeweils die gleiche
dass κ für ein reales Gas eine allgemeine Funktion von T
Wärme Q12 zugeführt. Bei welcher Zustandsänderung er-
gibt sich die maximale Entropiedifferenz? Begründen Sie und v ist):
Ihre Antwort. Hinweis: Man findet die Lösung dieser cp
Frage leicht, wenn man die einzelnen Zustände in ein T,S- κ= . (20.38)
cv
Diagramm einträgt.
Eliminiert man aus (20.37) noch die Temperatur mithilfe
der thermischen Zustandsgleichung, so folgt schließlich:

Thermodynamik
Die adiabate Zustandsänderung (Q12 = 0) p2 vκ2 = p1 vκ1 , bzw. pV κ = konst. (20.39)
Bei der adiabaten Zustandsänderung wird keine Wärme Da der Adiabatenexponent κ stets größer als eins ist,
mit der Umgebung ausgetauscht. Für diesen Fall lautet verläuft die Adiabate im p,V-Diagramm steiler als die Iso-
der erste Hauptsatz in differenzieller Form: therme.
dU = δWV,12 bzw. du = δwV,12 . (20.34) Betrachten wir nun die Entropieänderung entlang einer
Adiabaten für ein ideales Gas, (19.36). Dazu vergleichen
Setzen wir in (20.34) die Definition der Volumenände- wir den Ausdruck auf der rechten Seite von (19.36) mit
rungsarbeit nach (17.8), bzw. die Beschreibung der inne- (20.36) für ein konstantes cv . Man sieht sofort, dass für
ren Energie nach (19.28) ein, so folgt die hier betrachtete Adiabate die Entropieänderung gleich
null ist. Man spricht deshalb auch von einer reversiblen
cv (T ) dT = −p dv. (20.35) Adiabaten. Hätten wir bei der adiabaten Zustandsände-
rung nicht nur die Volumenänderungsarbeit berücksich-
In (20.35) muss nun noch der Druck p aus der thermischen tigt, sondern z. B. auch Reibungsarbeit, so wäre es natür-
Zustandsgleichung (19.25) ersetzt werden, damit man die lich zu einer Änderung der Entropie bei dieser adiabaten
Gleichung integrieren kann. Damit erhält man: Zustandsänderung gekommen. Abbildung 20.7 stellt die
reversibel adiabate Zustandsänderung im p,V- und T,S-
2   Diagramm dar.
dT dv dT v1
cv (T ) = −R bzw. cv (T ) = R ln . Die Fläche unterhalb der Zustandsänderung vom Zu-
T v T v2
1 stand 1 zum Zustand 2 kennzeichnet im p,V-Diagramm
(20.36) wiederum die Volumenänderungsarbeit und im T,S-
Diagramm die übertragene Wärme, die hier gleich null
Setzen wir cv = konst. voraus, so lässt sich das Integral in ist.
(20.36) leicht bestimmen, und es ergibt sich:

     (κ − 1 )
 Die polytrope Zustandsänderung
T2 v1 T2 v2
cv ln = R ln bzw. ln (κ − 1 )
=0 Bei der reversibel adiabaten Zustandsänderung wird kei-
T1 v2 T1 v1 ne Wärme übertragen. Bei der isothermen Zustandsände-
(κ − 1 ) (κ − 1 ) rung wird hingegen die gesamte übertragene Wärme in
bzw. T2 v2 = T1 v1 , (20.37) Volumenänderungsarbeit umgesetzt. Beide Zustandsän-
derungen lassen sich durch die allgemeine Zustandsbe-
wobei der Adiabatenexponent κ wie in (20.38) definiert ziehung
ist (Für ein reales Gas kann man allgemein zeigen, dass
κ = −(cp /cv )(v/p) (∂p/∂v)T ist. Dies bedeutet aber auch, pvn = konst. bzw. pV n = konst. (20.40)
634 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik

Abb. 20.8 Verlauf verschie- p T


polytrop
dener Zustandsänderungen im
a p ,v - und im b T ,s -Diagramm n=κ γ = cn

γ=0
γ = cv
n=1
γ = cp

n=0 γ
1 1
pv n = konst. s – γlnT = konst.
a v b s

beschreiben, wobei für die reversibel adiabate Zustands-


änderung n = κ zu setzen ist, während bei der isothermen indem man einfach den Exponenten n variiert. Man
Zustandsänderung n = 1 ist. In vielen technischen An- erhält allgemein:
wendungen wird die Zustandsänderung weder vollstän-
dig adiabat, noch vollständig isotherm ablaufen, sodass Isobare: n=0
es sich als sehr sinnvoll erwiesen hat, eine Zustandsän- Isochore: n→∞
(20.44)
derung nach (20.40) einzuführen, um technische Prozesse Isotherme: n=1
zu beschreiben. Diese Zustandsänderung bezeichnen wir Reversibel Adiabate: n=κ
als eine polytrope Zustandsänderung. Die Darstellung
Thermodynamik

dieser Beziehung in anderen Zustandsgrößen erfolgt ge- Dieser Sachverhalt ist in Abb. 20.8 in einem p,v- und
nauso wie bei der adiabaten, und man erhält: in einem T,s-Diagramm dargestellt
Im T,s-Diagramm kann man alle Zustände durch
Tvn−1 = konst. bzw. T p−(n−1)/n = konst.. (20.41)
den Zusammenhang s − γ ln T = konst. beschreiben,
wobei γ die in Abb. 20.8 gezeigten Werte annimmt.
Für diese Zustandsänderung lässt sich die Volumenände-
rungsarbeit nach (17.8) berechnen. Man erhält:

2 2
Eine übersichtliche Zusammenstellung der Änderungen
1 aller Größen für die hier besprochenen Zustandsänderun-
WV,12 = − pdV = −p1 V1n dV
Vn gen eines idealen Gases findet sich in Tab. 20.1.
1 1
%   n− 1 &
p1 V1 V1
=− 1− . (20.42)
n−1 V2
Wie sich Gemische idealer Gase
Setzt man dieses Ergebnis in den ersten Hauptsatz nach thermodynamisch beschreiben lassen
(20.22) ein, so ergibt sich für die übertragene Wärme für
cv = konst.:
Bei vielen technischen Prozessen besteht das Arbeitsme-
n−κ dium aus einem Gemisch von Gasen (z. B. bei der Ver-
Q12 = mcv (T2 − T1 ) = mcn (T2 − T1 ), wendung von Luft). Nachfolgend wird gezeigt, wie sich
n−1
solche Gemische thermodynamisch beschreiben lassen.
n−κ
cn = cv . (20.43)
n−1
Definitionen
In dieser Gleichung wurde die spezifische Wärmekapa-
zität bei einer polytropen Zustandsänderung durch cn Bevor wir die Zustandsgleichungen und Zustandsände-
gekennzeichnet. rungen für Gemische idealer Gase besprechen, sollen zu-
nächst einige allgemeine Definitionen angegeben werden.
Gemische aus zwei Gasen bezeichnet man als binäre Ge-
Es ist nun sehr interessant festzustellen, dass alle mische, haben sie drei Komponenten, so bezeichnet man
in diesem Abschnitt behandelten Zustandsänderun- sie als ternäre Gemische. Gemische mit vielen Komponen-
gen durch den funktionalen Zusammenhang nach ten bezeichnet man als polynäre Gemische. Nimmt man
(20.40) (pvn = konst.) beschrieben werden können, an, dass sich K verschiedene Komponenten in dem Ge-
samtsystem befinden, so ergibt sich die Gesamtmasse m
20.2 Ideale Gase 635

Tab. 20.1 Zustandsbeziehungen für ein ideales Gas


Isotherme Isobare Isochore reversibel Adiabate Polytrope
T = konst. p = konst. v = konst. δq = 0 pvn = konst.
p1 v1κ = p2 v2κ p1 vn1 = p2 vn2
Beziehung
T1 v1κ −1 = T2 v2κ −1 T1 vn1 −1 = T2 vn2 −1
v1 T1 p1 p2
zwischen p1 v1 = p2 v2 v2 = T2 T1 = T2
Zuständen 1 κ/ ( κ − 1) κ/ ( κ − 1) n/ (n− 1) n/ (n− 1)
und 2 T1 T2 T1 T2
p1 = p2 p1 = p2
p1 v1 p1 v1κ p1 vn1
p, v p= v p = p1 v = v1 p= vκ p= vn

T κ/(κ −1) T n/(n−1)


p1 p1 p1
p, T T = T1 p = p1 p= T1 T p= κ/ ( κ − 1) p= n/ (n− 1)
T1 T1

v1 T1 v1κ −1 T1 vn1 −1
v, T T = T1 v= T1 T v = v1 T= vκ −1
T= vn − 1
q12 = cv nn− κ
p1
q12 q12 = p1 v1 ln p2 q12 = cp (T2 − T1 ) q12 = cv (T2 − T1 ) q12 = 0 − 1 ( T2 − T1 )
  κ −1   n − 1 
p1 v1 v1 p1 v1 v1
wV,12 wV,12 = −q12 wV,12 = −p1 (v2 − v1 ) wV,12 = 0 wV,12 = κ −1 v2 −1 wV,12 = n −1 v2 −1
       
s2 − s1 = cv nn− κ
p1 T2 T2 T2
s2 − s1 s2 − s1 = R ln p2 s2 − s1 = cp ln T1 s2 − s1 = cv ln T1 s2 − s1 = 0 −1 ln T1

aus den Einzelmassen der Komponenten mi zu: Zustandsgleichungen für Gemische idealer Gase
K Wir betrachten nun ein Gemisch idealer Gase, das aus

Thermodynamik
m= ∑ mk . (20.45) K Komponenten besteht. Nach der Hypothese von Dal-
k=1 ton wirkt ein Gemisch idealer Gase in einem Behälter
so auf die Wände, als ob die Komponenten unabhängig
Entsprechendes gilt für die Gesamtmolmenge des Stoffes
voneinander vorhanden wären. Dies ist plausibel, da bei
n, wenn die Molmenge des i-ten Stoffes ni ist:
idealen Gasen keinerlei Wechselwirkungen zwischen den
K Molekülen vorliegen und die Komponenten sich nicht ge-
n= ∑ nk . (20.46) genseitig beeinflussen können. Nehmen wir also an, dass
k=1 jede Komponente des Gemisches das gesamte Volumen
Der Massenanteil ξ i des i-ten Stoffes und der Molanteil (V) ausfüllt und dass alle Komponenten im thermischen
ψi des i-ten Stoffes sind durch die folgenden Definitionen Gleichgewicht miteinander stehen, also alle die gleiche
gegeben: Temperatur haben, so kann man für die i-te Komponen-
te des Gemisches und auch für das gesamte Gemisch die
mi ni thermische Zustandsgleichung (19.25) schreiben als:
ξi = , ψi = . (20.47)
m n
pi V = mi Ri T, pi V = ni Rm T, pV = mRG T. (20.51)
Summiert man die Molanteile oder die Massenanteile
über alle Komponenten auf, so muss die Summe natür- Summiert man nun über alle Komponenten des Gemi-
lich immer eins ergeben. Dies folgt sofort aus (20.45) und sches, so erhält man:
(20.46). Der Partialdruck pi der Komponente i wird durch
K
die folgende Gleichung definiert, wobei p der Gesamt-
druck des Gemisches ist: ∑ pk = p, (20.52)
k=1
pi = ψi p. (20.48) 1 K K
RG = ∑
m k=1
m k Rk = ∑ ξ k Rk . (20.53)
Die mittlere Molmasse des Gemisches ist definiert durch: k=1
K Es ist also ersichtlich, dass man für das ideale Gasge-
∑ Mk nk K misch einfach eine mittlere spezifische Gaskonstante des
m k=1
MG =
n
=
n
= ∑ ψk Mk . (20.49) Gemisches definieren kann und damit die thermische
k=1 Zustandsgleichung eines Gemisches identisch ist zu der
Zwischen den Molanteilen und den Massenanteilen be- thermischen Zustandsgleichung eines reinen Stoffes. Wei-
steht der folgende Zusammenhang: terhin erkennt man aus (20.52), dass beim Einsetzen der
Definitionsgleichung für den Partialdruck nach (20.48)
Mi ni Mi diese Gleichung identisch erfüllt wird.
ξi = = ψ. (20.50)
K MG i
∑ Mk nk Die kalorischen Eigenschaften von Gemischen idealer Ga-
k=1 se lassen sich auch sehr einfach ableiten. Hierzu bestim-
636 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik

Leitbeispiel Antriebsstrang
Der Diesel-Prozess als Kreisprozess mit einem Idealen Gas
und im Vergleich mit dem Carnot-Prozess

p T
q23 THK
q23 THK 3
2 3

2
p = konst. 4

v = konst.
s = konst. 4

q41 TKK
q41 TKK
1 1
Thermodynamik

v s
a b
Diesel-Prozess im a p ,v - und b T ,s -Diagramm

Wir wollen auch hier wieder einen Bezug zu unse- Wir nehmen nun an, dass wir die Gase im Motor als
rem Leitbeispiel herstellen. Im Abschnitt „der Carnot- ideale Gase betrachten können und dass cv und cp kon-
Prozess als idealer Kreisprozess“ hatten wir festge- stant sind. Wir wollen nun auch bei diesem Prozess den
stellt, dass der Carnot- Prozess den besten thermischen thermischen Wirkungsgrad berechnen:
Wirkungsgrad erreicht. Hier liegt nun die Frage nahe,
wie hier andere, technisch wichtige Kreisprozesse ab- w12 + w23 + w34 + w41 q + q41
ηth = − = 23
schneiden. Aus diesem Grund wollen wir noch einmal q34 q23
einen Kreisprozess eines Verbrennungsmotors etwas (−q41 )
genauer betrachten. Wir wählen hierzu den Diesel- = 1− .
q23
Prozess und weisen darauf hin, dass dieser Prozess im
Kap. 21 auch noch einmal behandelt wird.
Die zugeführte spezifische Wärme q23 wird bei kon-
Beim Diesel-Prozess wird der Brennstoff nach der re- stantem Druck und die abgeführte spezifische Wärme
versibel adiabaten Verdichtung der angesaugten Luft q41 wird bei konstantem Volumen übertragen. Damit
(1 → 2) eingespritzt. Hierbei bewegt sich der Kolben ergibt sich:
nach unten während der Verbrennungsvorgang ab-
läuft, sodass man eine Gleichdruckverbrennung errei- (−q41 )
ηth = 1 −
chen kann. Die Wärmezufuhr (2 → 3) wird also isobar q23
angenommen. Wir denken uns hierzu wieder einen cv (T4 − T1 ) 1 (T4 − T1 )
Heißkörper konstanter Temperatur, der die notwendi- = 1− = 1− .
cp (T3 − T2 ) κ (T3 − T2 )
ge Wärme bereitstellt. Nach der reversibel adiabaten
Entspannung (3 → 4) wird das Ausstoßen der Abgase
als isochore Wärmeabgabe (4 → 1) an die Umgebung Der thermische Wirkungsgrad lässt sich nun in Ab-
(Kaltkörper) behandelt. Nach der Verbrennung liegt hängigkeit des Verdichtungsverhältnisses ε und des
der Zustandspunkt 3 des Diesel-Prozesses vor. Die obi- Einspritzverhältnisses ϕ berechnen (siehe hierzu auch
ge Abbildung zeigt den Prozessverlauf in einem p, v- Kap. 21). Beim Diesel-Prozess verläuft die Verbren-
und in einem T, s-Diagramm. nung bei konstantem Druck:
20.2 Ideale Gase 637

v1 v3 Prozess:
ε= , ϕ= . κR
v2 v2 q23,Diesel = cp (T3 − T2 ) = (T3 − T2 )
κ−1
Man erhält:
= 1004,5(1547,8 − 979,6) J/kg
ϕκ − 1 = 570,76 kJ/kg.
ηth = 1 − .
κ εκ −1 ( ϕ − 1)
Diese zugeführte spezifische Wärme soll für den
Carnot-Prozess gleich groß sein:
Zum Vergleich des Diesel-Prozesses mit dem vorher
beschriebenen Carnot-Prozess sehen wir uns nun noch q23, Carnot = 570,76 kJ/kg.
ein Beispiel an:
Die spezifischen Wärmen, die bei beiden Prozessen an
Wir nehmen an, dass ein Diesel-Prozess und ein Carnot- die Umgebung abgegeben werden, können aus den
Prozess zwischen den gleichen minimalen und maxi- thermischen Wirkungsgraden der Prozesse berechnet
malen Temperaturen arbeiten. Beide Prozesse werden werden:
mit dem als ideal zu betrachtenden Gas Luft Gemisch
(κ = 1,4, R = 287 J/(kg K)) betrieben. Wir wollen weiter q41,Diesel = −(1 − ηth,Diesel )q23 = −208,89 kJ/kg,
annehmen, dass zwischen der konstanten Heißkörper- q41,Carnot = −(1 − ηth,Carnot )q23 = −119,86 kJ/kg.
temperatur und der obersten Prozesstemperatur 30 K
Unterschied herrschen. Ebenfalls haben wir 30 K Un- Damit ergibt sich nun für jeden Prozess die spezifische
terschied zwischen der niedrigsten Prozesstemperatur Gesamtentropieerhöhung nach (20.8) zu:
und der Temperatur des Kaltkörpers, der durch die Um- Δsges = ΔsKK + ΔsHK + ΔsProzess .

Thermodynamik
gebung gegeben ist. Die vier Zustandspunkte haben
beim Dieselprozess die folgenden Zustandsgrößen: Die spezifische Entropieänderung für beide Kreispro-
zesse ist gleich null und man erhält:
Zustandspunkte beim Diesel-Prozess
−q41 −q23
Δsges = ΔsKK + ΔsHK = + ,
Zustandspunkt 1 2 3 4 TKK THK
p (bar) 1 48,5 48,5 1,9
T (K) 323,15 979,6 1547,8 613,1 wobei TKK = TU = 293,15 K und THK = 1577,8 K ist.
v (km3 /kg) 0,92744 0,05797 0,09159 0,92610 Damit ergibt sich:
−q41 −q23
Δsges, Diesel = +
Es soll nun zunächst der thermische Wirkungsgrad bei- TKK THK
der Prozesse miteinander verglichen werden. 208,89 −570,76
= + = 350,8 J/(kg K),
Für den Carnot-Prozess erhalten wir aus (20.4): 293,15 1577,8
−q41 −q23
Tmin 323,15 Δsges, Carnot = +
ηth,Carnot = 1 − = 1− = 0,79. TKK THK
Tmax 1547,8 119,86 −570,76
= + = 47,1 J/(kg K).
Für den Dieselprozess ergibt sich aus den oben ange- 293,15 1577,8
gebenen Gleichungen:
Hieran erkennt man die deutlich größere spezifische
v1 0,92744 v4 Entropieerhöhung bei dem Diesel-Prozess. Dies liegt
ε= = = 16, ϕ= = 10,1. natürlich daran, dass die hier angenommene Wär-
v2 0,05797 v3
meübertragung vom Heißkörper, der eine konstante
ϕκ − 1
ηth,Diesel = 1 − κ −1 Temperatur besitzt, bei sehr viel größeren Temperatur-
κ ε ( ϕ − 1) unterschieden während der Zustandsänderung statt-
(10,1)1,4 − 1 findet als beim Carnot-Prozess. Berechnen wir nun
= 1− = 0,634. noch zum Schluss die spezifischen Arbeiten beider
1,4(16)0,4 (10,1 − 1)
Prozesse als Differenz der zu- und abgeführten spezifi-
Hieran erkennen wir zunächst den deutlich größeren schen Wärmen. Es ergibt sich:
thermischen Wirkungsgrad des Carnot-Prozesses.
wCarnot = 450,9 J/kg,
Nun wollen wir die Frage beantworten, wie groß die wDiesel = 361,87 J/kg.
spezifische Gesamtentropieerhöhung bei beiden Pro-
zessen ist, wenn wir voraussetzen, dass die beiden die In der Box für das Leitbeispiel in Kap. 21 werden wir
gleiche spezifische Wärme vom Heißkörper zur Verfü- dann noch auf einen Vergleich des Diesel-Prozesses mit
gung gestellt bekommen. Man erhält für den Diesel- dem Otto-Prozess näher eingehen.
638 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik

men wir zunächst die innere Energie und die Enthalpie Isolation Trennwand
des Gemisches aus den einzelnen Anteilen der Kompo-
nenten (für konstante Werte von cv und cp ). Man erhält:
VI, pI = pII VII, pII
K K K
UG = ∑ Uk = ∑ mkuk = ∑ cvk mk T,
k=1 k=1 k=1
K K K a
HG = ∑ Hk = ∑ mkhk = ∑ cpk mkT. (20.54)
k=1 k=1 k=1
p = pI = pII
Hieraus folgt für die spezifischen Wärmekapazitäten ei- V = VI + VII
nes Gemisches:
K
cvG = ∑ cvk ξ k , b Isolation Trennwand
k=1
K Abb. 20.9 Irreversible Vermischung zweier Gase
cpG = ∑ cpk ξ k . (20.55)
k=1
Zur Berechnung der Entropieänderung gehen wir von der
Aus allen oben stehenden Gleichungen wird klar, dass
Definitionsgleichung der Entropie aus (18.20). Für den
man Gemische idealer Gase ganz genauso behandeln
vorliegenden Prozess müssen wir also eine gedachte, re-
kann, als ob man es mit einem reinen idealen Gas zu tun
Thermodynamik

versibel übertragene Wärme berechnen. Allerdings tritt


hätte. Damit stellen die hier vorgestellten Gleichungen
bei diesem Beispiel nach außen hin keine Wärme auf, da
eine Ergänzung der im Kap. 19 angegebenen Zustands-
die Wände des Behälters adiabat sind.
gleichungen für ideale Gase dar. Zum Abschluss wollen
wir uns nun noch die Änderung der Entropie bei der Ver- Beachtet man aber, dass der gesamte Prozess isotherm ab-
mischung von idealen Gasen genauer ansehen. läuft, so findet man aus dem ersten Hauptsatz für das
Gesamtsystem, (20.22):
Frage 20.4
Luft kann als ein Gemisch idealer Gase betrachtet wer- Q12 −WV,12
Q12 = −WV,12 bzw. S2 − S1 = = .
den. Das Gemisch setzt sich zusammen aus den Volu- T T
menanteilen 78 % Stickstoff (M = 28,013 kg/kmol), 21 % (20.56)
Sauerstoff (M = 31,999 kg/kmol) und rund 1 % Argon
(M = 39,948 kg/kmol). Berechnen Sie die Gaskonstante Damit müssen wir nur noch die ebenfalls gedachte über-
von Luft. tragene Arbeit bestimmen, um die Entropieänderung für
die Vermischung zu erhalten. Diese ergibt sich für die
isotherme Zustandsänderung gemäß (20.32), indem man
Entropieerhöhung bei der Vermischung idealer Gase sich vorstellt, dass man z. B. zwei Kolben im System hat,
die die Trennwand in Abb. 20.9 bilden. Diese Kolben sind
Die Vermischung von Gasen ist ein irreversibler Prozess, jeweils nur halbdurchlässig für genau die Gasart in der
bei dem die Entropie ansteigt. Dieser Prozess ist weiterhin Kammer. Zieht man die Kolben nach rechts bzw. links,
ein sehr gutes Beispiel zur Demonstration der Vorgehens- so entsteht allmählich eine Kammer mit dem gesamten
weise zur Berechnung von Entropiedifferenzen. Volumen, und die Gasmoleküle mischen sich. Für die Vo-
Wir wollen die Berechnung der Entropieerhöhung nach- lumenänderungsarbeit erhält man:
folgend für ein binäres Gemisch zeigen. Beide Gase sind    
V V
zunächst in zwei separaten Kammern mit den Volumi- −WV,12 = pI VI ln + pII VII ln . (20.57)
na VI und VII eingeschlossen (siehe Abb. 20.9), die durch VI VII
eine Wand voneinander getrennt sind. Der Behälter ist
nach außen hin gut isoliert. Beide Gase (Index I, II) ha- Damit ergibt sich für die Entropieerhöhung:
ben die gleiche Temperatur TI = TII = T und stehen unter    
dem gleichen Druck pI = pII = p. Zum Zeitpunkt t = 0 S2 − S1 =
1
pI VI ln
V
+
1
pII VII ln
V
. (20.58)
wird die Trennwand entfernt, und die Gase mischen sich T VI T VII
irreversibel. Die beiden Gase nehmen nun das gesamte
Volumen V ein. Da es sich bei beiden Stoffen um ideale Für den realen Mischungsprozess kompensieren sich ge-
Gase handelt, bleibt die Temperatur während des Mi- rade die gedachte Wärme und die gedachte Arbeit, sodass
schungsprozesses konstant. der Mischungsprozess isotherm verläuft.
20.3 Reale Gase 639

Isolation Drosselstelle Energien zwischen Eintritt und Austritt zu vernachlässi-


gen ist (dies gilt generell, wenn die Geschwindigkeiten im
p1 p2 < p1
Rohr nicht zu groß sind), so ergibt sich:
m m
T1 T2
h1 = h2 bzw. dh = 0. (20.62)
Diese Gleichung zeigt uns, dass die Enthalpie bei einer
adiabaten Drosselung konstant bleibt. Diese Zustands-
Abb. 20.10 Adiabate Drosselung eines kontinuierlich strömenden Gases in ei-
änderung bezeichnet man deshalb auch als isenthalpe
nem Rohr
Zustandsänderung. Da beim idealen Gas die Enthalpie
nur von der Temperatur abhängt (siehe (19.32)), folgt so-
fort:
Da am Anfang die Drücke gleich waren (pI = pII = p),
erhält man unter Verwendung der thermischen Zustands- T1 = T2 . (20.63)
gleichung für ideale Gase für jede Komponente nach
(19.25) schließlich: Das hier beschriebene Experiment bezeichnet man als den
Joule-Thomson-Versuch. Es soll hier noch erwähnt wer-
S2 − S1 = Rm (n ln n − nI ln nI − nII ln nII ) (20.59) den, dass aus (20.62) nur für das ideale Gas sofort (20.63)
folgt. Für ein reales Gas kann sich die Temperatur sehr
oder für K verschiedene Gaskomponenten:
wohl bei einer adiabaten Drosselung ändern. Dies wird
 
K im nächsten Abschnitt dieses Kapitels ausführlich disku-
S2 − S1 = Rm n ln n − ∑ nk ln nk . (20.60) tiert.
k=1
Für diese isotherme Zustandsänderung lässt sich die spe-
Die Entropiedifferenz nach (20.60) kann man auch einfach

Thermodynamik
zifische Entropieerhöhung für ideale Gase mithilfe von
formal berechnen, indem man die beiden Gaskompo- (19.36) berechnen. Man erhält:
nenten einzeln betrachtet und für jede Komponente die    
Entropieerhöhung bei der isothermen Expansion nach v2 p1
s2 − s1 = R ln = R ln . (20.64)
(19.37) bestimmt. v1 p2

Bei der adiabate Drosselung 20.3 Reale Gase


bleibt die Enthalpie konstant
Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wurden verschiedene
Anwendungsbeispiele für ideale Gase diskutiert. Im fol-
Als ein Beispiel zur Anwendung der im Kap. 18 darge-
genden Abschnitt werden einige Beispiele für ein reales
stellten Hauptsätze auf ein offenes System, wollen wir
Gas behandelt. Um die grundsätzliche Vorgehensweise
im Folgenden eine adiabate Drosselstelle in einem Rohr
zu demonstrieren, wird die Van-der-Waals-Gleichung zur
betrachten. Die Drosselstelle entsteht z. B. dadurch, dass
Beschreibung des Verhaltens des Gases herangezogen.
wir einen porösen Pfropfen oder auch eine Blende in das
Rohr einbringen. Durch diese Einbauten kommt es zu ei-
ner Druckabsenkung von p1 im Bereich der Einströmung
auf p2 im Bereich der Ausströmung. Einfache Zustandsänderungen realer Gase
Zur Untersuchung des hier dargestellten offenen Systems
gehen wir vom ersten Hauptsatz nach (18.3) aus. Beachtet Wiederum gehen wir von einem einkomponentigen Gas
man, dass die gleiche Masse pro Zeit links ins Rohr ein- aus. Für dieses können sich nach (19.1) die thermischen
strömt wie sie rechts das Rohr wieder verlässt, dass es bei Zustandsgrößen p, V und T ändern. Genau wie für das
dem gut nach außen isolierten Rohr keinen Wärmestrom ideale Gas behandeln wir hier die Zustandsänderungen
nach außen gibt und auch, dass bei unserem Beispiel kei- bei denen p, V oder T konstant gehalten werden und eine
ne technische Arbeit aus dem System entnommen wird, reversibel adiabate Zustandsänderung.
so erhält man aus (18.3):
c2 Die isobare Zustandsänderung (p = konstant)
h+ + gz = konst. bzw.
2 Für die isobare Zustandsänderung findet man aus der
c2 c2 thermischen Zustandsgleichung (19.38)):
h1 + 1 + gz1 = h2 + 2 + gz2 . (20.61)
2 2 RT a RT1 RT2 a a
− = konst., = − + 2.
Setzen wir nun weiterhin voraus, dass keine Höhenunter- v − b v2 v1 − b v2 − b v22 v1
schiede auftreten, und dass die Änderung der kinetischen (20.65)
640 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik

Man erkennt sofort aus (20.65), dass für den Fall a = b = 0 Die Volumenänderungsarbeit bei der isothermen Zu-
die Beziehung (20.21) für das ideale Gas erhalten wird. standsänderung lässt sich wieder aus (17.8) berechnen:
Für die Volumenänderungsarbeit nach (17.8) ergibt sich
2 2  
wieder (20.23), da ja der Druck konstant bleibt. Verwendet RT1 a
man den ersten Hauptsatz nach (20.22), so folgt mithilfe wV,12 = − pdv = − − 2 dv
v−b v
von (19.50) für ein Van-der-Waals-Gas mit cv = konst.: 
1

1

q12 = u2 − u1 + p(v2 − v1 ) = h2 − h1 v −b a a
= RT1 ln 1 − +
a a v2 − b v2 v1
= − + cv (T2 − T1 ) + p(v2 − v1 ). (20.66)    
v1 v2 v1 − b a a
bzw. WV,12 = m RT1 ln − + .
Man erkennt, dass im Unterschied zum idealen Gas die v2 − b v2 v1
ersten zwei Summanden auf der rechten Seite hinzuge- (20.72)
kommen sind. Aus dem ersten Hauptsatz, (20.22), folgt für die übertra-
Die Entropieänderung bei dieser Zustandsänderung lässt gene spezifische Wärme:
sich mithilfe der Gleichung (19.53) bestimmen, indem  
v2 − b
man die Temperatur mithilfe der thermischen Zustands- q12 = −wV,12 + u2 − u1 = RT1 ln . (20.73)
v1 − b
gleichung ersetzt. Man erhält:
    Für die Entropiedifferenz bei dieser Zustandsänderung
T2 v2 − b
s2 − s1 = cv ln + R ln . (20.67) ergibt sich schließlich aus (19.53):
T1 v1 − b  
v2 − b
s2 − s1 = R ln . (20.74)
Die isochore Zustandsänderung (V = konstant) v1 − b
Thermodynamik

Bei der isochoren Zustandsänderung bleibt das Volumen


konstant. Aus (19.38) folgt für diese Zustandsänderung: Die adiabate Zustandsänderung (Q12 = 0)

p + a/v21 p1 + a/v21 T Bei der adiabaten Zustandsänderung wird keine Wärme


= konst., = 1. (20.68) mit der Umgebung ausgetauscht. Für diesen Fall lautet
RT p2 + a/v12 T2
der erste Hauptsatz in differenzieller Form:
Setzt man in dieser Gleichung a = 0, so erhält man (20.27).
Die Volumenänderungsarbeit ist für die isochore Zu- dU = δWV,12 bzw. du = δwV,12 . (20.34)
standsänderung gleich null. Die zugeführte Wärme wird
vollständig zur Erhöhung der inneren Energie des Sys- Setzen wir in (20.34) die Definition der Volumenände-
tems benutzt. Aus (20.22) erhält man mithilfe von (19.50) rungsarbeit nach (17.8) und die Beschreibung der inneren
für cv = konst.: Energie nach (19.48) ein, so folgt:
a
u2 − u1 = q12 = cv (T2 − T1 ). (20.69) cv (T ) dT +
dv = −p dv (20.75)
v2
Die Entropieänderung für diese Zustandsänderung lässt
sich wiederum aus (19.53) bestimmen. Es ergibt sich: In (20.75) muss nun noch p aus der thermischen Zu-
  standsgleichung (19.38) ersetzt werden, damit man die
T2 Gleichung integrieren kann. Damit erhält man:
s2 − s1 = cv ln . (20.70)
T1
dT dv
Diese Gleichung ist formal identisch zu (20.30). Hieraus cv (T ) = −R
T v−b
sieht man, dass der Verlauf einer Isochoren für das Van- 2  
der-Waals-Gas im T,S-Diagramm gleich aussieht, wie der dT v1 − b
bzw. cv (T ) = R ln . (20.76)
eines idealen Gases. T v2 − b
1

Die isotherme Zustandsänderung (T = konstant) Setzen wir die spezifische Wärmekapazität bei konstan-
tem Volumen als konstant voraus, so lässt sich das Inte-
Bei der isothermen Zustandsänderung bleibt die Tempe- gral in (20.76) leicht bestimmen, und es ergibt sich:
ratur konstant. Aus (19.38) folgt für diese Zustandsände-    
T2 v −b
rung: cv ln = R ln 1 ,
  T1 v2 − b
p + a
 a 1 v21 (v − b ) bzw. T (v − b)R/cv = konst. (20.77)
p + 2 (v − b) = konst.,   = 2 .
v ( v1 − b ) Diese Gleichung zeigt beim Vergleich mit (19.53) wieder,
p2 + v2a
2 dass für die reversibel adiabate Zustandsänderung die
(20.71) Änderung der Entropie gleich null ist. Eliminiert man aus
20.3 Reale Gase 641

Abb. 20.11 Zustandsänderun- p p


gen im p ,v -Diagramm für das rev. Adiabate
Verhalten eines realen und eines
rev. Adiabate
idealen Gases

Isotherme v = 100 vK
p = 2 pK Isotherme
v = vK
p = 1,1 pK Isotherme

ideales Gas ideales Gas


Van der Waals Van der Waals
a v b v

obiger Gleichung noch die Temperatur mithilfe der ther- (20.62) aus, die besagt, dass die Enthalpie bei der adia-
mischen Zustandsgleichung, so folgt schließlich: baten Drosselung konstant bleibt:
 a
p + 2 (v − b)(cv +R)/cv = konst. (20.78) h1 = h2 bzw. dh = 0.
v
Vergleicht man diese Gleichung mit der entsprechenden
Beziehung für das ideale Gas, (20.39), so erkennt man, Aus dem totalen Differenzial der Enthalpie findet man:
dass für den Grenzfall a = b = 0 und cv + R = cp die Glei-  
chungen ineinander übergehen. Weiterhin erkennt man ∂h

Thermodynamik
dh = cp dT + dp = 0. (20.79)
an (20.78), dass es anders als beim idealen Gas hier nicht ∂p T
mehr einfach möglich ist, alle einfachen Zustandsglei-
chungen mittels eines Bildungsgesetzes gemäß (20.40) zu Aus (20.79) erhält man die Temperaturänderung bei der
beschreiben. Würde man z. B. in (20.78) den Exponen- adiabaten Drosselung zu:
ten (cv + R)/cv durch n ersetzen, so könnte man durch    
diese Gleichung die Isotherme (n = 1) und die Adiabate ∂T 1 ∂h
(n = (cv + R)/cv ) beschreiben, nicht aber die Isobare und
=− . (20.80)
∂p h cp ∂p T
die Isochore.
Zum Abschluss dieses Abschnitts sei noch der Unter- Den Differenzialquotienten auf der linken Seite der Glei-
schied zwischen dem idealen Gasverhalten und dem chung bezeichnet man als isenthalpen Drosselkoeffi-
realen Gasverhalten anhand eines Beispiels demonstriert. zienten, adiabaten Drosselkoeffizienten oder auch als
Hierzu betrachten wir Zustandsänderungen durch zwei Joule-Thomson-Koeffizienten. Er wird normalerweise
ausgezeichnete Punkte für den Stoff Kohlendioxid. Der mit δh bezeichnet. Der Differenzialquotient auf der rech-
erste ausgezeichnete Punkt ist weit vom kritischen Punkt ten Seite wird isothermer Drosselkoeffizient genannt
entfernt (p = 2pK , v = 100vK), der zweite Punkt ist nahe und mit δT bezeichnet. Damit ergibt sich aus (20.80):
am kritischen Punkt (p = 1,1pK , v = vK ).
δT
Man sieht an Abb. 20.11 sehr deutlich, dass die Isotherme δh = − . (20.81)
cp
und die reversibel adiabate Zustandsänderung, die durch
den Punkt weit weg vom kritischen Punkt gehen, für das Der isenthalpe Drosselkoeffizient δh gibt uns an, wie sich
reale und ideale Gas praktisch gleich sind (Abb. 20.11a), die Temperatur bei der adiabaten Drosselung mit der
während deutliche Unterschiede im Verlauf der Kurven einhergehenden Druckänderung verändert. Diese Größe
für den Punkt sehr nahe am kritischen Punkt auftreten soll im Folgenden bestimmt werden. Der isotherme Dros-
(Abb. 20.11). selkoeffizient lässt sich noch anders ausdrücken. Hierzu
Eine übersichtliche Zusammenstellung der Änderungen gehen wir von dem ersten Hauptsatz in Enthalpieformu-
aller Größen für die hier besprochenen Zustandsänderun- lierung nach Tab. 18.1 aus. Diese lautet für den Fall ohne
gen eines Van-der-Waals-Gases findet sich in Tab. 20.2. chemische Reaktionen für spezifische Größen:

dh = v dp + T ds. (20.82)
Bei der adiabaten Drosselung eines realen Aus dieser Gleichung erhält man den isothermen Drossel-
Gases kann sich die Temperatur ändern koeffizienten zu:
   
∂h ∂s
Wir betrachten nun nochmals die adiabate Drosselung, al- = δT = v + T . (20.83)
lerdings jetzt für ein reales Gas. Hierzu gehen wir von ∂p T ∂p T
642 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik

Tab. 20.2 Zustandsbeziehungen für ein reales Gas, das sich mit der Van-der-Waals-Zustandsgleichung beschreiben lässt ( p̃ = p + a/v2 , ṽ = v − b )
Isotherme Isobare Isochore reversibel Adiabate
T = konst. p = konst. v = konst. δq = 0
−(cv +R)/cv −(cv +R)/cv
Beziehung p̃1 T1 = p̃2 T2
zwischen RT1 a
− 2 =
RT2 a
− 2 p1 + a/v21 p2 + a/v21 (c +R)/cv
p̃1 ṽ1 v
(c +R) /cv
= p̃2 ṽ2 v
p̃1 ṽ1 = p̃2 ṽ2 =
Zuständen 1 ṽ1 v1 ṽ2 v2 T1 T2
und 2 T1 ṽR/cv
= T2 ṽR/cv
1 2
 (cv +R)/cv
ṽ1 a a ṽ1
p, v p = p̃1 − 2 p = p1 v = v1 p = − 2 + p̃1
ṽ v v ṽ
 (cv +R)/R
T a a T
p, T T = T1 p = p1 p= p̃1 − 2 p = − 2 + p̃1
T1 v1 v T1
   R/cv
ṽ a 1 1 ṽ1
v, T T = T1 T = T1 + ṽ − 2 v = v1 T = T1
ṽ1 R v2 v1 ṽ
 
ṽ2 a a
q12 q12 = RT1 ln q12 = − + q12 = cv (T2 − T1 ) q12 = 0
ṽ1 v1 v2
cv (T2 − T1 ) + p1 (v2 − v1 )
 
ṽ1 a a a a
wV,12 wV,12 = RT1 ln + − wV,12 = −p1 (v2 − v1 ) wV,12 = 0 wV,12 = − + cv (T2 − T1 )
ṽ2 v1 v2 v1 v2
     
ṽ2 T2 T2
s2 − s1 s2 − s1 = R ln s2 − s1 = cv ln + s2 − s1 = cv ln s2 − s1 = 0
Thermodynamik

ṽ1   T1 T1
ṽ2
R ln
ṽ1

Mithilfe der Maxwell‘schen Beziehung nach Tab. 18.3 lässt Seite. Hieraus ergibt sich:
sich der zweite Ausdruck auf der rechten Seite der Glei-
chung umformen. Damit ergibt sich für den isenthalpen RTv3 − 2a(v − b)2 − T (v − b)Rv2 = 0,
Drosselkoeffizienten schließlich:
RT a (v − b )2
%   & bzw. = (20.86)
v T ∂v v 2 b v2
δh = − 1− − (1 − βT ) . (20.84)
cp v ∂T p cp oder unter Verwendung der bezogenen Größen nach
(19.41):
An dieser Gleichung erkennt man sehr schön, dass es
keine Temperaturänderung bei der adiabaten Drosselung 4 (3v − 1)2
T= . (20.87)
für ein ideales Gas gibt, da der isobare Ausdehnungs- 27 9v2
koeffizient hierfür β = 1/T ist. Für ein reales Gas (Van-
der-Waals-Gas) kann der isobare Ausdehnungskoeffizient Ersetzt man in (20.87) das bezogene, spezifische Volumen
durch (19.43) beschrieben werden. Damit ergibt sich aus durch die thermische Zustandsgleichung nach (19.42), so
(20.84): lässt sich die Inversionslinie auch in Abhängigkeit von p̄
und T̄ angeben. Man erhält:
 
v RTv3 − 2a(v − b)2 − T (v − b)Rv2 
δh = − . (20.85) p = 24 3T − 12T − 27. (20.88)
cp RTv3 − 2a(v − b)2
In Abb. 20.12 ist der Verlauf der Inversionslinie für ein
Aus (20.85) ist ersichtlich, dass es bei der adiabaten
Van-der-Waals-Gas nach (20.87) und (20.88) in einem T, v-
Drosselung eines Van-der-Waals-Gases zu einer Tempe-
bzw. in einem p, T-Diagramm dargestellt. In diesen Dia-
raturänderung kommen kann. Um herauszufinden, ob es
grammen sind auch die Bereiche eingetragen, für die sich
bei einer adiabaten Drosselung zu einer Temperaturer-
ein Gas bei der adiabaten Drosselung erwärmt oder ab-
höhung (δh < 0) oder einer Abkühlung (δh > 0) kommt,
kühlt.
ist es sinnvoll die Kurve zu bestimmen, für die gera-
de keine Temperaturveränderung stattfindet, für die also Hält man sich in dem Bereich auf, in dem die Temperatur
(1 − βT ) = 0 ist. Diese Kurve bezeichnet man als Joule- des Gases bei einer adiabaten Drosselung sinkt, so kann
Thomson-Inversionslinie. Man erhält sie aus (20.85) man durch wiederholte Anwendung dieser Prozedur das
durch Nullsetzen des Klammerausdrucks auf der rechten Gas so stark abkühlen, dass es sich verflüssigt. Dies ist die
20.4 Der reale Stoff im Nassdampfgebiet 643

Abb. 20.12 Verlauf der Joule- T T


Thomson-Inversionslinie in einem
a T ,v - und in einem b p ,T - δh < 0 (Erwärmung)
Diagramm. Außerdem enthält 27 27
das Diagramm die Bereiche der 4 4
Erwärmung und der Abkühlung h = konst.
bei der adiabaten Drosselung
δh = 0

3 h = konst.
δh > 0 (Abkühlung) 4

1 v 9 p
a 2 b

Grundlage des Luftverflüssigungsverfahrens nach Lin- Man erkennt in Abb. 20.13, dass im Nassdampfgebiet
de. Ist man in dem Bereich, in dem das Gas bei einer für eine isobare Zustandsänderung auch gleichzeitig die
adiabaten Drosselung die Temperatur erhöht, so kann es Temperatur konstant bleibt und wir es somit mit einer
bei leicht entzündlichen Gasen unter Umständen sogar zu isobar-isothermen Zustandsänderung zu tun haben. Die
einer Selbstzündung durch die adiabate Drosselung kom- zugeführte spezifische Wärme ergibt sich aus dem zwei-
men (z. B. Wasserstoff bei Umgebungstemperatur und ten Hauptsatz und den Beziehungen nach (19.3) und der
Umgebungsdruck, der aus einer Gasflasche in die Umge- darunter angegebenen Merkbox zu:
bung ausströmt).
q12 = T (s2 − s1 ) = T s − s (x2 − x1 ) .

Thermodynamik
(20.89)

20.4 Der reale Stoff im Die geleistete spezifische Volumenänderungsarbeit be-


rechnet sich aus der (17.8) zu:
Nassdampfgebiet
2
wv,12 = − pdv = −p (v2 − v1 )
Im letzten Abschnitt haben wir uns mit der Beschrei-
bung eines realen Gases mithilfe der Van-der-Waals- 1
= −p v − v (x2 − x1 ) . (20.90)
Zustandsgleichung beschäftigt. Im 19. Kapitel haben wir
hierzu gesehen, dass diese Beschreibung nicht mehr un- Zur Berechnung der Zustandsänderung von 1 nach 2
bedingt sinnvoll ist, wenn man eine Substanz im Nass- müssen also entweder die spezifischen Volumina oder die
dampfgebiet beschreiben will. Deshalb haben wir dort Dampfgehalte gegeben sein.
einfache Zusammenhänge für diesen Bereich angegeben.
Im Folgenden wollen wir uns nun einfache Zustandsän-
derungen im Nassdampfgebiet und deren Beschreibung Die isochore Zustandsänderung (V = konstant)
mithilfe der Hauptsätze der Thermodynamik ansehen. Bei der isochoren Zustandsänderung bleibt das Volumen
konstant. In Abb. 20.14 ist eine isochore Zustandsände-
rung in einem p,v- und in einem T,s-Diagramm skizziert.
Die einfachen Zustandsänderungen im Die zugeführte spezifische Wärme ergibt sich aus dem
Nassdampfgebiet verdeutlichen das Verhalten ersten Hauptsatz zu:
des realen Stoffes
q12 = u2 − u1 = u2 + x2 u2 − u2 − u1 − x1 u1 − u1 .
(20.91)
Ähnlich wie schon in den beiden vorangegangenen Ab-
schnitten betrachten wir auch hier wieder die einfachen Die geleistete spezifische Volumenänderungsarbeit ist für
Zustandsänderungen, für die die Zustandsgrößen p, V diese Zustandsänderung gleich null.
oder T konstant sind und weiterhin eine adiabate Zu-
standsänderung.
Die adiabate Zustandsänderung (Q12 = 0)

Die isobare Zustandsänderung (p = konstant) Bei der adiabaten Zustandsänderung wird keine Wärme
zu- oder abgeführt. Weiterhin setzen wir wieder vor-
Bei der isobaren Zustandsänderung bleibt der Druck kon- aus, dass die Zustandsänderung reibungsfrei abläuft. In
stant. In Abb. 20.13 ist eine isobare Zustandsänderung in Abb. 20.15 ist eine reversibel adiabate Zustandsänderung
einem p,v- und in einem T,s-Diagramm skizziert. in einem p,v- und in einem T,s-Diagramm skizziert.
644 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik

Abb. 20.13 Isobare Zustands- p K T K


änderungen im Nassdampfgebiet
im a p ,v -Diagramm und im
b T ,s -Diagramm

t.
ns
ko
p=
1 T, p 2 1 2
T=
kon
st.
wV,12 q12

v′ v1 v2 v′′ v s′ s1 s2 s′′ s
a b

Abb. 20.14 Isochore Zustands- p K T K


änderung im Nassdampfgebiet im p1
a p ,v -Diagramm und im b T ,s -
Diagramm
2 p2
2 T2
=k
ons
t.
T1
Thermodynamik

=k 1
1 ons q12
t.

v s
a b

Abb. 20.15 Reversibel adia- p K T K


bate Zustandsänderungen im
p1
Nassdampfgebiet, dargestellt im
a p ,v -Diagramm und im b T ,s -
Diagramm 1 p2
1

T1

T2 2
wV,12 2

v s
a b

Man erkennt, dass die Entropie bei dieser Zustandsände- Frage 20.5
rung gleich bleibt (s2 = s1 ). Da keine Wärme zugeführt Bei einer reversibel adiabaten Zustandsänderung im
wird, ist q12 = 0, und man erhält für die spezifische Volu- Nassdampfgebiet ist der Ausgangspunkt 1 vollständig
menänderungsarbeit: bekannt (s1 , x1 , v1 , p, T). Vom Zustand 2 ist der Druck
bekannt (und somit die Größen an den Grenzkurven). Be-
wV,12 = u2 − u1 = u2 + x2 u2 − u2 − u1 − x1 u1 − u1 . rechnen Sie den Dampfgehalt.
(20.92)
Antworten zu den Verständnisfragen 645

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 20.1 Der thermische Wirkungsgrad der Carnot- Diagramm haben. Dies führt für die isotherme Zustands-
Maschine berechnet sich nach (20.4). Man erhält: änderung zur größten Entropieänderung. Die Entropie-
änderung ist bei der isochoren Zustandsänderung am
T1 300 kleinsten, da diese im T,S-Diagramm steiler verläuft als
ηth = 1 − = 1− = 0,75.
T2 1200 eine Isobare.

Die Gesamtentropieerhöhung erhält man aus (20.10): Antwort 20.4 Die Volumenanteile (Raumanteile) sind ge-
  geben. Damit berechnet sich die Molmasse des Gemisches
1 T2 1 nach (20.49) zu:
ΔSges = −Q34 −
TKK T1 THK
  K
1 1200 K 1
= 2 kJ
283 K

300 K 1400 K
= 1,35 J/K. MLuft = ∑ ψk Mk = 0,78 MN2 + 0,21 MO2 + 0,01 MAr
k=1
= 28,969 kg/kmol.

Antwort 20.2 Wenn die Carnot-Maschine reversibel zwi- Die Gaskonstante der Luft ergibt sich einfach aus:
schen 1400 K und 283 K arbeiten könnte, würde sie einen

Thermodynamik
thermischen Wirkungsgrad von Rm 8314,3
RLuft = = = 287 J/(kg K).
MLuft 28,969
T1 283
ηth = 1 − = 1− = 0,8
T2 1400

erreichen. Damit wäre der thermische Wirkungsgrad die- Antwort 20.5 Da die Zustandsänderung reversibel adia-
ser Maschine um rund 5 % besser als der Wirkungsgrad bat verlaufen soll, bleibt die Entropie konstant:
der Maschine aus Frage 1.
s2 = s2 − x2 (s2 − s2 ) = s1 .
Antwort 20.3 Die isotherme Zustandsänderung verläuft
als horizontale Linie in einem T,S-Diagramm. Da bei Hieraus lässt sich sofort der Dampfgehalt bestimmen:
allen Zustandsänderungen die gleiche Wärmemenge zu-
geführt wird, müssen alle Zustandsänderungen die glei- s1 − s1
x2 =
che Fläche unter der Zustandsänderung in einem T,S- s2 − s2
646 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik

Aufgaben

Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer).
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

20.1 •• Betrachten Sie einen Carnot-Prozess mit ei- 20.2 • Einem idealen Gas im Zustand 1 wird
nem Van-der-Waals-Gas als Arbeitsmedium. in drei Prozessen die spezifische Wärme q = 200 kJ/kg
zugeführt. Gegeben sind: ϑ1 = 20 ◦ C, p1 = 1 bar, cp =
Der Zustand 1 des Kreisprozesses ist durch die dimen- 1,005 kJ/(kg K), κ = 1,4.
sionslosen Größen T̄1 = 1,5 und v̄1 = 1 gegeben. Im iso-
thermen Entspannungsprozess expandiert das Volumen 1. Berechnen Sie die spezifische Gaskonstante R, die mo-
auf die doppelte Größe; der Zustand 3 liegt auf der kri- lare Masse M und die spezifische Wärmekapazität cv
tischen Isotherme. Vom Van-der-Waals-Medium sind die bei konstantem Volumen. Um welches Gas könnte es
Konstanten in der thermischen Zustandsgleichung be- sich handeln?
kannt: a = 615 Jm3 /kg2 , b = 2,2 · 10−3 m3 /kg, außerdem 2. Geben Sie den Endzustand 2 für den Fall an, dass die
die spezifische Gaskonstante und die spezifische Wärme- Wärme q12 isochor zugeführt wird! Gesucht sind T2
Thermodynamik

kapazität bei konstantem Volumen: R = 276,09 J/(kg K), und p2 .


cv = 3 R. 3. Geben Sie den Endzustand 3 für den Fall an, dass die
Wärme q13 isobar zugeführt wird! Gesucht sind T3 und
Hinweis: Es ist vorteilhaft, in den Aufgabenteilen 2, 3 v3 .
und 4 alle verwendeten Formeln in den dimensionslosen 4. Geben Sie den Endzustand 4 für den Fall an, dass die
Variablen zu formulieren und dann erst Zahlenwerte ein- Wärme q14 isotherm zugeführt wird! Gesucht sind p4
zusetzen. und v4 .

1. Berechnen Sie die kritische Temperatur TK , den kriti-


schen Druck pK und das kritische spezifische Volumen 20.3 • Betrachten Sie vier Zustände 1, 2, 3 und 4
vK des Gases. eines idealen Gases in einem geschlossenen System; der
Skizzieren Sie in einem p̄,v̄-Diagramm den Kreispro- Isentropenexponent des idealen Gases ist κ = 5/3.
zess und das Nassdampfgebiet. Kennzeichnen Sie die Bekannt sind folgende Daten der Zustandsgrößen:
abgegebene Arbeit als Fläche.
2. Legen Sie eine Tabelle mit den thermischen Variablen p1 = 32 bar, p2 = p1 , p3 = 1 bar, p4 = p3 ;
p̄i ,v̄i ,T̄i in allen vier Eckzuständen des Kreisprozesses v1 = 1 m3 / kg, v2 = v3 , s3 = s1 , v4 = v1 .
an, und tragen Sie alle Größen ein, die Sie dem Auf-
gabentext direkt entnehmen können! Berechnen Sie die
Drücke p̄1 und p̄2 , und tragen Sie die Werte ebenfalls in 1. Bestimmen Sie das spezifische Volumen v3 !
die Tabelle ein. 2. Skizzieren Sie die Lage der vier Zustandspunkte im
3. Berechnen Sie die thermischen Zustandsgrößen in di- p,v-Diagramm! Zeichnen Sie auch die Isentrope durch
mensionsloser Form für Zustand 3; ergänzen Sie die Zustand 1 ein!
Tabelle. 3. Berechnen Sie im Zustand 1 die Steigung der Isentrope
4. Bestimmen Sie die Zustandsgrößen des Zustands 4, im p,v-Diagramm!
und vervollständigen Sie die Tabelle. 4. Welche der folgenden Zustandsänderungen 1 → 2,
5. Berechnen Sie die spezifische Wärme q12 für die iso- 2 → 3, 3 → 4, 4 → 1 und 1 → 3 kann adiabat durchge-
therme Entspannung. führt werden? Streichen Sie einfach in der Liste dieje-
6. Wie groß sind der thermische Wirkungsgrad und die nigen Zustandsänderungen, die adiabat nicht möglich
abgegebene Arbeit des Kreisprozesses? sind! Begründen Sie Ihre Antwort!
Aufgaben 647

20.4 • In einem Dampfkessel V = 0,60 m3 befin- 3. Wie viel Wasser Δm verdampft während dieser Zu-
den sich zum Ausgangszeitpunkt insgesamt m = 300 kg standsänderung?
Wasser bei einer Temperatur von ϑ1 = 20 ◦ C. Abgesehen
von dem Wasser befindet sich keine weitere Materie in Zustandsgrößen des Wassers im Phasengleichgewicht:
dem Kessel. Das bedeutet, dass sich der Druck im Kessel
vom Umgebungsdruck unterscheiden kann.
p in bar ϑ in ◦ C v in m3 /kg
1. Welche Masse m befindet sich dabei im Zustand der
0,023 20 0,00100
siedenden Flüssigkeit und welche Masse m im Zu-
100 310,9 0,00145
stand des gesättigten Dampfes?
2. Welche Wärme Q12 muss dem Kessel zugeführt wer- v in m3 /kg h in kJ/kg h in kJ/kg
den, wenn das Wasser bei unverändertem Kesselvolu- 57,84 83,9 2537,3
men den Druck p2 = 100 bar erreichen soll? 0,018 1407,0 2725,6

Thermodynamik
Technische Anwendungen
thermodynamischer Prozesse
21
Wie beschreiben wir mit
Zustandsänderungen
technische Maschinen?
Welche Formen von
Kreisprozessen lassen sich
unterscheiden?
Wie effizient sind die
Prozesse in Maschinen?
Wie lassen sich
Gas-Dampf-Gemische
thermodynamisch
analysieren?

Thermodynamik
21.1 Kreisprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650
21.2 Arbeits- und Kraftmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653
21.3 Wärmekraftprozesse und thermische Wirkungsgrade . . . . . . . . . . 656
21.4 Kälteprozesse und Leistungszahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664
21.5 Gas-Dampf-Gemische: Feuchte Luft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 649


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_21
650 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

Eine technische Maschine hat immer das Ziel, durch Zu-


standsänderungen einen nutzbaren Effekt zu erzielen.
21.1 Kreisprozesse
Bei Maschinen und Anlagen zur Energiewandlung ver-
Bei einem Kreisprozess kann das Arbeitsmedium ent-
wenden wir dabei ein Arbeitsmedium (Flüssigkeit, Gas,
weder in einem geschlossenen System zirkulieren oder
Dampf), um durch gezielte thermodynamische Zustands-
ein offenes System durchströmen. Befindet sich das Ar-
änderungen des Arbeitsmediums einen Nutzen zu errei-
beitsmedium in einem geschlossenen System und liegt
chen. Wie schon in Kap. 17 erwähnt, wird bei unserem
es nach einem Umlauf vollständig im gleichen thermo-
Leitbeispiel im Motor die chemische Energie des Brenn-
dynamischen Ausgangszustand vor, sprechen wir von
stoffes durch Verbrennung in Wärme umgewandelt und
einem geschlossenen Kreisprozess (z. B. Stirlingmotor,
aus dieser mechanische Arbeit gewonnen, welche dann
Dampfkraftprozess, Kältemaschinenprozess). Bei einem
das Fahrzeug antreibt. Mit den in den vorherigen Kapiteln
kontinuierlichen, stationären Betrieb ist der zirkulierende
beschriebenen Grundlagen können wir diese Vorgänge
Massenstrom (Masse je Zeiteinheit) konstant. Bei offe-
sowie deren Effizienz nun beurteilen.
nen Kreisprozessen wird das Arbeitsmedium nach ver-
Technische Anlagen sollen kontinuierlich arbeiten, was schiedenen Teilprozessen abgegeben (z. B. Abgas bei Ver-
durch den zyklischen Ablauf verschiedener Zustandsän- brennungsmotoren). Dieses „Ausstoßen“ können wir als
derungen erreicht werden kann, sodass das Arbeitsmedi- Wärmeabgabe an die Umgebung betrachten und danach
um nach dem Durchlaufen der einzelnen Zustandsände- für das Arbeitsmedium den Umgebungszustand anneh-
rungen (Teilprozesse) wieder in den Anfangszustand zu- men. Da das periodisch oder kontinuierlich eintretende
rückkehrt. Wir erhalten dann einen Kreisprozess. Dabei Arbeitsmedium ebenfalls Umgebungsbedingungen auf-
kann das Arbeitsmedium sowohl in einem geschlossenen weist, schließt sich der Kreisprozess. Für den geforderten
System enthalten sein als auch ein offenes System durch- kontinuierlichen Betrieb muss auch hier der angesaugte
strömen. dem abgegebenen Massenstrom entsprechen. Zur verall-
Thermodynamik

In einem Dieselmotor wird z. B. angesaugte Luft durch gemeinerten Beschreibung können wir somit für beide
den Kolben im Zylinder zunächst verdichtet, dann der Formen auf den Massenstrom bezogene spezifische Grö-
Brennstoff eingebracht, vermischt, gezündet, verbrannt ßen verwenden. Die interne Verbrennung bei offenen Pro-
und anschließend das Gasgemisch entspannt und dabei zessen und die Wärmeübertragung durch einen Wärme-
Arbeit an die Welle abgegeben. Zum Schluss wird das Ab- übertrager bei geschlossenen Prozessen beschreiben wir
gas ausgestoßen. Mit dem Ansaugen frischer Luft beginnt gleichermaßen als Wärmezufuhr. Mit diesen Modellvor-
dann dieser Zyklus erneut. stellungen können wir offene und geschlossene Prozesse
in analoger Art und Weise behandeln.
In diesem Kapitel widmen wir uns zunächst der allge-
meinen thermodynamischen Berechnung und Bewertung Es muss natürlich angenommen werden, dass sich die
von Kreisprozessen. Hier werden wir die Kreisprozesse chemische Zusammensetzung des Arbeitsmediums wäh-
hinsichtlich der Abfolge in ihren einzelnen Teilprozessen rend des Prozesses nicht ändert. Dies ist bei geschlossenen
und der zur vereinfachten Analyse notwendigen Ideali- Prozessen anschaulich gegeben. Bei offenen Prozessen mit
sierungen (z. B. reversible Zustandsänderungen, Arbeits- Verbrennung ist diese Annahme ebenfalls näherungswei-
medium als ideales Gas) diskutieren. Gleichzeitig können se gerechtfertigt, da die eingebrachte Brennstoffmasse im
wir damit die ablaufenden Prozesse und die Effizienz Vergleich zur Masse der Luft gering ist.
der Energieumwandlung in verschiedenen technischen Um einen Kreisprozess technisch zu realisieren, integrie-
Maschinen und Anlagen vergleichend bewerten. Je nach ren wir in einer Anlage Kraft- und Arbeitsmaschinen,
betrachteter Anlage sind unterschiedliche Zustandsände- sodass man auch von Arbeitskraftmaschinen sprechen
rungen zur Betrachtung der Teilprozesse sinnvoll. Dieser kann Ein typisches Beispiel ist eine Gasturbinenanlage,
Sachverhalt wird für verschiedene Anwendungen (z. B. welche aus einem Verdichter, einer Brennkammer und ei-
Motoren, Triebwerke, Kraftwerke, Kältemaschinen und ner Turbine besteht. Je nachdem, ob in der Summe Arbeit
Wärmepumpen) dargestellt. Da bei allen Kreisprozessen gewonnen oder Arbeit zugeführt wird, können wir die-
das Arbeitsmedium in einem Teilprozess verdichtet wird, se Anlagen wiederum den Kraft- oder Arbeitsmaschinen
betrachten wir auch die thermodynamische Beschreibung zuordnen.
von Kolben- und Turboverdichtern.
Oftmals verwenden wir für diese Prozesse Luft aus der Kraftmaschinen werden zur Umwandlung von
Umgebung, sodass der thermodynamische Zustand un- Wärme (z. B. durch Verbrennung, Nuklearreaktion,
seres Arbeitsmediums von den Umgebungsbedingungen Solar- und Geothermie) oder kinetischer Energie
(Druck, Temperatur, Feuchtigkeit) beeinflusst ist. Dies (z. B. Wind, Wasser) in Arbeit eingesetzt, d. h., Ar-
betrifft insbesondere die Klimatisierung von Räumen. Da- beit wird vom System nach außen abgegeben. Dazu
her besprechen wir anschließend die Eigenschaften von gehören z. B. Dampfmaschinen, Motoren und Turbi-
feuchter Luft und die Beschreibung der wichtigsten Zu- nen.
standsänderungen für dieses Arbeitsmedium.
21.1 Kreisprozesse 651

p jeweils ideal erreichbaren Vorgang dar und kann somit im


Verbrennung
Vergleich zur Bewertung einer realen Anlage herangezo-
3
4
gen werden.
2 Für viele Prozesse ist eine Vernachlässigung der kineti-
Expansion schen und der potenziellen Energieänderungen zulässig.
Ausnahmen stellen hier die Triebwerksprozesse dar. Bei
Kompression 5 Auspuffen Prozessen mit Gasen als Arbeitsmedium wird zur verein-
Ausschieben fachten Ableitung der thermodynamischen Zusammen-
5'
0 Umgebungsdruck pu hänge oftmals ideales Gasverhalten vorausgesetzt. Bei
Ansaugen 1
Prozessen mit Phasenwechsel (Dampfkraftprozesse, Käl-
0
temaschinenprozesse) ist dies natürlich nicht zulässig.
Hubvolumen VH V

Vergleichsprozesse sind idealisierte Kreisprozes-


se, bei denen die einzelnen Teilprozesse eines rea-
len Prozessverlaufes durch einfache reversible Zu-
standsänderungen (z. B. p = konst., T = konst., s =
Abb. 21.1 Arbeitszyklus in einem Viertaktmotor im p ,V -Diagramm
konst., v = konst., pvn = konst.) angenähert werden.
Die Teilprozesse werden somit verlustfrei betrachtet,
d. h., Wärmeübergänge erfolgen reversibel und Dis-
sipationsverluste werden vernachlässigt.
Bei Arbeitsmaschinen wird dem System von au-

Thermodynamik
ßen Arbeit zugeführt, um daraus einen veränderten
thermodynamischen Zustand des Arbeitsmediums Zunächst betrachten wir hier einige grundlegende Bezie-
zu erhalten. Typische Vertreter sind hier Kolben- hungen zu allgemeinen Kreisprozessen. Wir gehen von der
und Turboverdichter, bei denen das Arbeitsmedium spezifischen Form des ersten Hauptsatzes nach (18.7) aus:
komprimiert und auf einen höheren Druck gebracht
wird.  
c2
δq = du − δw = dh − δwt + d + gdz. (21.1)
2
Damit können wir den zyklischen Ablauf verschiede-
ner Zustandsänderungen des Arbeitsmediums und damit Betrachten wir für einen Kreisprozess die geschlossenen
einen Kreisprozess erreichen. Betrachten wir dazu den Kurvenintegrale über den Prozessverlauf, so ergibt sich:
Arbeitszyklus eines Viertaktmotors im p,V-Diagramm   
(Abb. 21.1). Von 0 → 1 wird Frischluft oder ein Brennge- δq = du − δw
misch angesaugt (1. Takt), und von 1 → 2 wird das ange-
     
saugte Arbeitsmedium verdichtet (2. Takt). Die Abfolge c2
2 → 3 → 4 beschreibt den Verlauf während der Brenn- = dh − δwt + d + gdz. (21.2)
2
stoffeinspritzung und Selbstzündung bzw. der Fremd-
zündung des Brenngemisches und somit die Wärmezu- Das geschlossene Kurvenintegral ist für jede Zustands-
fuhr durch Verbrennung. Die Abfolge 4 → 5 stellt die größe (also auch für die spezifische innere Energie und
anschließende Entspannung des Verbrennungsgases un- die spezifische Enthalpie) gleich null; im Gegensatz zu
ter Arbeitsabgabe dar (3. Takt). Zum Schluss erfolgen von den Kurvenintegralen der Prozessgrößen (Arbeit, Wär-
5 → 5 das Auspuffen und von 5 → 0 das Ausschieben me). Da bei einem Kreisprozess nach einem Umlauf der
der restlichen Verbrennungsgase (4. Takt). Somit dienen Ausgangszustand wieder erreicht werden muss, müssen
der 1. Takt und der 4. Takt nur dem Wechsel des Arbeits- auch die Kurvenintegrale der kinetischen und potenziel-
mediums. len Energie gleich null werden. Somit erhalten wir:
Zur thermodynamischen Berechnung solcher Prozessab-   
läufe verwenden wir sogenannte Vergleichsprozesse, bei δq = − δw = − δwt = −w. (21.3)
denen alle Zustandsänderungen des Arbeitsmediums in
den Teilprozessen als reversibel angesehen werden. Die
Mit dieser Gleichung (21.3) wird w als spezifische
Teilprozesse werden dann durch einfache reversible Zu-
Kreisprozessarbeit eingeführt. Die spezifische Kreispro-
standsänderungen (z. B. isobar, isochor usw.) dargestellt.
zessarbeit ist nach (21.3) gleich dem Kurvenintegral über
Durch diese Idealisierungen erhalten wir einfache Zusam- die dem Arbeitsmedium zugeführten und den vom Ar-
menhänge zur Auslegung und Berechnung der Kreispro- beitsmedium abgegebenen spezifischen Wärmen. Das
zesse. Gleichzeitig stellt solch ein Vergleichsprozess den Kurvenintegral der spezifischen Wärmen kann daher
652 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

ganz allgemein in zwei Beiträge aufgeteilt werden, wobei T Rechtsprozess T Linksprozess


ein Beitrag die gesamte im Kreisprozess zugeführte spe-
zifische Wärme (qzu > 0) und der andere Beitrag die ge- B B
samte abgeführte spezifische Wärme (qab < 0) beschreibt:
A A
−w = qzu + qab = qzu − |qab | . (21.4)

Die spezifische Kreisprozessarbeit ist gleich der


Summe aus der dem Arbeitsmedium zugeführten B s B s
und vom Arbeitsmedium abgegebenen spezifischen qzu = Tds qzu = Tds
Wärmen. A A
A A
|qab| = – Tds |qab| = – Tds
Für die hier betrachteten allgemeinen Prozesse setzt sich B B
die Arbeit in einem geschlossenen System für eine Zu- |w| = qzu – |qab| |w| = |qab| – qzu
standsänderung (1 → 2) aus der Volumenänderungsar- a w < 0; abgegebene Arbeit b w > 0; zugeführte Arbeit
beit und der reibungsbedingten Dissipationsarbeit zu-
sammen: Abb. 21.2 Allgemeine reversible Kreisprozesse im T ,s -Diagramm

2
w12 = wV,12 + wdiss,12 = − pdv + wdiss,12 . (21.5)
auch hier die eingeschlossene Fläche die Kreisprozessar-
Thermodynamik

1
beit darstellt.
In einem offenen System gilt für die technische Arbeit bei Hierbei unterschieden wir rechts- und linkslaufende
Vernachlässigung der Änderungen der potenziellen und Prozesse (Rechts- und Linksprozesse). Diese Bezeich-
kinetischen Energie: nung erfolgt anhand der Abfolgerichtung der einzel-
nen Zustandsänderungen im T,s- oder p, v-Diagramm.
2 Rechtsprozesse laufen „in Uhrzeigerrichtung“ und Links-
wt,12 = vdp + wdiss,12 . (21.6) prozesse „entgegen der Uhrzeigerrichtung“ in diesen
1 Darstellungen ab.

Die aus einem irreversiblen Kreisprozess erhaltene nutz- Die spezifische Kreisprozessarbeit stellt die bei einem
bare technische Arbeit ist somit die Kreisprozessarbeit mi- Rechtsprozess abgegebene (w < 0) bzw. einem Linkspro-
nus der Dissipationsarbeit. Für reversible Kreisprozesse, zess zuzuführende (w > 0) spezifische Arbeit dar. Sie
wie wir sie im Folgenden betrachten wollen, erhalten wir entspricht gleichzeitig dem Kurvenintegral der spezifi-
aus (21.3) und (21.5): schen technischen Arbeit wt .
  
δq = − δw = − δwV
Rechtsprozesse geben in der Summe Arbeit durch
  
Umwandlung aus zugeführter Wärme und Arbeit
= pdv = − δwt = − vdp = −w, (21.7)
ab. Diese Prozesse stellen Wärmekraft- und Ver-
brennungskraftprozesse dar.
und es ergibt sich aus dem zweiten Hauptsatz eine ein-
fache grafische Veranschaulichung. Nach (18.20) gilt für Linksprozessen wird Arbeit zugeführt, um Wär-
reversible Zustandsänderungen: me, welche bei einem Teilprozess zugeführt wird,
bei einer höheren Temperatur in einem ande-
δqrev = Tds. (21.8) ren Teilprozess abzugeben. Diese Prozesse stellen
Kältemaschinen- und Wärmepumpenprozesse dar.
Damit sind für einen reversiblen Vergleichsprozess in der
Darstellung im T, s-Diagramm die Flächen unter den Kur-
venverläufen ein Maß für die zu- und abgeführten spe- Für die Bewertung der Qualität eines Kreisprozesses be-
zifischen Wärmen, und die eingeschlossene Fläche ver- trachten wir das Verhältnis von Nutzen zu Aufwand.
anschaulicht nach (21.8) direkt die spezifische Kreispro-
zessarbeit (siehe Abb. 21.2). Im p, v-Diagramm sind in Für Rechtsprozesse ist der Nutzen die netto abgegebene
entsprechender Weise die Flächeninhalte unter den Kur- spezifische Kreisprozessarbeit (w < 0) und der Aufwand
ven ein Maß für die Volumenänderungsarbeit, sodass die zugeführte spezifische Wärme (qzu > 0). Das Verhält-
21.2 Arbeits- und Kraftmaschinen 653

nis ist der thermische Wirkungsgrad des Kreisprozesses: den Druck eines gasförmigen Arbeitsmediums durch Ar-
beitszufuhr. Sie können als Kolben- oder als Strömungs-
−w |w | q + qab q − |qab | |q |
ηth = = = zu = zu = 1 − ab . maschinen in einer oder mehreren Stufen ausgeführt sein.
qzu qzu qzu qzu qzu Bei Kolbenverdichtern erfolgt die Druckerhöhung durch
(21.9) Verringerung des Arbeitsraums in einem Zylinder, in dem
sich ein Kolben bewegt. Die dabei auftretenden thermo-
Für Linksprozesse sind unterschiedliche Definitionen
dynamischen Zustandsänderungen können anschaulich
zweckmäßig und gebräuchlich. Bei einem Kältemaschi-
durch den Zusammenhang zwischen Druck des Arbeits-
nenprozess ist der Nutzen die im Kühlraum aufgenom-
gases und Zylindervolumen dargestellt werden. Kolben-
mene, d. h. dem Arbeitsmittel zugeführte, spezifische
verdichter erreichen dabei sehr hohe Drücke bei relativ
Wärme (qzu > 0) und der Aufwand die zugeführte spezi-
kleinen Volumenströmen. Größere Volumenströme kön-
fische Arbeit (w > 0). Das Verhältnis dieser Größen nennt
nen in Turbomaschinen verdichtet werden. Auf einer
man Kälteleistungszahl:
angetriebenen drehenden Welle übertragen sogenannte
qzu Laufschaufeln Arbeit auf das kontinuierlich strömende
εK = . (21.10)
w Arbeitsmedium und führen diesem damit Energie zu. Die
erhöhte Strömungsgeschwindigkeit wird anschließend in
Bei Wärmepumpenprozessen ist der Nutzen die abgege-
stillstehenden Leitschaufeln verzögert, wodurch es in der
bene spezifische Heizwärme (qab < 0), sodass in diesem
Summe zur gewünschten Druckerhöhung des Arbeits-
Fall die Wärmeleistungszahl (oder Wärmezahl) durch
mediums kommt. Der Begriff Turboverdichter bzw. Tur-
|qab | bomaschine weist auf die sich drehende Bewegung (lat.
ε WP = (21.11) turbare: drehen) der Welle hin. Dies gilt auch für eine an-
w
dere wichtige Turbomaschine, die Kraftmaschine (Gas-,
dargestellt wird. Die Bestimmung dieser Parameter für

Thermodynamik
Dampf-)Turbine, bei der, aus der Entspannung eines gas-
idealisierte Vergleichsprozesse ist eine wichtige Aufgabe oder dampfförmigen Arbeitsmediums, Arbeit an die Wel-
der technischen Thermodynamik und soll im folgenden le abgegeben wird.
Abschnitt näher erläutert werden. Dabei ist anzumerken,
dass nicht nur die Qualität (thermischer Wirkungsgrad,
Leistungszahl) den Wert eines Kreisprozesses beschreibt,
sondern auch die Quantität (Größe der gewinnbaren Ar- Wie beschreiben wir die thermodynamischen
beit bzw. Leistung oder der erreichbaren Kälteleistung)
die praktische Ausführung bestimmt.
Vorgänge in Kolbenmaschinen?

Kontinuierlich arbeitende Kolbenmaschinen können Ar-


Die Effizienz der Energieumwandlung bei Kreispro-
beitsmaschinen (Kolbenverdichter) mit Arbeitszufuhr
zessen wird anhand des Verhältnisses von Nutzen
oder Kraftmaschinen (Expansionskolbenmaschine) sein,
zu Aufwand beschrieben.
wenn aus der Entspannung des Arbeitsmediums von
Für Wärmekraftprozesse ist das der thermische höherem auf niedrigeren Druck technische Arbeit gewon-
Wirkungsgrad, der die abgegebene Arbeit zur zu- nen wird. Dieser Fall wurde schon kurz in Abschn. 18.2
geführten Wärme ins Verhältnis setzt. dargestellt.
Für Kältemaschinenprozesse beschreibt die Leis- Betrachten wir einen kontinuierlich arbeitenden Kolben-
tungszahl das Verhältnis von aufgenommener Wär- verdichter, welcher ein Arbeitsgas bei niedrigem Druck
me zu zugeführter Arbeit. ansaugt und bei höherem Druck ausstößt (Abb. 21.3). Da-
bei beschreiben wir zunächst den idealisierten Fall, bei
Bei Wärmepumpenprozessen wird die Leistungs- dem das gesamte geometrische Zylindervolumen zur För-
zahl aus dem Verhältnis von abgegebener Wärme zu derung des Arbeitsmediums genutzt werden kann. Wir
zugeführter Arbeit ermittelt. sprechen dann von einem Kolbenverdichter „ohne schäd-
lichen Raum“.
Zunächst befinde sich der Kolben in seiner unteren Tot-
punktlage (Zustand 1), wobei das Ansaugventil geöffnet
21.2 Arbeits- und Kraftmaschinen ist und das Auslassventil verschlossen ist. Das Arbeitsgas
füllt das maximal zur Verfügung stehende Zylindervo-
lumen V1 bei dem niedrigen Ansaugdruck p1 aus. Nach
Bei Arbeitsmaschinen wird, wie schon erwähnt, dem dem Schließen des Ansaugventils beginnt der eigentliche
System Arbeit zugeführt, um daraus einen veränderten Verdichtungsprozess, indem der Kolben unter Arbeitszu-
thermodynamischen Zustand des Arbeitsmediums zu er- fuhr nach links geschoben wird. Beim Erreichen des ge-
halten. Verdichter sind Arbeitsmaschinen und erhöhen wünschten Enddruckes p2 öffnet das Auslassventil, und
654 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

p1 p p1 V1n = p2 V2n = konstant zur Beschreibung des Verdich-


3 2 tungsvorgangs (siehe Abschn. 20.2). Der Polytropenexpo-
nent n wird dabei in der Regel durch Messdaten an der
aktuellen Maschine bestimmt.
Mit dieser Zustandsänderung erhalten wir aus (21.12):
2  1
p1 V1n n n
1 Wt,12 = dp = (p2 V2 − p1 V1 )
4 p n−1
1
p2 V1 V
%  n− 1 &
n p2 n
a b = p1 V1 −1 . (21.13)
n−1 p1
Abb. 21.3 Darstellung eines Kolbenverdichters (a) und Darstellung der Ar-
beitsweise im p ,V -Diagramm (b) Beispiel In einem Kolbenverdichter soll Luft (als ideales
Gas) bei Umgebungsbedingungen p1 = 1 bar und T1 =
300 K kontinuierlich auf den Druck p2 = 6 bar verdich-
das verdichtete Arbeitsgas wird bei konstantem Druck tet werden. Der Durchsatz soll ṁ = 0,4 kg/s betragen.
ausgeschoben. Dabei bewegt sich der Kolben weiterhin Gegeben sind außerdem für die Luft κ = 1,4 und R =
nach links, bis er im Idealfall seine obere Totpunktlage 287 J/(kg K). Wie groß sind die aufzubringenden techni-
(Zustand 3) bei vernachlässigbar kleinem Zylindervolu- schen Leistungen, die Wärmeströme und die Temperatu-
men (V3 = 0) erreicht. Das Ansaugen frischen Gases wird ren der verdichteten Luft, wenn der Verdichtungsvorgang
nun durch Verschließen des Auslassventils und gleich- als:
Thermodynamik

zeitiges Öffnen des Ansaugventils vorbereitet. Der Druck a) reversibel adiabat


fällt dabei bei gleichem Volumen (V4 = V3 ) auf den Aus-
gangsdruck (p4 = p1 ) ab. Anschließend erfolgt das An- b) polytrop mit n = 1,2
saugen bei konstantem Druck, indem der Kolben nach c) isotherm
rechts verschoben wird, bis er sich wieder in der Aus-
gangslage (1) befindet. betrachtet wird?
Wir beginnen hierzu mit der Betrachtung von (21.13) pro
Die zugeführte technische Arbeit ergibt sich bei Vernach-
Zeitzyklus:
lässigung der reibungsbedingten Dissipationsarbeit und
vernachlässigbarer Änderungen von kinetischer und po- Die kontinuierlich aufzubringende Leistung ergibt sich
tenzieller Energie zu: aus der pro Zeiteinheit aufzuwendenden Arbeit:
%   n− 1 &
2 2 dWt,12 n dV1 p2 n
P= = p1 −1
Wt,12 = Vdp = p2 V2 −p1 V1 − pdV. (21.12) dt n−1 dt p1
1 1
%   n− 1 &
n p2 n
= p1 V̇1 −1 .
Diese Beziehung entspricht (18.19) und zeigt, dass bei n−1 p1
gleichen Systemparametern unter den getroffenen An-
nahmen, die zugeführte Arbeit bei einer Kraftmaschine Aus der thermischen Zustandsgleichung für ein ideales
und die abgegebene Arbeit bei einer Arbeitsmaschine Gas (19.25) erhalten wir pro Zeitzyklus:
äquivalent behandelt werden können. pV̇ = ṁRT
Um die aufzubringende technische Arbeit aus (21.12) und daraus:
berechnen zu können, müssen wir etwas über den Druck- %  n− 1 &
verlauf p(V ) während der Verdichtung aussagen, d. h. n p2 n

diese Zustandsänderung näher charakterisieren. P= ṁRT1 −1 .


n−1 p1
Eine reversibel adiabate Verdichtung setzt einen reibungs-
Für die Endtemperatur und den Wärmestrom gelten bei
freien Vorgang ohne Wärmeaustausch voraus, was tech-
einer allgemeinen polytropen Zustandsänderung nach
nisch nicht zu realisieren ist. Der Grenzfall der isothermen
(20.41) und (20.43) für ein ideales Gas:
Verdichtung, bei welcher die aufzubringende technische
Arbeit für ein gewünschtes Druckverhältnis p2 /p1 mini-   n− 1
T2 p2 n n−κ
miert wird, würde eine ideale Systemkühlung zur Abfuhr = und Q̇ = ṁcv (T2 − T1 )
T1 p1 n−1
der Verdichtungswärme erfordern. Auch dies ist tech-
nisch nicht zu bewerkstelligen. In der Praxis verwendet R
mit cv = .
man deshalb eine polytrope Zustandsänderung pV n = κ−1
21.2 Arbeits- und Kraftmaschinen 655

Für a) reversibel adiabat gilt n = κ, und damit ergibt sich: p

%  1,4−1 & 3 2
1,4 kg J 6 1,4
P= 0,4 287 300 K −1
1,4 − 1 s kg K 1
= 80,6 kW

sowie:
4
  1,4−1 1
6 1,4
T2 = 300 K = 500,5 K
1
und natürlich Q̇ = 0 W. V3 V4 V1 V

Für b) polytrop ergibt sich: Abb. 21.4 Darstellung der Arbeitsweise eines Kolbenverdichters mit schädli-
chem Raum (V3 > 0)
%  1,2−1 &
1,2 kg J 6 1,2
P= 0,4 287 300 K −1
1,2 − 1 s kg K 1 In der technischen Ausführung wird der Kolben durch
= 71,9 kW die Ventileinbauten nicht am Zylinderkopf anliegen, und
es verbleibt ein sogenannter schädlicher Raum (V3 > 0).
sowie Das darin eingeschlossene verdichtete Gas wird beim
Zurückgehen des Kolbens zunächst expandieren, bevor

Thermodynamik
  1,2−1 frisches Gas angesaugt werden kann. Diese Entspannung
6 1,2
T2 = 300 K = 404,4 K und mit Arbeitsabgabe kann ebenfalls als polytrope Zustands-
1
änderung betrachtet werden (Abb. 21.4).
kg 287 J 1,2 − 1,4
Q̇ = 0,4 (404,4 − 300) K Für die gesamte technische Arbeit ergibt sich daraus:
s 1,4 − 1 kg K 1,2 − 1
= −30 kW. Wt = Wt,12 + Wt,34 = Wt,12 − |Wt,34 | , (21.14)

Für c) isotherm gilt mit n = 1 nach Tab. 20.1: und mit p3 = p2 sowie p4 = p1 aus (21.13) erhält man,
    wenn man annimmt, dass die Polytropenexponenten für
p2 kg J 6 die Verdichtung und die Entspannung gleich sind:
P = ṁRT1 ln = 0,4 287 300 K ln
p1 s kg K 1 %   n− 1 &
= 61,7 kW n p2 n
Wt = (p1 V1 − p4 V4 ) −1
n−1 p1
sowie %   n− 1 &
n p2 n
T2 = T1 = 300 K und Q̇ = −P = −61,7 kW. = p1 (V1 − V4 ) −1 . (21.15)
n−1 p1

Man erkennt hier sehr schön, dass die aufzubringende Das geförderte Volumen (Ansaugvolumen): (V1 − V4 ) ist
Leistung bei der isothermen Verdichtung am gerings- also infolge des schädlichen Raums um V4 verringert. Das
ten ist. Allerdings muss hier der Verdichter ideal ge- Hubvolumen ist nun (V1 − V3 ). Führen wir als dimensi-
kühlt werden, was technisch nicht zu realisieren ist, und onslose Größen das Druckverhältnis π, den Füllungsgrad
die Verdichtungsendtemperatur entspricht natürlich der μ und eine Größe ε s zur Charakterisierung des schädli-
Ansaugtemperatur. Die höchste Endtemperatur wird im chen Volumens ein:
betrachteten Beispiel bei der reversibel adiabaten Verdich-
tung erreicht, wobei aufgrund der höheren Temperaturen p2 V1 − V4 V3
π= , μ= , εS = , (21.16)
auch die aufzubringende Leistung am größten ist. Bei der p1 V1 − V3 V1 − V3
betrachteten polytropen Verdichtung muss ein Wärme-
strom von 30 kW an die Umgebung abgeführt werden.  so erhalten wir als Zusammenhang zwischen diesen Grö-
ßen:
Frage 21.1  
Warum wird bei Gasturbinenanlagen mitunter die ange- μ = 1 − ε S π 1/n − 1 . (21.17)
saugte Luft durch Wassereinspritzung vor der Verdich-
tung gekühlt? Diese Beziehung zeigt anschaulich, wie für ein gewünsch-
tes Verdichtungsdruckverhältnis der schädliche Raum
656 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

den Füllungsgrad und damit die Fördermenge bestimmt. h p2

wt,Verl,12
Bei Großverdichtern kann daher durch eine Steuerung
des schädlichen Volumens (Zu- und Abschalten von zu- 2
sätzlichen „schädlichen Räumen“) der geförderte Mas-
senstrom bei konstanter Drehzahl geregelt werden. In der 2,rev
Praxis kann der schädliche Raum bei Ventilverdichtern p1

wt,12
wt,12,rev
bis auf 1 bis 2 % und bei Schiebeverdichtern auf 3 bis 4 %
des Hubvolumens vermindert werden.
1
Frage 21.2
Welcher Zusammenhang ergibt sich zwischen dem
Druckverhältnis π und dem relativen Schadraum ε s für
den Grenzfall eines Kolbenverdichters mit schädlichem s
Raum, bei dem keine Förderung des Arbeitsmediums
mehr vorliegt? Abb. 21.5 Veranschaulichung zur Definition des isentropen Verdichterwir-
kungsgrades

reversibel adiabater Arbeit bei der Entspannung von ho-


Müssen Turbomaschinen hem Druck (1) zu niederem Druck (2 bzw. 2,rev).
anders analysiert werden?
wt,12 h − h2
ηsT = = 1 . (21.19)
Thermodynamik

wt,12,rev h1 − h2,rev
Turbomaschinen (z. B. Turboverdichter oder Gasturbi-
nen) werden nach der Strömungsrichtung des Arbeits- Frage 21.3
mediums im Laufschaufelkranz in Axial-, Radial- oder Wie kann der isentrope Turbinenwirkungsgrad in einem
Diagonalmaschinen eingeteilt. Bei einem Turboverdichter h,s-Diagramm veranschaulicht werden?
wird das angesaugte Arbeitsmedium durch die Rotati-
on der Laufschaufeln unter Zufuhr von Arbeit zunächst
beschleunigt und anschließend zur Druckerhöhung ver-
zögert. Die thermodynamische Beschreibung über Eintritt
(Ansaugen), Druckerhöhung (Verdichtung) und Austritt
21.3 Wärmekraftprozesse und
(Ausstoßen) kann daher in gleicher Weise wie für Kol- thermische Wirkungsgrade
benverdichter erfolgen. Da es sich hier um einen offenen
Fließprozess handelt, werden wir im Allgemeinen spezi-
fische Größen zur Beschreibung verwenden. Die Gehäu- Wir betrachten nun verschiedene Wärmekraftprozesse.
seabmessungen sind bei Turbomaschinen oftmals recht Bei diesen Rechtsprozessen wird dem verdichteten Ar-
groß, sodass diese in guter Näherung als adiabat bezüg- beitsmedium Wärme durch Verbrennung oder Wärme-
lich der Umgebung betrachtet werden können und die übertragung zugeführt und durch anschließende Ent-
Verdichtungs- bzw. Entspannungsprozesse im Idealfall spannung in der Summe Arbeit erhalten. Diese Arbeit
reversibel adiabat (isentrop) ablaufen könnten. kann direkt zum Antrieb einer Maschine (motorische
Prozesse) oder als Schubarbeit bei Triebwerksprozessen
Die in der Realität auftretenden Verluste werden hier genutzt werden. Durch Energieumwandlung in einem
durch sogenannte isentrope Wirkungsgrade erfasst. Der Generator in Gas- oder Dampfkraftanlagen kann diese
isentrope Verdichterwirkungsgrad ηsV setzt die im rever- Arbeit auch zur Erzeugung elektrischer Energie einge-
sibel adiabaten Fall aufzuwendende technische Arbeit ins setzt werden.
Verhältnis zur wirklich aufzuwendenden technischen Ar-
beit für das gewünschte Druckverhältnis (Abb. 21.5). Ver-
nachlässigt man die kinetischen und potenziellen Ener- Die Beschreibung motorischer Prozesse
gieänderungen, so erhält man:
kann allgemein durch den gemischten
wt,12,rev h − h1 Vergleichsprozess nach Seiliger erfolgen
ηsV = = 2,rev . (21.18)
wt,12 h2 − h1
Der Seiliger-Prozess ist der Vergleichsprozess für Ver-
Entsprechende Überlegungen führen bei Turbinen als brennungsmotoren, da er die realen Vorgänge in ver-
Arbeitsmaschinen zur Definition des isentropen Turbi- schiedenen Motorvarianten in guter Näherung darstellt
nenwirkungsgrades ηsT als Verhältnis von wirklicher zu und außerdem den Otto- und den Diesel-Prozess als
21.3 Wärmekraftprozesse und thermische Wirkungsgrade 657

Abb. 21.6 Zustandsänderun- p q34 T


gen des Seiliger-Prozesses im a q34
4
p ,v -Diagramm und b im T ,s - 3 4
Diagramm q23 q23 3

p = konst.
2 5
2
s = konst. v = konst.

5 q51

q51 1
1
v s
a b

Spezialfälle beschreibt. Dieser Prozess soll daher hier Zur Ermittlung des thermischen Wirkungsgrades benöti-
etwas ausführlicher betrachtet werden, um die Vorge- gen wir die zu- und abgeführten spezifischen Wärmen:
hensweise bei der Behandlung von Vergleichsprozessen
mit Gasen als Arbeitsmedium zu erläutern. Betrach- qzu,23 = q23 = u3 − u2 (isochor),
ten wir zunächst nochmals Abb. 21.1. Die Besonderheit qzu,34 = q34 = h4 − h3 (isobar),
des Seiliger-Prozesses liegt nun in der Beschreibung der
qab = q51 = u1 − u5 (isochor).
Wärmezufuhr während des Verbrennungsvorgangs. Die-

Thermodynamik
se kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Wird der Somit erhalten wir für den thermischen Wirkungsgrad
Brennstoff mit der Luft vorgemischt (z. B. im Vergaser) nach (21.9):
und das angesaugte Gemisch nach der Verdichtung z. B.
durch einen Zündfunken fremdgezündet, verläuft die |qab | u5 − u1
Verbrennung sehr rasch, sodass sich der Arbeitskolben ηth = 1 − = 1− . (21.23)
qzu u3 − u2 + h4 − h3
im Zylinder während der Verbrennung fast in gleicher
Position befindet und der Verbrennungsvorgang als iso- Zur weiteren Analyse benötigen wir nun die Zusammen-
chore Wärmezufuhr idealisiert werden kann. Wird der hänge zwischen den kalorischen Zustandsgrößen (u, h)
Brennstoff in angesaugte und bereits hochverdichtete Luft und den thermischen Zustandsgrößen (p, T, v) für das
direkt eingespritzt, kann er aufgrund der vorliegenden jeweilige Arbeitsmedium. Bei Gasprozessen wird oft-
hohen Temperaturen selbst zünden. Hier können wir den mals ideales Gasverhalten angenommen. Moderne Ver-
Ablauf der Verbrennung durch den Einspritzvorgang und brennungsmotoren arbeiten mittlerweile bei sehr hohem
die Kolbenbewegung so steuern, dass eine isobare Wär- Druck, sodass vielfach zur genauen Berechnung Real-
mezufuhr erreicht wird. gasverhalten berücksichtigt werden muss. Betrachten wir
Der Seiliger-Prozess umfasst nun beide Möglichkeiten hingegen den vereinfachten Fall eines kalorisch perfekten
durch eine Aufteilung des Verbrennungsvorgangs (2 → Gases (cv und cp = konst.), so gilt mit (20.25) und (20.29):
3 → 4 in Abb. 21.1). Der Prozess wird durch folgende re-
versible Zustandsänderungen beschrieben (Abb. 21.6): q23 = u3 − u2 = cv (T3 − T2 ) ,
q34 = h4 − h3 = cp (T4 − T3 ) ,
1 → 2: reversibel adiabate Verdichtung, q51 = u1 − u5 = cv (T1 − T5 ) . (21.24)
2 → 3: isochore Wärmezufuhr,
3 → 4: isobare Wärmezufuhr, Damit erhält man für (21.23) mit κ = cp /cv für ein ideales
4 → 5: reversibel adiabate Entspannung, Gas:
5 → 1: isochore Wärmeabgabe.
T5 − T1
ηth = 1 − c
Die Zustandsänderungen der Verdichtung und der Wär- T3 − T2 + cpv (T4 − T3 )
mezufuhr werden durch folgende dimensionslose Kenn- ⎛ ⎞
T5
T1 ⎝ − 1
größen zur verallgemeinerten Beschreibung charakteri- = 1−
T1
 ⎠. (21.25)
siert: T2 T3
− 1 + κ T3 T4 − 1
T2 T2 T3

Verdichtungsverhältnis: ε = v1 /v2 , (21.20)


Die Beziehungen für die verschiedenen Temperaturver-
Drucksteigerungsverhältnis: ψ = p3 /p2 , (21.21) hältnisse erhalten wir nun aus der Betrachtung der ein-
Einspritzverhältnis: ϕ = v4 /v3 . (21.22) zelnen Zustandsänderungen:
658 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

Abb. 21.7 Zustandsänderun- p T


3
gen des Otto-Prozesses im a 3
p ,v -Diagramm und im b T ,s - q23 q23
Diagramm

2
s = konst. 2 v = konst.
4 4
q41
q41
1 1

v s
a b

1 → 2: reversibel adiabate Verdichtung: (Abb. 21.7). Er ist daher der Vergleichsprozess für Ver-
brennungsmotoren, die mit Gleichraumverbrennung ar-
T2 /T1 = (v1 /v2 )κ −1 = εκ −1 , beiten.

2 → 3: isochore Wärmezufuhr: Der vorgemischte Kraftstoff wird angesaugt und rever-


sibel adiabat verdichtet (1 → 2), bevor die Fremdzün-
T3 /T2 = p3 /p2 = ψ, dung erfolgt. Die Verbrennung (2 → 3) findet bei kon-
stantem Volumen statt und während der reversibel adia-
Thermodynamik

3 → 4: isobare Wärmezufuhr: baten Entspannung (3 → 4) wird Arbeit abgegeben. Das


Ausstoßen der Abgase und der damit verbundene La-
T4 /T3 = v4 /v3 = ϕ,
dungswechsel wird als isochore Wärmeabgabe (4 → 1)
4 → 5: reversibel adiabate Entspannung: idealisiert. Im Vergleich zum Seiliger-Prozess fallen damit
die Zustandspunkte 3 und 4 zum Zustandspunkt 3 des
T5 /T4 = (v4 /v5 )κ −1 Otto-Prozesses zusammen, und der Zustandspunkt 5 des
Seiliger-Prozesses wird zum Zustandspunkt 4 im Otto-
und mit Prozess. Da das Einspritzverhältnis ϕ nun gleich eins ist,
wird der thermische Wirkungsgrad nach (21.26):
5 → 1: isochore Wärmeabgabe (v1 = v5 ) daraus:
1 T
T5 /T4 = (v4 /v1 )κ −1 . ηth = 1 − = 1− 1. (21.27)
εκ −1 T2
Mit
Der thermische Wirkungsgrad des Otto-Prozesses hängt
v4 v v v ϕ
= 4 3 2 = und also nur vom Verdichtungsverhältnis ab und steigt mit
v1 v3 v2 v1 ε wachsendem ε an. Bei zu hoher Verdichtung des vorge-
T5 T T T T  ϕ κ − 1 mischten Kraftstoffes und der damit verbundenen hohen
= 5 4 3 2 = ϕψεκ −1 = ϕκ ψ
T1 T4 T3 T2 T1 ε Temperaturen besteht allerdings die Gefahr einer Selbst-
zündung des Kraftstoffes, bevor der Kolben seine obere
ergibt sich für den thermischen Wirkungsgrad des Totlage erreicht hat.
Seiliger-Prozesses:

ϕκ ψ − 1 Beispiel In einem Ottomotor sei als Endtemperatur


ηth = 1 − . (21.26)
εκ −1 [ψ − 1 + κψ( ϕ − 1)] nach der reversibel adiabaten Verdichtung eine maxima-
le Temperatur von 400 ◦ C zulässig. Das Arbeitsmedium
(Brenngemisch als ideales Gas mit κ = 1,35) wird bei
30 ◦ C angesaugt. Welches Verdichtungsverhältnis kann
Der Otto-Prozess betrachtet die Verbrennung gewählt werden, und wie groß ist dann der thermische
bei konstantem Volumen Wirkungsgrad des Motors?
Aus der Beziehung für eine reversibel adiabate Zustands-
Beim Otto-Prozess läuft der Verbrennungsvorgang so änderung ergibt sich:
schnell ab, dass der Kolben sich während der Verbren-
nung praktisch nicht bewegt und deshalb die gesam-
te Wärmezufuhr als isochor beschrieben werden kann ε = (T2 /T1 )1/(κ −1) = (673/303)1/(1,35−1) = 9,78
21.3 Wärmekraftprozesse und thermische Wirkungsgrade 659

Abb. 21.8 Zustandsänderun- p T


gen des Diesel-Prozesses im q23 3
q23
p ,v -Diagramm (a) und im T ,s - 2 3
Diagramm (b)

2 p = konst. 4
s = konst.
v = konst.
4
q41 q41

1 1

v s
a b

und aus (21.27) der thermische Wirkungsgrad zu: Frage 21.5


1 Für einen Otto-Prozess ist das Verdichtungsverhältnis
ηth = 1 − = 0,55. gleich 8, und für einen Diesel-Prozess sind das Verdich-
9,78(1,35−1) tungsverhältnis gleich 16, das Einspritzverhältnis gleich

1,58. Wie groß sind die thermischen Wirkungsgrade bei-
der Prozesse für ein ideales Gas mit κ = 1,4 als Arbeits-
Frage 21.4
medium?
Wodurch ist das Verdichtungsverhältnis bei einem Otto-

Thermodynamik
motor eingeschränkt?

Der Stirling-Prozess stellt den Vergleichsprozess


Beim Diesel-Prozess verläuft die Verbrennung für Heißluftmotoren dar
bei konstantem Druck
Der Stirling-Prozess ist ein motorischer Vergleichsprozess
mit äußerer Wärmezufuhr und innerem regenerativen
Beim Diesel-Prozess wird der Brennstoff nach der reversi-
Wärmeaustausch. Sein Prozessablauf wird durch zwei
bel adiabaten Verdichtung der angesaugten Luft (1 → 2)
Isothermen (1 → 2 und 3 → 4) und zwei Isochoren (2 → 3
eingespritzt. Hierbei bewegt sich der Kolben nach unten
und 4 → 1) idealisiert (Abb. 21.10). Um die Verdichtung
während der Verbrennungsvorgang abläuft, sodass man
(1 → 2) isotherm ausführen zu können, muss Wärme über
eine Gleichdruckverbrennung erreichen kann. Die Wär-
die Oberfläche des Verdichtungsraums (z. B. Zylinder)
mezufuhr (2 → 3) wird als isobar angenommen. Nach der
abgegeben werden. Außerdem muss für die isotherme
reversibel adiabaten Entspannung (3 → 4) wird das Aus-
Entspannung (3 → 4) über die Oberfläche eines zweiten
stoßen der Abgase wiederum als isochore Wärmeabgabe
Zylinders Wärme zugeführt werden.
(4 → 1) behandelt. In diesem Fall fallen die Zustands-
punkte 2 und 3 des Seiliger-Prozesses formal zusammen. Eine häufig auftretende Version der Stirling-Maschinen
Nach der Verbrennung liegt der Zustandspunkt 3 des arbeitet mit zwei Kolben (Arbeits- und Verdrängerkol-
Diesel-Prozesses vor (Abb. 21.8). ben), wie in Abb. 21.9 gezeigt.
Da die Wärmezufuhr isobar verläuft, wird das Druckstei- Durch den Verdrängerkolben wird das Arbeitsgas ab-
gerungsverhältnis ψ gleich eins, und es ergibt sich für den wechselnd zum heißen und kalten Zylinder bei gleichem
thermischen Wirkungsgrad aus (21.26): spezifischen Gesamtzylindervolumen (isochor, d. h., V4 =
V1 und V3 = V2 ) gefördert. Dabei durchströmt es einen
ϕκ − 1 Wärmeübertrager. Bei der Durchströmung von 4 → 1 gibt
ηth = 1 − . (21.28)
εκ −1 κ ( ϕ − 1) das Arbeitsgas Wärme an den Wärmeübertrager ab, wo-
bei sich dieser erwärmt. Bei der Durchströmung 2 → 3
Der thermische Wirkungsgrad nimmt auch beim Diesel- nimmt das kalte Gas Wärme von dem Wärmeübertrager
Prozesses mit steigendem Verdichtungsverhältnis zu, auf, wobei sich dieser abkühlt.
aber bei gegebenem ε mit wachsendem Einspritzverhält-
nis ab. Dies macht sich vor allem bei kleinen Verdich- Im Idealfall ist dieser regenerative Wärmeaustausch
tungsverhältnissen bemerkbar. Im theoretischen Grenz- durch die Gleichheit der Beträge der spezifischen Wär-
fall mit ϕ = 1 stimmt der thermische Wirkungsgrad des men, d. h. q23 = −q41 = |q41 |, gekennzeichnet. Daher
Diesel-Prozesses mit dem des Otto-Prozesses überein. müssen wir bei der Ermittlung des thermischen Wir-
660 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

Leitbeispiel Antriebsstrang
Vergleich des Otto-Prozesses mit dem Diesel-Prozess

Hier sollen nun die bisherigen Ergebnisse genutzt wer- zessarbeit bei gleicher spezifischer Wärmeabgabe) ge-
den, um den Otto- und den Diesel-Prozess miteinander genüber dem Diesel-Prozess. Allerdings ist dann auch
zu vergleichen und eine Bewertung anhand des ther- die Maximaltemperatur (thermische Belastung) beim
mischen Wirkungsgrades vorzunehmen. Stellen wir Otto-Prozess höher.
(21.27) und (21.28) gegenüber,
Der Otto-Prozess ist aber durch die Gefahr der Selbst-
1 zündung in dem möglichen Verdichtungsverhältnis
ηth = 1 − , (21.27)
εκ −1 gegenüber dem Diesel-Prozess eingeschränkt. Verglei-
ϕκ − 1 chen wir nun beide Prozesse bei gleichen maximalen
ηth = 1 − κ −1 , (21.28) Temperatur- und Druckbedingungen, so ergeben sich
ε κ ( ϕ − 1)
für den Diesel-Prozess ein höheres Verdichtungsver-
so sehen wir, dass bei gleichem Verdichtungsverhält- hältnis und eine größere spezifische Kreisprozessarbeit
nis ε der Diesel-Prozess einen kleineren thermischen (eingeschlossene Fläche) bei gleicher spezifischer Wär-
Thermodynamik

Wirkungsgrad aufweist, da das Einspritzverhältnis ϕ meabgabe, wie in der folgenden Abbildung gezeigt.
größer als eins ist. Dies erkennt man im T,s-Diagramm
Die Wärmezufuhr des Diesel-Prozesses findet jetzt bei
in der folgenden Abbildung, da die Isochore bei der
höherer mittlerer Temperatur statt, und bei wieder-
Wärmezufuhr des Otto-Prozesses steiler verläuft als
um gleicher Wärmeabgabe für beide Prozesse ergibt
die Isobare des Diesel-Prozesses.
sich ein höherer thermischer Wirkungsgrad für den
Damit weist der Otto-Prozess eine höhere mittlere Diesel-Prozess. In der Praxis weisen daher Dieselmo-
Temperatur bei der Wärmezufuhr auf, und bei glei- toren größere thermische Wirkungsgrade auf, da hier
cher Wärmeabgabe für beide Prozesse ergibt sich ein das Verdichtungsverhältnis deutlich höher als bei Ot-
höherer Wirkungsgrad (größere spezifische Kreispro- tomotoren gewählt werden kann.

T 3, Otto T 3
p = konst.
v = konst.
3, Diesel
2, Diesel

4 v = konst. 4
2 p = konst.
2, Otto

v = konst. v = konst.
1 1

a s b s
a Vergleich bei gleichem Verdichtungsverhältnis im T ,s -Diagramm. b Vergleich bei gleichem Maximaldruck und gleicher Maximaltemperatur im
T ,s -Diagramm
21.3 Wärmekraftprozesse und thermische Wirkungsgrade 661

q34 q34
Erhitzer
Verdränger-
kolben
V3 = V2 , T 2
Regenerator V4 , T 4 = T 3

Kühler V2 ,T 2 = T1
V1 , T 1

q12
q12
Arbeitskolben

1. Takt 2. Takt 3. Takt 4. Takt

Abb. 21.9 Prozessablauf in einem Stirling-Motor

Abb. 21.10 Zustandsände- p T


3 q34
rungen des Stirling-Prozesses
im p ,v -Diagramm (a) und im 3 4
–q41 = |q41| = q23

Thermodynamik
T ,s -Diagramm (b) q23
q34
v = konst.
2
T = konst. 4
q41
2 1
q12 q12
1
v s
a b

kungsgrades nur die zu- und abgeführten spezifischen Für Gasturbinenanlagen und Triebwerke ist der
Wärmen bei der isothermen Entspannung und Verdich-
Joule-Prozess der Vergleichsprozess
tung betrachten.
Für ein ideales Gas ergibt sich mit v4 = v1 und v3 = v2 , da
das Arbeitsgas in einem geschlossenen System mit kon- Der Joule-Prozess (mitunter auch Joule-Brayton- oder
stanter Masse vorliegt: Brayton-Prozess) ist der Vergleichsprozess für geschlosse-
ne und offene Gasturbinenanlagen sowie für Triebwerke.
|q12 | RT1 ln (v1 v2 ) T Während bei motorischen Prozessen die Arbeitsmaschi-
ηth = 1 − = 1− = 1− 1. (21.29)
q34 RT3 ln (v4 v3 ) T3 ne (Verdichtung) und die Kraftmaschine (Entspannung)
im Allgemeinen in einem Zylinder integriert sind, sind
Durch die isotherme Wärmezu- und -abfuhr und den in- bei Gasturbinenanlagen der Verdichter und die Gasturbi-
neren regenerativen Wärmeaustausch ist der thermische ne räumlich getrennt, aber z. B. über eine oder mehrere
Wirkungsgrad des Stirling-Prozesses theoretisch gleich Wellen miteinander verbunden. Offene Gasturbinenanla-
groß wie der thermische Wirkungsgrad des Carnot- gen integrieren somit in einem Aggregat einen Verdichter,
Prozesses (siehe Abschn. 20.1). eine Brennkammer und eine Turbine und stoßen mit dem
Abgas nach der Turbine einen Enthalpiestrom in die Um-
Frage 21.6 gebung aus, was wir als Wärmeabgabe interpretieren
Wieso weist der Stirling-Prozess bei gegebenen oberen können. Bei geschlossenen Anlagen ist die Brennkam-
und unteren Prozesstemperaturen den gleichen thermi- mer durch einen Wärmeübertrager ersetzt. Ein weiterer
schen Wirkungsgrad wie der Carnot-Prozess auf? Wärmeübertrager realisiert die Wärmeabgabe an die Um-
gebung.
662 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

Abb. 21.11 Zustandsände- p T 3


rungen des Joule-Prozesses im
p ,v -Diagramm (a) und im T ,s - q23 q23
Diagramm (b) 2 3

p = konst. 4
2
s = konst.
q41

1 q41 4 1

v s
a b

Abb. 21.12 Schematische h


Darstellung eines Gasturbinen- c1 c6 4
Strahltriebwerkes (a) und des h4
zugehörigen Vergleichsprozesses q34 –wt,45
im h ,s -Diagramm (b) 3
h3 p3 5
wt,23 c62

Brennkammer
p6 2
h2 2
Verdichter
c12 6
Diffusor

–q61

Turbine
2
Thermodynamik

Düse
h1
1
1 2 3 4 5 6
s
a b

Die Zustandsänderungen für die Verdichtung und die Der Joule-Prozess kann auch als Vergleichsprozess für
Entspannung (1 → 2 und 3 → 4) sind als reversibel adia- Strahltriebwerke herangezogen werden. Während bei
bat idealisiert. Die Wärmezufuhr und die Wärmeabfuhr Gasturbinenanlagen die abgegebene Arbeit in der Regel
(2 → 3 und 4 → 1) werden isobar betrachtet (Abb. 21.11). durch einen Generator in elektrische Energie umgewan-
Damit ist der thermische Wirkungsgrad für ein ideales delt wird, soll bei Triebwerken Schub erzeugt werden.
Gas mit cp = konst. als Arbeitsmittel: Das bedeutet, dass z. B. bei einem Flugtriebwerk die Tur-
binenwellenarbeit nur verwendet wird, um den Verdich-
ter anzutreiben. Im Unterschied zu einer Gasturbinenan-
|q41 | h − h1
ηth = 1 − = 1− 4 lage weisen jetzt die Differenzen der kinetischen Energien
q23 h3 − h2 für die ein- und austretenden Massenströme deutliche
  Energiebeiträge auf und müssen mit berücksichtigt wer-
T T4 /T1 − 1 T
= 1− 1 = 1− 1, (21.30) den (Abb. 21.12).
T2 T3 /T2 − 1 T2
Die Anströmgeschwindigkeit (Fluggeschwindigkeit) wol-
len wir mit c1 und die Strahlaustrittsgeschwindigkeit mit
wobei T4 /T1 = T3 /T2 aus den Isobaren p2 = p3 und p4 =
c6 bezeichnen. Die Geschwindigkeit am Eintritt wird im
p1 und der Betrachtung für die reversibel adiabaten Zu-
Diffusor mit Druckanstieg vollständig verzögert, was als
standsänderungen (Tp(1−κ )/κ = konst.) bei der Verdich-
reversibel adiabate Verdichtung (1 → 2, h2 = h1 + c21 /2)
tung und der Entspannung folgt.
beschrieben werden kann. Anschließend erfolgen eine
weitere reversibel adiabate Verdichtung (2 → 3) durch
Der thermische Wirkungsgrad hängt damit hier wie beim
den Turboverdichter, die isobare Verbrennung (3 → 4)
Otto-Prozess nur vom Temperaturverhältnis bei der Ver-
und die reversibel adiabate Entspannung in der Turbi-
dichtung ab. Natürlich können wir damit aufgrund der
reversibel adiabaten Verdichtung den Wirkungsgrad auch ne (4 → 5), wobei hier wie bisher die Änderungen in
direkt als Funktion des Verdichtungsdruckverhältnisses der kinetischen Energie vernachlässigt werden können.
π = p2 /p1 darstellen: Am Turbinenaustritt wird der Massenstrom in der Dü-
se beschleunigt, um Schub durch kinetische Energie zu
erhalten. Dieser Beschleunigungsvorgang kann ebenfalls
  κ −1   κ −1
T p1 κ 1 κ als reversibel adiabate Entspannung (5 → 6, h5 = h6 +
ηth = 1− 1 = 1− = 1− . (21.31) c26 /2) aufgefasst werden. Durch diese Betrachtung können
T2 p2 π
21.3 Wärmekraftprozesse und thermische Wirkungsgrade 663

Vertiefung: Joule-Prozess

Wie beeinflusst die maximale Temperatur T3 nach der das Maximum der Kreisprozessarbeit bezüglich des
Verbrennung (die sogenannte Turbineneintrittstempe- Druckverhältnisses (∂λ/∂π = 0) erhalten wir den Zu-
ratur) bzw. das Temperaturverhältnis τ = T3 /T1 den sammenhang:
Joule-Prozess? Dazu sehen wir uns die Kreisprozess-
arbeit in einer dimensionslosen Form an: κ
πopt = τ 2(κ −1) .
| w| cp [(T3 − T2 ) − (T4 − T1 )]
λ= =
cp T1 cp T1 Während der thermische Wirkungsgrad mit zuneh-
T3 T2 T mendem Druckverhältnis kontinuierlich ansteigt, er-
= − − 4 + 1.
T1 T1 T1 gibt sich für die maximale Kreisprozessarbeit ein op-
timaler Wert für π, der mit zunehmendem τ ansteigt.
Mit T4 /T1 = T3 /T2 = (T3 /T1 )(T1 /T2 ) folgt daraus:
Obergrenzen in der Turbineneintrittstemperatur sind
κ −1 1− κ hier vor allem durch die Temperaturbeständigkeit der
λ = τ−π κ − τπ κ + 1.
Bauteile in der Brennkammer und der Turbine sowie
Neben dem Druckverhältnis π beeinflusst also auch der jeweiligen Kühlungstechnologie für diese Bauteile
das Temperaturverhältnis τ die Kreisprozessarbeit. Für gegeben.

Thermodynamik
wir die kinetischen Energien einfach in den Verdichtungs- kes ist jedoch die Nutzleistung als Produkt aus Schub-
bzw. Entspannungsprozess einbinden, sodass die gesam- kraft und Fluggeschwindigkeit c1 . Daraus wird der Trieb-
te reversibel adiabate Verdichtung von 1 nach 3 und die werkswirkungsgrad definiert:
gesamte reversibel adiabate Entspannung von 4 nach 6
behandelt werden. Die spezifische Wärmezufuhr und die ṁ(c6 − c1 )c1
ηTW =
spezifische Wärmeabfuhr sind dann durch ṁqzu
2(c6 − c1 )c1 c26 − c21 2c1
qzu = q34 = h4 − h3 , qab = q61 = h1 − h6 (21.32) = = η = ηV ηth .
c26 − c21 2qzu c6 + c1 th
gegeben. Wir erhalten für den thermischen Wirkungsgrad (21.35)
analog zu (21.30) für ein ideales Gas:
Wir erkennen, dass der Triebwerkswirkungsgrad um den
|q61 | h − h1 Faktor ηV (Vortriebswirkungsgrad) kleiner ist als der ther-
ηth = 1 − = 1− 6 mische Wirkungsgrad. Der rein mechanische Vortriebs-
q34 h4 − h3
  wirkungsgrad ist wegen c1 < c6 kleiner als eins. Diese
T1 T6 /T1 − 1 T Art der multiplikativen Wirkungsgradbetrachtung wird
= 1− = 1− 1
T3 T4 /T3 − 1 T3 auch verallgemeinert angewendet. Betrachten wir z. B. ei-
  κ −1 ne Gasturbinenanlage zur Stromerzeugung (Nutzen), so
1 κ
= 1− ∗ , (21.33) können wir den effektiven Gesamtwirkungsgrad in fol-
π gender Art darstellen:
wobei π ∗ jetzt das Druckverhältnis p3 /p1 für die gesamte |wel |
Verdichtung (Diffusor und Turboverdichter) darstellt. ηeff =
qzu
Mit wt,23 = h3 − h2 = |wt,45 | = h4 − h5 aus der Gleichheit |w | |wtech | |wmech | |wel |
von Turboverdichter- und Turbinenarbeit (wenn Verdich- = theor = ηth ηg ηmech ηel .
qzu |wtheor | |wtech | |wmech |
ter und Turbine auf einer Welle sitzen) können wir den (21.36)
thermischen Wirkungsgrad auch wie folgt angeben
Neben dem thermischen Wirkungsgrad, der die mög-
| w| h − h6 − ( h2 − h1 ) c2 − c21 liche theoretische Arbeit aus der zugeführten Wärme
ηth = = 5 = 6 . (21.34)
qzu qzu 2qzu beschreibt, gehen hier der mechanische Wirkungsgrad
(z. B. Reibungsverluste in Lagern), der elektrische Wir-
Der thermische Wirkungsgrad nach (21.33) oder (21.34) kungsgrad (Verluste im Generator) und der Gütegrad ein.
wird bei Flugtriebwerken als idealer innerer Wirkungs- Dieser beschreibt dabei die im realen Prozess auftreten-
grad bezeichnet. Der eigentliche Nutzen eines Triebwer- den Verluste innerhalb des Kreisprozesses.
664 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

Abb. 21.13 Schematische Dar- T


stellung einer Dampfkraftanlage p = konst.
(a) und des Clausius-Rankine- K 5
Heißdampfprozesses im 5
T ,s -Diagramm (b) mit „einge- 3
Ü T G p = konst. 4
schlossenem“ Carnot-Prozess 4
p,T = konst.
Ke 6 2
2
Ko 6
P 1

1
a Clausius-Rankine-Prozess s
b Carnot-Prozess

Dampfkraftprozesse werden nach dem und die isobare Kondensation (Ko, 6 → 1) mit Wärmeab-
Clausius-Rankine-Prozess beschrieben fuhr bis zur Siedelinie. Die von der Turbine abgegebene
Arbeit wird im Generator (G) in elektrische Energie um-
gewandelt.
Bei Dampfkraftprozessen unterliegt das Arbeitsmedium
(im Allgemeinen Wasser) innerhalb des Kreisprozesses Für den thermischen Wirkungsgrad erhalten wir:
Thermodynamik

zwei Phasenwechseln (Verdampfen und Kondensieren im


|q61 | h − h1
Nassdampfgebiet). Hier müssen das Arbeitsmedium als ηth = 1 − = 1− 6 . (21.37)
realer Stoff beschrieben und die Stoffeigenschaften z. B. q23 + q34 + q45 h5 − h2
über Tabellen oder komplexere Zustandsbeziehungen er-
Frage 21.7
mittelt werden. Bei Vorgängen mit Phasenwechsel sind
im Nassdampfgebiet die Isobaren gleichzeitig auch Iso- Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede ha-
thermen (siehe Abschn. 20.4). Damit entspricht der tech- ben Joule-Prozess und Clausius-Rankine-Prozess?
nisch einfacher zu realisierende isobare Wärmeaustausch
dort auch einem isothermen Wärmeaustausch, sodass im
Nassdampfgebiet theoretisch ein Carnot-Prozess realisier-
bar ist. Praktisch müssten dann die Verdichtung und die
Entspannung mit einem Arbeitsmedium mit zwei Pha- 21.4 Kälteprozesse und
sen durchgeführt werden. Wesentlich einfacher ist es, die Leistungszahlen
Verdichtung durch Pumpen mit dem Arbeitsmedium in
der flüssigen Phase durchzuführen. Die dazu aufzubrin-
gende Pumpenarbeit ist hier deutlich geringer. Ebenso Die im folgenden Abschnitt beschriebenen Kältemaschi-
ist die Entspannung in einer Turbine im Nassdampf- nenprozesse gehören zum Gebiet der Kältetechnik. In der
gebiet praktisch schwierig zu realisieren, sodass der Literatur existieren verschiedene Definitionen für den Be-
Dampf in technischen Anlagen zusätzlich überhitzt wird reich der Kältetechnik in Abgrenzung zum Bereich der
(Heißdampf). Der entstehende Prozess wird als Clausius- Kryotechnik. Oft wird als Trennungslinie die Siedetem-
Rankine-Heißdampfprozess bezeichnet. Er ist der Ver- peratur von Stickstoff (TS = 77,4 K bei 1 bar) verwendet.
Oberhalb dieser Temperatur spricht man von Kältetech-
gleichsprozess für Dampfkraftanlagen. Ohne Überhit-
nik und unterhalb von Kryotechnik.
zung würden wir den Prozess als Clausius-Rankine-
Sattdampfprozess bezeichnen, da die Entspannung dann Eine der üblichen Aufgaben von Kältemaschinen ist die
vom Sattdampfzustand (Dampf bei Sättigungsbedingun- Kühlhaltung von Räumen, deren Temperatur niedriger
gen) des Arbeitsmediums aus beginnt. Abbildung 21.13 als die der Umgebung sein soll und in die wegen zu
zeigt ein Anlagenschema und das T, s-Diagramm für den geringer Wärmedämmung Wärme von außen einströmt.
Heißdampf-Vergleichsprozess. Nach der reversibel adia- Eine andere sehr wichtige Aufgabe ist die Erzeugung
baten Druckerhöhung durch die Speisewasserpumpe (P, von künstlichem Eis aus flüssigem Wasser. In beiden
1 → 2) erfolgt die isobare Wärmezufuhr in einem Feue- Fällen handelt es sich um einen Wärmeentzug bei über-
rungskessel (Ke) zunächst bis zur Siedelinie (2 → 3) und wiegend konstanten Temperaturen. Davon unterscheidet
anschließend isobar-isotherm bis zur Taulinie, wo dann sich grundsätzlich die Aufgabe, einen gegebenen Stoff
Sattdampf vorliegt (3 → 4). Nach der weiteren isobaren vom Umgebungszustand auf eine tiefere Temperatur ab-
Wärmezufuhr im Überhitzer (Ü, 4 → 5) erfolgen die re- zukühlen, weil hier der Wärmeentzug bei veränderlichen
versibel adiabate Entspannung in der Turbine (T, 5 → 6) Temperaturen erfolgt.
21.4 Kälteprozesse und Leistungszahlen 665

Vertiefung: Dampfturbine

Wie in Abb. 21.13 gezeigt, sind die Betriebsparame- Wärme zu (isobare Zwischenüberhitzung), bevor dann
ter durch die maximal mögliche Dampftemperatur (T5 ) die Entspannung in der Niederdruckturbine beendet
mitunter so festgelegt, dass sich der Endpunkt der wird. Durch die zusätzliche Wärmezufuhr (6 → 7) und
Entspannung (6) im Nassdampfgebiet befindet. Dann Arbeitsabgabe (7 → 8) erhöht sich auch der thermische
kann es in den letzten Turbinenstufen zu deutlicher Wirkungsgrad, wie in der folgenden Abbildung zu er-
Tropfenbildung und damit zur Erosion der Turbinen- kennen ist.
schaufeln oder des Gehäuses kommen. |q81 |
ηth,ZÜ = 1 −
Um dies zu vermeiden bzw. um die Größen der Trop- q23 + q34 + q45 + q67
fen zu reduzieren, führt man den Dampf nach einer h8 − h1
= 1−
Teilentspannung (in der Hochdruckturbine) nochmals h5 − h2 + h7 − h6

T h
p3 p3
5 7 5 7
Tmax
Tmax p6
K p6 6
3 K 4
4 6
3

Thermodynamik
8
2
2
1
8
1

a s b s

T Das Arbeitsmedium entzieht dem Kühlraum bei der Tem-


Q peratur T0 die Wärme Q0 , kühlt ihn damit und gibt bei
4 3
T der höheren Temperatur T die Wärme Q normalerweise
an die Umgebung ab. Dazu muss jedoch die Arbeit
W
W = | Q | − Q0 (21.38)
T0
1 2 aufgewandt werden.
Q0
Kompressionskältemaschinen verwenden ein kontinuier-
S
lich umlaufendes Arbeitsmittel, das Kältemittel genannt
wird. Üblicherweise ist es ein Reinstoff, seltener ein Ge-
Abb. 21.14 Linkslaufender Carnot-Prozess im T ,S -Diagramm misch, aus verschiedenen Komponenten. Bei einem Käl-
teprozess ist oft der Nutzen größer als der Aufwand. Es
hat sich daher eingebürgert, als ein Maß für die aufge-
Die dem Kühlraum oder dem gefrierenden Gut auf nied- wendete Arbeit keinen Wirkungsgrad, sondern die Leis-
rigem Temperaturniveau T0 entzogene Wärme muss an tungszahl ε K zu benutzen (siehe (21.18)), für die auch
eine Wärmesenke auf höherem Temperaturniveau T ab- der Begriff Kälteleistungszahl (engl. COP – Coefficient
gegeben werden. Als Wärmesenke steht normalerweise of Performance) verwendet wird. Sie ist definiert als das
nur die Umgebung zur Verfügung. Im theoretisch ein- Verhältnis der Kälteleistung Q̇0 (Wärmemenge, die dem
fachsten und gleichzeitig effizientesten Fall löst man diese zu kühlendem Raum pro Zeiteinheit entzogen wird) zur
Aufgabe, indem man zwischen den Kühlraum und der aufzuwendenden Leistung P = Ẇ.
Umgebung einen linkslaufenden Carnot-Prozess schaltet,
wie er in Abb. 21.14 in einem T,S-Diagramm dargestellt Q̇0
εK = (21.39)
ist. P
666 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

Beide übertragenen Leistungen werden dem Kälteprozess Für die Energiebilanz gilt weiterhin:
zugeführt, deshalb sind keine Betragsstriche notwendig.
Für den linkslaufenden Carnot-Prozess nach Abb. 21.14 0 = Q̇0 + Q̇u + Ẇt .
ergibt sich mit dieser Definition die folgende Leistungs-
zahl: Daraus folgt:
Q̇0,Carnot T0  
ε K,Carnot = = . (21.40) TC,u
PCarnot T − T0 Ẇt = −kA(Tu − T0 ) 1 − = 29,17 W
TC,0
Die Leistungszahl ist also umso günstiger, je geringer
und
die zu überwindende Temperaturdifferenz (T − T0 ) ist. In
technisch ausgeführten Kälteanlagen liegt die Kälteleis- Q̇0 100
tungszahl normalerweise zwischen 2 und 4. εK = = = 3,43 oder
Ẇt 29,17
TC,0 240
Beispiel: Kühlung für einen Gefrierschrank Dieses εK = = = 3,43.
TC,u − TC,0 310 − 240
Beispiel für einen Gefrierschrank wurde bereits in Kap. 18
betrachtet. Dort haben wir gesehen, dass die stationär Weil bei gleichbleibendem zugeführtem Wärmestrom
und reversibel arbeitende Maschine bei einer Umgebung- (Kälteleistung) eine immer größere Leistung zugeführt
stemperatur von Tu = 300 K, einer Leistungsaufnahme werden muss (größere zu überwindende Temperaturdif-
von P = Ẇt = 20 W und einem aus der Umgebung zu- ferenz), verringert sich entsprechend die Leistungszahl.
geführten Wärmestrom Q̇0 = kA (Tu − T0 ) (mit A = 8 m2 
als Oberfläche des Kühlschranks und k = 0,25 W/(m2 K)
Thermodynamik

als Wärmedurchgangskoeffizienten) im Kühlraum eine


Temperatur von T0 = 250 K aufweist.
Die Maschine arbeitet nach dem linkslaufenden Carnot- Der Kaltluftprozess ist ein Beispiel
Prozess und mit idealer Wärmeübertragung zum Kühl- für Kälteprozesse mit Gasen
raum und der Umgebung. Die Leistungszahl für dieses
Beispiel kann nun nach (21.39) angegeben werden:
Von den arbeitsverbrauchenden Kältemaschinen hat die
Q̇0 100 Kaltluftmaschine erst Mitte der 1870er Jahre Eingang in
εK = = = 5 oder die technische Anwendung gefunden. Der Kaltluftpro-
Ẇt 20
T0 250 zess ist ein linkslaufender Joule-Prozess und setzt sich
εK = = = 5. aus zwei isobaren und zwei reversibel adiabaten (isentro-
Tu − T0 300 − 250
pen) Zustandsänderungen zusammen. Die Prinzipskizze
Um die Wärmeübertragung zwischen Carnot-Maschine eines Kaltluftprozesses zeigt Abb. 21.15. In Abb. 21.16
und Umgebung bzw. zwischen Kühlraum und Carnot- sind die entsprechenden Zustandsänderungen sowohl in
Maschine technisch zu realisieren, soll nun jeweils eine einem p,v- als auch in einem T,s-Diagramm zu sehen. Ein
Temperaturdifferenz von ΔT = 10 K vorgesehen werden.
Die Kühlraumtemperatur und die Umgebungstempera-
tur sollen dabei unverändert bleiben. Welche Leistung Umgebung, T
q
muss der Carnot-Maschine zugeführt werden, und wel-
che Leistungszahl weißt diese jetzt auf? 5 2
Der aus der Küche einfallende Wärmestrom Q̇0 bleibt un-
verändert. Die Temperaturen des Carnot-Prozesses sind Expansion WÜ p Kompression
nun

TC,u = 310 K und TC,0 = 240 K.


wE WÜ p0 wV
Der an die Umgebung abgegebene Wärmestrom ermittelt
sich somit nach der Entropiebilanz (zweiter Hauptsatz)
6 1
für die Carnot-Maschine als geschlossenes, stationäres
System aus: q0
Kühlraum, T 0
Q̇0 Q̇u
0= + .
TC,0 TC,u Abb. 21.15 Prinzipskizze eines Kaltluftprozesses
21.4 Kälteprozesse und Leistungszahlen 667

Abb. 21.16 Die Zustandsände- p T p


wE q0 2
rungen eines Kaltluftprozesses
in einem p ,v - und einem T ,s - wV q
Diagramm
a 3 2 3
p
T3 ≥ T
w
T1 ≤ T0 1
p0
s = konst.
4

p0 q0
b 4 1

v a b s
a b

Luftverdichter saugt kalte Luft vom Zustand 1 an und Unter- oder als Überdruck-Prozess ausgeführt werden.
verdichtet sie reversibel adiabat von 1 nach 2, wobei der Bei dem Unterdruck-Prozess liegt der Druck p auf dem
Druck von p0 auf p und die Temperatur von T1 auf T2 stei- Umgebungsdruckniveau, und Luft wird aus der Umge-
gen. In einem anschließenden Kühler wird die spezifische bung im Zustand 3 angesaugt und nach Durchlaufen des
Wärme q isobar von 2 nach 3 an die Umgebungsluft oder Prozesses im Zustand 2 wieder in die Umgebung ausge-
das Kühlwasser abgegeben. Die abgekühlte Luft wird da- blasen. Bei dem Überdruck-Prozess ist der Druck p0 der
nach in einer Expansionsmaschine reversibel adiabat von Umgebungsdruck, und es wird Luft im Zustand 1 aus

Thermodynamik
3 nach 4 entspannt, wobei sich wieder der Druck p0 ein- dem Kühlraum angesaugt und im Zustand 4 wieder in
stellt. In einer geschlossenen Prozessführung nimmt die diesen ausgeblasen.
Luft in einem Wärmeübertrager von 4 nach 1 aus dem
Kühlraum die spezifische Wärme q0 auf, wobei sie sich Im Kühlraum wird von dem Arbeitsmedium Luft als
maximal bis auf Kühlraumtemperatur erwärmen kann. ideales Gas mit cp = konst. die spezifische Wärmemenge
Im p,v-Diagramm von Abb. 21.16 stellt die Fläche 1–2– q0 von 4 nach 1 aufgenommen:
a–b die aufzuwendende spezifische Verdichterarbeit wV
dar und die Fläche 3–4–a–b die gewinnbare spezifische q0 = cp (T1 − T4 ) (21.42)
Expansionsarbeit wE .
An die Umgebung wird die spezifische Wärmemenge q
Insgesamt muss für den Prozess die spezifische Arbeit von 2 nach 3 abgegeben:
w = wV − |wE | aufgewendet werden (Abb. 21.16a). Die
im Kühlraum isobar von 4 nach 1 aufgenommene spezi- q = cp (T3 − T2 ) (21.43)
fische Wärme q0 (Fläche 4–1–b–a) und die von 2 nach 3
isobar abgegebene spezifische Wärme q (Fläche 2–3–a–b) Wendet man den ersten Hauptsatz auf einen stationären
sind in Abb. 21.16b im T,s-Diagramm dargestellt. Wegen Kaltluftprozess an, so ergibt sich, dass die insgesamt
des Wärmeübergangs in den Wärmeübertragern muss aufzuwendende spezifische Arbeit gleich der negativen
die Kühlluft- bzw. Kühlwassertemperatur T stets unter Summe aller übertragenen spezifischen Wärmen ist:
oder höchstens gleich der tiefsten Temperatur der Zu-
standsänderung 2 → 3 liegen. Ebenfalls muss die Kühl- w = wV + wE = − (q + q0 ) . (21.44)
raumtemperatur T0 stets über oder höchstens gleich der
höchsten Temperatur der Zustandsänderung 4 → 1 sein. Die Leistungszahl für den Kaltluftprozess erhält man
Die Drücke p und p0 können in einem geschlossenen nach einer längeren Rechnung zu:
Prozess frei gewählt werden, sie müssen jedoch so weit
auseinander liegen, dass durch die adiabate Verdichtung 1
ε K, Kaltluft =   κ −1 . (21.45)
mindestens die Temperaturdifferenz T − T0 überbrückt p κ
wird: p0 −1

  κ −1 Man sieht, dass mit größer werdendem Druckunterschied


p κ T T T
= 2 = 3 > (21.41) die Leistungszahl abnimmt. Der Kaltluftprozess weist
p0 T1 T4 T0 gegenüber dem Carnot-Prozess ein wesentlich größeres
Druckverhältnis und damit eine deutlich kleinere Leis-
In dieser Relation kann bestenfalls T1 = T0 und T3 = T tungszahl auf. Weiterhin wirkt es sich nachteilig auf die
sein. Der entsprechende offene Joule-Prozess kann als Kälteleistungszahl des Kaltluftprozesses aus, dass sich,
668 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

wie (21.44) zu entnehmen ist, die aufzuwendende spe- Verflüssiger (Heizung)


zifische Arbeit aus der Differenz zweier großer Beträge, 4
wV und wE , ergibt. Eine Vergrößerung der spezifischen
Verdichterarbeit und eine Verkleinerung der spezifischen 5 2
Expansionsarbeit um nur wenige Prozent, z. B. durch me-
chanische Reibung, können zur Folge haben, dass die
spezifische aufzuwendende Arbeit w vervielfacht wird. 3
Drossel
Für den Bereich normaler Kälte- und Klimaanwendungen Verdichter
(oberhalb von ca. −40 ◦ C) werden wegen der verhält-
nismäßig günstigeren Leistungszahl überwiegend Kalt-
dampfprozesse eingesetzt, die im folgenden Abschnitt
beschrieben werden. Ähnlich wie bei der Wärmekraftma- 6 1
schine kann man auch bei dem Joule-Kaltluftprozess ei-
ne interne Wärmeübertragung zur Effizienzverbesserung
einsetzen. Diese hat insbesondere zur Folge, dass die Leis- 7
tungszahl des Kaltluftprozesses deutlich weniger von der Verdampfer (Kühlraum)
Kühlraumtemperatur abhängt als die des entsprechenden
Kaltdampfprozesses. Für Kälteanwendungen bei sehr tie- Abb. 21.17 Prinzipskizze eines Kaltdampfprozesses
fen Temperaturen werden überwiegend Kaltluftprozesse
und für Normalkühlung und Klimatisierung überwie-
gend Kaltdampfprozesse eingesetzt. wird das Kältemittel zuerst in einer isobaren Wärmeab-
fuhr von 2 nach 3 bis zur Taulinie abgekühlt. Es schließt
Thermodynamik

sich im selben Wärmeübertrager, dem Verflüssiger, in


der ebenfalls isobaren Zustandsänderung von 3 nach 4
die vollständige Verflüssigung an. Dieser folgt die isoba-
Kaltdampfprozesse sind Kälteprozesse re Unterkühlung der Flüssigkeit von 4 nach 5. In dem
mit Phasenwechsel des Kältemittels nach dem Verflüssiger angeordneten Expansionsventil
(Drossel) wird die Kältemittelflüssigkeit bei entsprechen-
der Druckreduzierung von p auf p0 ins Nassdampfgebiet
Die meisten kommerziell eingesetzten stationären und hinein von 5 nach 6 gedrosselt. Im Verdampfer erfolgt
mobilen Kälte- und Klimaanlagen arbeiten nach dem nun die vollständige isobare Verdampfung des Flüssig-
Kaltdampfprinzip. Die Kaltdampfmaschine stellt gegen- keitsanteils (1 − x) von 6 nach 7 mit einer anschließenden
über der Kaltluftmaschine insofern eine energetische Ver- ebenfalls isobaren Überhitzung von 7 nach 1, womit der
besserung dar, als die Zustandsänderungen des linkslau- Prozess geschlossen wird.
fenden Kreisprozesses im Wesentlichen im Nassdampf-
gebiet stattfinden. In diesem Gebiet gelingt es, wie beim Die Drosselung erfolgt längs einer im T,s-Diagramm mit
rechtslaufenden Clausius-Rankine-Prozess, die isobaren negativer Steigung geneigten Isenthalpen von 5 nach 6
Zustandsänderungen der Wärmeübertragung auch iso- (eine senkrechte Linie im log p,h-Diagramm). Die im
therm ablaufen zu lassen. Im Gegensatz zum Clausius- Verdampfer von dem Kältemittel aus dem Kühlraum auf-
Rankine-Prozess wird die Expansionsmaschine jedoch genommene spezifische Wärmemenge q0 = q61 = q67 +
durch eine wesentlich kostengünstigere (fest eingestellte q71 ist damit kleiner als bei einem Kälteprozess, der
oder regelbare) Drossel ersetzt. Weil die Anlagen preis- anstelle einer Drossel eine Expansionsmaschine enthal-
günstiger sind, nimmt man die Effizienzeinbuße in Kauf. ten würde. Hierfür wäre die entsprechende reversibel
Zudem weichen in diesem Bereich für viele Kältemittel adiabate Zustandsänderung eine senkrechte Linie im T,s-
die Isenthalpen nicht sehr von den Isentropen ab, sodass Diagramm und eine Kurve mit positiver Steigung im log
der Arbeitsrückgewinn ohnehin gering wäre. p,h-Diagramm. Die von dem Kälteprozess aus dem Kühl-
raum aufgenommene spezifische Wärme entspricht der
Abbildung 21.17 zeigt eine Prinzipskizze eines Kalt- Fläche 6–7–1–a–c–6 im T,s-Diagramm. Um diese Fläche
dampfprozesses, der auch Evans-Perkins- oder Plank- zu vergrößern, legt man den Verflüssiger so aus, dass
Prozess genannt wird. In Abb. 21.18 sind die dazugehö- dort auch eine Unterkühlung (von 4 nach 5) der Flüssig-
rigen Zustandsänderungen sowohl in einem T,s- als auch keit stattfindet. Eine solche Maßnahme ist im Vergleich
in einem log p,h-Diagramm zu sehen. Der Kaltdampfpro- der jeweils erzielten Effizienzsteigerung wesentlich kos-
zess besteht aus folgenden Zustandsänderungen: Infolge tengünstiger als der Einsatz einer sehr aufwendigen und
der Zustandsänderung von 1 nach 2 wird überhitzter damit teuren Expansionsmaschine, die für eine effizien-
Kältemittel-Dampf vom Verdichter angesaugt und rever- te Expansion ins Zweiphasengebiet hinein ausgelegt sein
sibel adiabat von p0 auf p verdichtet. Nach dem Verdichter müsste.
21.4 Kälteprozesse und Leistungszahlen 669

Abb. 21.18 Die Zustandsände- T 2 log p


rungen eines Kaltdampfprozesses
in einem T ,s -Diagramm (a) und K K
einem log p ,h -Diagramm (b)
4 p 3 5
p 2
4 3
5
1
6 p0 7 7
T6 p0
6 1

q0 wt

c b a s h5 = h6 h1 h2 h
a b

Verflüssiger (Heizung)
Ein Kreisprozess ist nur dann reversibel, wenn alle 4
Teilprozesse reversibel ablaufen.
5 2

Bedingt durch die grundsätzlich irreversible Drosselung


ist der Kaltdampfprozess daher irreversibel, was ihn 3

Thermodynamik
von den bisher betrachteten Kreisprozessen unterschei- Drossel
det. Damit hängt die Leistungszahl von dem verwendeten Verdichter
Arbeitsmittel (Kältemittel) ab. Dies ist bei reversiblen
Kreisprozessen nicht der Fall.

Frage 21.8 6 1
In vielen Kältemaschinen werden Drosseln zur Entspan-
nung des Kältemittels verwendet. Welche Zustandsgröße 7
bleibt bei der als adiabat zu betrachtenden Drosselung Verdampfer
konstant? Welcher Vorteil würde sich durch den Einsatz (Gewässer, Erdreich oder Umgebungsluft)
einer Turbine statt der Drosselung ergeben und wieso
werden trotzdem Drosseln verwendet? Abb. 21.19 Prinzipskizze einer Wärmepumpe, die auf dem Kaltdampfprozess
basiert

Im (kältemittelspezifischen) log p,h-Diagramm lassen sich


sowohl die spezifische Verdichterarbeit als auch die in niveau abgeführte Wärme der Nutzen ist. Die Wärme-
Verflüssiger und Verdampfer umgesetzten spezifischen pumpe und ihre generelle Funktionsweise sollen hier am
Wärmen als Enthalpiedifferenzen ablesen. Die Leistungs- Beispiel des Kaltdampfprozesses erläutert werden. Sie ist
zahl für diesen Prozess ergibt sich zu: mit ihren prinzipiellen Komponenten in Abb. 21.19 skiz-
ziert. Wärme wird im Verdampfer auf niedrigem Tem-
q0 q h − h6 peraturniveau kostengünstig der Umgebung (Erdreich,
ε K, Kaltdampf = = 0 = 1 . (21.46)
| q | − q0 wt h2 − h1 Wasserquelle, Luft) entzogen. Durch den Wärmepumpen-
prozess wird dann Heizwärme im Verflüssiger auf höhe-
Die Kälteleistung ergibt sich mit dem umgewälzten Käl-
rem Temperaturniveau zu Heizzwecken zur Verfügung
temittelmassenstrom zu:
gestellt. Die Heizwärme entspricht in dem T,s-Diagramm
Q̇0 = ṁ (h1 − h6 ) . (21.47) von Abb. 21.20a der Fläche 2–3–4–5–c–a–2. Zudem ist in
Abb. 21.20b der Wärmepumpen-Kaltdampfprozess in ei-
nem log p,h-Diagramm zu sehen, in dem die zugeführte
spezifische Verdichterarbeit und die abgeführte spezifi-
Wärmepumpen wenden Linksprozesse sche Heizwärme als Strecken eingetragen sind. Bei der
zum Heizen an Wärmepumpe wird die Leistungszahl mit der Heizwär-
me (Nutzen) des Verflüssigers gebildet und Wärmezahl
genannt:
Der Wärmepumpenprozess ist im Prinzip ein Kältepro-
zess, bei dem nicht mehr die auf tiefem Temperaturniveau |q| |q| h − h5
ε WP = = = 2 = 1 + ε K. (21.48)
zugeführte Wärme, sondern die auf hohem Temperatur- |q | − q 0 wt h2 − h1
670 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

Abb. 21.20 Die Zustandsän- T 2 log p


derungen eines Wärmepumpen- q
K
Kaltdampfprozesses in einem
T ,s -Diagramm (a) und einem K
4 p 3 5
log p , h -Diagramm (b) p 2
4 3
5
1
6 p0 7 7
p0
6 1

wt

a c b a s b h5 = h6 h1 h2 h

Die Wärmezahl gibt an, um welchen Faktor die Heiz- Man spricht in diesem Zusammenhang von der Exer-
leistung größer ist als die zugeführte mechanische oder gie der Wärme. Je nach Richtung des Wärmestroms Q̇1
elektrische Leistung, um den Prozess anzutreiben. Je nach und je nach Lage des Temperaturniveaus T1 in Rela-
Einsatzbedingungen kann sie bei handelsüblichen Wär- tion zur Umgebungstemperatur Tu kann man hier die
mepumpen deutlich über 3 liegen. genannten technisch relevanten Fälle unterscheiden: den
Wärmekraftprozess, den Wärmepumpenprozess und den
Die Heizleistung ergibt sich mit dem umgewälzten Kälte-
Kälteprozess.
mittelmassenstrom zu:
Thermodynamik

Q̇ = ṁ (h2 − h5 ) . (21.49)
Der Wärmekraftprozess
Frage 21.9 Einen arbeitsleistenden Prozess, der durch eine Wärme-
Wie unterscheiden sich Wärmepumpen von Kältemaschi- zufuhr auf einem über der Umgebungstemperatur lie-
nen? genden Temperaturniveau gekennzeichnet ist (und da-
durch angetrieben wird), nennen wir Wärmekraftprozess.
In diesem Fall sind die abgegebene Leistung (−Ẇex )
der Nutzen und die zugeführte Wärme pro Zeiteinheit
(Q̇1 ) der Aufwand. Für den reversiblen Prozess wird
Bewertung von Kreisprozessen: Exergie- die Exergie des zugeführten Wärmestroms vollständig
und Anergieströme in gewinnbare technische Leistung umgewandelt. Der
Carnot-Faktor (1 − Tu /T1 ) ist positiv und kleiner als eins,
Abschließend soll hier die Unterscheidung für die ver- d. h., es kann auch im günstigsten Fall nur ein Teil der
schiedenen Kreisprozessführungen anhand der Exergie- zugeführten Wärme in Arbeit umgewandelt werden. Die-
und Anergieströme dargestellt werden. Wir betrachten sen Teil bezeichnen wir als Exergie bzw. bezogen auf
dazu alle Prozesse als geschlossene, stationäre Syste- die Zeiteinheit als Exergiestrom. Den restlichen Teil des
me, bei denen neben der Wärmeübertragung mit der Wärmestroms, die Anergie pro Zeiteinheit, muss für eine
Umgebung nur mit einem weiteren Wärmebehälter eine stationäre Prozessführung als nicht weiter verwendbarer
Wärmeübertragung stattfindet (der Wärmestrom Q̇1 bei Wärmestrom (−Q̇u ) auf Umgebungstemperaturniveau an
konstanter Temperatur T1 ). Für diesen Fall reduziert sich die Umgebung abgeführt werden. Die Exergie- und Aner-
die Exergiebilanz (18.58) aus Kap. 18 auf die schon für gieströme eines reversiblen Wärmekraftprozesses sind in
den Carnot-Prozess bekannte Beziehung, die die gewinn- Abb. 21.21a dargestellt.
bare Arbeit pro Zeiteinheit und die zugeführte Wärme
pro Zeiteinheit in Relation zum thermischen Wirkungs-
grad des Carnot-Prozesses ηth,C setzt: Der Wärmepumpenprozess
  Einen arbeitsverbrauchenden Prozess, der durch eine
Tu
−Ẇex = 1− Q̇1 = ηth,C Q̇1 (21.50) Wärmeabfuhr auf einem über der Umgebungstemperatur
T1 liegenden Temperaturniveau gekennzeichnet ist, nennen
wir Wärmepumpenprozess. In diesem Fall sind der ab-
bzw. integriert über eine Zeiteinheit: gegebene Wärmestrom (−Q̇1 ), der zu Heizzwecken ver-
  wendet wird, der Nutzen und die zugeführte Leistung
Tu
−Wex = 1− Q1 = ηth,C Q1 . (21.51) (Ẇex ) der Aufwand. Für den reversiblen Prozess wird
T1 die Exergie der zugeführten Leistung, deren umgesetzte
21.5 Gas-Dampf-Gemische: Feuchte Luft 671

Q1 –Q1 –Qu wird als Wärmestrom (−Q̇u ) an die Umgebung abgege-


ben. Dieser ist die Summe aus der zugeführten Arbeit pro
Zeit und dem vom Kühlraum zugeführten Wärmestrom.
Ex Ex Ex
Die Exergie- und Anergieströme eines reversiblen Kälte-
maschinenprozesses sind in Abb. 21.21c dargestellt.
–Wex Wex Wex
An An An Frage 21.10
Wie unterscheiden sich Wärmekraftmaschine, Wärme-
–Qu Qu Q1 pumpe und Kältemaschine hinsichtlich der jeweils auftre-
Wärmekraftprozess Wärmepumpenprozess Kälteprozess
tenden Exergie- und Anergieströme?
a b c

Abb. 21.21 Darstellung von Exergie- und Anergieströmen für die technisch
relevanten reversiblen Kreisprozesse

21.5 Gas-Dampf-Gemische:
Energie zu 100 Prozent aus Exergie besteht (z. B. elek- Feuchte Luft
trische Energie), in einen Teil des abgegebenen Wärme-
stroms umgewandelt. Der Carnot-Faktor (1 − Tu /T1 ) ist
In Kap. 20 haben wir schon Gemische idealer Gase ken-
positiv und kleiner als eins, d. h., in diesem Fall ist der ab-
nengelernt und gesehen, dass man ein Gemisch idealer
geführte Wärmestrom größer als die zugeführte Leistung.
Gase genauso wie ein reines ideales Gas behandeln kann,
Den restlichen Teil des abgeführten Wärmestroms, der zu
wenn man nur die thermodynamischen Stoffdaten des

Thermodynamik
100 Prozent aus Anergie besteht, wird durch eine „kos-
Gemisches verwendet. So ist z. B. trockene Luft im We-
tenlose“ Wärmezufuhr (Q̇u ) durch die Umgebung ge-
sentlichen ein ideales Gemisch aus den zwei Gaskompo-
liefert. Wärme wird vom Umgebungstemperaturniveau
nenten Stickstoff (etwa 80 Vol.-%) und Sauerstoff (etwa
auf ein höheres Temperaturniveau „gepumpt“. Mit ande-
20 Vol.-%). Der Einfluss auf die thermodynamischen Ei-
ren Worten: der abgeführte Wärmestrom (−Q̇1 ) setzt sich
genschaften infolge aller anderen Komponenten, wie z. B.
additiv aus der Exergie der zugeführten Leistung (Ẇex )
Kohlendioxid oder Argon, kann normalerweise vernach-
und der Anergie des aus der Umgebung zugeführten
lässigt werden.
Wärmestroms (Q̇u ) zusammen. Die Exergie- und Anergie-
ströme eines reversiblen Wärmepumpenprozesses sind in In diesem Abschnitt wollen wir nun unsere Betrach-
Abb. 21.21b dargestellt. tungen auf sogenannte Gas-Dampf-Gemische erweitern,
die sich von den Gemischen idealer Gase dadurch un-
terscheiden, dass neben den Komponenten des idealen
Der Kältemaschinenprozess
Gases noch mindestens ein Stoff im Gemisch vorliegt,
Einen arbeitsverbrauchenden Prozess, der durch eine der alle Aggregatzustände (fest, flüssig und dampfför-
Wärmezufuhr auf einem unter der Umgebungstempera- mig) annehmen und die entsprechenden Phasenände-
tur liegenden Temperaturniveau gekennzeichnet ist, nen- rungen (Verdunsten, Kondensieren, Schmelzen, Gefrie-
nen wir Kältemaschinenprozess. In diesem Fall sind der ren, Sublimieren und Desublimieren) durchlaufen kann.
aus einem Kühlraum aufgenommene Wärmestrom (Q̇1 ), Der technisch wohl wichtigste Vertreter der Gas-Dampf-
der zur Kühlung dieses Raums dient, der Nutzen und Gemische ist das Gemisch aus der idealen Gaskompo-
die der Kältemaschine zugeführten Leistung (Ẇex ) der nente trockene Luft (als pseudo idealer Reinstoff für ein
Aufwand. Für den reversiblen Prozess wird die Exergie Gemisch aus idealen Gasen) und der realen Kompo-
der zugeführten Leistung, deren umgesetzte Energie zu nente H2 O mit den möglichen Aggregatzuständen fest
100 Prozent aus Exergie besteht (z. B. elektrische Energie), (Eis), flüssig (Wasser) und gasförmig (Dampf). Es reicht
dem zu kühlenden Raum zugeführt. Der Carnot-Faktor jedoch für die Genauigkeitsansprüche normaler techni-
(1 − Tu /T1 ) ist negativ und kann beliebige Werte klei- scher Anwendungen völlig aus, den Wasserdampf als
ner als null annehmen, d. h., in diesem Fall kann der ideales Gas zu beschreiben. Bedeutende technische An-
Wärmestrom, der der Kältemaschine aus dem Kühlraum wendungen für dieses Gas-Dampf-Gemisch sind neben
zugeführt wird, größer als die zugeführte Leistung sein. der Klimatechnik, die Luftkonditionierung zum einen in
Es muss Arbeit aufgewendet werden, um dem zu kühlen- Polymerelektrolytmembran-Brennstoffzellen (PEM), die
den Raum Exergie zuzuführen und Wärme bzw. Anergie zum Protonentransport den Wasserdampf feuchter Luft
zu entziehen. Die Differenz der Beträge aus dem dem benötigen (Elektroosmose), und zum anderen in Kalt-
Kühlraum zugeführten Exergiestrom und dem abgeführ- luftklimaanlagen, deren Energieeffizienz sich durch Was-
ten Anergiestrom ist der der Kältemaschine zugeführte sereinspritzung im Verdichter erhöht. Weiterhin ist der
Wärmestrom (Q̇1 ). Der aus dem Kühlraum aufgenomme- Prozess des Beschlagens von Fensterscheiben z. B. in Fahr-
ne Anergiestrom (der größer ist als der Wärmestrom Q̇1 ) zeugen zu nennen, welcher durch eine entsprechende
672 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

Auslegung der Heizungs-, Lüftungs- und Klimaanlage


verhindert werden kann. Der technisch relevante Tem- Bei der Betrachtung feuchter Luft unterschieden wir
peraturbereich all dieser Anwendungen reicht etwa von verschiedene Konzentrationsmaße:
−60 ◦ C bis zu +100 ◦ C. In diesem Abschnitt soll die Dis-
kussion von isobaren Prozessen bei Umgebungsdruck Wassergehalt x als Verhältnis von Masse des Was-
erfolgen. sers zu Masse der trockenen Luft.
Relative Feuchte ϕ als Verhältnis des Partialdruckes
des Dampfes zum Dampfdruck von Wasser bei einer
gegebenen Temperatur.
Feuchte Luft kann durch verschiedene
Konzentrationsmaße charakterisiert werden
Der Partialdruck des Dampfes in dem Gemisch der feuch-
Für Gemische muss eine vollständige Beschreibung des ten Luft ist gemäß (20.48) und (20.52) von Luft- und
thermodynamischen Zustandes immer eine Angabe zur Wassermenge im System sowie Druck und Temperatur
Konzentration enthalten. Einige wichtige Konzentrations- abhängig, während der Dampfdruck von reinem Wasser
maße, wie Massen- und Molanteil sowie Partialdruck, nach (19.8) oder (19.9) nur eine Funktion der Temperatur
haben wir schon in Kap. 20 kennengelernt. Zur Beschrei- ist (in diesem Fall die Temperatur der feuchten Luft), d. h.,
bung von Zuständen feuchter Luft haben sich zwei Kon- im Gegensatz zu dem Wassergehalt x, der nur durch die
zentrationsmaße bewährt, die im Folgenden beschrieben Luft- und Wassermengen im System festgelegt wird, ist
werden. Der Wassergehalt x (bitte nicht mit dem Dampf- die relative Feuchte ϕ zudem noch von Druck und Tem-
anteil verwechseln, der ebenfalls mit x bezeichnet wird) peratur abhängig. Die beiden Konzentrationsmaße sind
ist definiert als das Massenverhältnis von H2 O zu tro- natürlich nicht unabhängig voneinander, sondern lassen
Thermodynamik

ckener Luft: sich wie folgt ineinander umrechnen. Nach (20.51) und
(20.52) gilt:
mH2 O kg H2 O
x= mit der Dimension . pL V = mL RL T und pD V = mD RD T
mL kg trockene Luft
(21.52) sowie p = pL + pD . (21.55)

Es gilt also: x = 0 für trockene Luft und x → ∞ für rei- Setzt man dies in die Definitionsgleichung des Wasser-
nes Wasser. Da H2 O im System die drei Aggregatzustände gehalt (21.52) ein, so ergibt sich der Wassergehalt für
fest (Index E für Schnee oder Eis), flüssig (Index W für ungesättigte Luft:
flüssiges Wasser) und dampfförmig (Index D für Dampf)
annehmen kann, setzt sich der Wassergehalt aus drei mD R p R pD
x = xD = = L D = L
Summanden zusammen: mL RD p L RD p − p D
p ϕps
= 0,622 D = 0,622 . (21.56)
x = xD + xW + xE . (21.53) p − pD p − ϕps

Der Summand xD wird auch Dampfgehalt genannt und Für gesättigte Luft gilt eine entsprechende Relation für den
ist, wie wir später noch sehen werden, für ungesättigte Sättigungsgehalt:
Luft identisch mit dem Wassergehalt x. Das Konzentra-
tionsmaß x ist sinnvoll gewählt, da sich für ein System mD,max ps
xs = = 0,622 . (21.57)
feuchter Luft durch Wassereinspritzung oder Auskonden- mL p − ps
sation sehr wohl die Wassermenge, normalerweise aber
nicht die Menge der trockenen Luft ändern kann. Beispiel Welcher Zusammenhang besteht zwischen
Das zweite wichtige Konzentrationsmaß ist die relative dem Sättigungsgrad xD /xS und der relativen Feuchte ϕ?
Feuchte ϕ, die definiert ist als das Verhältnis von Partial- Nach (21.56) und (21.57) gilt:
druck des Dampfes pD zum Dampfdruck von Wasser ps
bei der herrschenden Temperatur, der in diesem Zusam- xD p p − ps p − ps p − ps
menhang auch Sättigungspartialdruck genannt wird: = D =ϕ =ϕ .
xs ps p − pD p − pD p − ϕps
pD
ϕ= . (21.54) Bei nicht zu hohen Temperaturen, wenn ps p ist, gilt da-
ps her näherungsweise:
Es gilt also: ϕ = 0 für trockene Luft und ϕ = 1 für ge- xD
sättigte Luft, das ist feuchte Luft mit der maximalen ≈ ϕ.
xs
Dampfmenge, die sie aufnehmen kann. 
21.5 Gas-Dampf-Gemische: Feuchte Luft 673

Frage 21.11 Wie groß sind die Partialdrücke der trockenen Luft und
Warum ist die Aufnahme von Wasser als Dampf in tro- des Wasserdampfes im Gas-Dampf Gemisch?
ckener Luft begrenzt? Da Wasser hier nur in Form von Dampf vorliegt, ermittelt
sich der Wassergehalt x entsprechend seiner Definition
aus:
mH2 O m 0,1 kgWasser kgWasser
Die Dichte der feuchten Luft ist von x= = D = = 0,01 .
mL mL 10 kgtrockene Luft kgtrockene Luft
der Zusammensetzung abhängig
Der Partialdruck des Wasserdampfes kann aus (21.56) be-
Die Dichte der ungesättigten feuchten Luft bestimmt sich rechnet werden. Umgestellt ergibt diese:
aus dem Quotienten aus Gesamtmasse und Gesamtvolu-
men: x 0,01
pD = p= 1 bar = 0,0158 bar
0,622 + x 0,622 + 0,01
mges m + mD m m
ρ= = L = L+ D
V V V V und daraus folgt für den Partialdruck der trockenen Luft:
p p
= ρL + ρD = L + D . (21.58)
RL T RD T pL = p − pD = 1 bar − 0,0158 bar = 0,9842 bar.
Mit der Bedingung nach (21.55), dass die Summe der Par- Welche relative Feuchte liegt nach dem Einspritzen des
tialdrücke den Gesamtdruck ergeben (pL = p − pD ), folgt: Wasserdampfes vor?
 
p 1 1 pD Hierzu benötigen wir den Sättigungspartialdruck bei der
ρ= − − . (21.59)

Thermodynamik
RL T RL RD T Temperatur von 20 ◦ C. Diesen können wir aus Tab. 19.1
ablesen:
Mithilfe einer massengewichteten spezifischen Gaskon-
stanten Rges für das Gemisch der feuchten Luft kann man ps (20 ◦ C) = 0,0234 bar
die Dichte auch direkt aus der thermischen Zustandsglei-
chung des Gemisches berechnen: und erhalten für die relative Feuchte nach (21.54):

p 1+x p RL + xRD 0,0158 bar


ρ= = mit Rges = . ϕ= = 0,675.
Rges T RL + xRD T 1+x 0,0234 bar
(21.60)
Wie groß ist die Dichte der feuchten Luft?
Da Wassermoleküle leichter als Luftmoleküle sind, ist Aus (21.60) können wir mit den spezifischen Gas-
Wasserdampf (als ideales Gas betrachtet) pro Volumen konstanten (siehe Tab. 21.1) für trockene Luft RL =
leichter als Stickstoff und Sauerstoff. Folglich nimmt die 0,287 kJ/(kg K) und Dampf RD = 0,461 kJ/(kg K) und
Dichte der feuchten Luft mit steigendem Wassergehalt ab dem ermittelten Partialdruck des Dampfes die Dichte be-
(RD > RL ). Feuchtere Luft steigt auf, dies ist für Kühltür- rechnen:
me und in der Meteorologie von Bedeutung. Jeder kennt  
das aus seiner Wohnung, wenn der Wasserdampf sich als p 1 1 pD kg
Feuchtigkeit in den Ecken der Decke niederschlägt. ρ= − − = 1,182 3 .
RL T RL RD T m
Für übersättigte Luft (x > xs ) gelten die oben stehenden
Welche Wasserdampfmenge könnte die feuchte Luft noch
Gleichungen natürlich nicht mehr. Hier kann man nähe-
aufnehmen, wenn die Temperatur und der Gesamtdruck
rungsweise mit folgender Relation rechnen:
unverändert bleiben, und welche Dichte weist die gesät-
1+x p tigte feuchte Luft dann auf?
ρ= . (21.61)
RL + x s RD T Die Wasserdampfmenge ΔmD , die bis zum Erreichen des
Hierbei berechnet sich der Gesamtwassergehalt aus der Sättigungszustandes noch aufgenommen werden kann,
Summe der Beiträge von gesättigtem Dampf und flüssi- ermittelt sich nach (21.57) aus:
gem Wasser x = xs + xW . ps
ΔmD = mD,max − mD = mL 0,622 − mD = 0,049 kg,
p − ps
Beispiel In trockene Luft der Masse mL = 10 kg, die bei
einer Temperatur von 20 ◦ C vorliegt, soll trocken gesät- und die Dichte beträgt dann
tigter Wasserdampf der Masse mD = 0,1 kg der gleichen  
p 1 1 pS kg
Temperatur eingespritzt werden. Der Gesamtdruck be- ρ= − − = 1,178 3 .
trägt 1 bar. RL T RL RD T m
674 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

Dies zeigt, dass mit zunehmender relativer Feuchte bei die korrekte Bestimmung der Enthalpie ist, dass der Null-
sonst gleich bleibenden Bedingungen (Gesamtdruck und punkt der Gehalte an flüssigem Wasser und Eis jeweils bei
Temperatur) die Dichte des Gas-Dampf-Gemisches ab- dem Sättigungsgehalt liegt, also für ϑ  0 ◦ C: xW = x − xs
nimmt.  bzw. für ϑ  0 ◦ C: xE = x − xs .

Frage 21.12
Die Temperatur eines gesättigten Gas-Dampf-
Warum steigt feuchtere Luft nach oben? Gemischs wird Taupunkttemperatur genannt. Sie
ist eine Funktion der Gemischzusammensetzung
und des Gesamtdruckes.
Bei feuchter Luft lassen sich drei Zustandsbereiche
Die Enthalpie der feuchten Luft setzt sich unterscheiden:
aus mehreren Anteilen zusammen
Ungesättigte feuchte Luft mit 0 < pD <
ps (T ); 0 < ϕ < 1. Sie enthält Wasser nur in
Während wir für die Berechnung der Dichte der feuchten Form von überhitztem Wasserdampf.
Luft die thermische Zustandsgleichung herangezogen ha-
Gesättigte feuchte Luft bei pD = ps (T ); ϕ = 1
ben, benötigen wir nun für die Beschreibung der Enthal-
(bei ϑ  0 ◦ C). Sie enthält gesättigten Wasserdampf
pie der feuchten Luft die kalorische Zustandsgleichung.
und Wasser in flüssiger Form (Nebel, Niederschlag).
Hier müssen wir zuerst den Enthalpie-Nullpunkt festle-
gen. Wir wählen willkürlich den Enthalpie-Nullpunkt für Gesättigte feuchte Luft bei pD = ps (T ); ϕ = 1 (bei
trockene Luft und flüssiges Wasser bei 0 ◦ C und verwen- ϑ  0 ◦ C). Sie enthält außer gesättigtem Wasser-
Thermodynamik

den im Weiteren für die Celsius-Temperatur das Symbol dampf noch Wasser in fester Form (Eisnebel, Schnee,
ϑ. Die Enthalpie ist eine extensive Zustandsgröße und Reif).
lässt sich leicht aus der Summe der massengewichteten
Einzelbeiträge von trockener Luft und Wasser in allen drei
Aggregatzuständen berechnen. Für den eingangs genann-
ten Temperaturbereich können die Stoffwerte in guter Beispiel Es soll die spezifische Enthalpie feuchter Luft
Näherung als konstant angenommen werden. Mit (19.32) bei ϑ = 25 ◦ C und einer relativen Feuchte von 35 % bei
berechnen wir die massenspezifische Enthalpie der idea- Umgebungsdruck (1,01325 bar) ermittelt werden.
len Gase trockene Luft und Wasserdampf. Für flüssiges
Wasser und Eis gelten analoge Gleichungen (spez. Wär- Die feuchte Luft ist ungesättigt. Der Sättigungsparti-
mekapazität c mal Celsius-Temperatur ϑ). Bedingt durch aldruck bei 25 ◦ C beträgt nach Tab. 19.1. ps (25 ◦ C) =
den gewählten Nullpunkt, müssen wir für die Aggre- 0,0317 bar. Daraus ermittelt sich der Wassergehalt nach
gatzustände Eis und Dampf die entsprechenden Pha- (21.56) aus:
senumwandlungswärmen (Schmelzwärme rE bzw. Ver-
ϕps
dampfungswärme rD ) berücksichtigen. Bezogen auf 1 kg x = 0,622
trockene Luft oder (1 + x) kg feuchte Luft ergibt sich so- p − ϕps
mit die folgende spezifische Enthalpie der feuchten Luft. 0,35 · 0,0317 kgWasser
= 0,622
Die Zahlenwerte für die Stoffdaten sind der Tab. 21.1 zu 1,01325 − 0,35 · 0,0317 kgtrockene Luft
entnehmen: kgWasser
= 0,0069 .
h = cpL ϑ + xD cpD ϑ + rD + xW cW ϑ + xE (cE ϑ − rE ) kgtrockene Luft
(21.62)
Aus (21.62) ergibt sich für die spezifische Enthalpie (nur
trockene Luft und Wasserdampf) und den Stoffwerten aus
Für ungesättigte und gerade gesättigte Luft gilt: xD  xs
Tab. 21.1:
und xW = 0 sowie xE = 0. Steigt der Wassergehalt in der
Luft über den Sättigungsgehalt hinaus an bzw. wird die
h = cpL ϑ + xD cpD ϑ + rD
sogenannte Taupunkttemperatur unterschritten, so kon-
densiert für ϑ  0 ◦ C flüssiges Wasser in Form von feinen kJ kgWasser
= 1,006 25 ◦ C + 0,0069
Nebeltröpfchen in der Luft aus. Bei tieferen Temperatu- kgtrockene Luft K kgtrockene Luft
ren (ϑ  0 ◦ C) bilden sich feine Eis- oder Schneekristalle  
kJ kJ
in der Luft. Für solche übersättigten Zustände, die im so- · 1,92 25 ◦ C + 2500
genannten Nebelgebiet liegen, gilt: xD = xs und xW > 0 kgWasser K kgWasser
bzw. xE > 0. Bei 0 ◦ C können sowohl Nebeltröpfchen als kJ
= 42,7 .
auch Eiskristalle (als auch beide Aggregatzustände zu- kgtrockene Luft
sammen) in der übersättigten Luft auftreten. Wichtig für 
21.5 Gas-Dampf-Gemische: Feuchte Luft 675

Tab. 21.1 Zahlenwerte zur Be- Bezeichnung Formelzeichen Zahlenwert Dimension


rechnung von Zuständen feuchter Molmasse der Luft ML 28,96 kg/kmol
Luft
Molmasse des Wassers MH2 O 18,02 kg/kmol
spezifische Gaskonstante der Luft RL 0,287 kJ/(kg K)
spezifische Gaskonstante des Dampfes RD 0,461 kJ/(kg K)
spezifische Wärmekapazität der Luft cpL 1,006 kJ/(kg K)
spezifische Wärmekapazität des Dampfes cpD 1,92 kJ/(kg K)
spezifische Wärmekapazität des Wassers cW 4,182 kJ/(kg K)
spezifische Wärmekapazität des Eises cE 2,1 kJ/(kg K)
Verdampfungsenthalpie des Wassers bei 0 ◦ C rD 2500 kJ/kg
Schmelzenthalpie des Eises bei 0 ◦ C rE 334 kJ/kg

Abb. 21.22 Grundsätzlicher

1
h h h

=
Aufbau eines geradwinkligen (a) =
h = konst. ko

f
und eines schiefwinkligen (b) ns . inie
h ,x -Diagramms nach Mollier
t. ϑ = konst ngsl
cpL,ϑ + xD (cpD ϑ + rD) igu
Sätt
+xWcWϑ
ϑ > 0 °C
ϑ = 0 °C ungesättigt Nebelgebiet
ϑ < 0 °C Wasser
–xErE xw xwhw
Eis Ne
b eli
so
the

Thermodynamik
xE(cEϑ – rE) rm
ϑ = 0 °C e
h=0 x xs
h xrD
=
0

x = konst.
a b

Das h ,x -Diagramm nach Mollier stellt die geprägten Knick der Isothermen entlang der Sättigungsli-
nie führt.
Zustände feuchter Luft anschaulich dar
Da die Enthalpien temperaturabhängig sind, fächern sie
Um Zustände und Zustandsänderungen feuchter Luft sich mit steigenden Temperaturen etwas auf. Für 0 ◦ C
grafisch darzustellen, verwendet man häufig das h,x- kann das Wasser sowohl in Form von Nebeltröpfchen als
Diagramm nach Mollier, das die durch (21.62) beschrie- auch in Form von Eiskristallen in der übersättigten Luft
bene Enthalpie h über dem Wassergehalt x aufträgt. Das vorliegen. Für diese Temperatur gibt es also zwei Iso-
Diagramm hat zwei wesentliche Bereiche, den Bereich der thermen. Die Steigung der einen Isothermen (für reine
ungesättigten Luft und das Nebelgebiet, welche durch Nebeltröpfchen) ist gemäß der Definition des Enthalpie-
die Sättigungslinie getrennt sind. Für die Sättigungslinie Nullpunktes gleich null. Entsprechend ist die Steigung
gilt x = xs , d. h., ϕ = 1. In Abb. 21.22a ist qualitativ ein der anderen Isothermen (für reine Eiskristalle) gleich −rE .
geradwinkliges in Abb. 21.22b ein schiefwinkliges h,x- Treten sowohl Nebeltröpfchen als auch Eiskristalle ge-
Diagramm dargestellt. Ein quantitatives schiefwinkliges meinsam auf (nasser Schnee), so liegen die Zustände
h,x-Diagramm findet man im Abb. 21.23. zwischen diesen beiden Geraden.
Gemäß (21.62) sind Isothermen in dieser Darstellung Ge-
raden, deren Steigungen in den jeweiligen Gebieten gleich Das geradwinklige h,x-Diagramm hat den Nachteil, dass
den Enthalpien des Wassers in den drei Aggregatzu- das technisch wichtige ungesättigte Gebiet nur einen re-
ständen sind. Im ungesättigten Gebiet ist die Steigung lativ schmalen Streifen im Diagramm ausmacht. Durch
gleich der Dampfenthalpie (∂h/∂x)ϑ = hD = cpD ϑ + rD , eine schiefwinklige Darstellung gelingt es, diesen Bereich
im Nebelgebiet für Temperaturen ϑ  0 ◦ C gleich der Ent- weiter auszuweiten. Dies wird dadurch erreicht, dass die
halpie des flüssigen Wassers (∂h/∂x)ϑ = hW = cW ϑ und Isotherme für 0 ◦ C im ungesättigten Gebiet so nach un-
für Temperaturen ϑ  0 ◦ C gleich der Enthalpie des Ei- ten verschoben wird, dass sie horizontal verläuft. Dies
ses (∂h/∂x)ϑ = hE = cE ϑ − rE . Durch die hohe Verdamp- bedeutet, dass jeder Punkt des gesamten Diagramms um
fungsenthalpie unterscheiden sich die Enthalpien von den Betrag xrD vertikal nach unten verschoben wird. Li-
Dampf und Wasser bzw. Eis deutlich, was zu einem aus- nien konstanter Enthalpie verlaufen dann parallel zur
676 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

kJ

20.000
50.000

0
10.00
0 0 n kg
0 Δh i

00
0 40
45

50
Δx

14
12

0
10

0
0
80
50 %

60
50 % 40 % 60 %
% 20 30 %

%
15

5%
kg trockene Luft

10
φ=
3500

Dampfdruck in bar
80 %
kJ

40 100 %
r
0,9 ba =

ϑ
ei p = 35
0%b
φ = 10 0,8 ba
r °C
Enthalpie h in

r
30 0,7 ba
r
0,6 ba

30
°C
25 0,5 bar
°C 3000
20 0,06
20
°C
0,05
15
°C

10 10
0,04
°C
5 0,03
°C
2500
0

0 0,02
°C

Pol 0
°C
Thermodynamik

(W
as

(E
se

is) 0,01
r)
–5
°C

–10 0
0 5 10 15 20 25 30 35 40
Δh
in kJ 50 10
00
150
0 2000
Δx kg 0
0

g Wasser
Wassergehalt x in
kg trockene Luft

Abb. 21.23 Quantitatives h ,x -Diagramm für feuchte Luft nach Mollier

Nebel(tröpfchen)isotherme für 0 ◦ C, von links oben nach Wichtige Zustandsänderungen feuchter Luft
rechts unten, wie in Abb. 21.22b zu sehen ist.
können mit dem h ,x -Diagramm analysiert
Infolge der druckunabhängigen Enthalpie ist das unge- werden
sättigte Gebiet auch für andere Drücke gültig, lediglich
die Sättigungslinie, d. h. der Knick in den Isothermen, ver-
schiebt sich, da der Partialdruck natürlich druckabhängig Mit dem h,x-Diagramm lassen sich die Zustandsänderun-
ist. Mit sinkendem Druck verschiebt sich die Sättigungs- gen feuchter Luft wie Wärmezufuhr, Wärmeabfuhr, Mi-
linie nach rechts, wie man auch in dem h,x-Diagramm in schung feuchter Luftströme, Dampf- oder Wassereinsprit-
Abb. 21.23 sehen kann. zung und Verdunstungsvorgänge anschaulich bewerten
und analysieren.
Die Sättigungslinie (ϕ = 1) stellt eine Grenzlinie im
h,x-Diagramm dar. Mit ihr liegen die Punkte des Wie ändern sich die Zustände feuchter Luft
maximalen Wassergehaltes in dampfförmiger Form bei Wärmeübertragung?
(Partialdruck des Wasserdampfes ist gleich dem Sät- Führt man ungesättigter feuchter Luft Wärme zu, so erhö-
tigungsdruck) fest. Sie trennt das über ihr liegende hen sich Temperatur und Enthalpie, wie wir es von dem
Gebiet der ungesättigten feuchten Luft von dem Verhalten idealer Gase gewohnt sind. Der Wassergehalt
unter ihr liegenden Nebelgebiet. bleibt konstant, und die relative Feuchte verringert sich
entsprechend der Temperaturerhöhung.
Frage 21.13
Wie ändert sich das h,x-Diagramm infolge einer Druck- Das Gleiche gilt auch in umgekehrter Richtung für eine
änderung und warum? Wie ändert sich dann die relative Wärmeabfuhr. Jedoch nur bis zu der Stelle, an der die Sät-
Feuchte in feuchter Luft, wenn bei konstanter Temperatur tigungslinie bzw. der Taupunkt erreicht wird (Punkt 2 in
der Gesamtdruck gesenkt wird? Abb. 21.24). Entzieht man weiter Wärme, so kondensiert
Wasser aus, und es bilden sich feine Nebeltröpfchen. Der
21.5 Gas-Dampf-Gemische: Feuchte Luft 677

h Q=0
ϑ1 4 1
mL1, x1, ϑ 1, h1
mLmix, xmix, ϑ mix, hmix
ϑ2 2

q3′ 4 Mischraum
q13
ϑ3 3′ mL2, x2, ϑ 2, h2

Abb. 21.25 Die Mischung von zwei feuchten Luftströmen


3 ϑ
h

3
=
0

x und Enthalpie bzw. Temperatur können wir drei Bilan-


zen aufstellen: die Massenbilanz der trockenen Luft, die
Abb. 21.24 Wärmeabfuhr mit Entfeuchtung, Taupunkt Massenbilanz des Wassers und natürlich die Energiebi-
lanz (entsprechend dem ersten Hauptsatz):

Zustand wandert senkrecht nach unten ins Nebelgebiet. trockene Luft: ṁL1 + ṁL2 = ṁLmix , (21.63)
Aus dem einphasigen Zustand der ungesättigten feuchten Wasser: ṁL1 x1 + ṁL2 x2 = ṁLmix xmix , (21.64)
Luft ist jetzt ein zweiphasiger Zustand aus gasförmi- Energie: ṁL1 h1 + ṁL2 h2 = ṁLmix hmix . (21.65)
ger gesättigter Luft (mit ϕ = 1) und flüssigem Wasser
(mit x → ∞) entstanden. Führt man vom Zustand 1 in Mit den Anteilen der beiden trockenen Luftströme
Abb. 21.24 beginnend insgesamt die spezifische Wärme

Thermodynamik
q13 = h3 − h1 ab, so ergibt sich der zweiphasige Zustand ṁL1 ṁL2
l1 = und l2 = (21.66)
3, wenn das Wasser in Form von feinen Nebeltröpf- ṁL1 + ṁL2 ṁL1 + ṁL2
chen in dem Luftvolumen verbleibt. Scheidet man jedoch
das auskondensierte Wasser an kalten (Wärmeübertra- ergibt sich:
ger) Oberflächen ab und entzieht es dem Volumen, dann
xmix = l1 x1 + l2 x2 , (21.67)
bleibt gerade gesättigte Luft des Zustandes 3‘ zurück. Die
abgeschiedene Wassermenge ist dann gleich dem Gehalt hmix = l1 h1 + l2 h2 . (21.68)
des flüssigen Wassers des (gedachten) Zustandes 3: xW =
x1 − x3‘ . Nach diesem Prinzip funktioniert die Luftent- Den Mischungsprozess können wir sehr gut im h, x-
feuchtung von Klimaanlagen. Heizt man, nachdem man Diagramm darstellen, wie es in Abb. 21.26a zu sehen ist.
das ausgeschiedene Wasser abgeführt hat, die verbleiben- Mit l1 + l2 = 1 lassen sich die Luftstromanteile umformen
de feuchte Luft wieder auf, so erreicht man in Punkt 4 zu:
wieder die ursprüngliche Temperatur (ϑ4 = ϑ1 ). Die nun
zugeführte Wärme q3‘4 = h4 − h3‘ ist jedoch geringer als x2 − xmix xmix − x1
l1 = und l2 = . (21.69)
die ursprünglich abgeführte Wärme q13 , da die abgeschie- x2 − x1 x2 − x1
dene Wassermasse nicht miterwärmt werden muss. Alle
isobar ausgetauschten Wärmen können nach dem ersten Das bedeutet, dass der gesuchte Mischzustandspunkt
Hauptsatz durch Enthalpiedifferenzen ausgedrückt wer- (Punkt M in Abb. 21.26a) auf einer geraden Verbindungs-
den, die als Strecken im h,x-Diagramm abgelesen werden linie zwischen den Zustandspunkten 1 und 2, der Mi-
können. schungsgeraden, liegt. Wir erhalten ihn durch Teilung der
Geraden im Verhältnis l1 : l2 (Hebelgesetz).
Frage 21.14 Aus der Mischung zweier ungesättigter Luftströme kann
Welche Zustandsgröße bleibt bei einer isobaren Erwär- unter bestimmten Bedingungen ein Mischzustand entste-
mung feuchter Luft konstant? Wie verläuft diese Zu- hen, der übersättigt ist, wie die Mischung der Zustände I
standsänderung im h,x- Diagramm? und II zum Zustand N in Abb. 21.26a zeigt. Ein Beispiel
für solche Mischungen ist heißer und feuchter Rauch, der
aus einem Schornstein in eine kalte Umgebung aufsteigt
Die Mischung ohne und mit Wärmeübertragung und sich mit ihr vermischt.
Mischt man in einem adiabaten Mischraum zwei ver- Führt man die Mischung nicht adiabat durch, sondern
schieden feuchte Luftströme 1 und 2, so ergibt sich ein überträgt man während der Mischung noch einen be-
Mischluftstrom (Mischzustand mit dem Index mix), wie stimmten Wärmestrom Q̇, so ist es gleichgültig, ob man
es in Abb. 21.25 zu sehen ist. diesen Wärmestrom vor der Mischung an einen der bei-
Zur Bestimmung der drei Unbekannten des Mischzu- den Zuströme überträgt oder während oder nach der Mi-
standes: Massenstrom der trockenen Luft, Wassergehalt schung dem Mischstrom zu- bzw. abführt. Bedingt durch
678 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

Abb. 21.26 Der Mischungs- h ϑ II h


II 2'
prozess (a adiabat und b mit ϑ2 2
Wärmezufuhr) im h ,x -Diagramm 1' Q
M' mL2

l1
l
Q 2
ϑ mix
M mLmix
Q

ϑ
m

l2
ix
mL1 M
N
ϑ1
1
ϑI I

ϑ
1 1
x1 x mix x2
x x
h h
= =
a 0 b 0

die unterschiedlichen Bezugs-Massenströme ergeben sich h

00

00
60
unterschiedliche spezifische Enthalpiedifferenzen infolge

50
der Wärmeübertragung: mD
xmix – x1 = 00
mL 40

h1 − h1 = , M
ṁL1
Thermodynamik

1
h = hD

h2 − h2 = , x ϑ
ṁL2 3000
Q̇ h
hmix’ − hmix = . (21.70) x
ϑ =h
h = hD hD
ṁLmix W x ϑ
kJ
Der endgültige Zustandspunkt M‘ der Mischung mit Pol 2500
kg
Wärmeübertragung muss aber aus Energieerhaltungs-
gründen natürlich immer identisch sein. Die Wärmeüber- x
h

tragung vor, während bzw. nach der Mischung lässt sich 1600
=
0

ebenfalls sehr anschaulich im h,x-Diagramm darstellen,


wie wir in Abb. 21.26b sehen können. Abb. 21.27 Einspritzen von flüssigem Wasser bzw. Dampf

Frage 21.15
Was passiert, wenn man zwei gesättigte feuchte Luftmas- ṁH2 O und der auf die Wassermasse(!) bezogenen spezi-
sen unter adiabaten Bedingungen miteinander mischt? fischen Enthalpie hH2 O (mit der Dimension kJ/kg H2 O)
besteht. Natürlich ist hier der trockene Luftstrom des Mi-
schungszustandes gleich dem trockenen Luftstrom des
Zustroms 1:
Die Dampf- bzw. Wassereinspritzung
Wasser: ṁL1 x1 + ṁH2 O = ṁL1 xmix , (21.71)
Wollen wir Luft (des Zustandes 1 in Abb. 21.27) be-
Energie: ṁL1 h1 + ṁH2 O hH2 O = ṁL1 hmix . (21.72)
feuchten, was z. B. in einer Klimaanlage geschieht, so
werden wir flüssige Wassertröpfchen oder Dampf ein- Aus diesen beiden Gleichungen können wir den Wasser-
spritzen. Diesen Mischprozess können wir jedoch nicht so massenstrom eliminieren und nach der Wasserenthalpie
einfach, wie im vorhergehenden Abschnitt beschrieben, auflösen:
in das h,x-Diagramm eintragen, da reines Wasser einen  
Wassergehalt von unendlich besitzt (x → ∞). Für diesen hmix − h1 ∂h
hH2 O = = . (21.73)
technisch wichtigen Fall müssen wir einen anderen Weg xmix − x1 ∂x ϑ
beschreiten.
Der rechte Teil dieser Gleichung gilt streng genommen na-
Wir stellen wiederum eine Massenbilanz für Wasser und türlich nur für infinitesimal kleine Wassereinspritzmen-
eine Energiebilanz entsprechend (21.64) und (21.65) auf, gen. Er liefert uns aber ein wichtiges Resultat. Obwohl
nur mit dem Unterschied, dass der zweite Zustrom in wir den Zustand des Wassers, das einem feuchten Luft-
Abb. 21.25 nun aus reinem Wasser mit dem Massenstrom strom des Zustandes 1 zugemischt wird, nicht in das
21.5 Gas-Dampf-Gemische: Feuchte Luft 679

Abb. 21.28 Der Verdunstungs- h


feuchte Luft
vorgang schematisch (a) und im ϑL 1 3
h ,x -Diagramm (b) ϑL 3′ 2
1 1
3′ 2′ ∂h
3 2′′ ∂x
2′ 2′′ ϑ KG ϑ =h
W
2
KG ϑ
KG
Wasser
ϑW

h
= x
a b 0

h,x-Diagramm eintragen können, ist es doch möglich, die die Verdunstung Energie entzogen, was eine Temperatur-
Richtung dieser Zustandsänderung zu bestimmen. Die absenkung zur Folge hat. Gleichzeitig wird dem Wasser
Zustandsänderung einer Wassereinspritzung bewegt sich aber durch die auftretende Temperaturdifferenz konvek-
im h,x-Diagramm entlang einer Geraden mit der Steigung tiv Wärme zugeführt. Wir stellen uns nun die Frage,
der Wasserenthalpie. Der Mischzustand M ergibt sich welche Endtemperatur das Wasser annehmen wird, an
dann grafisch einfach durch den Schnittpunkt dieser Ge- dessen Oberfläche die Verdunstung auftritt, wenn der Zu-
raden mit der Vertikalen, die durch die insgesamt zuge- stand der Luft, die sich in angemessenem Abstand über
führte Wassermenge bestimmt ist, xmix − x1 = ṁH2 O /ṁL1 , der Wasseroberfläche befindet, unverändert bleiben soll.

Thermodynamik
wie in Abb. 21.27 zu sehen ist. Um die Steigung der Gesucht ist also z. B. die Wassertemperatur eines Frei-
Wassereinspritzgeraden leichter in einem h,x-Diagramm bads, über das Wind einer bestimmten Temperatur und
eintragen zu können, ist es mit einem Randmaßstab ver- Feuchte weht. Da die genaue analytische Lösung dieses
sehen, der ebenfalls in Abb. 21.27 dargestellt ist. Von Problems recht komplex ist, wollen wir uns hier auf eine
dem Bezugspunkt, der auch Pol genannt wird, aus ziehen mehr qualitative Beschreibungsweise der grundsätzlich
wir eine Gerade zu der Markierung des Randmaßsta- auftretenden Phänomene beschränken.
bes mit dem Enthalpiewert des eingespritzten Wassers.
Für flüssiges Wasser ergeben sich Geraden, die wegen Luft des fest vorgegebenen Zustandes 1 (ϑ1 , x1 ) streicht
der geringen Enthalpie von links oben nach rechts un- über eine Wasseroberfläche, wie in Abb. 21.28a zu se-
ten verlaufen. Bei einer Dampfeinspritzung, die bei 0 ◦ C hen ist. Dabei mischen sich Luftballen des Zustandes 1
und einer Dampfenthalpie von 2500 kJ/kg H2 O erfolgt, mit Luftballen, die sich kurz vorher noch direkt über
verläuft die Gerade natürlich horizontal. Höhere Dampf- der Wasseroberfläche befanden und daher einen gesättig-
enthalpien ergeben leicht nach rechts oben ansteigende ten Luftzustand 2( ϕ2 = 1) besitzen. Der sich einstellende
Geraden. Haben wir die Steigung der Geraden auf die- Mischzustand 3 liegt auf der Mischgeraden zwischen 1
se Weise bestimmt, müssen wir sie nur noch parallel in und 2, wie in Abb. 21.28b zu sehen ist. Ein Luftballen
den Zustandspunkt 1 der zuströmenden Luft verschieben des Zustandes 3 wird sich nun wieder zurück zur Was-
(siehe Abb. 21.27). seroberfläche bewegen und dort eine Weile verharren. Der
unmittelbare Kontakt mit der Wasseroberfläche führt zur
Verdunstung, was eine Zustandsänderung in Richtung
Frage 21.16 der Sättigungslinie entlang der Wassereinspritz- bzw. Ver-
Wie verändert sich die Temperatur ungesättigter feuchter dunstungsgeraden mit der Steigung der Wasserenthalpie
Luft bei Zufuhr von flüssigem Wasser? zur Folge hat. Nach kurzer Zeit wird der Luftballen den
gesättigten Zustand 2 erreichen. Nachdem der Luftballen
wieder die Wasseroberfläche verlassen hat, wird er sich
Der Verdunstungsvorgang mit Luft des Zustandes 1 vermischen, und es wird ein
Zustand 3 entstehen, worauf wiederum an der Wassero-
Eine besondere Form der Wassereinspritzung ist die berfläche durch Wasseraufnahme ein Zustand 2 folgt.
Verdunstung. Ein typischer Verdunstungsvorgang liegt
beispielsweise vor, wenn ein feuchter Luftstrom über Der stationäre Endzustand wird dann erreicht, wenn
eine Wasseroberfläche streicht (z. B. Freibad im Som- die Mischgerade und die Verdunstungsgerade parallel
mer). Infolge der Verdunstung wird die Luft unmittel- verlaufen. Beide Geraden fallen dann aufeinander und
bar über der Wasseroberfläche Wasser aufnehmen und bilden die Verlängerung einer Nebelisothermen, die im
eine Zustandsänderung entlang einer Wassereinspritzge- Punkt KG, der Kühlgrenze des Zustandes 1, die Sätti-
raden mit der Steigung der Enthalpie des verdunstenden gungslinie schneidet und die in der Verlängerung durch
Wassers durchführen. Der Wassermenge, an deren Ober- den Zustandspunkt 1 geht (siehe ebenfalls Abb. 21.28b).
fläche der Verdunstungsvorgang stattfindet, wird durch Mit anderen Worten: die beiden physikalischen Effek-
680 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

Thermometer weht, wurde schon in der Antike zur Kühlung, z. B. von


h
Wein, ausgenutzt.
1 ϑL
Streicht ein Luftstrom des Eintrittszustandes 1 über eine
Wasserfläche, dann strebt der Austrittszustand der Luft
ϑL ϑ KG ebenfalls die Kühlgrenze KG an, d. h., die Luft kühlt sich
ϑ KG ab. Nach diesem Prinzip funktionieren ganz einfache Ver-
KG
dunstungskühler, die lediglich Luft durch ein feuchtes
Vlies blasen.

ϑ
KG

Die Kühlgrenztemperatur ist die stationäre Endtem-


x peratur einer Wasseroberfläche, über die ein feuchter
x1 Luftstrom strömt.
Psychrometer

Abb. 21.29 Bestimmung des Wassergehaltes feuchter Luft nach dem


Psychrometer-Prinzip Beispiel: Messung des Wassergehaltes feuchter
Luft durch ein Psychrometer Das Psychrometer
(Abb. 21.29) besteht im Prinzip aus zwei Thermome-
tern, einem blanken zur Messung der Lufttemperatur
te, Mischung (konvektiver einphasiger Wärmetransport) ϑL und einem mit feuchter Gaze oder Mull umwickel-
und Verdunstung (Wärme- und Stofftransport mit Pha- ten zur Messung der Kühlgrenztemperatur ϑKG bei dem
senwechsel), legen die stationäre Endtemperatur des Was- stationären Endzustand des Verdunstungsvorgangs. Su-
Thermodynamik

sers fest, die wir Kühlgrenztemperatur nennen. Die Stei- chen wir nun im h,x-Diagramm die Nebelisotherme ϑKG
gung der Geraden, die durch Punkt 1 geht, besitzt also auf und verlängern diese in das ungesättigte Gebiet bis
den Wert der Enthalpie des Wassers, wenn es seinen zur Temperatur ϑL , so erhalten wir im Schnittpunkt den
stationären Endwert erreicht hat. Der Effekt, dass eine Zustand der feuchten Luft. Damit können wir den zuge-
Flüssigkeit sich abkühlt, wenn (ungesättigte) Luft darüber hörigen Wassergehalt ablesen. 

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 21.1 Nach (21.13) ist die aufzubringende tech- Aus (21.17) ergibt sich dann:
nische Arbeit bei der Verdichtung auf ein gewünschtes
Druckverhältnis für ein ideales Gas direkt proportional 1 1
zu: εS = =  1/n
π 1/n − 1 p2
p1 −1
p1 V1 = mRT1 .
1 V2 V3
Daher reduziert eine geringere Verdichtereintrittstempe- =   = =
V1
−1 V1 − V2 V1 − V3
ratur die aufzubringende Arbeit bei sonst gleichen Pa- V2
rametern. Bei gleicher Turbinenleistung reduziert sich
damit die Verdichterleistung, und es kann bei einer Gas- und daraus:
turbinenanlage mehr Leistung an den Generator zur
Stromerzeugung abgegeben werden.
V2 = V3 .
Antwort 21.2 Der betrachtete Grenzfall entspricht einem
Füllungsgrad von In diesem Grenzfall wird also das Arbeitsmedium nur
noch im schädlichen Raum abwechselnd verdichtet und
V1 − V4 entspannt, aber kein frisches Medium mehr angesaugt
μ= = 0,V1 = V4 .
V1 − V3 bzw. verdichtetes Medium ausgestoßen.
Antworten zu den Verständnisfragen 681

Antwort 21.3 Bei der irreversiblen Entspannung in ei- Antwort 21.7 Der Joule-Prozess und der Clausius-
ner als adiabat betrachteten Turbine wird die Entropie Rankine-Prozess weisen die gleichen Zustandsänderun-
anwachsen, sodass bei gegebenem Druckverhältnis die gen in den Teilprozessen auf, unterscheiden sich aber
Änderung der spezifischen Enthalpie und damit die abge- durch die Phasenwechsel, die bei Dampfkraftprozessen
gebene spezifische Arbeit geringer ist als bei einer rever- auftreten. Daher kann für den Joule-Prozess das Arbeits-
sibel adiabaten Expansion. Das Verhältnis dieser Größen medium näherungsweise als ideales Gas behandelt wer-
nach (21.19) ist in der folgenden Abbildung veranschau- den, was für den Clausius-Rankine-Prozess nicht zulässig
licht. ist.

h p1 Antwort 21.8 Bei einer adiabaten Drosselung bleibt die


Enthalpie konstant. Daher stellt sich der Drosselungsvor-
gang als senkrechte Linie im log p,h-Diagramm dar. Dies
gilt für alle Arbeitsmedien.
1
Die Verwendung einer Turbine könnte durch zusätzliche
p2
wt, 12
Leistungsabgabe die notwendige Leistungsaufnahme re-
wt,12,rev duzieren und damit die Kälteleistungszahl erhöhen. Der
2
wt,Verl,12
technische Aufwand wäre aber sehr viel größer (und teu-
2,rev
rer), sodass stattdessen einfache, fest eingestellte oder
regelbare Drosseln verwendet werden.

Antwort 21.9 Kältemaschine und Wärmepumpe:

Thermodynamik
s

Der Aufwand bei der Kältemaschine ist ebenso wie bei


der Wärmepumpe die Leistungsaufnahme des Verdich-
Antwort 21.4 Das Verdichtungsverhältnis ist bei Ottomo- ters. Bei ihrem Nutzen unterscheiden sich jedoch die
toren aufgrund der Selbstzündungstemperatur des Kraft- beiden Prozesse. Der Nutzen der Kältemaschine ist die
stoffes beschränkt. Die Kraftstofftemperatur steigt bei der im Verdampfer geleistete Kühlung der Umgebung, wo-
reversibel adiabaten Verdichtung an, sodass eine Zün- hingegen die Wärmepumpe über den Kondensator der
dung und eine Verbrennung schon während des Verdich- Umgebung Nutzwärme zur Verfügung stellt.
tungsprozesses einsetzen könnte. Es würde dann durch
die unkontrollierte Zündung und Verbrennung zum so- Daraus folgen die unterschiedlichen Definitionen für die
genannten Klopfen kommen, was dem Verdichtungsver- Leistungszahlen und der Zusammenhang zwischen bei-
hältnis eine praktische Grenze setzt. den nach (21.48):

ε WP = 1 + ε K .
Antwort 21.5 Die thermischen Wirkungsgrade können
für beide Prozesse mit den gegebenen Angaben (Arbeits-
medium als ideales Gas mit κ = 1,4) für den Otto-Prozess
(ε O = 8) und für den Diesel-Prozess (ε D = 16, ϕ = 1,58) Antwort 21.10 Bei einer Wärmekraftmaschine kann nach
aus (21.27) und (21.28) direkt ermittelt werden. Abb. 21.21 die Exergie des zugeführten Wärmestroms
vollständig in technische Leistung umgewandelt werden.
1 Die Anergie des zugeführten Wärmestroms wird an die
ηth,Otto = 1 − = 0,565, Umgebung abgeführt.
εκO−1
ϕκ − 1 Bei einer Wärmepumpe wird der vollständig aus Aner-
ηth,Diesel = 1 − = 0,635. gie bestehende zugeführte Wärmestrom auf ein höheres
εκD−1 κ ( ϕ − 1)
Temperaturniveau gebracht. Der abgeführte Wärmestrom
setzt sich dann aus der Exergie der zugeführten techni-
schen Leistung und der Anergie des zugeführten Wärme-
Antwort 21.6 Aufgrund der isothermen Wärmezufuhr stroms zusammen.
und der isothermen Wärmeabfuhr sowie des inneren
regenerativen Wärmeaustausches (reversibel adiabat ge- Bei einer Kältemaschine wird die Exergie der zugeführ-
genüber der Umgebung) ist beim Stirling-Prozess der ten technischen Leistung dem zu kühlenden Raum zuge-
thermische Wirkungsgrad theoretisch gleich groß wie der führt und Anergie (Wärme) entzogen. Die Summe wird
thermische Wirkungsgrad des Carnot-Prozesses. als Anergiestrom (Wärme) an die Umgebung abgegeben.
682 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

Antwort 21.11 Der Partialdruck des Wasserdampfes in Die relative Feuchte ist also direkt proportional zum Ge-
feuchter Luft kann den Sättigungsdruck nicht überschrei- samtdruck, sodass die Linien konstanter relativer Feuchte
ten, d. h., es gilt für jede Temperatur pD  pS (T ). nach
Antwort 21.12 Nach (21.60) gilt: pneu
ϕneu = ϕalt
p 1+x p RL + xRD palt
ρ= = mit Rges =
Rges T RL + xRD T 1+x
umgerechnet werden können. Die Isothermen im Nebel-
und mit (siehe Tab. 21.1): RL = 0,287kJ/(kg K); RD = gebiet liegen dann für jeden Druck anders. Für höhere
0,461kJ/(kg K) wächst Rges mit zunehmendem x an, und Drücke als Umgebungsdruck werden sie sich im h,x-
damit sinkt die Dichte der feuchten Luft. Diagramm nach links verschieben.
Antwort 21.13 Ein h,x-Diagramm gilt nur für einen be-
Antwort 21.14 Bei einer isobaren Wärmezufuhr tritt keine
stimmten Gesamtdruck. Solange wir die feuchte Luft als
Änderung des Wassergehaltes auf. Die Zustandsände-
ein ideales Gas auffassen können, bleibt die Enthalpie
rung verläuft daher im h,x-Diagramm senkrecht.
vom Druck unabhängig, und somit bleiben die Isother-
men der ungesättigten Luft gleich wie für den Fall bei Antwort 21.15 Die adiabate Mischung zweier gesättig-
Umgebungsdruck. Es ändern sich jedoch die Linien kon- ter feuchter Luftmassen erzeugt immer Nebel, da durch
stanter relativer Feuchte. Hierzu können wir (21.56) her- die konkave Krümmung der Sättigungslinie der Mischzu-
anziehen: standspunkt in diesem Fall immer im Nebelgebiet liegt.
pD ϕps
x = 0,622 = 0,622 . Antwort 21.16 Die Zufuhr von flüssigem Wasser zu un-
p − pD p − ϕps
Thermodynamik

gesättigter feuchter Luft bei Umgebungsdruck ist immer


Formen wir diese Gleichung nach der relativen Feuchte mit einer Abkühlung der Luft verbunden. Die feuchte
um, ergibt sich: Luft stellt die Verdampfungswärme für das flüssige Was-
ser bereit und kühlt somit ab. Dies wird auch aus der nach
p x
ϕ= . rechts unten zeigenden Richtung der Zustandsänderung
ps 0,622 + x (Zufuhr flüssigen Wassers) im h,x-Diagramm deutlich.
Aufgaben 683

Aufgaben

Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer).
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

21.1 • Der Quotient aus der technischen Leistung 3 → 4: isobare Wärmeabfuhr im Kondensator bis zum
und dem Wärmestrom ist für einen einstufigen Verdich- Zustand 4, gesättigte Flüssigkeit,
ter gleich –8. Die dimensionslose technische Leistung 4 → 5: isobare Unterkühlung von 7 K im Zustand 5,
Ẇt /(ṁRT1 ) ist gleich 2. Das Arbeitsmedium Argon ist als 5 → 6: adiabate Drosselung auf den Druck p6 = 37,7 bar,
ideales Gas zu behandeln. Berechnen Sie das Druckver- 6 → 7: isobare Wärmezufuhr bei T = 276,15 K im Ver-
hältnis, wenn polytrope Verdichtung angenommen wird. dampfer bis zum Zustand 7, gesättigter Dampf,
7 → 1: isobare Überhitzung von 7 K bis zur Temperatur
T1 = 283,15 K
21.2 •• Ein Diesel-Prozess soll pro Umlauf die glei-
che Arbeit abgeben wie ein Otto-Prozess. Folgende Grö-
ßen sind bei beiden Prozessen gleich: Die Klimaanlage soll eine Kälteleistung von Q̇0 = 7 kW

Thermodynamik
besitzen.
Hubvolumen VH = 1500 cm3 , Ansaugzustand mit T =
323 K und p = 1 bar, ideales Gas mit κ = 1,4. Der kritische Druck des Kohlendioxids ist pkrit =
73,834 bar mit der entsprechenden kritischen Tempera-
Für den Otto-Prozess ist das Verdichtungsverhältnis tur Tkrit = 304,2 K. Die Stoffdaten für Kohlendioxid sind
gleich 8; für den Diesel-Prozess ist das Verdichtungsver- in den beiden folgenden Tabellen Gasgebiet und Nass-
hältnis gleich 16 und das Einspritzverhältnis gleich 1,58. dampfgebiet angegeben.
Welche Werte nehmen die Zustandsgrößen p,V und T in
den Eckpunkten der Teilprozesse an? Tab. Gasgebiet
p in bar T in K v in m3 /kg h in kJ/kg s in kJ/(kg K)
Wie groß sind die thermischen Wirkungsgrade der beiden 37,00 288,15 0,0109768 450,832 1,908
Prozesse? 37,00 283,15 0,0104530 443,136 1,881
38,00 283,15 0,0100275 441,038 1,870
72,31 316,35 0,0053186 439,812 1,789
21.3 • • • Eine Pkw-Klimaanlage soll für den Betrieb
72,31 330,45 0,0062729 467,030 1,873
mit dem Kältemittel R744 (Kohlendioxid) ausgelegt wer-
80,00 323,15 0,0045620 436,312 1,763
den. Der Kreisprozess soll mittels eines einstufigen Pro-
80,00 341,41 0,0056712 472,989 1,874
zesses realisiert werden, der sich aus dem folgenden
Anfangszustand und den angegebenen Zustandsände-
rungen zusammensetzt. 1. Skizzieren Sie den Kreisprozess im p, h-Diagramm.
2. Bestimmen Sie die Enthalpien h1 bis h7 ! Benutzen Sie
Anfangszustand 1: p1 = 37,7 bar und T1 = 283,15 K, für die Berechnung des Prozesses 4 → 5 die spezifische
isobare Wärmekapazität von flüssigem CO2 , cp = 5,537
1 → 2: adiabate Verdichtung vom Zustand 1 bis zum Zu- kJ/(kg K).
stand 2, p2 = 72,31 bar mit einem isentropen Ver- 3. Berechnen Sie die Kälteleistungszahl ε K dieses Systems
dichterwirkungsgrad ηsV = 0,70, unter der Annahme, dass die gesamte im Verdampfer
2 → 3: isobare Enthitzung des Gases bis zum Zustand 3, umgesetzte Leistung zur Kälteleistung beiträgt.
T3 = 303,15 K, gesättigter Dampf, 4. Berechnen Sie den Massenstrom und die Antriebleis-
tung des Verdichters.

Tab. Nassdampfgebiet p in bar T in K v in m3 /kg v in m3 /kg h in kJ/kg h in kJ/kg s in kJ/(kg K) s in kJ/(kg K)


33,94 272,15 0,00107 0,01057 197,549 431,475 0,991 1,851
37,70 276,15 0,00110 0,00931 207,392 428,997 1,026 1,828
38,19 276,65 0,00110 0,00916 208,650 428,643 1,030 1,825
39,69 278,15 0,00112 0,00873 212,461 427,513 1,043 1,816
72,31 303,15 0,00168 0,00290 304,680 365,418 1,344 1,544
684 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse

21.4 •• im Raum ausgetauschten trockenen Luft? Der Sätti-


gungsdruck des Wassers bei 25 ◦ C ist aus der Wasser-
Die Klimaanlage eines V = 240 m3
großen Raums ist so dampftafel bekannt zu ps (25 ◦ C) = 0,0317 bar.
bemessen, dass in einem Zeitraum von einer Stunde die 2. In welchem Zustand (x3 , ϑ3 ) muss die Luft dem Raum
Luft gerade viermal vollkommen erneuert wird. In dem zugeführt werden?
Raum arbeiten 20 Menschen, von denen jeder pro Stunde 3. Es steht Umgebungsluft des Zustandes 1 (ϑ1 = −5 ◦ C,
durchschnittlich 400 kJ Wärme und 0,045 kg Wasser (flüs- ϕ1 = 0,8) zur Verfügung. Diese Luft wird durch Wär-
sig) an die Raumluft abgibt. mezufuhr auf die Temperatur ϑ2 gebracht. Mit der
Die Luft in dem Raum soll die Temperatur ϑ4 = 25 ◦ C und nachfolgenden Einspritzung von flüssigem Wasser
die relative Feuchtigkeit ϕ4 = 0,7 nicht übersteigen, d. h., ṁW23 (Temperatur ϑW = 10 ◦ C) erreicht der Luftstrom
sie wird mit diesem Zustand 4 aus dem Raum abgesaugt. den gewünschten Zustand 3.
Der Druck im Raum ist gleich dem Umgebungsdruck von Ermitteln Sie
1 bar.
die Temperatur ϑ2 ,
Die Gaskonstante für trockene Luft soll mit RL = die für die Erwärmung von ϑ1 auf ϑ2 erforderlichen
287 J/(kg K) angenommen werden. Die spezifische Wär- Wärmestrom Q̇12 und die einzuspritzende Wasser-
mekapazität des Wassers ist cW = 4,19 kJ/(kg K). menge ṁW23 .
Verwenden Sie zur Lösung der Teilaufgaben auch das 4. Kann bei der Vermischung der abgesaugten Luft vom
maßstäbliche h,x-Diagramm, wo immer es angebracht ist! Zustand 4 mit der Umgebungsluft vom Zustand 1 Ne-
belbildung auftreten?
1. Bestimmen Sie die Dichte der abgesaugten Reinluft
(trockene Luft)! Wie groß ist der Massenstrom ṁL der
Thermodynamik
Strömungsmechanik Teil
IV
Inhaltsverzeichnis

22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687

Strömungsmechanik

685
Strömungsmechanik – alles
ist im Fluss
22
Was unterscheidet
Flüssigkeiten von
Festkörpern?
Wie berechnet man Kräfte
von Flüssigkeiten auf
Bauteile?
Wodurch unterscheiden
sich laminare von
turbulenten Strömungen?
Was ist die Bedeutung der
dimensionslosen
Kennzahlen?
Wie verhalten sich Gase?

Strömungsmechanik
22.1 Die Bedeutung der Strömungsmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688
22.2 Begriffe und Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689
22.3 Hydrostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693
22.4 Hydrodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706
22.5 Hydrodynamische Ähnlichkeitsgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719
22.6 Innenströmung und Rohrhydraulik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729
22.7 Einführung in die Gasdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 687


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_22
688 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Im vorliegenden Kapitel behandeln wir die wichtigsten Themen- und turbulenzfreie (laminare) Strömung im Kernbereich
gebiete der Strömungsmechanik. Zuerst die Hydrostatik, in der es bedeutet. Lediglich in Wandnähe (ober- und unterhalb
vor Allem um die Kraftwirkung ruhender Flüssigkeiten auf feste des glatten Bereichs an der Mauer) ist deutlich eine tur-
Wände geht. In der Hydrodynamik werden Erhaltungssätze und Be- bulente Grenzschicht zu sehen. Aufgrund der geringer
wegungsgleichungen erläutert und ihre Anwendung gezeigt. Die werdenden Wassertiefe am Wehr ist die Beschleunigung
Ähnlichkeitsgesetze lassen die Übertragung der Phänomene bei groß, die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Oberflächen-
völlig anderen Abmessungen zu, was in der Rohrhydraulik die Be- wellen dagegen immer kleiner, denn diese ist näherungs-
rechnung vereinfacht. Die Gasdynamik, also das Verhalten von weise gleich der Wurzel aus Erdbeschleunigung g mal
Gasen, wenn Strömungsgeschwindigkeit und Schallgeschwindig- Wassertiefe z und wird auch als Schwallgeschwindigkeit be-
keit von gleicher Größenordnung sind, rundet das Kapitel ab. zeichnet:

a= gz.
22.1 Die Bedeutung der Bildet man das Verhältnis der lokalen Strömungsge-
Strömungsmechanik schwindigkeit u zur lokalen Schwallgeschwindigkeit a,
erhält man die Froudezahl Fr:
In vielen Bereichen der Technik und des Maschinenbaus u
werden Kraftwirkungen von Strömungen als wichtige Fr = √ .
gz
Randbedingung für die Berechnung der mechanischen
Festigkeit von Bauteilen benötigt. In der Kraftwerkstech-
Sobald die Froudezahl größer als 1 wird, können be-
nik, der Energie- und Antriebstechnik (Motoren, Flugtur-
reits geringfügige Störungen ein spontanes Abbremsen
binen, Gas- und Dampfturbinen) und in der Verfahrens-
der Strömung auslösen, und ein Großteil der kinetischen
technik (Wärmeübertrager, Boiler) ist das strömungsme-
Energie wird in einem stark verlustbehafteten Vorgang
chanische Verhalten sogar entscheidend für das Gesamt-
dissipiert, d. h. über starke Verwirbelungen in Wärme
verhalten des technischen Systems. Heutzutage sind die
umgewandelt. Die Entropie steigt dabei stark an. Dieser
Optimierung technischer Geräte in Bezug auf Wirkungs-
Vorgang ist im rechten Teil des Bildes unschwer zu erken-
grad, Energiebedarf und ressourcenschonendem Betrieb
nen, ebenso wie der damit verbundene leichte Druckrück-
wichtige Entwicklungsziele der Hersteller, um am Markt
gewinn aus der kinetischen Energie, der bewirkt, dass das
„die Nase vorn“ zu haben.
Wasser sogar bergauf strömt. Im oberen Bereich des Bil-
Dabei ergeben sich manchmal überraschende Analogien des ist dies an der Seitenwand gut zu erkennen, denn
scheinbar völlig unterschiedlicher Fälle, womit wir in die der dunkle (veralgte) Bereich an der Wand markiert eine
Strömungsmechanik

Materie einsteigen wollen: Abbildung 22.1 zeigt die Über- Höhenlinie stehenden Wassers, wenn das Wehr geschlos-
strömung eines Stauwehrs. Die Strömung (von links nach sen ist und nicht überströmt wird. Man spricht wegen
rechts) wird im gezeigten Bereich stark beschleunigt, was des Bergauffließens vom Wassersprung. Die Froudezahl ist
die sehr glatte Oberfläche im linken Bildbereich bewirkt in diesem Bereich wieder kleiner als 1, jede Störung der
Oberfläche breitet sich offensichtlich bis zur fast geraden
Linie des Beginns des Wassersprunges aus. In der linken
Bildhälfte ist also Fr ≥ 1, in der rechten Bildhälfte ist da-
gegen Fr < 1.

In Abb. 22.2 sieht man die drei Haupttriebwerke des


Space-Shuttles Discovery kurz nach dem Abheben von
der Startrampe (Flug STS 121) sowie einen Bildaus-
schnitt eines Triebwerkes der Endeavour (STS 123). Das
Triebwerk wird mit Wasserstoff und Sauerstoff betrieben
und weist (neben sehr hohen Brennkammertemperatu-
ren) auch eine sehr hohe Abgasgeschwindigkeit von ca.
4 km/s und einen Schub von ca. 2000 kN auf. Sehr schön
sind im sonst fast durchsichtigen Abgasstrahl hellblau
leuchtende Zonen der Verdichtungsstöße erkennbar, die
mehrfach im Strahl auftreten und die wegen ihrer Form
auch Machdiamanten genannt werden.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die Strö-
Abb. 22.1 Überströmung eines Stauwehrs mit Wassersprung (Alte Mainbrücke mungsbilder des gemächlich fließenden Wassers im Fluss
in Würzburg) und der Überschallströmung des Abgases eines Triebwer-
22.2 Begriffe und Definitionen 689

soll beim überströmten Wehr die kinetische Energie ver-


Shuttle-Haupt- lustbehaftet vernichtet werden, denn die an der Staustufe
triebwerke
(SSME)
eingebauten Wasserturbinen konnten zum Zeitpunkt des
Fotos (Hochwasser) nicht die gesamte Wassermenge auf-
nehmen. Daher muss die überschüssige Energie über den
Wassersprung nach dem Wehr abgebaut werden, damit
Verdichtungs-
stöße im
die Fließgeschwindigkeit und die Erosionswirkung be-
Abgasstrahl: grenzt wird.
Mach-
diamanten Beide Vorgänge beruhen auf einem ähnlichen Mechanis-
oder mus und lassen sich gezielt technisch beeinflussen. Zu
Shock-
Diamonds diesem Zweck werden wir in diesem Kapitel die Grund-
lagen strömungsmechanischer Berechnungen kennenler-
nen. Ziel ist es, sowohl für Studierende aller Fachrich-
tungen des Maschinenbaus als auch für die praktische
Anwendung im Beruf die wichtigsten Zusammenhänge
a b kurz und bündig zu präsentieren. Auf tiefgehende Her-
leitungen und nur für wenige Spezialisten anwendbare
Abb. 22.2 Start der Space-Shuttles Discovery (a) und Endeavour (b) Methoden wird bewusst verzichtet, denn dies würde dem
Konzept dieses Lehrbuches widersprechen. Hierzu wird
auf die weiterführende Literatur verwiesen, die speziel-
le Themengebiete ausführlich abdeckt, z. B. zu instatio-
kes miteinander überhaupt nichts zu tun haben können. nären Strömungen, zur Turbulenzmodellierung und zu
Doch dem ist nicht so, im Gegenteil: Aufgrund der ähn- computerunterstützten fluiddynamischen Berechnungs-
lichen Beschreibung in den Gleichungen sind beide For- verfahren (CFD). Für Studierende der Hochschulen und
men eng verwandt. An die Stelle der Froudezahl tritt Universitäten und für Ingenieure in der Berufspraxis wird
in der Dynamik der Gasströmung die Machzahl M, die die übersichtliche Darstellung des Verhaltens der Flui-
das Kompressionsverhalten eines Gases bei hohen Ge- de und der wichtigsten Berechnungsmethoden der Strö-
schwindigkeiten beschreibt und für ein ideales Gas das mungsmechanik aber sehr nützlich sein.
Verhältnis der lokalen Strömungsgeschwindigkeit u zur
lokalen Schallgeschwindigkeit a darstellt.

Strömungen im Überschallbereich (M > 1) können sich 22.2 Begriffe und Definitionen

Strömungsmechanik
genauso verhalten, wie die oben beobachtete Wasserströ-
mung am Wehr: Durch eine kleine Störung kann die Das mechanische Verhalten von Flüssigkeiten und Ga-
Strömung spontan von Überschall auf Unterschall sprin- sen (allgemein Fluide genannt) unterscheidet sich fun-
gen, und der größte Teil der kinetischen Energie wird in damental vom mechanischen Verhalten der Festkörper,
einem stark verlustbehafteten Vorgang in Wärme umge- weil der atomare bzw. molekulare Verbund nur lose ist
wandelt. Nur ein kleiner Teil der Energie führt zu einem und bereits bei kleinen Kräften Verschiebungen zulässt.
Druckanstieg, woraus sich der Name des Vorgangs ergibt: Ein elastisches Verhalten, z. B. Rückfedern, stellt man
In diesem Fall bildet sich ein senkrechter (starker) Verdich- bei den meisten technisch relevanten Fluiden nicht fest.
tungsstoß aus. In Abb. 22.2 ist der Stoß glücklicherweise In der Folge stellen sich beliebig große und bleibende
nicht auf der gesamten Strahlbreite zu erkennen, denn der Verformungen sowie gegebenenfalls auch Volumenver-
Schub könnte bei einem im Triebwerk auftretenden senk- änderungen des betrachteten Bereiches eines Fluides ein,
rechten Stoß auch ganz zusammenbrechen. Bei den im und die Reduzierung eines Flüssigkeitsteilchens auf die
Abgasstrahl erkennbaren schrägen Stößen wird das Medi- Bewegung des Schwerpunktes und seinen Drehimpuls
um zwar verdichtet (wegen der damit verbundenen, hö- (Starrkörperrotation) reicht zur Beschreibung der Bewe-
heren Temperatur leuchtet es auch stärker), bleibt aber mit gung von Fluiden nicht aus. Vorteilhaft ist dabei aber,
Ausnahme der hellen Kernzone im Überschall (schwacher dass der Bewegungszustand stark mit dem inneren Span-
Stoß) und wird kurz darauf wieder durch Expansionswel- nungszustand verbunden ist und sich nennenswerte Ei-
len beschleunigt, d. h. kälter, und der Strahl wird wieder genspannungen bei technischen Fluiden, die (wenigstens
durchsichtig. Stöße und die folgenden Expansionswel- nahezu) in Ruhe sind, auf den Druck beschränken. Diese
le lenken den Strahl etwas um, sodass der Strahlrand Aussage trifft auch auf gleichförmig bewegte Fluide (ho-
wellenförmig zu pulsieren scheint. Trotzdem bleibt der mogene Strömung) zu, weil eine gleichförmige Bewegung
Strahlrand gut erkennbar erhalten, d. h., bei den Vorgän- allein durch einen Wechsel des Beobachterbewegungszu-
gen geht nur wenig kinetische Energie verloren. Dagegen standes in den Ruhezustand abgebildet werden kann.
690 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Übersicht: Geschwindigkeitssymbole

. . . oder warum es nicht nur ein Zeichen für Geschwin- und der Strömungsmechanik ist v oder V für die Ge-
digkeiten gibt schwindigkeiten von Fluiden ungünstig, weil dieser
Für Geschwindigkeiten findet man in der Technik und für das spezifische oder absolute Volumen (volume)
der Physik verschiedene Symbole, gebräuchlich sind des Fluides reserviert ist und in der Gasdynamik oder
insbesondere u, v, w und c. In der Physik und in der der Thermodynamik in denselben Gleichungen vor-
Technischen Mechanik werden häufig die Symbole v kommt. Hinzu kommt die große Ähnlichkeit von v
(velocity) für die Geschwindigkeiten materieller Kör- mit der kinematischen Viskosität ν (griechisches ny)
per und c für die Lichtgeschwindigkeit als universelle im mathematischen Satz. W und w sind in diesen bei-
Konstante verwendet. Der Maschinenbau besteht aus den Disziplinen Symbol für absolute bzw. spezifische
mehreren Teildisziplinen, in denen zugunsten einer Arbeit (work) und wären daher ebenfalls eine Feh-
übersichtlichen Darstellung davon abweichende Sym- lerquelle. Bleiben also nur noch c und u für Fluide,
bole gebräuchlich sind. Eine einheitliche Festlegung wobei in der Thermodynamik u die Zustandsgröße
für alle Gebiete wäre wenig praxisnah, denn es gibt innere Energie ist und dort folgerichtig c verwendet
für einzelne Buchstaben immer mehrere Bedeutun- wird. Das könnte auch in der Strömungsmechanik
gen. Weil diese Frage auch sehr häufig in Vorlesungen Anwendung finden, hier tritt allerdings die Wärme-
gestellt wird, hier eine kurze Erläuterung zur Nomen- kapazität c oder der Widerstandsbeiwert cW in der
klatur dieses Buches, in dem gleichen Gleichung mit der Geschwindigkeit auf, wäh-
rend die innere Energie eher selten explizit erscheint
v für die Geschwindigkeit insbesondere materieller (statt ihrer wird die Enthalpie h verwendet). Folglich
Objekte in Physik und Technischer Mechanik, ist in dieser Disziplin u das Symbol mit den geringsten
c für die Geschwindigkeit von Fluiden in der Ther- bzw. unproblematischsten Doppelbedeutungen.
modynamik,
u für die Geschwindigkeiten von Fluiden und v Dazu kommt, dass die Strömungsmechanik in der
als Geschwindigkeit von Festkörpern (begrenzende praktischen Anwendung eine enge Schnittstelle zur
Wände und Oberflächen) in der Strömungsmecha- Festigkeitsrechnung hat und ein weiteres Geschwin-
nik digkeitssymbol zur Unterscheidung der Geschwindig-
keit des Fluides von der Geschwindigkeit der begren-
stehen. Dazu kommt eine „Sonderregel“ im Strö- zenden festen Wände, besonders bei Umströmungen
mungsmaschinenbau. braucht. Da in der Festkörpermechanik das Symbol v
Strömungsmechanik

Bei den unterschiedlichen Disziplinen geht es dabei verwendet wird, bietet sich dieses auch in der Strö-
immer darum, die Doppelverwendung von Buchsta- mungsmechanik für die Geschwindigkeit der festen
ben mit bestimmter Bedeutung innerhalb einer Glei- Wände an, während u eben für die Fluidgeschwin-
chung zu vermeiden, da dies unnötige Fehler provo- digkeit steht. v ist somit gleichzeitig Randbedingung
zieren würde. Allein der Buchstabe c hat gleich auf den für beide Seiten dieser Schnittstelle. Das wäre in sich
ersten Blick im Maschinenbau mehrere Bedeutungen: c konsistent, wenn da nicht die 150-jährige Historie des
kann in der Technischen Mechanik die Federkonstan- Strömungsmaschinenbaus wäre . . .
te sein, in der Physik wird die Lichtgeschwindigkeit Bereits im 19. Jahrhundert wurde im Strömungsma-
damit assoziiert, in der Thermodynamik ist es eine Ge- schinenbau (Wasserturbinen und Pumpen) die No-
schwindigkeit oder eine Wärmekapazität ebenso wie menklatur c für absolute Strömungsgeschwindigkeit,
in der Strömungsmechanik, hier könnte es auch zu- w für Geschwindigkeit der Strömung relativ zum Lauf-
sätzlich ein Widerstandsbeiwert sein (cW -Wert), in der rad und u für die Umfangsgeschwindigkeit des Lauf-
Elektrotechnik könnte es eine Kapazität bedeuten usw. rades eingeführt. Obwohl man wie in der Mechanik
Das ist für sich betrachtet unproblematisch, denn so- und Physik für Letztere heute eher v verwenden wür-
lange man nicht in einer Gleichung denselben Buch- de, ist dieser Zweig traditionell bei u für das Laufrad
staben für verschiedene Größen verwendet, ergibt sich geblieben. Ingenieure müssen die gängige Praxis die-
meist aus dem Zusammenhang, was jeweils gemeint ser speziellen Branche wenigstens kennen, auch wenn
ist. In der Thermodynamik oder der Strömungsmecha- sie nicht gerade im Sinne einer übergreifend konsisten-
nik ist auch ohne Nomenklatur die Verwechselungsge- ten Regel ist.
fahr von c mit der Lichtgeschwindigkeit eher gering. Eine Bemerkung zum Schluss: Dies gilt sinngemäß
Was Geschwindigkeiten betrifft, gibt es in den ver- auch für andere Größen, denn Bedeutungsüberschnei-
schiedenen Disziplinen des Maschinenbaus unter- dungen sind sehr häufig: p für Impuls (Mechanik) oder
schiedliche Doppelbelegungen der Buchstaben u, v, w Druck, E als E-Modul oder Energie, q für Streckenlast
und c mit Größen, die gegebenenfalls in derselben (Mechanik) oder spezifische Wärme (Thermodynamik
Gleichung auftauchen, sodass hier in der Regel der und Strömungsmechanik), T oder t für Zeit oder Tem-
Buchstabe verwendet wird, der die wenigsten Dop- peratur usw. In solchen Fällen sollten im begleitenden
pelbedeutungen im jeweiligen Kontext besitzt. Das ist Text vor einer Formel die Größen benannt sein, die mit
nicht immer der Buchstabe v. In der Thermodynamik den jeweils verwendeten Zeichen verbunden sind.
22.2 Begriffe und Definitionen 691

Verformung bei festen Körpern Die zeitliche Veränderung des Scherungswinkels lässt
sich auch durch den Geschwindigkeitsgradienten in der
und bei Flüssigkeiten
Strömung quer zur Strömungsrichtung (y) ausdrücken
(Abb. 22.3).
Wirkt auf einen festen Körper eine Scherkraft (Schubspan-
nung τ), verformt sich dieser endlich bis zu einem von der
Kraft abhängigen Scherungswinkel γ, wobei gilt: Für Newton’sche Flüssigkeiten (Abb. 22.4) gilt:

du
γ = f ( τ ). τ=η .
dy
Die Verschiebung geht gegen null, wenn die Schubspan-
Hierbei sind u die Strömungsgeschwindigkeit und
nung gegen null geht. Für Hooke’sche Festkörper gilt die
y die Ortskoordinate senkrecht zur Strömungsrich-
Proportionalität
tung. Die Proportionalitätskonstante η wird als dy-
namische Viskosität bezeichnet.
τ = Gγ.

G nennt man den Gleit- oder Schubmodul. Ein „Zwischending“ zwischen Festkörper und Flüssigkeit
Wirkt dagegen auf eine Flüssigkeit eine Scherkraft ist das sogenannte Bingham-Medium (Abb. 22.4). Es ver-
(Schubspannung), verformt sich diese unbegrenzt mit ei- hält sich bis zu einer Grenzspannung wie ein Hooke’scher
ner von der Schubspannung abhängigen Verformungsge- Körper, darüber hinaus aber wie eine Newton’sche Flüs-
schwindigkeit (d. h. einer Änderung des Scherungswin- sigkeit. Zahnpasta ist ein gutes Beispiel für ein Bingham-
kels mit der Zeit). Anstelle der endlichen Verformung γ Medium: Sie fließt erst aus der Tube, wenn man genügend
bei einem festen Körper tritt also bei Flüssigkeiten die Ver- stark auf die Tube drückt, sodass die Grenzschubspan-
formungsgeschwindigkeit nung überschritten wird. Dieses Fließen geschieht vor
allem in Wandnähe der Tubenaustrittsöffnung, im Kern-
bereich (wo die Grenzschubspannung nicht überschritten
γ̇ = f (τ ) (22.1) wird) behält die Zahnpasta dagegen die Eigenschaft ei-
nes Festkörpers bei und kommt als Strang aus der Tube.
mit der Randbedingung Da unterhalb der Grenzschubspannung die Verformung
endlich bleibt, können Bingham-Medien nicht zu den
γ̇ = f (τ = 0) = 0. (22.2) Flüssigkeiten gerechnet werden.

Strömungsmechanik
Damit es sich bei einem beliebigen Stoff um eine echte Andere Arten von nicht Newton’schen Flüssigkeiten
Flüssigkeit handelt, muss die Verformungsgeschwindig- heißen scherverdünnend, wenn sie mit größer werden-
keit genau dann gegen null gehen, wenn die Schubspan- der Schubspannung überproportional schnellere Verfor-
nung gegen null geht. Für Newton’sche Flüssigkeiten gilt mungsgeschwindigkeit zeigen (d. h., ihre dynamische
die Proportionalität Viskosität nimmt mit steigender Schubspannung ab) oder
scherverdickend im umgekehrten Fall (Abb. 22.4).
τ = η γ̇,

wobei η die dynamische Viskosität ist. Fast alle Gase ver-


halten sich in guter Näherung wie Newton’sche Fluide. τ
m
ha
ing d he
s
B er- en ’sc
sch dünn o n
ve
r wt
y
du Ne id
u
Fl
d
en
ve er-

dy
ick
h

u(y)
sc
rd

γ du
γ=
dy

Abb. 22.3 Scherungswinkel und Geschwindigkeitsgradient Abb. 22.4 Newton’sche und nicht Newton’sche Flüssigkeiten
692 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Definition des Fluids als allgemeine Flüssigkeit Lokale Dichte


Flüssigkeiten bzw. Fluide sind Stoffe, bei denen Δm
ρ = lim .
die zu einer bestimmten Verformung notwendigen ΔV →0 ΔV
Scherkräfte genau dann gegen null gehen, wenn die
Verformungsgeschwindigkeit gegen null geht.
Hinter diesem Grenzübergang steckt bei Flüssigkeiten
die Kontinuumshypothese, die besagt, dass dieser Grenz-
Diese Eigenschaft tritt bei sogenannten tropfbaren Flüs- übergang für kleine Volumina erlaubt ist und nicht auf-
sigkeiten (z. B. Wasser) ebenso wie bei Gasen auf. Wegen grund des molekularen Aufbaus der Materie zu Unstetig-
der großen Ähnlichkeit im Verhalten werden beide in der keiten führt.
Strömungsmechanik zum Begriff des Fluides (= allgemei-
ne Flüssigkeit) zusammengefasst. Wenn wir im Folgen-
den vereinfachend von Flüssigkeiten sprechen, ist damit
also immer der Oberbegriff eines Fluides gemeint und
nicht alleine die tropfbare Flüssigkeit.
Materie verhält sich auch in kleinen Volumina
kontinuierlich (Kontinuumshypothese)
Definition des Fließens
Die Kontinuumshypothese ist eng an den Begriff der
Unter Fließen verstehen wir die unbegrenzte Verfor- Dichte geknüpft. Sie geht davon aus, dass sich die Mate-
mung eines Körpers unter dem Einfluss von Scher- rie auch in sehr kleinen Volumina kontinuierlich verhält,
kräften. Eine Flüssigkeit verformt sich also, solange d. h. insbesondere beim Übergang auf differenziell kleine
sie unter dem Einfluss von Scherkräften steht. Alle Bereiche in allen Eigenschaften stetig bleibt. In Wirklich-
Körper, bei denen die Verformungsgeschwindigkeit keit ist das aber nicht so, denn aufgrund des molekularen
null wird obwohl noch Scherspannungen einwirken, Aufbaus der Materie unterliegt die Dichte beim Über-
sind definitionsgemäß daher keine Fluide. gang in differenziell kleine Bereiche diskontinuierlichen
Schwankungen. Die Zahl der von einem kleinen Kontroll-
volumen erfassten Moleküle kann sich bei einer kleinen
Damit grenzen sich Fluide vom elastischen Festkörper ab, Verschiebung des Volumens diskontinuierlich ändern; bei
denn im Umkehrschluss gilt für Festkörper: Feste Körper Kontrollvolumina in Molekülgröße zwischen null und
sind Stoffe, bei denen die zu einer bestimmten Deforma-
Strömungsmechanik

dem Wert der Dichte, welcher der Masse des Moleküls ge-
tion notwendigen Kräfte nur dann null werden, wenn die teilt durch dessen Volumen entspricht. Somit besitzt die
Deformation selbst gegen null geht. Andernfalls wurden Kontinuumshypothese, die allen Gleichungen der Strö-
die Körper während der Belastung wenigstens zeitweise mungsmechanik vorausgesetzt ist, im Molekularbereich
plastisch verformt (Fließen oder Kriechen). keine Gültigkeit. Wählt man Kontrollvolumina zu klein,
ergibt sich kein sinnvoller Wert einer Dichte, die im klas-
sischen Sinn als mittlere Dichte im Kontrollvolumen zu
verstehen ist, denn diese Dichtedefinition genügt nicht
Die Definition der Dichte mehr der Kontinuumshypothese.

Weiterhin hängt die Dichte vom Druck und von der Tem-
Die mittlere Dichte ρ̄ in einem Volumen ist definiert als peratur ab. Wenn diese orts- und zeitabhängig sind, ist
die Masse Δm, die in diesem Volumen eingegrenzt ist, di- auch die Dichte eine Funktion von Ort und Zeit. Wählt
vidiert durch das Volumen ΔV: man also umgekehrt das Kontrollvolumen zu groß, kann
es innerhalb des Volumens große, wenn auch kontinu-
ierlich verlaufende Dichteunterschiede geben, sodass die
Mittlere Dichte Angabe der mittleren Dichte in diesem zu großen Volu-
Δm men nur von geringer Bedeutung ist.
ρ̄ = .
ΔV
Frage 22.1
Was besagt die Kontinuumshypothese?
Die lokale Dichte erhält man, wenn man bei gleicher Defi-
nition im Grenzübergang das Volumen gegen null gehen
lässt, also:
22.3 Hydrostatik 693

Unterscheidung zwischen kompressiblen Kompressionsmodul des Gases, d. h. p/ρ. Für ideale Gase ist
und inkompressiblen Flüssigkeiten die Schallgeschwindigkeit nur von der absoluten thermo-
dynamischen Temperatur T abhängig:

Flüssigkeitsteilchen Unter einem Flüssigkeitsteilchen ver- u


M= , (22.3)
steht man ein abgegrenztes, kleines Volumen einer Flüs- a
sigkeit, das immer dieselbe Materie enthält. Das Volumen

a = κRT.
darf auf seinem Weg seine Form (also die Oberfläche) ver-
ändern, über die Oberfläche wird aber keine Materie mit Wenn die Strömungsgeschwindigkeit klein gegen die
der Umgebung ausgetauscht. Schallgeschwindigkeit ist, verhalten sich auch die meis-
ten Gase in guter Näherung inkompressibel. Dabei be-
Kompressibilität und Inkompressibilität Verfolgt man den deutet „klein gegen die Schallgeschwindigkeit“, dass die
Weg eines Flüssigkeitsteilchens, so spricht man von ei- Machzahl unter 0,1 (in einfachen Fällen sogar unter 0,3)
ner inkompressiblen Flüssigkeit, wenn sich die Dichte des bleibt. Luftströmungen um Kraftfahrzeuge können daher
Teilchens auf seinem Weg nicht ändert. Das bedeutet, dass in guter Näherung als inkompressibel angesehen werden,
das Teilchen zwar seine Form und Oberfläche, nicht aber Strömungen um Flugzeuge dagegen in der Regel nicht.
das darin eingeschlossene Volumen ändern darf. Wenn Voraussetzung für inkompressibles Verhalten bei Gasen
sich die Dichte eines Teilchens dagegen auf seinem Weg ist also:
ändert, spricht man von einer kompressiblen Flüssigkeit.
M 1.
Man beachte, dass Inkompressibilität nicht gleichzuset-
zen ist mit konstanter Dichte im gesamten betrachteten
Bereich (dies ist ein Sonderfall), sondern nur konstanter Frage 22.2
Dichte der Teilchen auf ihrem Weg. Ein Nachbarteilchen Welche Eigenschaft muss eine echte Flüssigkeit besitzen?
darf im Rahmen der Kontinuumshypothese eine andere
Dichte haben, ohne dass die Strömung dadurch zwangs-
läufig kompressibel ist. Man kann sich merken: Frage 22.3
Unter welcher Bedingung verhalten sich auch Gase nähe-
rungsweise inkompressibel?
Kompressibilität und Inkompressibilität
Tropfbare Flüssigkeiten haben in der Regel eine
konstante oder mindestens annähernd konstante

Strömungsmechanik
Dichte und sind daher inkompressibel.
Gase sind in der Regel kompressibel, können sich 22.3 Hydrostatik
aber unter bestimmten Bedingungen auch inkom-
pressibel verhalten. In der Hydrostatik werden Flüssigkeiten in Ruhe be-
trachtet. Beliebig abgegrenzte Flüssigkeitsteilchen bewe-
gen sich weder relativ zueinander, noch zu den festen
Über Kompressibilität oder Inkompressibilität einer Gas- Wänden der Umgebung. Die Teilchen befinden sich in ei-
strömung gibt die Machzahl M ein Entscheidungskriteri- nem statischen Gleichgewichtszustand, in dem nach dem
um. Newton’schen Gesetz die Summe aller Kräfte auf jedes
Teilchen null ergeben muss. Die Flüssigkeit ist in Ruhe
(Anfangszustand) und sie bleibt in Ruhe (keine Dynamik).
Machzahl Sie ist als das Verhältnis der lokalen Strömungs-
geschwindigkeit u zur sog. Schallgeschwindigkeit a im
Fluid definiert. Trotz ihres Namens ist die Schallge-
schwindigkeit aber keine materielle Geschwindigkeit, Das Newton’sche Gesetz
sondern genauso wie Druck oder Temperatur eine ther-
gilt auch für Flüssigkeiten
modynamische Zustandsgröße. Kein Teilchen bewegt
sich mit dieser Geschwindigkeit, daher ist sie nicht als Ab-
leitung des Ortes nach der Zeit definierbar. Für Gase Das Newton’sche Gesetz (Kap. 5), das für alle Formen der
ist ihr Wert näherungsweise gleich der Ausbreitungsge- Materie gilt, egal ob fest, flüssig oder gasförmig, besagt,
schwindigkeit einer kleinen Störung, z. B. einer Dichte- dass die vektorielle Summe aller Kräfte auf ein Teilchen
schwankung durch eine Schallquelle, daher ihr Name. der Masse m gleich der zeitlichen Änderung des Impulses
Das Quadrat der Schallgeschwindigkeit ist somit auch I dieses Teilchens ist (Anmerkung: Für den Impuls kann
nicht proportional zur kinetischen Energie, sondern zum in diesem Kapitel nicht das Symbol p aus Kap. 5 verwen-
694 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Übersicht: Vor dem Einstieg in die Berechnungsverfahren

Verhalten eines Fluides in der Strömung und Wahl des lanzgebiet einer strömungsmechanischen Berechnung
Berechnungsgebietes bei der Anwendung der Erhaltungssätze. Die Grö-
ße des in einem strömungsmechanischen Problem zu
Fluidverhalten Kompressibilität ist weniger eine Eigen- verwendenden Kontrollvolumens hängt zunächst na-
schaft des Gases selbst, sondern viel mehr von der türlich von der Fragestellung ab, genauso wichtig
Strömungssituation abhängig. Erst wenn aufgrund ho- sind allerdings auch die auftretenden Temperatur- und
her Geschwindigkeiten die kinetische Energie der Strö- Druckdifferenzen im betrachteten Gebiet, wenn sie
mung eines Gases auch signifikante Änderungen der signifikante Dichteunterschiede bewirken. Gegebenen-
inneren (thermischen) Energie auslöst und dadurch falls muss das betrachtete Gebiet in genügend viele
Temperatur- und Dichteunterschiede auftreten, verhält Teil-Kontrollvolumina unterteilt werden. Diese müs-
sich ein Gas kompressibel. Man spricht dann auch von sen einerseits groß genug sein, damit die Kontinuums-
einer thermischen Strömung. Sind die kinetischen Ener- hypothese nicht verletzt wird, andererseits aber klein
gien in der Strömung dagegen klein, verhalten sich genug, um die maßgeblichen Geschwindigkeits- und
auch Gase inkompressibel. Die Prüfung erfolgt über Dichteveränderungen innerhalb des Fluides erfassen
die Machzahl. zu können. Sie sind daher dem jeweiligen Fall ange-
Die Berechnung eines inkompressiblen Fluides ist passt zu wählen. Während man bei inkompressiblen
deutlich einfacher als bei kompressiblen Strömungen, Fluiden teilweise recht großzügig bei der Wahl sein
weil durch Veränderungen der Dichte in einem festen darf, ist bei kompressibler Strömung immer Vorsicht
Volumen auch Masse gespeichert bzw. „entspeichert“ geboten, um die wesentlichen Effekte erfassen zu kön-
werden kann. Dadurch wird der Erhaltungssatz der nen.
Masse (Kontinuitätsgleichung) mit den anderen Erhal-
tungssätzen verknüpft, wie wir später sehen werden. Ähnlich wie im Falle der Systemgrenze des 1. Haupt-
Wenn es die Machzahl zulässt, sollte also für technische satzes der Thermodynamik (siehe Kap. 18) lässt sich
Anwendungen auch bei Gasen eine inkompressible aber manch komplexes Problem durch geeignete Wahl
Rechnung bevorzugt werden. des Kontrollvolumens stark vereinfachen. Dies gilt
ebenso bei der Anwendung moderner numerischer
Wahl des Kontrollvolumens für Berechnungen Unter Berechnungsverfahren, die auf Basis von finiten Ele-
dem Kontrollvolumen versteht man das betrachtete Bi- menten und finiten Volumina konzipiert sind.
Strömungsmechanik

F2 Damit eine Flüssigkeit in Ruhe bleibt, d. h. der Impuls je-


F1 des einzelnen Flüssigkeitsteilchens nicht geändert wird,
F3 müssen sich äußere Kräfte an jedem Teilchen gegenseitig
F3
F2 aufheben, unabhängig davon, in welcher Form es abge-
Fres F4 grenzt ist und welche Größe es hat (Abb. 22.5):
Fres
F4
Fres = ∑ Fi = 0.
i
F1
Fres = Σi Fi Kräfte auf ein Flüssigkeitsteilchen können eingeteilt wer-
den in

Abb. 22.5 Newton’sches Gesetz


Linienkräfte, die in einer Fläche (z. B. in der Oberfläche
eines Teilchens) auf eine Linie einwirken,
Oberflächenkräfte, die auf die beliebig gestaltete Ober-
fläche des Flüssigkeitsteilchens wirken,
det werden, weil dieser Buchstabe bereits für den Druck Volumenkräfte, die im gesamten abgegrenzten Bereich
benötigt wird; Newton selbst nannte ihn Inertia, also Be- wirken, also im Inneren des Flüssigkeitsteilchens an-
harrungsvermögen.): greifen.

dI
∑ Fi = dt
. Beispiele für Oberflächenkräfte sind Scher- und Nor-
malspannungen, die von den angrenzenden Flüssigkeits-
i
22.3 Hydrostatik 695

angegeben, sodass das negative Vorzeichen in (22.4) zum


σn
Orientierungsvektor n gehört: Im mathematischen Sinne
σ σ = τ + σn positiv ist der Spannungsvektor, wenn er in die gleiche
n Richtung zeigt, wie der Normalenvektor an der Fläche.
τ ∆A Dieser zeigt per Definition immer weg vom abgegrenzten
Gebiet, also nach außen. Nachdem Flüssigkeiten aber kei-
Abb. 22.6 Spannungsvektor, Schub- und Normalspannung ne Zugspannungen (die in der üblichen Definition positiv
sind) übertragen können, ist der Normalspannungsvek-
tor immer negativ. Der Wert der Druckspannung oder des
teilchen ausgeübt werden, wichtigste Vertreter der Vo- Druckes wird üblicherweise positiv angegeben, sodass
lumenkräfte sind Schwer- und Scheinkräfte. Linienspan- das negative Vorzeichen in (22.4) zum Orientierungsvek-
nungen treten auf, wenn unterschiedliche, nicht misch- tor n gehört.
bare Fluide eine freie Grenzfläche zueinander aufweisen,
und müssen in dieser Grenzfläche berücksichtigt werden. σ = τ + σn n = τ − pn. (22.4)
Sie führen zu Kapillareffekten, der Oberflächenspannung
Eine zweite wesentliche Bedingung, die sich aus der Vor-
und der Tropfenbildung und tragen dann erheblich zu
den Gesamtkräften bei. Solange wir im Folgenden keine aussetzung der ruhenden Flüssigkeit ergibt, erhalten wir,
freien Oberflächen betrachten, können die molekularen wenn wir die Eigenschaft echter Flüssigkeiten benutzen,
dass auch eine beliebig kleine Scherspannung, solange
Linienspannungen aber vernachlässigt werden. Das Glei-
che gilt auch für nicht bzw. kaum gekrümmte (ebene) sie verschieden von null ist, eine unbegrenzt große Ver-
Grenzflächen zwischen Fluiden. formung des Teilchens auslöst, wenn man nur genügend
lange wartet. Damit eine Flüssigkeit also in Ruhe bleibt,
müssen gemäss (22.1) und (22.2) in echten Flüssigkeiten
alle Scherkräfte bzw. Schubspannungen an den einzelnen
Der Spannungszustand in ruhender Flüssigkeit Flüssigkeitsteilchen gleich null sein:

τ = 0.
Als Spannungsvektor σ bezeichnet man die Kraft ΔF
auf eine Oberfläche dividiert durch die Größe der Flä- Das bedeutet, dass eine Flüssigkeit in Ruhe in einem rei-
che ΔA, auf die sie wirkt (Kap. 4), im Grenzfall klein nen Normalspannungszustand ist:
werdender Fläche. Er läßt sich in einen Schubspannungs-
vektor τ (parallel zur Oberfläche) und einen Normalspan- σ = −pn.
nungsvektor σ n = σn n (senkrecht zur Fläche) zerlegen

Strömungsmechanik
(Abb. 22.6): Der im Allgemeinen beliebig orientierte Spannungsvek-
tor σ ist aufgrund des Verschwindens der Scherspannun-
ΔF gen in einer ruhenden Flüssigkeit parallel zum Normalen-
σ = lim = τ + σn n.
ΔA→0 ΔA vektor der Oberfläche oder des Oberflächenabschnittes
des Flüssigkeitsteilchens. Diese Aussage kann sogar als
Wenn ein Spannungsvektor σ in seinen Schub- und Nor- zweite Definition einer Flüssigkeit benutzt werden, denn
malspannungsvektor aufgeteilt wird, hängt das Ergebnis sie grenzt eindeutig das Verhalten von Fluiden gegen an-
also offensichtlich auch von der Orientierung der Flä- dere Stoffe wie Festkörper oder Bingham-Medien ab.
che (beschrieben durch den Einheitsnormalenvektor n der
Fläche) ab.
Die Hydrostatik ist frei von Zug- und Schubspannungen
Zugkräfte, also mathematisch positive Normalspannun-
gen, können echte Flüssigkeiten nicht übertragen. Da- In einer Flüssigkeit in Ruhe steht der Spannungsvek-
her wird der Betrag der Normalspannungen in einer tor immer normal zur Fläche, auf die er wirkt und
Flüssigkeit üblicherweise als Druck bezeichnet und das ist dem Einheitsnormalenvektor n entgegengesetzt
Vorzeichen in der Gleichung selbst korrigiert. Im mathe- gerichtet. Der Betrag des Spannungsvektors in der
matischen Sinne positiv ist der Spannungsvektor, wenn ruhenden Flüssigkeit ist der Druck.
er in die gleiche Richtung zeigt, wie der Normalenvek-
tor an der Fläche. Dieser zeigt per Definition immer weg
vom abgegrenzten Gebiet, also nach außen. Da Flüssig- Darüber hinaus ist der Druck in einer ruhenden Flüs-
keiten aber keine Zugspannungen (die in der üblichen sigkeit an einem bestimmten Punkt in allen Richtungen
Definition positiv sind) übertragen können, ist der Nor- gleich, d. h. unabhängig von der Orientierung der Fläche.
malspannungsvektor immer negativ. Der Wert der Druck- Dies kann man beweisen, indem man ein kleines, pyrami-
spannung oder des Druckes wird üblicherweise positiv denförmiges Flüssigkeitsteilchen (Tetraeder) so abgrenzt,
696 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Übersicht: Symbolische Vektorrechnung und Felder

Warum Schreibfaulheit auch eine Tugend sein kann kartesischen Koordinaten (x, y, z) lautet vollständig:

Fx = max ,
Vektoren Grundsätzlich unterscheidet man in der ma-
thematischen Darstellung zwischen skalaren Größen Fy = may ,
und vektoriellen Größen. Eine skalare Größe besitzt an Fz = maz .
einem Punkt im dreidimensionalen Raum einen Wert,
hat aber keine Richtung. Beispiele sind insbesonde- Es verkürzt sich in symbolischer Darstellung auf:
re die thermodynamischen Zustandsgrößen Druck p,
Temperatur T oder Entropie S. Eine vektorielle Grö- F = ma,
ße besitzt zusätzlich zu ihrem Wert (Betrag des Vektors)
auch eine Richtung. Jede Größe, die diese beiden Ei- was letztlich einer gewissen Schreibfaulheit geschul-
genschaften aufweist, kann daher als Vektor betrachtet det ist (dies ist aber nicht negativ gemeint). Wie in
werden und mit den Gesetzen der Vektorrechnung der Algebra muss man sich bei der Nutzung der sym-
behandelt werden, beispielsweise Geschwindigkeiten, bolischen Vektorrechnung einige wenige Spielregeln
Kräfte und Momente. Auch Flächen weisen mit ihrem merken:
Flächeninhalt und ihrer Orientierung im Raum die not-
wendigen Vektoreigenschaften auf. Integrale oder Differenziale über gerichtete phy-
sikalische Größen ersetzen lediglich das dreifache
Felder Alle in der Technik betrachteten Größen be- Hinschreiben eines immer gleich aussehenden ge-
ziehen sich auf Eigenschaften, die eigentlich mit dem wöhnlichen Integrals in allen Richtungen. In der
Verhalten und den Wechselwirkungen der Materie zu Anwendung können alle Regeln der Integration
tun haben. Trotzdem ist es in der Praxis meist einfacher, und Differenziation verwendet werden; das Vektor-
diese Eigenschaften der Materie für die Berechnung symbol steht dabei für eine Koordinate des Vektors.
nicht den Teilchen (Atomen oder Molekülen) zuzu- Das Skalarprodukt zweier Vektoren ist kommuta-
ordnen, sondern dem Punkt im Raum. Man spricht tiv (a · b = b · a), das Vektorprodukt nicht (a × b =
dann von einem Feld und verschmiert quasi alle Eigen- −b × a).
schaften so im Raum, dass die eigentlich unstetigen Vektoren in Gleichungen dürfen nicht gekürzt wer-
Materieeigenschaften (z. B. die Masse) als kontinuier- den. Die Division wird in der Vektorrechnung durch
Strömungsmechanik

liche Funktionen dargestellt werden. Wenn wir also das Skalarprodukt ersetzt. Um einen Vektor in ei-
von skalaren Feldern oder Vektorfeldern reden, sind ner Gleichung zu eliminieren, multipliziert man ihn
das entweder physikalische Eigenschaften der Materie, (und die ganze Gleichung) skalar mit sich selbst
die sich zum Zeitpunkt der Betrachtung am jeweiligen bzw. mit dem Einheitsvektor in seine Richtung.
Punkt im Raum aufhält oder deren Wechselwirkung. Will man den Wert einer Kraft oder Geschwindig-
keit in eine bestimmte Richtung wissen, multipli-
ziert man die symbolische Gleichung skalar mit
Symbolische Schreibweise Besonders in der Strö- dem Einheitsvektor in dieser Richtung durch. Für
mungsmechanik werden häufig Vektorfelder (Ge- Flächenvektoren ergibt sich so die in Richtung des
schwindigkeiten, Kräfte) in einem dreidimensionalen Einheitsvektors projizierte Fläche.
Gebiet betrachtet, es ist daher wichtig, dass man eine Die Veränderung eines Skalar- oder Vektorfeldes
Schreibweise wählt, die den notwendigen Schreibauf- wird über das Gradientensymbol ∇ (Nabla) be-
wand in Grenzen hält. Hier bietet sich insbesondere schrieben; ∇ ist dabei ein Operator, der formal wie
die symbolische Vektorrechnung an, denn mit etwas ein Vektor behandelt wird.
Übung lassen sich die Gesetze der Vektorrechnung Durch die Anwendung des Gradientensymbols auf
sehr gut nutzen, eine Herleitung kurz zu halten und skalare Felder ensteht ein Vektorfeld, das die Rich-
erst beim Endergebnis in die gesuchten Größen in al- tung der größten Veränderung des skalaren Feldes
len Raumrichtungen aufzulösen. Anstelle ständig die an jedem Punkt und den Wert der Ableitung in
Gleichungen in allen Raumrichtungen getrennt hin- dieser Richtung angibt; ∇T (x, y, z) ist also das Vek-
schreiben zu müssen, reduziert das Vektorsymbol die torfeld, das an jedem Punkt den jeweils stärksten
Schreibarbeit erheblich. Das Newton’sche Gesetz in Anstieg der Temperatur T (x, y, z) beschreibt.
22.3 Hydrostatik 697

Wenn man den Nabla-Operator skalar mit einem abtransportiert werden (weder Massenquelle noch
Vektorfeld multipliziert, erhält man ein skalares Senke).
Feld, die Divergenz, ∇ · a = diva. Sie drückt aus, Wenn man den Nabla-Operator vektoriell mit ei-
ob ein Vektorfeld Quellen oder Senken besitzt. Des- nem Vektorfeld multipliziert, erhält man ein neues
wegen gilt für die Masse als Erhaltungsgröße im Vektorfeld, die Rotation. ∇ × a = rot a. In einem
stationären Fall: div(ρu) = 0, denn Masse, die mit Strömungsfeld ist die Rotation ein Maß für die Win-
dem Geschwindigkeitsfeld u in ein Gebiet hinein- kelgeschwindigkeit und Richtung, mit der ein mit-
fließt, muss an anderer Stelle mit dem Feld wieder schwimmender Körper rotiert, daher der Name.

z zungsfläche wirken. Alle Kräfte sind Normalkräfte und


somit wird:
   
1 1
nx F x = −px nx ΔzΔy = px i ΔzΔy
2 2
∆z    
1 1
ny n Fx F y = −py ny ΔxΔz = py j ΔxΔz
2 2
k F    
Fy 1 1
∆x j ∆y y F z = −pz nz ΔxΔy = pz k ΔxΔy
i 2 2
   
Fz 1 1
nz F = −pn nΔA = −px i ΔzΔy − py j ΔxΔz
2 2
x  
1
− pz k ΔxΔy .
Abb. 22.7 Tetraederförmiges Flüssigkeitsteilchen 2

Nun wertet man die Komponentengleichungen in den


dass die Koordinatenebenen drei Begrenzungsflächen bil- Koordinatenrichtungen aus, indem man jeweils das Ska-
den und die vierte Fläche des Teilchens eine beliebig larprodukt der gesamten Vektorgleichung mit den Ein-
orientierte Schnittebene ist (Abb. 22.7). heitsvektoren (i, j, k) bildet. Dabei erinnere man sich dar-
an, dass das Skalarprodukt der Einheitsvektoren unter-
Frage 22.4 einander null ist (weil sie senkrecht aufeinander stehen)
und dass das Skalarprodukt der Einheitsvektoren mit sich

Strömungsmechanik
Welche Schlussfolgerung kann man aus der Beobachtung
„eine Flüssigkeit ist in Ruhe“ unmittelbar ziehen? selbst eins ergibt. Das Skalarprodukt der Einheitsvektoren
mit dem Flächennormalenvektor n stellt die Komponente
von n in Richtung des jeweiligen Einheitsvektors dar, d. h.
die Projektion der Fläche in Richtung des Einheitsvektors.
Das Skalarprodukt der gerichteten Fläche n ΔA mit den
Ohne Volumenkräfte benötigt man Einheitsvektoren kann als der Betrag der längs des Ein-
nur die Oberflächenkräfte heitsvektors projizierten Fläche interpretiert werden, und
man erhält die jeweilige rückseitige Fläche:
Wenn man die Volumenkräfte, also Kräfte, die im Inneren    
1 1
des Teilchens angreifen, vernachlässigen kann, muss man pn nΔA − px i ΔzΔy − py j ΔxΔz
2 2
nur eine Bilanz der Oberflächenkräfte aufstellen. Weil die  
Flüssigkeit in Ruhe sein soll, wirkt auf jede der vier Flä- 1
− pz k ΔxΔy = 0 | · i,
chen nur eine Normalkraft. Wir werden nun beweisen, 2
 
dass der Wert des Druckes in allen Richtungen und an je- 1
der Stelle gleich groß ist. Dazu verwenden wir pn (n · i) ΔA − px ΔzΔy = 0.
2
∑ Fi = 0, Weil nun (n · i) ΔA = 12 ΔzΔy ist, gilt:
i

und die Kraft auf die beliebige Schnittfläche wird p n = px .

F = −(F x + F y + F z ), Das Gleiche ergibt sich aus den anderen Raumrichtungen,


und wir erhalten:
wenn die anderen drei Kräfte jeweils diejenigen sind, die
auf die zu einer Koordinatenachse senkrechte Begren- pn = px = py = pz = p.
698 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Dabei sind Form und Größe des Tetraeders beliebig wähl- fusionstechnologie). Diese sind dann natürlich nicht mehr
bar, denn die Herleitung hat an keiner Stelle vorausge- proportional zur Masse, sondern zur Ladungsverteilung
setzt, dass das Teilchen klein sein muss, beliebig große im Fluid. Im Folgenden werden wir uns ausschließlich
Flächen kürzen sich heraus. Man benötigte also insbeson- mit Massenkräften beschäftigen, denn andere Kräfte kön-
dere keinen Grenzübergang ΔA bzw. ΔV → 0. In Fällen, nen im Prinzip gleich behandelt werden. Für die Schwer-
in denen man Volumenkräfte gegen die Oberflächenkräf- kraft gilt (Volumenkraft der Schwere):
te auch großräumig vernachlässigen kann, gilt daher:
ΔF Δmg
f = lim = lim = ρg.
ΔV →0 ΔV ΔV →0 ΔV
Druck in ruhender Flüssigkeit ohne Volumenkräfte
Wir betrachten erneut den Tetraeder (Abb. 22.7) und
Der Druck in einer ruhenden Flüssigkeit ist bei Ver- berücksichtigen die Volumenkraft f in einer beliebigen
nachlässigung der Volumenkräfte an allen Stellen Richtung. Das Volumen einer Pyramide, also auch eines
und in allen Richtungen gleich groß. Tetraeders, ist 1/3 Grundfläche mal Höhe, hier also:
1
ΔV = ΔxΔyΔz.
6
Beispiel Dieser Satz lässt sich unmittelbar am Beispiel
Die zu addierende Volumenkraft ist daher:
des hydraulischen Übersetzungsverhältnisses einer hy-
draulischen Presse oder eines hydraulischen Wagenhe- 1
F V = f ΔxΔyΔz,
bers anwenden. In diesem Fall tritt als Volumenkraft nur 6
die Schwerkraft der Hydraulikflüssigkeit auf, die gegen f = fx i + fy j + fz k.
die hohen Druckkräfte in einer solchen Presse vernach-
lässigbar ist. Es herrscht in der Flüssigkeit an jeder Stelle Die Schritte im Fall ohne Volumenkräfte werden nun mit
und in jeder Richtung der gleiche Druck p. Für die Kräfte der Zusatzkraft F V wiederholt, und man erhält schließ-
an den Hydraulikkolben (die über die Hydraulikflüssig- lich:
keit hydraulisch verbunden sind) erhält man: 1
pn = px + fx Δx ,
3
F1 = pA1 ,
1
F2 = pA2 , pn = py + fy Δy ,
3
1
und somit ist das hydraulische Übersetzungsverhältnis pn = pz + fz Δz .
3
der Kräfte:
Strömungsmechanik

Die Druckkräfte in einer ruhenden Flüssigkeit mit Vo-


A1 lumenkräften sind also im Allgemeinen nicht mehr an
F1 = F2 .
A2 allen Stellen gleich groß, sondern hängen offensichtlich
 zusätzlich noch von der Größe und der Orientierung
der Volumenkräfte ab. Wählen wir jetzt das Tetraeder-
Flüssigkeitsteilchen sehr klein, d. h., lassen wir dessen
Volumen gegen null gehen, zeigt sich, dass die Volumen-
Wirken Volumenkräfte, dann variiert der Druck kräfte zum lokalen Kräftegleichgewicht keinen Beitrag
leisten. Für ΔV → 0 ←→ Δx, Δy, Δz → 0 wird auch im
Zunächst definieren wir den Begriff der Volumenkraft: Falle der ruhenden Flüssigkeit mit Volumenkräften:
Eine Volumenkraft ist eine Kraft, die im Inneren eines
abgegrenzten Volumens angreift und nicht an dessen pn = px = py = pz = p
Oberfläche. Da in den meisten Fällen die Größe der Kraft Das liegt daran, dass Volumenkräfte bei schrumpfenden
von der Größe des Volumens abhängig ist, werden Volu- Teilchen schneller gegen null gehen als die Oberflächen-
menkräfte üblicherweise auf das Volumen bezogen. Beim kräfte. Im Falle der Flüssigkeit mit Volumenkräften gilt
Grenzübergang des Volumens gegen null erhält man die an einem festen Punkt (oder an einem sehr kleinen Flüs-
lokale (spezifische) Volumenkraft f . sigkeitsteilchen):
Quelle von Volumenkräften sind häufig Massenkräfte,
d. h. Kräfte, die proportional zur Masse der Teilchen sind. Druck in ruhender Flüssigkeit
Schwerkraft und Scheinkräfte sind in der Strömungsme-
chanik die häufigsten Fälle. Seltener treten in der tech- In einer ruhenden Flüssigkeit ist der Druck in einem
nischen Anwendung andere Kräfte auf, z. B. Coulomb- Punkt in allen Richtungen gleich. Wenn Volumen-
Kräfte bei elektrisch geladenen Fluiden oder magnetische kräfte wirken, ist er aber von Ort zu Ort verschieden.
Kräfte, insbesondere bei einem Plasma (z. B. in der Kern-
22.3 Hydrostatik 699

z
Grundgleichung der Hydrostatik:

Δz
∇p = f .
py2ΔyΔz
k
py1ΔyΔz Δy
j y
i
Δx Die Rotation der Volumenkräfte muss null sein
f ΔxΔyΔz
x
Ein hydrostatischer Spannungszustand stellt sich nicht
Abb. 22.8 Quaderförmiges Flüssigkeitsteilchen: Kräfte in y -Richtung bei allen Volumenkräften ein. Aus der Grundgleichung
der Hydrostatik lässt sich eine notwendige Bedingung an
die Volumenkräfte ableiten, damit eine Flüssigkeit über-
Grundgleichung der Hydrostatik haupt hydrostatisch bleibt. Hierzu leitet man (22.5) bis
(22.7) partiell nach den jeweiligen anderen Koordinaten
ab:
Anstelle des Tetraeders verwenden wir nun ein qua-
∂2 p ∂f ∂2 p ∂f
derförmiges Teilchen (Abb. 22.8), das in seinen äußeren = x, = x,
Abmessungen durch die Seitenlängen Δx, Δy und Δz be- ∂y∂x ∂y ∂z∂x ∂z
schrieben wird. Das Teilchen wird mit drei Seiten in der ∂2 p ∂fy ∂2 p ∂fy
Ecke eines kartesischen Koordinatensystems angeordnet, = , = ,
∂x∂y ∂x ∂z∂y ∂z
die Volumenkraft f ist wieder beliebig orientiert. Aus der
Summe aller Kräfte erhalten wir die Kräftegleichungen in ∂2 p ∂f ∂2 p ∂f
= z, = z.
allen Raumrichtungen: ∂x∂z ∂x ∂y∂z ∂y

px1 ΔyΔz − px2 ΔyΔz + fx ΔxΔyΔz = 0, Nun wird berücksichtigt, dass die gemischten partiellen
Ableitungen des Druckes unabhängig von der Reihenfol-
py1 ΔxΔz − py2 ΔxΔz + fy ΔxΔyΔz = 0,
ge der Ableitung sind, dadurch erhält man wieder drei
pz1 ΔxΔy − pz2 ΔxΔy + fz ΔxΔyΔz = 0 Gleichungen:

Strömungsmechanik
und hieraus die Bedingung der Druckänderung über den ∂fx ∂fy
− = 0,
Raumrichtungen am Teilchen: ∂y ∂x
∂fx ∂f
px2 − px1 − z = 0,
= fx , ∂z ∂x
Δx ∂fy ∂fz
py2 − py1 − = 0.
= fy , ∂z ∂y
Δy
pz2 − pz1 In symbolischer Schreibweise entspricht das dem Aus-
= fz .
Δz druck:

Lässt man nun im Grenzübergang alle Längen gegen null ∇ × f = 0.


gehen (Abb. 22.8), sind die Brüche der drei Gleichun-
gen als partielle Ableitungen der stetigen Druckfunktion Dieses Vektorprodukt des Gradientensymbols mit einem
p(x, y, z) zu interpretieren: Vektor wird als Rotation bezeichnet (siehe Übersicht: Sym-
bolische Vektorrechnung und Felder).
∂p
= fx , (22.5)
∂x
∂p Bedingung an die Volumenkräfte
= fy , (22.6)
∂y Damit ein hydrostatischer Zustand entstehen kann,
∂p muss die Rotation der wirkenden Volumenkräfte
= fz . (22.7) null sein, was bereits vom Begriff her erklärt, wel-
∂z
che Eigenschaften die Feldkräfte insbesondere nicht
In symbolischer Schreibweise ergibt sich hieraus die
700 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

a k
z
aufweisen dürfen: Kräfte, die geeignet sind, Wirbel-
bildung auszulösen, können keinen hydrostatischen j
p0 i
Zustand ergeben. y
rot f = 0 x
z
n
p0
b α y
Die Druckverteilung in schwerer Flüssigkeit s dx
n dA
Wir gehen nun vom Fall aus, dass nur die Schwerkraft ds
wirkt und dass die z-Achse des Koordinatensystems par-
allel zur Schwerkraft gewählt wird, aber in Gegenrich- Abb. 22.9 Flüssigkeitsdruck auf die ebene, schräge Wand. a Räumliche An-
tung zeigt, d. h. nach oben. Dadurch wird fx = fy = 0 und sicht. b Seitenansicht
fz = −ρg. Wenn die Volumenkraft nur eine Funktion von
z ist, kann auch der Druck nur eine Funktion von z sein,
p = p(z). Aus der hydrostatischen Grundgleichung erhält mit dem dort herrschenden Druck p beaufschlagt, sodass
man die Kraft dF wirkt:

∂p dp dF = −pndA.
= = −ρg
∂z dz
Die Gesamtkraft auf die Fläche ist dann das Oberflächen-
p=− ρgdz + C integral über die betrachtete Behälterwand:
 
Wenn die Dichte ρ konstant ist und unter der Randbedin- F ges = dF = − pndA.
gung, dass für einen bestimmten Wert von z0 der Druck A
mit p0 gegeben ist, erhält man die Lösung:
Bei einer ebenen Wand sind die einzelnen Flächenelemen-
te immer gleich orientiert, d. h., der Normalenvektor n
Druckverteilung in einer inkompressiblen, schweren ist an allen Stellen gleich und kann als Konstante vor
Flüssigkeit
Strömungsmechanik

das Integral gezogen werden. Wenn wir den Nullpunkt


des Koordinatensystemes in die Oberfläche legen und der
p = p0 − ρg(z − z0 ) (22.8)
Druck dort p0 = konst. ist, gilt:
⎛ ⎞
 
Frage 22.5 Fges = −n p0 − ρgzdA = −n ⎝p0 A − ρg zdA⎠ .
Was ist die Aussage der Grundgleichung der Hydrosta- A A
tik?
Aufgrund der unterschiedlichen Ausrichtung von Koor-
dinatensystem und Wand ist es sinnvoll, in Wandkoordina-
Frage 22.6 ten (s, n) umzurechnen (Abb. 22.9b). Es gilt:
Welche Bedingung muss erfüllt sein, damit ein Fluid hy- −z = s sin α (22.9)
drostatisch werden kann?
und daher:
⎛ ⎞

F ges = −n ⎝p0 A + ρg sin α sdA⎠ .
Flüssigkeitskraft auf ebene Wände A

Das verbleibende Integral ist das Flächenmoment 1. Gra-


Zu bestimmen ist die Kraft, die eine Flüssigkeit auf eine des. Es ist gleich dem Abstand des Schwerpunktes von
ebene Behälterwand ausübt, sowie der Angriffspunkt die- der Oberfläche sc mal der Fläche A:
ser Kraft (Abb. 22.9a). 
Die Gesamtkraft ist das Integral der lokalen Druckkräfte sc A = sdA.
auf die Behälterwand. Jedes kleine Flächenstück dA wird A
22.3 Hydrostatik 701

Wenn man nun rücksubstituiert: x-Richtung:


 
sc sin α =| zc |,
Fres xD = (p − p0 )xdA = ρg sin αsxdA
erhält man: A A

= ρg sin α xsdA,
F ges = −n(p0 + ρg | zc |)A (22.10) A

mit dem gemischten Flächenträgheitsmoment (Fliehmo-


Flüssigkeitskraft auf ebene Wände – Gesamtkraft ment):
Die Gesamtkraft auf eine ebene Wand ist gleich dem 
Druck im Flächenschwerpunkt der Fläche mal dem Jxs = xsdA.
Betrag der Fläche (22.10). Die Richtung ihrer Wir- A
kungslinie ist senkrecht zur Wand.
Die Lage des Kraftangriffspunktes in x-Richtung ist da-
her:
Diese Ersatzkraft greift aber nicht im Flächenschwer-
punkt an, wie wir sehen werden. Als resultierende Flüssig- ρg sin α A xsdA Jxs
keitskraft bezeichnet man den Kraftanteil ohne den Luft- xD = = . (22.12)
Fres sc A
druck p0 . Für sie gilt sinngemäß das Gleiche:
Bei bezüglich der s-Achse symmetrischen Flächen liegt
F res = −nρg | zc | A. der Kraftangriffspunkt auf der Symmetrieachse.

Der Angriffspunkt der Druckkraft ist definiert als die


Stelle, an der die gerade berechnete resultierende Flüssig- Flüssigkeitskraft auf ebene Wände – Kraftangriffs-
keitskraft auf die Wand bezüglich eines beliebig gewähl- punkt
ten Punktes das gleiche Drehmoment aufweist, wie die
über die Fläche verteilte Druckkraft (vergleichbar mit ei- Die Lage des Kraftangriffspunktes der resultieren-
ner Linienlast in der Mechanik). Als Bezugspunkt wählen den Flüssigkeitskraft wird mithilfe der Flächenträg-
wir zweckmäßigerweise den Schnittpunkt der Flüssig- heitsmomente (Flächenmomente 2. Grades) ermit-
keitsoberfläche mit der Behälterwand. Für den Betrag des telt:

Strömungsmechanik
Momentes erhalten wir: ρg sin αJx Jx
  sD = = ,
Fres sc A
Fres sD = (p − p0 )sdA = ρg sin αs2 dA
ρg sin α A xsdA Jxs
A A xD = = .
 Fres sc A
= ρg sin α 2
s dA.
Die Koordinate s läuft dabei parallel zur Wand in die
A
Tiefe, ihr Nullpunkt liegt in der Oberfläche der Flüs-
Im s,x Koordinatensystem (das System der Wandfläche) sigkeit. Für die Berechnung der Flächenträgheits-
ist das verbleibende Integral das Flächenmoment 2. Gra- momente um die Koordinatenachsen aus den Ei-
des (Flächenträgheitsmoment) bezüglich der x-Achse: genträgheitsmomenten um die Schwerpunktachsen
(Parallelverschiebung von s, x in den Schwerpunkt
 (sc , xc )) werden die Steiner’schen Sätze verwendet:
Jx = s2 dA.
A Jx = Jx,c + s2c A, (22.13)
Jxs = Jxs,c + sc xc A. (22.14)
Somit berechnet man die Lage des Angriffspunktes in s-
Richtung mit:

ρg sin αJx Jx Frage 22.7


sD = = . (22.11)
Fres sc A Wie bestimmt man die resultierende Ersatzkraft einer
Flüssigkeit auf eine ebene Fläche? Geht die Wirkungslinie
Bei bezüglich der s-Richtung unsymmetrischen Flächen der resultierenden Ersatzkraft durch den Flächenschwer-
erhält man aus dem Momentengleichgewicht um die s- punkt?
Achse auch den Versatz des Kraftangriffspunktes in der
702 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Der Gauß’sche Integralsatz stellt eine z k p0


Beziehung zwischen Oberflächen-
und Volumenintegral her
p
dF
Der Gauß’sche Integralsatz wird in der Strömungsmecha- dS
n
nik sehr häufig angewendet. Er stellt unter bestimmten
Bedingungen eine Beziehung zwischen einem Oberflä-
chenintegral und einem Volumenintegral über das von
der Oberfläche eingeschlossene Volumen her. In der ma-
Abb. 22.10 Vollständig eingetauchter Körper (z. B. eine Kartoffel)
thematischen Formulierung wirkt er etwas abstrakt, in
der Anwendung ist er dafür umso eleganter. Diese Bezie-
hung zwischen dem Integral einer Größe über der Ober-
fläche eines abgeschlossenen Bereiches und der gesamten fache Funktionsintegrale:
Veränderung dieser Größe im Inneren des gleichen Berei-
ches ist besonders für Erhaltungsgrößen sehr wichtig. b
df (x)
dx = f (b) − f (a).
dx
Hier wird auch die Bedeutung schnell klar: Unter einer a
Erhaltungsgröße wie der Energie versteht man eine Grö-
ße, die nicht spontan entstehen oder verschwinden kann. Das Aufsummieren (Integration) aller Steigungen (Ver-
Jede Änderung einer solchen Größe im Inneren eines ab- änderungen) einer Funktion im Bereich a → b ergibt im
gegrenzten Bereiches kann also nur über einen Zu- oder eindimensionalen Fall die Differenz der Funktionswer-
Abfluss über die Oberfläche des Bereiches erfolgen. Somit te an den Rändern (der Ein-Fluss der Funktion an den
kann man immer wählen, ob man eine Bilanz aller Flüs- Rändern). Statt den Verlauf der Ableitung im Gebiet voll-
se der Größe über die Oberfläche aufstellt und daraus auf ständig zu ermitteln, reicht es aus, die Stammfunktion
die Veränderung im Inneren schließt oder umgekehrt. Der (hier f selbst) nur am Rand des Gebietes zu kennen.
1. Hauptsatz der Thermodynamik offener Systeme ist ein
sehr anschauliches Beispiel dieses Prinzips (Kap. 18). Er-
freulicherweise lässt sich der Gauß’sche Integralsatz aber
nicht nur auf Erhaltungsgrößen anwenden, sondern auf
Der hydrostatische Auftrieb
alle Funktionen, solange diese zusammen mit ihren parti-
Strömungsmechanik

ellen Ableitungen stetig sind. Das Archimedes-Prinzip lässt sich wie folgt beschreiben:
Ein völlig eingetauchter Körper erfährt einen Auftrieb
(oder eine scheinbare Gewichtsverminderung), deren Be-
Gauß’scher Integralsatz trag gleich dem Gewicht der verdrängten Flüssigkeit ist.
Die Kraft wirkt im Schwerpunkt der verdrängten Flüs-
Der Fluss einer Größe f über die Oberfläche S eines sigkeit. Der Ursprung dieser Kraft liegt in der unter-
abgeschlossenen Volumens V ist gerade gleich der schiedlichen Druckverteilung am Umfang des Körpers
Änderung (dem Gradienten) dieser Größe innerhalb aufgrund der Schwere der Flüssigkeit. Die Unterseite des
des gesamten Volumens. Die Größe f muss hierbei Körpers erfährt eine höhere Druckkraft als dessen Ober-
lediglich stetig und stetig differenzierbar sein, das seite (Abb. 22.10). Dies soll mit Hilfe des Gauß’schen
Gebiet V geschlossen: Integralsatzes hergeleitet werden, was uns gleichzeitig als
   Übungsaufgabe zu dessen Anwendung dienen wird.
f ndS = ∇f dV.
S V
Beispiel Herleitung der Auftriebsformel des Archime-
des mit dem Gauß’schen Integralsatz
Lösung Mithilfe des Gauß’schen Integralsatzes lässt sich
Dabei nennt man f n den Fluss der Größe f über die Ober-
der Auftriebssatz einfach herleiten. Als Funktion verwen-
fläche (normal zur Oberfläche), ∇f ist der Gradient der
den wir den Druckverlauf p(x, y, z) in der Flüssigkeit. Ein
Größe f , also die Veränderung im Inneren des Gebietes.
Körper beliebiger und unbekannter Geometrie (z. B. eine
Die Funktion f kann hierbei ein Skalarfeld f , ein Vek-
Kartoffel) mit dem Volumen V sei vollständig in eine Flüs-
torfeld f oder sogar ein Tensor sein. So kompliziert das
sigkeit eingetaucht.
zunächst auch aussieht, so elegant ist die Anwendung.
Im Prinzip ist der Gauß’sche Integralsatz nämlich nichts An jeder Stelle der Oberfläche S (surface) des Kör-
anderes als die Verallgemeinerung der Beziehung für ein- pers herrscht der von der Flüssigkeit ausgeübte Druck
22.3 Hydrostatik 703

p(x, y, z). Auf einem Oberflächenelement dS erzeugt dies p0


die resultierende Oberflächenkraft dF (Abb. 22.11):
SR z k p0
dF = −(p − p0 )ndS.
dF
dS p
Die von der Flüssigkeit ausgeübte Gesamtoberflächen- n
kraft F S ist dann:
 
FS = dF = −(p − p0 )ndS.
Abb. 22.11 Kraft auf einen nicht vollständig eingetauchten Körper
S

Der Term −(p − p0 )n ist der Fluss f n auf der Oberfläche.


Gemäß dem Gauß’schen Integralsatz muss dies gleich (Abb. 22.11):
dem Gradienten der Größe f im Gebiet sein, voraus- 
gesetzt die Funktion f = −(p − p0 ) ist stetig und stetig FS = −(p − p0 )ndS
differenzierbar. Für den vollständig eingetauchten Körper S
trifft dies zu, denn p ist eine lineare Funktion in z:  
= −(p − p0 )ndS + −(p − p0 )ndS.
 
SF SR
FS = −(p − p0 )ndS = −∇(p − p0 )dV.
S V
Die gesuchte Auftriebskraft erhält man, wenn der Inte-
grand im Bereich der Oberfläche SR an jeder Stelle selbst
Mit (p − p0 ) = −ρgz wird null ist:
∇(p − p0 ) = −ρgk, (p − p0 ) = −ρgz = 0.
wobei k der Einheitsvektor in z-Richtung ist. Wir erhalten:
 
Der fehlende Teil der Oberfläche SR ist also eine gedachte
ebene Fläche bei z = 0 im Körper, und VE ist somit nur
FS = ρgkdV = ρgk dV = ρgVk.
der Bereich des Körpers, der sich unter der Oberfläche
V V befindet. Die Auftriebskraft ist daher im Falle des nicht

vollständig eingetauchten Körpers:

Strömungsmechanik
 
Hydrostatischer Auftrieb – vollständig eingetauchter FS = −(p − p0 )ndS = −(p − p0 )ndS
Körper
S SF
Ein vollständig in eine Flüssigkeit eingetauchter  
Körper erfährt eine Druckkraft in positiver z- = −∇(p − p0 )dV = ρgVE k.
Richtung (Auftrieb), die gleich der Gewichtskraft VE
des vom Körper verdrängten Flüssigkeitsvolumens
ist:
Hydrostatischer Auftrieb – nicht vollständig einge-
F S = ρgVk.
tauchter Körper
Ein nicht vollständig in eine Flüssigkeit eingetauch-
Für nicht vollständig eingetauchte Körper an der Ober- ter Körper erfährt eine Auftriebskraft, die gleich der
fläche der Flüssigkeit muss das Gebiet VE für die An- Gewichtskraft des vom Körper unterhalb der Ober-
wendung des Gauß’schen Integralsatzes anders gebildet fläche verdrängten Flüssigkeitsvolumens VE ist:
werden und ist nicht mehr gleich dem Körpervolumen V,
denn an der Oberfläche einer Flüssigkeit ist die Druck- FS = ρgVE k.
funktion nicht stetig differenzierbar. Die von der Flüssig-
keit benetzte Oberfläche des Körpers SF muss aber auf Die Wirkungslinie der Auftriebskraft geht sowohl
jeden Fall Teil der Oberfläche von VE sein, denn hier beim vollständig eingetauchten Körper als auch
werden die Oberflächenkräfte ausgeübt. Der restliche Teil beim schwimmenden Körper durch den Volu-
der Oberfläche von VE , hier SR genannt, muss dagegen menschwerpunkt des Körpers bzw. des Ersatzkör-
neutral bezüglich der Oberflächenkräfte sein. Die Ober- pers.
fläche setzt sich aus SF und SR zusammen, S = SF + SR
704 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Berechnung des Flüssigkeitsdrucks p0 z k Ersatzkörper VE

auf beliebig gekrümmte Wände

Mithilfe der eben vorgestellten Methode lässt sich auch


die Kraft auf beliebige Wände berechnen. Die resultieren-
de Flüssigkeitskraft wird hierzu in den Anteil parallel zu z p0
(Auf- oder Abtriebskraft) und den Anteil in x-y-Richtung
aufgeteilt (Seitendruckkraft).
Abb. 22.12 Erzeugung des Ersatzkörpers am Beispiel einer Staumauer
Auf- bzw. Abtriebsanteil Für die Kraft parallel zur z-Achse
wird ähnlich wie beim teilweise eingetauchten Körper er-
neut ein vollständig eingetauchter Ersatzkörper gesucht, Wenn der Ersatzkörper dagegen von der anderen Seite
der wieder die folgenden Bedingungen erfüllt: wie die betrachtete Wand druckbeaufschlagt wird, gilt
(Abtrieb):
Die von der Flüssigkeit berührte Wand ist vollständig  
Teil der Oberfläche des Ersatzkörpers. FS = −(p − p0 )ndS = −(p − p0 )(−n)dS
Die anderen Begrenzungswände sind neutral in Bezug
S SW
auf die Auftriebskraft.  
= ∇(p − p0 )dV = −ρgVE k. (22.16)
Wie oben bereits gesagt, erfüllt die Fläche z = 0 (Ober- VE
fläche der Flüssigkeit bzw. deren gedachte Verlängerung)
die Bedingung der Neutralität bezüglich der Auftriebs- Die Wirkungslinie der Auf- oder Abtriebskraft geht auch
kraft. Keinen Anteil an Auftriebskräften besitzen aber hier durch den Volumenschwerpunkt des Ersatzkörpers.
auch senkrechte Wände oder Flächen, deren Verlauf an
jeder Stelle parallel zur z-Achse ist, d. h., für die gilt:
Seitendruckkraft Die Seitendruckkraft auf die beliebig ge-
n · k = 0. Die Erzeugungsvorschrift für den vollständig
krümmte Fläche führen wir auf die Kraft auf die in eine
eingetauchten Ersatzkörper mit dem Volumen VE , der
Ebene projizierte Wandfläche zurück. Die Gesamtkraft ist
die gleiche Auf- bzw. Abtriebskraft aufweist wie die ge-
zunächst wieder:
krümmte Wand, ist daher wie folgt (Abb. 22.12):

FS = −(p − p0 )ndS.
Strömungsmechanik

Von jedem Punkt des Randes der zu berechnenden, un-


ter der Oberfläche befindlichen gekrümmten Wand SW SW
wird in Richtung von k eine gedachte senkrechte Linie
bis zur Oberfläche (z = 0) gezogen. Den Anteil der Kraft in den Koordinatenrichtungen x und
Zum vollständigen Schließen des gedachten Ersatzkör- y erhalten wir durch skalare Multiplikation mit den Ein-
pers wird die gegebenenfalls verlängerte Oberfläche heitsvektoren, z. B. in x-Richtung:
z = 0 verwendet. 
FS · i = −(p − p0 )(n · i)dS.
Zu beachten ist: Wenn aufgrund dieser Konstruktions- SW
vorschrift die Oberflächenkraft der Flüssigkeit im Inne-
ren des gedachten Ersatzkörpers angreifen würde, wirkt Der Term (n · i)dS stellt das längs i in die y,z-Ebene
die Druckkraft nicht als Auf-, sondern als Abtriebskraft. projizierte Flächenelement dS dar. Das gesamte Integral
Dies muss durch Umdrehen der Richtung des Normalen- bezieht sich daher auf die in x-Richtung auf die y,z-Ebene
vektors auf diesem Flächenabschnitt berücksichtigt wer- projizierte, ebene und senkrechte Wand (Abb. 22.13). De-
den, denn der gedachte Ersatzkörper wird immer, wie ren Umrandung hat übrigens nichts mit dem Ersatzkör-
in Abb. 22.12 gezeigt von außen beaufschlagt. Wenn der per zur Berechnung der Auftriebskraft zu tun, wie man in
Ersatzkörper von der gleichen Seite wie die betrachtete Abb. 22.13 erkennen kann. Für die Kraft in y-Richtung gilt
Wand druckbeaufschlagt wird, gilt daher (Auftrieb): Entsprechendes für die Projektion auf die x,z-Ebene:
  
FS = −(p − p0 )ndS = −(p − p0 )ndS Fx = ρgzdSx-proj ,
S SW SW,x-proj
 
= −∇(p − p0 )dV = ρgVE k. (22.15) Fy = ρgzdSy-proj .
VE SW,y-proj
22.3 Hydrostatik 705

Übersicht: Totalableitung und totales Differenzial

Interpretation in der Strömungsmechanik und Wärme- Der instationäre Term (∂/∂t) steht für die lokale Än-
übertragung derung einer Größe und bedeutet lokale Speicherung
Die Totalableitung in n Dimensionen nach einer der oder Entladung der abgeleiteten Größe. Er ist ma-
n Koordinaten ist in der Mathematik definiert als die thematisch unangenehm und wird nach Möglichkeit
Summe aller partieller Ableitungen nach allen Koordi- vernachlässigt, d. h., wenn eine geeignete Begründung
naten multipliziert mit der jeweils nachzudifferenzie- vorliegt. Seine Bedeutung ist: Am festen Ort ändern
renden Koordinate: sich Größen über der Zeit. Fest installierte Messgerä-
te zeigen daher an, ob sich ein System bereits stationär
n
d ∂ dxj verhält, die Messdatenerfassung sollte immer ein Zeit-
dxi
= ∑ ∂xj dxi . signal beinhalten.
j=1

In den vier Dimensionen der technischen Anwendung Die geforderte Bedingung ist im stationären Fall über
(Zeit und Ort: t, x, y, z) ist die häufig benötigte Totalab- einen mehr oder weniger langen Zeitraum gegeben,
leitung nach der Zeit: denn stationär bedeutet, dass sich an jeder (!) festge-
haltenen Stelle im betrachteten Gebiet keine einzige (!)
d ∂ ∂ dx ∂ dy ∂ dz der betrachteten Größen ändern darf.
= + + + .
dt ∂t ∂x dt ∂y dt ∂z dt
Erfreulicherweise gibt es aber eine weitere Bedingung,
Die totale Änderung der Koordinaten nach der Zeit ist damit dieser Term vernachlässigt werden darf: Es ist
an jeder Stelle gleich der Geschwindigkeit der Materie auch ausreichend, wenn der betrachtete Zeitpunkt so
an der jeweiligen Stelle in der betrachteten Koordina- gewählt wird, dass alle Größen gleichzeitig (!) ein Ma-
tenrichtung (u = (ux , uy , uz )): ximum oder Minimum durchlaufen, denn auch dann
gilt ∂/∂t = 0! Auch hochschnelle Vorgänge, die eigent-
d ∂ ∂ ∂ ∂ lich alles andere als stationär sind, können so mit den
= + ux + uy + uz .
dt ∂t ∂x ∂y ∂z vereinfachten, stationären Gleichungen behandelt wer-
den. Diesen Trick nutzt man häufig in der Messtechnik.
Man beachte die übersichtliche Darstellung in symbo-
lischer Schreibweise: Die Wirkung des konvektiven Terms (∇ · u) ist der
∂ Transport der physikalischen Größe mit der strömen-

Strömungsmechanik
d
= +∇ ·u den Materie. Jede Eigenschaft der Materie (z. B. Tem-
dt ∂t
peratur, innere Energie) wird durch die Bewegung
Die Totalableitung nach der Zeit setzt sich somit aus der Materie in Bewegungsrichtung mitgenommen und
dem instationären Term und dem konvektiven Term zu- daher schnell im Raum verteilt. Konvektive Wärme-
sammen, die in der Strömungsmechanik einfach zu übertragung mit diesem Mechanismus ist wesentlich
interpretieren sind: effizienter als molekulare Wärmeleitung.

Natürlich kann man auch ebene und geneigte Wände mit- die Seitendruckkraft berechnen, jedoch ist die zuvor vor-
hilfe von Ersatzkörpern und der Projektionsmethode für gestellte, direkte Methode einfacher.

z in x-Richtung proji-
y zierte Wandfläche
p0 Bestimmung der Kräfte auf gekrümmte Begrenzungs-
wände von Flüssigkeiten
i x Auf- oder Abtriebskraft:
Die Auf- oder Abtriebskraft wird mithilfe ei-
nes vollständig eingetauchten Ersatzkörpers be-
stimmt (Abb. 22.12).
p0 Die Kraftangriffslinie geht durch den Volu-
menschwerpunkt des Ersatzkörpers.

Abb. 22.13 Projizierte Fläche der Staumauer in x -Richtung


706 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

t1
Stromlinien zur Zeit t1
Berechnung der Seitendruckkräfte: bei instationärer
Strömung t2
Der Betrag der Seitendruckkräfte in x- und y-
Richtung ist gleich dem Druck im Flächenschwer- t1
t0
punkt der projizierten Fläche mal der Größe der t = t1 t = t2 > t1
projizierten Fläche (Abb. 22.13). t2
Die Kraftangriffslinien berechnen sich analog zu t = t0 < t1
(22.11) bzw. (22.12) aus den Flächenträgheitsmo- t0
menten der projizierten Flächen. Bahnlinien dreier Teilchen bei instatio-
närer Strömung (unterschiedliche Zeiten)

Abb. 22.14 Stromlinien und Bahnlinien bei instationärer Strömung


Frage 22.8
Wozu kann die Auftriebsformel des Archimedes verwen-
det werden?
Das Stromlinienbild wird zur festen Zeit t als Funktion
des Ortes dargestellt, ist also wie ein Foto eine Moment-
Frage 22.9 aufnahme. Das Bild der Stromlinien kann über der Zeit
Was drückt der Gauß’sche Integralsatz aus? variieren.
Bahnlinien und Stromlinien sind in der Regel nicht iden-
tisch, die Bahnlinie des materiellen Punktes berührt aber
immer die Stromlinie durch den Ort, an dem er sich zur
Zeit t befindet (Abb. 22.14). In stationärer Strömung ergibt
22.4 Hydrodynamik sich hieraus, dass Stromlinien und Bahnlinien im Verlauf
identisch sind. Das Stromlinienbild ändert sich in statio-
Wir leiten zunächst die Grundgleichungen der Hydrody- närer Strömung über der Zeit nicht, und alle Teilchen
namik für die eindimensionale Strömung her. Grundla- müssen sich daher auf den Stromlinien weiterbewegen.
ge ist die Stromfadentheorie, bei der das Verhalten der
Strömung auf repräsentativen Stromlinien oder in re- Die Streichlinie schließlich verbindet alle materiellen
präsentativen Stromröhren berechnet wird. Die einzige Punkte miteinander, die zu unterschiedlichen Zeiten
Vereinfachung ist die Annahme einer stationären Strö- einen festen Ort passiert haben oder passieren werden,
mung, d. h., der Strömungszustand an einem beliebigen, und ist ebenfalls eine Momentaufnahme, die den Zustand
Strömungsmechanik

festen Ort im betrachteten Gebiet V ändert sich über der zu einem Zeitpunkt beschreibt. Auch sie ist in stationärer
Zeit nicht. Strömung identisch mit den beiden anderen Kurven.
Rauchfäden, die man in Windkanälen zum Sichtbarma-
chen der Stromlinien verwendet, sind also in Wahrheit
Was sind Bahnlinie, Stromlinie und Streichlinie? Streichlinien. Im instationären Fall eignen sich Rauchfä-
den für diesen Zweck nicht.

Unter einer Bahnlinie versteht man die Bahn eines mate-


riellen Punktes. Die Bahnlinie ist an jeder Stelle tangential
zum Geschwindigkeitsfeld und ist daher die Tangenten- Was sind Stromröhre und Stromfaden?
kurve desselben materiellen Punktes zu verschiedenen
Zeiten an den Geschwindigkeitsvektoren. Sie ist vor al-
Eine Stromröhre wird durch eine beliebige, geschlosse-
lem in der materiellen Beschreibungsweise von Bedeu-
ne Linie definiert. Die Hüllfläche der Stromröhre wird
tung. Die Bahnlinie eines Teilchens ist eine Funktion der
durch alle Stromlinien gebildet, die durch diese defi-
Zeit. Um sie sichtbar zu machen, muss man das Teilchen
nierende Linie gehen (Abb. 22.15). Da Stromlinien und
markieren und ein Foto mit langer Belichtungszeit auf-
Bahnlinien im stationären Fall identisch sind, verlassen
nehmen.
materielle Punkte innerhalb einer Stromröhre diese nie,
An ihre Stelle tritt in der Feldbeschreibungsweise die d. h., es gibt keinen Transport von Materie über die Ober-
Stromlinie. Jeder Ort im Feld besitzt zur festen Zeit t fläche einer solchen Stromröhre. Dies macht man sich in
einen Vektor der Geschwindigkeit an diesem Ort (bes- der Stromfadentheorie zunutze, indem man in den Quer-
ser: den Vektor, den das Teilchen besitzt, das gerade zur abmessungen genügend kleine Stromröhren bildet und
Zeit t diesen Ort passiert). Die Kurven, deren Tangenten die Berechnung der Strömungsgrößen auf der mittleren
zu einer festen Zeit t mit den Richtungen der Geschwin- Stromlinie durchführt. Als mittlere (oder repräsentative)
digkeitsvektoren übereinstimmen, sind die Stromlinien. Stromlinie eignen sich Stromlinien in der Eintrittsfläche,
22.4 Hydrodynamik 707

der Thermodynamik), innere Energie und Enthalpie


Stromlinien Austritts- (kalorische Zustandsgleichung und Enthalpiedefiniti-
fläche A2 on),
2
Materialgesetze.

Frage 22.10
Welche Eigenschaft verlieren Stromröhre und Stromfaden
1 mittlere (repräsentative) in instationärer Strömung?
Stromlinie
definierende, geschlossene
Eintritts- Linie
fläche A1
a
Was bedeuten die Begriffe stationäre Strömung
und reibungsfreie Strömung?
2

Unter einer stationären Strömung versteht man eine Strö-


mung, bei der sich an keinem festen Ort (x, y, z) im be-
trachteten Gebiet (z. B. eine Stromröhre) irgendeine Größe
1
über der Zeit ändert. Die Größen dürfen aber natürlich
b von Ort zu Ort verschieden sein, d. h., nur die partiel-
len Ableitungen aller Größen im Gebiet V und auf seiner
Abb. 22.15 Stromröhre zur Zeit t (a) und Stromfaden (b) Oberfläche S nach der Zeit müssen null sein:

= 0.
für die eine bestimmte Strömungsgröße im Mittel den ∂t
Werten auf der Fläche entspricht, z. B. die mittlere Ge-
schwindigkeit. Häufig wird auch die Stromlinie verwen- Unter einer reibungsfreien Strömung versteht man eine
det, die durch den Schwerpunkt der definierenden Fläche Strömung, bei der Scherspannungen an jedem Ort (x, y, z)
geht. des Gebietes gegen die Druckspannungen vernachlässig-
bar sind:
Eine Stromröhre wird auch durch feste Wände gebil-
det. Diese werden definitionsgemäß nicht durchströmt τ p.

Strömungsmechanik
und der Geschwindigkeitsvektor kann überall höchstens
parallel zur Oberfläche verlaufen (bei reibungsbehafteter Wenn man beachtet, dass die Schubspannungen propor-
Strömung ist er sogar null). Damit ist eine begrenzende tional zum Geschwindigkeitsgradienten quer zur Strom-
Wand immer gleichzeitig auch eine Stromlinie, und wenn linie (normal dazu, Richtung n) sind, erkennt man, dass
sie (wie bei Rohren) eine geschlossene Fläche bildet, ist reibungsfreie Strömung nicht unbedingt nur mit einer
auch eine Stromröhre definiert. In diesem Falle kann man kleinen dynamischen Viskosität gleichzusetzen ist. Es
die Eigenschaften der Strömung auf die mittleren Eigen- reicht aus, wenn die auftretenden Geschwindigkeitsgra-
schaften beziehen. dienten klein sind:
Für die Lösung eines hydrodynamischen Problems reicht du
es nicht aus, die Strömungsgeschwindigkeiten zu bestim- τ=η ≈ 0.
dn
men, wir benötigen Informationen über den Druck, die
wirkenden Kräfte und Momente, aber auch über die Zu- Dies ist unabhängig vom betrachteten Fluid der Fall,
standsgrößen Dichte und Temperatur des strömenden wenn die Geschwindigkeiten selbst sehr klein sind oder
Fluides. Um diese zu berechnen, müssen wir Gleichun- wenn die Abmessungen quer zur Strömungsrichtung ge-
gen aufstellen, die uns die gewünschten Informationen nügend groß und die Geschwindigkeiten daher nähe-
liefern: rungsweise konstant sind (u ≈ konst), also die Strömung
homogen ist.
die Erhaltungssätze (Kap. 6, 10): Masse (Konti-
nuitätsgleichung), Energie (Bernoulli’sche Gleichung, Reibungsfreiheit
bzw. Energiegleichung), Impuls (Impulssatz = New-
ton’sches Gesetz), Drehimpuls (Drehimpulssatz), Homogene Strömungen (u ≈ konst.) und kriechen-
die Beziehungen für die Zustandsgrößen (Kap. 18): de Strömungen (u ≈ 0) sind in der Praxis reibungs-
Druck, Temperatur, Dichte bzw. spez. Volumen (ther- frei.
mische Zustandsgleichung), Entropie (2. Hauptsatz
708 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Leitbeispiel Antriebsstrang
Abgasturbolader – Vorgehen bei der Berechnung

In vielen Fahrzeugen der Mittel- und Oberklasse dabei streng genommen aus zwei unterschiedlichen
(Abb. 22.16) wird heute die Ansaugluft des Motors Maschinen: Dem Ladeluftkompressor, der die Ansaug-
vorverdichtet, wobei überwiegend Abgasturbolader luft zum Motor fördert, und der Abgasturbine, die
(Abb. 22.17) verbaut werden. Aufgabe des Turbola- das noch heiße und unter Druck stehende Abgas des
ders ist es, die Ladeluft bereits vor dem Einlass in Motors entspannt, zum Auspuff fördert und dabei die
den Zylinder auf höheren Druck und höhere Dichte
zu bringen, sodass sich je Kolbenhub (Hubraum) mehr
Luft im Zylinder befindet und somit proportional hier-
zu auch bei gleichem Hubraum die Leistung des Mo-
Regeleinheit
tors erhöht wird. Umgekehrt kann bei vorgegebener
Leistung der Motor auch kleiner oder mit weniger Zy- Abgas vom
lindern gebaut werden, was aufgrund der deutlichen Motor
Gewichtsreduzierung auch den Gesamtverbrauch ei- Ladeluft-
nes Kfz verringert. Thermodynamisch gesehen kann Verdichter
das insgesamt höhere Druckverhältnis sogar den ther-
mischen Wirkungsgrad verbessern, dies ist aber eher vom Ansaug-
ein sekundärer Effekt, wichtiger ist das vergrößerte, zum
filter
spezifische Leistungsgewicht des Motors (Leistung pro Auspuff
Masse). Mittlerweile ist deswegen aufgrund der mas-
siven Anstrengungen aller Hersteller, den Verbrauch
und den CO2 -Ausstoß deutlich zu reduzieren, der Ein- Abgas- Verbrennungsluft
satz von Turboladern auch im Kleinwagensegment turbine zum Motor
weiter verbreitet als früher.
Strömungsmechanik

Abb. 22.17 Abgasturbolader

variable
Turbinengeometrie
(VIGV-Variable Inlet
Guide Vane)

Lage des Abgasturboladers

Abb. 22.16 Antriebsstrang: Lage des Turboladers am Motorblock Laufrad Laufrad


Turbine Verdichter
(Kompressor)
Turbolader sind klassische Strömungsmaschinen, d. h.,
der Energieumsatz basiert nicht wie bei Kolbenmaschi-
nen auf abgeschlossenen Räumen (Zylinder mit Kol- Abb. 22.18 Geöffneter Turbolader: Rechts das Verdichterlaufrad und das
ben), sondern auf dem kontinuierlichen Energieumsatz Spiralgehäuse des Verdichters, links das Turbinenlaufrad und das Einlaufge-
auf den Stromlinien. Der Abgasturbolader besteht häuse mit einem verstellbaren Vorleitrad zur Mengen- und Druckregelung
22.4 Hydrodynamik 709

Antriebsleistung des Ladeluftkompressors erzeugt verwenden wir durchgängig die im Turbomaschinen-


(Abb. 22.18). Kompressor- und Turbinenlaufrad sit- bau üblichen Bezeichnungen der Geschwindigkeiten,
zen daher auf einer gemeinsamen Welle, sodass beide die nicht zu verwechseln sind mit der sonst in diesem
zu jedem Zeitpunkt im Leistungsgleichgewicht stehen, Kapitel verwendeten Bezeichung der Geschwindigkeit
natürlich mit Ausnahme mechanischer Verluste der der Strömung (u, siehe Übersicht). Im Leitbeispiel steht
Wellenlagerung. Variabel ist dabei nur die Wellendreh- c für die Geschwindigkeit der Strömung, wie sie ein au-
zahl, alle anderen Daten, z. B. die Turbineneintritts- ßenstehender Beobachter misst (ruhendes System). Die
bedingungen, werden von außen aufgeprägt, bei der Bezeichnung w verwenden wir für die Geschwindig-
Turbine vom Motor selbst. Zur Optimierung werden keit der Strömung relativ zum rotierenden Laufrad
heute, wie beim gezeigten Modell, sogenannte variable (bewegtes oder rotierendes System) und die Rotationsge-
Turbinengeometrien eingesetzt, das ist eine verstellba- schwindigkeit des Laufrades heißt hier u und ist nur
re Vorleitreihe zur Anpassung des Turbineneintritts an von Drehzahl n und Radius r abhängig. Der vektorielle
unterschiedliche Motorlasten (Abb. 22.18). Zusammenhang der drei Geschwindigkeiten ist dann
Im Kapitel Strömungsmechanik knüpfen wir an das überall im Laufrad:
Leitbeispiel des Buches an, indem wir das Kompres-
sorlaufrad (Abb. 22.18 und 22.19) in Bezug auf die er- c = w + u.
zeugten Ladeluftdaten und die hierzu notwendige An-
triebsleistung berechnen. Das Ergebnis wird dabei sehr Wir beschreiben den Vorgang mit Zylinderkoordina-
allgemeingültig sein und ist im Prinzip auf alle Tur- ten (r, ϕ, x), die in dieser Reihenfolge ein Rechtssystem
bomaschinen unterschiedlichster Bauart anwendbar, bilden und deren Einheitsvektoren in den jeweiligen
inklusive axialer Flugantriebe, Wasserturbinen und Richtungen (er , e ϕ , ex ) sind. Am Eintritt (1) hat die Strö-
Kreiselpumpen. Auch die Abgasturbine des Turbola- mung daher keine radiale Komponente (r-Richtung),
ders wird wie das Kompressorlaufrad berechnet, denn am Austritt (2) dafür keine Komponente in axialer
prinzipiell kann man durch eine Umkehr der Strö- Richtung (x). Am Eintritt ist sie zwar meistens zusätz-
mungsrichtung aus einem Verdichterlaufrad auch eine lich drallfrei (c1,ϕ = 0), diese Einschränkung benötigen
Turbine machen und umgekehrt. Bei Pumpspeicher- wir aber für die Herleitung nicht, am Austritt ist sie da-
kraftwerken wird diese Idee auch technisch realisiert. gegen nie drallfrei.
Die Herleitung am radialen Kompressorlaufrad liefert
im Ergebnis die sogenannte Euler’sche Turbinenglei- c1 = c1,x ex + c1,ϕ e ϕ ,
chung, die in allen anderen Fällen angewendet werden c2 = c2,r er + c2,ϕ e ϕ .
kann.

Strömungsmechanik
Zunächst werden wir aus Kontinuitätsgleichung
(22.22) und Energiegleichung (22.23) den Zusammen-
hang zwischen der notwendigen Antriebsleistung und
der erzeugten Enthalpie bestimmen. Im zweiten Schritt
folgt dann die Berechnung der Antriebsleistung aus
den Strömungsgrößen mithilfe des Drehimpulssatzes.

ω,φ,e φ
A2
n2 c2,r
AD w2 c2
A1 u2

AL
r, er
c1
Abb. 22.19 Turbolader Verdichterlaufrad
x, ex
c1
Wir betrachten folgende Grundsituation (Abb. 22.20):
Das Kompressorlaufrad wird in axialer Richtung an- n1
geströmt, sodass am Eintritt (Ebene 1) eine fast ho-
mogene Luftströmung in die rotierende Beschaufelung
eintritt. Diese darf eine Umfangskomponente um die
Wellenachse herum besitzen (Drall). Im Leitbeispiel Abb. 22.20 Turbolader: Skizze Verdichterlaufrad und Kontrollvolumen
710 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Umschlag- Rohreinlauf
punkt
turbulente Grenzschicht
laminare
Grenzschicht laminare Unterschicht
u∞ vor
Umschlag: nach Umschlag: u0
laminare turbulente Grenzschicht
Grenzschichten
Grenz- mit laminarer vollausgebildete
wachsen zusammen
schicht Unterschicht Strömung
Einlaufstrecke
Abb. 22.21 Grenzschichtentwicklung an der längsangeströmten, ebenen Plat-
te
Abb. 22.22 Grenzschichtentwicklung im geraden Kreisrohr

Was ist die ungestörte Außenströmung senfluss erfolgt. Gleichzeitig wird auch keine Masse in
und was ist eine Grenzschicht? der Stromröhre gespeichert, sodass der durch A1 eintre-
tende Massenstrom betragsmäßig gleich dem durch A2
austretenden Massenstrom sein muss. Als repräsentati-
Wenn eine Strömung auf ein festes Hindernis wie eine in
ve Stromlinie verwenden wir die Stromlinie, auf der die
Strömungsrichtung liegende Platte trifft und diese um-
mittlere Strömungsgeschwindigkeit u1 bzw. u2 herrscht
strömt, haftet die Strömung an der Wand, und ab der
(genauer gesagt: die mittlere Geschwindigkeit als Mas-
Vorderkante entwickelt sich eine Grenzschicht, in der die
senstrommittelwert). Somit ist die Kontinuitätsgleichung
Geschwindigkeit von der freien, ungestörten Anströmge-
an der Stromröhre:
schwindigkeit in Richtung Wand rasch auf null abfällt
(Abb. 22.21).
Innerhalb der Grenzschicht treten große Gradienten auf, Kontinuitätsgleichung (Massenerhaltung) im allgemei-
außerhalb jedoch nicht, sodass die freie Außenströmung in nen stationären Fall
guter Näherung als reibungsfrei betrachtet werden kann. ṁ = ρ1 u1 A1 = ρ2 u2 A2 . (22.17)
In der Grenzschicht ist die Strömung jedoch reibungsbe-
haftet. In der Grenzschichttheorie wird diese Zweiteilung
genutzt, d. h., die Außenströmung wird nahezu reibungs-
Für inkompressible Strömung gilt:
frei gerechnet, weil dort die Strömung von den Druckkräf-
Strömungsmechanik

ten dominiert wird. Nur in der Grenzschicht werden Rei-


bungseffekte nicht vernachlässigt, weil Schub- und Druck- ρ1 = ρ2 ,
spannung von ähnlicher Größenordnung sind. V̇ = u1 A1 = u2 A2 . (22.18)
Im Falle von Innenströmungen (z. B. Einströmung in
Rohrleitungen) wachsen die Grenzschichten von den Be-
grenzungswänden her schnell zusammen. Ab diesem
Punkt ist dann im Kernbereich die Annahme reibungsfrei- Die Energiegleichung und die Bernoulli’sche
er Strömung meist nicht mehr gerechtfertigt. Nach dem Gleichung werden aus der Thermodynamik
Zusammenwachsen der Grenzschichten entwickelt sich übernommen
das Strömungsprofil aufgrund der Wirkung der Schub-
spannungen noch weiter, bis es sich nach einiger Lauflän-
ge in stationärer Strömung über dem Strömungsweg nicht Wir betrachten eine allgemeine kompressible, stationäre
mehr ändert. Diesen Strömungszustand nach der Einlauf- Strömung an der gleichen Stromröhre (Abb. 22.15) und
länge nennt man vollausgebildet (Abb. 22.22). bilanzieren alle möglicherweise auftretenden Energiefor-
men an diesem System. Energie kann dabei sowohl unab-
hängig von Materieflüssen sein (z. B. Arbeit, Wärme) als
auch unmittelbar mit den Materieströmen verknüpft sein
Die Kontinuitätsgleichung (konvektive Energie, z. B. Enthalpie, kinetische und potenti-
elle Energie), dann ist sie in der Praxis meist proportional
ist die Massenerhaltung
zum jeweiligen Massenstrom. Gemäß dem 1. Hauptsatz
der Thermodynamik an einem beliebigen thermodyna-
Betrachten wir eine Stromröhre wie in Abb. 22.15 im sta- mischen System (Kap. 18), ist die Summe aller äußeren
tionären Fall. Stromlinien und Bahnlinien sind identisch, Energieflüsse, das ist die linke Seite in (22.19), gleich der
sodass über die Oberfläche der Stromröhre kein Mas- Änderung der inneren und äußeren Energie dieses Sys-
22.4 Hydrodynamik 711

tems: Aufgrund der Reibung durch Schubspannungen in der


n   Strömung wird die innere Energie am Austritt etwas grö-
1
Q̇ + P + ∑ ṁi hi + u2i + gzi = ĖI . (22.19) ßer sein, als am Eintritt, daher ist der letzte Term der
i=1
2 Gleichung immer positiv. Er ist gleichzusetzen mit der
auf dem Strömungsweg zwischen 1 und 2 umgesetzten
Hierbei ist ĖI die zeitliche Änderung der inneren und spezifischen Reibungsarbeit wR , die – multipliziert mit ρ –
äußeren Energie des Systems selbst, die für den hier be- im inkompressiblen Fall auch Druckverlust ΔpV genannt
trachteten stationären Fall null sein muss. Es treten nur wird.
bei 1 und 2 Massenströme auf, daher ist n = 2. Aufgrund
ΔpV
der Vorzeichenkonvention des 1. Hauptsatzes wird der ei,2 − ei,1 = wR = .
bei 1 in die Stromröhre eintretende Massenstrom positiv ρ
gezählt, der bei 2 austretende negativ; beide haben aber Wird die Gleichung noch mit der Dichte ρ durchmultipli-
aufgrund der Kontinuität den gleichen Betrag ṁ, durch ziert, erhält man die
den die Gesamtgleichung nun dividiert wird, um spezifi-
sche Größen zu erhalten (wt ist die spezifische technische
Arbeit): Bernoulli’sche Gleichung der inkompressiblen Strö-
mung
1 1
q + wt + h1 + u21 + gz1 − h2 − u22 − gz2 = 0. ρ ρ
2 2 p1 + u21 + ρgz1 = p2 + u22 + ρgz2 + ΔpV . (22.21)
2 2

Energiegleichung an der Stromröhre im allgemeinen,


stationären Fall Energiegleichung und Bernoulli’sche Gleichung gelten
sowohl für die Gesamtbilanz an der Stromröhre als auch
1 1 für ein einzelnes Teilchen zwischen beliebigen Punkten
q + wt + h1 + u21 + gz1 = h2 + u22 + gz2 .
2 2 einer Stromlinie, denn im stationären Fall sind Bahn-
linie und Stromlinie identisch. Interessant ist, dass die
Wenn der Stromröhre von außen Wärme oder Arbeit Stromlinien hierzu sogar nicht einmal im Verlauf bekannt
zugeführt wird, sind q und wt positiv einzusetzen, sein müssen: Sie müssen lediglich grundsätzlich möglich
andernfalls negativ. sein, denn die Erhaltungssätze müssen auch auf einer nur
möglichen Strömungslinie gelten, selbst wenn diese von
keinem Teilchen tatsächlich als Bahnlinie verwendet wird.
Für eine adiabate (q = 0) und von außen nicht durch Wenn es nicht physikalisch unmöglich ist, könnte schließ-
aufgenommene oder abgegebene technische Arbeit beein-

Strömungsmechanik
lich ein Teilchen genau diesen Weg nehmen.
flusste Strömung (wt = 0) erhält man die gebräuchlichste
Form der Energiegleichung der kompressiblen Strömung
auf einer Stromlinie: Gültigkeit der Energiegleichung und der Bernoul-
li’schen Gleichung

Energiegleichung auf einer Stromlinie im adiabaten, Energiegleichung und Bernoulli’sche Gleichung gel-
stationären Fall ohne äußere Arbeit ten zwischen beliebigen Punkten von Stromlinien.
Die Stromlinien müssen nicht explizit bekannt sein,
1 1 sondern lediglich einen grundsätzlich physikalisch
h1 + u21 + gz1 = h2 + u22 + gz2 . (22.20)
2 2 möglichen Weg beschreiben.

Aus dieser kann jetzt die Bernoulli’sche Gleichung der Der Punkt 1 muss aber immer stromaufwärts des Punk-
inkompressiblen Strömung abgeleitet werden. Zunächst tes 2 liegen, denn der Rückweg ist bei reibungsbehafteter
wird die Definition der Enthalpie eingesetzt, wobei ei hier Strömung (also jeder technischen Strömung) ausgeschlos-
die spezifische innere Energie (als thermodynamische Zu- sen: Alle reibungsbehafteten Vorgänge sind unumkehrbar
standsgröße) des Fluides ist: (irreversibel)!
p
h = ei + .
ρ
Kontinuitäts- und Energiegleichung
Für die inkompressible Strömung ist ρ1 = ρ2 = ρ, sodass
gilt: am beliebigen Kontrollvolumen
p1 1 p 1
+ u21 + gz1 = 2 + u22 + gz2 + (ei,2 − ei,1 ). Die bisherige Beschreibung der Kontinuitäts- und der
ρ 2 ρ 2 Energiegleichung bezog sich auf die Stromröhre im sta-
712 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

AS1 AS2 so nach außen gerichtet ist. In verschiedenen Bereichen


A1 A1
von S tritt das Fluid mit unterschiedlicher Geschwindig-
A2 A2
keit in das Kontrollvolumen ein und kommt in anderen
Bereichen von S wieder aus dem Kontrollvolumen her-
a ohne Schlitz b mit Schlitz aus, weil die Bedingung stationär keine Speicherung im
Inneren zulässt. Das Fluid transportiert dabei die Erhal-
Abb. 22.23 Schlitzen zur Verbindung von Oberflächenteilen. a Ohne Schlitz:
Keine Verbindung zwischen innerer und äußerer Oberfläche. b Mit Schlitz: Ver-
tungsgrößen Masse, Energie, Impuls und Drehimpuls in
bindung zwischen innerer und äußerer Oberfläche (S = A1 + A2 + A.S 1 + A.S 2 ) das Gebiet hinein und aus diesem heraus. Der lokale Mas-
senstrom dṁ am Teilbereich dS der Oberfläche hängt nur
vom Normalanteil der Geschwindigkeit un ab, der aus
dem Skalarprodukt (u · n) ermittelt wird. Da n konventi-
tionären Fall. Beide Beschreibungen können für ein be-
onsgemäß nach außen zeigt, wird bei einem eintretenden
liebig abgegrenztes, mathematisch geschlossenes Gebiet
Massenstrom das Skalarprodukt negativ. Ein eintreten-
V verallgemeinert werden, sodass die Formulierung kon-
der Massenstrom ist für das Kontrollvolumen aber mit
sistent mit der folgenden Beschreibung des Impuls- und
Massen- und Energiezuwachs verbunden, daher setzen
des Drehimpulserhaltungssatzes wird. Der Begriff eines
wir vor das Skalarprodukt ein negatives Vorzeichen:
geschlossenen Gebietes V ist dabei so definiert, dass das
betrachtete Volumen V, welches im Folgenden Kontrollvo- dṁ = −ρ (u · n) dS.
lumen genannt wird, von einer beliebig geformten Ober-
fläche S umschlossen wird, die zusammenhängend ist, Alle Massenströme über die Oberfläche S müssen im
und dass sich im Inneren von V keine Ausnahmen be- stationären Fall null ergeben, daher kann das negative
finden, d. h. Bereiche, die nicht nur das strömende Fluid Vorzeichen hier auch weggelassen werden:
enthalten (sozusagen kein Schweizerkäse). Dass diese Be-
dingung bei gegebener hydraulischer Verbindung des Kontinuitätsgleichung im stationären Fall am beliebi-
Fluides in V durch geeignete Wahl der Oberfläche im- gen Volumen V mit der Oberfläche S
mer erfüllt werden kann, sei hier nur erwähnt, aber nicht  
bewiesen. Ersatzweise genügt folgende Vorstellung: Wür- dṁ = (−) ρ (u · n) dS = 0. (22.22)
de man das betrachtet System, wie z. B. ein komplettes
S
Flugtriebwerk ins Wasser werfen, bildet das eindringen-
de Wasser überall, wo es ungehindert die Luft verdrängen
kann, ein solches geschlossenes Gebiet mit einer (wenn Ebenso verfahren wir mit der Energiegleichung, indem
auch recht komplizierten) Oberfläche S. Die Oberfläche wir neben der äußeren Leistung P und dem äußeren Wär-
müssen wir aber gar nicht genau beschreiben, denn wir mestrom Q̇ auch den gesamten Energietransport der Mas-
Strömungsmechanik

werden nur die Bedingung benötigen, dass der Ober- senströme dṁ in Form von Enthalpie, kinetischer Energie
flächenbereich im Inneren des Triebwerkes durch feste und potentieller Energie berücksichtigen:
Wände gebildet wird, die vom Fluid nicht durchdrungen    
werden. 1 1
dṁ h + u2 + gz = −ρ (u · n) h + u2 + gz dS.
2 2
Getrennte Oberflächenbereiche kann man mit der Schlitz-
methode verbinden (Abb. 22.23). Will man beim Kon- Im stationären Fall muss die Gesamtbilanz der Energie
trollvolumen in der Form eines Schweizerkäses ein Loch am Kontrollvolumen wieder null sein:
im Inneren (A2 ) ausnehmen, verbindet man es mit der
sichtbaren Außenseite (A1 ) durch (gedachtes) Einstechen Energiegleichung im stationären Fall am beliebigen Vo-
mit einem Messer, sodass sich ein Verbindungsschlitz lumen V mit der Oberfläche S
bildet. Alle Flächen zusammen genommen (S) umschlie-   
ßen nur noch Käse. Beide Seiten des Schlitzes (AS1 , AS2 ) 1
P + Q̇ − ρ (u · n) h + u2 + gz dS = 0.
sind bezüglich der Erhaltungsgrößen Masse, Energie, Im- 2
S
puls und Drehimpuls zusammengenommen aber neutral. (22.23)
Schlitze darf man daher beliebig dazufügen, ohne das Ge-
samtergebnis zu ändern!
Gleichungen (22.22) und (22.23) gelten im kompressiblen
Wir definieren ein solches geschlossenes Gebiet V als
und im inkompressiblen Fall.
Kontrollvolumen mit einer beliebig geformten Oberfläche
S und bilanzieren Masse und Energie (später noch Impuls Frage 22.11
und Drehimpuls) für den stationären Fall. Die Oberflä- Warum gelten Kontinuitäts- und Energiegleichung
chenkrümmung wird über den lokalen Normalenvektor (bzw. Bernoulli’sche Gleichung) auch auf einer einzel-
n beschrieben, der an jeder Stelle senkrecht auf S steht nen Stromlinie?
und immer vom Kontrollvolumen weg zeigen soll, al-
22.4 Hydrodynamik 713

Leitbeispiel Antriebsstrang
Abgasturbolader – Berechnung der notwendigen Leistung
aus Kontinuitäts- und Energiegleichung

Als Kontrollvolumen mit dem Inhalt V definieren wir tinuität ergibt:


die gesamte Luft, die sich im Inneren des Laufra-
ρ1 c1,x A1 = ρ2 c2,r A2 = ṁ.
des von der Ebene (1) kurz vor dem Eintritt bis zur
Zylinderfläche (2) kurz nach dem Austritt befindet Genauso verfahren wir mit der Energiegleichung
(Abb. 22.20). Die Oberfläche S, die V umschließt, setzt (22.23), wobei wir das soeben erhaltene Ergebnis der
sich zusammen aus der ebenen Kreisringfläche A1 , der Kontinuitätsgleichung bezüglich der Skalarprodukte
Zylinderfläche A2 , der gesamten inneren Oberfläche sofort berücksichtigen (Vorzeichen beachten!):
AL des Laufrades, die mit der strömenden Luft in Be-   
1 2
rührung ist, sowie der Fläche des nach vorne offenen P + Q̇ + ρ1 c1,x h1 + c1 + gz1 dS
Beschaufelungsbereiches AD , wo die Strömung nicht 2
A1
durch eine Deckscheibe am Laufrad, sondern in dem   
1
engen Dichtspalt vom Gehäuse geführt wird. Hier liegt − ρ2 c2,r h2 + c22 + gz2 dS = 0.
zwar keine feste Wand vor, aber immerhin eine nicht 2
A2
durchströmte Stromfläche. Die Oberfläche S setzt sich
vollständig aus diesen vier Teilflächen zusammen: S = Bei dem Vorgang spielt die potentielle Energie keine
A1 + A2 + AL + AD . Wir beginnen mit der Kontinuitäts- Rolle, sodass wir die Terme gzi weglassen können. Wei-
gleichung (22.22): terhin sei die Strömung adiabat (Q̇ = 0) und im Eintritt
und Austritt homogen, sodass wir erhalten:

ρ (c · n) dS = 0.  
1
S
P + ρ1 c1,x h1 + c21 + gz1 A1
2
 
1 2
Die feste Wand AL und die Stromfläche AD werden − ρ2 c2,r h2 + c2 + gz2 A2 = 0.

Strömungsmechanik
nicht durchströmt, Letztere allerdings nur, wenn der 2
Spalt zum Gehäuse klein ist, was wir aber voraussetzen
wollen und können. Für beide Teilflächen gilt daher Damit ist die notwendige Antriebsleistung für die Ver-
(c · n) = 0, und es bleibt übrig: dichtung der Luft:
     
1 1 2
ρ (c1 · n1 ) dS + ρ (c2 · n2 ) dS = 0. P = ṁ h2 + c22 − ṁ h1 + c1 .
2 2
A1 A2

Die Normalenvektoren auf den verbleibenden Flä- Nach Division durch den Massenstrom ṁ erhalten wir
chen A1 und A2 beschreiben wir ebenso wie die Ge- die notwendige, spezifische technische Arbeit wt :
schwindigkeiten (siehe auch Übersicht zur Lösung von    
Impulssatzaufgaben) durch die Einheitsvektoren des 1 1
wt = h2 + c22 − h1 + c21 .
Koordinatensystems, n1 = −ex , n2 = er . Für die Skalar- 2 2
produkte erhalten wir daher:
  Im dritten Teil des Leitbeispiels werden wir diese
−ρ1 c1,x (ex · ex ) dS + ρ2 c2,r dS = 0. Antriebsleistung aus dem Drehimpulssatz und dem
A1 A2
Drehmoment mal der Winkelgeschwindigkeit erneut
ermitteln und erhalten dann die gesuchte Beziehung
Geht man von homogener Strömung am Eintritt und zwischen den Strömungsgrößen und der Enthalpie
am Austritt aus, was auch in der Realität recht gut und damit auch Temperatur, Druck und Dichte nach
stimmt, sind die Integranden konstant, und die Kon- dem Laufrad.
714 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Der Impulssatz im stationären Fall Impuls. Das Teilchen behält aber dabei natürlich seine
Masse:
Ebenso wie die Kontinuitätsgleichung und die Bernoulli- d d du
dF = (dmu) = dm (u) = ρ dV.
oder Energiegleichung ist der Impulssatz ein fundamenta- dt dt dt
ler Erhaltungssatz. Aus dem Impulssatz erhält man nicht In kompressibler Strömung könnte das Teilchen sein Vo-
nur Aussagen über den Strömungszustand, sondern auch lumen dV zwar ändern, dies würde aber durch die gegen-
über Kraftwirkungen auf die Strömung oder Kräfte, die läufige Dichteänderung wieder kompensiert; dm = ρdV
von der Strömung auf die festen Wände ausgeübt werden. bleibt also konstant. Wir betrachten jetzt die Strömungssi-
Hinter dem Impulssatz steckt das Newton’sche Gesetz, tuation aller Teilchen innerhalb der Stromröhre zu einem
das meistens mit dem Satz Kraft = Masse x Beschleunigung beliebig wählbaren Zeitpunkt (d. h. wie ein Schnappschuss-
beschrieben wird, aber etwas präziser lautet: Foto) und leiten damit den Impulssatz her.
Die Summe der Kräfte auf alle Teilchen in der Stromröhre
Newton’sches Gesetz muss gleich der äußeren Gesamtkraft F auf die Stromröh-
re sein. Ebenso ist die Summe der Impulsänderungen aller
Die zeitliche Änderung des Impulses eines Körpers
Teilchen in der Stromröhre gleich der Änderung des Ge-
der Masse m ist dem Betrag und der Richtung nach
samtimpulses der Strömung:
gerade gleich der Vektorsumme aller äußeren Kräfte

auf diesen Körper.
dF = F.
dI 
= F. (22.24) du dI
dt ρ dV = .
dt dt
V

Die Gesamtimpulsänderung der Strömung lässt sich im


Impuls Der Impuls ist dabei definiert als Masse des Kör- stationären Fall (keine zeitlichen Änderungen am festen
pers mal Geschwindigkeitsvektor des Schwerpunktes des Ort innerhalb von V) für das ortsfeste Volumen auch aus
Körpers auf seiner Bahnlinie I = mu und ist damit selbst dem an der Einströmseite (1) der Stromröhre eintretenden
ein Vektor. Der Impuls ist eine Erhaltungsgröße, d. h., in Impuls und dem an der Ausströmseite (2) die Stromröhre
einem System, das nach außen nicht mit einem anderen verlassenden Impuls bestimmen, also dem Impulsfluss in
System in Wechselwirkung steht, bleibt der gesamte Im- das bzw. aus dem Gebiet. Nach dem Gauß’schen Integral-
puls aller Teilchen in Betrag und Richtung erhalten. Eine satz darf der Impulsfluss (Fluss der Größe Impuls) über die
Wechselwirkung liegt vor, wenn zwei Systeme aufeinan- Oberfläche S der Stromröhre der Gesamtveränderung des
Strömungsmechanik

der eine Kraft ausüben (22.24), denn das Newton’sche Impulses aller Teilchen in V (Gradient der Größe Impuls)
Gesetz (Aktio = Reaktio) bedeutet, dass die äußere Kraft dI/dt gleichgesetzt werden. Gemäß dem Newton’schen
einer anderen Kraft auf ein zweites System genau entge- Gesetz ist diese wiederum gleich der äußeren Kraft F.
gengesetzt gleich sein muss. In diesem Falle ändert sich
der Impuls der beiden Systeme im Betrag gleich, in der Wir bestimmen daher zunächst den Impulsfluss. Der
Richtung aber genau entgegengesetzt. Der Impuls eines Massenstrom Δṁ, der über ein Oberflächenelement ΔS
geschlossenen Systems, das aus immer denselben Mate- der Oberfläche S tritt, hängt von der Normalkomponen-
rieteilchen besteht, kann also ausschließlich durch eine te un senkrecht zu ΔS ab:
von außen auf das System wirkende Kraft geändert wer-
Δṁ = ρun ΔS = ρ (u · n)ΔS.
den. Zur Herleitung des Impulssatzes in der Strömungs-
mechanik stationärer Strömungen verwenden wir wieder Dieser Massenstrom transportiert über ΔS pro Zeiteinheit
die bereits bekannte Stromröhre aus Abb. 22.15. Diese ist den Impuls (Impulsfluss):
durch ihre Eintritts- und Austrittsfläche sowie durch die
von Stromlinien gebildeten Seitenwände eindeutig defi- Δ (İ) = Δṁu = ρ (u · n)uΔS.
niert, in stationärer Strömung ortsfest und ändert ihre Der lokale Impulsfluss pro Flächeneinheit ist daher durch
Form und ihr Gesamtvolumen V mit der Zeit nicht. Der
Impuls eines einzelnen, kleinen Teilchens der Masse dm, Δ (İ)
das auf einer Stromlinie innerhalb der Stromröhre diese İS = lim = ρ (u · n)u
ΔS→0 ΔS
durchläuft, ist:
gegeben. Der gesamte Impulsfluss über die Oberfläche S
dI = dmu = ρudV. der Stromröhre und damit die gesamte Impulsänderung
der Strömung im Volumen V ist daher
  
Wenn auf das Teilchen eine äußere Kraft dF einwirkt du
(z. B. von einem benachbarten Teilchen oder einem Feld), İS dS = ρ (u · n)udS = ρ dV = F. (22.25)
dt
ändert sich nach dem Newton’schen Gesetz auch sein S S V
22.4 Hydrodynamik 715

Die äußere Gesamtkraft F wird wieder in die Oberflächen- Der Impulssatz gilt also nach dem Überdruckprinzip auch
und die Volumenkräfte aufgeteilt (gegebenenfalls noch allgemein in der folgenden Form:
ergänzt durch Linienkräfte bei freien Flüssigkeitsober-
flächen). Die an der Stromröhre insgesamt angreifende
Oberflächenkraft entspricht dem Integral des Spannungs- Impulserhaltungssatz nach dem Überdruckprinzip
vektors σ über der Oberfläche S, die Volumenkraft ist das An den resultierenden Kräften des Impulssatzes än-
Integral der spezifischen Volumenkraft f über dem Vo- dert sich nichts, wenn man überall anstelle des abso-
lumen V der Stromröhre. Im Falle der Schwerkraft als luten statischen Druckes p den Überdruck über dem
Volumenkraft entspricht dies der Gewichtskraft des in der Luftdruck (p − p0 ) einsetzt:
Stromröhre eingeschlossenen Fluids:   
 
ρ (u · n)udS = [τ − (p − p0 )n] dS + f dV.
F = FS + FV = σdS + f dV.
S S V
S V (22.27)
Der Impulssatz für die stationäre Strömung, bilanziert an
einer Stromröhre, ist daher:
Mit dem Impulssatz in dieser Form lassen sich recht
einfach Strömungskräfte auf die stromführenden Wände
Impulserhaltungssatz im allgemeinen, stationären Fall ausrechnen wenn man die Oberfläche S des Kontrollvo-
   lumens so wählt, dass ein Teil dieser Oberfläche der die
ρ (u · n)udS = (τ − pn)dS + f dV. Strömungskräfte aufnehmende Wandbereich ist. Gleiches
S S V gilt für den folgenden Drehimpulssatz, mit dem man di-
(22.26) rekt die Momentenwirkung der Strömungskräfte auf feste
Bauteile ermitteln kann. Das Vorgehen wird in der Über-
sicht „Impuls- und Drehimpulssatzaufgaben lösen – mit
System“ gezeigt. Die konkrete Anwendung des Impuls-
Überdruckprinzip In der praktischen Anwendung ist das satzes zur Kraftberechnung wird im nächsten Abschnitt,
Überdruckprinzip äußerst hilfreich. Grundsätzlich darf der die des Drehimpulssatzes im Leitbeispiel (Laufrad des
umgebende Luftdruck p0 keine resultierende Kraft auf Turboladers) gezeigt.
Bauteile ausüben, obwohl er in der Gleichung an allen
Stellen des Fluids im statischen Druck enthalten ist. Hät-
te der Luftdruck in irgendeiner Weise einen Einfluss auf
die resultierende Kraft auf Bauteile (ein Teil der Oberflä- Die Anwendung ist nicht so schwierig, wie die

Strömungsmechanik
che von S ist die Bauteiloberfläche, hier wird über das
Spannungsintegral die Fluidkraft ausgeübt), könnte man
Gleichung zunächst aussieht
eine Maschine bauen, die alleine vom Luftdruck betrie-
ben wird, also ein Perpetuum mobile. In der Praxis wirkt Zur Erläuterung der 5-Schritte-Methode zur Berechnung
der Luftdruck nicht nur von der Fluidseite her über den von Kräften ist ein Beispiel am besten geeignet. Es soll
statischen Druck p, sondern auch von der Bauteilrück- die Kraft auf ein mobiles Axialgebläse (Abb. 22.24) mit
seite, sodass sich die Kräfte aus dem Luftdruck immer Hilfe der Erhaltungssätze und des Überdruckprinzips be-
gegenseitig aufheben. Daher können wir diesen Anteil stimmt werden. Das Gebläse saugt Umgebungsluft aus
des statischen Druckes ohne Änderung der resultieren- der Ruhe (u0 = 0) über einen gut gerundeten Einlauf
den Kraft herausrechnen. Das Oberflächenintegral über S an und fördert sie mit dem eingebauten Ventilator zur
des Luftdruckes p0 muss an jedem geschlossenen Volu-
men null sein:

(−p0 n)dS = 0. Einlaufdüse ρ = 1,11 kg/m3
p1 Austritt =
S 1 z
2 Freistrahl
Weil es insgesamt immer null ist, darf es von der linken
Seite von (22.26) ohne Änderung des Ergebnisses abgezo- d1 d2
x
gen werden:
   u2 = konst.
u1 = konst.
ρ (u · n)udS = (τ − pn)dS − (−p0 n)dS p0
p0
S S S
 0
+ f dV.
V Abb. 22.24 Kraft auf ein Axialgebläse
716 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

ebenfalls gut gerundeten Austrittsdüse. Einlauf und Aus- gesamte innere und äußere Oberfläche des Gebläses AW ,
trittsdüse sind beide verlustfrei. Direkt nach dem Einlauf inklusive der Oberfläche des eingebauten Ventilators. Die
in der Ebene 1 und vor dem Ventilator wird ein ne- zweite Teilfläche ist die Austrittsebene A2 , in der die Luft
gativer Überdruck (p1 − p0 ) = −775 Pa gemessen. Der aus dem Kontrollvolumen austritt. Zu einem geschlosse-
Durchmesser im Bereich des Ventilators ist d1 = 300 mm, nen Volumen kommen wir jetzt, indem wir eine große
der Austrittsdurchmesser ist d2 = 200 mm, die Dichte der Blase um das Ganze zeichnen, weil wir als Eintrittsfläche
Luft ist mit ρ = 1,110 kg/m3 gegeben. Die Strömung ist in (A0 ) am einfachsten die ruhende Luft verwenden, denn
den Ebenen 1 (nach Einlauf) und 2 (Austritt) homogen. hier kennen wir sowohl den Druck (Überdruck ist 0) als
auch die Geschwindigkeit (u0 = 0).
Mit diesen wenigen Angaben lassen sich bereits alle
wesentlichen Größen ermitteln. Zunächst müssen wir Schritt 2: Am gesamten KV gilt der Impulssatz:
die Strömungsgeschwindigkeiten bestimmen. Hierzu ver-    
wenden wir die Bernoulli’sche Gleichung und die Konti- ρ (u · n)udS = [τ − (p − p0 )n] dS + ρg dV.
nuitätsgleichung. Die Bernoulli’sche Gleichung wird von S S V
einem Punkt 0 weit vor dem Gebläse, wo die Luft in
Ruhe ist, bis zur Ebene 1 aufgestellt. Höhenunterschie- Als Volumenkraft tritt hier nur die Schwerkraft auf, d. h.
de können durch geeignete Wahl einer Stromlinie auf der das gesamte Volumenintegral stellt lediglich das Gewicht
Mittelachse vernachlässigt werden (z0 = z1 = z2 ), der Luft im Kontrollvolumen dar. Bei Gasen ist dieses viel
ρ ρ kleiner als die Impulskräfte und die Oberflächenkräfte,
p0 + u20 + ρgz0 = p1 + u21 + ρgz1 + ΔpV . sodass wir es vernachlässigen können:
2 2  
Da der Einlauf verlustfrei ist, erhalten wir damit die Ge- ρ (u · n)u dS = [τ − (p − p0 )n] dS.
schwindigkeit in der Ebene 1:
S S

− 2 ( p1 − p0 ) Schritt 3: Das Kontrollvolumen setzt sich somit aus nur
u1 = = 37,4 m/s.
ρ drei Teilflächen zusammen:

Mit der Kontinuitätsgleichung zwischen Ebene 1 und 2 ist S = A0 + AW + A2 .


daher auch die Düsenaustrittsgeschwindigkeit bekannt:
Wir unterteilen nun den Integrationsbereich in diese Teil-
u1 A1 = u2 A2 , flächen und berücksichtigen gleich, dass der Impulsfluss
an festen Wänden Null ist und dass homogene Strömun-
d21
u2 = u1 = 84,1 m/s. gen schubspannungsfrei sind:
d22  
Strömungsmechanik

Nun können wir auch den Impulssatz anwenden. ρ (u0 · n0 )u0 dS + ρ (u2 · n2 )u2 dS
A0 A2
Schritt 1: In Schritt 1 der 5-Schritte-Methode legen wir das  
Kontrollvolumen (KV) fest (Abb. 22.25). Damit wir die = [−(p0 − p0 )n] dS + t dS
Kraft der Luft auf das Gebläse berechnen können, muss
A0 AW
zwingend die gesamte Kontaktfläche zwischen Luft und 
dem Gebläse Teil der Oberfläche des Kontrollvolumens + [−(p2 − p0 )n] dS.
sein, denn hier wird über Schubspannungen und Druck- A2
spannungen diese Kraft übertragen. Das ist letztlich die
Die Fläche A0 wurde so gewählt, dass die Geschwindig-
keit u0 praktisch Null ist, so dass auch das erste Impuls-
flussintegral links Null ist. Sowohl bei A0 als auch bei
A0
A0 A2 ist der Druck gleich dem Umgebungsdruck (p2 = p0 ),
Aw
somit sind auch die beiden zugehörigen Integrale rechts
Aw Aw Null. Das verbleibende Integral rechts ist die äußere Kraft
Aw auf das Kontrollvolumen, deren Gegenkraft die gesuchte
Kraft F auf das Gebläse ist:
A0 A2  
Aw ρ (u2 · n2 )u2 dS = t dS = −F.
Aw Aw A2 AW
Aw A0 Schritt 4: Der Einheitsvektor in Strömungsrichtung sei ex ,
A0 mit dem wir die verbleibenden Vektoren darstellen:

Abb. 22.25 Kontrollvolumen zur Berechnung der Kraft auf das Axialgebläse u2 = u2 ex , n2 = ex , (u2 · n2 ) = u2 .
22.4 Hydrodynamik 717

Schritt 5 (Lösung): Alle Größen im Integral sind konstant, Problemen die mathematische Behandlung unmöglich
sodass die gesuchte Kraft machen, während sie bei günstiger Wahl sehr einfach ist.
Für die Anwendung müssen wir als erstes den Bezugs-
F = −ρu22 A2 ex = −247 N ex punkt festlegen. Hier gibt es eine einfache Regel:
ist. Sie zeigt also in negative Strömungsrichtung.
Wahl des Bezugspunktes
Bei rotationssymmetrischen Problemen sollte der
Der Drehimpulssatz (Drallsatz) Bezugspunkt auf der Symmetrieachse liegen. Als
Koordinatensystem verwendet man dann (pro-
im stationären Fall blemangepasst) ein Zylinderkoordinatensystem
(r, ϕ, x), wobei bei Rotationssymmetrie Änderungen
Die gleiche Betrachtung wie beim Impulssatz kann auch in ϕ-Richtung 0 sind. Der Abstandsvektor x im
für den Drehimpuls L angestellt werden. Anstelle der Drehimpulssatz (22.28) ist dann identisch mit dem
Kräfte F wird das Drehmoment der Kräfte M in Bezug Radiusvektor r des Zylinderkoordinatensystems.
auf einen beliebigen Bezugspunkt (Nullpunkt des Koor-
x≡r
dinatensystems) gesetzt, während alle Impulsterme (spez.
Impuls = Geschwindigkeit u) durch den zugehörigen
spez. Drehimpuls l in Bezug auf den gleichen Bezugs-
punkt ersetzt werden. Der Ortsvektor x beschreibt die Weil der Drehimpulssatz vor allem bei rotationssymme-
trischen Problemen angewendet wird, ist dies in der Pra-
Lage jedes Teilchens im Koordinatensystem, d. h., er ist
xis die geläufigste Form.
gleichzeitig der vektorielle Abstand vom Bezugspunkt
des Drehimpulses und der Momente:
Frage 22.12
M = x × F, Welche physikalische Aussage steckt hinter der integralen
Form der stationären Erhaltungssätze?
L = x × I,
L
l= = x × u,
m
L̇S = x × İS = ρ (u · n)(x × u).
Erhaltungssätze im instationären Fall
Der Drehimpulserhaltungssatz für stationäre Strömung

Strömungsmechanik
an einer Stromröhre ist demnach:
Mithilfe von Kontinuitäts-, Energie- und Impulsgleichung
im stationären Fall können Bilanzen an den Rändern (Ein-
Drehimpulserhaltungssatz im allgemeinen stationären tritt, Austritt, Wand) der Stromröhren aufgestellt werden,
Fall ohne dabei über das Verhalten des Fluides im Inneren
  irgendeine Information besitzen zu müssen. Dies än-
ρ (u · n)(x × u)dS = (x × σ )dS dert sich sofort, wenn die Strömung instationär ist. In
S S diesem Fall müssen sämtliche lokalen Änderungen der
 Strömungsgrößen (u, T, p, ρ . . .) in der Energie- und Mas-
+ (x × f )dV. (22.28) senbilanz, ebenso wie im Impulssatz als Speicherung bzw.
V Entladung berücksichtigt werden. Damit geht der Vor-
teil der stationären Form der Erhaltungssätze allerdings
verloren, denn man muss zunächst das Strömungsfeld
Drehimpuls und Drehmomente entstehen, wenn Bewe- vollständig im zeitlichen Verlauf kennen, bevor man die
gungen und Kräfte einen Versatz der Wirkungslinie in Bilanz der Stromröhre aufstellen kann, was sich aber
Bezug auf den frei wählbaren Bezugspunkt besitzen. In durch die dann bereits gegebene, vollständige Lösung er-
Bezug auf einen Punkt abseits der Bewegungs- bzw. Wir- übrigen würde: Dies hilft also für einfache Rechnungen
kungslinie besitzt also auch eine geradlinig und gleich- nicht wirklich weiter. In solchen Fällen müssen die Erhal-
förmig bewegte Masse einen Drehimpuls und eine Kraft tungsgleichungen als Differenzialgleichungen aufgestellt
entsprechend ein Drehmoment. Im Endergebnis liefert werden (der Impulssatz wird dann z. B. zu einem Satz
der Drehimpulssatz zwar in Bezug auf alle möglichen nichtlinearer Differenzialgleichungen, den Navier-Stokes-
Bezugspunkte das gleiche Ergebnis, jedoch kann eine un- Gleichungen) und sind dann in aller Regel nur numerisch
geschickte Wahl des Bezugspunktes selbst bei einfachen lösbar.
718 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Übersicht: Erhaltungssätze der stationären Strömung an einer ortsfesten Stromröhre

Gültig für Strömungen, die weder in Wärme- noch in Kontinuitäts- und Energiegleichung am allgemeinen Kon-
Arbeitsaustausch mit der Umgebung stehen, also adia- trollvolumen
bat und frei von äußerer Arbeit sind, Bezeichnungen 
nach Abb. 22.15 (−) ρ (u · n) dS = 0.
S
  
Kontinuitätsgleichung (Massenerhaltung) 1
(−) ρ (u · n) h + u2 + gz dS = 0.
2
Inkompressible Strömung: S

V̇ = u1 A1 = u2 A2 . Impulssatz (Newton’sches Gesetz)


Kompressible Strömung: Inkompressible und kompressible Strömung:
  
ṁ = ρ1 u1 A1 = ρ2 u2 A2 . ρ (u · n)udS = (τ − pn)dS + f dV.
S S V

Energieerhaltungsgleichung
Drehimpulssatz
Inkompressible Strömung (Bernoulli’sche Gleichung):
Inkompressible und kompressible Strömung:
ρ ρ
p1 + u21 + ρgz1 = p2 + u22 + ρgz2 + ΔpV .  
2 2
ρ (u · n)(x × u)dS = (x × σ )dS
Kompressible Strömung: S S

1 1 + (x × f )dV.
h1 + u21 + gz1 = h2 + u22 + gz2 .
2 2 V

Allgemeine Bewegungsgleichungen Kontinuitätsgleichung In einem kartesischen Koordina-


Strömungsmechanik

sind schwieriger zu lösen tensystem (x, y, z) mit den Geschwindigkeiten (u, v, w)


in den drei Raumrichtungen beschreibt die Kontinuitäts-
gleichung die Veränderung der Dichte ρ im Volumen:
Wenn man die Erhaltungssätze für Masse und Impuls  
im instationären, dreidimensionalen Fall an differenzi- ∂ρ ∂ρ ∂ρ ∂ρ ∂u ∂v ∂w
+u +v +w +ρ + + = 0.
ell kleinen Kontrollvolumina aufstellt, erhält man in ∂t ∂x ∂y ∂z ∂x ∂y ∂z
den unterschiedlichen Koordinatensystemen (z. B. kar-
tesische Koordinaten, Zylinderkoordinaten, Kugelkoor- Navier-Stokes-Gleichungen Wenn man im Newton’schen
dinaten) einen Satz nichtlinearer, partieller Differenzial- Gesetz die Masse auf das betrachtete Kontrollvolumen be-
gleichungen. Bereits der Impulssatz, der in dieser Form zieht, also die Masse durch die Dichte ersetzt, erhält man
Navier-Stokes-Gleichungen heißt, ist in den meisten Fäl- die Navier-Stokes-Gleichungen:
len auch numerisch nicht allgemein lösbar (Fefferman).  
Dadurch ist auch bei der Anwendung hochwertiger CFD- ∂u ∂u ∂u ∂u ∂p
ρ +u +v +w = fx − + ηΔu,
Simulationsprogramme ein sehr tiefes Verständnis für ∂t ∂x ∂y ∂z ∂x
 
die physikalischen Vorgänge erforderlich, denn erst in ∂v ∂v ∂v ∂v ∂p
der sinnvollen und zulässigen Vereinfachung eines Pro- ρ +u +v +w = fy − + ηΔv,
∂t ∂x ∂y ∂z ∂y
blems durch begründete Annahmen liegt die Basis für ein  
∂w ∂w ∂w ∂w ∂p
brauchbares (d. h. auch im Experiment nachweisbares) ρ +u +v +w = fz − + ηΔw.
Ergebnis. Erst nach einer entsprechenden Vereinfachung ∂t ∂x ∂y ∂z ∂z
ist eine Lösung möglich, wobei heute fast ausschließlich Der Laplace-Operator Δ in diesen Gleichungen ist die
numerische Methoden angewendet werden. Einige we- Summe der zweiten Ableitungen in den drei Raumrich-
nige Fälle ergeben geschlossene Lösungen, wie z. B. die tungen:
laminare, vollausgebildete Rohrströmung, dies sind aber
∂2 ∂2 ∂2
absolute Ausnahmen (Spurk, Aksel, 2010). Δ = 2 + 2 + 2.
∂x ∂y ∂z
22.5 Hydrodynamische Ähnlichkeitsgesetze 719

Die rechte Seite ist die Summe der äußeren Kräfte (Feld- Die Geometrische Ähnlichkeit
kräfte f , Druckkräfte p und Reibungskräfte aus der Zähig-
keit η), während die linke Seite die totalen Ableitungen
der Geschwindigkeiten u, v und w nach der Zeit, also die Geometrische Ähnlichkeit ist die Ähnlichkeit des Ortes
Beschleunigungen sind. Wir wollen an dieser Stelle nicht und aller Längen der strömungsführenden festen Wän-
näher auf Lösungsmethoden eingehen, denn das würde de und der Objekte im Strömungsweg. Bei geometrischer
den Rahmen und das Ziel dieses Lehrbuchs deutlich über- Ähnlichkeit skalieren sich alle Längen im selben Verhält-
schreiten. Wir belassen es also bei der Erkenntnis: nis, d. h., um alle tatsächlichen Längen eines Problems
zu ermitteln, muss nur eine einzige typische Länge L
bekannt sein. Es ist dabei unerheblich, welche Länge L
Navier-Stokes Gleichungen gewählt wird, solange für alle ähnlichen Geometrien ein-
Die Navier-Stokes Gleichungen sind grundsätz- heitlich festgelegt ist, welche Abmessung als typische
lich der Impulssatz bzw. das Newton’sche Ge- Länge dient. Die Geometrie wird für alle Abmessun-
setz in allgemeiner differenzieller Form, angewen- gen durch dimensionslose Koordinaten beschrieben (z. B.
det auf Strömungen. Als Satz gekoppelter, nichtli- xi /L), sodass durch diese Skalierung mit L alle dimensi-
nearer Differenzialgleichungen und zusammen mit onslosen Längenmaße identisch sind. Der Skalierungsfak-
Kontinuitäts- und Energiegleichung kann ihre Lö- tor der Längenmaße unterschiedlich großer Systeme ist
sung erhebliche mathematische Schwierigkeiten be- für alle Längen daher fest (typische Längen der beiden
reiten. Systeme L∗ bzw. L):

L∗
fL = .
L
22.5 Hydrodynamische
Ähnlichkeitsgesetze Die Kinematische Ähnlichkeit
Die Natur kennt keine Maßeinheiten. Dieser Satz kenn-
Die kinematische Ähnlichkeit ist die Ähnlichkeit in den
zeichnet bereits die Idee der Ähnlichkeitsgesetze, denn
Strömungsgeschwindigkeiten des Problems. An jeder
diese gehen davon aus, dass alle physikalischen Gesetz-
Stelle in dimensionslosen Koordinaten (x/L, y/L, z/L)
mäßigkeiten letztlich so formuliert werden können, dass
müssen im Strömungsfeld gleiche Richtungen der Ge-
keine Maßeinheit mehr benötigt wird, sie also dimensi-
schwindigkeiten vorliegen, die Beträge der Geschwindig-
onslos sind.
keiten skalieren sich ebenfalls in einem festen Verhältnis.

Strömungsmechanik
Gleiches gilt, wenn nicht das Fluid strömt, sondern Objek-
Ähnlichkeitsbedingungen te durch ein ruhendes Fluid bewegt werden. Dann muss
die Bewegungsrichtung der Oberflächenpunkte aller Ob-
Für das Erreichen vollständiger Ähnlichkeit zweier jekte in Bezug auf die Koordinaten im ruhenden Bezugs-
strömungsmechanischer Probleme muss vorausge- system identisch sein. Verwendet man ein System, in dem
setzt werden, dass feste Wände und Objekte ruhen und das Fluid bewegt
wird, müssen in allen Größenmaßstäben die Stromlinien
geometrische Ähnlichkeit (Übertragbarkeit der gleich sein. Die tatsächliche Größe der Geschwindigkeiten
Lage der Ortspunkte x), wird dann durch die Angabe einer einzigen typischen Ge-
kinematische Ähnlichkeit (Übertragbarkeit der schwindigkeit festgelegt. Der Skalierungsfaktor der Ge-
Veränderung der Lage der Ortspunkte, also der schwindigkeiten unterschiedlich großer Systeme ist für
Geschwindigkeit ẋ) und alle Geschwindigkeitsvektoren fest (typische Geschwin-
dynamische Ähnlichkeit (Übertragbarkeit der digkeiten der beiden Systeme U ∗ bzw. U):
Veränderung der Geschwindigkeiten, also der Be-
schleunigungen ẍ und damit der Kräfte) U∗
fk = .
U
vorliegt. Wenn Beschleunigungen und Kräfte auch
noch zeitlichen Änderungen unterworfen sind, müs-
sen als nächste Stufe auch die dritten Ableitungen Die Dynamische Ähnlichkeit
des Ortes (der sog. Ruck) auf Ähnlichkeit geprüft
werden, usw. Im Allgemeinen reicht bei den meis- Wenn bereits geometrische und kinematische Ähnlich-
ten technischen Problemen die Beschränkung bis zur keit vorliegt, müssen sich für vollständige Ähnlichkeit
dynamischen Ähnlichkeit ẍ aber aus. nur noch Veränderungen der Geschwindigkeiten, also Be-
schleunigungen durch wirkende Kräfte ähnlich verhalten.
720 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Übersicht: Impuls- und Drehimpulssatzaufgaben lösen – mit System

Fünf Schritte zur Lösung von komplexen Aufgaben- Schritt 3: Die Oberfläche des KV in Teilbereiche aufteilen,
stellungen. ebenso die Oberflächenintegrale Die Teilbereiche der
Oberfläche, für die jeweils andere Bedingungen gelten,
Der größte Fehler, den Einsteiger bei der Lösung von wurden so definiert, dass sie S vollständig beschreiben:
Impulssatzaufgaben machen, ist das Lösen mit Intui- S = A1 + A2 + . . . + An . Dementsprechend sollten Sie
tion oder treffender ausgedrückt: „Aus dem Bauch die Teilintegrationsbereiche auch formal als getrennte
heraus“. In einfachen Fällen mag das zwar funktio- Integrale hinschreiben. Dabei können zur Schreibver-
nieren, aber bei komplexeren Situationen ist es meist einfachung die Oberflächenbereiche zusammen blei-
nicht möglich, die Wirkungsrichtung eines einzelnen ben, für die der jeweilige Integrand gleiche Eigenschaf-
Impulsstromes in Bezug auf das Gesamtsystem rich- ten besitzt. Sparen Sie gerade in diesem Schritt nicht an
tig einzuschätzen. Wenn man sich von Anfang an notwendiger Schreibarbeit, denn die Aufteilung macht
angewöhnt, jede Aufgabe mit einer immer gleichen Lö- jedes Problem übersichtlicher. Das Spannungsintegral
sungsstrategie anzugehen, stellt man fest, dass dies in auf dem Oberflächenbereich der festen Bauteilwände
der Regel schneller zum Ziel führt, als die intuitive Me- ist die Kraft, die die Bauteile auf das Fluid von au-
thode und die Fehlerwahrscheinlichkeit geringer wird. ßen ausüben. Daher wird dieses Teilintegral durch die
Es ist daher sehr empfehlenswert, sich an die hier vor- (meistens gesuchte) negative Gesamtkraft des Fluids
gestellte Strategie in jedem Fall zu halten, auch (oder auf die Wand −F ges ersetzt.
gerade) wenn man das Ergebnis vorab erkennt oder zu
erkennen glaubt. Schritt 4: Vektoren durch Einheitsvektoren ersetzen Alle
Vektoren (Normalen- und Geschwindigkeitsvektoren)
Ein wesentlicher Aspekt der hier vorgestellten Syste- werden durch die Einheitsvektoren des gewählten Ko-
matik ist die Verwendung von Vektoren und Vektor- ordinatensystems ersetzt.
gleichungen anstelle von arithmetischen Gleichungen,
insbesondere bei zwei- oder gar dreidimensionalen Schritt 5: Lösen der Integrale und Sortieren aller Glei-
Kraftwirkungsproblemen. Ich empfehle hier die sym- chungsterme nach Einheitsvektoren Einheitsvektoren
bolische Schreibweise aus einem einfachen Grund: Sie sind im gewählten Koordinatensystem konstante Grö-
spart eine Menge Schreibarbeit, denn das Vektorsym- ßen und können daher wie jede Konstante vor das
bol bedeutet lediglich, dass wir es anstelle einer Glei- Integral gezogen werden. Unter stationären Bedingun-
chung in Wirklichkeit mit drei identisch aufgebauten gen werden am festen Ort (Integrationsbereich Ai )
Strömungsmechanik

Gleichungen in den Raumrichtungen zu tun haben. nach den vorherigen Schritten meistens gar keine In-
Das Integral über einen Vektor ist also gar nichts Ge- tegrale mehr zu lösen sein, sondern es wird nur über
heimnisvolles, sondern die Kurzschreibweise für drei konstante vektorielle Größen C integriert. Das Ergebnis
gewöhnliche Integrale. ist dann Integrand mal Größe des Integrationsbereichs:

Schritt 1: Problemskizze und Eintragen des Kontrollvolu- CdS = CAi .
mens (KV) als Bilanzraum (Fast) der wichtigste Schritt! Ai
Tipps für die Wahl des KV und insbesondere der
Schließlich bleibt nur noch ggf. das Volumenkraftinte-
Oberfläche werden deshalb auch in einer separaten
gral zur Lösung, wenn es nicht vernachlässigbar war.
Übersicht gegeben. Das KV muss den relevanten Strö- Im Falle der Schwerkraft als einziger Volumenkraft ist
mungsbereich abgrenzen, der die gefragten Kräfte auf die Lösung aber auch nicht schwer, denn das Volumen-
Bauteile verursacht. Das Gebiet V muss mathematisch integral ist dann nichts anderes, als die Gewichtskraft
geschlossen sein, d. h., die Oberfläche S des Gebietes des vom KV eingeschlossenen Flüssigkeitsvolumens:
umhüllt das Volumen V vollständig und ist zusam-   
menhängend. Im Inneren darf es keine Ausnahmen f dV = −ρgkdV = −gk ρdV
geben (kein Schweizerkäse). Das KV enthält also aus-
V V V
schließlich das Fluid, keinesfalls aber Bauteile.
= −mFluid gk.
Schritt 2: (Dreh-)Impulssatz für das KV vollständig hin- Diese muss nur noch zur z-Richtung addiert werden.
schreiben Schreiben Sie Gleichung 22.26 (oder 22.28) Für die Lösung des Drehimpulssatzes gilt die Aussa-
ohne Vereinfachung auf. Sind die Volumenkräfte für ge entsprechend, wenn man das Drehmoment der Ge-
das Problem von Bedeutung, d. h. von gleicher Grö- wichtskraft des Flüssigkeitsvolumens bestimmt. Hier-
ßenordnung wie Impulskräfte? Nein? Dann ist dies der zu muss man dann allerdings die Lage des Schwerpunk-
richtige Zeitpunkt das Volumenintegral begründet zu tes bestimmen, was (mit Ausnahme von rotationssym-
streichen, sonst lassen Sie es stehen. metrischen Problemen) gegebenenfalls nicht trivial ist.
22.5 Hydrodynamische Ähnlichkeitsgesetze 721

Übersicht: Wahl des Kontrollvolumens

Schritt 1 der Fünf-Schritte-Methode. Ebene Flächen wählen Wenn man quer zu Stromlini-
en schneidet, dann möglichst mithilfe ebener Schnitt-
In diesem Schritt werden die Weichen für eine einfache flächen, denn auf diesen ist der Richtungsvektor n
oder komplizierte Problembeschreibung gestellt, daher der Fläche überall gleich, n = konst. Dementsprechend
ist hier besondere Sorgfalt erforderlich.
darf der Richtungsvektor n sowohl im Flussintegral als
Die Oberfläche des KV wird aus verschiedenen Teilbe- auch im Spannungsintegral vor die Integration gezo-
reichen zusammengesetzt, von denen ein Teil immer gen werden. Die Schnittfläche muss hierbei übrigens
die abgrenzenden Wände sind, die die Strömungskräfte nicht unbedingt senkrecht zu den Stromlinien liegen,
übertragen. Das Spannungsintegral über die Wandflä- damit diese Vereinfachungen greifen.
che kann dann durch die gesuchte Bauteilkraft ersetzt
werden (siehe Übersicht „Impuls- und Drehimpulssatz- Symmetrie und Periodizität Nutzen Sie Symmetrie und
aufgaben lösen – mit System“). Die anderen Teilberei- Periodizität eines Problems aus. Aus beiden Bedin-
che der Oberfläche sollten vor allem eine Eigenschaft gungen lässt sich ableiten, dass bestimmte Kräfte auf
haben: Sie sollten einer Berechnung möglichst einfach Teilbereichen zwar nicht null sind (also nicht einfach
zugänglich sein. Das ist besonders dann gegeben, wenn gestrichen werden dürfen), sich aber gegenseitig auf-
der Integrand in diesem Bereich null oder wenigstens heben: Ist ein Problem symmetrisch und stellen die
konstant ist. Nutzen Sie daher die Möglichkeit, dass das Flächen Ai und Aj entsprechend zueinander symmetri-
KV grundsätzlich in Form und Größe beliebig gewählt sche Teilflächen dar, so gilt für die relevanten Integrale
werden darf, sodass die Rechnung am Ende möglichst der rechten und linken Seite:
einfach wird. Nach dieser Spielregel sollten Sie auch die
Oberflächenteile auswählen:  
. . . dS = − . . . dS.
Stromlinien und Stromflächen Quer zu Stromlinien und Ai Aj
Stromflächen findet kein Impulsstrom statt, denn es
gilt (u · n) = 0. Auf diesen Teilflächen verschwinden Entsprechendes gilt für Periodizität der Flächen Ai und
also die Impulsfluss- und Drehimpulsflussintegrale Aj . Folglich lässt man die beiden Teilbereiche auch zu-
(linke Seite). Wie bei der Bernoulli’schen Gleichung sammen, denn es gilt unabhängig vom Integranden:
müssen die Stromlinien hierzu nicht einmal bekannt
sein, es reicht völlig aus, wenn bekannt ist, dass sie 

Strömungsmechanik
existieren. . . . dS = 0.
Ai +Aj
Feste Wände Feste Wände sind immer auch Strom-
linien, wenn sie nicht porös sind. Dies gilt für rei-
bungsfreie und reibungsbehaftete Strömungen glei- Schlitze Gelegentlich muss man zur Verbindung ge-
chermaßen, daher fallen auch auf festen Wänden die trennter Oberflächenbereiche einen Schlitz in das KV
Flussintegrale der linken Seite weg. Für poröse Wände einfügen. Ein Schlitz ist eine gedachte, unendlich dün-
(d. h. zwar durchlässig, aber nur mit sehr kleiner Ge- ne Schnittfläche durch das Fluidgebiet (Abb. 22.23).
schwindigkeit) ist das Flussintegral aber ebenfalls null, Stellen Sie sich wieder einen Block Schweizerkäse vor:
weil der zweite Multiplikator u im Integranden für rei- Sie wissen nicht, wo die Löcher sind, Sie wissen nur,
bungsbehaftete Strömung (also in der Natur immer) dass sie da sind. Die Innenoberflächen der Löcher ha-
null ist. ben keine Verbindung zur äußeren Oberfläche, es sei
denn, Sie stechen mit einem sehr dünnen Messer in den
Homogene Strömung In wenigstens näherungsweise Käse ein. Die beiden Seiten der Schlitzoberfläche AS1
homogener Strömung gilt für die Geschwindigkeit u = und AS2 ergänzen nun die Gesamtoberfläche S (Loch
konst., was die Behandlung der Flussintegrale in die- und außen) so, dass ein Zusammenhang entsteht, und
sen Bereichen schon deutlich erleichtert. Dazu kommt, die Käsemasse von S umschlossen wird. In Bezug auf
dass sich auch das Spannungsintegral auf der rechten die Wirkung im Impulssatz sind die beiden gedachten
Seite vereinfacht, denn homogene Strömungsbereiche Schlitzflächen aber neutral, denn es gilt sowohl für das
sind auch reibungsfrei, τ = 0. In diesen Strömungsbe- Impulsfluss- als auch für das Spannungsintegral:
reichen bleiben daher nur die Druckspannungen übrig. 
In Verbindung mit der nächsten Regel lassen sich die . . . dS = 0.
Integrale der linken und der rechten Seite dann beson-
AS1 +AS2
ders einfach lösen.
722 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Leitbeispiel Antriebsstrang
Abgasturbolader – Berechnung der notwendigen Leistung
aus der Drehimpulserhaltung: Die Euler’sche Turbinenglei-
chung

Schritt 1 Kontrollvolumen und Oberfläche S nach M + M Reib . Unser Ziel ist es aber, die Energieübertra-
Abb. 22.20: Die Oberfläche wird vollständig in Teilbe- gung auf die Luft zu berechnen, hierzu benötigen wir
reiche untergliedert, S = A1 + A2 + AL + AD . M Reib nicht. Wir können es daher in unserer Betrach-
tung vernachlässigen, ohne einen Fehler zu machen.
Schritt 2 Drehimpulssatz im ruhenden System aufstel- Das Moment M ist das Schaufelmoment auf die Strö-
len. Als Bezugspunkt für Drehimpuls und Momente mung und damit das wirksame Moment der techni-
wird ein Punkt auf der Wellenachse gewählt, der allge- schen Arbeit zur Ermittlung des Austrittszustandes 2
meine Ortsvektor ist daher gleich dem Radienvektor, der Luft.
x = r. Die Volumenkraft (also das Gewicht der Luft im
Laufrad) wird vernachlässigt: Schritt 4 Die noch verbliebenen Vektoren werden nun
  durch die Einheitsvektoren er , e ϕ und ex ausgedrückt.
ρ (c · n)(r × c)dS = (r × σ )dS. Für Vektorprodukte gilt: Stehen die Vektoren senkrecht
aufeinander, so ist das Ergebnis ein Vektor, der auf
S S
den beiden anderen senkrecht steht und dessen Betrag
gleich dem Produkt der Beträge ist. Sind die Vektoren
Schritt 3 Die Untergliederung der Oberfläche parallel zueinander, ist das Vektorprodukt 0. Beim Tau-
(Abb. 22.20) wird vollständig auf die Integrale übertra- schen der Reihenfolge entsteht der Gegenvektor. Auf
gen und die Homogenität am Ein- und Austritt (τ = 0) die Vernachlässigung des Eintrittsdralles c1,ϕ können
berücksichtigt: wir verzichten, unsere Lösung wird dadurch nicht be-
 einträchtigt. AL und AD werden nicht durchströmt.
ρ1 (c1 · n1 )(r × c1 )dS
c1 = c1,x ex + c1,ϕ e ϕ , n1 = −ex ,
A1

Strömungsmechanik

c2 = c2,r er + c2,ϕ e ϕ , n2 = er ,
+ ρ2 (c2 · n2 )(r × c2 )dS
c1 · n1 = −c1,x , c2 · n2 = c2,r ,
A2
 r = rer ,
+ ρ (c · n)(r × c)dS (r × c1 ) = rc1,x (er × ex ) + rc1,ϕ (er × e ϕ )
AL +AD
  = −rc1,x e ϕ + rc1,ϕ ex ,
= −p1 (r × n1 )dS + −p2 (r × n2 )dS (r × c2 ) = r2 c2,ϕ (er × e ϕ ) = r2 c2,ϕ ex ,
A1
 
A2 (r × n1 ) = re ϕ ,
+ (r × σ )dS + (r × σ )dS . (r × n2 ) = 0.
AL AD
! "# $ ! "# $
M M Reib
Schritt 5 Wir interessieren uns ausschließlich für Kräf-
te, die ein Moment bezüglich der Wellenachse besitzen.
M Reib ist dabei das an der Fläche AD auftretende äu-
Alle anderen Momente können wir ausblenden, indem
ßere Reibmoment der Luft im Spalt zwischen Gehäu-
wir die ganze Gleichung skalar mit ex durchmultipli-
se und Laufrad aufgrund der fehlenden Deckscheibe.
zieren. Insbesondere die Drücke p1 und p2 besitzen
Dieses muss natürlich auch von der Abgasturbine ge-
kein Moment bezüglich der Wellenachse, dadurch blei-
liefert werden, trägt aber nicht zur Kompression der
ben nur noch folgende Terme übrig:
Luft bei. Zur Berechnung der Turbine und des Leis-
tungsgleichgewichtes an der Welle müssten wir dieses 
zwar ermitteln oder wenigstens abschätzen, denn das −ρ1 c1,x c1,ϕ rdS + ρ2 c2,r c2,ϕ r2 A2 = Mx .
gesamte Antriebsmoment des Laufrades ist M Welle = A1
22.5 Hydrodynamische Ähnlichkeitsgesetze 723

Das verbleibende Integral muss bei dem skizzierten Der Bruch hat auf der Kreisringfläche die Bedeutung
Laufrad gelöst werden, denn der Radius r ist auf A1 eines für den Drehimpulsmittelwert der Anströmung
eine Variable. Wir ersetzen dS durch 2πrdr und inte- repräsentativen mittleren Radius’ r1,m :
grieren vom Innenradius r1,i zum Außenradius r1,a :
Mx = ṁ c2,ϕ r2 − c1,ϕ r1,m .
r1,a
− 2πρ1 c1,x c1,ϕ r2 dr + ṁc2,ϕ r2 = Mx ,
Multipliziert man das Moment mit der Winkelge-
r1,i
schwindigkeit ω = 2πn und berücksichtigt, dass rω =
2  
u, also die jeweilige Laufradumfangsgeschwindigkeit
− πρ1 c1,x c1,ϕ r1,a 3 − r1,i 3 + ṁc2,ϕ r2 = Mx ,
3 ist, erhält man die zur Verdichtung notwendige An-
 
2 r1,a 3 − r1,i 3 triebsleistung P (Euler’sche Turbinengleichung):
−ṁ c1,ϕ − c2,ϕ r2 = Mx .
3 (r1,a 2 − r1,i 2 )
P = Mx ω = ṁ c2,ϕ u2 − c1,ϕ u1,m .

Da auch bei unterschiedlichen Längen L∗ bzw. L am je- Dimensionslose Kennzahlen vereinfachen


weiligen Ortspunkt Teilchen mit gleicher Masse ähnlich die Berechnungen
beschleunigt werden müssen, ist die dynamische Ähn-
lichkeit gleichbedeutend mit einer Ähnlichkeit der wir-
kenden Kräfte. Das bedeutet, am selben Punkt müssen die Anstelle die vier genannten Kraftverhältnisse direkt zu
Kräfte skalierter Probleme in die gleiche Richtung gehen überprüfen, reicht es aus, wenn man die Quotienten der
und von der Größe her im gleichen Verhältnis zueinander verschiedenen Kräfte zueinander prüft, weil dann die
stehen. Der Skalierungsfaktor der Beschleunigungen und vierte Prüfung unnötig wird. Auf diese Weise lässt sich
aller Kräfte ist wiederum fest (typische Kräfte der beiden die dynamische Ähnlichkeit durch drei typische Kraftver-
Systeme F∗ bzw. F): hältnisse prüfen, dies sind die dimensionslosen Kennzah-
len. Nimmt man beispielsweise die Verhältnisse typischer
ma∗ F∗ Trägheitskräfte und typischer Reibungskräfte, erhält man
fd = = .
ma F als dimensionslose Kennzahl die Reynoldszahl Re:
Die dynamische Ähnlichkeit muss sich auf alle wirkenden FR∗ F∗
Kräfte beziehen, wodurch für jede Kräftegruppe jeweils fd = = T,
FR FT
nur eine „typische Kraft“ herangezogen werden muss. In
F∗

Strömungsmechanik
FT
Bezug auf die bisher bereits angesprochenen Kräfte, die Re = = ∗T = Re∗ .
in technischen Strömungsproblemen auftreten (exotische FR FR
Kräfte werden hier wieder nicht berücksichtigt), sind dies
nur vier wichtige Kräftegruppen, je zwei aus den Oberflä- Haben zwei strömungsmechanische Probleme bei geo-
chenkräften und je zwei aus den Volumenkräften: metrischer und kinematischer Ähnlichkeit in allen drei
dimensionslosen Kennzahlen die gleichen Werte, sind
typische Reibungskraft FR (Zähigkeitskraft) aus den sie auch dynamisch vollständig ähnlich. Für inkompres-
Schubspannungen, sible Strömungen im Unterschallbereich sind dies die
typische Druckkraft FD , Reynoldszahl Re, die Eulerzahl Eu und die Froudezahl
typische Feldkraft Fg (Volumenkraft) z. B. Schwerkraft Fr. Für kompressible (thermische) Strömungen ersetzt die
und Machzahl M die dann nicht relevante Froudezahl.
typische Trägheitskraft FT (Volumenkraft) aus
den Beschleunigungen (insbesondere Impulskraft Reynoldszahl Die Reynoldszahl ist das Verhältnis der ty-
bzw. d’Alembert’sche Scheinkraft). pischen Trägheitskräfte (Impulskräfte) zu den Zähigkeits-
kräften.
Um den Skalierungsfaktor der Beschleunigungen fd zu
FT
bestimmen, müssten also alle vier typischen Kräfte im Re = ,
gleichen Verhältnis zueinander stehen: FR
U
Fg∗ FT ∼ ρU2 , FR ∼ η ,
F∗ F∗ F∗ L
fd = R = D = = T.
FR FD Fg FT ρUL UL
Re = = .
η ν
Frage 22.13
Was bedeutet Ähnlichkeit? Dynamische Zähigkeit η und Dichte ρ werden zur kine-
matischen Zähigkeit ν zusammengefasst.
724 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Beispiel: Gerinneströmung als „roter Faden“ für folgende Betrachtungen

Dieses Anwendungsbeispiel in mehreren Beispielbo- der Gasdynamik der supersonischen Strömung als Ver-
xen ist als „roter Faden“ durch die folgenden Kapitel dichtungsstoß auftritt. Genauso kann das Beispiel zur
zu verstehen. Es wird immer wieder auf die hier zu- Vertiefung der Bedeutung der Ähnlichkeitstheorie und
nächst allgemein beschriebene Grundsituation Bezug der dimensionslosen Kenngrößen dienen, denn die
genommen. Funktion der Machzahl in der Gasdynamik nimmt in
der Gerinneströmung die Froudezahl ein.
Problemanalyse und Strategie Wir betrachten eine in-
kompressible, ebene und nahezu reibungsfreie Wasser- Lösung Abbildung 22.26 illustriert die Grundsituation,
strömung mit freier Oberfläche zur Luft (Druck p = pL ) mit der wir starten werden. Nach dem Behälter großer
in einem Kanal der Breite b und genügend großer Län- Breite b0 tritt die Strömung in den Kanal konstanter
ge l bei vergleichsweise geringer Tiefe z des Wassers, Breite b ein, wobei der Strömungseinlauf gut gerun-
eine Gerinneströmung (Abb. 22.26). Der Zufluss erfolgt det ist, sodass Reibungseffekte vernachlässigt werden
aus einem großen Behälter, in dem die Geschwindig- können. Ausgangspunkt aller Überlegungen sind die
keit u0 vernachlässigbar ist. Die Höhe des Wasserstan- Bernoulli’sche Gleichung im reibungsfreien Fall und
des im Behälter über dem Kanalboden ist z0 . Wegen der die Kontinuitätsgleichung. Für die Aufstellung der
Annahme der Reibungsfreiheit ist die Strömung in je- Bernoulli’schen Gleichung können wir eine beliebige
dem Querschnitt homogen. Stromlinie verwenden, wenn diese nur physikalisch
möglich ist. Sinnvollerweise sollte bei der Wahl der
Stromlinie darauf geachtet werden, dass möglichst vie-
b0 le Größen bekannt sind.
großer
0 Behälter z0 Bei freien Oberflächen, wie in diesem Fall, bietet sich
Oberflächen-
1 stromlinie immer eine Stromlinie auf der Oberfläche an, weil
b0
hier erstens die Oberfläche als Begrenzung definitiv
Stromlinie ist und weil zweitens der Druck an allen
Stellen gleich dem Luftdruck pL ist und somit aus der
z1
b Gleichung herausfällt. Wir wählen deshalb die Oberflä-
chenstromlinie in der Symmetrieebene (Kanalmitte).
z*
Strömungsmechanik

z2 Im nächsten Kapitel „Ähnlichkeit“ schreiben wir bei-


l
de Gleichungen in die dimensionslose Form um und
führen die Froudezahl Fr ein. Dieses Vorgehen wird
2
zeigen, dass sich dimensionslose Kenngrößen fast
Abb. 22.26 Grundsituation der Gerinneströmung
zwangsläufig aus den Gleichungen selbst ergeben.
Schließlich werden wir auch im Kapitel Gasdynamik
Dieses Beispiel aus der Hydrodynamik inkompressi- die grundsätzliche Übertragbarkeit der Phänomene bei
bler Strömungen wird uns in mehreren Anwendungs- supersonischen Strömungen und bei der Gerinneströ-
fällen wieder begegnen. Die Gleichungen, die zur mung und deren Grenzen kennenlernen, womit wir
Lösung benötigt werden, sind vom Aufbau her iden- dieses übergreifende Anwendungsbeispiel abschließen
tisch mit den Gleichungen, die in der Gasdynamik werden. Manche der hier beschriebenen Phänomene
bei subsonischen, transsonischen und supersonischen lassen sich auch beim Blick von einer Brücke in einen
Strömungen auftreten. Daher sind auch die beobacht- flachen Bach beobachten. Nehmen Sie sich daher beim
baren Phänomene teilweise identisch, beispielsweise nächsten Gang über eine Brücke ein wenig Zeit und be-
der in der Einleitung erwähnte Wassersprung, der in obachten Sie, was Sie hier rechnerisch erarbeiten.

Eulerzahl Die Eulerzahl ist das Verhältnis der typischen Froudezahl Vom bisherigen Vorgehen abweichend, wird
Druckkräfte zu den Trägheitskräften. Im Strömungsma- bei der Definition von Froude- und Machzahl üblicher-
schinenbau wird sie auch Druckzahl genannt: weise nicht das Kraftverhältnis, sondern die Wurzel dar-
aus verwendet. In den Bewegungsgleichungen tauchen
FD ∼ Δp,
zwar die Quadrate dieser beiden Zahlen auf, was seine
FD Δp Ursache aber lediglich in dieser Definition hat.
Eu = = .
FT ρU2
22.5 Hydrodynamische Ähnlichkeitsgesetze 725

Beispiel: Reibungsfreie Einströmung in das ebene Gerinne

. . . oder: Wie fließt Wasser im Bach? der Konti die Geschwindigkeit u0 vernachlässigbar ist:
u0 = 0. Die Bernoulli’sche Gleichung ergibt zwischen
Problemanalyse und Strategie Zunächst betrachten wir diesen Punkten daher:
die Einströmung aus dem großen Behälter (große Brei- 1
te b0 ) mit der Füllhöhe z0 (Abb. 22.26). Wegen der gz0 = u∗ 2 + gz∗ ,
2
großen Breite ist das Wasser im Behälter praktisch 1
in Ruhe (u0 = 0). Das Gerinne, in dem die Strömung z = z0 − u∗ 2 .

2g
fließt, hat eine konstante Breite b, bei konstantem Zu-
fluss stellt sich ein stationärer Zustand ein. Wir ziehen Die Geschwindigkeit u∗ ersetzen wir noch durch den
erste Schlüsse aus Kontinuitäts- und Bernoulli’scher Volumenstrom, indem wir die Konti nutzen:
Gleichung.
V̇ = u∗ A∗ = u∗ bz∗ ,
Lösung Unter den genannten Voraussetzungen strömt 1 V̇ 2
z∗ = z0 − .
das Wasser aufgrund des Gefälles an der Oberfläche 2g b2 z∗ 2
durch den Kanal, wobei potentielle Energie in kineti-
Wir beziehen die Gleichung auf die Ausgangshöhe z0
sche Energie verwandelt wird. Die maximal mögliche
und schreiben Sie als kubische Gleichung in z∗ /z0 :
Geschwindigkeit bzw. kinetische Energie ist grund-
sätzlich durch die vorhandene Höhe z0 (die vorhande-  ∗ 3  ∗ 2
z z 1 V̇ 2
ne potentielle Energie) begrenzt, wobei diese Energie − + = 0.
z0 z0 2g b2 z30
wegen der Kontinuität nicht vollständig genutzt wer-
den kann. Gefragt wird im ersten Teil des Beispiels Die Form dieser Gleichung ist offensichtlich
nach der Wasserhöhe z1 unmittelbar nach dem Einströ-
men in den Kanal in Abhängigkeit vom Volumenstrom f (x) = x3 − x2 + C = 0,
V̇. Zwischen zwei beliebigen Punkten 1 (stromaufwärts mit 0 < x < 1 und C > 0. Je nach Höhe des Wertes
gelegen) und 2 (stromabwärts gelegen) auf einer Ober- von C besitzt diese Gleichung zwei, eine oder keine
flächenstromlinie gilt im reibungsfreien Fall die Ber- Lösung im betrachteten Wertebereich von x, d. h. im
noulli’sche Gleichung in der Form: Umkehrschluss, dass der Volumenstrom V̇ und die
ρ ρ Höhe z0 im Behälter nicht unabhängig voneinander
pL + u21 + ρgz1 = pL + u22 + ρgz2 ,

Strömungsmechanik
2 2 sind. Um zu entscheiden, welche der Lösungen sich
1 2 1 2 tatsächlich ergibt, benötigen wir mehr Informationen,
u + gz1 = u2 + gz2 . insbesondere über den weiteren Verlauf der Strömung
2 1 2
im anschließenden Kanalbereich. Das Minimum der
Die Kontinuitätsgleichung (Konti) an den beiden Punk- Funktion f (x) im Definitionsbereich von x liegt dabei
ten 1 und 2 ergibt wegen der Homogenität:
unabhängig vom Wert von C immer bei x = 2/3. Wie
V̇ = u1 A1 = u2 A2 . wir im nächsten Kapitel sehen werden, hat der Fall,
wenn die Gleichung nur eine Lösung besitzt, eine be-
Die beliebige Indizierung mit 1 und 2 in diesen Glei- sondere Bedeutung. C ist dann gerade so groß, dass die
chungen ersetzen wir jetzt durch die tatsächlich ge- Funktion ihr Minimum und ihre Nullstelle bei x = 2/3
wählten Punkte der Stromlinie zwischen denen bilan- hat:
ziert wird. Dabei ist in einem allgemeinen Fall (der  2  3
nicht reibungsfrei ist) die Zuordnung zur Strömungs- 2 2 4
C= − = .
richtung wichtig, d. h., der hier mit 2 indizierte Punkt 3 3 27
muss stromabwärts liegen. Im vorliegenden Fall rei-
Der spezielle Wert von
bungsfreier Strömung wäre es anders herum zwar
nicht falsch, es ist aber besser, sich die richtige Rei-  2
1 V̇ 8
henfolge von Anfang an anzugewöhnen. Betrachten 2C = =
gz0 bz0 27
wir nun als Punkt stromaufwärts einen Punkt an der
Oberfläche im Behälter (im Bild die Stelle 0) und einen wird uns dann zur dimensionslosen Froudezahl füh-
stromabwärts gelegenen Punkt nach dem Einlauf (im ren, die beide dimensionsbehafteten Variablen (Volu-
Bild und in den Gleichungen mit * markiert). Im Behäl- menstrom V̇ und Höhe z0 ) durch einen einzigen Para-
ter ist der Querschnitt A0 sehr groß, sodass aufgrund meter ersetzt.
726 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Die Froudezahl ist die Wurzel des Verhältnisses der typi- meistens a verwendet, da in diesem Zusammenhang kei-
schen Trägheitskräfte zu den Schwerkräften: ne Verwechselungsgefahr mit der materiellen Beschleuni-
gung a besteht. Streng genommen ist die übliche Formu-
Fg ∼ ρgL, lierung „die Machzahl ist das Verhältnis der Strömungs-
 geschwindigkeit zur Schallgeschwindigkeit“ daher auch
FT U
Fr = =  . nicht ganz korrekt, weil dies nur unter der einschränken-
Fg gL den Bedingung idealer Gase mit konstanten Stoffwerten
gilt. Trotzdem wird diese gängige Formulierung auch in
diesem Buch so verwendet.
Machzahl Bei kompressiblen Strömungen im Bereich un-
terhalb und oberhalb der Schallgeschwindigkeit, wenn Vom Ergebnis für ideale Gase her ist auch die enge Ver-
Trägkeitskräfte und Kompressionskräfte zur Volumen- wandtschaft zwischen Froudezahl und Machzahl offen-
bzw. Dichteänderung dominieren, wird die Machzahl an- sichtlich:
gewandt und ersetzt die
U
Froudezahl, weil die Schwerkraft dann meist keine Rol- M= √ . (22.31)
le mehr spielt. Bei solchen Vorgängen wird signifikant κRT
Volumenänderungsarbeit geleistet, was auch Tempera-
Frage 22.14
tur und Enthalpie der Strömung nicht vernachlässigbar
verändert. Die typische Kompressionskraft wird durch Wie wird die dynamische Ähnlichkeit überprüft?
die adiabatische Kompressibilität K beschrieben, die bei
der adiabat-isentropen (reibungsfreien) Zustandsände-
rung bei konstanter Entropie s berechnet wird:
  Ähnlichkeit bei Innen- und Außenströmungen
1 ∂v
K=− .
v ∂p s
Innenströmungen werden Strömungen genannt, die an
Da bei Gasen für die isentrope Zustandsänderung pvκ = allen Seiten durch feste Wände geführt werden. Außen-
konst. ist, gilt für K: strömungen sind Strömungen, die um einen Störkörper
(Fahrzeug, Flugzeug) herumgeführt werden. Beide kön-
1 nen laminar oder turbulent sein, bei Innenströmungen
K= . (22.29)
κp dann immer im gesamten Strömungsfeld, bei Außen-
strömungen nur in der unmittelbaren Nähe zum Körper
Strömungsmechanik

Die typische Kompressionskraft FK eines Volumens ist (Grenzschicht). Wenn die Strömung von der Zähigkeits-
proportional zum Kehrwert der Kompressibilität: kraft dominiert wird, d. h., die Reynoldszahl unter einem
bestimmten kritischen Wert bleibt, wird Wirbelbildung
1 trotz der Wirkung von Schubspannungen vermieden,
FK ∼ = κp,
K weil eventuelle Wirbel in der Entstehung bereits wie-
der durch die Reibung vernichtet werden. Daher bleiben
sodass sich das Quadrat der Machzahl als Verhältnis der unterschiedliche Schichten trotz ausgeprägter Geschwin-
typischen Trägheitskraft (Impulskraft) zur Kompressions- digkeitsunterschiede vollständig getrennt, ein Materie-
kraft ergibt: austausch findet praktisch nicht statt. Diesen Vorgang
des Nichtmischens kann man beispielsweise beim Ver-
FT ρU2 rühren von Abtönfarbe in weißer Wandfarbe beobachten.
M2 = = . (22.30)
FK κp Trotzdem gilt auch in diesem Fall, dass Geschwindigkeits-
unterschiede und Schubspannungen grundsätzlich die
Für ideale Gase gilt zusätzlich die ideale Gasgleichung turbulente Wirbelbildung begünstigen (Abb. 22.27). Ab
p/ρ = RT, sodass in diesem speziellen Fall die Kompres- einer bestimmten Geschwindigkeit U, d. h. oberhalb einer
sionskraft auch durch das Quadrat der Schallgeschwin-
digkeit idealer Gase a2 = κRT ersetzt werden kann. Trotz
ihres Namens ist die Schallgeschwindigkeit keine Ge- y
schwindigkeit (Betrag und Richtung einer bewegten Mas- u + du
se), denn die Herleitung zeigt, dass sie vielmehr eine dy
Zustandsgröße im Sinne der Thermodynamik darstellt u du
(nämlich κp/ρ). Aus diesem Grund wird sie in der Fachli- τ =η
dy
teratur üblicherweise nicht mit einem Geschwindigkeits-
symbol (v, u oder c) bezeichnet, zumal sie auch kein Abb. 22.27 Geschwindigkeitsunterschiede und Schubspannungen regen die
Vektor, sondern eine skalare Größe ist. Stattdessen wird Wirbelbildung an (Turbulenzen)
22.5 Hydrodynamische Ähnlichkeitsgesetze 727

Leitbeispiel Antriebsstrang
Abgasturbolader – Schlussfolgerungen.

Die Ergebnisse aus der Energiegleichung am Verdich- Wenn der Kanalquerschnitt nun so gestaltet wird, dass
terlaufrad die Transportkomponenten des Massenstroms etwa
    konstant bleibt, d. h. c2,r ≈ c1,x ist, erhält man das über-
1 1
P = ṁ h2 + c22 − h1 + c21 raschend einfache Ergebnis:
2 2
und dem Drehimpulssatz 1
wt = u22 = (h2 − h1 ) + u22 .
2
P = ṁ c2,ϕ u2 − c1,ϕ u1,m
Die der Strömung zugeführte technische Arbeit wird
können jetzt zusammengeführt werden: je hälftig die kinetische Energie und die Enthalpie er-
    höhen. Dabei ist die zugeführte Arbeit nur noch von
1 2 1 2
c2,ϕ u2 − c1,ϕ u1,m = h2 + c2 − h1 + c1 . der Rotationsgeschwindigkeit u2 des Laufrades am
2 2 Austrittsdurchmesser abhängig! Unter den genannten,
Man erkennt unmittelbar, dass die Arbeitsleistung bei nicht sehr einschränkenden Voraussetzungen ergibt
der Verdichtung, insbesondere die Enthalpieerhöhung, sich für die Enthalpieerhöhung im Laufrad:
eine unmittelbare Folge der am Austritt hohen Um-
fangskomponente der Strömung ist, und dass auch ei- 1 2
h2 − h1 = u .
ne hohe Drehgeschwindigkeit des Laufrades am Aus- 2 2
tritt zu einer großen technischen Arbeit führt. Beson-
ders deutlich wird das Ergebnis, wenn wir die meist Ein Zahlenwertbeispiel soll dieses einfache Ergebnis
vorliegende drallfreie Zuströmung c1,ϕ = 0 und die bei verdeutlichen: Ein Laufrad mit einem Außendurch-
realen Verdichterlaufrädern für Luft häufig verwende- messer von d2 = 15 cm führt bei einer Wellendrehzahl

Strömungsmechanik
te radiale Führung der Luft (wie in Abb. 22.20 gezeigt) n = 45.000 1/min zu einer Enthalpiedifferenz
durch die Schaufel am Austritt verwenden. In diesem
Fall gilt: 1 2 1
h2 − h1 = u = (πd2 n/60)2 = 62,5 kJ/kg.
w2,ϕ = 0, 2 2 2

c2,ϕ = u2 + w2,ϕ = u2 . Bei Kompression von Luft von 1 bar und 20 ◦ C ent-
spricht dies etwa 62 K Temperaturdifferenz (isentrop
Eingesetzt:
und nicht-isentrop!) bei etwas unterhalb von 1,95 bar
1 2  Austrittsdruck (isentrop 1,96 bar).
u22 = (h2 − h1 ) + c2 − c21 .
2 Nach dem Laufrad folgt dann noch der Leitapparat,
Die kinetischen Energien werden durch die Energien der wie ein Strömungsdiffusor arbeitet und in dem
der Komponenten ersetzt: noch wenigstens ein Teil der kinetischen Energie in
Enthalpie umgewandelt wird, sodass die Eintrittstem-
1 2 
peratur und der Eintrittsdruck in den Zylinder noch
u22 = (h2 − h1 ) + c2,r + u22 − c21,x .
2 höher liegen.

kritischen Reynoldszahl, schlägt die Strömung in die tur- auch der Wärmeaustausch) sind in turbulenter Strömung
bulente Form um. Der Übergang ist spontan und nicht wesentlich höher als in laminarer Strömung. Der Effekt
allmählich, weil einmal entstehende Wirbel, die nicht des intensiven Impulsaustausches zur Wand hin, der wie
sofort wieder durch Reibung vernichtet werden, den Vor- eine zusätzliche Reibungskraft wirkt, wird als turbulente
gang verstärken. Impuls- und Massenaustausch (damit Scheinreibung bezeichnet.
728 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Übergangsgebiet Der Umschlag laminar-turbulent erfolgt erreichen muss, dass aber für den Fall, dass Turbulenz
allerdings nicht immer genau an einem bestimmten Wert unter allen Umständen vermieden werden muss, die
der Reynoldszahl, da auch die experimentellen Rand- Obergrenze bei 1900–2000 liegt. Der kritische Bereich, in
bedingungen einen erheblichen Einfluss haben. Es ist dem beide Formen auftreten können, liegt zwischen 2040
daher nicht verwunderlich, dass unter exakt kontrollier- und 2300.
ten Laborbedingungen andere Grenzwerte genannt wer-
den, als im technischen Anwendungsfall mit allen mögli-
Längsangeströmte, ebene Platte Als Maß für eine typische
chen Störeinflüssen. Dazu kommt, dass der Umschlag ein
Länge L einer halbunendlichen, längsangeströmten Platte
stochastisches Phänomen ist, deshalb müsste eigentlich
(Abb. 22.21) existiert nur der Abstand von der Vorderkan-
jeder Grenzwert auch zusammen mit einer Umschlag-
te der Platte bis zum beobachtbaren Umschlagpunkt der
wahrscheinlichkeit angegeben werden. Praxisgerechter
sich zunächst laminar entwickelnden Grenzschicht in eine
ist die Angabe eines Übergangsgebietes (Reynoldszahlen- turbulente Grenzschicht mit laminarer Unterschicht. Die
bereich), in dem der Umschlag mit einer Wahrscheinlich- kritische Reynoldszahl des Umschlags laminar-turbulent
keitsverteilung erfolgt, die aber üblicherweise nicht mit (gebildet mit L und der Anströmgeschwindigkeit U) liegt
angegeben wird. Die Grenzen des Gebietes kann man
bei ca. Rekrit ≈ 3 · 105 –5 · 105 . In Abhängigkeit von den
dann so interpretieren, dass unterhalb der Untergrenze
Umgebungsbedingungen kann die laminare Grenzschicht
„in der Praxis nie“ und oberhalb der Obergrenze „in der
Praxis immer“ eine turbulente Strömung auftritt. „Nie“ aber auch bis zu einer Reynoldszahl Rekrit ≈ 1 · 106 und
und „immer“ sind aber nur als kleine und große Wahr- höher bestehen bleiben. Der Übergangsbereich ist also
scheinlichkeiten zu verstehen. deutlich größer und unsicherer als beim Kreisrohr und
unterliegt ebenfalls einer Wahrscheinlichkeitsverteilung.
Gerades Kreisrohr Bei Strömungen in geraden Kreis-
Frage 22.15
rohren liegt die kritische Reynoldszahl des Umschlags
laminar-turbulent (gebildet mit dem Rohrdurchmesser Worin besteht der grundsätzliche Unterschied zwischen
d als typischer Länge und der mittleren Strömungs- laminarer und turbulenter Strömung?
geschwindigkeit als typischer Geschwindigkeit U = ū)
in technischen Anwendungen bei ca. Rekrit ≈ 2300–2350.
Oberhalb dieses Wertes können laminare Strömungen Beispiel: Laminar/turbulenter Umschlag im Kreisrohr
zwar beobachtet werden, sind aber mit wachsender Bei welcher Strömungsgeschwindigkeit und welchem Vo-
Reynoldszahl immer instabiler. Unterhalb dieses Wertes lumenstrom erfolgt mit hoher Wahrscheinlichkeit in zwei
werden turbulente Strömungen unter technischen An- geraden Kreisrohren der Umschlag laminar nach turbu-
wendungsbedingungen dagegen mit hoher Wahrschein- lent, wenn diese von Wasser durchströmt werden (ν =
Strömungsmechanik

lichkeit nicht entstehen. 1 · 10−6 m2 /s) und die Durchmesser d1 = 10 mm und d2 =


100 mm besitzen?
Eine aktuelle Studie auf der Basis von Experimenten und
numerischen Simulationen (Avila und Hof, 2012) bestätigt Lösung Die kritische Reynoldszahl ist mindestens
die früheren Vermutungen, dass der Umschlag zur tur- Rekrit ≈ 2300, daher gilt:
bulenten Strömung bereits im Bereich Rekrit ≈ 2000–2050
beginnen kann. Da es sich bei den beiden den Vorgang ν 10−6
kontrollierenden Phänomenen der Anfachung und der u1 = Rekrit = 2300 m/s = 0,23 m/s,
d1 0,01
Unterdrückung der Turbulenz um stochastische Phäno-
mene handelt, haben die Autoren analog zur Definition ν 10−6
u2 = Rekrit = 2300 m/s = 0,023 m/s.
bei der Radioaktivität für Entstehung und Unterdrückung d2 0,1
der Wirbel eine Halbwertszeit definiert und experimen-
telle Ergebnisse diesbezüglich ausgewertet. Es ergibt sich Für den Volumenstrom gilt jeweils:
im untersuchten Reynoldszahlenbereich Re ≈ 1750–2400
π 2
ein exponentieller Anstieg der Halbwertszeit der Unter- V̇i = ui Ai = ui d ,
drückung der Turbulenz (ein entstandener Wirbel bleibt 4 i
π 2
lange Zeit stabil) und ein exponentieller Abfall der Halb- V̇1 = u1 d = 0,018 L/s,
wertszeit der Anfachung der Turbulenz. Der Schnittpunkt 4 1
π
beider Halbwertszeitkurven liegt bei Re = 2040, sodass V̇2 = u2 d22 = 0,18 L/s. 
oberhalb dieses Wertes die Wahrscheinlichkeit des Anfa- 4
chens der Turbulenz rapide wächst und ab Re = 2300 das
Phänomen durch das Anfachen der Turbulenz vollstän- Beispiel: Laminar/turbulenter Umschlag an der ebenen
dig dominiert ist. Diese Untersuchung zeigt, dass man zur Platte In welchem Längenbereich nach Beginn der Plat-
fast sicher auftretenden turbulenten Strömung tatsächlich te kann mit dem Umschlag der laminaren Grenzschicht
weiterhin eine Reynoldszahl von mindestens 2300–2350 in eine turbulente Grenzschicht gerechnet werden, wenn
22.6 Innenströmung und Rohrhydraulik 729

die Platte von Luft mit einer Geschwindigkeit von u = 10 decken. Unter Berücksichtigung der Temperaturdifferenz
m/s angeströmt wird (ν = 15 · 10−6 m2 /s)? des zirkulierenden Heizungswassers zwischen Vorlauf
(TV ) und Rücklauf (TR ) ist der insgesamt angeforderte
Lösung Die kritische Reynoldszahl ist im Bereich Rekrit ≈ Massenstrom daher
3 · 105 − 5 · 105 , daher gilt:

ṁ = ,
ν cW (TV − TR )
L = Rekrit ,
u wobei cW die spezifische Wärmekapazität des Wassers
15 · 10−6 ist. Aufgabe der Thermostatventile ist es nun, jeweils
L ≈ (3 · 105 − 5 · 105 ) m ≈ (0,45 − 0,75) m. 
10 genauso viel des Heizwassers durchzulassen, dass in je-
dem Raum die richtige Wärmemenge Q̇i ankommt, um
die geforderte Raumtemperatur zu halten. Hierzu stel-
len die Thermostatventile den Druckverlust automatisch
nach der Raumtemperatur ein: Ist diese zu niedrig, öffnet
22.6 Innenströmung und das Ventil (Druckverlust sinkt und eine größere Men-
ge geht durch), ist die Solltemperatur erreicht, schließt
Rohrhydraulik es teilweise (Druckverlust steigt) oder sogar vollständig
(kein Durchfluss mehr):
Wesentliches Ziel der Rohrhydraulik ist es, Druckverlust Q̇i = ṁi cW (TV − TR ),
und Volumenstrom in einem Rohrleitungssystem zu be-
6
stimmen, indem man es in verschiedene, leicht berechen-
bare oder bekannte Teilstücke zerlegt, die dann parallel
Q̇ = ∑ Q̇i,
i=1
oder hintereinander geschaltet werden, ähnlich wie elek-
6
trische Widerstände in einem elektrischen Netzwerk. In
diesem Zusammenhang wird auch häufig von hydrau-
ṁ = ∑ ṁi.
i=1
lischen Netzwerken gesprochen. In Abb. 22.28 ist als
Ein solches hydraulisches Netzwerk ist also ein mehr
Beispiel eine einfachen Heizungsanlage auf zwei Stock-
oder weniger komplexes System aus geraden Teilstücken,
werken skizziert. Steigleitungen und meistens im Fuß-
die mit Krümmern, Mischstellen, Verzweigungen oder
boden verlegte Zuleitungen zu den Heizkörpern werden
anderen Einbauten wie Absperrorganen verschaltet wer-
als gerade Rohrstücke dargestellt und gerechnet, andere
den (Abb. 22.29). Wenn man die Widerstandsbeiwerte
verlustbehaftete Elemente sind Krümmer, Verzweigun-
aller einzelnen Elemente kennt, kann man den Wider-
gen und Zusammenführungen, von denen hier nur einige

Strömungsmechanik
standsbeiwert und den Druckverlust, sowie den Massen-
dargestellt sind, und natürlich die Heizkörper mit den
strom in jedem Teilsystem ebenso wie für das Gesamt-
einzelnen Durchfluss regelnden Thermostatventilen. Die
system bestimmen. Ein Teilbereich eines Rohrleitungs-
in der Heizung eingebaute Umwälzpumpe muss nun den
netzes mit Krümmern und Verzweigungen kann über
insgesamt angeforderten Massenstrom ṁ liefern, um den
die Druckverlustbeiwerte der Elemente auf ein einzel-
tatsächlichen Gesamtwärmebedarf der Wohnung Q̇ zu
nes Ersatzelement mit einem resultierenden Druckver-
lustbeiwert zurückgeführt werden. Für alle im Netzwerk

Heizkörper
K G V G V G K

H H H

G K G S G S G K

V G V G V G K G

Heizung G H H H

Vorlauf G K K G S G S G S
Rücklauf
G = gerades Rohr G
K = Krümmer H = Heizkörper
G K
V = Verteiler S = Sammler
Abb. 22.28 Rohrleitungsnetz einer einfachen Heizungsanlage auf zwei Stock-
werken Abb. 22.29 Schaltbild der Heizungsanlage aus Abb. 22.28
730 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Beispiel: Reibungsfreie Strömung im ebenen Gerinne

. . . oder: Wie fließt Wasser im Bach? Im Kanal gilt b1 = b2 = b, das Breitenverhältnis in


(22.32) ist 1. Wir betrachten nun die Bernoulli’sche
Problemanalyse und Strategie Wir setzen nun das Bei- Gleichung von der Stelle 0 (Fr0 = 0) bis zur Stelle *
spiel der Gerinneströmung fort, um die Anwendung (Fr∗ = 1) und erhalten:
der dimensionslosen Kennzahlen zu vertiefen. Abbil- z∗ 2
dung 22.26 illustriert die Grundsituation, den Behälter = .
z0 3
großer Breite b0 gefolgt vom Kanal konstanter Breite
b. Reibungseffekte können weiter vernachlässigt wer- Die Wasserhöhe an der Stelle mit Fr∗ = 1 ist immer
den. Der Kanal soll jetzt „lang genug“ sein, sodass sich 2/3 der ursprünglichen Höhe z0 . Im nächsten Schritt
ein stationärer Zustand einstellt. Nach dem Kanal fließt suchen wir die Stelle maximaler Fließgeschwindigkeit
das Wasser ungehindert ab („Wasserfall“). Gefragt ist u2 bei minimaler Wasserhöhe z2 , die sich überhaupt im
nun nach der Höhe z2 des Wassers über dem Boden Gerinne einstellen kann und stellen Bernoulli’sche und
beim Ausströmen, der Geschwindigkeit u2 am Austritt Kontinuitätsgleichung zwischen der Stelle * und der
und der Froudezahl Fr2 am Austritt. Stelle 2 auf. Die Stelle 2 wird bei einem genügend lan-
gen Kanal ohne störende Einbauten am Austritt sein.
Diese Vermutung wird zwar in der Rechnung nicht be-
Lösung Zwischen zwei beliebigen Punkten 1 und 2 gilt nötigt, wird aber durch das Ergebnis sofort bestätigt:
im reibungsfreien Fall wieder die Kontinuitätsglei-   z∗
chung und die Bernoulli’schen Gleichung auf einer Fr∗ 2 + 2 = Fr22 + 2,
z2
Oberflächenstromlinie:  ∗ 3
∗ z
2
u1 z1 b1 = u2 z2 b2 , Fr = Fr2 .
z2
1 2 1
u + gz1 = u22 + gz2 . Die Kontinuitätsgleichung wird in die Bernoulli’sche
2 1 2
Gleichung eingesetzt, und es wird Fr∗ = 1 verwendet:
Wir stellen nun die Beziehungen für drei ausgezeich-
 ∗ 3
nete Punkte auf: Den Punkt 0 im Behälter (b0 ist sehr z∗ z
groß, u0 = 0), den Punkt *, an dem die Froudezahl 3 = + 2.
z2 z2
gerade 1 sein soll (warum, sehen wir hinterher am
Mit dem Ergebnis der ersten Auswertung z∗ /z0 = 2/3
Strömungsmechanik

Ergebnis) und den Austritt (Stelle 2) aus dem Gerin-


ne. Zunächst dividieren wir noch die Bernoulli’sche erhalten wir schließlich die Gleichung
Gleichung durch gz2 und formulieren sie damit dimen-  3  2
z2 z 4
sionslos: − 2 + = 0.
z0 z0 27
u21 z u2
+ 1 = 2 + 1. Diese kubische Gleichung besitzt eine doppelte Null-
2gz2 z2 2gz2
stelle bei zz20 = 23 und eine einfache Nullstelle bei zz20 =
Mit der Definition der Froudezahl Fri , i = 0, 1, 2, ∗, − 13 , wobei die einfache Nullstelle keine physikalisch
u2i sinnvolle Lösung ist, denn die Oberfläche müsste dann
Fr2i = , unter dem Kanalboden liegen. Die Lösung ist daher:
gzi
z2 2
erhalten wir die dimensionslose Bernoulli’sche Glei- = ,
chung dieser Strömung: z0 3
 z was wiederum bedeutet, dass die Stellen 2 und * iden-
1
Fr21 + 2 = Fr22 + 2. tisch sind. Am Austritt aus dem Kanal mit konstanter
z2
Breite stellt sich also immer die Froudezahl Fr2 = 1 ein.
Auch die Kontinuitätsgleichung formulieren wir di-
√ Wenn die zugehörige Geschwindigkeit c∗ und die Was-
mensionslos, indem wir durch gz2 , b2 und z2 dividie- serhöhe z∗ bereits vor dem Ende des Kanals erreicht
ren: werden, stellt sich ein stationärer Zustand ein, d. h.,
√ Geschwindigkeit und Wasserhöhe ändern sich bis zum
u1 z1 z1 b1 u
√ √ = √2 , Austritt aufgrund der Annahme der Reibungsfreiheit
gz1 z2 z2 b2 gz2
nicht mehr! Die Geschwindigkeit ist:
 3 
z1 2 b1
Fr1 = Fr2 . (22.32) √ 2
z2 b2 u2 = gz2 = gz0 .
3
22.6 Innenströmung und Rohrhydraulik 731

möglichen Strömungswege werden Stromlinien definiert die Möglichkeit der Berechnung selbst komplexer Quer-
(Pfade) und über Kontinuitätsgleichung, Energieerhal- schnittsformen durch Anwendung der bekannten Lösun-
tungsgleichung (Bernoulli’sche Gleichung) und ggf. auch gen des Kreisquerschnitts.
mit dem Impulssatz und der Zustandsgleichung die Zu-
standsgrößen und Geschwindigkeiten an beliebigen Stel-
len der Stromlinien errechnet. Komplexe Gleichungssys- Die vollausgebildete Strömung
teme mit vielen Unbekannten lassen sich in der Regel
dadurch vermeiden, dass durch geschicktes Zusammen-
fassen mehrerer Elemente zu einem Ersatzelement immer Bei vollausgebildeter Strömung hängt das Geschwindig-
nur die Hintereinanderschaltung bzw. Parallelschaltung keitsprofil nicht mehr von der Koordinate in Strömungs-
von zwei Ersatzelementen berechnet werden muss. richtung ab. Diese Bedingung ist erst genügend weit vom
Eintritt in den entsprechenden Abschnitt eines hydrau-
lischen Systems erfüllt, sofern im Einlaufbereich keine
Änderung der Randbedingungen vorliegt. Vollausgebil-
Der hydraulische Durchmesser erlaubt dete Strömung stellt sich daher ausschließlich in geraden
Berechnungen wie bei Kreisrohren Rohren und Kanälen oder in Rohren, die in großem Bo-
gen verlegt sind, ein, wenn die Rohrkrümmung gegen
den Durchmesser vernachlässigbar ist (Rohrkrümmungs-
In einigen technischen Anwendungsfällen liegen keine radius R  dhyd ). Die notwendige Einlauflänge l bis zur
Leitungen mit kreisförmigem Querschnitt vor. Lüftungs- vollausgebildeten Strömung wird in Vielfachen des hy-
kanäle werden sehr häufig mit einem rechteckigen Quer- draulischen Durchmessers ausgedrückt:
schnitt gebaut, zum einen weil die Herstellung aus Ble-
chen einfacher ist, zum anderen aber auch aus optischen l > n dhyd .
Gründen in Gebäuden. Mit dem hydraulischen Durch- Als Richtwertbereich kann man ab einem Wert von n über
messer wird bei beliebigen Kanalquerschnitten ein äqui- 10 − 20 (höchstens 50) davon ausgehen, dass die Strö-
valentes Kreisrohr des Durchmessers dhyd definiert, das mung vollausgebildet ist.
sich hydrodynamisch ähnlich verhält wie der tatsächliche
Kanal. Der hydraulische Durchmesser ist definiert durch:
A Die laminare, vollausgebildete Strömung
dhyd = 4 . (22.33)
lU
Couette-Strömung Die Couette-Strömung oder einfache
A ist hierbei der Strömungsquerschnitt in m2 , lU die Länge Scherströmung ist die Lösung eines ebenen Problems,

Strömungsmechanik
des gesamten vom Fluid berührten Umfangs des Kanals wenn eine Seite eines ebenen Strömungskanals gegen die
in m. In laminarer Strömung funktioniert das Ähnlich- andere Seite mit konstanter Geschwindigkeit U verscho-
keitsprinzip des hydraulischen Durchmessers leider nur ben wird, der Abstand der Platten sei h. Diese Form der
bei „kreisähnlichen“ Querschnitten (Ellipsen mit gerin- Strömung wird nicht durch eine Druckdifferenz getrie-
ger Exzentrizität, Sechsecke, Achtecke, . . . ), in turbulenter ben, sondern durch die Kraft F, die zur Verschiebung
Strömung gibt es aber so gut wie keine Einschränkung in der Platte mit der Oberfläche A nötig ist, d. h. durch die
Bezug auf die Querschnittsform bei der Anwendung auf Schubspannung τ = F/A an der Wand. Durch Lösung der
technische Systeme. Bewegungsgleichung im Feld erhält man einen exakt li-
nearen Geschwindigkeitsverlauf:
y
Beispiel Ein rechteckiger Kanal der Breite b und der Hö- u(y ) = U .
he h hat den äquivalenten hydraulischen Durchmesser h

A bh 2h Poiseuille-Strömung Als zweite ebene Strömung betrach-


dhyd = 4 =4 = .
lU 2h + 2b 1 + hb ten wir die Strömung zwischen zwei ebenen Platten (Ab-
stand h), die beide ruhen, der aber ein Druckgradient
Breite Spalte (Spaltweite h b) haben einen hydrauli- aufgeprägt wird. Auch für diese Strömung erhält man aus
schen Durchmesser dhyd = 2h, quadratische Querschnitte der Bewegungsgleichung eine geschlossene Lösung. Sie
(h/b = 1) dementsprechend einen hydraulischen Durch- hat die Form eines quadratischen Geschwindigkeitspro-
messer dhyd = h, usw.  fils:
y y
u(y) = 4umax 1− .
Je höher die Reynoldszahl (gebildet mit dem hydrauli- h h
schen Durchmesser), desto besser ist die Übereinstim- Der maximale Wert der Geschwindigkeit in der Mitte zwi-
mung. Da technische Systeme fast immer im turbulenten schen den Platten umax ist 1,5-mal so groß wie die mittlere
Bereich arbeiten, eröffnet der hydraulische Durchmesser Geschwindigkeit ū im gesamten Bereich.
732 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Übersicht: Hydraulischer Durchmesser

Bemerkung zur Berechnung nicht kreisförmiger Strö- wird ebenfalls mit dem hydraulischen Durchmesser
mungsquerschnitte. definiert:
Für Kanäle mit nicht kreisförmigem Strömungsquer- ūdhyd V̇dhyd 4V̇
schnitt lässt sich bei turbulenter Strömung der hydrauli- Re = = = .
ν Aν lU ν
sche Durchmesser definieren, wobei A die durchström-
te Querschnittsfläche und lU die Länge des vom Fluid Für die Anwendung muss die Reynoldszahl größer
benetzten Umfangs des Kanals ist: sein als die kritische, d. h. Re > Rekrit = 2300 − 2350,
A wobei die Übereinstimmung bei hohen Reynoldszah-
dhyd = 4 . len besser ist, als bei niedrigen.
lU
Ein Kanal mit nicht kreisförmigem Querschnitt verhält
sich dann wie ein gerades Kreisrohr mit dem Durch- Achtung Bei laminarer Strömung ist das Konzept des
messer d = dhyd . Die Reynoldszahl zur Beurteilung hydraulischen Durchmessers in der Regel nicht an-
der Turbulenz sowie in der hydraulischen Berechnung wendbar!

Hagen-Poiseuille-Strömung Die Hagen-Poiseuille-Strö- dieser ist. Die Reynoldszahl wird mit der mittleren Ge-
mung ist die durch einen treibenden Druckgradienten schwindigkeit ū und dem Rohrdurchmesser d gebildet.
erzeugte laminare Strömung im geraden Kreisrohr mit In laminarer Strömung ist der Widerstand nicht von der
Innenradius R. Die Lösung der Bewegungsgleichung hat Wandrauhigkeit abhängig, weil der gesamte Strömungs-
ebenfalls die Form eines quadratischen Geschwindig- bereich zähigkeitsdominiert ist und die Wandrauhigkeit
keitsprofils über dem Radius: daher nur einen verschwindend kleinen Teil der Rei-
  bungszone beeinflusst.
r2
u(r) = umax 1− 2 . Wenn die Reynoldszahl den Wert der kritischen
R
Reynoldszahl überschreitet (Rekrit > 2300, Übergangsbe-
Der maximale Wert der Geschwindigkeit in der Mitte reich ca. 2040–2350), schlägt die Strömung bei technischen
umax ist im Kreisrohr zweimal so groß wie die mittle- Anwendungen spontan in die turbulente Strömung um.
Strömungsmechanik

re Geschwindigkeit ū im gesamten Bereich. Der Unter-


schied zur Poiseuille-Strömung (dort war der Faktor 1,5)
zeigt, dass das Profil der laminaren Strömung bei anderer
Geometrie des Strömungsquerschnitts deutliche Unter- Turbulente, vollausgebildete Strömung
schiede aufweist, d. h., dass der breite Spalt (h b) trotz
der grundsätzlichen Parabelform nicht wie ein Rohr mit Für turbulente Strömungen lassen sich Geschwindig-
gleichem hydraulischen Durchmesser gerechnet werden keitsprofile bei unterschiedlichen Reynoldszahlen nicht
kann. mehr als einfache Gleichung darstellen. Es existieren zwar
Aus der Bewegungsgleichung lässt sich nach kurzer mehrere, zum Teil fast 100 Jahre alte Ansätze, Nähe-
Rechnung weiterhin der Druckverlust der laminaren Strö- rungsgleichungen aufzustellen, im Zeitalter der compu-
mung und der Druckverlustbeiwert ζ im geraden Kreis- tergestützten fluidmechanischen Berechnung (CFD) ha-
rohr der Länge l ableiten: ben diese Näherungsgleichungen in der praktischen An-
wendung aber kaum mehr Bedeutung. Sie zeigen aller-
ρ dings, dass die turbulente Strömung ein fundamental
ΔpV = ζ ū2 , anderes Verhalten als die laminare Strömung besitzt. Von
2
64 l l L. Prandtl stammt folgender Ansatz, der hier stellvertre-
ζ= =λ . tend für andere genannt werden soll:
Re d d
Den ersten Term 64/Re nennt man die Rohrreibungszahl u(r)  r n
1

λ, die wir in turbulenter Strömung ebenfalls verwenden = 1− .


umax R
werden, denn sie ist im Gegensatz zum Druckverlustbei-
wert ζ weitgehend unabhängig von der Rohrlänge. Der Die Zahl n im Exponenten liegt im niedrigen Reynolds-
zweite Term ist die relative Rohrlänge, sodass der Druck- zahlenbereich bis ca 105 bei etwa 7 (dies ist das sog.
verlust der vollausgebildeten Strömung proportional zu 1/7-Potenzgesetz nach Blasius) und steigt dann bis zu
22.6 Innenströmung und Rohrhydraulik 733

Abb. 22.30 Rohrwider- 0,1


standszahl λ bei laminarer und 0,09 0,08
turbulenter Rohrströmung (relati- 0,08
0,07 0,05
ve Rauhigkeit k /d ) Übergangsgebiet
0,06

k/d
laminar turbulent, hydraulisch rau
0,05 0,02
0,04 0,01
0,03 0,005

0,002
0,02 0,001
turbulent, hydraulisch glatt
0,0005
0,0002
0,0001
0,01
100 1000 10.000 100.000 1.000.000 10.000.000
Re

einem Wert von etwa 9 bei Reynoldszahlen von 107 an. Frage 22.16
Der Unterschied zum laminaren Profil ist offensichtlich: In welchem Fall darf das Konzept des hydraulischen
Die quadratische Parabel und die 7. bis 9. Wurzel haben Durchmessers zur Ermittlung der Rohrwiderstandszahl
praktisch nichts gemeinsam. Das Geschwindigkeitspro- angewendet werden?
fil der turbulenten Strömung ist insgesamt flacher, al-
so im Kernbereich näher an der homogenen Strömung,
weist aber in der Nähe der Wand viel größere Gradien-
ten auf. Dadurch beeinflussen auch Wandrauhigkeiten in
turbulenter Strömung die Rohrreibungszahl, sodass auch Die Druckverluste in Rohrleitungselementen
die relative Rauhigkeit k/d berücksichtigt werden muss, werden meistens aus Messungen ermittelt
wenn die Rauhigkeitserhebungen aus der wandnächsten
Schicht, der laminaren Unterschicht, herausragen. Ist die
Für andere Rohrleitungselemente, wie Krümmer, Quer-
Wandrauhigkeit geringer als die Dicke der laminaren Un-
schnittsänderungen, Verzweigungen etc. muss man sich
terschicht, nennt man die Wand hydraulisch glatt. Ein
die jeweiligen Druckverlustbeiwerte ζ beschaffen. Grund-
gängiger Ansatz zur Berechnung der Rohrreibungszahl λ

Strömungsmechanik
sätzlich geht man dabei immer von der gleichen Grund-
in turbulenter Strömung ist der Ansatz nach Colebrook:
gleichung für den Druckverlust eines solchen Elementes
√ −1 aus:
λ= . (22.34) ρ
2 log( 2,51
√ + 3,71d )
k
ΔpV = ζ ū2 . (22.35)
Re λ
2
Man beachte, dass hier der Logarithmus zur Basis 10 Der Druckverlustbeiwert ζ wird mit einer Bezugsenergie
verwendet werden muss. Die √ Formel ist zwar nur ite- (meist die kinetische Energie in einem bestimmten Quer-
rativ lösbar (Iteration über λ), konvergiert aber Dank schnitt des Bauteils) multipliziert, um den Druckverlust,
des Logarithmus für alle Startwerte in wenigen Schrit- d. h. die durch Reibung im Bauteil dissipierte Energie zu
ten. Hat man einen guten Schätzwert für λ (z. B. aus dem bestimmen. Dies bedeutet auch, dass zu jeder Angabe ei-
Diagramm Abb. 22.30), ist Konvergenz meist nach zwei nes Wertes von ζ für ein Systemelement eine eindeutige
bis drei Rechenschritten erreicht. Der Druckverlustbei- Beschreibung der Ebene gehört, in der die Bezugsener-
wert einer turbulenten Rohrströmung in einem geraden gie aus Dichte und mittlerer Geschwindigkeit berechnet
Strömungskanal lässt sich unter Verwendung des hydrau- wird, sonst kann der Druckverlust nicht korrekt ermittelt
lischen Durchmessers daher mit dieser Methode schnell werden. In vielen Fällen wird die Eintrittsebene in das
ermitteln: Element als Bezugsebene verwendet. Auf konkrete Zah-
lenwerte für bestimmte Rohrleitungselemente wird hier
lρ 2
ΔpV = λ ū , bewusst verzichtet und auf die einschlägige Literatur und
2
d  Tabellen verwiesen, z. B. (Grote, Feldhusen 2012).
k
λ=f Redhyd ; ,
dhyd Frage 22.17
Mit welcher dimensionslosen Kennzahl ist der Druckver-
ūdhyd
Redhyd = . lustbeiwert verwandt?
ν
734 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Übersicht: Rohrwiderstandszahl

Bestimmung für gerade Kreisrohre. schen beiden Strömungsformen hin- und herspringen.
Dies sollte in technischen Anwendungen vermieden
Die Rohrwiderstandszahl λ ist für laminar und tur- werden.
bulent durchströmte Kreisrohre in Abb. 22.30 wieder-
gegeben. Man beachte, dass das Diagramm und die
Formel bei turbulenter Strömung auch für nicht kreis- Laminare, vollausgebildete Strömung
förmige Querschnitte gilt, wenn anstelle von d der
64
hydraulische Durchmesser dhyd eingesetzt und auch λ= .
die Reynoldszahl mit diesem gebildet wird. In der la- Re
minaren Strömung gilt das Diagramm ausschließlich
für Kreisrohre. Im Übergangsgebiet zwischen lami- Turbulente, vollausgebildete Strömung (nach Colebrook)
narer und turbulenter Strömung (Re ≈ 2040 − 2350) √ −1
ist die Strömungssituation nicht eindeutig und daher λ= .
instabil, die Strömung kann im schlimmsten Fall zwi- 2 log( 2,51
√ + 3,71d )
k
Re λ

Widerstände können hintereinander Parallelschaltung Der Strom I teilt sich auf die beiden
oder parallel geschaltet werden Widerstände R1 und R2 auf, I = I1 + I2 , sodass der Span-
nungsabfall an beiden Widerständen gleich dem Gesamt-
spannungsabfall U ist. Der Gesamtwiderstand ist der
Ähnlich wie bei elektrischen Netzwerken (Kap. 35) lassen Kehrwert der Summe der Kehrwerte der Einzelwider-
sich auch hydraulische Netzwerke durch Zusammenfas- stände (der Kehrwert des Widerstandes ist die Leitfähig-
sen von Teilbereichen vereinfacht berechnen. Die Ana- keit):
logie zum elektrischen Netzwerk besteht insbesondere 1 1 1
in Bezug auf ohmsche Widerstände. Wenn U die Span- = + .
Rges R1 R2
nung an einem Widerstand ist und I der elektrische Strom
durch den Widerstand R, dann gilt das ohmsche Gesetz: Das ohmsche Gesetz ist freundlicherweise linear in Bezug
auf U und I für jeden einzelnen Widerstand, sodass sich ein
Strömungsmechanik

U U elektrisches Netzwerk aus vielen Widerständen als linea-


R= , I= .
I R res Gleichungssystem darstellen lässt. Dies ist gleichzeitig
der große Unterschied zu hydraulischen Netzwerken.
Die zweite Form dieses Gesetzes lässt sich dahingehend
interpretieren, dass die Spannung U den Strom I durch Dem elektrischen Strom I entspricht bei einem hydrauli-
den Widerstand R transportiert bzw. treibt. Der Strom I ist schen Netzwerk bei inkompressibler Strömung der Volu-
dabei definiert als die Zahl der transportierten Ladungs- menstrom V̇. Der Volumenstrom ist bei ρ = konst. eine
einheiten (Elektronen) pro Zeiteinheit. Genau wie Masse Erhaltungsgröße und verhält sich bezüglich Hintereinan-
ist Ladung eine Erhaltungsgröße, sodass auch für den derschaltungen, Verzweigungen und Zusammenführun-
Stromfluss I bei Hintereinanderschaltungen, Verzweigun- gen wie der elektrische Strom additiv. Das Äquivalent zur
gen und Zusammenführungen eine Art „Kontinuitäts- treibenden Spannung ist die treibende, statische Druck-
gleichung“ gilt, d. h. bei Hintereinanderschaltung fließt differenz Δp = p1 − p2 am Bauteil. Wenn wir nur Bauteile
im stationären Fall (kein Speicher) der gleiche Strom betrachten, die einen Verlust (Druckverlust) besitzen, sich
durch alle Elemente, bei Parallelschaltung teilt sich der also wie der ohmsche Widerstand R auf diese Eigenschaft
Strom auf, die einzelnen Stromflüsse addieren sich. Die- eingrenzen lassen, ist die treibende, statische Druckdif-
se Eigenschaft erzeugt die bekannten Regeln der Parallel- ferenz Δp am Bauteil gleich dem Druckverlust ΔpV des
und Hintereinanderschaltung elektrischer Widerstände. Bauteils. Das Druckverlustgesetz ist aber (anders als beim
elektrischen Netzwerk) nicht linear, sondern quadratisch
mit dem Volumenstrom:
Hintereinanderschaltung Der Strom I fließt durch beide  2
ρ ρ V̇
Widerstände R1 und R2 und der Spannungsabfall an bei- ΔpV = ζ u2 = ζ .
den Widerständen addiert sich. Der Gesamtwiderstand 2 2 A
ist die Summe der Einzelwiderstände: Hydraulische Netzwerke ergeben also immer nichtlineare
Gleichungssysteme und können demzufolge auch gege-
Rges = R1 + R2 . benenfalls mehr als eine Lösung haben. Die Kombination
22.6 Innenströmung und Rohrhydraulik 735

mehrerer Widerstände zu einem Gesamtwiderstand ist


aus diesem Grund auch nicht ganz so einfach wie beim Gesamtverlustbeiwert der Hintereinanderschaltung
elektrischen Widerstand. Wir nutzen die Herleitung für
die beiden grundlegenden Fälle als Anwendungsaufga- A1 2 A1 2
ζ gesH = ζ A + ζ B . (22.36)
ben. AA 2 AB 2

Beispiel: Hintereinanderschaltung zweier Strömungs-


widerstände bei inkompressibler Strömung Es soll Beispiel: Parallelschaltung zweier Strömungswider-
der Gesamtwiderstand eines Systems aus zwei hinter- stände bei inkompressibler Strömung Analog zur
einandergeschalteten Strömungswiderständen ζ A und ζ B vorherigen Aufgabe soll der Gesamtwiderstand eines
bestimmt werden. Beide Widerstandsbeiwerte werden Systems aus zwei parallelgeschalteten Strömungswider-
im allgemeinen Fall auf unterschiedliche Bezugsenergi- ständen ζ A und ζ B bestimmt werden. Auch in diesem Fall
en bezogen sein, was wir über die jeweiligen Bezugs- sollen die Widerstandsbeiwerte im allgemeinen Fall auf
querschnitte AA und AB berücksichtigen. Gesucht ist der unterschiedliche Bezugsenergien bezogen sein, was wir
Verlustbeiwert eines Ersatzwiderstands ζ gesH , der beide über die jeweiligen Bezugsquerschnitte AA und AB be-
Einzelwiderstände erfasst und dessen Bezugsenergie auf rücksichtigen. Gesucht ist der Verlustbeiwert eines Ersat-
den Querschnitt A1 (= A2 ) bezogen ist (Abb. 22.31a).  zwiderstands ζ gesP , der sich durch die Parallelschaltung
ergibt und dessen Bezugsenergie wieder auf den Quer-
schnitt A1 (= A2 ) bezogen ist (siehe Abb. 22.31b). 
Lösung Bei hintereinandergeschalteten Strömungswider-
ständen werden beide Widerstände und der Ersatzwi- Lösung Bei parallelgeschalteten Strömungswiderständen
derstand vom gleichen Volumenstrom durchflossen. Die teilt sich der Volumenstrom auf, sodass beide Widerstän-
Kontinuitätsgleichung liefert daher für die Geschwindig- de im Allgemeinen auch bei gleichen Querschnitten mit
keiten: unterschiedlicher Geschwindigkeit durchflossen werden.
Der Ersatzwiderstand bezieht sich auf den Gesamtvolu-
V̇ = u1 A1 = uA AA = uB AB . menstrom. Die Kontinuitätsgleichung liefert für die Ge-
schwindigkeiten:
Der Druckverlust des Ersatzwiderstands ist die Summe
der Druckverluste der einzelnen Widerstände. Dies kann V̇ = u1 A1 = uA AA + uB AB .
man direkt aus der Bernoulli’schen Gleichung herleiten: Ein Strömungsteilchen nimmt entweder den Pfad A oder
den Pfad B, es wird aber in beiden Pfaden von der stati-
ΔpV,gesH = ΔpV,A + ΔpV,B ,

Strömungsmechanik
schen Druckdifferenz zwischen der Verzweigung und der
ρ ρ ρ Zusammenführung angetrieben. Der Druckverlust der
ζ gesH u1 2 = ζ A uA 2 + ζ B uB 2 ,
2 2 2 beiden einzelnen Widerstände stellt sich also so ein, dass
uA 2 uB 2 in beiden Pfaden der gleiche statische Druckabfall en-
ζ gesH = ζ A 2 + ζ B 2 . steht. Wenn in beiden Pfaden nur Verluste zu berücksich-
u1 u1
tigen sind, und der statische Druck nicht durch andere
Die Verhältnisse der Geschwindigkeiten werden mithilfe Maßnahmen verändert wird, müssen die Druckverluste
der Kontinuitätsgleichung durch die Querschnitte ersetzt, ebenfalls alle gleich groß sein:
und wir erhalten für den
ΔpV, gesP = ΔpV,A = ΔpV,B = ΔpV ,
ρ ρ ρ
ΔpV = ζ gesP u1 2 = ζ A uA 2 = ζ B uB 2 .
2 2 2
1 AA AB 2 Diese drei Bedingungen lösen wir nach den Geschwindig-
ζA ζB
keiten auf:
A1 A2   
2ΔpV 2ΔpV 2ΔpV
a ζgesH u1 = , uA = , uB = .
ρζ gesP ρζ A ρζ B

1 ζA 2 Wir setzen die Geschwindigkeiten in die Kontinuitätsglei-


chung ein, kürzen 2ΔpV heraus
AA AB
A1 A2
ζB A A A
 1 = √A + √B
b ζgesP ζ gesP ζA ζB
Abb. 22.31 a Hintereinander- und b Parallelschaltung und lösen nach dem Ersatzwiderstandsbeiwert auf.
736 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Vertiefung: Hydraulische Netzwerke

Auslegung von hydraulischen Netzwerken. In der Pra- (Temperatur, Absolutdruck, Viskosität) spielen wegen
xis werden bei hydraulischen Netzwerken in der Ferti- möglicher Kavitation (Verdampfung aufgrund niedri-
gung und Produktion schon aus Kosten- und Bereit- gen Druckes) eine Rolle, daher sind folgende Werte
haltungsgründen standardisierte Elemente verwendet. wirklich nur als grobe Richtwerte zu verstehen.
Dies betrifft insbesondere Rohrleitungen und den ver-
wendeten Rohrleitungsdurchmesser d. Die Auslegung Flüssigkeiten mit einer Dichte etwa wie Wasser ρ ≈
ist immer eine Abwägung aus Anlagenkosten und Be- 1000 kg/m3 : u ≈ 1 − 5 m/s.
triebskosten (geringen Verlusten), denn eine Vergröße-
Gase, Dampf, vergleichsweise kurze Leitungen : u ≈
rung des Rohrleitungsdurchmessers d senkt die Verlus-
10 − 50 m/s.
te und damit die Betriebskosten grundsätzlich in der
vierten Potenz. Natürlich steigen damit die Anschaf- Luft in Druckluftsystemen, vergleichsweise lange Lei-
fungskosten an. Ein allgemeines Optimum kann man tungen : u ≈ 2 − 10 m/s.
zwar nicht angeben, denn dies ist stark vom Anwen-
dungszweck und von der vorgesehenen Einsatzzeit In der Regel ist es meist wegen der variablen Betriebs-
abhängig, jedoch kann man als Richtgröße die maximal zustände eines Systems sinnvoll, alle Rohrleitungen
auftretenden Rohrleitungsgeschwindigkeiten verwen- gleich auszulegen, sodass die relevanten Querschnitte
den. Da die Dichte ebenfalls linear in die Verluste vor den Bauteilen ebenfalls gleich groß sind. Insofern
eingeht, sind die zulässigen Geschwindigkeiten da- lassen sich die Gleichungen (22.36) und (22.37) daher
zu auch medienabhängig, auch andere Eigenschaften häufig vereinfachen.

Wir gehen von thermisch idealem


Gesamtverlustbeiwert der Parallelschaltung Gasverhalten aus
  −2
1 AA 1 AB
ζ gesP = √ +√ . (22.37)
ζA 1
A ζ B A1 In allen folgenden Betrachtungen gehen wir immer vom
Verhalten thermisch idealer Gase aus, d. h., die ideale
Gasgleichung p = ρRT soll gelten. Bei vergleichsweise
Strömungsmechanik

kleinem Druck und hoher Temperatur von ein- oder zwei-


atomigen Gasen kann man die Gültigkeit der idealen
22.7 Einführung in die Gasdynamik Gasgleichung voraussetzen. Eine hohe Temperatur ist da-
bei wichtiger als ein niedriger Druck, wobei mit „hoher
In der Gasdynamik werden Strömungen von Gasen im Temperatur“ ein genügend großer Abstand vom Ver-
Bereich oberhalb und unterhalb der Schallgeschwindig- dampfungsgebiet gemeint ist. Molekularer Wasserstoff
keit betrachtet. Das Fluidverhalten ist kompressibel und H2 verhält sich daher bereits bei deutlich geringeren Tem-
aufgrund der Kompressibilität (Änderung der Dichte und peraturen ideal (weit unter 0 ◦ C) als Sauerstoff, dessen
des Volumens) treten bei diesen Vorgängen signifikante Realgasverhalten bei Atmosphärendruck schon etwas un-
Volumenänderungsarbeiten auf. Im Gegensatz zur in- ter 0 ◦ C bemerkbar wird. Für Gasgemische (z. B. Luft)
kompressiblen Strömung ändern sich daher auch Tem- muss man die Partialdrücke der Bestandteile als Maß für
peratur und Enthalpie der Strömung. Als dimensionslo- den relevanten Druck verwenden. Dies hilft besonders bei
ser Parameter wird die Machzahl eingeführt, die bereits den Bestandteilen, die zwar dreiatomig (Wasserdampf,
durch (22.3) definiert wurde. Weil die Schallgeschwin- CO2 ), aber nur in geringer Konzentration enthalten sind
digkeit eine thermodynamische Zustandsgröße ist, ist und deren Partialdruck klein ist. Auch in diesen Fällen
die Machzahl nicht nur eine dimensionslose Geschwin- verhält sich ein Gasgemisch ideal, wenn sich die Haupt-
digkeit, sondern eine Ähnlichkeitsgröße, da sie sich mit bestandteile ideal verhalten. Bei dreiatomigen Gasen als
dem Zustand des Fluids verändert und diesen charakteri- Hauptbestandteil, z. B. in Dampfturbinen, ist die Annah-
siert. Die Machzahl kann theoretisch unendlich werden, me eines idealen Gases dagegen in der Regel nicht ge-
während die Strömungsgeschwindigkeit natürlich end- rechtfertigt, mit der Folge, dass auch ein Teil der in dieser
lich bleiben muss. Als Ähnlichkeitsgröße ergibt sich ihre Einführung angegebenen Gleichungen nicht anwendbar
Definition aus den Erhaltungsgleichungen selbst. ist.
22.7 Einführung in die Gasdynamik 737

In der eindimensionalen Theorie kommen Für die isentrope Strömung gilt daher nach dem zweiten
Hauptsatz der Thermodynamik:
die Erhaltungssätze zum Einsatz
1
dh = dp.
Die eindimensionale Theorie verwendet die bereits her- ρ
geleiteten Gleichungen: Kontinuitätsgleichung (22.17),
Energiegleichung (22.20) und Impulssatz (22.26) können Aufgrund der Vorgabe der Entropie sind von den ur-
ohne Modifikation übernommen werden, anders ist le- sprünglich fünf unbekannten Größen ρ, u, h, p und s nur
diglich die Darstellung. Stoffwerte werden nicht durch noch vier bei einem isentropen gasdynamischen Vorgang
alle beteiligten Größen ausgedrückt (spez. Wärmekapa- zu bestimmen: Dichte ρ, Geschwindigkeit u, Enthalpie h
zitäten, Gaskonstante und Isentropenexponent), sondern und Druck p, wofür die vier oben angegebenen Berech-
nur durch Gaskonstante R und Isentropenexponent κ. Da- nungsgleichungen ausreichen.
bei nutzt man folgende Beziehungen:

1
cv = R , Unterschall und Überschall, Machähnlichkeit
κ−1
κ
cp = R .
κ−1 Wir betrachten eine eindimensionale Stromröhre, deren
mittlere Stromlinie die Stromlinienkoordinate x definiert.
Auch die ideale Gasgleichung wird in etwas ungewohnter
Aus der Kontinuitätsgleichung erhält man durch Ab-
Schreibweise verwendet:
leitung der Größen nach der Stromlinienkoordinate x
h κ−1 (d. h. Betrachtung der Veränderung in x-Richtung):
p = ρRT = ρ R = ρh .
cp κ
1 dρ 1 du 1 dA
+ + = 0. (22.38)
Indirekt haben wir damit zwar auch vorausgesetzt, dass ρ dx u dx A dx
das Gas nicht nur thermisch, sondern auch kalorisch
ideal ist (d. h. h ∼ T), aber dies stellt keine große Ein- Hier ist A die Querschnittsfläche der Kanalkontur in Strö-
schränkung dar, solange wir zunächst nur relativ kleine mungsrichtung. Auch die Energiegleichung und der 2.
Temperaturbereiche ΔT/T betrachten. In diesem Fall sind Hauptsatz bei konstanter Entropie werden abgeleitet:
die Wärmekapazitäten cp und cv tatsächlich konstant.
du dh
u + = 0, (22.39)
Die Kontinuitätsgleichung wird in der Gasdynamik der ein- dx dx

Strömungsmechanik
dimensionalen Strömung in der Form mit veränderlicher
Dichte verwendet: dh 1 dp
− = 0. (22.40)
ṁ = ρuA = konst. dx ρ dx

Die potentielle Energie in der Energiegleichung ist in Lediglich die Zustandsgleichung muss nicht abgeleitet
der Gasdynamik immer klein gegen Enthalpie und ki- werden, da sie an jedem Ort x der Stromröhre gelten
netische Energie und wird ebenfalls vernachlässigt. Die muss.
Energiegleichung in adiabater Strömung ohne äußere Ar- p κ−1
beit reduziert sich also auf: = h. (22.41)
ρ κ
u2
h+ = konst. Jede thermodynamische Zustandsgröße lässt sich durch
2 genau zwei andere, von ihr unabhängige Zustandsgrößen
Schließlich wird auch der zweite Hauptsatz der Thermody- ausdrücken. Für die totalen Differenziale der Zustands-
namik gebraucht, der die Entropie s als wichtige Zustands- größen darf man daher immer die allgemeine, mathemati-
größe der kompressiblen Strömung einführt: sche Form einer Funktion mit zwei Variablen verwenden,
z. B. für den Druck p als Funktion von Dichte ρ und Entro-
1 pie s:
Tds = dq + dwR = dh − dp.
ρ    
∂p ∂p
dp = dρ + ds. (22.42)
Für Verluste in der Strömung müsste ein Verlustmodell ∂ρ s ∂s ρ
erstellt werden, sodass auch der Anstieg der Entropie be-
rechnet werden könnte. In dieser Einführung in die Gas- Für die isentrope Strömung ist ds = 0, daher fällt der
dynamik nehmen wir zunächst die adiabat-reibungsfreie zweite Term weg. Gleichzeitig gilt auf der Isentropen
Strömung an, d. h., die Entropie bleibt konstant, Tds = 0. p/ρκ = konst. Die partielle Änderung des Druckes mit
738 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

der Dichte bei konstanter Entropie ist daher indirekt pro- Eine Düse, die ein Gas aus der Ruhe (M = 0) in das Über-
portional zur Kompressibilität (22.29): schallgebiet beschleunigen soll, muss daher zunächst bis
  M = 1 im Querschnitt enger werden, bei M = 1 liegt
∂p p 1
= κρκ −1 konst. = κ = . der engste Querschnitt, und ab diesem Punkt muss sich
∂ρ s ρ Kρ für die weitere Beschleunigung der Kanal erweitern. Die
Für annähernd ideales Gaseverhalten kann die Kompres- Gleichung definiert darüber hinaus sogar die optimale
sibilität durch das Quadrat der Schallgeschwindigkeit a Kontur A(x), wenn ein strömungsgünstiger Verlauf der
ersetzt werden: Größen angestrebt wird (z. B. gleichmäßige Beschleuni-
gung du/dx). In diesem Fall entsteht aus A(x) die typi-
1 sche Glockenform eines Raketentriebwerks (Abb. 22.2).
= κRT = a2 ,

Die Zustandsgrößen im engsten Querschnitt (*) bei der
was zusammen mit der Definition der Machzahl (22.30) Beschleunigung aus dem Ruhezustand (Index 1) heraus
zur geläufigen Berechnungsformel für M führt (22.31). hängen dabei nur (!) vom Isentropenexponenten κ ab:
Bei vorliegendem realen Gasverhalten muss die Mach-
zahl daher unbedingt aus der ursprünglichen Definiti- T∗ 2
= , (22.44)
on der Kompressibilität ermittelt werden, nicht über die T1 κ+1
Schallgeschwindigkeit a. In diesem Zusammenhang sei  1
a∗ 2 2
noch einmal daran erinnert, dass die Schallgeschwindig- = ,
keit keine Geschwindigkeit im mechanischen Sinne ist, a1 κ+1
  κ
sondern eine thermodynamische Zustandsgröße. Ihre Ab- p∗ 2 κ −1
leitung ist keine Beschleunigung, sondern eine Zustands- = ,
p1 κ+1
änderung nach dem Schema von (22.42) für den Druck.   1
Zur deutlichen Abgrenzung von materiellen Geschwin- ρ∗ 2 κ −1
= .
digkeiten (u) wird deshalb sowohl in der Fachliteratur als ρ1 κ+1
auch hier das Symbol a verwendet.
Da wir in diesem Kapitel ausschließlich ideales Gasver-
halten betrachten, gilt: Maximale Ausströmgeschwindigkeit
 
∂p dp aus einem Kessel berechnen
= = a2 . (22.43)
∂ρ s dρ
Aus den vier Gleichungen (22.38) bis (22.41) und Glei- Es wird die maximal erreichbare Austrittsgeschwindig-
Strömungsmechanik

chung für die Schallgeschwindigkeit (22.43) können wir keit eines Gases aus einem Druckbehälter (Kessel) mit
Enthalpie, Druck und Dichte eliminieren, die Machzahl dem Druck p1 betrachtet. Das Gas ströme aus dem Kessel
M einführen und erhalten nach wenigen Rechenschrit- adiabat-reibungsfrei und damit isentrop in die Umge-
ten folgenden Zusammenhang zwischen Geschwindig- bung mit dem Druck p aus. Aus den Grundgleichungen
keit, Machzahl und Kanalkontur A: und unter Zuhilfenahme der Isentropengleichung

1 du 1 1 dA   κ −1
κ
=− . T
=
p
u dx 1 − M2 A dx T1 p1
Die Gleichung hat eine Singularität für M = 1, sodass
die Division durch diesen Term in diesem Fall nicht er- erhält man die Gleichung der Strömungsgeschwindigkeit
laubt wäre. Unabhängig von der Beschleunigung du/dx nach St.Venant-Wantzel für kompressible Strömung:
ist dann die linke Seite gleich null, sodass dA/dx = 0 sein 3 %
4
4 κ p   κ −1 &
muss, d. h. dass die Fläche A genau an dem Ort maximal 5 1 p κ

oder minimal ist, wo die Strömung gerade M = 1 erreicht. u= 2 1− .


κ − 1 ρ1 p1
Dass dort die Fläche minimal sein muss (Machzahl im
engsten Querschnitt ist immer 1), ergibt sich aus der Be- Die maximal mögliche Geschwindigkeit erhält man,
trachtung für Unterschall M < 1 und Überschall M > 1. wenn der Austrittsdruck minimal wird, d. h. wenn ins Va-
Fall 1, M < 1 (Unterschall): Der Term 1 − M2 ist positiv, kuum expandiert wird (p → 0).
sodass eine beschleunigte Strömung du/dx > 0 nur im   
κ p1 κRT1 2 
verjüngenden Kanal dA/dx < 0 stattfindet. u= 2 = 2 = a1 = 2h1 .
κ − 1 ρ1 κ−1 κ−1
Fall 2, M > 1 (Überschall): Der Term 1 − M2 ist negativ,
sodass eine beschleunigte Strömung du/dx > 0 nur im er- Letzteres bedeutet, dass man bestenfalls die gesamte Ent-
weiternden Kanal dA/dx > 0 stattfindet. halpie in kinetische Energie umwandeln könnte, wenn
22.7 Einführung in die Gasdynamik 739

man das Gas bis auf den Druck p = 0 Pa und die Tempe- Normierung auf engsten Querschnitt
ratur T = 0 K expandieren könnte, was allerdings selbst 2,5
im Vakuum des Weltraums in der Praxis nicht erreicht 2 A*/A
wird. Beim Austritt aus der Schubdüse eines Raketen- u/u*
1,5
triebwerkes bleiben Druck und Temperatur endlich. Bei T/T* und h/h*
Raketenstarts kann man beobachten, dass sich der Strahl 1 a/a*
mit sinkendem Umgebungsdruck (wachsender Höhe) im- p/p*
0,5
mer weiter zur Seite hin ausbreitet (Videos im Internet
bei (NASA) und (ESA), Suchbegriff „launch“). Nach dem 0
0 1 2 3 4 5
Austritt aus der Schubdüse erhält der Strahl aus der Rest- Machzahl
enthalpie einen Querimpuls, er ist unterexpandiert.
Abb. 22.32 Strömung in der isentropen Lavaldüse

Kontur der rotationssymmetrischen Düse


Welche Form hat eine Lavaldüse? 3
2
Wenn man Energiegleichung, Kontinuitätsgleichung, 2. 1
Hauptsatz und die ideale Gasgleichung für den isentro-

D/D*
pen Fall auf der Stromlinie zwischen engstem Querschnitt 0
(Index *) und einem beliebigen anderen Querschnitt auf- –1
stellt, erhält man folgende Beziehungen der Strömungs- –2
größen:
–3
0 1 2 3 4 5
1. Fläche über Machzahl: Machzahl
 2    κ +1
A 1 2 κ−1 2 κ −1
Abb. 22.33 Kontur der isentropen Lavaldüse für x ∼ M

= 1 + M . (22.45)
A M κ+1
2 2
2. Strömungsgeschwindigkeit über Machzahl:
Würde man also ein Raketentriebwerk mit der Kontur
 u 2 1 + κ−
2 nach Abb. 22.33 bauen, wäre das Hauptgewicht im Be-
1
= . reich des Austritts, gerade dieser Teil würde aber nur
u∗ 1 + κ−2 1
1 M2 noch gering zum Impuls, also dem Triebwerksschub bei-

Strömungsmechanik
3. Temperatur, Schallgeschwindigkeit und Druck über tragen. Daher wird der Querschnitt bei Triebwerken nach
Machzahl (die in der Geschwindigkeit „versteckt“ ist): dem engsten Querschnitt schneller vergrößert, denn hier
ist die Strömung gut geführt, zum Austritt hin dafür
 
T κ − 1  u 2 langsamer: Es entsteht die typische Glockenform, das
= 1− −1 , Triebwerk ist kürzer und leichter und richtet den austre-
T∗ 2 u∗
 tenden Strahl auch besser parallel aus als die Kontur nach
a T Abb. 22.33.
∗ = ,
a T∗
  κ
p T κ −1 Frage 22.18

= .
p T∗ Eine rotationssymmetrische Raketendüse soll bei einem
Austrittsdurchmesser d2 = 2,1m eine isentrope Austritts-
Trägt man alle Größen über der Machzahl auf, erhält
man die Kontur und alle relevanten Daten einer isen-
trop durchströmten Überschalldüse, die nach ihrem Er-
Geschwindigkeit u/u*

2,5
finder Lavaldüse genannt wird und bereits vor über 2
100 Jahren erstmalig in Dampfturbinen eingebaut wurde 1,5
(Abb. 22.32).
1
Für eine rotationssymetrische Düse mit über x line- 0,5
ar ansteigender Machzahl erhält man die Kontur nach
0
Abb. 22.33. Zu beachten ist hier, dass die Geschwindigkeit 0 1 2 3 4 5
nicht linear mit der Machzahl ansteigt, sondern wegen Machzahl
der kleiner werdenden Schallgeschwindigkeit zum Aus-
tritt der Düse hin immer langsamer wächst (Abb. 22.34). Abb. 22.34 Lavaldüse: Geschwindigkeit über Machzahl
740 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

machzahl M2 = 5,9 aufweisen (κ = 1,4). Wie groß ist der Bereich der verdichteten Luft, Bereich der noch ruhenden Luft,
Durchmesser im engsten Querschnitt d∗ ? die der Kolben vor sich her- bevor die Stoßfront ankommt:
schiebt: Geschwindigkeit uK Geschwindigkeit u1 = 0

Antriebskraft 2 1
Wie entsteht ein senkrechter Verdichtungsstoß?

Als Beispiel für einen verlustbehafteten Vorgang, der sich


auch theoretisch vergleichsweise einfach erarbeiten lässt, Kolben bewegt sich mit Stoßfront: Sehr dünne Zone, in
wird hier der senkrechte Verdichtungsstoß behandelt. Wir Überschall, uK > a1 der die Luft schlagartig kompri-
miert wird. Geschwindigkeit der
betrachten zunächst in einem Gedankenexperiment eine Front uS > uK, weil sich immer
einfach erklärbare Strömungssituation und leiten daraus mehr Luft in Zone 2 ansammelt.
die Gleichungen des Verdichtungsstoßes ab.
Abb. 22.35 Stoßfront vor einem mit Überschall bewegten Kolben
Dazu stellen wir uns ein sehr langes, durchsichtiges und
gerades Kreisrohr vor, das mit Gas, z. B. Luft mit gege-
benen Eigenschaften gefüllt ist: κ = 1,4, R = 287 J/(kg K)
und T1 = 288 K. Das Rohr ist auf der rechten Seite zur und lassen eine Filmkamera mit gleicher Geschwindigkeit
Umgebung offen (Abb. 22.35), die Luft ist im Zylin- wie die der Stoßfront neben dieser herlaufen. Den aufge-
der zunächst in Ruhe und die Schallgeschwindigkeit ist nommenen Film werten wir hinterher aus. Zu beachten
a1 = 340 m/s. Jetzt wird von der linken Seite her ein ist beim Wechsel eines Bezugssystems immer:
Kolben mit so großer Kraft durch das Rohr geschoben,
dass er sich mit deutlich größerer Geschwindigkeit als Der Bewegungszustand des Beobachters beeinflusst
der Schallgeschwindigkeit a1 des Gases bewegt (uK > a1 ). objektiv messbare Grössen nicht!
Was passiert bei diesem Vorgang? Die Gasteilchen direkt
am Kolben (Zone 2 in Abb. 22.35) müssen sich zwangsläu- Thermodynamische Zustandsgrößen sind objektiv
fig mit dem Kolben mitbewegen, denn sie können nicht messbare oder ermittelbare Größen. Jeder Beobach-
ausweichen. Die Teilchen in der Zone 1, weit genug weg ter, egal ob bewegt oder unbewegt, muss bezüglich
vom Kolben, bleiben aber zunächst vollständig ungestört dieser Größen bei Messungen oder Rechnungen für
in Ruhe. Die Information „hier kommt ein Kolben mit- einen festen Ort zum gleichen Wert kommen. Es
samt der bereits komprimierten Luft angeschossen“ kann wäre schließlich möglich, an jedem beliebigen Ort
durch die Luft in Zone 1 höchstens mit Schallgeschwin- Messgeräte für Druck und Temperatur zu installie-
Strömungsmechanik

digkeit weitergegeben werden, sie kann sich also nicht ren, die bewegte und unbewegte Beobachter zum
schneller als die Stoßfront (das ist der Übergang zwi- selben Zeitpunkt ablesen: Sie können dann gar nicht
schen Zone 1 und Zone 2) bewegen. Folglich „merken“ auf andere Werte kommen.
die Luftteilchen in Zone 1 frühestens von dem Gesche-
hen, wenn die Stoßfront sie erreicht. Genau in diesem
Augenblick werden sie von dem sich bereits mit uk be- Diese Aussage klingt zwar zunächst trivial, warum sie
wegenden Luftpolster der Zone 2 schlagartig mitgerissen aber so wichtig ist, erkennt man, wenn man jetzt in Ge-
(extrem beschleunigt) und ihr Zustand, also Druck, Dich- danken den Film des Vorgangs sieht. Die Kamera wird
te und Temperatur, passt sich sofort an die Werte der Zone Folgendes zeigen:
2 an. Weil das Volumen der Zone 2 bei dem Vorgang durch
Von der rechten Seite strömt das Gas vom Zustand 1 deut-
die ständig neu mitgerissene Luft wächst, bewegt sich die
lich im Überschallbereich die Stoßzone an (Abb 22.36).
Stoßfront (nicht die Teilchen in der Stoßfront) deutlich
Irgendwie hat man bei so einer Situation das Gefühl,
schneller als der Kolben nach rechts, uS > uK .
dass die extrem hohe Strömungsgeschwindigkeit einen
Die Fragestellung ist nun: Wie verändern sich die Zu- Einfluss auf den thermodynamischen Zustand in der Zo-
standsgrößen Druck, Dichte, Temperatur, Entropie, etc. ne 1 haben müsste. Das ist definitiv aber nicht der Fall,
über der Stoßfront bei dem Experiment. Diese Frage kön- denn in unserem Experiment sieht es ja nur so aus, als
nen wir durch einen Wechsel des Bezugssystems des Be- wenn sich die Luft bewegt, in „Wirklichkeit“ bewegt
obachters besser beantworten. Für uns als bezüglich der sich die Kamera. Die Kamera filmt also einen statio-
Luft in Zone 1 ruhenden Beobachter ist der Vorgang insta- nären Strömungszustand, bei dem sich an irgendeiner
tionär, denn die Stoßfront (der Ort des Geschehens) ist in Stelle in einem Rohr eine Stoßfront entwickelt hat und
Bewegung. Für einen mit der Stoßfront gleichförmig mit- nun stationär die Zuströmung mit dem Zustand 1 und
bewegten Beobachter ist der Vorgang dagegen stationär die Abströmung mit dem Zustand 2 erfolgt. Die Stoß-
und einer Berechnung leichter zugänglich. Wir stellen uns front ist zwar dünn, hat aber ein endliches Volumen,
also vor, dass wir das gleiche Experiment wiederholen sodass wir die Erhaltungssätze anwenden können. Der
22.7 Einführung in die Gasdynamik 741

Luft der Zone 1 wie verhalten sich Dichte und Temperatur? Betrachten
bewegt sich mit wir zunächst die Dichte und nochmal die Beziehung zum
uS > uK > a1 nach links
Druck:
A1 = A2 >> AW AW  
κ +1 p1
ρ2 κ −1 + p2 κ+1
2 A2 A1 1 = p   = .
ρ1 1 κ +1
+1 κ−1
p2 κ −1

Das Dichteverhältnis bleibt auch beim unendlich starken


Kolben und Zone 2 Stoßfront: ruht Stoß endlich und hängt nur vom Isentropenexponenten
bewegen sich mit ab. Für einatomige Gase (κ = 1,666) ist das Dichtever-
Kamera
uS – uK nach links hältnis maximal 4, für zweiatomige Gase (κ = 1,4) ist es
maximal 6. Das Temperaturverhältnis wächst allerdings
Abb. 22.36 Stoßfront aus Sicht des mitbewegten Beobachters
mit dem Druckverhältnis unbegrenzt, wenn auch lang-
samer, was die hohen Temperaturen beim Wiedereintritt
von Raumflugkörpern in die Atmosphäre erklärt. Natür-
Impuls der Strömung wird in der Stoßfront beträchtlich lich ist die Machzahl auch in diesem Fall hoch aber nicht
geändert, es muss also eine Gegenkraft im Spiel sein, unendlich, sodass das Dichteverhältnis in jedem Fall un-
die die Impulsänderung bewirkt, deswegen müssen wir ter dem Wert von 6 liegt. Das hochverdünnte Gas der
neben Kontinuität, Energiegleichung und Zustandsglei- oberen Atmosphäre hat dadurch zwar unmittelbar am
chung auch den Impulssatz anwenden. Eine wunderbare Raumflugkörper immer noch eine geringe Dichte, dafür
Gelegenheit für eine Übungsaufgabe zum Thema „Er- aber eine hohe Temperatur und ionisiert zu einem Plasma.
haltungssätze“ (Aufgaben am Ende des Kapitels). Das Bei der Rekombination hinter dem Flugkörper entsteht
Ergebnis wird vorweggenommen, damit Sie es hinterher die bekannte Leuchterscheinung, ebenso wie bei Meteo-
kontrollieren können. ren.

Zustandsänderungen beim senkrechten Verdichtungs- Frage 22.19


stoß Welcher Stoffwert und welche Strömungsgröße beeinflus-
sen überwiegend das gasdynamische Verhalten?
Druckverhältnis über der Stoßfront:
p2 κ  2 
= 1+2 M1 − 1 . (22.46)
p1 κ+1

Strömungsmechanik
Wie berechnet man einen schrägen
Dichteverhältnis über der Stoßfront:
Verdichtungsstoß?
ρ2 ( κ + 1 ) M1 2
= . (22.47)
ρ1 2 + ( κ − 1 ) M1 2 An keilförmigen Flugkörpern, die sich mit Überschall
bewegen, entstehen schräge Verdichtungsstöße, weil die
Temperaturverhältnis über der Stoßfront: Strömung zusätzlich aus ihrer ursprünglichen Richtung
um den Körper herum abgelenkt wird (Abb. 22.37). Die
T2 p ρ
= 2 1. (22.48) Beziehungen des schrägen Stoßes lassen sich aus den Be-
T1 p1 ρ 2 ziehungen des senkrechten Verdichtungsstoßes herleiten,
Machzahl M2 der Abströmung: wenn wir folgende Überlegung anstellen: Ein Beobachter
bewege sich parallel zum Stoß mit der gleichen Tangen-
p1 ρ 1 tialgeschwindigkeit wie die Anströmung, d. h. mit der
M2 2 = M1 2 . (22.49)
p2 ρ 2 Komponente u1,t der Anströmung. Dadurch „sieht“ der
Beobachter wieder die Verhältnisse bei einem geraden
Entropieerzeugung der Stoßfront: Stoß. Aufgrund des Prinzips, dass der Bewegungszu-
  κ  stand des Beobachters objektiv messbare Größen nicht
s2 − s1 1 p ρ1 beeinflussen darf, bedeutet das:
= ln 2 . (22.50)
R κ−1 p1 ρ 2
Der Anteil der Anströmgeschwindigkeit senkrecht zur
Stoßfront (Normalanteil) muss im Überschallbereich
Eine sehr interessante Folge der Stoßgleichungen ist die sein, u1,n > a1 .
Frage was passiert, wenn die Anströmung mit sehr ho- Aus Impulserhaltungsgründen darf der mitbewegte
her Machzahl M1 → ∞ erfolgt. Das Druckverhältnis geht Beobachter auch keinen Tangentialanteil bei der Ab-
zwar offensichtlich gegen unendlich (p1 /p2 → 0), aber strömung sehen. Der Geschwindigkeitsanteil parallel
742 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Mit u1,t mitbewegter Gasdynamische Strömung durch eine Lavaldüse


Beobachter
u1,t T* = 2/( + 1) T1 Strahlrand reflektierte
Stoßfläche Brenn- M* = 1 Stöße Stöße
kammer

M1 0 M2 > 1
u1,t u1,n
u1,n < a1 u2 x
u1 Temp. T1
α β
α u2,n u2,t
a
Lavaldüse
Keil
Brenn- Strahlrand
β Abströmung: kammer
u2,n < a2
Über-/Unterschall
M1 0 M2 > 1
Abb. 22.37 Schräger Stoß bei der Umlenkung durch einen Keil x
Temp. T1

Expansions-
M* = 1 Stöße
zum Stoß muss daher auch für den ruhenden Beobach- b fächer
ter gleich bleiben: u1,t = u2,t .
Die Zustandsgrößen stellen sich in Bezug auf u1,n und Abb. 22.38 a Sich schneidende und am Rand reflektierte Stöße nach dem Aus-
M1,n = u1,n /a1 wie beim geraden Stoß ein. tritt aus einer Lavaldüse, b überexpandierter Strahl
Der Normalanteil der Abströmung u2,n muss immer
Unterschall sein, sonst wäre es kein Stoß. Die Abström-
machzahl M2 = u2 /a2 kann aber wegen der Abhängig- Machscheibe
keit von der Größe der Tangentialgeschwindigkeit u2,t
Über- oder Unterschall sein.
Expansions-
fächer Überexpan-
Alle Gleichungen des schrägen Stoßes und der sich bei ei- sionsstoß
nem bestimmten Keilwinkel einstellende Stoßwinkel las-
sen sich mit dieser Überlegung herleiten. Aus Platzgrün- Unterschall
den wird daher hier auf die Herleitung verzichtet, denn
diese läuft völlig analog zum geraden Stoß. Zustandsgrö-
Strömungsmechanik

ßen werden mit dem Normalanteil der Anströmmachzahl


M1,n aus den Beziehungen des geraden Stoßes berechnet. Mach-
Die sich ergebende Beziehung zwischen Umlenkwinkel β diamanten
(halber Keilwinkel) und Stoßwinkel α ist hier der Vollstän-
digkeit wegen angegeben:

2 cot(α) M1 2 sin2 (α) − 1


tan( β) =
. Abb. 22.39 Stoßsystem des SSME (Space Shuttle Main Engine) beim Start im
2 + M1 2 κ + 1 − 2 sin2 (α) Überexpansionsfall mit Machscheibe

Stöße können sich gegenseitig durchdringen und am


Strahlrand scheinbar reflektiert werden. Dieses Phäno-
men kann man am Austritt von Raketendüsen häufig Strahl zunächst ein (Abb. 22.38b). Hier wird der Stoß am
beobachten und ist in Abb. 22.38a schematisch dargestellt. Strahlrand nicht reflektiert, weil die Strahlränder sonst
In Wirklichkeit werden aber nicht die Stoßfronten reflek- permanent aufeinander zulaufen würden. Stattdessen bil-
tiert, sondern der erste, schräge Stoß, dessen Stoßfront det sich ein Expansionsfächer aus, und der Strahlrand
in Richtung Strahlrand verläuft, lenkt die Strömung in divergiert wieder. Dieser Vorgang kann sich mehrfach
Richtung Strahlrand um, die zweite Stoßfront (der schein- periodisch wiederholen. Im Strahl bilden sich dabei rau-
bar reflektierte Stoß) richtet die Strömung dann wieder tenförmige Bereiche mit höherer Temperatur, die meist
parallel zum Strahlrand aus. Wie bei der Durchdringung hell leuchten und daher Mach-Diamanten (shock dia-
(Interaktion zweier Stoßfronten) sind daher auch die Win- monds) genannt werden (vgl. Abb. 22.38 mit Abb. 22.39).
kel zum Strahlrand des ersten und des reflektierten Stoßes Bei einem unterexpandierten Strahl (der Austrittsdruck
nicht gleich groß. Bei einem überexpandierten Strahl ist ist höher als der Umgebungsdruck, daher weitet sich der
der Austrittsdruck des Strahls aus der Lavaldüse klei- Strahlrand zunächst auf) beginnt der periodische Vorgang
ner als der Umgebungsdruck, daher schnürt sich der mit einem Expansionsfächer, sieht aber sonst ähnlich aus.
22.7 Einführung in die Gasdynamik 743

Strömungen in einem Flachwasserkanal und die Faktoren auch gleich sind. Dies trifft nur für ein
theoretisches Gas mit einem bestimmten Wert des Isentro-
gasdynamische Strömungen sind sich ähnlich
penexponenten zu, nämlich κ = 2. Im dreidimensionalen
Raum kann es ein solches Gas aber aus theoretischen
In der Einleitung wurde bereits angedeutet, dass es ei- Gründen nicht geben, denn der Isentropenexponent ist
ne enge Beziehung zwischen den Strömungszuständen durch die Zahl der Freiheitsgrade (f ) thermische Energie
in einem flachen Flussbett und den Strömungszuständen aufzunehmen bestimmt. Es gilt in guter Näherung:
in der Gasdynamik gibt. Diese Verwandtschaft ist durch
f +2
die identische Form der Erhaltungsgleichungen begrün- κ= .
det und lässt sich sehr schön zur Demonstration von f
gasdynamischen Effekten in einem Kanal mit gemäch- Einatomige Gase können nur Translationsenergie aufneh-
lich strömendem Wasser nutzen. Ein solcher Wasserka- men, im dreidimensionalen Raum heißt das f = 3, also
nal lässt sich mit geringem Aufwand bauen und ersetzt κ = 1,6667, ein Wert, der tatsächlich hervorragend für
zu Lehr- und Demonstrationszwecken immens teuere alle Edelgase zutrifft. Zweiatomige Gase haben 5 Haupt-
Überschallwindkanäle. Betrachten wir zunächst einmal freiheitsgrade: Drei Translationen, zwei Rotationen. Dazu
den Aufbau der Gleichungen. Kontinuitätsgleichung und kann das Molekül in Schwingung geraten, was sich bei
Energiegleichung in der Gasdynamik zwischen Eintritt 1 hohen Temperaturen auswirkt: f = 5+, κ ≤ 1,4. Drei und
und Austritt 2 einer Stromröhre hatten wir bereits zu Be- mehratomige Moleküle können erheblich schwingen, des-
ginn beschrieben: halb ist meistens f ≥ 6, κ ≤ 1,33. Unser theoretisches Gas
ṁ = ρ1 u1 A1 = ρ2 u2 A2 , mit κ = 2 kann im dreidimensionalen Raum also gar nicht
2 existieren, denn f = 2 wäre ein einatomiges Gas im zwei-
u1 u 2
+ h1 = 2 + h2 . dimensionalen Raum – leider. Solange wir uns dieser
2 2 Tatsache bewusst sind, ist die Analogie aber hervorra-
Diese Gleichungen hatten wir auch für die Oberflächen- gend gültig. Vergleicht man die Kontinuitätsgleichungen
stromlinie einer näherungsweise reibungsfreien Flach- und die Energiegleichungen miteinander, erkennt man
wasserströmung aufgestellt. Wir erhielten (Ai = Bi zi ): die miteinander korrespondierenden Größen:
V̇ = u1 B1 z1 = u2 B2 z2 ,
M1,2 ⇔ Fr1,2 ,
u1 2 u 2 √ √
+ gz1 = 2 + gz2 . a = κRT ⇔ c = gz,
2 2
A1 B
Offensichtlich hat die potentielle Energie gz in der Flach- ⇔ 1,
wasserströmung genau die gleiche Bedeutung wie die A2 B2

Strömungsmechanik
Enthalpie h in der Gasdynamik. Wenn wir jetzt noch die ρ2 T2 z
und ⇔ 2,
Enthalpie h durch cp T ersetzen, kommt der Wasserhöhe z ρ1 T1 z1
über dem Grund und der Gastemperatur T in den Glei- 
a2 z2
chungen exakt die gleiche Bedeutung zu. Stellt man die ⇔ ,
a1 z1
Gleichungen in die dimensionslose Form um und führt  2
die Kennzahlen (Froudezahl und Machzahl) ein, ist die p2 z2
⇔ .
Verwandtschaft nicht mehr zu übersehen: p1 z1
Kontinuität: Die korrespondierende Größe zum Druck (Quadrat der

A1 ρ T2 Höhenverhältnisse) leitet sich aus der idealen Gasglei-
M1 = M2 2 , chung ab, weil sowohl Dichte als auch Temperatur in
A2 ρ1 T1 der Flachwasseranalogie durch die Wasserhöhe z reprä-

B1 z z2 sentiert werden. Für den Entropieanstieg gibt es übrigens
Fr1 = Fr2 2 . aufgrund des Wertes κ = 2 keine analoge Größe.
B2 z1 z1
   
Energie: s2 − s1 1 p2 κ ρ1
    = ln + ln ,
M2 2 T2 2 T2 R κ−1 p1 κ−1 ρ2
M1 1 −
2
= − 1 ,  2  
M1 2 T1 κ − 1 T1 s2 − s1 z z
= ln 2 2 + 2 ln 1 = ln(1) = 0.
    R z1 z2
Fr2 2 z2 z2
Fr1 1 −
2
= 2 − 1 . Mit diesem Satz analoger Größen können wir jetzt das
Fr1 2 z1 z1
Verhalten der Wasserströmung aus den gasdynamischen
Der einzige „Schönheitsfehler“ der Analogie liegt im Vor- Gleichungen vorhersagen, bzw. umgekehrt, Beobachtun-
faktor der rechten Seite dieser Gleichungen. Wirklich gen im Wasserkanal auf eine gasdynamische Strömung
identisches Verhalten der Gleichungen liegt nur vor, wenn übertragen.
744 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Lavaldüse Das Verhalten der Lavaldüse und die Glei- Beruhigungs- Auslauf
chungen der Zustandsgrößen und der Flächen hatten wir kammer
bereits kennengelernt. Überträgt man dies auf den Was- Auffang-
serkanal, muss in den Kanal eine Verengung mit einer behälter
Kontur nach (22.45) eingebaut werden. Zu beachten ist
dabei, dass die Kanalströmung inkompressibel ist und
Lavaldüse
daher im Gegensatz zur Gasströmung der tatsächliche
Strömungsquerschnitt auch bei Fr > 1 sinkt. Es ergibt
sich, dass (22.45) mit κ = 2 nicht für das Flächenverhältnis
A/A∗ , sondern für das Breitenverhältnis B/B∗ gilt. Damit
ist der Breitenverlauf:
   3
B 1 2 1 2 2 Einlauf
= 1 + Fr . (22.51)
B∗ Fr 3 2
Auslauf
Im engstem Querschnitt ist Fr = 1. Wegen (22.44) ist das
Wasserhöhenverhältnis im engsten Querschnitt der Düse
zum Ruhezustand im großen Behälter genau z∗ /z1 = 2/3. a b
Der Volumenstrom durch die Düse ist dadurch festgelegt:
Abb. 22.40 Versuchsanordnung Flachwasserkanal
 2
∗ ∗ ∗
 ∗ ∗ √ 2 3

V̇ = u B z = gz z B = g z1 B∗ .
3
im Rahmen der Messgenauigkeit hervorragend überein.
Am Austritt der Düse bestätigt sich die Froudezahl 5,0
Frage 22.20 der Auslegung. Im engsten Querschnitt der Düse ist die
Bestimmen Sie im Wasserkanal den Breitenverlauf der La- Wassertiefe genau 2/3 der Höhe im Behälter, d. h., die
valdüse B/B∗ in Abhängigkeit von der Froudezahl aus Froudezahl ist auch in der Messung exakt 1.
den dimensionslosen Gleichungen.
Die Draufsicht auf die Strömung im Düsenbereich
(Abb. 22.41) lässt einige Details erkennen, die auch bei
Frage 22.21 aufwendigen Schlierenaufnahmen gasdynamischer Strö-
mungen beobachtet werden (Frey, 2001). Nach dem engs-
In einen Wasserkanal der Grundbreite B0 soll eine Laval-
ten Querschnitt beschleunigt die Strömung auf Fr > 1,
düse mit der Austrittsfroudezahl 5 eingebaut werden. Wie
man spricht dann von schießendem Wasser. Bis zum Aus-
groß muss hierzu der engste Querschnitt B∗ sein?
Strömungsmechanik

tritt der Düse steigt die Froudezahl weiter an und die


Wasserhöhe sinkt bis auf wenige Millimeter. Innerhalb
In Abb. 22.40 ist die hier betrachtete Versuchsanordnung der Düse nach dem engsten Querschnitt sind Expansi-
dargestellt. onsfächerlinien als feine Oberflächenwellen deutlich er-
kennbar (Abb. 22.41). Nach Düsenaustritt bilden sich vom
In Abb. 22.40a, das gegen die Strömungsrichtung auf- Strahlrand her schräge Stoßfronten als stationäre Wasser-
genommen wurde, erkennt man im Hintergrund den sprungwelle aus. Die Wasserschichtdicke ist im dreieck-
großen Wasserbehälter mit der Beruhigungskammer. Ab-
bildung 22.40b, mit Blick in Strömungsrichtung, zeigt den
gut gerundeten (verlustfreien) Einlauf in den Kanal kon- Fr1 ≈ 0 Fr2 = 5
stanter Breite. In den Kanal, der etwa 2,5 m lang ist, sind
Fr* = 1
die beiden rötlichen Seitenwangen einer ebenen Lavaldü-
se eingebaut, die für die Austrittsfroudezahl Fr2 = 5 aus-
gelegt ist. Die Seitenwangen wurden aus Hartschaumstoff
(aus der Gebäudedämmung) hergestellt, da sich dieser
Stoff sehr einfach bearbeiten lässt. Das Wasser ist mit ei-
nem blauen Kontrastmittel (Methylenblau) eingefärbt, in
den später folgenden Draufsichten kann man daher an-
hand der unterschiedlich tiefen Blaufärbung die lokale
Wassertiefe gut erkennen. Auch Oberflächenwellen las- Analogie-
sen sich so kontrastreich darstellen. Mit einer Tiefenlehre Beobachtungen: Machdiamant
Machlinien
werden die lokalen Wassertiefen auch quantitativ sehr ge- (Expansionswellen) Überexpansionsstoß
nau erfasst. Im Einlaufbereich, im Bereich der Düse und
im Bereich des Auslaufs stimmen die ermittelten Was- Abb. 22.41 Analogie der Kanalströmung: Lavaldüse (Fr = 5) mit Wasser-
sertiefen mit der reibungsfreien Rechnung der Strömung sprungwellen
22.7 Einführung in die Gasdynamik 745

Beispiel: Wasserkanal mit Einbauten

. . . oder: Beobachtungen zur Analogie mit den gasdy- herrührende Störung, also die ebenfalls schrägen Stö-
namischen Strömungen, die man auch an einem Bach ße inklusive der Reflexionen am Körper selbst, muss
machen kann. man sich allerdings wegdenken). An der Hinterkante
ist ein schwacher Expansionsfächer sowie ein darauf
Problemanalyse und Strategie Den Kernbereich nach folgender erneuter Stoß erkennbar. Das Bild ist mit
dem Austritt aus der Lavaldüse kann man dazu nut- dem Wellenbild eines schnell fahrenden Schiffes mit
zen, um einerseits Phänomene der Überschallströ- spitzem Bug gut vergleichbar. Der stumpfe Körper
mung sichtbar zu machen, andererseits kann man auch im unteren Bildteil zeigt einen von der Vorderkan-
Schlüsse über die optimale Strömungsführung in Ge- te abgelösten (starken) Stoß, der im Gegensatz zum
wässern (Flüsse, Bäche) ziehen. Wenn Sie beim nächs- keilförmigen Körper nicht geradlinig, sondern deut-
ten Spaziergang über eine Brücke gehen, nehmen Sie lich gekrümmt verläuft. Das Bild hinter dem stumpfen
sich ein paar Minuten Zeit und ordnen Sie die Beob- Körper ist zwar prinzipiell gleich, man kann aber an
achtungen in die vorgestellte Systematik ein. der dunkleren Färbung des Wassers erkennen, dass die
Störung des stumpfen Körpers größer ist, obwohl er so-
gar kleiner als der keilförmige Körper ist.
Lösung Vergleichen Sie zunächst Abb. 22.41 mit
Abb. 22.39. Nach dem Ende der Düse im Wasserkanal
läuft die Strömung auf die Kanalwand (= Strahlrand)
zu und wird daher durch einen vom Düsenende ausge-
henden, schrägen Stoß parallel zu dieser ausgerichtet,
dabei steigt die Wasserhöhe (= Druck und Temperatur)
nach dem Stoß an. Offensichtlich ist der Düsenaustritt
im Wasserkanal überexpandiert, genau wie der Aus-
tritt des Gasstrahls beim SSME während des Starts.
Beim Wasserkanal laufen beide Stöße ineinander, so-
dass nach dem Kreuzen eine spitze Verdichtungszone
entsteht (rechter Bildrand in Abb. 22.41). Nach den
schrägen Stößen ist die Strömung aber immer noch
im Übersch(w)allbereich. Beim SSME bildet sich da-

Strömungsmechanik
gegen bereits vor dem Zusammenlaufen der schrägen
Stoßfronten eine Machscheibe aus, also ein senkrech-
ter, starker Stoß, in dem das Medium auf Unterschall
gebremst und daher sehr heiß und hell leuchtend
wird. Hauptsächlicher Grund ist, dass Raketentrieb- Abb. 22.42 Vergleich keilförmiger Körper mit stumpfem Körper
werke bewusst nicht für die kurze Flugphase in der
unteren Atmosphäre (Umgebungsdruck 1 bar), son- Schießende Strömungen haben in Flüssen und Bächen
dern für die Flugphase mit sehr geringem Gegendruck einige negative Folgen. Eine schießende Strömung
(ab etwa 1 Minute „time into flight“) ausgelegt und führt zu erheblich größerer Erosion, als fließendes Was-
daher beim Start stark überexpandiert sind, was am ser (Fr < 1). Dazu kommt, dass die Abflussgeschwin-
Einschnüren des Gasstrahls erkennbar ist. Der zwei- digkeit stark ansteigt, was zu geringeren Wasserhö-
te Mach-Diamant in Abb. 22.39 ist dagegen eindeu- hen, also schlechterer Befahrbarkeit mit Schiffen und
tig spitz, weniger hell und gleicht eher der Form in geringerer Speicherwirkung bei Starkregen, also grö-
Abb. 22.41. ßerer Hochwassergefahr führt. Stark begradigte und
In Abb. 22.42 wird der Vergleich eines keilförmigen kanalisierte Schifffahrtsstraßen wie der Rhein mussten
Körpers mit einem an der Vorderseite stumpfen Kör- daher mit Staustufen versehen werden und müssen
per gezeigt. An der Spitze des keilförmigen Körpers trotzdem meistens dauerhaft durch Ausbaggern frei-
(obere Bildhälfte) werden zwei schräge Stöße ausge- gehalten werden. Bei in früheren Zeiten begradigten
löst (die bereits vor dem Körper vom Düsenauslass und kanalisierten Bachläufen geht man heute verstärkt
746 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

den Weg der Renaturierung. Durch Rückbau der Be-


gradigungen und durch Einbringen von Störungen in
Form von Kieseln oder Felsen wird effektiv verhin-
dert, dass der Bach ins Schießen kommt. Dies zeigt die
letzte Abb. 22.43 im Kanal sehr eindrucksvoll. Durch
das Einbringen zweier Steine wird ein abgelöster Stoß
bzw. Wassersprung verursacht, der die Strömung (von
rechts nach links) bereits weit vor den Steinen von
der Froudezahl Fr = 5 auf eine Froudezahl unter 1
abbremst. Der Wassersprung ist trotz der unsymme-
trischen Anordnung fast gerade, danach strömt die
vorgegebene Wassermenge nur noch gemächlich mit
deutlich größerer Wassertiefe bei gleichem Gefälle wie
zuvor weiter. Die größere Wassertiefe bei geringerer
Strömung Fließgeschwindigkeit führt nach der Renaturierung zu
einer schnellen Wiederbesiedelung eines Baches durch
Flora und Fauna.
Abb. 22.43 Steine verhindern schießende Strömung

Verhältnis im engsten Querschnitt an, sodass sowohl der


Querschnitt, als auch die Schwallgeschwindigkeit größer
werden, um den höheren Volumenstrom aufzunehmen.
Bei Turbinenstufen und dem Düsenhals einer Raketendü-
se entspricht dieser Vorgang dem Anstieg des Druckes
und der Dichte vor dem engsten Querschnitt, um einen
höheren Massenstrom durch die Düse mit begrenzter di-
z1 mensionsloser Schluckfähigkeit zuzulassen. Anhand des in
z*
Abb. 22.44 gezeigten Blicks zurück in den Kanal (sozusa-
z2 gen in den Abgasstrahl einer Rakete hinein) lassen sich die
Wasserhöhenverhältnisse noch deutlicher machen.
Strömungsmechanik

Literatur
Avila K, Hof B (2012) Von Wirbelballen zur Turbulenz.
Abb. 22.44 Blick „in den Abgasstrahl“ der Düse
Spektrum der Wissenschaft 03, 16–18
Grote KH, Feldhusen J (Hrsg.) (2012) Dubbel, Taschen-
förmigen Kernbereich des Düsenaustritts am geringsten, buch für den Maschinenbau. 23. Auflage, Springer
die Strömungsgeschwindigkeit am höchsten. Nach dem Spurk J, Aksel N (2010) Strömungslehre: Einführung in
Stoß (erkennbar an der dunkleren Blaufärbung) ist die die Theorie der Strömungen. 8. Auflage, Springer
Wasserschicht dicker, d. h., die Strömungsgeschwindig-
keit sinkt, denn der Stoß richtet die Strömung parallel NASA Veröffentlichte Filme und Fotos im Internet
zur Wand (= Strahlrand) aus. Dieses Phänomen tritt als von Raketenstarts und Shuttlestarts. https://nasa.gov/
Überexpansionsstoß auch am Austritt von Raketentrieb- multimedia/videogallery/index.html
werken auf (vgl. mit Abb. 22.39), auch hier werden die ESA Veröffentlichte Filme und Fotos im Internet von
Stromlinien parallel zum Strahlrand ausgerichtet. Bei ei- Raketenstarts (z. B. Ariane). https://spaceinvideos.esa.
ner gasdynamischen Strömung entspricht der Stoß einem int/Videos
Temperatur-, Druck- und Dichteanstieg über dem Stoß. Frey M (2001) Behandlung von Strömungsproblemen in
Haben sich die beiden schrägen Stöße durchdrungen, ist Raketendüsen bei Überexpansion. Dissertation, Uni-
die Wasserschicht nochmals dicker (man beachte die un- versität Stuttgart
terschiedliche Blaufärbung gegen den hellen Boden), die
Strömungsgeschwindigkeit sinkt also weiter ab. Fefferman Ch, CMI (Hrsg.) Existence and Smoothness of
the Navier-Stokes Equation, Millenium Prize, Clay Ma-
Erhöht man den Volumenstrom der Umwälzpumpe, steigt thematics Institute, Providence RI (USA) https://www.
der Wasserstand im Behälter und damit auch im gleichen claymath.org/videos-2000-millennium-event
Antworten zu den Verständnisfragen 747

Antworten zu den Verständnisfragen

Antwort 22.1 Der diskontinuierliche Aufbau der Materie Antwort 22.11 Die Stromröhre darf mit beliebig kleiner
wird ignoriert. Alle physikalischen Eigenschaften der Ma- Eintrittsfläche frei gewählt werden. Ein solcher Strom-
terie werden dem Punkt im Raum zugeordnet und durch faden darf im Grenzfall auch nur noch eine Stromlinie
stetige und stetig differenzierbare Funktionen beschrie- umschließen, trotzdem müssen Massen- und Energieer-
ben, sodass sie mithilfe von Differenzial- und Integral- haltung erfüllt sein.
rechnung behandelt werden können.
Antwort 22.12 Zu- und Abfluss der Erhaltungsgrößen
Antwort 22.2 Die zu einer Verformung notwendigen
Masse bzw. Energie in allen Erscheinungsformen sind an
Scherkräfte gehen genau dann gegen null, wenn die Ver-
einem geschlossenen Kontrollvolumen im stationären Fall
formungsgeschwindigkeit gegen null geht.
immer im Gleichgewicht. Wenn äußere Kräfte bzw. Mo-
Antwort 22.3 Wenn die Machzahl M klein gegen 1 ist, ins- mente auf das Kontrollvolumen wirken, sind diese im
besondere M < 0,1. Gleichgewicht mit dem Zu- und Abfluss an Impuls-
bzw. Drehimpuls.
Antwort 22.4 In einem Fluid in Ruhe wirken an keiner
Stelle Scherspannungen, τ = 0. Antwort 22.13 Unter Ähnlichkeit versteht man im Ideal-
fall identisches Verhalten zweier physikalischer Systeme.
Antwort 22.5 Der Druckgradient, d. h. die Veränderung Betrachtet man dynamische Systeme mit konstanten Kräf-
des Druckes, ist an jeder Stelle im Gleichgewicht mit den ten bzw. Momenten, reicht es aus, die geometrische, die
wirkenden Volumenkräften. kinematische und die dynamische Ähnlichkeit zu über-
prüfen.
Antwort 22.6 Die Rotation der Volumenkräfte muss null
sein, d. h. die Volumenkräfte dürfen keine wirbelförmige
Bewegung auslösen. Antwort 22.14 Aus den typischen am Problem beteiligten
Kräften werden die Verhältnisse zueinander als dimen-
Antwort 22.7 Die resultierende Ersatzkraft ist gleich dem sionslose Kennzahlen gebildet. Sind alle Kennzahlen der
Druck im Flächenschwerpunkt mal der Fläche. beiden Systeme gleich, sind diese im dynamischen Ver-

Strömungsmechanik
Die resultierende Ersatzkraft greift aufgrund der Wirkung halten ähnlich.
der Flächenträgheitsmomente nie im Schwerpunkt an.
Antwort 22.15 Bei laminarer Strömung findet keine
Antwort 22.8 1. Zur Berechnung der Auftriebskraft auf Durchmischung der Strömungsschichten statt. Reibungs-
einen vollständig eingetauchten Körper, indem man das kräfte werden nur durch die dynamische Viskosität ver-
Volumen des Körpers bestimmt. ursacht, Wärmeübertragung quer zur Strömungsrichtung
2. Zur Berechnung der Auf- oder Abtriebskraft auf eine erfolgt ausschließlich über Wärmeleitung. Demgegen-
gekrümmte Oberfläche oder einen teilweise eingetauch- über ist mit turbulenter Strömung auch ein makroskopi-
ten Körper, indem man Form und Volumen eines Ersatz- scher Stoffaustausch verbunden. Dieser bewirkt aufgrund
körpers bestimmt, der von der Flüssigkeit her die gleichen des damit einhergehenden Impuls- und Energietrans-
Kräfte erfährt, wenn er vollständig eingetaucht wird. ports zur Wand hin einerseits erheblich höhere Kräfte,
die sich wie eine zusätzliche Reibungskraft auswirken,
Antwort 22.9 Der gesamte Zu- und Abfluss einer physi- andererseits aber auch einen deutlich besseren Wärme-
kalischen Größe über den Rand eines Gebietes und die
transport. Daher sollten Strömungen in Wärmeübertra-
totale Veränderung der Größe im Inneren des Gebietes gern nach Möglichkeit turbulent sein.
sind gleich groß, wenn die Größe überall stetig und ste-
tig differenzierbar ist.
Antwort 22.16 Das Konzept des hydraulischen Durch-
Antwort 22.10 In instationärer Strömung sind Strom- und messers ist nur in turbulenter Strömung für Rohre mit
Bahnlinie nicht mehr identisch, im Allgemeinen wird praktisch beliebigem, nicht kreisförmigem Querschnitt
daher Materie auch über die Hüllfläche (Stromfläche) tre- anwendbar. Je höher die Reynoldszahl, desto besser ist
ten und nicht nur über die Ein- und Austrittsfläche die Übereinstimmung. In laminarer Strömung darf es da-
(Abb. 22.15). Letzteres ist aber die grundlegende Voraus- gegen auch für Näherungsrechnungen in der Praxis nicht
setzung der Erhaltungssätze für die stationäre Strömung! angewendet werden.
748 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

Antwort 22.17 Löst man die Definition des Druckverlus- Dimensionslose Bernoulli’sche Gleichung:
tes (22.35) nach dem Verlustbeiwert auf, erkennt man
unmittelbar die Proportionalität zur Eulerzahl Eu. Daher z2 Fr 2 + 2
sind Druckverlustbeiwerte bei vorliegender Ähnlichkeit = 12 .
z1 Fr2 + 2
zweier Systeme auch gleich groß und dürfen übertragen
werden. Bernoulli’sche Gleichung in die Kontinuitätsgleichung
Antwort 22.18 Setzt man Machzahl und Isentropenexpo- eingesetzt ergibt:
nent in (22.45) ein, erhält man A2 /A∗ = 49,5. Der Durch-
 3
messer des Düsenhalses ist d∗ = 0,3 m. B1 Fr Fr1 2 + 2
2
= 2 .
Antwort 22.19 Das Verhalten eines idealen Gases wird im B2 Fr1 Fr2 2 + 2
gasdynamischen Fall fast ausschließlich durch den Isen-
tropenexponenten κ bestimmt. Maßgebliche Strömungs- Setzt man anstelle des Punktes 1 einen beliebigen Punkt
größe ist die Machzahl M. Daher sollten in der Praxis alle (ohne Index) und für den Punkt 2 den engsten Quer-
physikalischen Berechnungsgleichungen in die dimen- schnitt (Index *, Fr2 = 1) erhält man den gesuchten Zu-
sionslose Form in Abhängigkeit dieser beiden Größen sammenhang (22.51).
transformiert werden. Durch die Reduktion der Variablen
vereinfacht sich die Lösung teilweise erheblich. Antwort 22.21 Am Austritt der Düse ist der Kanal wieder
Antwort 22.20 Dimensionslose Kontinuitätsgleichung auf seiner Grundbreite B0 , daher ist das Breitenverhältnis:
zwischen zwei Punkten 1 und 2 auf der Oberfläche in    3
der Düse: B0 1 2 1 2
= 1 + 25 = 5,4.
 3 B∗ 5 3 2
B1 Fr z2 2
= 2 .
B2 Fr1 z1 Die Breite des engsten Querschnitts ist also B∗ = 0,185B0 .
Strömungsmechanik
Aufgaben 749

Aufgaben

Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).

22.1 •• Kraft auf eine schräge, ebene Klappe 22.2 • • • Kraft auf ein walzenförmiges Wehr

z yc hoher Wasserstand
p0
xc z
α s a
ρ b b R
h A a Lager
d1
p0 z φ
45°
p0
x
h
p0
niedriger Wasserstand Mauerlinie
Der Auslass aus einem großen, mit Flüssigkeit der Dich-
Mauer
te ρ gefüllten Behälter ist durch eine elliptische Platte
verschlossen (siehe Abbildung). Über das Gewicht der Ein Stauwehr der Breite b wird durch eine horizontale,
Platte kann der Flüssigkeitsstand h über der Mitte des zylinderförmige Walze mit dem Radius R gebildet, die
Auslasses eingestellt werden. Die Platte steht im Winkel so gelagert ist, dass sie vertikal frei beweglich ist, ho-
von 45◦ (α = 135◦ ) zum kreisförmigen Auslaufrohr des rizontal jedoch durch die Führung gehalten wird (siehe
Durchmessers d1 . Die Platte ist am oberen Punkt A dreh- Abbildung). Die Walze liegt auf der Mauerlinie auf und
bar gelagert und dichtet das Rohr über ihr Eigengewicht dichtet Wasser (Dichte ρ) alleine durch ihre Gewichtskraft
G ab. ab. Der Wasserstand h oberhalb der Mauerlinie kann ma-

Strömungsmechanik
ximal zwischen 0 und 2R variieren. Die Walze hat die
Geg.: d1 , r, g, ρ, p0 Variabel: h, z bzw. s
Masse m.
1. Ermitteln Sie die beiden Halbachsen a und b der ellip-
Geg.: R, b, g, m, ρ, p0 Variabel: h bzw. ϕ
tischen Platte und das Flächenträgheitsmoment um die
Schwerachse xc in Funktion von d1 . 1. Bestimmen Sie die resultierende Dichtkraft FD .
2. Bestimmen Sie die resultierende Kraft auf die Plat- 2. Bei welchem Winkel ϕ wird die Auflagekraft im allge-
te und den Angriffspunkt dieser Kraft zD und sD in meinen Fall minimal?
Abhängigkeit von der variablen Füllhöhe h und das 3. Auf welche horizontale Kraft Fx muss das Lager min-
notwendige Gewicht G der Platte, damit sie ab einer destens ausgelegt sein?
Füllhöhe hmax öffnet. 4. In welcher Tiefe |zD | liegt die Wirkungslinie dieser Ho-
rizontalkraft?
Hinweis: Verwenden Sie die Wandkoordinate s, um die
Flächenmomente zu berechnen. Das Flächenträgheitsmo- Hinweis: Gesucht ist die resultierende Dichtkraft FD für
ment einer Ellipse mit den Halbachsen a, b um xc (siehe beliebige Wasserstände h, mit der die Walze auf der
Abbildung) ist: Mauerlinie aufliegt. Dazu muss das Volumen des Ersatz-
körpers bestimmt werden. Verwenden Sie zunächst als
πa3 b
Jxc = Variable an Stelle von h den Winkel ϕ.
4
Resultat:
Resultat:   R2
1 d21 FD = mg − ρgVE = mg − ρgb ( ϕ − sin ϕ cos ϕ) ,
zD = −h 1 + , 2
16 h2 Fx,max = 2ρgR2 b,
 
π 2 d1 Jc h h 2
G = ρg d1 hmax + . |zD | = |zc | + = + = h.
2 8 |zc |hb 2 6 3
750 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

22.3 •• Inkompressible Strömung in einer Düse 22.4 • • • Kraft auf einen Strahlablenker
Wir betrachten die Strömung in einer rotationssymme- Die Spitze einer Schneide taucht senkrecht in einen ebe-
trischen Düse, also einer Querschnittsverengung (siehe nen Freistrahl der Höhe h (in der Abbildung senkrecht
Abbildung). Die Innenkontur der Düse sei gut gerundet, zur Zeichenebene) ein und lenkt einen Teil des Strahls
sodass die Strömung im betrachteten Bereich nahezu rei- (2) senkrecht in y-Richtung um. Es wird der Zeitpunkt
bungsfrei ist. Diese Annahme ist für Düsen auch in der betrachtet, in dem die Schneide den Strahl gerade im Ver-
Realität meist gerechtfertigt, denn auf kurzem Weg stark hältnis 1 : 2 teilt. Die skizzierte Trennstromlinie ist dann
beschleunigte Strömungen sind bei entsprechender Kon- gleichzeitig Staustromlinie zum Staupunkt in der Nähe
tur der Düse tatsächlich praktisch verlustfrei. Die Düse sei der Schneidenspitze. In den Ebenen 1, 2 und 3 sei die Strö-
horizontal gerichtet. mung näherungsweise homogen, außerdem können Rei-
bungseffekte im Freistrahl, die Reibung des Freistrahls an
p0 der Luft und die Reibung an der Schneide vernachlässigt
, A1 , u 1 Freistrahl
werden. Die Schwerkraft soll senkrecht zur Zeichenebene
wirken.

u2 = konst. Schneide
1 2 2
Freistrahl Staupunkt S
, A2 , u 2 p0 b2
1
y
b1/3
In der Düse kurz vor der Verengung herrscht der Druck x
p1 . Nach der Düse tritt der Strahl als Freistrahl in die um- α
b1
gebende Luft (Druck p0 ) aus. p0

1. Wie groß ist bei gegebenem Druck p1 > p0 der Volu- u1 = konst.
menstrom V̇? p0 b3
Staustromlinie 3
2. Wie groß ist die Austrittsgeschwindigkeit des Strahls
u3 = konst.
aus der Düse u2 ?
Hinweis: Verwenden Sie die Kontinuitätsgleichung und
die Bernoulli’sche Gleichung. Geg.: p0 , u1 , b1 , h, ρ, (b1 h).
1. Wie groß ist der statische Druck pS im Staupunkt S, und
Resultat:  welcher Druck pi (i = 1, 2, 3) herrscht in den drei Ebe-
2 ( p1 − p0 ) A21 nen?
Strömungsmechanik

u2 = .
ρ A21 − A22 2. Wie groß sind die Geschwindigkeiten u2 und u3 sowie
die Strahlbreiten b2 und b3 ?
3. Bestimmen Sie mithilfe des Impulssatzes die resultie-
Allgemeine Hinweise für die folgenden Aufgaben: Mit-
rende Kraft auf die Schneide in Betrag und Richtung
hilfe des Impuls- und Drehimpulssatzes können bei kor-
(x- und y- Komponente).
rekter Anwendung nicht nur näherungsweise Kräfte und
4. Um welchen Winkel α wird der Teilstrahl 3 zum be-
Momente bestimmt werden, sondern selbst bei komplexen
trachteten Zeitpunkt abgelenkt? Ändert sich dieser
Systemen in vielen Fällen sogar exakte Lösungen. Schlüs-
Winkel, wenn der Betrag der Geschwindigkeit u1 ver-
selfunktion besitzt die geschickte Wahl der jeweils betrach-
ändert wird?
teten Kontrollvolumina und eine systematische Lösungs-
strategie. Wie in allen Fällen gilt: „Übung macht den Meis- Hinweis: Verwenden Sie Kontinuitätsgleichung und die
ter“. Bearbeiten Sie daher die folgenden Übungsaufgaben Bernoulli’sche Gleichung und gehen Sie bei der Kraftbe-
ohne die dargestellte Lösung zu verwenden. Auch durch rechnung in zwei Raumrichtungen systematisch nach der
Wahl eines anderen Kontrollvolumens kann bei der glei- Fünf-Schritte-Methode vor.
chen Aufgabe der Lösungsweg geübt werden, mit dem
Vorteil, dass das Ergebnis zur Kontrolle bereits bekannt ist. Resultat:
ρ
Zur systematischen Lösung von Impulssatz- (und pS = p1 + u21 , u2 = u3 = u1 ,
2
Drehimpulssatz-) Aufgaben geben die beiden Übersichts- b1 2b1
kästen „Impuls- und Drehimpulssatzaufgaben lösen – b2 = , b3 = ,
3  3   
mit System“ und „Wahl des Kontrollvolumens KV“ ei-
b3 b2 b
ne bei ausreichender Kenntnis aller Randbedingungen F S = ρu21 A1 1 − cos α i − ρu21 A1 − 3 sin α j,
immer funktionierende Lösungsstrategie vor. Lesen Sie b1 b1 b1
diese Kästen unbedingt durch, bevor Sie die folgenden b2
sin α = .
Beispiele durcharbeiten. b3
Aufgaben 751

22.5 •• Die folgende Aufgabe führt im Ergebnis auf ALa


die Euler’sche Turbinengleichung.Trotz des Namens gilt
sie nicht nur für Turbinen sondern auch für Pumpenlauf-
Schaufeln
räder. Lediglich die Strömungsrichtung ist für Pumpen
(von innen nach außen) und Turbinen (von außen nach
innen) unterschiedlich, was aber in der Herleitung keine
Rolle spielt. Schlitz
Drehmoment eines Kreiselpumpenlaufrades mit ra-
dialer Beschaufelung Wir betrachten das Laufrad einer A1
Radial-Kreiselpumpe (siehe Abbildung) und wenden den
Drehimpulssatz darauf an. Die Strömung sei wieder in- A2
kompressibel (Dichte ρ = konst.), nahezu reibungsfrei, und φ, ω R1 R2
die Strömung im Laufrad ist im Wesentlichen trotz der
Schaufeln rotationssymmetrisch. Dies kann man sich so
vorstellen, dass sehr viele und sehr dünne Schaufeln ver- Geg.: ṁ, ω, B, R1 , R2 , ρ.
wendet werden, sodass die Strömungsrichtung durch die
Schaufelrichtung vorgegeben wird. Wegen der Rotations- 1. Wie groß ist das notwendige Drehmoment M?
symmetrie wird die Schwerkraft keine Momentenwirkung 2. Wie groß ist die mindestens notwendige Wellenleis-
ausüben, sodass sie auch nicht von vorneherein vernach- tung PW zum Antrieb des Laufrads?
lässigt werden muss. Sie könnte im Vergleich zu den ande-
Hinweis: Gehen Sie genauso vor, wie beim Leitbeispiel
ren Kräften also beliebig groß und beliebig orientiert sein.
(Turbolader) gezeigt, und wenden Sie auch hier unbe-
Dies ist für praktisch alle Turbomaschinen gültig, denn als
dingt die Fünf-Schritte-Methode an.
einzige Volumenkraft tritt in der Regel die Schwerkraft auf.
u2,ω
Resultat:

u2, r M = ṁ R2 u2,ϕ − R1 u1,ϕ ex ,
B
u2, r  
Schaufeln PW = Mω = ṁ (R2 ω ) u2,ϕ − (R1 ω ) u1,ϕ .

22.6 •• Sicherheitstemperaturbegrenzer eines


Warmwasserspeichers Bei modernen Warmwasserspei-
u1, r chern mit großem Volumen, die zur Speicherung von So-

Strömungsmechanik
u1, r larwärme gedacht sind, wird aus Sicherheitsgründen ein
R1 Sicherheitstemperaturbegrenzer (STB) angebracht. Damit
u1,ω sich bei hohen Speichertemperaturen insbesondere Klein-
r
φ, ω R1 R2 kinder nicht verbrühen können, lässt sich der Mischau-
er
tomat so einstellen, dass eine Maximaltemperatur ϑmax
x ex
nicht überschritten wird (siehe Abbildung).
Wir betrachten das Laufrad aus einem ruhenden Bezugs-
ζTB2 = 0,5
system heraus und verwenden problemangepasst ein Zy- STB: Sicherheits-
linderkoordinatensystem (r, ϕ, x) mit der x-Achse in der temperaturbegrenzer
Rotationsachse des Laufrads. Der Bezugspunkt zur Dre- 70 °C
himpulsbildung liegt in der Rotationsachse x.
ϑ max = 50 °C VW
Beim Einströmen in das Laufrad ist in der Praxis zwar ζTB1 = 1...∞
Warm-
häufig das Strömungsmedium drehimpulsfrei (u1,ϕ = 0), Mischautomat VK
wasser-
strömt also in rein radialer Richtung, wir können die ζT1 = 1 10 °C
speicher
Rechnung aber auch ohne eine solche Vorgabe für den h
ζT2 = 0,5 ζWW = 15
allgemeinen Fall durchführen. Ein- und Ausströmung
des Fluids besitzen im Allgemeinen sowohl eine Radial- Ød
komponente ui,r als auch eine Umfangskomponente ui,ϕ 10 °C
(siehe Abbildung). Wenn das Laufrad von einer Welle mit T-Stück
der Winkelgeschwindigkeit ω angetrieben wird, ist hier- V
für ein bestimmtes Drehmoment erforderlich. Das Fluid
strömt aufgrund der Fliehkraft von innen nach außen
durch das Laufrad und erhält über die Schaufeln Dreh- Der Mischautomat mische dem Heißwasser von 70 ◦ C
impuls. aus dem Speicher Kaltwasser von 10 ◦ C zu, indem über
752 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss

ein T-Stück vor Eintritt in den Speicher Wasser aus der Kaltwasserzumischung) an. Beachten Sie bei den jeweili-
Kaltwasserleitung am Speicher vorbei geführt wird. Alle gen Geschwindigkeiten die Kontinuitätsgleichung.
Rohrquerschnitte sind kreisförmig mit dem Innendurch-
messer d = 10 mm, die gerade Leitung vom T-Stück zum Resultat:
STB überwindet eine Höhe von h = 2,5 m. Die relative 1 2
Rauhigkeit ist k/d = 0,02. Die zur Rechnung notwendi- V̇K = V̇ = 0,1 L/s, V̇W = V̇ = 0,2 L/s,
3 3
gen ζ-Werte sind in der Skizze angegeben (sie wurden
h
zur Verdeutlichung des Berechnungswegs bewusst sehr λ = 0,0515, ζK = λ = 12,87, ΔpV = 55.910 Pa,
hoch gewählt) und beziehen sich beim T-Stück und beim d
Speicher auf die Rohrleitungsgeschwindigkeit am Ein- ζ TB1 = 5,23, ϑmin = 41 ◦ C.
tritt in das jeweilige Bauteil, beim STB bezieht der Wert
sich ausnahmsweise auf den Austritt (das ist einfacher 22.7 • • • Zustandsänderung über einer Stoßfront Be-
zu rechnen). Der Mischautomat im Kaltwasserstrang be- stimmen Sie mithilfe der Erhaltungssätze die Zustands-
sitzt einen Verlustbeiwert von mindestens 1 (offen) bis änderung über einer Stoßfront aus der Anströmmachzahl
unendlich (bei geschlossenem Mischer, wenn die WW- M1
Temperatur unter dem Maximalwert ist, d. h. kein Durch-
fluss). Im betrachteten Betriebsfall soll ein Volumenstrom 1. die Druckdifferenz über die Stoßfront in Abhängigkeit
V̇ = 0,3 l/s entnommen werden. Der STB wird auf eine von den Geschwindigkeiten und den Dichtewerten,
maximale Temperatur von 50 ◦ C eingestellt. Zur Ermitt- 2. das Druckverhältnis p2 /p1 , das Dichteverhältnis ρ2 /ρ1
lung von Rohrwiderstandszahlen bei turbulenter Strö- und das Temperaturverhältnis T2 /T1 ,
mung soll die Colebrook-Formel verwendet werden. Wei- 3. die Abströmmachzahl M2 und die Entropieerzeugung
tere gegebene Werte: Wasser: ρ = 1000 kg/m3 , kinemati- (s2 − s1 )/R.
sche Viskosität: ν = 1,0 · 10−6 m2 /s.
Hinweis: Bilanzieren Sie Masse, Energie und Impuls an
einem Kontrollvolumen, das nur die als sehr dünn ange-
Bestimmen Sie:
nommene Stoßzone enthält. Deren Volumen ist vernach-
1. den Volumenstrom V̇W aus dem WW-Behälter und lässigbar, genauso wie die Berührfläche des Kontrollvolu-
den vom Mischautomat zugemischten Kaltwasser- mens mit der Wand. Verwenden Sie beim Aufstellen des
strom V̇K , Impulssatzes unbedingt die Fünf-Schritte-Methode und
2. die Reynoldszahl, die Rohrwiderstandszahl λ und den berücksichtigen Sie die Zustandsgleichung idealer Gase
Verlustbeiwert ζ K in der Mischleitung, vor und nach der Stoßfront.
3. den Druckverlust ΔpV des Systems (Eintritt T-Stück bis
Austritt STB) und den Verlustbeiwert ζ TB1 des STB in Resultat:
Strömungsmechanik

diesem Betriebsfall,
4. die kleinstmögliche Temperatur ϑmin , auf die sich mit p2 − p1 = ρ1 u1 2 − ρ2 u2 2 ,
den gegebenen Werten der STB überhaupt einstellen p2 κ  2 
= 1+2 M1 − 1 ,
lässt. Verwenden Sie hierbei (vereinfachend) die vorher p1 κ+1
berechnete Rohrwiderstandszahl λ. p 1 ρ1
M2 2 = M1 2 ,
p2 ρ 2
   
Hinweis: Setzen Sie die Bernoulli’sche Gleichung getrennt s2 − s1 1 p2 κ ρ1
= ln + ln .
für die beiden möglichen Strömungswege (Speicher und R κ−1 p1 κ−1 ρ2
Maschinenelemente/ Teil
Konstruktionslehre
V
Inhaltsverzeichnis

23 Die technische Zeichnung – die Sprache des Ingenieurs . . . . . . . . 755


24 Toleranzen – Geometrische Produktspezifikationen schaffen Qualität 783
25 Konstruieren – Produkte methodisch entwickeln . . . . . . . . . . . . . 811
26 Verbindungselemente – aus Bauteilen werden Maschinen . . . . . . . 847
27 Antriebselemente – so gelangt Leistung zur Arbeitsmaschine . . . . . 901
28 Dichtungen – damit Medien bleiben wo sie hingehören . . . . . . . . 967

Maschinenelemente

753
Die technische Zeichnung –
die Sprache des Ingenieurs
23
Braucht man heute noch
eine technische Zeichnung?
Wie bemaße ich ein
Bauteil?
Was gehört alles auf die
technische Zeichnung?

23.1 Die Elemente einer technischen Zeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . 756


23.2 Das Finden der richtigen Blattgröße
und die Nutzung von Zeichnungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . 758
23.3 Die Darstellung von Werkstücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767
23.4 Wie bemaßt man ein Werkstück? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773
23.5 Technische Oberflächen und Kanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777

Maschinenelemente
23.6 Darstellung von Normteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 755


W. Skolaut (Hrsg.), Maschinenbau, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55882-9_23
756 23 Die technische Zeichnung – die Sprache des Ingenieurs

Ingenieure haben gute Ideen für neue Produkte und Maschinen. Al-
lerdings kann kaum ein Ingenieur sein Produkt selber entwickeln, Kunde
fertigen und dann auch verkaufen. Er ist darauf angewiesen, seine
Ideen anderen eindeutig und vollständig mitzuteilen und zu erklä-
ren. Dabei muss er weltweit verstanden werden. Mit einer Skizze
oder einem Bild können technische Sachverhalte einfacher erklärt
werden als mit vielen Worten. Zumal eine verbale Erklärung ins-
besondere im Ausland meist nicht oder nur fehlerhaft verstanden Lieferant/
wird. Daher haben die Techniker mit der technischen Zeichnung ei- eigene Fertigung
ne eigene Sprache definiert, eine universelle Sprache, die weltweit
Abb. 23.1 Zielrichtungen für die technische Zeichnung
verstanden wird. Damit das funktioniert, sind genaue Konventionen
erforderlich. Es müssen Vokabeln und Regeln für die Grammatik de-
finiert werden. Hierbei kann ein einzelnes Maß für den Durchmesser
eines Drehteils mit einer Vokabel verglichen werden. Die Konventi- Zusätzlich zu diesen grundsätzlichen Zielrichtungen
on, dass ein Maß ohne weitere Angabe in mm definiert ist, steht für wird unterschieden, was dargestellt werden soll. Wir un-
eine Regel der Grammatik. Diese einheitlichen Konventionen sind in terscheiden:
internationalen und nationalen Normen niedergeschrieben. Indus-
triestaaten haben die verbindliche Übereinkunft, dass die Normen Einzelteilzeichnung (EZT) Sie enthält ein Einzelteil, ohne
den Stand der Technik repräsentieren und im nationalen und in- räumliche Zuordnung zu anderen Teilen, welches nicht
ternationalen Geschäft anzuwenden sind. Alle Unternehmen haben zerstörungsfrei weiter zerlegbar ist.
sich daran zu halten und müssen diese Sprache lernen. Die tech-
nische Zeichnung ist also weniger eine Fremdsprache als viel mehr
eine Universalsprache zur eindeutigen und vollständigen Beschrei- Zusammenbauzeichnung (ZSB) Auch Baugruppen-, Ge-
bung technischer Produkte. samt- oder Hauptzeichnung genannt. Sie zeigt die Anord-
nung und Wirksamkeit der Bauteile untereinander. Die
Zu Beginn wollen wir gemeinsam überlegen, welche Ele- ZSB wird mit der Stückliste verlinkt, oder die Stückliste
mente auf eine technische Zeichnung gehören. Welche wird direkt auf die ZSB gebracht. In der Stückliste werden
genauen Angaben muss der Ingenieur auf seiner Zeich- alle Einzelteile mit der genauen Bezeichnung und der ver-
nung machen, damit er verstanden wird? wendeten Anzahl aufgeführt. Auch werden die einzelnen
Bauteile eines Produktes in der ZSB durch Kennzeich-
Frage 23.1 nung mit Nummern für die Stückliste eindeutig identifi-
zierbar. So stellt die ZSB das zentrale Dokument für ein
Was gehört alles auf eine technische Zeichnung? Bitte Produkt dar. Insbesondere dient sie als Vorlage für die
nehmen Sie sich einen Zettel, überlegen selbst und schrei- Montage.
ben die einzelnen Punkte auf.

Fertigungszeichnung Sie stellt einen Zwischenstand im


Zuge der Fertigung dar. Z.B. ist es sinnvoll, für die Fer-
tigung eines Schmiederohlings eine Rohteilzeichnung zu
23.1 Die Elemente einer technischen haben. Auch diese Zwischenschritte der Fertigung müs-
sen dokumentiert sein. Wenn es nur ein einzelner Zwi-
Zeichnung schenschritt ist, kann dieser auch auf der Einzelteilzeich-
nung durch eine separate Ansicht dargestellt werden. So
Maschinenelemente

kann man den Schmiederohling eines Bauteils, in einer ei-


Es muss beachtet werden, für wen die Zeichnung erstellt genen Ansicht, mit auf die Fertigteilzeichnung bringen.
werden soll. Die technische Zeichnung dient verschie- Für komplexere Produkte mit vielen Zwischenschritten
densten Aufgaben. In Abb. 23.1 sind die beiden wich- in der Fertigung entsteht gelegentlich sogar ein ganzer
tigsten Zielrichtungen dargestellt. Ist die Zeichnung für Zeichnungssatz. Wichtig ist z. B. bei Kunstbauteilen, die
den Kunden gedacht, verzichtet man auf die Darstel- durch Spritzgießen hergestellt werden, dass, in Abstim-
lung vieler Details, achtet aber auf jeden Fall darauf, mung mit der Fertigung, Entformschrägen in die Modelle
dass funktionsrelevante Maße enthalten sind. Den Kun- und dann auch in die Zeichnung eingebracht werden
den interessieren meist die maximalen Abmessungen,
müssen.
Anschlussmaße, das Gewicht und Leistungsdaten wie
z. B. eine Motorkennlinie. Ist die Zeichnung für die eige-
ne oder auch die externe Fertigung, müssen alle Details Explosionszeichnung Sie verdeutlicht die Lage und das
zur Fertigung auf der Zeichnung enthalten sein. Jede Spe- Zusammenspiel der Teile einer Baugruppe oder eines
zifikation muss mit geeigneten Toleranzen versehen sein, komplexen Gegenstandes, indem alle Einzelteile im sel-
die die Funktion des Bauteils sicherstellen und einen er- ben Maßstab, entlang einer gemeinsamen Achsen oder
forderlichen Spielraum für die Fertigung bieten. verschiedenen Achsen in unterschiedlichen Richtungen,
23.1 Die Elemente einer technischen Zeichnung 757

Strichstärken
Stückliste
Blattgrößen, Blattaufteilung
und Ansichten Schriftfeld Werkstoffe mit in einem definierten
normgerechter Maßstab
Zeichnungsnormen Bezeichnung

Blattgröße und in 2- und 3- in Detaildarstellungen


Normzahlen Zeichnungsnormen dimensionaler
Ansicht Darstellung des
Federn mit Schnittdarstellungen
Werkstücks
Achsen und Wellen Dichtungen

Schweißnähte Darstellung von Längen


Normteilen Durchmesser
Was gehört auf die
Wälzlager Technische Zeichnung? Maßeintragungen Breite

Schrauben
Bemaßung des Positionen
Werkstücks
Wärme- und
Oberflächenbehandlung technische Oberflächen
und Kanten Tolerierungsgrundsätze mögliche Abweichungen
Toleranzen und
Passungen
Kantenzustände geometrische
Maßtoleranzen
Produktspezifikationen

Bearbeitungsverfahren Rauigkeit Passungen


Form- und Lagetoleranzen

Abb. 23.2 Elemente der technischen Zeichnung

voneinander getrennt, gezeichnet werden. Ihre räumliche Bei der Blattaufteilung müssen Sie gleich zu Beginn über-
Zuordnung wird genau eingehalten. legen, welche Ansichten Sie nutzen. Die Zeichnung muss
zwei Grundregeln folgen:
Aber jetzt zurück zu unserer Aufgabe. In Abb. 23.2 ist das
Ergebnis der Gedankensammlung (Brainstorming siehe
auch Kap. 25) von Studierenden dargestellt. Dieses kön- Grundregeln zur Erstellung einer technischen Zeich-
nen Sie mit Ihrem Ergebnis vergleichen. nung

Betrachten wir uns das Ergebnis aus Abb. 23.2 einmal ⇒ Eindeutigkeit
genauer. Wir beginnen mit dem ersten Eintrag zum Zeich- ⇒ Vollständigkeit
nungsblatt. Als erstes muss eine Blattgröße ausgewählt
werden. Dazu nutzen wir genormte Größen. Ein Schrift-
feld zur genauen Kennzeichnung der Zeichnung muss Mit diesen Grundregeln lassen sich viele Fragen beant-
immer auf die Zeichnung, also fehlt uns dieser Platz zur worten. Für ein rotationssymmetrisches Bauteil reicht in
Darstellung des Werkstücks. Auch muss man an Maßan- der Regel eine Ansicht. Befindet sich im Drehteil auf einer
gaben und ergänzende Symbole denken. Also wählen Sie Seite eine Bohrung, kann für diese Bohrung entweder für

Maschinenelemente
die Blattgröße lieber zu groß als zu klein. Daher wird das den Durchmesser oder die Tiefe der Bohrung eine zweite
sonst übliche DIN-A4-Format für technische Zeichnun- Ansicht oder eine Schnittdarstellung sinnvoll sein. Ob es
gen meist nicht genutzt. tatsächlich erforderlich ist, müssen Sie entscheiden. Alle
Merkmale eines Bauteils müssen dargestellt werden, und
Und dann muss z. B. für eine Einzelteilzeichnung das durch z. B. eine doppelte Vermaßung darf die Zeichnung
Werkstück auf dem Blatt positioniert werden. Dafür müs- nicht überbestimmt werden. Die Zeichnung muss eindeu-
sen Sie einen Maßstab festlegen. Für kleinere Werkstücke, tig und vollständig sein!
geht es vielleicht noch 1:1, also 1 mm auf der Zeichnung
entspricht auch in der Wirklichkeit einem Millimeter. Ist das Werkstück auf dem Blatt positioniert, müssen al-
Konstruiert man Windenergieanlagen, Schiffe oder ein- le Maße für Längen, Breiten, Durchmesser, aber auch
fach nur große Maschinen, geht das nicht mehr. Dann für Positionen von z. B. Bohrungen vollständig eingetra-
muss das Bauteil entsprechend verkleinert dargestellt gen werden. Die Fertigung muss ablesen können, welche
werden. Nutzen Sie den Computer mit einer CAD-Soft- Maße das neue Produkt haben soll. Allerdings ist es
ware (Computer Aided Design) übernimmt das System nie möglich, ein Maß exakt zu fertigen. Der Fertigung
die Umrechnung. Zeichnen Sie von Hand, müssen Sie das muß Spielraum für Abweichungen gegeben werden. Dies
leider selber machen. passiert durch das Eintragen von Toleranzen. Diese müs-
758 23 Die technische Zeichnung – die Sprache des Ingenieurs

sen sinnvoll und mit Bedacht gewählt werden. Keiner


kann ein Loch immer mit einem Durchmesser von exakt
23.2 Das Finden der richtigen
10.000 mm bohren. Wird der Bohrer stumpf, ändert sich Blattgröße und die Nutzung
auch der erzielte Durchmesser und wird in der Regel klei-
ner. Ein Bolzen, der vorher passte, lässt sich jetzt nicht
von Zeichnungsnormen
mehr in die Bohrung stecken. Um in der Fertigung wirt-
schaftlich zu arbeiten, darf unser Durchmesser z. B. im
Der erste Schritt bei der Erstellung einer technischen
Bereich von 10 mm ± 0,1 mm also zwischen 9,9 mm und
Zeichnung ist die passende Auswahl der Blattgröße.
10,1 mm liegen. Der passende Bolzen darf einen maxima-
Selbstverständlich sind auch die Blattgrößen genormt
len Außendurchmesser von 9,8 mm haben und wird mit
und dürfen nicht willkürlich gewählt werden. Da die
–0,2 mm ins Minus toleriert. Er darf also zwischen 9,6 mm
Normen eine wesentliche Grundlage zur Erstellung der
und 9,8 mm gefertigt werden. So kann er immer montiert
technischen Zeichnung bilden, gehen wir auf die Verwen-
werden und erfüllt sein Funktion. Auf die Tolerierung
dung und den Ursprung von Normen für das technische
von Bauteilen gehen wir im Kap. 24 näher ein.
Zeichnen ein. Im Folgenden wird im Text immer auch die
Im nächsten Ast aus Abb. 23.2 steht der Vorschlag für die beschriebene Norm benannt. So sieht man direkt, wo man
Angaben der Eigenschaften von Oberflächen und Kan- weiterführende Informationen erhält und welche Norm
ten. Hier ist es von Bedeutung, ob es alleine um die Güte die Grundlage für den Text bildet.
der Oberfläche geht oder ob auch Angaben zur speziellen
Behandlung von Oberflächen gemacht werden. Für alle
Bereiche gibt es entsprechende Normen, die wir in Ab- Normen: Stand der Technik
schn. 23.5 näher besprechen. Es ist einzusehen, dass es In Deutschland wird der Stand der Technik im We-
im Vergleich zu einer rohen Stahloberfläche wesentlich sentlichen durch Normen und Richtlinien repräsen-
teurer ist, eine polierte Oberfläche eines Stahleinsatzes tiert. Wichtige Quellen stellen dabei das Deutsche
für ein Spritzgießwerkzeug herzustellen. Nur eine glat- Institut für Normung (DIN), die drei europäischen
te Oberfläche gewährleistet die Transparenz eines durch Komitees für Standardisierung (EN), die internatio-
Spritzgießen hergestellten Bauteils wie z. B. einer durch- nale Organisation für Standardisierung (ISO) und
sichtigen Abdeckhaube aus Polycarbonat (PC). Für Blech- der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) dar. DIN
teile dagegen ist es meist erforderlich, Angaben zu den und VDI sind nationale Organisationen und EN
Zuständen der Kanten zu machen. Werden diese nicht und ISO internationale Vereinigungen auf europäi-
spezifiziert, wird ein Lieferant auf ein Nacharbeiten der scher und weltweiter Ebene. Die jeweiligen Normen
Kanten z. B. durch Gleitschleifen verzichten. Durch Gleit- und Richtlinien werden durch das in Klammern
schleifen werden scharfe Kanten von gestanzten Blechen angegebene Kürzel, eine nachgestellte Identifikati-
in einer oszilierend bewegten Trommel durch Zugabe von onsnummer und ein Datum definiert. Zusätzlich
Schleifkörpern abgetragen. Besteht an unbearbeiteten Ble- wird zwischen einzelnen Teilen bzw. Blättern diffe-
chen durch Stanzgrat (messerscharfe Kanten) erhebliche renziert, die es ermöglichen, ein großes Thema in
Verletzungsgefahr, wird dieser durch das Gleitschleifen mehrere Normen zu gliedern. Werden internatio-
entfernt. Die Definition der Kanten ist also auch eine nale Normen auf der nationalen Ebene anerkannt,
wichtige Angabe auf der technischen Zeichnung. Darauf werden die internationalen Abkürzungen den natio-
gehen wir in Absch. 23.5 genauer ein. nalen nachgestellt. So ist z. B. die DIN EN ISO 9000
Der letzte Ast in der Mind Map befasst sich mit der weltweit die Grundlage für Qualitätssicherung und
Darstellung von Normteilen. Nicht jedes Bauteil und Ma- Qualitätsmanagement.
Maschinenelemente

schinenelement muss neu entwickelt und gezeichnet wer-


den. Die Darstellung einer Schraube erfolgt vereinfacht
mit wenigen Linien, die weltweit als Schraube erkannt
werden. Durch Angabe einer genauen, normgerechten TIPP: Normen in der Uni!
Bezeichnung der Schraube in der Stückliste wird für das In der Universitätsbibliothek steht ihnen meist
Produkt genau die richtige Schraube bestellt und dann durch die Perinorm ein Zugang zur Verfügung, über
montiert. In Abschn. 23.6 werden die wichtigsten Norm- den Sie sich Normen online herunterladen können.
teile vorgestellt und auf spezielle Regeln zur Darstellung Diese dürfen Sie aber nur für ihr Studium nutzen.
der Normteile eingegangen. Das Kopieren und Verteilen der Normen ist nicht
Mit diesen wesentlichen und wichtigen Elementen für die erlaubt, da die Normen grundsätzlich dem Urheber-
technische Zeichnung ist der Ingenieur in der Lage, eine recht unterliegen. Die Rechte zur Verbreitung liegen
technische Zeichnung zu erstellen und zu lesen. Für vie- bei den jeweiligen Verlagen. Im Fall DIN ist das aus-
le Spezial- und Sonderfälle stehen Normen und spezielle schließlich der Beuth Verlag aus Berlin.
Fachbücher zum Nachschlagen zur Verfügung.
23.2 Das Finden der richtigen Blattgröße und die Nutzung von Zeichnungsnormen 759

Normzahlen sind Hilfsmittel gegen die Vielfalt Tab. 23.1 Grundreihen, Stufensprünge und Hauptwerte
R5 R 10 R 20 R 40
√ √ √ √
q5 = 5 10 q10 = 10 10 q20 = 20 10 q40 = 40 10
Für die Blattgrößen nach DIN 323, Blatt 1 und 2 wie = 1,60 = 1,25 = 1,12 = 1,06
auch für viele andere Werte z. B. geometrische Abmessun- 1,00 1,00 1,00 1,00
gen, Längen, Breiten, Durchmesser, aber auch Leistungen
1,06
oder Baugrößen ist es nicht sinnvoll, beliebige Abstufun-
1,12 1,12
gen zuzulassen. Daher werden Vorzugszahlen definiert.
1,18
Für die Definition dieser Vorzugszahlen werden geome-
1,25 1,25 1,25
trische Reihen genutzt. Diese haben den Vorteil, dass sich
1,32
bei kleinen Werten feinere Abstufungen und bei großen
1,25 1,40
Werten gröbere Stufen ergeben. Das entspricht auch den
Anforderungen aus der Praxis. Bei der Lagerhaltung von 1,50
1,60 1,60 1,60 1,60
Schrauben in einer Werkstatt hält man in der Regel bei
den kleinen Abmessungen eine größere Anzahl von un- 1,70
terschiedlichen Schrauben vor als bei den großen Abmes- 1,80 1,80
sungen. 1,90
2,00 2,00 2,00
In Tab. 23.1 sind für die Grundreihen die Stufensprünge 2,12
und die Hauptwerte aufgeführt. Vollständige und gleich- 2,24 2,24
mäßige Grundreihen R x sind geometrische Reihen mit 2,36
x = 5, 10, 20 oder 40 Gliedern je Zehnerstufe und lauten: 2,50 2,50 2,50 2,50
R 5, R 10, R 20 und R 40, wobei der Buchstabe R für 2,65
den französischen Entwickler der Normzahlen Charles 2,80 2,80
Renard und die Ziffer für die Anzahl der Stufen je De- 3,00
zimalbereich stehen. Mit dem Stufensprung wird nach 3,15 3,15 3,15
DIN-Norm das Verhältnis eines Gliedes der Reihe zu sei- 3,35
nem vorhergehenden bezeichnet. Die Hauptwerte sind 3,55 3,55
gerundete Werte, die nur geringfügig von den genauen
3,75
Werten abweichen. Der genaue Wert für R 5 liegt zum 4,00 4,00 4,00 4,00
Beispiel bei 1,5849, gegenüber dem Hauptwert, „Ord-
4,25
nungsnummer 1“, von q15 = 1,60. Produkte und Quo- 4,50 4,50
tienten von Normzahlen sind wieder Normzahlen. Im 4,75
Anwendungsfall haben die groben Reihen Vorrang vor
5,00 5,00 5,00
den feineren Reihen. Anwendungsfälle sind z. B. das Ab-
5,30
stufen von Schrauben- und Gewindedurchmessern, die
5,60 5,60
Auswahl von Nenndurchmessern für Wälz- oder Kugel-
6,00
lager und Leistungsklassen von Motoren. Häufig werden
6,30 6,30 6,30 6,30
im Maschinenbau R 10 und R 20 verwendet. Rundwer-
6,70
treihen werden mit einem Strich gekennzeichnet. Wir
7,10 7,10
unterscheiden schwächer gerundete Werte (R’ 10, R’ 20,
7,50
R’ 40) und stärker gerundete Werte (R” 5, R” 10, R” 20).
8,00 8,00 8,00

Maschinenelemente
8,50
Berechnung der Stufensprünge 9,00 9,00
9,50
Unter der Wurzel steht als Basis die Zahl 10. Der Wur- 10 10 10 10
zelexponent richtet sich nach der Reihe, die auch die
Gliederanzahl angibt. Entsprechend besteht die Reihe R
5 aus 5 Gliedern im Dezimalbereich, also im Zehnerbe-
reich, gerechnet ohne Anfangsglied. Die Abstufung einer
Grundreihe R 5 erfolgt bei Dezimalbereichen über 10 Beispiel Normzahlen werden in der Praxis z. B. bei der
durch das Vervielfältigen der Hauptwerte mit einer Basis Auslegung einer Welle angewendet? Im ersten Schritt ei-
von 10; 100; 1000 usw. und bei Dezimalbereichen klei- ner Wellenberechnung erhält man exakten Wert für den
ner 1 durch das Multiplizieren mit 0,1; 0,01, also durch erforderlichen Wellendurchmesser. Dieser Wert kann z. B.
das Teilen der Hauptwerte durch 10, 100, 1000 usw. Die ∅ = 13,83 mm sein! Es ist nicht sinnvoll, in der techni-
Normzahlen in Tab. 23.1 entsprechen dem Dezimalbe- schen Zeichnung genau diese Dimension zu übernehmen.
reich von 1 bis 10. Sie sollten einen Wert festlegen, der etwas größer ist und
760 23 Die technische Zeichnung – die Sprache des Ingenieurs

Leitbeispiel Antriebsstrang
Eine KFZ-Getriebewelle aus dem Getriebe im Antriebsstrang

Eine Welle dient zur Übertragung von Drehmomenten. Verschieben der Zahnräder zueinander in Eingriff
In Fahrzeugen müssen zur optimalen Leistungsüber- gebracht werden. In der Abbildung ist die Zeich-
tragung die Drehmomente durch die Änderung der nung einer Getriebewelle für ein KFZ-Schaltgetriebe
Übersetzung an die Geschwindigkeit angepasst wer- dargestellt. Insbesondere die Verzahnungsdaten
den. Daher sind auf Wellen immer mehrere Zahnräder müssen in einer eigenen Tabelle zusammengefasst
angeordnet, die je nach geforderter Übersetzung durch werden.
Maschinenelemente
23.2 Das Finden der richtigen Blattgröße und die Nutzung von Zeichnungsnormen 761

Tab. 23.2 Zeichnungsmaßstäbe Y kennzeichnet den proportionalen Verkleinerungsfaktor,


Vergrößerungs- Natürlicher Verkleinerungs- der analog zur Vergrößerung das Bauteil um den Fak-
maßstäbe Maßstab maßstäbe tor Y auf der Zeichnung verkleinert darstellt. In Tab. 23.2
50 : 1 20 : 1 10 : 1 1:1 1:2 1:5 1 : 10 sind verschiedene genormte Maßstäbe zur vergrößerten
5:1 2:1 1 : 20 1 : 50 1 : 100 und verkleinerten Darstellung von Werkstücken und Bau-
1 : 200 1 : 500 1 : 1000 gruppen angegeben.
Will man nur ein Detail eines Werkstücks in einem vom
Hauptmaßstab abweichenden Maßstab darstellen, gibt
der entsprechend als Rohmaterial zur Verfügung steht. man diesen in der Nähe der Positionsnummer bzw. des
Dieses Rohmaß des Stangenmaterials (man spricht hier Kennbuchstabens der Einzelheit oder auch eines Schnit-
von einem Halbzeug) kann dann auf ein glattes Maß tes an. Dabei wird das Wort „Maßstab“ nicht dazu ge-
bearbeitet werden. Wir wissen, dass unser Einkauf ent- schrieben. Es reicht die Angabe von X : Y mit den ent-
sprechendes Rohmaterial nach der Normzahlreihe R 5 sprechend gewählten Faktoren. Weitere Maßstäbe erge-
einkauft. Nach Tab. 23.1 stehen nur Maße bis 10 mm zur ben sich durch das Multiplizieren mit einem Vielfachen
Verfügung, oder? Nein! Brauchen wir größere Dimensio- von 10.
nen können wir diese durch Multiplikation mit 10 oder
100, erweitern. Multiplizieren wir den Zahlenwert 1,6 mit
10 erhalten wir das Maß 16 mm. Hat das Stangenmateri-
al einen Rohteildurchmesser von 16 mm kann es auf ein Blattgrößen und Zeichnungsformate werden
Maß von 14 mm fertig bearbeitet werden. Der Einkauf hat nach DIN EN ISO 216 und DIN EN ISO 5457
also mit dem bereits eingekauften Material richtig gele-
gen. Sie sparen Lagerkosten, da keine beliebigen Maße
angegeben
vorgehalten werden, und können schnell reagieren, da
das Material ja bereits im Haus ist. So erzielen Sie einen Wie bereits beschrieben, sind die Papier- und Zeichnungs-
wirtschaftlichen und einen strategischen Vorteil!  formate genormt. In Tab. 23.3 sind übliche Papierformate
aufgeführt. Es sind drei verschiedene Formate aufgeführt.
In Abb. 23.3 sehen Sie einen Zeichnungsrahmen, in dem
alle 3 Formate dargestellt sind. Die äußere Begrenzung
ist das unbeschnittene Format, die mittlere Linie kenn-
Der Maßstab der Zeichnung darf nicht zu klein zeichnet das beschnittene Format und die innere Linie
oder zu groß sein kennzeichnet die Zeichenfläche, die Ihnen für Ihre Zeich-
nung als Nutzfläche zur Verfügung steht. In Tab. 23.3 sind
die Zeichnungsformate für DIN A0 bis A4 angegeben. In
Der gewählte Maßstab nach DIN ISO 5455 muss eine
der mittleren Spalte ist das gebräuchliche Format DIN A4
eindeutige und gut lesbare Darstellung des Werkstücks
in fett gekennzeichnet. Das sind die genauen Maße eines
ermöglichen. Die Angabe des Hauptmaßstabs, der für
normalen Schreibmaschinenblattes.
die gesamte Zeichnung gilt, erfolgt im Schriftfeld in der
Form: Maßstab X : Y. Dabei steht das X für eine propor- Auch die dargestellten Formate folgen einer systemati-
tionale Vergrößerung der realen Maße eines Werkstücks. schen Stufung. Diese läßt sich sehr einfach erklären. Das
Bei X = 50 wird ein 2 mm langes Bauteil mit der Länge Format A0 hat eine Fläche von 841 mm × 1189 mm =
50 · 2 mm = 100 mm auf der Zeichnung dargestellt. In die- 999.949 mm2 ≈ 1 m2 und bildet damit die Basis für die
ser 50-fachen Vergrößerung kann man jetzt jedes Detail Blattgrößen. Dabei stehen das Höhenmaß und das Brei-
gut erkennen. Der häufigere Fall ist jedoch, dass ein Bau- tenmaß
√ im Seitenverhältnis von 814 mm/1189 mm =

Maschinenelemente
teil zu groß für die Zeichnung ist und eine maßstabsge- 1/ 2. Die Formate sind auch deshalb wichtig, damit man
treue Darstellung auch keinen Vorteil bringt. Daher kann auf DIN A 4 für die Ablage also auf Ordnergröße falten
man Werkstücke auch verkleinert darstellen. Der Faktor kann (Abb. 23.4).

Tab. 23.3 Zeichnungsformate der ISO-A-Reihe (Angaben in mm)


Bezeichnung unbeschnittenes Format beschnittenes Format Zeichenfläche
A0 880 1230 841 1189 821 1159
A1 625 880 594 841 574 811
A2 450 625 420 594 400 564
A3 330 450 297 420 277 390
A4 240 330 210 297 180 277
762 23 Die technische Zeichnung – die Sprache des Ingenieurs

unbeschnittenes Format

beschnittenes Format

Zeichenfläche

Abb. 23.3 Der Zeichnungsrahmen

A0 Das Schriftfeld dient zur eindeutigen


Kennzeichnung einer Zeichnung

A2
Jetzt liegt ein leeres Blatt vor uns, und es könnte losge-
A1
hen mit den ersten Strichen. Jede technische Zeichnung
841

ist jedoch ein Dokument und muss als solches gekenn-


Maschinenelemente

zeichnet sein. Es muss zweifelsfrei festzustellen sein, wer


A4
die Zeichnung erstellt hat, wer die Zeichnung freigege-
A3 ben hat und welchen Änderungsstand eine vorliegende
A6
A5 Zeichnung hat. Diese und andere Informationen werden
A6 im Schriftfeld der Zeichnung nach DIN EN ISO 7200 ein-
1185 getragen.

Das Schriftfeld ist bei den Formaten A0 bis A3 in der


Abb. 23.4 Die Entwicklung der ISO-A-Reihe rechten unteren Ecke der Zeichenfläche anzuordnen. Ab-
messungen: Gesamtbreite des Schriftfeldes ist 180 mm,
Abstand von der Blattkante 20 mm (links) und 10 mm
Die weiteren Blattgrößen ergeben sich durch Teilung der (rechts), die Feldbreiten und -höhen sind nicht mehr vor-
Maße von A0, d. h. das A1 halb so groß ist wie A0 usw. geschrieben. Das Schriftfeld soll auch nach dem Falten
Diese Verhältnisse sind in Abb. 23.4 dargestellt. und Abheften in einem Ordner sichtbar sein.
23.2 Das Finden der richtigen Blattgröße und die Nutzung von Zeichnungsnormen 763

1 2 3 4

verantwortl. Abt. technische Referenz erstellt durch genehmigt von


Entwicklung Petra Projektleiter Konrad Konstrukteur Ludwig Leiter
Dokumentenart Dokumentenstatus
Teil-Zusammenbauzeichnung freigegeben
Lehrstuhl Konstruktion Titel, zusätzlicher Titel
(Engineering Design) NR 123456-2012
Name einer tollen
Konstruktion XY Änd. Ausgabedatum Spr. Blatt
A 2013-01-01 de 1/3

5 6 7 8 9 10

Abb. 23.5 Beispiel für ein Schriftfeld nach DIN EN ISO 7200

In Abb. 23.5 sehen Sie ein Beispiel für ein ausgefülltes tet werden, dass gerade bei elektronischer Datenver-
Schriftfeld. Im Einzelnen sind die folgenden Angaben waltung der zusätzliche Titel nicht immer ausgegeben
sinnvoll und empfohlen wird. Daher sollte der Titel des Produktes möglichst
1. Verantwortliche Abteilung: Hier wird der Name bzw. die für sich sprechen und das Produkt eindeutig kenn-
Bezeichnung der für die Erstellung und in der Regel zeichnen. Für Kfz gibt es oft Bauteile auf der rechten
auch für die Freigabe verantwortlichen Abteilung ein- und linken Seite des Fahrzeugs. Diese sind spiegelbild-
getragen. lich konstruiert, können sonst aber identisch sein. Zur
2. Technische Referenz: Das ist leider ein Begriff, der sich Identifikation sollte dann die Angabe der Seite im Titel
nicht so leicht selbst erklärt. Hier soll die Kontakt- mit angegeben werden (Beispiel: Spiegel links).
person, die über wesentliche Kenntnisse zum Produkt 8. Dokumentenstatus: Der Dokumentenstatus kennzeich-
verfügt und so Auskunft geben kann, aufgeführt wer- net die Phase im Produktlebenszyklus des Produktes.
den. In der Regel ist das der Projektleiter. Hier wird angegeben, ob es noch in der „Entwicklung“
3. Erstellt durch: z. B. der Konstrukteur oder technische ist oder bereits zur Beschaffung „freigegeben“ ist. Für
Zeichner, der die Zeichnung erstellt hat. diese Angabe müssen Sie sich am Standard des Unter-
4. Genehmigt von: Auch dieser Eintrag erklärt sich von nehmens orientieren.
selbst. Hier steht, wer die Zeichnung genehmigt bzw. 9. Zeichnungsnummer: Vergabe einer eindeutigen Zeich-
freigegeben hat. Meist ist das der Entwicklungslei- nungsnummer nach Unternehmensrichtlinie. Man un-
ter. Für den Konstrukteur muss klar sein, dass der terscheidet „sprechende Codes“, die durch eine Num-
Entwicklungsleiter die Zeichnung nicht mehr systema- mer eine Verknüpfung zu einer technischen Spezifi-
tisch kontrollieren kann. Die Zeichnung muss fehler- kation herstellen. Das kann z. B. die Kennzeichnung
frei zum Chef! Der Entwicklungsleiter kann die letzten eines Fahrzeugtyps sein. Eine Ziffer an erster Stelle
Änderungen bewerten, aber nie eine ganze Zeichnung der Zeichnungsnummer steht für die Zuordnung zu
auf Vollständigkeit und Eindeutigkeit prüfen. Gewöh- einem Fahrzeugtyp (1 = Offroad, 2 = Sportwagen, 3
nen Sie sich an dieser Schnittstelle eine hohes Maß usw.). Diese Kennzeichnung hat den Vorteil, dass bei
entsprechender Kenntnis der Codierung sofort klar ist,

Maschinenelemente
an Präzision an. Ein Ingenieur muss einen hohen An-
spruch an die eigenen Arbeitsergebnisse haben! um welches Fahrzeug es sich handelt. Die Alternative
5. Gesetzlicher Eigentümer: Hier sind das Logo und die ist einfach eine fortlaufende Nummerierung.
Bezeichnung des Unternehmens angegeben. Das Un- 10. Ergänzende Dokumenteninformationen: In unserem Bei-
ternehmen, also der Eigentümer der Zeichnung, ist spiel wird im Feld Änderung durch einen Buchstaben
auch der Inhaber der Urheberrechte an der Konstruk- der Änderungsstatus definiert. Meist wird dazu das
tion. Alphabet mit dem Änderungsstand hoch gesetzt (A,
6. Dokumentenart: Einteilung des Dokuments nach Unter- B, C, ...). Unter Ausgabedatum wird das Datum für
nehmensstandard. Diese Angabe ist wichtig, um das die erste offizielle Freigabe der Zeichnung verstan-
Dokument in der Ablage der Zeichnungen zu identifi- den. Mit einem Hochsetzen des Änderungsindex wird
zieren. auch das Datum aktualisiert. Das Datum ist wesent-
7. Titel, und zusätzlicher Titel: Hier erhält das Produkt ei- lich für das Anmelden von Schutzrechten (Patente,
ne eindeutige Kennzeichnung mit einer ergänzenden Gebrauchsmuster etc.). Mit Spr. wird die verwendete
Beschreibung. Hier kann es sich um die Angabe einer Sprache angegeben und mit Blatt die laufende Seiten-
Norm oder einer Einbaulage handeln. Es muss beach- zahl und ergänzend die Gesamtseitenzahl.
764 23 Die technische Zeichnung – die Sprache des Ingenieurs

Im oberen rechten Feld ist noch der Maßstab M 1 : 1 ein- Tab. 23.4 Linienarten nach EN ISO 128-20:2001(D) (Auszug)
zutragen. Nach der Norm EN ISO 7200:2004 (D) sind die Nr Darstellung Benennung
Angabe des gesetzlichen Eigentümers, der Sachnummer, 01 Volllinie
des Ausgabedatums, der Blattnummer, des Titels, der 02 Strichlinie
genehmigenden Person, des Erstellers und der Dokumen- 03 Strich-Abstandslinie
tenart zwingend. Alle anderen Angaben sind optional. 04 Strich-Punktlinie (langer Strich)
Die Angabe des Erstellers und des Leiters der freigegeben 10 Strich-Punktlinie
hat, ist wichtig, da die Bearbeiter eines solchen Projekts 12 Strich-Zweipunktlinie (langer Strich)
bei Durchgriff der Produkthaftung verantwortlich sind.
Tab. 23.5 Linienarten und Anwendungen nach EN ISO 128-24:1999-12 (Aus-
zug)
Linie Anwendung
Linien und Punkte werden nach DIN EN Nr Benennung,
ISO 128-20 und DIN ISO 128-24 gestaltet Darstellung
01.1 Volllinie, schmal .1 Lichtkanten
.2 Maßlinien
Unbestritten besteht eine Zeichnung aus Linien und .3 Maßhilfslinien
Punkten, die gezeichnet werden müssen. An dieser Stelle .4 Hinweis und Bezugslinien
.5 Schraffuren
soll die Frage besprochen werden, ob man das manu- ...
ell oder mit dem Computer lernen sollte. Studierende 01.1 Freihandlinie, schmal .18 Begrenzungen von Teil- oder
werden sich diese Frage nicht stellen, da sie einer entspre- unterbrochenen Ansichten und
chenden Vorgabe folgen müssen. Trotzdem wollen wir an Schnitten
dieser Stelle Verständnis für die Entscheidung „pro“ ma- 01.2 Volllinie, breit .1 Sichtbare Kanten
nuelles Zeichnen schaffen: .2 Sichtbare Umrisse
.3 Gewindespitzen
...
Computer Aided Design (CAD) vs. Zeichenbrett .6 Systemlinien (Metallbau-Kon-
struktionen)
Zum Einstieg in das technische Zeichnen stellt sich .5 Schraffuren
immer auch die Frage: Wann starte ich mit dem ...
Computer? Heute ist es in allen Bereichen Stan- 02.1 Strichlinie, schmal .1 Verdeckte Kanten
dard, die technische Zeichnung mittels CAD am .2 Verdeckte Umrisse
04.1 Strich-Punktlinie .1 Mittellinien
Computer zu erstellen. Vieles ist automatisiert, Än- (langer Strich), schmal .2 Symmetrielinien
derungen sind in Sekunden durchgeführt, und die .3 Teilkreise von Verzahnungen
Symbole, Linien und Werkstücke werden nahezu .4 Lochkreise
perfekt und sauber dargestellt. Insbesondere müs-
sen die Werkstücke selbst nicht mehr gezeichnet
werden. Diese werden vom dreidimensionalen Mo- Die gute Nachricht ist, dass heute nicht mehr mit Tusche
dell „abgeleitet“. Eigentlich geht alles viel einfacher gezeichnet wird. Es reicht eine Bleistiftzeichnung. Zur Er-
als von Hand. Aber: Zum Einstieg in das Studi- füllung der Forderung nach den richtigen Strichstärken
um sind oft die Kenntnisse zum professionellen reicht die Investition in Druckbleistifte mit den entspre-
Einsatz des Rechners, zur Verwendung technischer chenden Minenstärken.
Software und das drei-dimensionales Vorstellungs-
Maschinenelemente

vermögen nicht ausreichend! Eine gute technische Wie sieht eine Linie aus? Dazu gibt die Norm DIN EN
Zeichnung folgt den Regeln: Eindeutigkeit und Voll- ISO 128-20 eine Definition: „Geometrisches Gestaltungs-
ständigkeit! Dazu braucht man kein CAD. Es besteht element mit einer Länge > 0,5× Linienbreite, das einen
die große Gefahr, dass Einsteiger mehr nach den Anfangspunkt und einen Endpunkt in beliebiger Weise
richtigen Knöpfen suchen, als sich Gedanken über verbindet“. Es geht also um die Linienbreite und um die
eine sinnvolle Blattaufteilung zu machen. Daher ist Länge, aber auch um die Art der Linie. Es werden ver-
die Empfehlung, und so praktizieren es auch viele schiedenste Linienarten wie die Volllinie, die Strichlinie
Universitäten und Hochschulen, erst das manuel- oder die Strichpunktlinie unterschieden. Die Linienarten
le Zeichnen und dann in einem zweiten Schritt die sind nach Norm durchnummeriert. In Tab. 23.4 ist ein
Nutzung des CADs zur Erstellung von 3D-Model- Auszug aus der Norm mit gebräuchlichen Linienarten
len und in einem dritten Schritt die Ableitung der dargestellt.
2D-Zeichnung zu lernen. Daher ist auch die Kennt-
Die in Tab. 23.4 angegebenen Linienarten werden nach
nis der richtigen Strichstärke wichtig.
DIN ISO 128-24 bestimmten Anwendungen zugeordnet.
Diese finden Sie in Tab. 23.5. Auf die Anwendungen in der
23.2 Das Finden der richtigen Blattgröße und die Nutzung von Zeichnungsnormen 765

Tab. 23.6 Zuordnung von Liniengruppen und Linienbreiten nach DIN ISO 128-
24 (Vorzugsliniengruppen sind in fett gekennzeichnet, Maße in mm)
Linienbreiten für die Linien mit
den Kennzahlen
Liniengruppen 01.2–02.2–04.2 01.1–02.1–04.1–05.1
0,25 0,25 0,13
0,35 0,35 0,18
0,5 0,5 0,25
Abb. 23.6 ISO Normschrift Typ B
0,7 0,7 0,35
1 1 0,5
1,4 1,4 0,7
2 2 1 3. Verfassen Sie die Texte einheitlich in Größe und Form.
4. Schreiben Sie leserlich und so, dass auch eine Kopie
noch gut zu erkennen ist. Dafür müssen Sie auf eine
gleichmäßige Strichstärke achten.
letzten Spalte gehen wir jeweils noch im Detail ein. Hier
ist es wichtig, dass man lernt, dass es für jedes Detail eine
definierte Linienart mit der entsprechenden Strichstärke Wenn Sie insgesamt sauber und ordentlich arbeiten, ist
gibt. Dies erleichtert das Lesen komplexer Zeichnungen das für die manuelle Zeichnung ausreichend. Die früher
und ist daher auch sehr wichtig. Erstellen Sie eine Zeich- übliche Verwendung einer Schriftschablone ist nicht er-
nung von Hand, müssen Sie so sauber zeichnen, dass die forderlich.
unterschiedlichen Linienarten erkennbar sind. Ordnung
und Sauberkeit sind bei der Erstellung einer technischen
Zeichnung sehr wichtig.
Alle Einzelteile werden in der Stückliste
Als Letztes müssen wir uns jetzt mit den Linienbreiten
befassen. Nach DIN ISO 128-24 sind einzelne Liniengrup-
zusammengefasst
pen definiert. Je nach Art, Größe und Maßstab muss eine
Liniengruppe ausgewählt werden. Vorzugsliniengruppen Die Stückliste ist ein wesentliches Dokument zur Verwal-
sind: Liniengruppe 0,5 und 0,7. Für die Zeichnungsforma- tung und zum Umgang mit den Einzelteilen einer Bau-
te A2–A4 empfehlen wir die Liniengruppe 0,5 und für gruppe. In der Stückliste werden die Einzelteile detailliert
Formate  A1 die Liniengruppe 0,7. Mit „d“ wird die beschrieben und mit einer eindeutigen Positionsnum-
Breite der Linie und damit die Liniengruppe angegeben. mer gekennzeichnet. Die Positionsnummer wird parallel
In Tab. 23.6 sind die Linienbreiten aufgeführt. auch in der ZSB-Zeichnung aufgeführt und gewährleis-
tet durch eine eindeutige Verlinkung mit einem Pfeil o.
ä. zum jeweiligen Einzelteil die korrekte Verbindung vom
Einzeilteil zur Beschreibung in der Stückliste. Zielsetzung
Die Schrift auf der technischen Zeichnung ist dabei, dass mit der Stückliste die Einzelteile einer
Baugruppe eingekauft werden können. Daher sind für
Es gibt umfangreiche Normen zur Darstellung von Schrif- Normteile die vollständigen Normbezeichnungen in der
ten auf der technischen Zeichnung. In DIN EN ISO 3098 ff Stückliste aufgeführt. So kann nach der entsprechenden
werden Größe, Schriftart und alle Details genau beschrie- Norm ein Bauteil wie eine Schraube, ein Stift oder auch ei-
ben. Hier machen wir es uns sehr einfach. Wir verweisen ne Feder eindeutig bestellt werden. Zu den Angaben auf
der Stückliste gehören:

Maschinenelemente
auf den Computer. Die klassische Normschrift muss man
heute nicht mehr lernen. Sie können die Details in der
1. Kennzeichnung der Einzelteile mit Positionsnum-
Norm DIN EN ISO 3098 ff nachlesen und entsprechend
mern, deren Endziffern mit der jeweiligen Zeich-
darauf achten, dass Sie auch am Computer diese Schriftar-
nungsnummer übereinstimmen sollten,
ten verwenden und so ein sauberes und einheitliches Bild
2. Stückzahl bzw. Menge mit Angabe der Einheit,
erzeugen. Für die Zeichnung von Hand muss das nicht
3. die Benennung des Bauteils (stets in Einzahl angege-
mehr trainiert werden. Trotzdem gibt es Vorgaben, an die
ben),
Sie sich auch beim manuellen Zeichnen halten sollten:
4. die Sachnummer/Norm-Kurzbezeichnung: Hier wird
die Zeichnungsnummer bzw. die Norm mit normge-
1. Die Abstände zwischen den Schriftzeichen sollen zwei
rechten Größenangaben aufgeführt.
Linienbreiten betragen. Beim Zusammentreffen be-
stimmter Schriftzeichen (z. B. LA, TV, Tr) darf der
Abstand auf eine Linienbreite verringert werden. Untergeordnete Baugruppen mit eigener Stückliste wer-
2. Verwenden Sie eine Druckschrift, die sich an der den wie ein Teil behandelt und entsprechend auf der
Normschrift orientiert (Abb. 23.6). Stückliste aufgeführt. Generell kann die Stückliste auf
766 23 Die technische Zeichnung – die Sprache des Ingenieurs

Abb. 23.7 Darstellung einer Stückliste

der ZSB-Zeichnung über dem Schriftfeld aufgeführt wer- re Zeichen mit z. B. doppelter Schriftgröße darzustel-
den. Es ist aber auch möglich, diese auf einem separaten len.
Schriftstück im Format DIN A4 zu führen. Das hat den
Vorteil, dass die Stückliste einfach separat ausgedruckt
und verwaltet werden kann. Oftmals geschieht das auch
in anderen Software-Systemen, sodass die Stückliste gar Wie werden Änderungen verfolgt?
nicht oder nur mit hohem Aufwand auf die ZSB-Zeich-
nung übernommen werden kann. Hier ist darauf zu ach- Bereits Heraklit von Ephesus (etwa 540–480 v. Chr.) ge-
ten, dass der manuelle Aufwand beim Einpflegen von wann die Erkenntnis dass „Nichts so beständig ist wie der
Änderungen möglichst gering ist. Die Stückliste bezieht Wandel“.
sich in beiden Varianten immer auf die zugehörige Dar-
stellung in der Zusammenbauzeichnung (ZSB). In einem technischen Entwicklungsprozess sind Ände-
rungen in allen Phasen möglich, wenn nicht sogar üblich.
In Abb. 23.7 ist eine Stückliste und in Abb. 23.8 ein
In der Regel sind Änderungen für eine Entwicklung hin-
Ausschnitt einer ZSB-Zeichnung mit entsprechenden Po-
derlich und werfen Probleme und Mehrarbeit auf. Da
sitionsnummern dargestellt. Die Positionsnummern sol-
Änderungen aber nicht vermeidbar sind, geben wir hier
len sich nach DIN EN ISO 6433 deutlich abheben und
sind daher entweder zu umkreisen oder durch größe- Hinweise für den Umgang mit Änderungen:
Maschinenelemente

1. Nicht jede Erweiterung und Anpassung einer Kon-


struktion ist eine Änderung. Erst wenn sich ein bereits
dokumentierter und freigegebener Status einer Ent-
wicklung verändert, muss diese Änderung nach einem
Änderungsablauf behandelt und dokumentiert wer-
den.
2. Es muss festgehalten werden, aus welchem Grund die
Änderung erforderlich ist. Wenn ein Betrieb auf eine
Kundenforderung reagiert, sollte sich das auch in ent-
sprechenden Änderungskosten wiederspiegeln. Diese
müssen dem Kunden umgehend nach der Nennung
einer neuen Anforderung mitgeteilt werden. Änderun-
Abb. 23.8 Darstellung von Positionsnummern in der ZSB-Zeichnung nach DIN gen können sich aber auch aus z. B. geänderten Ge-
EN ISO 6433 (2012) setzesvorgaben für Sicherheitsstandards ergeben. Hier
23.3 Die Darstellung von Werkstücken 767

hängt es von der vertraglichen Vereinbarung ab, ob die uns an die Grundregeln zur Erstellung einer technischen
damit verbundenen Kosten beim Kunden oder beim Zeichnung erinnern:
Lieferanten liegen.
3. Da mit Änderungen immer auch Kosten verbunden Frage 23.2
sind, müssen die Änderungen dokumentiert werden. Nennen Sie die Grundregeln für eine technische Zeich-
Für unsere Stückliste heißt das, dass ein entfallendes nung!
Einzelteil nicht aus der Liste gelöscht wird, sondern
nur gestrichen. So ist später nachzuvollziehen, dass
es das Bauteil einmal gegeben hat, und dass es durch Wenn man aus einer Richtung auf eine Tasse blickt,
eine Änderung entfallen ist. Wenn allerding die Stück- kann man nicht zweifelsfrei erkennen, ob die Tasse einen
liste zu lang und zu unübersichtlich wird, kann ein Henkel hat. Mit diesem einfachen Beispiel kann man
neuer Zeichnungsstand generiert werden, in dem man nachvollziehen, dass man meist mehrere Ansichten zur
bei null anfängt. Die alte Zeichnung unterliegt jedoch Darstellung eines Körpers braucht. Brauchen wir denn
weiterhin der Dokumentationspflicht und darf nicht eine zweite Ansicht, wenn die Tasse keinen Henkel hat?
vernichtet bzw. gelöscht werden. Nein! Durch die Anwendung der Grundregel der Voll-
4. Änderungen bringen einen neuen Freigabestatus der ständigkeit, ist bei der Darstellung nur einer Ansicht klar,
Zeichnung mit sich. Daher ist dieser auch mit einer ein- dass auf der Rückseite kein Henkel sein kann. Wenn dort
heitlichen Kennzeichnung verbunden. Hier hängt es einer wäre, müsste dieser auch auf einer entsprechenden
vom Nummernsystem des Unternehmens ab, wie die- Ansicht zu sehen sein. Gerade für rotationssymmetrische
ser aussieht. Oft wird ein Änderungsindex eindeutig Bauteile ist häufig nur eine Ansicht erforderlich.
über das Datum der Änderung identifiziert. Es kann
aber auch hinter der Zeichnungsnummer ein Klein-
buchstabe hochgesetzt werden a, b, c, . . .
Durch verschiedene Projektionsarten nach
DIN ISO 5456-2 können Werkstücke eindeutig
Auf der Zeichnung kann auch eine eigene Tabelle für eine dargestellt werden
eindeutige Verbindung von Änderungsindex und Ände-
rung aufgeführt werden. In kurzen Stichpunkten wird
hinter dem vergebenen Änderungsindex die Änderung Jetzt sollen dreidimensionale Körper dargestellt wer-
beschrieben. Dies erleichtert den Umgang mit den ein- den. Dies erklären wir an dem Kopf eines Hammers
zelnen Zeichnungsständen. Es ist auch wichtig, dass eine (Abb. 23.9). Im Weiteren werden wir dann die Wahl der
geänderte Zeichnung den Freigabeprozess erneut durch- Ansichten und der Blattaufteilung zur Erstellung der Ein-
laufen muss. Der Entwicklungsleiter muss die Zeichnung zelteilzeichnung besprechen.
freigeben, und Einkauf, Projektleitung und die Fertigung Der Einstieg in die Modellierung, also die geometrische
müssen zeitnah über den neuen Stand informiert werden. Gestaltung eines neuen Produktes, startet am besten mit
Wird dieser nicht sauber geführt, sind schnell mehrere einer Handskizze. Mit Papier und Bleistift ist es viel ein-
aktuelle Zeichnungen im Unternehmen „unterwegs“. Ho- facher, kreativ zu sein. Über das Wie muss man sich keine
he Fehlerkosten können die Folge sein. Daher werden Gedanken machen. Eine Skizze kann jeder erstellen. Und
heute meist die Zeichnungsstände durch eine Datenbank- mit etwas Übung sind auch räumliche Darstellungen wie
verwaltung, ein sogenanntes Produktdatenmanagement
(PDM-System), gepflegt. Der gesamte Freigabeprozess er-
folgt gestützt durch die EDV und kann durch gezielt

Maschinenelemente
angeordnete Terminals mit unterschiedlichen Zugriffs-
rechten im Unternehmen verfolgt werden.

23.3 Die Darstellung von


Werkstücken

Jetzt haben wir endlich die erforderlichen Grundlagen,


um in die Erstellung der technischen Zeichnung einzu-
steigen. Zur Darstellung der einzelnen Körper und der Abb. 23.9 Die Handskizze eines Hammers zum Einstieg in die Gestaltung eines
Details der Bauteile bzw. der Baugruppe müssen wir Produkts
768 23 Die technische Zeichnung – die Sprache des Ingenieurs

in Abb. 23.9 möglich. Diese sind schnell erstellt und ge-


ben eine gute Vorstellung der geplanten neuen Geometrie.
Es ist nicht sinnvoll, sich sofort an den Rechner zu set-
zen. Gerade CAD-Einsteiger verbringen zu Beginn viel
Zeit damit, die richtigen Befehle und Prozeduren zu fin-
den. Dabei rückt die Entwicklung eines neuen Produktes
sehr in den Hintergrund. Daher sollte der CAD-Einsatz
erst später erfolgen. a b
Bei der dreidimensionalen Darstellung von Körpern sind
Abb. 23.11 Hammerkopf CAD-Darstellung (CAD-System CATIA): a CAD-Mo-
verschiedene Perspektiven möglich. Immer wird ein Ko- dell; b CAD-Rendering
ordiantensystem mit x-, y- und z-Achse, wie in Abb. 23.10
zu sehen ist, definiert. Durch die Festlegung der Achs-
richtungen und die Ausrichtung der Winkel steht fest,
welche Darstellung vorliegt. In Abb. 23.10 ist links die
isometrische und rechts die dimetrische Perspektive zu Zusätzlich ist in Abb. 23.11 der Hammerkopf als einzelnes
sehen. Bei der isometrischen Perspektive sind die z-Ach- Bauteil in einer mit dem CAD gerenderten Version dar-
se senkrecht und die x- und y-Achse jeweils unter einem gestellt. Eine sehr anschauliche Darstellungsweise, in der
Winkel von 30° angeordnet. Bei der dimetrischen Dar- der Rechner die Wirkung von Licht und Schatten auf die
stellung ist der Winkel der x-Achse 42° und der Winkel Bauteile berechnet und darstellt. Zusätzlich werden die
der y-Achse 7°. Parallele Körperkanten laufen entlang Bauteile in eine reale Situation projiziert, und auch das
der Achsen entsprechend immer parallel. Wenn wir uns Material wird photorealistisch dargestellt. Hier ergibt sich
im Vergleich dazu die Handskizze in Abb. 23.9 anse- eine Darstellung, in der der Stahlhammer auf einer höl-
hen, fällt ein wesentlicher Unterschied auf. Die Linien zernen Tischplatte liegt.
in der Freihandskizze orientieren sich an Fluchtpunkten.
Die Hilfslinien zur Erstellung der Geometrie laufen au- Eine dreidimensionale Darstellung wird mit auf die tech-
ßerhalb des Blattes in 2 Fluchtpunkten, die den Horizont nischen Zeichnung genommen, damit man die Details
bilden, zusammen. Dies entspricht auch der Realität. Din- der Geometrie leichter erkennt. Die wesentlichen Infor-
ge, die weiter entfernt sind, wirken kleiner, und Dinge, mationen werden in der zweidimensionalen Darstellung
die näher am Betrachter positioniert sind, wirken größer. angegeben. In Abb. 23.12 ist dargestellt, wie eine zwei-
Dieser Effekt wird in der CAD-Darstellung und auch auf dimensionale Ansicht aus der dreidimensionalen Geome-
der technischen Zeichnung meist vernachlässigt. Hier er- trie abgeleitet wird. Die Körperkanten werden als paralle-
stellen wir meist parallele Projektionen. Die Körperkanten le Linien orthogonal zur Blattebene als Bildpunkte auf die
werden in definierten Winkel zueinander dargestellt. In Blattebene projiziert. Sichtbare Körperkanten werden als
Abb. 23.11 laufen die Körperkanten exakt parallel. Da hier Vollinien durch Verbinden der Punkte gezeichnet. Kan-
eine willkürliche Ansicht durch Drehung des Hammer- ten, die man beim Blick von oben nicht sieht, werden
kopfes im CAD erzeugt wurde, liegen die Achsen nicht in als Unsichtbare in gestrichelten Linien dargestellt. Dies ist
einer der oben angegebenen Richtungen. Für die Darstel- beim Hammerkopf z. B. die Bohrung. Im Weiteren gehen
lung auf der technischen Zeichnung sollte aber vorzugs- wir jetzt darauf ein, welche unterschiedlichen Ansichten
weise die isometrische Darstellung gewählt werden. in die Zeichnung übernommen werden können, um die
Grundregeln wie oben bereits besprochen zu erfüllen.

Z
Maschinenelemente

X
Y X
42°
30°

30°

Y

a isometrische Darstellung b dimetrische Darstellung

Abb. 23.10 Unterschiedliche Darstellung eines Werkstücks: a isometrische


Darstellung; b dimetrische Darstellung Abb. 23.12 Von 3D zu 2D durch senkechte Parallelprojektion
23.3 Die Darstellung von Werkstücken 769

Abb. 23.13 Hammerkopf in


verschiedenen Ansichten

Unteransicht Isometrische Ansicht


Maßstab: 1:1 Maßstab: 1:1

Seitenansicht rechts Vorderansicht Seitenansicht links


Maßstab: 1:1 Maßstab: 1:1 Maßstab: 1:1

Draufsicht
Maßstab: 1:1

Ansichten werden durch verschiedene Z

Projektionsmethoden erzeugt

In Abb. 23.13 ist der Hammerkopf in verschiedenen An-


sichten dargestellt. In der Mitte sieht man die Vorder-
ansicht. Dies ist die zentrale Ansicht und sollte immer
im Mittelpunkt der Zeichnung stehen. Daher ist als Vor-
deransicht die aussagekräftigste Fläche bzw. Ansicht ei-
nes Werkstücks zu wählen. Für Einzelteilzeichnungen ist
die Funktions-, Fertigungs- und Zusammenbaulage des
Werkstücks als Vorderansicht zu wählen, bei Gesamt- und
Gruppenzeichnungen ist es die Gebrauchs- und Einbau-
lage. So ist der Hammer auch so dargestellt, wie man ihn
beim normalen Gebrauch in der Hand hält. Das verein-
facht das Erkennen von Details und die Bewertung der
Funktion eines Bauteils. Weitere Ansichten werden nur
dargestellt, wenn diese zur vollständigen und eindeuti- X Y
gen Abbildung der Geometrie erforderlich sind. a Projektionsmethode 1 nach DIN ISO 5456-2

Zur Anordnung der weiteren Ansichten, wie der Seiten-,


Drauf- und Unteransicht, sind verschiedene Projektions- h H
methoden genormt. Im deutschen bzw. im europäischen

Maschinenelemente
Raum ist die Projektionsmethode 1 üblich. Wie die Lage H 3d
der Ansichten der Körper aus der Vorderansicht abge- b Projektionsmethode 1 c Projektionsmethode 3
leitet werden, ist in Abb. 23.14a zu sehen. Um die linke
Seitenansicht zu erhalten, blickt man von rechts auf den Abb. 23.14 Projektionsmethoden 1 und 3 mit Darstellung der Symbole
zur Kennzeichnung auf der Zeichnung: a Projektionsmethode 1 nach DIN
Körper, der in der Vorderansicht dargestellt ist. Für die ISO 5456-2; b Projektionsmethode 1; c Projektionsmethode 3
rechte Seitenansicht blickt man dann von der linken Sei-
te nach rechts. In beiden Fällen wird die Ansicht dann
in Blickrichtung auf die Blattebene gekippt bzw. gedreht.
Das ist in Abb. 23.14a gut zu erkennen. Analog kippt man tenansicht eindeutig kennzeichnet, in welche Richtung
die Draufsicht von unten nach oben und entsprechend die der Kegelstumpf geklappt wird, um die richtige Darstel-
Untersicht von oben nach unten. Zur eindeutigen Kenn- lung mit zwei sichtbaren Kreisen für die Körperkanten
zeichnung, welche Projektionsmethode verwendet wird, zu erzeugen (Abb. 23.14b). Die Linienbreite d, sowie Län-
muss in der Nähe des Schriftfelds ein Symbol nach DIN ge und Durchmesser des breiteren Endes des Kegels H
ISO 5456-2 eingetragen werden. Das Symbol besteht aus werden abhängig von der Schriftgröße bemessen. Es gilt:
der Vorderansicht eines Kegelstumpfes, der in der Sei- d = h/10 und H = 2h.
770 23 Die technische Zeichnung – die Sprache des Ingenieurs

Zusätzlich zur Projektsmethode 1 ist in der DIN ISO 5456-


2 auch die Projektionsmethode 3 genormt (Abb. 23.14c).
Diese ändert die Blickrichtung im Vergleich zu Metho-
de 1. Blickt man von links auf den Körper, stellt man diese 45
Ansicht auch auf die linke Seite seiner Vorderansicht. In
Abb. 23.14 ist auch das Symbol zur Kennzeichnung der
Projektionsmethode 3 angegeben. Auch dieses Symbol
erklärt sich in seiner Darstellung durch sich selbst. Die
Projektionsmethode 3 findet in den USA und in Austra-

Ø20
lien Anwendung. Durch Angabe des Symbols erhält man
den eindeutigen Hinweis, welche Methode zur Erstellung
der Zeichnung gewählt wurde.

Abb. 23.16 Darstellung von rotationssymmetrischen Körpern (Drehteile)


Grundlagen zur Darstellung von Körpern

Bei der Darstellung der einzelnen Körper sind viele Stan-


dards einzuhalten. Wir können hier nur auf eine Auswahl
eingehen. Ein ganz wesentliches Element der technischen
Zeichnung ist die Mittellinie. In einer Handskizze soll-
te die Mittellinie als erstes gezeichnet werden, damit
man sich beim Skizzieren der weiteren Körperkanten
daran orientieren kann. In Abb. 23.15 ist die Draufsicht
auf einen Klotz mit drei Bohrungen zu sehen. Das Bau-
teil ist in beiden Achsrichtungen symmetrisch. Das wird
durch die jeweiligen Strich-Punktlinien (Tab. 23.5 Linien-
art 04.1) dargestellt. Bohrungen, also rotationssymmetri-
sche Geometrien, werden ebenfalls durch die Mittellinien
gekennzeichnet. Dabei ragt die Mittellinie leicht über die
Außenkante der Bohrung hinaus. Das Gleiche gilt für die
Mittellinie des Klotzes selbst. Auch hier ragen die Mittel-
linien ca. 2 mm über die Körperkanten hinaus.
Das Gleiche gilt auch für Drehteile, also rotationssym-
Abb. 23.17 Darstellung von Lichtkanten
metrische Bauteile. In Abb. 23.16 ist ein Zylinder in der
Vorderansicht zu sehen. Man erkennt keinen Unterschied
zu dem in Abb. 23.15 dargestellten Klotz (ohne Bohrun-
gen). Nur durch die Kennzeichnung des Durchmessers Wie bereits beschrieben, werden alle Sichtkanten mit ei-
mit dem Durchmessersymbol vor der Maßzahl und an ner Volllinie gezeichnet und Unsichtbare mit gestrichel-
der eingezeichneten Mittellinie erkennt man eindeutig ten Linien. Eine Besonderheit stellen Lichtkanten dar
den Zylinder. (Abb. 23.17). Diese entstehen an Flächenübergängen mit
Maschinenelemente

flachen Winkeln oder Radien. An diesen Stellen ist es


nicht eindeutig, ob wirklich eine Kante sichtbar ist. Diese
„Pseudo“-Kanten nennt man Lichtkanten, da man diese
an realen Körpern nur gegen das Licht gut erkennen kann.
In einer Zeichnung werden dies

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