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Maschinenbau
Ein Lehrbuch
für das ganze Bachelor-Studium
2. Auflage
Maschinenbau
TUNAP INDUSTRY
TUNAP steht seit mehr als 40 Jahre für Leidenschaft und Kompetenz im Bereich
chemischer Produkte. Als Spezialist für chemisch-technische Anwendungen liegen
unsere Stärken insbesondere im Bereich der Schmierfette, -öle und -pasten sowie
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Werner Skolaut
(Hrsg.)
Maschinenbau
Ein Lehrbuch für das ganze
Bachelor-Studium
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte biblio-
grafische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Springer Vieweg
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Geleitwort
Der Maschinenbau – mit allen seine Branchen und Technologien – ist für die Bundesrepublik
Deutschland Wirtschaftsmotor Nummer eins. Der Erfolg der Firmen, ob Klein-, Mittel- oder
Großunternehmen, wird Jahr für Jahr an den Exportzahlen und dem Exportüberschuss, den
Deutschland dadurch erwirtschaftet, jedem deutlich.
Die Position im internationalen Wettbewerb, die besonders durch die Leistungen des In-
genieurfachpersonals in den Unternehmen erreicht wurde, muss für die Zukunft gesichert
werden. Dieses Ziel lässt sich am besten und vorausschauend realisieren, besonders auch
mit einem hohen Wirkungsgrad und überschaubaren Investitionsleistungen, wenn die Inge-
nieursausbildung weiterhin auf höchstem Niveau erfolgt.
Die Umstellung an den Hochschulen auf Bachelor- und Masterabschluss hat der Qualität
der Ausbildung aufgrund des Verantwortungsbewusstseins der Lehrenden gegenüber den
Studierenden und deren beruflicher Zukunft bisher keinen messbaren Schaden zugefügt.
Dieser Umstand ist auch dem Angebot an begleitendem Lehrmaterial geschuldet.
Normen, VDI-Richtlinien und die studienbegleitenden Lehrbücher werden für die Studie-
renden inhaltlich abgestimmt und kontinuierlich mit neuestem Fachwissen erweitert, so
dass die Absolventinnen und Absolventen der technischen Ausbildungsberufe, Ingenieur-
akademien und Hochschulen sich den neuesten Technologiestand in Kombination mit den
jeweiligen Lehreinheiten aneignen können.
Das vorliegende Springer Lehrbuch Maschinenbau bietet den Studierenden eine hervorra-
gende Möglichkeit, sich Wissen eigenständig zu erarbeiten, erlerntes Wissen zu vertie-
fen bzw. studienbegleitend in Übungen und Seminaren anzuwenden. Darüber hinaus ist
der erläuternde Text in Verbindung mit den vielfältigen, sehr eindrucksvoll dargestellten
Konstruktions- und Berechnungsbeispielen für eine Auffrischung der Thematiken des Ma-
schinenbaus sehr hilfreich. In Kombination, z. B. mit dem DUBBEL – Taschenbuch für den
Maschinenbau oder der grundlagenorientierten HÜTTE – beide ebenfalls aus dem Springer
Verlag – wird den Lesern der umfassende, gefestigte und wissenschaftlich nachgewiesene
Technologiestand geboten.
Von den Autoren des Springer-Lehrbuchs Maschinenbau ist unter der Leitung des Heraus-
gebers eine eindrucksvolle Studienliteratur in der nun vorliegenden 2. aktualisierten und
überarbeiteten Auflage erarbeitet worden, die sich in die oben genannte Zielsetzung des
deutschen Maschinenbaus, die Technologieführerschaft für Deutschland zu sichern, nahtlos
und überzeugend einbringt.
V
Vorwort zur zweiten Auflage
In der vorliegenden aktuellen 2. Auflage des Lehrbuches wurden alle Kapitel von den
Autoren überarbeitet, aktualisiert und, da wo notwendig, erweitert. Ermuntert durch die
zahlreichen positiven Reaktionen der Rezensenten wurde das didaktische Konzept mit Leit-
beispiel, Vertiefungen, gerechneten Aufgaben, Anwendungsbeispielen und Übersichten in
Kästen vom Text abgegrenzt und mit verschiedenen Farben verdeutlicht, festgehalten. Die
Stilelemente mit den Farben blau für Beispiele, violett für vertiefende Darstellungen und
gelb für Übersichten sowie die gelb unterlegten Merksätze sind geblieben. Verständnisfragen
im Text sind weiterhin zur Selbstkontrolle des Gelernten vorhanden. Erweitert wurden die
Querverweise zwischen den Kapiteln, speziell was die Abhängigkeit zwischen Materialei-
genschaften, Konstruktion und Fertigung betrifft. Besonders wurden die genannten Normen
sowie alle weiteren Quellen auf Aktualität geprüft und auf den neuesten Stand gebracht;
speziell der geometrischen Produktspezifikationen, die als besonders wichtig für die globa-
le Ausrichtung des Maschinenbaus gelten. Zukunftsweisend wurde die additive Fertigung
aufgenommen und der Teil zur Industrie 4.0 detaillierter dargestellt. Ebenso widmet sich ei-
ne Übersicht den Speichern elektrischer Energie im Teil Elektrotechnik. Dankenswerterweise
sind die gleichen 20 Autoren aus Universitäten und Fachhochschulen wieder beteiligt, deren
ergänzte Kurzbiografien am Ende des Buches zu finden sind. Dort befinden sich auch die
Danksagungen der Autoren.
Als Herausgeber möchte ich mich an dieser Stelle bei den Autoren für die erneute Mitwir-
kung und hervorragende Zusammenarbeit sowie die Termintreue bedanken. Weiterhin gilt
mein Dank le-tex publishing services GmbH, insbesondere Frau Steffi Siebert-Hohensee und
Herrn Julian Meyer. Mein besonderer Dank gilt auch Herrn Günther Hippmann von der
Hippmann GbR, für die fachkundige und zuverlässige Gestaltung der Abbildungen. Er hat
als Grafiker einen besonderen Anteil am Aussehen des Buches. Bedanken möchte ich mich
zusammen mit den Autoren bei allen Beteiligten des Springer-Verlages und besonders bei
Frau Hestermann-Beyerle und Frau Kollmar-Thoni von Springer Vieweg. Ganz besonderer
Dank gilt auch meiner Frau, die die Zeit bis zum Erscheinen der zweiten Auflage wieder
ermunternd begleitet hat.
Werner Skolaut
VII
Vorwort zur ersten Auflage
Seit der Umsetzung des Bologna-Prozesses als europäische Hochschulreform hat sich das
klassische Maschinenbaustudium durch Einführung spezieller Profile in eine große Anzahl
eigenständiger Studiengänge aufgefächert. Daher findet man heute eine Vielfalt an Unter-
gliederungen in der Organisation der Maschinenbau-Fakultäten. Aus der Perspektive der
Studierenden stehen andere Probleme im Vordergrund. Zunächst ist die Interdisziplinari-
tät des Maschinenbaus zu nennen. Es gilt, viele Wissensgebiete parallel zu erschließen, wie
zum Beispiel Technische Mechanik, Werkstoffkunde oder Thermodynamik, die wiederum
mit dem Grundlagenwissen aus Mathematik, Physik und Chemie verknüpft sind. Zu diesen
Wissensgebieten lassen sich hervorragende einzelne Lehrbücher finden – meist verfasst von
mehreren Autoren aus dem jeweiligen Fachgebiet und versehen mit Aufgaben zur Verdeut-
lichung des Stoffes und dessen Anwendung. Ein umfassendes Lehrbuch, das einführend die
gesamten Grundlagen des Maschinenbaus enthält, fehlte bisher.
Das vorliegende Lehrbuch des Maschinenbaus schließt diese Lücke. Alle Kapitel wurden
von Autoren verfasst, die als Professoren Lehrerfahrung in ihren jeweiligen Fachgebieten
besitzen. Versehen mit vielen Beispielen, ausführlichen Berechnungen und in die Tie-
fe gehenden Darstellungen wichtiger Hintergründe werden alle Fachgebiete ausführlich
behandelt. Ein Thema zieht sich durch das gesamte Buch: der Antriebsstrang. Als ein kom-
plexes System zur Übertragung von Energie zur Fortbewegung, bestehend aus zahlreichen
Elementen mit unterschiedlichen Funktionen, werden daran Funktionsweisen und Prinzipi-
en, Fertigungsverfahren sowie Materialeigenschaften demonstriert. Wie und welche dieser
Elemente in den einzelnen Kapiteln genutzt werden, ist im ersten Kapitel beschrieben.
Symbolisiert wird dieses Anwendungsbeispiel durch einen Kasten mit einem stilisierten An-
triebsstrang auf grünem Hintergrund. Andere Stilelemente haben ebenfalls eigene Farben:
blau sind Beispiele, violett vertiefende Darstellungen und gelb Zusammenfassungen.
Insgesamt sind 20 Autoren aus Universitäten und Fachhochschulen beteiligt, deren Kurz-
biografien am Ende des Buches zu finden sind. Dort finden sich auch die Danksagungen der
Autoren.
Als Herausgeber möchte ich mich an dieser Stelle bei den Autoren für die hervorragende
Zusammenarbeit, geprägt von vielen Diskussionen und auch Kompromissen bezüglich des
Inhalts und einer möglichst widerspruchsfreien Nomenklatur, bedanken. Weiterhin gilt mein
Dank le-tex publishing services GmbH, insbesondere Frau Dana Minnemann und Frau An-
ne Strohbach zusammen mit den Grafikern Herrn Wolfgang Zettlmeier, Frau Valentina Ansel
und Herrn Günther Hippmann, die dem Buch das Aussehen gegeben haben. Ganz beson-
ders bedanken möchte ich mich aber zusammen mit den Autoren bei allen Beteiligten des
Springer-Verlages für die Unterstützung und besonders für die kreative und umsichtige Pro-
jektleitung durch Frau Hestermann-Beyerle von Springer Vieweg. Ganz besonderer Dank
gilt auch meiner Frau, die die letzte, doch sehr arbeitsintensive Zeit der Endkorrekturen
ebenso ermunternd begleitet hat wie die Zeit der Vorbereitung.
Werner Skolaut
IX
Inhaltsverzeichnis
Teil II Werkstoffkunde
Teil IV Strömungsmechanik
Teil V Maschinenelemente/Konstruktionslehre
Teil VI Fertigungstechnik
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1130
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1132
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1156
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1158
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1178
XX Inhaltsverzeichnis
37 Motoren und Generatoren – wie von 0 auf 300 km/h beschleunigt wird . . 1247
37.1 Physikalische Grundlagen von Motoren und Generatoren . . . . . . . . 1248
37.2 Typen, Randbedingungen und Einsatzgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . 1253
37.3 Gleichstrommaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1254
37.4 Asynchronmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1259
37.5 Synchronmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1261
Weiterführende Literatur für die Kapitel 34 bis 37 . . . . . . . . . . . . . . . . . 1266
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1267
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1268
Inhaltsverzeichnis XXI
Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1389
Autorenbiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1405
Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1411
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1417
Autoren
XXIII
Maschinenbau – seine
Vielfalt und die Motivation
1
für dieses Lehrbuch
Was erwartet Sie im
Maschinenbaustudium?
Wie ist das Buch
aufgebaut?
Welche didaktischen
Elemente erleichtern das
Lernen?
Für optimalen Lesefluss sehen wir im gesamten Buch von der Nen- Auch wenn die Frage nach der „richtigen“ Struktur des
nung weiblicher und männlicher Formen der Berufsbezeichnungen Faches zuweilen heftig diskutiert wird, erscheint sie doch
(Ingenieure und Ingenieurinnen) ab. Ebenso verzichten wir auf die mit etwas Abstand betrachtet als nicht so elementar wich-
Benutzung des Kunstwortes IngenieurIn. Sämtliche Personenbe- tig. Viel wichtiger ist ein anderer Aspekt, der aus der
zeichnungen gelten für beide Geschlechter. Perspektive des Studierenden betrachtet manchmal pro-
blematisch ist: das Fach Maschinenbau ist interdiszipli-
Auf die Frage, was denn nun das Besondere sei am Be- när, viele Wissensgebiete spielen eine wichtige Rolle, und
ruf des Ingenieurs, erhält man häufig die Antwort: „Dem es ist schwer, sich anhand von Literatur und Lehrbüchern
Ingenieur ist nichts zu schwer!“. Und in der Tat sind es einen Überblick zu verschaffen. Es gibt hervorragende
dieser Optimismus und die Begeisterung für die vielfäl- Lehrbücher zu einzelnen Fächern, wie z. B. Werkstoffkun-
tigen beruflichen Herausforderungen, die für Viele die de, Technische Mechanik, Thermodynamik, usw., und es
Faszination dieses Berufsfeldes ausmachen. In seinem In- ist jedem Studierenden nur zu raten, die entsprechende
genieurlied, dem die oben zitierte Zeile entnommen ist, Literatur kennenzulernen und möglichst viele der ein-
beschreibt Heinrich Seidel (1842–1906) die Situation am schlägigen guten Fachbücher zu studieren.
Ende des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit, als es noch kei- Aber bisher fehlte ein einführendes Lehrbuch, in dem
ne Computertechnik gab, und viele der Dinge, die heute die Grundlagen des Maschinenbaus zusammenfassend
alltäglich sind, noch unvorstellbar waren. Heute sind die- dargestellt sind. Das vorliegende Lehrbuch des Maschi-
se Technologien Bestandteil der Ingenieurwissenschaften nenbaus schließt diese Lücke. Es enthält (mit Ausnahme
und prägen insbesondere auch den Maschinenbau. der Mathematik) die Grundlagen aller Lehrfächer, die
typischerweise Gegenstand eines Bachelor-Studiums an
Der Maschinenbau hat sich als eigenständiges Studien-
Universitäten und Fachhochschulen sind und bietet da-
fach mit der zunehmenden Entwicklung von Technik und
mit einen idealen Einstieg in dieses Studium.
Wissenschaft seit Ende des 18. Jahrhunderts herausge-
bildet. Ferdinand Redtenbacher (1809–1863) in Karlsruhe
und Karl Karmarsch (1803–1879) in Hannover sind be-
kannte Persönlichkeiten, die den Maschinenbau in der
Mitte des vorletzten Jahrhunderts als Studienfach an
1.1 Berufsfeld
den damals entstehenden Technischen Hochschulen in Maschinenbau-Ingenieur
Deutschland begründeten (Abb. 1.1).
Meist wird das Fach Maschinenbau in die Einzeldiszi- Das Berufsfeld des Maschinenbau-Ingenieurs ist extrem
plinen Konstruktion und Entwicklung, Produktion und breit. Maschinenbau-Ingenieure arbeiten an der Konzi-
Logistik sowie Energie- und Verfahrenstechnik unter- pierung neuer Produkte, erstellen Machbarkeitsstudien
teilt. Diese klassische Struktur findet man dementspre- zu Fertigungstechnologien, treffen Entscheidungen über
chend heute in der Organisation vieler Maschinenbau- Produktions- und Lieferketten, gestalten Fabriken und
Fakultäten wieder. Aber natürlich gibt es auch andere Anlagentechnik, optimieren den Wirkungsgrad von Pro-
Möglichkeiten, für eine Differenzierung. So kann man zessen, analysieren funktionale Zusammenhänge in tech-
das Fach z. B. in Fahrzeugtechnik, Luft- und Raumfahrt- nischen Systemen, führen Gespräche mit Kunden und
technik, Schiffs- und Meerestechnik, Medizintechnik, und Lieferanten, um Anforderungen an Bauteile und Systeme
weitere Bereiche gliedern. zu klären, verhandeln über Preise und Lieferkonditionen,
a b c
1.2 Der Produktentstehungsprozess 3
Tab. 1.1 Ingenieurbranchen und volkswirtschaftliche Indikatoren. Ergebnisse der fünf Branchen mit dem höchsten Anteil der Ingenieure an allen Erwerbstätigen
Erwerbstätige erwerbstätige Innovations- Ausfuhr und Überschuss bei
Ingenieure ausgaben Einnahmen aus Ausfuhr und
in Mrd. Euro Dienstleistungen in Dienstleistungen
Mrd. Euro in Mrd. Euro
Fahrzeugbau 1.296.000 163.000 33,68 225,7 108,7
Maschinenbau 1.123.000 148.000 11,81 161,2 90,8
Elektroindustrie 824.000 109.000 13,62 151,1 18,8
Technische/F&E-Dienstleistungen 652.000 231.000 3,41 10,4 2,7
EDV/Telekommunikation 682.000 72.000 10,47 13,4 1,6
fünf Ingenieurbranchen gesamt 4.579.000 723.000 72,99 561,8 222,6
Volkswirtschaft gesamt 41.550.000 1.603.000 121,26 1252,8 151,6
Quellen: Institut der deutschen Wirtschaft Köln; eigene Berechnungen auf Basis von FDZ der statistischen Ämter des Bundes und der Länder;
Mikrozensus 2009; ZEW Innovationserhebung 2011 (Datenstand 2010); Statistisches Bundesamt 2012; Deutsche Bundesbank, 2012
nehmen Anlagen in Betrieb, überwachen den Zustand si- Produkt entstehen zu lassen. Der Produktentstehungs-
cherheitskritischer Bauteile, führen Berechnungen durch, prozess lässt sich, einem Leitfaden der Wissenschaftlichen
um die Verlässlichkeit technischer Systeme zu beurteilen, Gesellschaft für Produktentwicklung (WiGeP) folgend,
und treffen unternehmerische Entscheidungen. Die Lis- grob in die Phasen
te könnte noch weiter fortgesetzt werden, und bringt uns
doch nur zu einem Ergebnis: Die Vielfalt der späteren Be- Produktplanung (Bedarfsermittlung, Ideenfindung,
rufstätigkeit ist enorm (Tab. 1.1). So schwierig dies die Machbarkeitsstudie),
Orientierung bei der Frage „In welchem dieser Bereiche Produktentwicklung (Auslegung, Design),
will ich später einmal tätig werden?“ macht, vermittelt Produktion (Fertigungsplanung, Fertigung, Montage,
dieser Umstand doch aber auch gleichzeitig die Zuver- Inbetriebnahme)
sicht, dass im Grunde jeder Studierende die Möglichkeit
hat, im späteren Berufsfeld eine Aufgabe zu finden, die zu gliedern. Er ist damit Teil des Produktlebenszyklus, der
ihm und seinen persönlichen Neigungen passt. über die Produktentstehung hinaus noch den Betrieb,
Nach einer Studie des Verbands Deutscher Ingenieure die Instandhaltung und die Entsorgung oder die Wieder-
VDI waren in Deutschland im Jahr 2013 ca. 1,6 Millionen verwendung bzw. die Wiederverwertung des Produktes
Ingenieure erwerbstätig. Nur gut die Hälfte davon ist aber umfasst.
in einem traditionellen Ingenieurberuf in der Industrie In der ersten Phase des Produktentstehungsprozesses
beschäftigt. Die andere Hälfte übt eine Tätigkeit im Ma- wird unter Berücksichtigung der Marktbedingungen, der
nagement, im öffentlichen Dienst oder als Selbständiger Wettbewerbsposition des Unternehmens sowie technolo-
aus. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, gischer und gegebenenfalls politischer Randbedingungen
dass der häufigste Bildungshintergrund von Geschäfts- der Bedarf an einem neuen oder verbesserten Produkt
führern in der Industrie ein Studienabschluss in den In- bestimmt. Darauf aufbauend werden verschiedene Pro-
genieurwissenschaften ist und fast 10 % aller Ingenieure duktideen generiert, deren Machbarkeit und Rentabilität
als Unternehmensleiter, Geschäftsführer oder Bereichslei- untersucht wird. Am Ende steht dann die Entscheidung
ter tätig sind. für ein oder mehrere Produkte und die Ermittlung von
Anforderungen, die als Grundlage für die nachfolgende
Die wirtschaftliche Bedeutung der Branchen Fahrzeug-
Phase der Produktentwicklung dienen.
und Maschinenbau ist in den letzten Jahren in Deutsch-
land noch weiter gestiegen. So betrug der Umsatz der Im Rahmen der Produktentwicklung erfolgt zunächst in
deutschen Firmen im Fahrzeugbau im Jahr 2016 ca. 320 der Regel eine Beschreibung (Modellierung) der Funk-
Mrd. €. Im Maschinenbau lag er bei 220 Mrd. €. tionen, die von dem zu entwickelnden Produkt erfüllt
werden müssen. In der Regel gibt es mehrere Funktions-
strukturen, mit denen die Anforderungen an das Produkt
erfüllt werden können; deshalb erfolgt meist auch eine
1.2 Der Produktentstehungsprozess Optimierung, um die für das Produkt besonders wich-
tigen Ziele möglichst gut zu erreichen. Dieses Vorgehen
wird auch als Design for X bezeichnet, wobei es sich
Um einen Eindruck von der Komplexität des modernen bei X z. B. um minimale Kosten, möglichst geringes Ge-
Maschinenbaus zu vermitteln, werden wir im Folgenden wicht, maximale spezifische Leistung, minimalen Ener-
den Produktentstehungsprozess betrachten, mit dem die gieverbrauch oder Ähnliches handeln kann. In gleicher
Schritte bezeichnet werden, die notwendig sind, um ein Weise wie bei der Modellierung der Funktionsstruktur
4 1 Maschinenbau – seine Vielfalt und die Motivation für dieses Lehrbuch
wird auch die Gestalt des Produktes modelliert und op- und produktionstechnische Randbedingungen berück-
timiert. Man spricht hier von funktionsorientiertem Ent- sichtigt.
wurf (logische Funktionsanalyse) und gestaltorientiertem Typische Berufsbilder von Maschinenbauingenieuren in
Entwurf (Synthese der physikalischen Baustruktur). Die der Produktion sind:
damit verbundenen Arbeitsschritte sind vielfältig und
haben zur Herausbildung verschiedener typischer Berufs- Fertigungsplaner: Projektierung von Fertigungsstätten,
bilder des Maschinenbauingenieurs in der Produktent- Festlegen von Arbeitsabläufen, Auswahl von Produk-
wicklung geführt, wie z. B.: tionsmaschinen und Fertigungseinrichtungen, Ge-
staltung von Montagelinien,
Konstrukteur: Modellieren von Funktionen, Festlegen Technologe: Optimierung und ständige Verbesserung
der Gestalt, Auswahl der Werkstoffe, Dimensionie- der eingesetzten Fertigungstechnologien, Entwick-
rung von Bauteilen und Komponenten, Klären der lung neuer Produktionsverfahren,
fertigungstechnischen Randbedingungen für die spä- Qualitätsmanager: Überwachung der laufenden Ferti-
tere Produktion, gung, Sicherstellung gleichbleibend hoher Produkt-
Berechnungsingenieur: rechnerische Bestimmung der in qualität, Analyse von Risikofaktoren und Schwach-
Bauteilen auftretenden Beanspruchungen, Berech- stellen im Produktionsprozess,
nung von Eigenfrequenzen, rechnerische Bestim- Produktionssteuerer: Kapazitätsplanung, Sicherstellen,
mung von Strömungs- und Temperaturfeldern, dass Liefertermine eingehalten werden.
Versuchsingenieur: experimentelle Validierung von Re-
chenmodellen und Bestimmung der darin auftreten- Auch diese Aufzählung ist lediglich ein Auszug, nicht
den Parameter, Durchführung von Versuchen zur vollständig. Und auch in der Produktion gibt es viele un-
Ermittlung von Verschleiß und zur Vorhersage der terschiedliche Ausprägungen der Organisationsstruktur
Lebensdauer, Bewertung von Produkteigenschaften in den verschiedenen Industrieunternehmen.
in Testfahrten und Probandenversuchen,
Patentingenieur: Prüfen des Neuheitsgrades technischer Zur Erfüllung der vielfältigen Anforderungen in der be-
Entwicklungen, Formulieren und Anmelden von ruflichen Praxis brauchen Maschinenbauingenieure, die
gewerblichen Schutzrechten, Verteidigung eigener im Bereich der Produktentstehung arbeiten, eine sehr gu-
Schutzrechte und Überwachung fremder Schutzrech- te Ausbildung. Niemand kann in allen oben genannten
te, Vergabe und Erwerb von Lizenzen. Tätigkeitsfeldern ein Spezialist sein. Arbeiten im Team
ist ein wesentliches Merkmal des Produktentstehungs-
prozesses. Dabei sind die Teams nicht nur abteilungs-,
Diese Aufzählung ist nicht vollständig; die genannten sondern oft auch unternehmensübergreifend und interna-
Tätigkeiten sind nur typisch und keineswegs strikt wört- tional zusammengesetzt. Deshalb werden bei Ingenieuren
lich zu verstehen. Große Unterschiede bestehen auch in in der Regel auch sehr hohe Anforderungen an die Kom-
der betrieblichen Organisation des Produktentwicklungs- munikationsfähigkeiten und gute Fremdsprachenkennt-
prozesses. In vielen Unternehmen gehören zur Organi- nisse gefordert.
sationseinheit Produktentwicklung verschiedene Unter-
einheiten, wie z. B. Forschung und Vorentwicklung, Kon- Der hier näher betrachtete Prozess der Produktentste-
struktion, Berechnung, Prototypenbau, Versuch, Produkt- hung ist eines der Haupttätigkeitsfelder von Ingenieuren.
datenmanagement. Zur Unterstützung der dort tätigen Es gibt darüber hinaus aber sehr viele weitere Berei-
Ingenieure werden zahlreiche Werkzeuge eingesetzt, zu che, in denen Ingenieure tätig sind, auf die hier nicht
denen beispielweise Datenverarbeitungs- und Visualisie- näher eingegangen wurde. Zu diesen zählen Führungs-
rungsprogramme wie CAD (Computer Aided Design) und Leitungsaufgaben in Unternehmen, Aus- und Weiter-
oder VR (Virtual Reality), Berechnungs- und Optimie- bildung, Vertrieb, Service und Instandhaltung sowie Tä-
rungsprogramme wie CAE (Computer Aided Enginee- tigkeiten als Unternehmensberater oder Sachverständige.
ring), sowie Rapid Prototyping oder Hardware-in-the- Auch wenn all diese Berufsbilder im Detail ganz unter-
Loop zählen. schiedliche Kompetenzen erfordern, haben sie doch auch
viele Gemeinsamkeiten und erfordern einen Mindest-
Am Ende des Produktentwicklungsprozesses steht die umfang an technischem Fachwissen, die Fähigkeit zum
Produktdokumentation, zu der auch die Erstellung der strukturierten und zielorientierten Arbeiten sowie ein ge-
Fertigungsunterlagen gehört. Es wäre nun aber falsch wisses Maß an Sozialkompetenz.
anzunehmen, dass die dritte Phase des Produktentste-
hungsprozesses, die Produktion, strikt von den ersten
beiden Phasen getrennt sei. In den meisten Fällen spie-
len Fragestellungen zur in der Produktion eingesetz- 1.3 Bachelor-Studium Maschinenbau
ten Fertigungstechnik eine wichtige Rolle bei der Pro-
duktentwicklung. Dies gilt insbesondere bei Fragen zu Im Zuge der Bologna-Reform haben die meisten Univer-
Herstellkosten, Produktionsmengen und Qualität. Häufig sitäten und Fachhochschulen die traditionellen Diplom-
werden sogar schon in der Produktplanung fertigungs- Studiengänge auf Bachelor- und Master-Studiengänge
1.3 Bachelor-Studium Maschinenbau 5
Forschungs- und
fachwissenschaftliche planerische Beurteilungs- Selbst- und
Problemlösungs-
Kompetenz Kompetenzen kompetenzen Sozialkompetenzen
kompetenzen
Formulieren,
Zusammenfassen,
Kontextualisierung
von Ergebnissen
umgestellt. Während in den Diplom-Studiengängen das Promotion abgeschlossen haben. Damit lag die Anzahl
Vordiplom typischerweise nach vier Semestern und das der Absolventen insgesamt bei ca. 38.000.
Diplom nach zehn Semestern der Regelstudienzeit er- Trotz großer Bedenken in weiten Teilen der Hochschul-
reicht wurde, sind typische Bachelor-Studiengänge auf landschaft haben sich die neuen Abschlüsse am Arbeits-
sechs Semester und typische Master-Studiengänge auf markt durchgesetzt und auch dazu beigetragen, die Dis-
weitere vier Semester Regelstudienzeit ausgelegt. Mit die- kussion über die Qualität von Studiengängen an Uni-
ser Umstellung der Studiengänge waren weitreichende versitäten und Fachhochschulen zu beleben. Eine nahezu
Veränderungen in der Struktur der Studiengänge ver- gleiche Akzeptanz von Absolventen aus Fachhochschu-
bunden, die jedoch in den meisten Fällen keine Aus- len und Absolventen aus Universitäten spiegelt sich in
wirkungen auf die Fächer hatten, die zum klassischen den Einstiegsgehältern wieder. So hängt nach einer Studie
Kanon des Vordiploms gehörten und heute oft zusam- des VDI aus dem Jahr 2012 die Höhe der Einstiegsgehäl-
menfassend als Grundlagen des Maschinenbaus bezeichnet ter stärker von der Größe der Unternehmen ab als von der
werden. Herkunft der Ingenieure oder ihrem jeweiligen Abschluss
Im Jahr 2015 haben im Fachbereich Maschinenbau und (Bachelor, Master, Diplom).
Verfahrenstechnik ca. 10.500 Studierende einen Masterab- Hatte es Ilse Knott-ter Meer (1899–1996) (Abb. 1.1a),
schluss, ca. 22.500 Studierende einen Bachelor-Abschluss die erste deutsche Diplom-Ingenieurin und später erstes
erreicht. Hinzu kamen ca. 3300 Studierende, die einen Di- weibliches Mitglied im Verein Deutscher Ingenieure, in
plomabschluss erlangt und knapp 2000 Personen, die eine ihrem Studium an den Technischen Hochschulen in Han-
6 1 Maschinenbau – seine Vielfalt und die Motivation für dieses Lehrbuch
nover und München noch schwer, liegt heute der Anteil petenz, wie z. B. die Fähigkeit, die Grenzen der Gültigkeit
weiblicher Absolventen im Maschinenbau bei über 20 %. von Theorien und Lösungen zu erkennen oder Lösungen
Dieser Anteil ist deutlich niedriger als in anderen Län- auf neue Anwendungsfelder zu übertragen, ist in uni-
dern. Es ist jedoch zu hoffen, dass sich dies in Zukunft versitären Studiengängen in der Regel deutlich höher als
ändert und noch mehr Frauen sich für ein Studium des in Studiengängen an Fachhochschulen. Demgegenüber
Maschinenbaus entscheiden. steht an Fachhochschulen oft ein größerer Stoffumfang in
speziellen, für die Praxis besonders relevanten Anwen-
dungsfeldern.
1.4 Maschinenbaustudium an Die Breite des Wissens, im Sinne der Stoffauswahl, ist
in den Grundlagenfächern des Maschinenbaus an Fach-
Fachhochschule und Universität hochschulen und Universitäten nahezu gleich. Die Tiefe
der Durchdringung des Wissens ist jedoch an Universi-
Es mag erstaunen, dass ein Buch den Anspruch erhebt, täten meist wesentlich stärker, was sich z. B. darin zeigt,
sowohl für Studierende an Universitäten als auch an dass Theorien in Lehrveranstaltungen nicht nur prä-
Fachhochschulen gleichermaßen geeignet zu sein. Aber sentiert, sondern auch in ihrer Entwicklung diskutiert
bei näherer Betrachtung des Faches und der Lehrpläne werden, bis hin zu dem Punkt, an dem die Studieren-
kommt man zu dem Ergebnis, dass es nur wenige Un- den in die Lage versetzt werden, selbst wissenschaftliche
terschiede im Stoffumfang gibt. Daraus darf jedoch nicht Theorien zu entwickeln (Abb. 1.3). Die stärkere Vermitt-
der Schluss gezogen werden, das Studium an Universitä- lung dieser wissenschaftlich orientierten Kompetenzen
ten und Fachhochschulen sei vergleichbar. Im Gegenteil! hat zwar enorme Auswirkungen auf die Art der Wis-
Der methodische Anspruch und die vermittelten Kompe- sensvermittlung in den Grundlagenfächern, aber meist
tenzen unterscheiden sich deutlich (Abb. 1.2). nur geringe Auswirkungen auf die zur Unterstützung
der Lernprozesse genutzten Lehrmaterialien. Die Autoren
Betrachtet man die in der Abb. 1.2 dargestellten Kom- des vorliegenden Buches lehren zum Teil an Fachhoch-
petenzfelder von Studiengängen des Maschinenbaus, so schulen und zum Teil an Universitäten. Sie haben dieses
zeigen sich Unterschiede zwischen Studiengängen an Lehrbuch für Studierende an beiden Bildungseinrichtun-
Fachhochschulen und an Universitäten: Der Anteil der gen geschrieben und darauf geachtet, dass die Inhalte der
Forschungs- und Problemlösungskompetenzen, wie z. B. heute in Bachelor-Studiengängen des Maschinenbaus ge-
die Fähigkeit zur Abstraktion und zum Umgang mit Mo- lehrten Grundlagenfächer in hoher didaktischer Qualität
dellvorstellungen, sowie der Anteil der Beurteilungskom- dargestellt wurden.
beschreibbar, völlig
neue Technologie
Universität
relativ neues
Produkt,
Technologie in
Entwicklung
etabliertes
Produkt,
ausgereifte
Technologie Fachhochschule
1.5 Aufbau dieses Lehrbuches müssen sie das Anforderungsprofil möglichst gut erfüllen
und haben eine effiziente Funktionalität zum Ziel. Da-
zu sind ökologische Randbedingungen zu beachten, die
Grundlegende theoretische Konzepte haben eine lange einen möglichst geringen Materialeinsatz erfordern, so-
Halbwertszeit – sie tragen durch ein ganzes langes In- wohl bei der Herstellung als auch im Einsatz und in der
genieursberufsleben. Auch wenn es vielen Studierenden Nachnutzung, bzw. beim Rezyklieren.
als sehr abstrakt und theoretisch erscheint, hat es sich
als sinnvoll erwiesen, dass man von den vielen Gebieten Die Effizienz von Maschinen wird durch deren Wir-
des Maschinenbaus im ersten Studienjahr vor allem Tech- kungsgrad beschrieben. Die Umwandlung von Energie
nische Mechanik unterrichtet. Dieses Fach ist nicht nur ist elementar für Bau und Betrieb von Maschinen und
deshalb wichtig, weil die Technische Mechanik die Ba- Anlagen. Die dabei auftretenden Prozesse werden durch
sis für viele weiterführende Fächer, wie z. B. Konstruktion Gesetze der Thermodynamik beschrieben. Es ist daher
und Maschinenelemente ist, sondern vor allem, weil man konsequent, dass die Kapitel der Thermodynamik und
daran den Prozess der Abstraktion und Modellbildung Strömungsmechanik folgen (Kap. 17–22).
lernt, der typisch ist für die Ingenieurwissenschaften.
Dazu werden gute Kenntnisse der Mathematik vorausge- Nach den Grundlagen folgen die Fachgebiete Konstrukti-
setzt, wobei sich beide Fächer durchaus ergänzen und die on und Maschinenelemente (Kap. 23–28) gefolgt von der
Lösung der Aufgaben der Technischen Mechanik das Ver- Fertigungstechnik (Kap. 29–33). Diese Kapitel sind unter-
ständnis mathematischer Inhalte erhöhen kann. einander eng verzahnt. Sie unterliegen, obwohl es sich
Erfahrungsgemäß haben es Studierende des Maschinen- um etablierte Fachgebiete handelt, einem steten Wandel.
baus in den ersten Semestern damit nicht leicht. Die Das zeigt Kap. 24, das die Normen zur Geometrischen
Mathematik, die benutzt wird, ist zwar zum größten Teil Produktspezifikation und -prüfung (GPS) beschreibt. GPS
bekannt, ihre Anwendung ist aber neu. Die Angebote, die hat eine international einheitliche Symbolsprache festge-
Mathematik zu wiederholen, sind für die ersten Semes- legt, um Toleranzen in technischen Zeichnungen eindeu-
ter an allen Universitäten und Fachhochschulen vielfältig, tig festzuhalten und vollständig zu beschreiben. In den
sodass wir in diesem Lehrbuch gänzlich auf Kapitel dazu Kap. 23 bis 33 wird deshalb großer Wert auf die Nennung
verzichtet haben. Auch wäre der Umfang dieses Lehrbu- und Erläuterung der zu berücksichtigenden Normen ge-
ches sicherlich stark angewachsen. legt. In der Fertigungstechnik gilt die Aufmerksamkeit
in letzter Zeit verstärkt auch der Nachhaltigkeit, wobei
In diesem Buch bilden die Kap. 2 bis 21 die Grundlage die besonderen Eigenschaften der Werkstoffe (Kap. 14–
für das Verständnis des gesamten Stoffes. Sie stellen die 16) eine entscheidende Rolle spielen. Das führt dazu, dass
Basis für alle weiteren Kapitel dar. So ist der Maschinen- vertiefende Darstellungen zu den Materialeigenschaften
bau ohne das grundlegende Verständnis der wirkenden eingeflochten sind.
Kräfte und Momente zur Erklärung der Bewegungs- und
Beanspruchungsarten nicht vorstellbar (Kap. 2–11). Die Elektrotechnik und Maschinenbau waren schon immer
Beschreibung und Analyse der Bewegung von Körpern eng verzahnt. Der Elektrotechnik kommt heute jedoch
durch Gleichungen und Methoden zur Berechnung dieser eine zunehmende Bedeutung im Maschinenbau zu. Zu-
komplexen Vorgänge verlangt nach effizienten Algorith- grunde liegen die Fortschritte in der Halbleiterelektronik
men (Kap. 11). Periodische Vorgänge und Schwingungen und Kommunikationstechnik. Aber auch die zunehmen-
sind dabei für einen Großteil der Fragestellungen relevant de Leistungsfähigkeit sowohl der Schaltungs- als auch
(Kap. 12 und 13). der Leistungselektronik ist von großer Relevanz. Kap. 34
bis 37 widmen sich den Grundlagen elektrischer Bau-
Die Auswahl der Materialien, die im Maschinenbau für
elemente, linearer Netze, der Halbleiterelektronik sowie
einen bestimmten Zweck verwendet werden, verlangt
Motoren und Generatoren. Auch die Verknüpfung dieser
eine eingehende Beschäftigung mit den Materialeigen-
Elemente, z. B. in Regelkreisen, wird hier behandelt, so-
schaften. Dabei spielen sowohl innere Struktur, physi-
dass die Kapitel zur Regelungstechnik (Kap. 38–41) den
kalische aber auch chemische Eigenschaften eine Rolle.
Abschluss des Lehrbuches bilden. Die Regelungstechnik
Häufig ergeben sich Lösungen für innovative und nach-
beschäftigt sich mit der gezielten Beeinflussung des Ver-
haltig einsetzbare Maschinen und Systeme auf Grund
haltens von technischen Systemen und ist Grundlage der
neuer oder weiterentwickelter Materialien. Daher folgen
Automatisierungstechnik. Sie wiederum steht in engem
den Kapiteln der Technischen Mechanik die Kapitel der
Zusammenhang mit der Fertigungstechnik aber auch der
Werkstoffkunde (Kap. 14–16).
Elektrotechnik.
Werkstoffe sind ein Innovationsmotor. Viele Errungen-
schaften wären ohne neue oder verbesserte Materialien Dieser kurze Abriss zeigt, wie der Aufbau des Lehr-
nicht möglich gewesen. Das Angebot an neuen Mate- buches die einzelnen Fachgebiete inhaltlich miteinander
rialien steigt ständig, ebenso wie die Anforderungen an verzahnt, unterstützt durch zahlreiche Querverweise in
bestehende Werkstoffe. Zur Realisierung von Maschinen den einzelnen Kapiteln.
8 1 Maschinenbau – seine Vielfalt und die Motivation für dieses Lehrbuch
Abb. 2.7 Person auf Sprungbrett (oben ) und zugehöriges Freikörperbild (un-
Nach den nummerierten Hauptüberschriften folgen un- ten )
nummerierte Überschriften, deren Abschnitte einen wich-
tigen Teilbereich behandeln. Sie sind als Satz formuliert Wir sehen das Sprungbrett als einen Balken an und er-
und stellen eine Lerneinheit in dem Hauptabschnitt dar. setzen Person und Lager wie folgt: Das Lager A, das das
Sprungbrett ausschließlich in vertikale Richtung abstützt,
durch die Lagerkraft Ay , das Lager B, das das Sprungbrett
in horizontaler und vertikaler Richtung abstützt, durch
Verständnisfragen, Merksätze und Beispiele die Lagerkräfte Bx und By , und die Person durch eine nach
erleichtern das Lernen unten gerichtete Kraft des Betrags 900 N. Damit ergibt
sich das abgebildete Freikörperbild, mit dessen Hilfe wir
nun die Kräfte berechnen könnten, die von den Lagern
Es ist sinnvoll, am Ende einer Lerneinheit das Gelernte zu auf das Sprungbrett ausgeübt werden. In den folgenden
rekapitulieren, wobei die Verständnisfragen unterstützen Kapiteln wird gezeigt, wie das geht.
(Abb. 1.4). Die Lösungen dazu finden Sie am Ende des
jeweiligen Kapitels. Abb. 1.6 Kleine Beispiele sind in den Text integriert
1.6 Didaktische Elemente 9
Zur Verdeutlichung neuer Begriffe, Ergebnisse oder Vor- Es gibt Themen, die den zu lernenden Inhalt stark auswei-
gehensweisen haben die Autoren zahlreiche Beispiele im ten und damit den Lese- und Lernfluss unterbrechen wür-
Text integriert. Diese Beispiele beginnen mit der blauen den. Für das Verständnis des großen Zusammenhangs
Überschrift Beispiel und enden mit einem kleinen blauen sind sie aber beim ersten Lesen nicht unbedingt erforder-
Dreieck (Abb. 1.6). lich und können auch später noch unabhängig studiert
werden. Diese Themen sind in Vertiefungs-Kästen unter-
gebracht (Abb. 1.8).
Niederhalterkraft
Flansch σz
σr σt
σt
σr
σz σz
σt
σt Ziehstempel-
σz kraft
Wand
Boden
a b
Abb. 1.10 Farbige Darstellung nach Farbschema verbessert das Verständnis; a Werkstück (gelb ) und Bewegung (grün ); b Werkstück (gelb ) und Kraft (rot )
Der Antriebsstrang in einem Kraftfahrzeug ist die Abfolge aller Elemente, die dafür ver- 13
antwortlich sind, das Antriebsmoment des Motors zum Reifen-Fahrbahn-Kontakt zu
übertragen, wo es letztlich als Antriebskraft seine Wirkung entfaltet. Elemente eines An-
triebsstrangs sind Wellen, die häufig als torsionselastisch zu betrachten sind, drehende
Massen wie Schwungräder und Zahnräder sowie weitere Bauteile wie Kupplungen und
Gelenke. Den Abschluss des Antriebsstrangs bilden die Räder mit elastischen Reifen. Ein
Antriebsstrang ist aufgrund der darin verbauten Abfolge von elastischen und trägen Ele-
menten ein schwingungsfähiges System.
Technische Mechanik
I
Inhaltsverzeichnis
17
Grundbegriffe und
2
Technische Mechanik
Kraftgruppen – der Einstieg
in die Technische Mechanik
Was ist eigentlich eine
Kraft?
Warum würde ein
einachsiger Anhänger an
einer gelenkig am
Anhänger gelagerten
Deichsel wackeln?
Wie aus einer Büroklammer
ein rasanter Kreisel wird.
2.1 Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.2 Ebenes Kräftegleichgewicht am Punkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.3 Statisches Gleichgewicht am ebenen starren Körper . . . . . . . . . . 26
2.4 Räumliche Kraftsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.5 Reibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
2.6 Schwerpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Die Statik ist das Teilgebiet der Technischen Mechanik, das sich mit
dem Einfluss von Kräften und Momenten auf ruhende oder gleich-
Technische Mechanik
Technische Mechanik
Zum anderen, weil man Kräfte in der Statik starrer Kör-
per nicht mehr als gebundene Vektoren auffassen muss,
sondern, wie wir gleich sehen werden, sie entlang ihrer
Wirkungslinie verschieben darf.
Frage 2.1
Nennen Sie zwei technische Strukturen, die sich nicht als
starre Körper ansehen lassen.
Abb. 2.3 Wirken Kräfte auf deformierbare Körper, so erzeugen sie bei einer
Welche Auswirkung hat die Modellvorstellung des star- Verschiebung entlang ihrer Wirkungslinie unterschiedliche Verformungszustän-
ren Körpers nun auf die Bedeutungen von Kraftangriffs- de und sind somit nicht mehr linienflüchtig
punkt und Wirkungslinie in der Statik? Sehen wir uns
hierzu an einem Beispiel an, was passiert, wenn eine Kraft
entlang ihrer Wirkungslinie verschoben wird.
Verschiebbarkeit von Kräften
Beispiel Auf einen starren Körper wirkende Kräfte können
entlang ihrer Wirkungslinie verschoben werden, oh-
ne dass dies Einfluss auf das statische Gleichgewicht
1000 N des Körpers hat.
Einheit
Abb. 2.2 Für die Statik des abgebildeten starren Trägers ist es gleichgültig, ob
die angreifende Kraft auf dem Träger liegt oder unter ihm aufgehängt ist. In der Die Einheit der Kraft ist das Newton (Formelzeichen N,
Statik darf man auf starre Körper wirkende Kräfte entlang ihrer Wirkungslinie
nach Sir Isaac Newton, 1643–1727). Es setzt sich nach dem
verschieben
zweiten Newton’schen Axiom „Kraft gleich Masse mal
Beschleunigung“ aus den Einheiten von Weg, Masse und
Eine Gewichtskraft von 1000 N soll von einem Träger Zeit zusammen als:
getragen werden, und zwar im ersten Fall, indem das Ge-
wicht mittig auf den Träger gelegt wird, und im zweiten
Fall, indem das Gewicht an einer Schnur mittig unter den Definition der Krafteinheit Newton
Träger gehängt wird (Abb. 2.2). Mechanisch gesehen ent-
spricht die unterschiedliche Positionierung des Gewichts m
1 N = 1 kg .
einer Verschiebung des Kraftangriffspunktes entlang der s2
Kraftwirkungslinie, und diese Verschiebung ist für die
Statik des Trägers – die Lagerkräfte an linker und rech-
ter Trägerseite – ohne irgendeine Auswirkung, denn die Auf der Erdoberfläche, wo die Erdbeschleunigung g mit
Lagerkräfte betragen in beiden Fällen jeweils 500 N. 9,81 m/s2 in etwa konstant ist, gilt für die Gewichtskraft G
22 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik
Fy = Fsinα F3
Technische Mechanik
F
α
F2
Fx = Fcosα
R
Abb. 2.4 Kräfte lassen sich mit den geeigneten Winkelfunktionen in ihre Kom-
ponenten zerlegen
F1
Komponentenzerlegung
Es ist vielfach zweckmäßig, eine Kraft in ihre Komponen-
ten zu zerlegen, bei ebenen Problemen beispielsweise in F1x + F2x + ... + Fnx = Rx ,
die x- und y-Komponente. Hierzu brauchen wir die geeig- F1y + F2y + ... + Fny = Ry und
nete Winkelfunktion, und es stellt sich die Frage „Sinus
F1z + F2z + ... + Fnz = Rz .
oder Kosinus?“. Zwei Möglichkeiten gibt es vorzugehen
(Abb. 2.4).
Für die Variante 1 müssen Sie die Definition von Sinus-
Grafisch werden Kraftvektoren zur Resultierenden R ad-
und Kosinusfunktion kennen: Sinus = Gegenkathete/ diert, indem man die zu addierenden Kräfte durch Paral-
Hypothenuse und Kosinus = Ankathete/Hypothenuse. lelverschiebung nach dem Muster „Startpunkt des neuen
Da in Abb. 2.4 die Horizontalkomponente Fx am Winkel α
Vektors an den Endpunkt des vorhergehenden“ aneinan-
angreift, muss Fx über die Ankathete, also den Kosinus derreiht (Abb. 2.5).
definiert sein. Und Fy muss, da gegenüber von α lie-
gend (nämlich dann, wenn man Fy zwischen die beiden Greifen alle zu addierenden Kräfte im selben Punkt an
anderen Pfeilspitzen nach rechts verschiebt) über die Ge- (bzw. treffen sich alle Kraftwirkungslinien in einem ein-
genkathete, also den Sinus definiert sein. zigen Punkt), so greift auch die Resultierende in diesem
Die Variante 2 funktioniert ohne diese Definitionen, da- Punkt an. Kreuzen sich die Wirkungslinien der zu addie-
für müssen Sie aber die grafischen Verläufe von Sinus- renden Kräfte hingegen nicht in einem einzigen Punkt, so
und Kosinusfunktion vor Augen haben. Wir merken uns: ist die Wirkungslinie der Resultierenden so zu legen, dass
Für 0° sind sin 0◦ = 0 und cos 0◦ = 1, und für 90° sind die Momentenwirkung der Kräfte erhalten bleibt. Mit der
sin 90◦ = 1 und cos 90◦ = 0. So wie der Winkel α in Momentenwirkung von Kräften werden wir uns in Ab-
Abb. 2.4 gegeben ist, liegt er näher an 0° als an 90°. Wir schn. 2.3 näher befassen.
stellen uns daher vor, was aus den Komponenten Fx und
Fy würde, wenn α tatsächlich gegen 0° ginge. Fx würde
genauso groß wie F werden, wir benötigen für Fx also ei- Statisches Gleichgewicht
ne Winkelfunktion, die für 0° den Wert 1 annimmt, das
Statisches Gleichgewicht liegt immer dann vor, wenn ein
ist der Kosinus. Und Fy würde zu null werden, wir brau-
Körper nicht beschleunigt wird, also insbesondere dann,
chen für Fy also eine Winkelfunktion, die für 0° den Wert
wenn ein Körper ruht. Alle auf den Körper wirkenden
0 annimmt, also den Sinus.
Kräfte und Momente gleichen sich dann zu null aus.
Achtung Sehen Sie zu, dass Sie die Winkelfunktionen
aus dem „Effeff“ beherrschen. Sie werden Sie in sehr
vielen Aufgaben der Technischen Mechanik anwenden Balken
müssen.
In technischen Anwendungen werden Kräfte sehr oft
von schlanken Trägern aufgenommen. Ein Träger, dessen
Kräfteaddition
Querschnittsabmessungen deutlich kleiner als seine Län-
Die Addition von Kräften geschieht nach den Gesetzen ge sind, wird allgemein als Balken bezeichnet. So würde
der Vektoraddition. Rechnerisch werden also schön ge- man beispielsweise ein Stuhlbein, einen Schlagbaum, aber
trennt alle x-, y- und gegebenenfalls z-Koordinaten der zu auch ein Sprungbrett oder die Fahrbahn einer Brücke in
addierenden Kräfte F 1 bis F n zur entsprechenden Koordi- der Terminologie der Technischen Mechanik als Balken
nate der Resultierenden R addiert. bezeichnen.
2.1 Grundbegriffe 23
Technische Mechanik
dass alle an einen Körper angreifenden Kräfte als Pfeile
eingezeichnet sind, dann kann man mit diesen Kräften
rechnen. Wir könnten beispielsweise die Resultierende
R dieser Kräfte berechnen oder – wie das in den Ab-
schn. 2.2 und 2.3 erklärt ist – Lagerreaktionen ermitteln.
Aber die Realität ist anders: In der technischen Praxis ist
die zu analysierende Struktur eben nicht nur durch aller-
10 kg
lei Kraftpfeile belastet, sondern auch durch Lagerungen
und Festhaltungen in ihrer Umgebung verankert. Um die
angreifenden Kräfte dann analysieren zu können, müssen
wir diese Lagerungen erst durch die von ihnen ausgeüb-
ten Kräfte ersetzen.
Damit sind wir beim Prinzip des Freischneidens: Alles,
was auf den betrachteten Körper eine Kraft oder ein Mo-
ment ausübt, wird durch eben diese Kraft (bzw. dieses
Moment) ersetzt. In der Regel betrifft dies alle Lager,
Festhaltungen, Personen, Rollen, das im Schwerpunkt an-
zunehmende Eigengewicht eines Körpers etc.
Das Ergebnis eines Freischnitts ist ein Freikörperbild.
Abb. 2.6 Durch reibungsfrei drehbar gelagerte Rollen werden Kräfte nur um-
gelenkt. Auf beiden Seiten der Rolle ist die Kraft im Seil gleich groß Ein Körper ist immer dann ordnungsgemäß freigeschnit-
ten, wenn er im Freikörperbild völlig losgelöst „in der
Luft schwebt“ und nur noch durch verschiedene Kräf-
te, Momente und dergleichen belastet wird. In ein gutes
Stäbe und Seile
Freikörperbild sind auch alle wichtigen Abmessungen
Ein Stab ist ein Spezialfall eines Balkens. Ein Balken wird einzuzeichnen, sodass sich eine Aufgabe der Technischen
immer dann als Stab bezeichnet, wenn er an beiden Seiten Mechanik schließlich vollkommen auf Basis des Freikör-
gelenkig eingespannt ist und nur an den Einspannstellen perbildes und ohne weiteres Nachschlagen in der Aufga-
belastet wird. Ein Stab kann nur Kräfte in Stabrichtung benstellung lösen lässt.
aufnehmen, und zwar entweder Zug- oder Druckkräfte.
Beispiel Eine 900 N schwere Person steht auf einem
Frage 2.2 Sprungbrett (Abb. 2.7). Zu zeichnen ist das Freikörper-
bild.
Nennen Sie Beispiele für die technische Anwendung von
Stäben.
Ähnlich wie ein Stab kann auch ein straff gespanntes Seil
nur Kräfte in Längsrichtung aufnehmen, wobei aber die
Fähigkeit zur Kraftübertragung beim Seil auf Zugkräfte
beschränkt ist.
3m 2m
Reibungsfrei drehbar gelagerte Rollen
Wird ein Seil über eine reibungsfrei drehbare Rolle ge- 900 N
führt, so lenkt die Rolle die Richtung der Seilkraft nur Bx
um, ohne dabei den Betrag der Seilkraft zu ändern. So
muss die in Abb. 2.6 am Seil ziehende Person das 10 kg Ay By
3m 2m
schwere Gewicht mit eben dieser Gewichtskraft 10 kg ·
9,81 m/s2 = 98,1 N festhalten, damit es nicht zu Boden Abb. 2.7 Person auf Sprungbrett (oben ) und zugehöriges Freikörperbild (un-
fällt. Durch die drehbare Rolle ändert sich somit nur ten )
die Richtung der erforderlichen Haltekraft. Müsste die
Haltekraft ohne die Rolle senkrecht nach oben ausgeübt Wir sehen das Sprungbrett als einen Balken an und er-
werden, so ist sie nun aufgrund der Umlenkrolle nach setzen Person und Lager wie folgt: Das Lager A, das das
links unten orientiert. Sprungbrett ausschließlich in vertikale Richtung abstützt,
24 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik
Die Technische Mechanik ist ein typisches Textaufga- Zweifelsfall lieber zu groß als zu klein. Denken Sie
benfach. Bitte beherzigen Sie die folgenden einfachen daran: Das Freikörperbild ist Ihr Lösungsansatz. Oh-
Ratschläge, die Ihnen wesentlich dabei helfen werden, ne korrektes Freikörperbild keine richtige Lösung.
die Übersichtlichkeit einer Berechnung zu erhöhen und Rechnen Sie so lange wie möglich mit Formelzei-
die Fehleranfälligkeit zu verringern. chen Setzen Sie konkrete Zahlenwerte erst zum
Schluss der Rechnung ein. Sie reduzieren so den
Zeichnen Sie Freikörperbilder liebevoll Der Schreibaufwand, erhöhen die Übersichtlichkeit und
Schlüssel zur Lösung jeder Textaufgabe ist der richti- minimieren unnötige Flüchtigkeitsfehler.
ge Ansatz, und für die weitaus meisten Aufgaben der Rechnen Sie immer mit Einheiten Wenn Sie
Technischen Mechanik ist der Ansatz das Freikörper- konkrete Zahlenwerte einsetzen, vergessen Sie die
bild. Zeichnen Sie Freikörperbilder also stets sorgfäl- Einheiten nicht. Die Kontrolle, ob die Einheit Ih-
tig und groß genug, um alle Pfeile, Formelzeichen res Ergebnisses passt, ist immer eine wichtige erste
und Bemaßungen bequem eintragen zu können. Im Kontrolle des Ergebnisses auf Richtigkeit.
durch die Lagerkraft Ay , das Lager B, das das Sprungbrett In der Statik interessiert die Frage, wie groß die angrei-
in horizontaler und vertikaler Richtung abstützt, durch fenden Kräfte sein müssen, bzw. in welche Richtung sie
die Lagerkräfte Bx und By , und die Person durch eine nach wirken müssen, damit sich der betrachtete Körper im sta-
unten gerichtete Kraft des Betrags 900 N. Damit ergibt tischen Gleichgewicht befindet. Die Beantwortung dieser
sich das abgebildete Freikörperbild, mit dessen Hilfe wir Frage kann rechnerisch oder grafisch erfolgen.
nun die Kräfte berechnen könnten, die von den Lagern
auf das Sprungbrett ausgeübt werden. In den folgenden
Kapiteln wird gezeigt, wie das geht. Rechnerische Bestimmung
Einheiten Befindet sich ein Körper im statischen Gleichgewicht,
Mit Einheiten kann man wie mit Zahlen rechnen. Und so müssen sich die an ihm angreifenden Kräfte in ih-
Sie sollten dies auch tun, denn eine falsche, weil gerate- rer Summe zu null ergänzen, denn andernfalls würde
ne Einheit bedeutet, dass das Ergebnis (grob) falsch ist. der Körper dem 2. Newton’schen Axiom F = m · a gemäß
Eine Anwendung für das Rechnen mit Einheiten ist das beschleunigt werden. Für Vektoren heißt das, dass alle
Umrechnen von Einheiten, wie im folgenden Beispiel. Komponenten, jeweils für sich aufsummiert, null ergeben.
Wir erhalten somit als
Beispiel In Großbritannien und der Vereinigten Staa-
ten wird der Luftdruck oft in psi („pounds per square
inch“) angegeben. Hierbei entsprechen 1 lbf = 4,448 N Gleichgewichtsbedingungen in ebenen Problemen
und 1 in = 25,4 mm. Wie vielen Pascal entspricht ein psi?
→ ∑ Fix = 0 und
Zur Umrechnung der Einheiten denken wir uns die
anglo-amerikanischen Einheiten jeweils eingeklammert ↑ ∑ Fiy = 0 .
und ersetzen sie durch die SI-Einheiten. Wir erhalten
lbf 4,448 N N
1 psi = 1 = = 6894 = 6894 Pa. Für räumliche (dreidimensionale) Fragestellungen käme
in2 (25,4 (0,001 m))2 (m)2 als dritte Gleichgewichtsbedingung noch das Kräfte-
gleichgewicht in z-Richtung hinzu. Die Pfeile vor den
Summenzeichen zeigen an, welche Kraftrichtung jeweils
als positiv gewertet wird. Beispiel x-Richtung: Horizonta-
2.2 Ebenes Kräftegleichgewicht le Kraftkomponenten, die von links nach rechts wirken,
am Punkt gehen mit positivem Vorzeichen und solche, die von
rechts nach links wirken, mit negativem Vorzeichen in die
Kräftebilanz ein.
Wir betrachten in diesem Kapitel Körper, an denen ver-
schiedene Kräfte so angreifen, dass sich ihre Wirkungs- Wie diese Gleichgewichtsbedingungen anzuwenden sind,
linien in einem Punkt schneiden. Ebenfalls gebräuchlich erschließt sich am besten an einem Beispiel, wie es in der
sind die Begriffe zentrales Kräftesystem oder zentrale Box Freischneiden und Anwendung der Gleichgewichtsbedin-
Kraftgruppe. gungen zu finden ist.
2.2 Ebenes Kräftegleichgewicht am Punkt 25
Technische Mechanik
Eine Straßenbeleuchtung mit dem Gewicht G = 80 N S1
S2
ist wie skizziert an zwei Seilen befestigt, die um die α = 20° β = 25°
Winkel α = 20◦ und β = 25◦ zur Horizontalen geneigt
sind. Bestimmen Sie die Kräfte in den Seilen.
Seil 1, Seil 2,
α = 20° β = 25° G
Grafische Methode Startpunkt von G). Wir erhielten dann ein Krafteck, das
links (und nicht rechts) von G liegt, aber die gleichen
Technische Mechanik
S1
der Schraubenschlüssel an beiden Hebelarmen mit gleich Kraftangriffspunkt und Momentenbezugspunkt. Wir er-
großen, entgegengesetzt gerichteten Kräften – einem so- innern uns: In der Statik starrer Körper ist der Kraftan-
Technische Mechanik
genannten Kräftepaar – belastet. Da sich offensichtlicher griffspunkt völlig unerheblich, viel wichtiger ist die Lage
Weise alle Kraftkomponenten jeweils zu null ausgleichen, der Kraftwirkungslinie. Folgerichtig ist der Hebelarm ei-
herrscht Kräftegleichgewicht. Aber der Schraubenschlüs- ner Kraft definiert als der Abstand der Kraftwirkungslinie
sel befindet sich trotzdem nicht im statischen Gleichge- zum betrachteten Momentenbezugspunkt (Abb. 2.10).
wicht, denn er wird ja gedreht.
Achtung Wenn Sie Schwierigkeiten haben, den Hebel-
Zur Beschreibung des statischen Gleichgewichts eines arm einer Kraft zu bestimmen: Zeichnen Sie in das
starren Körpers reichen also die Kräftegleichgewichte al- Freikörperbild einfach zu jedem Kraftpfeil auch die Wir-
lein nicht aus. Es wird noch eine weitere Bedingung kungslinie ein, dann geht’s ganz einfacher.
benötigt, die die Drehwirkung der angreifenden Lasten
beschreibt. Mit dem Momentengleichgewicht als dritter Bedingung
erhalten wir die folgenden
Aus Erfahrung wissen wir: Je weiter außen ein solcher
Schraubenschlüssel angefasst wird, desto leichter lässt
sich die Schraube einschrauben. Die Drehwirkung der an- Gleichgewichtsbedingungen für den ebenen starren
greifenden Kräfte hängt also von ihrem Hebelarm ab. Die Körper
diese Erfahrung beschreibende physikalische Größe ist
→ ∑ Fix = 0 ,
das Moment bzw. Drehmoment.
Ein Moment ist ein Vektor, dessen Richtung der Richtung ↑ ∑ Fiy = 0 und
entspricht, um die das Moment dreht. Physikalisch kor-
rekt ist das von einer Kraft bzgl. eines Punktes ausgeübte ∑ M(O)
i =0.
Moment definiert als Vektorprodukt aus Orts- und Kraft-
vektor, eine Definition, auf die wir im Kapitel Räumliche
Statik zurückkommen werden. Bei den hier betrachteten Diese Gleichungen haben recht anschauliche Bedeutun-
ebenen Problemen reicht es aus, wenn wir uns auf die Be- gen. Sie besagen, dass ein Körper im statischen Gleichge-
träge der Momente beschränken. wicht
Abb. 2.10 Der Hebelarm einer Kraft ist definiert als der Abstand der Kraftwir- Man kann also bei der Wahl des Bezugspunktes nichts
kungslinie zum betrachteten Momentenbezugspunkt grundfalsch machen – jeder Bezugspunkt ist erlaubt –,
28 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik
Leitbeispiel Antriebsstrang
Technische Mechanik
In Hubkolbenmotoren werden die Gaskräfte aus der Damit zu den Kräften. Auf den Kolben wirken:
Kraftstoffverbrennung vom Kolben über den Kolben-
Die Kolbenkraft FK , welche im Wesentlichen aus der
bolzen, die Pleuelstange und den Kurbelzapfen auf die
Gaskraft durch die Kraftstoffverbrennung sowie in
Kurbelwelle übertragen, wo sie schließlich das Dreh-
kleinerem Maße aus der Trägheitskraft des Kolbens
moment des Motors erzeugen. Welche Kräfte wirken
besteht.
dabei auf die einzelnen Bauteile im Motor, und wel-
Die Reaktionskraft der Zylinderwand, welche, da
cher Zusammenhang besteht zwischen der Gaskraft
der Kolben durch den Schmierfilm zwischen Zylin-
am Kolben und dem Drehmoment an der Kurbelwelle?
derwand und Kolben weitgehend reibungsfrei läuft,
Verschaffen wir uns zunächst einmal einen Überblick senkrecht zur Zylinderwand wirkt. Sie ist deswegen
über die für unsere Fragestellung wichtigen Abmes- als Normalkraft FN bezeichnet.
sungen sowie die an den genannten Bauteilen wirken- Die Pleuelstangenkraft FP . Diese wirkt, da die Pleu-
den Kräfte. Hierzu sind in der folgenden Abbildung elstange in Kolbenbolzen und Kurbelzapfen jeweils
alle am Kolben sowie alle am Kurbelzapfen angreifen- gelenkig gelagert ist und auch nur dort belastet
den Kräfte eingezeichnet. wird, die Pleuelstange also aus mechanischer Sicht
ein Stab ist, genau in Richtung der Pleuelstange.
Die Wirkungslinien dieser drei Kräfte müssen sich
in einem einzigen Punkt schneiden, denn andernfalls
Kolbenbolzen würde der Kolben in Drehung versetzt werden, was
Kolben
FK
aufgrund seiner Führung im Zylinder nicht passieren
FN kann. Aus den Gleichgewichtsbedingungen für zentra-
le Kraftgruppen erhalten wir
FP ↑ ∑ Fiy = −FK + FP cos β = 0
FK
l
β
=⇒ FP =
Pleuel- cos β
stange
FP sowie
Kurbelzapfen → ∑ Fix = FN − FP sin β = 0
=⇒ FN = FP sin β = FK tan β .
α
α FT Damit hätten wir die am kolbenseitigen Ende der Pleu-
FR
elstange wirkenden Kräfte berechnet. Am anderen En-
Kurbel-
wange de der Pleuelstange, dem Kurbelzapfen, wirken nun:
r
Ebenfalls die Pleuelstangenkraft FP , welche genau
in die entgegengesetzte Richtung wie am Kolben-
bolzen wirkt. (Wenn die Pleuelstange am einen En-
de eine Kraft nach oben ausübt, dann muss sie am
Die Geometrie des Hubkolbenantriebs ist gegeben anderen Ende eine Kraft nach unten ausüben, um im
durch die Pleuellänge l, den Kurbelradius r und den statischen Gleichgewicht zu sein.)
Kurbelwinkel α. Aus diesen drei Abmessungen ergibt Die Kraft zwischen Kurbelwange und Kurbelzap-
sich der Pleuelwinkel β über den Sinussatz zu β = fen, die wir zweckmäßiger Weise in eine Radialkraft
arcsin( rl · sin α). FR und eine Tangentialkraft FT aufspalten.
2.3 Statisches Gleichgewicht am ebenen starren Körper 29
Natürlich schneiden sich auch die Wirkungslinien der mit den Lösungen
drei auf den Kurbelzapfen wirkenden Kräfte in einem
FR = FP (cos α cos β − sin α sin β) = FP cos(α + β)
Technische Mechanik
Punkt, und wir erhalten
und
→ ∑ Fix = FR sin α − FT cos α + FP sin β = 0
FT = FP (sin α cos β + cos α sin β) = FP sin(α + β) .
und Das auf die Kurbelwelle übertragene Drehmoment er-
gibt sich – ein kleiner Vorgriff auf Abschn. 2.3 – aus der
↑ ∑ Fiy = FR cos α + FT sin α − FP cos β = 0 , Tangentialkraft FT schließlich als FT · r.
Frage 2.3
Weswegen müssen die Stäbe in Mobiles (siehe Abb. 2.11)
nach unten gebogen sein, damit das Mobile das Gleichge-
wicht halten kann?
vertikale Kraft, die Aufstandskraft. Das Lager übt nur Kraftrichtung in der Pendelstütze ist bekannt, denn sie
eine Lagerreaktion aus (hier Fy ); man sagt dann, es hat kann nur in Stabrichtung verlaufen.
die Wertigkeit 1. Auch ein straff gespanntes Seil ist ein einwertiges
Auch die Pendelstütze ist ein Lager der Wertigkeit 1. Lager, wobei beim Seil im Gegensatz zu den ande-
Unter einer Pendelstütze versteht man einen beidseitig ren einwertigen Lagerarten bereits die Richtung der
gelenkig gelagerten abstützenden Stab, beispielsweise Kraft bekannt ist, nämlich eine Zugkraft in Seilrich-
den Hubzylinder zur Ladefläche eines Kipplasters. Die tung.
2.4 Räumliche Kraftsysteme 31
Technische Mechanik
innere Spannungen zur Folge. Aber statisch bestimmt ge-
lagerte Systeme können die entstehende Längenänderung
ungehindert mitmachen.
Abbildung 2.12 zeigt am Beispiel des unten rechts ab-
gebildeten Trägers übrigens auch, dass die Bedingung
„Zahl der Lagerwertigkeiten = Zahl der Gleichgewichts-
Abb. 2.12 Beispiele statisch bestimmt, statisch überbestimmt und statisch un- bedingungen“ keine hinreichende Bedingung für stati-
terbestimmt gelagerter Träger sche Bestimmtheit ist, denn der Träger ist zwar mit in
Summe drei Lagerwertigkeiten (aus drei Loslagern) ge-
lagert, doch in horizontale Richtung ist er trotzdem frei
Bei einem Festlager, z. B. der Lagerung eines Schlag-
verschiebbar, sodass statische Unbestimmtheit vorliegt.
baums, werden beide translatorischen Bewegungen
Wir erhalten also:
(horizontal und vertikal) unterbunden, die Rotation
um das Lager hingegen zugelassen. Ein Festlager übt
somit zwei Lagerreaktionen aus – eine Kraft Fx , die die Notwendige Bedingung für statische Bestimmtheit in
horizontale Bewegung unterbindet, und eine Kraft Fy , der Ebene
die die vertikale Bewegung unterbindet.
Eine verschiebbare Hülse unterbindet die Drehung sowie Zahl der Zahl der
die Bewegung der gelagerten Struktur senkrecht zur Lagerwertig- = Gleichgewichts- = 3
Hülse, übt somit zwei Lagerreaktionen aus und hat die keiten bedingungen
Wertigkeit 2.
Bei der festen Einspannung, z. B. dem einbetonierten
Fuß einer Ampel, werden alle drei in der Ebene mögli- Wichtig ist außerdem:
chen Bewegungsrichtungen durch die Lagerreaktionen
Fx , Fy und das Einspannmoment M unterbunden. Die
Wertigkeit der festen Einspannung ist somit 3. Woran erkennt man statische Bestimmtheit?
Ob statische Bestimmtheit oder Unbestimmtheit
vorliegt, ist einzig eine Frage der Lagerung des Trag-
Statische Bestimmtheit werks, die äußere Belastung spielt keine Rolle.
Stellen wir uns die Frage, warum die Aufgabe mit dem
Klappbrett aus der Beispielbox Berechnung von Lagerreak-
tionen überhaupt lösbar war, sich also alle Unbekannten
aus den Gleichgewichtsbedingungen berechnen ließen. 2.4 Räumliche Kraftsysteme
Aus mathematischer Sicht war dies der Fall, weil die
Zahl der Unbekannten – die drei Lagerreaktionen Ax , Ay Nun lassen sich zahlreiche Probleme der Statik als ebene
und S – der Zahl der Gleichgewichtsbedingungen ent- Probleme auffassen und mit den im vorigen Kapitel be-
spricht. schriebenen drei Gleichgewichtsbedingungen lösen. Das
dort betrachtete Klappbrett ist ein derartiges Beispiel.
Derartige Systeme, bei denen sich die Lagerreaktionen
Wenn aber ein wirklich dreidimensionales Problem vor-
aus den Gleichgewichtsbedingungen bestimmen lassen,
liegt, eines das sich nicht ohne Weiteres auf eine ebene
heißen statisch bestimmt gelagert. Alle anderen Systeme
Fragestellung zurückführen lässt, dann müssen wir drei-
werden als statisch unbestimmt gelagert bezeichnet, wo-
dimensional rechnen.
bei ebene Systeme mit weniger als drei Lagerwertigkei-
ten beweglich sind und statisch unterbestimmt genannt
werden, und ebene Systeme mit mehr als drei Lagerwer-
tigkeiten in sich verspannt sein können und als statisch Statik in drei Dimensionen
überbestimmt bezeichnet werden. Abbildung 2.12 zeigt
Beispiele von statisch bestimmt und statisch unbestimmt
gelagerten Tragwerken. Die räumliche Statik beinhaltet aber nichts wirklich Neu-
es, die Gesetzmäßigkeiten der ebenen Statik werden ein-
Wesentlicher Vorteil statisch bestimmt gelagerter Trag- fach auf die dritte Dimension erweitert. Dabei stehen uns
werke ist, dass in ihnen keine zusätzlichen Verspannun- zwei gleichermaßen zum Ziel führende Vorgehensweisen
gen entstehen, wenn sich der Träger im Laufe der Zeit zur Verfügung: zum einen die vektorielle Beschreibung
beispielsweise durch Wärmeausdehnung, Kriechen, Ma- des statischen Gleichgewichts, zum anderen die kompo-
terialveränderungen (z. B. Abbinden von Beton) o. Ä. ein nentenweise Beschreibung des statischen Gleichgewichts.
32 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik
Zu berechnen sind die Lagerreaktionen in einem Schritt 3, Aufstellen und Lösen der Gleichgewichtsbe-
Klappbrett des Gewichts G, das durch ein Scharnier dingungen: Es hieß, man könne sich beim Lösen
drehbar gelagert und am gegenüberliegenden Ende der Gleichgewichtsbedingungen geschickt oder unge-
durch zwei Seile gehalten wird. schickt anstellen. Die ungeschickte – wenn auch nicht
minder richtige – Variante zuerst:
Problemanalyse und Strategie: Die Schritte zur Berech-
Wir beginnen mit dem Kräftegleichgewicht in
nung der Lagerreaktionen sind (1) das Abbilden des
x-Richtung,
realen Problems als mechanisches Modell, (2) Frei-
schneiden und (3) die Berechnung der Unbekannten. → ∑ Fix = Ax + S · cos 45◦ = 0 ,
Besonderes Augenmerk wollen wir dabei auf das Mo-
mentengleichgewicht legen und zeigen, wie man sich setzen dann das Kräftegleichgewicht in y-Richtung,
bei diesem mehr oder weniger geschickt anstellen kann. ↑ ∑ Fiy = Ay − G + S · sin 45◦ = 0 ,
Lösung: an und kommen schließlich zum Momentengleichge-
Schritt 1, mechanische Modellbildung: Zur Bildung des wicht, für das ein Bezugspunkt zu wählen ist. Der
mechanischen Modells ersetzen wir das Scharnier Bezugspunkt kann frei gewählt werden, z. B. in der
durch ein Loslager, da dieses die Rotation des Brettes Brettmitte.
zulässt, aber beide Translationen an dieser Stelle ver-
Für das Momentengleichgewicht erhalten wir dann:
hindert.
l l
∑ M(Brettmitte)
i = −S · sin 45◦ + Ay · = 0 .
2 2
Wir haben es also mit drei Gleichungen zur Bestim-
mung der drei Unbekannten Ax , Ay und S zu tun.
Nach längerer Rechnerei – z. B. mit dem Gauß’schen
Eliminationsverfahren oder ähnlichem – erhalten wir
als Lösung:
G G G
45° Gewicht G Ax = − , Ay = und S= .
45° 2 2 2 sin 45◦
A
Das war die ungeschickte Variante. Ungeschickt, weil
l l aus keiner der drei Gleichgewichtsbedingungen un-
mittelbar ein Ergebnis folgte und wir deshalb das kom-
plette System aus drei gekoppelten Gleichungen lösen
Schritt 2, Freischneiden und Freikörperbild: Beim Frei- mussten. Aber dem lässt sich mit einer besser durch-
schneiden des Brettes entfernen wir alles, was in ir- dachten Wahl des Momentenbezugspunktes abhelfen.
gendeiner Art mit dem Brett verbunden ist und erset-
zen es durch die jeweiligen Kräfte oder Momente. Im Wo platziert man den Momentenbezugspunkt am ge-
Einzelnen sind dies: schicktesten? Am besten so, dass das Momentengleich-
gewicht zu einer handlichen, übersichtlichen Glei-
das Festlager, welches durch die Lagerreaktionen Ax chung mit wenigen, möglichst nur einer Unbekann-
und Ay ersetzt wird, ten wird. Der Momentenbezugspunkt sollte deshalb
die Seile, welche durch die Seilkraft S ersetzt wer- auf möglichst vielen Wirkungslinien der unbekannten
den, und schließlich Lagerkräfte liegen, da diese dann aus dem Momen-
das Brett selbst, das wir durch seine Gewichtskraft tengleichgewicht verschwinden. Das Lager A ist ein
G ersetzen, die wir im Schwerpunkt des Brettes, al- solcher sinnvoller Momentenbezugspunkt (keine He-
so in der Brettmitte, angreifen lassen. belarme für Ax und Ay ).
Wir tragen noch alle wichtigen Abmessungen ein und Das Momentengleichgewicht lautet dann
erhalten als Freikörperbild:
l
∑ M(A)
i = −S · l sin 45◦ + G · =0,
S 2
wodurch wir unmittelbar S = G/2 sin 45◦ erhalten.
45° G Dieses Ergebnis in die beiden Kräftegleichgewichte
Ax
eingesetzt ergibt dann ebenso schnell die Ergebnis-
Ay
se für die beiden verbleibenden Unbekannten, Ax =
l/2 l/2
−G/2 und Ay = G/2.
2.4 Räumliche Kraftsysteme 33
Technische Mechanik
Die allermeisten Aufgaben der Technischen Mechanik stand des Kraftangriffspunktes, sondern der Abstand
beginnen mit einem Freikörperbild. Wie schneidet man der Wirkungslinie zum Momentenbezugspunkt.
richtig frei, und wie geht man am geschicktesten mit ei-
nem Freikörperbild um?
Geschicktes Rechnen mit den Gleichgewichtsbedingungen
∑ Fi = 0 ∑ Mi
(O)
und =0
M (O) = r × F
Der Drehsinn des Momentenvektors ist durch die Rechts- Komponentenweises Vorgehen
schraubenregel festgelegt: Dreht man eine Rechtsschrau-
be so, dass sie sich in Richtung des Momentenvektors Setzen wir die beiden vektoriellen Gleichgewichtsbedin-
bewegt, so entsprechen sich der Drehsinn der Schraube gungen skalar für jede Koordinatenrichtung an, so erhal-
und der Drehsinn des Momentes. ten wir die folgenden sechs skalaren Gleichgewichtsbe-
dingungen:
Über die aus der analytischen Geometrie bekannte geo-
metrische Deutung des Vektorproduktes wollen wir uns
diese Definition zunächst veranschaulichen, um dann zu Skalare Gleichgewichtsbedingungen der räumlichen
sehen, wie sie mit der Momentendefinition der ebenen Statik
Statik – „Kraft mal Hebelarm“ – in Einklang steht.
Das Vektorprodukt zweier Vektoren – hier der Ortsvektor ∑ Fix = 0, ∑ Fiy = 0 und ∑ Fiz = 0
r und der Kraftvektor F – lässt sich in Bezug auf den Be-
trag und die Richtung sehr schön anschaulich deuten. Das sowie
Vektorprodukt F × r ergibt einen Vektor M (Abb. 2.13)
∑ Mix ∑ Miy ∑ Miz
(O) (O) (O)
= 0, = 0 und =0.
mit einer Richtung, die senkrecht auf r und F steht, und
mit einem Betrag |M | = |r| · |F | · sin ϕ, wobei ϕ der von
r und F eingeschlossene Winkel ist. Hierbei bedeuten die Indizes Folgendes:
Achtung Welche der beiden Methoden – vektoriell oder angesprochene und im Übrigen recht einfach anzuwen-
komponentenweise – führt in Aufgaben schneller zum dende Prinzip zur Ermittlung, welche Reaktionen von
Technische Mechanik
Ziel? einem bestimmten Lager ausgeübt werden, an folgender
kurzen Selbstfrage:
Die vektorielle Vorgehensweise verlangt kein gehobenes
räumliches Vorstellungsvermögen, sondern lediglich die
sichere Beherrschung des Vektorproduktes. Diese lässt Frage 2.4
sich mit ein wenig Übung aber gut erlernen. Zu merken Welche Lagerreaktion kann das abgebildete Scharnier
brauchen Sie sich nur die Bildungsregel ausüben?
⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞
ax bx ay bz − az by z
a × b = ⎝ay ⎠ × ⎝by ⎠ = ⎝ az bx − ax bz ⎠ .
az bz ax by − ay bx y
x
Für das abgebildete Klappbrett sind die Lagerreaktio- Momentengleichgewichts um die x-Achse seien die Zu-
nen zu berechnen. sammenhänge deshalb noch einmal in Ruhe erläutert.
x F
α A freigeschnittene Brett im negativen Drehsinn um die
l
F
l
Tab. 2.2 Übersicht über die wichtigsten Verbindungselemente in mehrteiligen Beispiel Betrachten wir als Beispiel für die Ermitt-
Systemen lung von Lager- und Verbindungsreaktionen das abge-
Technische Mechanik
Verbindungselement: Sinnbild: Reaktionen: bildete Gespann aus PKW und einachsigem Anhänger
Pendelstütze (Abb. 2.14):
(Wertigkeit 1)
Zunächst schneiden wir das Gelenksystem als Gan-
Gelenk zes frei. Es ist also unter dem Gespann die Fahrbahn
(Wertigkeit 2) zu entfernen und durch die entsprechenden Kräfte
zu ersetzen. Dies sind die vertikalen Achslasten Ay
(Anhänger), Hy (PKW-Hinterachse) und Vy (PKW-
Hülsenführung Vorderachse) sowie – unter der Annahme, dass nur die
(Wertigkeit 2) Hinterachse des PKWs gebremst ist – die Horizontal-
kraft Hx .
Jetzt folgt der Freischnitt mitten durch das Gelenk.
Hierdurch erhalten wir zwei getrennte Systeme, An-
hänger sowie PKW, auf die im Gelenk jeweils die
Die Frage nach der Art der in einem Verbindungselement Gelenkkräfte Gx und Gy wirken.
wirkenden Kräfte und Momente beantworten wir so, wie
wir es schon bei den Lagern getan haben: In jede Rich-
tung, in die sich die verbundenen Systeme ungehindert 5 kN
zueinander bewegen können, übt das Verbindungsele- 15 kN
ment keine Kraft (bzw. bei Rotationen: kein Moment) aus.
Umgekehrt übt das Verbindungselement in jede Rich-
tung, in die es die Relativbewegung der Körper unterbin- A H V
det, sehr wohl eine Kraft (bzw. ein Moment) aus. Diese 4 kN 8,9 kN 7,1 kn
Kraft (bzw. dieses Moment) unterbindet nämlich gerade 0,25m 1m 1m 1,4 m 1,4 m
die entsprechende Relativbewegung.
Beachten Sie bei Aufgaben zu gelenkigen Systemen die prüfung der Ergebnisse wie folgt aus:
folgenden zwei Hinweise:
5 kN
Beginnen Sie bei der Berechnung von Lager- 15 kN
und Gelenkreaktionen beim einfachsten der beiden
(oder mehr) Freikörperbilder. Beim danach folgen-
den schwierigeren Freikörperbild sind dann in aller
Regel schon die Gelenkkräfte bekannt und die Rech- 4 kN 8,9 kN 7,1 kN
nerei wird deutlich einfacher. 0,25 m 2m 1,4 m 1,4 m
Die berechneten Ergebnisse lassen sich an einem
Freikörperbild des Gesamtsystems, also ohne einen
Schnitt durch das Gelenk, überprüfen. In dieses Man kann sich leicht davon überzeugen, dass das
Freikörperbild werden die berechneten Lagerreak- Kräftegleichgewicht in y-Richtung exakt aufgeht
tionen eingezeichnet, und es wird überprüft, ob die und dass auch das Momentengleichgewicht mit
Kräfte- und Momentengleichgewichte auch tatsäch- kleiner Ungenauigkeit durch das Runden der Er-
lich aufgehen. In unserem Beispiel sähe die Über- gebnisse aufgeht.
Technische Mechanik
den Schnee zu ziehen als einen
leichten
Die Beträge von Gewichtskraft G und Normalkraft FN so- Ansatz zur Lösung ist wie immer das Freikörperbild.
wie die Beträge von äußerer Kraft F und Reibungskraft Hierzu ersetzen wir den Körper des Kindes durch die Ge-
FR sind, wenn keine Beschleunigungen auftreten, aus wichtskraft G, und wir entfernen die Rutsche, welche wir
Gründen des Kräftegleichgewichts jeweils gleich groß. Bei durch die Normalkraft FN und die Gleitreibungskraft FR
genauerer Messung würden wir feststellen, dass wir zum ersetzen. Dabei setzen wir FN und FR nicht irgendwie an,
Ziehen eines beispielsweise fünfmal schwereren Schlit- sondern in die Richtungen, in die sie tatsächlich auftreten.
tens eine fünfmal größere Zugkraft benötigen. Normal- Die Normalkraft ist senkrecht zur Rutschbahn orientiert,
kraft FN und Reibungskraft FR sind also zueinander pro- die Gleitreibungskraft gegen die Bewegungstendenz, also
portional, es gilt der folgende entlang der Rutsche nach oben gerichtet (Abb. 2.18).
x
mit dem dimensionslosen Gleitreibungskoeffizienten μ. FN
α
Die Größe des Gleitreibungskoeffizienten hängt von den
aneinander reibenden Werkstoffen – über Schnee zieht
es sich leichter als über Asphalt – und von der Rauheit Abb. 2.18 Das Freikörperbild des rutschenden Kindes
40 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik
Für die Gleitreibungskraft gilt FR = μFN . Wir erhalten so- Tab. 2.3 Übersicht über die Haft- und Gleitreibungskoeffizienten einiger wich-
mit für das Kräftegleichgewicht in Richtung der Rutsch- tiger Materialparungen
Technische Mechanik
bahn Materialpaarung: μ0 : μ:
Stahl-Stahl 0,45–0,8 0,4–0,7
∑ Fix = −μFN + G sin α = 0 Stahl-Grauguss 0,18–0,24 0,17–0,24
Lederdichtung-Metall 0,6 0,2–0,25
und für das Kräftegleichgewicht quer dazu Holz-Metall 0,5–0,65 0,2–0,5
Holz-Holz 0,4–0,65 0,2–0,4
Leitbeispiel Antriebsstrang
Technische Mechanik
Der Keilriemen:
. . . ein eleganter Trick zur Verstärkung der Reibung
Keilriemen sind Antriebsriemen mit trapezförmigem gleichgewicht in vertikale Richtung ergibt sich
Querschnitt. Ihr Vorteil liegt in der im Vergleich zu
Flachriemen wesentlich höheren Reibung an den um FD
FN = ,
einen Winkel α geneigten Riemenflanken (siehe auch 2 sin α
Abschn. 27.5). Sehen wir uns die auf einen Keilriemen
sodass die maximal übertragbare Haftkraft
wirkenden Kräfte einmal näher an.
μ0
FR0,max = 2μ0 FN = · FD
sin α
FD
beträgt. Beschreibt man die Kraftübertragung eines
Keilriemenantriebs in Form der bekannten Gleichung
α FR0,max = μ0,eff FN über einen effektiven haftreibungs-
koeffizienten μ0,eff , so beträgt dieser effektive Haftko-
FN FN effizient
μ0
μ0,eff =
sin α
und liegt für einen typischen Flankenwinkel von α =
19◦ beim Dreifachen des tatsächlichen Haftkoeffizien-
ten. Das bedeutet, dass ein Keilriemen im Vergleich
zu einem gleich stark vorgespannten Flachriemen ein
Die Kraft, mit der der gespannte Keilriemen in die Rie- dreimal so großes Drehmoment übertragen kann, bzw.
menscheibe gedrückt wird, sei mit FD bezeichnet. Ihr dass ein Keilriemen für das Übertragen eines gegebe-
entgegen wirken die Normalkräfte FN an den beiden nen Drehmoments nur ein Drittel der Vorspannkraft
um den Winkel α geneigten Flanken. Aus dem Kräfte- eines vergleichbaren Flachriemens benötigt.
ϱ F
FN
ϱ R
FR
G
FR
f FN
4m ϱ ϱ
3m FR0
überwinden. An der Fahrbahn wirken die Normalkraft
FN FN und die Haftkraft FR .
Das Rad sei schlecht aufgepumpt, sodass es sich stark
Abb. 2.20 Ermittlung des höchstmöglichen Standorts einer Person auf der an-
gelehnten Leiter, wenn die Leiter nicht rutschen darf
deformiert und an der Fahrbahn einen Wulst vor sich her-
schiebt. Dadurch greifen die Kräfte an der Fahrbahn in
x-Richtung gesehen um einen kleinen Abstand f vor den
Wir zeichnen also die beiden Reibkegel des Haftwinkels Kräften an der Achse an.
ρ = arctan 0,4 = 21,8◦ , schraffieren das „erlaubte“ Gebiet
für den Schnittpunkt von Aufstandskräften und ermit- Die Gleichgewichtsbedingungen ergeben:
teln die durch den eingezeichneten Kraftvektor von G
markierte Stelle der Leiter als höchstzulässigen Punkt der ∑ M(Achse)
i = FN · f − FR · R = 0
Person auf der Leiter. f
=⇒ FR = FN ,
R
↑ ∑ Fiy = −G + FN = 0
Rollreibung macht es leichter =⇒ G = FN sowie
→ ∑ Fix = F − FR = 0
Rollreibung kann um Größenordnungen kleiner sein als f
=⇒ F = FR = FN .
Gleitreibung, das weiß jeder, der schon mal versucht hat, R
sein Fahrrad mit fest angezogenen Handbremsen (also
Als Ergebnis erhalten wir für die
gleitend statt rollend) zu schieben.
Im Vergleich zur Coulomb’schen Reibung zeichnet sich Rollreibung
Rollreibung aber nicht nur durch die sehr viel geringeren
Reibungskräfte, sondern auch durch einen gänzlich an- Der Rollreibungswiderstand wächst mit zunehmen-
deren mechanischen Hintergrund aus. So hängt die Roll- dem Versatz (oder zunehmender Wulstgröße, wenn
reibungskraft nicht allein von der Normalkraft und den man so sagen möchte) f gemäß
beiden aneinander reibenden Werkstoffen (beim Beispiel
des geschobenen Fahrrades die von Rad und Fahrbahn), f
FR = FN
sondern vor allem von der Deformation von Reifen und R
Fahrbahn ab. Betrachten wir hierzu exemplarisch einen
schlecht aufgepumpten Fahrradreifen (Abb. 2.21).
Das Moment, das die Rollreibung dabei der rollenden Be-
Auf das Rad wirken an der Radachse die Stützlast G und wegung entgegensetzt, beträgt
die Vortriebskraft F. Letztere ist die Kraft, die vom Fah-
rer aufzubringen ist, um den Rollreibungswiderstand zu MRollreibung = FN · f .
2.5 Reibung 43
Technische Mechanik
. . . ein schönes Spielchen mit Haftung und Gleitrei- Bewegung verhindernde Kraft. Der Stab wird also stets
bung an demjenigen Finger haften, der die größere Rei-
bungskraft aufbringen kann.
Problemanalyse und Strategie: Es gibt einen netten
Bezeichnen wir die beiden Finger im Folgenden als
„Zaubertrick“, an dem sich sehr schön das Zusammen-
Finger A und Finger B. Wenn die Finger nach innen
spiel von Haftung, Gleitreibung und Lagerreaktionen
zusammengeführt werden, dann üben sie auf den Stab
zeigt. Auch wenn man nervös oder ein wenig tollpat-
nach innen gerichtete Reibungskräfte aus. Nehmen wir
schig ist, der Trick gelingt praktisch immer, er kennt
einmal an, zu Anfang des Experiments rutsche der Stab
quasi keinen Vorführeffekt.
über den Finger A, während er am Finger B einstweilen
haften bleibt.
Lösung: So funktioniert der Zaubertrick:
Das heißt: Ein hart aufgepumpter Reifen, welcher auf Theoretisch würde der Rollwiderstand, wenn Rad und
der Fahrbahn wenig Deformation erfährt und somit ei- Fahrbahn vollkommen starr sind, sogar gänzlich ver-
ne kleinen Hebelarm f aufweist, bewirkt einen kleinen schwinden. Aber auch wenn das in der Praxis natürlich
Rollwiderstand. Wer Fahrrad fährt, wird dies aus eigener nicht der Fall ist – für Stahlräder von Schienenfahrzeugen
Erfahrung bestätigen können. rechnet man z. B. mit ungefähr f /R ≈ 0,001 bis 0,002, bei
44 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik
ds
FR dφ dφ
Technische Mechanik
2 2
α dFR
dFN
S S + dS
kleinere dφ
Seilkraft S1
größere
Seilkraft S2
Abb. 2.23 Zur Herleitung der Eytelwein’schen Gleichung
Abb. 2.22 Seil- und Reibungskräfte bei Seilreibung Für infinitesimal kleine Winkel dϕ werden cos dϕ/2 = 1
und sin dϕ/2 = dϕ/2. Zudem ist dS · dϕ/2 als Produkt
zweier infinitesimal kleiner Größen klein von höherer
Wälzlagern mit f /R ≈ 0,0005 bis 0,001 – so ist Rollreibung Ordnung und kann vernachlässigt werden. Wir erhalten
in aller Regel doch sehr viel kleiner als Gleitreibung. somit
dS − μ0 dFN = 0 und
dFN − S dϕ = 0 .
Seilreibung unterstützt kleine Kräfte Eliminieren von dFN führt schließlich zu
dS
μ0 dϕ =.
Wird ein Seil über eine reibungsfrei drehbar gelagerte Rol- S
le umgelenkt, so sind, wie wir wissen, die Seilkräfte zu Wir integrieren beide Seiten über die Umschlingung – den
beiden Seiten der Rolle gleich groß. Findet diese Umlen- Winkel ϕ von 0 bis α und die Seilkraft S von S1 bis S2 – und
kung jedoch um einen starren Pfosten statt, so ist dem erhalten
nicht mehr so.
μ0 α = ln S2 − ln S1 ,
Die Seilkräfte können nun zu beiden Seiten des Pfos-
tens unterschiedlich groß sein, ohne dass das Seil um was wir zu S2 = S1 · exp(μ0 α) umformen.
den Pfosten rutscht. Grund hierfür sind die Reibungs- Wenn S1 > S2 ist, müssen wir die Indizes in diesen Glei-
kräfte zwischen Pfosten und Seil, die, da sie gegen die chungen vertauschen, und wir erhalten als Ergebnis S2 =
Bewegungstendenz des Seils orientiert sind, die kleinere S1 · exp (−μ0 α). Ganz allgemein verbleibt das Seil also
Seilkraft unterstützen. dann in Ruhe, wenn bei einer vorgegebenen Seilkraft S1
die gegenhaltende Seilkraft S2 um weniger als den Faktor
Bezeichnen wir die kleinerer Seilkraft zunächst als S1 und
exp (μ0 α) von S1 abweicht.
die größere Seilkraft als S2 . Zur Herleitung des Zusam-
menhangs zwischen den Seilkräften, dem Haftkoeffizien-
ten μ0 und dem Umschlingungswinkel α betrachten wir Eytelwein’sche Ungleichung
einen infinitesimal kleinen Abschnitt des um den Pfosten
Ein Seil bleibt so lange im statischen Gleichgewicht,
geschlungenen Seils.
wie sich S2 innerhalb der Grenzen (Abb. 2.23)
Die Länge des betrachteten Seilabschnitts sei ds, der Um-
schlingungswinkel des Abschnitts dϕ. Die Seilkräfte seien S1 · e(−μ0 α) ≤ S2 ≤ S1 · e(μ0 α)
an der linken Seite mit S und an der rechten Seite, an der
die Seilkraft ein klein wenig größer ist, mit S + dS bezeich- bewegt.
net. Der betrachtete Seilabschnitt befinde sich gerade an
der Haftgrenze, d. h., es wirken die Normalkraft dFN und
die Haftkraft dFR = μ0 dFN . Beachten Sie, dass der Umschlingungswinkel α in dieser
nach Johann A. Eytelwein (1764–1848) benannten Glei-
Die Gleichgewichtsbedingungen lauten chung stets in Bogenmaß anzusetzen ist.
Mit der Eytelwein’schen Gleichung werden unter an-
dϕ dϕ
→ ∑ Fix = −S cos + (S + dS) cos − μ0 dFN = 0 derem Riemenantriebe ausgelegt. Aber auch im nicht-
2 2 technischen Bereich kann die Seilreibung durchaus von
dϕ dϕ Bedeutung sein, wie das folgende Beispiel vom Klettern
und ↑ ∑ Fiy = dFN − S sin − (S + dS) sin = 0.
2 2 zeigt (Abb. 2.24).
2.6 Schwerpunkt 45
Technische Mechanik
Aus der bloßen Anschauung wissen wir, was ein Flächen-
schwerpunkt ist. Wird eine Fläche lose in ihrem Schwer-
α ≈ 180° punkt an eine Wand gepinnt, dann kippt die Fläche unter
dem Einfluss der Schwerkraft nicht. Bei einem anderen
Aufhängepunkt würde die Fläche so lange pendeln, bis
sich der Schwerpunkt wieder genau unterhalb des Auf-
hängepunktes befindet.
h− hb x
Diese Gleichungen mögen abstrakt und schwierig wir- x dy ,
ken – man integriert nicht alle Tage über eine Fläche –
y= 0
aber in Wirklichkeit sind sie gut zu lösen. Die Integrale
über die Fläche bedeuten letztlich nichts weiter, als dass
eine gegebene Fläche A lückenlos mit kleinen Flächenele- um dann dieses Integral von x = 0 bis x = b erneut zu in-
menten der Größe dA zu überstreichen ist und zu jeder tegrieren. Wir erhalten somit
Position die x- bzw. y-Koordinate notiert und nachher auf-
b h− b x
h
summiert (integriert) wird. An zwei Beispielen werden
wir gleich sehen, wie das geht. x dA = x dy dx .
(A) x= 0 y= 0
Ist eine Fläche übrigens symmetrisch, kann man sich die
Berechnung einer Schwerpunktkoordinate sparen, denn
es gilt für den Dieses Integral ist einfacher, als es auf den ersten Blick er-
scheint. Im inneren Integral wird entlang y integriert. Der
Flächenschwerpunkt bei symmetrischen Flächen Integrand x,ist aber von y unabhängig und kann somit als
Konstante vor das innere Integral gezogen werden. So er-
Bei spiegelsymmetrischen Flächen liegt der Flächen- gibt sich
schwerpunkt stets auf der Symmetrieachse.
b h− b x
h
b h
x dA = x 1 dy dx = x h − x dx
b
(A) x= 0 y= 0 x= 0
Beispiel Zu berechnen sind die Schwerpunktkoordina-
1 1h 3
b 1 2
ten xS und yS des in Abb. 2.26 abgebildeten rechtwinkli-
= hx2 − x = hb .
gen Dreiecks der Breite b und der Höhe h. 2 3b 0 6
Tab. 2.4 Übersicht über die Rechteck rechtwinkliges Dreieck Viertelkreis Parallelogramm Dreieck
Schwerpunkte wichtiger Flächen
Technische Mechanik
h h y h h
x b y
y y
b b1 x b2 b1
b1 x b2
x R
2b1 +b2
xS = b
2 xS = b
3 xS = 4
3π R xS = b1 + 12 b2 xS = 3
yS = h
2 yS = h
3 yS = 4
3π R yS = h
2 yS = h
3
R
90◦ Beispiel Für die skizzierte Fläche (Abb. 2.29), die aus
1 3
= r2 sin ϕ dr = R . den einem Rechteck (Fläche 1), einem rechtwinkligen
0◦ 3
r= 0
Die Schwerpunkte dieser und weiterer wichtiger Flächen Abb. 2.29 Ein Beispiel für eine aus mehreren Teilflächen zusammengesetzte
sind in Tab. 2.4 aufgeführt. Fläche
48 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik
y φ
Problemanalyse und Strategie: Kreisel zählen zu den
erklärten Lieblingsspielzeugen des Autors, und ganz
besonders mag er solche, die man aus einer Büroklam- α
x
mer selber biegen kann. Als gut sortierter Beamter hat
er immer ein paar Büroklammern in Griffweite, und
das Verarbeiten derselben in rasante Kreisel hat ihn
schon in manch „spannender“ Sitzung wach gehalten.
Wie aber muss eine Büroklammer gebogen werden, da- R
mit ein gut laufender Kreisel aus ihr wird?
Teilsegment: xSi li
R
1: untere Speiche 2 cos α R
2 cos α
R
2: obere Speiche R
Damit zum zweiten Punkt, der Schwerpunktlage. Wie R sin α
3: Kreissegment α 2αR
ist die Kreiselgeometrie zu gestalten, damit der Krei-
2R + 2αR
selschwerpunkt auf der Drehachse liegt?
2.6 Schwerpunkt 49
Und wir erhalten für den Gesamtschwerpunkt xS Büroklammerkreisel sind schöne Spielzeuge. Wenn
man sich beim Biegen der Klammer Mühe gibt, kön-
Technische Mechanik
1 nen sie länger als 20 Sekunden lang laufen.
xS = R2 cos α + 2R2 sin α = 0
2R + 2αR Gewöhnliche Büroklammern lassen sich leicht von
1 Hand zu Kreiseln biegen, am besten über eine Rol-
=⇒ α = arctan − = 153,4◦ . le, damit das Kreissegment auch tatsächlich kreisrund
2 wird. Trägere und länger laufende Kreisel erhält man
aus den größeren und stabileren Aktenklammern. Um
Dies entspricht einem Öffnungswinkel zwischen den diese zu verbiegen benötigt man allerdings zwei Zan-
Speichen von 53,2°. gen.
bzw.
In anderen Dimensionen: Volumenschwerpunkt, 1 1
Massenmittelpunkt und Linienschwerpunkt
xS =
mges ∑ (xSimi ) , yS =
mges ∑ (ySimi )
1
Alle für Flächen hergeleiteten Gleichungen zur Schwer-
und zS =
mges ∑ (zSimi )
punktbestimmung gelten sinngemäß auch für Linien (et-
wa Rohrleitungen) und dreidimensionale Körper. bei zusammengesetzten Volumina.
50 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik
Linienschwerpunkt bzw.
Für Linien (z. B. dünne Rohrleitungen konstanter längen-
Technische Mechanik
1 1
bezogener Masse) gilt xS =
lges ∑ (xSili ) , yS =
lges ∑ (ySili )
1
xS =
1
x ds, yS =
1
y ds und zS =
lges ∑ (zSi li )
l l
(l ) (l )
bei Linien, die aus mehreren Segmenten mit jeweils be-
1
und zS = z ds , kannter Schwerpunktlage zusammengesetzt sind.
l
(l )
Weiterführende Literatur
Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils
Technische Mechanik befindet sich am Ende von Kap. 9.
Antwort 2.1 Technische Strukturen, die sich nicht als star- Antwort 2.4 Das abgebildete Scharnier verhindert, dass
re Körper idealisieren lassen, kommen vergleichsweise sich ein Körper in x-, y- oder z-Richtung translatorisch be-
selten vor. Beipiele sind ein Stab für den Stabhochsprung wegen kann. An Rotationen verhindert es weiterhin die
oder eine Angelrute nach dem Anbeißen eines kapitalen Drehungen um die y- und z-Achse, wogegen es einer Ro-
Fisches, die sich beide sehr stark durchbiegen. tation um die x-Achse keinen Widerstand entgegensetzt.
Das Scharnier kann also die Lagerreaktionen Fx , Fy , Fz , My
Antwort 2.2 Wir suchen Balken, die an beiden Enden und Mz ausüben.
gelenkig gelagert sind und dazwischen keine Belastung
erfahren. Das sind z. B. eine an beiden Seiten gelenkig ge- Antwort 2.5 Aus Gründen der statischen Bestimmtheit.
lagerte Deichsel eines Anhängers oder der Hubzylinder Würde man einen einachsigen Anhänger mit einer an
eines Kipplasters, sofern die Eigengewichte von Deichsel beiden Seiten gelenkig gelagerten Deichsel – aus me-
bzw. Hubzylinder im Vergleich zu den sonstigen angrei- chanischer Sicht ist das eine Pendelstütze – mit dem
fenden Kräften vernachlässigbar klein sind. Zugfahrzeug verbinden, lägen vier Lager- und eine Ge-
lenkwertigkeit vor. Das ist weniger als die für statische Be-
Antwort 2.3 Aus Gründen des Momentengleichgewichts. stimmtheit von zweiteiligen Systemen erforderliche Zahl
Senkt sich z. B. das rechte Ende eines Mobilestabs ab, so von sechs Wertigkeiten, sodass das Gespann statisch un-
verkürzt sich durch die Stabbiegung sein Hebelarm zur terbestimmt gelagert wäre. Zum gleichen Schluss kommt
Aufhängung, während sich der Hebelarm des nach oben man auch mit gutem ingenieurmäßigen Vorstellungsver-
steigenden linken Stabendes verlängert. Der Stab wird mögen, denn man erkennt, dass ein einachsiger Anhänger
sich dann wieder in seine Ausgangslage zurückdrehen. mit gelenkiger Deichsel wackelig wäre.
Aufgaben 51
Aufgaben
Technische Mechanik
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
2.1 • Berechnen Sie die in Abb. 2.6 auftretenden Bestimmen Sie die Winkel α und β (a) grafisch und (b)
Lagerkräfte. Mit welcher Kraft ist die Rolle an der Decke rechnerisch.
befestigt, wenn die Person in einem Winkel von α = 50◦
zur Horizontalen am Seil zieht? Hinweis: Zur rechnerischen Lösung: Mit den beiden
Gleichgewichtsbedingungen für das statische Gleichge-
Resultat: Ax = 63 N, Ay = 173 N. wicht am Punkt erhalten Sie zwei Gleichungen für die
beiden Unbekannten α und β. Lösen Sie dieses Glei-
chungssystem, indem Sie beide Gleichungen quadrieren
2.2 • Ein Frachtschiff wird von zwei Hafenschlep- und miteinander addieren.
pern (A und B) abgeschleppt. Die Seilkräfte betragen
FA = 32 kN im Seil zu Schlepper A und FB = 21 kN im Für die zeichnerische Lösung benötigen Sie einen Zirkel.
Seil zu Schlepper B.
Resultat: α = 7, 18◦ , β = 48, 59◦ .
B
2.4 • Ein 1600 N schwerer Stahlträger wird wie
40° skizziert über zwei Seile mit einem Kran angehoben. Be-
25° rechnen Sie die Seilkräfte.
Resultat:
1. Ay = G4 (2 cos α − sin α), By = 4 (sin α + 2 cos α ),
G
S = G sin α.
2. αmax = 37◦ .
l l
α F
F
A α B
Resultat: 127 N.
Technische Mechanik
2.9 • Es ist Frühsommer, die Sonne scheint und Sie F
F
verbringen den Nachmittag lieber in der Hängematte als
60°
im Hörsaal. Bevor Sie die Müdigkeit vollends übermannt,
versuchen Sie, die Kräfte in den beiden Halteseilen der A B
Matte sowie die durch die Hängematte verursachten La- l l l
gerreaktionen im Wurzelwerk der Bäume zu berechnen.
Resultat: Ax = F2 , Ay = 0, 96 F, By = 0, 91 F.
l
F
45°
A
l l
S1 S2
2.12 •• Ein Winkeleisen mit vernachlässigbar kleiner
Masse ist in den Punkten A und C durch ein Scharnier
1,5 m bzw. ein Seil gelagert, und im Punkt B durch die senk-
0,7 m 750 N rechte Kraft 40 N belastet.
A B
3m 2m 60 cm
y
40 N
x Seil
A B
1. Ermitteln Sie die Seilkräfte S1 und S2 rechnerisch. 50 cm
2. Ermitteln Sie die Seilkräfte S1 und S2 zeichnerisch. C
Verwenden Sie für Ihre Zeichnung den Kräftemaßstab
50 N
mF = 1 cm/100 N. z
y
3. Berechnen Sie die durch die Hängematte verursachten
Lagerreaktionen im Wurzelwerk der Bäume. x
2.13 • Das Gewicht eines Konzertflügels betrage Gegeben: LKW-Gewicht FLKW = 150 kN, Anhängerge-
3,6 kN. Der Flügel steht auf drei Beinen, die sich jeweils wicht FAnh = 30 kN.
Technische Mechanik
1m
0,9 m
1. Ist der Flügel statisch bestimmt gelagert? 2.16 •• Ein Gelenkträger ist in den Punkten A und B
2. Berechnen Sie die Lagerreaktionen. jeweils zweiwertig gelagert. An ihm greift eine Kraft F an.
a a
50 mm 2 2
Fr
Festlager A Loslager B
1. Überprüfen Sie den Träger auf statische Bestimmtheit.
160 mm 60 mm
2. Bestimmen Sie die Lager- und Gelenkreaktionen.
Resultat: Ax = F8 , Ay = F4 , Bx = − F8 , By = 34 F, Gx = − F8 ,
Berechnen Sie die Lagerreaktionen sowie das übertragene Gy = − F4 .
Moment.
Resultat: Ax = 260 N, Ay = −294 N, Az = 1050 N, By = 2.17 • Berechnen Sie für den skizzierten Gelenkträ-
1294 N, Bz = −3850 N, Mübertragen = 140 Nm. ger die Lager- und Gelenkreaktionen.
Resultat: Ax = 0, Ay = −2 F, MA = −2 F l, By = 3 F,
F
Gx = 0, Gy = 2 F.
Technische Mechanik
2.18 • Eine Kiste mit der Gewichtskraft G stehe in
den Punkten A und B auf einer um den Winkel α = 40◦
zur Horizontalen geneigten schiefen Ebene. Bestimmen 3R
Sie grafisch, wie groß der Haftkoeffizient μ0 zwischen Kis-
te und schiefer Ebene mindestens sein muss, damit die
Kiste nicht die schiefe Ebene hinabrutscht.
R
B
B
SP
α A
α =?
α S1 = 400 N
S2 = 12 000 N
μ0 G
Zahlenwerte:
Resultat: FNA = G
1+ μ20
, FNB = 1+ μ20
,
Abdriftkraft Frachtschiff: S2 = 12.000 N,
2μ
α = arctan 1−μ02 = 33, 4◦ . Ihre Gegenhaltekraft: S2 = 400 N,
Haftkoeffizient: μ0 = 0, 25.
0
2.20 •• Eine G = 100 N schwere Scheibe mit dem Ra- Resultat: 2,2 Umschlingungen.
dius R liegt wie skizziert in einer Ecke zwischen Boden
und Wand. Die an einem starr mit der Scheibe verbunde- 2.22 •• Ein Riemenantrieb bestehe aus zwei mit ei-
nen Hebelarm angreifende Kraft F versucht die Scheibe zu nem Riemen verbundenen Scheiben der Durchmesser
drehen. Die Haftkoeffizienten zwischen Scheibe und Bo- 150 mm und 400 mm. Der Achsabstand der beiden Rie-
den sowie Scheibe und Wand betragen jeweils μ0 = 0, 3. menscheiben betrage 800 mm, der Haftkoeffizient μ0 =
Wie groß muss die Kraft F mindestens sein, damit sich die 0, 4.
Scheibe dreht? Wie groß sind dann die Normalkräfte zwi- Die kleinere Riemenscheibe soll mit einem Drehmoment
schen Scheibe und Boden (Punkt A) sowie Scheibe und von maximal 140 Nm angetrieben werden können, ohne
Wand (Punkt B)? dass der Riemen rutscht.
56 2 Grundbegriffe und Kraftgruppen – der Einstieg in die Technische Mechanik
400 mm Hinweis: Integrationshilfe: cos2 xdx = 1
2 (x + sin x cos x).
150 mm
π
Resultat: xS = 0, yS =
Technische Mechanik
8.
240
1. Berechnen Sie den Umschlingungswinkel α der kleinen
Scheibe.
2. Wie groß sind die Kräfte im Riemen? 135°
50
3. Berechnen Sie die durch die Riemenkräfte hervorgeru-
fenen Lagerreaktionen im Lager der kleineren Riemen- 100
scheibe.
Resultat: α = 162◦ , S1 = 889 N, S2 = 2755 N, Ax =
300
3599 N, Ay = 292 N.
z
1. Berechnen Sie die Lage des Flächenschwerpunktes mit-
hilfe der Integraldefinition des Schwerpunktes.
2. Unterteilen Sie das Trapez in zwei Teilflächen und be-
h
rechnen Sie die Lage des Flächenschwerpunktes.
Hinweis: Verwenden Sie bei der Integration horizontale
Streifen als Flächenelemente dA.
Resultat: xS = 19 mm, yS = 14 mm. b
b
2.24 •• Berechnen Sie die Schwerpunktkoordinaten
xS und yS der abgebildeten, durch die Funktion f (x) =
cos x im Bereich −π/2 ≤ x ≤ π/2 umrandeten Fläche.
Hinweis:
y
Beachten Sie, dass die Koordinate z ihren Ursprung in
1 der Spitze der Pyramide hat.
Verwenden Sie bei der Integration über das Volumen
f (x) = cos x der Pyramide horizontale Scheiben als Volumenele-
mente dV.
Das Volumen V einer Pyramide beträgt
1
V= · Höhe · Grundfläche .
3
–π 0 π x
2 2 Resultat: zS = 3
4 h.
Aufgaben 57
2.27 • • • Berechnen Sie die Schwerpunktlage einer ho- 1. Was hat diese Aufgabe mit dem Schwerpunkt zu tun?
mogenen Halbkugel des Radius R. 2. Welche Höhe Hzul darf die Mütze höchstens haben?
Technische Mechanik
z Hinweis: Die Bestimmungsgleichung für den Schwer-
punkt eines Kegels ist identisch mit derjenigen für den
Schwerpunkt einer Pyramide (siehe Aufgabe 2.26)).
√
Resultat: Hzul = 3 R.
2.29 • Auf einen Körper aus Stahl soll ein Haken an-
geschweißt werden, um den Körper mit einem Kran anhe-
ben zu können. Der Körper besteht aus einer 10 cm hohen
x y fünfeckigen Basis, einem ebenfalls 10 cm hohen quadra-
tischen Aufsatz und einer durchgehenden Bohrung des
Durchmessers 5 cm. Die anderen Maße entnehmen Sie bit-
Hinweis: Wählen Sie als Volumenelemente dV parallel zur te der Zeichnung.
x-y-Ebene liegende Kreisscheiben.
Resultat: xS = yS = 0, zS = 3
8 R. 10 cm
10 cm
Sie haben sich nun entschlossen, Ihrer niedlichen kleinen 5 cm
Nichte zum ersten Geburtstag ein Stehaufmännchen zu
basteln. Es soll aus einem Stück bestehen, mit einer Halb-
kugel mit dem Radius R für das Gesicht und einem Kegel
20 cm
der Höhe H als Mütze.
20 cm
10 cm 20 cm 10 cm
25 cm
40 cm
Technische Mechanik
Kräfte und Momente
in Trägern
Wie schneidet man mitten
durch einen Träger frei?
Wie groß sind die Kräfte in
den Tragseilen der Golden
Gate Bridge?
Qy
N Die grafische Darstellung veranschaulicht die
y My Lage der höchstbeanspruchten Querschnitte
Qz MT
Technische Mechanik
Für das schon in Kap. 2 betrachtete Einmeter-Sprung- 600 N 900 N
QI
brett sollen die inneren Kräfte und Momente berechnet MI MI
werden.
NI NI
Problemanalyse und Strategie: Zunächst müssen wir QI
1500 N
als Voraufgabe die Lagerreaktionen ermitteln, dann
x 3m–x 2m
folgen die Schnittgrößen. Für die Schnittgrößenberech-
nung werden wir jeweils das Freikörperbild auswäh-
len (positives vs. negatives Schnittufer), das die einfa-
cheren Gleichgewichtsbedingungen nachsichzieht. Wir erhalten folgende Gleichgewichtsbedingungen
und Ergebnisse:
Frage 3.1
(Kräftemaßstab mF ) und die inneren Momente (Momen-
tenmaßstab mM ) zu Papier gebracht werden. Nennen Sie Beispiele für Streckenlasten.
Beispiel
Zuerst zeichnen wir das Achsenkreuz. Bei dem vorge-
gebenen Längenmaßstab werden aus dem 5 m langen
Sprungbrett 10 cm auf der x-Achse. Auf der Ordinate
q0
(y-Achse) tragen wir zwei Skalen auf: eine für die Kraft-
verläufe (N- und Q-Linien) und eine für den Momenten-
verlauf. Jetzt können wir die berechneten Ergebnisse für l
N (x), Q(x) und M(x) einzeichnen, und zwar die Ergeb-
nisse für den Bereich I im Intervall 0 ≤ x < 3 m und die x, x
Ergebnisse für den Bereich II im Intervall 3 m ≤ x < 5 m.
Abb. 3.4 Gesucht sind die Lagerreaktionen und Schnittgrößenverläufe im
Lineare Funktionen zeichnen wir schnell und fehler- Kragträger
frei, indem wir zunächst die Funktionswerte am linken
und rechten Bereichsrand einzeichnen und diese dann
mit einer Geraden verbinden. Beispiel MII (x): Wir be- Ein Kragträger wird wie in Abb. 3.4 skizziert durch ei-
rechnen als Funktionswerte an den Bereichsrändern ne konstante Streckenlast belastet. Zu berechnen sind die
MII (3 m) = −1800 Nm und MII (5 m) = 0 Nm, zeichnen Lagerreaktionen sowie die Schnittgrößenverläufe N (x),
beide Funktionswerte ein und verbinden sie. Für quadra- Q(x) und M(x).
tische und kubische Funktionen (welche für Träger unter
Zunächst zu den Lagerreaktionen (Abb. 3.5):
Streckenlasten auftreten können) berechnen wir zu den
Funktionswerten an den Bereichsrändern noch zwei bis
drei Funktionswerte im Innern des Bereichs und legen
MA q0
dann mit gesundem Menschenverstand eine Kurve durch
diese Punkte. Ax
Technische Mechanik
∑ M(SU)
i = −M (x ) − q0 (x − x) dx = 0
l
x= x
↑ ∑ Fiy = Ay − q0 dx = 0
1 l−x
0 =⇒ M(x) = − q0 (l − x)2 = −q0 (l − x) · .
2 2
=⇒ Ay = q0 · l .
Am Kräftegleichgewicht in y-Richtung erkennen wir, dass Auch bei den Schnittgrößen zeigt sich also, dass man die
die Wirkung der Streckenlast – das Integral von 0 bis l Streckenlast durch eine Kraft ersetzen kann, die die Grö-
über q0 – genau der Rechteckfläche entspricht, mit der ße des die Streckenlast im Freikörperbild darstellenden
die Streckenlast im Freikörperbild grafisch dargestellt ist, Rechtecks hat und die im Schwerpunkt eben dieses Recht-
nämlich einem Rechteck der Breite l und der Höhe q0 . ecks angreift.
Man könnte hier also die Streckenlast durch eine Er-
satzkraft der Größe q0 · l ersetzen. Zunächst aber zum
Momentengleichgewicht. Dieses lautet Die Verwendung derartiger Ersatzkräfte ist im Allgemei-
nen ausgesprochen vorteilhaft, denn man spart sich da-
l durch die Integration der Streckenlast. Auch ohne einen
(A )
∑ Mi = MA − q0 · x dx = 0 allgemeinen Beweis halten wir fest, dass eine Streckenlast
0 stets durch eine Ersatzkraft FErs ersetzt werden kann, die
l die Größe der im Freikörperbild eingezeichneten „Last-
1 2 l fläche“ hat und im Schwerpunkt eben dieser Lastfläche
=⇒ MA = q0 x dx = q0 l = q0 l · .
2 2 angreift. Es ergibt sich somit für konstante Streckenlasten
0
die Ersatzkraft
Hier erkennen wir nun, dass die Wirkung der Streckenlast
auf das Einspannmoment der im Kräftegleichgewicht in FErs = q0 · l ,
y-Richtung identifizierten Ersatzkraft q0 · l mal einem vom
Schnittufer bis zur Mitte der Streckenlast (d. h. bis zum die in der Mitte der Streckenlast angreift, und für dreieck-
Schwerpunkt des die Streckenlast darstellenden Recht- förmige Streckenlasten die Ersatzkraft
ecks) gehenden Hebelarms entspricht.
Nun zur Berechnung der Schnittgrößen: Wir schneiden an 1
einer beliebigen Stelle x durch den Träger und tragen in FErs = qmax · l ,
2
den Schnittufern jeweils die Schnittgrößen an. Das ein-
fachere der beiden Freikörperbilder ist das rechte, da in
die im Schwerpunkt des Dreiecks angreift, also auf 1/3-
diesem keine Lagerreaktionen auftreten, weshalb wir die-
Position zur Seite von qmax hin (Abb. 3.7).
ses zur Schnittgrößenberechnung heranziehen (Abb. 3.6).
Mit diesen Ersatzkräften lassen sich Lagerreaktionen und
Q q0 Schnittgrößen sehr viel einfacher berechnen als über die
M
Integration. Aber aufpassen! Bei der Berechnung der
N
Schnittgrößen dürfen die Merkregeln für Größe und Posi-
tion der Ersatzkräfte nicht ohne Nachdenken angewendet
x werden. Im folgenden Beispiel wird klar warum.
x l
Abb. 3.6 Freikörperbild zur Ermittlung der Schnittgrößen durch Integration der
Streckenlast
FErs = q0 ∙ l FErs = 1 qmax ∙ l
2
Beim Integrieren der Streckenlast verwenden wir x als
die Stelle des Freischnitts und x als Integrationsvariable
zwischen x und dem Trägerende. Damit erhalten wir als qmax
q0
Gleichgewichtsbedingungen und Ergebnisse:
→ ∑ Fix = −N (x) = 0 , l l 2
l
l
2 2 3 3
l
↑ ∑ Fiy = Q(x) − q0 dx = 0 Abb. 3.7 Größe und Position der Ersatzkräfte für konstante und dreieckförmige
x= x Streckenlast
64 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern
Ein in Fest- und Loslagerung gelagerter Balken wird Stelle x geschnitten, und die Schnittgrößen N (x), Q(x)
durch eine dreieckförmige Streckenlast belastet. Ge- und M(x) angesetzt.
sucht sind die Lagerreaktionen und der Verlauf der
Schnittgrößen. q(x)
M(x)
Problemanalyse und Strategie: Wir berechnen erst die
Lagerreaktionen, dann die Schnittgrößen. Bei der N(x)
Schnittgrößenberechnung – dem schwierigeren Teil – x Q(x)
werden wir besonderes Augenmerk darauf legen, dass
1 q ∙l
die Ersatzkraft in richtiger Größe und an der richtigen 6 max
Position angesetzt wird und dabei auch auf die Fehler
eingehen, die dabei am häufigsten gemacht werden.
Bis hierhin stimmt noch alles. Wer nun aber die
Streckenlast ohne weiteres Nachdenken durch FErs =
1/2 qmax l auf l/3-Position ersetzt, macht es leider
qmax
falsch. So sähe dann das fehlerhafte Freikörperbild
aus:
A B
FErs = 1 qmax ∙ l
2
l M(x)
x
2 N(x)
l
3 Q(x)
Lösung:
x
Lagerreaktionen Wir schneiden an den Lagern frei,
ersetzen die Streckenlast durch eine Ersatzkraft der
Größe FErs = 12 qmax · l auf l/3-Position und erhalten so- Dieses Freikörperbild ist gleich mehrfach fehlerhaft.
mit das folgende Freikörperbild: Grund hierfür ist, dass man nicht stur FErs = 1/2 qmax l
ansetzen darf, sondern man muss statt qmax den tat-
FErs = 1 qmax ∙ l sächlich im Freikörperbild auftretenden Maximalwert
2
der Streckenlast und statt l die tatsächlich im Frei-
Ax körperbild auftretende Länge, auf der die Streckenlast
wirkt, ansetzen.
1 2
Ay l By
3 3 Wir verwenden also für die Ersatzkraft
Das Ansetzen der drei Gleichgewichtsbedingungen q(x) anstelle von qmax und
(Momentengleichgewicht immer zuerst, ein geeigneter x anstelle von l.
Bezugspunkt ist z. B. das Lager A) führt zu den Ergeb- Und schließlich ist FErs natürlich an der Stelle x/3
nissen und nicht an der Stelle l/3 einzuzeichnen.
Technische Mechanik
1 1 x2 x
→ ∑ Fix = N (x) = 0 , ∑ M(SU)
i = − qmax lx + qmax · + M(x) = 0
6 2 l 3
x3
1 1 x2 1
↑ ∑ Fiy = qmax l − qmax − Q(x) = 0 =⇒ M(x) = qmax l x − .
6 2 l 6 l
Zwischen M , Q und q bestehen einfache Unter zum Träger lotrechten Streckenlasten gelten
die Zusammenhänge
differenzielle Zusammenhänge
dM(x) dQ(x)
= Q(x) und = −q (x ) .
Fällt Ihnen an den Ergebnissen des letzten Beispiels et- dx dx
was auf? M(x) abgeleitet ergibt Q(x), und Q(x) abgeleitet
ergibt −q(x). Man kann leicht zeigen, dass dies kein Zu-
fall ist, sondern ein allgemeingültiger Zusammenhang
(Abb. 3.8). Aus diesen Beziehungen folgt, dass
Man kann Schnittgrößenverläufe zeichnen, ohne sie Lager oder ein äußeres Moment), um eben dieses
vorher berechnet zu haben. Moment und
Querkraft Q(x) ungleich
in Bereichen, in denen die
null ist, gemäß M(x) = Q(x)dx.
Problemanalyse und Strategie: Eine Funktion zeichnen,
die man gar nicht kennt, das – so denkt sicher jeder –
kann doch gar nicht gehen. Bei den Schnittgrößenver- Betrachten wir als Beispiel den folgenden Träger:
läufen geht es aber doch. Diese lassen sich nämlich
q0 = 20 kN/m
zeichnen, ohne dass man sie explizit berechnen muss.
F = 60 kN
Lediglich die Lagerreaktionen muss man berechnen,
die Schnittgrößenverläufe selber aber nicht. Wir zeigen
anhand eines Beispiels, wie das geht. A B
Wie zuvor geht es von diesem Startwert in positive x- Nun zur Momentenlinie: Diese beginnt der Stelle x = 0
Richtung los. Der Betrag von M(x) verändert sich mit M(0) = 0, da hier kein Biegemoment in den Träger
eingeleitet wird. Als Stammfunktion der Querkraftlinie
an Stellen, an denen ein Biegemoment in den Trä- ändert sich die Momentenlinie nun immer um die Flä-
ger eingeleitet wird (sei es durch ein entsprechendes che unter der Querkraftlinie. Das bedeutet, dass M(x)
3.2 Rahmen und Bögen 67
für x ≤ 2 m einer quadratischen Funktion folgt – Das entspricht das dem folgenden grafischen Verlauf:
und zwar wegen Q(0) = 0 erst mit waagerechter
Technische Mechanik
und danach immer steiler abfallender Tangente – M(x) (kNm)
und an der Stelle x = 2 m den Wert −40 kN m an- 10
nimmt (die dreieckförmige Fläche über der Quer-
kraftlinie im Intervall 0 ≤ x ≤ 2 m), 0
für 2 m ≤ x ≤ 3 m aufgrund der hier konstanten 1 2 3 4 x (m)
Querkraft einer linearen Funktion folgt und an der
Stelle x = 3 m den Wert −40 kN m + 50 kN · 1 m =
10 kN m annimmt,
für 3 m ≤ x ≤ 4 m wieder auf 10 kN m − 10 kN ·
1 m = 0 kN m zurückfällt.
–40
NII
Abb. 3.9 Gesucht sind die Schnittgrößenverläufe im Rahmen F
h+b–s
Im Bereich I erhalten wir als Freikörperbild (Abb. 3.10)
und Ergebnisse: Abb. 3.11 Freikörperbild für den Bereich II
→ ∑ Fix = −QI (s) = 0 Es erfahren also die Normal- und Querkraftlinie am Knick
einen Sprung, während die Momentenlinie stetig verläuft.
=⇒ QI (s) = 0 , Des Weiteren können wir erkennen, dass die differenziel-
↑ ∑ Fiy = −NI (s) − F = 0 len Beziehungen zwischen M(s), Q(s) und q(s) Gültigkeit
besitzen.
=⇒ NI (s) = −F ,
∑ M(SU)
i = − F · b − MI ( s ) = 0 Bei Bögen ist es vielfach geschickt, die Schnittgröße in
Abhängigkeit des Polarwinkels ϕ zu beschreiben, und es
=⇒ MI (s) = −F · b . ist praktisch immer vorteilhaft, die Kräftegleichgewichte
nicht in die globalen x- und y-Richtungen, sondern ein die
lokalen Richtungen von Normal- und Querkraft auszu-
werten. Hierzu das folgende Beispiel:
F
Beispiel
b
Für den dargestellten in Abb. 3.12 dargestellten Viertel-
QI kreisbogen sind die Schnittgrößenverläufe N ( ϕ), Q( ϕ)
und M( ϕ) zu berechnen.
MI
NI Als Freikörperbild erhalten wir Abb. 3.13. Die Kräfte-
gleichgewichte werten wir wie oben empfohlen in die
Abb. 3.10 Freikörperbild für den Bereich I Richtungen von Normal- und Querkraft aus:
68 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern
Die folgenden Tipps machen das Berechnen von vollen Bezugspunkt: das Schnittufer. Nur hier ver-
Schnittgrößen leichter. schwinden die Hebelarme von Normal- und Quer-
kraft.
Zum Freikörperbild: Passen Sie auf, wenn Sie beim Ansetzen der Ersatz-
kräfte die Merkregeln FErs = q0 l für konstante und
Entscheiden Sie bewusst und in Ruhe, ob Sie die FErs = 1/2qmax l für dreieckförmige Streckenlasten
Berechnung der Schnittgrößen am positiven oder verwenden. Bei der Schnittgrößenberechnung ist
negativen Schnittufer vornehmen wollen. Die Wahl statt der gesamten Balkenlänge die tatsächlich im
des einfacheren Freikörperbildes kann viel Zeit er- Freikörperbild auftretende Balkenlänge und statt
sparen. qmax der tatsächlich im Freikörperbild auftretende
Bereichsgrenzen existieren überall da, wo sich die Maximalwert der Streckenlast zu verwenden.
Freikörperbilder bei einem Schnitt dies- bzw. jen-
seits der Grenze unterscheiden. Dies ist z. B. an
Lagern, Punktlasten, am Anfang oder Ende einer
Streckenlast oder an scharfen Knicken im Träger
Zu den Ergebnissen:
der Fall. Die Laufkoordinate x (o. ä.) hat in allen
Bereichen denselben Ursprung; sie beginnt an den Schnittgrößenverläufe können an Lagern sowie
Bereichsgrenzen nicht erneut. punktförmig eingeleiteten Kräften oder Momenten
Die häufig gemachten Fehler bei Größe und Position Sprünge aufweisen. Wird (a) eine Kraft längs des
der Ersatzkraft lassen sich oft dadurch vermeiden, Trägers, (b) eine Kraft quer zum Träger oder (c) ein
dass der Verlauf der Streckenlast im Freikörper- Moment eingeleitet, so ändern sich (a) der Normal-
bild durch eine dünne gestrichelte Linie angedeutet kraftverlauf, (b) der Querkraftverlauf und (c) der
wird. Momentenverlauf um die eingeleitete Kraft bzw.
das eingeleitete Moment.
Kontrollieren Sie Ihre Ergebnisse. Diese können nur
Zur Berechnung:
stimmen, wenn die Zusammenhänge dM(x)/dx =
Bei der Bestimmung des Schnittmoments gibt es Q(x) (gilt immer) und dQ(x)/dx = −q(x) (gilt nur
für das Momentengleichgewicht genau einen sinn- für lotrechte Streckenlasten) erfüllt sind.
=⇒ M( ϕ) = −F · R cos ϕ .
F
φ
Q F
M
R
φ
N
90° – φ
Leitbeispiel Antriebsstrang
Technische Mechanik
Wie ändern sich Drehzahl, Drehmoment
und Leistung in einem Getriebe?
Jeder Autofahrer kennt das: Wenn der Wagen nicht Mit dem Drehmoment ist die Umfangskraft gemäß
mehr richtig zieht, muss man runterschalten. Dann
zieht der Wagen wieder besser, aber der Motor wird d
lauter, weil er schneller dreht. Ein guter Grund, sich zu MT = FT ·
2
überlegen, wie Drehzahl, Drehmoment und Leistung
von der Getriebeübersetzung abhängen (siehe auch verknüpft, wobei d der Teilkreisdurchmesser des be-
Abschn. 27.4). trachteten Zahnrades ist. Es gilt also
Sehen wir uns hierfür ein einfaches Getriebe an, wie es
d2 d z
durch die beiden abgebildeten Zahnräder angedeutet MT2 = FT = 2 MT1 = 2 MT1 .
ist. Angenommen, das linke Zahnrad habe die Zäh- 2 d1 z1
nezahl z1 und werde mit der Leistung P1 bzw. dem
Drehmoment MT1 angetrieben, und es drehe sich mit Für die Leistung P setzen wir den aus der Expe-
der Drehzahl n1 . Wenn dieses Zahnrad nun das rechts rimentalphysik bekannten Zusammenhang P = MT ·
abgebildete Zahnrad 2 mit der Zähnezahl z2 antreibt: ω = MT · 2πn – wobei ω die Winkelgeschwindigkeit
Wie groß sind Drehzahl, Drehmoment und Leistung ist – in obige Gleichung ein und erhalten
am Zahnrad 2?
P2 z P
= 2 1 =⇒ P2 = P1 .
2πn2 z1 2πn1
Frage 3.2
Weshalb werden bei Fahrrädern mit Nabenschaltung
die Schaltnaben oft mit einem Haltearm am Rahmen
abgestützt?
Kurz eingehen wollen wir auch auf die Schnittgrößen- ∑ Fiz = QzI (s) − 50 N = 0
ermittlung in räumlichen Problemen. Die Überlegungen
=⇒ QzI (s) = 50 N ,
der ebenen Schnittgrößenberechnung lassen sich auf den
∑ Mix
(SU)
räumlichen Fall übertragen, wobei sich aber die Zahl der = −MTI (s) − 50 N · 140 mm = 0
Schnittgrößen im Träger erhöht auf drei Kräfte (eine pro =⇒ MTI (s) = −7000 Nmm = −7 N m ,
Koordinatenrichtung, also eine Normal- und zwei Quer-
∑ Miy
(SU)
kräfte) und drei Momente (je eines um jede Koordinaten- = −MyI (s) + 50 N · (30 mm − s) = 0
richtung, wobei das Moment um die Trägerlängsachse als
=⇒ MyI (s) = 50 N · (30 mm − s) ,
Torsionsmoment MT bezeichnet wird).
∑ Miz
(SU)
= −MzI (s) = 0 .
50 N Mz
m
0m
14
My
Qz
m
MT N
0m
30 mm – s
Qy
14
30 mm ∑ Fix = NII = 0 ,
∑ Fiy = −QyII (s) = 0 ,
Abb. 3.14 Inbusschlüssel ∑ Fiz = −QzII (s) + 50 N = 0
=⇒ QzII (s) = 50 N ,
Wir legen den Koordinatenursprung für die s-Achse in
∑ Mix = −MTII (s) = 0 ,
(SU)
die Einspannung, und erhalten für den Bereich I das in
∑ Miy = −MyII (s) + 50 N · (170 mm − s) = 0
(SU)
Abb. 3.15 gezeigte Freikörperbild und folgende Werte für
die Schnittgrößen.
=⇒ MyII (s) = 50 N · (170 mm − s) ,
∑ Miz
(SU)
50 N
= −MzII (s) = 0 .
Mz 3.4 Fachwerke
m
0m
14
My
Qz Fachwerke kennt jeder. Ob in Fachwerkhäusern, Bau-
kränen, Brücken oder Strommasten, schon seit Alters
MT N her werden mit Fachwerken stabile und vergleichsweise
30 mm – s leichte Strukturen gebaut.
Qy
In der Technischen Mechanik werden bei der Behandlung
Abb. 3.15 Freikörperbild für den Bereich I des Inbusschlüssels von Fachwerken ein paar Idealisierungen vorgenommen,
3.4 Fachwerke 71
a b
Technische Mechanik
Abb. 3.18 Beispiele statisch bestimmter Fachwerke
a
Mithilfe geeigneter Ritterschnitte sind die Stabkräfte in ∑ M(RPII)
i = −F − S2 a sin 60◦ = 0
der skizzierten, aus lauter gleichseitigen Dreiecken be- 2
stehenden Fachwerkbrücke zu bestimmen F
=⇒ S2 = − und
2 sin 60◦
↑ ∑ Fiy = F + S3 sin 60◦ = 0
Problemanalyse und Strategie: Wir berechnen zunächst
die Lagerreaktionen und anschließend die Stabkräfte. F
=⇒ S3 = − .
Hierbei müssen wir die Ritterschnitte so legen, dass ge- sin 60◦
nau drei Stäbe aber kein Knoten geschnitten werden.
Einen weiteren Ritterschnitt legen wir durch die Stä-
be 4, 5 und 6, womit wir das folgende Freikörperbild
erhalten:
a F
2 6 10
RP I
60°
A B
60° S6
1 3 5 7 9 F
11 S5
4 8
60° S4
RP II
a
a
Wir bestimmen S1 daher mit einem Freischnitt um das Stabkräfte berechnet. Die Ergebnisse lauten zusam-
Lager A und erhalten mengefasst
Technische Mechanik
↑ ∑ Fiy = F − S1 sin 60◦ = 0
F F
F S1 = S11 = ◦
, S2 = S10 = − ,
=⇒ S1 = . sin 60 2 sin 60◦
sin 60◦ F F
S3 = S9 = − ◦ , S4 = S8 = ,
In den Stäben 7 bis 11 herrschen schließlich dieselben sin 60 sin 60◦
Kräfte in den ihnen symmetrisch gegenüberliegenden F
S5 = S7 = 0 und S6 = − .
Stäben der linken Brückenhälfte. Damit haben wir alle sin 60◦
V(x) + dV(x)
Technische Mechanik
H(x) + dH(x)
H(x)
a V(x)
S(x)
dx x
H(x) dy
b
dx
Abb. 3.20 Nullstäbe sind wichtig, auch wenn sie keine Kräfte übertragen. In
innerlich statisch bestimmten Fachwerken (a) bewirkt der Wegfall eines Nullsta-
bes nämlich statische Unterbestimmtheit (b) S(x) V(x)
H (x) = H0 = konstant .
Grundlegende Zusammenhänge
Betrachten wir einen infinitesimal kleinen Abschnitt eines Da die Seilkraft stets in Seilrichtung wirkt (Abb. 3.22), gilt
durch eine senkrechte Streckenlast q(x) belasteten Seils zudem der geometrische Zusammenhang
(Abb. 3.21). Im linken Schnittufer des Seilabschnitts wirkt
die in Seilrichtung orientierte Schnittkraft S(x), welche V (x ) dy
aus der Horizontalkomponente H (x) und der Vertikal- = .
H (x ) dx
komponente V (x) besteht. Bis zum rechten Schnittufer
haben sich diese Kräfte unter Einwirkung der Strecken- Wir setzen dies in das Kräftegleichgewicht in y-Richtung
last q(x) zu S(x) + dS(x), H (x) + dH (x) und V (x) + dV (x) ein und erhalten mit der Konstanz des Horizontalzuges
geändert.
Stellen wir die Kräftegleichgewichte auf. Sie lauten d2 y
q ( x ) = H0 .
dx2
→ ∑ Fix = −H (x) + H (x) + dH (x) = 0 und Diese Gleichung ist die Differenzialgleichung der Seilkur-
ve y(x) bei Belastung durch beliebige vertikale Strecken-
↑ ∑ Fiy = −V (x) − q(x) dx + V (x) + dV (x) = 0 . lasten q(x).
3.5 Seilstatik 75
Technische Mechanik
2
S(x ) = H02 + V (x)2 . sinh x
1
Mit –2 2 x
dy
V (x ) = H (x ) –2
dx
–4
erhalten wir für die Seilkraft S(x) schließlich
2 Abb. 3.23 Die Grafen von Sinus hyperbolicus und Kosinus hyperbolicus
dy
S ( x ) = H0 1+ .
dx
Bei einer Freileitung ist die Streckenlast
Diese Gleichung besagt, dass die Seilkraft S(x) mit zu- pro laufendem Meter Seil konstant
nehmender Steigung der Seillinie y(x) zunimmt. Ihren
Maximalwert erreicht S(x) deshalb an der Stelle der ma-
Den Belastungsfall q(s) = konstant, wie er etwa bei ei-
ximalen Steigung der Seillinie. Dieser liegt im höchsten
ner frei hängenden Stromleitung auftritt, beginnen wir
Punkt der Seillinie.
mit einem kurzen mathematischen Exkurs zu den hyper-
In der technischen Anwendung sind zwei Arten von Stre- bolischen Winkelfunktionen, wir werden sie in diesem
ckenlasten von besonderer Bedeutung. Die erste ist die Kapitel gebrauchen.
Belastung durch eine in x-Richtung konstante Strecken- Sinus hyperbolicus (sinh) und Kosinus hyperbolicus
last, q(x) = q0 = konstant, wie es z. B. bei einer Hänge- (cosh) sind definiert als
brücke der Fall ist, wenn das Fahrbahngewicht deutlich
größer ist als das Gewicht von Tragseilen und Hängern. 1 x 1 x
Die zweite wichtige Streckenlast ist die Belastung durch sinh(x) = e − e−x und cosh(x) = e + e−x .
2 2
das Eigengewicht des Seils. In diesem Fall ist die Strecken-
last nicht hinsichtlich der horizontalen Richtung, sondern Die Graphen beider Funktionen sind in Abb. 3.23 skiz-
„pro laufendem Meter Seil“ konstant, sodass q(s) = q0 = ziert.
konstant gilt, wobei s die Bogenlänge entlang des Seils ist.
Sinh(x) und cosh(x) weisen eine Reihe von Eigenschaften
auf, die denen der „gewöhnlichen“ Sinus- und Kosinus-
funktion ähneln, daher auch ihre Bezeichnungen. Die im
Rahmen der Seilstatik wichtigsten Eigenschaften sind
Bei einer Hängebrücke ist die Streckenlast
bezogen auf die x -Richtung konstant cosh2 x − sinh2 x = 1 ,
d
sinh x = cosh x und
Wir setzen in die Differenzialgleichung der Seilkur- dx
ve q(x) = q0 ein, integrieren zweimal unbestimmt und d
cosh x = sinh x .
erhalten für die dx
Beispiel: Berechnung der Kräfte in den Tragseilen der Golden Gate Bridge
Technische Mechanik
. . . mal sehen, ob sie hält. außerhalb der Pylone stammt und erhalten so 56.000 t
als Fahrbahnmasse zwischen den Pylonen. Zusammen
mit der maximalen Nutzlast der Brücke von 553 kg/m
Problemanalyse und Strategie: Die Kräfte und Span-
ergibt sich pro Tragseil eine Streckenlast von
nungen in Tragseilen der Golden Gate Bridge lassen
1 56.000 t t
sich mit den bisher behandelten Zusammenhängen der
m kN
Seilstatik berechnen. Zur richtigen Lösung der Auf- q0 = + 0,553 · 9,81 2 = 217 .
gabe ist es sehr hilfreich, den Koordinatenursprung 2 1280 m m s m
geschickt zu platzieren, sodass die Integrationskon-
stanten einfach berechnet werden können. Damit sind alle Daten zusammengestellt, und wir kön-
nen sie schön übersichtlich in einer Skizze darstellen.
Den Koordinatenursprung legen wir in Brückenmitte
Lösung: auf das Seil.
150 m
y
x
kN
q0 = 435 m
1280 m
Die maximale Seilkraft tritt am höchsten Punkt des Tragseils, 920 mm, können wir die im Seil herrschende
Tragseils auf, also an den beiden Pylonen und beträgt Spannung als Quotient von Kraft und Fläche berech-
Technische Mechanik
nen. Sie beträgt
2
dy
Smax = H0 1 + |
dx x=± 2
l
Smax
σmax = = 492 N/mm2 = 492 MPa .
π R2
= 296.277 kN 1 + (2 · 3,66 · 10−4 · 640)2
Die Streckgrenze der Tragseile beträgt übrigens 1260
= 327.212 kN .
MPa, liegt also mit beruhigendem Abstand über der
Eine ansehnliche Kraft also. Mit dem Durchmesser des von uns ermittelten Spannung.
q0
dy arsinh y = x + C1 ,
H0
ds
y
dx bilden von beiden Seiten den sinh x,
x
q
Abb. 3.24 Ein infinitesimal kleines Stückchen Seil unter Belastung durch sein y = sinh 0 x + C1 ,
Eigengewicht H0
Beispiel: Elbekreuzung 2
Technische Mechanik
. . . die Freileitung mit den höchsten Masten in Europa. der Kettenlinie sowie den Kräften im Stromkabel in-
teressiert. Zur besseren Übersicht zeichnen wir die
folgende Skizze. Diese enthält alle Abmessungen so-
Problemanalyse und Strategie: Bei der Berechnung wie – ganz wichtig – den in einem Abstand von H0 /q0
von Freileitungen darf man den Koordinatenursprung unter dem tiefsten Punkt der Stromleitung (aus Sym-
nicht an einer beliebigen Stelle platzieren, sondern um metriegründen ist das genau in der Mitte) liegenden
genau H0 /q0 unter dem tiefsten Punkt der Leitung. Die Koordinatenursprung.
sich dann ergebende Gleichung lässt sich nicht analy- Ausgangspunkt unserer Berechnung ist, dass das Seil
tisch lösen, muss also numerisch gelöst werden. genau in der Mitte zwischen den Strommasten um
97 m durchhängt:
Lösung: Mit den Gleichungen der Seilstatik wollen wir
die Funktion der Kettenlinie sowie die Größe der Seil- y(600 m) − y(0) = 97 m
kräfte in der „Elbekreuzung 2“ berechnen. Nehmen H q H
wir als Beispiel für eine Berechnung der Kettenlinie die =⇒ 0 cosh 0 · 600 m − 0 = 97 m .
östlich von Stade über die Elbe führenden Hochspan- q0 H0 q0
nungsleitungen der Elbekreuzung 2. Die beiden 1,2 km
entfernt stehenden Tragmasten der Elbekreuzung 2 Dies ist eine transzendente (nicht analytisch lösbare)
gelten mit einer Höhe von jeweils 227 m als die höchs- Gleichung zur Bestimmung von H0 /q0 . Wir lösen sie
ten Freileitungsmasten Europas und als die sechst- deshalb numerisch, z. B. durch planvolles Ausprobie-
höchsten der Welt (die weltweit höchsten stehen mit ren und erhalten als Ergebnis
einer Höhe von 346,5 m an der Jangtse-Freileitungs-
kreuzung in der ostchinesischen Provinz Jiangsu). H0
= 1872 m .
Die große Höhe der Tragmasten der Elbekreuzung 2 q0
ist erforderlich, um der Elbeschifffahrt eine Mindest-
durchfahrtshöhe von 75 m unter den Stromleitungen Nun setzen wir die Gleichung für die Seilkraft an und
zu gewährleisten, die an Traversen in 172 m , 190 m und erhalten für die Stelle der maximalen Seilkraft, d. h. die
208 m Höhe aufgehängt sind. Aufhängepunkte,
Wir betrachten nun die unteren, in 172 m Höhe auf- H0 q
0
gehängten Stromleitungen und sind an der Gleichung S(600 m) = q0 · y(600 m) = q0 · cosh 600 m
q0 H0
600
= q0 · 1872 m cosh = 1969 m · q0 .
1872
75 m Smax 1.969 m ρ A g
σmax = = = 1969 m · ρ · g
Fläche A
H0
q0
y mit der Dichte des Kabelwerkstoffs ρ und der
x
Erdbeschleunigung g folgt. Für Aluminium (ρ =
600 m 600 m
2700 kg/m3 ) ergibt dies eine maximale Spannung von
52 MPa im Stromkabel.
q f = y ( xA ) − y ( 0 ) = cosh xA − 1 ,
H0 0 q0 H0
y (x ) = cosh x .
q0 H0 wobei xA die x-Koordinate der höheren der beiden Auf-
hängepunkte (Masten) ist. Zur Ermittlung der Seilkraft
Antworten zu den Verständnisfragen 79
Technische Mechanik
Als transzendente Gleichung ist die Gleichung der spiel für die Elbekreuzung 2 zu lösenden Gleichung sei
Kettenlinie nicht auf analytischem Wege, sondern nur dies nebenstehend gezeigt:
numerisch lösbar. Wie macht man das am geschicktes-
ten?
H0 H0 q0 H0
In der beruflichen Praxis wird man die Kettenlinie Lösungsversuch q0 [m] q0 cosh H0 · 600 m − q0 − 97 m
mithilfe geeigneter Anwenderprogramme nach der 1 1000 88,47
Unbekannten (im Beispiel der Elbekreuzung 2 der 2 2000 −6,32
Quotient H0 /q0 ) numerisch auflösen. Wenn derartige 3 1500 24,61
Programme nicht zur Verfügung stehen (z. B. in einer 4 1750 6,87
Prüfungssituation), kann die numerische Lösung auch 5 1875 −0,17
nach der Methode von Versuch und Irrtum gesche- 6 1825 2,52
hen. Dafür setzen wir zunächst mit großer Schrittweite 7 1850 1,15
mögliche Lösungen ein. Sobald ein Vorzeichenwechsel 8 1865 0,35
auftritt, tasten wir uns durch Teilen des Intervalls nä- 9 1870 0,085
her an die Lösung heran, bis das Ergebnis schließlich 10 1872 −0,020
mit genügender Genauigkeit eingekreist ist. Am Bei- 11 1871 0,033
leiten wir die Gleichung für y(x) nach x ab und setzen Wie beim Lastfall „Hängebrücke“ tritt die maximale Seil-
y (x) in die Gleichung für S(x) ein. Wir erhalten kraft wieder im höchsten Punkt des Seils auf, also am
höheren der beiden Aufhängepunkte.
q q
0 0
S ( x ) = H0 1 + sinh2 x = H0 cosh x
H0 H0 Weiterführende Literatur
= q0 · y ( x ) .
Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils
Technische Mechanik befindet sich am Ende von Kap. 9.
Antwort 3.1 Beispiele für Streckenlasten sind das Eigen- ein Kräftepaar vom Fahrradrahmen aufgenommen, und
gewicht von Trägern, Schneelasten, o. Ä. Aber auch sehr je größer hierfür der Hebelarm ist, desto kleiner sind die
viele eng beieinanderliegende Punktlasten, wie z. B. Pas- Kräfte.
sagiere in einer vollbesetzten Straßenbahn oder Fahrzeu-
ge im Stau, lassen sich als Streckenlast behandeln.
Antwort 3.3 C1 verschwindet, weil die Ableitung an der
Antwort 3.2 Zum Absetzen des Differenzmoments. Die Stelle x = 0 verschwindet, und C2 verschwindet, weil der
Differenz zwischen Ein- und Ausgangsmoment wird über Funktionswert an der Stelle x = 0 gerade H0 /q0 beträgt.
80 3 Schnittgrößen – die inneren Kräfte und Momente in Trägern
Aufgaben
Technische Mechanik
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
3.1 •
1. Berechnen Sie die Schnittgrößen Q(x) und M(x) in ei- 2m
C
ner durch zwei gleich große Kräfte F belasteten symme-
trischen 4-Punkt-Biegeprobe der Längenabmessungen 2m
45°
li und la . B
2. Zeichnen Sie die Grafen von Q(x) und M(x).
A D
F F
18 kN
2m 1,5m
A li B
x 1. Schneiden Sie den Pkw frei, und berechnen Sie die Seil-
la kraft S, mit der dieser angehoben wird.
2. Mit welcher Kraft lastet die im Punkt C reibungsfrei
Resultat: Bereich I: QI (x) = F, MI (x) = F x, Bereich II: drehbar gelagerte Rolle auf dem Kranausleger?
3. Schneiden Sie den Kranausleger (Träger A–C) frei und
QII (x) = 0, MII (x) = F · la − li
2 , Bereich III: QIII (x) = −F, berechnen Sie die Lagerreaktionen des Kranauslegers.
MIII (x) = F (la − x).
4. Berechnen Sie die Schnittgrößen N (s), Q(s) und M(s)
im Kranausleger.
3.2 • Berechnen Sie die Schnittgrößen in einem
durch sein Eigengewicht G belasteten Kragträger der Län- Anmerkung: Betrachten Sie der Einfachheit halber Ab-
ge l. schleppwagen und Pkw im Stillstand und vernachlässi-
gen Sie dynamische Effekte wie Anfahr- oder Abbrems-
Hinweis: vorgänge. Vernachlässigen Sie auch das Eigengewicht des
Kranauslegers.
l
Resultat:
1. 7,7 kN
2. Mit jeweils 7,7 kN senkrecht nach unten sowie nach
Resultat: N (x) = 0, Q(x) = G 1 − x
l , links unten parallel zum Kranausleger.
M(x) = − 2Gl (l − x)2 . 3. Ax = 5,4 kN, Ay = −2,3 kN, B = 15,4 kN,
4. NI (s) = −2,2 kN, QI (s) = −5,4 kN,
MI (s) = −5,4 kN · s, NII (s) = −13,1 kN,
3.3 •• Auf einer Spritztour mit Papas geliehenem
QII (s) = 5,4 kN, MII (s) = 5,4 kN · (s − 4 m).
Oberklassewagen setzen Sie diesen peinlicherweise vor
einen Baum und müssen den Abschleppdienst rufen. Zu
allem Überfluss bezweifelt der Abschleppwagenfahrer, 3.4 •• Die Tragfläche eines Sportflugzeugs kann
dass sein Kran überhaupt der Belastung des Fahrzeugs vereinfacht als ein gewichtsloser, durch eine konstante
gewachsen ist. Überzeugen Sie ihn, indem Sie die Schnitt- Streckenlast q0 belasteter Balken, der durch ein Festlager
größen N, Q und M im Kran berechnen. Gehen Sie dabei und eine Pendelstütze abgestützt wird, modelliert wer-
wie folgt vor: den.
Aufgaben 81
Technische Mechanik
Strecke neben erfrischend klaren Seen auch mit einer Rei-
he von Umtragestellen aufwartet. Der schweißtreibenden
Tätigkeit und den Semesterferien zum Trotz abstrahieren
Sie aus Ihrem Kanu das folgende mechanische Modell
und begeben sich an die Analyse:
q0
A 45° B
C
1 3
l l
4 4
Resultat:
√ N
qmax = 60 m
1. Lagerreaktionen: Ax = 2 q0 l, Ay = q0 l, B = −2 2q0 l.
II
2. Schnittgrößen:
Bereich I: NI (x ) = −2 q0 l,
QI (x) = q0 (l + x), I III
2
MI (x) = 12 q0 l2 xl + 2 xl
Bereich II: NII (x) = 0, QII (x) = q0 (x − l),
MII (x) = 12 q0 (l − x)2 .
A B
x
3.5 • • • Berechnen Sie die Lagerreaktionen und 0,8 m 3,4 m 0,8 m
Schnittgrößen des abgebildeten Trägers in Abhängigkeit
der Größen qmax und l.
3.7 •• Auf dem Nachhauseweg überfahren Sie ver- 1. Berechnen Sie die Lager- und Gelenkreaktionen.
sehentlich ein Stoppschild. Nun steht es da, das arme 2. Berechnen Sie die Schnittgrößen im waagerechten Trä-
Technische Mechanik
35°
s
400 mm
s
A R
φ
M = 3 kN m kN 1 6 9
qmax = 4
m A 30° B
F = 2 kN 4 kN
1m 3 kN
1m 1m 1m
B
Ay G
1. Überprüfen Sie das Fachwerk auf äußere und innere
x
1m 1m 1m statische Bestimmtheit.
2. Bestimmen Sie die Lagerreaktionen.
Aufgaben 83
Technische Mechanik
4. Bestimmen Sie mit einem weiteren Ritterschnitt die S4 = 2,33 F, S5 = −2,61 F, S6 = 2 F,
Stabkräfte in den Stäben 1 und 3. S7 = 0, S8 = 2 F, S9 = −2,24 F.
5. Schneiden Sie das Lager A frei und bestimmen Sie die
Stabkraft in Stab 2.
3.13 •• Die skizzierte zweiteilige Fachwerkbrücke
Resultat: wird durch fünf senkrechte Kräfte F belastet. Berechnen
Sie die Stabkräfte.
1. Äußere und innere statische Bestimmtheit liegen vor.
2. Ax = −3,5 kN, Ay = 2,7 kN, By = 2,3 kN.
3. S4 = −2,7 kN, S5 = 0,4 kN, S6 = 5,9 kN. F F F F F
4. S1 = 6,2 kN, S3 = 2,7 kN.
4 6
5. S2 = −3,8 kN.
3 5 G
a
3.11 • Berechnen Sie die Lagerreaktionen und Stab- 7
kräfte des skizzierten Fachwerkträgers. 1
1m 1m a 2
4 kN 4 kN A A
4 8
A a a a a
32°
3 5 7 9 0,8 m
1
Resultat: Ax = F, Ay = 2,5 F, Bx = −F, By = 2,5 F,
Gx = −F, Gy = 0.
B
2 6 S1 = −1,5 F, S2 = −1,41 F, S3 = 0,71 F,
S4 = −0,5 F, S5 = −F, S6 = −0,5 F, S7 = −0,71 F.
0,5 m 1m
5 x
7 F 1m
2m 4 q0,zul = ? 8 m
9
3
Technische Mechanik
und Materialgesetz – wenn
Werkstoffe versagen
Was ist ein
Spannungstensor?
Wie dreht man ein
Koordinatensystem?
Wie beschreibt man
elastische Verformung?
4.1 Spannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
4.2 Verzerrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
4.3 Das Materialgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
τ
4.1 Spannungen
Eine zentrale Größe der Festigkeitslehre ist die Span- Abb. 4.2 Normalspannungen σ kann man erzeugen, indem man an einem
nung. Diese ist – bildlich gesprochen – ein Maß für die Stab zieht (oben ). Schubspannungen τ entstehen in einem Körper, indem man
Dichte des Kraftflusses im Bauteil. Je größer die pro Quer- z. B. einen Streifen Klebefilm auf diesen klebt und am Klebefilm zieht (unten )
schnittsfläche übertragenen inneren Kräfte sind, desto
größer sind die Spannungen. Spannungen sind entschei-
dend dafür, ob ein Bauteil seinen Betriebslasten standhält und aus dem Tangentialanteil ΔT die mit dem griechi-
oder unter diesen versagt. Nur wenn die im Bauteil herr- schen Buchstaben τ (tau) bezeichnete Schubspannung
schenden Spannungen mit genügender Sicherheit unter
der einschlägigen Festigkeit des Werkstoffs liegen (z. B. ΔT
Streckgrenze, Zugfestigkeit oder Dauerfestigkeit), kann τ= .
ΔA
eine sichere Funktion des Bauteils gewährleistet sein. Die
Spannungsberechnung ist somit ein ganz entscheidender Spannungen haben Einheiten von Kraft pro Fläche. Am
Bestandteil der Bauteilauslegung. gebräuchlichsten ist die Angabe in Pascal (Pa) oder Me-
gapascal (MPa). Es gelten die Zusammenhänge 1 Pa =
Im vorliegenden Kapitel wollen wir uns mit einigen
grundlegenden Eigenschaften von Spannungen beschäfti- 1 N/m2 bzw. 1 MPa = 1 N/mm2 .
gen. Im Anschluss daran folgt für die wichtigsten Grund- Da viele Werkstoffe unterschiedlich auf Normal- und
beanspruchungsfälle dann in Kap. 5 die konkrete Berech- Schubspannungen reagieren – duktile Metalle und die
nung der jeweiligen Spannungen. meisten Kunststoffe z. B. empfindlich auf Schubspannun-
gen, Keramiken empfindlich auf Normalspannungen –,
ist es wichtig, diese sauber voneinander unterscheiden zu
Je nach Kraftrichtung unterscheidet man können. Zwei Methoden bieten sich hierfür an:
zwischen Normal- und Schubspannungen Eine Möglichkeit ist die Unterscheidung anhand der
Kraftrichtung. Wirkt eine Kraft senkrecht zur Schnittflä-
che, wie z. B. in einem Zug- oder Druckstab, so besteht
Legen wir durch einen belasteten Körper einen Frei-
die Schnittkraft ΔF allein aus der Normalkomponente
schnitt, dann wirkt auf jedem kleinen Flächenelement ΔA
ΔN, und es wirken auf dieser Schnittfläche ausschließ-
eine kleine Schnittkraft ΔF, die sich in einen Kraftan-
lich Normalspannungen. „Schrappt“ die Kraft dagegen
teil ΔN senkrecht (normal) zur Schnittfläche und einen
tangential an der Schnittfläche entlang, wie das beispiels-
Kraftanteil ΔT entlang der (tangential zur) Schnittfläche
weise der Fall ist, wenn man einen Streifen Klebefilm auf
zerlegen lässt (Abb. 4.1).
die Schnittfläche klebt und an diesem zieht, so herrschen
Aus dem Normalanteil ΔN ergibt sich die mit dem grie- Schubspannungen (Abb. 4.2).
chischen Buchstaben σ (sigma) bezeichnete Normalspan-
nung Die andere, anschaulichere Möglichkeit zur Unterschei-
dung zwischen Normal- und Schubspannungen beruht
ΔN auf den von den Spannungen hervorgerufenen Verfor-
σ=
ΔA mungen. Stellen wir uns hierfür einen Körper aus ei-
4.1 Spannungen 87
σ σy
σy
Technische Mechanik
τ τyx τyx
τ τyz
τxy τxy
τzy σx σx
y σx
τzx τxz τxy
x σz y
τ z τyx
τ x
a b σy
σ
a b c Abb. 4.4 Darstellung der Spannungen in einem Lageplan; a dreidimensionaler,
b zweidimensionaler Lageplan
Abb. 4.3 Wenn wir uns auf einen Körper ein kleines quadratisches Gitter auf-
gezeichnet denken, dann wird es unter Belastung zu einem Parallelogramm
verformt. Dabei bewirken Normalspannungen (b) eine Längenänderung der Git- Bei der Pfeilrichtung gilt die Konvention, dass positive
terkanten und die Schubspannungen (c) eine Änderung der rechten Winkel
Spannungen an den positiven Schnittufern in die positive
und an den negativen Schnittufern in die negative Koor-
dinatenrichtung zeigen. Bei negativen Spannungen ist die
nem isotropen Werkstoff vor, auf den ein kleines qua- Pfeilrichtung jeweils umzudrehen.
dratisches Gitter eingezeichnet ist. Normalspannungen
dehnen oder stauchen den Körper, ändern aber nicht
die Winkel des aufgezeichneten Gitters. Bei Beanspru-
chung durch Schubspannungen ändern sich dagegen nur Im Spannungstensor sind alle Spannungen
die Winkel im Körper, während die Längenabmessungen zusammengefasst
gleich bleiben (Abb. 4.3).
Wie viele und welche Normal- und Schubspannungen Die neun Spannungen werden im sogenannten Span-
kann es denn in einem beliebig beanspruchten Körper ge- nungstensor S zusammengefasst. Er lässt sich als Matrix
ben? schreiben:
⎛ ⎞
σx τxy τxz
Normalspannungen: Kräfte können in alle drei Raum- S = ⎝τyx σy τyz ⎠
richtungen wirken, und wir erhalten für jede Richtung τzx τzy σz xyz
eine Normalspannung, σx , σy , und σz .
Schubspannungen: Wollen wir eine Schubspannung Die Bezeichnung Spannungstensor besagt, dass die
vollständig definieren, so müssen wir erstens die Flä- Normal- und Schubspannungen den mathematischen Ge-
che, auf der sie wirkt, und zweitens die Richtung, in die setzmäßigkeiten der Tensorrechnung folgen, insbesonde-
sie wirkt, angeben. Schubspannungen erhalten deswe- re bei einer Drehung des Koordinatensystems. Wir wer-
gen zwei Indizes: Der erste steht für die Richtung der den uns diesem Thema in ein paar Seiten widmen.
Flächennormalen, der zweite für die Kraftrichtung (die Es macht Sinn, zum Spannungstensor stets das Koordi-
„Richtung des Spannungspfeils“). Da Flächennormale natensystem als tiefgestellte Indizes anzugeben, da sich,
und Kraftrichtung bei Schubspannungen nicht über- wie wir sehen werden, die Komponenten des Spannungs-
einstimmen (das tun sie nur bei Normalspannungen), tensors bei einer Drehung des Koordinatensystems verän-
gibt es insgesamt sechs Schubspannungen, τxy , τxz , τyx , dern.
τyz , τzx und τzy .
Zunächst aber zu einer wichtigen Eigenschaft des Span-
nungstensors, seiner Symmetrie. Betrachten wir hierzu
Um darzustellen, auf welchen Flächen und in welche ein kleines quaderförmiges Volumenelement der Kanten-
Richtungen diese neun Spannungen wirken, kann man längen Δx, Δy und Δz, auf dessen Stirnflächen die entspre-
sie in einen Lageplan einzeichnen. Im Dreidimensionalen chenden Spannungskomponenten wirken (Abb. 4.5).
entspricht dieser Lageplan einem kleinen Würfel, auf des- Für das Momentengleichgewicht um den Koordinatenur-
sen Flächen die Spannungen angreifen (Abb. 4.4a), wobei sprung multiplizieren wir die Spannungen zunächst mit
man sich auf den drei verdeckten Würfelflächen dieselben der Fläche, auf die sie jeweils wirken – z. B. τxy mit ΔyΔz –,
Spannungen wie auf den jeweils gegenüberliegenden Flä- und dann mit dem Hebelarm. Wir erhalten
chen, nur mit umgekehrter Pfeilrichtung, vorstellen muss.
Δx Δy
∑ Mi
(Koo.urspr.)
Beschränken wir uns auf zwei Dimensionen, erhalten wir = 2τxy ΔyΔz · − 2τyx ΔxΔz · =0
ein Quadrat (Abb. 4.4b), auf dessen Kanten die jeweiligen 2 2
Normal- und Schubspannungen angreifen. =⇒ τxy = τyx .
88 4 Spannungen, Verzerrungen und Materialgesetz – wenn Werkstoffe versagen
τxy = τyx , τxz = τzx und τyz = τzy . darstellen. Dieser als ebener Spannungszustand (Abkür-
zung ESZ) bezeichnete Spannungszustand ist technisch
sehr wichtig, da er nicht nur an allen freien Oberflä-
Aufgrund der Symmetrie besteht der Spannungstensor chen auftritt, sondern in sehr guter Näherung auch in
also nur aus sechs voneinander unabhängigen Kompo- allen dünnwandigen Bauteilen wie Blechen, Brettern und
nenten, dergleichen, bei denen zwei freie Oberflächen sehr nahe
beieinanderliegen.
⎛ ⎞
σx τxy τxz Weil der ESZ derart wichtig ist – und auch weil er ein gu-
S=⎝ σy τyz ⎠ . tes Stück einfacher als der räumliche Spannungszustand
symm. σz xyz zu behandeln ist –, befassen wir uns im Rest dieses Kapi-
tels ausschließlich mit dem ESZ.
und
Technische Mechanik
φ τ ξη ∑ Fiy = σξ sin ϕΔA + τξη cos ϕΔA
σξ
− σy ΔA sin ϕ − τxy ΔA cos ϕ = 0.
σx
∆Acosφ
∆A
Das sind zwei Gleichungen für die zwei Unbekannten
σξ und τξη . Die dritte Komponente des gedrehten Span-
nungstensors, ση , würden wir an einem Keil der Seiten-
τ xy
flächen x, y und η in gleicher Vorgehensweise ermitteln
∆A sinφ
können.
1 1
σξ = σx + σy + σx − σy cos 2ϕ + τxy sin 2ϕ,
Drehung des Koordinatensystems 2 2
1 1
Wenn das Koordinatensystem eines Spannungsten- ση = σx + σy − σx − σy cos 2ϕ − τxy sin 2ϕ
2 2
sors gedreht wird, bedeutet das, dass ein und der-
und
selbe Spannungszustand bezüglich einer anderen
(gedrehten) Betrachtungsrichtung beschrieben wird. 1
τξη = − σx − σy sin 2ϕ + τxy cos 2ϕ.
2
die um 15°, 30°, 45°, 60° und 75° gegen den Uhrzeiger- 50 ungedreht
sinn gedrehten Spannungstensoren zu ermitteln, und
sodann
für jeden der sechs Spannungstensoren die beiden φ = 15°
Punkte (σx | − τxy ) und (σy |τxy ) – bzw. (σξ | − τξη ) und
(ση |τξη ) im Falle der gedrehten Koordinatensysteme – σ in MPa
in einen sogenannten Spannungsplan einzutragen (ei- 50 100
ne Grafik, bei der die Normalspannungen σ auf der φ = 30°
Abszisse („x-Achse“) und die Schubspannungen τ auf
der Ordinate („y-Achse“) aufgetragen werden), und φ = 45°
schließlich
die beiden Punkte eines jeden Spannungstensors je- –50 φ = 60° φ = 75°
weils zu verbinden.
Für die fünf Koordinatendrehungen erhalten wir nach et- Abb. 4.8 Bildet man aus den Spannungstensoren in den verschiedenen ge-
drehten Koordinatensystemen Punkte nach der Vorschrift ( σξ | − τξη ) und
was Rechnerei (ση |τξη ), so liegen diese auf einem Kreis
14 −20
S= MPa,
−20 106 ϕ=15◦
nachzuvollziehen. Der Mohr’sche Spannungskreis kann
10 6
S= MPa, vielmehr als eigenständige Methode zur Ermittlung von
6 110 ϕ=30◦
Spannungstensoren in gedrehten Koordinatensystemen
20 30 eingesetzt werden. Das geht dann wie folgt:
S= MPa,
30 100 ϕ=45◦
Vorgehensweise beim Mohr’schen Spannungskreis
40 46
S= MPa und
46 80 ϕ=60◦ Tragen Sie die Punkte (σx |−τxy ) und (σy |τxy ) in
den Spannungsplan ein.
66 50
S= MPa. Schlagen Sie um die beiden eingezeichneten
50 54 ϕ=75◦
Punkte den Mohr’schen Spannungskreis. Dabei
Aus den Spannungstensoren im ungedrehten und in liegt der Mittelpunkt des Spannungskreises stets
den fünf gedrehten Koordinatensystemen sind insgesamt auf der σ-Achse zwischen den beiden eingezeich-
zwölf Punkte zu bilden und in den Spannungsplan einzu- neten Punkten.
tragen. Für das ungedrehte Koordinatensystem z. B. die Eine Drehung des Koordinatensystems um
Punkte (30|40) und (90| − 40). den Winkel ϕ entspricht einer Drehung im
Mohr’schen Spannungskreis um 2ϕ.
Abbildung 4.8 zeigt alle zwölf in den Spannungsplan Lesen Sie die Koordinaten des gedrehten Span-
eingetragenen Punkte mit den dazugehörigen Verbin- nungstensors aus dem gedrehten Kreisdurchmes-
dungslinien. Zur besseren Übersicht ist dabei vermerkt, ser ab.
auf welchen Spannungstensor sich die jeweilige Verbin-
dungslinie bezieht (ob ungedreht oder um welchen Win-
kel gedreht). Wir sehen – und genau das war die Entde- Mit dem Mohr’schen Spannungskreis lassen sich aber
ckung des Herrn Mohr – dass nicht nur gedrehte Spannungstensoren bestimmen; auch
eine ganze Reihe von sehr wichtigen Eigenschaften des
alle Punkte auf einem Kreis liegen, Spannungstensors wird am Mohr’schen Spannungskreis
sich die beiden Punkte eines Spannungstensors jeweils deutlich. Hierzu zeigt Abb. 4.9 noch einmal ganz allge-
genau gegenüberliegen, die Verbindungslinie der bei- mein einen Mohr’schen Spannungskreis.
den Punkte eines Spannungstensors also stets durch
den Kreismittelpunkt verläuft und Wenn sich die Normal- und Schubspannungen bei einer
die einzelnen Verbindungslinien um genau den dop- Drehung des Koordinatensystems ändern, dann vermö-
pelten Winkel (30° statt 15°) zueinander gedreht gen sie dies nur in ganz bestimmten Grenzen. Es gibt
sind. Extremwerte, die von den Spannungen, wie auch im-
mer man das Koordinatensystem drehen mag, nicht über-
bzw. unterschritten werden können. Diese Extremwerte
Natürlich ist es nicht Sinn und Zweck des Mohr’schen sind die größtmögliche Normalspannung σ1 , die kleinst-
Spannungskreises, bereits errechnete Resultate grafisch mögliche Normalspannung σ2 und die größtmögliche
4.2 Verzerrungen 91
Technische Mechanik
τ max
(σ x|– τ xy) dy′
β
dy
2φ (σ ξ |–τξ η ) α
σ y
σ2 M σ1
dx dx′
(σ η | τ ξ η ) x
Beispiel reiner Schub Ein wichtiger Sonderfall des ESZ Beispiel hydrostatischer Spannungszustand Der hydro-
ist der reine Schub, der beispielsweise in einem auf statische Spannungszustand ist durch in alle drei Ko-
Torsion belasteten Stab auftritt. Reiner Schub ist durch ordinatenrichtungen identische Hauptspannungen ge-
das Vorliegen einer Schubspannung τxy bei verschwin- kennzeichnet. Der Mohr’sche Spannungskreis entartet
denden Normalspannungen gekennzeichnet. dabei zu einem Punkt, welcher für hydrostatischen
Druck links der τ-Achse und für hydrostatischen Zug
rechts der τ-Achse liegt.
4.2 Verzerrungen 93
Technische Mechanik
σ bel.
σ
τ
σφ
τ max =
2
y
Merkregel für die Definition der Dehnung x
η
Δl
ε=
l
ξ
So sind die Dehnungen in x-, y- und z-Richtung in der Abb. 4.11 Die Abhängigkeit der Verzerrungen vom Koordinatensystem kann
man sich durch zwei verschieden ausgerichtete quadratische Gitter veranschau-
obigen Abbildung definiert als
lichen
dx − dx dy − dy
εx = und εy = ,
dx dy
sich mit folgendem Gedankenexperiment leicht klarma-
und für die z-Koordinate gilt entsprechend chen kann: Betrachten wir einen Stab unter Zugbelastung.
Durch die angreifende Zugkraft F dehnt sich der Stab,
dz − dz und durch die Querkontraktion (siehe Abschnitt Das Ma-
εz = .
dz terialgesetz) verjüngt er sich. Welche Verzerrungen liegen
im x, y-Koordinatensystem vor? Hierzu zeichnen wir ein
Aber in obiger Abbildung haben sich nicht nur die Län- am x, y-Koordinatensystem ausgerichtetes Gitter auf den
gen geändert. Auch die Orientierung der Rechteckkanten, Stab. Unter Belastung werden die Kanten in x-Richtung
die unverformt parallel zur x- und y-Achse verliefen, hat länger, es verkürzen sich die Kanten in y-Richtung, und
sich um die Winkel α und β zur jeweiligen Koordina- die rechten Winkel des Gitters bleiben erhalten. Es liegen
tenachse geneigt. Diese Winkeländerungen werden als somit eine positive Dehnung ε x und eine negative Deh-
Gleitungen γ bezeichnet. In der x, y-Ebene entspricht die nung ε y vor, die Gleitung γxy ist null.
Gleitung der Summe aus α und β,
Ein um 45° gedrehtes ξ, η-Koordinatensystem bedeutet
γxy = α + β. nichts anderes, als dass auf den Stab ein um 45° geneigtes
Gitter einzuzeichnen ist. In dieser Orientierung werden
Die Gleitungen in der x, z- bzw. y, z-Ebene werden mit
nun bei Belastung die Kanten sowohl in ξ-, als auch in η-
γxz bzw. γyz bezeichnet. Der sowohl Dehnungen als auch
Richtung länger – und zwar in gleichem Maße – und auch
Gleitungen umfassende Oberbegriff lautet Verzerrungen.
die vormals rechten Winkel ändern sich. Es liegen somit
Die Zahlenwerte von Dehnungen und Gleitungen hän- zwei gleich große Dehnungen ε ξ und ε η sowie eine von
gen von der Wahl des Koordinatensystems ab, wie man null verschiedene Gleitung γξη vor.
94 4 Spannungen, Verzerrungen und Materialgesetz – wenn Werkstoffe versagen
Ähnlich wie es beim Spannungstensor den ebenen Span- εx + εy ε − ε 2 1 2
x y
nungszustand gibt, gibt es beim Verzerrungstensor einen ε1 = + + γxy und
2 2 2
ebenen Verzerrungszustand (EVZ). Dieser herrscht im-
εx + εy ε − ε 2 1 2
mer dann, wenn in eine Koordinatenrichtung alle Verzer- ε2 = −
x y
+ γxy .
rungen verschwinden. Ist dies die z-Richtung, so verein- 2 2 2
facht sich der Verzerrungstensor zu
ε 2 γxy
1
V= 1 x . Man kann zeigen, dass die Hauptachsen von Spannungs-
2 γyx ε y xy und Verzerrungstensor in isotropen Materialien (Materia-
4.3 Das Materialgesetz 95
Technische Mechanik
Wie beim Spannungstensor entspricht eine Drehung um
den Winkel ϕ am Bauteil einer Drehung um den doppel- Re
ten Winkel im Mohr’schen Verzerrungskreis. Zwischen
dem Koordinatensystem der größten Dehnungen und
demjenigen der größtmöglichen Gleitung liegt wieder ein
45° Winkel (90° im Mohr’schen Verzerrungskreis).
Noch eine Schlussbemerkung zum ebenen Spannungs- ε
und ebenen Verzerrungszustand: Herrscht der ESZ an
Abb. 4.13 Schematisches σ-ε-Diagramm eines Baustahls. Bis zur Streckgrenze
freien Oberflächen und in dünnwandigen Bauteilen, so ist
Re verhält sich der Werkstoff linear-elastisch
es beim EVZ gerade umgekehrt: Er liegt gerade dann vor,
wenn die Verformung in eine der Koordinatenrichtungen
unterbunden ist, und das ist bei eingezwängten Oberflä-
chen oder sehr dicken Strukturen der Fall.
Wird z. B. ein Dichtungsband zwischen Fenster und Fens-
Abb. 4.14 Zugversuch
terrahmen eingequetscht, so wird es platt und breit ge-
drückt, es dehnt sich also in x- und y-Richtung, aber seine
Länge ändert sich nicht (keine Dehnung in z-Richtung).
Des Weiteren betrachten wir ausschließlich isotrope Ma-
terialien. Dies sind Materialien, deren Eigenschaften in
alle Richtungen gleich sind. Das Gegenteil von Isotropie
4.3 Das Materialgesetz ist Anisotropie. Anisotrope Materialien haben in unter-
schiedliche Materialrichtungen unterschiedliche Eigen-
schaften, wie z. B. Holz, das in Faserrichtung wesentlich
Unter Belastung entstehen in einem Körper Spannungen steifer und fester ist als quer zur Faser.
und Verzerrungen. Der Zusammenhang zwischen ihnen
hängt vom Werkstoff ab. Ein steifer Werkstoff wie z. B. Der wichtigste Versuch zur Ermittlung des Materialgeset-
Stahl verformt sich unter jeweils gleicher Last weit schwä- zes ist der Zugversuch (Abb. 4.14).
cher als ein nachgiebiger Werkstoff wie z. B. Schaumstoff. In ihm wird eine Zugprobe in einer Werkstoffprüfma-
Man bezeichnet den Zusammenhang zwischen Spannun- schine mit in der Regel konstanter Dehnrate bis zum
gen und Verzerrungen daher als Material- oder Stoffge- Probenbruch gedehnt. Die Prüfmaschine misst fortlau-
setz. Die Ermittlung von Materialgesetzen ist zunächst fend Kraft und Probenverlängerung und rechnet diese
einmal Aufgabe der Werkstoffprüfung; wir beschäftigen Werte in Spannungen und Dehnungen um. Im linear-
uns hier damit, welche mechanischen Gesetzmäßigkeiten elastischen Bereich lautet der Zusammenhang zwischen
aus den einschlägigen Versuchen der Werkstoffprüfung Spannung und Dehnung
abgeleitet werden können und wie man diese Gesetzmä-
ßigkeiten anwendet (siehe auch Abschn. 15.6). σx = E ε x
Tab. 4.1 Übersicht über die Elastizitätsmoduln einiger gebräuchlicher Kon- rung verformen, wofür der Zusammenhang
struktionswerkstoffe
Technische Mechanik
εx = σx − ν (σy + σz ) + αΔT,
E
1
τ xy
εy = σy − ν (σx + σz ) + αΔT,
E
γ xy 1
εz = σz − ν (σx + σy ) + αΔT,
τ xy E
τxy τxz τyz
γxy = , γxz = und γyz = .
τ xy G G G
E ν
E
σx = εx + (ε x + ε y + ε z ) − αΔT,
Die Querkontraktionszahl ν ist in den meisten isotro- 1+ν 1 − 2ν 1 − 2ν
pen Werkstoffen ähnlich groß. E ν
E
σy = εy + (ε x + ε y + ε z ) − αΔT,
Für die meisten Konstruktionswerkstoffe liegt ν bei 1+ν 1 − 2ν 1 − 2ν
etwa 0,3. E ν
E
σz = εz + (ε x + ε y + ε z ) − αΔT,
1+ν 1 − 2ν 1 − 2ν
Wenn ein Werkstoff ausschließlich durch Schubspannun- τxy = Gγxy , τxz = Gγxz und τyz = Gγyz .
gen beansprucht wird, wie es beispielsweise bei reiner
Torsion der Fall ist, kann man den Zusammenhang zwi-
schen Schubspannungen und Gleitungen experimentell
ermitteln (Abb. 4.15). Auch hier existiert für nicht zu
große Werkstoffbeanspruchungen ein linear-elastischer
Zusammenhang zwischen der Schubspannung τ und der Im ebenen Spannungszustand gelten
durch sie verursachten Gleitung γ. Er lautet handlichere Formeln für das Hooke’sche Gesetz
τxy = G γxy
Die Gleichungen des allgemeinen Hooke’schen Gesetzes
mit dem Schubmodul G. Wie der Elastizitätsmodul E hat
gelten für allgemeine dreiachsige Spannungszustände.
auch G die Einheit einer Spannung.
Für ebene Spannungszustände vereinfachen sich diese
Schließlich kann sich ein Körper nicht nur als Folge von Gleichungen ein wenig. Wir setzen σz , τxz und τyz gleich
Spannungen, sondern auch durch eine Temperaturände- null und erhalten das
4.3 Das Materialgesetz 97
a ·γ xy σ 2 = –τ xy σ 1 = τ xy
τ xy
Technische Mechanik
a τ xy a d
τ xy γ xy
y a
x τ
xy η ξ
σ 1 = τ xy σ 2 = –τ xy
Abb. 4.16 Verformung eines Flächenelements unter Schub 45°
E E
σx = ε x + νε y − αΔT, Frage 4.1
1 − ν2 1−ν
E E Machen Sie sich am Mohr’schen Spannungskreis klar,
σy = ε y + νε x − αΔT, dass die beiden Spannungszustände tatsächlich identisch
1−ν 2 1−ν
sind.
und τxy = Gγxy .
1
τxy
Zwischen E , G und ν besteht ein einfacher εξ = τxy − ν (−τxy ) = (1 + ν ) .
E E
mathematischer Zusammenhang
Wir setzen beide Dehnungen gleich und erhalten so den
Bei den drei Materialparametern E, G und ν handelt es gesuchten
sich nicht um voneinander unabhängige Größen. Betrach-
ten wir, um den Zusammenhang zwischen diesen drei
Größen herzuleiten, noch einmal ein durch Schub belaste- Zusammenhang zwischen E , G und ν
tes kleines Quadrat (in (Abb. 4.16) mit der Kantenlänge a).
E
Infolge der Schubbelastung gleitet das Material um den G= .
Winkel γxy , und die rechte obere Ecke verschiebt sich ho- 2 (1 + ν )
rizontal um den Betrag a · γxy . Dadurch verlängert sich die
98 4 Spannungen, Verzerrungen und Materialgesetz – wenn Werkstoffe versagen
Spannungen lassen sich an belasteten Bauteilen nicht Der DMS (b) ist um jeweils 45° zu den DMS a und
unmittelbar messen. Aber man kann an der Oberfläche c gedreht, sodass der zu ε b gehörende Punkt (b) des
eines Bauteils die Dehnungen messen und dann aus Mohr’schen Verzerrungskreises auf einem um 90°
den Dehnungen die Spannungen errechnen. zur Linie (a) − (c) verlaufenden Kreisdurchmesser
liegt.
Problemlösung und Strategie: Aus den gemessenen
Dehnungen ermitteln wir mithilfe des Mohr’schen Ver- Damit können wir den Mohr’schen Spannungskreis ei-
zerrungskreises die Hauptdehnungen, aus welchen ner DMS-Rosette wie folgt zeichnen:
wir dann mit dem Hooke’schen Gesetz für den ebenen
Spannungszustand die Hauptspannungen bestimmen. 1γ
2 (b)
Ω
45° Damit haben wir die uns bislang für die gewohn-
te Konstruktion des Mohr’schen Verzerrungskreises
(a) fehlende Gleitung und können nun den Mohr’schen
Trägerfolie Draht Verzerrungskreis zeichnen, die Hauptdehnungen be-
stimmen und diese in Hauptspannungen umrechnen.
Übliche Bauformen von DMS sind einachsige DMS
(links), mit denen die Dehnung in eine bestimmte Rich- Beispiel An einem Bauteil aus Stahl (E = 205 GPa,
tung gemessen werden kann, sowie aus drei DMS ν = 0,3) werden mit einer DMS-Rosette die Dehnun-
bestehende Rosetten (rechts). Wir betrachten im Fol- gen ε a = 0,8424 · 10−3, ε b = 0,255 · 10−3 und ε c =
genden eine Rosette mit zwei 45° Winkeln zwischen 0,0976 · 10−3 gemessen.
den drei DMS. Die Ermittlung des Mohr’schen Ver-
zerrungskreises ist ein wenig verzwickt, weil mit einer Wie groß sind die Hauptspannungen, und in welche
DMS-Rosette nicht zwei Dehnungen und eine Glei- Richtung sind sie orientiert?
tung gemessen werden, wie es unserem Schema zu
den Mohr’schen Kreisen entspricht, sondern drei Deh- Zunächst beschaffen wir uns den Mittelpunkt des
nungen. Aber auch das geht. Entscheidend ist das Mohr’schen Kreises. Dieser liegt bei
Verständnis dafür, wie die drei Dehnungen im Verzer-
1
rungskreis zueinander liegen. εM = (ε a + ε c )
2
Die DMS (a) und (c), die am Bauteil rechtwinklig 1
zueinanderliegen, liegen sich im Mohr’schen Ver- = (0, 8424 · 10−3 + 0, 0976 · 10−3 )
2
zerrungskreis genau gegenüber. Der Mittelpunkt
des Verzerrungskreises liegt bei 1/2(ε a + ε c ). = 0, 47 · 10−3.
Antworten zu den Verständnisfragen 99
Die zum Zeichnen des Mohr’schen Verzerrungskreises Mit dem Hooke’schen Gesetz für den ESZ errechnen
fehlende Gleitung γac berechnen wir nun nach wir für die Hauptspannungen schließlich
Technische Mechanik
γac
= εb − εM E
2 σ1 = ε 1 + νε 2
1 − ν2
= 0, 255 · 10−3 − 0, 47 · 10−3
205.000 MPa −4 −5
= −0, 215 · 10−3 . = 9 · 10 + 0, 3 · 4 · 10
1 − 0, 32
Nun können wir den Mohr’schen Verzerrungskreis = 205 MPa und
zeichnen und aus diesem die Hauptdehnungen ε 1 = E
0,9 und ε 2 = 0,04 ablesen. σ2 = ε 2 + νε 1
1 − ν2
205.000 MPa −5 −4
1 γ in ‰ = 4 · 10 + 0, 3 · 9 · 10
2 1 − 0, 32
0,4 = 70 MPa
0,3
0,2 Im Mohr’schen Verzerrungskreis lesen wir zudem ab,
0,1 εc εb εM εa ε2
dass diese Hauptspannungen in einem Koordinaten-
0 ε in ‰ system auftreten, das um den Winkel α = 15◦ zu den
ε 1 0,2
–0,1 0,4 0,6 0,8 1 DMS (a) und (c) gedreht ist.
–0,2
–0,3
–0,4
Weiterführende Literatur
Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils
Technische Mechanik befindet sich am Ende von Kap. 9.
Antwort 4.1 Der Mohr’sche Spannungskreis hat seinen Hauptspannungen und Hauptschubspannung sind daher
Mittelpunkt im Koordinatenursprung. Die Beträge von gleich groß.
100 4 Spannungen, Verzerrungen und Materialgesetz – wenn Werkstoffe versagen
Technische Mechanik
Aufgaben
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
45°
y
x y
F2 = 12 kN z F2 = 12 kN
x
Analysieren Sie die Spannungsverhältnisse in einer sol-
chen Zugprobe des Querschnitts 20 mm2 , die unter einer
Zugkraft von F = 8 kN gebrochen ist, in den folgenden
Schritten: F1 = 32 kN
1. Schneiden Sie ein Stück der Zugprobe frei und tra- 1. Welche Art von Spannungszustand liegt vor?
gen Sie die angreifenden Spannungen in einen x, y- 2. Wie lautet der Spannungstensor im x, y-Koordinaten-
Lageplan ein. system?
2. Wie lautet der Spannungstensor? 3. Tragen Sie die vorliegenden Spannungskomponen-
3. Zeichnen Sie den Mohr’schen Spannungskreis. ten in einen Lageplan ein und zeichnen Sie den
4. In welchem Winkel treten die Hauptschubspannun- Mohr’schen Spannungskreis.
gen τmax auf und wie groß sind sie? Zeichnen Sie für 4. Um welchen Winkel ist das Koordinatensystem zu
das 1∗ , 2∗ -Hauptschubspannungssystem einen entspre- drehen, damit die größtmöglichen Schubspannungen
chend gedrehten Lageplan und tragen Sie in diesen alle auftreten?
auftretenden Spannungen ein. 5. Wie lautet der Spannungstensor im 1∗ , 2∗ -Hauptschub-
5. Was ist aus werkstoffkundlicher Sicht der Grund für spannungssystem?
die um 45° geneigte Bruchfläche? 6. Tragen Sie Komponenten des in das Hauptschubspan-
nungssystem gedrehten Spannungstensors in einen
Resultat: Die Hauptschubspannungen betragen τmax = entsprechend gedrehten Lageplan ein.
200 MPa.
Resultat: σx = −30 MPa, σy = 80 MPa, τxy = 0 MPa.
4.2 • Auf der freien Oberfläche eines Bauteils herr-
Zwischen dem x, y-Koordinatensystem und dem Haupt-
schen die Spannungen σx = 60 MPa, σy = −45 MPa und
schubspannungssystem liegt ein Winkel von 45°.
τxy = 50 MPa.
σ1∗ = σ2∗ = 25 MPa, τmax = 55 MPa.
1. Tragen Sie die Spannungen in einen Lageplan ein.
2. Zeichnen Sie den Mohr’schen Spannungskreis. 4.4 • Im Kampf gegen die Langeweile sitzen Sie in
3. Wie groß sind die Hauptspannungen σ1 und σ2 sowie der letzten Reihe des Hörsaals und zerren an einem Blatt
die Hauptschubspannung τmax ? karierten Papiers. Dabei verformt sich das Blatt wie folgt:
4. Welcher Winkel liegt zwischen dem x, y-Koordinaten-
system und den Hauptachsensystem? Unverformter Zustand: quadratisches Karomuster mit
Linienabständen von jeweils 5 mm.
Resultat: σ1 = 80 MPa, σ2 = −65 MPa, Verformter Zustand: siehe folgende, nichtmaßstäbliche
τmax = 72,5 MPa, ϕ = 22◦ . Skizze:
Aufgaben 101
Technische Mechanik
Hinweis: Rechnen Sie in Aufgabenteil 1 mit einer Erdbe-
schleunigung von 9,81 m
s2
und einer Dichte von 1,02 mt 3
γ = 4°
Resultat:
5,3 mm
y 1. σx = σy = σz = −110,4 MPa.
3. Stahl: ε x = ε y = ε z = −0,215 ‰.
x 4,8 mm Alu: ε x = ε y = ε z = −0,631 ‰.
PVC ε x = ε y = ε z = 0.
1. Wie lautet der Verzerrungstensor in der x, y-Ebene? 4. ΔVStahl = −0,081 cm3 , ΔVAlu = −0,237 cm3 , ΔVPVC =
2. Zeichnen Sie die vorliegenden Verzerrungen in einen 0 cm3 .
Lageplan ein.
3. Zeichnen Sie den Mohr’schen Verzerrungskreis. 4.8 •• Eine quadratische dünne Stahlstange der
4. Wie groß sind die Hauptdehnungen ε 1 und ε 2 ? Zeich- Länge l = 1 m (Materialdaten: E = 205 MPa, ν = 0,3, α =
nen Sie die im Hauptachsensystem herrschenden Deh- 10−5 K−1 ) wird zwischen zwei starren Betonwänden ein-
nungen in einen entsprechend gedehnten Lageplan ein. gemauert. Nach der Montage erwärmt sich die Stahlstan-
ge um ΔT = 40 K.
Resultat: ε x = −4 %, ε y = 6 %, ε xy = 3,5 %, ε 1 = 7,1 %,
ε 2 = −5,1 %.
4.5 • Leiten Sie eine für die meisten gängigen Kon- l=1m Querschnitt:
struktionswerkstoffe gültige, einfache Faustformel zur
Berechnung des Schubmoduls G allein aus dem Elastizi- y
tätsmodul E her.
x
Hinweis: In welchen Grenzen bewegt sich die Querkon-
traktionszahl ν?
1. Wie groß sind die Dehnung ε x sowie die Spannungen
Resultat: G = E
2,6 σy , σz und alle Schubspannungen im Stab? Begründen
Sie kurz Ihre Antwort.
2. Berechnen Sie mithilfe des Hooke’schen Gesetzes alle
4.6 • Welcher der beiden Verzerrungstensoren ist
anderen Komponenten von Spannungs- und Verzer-
„schlimmer“, V 1 oder V 2 ?
rungstensor.
0,2 0,3
V1 = %, Hinweis: Sehen Sie sich für den Aufgabenteil 2 die insge-
0,3 1 samt 12 Gleichungen des Hooke’schen Gesetzes (Span-
0,3 −0,4 nungen aus Verzerrungen und Verzerrungen aus Span-
V2 = %
−0,4 0,9 nungen) in Ruhe an und beginnen Sie mit derjenigen, die
die wenigsten Unbekannten enthält.
Resultat: Keiner, beide beziehen sich auf denselben Ver- Resultat:
zerrungszustand.
1. ε x = 0. Die y- und z-Flächen sind freie Oberflächen. Al-
le Spannungskomponenten mit den Indizes y oder z
4.7 • Drei gleich große Würfel der Kantenlänge a = verschwinden: σy = σz = τxy = τxz = τyz = 0.
5 cm, von denen der erste aus Stahl (E = 205 GPa, ν = 2. σx = −82 MPa, ε y = ε z = 0,52 ‰
0,3), der zweite aus Aluminium (E = 70 GPa, ν = 0,3) und
der dritte aus PVC (E = 0,5 GPa, ν = 0,5) besteht, fallen
im Marianengraben auf die mit 11.034 m tiefste Stelle des 4.9 •• An einem Bauteil aus Aluminium (E =
Meeresgrundes. 70 GPa, ν = 0,3) werden mit einer DMS-Rosette die Deh-
nungen ε a = 0,6 ‰, ε b = 0,45 ‰ und ε c = 0,1 ‰ gemes-
1. Wie groß ist dort der Wasserdruck p in N/mm2 ? sen. Zwischen den DMS-Streifen (a), (b) und (c) liegen
2. Wie lautet der Spannungstensor? jeweils Winkel von 45◦ gegen den Uhrzeigersinn.
3. Bestimmen Sie mithilfe des Hooke’schen Gesetzes den
Wie groß sind die Hauptspannungen und in welche Rich-
dazugehörigen Verzerrungstensor.
tung sind sie orientiert?
4. Welche Volumenänderung (in cm3 ) erfahren die drei
Würfel? Resultat: σ1 = 49,5 MPa und σ2 = 20,5 MPa.
Beanspruchungsarten – wie
5
Technische Mechanik
man Spannungen und
Verformungen berechnet
Wie berechnet man aus
Schnittgrößen Spannungen
und Verformungen?
Wozu dient dabei der
Mohr’sche
Spannungskreis?
Warum platzen
Brühwürstchen stets in
Längsrichtung auf?
5.1 Zentrischer Zug oder Druck Abb. 5.1 In einem zugbelasteten Stab ist die Spannung an jeder Stelle des
Balkenquerschnitts gleich groß
Spannung in einem zug- oder druckbelasteten Stab Mit diesem Zusammenhang kennen wir die Verlänge-
rung eines kleines Abschnitts der Länge Δx. Die gesamte
N (x ) Verlängerung des Stabes, Δl, entspricht der Summe aller
σ (x ) = . einzelnen Verlängerungen,
A(x )
N (x )
Δl = ∑ Δu = ∑ E A(x) Δx.
1 2
Die Verformung eines Zugstabes hängt ab von
Belastung, Geometrie und E-Modul
Technische Mechanik
die 20 m – z G = γ A(l – z)
Leitbeispiel Antriebsstrang
Technische Mechanik
FSA lK F l
= PA K .
F
ES AS EP AP
F
Platten
Schraube 1/δS lK und die Stauchung der Platte einer Geraden der
negativen Steigung −1/δP lK .
Technische Mechanik
FSA
FV
Da ohne äußere Last die Beträge von Schrauben- und
FA Plattenkraft gleich groß sind, kreuzen sich beide Ge-
FPA
raden in eben dieser Kraft, der Vorspannkraft FV . Auf
der Abszisse können wir nun die beim Anziehen der
Schraube verursachte Verlängerung ΔlS der Schraube
und die Stauchung ΔlP der Platten ablesen.
∆lS ∆lP ∆l Nach obigen Gleichungen entspricht der Quotient von
Schraubenkraft zu Plattenkraft, FSA /FSA , dem Quoti-
enten der Steigung der Schraubengeraden durch die
Beim Zeichnen des Verspannungsdreiecks beginnen Steigung der Plattengeraden. Wir erhalten FSA und FPA
wir mit dem Anziehen der Schraube. Beim Anziehen somit, indem wir den Kraftpfeil der Betriebskraft FA
verlängert sich die Schraube, während die Platte sich zunächst zwischen die Schrauben- und die Plattenge-
um den gleichen Betrag verkürzt. Nach obigen Glei- rade einpassen und ihn dann durch eine horizontale
chungen entspricht die Schraubenverlängerung einer Linie auf Höhe von FV in den Schraubenanteil FSA und
Geraden der positiven Steigung ΔF/Δl = ES AS /lK = den Plattenanteil FPA aufteilen.
F1 M M
Druck
25
40
x
F2 = 20 kN neutrale Faser
F1 = 45 kN
z Zug
0,6 m 0,2 m
Abb. 5.5 In Biegebalken liegen sich Zug- und Druckfaser gegenüber. Dazwi-
Abb. 5.4 Ein Zug-/Druckstab unter Belastung durch zwei zentrische Kräfte schen liegt die neutrale Faser
x z dA = 0
(A)
z
folgt. Dieses Integral ist uns bereits bei der Bestimmung
des Flächenschwerpunktes begegnet. Ist es wie hier gleich
Abb. 5.6 Zur Herleitung der Spannungsverteilung
null, bedeutet das – siehe Abschn. 2.5 – dass die z-
Koordinate des Flächenschwerpunktes gleich null ist. Da
M wir den Koordinatenursprung in die neutrale Faser gelegt
haben, gilt somit für die
σ
Technische Mechanik
M(x)|z|max
σmax = . y +y –y
Iy
y h dr
r
dA
y
dφ
φ
z
R rdφ
b
h b
Beachten Sie, dass die in dieser Tabelle aufgeführten Glei-
2 2 chungen für Iy und W nur gelten, wenn die y-Achse (die
Iy = z2 dA = z2 dy dz neutrale Faser) im Schwerpunkt des Trägerquerschnitts
(A)
liegt. Verschiebt oder rotiert man das Koordinatensystem,
z=− 2h y=− 2b
so ändert sich das Flächenträgheitsmoment. Die entspre-
h
2 chenden Gesetzmäßigkeiten werden wir im Folgenden
b h3 behandeln.
= b z2 dz =
12
z=− 2h
Mit dem Satz von Steiner berechnet man
Beispiel Axiales Flächenträgheitsmoment für einen zusammengesetzte Querschnitte
Kreisquerschnitt: Wir integrieren in Polarkoordinaten, in-
dem wir dA zunächst entlang eines Rings von ϕ = 0 Komplizierte Trägerquerschnitte kann man sich oft als aus
bis 2π wandern lassen und dann alle Kreisringe von mehreren geometrisch einfachen Querschnitten zusam-
ganz innen (r = 0) bis ganz außen (r = R) aufintegrieren mengesetzt vorstellen. So besteht z. B. der Querschnitt des
(Abb. 5.11). Doppel-T-Trägers in Abb. 5.12 aus drei Rechteckprofilen.
5.2 Biegung 111
Tab. 5.1 Übersicht über einige Rechteck: Kreis: Kreisring: sehr dünner Kreisring: gleichschenkliges Dreieck:
wichtige Flächenträgheits- und
Technische Mechanik
Widerstandsmomente R Rm
h Ra h
Ri t
b b
b h3 π 4 π b h3
Iy = 12 Iy = 4R Iy = 4 R4a − R4i Iy ≈ πR3m t Iy = 36
R4a −R4i
b h2 π 3 π b h2
W= 6 W= 4R W= 4 Ra W ≈ πR2m t W= 24
Gerade so, wie sich die Flächeninhalte der drei Teil- Wir gehen von der Definition des axialen Flächenträg-
querschnitte zum Flächeninhalt des Gesamtquerschnitts heitsmoments,
ergänzen, addieren sich auch die Flächenträgheitsmo-
mente der Teilquerschnitte zum Flächenträgheitsmoment Iy = z2 dA,
des Gesamtquerschnitts. Es gilt also (A)
Also einfach für jeden Teilquerschnitt bh3 /12 einsetzen ersetzen, und wir erhalten
und aufsummieren? Leider nicht, denn die Gleichung
Iy = bh3 /12 gilt nur, wenn der Schwerpunkt der betrach- Iy = (z + zs )2 dA
teten Fläche in der neutralen Faser liegt. Dies ist aber beim (A)
oberen und unteren Teilquerschnitt des Doppel-T-Trägers
erkennbar nicht der Fall. Bevor wir die Flächenträgheits- = z2 dA + 2zs zdA + zs 2 dA.
momente der Teilquerschnitte zum Flächenträgheitsmo- (A) (A) (A)
ment des Gesamtquerschnitts aufsummieren, müssen wir
also klären, wie groß das Flächenträgheitsmoment bezüg- Die drei Integrale auf der rechten Seite der Gleichung las-
lich einer parallel verschobenen, nicht durch den Flächen- sen sich wie folgt ersetzen:
schwerpunkt verlaufenden Achse ist.
z2 dA = Iy , denn so ist Iy definiert.
(A)
Betrachten wir hierfür eine beliebige Querschnittsfläche
des Flächeninhalts A. Ein y, z-Koordinatensystem liege im zdA = 0, denn dieses Integral verschwindet für
Flächenschwerpunkt, und das Flächenträgheitsmoment (A)
Iy bezüglich dieses Koordinatensystems sei bekannt. Für im Schwerpunkt liegende Koordinatensysteme, und
ein um die Strecken ys und zs parallel verschobenes Koor- schließlich
dinatensystem ist das Flächenträgheitsmoment Iy gesucht dA = A.
(Abb. 5.13). (A)
ys
y
y S
zs
z
y
dA
z z
Abb. 5.12 Einen Doppel-T-Träger kann man als aus drei Rechteckprofilen zu-
sammengesetzt ansehen Abb. 5.13 Zur Herleitung des Satzes von Steiner
112 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet
Unter den unzähligen Eigenschaften, durch die sich hierfür relevanten Werkstoffparameter sind die Dichte
Werkstoffe charakterisieren lassen, gewinnt die Leicht- ρ und die zulässige Spannung σzul des Werkstoffs.
baueignung aus wirtschaftlichen und ökologischen Die Gleichung für die zu verbauende Masse lautet
Gründen zunehmend an Bedeutung. So sparen leichte-
re Fahrzeuge Kraftstoff, bieten mehr Reserven für eine m = ρ · V = ρlbh.
größere Nutzlast und schonen die Umwelt. Wie aber Die maximale Spannung tritt an der Einspannstelle auf
ermittelt man die Leichtbaueignung eines Werkstoffs? und beträgt
1
Mmax q0 l2 3q l2
Problemanalyse und Strategie: Für die zu untersuchen- σmax = = 21 2 = 0 2 .
W 6b h
bh
de Struktur berechnen wir diejenige Masse, die ver-
baut werden muss, damit es gerade eben zu keiner Bei voller Ausnutzung der Tragfähigkeit erreicht σmax
Überschreitung der zulässigen Spannung bzw. Verfor- gerade die zulässige Spannung σzul , sodass
mung kommt. Anschließend bilden wir aus dem Kehr- 3q0 l2
wert dieser Masse eine Leichbaukennzahl. Je höher σzul =
b h2
die Leichtbaukennzahl, desto besser die Leichtbaueig- gilt. Mit den Gleichungen für m und σzul stehen uns die
nung des Werkstoffs (siehe auch Abschn. 14.4, 15.3 erforderlichen zwei Gleichungen zur Bestimmung der
und 15.11). beiden Unbekannten m und h zur Verfügung. Wir lösen
die Gleichung für σzul nach h auf, setzen sie in die Glei-
Lösung: Wie also ermittelt man die Leichtbaueignung chung für m ein und erhalten für die zu verbauende
eines Werkstoffs? Auf den ersten Blick ist dies eine rein Masse
werkstoffkundliche Fragestellung. Soll man doch aus
3q0 b
den einschlägigen Datenblättern Festigkeit und Dich- m = ρl 2
.
te eines Werkstoffs entnehmen. Je größer der Quotient σzul
aus Festigkeit und Dichte, desto besser wird die Leicht- Zur Beschreibung der Leichtbaueignung ist die Ein-
baueignung sein. führung einer Leichtbaukennzahl M üblich (aus dem
Aber ganz so einfach ist es nicht. Wie wir sehen wer- Englischen von material index). Hierzu wird zunächst
den, führt an einer genaueren Betrachtung der Mecha- der Kehrwert der zu verbauenden Masse gebildet – je
nik kein Weg vorbei. Und da im Leichtbau vor allem besser die Leichtbaueignung, desto größer ist dann die
sehr dünne und schlanke Strukturen eingesetzt wer- Leichtbaukennzahl – und daraus alles gestrichen, was
den, welche empfindlich auf Biegung reagieren, haben keine Werkstoffeigenschaft ist, im vorliegenden Fall al-
wir es sehr oft mit einer Fragestellung der Balken- so alles außer der Dichte und der zulässigen Spannung.
biegung zu tun. Am besten, wir betrachten gleich ein Wir erhalten √
konkretes Beispiel. σzul
M=
ρ
Ein Kragträger der gegebenen Länge l hat eine gleich-
falls gegebene Streckenlast q0 zu tragen, ohne dass als Leichtbaukennzahl für den betrachteten Kragträger.
dabei die zulässige Spannung σzul des Trägerwerk- Und das ist ein durchaus anderer Zusammenhang als
stoffs überschritten wird. Der Trägerquerschnitt sei der „intuitive“ Quotient σzul /ρ.
rechteckig, wobei die Breite b fest vorgegeben und die Wie wenden wir Leichtbaukennzahlen an? Für die in-
Höhe h variabel seien. Variabel bedeutet, dass sie an frage kommenden Werkstoffe suchen wir die zulässige
die zulässige Spannung des Werkstoffs anzupassen ist: Spannung σzul und die Dichte ρ heraus und bilden
je mehr der Werkstoff aushält, desto kleiner darf die daraus M. Der Werkstoff mit der größten Leichtbau-
Trägerhöhe ausfallen. kennzahl M ist der für den Leichtbau dieses Trägers
geeignetste.
Querschnitt:
Abschließende Bemerkung: Die Leichtbaueignung vom
q0
Werkstoffen ist eine kompliziertere Angelegenheit, als
h (variabel) es auf den ersten Blick erscheinen mag, denn sie hängt
sehr genau von den geometrischen Vorgaben ab. Än-
dert man die Geometrie nur ein klein wenig, indem
l b (fest) man z. B. einen quadratischen Balkenquerschnitt vor-
gibt, so ergibt sich ein anderes Ergebnis für M. Und
Für einen beliebigen Werkstoff rechnen wir nun dieje- natürlich sind auch Kriterien wie mögliche Gestal-
nige Masse aus, die zu verbauen ist, damit der Träger tungsprinzipien, Bauweisen und Fertigungsverfahren
die vorgegebene Belastung gerade eben aushält. Die von großer Wichtigkeit.
5.2 Biegung 113
10
punkt übereinstimmen, keinen Steineranteil auf. Wir
Technische Mechanik
summieren alles auf und erhalten
50
+ 104 · 103 mm4
= 1,01 · 106 mm4 .
10
Das ist rund neunmal so viel wie die Summe der
10 drei Flächenträgheitsmomente um ihre jeweiligen lokalen
Schwerpunkte. Ein Doppel-T-Träger besitzt also, wenn er
50 um seine y-Achse gebogen wird, eine besonders biegestei-
fe Geometrie.
Abb. 5.14 Doppel-T-Träger
Frage 5.4
Erklären Sie anschaulich – ohne Rechnung – warum
Der gesuchte Zusammenhang wird als Satz von Steiner Doppel-T-Träger so biegesteif sind.
(nach Jakob Steiner, 1796–1863) bezeichnet. Er lautet:
Iz = Iz + ys 2 A, Iyz = Iyz − ys zs A.
Die Drehung des Koordinatensystems folgt den
Beachten Sie, dass die Steineranteile zs 2 A und ys 2 A der
Regeln des Mohr’schen Kreises
axialen Flächenträgheitsmomente immer positiv sind. Es
ist daher stets so, dass die axialen Flächenträgheitsmo- Der Satz von Steiner beschreibt, wie sich Flächenträg-
mente für durch den Schwerpunkt verlaufende Achsen heitsmomente bei einer Parallelverschiebung des Koor-
am kleinsten sind. dinatensystems ändern. Im Folgenden geht es nun um
eine Drehung des Koordinatensystems. Hierzu betrach-
Beispiel Zu berechnen ist das axiale Flächenträgheits- ten wir ein ungedrehtes, im Schwerpunkt des betrachte-
moment des Querschnitts in Abb. 5.14. ten Trägerquerschnitts liegendes x, y-Koordinatensystem,
dessen Flächenträgheitsmomente Iy , Iz und Iyz bekannt
Zunächst teilen wir den Flächenquerschnitt in drei Teil- sind. Gesucht sind die Flächenträgheitsmomente Iη , Iζ
profile ein (Teilprofil 1 Obergurt, Teilprofil 2 Steg und und Iηζ bezüglich eines um den Winkel ϕ gedrehten η, ζ-
Teilprofil 3 Untergurt). Die Flächenträgheitsmomente der Koordinatensystems (Abb. 5.15).
drei Teilprofile berechnen sich nach der Merkregel bh3 /12
und betragen Wie bei der Herleitung des Satzes von Steiner gehen wir
von den Definitionen der Flächenträgheitsmomente,
Iy1 = Iy3 = 4,1 · 103 mm4 und
Iy2 = 104 · 10 mm .
3 4 Iη = ζ 2 dA, Iζ = η 2 dA und Iηζ = ηζdA
A A A
Die Steineranteile für die Teilflächen 1 und 2 betragen je-
weils aus und ersetzen η und ζ durch
z2S A = (30 mm)2 · 500 mm2 = 450 · 103 mm4 . η = y cos ϕ + z sin ϕ und ζ = −y sin ϕ + z cos ϕ.
114 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet
sφ
y co
φ
z sin
Technische Mechanik
dφ
y
φ
z co
sφ
ρ
φ
y sin
h
φ
M M
dA
neutr. ds0
Faser
ξ z
z ds(z)
z
σx (z) = E · ε x (z) = E ·
ρ
Berechnung der Durchbiegung
ergibt. Gleichzeitig gilt für die Spannung aber auch der
Wie verbiegen sich Träger unter Biegebelastung? Betrach- weiter vorne hergeleitete Biegespannungsverlauf
ten wir hierzu einen Trägerabschnitt der infinitesimal
M
kleinen Länge ds0 . Wenn dieser Trägerabschnitt im unbe- σx (z) = · z.
lasteten Zustand gerade ist, so krümmt er sich durch das Iy
5.2 Biegung 115
Technische Mechanik
Balkens:
1 M
= .
ρ E · Iy x
Frage 5.5 erhalten. Dies ist eine Gleichung mit zwei unbekannten
Lässt sich die Differenzialgleichung der Biegelinie für Konstanten C1 und C2 . Als Lösung kann sie nur dann
die Verformungsberechnung einer Angelrute verwenden? stimmig sein, wenn C1 und C2 auch tatsächlich zur be-
Wie wäre die Differenzialgleichung der Biegelinie ggf. zu trachteten Struktur und hier insbesondere seiner Einspan-
modifizieren? nung passen. Die feste Einspannung bewirkt zweierlei:
sowie
F
w (0 ) =
Technische Mechanik
C1 = 0 =⇒ C1 = 0.
E Iy 3q0
Somit lautet die Gleichung der Biegelinie q0
F 1 3 1 2
w(x ) = − x + lx .
E Iy 6 2
Fl3
wmax = w(l) = . Abb. 5.18 Für diesen Träger soll die Durchbiegung als Überlagerung zweier
3E Iy
Einzellastfälle bestimmt werden
Frage 5.6
Wie lauten die Randbedingungen für die Durchbiegung Zur Ermittlung der maximalen Durchbiegung dürfen wir
an Fest- und Loslagern? die Einzelergebnisse für wmax aber nicht addieren, da die
maximalen Durchbiegungen an unterschiedlichen Stellen
im Träger auftreten: bei der konstanten Streckenlast genau
Für einige gängige Biegefälle sind die Ergebnisse für w(x) in Balkenmitte, bei der dreieckförmigen Streckenlast aber
und wmax in Tab. 5.2 aufgeführt, was uns für diese das etwas rechts der Mitte. Wir ermitteln deshalb zunächst die
Lösen der Differenzialgleichung der Biegelinie erspart. Stelle x0 der maximalen Durchbiegung als die Stelle des
Tabelle 5.2 hilft uns auch weiter, wenn der betrachtete Balkens mit einer horizontalen Tangente, d. h. wir leiten
Lastfall eine Überlagerung zweier in der Tabelle aufge- w(x) einmal ab und setzen w (x0 ) = 0:
führter Lastfälle ist. Die Ergebnisse für M(x) und w(x)
ergeben sich dann als Überlagerung der Einzelergebnisse. q0 l4
w ( x0 ) =
Für wmax können die in der Tabelle aufgeführten Ergeb- 360EIy
nisse allerdings nur dann addiert werden, wenn sie an 29 150 x0 2 60 x0 3 30 x0 4
der gleichen Position im Balken auftreten. Hierzu ein Bei- · − + + = 0,
l l l l l l l
spiel:
woraus wir als Stelle der größten Durchbiegung x0 =
Beispiel Ein Träger mit gegebener Länge l und Biege- 0,51 l erhalten. Dies in w(x) eingesetzt ergibt schließlich
steifigkeit EIy wird wie skizziert durch eine trapezförmige
Streckenlast q(x) belastet (Abb. 5.18). Gesucht sind w(x),
q0l4
wmax sowie diejenige Stelle x0 , an der wmax auftritt. wmax = w(0,51 l) = 0,026 .
EIy
Wir zerlegen q(x) in die folgenden zwei elementaren Last-
fälle:
Zwei- und Mehrfeldbalken: Unter zwei- bzw. Mehrfeldbal-
eine konstante Streckenlast q0 (Lastfall 2) und
ken versteht man Balken mit zwei oder mehr Bereichen
eine dreieckförmige Streckenlast des Maximalwertes
für die Schnittgrößenverläufe oder die Biegesteifigkeit
qmax = 2q0 (Lastfall 3).
EIy . Wir beschränken uns im Folgenden der Einfachheit
halber auf Zweifeldbalken. Dreifeldbalken oder Balken
Wir entnehmen der Durchbiegungstabelle die jeweiligen mit noch mehr Bereichen würden nach demselben Sche-
Ergebnisse für w(x) und überlagern diese zu ma behandelt werden. Bei Zweifeldbalken integrieren
x 3 x 4 wir die Differenzialgleichung der Biegelinie für jeden Be-
q l4 x
w(x ) = 0 −2 + reich zweimal unbestimmt und erhalten somit vier statt
24EIy l l l zwei Integrationskonstanten. Diese bestimmen wir aus
4 x 5
2q0 l x x 3 den Randbedingungen und den beiden Übergangsbedin-
+ 7 − 10 +3
360EIy l l l gungen an der Bereichsgrenze (im Folgenden als xI/II
x 5 bezeichnet). Diese lauten
q0 l4 x x 3 x 4
=⇒ w(x) = 29 − 50 + 15 +6 .
360EIy l l l l wI (xI/II ) = wII (xI/II ) und wI (xI/II ) = wII (xI/II ).
5.2 Biegung 117
Technische Mechanik
fälle 2
2 l 48EIy
x
l
2 q0 l4 x x 3 x 4 5 q0 l
4
w ( x) = 24EIy [ l −2 l +4 l ], wmax = 384 EIy
q0
x
l
3 qmax l4 x 3 x 5 qmax l4
w ( x) = 360EIy [7 l
x
− 10 l +3 l ], wmax = 153,3EIy
qmax
x
l
4 Fl3
x 3 Fl3
F w ( x) = 6EIy [2 − 3 xl + l ], wmax = 3EIy
x
l
5 Ml2
x 2 Ml2
M w ( x) = 2EIy [1 − 2 xl + l ], wmax = 2EIy
x
l
6 q0 l4 x 4 q0 l4
w ( x) = 24EIy [3 − 4 xl + l ], wmax = 8EIy
q0
x
l
7 qmax l4 x 5 qmax l4
qmax w ( x) = 120EIy [4 − 5 l
x
+ l ], wmax = 30EIy
x
l
8 qmax l4 x 4 x 5 11 qmax l
4
w ( x) = 120EIy [11 − 15 l
x
+5 l − l ], wmax = 120 EIy
qmax
x
l
9 Fal2 x
3 2
F Bereich I: wI (x) = − 6EI [ − xl ], wmax,I = − 9√Fal3EI
y l
y
2 3 Fa2 (l+a)
Fa3
I II Bereich II: wII (x) = 6EIy 2 a a + 3 a − a
l x x x
, wmax,II = 3EIy
x x
l a
Anschaulich bedeuten diese Gleichungen, dass der Träger Beispiel Ein Träger der Länge 4l mit gegebener Bie-
an der Bereichsgrenze zusammenhängt – deshalb sind die gesteifigkeit EIy wird wie skizziert durch eine Kraft der
Durchbiegungen gleich – und dort keinen scharfen Knick Größe 4F belastet (Abb. 5.19). Gesucht ist der Verlauf der
aufweist – deshalb sind die Ableitungen der Durchbie- Durchbiegung w(x).
gungen gleich.
118 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet
4F Verfügung:
A B
wI (0) = 0 =⇒ C2 = 0,
wII (4l) = 0 =⇒ EIFy (4lC3 + C4 ) = 0,
x wI (l) = wII(l)
l 3l =⇒ −3 6 l + lC1 + C2
1 3
= 16 (−3l)3 + lC3 + C4 und
wI (l) = wII (l)
Abb. 5.19 Dieser Balken ist ein Zweifeldbalken, da zwei Bereiche für den Ver-
3F 1 3 7 2
für die Lagerreaktionen sowie wI (x) = − x − l x
EIy 6 6
im Bereich 0 ≤ x ≤ l und
MI (x) = 3Fx und MII (x) = F(4l − x) F 1 5
MII F
wII (x) = − dx = (x − 4l)dx Beispiel Für den in Abb. 5.20 gezeigten Kragträger sind
EIy EIy die Spannungsverteilung an der Einspannung und die
F 1
Durchbiegung des freien Trägerendes gesucht.
= (x − 4l)2 + C3 und
EIy 2 Zahlenwerte: F = 800 N, l = 1 m, b = 20 mm, h = 50 mm,
=
F 1
(x − 4l)3 + C3 x + C4 . entlang der Hauptachsen des Trägerquerschnitts, Fy =
EIy 6 −F sin ϕ und Fz = F cos ϕ. Die in der Einspannung wir-
5.2 Biegung 119
Technische Mechanik
F C
l y
A
φ
z B
z
Abb. 5.20 Wenn ein rechteckiger Trägerquerschnitt zur Lastrichtung geneigt
ist, liegt schiefe Biegung vor
Abb. 5.21 Lage der Spannungsnulllinie
Die Lage der Spannungsnulllinie ergibt sich aus der Be- Fy l3 hb3
vmax = mit Iz = und Fy = −F sin ϕ
dingung σ (y, z) = 0, 3EIz 12
4F sin ϕl3
12Fl cos ϕ 12Fl sin ϕ =⇒ vmax = −
·z = ·y Ehb3
3 hb3
bh
h 2 4 · 800 N sin 30◦ (1000 mm)3
=− = −19,5 mm
=⇒ z = tan ϕ · y, 2 · 50 mm · (20 mm)
N 3
205.000 mm
b
b
M(x ) x
σ (z) = z, A*
Iy
M(x)|z|max M(x )
σmax = bzw. σmax = , x dx
Iy W z,z
b h3 b h2 Abb. 5.23 Zur Herleitung der Schubspannungsverteilung
Iy = , W= (jeweils für Rechteckquerschnitte)
12 6
und Iy = Iy + zs 2 A.
In Vollquerschnitten sind die Schubspannungen
in der Querschnittmitte maximal
5.3 Schub durch Querkraft Um die Größe der Schubspannungen zu ermitteln, schnei-
den wir aus einem biege- und schubbelasteten Träger ein
kleines Flächenelement der Länge dx und einer von der
Ist in einem Träger der Biegemomentverlauf M(x) verän- Koordinate z bis zur Trägerunterkante reichenden Höhe
derlich, so existiert gemäß dem in Abschn. 2.2 hergeleite- aus (Abb. 5.23).
ten Zusammenhang dM/dx = Q(x) auch eine Querkraft
im Träger, und es treten nicht nur Biege-, sondern auch Die am Trägerende angreifenden Spannungen tragen wir
Schubspannungen auf. in das Freikörperbild ein. Dies sind
Machen wir uns zunächst an einem anschaulichen Gedan- an der linken Seite die Biegespannungen σ (z),
kenexperiment klar, dass es tatsächlich Schubspannungen an der rechten Seite (x + dx) die Biegespannungen
sind, die bei Querkräften entstehen. Aus einem Stapel auf- σ (z) + ∂σ
∂x dx und
einanderliegender Bretter soll ein Kragträger hergestellt an der Oberseite die Schubspannungen τ.
werden. Wir überlegen uns, was bei Belastung passiert,
wenn die Bretter lose und unverleimt aufeinander auflie- Das Kräftegleichgewicht in x-Richtung lautet
gen (Abb. 5.22a) oder aber fest miteinander verleimt sind
(Abb. 5.22b). ∂σ
Technische Mechanik
b(z) ein. Da die Querschnittsform b(z) im Allgemeinen
gegeben ist und wir in der Berechnung von Schnittgrö-
ßen – hier Q(x) – und Flächenträgheitsmomenten mittler-
weile recht geübt sein sollten, liegt der Knackpunkt in der Q
τ max = 1,5
Berechnung des statischen Moments Sy (z). Hierzu als Bei- A
spiel die Schubspannungsverteilung in einem Träger mit
rechteckigem Querschnitt.
F
h l
2
y
z
h Abb. 5.26 In schlanken Trägern sind die durch die Querkraft verursachten
z~ 2 Schubspannungen im Vergleich mit den Biegespannungen in aller Regel ver-
nachlässigbar
dz~
z Welche Art Spannungen dominiert, wenn sowohl Schub-
b spannungen als auch Biegespannungen in einem Trä-
ger herrschen? Vergleichen wir hierzu exemplarisch
die Biege- und Schubspannungen in einem Kragträger
der Länge l und des rechteckigen Querschnitts b × h
Abb. 5.24 Das statische Moment Sy (z ) in einem Träger mit rechteckigem (Abb. 5.26).
Querschnitt
Die maximale Biegespannung tritt in den Randfasern auf
Höhe der Einspannung auf und beträgt
Für Sy (z) gilt
6Fl
σmax =.
h2 z2
h/2
1 2 h/2 b h2
Sy (z) = zdA = zbdz = b z z =b − , Die Schubspannungsverteilung ist in jedem Trägerquer-
2 8 2
(A∗ ) z schnitt gleich und weist einen in der Querschnittmitte
liegenden Maximalwert von
und wir erhalten für die Schubspannungsverteilung
F
τmax = 1,5
6 Q (x ) h2 bh
τ (z) = · − z2 . auf. Damit beträgt das Verhältnis von Biege- zu Schub-
b h3 4
spannungen
Es liegt also eine parabolische Schubspannungsvertei-
σmax l
lung vor, bei der die Schubspannungen an der Oberseite =4 .
(z = −h/2) und der Unterseite (z = h/2) des Trägers ver- τmax h
schwinden und in der Querschnittmitte (z = 0) den Maxi- Für große Werte von l/h sind die Schubspannungen also
malwert 1,5 Q/A einnehmen (Abb. 5.25). sehr viel kleiner als die Biegespannungen. In der Regel
dürfen Schubspannungen durch Querkraft deswegen in
Eine kurze Plausibilitätsbetrachtung bestätigt dieses Er- schlanken Trägern vernachlässigt werden.
gebnis: Der Quotient Q/A ist die mittlere Schubspannung
im Trägerquerschnitt. Da die Ober- und Unterseite des Frage 5.7
Trägers freie Oberflächen sind, muss dort die Schubspan- In welchen Bauteilen spielen Schubspannungen durch
nung verschwinden und folglich an anderer Stelle im Querkraft eine entscheidende Rolle?
Träger oberhalb des Mittelwertes liegen.
122 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet
a s b
τ
Technische Mechanik
s=0
τ (s)
Q
x r*
σ (z ) τ (z) σ (z ) + ∂σ dx
t(s) ∂x
A*
s = l* x dx
z,z
s = l*
Abb. 5.27 Zur Herleitung der Schubspannungsverteilung
yM
Wir setzen das Kräftegleichgewicht in x-Richtung an und Aus dem Momentengleichgewicht um die Trägerachse er-
erhalten für die Schubspannungen in offenen dünnwan- gibt sich
digen Profilen ein zur Schubspannungsverteilung in Voll-
∗
querschnitten analoges Ergebnis. l
Q · yM = tτr∗ ds.
Schubspannungsverteilung in offenen dünnwandigen 0
Betrachten wir erneut Abb. 5.27a. Ganz offensichtlich übt Bei offenen dünnwandigen Trägern müssen die Wir-
der in dieser Abbildung in etwa entlang einer Halbkreis- kungslinien äußerer senkrechter Kräfte durch den Schub-
linie verlaufende Schubfluss auf den Träger ein Moment mittelpunkt verlaufen, damit sich der Träger nicht ver-
um die Träger-Längsachse aus, er verdrillt ihn (Näheres drillt (Abb. 5.29). Ist ein Trägerquerschnitt symmetrisch,
dazu im folgenden Abschnitt, Torsion). liegt der Schubmittelpunkt auf der Symmetrieachse.
5.3 Schub durch Querkraft 123
s=a
Technische Mechanik
s
a
a
4
y
Q (x ) t 3 4as − a2 − s2
s τ (s) = (4as − a2 − s2 ) = Q(x)
t · 3 ta
8 3 2 16 ta3
t
2a y und im Untergurt
Q (x ) 3 4a − s
τ (s) = ta(4a − s) = Q(x) .
t · 83 ta3 8 ta2
z
Wir erhalten Q
M M
MT MT
∗
Technische Mechanik
l
1
Sy (s)r∗ ds
N N
yM =
Iy Q
0
a 4a Abb. 5.32 In Freikörperbildern wird das Torsionsmoment durch einen Pfeil mit
1 doppelter Spitze dargestellt
= 8 3 ats · ads + at(4a − s) · ads
3 ta 0 3a
a 4a
3 1 2 2 1 2 3 Die Schnittgröße der Torsion
= a ts − a t(4a − s) 2
= a.
8ta3 2 0 2 3a 8 ist das Torsionsmoment
Zunächst zu der Schnittgröße, die Torsion bewirkt, dem
Torsionsmoment. Unter dem Torsionsmoment MT ver-
steht man ein um die Trägerachse drehendes Moment.
5.4 Torsion In Freikörperbildern wird es durch einen in Trägerach-
se verlaufenden Pfeil mit doppelter Spitze dargestellt
(Abb. 5.32). Pfeilrichtung und Drehwirkung des Torsi-
Unter Torsion versteht man die Verdrillung von Stäben. onsmoments ergeben sich aus der Rechtsschraubenregel:
Als Erstes wollen wir versuchen ein anschauliches Ver- Dreht man eine Rechtsschraube so, dass sie sich in Rich-
ständnis für Torsion zu gewinnen. Mit einem Beispiel, tung des Momentenvektors bewegt, so entsprechen sich
wie wir Torsion in unserer Kindheit erfahren haben, so- der Drehsinn der Schraube und der Drehsinn des Mo-
wie einer Analogie zur Strömungslehre sollte dies recht ments (vgl. auch Abschn. 2.4).
gut gehen.
Zur Berechnung von Torsionsmomenten ist als zusätz-
Torsion haben wir in unserer Kindheit in der Tat alle am liche Gleichgewichtsbedingung das Gleichgewicht aller
eigenen Leib erfahren. Die allseits gefürchtete „Brenn- um die Trägerachse drehender Momente anzusetzen, wie
nessel“ ist nichts anderes als die schmerzhafte Torsion im folgenden Beispiel gezeigt wird.
des Unterarms, und die in technischen Fragestellungen
zur Torsion wichtigsten Größen finden hier anschauliche Beispiel Welche Verläufe haben die Schnittgrößen N (x),
Entsprechungen: das Torsionsmoment in der „Verdreh- Q(x), M(x) und MT (x) im Bereich I des in Abb. 5.33 abge-
kraft“ der angreifenden Hände, die Torsionsspannungen bildeten Winkelträgers?
in den Schmerzen im Unterarm des Opfers und der Ver-
2l
drehwinkel einer tordierten Welle in der Verdrehung der
angreifenden Hände zueinander.
I
Die für ein anschauliches Verständnis von Torsion hilfrei-
che Analogie ist der hydrodynamische Vergleich. Dieser l
vergleicht die Torsionsspannungen in einem Träger mit F
den Stromlinien in einem wassergefüllten Behälter glei- x
II
chen Querschnitts. Er lautet: „Die Schubspannungslinien
in tordierten Querschnitten verlaufen analog den Strom-
linien in einer stationären zirkulierenden Flüssigkeits- Abb. 5.33 Der Abschnitt I des Winkelträgers wird durch ein Torsionsmoment
strömung, wenn der Querschnitt des tordierten Stabes beansprucht
dem Querschnitt des mit Flüssigkeit gefüllten Behälters
Wir schneiden an einer beliebigen Stelle x innerhalb des
entspricht. Die Fließgeschwindigkeit der Flüssigkeitsströ-
Bereichs I frei und erhalten das in Abb. 5.34 gezeigte Frei-
mung ist ein Maß für die Schubspannungen im tordierten
körperbild:
Träger.“
x 2l – x
Wollen wir also Torsionsspannungen in einem Träger
sichtbar machen, so können wir ein Gefäß mit gleicher
M Q
Querschnittsform nehmen, es mit Wasser füllen und die-
ses durch kräftiges Rühren in eine zirkulierende Strö-
mung versetzen. Das Strömungsprofil, das sich nach einer MT N l
Weile einstellt (wenn der störende Einfluss des Rührens F
abgeklungen ist), entspricht der Spannungsverteilung im
tordierten Träger: je größer die Strömungsgeschwindig-
keit, desto größer die Torsionsspannungen. Abb. 5.34 Das Freikörperbild zur Berechnung der Schnittgrößen im Bereich I
5.4 Torsion 125
Technische Mechanik
→ ∑ Fix = −N (x) = 0, r
↑ ∑ Fiy = Q(x) − F = 0
=⇒ Q(x) = F,
∑ M(SU)
i = −F(2l − x) − M(x) = 0
=⇒ M(x) = −F(2l − x) und
∑ (SU)
MTi = −MT (x) + Fl = 0
=⇒ MT (x) = Fl.
MT
Torsion erzeugt, wie wir uns am Kinderspiel Brennnes- wird als Drillung χT bezeichnet. Für γ(r) gilt ferner das
sel leicht versichern können, Schubspannungen. Denn der Hooke’sche Gesetz τ (r) = Gγ(r), sodass wir folgenden
tordierte Unterarm verlängert oder verkürzt sich nicht, er Zusammenhang erhalten:
verdrillt sich vielmehr, und diese Verdrillung ist nach dem
Hooke’schen Gesetz die Folge von Schubspannungen. τ (r) = GχT r,
Wir befassen uns nun mit den Zusammenhängen zwi-
also einen linearen Verlauf der Schubspannungen. Die-
schen Torsionsmoment und Schubspannungen sowie Tor-
se nehmen in der Wellenmitte den Wert null und an der
sionsmoment und Verdrehwinkel in zylindrischen Voll-
Wellenoberfläche ihren Maximalwert τmax an. Wir erhal-
wellen. Hierzu betrachten wir eine zylindrische Welle
ten somit für den
(Länge l, Radius R), die an ihren Enden durch das Tor-
sionsmoment MT tordiert wird (Abb. 5.35).
Bei der Herleitung der Spannungsverteilung geht man Schubspannungsverlauf in einer kreiszylindrischen
davon aus, dass sich die Querschnitte der tordierten Welle
Welle wie starre Scheiben gegeneinander verdrehen und
dass sich die Stabachse dabei nicht verschiebt. Die vor- r
τ (r) = τmax .
her geraden Mantellinien der Welle gehen dann unter R
Torsionsbelastung in Schraubenlinien über, die an der
Wellenoberfläche um den Gleitwinkel γ(R) zur Stabach-
se geneigt sind. Für γ, l, ϑ und R besteht der kinematische
Zusammenhang γ(R) · l = ϑ · R, welcher auch für jeden Frage 5.8
beliebigen Radius r innerhalb der Welle gilt. Es gilt also Wie kann man mithilfe des hydrodynamischen Gleich-
nisses die Schubspannungsverteilung in einer tordierten
ϑ kreiszylindrischen Welle qualitativ ermitteln?
γ (r) = r.
l
Der Quotient ϑ/l ist hierin konstant – je länger die Wie groß ist nun τmax ? Aus dem Momentengleichgewicht
Welle, desto stärker die Verdrehung ihrer Enden – und um die Stabachse,
∑ MTi = τ (r) · rdA − MT = 0,
(A]
MT R MT
ϑ folgt
γ
l r2 τmax
MT = τmax dA = r2 dA.
R R
Abb. 5.35 Zur Berechnung von τmax (A] (A]
126 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet
MT
Hierin sind Ra der Außen- und Ri der Innenradius der R
Hohlwelle.
Die maximale Torsionsspannung erhalten wir, wenn wir Abb. 5.37 Zur Verformungsberechnung
das oben aufgeführte Momentengleichgewicht um die
Stabachse nach τmax auflösen. Wir erhalten:
Mit diesen Gleichungen erhalten wir
Maximale Torsionsspannung in einer kreiszylindrischen
MT
Welle dϑ = dx.
GIT
MT R MT
τmax = bzw. τmax = . Hat die betrachtete Welle die Gesamtlänge l, so beträgt
IT WT der Verdrehwinkel ϑ der gesamten Welle
l
Darin ist WT das Torsionswiderstandsmoment. Es beträgt MT
ϑ= dx.
GIT
IT π 0
WT = = R3 für Vollwellen bzw.
R 2
Diese Gleichung gilt für Verdrehwinkel in kreiszylindri-
IT π
WT = = (R4 − R4i ) für Hohlwellen. schen Wellen, in denen sich der Verlauf des Torsionsmo-
Ra 2Ra a ments MT (x) und Radius R(x) entlang der Welle ändern
dürfen. In den allermeisten Fällen wird dem aber nicht so
Zur Verformungsberechnung: Wir betrachten ein infini-
sein – Radius und Torsionsmoment werden in praktisch
tesimal kurzes Stück einer Welle der Abmessungen dx
allen technisch relevanten Fällen zumindest abschnitts-
(Länge) und R (Radius), welches tordiert wird (Abb. 5.37).
weise konstant sein –, und wir erhalten für den
Eine im unbelasteten Zustand gerade, in Wellenrichtung
verlaufende Mantellinie wird sich unter dem angreifen-
den Torsionsmoment um den Winkel γ zur Welle neigen Verdrehwinkel einer kreiszylindrischen Welle
und diese wie eine Spirale umschlängeln. Gesucht ist der
MT l
Verdrehwinkel dϑ des kleinen Stückchens Welle. ϑ= .
GIT
Nach dem Hooke’schen Gesetz gilt
τ
γ= ,
G Beispiel Eine abgesetzte Welle aus Stahl (1. Abschnitt:
Länge l1 = 200 mm, Durchmesser D1 = 15 mm, 2. Ab-
woraus mit der Bestimmungsgleichung für τmax
schnitt: Länge l2 = 150 mm, Durchmesser D2 = 10 mm,
Schubmodul G = 80 GPa) ist an einem Ende fest einge-
MT R
γ= spannt. Am anderen Ende wird sie durch ein Kräftepaar
GIT mit dem Hebelarm a = 80 mm belastet. Die Torsionsspan-
nung in der Welle darf den Grenzwert τmax = 150 MPa
folgt. Des Weiteren gelten die kinematischen Beziehungen
nicht überschreiten (Abb. 5.38).
ds ds Wir wollen die maximal zulässige Kraft Fzul und den da-
γ= und ϑ = .
dx R bei vorliegenden Verdrehwinkel der Welle berechnen.
5.4 Torsion 127
l1 MT
Technische Mechanik
r t1
ds
t2
l2
t (s) τ 1 t1 d x
D1 l τ 2t2dx dx
D2
F
MT
Abb. 5.38 Zu berechnen sind die höchstzulässige Belastung und der sich dabei
einstellende Verdrehwinkel der abgebildeten Welle
erhalten wir ein dünnwandiges geschlossenes Hohlprofil,
von dem wir annehmen dürfen, dass es deutlich leichter
als das entsprechende Vollprofil ist und dabei nur wenig
an Steifigkeit und Tragfähigkeit einbüßt.
Die Torsionsspannungen sind im Bereich des kleinsten
Wellendurchmessers am größten und betragen dort Wie groß dann die Spannungen und Verformungen sind,
wollen wir im Folgenden herleiten.
MT 2MT
τmax = = , Zunächst zur Spannungsverteilung: Wir betrachten einen
WT πR3 Träger mit einem dünnwandigen geschlossenen Quer-
schnitt unter Torsionsbelastung. Die Wandstärke t kann
sodass sich für das zulässige Torsionsmoment
dabei variieren, jedoch nur entlang des Trägerumfangs
und nicht in Trägerlängsrichtung (Abb. 5.39).
π π N
MT,zul = τzul R3 = 150 (5 mm)3 = 29,5 Nm
2 2 mm2 Aus dem Kräftegleichgewicht an einem kleinen Trägerele-
ment ergibt sich, dass das Produkt aus Schubspannung
ergibt. Zur Ermittlung des Verdrehwinkels addieren wir und Wandstärke, der sogenannte Schubfluss, konstant ist:
die Verdrehwinkel der beiden Wellenabschnitte:
→ ∑ Fix = τ1 t1 dx − τ2 t2 dx = 0 =⇒ τ1 t1 = τ2 t2 .
MT l1 MT l2 2MT l1 l2
ϑ= + = + 4
GIT1 GIT2 πG R41 R2
Schubfluss
2 · 29.452 N mm 200 mm 150 mm
= + In dünnwandigen geschlossenen Hohlprofilen ist
π · 80.000 mm
N (7,5 mm)4 (5 mm)4
2 der Schubfluss konstant.
= 0,071 = 4,1◦ .
τ · t = konstant.
Frage 5.9
Dünnwandige geschlossene Hohlprofile Wie kann man mithilfe des hydrodynamischen Vergleichs
sind leicht und torsionssteif auf die Konstanz des Schubflusses schließen?
Wir haben gelernt, dass in kreiszylindrischen Wellen die Das Torsionsmoment, das die Schubspannung entlang ei-
Torsionsspannungen an der Wellenoberfläche maximal nes kleinen Abschnitts mit der Bogenlänge ds ausübt,
sind und in der Wellenmitte verschwinden. Anders aus- beträgt
gedrückt: In kreiszylindrischen Wellen trägt der Werkstoff
umso mehr mit, je weiter außen in der Welle er sich be- dMT = Kraft × Hebelarm = (τtds)r.
findet, Werkstoff ganz im Welleninneren trägt gar nicht
mit. Wenn wir den nicht bzw. wenig mittragenden Werk- Um hieraus das gesamte Torsionsmoment des Profils zu
stoff im Welleninneren in Gedanken herauszuschneiden, ermitteln, müssen wir einmal geschlossen entlang der
128 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet
Leitbeispiel Antriebsstrang
Technische Mechanik
Fahrwerksfedern:
. . . torsionsbelastete Bauteile, die die gesamte Masse von
Karosserie und Zuladung tragen.
Besonders wichtige Anschlusskomponenten an den jeder beliebigen Stelle in der Feder befinden, aber die
Antriebsstrang sind die Fahrwerksfedern, tragen diese Position unmittelbar am unteren Ende der Feder ist am
doch die gesamte Last von Karosserie und Zuladung. anschaulichsten.
Zu den wichtigsten Eigenschaften einer Fahrwerksfe-
der gehören die Federkonstante c, welche maßgeblich dϑ
den Fahrkomfort des Fahrzeugs bestimmt, sowie die df
Tragfähigkeit der Feder, also die Frage nach den durch
eine äußere Kraft F hervorgerufenen Spannungen im
Federdraht. R
F
woraus sich mit IT = π2 r4 , wobei r der Durchmesser
des Federdrahtes ist, die Größe der Federkonstanten c
zu
Gr4
c=
4nR3
MT
ergibt.
Q
Damit zu den Spannungen: im Fedrdraht herrschen
R Schubspannungen, die durch das Torsionsmoment
und die Querkraft hervorgerufen werden. Die maxima-
le Torsionsspannungen beträgt
Wie lautet der Zusammenhang zwischen dem Torsi-
onsmoment MT im Federdraht und der Auslenkung MT FR
f ? Betrachten wir hierzu ein kleines Scheibchen Feder- τmax = = π 3
draht der Länge ds. Dieses Scheibchen kann sich an WT 2r
5.4 Torsion 129
und die maximale Schubspannungen durch Querkraft sich für das Verhältnis der beiden Spannungsanteile:
Technische Mechanik
4 Q 4F FR
τmax = = . τTorsion π 3 3R
3 πR2 3πr2 2r
= = ,
τQuerkraft 4F 2r
3πr2
Die insgesamt maximale Schubspannung im Draht tritt
an der Feder-Innenseite auf, da die Schubspannungen d. h., dass in Federn mit dünnem Federdraht (großes
aus Torsion und Querkraft hier in die gleiche Richtung R/r) die Torsionsspannungen deutlich größer als die
orientiert sind und sich somit addieren. Dabei ergibt Querkraftspannungen sind.
Bogenlänge integrieren. Man spricht dabei von einem der Länge l mit einem konstanten Querschnitt. Die äuße-
Umlaufintegral und zeigt dies durch einen Kreis im In- re Arbeit, die ein angreifendes Torsionsmoment MT beim
tegralzeichen an. Wir erhalten unter Beachtung, dass der Verdrillen des Stabes verrichtet, beträgt 12 MT ϑ – in Ana-
Schubfluss τ · t konstant ist, logie zur bekannten Merkregel 12 Fs für die Energie einer
gespannten Feder – und wird in der Verzerrungsenergie
MT = τtrds = τt rds, des tordierten Stabes gespeichert. Mit der im Träger ge-
speicherten Verzerrungsenergie,
wobei das Produkt von r und ds gerade doppelt so groß
1 1 τ2
ist wie das schraffierte kleine Dreieck der Fläche dAm . Wir W= τγdV = dV,
2 2 G
formen weiter um zu (V ) (V )
dem geometrischen Zusammenhang dV = ltds und der 1.
MT = τt 2dAm = 2τtAm
Bredt’schen Formel lösen wir nach dem Verdrehwinkel ϑ
auf. Wir erhalten die 2. Bredt’sche Formel,
und erhalten so für die Schubspannungen
MT l 1
ϑ= ds,
MT 4GA2m t
τ= .
2tAm welche sich in der gewohnten Form
Wie bei der Torsion von Kreisprofilen lässt sich auch die 4A2
IT = 1 m .
1. Bredt’sche Formel so darstellen, dass die maximale
t ds
Spannung als Quotient von Torsionsmoment durch Wi-
derstandsmoment dargestellt wird.
Achtung Die 2. Bredt’sche Formel mag ungewohnt sein,
man sieht Umlaufintegrale nicht alle Tage. Haben Sie aber
Maximale Torsionsspannung in dünnwandigen
vor dem Umlaufintegral keine Angst. Für die allermeisten
geschlossenen Profilen
technisch relevanten Träger ist die Wandstärke zumin-
destens abschnittsweise konstant, und aus dem beängs-
MT tigenden Umlaufintegral wird dann der simple Quotient
τmax = mit WT = 2Am tmin .
WT aus Bogenlänge durch Wandstärke. Im folgenden Beispiel
und in den Übungsaufgaben werden Sie dies bestätigt fin-
den.
Die Berechnung der Verdrehung gelingt am einfachsten
mit einem kleinen Vorgriff auf Kap. 6, wenn wir nämlich Beispiel Der in Abb. 5.40 skizzierte kastenförmige Trä-
die Arbeit betrachten, die ein Torsionsmoment am ver- ger wird durch das Torsionsmoment MT = 400 Nm belas-
drillten Stab leistet. Betrachten wir hierzu einen Träger tet. Der Schubmodul des Werkstoffs beträgt 80 GPa. Wie
130 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet
. . . ein Versuch, den man mit einfachen Mitteln selbst Drehschwingungen der Schubmodul es Drahtes be-
durchführen kann. stimmen?
Problemanalyse und Strategie: Aus den Gleichungen Aus mechanischer Sicht stellen Draht und Holzklotz
für den Verdrehwinkel eines torsionsbelasteten Stabes einen Feder-Masse-Schwinger dar, bestehend aus dem
berechnen wir zunächst die Drehfedersteifigkeit des Draht als praktisch masseloser Drehfeder und dem
Stabes. Diese setzen wir in die aus der Experimental- Holzklotz als Drehmasse. Die Eigenfrequenz f dieses
physik bekannten Gleichung für die Eigenfrequenz ei- Systems beträgt
nes Feder-Masse-Schwingers ein und erhalten so einen
1 cD
Zusammenhang zwischen Eigenfrequenz und Schub- f = ,
modul. 2π J
wobei cD die Drehfedersteifigkeit und J das Mas-
Lösung: Wie misst man den Schubmodul von Werkstof-
senträgheitsmoment des Holzklotzes ist. Die Dreh-
fen? Am naheliegendsten ist es sicherlich, in einem Tor-
federsteifigkeit ist definiert als Quotient aus angrei-
sionsversuch das Torsionsmoment über dem Verdreh-
fendem Torsionsmoment MT und Verdrehwinkel ϑ,
winkel aufzunehmen und den Schubmodul aus der Stei-
cD = MT /ϑ. Das Massenträgheitsmoment einer dün-
gung der Hooke’schen Geraden zu bestimmen. Aber
derartige Versuche können ungenau sein. Im Allgemei- nen Platte (vgl. Abschn. 10.1) beträgt J = 12
1
mL2 .
nen sind die auftretenden Verformungen im linearen Be- Wie groß die Drehfedersteifigkeit eines runden Stabes
reich recht klein und daher schwer zu messen, und auch der Länge l und des Radius R ist, können wir mit der
die Nachgiebigkeit der Prüfmaschine kann das Mess- Gleichung für den Verdrehwinkel kreiszylindrischer
ergebnis verfälschen. Genauere Ergebnisse erhält man Wellen ermitteln. Es ergibt sich
über die Messung der Eigenfrequenz der Probe.
MT GI
Die Messung des Schubmoduls aus der Eigenfrequenz cD = = T.
eines drehschwingenden Stabes lässt ich mit sehr ein- ϑ l
fachen Mitteln durchführen. Alles, was Sie benötigen, Wir lösen nach G auf, ersetzen cD mit der vorherigen
sind ein knapp 1 m langer Metalldraht, wie er in Bas- Gleichung und erhalten
telgeschäften erhältlich ist, und zwei ca. 8 cm × 8 cm
große und 1 cm starke Holzstücke. 4π 2 Jl 2
G= ·f .
Ein Ende des Drahtes kleben wir zwischen die bei- IT
den Holzstücke ein, das andere Ende spannen wir fest π 4
Mit IT = 2R und J = 1
12 mL
2 ergibt sich schließlich
ein, beispielsweise mit einer Schraubzwinge, sodass
der Draht mit den Holzstücken frei nach unten hängt. 2 πmlL2 2
Jetzt verdrehen wir die Holzstücke um die Drahtachse, G= ·f
3 R4
sodass der Draht tordiert wird.
als Gleichung für die Berechnung des Schubmoduls
aus der gemessenen Eigenfrequenz f .
Technische Mechanik
4
5 mm
10 2 40
2
00
4
40 MT = 400 Nm
60 mm
Abb. 5.40 Rechteckrohre sind ein Beispiel für dünnwandige geschlossene Pro- Abb. 5.41 Dünnwandige Rohre können sowohl als kreiszylindrisches als auch
file als dünnwandiges geschlossenes Profil angesehen werden
groß sind die größten Spannungen im Träger und der Ver- Zunächst zur Spannungsberechnung: Die Widerstands-
drehwinkel des Stabes? momente betragen
Zu den Spannungen: Diese sind im Bereich der kleinsten π
WT, Kreisprofil = (R4 − R4i )
Wandstärke maximal und betragen 2Ra a
π
= [(30 mm)4 − (25 mm)4 ]
MT 400 Nm 2 · 30mm
τmax = = = 73 MPa.
WT 2 · 36 mm · 38 mm · 2 mm = 21.958 mm3 und
WT, Hohlprofil = 2Am tmin
Zum Verdrehwinkel: Das Umlaufintegral spalten wir in
vier einzelne Integrale mit jeweils konstanter Wandstär- = 2π (27,5 mm)2 · 5 mm
ke auf (linke, obere, rechte und untere Wand). Jedes der
vier Integrale entspricht aufgrund der jeweils konstanten
= 23.758 mm3 .
Wandstärke dem Quotienten aus Länge durch Wandstär- Die Gleichungen für dünnwandige geschlossene Hohl-
ke und wir erhalten profile ergeben also ein um den den Faktor 1,08 zu großes
Widerstandsmoment und die so berechneten Spannungen
1 36 mm 38 mm 36 mm 38 mm sind folglich um eben diesen Faktor kleiner als der exakte
ds = + + + = 55.
t 2 mm 4 mm 2 mm 4 mm Wert.
Wir setzen alles in die Bestimmungsgleichung für ϑ ein Zum Verdrehwinkel: Der nach den Gleichungen für kreis-
und erhalten zylindrische Wellen berechnete exakte Wert des Torsions-
trägheitsmoments beträgt
M l MT l 1t ds π
ϑ= T = IT, Kreisprofil = (R4a − R4i )
GIT 4GA2m 2
400 N m · 1000 mm · 55 π
= ˆ 2,1◦ .
= 0,037 = = [(30 mm)4 − (25 mm)4 ] = 658.753 mm4 .
2
4 · 80.000 mm
N
2 · (36 mm · 38 mm)
2
Nach den Gleichungen für dünnwandige geschlossene
Hohlprofile wird IT gemäß
τ max Hierin setzen wir Am (y) = 2yh sowie τ (y) ein und inte-
y h grieren über alle Kraftflusslinien von ganz innen (y = 0)
bis außen an der Trägerwand (y = t/2). Wir erhalten
t/2
y 1
MT = 2 τmax 2yhdy = τmax ht2 .
t/2 3
0
Betrachten wir zunächst einen Träger mit einem schma- t/2 t/2
4 · 4y2 h2
len Rechteckprofil, dessen Breite t klein gegenüber der IT = dy = 8y2 hdy.
ds
Höhe h sei. Ähnlich wie bei einem Kreisprofil ist die Tor- y= 0 y= 0
sionsspannung in der Profilmitte gleich null, um von dort
aus linear zum Maximalwert am Profilrand anzusteigen
Und wir erhalten für das
(Abb. 5.42).
Für die Schubspannungsverteilung gilt somit
Torsionsträgheitsmoment eines dünnwandigen
y offenen Profils
τ (y) = τmax .
t/2 1 3
IT = ht .
3
In Abbildung 5.42 erkennen wir, dass das Schubspan-
nungsfeld – bildlich gesprochen – aus lauter geschlos-
senen Kraftflusslinien besteht. Wir können uns also den Abschließend – ohne Herleitung – noch zwei Erweite-
Trägerquerschnitt so vorstellen, als bestehe er aus inein- rungen dieser Gleichungen: Ist ein Träger aus mehreren
andergeschachtelten dünnwandigen geschlossenen Hohl- schlanken Rechteckprofilen zusammengesetzt, so berech-
profilen. nen sich IT und WT als
Für jedes dieser einzelnen geschlossenen Hohlprofile be-
1 IT
3∑ ii
schreibt die 1. Bredt’sche Formel den Zusammenhang IT = h t3 und WT = ,
zwischen Torsionsmoment und Schubspannung. Für eine tmax
5.5 Statisch überbestimmte Systeme 133
Technische Mechanik
8
In statisch überbestimmten Systemen übersteigt die Zahl
der Lagerreaktionen die Zahl der Gleichgewichtsbedin-
gungen, und es lassen sich nicht mehr alle Lagerreak-
tionen aus den Gleichgewichtsbedingungen berechnen.
60
Zwei (oder je nach Grad der Überbestimmtheit auch
4
mehr) Verformungsberechnungen können dann aber die
zur Berechnung aller Lagerreaktionen erforderlichen zu-
sätzlichen Gleichungen liefern. Im Falle eines einfach
statisch überbestimmten Systems – wenn die Zahl der
10
Lagerwertigkeiten um eins größer ist als die Zahl der
75
Gleichgewichtsbedingungen – geht dies in den folgenden
Schritten vor sich:
Abb. 5.43 Ein I-Träger in Torsion lässt sich nach den Gleichungen für dünn-
wandige offene Profile analysieren Schritt 1: Eine Lagerwertigkeit wird durch seine als
äußere Last angesetzte Lagerreaktion ersetzt. Man
bezeichnet diese Lagerreaktion als „statische Unbe-
wobei die maximale Spannung im Profilabschnitt mit der stimmte“.
größten Wandstärke auftritt. Schritt 2: Die verbleibenden Lagerreaktionen werden
mit den Gleichgewichtsbedingungen der Statik als
Beispiel Für den in Abb. 5.43 skizzierten Träger betra- Funktion der äußeren Belastung und der statischen
gen IT und WT Unbestimmten berechnet.
Schritt 3: Es werden nun zwei Verformungsberechnun-
1 gen durchgeführt, nämlich in Schritt 3a die Verfor-
3∑ ii
IT = h t3
mung allein unter der ursprünglich aufgebrachten Last
1 und in Schritt 3b die Verformung allein durch die stati-
= 60 · 83 + 60 · 43 + 75 · 103 mm4 = 36.520 mm4 , sche Unbestimmte.
3
Schritt 4: Die statische Unbestimmte entspricht genau
IT 36.520 mm4 dann der Lagerreaktion, wenn die Überlagerung der
WT = = = 3652 mm3 .
tmax 10 mm beiden in Schritt 3 berechneten Verschiebungen an der
Stelle des Lagers null ergibt. Denn im ursprünglichen
statisch überbestimmten System verschwindet die Ver-
Frage 5.10 schiebung am Lager naturgemäß auch.
Die Bauweise der Spiralfeder Slinky ist noch immer die-
selbe wie zu seiner Markteinführung in den 1940er Jahren Die sich aus Schritt 4 ergebende Gleichung – Verschie-
und seine Faszination als Spielzeug ungebrochen. Wun- bung unter der ursprünglichen Last plus Verschiebung
derschön gemächlich schwingt es auf und ab, und wenn durch die statische Unbekannte gleich null – ist genau die
man sich geschickt anstellt, kann es auch ganz alleine, Stu- zusätzliche Gleichung, die zur Ermittlung aller Lagerre-
fe für Stufe eine Treppe hinabgehen. Weshalb kann Slinky aktionen benötigt wird. Man nennt sie auch Kompatibili-
das, andere Schraubenfedern aber nicht? tätsgleichung, weil die statische Unbestimmte nur dann
mit der Lagerreaktion verträglich ist, wenn eben diese
Gleichung erfüllt ist.
Hierzu folgendes Beispiel:
q0
A B
x
t
Das System ist also statisch überbestimmt gelagert. σφ
2R
pi
pi
Schritt 1: Wir wählen ein Lager aus, hier das Lager B, und
t
ersetzen es durch seine als äußere Kraft angesetzte Lager-
l
reaktion By . Damit erhalten wir das in Abb. 5.45 gezeigte t 2R t
statisch bestimmte System:
Abb. 5.46 Freikörperbild zur Ermittlung der Umfangsspannungen
σ Kugelbehälter
t
Technische Mechanik
In der Wand eines Kugelbehälters unter Innendruck sind
pi
2R die Spannungen aus Symmetriegründen in alle Richtun-
gen gleich groß. Man kann sich anhand eines entspre-
chenden Freikörperbildes leicht davon überzeugen, dass
t die Kesselformel für die Längsspannung auch für Kugel-
σ
behälter gilt. Die Spannungen in einem dünnwandigen
Kugelbehälter unter Innendruck betragen somit
Abb. 5.47 Freikörperbild zur Ermittlung der Längsspannungen
pi R
σ= .
2t
wir per „Druck mal projizierte Fläche“ und erhalten so
für das Kräftegleichgewicht in vertikaler Richtung
5.7 Überlagerte Beanspruchung
↑ ∑ Fi = σϕ · 2tl − pi · 2Rl = 0
pR
=⇒ σϕ = i . Bei der Dimensionierung von Bauteilen geht es darum,
t berechnete Spannungen hinsichtlich ihrer Zulässigkeit zu
beurteilen. Dabei kann die Mehrachsigkeit der Spannun-
Hierin ist pi der Innendruck im Behälter; R und t sind der gen ein Problem darstellen.
Radius und die Wandstärke des Behälters. Die Diskussion dieses Themas fällt leichter, wenn wir
Für die Längsspannung σl setzen wir das Kräftegleichge- zunächst die drei Arten der Spannungsmehrachsigkeit
wicht in horizontaler Richtung an (Abb. 5.47) und erhal- sauber definieren. Wir wissen (Kap. 4), dass sich die Ko-
ten ordinaten des Spannungstensors bei einer Drehung des
Koordinatensystems ändern und dass sich jeder Span-
→ ∑ Fi = σl · 2πRt − pi · πR2 = 0 nungstensor in sein Hauptachsensystem drehen lässt, in
welchem alle Schubspannungen zu null werden.
pR
=⇒ σl = i . Ein Spannungszustand mit
2t
genau einer von null verschiedenen Hauptspannung
Diese Gleichungen für σϕ und σl sind unter der Bezeich- heißt einachsig,
nung Kesselformeln bekannt. Es lohnt sich, sie auswendig zwei von null verschiedenen Hauptspannungen heißt
zu können: zweiachsig (oder ebener Spannungszustand),
drei von null verschiedenen Hauptspannungen heißt
dreiachsig.
Kesselformeln
In dünnwandigen zylindrischen Druckbehältern ist Warum ist die Betrachtung der Mehrachsigkeit wich-
die Umfangsspannung σϕ doppelt so groß wie die tig bei der Bauteildimensionierung? Nun, die gängigsten
Längsspannung σl . Es gilt Werkstoffwiderstände wie Streckgrenze, Zug- oder Biege-
festigkeit und Dauerfestigkeit werden an Proben gewon-
pi R pi R nen, in denen einachsige Spannungszustände herrschen
σϕ = und σl = .
t 2t (jeweils eine Normalspannung in Probenlängsrichtung).
In realen Bauteilen sind die Spannungszustände dagegen
oft mehrachsig.
Dass die Umfangsspannungen doppelt so groß wie die
Längsspannungen sind, äußert sich auch bei aufplatzen- Die im Bauteil herrschende Spannung kann aber nur
den Brühwürstchen. Diese platzen quer zu den größten dann ohne Weiteres mit der zulässigen Spannung σzul des
Spannungen auf, also stets in Längsrichtung der Wurst. Werkstoffs verglichen werden, wenn die Spannungszu-
stände in Bauteil und Probe die gleichen, also jeweils ein-
Die Radialspannung σr entspricht an der Behälterinnen- achsige Spannungszustände sind. Einachsige Spannungs-
wand dem Innendruck −pi und verschwindet an der zustände sind beispielsweise Zug-Druck-Beanspruchung,
Behälteraußenwand, da diese eine freie, unbelastete Ober- Biegebeanspruchung sowie überlagerte Zug-Druck- und
fläche ist. Sie ist in dünnwandigen Behältern (t R) sehr Biegebeanspruchung, da in diesen Fällen jeweils als ein-
viel kleiner als Längs- und Umfangsspannung und kann zige Spannung eine Normalspannung in Trägerlängsrich-
somit in aller Regel vernachlässigt werden. tung herrscht.
136 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet
τ
Technische Mechanik
σ2 σ1 σ
45°
I
Für die Bildung von σV gibt es verschiedene Festigkeits-
l2
hypothesen. Die drei bekanntesten sind die Normalspan-
F nungs-, die Schubspannungs- und die Gestaltänderungs-
II energie-Hypothese, welche wir im Foglenden als N-, S-
und GE-Hypothese abkürzen wollen.
Technische Mechanik
spannungen. Dementsprechend erhalten wir als Definiti-
on für die
Abb. 5.51 Zugproben duktiler Werkstoffe versagen unter 45° zur Zugrichtung S-Hypothese
entlang der Ebenen der größten Schubspannungen
In duktilen Werkstoffen ist die größtmögliche
τ Schubspannung τmax ausschlaggebend für das
τ max Werkstoffversagen. Es gilt
σV = 2τmax .
σ zul σ
Frage 5.11
Welche Bruchflächenorientierung erwarten Sie, wenn ein
Stab aus duktilem Material in Torsion bis zum Bruch be-
ansprucht wird?
Abb. 5.52 Mohr’scher Spannungskreis einer Zugprobe, die genau mit der zu-
lässigen Spannung σzul belastet wird Ebenfalls auf duktile Werkstoffe anwendbar ist die
Gestaltänderungsenergie- (GE-) Hypothese. Sie lässt sich
nicht im Mohr’schen Spannungskreis darstellen, und des-
wegen verzichten wir hier auf die Herleitung. Sie lautet:
Schubspannungs- und
Gestaltänderungsenergie-Hypothese
beschreiben das Fließen duktiler Werkstoffe GE-Hypothese
In duktilen Werkstoffen setzt plastische Verformung
Im Gegensatz zu spröden Werkstoffen reagieren duktile dann ein, wenn die Gestaltänderungsarbeit pro
(verformungsfähige) Werkstoffe anfällig auf Schubspan- Werkstoffvolumen einen kritischen Wert erreicht.
nungen. Lassen Sie sich im werkstoffkundlichen Institut Für die Vergleichsspannung nach der GE-Hypothese
einmal die gerissene Zugprobe eines duktilen Metalls, gilt
etwa eines Baustahls zeigen (Abb. 5.51). Bis auf einen
kleinen Bereich in der Mitte der Bruchfläche ist der größ- 1
σV = √ (σ1 − σ2 )2 + (σ2 − σ3 )2 + (σ3 − σ1 )2 .
te Teil der Bruchfläche um 45° zur Zugrichtung geneigt, 2
verläuft also entlang der größten Schubspannungen. Auf
mikrostruktureller Ebene findet diese Anfälligkeit auf
Schubspannungen ihren Grund darin, dass die plasti-
sche Verformung auf Versetzungsbewegungen beruht, die
ihrerseits zu großen Teilen ein Abgleiten von Gitterebe-
nen sind, welche durch Schubspannungen vorangetrie- Im ebenen Spannungszustand mit nur einer
ben werden. Normalspannung gelten besonders handliche
Werkstoffversagen setzt also dann ein, wenn die maxi- Formeln für σV
male Schubspannung im Bauteil einen kritischen Wert
erreicht. Die soeben hergeleiteten Gleichungen gelten für beliebi-
Sehen wir uns, um daraus eine handliche Gleichung abzu- ge ebene Spannungszustände. Reale Spannungszustände
leiten, den Mohr’schen Spannungskreis einer Zugprobe sind aber vielfach einfacher. Liegt, wie häufig der Fall,
an, die genau mit der zulässigen Spannung σzul belastet ein ebener Spannungszustand mit nur einer von null ver-
wird (Abb. 5.52) (siehe auch Abschn. 15.9). schiedenen Normalspannung σ sowie einer Schubspan-
nung τ vor, so lassen sich besonders handliche Formeln
Die maximale Schubspannung in der Probe beträgt für σV herleiten.
1 Der Mohr’sche Spannungskreis eines derartigen Span-
τmax = σ .
2 zul nungszustandes hat die in Abb. 5.53 gezeigte Gestalt.
138 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet
= 99 MPa
Für σ1 und τmax gelten die Zusammenhänge und für die Torsionsspannung
Wir nehmen die entsprechende Gleichung für die GE- σV = 99 MPa + 99 MPa + 4 91 MPa
2
Hypothese ohne Herleitung der Vollständigkeit halber = 153 MPa,
mit auf und fassen zusammen:
für die S-Hypothese
ESZ mit nur einer Normalspannung 2 2
σV = 99 MPa + 4 91 MPa = 207 MPa
Liegt in einem ebenen Spannungszustand nur eine
von null verschiedene Normalspannung vor, so gel-
ten für die Vergleichsspannungen und für die GE-Hypothese
2 2
1
σV = 99 MPa + 3 91 MPa = 186 MPa.
σV = σ + σ2 + 4τ 2 N-Hypothese,
2
σV = σ2 + 4τ 2 S-Hypothese, Die Beanspruchung befindet sich nach der N- und GE-
Hypothese also im zulässigen Bereich. Nach der S-
σV = σ2 + 3τ 2 GE-Hypothese.
Hypothese wäre der Balken hingegen an der Einspann-
stelle überbeansprucht.
Als Alternative zu den Gleichungen können wir auch den
Beispiel Berechnen wir den eingangs des Abschnitts Mohr’schen Spannungskreis ansetzen. Aus ihm lesen wir
skizzierten Winkelträger (Abb. 5.49). Bei diesem betra- σ1 = 153 MPa, σ2 = −54 MPa und τmax = 103,5 MPa ab
gen die geometrischen Abmessungen l1 = 800 mm und und erhalten somit dieselben Werte wie zuvor (Abb. 5.54).
l2 = 1200 mm. Das Trägerprofil sei ein quadratisches Vier-
Das Beipiel zeigt, dass die verschiedenen Festigkeits-
kantrohr der äußeren Kantenlänge 60 mm und der Wand-
hypothesen ein und denselben Spannungszustand un-
stärke 5 mm. Die Kraft F betrage 2300 N und die aus einem
terschiedlich streng beurteilen. In nicht absolut allen,
Zugversuch ermittelte zulässige Spannung des Werk-
aber doch den weitaus meisten Fällen wird die Wir-
stoffs 200 MPa.
kung eines mehrachsigen Spannungszustands durch die
Überprüfen Sie anhand der N-, S- und GE-Hypothese, S-Hypothese am strengsten und die N-Hypothese am we-
ob die Spannungen im höchstbeanspruchten Punkt des nigsten streng beurteilt.
Antworten zu den Verständnisfragen 139
τ (MPa) τ τ τ
τ max
Technische Mechanik
91
σ2 σ1 σ σ2 σ1 σ σ2 σ1 σ
σ2 M 99 σ 1 σ (MPa)
Abb. 5.55 Die drei Möglichkeiten für die Lage der Mohr’schen Spannungskrei-
se bei ebenen Spannungszuständen
–91
Für jeden dieser drei Fälle ergibt sich eine andere Bestim-
Abb. 5.54 Mohr’scher Spannungskreis für die höchstbelastete Stelle des Win-
kelträgers mungsgleichung für τmax . Es gilt:
Antwort 5.1 Wenn das Eigengewicht des Stabes nicht Antwort 5.3 Nehmen Sie einen Träger mit einem sehr
vernachlässigbar ist, ist N (x) veränderlich und die Ver- schlanken Rechteckquerschnitt, z. B. einen Streifen Papier.
längerungsberechnung muss durch Integration erfolgen. Wenn Sie diesen mit flacher Querschnittorientierung (die
Papierstärke ist also die Trägerhöhe) wie einen Kragträ-
Antwort 5.2 Weil viel Werkstoff in den Randfasern an- ger in der Hand halten, so hängt er schlaff nach unten.
gebracht ist (durchgehende horizontale Stäbe) und we- Halten Sie den Papierstreifen dagegen mit hochkant ste-
nig Werkstoff in Trägermitte (Diagonalstreben mit viel hendem Querschnitt in der Hand, geschieht das nicht,
Luft dazwischen). Das Material ist also überwiegend da nun die im Vergleich zur Papierstärke sehr viel grö-
da eingesetzt, wo es Biegespannungen ausüben und ßere Streifenbreite die Trägerhöhe ist und dem Träger
so dem angreifenden Biegemoment Widerstand leisten ein sehr viel größeres axiales Flächenträgheitsmoment
kann. verleiht.
140 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet
Antwort 5.4 Bei Doppel-T-Trägern befindet sich beson- keiner Stelle des Kanals staut, muss es in engen Berei-
ders viel Material weit weg von der neutralen Faser, also chen entsprechend schneller fließen als in breiten. In der
Technische Mechanik
genau da, wo sich nennenswerte Biegespannungen bilden Flüssigkeitsströmung ist deshalb das Produkt aus Strö-
können, die dem angreifenden Biegemoment wirkungs- mungsgeschwindigkeit und Breite konstant, sodass im
voll Paroli bieten können. tordierten Träger das Produkt aus Schubspannung τ und
Wandstärke t, eben der Schubfluss, konstant ist.
Antwort 5.5 Die Verformung einer Angelrute kann, wenn
ein kapitaler Fisch anbeißt, leicht ähnlich groß wie ihre Antwort 5.10 Das Besondere an Slinky ist, dass es so
Länge sein und ist damit nicht mehr klein. In der analyti- schön langsam schwingt. Andere Schraubenfedern, bei-
schen Beschreibung der Krümmung, spielsweise die Federn eines Garagentors, schwingen um
ein Vielfaches schneller, viel zu schnell, um ihnen geruh-
d2 w sam zuzuschauen. In Analogie zur Eigenfrequenz eines
1 dx2
= − 2
3/2 , Feder-Masse-Systems, die gemäß
ρ
1+ dw
dx
1 c
ν=
2
kann (dw/dx) dann nicht mehr vernachlässigt werden, 2π m
und es ergibt sich die auch für große Verformungen gülti-
ge Differenzialgleichung von der Federsteifigkeit c und der angehängten Masse m
abhängt, ist die Eigenfrequenz einer Feder umso niedri-
d2 w/dx2 M ger, je kleiner die Federkonstante und je größer die Dichte
2
3/2 = − E I . des Federwerkstoffs – und damit die Masse der Feder –
y
1 + dxdw sind.
Für die Federsteifigkeit hatten wir
Antwort 5.6 Auch an Fest- und Loslagern kann sich ein
GIT
Träger nicht absenken. Im Gegensatz zur festen Einspan- c= .
nung kann er sich aber um den Lagerpunkt drehen, d. h. 2πR3 n
die Trägerneigung wird bei Belastung ungleich null sein.
hergeleitet. Können wir daraus Rückschlüsse ziehen, wel-
Die einzige Randbedingung eines Fest- oder Loslagers ist
che Drahtquerschnitte für Slinky am geeignetsten sind?
somit w(x0 ) = 0, wobei x0 die Stelle der Lagerung ist.
Nun, Slinky soll langsam schwingen und deshalb bei
Antwort 5.7 Nur in sehr kurzen Bauteilen, wie z. B. Niet- großer Masse m eine kleine Federsteifigkeit c aufweisen.
oder Bolzenverbindungen. In die Gleichung für die Federsteifigkeit geht der Draht-
querschnitt allein über das Torsionsträgheitsmoment IT
Antwort 5.8 Wir müssen einen kreisrunden Topf mit Was- ein. Günstig sind deshalb Querschnitte mit einem kleinen
ser füllen, kräftig umrühren, Papierschnipsel einstreuen Torsionsträgheitsmoment bei großer Querschnittsfläche
und das Profil der Strömungsgeschwindigkeit beurteilen. (im Interesse großer Masse), und dies ist am Besten bei
Sie werden sehen: In der Mitte ist die Strömungsge- dünnwandigen offenen Profilen gegeben.
schwindigkeit gleich null (In welche Richtung sollte das
Wasser auch fließen?), am Rand fließt das Wasser am Genau so ist Slinky auch tatsächlich aufgebaut. Im Gegen-
schnellsten, und zwischendrin nimmt die Geschwindig- satz zu gewöhnlichen Schraubenfedern, die aus rundem
keit von der Mitte zum Rand hin linear zu. Letzteres lässt Draht gewickelt sind, besitzt Slinky einen dünnen Recht-
sich daran erkennen, dass die Papierschnipsel sich nicht ecksquerschnitt.
überholen, sich also mit konstanter Winkelgeschwindig-
Antwort 5.11 Der Stab würde entlang der Ebenen der
keit bewegen.
größten Schubspannungen versagen und somit stumpf
Antwort 5.9 Als Analogie für den Kraftfluss im tordierten durchbrechen. Dieser Versuch lässt sich übrigens recht
Träger betrachten wir einen in sich geschlossenen Ka- schön mit einer Christbaumkerze aus Wachs nachvollzie-
nal, in dem Wasser zirkuliert. Damit sich das Wasser an hen.
Aufgaben 141
Aufgaben
Technische Mechanik
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
5.1 • Ein Bergsteiger wird an einem 300 m langen Materialparameter: Elastizitätsmodul E = 20.000 MPa,
Seil in die Tiefe abgeseilt. Das Gewicht des Bergsteigers spezifisches Gewicht γ = 22.000 mN3 .
betrage 800 N. Das Seil habe ein spezifisches Gewicht von
γ = 0,7 N/m (Kraft pro laufende Seillänge). Zur Ermitt-
lung der Struktursteifigkeit E A wurde zuvor im Labor ein
Zugversuch durchgeführt. Bei einer Belastung von 1000 N
dehnte sich dabei das Seil um 2 %. z
145 m
g
z
229 m
Berg
300 m
10 mm
1 mm
100 mm
20
0
R1
Berechnen Sie
1. die Spannungen in Stahlkern und Emailleschicht sowie
30
2. die Verformung Δ l der Probe,
wenn die Zugkraft auf die Probe F = 15 kN beträgt.
Materialparameter:
10
EStahl = 205.000 MPa, EEmaille = 70.000 MPa.
10 20 10
Hinweis: Die Vorgehensweise bei dieser Aufgabe ist wie
bei einer Schraubenberechnung, denn so wie sich Schrau-
be und Platte unter einer Betriebslast um den gleichen Be- 1. Bestimmen Sie die Koordinaten des Flächenschwer-
trag dehnen, dehnen sich auch Stahlsubstrat und Emaille- punktes.
schicht gleich stark. 2. Die y-Achse sei nun diejenige horizontale Achse, die
durch den soeben berechneten Flächenschwerpunkt
Resultat: σStahl = 166 MPa, σEmaille = 57 MPa, verläuft. Berechnen Sie das Flächenträgheitsmoment Iy .
Δ l = 81 μm.
Resultat:
1. Der Flächenschwerpunkt liegt 31 mm oberhalb der Pro-
5.4 • Die abgebildete Schraube soll die Betriebs-
filunterkante.
kraft FA = 20 kN aufnehmen. Betrachten Sie die Schraube
2. Iy = 552.245 mm4 .
als einen zylindrischen Stab des Durchmessers 16 mm mit
einer Klemmlänge von 64 mm und die Platten als Hohlzy-
linder mit dem Innendurchmesser 18 mm und dem effek- 5.6 • Ein Kragträger aus Stahl (ρ = 8000 kg/m3 )
tiven Außendurchmesser 32 mm. Schrauben und Platten der Länge l des abgebildeten T-förmigen Querschnitts
bestehen aus Stahl (Elastizitätsmodul EP = 205.000 MPa). wird durch sein Eigengewicht belastet.
6 mm
m
g = 9,81
FA = 20 kN s2
54 mm
6 mm
lK = 64 mm l 60 mm
Technische Mechanik
Resultat:
1. Iy = 233.286 mm4 . A B
2. q0 = A ρ g = 53,68 N/m.
3. lmax = 6,37 m. x
l=5m
5.7 •• Ein im Punkt A los- und im Punkt B festgela-
gerter Träger der Länge l wird durch eine dreieckförmige
Streckenlast sowie in Trägermitte durch eine Punktlast be- Zahlenangaben: Elastizitätsmodul E = 12.000 MPa (Holz),
lastet. Querschnitt b × h = 200 mm × 150 mm.
F
1. Berechnen Sie den Verlauf des Biegemoments M(x) im
Träger. An welcher Stelle nimmt M(x) seinen Maximal-
wert ein, und wie groß ist dieser?
qmax
2. Wie groß ist die Randfaserspannung in der Balkenmit-
te?
A B 3. Berechnen Sie durch zweifache Integration der Diffe-
renzialgleichung der elastischen Linie die Durchbie-
gung w(x) des Trägers. Wie groß ist die Durchbiegung
x
l in der Balkenmitte?
Hinweis: Rechnen Sie so lange wie möglich mit Formelzei-
chen, und setzen Sie Zahlenwerte erst zum Schluss ein.
1. Berechnen Sie den Verlauf der Schnittgrößen N (x),
Q(x) und M(x). Resultat:
2. Bestimmen Sie den Verlauf der Durchbiegung w(x). 1. M(x) = 12 q0 l x − 12 q0 x2 .
3. Es gelten nun für Geometrie und Belastung die unten Maximales Biegemoment in Balkenmitte mit Mmax =
aufgeführten konkreten Werte. Wie groß ist die Rand- 4687,5 N m.
faserspannung in Trägermitte? 2. σ = 6,25 MPa.
4 3
60 mm
σmax und Elastizitätsmodul E des Werkstoffs? η 1m
φ
Hinweis: Sie können sich bei der zweifachen Integration y
der Differenzialgleichung der Biegelinie aus Symmetrie-
z
gründen auch auf den halben Träger beschränken. Beach- ξ
ten Sie dann anstelle der 2. Randbedingung, dass sich der 85 mm
Träger in der Mitte aus Symmetriegründen mit horizonta-
ler Tangente durchbiegt. Der DIN 1027 kann man die folgenden Flächenträgheits-
momente entnehmen:
Resultat:
Iη = 44,7 cm4 , Iζ = 30,1 cm4 und Iηζ = 28,8 cm4 .
1. linke Probenhälfte: MI (x) = F
2
l
2 +x
rechte Probenhälfte: MII (x) = F l
−x , 1. Bestimmen Sie mit dem Mohr’schen Trägheitskreis die
2 2
Hauptträgheitsmomente Iy und Iz und die Lage der
M (x = 0) = 14 F l Hauptträgheitsachsen.
2. σmax = 32 Fbmax
h2
l
2. Bestimmen Sie die Spannungen in den Punkten A
3 und B.
F l2 x F l3
3. w(x) = − 12 FE Iy 2l − x − 16 E Iy + 32 E Iy
Fmax l3 Resultat:
4. E = 48 wmax Iy
1. Iy = 67,1 cm4 , Iz = 7,7 cm4 , ϕ = 37,9◦ .
5. σmax = 396 mm
N
2 , E = 280.000 MPa
2. σA = −62 MPa, σB = 62 MPa.
5.10 •• Ein statisch überbestimmt gelagerter Träger 5.12 • • • Berechnen Sie die durch eine Querkraft her-
wird durch eine konstante Streckenlast q0 belastet. Gege- vorgerufene Schubspannungsverteilung in einem Voll-
ben seinen q0 und l. kreisquerschnitt des Radius R.
q0
y
l R α α z
z*S
S
Berechnen Sie die Lagerreaktionen. A*
Technische Mechanik
3 π R2 sich die Tore trotz hohen Gewichts mit vergleichsweise
wenig Kraft öffnen und schließen lassen.
Es bestehe nun die Schraubenfeder eines Garagentors
5.13 • • • Gegeben ist das skizzierte dünnwandige aus 7 mm starkem Stahldraht (G = 80.000 MPa), der in 67
Hohlprofil (Radius R, Wandstärke t, t R). Windungen mit einem mittleren Windungsdurchmesser
von D = 52 mm gewickelt ist. Bei geschlossenem Ga-
ragentor verlängern sich die Federn von im entspannten
s
Zustand 500 mm auf 800 mm. Berechnen Sie die Feder-
konstante c, die Federkraft F bei geschlossenem Tor und
R die in der Feder bei geschlossenem Tor herrschenden Tor-
φ
sionsspannungen.
80
für den Kreismittelpunkt r∗ = R = konstant ist.
Resultat: 4
1.
2 Q (x )
τ ( ϕ) = sin ϕ. Resultat: τ erhöht sich um den Faktor 27, ϑ um den Faktor
πRt
272.
2.
4R
yM bzgl. Kreismittelpunkt = . 5.17 •• Eine konische Welle (Länge l, Radien an den
π
Enden 2 R und R) soll ein Torsionsmoment MT übertra-
gen. Berechnen Sie den Verdrehwinkel ϑ.
5.14 • Eine zylindrische Vollwelle des Durchmes-
sers D soll mit einem Bohrungsdurchmesser von D/2
hohl gebohrt werden. MT 2R MT
R
MT MT
D/2
x
l
1. Um wie viele Prozent verringert sich das Wellenge- Hinweis: Kann die einfache Formel zur Berechnung des
wicht? Verdrehwinkels verwendet werden, wenn der Wellen-
2. Um wie viele Prozent erhöhen sich die Torsionsspan- durchmesser veränderlich ist?
nungen?
3. Um wie viele Prozent erhöht sich der Verdrehwinkel? Resultat:
7 MT l
ϑ= .
Resultat: 1: 25%, 2 und 3: 7%. 12 π G R4
146 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet
5.18 • Die Eingangswelle eines einstufigen Getrie- 5.20 • Ein Träger der Länge l sei an beiden Seiten
bes (Teilkreisdurchmesser Zahnrad 1: 60 mm, Teilkreis- fest eingespannt. Im Punkt C (im Abstand von cl, 0 < c <
Technische Mechanik
durchmesser Zahnrad 2: 180 mm) überträgt das Drehmo- 1 vom linken Trägerende) wird er durch das Torsionsmo-
ment MT,ein = 100 N m. ment MT belastet. Berechnen Sie die Lagerreaktionen.
20
C
60
MT
MT, ein cl
A B
l
180
Punkt A durch ein Loslager und im Punkt B durch eine
MT, aus
feste Einspannung gelagert. Er wird durch eine dreieck-
förmige Streckenlast belastet. Berechnen Sie die Lagerre-
aktionen.
qmax
B
?
=
t2
l
2m
bl
pi = 30 bar
A Resultat:
1. 15 mm.
2. 7,5 mm.
Resultat: Az = G (2 − b), Bz = G
2 (b − 2 ).
Aufgaben 147
Technische Mechanik
Ft
ein Kabinendruck von 750 hPa. Der Rumpf des Flugzeugs
lässt sich – ein wenig vereinfacht – als dünnwandiger zy-
lindrischer Druckbehälter auffassen.
Berechnen Sie
100 mm
1. die Spannungen im Flugzeugrumpf sowie
2. die durch den Druckunterschied hervorgerufene Ver-
formung des Flugzeugrumpfes.
Resultat:
1. My = 66 N m (für Biegung um die y-Achse),
Mz = 180 N m (für Biegung um die z-Achse),
1. Welche Spannungen herrschen in der Welle? Mges = 192 N m (resultierendes Biegemoment),
2. Liegt die Beanspruchung der Welle im zulässigen Be- MT = 12 N m (Torsionsmoment).
reich? 2. Biegespannung σ = 30,6 MPa,
Torsionsspannung τ = 9,5 MPa.
Hinweis: Wie sind die Spannungen zu überlagern? 3. N-Hypothese: σV = 33 MPa,
S-Hypothese: σV = 36 MPa,
GE-Hypothese: σV = 35 MPa.
Resultat:
1. σZug = 64 MPa, σBiegung = 127 MPa.
2. σgesamt = 191 MPa, also zulässig.
5.26 • Wie dem passionierten Weintrinker bekannt
5.25 •• Eine in den Punkten A und B gelagerte Ge- ist, lässt sich eine Weinflasche mit einem gewöhnli-
triebewelle trägt ein geradverzahntes Zahnrad des Teil- chen Korkenzieher einfacher entkorken, wenn der Korken
kreisradius 100 mm, an dem die Kräfte Fr = 440 N (Radi- beim Herausziehen etwas gedreht wird. Der Korkenzie-
alkraft) und Ft = 1200 N (Tangentialkraft) angreifen. Der her wird dann durch die den Korken herausziehende
Radius der Getriebewelle betrage 20 mm. Kraft Fax und die beiden den Korken drehenden Kräfte
FT belastet.
Zu untersuchen sind die Spannungen in der Welle auf
Höhe des Lagers A. Schubspannungen durch Querkraft Für Fax = 100 N, FT = 7 N, d = 3 mm (Schaftdurchmes-
dürfen dabei vernachlässigt werden. Gehen Sie wie folgt ser) und l = 30 mm (Hebelarm der Verdrehkräfte) ist die
vor: Beanspruchung im Schaft des Korkenziehers zu ermitteln.
148 5 Beanspruchungsarten – wie man Spannungen und Verformungen berechnet
200 mm
FT F2 Draufsicht:
d
200 mm F2
F1
1m
A
F1
s
Technische Mechanik
und Knicken – Verformungen
und Kräfte berechnen
Wie man aus der inneren
Energie einer Struktur auf
seine Lagerreaktionen
schließt.
Wie man die
Lagerreaktionen statisch
überbestimmt gelagerter
Systeme bestimmt.
Wann knicken Stäbe aus?
Abb. 6.1 Die an einem Körper verrichtete Arbeit berechnet sich aus dem Kraft-
vektor und einem Weginkrement
6.1 Arbeit und Potenzial
Bevor wir in diesem Kapitel den Arbeitssatz behandeln, negativ, wenn F und dr einen Winkel von mehr als
90° einschließen, d. h., wenn Kraftvektor F und Weg-
müssen wir ein paar Begriffe, insbesondere Arbeit und
Potenzial, sauber definieren. inkrement dr einen entgegengesetzten Richtungssinn
haben.
dW = F · dr.
a a
Nach der mathematischen Definition des Skalarprodukts
ist dW ein Skalar der Größe dW = |F | · |dr | · cos α, wobei
α der von den Vektoren F und dr eingeschlossene Winkel F
ist. Die von der Kraft F verrichtete differenzielle Arbeit ist
also
F dφ a dφ
positiv, wenn F und dr einen Winkel von weniger als a dφ dφ
90° einschließen, d. h., wenn Kraftvektor F und Wegin-
krement dr den gleichen Richtungssinn haben,
gleich null, wenn cos α = 0 ist, d. h., wenn F und dr Abb. 6.2 Die von einem Moment verrichtete Arbeit kann man sich mithilfe
senkrecht aufeinander stehen, und einer Wippe veranschaulichen
6.1 Arbeit und Potenzial 151
Technische Mechanik
F angreifen.
Verdreht sich die Wippe um einen kleinen Winkel dϕ aus P
1
der Horizontalen, so verschieben sich die Kraftangriffs-
punkte um jeweils a dϕ, und zwar an der linken Seite dr
der Wippe in Richtung der Kraft und an der rechten Sei- r G
te der Wippe gegen die Richtung der Kraft. Die an der
2
linken Seite angreifende Kraft F verrichtet also die Arbeit
dW = F · a dϕ, was sich, da F · a dem Moment der Kraft F
um den Drehpunkt der Wippe entspricht, auch als
y
dW = M · dϕ
x
ausdrücken lässt. Mit gleicher Argumentation verrichtet
die am rechten Ende der Wippe angreifende Kraft F, bei Abb. 6.3 Zur Herleitung der von der Gravitationskraft verrichteten Arbeit
welcher Kraftvektor und Verschiebungsvektor in genau
entgegengesetzte Richtungen orientiert sind, die differen-
zielle Arbeit
woraus sich für die gesamte Bewegung von
1 nach
2
dW = −F · a dϕ = −M · dϕ.
Diese beiden Gleichungen entsprechen formal denjenigen W= dW = −G · dz = −G · (z2 − z1 )
für die Arbeit einer Kraft, wenn der Verschiebungsvek- 1→ 2 1→ 2
tor dr in bzw. gegen die Kraftrichtung orientiert ist. Diese
formale Gleichheit gilt auch für die allgemeine vektoriel- ergibt. Die von der Gravitation verrichtete Arbeit hängt
le Definition der von einem Moment M bei einer kleinen also nur von der Lage von Anfangspunkt 1 und End-
Verdrehung dϕ verrichteten differenziellen Arbeit dW. Sie punkt 2 ab, nicht jedoch vom Verlauf der Bahn zwischen
lautet: Anfangs- und Endpunkt. Sie ist wegunabhängig.
Differenzielle Arbeit eines Moments M Kräfte, deren Arbeiten wegunabhängig sind, werden kon-
servative Kräfte genannt. Eine ebenfalls gebräuchliche
Bezeichnung ist Potenzialkräfte, da man für diese Kräfte
dW = M dϕ,
ein Potenzial Π– oft auch potenzielle Energie genannt –
definieren kann, hinter dem die Vorstellung steht, dass die
an einem Körper von konservativen Kräften verrichtete
woraus wir durch Integration für eine endlich große Dre-
Arbeit einem Verlust an Potenzial dieses Körpers ent-
hung
spricht.
W= dW = M · dϕ
1→ 2 1→ 2 Das Potenzial Π einer konservativen Kraft beträgt
erhalten.
Π = −W.
Beispiel Für den in Abb. 6.5 skizzierten dreiteiligen Zusammenfassend können wir zu den Vor- und Nachtei-
Gerberträger soll die Lagerreaktion MA ermittelt werden. len der Anwendung des Arbeitssatzes festhalten, dass
Technische Mechanik
die geschickte Wahl der virtuellen Verrückung zu ei-
F1 F2 ner Gleichung mit nur einer Unbekannten führte (im
Gegensatz zu einem Gleichungssystem aus neun Glei-
G1 G2 chungen für neun Unbekannte),
andererseits aber die kinematischen Beziehungen zwi-
A B C
a a a a a a schen den einzelnen virtuellen Verschiebungen der
Kraftangriffspunkte bzw. Verdrehungen der Momen-
tenangriffspunkte kompliziert sein können.
Abb. 6.5 Dreiteiliger Gerberträger
Beispiel: Berechnung von Lagerreaktionen und Schnittgrößen eines Kragträgers mit dem Prinzip
Technische Mechanik
l
=⇒ Ay = F und
3. δW = −MA δϕ + F l δϕ = 0
Zunächst zur Berechnung der Lagerreaktionen: In =⇒ MA = F l.
Schritt 1 ist die Einspannung so zu verändern, dass
der Träger in Richtung der gesuchten Lagerreaktion be- Für das eben behandelte Beispiel des Kragträgers sol-
weglich wird. Wir verändern die Starre Einspannung len die Schnittgrößen bestimmt werden.
des Trägers also in
Der Einbau der Gelenke und die jeweilige virtuelle Ver-
1. eine horizontal bewegliche Hülse, um Ax zu bestim- rückung gestaltet sich wie folgt:
men,
2. eine vertikal bewegliche Einspannung, um Ay zu
bestimmen und F
3. eine drehbewegliche Einspannung (ein Festlager),
um MA zu bestimmen.
N N
x δs
Dabei setzen wir die gesuchte Lagerreaktion jeweils als
äußere Last an. F
Q
In sauberen Skizzen zeichnen wir nun ein, wie sich die
drei modifizierten Systeme bewegen können (Schritt 2,
δs
die virtuelle Verrückung).
Q
x
F
Ax M
M
δs
δs δφ F
l δφ
F x x–l
δs
Ay
6.3 Formänderungsarbeit und -energie 155
Hieraus liefert das Ansetzen der virtuellen Arbeit Achtung Beachten Sie, dass es sich bei virtuellen Ver-
rückungen um differenziell kleine Verrückungen han-
1. δW = −N δs = 0
Technische Mechanik
delt. Für virtuelle Verdrehungen gelten daher sin δϕ =
=⇒ N (x) = 0, δϕ und cos δϕ = 1. Nehmen Sie als Beispiel das un-
2. δW = Q δs − F δs = 0 tere Bild (das zur Bestimmung des Schnittmoments):
=⇒ Q(x) = F und Die virtuelle Verschiebung der äußeren Kraft F beträgt
streng genommen (l − x) sin δϕ, kann aber zu (l − x)δϕ
3. δW = M δϕ + F (l − x) δϕ = 0 vereinfacht werden.
=⇒ M(x) = −F (l − x).
F
l
F A F wmax
l
MT MT
F
∆l u
Abb. 6.9 Tordierte Welle
M(x )2 2
σ σ ∆l
γ 1 σ2 1
A Wi = dV = 2
z dA dx
2 E 2 E Iy
l ∆l (V ) x = 0 (A)
τ
l
l
1 M(x )2
= z2 dA dx,
Abb. 6.10 Zur Herleitung der spezifischen Formänderungsenergie 2 E Iy2
x= 0 (A)
woraus
Da die Spannungen und Verzerrungen nur in seltenen
l
Ausnahmefällen an jedem Punkt im Bauteil gleich groß 1 M(x )2
sind, macht es Sinn, zunächst die auf das Volumen bezo- Wi = dx,
2 E Iy
gene spezifische Formänderungsenergie Wi∗ zu betrach- x= 0
ten.
folgt.
Die in den Normalspannungen gespeicherte spezifische
Formänderungsenergie Wi∗ (Abb. 6.10a) beträgt Tordierte kreiszylindrische Welle der Länge l
1 F Δl 1 F Δl 1 σ2 l
MT ( x ) 2 2
1
Wi∗ = = = σ = . 1 τ2 1
2 V 2A l 2 2 E Wi = dV = 2
r dA dx
2 G 2 G IT
(V ) x = 0 (A)
Bei Schubspannungen (Abb. 6.10b) beträgt die spezifische
Formänderungsenergie l
1 MT ( x ) 2
= r2 dA dx,
2 G IT2
1 F Δl 1 τA·lγ 1 1 τ2 x= 0 (A)
Wi∗ = = = τγ = .
2 V 2 V 2 2G woraus
Aus den vorherigen zwei Gleichungen lässt sich die in l
einem Bauteil insgesamt gespeicherte Formänderungs- 1 MT ( x ) 2
Wi = dx,
energie durch die Integration über das Bauteilvolumen V 2 G IT
x= 0
ermitteln:
folgt.
Wi = Wi∗ dV.
(V )
6.4 Sätze von Castigliano
Für die elementaren Lastfälle Zug/Druck, Biegung und
Torsion wollen wir diese Integration nun durchführen. und Menabrea
Zug/Druck-Stab der Länge l Gehen wir kurz zu den in Abschn. 6.3 hergeleiteten
Formänderungsarbeiten bei Zug-, Biege- und Torsionsbe-
l anspruchung zurück, und leiten wir diese Gleichungen
1 σ2 1 N (x )2
nach der jeweiligen äußeren Belastung ab. Wir erhalten
Wi = dV = dA dx
2 E 2 E A2
(V ) x = 0 (A) ∂W Fl
= = Δ l für den Zugstab,
l N (x )2 ∂F EA
1 ∂W 3
= dA dx, =
Fl
= wmax für den Biegebalken und
2 E A2 ∂F 3 E Iy
x= 0 (A)
∂W M l
woraus = T =ϑ für die tordierte Welle.
∂MT G IT
l Die Ableitungen nach der äußeren Belastung ergeben al-
1 N (x )2
Wi = dx so jeweils die Verformung des Kraftangriffspunktes (bzw.
2 EA
x= 0 des Momentenangriffspunktes). Dieser Zusammenhang
wurde von Carlo A. P. Castigliano (1847–1884) im nach ihm
folgt. benannten Satz allgemein formuliert als
6.4 Sätze von Castigliano und Menabrea 157
a b
Satz von Castigliano FH
Technische Mechanik
q0
∂W ∂W q0 FH
ui = bzw. ϕi = .
∂Fi ∂Mi
A A l
w=?
x
Hierin sind ui die Verschiebung des Kraftangriffspunk- l
tes in Richtung der Kraft Fi und ϕi der Verdrehwinkel
des Momentenangriffspunktes um die Drehachse des Mo- Abb. 6.11 Durchbiegungsberechnung bei einem Kragträger (a Aufgabenstel-
ments Mi . W ist die am Tragwerk verrichtete Formände- lung; b bereits mit eingezeichneter Hilfskraft)
rungsarbeit.
Der Verlauf des Biegemoments lautet in Abhängigkeit
Da bei elastischem Materialverhalten die (äußere) Form-
von FH
änderungsarbeit der (inneren) Formänderungsenergie
entspricht, können wir im Satz von Castigliano die Form-
1
änderungsarbeit W durch die Formänderungsenergie Wi M(x) = − q0 (l − x)2 − FH (l − x),
ersetzen und erhalten so 2
∂W ∂W
Beispiel Ein Kragträger mit gegebenen Werten für l =0 bzw. = 0,
und E Iy wird mit einer gleichfalls gegebenen konstanten ∂Fi ∂Mi
Streckenlast q0 belastet (Abb. 6.11a). Mit dem Satz von
Castigliano ist die Durchbiegung w des freien Trägeren-
des zu berechnen. wobei Fi und Mi die Lagerreaktionskräfte bzw. -momente
sind. Der Satz von Menabrea lässt sich in energetischer
Am freien Trägerende greift keine Kraft an, sodass hier Sicht dergestalt deuten, dass die Formänderungsarbeit ein
eine Hilfskraft FH anzusetzen ist (Abb. 6.11b). Minimum annimmt (Abb. 6.12).
158 6 Energiemethoden und Knicken – Verformungen und Kräfte berechnen
W Schritt 1: Wir wählen ein Lager aus, hier das Lager B, und
ersetzen es durch seine als äußere Kraft angesetzte Lager-
Technische Mechanik
F bzw. M
Schritt 2: Die verbleibenden Lagerreaktionen lauten in
tatsächliche Abhängigkeit der statischen Unbekannten By
Lagerreaktion
1 2
Abb. 6.12 Energetische Deutung des Satzes von Menabrea
Ay = q0 l − By und MA = q0 l − By · l.
2
Technische Mechanik
Lange und dünne Träger können unter Druckbelastung
knicken. Dabei ist mit Knicken nicht etwa das scharfe x
Abknicken eines Stabes an einer ganz bestimmten Stel-
le gemeint, so wie man einen Strohhalm an einer Stelle Abb. 6.15 Statisches Gleichgewicht am ausgeknickten Stab
„durchknicken“ kann, sondern ein plötzliches Ausbiegen
des gesamten Trägers. Wenn Sie beispielsweise einen dün-
nen Holzstab (ca. 1 m lang und 3 bis 5 mm im Durchmes- Bei knickgefährdeten Stäben ist die Stabkraft
ser) zwischen beide Handflächen nehmen und langsam
die Druckkraft auf den Stab steigern, dann geschieht erst FK entscheidend, bei der der Stab knicken
einmal nichts Sichtbares, bis es plötzlich „plopp“ macht würde
und der Stab ausknickt.
In welche Richtung der Stab dabei ausknickt, kann man Knicken ist mit großen Verformungen verbunden, und so
nicht vorhersagen. Ob nach vorne, hinten, oben oder un- müssen wir das statische Gleichgewicht anders als bisher
ten: Bei symmetrischer Versuchsdurchführung sind alle am verformten Stab aufstellen. Nehmen wir als Beispiel
Richtungen möglich. Rein theoretisch, bei wirklich abso- einen zwischen zwei Handflächen genommenen Holzstab
luter Symmetrie, müsste der Stab gar nicht knicken – für (Abb. 6.15). Der Stab werde an seinen Enden durch zentri-
welche Richtung sollte er sich auch entscheiden? – aber sche Druckkräfte belastet, das Eigengewicht des Stabs sei
die Realität kennt keine absolute Symmetrie. Schon ein vernachlässigbar.
ganz kleiner Fluchtungsfehler oder eine minimale Er-
schütterung reichen aus, um Knicken auszulösen. Das Biegemoment an einer beliebigen Position x im Stab
beträgt
Letztlich ist das wie bei einem gut gespitzten Bleistift, der
auf seiner Spitze stehenbleiben soll. Theoretisch könnte
M (x ) = F · w(x ),
das gelingen, aber in der Praxis klappt es einfach nicht.
Man spricht in derartigen Fällen von Instabilität, denn ei-
wobei w(x) die Durchbiegung des ausgeknickten Stabes
ne kleine Abweichung von der Ideallage reicht aus, um
das ganze System schlagartig zu verändern. ist. Des Weiteren gilt die Differenzialgleichung der elasti-
schen Linie,
Knicken ist gefährlich, denn es setzt schlagartig und ohne
deutliche Vorankündigung ein, zudem verliert ein ausge- M(x )
knickter Stab sofort einen Großteil seiner Tragfähigkeit. So w (x) = − .
E Iy
kann das Knicken von tragenden Bauteilen spektakuläre
Folgenhaben. Dergroße Stromausfall im Münsterlandvom Wir führen beide Gleichungen zu
November 2005, von dem 250.000 Menschen zum Teil meh-
rere Tage lang betroffen waren, wurde durch das Knicken
F(x )
von einzelnen Streben und dem darauffolgenden Kollaps w (x) + w(x ) = 0
von rund 50 Hochspannungsmasten verursacht. Extreme E Iy
Vereisung der Leitungen ließ die von den Streben zu tragen-
den Lasten über ihre jeweiligen Knicklasten ansteigen. zusammen und erhalten somit eine homogene Differen-
zialgleichung 2. Ordnung zur Bestimmung von w(x) und
Frage 6.4 FK . Ihre Lösung lautet
Was ist mit den abgebildeten Schienen passiert? Hinweis:
Die Schienen sind durchgehend geschweißt, und die Auf-
F F
nahme entstand im Hochsommer. w(x) = A · cos · x + B · sin ·x .
E Iy E Iy
A = 0,
Die mögliche Lösung B = 0 ist nicht von Interesse, da Tab. 6.1 Übersicht über die vier Eulerfälle und die dazugehörigen Knicklängen
dann in jedem Punkt des Stabes w(x) = 0 wäre und der Eulerfall: Knicklänge lK :
Technische Mechanik
F
Knicklast
π 2 E Iy
FK =
l2
Für den Werkstoff wird zunächst eine zulässige Druck-
spannung σP gebildet, die sicherstellt, dass die Spannun-
erreicht. Alle höheren Knicklasten (für n = 2, 3, . . .) wer- gen im Stab ausreichend weit unterhalb der Streckgrenze
den erst erreicht, wenn der Stab längst ausgeknickt ist, liegen. Eine häufig verwendete Gleichung zur Bildung
und sind daher technisch uninteressant. von σP ist
Wenn ein Druckstab anders als in Abb. 6.15 gelagert ist, so σP = 0,8 Re ,
hat er auch eine andere Knicklast. Vier Lagerungen sind
von besonderem technischen Interesse, die nach Leonhard wobei Re die Streckgrenze ist. Unter der Kraft
Euler (1707–1783) als Eulerfälle bezeichnet werden.
FP = σP · A
Für jeden Eulerfall lässt sich die Knicklast mit obiger Glei-
chung berechnen, wenn anstelle der tatsächlichen Länge würde im Druckstab die zulässige Druckspannung er-
des Stabes eine effektive Länge, die sogenannte Knick- reicht werden. Soll der Stab knicken, bevor σP erreicht
länge lK verwendet wird. In der Tab. 6.1 sind die vier wird, muss
Eulerfälle mit ihren jeweiligen Knicklängen aufgeführt.
Eines darf dabei aber nicht vergessen werden. Die Glei- π 2 E Iy
FK < FP =⇒ < σP A
chung zur Berechnung der Knicklast gilt nur für linear- l2K
elastisches Materialverhalten. Und hierin kann ein Pro-
blem liegen. Sollte die Streckgrenze vor dem Ausknicken gelten. Wir stellen diese Ungleichung um – Materialpa-
des Stabes überschritten werden, so würde der Stab schon rameter auf die linke und Geometrieparameter auf die
bei kleineren Lasten als FK knicken. rechte Seite – und erhalten
Man kann sich das in etwa so vorstellen: Nach Überschrei- E A
ten der Streckgrenze flacht die Spannungs-Dehnungs- π < lK .
σP Iy
Kurve ab, der Werkstoff hat gewissermaßen einen nied-
rigeren effektiven Elastizitätsmodul und der Knickstab
folglich eine kleinere Knicklast als berechnet. Für die Die linke Seite dieser Ungleichung wird als Grenzschlank-
Gültigkeit der Euler-Gleichung muss daher sichergestellt heitsgrad λ0 , die rechte Seite als Schlankheitsgrad λ
sein, dass die Spannungen im Druckstab mit Sicherheit bezeichnet. Der Grenzschlankheitsgrad ist ein dimensi-
unterhalb der Streckgrenze liegen. onsloser Materialparameter, für den Baustahl S235 (E =
205 GPa, Re = 235 MPa) beträgt er beispielsweise 104.
Dies wird in der ingenieurtechnischen Praxis mithilfe des Der ebenfalls dimensionslose Schlankheitsgrad λ ist ein
sogenannten Schlankheitsgrades gewährleistet. Damit hat reiner Geometrieparameter; je länger und dünner ein
es Folgendes auf sich: Stab, desto größer λ.
6.5 Euler’sches Knicken 161
Technische Mechanik
In vielen Fällen wird dem Stab durch die Lagerung den. (Ein Beispiel einer eher seltenen Ausnahme, bei
keine Vorzugsrichtung für das Ausknicken vorge- der die Eulerfälle nach oben oder unten sowie nach
geben. So könnte zum Beispiel ein vertikal verlau- vorne oder hinten unterschiedlich sind, ist Aufgabe
fender Stab sowohl nach rechts oder links als auch 6.8.)
nach vorne oder hinten nach dem gleichen Eulerfall Zur korrekten Identifizierung des Eulerfalls kann es
ausknicken. Der Stab knickt dann in die Richtung sehr hilfreich sein, den ausgeknickten Stab in die
des kleinsten axialen Flächenträgheitsmoments aus. Zeichnung der Aufgabenstellung mit einzuzeich-
Für Rechteckquerschnitte bedeutet das: Für die Be- nen und die Form des ausgeknickten Stabes mit der
rechnung von Iy ist als Breite b die größere und Tabelle der Eulerfälle zu vergleichen.
als Höhe h die kleinere Rechteckseite zu verwen-
Zusammenfassend wird die kritische Knicklast eines die dieser Druckkraft entsprechende Temperaturdifferenz
Druckstabes wie folgt berechnet: ΔTK .
Schritt 1: Eulerfall 4 liegt vor:
Schritt 1: Eulerfall identifizieren. Hierzu kann es sehr
hilfreich sein, die ausgeknickte Form des Stabes zu
l
skizzieren. lK = = 500 mm.
Schritt 2: Schlankheitsgrad λ und Grenzschlankheits- 2
grad λ0 berechnen. Für λ > λ0 versagt der Stab durch
Knicken, für λ < λ0 durch Erreichen der kritischen Schritt 2:
Druckspannung.
Schritt 3: Kritische Last berechnen. Dies ist bei λ > λ0 A bh 12
λ = lK = lK = 500 mm = 173,
die Knicklast Iy b h3 10 mm2
12
π 2 E Iy E
FK = λ0 = π mit σP = 0,8 Re
l2K σP
205.000 MPa
und für λ < λ0 die Kraft, bei der die kritische Druck- =⇒ λ0 = π = 84.
0,8 · 355 MPa
spannung erreicht wird,
Da λ > λ0 ist, wird der Stab durch Knicken und nicht
FP = σP · A. durch plastische Verformung versagen.
Schritt 3:
Beispiel Eine rechteckige dünne Stahlstange (Län-
ge l = 1 m, Breite b = 20 mm, Höhe h = 10 mm, Elas- 20 mm (10 mm)3
π 2 E Iy π 2 205.000 N/mm2
tizitätsmodul E = 205 GPa, Streckgrenze Re = 355 MPa, FK = = 12
Wärmeausdehnungskoeffizient α = 10−5 K−1 ) wird span- l2K (500 mm)2
nungsfrei zwischen zwei starre Betonwände eingemauert = 13,5 kN.
(Abb. 6.16).
Die dieser Kraft entsprechende Temperaturdifferenz be-
Querschnitt: trägt
l=1m
FK 13.500 N
ΔTK = =
EAα 205.000 N/mm2 · 200 mm2 · 10−5 K−1
Abb. 6.16 Zwischen zwei starre Wände eingemauerte Stahlstange = 33 K.
Antwort 6.1 Durch Ableiten: Aus der Definition des Po- beide Lastfälle die Durchbiegung des freien Trägerendes
tenzials erhalten wir dann F = −dΠ/dr, bzw. in Koordi- berechnen, und wir erhielten Ay durch Gleichsetzen die-
naten: Fx = −dΠ/dx, Fy = −dΠ/dy und Fz = −dΠ/dz. ser beiden Durchbiegungen.
Aufgaben
Technische Mechanik
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
6.1 • Berechnen Sie mithilfe des Arbeitssatzes die 6.4 • • • Ein Biegeträger der Länge l ist auf drei La-
Lagerreaktionen des abgebildeten Trägers. gern abgestützt und trägt eine konstante Streckenlast q0 .
Berechnen Sie die Lagerreaktionen.
F
q0
A B C
A D
2l l
x
l l
Resultat: 2 2
F 2
Ax = 0, Ay = , By = F.
3 3
Resultat:
3 5
6.2 •• Berechnen Sie mithilfe des Arbeitssatzes die Ay = Cy = q0 l, By = q0 l.
Verläufe von Querkraft und Biegemoment von Aufgabe 16 8
6.1.
Resultat: 6.5 • • • Der skizzierte Träger ist im Punkt A fest ein-
F 1 gespannt und im Punkt B von der Pendelstütze B-C
QI = , MI = F x. abgestützt. An seinem freien Ende greift die Vertikalkraft
3 3
2 2 F an. Die Werte von Biegesteifigkeit E Iy im horizontalen
QII = − F, MII = F (3l − x). Trägerteil und Dehnsteifigkeit E A in der Pendelstütze sei-
3 3
en gegeben. Berechnen Sie mit dem Satz von Menabrea
die Kraft in der Pendelstütze.
6.3 • • • Für einen 3-Punkt-Biegeträger mit gegebenen
Werten für E, Iy und F sind die Durchbiegungen in den l l
Punkten B und C zu berechnen. Der Einfluss der Quer- F
kraft kann vernachlässigt werden.
A C
F
l
A D
B C
l l l B
x
2 4 4
Resultat:
Resultat: 5 l2
6 Iy
F l3 11 F l3 · F.
wB = , wC = . l2
+ 1
48 E Iy 768 E Iy 3 Iy A
164 6 Energiemethoden und Knicken – Verformungen und Kräfte berechnen
6.6 • Ein Kran soll als ebenes Fachwerk mit 15 mm × 15 mm. An Materialparametern seien gegeben:
Vierkantrohren des Querschnitts 50 mm × 50 mm × E = 205.000 MPa, Re = 355 MPa
Technische Mechanik
1
6.8 •• Ein rechteckiger Balken (Länge 500 mm,
Querschnitt 10 mm × 20 mm) aus Stahl (E = 205.000 MPa,
Re = 355 MPa) ist an einem Ende fest eingespannt. Am
1m 1m anderen Ende steckt er in einer eng anliegenden Führung.
F Diese ermöglicht es dem Balken, in vertikale Richtung frei
auszuweichen, während ein Ausweichen in horizontale
Richtung sowie die entsprechende Winkelbeweglichkeit
1. Bestimmen Sie die Stabkraft in Stab 1. unterbunden werden. Der Balken wird durch eine Druck-
2. Berechnen Sie die für den Kran maximal zulässige Kraft kraft F belastet.
Fzul , bei der in Stab 1 gerade 4-fache Sicherheit gegen
Knicken vorliegt. 10 mm
Resultat:
S1 = −F, Fzul = 33 kN.
20 mm
50
0
6.7 • Die abgebildete, in den Punkten A und C
m
m
gelagerte Struktur wird durch die Streckenlast q0 =
2 N/mm belastet. Zu untersuchen ist die Knickgefähr-
dung des Stützbalkens zwischen den Punkten B und C.
Der Stützbalken habe den quadratischen Querschnitt
q0 = 2 MPa F
A B
Resultat:
C
1. Eulerfall 1 für vertikales Ausknicken, Eulerfall 4 für ho-
rizontales Ausknicken.
400 mm 200 mm
2. 13,5 kN.
Kinematik des
7
Technische Mechanik
Massenpunktes –
Grundbegriffe der Bewegung
Wie kann man
Bewegungen beschreiben?
Welche Geschwindigkeit
erreicht ein Sprinter?
Welche Beschleunigungen
wirken bei einer
Kurvenfahrt?
Technische Mechanik
Die Bewegung eines Punktes P im Raum lässt sich Der Beschleunigungsvektor ist die erste Ableitung
beschreiben, indem man den Ortsvektor des Geschwindigkeitsvektors nach der Zeit
r = r ( t) dv
a= = v̇
dt
in Abhängigkeit der Zeit t angibt. Die Verbindungs- bzw. die zweite Ableitung des Ortsvektors nach der
linie der Spitzen des Ortsvektors stellt die Bahn des Zeit
Massenpunktes dar. An der Abfolge der Zeitmarken
auf der Bahn kann man den Durchlaufsinn der Bahn d2 r
a= = r̈ .
erkennen. dt
Wie die Geschwindigkeit ist auch die Beschleunigung
eine vektorielle Größe. Im Gegensatz zum Geschwin-
Wenn zwischen zwei Zeitmarken auf der Bahn das Zeit- digkeitsvektor ist der Beschleunigungsvektor aber
intervall Δt vergangen ist, dann ist die mittlere Geschwin- nicht stets parallel zur Bahn gerichtet. Er steht aber
digkeit vmittel = Δr/Δt in diesem Zeitintervall umso grö- auch nicht beliebig zur Bahn; wie sich in Abschn. 7.5
ßer gewesen, je stärker sich der Ortsvektor in diesem zeigen wird, hat er vielmehr im Allgemeinen neben
Zeitintervall geändert hat. der Tangentialkomponente auch eine Normalkom-
ponente, die senkrecht auf der Bahn steht und immer
Die momentane Geschwindigkeit zu einem gewissen zum Krümmungsmittelpunkt der Bahn zeigt.
Zeitpunkt t entsteht aus der mittleren Geschwindigkeit,
indem man sich das Messintervall Δt beliebig klein vor-
stellt, d. h. im Grenzübergang Δt → 0 aus der Ableitung Um Bewegungen konkret berechnen zu können, wählt
des Ortsvektors nach der Zeit. Wir können also sagen: man einen Satz von Koordinaten und beschreibt zu-
nächst, wie sich der Ortsvektor in diesen Koordinaten
ausdrücken lässt. Anschließend kann man durch Ablei-
Geschwindigkeitsvektor eines Massenpunktes
ten den Geschwindigkeits- und Beschleunigungsvektor
Wenn die Bahn r = r(t) des Punktes bekannt ist, berechnen. Wir beginnen mit einem einfachen Sonderfall,
kann man den Geschwindigkeitsvektor nämlich der geradlinigen Bewegung eines Körpers.
Δr dr
v = lim = = ṙ
Δt→0 Δt dt 7.3 Geradlinige Bewegungen
durch Ableiten des Ortsvektors nach der Zeit t be-
rechnen. Die Geschwindigkeit ist eine vektorielle Grö- Eine geradlinige Bewegung liegt vor, wenn die Bahn des
ße. Da die Änderung Δr des Ortsvektors für Δt → 0 Massenpunktes ungekrümmt ist. Wie bei allen Bewegun-
in Richtung der Tangente an die Bahn zeigt, ist der gen längs einer vorgegebenen Bahn so genügt auch im
Geschwindigkeitsvektor parallel zur Bahn gerichtet. Sonderfall der geradlinigen Bewegung eine Koordinate,
die Wegkoordinate s, um die Position des Punktes auf
der Bahn festzulegen. Je nach Aufgabenstellung wird man
aber auch andere Bezeichnungen benutzen und dann bei-
Frage 7.2 spielsweise von der Höhenkoordinate h reden.
Die Dimension der Geschwindigkeit ist Länge/Zeit; ihre Bei allen kinematischen Fragestellungen lassen sich zwei
SI-Grundeinheit ist m/s. Im Alltagsleben werden Ge- Grundaufgaben unterscheiden:
schwindigkeiten dagegen oft in der Einheit km/h ange-
geben. Rechnen Sie die Geschwindigkeit v = 100 km/h in
die Einheit m/s um! Kinematik der geradlinigen Bewegung
Ist der Funktionsverlauf s = s(t) bekannt, so kann
durch Differenziation berechnet werden, welche
Beschleunigung ist ein Maß, wie stark sich der Geschwin- Geschwindigkeit
digkeitsvektor v im Laufe der Zeit t ändert. Ausgehend
von der mittleren Beschleunigung amittel = Δv/Δt im v ( t) =
ds
Zeitintervall Δt erhält man durch den Grenzübergang dt
Δt → 0 den momentanen Beschleunigungsvektor.
168 7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung
gung) handelt.
dv d2 s
a ( t) = =
dt dt Gleichförmige Bewegung: Für eine gleichförmige Bewe-
gung mit v(t) = v0 = konst. liefert die Lösung der Inte-
der Massenpunkt zu einem Zeitpunkt t hat.
grale das Weg-Zeit-Gesetz zu
Soll umgekehrt aus einem bekannten Beschleu-
nigungsverlauf a(t) die Geschwindigkeit und
s(t) = s0 + v0 (t − t0 ) .
die Position rekonstruiert werden, so muss in-
tegriert werden. Dabei muss zusätzlich durch Wenn man den Anfangszeitpunkt zu t0 = 0 wählt und
Anfangsbedingungen festgelegt sein, ab welchen den Weg ab diesem Zeitpunkt misst, dann gilt s0 = 0 und
Zeitpunkt t0 die Bewegung betrachtet wird und die Beziehung vereinfacht sich zu
welche Geschwindigkeit v0 = v(t0 ) und welche
Position s0 = s(t0 ) zu diesem Zeitpunkt vor- s ( t ) = v0 t .
liegen. Eine erste Integration des Zusammen-
hangs dv = a(t)dt mit der Anfangsbedingung
v0 = v(t0 ) liefert zunächst die Geschwindigkeit Gleichförmig beschleunigte Bewegung: Im Fall einer
gleichförmig beschleunigten Bewegung mit a(t) = a0 =
t
konst. erhält man durch zwei hintereinander ausgeführte
v ( t ) = v0 + a(t̄) dt̄ Integrationen als Geschwindigkeit-Zeit-Gesetz
t0
v(t) = v0 + a0 (t − t0 )
und durch erneute Integration folgt aus
ds = v(t)dt mit der Anfangsbedingung s0 = s(t0 ) und als Weg-Zeit-Gesetz
die Position zu
1
t s(t) = s0 + v0 (t − t0 ) + a0 (t − t0 )2 .
2
s ( t ) = s0 + v(t̄) dt̄ .
t0 Falls zusätzlich t0 = 0, s0 = 0, v0 = 0 gelten, vereinfacht es
sich zu
1 2 1
Für eine mathematisch korrekte Darstellung müssen für a(t) = a0 , v(t) = a0 t , s ( t) = a0 t = vt .
2 2
die Integrationsvariable und die obere Integrationsgrenze
unterschiedliche Formelsymbole verwendet werden. Die Durch Elimination der Zeit t folgt
Integrationsvariable wurde deshalb mit t̄ bezeichnet, um
sie von der oberen Grenze t zu unterscheiden. v2 v2
s= , a0 = , v= 2a0 s.
2a0 2s
Frage 7.3
Der letzte Formelsatz ist besonders für Aufgabenstellun-
Wenn die Geschwindigkeit v = v(t) in Abhängigkeit der
gen nützlich, bei denen der Zeitraum, in der die Bewe-
Zeit gegeben ist, dann folgt die Beschleunigung durch Ab-
gung stattfindet, keine Rolle spielt.
leiten, a = v̇.
Wie kann man die Beschleunigung berechnen, wenn die Beispiel Ein Fahrzeug beschleunigt aus dem Stand her-
Geschwindigkeit v = v(s) in Abhängigkeit des Weges s aus in T = 10 s auf die Geschwindigkeit v1 = 100 km/h.
gegeben ist? Wie groß ist die über den Beschleunigungszeitraum als
konstant angenommene Beschleunigung?
Wir führen eine Wegachse entlang der Fahrtrichtung des
Autos ein und messen die Zeit und die Wegstrecke ab
Bei gleichförmigen Bewegungen dem Beschleunigungsbeginn, es gelten daher die An-
sind die Zeitintegrationen besonders einfach fangsbedingungen t0 = 0, s0 = 0. Da das Fahrzeug aus
dem Stand heraus beschleunigt, gilt für die Anfangsge-
schwindigkeit v0 = 0. Wegen der als konstant angenom-
Die Auswertung der Integrale ist dann besonders ein- menen Beschleunigung handelt es sich um eine gleich-
fach, wenn es sich um eine Bewegung mit konstanter förmig beschleunigte Bewegung. Unter den aufgeführten
7.3 Geradlinige Bewegungen 169
Technische Mechanik
Die grafische Darstellung der Funktionsverläufe 20
a = a(t), v = v(t) und s = s(t) bezeichnet man als 10
Nullstelle
die kinematischen Diagramme einer Bewegung. Auf- 0
grund der Verwandtschaft der Differenziation mit der –10
m
Steigungsberechnung einer Funktion und der Integral- a –20
s2
rechnung mit der Flächeninhaltsberechnung unterhalb –30
des Graphen einer Funktion lassen sich die kinemati- –40
–50
schen Gleichungen auch grafisch interpretieren. 0 2 4 6 8 10 12 14 16
Die Fläche, die der a = a(t)-Verlauf bzw. der v = v(t)-
Verlauf im Intervall t0 ≤ t̄ ≤ t mit der t-Achse ein- a (t) > 0 a(t) < 0
schließt, entspricht dem Zuwachs der Geschwindigkeit v(t) hat v(t) hat
bzw. der Wegstrecke in diesem Zeitraum. Unterhalb positive Steigung negative Steigung
der t-Achse gelegene Flächen zählen dabei negativ. 150
Die Steigung im s = s(t)-Diagramm bzw. v = v(t)- 100 horizontale Tangente
Diagramm zu einem gewissen Zeitpunkt entspricht 50
Nullstelle
der Geschwindigkeit bzw. der Beschleunigung zu die- 0
v m
s –50
sem Zeitpunkt. Umgekehrt hat der v(t)-Verlauf in In-
–100
tervallen, in denen a(t) > 0 bzw. a(t) < 0 ist, positive
–150
bzw. negative Steigung; an Stellen mit a(t) = 0, besitzt
–200
der v(t)-Verlauf eine horizontale Tangente; es hängt 0 2 4 6 8 10 12 14 16
vom Einzelfall ab, ob es sich um eine Extrem- oder ei-
ne Sattelstelle handelt. Entsprechend sind anhand des v(t) > 0 v(t) < 0
Vorzeichens von v(t) Aussagen über das Steigungsver- s(t) hat s(t) hat
halten im s(t)-Diagramm möglich. positive Steigung negative
Steigung
In den gezeichneten Diagrammen sind die Zusammen- 800
hänge für den Fall horizontale Tangente
600
a ( t) =
a0 für 0 ≤ t ≤ t1 , s (m)
400
t−t1
a0 1 − t2 −t1 für t ≥ t1 , 200
0
v0 + a0 t für 0 ≤ t ≤ t1 ,
v ( t) =
(t−t1 )2 –200
v0 + a0 t − 2(t −t ) für t ≥ t1 , 0 2 4 6 8 10 12 14 16
2 1
s0 + v0 t + 12 a0 t2 für 0 ≤ t ≤ t1 , t (s)
s ( t) =
(t−t1 )3
s0 + v0 t + 2 a0 t − 3(t −t )
1 2 für t ≥ t1
2 1 Abb. 7.2 Kinematische Diagramme
dargestellt, wobei die Parameter zu t1 = 4 s, t2 =
6 s, a0 = 10 m/s2 , v0 = 25 m/s, s0 = 50 m gewählt wur-
den.
Anfangsbedingungen gilt für das Geschwindigkeit-Zeit- Schritt 1: Einführung einer Wegachse in Bewegungsrich-
Gesetz v(t) = a0 t. Speziell zur Zeit T hat das Fahrzeug die tung.
Geschwindigkeit v(T ) = a0 T = v1 . Durch Auflösen folgt Schritt 2: Formulierung der Anfangsbedingungen für die
Bewegung.
v1 27,7 m/s Schritt 3: Aufstellen der Geschwindigkeit-Zeit- und Weg-
a0 = = = 2,7 m/s2 .
T 10 s Zeit-Gesetze.
Schritt 4: Auswerten der Gesetze zu speziellen Zeitpunk-
An diesem einfachen Beispiel kann man die typischen ten.
Arbeitsschritte erkennen, die für diesen Aufgabentyp er- Schritt 5: Auflösen des entstandenen Gleichungssystems
forderlich sind: nach den unbekannten Größen.
170 7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung
Das systematische Vorgehen hilft insbesondere, wenn sich bzw. s20 = S und v20 = −v2 . Das Minuszeichen berück-
die Bewegung eines Körpers aus verschiedenen Bewe- sichtigt, dass die Geschwindigkeit des Fahrzeugs 2 entge-
Technische Mechanik
gungsabschnitten zusammensetzt oder mehrere Körper gen der positiven Zählrichtung der s-Koordinate gerichtet
an der Bewegung beteiligt sind. Wir betrachten hierzu die ist. Die kinematischen Gesetze für gleichförmige Bewe-
folgenden beiden Beispiele. gungen liefern für die beiden Fahrzeuge die Weg-Zeit-
Gesetze
Beispiel Ein Sprinter läuft S = 100 m in T = 10 s. Wir
nehmen an, dass auf den ersten s1 = 10 m die Beschleu- s1 ( t ) = v 1 t , s2 ( t ) = S − v 2 t .
nigung konstant ist und der Sprinter dann mit konstanter
Geschwindigkeit bis ins Ziel weiterläuft. Wie groß ist die Das Zusammentreffen ist durch
Geschwindigkeit im zweiten Teil der Strecke?
s1 ( T ) = s2 ( T ) : v1 T = S − v2 T
Wir wählen die Wegachse entlang der Sprintstrecke. Die
Bewegung setzt sich aus einer gleichförmig beschleunig- charakterisiert. Daraus folgt, dass sich die Fahrzeuge nach
ten Bewegung mit noch unbekannter Beschleunigung a0
für 0 ≤ t ≤ t1 und einer gleichförmigen Bewegung für S 1
t1 ≤ t ≤ T zusammen. Dabei bezeichnet t1 den noch un- T= = h = 6 min
v1 + v2 10
bekannten Zeitpunkt, an dem die beiden Bewegungsab-
schnitte ineinander übergehen. Auf den ersten 10 m gel- im Abstand
ten die Anfangsbedingungen t0 = 0, v(t0 ) = 0, s(t0 ) = 0.
v1
Die kinematischen Gesetze v(t) = a0 t, s(t) = 12 a0 t2 liefern, s1 ( T ) = S = 9 km
dass zum Zeitpunkt t1 gilt v1 + v2
Funktion der Zeit vorgegeben ist. Wir müssen aber zur sodass sich die Kugel für t → ∞ asymptotisch der Grenz-
Kenntnis nehmen, dass viele eingeprägte Kräfte nicht di- geschwindigkeit
Technische Mechanik
rekt, sondern nur auf dem „Umweg“ über kinematische
Größen von der Zeit abhängen. In der Mathematik spricht lim v(t) = v1
t→ ∞
man davon, dass die Kraft und wegen des Newton’schen
Grundgesetzes auch die Beschleunigung implizit von der nähert.
Zeit abhängen. Betrachten wir beispielsweise eine Fe-
der, die zwischen zwei sich bewegende Massenpunkte
gespannt ist, dann hängt die Federkraft nur implizit,
nämlich auf dem „Umweg“ über den zeitveränderlichen 7.4 Räumliche Bewegungen
Abstand der Massenpunkte von der Zeit ab. Das typi-
sche Beispiel für eine implizite Zeitabhängigkeit auf dem Nach der Bewegung eines Massenpunktes längs einer
„Umweg“ über die Geschwindigkeit stellt ein fahrendes Geraden wollen wir jetzt gleich den allgemeinen Fall
Auto dar, bei dem die Luftwiderstandskraft von der Fahr- behandeln: der Massenpunkt soll sich längs einer im drei-
geschwindigkeit und diese wiederum vom betrachteten dimensionalen Anschauungsraum eingebetteten Bahn be-
Zeitpunkt abhängt. wegen. Eine ebene Bewegung können wir als Sonderfall
Deshalb sind Beziehungen erforderlich, mit denen man daraus leicht ableiten. Selbstverständlich ist die geradli-
nicht nur im Sonderfall der expliziten Zeitabhängigkeit nige Bewegung ihrerseits wiederum einer Sonderfall der
die kinematischen Grundgrößen auseinander berechnen ebenen Bewegung. Dass sie zuvor trotzdem in einem ei-
kann. Die sechs wichtigsten Fälle dieser sogenannten ki- genen Abschnitt dargestellt wurde, diente in erster Linie
nematischen Grundaufgaben sind in Tab. 7.1 dargestellt. dazu, Sie am einfachsten Beispiel einer Bewegung mit den
Gesetzmäßigkeiten der Kinematik vertraut zu machen.
Während es bei der geradlinigen Bewegung bis auf die
Beispiel Für das Absinken einer Kugel in einer zähen Skalierung nur eine sinnvolle Wahl der einen Koordinate
Flüssigkeit gilt das Bewegungsgesetz gibt, gibt es bei räumlichen Bewegungen mehr als einen
sinnvollen Koordinatensatz. In den Anwendungen sind
hierfür kartesische Koordinaten und Zylinderkoordina-
v
a = a(v ) = g 1 − ten – ihr ebener Sonderfall sind die Polarkoordinaten –
v1
gebräuchlich. Eine besondere Rolle spielt die Darstellung
einer Bewegung in natürlichen Koordinaten.
Die konstante Geschwindigkeit v1 hängt dabei vom Ra-
dius der Kugel und der Zähigkeit der Flüssigkeit ab. Die
Kugel wird aus der Ruhe heraus losgelassen. Bestimmen
Sie das Geschwindigkeits-Zeit-Gesetz v = v(t) der Bewe- Darstellung in kartesischen Koordinaten
gung der Kugel.
Der Übersicht entnehmen wir, dass wir ausgehend von Bei einer Beschreibung in kartesischen Koordinaten führt
der bekannten Beschleunigungsfunktion a = a(v) zu- man als Bezugssystem ein Rechtskoordinatensystem mit
nächst durch Integration die Funktion senkrecht aufeinander stehenden Achsen ein; die Bewe-
gung des Massenpunktes liegt dann fest, sobald die kar-
v
tesischen Koordinaten x, y, z des Massenpunktes als Funk-
1 tion der Zeit bekannt sind. Weil das Newton’sche Grund-
t( v ) = dv̄
a(v̄) gesetz nur bezüglich eines Inertialsystems gilt, wollen wir
0 das Koordinatensystem als ein solches annehmen.
bestimmen können. Dabei wurde die Anfangsbedingung Der Ortsvektor zum Massenpunkt kann dann über eine
v(0) = 0 ausgenutzt. Durch Integration erhalten wir zu- Gleichung der Form
nächst
r(t) = x(t)ex + y(t)ey + z(t)ez
v
1 1 v1 v in den kartesischen Koordinaten ausgedrückt werden.
t( v ) = dv̄ = − ln 1 − . Beachten Sie, dass die Basisvektoren nicht von der Zeit
g 1 − vv̄1 g v1
0 abhängen, weil wir das Bezugssystem als inertial voraus-
gesetzt haben. Deshalb können wir bei der Berechnung
Die Umkehrfunktion lautet der Zeitableitung die Basisvektoren als konstante Größen
behandeln und erhalten die Absolutgeschwindigkeit zu
gt
−v
v ( t ) = v1 1 − e 1 , v(t) = ẋ(t)ex + ẏ(t)ey + ż(t)ez
172 7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung
Die kinematischen Grundgrößen Weg, Geschwin- Tab. 7.1 Grundaufgaben der geradlinigen Punktbewegung
digkeit und Beschleunigung gehen definitionsgemäß Gegeben Anleitung zur Ermittlung der übrigen Funktionen
durch Differenziation nach der Zeit bzw. Integration ds dv
über die Zeit auseinander hervor. In vielen technischen s = s ( t) v( t) = a ( t) =
dt dt
Anwendungsfällen hängt eine kinematische Grund- t
dv
größe aber nicht von der Zeit ab. In der folgenden v = v( t) s ( t ) = s0 + v(t̄) dt̄ a ( t) =
dt
Tabelle ist zusammengestellt, nach welchen Zusam- t0
menhängen dann die Grundgrößen ineinander umge- t t
rechnet werden können. a = a ( t) v(t) = v0 + a(t̄) dt̄ s ( t ) = s0 + v(t̄) dt̄
t0 t0
Falls erforderlich folgen weitere Zusammenhän- s
ge, indem man die Umkehrfunktion bildet. Wenn 1 dv(s)
v = v( s ) t(s) = t0 + ds̄ a ( s ) = v( s )
z. B. t = t(s) gegeben oder berechnet wurde, so erhält v(s̄) ds
s0
man s = s(t) durch Bilden der Umkehrfunktion (sofern s s
1
die Umkehrfunktion überhaupt existiert). a = a (s) v2 (s) = v20 + 2 a(s̄) ds̄ t(s) = t0 + ds̄
v(s̄)
s0 s0
v v
1 v
a = a ( v) t(v) = t0 + dv̄ s ( v ) = s0 + dv̄
a(v̄) a(v̄)
v0 v0
z
Darstellung einer räumlichen Bewegung in kartesi-
P
schen Koordinaten
r = r ( t) Wenn man die Bewegung eines Massenpunktes
in kartesischen Koordinaten beschreibt, so gilt für
den Ortsvektor die Darstellung
⎛ ⎞
z x ( t)
O r = ⎝ y ( t) ⎠ .
x z ( t)
y
Ist das Bezugssystem ferner ein Inertialsys-
x y tem, so folgen die Absolutgeschwindigkeit und
-beschleunigung
Abb. 7.3 Kartesische Koordinaten ⎛ ⎞ ⎛ ⎞
ẋ(t) ẍ(t)
v = ⎝ ẏ(t) ⎠ , a = ⎝ ÿ(t) ⎠
und durch erneute Differenziation die Absolutbeschleu- ż(t) z̈(t)
nigung zu
durch koordinatenweise Differenziation des Orts-
a(t) = ẍ(t)ex + ÿ(t)ey + z̈(t)ez . vektors.
Sind umgekehrt die Koordinaten ax , ay , az der Ab-
Wenn die Basisvektoren nicht von der Zeit abhängen, solutbeschleunigung
⎛ ⎞
erhält man die Absolutgeschwindigkeit und -beschleuni- ax (t)
gung, indem nur die Koordinaten des Ortsvektors ein- a = ⎝ ay (t) ⎠
bzw. zweimal nach der Zeit differenziert werden. In die- az (t)
sem Fall kann man ohne die Gefahr von Missverständnis-
sen auch eine Darstellung verwenden, die nur die Koordi- als Funktion der Zeit t bekannt, dann liefert ei-
naten, nicht aber die Basisvektoren explizit aufführt. Wir ne koordinatenweise Integration die Absolutge-
nutzen dies in der folgenden Zusammenfassung aus.
7.4 Räumliche Bewegungen 173
Technische Mechanik
eφ
Nach diesen rein mathematischen Vorarbeiten können
eρ wir damit beginnen, eine Bewegung in Zylinderkoordina-
ten zu beschreiben. Die Arbeitschritte sind dieselben wie
bei kartesischen Koordinaten; wir müssen aber bedenken,
dass im Gegensatz zu den kartesischen Koordinaten sich
O die Basisvektoren ändern, wenn sich die Koordinaten än-
φ dern. Wir beginnen damit, den Ortsvektor
Welche Flugbahn hat ein Körper, der schräg nach oben bedingung für v0 folgt der Geschwindigkeitsvektor
geworfen wird? Der Luftwiderstand wird vernachläs-
t
sigt. Diese klassische Problemstellung der ebenen Ki- v0 cos α 0 v0 cos α
v= + dt̄ = .
nematik ist unter dem Namen schiefer Wurf bekannt. v0 sin α −g v0 sin α − gt
0
Technische Mechanik
r dv d
φ R aϱ a= = ω × r = ω̇ × r + ω × v
dt dt
O O O
R = ω̇ × r + ω × ω × r .
s=0
Richtung der Geschwindigkeit zu ändern. Krümmungskreis
M
en
vorgegebene
eb Bahn
P et
O
7.5 Bewegungen auf vorgegebener
x
Bahn. Beschreibung einer y
Koordinaten
Wir übernehmen aus der Mathematik das Ergebnis, dass
In den vorigen Abschnitten wurden verschiedene Dar- sich die natürliche Basis aus dem Tangentenvektor et =
stellungsarten von Bewegungen betrachtet. Dabei wur- dr
ds (er ist tangential zur Bahn in Richtung wachsender
de stillschweigend vorausgesetzt, dass die Koordinaten s-Werte gerichtet und vom Betrage eins), dem Hauptnor-
zur Beschreibung der Bewegung unabhängig voneinander malenvektor en = 1κ de t
sind. Bewegt sich der Punkt aber entlang einer vorgege- ds (er ist senkrecht zur Bahn in Rich-
tung des Krümmungsmittelpunktes gerichtet und vom
benen Bahn, so legt die Kontur der Bahn Abhängigkeiten Betrage eins) und dem Binormalenvektor eb = et × en zu-
zwischen den Koordinaten fest. Dann genügt eine Koordi- sammensetzt.
nate, um die Position des Punktes auf der Bahn eindeutig
festzulegen; man spricht deshalb auch von eindimensiona- Dabei bezeichnet κ = | de
ds | die Krümmung der Bahnkurve
t
len Bewegungen. Als Koordinate besonders geeignet ist die im gerade betrachteten Kurvenpunkt. Sie stimmt mit dem
längs der vorgegebenen Bahn gemessene Bogenlänge s. Kehrwert des Radius des Krümmungskreises in diesem
Punkt überein, κ = 1/R. Die drei Basisvektoren bilden ei-
Man unterscheidet die folgenden Fälle: ne kartesische Basis, die auch als begleitendes Dreibein
Freie Bewegung: In diesem Fall liegt die Bahn nicht fest, oder Frenet’sche Basis bezeichnet wird (Abb. 7.6). Ihrer
sondern stellt sich aufgrund der auf den Massenpunkt Konstruktion nach handelt es sich bei der Frenet’schen
wirkenden Kräfte ein. Aufgabe der Mechanik ist es, aus Basis um eine lokale Basis, d. h. ihre Basisvektoren haben
den wirkenden Kräften zu bestimmen, welche Bahn der im Allgemeinen an jedem Punkt der Bahn eine andere
Körper nimmt und nach welchem Zeitgesetz er sich auf Orientierung. Wie schon bei der Beschreibung in Zylin-
dieser Bahn bewegt. Dies ist die Fragestellung der direkten derkoordinaten müssen wir für kinematische Fragestel-
Kinetik. Beispiele für freie Bewegungen sind der schiefe lungen zusätzlich wissen, wie sich der Ortsvektor und der
Wurf oder eine Ballonfahrt. Basisvektor et mit der Bogenlänge ändern. Aus den vor-
her angegebenen Beziehungen folgt dafür
Geführte Bewegung: In diesem Fall liegt die Bahn von
vornherein fest, da sich der Punkt längs einer vorgege- dr det
benen Bahn bewegen muss. Die Aufgabe der Mechanik = et , = κen .
ds ds
ist es dann, die Kräfte zu berechnen, die erforderlich
sind, damit der Massenpunkt sich auf der vorgegebenen Nach diesen Vorarbeiten können wir beginnen, die Ki-
Bahn nach einen ebenfalls vorgegebenen Zeitgesetz be- nematik eines Punktes, der sich auf einer vorgegebenen
wegt. Man bezeichnet diese Fragestellung auch als inverse Bahn bewegt, zu untersuchen. Als Koordinate benutzen
Kinetik. Eine geführte Bewegung liegt beispielsweise bei wir die längs der Bahn gemessene Bogenlänge s, die sich
einem Linienflug oder bei einer Achterbahnfahrt vor. aufgrund der Bewegung des Punktes im Lauf der Zeit än-
Für freie Bewegungen wurden in den letzten Abschnitten dert, s = s(t). Die Position des Punktes auf der Bahn wird
dann durch den Ortsvektor
die Beschreibung in kartesischen und in Zylinderkoordi-
naten vorgestellt. Für eine Bewegung auf einer vorgege-
benen Bahn gibt es eine alternative Beschreibungsform. r = r (s(t))
Es lassen sich nämlich in diesem Fall Koordinaten definie-
ren, die nicht willkürlich gewählt sind, sondern sich allein beschrieben. Er hängt implizit von der Zeit ab. Um den
aus der Form der Bahnkurve r = r (s) ableiten lassen; Geschwindigkeitsvektor berechnen zu können, benötigen
die Beschreibung einer Bewegung in diesem Koordina- wir deshalb zunächst die Kettenregel
tensatz wird als Beschreibung in natürlichen Koordinaten
bezeichnet. Als Basis zur Zerlegung der Vektoren wird ei- dr dr ds
v= = .
ne natürliche Basis verwendet. dt ds dt
7.5 Bewegungen auf vorgegebener Bahn. Beschreibung einer Bewegung in natürlichen Koordinaten 177
Die skalare Ableitung ds Wenn die Form r = r (s) der Bahnkurve in der Bogenlän-
dt ist die Bahngeschwindigkeit, mit
der sich der Punkt auf der Bahn bewegt. Die vektoriel- ge s parametrisiert ist und die Bewegung auf der Kurve
Technische Mechanik
le Ableitung dr durch ein Bewegungsgesetz vom Typ s = s(t) vorgegeben
ds stimmt mit dem Tangentenvektor an die
Bahn überein, sodass für den Geschwindigkeitsvektor ist, dann verläuft die kinematische Analyse der Bewe-
gung in folgenden Schritten:
v = vet
1. Bestimmung der skalaren kinematischen Größen
durch Differenziation des Bewegungsgesetzes s = s(t)
folgt. Der Beschleunigungsvektor folgt durch Differenzia-
nach der Zeit t:
tion zu
Bahngeschwindigkeit: v = ṡ .
dv d
dv det ds Bahnbeschleunigung: at = v̇ = s̈ .
a= = v(t)et (s(t)) = et + v
dt dt dt ds dt
dv 2. Bestimmung der differenzialgeometrischen Größen
= et + κv en .
2
der Raumkurve r = r(s) durch Differenziation nach
dt der Bogenlänge s:
dr
Tangentenvektor: et = .
Wir fassen die Ergebnisse zusammen: ds
det d2 r
Krümmung: κ= = .
ds ds
Beschreibung einer Bewegung auf vorgegebener Bahn 1 det
in natürlichen Koordinaten Hauptnormalenvektor: en = .
κ ds
Bewegt sich ein Massenpunkt längs einer vorgege-
benen Bahn, so genügt eine Koordinate, die Bogen- 3. Bestimmung der vektoriellen kinematischen Größen
länge s = s(t) in Abhängigkeit der Zeit t, um die durch Kombination der skalaren kinematischen Grö-
Bewegung des Punktes auf der Bahn zu beschreiben. ßen mit den differenzialgeometrischen Größen:
Darauf aufbauend kann man durch Differenziation Geschwindigkeitsvektor: v = vet .
nach der Zeit die Bahngeschwindigkeit v = ṡ und Beschleunigungsvektor: a = at et + κv2 en .
die Bahnbeschleunigung at = v̇ = s̈ bestimmen, mit
der sich der Körper längs der Bahn bewegt.
Der Geschwindigkeitsvektor Sonderfall: Ebene Bahn in kartesischen oder
v = vet
Polarkoordinaten
ist stets parallel zur Bahntangente, sein Betrag ist die Natürliche Koordinaten können selbstverständlich auch
Bahngeschwindigkeit v = ṡ. verwendet werden, wenn die Bewegung in einer Ebene
Der Beschleunigungsvektor stattfindet. Bei ebenen Bewegungen wird man die Kontur
der Bahn meist nicht in der Form r = r (s) angeben, son-
a = at et + an en dern sie durch eine Funktionsgleichung y = y(x) in kar-
tesischen Koordinaten bzw. ρ = ρ ( ϕ) in Polarkoordinaten
hat die folgenden beiden Koordinaten: beschreiben. Der Mathematik kann man entnehmen, dass
die Krümmung sich dann aus
Bahnbeschleunigung at = v̇ = s̈:
y d(·)
Die zugehörige Komponente at et ist parallel zur κ= 3/2 , (·) = (7.2)
Bahn gerichtet; man bezeichnet at deshalb auch 1 + (y )2 dx
als Tangentialbeschleunigung. Die Koordinate kann
positiv, null oder negativ sein. Wenn die Koordi- ρ2 + 2(ρ )2 − ρρ d(·)
nate negativ ist, bedeutet dies, dass der Massen- κ= 3/2 , (·) = (7.3)
ρ 2 + ( ρ )2 dϕ
punkt verzögert wird.
Normalbeschleunigung an = κv2 :
Die zugehörige Komponente an en steht senkrecht berechnen lässt.
auf der Bahn und ist wegen an ≥ 0 vom Kurven-
punkt zum lokalen Krümmungsmittelpunkt, also Frage 7.5
stets „nach innen“, gerichtet. Sie wird deshalb Eine spezielle ebene Bewegung ist die Bewegung auf
auch als Zentripetalbeschleunigung bezeichnet. einer Kreisbahn (Radius R). Dabei ist die Krümmung kon-
stant und gleich dem Kehrwert des Kreisradius R. Setzt
178 7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung
Als illustratives Beispiel betrachten wir ein Kind, das Ka- b = bFx exF + bFy eyF + bFz ezF
russell fährt und dabei seine Beine baumeln lässt. Als
„Massenpunkt“, dessen Bewegung wir beschreiben wol- aufgebaut werden. Für die Zeitableitung müssen wir be-
len, wählen wir die Spitze des rechten großen Zehs des achten, dass sich im Allgemeinen sowohl die Koordinaten
Kindes. als auch die Basisvektoren im Laufe der Zeit ändern kön-
In den bisherigen Abschnitten hatten wir immer nur ein nen. Die Produktregel der Differenziation liefert damit
Bezugssystem; deshalb konnten wir eine vereinfachte No- zunächst, dass sich die Ableitung
tation wählen, in der nicht angezeigt wurde, relativ zu
F
welchem Bezugssystem wir die Bewegung messen. Da- db de F dey de F
gegen treten bei der Relativbewegung verschiedene Be- = ḃFx exF + ḃFy eyF + ḃFz ezF + bFx x + bFy + bFz z
dt dt dt dt
zugssysteme auf, die wir in der Notation durch einen
tiefgestellten Index unterscheiden. Im Einzelnen führen aus zwei Anteilen zusammensetzt, die sich darin un-
wir die folgenden Bezugssysteme ein (Abb. 7.7): terscheiden, ob die Koordinaten oder die Basisvektoren
7.6 Relativkinematik des Massenpunktes 179
differenziert werden. Der erste Anteil ḃFx exF + ḃFy eyF + ḃFz ezF
gibt die Änderung an, die allein aus der Zeitableitung der über dem Inertialsystem gemessene absolute Ablei-
Technische Mechanik
Koordinaten herrührt. Er stellt daher physikalisch die Än- tung eines Vektors b nach der Beziehung
derung dar, die ein Beobachter misst, der sich mit dem
Führungssystems mitbewegt. Man bezeichnet diesen An- db dF b
= + ωF × b (7.4)
teil deshalb auch als die Relativableitung dt dt
F
dF b additiv aus der Relativableitung ddtb und der Füh-
= ḃFx exF + ḃFy eyF + ḃFz ezF rungsableitung ωF × b zusammen. Die Relativablei-
dt
tung
des Vektors b bezüglich des Koordinatensystems KF . In
der Notation zeigen wir durch einen hochgestellten Index dF b
beim Differenziationssymbol an, dass nur die Koordina- = ḃFx exF + ḃFy eyF + ḃFz ezF
dt
ten, nicht aber die Basisvektoren des jeweils angegebenen
Koordinatensystems zu differenzieren sind. Die Notation beschreibt dabei physikalisch die Änderung, die ein
ist konsistent zu der früheren Schreibweise ohne Angaben mit dem Führungssystem mitbewegter Beobachter
eines Koordinatensystems, wenn wir vereinbaren, dass misst. Man erhält sie, indem man nur die Koordina-
der Index weggelassen wird, wenn das Bezugssystem ein ten des Vektors zum Führungssystem nach der Zeit
dI b ableitet.
Inertialsystem KI ist; db
dt ≡ dt .
de F de F de F
Auch der Änderungsanteil bFx dtx + bFy dty + bFz dtz kann Kommentar Bislang wurde ein Koordinatensystem, das
noch weiter umgeformt werden. Die Winkelgeschwindig- Inertialsystem, als ruhend vorausgesetzt. Die Ergebnisse
keit, mit der sich das Koordinatensystem KF dreht, haben lassen sich aber auf den Fall übertragen, dass zwei Koor-
wir mit ωF bezeichnet. Für die Zeitableitungen der Basis- dinatensysteme KA und KB betrachtet werden, die beide
vektoren gilt dann: bewegt sind. Dann besteht zwischen den Relativableitun-
gen eines Vektors b relativ zu den beiden Koordinatensys-
deiF temen der Zusammenhang
= ωF × eiF ; i = x, y, z .
dt dA b dB b
= + A ωB × b .
Damit lässt sich der Anteil durch die Umformungen dt dt
Dabei ist A ωB die Winkelgeschwindigkeit, mit der sich
bFx (ωF × exF ) + bFy (ωF × eyF ) + bFz (ωF × ezF ) das Koordinatensystem KB relativ zum Koordinatensys-
tem KA dreht. Auch für die Winkelgeschwindigkeit ist die
= ωF × (bFx exF + bFy eyF + bFz ezF ) = ωF × b Notation zur früheren Schreibweise konsistent, wenn wir
vereinbarungsgemäß bei einem Inertialsystem KI den In-
in der Winkelgeschwindigkeit ωF ausdrücken. dex für das Koordinatensystem weggelassen, ωB ≡ I ωB .
Durch Einsetzen aller Zwischenergebnisse folgt abschlie-
ßend für die gegenüber einem Inertialsystem gemessene Die für irgendeinen Vektor angegebenen Beziehungen
Änderung eines Vektors die Darstellung wollen wir jetzt in der Relativkinematik speziell auf
den Geschwindigkeits- und Beschleunigungsvektor an-
db dF b wenden. Der Ortsvektor rFP (t) beschreibt die Bahn des
= + ωF × b . Massenpunktes gemessen vom Ursprung OF des Füh-
dt dt
rungssystems aus. Ziel des Abschnitts ist es, Aussa-
gen über die Absolutbeschleunigung des Massenpunktes
Wir fassen das Ergebnis zusammen: zu machen, wenn die Bewegung des Führungssystems
und die Relativbewegung des Massenpunktes bekannt
sind. Wir stellen uns also vor, dass die Zeitfunktionen
Zusammenhang zwischen relativer und absoluter Än-
rF (t), ωF (t) und rFP (t) bekannt seien und wollen die Ab-
derung einer vektoriellen Größe
solutbeschleunigung aP des Massenpunktes bestimmen
Wenn sich ein Führungskoordinatensystem KF re- (Abb. 7.8).
lativ zu einem Inertialsystem KI mit der Winkelge- Wir beginnen damit, den Ortsvektor zum Massenpunkt
schwindigkeit ωF dreht, dann setzt sich die gegen-
rP = rF + rFP
180 7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung
rFP
zF d2 vF dωF
aP = + × rFP + ωF × (ωF × rFP )
dt2 dt
yF d2F rFP dF rFP
rF
OF
+ 2
+ 2ωF × .
dt dt
OI xF
Wir fassen die Ergebnisse zusammen:
xI yI
Relativkinematik des Massenpunktes
Abb. 7.8 Relativbewegung Ein Massenpunkt bewege sich relativ zu einem
Führungssystem KF , wobei die Bahn durch den
Ortsvektor rFP = rFP (t) beschrieben ist, der vom
als Summe der beiden Ortsvektoren rF und rFP zu schrei- Ursprung OF des Führungssystems zum Massen-
ben. Die Zeitableitung liefert dann punkt P gerichtet ist. Der Ursprung OF bewege
sich relativ zu einem Inertialsystem KF längs der
vP =
drF dr
+ FP . Bahn rF = rF (t), und die Achsen des Führungssys-
dt dt tems drehen sich relativ zum Inertialsystem mit
der Winkelgeschwindigkeit ωF = ωF (t). Dann gel-
Da der Ortsvektor rF vom Ursprung des Inertialsystems
ten die folgenden kinematischen Zusammenhänge:
aus gemessen wurde, liefert die Zeitableitung die Abso-
lutgeschwindigkeit
Absolutgeschwindigkeit vP des Massenpunktes:
dr
vF = F vP = vFhg + vrel ,
dt
des Ursprungs OF . Den zweiten Summanden wollen wir mit vFhg = vF + ωF × vFP ,
so umformen, dass darin die Relativgeschwindigkeit auf- dF vFP
tritt. Dazu werten wir (7.4) für die spezielle Wahl aus vrel = .
dt
b ≡ rFP und erhalten
Absolutbeschleunigung aP des Massenpunktes:
drFP dF rFP
= + ωF × rFP .
dt dt aP = aFhg + arel + aCor ,
Damit gilt für die Absolutgeschwindigkeit dωF
mit aFhg = aF + × rFP + ωF × (ωF × rFP ) ,
dt
dF r FP
vP = vF + ωF × rFP + . dF vFP d2F rFP
dt arel = = ,
dt dt2
Durch eine erneute Zeitableitung erhält man für die Ab- aCor = 2ωF × vrel .
solutbeschleunigung aP zunächst
dvP d dF rFP Die Führungsgrößen vFhg bzw. aFhg beschreiben die Ge-
aP = = vF + ωF × rFP +
dt dt dt schwindigkeit bzw. Beschleunigung, die der Massen-
2 punkt hätte, wenn er fest mit dem Führungssystem ver-
d vF dωF drFP d dF rFP
= + × r FP + ω F × + . bunden wäre. Wenn der Massenpunkt sich relativ zum
dt2 dt dt dt dt
Führungssystem bewegt, kommen noch die Relativgrö-
Wegen (7.4) lassen sich die absoluten Zeitableitungen ßen vrel bzw. arel hinzu. Sie entsprechen derjenigen Ge-
schwindigkeit bzw. Beschleunigung, die ein mitbewegter
drFP dF rFP Beobachter misst. Man kann sie aus der Bahn rFP = rFP (t)
= + ωF × rFP berechnen, indem man zunächst die Koordinaten des Vek-
dt dt
F tors rFP zum Führungssystem KF bestimmt und dann nur
d d rFP dF dF rFP dF rFP
= + ωF × diese Koordinaten einmal bzw. zweimal nach der Zeit
dt dt dt dt dt differenziert. Auf Beschleunigungsebene tritt zusätzlich
d2F rFP dF rFP die Coriolisbeschleunigung aCor auf. Sie verschwindet nur,
= 2
+ ωF × wenn vrel = 0 oder ωF = 0 oder ωF vrel ist.
dt dt
Antworten zu den Verständnisfragen 181
Weiterführende Literatur
Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils
Technische Mechanik
Technische Mechanik befindet sich am Ende von Kap. 9.
Antwort 7.1 Da beide Geschwindigkeiten in die glei- Die Produktregel der Differenziation liefert, dass sich der
che Richtung zeigen, darf man sie einfach addieren. Die Zusammenhang alternativ auch in der Form
Geschwindigkeit des Reisenden gegenüber der Umge-
bung ist also 102 km/h. Würde er sich entgegen der 1 d 2
a= v
Fahrrichtung bewegen, würde man eine Geschwindigkeit 2 ds
von 98 km/h messen. Bei Bewegungen nahe der Licht-
geschwindigkeit gilt dieses Additionsprinzip nicht mehr. angeben lässt.
Natürlich sprechen wir aber im Folgenden immer von Ge-
schwindigkeiten, die weit unter der des Lichtes liegen. Antwort 7.4 Für eine von B-Stadt nach A-Dorf ge-
richtete s̄-Achse mit dem Ursprung in B-Stadt gel-
ten für die beiden Fahrzeuge die Anfangsbedingun-
Antwort 7.2 Wegen 1 km = 1000 m und 1 h = 3600 s gilt
gen s̄10 = S, v̄10 = −v1 bzw. s̄20 = 0 und v̄20 = v2 . Die
Weg-Zeit-Gesetze s̄1 (t) = S − v1 t und s̄2 (t) = v2 t lie-
km 1000m 100 m
v = 100 = 100 = = 27,7 m/s . fern für den durch s̄1 (T ) = s̄2 (T ) charakterisierten Zeit-
h 3600s 3,6 s punkt des Zusammentreffens wieder das Ergebnis
T= v+ S
= 6 min. Zu diesem Zeitpunkt hat das Fahr-
Es lohnt sich, die Umrechnungsformeln 1 v2
zeug 2 die Strecke s̄2 (T ) = S v v+2v = 7 km von B-Stadt aus
1 2
v 1 v v v zurückgelegt; das Zusammentreffen findet damit wie vor-
= · , = 3,6 · her in S − s̄2 (T ) = 9 km Entfernung von A-Dorf statt.
m/s 3,6 km/h km/h m/s
Antwort 7.5 Bei einer Beschreibung in natürlichen Koor-
auswendig zu lernen.
dinaten ist der Basisvektor en stets vom Kurvenpunkt zum
lokalen Krümmungsmittelpunkt gerichtet, während der
Antwort 7.3 Ausgehend von v = v(s(t)) erhält man mit- Basisvektor eρ der Zylinderkoordinaten entgegengesetzt
hilfe der Kettenregel der Differenziation den Zusammen- orientiert ist. Beide Ergebnisse liefern wegen eρ = −en
hang deshalb dieselbe physikalische Aussage, nämlich dass ein
Massenpunkt, der sich auf einer Kreisbahn (Radius R) mit
dv ds dv der Bahngeschwindigkeit v bewegt, eine Zentripetalbe-
a= =v .
ds dt ds schleunigung vom Betrag v2 /R erfährt.
182 7 Kinematik des Massenpunktes – Grundbegriffe der Bewegung
Aufgaben
Technische Mechanik
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
7.1 • Ein Kraftfahrzeug beschleunigt aus dem 3. Berechnen Sie den Weg-Zeit-Verlauf s = s(t). Welchen
Stand heraus in T = 10 s auf v1 = 100 km/h. Wie groß ist Weg s1 hat der Aufzug zurückgelegt, wenn er seine Ma-
die durchschnittliche Beschleunigung a0 ? Welchen Weg S ximalgeschwindigkeit v1 erreicht hat?
hat es bis zum Ende der Beschleunigung zurückgelegt?
Hinweis: Gehen Sie vom Ansatz v(t) = A(1 − cos ωt) aus.
Hinweis: Rechnen Sie die Endgeschwindigkeit zuerst in Welche Bestimmungsgleichungen für die Kreisfrequenz ω
die SI-Grundeinheit m/s um. Der Begriff „durchschnitt- und die Amplitude A können Sie aus der Skizze des
liche Beschleunigung“ bedeutet, dass wir die Beschleuni- Funktionsverlaufs ablesen? Die Berechnung der ande-
gung als konstant annehmen. In Wirklichkeit sinkt sie mit ren kinematischen Größen folgt durch Differenziation
zunehmender Geschwindigkeit ab. bzw. Integration des Geschwindigkeitsverlaufs.
4. Zeigen Sie, dass für kleine Schusshöhen r = r0 + s, 7.6 • Ein Projektil wird horizontal abgeschossen.
s r0 das aus der Schulphysik bekannte Ge- Seine Bahn senkt sich auf L = 100 m um H = 1 m ab.
Technische Mechanik
setz v2 (s) = v20 − 2g0 s folgt.
v0
Hinweis: Das Beschleunigungsgesetz ist nicht in Abhän-
H L
gigkeit der Zeit, sondern des Weges gegeben. Sie müssen
deshalb das in Tab. 7.1 angegebene Lösungsschema an-
wenden. Für den letzten Aufgabenteil benötigt man die
Taylorentwicklung einer Funktion. Wie lautet der Ent-
Bestimmen Sie die Flugzeit T und die Anfangsgeschwin-
wicklungspunkt der Taylorentwicklung?
digkeit v0 .
Resultat:
Hinweis: Es bietet sich an, die Aufgabe mit den ange-
1. v(r) = v20 + 2g0 r20 1
r − 1
r0 . gebenen Gleichungen des schiefen Wurfes zu lösen. Wo
muss dann der Ursprung des Koordinatensystems liegen?
2g0 r20
2. rmax = 2g0 r0 −v20
= 6503 km von Erdmittelpunkt aus, Welche Koordinaten hat der bekannte Auftreffpunkt des
Δrmax= rmax − r0 = 3,19 km von Erdoberfläche aus. Projektils in diesem Koordinatensystem?
3. v0 = 2g0 r0 = 40.655 km/h.
4. Linearisierung von v = v(r) um den Entwicklungs- Resultat: T = 0,45 s , v0 = 221 m/s .
punkt r = r0 .
7.5 • Ein Stein wird senkrecht nach oben geworfen 7.7 • Ein Fahrzeug durchfährt eine Kurve mit der
und schlägt nach T = 8 s wieder auf dem Boden auf. konstanten Geschwindigkeit v = 140 km/h. Dabei erfährt
es eine Normalbeschleunigung an = 7 m/s2 . Wie groß ist
1. Wie groß war die Anfangsgeschwindigkeit des Steins? der Radius R der Kurve?
2. Welche Steighöhe erreicht der Stein?
Hinweis: Beachten Sie, dass die Flugzeit der doppelten Hinweis: Vergessen Sie nicht die Geschwindigkeit in die
SI-Einheit m/s umzurechnen.
Steigzeit entspricht.
Resultat: v0 = 39,24 m , H = 78,5 m Resultat: R = 216 m .
Kinetik des Massenpunktes –
8
Technische Mechanik
wie beeinflussen Kräfte und
Momente die Bewegung?
Die Aussagen von Impuls-
und Drallsatz
Welche Kräfte wirken bei
einer Achterbahnfahrt?
Arbeit und Energie in der
Mechanik
Nach der Kinematik wenden wir uns nun der Kinetik zu; die Kine- Richtung der Kraft erfolgt:
tik beschäftigt sich mit der Frage, welcher Zusammenhang zwischen
dp
Technische Mechanik
Technische Mechanik
Die im Impulssatz auftretende Absolutbeschleuni- ma ϕ = m(ρ ϕ̈ + 2ρ̇ ϕ̇) = ∑ F ϕi ,
gung a kann man in verschiedenen Koordinaten, von i
denen in diesem Buch kartesische, Zylinder- und na-
türliche Koordinaten behandelt wurden, angeben. Die maz = mz̈ = ∑ Fzi .
i
verschiedenen Darstellungsarten sind zusammen mit
anderen Empfehlungen im folgenden Anwendungs-
schema für den Impulssatz zusammengestellt. Bei der Beschreibung in Zylinderkoordinaten
ist zu beachten, dass die ρ-Koordinate von der
1. Massenpunkt freischneiden, alle Kräfte auf den z-Achse zum Massenpunkt P zu orientieren ist.
Massenpunkt einzeichnen. Es ist dies derselbe Frei- c) Natürliche Koordinaten:
schnitt, den Sie in der Statik verwenden.
2. Koordinaten zur Beschreibung der Bewegung wäh- mat = mv̇ = ∑ Fti ,
len. Je nach Aufgabenstellung wird man problem- i
angepasst kartesische, Zylinder- oder natürliche
Koordinaten wählen. man = mκv2 = ∑ Fni ,
i
3. Koordinatendarstellung des Impulssatzes:
Im Impulssatz tritt die äußere Kraft F auf. Wirken mab = 0 = ∑ Fbi .
auf den Körper mehrere Kräfte, so können diese i
durch Vektoraddition zu einer Kraft zusammen-
gefasst werden. Um dies zu betonen, ist in den Bei der Beschreibung in natürlichen Koordinaten
folgenden Koordinatendarstellungen des Impuls- ist zu beachten, dass die t-Koordinate in Bahn-
satzes ein Summenzeichen geschrieben; das Symbol richtung und die n-Koordinate vom Massen-
ist so zu verstehen, dass über alle Kräfte zu sum- punkt P zum lokalen Krümmungsmittelpunkt M
mieren ist, die in die jeweilige Koordinatenrichtung der Bahn zu orientieren ist. Außerdem ist die
zeigen. Summe der Kraftkoordinaten in Binormalenrich-
a) kartesische Koordinaten x, y, z: tung stets null.
4. Anschließend liegen die Koordinaten des Beschleu-
max = mẍ = ∑ Fxi , nigungsvektor a vor. Daraus folgen durch Integra-
i
tion unter Beachtung der Anfangsbedingungen der
may = mÿ = ∑ Fyi , Geschwindigkeits- und Ortsvektor des Punktes in
i Abhängigkeit der Zeit t.
Verwendet man Zylinder- oder natürliche Koor-
maz = mz̈ = ∑ Fzi . dinaten ist zu beachten, dass es nicht genügt die
i Koordinaten zu integrieren, da für diese Koordina-
b) Zylinderkoordinaten ρ, ϕ, z: tensätze die Basisvektoren lokale Basisvektoren sind.
Die Integrationen kann man in einfachen Fällen
maρ = m(ρ̈ − ρ ϕ̇2 ) = ∑ Fρi , formelmäßig durchführen, in allen anderen Fällen
nimmt man eine numerische Lösung vor.
i
ist deshalb das Freischneiden der Startpunkt der New- Kreisbahn am besten in Zylinder- oder in natürlichen Ko-
ton’schen Mechanik, um die in den Kontaktstellen zur ordinaten beschreiben lassen, richtig ist.
Umgebung wirkenden inneren Kräfte zu äußeren Kräften Als Anwendungsbeispiel betrachten wir anschließend ei-
zu machen. Das Anwendungsschema in der Box Anwen- ne Skateboardfahrer in der Halfpipe und fragen nach der
dungsschema für den Impulssatz stellt die typischen Schritte Kraft, die auf die Halfpipe ausgeübt wird.
vor, die für die Anwendung des Impulssatzes auf einen
Massenpunkt erforderlich sind.
Es lässt sich keine allgemeingültige Regel angeben, wel- Direkte und inverse Kinetik
che Form des Impulssatzes für welche Fragenstellung
am besten geeignet ist. Das folgende Beispiel zeigt aber, Am Ende der Anwendung des Impulssatzes hat man den
warum die Faustregel, dass sich Bewegungen auf einer Zusammenhang zwischen den auf den Massenpunkt wir-
188 8 Kinetik des Massenpunktes – wie beeinflussen Kräfte und Momente die Bewegung?
Welche Kräfte wirken auf eine Kugel, die an einem Fa- 2. Impulssatz in Zylinderkoordinaten: Für die kine-
den geführt ist? matischen Größen gilt
g −mRω02 = −FZ , 0 = 0, 0 = FN − mg .
R
ω0
m 3. Impulssatz in natürlichen Koordinaten: Für die ki-
nematischen Größen gilt
v = ω0 R = konst. =⇒ v̇ = 0 ,
κ = 1/R =⇒ κv2 = ω02 R .
Die Kräfte folgen durch Anwendung des Impulssatzes
auf die freigeschnittene Masse. Es soll gezeigt werden,
dass alle Formulierungen des Impulssatzes zum selben Damit liefert der Impulssatz in natürlichen Koordi-
Ergebnis führen, sich aber im Rechenaufwand unter- naten:
scheiden.
eb
ez mg ez mg mg
ey
FZ FZ eφ FZ et
eρ en
φ r φ r r
FN FN FN
ex
0 = 0, mω02 R = FZ , 0 = FN − mg
Lösung:
1. Impulssatz in kartesischen Koordinaten: Für die ki-
nematischen Größen gilt Alle Formen des Impulssatzes liefern natürlich dassel-
be Ergebnis
x = R cos ω0 t =⇒ ẍ = −ω02 R cos ω0 t ,
y = R sin ω0 t =⇒ ÿ = −ω02 R sin ω0 t , FZ = mω02 R , FN = mg
z = 0 = konst. =⇒ z̈ = 0 .
Damit liefert der Impulssatz in kartesischen Koor- für die auf den Massenpunkt wirkenden Kräfte, aber
dinaten die Auflösung des Gleichungssystem ist für kartesi-
sche Koordinaten am aufwendigsten. Wie erwartet ist
−mω02 R cos ω0 t = −FZ cos ω0 t , die Zentripetalkraft wegen FZ > 0 nach innen gerich-
−mω02 R sin ω0 t = −FZ sin ω0 t , tet; nach dem Gegenwirkungsprinzip wirkt auf den
Faden eine nach außen gerichtete Kraft, die ihn auf Zug
0 = FN − mg . belastet.
8.2 Drall und Drallsatz 189
Technische Mechanik
Welche Kräfte übt ein Skateboardfahrer bei seiner Fahrt der Kettenregel die doppelte Zeitableitung um:
in der Halfpipe (Kreis mit Radius R) auf die Bahn aus?
Wir nehmen an, dass der Skateboardfahrer am höchs- d d ϕ̇ dϕ d ϕ̇
ten Punkt der Halfpipe ohne Anfangsgeschwindigkeit ϕ̈ = ϕ̇( ϕ(t) = = ϕ̇
dt dϕ dt dϕ
startet und vernachlässigen Reibungskräfte.
Da nach Kräften gefragt ist, beginnen wir mit dem Frei- Damit können wir die Tangentialkoordinate in der
schnitt des punktförmig angenommenen Skateboard- Form
fahrers.
d ϕ̇ g
ϕ̇ = cos ϕ
dϕ R
φ
R
schreiben und durch Trennen der Variablen und nach-
folgende Integration
FN
mg
ϕ̇ ϕ
g
ϕ̄˙ d ϕ̄˙ = cos ϕ̄ d ϕ̄
R
Der Impulssatz in Polarkoordinaten liefert die beiden 0 0
Gleichungen
ausgehend von der Anfangsbedingung ϕ̇(0) = 0 die
−mR ϕ̇2 = −FN + mg sin ϕ , Winkelgeschwindigkeit
mR ϕ̈ = mg cos ϕ .
g
ϕ̇( ϕ) = 2 sin ϕ
Die Radialkoordinate des Impulssatzes können wir zur R
Berechnung der gesuchten Normalkraft FN benutzen:
in geschlossener Form berechnen. Die Normalkraft hat
FN = m(g sin ϕ + R ϕ̇2 ) . damit den Verlauf
Wirkungslinie
von F Bis jetzt ist das Wort Drall nur eine Abkürzung für das
Vektorprodukt aus Ortsvektor und Impuls. Die Bedeu-
F tung des Dralls für die Mechanik und sein Zusammen-
O rOP
hang zum Moment wird erst deutlich, wenn man die
P Definition des Dralls nach der Zeit t differenziert. Durch
die folgenden Umformungen kann eine Verbindung zum
Abb. 8.1 Moment einer Kraft bezüglich eines Punktes O
Moment der Kraft, die auf den Massenpunkt wirkt, auf-
gezeigt werden:
berechnen lässt. Der Ortsvektor rOP ist vom Bezugs- L(O) = m rOP × v (Definition des Dralls)
punkt O zum Kraftangriffspunkt P gerichtet (Abb. 8.1). d (O) d
L = m rOP × v (Schritt 1)
dt dt
Auch der Drall eines Punktes ist durch ein Vektorprodukt
d
definiert, das aber anstelle der Kraft F den Impuls p = mv =m rOP × v (Schritt 2)
enthält: dt
v a
dr dv
Drall für einen Massenpunkt bezüglich eines Punktes O:
=m OP
× v + rOP × (Schritt 3)
dt
dt
Bewegt sich ein Massenpunkt P der Masse m mit der =m v × v +r × a
! "# $ OP
(Schritt 4)
Geschwindigkeit v, so besitzt er den Impuls p = mv. 0
Das Vektorprodukt = rOP × (ma) (Schritt 5)
= rOP × F (Schritt 6)
L(O) = rOP × p = m rOP × v
= M (O) (Schritt 7)
aus Ortsvektor und Impuls wird als Drall des Mas-
senpunktes bezüglich des Punktes O bezeichnet. Ausgehend von der Definition des Dralls wurden zu-
Dabei ist der Ortsvektor rOP vom Bezugspunkt O nächst beide Gleichungsseiten nach der Zeit differenziert
zum Massenpunkt P gerichtet. Aufgrund der Defini- (Schritt 1) und die zeitkonstante Masse vor das Diffe-
tion des Vektorprodukts ist der Drall ein Vektor, der renziationssymbol gezogen (Schritt 2). In Schritt 3 wurde
auf den beiden Vektoren rOP und v senkrecht steht zunächst die Produktregel der Differenziation benutzt; in
(Abb. 8.2). den dabei entstehenden beiden Summanden treten dann
die Geschwindigkeit bzw. Beschleunigung des Massen-
punktes auf. Wegen der Vektoridentität v × v = 0 ver-
Da der Ortsvektor rOP vom gewählten Bezugspunkt O schwindet der erste Summand (Schritt 4). Beim Übergang
abhängt, hängt auch der Drall vom Bezugspunkt ab. von Schritt 5 nach Schritt 6 ist besonders zu beachten,
Man muss deshalb, wie schon beim Moment, beispiels- dass diese Umformung an die zusätzliche Voraussetzung
weise durch einen oberen Index angeben, auf welchen gebunden ist, dass a die Absolutbeschleunigung ist. Denn
Bezugspunkt der Drall sich bezieht. Neben der Namens- nur dann kann nach dem Impulssatz das Produkt ma
gebung Drall sind auch die Bezeichnungen Drehimpuls der Kraft F auf den Massenpunkt gleichgesetzt werden
und Impulsmoment gebräuchlich, die den mechanischen (Schritt 6). Im letzten Schritt 7 kann abschließend das Vek-
Sachverhalt treffender beschreiben als die der Umgangs- torprodukt r × F als das Moment der Kraft bezüglich des
sprache entnommene Bezeichnung Drall. Punktes O identifiziert werden.
Beispiel: Rotierende Kugel, die an einem Faden in ein Loch gezogen wird
Technische Mechanik
Wir greifen dazu das Beispiel Bewegung auf einer Kreis- Lösung: Die Zentripetalkraft ist antiparallel zum Orts-
bahn wieder auf, lassen aber jetzt zusätzlich zu, dass vektor gerichtet; das Vektorprodukt der beiden Vekto-
der Faden im Zentrum der Kreisbewegung in ein Loch ren ist also null. Damit bleibt nach dem Drallsatz der
gezogen wird. Zu Beginn soll sich der Massenpunkt Drall während der Bewegung konstant. Bei der Kreis-
auf dem Radius r0 mit der Winkelgeschwindigkeit ω0 bewegung hat der Drallvektor nur eine Komponente,
bewegen. Welche Winkelgeschwindigkeit hat der Mas- die senkrecht zur Bewegungsebene steht. Zu Beginn
senpunkt, wenn er durch den Faden auf einen Kreis hat der Massenpunkt die Winkelgeschwindigkeit ω0
mit Radius r gezogen worden ist? Wie verändert sich und befindet sich im Abstand r0 , sein Drall beträgt al-
dabei die Zentripetalkraft? (O)
so L0 = mω02 r0 . Wenn der Massenpunkt im Abstand r
kreist, besitzt er den Drall L(O) = mω 2 r. Da der Drall
Problemanalyse und Strategie: Wir können den Frei- konstant ist, folgt durch Gleichsetzen
schnitt unverändert von Beispiel Bewegung auf einer r 2
Kreisbahn übernehmen; Gewichtskraft mg und Normal- ω = ω0 0
.
kraft FN heben sich gegenseitig auf, sodass wir im r
Folgenden nur noch die Zentripetalkraft FZ betrachten
müssen. Wir lösen die Aufgabe mit dem Drallsatz; die Die Translationsgeschwindigkeit beträgt dann
entscheidende Erleichterung wird sein, dass der Drall r0
konstant ist. v = ωr = v0 .
r
dL(O)
= M(O) = rOP × F
Die zeitliche Änderung des Dralls steht deshalb im- dt
mer senkrecht auf den beiden Vektoren rOP und F F = ma
(Abb. 8.3).
O rOP a
x y
8.3 Relativkinetik
des Massenpunktes Abb. 8.4 Arbeit der Gewichtskraft
Dabei sind: liefert dann die gesamte Arbeit, die die Kraft F am Mas-
senpunkt verrichtet, wenn sich dieser vom Raumpunkt 1
F Cor = −maCor = −2mωF × vrel , zum Raumpunkt 2 bewegt hat.
F Fhg = −maFhg
Frage 8.1
= −maF − mω̇F × rFP − mωF × (ωF × rFP ) .
Wie vereinfacht sich das Wegintegral, wenn sich die
Das Ergebnis lässt sich wie folgt deuten: Formuliert man Kraft F längs des Weges nicht ändert? Wann ist die Arbeit
den Impulssatz nicht in einem Inertialsystem, sondern in positiv, wann ist sie negativ? Kann die Arbeit auch null
einem bewegten Bezugssystem, müssen zu den objektiven sein, obwohl weder Kraft noch Verschiebung null sind?
Kräften ∑i F i noch die Führungskraft F Fhg und die Coriolis-
kraft F Cor als sogenannte Scheinkräfte hinzugefügt werden.
Als Beispiele betrachten wir im folgenden zwei Kräfte,
Eine Aufgabe mit dem Impulssatz im mitbewegten Sys- deren Arbeit für viele Anwendungen besonders hilf-
tem zu lösen, empfiehlt sich dann, wenn sich die Bahn reich ist. Wir beginnen mit der Arbeit der Gewichtskraft
des Massenpunktes P relativ zum Führungssystem KF (Abb. 8.4).
und die Bahn von KF relativ zum Inertialsystem KI ge-
trennt voneinander einfacher beschreiben lassen als die Führen wir ein Koordinatensystem ein, dessen z-Achse
überlagerte Bahn, die der Massenpunkt P relativ zum In- entgegen der Schwerkraftrichtung orientiert ist, so gelten
ertialsystem KI beschreibt. in diesem Koordinatensystem die Koordinatendarstellun-
gen G = [0,0, −mg]T und dr = [dx, dy, dz]T . Das Arbeits-
differenzial ist dW = F · dr = −mgdz und wir erhalten für
8.4 Arbeit, Leistung und Energie die bei der Verschiebung von der Schwerkraft verrichtete
Arbeit
Wir übernehmen aus dem Statik-Teil des Buchs die Aus-
z
sage, dass das Arbeitsdifferenzial durch
WG = −mg dz̄ = −mg(z − z0 ) .
dW = F · dr z0
8.4 Arbeit, Leistung und Energie 193
Technische Mechanik
Ein rotierendes System bestehend aus einer Stange schleunigung setzt sich aus der Tangentialbeschleuni-
und einem Kreisring dreht sich in einer horizontalen gung v̇rel , gerichtet entgegen dem Basisvektor exF , und
Ebene. In der Führung bewegt sich reibungsfrei ein der nach innen, also entgegen dem Basisvektor eyF ge-
Massenpunkt P (Masse m). Im betrachteten Moment
richteten Normalbeschleunigung v2rel /R zusammen:
dreht sich die Anordnung mit der Winkelgeschwindig-
keit ω und erfährt die Winkelbeschleunigung ω̇. Der v2rel F
Massenpunkt bewegt sich momentan mit der Transla- vrel = −vrel exF , arel = −v̇rel exF − e .
R y
tionsgeschwindigkeit vrel .
Die Bahn des Führungssystems KF relativ zum Inerti-
Gesucht ist die Normalkraft, die in der Bewegungsebe- alsystem KI ist ein Kreis mit Radius 2R. Deshalb gilt
ne auf den Massenpunkt wirkt. Zusätzlich wirkt auf für die kinematischen Größen der Führungsbewegung
den Massenpunkt eine senkrecht zur Bewegungsebene
stehende Normalkraft, die sich aber aus dem statischen vF = ω · 2ReyF , aF = ω̇ · 2ReyF − ω 2 · 2RexF .
Gleichgewicht unmittelbar zu mg ergibt.
Mit ωF = ωez und ω̇F = ω̇ez sowie rFP = ReyF erhält
man für die auf der rechten Seite des Impulssatzes ste-
Problemanalyse und Strategie: Wenn wir den Ursprung henden Scheinkräfte die Ausdrücke:
des Führungssystems KF in den Kreismittelpunkt M
und den Ursprung des Inertialsystems KI in den La- F Cor = −2mωF × vrel = 2mωvreleyF ,
gerpunkt A legen, dann lässt sich sowohl die Bahn
F Fhg = −maF − mω̇F × ReyF − mωF × (ωF × ReyF )
des Massenpunktes P relativ zum Führungssystem KF
(Kreis mit Radius R) als auch die Bahn des Führungs- = mR(2ω 2 + ω̇ )exF − mR(2ω̇ − ω 2 )eyF .
systems KF relativ zum Inertialsystem KI (Kreis mit
Radius 2R) mit den Gesetzen aus Abschn. 7.5 auf ein- In der Bewegungsebene wirkt als einzige objektive
fache Weise kinematisch beschreiben. Kraft auf den Massenpunkt eine Normalkraft FN , die
wir nach innen, also entgegen dem Basisvektor eyF ori-
P entiert annehmen:
m
vr
yF ∑ Fi = −FN eyF .
i
xF
Der Impulssatz im mitbewegten System liefert damit:
M R
m(−v̇rel ) = mR(2ω 2 + ω̇ ) ,
yI
R v2rel
ω, ω
m − = −mR(2ω̇ − ω 2 ) + 2mωvrel − FN .
xI R
A
Das sind zwei Gleichungen für die beiden Unbekann-
ten v̇rel und FN . Durch Auflösen folgt:
Lösung: Die Bahn des Massenpunktes P relativ zum
Führungssystem KF ist ein Kreis mit Radius R, der v̇rel = −R(2ω 2 + ω̇ ) ,
mit der Geschwindigkeit vrel durchlaufen wird. Die % &
Relativgeschwindigkeit ist tangential zur Bahn, also v2rel
FN = m − R(2ω̇R − ω ) + 2ωvrel .
2
entgegen dem Basisvektor exF gerichtet. Die Relativbe- R
WG = −mg(z − z0 ) .
Arbeit der Gewichtskraft
Wird eine Masse m um die Höhendifferenz z − z0 be- Dabei ist die z-Achse entgegen der Schwerkraftrich-
wegt, so verrichtet dabei die Gewichtskraft an der tung, also vertikal nach oben orientiert.
194 8 Kinetik des Massenpunktes – wie beeinflussen Kräfte und Momente die Bewegung?
Die Arbeit ist formal über ein Kurvenintegral definiert. 3. Im Sonderfall, dass die Kraft sich längs des Weges
Im folgenden Anwendungsschema ist aber gezeigt, nicht ändert und ihre Wirkungslinie stets gleichsin-
dass man in vielen technisch wichtigen Sonderfällen nig parallel, orthogonal oder gegensinnig parallel
mit einem geringeren mathematischen Aufwand ans zum Verschiebungsdifferenzial dr steht, berechnet
Ziel kommt. sich die Arbeit aus:
Um die Arbeit der auf den Körper wirkenden Kräfte ⎧
⎪
⎨ F · Δr12 falls F ↑↑ dr ,
zu berechnen, empfiehlt es sich in folgenden Schritten
W= 0 falls F ⊥ dr ,
vorzugehen: ⎪
⎩−F · Δr
12 falls F ↑↓ dr .
1. Körper freischneiden, alle Kräfte auf den Körper
einzeichnen. 4. In den anderen Fällen berechnen Sie zunächst das
2. Reaktionskräfte müssen Sie nicht berücksichtigen, Arbeitsdifferenzial dW = F · dr. Führen Sie dafür
denn sie leisten keine Arbeit! ein günstig gewähltes Koordinatensystem ein und
Aus der Statik ist bekannt, dass sich die auf einen werten Sie das Skalarprodukt aus. Lösen Sie an-
Körper wirkenden Kräfte in eingeprägte Kräfte F e schließend das Wegintegral; häufig kommt man da-
und Reaktionskräfte F r einteilen lassen. Reaktions- bei mit dem Integralbegriff aus, der aus den Grund-
kräfte leisten keine Arbeit, da die differenzielle lagenvorlesungen der Mathematik bekannt ist.
Verschiebung stets senkrecht zur Kraft steht. Das 5. Falls auf den Massenpunkt mehrere eingeprägte
einfachste Beispiel ist die Normalkraft bei Gleitrei- Kräfte wirken, so wiederholen sie das Vorgehen
bung, die nach Definition diejenige Komponente für jede eingeprägte Kraft. Die von allen Kräften
der Berührkaft ist, die normal zur Berührebene und verrichtete Arbeit ist dann die Summe der Einzel-
damit auch normal zum Wegdifferenzial steht. arbeiten.
Technische Mechanik
Eine Kiste (Masse m) rutscht um eine Strecke S entlang 1. Die Arbeit der Normalkraft ist null, da sie eine Re-
einer schiefen Ebene (Neigungswinkel α). Zwischen aktionskraft ist:
Kiste und Ebene tritt Gleitreibung (Gleitreibungskoef-
fizient μ) auf. Welche Arbeit leisten alle auf die Kiste WN = 0
wirkenden Kräfte?
2. Die Gleitreibungskraft FR = μFN = μmg cos α ist
Problemanalyse und Strategie: Wir schneiden die Kis- während der Bewegung konstant und entgegen der
te zunächst frei. Neben der Gewichtskraft wirken die Bewegungsrichtung gerichtet; die von ihr während
Normalkraft FN sowie die Reibkraft FR . Den Start- des Rutschwegs S verrichtete Arbeit ist daher:
und Endpunkt der Bewegung kennzeichnen wir mit 0
bzw. 1. WR = −FR · S = −μmgS cos α
Das Ergebnis wurde am Sonderfall hergeleitet, dass die Dämpfungskräfte. Konservative Kräfte lassen sich von ei-
Feder nur in Richtung der Feder gedehnt oder gestaucht nem Potenzial ableiten, das durch Epot = −W definiert ist.
wurde. Da die Federkraft aber stets parallel zur Längs- Wichtige Potenziale sind:
richtung der Feder ist, gilt das Ergebnis auch dann, wenn
sich die Federenden auf irgendeiner Bahn bewegen.
Potenzial der Gewichtskraft und der Federkraft
Frage 8.2 Bei konservativen Kräften besteht zwischen der Ar-
Ändert sich das Vorzeichen der Arbeit der Federkraft, beit W und dem Potenzial Epot nach Definition der
wenn man eine Feder dehnt oder staucht? Zusammenhang Epot = −W. Wichtige Beispiele für
Potenziale sind:
Potenzial der Gewichtskraft: Epot = mg(z − z0 )
1
Konservative Kräfte und Potenzial einer Kraft Potenzial der Federkraft: Epot = c(s − s0 )2
2
Feder zu spannen oder ein Gewicht anzuheben. Jetzt wen- Frage 8.3
den wir uns der Frage zu, welche mechanische Größe Wie vereinfacht sich der Arbeitssatz im Sonderfall der Sta-
Technische Mechanik
Beispiel: Arbeit der Zentripetalkraft, wenn eine kreisende Kugel in ein Loch gezogen wird
Technische Mechanik
In Beispiel Rotierende Kugel, die an einem Faden in ein Für die Alternativlösung mit dem Arbeitsintegral müs-
Loch gezogen wird hatten wir das Beispiel einer Kugel sen wir beachten, dass die nach innen gerichtete Zen-
behandelt, die sich auf einer Kreisbahn bewegt und mit tripetalkraft entgegen der Radialkoordinate r gerichtet
einem Faden nach innen gezogen wird. Welche Arbeit ist, sodass dW = −FZ (r)dr ist. Mit
verrichtet die Zentripetalkraft an der Kugel?
v2 1
FZ (r) = m = mv20 r20 3
Problemanalyse und Strategie: Von Beispiel Bewegung r r
auf einer Kreisbahn ist uns bekannt, wie sich die
Geschwindigkeit v = v(r) und die Zentripetalkraft ergibt sich die Arbeit durch Integration zu:
FZ = FZ (r) in Abhängigkeit des Abstands r ändern.
Darauf aufbauend können wir die Arbeit der Zen- r r
1
tripetalkraft auf zwei verschiedene Arten berechnen: W=− FZ (r̄) dr̄ = −mv20 r20 dr̄
r̄3
durch Lösen des Arbeitsintegrals oder mithilfe des Ar- r0 r0
beitssatzes. Beide Lösungswege führen natürlich zum
1 r 1 r0 2
gleichen Ergebnis, unterscheiden sich aber im Auf- = −mv20 r20 − 2 = mv20 −1
wand. 2r̄ r0 2 r
sie steht für die Resultierende der Gewichtskraft sowie eines Massenpunktsystems aus n Massenpunkten als
aller Lagerkräfte. Zum anderen wirken auch Kräfte zwi- Summe der Einzelimpulse. Aus der Statik ist bekannt,
schen den Massenpunkten. Sie können ihre Ursache in dass der Massenschwerpunkt eines Systems von n Mas-
der Massenanziehungskraft haben oder durch Freischnitt senpunkten durch den Ortsvektor
entstanden sein, z. B. wenn zwei Massenpunkte vor dem
Freischnitt durch eine Feder verbunden waren. Wir be- 1 n n
m i∑ ∑ mi
zeichnen mit F ij die Kraft, die vom Massenpunkt mj auf rS = mi r i , m=
den Massenpunkt mi ausgeübt wird. Nach dem Gegen- =1 i=1
wirkungsprinzip gilt dann F ji = −F ij .
angegeben werden kann. Für die Summe auf der rechten
Unser Ziel ist es, den bislang für den einzelnen Massen- Gleichungsseite von (8.2) gilt deshalb ∑ni=1 mi vi = mvS .
punkt formulierten Impuls- und Drallsatz auf ein Mas- Das Ergebnis
senpunktsystems zu verallgemeinern und anschaulich zu
deuten. p = mvS
Wie in Abschn. 8.1 angegeben, ist pi = mi vi der Impuls sagt daher aus, dass der Gesamtimpuls eines Massen-
eines einzelnen Massenpunktes mi , der sich mit der Ge- punktsystems gleich dem Produkt aus seiner Gesamtmas-
schwindigkeit vi bewegt. Wir definieren den Gesamtim- se und der Geschwindigkeit seines Schwerpunktes ist.
puls
An jedem Massenpunkt greifen genau n Kräfte an, näm-
n n lich die äußere Kraft F i sowie (n − 1) Kräfte F ij , i = j
p= ∑ pi = ∑ mi vi (8.2) aufgrund der Wechselwirkung des Massenpunktes mit
i=1 i=1 seinen (n − 1) Nachbarpunkten. Der Impulssatz für einen
198 8 Kinetik des Massenpunktes – wie beeinflussen Kräfte und Momente die Bewegung?
einzelnen Massenpunkt liefert deshalb Die Herleitung des Drallsatzes für ein Massenpunktsys-
tem erfolgt in denselben Schritten wie beim Impulssatz.
Technische Mechanik
n
dpi Wir definieren in Anlehnung an Abschn. 8.2 zunächst den
= F i + ∑ F ij . Gesamtdrall
dt j= 1
j = i
n
Technische Mechanik
Antwort 8.1 Da die Kraft als konstant vorausgesetzt wur- und Richtung konstant ist sowie Kraft und Weg gleichsin-
de, kann man sie vor das Integral ziehen und erhält: nig parallel sind.
r2
Antwort 8.2 Da die Längenänderung Δs quadriert wird,
W=F· dr = F · (r2 − r1 ) = F · Δr12 = FΔr12 cos α . ist die Arbeit, die die Federkraft am Massenpunkt verrich-
r1 tet, unabhängig davon, ob die Feder gedehnt (s > s0 ) oder
gestaucht (s < s0 ) wird, stets negativ. Null ist sie nur im
Die Arbeit ist daher positiv, wenn der Kraftvektor F Sonderfall, dass man die Feder weder dehnt noch staucht.
einen Anteil in Richtung des Verschiebungsvektors Δr12
besitzt, da dann wegen 0 ≤ α < 90◦ der Kosinusterm
positiv ist. Wenn der Kraftvektor dagegen einen Anteil Antwort 8.3 Die Gesetze der Statik gelten für unbewegte
entgegen des Verschiebungsvektors hat, ergibt sich we- Systeme oder für Systeme, die sich mit konstanter Ge-
gen 90◦ < α ≤ 180◦ eine negative Arbeit. Wenn Kraft- schwindigkeit bewegen. In beiden Fällen ist die Differenz
und Verschiebungsvektors senkrecht aufeinanderstehen, der kinetischen Energie gleich null. Aus W01 = 0 folgt in
ist wegen α = 90◦ die Arbeit stets null, selbst wenn Kraft- Übereinstimmung mit Abschn. 6.2, dass im Sonderfall der
oder Verschiebungsvektor ungleich null sind. Für die Statik die virtuelle Arbeit δW gleich null ist.
speziellen Winkel α = 0◦ , 90◦ , 180◦ erhalten wir insbeson-
dp
dere: Antwort 8.4 Im Sonderfall ∑ni=1 F i = 0 ist dt = 0; der Ge-
⎧ samtimpuls ändert sich nicht. Dies ist die Aussage des
⎪
⎨ F · Δr12 falls F ↑↑ dr , Impulserhaltungssatzes: Der Gesamtimpuls eines Massen-
W= 0 falls F ⊥ dr , punktsystems ist nach Betrag und Richtung konstant,
⎪
⎩−F · Δr
12 falls F ↑↓ dr . wenn die Resultierende der auf das Massenpunktsystem
wirkenden äußeren Kräfte gleich null ist. Der Impulser-
Die einfache Merkregel „Arbeit ist Kraft mal Weg“ darf haltungssatz wird bei der Untersuchung von Stoßvorgän-
daher nur verwendet werden, wenn die Kraft nach Betrag gen eine Rolle spielen.
200 8 Kinetik des Massenpunktes – wie beeinflussen Kräfte und Momente die Bewegung?
Aufgaben
Technische Mechanik
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
8.1 •• Eine Kiste (Masse m = 100 kg) hängt an ei- 2. Welche Geschwindigkeit besitzt die Punktmasse im
nem Seil. Die Kiste wird innerhalb von T = 5 s um die Punkt B, wenn die Ebene reibungsbehaftet (Gleitrei-
Höhe H = 9 m angehoben. Das Geschwindigkeits-Zeit- bungskoeffizient μ) ist?
Gesetz v = v(t) hat dabei den gezeichneten Verlauf.
Hinweis: Wenn Reibungsfreiheit vorliegt, können Sie die
v Aufgabe mit dem Energiesatz lösen, da alle Kräfte, die auf
v1 die Kiste wirken, konservativ sind. Andernfalls muss der
Arbeitssatz verwendet werden, da die Gleitreibungskraft
nicht konservativ ist.
0 1 2 3 4 5 t (s) Resultat: vglatt = 2gS sin α ,
vReib = 2gS(sin α − μ cos α) .
1. Welche Maximalgeschwindigkeit v1 erreicht die Kiste?
Wie groß ist die Beschleunigung in den beiden Ab- 8.3 •• Die dargestellte Murmelbahn setzt sich aus
schnitten der Bewegung? einer Geraden AB und dem Kreisbogen BC zusammen.
2. Wie groß ist die Seilkraft in den beiden Abschnitten der Der Abstand der beiden Punkte C und D beträgt in ho-
Bewegung? rizontaler Richtung c und in vertikaler Richtung d. Die
Hinweis: Stellen Sie zunächst die kinematischen Gleichun- Bahn sei glatt, sodass die Murmel nicht rotiert.
gen für die beiden Abschnitte der Bewegung auf. Die
Seilkraft folgt aus dem Impulssatz. Kann man die Seilkraft vA = 0
A
im zweiten Abschnitt der Bewegung auch einfacher ange-
ben? H
Resultat: v1 = 2,25 m/s, a1 = 1,125 m/s2 , D
S1 = 1093,5 N, S2 = 981 N .
vC
β α d
8.2 • Eine Punktmasse setzt sich ohne Anfangs- B c
geschwindigkeit im Punkt A einer schiefen Ebene (Nei- C
gungswinkel α) in Bewegung und legt bis zum Punkt B
die Strecke S zurück. α = 60◦ , β = 70◦ , c = 30 cm , d = 40 cm
m
v=0 1. Mit welcher Mindestgeschwindigkeit vC muss die Mur-
A
mel die Kreisbahn verlassen, damit sie die Tischkante D
erreicht?
2. Aus welcher Höhe H über der Tischkante D muss man
α die Murmel ohne Anfangsgeschwindigkeit loslassen,
damit sie im Punkt C die Mindestgeschwindigkeit vC
S erreicht?
Hinweis: Die Berechnung der Geschwindigkeit vC geht
man am Besten an, indem man die explizite Darstellung
B der Wurfparabel ausnutzt. Da das System konservativ ist,
bietet sich zur Berechnung der Höhe H der Energiesatz
an.
1. Welche Geschwindigkeit besitzt die Punktmasse im
Punkt B, wenn die Ebene glatt ist? Resultat: vC = 3,84 m/s , H = 0,87 m .
Kinematik des starren
9
Technische Mechanik
Körpers – wie Gegenstände
sich bewegen
Warum benötigt ein Auto
ein Differenzialgetriebe,
nicht jedoch ein Zug?
Wie können wir Lage und
Orientierung eines
Roboterarmes
beschreiben?
Wo liegt beim rollenden
Rad der Momentanpol?
Frage 9.1
Wie viele Freiheitsgrade hat der Körper, wenn ein Punkt
9.1 Lage und Orientierung des Körpers festgehalten wird? Wie viele Freiheitsgrade
eines starren Körpers hat der Körper, wenn seine Verdrehung durch ein Pris-
mengelenk eingeschränkt wird?
Um ein Verständnis für den Begriff der Orientierung eines
starren Körpers zu erhalten, betrachten wir einige Bei- Damit ist aber noch nicht geklärt, wie die Orientierung
spiele, die uns aus dem täglichen Leben bekannt sind. des starren Körpers beschrieben werden kann. Um die
Wollen wir das Auto in eine bestehende Parklücke rangie-
ren, so ist am Ende nicht nur die Position des Fahrzeuges
wichtig, sondern das Fahrzeug sollte auch so ausgerich-
tet sein, dass es nicht quer oder schräg zur Parklücke P2
steht. Dass dies mitunter nicht ganz leicht ist, wissen
wir aus Erfahrung. Auch wenn wir eine Schraube in z
eine Schraubenmutter drehen wollen, müssen zunächst
Schraube und Mutter genügend genau zueinander aus-
gerichtet sein, bevor sich die Schraube eindrehen läßt. P3
r1 K
Nicht zuletzt basieren viele Geschicklichkeitsspiele für Er- O
P1
wachsene und Kinder darauf, dass Gegenstände in eine y z
bestimmte Lage und Orientierung gebracht werden müs- x
sen (Abb. 9.1). y
x
Bei einer allgemeinen Bewegung besitzt ein Körper sechs
Freiheitsgrade. Wählt man nämlich auf dem Körper drei Abb. 9.2 Bewegung dreier Punkte des starren Körpers
9.2 Kinematik der Drehung bei ebener Bewegung 203
i3 = k 3
k2
Technische Mechanik
k3
φ
k2 φ i2
i3 k1 i1
k1
K
Abb. 9.4 Drehung des starren Körpers bei einer ebenen Bewegung
i2
i1
dessen Lage bei einer ebenen Bewegung durch zwei und
bei einer räumlichen Bewegung durch drei Koordinaten
Abb. 9.3 Basis des Bezugssystems und körperfeste Basis
beschrieben werden kann. Benötigt wird außerdem die
Orientierung des Körpers im Raum.
Orientierung des starren Körpers in einem Bezugssystem,
z. B. dem Inertialsystem, zu beschreiben, führen wir so-
wohl für das Bezugssystem wie auch für den Starrkörper Wie die Orientierung eines starren Körpers
jeweils eine orthonormale Basis i1 , i2 , i3 und k1 , k2 , k3 ein
(Abb. 9.3). Wenn der Zusammenhang zwischen den Ba-
bei einer ebenen Bewegung beschrieben
sisvektoren bekannt ist, kennt man die Orientierung des werden kann
starren Körpers. Für den Basisvektor kj gilt:
Bei der ebenen Bewegung eines starren Körpers im Raum
kj = m1j i1 + m2j i2 + m3j i3 , j = 1, 2, 3. (9.1) kann er sich um eine Achse senkrecht zur Bewegungs-
Die Koordinaten mlj in (9.1) lassen sich leicht bestimmen, ebene drehen. Diese Drehung kann durch einen Winkel
wenn diese Gleichung skalar mit dem Einheitsvektor il ϕ beschrieben werden. Wird für das Inertialsystem wie-
multipliziert wird. Das Skalarprodukt von zwei dieser Ba- der die orthonormale Basis i1 , i2 , i3 eingeführt, so liegt
sisvektoren des Inertialsystems ist nämlich entweder null es nahe, einen der Basisvektoren, z. B. i3 , so zu wählen,
oder eins, und es ergibt sich: dass er senkrecht zur Bewegungsebene steht. Wird ein Be-
zugssystem fest mit dem Körper verbunden, für welches
mlj = il · kj . ebenfalls eine Basis k1 , k2 , k3 so gewählt wird, dass k3
in Richtung von i3 zeigt, dann erfolgt die Drehung des
Da das Skalarprodukt durch das Produkt der Beträge und Körpers um eine Achse in Richtung dieser beiden Basis-
dem Kosinus des eingeschlossenen Winkels gebildet wird vektoren, wobei die Drehachse durchaus außerhalb des
und beide Vektoren Einheitsvektoren sind, entspricht mej Körpers liegen kann (Abb. 9.4).
genau dem Kosinus des Winkels zwischen den Einheits-
vektoren il und kj . Ein beliebiger Vektor b kann dargestellt werden als:
Technische Mechanik
B k3
schwindigkeit kann die Zeitableitung eines Vektors k2
im Inertialsystem sehr leicht berechnet werden, auch rB
wenn der Vektor im körperfesten Bezugssystem dar-
gestellt ist. rAB k1
i3
rA A
K
Beispiel Eine Generatorwelle W wird beschleunigt und
dreht sich während des Beschleunigungsvorganges so,
dass der Verdrehwinkel ϕ = at2 beträgt. Auf der Ge- i2
neratorwelle ist ein Permanentmagnet befestigt, der ein i1
bezüglich der Welle konstantes Magnetfeld B = Bk1 be-
wirkt. Hierbei ist k1 , k2 , k3 eine wellenfeste Basis, wobei Abb. 9.7 Beschreibung der Lage eines beliebigen Punktes B
k3 in Wellenlängsrichtung zeigt. Wie groß ist die Winkel-
geschwindigkeit und wie groß ist die Zeitableitung des
Magnetfeldes in der Umgebung, ausgedrückt in der wel- Frage 9.2
lenfesten Basis? Woraus setzt sich die zeitliche Änderung von ω bei einer
Die Winkelgeschwindigkeit der Generatorwelle ist ω = allgemeinen räumlichen Bewegung zusammen?
ϕ̇k3 = 2atk3 . Der Betrag der Winkelgeschwindigkeit ist in
diesem Fall zeitabhängig, und die Richtung ist in Wel-
lenlängsrichtung. Das Magnetfeld ist bezüglich der Welle
konstant, sodass 9.3 Kinematik von Körperpunkten
dW B bei ebener Bewegung
=0
dt
gilt. Für die Zeitableitung im Inertialsystem bedeutet dies: Wie wir gesehen haben, genügen zur Beschreibung der
Lage und der Orientierung eines starren Körpers bei ei-
dI B dW B ner ebenen Bewegung drei Koordinaten. Demzufolge ist
= + ω × B = 2atB(k3 × k1 ) = 2atBk2 . durch diese drei Koordinaten auch die Lage eines belie-
dt dt
bigen Punktes auf dem Körper gegeben. Wählen wir den
Punkt A auf dem Körper als Bezugspunkt, so ist die Lage
eines beliebigen Punktes B des Körpers gemäß Abb. 9.7
Die Winkelbeschleunigung gibt die zeitliche durch
Änderung der Winkelgeschwindigkeit an rB = rA + rAB (9.8)
In analoger Weise ergibt sich durch Ableitung der Win- gegeben. Hierbei nehmen wir zunächst an, dass der Punkt
kelgeschwindigkeit die sogenannte Winkelbeschleuni- A und der Punkt B in der selben Bewegungsebene liegen.
gung α: Die Geschwindigkeit vB des Punktes B ergibt sich durch
Ableitung von (9.8):
dI ω
α= .
dt dI (rA + rAB ) dI rA dI rAB
vB = = + .
Da ω bei einer ebenen Bewegung die Richtung nicht än- dt dt dt
dert, ergibt sich eine zeitliche Änderung lediglich aus der Der erste Term auf der rechten Seite der Gleichung ent-
zeitlichen Änderung der Koordinate: spricht gerade der Geschwindigkeit des Punktes A. Beim
d ϕ̇ zweiten Term ist zu beachten, dass der Vektor rAB im
α = ω̇ = k3 = ϕ̈k3 . körperfesten Bezugssystem konstant ist. Eine zeitliche
dt
Sehr oft führen wir für die Winkelgeschwindigkeit ω und Änderung ergibt sich deshalb nur infolge der Verdrehung
die Winkelbeschleunigung ω̇ gemäß des Vektors rAB . Somit erhalten wir:
ω = ωez , dI rA dK rAB
vB = + + ω × rAB = vA + ω × rAB .
ω̇ = α = ω̇ez = αez dt dt
die Skalare ω und α ein, die dann nicht den Beträgen der Dies ist die Grundgleichung der Kinematik. Sie gilt auch,
Vektoren entsprechen, sondern auch negativ sein können. falls A und B nicht in derselben Bewegungsebene liegen,
206 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen
Abb. 9.8 Der fliegende Teppich bewegt sich rein translatorisch (Photo: Wolf-
Bei einer reinen Translationsbewegung gang Heuser, Gladenbach)
hat der Körper keine Winkelgeschwindigkeit
Die Rotationsbewegung um eine raumfeste
Im Falle einer reinen Translationsbewegung ist die Win- Achse ist ein weiterer Sonderfall
kelgeschwindigkeit des Körpers ω = 0. Damit ergibt sich
für die Geschwindigkeit des Punktes B: Bei sehr vielen Anwendungen drehen sich Körper um
vB = vA + ω × rAB = vA . raumfeste Achsen. Beispiele sind Zahnräder in Getrieben,
ein Riesenrad oder die Welle einer Turbine zur Stromer-
Somit haben alle Punkte des Körpers dieselbe Geschwin- zeugung. In diesem Fall wird als Bezugspunkt A ein
digkeit wie der Bezugspunkt. Dies bedeutet allerdings Punkt des Körpers auf der Drehachse gewählt, der somit
nicht, dass sich die Punkte auf einer Geraden bewegen. Im die Geschwindigkeit null hat. Für einen beliebigen Punkt
Gegenteil, die Bewegung kann relativ kompliziert sein, des Körpers gilt demnach:
aber sie ist für alle Punkte gleich.
vB = ω × rAB .
Beispiel Bei dem in Abb. 9.8 dargestellten Beispiel ei- Wir führen jetzt ähnlich wie in Kap. 8 ein polares Koor-
nes fliegenden Teppichs wird eine Parallelführung der dinatensystem ein. Anders als in Kap. 8 verwenden wir
Kabine durch die beiden Führungsarme erreicht. Der Auf- hier die Einheitsvektoren er , e ϕ und ez , um die Verwechs-
bau bewegt sich nur translatorisch ohne sich zu drehen. lung von radialer Koordinate und Dichte ρ beim starren
Es handelt sich somit um eine reine Translationsbewe- Körper zu vermeiden. In Abb. 9.9 sind diese am Punkt
gung des Körpers. Allerdings bewegen sich alle Punkte B ersichtlich, und es wird deutlich, dass sich B auf einer
auf Kreisbahnen. Kreisbahn mit Mittelpunkt auf der Drehachse bewegt und
er in radialer, e ϕ in Umfangsrichtung zeigen, sodass diese
In analoger Weise folgt für die Beschleunigung eines be- Einheitsvektoren anders als die Einheitsvektoren k1 , k2 ,
liebigen Körperpunktes: k3 vom betrachteten Punkt abhängen. Der Körper selbst
muss dabei nicht rotationssymmetrisch sein. Wegen ω =
dvB dvA
aB = = = aA . ωez und rAB = rer + zez folgt mit
dt dt
rB = rA + rAB
Damit erfahren alle Körperpunkte dieselbe Beschleuni-
gung. für die Geschwindigkeit:
vB = vA + ω × rAB = ωez × (rer + zez ) = ωre ϕ .
Geschwindigkeit und Beschleunigung bei reiner Trans-
lationsbewegung In analoger Weise erhalten wir die Beschleunigung durch
Ableiten der Geschwindigkeit. Dies führt auf:
Bei einer reinen Translationsbewegung haben alle
Punkte des starren Körpers dieselbe Geschwindig- dI (ω × rAB ) dI ω dI rAB
aB = = × rAB + ω ×
keit und dieselbe Beschleunigung. dt dt dt
= α × rAB + ω × (ω × rAB )
9.3 Kinematik von Körperpunkten bei ebener Bewegung 207
K B
ω = ωez
Technische Mechanik
rB
rAB
rA A
K
ez
r
B O
eφ
rB
rAB er
Abb. 9.10 Darstellung des Ortsvektors zum Punkt B
A
rA
B
O
rB
rAB = rer
er
eφ
Abb. 9.9 Drehung eines Körpers um eine raumfeste Achse y
A K
rA
aB = αre ϕ − ω rer .
2
Abb. 9.11 Bewegungsebene senkrecht zu ω
rB = rA + rer ,
Eine allgemeine ebene Bewegung setzt sich
vB = vA + ωre ϕ ,
zusammen aus Translation und Rotation
aB = aA + αre ϕ − ω 2 rer .
Bei einer allgemeinen ebenen Bewegung werden Transla- Hierbei wurde vorausgesetzt, dass der Vektor rAB in der
tionsbewegung und Rotationsbewegung überlagert. Spä- Bewegungsebene liegt, d. h. dass sowohl der Punkt A wie
ter werden wir sehen, dass im Falle einer ebenen Bewe- der Punkt B in derselben Ebene liegen. Die Gleichun-
gung diese immer als Drehung um einen momentanen gen zeigen dann, dass sich die Bewegung des Punktes
Drehpunkt, den Momentanpol, aufgefasst werden kann. B bei einer allgemeinen ebenen Bewegung aus der Be-
Wir beginnen wieder mit mit der Darstellung des Orts- wegung des Punktes A und einer Rotation von B um A
vektors rB durch den Vektor rA und den Relativvektor rAB zusammensetzt. Grafisch läßt sich dies sehr leicht, wie
gemäß Abb. 9.10: in den Abb. 9.12 und 9.13 dargestellt, anschaulich zei-
gen. Eingezeichnet sind dort in der Bewegungsebene die
rB = rA + rAB . Punkte A und B sowie der Vektor rer , auf dem der Vek-
tor e ϕ senkrecht steht. Im Geschwindigkeitsplan setzt sich
Der Vektor rAB ist in einem körperfesten Bezugssystem die Geschwindigkeit des Punktes B zusammen aus der
konstant. Dies führt auf: Geschwindigkeit des Punktes A und einer Geschwin-
digkeitskomponente, die in Richtung von e ϕ zeigt. Im
dI rB dI rA dI rAB Beschleunigungsplan setzt sich die Beschleunigung aus
vB = = + = vA + ω × rAB .
dt dt dt der Beschleunigung des Punktes A und den zwei Be-
208 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen
vA
vB K
φ·reφ
Technische Mechanik
A
B vA
rer vB
y
γ B
A vA
γ
rAP
x
P
Abb. 9.12 Geschwindigkeitsplan bei einer allgemein ebenen Bewegung
Abb. 9.14 Momentanpol P und Geschwindigkeitsverteilung im Körper
aA
Technische Mechanik
vB R weshalb ω negativ ist. Die Strecken vom Momentanpol √
zu den Punkten B und C haben eine Länge, die dem 2-
ey Fachen der Strecke von P nach N entsprechen. Die√ Beträge
B N der Geschwindigkeiten sind deshalb auch das 2-Fache
vN C
der Nabengeschwindigkeit. Da die Strecken jeweils einen
vC
Winkel von 45◦ mit der Horizontalen einschließen, sind
die Richtungen der Geschwindigkeiten ebenfalls um 45◦
ez ex gegenüber der Horizontalen geneigt.
eφ
vAB
vA
Lösung für die Stellung a: Die Geschwindigkeit des
Punktes A ist mit
B
y
vA = −Rω1 sin γex + Rω1 cos γey l
vB = vA + ω2 le ϕ R
γ , ω1 = γ
= −Rω1 sin γex + Rω1 cos γey
x
− ω2 l sin γex + ω2 l cos γex
= −(Rω1 + lω2 ) sin γex + (Rω1 + lω2 ) cos γey
= vBx ex + vBy ey .
Da das Lager B sich nur in y-Richtung bewegen kann, Lösung für die Stellung b: Die Geschwindigkeit des
gilt: Punktes A ist in diesem Fall wieder mit
gegeben. Für die Geschwindigkeit des Punktes B folgt: Die graphische Lösung ist in folgender Abbildung an-
gegeben.
Technische Mechanik
vB = vA + ω2 le ϕ
= −Rω1 sin γex + Rω1 cos γey − ω2 lex vAB
vBx = 0
y l ω2
folgt:
vA
R φ, ω 2 = φ
ω2 = − ω1 sin γ. A
l
R
γ, ω1 = γ
Mit diesem Ergebnis ergibt sich die Geschwindigkeit
von B zu x
Die Beziehungen zwischen den Geschwindigkeiten in C die Winkelgeschwindigkeiten ω2 der Kurbel, ω3 der Kop-
und D und für die Geschwindigkeit des Gelenkpunktes pelstange und die Geschwindigkeit des Punktes B.
zum Haken sind mit
vD = vC + ω3 × rCD ,
D
und R2
vH = vC + ω3 × rCH ω2
l
gegeben, woraus nach Einsetzen der Geschwindigkeiten B A
ω3
von C und D sowie mit rCD = 2R3 ex , rCH = R3 ex und ω1
ω3 = ω3 ez sofort folgt: 45°
R1
C
−R2 ω2 ey = R1 ω1 ey + 2R3 ω3 ey ,
vH = R1 ω1 ey + R3 ω3 ey .
Abb. 9.17 Koppelviereck
Die Auswertung der Gleichungen liefert:
Leitbeispiel Antriebsstrang
Technische Mechanik
Planetengetriebe
Ein Planetengetriebe besteht aus einem Sonnen-, einem gegeben. Gleichzeitig gilt aufgrund der Rotation des
Hohl- und mehreren Planetenrädern. Die Planetenrä- Planetenrades:
der rollen sowohl am Hohl- als auch am Sonnenrad
ab. Die Planetenräder sind auf einem Steg gelagert, vC = vA + 2RP ωP .
dessen Drehzahl durch die Geschwindigkeit der Plane-
tenräder bestimmt wird. Mit einem derartigen Getriebe Dies führt auf:
lassen sich sehr große Drehzahlunterschiede realisie- (RS + 2RP )ωH = RS ωS + 2RP ωP .
ren.
In der Abbildung ist der prinzipielle Aufbau eines Pla- Aufgelöst nach ωP ergibt sich:
netengetriebes zu sehen.
(RS + 2RP )ωH − RS ωS
ωH
ωP = .
2RP
C
ωP Der Steg dreht sich um den Mittelpunkt des Son-
nenrades beziehungsweise des Hohlrades, sodass die
RP
RH Hohlrad Geschwindigkeit des Stegpunktes B
B
A
vB = ωSt RSt = ωSt (RS + RP )
RS Steg
RSt beträgt. Diese ist identisch mit der Geschwindigkeit
ωS Sonnenrad
des Punktes B als Punkt des Planetenrades, die sich
über
ωSt
Planetenrad v B = v A + ω P RP
1 1
ωSt (RS + RP ) = RS ωS + (RS + 2RP )ωH − RS ωS
2 2
Die Winkelgeschwindigkeiten von Hohlrad, Sonnen-
rad, Planetenrad und Steg sind ωH , ωS , ωP und ωSt , oder:
die zugehörigen Radien sind RH , RS , RP und RSt . Auf-
(RS + 2RP )ωH + RS ωS
grund der Geometrie gilt: ωSt = .
2 ( RS + RP )
RH = RS + 2RP ,
RSt = RS + RP . Für den Sonderfall eines sich mit ωS drehenden Son-
nenrades und eines feststehenden Hohlrades führt dies
Wir bestimmen die Winkelgeschwindigkeiten der Pla- auf:
netenräder und des Steges in Abhängigkeit der Win-
RS
kelgeschwindigkeiten von Hohl- und Sonnenrad. ωP = − ωS ,
2RP
Die Geschwindigkeiten der Kontaktpunkte A und C RS
sind durch ωSt = ωS ,
2 ( RS + RP )
v A = RS ω S
und und wir erkennen, dass z. B. für RS RP die Winkel-
geschwindigkeiten der Planetenräder und des Steges
vC = RH ωH = (RS + 2RP )ωH sehr viel kleiner sind als die des Sonnenrades.
214 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen
cos ψ sin ψ 0
mψ = ⎝ − sin ψ cos ψ 0 ⎠.
0 0 1
gegeben sind. Mithilfe dieser Matrix lassen sich Vektoren, Bewegung ist die Richtung, wie wir gesehen haben, senk-
die mit den Einheitsvektoren des Inertialsystems darge- recht zur Bewegungsebene. Im Falle einer räumlichen
Technische Mechanik
stellt sind, in das körperfeste System transformieren: Bewegung ist der Betrag der Winkelgeschwindigkeit ein
Maß, wie schnell sich ein Körper dreht und die Richtung
kk = mk1 i1 + mk2 i2 + mk3 i3 . der Winkelgeschwindigkeit kennzeichnet die Achse, um
welche sich der Körper momentan dreht. Beide, sowohl
Um die Einheitsvektoren des körperfesten Bezugssystems der Betrag als auch die Richtung, ändern sich im Allge-
in die Einheitsvektoren des Inertialsystems umzurechnen, meinen mit der Zeit.
ergibt sich wegen der Orthogonalität der Drehmatrix:
Da sich die Winkelgeschwindigkeit zu jeder der drei Ele-
⎛ ⎞ ⎛ ⎞ mentardrehungen bei Eulerwinkeln sehr leicht angeben
i1 T k1
⎝ i2 ⎠ = mE ⎝ k2 ⎠ läßt, nämlich wie bei der ebenen Bewegung als Zeitablei-
i3 k3 tung des jeweiligen Winkels um die zugehörige Drehach-
se, müssen diese nur vektoriell aufsummiert werden. Für
die Winkelgeschwindigkeit des Körpers im Inertialsystem
und damit:
gilt deshalb bei Verwendung von Eulerwinkeln:
ik = m1k k1 + m2k k2 + m3k k3 . ω = ψ̇i3 + θ̇k1 + ϕ̇k3 .
Mit den Matrizen mE und (mE )T lassen sich somit auch Durch Umrechnen der Einheitsvektoren in die körperfes-
die Koordinaten bezüglich verschiedener Basissysteme te Basis folgt die Darstellung:
wie in (9.9) umrechnen. Hat der Körper eine Anfangsori-
ω = ω1 k1 + ω2 k2 + ω3 k3
entierung im Raum, so müssen zunächst die zugehörigen
Eulerwinkel ψ, θ und ϕ bestimmt werden. Bezüglich der mit den Koordinaten
Verfahren, mit denen diese bestimmt werden können,
wird auf Spezialliteratur verwiesen. ω1 = ψ̇ sin θ sin ϕ + θ̇ cos ϕ,
Außer der Beschreibung der Orientierung über Euler- ω2 = ψ̇ sin θ cos ϕ − θ̇ sin ϕ, (9.10)
winkel können auch Drehungen um die Achsen in einer ω3 = ψ̇ cos θ + ϕ̇.
anderen Reihenfolge eingeführt werden. Ein bekanntes
Beispiel sind Kardanwinkel, bei denen zunächst um die Wenn später der Drallsatz für den starren Körper ausge-
1-Achse, dann um die neue 2 -Achse und zum Schluss um wertet wird, ist es zweckmäßig, die Winkelgeschwindig-
die 3 -Achse gedreht wird. keit bezüglich der körperfesten Einheitsvektoren anzuge-
ben. Dann ergeben sich aus dem Drallsatz Differenzial-
gleichungen für ω1 , ω2 und ω3 , die normalerweise nume-
Frage 9.4
risch gelöst werden müssen. Um von diesen Koordinaten
Wenn Eulerwinkel gemäß der Reihenfolge der Drehach- ω1 , ω2 , ω3 auf die Orientierung des Körpers zu kommen,
sen mit 313 bezeichnet werden, welche anderen Drehrei- sind die Gleichungen (9.10) nach den Zeitableitungen der
henfolgen gibt es noch? Eulerwinkel aufzulösen, sodass diese ebenfalls numerisch
integriert werden können. Umformen von (9.10) ergibt:
sin ϕ cos ϕ
Verdrehungen und Drehreihenfolge ψ̇ = ω1 + ω2 ,
sin θ sin θ
Endliche Verdrehungen haben keine Vektoreigen- θ̇ = cos ϕω1 − sin ϕω2 ,
schaft, da der Körper bei gleichen Verdrehwinkeln
ψ, θ und ϕ um die zugehörigen Achsen bei un- sin ϕ cos ϕ
ϕ̇ = − ω1 − ω2 + ω3 ,
terschiedlichen Drehreihenfolgen am Ende unter- tan θ tan θ
schiedliche Orientierungen hat. und wir erkennen, dass dies zu Problemen führt, wenn
der Winkel θ in der Nähe von θ = 0 oder θ = ±π liegt, da
dann der Nenner in den Gleichungen sehr klein wird. Der
Grund liegt darin, dass die erste und die dritte Drehung
in diesem Fall praktisch um dieselben Achsen erfolgt und
Die Winkelgeschwindigkeit eines Körpers deshalb die Eulerwinkel nicht mehr eindeutig sind. Im
ist ein Vektor, der die Drehrichtung und die Falle der Darstellung der Orientierung mit Winkeln ande-
rer Drehreihenfolge tritt dieses Phänomen ebenfalls auf.
momentane Drehgeschwindigkeit angibt
Es kann vermieden werden, wenn sogenannte Quater-
nionen, z. B. in Form von Eulerparametern, eingeführt
Im Gegensatz zu Winkelverdrehungen haben Winkel- werden, wozu aber auf die Spezialliteratur verwiesen
geschwindigkeiten Vektoreigenschaft. Bei einer ebenen wird.
216 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen
Leitbeispiel Antriebsstrang
Technische Mechanik
Differenzialgetriebe
Ein Differenzialgetriebe dient bei einem Fahrzeug zum Bezüglich des Fahrzeugs haben Punkte auf der Achse
Ausgleich der unterschiedlichen Drehzahlen der Rä- der Räder keine Geschwindigkeit. Die Geschwindig-
der bei einer Kurvenfahrt. In diesem Beispiel bestim- keit des Ritzelmittelpunktes bezüglich des Fahrzeugs
men wir die Winkelgeschwindigkeit und die Winkel- beträgt deshalb:
beschleunigung des Verbindungsritzels.
vV = ωGehäuse × RA ey = ωA ez × RA ey = −ωA RA ex .
In der Abbildung ist der prinzipielle Aufbau des Dif-
ferenzialgetriebes zu sehen. Das ganze Getriebe dreht Die Geschwindigkeiten der Kontaktpunkte B und C
sich mit der Winkelgeschwindigkeit ωA , die durch den zwischen den Achszahnrädern und dem Ritzel relativ
Antriebsstrang vorgegeben wird. Die Achsen der Rä- zum Fahrzeug sind analog zu bestimmen:
der drehen sich mit ωL auf der linken und mit ωR
auf der rechten Seite. Beide Achsen sind über Zahnrä- vB = −ωL RA ex ,
der (Zahnkreisradius RA ) mit dem Verbindungsritzel
vC = −ωR RA ex .
(Zahnkreisradius r) verbunden. Zunächst bestimme
man die Winkelgeschwindigkeit ωV des Ritzels in Ab-
Für die Kontaktpunkte als Punkte des Ritzels gilt:
hängigkeit von ωA und ωL . Wie groß ist die Winkelbe-
schleunigung αV des Ritzels? Wie groß sind ωV und αV
vB = vV + ωV × (−rez ),
bei einer Geradeausfahrt? Was ergibt sich, wenn auf-
grund von Eisglätte das linke Rad blockiert und das vC = vV + ωV × (rez )
rechte Rad durchdreht?
und damit:
Die Winkelgeschwindigkeit ωV des Ritzels bezüglich Dies sind zwei Gleichungen für die vier Größen ωA ,
des Fahrzeugs setzt sich zusammen aus der Winkel- ωL , ωR und ωE , sodass zwei Größen vorgegeben wer-
geschwindigkeit ωA ez , mit der sich das Gehäuse des den können. Im Allgemeinen ist eine davon die Win-
Differenzials dreht, und der Eigendrehung des Ritzels kelgeschwindigkeit ωA , die durch den Antriebsstrang
ωE ey : vorgegeben wird. Im Falle einer Geradeausfahrt sind
bei gleichen Radien der Bereifung ωL und ωR gleich
(bei ungleicher Bereifung oder einer Kurvenfahrt ist
ωV = ωA ez + ωE ey = ωA ez + ωE ey . dies nicht mehr der Fall). Bei einem blockierenden
9.4 Kinematik der räumlichen Bewegung 217
linken Rad ist ωL = 0. Somit folgt bei Geradeausfahrt Für die Winkelbeschleunigung des Ritzels folgt:
(ωL = ωR = ω):
dI ωV
Technische Mechanik
−ωE r + ωRA = ωA RA , αV =
dt
ωE r + ωRA = ωA RA = (ω̇A ez + ω̇E ey ) + ω × (ωA ez + ωE ey ),
und damit: wobei ω = ωA ez die Winkelgeschwindigkeit des
x y z -Systems und damit des Differenzialgehäuses ist.
ω = ωA , Im Falle der Geradeausfahrt ergibt dies wegen ωE = 0
ωE = 0. und somit ω̇E = 0:
Bei blockierendem linken Rad gilt: αV,geradeaus = ω̇A ez ,
Winkelbeschleunigung
Beispiel Für eine Schraubenbewegung können wir uns Um die Winkelbeschleunigung eines Körpers zu be-
als Beispiel eine Schraubenmutter vorstellen, die sich auf stimmen, kann die Winkelgeschwindigkeit im Iner-
einer feststehenden Gewindestange bewegt. Sie rotiert tialsystem oder im körperfesten System abgeleitet
um die Gewindelängsachse und bewegt sich gleichzeitig werden. Sie hat im Allgemeinen eine andere Rich-
in Längsrichtung. Es gibt somit keinen Punkt der Schrau- tung als die Winkelgeschwindigkeit.
benmutter, der momentan in Ruhe ist.
rAP
Sehr oft liegt der Fall vor, dass ein Punkt P sich relativ zu O
einem Körper bewegt. Dies kann zum Beispiel bei einem rA A
Gelenk der Fall sein, wobei die beiden Kontaktpunkte
der Körper zueinander eine Relativgeschwindigkeit ha-
ben, die sich meistens im körperfesten Bezugssystem sehr Abb. 9.20 Auf einem Körper sich bewegender Punkt P
leicht beschreiben läßt. Auch bei anderen Anwendun-
gen kann es vorkommen, dass sich die Bewegung eines
Punktes bezüglich eines Körpers und damit in einem be- Starrkörper verbunden ist. Durch erneute Zeitableitung
wegten Bezugssystem sehr leicht angeben läßt. Dennoch erhalten wir die Beschleunigung:
sind sehr oft die Geschwindigkeit und die Beschleuni-
gung des Punktes im Inertialsystem von Interesse. Bei- dI vP
spiele hierfür finden sich viele im täglichen Leben. Wenn aP =
dt
wir uns z. B. in einer Straßenbahn oder in einem ande-
ren Fahrzeug befinden, so lassen sich die Bewegungen dI vrel dI ω dI rAP
= aA + + × rAP + ω ×
im fahrzeugfesten Bezugssystem sehr einfach beschrei- dt dt dt
ben. Die Bewegung im Inertialsystem hängt indes noch = aA + α × rAP + ω × (ω × rAP ) + 2ω × vrel + arel .
von der Bewegung des Fahrzeugs ab. Des Weiteren sind
bei Systemen, die aus mehreren starren Körpern beste- Hierin sind aA die Beschleunigung des Bezugspunk-
hen, z. B. bei Industrierobotern, die einzelnen Körper über tes A, α die Winkelbeschleunigung des Körpers K im
Dreh- oder Schubgelenke verbunden. Bei den Schubge- Inertialsystem I und arel die Beschleunigung des Punk-
lenken tritt dann eine Relativbewegung im Gelenk auf, tes P relativ zum Körper. Die ersten drei Anteile der
die sich in körperfesten Bezugssystemen leicht darstellen Beschleunigung sind diejenigen, die ein Punkt des star-
läßt. ren Körpers erfährt, der sich an derselben Stelle befindet
In diesem Fall kann der Ortsvektor zu einem auf dem Kör- wie P. Die Relativbeschleunigung ist die Beschleunigung,
per bewegten Punkt P durch den Ortsvektor rA zu einem die ein mitbewegter Beobachter misst. Die Coriolisbe-
Bezugspunkt A des Körpers und einem Relativvektor rAP schleunigung
zwischen dem Bezugspunkt auf dem Körper und dem be-
wegten Punkt aufgeteilt werden (Abb. 9.20). Allerdings ist aCor = 2ω × vrel
dieser Relativvektor jetzt im körperfesten Bezugssystem
nicht mehr konstant, sondern ändert sich mit der Zeit. Die hängt sowohl von der Bewegung des Körpers wie auch
Geschwindigkeit des Punktes P im Inertialsystem ergibt von der Bewegung des Punktes auf dem Körper ab.
sich aus:
dI (rA + rAP )
vP = Geschwindigkeit und Beschleunigung bei Relativbewe-
dt gungen
dK rAP
= vA + + ω × rAP Bewegt sich ein Punkt auf einem starren Körper, so
dt
setzt sich die Geschwindigkeit des Punktes aus der
= vA + vrel + ω × rAP .
Geschwindigkeit des zugehörigen Punktes des Kör-
Diese Darstellung ergab sich auch in Kap. 8 bei der pers und der Relativgeschwindigkeit zusammen.
Relativkinematik des Massenpunktes. Im Vergleich zu ei- Bei der Beschleunigung tritt neben der Beschleuni-
nem Punkt des Starrkörpers, der sich an derselben Stelle gung des entsprechenden Körperpunktes und der
befindet wie der Punkt P, kommt also noch die Relativ- Relativbeschleunigung noch die Coriolisbeschleuni-
geschwindigkeit vrel hinzu. Dies ist diejenige Geschwin- gung auf.
digkeit, die ein Beobachter sieht, wenn er fest mit dem
Antworten zu den Verständnisfragen 219
Technische Mechanik
Literatur
Antwort 9.1 3, 3 Antwort 9.3 Das Rad dreht sich nicht mehr und führt eine
reine Translationsbewegung aus. Damit liegt der Momen-
Antwort 9.2 Änderung des Betrages, Änderung der Rich- tanpol im Unendlichen.
tung.
Antwort 9.4 121, 123, 131, 132, 212, 213, 231, 232, 312, 321,
323.
220 9 Kinematik des starren Körpers – wie Gegenstände sich bewegen
Aufgaben
Technische Mechanik
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
9.1 • Gegeben ist der abgebildete Schubkurbelme- 9.3 •• Bei welchem Winkel führen die Umrechnun-
chanismus gen der Winkelgeschwindigkeiten ω1 , ω2 und ω3 bei
Verwendung von Kardanwinkeln (vgl. Aufgabe 9.2) zu
Schwierigkeiten, da Singularitäten auftreten?
Resultat: β = ±90◦
9.4 • Oft nehmen wir an, dass die Erde ein Inertial-
y l system ist. Näherungsweise ist diese Annahme natürlich
gerechtfertigt. Bei einer genaueren Betrachtung ist die Er-
de jedoch ein Körper, der eine Winkelgeschwindigkeit um
die Polachse hat. In welche Richtung kann ein Mensch auf
der Erdoberfläche am Äquator gehen, sodass aufgrund
r
der Erddrehung keine Coriolisbeschleunigung auftritt?
φ Tritt am Nord- oder am Südpol eine entsprechende Co-
x riolisbeschleunigung auf? Wie sieht es aus, wenn man am
Äquator beziehungsweise an einem der Pole einen Stein
in einen tiefen Brunnen fallen läßt?
Resultat: Richtungen ohne Coriolisbeschleunigung: nord-
Bestimmen Sie die Koordinaten des Momentanpols der süd-Richtung am Äquator. Am Nord- und am Südpol tritt
Koppelstange in der augenblicklichen Stellung. Coriolisbeschleunigung auf. Stein in Brunnen: am Äqua-
tor tritt Coriolisbeschleunigung auf, an den Polen nicht.
Hinweis: Führen Sie den Winkel ψ zwischen der Pleuel-
stange und der y-Achse ein 9.5 • • • Wie lautet die Drehmatrix bei Kardanwin-
keln, wenn die Drehwinkel um die 1-Achse mit α, um
Resultat: die 2 -Achse mit β und um die 3 -Achse mit γ bezeich-
net werden?
r2
yP = r sin ϕ + l 1 − 2 cos2 ϕ
l Hinweis: Führen Sie Zwischensysteme ein
l r2 Resultat: ⎛ ⎞ ⎛ ⎞
xP = r cos ϕ + 1 − 2 cos2 ϕ
tan ϕ l k1 i1
⎝k2 ⎠ = mK ⎝i2 ⎠
k3 i3
9.2 • Bei Kardanwinkeln wird ein Körper zunächst
mit
um die 1-Achse, dann um die neue 2 -Achse und zum
Schluss um die 3 -Achse gedreht. Wie läßt sich die Win- 11 = cos β cos γ,
mK 12 = sin α sin β cos γ + cos α sin γ,
mK
kelgeschwindigkeit des Körpers mit den Einheitsvektoren
i1 , k2 und k3 ausdrücken, wenn die Verdrehwinkel α, β 13 = − cos α sin β cos γ + sin α sin γ,
mK
und γ sind? 21 = − cos β sin γ,
mK 22 = cos α cos γ − sin α sin β sin γ,
mK
Hinweis: Es handelt sich um drei Elementardrehungen 23 = sin α cos γ + cos α sin β sin γ,
mK
Resultat: 31 = sin β,
mK 32 = − sin α cos β,
mK
ω = α̇i1 + β̇k2 + γ̇k3 33 = cos α cos β.
mK
Aufgaben 221
9.6 •• Zwei Zahnräder sind auf einer Stange dreh- Hinweis: Führen Sie den Winkel ψ zwischen der Vertika-
bar in den Punkten A und B gelagert. Die Stange selbst len und der Pleuelstange ein.
Technische Mechanik
kann sich um den Punkt O drehen. Zahnrad 1 ist im Ein-
satz mit einer außenverzahnten Scheibe, Zahnrad 2 mit Resultat: Ergebnisse für die Stellung ϕ = 30◦ :
einem Hohlrad. Die Mittelpunkte von Scheibe und Hohl- 1
rad sind ebenfalls in O. Die Radien der Zahnräder sind r, ωKoppel = − √ ϕ̇,
33
der Radius von Scheibe und Hohlrad R.
vS = (−0,25ex + 0,791ey )r ϕ̇,
αKoppel = −0,2924 ϕ̇2,
r ω1
aS = (−0,433ex − 0,417ey )r ϕ̇2 .
R ψ
Zahnrad 1 Ergebnisse für die Stellung ϕ = 60◦ :
C
O
r ex 3
ωKoppel = − ϕ̇,
Zahnrad 2 35
ey vS = (−0,433ex + 0,427ey )r ϕ̇,
D ω2
αKoppel = −0,155 ϕ̇2 ,
Resultat: ωR d
vC = (R + r)(cos ψ − 1)ψ̇ex + (R + r)ψ̇ sin ψey , ωA
y l Resultat:
RωI + (R + d)ωA
ωK = .
2R + d
Welle
RW v ex
W
Scheibe
RS
ez′ A
l
ey′
l
φ
ωS
ω, α
ex′
R B
A
Wie groß ist der Vektor ωF der Winkelgeschwindigkeit
des Frisbees? Wie groß ist dessen Winkelbeschleunigung,
wenn ϕ̇ und ϕ̈ gegeben sind? Wie groß sind die Ge-
schwindigkeiten der Punkte A und B, wie groß deren
Beschleunigung? Hinweis: Führen Sie ein zylindrisches Koordinatensystem
ein.
Hinweis: Verwenden Sie die nicht körperfesten Einheits-
vektoren ex , ey , ez . Resultat: aA = αle ϕ − ω 2 ler
Kinetik des starren Körpers –
10
Technische Mechanik
Dinge kraftvoll bewegen
Warum dreht sich eine
Eiskunstläuferin bei einer
Pirouette so schnell?
Warum hat ein
Verbrennungsmotor ein
Schwungrad?
Wo muss eine Billardkugel
gestoßen werden, damit
sie nach dem Stoß rollt
ohne zu gleiten?
Im letzten Kapitel hatten wir die Kinematik zunächst für eine ebene ez
Bewegung und dann für eine allgemeine Bewegung eines starren
Technische Mechanik
Technische Mechanik
σ–r τ+rφ
Axiome für die Bewegung des starren Körpers
+
τ–rφ σr Bei der Kinetik des starren Körpers ist neben dem
Newton’schen Axiom noch ein weiteres Axiom not-
τ–rφ wendig. Dies ist im Allgemeinen das Euler’sche
σ–φ Axiom (Drallsatz) oder die Symmetrie des Span-
nungstensors.
Abb. 10.2 Innere Kräfte (Spannungen) am freigeschnittenen Massenelement
cD g
Bei gleicher Masse können zwei Körper unterschied-
liche Massenträgheitsmomente haben. Entscheidend ist
der Abstand r der einzelnen Massenelemente von der
φ
Drehachse. Bei einem Körper, bei dem die Masse einen
l
großen Abstand von der Drehachse hat, ist das Massen-
trägheitsmoment entsprechend groß. Dies ist ähnlich wie
S bei Flächenträgheitsmomenten in Abschn. 5.2. Im konkre-
m, JA
ten Fall ist es bei Körpern komplizierter Geometrie nur
noch numerisch oder experimentell möglich, das Massen-
Abb. 10.3 Physikalisches Pendel mit Drehfeder trägheitsmoment zu bestimmen. Bei einem CAD-Modell
liegt der Körper im Allgemeinen als Summe vieler ein-
Ein Freikörperbild in Abb. 10.4 zeigt, dass lediglich die facher Teilkörper vor, sodass dann die numerische Aus-
Gewichtskraft und die Drehfeder jeweils ein Moment be- wertung einfach wird. Wir beschränken uns hier auf die
züglich des Lagerpunkts A haben. Mit eingezeichnet ist Auswertung des Integrals für einfache Geometrien. In
auch das Trägheitsmoment diesem Fall werden am besten zunächst möglichst große
Massenelemente gewählt, bei denen alle Punkte den glei-
MT = −JA ϕ̈, chen Abstand von der Drehachse haben.
10.2 Massenträgheitsmomente 227
Technische Mechanik
elementes beträgt:
Das Massenträgheitsmoment eines Körpers hängt ab
von der Richtung der Drehachse bezüglich des Kör- dm = 2πrdρdr.
pers und vom Bezugspunkt, durch den diese Achse
geht. Aufgrund seiner Definition ist es immer posi-
Eingesetzt in die Definitionsgleichung führt dies auf:
tiv.
R
π
JS = r2 dm = 2πr3 dρdr = ρdR4 .
Beispiel Dass das Massenträgheitsmoment eines dün- 2
(m ) 0
nen Stabes von der Drehachse abhängt, wissen wir aus
Erfahrung. Wenn wir den Stab um seine Längsachse dre- Berücksichtigen wir, dass die Masse der Scheibe durch
hen, ist das zum Beschleunigen notwendige Moment
verschwindend gering. Für eine Drehung um eine Achse
senkrecht zur Längsachse ist ein relativ großes Moment m = πρdR2
zur Beschleunigung notwendig. Ein Seiltänzer mit Balan-
cierstange nützt diese Trägheit gezielt aus (Abb. 10.5). gegeben ist, dann erhalten wir als einfaches Ergebnis:
m 2
JS = R .
2
ω
Beispiel Bei der in Abb. 10.6 dargestellten homogenen
Scheibe der Dicke d und dem Außenradius R soll das Mas-
senträgheitsmoment bezüglich einer Achse durch den Abb. 10.7 Massenelement zur Bestimmung des Massenträgheitsmoments ei-
Schwerpunkt S in Dickenrichtung bestimmt werden. Ein nes dünnen Stabes bezüglich einer Achse durch ein Stabende
Massenelement, das zur Auswertung des Integrals ver-
Die Auswertung ergibt dann:
dm l
m m l3 m
JA = x2 dx = = l2 .
dr
R l l 3 3
r 0
Dicke d
Frage 10.1
ω Wie groß ist das Massenträgheitsmoment eines dünnen
Stabes für eine Achse, die senkrecht auf der Längsachse
Abb. 10.6 Massenelement zur Bestimmung des Massenträgheitsmoments ei- steht und durch den Schwerpunkt des Stabes geht?
ner Scheibe
228 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen
z
Mit den Beziehungen
R
C r (z) x = xS + x̄,
y = yS + ȳ
folgt hieraus:
Abb. 10.8 Bestimmung des Massenträgheitsmoments einer Kugel JA = (x2S + y2S + 2xS x̄ + 2yS ȳ + x̄2 + ȳ2 )dm
(m )
Diese Abhängigkeiten
= (x2S + y2S ) dm + 2xS x̄dm
r(z) = R2 − z2 ,
(m ) (m )
dm = πr2 (z)ρdz = π (R2 − z2 )ρdz
+ 2yS ȳdm + (x̄ + ȳ2 )dm
2
Technische Mechanik
Das Massenträgheitsmoment JA bezüglich einer
Achse durch den Punkt A setzt sich zusammen Abb. 10.11 Freikörperbild eines Massenelementes des starren Körpers
aus dem Massenträgheitsmoment JS bezüglich einer
parallelen Achse durch den Schwerpunkt und der
sogenannten Steiner’schen Ergänzung ma2 , wenn a und bezüglich einer Achse durch den Punkt A:
der Abstand der Achsen durch die Punkte S und A
ist. Da ma2 immer positiv ist, nimmt das Massen- 3
trägheitsmoment dann den kleinsten Wert für eine kScheibe,A = R.
2
gegebene Richtung der Drehachse an, wenn die Ach-
se durch den Schwerpunkt geht. Bei beliebigen Körperformen wird das Massenträgheits-
moment oft durch numerische Integration oder experi-
mentell bestimmt.
Abb. 10.10 Bestimmung des Massenträgheitsmoments bezüglich einer Achse Der Impulssatz für den starren Körper führt zum
am Rande der Scheibe Zusammenhang zwischen der Beschleunigung
des Schwerpunktes und den Kräften
Das Massenträgheitsmoment bezüglich des Schwerpunk-
tes S wurde zuvor zu JS = 12 mR2 bestimmt. Der Abstand
zwischen dem Bezugspunkt A und dem Schwerpunkt S Bei der ebenen Bewegung eines Punktes eines starren
beträgt a = R, sodass sich mit der Steiner’schen Ergän- Körpers ergab sich die Beschleunigung eines Punktes P
zung zu
1 3 aP = aA + ω̇ × rAP + ω × (ω × rAP ),
JA = mR2 + mR2 = mR2
2 2
wobei A ein Bezugspunkt auf dem starren Körper ist.
ergibt. Wird ein Massenelement am Punkt P freigeschnitten
(Abb. 10.11) und alle an ihm wirkenden äußeren und in-
neren Kräfte angetragen, so folgt mit dem Newton’schen
Oftmals wird noch der Trägheitsradius k eingeführt, der
Axiom:
so definiert ist, dass
[aA + ω̇ × rAP + ω × (ω × rAP )]dm = dF i + dF a .
J = mk2
Hierin bezeichnen dF i die inneren Kräfte im Körper, die
gilt. Für die zuvor betrachtete Scheibe erhalten wir des-
von den umgebenden Massenelementen auf das betrach-
halb im Falle einer Achse senkrecht zur Scheibenebene
tete Massenelement wirken, und dF a die äußeren Kräfte
durch den Schwerpunkt:
auf das Massenelement. Letztere können sowohl einge-
prägte als auch Zwangskräfte sein. Bei der Integration
R
kScheibe,S = √ über den gesamten Körper heben sich die inneren Kräfte
2 dF i von benachbarten Massenelementen gegenseitig auf,
230 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen
aA dm + ω̇ × rAP dm + ω × (ω × rAP )dm y
η
ξ
(m ) (m ) (m ) ξ
K φ
= dF a . A
(m )
vP ey dFi5 = σ y+ hdx
dm
Technische Mechanik
dFi7 = τ + hdx
P
rP
dFi3 = τ + hdy
rAP dFi2 = σx– hdy dFi1 = σ x+ hdy
–
dFi4 = τ hdy
A ex
dFi8 = τ – hdx
rA
O
dFi6 = σ y– hdx
(O)
Teilen wir die Momente wieder in Momente dM i auf- Drallsatz als Axiom
(O)
grund innerer Kräfte und Momente infolge äu- dM a
Beim Drallsatz setzen wir als Axiom entweder vor-
ßerer Belastungen auf, so ergibt sich zunächst für das
aus, dass die Momente der inneren Kräfte sich ge-
Massenelement:
genseitig kompensieren oder dass der Spannungs-
d+
tensor symmetrisch ist.
(rA × vA )dm + (rAP × vA )dm
dt
,
+[rA × (ω × rAP )]dm + [rAP × (ω × rAP )]dm Im Folgenden wird berücksichtigt, dass ω ein Vektor
ist, der bei einer ebenen Bewegung senkrecht zur Bewe-
(O) (O)
= dM i + dM a . gungsebene steht. Zusätzlich wird der Vektor rAP in einen
232 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen
P dm d (S )
z (ω r2 dm) = Ma,z ,
zez dt
(m )
ez rer
eφ
er und wir erkennen, dass auch hier das Massenträgheits-
A moment JS bezüglich des Schwerpunktes auftritt:
d (S )
(ωJS ) = Ma,z . (10.4)
Abb. 10.15 Aufteilung des Relativvektors rAP in einen Anteil in der Bewe- dt
gungsebene und einen Anteil senkrecht dazu
Für einen Starrkörper hängt JS nicht von der Zeit ab, so-
dass schließlich verbleibt:
Anteil in Richtung der z-Achse und einen Anteil in der Be- (S )
JS ω̇ = Ma,z .
wegungsebene aufgeteilt (Abb. 10.15)
ω = ωez , Da bei einer ebenen Bewegung sowieso im Allgemeinen
rAP = rer + zez . nur die Momente senkrecht zu Bewegungsebene interes-
sieren, liegt es nahe, diese äußeren Momente mit MS zu
Als Zwischenergebnis erhalten wir: bezeichnen, wenn der Bezugspunkt der Schwerpunkt S
ist. Die Gleichung nimmt dann die eingängige Form
d+
m(rA × vA ) + rA × (ω × mrAS ) + mrAS × vA
dt , JS ω̇ = MS
(O)
+ (rer + zez ) × [ωez × (rer + zez )]dm = ∑ M a .
an.
(m )
Damit stehen insgesamt drei skalare Gleichungen zur Be-
Zur Vereinfachung wählen wir sowohl für den Bezugs- stimmung der Bewegungsgleichungen für einen starren
punkt O wie auch für den Bezugspunkt A auf dem Körper Körper bei einer ebenen Bewegung bereit. Mit ihnen kön-
den Schwerpunkt S des Körpers. Dadurch folgt rAS = 0, nen je nach Lagerungsart des Körpers die bis zu drei
vA = vS und rAS = 0. Auf der linken Seite ist somit nur Bewegungsgleichungen oder die bis zu drei Zwangsreak-
noch das Integral auszuwerten. Unter Berücksichtigung, tionen in den Lagern bestimmt werden.
dass die Einheitsvektoren er , e ϕ und ez paarweise senk-
recht aufeinander stehen und ein Rechtssystem bilden, Falls kein starrer Körper vorliegt, so kann sich dessen
folgt: Form und damit auch das Massenträgheitsmoment ver-
ändern. Gleichung (10.4) gilt dann immer noch. Falls kein
d (S ) (S ) Moment auf den Körper wirkt, führt eine Änderung von
(ωr2 ez − ωrzer )dm = M a,z + M a,rϕ .
dt JS somit zu einer Änderung von ω.
(m )
Technische Mechanik
Werden Impuls- und Drallsatz bezüglich der Zeit inte-
griert, so führt dies auf:
t1 t1
Fx dt = mẍS dt,
t0 t0
t1 t1
Fy dt = mÿS dt,
t0 t0
t1 t1
MS dt = JS ω̇dt.
t0 t0
t1
Fdt = F̂
t0
Abb. 10.16 Eine Tänzerin mit ausgetreckten Armen hat ein großes JS . Durch abgekürzt, um nicht ständig bei der Auswertung der
Anziehen der Arme und Beine wird es verringert Gleichungen die Integrale anschreiben zu müssen. Damit
folgt:
Betrachtet wird ein Zylinder, der sich entlang einer Rollen: Wenn der Zylinder auf der schiefen Ebene ab-
schiefen Ebene nach unten bewegt. Je nach Reibko- rollt, hat er nur noch einen Freiheitsgrad, da die Koor-
effizient μ zwischen Zylinder und Untergrund und dinaten xS und ϕ über die Gleichung
Steigungswinkel α der schiefen Ebene kann dabei Rol-
len oder Gleiten vorliegen. Der Zylinder ist homogen ẋS = R ϕ̇
und hat den Radius R und die Masse m. gekoppelt sind, und so für die Beschleunigungen gilt:
Zunächst führen wir entlang der schiefen Ebene eine
ẍS = R ϕ̈.
Koordinate x und für den Verdrehwinkel die Winkel-
koordinate ϕ ein, wie in der Abbildung dargestellt. Zunächst folgt aus der Momentenbilanz für die Reib-
kraft unter Berücksichtigung von JS = m2 R2 :
φ
JS m m
FR = ϕ̈ = R ϕ̈ = ẍS .
g
S R 2 2
Eingesetzt in die erste Kräftebilanz führt dies zu:
x
2
α ẍS = g sin α,
3
2g
Dann wird der Zylinder freigeschnitten und alle an ϕ̈ = sin α.
3R
ihm wirkenden Kräfte und Momente angetragen. Dies
sind die Gewichtskraft mg, die Normalkraft FN und Die Beschleunigung ist also kleiner als bei einem Mas-
die Reibkraft FR . Falls der Zylinder auf der schiefen senpunkt oder einem Körper, der auf der schiefen
Ebene abrollt, ist die Reibkraft eine Zwangskraft, so- Ebene reibungsfrei hinabgleiten kann. Die zweite Kräf-
dass es im Freischnitt egal ist, welche Richtung sie tebilanz spielt für die Berechnung der Beschleunigung
hat. Im Falle des Gleitens ist die Reibkraft eine ein- keine Rolle. Mit ihr läßt sich jedoch die Normalkraft be-
geprägte Kraft und muss mit der korrekten Richtung stimmen, die wie die Reibkraft ebenfalls eine Zwangs-
(in diesem Fall die schiefe Ebene aufwärts) eingetra- kraft darstellt. Sie beträgt:
gen werden. Zusätzlich werden die Trägheitskraft mẍS FN = mg cos α.
und das Trägheitsmoment JS ϕ̈ entgegen der Richtun-
gen von x und ϕ eingetragen. Zusammen mit der Reibkraft
m 1
JSφ
mxS
FR = ẍS = mg sin α
2 3
Hier wurde die zuvor schon berechnete Normalkraft Da im Allgemeinen μ0 > μ gilt und im Falle von Glei-
von der Ebene auf den Zylinder eingesetzt. Die erste ten tan α > 3μ0 erfüllt sein muss, ist ẍS > 0. Als Bewe-
Technische Mechanik
Kräftebilanz liefert dann: gungsgleichung für den Winkel ϕ folgt nach Einsetzen
mẍS = mg sin α − μmg cos α der Reibkraft in die Momentenbilanz:
und somit:
g
ẍS = g cos α(tan α − μ). ϕ̈ = 2μ cos α.
R
Leitbeispiel Antriebsstrang
Technische Mechanik
Schwungmasse F2
D C
Für die Momentenbilanzen um die Lagerpunkte B, C
ωA MA ωL ML und D erhalten wir:
MA − JA αA − F1 r1 = 0,
B F2 r3 − F1 4r1 − JZ αZ = 0,
ML + F2 4r3 − JL αL = 0.
ωZ
Einsetzen der Kinematik und Elimination der Zwangs-
kräfte ergibt:
MA − JA 16αL F1 4r1 + JZ (−4αL )
F1 = , F2 = ,
r1 r3
M + F2 4r3
Aufgrund der Kinematik gilt: αL = L .
JL
ωZ = −4ωL , ωA = −4ωZ = 16ωL Für die Winkelbeschleunigung der Lastwelle ergibt
und damit: dies:
αL = ω̇L , αZ = −4αL , αA = 16αL . ML + 16MA
αL = ω̇L = .
256JA + 16JZ + JL
Wir zeichnen die Freikörperbilder aller drei Wellen in
der Draufsicht und tragen alle Kräfte und Momente an. Hier wurde das Lastmoment in Richtung von ωL an-
Die Lagerreaktionen sind hier nicht von Interesse, so- genommen, also in positive Drehrichtung. Im Allge-
dass es hier genügt, jeweils eine Momentenbilanz um meinen wirkt das Lastmoment der Drehung entgegen,
den Lagerpunkt aufzustellen. sodass dann ML negativ ist.
10.3 Kinetik für eine allgemeine ebene Bewegung 237
Technische Mechanik
Impuls- und Drallsatz liefern bei einer ebenen Bewe- Als Beispiel wird die nichtlineare Bewegungsglei-
gung für jeden Körper zunächst drei skalare Gleichun- chung des mathematischen Pendels betrachtet. Dieses
gen, die eventuell noch Zwangskräfte oder Zwangs- hat einen Freiheitsgrad, es liegt somit nur eine Bewe-
momente enthalten. Nach deren Elimination ergeben gungsgleichung
sic genauso viele Bewegungsgleichungen wie das Sys-
tem Freiheitsgrade hat. g
ϕ̈ + sin ϕ = f (t)
Die Bewegungsgleichungen selbst sind gewöhnliche l
Differenzialgleichungen, die in Sonderfällen linear, im
Allgemeinen aber nichtlinear sind. Jede Bewegungs- vor. Wir führen die Zustandsvariablen x1 = ϕ und x2 =
gleichung ist dabei zweiter Ordnung. Im Falle linea- ϕ̇ ein. Dies ergibt das Differenzialgleichungssystem
rer Differenzialgleichungen, zum Beispiel bei einem erster Ordnung:
Schwingungssystem mit kleinen Amplituden, können
diese noch analytisch gelöst werden. Im Falle nicht-
ẋ1 = x2 ,
linearer Gleichungen bleibt meist nur noch die Mög-
lichkeit einer näherungsweisen Lösung durch eine so- g
ẋ2 = f (t) − sin x1 .
genannte numerische Integration. Dazu werden die l
Differenzialgleichungen zweiter Ordnung in ein Dif-
ferenzialgleichungssystem erster Ordnung überführt. Allerdings erfordert die numerische Integration die
Dies kann erfolgen, wenn für die ersten Ableitun- Vorgabe aller Anfangsbedingungen für die Zustands-
gen neue Variablen eingeführt werden. Zur Lösung variablen und auch die Vorgabe numerischer Werte
solcher Gleichungen in Zustandsform existieren zahl- aller Systemparameter. In unserem Beispiel sind das
reiche Verfahren, die in Computerprogrammen als Un- die Anfangsbedingungen x1 (t = 0) = ϕ(t = 0), x2 (t =
terprogramme zur Verfügung stehen. 0) = ϕ̇(t = 0) und einen Wert für g/l.
Die kinetische Energie setzt sich also aus Translations-, sodass die Summe aus kinetischer Energie und potenziel-
Rotations- und Koppelenergie zusammen. Ein besonders ler Energie konstant bleibt.
einfaches Ergebnis, das sich auch gut merken läßt, ergibt
sich, wenn wie schon beim Drallsatz der Schwerpunkt als
Bezugspunkt gewählt wird: Beispiel Als Beispiel betrachten wir ein Pendel, das
beim Winkel ϕ = ϕ0 mit der Winkelgeschwindigkeit ϕ̇ =
1 2 1 ω = ω0 losgelassen wird. Das Pendel hat den Schwer-
Ekin = mv + JS ω 2 . punkt in S. Das Pendel hat die Masse m und das Mas-
2 S 2
senträgheitsmoment JS bezüglich einer Achse durch den
Schwerpunkt (Abb. 10.18).
Kinetische Energie des starren Körpers
Die kinetische Energie des starren Körpers hängt A
quadratisch von der Schwerpunktsgeschwindigkeit
und quadratisch von der Winkelgeschwindigkeit ab. l
g
Betrachtet wird ein Pendel, das in Punkt A gelagert ist wie zuvor eingeführt mit
und auf das infolge eines Stoßes eine Kraft F wirkt. Es
soll die Lage des Punktes A bestimmt werden, sodass F̂ = Fdt
bei gegebenem Angriffspunkt und gegebener Richtung (ΔtS )
der Kraft F die Lagerkräfte möglichst verschwinden.
abgekürzt. Außerdem sind die Geschwindigkeiten des
Das Pendel mit dem Schwerpunkt in S ist in der Abbil- Schwerpunktes mit der Winkelgeschwindigkeit ver-
dung dargestellt. Es liegt nahe, die x-Achse in Richtung knüpft, da das System nur einen Freiheitsgrad hat:
der Kraft anzunehmen und die y-Achse senkrecht dazu.
Die Abstände des Punktes A vom Schwerpunkt S in die- vSxE = ηωE ,
sen Richtungen sind mit ξ und η bezeichnet. Dies sind vSyE = ξωE .
die gesuchten Größen. Gemäß der bei Stoßproblemen
getroffenen Annahme einer kurzen Stoßzeit ändert sich Damit folgt aus der zweiten Impulsbilanz:
die Lage des Pendels während des Stoßes nicht. mξωE = 0.
Dies ist für ωE = 0 nur für ξ = 0 möglich. Aus der ers-
A ten Gleichung ergibt sich entsprechend:
η F̂ = mηωE .
ξ
S Aus der Drallgleichung erhalten wir:
b
F bF̂ = JS ωE .
Eine Kombination der beiden Gleichungen führt auf:
mbηωE = JS ωE
Ein Freischnitt während des Stoßes ist in der zweiten oder:
Abbildung angegeben. Die Gewichtskraft wird ver- JS
nachlässigt. η= .
mb
Dieses Ergebnis können wir anwenden, wenn wir be-
Ay
stimmen wollen, wo eine Billardkugel anzustoßen ist,
sodass sie nach dem Stoß direkt rollt, auch wenn die
Ax Unterlage sehr glatt ist. Dem Bild entnehmen wir, dass
in diesem Fall η = R gilt, das Massenträgheitsmoment
einer Kugel wurde zu JS = 25 mR2 bestimmt.
F
b S
R
Reibungsverluste in den Lagern sollen vernachlässigt Wenn wir die Energiebilanz für das Pendel einmal nach
werden. Wir führen zunächst für die potenzielle Energie der Zeit differenzieren, dann fallen die konstanten Terme
Technische Mechanik
das Nullniveau am Lager ein. Die potenzielle Energie be- auf der rechten Seite heraus und wir erhalten:
trägt somit:
(ml2 + JS )ω ω̇ + mgl sin ϕω = 0,
Epot = −mgl cos ϕ.
sodass sich nach Kürzen von ϕ̇ = ω die Bewegungsglei-
chung
Die kinetische Energie des Pendels beträgt:
(ml2 + JS ) ϕ̈ + mgl sin ϕ = 0
1 1
Ekin = mv2S + JS ω 2 .
2 2 ergibt, eine nichtlineare Differenzialgleichung für den
Winkel ϕ, die wir auch mit dem Impuls- und/oder Drall-
Mit der Schwerpunktsgeschwindigkeit vS = lω führt dies satz hätten herleiten können.
auf:
1
Ekin = (ml2 + JS )ω 2 .
2 10.4 Kinetik der allgemeinen
Auf dieses Ergebnis kommen wir auch, wenn wir beach- Bewegung eines starren
ten, dass das Pendel um eine raumfeste Achse durch das
Lager A dreht. Die kinetische Energie beträgt dann: Körpers
1 Bei der Kinetik der allgemeinen räumlichen Bewegung ei-
Ekin = JA ω 2 .
2 nes Körpers wird zunächst wieder ein differenziell kleines
Massenelement betrachtet, woraus dann die Beziehungen
Mit der Steiner’schen Ergänzung JA = JS + ml2 führt dies für den starren Körper durch Integration bestimmt wer-
auf das zuvor berechnete Ergebnis. Die Anwendung des den.
Energiesatzes
Das Pendel überschlägt sich, wenn ω ( ϕ = π ) > 0 gilt. Der Drallsatz führt bei einer räumlichen
Dies bedeutet, dass dann
Bewegung des starren Körpers zum
(ml2 + JS )ω02 > 2mgl(1 + cos ϕ0 ) Trägheitstensor
sein muss, also: Um den Drallsatz für den starren Körper
2mgl(1 + cos ϕ0 ) dL(O)
ω02 > . = M (O)
(ml2 + JS ) dt
240 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen
r
dm ω = ( ωx , ωy , ωz )T ,
rrel rrel = (x, y, z)T .
Das Integral, das verbleibt, kann mithilfe der Vektorrech- mit den Massenträgheitsmomenten
nung so umgeformt werden, dass die Winkelgeschwin-
digkeit vor das Integral gezogen werden kann. Wir be- Jxx = (y2 + z2 )dm,
schränken uns aber an dieser Stelle auf den einfacheren
Weg, das doppelte Kreuzprodukt zunächst auszuwer- (m )
ten und anschließend die Integration durchzuführen. Wir
Jyy = (x2 + z2 )dm,
müssen dann aber sowohl den Vektor rrel als auch die
Winkelgeschwindigkeit ω bezüglich derselben Basisvek- (m )
toren darstellen. Als Ergebnis ergeben sich somit die
Jzz = (x2 + y2 )dm
Koordinaten des Dralls ebenfalls bezüglich dieser Basis-
vektoren. Wir wählen die körperfesten Basisvektoren ex , (m )
10.4 Kinetik der allgemeinen Bewegung eines starren Körpers 241
Technische Mechanik
Jxy = − xydm, J11 0 0
I=⎝ 0 J22 0 ⎠
(m )
0 0 J33
Jxz = − xzdm,
und wir erhalten:
(m )
Jyz = − yzdm L(S) = J11 ω1 k1 + J22 ω2 k2 + J33 ω3 k3 .
(m )
Wenn der Drallvektor in dieser Form in den Drallsatz ein-
gesetzt wird, müssen wir beachten, dass die Einheitsvekto-
formuliert werden kann. Sowohl die Massenträgheitsmo- ren zeitabhängig sind und (9.7) verwendet werden muss,
mente als auch die Deviationsmomente hängen von der um den Drall im Inertialsystem abzuleiten. Dazu führen
Massenverteilung des Körpers ab. Die Matrix wir neben der Trägheitsmatrix noch die Matrizen ω und
⎛ ⎞ M (S) ein, welche die Koordinaten des Winkelgeschwindig-
Jxx Jxy Jxz
keitsvektors und des Moments enthalten. Da die Trägheits-
I = ⎝ Jxy Jyy Jyz ⎠
matrix eines starren Körpers in einem körperfesten Be-
Jxz Jyz Jzz
zugssystem konstant ist, und die Zeitableitung der Winkel-
geschwindigkeit im Inertialsystem gleich der Ableitung im
ist die Trägheitsmatrix, welche die Koordinaten des soge- körperfesten Bezugssystem ist, führt (9.7) auf
nannten Trägheitstensors I bezüglich der Basis ex , ey , ez
enthält. Wenn die Deviationsmomente nicht verschwin-
Iω̇ + ω × (Iω) = M (S)
den und die Winkelgeschwindigkeit nur eine Komponen-
te in Richtung von einem der Einheitsvektoren hat, z. B. oder bei Verwendung von Hauptachsen auf die drei ska-
in Richtung von ez , dann hat der Drall Komponenten in laren Gleichungen
Richtung aller Basisvektoren:
⎛ ⎞ ⎛ ⎞ J11 ω̇1 − (J22 − J33 )ω2 ω3 = M1 ,
(S)
Lx Jxz J22 ω̇2 − (J33 − J11 )ω1 ω3 = M2 ,
⎜ (S) ⎟ ⎝
⎝ Ly ⎠ = Jyz ⎠ ωz .
J33 ω̇3 − (J11 − J22 )ω1 ω2 = M3 .
(S)
Lz Jzz
Dies sind die sogenannten Euler’schen Kreiselgleichun-
Drall und Winkelgeschwindigkeit haben deshalb im All- gen. Wenn der Drall eine andere Richtung als die Winkel-
gemeinen verschiedene Richtungen. geschwindigkeit hat, dann ist der Drall im Inertialsystem
ein konstanter Vektor, wenn alle Momente verschwinden.
Demzufolge ändert sich die Winkelgeschwindigkeit in die-
Trägheitseigenschaften eines Körpers sem Fall. Auf der anderen Seite gibt es Fälle, bei denen
der Winkelgeschwindigkeitsvektor im Inertialsystem kon-
Impuls und Schwerpunktgeschwindigkeit des star- stant ist und der Drallvektor sich um den Winkelgeschwin-
ren Körpers haben dieselbe Richtung, wohingegen digkeitsvektor dreht. Damit ändert sich der Drall ständig,
Drall und Winkelgeschwindigkeit des starren Kör- wozu in den Lagern des Körpers Kräfte oder Momente wir-
pers im Allgemeinen verschiedene Richtungen ha- ken müssen. Im Allgemeinen sind das umlaufende Lager-
ben. Bei der Translation genügt deshalb zur Be- kräfte, die bei Maschinen vermieden werden sollten.
schreibung der Trägheit die Masse m, bei der Ro-
tation wird der Trägheitstensor notwendig, dessen
Koordinaten bezüglich gegebener Richtungen in der Beispiel Als Beispiel betrachten wir das Auswuchten ei-
Trägheitsmatrix mit sechs unabhängigen Elementen nes Reifens. Ein Autoreifen soll bei einer Geradeausfahrt
dargestellt werden können. so beschaffen sein, dass außer dem Anteil der Gewichts-
kraft des Wagens keine Kräfte vom Lager auf den Rei-
fen wirken müssen. Gemäß dem Impulssatz muss der
Schwerpunkt des Reifens eine konstante Geschwindig-
Besonders einfach wird die Trägheitsmatrix, wenn wir die keit haben. Dies ist nur erfüllt, wenn der Schwerpunkt
Richtungen der Einheitsvektoren ex bis ez nicht beliebig auf der Drehachse des Reifens liegt, da er sich sonst auf
wählen, sondern in Richtung der sogenannten Hauptach- einer Kreisbahn um die Drehachse des Reifens bewegt
sen. Die Richtungen der Hauptachsen seien mit k1 , k2 und und dazu ständig in Richtung der Achse beschleunigt
k3 bezeichnet. Bezüglich dieser Hauptachsen verschwin- werden muss. Dies genügt jedoch nicht, denn wenn der
den die Deviationsmomente, sodass die Trägheitsmatrix Schwerpunkt auf der Drehachse liegt, kann der Reifen
242 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen
aufgrund von Fertigungs- und Montageungenauigkeiten ziehung vP = vS + ω × rSP und somit für die kinetische
Deviationsmomente bezüglich der Drehachse haben. Der Energie Ekin nach Integration über alle Massenelemente:
Technische Mechanik
Leitbeispiel Antriebsstrang
Technische Mechanik
Differenzialgetriebe
Bei einem Differenzialgetriebe soll abgeschätzt wer- bestimmt. Für die Lösung haben wir prinzipiell zwei
den, welche Lagermomente sich für das Ritzel auf- Möglichkeiten. Entweder wir bestimmen die Koordi-
grund der Drehbewegung von Antriebsachse und Rit- naten der Winkelgeschwindigkeit bezüglich der kör-
zel ergeben. perfesten Basis und werten dann den Drallsatz aus,
oder wir nutzen die Symmetrie des Ritzels aus, wo-
Die Trägheitsmatrix bezüglich der Achsen in Richtung
durch die Trägheitsmatrix im x , y , z System dieselbe
ex , ey , ez ist wegen der Symmetrie des Ritzels bezüg-
Form hat wie im körperfesten System. Wir wählen hier
lich der y -Achse durch die zweite Variante und betrachten zunächst die Gera-
⎛ ⎞ deausfahrt. Der Drall beträgt in diesem Fall:
A 0 0
I=⎝ 0 B 0 ⎠
LV,gerade = IωV,gerade
0 0 A
M V,gerade = Aω̇A ez .
ez
ωE ex In diesem Fall ergeben sich also bei konstanter An-
ey
triebsdrehzahl keine Kreiselmomente. Lagerkräfte tre-
ex′′ ten also nur aufgrund der äußeren Kräfte in den Kon-
ez′′
taktpunkten zwischen den Ritzeln auf.
ey′′ Im Falle des blockierenden Rades ergibt sich für den
Drall:
Wir nehmen an, dass die Antriebswinkelgeschwindig- RA
keit ωA und die Winkelbeschleunigung αA = ω̇A gege- LV,block = AωA ez − B ωA ey .
r
ben sind. Zuvor hatten wir die Winkelgeschwindigkeit
und die Winkelbeschleunigung des Verbindungsritzels Bei der Ableitung dieses Ausdrucks muss beachtet
für eine Geradeausfahrt zu werden, dass das x y z -System mit der Winkelge-
schwindigkeit ω = ωA ez rotiert. Die Zeitableitung im
ωV, gerade = ωA ez , Inertialsystem in den Drallsatz eingesetzt ergibt des-
αV, gerade = ω̇A ez halb:
Besonders bei räumlichen Problemen ergeben sich meinen sowieso nur noch numerisch gelöst werden
schon bei relativ wenigen Freiheitsgraden komplizierte können, direkt dem Programm zur Verfügung stehen.
Bewegungsgleichungen. Die Umformung der Gleichungen in eine Form, in
der die numerische Integration möglich ist, können
Deshalb wurden zahlreiche Computerprogramme ent-
diese Programme ebenfalls leisten. Die Untersuchung
wickelt, mit deren Hilfe die Bewegungsgleichungen in
von Systemen mit mehreren Körpern, den sogenannten
symbolischer Form hergeleitet werden können. Dies
Mehrkörpersystemen, wird dadurch enorm erleichtert.
hat den Vorteil, dass die Gleichungen, die im Allge-
bis (10.7) ergeben dann: Tab. 10.1 Typische Stoßzahlen für verschiedene Materialpaarungen
Materialpaarung Stahl/Stahl Glas/Glas
Technische Mechanik
−F̂x = −Fx dt = m1 (vS1 xE − vS1 xA ), Stoßzahl 0,56 0,94
ΔtS
−F̂y = −Fy dt = m1 (vS1 yE − vS1 yA ), formuliert werden kann. Mit den Geschwindigkeiten vP1
ΔtS und vP2 der kontaktierenden Punkte in Richtung der Stoß-
normalen gilt für die Stoßzahl ε:
b1 F̂ = b1 Fdt = JS1 (ω1E − ω1A )
ΔtS vP2E − vP1E
ε=− .
vP2A − vP1A
für Körper 1 und
Die Stoßzahl ε entspricht also dem Verhältnis der relativen
F̂x = Fx dt = m2 (vS2 xE − vS2 xA ), Trenngeschwindigkeit und der relativen Annäherungsge-
ΔtS schwindigkeit. Damit positiv ist, wurde noch das nega-
tive Vorzeichen eingeführt. Die Stoßzahl liegt mit dieser
F̂y = Fy dt = m2 (vS2 yE − vS2 yA ), Definition zwischen 0 und 1. Sie ist wie oben erwähnt von
ΔtS den Materialien der Körper und deren Form abhängig.
Falls Massenpunkte untersucht werden, ist deren Aus-
−b2 F̂ = −b2 Fdt = JS2 (ω2E − ω2A ) dehnung vernachlässigbar, und die Stoßzahl hängt nur
ΔtS noch von den Materialien ab. Typische Werte sind in
Tab. 10.1 angegeben.
für Körper 2. Hierin bezeichnen Größen mit Index E Ge-
schwindigkeiten und Winkelgeschwindigkeiten am Ende Mit den beiden Zusatzbedingungen liegen acht Gleichun-
des Stoßes und Größen mit Index A diejenigen am An- gen vor, sodass alle Unbekannten bestimmt werden kön-
fang direkt vor dem Stoß. Wenn wir annehmen, dass nen.
die Geschwindigkeiten und die Winkelgeschwindigkei-
Um einige grundlegende Aussagen treffen zu können,
ten direkt vor dem Stoß bekannt sind, dann sind die vier
betrachten wir im Folgenden zwei Massenpunkte, die
Komponenten der Geschwindigkeiten und die zwei Win-
aufeinander stoßen, und wir nehmen an, dass ein zen-
kelgeschwindigkeiten
sowie die zwei Kraftkomponenten
traler Stoß vorliegt, sodass nur noch die Geschwindig-
(für F gilt F = F2x + F2y ) unbekannt. Dies sind 8 Un- keitskomponenten in Stoßrichtung von Interesse sind.
bekannte, wofür nur sechs Gleichungen zur Verfügung Dementsprechend bezeichnen wir die Geschwindigkei-
stehen. Dies bedeutet, dass wir noch zwei weitere Annah- ten vor (am Anfang) und nach dem Stoß (am Ende) mit
men oder kinematische Zusammenhänge benötigen. Dies vA1 , vA2 , vE1 , vE2 . Die Massenpunkte m1 und m2 sind in
muss auch so sein, da ja sonst kein Einfluss des Materials Abb. 10.22 vor (a), während (b) und nach dem Stoß (c)
auf den Stoß möglich wäre. Eine Möglichkeit besteht zum dargestellt. Abbildung 10.23 zeigt ein Freikörperbild der
Beispiel darin, einen glatten Stoß anzunehmen, sodass Massenpunkte während des Stoßes. Die Impulsbilanzen
die Kontaktkraft keine Komponente in y-Richtung hat. In
Normalenrichtung wird sehr oft eine sogenannte Stoßzahl
eingeführt, mit deren Hilfe eine kinematische Bedingung a vor dem Stoß
vA1 vA2
Fy m1 m2
F
b während des Stoßes
Fx
Fx
b1
F
Fy m1 m
2
S1 b2
c nach dem Stoß
vE1 vE2
S2 m1 m2
Abb. 10.21 Freikörperbild während des Stoßes Abb. 10.22 Zwei Massenpunkte vor (a), während (b) und nach dem Stoß (c)
246 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen
F(t ) F(t) Vollplastischer Stoß: Beim vollplastischen Stoß ist die Ge-
schwindigkeit der Massenpunkte direkt nach dem Stoß
Technische Mechanik
Bei der Modellierung des Stoßes haben wir angenom- vE1 = vA2 ,
men, dass sich die Lage während des Stoßes nicht ändert, vE2 = vA1 .
sodass bei einer Energiebilanz lediglich die kinetischen
Energien vor und nach dem Stoß betrachtet werden müs- Im Fall gleicher Massen tauschen die Massenpunkte beim
sen. Für die Differenz ΔEkin der kinetischen Energie erhal- vollelastischen Stoß die Geschwindigkeiten aus. Ähnli-
ten wir aus ches können wir bei Billardkugeln beobachten, wenn sie
ohne sich zu drehen aufeinanderstoßen.
1 1 1 1
ΔEkin = m1 v2A1 + m2 v2A2 − m1 v2E1 − m2 v2E2
2 2 2 2
nach Einsetzen der Geschwindigkeiten nach dem Stoß: Bei Systemen mit veränderlicher Masse
ist die Relativgeschwindigkeit der ein- oder
1 − ε 2 m1 m2
ΔEkin = (vA1 − vA2 )2 . ausströmenden Masse wichtig
2 m1 + m2
Wir erkennen, dass der Verlust an kinetischer Energie für Aus Erfahrung wissen wir, dass ein aufgeblasener Luft-
ε = 1 verschwindet. Dieser Fall entspricht dem vollelas- ballon durch den Raum fliegt, wenn die Luft aus ihm
tischen Stoß, bei dem die mechanische Energie erhalten entweicht. Der Effekt der austretenden Luft ist derselbe
bleibt. Der Verlust an mechanischer Energie wird maxi- wie derjenige zum Antrieb einer Rakete. Aber auch beim
mal für ε = 0. In diesem Fall ist die relative Trennge- Strahltriebwerk eines Flugzeuges oder bei einem Jetski
schwindigkeit null, er entspricht also dem vollplastischen tritt auf der einen Seite ein konstanter Massenstrom in
Stoß, bei dem die beiden Massenpunkte nach dem Stoß das Triebwerk ein, während auf der anderen Seite ein kon-
die selbe Geschwindigkeit haben. Im Folgenden betrach- stanter Massenstrom ausströmt. Wir behandeln diese Sys-
ten wir diese Sonderfälle genauer. teme im Folgenden als Systeme mit veränderlicher Masse.
10.5 Stoßprobleme und Systeme veränderlicher Masse 247
Technische Mechanik
Eine Rakete stößt Verbrennungsgase mit großer Ge- vrel = –vD
schwindigkeit nach hinten aus, wodurch ein Schub m
m = –μ
nach vorne entsteht. Dabei verringert sich die Masse v
der Rakete stetig mit dem Massenstrom ṁ < 0. Beim
Start der Rakete muss dieser Schub die Gewichtskraft
übersteigen, damit die Rakete überhaupt abhebt. Der Da keine sonstigen Kräfte auf die Rakete wirken, ergibt
Einfachheit halber betrachten wir in diesem Beispiel die Grundgleichung für massenveränderliche Systeme:
den Fall, dass sich die Rakete im Weltraum befindet
ṁvrel = (−μ)(−vD ) = μvD
und zum Zeitpunkt der Zündung des Triebwerks t = 0
keine Geschwindigkeit hat. Der Massenstrom durch dv
= m(t)a = m(t)v̇ = m(t) .
das Raketentriebwerk ṁ = −μ sei konstant, wobei die dt
austretenden Gase nach der Düse eine Geschwindig-
Wenn wir annehmen, dass die Masse sich am Anfang
keit vD relativ zur Rakete nach hinten haben.
aus der Masse mSt der Struktur inklusive der Nutzlast
Die Rakete hat während ihres Fluges die Geschwindig- und aus der Treibstoffmasse mTr zusammensetzt, dann
keit v(t). Der Massenstrom ṁ = −μ ist negativ, da die gilt für die Masse zum Zeitpunkt t:
Masse abnimmt. Die Relativgeschwindigkeit der aus-
strömenden Gase ist mit vrel = −vD ebenfalls negativ. m(t) = mSt + mTr − μt.
Aus der Bewegungsgleichung folgt somit:
dv μvD
=
dt mSt + mTr − μt
oder nach Trennung der Veränderlichen:
vD dt
dv = mSt +mTr .
μ −t
Bei einem Jetantrieb tritt Luft in das Triebwerk ein, ver- zum Flugzeug nach hinten gerichtet ist und den Betrag
brennt dort zum Teil mit dem Kerosin und verlässt das vD hat. Somit ergibt sich vrel,ab = −vD . Zu- und abflie-
Triebwerk mit einer großen Geschwindigkeit wieder, ßende Massenströme sind aufgrund der Vernachlässi-
wobei im Allgemeinen nur ein kleiner Teil der Luft gung des Kerosins betragsmäßig gleich, woraus ṁzu =
durch den Brennraum strömt, der größere Teil fließt μ und ṁab = −μ folgen. Eingesetzt in die Grundglei-
um den Brennraum herum. Im Vergleich zum Massen- chung für massenveränderliche Systeme folgt unter
strom der durch das Triebwerk strömenden Luft kann Berücksichtigung der Widerstandskraft W:
der Massenstrom des verbrannten Kerosins vernach-
lässigt werden. dv
−W + ṁzu vrel,zu + ṁab vrel,ab = m
dt
Wie man in der Abbildung erkennen kann, handelt
es sich beim Flugzeugtriebwerk um ein System mit beziehungsweise:
Massenzu- und Massenabfuhr. dv
−W + (−μ)(−vD ) + μ(−v) = m
dt
oder:
mab = –μ W mzu = μ dv
− W + μ ( vD − v ) = m .
vrel, ab = –vD vrel, zu = –v dt
m
Für die Schubkraft S des Triebwerks folgt somit:
v
S = μ ( vD − v ) ,
Die Relativgeschwindigkeit der einströmenden Luft und wir erkennen, dass die Schubkraft nur für vD > v
entspricht gerade der Geschwindigkeit des Flugzeugs, positiv ist, sodass v = vD die maximale Geschwindig-
allerdings strömt die Luft dem Flugzeug entgegen, keit des Flugzeuges ist, die bei einem Horizontalflug
sodass vrel,zu = −v gilt. Für die Geschwindigkeit der erreicht werden kann, selbst wenn die Widerstands-
ausströmenden Luft nehmen wir an, dass sie relativ kraft W verschwindet.
Dabei müssen wir beachten, dass das Newton’sche Axi- mal darauf hingewiesen, dass sich die Masse m aufgrund
om nur gilt, wenn dabei stets die gleiche Masse betrachtet des Massenstromes ständig ändert und deshalb m = m(t)
wird. Deshalb nehmen wir zunächst an, dass ein kon- gilt. Während des Zeitintervalls dt stößt das Massen-
stanter Massenstrom ṁ zufließt, sodass die Masse des element dm auf die Masse m und bewegt sich danach
sich nur translatorisch bewegenden Körpers ständig zu- mit ihr fort. Es handelt sich also um einen vollplasti-
nimmt. Während eines differenziell kleinen Zeitintervalls schen Stoß, wobei die Stoßkraft S aufgrund des stetigen
dt erhöht sich deshalb die Masse um dm = ṁdt. Damit die Massenstromes während dt konstant ist (Abb. 10.25). In
Masse dm den Körper erreicht, muss deren Geschwindig- dieser Abbildung ist die Resultierende der am Körper
keit v0 größer sein als die momentante Geschwindigkeit v in Richtung des Stoßes auftretenden äußeren Kräfte mit
des Körpers (Abb. 10.24). An dieser Stelle wird noch ein- F bezeichnet. Beispiele hierfür sind Gewichtskräfte oder
Reibungs- und Widerstandskräfte. Eine Auswertung der
Impulsbilanz in integraler Form über das Zeitintervall dt
m(t) ergibt für das Massenelement:
dm F
Abb. 10.24 Die Massen vor und nach dem plastischen Stoß zwischen dm und Abb. 10.25 Kräfte auf das Massenelement dm und auf die zeitveränderliche
m (t ) Masse m (t )
Antworten zu den Verständnisfragen 249
Da das Produkt dmdv von quadratischer Ordnung ist, bei der Relativgeschwindigkeit sind unterschiedliche Fäl-
kann es gegenüber den Gliedern erster Ordnung vernach- le möglich. Für v0 > v ist vrel > 0, wenn v0 < v ist, dann
Technische Mechanik
lässigt werden und wir erhalten: ist auch vrel < 0. In einem Strahlantrieb entspricht die vor-
ne einströmende Luft einer Massenzufuhr, allerdings mit
−Sdt = (v − v0 )dm negativer Relativgeschwindigkeit, wohingegen die aus-
strömende Luft einer Massenabfuhr ṁ < 0 entspricht mit
oder:
ebenfalls negativer Relativgeschwindigkeit. Wir kommen
dm darauf in einem Beispiel zurück.
S = ( v0 − v ) = (v0 − v)ṁ.
dt
Falls zu- oder abströmende Massen in verschiedenen
Die Relativgeschwindigkeit vrel = v0 − v der Masseteil- Raumrichtungen auftreten, muss die oben skalar her-
chen gegenüber dem Körper ist dabei positiv, da v0 > v geleitete Gleichung für die jeweiligen Raumrichtungen
gilt. Wir bezeichnen die Kraft S im Folgenden als Schub. angewandt werden. Im Falle starrer Körper sind die
Die Auswertung des Impulssatzes für m(t) ergibt: Schubkräfte auch in den Momentenbilanzen zu berück-
sichtigen.
(F + S)dt = m(t)(v + dv) − m(t)v = m(t)dv
Da wir Systeme mit veränderlicher Masse über plasti-
oder: sche Stöße hergeleitet haben, bei denen wie zuvor gezeigt
mechanische Energie dissipiert wird, muss den Masseteil-
dv
F + S = m ( t) = m ( t) a chen hier die entsprechende Energie zugeführt werden,
dt damit diese sich beim Strahlantrieb mit großer Geschwin-
digkeit vom Körper wegbewegen. Dazu muss die Energie
mit der Beschleunigung a in Richtung der Bewegung.
im Triebwerk letztendlich aufgebracht werden.
Nach Einsetzen von S folgt daraus die Grundgleichung
für Systeme mit veränderlicher Masse:
Antwort 10.1 m 2
12 l . Antwort 10.3 Ekin = 12 mv2A + mvA · (ω × rAS ) + 12 ω · L(A) .
Es tritt also neben Translations- und Rotationsenergie
Antwort 10.2 Eben 2, räumlich 3. noch eine sogenannte Koppelenergie auf.
250 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen
Technische Mechanik
Aufgaben
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
A
m
g r
φ
Wie groß ist die Beschleunigung des Schwerpunktes, wenn R
der Radius der Walze, auf dem der Faden aufgewickelt ist,
R beträgt und das Jo-Jo selbst als homogene Scheibe der
Masse m mit Radius 3R betrachtet werden kann?
Hinweis: Zwischen der Winkelgeschwindigkeit und der Bei welchem Winkel ϕ hebt die Walze von der Unterlage
Schwerpunktgeschwindigkeit besteht ein kinematischer ab?
Zusammenhang.
Hinweis: Beim Abheben wird die Normalkraft zwischen
Resultat: Walze und Unterlage null.
2
ẍ = g
11 Resultat:
4
cos ϕ = , ϕ = 55,15◦
7
10.2 • Mithilfe des Energiesatzes bestimme man die
Winkelgeschwindigkeit eines Jo-Jos, das aus der Ruhe los- 10.4 • • • Zwei Bälle werden wie abgebildet aus einer
gelassen wird, und sich um h nach unten bewegt. Höhe h losgelassen.
m1
Faden
m2
h
3R
R g
h
Stoßzahl für beide Stöße ε = 1 ist? Wie groß muss die die Winkelbeschleunigung? Das Jo-Jo kann als homogene
Stoßzahl mindestens sein, dass der obere Ball mindestens Scheibe mit Masse m und Radius 3R betrachtet werden.
Technische Mechanik
auf die ursprüngliche Höhe steigt? Der Radius der Walze, auf die der Faden aufgewickelt ist,
beträgt r. Wie groß ist die Kraft im Faden, wenn der Faden
Hinweis: Verwenden Sie die im Text angegebenen For- nicht nach oben gezogen wird, sondern nur festgehalten
meln. wird?
Resultat: Faden
m1 − 3m2 2
hnach = h,
m1 + m2
m
ε min = 2 + 2 1 − 1. 3R
m2 r
Faden
3R
r
Wie groß sind die Massenträgheitsmomente der zwei
Windräder bezüglich der Koordinatenachsen durch die
Nabe? Wie sehen die Trägheitsmatrizen für diese Koor-
dinatenrichtungen aus? Die einzelnen Flügel können als m
dünne Stäbe der Masse m und der Länge l angenommen
werden. Wie hoch steigt das Jo-Jo bis es zur Ruhe kommt?
Hinweis: Drehbewegung und Translation sind gekoppelt.
Hinweis: Integrieren Sie eventuell entlang der Stabachsen.
Resultat:
Resultat: Entwurf 1: 1 9R2 v2
⎛2 2
⎞ h= + 2
3 ml 0 0 2 4r g
I=⎝ 0 0 0 ⎠
0 0 2
3 ml2 10.8 •• Ein Auto (Masse m, Massenträgheitsmoment
JS um eine Achse senkrecht durch den Schwerpunkt S)
Entwurf 2: soll während einer Kurvenfahrt (Radius R) von der Ge-
⎛ ⎞
ml2 schwindigkeit v1 auf die Geschwindigkeit v2 beschleunigt
0 0
⎜ 2 ⎟
I=⎝ 0 ml2
0 ⎠ werden. Wie groß muss die Leistung des Autos sein,
2 wenn dies während der Zeit T erfolgen soll?
0 0 ml2
Hinweis: Geschwindigkeit und Winkelgeschwindigkeit
10.6 • Beim abgebildeten Jo-Jo wird der Faden nach sind gekoppelt.
oben bewegt. Resultat:
1 J v22 − v21
Wie groß muss die Kraft im Faden des Jo-Jos sein, damit P= m + S2 .
sich der Schwerpunkt nicht bewegt? Wie groß ist dann 2 R T
252 10 Kinetik des starren Körpers – Dinge kraftvoll bewegen
10.9 • • • Das abgebildete System dient als Modell ei- 10.11 • • • Ein Massenpunkt m stößt mit der Geschwin-
nes Überkopfpendels. Es besteht aus einem Wagen, der digkeit v mittig auf eine Platte (Masse M, Massenträg-
Technische Mechanik
sich horizontal bewegt und der mit einer Kraft F ange- heitsmoment JS bezüglich des Schwerpunktes). Ein Ende
trieben wird. An ihm ist ein dünner Stab der Länge l und der Platte wird so geführt, dass es sich nur vertikal bewe-
Masse mS drehbar angebracht. Der Wagen selbst hat die gen kann. Der Stoß verläuft glatt.
Masse mW . Zwischen Stab und Wagen ist ein Drehdämp-
fer mit der Dämpferkonstanten kD angebracht. m
v
mS, JS
y
a
l
2 S 45°
S2
φ
kD ω a M, JS
l
mW 2
S1 F(t) x
x y
Die Koordinaten zur Beschreibung des Systems sind die Wie groß sind die Geschwindigkeit von Massenpunkt
Verschiebung x für den Wagen und der Winkel ϕ zwi- und Plattenschwerpunkt sowie die Winkelgeschwindig-
schen der Vertikalen und dem Stab. Wie lauten die zwei keit der Platte nach dem Stoß? Was ergibt sich für die
Bewegungsgleichungen für die Bewegung von Wagen Grenzfälle vollplastischer oder vollelastischer Stoß?
und Stab? Hinweis: Zeigen Sie zunächst, dass das Massenträgheits-
Hinweis: Zuerst ist zweckmäßigerweise die Beschleuni- moment der Platte JS = 16 Ma2 beträgt.
gung des Stabschwerpunktes zu bestimmen. Wählen Sie Resultat:
geschickt gewählte Kräfte- und Momentenbilanzen. 5m + 4εM 5 (1 + ε )m
Vm = v, VMx = v,
5m − 4M 5m − 4M
Resultat:
l l (1 + ε )m 6 (1 + ε )m
(mS + mW )ẍ + mS ϕ̈ cos ϕ − mS ϕ̇2 sin ϕ = F(t), VMy = v, ωE = − v.
2 2 5m − 4M (5m − 4M)
1 l l
mS l ϕ̈ + mS cos ϕẍ + kD ϕ̇ − mS g sin ϕ = 0.
2
10.12 •• Mithilfe eines ballistischen Pendels soll die
3 2 2
Geschwindigkeit eines Geschosses bestimmt werden. Da-
10.10 •• Eine Billardkugel stößt ohne sich zu drehen zu wird das Geschoß auf das Pendel geschossen und
unter einem Winkel von 30◦ auf eine zweite Billardkugel bleibt dort stecken.
gleicher Masse. Der Stoß verläuft glatt. Das Pendel hat die Masse M und den Schwerpunkt in S.
Der Schwerpunkt hat den Abstand l vom Lager, das Ge-
y schoß trifft das Pendel im Abstand b vom Lager. Nach
30° dem Stoß schwingt das Pendel, dessen Dämpfung ver-
nachlässigt werden kann, bis zum Winkel ϕ = ϕ0 . Wie
v x groß ist die Geschwindigkeit v des Geschosses vor dem
Stoß bei gemessenem ϕ0 ?
Wie groß sind die Geschwindigkeitskomponenten der
Kugeln nach dem Stoß?
Technische Mechanik
Resultat:
2(Mgl + m0 gb)(1 − cos ϕ0 )(JS + Ml2 + m0 b2 )
v= .
m20 b2
m, JS
v
umstürzender Kamin
l
Stange ist wie bei einem Pendel von der Zeit abhängig.
ey′
l
φ
ωS
ex′
R B
Resultat:
M = A ϕ̈ex − B ϕ̇ωS ey
ωF = ϕ̇ex + ωS ez , R m R
αF = ϕ̈ex − ϕ̇ωS ey
S
bestimmt. Wie groß sind die Momente im Lager der Schei-
2R 2R
be, wenn die Trägheitsmatrix des Frisbees aufgrund der 5m 5m
Symmetrie bezüglich nicht körperfester x y z -Achsen mit
⎛ ⎞
A 0 0 Hinweis: Unterteilen Sie die Hantel in Einzelkörper.
I = ⎝ 0 A 0⎠
0 0 B Resultat:
286
gegeben ist. JS = mR2
3
Analytische Mechanik – über
11
Technische Mechanik
effiziente Algorithmen
Bewegungsgleichungen
herleiten
Wie hängen die
Bewegungen der Kolben
von der Drehung der
Kurbelwelle ab?
Drehen sich Kurbel- und
Nockenwelle unabhängig
voneinander?
Müssen die Zwangskräfte
und die Zwangsmomente
immer bestimmt werden?
Bei der Herleitung von Bewegungsgleichungen von starren Körpern Deshalb liegt es nahe, zur Beschreibung der Lage und
stehen für jeden Körper bei einer ebenen Bewegung drei skalare der Orientierung aller Körper sogenannte generalisierte
Technische Mechanik
Gleichungen und bei einer räumlichen Bewegung sechs Gleichun- oder verallgemeinerte Koordinaten zu verwenden. Der
gen zur Verfügung. Sind mehrere Körper über Gelenke verbunden, Ausdruck „generalisierte Koordinate“ wird verwendet,
dann müssen aus diesen Gleichungen die Zwangsreaktionen in den da es sich um Verschiebungen, Drehwinkel oder eine
Lagern und den Gelenken eliminiert werden, um letztendlich auf Kombination von beiden handeln kann. Wir führen am
die Bewegungsgleichungen zu kommen. Dabei ergeben sich genau- besten soviele verallgemeinerte Koordinaten ein, wie das
so viele Bewegungsgleichungen wie das System Freiheitsgrade hat. System Freiheitsgrade hat. Man spricht dann auch von
Effizienter ist es, wenn diese Zwangskräfte und Zwangsmomente Minimalkoordinaten und bezeichnet die generalisierten
bei der Herleitung von Bewegungsgleichungen nicht berücksich- Koordinaten in diesem Fall auch als die Freiheitsgrade. Im
tigt werden müssen, insbesondere bei Anwendungen, bei denen Folgenden beschränken wir uns stets auf Minimalkoordi-
das System aus sehr vielen Körpern besteht, aber nur wenige Frei- naten. Wenn wir zum Beispiel die Schwerpunktkoordina-
heitsgrade hat, reduziert sich dadurch der Aufwand erheblich. Über ten xSi , ySi , zSi und die Eulerwinkel ψi , θi und ϕi für Lage
die Methoden der analytischen Mechanik werden wir Verfahren und Orientierung eines starren Körpers verwenden, dann
kennenlernen, bei denen für derartige Systeme die Bewegungsglei- hängen diese von den gewählten generalisierten Koordi-
chungen hergeleitet werden können, ohne die Zwangsreaktionen naten ab. Bezeichnen wir die Freiheitsgrade mit q1 bis qn ,
bestimmen zu müssen. Dazu führen wir wieder die virtuelle Ar- dann gilt:
beit von Kräften und Momenten ein. Beim Prinzip von d’Alembert
in Lagrange’scher Fassung muss die Summe aus virtueller Arbeit xSi = xi ( q1 , . . . , qn , t ) ,
von eingeprägten Kräften und Momenten und virtueller Arbeit der ySi = yi ( q1 , . . . , qn , t ) ,
Trägheitskräfte verschwinden. Zwangskräfte und Zwangsmomente
leisten in der Summe bei einer virtuellen Verschiebung des Systems zSi = zi (q1 , . . . , qn , t),
keine Arbeit und müssen deshalb nicht berücksichtigt werden. Nach ψi = ψi (q1 , . . . , qn , t),
entsprechender Umformung resultieren die Lagrange’schen Glei- θ i = θ i ( q1 , . . . , qn , t ) ,
chungen zweiter Art, bei denen das kinetische Potenzial, das sich
aus der Differenz von kinetischer Energie und potenzieller Energie ϕ i = ϕ i ( q1 , . . . , qn , t ) ,
ergibt, formal differenziert werden muss, um dann unter Einarbei-
wobei noch die Zeit t auftritt, da eine explizite Abhängig-
tung der verallgemeinerten Kräfte direkt die Bewegungsgleichun-
keit von der Zeit vorliegen kann.
gen zu erhalten. Es sind also lediglich die kinetische Energie und
die potenzielle Energie des Systems und die virtuelle Arbeit der nicht
konservativen Kräfte zu bestimmen, davon abgesehen muss nur der Frage 11.1
mathematische Algorithmus angewendet werden. Wie viele generalisierte Koordinaten benötigen wir zur
Beschreibung eines Roboters mit sechs Segmenten, die je-
weils durch ein Drehgelenk verbunden sind?
bei Gelenken, bei denen je nach Gelenkart Zwangskräfte Sehr oft sind die Zwangsbedingungen zeitabhängig, z. B.,
und Zwangsmomente mit Komponenten in verschiede- wenn sich ein Massenpunkt auf einer Ebene bewegt, die
Technische Mechanik
nen Richtungen wirken müssen. Diese Zwangskräfte und sich dreht oder die selbst eine vorgegebene Bewegung im
-momente sind es, welche die Lager belasten und deshalb Raum ausführt.
ist ihre Kenntnis durchaus wichtig, wenn es zum Beispiel
um die Auswahl eines Wälzlagers für eine Anwendung
geht. Beispiel Wenn ein Massenpunkt M sich auf einem rotie-
renden Stab in der x,y-Ebene bewegt, wobei der Verdreh-
winkel ϕ(t) des Stabes vorgegeben ist, dann gilt für die
Beispiel Ein physikalisches Pendel kann sich in der x, y- Koordinaten xM und yM (Abb. 11.2):
Ebene um das Lager A drehen, wobei die Drehachse in
Richtung der z-Achse zeigt (Abb. 11.1). Als starrer Körper y
werden die Lage und die Orientierung des Pendels ei-
gentlich durch sechs Koordinaten beschrieben. Aus Erfah-
rung wissen wir, dass das Pendel nur einen Freiheitsgrad
hat und zur Beschreibung von Lage und Orientierung der q
Verdrehwinkel ϕ um die z-Achse genügt. Somit müssen yM
fünf Zwangsbedingungen vorliegen. Wenn wir anneh- M
men, dass der Schwerpunkt S ebenfalls in der x, y-Ebene
liegt, dann sind die Zwangsbedingungen durch
φ = ωt
xM x
y
yM
A
= tan ϕ
x xM
l
φ oder die implizite Zwangsbedingung:
yM cos ϕ = xM sin ϕ.
S
Der Winkel ϕ ist dabei kein Freiheitsgrad, da er explizit
vorgegeben ist, z. B. bei gegebener konstanter Drehzahl ω
Abb. 11.1 Physikalisches Pendel mit einem Freiheitsgrad durch ϕ = ωt. Der Massenpunkt hat also einen Freiheits-
grad, z. B. die Koordinate q entlang des Stabes, sodass als
explizite Zwangsbedingungen gelten:
zS = 0,
xA = 0, xM = q cos ϕ,
yA = 0, yM = q sin ϕ.
ψ = 0,
θ =0
Zwangsbedingungen und Zwangsreaktionen
gegeben, wobei ψ und θ die Verdrehungen des Pendels
um die x- bzw. die y-Achse darstellen, die ja aufgrund Liegen in einem System Lager oder Gelenke vor,
der Lagerung nicht zugelassen sind. Diese Zwangsbedin- so führen diese zu Zwangsbedingungen sowie zu
gungen erforden aber eine Kraft im Lager A, die Kom- Zwangskräften und Zwangsmomenten. Diese kön-
ponenten in drei Richtungen hat, sowie ein Moment mit nen von der Zeit und der Bewegung abhängen. Wird
Komponenten um die x- bzw. die y-Achse. Die zugehöri- ein Satz von Minimalkoordinaten als generalisier-
gen Koordinaten Ax , Ay , Az , MAx , MAy müssen mithilfe te Koordinaten gewählt, dann entspricht deren Zahl
der Newton-Euler’schen Gleichungen bestimmt werden der Zahl der Freiheitsgrade des Systems. Die gene-
und hängen von der Bewegung ab. Wir wissen aus Er- ralisierten Koordinaten müssen dann so eingeführt
fahrung, dass die Lagerkraft in A bei einer schnellen werden, dass alle Zwangsbedingungen auf Lageebe-
Drehung des Pendels größer ist als bei einer langsamen ne erfüllt sind.
Drehung.
258 11 Analytische Mechanik – über effiziente Algorithmen Bewegungsgleichungen herleiten
φ l
Aus Erfahrung wissen wir, dass die Schlittschuhläuferin zunächst verschiebbar oder verdrehbar gemacht, sodass
jede beliebige Position und Orientierung auf der Ebene es genau einen Freiheitsgrad hat. Die virtuellen Ver-
Technische Mechanik
erreichen kann. Diese können z. B. durch zwei kartesische schiebungen aller Kraftangriffspunkte und die virtuellen
Koordinaten x und y sowie einen Winkel ϕ zwischen der Verdrehungen aller Momente können dann als Funktion
x-Achse und der Längsrichtung der Schlittschuhläuferin der virtuellen Änderung dieses Freiheitsgrades ausge-
beschrieben werden (Abb. 11.6). drückt werden. Im Falle von Systemen mit mehreren
Freiheitsgraden wird dies etwas komplizierter, da jeder
y Freiheitsgrad unabhängig von den anderen Freiheitsgra-
den virtuell verändert oder variiert werden kann. Die
v
virtuellen Verschiebungen von Punkten oder die virtuel-
len Verdrehungen von Körpern hängen deshalb von den
φ virtuellen Änderungen aller Freiheitsgrade ab. Die ma-
thematische Grundlage hierzu ist die Variationsrechnung,
FN auf welche an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegan-
gen wird. Hat das System die n Freiheitsgrade q1 bis qn ,
Kontaktpunkt
dann gilt für die Koordinaten xP , yP und zP eines Punktes:
xP = xP ( q1 , . . . , qn , t ) ,
x yP = yP ( q1 , . . . , qn , t ) ,
Abb. 11.6 Kinematik und Zwangskraft bei der Bewegung mit einem Schlitt- zP = zP (q1 , . . . , qn , t).
schuh
Wir verändern die verallgemeinerten Koordinaten q1 bis
Die Läuferin kann aber nur die Drehung und die Be- qn um virtuelle (gedachte) Änderungen δq1 bis δqn . Bei
wegung in Kufenrichtung beeinflussen. Die zugehörige diesen virtuellen Änderungen δq1 bis δqn der verallgemei-
implizite Zwangsbedingung nerten Koordinaten nehmen wir an, dass sie infinitesimal
klein sind, damit sich die Geometrie des Systems als
ẋ sin ϕ = ẏ cos ϕ Ganzes nicht zu stark ändert. In diesem Fall hängen die
virtuellen Verschiebungen und Verdrehungen von Punk-
kann nicht nach der Zeit integriert werden, da ϕ nicht ten und Körpern linear von den virtuellen Änderungen
konstant ist, sondern von der Bewegung der Schlittschuh- der verallgemeinerten Koordinaten ab. Außerdem muss
läuferin abhängt. Die zugehörige Zwangskraft senkrecht beachtet werden, dass bei einer expliziten Zeitabhängig-
zur Kufe wurde zuvor schon erwähnt und ist in Abb. 11.6 keit (z. B. bei einer Ebene, deren Lage zeitveränderlich
eingetragen. Bei diesem Beispiel liegen somit drei Mini- vorgegeben wird) während der virtuellen Verschiebung
malkoordinaten x, y und ϕ, aber nur zwei Minimalge- derselbe Zeitpunkt betrachtet wird. Die Zeit wird also
schwindigkeiten v und ϕ̇ gemäß nicht variiert. Deshalb folgt für die virtuellen Änderun-
gen der oben eingeführten Koordinaten ähnlich wie bei
ẋ = v cos ϕ, einem Differenzial:
ẏ = v sin ϕ
∂xP ∂xP ∂xP
vor. δxP = δq1 + δq2 + . . . + δqn ,
∂q1 ∂q2 ∂qn
∂y ∂y ∂y
Frage 11.2 δyP = P δq1 + P δq2 + . . . + P δqn ,
∂q1 ∂q2 ∂qn
Wie lautet die Zwangsbedingung bei einem rollenden
∂zP ∂zP ∂zP
Rad? δzP = δq1 + δq2 + . . . + δqn .
∂q1 ∂q2 ∂qn
S mit
y δφ ∂r ∂ϕ
Qj = ∑ ∂qj · F + ∑ ∂qj · M
Abb. 11.8 Virtuelle Verschiebungen beim Pendel mit vorgegebener Bewegung
des Aufhängepunktes
ausgedrückt werden. Diese Form der Darstellung ist spä-
ter hilfreich bei der Herleitung der Bewegungsgleichun-
xS = l sin ϕ, gen mit Hilfe der Lagrange’schen Gleichungen zweiter
Art. Die Qj werden als verallgemeinerte Kräfte bezeich-
yS = yA + l cos ϕ
net, da sie sowohl die Dimension einer Kraft als auch die
und damit die virtuellen Verschiebungen: eines Moments haben können, je nachdem, ob qj einer Ver-
schiebung oder einer Verdrehung entspricht.
δxS = l cos ϕδϕ,
δyS = δyA − l sin ϕδϕ. Frage 11.3
Wie groß ist die virtuelle Arbeit bei einem viskosen
Die virtuelle Verschiebung des Schwerpunktes setzt sich Dämpfer, bei dem ein Ende mit der Geschwindigkeit ẋ
also zusammen aus der virtuellen Verschiebung δyA des in x-Richtung verschoben wird? Wie groß ist die virtuelle
Punktes A sowie einer virtellen Verschiebung aufgrund Arbeit, wenn trockene Reibung vorliegt?
einer virtuellen Verdrehung δϕ des Pendels. Im Gegensatz
dazu ist die virtuelle Verschiebung bei vorgegebener Be-
wegung des Aufhängepunktes (Abb. 11.8) wegen δyA = 0
durch
11.4 Prinzip von d’Alembert
δxS = l cos ϕδϕ,
δyS = −l sin ϕδϕ
in Lagrange’scher Fassung
gegeben, da die Bewegung yA vorgegeben ist und deshalb Mit dem Prinzip von d’Alembert in Lagrange’scher Fas-
nicht variiert werden kann. Die virtuelle Verschiebung sung werden wir eine erste Möglichkeit kennenlernen, bei
des Schwerpunktes resultiert deshalb in diesem Fall nur welcher die Zwangskräfte und die Zwangsmomente bei
aus einer virtuellen Verdrehung des Pendels um den der Herleitung von Bewegungsgleichungen nicht berück-
Punkt A. sichtigt werden müssen. An dieser Stelle beschränken
11.4 Prinzip von d’Alembert in Lagrange’scher Fassung 261
wir uns auf die Herleitung der Gleichungen für Massen- Da die Summe der virtuellen Arbeiten der Zwangskräfte
punktsysteme, geben das Ergebnis aber auch für Systeme null ist, verbleibt:
Technische Mechanik
mit starren Körpern an. Die am i-ten Massenpunkt mi
K K
wirkenden Kräfte unterteilen wir in eingeprägte Kräf-
te F ei wie Gewichtskräfte, Dämpfungskräfte, Federkräfte, ∑ δri · Fei + ∑ δri · FTi = 0.
i=1 i=1
Antriebskräfte etc. und Zwangskräfte F Zi aufgrund von
Lagern, Führungen oder Gelenken. Wenn nur ein einziger In diesen Gleichungen treten die Zwangskräfte nicht
Massenpunkt betrachtet wird, der sich auf einer Ebe- mehr auf. Mit den Abhängigkeiten der virtuellen Ver-
ne bewegen kann, dann zeigt die Zwangskraft zwischen schiebungen von den δqj :
diesem Massenpunkt und der Ebene stets in eine Rich-
tung senkrecht zur Ebene und damit auch senkrecht zu n
∂r
einer möglichen virtuellen Verschiebung δri dieses Mas- δri = ∑ ∂qij δqj
senpunktes. Entsprechend der Definition der virtuellen j=1
Arbeit ist δWZi für diese Zwangskraft null:
folgt:
δWZi = δri · F Zi = 0. % &
K n
∂ri
Wenn das System aus mehreren Massenpunkten oder ∑ ∑ δq · (F e,i − mi r̈i ) = 0.
∂qj j
aus mehreren Körpern besteht, dann ist die virtuelle Ar- i=1 j=i
beit der Zwangskräfte nicht für jeden Massenpunkt oder
Körper für sich genommen null. Lediglich wenn die virtu- Änderung der Summationsreihenfolge führt auf:
ellen Arbeiten der Zwangskräfte aller Massenpunkte oder % &
Körper addiert werden, ergibt sich in der Summe null: n K
∂ri
K
∑ ∑ (Fei − mir̈i ) · ∂qj δqj = 0. (11.2)
j=1 i=1
δWZ = ∑ δWZi = 0,
i=1 Falls das System nur einen Freiheitsgrad q hat, bedeutet
wobei K die Zahl der Körper beziehungsweise der Mas- dies:
senpunkte ist. Anhand eines Schubkurbeltriebes wird % &
K
∂ri
dies in der Beispielbox exemplarisch vorgeführt.
∑ (Fei − mir̈i ) · ∂q δq = 0,
i=1
Virtuelle Arbeit der Zwangskräfte
sodass wir wie beim Prinzip der virtuellen Arbeit in der
In der Summe ergeben die virtuellen Arbeiten der Statik wegen δq = 0 fordern:
Zwangskräfte und Zwangsmomente gerade null.
K
∂ri
∑ (Fei − mi r̈i ) · ∂q
= 0.
i=1
Frage 11.4
Normalerweise rollt ein Rad auf der Unterlage ab. Bei ent- Wir erhalten so direkt die Bewegungsgleichung ohne
sprechenden Witterungsbedingungen kann es zu Schlupf Kenntnis der Zwangskräfte. Falls das System mehrere
kommen. In welchem Fall ist die Reibkraft eine Zwangs- Freiheitsgrade besitzt, hat (11.2) die Form:
kraft, wann eine eingeprägte Kraft?
( . . . )δq1 + ( . . . )δq2 + . . . + ( . . . )δqn = 0,
Bei einem Massenpunktsystem gilt für jeden Massen- die erfüllt sein muss für alle möglichen Werte von δq1
punkt i das Newton’sche Axiom:
bis δqn . Da diese virtuellen Änderungen unabhängig von-
F Zi + F ei − mi r̈i = 0, einander sind, da wir Minimalkoordinaten vorausgesetzt
haben, muss der Klammerterm vor jedem δqj für sich null
oder mit der Trägheitskraft FTi = −mi r̈i : werden. Dies ergibt insgesamt n Gleichungen der Form:
F Zi + F ei + F Ti = 0. K
∂r
Wir multiplizieren jede Gleichung mit der virtuellen Ver- ∑ (Fei − mi r̈i ) · ∂q1i = 0,
i=1
schiebung des jeweiligen Massenpunktes und summieren
über alle Massenpunkte: .. .. ..
. . .
K K K K
∂r
∑ δri · FZi + ∑ δri · Fei + ∑ δri · FTi = 0. ∑ (Fei − mir̈i ) · ∂qni = 0.
i=1 i=1 i=1 i=1
262 11 Analytische Mechanik – über effiziente Algorithmen Bewegungsgleichungen herleiten
Das in Abb. 11.9 dargestellte Modell eines Kolben- Nachdem der Zusammenhang zwischen den virtuel-
motors besteht aus einer in A gelagerten Kurbel mit len Verschiebungen der einzelnen Punkte bestimmt
Radius R, die in G1 mit der Pleuelstange verbunden wurde, wird im Folgenden die virtuelle Arbeit der
ist. Die Pleuelstange hat die Länge l und ist über das Zwangskräfte und Zwangsmomente ermittelt. Für die
Gelenk G2 mit dem Kreuzkopf und dem Zylinder Z drei Bauteile Kurbel, Pleuel und Zylinder sind die
verbunden. Freischnitte in den Abb. 11.10 bis 11.12 dargestellt.
Die Komponenten der Zwangskräfte in den Gelen-
ken werden in den entsprechenden Vektoren zusam-
G1 l a mengefasst, wobei zu beachten ist, dass F G1 ,Kurbel =
R δrG1 Zylinder −F G1 ,Pleuel und F G2 ,Pleuel = −F G2 ,Zyl gelten, wogegen
die virtuellen Verschiebungen gleich sind δrG1 ,Kurbel =
δrG1 ,Pleuel , δrG2 ,Pleuel = δrG2 ,Zyl .
A φ
ψ
G2
ey δφ J1 δrG2 G1y
δrG2 δrZyl
G1x
ex
Die gesamte virtuelle Arbeit der Zwangskräfte aller schiebung am Kreuzkopf und am Zylinder jeweils
drei Körper ergibt somit: senkrecht aufeinander stehen, erhalten wir somit:
Technische Mechanik
δWZ = δrA · F A + δrG1 ,Kurbel · F G1 ,Kurbel
+ δrG1 ,Pleuel · F G1 ,Pleuel + δrG2 ,Pleuel · F G2 ,Pleuel δWZ = 0,
+ δrG2 ,Zyl · F G2 ,Zyl + δrG2 · F K + δrZyl · F Zyl .
Mit den oben genannten Zusammenhängen und δrA = auch wenn die Abhängigkeiten der virtuellen Verschie-
0, sowie der Tatsache, dass Kraft und virtuelle Ver- bungen von δϕ nicht explizit eingesetzt werden.
l
s S2 2
φ
kD
S2 δrS2
l
m1 2
S1 y m2g
F kDφ
Technische Mechanik
(−2FR1 − 2m1 g sin α − 4m1 q̈ K n n K n
∂r ∂ri
+F0 − FR2 + m2 g sin β − m2 q̈)δq = 0 ∑ ∑ Fei · ∂qij δqj = ∑ ∑ Fei · ∂qj δqj = ∑ Qjδqj,
i=1 j=1 j=1 i=1 j=1
ergibt, aus der die Bewegungsgleichung K n
∂r
−2FR1 − FR2 − 2m1 g sin α + m2 g sin β
∑ ∑ mir̈i · ∂qij δqj
i=1 j=1
−(4m1 + m2 )q̈ + F0 = 0 n K
d ∂r d ∂ri
= ∑ ∑ mi dt
ṙi · i − ṙi ·
∂qj dt ∂qj
δqj
folgt. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Bewe- j=1 i=1
gungsgleichungen letztendlich zum Teil dennoch von den
Zwangskräften abhängig sein können, zu deren Bestim- zu betrachten. Hierin ist der erste Term die virtuelle Ar-
mung Impuls- und Drallsatz notwendig sind. Hier sind beit der eingeprägten Kräfte. Dass die letzte der beiden
dies die Reibkräfte FR1 und FR2 , die von den Normal- Gleichungen gilt, zeigt sich, wenn die Differenziation des
kräften FN1 und FN2 abhängen. In unserem Beispiel sind ersten Termes auf der rechten Seite der Gleichung nach
diese Abhängigkeiten mit FR1 = μm1 g cos α und FR2 = der Zeit mithilfe der Produktregel ausgewertet wird. Zu-
μm2 g cos β sehr einfach. dem werden in beiden Gleichungen die Reihenfolgen der
Summationen vertauscht. Um die Terme weiter umzufor-
men bestimmen wir die Geschwindigkeit
Wir betrachten wieder den Wagen mit der Masse m1 , sodass sich für das kinetische Potenzial
an dem, wie in Abb. 11.16 dargestellt, ein schlanker 1 1
Stab der Masse m2 und der Länge l drehbar befestigt L= (m1 + m2 )ṡ2 + m2 lṡ ϕ̇ cos ϕ
2 2
ist. Zwischen Stab und Wagen ist ein Drehdämpfer mit 2
der Dämpfungskonstanten kD angebracht. Am Wagen 1 l l
+ JS2 + m2 ϕ̇2 − m2 g cos ϕ
greift die äußere Kraft F an. 2 4 2
ergibt. Die virtuelle Arbeit der potenziallosen Kräfte
mS, JS
z und Momente setzt sich aus je einem Anteil der Kraft F
und des Drehdämpfers
l
s S2 2 δWnk = Fδs − kD ϕ̇δϕ
φ zusammen und wird verglichen mit der virtuellen Ar-
g
kD beit der verallgemeinerten Kräfte
l
m1 2 δWnk = Qs δs + Q ϕ δϕ.
S1 F y
Der Vergleich ergibt:
Qs = F,
Abb. 11.16 Horizontal bewegter Wagen mit pendelndem Stab Q ϕ = −kD ϕ̇.
An dieser Stelle sehen wir auch, weshalb wir von ver-
Um die Bewegungsgleichungen herzuleiten, müssen
allgemeinerten Kräften sprechen, da Qs die Dimension
wir zunächst die Freiheitsgrade festlegen. Dies sind
einer Kraft, aber Q ϕ die Dimension eines Momentes
q1 = s und q2 = ϕ. Für das kinetische Potenzial benö-
hat. Als Nächstes werden die partiellen Ableitungen
tigen wir die kinetische Energie Ekin des Systems und
berechnet:
die potenzielle Energie Epot . Die kinetische Energie be-
rechnet sich aus: ∂L
= 0,
1 1 1 1 ∂s
Ekin = m1 ṙS21 + JS1 ϕ̇21 + m2 ṙS22 + JS2 ϕ̇22 , ∂L 1 l
2 2 2 2 = − m2 lṡ ϕ̇ sin ϕ + m2 g sin ϕ,
mit ϕ̇1 = 0 und ϕ̇2 = ϕ̇. Die Berechnung der Schwer- ∂ϕ 2 2
punktgeschwindigkeit ist für den Wagen sehr einfach: ∂L 1
= (m1 + m2 )ṡ + m2 l ϕ̇ cos ϕ,
ṙS1 = ṡey . ∂ṡ 2
∂L 1 l2
Um die Schwerpunktgeschwindigkeit des Stabes zu = m2 lṡ cos ϕ + JS2 + m2 ϕ̇,
bestimmen, wird am besten zunächst der Ortsvektor ∂ ϕ̇ 2 4
über die generalisierten Koordinaten ausgedrückt: d ∂L
= (m1 + m2 )s̈
l l dt ∂ṡ
rS2 = s + sin ϕ ey + cos ϕez 1 1
2 2 + m2 l ϕ̈ cos ϕ − m2 l ϕ̇2 sin ϕ,
und nach der Zeit differenziert: 2 2
d ∂L 1
l l = m2 ls̈ cos ϕ
ṙS2 = ṡ + ϕ̇ cos ϕ ey − ϕ̇ sin ϕez . dt ∂ ϕ̇ 2
2 2
1 l2
Eingesetzt ergibt dies die kinetische Energie: − m2 lṡ ϕ̇ sin ϕ + JS2 + m2 ϕ̈.
2 4
1 1 l2 2 1
Ekin = m1 ṡ + m2 ṡ + lṡ ϕ̇ cos ϕ + ϕ̇ + JS2 ϕ̇2 . Als Letztes werden alle Terme in die Lagrange’schen
2 2
2 2 4 2
Gleichungen
Für die potenzielle Energie legen wir das Nullniveau
bei z = 0 fest. Als potenzielle Energie verbleibt so nur d ∂L ∂L
das Schwerepotenzial von m2 : − = Qs ,
dt ∂ṡ ∂s
l d ∂L ∂L
Epot = m2 g cos ϕ, − = Qϕ
2 dt ∂ ϕ̇ ∂ϕ
11.5 Lagrange’sche Gleichungen 2. Art 267
eingesetzt, und wir erhalten die Bewegungsgleichun- Der Term m2 lṡ ϕ̇ sin ϕ/2 tritt in der letzten Gleichung
gen: zweimal mit unterschiedlichem Vorzeichen auf, so-
Technische Mechanik
dass sich diese Terme gegenseitig aufheben und in
1 1
(m1 + m2 )s̈ + m2 l ϕ̈ cos ϕ − m2 l ϕ̇2 sin ϕ = F, der Gleichung nicht mehr berücksichtigt wurden. Die
2 2 hergeleiteten Gleichungen sind natürlich identisch mit
1 l2 l denen, die wir mithilfe des Prinzips von d’Alembert in
m2 ls̈ cos ϕ + JS2 + m2 ϕ̈ − m2 g sin ϕ = −kD ϕ̇.
2 4 2 Lagrange’scher Fassung erhalten haben.
Somit können wir wie folgt umformen: gelten. Gleichung (11.5) wird die Lagrange’sche Glei-
chung zweiter Art genannt. Oft ist es besser, die verallge-
K K
d ∂ri d ∂ṙi meinerten Kräfte durch Berechnung der virtuellen Arbeit
∑ mi dt ṙi · ∂qj = ∑ mi dt ṙi · ∂q̇j δWe der eingeprägten Kräfte direkt über eine virtuelle
i=1 i=1
Verschiebung des Systems zu ermitteln. Die virtuelle Ar-
K
mi d ∂ṙi2 beit δWe der eingeprägten Kräfte ist dann nach den δqj zu
=∑ ordnen und mit
i=1
2 dt ∂q̇j
% &
δWe = Q1 δq1 + Q2 δq2 + . . . + Qn δqn
d ∂ K mi 2
dt ∂q̇j i∑
= ṙ
=1
2 i zu vergleichen, siehe (11.1). In vielen Fällen ist diese Vor-
gehensweise anschaulicher als die formale Berechnung
d ∂Ekin der Qj .
= ,
dt ∂q̇j Ein Sonderfall liegt vor, wenn sich eine Kraft F aus einem
K
d ∂ri K
∂ṙ zugehörigen Potenzial ableiten läßt. In diesem Fall gilt für
− ∑ mi ṙi · = − ∑ mi ṙi · i die Kraft:
i=1
dt ∂q j i=1
∂q j
∂Epot ∂Epot ∂Epot
∂ K
mi 2 F=− ex + ey + ez ,
∂x ∂y ∂z
∂qj i∑
=− ṙ
=1
2 i
wobei Epot die potenzielle Energie ist. Mit der zugehöri-
∂E gen virtuellen Verschiebung der Kraft
= − kin ,
∂qj δr = δxex + δyey + δzez
n n n
wobei Ekin die Summe der kinetischen Energien der Mas- ∂x ∂y ∂z
senpunkte, also die gesamte kinetische Energie des Sys- = ∑ δq ex + ∑ δq ey + ∑ δq ez
j=1
∂qj j j=1
∂qj j j=1
∂qj j
tems bezeichnet. Einsetzen aller Terme in (11.3) ergibt:
% & folgt für die virtuelle Arbeit dieser Kraft F:
n
d ∂Ekin ∂Ekin
∑ Qj − dt ∂q̇j + ∂qj δqj = 0, δW = δr · F
j=1
n ∂Epot ∂x ∂Epot ∂y ∂Epot ∂z
mit den zuvor eingeführten verallgemeinerten Kräften
= ∑ −
∂x ∂qj
−
∂y ∂qj
−
∂z ∂qj
δqj
j=1
K
∂r
n ∂Epot
Qj = ∑ Fei · i . =−∑ δqj .
∂q j j=1
∂qj
i=1
Wir können also die Qj aufteilen in Anteile, die sich durch
Da die virtuellen Änderungen δqj der verallgemeinerten
Ableiten der potenziellen Energie Epot nach der verallge-
Koordinaten beliebig und unabhängig voneinander sind,
meinerten Koordinate ergeben und Anteile Qj,nk , welche
muss
die Anteile der nicht konservativen Kräfte enthalten:
d ∂Ekin ∂E ∂Epot
Qj − + kin = 0, j = 1, . . . , n, Qj = − + Qj,nk .
dt ∂q̇j ∂qj ∂qj
Technische Mechanik
Wie man Lagerreaktionen mithilfe der Lagrange’schen Die potenzielle Energie infolge des Gewichtes beträgt:
Gleichungen 2. Art bestimmen kann, zeigen wir am
Beispiel eines physikalischen Pendels, für welches wir Epot = (−u − l cos ϕ)mg.
die Lagerkraft FA,y in vertikaler Richtung bestimmen
wollen. Dazu werden das Lager A in dieser Rich- Somit erhalten wir für das kinetische Potenzial:
tung verschiebbar gemacht und die Lagerkraft FA,y als
äußere Kraft eingeführt (Abb. 11.17). Das Pendel hat 1
die Masse m, das Massenträgheitsmoment JS , und der L= m(u̇2 − 2lu̇ ϕ̇ sin ϕ + l2 ϕ̇2 )
2
Schwerpunkt S liegt im Abstand l vom Lagerpunkt A. 1
+ JS ϕ̇2 + (u + l cos ϕ)mg.
2
FA,y
Aus der virtuellen Arbeit aller Anteile von eingepräg-
ey
ten Kräften und Momenten, die nicht in der potenziel-
u len Energie berücksichtigt sind,
g
A
ex δWnk = −FA,y δu,
Qu = −FA,y ,
S
Q ϕ = 0.
Weiterführende Literatur
Die Literatur für alle Kapitel des Teils Technische Mecha-
nik befindet sich am Ende von Kap. 9.
270 11 Analytische Mechanik – über effiziente Algorithmen Bewegungsgleichungen herleiten
Antwort 11.1 6, z. B. die Verdrehwinkel in den Gelenken. Antwort 11.3 Viskoser Dämpfer: δW = −kD ẋδx, trockene
Reibung: δW = −μFN δx.
Antwort 11.2 Geschwindigkeit des Kontaktpunktes muss
null sein. Antwort 11.4 Bei Rollen: Zwangskraft, bei Schlupf: einge-
prägte Kraft.
Aufgaben 271
Aufgaben
Technische Mechanik
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
11.1 • Der Faden eines Jo-Jos wird festgehalten, Hinweis: Auswertung über Skalarprodukte.
während das Jo-Jo nach unten beschleunigt.
Resultat:
Faden
δW = [F1 + sin( ϕ1 − ϕ2 )F2 ]l1 δϕ1
4 2 1
ml ϕ̈1 + ml2 (cos ϕ1 cos ϕ2 + sin ϕ1 sin ϕ2 ) ϕ̈2
3 2
1
F + ml2 (− cos ϕ1 sin ϕ2 + sin ϕ1 cos ϕ2 ) ϕ̇22
2
3
+ mgl sin ϕ1 = [F1 + sin( ϕ1 − ϕ2 )F2 ]l,
2
g
1 2 1
5m ml ϕ̈2 + ml2 (cos ϕ1 cos ϕ2 + sin ϕ1 sin ϕ2 ) ϕ̈1
3 2
1
φ + ml2 (− sin ϕ1 cos ϕ2 + cos ϕ1 sin ϕ2 ) ϕ̇21
2
1
+ mgl sin ϕ2 = 0.
2
Der Massenpunkt hat die Masse 5m, die Stäbe jeweils die
Masse m/2 und die Länge l beziehungsweise m/4 und 11.7 •• Das Modell eines Aufzuges besteht aus drei
l/2. Leiten Sie die Bewegungsgleichung mithilfe des Prin- Walzen mit den Radien r1 , r2 , r3 und den Massen m1 ,
zips von d’Alembert her. Überprüfen Sie das Ergebnis mit m2 , m3 . Die Last mit der Masse m4 hängt an der unteren
den Lagrange’schen Gleichungen 2. Art. Scheibe. Die oberen beiden Walzen sind fest verbunden,
sodass sie sich mit derselben Winkelgeschwindigkeit ω
Hinweis: Stellen Sie zunächst die Ortsvektoren zu den drehen. An ihnen wirkt das Antriebsmoment MA und ein
Schwerpunkten auf. Dämpfungsmoment kD ω aufgrund eines viskosen Dreh-
dämpfers.
Resultat:
r1
25 2 275 2 275 2 2
ml ϕ̈ + ml ϕ̈ sin2 ϕ + ml ϕ̇ sin ϕ cos ϕ m2
12 8 8
r2
15 m1 M(v )
+ mgl cos ϕ + Fl cos ϕ = 0 A B
4
C D
F1
•
φ1
g m4
F2
φ2
Technische Mechanik
r1 − r2 m1 2 m2 2 m3 2
(m3 + m4) +
r1 + r2 + r3 ϕ̈
2 2 2 2 x
r1 − r2
+(m3 + m4 )g + kD ϕ̇ = MA . φ g
2
mSch
11.8 •• Leiten Sie mit den Angaben aus Aufgabe r
11.7 die Bewegungsgleichungen nun auch mithilfe des 2r kDφ
Langrange’schen Formalismus her.
Resultat: Resultat:
Technische Mechanik
Resultat:
cl2
Geben Sie die Bewegungsgleichung an. ml2 ϕ̈ + mglϕ + ( ϕ − ψ) = 0,
4
cl2
Hinweis: Führen Sie entsprechende Abkürzungen ein. ml2 ψ̈ + mglψ + (ψ − ϕ) = 0.
4
Einfache
12
Technische Mechanik
Schwingungen – periodische
Vorgänge verstehen,
berechnen und beeinflussen
Wie entstehen
Schwingungen
Schwingungen von
Maschinen und Fahrzeugen
berechnen
Wie können Schwingungen
beeinflusst werden
Schwingungen begegnen uns im alltäglichen Leben in vielfältiger Tab. 12.1 Ausgewählte periodische Vorgänge in Natur und Technik
Weise. Der klingelnde Wecker, die Musik aus dem Radio, der trop- Vorgang/Gerät Frequenz in Hz Periode in s
Technische Mechanik
fende Wasserhahn, das Quietschen der U-Bahn in der Kurve, das Präzession der Erdachse 1,23 · 10−12 8,1·1011
schaltende Relais eines Kfz-Blinkers, das Flattern einer Flugzeug- (25.700 Jahre)
tragfläche, das Schwanken eines Hochhauses, das Pendeln einer Umlauf Erde um Sonne = Jahr 3,169 · 10−8 3,15 · 107
Standuhr, der Flügelschlag einer Libelle – wir sind umgeben von ei- Sonnentag 1,15740 · 10−5 86.400
ner Vielzahl natürlicher und künstlich herbeigeführter oszillierender mechan. Uhrenpendel l = 1 m 0,5 2
Vorgänge, die unter dem Begriff Schwingungen zusammengefasst Kolbenhub Dampflok (max.) 7 0,142
werden. Sogar die Ökonomie und die Natur zeigen periodische Strom-Netzfrequenz 50 0,02
Vorgänge, wie Konjunkturzyklen und Populationsschwankungen in Kolbenhub im Motor 100 0,01
Räuber-Beute-Systemen. Ihre Ursachen sind ebenso vielfältig wie bei 6000 U/min
die Phänomene, die hierbei entstehen können - seien sie erwünscht Quarz in Quarzuhr 32.768 = 215 3,05 · 10−5
Radio-Kurzwelle 3 · 106 3,3̄ · 10−7
oder unerwünscht. Im folgenden Kapitel werden wir uns mit der
Mikrowelle/WiFi 2,455 · 109 4,07 · 10−10
Beschreibung von Schwingungen befassen und mathematisch fun-
dierte Lösungen für technische Schwingungsprobleme mit einem
q
Freiheitsgrad oder zwei beschreibenden Zustandsgrößen herleiten
und interpretieren.
qmax
q +
qm q
12.1 Beschreibung q –
qmin
von Schwingungen
T T
Ein natürlicher oder physikalischer Prozess wird durch
t
eine Zustandsgröße q(t) beschrieben, z. B. eine Auslen-
kung eines sich bewegenden Körpers, einen Druck an Abb. 12.1 Zeitverlauf einer einfachen Schwingung
einer Stelle eines Fluids oder eine elektrische Spannung.
Als Schwingung oder Oszillation wird gemäß DIN 1311
ein Vorgang bezeichnet, bei dem die Zustandsgröße ei-
die jedoch nicht mit dem arithmetischen Mittelwert q̄ ver-
ne zeitliche Änderung erfährt und dabei im Allgemeinen wechselt werden darf, der sich aus dem Integral über eine
abwechselnd zu- und abnimmt. Diese Definition ist rein Periode T
beobachtungsorientiert, sie betrachtet zunächst nicht die
Ursache oder die physikalischen Prozesse, die dazu füh- t+T
1
ren, dass die Schwingung stattfindet. q̄ = q(τ )dτ
T
t
Zunächst sollen stationäre Schwingungen betrachtet wer-
den, bei denen sich der Zustand ergibt. Der Mittelwert ist anschaulich der Wert, für den
die in Abb. 12.1 farbig markierten Flächen oberhalb und
q ( t + T ) = q ( t) unterhalb des Graphen gleich groß sind. Die Amplitude q̂
beschreibt den Ausschlag der Schwingung gegenüber der
nach Ablauf der Periodendauer T absolut gleich wieder- Mittellage und wird durch
holt. Wird q(t) über der Zeit aufgetragen, ergibt sich das
Ausschlag-Zeit-Diagramm eines Schwingungsvorgangs. 1
q̂ = (qmax − qmin )
2
Der Kehrwert f = T1 wird als Schwingungsfrequenz be-
zeichnet und in der Einheit Hz (Hertz) angegeben. So- berechnet. Eine weitere Kenngröße zur Beschreibung ei-
wohl die Periodendauer als auch die Frequenz können in ner Schwingung und des mit ihr verbundenen Ener-
einem großen Variationsbereich liegen; in Tab. 12.1 sind gieumsatzes ist der Effektivwert qeff einer oszillierenden
Beispiele zusammengefasst. Größe, der sich mit
3
4 t+ T
In Abb. 12.1 sind einige wichtige Werte zur Beschreibung 4
41
einer Schwingung eingezeichnet. Die Zustandsgröße er- qeff = 5 q(τ )2 dτ (12.1)
reicht einen Minimalwert qmin sowie einen Maximalwert T
t
qmax . Die Mittellage qm ergibt sich als:
als quadratischer Mittelwert aus der Wurzel der Quadrate
qm
1
= (qmax + qmin ) , der Größe q(t) ergibt. Aus diesem Grund ist der Effektiv-
2 wert niemals negativ.
12.3 Freie Schwingungen linearer Systeme 277
Technische Mechanik
q(t) = A sin Ωt mit der Amplitude A? Schwingungen können im Fall der Resonanz aufklingen
und die Amplituden sehr groß werden, im theoretischen
Grenzfall der Dämpfungsfreiheit sogar unendlich groß.
Zur Berechnung der integralen Mittelwerte ist aufgrund Schwingungen sind eng mit Wellen verwandt. Exempla-
der angenommenen Periodizität der Startpunkt t für die risch kann dies an einer schwingenden Oberfläche an der
Mittelung beliebig. Die Integration muss lediglich über ei- Luft dargestellt werden: Die periodische Bewegung der
ne volle Schwingungsperiode T erfolgen. Festkörperoberfläche regt die benachbarten Luftmolekü-
le zu Schwingungen an, die zu einer Schallwelle führen
und die Energie des Systems in der Welle wegtragen. Ab-
12.2 Klassifikation strahlung von Schallwellen durch eine Struktur ist somit
ein spezieller Dämpfungsmechanismus. Wellenphänome-
von Schwingungen ne werden in Abschn. 13.2 kurz beschrieben.
Eine Klassifikation von technischen und natürlichen Lässt sich der Zustand des Schwingers eindeutig durch
Schwingungsphänomenen lässt sich vornehmen, wenn zwei Zustandsgrößen oder eine Zustandsgröße und ih-
zugrunde gelegt wird, dass diese sich auf einen sich wie- re Zeitableitung beschreiben, handelt es sich um einen
derholenden Austausch von Energie zwischen zwei oder einläufigen Schwinger (Abschn. 12.3, 12.4 und 12.5). Ty-
mehr Speichern zurückführen lassen (Abb. 12.2). Dieser pischerweise existieren dabei zwei Differenzialgleichun-
meist periodische Austauschprozess kann von Energie- gen erster Ordnung, welche die zeitliche Änderung der
dissipation begleitet sein, bei der bei jedem Austausch Zustandsgrößen, häufig der „Füllungsgrad“ der Ener-
dem Prozess ein Teil der Energie entzogen wird, z. B. in giespeicher, beschreiben. Diese lassen sich in der Regel
Form von Wärme. Schwingungen ohne diesen Verlust zu einer einzigen Differenzialgleichung zweiter Ordnung
werden als ungedämpft bezeichnet, andernfalls sind sie zusammenfassen. Dies wird im folgenden Abschnitt be-
gedämpft. Als Sonderfall sind auch Schwingungen zu be- schrieben. Handelt es sich bei den Gleichungen, die den
obachten, die eine Energiequelle anzapfen können, diese Schwinger beschreiben, um lineare Differenzialgleichun-
werden als angefachte Schwingungen bezeichnet. gen, liegt ein lineares Schwingungssystem vor. Andern-
falls wird es als nichtlineares System bezeichnet. Oft lassen
Wird der Schwingungsprozess nicht von außen angeregt, sich nichtlineare Gleichungen für kleine Auslenkungen li-
handelt es sich um eine freie Schwingung (Abschn. 12.3). nearisieren.
Eine äußere Anregung kann der Schwingung von au-
Wird ein Schwingungssystem durch mehr als zwei
ßen Energie zuführen. Ist die Erregung rückwirkungsfrei
Zustandsgrößen-Paare beschrieben, wird es als mehrläu-
und rein zeitabhängig, d. h., sie wirkt unabhängig vom
figer Schwinger (Abschn. 13.1) bezeichnet. Schwinger, bei
Zustand des Schwingungssystems, liegt eine erzwungene
denen unendlich viele Zustandsgrößen benötigt werden,
Schwingung (Abschn. 12.4) vor. Beeinflusst der Schwin-
stellen Feldprobleme dar und werden als Kontinuums-
gungsprozess die Energiezufuhr selbst, kann eine selbst-
schwinger bezeichnet (Abschn. 13.2). Auch bei diesen
erregte Schwingung entstehen. Derartige Schwingungen
Schwingern ist immer ein Energieaustauschmechanismus
werden in diesem Buch nicht behandelt.
zu beobachten, es sind jedoch kontinuierlich verteilte
Die freie, ungedämpfte Schwingung ist ein theoretischer Speicher vorhanden.
Grenzfall. In der Realität wird ein freier Schwingungsvor-
gang immer abklingen. Sowohl bei erzwungenen als auch
bei selbsterregten Schwingungen kann sich eine stationäre 12.3 Freie Schwingungen
linearer Systeme
externe Quelle
Als freie Schwingungen werden Phänomene bezeichnet,
bei denen ein schwingungsfähiges System aus Anfangs-
Anregung bedingungen ohne weitere Anregung sich selbst überlas-
sen wird. Schwingungsfähige Systeme lassen sich in der
Speicher 1 Austausch Speicher 2
Regel durch ein System von Differenzialgleichungen be-
innere Prozesse schreiben, die im Fall der freien Schwingungen homogen
sind. Die Methodik zur Aufstellung dieser Gleichungen
Dissipation (Anfachung) variiert von Domäne zu Domäne, die entstehenden Glei-
chungen sind jedoch immer von gleicher Gestalt. Für die
Mechanik soll zunächst der bekannte Weg mit dem New-
Abb. 12.2 Energieflüsse einer einfachen Schwingung ton’schen Gesetz gewählt werden.
278 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen
c d
φ(t)
φ(t) l
m
elektrischer LCR- R Induktivität L Kapazität C elektrischer
Schwingkreis Magnetfeld, el. Feld, Widerstand R
Stromstärke I Spannung U in den Leitungen
U(t) I(t)
e–
C L
Technische Mechanik
c
und der Dämpfung d die Verdrehsteifigkeit cR und die
F F Drehdämpfung dR . Gleichung (12.3) lautet mit der Ver-
m drehkoordinate ϕ:
d
J ϕ̈ + dR ϕ̇ + cR ϕ = 0,
Abb. 12.3 Mechanischer Einmassenschwinger mit der Masse m , der Federstei- woraus sich
figkeit c und der Dämpfungskonstanten d
cR dR
ω02 = und δ=
J 2J
Systemgleichungen für mechanische ableiten lässt.
Schwingungssysteme werden mit dem Impuls-
oder Drehimpulssatz sowie einem Federgesetz
aufgestellt Der Zeitverlauf der Schwingung ist die Lösung
der Differenzialgleichung
Die Differenzialgleichungen mechanischer Systeme
(Abb. 12.3) werden in der Regel mithilfe des Impulssatzes
Die Differenzialgleichung (12.4) eines ungedämpften, li-
in der Form mq̈ = −F mit der zweiten Ableitung der Zu-
nearen Schwingungssystems wird durch
standsgröße aufgestellt. Dabei stellt q(t) die Auslenkung
der Masse dar. Die Kraft des Feder-Dämpfer-Elements
q(t) = A cos ω0 t + B sin ω0 t (12.5)
lässt sich allgemein immer in der Form F(q, q̇) und
im linearen Fall durch F = cq + dq̇ beschreiben. Dabei gelöst, wobei A und B die Integrationskonstanten sind,
bezeichnen c die Federkonstante und d die Dämpfungskon- die sich aus Anfangsbedingungen bestimmen lassen. Die
stante. Eigenkreisfrequenz ω0 des Schwingers hängt mit der Ei-
Dieses Vorgehen verbirgt allerdings das Vorhandensein genfrequenz f0 und der Periodendauer T gemäß
von zwei Zustandsgrößen und zugehörigen Speichern
gemäß Abb. 12.2: der Lage q und der Geschwindig- 2π
ω0 = 2πf0 und ω0 =
keit q̇ oder v. Die Lage q beschreibt den potenziellen T
Energiespeicher der Feder Epot = 12 cq2 . Es könnte alter-
zusammen. Eine gleichwertige Darstellung der Lösung
nativ die Zustandsgröße F = cq mit Epot = 2c 1 2
F verwen- (12.5) ist
det werden. Die Geschwindigkeit v ist dem kinetischen
Energiespeicher Ekin = 12 mv2 zugeordnet. Die momentan q(t) = C cos (ω0 t − ψ)
während der Bewegung dissipierte Leistung im Dämpfer
ergibt sich zu Pdiss = FD v = dv2 . mit den Konstanten C und ψ, die sich durch die Beziehun-
gen
Auf die Masse wirkt die Kraft von Feder und Dämpfer in
negativer Koordinatenrichtung, somit ergibt sich B
C= A2 + B2 , tan ψ = ,
mq̈ + dq̇ + cq = 0 (12.2) A
A = C cos ψ, B = C sin ψ
als homogene Bewegungsgleichung. Diese Gleichung
wird durch die Masse m dividiert und es ergibt sich: ineinander überführen lassen, wobei C die Amplitude und
ψ die Phase der Schwingung sind.
q̈ + 2δq̇ + ω02 q = 0, (12.3)
Die zwei Konstanten sind mit den zwei Speichern des
wobei die Größen Schwingers verknüpft, die tatsächliche Form der Schwin-
c d gung ergibt sich aus dem Anfangszustand der beiden
ω02 = und δ= Speicher. Beim mechanischen Schwinger sind die geeig-
m 2m
neten Anfangsbedingungen die Lage, die über die Stei-
eingeführt wurden. Mit ω0 wird die Eigenkreisfrequenz des figkeit c mit der Speichergröße Kraft verknüpft ist, sowie
ungedämpften Schwingers bezeichnet, δ ist die Abkling- die Geschwindigkeit. Beide Größen zusammen beschrei-
konstante. Für das System ohne Dämpfer verbleibt: ben den Zustand des Schwingers zu einem Zeitpunkt
t0 . Vereinfachend soll im Folgenden t0 = 0 gesetzt wer-
q̈ + ω02 q = 0. (12.4) den. Sind die Anfangsbedingungen mit der Anfangslage
280 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen
q Steigungsdreieck der
∆t ∙ v0 Anfangssteigung Freie Schwingungen ungedämpfter, linearer Systeme
Technische Mechanik
In Abb. 12.4 ist der Zeitverlauf der Schwingung darge- λ2 + 2δλ + ω02 = 0. (12.8)
stellt: q0 entspricht der Anfangslage und v0 der Anfangs- Es handelt sich um eine quadratische Gleichung für die
steigung. Unbekannte λ, die durch
Abschließend soll noch die Verteilung der Energie in der λ1,2 = −δ ± δ2 − ω02 (12.9)
Schwingung q(t) = A sin ω0 t und q̇(t) = Aω0 cos ω0 t ei-
nes Feder-Masse-Schwingers wie in Abb. 12.3 mit d = 0 gelöst wird. Es wird nun der dimensionslose Dämpfungs-
betrachtet werden. Die maximale potenzielle Energie in parameter, auch bekannt als Lehr’sches Dämpfungsmaß, D
der Feder wird in den Momenten der maximalen Auslen- eingeführt, der durch
π
kung t = 2ω , 3π , . . . erreicht und beträgt Epot = 12 cA2 .
0 2ω0
δ
Dort sind die Geschwindigkeit und somit auch die kineti- D= (12.10)
sche Energie null. Das Maximum der kinetischen Energie ω0
besitzt die Masse bei maximaler Geschwindigkeit und bei mechanischen Systemen mit ω02 = c
m
sie beträgt Ekin = 12 mω02 A2 . Dieser Zustand wird für t =
0, ωπ , 2π d dω0 d
0 ω , . . . erreicht.
0 D= = = √
2mω0 2c 2 mc
Frage 12.2 definiert wird. Wird aus der rechten Seite von (12.9) ω0
Zeigen Sie, dass für ungedämpfte Schwingungen Epot = ausgeklammert, ergibt sich:
Ekin gilt.
λ1,2 = ω0 −D ± D2 − 1 . (12.11)
12.3 Freie Schwingungen linearer Systeme 281
Technische Mechanik
und somit D < 0 gelten, was einer negativen Dämpfung C e–δt
oder Anfachung des Systems entspricht. Diese Situation
ist im Prinzip in der folgenden Fallunterscheidung ent- q1 q2
halten. T1 q3 t
Es ist zu erkennen, dass die Lösungen des schwach bzw. Eine konstante Last auf den Schwinger kann
stark gedämpften Systems ((12.15) bzw. (12.19)) struk-
durch eine Koordinatentransformation aus der
Technische Mechanik
zusammenfallen. Aus der Theorie linearer, gewöhnlicher gebracht werden. Die Gleichung ist somit zunächst inho-
Differenzialgleichungen folgt im Fall doppelter Eigenwer- mogen, da sie den Term K auf der rechten Seite hat. Dieser
te die Fundamentallösung Term lässt sich durch eine Koordinatentransformation aus
der Gleichung eliminieren; die Bewegungsgleichung wird
q(t) = e−δt (A + Bt) . wieder homogen.
Technische Mechanik
Die Dämpfung mechanischer Systeme beeinflusst die Dämpfungsdekrement Λ wird der natürliche Logarith-
Schwingungen und deren Auswirkungen in erhebli- mus des Amplitudenverhältnisses zweier aufeinander-
chem Maß. Um den Schwingungsvorgang zu berech- folgender Maxima einer Schwingungsfunktion
nen oder den Arbeitsprozess des Systems besser zu
analysieren und zu simulieren, ist mitunter die expe- x̂i Ce−δt
rimentelle Ermittlung der Dämpfung erforderlich. Λ = ln = ln = δT1
x̂i+1 Ce−δ (t+T1)
Abb. 12.6 Schwinger mit zusätzlicher, konstanter Last. Die Bewegung des
Schwingers q (t ) ist im schwarzen System eine Bewegung um die Gleichge-
wichtslage qG beginnend aus der Nullage. Im verschobenen blauen System der Zwei Differenzialgleichungen erster Ordnung
Koordinate qS findet die Bewegung um die Nullage und Ruhelage qS = 0 statt können schwingungsfähige Systeme
beschreiben
Die Bewegungsgleichung lautet mq̈ + cq = −mg, gemäß
(12.20) ergibt sich:
In der Übersichts-Box Einläufige technische Schwingungs-
systeme sind schwingungsfähige Systeme dargestellt, bei
mg g
K = −g und qG = − = − 2. denen die Zustandsgrößen, allgemein als q1 und q2 be-
c ω0 zeichnet, nicht einfach durch Ableitung auseinander her-
vorgehen. Eine Differenzialgleichung zweiter Ordnung
Aus der Perspektive der Koordinate qS lauten die An- ist nicht ohne Weiteres formulierbar.
fangsbedingungen qS (0) = −qG sowie q̇S (0) = 0, was ge-
mäß (12.6) zu
Das System der Bewegungsgleichungen
g
qS (t) = −qG cos ω0 t = 2 cos ω0 t Die Austauschprozesse der beiden Speicher mit ihren Zu-
ω0 standsgrößen q1 und q2 ohne Anregung von außen lassen
sich immer durch ein autonomes, homogenes Differenzi-
führt. Die Lösung in der Koordinate q lautet somit: algleichungssystem erster Ordnung der Form
Der Schwinger erreicht in jeder Periode wieder seinen beschreiben. Dieses kann im linearen Fall mit bekannten
ursprünglichen Startpunkt als Umkehrpunkt. Dieses Bei- Methoden der linearen Algebra gelöst werden. Dies soll
spiel hat bereits eine enge Verwandschaft zur Sprungant- am Beispiel des elektrischen Schwingkreises in Abb. 12.7
wort des Schwingers, welche in Abschn. 12.4 gezeigt wird. mit einer Spule der Induktivität L, einem Kondensator
der Kapazität C und einem Widerstand R dargestellt wer-
den: Die Variable q1 ist die Stromstärke I, Zustandsgröße
des magnetischen Energiespeichers Spule. Die Variable
Schwingungen linearer Systeme mit zusätzlicher, kon- q2 ist die Spannung U, Zustandsgröße des Kondensa-
stanter Last tors als Speicher elektrischer Feldenergie. Der Widerstand
wirkt als Energiedissipator. Die linearen Systemgleichun-
Eine konstante Last ändert die Frequenz des gen lauten in Analogie zu (12.22) und (12.23):
Schwingers nicht.
Der Schwinger hat eine Ruhelage, die sich aus der 1
Größe der konstanten Last bestimmt. İ = − (U + RI ), (12.24)
L
Die Schwingung erfolgt um die Ruhelage.
1
U̇ = I, (12.25)
C
12.3 Freie Schwingungen linearer Systeme 285
die als Gleichungssystem in der Form Wird die Abklingkonstante des elektrischen Schwingkrei-
R ses mit 2δ = RL eingeführt und ω0 gemäß (12.26) einge-
Technische Mechanik
İ − L − L1 I setzt, zeigt sich, dass (12.27) völlig identisch mit (12.8)
= 1
U̇ 0 U wird. Der Dämpfungsparameter D = ωδ0 kann an dieser
! "# $ ! C "# $ ! "# $
q̇ A q Stelle ebenfalls analog zum mechanischen Schwinger ein-
geführt werden. In der Elektrotechnik wird jedoch gerne
zusammengefasst werden können. Es handelt sich um die Güte Q = 2D 1
zur dimensionslosen Beschreibung der
ein lineares Differenzialgleichungssystem erster Ordnung Dämpfung eines Schwingkreises verwendet. Die Eigen-
mit dem Zustandsvektor q(t) und der Systemmatrix A. werte als Lösung von (12.27) lauten somit:
Die wechselseitige Kopplung beider Zustandsgrößen ist
durch die Terme mit Kapazität und Induktivität auf der
Nebendiagonale der Matrix A zu erkennen. Der Wider- R R2 1
λ1,2 =− ± − = −δ ± δ2 − ω02 ,
stand taucht nur auf der Hauptdiagonalen auf. 2L 4L2 LC
gebildet. Beide Zeilen der Gleichung beschreiben harmo- was auf die Form
nische Schwingungen für I (t) und U (t), die gegenein-
ander um π2 phasenverschoben sind. Die Konstanten A R 1
Ï + İ + I=0
und B können aus Anfangsbedingungen bestimmt wer- L LC
den. Sind U (0) = U0 und I (0) = I0 gegeben, folgt sofort
I0 gebracht werden kann. Wird hier wie oben erwähnt 2δ =
A = U0 und B = − Cω .
L und ω0 = LC eingeführt, ergibt sich eine Gleichung, die
0 R 2 1
Wird im Schwingkreis der Widerstand R berücksichtigt, mit (12.3) identisch ist. Es kann nun I (t) mit den oben
führt die Bestimmungsgleichung der Eigenwerte det(A − beschriebenen Methoden bestimmt werden. U (t) kann
λE) = 0 auf anschließend durch Zeitintegration von (12.25) ermittelt
werden. Nachteilig bei diesem Verfahren ist die kompli-
R 1 ziertere Berechnung der Integrationskonstanten aus den
λ2 + λ+ = 0. (12.27)
L LC Anfangsbedingungen.
286 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen
Technische Mechanik
σ (t)
0 q̈ + 2δq̇ + ω02 q = kσ(t) (12.30)
0 t
bestimmt werden. Hier lautet der „Ansatz vom Typ der
1
s ∞ Anregung“ qp = K, da die Sprunganregung für alle Zeit-
δ (t) punkte t > 0 eine konstante Funktion mit dem Wert k ist.
Somit lautet die Lösung mit dem partikulären Ansatz für
0 den schwach gedämpften Fall mit D < 1:
0 t
q(t) = e−δt (A cos ωd t + B sin ωd t) + K (12.31)
Abb. 12.9 Sprungfunktion und Dirac-Distribution
mit den zunächst unbekannten Konstanten A, B und K.
Wird der Ansatz in (12.30) eingesetzt, heben sich die ho-
mogenen Anteile in der Gleichung gegenseitig auf, und
Auch Impulse und Sprünge als Anregung für t > 0 verbleibt nur der partikuläre Teil Kω02 = k, wo-
verursachen harmonische Schwingungen mit
k
In diesem Abschnitt sollen die Antworten des Schwin- K=
ω02
gers auf zwei spezielle, unstetige Anregungsereignisse
gesucht werden: Den Anregungssprung und den Impuls,
bestimmt ist; A und B werden mithilfe der Anfangsbedin-
die jeweils zum Zeitpunkt t0 = 0 auf den in Ruhe befind-
gungen q(0) = 0 und q̇(0) = 0 bestimmt. Das System
lichen Schwinger, d. h. q(0) = 0 und q̇(0) = 0, einwirken.
Diese Anregungen sind idealisiert, liefern aber grund- k
q (0 ) = A + = 0,
sätzliche Erkenntnisse über das Verhalten des Schwingers ω02
im Allgemeinen. Deswegen sind sie in der Systemtheorie
q̇(0) = −δA + ωd B = 0
sowie der Regelungstechnik von großer Bedeutung und
werden im Kap. 41 nochmals aufgegriffen. Näherungs- führt auf
weise kann die Sprunganregung z. B. bei einem elektri-
schen Schwingkreis durch das Einschalten einer Versor- k k δ
gungsspannung realisiert werden. Die Impulsanregung A=− und B=− .
ω02 ω02 ωd
beschreibt bei einem mechanischen Schwinger einen idea-
lisierten Hammerschlag auf die Masse. Werden A und B in (12.31) eingesetzt, ergibt sich die
Mathematisch wird die Sprunganregung durch die Sprungantwort des Systems:
Sprungfunktion σ(t) und die Impulsanregung durch die
Dirac-Distribution δ̄(t) repräsentiert (Abb. 12.9). Sie sind k − δt δ
q ( t) = 1 − e cos ω d t + sin ω d t , (12.32)
durch ω02 ωd
6
0, für t < 0 die folgende Eigenschaften besitzt:
σ ( t) = und
1, für t ≥ 0
∞ Die Sprungantwort ist eine abklingende Schwingung
f (t)δ̄(t − t0 )dt = f (t0 ) um die Mittellage q = k/ω02 , die für t → ∞ als Ruhela-
−∞
ge erreicht wird.
Die Lösung ist mit dem Faktor k skaliert: Eine ver-
definiert, wobei besonders zu beachten ist, dass größerte Anregung, hier ein höherer Sprung, führt zu
einer proportional vergrößerten Schwingung.
∞
dσ(t)
= δ̄(t) und somit δ̄(t)dt = 1 (12.29)
dt Die Anregung eines schwingungsfähigen Systems mit ei-
−∞ nem Impuls und die daraus resultierende Impulsantwort
hat eine große Bedeutung in der experimentellen Unter-
gilt.
suchung der Eigenschaften eines Systems auch mit meh-
Achtung In diesem Abschnitt ist die Dirac-Distribution reren Freiheitsgraden (Abschn. 13.1): Durch den Impuls
δ̄(t) sorgfältig von der Abklingkonstanten δ zu unter- werden alle Frequenzen angeregt. Das System antwor-
scheiden! tet in seinen Eigenfrequenzen, die dadurch bestimmt und
288 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen
p −δt
q ( t) = e sin ωd t. (12.34)
mωd
schleunigt wird.
zum Zeitpunkt t0 komprimiert werden (Abb. 12.11). Die Die Berechnung der Systemantwort auf harmonische An-
Impulsänderung des Hammers beträgt unter den ge- regungen ist aus zwei Gründen von besonderer Bedeu-
+ −
machten Annahmen pH = mH (vH − vH ). Auf den Schwin- tung:
ger wirkt aufgrund der Impulserhaltung der Gegenim-
puls p = −pH . Die Impulsantwort auf einen Stoß bei t = 0 1. In der Technik treten oft sinusförmige Anregungen
ist somit die Lösung der Bewegungsgleichung auf, z. B. mechanisch aufgrund von rotierenden Ma-
schinen mit Unwucht oder elektrisch infolge der Ver-
p
q̈ + 2δq̇ + ω02 q = δ̄(t) (12.33) sorgung aus dem Wechselstromnetz.
m 2. Mithilfe der Fourier-Analyse kann jedes beliebige pe-
mit den Anfangsbedingungen q = 0 und q̇ = v = 0 vor riodische oder nicht periodische Anregungssignal in
dem Einwirken des Kraftstoßes. Die Lösung kann durch eine endliche oder unendliche Summe harmonischer
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme 289
Technische Mechanik
wird der Ansatz
m qp = A sin Ωt + B cos Ωt, (12.37)
q(t)
q̇p = AΩ cos Ωt − BΩ sin Ωt,
c d q̈p = −AΩ2 sin Ωt − BΩ2 cos Ωt
nA
−BΩ2 + 2δAΩ + ω02 B = 0,
q̈ + 2δq̇ + ω02 q = ∑ f̂i sin (Ωi t + ϕi ) . (12.35)
die sich als ein lineares Gleichungssystem für A und B in
i=1
der Form
Jede Teilanregung i ist gekennzeichnet durch ihre Anre- 2
ω0 − Ω2 −2δΩ A f̂
gungsfrequenz Ωi , die Anregungsamplitude f̂i sowie die =
2δΩ ω02 − Ω2 B 0
Phasenlage ϕi .
Im Folgenden sollen zunächst Lösungen für typische Ein- umschreiben lassen. Die Lösungen lauten:
zelanregungen mechanischer Schwingungssysteme ge-
sucht werden: ω02 − Ω2
A= f̂ , (12.39)
(ω02 − Ω2 )2 + 4δ2 Ω2
Kraftanregung, 2δΩ
Fußpunkterregung, B=− 2 f̂ . (12.40)
(ω0 − Ω2 )2 + 4δ2 Ω2
Unwuchterregung.
Eingesetzt in den Ansatz (12.37) ergibt sich die partikuläre
Die Kraftanregung wird ausführlich dargestellt, die bei- Lösung
den anderen Anregungsformen können wesentliche Teile
der Ergebnisse übernehmen. Die Ergebnisse aller drei An- (ω02 − Ω2 ) sin Ωt − 2δΩ cos Ωt
qp = f̂ ,
regungsformen sind am Ende des Kapitels in Tab. 12.4 (ω02 − Ω2 )2 + 4δ2 Ω2
nochmals zusammengefasst. √
die mithilfe von q̂p = A2 + B2 und tan ψ = − AB auf die
Form
Bewegungslösung bei Kraftanregung
Bei harmonischer Kraftanregung (Abb. 12.12) wirkt auf qp = q̂p sin(Ωt − ψ) (12.41)
die Masse des Schwingers eine Kraft F(t) = F̂ sin(Ωt + ϕ).
gebracht werden kann, wobei
Nach Division durch m lautet die Bewegungsgleichung:
f̂
F̂ q̂p = , (12.42)
q̈ + 2δq̇ + ω02 q = f̂ sin (Ωt + ϕ) mit f̂ = . (12.36) (ω02 − Ω2 )2 + 4δ2 Ω2
m
2δΩ
Aufgrund der Verschiebungsregel (Tab. 12.2) ist es ausrei- tan ψ = (12.43)
chend, eine Lösung für die Anregung f (t) = f̂ sin Ωt zu ω02 − Ω2
290 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen
0
t
–1 f 1 (t)
q1(t)
f 2 (t) ψ 1 Ω1
q2(t)
gilt. Es wird nun das dimensionslose Frequenzverhältnis der Steifigkeit oder die Nachgiebigkeit, was dem Verhält-
oder das Abstimmungsverhältnis nis Weg pro Kraft entspricht. In Tab. 12.5 sind weitere
Verhältnisse zwischen Anregungen und Antworten zu-
Ω sammengestellt. Der Winkel ψ ist die Phasenverschiebung
η=
ω0 zwischen Anregung und Antwort. Das Amplitudenver-
hältnis (12.47) als Funktion von η wird auch Amplituden-
δ
eingeführt. Damit können unter Verwendung von D = ω0
gang genannt. Gleichung (12.45) wird entsprechend als
die Gleichungen (12.42) und (12.43) in die Form Phasengang bezeichnet. In Abb. 12.13 sind zwei Paare i =
1, 2 von Anregungsfunktion fi (t) und Systemantwort qi (t)
f̂ 1 dargestellt. Werden, wie in Abb. 12.13, die Anregungs-
q̂p = , (12.44) funktion und die Systemantwort verglichen, können sich
ω02 (1 − η 2 )2 + 4D2 η 2 diese in Amplitude und Phase unterscheiden. Die Ver-
2Dη größerungsfunktion und die Phasenverschiebung sind in
tan ψ = (12.45)
1 − η2 Abhängigkeit von Ω in Abb. 12.14 dargestellt. Es wird
grundsätzlich der unterkritische Bereich, in dem die An-
gebracht werden. Der dimensionslose Term regungsfrequenz Ω kleiner ist als die Eigenkreisfrequenz
ω0 bzw. η < 1, vom überkritischen Bereich mit Ω > ω0
1 bzw. η > 1 unterschieden. Für η = 0 ist V1 = 1, nach
V1 (η ) = (12.46)
(1 − η 2 )2 + 4D2 η 2 Überschreiten von η = 1 gilt V1 (η → ∞ ) = 0. Im Grenz-
fall des ungedämpften Schwingers mit δ = 0 vereinfacht
wird Vergrößerungsfunktion Typ 1 genannt. Die Fälle, in de- sich das Übertragungsverhalten zu:
nen in (12.42), (12.43), (12.44) und (12.45) Nenner mit dem
Wert null auftreten, werden im folgenden Abschnitt „Re- 1
V1 (η ) = , (12.48)
sonanz“ untersucht. |1 − η 2 |
6
Damit lässt sich das Amplitudenverhältnis von Anre- 0, für η<1
ψ= . (12.49)
gungs- zu Antwortamplitude in der Form π, für η>1
q̂p 1 q̂p 1 1
= V1 (η ) bzw. = V1 (η ) = V1 (η ) Resonanz
f̂ ω02 F̂ mω02 c
(12.47) Zu beachten ist, dass in (12.42), (12.43), (12.44), (12.45)
und (12.48) Nenner mit dem Wert null oder nahe bei
schreiben. Es ist typischerweise aus einem dimensions- null auftreten können. Dies ist der Fall, wenn ω0 = Ω
losen Anteil, hier V1 , und einem dimensionsbehafteten gilt, und gegebenenfalls noch δ = 0 hinzukommt. Werden
Faktor zusammengesetzt. Dieser Teil ist hier der Kehrwert die Nenner der Amplidudengänge singulär, bedeutet das
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme 291
Technische Mechanik
eines linearen Schwingers. Die D = 0,00
4,5
markierten Punkte entsprechen D = 0,02
den Lösungen in Abb. 12.13. Die 4 D = 0,05
Amplitudenverhältnis
gestrichelte Kurve ist die Lage 3,5 D = 0,10
aller Maxima D = 0,20
3 D = 0,50
2,5 D = 0,71
D = 1,00
2 Max.
1,5
1
1
0,5 2
0
0 0,5 1 1,5 2 2,5
Phasengang ψ (η )
180
2
Grad
90
1
0
0 0,5 1 1,5 2 2,5
Frequenzverhältnis η
Amplitudenverhältnis
3,5 D = 0,10
D = 0,20
3 D = 0,50
2,5 D = 0,71
D = 1,00
2 Max.
1,5
1
0,5
0
0 0,5 1 1,5 2 2,5
Phasengang ψ (η ) – a (η )
Grad 180
90
0
0 0,5 1 1,5 2 2,5
Frequenzverhältnis η
was durch Ausklammern von c zunächst die Form Tab. 12.3 Maxima der Vergrößerungsfunktionen
dm Vmax ηmax V ( η = 1)
FF = q̂p c sin(Ωt − ψ) + Ω cos(Ωt − ψ) √
m c V1 √1 1 − 2D2 1
2D
2D 1−D2
√ √ √
Ω
und durch Zusammenfassen von 2D = d
mω0 und η = ω0 V2 k
2
k −1 1+4D2
2D 2D
die Form 1− k−21 +k−1
4D
V3 √1 √ 1 1
FF = q̂p c [sin(Ωt − ψ) + 2Dη cos(Ωt − ψ)] (12.50) 2D 1 − D2 1−2D2 2D
√
1+4D2
V4 zu kompliziert zu kompliziert 2D
erhält. Es wird nun q̂p mit (12.46) und f̂ gemäß (12.36) er- √
setzt, und es ergibt sich: Bei V2 wurde k = 1 + 8D2 verwendet
grobe Näherung für alle: Vmax = 1
2D für D < 0,1
FF = F̂V1 [sin(Ωt − ψ) + 2Dη cos(Ωt − ψ)] .
Technische Mechanik
Phasenverschiebung eines linea- D = 0,00
4,5
ren Schwingers D = 0,02
4 D = 0,05
Amplitudenverhältnis
3,5 D = 0,10
D = 0,20
3 D = 0,50
2,5 D = 0,71
D = 1,00
2 Max.
1,5
1
0,5
0
0 0,5 1 1,5 2 2,5
Phasengang ψ (η )
Grad 180
90
0
0 0,5 1 1,5 2 2,5
Frequenzverhältnis η
q(t)
Û η2 Û
q̂p = = η 2 V1 (η ) (12.54)
c d
m (1 − η 2 )2 + 4D2 η 2 m
Gerade bei Fahrzeugen und deren Federung ist nicht die Lösung für die vertikale Bewegung des Fahrzeugs
nur das stationäre Verhalten bei einer konstanten Anre- aus homogenem und partikulärem Anteil:
gung entscheidend, sondern auch die unmittelbare Re-
aktion auf eine Fahrbahn-Störung. Hierbei kommt es y(t) = e−δt (A cos ωd t + B sin ωd t)
zu einer Überlagerung von angeregten Eigenschwin- + ûV2 (η ) sin(Ωt − ψ + α).
gungen und erzwungenen Schwingungen, die in der
Summe kurzfristig eine große Amplitude hervorbrin- Zu bestimmen sind nun die Integrationskonstanten
gen können. Die Maximalamplitude ist aber wesentlich A und B aus den Anfangsbedingungen y(0) = 0 und
für die Auslegung der Festigkeit von Komponenten ẏ(0) = 0: Das Fahrzeug soll vertikal in Ruhe und im
und den Komfort des Fahrzeugs. Gleichgewicht sein, bevor es in die Schlechtwegstrecke
einfährt. Um (12.59) und (12.60) anwenden zu können,
Problemanalyse und Strategie: Betrachtet wird die müssen
Fahrt eines Fahrzeugs mit konstanter Geschwindigkeit
v von einer ideal glatten Fahrbahn auf eine Schlecht- yp (0) = ûV2 (η ) sin(−ψ + α) und
wegstrecke, die vereinfachend als Sinuswelle mit kon- ẏp (0) = ûΩV2 (η ) cos(−ψ + α)
stanter Wellenlänge λ angenommen wird. Das Fahr-
zeug wird als linear-viskoelastisch gefedertes Viertel- ausgewertet werden.
fahrzeug modelliert. Das ist ein Einmassenschwinger,
der eine Radaufhängung als Feder sowie ein Viertel Ein beispielhaftes Fahrzeug hat ungedämpft eine typi-
der Fahrzeugmasse enthält. Wenn sich das Fahrzeug sche Aufbau-Eigenfrequenz von f = 1,2 Hz, was einer
mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, verursacht Eigenkreisfrequenz von ω0 = 7,54 rad/s entspricht.
die Fahrbahnwelle eine harmonische Fußpunktanre- Das Fahrzeug hat ein Dämpfungsmaß D = 0,3. Die
gung. Kreisfrequenz des gedämpften Systems beträgt somit
ωd = 7,1925 rad/s. Die Wellenlänge der Fahrbahn soll
λ = 2 m, die Amplitude û = 50 mm und die Fahrge-
Lösung:
schwindigkeit v = 10 m/s betragen. Daraus resultie-
v ren eine Anregungsfrequenz Ω = 31,415 rad/s und ein
v Frequenzverhältnis η = 4,1667.
m
Damit werden die Vergrößerungsfunktion V2 =
y c d
0,1627, die Phasenwinkel ψ = 2,99 rad = 171◦ sowie
u
λ
α = 1,19 rad = 68,2◦ berechnet. Wie im überkritischen
Bereich gewünscht, hat V2 einen Wert deutlich kleiner
x als Eins. Dadurch wird nach dem Ausschwingen die
0
Anregungsamplitude û = 50 mm auf die Aufbauam-
plitude von lediglich ŷ = 8,135 mm reduziert.
Die Schlechtwegstrecke wird durch die Funktion Einschwingen Schlechtwegstrecke
x 20
u(x) = û sin 2π für x ≥ 0 homogene Lösung
λ partikuläre Lösung
15
mit der Amplitude û der Fahrbahnwellen beschrieben. Gesamtbewegung
Aufbaubewegung (mm)
Wird hier der Weg des Fahrzeugs, der sich aus der 10
Fahrgeschwindigkeit x(t) = vt ergibt, eingesetzt, ergibt
sich: 5
v
u (x(t)) = û sin 2π t , 0
λ
was sich als –5
v
u(t) = û sin(Ωt) mit Ω = 2π –10
λ
schreiben lässt. Die Vertikalbewegung des Fahrzeugs –15
soll hier durch die Koordinate y(t) beschrieben wer- 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2 1,4 1,6 1,8 2
den. Unter Verwendung der Daten aus Tab. 12.4 lautet Zeit (s)
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme 295
Die grüne Kurve zeigt yp (t), eine harmonische Schwin- Eigenschwingung des Systems ist. Die Eigenschwin-
gung mit der Kreisfrequenz Ω, die blaue Kurve gung klingt durch Dämpfung immer ab, langfristig
Technische Mechanik
den durch den Übergang angeregten abklingenden verbleibt als stationäre Lösung die partikuläre Lösung.
Anteil yh (t) (A = 7,922 mm, B = 10,552 mm) mit der Bei hochfrequenten und langfristigen Vorgängen ist so-
Kreisfrequenz ωd . Die rote Gesamtlösung erreicht mit häufig die partikuläre Lösung ausreichend.
einmalig eine Maximalamplitude ymax = 18,37 mm Das Viertelfahrzeug ist eine grobe Vereinfachung, die
im Vergleich zum stationären Zustand mit ŷ = hier verwendete Wellenlänge ist geringer als der ty-
8,135 mm. pische Radstand. Das Fahrzeug würde sowohl zu
Vertikal- als auch zu Nickschwingungen angeregt, was
Kommentar Die Aufgabe zeigt, dass ein Einschwing- aber ein Modell mit mindestens zwei Freiheitsgraden
vorgang eine Überlagerung von Systemantwort und erfordert.
90
0
0 0,5 1 1,5 2 2,5
Frequenzverhältnis η
gemäß (12.54) eingesetzt, und es ergibt sich: Dämpfungswerte gegen Unendlich gehen. Wird ein Un-
wuchtschwinger mit extrem „harter“ Dämpfung an das
Û 2 Fundament angebunden, wird die Unwuchtkraft, die mit
FF = η V1 c [sin(Ωt − ψ) + 2Dη cos(Ωt − ψ)] .
m steigender Drehzahl immer weiter steigt, hart auf den
Boden übertragen. Hier zeigt sich, dass eine große Dämp-
Das Amplitudenverhältnis von Unwucht und Kraft lau- fung eines Schwingungssystems einen Nachteil darstellen
tet: kann.
F̂F
= ω02 η 2 V1 1 + 4D2 η 2 ,
Û Bewegungslösung bei Fußpunkterregung
woraus sich die Vergrößerungsfunktion Typ 4 Der fußpunkterregte Schwinger oder auch Schwinger
mit rheonomer Weganregung ist ein technisch wichtiger
η 2 1 + 4D2 η 2 Fall, der vor allem für Schwingungs-Isolationsprobleme
V4 (η ) = η 2
1 + 4D η V1 =
2 2
(1 − η 2 )2 + 4D2 η 2 bei äußeren Anregungen das geeignete Modell ist
(Abb. 12.20). Dieses tritt z. B. in folgenden Situationen auf:
ableiten lässt. Der zugehörige Phasengang ist identisch
mit (12.53). Zusammen mit dem Amplitudengang ist Die schwingungsisolierte Aufstellung von empfindli-
er in Abb. 12.18 dargestellt. Diese Vergrößerungsfunkti- chen Maschinen und Anlagen in rauer Umgebung, z. B.
on beginnt für Ω = 0 mit V4 = 0, kann aber für große auf schwingenden Hallenböden.
296 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen
c d c d
u (t)
Komplexe Übertragungsfunktion G( η )
q̂ q̂ q̂
p
F̂
= 1c V1 (η )e−jψ p
Û
= m V3 ( η )e
1 −jψ p
û = V2 (η )e−jψ
V1 ( η ) = √ 1
(1− η 2 )2 +4D2 η 2
√
1+4D2 η 2
1 + 4D2 η 2 · V1 ( η ) = √
2Dη
V2 ( η ) = tan ψ = 1− η 2
(1− η 2 )2 +4D2 η 2
η2
V3 ( η ) = η 2 · V1 ( η ) = √ tan α = 2Dη
(1− η 2 )2 +4D2 η 2
√
η 2 1+4D2 η 2
V4 ( η ) = η 2 · V2 ( η ) = √
(1− η 2 )2 +4D2 η 2
Technische Mechanik
Jedes harmonische Signal q(t) = q̂ sin(Ωt + ϕ) der imaginäre Achse entspricht, verbleibt von der Rotati-
Kreisfrequenz Ω wird durch seine Amplitude q̂ und on des Zeigers eine harmonische reelle Bewegung q(t)
die Phase ϕ vollständig beschrieben. Diese beiden In- über der Zeit mit der Amplitude q̂ und der Phase ϕ:
formationen lassen sich in einer komplexen Zahl zu-
sammenfassen. Damit lassen sich Anregungssignale q(t) = q̂ sin(Ωt + ϕ) = q̂Im ej(Ωt+ ϕ) = Im q̂ejΩt
und Systemantworten linearer Schwinger einfach dar-
stellen. Diese Gleichung kann grundsätzlich in beide Richtun-
Eine komplexe Zahl lässt sich als Zeiger oder kom- gen ausgewertet werden: Reelle Funktionen können
plexe Amplitude q̂ in der komplexen Ebene darstellen. komplex erweitert werden, um Operationen im Kom-
plexen durchzuführen und werden anschließend wie-
Komplexe Größen werden gemäß DIN 1311 und wie
der zurück in die reelle Welt projiziert (Abb. 12.21).
in der Elektrotechnik üblich (Abschn. 36.3) mit Unter-
strich geschrieben. Die Länge des Zeigers ist der Betrag Für die komplexe Erweiterung einer Kosinus-Funktion
q̂ = q̂ , als Phase ϕ = ∠ q̂ wird der Winkel zur reellen muss zunächst cos x = sin(x + π2 ) angewendet wer-
π π
Achse bezeichnet: den. Aus ej(x+ 2 ) = ejx ej 2 = jejx lässt sich schließen,
dass die komplexe Amplitude einer Kosinus-Funktion
q̂ = q̂ejϕ = q̂(cos ϕ + j sin ϕ). q̂ = jq̂ das Produkt der entsprechenden Amplitude q̂
c s s
einer Sinusfunktion mit der imaginären Einheit ist.
Die komplexe Amplitude enthält somit eine Ampli-
tuden- und eine Phaseninformation. Die Multiplika- Zwei harmonische Signale gleicher Frequenz q(t) =
tion des Zeigers q̂ mit ejα dreht den Zeiger um den q̂ sin(Ωt + ϕq ) und f (t) = f̂ sin(Ωt + ϕf ) lassen sich im
Winkel α weiter. Die komplexe Funktion q(t) = q̂ejΩt Komplexen leicht durch die Multiplikation mit einer
beschreibt somit einen konstant mit der Winkelge- komplexen Konstanten G in Beziehung setzen: Es gilt
schwindigkeit Ω rotierenden Zeiger. Wird unter Aus- q(t) = Gf (t) und somit auch q̂ = Gf̂ . Der Betrag |G|
nutzung von ejx = cos x + j sin x nur der Imaginärteil skaliert die Amplitude q̂ = |G| f̂ und der Winkel ϕG =
q(t) = Im(q(t)) betrachtet, was einer Projektion auf die ∠G beschreibt die Phasenverschiebung ϕq = ϕf + ϕG .
q φF
f
Ωt1 φ q
Ωt1 φq
φF
Re 2 t
q·e jΩt1 φq Ω
f · e jΩt1
gilt. Die Antwortamplitude q̂p ergibt sich aus (12.44) zu regung zeigt im Weg-Amplituden-Verhältnis q̂p /û ein
identisches Verhalten zum Kraft-Amplituden-Verhältnis
1 + 4D2 η 2 F̂F /F̂ des krafterregten Schwingers: Im Bereich der Re-
q̂p = û = ûV2 (η ), sonanz führt die Dämpfung zu einer Verminderung
(1 − η 2 )2 + 4D2 η 2
des Amplituden-Verhältnisses,
√ im überkritischen Bereich
was auf die Vergrößerungsfunktion Typ 2 führt. Der ab η > 2 erhöht die Dämpfung die Anwortamplitu-
Phasengang ist identisch mit (12.53). Die Fußpunkter- de.
298 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen
Anregung
Gerade beim Rad-Fahrbahn-Kontakt ist die Kraft zwi-
Technische Mechanik
Übertragung
q
= |G(Ω )|
net ist. Die Relativauslenkung qr (t) zwischen Masse und f
q = G(Ω ) f
Anregung ergibt sich zu: q = |G(Ω )| e–jψf
ψ = – G((Ω )
qr (t) = qp (t) − u(t) = −ûV3 (η ) sin(Ωt − ψ).
Antwort
q(t) = q sin(Ω t – ψ ) q (t) = q e j Ω t
Daraus folgt für die Bodenkraft (Zwangskraft):
FF = cqr (t) + dq̇r (t), Abb. 12.21 Ablauf der Bildung einer reellen Systemantwort q (t ) durch
Übertragung der Anregung f (t ) in den Raum der komplexen Zahlen, und Rück-
was sich zu übertragung der gefundenen Antwort
Diese Gleichungen sind identisch mit (12.42) und (12.43), schwingenden Systemen, wie bei gefederten Fahrzeug-
wobei das negative Vorzeichen der Phase daher kommt, aufbauten, verwendet wird.
Technische Mechanik
dass die Phasenverschiebung ψ in (12.41) negativ defi-
niert ist: Eine Systemantwort muss ihrer Anregung immer Die Schwinggeschwindigkeit und -beschleunigung eines
nacheilen. Im komplexen Zeigerdiagramm (Abb. 12.19) ist harmonischen Signals ergeben sich aus der Multiplikation
deshalb der Antwortzeiger q̂ immer mathematisch nega- mit Ω sowie einer Phasenverschiebung
tiv gegenüber dem Anregungszeiger f̂ gedreht.
q(t) = q̂ sin(Ωt − ψ),
π
Komplexe Übertragungsfunktion q̇(t) = q̂Ω cos(Ωt − ψ) = q̂Ω sin Ωt − ψ + ,
2
Die komplexe Übertragungsfunktion q̈(t) = −q̂Ω2 sin(Ωt − ψ) = q̂Ω2 sin(Ωt − ψ + π ).
Ω v̂ q̂ v̂ q̂
Durch Einführung von η = ω0 kann die Übertragungs- =Ω oder komplex = jΩ
funktion als F̂ F̂ F̂ F̂
Tab. 12.5 Bezeichnung von von/zu Kraft als Antwort Kraft als Anregung
Übertragungsfunktionen gemäß Schwingweg dynamische Steifigkeit dynamische Nachgiebigkeit, Rezeptanz
Technische Mechanik
DIN 1311
Schwinggeschwindigkeit mechanische Impedanz Admittanz, Mobilität
Schwingbeschleunigung dynamische Masse dynamische Trägheit, Akzeleranz
Kraft Quellenisolation
nA
Abb. 12.22 Diskretes Spektrum eines Rechtecksignals mit der Grundkreisfre-
q̈ + 2δq̇ + ω02 q = ∑ fi (t) quenz Ω. Dargestellt sind die ersten drei Harmonischen
i=1
nA ∞
4F̂ V1 (ηi )
qp ( t ) = ∑ qpi (t). qp ( t ) = ∑ sin(iΩt − ψi ).
i=1 cπ i=1,3,...
i
Die Möglichkeit, bei linearen Systemen die Gesamtlösung
für eine Summe von Anregungen aus der Summe der
Teillösungen für jede Anregung zu bilden, wird als Su- Es ist auch bei der Addition vieler partikulärer Teillösun-
perpositionsprinzip bezeichnet (Tab. 12.2). gen zu beachten, dass die Gesamtlösung
nA
Beispiel Ein Schwinger mit der Eigenkreisfrequenz ω0
und dem Dämpfungsmaß D soll durch ein symmetrisches q(t) = e−δt (A cos ωd t + B sin ωd t) + ∑ qpi (t)
i=1
rechteckförmiges Kraftsignal mit der Grundfrequenz Ω
und der Amplitude F̂ angeregt werden. Die Fourier-Reihe
aus der Lösung der homogenen Differenzialgleichung
dieses Signals lautet:
und einem partikulären Teil zusammengesetzt ist. Häu-
fig treten in der Praxis Einschwingvorgänge auf, bei denen
4F̂ 1 1
F ( t) = sin Ωt + sin 3Ωt + sin 5Ωt + . . . . ein Schwinger zum Zeitpunkt t = 0 in Ruhe ist (q(0) = 0,
π 3 5 q̇(0) = 0) und ab diesem Moment die Anregung einsetzt.
(12.58) Dabei darf die homogene Lösung nicht vernachlässigt
werden. Die Bestimmungsgleichungen für die Integrati-
Die Anregungsamplituden lassen sich daraus zu onskonstanten der homogenen Lösung lauten in diesem
6 Fall analog zu (12.17):
4F̂
f̂i = mπi , für i ungerade
0, für i gerade nA
A = − ∑ qpi (0), (12.59)
ablesen, zudem gilt die Phase ϕi = 0 für alle Summanden i=1
der Reihe (siehe Abb. 12.22). Für den Aufbau der Lösung 1 nA
wobei qpi (0) und q̇pi (0) die Lagen bzw. Geschwindigkei-
f̂i 2Dηi
qpi = V1 (ηi ) sowie ψi = arctan . ten der Anteile der partikulären Lösung zum Zeitpunkt
ω02 1 − ηi2 t = 0 darstellen.
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme 301
Technische Mechanik
Ein empfindliches Steuergerät, ein Messsystem oder Gerät
eine Präzisionswaage ist in einer vibrierenden Umge-
bung so zu montieren oder aufzustellen, dass die Um- m
gebungsschwingungen möglichst wenig darauf ein- q(t)
wirken. Naheliegend ist es, das zu isolierende Gerät
mit einer Feder-Dämpfer-Kombination nur indirekt an c d
die Umgebung zu koppeln. Zusammen mit der Eigen-
masse des Geräts stellt dieses System einen fußpunkt-
erregten Einmassenschwinger dar. Maschine
u(t)
Lösung: Als Beispiel für eine derartige Auslegung soll Somit ergeben sich bei der Auslegung der Aufhängung
ein kleines Steuergerät der Masse m = 1 kg betrach- drei zu erfüllende Kriterien:
tet werden, das an einem Verbrennungsmotor mon-
1. Der Wert der Vergrößerungsfunktion im Dauer-
tiert werden soll. Das Gerät ist empfindlich gegen
betriebspunkt muss so klein sein, dass die dabei
Lasten durch Schwingungen. In der Spezifikation des
auftretende Amplitude kleiner oder gleich der zu-
Geräts ist eine maximale Beschleunigungsamplitude
lässigen Amplitude ist.
âGmax,d = 5 m/s2 im Dauerbetrieb sowie kurzfristig 2. Die Dämpfung muss so gewählt werden, dass beim
âGmax,k = 30 m/s2 angegeben. Durchfahren der Resonanz keine unzulässig große
Amplitude entsteht.
Der Motor läuft im Dauerbetrieb mit einer stationären 3. Die statische Auslenkung des Geräts in der wei-
Drehzahl, die an der Montagestelle des Geräts ei- chen Aufhängung darf nicht zu groß sein, trotz
ne Schwingungsanregung von âM = 10 m/s2 bei fd = Schwingungsisolation muss das Gerät mechanisch
20 Hz verursacht. Bei gelegentlichem Start und Stopp festgehalten werden.
des Motors wird der Drehzahlbereich vom Stillstand
bis zur stationären Betriebsdrehzahl durchlaufen. Da-
Der dritte Punkt soll erst am Ende der Berechnung be-
bei soll vereinfachend angenommen werden, dass die
rücksichtigt werden. Die beiden Forderungen 1. und 2.
Anregungsamplitude ebenfalls konstant âM = 10 m/s2 führen im Grenzfall jeweils zu folgenden Gleichungen:
im Bereich von 0 Hz bis 20 Hz beträgt.
âGmax,d 1 2πfd
Der Vergleich der zulässigen Beschleunigungsampli- V2 (η ) = = mit η= , (12.61)
tude âGmax,d des Geräts mit der Anregungsamplitude âM 2 ω0
des Motors âM zeigt sofort, dass das Gerät nicht di- âGmax,k
V2max = =3 (12.62)
rekt auf dem Motor montiert werden kann. Es ist eine âM
Schwingungsisolation durch eine elastische Montage,
z. B. mit Gummielementen erforderlich. Diese soll mit Aus diesen beiden Gleichungen sollen im ersten Schritt
einem Ersatzmodell ausgelegt werden, d. h., es sollen D und η bestimmt werden, die dann weiter über ω0
die erforderliche Steifigkeit c und die Dämpfung d be- schließlich in die konkreten Werte von c und d umge-
stimmt werden. rechnet werden können.
302 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen
Zweckmäßig wird mit (12.62) begonnen, da aus Anregungsfrequenz (Hz) für ω0 = 69,216 rad/s
Tab. 12.3 abgelesen werden kann, dass V2max unab- 0 5 10 15 20 25
hängig von η ist. Sie stellt aber eine sehr komplizierte Vmax = 3, h max = 0,971
Formel dar, die nach D aufgelöst werden müsste. Hier 3 30
empfiehlt sich eine numerische Lösung, z. B. durch
2,5 25
5 0,5 5
Vbetr = 0,5, η betr = 1,816
4,5
0 0
4 0 0,5 1 1,5 2 2,5
η = Ω /ω0
3,5
V2,max
3
2,5 Die Vergrößerungsfunktion für das berechnete D ist
2
hier dargestellt. Die schwarzen Achsen skalieren V2 di-
mensionslos über η. Die roten Achsen stellen V2 über
1,5 der tatsächlichen Anregungsfrequenz Ω dar und zei-
1
D = 0,179 gen die sich ergebende Antwortamplitude âG für âM =
0,1 0,2 0,3 0,4 10 m/s2 . Die schwarz markierten Punkte sind die bei-
D
den Auslegungspunkte aus der Aufgabenstellung.
Mit der Kenntnis von D und η können alle weiteren
Mit einer Genauigkeit von drei Stellen kann D = 0,179 Größen berechnet werden:
abgelesen werden, damit wird ηmax = 0,971 berechnet.
2πfd
Eigenkreisfrequenz: ω0 = η = 69,215 rad/s,
Die Verwendung der Näherungsformel aus Tab. 12.3
liefert D = 0,16̄ und liegt somit außerhalb ihres Gültig- Eigenfrequenz: f0 = ω0
= 11,013 Hz,
2π
keitsbereichs. Alternativ kann vernachlässigt werden,
dass das Maximum von V für D = 0 nicht genau bei Resonanzfrequenz: fmax = f0 ηmax = 10,696 Hz,
η = 1 liegt, sodass als Näherung
√ Resonanzkreisfrequenz:
1 + 4D2 Ωmax = ω0 ηmax = 67,207 rad/s
V2max ≈ V2 (1) = =3
2D Aufhängungs-Steifigkeit: c = ω02 m = 4791 N/m,
verwendet werden, was sich zu
Aufhängungs-Dämpfung: d = 2Dω0 m = 24,829 Ns/m,
1 1
D =
2
und damit D = √ ≈ 0, 177 Damit kann nun die Aufhängung konstruktiv ausge-
4 ( 32 − 1 ) 32
legt werden. Für den Raumbedarf des Geräts mit seiner
auswerten lässt, was sehr nahe an der exakten Lösung Aufhängung müssen die Lageänderungen in verschie-
D = 0,179 liegt. Diese Näherung bietet sich vor allem denen Betriebszuständen berechnet werden:
bei Problemen an, die eine Umformung von V4 erfor- mg
dern. statische Auslenkung: x0 = c = 2,05 mm,
Wird (12.61) nach η aufgelöst, ergibt sich eine quadra- Resonanzamplitude: q̂max =
âGmax,k
= 6,6418 mm,
Ω2max
tische Gleichung für η 2 :
âGmax,d
η 4 − (12D2 + 2)η 2 − 3 = 0 Daueramplitude: q̂d = (2πfd )2
= 0,317 mm.
die auf die Lösungen Die Daueramplitude ist unkritisch. Als Freiraum für
das Gerät muss, damit beim Resonanzdurchlauf kei-
2
η1,2 = 6D2 + 1 ± (6D2 + 1)2 + 3 ne Kollisionen stattfinden, q̂max − q0 nach oben und
q̂max + q0 nach unten vorgesehen werden. Auch die
führt. Wird hier D = 0,179 eingesetzt, verbleibt als ein- verwendeten Federn und Dämpfer müssen diese Aus-
zige sinnvolle Lösung η = 1,816. lenkungen schadlos überstehen.
12.4 Erzwungene Schwingungen linearer Systeme 303
Kommentar Das Beispiel zeigt die erfolgreiche Ab- Mit geeigneter Dämpfung kann die Resonanzspitze
stimmung einer Aufhängung eines Geräts in schwin- begrenzt werden. Eine höhere Dämpfung verschiebt
Technische Mechanik
gender Umgebung. Die Daueramplitude des Geräts ist allerdings auch den Isolationsbereich zu höheren Fre-
geringer als die Anregungsamplitude. Dieser Isolati- quenzen, was wiederum eine weichere Lagerung erfor-
onseffekt entsteht durch die sogenannte überkritische dert.
oder weiche Aufhängung: Die Resonanzfrequenz des
Geräts in seiner Aufhängung muss tiefer sein als die Unrealistisch vereinfachend an diesem Beispiel ist die
typische Anregungsfrequenz, was i. d. R. durch eine Annahme einer konstanten Anregungsamplitude über
weiche Federung erreicht wird. Nachteilig an die- den gesamten Frequenzbereich. Ein Motor als schwin-
sem Konzept ist, dass die Resonanzfrequenz des Sys- gendes System ist selbst elastisch gelagert und wird ei-
tems unterhalb der Betriebsfrequenz liegt: Ändert sich ne drehzahlabhängige Anregungskurve durchfahren.
die Anregungsfrequenz der Umgebung, z. B. durch Dann wäre allerdings die hier vorgestellte halbanaly-
Hochlauf einer Maschine, welche die Schwingungen tische Lösung unter direkter Verwendung von V2 nicht
verursacht, kann die Resonanz durchlaufen werden. möglich.
a x x
Anfangsbedingungen bei Einschwingvorgängen x1 x1
Wird ein Schwinger zu einem Zeitpunkt t mit ei- t
ner neuen Anregung beaufschlagt, die nicht zum
momentanen Schwingungszustand des Schwingers ω
Ω
passt, werden immer auch Eigenschwingungen, die
b x x
durch die homogene Lösung beschrieben werden,
angeregt. Die Integrationskonstanten, welche die
homogene Lösung skalieren, können mit (12.59) und
t
(12.60) bestimmt werden.
Ω 2Ω 3Ω ω
c x x
f, x V( η )
Verstärkung x > f
Technische Mechanik
LF
Pegel (dB)
Anregung f
Übertragungsf. lg η
Antwort x V1 (η )
Lq
Abschwächung x < f
1
1
2
Technische Mechanik
Gmax
Die Idee des Verfahrens ist, dass die Lösung des Schwin-
gungssystems auf einen Impuls zum beliebigem Zeit-
punkt t0 der zeitverschobenen Impulsantwort (12.34)
k −δ (t−t0)
Gmax qimp (t) = e sin ωd (t − t0 ) für t > t0
ωd
2
∆f entspricht. Jede Anregung f (t) kann nun aus einer Sum-
me von unendlich vielen skalierten Einheitsimpulsen
t
f ( t) = f (t̄)δ̄(t − t̄)dt̄
fRes f (Hz)
0
Abb. 12.26 Amplitudengang eines Schwingungssystems. Die Resonanzfre- zusammengesetzt betrachtet werden. Mit dem Superpo-
quenz fRes liegt beim Maximum der Funktion. Die Halbwertsbreite der Reso- sitionsprinzip führt das Integral über alle Teillösungen
nanzspitze ist Δf qimp (t − t̄) zu:
t
q ( t) = f (t̄)qimp (t − t̄)dt̄.
angeregt, die gleichzeitig oder nacheinander einen breiten
Frequenzbereich abdeckt. Geeignet ist z. B. ein sogenann- 0
ter Sweep, ein harmonisches Signal, dessen Frequenz Frage 12.7
langsam gesteigert wird. Berechnen Sie die Sprungantwort des ungedämpften
Ebenfalls zu messen ist die Systemantwort, die wie die Schwingers durch Anwendung des Duhamel-Prinzips.
Anregung in ein Spektrum verwandelt wird. Aus dem Da nur für Zeiten t > 0 gerechnet wird, können Sie
Verhältnis der Werte der Spektren bei jeder Frequenz er- f (t) = 1 setzen.
gibt sich der experimentell bestimmte Amplitudengang
|G|, der für diese Auswertung linear über der Frequenz
in Hz aufgetragen wird (Abb. 12.26). Lineare Schwingungen
ωRes
Die Resonanzfrequenz fRes = des Systems liegt an
2π
Der lineare Schwinger kann eine freie Schwin-
der Stelle des Maximums von |G|. Die Dämpfung kann, gung in seiner Eigenkreisfrequenz ωd ausführen.
wenn diese gering ist und somit ωRes ≈ ω0 gilt, mit Diese wird entweder durch ein einmaliges Ereig-
der sogenannten Halbwertsbreite der Resonanzspitze be- nis, wie z. B. einen Stoß, oder durch Anfangsbe-
stimmt werden. In Abb. 12.26 ist Δf eingezeichnet: Die dingungen ausgelöst und klingt beim gedämpf-
Breite der Resonanzspitze bei der Höhe Maximalamplitu- ten Schwinger exponentiell ab.
de skaliert mit √1 . Das dimensionslose Dämpfungsmaß Wird ein Schwinger von außen harmonisch mit
2 der Frequenz Ω angeregt, antwortet er mit einer
kann daraus zu
erzwungenen Schwingung in eben dieser Fre-
Δf quenz Ω. Es stellt sich eine stationäre Amplitude
D=
2fRes und eine Phasenverschiebung zur Anregung ein.
Ein Schwinger führt bei mehreren, gleichzeitig
bestimmt werden.
wirkenden, äußeren harmonischen Anregungen
auch parallel mehrere erzwungene Schwingun-
Hinweis: Der Begriff Halbwertsbreite stammt aus der Ana- gen überlagert aus. Die einzelnen Bewegungen
lyse von quadrierten Übertragungsfunktionen. In diesem beeinflussen sich gegenseitig nicht.
Ĝ2max Da sich jede Anregung mit einer Fourier-
Fall kann Δf tatsächlich bei 2 abgelesen werden.
Entwicklung in eine Summe von harmonischen
Signalen zerlegen lässt, kann aus der Überlage-
rung der einzelnen Systemantworten auch die
Das Duhamel’sche Integral liefert direkt
gesamte Systemantwort auf ein beliebiges Anre-
analytische Lösungen im Zeitbereich gungssignal berechnet werden.
Allgemein kann sich die Bewegung eines Schwin-
Lösungen von Schwingungssystemen für beliebige An- gers aus einer freien Schwingung sowie einer
regungen können auch durch Anwendung des Duha- Summe von beliebig vielen Systemantworten zu-
mel’schen Prinzips gewonnen werden. Da es auf ein Fal- sammensetzen.
tungsintegral führt, können Lösungen für einfache Fäl-
306 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen
degressiv
gestuft
Nichtlineare Systeme treten in der Praxis häufig auf. Die
Betrachtung der linearen Systeme in den vorangegange-
nen Abschnitten ist in der Regel nur durch vereinfachen-
de Annahmen zu rechtfertigen. Bereits das mathemati-
sche Pendel hat für große Auslenkungen die nichtlineare
g
Bewegungsgleichung ϕ̈ + L sin ϕ = 0.
Allerdings sind für die allgemeine Berechnung nicht-
linearer Schwingungen Methoden erforderlich, die den
Rahmen dieses Buches sprengen würden. Deshalb sollen
nichtlineare Schwingungsphänomene an drei einfachen
Beispielen gezeigt werden, die letztlich durch Anwen-
dung bereits eingeführter Methoden gelöst werden kön- q
nen.
Abb. 12.27 Verschiedene Federkennlinien
dF(q) Abb. 12.28 Leerer und beladener Lkw und zugehöriger Federweg und Feder-
FF (q) = F(q0 ) + ( q − q0 ) + . . . kraft auf der Kennlinie. Die Auslenkungen ql und qv bezeichnen jeweils die
dq q0 statischen Ruhelagen auf der Federkennlinie für den leeren und den beladenen
Zustand. g bezeichnet die Erdbeschleunigung
wird nach dem ersten Glied abgebrochen, und der Aus-
druck Um ω0 konstant zu halten, wird ausgenutzt, dass die
Ruhelage auf der Federkennlinie von der statischen Ge-
dF(q)
c= wichtskraft und damit der zugeladenen Masse m des
dq q0 Fahrzeugs abhängt. Es muss nun die Kennline so gestaltet
werden, dass die Steigung an jedem Gleichgewichtspunkt
ist die Steigung der Kennlinie und damit die lineare Er- proportional zur Gesamtmasse des Fahrzeugs ist. Damit
satzsteifigkeit für kleine Auslenkungen in der Nähe von bleibt das Verhältnis aus Masse und Steifigkeit konstant
q0 . Gilt zudem F(q0 ) = 0, ist q0 ein Gleichgewichtspunkt. gleich ω02 . Es gilt:
Für kleine Schwingungen um q0 ist das System wieder
linear und kann durch die neue Koordinate qS = q − q0 dF(q)
F = (mF + m)g sowie c = ,
beschrieben werden. dq q
12.5 Schwingungen nichtlinearer Systeme 307
Technische Mechanik
ω2 c
dF
= 0F (12.64) m
dq g Reibung
mq̈ + cq = FR ,
Nichtlineare Kennlinien von Federn
die mit (12.65) in Form von zwei Teilgleichungen
Nichtlineare Federkennlinien treten in der Praxis oft
auf. Führt ein System jedoch nur kleine Schwing- FN
bewegungen um einen Betriebspunkt aus, kann es q̈ + ω02 q = − μ, für q̇ > 0,
m
linearisiert werden. Die Ersatzsteifigkeit ist die Stei- FN
gung der Federkennlinie am Betriebspunkt. q̈ + ω02 q = μ, für q̇ < 0 (12.66)
m
geschrieben werden kann. Beide Teilgleichungen sind li-
Frage 12.8 near und entsprechen in ihrer Struktur jeweils (12.20) im
Die nichtlineare Bewegungsgleichung eines mathemati- Abschn. 12.3, wobei hier K = ∓ FmN μ gilt.
g
schen Pendels im Schwerefeld lautet ϕ̈ + l sin ϕ = 0. Li- Somit kann die Lösung nach folgendem Schema ab-
nearisieren Sie die Bewegungsgleichung um die Gleichge- schnittsweise aufgebaut werden: Bewegungsabschnitte
wichtslagen ϕ0 = 0 und ϕ0 = π. Welche Aussagen lassen mit negativer Schwinggeschwindigkeit sind Bewegun-
sich für beide Lagen treffen? gen um die Mittellage qG = ωF2Nm μ = FcN μ, Abschnitte mit
0
308 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen
q cq1 < −mgμ gilt, d. h. die Federkraft größer als die Reib-
Abschnitt 1 Abschnitt 2 kraft ist. Ist das der Fall, lautet die Lösung:
Technische Mechanik
q0 q<0 q>0
2μ F q(t) = − qG + A cos ω0 t + B sin ω0 t,
Steigung – ω mN
q2 0 q̇(t) = − Aω0 sin ω0 t + Bω0 cos ω0 t,
qG
–qG
die angepasst an die Anfangsbedingungen
π 2π 3π 4π ω0 t
q(t) = − qG − (q1 + qG ) cos ω0 t,
Haftzone
q1 q̇(t) = (q1 + qG ) ω0 sin ω0 t
F resultierende
Federkennlinie
Technische Mechanik
Spiel
Eingriffsrichtung 1
c2
Eingriffsrichtung 2
1
s1 s2 x
Spiel
c1
Abb. 12.33 Federkennlinien der Einzelfedern links und rechts sowie resultie-
Abb. 12.31 Stirnradpaar mit den beiden möglichen Eingriffsgeraden. Die last- rende geknickte Kennlinie
freie Richtung hat Spiel
v0 + 2ω0
ks
0 und q̇(t = 0) = v0 betrachtet werden. Zu Beginn befin- k = 1,3,. . .
tk+1 = ,
det sich der Körper folglich im Bereich −s ≤ q ≤ s, sodass (k − 1 )s
+ 2ω0 k = 2,4,. . .
kπ
v0
sich die Konstanten zu A1 = v0 und B1 = 0 ergeben. Nach k− 1
Zurücklegen des Weges x(t2 ) = s erfolgt der Übergang in (−1) 2 v0 k = 1,3,. . .
Ak =
den Abschnitt x > s. Die Einarbeitung der daraus resul- − ωv00 sin(k − 1) ωv00s k = 2, 4, . . .
tierenden Übergangszeit t2 = s/v0 in q(t) und q̇(t) führt
auf das Gleichungssystem: und
k− 1
−(−1) 2 (s + v0 tk ) k = 3, 5, . . .
Bk = ω0 s .
A2 cos ω0 t2 + B2 sin ω0 t2 + s = s, v0
ω0 cos(k − 1) v0 k = 2, 4, . . .
Wird dieses Vorgehen unter Nutzung der getroffenen Ver- Weiterführende Literatur
einfachungen fortgesetzt, lassen sich die Übergangszeiten Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils
zum nächsten Bereich tk+1 und die Konstanten in allge- Technische Mechanik befindet sich am Ende von Kap. 9.
Ω
Anwort 12.1 Die Periode beträgt T = 2π . Für das Integral (12.19) kann für die Lösung der Sprungantwort anstelle
über eine Periodenlänge der quadrierten Sinusfunktion von (12.31)
T +t π
gilt t (A sin Ωτ )2 dτ = A2 Ω . Wird dies in (12.1) ein-
q(t) = e−δt (A cosh ωD t + B sinh ωD t) + K
Ω 2π
gesetzt, ergibt sich qeff = 2π A Ω = √A .
2
Bei der üblichen Wechselstrom-Netzspannung von U = angesetzt werden. Da auch die Bestimmung der Inte-
230 V beträgt der Effektivwert√230 V. Die Amplitude der grationskonstanten A und B für den schwach und stark
Spannung beträgt somit Û = 2 · 230 V ≈ 325 V. gedämpften Fall identisch ist, können
k k k δ
Anwort 12.2 Wird in Ekin = 12 mω02 A2 für die Eigenkreis- K= , A=− und B = −
ω02 ω02 ω02 ωD
frequenz ω02 = mc eingesetzt, ergibt sich Ekin = 12 m mc A2 ,
was unmittelbar auf Ekin = 12 cA2 = Epot führt. von der Lösung des schwach gedämpften Falls übernom-
men werden. Damit ergibt sich die Sprungantwort:
Anwort 12.3 Für die Veränderung der Amplitude ist der
Term e−δt verantwortlich. Für die Halbierung der Ampli- k − δt δ
q ( t) = 2 1 − e cosh ωD t + sinh ωD t .
tude muss somit e−δT = 12 gelten. Diese Gleichung lässt ω0 ωD
sich durch bilden des natürlichen Logarithmus auf beiden
Seiten in −δT = − ln 2 und schließlich T = lnδ 2 umfor- Die Impulsantwort ist auch hier die Zeitableitung der
p
men. Sprungantwort, wobei noch k = m gesetzt werden muss
und lautet:
Anwort 12.4 Mithilfe der Ähnlichkeit der Lösungen für p −δt
den schwach bzw. stark gedämpften Fall in (12.15) bzw. q ( t) = e sinh(ωD t).
mωD
Antworten zu den Verständnisfragen 311
√
Anwort 12.5 Für V1 gilt Ωmax = ω0 1√− 2D2 . Der Term Setzt man die Linearisierungspunkte ein, erhält man:
unter der Wurzel hat für Werte D > 1/ 2 keine reelle Lö-
√
Technische Mechanik
sung mehr. Vergrößerungsfunktionen V1 mit D > 1/ 2 ϕ0 = 0 : sin ϕ̃ ≈ ϕ̃ und
haben ihr Maximum bei η = 0. ϕ0 = π : sin ϕ̃ ≈ − ϕ̃.
Anwort 12.6 Unter Verwendung von (12.48) und (12.49) Für die Bewegungsgleichungen in den Gleichgewichtsla-
gilt: g
gen mit ω02 = l gilt dann:
1
G( η ) = . ϕ0 = 0 : ϕ̃¨ + ω02 ϕ̃ = 0 bzw.
ω02 (1 − η 2 )
ϕ0 = π : ϕ̃¨ − ω02 ϕ̃ = 0.
Anwort 12.7 Im ungedämpften Fall lautet die Impulsant- Die für die Gleichgewichtslage ϕ0 = 0 gültige Gleichung
wort qimp (t) = ωk0 sin ω0 t. Für f (t) = 1 lautet damit das entspricht in ihrer Gestalt einer Schwingungsdifferenzial-
Faltungsintegral (12.4): gleichung. Dies trifft für ϕ0 = π aufgrund des negativen
Vorzeichens vor dem Term ω02 nicht zu. Die homogenen
t Lösungen lauten für beide Fälle:
k
q ( t) = 1· sin ω0 (t − t̄)dt̄.
ω0 ϕ0 = 0 : ϕ̃(t) = A · cos(ω0 t) + B · sin(ω0 t) bzw.
0
ϕ0 = π : ϕ̃(t) = A · cosh(ω0 t) + B · sinh(ω0 t).
Die Integration wird ausgeführt, und es ergibt sich
Es ist zu erkennen, dass das Pendel um ϕ0 = 0 (hängend)
ω0
k
t
k mit der Frequenz f0 = 2π schwingt. Die Bewegung um
q ( t) = cos ω0 (t − t̄) = (1 − cos ω0 t) die Ruhelage ϕ0 = π (stehend) ist instabil, die Amplitu-
ω02 ω02 de wächst durch die hyperbolischen Funktionen schnell
0
an. Dabei wird auch der zulässige Bereich einer Lineari-
als Sprungantwort. sierung verlassen. Das Pendel kippt.
Anwort 12.8 Die Linearisierung des nichtlinearen Terms Anwort 12.9 Das prinzipielle Bewegungsverhalten und
sin ϕ liefert mit ϕ̃ = ϕ − ϕ0 : die Abklingrate ändern sich nicht. Lediglich die Haftzo-
ne um die Nullage wird breiter. Ihre Grenzen liegen bei
d(sin ϕ) qhaft = ± ωF2Nm μ0 . Die Schwingung kann also früher zur
sin ϕ̃ ≈ sin ϕ0 + · ϕ̃ = sin ϕ0 + cos ϕ0 · ϕ̃. 0
dϕ ϕ0 Ruhe kommen.
312 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen
Aufgaben
Technische Mechanik
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
12.1 • An einer am oberen Ende fest eingespann- und bringen Sie die Gesamtgleichung wieder auf die
ten Feder mit der Federkonstanten c hängt eine Masse Form m∗ ϕ̈ + c∗ ϕ = 0.
m im Schwerefeld mit der Gravitationskonstanten g =
9,81 m/s2 . Resultat:
g c g
a) ω0 = b) ω0 = +
l 4m l
c 2c g 2c g
c) ω0 = + d) ω0 = +
g m l 9m l
m
12.3 •• Ein Torsionsschwinger besteht aus einer ein-
seitig fest eingespannten Welle mit dem Durchmesser
Die statische Verlängerung der Feder unter dem Einfluss D = 30 mm und der Länge l = 500 mm aus Stahl mit
der Gewichtskraft beträgt qst = 8 mm. Bestimmen Sie die dem Schubmodul G = 70 GPa. Am freien Ende der Wel-
Eigenkreisfrequenz des Schwingers. le befindet sich eine Stahlscheibe, Dichte ρ = 7800 kg/m3 ,
mit dem Durchmesser DS = 400 mm und der Dicke d =
Hinweis: Betrachten Sie das statische Gleichgewicht zwi- 60 mm. Wie groß ist die Eigenkreisfrequenz dieses Torsi-
schen Federkraft und Gewichtskraft. onsschwingers?
g
Resultat: ω0 = qst
Hinweis: Die Torsionssteifigkeit cT = MϕT wird in Ab-
schn. 5.4 vorgestellt. Beachten Sie bei der Berechnung die
12.2 • Auf ein mathematisches Pendel mit der Mas- unterschiedlichen Angaben in SI-Einheiten bzw. in mm.
se m und der Länge l wirkt die Erdbeschleunigung g. Für
kleine Auslenkungen ϕ lautet die Bewegungsgleichung Resultat: Die Eigenkreisfrequenz beträgt ω0 = 97,29 rad/s.
aus dem Drehimpulssatz ml2 ϕ̈ + mglϕ = 0. Zwischen der
Pendelstange und der Umgebung werden in verschiede-
nen Konfigurationen Federn der Steifigkeit c angebracht. 12.4 • Ein ungedämpftes Feder-Masse-System wird
Berechnen Sie die Eigenkreisfrequenzen ω0 der Konfigu- durch eine harmonische Kraft erregt. Bei der Erregerkreis-
rationen. frequenz Ω1 = 10 rad/s tritt Resonanz auf. Wird auf dem
Körper eine Zusatzmasse Δm = 2 kg befestigt und der
Hinweis: Berechnen Sie die Federkräfte als Funktion der gleiche Versuch wiederholt, tritt die Resonanz bei Ω2 =
Auslenkung ϕ des Pendels. Fügen sie die resultierenden 9,535 rad/s auf. Bestimmen Sie die Masse und Federstei-
Momente der Federkräfte in die Bewegungsgleichung ein figkeit des ursprünglichen Systems.
a b c d
1/2 l
2/3 l
c
l
c c
c c
m m m m
Aufgaben 313
Hinweis: Resonanz tritt dann auf, wenn die Erregerfre- können andere Teile der Maschine in Schwingungen ver-
quenz mit der Eigenfrequenz des Systems übereinstimmt. setzen. In dieser Aufgabe sind schwingungsfähige Teile
Technische Mechanik
der Maschine vereinfacht durch einen Einmassenschwin-
Resultat: ger abgebildet.
m = 20,02 kg; c = 2,00 · 105 N/cm.
l
12.5 • Experimentell wurde die Eigenkreisfrequenz r
Ωt c d
eines gedämpften Einmassenschwingers ωd bestimmt. m
Bei harmonischer Anregung stellt man fest, dass der
Schwinger bei der Erregerfrequenz ωr die maximale Am-
plitude aufweist. Ermitteln Sie daraus das Dämpfungs- u(t)
q(t)
maß D, das logarithmische Dekrement Λ sowie die Eigen-
kreisfrequenz ω0 des ungedämpften Systems.
Die Bewegungsgleichung für die Masse dieses Systems
Hinweis: Bei einem gedämpften System ist die Eigenfre- lautet mq̈ + dq̇ + cq = cu(t), wobei u(t) die Hubkurve ist,
quenz etwas größer als die Resonanzfrequenz. die von der Schubkurbel verursacht wird. Diese ist keine
einfache harmonische Funktion. Mit dem Pleuelstangen-
Resultat: verhältnis λ = rl lautet sie
ωd2 − ωr2
D= , ω0 = 2ωd2 − ωr2 , 1
2ωd2 − ωr 2 u(t) = r cos Ωt + 1 − λ2 sin2 Ωt
λ
ωr 2 mit der konstanten Drehgeschwindigkeit Ω des Antriebs.
Λ = 2π 1 − .
ωd Diese lässt sich als harmonische Reihe der Gestalt
∞
12.6 • Ein Einmassenschwinger wird durch eine u ( t) = r ∑ uk cos kΩt (12.68)
k=0
harmonische Kraft F(t) und eine Wegerregung u(t) aus
der Ruhelage erregt, wobei entwickeln, wobei die Glieder mit Ordnung k > 4 in
der Regel vernachlässigt werden können. Die Fourier-
F(t) = F0 sin Ω1 t, u(t) = û cos Ω2 t
Koeffizienten uk lauten genähert u0 = − λ4 + 3λ
3
64 − λ ,
1
λ λ3
u3 = 0, und u4 = − λ64 .
3
sind. Bestimmen Sie die stationäre Schwingungsantwort u1 = 1, u2 = +
4 16 ,
der Masse m.
Berechnen Sie die stationären Amplituden der Beschleu-
Gleichgewichtslage q (t) nigung der Masse m für folgende Winkelgeschwindigkei-
ten der Kurbel: Ω = ω40 , ω30 , ω20 und ω0 .
c
m
Verwenden Sie die Zahlenwerte m = 0,25 kg, c = 103 N/m,
F(t)
d = 15 · 10−3 N s/m, λ = 13 und l = 0,25 m.
Hinweis: Die Antwort setzt sich gemäß des Superposi-
tionsprinzips aus den Teilantworten auf die harmoni-
u(t) schen Anteile des Anregungssignals zusammen. Für die
Berechnung der Beschleunigungsantwortamplituden ent-
fällt der Gleichanteil (k = 0) der Erregerfunktion nach
Hinweis: Es handelt sich um eine erzwungene Schwin- (12.68), da dieser lediglich den Mittelwert des Schwing-
gung mit harmonischer Krafterregung. weges beschreibt und damit keinen Einfluss auf das dy-
namische Systemverhalten hat.
Resultat:
q ( t ) = q1 ( t ) + q2 ( t ) Resultat: Für die Amplituden q̈ˆ k der Beschleunigung der
F 1 1 Masse m gilt:
= 0 sin Ω1 t + û cos Ω2 t.
c 1 − η12 1 − η22 kΩ
q̈ˆ k = −r(kΩ)2 V1 uk , für k = 1, 2, 4.
ω0
12.7 • • • In Textil- und Verarbeitungsmaschinen wer-
den häufig ungleichförmig übersetzende Getriebe oder Man erkennt, dass auch für Drehfrequenzen Ω = ω0 Re-
Mechanismen eingesetzt, um eine gewünschte periodi- sonanzen auftreten, wenn für das Argument von V1 der
ω0
sche Bewegung zu erzeugen. Einfachster Vertreter davon ω0 = 1 gilt. Das ist z. B. für Ω = 4 für die vier-
Wert kΩ
ist die Schubkurbel, die eine Drehung in eine Transla- te Ordnung (k = 4) der Fall. In der folgenden Abbildung
tionsbewegung umsetzt. Die periodischen Bewegungen sind die Amplituden graphisch dargestellt.
314 12 Einfache Schwingungen – periodische Vorgänge verstehen, berechnen und beeinflussen
Technische Mechanik
Freiheitsgraden – diskrete
und kontinuierliche
Schwingungsmoden
Wie werden Schwingungen
mit mehreren
Freiheitsgraden
beschrieben?
Was sind Eigenfrequenzen
und Eigenformen
komplexer Schwinger?
Wie erklärt man Wellen
und kontinuierliche
Schwingungen?
13.1 Mehrläufige Schwingungen mit Antriebstränge von Fahrzeugen können als Torsionssys-
teme, von denen ein Beispiel in Abb. 13.2 dargestellt ist,
konzentrierten Parametern modelliert werden. Auch die Diskretisierung einer kon-
tinuierlichen Torsionswelle ergibt ein derartiges System.
Mehrläufige Schwinger sind Systeme, bei denen mehrere Die translatorische Schwingerkette kann z. B. das Ersatz-
oszillierende Bewegungen gleichzeitig ablaufen können; modell eines langen Rohres mit kompressiblem, trägem
das System hat mehrere Freiheitsgrade. Die Anzahl der Fluid sein.
Zustandsvariablen ist jedoch endlich, sie beschreiben die
Auslenkungen der Schwinger an diskreten Punkten. Der-
artige Systeme entstehen auf zwei verschiedene Arten: Bewegungsgleichungen mehrläufiger
Mehrere einfache Schwinger, wie sie in Abschn. 12.2 Schwinger sind Systeme von
vorgestellt wurden, werden gekoppelt oder hinterein- Differenzialgleichungen
ander geschaltet. Beispiele für derartige Systeme sind
Antriebstränge, die aus einer Folge von Drehmassen
Exemplarisch soll die Gewinnung der Bewegungsglei-
und Drehsteifigkeiten gebildet werden.
chung am Torsionsschwingungssystem dargestellt wer-
Komplexe, kontinuierliche Schwinger (siehe Ab-
den: Der Drallsatz wird auf eine freigeschnittene Dreh-
schn. 13.2) werden mit der Methode der Finiten
masse (Abb. 13.3) angewendet:
Elemente (FEM) diskretisiert, es entsteht ein System,
bei dem die Verschiebungen der Knoten die schwin-
Ji ϕ̈i = ci ( ϕi+1 − ϕi ) − ci−1 ( ϕi − ϕi−1 )
gungsfähigen Auslenkungen darstellen (Abb. 13.1).
+ di ( ϕ̇i+1 − ϕ̇i ) − di−1 ( ϕ̇i − ϕ̇i−1 ) + MAi ,
MA
=
X φ i–1 φi φ i+1
Z
ci–1, di–1 ci, di
wobei ϕi , ϕi−1 und ϕi+1 die Verdrehungen der Scheibe i Das Eigenverhalten des Systems beschreibt
bzw. ihrer Nachbarn beschreiben. Ji ist das Trägheitsmo-
die möglichen freien Schwingungen
Technische Mechanik
ment der Scheibe, ci und di die Torsionsfedersteifigkeiten
und -dämpfungen zwischen den benachbarten Scheiben.
Werden alle n Gleichungen der n Drehmassen zusammen- Bei schwach gedämpften Systemen ist es erfolgverspre-
gefasst, ergibt sich das Differenzialgleichungssystem: chend, zunächst das Eigenverhalten des Systems unter
Vernachlässigung der Dämpfung zu suchen, da hier ein-
M q̈ + Bq̇ + Kq = F (13.1) fach zu interpretierende, rein reelle Lösungen entstehen.
mit den Größen:
Das ungedämpfte System
Vektor der Koordinaten q:
Für lineare Schwingungssysteme mit mehr als einem Frei-
q = ( ϕ 1 , . . . , ϕ n )T , heitsgrad gelten ähnliche Gesetze wie für das einläufige
System. Es wird für das System
Massenmatrix M (Diagonalmatrix):
⎛ ⎞ M q̈ + Kq = 0 (13.2)
..
⎜ . 0⎟ der Lösungsansatz
M=⎜ ⎝ Ji ⎟,
⎠
.. q(t) = ŷ cos ωt oder q(t) = ŷ sin ωt
0 .
mit dem Amplitudenvektor ŷ gemacht. Wird dieser An-
Steifigkeitsmatrix K (symmetrische Bandmatrix):
satz mit q̈(t) = −ω 2 ŷ cos ωt bzw. q̈(t) = −ω 2 ŷ sin ωt in
⎛ ⎞ (13.2) eingesetzt, ergibt sich nach Division durch cos ωt
.. .. ..
⎜ . . . 0 ⎟ bzw. sin ωt die Gleichung:
⎜−ci−2 ci−2 + ci−1 −ci−1 ⎟
⎜ ⎟
K=⎜⎜ −ci−1 ci−1 + ci −ci ⎟, K − ω 2 M ŷ = 0,
⎟ (13.3)
⎜ − c c + c i+1 − c ⎟
i+1 ⎠
⎝ i i
.. .. .. die ein verallgemeinertes Eigenwertproblem darstellt. Derar-
0 . . .
tige Probleme sind im Vergleich zum speziellen Eigen-
Dämpfungsmatrix B, ist strukturell identisch mit K mit wertproblem der Form (A − λE) x̂ = 0 numerisch einfach
di anstelle ci , zu lösen, wenn M und K, wie im vorliegenden Fall gege-
Vektor der äußeren Lasten F: ben, symmetrisch und positiv (semi-)definit sind. Abgese-
hen von pathologischen Sonderfällen führt das spezielle
F = ( M1 , . . . , Mn ) T . Eigenwertproblem (13.3) auf n Eigenwerte ωi2 mit zuge-
hörigen Eigenvektoren ŷi . Die Wurzeln ωi aller Eigen-
Frage 13.1 werte sind die Eigenkreisfrequenzen des Systems und die
Wie ändert sich die Dämpfungsmatrix B, wenn auf jeweils zugehörigen Eigenvektoren ŷi die Eigenformen des
jede Drehmasse noch ein Absolut-Dämpfungsmoment Schwingungssystems. Ein Paar aus Eigenfrequenz und
Mabs,i = −dabs,i · ϕ̇i wirkt? Eigenform wird auch als Schwingungsmode bezeichnet.
Die zwei ersten Eigenformen eines komplexen Schwin-
FEM-Modelle allgemeiner, deformierbarer Körper führen gungssystems sind in Abb. 13.4 dargestellt.
unmittelbar auf ein Gleichungssystem der Form (13.1), Somit ergibt sich die Lösung des Systems als Überlage-
wenn folgende Voraussetzungen, die aber für Schwin- rung von n Eigenschwingungen in der Form:
gungsprobleme typisch sind, erfüllt sind:
n
Die makroskopischen Auslenkungen sind klein, nicht- q( t ) = ∑ ŷi (Ai cos ωit + Bi sin ωit) , (13.4)
lineare Terme verschwinden. i=1
Für den Zusammenhang zwischen Verzerrungen und
wobei Ai und Bi die Integrationskonstanten jeder Schwin-
Spannungen im Inneren der Körper kann ein linear
gungsmode sind, die aus Anfangsbedingungen, z. B.
elastisches Materialgesetz angenommen werden.
q(0) = q0 und q̇(0) = v0 , für alle Teilschwinger oder Kno-
tenkoordinaten gewonnen werden können.
Die Massenmatrix ist im allgemeinen Fall nicht mehr rein
diagonal besetzt, aber immer noch symmetrisch und posi- Für die Bestimmung der Integrationskonstanten wird
tiv definit. Die Steifigkeits- und Dämpfungsmatrizen sind zweckmäßig die Modalmatrix Y = (ŷ1 , · · · , ŷn ) einge-
bei Abwesenheit von Kreiseleffekten ebenfalls noch sym- führt, welche die n Eigenvektoren spaltenweise zusam-
metrisch, können aber eine deutlich größere Bandbreite menfasst und somit eine (n × n)-Matrix ist. Die Integra-
aufweisen. tionskonstanten werden zu Vektoren a = (A1 , · · · , An )T ,
318 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden
n
q ( t) = ∑ ŷi qm,i (t) = Yqm (t) (13.7)
i=1
Y T MY q̈m + Y T KYqm = 0
Technische Mechanik
Als besonders einfaches Beispiel für mehrläufige le Verdreh-Auslenkung der Massen in einer Schwin-
Schwinger können sogenannte Schwingerketten die- gungsperiode an. Bei der ersten Eigenform schwingen
nen. Darin folgen immer abwechselnd Massen bzw. alle Massen synchron in die gleiche Richtung. Bei der
Drehmassen auf Federn bzw. Drehfedern. Sind alle zweiten Eigenform schwingen die linken drei Massen
Massen und Steifigkeiten jeweils gleich, wird das Sys- in eine Richtung, die rechten drei Massen in die andere
tem als homogene Schwingerkette bezeichnet. Richtung. Die mittlere Masse bleibt in Ruhe, sie liegt in
einem Schwingungsknoten. Bei der dritten Eigenform
Problemanalyse und Strategie: Die Massenmatrix und sind bereits zwei Schwingungsknoten erkennbar, sie
die Steifigkeitsmatrix der Schwingerkette erhalten bei liegen zwischen dem Massen 2 und 3 bzw. 5 und 6. Bei
jeweils identischen Parametern J und cT eine beson- ungedämpften, mehrläufigen Schwingern erreichen al-
ders einfache Form: Die Massenmatrix ist eine skalierte le Massen gemeinsam ihre maximale Auslenkung und
Einheitsmatrix J · E, und die Steifigkeitsmatrix ist eine haben einen gemeinsamen Nulldurchgang.
Bandmatrix mit den Bandwerten −1, 2, −1 multipli-
ziert mit cT . Für die Eigenfrequenzen und Eigenformen 1. Eigenform, ωi /ω 0 = 0,390
sind hier sogar analytische Lösungen möglich.
cT cT cT cT 2. Eigenform, ωi /ω 0 = 0,765
J J J J
1 2 3 n
der Lösungsansatz q(t) = ŷeλt gewählt, und es ergibt sich und schließlich durch Division durch λdK + 1 zu
zunächst:
λ2 + λdM
K+ M ŷ = 0
λ2 M + λ(dM M + dK K ) + K ŷ = 0, λdK + 1
zusammenfassen lässt. Wird nun
was sich zu
λ2i + λi dM
(λ2 + λdM )M + (λdK + 1)K ŷ = 0 ωi2 = − (13.9)
λ i dK + 1
320 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden
Technische Mechanik
jM̂1 System angewendet, ergibt sich in Erweiterung von (13.1)
F (t) = Im ⎣⎝ M̂2 ⎠ ejΩt ⎦ = Im f̂ ejΩt zunächst:
2π
M̂3 ej 3
Y T MY q̈m + Y T BY q̇m + Y T KYqm = Y T F (t),
mit dem komplexen Gewichtsvektor f̂ darstellen.
was unter der Annahme modaler Dämpfung und geeig-
neter Skalierung von Y analog zu (13.8) und (13.11) in n
Berechnung mit Systemkoordinaten entkoppelte Teilgleichungen
Für die Lösung wird der Ansatz q(t) = Im q̂ejΩt ge- q̈m,i + 2δi q̇m,i + ωi2 qm,i = ŷTi F (t)
macht. Werden die Anregung und der Antwortansatz in zerfällt. Ist die Anregung harmonisch in der Form
(13.1) eingesetzt, ergibt sich:
F (t) = Im f̂ ejΩt ,
−Ω2 M q̂ + jΩBq̂ + Kq̂ = f̂ . (13.12)
kann
Diese Gleichung kann mit
qm,i = Im q̂ ejΩt
−1 m,i
q̂ = −Ω2 M + jΩB + K f̂ (13.13)
! "# $ gesetzt werden, und es ergibt sich:
G( Ω )
ωi2 − Ω2 + 2jδi Ω q̂ = ŷTi f̂ . (13.14)
m,i
gelöst werden, wobei die Frequenzgangmatrix G(Ω) ein-
geführt wird. Der Zeitverlauf der Lösung lautet: Besondere Beachtung ist dabei dem Skalarprodukt ŷTi f̂
zwischen dem i. Eigenvektor und dem Gewichtsvektor
q(t) = Im q̂ejΩt = Im G(Ω)f̂ ejΩt . der Anregung zu schenken. Ergibt dieses Produkt null, ist
die i. Eigenform durch die äußere Anregung paradoxer-
weise nicht anregbar. Dieser Fall tritt z. B. auf, wenn die
Die komplexe (n × n)-Matrix G(Ω) enthält die komple-
äußere Last nur an einem einzigen Ort wirkt, die Eigen-
xen Übertragungsfunktionen Gkl (Ω), die jeweils die Aus-
form aber gerade dort keine Auslenkung zeigt.
lenkung am Ort k infolge Anregung am Ort l beschreiben.
Somit enthält G(Ω) die Amplituden- und Phaseninforma-
Frage 13.3
tion zwischen allen Anregungsorten und Antworten. Für
−1 Ein System mit zwei Freiheitsgraden hat einen Eigenvek-
ein ungedämpftes System ist G(Ω) = −Ω2 M + K tor mit y = (1, −1)T . Mit welcher Anregung kann diese
rein reell. Im Fall Ω = ωi , wenn die Anregungskreisfre- Form nicht angeregt werden?
quenz genau einer Eigenkreisfrequenz entspricht, exis-
tiertdie Inverse
nicht, da wegen der Eigenwertbedingung
det K − ω 2 M = 0 die Matrix −Ω2 M + K genau dann Gleichung (13.14) weist noch einen weiteren Weg zur
singulär ist. Diese Situation ist die Resonanz eines Sys- Berechnung der Frequenzgangmatrix G(Ω). Werden die
tems mit einem Freiheitsgrad größer als eins. Da ein Teilgleichungen für alle Moden zu einem Gleichungssys-
System mit mehr als einem Freiheitsgrad in der Regel tem zusammengesetzt, ergibt sich zunächst:
mehrere Eigenfrequenzen besitzt, sind Resonanzen bei
verschiedenen Anregungsfrequenzen zu erwarten. Typi- diag ωi2 − Ω2 + 2jδi Ω q̂ = Y T f̂ ,
m
sche Frequenzgänge mit mehreren Resonanzen werden
im folgenden Abschnitt, der den Schwingungstilger be- was mit der Transformation q̂ = Y q̂ auf die Form
m
schreibt, dargestellt.
−1
Wirkt eine beliebige Zahl von Anregungen jeweils mit q̂ = Y · diag ωi2 − Ω2 + 2jδi Ω Y T f̂
Kreisfrequenz Ωk und Vektor f̂ auf ein System, kann die
k
partikuläre Systemantwort mit gebracht werden kann. Wird dies mit (13.13) verglichen,
zeigt sich eine zweite Darstellungsform der Frequenz-
gangmatrix, die bei modal gedämpften Systemen gültig
q( t ) = ∑ Im G(Ωk )f̂ ejΩk t
k ist:
k
−1
berechnet werden. G(Ω) = Y · diag ωi2 − Ω2 + 2jδi Ω Y T.
322 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden
Wird von einem System ohnehin eine Analyse der Eigen- u (t) F (t) cT
kreisfrequenzen und Eigenformen vorgenommen, sind
Technische Mechanik
Die Tilgung von Schwingungen stellt neben Dämpfung ẍ ω02 + μωT2 −μωT2 x f ( t)
+ = . (13.16)
und Isolation ein weiteres Verfahren zur Reduktion von ẍT −ωT2 ωT2 xT 0
13.1 Mehrläufige Schwingungen mit konzentrierten Parametern 323
Leitbeispiel Antriebsstrang
Technische Mechanik
Torsionsschwingungen in einem Pkw-Antriebsstrang
Der Antriebsstrang eines Kraftfahrzeugs ist die Abfol- ders prominent hierbei sind die Räder: Dringen Dreh-
ge aller Elemente, die dafür verantwortlich sind, das schwingungen bis zu den Rädern durch, führen sie
Antriebsmoment des Motors zum Reifen-Fahrbahn- zwangsläufig zu Fahrzeug-Längsschwingungen, die
Kontakt zu übertragen, wo es letztlich als Antriebs- als stark komfortmindernd wahrgenommen werden.
kraft seine Wirkung entfaltet. Elemente eines Antriebs-
strangs sind Wellen, die häufig als torsionselastisch zu Antriebsstränge lassen sich für die eher im tieffrequen-
betrachten sind, drehende Massen wie Schwungräder ten Bereich liegenden Fragestellungen mit guter Nähe-
und Zahnräder sowie weitere Bauteile wie Kupplun- rung als Torsionsschwingerketten abbilden (Abb. 13.9).
gen und Gelenke. Den Abschluss des Antriebsstrangs
ReifenFahrbahnHR
bilden die Räder mit elastischen Reifen. RadVR
ReifenFahrbahnVR RadHR
RadiusVR RadiusHR
Ein Antriebsstrang ist aufgrund der darin verbau-
WelleFluidKopplung1
WelleFluidKopplung2
SeitenwelleVR2 SeitenwelleHR2
FluidKopplung
MotorSteuerung
ein schwingungsfähiges System. Eine Anregungsquel- y SeitenwelleVR SeitenwelleHR
Welle1
le von Schwingungen ist der Verbrennungsmotor, da
Welle
x
SeitenwelleVR2 SeitenwelleHR1
Fahrzeugmasse
Getriebe
KegelradgetriebeH
verbaute Vierzylinder-Reihenmotor erzeugt Massen- Gang f ( x) KegelradgetriebeV DifferenzialV
DifferenzialH
Schwungrad
momente der 2. und 4. Ordnung, sowie Gasmomente
ElastSchwungrad
SeitenwelleVL1 SeitenwelleHL1
ReifenFahrbahnHL
SeitenwelleVL SeitenwelleHL
Leerlauf bei 900 1/min bis zur Maximaldrehzahl bei SeitenwelleVL2 SeitenwelleHL2
Ungedämpfter Tilger für die Eigenfrequenz regung durch Verkehr, Fußgänger oder Erdbeben aber
des Systems nicht.
Dazu wird ωT = ω0 gewählt, d. h., dass die Eigenkreisfre-
quenz des nicht montierten Tilgers genau der Eigenkreis-
Ist die Erregerfrequenz nicht genau bekannt oder breit- frequenz des Basissystems entspricht. Gleichung (13.16)
bandig, wird der Tilger so ausgelegt, dass er die Eigen- vereinfacht sich zu:
frequenz des Basissystems bedämpft. Dieses Vorgehen ist
ẍ 2 1 + μ −μ x f ( t)
vor allem bei Bauten, Brücken und Strukturen üblich, bei + ω0 = . (13.17)
denen eine Resonanzfrequenz genau bekannt ist, die An- ẍT −1 1 xT 0
324 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden
Gilt nun f (t) = f̂ sin Ωt, kann die Matrix aus (13.17) mit Amplitude
103
M = E und B = 0 in (13.13) eingesetzt werden, und es er- μ = 0,20
Technische Mechanik
−1 102 2
3
x̂ ω02 (1 + μ) − Ω2 −μω02 f̂
Auslenkung/Anregung
q̂ = = ,
x̂T −ω02 ω02 − Ω2 0
101
Ω
was sich durch das Abstimmungsverhältnis η = ω0 zu
100
−1
1 (1 + μ ) − η 2 −μ f̂
q̂ =
ω02 −1 1 − η2 0 10–1 System ohne Tilger
System mit Tilger
vereinfachen lässt. Für dieses System ist eine analytische Tilger
Lösung möglich, die auf die zwei Frequenzgänge 10–2
100
Frequenz
1 1 − η2
x̂ = · 4 f̂ , (13.18)
ω0 η − (2 + μ ) η 2 + 1
2
Abb. 13.10 Doppellogarithmisch dargestellte Amplitudengänge des Systems
1 1 ohne Tilger, des ungedämpften Tilgers und des Systems mit Tilger. Das System
x̂T = 2 · 4 f̂ (13.19) ohne Tilger weist eine Resonanz (Punkt 2 ) auf. Durch den Tilger hat das System
ω0 η − (2 + μ ) η 2 + 1 zwei Resonanzen (Punkte 1 und 3 ), bei der ursprünglichen Resonanz ist das
System in Ruhe, nur der Tilger bewegt sich
führt. Dabei sollen die Frequenzgänge hier als Amplitu-
denfrequenzgänge mit Vorzeichen interpretiert werden: 1,2
Ein negativer Zahlenwert zeigt an, dass Anregung und 1,15
Antwort gegenphasig sind. Der Frequenzgang des Basis-
systems ohne Tilger lautet gemäß (12.48) 1,1
1,05
1 1 η
x̂ = · f̂ . (13.20) 1,0
ω02 1 − η 2
0,95
Die Amplitudengänge (13.18), (13.19) und (13.20) sind in 0,9
Abb. 13.10 dargestellt.
0,85
In den Amplitudengängen in Abb. 13.10 sind typische 0 0,02 0,04 0,06 0,08 0,1
Phänomene schwingungsfähiger Systeme mit mehr als μ
einem Freiheitsgrad zu erkennen: Amplitudengänge wei-
sen zwei oder mehr Maxima auf (Punkt 1 bzw. 3 in Abb. 13.11 Aufspaltung der Eigenwerte eines Systems mit Tilger in Abhängig-
Abb. 13.10), die den Resonanzfrequenzen des Systems keit der Tilgermasse. Der rote und der grüne Ast stellen jeweils eine Lösung von
mit zwei Freiheitsgraden entsprechen. Das System kann (13.21) dar
somit bei mehr als einer Frequenz in Resonanz gera-
ten. Diese Frequenzen entsprechen den Eigenwerten der
Matrix (K − Ω2 M ) gemäß (13.3), was hier den Werten ent- Resonanzen beobachtet werden: Die beiden neuen Reso-
spricht, bei denen die Frequenzgangmatrix G aufgrund nanzfrequenzen liegen oberhalb bzw. unterhalb der Reso-
Singularität nicht bildbar ist. Das ist genau dann der Fall, nanzfrequenz ohne Tilger:
wenn die Nenner der Frequenzgänge (13.18) und (13.19)
gleich null sind. Mithilfe der Lösungsformel für quadrati- μ μ2
sche Gleichungen kann diese Bedingung als quadratische η1,2 = 1 + ± μ + . (13.21)
2 4
Gleichung mit
Die Lösungen von (13.21) sind in Abb. 13.11 graphisch
2 dargestellt.
2+μ 2+μ
2
η1,2 = ± −1
2 2 Bei η = 1 kann im Frequenzgang von x̂ ein Nulldurch-
gang (Punkt 2 in Abb. 13.10) gefunden werden, eine
gelöst werden. Es genügt die Betrachtung der positiven sogenannte Antiresonanz bzw. der Tilgungspunkt. Das
Werte für η. Es kann die „Aufspaltung“ der Resonanz Basissystem zeigt bei einer Anregung mit seiner ur-
des Systems ohne Tilger mit μ → 0 bei η = 1 in zwei sprünglichen Resonanzfrequenz keine Auslenkung mehr.
13.1 Mehrläufige Schwingungen mit konzentrierten Parametern 325
Technische Mechanik
der Amplitude x̂T = − μω 1
2 f̂ aus. Der zugrundeliegende DTilger = 0,127
0
physikalische Effekt ist, dass die Tilgermasse der Anre-
gungskraft so entgegen schwingt, dass die Federkraft des 101 1
Auslenkung/Anregung
Tilgers die Anregungskraft genau aufhebt. Die Tilgeram- 3
plitude ist umso größer, je kleiner die Masse des Tilgers
im Vergleich zu der Systemmasse ist. 100
Der gedämpfte Tilger für die Eigenfrequenz Abb. 13.12 Doppellogarithmisch dargestellte Amplitudengänge des Systems
des Systems ohne Tilger, des gedämpften Tilgers und des Systems mit Tilger. Die Kurve des
Systems ohne Tilger mit Resonanz im Punkt 2 ist identisch mit Abb. 13.12. Die
Die Nachteile des ungedämpften Tilgers – zusätzliche un- neuen Resonanzen (Punkte 1 und 3 ) sind infolge der Tilgerdämpfung nicht so
gedämpfte Resonanzen in der Nähe der ursprünglichen – stark ausgeprägt. Allerdings ist keine Totalauslöschung bei der ursprünglichen
können unter Preisgabe der idealen Auslöschung vermie- Frequenz erkennbar
den werden, wenn ein gedämpfter Tilger eingesetzt wird.
Auf die Herleitung der Auslegungsformeln wird hier ver-
zichtet. Stattdessen werden direkt die Ergebnisse, wie sie abgestimmt werden. Wird das Vorgehen aus (13.12) hier
z. B. in der VDI-Richtlinie 3833 dargestellt sind, angege- sinngemäß angewendet und ωT = Ω gesetzt, ergibt sich:
ben. Die Eigenkreisfrequenz des Tilgers muss leicht von
der zu tilgenden Kreisfrequenz abweichen:
−1
x̂ ω02 + (μ − 1)Ω2 −μΩ2 f̂
1 q̂ = = ,
ωT = ω0 . (13.22) x̂T − Ω2 0 0
1+μ
Frequenzverhältnis h = V /v 0
Ungedämpfter Tilger für eine spezifische Abb. 13.13 Doppellogarithmisch dargestellte Amplitudengänge des Systems
Anregungsfrequenz ohne Tilger, des ungedämpften Tilgers und des Systems mit Tilger. Die Kurve
des Systems ohne Tilger√mit Resonanz im Punkt 1 ist identisch mit Abb. 13.12.
Hat die Anregung des Systems (13.16) genau die Form Beim Punkt 2 bei η = 3 liegt der gewünschte Tilgungspunkt mit totaler Aus-
f (t) = f̂ sin Ωt, kann der Tilger auf die Kreisfrequenz Ω löschung. Die neuen Resonanzen liegen bei den Punkten 3 und 4
326 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden
1. Eigenform
Fahrzeug-Antrieb Kurbelwellen in Pkw-Motoren sind
ω1
dT lT Torsionsschwinger. Ein einfaches Ersatzmodell besteht
mT aus einer Drehmasse pro Kröpfung, in die auch die ro-
F (t) tierenden bzw. oszillierenden Massenanteile des Pleu-
g F (t)
cT els und des Kolbens gemittelt eingerechnet werden,
u (t) sowie Drehfedern dazwischen. Das Schwungrad am
Wind m
c
c dT mT
ω1 = m
a 2 b
1 3
u (t) Erdbeben J1 J2 J3
Technische Mechanik
dynamisch wie eine feste Einspannung.
w (x,t) g (x + 2c ∆t)
F0 g (x + c ∆t)
Technische Mechanik
g (x) f (x – c ∆t)
x
f (x) f (x – 2c ∆t)
l
Abb. 13.19 Zwei laufende Wellenberge der Form f (x ) bzw. g (x ), die sich mit
der Geschwindigkeit c nach rechts bzw. links fortbewegen
Longitudinale Dehnschwingungen in Stäben und Sei-
len (Aufzüge),
Torsionsschwingungen in langen Wellen (Antriebssys-
teme), werden. Die Bewegungsgleichung für die Auslenkung
Biegeschwingungen von Balken (Brücken, transversal w(x, t) lautet:
schwingende Achsen und Wellen).
∂2 w ∂2 w
− c2 2 = 0 oder kurz ẅ − c2 w = 0 (13.23)
zweidimensional: ∂t 2 ∂x
dreidimensional: wobei ρl die Masse pro Länge der Saite und F0 die Vor-
räumliche, elastische Körper (Maschinen-Bauteile), spannung der Saite darstellen. Die Länge der Saite tritt in
Druckschwingungen in Räumen (Raumakustik). (13.23) nicht auf.
Die Bewegungsgleichung ist eine lineare, partielle Dif-
In all diesen Beispielen können sich, wie bei allen Kontinu- ferenzialgleichung. Die beschreibende Zustandsgröße w
umsschwingern, auch Wellen ausbreiten. Damit sich eine hängt vom Ort x und der Zeit t ab. In der Bewegungs-
klassische Schwingung ausbilden kann, muss durch reflek- gleichung (13.23) sind noch keine Randbedingungen be-
tierende Ränder im System eine stehende Welle entstehen rücksichtigt, sie liefert sowohl stehende als auch laufende
können. Für einfache Systeme sind analytische Lösungen Wellenlösungen. Einfaches Einsetzen zeigt, dass beliebige
möglich. Komplexere Systeme werden z. B. mit der Metho- Funktionen des Typs f (x − ct) und g(x + ct) Lösungen von
de der Finiten Elemente diskretisiert und können dann mit (13.23) darstellen (Abb. 13.19).
den Methoden aus Abschn. 13.1 als diskrete Schwinger mit
vielen Freiheitsgraden weiter behandelt werden. Die Lösung f beschreibt eine rechts- und g eine linkslau-
fende Welle, jeweils mit der Form f (x) und g(x). Diese
Lösungen sind z. B. bei der Berechnung von Druckwellen
in langen Rohren in Wasserkraftanlagen relevant. Sobald
Die Saite schwingt und klingt mit vielen Tönen sie an ein offenes oder geschlossenes Rohrende auflaufen,
werden sie dort reflektiert und beginnen sich zu überla-
Als Beispiel für die analytische Lösung eines kontinuierli-
gern, was die Lösung zunehmend kompliziert macht.
chen Schwingungsproblems soll hier die homogene Saite
betrachtet werden (Abb. 13.18). Sie ist, wenn sie als biege-
schlaff angenommen wird und nur kleine Auslenkungen Lösung für stationäre freie Schwingungen
zulässt, ein besonders einfacher Repräsentant für ein li-
neares, ungedämpftes, kontinuierliches Schwingungssys- Bei der schwingenden Saite sind infolge der Einspannung
tem. Die eindimensionale Fluidsäule im Rohr oder der links und rechts stehende Wellen zu erwarten. Dafür wird
Torsionsschwinger führen auf eine identische Bewegungs- ein reeller Separationsansatz gemacht. Da (13.23) linear
gleichung. Der Euler’sche Biegebalken führt auf eine ähn- ist, gilt das Superpositionsprinzip. Es kann angenommen
lich einfach zu lösende Differenzialgleichung, die später werden, dass sich die Gesamtlösung
im Kapitel dargestellt wird. Die Konzepte der Lösungsfin-
dung lassen sich außerdem auf mehrdimensionale, konti- w(x, t) = ∑ w̄i (x)qi (t) (13.24)
nuierliche Schwingungsprobleme übertragen. i
Auf die Herleitung der Bewegungsgleichung wird hier aus einer Summe von Moden zusammensetzt. Jede Mo-
verzichtet, sie kann in Physik-Lehrbüchern nachgelesen de ist ein Produkt aus Ortsfunktion w̄i (x), welche die
13.2 Kontinuumsschwingungen 329
Schwingungsform darstellt, und Zeitfunktion qi (t), wel- Die ersten drei Eigenformen sind in Abb. 13.20 im Teil-
che deren zeitliche Entwicklung beschreibt. Im Folgenden bild „fest–fest“ dargestellt. Höhere Eigenformen weisen
Technische Mechanik
wird eine Mode als Teillösung gesucht und zur Über- sogenannte Schwingungsknoten auf, Orte an denen trotz
sichtlichkeit zunächst der Index i weggelassen. Wird die Schwingbewegung keine Auslenkung stattfindet. Nun
Teillösung in (13.23) eingesetzt, ergibt sich: kann zu jeder Wellenzahl κi einer Eigenform die zugehö-
rige Eigenkreisfrequenz
w̄(x)q̈(t) − c2 w̄ (x)q(t) = 0, (13.25)
was sich zu F0 iπ
ωi = cκi = (13.32)
ρl l
q̈(t) w̄ (x)
= c2 = −ω 2 (13.26)
q ( t) w̄(x) bestimmt werden. Damit lässt sich die Gesamtlösung ge-
umformen lässt. Da die eine Seite von (13.26) ausschließ- mäß (13.24) als
lich von t, die andere ausschließlich von x abhängt, müs- ∞
sen sie konstant sein. Diese Konstante wurde bereits mit w(x, t) = ∑ sin κi x(Ai cos ωi t + Bi sin ωi t) (13.33)
−ω 2 eingeführt. Damit ergeben sich die unabhängigen i=1
Teilgleichungen für das Zeitverhalten und die Ortsabhän-
gigkeit: schreiben, worin noch die zeitlichen Integrationskonstan-
ten Ai und Bi aus Anfangsbedingungen zu bestimmen
q̈(t) w̄ (x) ω2 sind.
= −ω 2 sowie = − 2 = −κ 2 , (13.27)
q ( t) w̄(x) c
wobei für die Ortsgleichung die Wellenzahl κ = ωc einge- Frage 13.4
führt wurde. Die Lösungen der Differenzialgleichungen Können Sie (13.33) in eine Form mit f (x − ct) und g(x + ct)
(13.27) sind sowohl für das Zeitverhalten q(t) als auch für bringen?
die Schwingungsform w̄(x) harmonische Funktionen:
q(t) = A cos ωt + B sin ωt, (13.28)
w̄(x) = C cos κx + D sin κx (13.29) Dies soll hier beispielhaft für das Ausschwingen ab t =
0 aus einer Anfangslage, d. h. Anfangsform w0 (x) ohne
mit an dieser Stelle noch unbekannten Parametern ω Anfangsgeschwindigkeit demonstriert werden. Die Be-
und κ. dingungen lauten somit:
Tab. 13.1 Resonanzkreisfrequenzen eindimensionaler Kontinuumsschwinger bei gegebener Länge l und Wellenausbreitungsgeschwindigkeit c
c2 Kreisfrequenz ωi
Technische Mechanik
2i−1 cπ
geschlossen–offen Orgelpfeife, Rohr mit Vorratsvolumen an einem Ende 2 l
K ciπ
Luftsäule/Fluidsäule ρF geschlossen–geschlossen Rohr mit zwei geschlossenen Enden l
ciπ
offen–offen Rohr mit zwei offenen Enden l
ciπ
kubischer Raum c2L geschlossen–geschlossen akustische Raumresonanzen l
fest–fest fest–frei
Verhalten kontinuierlicher Schwinger
Auslenkung
Auslenkung
Kontinuierliche Schwinger haben unendlich viele
Moden, d. h. Eigenformen mit zugehörigen Eigen-
frequenzen. Die Randbedingungen bestimmen we-
sentlich die Eigenfrequenzen und Eigenformen.
0 Länge l 0 Länge l
frei–fest frei–frei
Auslenkung
Auslenkung
Andere Randbedingungen führen zu neuen
Schwingungsformen
Technische Mechanik
Bauteilen beschreiben w(x) = C1 cos κx + C2 sin κx + C3 + C4 sinh κx (13.39)
besitzen. Die Ortsdifferenzialgleichung des Balkens hat
Die im vorangegangenen Abschnitt vorgestellte Saite ist die Ordnung vier, deswegen entsteht eine Lösung mit vier
als Modell zum grundsätzlichen Verständnis einiger Phä- Integrationskonstanten.
nomene kontinuierlicher Schwinger geeignet, tritt jedoch
in technischen Systemen selten auf. Der in Abschn. 5.2
eingeführte Biegebalken hingegen ist ein geeignetes Mo- Randbedingungen
dell, um Biegeschwingungen z. B. von Antriebswellen Die Lösung w(x) muss noch an die Randbedingungen
oder Streben zu beschreiben. angepasst werden, die sich aus den konkreten Lage-
rungsbedingungen des Balkens an seinen beiden Enden
Bewegungsgleichung des Balkens ergeben. Die üblichen festen Balkenlagerungen und ihre
zugehörigen Randbedingungen sind in Tab. 13.2 zusam-
Die Bewegungsgleichung des Biegebalkens kann durch mengestellt, die eine große Ähnlichkeit zu Tab. 2.1 hat. Es
eine einfache Erweiterung der statischen Gleichungen fällt auf, dass jede Lagerung einen Kraft/Lage-Term so-
und der Anwendung des Prinzips von d’Alembert (sie- wie einen Momenten/Winkel-Term am Lagerort zu Null
he Abschn. 10.3) gewonnen werden. Die Biegelinie eines setzt. Die Kraft/Lage-Terme sind die Auslenkung w sowie
Balkens wird (siehe Abschn. 5.2) durch die Gleichung die 3. Ableitung w , die mit der Lagerkraft korrespon-
EIw (x) = −M(x) (13.35) diert. Die Momenten/Winkel-Terme sind die Neigung w
des Balkens sowie die Krümmung w , die über (13.35) mit
beschrieben. Wird hier noch (siehe Abschn. 3.1) der Zu- dem Einspannmoment verknüpft ist. Die Vertikalführung
sammenhang q(x) = −M (x) zwischen Streckenlast und an sich ist technisch schwierig zu realisieren, tritt aber
Biegemoment eingesetzt, ergibt sich zunächst: als Randbedingung bei symmetrischen Problemen an der
Symmetrieebene auf.
EIw (x) = qS (x). (13.36) Aus diesen Lagern kann nun eine beliebige Kombination
Die Streckenlast qS (x, t) setzt sich im dynamischen für das Lager bei x = 0 und das Lager bei x = l, der Länge
Fall aus zwei Anteilen zusammen: Einer externen Last des Balkens, ausgewählt werden. Da aus jeder Lagerung
qSe (x, t) sowie der Trägheitskraft pro Längeneinheit nach zwei Randbedingungen folgen, führt dies mit Gleichung
d’Alembert −ρAẅ(x, t), welche sich aus der Beschleu- (13.39) bzw. ihren Ableitungen auf vier Gleichungen, de-
nigung multipliziert mit der Masse pro Längeneinheit nen die Integrationskonstanten C1 . . . C4 genügen müs-
ρA des Balkens ergibt. Wird dies in Gleichung (13.36) sen. Diese ergeben ein homogenes Gleichungssystem
eingesetzt und ein homogener Balken mit EI = konstant A·C = 0 (13.40)
betrachtet, ergibt sich die Bewegungsgleichung
ρAẅ(x, t) + EIw (x, t) = qSe (x, t) (13.37)
Tab. 13.2 Randbedingungen des Balkens
des homogenen Biegebalkens. Die Streckenlast qSe (x) be- Lagertyp Kraft/Lage-RB Moment/
schreibt alle äußeren Lasten auf den Balken. Mit qSe (x) = Winkel-RB
F(t) · δ(x − x0 ) kann darin z. B. auch eine Punktlast F an Feste Einspannung w=0 w = 0
der Stelle x0 berücksichtigt werden, wobei δ die Dirac-
Distribution darstellt. Für einen lastfrei schwingenden
Balken gilt qSe (x) = 0 und Gleichung (13.37) kann als
Drehgelenk w=0 w = 0
ρAẅ + EIw = 0
mit der Matrix A und dem Vektor C, in dem die Kon- EI, ρA(x) m1, J1
stanten C1 . . . C4 zusammengefasst sind. Dieses homo- m2
Technische Mechanik
x
gene System hat nur dann eine nicht-triviale Lösung,
wenn det (A) = 0 gilt. Diese Forderung liefert ein tran-
szendentes Eigenwertproblem mit dem die κi und damit c
die Eigenkreisfrequenzen ωi gemäß Gleichung (13.38) ab-
geleitet werden können. Die Ci eingesetzt in Gleichung
Abb. 13.21 Getriebewelle als Balken mit veränderlichem Querschnitt, Zusatz-
(13.39) ergeben die zugehörige Eigenform wi (x). Analog massen und elastischer Abstützung
zum klassischen Eigenwertproblem liefert die Gleichung
(13.40) auch im nicht-trivialen Fall nur die Verhältnisse
der Ci untereinander und keine Absolutwerte.
Lösungen der Ortsdifferenzialgleichung und damit die
Aus einer beliebigen Kombination der Lager in Tabelle Eigenschwingungsformen lauten nach Normierung der
13.1 können statisch bestimmte, aber auch über- oder un- Maximalamplitude auf eins
terbestimmte Balken entstehen. Unterbestimmte Balken
können zusätzlich zu den Schwingungen noch freie Starr- wi (x) = sin κi x.
körperbewegungen ausführen. Überbestimmte Systeme
Werden die Eigenwerte κi in (13.38) eingesetzt, ergeben
sind, je nach Einspannbedingung, zusätzlichen Lasten un-
sich die zugehörigen Eigenkreisfrequenzen
terworfen, die aber im Rahmen der hier vorgestellten
linearen Theorie keinen Einfluss auf die Schwingbewe-
gung haben. EI 2 EI iπ 2
ωi = κ = . (13.42)
ρA i ρA l
Bewegungsgleichung des Biegebalkens Im Vergleich mit der Saite (13.31) fällt auf, dass die
Die Dynamik eines Biegebalkens wird durch eine Schwingformen ebenfalls Sinus-Bögen sind. Die Zunah-
partielle Differenzialgleichung beschrieben, die eine me der Eigenkreisfrequenz mit der Ordnung erfolgt aller-
2. Zeitableitung und eine 4. Ortsableitung der Aus- dings nicht linear wie in (13.30), sondern quadratisch.
lenkungsvariablen enthält. Die Einspannungen am Für weitere technisch wichtige Balkenkonfigurationen
Rand liefern insgesamt vier Ortsrandbedingungen. sind die Lösungen in Tab. 13.3 zusammengefasst.
Frage 13.5
Lösung für ein Beispiel Vergleichen Sie die beiden ersten Eigenfrequenzen eines
homogenen Balkens, der entweder beidseitig gelenkig ge-
Technisch besonders relevant ist der Biegebalken mit zwei lagert ist oder frei schwebt.
Drehgelenken am Ende. Das ist z. B. das Modell einer
beidseitig gelenkig gelagerten Getriebewelle. Auf den
Einfluss einer Zusatzmasse, wie z. B. ein auf der Welle
befindliches Zahnrad, soll im nächsten Abschnitt einge-
gangen werden. Aus Tab. 13.1 folgen w(0) = 0, w (0) =
Der Rayleigh-Quotient ermöglicht
0, w(l) = 0 und w (l) = 0. Werden diese 4 Randbedin- die Abschätzung der ersten Eigenfrequenz
gungen in die Gleichung (13.39) bzw. ihre Ableitungen eines Biegeschwingers
eingesetzt, entsteht das Gleichungssystem
⎛ ⎞ ⎛ ⎞ Die im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten For-
1 0 1 0 C1
⎜ −1 0 1 0 ⎟ ⎜
C2 ⎟ meln und Lösungen gelten nur für einen homogenen
· =0
⎝ cos κl sin κl cosh κl sinh κl ⎠ ⎝
C3 ⎠ Balken ohne zusätzliche Massen oder weitere elastische
− cos κl − sin κl cosh κl sinh κl C4 Abstützungen. Eine typische Getriebewelle wird aber
(13.41) unterschiedliche Querschnitte und zusätzliche Massen,
aus dem offensichtlich sofort C1 = C3 = 0 folgt. Das tran- sowie ggf. weitere Abstützungen oder elastische Lager
szendente Eigenwertproblem det(A) = 2 sin κl sinh κl = aufweisen (Abb. 13.21).
0 mit den Lösungen Die erste Eigenkreisfrequenz ω1 einer solchen Welle kann
mit dem Rayleigh-Quotienten für den Balken
lκi = iπ, i = 1, 2, 3, . . . ∞
l
EI (x)w 2 (x)dx + ∑ ci w2 xj
0
führt auf die nicht-triviale Lösung von Gleichung (13.41). ω12 <
l
2
Wird einer der Eigenwerte dort eingesetzt folgt C4 = 0 0 ρA(x)w (x)dx + ∑ mj w xj + ∑ Jk w (xk )
2 2
Technische Mechanik
x = 0/x = l f (x) = C · cos κx sin κx cosh κx sinh κx
4,73004
frei/frei C= 1 −γ 1 −γ
7,85320
cosh κl cos κl = 1 cosh κl−cos κl π
γ= sinh κl−sin κl κi l = 10,9956 ≈ (2n + 1) 2
14,1372
eingespannt/ C= 1 −γ −1 γ
eingespannt 17,2788
√
gelenkig/ sin κl = 0 C= 0 γ 0 0 γ= 2 κi l = iπ
gelenkig
1,87510
sinh κl−sin κl 4,69409 π
eingespannt/ cosh κl cos κl = −1 C= 1 −γ −1 γ γ= cosh κl+cos κl κi l = ≈ (2n − 1) 2
7,85476
frei
10,9955
3,92660
eingespannt/ C= 1 −γ −1 γ
gelenkig 7,06858
π
tan κl = tanh κl γ = cot κl κi l = 10,2102 ≈ (4n + 1) 4
13,3518
frei/ C= 1 −γ 1 −γ
gelenkig 16,4934
l
Hinweis: alle Eigenfunktionen sind so normiert, dass 0
f (x)2 dx = l gilt.
abgeschätzt werden. Darin sind mj Zusatzmassen, die an Damit folgt für die Teilterme aus (13.44):
den Orten xj angebracht sind und Jk die Trägheitsmomen-
te von Körpern an den Orten xk , deren Trägheitsmomente l
so groß sind, dass sie beim Neigen infolge der Durchbie- EI (x)w 2 (x)dx = 313.790 N/m,
gung der Welle nicht vernachlässigbar sind. Die ci sind die 0
Steifigkeiten von externen, elastischen Abstützungen an
den Ortenxi . Die Integrale können abschnittsweise ausge- l
wertet werden, um z. B. wechselnde Balkenquerschnitte ρA(x)w2 (x)dx = 7,65763 kg,
zu berücksichtigen. 0
Zur Anwendung der Formel muss die erste Eigenform ms w2 (xS ) = 2,5 kg,
mit einer Ansatzfunktion (ASF) w(x) geschätzt werden. Js w 2 (xS ) = 0,24674 kg.
In Frage kommen dazu trigonometrische Funktionen wie
Sinusbögen oder Polynomansätze. Es kann z. B. die Eigen- Es fällt auf, dass der Anteil, der aus der Neigung der
funktion aus Tab. 13.3 gewählt werden, die der Situation Scheibe folgt, am geringsten ist, aber nicht vernachläs-
am nächsten kommt. Die Normierung von w(x) ist da- sigt werden kann. Es ergibt sich ω1 < 173,7 1/s. Wird als
bei unerheblich, da sich Vorfaktoren aus dem Quotienten Ansatzfunktion ein quadratisches Polynom mit w(x) =
in (13.44) herauskürzen. Die Formel liefert dabei eine x · (l − x)/l2 gewählt, ergibt sich ω1 < 192,4 1/s, was die-
Abschätzung für ω1 , die stets zu groß ist. Je besser die se Ansatzfunktion als schlechtere Näherung ausweist. Die
Ansatzfunktion geschätzt wurde, desto kleiner, und da- analytische Lösung für die Welle ohne Scheibe liefert mit
mit näher am exakten Ergebnis, ist die Schätzung. So (13.42) einen Wert von ω1 = 202,43 1/s.
können verschiedene Ansatzfunktionen miteinander ver-
glichen werden.
Als Beispiel soll eine Welle aus Stahl mit der Länge l =
1 m und dem Durchmesser von d = 50 mm betrachtet Mit lokalen und globalen Ansatzfunktionen
werden. Im Abstand von xS = 0,25 m vom linken Rand können mehrere Eigenfrequenzen
ist eine dünne Scheibe mit der Masse mS = 5 kg und und Eigenformen berechnet werden
dem Durchmesser D = 0,4 m befestigt. Es soll die erste
Eigenfrequenz mit einem Sinusbogen sowie einer quadra-
tischen Parabel als Ansatzfunktion abgeschätzt werden. Eine Erweiterung des Rayleigh-Quotienten führt auf das
Verfahren von Ritz, mit dem die Eigenwerte und Ei-
Aus den gegebenen Daten folgt ρA = 15,315 kg/m und genformen eines kontinuierlichen Schwingungssystems
EI = 6442,72 N m2 . Das axiale Massenträgheitsmoment approximiert werden können. Das Verfahren ist für alle
der Scheibe beträgt JS = 16
1
mD2 = 0,05 kg m2 . Als Ansatz- Kontinua anwendbar. In der Variante mit globalen An-
funktion wird w(x) = sin(πx/l) (dimensionslos) gewählt. satzfunktionen ist es aber für Körper einfacher Geometrie
334 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden
wie Balken oder Platten besonders geeignet. In der Vari- Zur Bildung der Massen- und Steifigkeitsmatrizen müs-
ante mit lokalen Ansatzfunktionen auf Stützstellen führt sen geeignete Ansatzfunktionen wi (x) eingesetzt werden.
Technische Mechanik
es auf die Methode der Finiten Elemente. Diese müssen lediglich die kinematischen Randbedin-
gungen, d.h. Forderungen nach w = 0 oder w = 0 erfül-
Die kinetische Energie eines schlanken Balkens berech-
len. Sind die Funktionen nur abschnittsweise definiert,
net sich, unter Vernachlässigung der Drehträgheit, aus der
müssen sie sowie ihre Ableitungen an den Abschnitts-
Summation der kinetischen Energie der Translationsge-
grenzen stetig ineinander übergehen. Zudem können bei
schwindigkeit aller Balkenelemente zu
der Auswertung der Integrale beliebige Verläufe von
EI (x) oder ρA(x), z. B. bei veränderlichem Querschnitt,
l
1 berücksichtigt werden.
Ekin = ρAẇ2 dx. (13.44)
2
0 Werden mit (13.46) und (13.49) die Lagrange’schen Glei-
chungen (11.5) angewendet, ergibt sich die Bewegungs-
Wird nun der Separationsansatz (13.24) in der Form gleichung
einer rotatorischen Trägheit auf dem Balken am Ort xm wi (x) = w(x)T · ŷi
gewinnen. Die gesamte Massenmatrix des Schwingungs-
problems wird aus der Summe der Matrix aus (13.46) lautet.
sowie gegebenenfalls mehreren Matrizen aus (13.47) und
(13.48) gewonnen. Wird nur eine einzige Ansatzfunktion Bei diesem Verfahren ist allerdings darauf zu achten, dass
gewählt, entsteht damit genau der Nenner von (13.44). es sich hier bei der Lösung um eine Näherung handelt.
Die Qualität hängt unter anderem von der Sinnhaftigkeit
Analog lautet die potenzielle Energie des Balkens, wieder- der gewählten Ansatzfunktionen ab. Generell sind vor al-
um ohne Zusatzsteifigkeiten lem die niedrigen Eigenfrequenzen und die zugehörigen
Eigenformen sinnvoll, die höheren Moden sind in der Re-
l
1 gel zu ungenau.
Epot = EIw 2 dx,
2
0
Lösung von Balkenschwingungsaufgaben
was nach Einsetzen des Separationsansatzes zu
Technisch relevante Balkenschwingungsaufgaben
l lassen sich oft nicht analytisch lösen. Sie werden
1 T 1 T
Epot = q EIw w T dxq = q Kq (13.49) mit Diskretisierungsverfahren auf Schwingungspro-
2 2 bleme mit einer endlichen Zahl von Freiheitsgraden
0
zurückgeführt.
mit der Steifigkeitsmatrix K führt.
13.2 Kontinuumsschwingungen 335
Beispiel: Berechnung der Eigenfrequenzen und Eigenformen einer Getriebewelle mit lokalen und
Technische Mechanik
globalen Ansatzfunktionen, Methode der Finiten Elemente
Schwingungsprobleme von Balken mit unterschiedli- Aufgrund der Teilung des Balkens in drei Abschnitte
chen Querschnitten sowie Zusatzmassen lassen sich mit unterschiedlicher Geometrie müssen die Integrale
in der Regel nicht mehr analytisch lösen. Mit Hilfe zur Bestimmung der Massenmatrix (13.46) sowie der
von Diskretisierungsverfahren kann eine Näherungs- Steifigkeitsmatrix (13.49) abschnittsweise ausgewertet
lösung gewonnen werden, mit der besonders die nied- werden. So lautet das Element in Zeile i und Spalte j
rigen Eigenfrequenzen und –formen gut approximiert der Massenmatrix:
werden können. ⎛ ⎞
l 3l
Betrachtet wird eine Getriebewelle der Länge l, die aus 4 4 l
⎜ ⎟
drei Abschnitten der Längen l/4, l/2 und l/4 besteht Mij = ρA ⎝ wi wj dx + 2 wi wj dx + wi wj dx⎠
(Abb. 13.22). Im längeren Abschnitt ist der Durchmes- 0 l 3l
4 4
ser im Vergleich zu den anderen Abschnitten größer,
sodass dort die doppelte Querschnittsfläche A und
Die Auswertung kann analytisch z. B. mit einem
das vierfache Flächenträgheitsmoment I vorliegen. Das
Computer-Algebra-System ausgeführt werden. Es
Material der Welle ist homogen, sodass ρ und E für die
folgt für die Massenmatrix des Balkens ohne Zahnrad:
gesamte Welle gleich sind. An der Übergangsstelle der
beiden linken Abschnitte ist das Zahnrad, modelliert ⎛ 2π +2 ⎞
als eine dünne Scheibe der Masse m mit dem Trägheits- 4π 0 − 2π
1
0
⎜ 0 3
0 2 ⎟
− 3π
moment J um die Kippachse, angebracht. M B = ρAl ⎜
⎝ − 1
4 ⎟.
2π 0 9π −2
12π 0 ⎠
m, J 0 − 3π
2
0 3
4
A, I 2A, 4I A, I
Hinzu kommen die Terme für die Masse des Zahnra-
x des gemäß (13.47) mit xm = l/4
⎛ √ ⎞
√1 2 √1 0
m⎜ 2 2 2 0 ⎟
Mm = ⎜ √ ⎟
2 ⎝ 1 2 1 0 ⎠
L/4 L/2 L/4
0 0 0 0
Abb. 13.22 Getriebewelle
und der Kippträgheit des Zahnrades gemäß (13.48)
Globale Ansatzfunktionen (ASF) Als Ansatzfunktionen ⎛ √ ⎞
werden wi = sin(iπx/l), i = 1 . . . 4 verwendet. 1 0 −3 −4 2
π2 ⎜ 0 0 0 0√ ⎟
MJ = J 2 ⎜ ⎟.
1 2l ⎝ −√ 3 0 9√ 12 2 ⎠
−4 2 0 12 2 32
Lokale Ansatzfunktionen, Finite Elemente Die Betrach- Die Massenmatrix des Balkenelements kann gemäß
tung mit lokalen Ansatzfunktionen ist auch als Metho- Gleichung (13.46) berechnet werden, wobei der Vek-
Technische Mechanik
de der Finiten Elemente bekannt. Dazu wird die Welle tor w die vier Ansatzfunktionen (13.50) enthält. zudem
in drei Abschnitte, die Elemente aufgeteilt. Als Koor- wird dxlok = Ldξ substituiert:
dinaten dienen die Auslenkung und die Neigung an
jedem Elementrand bei x = 0, 4l , 3l4 , l. 1
1
Betrachtet wird ein allgemeines Element der Länge L, M = ρA wwT Ldξ
für das eine lokale Längenkoordinate xlok eingeführt 2
0
wird. Mit der Koordinatentransformation ξ = xlok /L ⎛ ⎞
156 22L 54 −13L
wird es auf die Länge 1 normiert. Die Verformung wird
ρAL ⎜
⎜ 22L 4L2 13L −3L2 ⎟
⎟.
durch vier Ansatzfunktionen, jeweils Polynome 3. Ord- =
nung, 420 ⎝ 54 13L 156 −22L ⎠
−13L −3L2 −22L 4L2
H1 (ξ ) = 2ξ 3 − 3ξ 2 + 1, (13.51)
H2 (ξ ) = L −ξ 3 + 2ξ 2 − ξ ,
(13.50) Die Steifigkeitsmatrix kann aus (13.49) abgeleitet wer-
H3 (ξ ) = −2ξ 3 + 3ξ 2 , den. Hier ist noch zu beachten, dass w die zweite
Ableitung nach der Ortskoordinate xlok darstellt. Die
H4 ( ξ ) = L ξ 3 − ξ 2 , Ansatzfunktionen sind jedoch mit der normierten Ko-
ordinate ξ aufgestellt. Es gilt die Kettenregel
angenähert. Jede der Ansatzfunktionen hat genau an
einem der beiden Ränder entweder die Auslenkung 1
oder die Steigung 1 (Abb. 13.24). 2
d2 Hi dξ d2 Hi 1
Hi = · = ·
dξ 2 dxlok dξ 2 L2
1
Das Zahnrad wird durch Anwendung von (13.47) zum Tab. 13.4 Eigenfrequenzen bei globalen und lokalen Ansatzfunktionen
rechten Rand des Elements 1 hinzugefügt. Mit ξ = 1 Eigenfrequenz f i in Hz
Technische Mechanik
verbleibt nur H3 (1) = 1, somit gilt w = (0, 0, 1, 0)T . Die Nummer Globale ASF Lokale ASF
daraus ermittelte zusätzliche 4 × 4 Massenmatrix ent- 1 137,272 126,757
hält M33 = m, ansonsten nur Nullelemente. Des weite- 2 464,407 421,628
ren gilt an dieser Stelle w = (0, 0, 0, 1)T ; somit enthält 3 1138,460 888,722
die zusätzliche Massenmatrix aus der Neigung gemäß 4 2195,478 2502,540
(13.48) nur M44 = J, ansonsten nur Nullelemente. 5 5398,459
6 7544,934
Für die Zusammensetzung der Elementmatrizen zu
den Systemmatrizen sind die Randbedingungen zwi-
schen den Elementen zu beachten. So muss z. B. am
Aus dem Ansatz mit 4 globalen Ansatzfunktionen fol-
Übergang von Element 1 zu Element 2 bei x = l/4
gen 4 Eigenfrequenzen, die lokalen Ansatzfunktionen
berücksichtigt werden, dass w1l = w2r und ϕ1r = ϕ2l
mit 6 verbliebenen Freiheitsgraden liefern 6 Frequen-
gelten muss. Vergleichbares gilt für den Übergang von zen. Da es sich bei den vorgestellten Verfahren um
Element 2 zu Element 3 bei x = 3l/4. Des Weiteren Näherungslösungen handelt, weisen sie deutliche Un-
müssen die Randbedingungen an den Lagerstellen mit terschiede in der Lösung auf. Zudem nimmt die Lö-
w1l = 0 und w3r = 0 einbezogen werden. sungsqualität hin zu höheren Frequenzen ab.
Die Assemblierung der Massenmatrix aus den Ele-
mentmatrizen ist in Abb. 13.26 dargestellt.
w1l
φ1l
M1
w1r w2l m
φ1r φ2l J
M2
w2r w3l
φ2r φ3l 1. EF glob.
M3 0 2. EF glob.
w3r
3. EF glob.
φ3r 1. EF lok.
2. EF lok.
Abb. 13.26 Assemblierung der Massenmatrix aus den Elementmatrizen 3. EF lok.
Weiterführende Literatur
Die weiterführende Literatur für alle Kapitel des Teils
Technische Mechanik
Antwort 13.1 Der Term auf der Hauptdiagonalen in Zeile des Additionstheorems und ω = κc zunächst zu:
i lautet dann di−1 + di + dabs,i .
sin κx cos ωt − cos κx sin ωt + sin κx cos ωt + cos κx sin ωt,
Antwort 13.2 Nein. Die Umkehrung gilt nicht. Das wird
z. B. dadurch klar, dass die Zahl der erforderlichen Para- was sich zu 2 sin κx cos ωt zusammenfassen lässt. Der
meter verglichen wird. Ein System mit n Freiheitsgraden Teilterm 2 sin κx sin ωt ergibt sich analog durch die Über-
hat bei Rayleigh-Dämpfung nur die zwei Dämpfungspa- lagerung von zwei Kosinuswellen.
rameter dM und dK , jedoch n frei wählbare Dämpfungspa-
rameter Di . Rayleigh-Dämpfung ist somit ein Spezialfall
Antwort 13.5 Für die erste Eigenfrequenz
eines Balkens
der modalen Dämpfung.
gilt gemäß Gleichung (13.42) ω1 = ρA κ1 . Somit genügt
EI 2
Antwort 13.3 Die Eigenform ist eine Bewegung, bei der es, für zwei identische Balken bei unterschiedlichen La-
sich die Freiheitsgrade genau gegenläufig bewegen. Wenn gerungen die Werte von κ1 l in Tab. 13.2 zu vergleichen.
beide Freiheitsgrade gleichsinnig in Phase angeregt wer- Für den Fall frei/frei ergibt sich κ1 l = 4,73004 und für den
den, lautet der Gewichtsvektor f̂ = (1, 1)T . Damit ist das Fall gelenkig/gelenkig κ1 l = π. Das Verhältnis der bei-
System nicht anregbar. Es gilt yT · f̂ = 0. den κ-Werte beträgt ca. 1,5. Da der Faktor κ quadratisch
in die Eigenkreisfrequenz eingeht, ist die erste Eigenfre-
Antwort 13.4 Die Überlagerung von zwei Sinuswellen quenz des frei/frei gelagerten Balkens damit ca. 2,25 mal
sin [κ (x − ct)] + sin [κ (x + ct)] führt durch Anwendung so hoch wie die des gelenkig gelagerten Balkens.
Aufgaben 339
Aufgaben
Technische Mechanik
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
13.1 •• Ein vereinfachtes Aufzugmodell besteht aus Reaktion auf harmonische Anteile des Antriebsmoments
der Treibscheibe mit der Trägheit J, dem Radius R, der darstellt.
Kabine, dem Gegengewicht sowie einem Seil. An der
Scheibe wirkt das Antriebsmoment M(t). Für geringe Ge- Hinweis: Führen Sie eine neue Koordinate yT = Rϕ ein
bäudehöhen mit kurzen, leichten Seilen können die freien und entfernen damit R aus der Bewegungsgleichung.
Seilstrecken durch zwei masselose Federn modelliert wer-
Resultat: Eigenkreisfreqzenzen:
den, deren Steifigkeiten aber von der jeweiligen Länge
und damit von der Fahrposition des Aufzugs abhängen.
c (2 + κ )c
ω1 = 0, ω2 = , ω3 = .
m κm
J
R φ Eigenvektoren:
M(t) ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞
1 0 − κ2
y1 = ⎝−1⎠ , y2 = ⎝1⎠ , y3 = ⎝ −1 ⎠ .
1 1 1
m m
yK yG
Gleichgewichtslage
ÿˆ K 1 1 − η2
Zu untersuchen ist das Schwingverhalten des stehenden = .
Aufzugs. Bestimmen Sie die Eigenkreisfrequenzen und M̂ Rm κη 4 − 2(1 + κ )η 2 + (2 + κ )
Eigenformen für den Sonderfall J = κmR2 und c1 = c2 =
c. Stellen Sie die Eigenformen grafisch dar. Bestimmen Sie 13.2 • • • Hub- und Nickschwingungen eines Kfz auf
weiter den Amplitudengang |ÿˆ K /M̂|, der die vertikale Ka- welliger Fahrbahn können mit einem Halbfahrzeug-
binenbeschleunigung, ein wichtiges Komfortmerkmal, als Modell untersucht werden.
340 13 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden – diskrete und kontinuierliche Schwingungsmoden
Der Wagenkasten ist ein starrer Körper mit den zwei 13.3 • Die schwingende Länge der Saiten (Mensur)
Freiheitsgraden Vertikalhub y und Nickwinkel ϕ. In einer typischen E-Gitarre misst l = 0,628 m. Die tiefe A-
x-Richtung bewegt sich das Fahrzeug mit konstanter Saite hat eine Längendichte von ρl = 5,12 · 10−3 kg/m.
Geschwindigkeit x = vt. Der Radstand beträgt 2l, der Welche Zugkraft F0 muss in der Saite wirken, damit der
Schwerpunkt liegt in der Mitte zwischen den Rädern. Grundton die Frequenz f = 110 Hz hat? Wie groß ist die
Das Fahrzeug hat die Masse m und das Trägheitsmoment Wellenausbreitungsgeschwindigkeit c in der Saite?
JS = ml2 . Die Steifigkeiten der Radaufhängungen betra-
Hinweis: Formen Sie (13.32) geeignet um.
gen c1 und c2 . Das Fahrzeug soll hier vereinfacht ohne
Dämpfung und mit linearisierter Kinematik bei kleinen Resultat: Für die notwendige Zugkraft und die zugehöri-
Verdrehungen von ϕ untersucht werden. ge die Ausbreitungsgeschwindigkeit ergibt sich
Der Koodinatenvektor q = (y, ϕ )T fasst die Vertikalaus- F0 = 97,73 N und c = 138,16
m
.
lenkung des Schwerpunktes und die Verdrehung zusam- s
men. Die Massen- und Steifigkeitsmatrix der Bewegungs-
gleichung M q̈ + Kq = F lauten: 13.4 •• Die Saite eines Musikinstruments mit der
Länge l und der Wellenausbreitungsgeschwindigkeit c
m 0 c1 + c2 l (c2 − c1 ) wird in der Mitte angezupft und losgelassen. Die Saite hat
M= K= .
0 JS l (c2 − c1 ) l2 (c2 + c1 ) unmittelbar vor dem Loslassen eine symmetrische „Dach-
form“ mit der Maximalauslenkung h in der Mitte. Welche
Moden werden durch diese Anfangsbedingungen ange-
Der Lastvektor folgt aus der Fusspunkterregung zu: regt und welche Amplitude haben sie jeweils?
Hinweis: Stellen Sie die Anfangsform als Funktion w0 (x)
c1 s1 (t) + c2 s2 (t)
F ( t) = . dar und werten Sie die Integrale gemäß (13.34) aus. Es
−l [c2 s2 (t) − c1 s1 (t)]
empfiehlt sich w0 (x) abschnittsweise von 0 . . . 2l und 2l . . . l
zu definieren und entsprechende Teilintegrale zu bilden
Für die Fahrbahn soll analog zum Beispiel des Fahrzeugs und zu summieren.
auf Schlechtwegstrecke im Kap. 12 eine Strecke in Sinus-
form der Wellenlänge λ angenommen werden. Resultat: Für die geraden Koeffizienten gilt A2 = A4 =
A6 = . . . = 0. Für die ungeraden Koeffizienten gilt:
Berechnen Sie für die zwei Fälle der Wellenlängen der
Straße λa = 4l und λb = 2l jeweils jene Fahrgeschwindig- 8h + für i = 1, 5, 9, . . .
keiten vy und v ϕ , bei denen vom Fahrzeug ausschließlich Ai = ± mit
(iπ )2 − für i = 3, 7, 11, . . .
Hub- bzw. Nickbewegungen ausgeführt werden.
Technische Mechanik
Hinweis: Betrachten Sie das Problem als durchgehenden,
komogenen Biegebalken mit einer Punktmasse in der Mit-
te und nutzen Sie die Symmetrie aus.
Die Panele haben die Länge l = 20 m, die Masse ρAl = Resultat:
50 kg und die Biegesteifigkeit EI = 100.000 N m2 . Berech-
nen Sie die erste Eigenkreisfrequenz und die zugehörige w(l)
ω1 = 1,8552 s−1 , = −14,3643.
symmetrische Eigenform. Ermitteln Sie das Verhältnis der w (0 )
Werkstoffkunde Teil
II
Werkstoffkunde
Inhaltsverzeichnis
343
Die Welt der Werkstoffe –
der Grundbaukasten des
14
Maschinenbaus
Werkstoffkunde
14.1 Werkstoffe für die Produkt- und Bauteilentwicklung . . . . . . . . . . 346
14.2 Werkstoffanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
14.3 Werkstoffhauptgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
14.4 Werkstoffe im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
Frage 14.1
Beispiel: Werkstoffauswahl, Gestaltung, Fertigung Welche Werkstoffe werden heute in Fahrradrahmen ein-
Die Zusammenhänge zwischen Werkstoffauswahl, Ge- gesetzt? Was sind Ihre spezifischen Vorteile?
staltung und Fertigung lassen sich an verschiedenen tech-
nischen Produkten aufzeigen. Ein einfaches Beispiel sind
Fahrradrahmen. Sollen diese besonders leicht sein, kom-
men neben Aluminium- oder Titanrahmen auch kohlen-
stofffaserverstärkte Kunststoffe (CFK) zur Anwendung.
14.2 Werkstoffanforderungen
In Abb. 14.2 ist ein Fahrradrahmen aus einer hochfesten
Aluminiumlegierung im Vergleich zu einem CFK-Rahmen Im modernen Maschinenbau findet eine breite Palette
dargestellt. Der Aluminiumrahmen wurde durch Fügen von Werkstoffen Verwendung. Die Werkstoffauswahl ori-
gefertigt, d. h., dass prismatische Rohrstücke, die als Halb- entiert sich in den seltensten Fällen an einer einzigen
14.2 Werkstoffanforderungen 347
a b
Werkstoffkunde
Abb. 14.2 Auswirkung der Werkstoffwahl auf Gestalt und Dimensionierung am Beispiel des Fahrradrahmens (siehe Beispiel in Abschn. 15.1); a Aluminiumlegie-
rung, prismatische Rohre, Fügung durch Schweißen (© nerthuz – Fotolia.com); b Kohlenstoffaser/Epoxidharz-Faserverbundwerkstoff, integrales Fertigungsverfahren
Leitbeispiel Antriebsstrang
Werkstoffe
welche Werkstoffanforderungen in der Praxis auftreten standhalten und dennoch möglichst leicht sein, die
können und welche Werkstoffe diesen Anforderungen Wärmeabfuhr gut ermöglichen, damit die Zylinder-
gewachsen sind. wandtemperatur unter 250 °C bleibt, und zugleich
die Betriebsgeräusche dämmen. Es soll zudem che-
misch beständig gegenüber alle Umgebungsmedien
a) Turbolader-Rotor Ein Turbolader wird mittels ei-
(Kraftstoff, Öl, Kühlwasser, Spritzwasser) sein. An den
ner Turbine (Abb. 14.4) angetrieben, die den Abgas-
Zylinderlaufflächen wird zusätzlich hohe Verschleiß-
strom nutzt. Dabei können Abgastemperaturen von
beständigkeit benötigt, und schließlich soll es trotz
bis zu 1000 °C auftreten. Dazu sind die Motorabgase
komplexer Formgebung in Großserie kostengünstig
wasserdampfhaltig und chemisch aggressiv, weshalb
gefertigt werden können. Alle diese Anforderungen
auch bei diesen hohen Temperaturen eine ausreichen-
werden von Gusseisen und von bestimmten Alumini-
de Korrosionsbeständigkeit gegeben sein muss. Die
umlegierungen erfüllt. Kurbelwellengehäuse werden
hohen Rotationsgeschwindigkeiten erfordern ein mög-
aus diesen Werkstoffen durch Gießen hergestellt und
lichst geringes Gewicht, damit die Fliehkräfte nicht
durch zerspanende Verfahren (Bohren, Fräsen, Honen,
zu hoch werden, die Turbinenform ist komplex. Vor
Schleifen etc.) nachbearbeitet, um die erforderlichen
allem wegen der geforderten Hochtemperaturbestän-
Maßhaltigkeiten und Oberflächenqualitäten zu ge-
digkeit sind diese Abgasturboladerturbinen ein Ein-
währleisten.
satzgebiet technischer Keramik (z. B. Siliziumnitrid),
intermetallischer Phasen (z. B. FeAl) oder Hochtem-
peraturmetalllegierungen (Nickelbasis-Superlegierun-
gen). Zur Fertigung werden vor allem bei Keramiken
pulvermetallurgische Fertigungsrouten verwendet, die
eine komplexe Formgebung ermöglichen, ohne dass
man den Werkstoff in den schmelzflüssigen Zustand
überführen muss. Bei intermetallischen Phasen und
Metallen ist Gießen üblich. Diese Bauteile werden in
b
relativ kleinen Serien hergestellt, wodurch die Wahl re-
lativ aufwendiger Fertigungsverfahren wirtschaftlich Abb. 14.5 Kurbelgehäuse. Das größte und schwerste Bauteil eines Otto-
sinnvoll sein kann. oder Diesel-Verbrennungsmotors ist das Kurbelwellengehäuse, in dem inner-
halb der Zylinder die Verbrennung des Kraftstoffes stattfindet. Es besteht aus
einer Aluminiumgusslegierung
allem auf die Temperaturbeständigkeit geachtet wer- sich um Standardbauteile handelt, werden Zahnräder
den, da Thermoplaste bei hohen Temperaturen erwei- in großen Serien produziert. Dabei ist vor allem die
chen. Gleichzeitig ermöglicht jedoch das Spritzgießen hohe Präzision bei einer großen Stückzahl eine ferti-
die kostengünstige Großserienfertigung solcher Öl- gungstechnische Herausforderung. Das spanende Her-
wannen. Um die Festigkeit zu steigern, können dem ausarbeiten der Zähne ist Stand der Technik, ebenso
Kunststoff Fasern zugesetzt werden. Solche Polymer- wie eine endkonturnahe Fertigung durch Spritzgießen
matrixverbundwerkstoffe sind dann mechanisch stär- (v. a. bei Kunststoffzahnrädern) oder durch pulverme-
ker belastbar. tallurgische Verfahren. Sofern die mechanischen Be-
anspruchungen nicht allzu hoch sind, können Kunst-
stoffe verwendet werden, wobei hier vor allem Hoch-
leistungspolymere, wie Polyoxymethylen (POM), zum
Einsatz kommen. Bei metallischen Getriebezahnrädern
Werkstoffkunde
werden bei hohen Beanspruchungen Stähle gewählt,
die durch Einsatzhärten, d. h. dem gezielten Einlagern
von härtesteigernderm Kohlenstoff in den Zahnflan-
ken, zusätzlich in ihrer Verschleißfestigkeit verbessert
werden. Ein komplettes Härten des Zahnrades samt
c
Zahnfuß und -kern ist nicht sinnvoll, da die zyklische
Abb. 14.6 Ölwanne. Die Ölwanne aus Polypropylen ist ein Bauteil, das im
Beanspruchung am Zahnfuß durch ein hartes, sprödes
Vergleich zu den bereits genannten Motorenbauteilen geringeren Tempera- Material nicht gut ertragen wird. Daher müssen die Ei-
turbelastungen ausgesetzt ist, aber dennoch eine komplexer Geometrie hat genschaften lokal gezielt auf den jeweils herrschenden
Lastfall (Verschleiß an der Flanke, Biegeschwingung
am Fuß) angepasst werden.
d) Zahnrad Zahnräder sind Standardelemente in me-
chanischen Konstruktionen wie Getrieben oder Mo-
toren (Abb. 14.7). Um deren Funktion lange zu ge-
währleisten, müssen Zahnräder präzise gefertigt sein
und vor allem eine lange Lebensdauer besitzen. Dies
bezieht sich vor allem auf einen möglichst geringen
Verschleiß an den Zahnflanken, wo sich die Zahn-
räder im Eingriff mit den gepaarten Bauelementen
wie anderen Zahnrädern oder Zahnstangen befinden.
Gleichzeitig wird durch die mechanische Belastung d
im Betrieb der Zahnfuß am Übergang zum Kern des
Zahnrades zyklisch unter Biegung beansprucht. Auch Abb. 14.7 Zahnrad als Getriebebauteil. Das Getriebe ist ebenfalls ein
Bauteil des Antriebsstranges, welches jedoch vergleichsweise geringen Be-
hier wird häufig auf eine gewichtsoptimierte Ausfüh-
lastungen ausgesetzt ist. Durch die komplexen mechanischen Vorgänge sind
rung geachtet, weshalb vor allem große Zahnräder hier jedoch Aspekte wie der Verschleiß, die Lebensdauer und die Präzision
Bohrungen im Zahnkern aufweisen, um in wenig be- wichtig für die Wahl des Werkstoffes. Die Zahnräder sind daher aus oberflä-
anspruchten Bereichen Material zu entfernen. Da es chengehärtetem Stahl
zu geführt, dass bis heute vor allem Metalle in Fahr- Rotorblatt einer Windkraftanlage ist großen
zeugkarosserien eingesetzt werden. Im Speziellen sind
Belastungen ausgesetzt
dies im Wesentlichen aushärtbare Aluminiumlegierungen
und auch hochfeste Stähle. Für die Blechbeplankung der
Karosserie (Motorhauben, Türen, Heckdeckel) kommen Moderne Windkraftanlagen haben eine enorme Größe
jedoch auch niedrigfeste Stähle und Aluminiumlegierun- (Abb. 14.8), da eine große Windkraftanlage aufgrund von
gen zur Anwendung, die ein gutes Umformvermögen Einsparungen in der Infrastruktur (weniger Masten, we-
besitzen. Werden für diese Anwendungen primär Knetle- niger Versorgungsleitungen, insgesamt geringere Anzahl
gierungen verwendet, gibt es gerade im Spaceframe heute zu wartender Anlagen) effizienter ist als mehrere kleine.
auch Fahrzeugkonzepte mit einem hohen Anteil an Guss- Das Rotorblatt ist im Betrieb hohen mechanischen Be-
bauteilen. Wachsende Bedeutung kommt den Verbund- anspruchungen ausgesetzt: Dies ist zum einen bedingt
werkstoffen zu: diese ermöglichen den Bau sehr leichter durch die Windlasten, zum anderen durch die hohen
und steifer Strukturen, jedoch müssen hierzu die großse- Fliehkräfte, die mit steigender Anlagengröße (d. h. stei-
rienfähigen Fertigungsverfahren und Reparaturkonzepte gendem Rotordurchmesser) sehr stark anwachsen. Er-
noch weiterentwickelt werden. schwerend kommt hinzu, dass diese Lasten nicht nur
350 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus
Frage 14.2
Definieren Sie das Anforderungsprofil, dass sich für einen
Werkstoff ergibt, der für LEGO-Bausteine eingesetzt wer-
den soll.
Werkstoffkunde
14.3 Werkstoffhauptgruppen
Abb. 14.8 Rotorblatt einer Windkraftanlage
Die Zahl der heute verfügbaren Werkstoffe ist beträcht-
lich, und täglich kommen neue hinzu. Die Werkstof-
statisch, sondern zyklisch auftreten, und solche zyklische fe können in drei große Hauptgruppen eingeteilt wer-
Lasten auf Dauer zu einer Materialermüdung führen kön- den, die für den Maschinenbau große Relevanz besitzen
nen. Um dies zu verhindern, müssen solche Anlagen sehr (Abb. 14.9):
robust sein und auch hohen Sicherheitsanforderungen
genügen. Gleichzeitig erfordert auch die einfache Mon- 1. Metalle und Legierungen,
tage solcher Anlagen die Verwendung möglichst leichter 2. Keramiken und keramische Gläser und
und gleichzeitig steifer Materialien. Da es sich um ver- 3. Polymere.
gleichsweise kleine Serien handelt, werden hier in der
Regel zumindest im Bereich der Rotorblätter Faserver- Neben diesen technischen Werkstoffen, bilden die Natur-
bundwerkstoffe eingesetzt. Diese glasfaser- oder kohlen- stoffe eine weitere Werkstoffhauptgruppe, die als Voll-
stofffaserverstärkten Kunststoffe werden zudem häufig werkstoffe im Maschinenbau weniger Relevanz besitzen.
5s 5s2 4d 5s2 4d 25s2 4d45s 4d 55s 4d65s2 4d75s2 4d 85s 4d10 4d105s 4d10 5s2 4d10 5s25p 4d105s25p2 4d105s25p3 4d105s2 5p4 4d105s 25p5 4d105s25p 6
55 56 57 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
Cs Ba La Hf Ta W Re Os Ir Pt Au Hg Tl Pb Bi Po At Rn
132.91 137.33 138.91 178.49 180.95 183.85 186.21 190.20 192.2 195.08 196.97 200.59 204.38 207.20 208.98 (208.98) (209.99) (222.02)
6 1.903 3.5 920° 6.19 2130° 13.09 16.6 19.3 21.04 22.57 22.5 21.45 19.32 13.55 303° 11.85 11.36 9.80 (9.2) - 9.960 10 -3-
(1.47) 12.7 37.5 138 175 388 461 560 528 168 78.7 - 8.0 16.2 31.9 - - -
- 19 5.8 (6.0) 3.6 7.0 6.8 - 6.6 8.94 14.2 - 29 28 - - - -
30° 2.67 710° 2.22 350° 1.87 1310° 1.58 3000° 1.46 3400° 1.39 3160° 1.37 2500° 1.35 2454° 1.36 1773° 1.38 1063° 1.44 -38.9° 1.57 232° 1.71 327° 1.75 271° 1.70 246° 1.76 302° - (-71)° -
Xe - 5.02 3.76 3.20 3.30 3.16 2.76 2.73 3.83 3.92 4.07 3.0 3.45 4.95 4.74 - - -
- - 6.06 5.06 - - 4.46 4.31 - - - - 5.52 - - - - -
6s 6s2 5d 6s2 5d 26s2 5d36s 2 5d 46s2 5d56s2 5d66s2 5d 76s2 5d96s2 5d106s 5d106s2 5d106s26p 5d106s26p2 5d106s26p3 5d106s26p4 5d106s2 6p5 5d106s26p6
Abb. 14.10 Hauptgruppen 1–6 (Insert : Uran aus der 7. Hauptgruppe) des Periodensystem der Elemente. Diese Version enthält zahlreiche für den Werkstoffkundler interessante Zusatzinformationen (©
Hellmut Fischmeister, MPI für Metallforschung, Stuttgart, 1995; mit freundlicher Genehmigung des Urhebers, 12/2013)
Werkstoffhauptgruppen
351
Werkstoffkunde
352 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus
Auf Basis der verschiedenen Werkstoffe können auch zel- besonders hoher Packungsdichte (siehe Abb. 14.15) an
lulare Materialien (Schäume) generiert werden. Durch (in der Regel kubisch flächenzentriert (kfz), hexagonal
Kombination verschiedener Werkstoffe entstehen die ma- dichtest gepackt (hdp) oder kubisch raumzentriert (krz)).
kroskopisch homogenen aber mikroskopisch inhomoge- Wie Abb. 14.11 zeigt, ist die metallische Bindung auch der
nen Verbundwerkstoffe. Entsteht ein makroskopisch in- Grund dafür, dass Metalle im Vergleich zu anderen Werk-
homogener Werkstoff, bei dem die einzelnen Materialien stoffen sehr gut plastisch verformbar sind. Beim Gleiten
deutlich räumlich getrennt angeordnet in makroskopi- der Versetzungen (siehe Vertiefung: Versetzungen und
schen Formen miteinander verbunden werden, wird dies Abschn. 15.6) auf Kristallebenen unter äußerer Schub-
als „Werkstoffverbund“ bezeichnet. Verbundwerkstoffe beanspruchung bleiben die Bindungskräfte erhalten. Der
und Werkstoffverbunde, die aus mehr als zwei Werk- metallische Bindungstyp ermöglicht auch Kristallstruktu-
stofftypen bestehen, werden als „Hybride“ bezeichnet. ren aus unterschiedlichen Atomsorten, ohne dass dabei
Hierzu gehören z. B. die Faserkunststoffverbund-Metall- ein bestimmtes stöchiometrisches Mengenverhältnis ein-
Werkstoffkunde
Laminate. Bei der Fertigung von Hybriden kommen auch gehalten wird. Wie in den nachfolgenden Kapiteln noch
Fügetechnologien zum Einsatz. gezeigt wird, sind solche Substitutionsmischkristalle tech-
nologisch von hohem Interesse, da sie in der Regel fester
Die Einteilung in diese Hauptgruppen orientiert sich
sind als reine Metalle und sich daher besser als Konstruk-
an vorherrschenden chemischen Bindungstypen, der von
tionswerkstoffe eignen. Die Kombination unterschiedli-
der Stellung der beteiligten chemischen Elemente im Pe-
cher metallischer Elemente (d. h. das „Legieren“) kann in
riodensystem (Abb. 14.10) abhängt. Bei Verbundwerkstof-
Verbindung mit gezielten Wärmebehandlungen zu zahl-
fen, Werkstoffverbunden oder Hybriden, die ja aus meh-
reichen anderen Mikrostrukturen und Effekten führen,
reren Materialien der erstgenannten drei Gruppen be-
die sich gezielt für anwendungsgerechte Kombinationen
stehen, treten verschiedene Bindungstypen auf. Dadurch
von Eigenschaften einsetzen lassen. Die Legierungskunde
ist die Kombination von verschiedenen Werkstofftypen
(siehe Kap. 16) ist deshalb eine wichtige Teildisziplin in
zu Hybriden nicht immer einfach und die Frage nach
Materialwissenschaft und Werkstofftechnik. Die Kombi-
den Grenzflächeneigenschaften für Verbunde tritt in den
nation von metallischen und nichtmetallischen Elementen
Vordergrund. Der Bindungstyp hat große Auswirkungen
führt im Allgemeinen zu keramischen Materialien, die
auf die Verarbeitungs- und Gebrauchseigenschaften der
später besprochen werden. In geringen Konzentrationen
Werkstoffe. Im Folgenden werden Metalle, Keramiken
können die besonders kleinen nichtmetallischen Atome
und Polymere unter diesem Blickwinkel betrachtet.
Wasserstoff, Stickstoff, Kohlenstoff und Sauerstoff aber in
Metallgittern auf Zwischengitterplätzen eingebaut wer-
den, ohne dass dadurch die metallische Bindung und
Wie werden die Werkstoffe eingeteilt? der metallische Charakter verloren gehen. Solche Inter-
stitionsmischkristalle (Einlagerungsmischkristalle) haben
ebenfalls eine große Bedeutung in der Werkstoffkunde.
Die Zuordnung der Werkstoffe zu den Werkstoffhaupt- So wird die gesamte Technologie der Stähle maßgeblich
gruppen lässt eine systematische Einteilung der Welt der dadurch geprägt, dass Eisen in zwei unterschiedlichen
Werkstoffe zu. Im Folgenden sind die Werkstoffhaupt- Kristallstrukturen existiert (bei tieferen Temperaturen in
gruppen kurz charakterisiert. der krz Struktur, bei hohen Temperaturen in der kfz Struk-
tur), in denen sich Kohlenstoff unterschiedlich gut löst.
Metalle Die wichtigsten metallischen Konstruktionswerkstoffe
Mehr als drei Viertel aller chemischen Elemente sind Me- (Abb. 15.3) sind die Eisenbasiswerkstoffe (Stähle und
talle. Es handelt sich dabei um alle Elemente, die im Gusseisen), gefolgt von Aluminium-, Kupfer-, Nickel-,
Periodensystem (Abb. 14.10) links und unterhalb einer ge- Magnesium- und Titanlegierungen. Bauteile aus metal-
dachten Linie mit den Elementen B, Si, Ge, Sb, At liegen. lischen Werkstoffen lassen sich hierbei sowohl durch
Metallatome sind elektropositiv, d. h., sie neigen dazu, im urformende (Gießen, Sintern) als auch umformende (Wal-
Kontakt mit anderen Atomen ihre Valenzelektronen abzu- zen, Schmieden, Strangpressen) Verfahren herstellen (sie-
geben. Handelt es sich bei den anderen Atomen ebenfalls he Kap. 30).
um Metalle, kommt es zu einer Aufteilung von Valenz-
elektronen unter allen beteiligten Atomen. Die Valenz- Keramiken
elektronen sind delokalisiert, d. h., sie sind frei beweglich
zwischen den Atomrümpfen. Dieses Elektronengas ist der In Keramiken sind die Atome durch ionische oder kova-
Grund vieler metalltypischer Eigenschaften, wie z. B. der lente Bindungen gebunden. Ionische Bindungen kommen
hohen elektrischen und thermischen Leitfähigkeit, des zu Stande, wenn ein metallisches (z. B. Aluminium) und
Glanzes und der Intransparenz. Die Bindungen zwischen ein nichtmetallisches chemisches Element (z. B. Sauer-
den Atomen sind räumlich ungerichtet. Im festen Zu- stoff) miteinander reagieren. Dabei treten Elektronen von
stand ordnen sich die Atomrümpfe auf Kristallgittern mit den Metallatomen zu den Nichtmetallatomen über, es
14.3 Werkstoffhauptgruppen 353
Werkstoffkunde
Die hohen Schmelzpunkte keramischer Materialien füh-
ren dazu, dass die Keramiken mithilfe der Pulvertech-
nologie (siehe Abschn. 30.2) verarbeitet werden. Hierzu
wird ein keramisches Pulver entweder direkt oder als Teil
einer plastifizierbaren Masse verdichtet und anschließend
gebrannt. Beim hierbei ablaufenden Sintervorgang ver-
Abb. 14.11 Vergleich des plastischen Verformungsvermögens. Bei Metallen binden sich die ursprünglich separaten Teilchen zu einem
bleiben die Bindungskräfte erhalten (hohes Verformungsvermögen), bei Ionen- festen Bauteil. Ausnahme sind hier wiederum die Gläser,
gittern kommen gleichartig geladene Ionen übereinander zu liegen (Sprödbruch) die in der Regel aus dem schmelzflüssigen Zustand her-
aus verarbeitet werden.
Übersicht: Bindungarten
In Festkörpern existieren im Wesentlichen vier Bin- ist, andererseits jedoch die Atomrümpfe entlang von
dungsarten. Drei dieser Bindungsarten beruhen auf Versetzungen leicht aneinander abgleiten können und
dem Prinzip, dass die Atome bestrebt sind, ihre plastische Verformung relativ leicht möglich ist. Der
äußeren Elektronenschalen aufzufüllen, um so eine Elastizitätsmodul eines Materials kann dabei als Feder-
möglichst stabile Elektronenkonfiguration zu erhalten. konstante zwischen den Atomen verstanden werden:
Diese drei Bindungsarten nennt man auch Primär- Ist diese Feder sehr steif (hohe Bindungsenergie) und
bindungen. Die Sekundärbindungen – der vierte Bin- sind viele Federn vorhanden (hohe Bindungsdichte),
dungstyp – beruht auf elektrostatischer Wechselwir- dann bedeutet dies, dass der Elastizitätsmodul sehr
kung zwischen permanenten oder temporären Dipo- hoch ist. Ein wesentlicher Effekt der Metallbindung
Werkstoffkunde
len. Diese Bindungen sind auch im Vergleich zu den ist die elektrische Leitfähigkeit. Durch die hohe Be-
Primärbindungen schwach. Abbildung 14.12 zeigt zu- weglichkeit der Elektronen und dank der fehlenden
sammenfassend einen Überblick über die Bindungs- Zuordnung zu einem bestimmten Atom sind diese
typen und stellt nochmals dar, welche Bindungen in mobil und können sich beim Anlegen eines elektri-
den verschiedenen Werkstoffhauptgruppen überwie- schen Feldes sehr leicht bewegen. Es entsteht ein ge-
gend wirksam sind. richteter Elektronenfluss, der in einem geschlossenen
Kreis einen elektrischen Stromfluss zur Folge hat.
Metallbindung Metalle mit geringer Elektronegativi-
tät geben ihre Valenzelektronen in die Umgebung ab Kovalente Bindung In kovalenten Bindungen nutzen
(Elektronengas), wobei ein positiv geladener Atom- mehrere Atome mindestens zwei Elektronen gemein-
rumpf verbleibt. Aluminium ist beispielsweise drei- sam mit ihren Bindungspartnern. Zum Beispiel kann
wertig und gibt drei Elektronen ab. Die Valenzelektro- ein Kohlenstoffatom seine äußere Elektronenhülle von
nen „gehören“ allen Atomen gemeinsam, sie sind delo- vier vorhandenen Elektronen auf acht Elektronen
kalisiert. Die Bindung ist daher auch ungerichtet. Das (Edelgaskonfiguration) auffüllen, indem es vier Bin-
Elektronengas hält durch die gemeinsame Anziehung dungspartner nutzt, mit dem jeweils ein gemeinsa-
der Elektronen die positiven Atomrümpfe zusammen, mes Elektronenpaar gebildet wird. Es entstehen dann
es entsteht so eine sehr dichte Packung der Atomrümp- vier gerichtete kovalente Bindungen mit den vier
fe (bis hin zu einer Packungsdichte von 74 %, was den Nachbaratomen. Die Richtungsabhängigkeit ist dabei
höchsten Wert für die Packungsdichte gleich großer ein wesentliches Merkmal der kovalenten Bindung.
Atome darstellt) und eine starke Bindung. Dies führt Bei Kohlenstoff entsteht eine tetraedrische Anord-
dazu, dass Metalle einerseits hohe Dichten sowie hohe nung. Da diese Bindung sehr stabil ist, besitzen auch
Steifigkeiten besitzen, d. h., dass der Widerstand gegen kovalent gebundene Werkstoffe hohe Elastizitätsmo-
eine elastische Verformung (Elastizitätsmodul) groß duln (Abb. 14.13). Diamant besitzt gar den höchsten
ionisch kovalent metallisch Van der Waals + H-Brücken
e¯
e¯
6 – 11 eV 6 – 13 eV 1 – 5 eV 0,01 – 1 eV
NaCl, etc., Oxide Diamant, Si, Metalle, aber teilweise zwischen Polymer-Ketten,
(mit kovalenten Anteilen) intermetallische Phasen, mit kovalenten Anteilen Eis, Edelgase
MgO, Al2O3, ZrO2 C-C-C- in Polymeren
Elastizitätsmodul aller Werkstoffe, da die C-C-Bindung Jedoch sind dann die Atome nicht mehr elektrisch neu-
sehr kurz und sehr fest ist, womit wieder eine hohe tral, sondern das Natriumion einfach positiv (Kation)
Bindungsdichte entsteht. Jedoch sind die Atome nur und das Chloratom einfach negativ (Anion) geladen.
schwer beweglich, was eine plastische Verformung er- Dieser Ladungsunterschied verursacht eine elektrosta-
schwert. Daher sind kovalent gebundene Materialien tische Anziehungskraft. Die unterschiedlich geladenen
eher spröde. Auch die Elektronen sind ortsfest, wes- Ionen können nun ein Ionengitter bilden, sodass der
halb die elektrische Leitfähigkeit in der Regel gering Werkstoff insgesamt elektrisch neutral bleibt. Ionen-
ist. Um Elektronen freizusetzen, muss viel Energie zu- bindungen sind aufgrund der dicht gepackten Ionen-
geführt werden. Bei Halbleitern ist dies noch möglich, gitter und der starken Anziehungskräfte ebenfalls star-
ohne die Struktur zu zerstören. Bei vielen anderen ke Bindungen. Die elektrische Leitfähigkeit ist trotz des
kovalent gebundenen Materialien nicht. Kovalent ge- Vorhandenseins geladener Spezies (Kationen und An-
bundene Keramiken gehören daher zu den besten elek- ionen) gering, da die Ladungsträger im Vergleich zu
Werkstoffkunde
trischen Isolatoren in der Welt der Werkstoffe. den Elektronen in Metallen eine viel geringere Beweg-
lichkeit aufweisen. Im schmelzflüssigen oder gelösten
Zustand hingegen sind ionisch gebundene Materialien
Elastizitätsmodul E in GPa
nur schwache Nebenvalenzbindungen, wie Wasserstoff- wesentliche Rolle und sind häufig Grundwerkstoffe für
brückenbindungen oder Van-der-Waals-Kräfte vor. Bei faserverstärkte Kunststoffe.
Elastomeren oder Duromeren hingegen sind die Makro-
moleküle auch untereinander durch kovalente Bindungen
Verbundwerkstoffe, Werkstoffverbunde, zellulare
vernetzt. Bei Duromeren ist dieses Netzwerk engmaschi-
Materialien und Hybride
ger vernetzt als bei den Elastomeren. Dies führt zu einem
breiten und auch durch den Vernetzungsgrad einstellba- Unter Hybride werden heutzutage verschiedene Arten
ren Eigenschaftsprofil. Thermoplaste sind schmelzbar, da von Verbundwerkstoffen und Werkstoffverbunde zusam-
bei hohen Temperaturen die Ketten mangels Vernetzung mengefasst, sofern diese aus mehr als zwei Werkstoffty-
aneinander abgleiten können. Thermoplaste besitzen dar- pen bestehen. Zu ihnen werden häufig auch die zellularen
über hinaus geringe Elastizitätsmoduln und Festigkei- Materialien (Schäume) gezählt, obwohl diese eigentlich
ten, ausgenommen als Fasern mit gestreckten Molekülen. nur aus einem Werkstoff bestehen und die Luft in den
Werkstoffkunde
Elastomere verhalten sich gummiartig und sind aber wie Hohlräumen kein Material im Sinne eines festen Werk-
die Duromere nicht schmelzbar, da die Ketten unterein- stoffes ist. Die Verbundwerkstoffe werden häufig nach
ander verbunden sind. Führt man Wärme hinzu, werden der Hauptgruppe der verwendeten Matrixwerkstoffe ein-
alle kovalenten Bindungen gebrochen, und der Werkstoff geteilt: Man unterscheidet in Polymermatrixverbunde
zersetzt sich. Hinsichtlich der mechanischen Eigenschaf- (PMC, polymer matrix composites), Metallmatrixverbun-
ten sind vor allem die Duromere relativ steif und fest. de (MMC, metal matrix composites) und Keramikmatrix-
verbunde (CMC, ceramic matrix composites).
Vergleicht man jedoch die Festigkeiten und Steifigkei- Da diese Materialien aus verschiedenen Werkstoffen zu-
ten mit jenen von Metallen und Keramiken, dann sind sammengesetzt sind, wirken hier verschiedene Bindungs-
die Unterschiede gravierend. Dies liegt daran, dass zwar kräfte im Zusammenspiel zwischen den Verbundpart-
kovalente Bindungen in Polymeren vorliegen, aber zwi- nern. Verbundwerkstoffe sind aus verschiedenartigen,
schen den Ketten nur schwache Bindungen vorhanden untereinander fest verbundenen Materialien aufgebaut,
sind bzw. die Bindungsdichte, d. h. die Zahl der Bindun- und ihre chemischen und physikalischen Eigenschaften
gen pro Volumen, niedrig ist. Dies führt auch dazu, dass übertreffen jene der Einzelkomponenten. Für einfache
vor allem die schwachen Bindungen zwischen den Ketten Verbundarchitekturen und Beanspruchungen lassen sich
mit wenig Energie überwunden werden können. Daher die mechanischen und physikalischen Eigenschaften mit-
sind die Schmelzpunkte bzw. Zersetzungstemperaturen hilfe spezieller Mischungsregeln abschätzen (siehe Ab-
von Polymeren sehr niedrig. Jedoch ist auch die Dichte schn. 15.5). Ein Werkstoffverbund hingegen besteht aus
von Polymeren strukturbedingt gering, da einerseits nur Komponenten unterschiedlicher Werkstoffe, die zu einem
leichte Atome beteiligt sind und diese in einer Struktur Bauteil mit neuem Eigenschaftsprofil kombiniert werden,
mit sehr viel freiem Volumen zwischen den Ketten inte- wobei häufig eine werkstoffgerechte Fügetechnik zum
griert sind. Einsatz kommt. Vor allem komplexe Eigenschaften wie
das Ermüdungsverhalten sind dann nicht mehr einfach
Durch die kovalenten Bindungen sind auch die Elektro- aus jenen der Einzelkomponenten abzuleiten.
nen in den Molekülketten lokalisiert, weshalb Polymere
in der Regel nicht elektrisch leitend sind. Ausnahmen Im Wesentlichen sind die Eigenschaften von Verbund-
sind gefüllte Polymere, denen z. B. Ruß- oder Kupferpar- werkstoffen, Werkstoffverbunden und Hybriden immer
tikel hinzugegeben werden, um den elektrischen Wider- durch folgende Charakteristika der Komponenten be-
stand abzusenken. stimmt:
Die niedrigen Schmelzpunkte der Thermoplaste erlau- Welche Materialien mit welchen Eigenschaften kombi-
ben ein gute Verarbeitbarkeit von thermoplastischen Po- niert werden
lymeren, die heute in zahlreichen Produkten eingesetzt In welcher geometrischer Form sie räumlich angeord-
werden, da z. B. durch Spritzgießen oder Extrusion mit net sind
kurzen Taktzeiten eine große Zahl von baugleichen Teilen Wie ist die Verbindung – die Grenzflächen – zwischen
hergestellt werden können. Bei Duromeren hingegen ist den Komponenten gestaltet?
die Verarbeitung etwas komplexer, da durch die fehlende
Schmelzbarkeit diese Verarbeitungsrouten nicht funktio- Dies sind zentrale Punkte, die die Eigenschaften von
nieren. Hier wird daher die Polymerisationsreaktion in Verbundwerkstoffen, Werkstoffverbunden und Hybriden
die Fertigung integriert, d. h., die Monomere reagieren bei bestimmen, weshalb deren Eigenschaften nicht immer
der Formgebung zu Makromolekülen oder längere Ket- einfach aus den Eigenschaften der Einzelkomponenten
ten werden vernetzt. Insbesondere auch beim Recycling abzuleiten sind. Durch eine Funktionstrennung von phy-
entstehen hier Nachteile, da diese Reaktion irreversibel sikalischen und strukturellen Aufgaben (z.B. elektrische
ist. Dennoch spielen Duromere vor allem auch wegen der Leitfähigkeit und mechanische Festigkeit) können teilwei-
besseren Festigkeiten und Steifigkeiten im Leichtbau eine se bessere Eigenschaften erzielt werden als dies aus den
14.3 Werkstoffhauptgruppen 357
Eigenschaften der beteiligten Komponenten vorhersagbar zentraler Bedeutung für die konstruktive Auslegung ei-
wäre. Dies erschwert verlässliche Eigenschaftsprognosen nes Bauteils ist, welche Widerstände der Werkstoff der
oder Berechnungen von komplexen Bauteilen und Struk- elastischen und plastischen Verformung entgegensetzt.
turen aus hybriden Werkstoffen, weshalb das volle Po- Diese Werkstoffwiderstände lassen sich im Zugversuch
tenzial solcher Werkstofflösungen nicht immer optimal ermitteln (siehe Vertiefung Zugversuch).
genutzt wird.
Technisch relevant sind heute vor allem die Faserver-
bundwerkstoffe mit Polymermatrix. Als Verstärkungs-
werkstoffe werden hier vor allem Glasfasern oder die Struktur und Gefüge beschreiben
leistungsfähigeren aber teureren Kohlenstofffasern ein-
gesetzt. Diese Verbundwerkstoffe finden sich heute in Der strukturelle Aufbau kristalliner Materialien wie Me-
zahlreichen Anwendungen, darunter bei Sportgeräten, im
Werkstoffkunde
tallen oder Keramiken erscheint auf den ersten Blick
Automobil- oder Flugzeugbau sowie in Windkraftanla- einfach. Zum Beispiel kann die räumliche Anordnung
gen (vgl. Abb. 14.8 und Abschn. 15.5 Beispiel Rotorblät- der Atome in einem Aluminiumkristall durch eine re-
ter). gelmäßige Aneinanderreihung kubisch-flächenzentrierter
Obwohl faserverstärkte Polymermatrixverbundwerkstof- Elementarzellen beschrieben werden, die jeweils nur vier
fe vor allem in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark Atome enthalten: acht Atome an den Ecken, die jeweils
an Bedeutung für verschiedene technische Produkte ge- zu einem Achtel zu einer bestimmten Zelle gehören, und
wonnen haben, sind kostengünstige Fertigungsverfahren sechs Atome in den Zentren der Seitenflächen, die je-
für große Bauteilstückzahlen bislang noch nicht verbrei- weils zur Hälfte zu dieser Zelle gehören (Abb. 14.15).
tet. Dies verhindert heute noch eine stärkere Marktdurch- Neben dieser Atomanordnung gehören zu den häufig
dringung dieser Werkstoffgruppe. bei Metallen auftretenden Gitterstrukturen die kubisch-
raumzentrierte Elementarzelle (z. B. bei α-Fe, β-Ti).
Frage 14.3
Bei Aluminium beträgt die Kantenlänge der Elementar-
Stellen Sie den Zusammenhang zwischen den Bindungs-
typen, den Werkstoffhauptgruppen und deren Eigen- zelle etwa 4 · 10−10 m. Ein würfelförmiger Aluminium-
schaften dar. kristall mit einer Kantenlänge von 4 mm hätte somit eine
107 -mal größere Kantenlänge als eine einzelne Elementar-
zelle und bestünde aus (107 )3 = 1021 Elementarzellen
Gläser bzw. aus 4 · 1021 Aluminiumatomen. Zum Vergleich: Der
Durchmesser der Erde beträgt ca. 13.000 km, das ist et-
Gläser sind generell nicht kristallin, sondern bilden ei- wa das 3 · 107 -Fache von 4 mm. Der relative Größen-
ne amorphe Struktur. Dies bedeutet, dass zwar lokal auf unterschied zwischen einer Elementarzelle und einem
Atomebene definierte Struktureinheiten bestehen können Würfelchen mit der Kantenlänge 4 mm ist demnach also
(Nahordnung), global jedoch keine geordnete Gitterstruk- vergleichbar mit dem relativen Größenunterschied zwi-
tur entsteht. Es fehlt die Fernordnung. Gläser treten bei schen diesem Würfelchen und unserem gesamten Pla-
allen Werkstoffhauptgruppen auf; man unterscheidet me- neten (Abb. 14.16). Dieser Vergleich illustriert den unge-
tallische, keramische und polymere Gläser. Erstere spie- heuren Skalenumfang von rund sieben Zehnerpotenzen
len technisch keine große Rolle und sind nur in einigen auf der Längenskala und rund 21 Zehnerpotenzen auf
komplexen Legierungen durch hohe Abkühlraten zu er- der Volumenskala, mit dem wir es bei der Beschreibung
reichen. Die keramischen Gläser wurden im Zusammen- des sogenannten Gefüges von Werkstoffen zu tun haben.
hang mit den Keramiken bereits beschrieben und basie- Das Gefüge beinhaltet die vielfältigen mikroskopischen
ren in der Regel auf einem silikatischen Netzwerk mit Strukturen zwischen der Betrachtungsebene eines ganzen
verschiedenen Zuschlagstoffen. Polymere Gläser besitzen Bauteils und der atomaren Betrachtungsebene. Ein ma-
eine große technische Relevanz. Transparente Polymere schinenbauliches Bauteil besteht nämlich generell nicht
sind grundsätzlich amorph und werden in Vitrinen, als aus einem einzigen perfekten Kristall sondern aus einem
Brillengläser oder Folien verwendet. Hier sind vor al- Polykristall, d. h. aus sehr vielen eng aneinandergefügten
lem große Seitengruppen in den Makromolekülen für die unterschiedlich orientierten Kristalliten, von denen jeder
Ausbildung einer amorphen Struktur verantwortlich. einzelne viel kleiner als das Bauteil und viel größer als
eine Elementarzelle ist und die in der Werkstoffkunde
auch als Körner bezeichnet werden. Aber auch bei diesen
einzelnen Körnern handelt es sich nicht um perfekte peri-
Mechanische Eigenschaften von Werkstoffen odische Anordnungen von Elementarzellen. Sie enthalten
vielmehr null-, ein- und zweidimensionale Baufehler (so-
Im Maschinenbau spielen vor allem die mechanischen genannte Punkt-, Linien- und Flächendefekte), durch die
Eigenschaften von Werkstoffen eine wichtige Rolle. Von die physikalischen und mechanischen Eigenschaften der
358 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus
Vertiefung: Zugversuch
Der Zugversuch ist das wichtigste Prüfverfahren zur wichtiger Werkstoffwiderstand und wird Zugfestig-
Charakterisierung der mechanischen Eigenschaften keit Rm genannt. Erreicht die Spannung diesen Wert,
von Werkstoffen. Der Versuch ist für die verschiede- setzt bleibende Schädigung und in Folge der Bruch ein.
nen Werkstoffklassen grundsätzlich genormt, wobei Wichtige Maßzahlen zur Beschreibung der plastischen
sich insbesondere die Probengeometrien voneinander Verformbarkeit sind die Gleichmaßdehnung Ag und die
unterscheiden. Vor allem bei Metallen und Polyme- Bruchdehnung A. Letztere hängt auch von der Proben-
ren werden „knochenförmige“ Proben des zu unter- gestalt ab, weshalb hier häufig das Verhältnis aus Länge
suchenden Werkstoffes verwendet. Diese werden in und Durchmesser der Probe im unverformten Anfangs-
eine geeignete Prüfvorrichtung eingespannt. Die zur zustand als Index angegeben wird.
Werkstoffkunde
Spannung σ
teristische Kraft-Verlängerungs-Kurve. Zur Ermittlung
der von der Probenform und -größe unabhängigen Rm
Werkstoffeigenschaften wird aus der Kraft F N normal Keramik
zur Anfangsquerschnittsfläche und der Anfangsquer-
schnittsfläche A0 die Spannung berechnet; aus der Ver-
längerung Δl und der Anfangslänge l0 die Dehnung in Metall
Rm
Spannungsrichtung.
Die axiale Spannung und die Dehnung sind dabei wie
Rp
folgt definiert:
FN Δl
Spannung: σ = , Dehnung: ε = . (14.1)
A0 l0
Aus dem so erhaltenen Spannungs-Dehnungs-Dia- E
gramm können die Werkstoffwiderstände herausge- Kunststoff (Thermoplast)
lesen werden (vgl. Abb. 14.14). Der Widerstand gegen
elastische Verformung wird durch den Elastizitätsmo-
dul E beschrieben. Dieser entspricht der Steigung im Ag A Dehnung ε
linearen Anfangsbereich der Kurve. Die Spannung, bei Abb. 14.14 Spannungs-Dehnungs-Kurven aus Zugversuchen. Keramiken
der die Kurve vom linearen Verlauf abweicht, ist die besitzen einen hohen Elastizitätsmodul und können nur elastisch verformt
Elastizitätsgrenze. Sie beschreibt den Widerstand gegen werden. Metalle haben etwas geringere Elastizitätsmoduln und können
einsetzende plastische Verformung. Bei den verschie- elastisch und plastisch verformt werden. Kunststoffe haben sehr geringe
denen Werkstoffen ergeben sich dabei Unterschiede Elastizitätsmoduln und können meist auch etwas plastisch verformt werden
in der Bezeichnung dieser Grenze: Die plastische Ver-
formung bleibt erhalten, wenn die Probe nach einer Tabelle 14.1 zeigt einen Vergleich verschiedener cha-
Belastung über die Elastizitätsgrenze (Rp ) wieder kom- rakteristischer Werkstoffkennwerte von typischen Ver-
plett entlastet wird. Bei Metallen, die eine deutlich er- tretern der verschiedenen Werkstoffkategorien. Diese
kennbare Elastizitätsgrenze im Spannungs–Dehnungs- Auflistung spiegelt das bereits dargestellte gut wie-
Diagramm zeigen, spricht man von der Streckgrenze Re, der. Bei Aluminiumoxid finden wir wegen des spröden
andernfalls wird die Ersatzdehngrenze Rp 0,2 bestimmt. Verhaltens keine Bruchdehnung, das thermoplastische
Bei Thermoplasten wiederum spricht man ebenfalls Polymer Polyethylen hingegen besitzt eine sehr ho-
von der Streckgrenze (die dann jedoch neben einem he Bruchdehnung. Die Dominanz der Sekundärbin-
linearen elastischen Anteil auch einen nichtlinearen vis- dungen und die geringen Bindungsdichten führen je-
koelastischen Anteil enthält); bei spröden Werkstoffen, doch zu einem geringen Elastizitätsmodul. Auffällig
wie den Keramiken und Duromeren, setzt keine plas- ist auch, dass sich die Elastizitätsmoduln von Kera-
tische Verformung ein, weshalb die Elastizitätsgrenze miken und Metallen nicht variieren lassen. Hingegen
direkt durch das Maximum im Spannungs-Dehnungs- sind die Festigkeitskennwerte und die Bruchdehnun-
Diagramm bestimmt wird, das von der Verteilung gen von Metallen in weiten Grenzen einstellbar. Dies
von Materialfehlern abhängt (vgl. Abschn. 15.10). Die- hängt mit dem strukturellen Aufbau zusammen, wie
ses Maximum ist bei allen Werkstoffen ein weiterer im Folgenden ausgeführt wird.
Tab. 14.1 Vergleich verschiedener charakteristischer Werkstoffkennwerte von typischen Vertretern der Werkstoffhauptgruppen
Werkstoff Stahl C15 (Metall) Aluminiumleg. (Metall) Aluminiumoxid (Keramik) Polyethylen (Polymer)
Elastizitätsmodul E in GPa 210 70 360 0,6–0,9
Elastizitätsgrenze in MPa 380–890 (Re ) 30–500 (Rp 0,2 ) 350–588 (Rm ) 17–29 (Re )
Zugfestigkeit Rm in MPa 670–1240 60–550 350–588 20–45
Bruchdehnung A in % 7–24 1–44 0 200–800
14.3 Werkstoffhauptgruppen 359
kubisch raumzentriertes Gitter (krz) kubisch flächenzentriertes Gitter (kfz) hexagonal dichtest gepacktes Gitter (hdp)
Werkstoffkunde
Abb. 14.15 Kugelmodelle häufiger Kristallstrukturen; a kubisch-raumzentrierte Elementarzelle; b kubisch-flächenzentrierte Elementarzelle; c hexagonal dichtest
gepackte Elementarzelle
Abb. 14.16 Werkstoffe und Bauteile des Maschinenbaus sind in der Regel nicht aus einzelnen, perfekten Kristallen aufgebaut, sondern besitzen ein „Gefüge“.
Die relevanten Mikrostrukturen umfassen mehrere Größenordnungen
Kristallite und des daraus zusammengesetzten Polykris- re Spannungen die Festigkeit von Metallen indem sie die
talls stark beeinflusst werden. Zu den nulldimensionalen Versetzungsbewegung behindern (siehe Abschn. 15.6).
Fehlern zählen die sogenannten Leerstellen, also Gitter-
plätze, an denen Atome fehlen, oder auch Fremdato- Wechselwirkungen zwischen Versetzungen Bewegen sich
me, die im Gitter der regulären Atome eingelagert sind. Versetzungen durch das Kristallgitter, dann treffen sie
Eindimensionale Fehler sind die Versetzungen, die für auf andere Versetzungen (vgl. Abb. 15.26a). Da Verset-
die plastische Verformung eine wesentliche Rolle spie- zungen das Kristallgitter grundsätzlich etwas verzerren,
len. Zweidimensionale Fehler sind die Grenzen zwischen besitzen sie ein Spannungsfeld. Die Spannungsfelder der
den einzelnen Körnern (Korngrenzen), dreidimensionale sich begegnenden Versetzungen wechselwirken mitein-
Fehler sind Poren (z. B. in Keramiken), Einschlüsse oder ander, was die von außen aufzubringende Kraft, um die
Mikrorisse. Versetzungen zu bewegen, erhöht. Dieser Mechanismus
ist sowohl in reinen Metallen als auch in Legierungen
Die Frage nach der Festigkeit eines Werkstoffes ist immer aktiv. Dieser Mechanismus führt gleichzeitig auch zur
eng mit den darin enthaltenen Baufehlern verbunden. Um Erhöhung der Versetzungsdichte, da sich schneidende
die Festigkeit eines metallischen Werkstoffes zu erhöhen, Versetzungen Quellen für die Bildung neuer Versetzun-
müssen die Versetzungen in ihrer Bewegung gehindert gen sein können.
werden. In Keramiken werden vor allem deswegen so
hohe Festigkeitswerte erreicht, da eventuell auftretende
Versetzungen aufgrund der ionischen oder kovalenten Wechselwirkung von Korngrenzen und Versetzungen Ver-
Bindungen per se nicht beweglich sind. Da Polymere setzungen sind in ihrer Bewegung auf im Kristallgitter
kein durchgängiges Kristallgitter besitzen und die Ei- vorhandene Gleitebenen gebunden. An den Korngrenzen
genschaften vor allem im Wechselspiel zwischen Primär- innerhalb eines Polykristalls ist die Ordnung lokal gestört,
und Sekundärbindungen bestimmt werden, spielt hier die da hier benachbarte Kristalle mit unterschiedlicher räum-
Modellvorstellung der Versetzungsbewegung keine Rol- licher Ausrichtung aneinanderstoßen. Demnach können
le. Bei Metallen hingegen ist die Versetzungsbewegung Versetzungen Korngrenzen nicht ohne Weiteres überwin-
der dominierende Mechanismus zur Beschreibung der den. Sind die Körner in einem Werkstoff klein, dann
plastischen Verformung. Im Wesentlichen erhöhen inne- können die Versetzungen nur kurze Wege zurücklegen,
360 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus
Vertiefung: Versetzungen
Zum grundsätzlichen Verständnis der Verformungs- entstandene Lücke wird dann durch eine zusätzlich
mechanismen in Metallen ist das Wissen um das Ver- eingeschobene Halbebene gefüllt. Die im Kristall en-
halten und die Eigenschaften der sogenannten Ver- dende Kante der eingeschobenen Halbebene ist dann
setzungen wesentlich. Versetzungen sind lineare (ein- die sogenannte Versetzungslinie, weshalb es sich hier-
dimensionale) Fehler im sonst perfekten Kristallgitter bei um eine eindimensionale Störung handelt. Charak-
und entstehen bereits beim Abkühlen aus der Schmel- terisiert wird eine Versetzung durch den sogenannten
ze. Jedoch multiplizieren sich diese, wenn die Verset- Burgersvektor: Läuft man im Uhrzeigersinn um die
zungen in Bewegung sind und dabei miteinander in Versetzungslinie so herum, dass man in jede Richtung
Wechselwirkung treten. (nach rechts, nach unten, nach links, nach oben) gleich
Werkstoffkunde
bevor sie auf eine Korngrenze treffen und sich aufstau- dass das Gitter lokal verzerrt wird. Es entsteht so wieder-
en. Dieser Mechanismus ist sowohl in reinen Metallen als um ein Spannungsfeld, welches mit dem Spannungsfeld
auch in Legierungen aktiv. der Versetzungen in Wechselwirkung treten kann (vgl.
Abb. 15.26b und Abb. 15.28). Die Bewegung der Verset-
Wechselwirkung von Mischkristallatomen und Versetzungen zung wird dadurch erschwert, und von außen ist wieder
Sind Legierungsatome in einem Metallgitter gelöst, dann eine größere Kraft notwendig, um die Versetzung durch
herrscht zwischen den Atomen der gitterbildenden Kom- das Gitter zu bewegen. Dieser Mechanismus ist nur in
ponente und den gelösten Legierungsatomen ein gewis- Legierungen aktiv, die Mischkristalle (feste Lösungen) bil-
ser Größenunterschied. Dieser Unterschied führt dazu, den können.
14.3 Werkstoffhauptgruppen 361
Werkstoffkunde
scheidung ist, können die Versetzungen entweder durch Korngrenzen
Verformung
die Ausscheidung hindurchgleiten oder müssen diese Versetzungen σ
umgehen (vgl. Abb. 15.26c und Abb. 15.30). Beide Mecha- Gleitebenen
nismen erschweren die Bewegung der Versetzung, was
wiederum zur Verfestigung des Werkstoffes führt. Abb. 14.18 Verfestigungsmechanismen; die Streckgrenze, d. h. der Wider-
stand gegen einsetzende plastische Verformung, wird durch Versetzungshinder-
Für Teilchen (Dispersionen) gilt dasselbe, mit dem Unter- nisse erhöht. Hiervon gibt es vier Grundtypen
schied, dass Dispersionen nicht durch Ausscheiden von
Legierungsatomen aus dem Mischkristall gebildet wer-
den, sondern z. B. durch Einrühren in die Schmelze oder der elastischen Gerade in den elastisch-plastischen Be-
mechanisches Legieren dem Werkstoff schon bei der Her- reich der Kurve) besitzt. Durch ein feineres Korn wird
stellung zugegeben werden. die Streckgrenze erhöht. Weitere Verbesserungen werden
durch Mischkristallhärtung oder Ausscheidungshärtung
(vgl. Abschn. 16.4) erreicht. Dabei sind zwei wesentli-
Beispiel: Experiment zur Versetzungsverfestigung
che Effekte festzuhalten: Erstens führt eine Steigerung der
Ein dünner, gerader Kupferdraht wird mithilfe einer Ker-
Streckgrenze bzw. der Festigkeit in Metallen in der Regel
zenflamme erwärmt, bis er glüht und dann an Luft abge-
zu einer Abnahme der Duktilität (Bruchdehnung), ausge-
kühlt. Anschließend wird dieser in der Hand langsam hin
nommen bei der Feinkornhärtung, da das Verformungs-
und her gebogen.
vermögen durch die eingeschränkte Mobilität der Ver-
Was ist festzustellen?
Durch das Glühen wurden die Versetzungen im Kupfer-
σ Ausscheidungs-
draht ausgeheilt, so dass er leicht verformbar („weich“)
härtung (Al-Cu)
wird. Verformt man nun den Draht plastisch, entstehen
wieder neue Versetzungen, deren Anzahl durch die Wech-
selwirkung zwischen den Versetzungen schnell ansteigt.
Dadurch wird die Verformung des Drahtes zunehmend
erschwert. Nach mehrmaligem Hin- und Herbiegen ist Al-Mg-
das Verformungsvermögen des Drahtes erschöpft, und er Mischkristalle
bricht.
feinkörniges
Aluminium
Abbildung 14.18 zeigt zusammenfassend eine schema-
tische Darstellung der hier besprochenen, wesentlichen
grobkörniges
Verfestigungsmechanismen in metallischen Werkstoffen. Aluminium
Das Maß für die einsetzende plastische Verformung und
damit für den Widerstand gegen Versetzungsbewegung, ε
der in einem Metall vorliegt, ist die Elastizitätsgrenze. Ab-
bildung 14.19 zeigt schematisch am Beispiel einer Alumi- Abb. 14.19 Einfluss des Gefüges auf die Eigenschaften; Die Festigkeit wird
vom Gefüge beeinflusst. Unverformtes, grobkörniges Aluminium hat eine gerin-
niumlegierung, wie jeweils die wirksamen Verfestigungs-
gere Elastizitätsgrenze und Zugfestigkeit als feinkörniges Aluminium. Weitere
mechanismen die Gestalt der Spannungs-Dehnungs-Kur- Festigkeitssteigerungen sind möglich durch Fremdatomzusätze, die Mischkris-
ve verändern. Referenz ist das grobkörnige Aluminium, tallhärtung oder Ausscheidungshärtung hervorrufen, wobei zusätzliche plasti-
welches eine niedrige Elastizitätsgrenze (Übergang von sche Verformung die Elastizitätsgrenze weiter steigert
362 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus
Frage 14.4
Welche wichtigen Kennwerte lassen sich aus der Span- bei der Dichte finden wir Unterschiede im Spektrum von
nungs-Dehnungs-Kurve (vgl. Abb. 14.14) eines Metalles rund zwei Größenordnungen. Sollen nun Bauteile ausge-
ablesen wählt werden, die möglichst leicht und steif sind, ist ein
Werkstoffkunde
Um den gesuchten Werkstoffindex zu finden, wird zu- Abb. 14.21 Biegebeanspruchter Balken mit Länge l0 und Querschnittsflä-
nächst eine Zielgleichung aufgestellt. Das vorgegebene che b 2
Ziel ist in diesem Fall die Reduktion der Masse m des Zug-
Werkstoffkunde
stabes. Diese berechnet sich nach:
m = Al0 ρ. (14.3)
Stelle die „Zielgleichung“ auf.
Als Randbedingung ist vorgegeben, dass der Stab eine ge- Falls außer der Werkstoffwahl noch eine andere
wisse Mindeststeifigkeit besitzt, die sich aus einer maxi- Variable vorhanden ist: Finde heraus, durch wel-
mal erlaubten elastischen Verformung unter Last ableitet. che Randbedingungen diese Variable beschränkt
Diese Forderung kann mathematisch wie folgt formuliert wird.
werden (Abschn. 6.5): Eliminiere diese Variable aus der Zielgleichung.
Nl0
Δlc (14.4)
AE Als häufiger Lastfall in technischen Bauteilen begeg-
Wird (14.3) nach A aufgelöst und dann für A in Unglei- nen uns Komponenten unter Biegebeanspruchung. Für
chung (14.4) eingesetzt, kann die sich ergebende Unglei- den Fall des leichten, steifen Balkens (vorgegebene Min-
chung nach m umgestellt werden: deststeifigkeit) unter Biegung leiten wir im Folgenden
den Werkstoffindex ab. Für diesen Fall wurde die Fes-
Nl20 ρ
tigkeitsbetrachtung bereits in Abschn. 3.1 gemacht. Ab-
m · (14.5) bildung 14.21 zeigt exemplarisch einen biegebelasteten
Δlc E
Balken mit quadratischem Vollquerschnitt und der Kan-
Auf der rechten Seite der Ungleichung können die be- tenlänge b unter der Biegelast N.
teiligten Größen in zwei Gruppen eingeteilt werden, die
Unser Ziel ist es erneut, die Masse zu reduzieren, weshalb
in zwei multiplikative Terme zusammengefasst werden
die Leichtbau-Zielgleichung in diesem Fall wie folgt defi-
können: Durch die Randbedingungen vorgegeben Grö-
niert ist:
ßen stehen in runden Klammern; in eckigen Klammern
finden sich die werkstoffabhängigen Kennwerte. Diese m = Al0 ρ = b2 l0 ρ.
werden erst durch die Werkstoffauswahl in ihrer Größe
festgelegt. Damit ist die untere Grenze für das Gewicht
Auch hier soll eine maximale Durchbiegung von Δlc unter
des Stabes m umso kleiner, je kleiner der Quotient ρ/E ist.
der Last N erlaubt sein. Damit definiert sich die Steifig-
Damit suchen wir nach Werkstoffen, deren Werkstoffin-
keitsanforderung als:
dex ρ/E möglichst klein bzw. dessen Werkstoffindex E/ρ
möglichst groß ist. Letzterer entspricht dem bereits oben
eingeführten Werkstoffindex M1 . Nl30
Δlc .
CEJ
Ganz generell lässt sich die Vorgehensweise zur Identi-
fizierung des Werkstoffindexes für eine gegebene Werk- Hierbei ist die Konstante C von der konkreten Belastungs-
stoffauswahl-Fragestellung in Form eines Rezeptes for- form (3-Punkt, 4-Punkt, Punktlast, Linienlast etc.) abhän-
mulieren, das im Folgenden präsentiert wird (Wanner gig. J ist das relevante axiale Flächenträgheitsmoment für
et al. 2006). die gewählte Balkenform. Bei einem quadratischen Bal-
kenquerschnitt berechnet sich J nach:
Rezept zur Identifizierung des Werkstoffindexes nach
Ashby b4
J= .
12
Identifiziere Funktion, Randbedingungen, Ziel
und freie Variablen. Auch hier wird die freie Variable b (die Balkenquer-
schnittsfläche sei frei einstellbar) mithilfe der Leichtbau-
364 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus
Zielgleichung eliminiert, und man erhält: Querschnittform unabhängig von der Wahl des Werkstof-
⎛ ⎞ fes ist. Dies ist in Wirklichkeit nicht der Fall. Manche
Werkstoffe eignen sich zur Herstellung dünnwandiger
12l50 N
m⎝ ⎠ · √ρ .
Werkstoffkunde
besitzen. Für die hier diskutierten Fälle des leichten, stei- Da sich Werkstoffe hinsichtlich fast jeder wichtigen Ei-
fen Zugstabes und Biegebalken sind in Tab. 14.2 die ab- genschaft um mehrere Größenordnungen unterscheiden
geleiteten Werkstoffindizes M1 und M2 für Aluminiumle- können, sind logarithmisch skalierte Werkstoffauswahl-
gierungen, Titanlegierungen, Stähle und einen typischen diagramme hilfreich. Die logarithmische Skalierung hat
CFK-Verbundwerkstoff als Vertreter typischer Ingenieurs- außerdem den Vorteil, dass die Werkstoffauswahl dann
werkstoffe für den Leichtbau gezeigt. Für die M1 -Wer- anhand von geraden Hilfslinien erfolgen kann, deren Stei-
te der drei metallischen Werkstoffe ergeben sich keine gungen unmittelbar mit den Werkstoffindizes verknüpft
wesentlichen Unterschiede, weshalb diese Werkstoffe für sind. Nehmen wir als Beispiel den Werkstoffindex M2 ge-
Leichtbaukonstruktionen ähnlich gut geeignet sind, so- mäß (14.6) für die Werkstoffauswahl für einen leichten
fern Zugbeanspruchung dominiert. Vergleicht man die und steifen Biegebalken. Diese Gleichung lässt sich durch
M2 -Werte, so liegt dieser für Aluminiumlegierungen um Logarithmieren umformen in:
ca. 30 % über dem von Titanlegierungen und ca. 70 % über
dem von Stahl. Bei biegebeanspruchten Bauteilen zeigen
log E = 2 log ρ + 2 log M2 . (14.7)
sich Aluminiumlegierungen damit als deutlich besser ge-
eignet im Vergleich zu Stählen oder Titanlegierungen. In je-
der Hinsicht überlegen ist der CFK-Verbundwerkstoff, der Trägt man nun in einem x-y-Diagramm log E über
bei beiden Werkstoffindizes deutlich an der Spitze liegt. log ρ auf (sogenannte doppelt-logarithmische Auftra-
gung), dann ergibt sich aus (14.7), dass die Hilfslinien für
Dieser Vergleich ist ein Beispiel dafür, wie Werkstoffindi- diese Werkstoffauswahl eine Steigung von 2 haben. In das
zes eingesetzt werden können, um die relative Eignung in Abb. 14.22 dargestellte Elastizitätsmodul-Dichte-Dia-
von Werkstoffen für einen bestimmten Anwendungsfall gramm ist exemplarisch diese Linie mit Steigung 2 ein-
zu bestimmen. Mit den beiden bisher eingeführten Werk- gezeichnet, die so in das Diagramm hineingelegt wurde,
stoffindizes M1 und M2 lassen sich aber bei Weitem dass sie den Werkstoff Stahl beinhaltet. Alle Werkstoffe,
nicht alle Werkstoffauswahl-Fragestellungen im Leicht- die auf ein und derselben Linie liegen, eignen sich somit
bau beantworten. Zum einen sind weitere Grundbean- gleich gut (oder gleich schlecht) für biegebeanspruchte
spruchungsarten und Randbedingungen denkbar, zum Leichtbauteile mit Steifigkeitsvorgabe wie Stahl. Entlang
andern orientiert sich die Werkstoffauswahl nicht immer einer Linie ändert sich nur der Wert der freien Variablen;
an der Steifigkeit. M2 ist dagegen konstant.
Andere Anforderungen können im Mittelpunkt stehen, Alle Werkstoffe, die sich oberhalb dieser eingezeichne-
wie z. B. eine bestimmte mechanische Belastbarkeit oder ten Linie befinden, besitzen einen höheren Wert für den
ein bestimmtes elastisches Energiespeichervermögen pro Werkstoffindex M2 und eignen sich somit besser für bie-
Gewichts- oder Volumeneinheit. Eine unvollständige Lis- gesteife Leichtbauteile. Um einen oder mehrere geeigne-
te von Werkstoffindizes für den Leichtbau ist in Tab. 14.3 te Werkstoffe zu finden bzw. um mehrere vorgegebene
zusammengestellt. Bei diesen einfachen Betrachtungen Werkstoffe bezüglich ihrer Eignung für den jeweiligen
wurde stillschweigend angenommen, dass die Wahl der Anwendungsfall zu bewerten (Ranking erstellen), wird
14.4 Werkstoffe im Vergleich 365
Werkstoffkunde
oder plastische Druckverformung
Platte, Balken (Breite festgelegt, Herlei- Maximallast Dicke E1/3 R1/2
e
tung Kap. 5) Länge ρ ρ
(Biegebeanspruchung) Breite
E
Al2O3 technische
SiC Keramiken ρ
Al-Leg. Si3N4
1000 B4 C WC
Glas
Stähle Wolfram-Legierungen
Verbund-
werkstoffe Ni-Legierungen
100 Mg-Legierungen
Kupfer-Legierungen
Geschwindigkeit GFRP
longitudinaler Holzlängs Metalle TI-Legierungen
Schallwellen PMMA
Elastizitätsmodul E in GPa
0,01 0,1 1 10
Dichte ρ in Mg/m3
Abb. 14.22 Elastizitätsmodul-Dichte-Diagramm in doppelt-logarithmischer Auftragung; Werkstoffauswahldiagramm für leichte, steife Bauteile
die Gerade parallel verschoben. Je weiter die Gerade Fahrradrahmen für Hochleistungssportler und von Ro-
nach oben links verschoben wird, desto höher ist die torblättern von Windkraftanlagen zum Einsatz kommt.
Eignung für eine Anwendung, bei der ein Bauteil mög-
lichst steif und leicht sein soll. Wir erkennen auch hier, Die systematische Werkstoffauswahl mithilfe von Werk-
dass CFK ein höheres Leichtbaupotenzial bietet als Stäh- stoffindizes (Leichtbaukennzahlen) und Werkstoffaus-
le, weshalb dieser Werkstoff bevorzugt z. B. beim Bau von wahldiagrammen beschränkt sich keineswegs auf den
366 14 Die Welt der Werkstoffe – der Grundbaukasten des Maschinenbaus
Leichtbau. Unter Einbeziehung anderer charakteristischer Wanner A, Fleck C, Ashby MF (2006) Materials Selection
Werkstoffeigenschaften lassen sich Werkstoffindizes zur in Mechanical Design: Das Original mit Übersetzungs-
Eignung für nahezu beliebige Anwendungen definieren. hilfen: Easy-Reading-Ausgabe, Springer
Werkstoffindizes stellen eine anwendungsorientierte Er-
gänzung zu den sonstigen Werkstoffeigenschaften dar. Reuter, M (2006) Methodik der Werkstoffauswahl: Der
systematische Weg zum richtigen Material, Hanser
Ashby MF, Jones DRH, Heinzelmann M (Hrsg.) (2006)
Werkstoffe 1: Eigenschaften, Mechanismen und An-
wendungen, 3. Aufl., Springer Spektrum
Ashby MF, Jones DRH, Heinzelmann M (Hrsg.) (2006)
Werkstoffe 2: Metalle, Keramiken und Gläser, Kunst-
Werkstoffkunde
Aufgaben
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
Werkstoffkunde
14.1 • Nennen Sie die gängigen Gitterstrukturen 14.4 •• Wenn Sie ein reines Metall in seiner Festig-
von metallischen Werkstoffen und fertigen Sie dazu je- keit steigern möchten, welche Verfestigungsmechanismen
weils eine Handskizze an. stehen Ihnen zur Verfügung, wenn ein nachträgliches Zu-
legieren von Fremdatomen ausgeschlossen ist?
Resultat: Die gängigen Gitterstrukturen sind kubisch-
raumzentriert, kubisch-flächenzentriert und hexagonal Resultat: Wechselwirkungen zwischen Versetzungen
dichtest gepackt. oder Wechselwirkung von Korngrenzen und Versetzun-
gen.
Zeichnungen nach Abb. 14.15.
Werkstoffkunde
Innovationen?
Mit welchen Werkstoffen
keine Leichtmetalle etwa hunderttausend Metalle werden Maschinen
Aluminium Ti-Legierungen
Al-Li Legierungen gebaut?
Zinn Eisen Baustahl amorphe Metalle
Metalle Gold Kupfer Bronze Gusseisen legierte Stähle Superlegierungen mikroleg. Stähle
Magnesium
Zircalloy zellulare Metalle
Wie werden Werkstoffe
keine Polymere
ausgewählt?
mehr als 50.000
Keramik Feuerstein Glas feuerfeste Portland- Quarz- Hart- Glas- technische Keramik
Gläser Steine Tonerde Zement Keramik zement glas stoffe keramik Al2O3, SiC, Si3N4, PSZ etc.
Die Verfügbarkeit von Werkstoffen bestimmte die Menschheitsge- eine effiziente Funktionalität zum Ziel. Dazu sind ökolo-
schichte und die aktuelle technische Entwicklung. Ihr Einsatz sowie gische Randbedingungen zu beachten, die sowohl bei der
ihre Herstellung und Entsorgung beeinflussen unsere Lebensweise, Herstellung als auch im Einsatz einen möglichst gerin-
aber auch die Natur wesentlich. gen Materialeinsatz und Energieaufwand fordern. Über-
dimensionierung von Maschinen verbraucht nicht nur
Maschinen müssen bestimmte Anforderungsprofile erfüllen, die die
unnötigerweise Werkstoffe, sondern bewirkt auch Ener-
Werkstoffauswahl für deren Bauteile festlegen. Dafür soll der Kon-
gieverschwendung. Der Einfluss der Maschine auf die
strukteur das Angebot an Werkstoffen und deren Eigenschaftspro-
Umwelt ist in ihrem gesamten „Produktlebenszyklus“
file kennen. Im 20. Jahrhundert erhöhte sich die Werkstoffvielfalt
von der Produktion über den Einsatz mit dem erzielba-
enorm und mit ihr die Innovationsrate (Ashby et. al. 2006).
ren Nutzen bis zu Maßnahmen zur Außerbetriebnahme
Im Maschinenbau ist die mechanische Belastbarkeit der Konstruk- zu analysieren und zu bewerten (siehe Kap. 33).
tionswerkstoffe am wichtigsten, wobei meist auch die thermo-
Abbildung 15.1 stellt die Interaktion zwischen Werk-
Werkstoffkunde
Wieder- Produktlebens-
verwertung zyklusbewertung
Werkstoff-
effizienz
Rohstoffhandel, Privat- oder
Arbeitsbedingungen, Gemeinschafts-
Preis/Kosten nutzung
Umweltschutz, Gesellschaftspolitik,
Rezyklier- Gemeinwohl-
vorschriften orientierung
Marktbedarf Konsum-
Konsumenten- verhalten
Wirtschaft Gesellschaft
schutz
Gesetzgebung Lebensweise
15.1 Werkstoffe und ihr Innovationspotenzial 371
Werkstoffkunde
Korrosionseigenschaften Komplexität, Wartung
Ökologie/Ökonomie Verarbeitung
Kosten, Gestalt, Formgebung,
Wieder-/Weiterverwertung, Fertigungstoleranzen,
ökologischer Fußabdruck Eigenspannungen,
und Umwelteinflüsse, Fügetechnik, Oberflächen-
Energieeinsatz bei veredelung, herstellungs-
Herstellung und bedingte Eigenschafts-
im Gebrauch veränderungen
Anforderungen an ein Sammeltaxi mit denen eines Sport- Vom Maschinenbau- und Wirtschaftsingenieur werden
wagens). Die Beurteilung der Werkstoffeffizienz richtet Grundkenntnisse der Prozesskette verlangt, damit er
sich demnach nicht nur nach technischen Bewertungen, die kritischen Parameter erkennt und bei der Werk-
sondern ist darüber hinaus gesellschaftlichen Wandlun- stoffauswahl in Zusammenarbeit mit den Werkstoffex-
gen unterworfen (vergleichen Sie die Ausstattung der perten effiziente Lösungen suchen kann. Die Auswahl
Kraftfahrzeug vor 50 Jahren mit der heutigen). des Werkstoffes und seiner Formgebung steht in enger
Wechselbeziehung mit der Konstruktion eines Bauteiles.
Abbildung 14.1 stellt das Ziel eines funktionstüchtigen,
Auf der Basis der genauen Analyse des Marktbedarfs und
marktfähigen Produktes voran. Für seine Entwicklung
des realen Belastungsspektrums der Einsatzbereiche einer
sind Korrelationen erforderlich zwischen den Gebrauchs-
Maschine wird ein Bauteilkonzept erstellt (siehe Kap. 32).
werten (z. B.: steif, fest, leicht etc.) und den zugehöri-
Über die Konstruktionsidee werden Anforderungsprofile
gen Werkstoffkennwerten (Elastizitätsmodul, Dehngren-
für die Bauteile erarbeitet, wonach die Werkstoffe aus-
ze, Dichte etc.) in Abhängigkeit vom Fertigungspro-
gewählt werden können. Da die Anforderungsprofile im
zess (Gießen, Umformen, Bearbeiten usw.) des Bauteiles.
Allgemeinen komplex sind, müssen sowohl in der Ausle-
Mit den Kennwerten, Gestaltvarianten und erwarteten
gung als auch in der Werkstoffauswahl Kompromisse ge-
Betriebsbedingungen können theoretische Auslegungs-
schlossen werden. Möglicherweise werden Pflichtenhef-
und Belastungssimulationen durchgeführt werden, um
te (Ausschreibungs- bzw. Bestellspezifikationen) für den
den Konstruktionsvorschlag zu prüfen. Die Bauteillösun-
Werkstofflieferanten erst nach mehreren Entwicklungs-
gen sind im Allgemeinen mit verschiedenen Werkstof-
schleifen festgelegt. Der Konstrukteur kann in Zusam-
fen realisierbar, aber werden unterschiedliche Konstruk-
menarbeit mit dem Bauteil- bzw. den Werkstofflieferanten
tionen erfordern. Dabei werden Erfahrung und „Trial-
die wirtschaftliche Machbarkeit seines Entwurfs verifi-
and-error-Methoden“ zunehmend durch vorausschauen-
zieren. Daraufhin wird er entweder seine Konstruktion
de Modellierung und anforderungsgerechte Simulation
entsprechend modifizieren und/oder geeignetere Werk-
ersetzt.
stoffe und Fertigungsverfahren auswählen. In jedem Fall
werden dafür Werkstoffkennwerte benötigt, die nicht nur Abbildung 15.2 erläutert die fünf Eckpunkte des „Dia-
vom Werkstoff sondern auch vom infrage kommenden manten“ in Abb. 14.1, die bei der Werkstoffauswahl in
Formgebungsprozess abhängen. Für die ökologischen Be- Betracht gezogen werden müssen: Materialeigenschaf-
wertungen sind Kenntnisse über die Fertigungskette der ten, die der angestrebten Funktion durch entsprechende
Bauteile und deren Werkstoffe erforderlich (Umweltrele- Bauteilauslegung gerecht werden; die vom Werkstoff ab-
vanz der Werkstoffe siehe Kap. 33). hängigen Verarbeitungsverfahren, die die Konstruktion
372 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Tab. 15.1 Vorlage zur Beantwortung der Frage 15.1 mit den Gebrauchseigenschaften und Marktkriterien für Werkstoffbeispiele der beiden Fahrradtypen
Einsatzbereiche der Fahrräder Rahmen für Stadtfahrrad Rahmen für Mountainbike
Werkstoffvorschlag Aluminium-Knetlegierung: kohlenstofffaserverstärkte Kunststoffe
AW6061 (AlMg1SiCu)a (CFK) für Rahmen
Auswahlkriterien
Formgebung
Fügeverfahren
Erforderliche Einbauteile
Oberflächenbehandlung
Erforderliche Werkstoffkennwerte (Angaben zum (Art der erforderlichen Kennwerte – (Tab. 15.5), relative Höhe der Werte der
Mindestniveau): beiden Werkstofflösungen)
Festigkeit
Steifigkeit
Werkstoffkunde
Ermüdungsresistenz
Bruchzähigkeit
Massenbezug
Korrosionsbeständigkeit
ästhetische Gestaltbarkeit (relativ)
Materialpreis/(-niveau)
Fertigungskosten (relativ)
Materialmenge (relativ)
Herstellungs-Footprint (relativ)
Betriebsmittelerfordernis
Weiter-/Wiederverwertung (prinzielle Verfahren und
Deponierungs- bzw. Emissionsanfall bezeichnen)
alternative Werkstofflösungen üblicher 24CrMo4-Stahl höchstfeste Al-Legierung AW7075
(AlZn5,5MgCu)a
Wichtigste Konsequenz gegenüber obiger Lösung?
a
Bezeichnung nach DIN EN 573-2
Werkstoffkunde
stalt und Form des Rahmens, siehe
Abschn. 14.1)
Belastungssimulationen Biege- und Torsionsteifigkeit höhere Biege- und Torsionssteifigkeit
(hauptsächliche Krafteinwirkungen) Traglast <150 kg Traglast <100 kg
korrosionsbeständig Schlag- und Ermüdungsresistenz
leicht sehr leicht
Randbedingungen des Marktes: großserientauglich Kleinserie, Spezialitätenmarkt
1) Preisniveau (Limit ja/nein) so billig wie möglich Preis relativ zum Wettbewerb
2) Einsatzdauer 10 Jahre, reparaturfähig, 1–2 Jahre
3) Prestigeträchtig im Design in der Funktionalität
Umweltrandbedingungen (qualitativ): Lebenszyklus der Bestandteile
1) Materialmenge Rohre geringer Masse
2) Herstellungs-Footprint Werkstoffherstellung, Formgebung, Oberflächenbehandlung
3) Einsatz-Footprint (Betriebsmittel) Schmiermittel, Reinigung, Reparaturen
4) Außerbetriebnahme Werkstoffe trennen, Werkstoffweiterverwertung, Entsorgung
Konstruktionswerkstoffe
Karbide
Nitride
Boride
keramische Gläser
Abb. 15.3 Das Werkstoffmenü der Werkstoffhauptgruppen(Naturstoffe, Verbundwerkstoffe, Werkstoffverbunde, Hybride, metallische Werkstoffe, Polymere, Koh-
lenstoffmodifikationen und Keramiken) unterteilt in Werkstoffgruppen und -untergruppen
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts großtechnische rungen, da sie Nachbarelemente von Eisen sind. Vanadi-
Bedeutung, aber wie Tab. 15.2 und Abb. 15.4 zeigen, ist um-Basislegierungen werden großtechnisch nicht einge-
ihr Marktanteil relativ gering. Die Produktion primärer setzt.
und sekundärer Aluminium-Legierungen erreicht 2015
Zu den Schwermetallen zählen alle Legierungen auf der
mit 67 Mio. Jahrestonnen etwas mehr als 1/30 der Stahl-
Basis von Elementen, deren Atomgewichte schwerer sind
produktion. Leichtwerkstoffe (Leichtmetalle und Polyme-
als Eisen (Fe), wie Kupfer (Cu), Zink (Zn), Nickel (Ni), Ko-
re) zeigen ein relativ hohes Wachstum und veränderten
in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts den Ma- balt (Co), Edelmetalle, Übergangselemente der 5. Haupt-
schinenbau vor allem den Fahrzeugbau. Die Produktion gruppe (ab Yttrium) und der hochschmelzenden Refrak-
von Sekundäraluminium aus umgeschmolzenen Alumi- tärmetalle der 6. Hauptgruppe (ab Hafnium) (siehe Peri-
nium-Abfällen hinkt der Primäraluminiumverarbeitung odensystem Abb. 14.10). Ihr Gebrauchs- und Marktwert
um etwa 30 Jahre nach, da dies die Nutzungsperiode ein- ist zwar in vielen Fällen hoch, aber die Verbrauchsmen-
schließt. gen sind relativ gering.
Die nichtmetallischen Werkstoffe bestehen aus den
Legierungen mit Mangan (Mn) oder Chrom (Cr) als Hauptgruppen Keramiken, Kohlenstoffmodifikationen
Hauptelemente werden für spezielle Anwendungen ent- und Kunststoffe. Diese zeichnen sich durch kovalente Bin-
wickelt und verhalten sich ähnlich wie Eisen-Basislegie- dungen aus, aber bei den Polymeren bestimmen die Se-
15.2 Werkstoffangebot 375
Vertiefung: Werkstoffproduktion
Die Werkstoffproduktion wuchs im vorigen Jahrhun- 2008 hat das Wachstum kurzzeitig beeinträchtigt und
dert um Größenordnungen. danach wieder steigt.
Die jährlichen Produktionsmengen der Werkstoffe er- Aufgrund der unterschiedlichen spezifischen Massen
fuhren im 20. Jahrhundert ein enormes Wachstum (Dichte) unterscheiden sich die Produktionsmengen in
(Abb. 15.4). War der Werkstoff des 19. Jahrhunderts Jahrestonnen von denen in Produktionsvolumina be-
neben Holz vor allem Stahl (ca. 30 · 106 t). Die Jah- trächtlich (vergleiche die Massenprozent mit den Vol.-
resproduktion von Stahl verzehnfachte sich während %: Zement 50 Massen-%, Holz 42 Vol.-%). Preisunter-
des Zweiten Weltkriegs bis etwa 1950. Die Leichtme- schiede ergeben eine unterschiedliches Marktvolumen,
Werkstoffkunde
talle, Polymere und die korrosionsbeständigen Stähle das von den Eisen-Basislegierungen (Stählen) mit 58 %
erreichten erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr- angeführt wird, weit abgeschlagen gefolgt von Zement
hunderts signifikante Marktanteile. Die Finanzkrise ab (13 %) und Kunststoffen (12 %).
Tab. 15.2 Vergleich der globalen Jahresproduktion der gebräuchlichsten Werkstoffe nach Daten der Produktbranchen 2015
Werkstoffgruppe spez. Masse der relative Volumen relative Durchschnittl. Wirtschafts- rel. Werte
Masse Produktion Massen der Pro- Volu- auf Stahl volumen des Markt-
in in 106 t in % duktion mina in normierter in 109 Ξ volumens
t/m3 in 106 m3 % Preis/kg in Ξ in %
Eisenbasislegierungen 7,9 1700 23 215 7 1 1700 58
Aluminiumbasislegierungen 2,72 55 0,7 20 0,7 5 275 9,3
Sekundäre Al-Legierungen 2,72 14 0,2 5 0,2 4 70 2,2
Magnesiumlegierungen 1,75 0,9 ~0,01 0,5 0,02 6 5 0,2
Polymere 1,1 320 4 290 9 1,1 350 12
Bauholz 0,5–1 1600 22 1300 (fma ) 42 <0,1 160 5,3
Zement 3 3700 50 1230 41 0,1 370 13
Ungefähre Gesamtmengen – 7400 100 3000 100 – 2920 100
a Festmeter
Millionen Jahrestonnen
1000 Stahl
100 Polymere
2. Weltkrieg
Aluminium
Wirtschaftskrise
10
sekundäres
Aluminium
1 rostfreier
Stahl Magnesium
0,1
Titan
0,01
1900 1920 1940 1960 1980 2000 2015
Abb. 15.4 Marktwachstum der wichtigsten Konstruktionswerkstoffe im 20. Jahrhundert und bis 2015 mit den markanten Ereignissen des 2. Weltkrieges
und der Finanzkrise 2008/09
376 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Es stehen an die 200.000 Werkstoffe zur Auswahl, Die gebräuchlichsten metallischen Werkstoffe sind mit
daher werden sie nach ähnlichen Zusammensetzun- DIN-Kurzbezeichnungen angegeben, da diese die Zu-
gen und Eigenschaften in Werkstoffkategorien und sammensetzung anzeigen. Wo angebracht, werden
-gruppen eingeteilt. genormte Symbole verwendet, um Sie mit diesen
Bezeichnungen vertraut zu machen. Stichwortartig
Die Vielfältigkeit des Werkstoffmenüs ist schwer dar- werden dies Werkstoffe und ihr Einsatz charakteri-
stellbar. In Tab. 15.3 sind typische Beispiele für Werk- siert (für detailliertere Beschreibungen konsultieren
stoffe aus verschiedenen Werkstoffhauptgruppen und Sie das Internet unter den angegebenen Bezeichnun-
-gruppen in alphabetischer Reihenfolge angeführt. gen).
Werkstoffkunde
Tab. 15.3 Werkstoffbeispiele, mit Stichworten zur Charakterisierung (Werkstoffe für die Leitbeispiele sind fett hervorgehoben und mit (a)–(d) gemäß
Abb. 14.4–14.7 gekennzeichnet; die leeren Felder mit Fragezeichen sind als Frage 15.2 zu beantworten)
Werkstoffbezeichnung Hauptgruppe/Gruppe/Untergruppe Beschreibung/Zusammensetzung Anmerkung
Acheson-Grafit Kohlenstoff- Grafit künstlicher Grafit durch Zersetzung von Trockenschmier-
modifikation Siliziumkarbid hergestellt stoff
(a,d) AlSi9Cu3(Fe) ? Aluminium-Legie- ? Gussteile
(226D, EN-AC46000) rung
Aluminiumoxid Keramik Hightech Keramik Korund: Al2 O3 Düsen
(d) AZ91 ? Magnesium-Legie- ? Gussteile
rung
Balsa Naturstoff Holz Malvengewächsstamm, 0,1–0,2 g/cm3 anisotrop
Bast Naturstoff Naturfaser Siebröhrenzellen mit Zellulosefibrillen Textilien
Borkarbid Nichtmetall anorgan., Keramik B4 C mit hoher Verschleißresistenz Schleifmittel
Bronze Nichteisen- Kupfer-Legierung historisch: Cu mit 9–22 % Zinn (andere: Gussteile
Metall Al-, P-, Glocken-Bronze)
Cermet Verbund- Partikel verstärktes TiCN-, TiC- und/oder TaC-Partikeln in Schneidwerkzeug
werkstoff Metall <10 vol.% Mo- oder Co-Matrix
(d) C10 (EN 10132-2) ? Einsatzstahl ? Getriebeteil
(d) C22E (Ck22, EN 10132-3) Vergütungsstahl ? fest und zäh
DC04 (EN 10139, früher St14) Karosserieblech Rp0,2 = 140–220 MPa, A80 > 37 % tiefziehfähig
Epoxy (EP) Polymer Duromer Umsetzung von Epichlorhydrin mit gehärtet
Bisphenol A und Aminen als Härter
glasfaserverstärkte Polymere Verbund- faserverstärkter E-Glas Kurzfasermatten (GM) oder End- anisotrop
(GFK) werkstoff Kunststoff (im All- losfasergeweben vf < 60 vol% (GC) in
gemeinen Duromer) EP oder UP (Polyesterharz)
GJH X300CrNiSi9-5-2 Eisen- weißes Gusseisen Ca.3 % C, 9 % Cr, 5 % Ni, 2 % Si verschleißfest
(EN-GJN-HV600) Basis- (Ni-) Hartguss Härte 600 HV, E ~210 GPa
(EN-) GJS700-2 legierung Sphäroguss 3,4–3,8 % C, 2–3 % Si, kugeliger Grafit Kurbelwelle
<60 µm ∅, Rm >700 MPa, A >2 %
(b) GJV300 (EN-GJV-300) ? ? Kurbelgehäuse
GS38 (EN 10293) Fe-Basis- Stahlguss 0,1–0,2 % C, ~0,5 % Si, ~0,4 % Mn, wärmebeh.- u.
legierung Rm >380 MPa, A ~25 %, E ~205 GPa schweißbar
Hartzinn Nichteisen- Schwermetalllegie- >80 % Sn, 2–6 % Cu, (Pb, Sb), Gussleg. umformbar
Metall rung.
HS10-4-3-10 (EN-ISO 4957) Fe-Basis- Schnellarbeitsstahl 10 % W, 4 % Cr, 3,5 % Mo, 10 % Co, hohe Warmhärte
legierung 1,3 % C, pulvermetallurgisch
Messing Nichteisen- Kupfer-Legierung α-CuZn30-Knetlegierung, β =kubisch-
α = kubisch-flächenzentriert Metall α + β CuZn37-Gusslegierung raumzentriert
MoSi2 Intermetall. Silizid tetragonale Überstruktur, Ts >2000 °C, Heizelemente
Verbindung pulvermetallurgisch hergestellt
Multiwallnanotubes (MWNT) Kohlenstoff- C-Nanotube konzentrische, hexagonale C-Lagen ∅ < 0,1 µm
PAN-Fasern modifikation C-Faser pyrolisierte Nylon(PAN)-Faser, gezogen longitudinal hohe
in Bündeln >1000 Fasern à ∅ ∼ = 7 µm E, Rm
Polykrist. Diamant (PKD) synthet. Diamant Kohlenstoff in Diamantstruktur Schneiden
(c) Polypropylen (PP) ? ? Polymeris. Propen [C3 H6 ], teilkristallin transparent
15.2 Werkstoffangebot 377
Werkstoffkunde
bund
Steingut Keramik poröse Keramik Ton+Quarz+Feldspat+Füllst. gesin- Tiegel
tert
Sterlingsilber Nichteisen- Edelmetall-Legie- 92,5 % Ag, Rest Cu u. a. Münzlegierung
Metall rung
(a) Superlegierung IN718 ? ? 50–55 % Ni, 17–21 % Cr, 3 % Mo, Gasturbine
1 % Co, 0,7–1 % Ti, 0,2–0,8 % Al,
5 % Nb, Rest Fe
S235JR (EN10025-2) Grundstahl unlegierter Quali- <0,2 % C, 1,4 % Mn; P,S <0,035 % Maschinenteile
tätsstahl Re 235 MPa,
Kerbschlagarbeit (RT) 27 J
TiAl intermetall. Aluminid tetragonale Überstruktur γ-TiAl mit Verbrennungs-
Verbindung 48-55 % Ti, bis ca. 800 °C warmfest motorventile
Ti6Al4V Nichteisen- Leichtmetall, Ti- zweiphasige Legierung: hdp α- und Turbinen-
(TiAl6V4, Ti64, Ti grade 5) Metall Legierung krz β-Phase, bis ca. 400 °C einsetzbar schaufeln
TZM Mo-Legierung 0,5 % Ti, 0,1 % Zr, Rest Mo, pulvermet. Heißkanaldüsen
Karbid dispersionsverstärkt, warmfest
Weißblech Werkstoffver- Baustahl mit Sn- elektrolytisch verzinntes, kalt gewalz- Lebensmittel-
bund Oberfläche tes Baustahlblech verpackung
X10NiCrAlTi 32-21 Eisen- hochlegierter, 0,1 % C, 32 % Cr, 21 % Ni; Al, Ti <1 %, thermische
(EN 10297-2) Basislegierung austenitischer hochwarmfest durch Ausscheidungen Kraftwerke
X5CrNi 18-10 (V2A, AISI 304, Stahl (kubisch- 0,05 % C, 18 % Cr, 10 % Ni, korrosions- „rostfreie“ Stähle
1.4301, EN10088-2) flächenzentriert) beständig
ZnAl4Cu3 (Zamak) Nichteisen- Schwermetall- 5 % Al, 1–3 % Cu, Gusslegierung, Beschläge,
Metall legierung, Zn-Basis Rp0,2 = 290–350 MPa, E = 85 GPa Modelle
Zündkerze Werkstoff- Aluminiumoxid + Zur Masse-Elektrode keramisch iso- Verbundbauteil
verbund Cu− + Superlegie- lierte Mittel-Elektrode
rung
(d) 100Cr6 (EN-ISO 683-17) Eisen- ? ? Wälzlager
11SMn30 (9SMn28; EN 10087) Basislegierung, Automatenstahl 0,08–0,1 % C, 0,3 % S, 1 % Mn gut spanbar
12CrMo19-5 (EN 10025-5) niedriglegierte warmfester Stahl 0,12 % C, 4–5 % Cr, 0,5 % Mo Kesselrohre
Stähle
12Ni14 (EN 10028-4) kaltzäher Stahl 0,12 % C, 3,5 % Ni, KV (−100 °C) > 27 J Kühlrohre
55NiCrMoV7 (EN-ISO 4957) Warmarbeitsstahl 0,55 % C, 1,8 % Ni, 1 % Cr, Mo, V < 1 % Schmiedeform
61SiCr7 (EN 10089) Federstahl 0,6 % C, 1,8 % Si, Cr < 1 %, Blattfedern
Re = 1400 MPa
kundärbindungen deren mechanische Eigenschaften. Bei das Bauwesen mit Stahlbeton und Holzprodukten. Holz
den Keramiken werden die Hightech-Keramiken hoher und Zement stellen zusammen über 80 % des gesamten
Reinheit als eigene Untergruppe geführt und nach ihrer Werkstoffvolumens dar.
chemischen Verbindung mit Sauerstoff, Stickstoff, Koh-
lenstoff oder Bor bezeichnet. Zum Vergleich ist in Tab. 15.2 Kohlenstoff wird zwar kaum als Konstruktionswerkstoff
die poröse Keramik Beton aus Zement für das Bauwesen eingesetzt, liefert aber wichtige Bestandteile für Verbund-
angeführt, dessen Produktion mehr als doppelt so hoch ist und Funktionswerkstoffe. Das Element Kohlenstoff kann
wie die Stahlproduktion. Zement nimmt gewichtsmäßig in unterschiedlichen Strukturmodifikationen mit unter-
50 % der gesamten Werkstoffjahresproduktion ein. Der schiedlichen Eigenschaften auftreten: Grafit aus ebenen
größte Einsatzbereich für Verbundwerkstoffe ist ebenfalls Schichten mit hexagonaler Atomanordnung (neuartige
378 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Stähle sind Eisen-Basislegierungen, in denen geringe nach der Norm sehr informativ; für alle Werkstoffe gibt
Gewichtsprozente an Kohlenstoff eine wesentliche Rol- es Werkstoffnummern mit Leitziffern für das Basisele-
le spielen. Ihre Bezeichnung ist sehr uneinheitlich: ment (1 = Fe-Basis, 2 = Nichteisen-Schwermetall (Ni), 3
= Leichtmetall). Als Edelstähle werden besonders rei-
Bei unlegierten Stählen wird nur der Kohlenstoffge-
ne Stähle bezeichnet, deren Gehalt an P und S jeweils
halt in 0,0x % (C0x) ältere Bezeichnungsweisen mit
< 0,025 Gew.-% beträgt, was auch deren Schweißarbeit
St und einem Mindestzugfestigkeitswert in kp/mm2 erleichtert. Zu weiterer Verwirrung tragen die Lie-
wurden ersetzt durch S und dem für den Einsatz ferfirmen bei, die ihre eigenen Bezeichnungssysteme
wichtigeren Streckgrenzenwert in MPa (N/mm2 ); für entwickeln. Stähle werden in Kap. 16 beschrieben.
Werkstoffkunde
Tab. 15.4 Beispiele für DIN-Kurzbezeichnungen und Werkstoffnummern für Eisenbasislegierungen (siehe auch Abschn. 16.7 und Tab. 15.3)
Stahlgruppe Leitsymbol DIN-Kurzzeichen Werkstoff- Erläuterungen
nummern
Unlegierte C C10 1.0301 C-Gehalt × 100 (Gew.-%)
Grundstähle C22 1.0402
Unlegierte, DC DC01, 02 bis DC07 1.0330, . . . , 1.0898 Verformbare Feinbleche, abnehmender C-, P-, S-Gehalt
mikrolegierte ZSt. ZStE260 1.0480 0,2 %-Dehngrenze ≥ 260 MPa, mikrolegiert (z. B. Nb, V)
Qualitätsstähle S S235 1.0038 u. a. Streckgrenze ≥ 235 MPa (früher St37: Rm ≥ 370 Mpa)
S355 1.0045 u. a. Streckgrenze ≥ 355 MPa
Unlegierte Endsymbol C45E 1.1191 u. a. P, S je < 0,025 Gew.-%, sowie besondere Gebrauchseigen-
Edelstähle E schaften
Niedrig legierte Zahl 11SMn30, 1.0715 Multiplikatoren für Legierungselemente:
Stähle 61SiCr7, 12Ni14, 1.7108, C (wie Ca, N, P, S) × 100 (Gew.-%)
12CrMo19-5, 1.5637 Cr, Co, Mn, Ni, Si, W × 4 (Gew.-%)
55NiCrMoV7 1.7362 Al, Cu, Mo, Ti, V, Zr × 10 (Gew.-%), B × 1000 (Gew.-%)
1.2714
Hochlegierte X X5CrNi 18-10, 1.4301 C × 100 Gew.-%, sonst keine Multiplikatoren der Kon-
Stähle X10NiCrAlTi 32-20 2.4856 zentrationen, Zahlenangaben in der Reihenfolge der
(1.4876) Elemente, <1 % keine Zahlenangabe
Schnellarbeits- HS HS10-4-3-10 1.3207 Gew.-% in Elementreihenfolge 10W-4Mo-3V-10Co
stahl
Stahlguss G GS38 1.0420 Symbol GS, Rm ≥ 38 kp/mm2 = 380 MPa
Bauwesen 1
Teilchen und Fasern, Werkstoffverbunde mit Ver-
Marktvolumen
bundwerkstoffen, zellulare Verbundwerkstoffe). Kraftfahrzeug 3
Werkstoffkunde
0 3000 6000
relative Währungseinheit in Ξ ~
= Preis von 1 kg Baustahl
15.3 Werkstoffanforderungen Abb. 15.5 Durchschnittlicher relativer Marktwert der Produkte pro kg Masse
und Kenngrößen (normiert auf den Stahlpreis) mit der Tendenz des zugehörigen Marktvolumens
(für Bauwesen am größten); Kraftfahrzeug bezieht sich auf einen Großserien-
Pkw
Maschinenversagen ist in ca. 90 % der Fälle auf Kon-
struktionsfehler zurückzuführen, insbesondere auf Fehl-
einschätzungen der Werkstoffbelastungen bzw. der Werk- als Sportgeräte einzustufen), Flugzeuge und Raumfahr-
stoffeigenschaften. Relativ wenige Schadensfälle werden zeuge, sodass hierfür auch teure Leichtwerkstoffe (Alu-
durch herstellungsbedingte Werkstoffdefekte verursacht. minium-, Titan-Legierungen, Kohlenstofffaser verstärkte
Abbildung 15.6 zeigt Beispiele von Eisenbahnunfällen Kunststoffe) rentabel eingesetzt werden können. Im All-
aufgrund der unterschätzten Wirkung der schwingenden gemeinen gilt, je größer das Marktvolumen, umso gerin-
Belastung (Abschn. 15.11) der rollenden Räder. Bauteil- ger muss der Preis der einzusetzenden Werkstoffe sein.
versagen leitet im Allgemeinen konstruktive Verbesse-
Die Materialpreise sind zwar ein wichtiger Kostenfaktor,
rungen oder eine anforderungsgerechtere Werkstoffaus-
aber wesentlich stärker wirken sich die Verarbeitungs-
wahl ein, aber es kann auch dazu führen, dass Beschrän-
kosten auf die Produkte aus. Beispielweise kann eine
kungen für den Bauteileinsatz auferlegt werden. Die
Instrumententafel eines Pkw aus einem Druckgussteil
Kenntnis der Bauteilbelastungen und das entsprechen-
(Druckgießen siehe Kap. 30) aus einer Magnesium-Legie-
de Lastenheft (Aufzählung der Mindestanforderungen an
rung gegenüber einer aus vielen, umgeformten Einzeltei-
einen Bauteil) für die Werkstoffeigenschaften sind die
len gefügten Stahlblechversion unter Berücksichtigung ei-
Voraussetzung für erfolgreichen Maschinenbau.
ner 30-prozentigen Gewichtseinsparung konkurrenzfähig
sein, obwohl der Magnesium-Preis sechsmal höher ist als
der für Stahl (Klingauf 2010).
Eine Werkstofflösung ist rentabel, wenn ihr
Marktwert höher ist als die Kosten
Bilanz des Energieaufwandes für Herstellung
Tabelle 15.2 gibt auch den durchschnittlichen Marktwert
der Werkstoffe pro kg an, der ein wichtiges Auswahl-
und Betrieb
kriterium für deren industriellen Einsatz darstellt. In der
Tabelle sind Titan-Legierungen nicht enthalten, weil sie Die nachhaltige Rentabilität einer Werkstofflösung kann
mehr als 40 Ξ (2013: 40 €/kg) kosten. Der Preis der Leicht- aus der Energiebilanz für ein Produkt abgeschätzt werden.
metalle auf der Basis von Magnesium, Aluminium und Diese setzt sich aus dem Aufwand für die Werkstoffbereit-
Titan ist die größte Hürde für ihren großtechnischen Ein- stellung, für die Fertigung und den Zusammenbau, für den
satz. Die Rentabilität der Werkstoffe richtet sich nach dem Betriebseinsatz und die Instandhaltung, sowie letztlich
Marktwert der Produkte, der vereinfacht in Abb. 15.5 dar- für die Außerbetriebnahme zusammen. Abbildung 15.7
gestellt ist. Im Bauwesen werden im Allgemeinen billige vergleicht diese Anteile des Energieverbrauchs für Trans-
Materialien eingesetzt, außer der architektonische Wert portmittel mit denen für stationäre Produkte. Der Ent-
ist von Bedeutung (z. B.: Titan-Verkleidung des Muse- sorgungsaufwand verdient insofern Beachtung, da Rezy-
ums in Bilbao). Großserien-Pkw unterscheiden sich nicht kliermöglichkeiten genutzt werden können, die einer teil-
nur im Preis wesentlich von Luxuslimousinen in Klein- weisen Energierückgewinnung gleichkommen, was bei-
serien, sondern auch in den Verarbeitungstechniken für spielsweise beim Umschmelzen von Legierungen der Fall
große und kleine Stückzahlen. Besonders wertvoll ist die ist. Neben dem Energieaufwand muss auch der Einfluss
Gewichtseinsparung für Sportgeräte (Rennfahrzeuge sind der globalen Erwärmung durch die Werkstoffherstellung
380 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Beispiel: Wenn die gewählten Werkstoffe den realen Beanspruchungen nicht standhalten, weil
das reale Anforderungsprofil für die Bauteilauslegung unterschätzt wurde
Abbildung 15.6 zeigt zwei Eisenbahnunfälle, die auf Der Aufbau eines modernen Eisenbahnrades ist in
Radbrüche zurückzuführen sind. Nach dem Unfall Abb. 15.6c dargestellt, wo auch die Rissbildung ange-
in Abb. 15.6a wurde A. Wöhler beauftragt, erstmals deutet ist.
Risse
Radreifen
Gummi
Haltering
Radkörper
Risse
a c d
b e
Abb. 15.6 Eisenbahnunfälle durch Ermüdungsschädigung an Radreifen; a Entgleisung der Lokomotive auf der Strecke Salzburg-Linz 1875; b ICE-Hochge-
schwindigkeitszug; c Aufbau der ICE-Räder mit Ermüdungsrissen im Radreifen; d gebrochener Radreifen als Unfallursache bei Enschede 1998; e Achse mit
Rädern und Bremsscheiben des ICE nach dem Unglück von Eschede 1998 aufgrund eines Radreifenbruchs
berücksichtigt werden (Nuss 2014). Der ökologische Fuß- ca. 70 %. In diesen Fällen ist der Energieverbrauch im Be-
abdruck ausgedrückt in CO2 beträgt 1,5 kg CO2 /kg Stahl trieb wesentlich größer als der für die Herstellung. Für
(Stahl-Weltproduktion ca. 2 × 1012 kg CO2 ) und 8,2 kg derartige Produkte ist eine Werkstoffauswahl erstrebens-
CO2 /kg Aluminium (Al-Weltproduktion 3 × 1011 kg CO2 ) wert, die den Energieaufwand im Gebrauch reduziert.
Eine Gewichtseinsparung von 100 kg eines Kraftfahrzeu-
Der Aufwand für den Betrieb umfasst beim Flugzeug ges rechtfertigt Preise je kg Werkstoff bis zum Dreifa-
mehr als 95 %, beim Auto ca. 85 % und beim Kühlschrank chen des Literpreises der Treibstoffe. Für die Gebäude
15.3 Werkstoffanforderungen und Kenngrößen 381
100
Energie Anteil in %
.
.
g.
g.
.
g.
.
dg
dg
llg
llg
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Werkstoffkunde
er
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En
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A
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W
A
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100
Energie Anteil in %
0
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er
H
H
H
A
W
A
A
W
E
Abb. 15.7 Schematischer Vergleich der Anteile des Energieaufwands für Produkte unterschiedlicher Einsatzbereiche (Flugzeug, Personenkraftwagen, Kühlschrank,
Parkhaus, Wohnhaus, Teppich); relativer Energieaufwand für die Werkstoffbereitstellung (grün ), die Produktherstellung (hellblau ), die Anwendung (rosa ) und die
Entsorgung (braun, eventuell mit Energiegewinn beim Rezyklieren) von Produkten
Tab. 15.5 Liste der wichtigsten Eigenschaften der Konstruktionswerkstoffe mit ihren Symbolen und Einheiten, sowie der Verweis auf den entsprechenden Abschnitt
Gebrauchsanforderung/-eigenschaft Eigenschaftskenngrößen Symbol Maßeinheit Abschnitte
Wirtschaftlich (preisgünstig oder ex- Relativer Preis (bezogen auf 1 kg Ξ 2010: ca. 1 €/kg 15.2
klusiv) Baustahl)
Leicht Spezifische Masse (Dichte) ρ g/cm3 = Mg/m3 15.4
Steif Elastizitäts-, Schub-, Kompressionsmodul E, G, K kN/mm2 = GPa 15.5
Volumenänderung bei elast. Verfor- Poisson-Zahl ν – 15.5
mung
Dämpfend oder in Resonanz schwin- Dämpfungskonstante η – 15.5
gend
Fest, Verformungs-/Bruchwiderstand Streck-/Dehngrenze (Elastizitätsgrenze), Re , Rpx , Rm N/mm2 = MPa 15.6, 15.8
Zug-/Druckfestigkeit
Plastisch verformbar Gleichmaßdehnung, Bruchdehnung; Ag , A; wF %; J/m3 15.6, 15.8
Formänderungsarbeit
√
Versagenstolerant Bruchzähigkeit (linear elastische KIc , KIIc , KIIIc MPa m = 15.9, 15.10
Dehnung; I=Zug, II, III=Schub) N/mm3/2
Ermüdungsbeständig Dauer- bzw. Zeitfestigkeitsverhältnis sD , sNG σD /Rm , σNG /Rm (–) 15.11
Temperatur
Kriechbeständig Zeitdehngrenze bei best. Temperatur u. σeT (t) MPaDehnung (Zeit) 15.12
Belastungsdauer
Temperaturbeständig Schmelz- bzw. Erweichungstemperatur Ts K oder °C 15.4
Formstabiltät Temperatur-Ausdehnungskoeffizient β(T ) /αT2
T1 1/K oder ppm/K 15.4
(physikal./technisch)
Thermischer Stofftransport Diffusionskoeffizient D m2 /s 15.12, 18.5, 19.5
Thermische Energieaufnahme Spezifische Wärme bei konstantem Druck cp J/(kg K) 18.6
Wärmetransportfähigkeit Wärmeleitfähigkeit λ W/(m K) 15.4
Chemische Beständigkeit Korrosionsrate (Masseverlust pro Fläche ΔmK g/(s m2 ) 15.14
und Zeit)
Gleit- und Haftfähigkeit Reibungs- bzw. Haftungskoeffizient μG , μS – 15.13
Verschleißbeständigkeit Verschleißrate (Masseverlust pro Weg) ΔmV g/m 15.13
382 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Dichte in g/cm3
ρ Legierung ~
= Σ ci (Gew.-%) · ρi (Elemente)
Werkstoffbereitstellung: Parkhaus (ca. 90 %), Wohnhaus 9,0
Fe-Basis (>50 Gew.-% Fe) Ni-Basis
(ca. 50 %), Teppich (ca. 70 %). Beim Wohnhaus beträgt der
8,8
Betriebsaufwand ca. 40 %, wobei besser isolierende Bau-
stoffe die Betriebsenergie herabsetzen können, wodurch 8,6
der Anteil des Materialaufwands steigen kann.
8,4
Frage 15.3 8,2
Wie verändern sich die Kostenanteile für die Werkstoffe
in Bezug zu den Fertigungskosten mit der Seriengröße? 8,0
7,8
l
rte Fe
rT 5
15
i
iM ahl)
oM 2-2
Werkstoffkunde
iA
N
1M
eM
-
Die Gebrauchseigenschaften eines Produktes resultieren
6N 18-8
-
6-
0T
in
1
t
i2
0F
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r2
Re
r2
1
o
aus der Konstruktion des Bauteils, für den die Werk-
iC
r3
o
iC
iC
iC
ie
N
iC
stoffauswahl aufgrund der Werkstoffkennwerte getroffen
N
eg
rN
3N
nl
X
6C
(u
wird. Tabelle 15.5 listet die wichtigsten Gebrauchseigen-
X
X
Ni-Gehalt
0
C4
schaften von Werkstoffen auf und ordnet ihnen Werk-
stoffkennwerte, ihre Symbole und Maßeinheiten zu. Die
Abb. 15.8 Beispiele für Dichtewerte von Eisen- und Nickel-Basislegierungen,
Werkstoffeigenschaften werden in den angeführten Ab- die mit der eingetragenen Mischungsregel näherungsweise abgeschätzt werden
schnitten näher beschrieben. Die Eigenschaftsprofile der können. Die Legierungskurzzeichen geben die Gew.-% der Elemente in der Rei-
Werkstoffe zeigen deren Stärken und Schwächen auf. In henfolge ihrer Aufzählung an, X und C stehen für 10−2 % Kohlenstoff (z. B.:
den seltensten Fällen stimmen die Anforderungsprofile X6NiCrTi 26 15 enthält 0,06 % C, 26 % Ni, 15 % Cr, <1 % Ti); bei den Nickelba-
eines Bauteils mit den Eigenschaftsprofilen eines Werk- sislegierungen steht die Konzentration nach dem jeweiligen Legierungselement;
stoffes vollständig überein. Die Anforderungen müssen keine Zahlenangabe bedeutet unter 1 Gew.-%
nach Prioritäten gereiht werden, um die günstigsten Ei-
genschaftskombinationen auswählen zu können. Dabei
sind der Preis der Werkstoffe und ihrer Verarbeitung Frage 15.4
meist entscheidender. Im Allgemeinen müssen Kompro- Maßeinheiten für spezifische Masse und spezifisches Ge-
misse eingegangen werden. wicht. Bitte ergänzen Sie:
Anforderungen an Werkstoffe für Fahrradrahmen und serien aus geformten und geschweißten Stahlblechen,
Bewertung der entsprechenden Werkstoffeigenschaf- die größtenteils auch die Außenhaut der Karosserie
ten verschiedener Werkstofflösungen im Vergleich mit umfassen und in die der Antriebsstrang eingebaut
Karosserierahmen. wird; Rahmenstruktur (Fachwerkprinzip, Space-Fra-
Am Beispiel eines Fahrradrahmens (siehe Abb. 14.2 me, vgl. Abb. 14.3b), die sowohl den Antriebsstrang
und Aufgabe 15.1a) werden Werkstoffeigenschaften in als auch die Außenhautbleche trägt; diese eignet sich
einer „Datenspinne“ relativ bewertet. Welche Werk- bevorzugt für die Aluminium-Bauweise. Der hier dar-
stofflösung entspricht den verschiedenen Marktan- gestellten Datenspinne folgend sind alle angegebenen
forderungen (z. B.: Stadtfahrrad oder Mountainbike) Eigenschaften für die tragende Karosserie nach bei-
Werkstoffkunde
am ehesten? Aus technischer Sicht wäre das Eigen- den Bauweisen wichtig. Das Gewicht der Aluminium-
schaftsprofil einer Titan- oder Aluminium-Legierung Variante kann leichter sein wegen der günstigen spe-
wegen deren Ausgeglichenheit am besten für das zifischen Biegesteifigkeit (siehe Abschn. 14.4), bzw.
Stadtfahrrad geeignet, aber der Preis für einen Titan- Biegefestigkeit von Aluminium gegenüber Stahl. An-
Rahmen ist um ein Vielfaches höher als der eines dererseits erbringt Stahl eine höhere Zähigkeit und
Stahlrahmens. Das Großserienprodukt wird somit aus somit ist die Crash-Resistenz leichter zu erhöhen als
Stahl gefertigt, Aluminium-Rahmen sind etwas teurer, beim Aluminium-Space-Frame. Die Korrosionsbestän-
während der Titan-Rahmen als prestigeträchtiges Lu- digkeit von Al-Legierungen ist höher als die von Stahl,
xusprodukt seinen Nischenmarkt findet. wofür Beschichtungen entwickelt wurden. Hinsicht-
lich der Fertigung ist die Umformbarkeit von Stahl
Eine relative Bewertung der Werkstoffeigenschaftspro- wesentlich besser als die von Aluminium-Profilen
file für Stahl, Aluminium- und Titan-Legierungen, so- und -Blechen. Die Kosten für Werkstoff und Ferti-
wie kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff (CFK) hin- gung liegen für Stahlkarosserien günstiger als für die
sichtlich der Anforderungen eines Fahrradrahmens Aluminium-Variante. Für hochpreisige Produkte wird
kann in einer so genannten Datenspinne dargestellt Aluminium eingesetzt, um das Gewicht der Zusatzein-
werden. bauten durch die Leichtbauweise zu kompensieren.
Für Automobilkarosserien sind zwei Bauweisen von Karosserien für Großserien werden weiterhin aus Stahl
Bedeutung (vgl. Abb. 14.3a): selbstragende Stahlkaros- gefertigt werden.
Dichte
5
Preis Festigkeit
4
er
ativ
rel teil
r
3 Vo
Rezyklierbarkeit Zähigkeit
2
hochfester Stahl
1 Aluminiumlegierung
Titanlegierung
Oberfläche Steifigkeit C-faserverstärkter
Kunststoff CFK
5 = optimal
1 = schlechteste
Korrosions-
Designfähigkeit
beständigkeit
Bearbeitbarkeit Formbarkeit
Fügbarkeit
384 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Leitbeispiel Antriebsstrang
Werkstoffe für ausgewählte Bauteile:
a) Turbolader, b) Kurbelgehäuse, c) Ölwanne,
d) Getriebezahnrad
Aus dem Antriebstrang eines Pkw wurden Bautei- re Rolle spielen als bei Großserienteilen. Weiterhin ist
le (Abb. 14.4–14.7) ausgewählt, für die verschiedene es für die Fertigungstechnik bedeutend, wie komplex
Werkstoffe eingesetzt werden: die Turbine des Turbo- der Konstrukteur die Form des Bauteils wünscht und
Werkstoffkunde
laders, das Kurbelgehäuse, die Ölwanne und Getriebe- wie eng die Fertigungstoleranzen sind. Davon hängt
teile stellen sehr verschiedene Anforderungen an die die Wahl des Fertigungsverfahrens und gegebenenfalls
dafür eingesetzten Werkstoffe. Die Hauptfunktionen des erforderlichen Fügeverfahrens ab.
der ausgewählten Bauteile der Leitbeispiele sind in der
In unten stehender Tabelle sind die wichtigsten Ge-
Tabelle angeführt, weiterhin die daraus abgeleiteten
brauchseigenschaften qualitativ angegeben. Da alle
allgemeinen Anforderungen.
Leitbeispiele bewegte Teile darstellen, soll der Energie-
Die Losgröße der Produkte stellt einen wichtigen Kos- bedarf im Betrieb gering sein, sodass Leichtbau-Prin-
tenfaktor in der Fertigungstechnik (siehe Kap. 30) dar. zipien anzuwenden sind. Vor allem die Steifigkeits-
Es macht beispielsweise einen großen Unterschied für und Festigkeitskennwerte müssen auf das Bauteilge-
die Investition von Fertigungsmaschinen, ob ein Au- wicht bezogen werden, sodass das spezifische Gewicht
to in Stückzahlen von 100.000, 10.000 oder 1000 pro des Werkstoffes wesentlich ist. Die spezifischen Werte
Jahr hergestellt wird. Andererseits werden hochpreisi- für E-Modul, Elastizitätsgrenze, Zähigkeit, Zeitfestig-
ge Produkte im Allgemeinen in geringen Stückzahlen keit und Ermüdungsbeständigkeit stellen wesentliche
hergestellt, wobei die Werkstoffkosten eine geringe- Auslegungsdaten dar.
Bauteil
Alle Bauteile sind Temperaturschwankungen ausge- fen, sowie der Systemtemperatur ab. Relativbewegun-
setzt, die nicht nur die Werkstoffeigenschaften verän- gen gegenüber anderen Bauteilen bzw. der Auflage
dern, sondern auch thermische Spannungen induzie- stellen unter mechanischer Belastung ein Verschleiß-
ren können, wenn sich die thermischen Ausdehnungen system (Abschn. 15.13) dar, das Werkstoffabnützung
bei Temperaturgradienten oder im Verbund verschie- und somit Schwächung hervorrufen kann.
dener Werkstoffe lokal unterscheiden (wird in Ab-
schn. 15.4 ausgeführt). Die Korrosionsempfindlichkeit Sowohl Korrosions- als auch Verschleißbeständigkeit
(Abschn. 15.14) hängt von der Reaktivität der Bautei- hängen von der Beschaffenheit der Bauteiloberfläche
loberfläche mit dem umgebenden Medium bzw. von ab, die durch Beschichtungen resistenter gemacht wer-
galvanisch verbundenen, unterschiedlichen Werkstof- den kann.
Werkstoffkunde
konstanten ist auf die mit der Temperatur exponen- die Ausgangslänge l(T1 ) in einem Temperaturintervall
tiell zunehmende Leerstellenkonzentration in den Kris- ΔT = T2 − T1 nach (15.1) berechnet:
tallen zurückzuführen, deren Erhöhung in Aluminium ab
T l(T2 ) − l(T1 )
ca. 200 °C signifikant wird (siehe Abschn. 15.12; bei Me- αT21 = → Δl = αTT21 · l(T1 ) · ΔT (15.1)
tallen ca. 0,5 TS , Anschmelztemperatur in K). Eine Leer- l(T1 ) · (T2 − T1 )
stelle ist dabei eine unbesetzte Atomposition in einem T2
Kristallgitter wie in Abb. 15.9 skizziert. Die Längenän- 1 dl(T )
β (T ) = → Δl = (T1 ) β(T )dT (15.2)
derung pro K (oder °C) wird der Einfachheit in „parts l(T ) dT
T1
per million pro Kelvin“: ppm/K = 10−6/K angegeben.
Da der Ausdehnungskoeffizient temperaturabhängig ist, Erfolgt die Längenänderung im Material isotrop, dann
T
wird der lineare, technische Ausdehnungskoeffizient αT21 ändert sich das Volumen um das Dreifache des linearen
aus der Längenänderung Δl = l(T2 ) − l(T1 ) bezogen auf Ausdehnungskoeffizienten: ΔV (ΔT ) = 3 · αTT21 · ΔT. Der
physikalische Ausdehnungskoeffizient – bei konstantem
Druck (isobar) β(T ) bei einer bestimmten Temperatur T –
Längenzunahme aufgrund der Volumenver-
9 wird durch Ableitung der Längenänderungskurve l(T )
größerung durch Anstieg der Leerstellen
bei der Temperatur T gemäß (15.2) ermittelt. Die Ergebnis-
Δl se der Längenänderungen Δl nach (15.1) und (15.2) sind
8 l für dasselbe Temperaturintervall ΔT gleich. Ursächlich
Leerstelle hängt die Größe der temperaturabhängigen Ausdehnung
7 vom Abstand der Minima des Bindungspotenzials ab,
Δa
a durch welches die Bindungskräfte zwischen den Ato-
Δl/l bzw. Δa/a ∙ 10–3
5
tan
rP
ko
er
ru
4
itt
rG
än
de
ng
ng
de
=
Än
Abkühlung Abb. 15.9 α800 30 ppm/K zwischen 427 und 527 °C).
2
Δl
l
Kurve { Erwärmung
Abkühlung
700
Starke Bindungskräfte verursachen auch hohe Schmelz-
temperaturen. Daraus ergibt sich, dass Materialien mit
1
Δa Kurve
a { Abkühlung
Erwärmung
höherer Schmelztemperatur einen kleineren Temperatur-
ausdehnungskoeffizienten aufweisen. Tabelle 15.6 führt
0
die Kennwerte einiger Werkstoffe aus unterschiedlichen
400 450 500 550 600 650 Werkstoffkategorien an, wobei die „Anschmelztempe-
Temperatur in °C ratur“ TS (Solidustemperatur), bei der zumindest lo-
kal eine flüssige Phase entsteht) angegeben ist, ab der
Abb. 15.9 Beim Aufheizen und Abkühlen einer Aluminium-Probe zwischen diese nicht mehr als Werkstoffe einsetzbar sind. Für
400 °C und dem Schmelzpunkt ergibt sich eine reproduzierbare Differenz zwi-
schen dilatometrischer Längenänderung (Δl /l = 0,92 %) und röntgenografisch
amorphe Stoffe (Polymere, Gläser) ist auch die „Glas-
gemessener Änderung der Gitterkonstanten (Δa /a = 0,88 %) aufgrund der mit übergangstemperatur“ angegeben, unter ihr sind diese
der Temperatur exponentiell ansteigenden Leerstellenzahl; Skizze einer Leerstel- spröde, darüber werden sie viskos. Die Höhe dieser
le anstelle einer Atomposition Grenztemperaturen liefert einen Indikator für die Stärke
386 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Ts in °C
Diamant
3500
3000
Grafit
TZM
2500 SiC
Werkstoffkunde
Al2O3
2000
αRT100° E Si3N4
Polymer
Keramik Ti6Al4V
1500 18-10 C45
Metall
IN718
GS700
1000
CuZn30
AgCu7
Duran
AlMgSi1
AlSi12
AZ91
SIR PA66 SIR
PP PP
EP
300 250 200 150 100 50 0 150 300 450 600 750 900 1050 1200
αRT100° in ppm/K E in GPa
Abb. 15.10 Zusammenhang zwischen Anschmelztemperatur TS , dem linearen technischen Ausdehnungskoeffizient α zwischen Raumtemperatur und 100 °C sowie
dem Elastizitätsmodul E bei Raumtemperatur (Kennwerte aus Tab. 15.6)
der Bindungskräfte in diesen Materialien. Die Maximal- ratur (steigende Bindungskräfte) mit einem fallenden
temperaturen für den festen Zustand von Werkstoffen Ausdehnungskoeffizienten verbunden ist. Andererseits
aus den drei Kategorien der Bindungstypen sind für steigt der Elastizitätsmodul E (siehe Abschn. 15.5) mit
Kunststoffe unter 300 °C (Polyimide), für Metalle un- der Anschmelztemperatur, wie das Achsensystem TS -E
ter 3420 °C (Wolfram) und für Keramiken unter 3800 °C zeigt. Eine Ausnahme stellt Grafit dar, der zwar ho-
(Diamant). Teilkristalline Thermoplaste werden zwischen he Temperaturbeständigkeit aufweist, aber wegen seiner
der Glasübergangstemperatur und der Schmelztempe- hexagonalen Schichtstruktur mit geringer Bindungskraft
ratur eingesetzt, während amorphe Thermoplaste und zwischen den Schichten nur einen niedrigen E-Modul
Duromere unterhalb der Glasübergangstemperatur Ver- erreicht. Wie Keramiken haben Gläser niedrige Ausdeh-
wendung finden. Elastomere erfüllen ihre Funktion ober- nungskoeffizienten, aber wegen ihrer amorphen Struktur
halb der Glasübergangstemperatur bis zur Zersetzungs- relativ niedrige Anschmelztemperaturen. Für Verbund-
temperatur. werkstoffe aus verschiedenen Werkstoffkategorien gelten
diese Beziehungen nur für die Verbundwerkstoffkompo-
Im Temperaturbereich von Raumtemperatur (RT) bis nenten, während für deren Kombination entsprechende
100 °C (373 K) überstreicht der lineare, technische Aus- Mischungsregeln für Ausdehnungskoeffizienten und E-
dehnungskoeffizient für Kunststoffe einen weiten Bereich Moduln gelten. Genau genommen sind Mischungsregeln
über 30 ppm/K, für Metalle 5–30 ppm/K und für Ke- auch für Legierungen mit signifikanten Mengenantei-
ramiken 0–10 ppm/K. Abbildung 15.10 zeigt im Ach- len an unterschiedlichen Phasen (z. B.: Gusseisen (GJS),
sensystem α-TS , dass eine steigende Anschmelztempe- Ti6Al4V) heranzuziehen.
15.4 Dichte und thermische Ausdehnung 387
Kristallografische Struktur, Dichte, Wärmeleitfähigkeit schen Dichte und E-Modul (siehe Abb. 14.22). Tabel-
und Wärmekapazität, sowie Zusammenhang zwischen le 15.6 führt einige Werkstoffe und ihre Kurzzeichen
Anschmelztemperatur, technischem Ausdehnungsko- aus den unterschiedlichen Werkstoffhauptgruppen an.
effizient und Elastizitätsmodul. Die Strukturangaben beziehen sich auf die Atom- oder
Die meisten Werkstoffe besitzen keinen einfachen Molekülanordnungen (siehe Abb. 14.15). Der Dichte-
Schmelzpunkt beim Übergang vom festen in den bereich überstreicht mehr als eine Dekade.
flüssigen Zustand, sondern weisen ein Temperatur- Die spezifische Wärme ist jener Energieaufwand, der
intervall zwischen Solidus (Grenztemperatur für fes- notwendig ist, um die Temperatur von 1 kg eines Stof-
ten Zustand des Werkstoffes) und Liquidus (untere
Werkstoffkunde
fes um 1 K (= 1 °C) zu erhöhen, wobei konstanter
Grenztemperatur für den flüssigen Zustand) auf (siehe Außendruck herrscht. Die Zahlenwerte für die iso-
Kap. 16). Für die Einsatzgrenze der Werkstoffe ist die bare spezifische Wärme (Wärmekapazität) cp ist für
Solidus- bzw. Erweichungstemperatur (Anschmelz- Kunststoffe höher als für Metalle, dazwischen liegen
temperatur TS ) ausschlaggebend. Für Duromere und Keramiken. Wärmeleitfähigkeit λ, auch Wärmeleitko-
amorphe Thermoplaste bildet die Glasübergangstem- effizient genannt, ist eine Stoffeigenschaft zur Berech-
peratur die Einsatzgrenze. Elastomere beginnen sich ab nung des Wärmestroms aufgrund der Wärmeleitung:
einer bestimmten Temperatur zu zersetzen. Die Tem- Die Wärmestromdichte ist direkt proportional zum
peraturstabilität (Formstabilität) der Werkstoffe steigt Temperaturgradienten über eine Distanz l und der Pro-
mit deren atomaren Bindungskräften, was durch einen portionalitätsfaktor ist die Wärmeleitfähigkeit. In der
kleineren, linearen Ausdehnungskoeffizienten quanti- eindimensionalen Differenzenschreibweise gilt, dass
fiziert wird. Analog steigt der Elastizitätsmodul mit der Wärmestrom durch eine Fläche A
den Bindungskräften und somit mit der Anschmelz-
temperatur (siehe Abschn. 15.5 und Abb. 15.10). Bei ΔT
den Metallen besteht auch eine Proportionalität zwi- Q̇ = λA
l
Tab. 15.6 Beispiele für Dichte bei Raumtemperatur ρ, Temperaturgrenze des festen Zustandes T S (ergänzt durch Glasübergangstemperatur (teil-)amorpher
◦C
Stoffe), linearer Temperatur-Ausdehnungskoeffizient (zwischen 25 und 100◦ C) α100
RT , spezifische Wärmekapazität (bei konstantem Druck) c p , Wärme-
leitfähigkeit λRT und Elastizitätsmodul E bei Raumtemperatur einiger wichtiger, massiver, monolithischer Werkstoffe (Werkstoffe aus dem Leitbeispiel
Antriebsstrang (LB) sind fett hervorgehoben)
◦
Massivwerkstoffe Struktur ρ in Anschmelztemp. αRT
100 C in cp in λRT in E in GPa
Mg/m3 in °C (Glasüberg. ppm/K J/(kg K) W/(m K) (= kN/mm2 )
Temp.)
Silikonkautschuk (SIR) Elastomer 1,1–1,5 <300 (<–100) 250–300 1050–1300 0,16 (1–50) · 10−3
Polypropylen (PP) Thermoplast 0,9 175 (<–10) 50–180 1680–2100 0,23 0,9–2
Polyamid (PA 66) in LB(c) Thermoplast 1,1 260 (<60) 80 1700 0,25–0,35 2 ± 0,5
konditioniert
Epoxy (EP) Duromer 1,2–1,3 <150 (80–150) 35–60 1040–1300 0,2 2,5–4
Acheson-Graphit Hexagon. Schichten 1,8–2,3 >2500 0–3 700 120–160 5–25
Diamant (CD) Kub. Diamantgitter 3,2–3,5 3800 1 510–525 2300 1200
γ-Al2 O3 (Tonerde) Kubisch 3,5–4 1900–2050 6–7 800–1050 28 240–380
Siliziumkarbid α-SiC Rhombisch 3,1–3,2 2300–2500 4–4,8 600–1100 350 350–450
Silziumnitrid β-Si3 N4 in LB (a) Hexagonal 3,2–3,4 1700–1900 2,5–3,5 700–850 100 290–330
Borsilikat-Glas (Duran) Amorph 2,2 <825 (525) 3–4 830 1 64
Mg-Gusslegierung AZ91 hcp 1,8 420 26 1000 26 45
Al-Gussleg. AlSi12 (230) in LB(b) kfz 2,7 575 21 970 130–160 73–75
Al-Knetleg. AlMgSi1 (AW6082) " 2,7 590 23 920 230 70
in LB(e)
Ti6Al4V (α+β)-Legierung hrz + krz 4,4 1600 9 530 7 115 ± 10
Messing CuZn30 kfz 8,55 900 19 385 120 114
Sphäroguss GJS700 Grauguss: Stahl mit 7,1–7,3 1150 8–9 460 32–36 160–185
Graphit
Un-/niedriglegierter Stahl Krz (Ferrit) 7,85 1420 11 460 42–55 210 ± 10
in LB(d)
Rostfreier Stahl X5CrNi18-10 (INOX) Kfz .(Austenit) 7,9 1410 16 510 15 200
Inconel 718 in LB (a) " 8,2 1330 13 400 11 205
Ni-Basis-Superlegierung
Mo-Legierung TZM krz 10,2 2610 5,5 260 140 320
Sterlingsilber 925 (AgCu7) kfz 10,5 800–900 19 235 420 80
388 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Leitbeispiel Antriebsstrang
Thermo-physikalische Eigenschaften der Werkstoffe
Werkstoffkunde
Werkstoffkunde
Axial wirkende Zug- bzw. Druckkräfte FN werden auf
werden (Janocha 2010). Der piezo-elektrische Effekt ei- die Fläche AN normal zur Krafteinwirkung bezogen, um
niger Keramiken und Polymere beruht auf ihrem Auf-
die mittleren Zug- bzw. Druckspannungen zu berech-
bau aus Molekülen, deren unsymmetrische elektrosta-
nen σ = FN /AN (N/mm2 = MPa). Solange die Spannung
tische Ladungsverteilung zu Dipolen führt. Die Dipole
auf den ursprünglichen Querschnitt vor der Belastung
sind innerhalb regellos verteilter Domänen parallel ausge-
bezogen ist, wird sie als technische Spannung σn be-
richtet. Die Dipolrichtungen der Domäne werden durch
zeichnet. Diese verursacht eine Längenänderung, die auf
ein äußeres elektrisches Feld ausgerichtet, was in pie-
die Ausgangslänge l0 bezogen, eine technische Dehnung
zo-elektrischen Materialien makroskopische Längenän-
ε n = Δl/l0 ergibt (siehe Abschn. 4.1): Zug- und Druckbe-
derungen bewirkt. Variationen eines elektrischen Feldes
lastungen rufen zumindest elastische Verformungen der
können somit in mechanische Schwingungen umgewan-
Werkstoffe hervor, die reversibel verschwinden, sobald
delt werden (Anwendungsbeispiele: Quarzuhren, akus-
die Kraft weggenommen wird. Die in Maschinen auftre-
tische Signale, Druckertintenzufuhr). Andererseits kann
tenden Spannungen sollen fast nie den elastischen Bereich
dieser Werkstofftyp durch elastische Druck- oder Zug-
überschreiten, um dauerhaften Betrieb zu gewährleis-
beanspruchung ein entsprechendes elektrisches Feld er-
ten. Die elastischen Eigenschaften der Werkstoffe sind
zeugen (Beispiele: Kraftmessdose, Mikrofon). Der piezo-
daher für die Werkstoffwahl für Maschinen und Kom-
elektrische Effekt wird in ferro-elektrischen Materialien
ponenten besonders wichtig: Wie viel Verformung ruft
(BaTiO3 = BTO, Pb(Zrx Ti1−x )O3 = PZT) ebenso durch
eine angelegte Spannung hervor? Bis zu welcher Span-
ein elektrisches Feld ausgelöst, was kleine Atomver-
nung (Elastizitätsgrenze) ist die plastische Verformung
schiebungen und somit eine Längenänderung hervorruft
vernachlässigbar? Steifigkeit beschreibt den Widerstand
(Beispiele: Rasterkraftmikroskop, FeRAM-Speicher). Zur
von Bauteilen gegen elastische Verformungen und ist so-
Vergrößerung der Dimensionsänderung werden meist
wohl vom Werkstoff als auch von der Belastungsart und
ferro-elektrische Schichten in Stapeln aufgebaut. Ana-
der Bauteilgeometrie abhängig (siehe Kap. 5).
loge Effekte werden bei magnetischen Materialien (Fe-
Ni-Co-Legierungen) erzielt, deren magnetische Domänen
(Weiss’sche Bezirke) in einem Magnetfeld ausgerichtet
werden. Dies verursacht in einer Richtung eine Verlänge-
rung, die durch eine Querkontraktion kompensiert wird,
Linear elastische Verformung nach dem
sodass das Volumen konstant bleibt (Beispiel: Einspritz- Hooke’schen Gesetz und was ist Dämpfung?
düse).
Zug- bzw. Druckversuche an Materialproben ergeben
Spannungs-Dehnungsdiagramme (siehe Kap. 14), aus
Werkstoffe verändern ihre Abmessungen mit der denen Kennwerte für die Werkstoffbelastbarkeit ermit-
Temperatur gemäß dem thermischen Ausdehnungs- telt werden können (Tab. 15.5). In Abb. 15.12 sind re-
koeffizienten, aber auch bei Strukturänderungen. versible, linear elastische Verformungssituationen dar-
Funktionswerkstoffe können ihre Abmessungen bei gestellt. Im linear elastischen Verformungsbereich gilt
Änderungen des elektrischen und/oder magneti- das Hooke’sche Gesetz (15.3)–(15.5) (publiziert 1676 von
schen Feldes erfahren und damit mechanische Ar- Robert Hooke), mit dem Elastizitätsmodul (E-Modul,
beit verrichten. engl. Young’s modulus nach Thomas Young) als Pro-
portionalitätsfaktor zwischen Spannung und Dehnung
390 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Strukturumwandlung in Eisen und Stahl von kubisch keit von unter 1 ppm/K ist für den Ausdehnungskoef-
raumzentriert in kubisch flächenzentriert und umge- fizient erreichbar.
kehrt:
Dilatometrie ist ein einfaches Verfahren zur Bestim-
Die Veränderung der Länge eines Materials mit der mung der Umwandlungstemperaturen von Stahl (sie-
Temperatur l(T ) kann mit einem Dilatometer ge- he Kap. 16). Die Umwandlung des kubisch raumzen-
messen werden (Abb. 15.11a). Aus den Ergebnissen trierten Ferrit (krz α) in den kubisch-flächenzentrierten
Δl/l(T ), wie in Abb. 15.9 und 15.11b dargestellt, wer- Austenit (kfz γ) ist mit einer Dichteerhöhung ver-
bunden (ΔV ∼
T
den sowohl die mittleren technischen αT12 als auch der = 0,9 %, siehe Abb. 15.11b), da die kfz
Werkstoffkunde
kontinuierliche Verlauf des physikalischen Ausdeh- Kristallstruktur eine dichtere Atompackung aufweist
nungskoeffizienten β(T ) errechnet. Eine Messgenauig- als krz (siehe Abschn. 14.3).
Thermoelemente
1,8 7,45
/K
m
pp
1,6 23
–
22
γ )=
1,4 Rein-Fe β( 7,55
Dehnung Δl/l0 in %
Dichte in g/cm3
1,2 Längenunter- Volumen-
schied ≈ 0,3 % unterschied ≈ 0,9 %
C16-Stahl
1
s α γ 7,65
K/
0,8 20
/s
C16-Stahl K
1
0,6 K
m/
5 pp
2 –1 α γ 7,75
0,4 =1 α = kfz
α) Ar1 Ar3 Ac1 Ac3 911°C
β(
γ = kfz
0,2
7,85
0
0 100 200 300 400 500 600 700 800 900 1000 1100 1200 1300
b Temperatur in °C
Abb. 15.11 a Prinzip eines Dilatometers zur Messung der Längenänderung im Verlauf der Temperaturänderung einer gleichmäßig temperierten Probe
mithilfe einer Schubstange (meist aus temperaturstabilem Quarz oder Keramik); b Dehnung (linke Skala ) der Dilatometerproben (Rein-Eisen (grün ) und
unlegierter Stahl C16 (blau ) mit 0,16 % C) in Abhängigkeit von der Temperatur mit einer entsprechenden Dichteänderung (rechte Skala ); Reineisen zeigt bei
911 °C eine reversible Änderung der Kristallstruktur α ⇔ γ (bei den angegebenen Heiz- und Kühlraten) verbunden mit einer Dichteänderung um ca. 1 %.
Die Längenänderung einer C16-Stahlprobe (blau ) zeigt Umwandlungsintervalle: beim Aufheizen mit 20 K/s erfolgt die Umwandlung von Ac1 bis Ac3 ; beim
Abkühlen mit 1 K/s von Ar3 bis Ar1
15.5 Elastische Verformung 391
Die kubisch raumzentrierte Struktur α weist laut aus dem γ-Phasenbereich beginnt die Umwandlung
Abb. 15.11 einen physikalischen Ausdehnungskoeffi- bei Ar3 , bis bei Ar1 die ganze Probe kubisch raumzen-
zienten von β(α/ < A1 ) = 12−15 ppm/K auf, wäh- triert ist. Der gelöste Kohlenstoff wird aus dem Gitter
rend dieser für die kubisch-flächenzentrierte Struktur verdrängt und bildet Karbide, wofür Diffusion (siehe
β(γ/ > A3 ) = 22−23 ppm/K beträgt. Reines Eisen än- Abschn. 15.12) erforderlich ist. Wegen der unterschied-
dert bei 911 °C seine Kristallstruktur während einer lichen Keimbildung für die Phasen beim Aufheizen
Haltezeit isotherm. Bei Stahl (Legierung Fe-C, siehe und Abkühlen, unterscheiden sich die Umwandlungs-
Kap. 16) beginnt die Umwandlung in Austenit (γ), temperaturen beim Aufheizen (Ac , c = chauffage) von
der eine wesentlich höhere Kohlenstofflöslichkeit als denen beim Abkühlen (Ar , r = refroidissement). Die
Ferrit (α) besitzt, schon unter 911 °C. Die Legierung Umwandlungstemperaturen polymorpher Stoffe hän-
wandelt in einem Temperaturintervall allmählich um, gen sowohl von der Legierungszusammensetzung als
während sie das α + γ-Zweiphasengebiet durchläuft: auch von den Aufheiz- bzw. Abkühlgeschwindigkeiten
Werkstoffkunde
beim Aufheizen beginnt die Umwandlung von α in γ ab.
bei Ac1 und ist bei Ac3 abgeschlossen. Beim Abkühlen
Zug σ
astizität)
Spannung σ
Δl
= E ∙ε
σ
e
Hooke‘sch
Geraden σ
(Energieel
AN
Δl
=ε
l0 l0
Tangentenmodul
σ
bei Lastumkehr
Rp0,2
–ε ε 0,2 % Dehngrenze
Werkstoffkunde
σ = E∙ ε Sekantenmodul
Druck –σ
Hystereseschleife
a entspricht Dämpfung
(Energieverlust durch
innere Reibung)
Scherung und Torsion τ
τ
λ λ
= γ = tan ϑ
AT l0
l0 ϑ d∙ ϑ
=γ
2l0 elastische Energiedichte
d Rp0,2 εe/2
ϑ l0 εe elastische Rückfederung ε
0,2 % plastische Dehnung
Gegenüber Metallen sind die E-Moduln der Kunststoffe Elastizitätskennwerte sind für den
um Größenordnungen kleiner und streuen relativ stark
(siehe Tab. 15.6, Abb. 15.10). Duromere sowie Thermo- Maschinenbau wesentlich
Werkstoffkunde
plaste und Elastomere unterhalb der Glasübergangstem-
peratur zeigen energieelastisches Verhalten wie Metalle. In Tab. 15.6 sind die E-Moduln (Speichermoduln) ausge-
Thermoplaste weisen über der Glasübergangstempera- wählter Werkstoffe bei Raumtemperatur aufgelistet und
tur viskoses Verhalten auf, das heißt, dass die Rückfe- in Abb. 15.10 mit der Anschmelztemperatur korreliert. Bei
derung Zeit braucht (Viskoelastizität). Die Bestimmung Werkstoffen mit energieelastischem Verhalten (Metallen,
eines linear elastischen E-Moduls ist dabei nicht nur von Keramiken, Polymeren unterhalb der Glasübergangstem-
den Versuchsbedingungen (Prüfgeschwindigkeit, Tempe- peratur) steigt der E-Modul mit der Bindungskraft. Die
ratur) sondern auch von der Struktur und dem Feuch- E-Moduln der Polymere sind entsprechend der niedrigen
tigkeitszustand des Polymers (Grellmann 2011) abhängig. Sekundärbindungskraft bzw. wegen der zumindest teil-
Ebenso unsicher ist die Bestimmung einer Elastizitäts- weise amorphen Strukturen wesentlich kleiner als die der
grenze. Die Streckgrenze von Thermoplasten ist mit dem Metalle und Keramiken. Da die atomaren und moleku-
ersten Spannungsmaximum definiert (Abb. 15.14). Eine laren Bindungskräfte mit steigender Temperatur abneh-
Besonderheit der Elastomere ist ihre Rückfederung auf- men, sinkt auch der E-Modul mit steigender Temperatur,
grund der Vernetzung der Polymerketten. Der gestreckte insbesondere bei der Glasübergangstemperatur bei amor-
Ordnungszustand der Vernetzung wird bei Entlastung phen Stoffen, sodass die Glasübergangstemperatur an-
wieder in einen ungeordneten, verflochtenen Zustand der hand der E-Modulmessung bestimmt werden kann (sie-
Polymerketten zurückgeführt (Entropieelastizität des Ver- he Bonusmaterial Energieelastizität). Wegen der starken
netzungszustandes). Die mechanische Hysterese ist für Atombindungen in Keramiken sind die Elastizitätskon-
Thermoplaste und Elastomere in Abb. 15.14 skizziert, stanten relativ temperaturstabil und bleiben mindestens
die die Energieabsorption durch Dämpfung charakteri- bis zur halben Anschmelztemperatur (in K) konstant.
siert.
In Tab. 15.7 sind charakteristische Elastizitätskennwerte
Unterhalb der Glasübergangstemperatur und im Zustand (ohne Streuung) einiger typischer Werkstoffe und Verstär-
gestreckter Polymerketten dominiert die Energieelastizi- kungsfasern aufgelistet: E-Modul (Speichermodul), spe-
tät. Thermoplaste und Elastomere können durch Stre- zifischer E-Modul E/ρ, Querkontraktionszahl (Poisson-
ckung der Polymerketten eine energieelastische Steifig- Zahl) ν, Schubmodul G, Kennwerte für die Elastizitäts-
keitserhöhung erfahren. Sehr lange Polymerketten errei- grenze Rp . Die maximale, linear elastische Dehnung bei
chen im gestreckten Zustand bei der Faserherstellung dieser Elastizitätsgrenze und die zugehörige elastisch ge-
hohe E-Moduln (Aramide: E = 60–130 GPa) durch die speicherte Energiedichte e wurden aus den angegebenen
Atombindungen in den Molekülen und die annähernd Größen berechnet. Bemerkenswert sind die niedrigen spe-
kristalline Struktur (siehe Skizze der gestreckten Polymer- zifischen E-Moduln der Polymere und die relativ hohen
ketten in Abb. 15.14). longitudinalen, spezifischen E-Moduln der Fasern, die
auch die höchsten Festigkeiten in Faserrichtung (Festig-
Elastische Verformungen verlaufen in vielen Werk- keitsmodul siehe Abschn. 15.9) aufweisen. Die Korrela-
stoffen nicht nur nach dem linear elastischen tion der E-Moduln mit der Dichte der Werkstoffe ist in
Hooke’schen Gesetz der Energieelastizität, sondern Abb. 14.22 dargestellt,√dort ist die Bedeutung der spezifi-
enthalten oft auch viskoelastische Anteile. Elastome- schen Biegesteifigkeit E/ρ oder E/ρ2 bei der Werkstoff-
re zeichnen sich noch durch Entropieelastizität aus auswahl für leichte Biegebalken ausgeführt.
(Abb. 14.13). Nicht lineare reversible Verformungen Eine Besonderheit der elastischen Dehnung von Festkör-
absorbieren Energie, was eine Dämpfung bewirkt. pern (ausgenommen Elastomeren) ist, dass das Materi-
Der Speicher- und der Verlustmodul quantifizieren alvolumen mit der Dehnung leicht zunimmt. Die Quer-
kontraktion des Querschnittes durch den Druck senkrecht
Werkstoffkunde
394
√
Tab. 15.7 Beispiele für typische elastische Kennwerte (E -Modul = Speichermodul, spezifischer E -Modul, spezifische Biegesteifigkeit eines Balkens ( E /ρ), Poisson-Zahl ν, Schubmodul (G ) und für
Elastizitätsgrenze Rp (Ersatzstreckgrenze), Federkenngröße Rp /E , spezifische elastische Energie e (elastische Energiedichte) bei Rp und spezifische Elastizitätsgrenze Rp /ρ (alle bei Raumtemperatur, longitu-
dinale Fasereigenschaften , Zahlenwerte für die Berechnung der abhängigen Größen im Allgemeinen ohne Angabe einer Streuung eingetragen); Werkstoffe der Bauteile des Leitbeispiels (LB(a)–(d)),
Abb. 14.4– 14.7 fett hervorgehoben
√
E in GPa E in GPa Rp in MPa
Werkstoff Werkstoffkategorie E-Modul Poisson G-Modul Spannungswerte der Rp /E = ε p R2p /2E elast.
ρ in Mg/m3 ρ in Mg/m3 ρ in Mg/m3
in GPa Zahl ν in GPa Elastizitätsgrenze Rp in 10 MPa/GPa Energie/Vol.
bzw. Re max. elast. ε in % in kJ/m³
in MPa (= N/mm2 )
Silikonkautschuk (SIR) Elastomer 0,01 0,008 0,08 0,5 0,003 Reißfestigkeit = 3 30 450 2,3
Polyamid (PA 66) LB(c) Thermoplast kondito- 2 1,8 1,3 0,35 0,7 Streckgrenze Re = 60 3 900 55
niert
Epoxidharz (EP) Duromer 3 2,4 1,4 0,3 1 Zugfestigkeit Rm = 80 1 1070 64
Aramidfaser (PA, Kevlar ®) kristallin, ρ = 1,45 g/cm3 70–160 50–110 5,8–8,7 ? ? Zugfestigkeit Rm ∼
= 3000 2–4 (25–65)103 2070
S-Glasfaser amorph, ρ = 2,55 g/cm3 80 31 3,5 0,2 36 Festigkeitsmodul σ0 = 4000 5 105 1570
15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
HM-Kohlenstofffaser Kohlenstoffmodifikation 300 167 9,6 ? ? Festigkeitsmodul σ0 = 2300 0,8 8820 1280
HT-Kohlenstofffaser (longitudinal Grafitbasis- 230 128 8,4 ? ? Festigkeitsmodul σ0 = 3500 1,5 27 · 103 1940
ebenen) ρ = 1,8 g/cm3
Diamant Kohlenstoffmodifikation 1100 333 10 0,1 500 Festigkeitsmodul σ0 = 750 0,07 256 230
Siliziumnitrid β-Si3 N4 Keramik 300 91 5,2 0,25 120 4P.-Biegefestigkeit σB = 700 0,2 817 210
LB(a)
Al-Gussleg. AlSi12 LB(b) Leichtmetall 73 27 3,2 0,33 28 0,2-%-Dehngrenze Rp0,2 = 150 0,2 154 56
Al-Knetleg. AW6082T6 70 26 3,1 0,32 27 0,2-%-Dehngrenze Rp0,2 = 280 0,4 560 100
Karosseriestahl DC04 Grundstahl 210 27 1,8 0,3 81 0,2-%-Dehngrenze Rp0,2 = 185 0,1 82 24
Einsatzstahl LB(d) 210 27 1,8 0,3 81 Streckgrenze Re = 600 0,3 860 76
X5CrNi 18-10 Austenit, ρ =7,9 g/cm3 200 25 1,8 0,3 77 0,2-%-Dehngrenze Rp0,2 = 250 0,13 156 32
Inconel 718 LB(a) Nickellegierung 205 25 1,7 0,31 78 0,2-%-Dehngrenze Rp0,2 = 1000 0,5 2440 120
15.5 Elastische Verformung 395
Werkstoffkunde
die Randfaserdehnung über die elastische, reversi- Mb
ble Durchbiegung f mit hoher Genauigkeit gemessen
werden kann. Außerdem lässt sich der Biegeversuch Mbmax = ΔF ∙ m
relativ einfach in einer Temperaturkammer durchfüh-
ren, um die Temperaturabhängigkeit des E-Moduls zu
bestimmen. Voraussetzung ist, dass die ebene Probe bei „Viertelpunktbiegung“ mit
gleichmäßige Dicke h ( l0 , sodass Schubspannungen
vernachlässigbar sind, sie Abschn. 5.2) und Breite B 3l30 ΔF
aufweist, sowie die Auflageabstände genau gemessen m = l0 /4: E=
64f · Bh3
werden. Die Skizze der Prüfanordnung zeigt die Ver-
teilung des Biegemoments Mb in Flachproben vom 3-Punkt-Biegeversuch (Abb. 14.21):
Querschnitt B × h und dem äußeren Auflagerabstand
l0 eines 4-Punktbiegeversuchs. Daraus ist das Prüfvo- l30 ΔF
lumen (l0 − 2 m)hB ersichtlich, in dem ein gleichmä- E= (15.7)
ßiges Biegemoment vorliegt (im 3-Punkt-Biegeversuch 4f · Bh3
wird nur der Bereich unter dem Druckstempel in der
Probenmitte geprüft, wobei m = l0 /2). Erfolgt die Be- Longitudinale Schwingungsbelastungen im energie-
lastungsänderung ΔF im elastischen Bereich, lässt sich elastischen Bereich erlauben eine sehr gut reproduzier-
der E-Modul für eine Verschiebung f des Mittelpunktes bare Bestimmung des E-Moduls: eine dünne, stabför-
der Probe wie folgt berechnen: mige Probe der Länge l wird in Eigenresonanz ver-
setzt, so dass l = n(λS /2) = ncS /2f (Wellenlänge der
akustischen Schwingung λS = cS /f , f = Frequenz, cS
= Schallgeschwindigkeit, n = Schwingungsordnung)
3m2 · l0 ΔF und aus der Messung der Frequenz und der Dichte ρ
4-Punktbiegeversuch: E = (15.6)
4f · Bh3 wird der E-Modul errechnet (Macherauch 2011).
zur axialen Zugkraft ist kleiner als die Längsdehnung, betragen, wenn das Volumen konstant bliebe, wie es bei
was mit der Querkontraktionszahl (Poisson-Zahl) quanti- Elastomeren der Fall ist. Aus Tab. 15.7 ist ersichtlich, dass
fiziert wird. Die Poisson-Zahl ν wird durch das Negative für Kunststoffe ν = 0,3–0,5, für Keramiken ν = 0,1–0,25,
des Verhältnisses der Querkontraktion (< 0) zur Längs- für Metalle ν = 0,28–0,35 beträgt. Für die Berechnung des
dehnung definiert und ist somit größer Null. Für einen Schubmoduls und des Kompressionsmoduls ist die Pois-
quadratischen Querschnitt ly = lz eines isotropen Materi- son-Zahl erforderlich (Abb. 15.12).
als gilt ε y = ε z . Gemäß Abb. 15.15 ergibt sich:
εy εz Die maximale elastische Dehnung eines Werkstoffes ε p
ν=− =− . errechnet sich gemäß dem Hooke’schen Gesetz aus dem
εx εx
Quotient der Elastizitätsgrenze Rp und dem E-Modul:
Bei einer Zugverformung eines Würfels der Kantenlänge ε p = Rp /E. Die ε p -Werte sind in Tab. 15.7 angeführt, die
l würde bei einer Dehnung von Δl eine Querkontraktion eine Normierung der Streckgrenze auf den E-Modul des
von Δly = Δlz (Abb. 15.15) nur dann ein Verhältnis Werkstoffes darstellen. Elastomere sind natürlich am elas-
tisch dehnbarsten. Die Glasfaser sticht wegen ihrer hohen
Δly,z Festigkeit und dem relativ geringen E-Modul (geringfü-
ν=− = 0,5
Δl gig höher als der von Aluminium) mit ε p = 5 % heraus.
396 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
technische Spannung σn
Stahl
Kettenknäuel
Energieelastizität werden gestreckt
Duromer
gestreckte Ketten
nichtlineare elastische
Werkstoffkunde
Deformation
Streckgrenze
Einschnürung Streckung
der Ketten
Visko-
elastizität Thermoplast
linear-elastische Streckung
Deformation der Netze
Elastomer
reversibles Verflechten
Entropieelastizität
Entflechtung
der Ketten
technische Dehnung εn
Abb. 15.14 Qualitative Spannungs-Dehnungskurven der Polymere mit linear elastischen Bereichen unterschiedlichen Ursprungs: Duromere (sowie Thermoplaste
und Elastomere unter der Glasübergangstemperatur) mit Energieelastizität (analog zu Keramik und Metallen), Thermoplaste mit einer Streckgrenze und einem
Beispiel viskoelastischer Entlastung im entfestigenden Einschnürbereich, Elastomere mit Entropieelastizität und Entlastungshysterese
Abb. 15.15 Schematische Darstellung der elastischen Dehnung ε x = Δl /l ei- (MPa)2 /GPa = (N/mm2 )2 /103 N/mm2
nes Würfels der Kantenlänge l durch die Zugspannung σ in x -Richtung, die eine
Kontraktion der Seitenkanten in Querrichtung um Δly und Δlz (ε y = Δly /ly , = 10−3 N/mm2 = 103 N/m2
ε z = Δlz /lz ) bewirkt = kN · m/m3 = kJ/m3 .
15.5 Elastische Verformung 397
Diese elastische Energiedichte e ist für die Werkstoffbei- Die Steifigkeit kann durch Verbundwerkstoffe
spiele in Tab. 15.7 angeführt: e ist für hochfeste Materiali-
erhöht werden
en am höchsten, was hohe Rückfederungskräfte zulässt.
Sie ist für Kunststoffe in etwa in der gleichen Größen-
ordnung wie für Metalle, bei denen sie im Wesentlichen Kohlenstofffasern sind sehr anisotrop: beispielsweise un-
mit der Festigkeit steigt. Analoge Werte können mit dem terscheidet sich der E-Modul in Faserrichtung E = 200–
Schubmodul für die Scherung und Torsion bis zur Elasti- 800 GPa beträchtlich von dem in Faserdicke E⊥ ∼ = 10 GPa.
zitätsgrenze berechnet werden (siehe Bonusmaterial Tor- Die Faserrichtung hat ihre hohe Steifigkeit und Festig-
sionssteifigkeit): keit, weil die hexagonalen Grafitebenen mit hoher Bin-
dungsenergie parallel zu ihr verlaufen, während die Bin-
eG = τp γp /2 = τp2 /2Gτ. (15.9) dungskräfte senkrecht zur Grafitebene relativ gering sind.
Der innere Aufbau der Kohlenstofffasern ergibt sich aus
Einkristalle weisen meist entsprechend der Kristallstruk-
Werkstoffkunde
der Herstellung und dem Grafitisierungsgrad. Es werden
tur elastische Anisotropie auf. Kubisch raumzentrierte gemäß dem Ausgangsmaterial PAN (Nylon)- und Pech
(krz) Eisenkristalle weisen eine signifikante Anisotropie (pitch)-Fasern unterschieden, die als hochfeste (HT), mitt-
auf: E111 = 290 GPa in der Richtung der dichtest ge- lere (IM), oder hochmodulige (HM) Qualitäten am Markt
packten Raumdiagonalen der würfeligen Einheitszelle sind. Keramische Fasern (Glasfasern, SiC, Al2O3) sind
(Abb. 15.22a), E110 = 217 GPa in der Flächendiagonale, isotrop.
E100 = 135 GPa in Richtung der Würfelkante. In polykris-
tallinem Material mitteln sich meist die Eigenschaften Beispiele für den inneren Aufbau von Metallmatrix-Ver-
der statistisch orientierten Kristallkörner, sodass makro- bundwerkstoffen sind in Abb. 15.16 dargestellt, wobei
skopisch für ferritischen Stahl E = 210 ± 10 GPa gemes- Schliffbilder kohlenstofffaserverstärkter Polymere denen
sen wird. Legierungselemente verändern diesen kaum, in Abb. 15.16c und e ähnlich sind. Der E-Modul von
jedoch kann er durch die Textur der Kornorientierun- Verbundwerkstoffen lässt sich über Mischungsregeln ab-
gen nach Kaltverformung bis 180 GPa sinken, während schätzen, solange sich beide Komponenten im linear elas-
das Maximum etwa 45° zur Walzrichtung bis 220 GPa tischen Bereich verformen. Wenn sich die E-Moduln der
steigen kann. Geordnete Kristallorientierungen können Komponenten unterscheiden, kommt es zur dehnungs-
in polykristallinen Metallen beim Walzen oder Ziehen oder spannungskontrollierten Lastübertragung, die in
entstehen, die eine anisotrope, elastische Dehnung zur Abb. 15.18 schematisch dargestellt ist.
Folge haben (Orientierungstextur durch Anisotropie des Für die elastische Belastung σ in Faserrichtung
Verformungsgefüge, siehe Abschn. 30.3). Der E-Modul (Abb. 15.18a) ergibt sich der E-Modul des Verbundwerk-
austenitischer Stähle und Nickel-Basislegierungen ist we- ||
gen der kubisch flächenzentrierten (kfz) Struktur 5–10 % stoffes EV aus dem Volumenanteil der Fasern vf mit dem
||
kleiner als der der ferritischen Stähle im ferromagne- E-Modul Ef in dieser Richtung und dem Volumenanteil
tischen Zustand (unterhalb der Curie-Temperatur). Ti- vm = 1 − vf der Matrix mit dem isotropen E-Modul Em :
tan-Legierungen bestehen bei Raumtemperatur entweder
hauptsächlich aus hexagonaler α-Phase und/oder aus der σ = vf · σf + vm · σm
kubisch raumzentrierten β-Phase. Die α-Phase ist stark
anisotrop mit E = 105–140 GPa, was bei statistisch ori- mit σ = E · ε:
entierten Kristallen makroskopisch E ∼ = 115 GPa ergibt,
EV · ε = vf · Ef · ε f + vm · Em · ε m ,
aber bei Orientierungstexturen durch Umformung aniso-
trope Abweichungen zeigt. Die kubisch raumzentrierte da ε = ε f = ε m folgt daraus die lineare Mischungsregel
β-Phase hat einen geringeren E-Modul, sodass Legie- nach Voigt:
rungen mit dominanter β-Phase E-Moduln zwischen 80
und 100 GPa aufweisen. Legierungen mit beiden Pha-
EV = vf · Ef + (1 − vf ) · Em. (15.10)
sen verhalten sich in ihren elastischen Eigenschaften wie
Verbundwerkstoffe. Bei Belastung quer zur Faserrichtung (Abb. 15.18b) wer-
den die Dehnungen summiert, um aus dem E-Modul der
Bei der elastischen Verformung der Werkstoffe ist zu Fasern in Querrichtung Ef⊥ den transversalen E-Modul
beachten, dass die Längsdehnung nicht vollkommen des Verbundwerkstoffes EV⊥ zu errechnen:
durch die Querkontraktion kompensiert wird.
⊥
ε = vf ε f + vm ε m = σ/EV = vf · σf /Ef⊥ + vm · σm /Em ,
Alle Werkstoffe mit Ausnahme der Elastomere mit
ν = 0,5 erfahren bei elastischer Dehnung eine Vo- da σ = σf = σm folgt daraus die reziproke Mischungsre-
lumenzunahme, die mit der Poisson-Zahl (ν < 0,5) gel nach Reuss:
quantifiziert wird.
⊥
1/EV = vf /Ef⊥ + (1 − vf )/Em . (15.11)
398 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
a PRM
c CFRM
100 μm e CFRM-Gewebe 200 μm
Abb. 15.16 Lichtmikroskopische Schliffbilder einiger Metallmatrix-Verbundwerkstoffe mit Kurzbezeichnungen (a–d in gleicher Vergrößerung, Ver-
bundwerkstoffe mit Polymermatrix ergeben ähnliche Bilder); a PRM (particle reinforced matrix); mit 15 Vol.-% Aluminiumoxid-Teilchen verstärkte
Aluminium-Knetlegierung (AW6061/Al2O3/15p); b SFRM (short fiber reinforced matrix); mit 10 Vol.-% Aluminiumoxid-kurzfaserverstärkter Aluminiumguss
(AC1070/Al2O3/10s) mit bevorzugt planarer Faserorientierung (horizontal); c CFRM (continuous fiber reinforced matrix); Querschliff einer unidirektional mit
70 Vol.-% hochmoduligen Kohlenstofffasern verstärkten Aluminium-Probe (Al/C-M40B/70f UD); d MFRM (monofilament reinforced matrix); Querschliff einer
mit 40 Vol.-% SiC-Einzelfasern verstärkten Kupfer-Probe (Cu/SiC/40m); e 0/90°-CFRM; Schliff durch eine mit ebenem 0/90°-Gewebe von 60 Vol.-% Kohlen-
stofffasern verstärkten Magnesiumprobe (Magnesium/C-T300J/60f-0/90° 1 : 1), wobei die quergeschnittenen Faserbündeln (6000 Fasern/Bündel) erkennbar
sind
Tab. 15.8 Beispiele des spezifischen E -Moduls von Verbundwerkstoffen und ihren Komponenten (longitudinal , transversal ⊥ ) sowie der ungefähren Kosten für die Verbundwerkstoffe und ihre Steifigkeit
(1 Ξ = Grundstahlpreis/kg)
Verbundwerkstoff Matrix-Werkstoff Verstärkungskomponente Verbundwerkstoff
Kurzbezeichnung Bezeichnung E-Modul Dichte Bezeichnung E-Modul Dichte Elong. - Dichte ca. Preis spez. E- Preis in Ξ
in GPa in in GPa in Modul in in Ξ/kg Modul / ρ pro E/ρ
Mg/m3 (E /E⊥ ) Mg/m3 in GPa Mg/m3 E in MPa/ Ξ · ρ in Mg/m3
E in GPa
(Mg/m3 )
PA66/Aramid/50f-0/90° Polyamid 2 1,1 Aramidfaser 120 /5⊥ 1,45 36 1,3 100 28 3,5
EP/C-HM/60f-UD Epoxidharz 3 1,25 C-Faser HM 300 /10⊥ 1,8 181 1,8 200 115 1,7
EP/C-HT/65f-UD (EP) C-Faser HT 230 /15⊥ 151 100 94 1,1
EP/C-HT/60f-0/90° (hochfest) 72 80 45 1,8
EP/C-HT/60f-0° 50 % / ± 45° 25 % 91 80 56 1,4
EP/S-G/60f-0° 50 % / ± 45° 25 % S-Glasfaser 80 2,55 32 2,0 10 16 0,6
Mg/C-HT/60f-0/90° (Abb. 15.16e) Magnesium 45 1,7 C-Faser HT 230|| /15⊥ 1,8 119 1,8 250 68 3,7
Al/C-HM/70f-UD (Abb. 15.16c) Aluminium 70 2,7 C-Faser HM 300 231 2,1 350 112 3,1
Al/C-HM/60f-UD (hochmodulig) 208 2,2 300 96 3,1
Al/Al2O3-N610/60f-UD α-Al2 O3 Faser 380 4,0 256 3,5 400 74 5,4
Cu/SiC/40m-UD (Abb. 15.16d) Kupfer 110 8 SiC-Monofilament 400 3,1 226 6,0 5 · 104 37 1300
AlSi7/Al2O3-Saffil/10s Al-Si-Gussleg. 72 2,73 δ-Al2 O3 Kurzfaser 100 2,8 75 2,7 20 27 0,7
(Abb. 15.16b)
AW6061/Al2O3/15p (Abb. 15.16a) Al-Knetleg. 70 2,7 Al2 O3 Partikeln 380 4,0 80 2,9 10 28 0,4
Aluminium 5 26 0,2
Epoxidharz 3 1,25 1,1 2,4 0,5
15.5
Elastische Verformung
399
Werkstoffkunde
400 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Beispiel: Rotorblätter für Windturbinen werden aus mehreren Lagen von Prepregs
mit Endlosfaserverstärkung gefertigt
Mit Epoxidharz getränkte Fasermatten aus Kohlen- verbunde nehmen wir an, dass in 45° zur Faserrichtung
stoff- und/oder Glasfasern werden halbautomatisch in noch 30 % der longitudinalen Fasersteifigkeit nutzbar
eine Form gelegt und ausgehärtet. werden. Die radiale Steifigkeit Er für diese vier Faser-
Das Rotorblatt einer Windkraftanlage wird im Fol- lagen wird somit abgeschätzt mit Er = 0,39Ef + 0,4Em .
genden als Beispiel für mit Endlosfasern verstärkte Als Matrix wird Epoxy eingesetzt mit Em = 3 GPa
Kunststoffe betrachtet, um die Besonderheiten dieses und ρ = 1,25 g/cm3 . Die Verstärkung kann durch S-
Werkstoffes aufzuzeigen. Abbildung 15.17b illustriert Glasfasern mit Ef = 80 GPa und ρ = 2,55 g/cm3 erfol-
Werkstoffkunde
Durch die Glasfaserverstärkung resultiert mehr als die fischem E-Modul in Tab. 15.8: 0,2 (Al) : 0,6 (GFK) : 1,4
10-fache Steifigkeit der Matrix, durch die HT-Kohlen- (CFK) Ξ pro GPa/Mg/cm3 ). Um die Beständigkeit ge-
stofffaserverstärkung die 30-fache Steifigkeit in radia- gen Vogelschlag zu erhöhen, wird die Oberfläche der
ler Richtung. Der E-Modul eines Aluminium-Bleches Vorderkante oft mit einer hochfesten, zähen Folie über-
liegt dazwischen. Die radiale, spezifische Steifigkeit zogen. Es wird auch an der Entwicklung von endlosen
wird durch die Glasfasern fast 7-mal so hoch und Kohlenstofffaser verstärkten Kunststoffen und Metal-
durch die HT-Kohlenstofffasern 23-mal so hoch, aber len (CFRP und CFRM) für Verdichterschaufeln von
der spezifische E-Modul von Aluminium liegt wie- Strahltriebwerken gearbeitet.
der dazwischen. Die spezifische Biegesteifigkeit der
Epoxid-Matrix wird durch die Glasfasern verdoppelt Tab. 15.10 Radiale Steifigkeitswerte für eine Faserlagenkombination mit
60 Vol.-% Endlosfasern in 050◦ /−45◦ /+45◦ -Richtungen für ein Ro-
und durch die HT-Kohlenstofffasern mehr als vervier- % 25 % 25 %
torblatt im Vergleich zur Matrix und zu Aluminium
facht. Die spezifische Biegesteifigkeit von Aluminium √
Er in Dichte ρ
Werkstoffkunde
ist nur 10 % höher als die des EP/S-Glas/60f-Geleges. Verbund- Er in GPa Er in GPa
werkstoff 3
GPa in Mg/m ρ in Mg/m ρ in Mg/m33
Da die Festigkeit von Endlosfaserverbundwerkstoffen
fast nur in Faserrichtung erhöht wird, beträgt die ra- EP-Matrix 3 1,25 2,4 1,4
diale Festigkeit des Geleges etwa 1 GPa sowohl für S- EP/S-Glas/60f 32 2,03 16 2,8
Glasfasern als auch HT-Kohlenstofffasern, bei denen – 0°50 % /
30 Vol.-% in radialer Richtung verlaufen. Mit Alu- −45°25 % /
+45°25 %
minium-Legierungen ist etwa 50 % dieser Festigkeit
EP/HT-C/60f 91 1,6 56 6
zu realisieren, aber sie wäre isotrop. In der Praxis – 0°50 % /
hat sich die Fertigung von Rotorblättern aus Gele- −45°25 % /
gen von Endlosfaserverbundwerkstoffen durchgesetzt, +45°25 %
meist aus kostengünstigen GFK (siehe Preis pro spezi- Aluminium 70 2,7 26 3,1
Im Bonusmaterial „Longitudinale und transversale E- stärkungen: um das 3- bis 4-Fache für Polymermatrix und
Moduln“ ist die Abhängigkeit der longitudinalen und um das 15- bis 20-Fache für Aluminium- und Magnesi-
transversalen E-Moduln vom Volumenanteil von Endlos- um-Matrixlegierungen. Extrem hoch sind die Kosten für
fasern in Aluminium- und Epoxidmatrix in Abb. 15.3 Monofilament-Verstärkungen von Metallen, die für Fusi-
dargestellt. Die gleiche reziproke Mischungsregel (15.11) onsreaktoren und Gasturbinentriebwerke in Entwicklung
gilt für diskontinuierliche Verstärkungskomponenten wie sind. Der Preis für eine Aluminium-Legierung verdop-
z. B. für Teilchen mit dem E-Modul Ep und dem Volumen- pelt sich mindestens bei 10–20 % Teilchenverstärkung.
anteil vp (Abb. 15.18c). Für die betrachteten Mischungsre- Daraus folgt, dass Verbundwerkstoffe nur für spezielle
geln wird angenommen, dass die Haftung zwischen den Leichtbauanwendungen einsetzbar sind, bei denen sich
Komponenten innerhalb des Belastungsbereiches perfekt derartige Preise amortisieren.
ist (siehe Bonusmaterial Torsionssteifigkeit).
Frage 15.5
Die einzige Möglichkeit den spezifischen E-Modul der Vergleichen Sie die linear elastischen Dehnungen, die eine
Kunststoffe und Metalle zu erhöhen, besteht im gleichmä- Zugspannung von 70 MPa in folgenden Werkstoffen her-
ßigen Einbetten von keramischen Partikeln, Kurzfasern vorruft (entnehmen Sie die Kennwerte den Tab. 15.7 und
oder kontinuierlichen Fasern mit Durchmessern in der 15.8): Epoxidharz, Aluminium, Grundstahl, α-Al2 O3 und
Größenordnung zwischen 1 und hunderten µm. Handelt EP/C-HM/60f-UD in Faserrichtung.
es sich um Nanopartikeln (<0,1 µm) so dominieren nicht
deren Eigenschaften, sondern die ihrer Grenzflächen. Sie
können Dispersionsverstärkung bewirken (Abschn. 15.6). Den Einfluss der beiden Verbundwerkstoffkomponenten
Bei Metallen ist legierungstechnisch keine wesentliche Er- auf Dichte, Steifigkeit und Preis der Verbundwerkstoffe
höhung des E-Moduls erzielbar, obwohl für mehrphasige zeigt Tab. 15.8. Unidirektionale Faserverstärkungen sind
Werkstoffe die Mischungsregeln für Phasen über 5 Vol.- deutlich effizienter als bidirektionale und dreidirektiona-
% anwendbar sind (z. B.: Grauguss). Tabelle 15.8 zeigt, le (Beispiel 50 %: 0°/je 25 %: ± 45°). Planarisotrope Fa-
dass für Polymermatrix-Verbundwerkstoffe die spezifi- seranordnungen (0°/± 60° je 1/3) werden „Faserbleche“
schen E-Moduln in Faserrichtung um das 20-Fache ge- genannt und weisen maximal 20 % höheren spezifischen
genüber der Kunststoffmatrix erhöht werden können, bis E-Modul auf als Aluminiumbleche. In der letzten Spalte
zum 4-Fachen gegenüber einer Leichtmetallmatrix. Der der Tab. 15.8 sind die relativen Preise für die spezifischen
Preis für die Erhöhung des spezifischen E-Moduls ist E-Moduln angegeben, indem der auf Baustahl bezogene
für Glasfaserverstärkung unwesentlich höher als für die Preis/kg (Ξ) für die Erhöhung des spezifischen E-Moduls
Matrix, aber er steigt beträchtlich bei Kohlenstofffaserver- um eine Einheit berechnet ist. Das zeigt, dass der Preis
402 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
σ
Belastung in Richtung der Fasern: Belastung bei diskontinuierlicher Verstärkung (Teilchen,
Spannungsumlagerung Kurzfasern, quer zu kontinuierlichen Fasern): Em < EVerstärkung
bei gleicher Dehnung gleiche Spannung (isostress) σ = σm = σf
der Matrix (m) und aber unterschiedliche Dehnungen in Matrix und Verstärkung:
Fasern ( f ) = isostrain: σ σ σ
ε
ε = (l – l0)/l0 = εm = εf
Partikelvolumenanteil vp
Verstärkung
Matrix
Werkstoffkunde
l l
Verstärkung
l0
Matrix
l0
a Faservolumenanteil vf || σ b Faservolumenanteil vf σ c σ
Abb. 15.18 Modelle für Verbundwerkstoffe; a Belastung in Faserrichtung führt zu gleicher Dehnung in Matrix und Fasern (isostrain), aber ungleichen Spannungen
wegen des höheren E -Moduls der Fasern; b Belastung quer zur Faserrichtung erzeugt in beiden Komponenten gleiche Spannungen (isostress), aber unterschiedliche
Dehnungen; c analoge Dehnungsverteilung zwischen diskontinuierlichen Verstärkungen (Partikeln) bei isostress Zustand
Absorption kinetischer Energie auf. Polymere Schaum- Versagen verformen, wobei sie sich meist verfestigen.
stoffe sind weit verbreitet. Hoch poröse Keramik wird als Dies verleiht dem Bauteil ein Energieaufnahmevermögen
Filter eingesetzt. Zellulare Metalle haben Nischenanwen- während der plastischen Verformung bis zum Versagen,
dungen zur Erhöhung der spezifischen Steifigkeit und der was eine hohe Zähigkeit (siehe Abschn. 15.9) bewirkt,
Schwingungsdämpfung, sowie zur Stoßabsorption gefun- die Keramiken und Duromeren fehlt. Die meisten Metal-
den. le verhalten sich auch bei niedrigen Temperaturen duktil
(< 0,4Ts ).
Werkstoffkunde
Sobald die Elastizitätsgrenze von Metallen und Polyme-
Alle Werkstoffe sind elastisch verformbar (Abb. 15.13).
ren überschritten wird, beginnt deren bleibende, plasti-
Metalle und Thermoplaste (Abb. 15.14) sind bis zu ei-
sche Verformung. Keramiken sind unterhalb 0,5Ts (Ts =
nem bestimmten Ausmaß auch plastisch verformbar oh-
Grenztemperatur des festen Zustands in K, darüber wird
ne Schädigung des Gefüges. Im einachsigen Zugversuch
Diffusion wirksam, siehe Abschn. 15.12) nicht plastisch
an genormten Proben lassen sich die Verformungsei-
verformbar, sondern brechen bei Überschreiten der Elas- genschaften messen. In Abb. 15.19 ist das technische
tizitätsgrenze. Die theoretische Festigkeit aufgrund der Spannungs-Dehnungsdiagramm eines Zugversuches ei-
Atombindungen (ca. E/10) wird auch bei Keramiken nes duktilen Metalls mit seiner typischen Ausprägung
nicht erreicht (siehe Abschn. 15.10). Metalle und Ther- dargestellt. Die Norm DIN EN ISO 6892-1:2009 schreibt
moplaste werden schon bei wesentlich niedrigeren Span- die Versuchsdurchführung und die Ermittlung der Kenn-
nungen als deren theoretische Festigkeit bleibend ver- werte vor.
formt. Die plastische Verformbarkeit (Duktilität, siehe
Abschn. 15.8) von Metallen und Thermoplasten erlaubt Wie in Abschn. 15.5 ausgeführt, ist die Bestimmung der
den Einsatz von Umformverfahren für die Formgebung Grenze zwischen ausschließlich elastischer Verformung
(siehe Kap. 30). Andererseits gewährleistet die Duktili- (Hooke’sche Gerade) und dem Beginn des plastischen
tät Sicherheit beim Einsatz dieser Werkstoffe, da sie sich Fließens bei den meisten Metallen und Thermoplasten
bei Beanspruchung über der Elastizitätsgrenze vor dem unscharf, sodass die Spannung, bei der die plastische
rungsgerade, Plastifizierungs- ng
g
und Schädigungs-(Einschnür-) gun
e st i Bruch
verf
‘sche G
0,2 % Rm
Dehn-
grenze ungefähre
elastische plastische Dehnung
Fließgrenze
Rück- bei Höchstkraft, elastische
dehnung „Gleichmaßdehnung“ Rückfederung
setzt Energie frei
εt Gesamtdehnung Ag Agt εn = Δl /l0
0,2 %
εp plastische Dehnung Bruchdehnung A technische Dehnung =
Längenänderung durch
plastische Dehnung nach dem Bruch Anfangsmesslänge l0
404 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Verformung einsetzt (Elastizitäts- oder Fließgrenze) nicht Wirkt eine Schubspannung auf einen Kristall, würde ei-
klar ablesbar ist. Deshalb wird aus praktischen Grün- ne Verschiebung ganzer Kristallteile relativ hohe Kräf-
den eine Ersatzstreckgrenze Rpx bei kleiner, plastischer te erfordern. Aber nur relativ kleine Schubspannungen
Verformung x definiert (x wird bei Metallen meist mit sind quer zur Stufenversetzung erforderlich, um diese
0,2 % festgelegt). Eine Abnahme der Spannung in jedem in der Gleitebene zu verschieben, indem sie ihre Bin-
Stadium der Verformung bis zum Bruch bewirkt eine dungsnachbarn schrittweise Gitterebene für Gitterebene
elastische Rückfederung bis zur bleibenden Dehnung ε p . gleichartiger Atome wechselt. Dadurch ändert sich deren
Solange der Werkstoff in seiner Struktur nicht beschä- Bindungszustand nicht. Dieses sogenannte Gleiten einer
digt wurde, was bis zur totalen Gleichmaßdehnung Agt Versetzung ruft eine bleibende (plastische) Verformung
bzw. deren plastischem Anteil Ag gilt, verläuft die Rück- des Kristallkornes hervor, sobald die Stufenversetzung
federung entlang der Hooke’schen Geraden. Je nach Grad den Kristallrand erreicht (Abb. 15.21). An der Korngren-
der darauffolgenden Schädigung, kann die Steifigkeit des ze kann dies eine weitere Versetzung im Nachbarkorn
Werkstoffkunde
Werkstoffes durch innere Schädigung (Verformungsporen erzeugen, die durch dieses gleitet und so weiter bis die
werden in Abschn. 15.9 beschrieben) abnehmen und die ganze Probe um einen Gitterebenenabstand verformt ist.
Rückfederung bei Bruch bis zur Bruchdehnung A etwas Zahlreiche Gleitvorgänge in die gleiche Richtung erzeu-
größer sein als die Hooke’sche Gerade ergeben würde. gen eine maroskopische, plastische Verformung.
Die Versetzungen gleiten in die Richtung der dichtes-
Zugspannung erzeugt elastische Dehnungen. Über ten Atomreihe dieser Gitterebene, weil die Rauhigkeit
die Elastizitätsgrenze duktiler Werkstoffe (Rp ) stei- der Atompotenziale dort am geringsten ist. Die kritische
gende Zugspannungen rufen zusätzlich gleichmäßi- Schubspannung für das Versetzungsgleiten in reinen Me-
ge plastische Dehnung mit Verfestigung hervor, bis tallen wird Peierls-Spannung genannt. Ein Gleitsystem
die maximalen Zugfestigkeit Rm bei der maximalen besteht aus der Gleitebene und einer kristallografischen
Gleichmaßdehnung Agt erreicht wird. Eine weite- Gleitrichtung in dieser Ebene. Abbildung 15.22a skiz-
re plastische Verformung schädigt zähe Werkstoffe, ziert die 12 Gleitsysteme für ein kubisch raumzentriertes
so dass der Verformungswiderstand bis zum Bruch Kristallsystem, die aus 6 gleichwertigen Diagonalebenen
sinkt. mit jeweils zwei Gleitrichtungen gebildet werden. Koh-
lenstoffarmes, kubisch raumzentriertes, ferritisches Ka-
rosserieblech (beispielsweise DC04 in den Tab. 15.3, 15.4
Frage 15.6.1 und 15.7) ist ausgezeichnet verformbar. Abbildung 15.22b
Wie wird die Elastizitätsgrenze beschrieben? Wie sind stellt die 12 Gleitsysteme für ein kubisch flächenzentrier-
Zugfestigkeit und Gleichmaßdehnung definiert? Was ist tes Kristallsystem dar, die aus vier räumlichen Diagonal-
der Unterschied zwischen Ag und Agt ? ebenen mit jeweils drei Gleitrichtungen gebildet werden.
Die Gleitebenen des flächenzentrierten Kristallgitters sind
absolut dichtest gepackt, sodass reine flächenzentrier-
te Metalle, wie Gold, Silber, Kupfer, und Aluminium,
sehr duktil sind, aber relativ geringe Elastizitätsgrenzen
Das Gleiten von Versetzungen ermöglicht aufweisen: Rp0,2 der reinen Metalle, inklusive Reinstei-
die plastische Verformung der Metalle sen, ist kleiner als 50 MPa. Hexagonale Kristallsysteme
(Abb. 14.15c) haben nur die dichtest gepackte Basisebene
als Hauptgleitebene, während das Quergleiten auf dazu
Weshalb beginnen sich Metalle ab einer gewissen Span-
geneigten Gitterebenen hoher Schubspannungen bedarf.
nung plastisch zu verformen? Warum werden die meisten
Hexagonal dichtest gepacktes (hdp) Magnesium lässt sich
Metalle durch die plastische Verformung noch fester?
wegen der einzigen Gleitebenenschar bei Raumtempera-
Kristalle, in polykristallinem Material als Körner bezeich-
tur kaum plastisch verformen.
net, enthalten Kristalldefekte, wie linienförmige Gitter-
verschiebungen, sogenannte Versetzungen (siehe auch Das Versetzungsgleiten auf parallelen, dichtest gepack-
Abschn. 14.3). Abbildung 15.20 stellt schematisch eine ten Ebenen in hexagonal dichtest gepackten und flä-
Stufenversetzung dar (vergleiche Abb. 14.17): eine ein- chenzentrierten Strukturen, kann zur Bildung von Kris-
geschobene Extrahalbebene einer periodischen Atoman- tallzwillingen (zur Zwillingsebene symmetrische Atom-
ordnung (Bonusmaterial Durchstrahlungselektronenmi- anordnungen) führen, sogenannten Verformungszwillin-
kroskopie, Abb. 15.5d). Die Größe der Versetzung der gen (im Gegensatz zu Wachstumszwillingen, die bei der
Kristallstruktur wird durch den Burgersvektor b beschrie- Kristallisation entstehen können). Eine Stufenversetzung
ben (Gitterebenenabstand in der Größenordnung von kann in der Gleitebene in eine dazu senkrechte Schrau-
0,2–0,3 nm). Der Rand dieser Halbebene ist die Verset- benversetzung (Abb. 14.17b) mit gleichem Burgersvektor
zungslinie, entlang der sich Druckspannungen aufbauen, übergehen. Versetzungsringe bestehen aus Stufen- und
während darunter Zugspannungen herrschen, die einen Schraubenversetzungskomponenten, die an gegenüber-
linienförmigen Spannungsdipol ergeben. liegenden Seiten gegensätzliche Burgersvektoren auf-
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung 405
eingeschobene
Burgersvektor Halbebene
b eingeschobene
Halbebene Burgersvektor
b Gleitebene
Gleitebene
Gleitbereich der
Stufenversetzung
Werkstoffkunde
a b Gleitebene
Abb. 15.20 Schematische Darstellungen eines Abschnitts einer Stufenversetzung; a Der Rand einer Halbebene (Stufenversetzung) ist vom Kristallrand über den
Gleitbereich (dunkelblau ) ins Innere verschoben und hinterlässt eine Stufe der Höhe des Burgersvektors b, der die Stufenversetzung charakterisiert; b atomistische
Darstellung der Stufenversetzung mit den Verzerrungen in einer hypothetischen, primitiv kubischen Atomanordnung
Zug
Druck τ τ τ
b b
Gleitebene
ϑ
a b c d e
Abb. 15.21 Schematische Veranschaulichung des Gleitvorganges einer Stufenversetzung, die in einem primitiv kubischen Kristallgitter senkrecht zur Bildebene
verläuft; a ungestörte primitiv kubische Gitterebene; b Schubspannung τ drückt eine Halbebene in den Kristall und erzeugt eine Stufenversetzung mit Druck- und
Zugspannungen (senkrecht zur Bildebene); c, d Stufenversetzung verschiebt sich entlang der Gleitebene bis in e eine spannungsfreie Stufe mit Burgersvektor b am
Kristallrand entsteht, die eine plastische Schubdehnung γ = tan ϑ hervorruft
weisen (die Summe der Burgersvektoren eines Verset- spannungskomponente in der Gleitebene und ihrer Ori-
zungsringes ist null). Versetzungsringe entstehen in allen entierung zur Gleitrichtung ab. Die Schubspannung ver-
Kristallen, bei deren Erstarrung und bei Verformungen schwindet sowohl in Gleitebenen parallel als auch senk-
(Abb. 15.30 und Bonusmaterial: Durchstrahlungselektro- recht zur Zugachse. Die maximale Schubspannung wirkt,
nenmikroskopie, Abb. 15.6b). Sie werden durch Schub- wenn die Gleitrichtung 45° zur Zugachse geneigt ist, wor-
spannungen verschoben und vergrößert, bis sie beim Er- aus sich das Schmid’sche Schubspannungsgesetz ergibt:
reichen des Kristallrandes das Korn plastisch verformen
und ausgelöscht werden. Versetzungsringe können auch
1
durch Zuwanderung von Atomen verkleinert und ausge- τmax = σ. (15.13)
löscht werden. 2
– –
(110) (110) (111) (111)
– – –
(011) (011) (111) (111)
Werkstoffkunde
– b
(101) (101)
Abb. 15.22 Koordinatensysteme von Kristallstrukturen mit markierten Atompositionen (rot ) und Gleitebenen (braun, rosa ) mit den zugehörigen Miller’schen
Indizes (hkl = Zahlentripel normierter, reziproker Achsenabschnitte); a kubisch raumzentriertes (krz) Kristallgitter mit den relativ dichtest gepackten Diagonalebenen
{110} (braun ) und den Gleitrichtungen der Raumdiagonalen (grün ); b kubisch flächenzentriertes (kfz) Kristallgitter mit den dichtest gepackten Diagonalebenen {111}
(rosa ) und den möglichen Gleitrichtungen der Flächendiagonalen (grün )
1 3
τmax τmax
σ σ
2 τmax τmax
a b σ c
Abb. 15.23 a Schematische Darstellung verschieden orientierter Gleitebenen in polykristallinem Metall; b Symbolische Darstellung des Versetzungsgleitens in
drei angrenzenden Körnern bei Zugspannung σ > Rp (Rp0,2 oder Re ); c Scherbänder in einer Zugprobe in Richtung der maximalen Schubspannung τmax unter 45°
zu σ gemäß (15.13)
nung τkrit in den Gleitsystemen der Kristalle: Erhöhen der Elastizitätsgrenze von Metallen
1
durch Verfestigungsmechanismen
Rp = 3 τkrit → τkrit = Rp . (15.14)
3 Die wirksamste Methode die Elastizitätsgrenze von Me-
tallen zu erhöhen, ist das Gleiten der Versetzungen zu
behindern (vgl. Abschn. 14.3). In Abb. 15.24 werden der-
Technische Metalle enthalten in jedem Zustand zahl- artige Versetzungshindernisse (Kristalldefekte) in einer
reiche Versetzungen. Die plastische Verformbarkeit Gleitebene skizziert: punktförmige Fremdatome, Verset-
der Metalle beruht auf Versetzungsgleiten durch die zungslinien (senkrecht zur Bildebene), Schnitte durch
Kristallkörner. Je mehr Gleitsysteme verfügbar sind, flächige Grenzen zwischen Subkörnern, Körnern, Anti-
umso duktiler sind die Metalle. phasen, Zwillingen und dreidimensionalen Phasen. Diese
Kristalldefekte erzeugen innere Spannungen in den Gleit-
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung 407
ZG Kleinwinkelkorngrenze
KP
KP
KG Korngrenze
ZG kohärente Zwillingsgrenze
q KP kohärente Phasengrenze
Q
KA kohärente Ausscheidung
Q großes
Substitutionsatom
q kleines
t
geordne z Zwischengitteratom
Werkstoffkunde
et z
geordn
Versetzungen ± b
z
q
KA
KG
geor
dnet
Anti
A phas
engr Atom A
enze
A Atom B
vollkommen mischbar
0,2 – 0,4 nm
Abb. 15.24 Schematische Darstellung von Kristalldefekten: Atompositionen einer einfachen Gitterebene mit zwei Atomarten in geordneten (mit im Antiphasenbe-
reich geänderter Ordnung) und teilweise ungeordneten Mischkristallbereichen; eine Großwinkelkorngrenze (KG, rot punktiert ), eine Reihe von Stufenversetzungen
(⊥) bilden eine Kleinwinkelkorngrenze (blau punktiert ), zwei kohärente Phasengrenzen (KP) zwischen abweichenden Kristallstrukturen, eine Zwillingsgrenze (ZG),
an der sich die Atomanordnungen spiegeln; eine kohärente Ausscheidung (KA) mit Anreicherungen an B-Atomen umgeben von Gitterverzerrungen; größere (Q) und
kleinere (q) Substitutionsatome, sowie Zwischengitteratome (z)
3
derung verbunden, da das Volumen der Messlänge einer
2 τkrit 1/l massiven Probe bei plastischer Verformung ohne Schädi-
gung konstant bleibt (die Poisson-Zahl beträgt im plas-
1 tischen Bereich 0,5). Eine danach wieder angelegte Kraft
wirkt auf den verminderten Probenquerschnitt A0 < A0 ,
1 10 100 1000
sodass sich die technische Spannung bei gleicher Kraft
Versetzungshindernisabstand l in nm entsprechend erhöht. Die neue Spannungs-Dehnungskur-
ve σ (ε ) des zweiten Zugversuches liegt über der ur-
Werkstoffkunde
Abb. 15.25 Schematische Abhängigkeit der kritischen Schubspannung (nor- sprünglichen σ(ε), die auf A0 bezogen war. Rp0,2 wird
miert auf die Peierls-Spannung τP ) vom Abstand l zwischen den Versetzungs-
hindernissen
auf die neuerliche Verformung ε bezogen und ergibt eine
signifikant erhöhte Dehngrenze (Rp0,2 > Rp0,2 ) aufgrund
der mit der Verformung steigenden Versetzungsdichte.
Versetzungen in einem Kristallvolumen (m/m3 = m−2 ). Stellen wir uns ein Stahlblech vor, das in mehreren Schrit-
In einem unverformten oder weichgeglühten, polykristal- ten kaltgewalzt wird und aus dem nach jedem Walzschritt
linem Metall beträgt sie etwa 1013 –1014 m−2 . Versetzun- Zugproben entnommen werden. Die Ergebnisse der Zug-
gen bewirken die plastische Verformbarkeit beim Errei- versuche an diesen unterschiedlich stark verformten Ble-
chen der kritischen Schubspannung. Durch ausreichend chen sind schematisch in Abb. 15.27b dargestellt. Mit
hohe Schubspannungen schneiden Versetzungen in einer jedem Walzschritt steigt die Versetzungsdichte und somit
Gleitebene dort kreuzende Versetzungen eines anderen die Streckgrenze. Nach der Kaltverformung ε 2 wird die
Gleitsystems, die durch Gleitebenensprünge unbeweg- scharfe Streckgrenze Re durch Rp0,2 ersetzt, die weiter mit
lich werden (Abb. 15.26a). Außerdem entstehen durch die der Verformung steigt. Mit zunehmender Verformungs-
fortschreitende Verformung weitere Versetzungen (Ver- verfestigung wird die Duktilität des Bleches verbraucht,
setzungsmultiplikation), sodass die Versetzungsdichte er- und die Bruchdehnung sinkt mit zunehmender Verfesti-
höht wird (siehe Bonusmaterial: Durchstrahlungselektro- gung.
nenmikroskopie, Abb. 15.5f). Deshalb nimmt die Festig-
keit im Spannungsbereich zwischen der (Ersatz-) Streck-
grenze und der Zugfestigkeit Rm mit der Dehnung zu Überkritische Schubspannungen verursachen nicht
(Abb. 15.19). Der Werkstoff erfährt eine Verformungsver- nur das Gleiten von Versetzungen sondern auch de-
festigung durch Erhöhung der Versetzungsdichte ρv : je ren Vervielfältigung. Je höher die Versetzungsdichte
mehr Versetzungen auf verschiedenen Gleitebenen sind, um so höher ist die Ersatzstreckgrenze Rp0,2 (Fließ-
umso höher ist die kritische Schubspannung, um Verset- grenze).
zungen durch ein Kristallkorn zu bewegen. Der mittlere
Abstand l zwischen den Hindernisversetzungen beträgt
√
1/ ρv . Die erforderliche Schubspannung, um Versetzun- Frage 15.6.4
gen durch ein Kristallkorn zu bewegen, steigt mit wach- Weshalb verfestigen duktile Metalle mit zunehmender
√
sender Versetzungsdichte Δτv ∝ ρv . plastischer Verformung bis zur Zugfestigkeit?
Schubspannung
Stufenversetzungen
Versetzungen mit senkrecht zur Gleitebene
Gleitebenensprung schneidbare Ausschei- Versetzung krümmt sich
Versetzungsdichte Schubspannung dungen oder nicht in Gleitebene zwischen
ρv Fremdatome schneidbare Dispersoide Hindernissen
Gleitebene
2rF d
l l
l l l
l
Gleitbereich der Gleitbereich der Fortschritt der Stufenversetzung
Versetzung Versetzung mit steigender Schubspannung
a b c
Werkstoffkunde
Abb. 15.26 Beispiele für Versetzungsgleiten über Hindernisse im Abstand l in der Gleitebene; a Versetzungen (Versetzungsdichte ρv ), die zur Gleitebene einer
gleitenden Versetzung geneigt sind, werden geschnitten, was einen Gleitebenensprung in der Richtung der Stufenkomponente der gleitenden Versetzung hervorruft;
b substitutionelle oder interstitielle Fremdatome (rF = Atomradius des Wirtsgitters); c Ausscheidungen oder Dispersoide mit Durchmesser d halten eine Versetzung
unter steigender Schubspannung zurück bis sie geschnitten oder umgangen werden
σ = F /A N 0
R'm
R'p0,2 Br
uc
hd
σ = FN /A0 eh
nu
stigung ng
V erfe Rp0,2 A
wi
rd
kle
ine
ng
r
stung
Zugspannung
tlastu
Entla
2. En
Rp0,2 Rm
Re
Ka ε3 ε3
ltv ε ε2 A
erf 2
0 0,2 % x% Gesamtdehnung εt orm ε1 ε1
g
un
g 0% Dehnun
Ausgangsquerschnitte 0 0,2 % εt'
a A0 > A0' b
Abb. 15.27 Verformungsverfestigung; a Technisches Spannungs-Dehnungsdiagramm einer Zugprobe, die bei x % plastischer Dehnung entlastet und neu ver-
messen wird (Querschnitt A0 < A0 ); bei der 2. Belastung (rot ) zeigt die Probe eine höhere Festigkeit Rp0,2
> Rp0,2 und Rm > Rm ; b schematische Spannungs-
Dehnungsdiagramme für einen Stahl nach verschiedenen Stufen der Kaltverformung (ε 1,2,3 ), mit denen die Festigkeit Rp0,2 aufgrund der Verformungsverfestigung
zunimmt, jedoch die Bruchdehnung A abnimmt
Abstoßun
g
Anziehun
g b
Werkstoffkunde
Abb. 15.28 Wechselwirkungen zwischen Stufenversetzungen (a senkrecht zur Bildebene) und punktförmigen Kristalldefekten; b Druckspannungszentrum eines
Substitutionsatoms mit größerem Durchmesser als die Atome des Wirtsgitters stößt die Druckseite einer Versetzung ab und wird von deren Zugspannungsseite
(c) angezogen; c kleineres Substitutionsatom baut an der Druckseite einer Versetzung Spannungen ab; d Druckspannung eines größeren Fremdatoms wird an der
Zugspannungsseite der Versetzung abgebaut; e Zwischengitteratom vermindert die Zugspannung an der Zugseite einer Versetzung; Stufenversetzung erzeugt am
Kristallrand eine stufenförmige Verformung in der Größe des Burgersvektors b
ist in vielen Systemen erzielbar. Kubisch flächenzentrier- Sobald sich die Versetzungen von den Cottrell-Wolken
tes α-Messing (Basis Kupfer) kann bis etwa 32 Atom-% entfernen, lösen sich diese Kohlenstoffanhäufungen auf
(At.-%) Zink als Substitutionselement aufnehmen, da die (Abb. 15.29d). Es kommt lokal zu hohen plastischen Ver-
Zink-Atome nur um ca. 4 % größer sind als die Kupfer- formungen ohne Verfestigungseffekt, sogenannten Lü-
Atome. Dadurch kann die Elastizitätsgrenze Rp0,2 auf das dersbändern, die auch an der Probenoberfläche als schräg
5-Fache des reinen Kupfers erhöht werden. verlaufende Gleitbänder erkennbar werden. Die Lüders-
dehnung (x % in Abb. 15.29a) hängt von der Vorverfor-
Das Zwischengitteratom Kohlenstoff ist halb so groß wie mung, der Kohlenstoffkonzentration, den weiteren Le-
das Eisenatom und kann die Streckgrenze des kubisch gierungselementen und der Korngröße des Stahls ab.
raumzentrierten Eisens um ein Vielfaches erhöhen, ob- Durch die Gleitbehinderung der zunehmenden Verset-
wohl es nur bis zu 0,1 At.-% löslich ist. Die Beweglichkeit zungsdichte schreitet die Verformungsverfestigung vor-
des Kohlenstoffatoms im ungestörten Eisen-Kristall ist an, und die kritische Schubspannung übersteigt ab Rpx
sehr hoch (wird unter Diffusion in Abschn. 15.12 er- das Niveau von ReL . Bei Zugversuchen nach einer Kalt-
klärt). Wenn das Kohlenstoffatom aber in Bereiche mit verformung über die Lüdersdehnung der Stähle hinaus
Zugspannung kommt, wie beispielsweise in den Zug- tritt ohne Alterungswärmebehandlung kein Lüdersband
spannungsbereich einer Versetzung (Abb. 15.28e), nimmt mehr auf und somit weder eine obere noch eine untere
es eine relativ stabile Position ein, da es das Energiepo- Streckgrenze. Bei der Formgebung von Karosserieblechen
tenzial der elastischen Verzerrungen vermindert. Deshalb sind Lüdersbänder unerwünscht, sodass diese (z. B. Stahl-
werden die Versetzungen in ferritischen Stählen durch blech DC04 in Tab. 15.7) mit extrem niedrigem Kohlen-
die sogenannten Cottrell-Wolken der Kohlenstoffatome stoffgehalt oder vorgestreckt geliefert werden. Unter den
im Zugspannungsbereich (Abb. 15.29b) in ihrer Position Konstruktionswerkstoffen beschränkt sich das Phänomen
festgehalten. Dieser Vorgang der Ansammlung von Koh- der Lüdersbänder mit ReL und ReH auf unverformte fer-
lenstoffatomen in der Umgebung von Versetzungen in ritische Stähle. Daher wird für alle anderen Metalle und
Stahl bewirkt eine Festigkeitserhöhung, die als Alterung für verformte Stähle eine Ersatzstreckgrenze als Elastizi-
bezeichnet wird (Diffusion braucht Zeit). Wie Abb. 15.29a tätsgrenze definiert, meist Rp0,2 .
zeigt, wird der elastische Verformungsbereich bis zur obe-
ren Streckgrenze ReH erhöht. Wegen der Unbeweglichkeit
der Versetzungen ist der E-Modul ferritischer Stähle im
Fremdatome stellen ein Gleithindernis dar und er-
Zugversuch gut messbar.
höhen die kritische Schubspannung. Das dipolartige
Wenn die äußere Kraft groß genug ist, dass sich Ver- Spannungsfeld um eine Versetzung (Abb. 15.21) hat
setzungen von den Kohlenstoffatomen losreißen kön- eine anziehende Wirkung auf Fremdatome. Intersti-
nen, vermindert sich die kritische Schubspannung für tielle Fremdatome lagern sich bevorzugt an Stufen-
das Versetzungsgleiten im Eisen mit statistisch verteilten versetzungen ab und erhöhen die kritische Schub-
Kohlenstoffatomen. Die weitere Verformung erfolgt auf spannung.
dem Niveau der unteren Streckgrenze ReL (Abb. 15.29c).
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung 411
Spannung
der Stufenversetzungen an „Cottrell-Wolken“
(Alterung)
Cottrell-Wolken von Kohlen-
stoffatomen (b ); c werden die (b) obere
Versetzungen durch ausreichen- Streckgrenze
de Schubspannungen von den (b)
Kohlenstoffatomen weg bewegt,
ReH
entfestigt der Stahl bis zur unte-
ren Streckgrenze ReL (1. Minimum
nach einer überschwingenden Rpx
ReL
Rückfederung der Prüfmaschine)
Werkstoffkunde
und wird im Lüdersband ohne Stufenversetzung
Verfestigung bis x % der Lüders-
dehnung plastisch verformt (c ); (c) Lüdersband
d die Kohlenstoffatome vertei-
len sich im Korn statistisch, die (c)
Schubspannung muss nur die
Mischkristallverfestigung der
gelösten Kohlenstoffatome über-
winden; ab Rpx dominiert die
Verformungsverfestigung durch Verformungs- &
(d) Mischkristall-
die Versetzungsmultiplikation
verfestigung
interstitielle
Kohlenstoffatome
(b)
a x% Dehnung
Frage 15.6.5 deren Kristallstruktur der des Wirtsgitters ähnlich ist. So-
lange die Gleitebenen des Wirtsgitters auch durch diese
Weshalb weisen ferritische Stähle eine Streckgrenze auf?
Ausscheidungen verlaufen, spricht man von Kohärenz
Wann verlieren sie diese mechanische Eigenschaft? Was
der Kristallstrukturen (KA in Abb. 15.24, kfz Ni3 Al-Aus-
geht in einem verformten Stahl beim Altern vor?
scheidungen in Superlegierungen, siehe Bonusmaterial:
Durchstrahlungselektronenmikroskopie, Abb. 15.6a). Ko-
härente Ausscheidungen weisen nur geringe Unterschie-
de zu den Gitterebenenabständen des Wirtsgitters auf, er-
zeugen aber dreidimensionale Spannungsfelder. Dadurch
Überschreitet die Fremdatomkonzentration wird die kritische Schubspannung signifikant erhöht, be-
ihre Löslichkeitsgrenze scheiden sich die vor die Versetzungen diese Ausscheidungen in den kohä-
Fremdatome in neuen Kristallstrukturen aus renten Gleitebenen schneiden können. Dieser Schneidme-
chanismus kann zu scheibchenweise zerteilten Ausschei-
dungen führen (Bonusmaterial: Durchstrahlungselektro-
Je nach der Größe der Störung der Atompotenziale durch nenmikroskopie, Abb. 15.6a). Verläuft nur ein Teil der
ein Legierungselement ist dessen Löslichkeit im Wirtsgit- Gitterebenen des Wirtsgitters durch die Ausscheidungen,
ter begrenzt (Abschn. 16.4). Übersteigt die Legierungs- so werden diese als teilkohärent bezeichnet. Diese drei-
konzentration die Löslichkeitsgrenze, so scheidet das dimensional ausgedehnten Versetzungshindernisse be-
Wirtsgitter diese Elemente in einer neuen Phase aus, so- wirken eine Ausscheidungsverfestigung (Abb. 15.26c).
bald die Legierungselemente diffundieren können (Diffu- Die Entwicklung von Al2 Cu-Ausscheidungen in Al–Cu-
sion wird in Abschn. 15.12 behandelt). Beispielsweise ent- Legierungen ist in Abb. 16.15 ihrer Verfestigungswirkung
stehen Fe3 C-Karbide in Stahl mit ca. 0,1 At.-% gelöstem gegenübergestellt. Die Erhöhung der kritischen Schub-
Kohlenstoff zwischen 300 und 700 °C (Abschn. 16.3). Die- spannung ist wieder umgekehrt proportional zum mitt-
se Ausscheidungen keimen bevorzugt an vorhandenen leren Abstand der Ausscheidungen. Bei einem Volumen-
Gitterstörungen (heterogene Keime), wie Versetzungen anteil v√A beträgt der mittlere Abstand in einer Gleitebene
und Korngrenzen. Ist die Leerstellenkonzentration relativ l = 1/ vA . Außerdem erhöht sich die kritische Schub-
hoch, können auch im ungestörten Kristall Fremdatoman- spannung
√ mit dem Durchmesser d der Teilchen: ΔτA ∝
häufungen homogene Keime für Ausscheidungen bilden, Gb dvA .
412 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
τ
Metallmatrix-Verbundwerkstoffen genutzt, die sich auf-
0,5 μm grund einer erhöhten Versetzungsdichte um spröde Teil-
r = rmin b chen verfestigen (analog zur Verformungsverfestigung).
τmax Längliche, höherfeste und steifere Einlagerungen als die
Metallmatrix (z. B.: in eutektischen Gefügen einer Al-Si-
τ3 Legierung oder in Schnellarbeitsstählen mit Karbiden, sie-
he Abschn. 16.2 und 16.3) verstärken diese, indem sie
Auslöschung höhere innere Spannungen tragen als die Matrix. Diese
der Versetzungssegmente Gefüge verhalten sich wie Metallmatrix-Verbundwerk-
mit gegensätzlichem stoffe, die einen höheren E-Modul aufgrund der rezi-
freie Versetzung Burgers-Vektor
proken Mischungsregel (Abschn. 15.5) und eine höhere
τ4 Versetzungsringe Elastizitätsgrenze aufweisen als die metallische Matrix,
aber an Duktilität einbüßen.
a
Frage 15.6.6
Abb. 15.30 Nicht schneidbare Versetzungshindernisse; a Skizze der Wech- Welche Wechselwirkungen zwischen Versetzungen unter
selwirkung einer Versetzung mit zwei inkohärenten Teilchen bei zunehmender Schubspannung und intrakristallinen kohärenten bzw. in-
Schubspannung (Orowan-Mechanismus, τi nimmt von oben nach unten zu): die kohärenten Ausscheidungen treten auf?
Versetzung biegt sich mit dem Radius r zwischen zwei Teilchen bis τmax , wor-
auf sie diese umzingelt, sodass sich die gegensätzlichen Versetzungssegmente
auslöschen; die Versetzung gleitet weiter und es bleibt je ein Versetzungsring
um die Teilchen; b TEM-Aufnahme einer ODS-Messingprobe mit eingelagerten
Al2 O3 -Teilchen (schwarz ), die von Versetzungsringen (schwarze Linien ) umge- Das dreidimensionale Spannungsfeld einer kohären-
ben sind und bei denen sich eine Versetzung zwischen zwei Teilchen unter der
ten Ausscheidung erhöht die kritische Schubspan-
wirkenden Schubspannung τ krümmt
nung wesentlich, bis sie von der Versetzung ge-
schnitten werden kann. Inkohärente Ausscheidun-
gen sind Gleithindernisse, die umgangen werden
Inkohärente Einlagerungen (Gitterebenen sind an der müssen (Orowan-Mechanismus), wobei sich die Ver-
Grenzfläche der Einlagerungen wie an Korngrenzen un- setzungsdichte um die Teilchen erhöht. Letzteres
terbrochen) sind durch Versetzungen nicht schneidbar. verstärkt die Verformungsverfestigung.
Eine Schubspannung drückt die Versetzungen gegen in-
kohärente Ausscheidungen (z. B. Karbide in Stahl, sie-
he Abschn. 16.3) oder Dispersoide (pulvermetallurgisch
eingebrachte intermetallische oder keramische Teilchen,
beispielsweise in oxiddispersionsverstärkten (ODS) Le- Je kleiner die Körner umso höher die
gierungen, siehe Abb. 30.67). Bei weiterer Erhöhung der
Schubspannung umzingeln die Versetzungen die Teil-
Elastizitätsgrenze und die Duktilität
chen nach dem sogenannten Orowan-Mechanismus, der
in Abb. 15.30a veranschaulicht ist (Bonusmaterial: Durch- Eine Versetzung, die an Korngrenzen endet (siehe
strahlungselektronenmikroskopie, Abb. 15.6b). Die dar- Bonusmaterial: Durchstrahlungselektronenmikroskopie,
aus resultierende Dispersionsverfestigung nimmt mit zu- Abb. 15.6c), kann nur mit erhöhter Schubspannung durch
nehmender Teilchengröße bei gleichem Volumenanteil vD das Korn gleiten, da die Gleitebenen an der Korngren-
ab, da die Anzahl der Teilchen mit steigendem Durch- ze enden. Die Korngrenzen halten Versetzungen fest,
messer abnimmt. Der Kraftaufwand für das Umgehen die dort enden, während parallel verlaufende Verset-
eines Dispersoids durch eine Versetzung ergibt eine Er- zungen die Korngrenzen durch plastische Verformung
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung 413
überwinden müssen. Somit entspricht der Hindernisab- denen Verfestigungsmechanismen akkumuliert werden
stand dem Korndurchmesser dKG (Bonusmaterial: Korn- können, indem die Anzahl der Gitterfehler pro Volu-
gefüge metallischer Werkstoffe, Abb. 15.7 und 15.8). meneinheit des polykristallinen Materials erhöht wird.
Experimentelle Untersuchungen ergaben für die damit Umwandlungshärtung ist auf Metalle beschränkt, die
verbundene Schubspannungserhöhung
√ die sogenannte bei bestimmten Temperaturen ihre Kristallstruktur verän-
Hall-Petch-Beziehung: ΔτK ∝ GdKG . Diese wird z. B. in dern (allotrope Metalle wie Eisen, Titan, Messing). Diese
Feinkornstählen (dKG < 45 µm) und Feinstkornbaustäh- Umwandlung kann durch rasche Abkühlgeschwindigkeit
len (dKG < 15 µm) erfolgreich genutzt. Ihr besonderer unterdrückt werden und führt zu Ungleichgewichtszu-
Vorteil liegt darin, dass die Feinkornhärtung den einzi- ständen aus verspannten, versetzungsreichen Kristallen,
gen Verfestigungsmechanismus darstellt, der die Duk- die als Martensit bezeichnet werden (Abschn. 16.6). Die
tilität (Bruchdehnung) nicht vermindert, sondern durch Versetzungsbewegung in diesen lamellenförmigen Mar-
die statistische Verteilung der Orientierungen der klei- tensitkörnern ist nahezu unterbunden (Bonusmaterial:
Werkstoffkunde
nen Kristallkörner sogar erhöht. Nicht nur Großwinkel- Korngefüge metallischer Werkstoffe, Abb. 15.8a), wes-
korngrenzen, sondern auch Kleinwinkelkorngrenzen (sie- halb durch derartige Wärmebehandlungen hohe Festig-
he Bonusmaterial: Durchstrahlungselektronenmikrosko- keiten bei abnehmender Duktilität erzielt werden können.
pie, Abb. 15.6c) und Zwillingskorngrenzen (Abb. 15.24, Versetzungsfreie Einkristalle haben ebenfalls hohe Fes-
siehe auch Bonusmaterial: Korngefüge metallischer Werk- tigkeiten, da keine Plastifizierung durch Versetzungsbe-
stoffe, Abb. 15.7c: austenitischer Stahl, Abb. 15.7d: Ni- wegungen möglich ist, was für Hochtemperaturturbinen-
Legierung, Abb. 15.8c: Messing) stellen Gleithindernisse schaufeln genützt wird (Abschn. 15.12). Tabelle 15.11 gibt
für Versetzungen dar und erhöhen die Elastizitätsgrenze eine Übersicht über die Verfestigungsmechanismen für
durch Feinkornverfestigung. Metalle: die maßgeblichen Versetzungshindernisse, die
Strukturkenngrößen und wie diese veränderbar sind, die
Frage 15.6.7 Berechnung des mittleren Hindernisabstandes l und der
Weshalb steigt die kritische Schubspannung mit kleiner zugehörigen Erhöhung der kritischen Schubspannung,
werdenden Körnern? sowie einige Anwendungsbeispiele.
verformter, feinkörniger
stellung der additiven Wirkung
und wärmebehandelt
Polykristall., legiert
der Verfestigungsmechanismen
zur Erhöhung der Elastizitätsgren-
Festigkeit log Rp
ze von Metallen mit steigender
Polykristall., legiert
Dichte an Kristallfehlern durch nano-
kristallin
Verformung, Kornfeinung, Misch-
Rp, max
kristalle, Ausscheidungen und für
feinkörniger
verformter,
Einkristall (verformt)
polykristallin
allotrope Metalle durch Umwand-
versetzungsreicher
feinkörnig,
verformt,
lungshärtung
versetzungsarmer
Real-Einkristall
versetzungsfreier
Kristall
Rp, min
+ Ausscheidungen
3 τP
Versetzungen + Mischkristall (Ausscheidungs- oder
Peierls (Verformungs- + Korngrenzen (Mischkristall- Dispersions-
verfestigung) (Feinkornhärtung) verfestigung) verfestigung)
Gehalt an Gitterfehlern
Einbrennlackieren bildet an den Versetzungen feine Kar- ziehen erfährt das Blech eine Verformungsverfestigung
bide (bake-hardening-Effekt). Kohlenstoffstähle können (Abschn. 30.3).
durch eine Umwandlungshärtung durch Martensit hoch-
fest gemacht werden (siehe Abschn. 16.6) oder in einem Die nachfolgende Einbrennlackierung verstärkt die Aus-
weiteren Kaltwalzschritt verformungsverfestigt werden. scheidungshärtung (bake hardening).
Korrosionsbeständiger, austenitischer Stahl kann die Um-
wandlungshärtung nicht nützen, aber die Festigkeitsun- Frage 15.6.8
tergrenze ist durch die substitutionellen Legierungsele-
mente höher als bei un- bzw. niedrig legierten Stählen. Die Schätzen Sie aus Abb. 15.32a den Faktor der erzielba-
1000-MPa-Linie kann von Stählen, Nickel-, Molybdän- ren Verfestigung (maximale Balkenhöhe der Legierung)
und Titan-Basislegierungen überschritten werden. Eine gegenüber dem Basismetall (minimale Balkenhöhe des
Al-Si-Gusslegierung enthält steife, hochfeste Silizium- Reinmetalls) für Fe, Ni, Cu, Al.
Teilchen und wird beim Druckgießen (Abschn. 30.2)
durch die rasche Abkühlung feinkörnig. Durch eine Aus-
scheidungswärmebehandlung werden Mg2 Si-Ausschei- Für den Leichtbau ist es wichtig, die mechanischen Kenn-
dungen zur Festigkeitssteigerung erzeugt, sodass die 0,2- werte auf das spezifische Gewicht zu beziehen. Abbil-
%-Dehngrenze über 300 MPa liegen kann. Gussteile kön- dung 15.32b stellte die spezifischen Elastizitätsgrenzen
nen jedoch nicht verformungsverfestigt werden, ebenso der Legierungen und Basismetalle aus Abb. 15.32a ge-
wenig wie Magnesium-Knetlegierungen wegen ihrer he- genüber. Trotz des hohen spezifischen Gewichts der un-
xagonalen Kristallstruktur. Al-Zn-Mg-Cu-Knetlegierun- und niedrig-legierten Stähle liegen die Obergrenzen ih-
gen (AW7xxx) können durch Kombination der Ausschei- rer spezifischen Streckgrenzen im gleichen Bereich wie
dungshärtung mit einer Verformungsverfestigung 0,2-%- die höchsten spezifischen Dehngrenzen der Leichtmetal-
Dehngrenzen von 700 MPa überschreiten, verlieren aber le. In diesem Vergleich werden die höchstfesten Varianten
stark an Duktilität. Karosseriebleche aus Aluminium-Le- der Aluminium-Legierungen, Kohlenstoffstähle, Nickel-
gierungen weisen eine Grundfestigkeit auf: z. B. enthält und Titan-Basislegierungen nahezu ebenbürtig. Die aus-
AW6082T4 bereits feine Ausscheidungen, die nach dem tenitischen Stähle fallen zurück, liegen aber hauptsächlich
Lösungsglühen bei Raumtemperatur entstehen (T4-Zu- wegen deren Mischkristallverfestigung über den spezifi-
stand, siehe Abschn. 16.4). Bei Umformung durch Tief- schen Festigkeitswerten des reinen Eisens.
Tab. 15.11 Übersicht über die Verfestigungsmechanismen metallischer Werkstoffe
Verfestigungs- Gleitwiderstand Versetzungs- Einflussgröße Herstellung Hindernisabstand Schubspannungs- Anwendungs-
mechanismen hindernis erhöhung beispiele
Widerstand der Atomabstände, Kristallstruktur, Grundeigenschaft Versetzungsgröße Peierls-Spannung Reine, defektfreie
Gleitsysteme gegen Gleitsysteme Innere Reibung auf liegt immer vor Burgersvektor b τπ ∝ G · b Metalle
Gleitebene Versetzungsgleiten Gleitebenen
√
Mischkristall- Gelöste Fremd- Substitutionelle Atomradienunter- Legieren bis zur Mittlerer Abstand ΔτC ∝ G · b · c Fe-Cr-Ni-Mo. . . ,
verfestigung atome mit Atomra- Δr < 15 % schied, Löslichkeitsgrenze der Fremdatome in Al-Mg, Cu-Zn. . . ,. . .
dienunterschied Δr Konzentration c der Gleitebene
zum Atomradius r Interstitielle rz < gelösten l = 1/ c(At.-%) Fe-C,N,B, Ti-O,C,N
des Wirtes 0,35r Fremdatome
√
Versetzungen fixie- Fremdatome an Versetzungsdichte Wärmebehandeln Versetzungsdichte ΔτL ∝ G · b · c · ρV Altern von Stahl,
ren Versetzungen ρV , Konzentration c T < Ts /2, „altern“ mit Fremdatomen β-Ti-Legierungen
√
Verformungs- Plastische Ver- Andere Versetzungsdichte Kaltverformung Mittlerer Abstand Δτρ ∝ G · b · ρV Kaltverformung,
verfestigung formung erhöht Versetzungen ρV = Versetzungs- Δσ ∝ εn (n Verfesti- der Versetzungen ∝ G · b · εn Kaltumformung
√
Versetzungsdichte längen pro Korn- gungsexponent) l = 1/ ρV
l volumen (m−2 )
l
√
Ausscheidungs- Versetzungen Durch Gleiten Gitterparameter- Lösungsglühen- Mittlerer ΔτA ∝ G · b vA · d Al-Cu, Al-Mg-Si,
verfestigung schneiden drei- schneidbare, differenz zum Abschrecken-Aus- Teilchenabstand
Al-Zn-Mg, Cu-Be,
dimensionale kohärente Kristalle Wirtsgitter, lagern: kohärente l = d/vA,D Ni-Al-Ti
Kristallbereiche im Wirtsgitter Volumenanteil vA , Ausscheidungen
ene
(Ausscheidungen) Teilchendichte,
iteb
Gle Teilchengröße d
√
Dispersions- Versetzungen umge- Nicht schneidbare, Volumenanteil vD , Wärmebehandlung ΔτD ∝ G · b vD /d Karbide, Nitride,
verfestigung hen 3-dimensionale inkohärente Teil- Teilchendichte, Teil- für inkohärente Boride in Fe-/Ni-
15.6
Werkstoffkunde
416 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Rp max in MPa
Rp min in MPa
1000
Dehn-/Streckgrenze Rp in MPa
100
Werkstoffkunde
austenitischer Stahl
10
Mo-Legierungen
Mg-Legierungen
Cu-Legierungen
Al-Legierungen
Ni-Legierungen
Ti-Legierungen
Aluminium
Gusseisen
Reineisen
Rein-Ni
Kupfer
Stähle
Silber
a 1
Rp max
MPa
in
Rp min g/cm3
1000
g/cm3
MPa
spezifische Dehn-/Streckgrenze Rp /ρ in
100
austenitischer Stahl
10
Mo-Legierungen
Mg-Legierungen
Cu-Legierungen
Al-Legierungen
Ni-Legierungen
Ti-Legierungen
Aluminium
Gusseisen
Reineisen
Rein-Ni
Kupfer
Stähle
Silber
b 1
Abb. 15.32 Vergleich der Festigkeitswerte (logarithmische Auftragung) ausgewählter Legierungssysteme und der Basismetalle einschließlich deren Verfestigungs-
möglichkeiten (dunkle Bereiche ); a Streck- bzw. 0,2-%-Dehngrenze (Elastizitätsgrenzen); b spezifische Streck- bzw. 0,2-%-Dehngrenze (auf die Dichte bezogen)
Zugverformung nach Stauchung ergibt durch Ausgangszustandes ohne Stauchung. Diese Festigkeits-
Bauschinger-Effekt reduzierte Festigkeit verminderung wird als Bauschinger-Effekt BEx % bezeich-
net. Diese Kennzahl lässt sich vereinfacht aus den tech-
nischen Zugversuchsdiagrammen durch Vergleich der
Aus den Wechselwirkungen der inneren Spannungsfel- Veränderung der Elastizitätsgrenze nach x % plastischer
der der Versetzungen mit denen anderer Kristallfehler Stauchung Rxp0,2
% gegenüber der des Ausgangszustandes
in Metallen verändert sich die kritische Schubspannung
beim Vorzeichenwechsel der äußeren Spannung, also Rp0,2 oder Re errechnen:
beim Wechsel von Druck- auf Zugverformung. Metal-
le, die weniger als 5 % stauchverformt werden, erfahren % −R
Rxp0,2 p0,2
% −R
Rxp0,2 e
eine Reduzierung der Elastizitätsgrenze bei einer nachfol- BEx % = bzw. (15.15)
genden Zugbelastung gegenüber der Zugverformung des Rp0,2 Re
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung 417
Leitbeispiel Antriebsstrang
Genutzte Verfestigungsmechanismen für die
Legierungen für ausgewählte Bauteile
IN718 ist eine komplexe Nickel-Basislegierung, die den bei einer Warmauslagerung nach dem Gießen
durch die zahlreichen Substitutionselemente misch- verfestigende Ausscheidungen (siehe Abschn. 16.4,
kristallverfestigt ist. Durch Feingießen (oder Schmie- Abb. 16.15). Kurbelgehäuse aus Grauguss haben we-
Werkstoffkunde
den) entsteht ein Korngefüge, das durch Rekristal- gen der Stahlmatrix höhere Festigkeit als jene aus Alu-
lisationswärmebehandlung vergrößert werden kann. minium-Legierungen. Die Grafitausscheidungen un-
Große Körner sind kriechresistenter als kleine, was terdrücken die Lunkerbildung und tragen zur Dämp-
für die Hochtemperaturanwendung günstig ist (siehe fung der Motorgeräusche bei (siehe Abschn. 16.3).
Abschn. 15.12). Durch die Wärmebehandlung wer- Getriebezahnräder aus Einsatzstahl werden nach der
den sowohl Korngrenzenkarbide als auch intrakris- Bearbeitung am Rand aufgekohlt und gehärtet (Um-
talline Überstrukturausscheidungen erzeugt, die aus- wandlungshärtung durch Martensitbildung, siehe Ab-
gezeichnete Warmfestigkeit ergeben. Die Motorlegie- schn. 16.6) und meist danach angelassen (Wärmebe-
rungen des Al-Si-Systems enthalten in den eutek- handlung zur Karbidbildung), um die Zähigkeit zu
tischen Gefügebereichen hochfeste, netzartige Silizi- verbessern. Die Verfestigungsmechanismen der aus-
um-Einlagerungen, die die Warmfestigkeit erhöhen gewählten, metallischen Bauteile sind in der Tabelle
(siehe Abschn. 16.2, Abb. 16.7). Geringe Mengen von gegenübergestellt.
Legierungselementen wie Magnesium und Kupfer bil-
BEx % ist beispielsweise dann von Bedeutung, wenn ein Stahls X70 in Abb. 15.33 dargestellt. Die Zugversuchs-
Grobblech gebogen wird, sodass die Innenseite stauch- kurve des Ausgangszustandes ist der nach einer 2 %-igen
verformt, während die Außenseite zugverformt wird. Die Stauchung gegenübergestellt. Die Elastizitätsgrenze des
Elastizitätsgrenze bei Zugbeanspruchung der Innenseite Ausgangszustandes ist durch die obere Streckgrenze ReH
kann sich signifikant von der der Außenseite unterschei- gegeben, während nach 2 % Stauchung kein Lüdersband
den. Dies wird am Beispiel eines hochfesten Pipeline- mehr auftritt, sondern die Elastizitätsgrenze mit R2p0,2
%
418 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Stauch-/Zugkurve
Rm Rm2%
550 ReH
450
50
–3 –2 –1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
technische Dehnung in %
–150
–250
1 –350
–450
ReH Stauch
–550
Abb. 15.33 Verformungseigenschaften des hochfesten Stahls X70 (L485 EN mit Re = 483–621 MPa, Einsatzbereich bei Pipeline-Rohren); technische Zugversuchs-
kurve des Ausgangszustandes (schwarz ) mit ReH und Lüdersband; 1: technische Stauchkurve bis 2 % bleibender Verformung, bei der entlastet wurde (blau ); diese
2 % < R bestimmt wird. Beide Zugversuchskurven sind nur bis zur Zugfestigkeit
gestauchte Probe ergab die Zugversuchskurve 2 ohne Lüdersband (rot ), aus der Rp0,2 eH
Rm dargestellt
definiert wird, die wesentlich kleiner als ReH ist, d. h., Polymere – Die Bindungskräfte bestimmen die
die plastische Zugverformung des gestauchten Zustan-
Festigkeit
des beginnt bei wesentlich kleinerer Spannung als vor
der Stauchung (Berechnung in Aufgabe 15.6g). Der Un-
terschied wäre nicht so groß, wenn der Ausgangszustand Die atomar gebundenen Polymerketten in Thermoplas-
keine Streckgrenze aufwiese. Die Zugfestigkeiten der bei- ten werden durch Sekundärbindungen verbunden. In
den Zustände unterscheiden sich kaum. teilkristallinen Strukturen erzeugt auch die periodische
Anordnung der Polymermoleküle einen Verformungs-
widerstand, aber ermöglicht auch deren gegenseitige
Der Bauschinger-Effekt sagt aus, dass die Rp0,2 - Verschiebung für plastische Verformung. Darüber hin-
Dehngrenze bei Zugbelastung eines Metalles nach aus können Polymerketten gestreckt werden, was die
einer Stauchverformung kleiner ist als ohne vorher- Sekundärbindungen zwischen den Ketten wegen der
gehender Stauchverformung. geringeren Abstände erhöht und somit Thermoplaste
etwa ab 0,75 Tg (Glasübergangstemperatur) verfestigt.
Während der Zugverformung werden die Polymerketten
in der Verformungsrichtung verschoben und gestreckt,
Frage 15.6.9 können aber bei Entlastung wegen viskoelastischer Ver-
Ein Werkstoff, der einen Bauschinger-Effekt zeigt, wird formung nur begrenzt zurückfedern (Abb. 15.14). Bei
plastisch um einen Winkel gebogen. Danach werden Zug- Thermoplasten wird das erste Maximum in der Span-
proben quer zum Biegewinkel entnommen und geprüft. nungs-Dehnungskurve als Streckgrenze Re bezeichnet
Welche Probe wird eine höhere 0,2-%-Dehngrenze auf- (Abb. 15.34), obwohl bereits bleibende Verformung auf-
weisen, jene der Innenseite oder jene der Außenseite? tritt. Das lokalisierte Verschieben der Polymerketten in
Scherbändern (ähnlich den Lüdersbändern in Stahl) ist
15.6 Festigkeit unter quasi-statischer Belastung 419
Polypropylen-Copolymer
technische Spannung σ in MPa
Streckgrenze Re
20
Werkstoffkunde
15
σ in MPa
10
0 5 10 15 20 25 %
technische Dehnung in %
Abb. 15.34 Spannungs-Dehnungskurve eines thermoplastischen Polypropylen-(PP)-Copolymers ermittelt mit 10 mm/min Verformungsgeschwindigkeit (Proben-
form gemäß 5A nach ISO 527-2); der Abfall der technischen Spannung nach dem Erreichen der Streckgrenze wird hauptsächlich durch Verminderung des
Probenquerschnitts hervorgerufen; ab der 5-fachen Verlängerung verfestigt sich die Probe, bis sie bricht; Detailansicht des Anfangsbereichs zeigt Re bei ca. 15 % Deh-
nung; Auswertung siehe Aufgabe 15.6b
nach dem Überschreiten der Streckgrenze mit einer Ent- plaste und eines Duromers, sowie die Elastizitätsgrenzen
festigung (ca. 20 % in Abb. 15.34, ca. 50 % in Abb. 15.14) eines Elastomers in Abb. 15.35 verglichen. Mit Ausnahme
und Einschnürung verbunden. Kristalline Bereiche ori- der Aramidfaser stellen 100 MPa die höchste erzielbare
entieren sich lamellenartig parallel zur Zugspannung, Festigkeit für gebräuchliche, unverstärkte Thermoplaste
worauf eine Verfestigung aufgrund der Zunahme ge- und Duromere bei Raumtemperatur dar. Diese Kunst-
streckter Polymerketten folgt. Kunststofffasern sind im stoffe erreichen somit nur das Dehngrenzenniveau der
Zustand vollständig gestreckter Molekülketten und er- Reinmetalle. Die durch die Dichte dividierten Kennwer-
reichen daher in Längsrichtung hohe Festigkeiten (siehe te sind als spezifische Streck- bzw. Dehngrenze ebenfalls
Aramidfasern in Tab. 15.7 und Abb. 15.35. in Abb. 15.35 eingetragen, was die relativen Unterschie-
de kaum verändert, da die Dichte aller Beispiele unter
Duromere bestehen aus fest vernetzten Molekülketten, 1,5 g/cm3 liegt (siehe Tab. 15.7). Die spezifischen Festig-
die unterhalb Tg , wo sie eingesetzt werden, nicht ver- keitswerte der isotropen Polymere (PA 66, PP, EP) bewe-
schiebbar sind. Eine Zugversuchskurve (Abb. 15.14) be-
gen sich zwischen 20 und 100 MPa pro g/cm3 , erreichen
steht wie bei Keramiken nur aus der elastischen Geraden also den unteren Bereich der spezifischen Dehngrenzen
bis der spröde Werkstoff bricht. der Legierungen (vergleiche Abb. 15.32b).
Elastomere sind dadurch charakterisiert, dass Polymer-
ketten weitmaschig vernetzt sind, sodass sie oberhalb Tg Thermoplaste verfestigen bei Streckung der Poly-
verschoben und gestreckt werden können. Mit zuneh- merketten. Alle Kunststoffe können durch Verstär-
mender Dehnung steigt der Widerstand gegen weitere kung mit höherfesten Teilchen oder Fasern (Ver-
Streckung. Sie federn bei Entlastung mit Dämpfungsver- bundwerkstoffe) verfestigt werden.
lusten entropieelastisch zurück (Abb. 15.14), wobei häufig
eine plastische Verformung zurückbleibt. Bei Überdeh-
nung werden Vernetzungspunkte aufgerissen, und das Frage 15.6.10
Elastomer verliert an Entropieelastizität. Vergleichen Sie die spezifische Festigkeit von PA66
(Abb. 15.35) mit der von Al-Legierungen und von Stahl
Als Kunststoffbeispiele (Tab. 15.7) werden die Streckgren- (Abb. 15.32b).
zen der Aramidfasern in Faserrichtung, zweier Thermo-
420 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
g/cm3
MPa
Streckgrenze Re in MPa, spezifische Streckgrenze Remin/ρ in 10.000
Streckgrenze
spezifische Streckgrenze
1000
Elastomer Silikonkautschuk
100
spezifische Festigkeit
Werkstoffkunde
spezifische Festigkeit
spezifische Festigkeit
spezifische Festigkeit
spezifische Festigkeit
Polyamid (PA 66)
10
Aramidfasern
Polypropylen
Epoxyd (EP)
1
Abb. 15.35 Streubereiche der Streckgrenzen für einige unverstärkte Thermoplaste (Aramidfaser in Fasserrichtung, Nylon PA 66, Polypropylen PP), der Zugfestigkeit
für Epoxidharz EP als Duromer, sowie der Elastizitätsgrenze eines Elastomers (SIR); daneben sind die spezifischen Festigkeitskennwerte in MPa pro g/cm3 eingetragen
Vertiefung: Vergleich der auf die Dichte der Werkstoffe bezogenen E -Moduln und
Elastizitätsgrenzen: spezifische E -Moduln und spezifische Elastizitätsgrenzen
Statisch belastete Bauteile sollten sich nur elastisch ver- Faserrichtung. Deshalb weisen auch die unidirektio-
formen, daher sind für ihre Auslegung der Elastizitäts- nal verstärkten Verbundwerkstoffe nur in Faserrich-
modul, die Poisson-Zahl und die Streck- bzw. Dehn- tung hohe spezifische Kennwerte auf (Abschn. 15.5).
grenze die wesentlichen Kennwerte. Für den Leichtbau Die niedrigen spezifischen Kennwerte der Polymere,
von statisch durch Zug und Druck belastete Bauteile aber auch die der Leichtmetalle können durch Fa-
sind die auf das spezifische Gewicht der Werkstoffe serverstärkungen wesentlich erhöht werden. Bei den
(Tab. 15.7 und 15.8) bezogenen Kennwerte die tech- metallischen Legierungen unterscheiden sich nur die
nisch ausschlaggebenden Größen: der spezifische E- Gusseisen- und Kupferlegierungen im spezifischen E-
Werkstoffkunde
Modul und die spezifische Streck- oder Dehngrenze. Modul von den gebräuchlichsten Knetlegierungen, de-
ren spezifische Dehngrenzen jedoch mehr als eine De-
Abbildung 15.36 vergleicht diese in doppellogarithmi- kade überspannen. Die Keramiken, speziell Diamant,
scher Skala für Polymere, Metalle, Keramiken, Hölzer, zeichnen sich durch hohe spezifische E-Moduln aus.
Fasern und Verbundwerkstoffe. Kohlenstofffasern bie- Die spezifischen Festigkeitsmodule der technischen
ten die höchsten spezifischen Kennwerte (im Bereich Keramiken sind aber nicht höher als die Festigkeiten
von Diamant) wegen ihrer Anisotropie nur in der hochfester Stähle.
10–2 Elastomere
Diamant
E/ρ
Kohlenstofffasern
10–3
1 10
100 Rm/ρ Keramiken
spezifischer E-Modul in GPa pro g/cm3
CFRP längs Vf = 50 % UD
Aramidfasern
Al-Li-Leg.
Al-Gussleg.
Stähle
Glasfasern
Al-Knetleg.
10
Duromere
amorphe Thermoplaste
teilkristalline Thermoplaste
1
10 100 1000
spezifische Festigkeit in GPa pro g/cm3
Abb. 15.36 Spezifische E -Moduln und spezifische Elastizitätsgrenzen (Streck- bzw. Dehngrenzen für Metalle und Polymere, Bruchfestigkeiten für Hölzer
( zur Maserung), Fasern in longitudinaler Richtung, Verbundwerkstoffe und Keramiken) in doppellogarithmischer Skala; weiterhin mit 50 Vol.-% unidi-
rektional mit kontinuierlichen Kohlenstofffasern (CFRP vf = 50 % UD) und anlog mit Glasfasern (GFRP vf = 50 % UD) verstärkte Polymere; Duromere
mit regellos in der Ebene eingebetteten, geschnittenen Glasfasern unterschiedlicher Volumenanteile (SMC); Elastomere sind in einer Detailgraphik kleinerer
Größenordnung links oben eingefügt
422 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
dynamische Härteprüfung
statische Härteprüfung
(auch mobil einsetzbar)
unter Prüfkraft
nach Entlastung Rücksprunghärte
Kraft-Weg
Leeb HL
Nanohärte
(Geschwindigkeit)
Werkstoffkunde
Abb. 15.37 Übersicht über die für Konstruktionswerkstoffe gebräuchlichsten Härteprüfmethoden, die meist mit den Namen der Erfinder bezeichnet werden
(ausgenommen Martens-Härte, die früher Universalhärte hieß); weiterhin sind die Kurzzeichen angegeben
unter 15 s) zu beachten.
F0 Prüfvorkraft Bei den Härteprüfverfahren nach Brinell (HB, Abb.
elastisc
Δh
15.42b, ähnlich bei der ambulanten Vergleichsmessung
h nach Entlastung hmax mit dem Poldi-Hammer), Vickers (HV, Abb. 15.42a) und
Knoop (HK) wird nicht die Eindringtiefe sondern die
Eindringtiefe maximale Druckspannung gemessen, die sich aus der auf-
gebrachten Kraft und der Fläche des Eindrucks ergibt.
Abb. 15.38 Schematisches Kraft-Weg-Diagramm für eine Härteprüfung nach
Die Messgenauigkeit für einen Vickers-Eindruck ist groß
Martens; zu Beginn der Entlastung dominiert die elastische Rückfederung, aus
der näherungsweise der E -Modul abgelesen werden kann. Die Zusatzkraft F1 = genug, dass auch kleine Lasten aufgebracht werden, die
Fmax − F0 entspricht der Eindringtiefenzunahme Δh (blau ) Eindrücke unter 1 mm Durchmesser erzeugen. Durch die
15.7 Härteprüfung zur Werkstoffidentifizierung 423
Härtemessung über Eindringtiefe eines Eindringkör- Die Martens-Härteprüfung liefert den kontinuierlichen
pers unter vorgegebenen Belastungsstufen: Martens-, Verlauf des Eindringens eines Eindruckkörpers in die
Nano-, Rockwell- und Shore-Härte. Werkstückoberfläche unter zunehmender Belastung.
Der Eindruckkörper kann je nach zu prüfendem Werk-
stoff eine Vickers-Pyramide, ein Rockwell-Kegel oder
eine Brinell-Kugel sein. Das Messergebnis ist ein Kraft-
500 Si3N4 Weg-Diagramm bis zur maximal aufgebrachten Kraft
Fmax und während der darauffolgenden Entlastung.
Die Entlastungskurve wird durch die elastische Rück-
Werkstoffkunde
400
federung dominiert, sodass aus der Kraftänderung pro
Eindruckoberfläche der E-Modul abgeschätzt werden
300 kann (Abb. 15.38 und 15.39), wobei die Messunsicher-
P in mN
100
lichen Geräten (Nano-Indenter) können mit scharfen
drei- oder vierseitigen Diamantpyramiden unter Be-
0 lastungen im Millinewton-Bereich Kraft-Eindringtie-
0 300 600 900 1200 fen Kurven aufgenommen werden (Abb. 15.39). Die-
h in nm se sogenannten Nano-Härtemessungen erzeugen Ein-
drücke mit ca. 1 µm Durchmesser bei Eindringtiefen
Abb. 15.39 Beispiel einer Nanohärteprüfung an einer Keramikprobe aus
Siliziumnitrid, deren Makrohärte 20.000 HV10 beträgt; dynamische Kraft- unter 0,2 µm und können sowohl für Härtegradienten-
Wegdiagramme mit schrittweise erhöhter Maximalkraft und E -Modulbe- messungen als auch für Härtemessungen und E-Mo-
stimmung aus der Tangente im Entlastungspunkt dulabschätzungen dünner Schichten eingesetzt wer-
den (Yang 2008).
F = F0 F = F 0 + F1 F = F0
0,04 80
Eindringtiefe in mm
Härte HRC
0,076 62
Werkstück Eindringiefe = Nullpunkt 0,08
mit fein geschliffener
Oberfläche 0,12 40
0,16 20
maximal elasto-plastischer elastische
0,2 mm Eindruck Rückfederung
Eindringtiefe der Gesamtlast der Zusatzkraft 0,2 0
Abb. 15.40 Schematische Darstellung der Rockwell-Härteprüfung (HRC, -A oder D) mit Diamantkegel als Eindringkörper; Prüfablauf: 1. F = 10 kp Vorkraft,
Nullpunkt einstellen; 2. Zusatzkraft aufbringen (F + F1 = 60, 100 oder 150 kp); 3. Zusatzkraft entfernen, bleibende Eindrucktiefe zwischen 0 und 0,2 mm
unter Vorkraft ablesen und der HR-Skala zuordnen (DIN EN ISO 6508). Das blau markierte Beispiel ergibt für die Gesamtlast von 150 kp über die Eindringtiefe
Δh = 76 µm den Härtewert 62 HRC
424 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Die Eindringtiefe eines Eindruckkörpers unter vor- des Messvorgangs. Als maximal zulässige Eindringtie-
definierter Belastung ergibt eine Härteskala für die fe durch die Zusatzkraft wurde 0,2 mm festgelegt. Der
Rockwell- und Shore-Härte, sowie für IRHD-Werte Eindringtiefenbereich Δh zwischen 0,2 mm und 0 wird
(Abb. 15.41). Die Rockwell-Härte (Abb. 15.40) kann so- mit der linearen Härteskala 0 bis 100 unterlegt (50 ≡
wohl mit Hartmetallkugeln (HRB, E, F, G) als auch mit 0,1 mm, 75 ≡ 0,05 mm). HRC-Messungen sind für ge-
Diamantkegeln (HRA, C, D) gemessen werden, wobei härtete Stähle wie Werkzeug- und Schnellarbeitsstähle
in beiden Fällen eine Vorkraft (10 kp) aufgebracht wird, üblich. Die Shore-Härtemessung (Abb. 15.41) erfolgt
um einen Anfangswert für die weitere Tiefenmessung ähnlich, wobei sich die Härteskala auf 2,5 mm Maxi-
beim Aufbringen einer Zusatzkraft (50, 90 oder 140 kp) maltiefe (0 HS) bezieht. Wegen des viskosen Verhaltens
zu definieren. Abbildung 15.40 beschreibt die Schritte der Polymere ist die Eindringdauer mit 15 s festgelegt.
35° 30°
Eindring-
körper
Eindringtiefe
aus Stahl
Messung der
Werkstück
D = 0,79 mm R = 0,1 mm
Abb. 15.41 Prinzip der Shore-Härtemessung (HS) über die Eindringtiefe von mit Federkraft belasteten Stahlstiften (Geometrie HSA und HSD) in Polymeren
Härtemessung über den Eindruckdurchmesser messers verursachen. Die Durchmesser der Eindrücke
sollen nur einen Bruchteil des Durchmessers des Ein-
Härtemessung aus dem Durchmesser eines Eindruckes druckkörpers erreichen, sollen aber größer als einige
eines Eindringkörpers: Brinell- und Vickers-Härteprü- Korndurchmesser des Werkstückes sein. Die Eindruck-
fung. kräfte werden traditionellerweise in kp angegeben,
Ein Eindringkörper, der höhere Festigkeit aufweist als wobei bestimmte Kraftniveaus laut Norm vorgeschrie-
das Werkstück, wird mit einer bestimmten Kraft in die ben sind. Brinell-Hartmetallkugeln (DIN EN ISO 6506)
Oberfläche der Werkstoffprobe oder des Werkstückes werden für die weniger festen Werkstoffe verwen-
gedrückt. Die Größe des resultierenden Eindruckes ist det, während Vickers-Diamantpyramiden (DIN EN
das Maß für den Verformungswiderstand eines Volu- ISO 6507) besonders für hochfeste Werkstoffe einge-
mens nahe der Werkstückoberfläche. Bei Polymeren setzt werden. Tabelle 15.12 gibt die wichtigsten Infor-
und Metallen mit Schmelzpunkten unter 700 °C ist we- mationen zur Klassifizierung dieser Härteprüfungen
gen möglicher Diffusionsvorgänge (Abschn. 15.12) die und ihre Einsatzbereiche. Die Vickers-Härteprüfung
Einwirkdauer der Kraft zu beachten (im Allgemeinen ist auch mit niedrigen Belastungen gut auswertbar,
kleiner 15 s). um den Verformungswiderstand in gradierten Schich-
ten (z. B. Oberflächenhärtung) oder unterschiedlichen
Zu den gebräuchlichsten Härteprüfmethoden zählen Phasen einer Probe zu bestimmen, wenn die Pro-
Brinell- und Vickers-Härteprüfung, die in Abb. 15.42 benoberfläche poliert ist. Eine kleine Kraftbeaufschla-
dargestellt sind. Da durch den Eindringkörper Mate- gung zwischen 0,03 N und 0,3 N (Kleinkrafthärte) er-
rial plastisch verdrängt wird, entstehen am Rand der gibt Eindrücke in der Größenordnung von 0,1 mm.
Eindrücke kleine Wülste, die einerseits dessen mikro- Abbildung 15.44b zeigt Reihen von HV1-Eindrücken
skopischen Kontrast erhöhen, andererseits eine Mess- am Querschliff einer oberflächengehärteten Stahlpro-
unsicherheit für die Bestimmung des Eindruckdurch- be. Das Aufkohlungsprofil ist in Abb. 15.44a eingetra-
15.7 Härteprüfung zur Werkstoffidentifizierung 425
Vickers Brinell
136°
D
Diamantpyramide Eindruck: Eindruck: Stahlkugel
quadratische Kugel
Pyramide
Probenquerschnitt
d d
Werkstoffkunde
d1 d1
d1 + d2
d2 d= d2
a 2 b
Abb. 15.42 Schematische Darstellung der Härteprüfung mittels Messung der Eindruckdurchmesser; a HV-Vickers (Diamantpyramide) nach DIN EN ISO
6507; b HB-Brinell (Hartmetallkugel) nach DIN EN ISO 6506; darunter jeweils Ergebnisbeispiele für Eindrücke mit gleichen Durchmessern in normgerechter
Beschreibung
1000 1
Härte nach Härtung
Kohlenstoffgehalt in Gew.-%
Härte nach Aufkohlung
α 800 0,8
C-Gehalt
HV1 in MPa
600 0,6
β
α
α 400 0,4
α β
α 200 0,2
a 0 0
0 500 1000 1500
Cu-Zn 20 µm Abstand von Oberfläche in m
β
Brinellhärte HB in kp/mm2
te (ca. 140 HBW ∼
Zugfestigkeit Rm in MPa
= 130 HV) des
verformungsverfestigten Karosse- Rockwell
riestahls DC04 mit seiner Festigkeit 80 400 (Diamantkegel) 1600
(ca. 500 MPa) HRC
~ 3,5 HB
Rm =
60 300 1200
Werkstoffkunde
40 200 800
DC04
kaltgewalzt
20 100 400
0 0 0
0 100 200 300 400 500 600 700 800 900 1000
Vickershärte HV in kp/mm2
kleinen Abstände zwischen den Eindrücken können mit- Für die ambulante (mobile) Messung direkt an massi-
tels Kleinkrafthärte (0,03–0,3 N) Härteverläufe gemessen ven Bauteilen eignen sich nicht nur Schlaghärteverfahren
werden z. B. quer zu einer Schweißnaht oder gehärte- (z. B. Poldihammer, bei denen ein Kugeleindruck vermes-
ten Oberflächen (Abb. 15.44) oder Mikrohärte (10–20 mN, sen wird), sondern insbesondere Rücksprungmessungen
d = 5–20 µm) innerhalb von Körnern unterschiedlicher eines Fallkörpers, der nach elasto-plastischer Verformung
Phasen (Abb. 15.43). Mikrohärtemessungen sind auch des Werkstückes elastisch rückfedert. Es kann die Rück-
zur mechanischen Charakterisierung von Oberflächenbe- sprunghöhe (Abb. 15.46) eines kleinen Hammers oder
schichtungen geeignet. die Geschwindigkeitsdifferenz eines Fallkörpers vor und
nach dem Aufprall (Leeb-Härte – HL) gemessen werden.
Aufgrund der unterschiedlichen Verformungsmechanis-
men und Messgrößen bei den verschiedenen Härteprü- Härtemessungen liefern keine konstruktionsrelevanten
fungen ist eine Korrelation zwischen Härtewerten ver- Kennwerte, sind aber sehr dienlich bei der Identifizierung
schiedener Prüfmethoden nur näherungsweise jeweils von Werkstoffen und ihres Wärmebehandlungszustan-
für ähnliche Werkstoffe möglich. Abbildung 15.45 zeigt des, sowie des Werkstoffzustandes eines Bauteiles im
die Gegenüberstellung der Härtewerte für nicht gehär- Laufe seines Einsatzes, da sie als praktisch zerstörungs-
tete un- bzw. niedrig legierte Stähle, für die sich eine freie Methode durchgeführt werden können. Darüber
Proportionalität zwischen Brinell- und Vickers-Härtewer- hinaus ist es eine wichtige Prüfmethode bei Schadensfall-
ten ablesen lässt: HV ∼
= 1,1 HB. Wegen des Unterschieds untersuchungen, da wegen des kleinen Prüfvolumens lo-
der HB- und HV-Messung zu den auf die Eindringtiefe kale Werkstoffzustände verglichen werden können. Tabel-
skalierten Rockwell-Härtewerten gibt es keine Propor- le 15.12 führt die am häufigsten verwendeten Prüfmetho-
tionalität zwischen diesen. Selbst die HR-Messergebnis- den für die verschiedenen Werkstoffe und Größenskalen
se mit einer Stahlkugel (nicht mehr normgerecht, durch mit einigen Detailangaben an, sodass Härteprüfergebnis-
Hartmetallkugel ersetzt) unterscheiden sich beträchtlich se leichter nachvollziehbar werden.
von denen mit einem Diamantkegel gemessenen, es gibt
jedoch Umwertungstabellen in der Literatur für unter- Härteprüfung an keramischen Materialien ist im Allge-
schiedliche Legierungen. Für das in Abb. 15.45 gezeigte meinen mit lokaler Schädigung verbunden, da Keramik
Beispiel eines Stahls lässt sich sogar eine Proportiona- bei mäßigen Temperaturen nicht plastisch verformbar
lität zwischen den Zahlenwerten der Zugfestigkeit und ist. Mikrohärteprüfung wird trotzdem eingesetzt, um
der HV-, sowie HB-Werte ablesen: Rm (MPa) ∼ = 3,2 HV ∼
= den Materialwiderstand gegen das Eindringen eines Ein-
3,5 HB(kp/mm ). Das eingetragene Wertepaar für den
2 dringkörpers aus Diamant (Vickers oder Knoop) zu mes-
Karosseriestahl DC04 passt trotz der Kaltverformung sen, aber auch um eine damit verbundene Rissbildung zu
gut. bewerten (siehe Beispiel: Härtemessung an Keramik).
Tab. 15.12 Beschreibung der Härteprüfmethoden
Kurzzeichen Bezeichnung, Charakteristika Eindringkörper Messgrößen hauptsächliche Anwendung
MH (DIN EN ISO 14577) Martenshärte je nach Eignung Kraft vs. Eindringtiefe h > 0,2 µm, Metalle, Polymere E-Modulab-
(vormals Universalhärte) Kraft-Weg-Diagramm, schätzung
(Abb. 15.38)
nH (F < 0,5 N) Nanohärte Diamantpyramide, Kraft/Fläche in GPa vs. Ein- Mikroskop. Phasen, Oberflächen-
Berkovich-Indenter dringtiefe h in nm (< 0,2 µm), schichten, Härtegradienten
(Abb. 15.39)
HBW 1, 2, 2,5, 5, oder Brinell-Härte d1 Wolframkarbidkugel Kraft/Eindruckkugelkalotte Leichtmetalle, Blei-, Zinn-, Zink-,
10/100,. . . 1000, oder 1. Ziffer = Kugel-∅ in mm (Stahlkugeln sind nicht aus dem Eindruckdurchmesser Kupferlegierungen, Stähle, Holz,
3000 (DIN EN ISO 6506) 2. Ziffer Prüfkraft in kp mehr normgerecht) (Abb. 15.42b) Duromere
ähnlich HB-Werten Poldihammer Stahlhammer mit kuppel- Vergleich der Härteeindrücke Ambulante Härteprüfung wie
förmiger Bahn mit einer Vergleichsprobe HBW
HV5, HV10, HV30, Vickers-Härte d1 quadratische Diamant- Kraft/Eindringpyramidenfläche Hochfeste Metalle, Keramiken,
HV100 Zahl = Prüfkraft in kp, pyramide aus dem Eindruckdurchmesser, Phasen in Werkstoffen,
Kleinkrafthärte HV0,3-3 HV ∼= 1,1 HB bei gleicher Prüf- (Abb. 15.42a) Härtegradienten
Mikrohärte HV0,01-0,2 kraft
(DIN EN ISO 6507)
HK 0,01–1 Knoop-Mikrohärte rhombische Diamant- Kraft/(Eindrucklänge)2 Gehärtete Stähle, Keramiken
d1
(DIN ISO 4516) (Prüfkraft in N) pyramide
HRB, HRE, HRF, HRG, Rockwell-Härte Hartmetallkugel, skalierte Eindringtiefendifferenz Stähle, hochfeste Legierungen,
HRA, HRC, HRD (DIN (Gesamtlast A ,F= 60; B, D, E Diamantkegel (A, C, D) zwischen Vor- und Zusatzkraft Duromere
EN ISO 6508) =100; C, G = 150 kp) F = F0 (Abb. 15.40)
15.7
HSA, HSD Shore-Härte Stahlstift mit Kegelspitze Eindringtiefe (Abb. 15.41) Elastomere und weiche
(DIN ISO 76199) der Form A oder D Thermoplaste
IRHD (DIN ISO 48) International Rubber Hardness Stahlkugel Eindringtiefendifferenz zwischen Elastomere
Degree m h Vor- und Zusatzkraft
SHC , SHD Skleroskop, Duroskop nach Fall- o. Pendelhammer Rücksprunghöhe im Vergleich zu mobile (ambulante)
Shore (Rückprallhärte) m mit runder Diamantspitze Eichprobe (Abb. 15.46) Härteprüfung an Stählen,
HL (DIN 50156-1,2,39) Leeb-Härte vR Hartmetallspitze hochfesten Legierungen
hR
Härteprüfung zur Werkstoffidentifizierung
427
Werkstoffkunde
428 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Härtemessung mittels der plastischen Energieaufnah- Eine dynamische Messgröße ist die Rücksprunghöhe
me eines Werkstückes aufgrund der Aufprallenergie eines Aufschlagkörpers als Fallkörper oder als Pen-
eines Prüfkörpers: Poldi-Hammer, dynamische Shore- delhammer, der eine kleine plastische Oberflächenver-
Härte und Leeb-Härte. formung und eine elastische Rückfederung bewirkt
(Abb. 15.46). Die Differenz aus der Fallhöhe und der
Die dynamischen Härteprüfmethoden wurden vor al- Rücksprunghöhe entspricht der vom Werkstück durch
lem für die ambulante Härtemessung direkt an Bau- plastische Verformung absorbierten Energie, die als
teiloberflächen entwickelt. Dazu zählen auch Messun- Rückprallhärte gemessen wird (auch als dynamische
gen der Schlaghärte, bei der ein Eindringkörper mit Shore-Härte bezeichnet). Die Fallgeschwindigkeit und
Werkstoffkunde
der Spitzengeometrie wie bei Brinell- oder Vickers- die Rückprallgeschwindigkeit eines Eindringkörpers
Prüfgeräten mit einem Schlagimpuls sowohl in einen können induktiv gemessen werden. Das Verhältnis
Testkörper bekannter Härte als auch in das Werk- der Geschwindigkeiten ist als Leeb-Härte (HL) defi-
stück eindringt. Die Eindruckgrößen werden vergli- niert (Abb. 15.46). Der Vorteil dieser Messmethode ist,
chen und aus dem Unterschied wird die Härte des dass sie von der Schwerkraft unabhängig durch einen
Werkstückes abgeschätzt. Beim Poldi-Hammer wer- Abschlagmechanismus auch an schwer zugänglichen
den die Eindrücke mit der Brinell-Härte verglichen. Stellen durchgeführt werden kann.
Aufprall Rücksprung
HL = 1000 vR /vi
Fallkörper m
vR m
hi m hR
m
vi
Abb. 15.46 Energiebilanz der dynamischen Prüfung der Rückprallhärte (Differenz aus Fallhöhe und Rücksprunghöhe hi − hR z. B. mit Skleroskop gemessen)
und der Leeb-Härte (LH = 1000 vR /vi )
Frage 15.7
Welche Härteprüfmethode empfehlen Sie für folgende Härtemessungen stellen eine einfache, praktisch zer-
Werkstofftypen: störungsfreie Werkstoffprüfmethode dar. Die Ergeb-
nisse dienen vor allem der Identifikation der Werk-
Aluminium-Legierungen, stoffe und ihres Gefügezustandes (verformt, wär-
un- bzw. niedrig legierte Stahlbleche, mebehandelt oder geschädigt). Je nach plastischer
gehärtete Stahlteile, Verformbarkeit der Werkstoffe wurden Messmetho-
Duromere, den entwickelt, die den Widerstand eines kleinen
Thermoplaste, oberflächennahen Volumens gegen das Eindrücken
Keramik? eines Eindringkörpers quantifizieren.
15.7 Härteprüfung zur Werkstoffidentifizierung 429
Härtemessung an Keramiken verursacht die Ausbrei- In der Abb. 15.47 werden die Vickers-Härtewerte mit
tung von Mikrorissen von Vickers- oder Knoop-Ein- relativ großer Kraft (HV10) von verschiedenen High-
drücken. Tech-Keramiken mit denen von Metallen verglichen.
Siliziumnitrid zeichnet sich durch etwa 5-mal so hohe
Eine Härtemessung an keramischen Werkstoffen kann Härtewerte wie für ungehärteten Stahl aus. Die Här-
mit einem Diamanteindringkörper vorgenommen wer- tewerte der Keramiken steigen mit deren E-Moduln,
den. Nur bei hohen Temperaturen (> 0,5Ts ) kann ein somit mit den atomaren Bindungskräften.
Eindruck durch eine langsame plastische Verformung
erzielt werden. Bei mäßigen Temperaturen verursacht
Werkstoffkunde
der harte, kantige Eindringkörper eine lokale Materi-
alschädigung. In der Eindringrichtung entstehen vor Siliziumkarbid
25
dem Eindringkörper Mikrorisse und das Material wird
seitlich verdrängt, sodass im inneren des Materials vor
Si3N4
und seitlich des Eindringkörpers Schubspannungsrisse
entstehen: sogenannte laterale Risse. Seitlich bewir- 20
ken die Kanten des pyramidenförmigen Eindringkör-
HV10 in GPa
pers Zugspannungen, die radiale Risse hervorrufen.
Die Rissbildung kann im Bereich der Mikro-Härte- 15
prüfung HV0,01–0,2 und HK0,01–1 (siehe Tab. 15.12) Aluminiumoxid
auf Probenoberflächen am besten verfolgt werden. Ab-
bildung 15.48a zeigt schematisch die radiale Rissbil-
10
dung von den Kanten eines Vickers-Eindruckes auf Silikat-Keramik
einer Keramikoberfläche. Abbildung 15.48b zeigt eine
lichtmikroskopische Auflichtaufnahme eines Härteein-
druckes in eine hochqualitative Aluminiumoxidprobe 5
Metalle
mit radial verlaufenden Rissen. Abb. 15.48c skizziert
die Rissbildung unterhalb des Härteeindruckes: dichte
radiale und laterale Mikrorisse. Die bleibende Verfor- 0
mung des Härteeindruckes ist auf derartige Rissver- 0 100 200 300 400 500
teilungen zurückzuführen. Radiale Risse können zur Elastizitätsmodul in GPa
Bewertung der Bruchzähigkeit (siehe in Abschn. 15.10) Abb. 15.47 Gegenüberstellung der HV10-Werte von Hi-Tech Keramiken in
von Keramiken herangezogen werden. Abhängigkeit der E -Moduln
cL cR radiale
Risslänge
b 50 µm
cL
durch Mikrorisse
plastisch verformt cR
c
430 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Leitbeispiel Antriebsstrang
Härtewerte der Werkstoffe der ausgewählten Bauteile
Die Härtewerte der folgende Werkstoffe der ausge- Vickershärte (HV) für Turbinen-
wählten Bauteile des Leitbeispiels werden in die- schaufeln aus Superlegierung IN718
ser Abbildung dargestellt, wobei die für die jeweili-
Werkstoffkunde
300
HRC
C22 aufgehärtet
200 GJV450
Rockwellhärte für das aufgekohlte,
DC04 kaltgewalzt
100 PA66 gehärtete Stahlzahnrad
AlSi12(Mg)
0
0 250 500 750 1000 1250
Festigkeit in MPa
σ
Stauch- Zugkurve
σwlokal
1000
Spannung in MPa
Verfestigung AN
800 σ wConsidère = dσ w /dεw
σw ≈ εwn σwlokal
σw
600 σwmittlere
Rm
σn
Hooke‘sche Gerade
400 dσn /dεn|Rm = 0
200
εw = n
Stauchung in %
0
Werkstoffkunde
Ag A
–20 –15 –10 –5 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45
Reibungsbehinderung –200 Dehnung in %
durch Stempel
–400 techn. Zugverformung mittlere, 'wahre' Zugspannung
Scherung
σw gleichmäßige, wahre Dehnung lokale, wahre
–600 Spannung und Dehnung
Aus-
bauchung σn techn. Stauchkurve extrapol., wahre Stauchung
Verfestigung gleichm., wahre Stauchung Hooke'sche Geraden
–800
Abb. 15.49 Vergleich der technischen Spannungs-Dehnungskurven (schwarz für Zug, rot für Druck) mit den zugehörigen wahren Zug- und Stauchkurven (blau
bzw. braun ) eines hochfesten Stahls (X70); im Zugversuch verfestigt sich der Stahl gemäß Potenzgesetz der wahren Variablen nach Ludwik (durchgezogen blau ); ab
dem Considère-Kriterium, bzw. Ag schnürt die Probe ein: wahrer Spannungs-Dehnungsverlauf im lokalen Einschnürbereich (blau gestrichelt, AN gemäß Skizze rechts
oben) und die „mittlere, wahre“ (violett gestrichelt ) Spannungs-Dehnungskurve bezüglich dem über die Messlänge gemittelten Querschnitt; Hooke’sche Geraden
(grün ) für Entlastungen bei bestimmten Spannungen
Bei Zugverformung ist die wahre Spannung größer als schen Spannungs-Dehnungsdiagramm dem Spannungs-
die entsprechende technische Spannung. Die zugehörige maximum entspricht, sodass die Ableitung der Spannung
wahre Dehnung ε w bezeichnet die Gesamtheit der in- nach der Dehnung null ist, gilt im wahren Spannungs-
krementellen Längenänderungen, die die Probe erfährt. Dehnungsdiagramm das sogenannte Considère-Kriteri-
Die wahre Dehnung wird auch als logarithmische Deh- um als Schädigungs- bzw. Einschnürungsbeginn. Es ist
nung bezeichnet und ist für Zugverformung kleiner als dadurch definiert, dass die Ableitung der wahren Span-
die technische Dehnung: nung nach der wahren Dehnung gleich dem wahren
Spannungswert an dieser Stelle ist:
l l
dl Considère
dσw
εw = dε = Considère
σw = . (15.18)
l dε w
l0 l0 (15.17)
l Bei einer Einschnürung treten Scherverformungen auf,
= ln l − ln l0 = ln = ln(1 + ε n )
l0 die den Querschnitt bei Zugverformung lokal vermin-
dern. Die lokale wahre Spannung ist auf den lokalen
Die obigen Beziehungen sind nur solange gültig als keine Querschnitt zu beziehen, sodass sich eine ständig stei-
Rissbildung oder Volumenänderung durch Schädigung gende Kurve der lokalen, wahren Spannung ergibt (in
eintritt, bei Zugversuchen im Allgemeinen bis zur Zug- Abb. 15.49 hellblau gestrichelt). Die Spannung im Ein-
festigkeit. Beim Stauchversuch ist die wahre Stauchung in schnürbereich ist höher als eine mittlere Spannung, die
ihrem Betrag größer als die technische Stauchung (negati- sich auf einen fiktiven mittleren Probenquerschnitt in der
ve Vorzeichen für Stauchung). Abbildung 15.49 vergleicht Messlänge bezieht. Das Gleiche gilt für die lokale Deh-
die technischen mit den wahren Spannungs-Dehnungs- nungsüberhöhung im Einschnürbereich gegenüber der
kurven im Zug- und Stauchversuch. Beim Stauchver- Gesamtdehnung der Probe. Bezogen auf die Messlänge
such behindert die Reibung an den Auflageflächen de- einer Zugprobe ergibt sich eine „mittlere, wahre“ Span-
ren Querschnittsvergrößerung, sodass ein mehrachsiger nungs-Dehnungskurve, die bei größeren Dehnungen als
Spannungszustand entsteht, der eine tonnenförmige Aus- die technische Spannungs-Dehnungskurve eine Entfesti-
bauchung in der Probenmitte verursacht (diagonale Sche- gung zeigt (in Abb. 15.49 violett strichliert). Der Bereich
rungen erzeugen ein zylindersymmetrisches „Schmiede- über das Considère-Kriterium hinaus, ist für Berechnun-
kreuz“ Abb. 30.87). Während die Zugfestigkeit im techni- gen des Energieaufnahmevermögens im Versagensfall
432 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Rm
1000 gehärtet
wahres Diagramm σw(z): z (Rp0,2 + Rm)/2
lokale Spannung σw
Spannung σ in MPa
Spannung σ in MPa
900 näherungsweise
in der Einschnürung z
spezifische
800 Rp0,2 Formänderungsarbeit
σwahr = σn (1+εn )
σw = dσw /dz Rm
normalgeglüht
700
1+2z (ReL + Rm)/2
σwahr = σn
1+ z
600 ReL näherungsweise
totale, spezifische
techn. Spannung σn = F(z)/A0
Verformungsarbeit
Werkstoffkunde
Rm wF wS
wF + wS (Zähigkeit)
Re
400
0,2% A Ag A
Dehnung ε
300
gleichmäßige örtliche Abb. 15.51 Schematische, technische Zugversuchsdiagramme zum nähe-
200 Querschnitts- Querschnittsabnahme rungsweisen Vergleich der spezifischen Verformungsarbeit eines Stahls im
abnahme (Einschnürung) gehärteten Zustand mit der im normalisierten Zustand. Die spezifische Formän-
derungsarbeit bis Rm entspricht der Fläche wF = Ag [(ReL oder Rp0,2 ) + Rm ]/2
100 Rückfederung (grün gestrichelte Rechtecke ); die spezifische Schädigungsarbeit im normal ge-
Brucheinschnürung Z bei Bruch glühten Zustand (von Ag bis Bruchdehnung A ) entspricht der Fläche wS (rot );
die Zähigkeit des Werkstoffes ist die gesamte, spezifische Verformungsarbeit
w∼
0
= A (ReL + Rm )/2 (gestrichelte Rechtecke, grün für den gehärteten, wo
0 10 20 30 40 50 60 70 ws = 0, blau für den normal geglühten Zustand für wF + wS )
Querschnittsabnahme z in %
wahre Spannung
Duktilität σw
σw = (1+ εn)σn
wahre Spannungs-Dehnungs- gleichmäßige,
diagramme im gleichmäßig plastische Dehnung σ wConsidère = Rm (1+ Agt) = dσw /dεw
plastischen Verformungsbe- bei gleichmäßiger Verjüngung
reich bis zum Considère-Kriterium
(Duktilitätsbereich); die elastische
Energiedichte bei Rückfederung
(grün markierte Dreiecke) für
ng
Dehngrenze und technische
astu
Zugfestigkeit; a spezifische σwp
erade
Entl
Verformungsarbeit inklusive = (1+x+Rpx /E)Rpx
elastischer Verformung (grün );
eG
b Vergleich mit der spezifischen,
e’sch
rein plastischen Formände-
Werkstoffkunde
Ho o k
rungsarbeit mit den Variablen
Fließspannung kf und logarithmi- spezifische Verformungsarbeit (J/m³)
sche Dehnung ϕ (rot ) elastische Rückfederung
bei Entlastung εw = ln(1+ εn)
εn = x =~ ln(1+x) εwp = ln(1+x+Rpx /E) ln(1+Agt) = εwm wahre Dehnung
für kleine plastische bei Dehngrenze bei Zugfestigkeit
a Dehnung durch Rpx
σw wahre
Spannung
kf Fließ-
σw
spannung
σ wConsidère = Rm (1+ Agt) = dσw /dεw
kf0 = (1+x)Rpx
Beginn der
Plastifizierung
spezifische
Formänderungsarbeit
(J/m³)
εw = ln(1+ εn)
εn = x logarithmische Dehnung ln(1+εplast.) = φ εwm wahre Dehnung
=~ ln(1+x) = φx ln(1+A ) = φ
= ln(1+Agt)
g m
b bei Zugfestigkeit
Die sicherheitstechnisch relevante, spezifische Schädi- Spannungen, die der Dehngrenze und der Zugfestigkeit
gungsarbeit (Fläche wS ) wird nach Überschreiten des entsprechen (dunkelgrüne Dreiecke). Die unterschiedli-
Considère-Kriteriums erbracht. Die gesamte spezifische che Größe dieser Dreiecke spiegelt die unterschiedliche,
Verformungsarbeit bis zur Bruchdehnung A errechnet elastische Energiedichte wider, die bei Entlastung frei-
sich näherungsweise aus der technischen Spannungs- gesetzt wird. Bei unterschiedlichen Werkstoffen, die mit
Dehnungskurve mit: gleicher Verformungsspannung belastet werden, ist e um-
1 so größer, je kleiner der E-Modul ist (entsprechend der
wF + wS = (Rp + Rm )A. (15.20) Neigung der Hypotenuse des Dreiecks der elastischen
2
Energiedichte). Bei mehrachsiger plastischer Verformung
Der bei der plastischen Verformung eingebrachte, elasti- (z. B. Biegen) bleiben im Allgemeinen nach der Entlastung
sche Anteil wird bei Entlastung als Rückfederung wieder elastische Verformungen im Inneren des Bauteils zurück,
freigesetzt. Die gespeicherte, elastische Energie pro Mate- wenn die plastische Verformung des Bauteils über den
rialvolumen (elastische Energiedichte, siehe Abschn. 15.5) Querschnitt nicht gleichmäßig erfolgt. Die verbleibenden
bei axial wirkender Spannung errechnet sich aus e(σ ) = inneren Spannungen sind sowohl für die nutzbare Bau-
σ2 /2E. Diese ist für einen Werkstoff umso größer je teilfestigkeit als auch für die weitere Verformung und die
höher die aufgebrachte Verformungsspannung ist. Ab- Maßhaltigkeit (Verzug) bei der spanabhebenden Bearbei-
bildung 15.52a zeigt die Rückfederung bei den wahren tung von Bedeutung.
434 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
C45 vergütet
500 C45 normal-
GJS 400 X5CrNi18-10
geglüht
AC230
AW6082T4 PA66 Thermoplast
EP Duromer
Werkstoffkunde
s-
siehe Abschn. 30.3) im Vergleich zum wahren Spannungs-
g
reines Messing-
gt un
sti m
Dehnungsdiagramm: weichgeglühtes Knet-
rfe for
Bruchdehnung A in %
kf = 1 + ε n − σn < σw ; Messing-
p
Ku
E Knetlegierung
lplast σw
(15.21) verformungs-
ϕ = ln = ln 1 + ε n − < εw Mischkristall- verfestigt
l0 E verfestigung
10
Verformungs-
Die Fließspannung ist jener wahre Spannungsanteil, verfestigung
der eine plastische Verformung erzeugt, exklusi-
Ausscheidungs-
ve elastischer Rückfederung. Die Fließkurve stellt härtung
die Fließspannung in Funktion der logarithmischen
Dehnung nach der Rückfederung dar. 1
Kupfer-Beryllium-Legierung
Frage 15.8
20 50 100 200 500 1000 2000
Schreiben Sie die Definitionen für folgende Spannungs-
Rp0,2 in MPa
und Dehnungswerte an:
σn , σw , kf , ε n , ε w , ϕ. Abb. 15.54 Mit steigender Verfestigung von Kupfer-Legierungen (siehe Ab-
schn. 15.6) nimmt die Duktilität (Maßzahl Bruchdehnung) ab
15.8 Plastische Verformbarkeit 435
Bei genormten Proportionalprüfstäben (DIN 50125 und zeichnet: A5 , A10 , A50 , A80 . Sie werden an den ausge-
DIN EN 10002-1) wird die Dehnungsmessung an einer bauten, gebrochenen Proben, deren Bruchstücke zu-
Messlänge l0 vorgenommen, die proportional zum Pro- sammengelegt werden, zwischen den ursprünglichen
benquerschnitt ist (Abb.
√ 15.55). Beim kurzen Proportio- Messlängenmarkierungen gemessen. Eine Drahtprobe
nalstab l0 = 5d0 = 5,65 A0 , dabei sind d0 der Durchmes- aus höchstfestem Stahl (z. B. Reifendraht) wird übli-
ser einer Rundprobe und A0 die Querschnittsfläche der cherweise mit 150 mm Messlänge geprüft. Die dukti-
Messlänge; fürProbenmit rechteckigem Querschnitt gilt le Einschnürung ist aber sehr lokal, sodass die auf die
A0 = a · b. Beim langen Proportionalstab für äquivalente
√ Messlänge bezogene Bruchdehnung etwa 1 % beträgt,
Probendurchmesser über 4 mm ist l0 = 10d0 = 11,3 A0 . was den Eindruck eines spröden Materials vermittelt.
Werkstoffkunde
Streifenproben aus dünnen Blechen werden mit Mess- Stark verformungsverfestigte Stähle können nicht mehr
längen von 50 mm oder 80 mm geprüft. Die Längen- weiter verfestigen, sondern verhalten sich nahezu ide-
änderung gegenüber der Anfangsmesslänge Δl = l − l0 al plastisch, deshalb wird der Bruch durch eine loka-
wird mit Dehnungsmessern bestimmt. Die technische le Spannungskonzentration eingeleitet, was dort zu ei-
Dehnung ergibt sich aus ε n = Δl/l0 . nem duktilen Scherbruch führt, der bei einer Messlänge
von 5 mm eine Bruchdehnung von etwa 30 % ergäbe.
Bei Einschnürung einer Zugprobe hängt ihr Bruch-
dehnungswert A von der Relation der Länge ihres Bei Kunststoffen und Fasern wird die Dehnung der
Einschnürbereiches zur Messlänge ab. Die bleibenden Ausgangslänge bei Bruch Reißdehnung ε R (bzw. nach
Bruchdehnungen werden entsprechend der Messlän- Rückfederung AR ) genannt, bei der die Reißfestigkeit
ge l0 = 5d0 oder 10d0 , bzw. l0 = 50 oder 80 mm be- σR überschritten wird.
d0 d1 b bK
R4 min Rz 6.3
R35 min
l0 h h
l0
h h
lc lc
a lt b lt
Abb. 15.55 Beispiele für Proportionalprüfstäbe nach DIN 50125; a Rundprobe mit Gewindekopf
√ und Messlängendurchmesser d0 , l0 = 5d0 ; b Flachprobe
mit Schulterkopf und Messlängenquerschnitt a · b , kurzer Proportionalitätsstab l0 = 5,65 a · b für a < 4 mm
Keramiken und gehärtete Stähle sind weder duktil noch a linear elastisch bis zur Dehn- bzw. Streckgrenze und
zäh, Gusslegierungen und Duromere zeichnen sich durch dann ideal plastisch ohne Verfestigung (Verfestigungs-
geringe Duktilität und Zähigkeit aus, dafür sind Thermo- exponent n = 0, am ehesten für reine Edelmetalle und
plaste leicht verformbar bei geringer Zähigkeit. Knetle- Stähle mit sehr niedrigem Kohlenstoffgehalt (< 0,02 %)
gierungen (Stähle, Aluminium-, Kupfer-Legierungen, . . . ) geeignet);
weisen je nach Wärmebehandlungszustand sehr unter- b linear elastisch bis zur Dehn- bzw. Streckgrenze und
schiedliche Duktilität und Zähigkeit auf. Werkstoffe mit dann linear plastisch mit konstantem Verfestigungs-
hoher Festigkeit und hoher Duktilität liefern das höchs- modul H (n = 1, am ehesten für Gusslegierungen, be-
te Zähigkeitsverhalten. Abbildung 15.54 gibt Beispiele für sonders Magnesium-Legierungen, aber nur für relativ
unterschiedlich verfestigte Kupfer-Legierungen. Dieses kleine, plastische Dehnungen geeignet);
Diagramm der 0,2-%-Dehngrenzen vs. Bruchdehnungen c Die Ramberg-Osgood-Näherung (RO) ermöglicht die
zeigt, dass höhere Festigkeit im Allgemeinen mit geringe- Berücksichtigung eines elastischen Bereiches mit nach-
rer Verformbarkeit (Duktilität) und Zähigkeit verbunden folgender Verfestigung nach einer Potenzfunktion der
ist. auf den E-Modul normierten Spannung mit einem Ver-
stärkungsfaktor CRO :
Die Verformungsbereiche der Metalle sind in Tab. 15.13
zusammengefasst. Die Duktilitätsbereiche können durch
σw σ mRO
unterschiedliche Modelle simuliert werden, wie es εw = + CRO w .
Abb. 15.57 zeigt: E E
Werkstoffkunde
436
Tab. 15.13 Verformungsstadien und zugehörige Kenngrößen der Metalle [EN 10 002-1]
Verformungs- Mechanismen, Technische Technische Querdehnung Wahre Spannungs- Wahre Dehnung
bereich Energiedichte Spannungsbereiche Längsdehnung (Kontraktion) bereiche
Elastischer Bereich, Energie-Elastizität; Erstbelastung: Elastische Verformung Elastische Querkon- σw = AF ε w = ln(1 + ε n ) ∼
= εn
Hooke’sches Gesetz Verzerrung der σ = 0 bis Re oder Rpx ≡ innere Spannungen; traktion N Unterschied im
ΔA = σn 1 + σEn ∼ = σn
σ = Eε Atomabstände; (Ersatzstreckgrenze bei Δσn elastischen Bereich
Δεelast
n = Δl
l = E
ζ = 2AN < 0
0 Vernachlässigbare Dif-
0
σn Rpx σn ReH E-, G-, K-Modul; x = 0,2 % plastischer Ver- Poisson-Zahl ferenz zur technischen vernachlässigbar
elast
elast. Energiedichte formung); ν = −εζelast Spannung
σel ReL ep = R2p /2E; Rückfederung bei Entlas- im Allgemeinen
E E Spaltbruch, wenn
√
tung (bis zur verbleibenden ν < 0,5 ∼ =
K Kc = σ πakrit. Dehnung); Volumenzunahme bei
x εn εn Bruchzähigkeit bei ungleichmäßigen plast. elast. Dehnung
(Abschn. 15.10) Verformungen bleiben Ei-
genspannungen
Plastische Verfor- Versetzungsbewegung σn = AF = f ( ε n ) plast. Dehnung bei Gleichmäßige Quer- σw = σn (1 + ε n ) < σn ε w = ln(1 + ε n ) →
0
mung (Duktilität) & -multiplikation: von ReH bzw. Rp0,x bis Rm ; maximaler Spannung schnittsverringerung, bei Zugverformung; ε w < ε n bei Zugverfor-
Verformungs- Verformungspotenzial aus Rm = Ag konst. Volumen durch σw ∝ εnw Verfesti- mung;
15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Plastische Verfor- instabile Verformung: Schädigungsbeginn bei verbleibende Bruch- Bei duktilen Werk- Schädigungsbeginn ab Bei Volumenkonstanz
mung + Schädigung Einschnürung, Po- σn = Rm , anschließend dehnung A(> Ag ) ist stoffen lokale Considère Kriterium: (Scherverformung,
bis Bruch renbildung, innere & plastische Verformung mit von l0 abhängig; Querschnitts- Spannungsloka- Verformungs-
äußere Risseinleitung; Schädigung bis Bruchspan- übliche Angabe
√ verminderung lisierung durch porenvolumen
Rm „Zähigkeit“ ist nung (< Rm ) = duktiler A5 (l0 = 5,65 √A0 ) (Einschnürung) bis Einschnürung (σlokal vernachlässigbar)
z
gesamte Verformungs- Bruch; A10 (l0 = 11,3 A0 ) Brucheinschnürung steigt), mittlere εmax
w = (1 −z )
energiedichte bis Rückfederung von oder bei Blechen (A −A ) Spannung aus ε n bere-
z = 0A
0
Bruch: Bruchspannung bis Bruch- A50(mm) , A80(mm) (Sprödbruch z ∼ chenbar (sinkt):
= 0)
w∼= 12 A(Rp + Rm ) dehnung A (Freisetzung σ̄w = σn (1 + ε n );
Ag A elastischer Energie) σwmax = F = σn
A 1 −z
15.8 Plastische Verformbarkeit 437
Beispiel: Duktilitäts-Festigkeits-Zähigkeits-Banane
Je höher die Festigkeit von Metallen desto geringer um-Legierungen aufweisen (siehe Legierungstechno-
sind ihre Duktilität und Zähigkeit. Das ergibt die so- logie in Kap. 16). Die Duktilitäts- und Festigkeitswerte
genannte Duktilitäts-Festigkeits-Zähigkeits-Banane. der Stähle liegen innerhalb des gelb markierten Be-
reichs, der als „Duktilitäts-Banane“ bezeichnet wird.
Metalle können durch die Verfestigungsmechanismen
(siehe Abschn. 15.6) auf verschiedene Festigkeitsni- Die Bruchdehnung multipliziert mit einer mittleren,
veaus gebracht werden. Je höher die Festigkeit eines technischen Festigkeit ergibt für Metalle ein Maß
Metalls ist, umso geringer ist sein Verformungsvermö- für die gesamte, spezifische Verformungsarbeit w =
gen. Dieser Trend ist in Abb. 15.56 für gebräuchliche A[(ReL oder Rp0,2 ) + Rm ]/2 ((15.20), Abb. 15.51), die
Werkstoffkunde
Legierungen dargestellt. Die Bruchdehnung wird an- eigentlich aus dem Integral der wahren Spannungs-
stelle der Gleichmaßdehnung als Maß für das Verfor- Dehnungskurve vom Anfang der Verformung bis
mungsvermögen, die Duktilität, dargestellt. Die Zug- zum Bruch zu berechnen wäre. Die aus dem tech-
festigkeit repräsentiert den Verformungswiderstand. nischen Zugversuchskennwerten errechneten Energie-
Abbildung 15.56 zeigt den großen Wertebereich der werte stellen ein vergleichendes Zähigkeitsmaß dar,
Kohlenstoffstähle im Vergleich zu den relativ gerin- dessen Obergrenze vereinfacht mittels ARm errechen-
gen Duktilitäts- und Festigkeitswerten der Alumini- bar ist, wie es durch die rosa unterlegten Rechtecke
um-Knetlegierungen. Die austenitischen Stähle liegen in Abb. 15.56 dargestellt ist. Die höchstfesten Stähle
in der Duktilität signifikant über den anderen Stäh- weisen ein hohes Energieaufnahmevermögen bei plas-
len. Zwischen den Aluminium-Legierungen und den tischer Verformung auf und werden daher für crash-
austenitischen Stählen liegen die Aluminium-legier- taugliche Fahrzeugteile eingesetzt. Die gesamte Verfor-
ten Stähle. Die neuen, mehrphasigen Stähle zeichnen mungsenergie für die Karosseriebleche mit sehr nied-
sich durch höchste Festigkeit aus, wobei die Stähle mit rigem Kohlenstoffgehalt ist im unverformten Zustand
„transformation induced plasticity“ (TRIP) eine höhere fast ebenso hoch, wie das der thermomechanisch ge-
Duktilität und die vierfache Festigkeit von Alumini- walzten Bleche mit hoher Festigkeit.
100
90 Fe-Al-Stähle
IF
80
Bruchdehnung A80 in %
BH
70 LC
ULC austenitische Stähle
60
50
40
30 TRIP Stähle
Al-Blec
h
20 AW5xx e
x, 6xxx Dualphasenstähle
ZStE 260
10 mikroleg. Stähle ZStE 340 Komplexphasenstähle
thermomech. gewalzte Stähle
0
0 200 400 600 800 1000 1200
Zugfestigkeit Rm in MPa
Abb. 15.56 Die Abhängigkeit der Bruchdehnung A80 von der Zugfestigkeit zeigt für verschiedene Konstruktionslegierungen einen reziproken Verlauf. Die
rötlich unterlegten Rechtecke ARm dienen zum Vergleich der Zähigkeit der Stahlbeispiele mit niedrigster (ULC) und höchster Festigkeit (thermomechanisch ge-
walzte Stähle). Die Bruchdehnungs- und Zugfestigkeitswerte der Stähle (ausgenommen der austenitischen) liegen in dem gelb markierten Feld („Duktilitäts-
Festigkeits-Banane“). Stahlkurzzeichen: IF = interstitial free (ohne gelösten Kohlenstoff), BH = bake hardening (verfestigt beim Einbrennlackieren), LC = low
carbon (C < 0,02 %), ULC = ultra low carbon (C < 0,01 %), TRIP = transformation induced plasticity (Restaustenit klappt bei Verformung in Martensit um)
d Das Potenzgesetz nach Ludwik σw = CL εnw kann über bzw. Streckgrenze ergänzt werden. Die Verfestigung
den Verformungsbereich bis zum Schädigungsbeginn wird in einem bestimmten Dehnungsbereich durch den
beim Considère-Kriterium angewandt werden. Es kann Verfestigungsexponenten n (∼
= 1/mRO ) charakterisiert,
mit einem linear elastischem Beginn ε · E bis zur Dehn- der aus einer doppellogarithmischen Darstellung der
438 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
ε
(mit Spannungsexponent m für linear elastisch + linear elastisch +
ε
E·
E·
die Verfestigung); d Potenzgesetz ideal plastisch linear plastisch
σ=
σ=
nach Ludwik (Verfestigungsexpo- (keine Verfestigung) (lineare Verfestigung)
nent n für die wahre Dehnung) a ε b ε
c εw d εw
wahren Spannungs-Dehnungskurve abgelesen werden beispielsweise durch Tiefziehen (siehe Abschn. 30.3) ist
kann: ln σw = n ln ε w + ln CL . Wird nur die plastische nicht nur ein hoher n-Wert von Vorteil, sondern auch ei-
Verformung betrachtet, stellt das Potenzgesetz eine Be- ne geringe Anisotropie bei der plastischen Verformung
ziehung zwischen Fließspannung und logarithmischer (Anisotropiefaktor r im Bonusmaterial: Verformungsani-
Dehnung dar: ln kf = n ln ϕ + ln C , wobei C ∼ = Rp sotropie und Gl. (30.85)).
gilt. Für Stauchverformungen (Ziehen, Walzen) kann
die logarithmische Verformung aus der Querschnitts-
verminderung ermittelt werden (ϕ = ln AN /A0 ). Der Verfestigungsexponent n (nach Ludwik) und
der r-Wert (Lankford-Koeffizient) sind zusammen
mit Ag (bzw. A) wichtige Kenngrößen für die Kalt-
verformbarkeit von Blechen.
Kennwerte für die Umformbarkeit von Metallen
In Tab. 15.14 sind Umformbarkeitskennwerte ausgewähl-
Die Verfestigung während der Verformung verteilt die ter Knetlegierungsbeispiele angeführt: Rp0,2 ist vernach-
plastischen Dehnungen in einem Blech gleichmäßiger, lässigbar größer als der minimale Wert der Fließspannung
wenn der n-Wert (Verfestigungsexponent aus dem Po- kf für plastische Verformung; die Gleichmaßdehnung Ag
tenzgesetz nach Ludwik, Abb. 15.57d) relativ hoch ist gibt die maximale Dehnbarkeit bei einachsiger Verfor-
(n > 0,2), da in den höher verformten Bereichen auch der mung an, wobei keine Werkstoffschädigung eintreten soll;
Verformungswiderstand wächst, sodass sich die Verfor- die bei der Verformung maximal erforderliche, spezi-
mung in die weniger festen Bereiche verlagert. Maße für fische Formänderungsarbeit wF wurde näherungsweise
das Verfestigungsvermögen durch Verformung sind auch aus dem technischen Spannungs-Dehnungsdiagramm er-
das Streckgrenzenverhältnis Re /Rm und das Dehngren- mittelt; aufgeführt ist auch der Verfestigungsexponent
zenverhältnis Rp0,2 /Rm . Je kleiner es ist, umso größer ist n nach Ludwik. Aus dem Dehngrenzenverhältnis ergibt
das Potenzial der Verformungsverfestigung. Werte nahe sich die maximale Verfestigung der technischen Span-
1 ergeben sich sowohl für nahezu ideal plastische Werk- nung (Rm ). Aus dem Vergleich zwischen dem AW6082-
stoffe, die sich kaum verfestigen, als auch für spröde Blech und dem Feinblech aus Stahl ist zu erkennen, dass
Materialien, die keine oder nur eine geringe Plastifizie- sich das Stahlblech bei geringer Kraft 2,5-fach mehr ver-
rung zulassen. Bei Blechen, die verformt werden sollen, formen lässt als das Aluminium-Blech, das aber einen
Tab. 15.14 Umformbarkeitskennwerte typischer Knetlegierungen und für den Turbolader-Turbinenwerkstoff IN718
Knetlegierungen 0,2 % Dehngrenze Gleichmaßdehnung Formänderungsarbeit Verfestigungs- Dehngrenzen-
Rp0,2 in MPa Ag in % näherungsweise wF exponent n verhältnis
in MJ/m3 Rp0,2 /Rm
AW6082 (AlMgSi1) 280 12 38 0,2 0,8
DC04 Feinblech (S185) 185 30 80 0,15 0,5
IN 718 Superlegierg. (LB a) 1000 15 110 0,1 0,8
15.9 Bruchvorgänge in Werkstoffen 439
Werkstoffkunde
rend es ordnungsgemäß eingesetzt wird. Oft wird die
Versagensursache in Materialfehlern vermutet, aber die
Schadensstatistik zeigt, dass abgesehen von nicht geplan-
ten Überlastungen durch den Maschinenbetreiber, etwa b c
90 % der Schadensfälle auf ungenügende Berücksichti-
gung der normalen Beanspruchung und somit auf Fehler Abb. 15.58 Beispiele für Maschinenbruch; a Aufpralltest eines Pkw mit
in der Bauteilauslegung bzw. in der Werkstoffauswahl zu- Knautschzone zum Schutz der Passagiere ; b Bruchstück eines Zahnrades (Insert )
aus gehärtetem Stahl in einem Getriebe; c Windkraftanlage mit gebrochenem
rückzuführen sind. Für sicherheitsrelevante Bauteile ist Rotorblatt aus Kunststoffmatrix-Faserverbundwerkstoff mit vielen, zerklüfteten
sogar der Versagensfall so zu berücksichtigen, dass mög- Rissen
lichst wenig Schaden angerichtet wird, besonders dass
das Leben und die Gesundheit der involvierten Personen
geschützt wird. lastung höchstfester Werkstoffe auf, die nur eine gerin-
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Versagens- ge Zähigkeit besitzen (z. B. gehärtete Stähle, Abb. 15.51).
mechanismen der Werkstoffe haben in der zweiten Hälf- Zur Veranschaulichung einer sicherheitsbewussten Kon-
te des vorigen Jahrhunderts wesentlich dazu beigetragen, struktion betrachten Sie eine Vorderradgabel eines Fahrra-
dass Maschinen trotz der gestiegenen Leistungsanforde- des: Wenn sie durch zu rasches Fahren über ein größeres
rungen sicherer wurden. Abbildung 15.58a veranschau- Schlagloch oder über den Randstein überlastet wird, dann
licht ein allgemein bekanntes Beispiel dafür: die sogenann- soll sie nicht gleich nach Überschreiten der Dehngrenze
te Crash-Sicherheit eines Pkws. Ein Kleinwagen aus den des Werkstoffes brechen. Sie soll sich verformen und kann
Jahren vor 1980 wurde im Allgemeinen nur darauf aus- Risse bekommen, aber nicht komplett brechen. Aufgrund
gelegt, ausreichend schnell zu fahren und die Passagie- der Zähigkeit des Werkstoffes soll die Verformungsenergie
re vor Unwettern zu schützen, aber weniger gegen Ver- verhindern, dass der Radfahrer abrupt vornüber herunter-
letzungen bei Zusammenstößen (denken Sie an den 2CV fällt und schwere Verletzungen erleidet.
von Citroen, den Mini von Cooper oder das Goggomobil
vom Hersteller Glas). Heute ist das Bestehen von Aufprall-
tests vorgeschrieben und die Konstrukteure sehen stabi-
le Kabinenrahmen vor, aber auch Knautschzonen, durch Duktiler Bruch nach Überschreiten
deren Verformung soviel Aufprallenergie absorbiert wer- der maximalen Werkstofffestigkeit
den kann, dass die Passagiere durch den Aufprallimpuls
keinen zu großen Schaden erleiden. Die Karosserie um
die Passagierkabine muss Verformungsenergie aufneh- Abbildung 15.59a skizziert einen Werkstoffquerschnitt mit
men können, was mit festen und zähen Werkstoffen er- Einschlüssen, deren E-Modul und Elastizitätsgrenze hö-
zielt wird, die während der Verformung viel Stoßenergie her sind als die der umgebenden Matrix. Unter einer äu-
(Impuls) absorbieren können. Die quantifizierbare Werk- ßeren Zugspannung verformt sich das Metall mehr als
stoffkenngröße hierfür ist die gesamte Verformungsener- die Einschlüsse. Die Versetzungsstaus an den Grenzflä-
gie bis Bruch, die Zähigkeit (Abschn. 15.8, (15.20)). Selbst chen erzeugen Poren (Abb. 15.59b), was auch an Korngren-
ein allfälliger Bruch eines Rotorblattes einer Windturbine zen zwischen unterschiedlichen Gleitsystemen geschehen
(Abb. 15.58c) soll nicht zulassen, dass große Bruchstücke kann (Abb. 15.59c). Mit zunehmender Verformung wach-
durch die Zentrifugalkraft in die Umgebung geschossen sen die Poren und die Scherverformung nimmt mit der
werden. Der Bruchvorgang soll soviel Zeit beanspruchen, lokalen Querschnittsschwächung zu. Es kommt zur Ein-
dass die Turbine rechtzeitig automatisch gestoppt wird. schnürung und schließlich zum Bruch des Restquerschnit-
Abbildung 15.58b zeigt ein Getriebe, das durch den sprö- tes zwischen den Poren (Abb. 15.59d–g). Dieses Versagens-
den Bruch eines Zahnrades versagte. Brüche ohne vor- modell nach A. L. Gurson (Gurson-Modell) kann mittels
hergehende, plastische Verformung treten meist bei Über- Röntgen-Computertomografie (Abb. 15.59f, g) abgebildet
440 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
e 10 m
Einschnürung Bruchfläche
im durch duktiler Bruch:
Poren Grübchen mit Einschlüssen f
geschwächten
Querschnitt
a b d
1 mm
plastisch verformtes Korn Nachbarkorn
Werkstoffkunde
Abb. 15.59 Schematische Darstellung eines duktilen Bruchs eines Metalls mit Porenbildung nach Gurson; a Messlängenabschnitt eines Zugstabes mit spröden Ein-
schlüssen (Punkte ); b Porenbildung an den Einschlüssen in Verformungsrichtung (rot ); die lokale Abnahme des tragenden Querschnittes erhöht die wahre Spannung
und damit die Verformung um die Einschlüsse; c Entstehung von Verformungsporen: Ähnlich wie Einschlüsse wirken Korngrenzen, an denen sich Versetzungsstaus
und Poren zwischen verschieden orientierten Gleitsystemen bilden; d Wachsende Poren verursachen Dehnungslokalisierungen bis der verbleibende Querschnitt
abschert. Metallografische Befunde hierzu für eine gebrochene Stahlzugprobe: e REM-Fraktografie zeigt Grübchen und Zipfeln; f Röntgen-Computer-Tomografie
einer Zugprobenhälfte zeigt in Zugrichtung gestreckte Poren im Längsschnitt und g in dreidimensionaler Rekonstruktion der Verteilung der Poren (rot, > 25 µm
Durchmesser) im Einschnürbereich
werden. Die Verformungsporen werden wegen der gerin- Bereich plastisch, sodass er dabei eine Verformungsver-
gen Röntgenabsorption deutlich sichtbar. Der Volumen- festigung erfährt, die den Riss stoppen kann. Steigt die
anteil der Verformungsporen nimmt mit der Einschnü- Spannung an der Rissspitze aber weiter, wird der Riss
rung zu. Nach dem Bruch werden die aufgerissenen Po- durch lokale Versetzungsbewegungen entlang Scherbän-
ren als Grübchen in der duktilen Bruchfläche im Raste- dern vergrößert. In Abb. 15.60b schreitet der Riss über
relektronenmikroskop sichtbar (Abb. 15.59e, siehe auch sich bildende Poren voran (analog zum Gurson-Modell
Abb. 15.66c, im Bonusmaterial: Rasterelektronenmikro- in Abb. 15.59). Das Metall verformt sich über Verset-
skopie Abb. 15.10a, sowie im Bonusmaterial: Fraktografie zungsbewegung zwischen den Poren, bis der Material-
und Zeitfestigkeit, Abb. 15.14), in denen mit REM gele- querschnitt so klein wird, dass die Zugfestigkeit lokal
gentlich Einschlüsse erkennbar werden, an denen die Po- überschritten wird und die Metallbrücken vollkommen
ren entstanden. abscheren. Die Rissfläche erhält eine duktile Grübchen-
Zipfel-Struktur wie in Abb. 15.59e und 15.66c gezeigt. Ein
Die lokalen Spannungsverhältnisse an einer Rissspitze derartiger Rissfortschritt kann auch auf Korngrenzen be-
(sowohl an einem äußeren Riss wie an einem inneren schränkt bleiben, wo er mikroduktile Rissflächen entlang
Riss oder einer Pore) sind in Abb. 15.60 skizziert. Ursache der Korngrenzen bildet (siehe Bonusmaterial: Rasterelek-
für den Rissfortschritt ist die Konzentration der Zugspan- tronenmikroskopie, Abb. 15.10a).
nung am inneren Oberflächensegment der Rissspitze, das
in etwa parallel zur globalen Spannung orientiert ist. Der Rissfortschritt in Thermoplasten erfolgt ähnlich.
Diese Spannungskonzentration erzeugt in Metallen lokal Wenn keine spröden Einschlüsse enthalten sind, an de-
plastische Verformungen, obwohl die äußere Kraft den nen sich Poren bilden könnten, entstehen innere Ris-
Gesamtquerschnitt nur elastisch dehnt. In Abb. 15.60a se durch das Aufbrechen der Van-der-Waals-Bindungen
wird der duktile Rissfortschritt über lokale plastische Ver- (siehe Abschn. 14.3) zwischen den Polymerketten. Die
formung der Kristallkörner dargestellt. Die Spannung in Spannungskonzentrationen an den Rissspitzen steigen
einem kleinen Materialvolumen an der Rissspitze über- mit der äußeren Spannung und der Rissgröße, bis auch
schreitet die Elastizitätsgrenze, dabei verformt sie diesen die Primärbindungen des Materials aufbrechen.
15.9 Bruchvorgänge in Werkstoffen 441
Abb. 15.60 Schematische Dar- σlokal σ > Rp0,2 Fließgrenze σlokal Rissfortschritt
stellung des duktilen Wachstums an der Rissspitze des verfestigten σlokal Rm durch Gleit-
eines Risses a um δa ; a Rissspit- F Rp(rp) Werkstoffes an vorgänge (analog
Plastifizierung Rp(rp)
ze mit Spannungslokalisierung der Rissspitze Einschnürung)
im plastischen Verformungsbe- σ σ
reich (σSpitze >Rp ) führt zu einer
Rissaufweitung mit lokaler Ver- r r
festigung vor der Spitze, bis der a a + δa
Riss durch Scherbänder weiter
wächst, sobald σSpitze ∼ = Rm a
F F
erreicht; b Plastifizierung der
Rissspitze führt zur Porenbildung σlokal Rm Zusammenwachsen von
σlokal = Rm
an Einschlüssen bis zwischen den F vor der F an der Hohlräumen in der
Poren σSpitze ∼= Rm ist und sich Rissspitze plastische Zone plastischen Zone
Rissspitze
Werkstoffkunde
ein mit Grübchen behafteter Riss Rissfortschritt
ausbreitet
Einschlüsse
Poren
rp F
F
b
Faser
Faser
σ F σ F σlokal
σ σ σ~ (theoretische Festigkeit
aufgrund der Atombindungen)
σ'max σ'max
σmax σ' σmax σ
σ'
Rp0,2 Rp0,2 F r
r = r0 Atomabstand
Spannung σ
σ0 a
A0 A0
a
Ak
Atomreihen lassen
Ak sich trennen bei ca. E/15
Werkstoffkunde
σmax F σ
αk = σ0 < E/15
F F E = σ/ε
b
Abb. 15.62 Schematische Darstellung der Spannungserhöhung an äußeren
und inneren Kerben einer Kerbzugprobe und Definition der Formzahl αk . Über- σ
schreiten die Spannungsspitzen die Dehngrenze, erfährt die Probe dort Verfesti-
gung (Rp0,2 ), und es kommt zu einer Spannungsumlagerung (rot ) c
ε
δa Uelastisch = (σ 2/2E) · a2π· t/2
wird der Kerbgrund stärker verformungsverfestigt, so- spannungsfreies Volumen
t
dass dort Rp0,2 erhöht wird. Die plastische Verformung
wird dann nur bei weiterer Belastungssteigerung fortge- δU/δa = aπ · σ 2 t/2E =
setzt. Erst wenn σmax die Zugfestigkeit Rm überschreitet, a
|K2I = aπ · σ 2|
kommt es zu fortschreitender Schädigung an der Kerbe
bis zum Bruch. Bei kleiner Formzahl (nahe 1) und duk- = K2I t/2E = GK · t/2
tilen, stark verfestigenden (hoher Verfestigungsexponent
d
n) Werkstoffen kann die Kerbzugfestigkeit Rkm (αk ) die
Zugfestigkeit einer ungekerbten, nicht verformten Probe Abb. 15.63 Schematische Darstellung der Spannungskonzentration an einer
geringfügig übersteigen. Für sprödes Material bedeutet Rissspitze: a, b Vergleich der Spannungskonzentration mit Atombindungen, die
eine Kerbe oft den frühzeitigen Bruch ohne Anzeichen ei- die theoretische Festigkeit (∼= E /15) der Bindungskräfte übersteigt. c, d Entlang
ner Plastifizierung. der Rissspitze ist der elastisch verformte Werkstoff näherungsweise in einem Be-
reich einer Zylinderhälfte (a 2 π t /2) quer zur äußeren Kraft entlastet, dadurch
verlagert sich die elastische Energie in die Rissspitze; deren Änderung δU bei
Rissverlängerung δa definiert den Spannungsintensitätsfaktor KI und die Ener-
giefreisetzungsrate GK
Spaltbruch passiert ohne plastische
Verformung – Bruchzähigkeit
der Werkstoffe im elastischen Verformungsbereich durch
die linear-elastische Bruchmechanik zu quantifizieren.
Wenn am Kerbgrund oder an einer Anrissspitze der Span- Andererseits gibt es Anwendungen, bei denen geringe
nungsanstieg σmax nicht durch plastische Verformung Bruchzähigkeit genutzt wird: zum Abbrechen von An-
abgebaut werden kann, sondern so hoch wird, dass die guss- und Überlaufkanälen von Gussteilen, zum Öffnen
Atom- oder Molekülbindungen aufbrechen, dann tritt von Metalldosen oder Kunststoffverpackungen (Letzte-
Spaltbruch ein. Ein derartiges Werkstoffversagen ist be- res funktioniert oft nicht, weil der Kunststoff durch die
sonders gefährlich, da es bei Nennspannungen unterhalb Luftfeuchtigkeit zäher wird), Bolzen mit Sollbruchstelle
der Elastizitätsgrenze auftritt. Maschinenteile werden üb- etc.
licherweise so ausgelegt, dass die Werkstoffe unterhalb
der Elastizitätsgrenze belastet werden, sich also nur elas- Abbildung 15.63 erklärt die Ursache des Spaltbruchs: An
tisch verformen. Spaltbruch ereignet sich im elastischen der Spitze eines Risses der Länge a konzentriert sich
Verformungsbereich, wenn lokal hohe Spannungskon- die Spannung in dem Ausmaß, wie sie entlang des Ris-
zentrationen auftreten. Druckkessel, Schiffsrümpfe, Flug- ses durch diesen im Materialquerschnitt abgebaut wurde.
zeugteile, Pipelines etc. sind auf diese Weise katastrophal Die durch die Zugspannung σ erzeugte elastische Ener-
zu Bruch gegangen. Erst in der zweiten Hälfte des vo- gie muss in der Zylinderhälfte im Material der Dicke t
rigen Jahrhunderts ist es gelungen, die Leistungsgrenze (Rissbreite) mit dem Radius a von der Rissspitze aufge-
15.9 Bruchvorgänge in Werkstoffen 443
nommen werden (Abb. 15.63d): Eine Möglichkeit der Bestimmung der Bruchzähigkeit
wird im Beispiel Bruchzähigkeitsmessung beschrieben.
a2 π (f σ )2 Die kritische Risslänge für Keramiken ist am kleins-
Uelast = ·t· .
2 2E ten (<0,1 mm), für Polymere liegt sie zwischen 0,1 mm
und 10 mm, für Metalle zwischen 1 mm und 1 m. Ab-
Der dimensionslose Faktor f korrigiert die Spannung ent-
bildung 15.64 zeigt, dass√ für Keramiken, Polymere
sprechend der Form des Risses, wobei für eine scharfe,
und Hölzer KIc < 10 MPa m gilt. Polymermatrix-Ver-
geradlinige Rissspitze f = 1 ist. Zum Unterschied zur Pla-
bundwerkstoffe
√ weisen in Faserrichtung KIc -Werte über
stifizierung an der Rissspitze (Abb. 15.60) erhöht eine
10 MPa m auf, während die Eisenbasiswerkstoffe nahe-
differenzielle Rissverlängerung δa die elastische Energie
zu zwei Größenordnungen √ überstreichen: vom weißen
an der Rissspitze um
Gusseisen mit KIc ∼ = 10 MPa√ m bis zum Druckbehälter-
δU t G stahl mit KIc ∼ = 200 MPa m. Die zugehörige kritische
= K2 · = t· K.
Werkstoffkunde
(15.22) Energiefreisetzungsrate GKc = KIc 2 /2E (erforderliche
δa 2E 2
Energie zur Vergrößerung der Rissoberfläche, d. h. zur
Hierfür
√ wird der Spannungsintensitätsfaktor K = f · Rissvergrößerung) kann zum Vergleich der Zähigkeit von
σ aπ und die Energiefreisetzungsrate GK (Energieauf- Werkstoffen herangezogen werden. Werkstoffe, die auf
wand pro neu gebildeter Rissoberfläche) eingeführt. einer Linie gleicher kritischer Energiefreisetzungsrate lie-
Die Maßeinheit des Spannungsintensitätsfaktors ist nach gen, brauchen die gleiche Energie zum Risswachstum,
√
(15.22) daher MPa m = MNm−3/2 . Wenn die Span- d. h., je größer GKc , desto höher ist der Widerstand gegen
nungskonzentration an der Rissspitze nicht durch Plasti- das Risswachstum sowohl im elastischen als auch im plas-
fizierung abgebaut wird, sondern die Bindungskraft im tischen Bereich. Für Konstruktionswerkstoffe soll GKc zu-
Werkstoff übersteigt, bricht er mit Schallgeschwindigkeit. mindest in der Größenordnung von 1 kJ/m2 sein, sodass
Dies definiert die Obergrenze des Spannungsintensitäts- Keramiken kaum eingesetzt werden können, obwohl sie
faktors: den kritischen Spannungsintensitätsfaktor oder gleiche Bruchzähigkeitswerte wie Polymere aufweisen.
die Bruchzähigkeit Kc als Werkstoffkenngröße. Für Zug-
beanspruchung senkrecht zu einem Anriss (Richtungs-
symbol römisch eins: I wie in Abb. 15.63) ist die Bruch-
zähigkeit KIc ein Werkstoffkennwert. Da Re oder Rp0,2 die
Elastizitätsgrenze (Rp ) kennzeichnen, kann eine kritische
Elastizitätsgrenze und Bruchzähigkeit
Rissgröße akrit definiert werden, bei der Spaltbruch ein- begrenzen die statische Belastbarkeit der
tritt: Werkstoffe
√
KIc = f · Rp akrit π.
Die statischen Belastungsgrenzen für Konstruktionswerk-
stoffe sind einerseits die Streck- oder 0,2-%-Dehngrenze
300 (vereinfacht Elastizitätsgrenze Rp ), da für Bauteile im
rostfreier Stahl Einsatz nur elastische Verformungen zulässig sind. Dar-
Druckbehälter über hinaus besteht in Gegenwart von Kerben Spalt-
Stähle
Bruchzähigkeit KIc in MPa ¥ m
Grauguss mit
²
800
Keramik Baustahl AlSiMg1
bei ferritischen Stählen und Duromeren auftreten
bricht Druckbehälterstahl Epoxid (Abb. 15.66a).
700 Siliziumnitrid b) Intergranularer Spaltbruch erzeugt glatte Flächen
Zugspannung in MPa
Spal
500 elastischer Verformungsbereich defekten auftreten (Abb. 15.66b).
Be re
bruc
tbruc
(Druckkesselstahl)
Duktile Brüche mit plastischer Verformung:
ic h
h Si 3 i 3N 4
hK
400 c) transgranularer Duktilbruch nach dem Gurson-Mo-
f ür
N4
>Kc
σ > Rp0,2 plastische
S
(Dr
300 (AlSiMg1)
elast. Bereich für AlSiMg1 σ > Re (S235) feln quer über die Bruchfläche erkennbar; kann
uck
ke
Sp
bei allen Metallen und Thermoplasten auftreten
sse
alt
200 elast. Bereich pa ru sta
l
für Baustahl ltb ch h
ruc
hK K > l) (Abb. 15.66c).
K
Werkstoffkunde
Spaltbrüche ohne plastische Verformung: In Abb. 15.67 werden die Bruchmechanismen für Proben
a) Transgranularer Spaltbruch (durch die Kristallkör- mit einem inneren Riss (analog für äußeren Anriss) aus
ner) erzeugt glatte, glänzende Bruchflächen; kann verschiedenen Werkstoffen verglichen:
20 µm d 1 mm
a b c
15.9 Bruchvorgänge in Werkstoffen 445
Belastung
Belastung
Belastung
Belastung
(EPBM) plastische
Grenzlast
(Scherbruch,
keine
Rissausbreitung)
F F F F
Werkstoffkunde
nur plastifizieren plastifizieren plastische
elastische der des Verformung
Dehnung bis Rissspitzen Querschnitts des gesamten
Spaltbruch Volumens
Riss
Risswachstum duktiler Riss-
bis Spaltbruch Bruch aufweitung
(Mischbruch)
Abb. 15.67 Schematisches Kraft-Dehnungsdiagramm zu den darunter skizzierten Bruchmechanismen der Werkstoffe mit innerem Riss gemäß linear-elastischer
Bruchmechanik (LEBM); a Spaltbruch bei kritischem, innerem Riss; b Spaltbruch nach Risswachstum bis zu kritischer Risslänge (LEBM) durch plastische Rissauf-
weitung (Mischbruch); c plastisches Risswachstum an den Rissspitzen bis zum duktilen, zipfeligen Bruch (elastoplastische Bruchmechanik (EPBM)); d plastische
Einformung des Risses mit lokaler Verfestigung bis zum duktilen Scherbruch
Die Prüfprobe braucht einen definierten Anriss, der sen werden. Als Ersatz werden die Bruchspannungen
quer zur Zugrichtung verläuft und in der Probe einen gekerbter Rund- oder Flachzugproben (Abb. 15.62) er-
möglichst einachsigen Spannungszustand hervorruft, mittelt.
der keine plastische Verformung zulässt.
Die Bruchzähigkeit KIc stellt den Zusammenhang zwi-
schen Risslänge und einer den Riss öffnenden, senk- F
rechten Spannung bei Spaltbruch dar. Ein möglichst
spitzer Anriss (f = 1) kann durch wechselnde Belas-
Werkstoffkunde
kfz Metalle
bruch
Spannung
Spaltbruch
Kerbschlagarbeit, Zähigkeit
TÜ Ts Tieflage: Spaltbruch
T gehärtete Stähle, Keramik (< 0,8 Ts), Duromere
Duromere versagen durch Spaltbruch und somit mit ge- Werkstoffen im Vergleich zu duktilem Stahl veranschau-
ringer Kerbschlagarbeit (geringe Zähigkeit) im gesamten licht. Ohne plastische Verformung gelten die Mechanis-
Temperaturbereich (für durchgehärteter Stähle bis zur men der linear elastischen Bruchmechanik (Abschn. 15.9),
Anlasstemperatur, siehe Abschn. 16.6). Ferritische Stähle, die Spaltbruch verursachen. In Abb. 15.65 wurde die mi-
hexagonale Metalle, Thermoplaste und intermetallische nimale kritische Risslänge von Siliziumnitrid mit 20 µm
Verbindungen brechen bei tiefen Temperaturen mit Spalt- angegeben, die bereits durch Kratzer und Schleifriefen
bruch, aber bei höheren Temperaturen duktil. Die Ursache eingebracht werden kann. Oberflächenunregelmäßigkei-
dafür ist bei den ferritischen Stählen die gleiche wie ten und innere Defekte dieser Größenordnung können
bei der Streckgrenze (siehe Abschn. 15.6): die Kohlen- den Bruch von Hightech-Keramik unter Zugbelastung
stoffatome fixieren die Versetzungen, sodass bei tiefen auslösen. Poröse Gebrauchskeramik enthält Poren, die
Temperaturen ohne Kohlenstoffdiffusion keine plastische wesentlich größer sind als die minimale kritische Risslän-
Verformung möglich ist. Im Übergangsbereich kann ein ge. Wegen der Porosität ist der E-Modul kleiner als bei
Werkstoffkunde
Riss durch plastische Verformung wachsen, bis die kriti- der Hightech-Keramik (siehe Abschn. 15.5), aber auch die
sche Risslänge für einen Spaltbruch erreicht wird. Dort, Bruchspannung wie in Abb. 15.75 skizziert.
wo die Hälfte der Bruchfläche der Kerbschlagprobe duk-
tilen Bruch und die restliche Hälfte glatten Spaltbruch Bruch auslösende Defekte in spröden Materialien sind
zeigt, wird die Übergangstemperatur TÜ definiert. Die in Abb. 15.76 dargestellt: Poren, die von unvollständiger
verschiedenen Bruchformen sind auf den Bruchflächen Konsolidierung stammen, aber auch intra- und intergra-
von Kerbschlagproben am reflektierten Licht gut erkenn- nulare Einschlüsse oder eingelagerte Fremdkörner, die
bar. Unterhalb der Übergangstemperatur dominiert Spalt- andere thermo-elastische Eigenschaften aufweisen als das
bruch an Kerben und Querschnittsveränderungen, sodass Wirtsmaterial; Mikrorisse, die durch thermische Span-
von Anwendungen dieser Werkstoffe im Bereich der Tief- nungen entstehen, besonders an Korngrenzen zwischen
lage abzuraten ist. Alle kubisch flächenzentrierten Metalle unterschiedlich orientierten, anisotropen Körnern. Die
(austenitische Stähle, Aluminium-, Kupfer- und Nickel- Häufigkeit derartiger Defekte und ihre Größenverteilung
Legierungen) brechen immer duktil und sind auch bei tie- hängen von der Herstellung ab. Abbildung 15.77 illus-
fen Temperaturen weniger spaltbruchgefährdet. triert eine Verteilung innerer Defekte (Risse) in Bezug zu
äußeren Kräften. Der größte Defekt quer zur Zugrich-
tung in Abb. 15.77a kann den Spaltbruch auslösen, so-
Frage 15.9
bald der Spannungsintensitätsfaktor die Bruchzähigkeit
Was bedeuten Kerbschlagwerte der Tieflage bzw. der KIc für Normalspannungen erreicht (Abschn. 15.9). Bei
Hochlage? Welche Werkstoffe, die keinen Übergangsbe- Druckbelastung entstehen an den inneren Rissen Schub-
reich aufweisen, sind diesen Wertebereichen zuzuord- spannungen als Komponenten des äußeren Druckes, wie
nen? sie in Abb. 15.77b angedeutet sind. Der Spannungsinten-
sitätsfaktor für Schubspannungen in der Ebene des Risses,
die quer zur Ausdehnung der Rissspitze verlaufen, wird
Die Zähigkeit von Werkstoffen kann mittels Kerbschlag- mit KII bezeichnet (wie bei Torsion Abb. 15.94d). Quer zur
werten klassifiziert werden, wobei die Übergangstem- äußeren Belastung treten entlang des Verlaufes der Riss-
peratur zur Tieflage (Spaltbruch) als untere Grenze der spitze Schubspannungen der Orientierung III auf (wie bei
Einsatztemperatur für sicheren Einsatz spaltbruchemp- Scherung in Abb. 15.77b). Wird durch die Zugkompo-
findlicher Werkstoffe zu beachten ist. Die Bruchzähigkeit nenten der Scherbeanspruchung die Bruchzähigkeit KIIc
definiert die Auslegungsgrenze für die Bauteilbeanspru- oder KIIIc erreicht, vergrößern sich kritische Risse instabil
chung. parallel zur äußeren Druckrichtung und führen zu stu-
fenartigen Bruchoberflächen wie bei Normalspannungen
der Orientierung I. Da kritische Risslängen für Schubbe-
lastungen KII und KIII größer sind als für Zugbelastungen
15.10 Festigkeit spröder Werkstoffe KI (Abb. 15.77), ist die Druckfestigkeit von spröden Werk-
stoffen wesentlich (5- bis 15-mal) größer als die Zugfestig-
Im Unterschied zum vorangegangenen Abschnitt werden keit, wie in Abb. 15.75 angedeutet.
hier Werkstoffe behandelt, die bei mäßigen Temperaturen
nicht plastisch verformbar sind, das sind Keramiken und Da die Oberflächenkerben und inneren Risse in ihrer Grö-
Gläser, aber auch ferritische Stähle unterhalb der Über- ße und Orientierung ungleichmäßig verteilt sind, hängt
gangstemperatur (Tieflage in Abb. 15.70). Die Ursache die Bruchstelle von der Lage eines kritischen Risses ab.
liegt in der Unbeweglichkeit der Bindungen zwischen den Abbildung 15.78 stellt eine Rissverteilung in einem Werk-
Atomen bzw. Molekülen in diesen Materialien. Bauteile stück dar, in dem für die Zugbelastung σZ die maximale
aus diesen Werkstoffen können im elastischen Verfor- Risslänge 2a im Werkstück dieselbe ist wie im Proben-
mungsbereich ohne plastische Verformung brechen, wie ausschnitt (P1 ). Würden die Probenausschnitte separat
es Abb. 15.75 durch Zug- und Druckversuche an spröden geprüft, würde P1 wegen des relativ zur Risslänge klei-
448 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Beispiel: Pendelschlagwerk
Ein Pendelschlagwerk dient zur Bestimmung der lativ einfach aus dem gesamten Energieverlust des
Kerbschlagarbeit und als instrumentierter Kerbschlag- Kerbschlaghammers (Masse m) über die Fallhöhen-
versuch zur Korrelation der Kraft mit der Durchbie- differenz (Δh = Ausganghöhe das Schlaghammers −
gung einer Kerbschlagprobe. Durchschwinghöhe nach dem Bruch) bestimmt wer-
den. Für die beim Durchschlag einer Charpy-Probe mit
Eine einfache Bewertung der Bruchzähigkeit erfolgt V-Kerbe aufgewendete Arbeit gilt: AV = m · g · Δh (g =
mittels der Kerbschlagarbeit (DIN EN ISO 148-1:2011- Erdbeschleunigung).
01). Das ist jene Arbeit mit der ein genormter Kerb-
schlaghammer eine genormte Kerbschlagprobe bricht. Die Kerbschlagarbeit gibt den Energieaufwand an, um
Werkstoffkunde
Abbildung 15.71b zeigt die Einspannmethode für eine eine genormte Probe mit Kerbe vollkommen zu bre-
Charpy-Probe mit V-Kerbe, die an beiden Enden auf- chen. Bei der Charpy-Probe beträgt die Bruchfläche
gelegt wird. Abbildung 15.71c zeigt die einseitige Ein- 0,8 cm2 und die für den Bruch erforderliche Gesamt-
spannmethode nach Izod. Abbildung 15.71a zeigt ei- arbeit wird in J gemessen und mit KV bezeichnet.
ne Prüfanordnung eines instrumentierten Pendelham- Viele zähe Werkstoffe brechen nicht vollkommen beim
mers, bei dem die Kraft des Hammers als Funktion der Durchschlag des Hammers. Die in Abb. 15.72 darge-
Zeit und der Durchbiegung der Probe gemessen wird. stellte Arbeit kann im instrumentierten Kerbschlag-
Das Kraft-Durchbiegungsdiagramm in Abb. 15.71d er- versuch gemessen und auf die tatsächliche Rissfläche
laubt die Separation der Plastifizierung bis zum Bruch bezogen werden, die als Kerbschlagzähigkeit in J/m2
von der elastischen Rückfederung Aelast und den Rei- gemessen wird. Für duktile Proben wird im instru-
bungsverlusten nach dem Bruch AReibung . Die gesamte mentierten Pendelschlagwerk die Verformungsarbeit
Kerbschlagarbeit kann auch ohne Probensensoren re- als J-Integral pro Probenquerschnitt gemessen.
Hammer
Kraft (F)- Kraft (F)-Durchbiegungs (f)-Diagramm
Sensor
Prüfkörper
Fmax
Schlag-
richtung Fgy
Kraft F in N
Verstärker AReibung
Agesamt = Aplast +Aelast
digital
Oszilloskop
F IZOD-Anordnung
F Schlagrichtung
CHARPY-Anordnung Finne
Prüfkörper
Stützweite
b Widerlager c
Abb. 15.71 Bestimmung der Kerbschlagarbeit; a Skizze eines instrumentierten Pendelschlagwerks mit einem Kraft-Zeit-Diagramm (d) mit dem Kerbschlag-
impuls bis zum Bruch, aus dem über die Durchbiegung fmax die plastische Kerbschlagarbeit Aplast (rot ) berechnet wird; im einfachen Kerbschlagversuch wird
die gesamte Kerbschlagarbeit gemessen. Anordnungen der gekerbten Prüfprobe und Position des Auftreffens der Finne des Prüfhammers: b an beiden Enden
der Probe auf einem Widerlager nach Charpy, c einseitig eingespannte Probe nach Izod
15.10 Festigkeit spröder Werkstoffe 449
Temperatur normalisiert
24 150
400
zäh Rp0,2
Kerbschlagarbeit in J
20 TÜ in MPa
TÜ
Kraft in N
12
Mischbruch 50 durchgehärtet
Spaltbruch-
8 duktiler Bruch spröde
bereich 1500
Spaltbruch 27 „J”
4 „J2” „JR”
0
Werkstoffkunde
–200 –100 0 100 200
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 Prüftemperatur in °C
Durchbiegung in mm
Abb. 15.73 Kerbschlagarbeit eines ferritischen Stahls in verschiedenen
Abb. 15.72 Charakteristische Kraft-Durchbiegungsdiagramme eines in- Wärmebehandlungszuständen mit den Übergangstemperaturen TÜ und den
strumentierten Kerbschlaghammers. Die Flächen unter den Kurven entspre- Kerbschlagwertesymbolen für 27 J (vergütet J10 (bei −100 °C), normalisiert
chen der Kerbschlagarbeit: Spaltbruch eines Stahls bei tiefer Temperatur J2 (bei −20 °C), durchgehärtet JR bei Raumtemperatur)
(rot ), Mischbruch bei der Übergangstemperatur (blau ), duktiler Bruch bei
gesicherter Einsatztemperatur (gelb ) stand eine hohe kritische Schubspannung aufweist,
solange die Kohlenstoffatome unbeweglich sind. Die
Abbildung 15.72 zeigt die großen Unterschiede in der vergüteten und die normalisierten Zustände weisen
Kerbschlagarbeit eines Stahls bei Prüftemperatur, die einen Spaltbruchbereich und einen duktilen Bruchbe-
unterschiedliche Bruchmechanismen bedingen (ent- reich auf. Die Übergangstemperatur des vergüteten
spricht den Zähigkeitsunterschieden bei hoher Verfor- Stahls beträgt etwa −70 °C, die des normalisierten Zu-
mungsgeschwindigkeit): Spaltbruch, Mischbruch oder standes ca. +30 °C. Der duktile Bereich (Hochlage) des
duktilen Bruch. Abbildung 15.73 zeigt die Zähigkeits- normalisierten Zustandes liegt bei einer um 50 % höhe-
unterschiede aus Kerbschlagversuchen an einem fer- ren Kerbschlagarbeit als beim vergüteten Zustand. Die
ritischen Stahl in den Zuständen (siehe Abschn. 16.5 Zähigkeit der Baustähle wird durch die Größenklas-
und 16.6) normalisiert (von T > 800 °C abgekühlt), se der Kerbschlagarbeit bei bestimmten Temperaturen
vergütet (gehärtet und angelassen) und durchgehär- (R ≡ Raumtemperatur, 0 ≡ 0 °C, 2 ≡ −20 °C) mit Kurz-
tet (martensitisch). Der durchgehärtete Stahl besteht zeichen klassifiziert: J ≡ 27 J, K ≡ 40 J, sodass z. B. der
durchgehend aus sprödem Martensit und bleibt bis Stahl S235J2 bei RT mindestens eine Streckgrenze von
ca. 300 °C in der Tieflage des Spaltbruchmechanismus. 235 MPa aufweist und bei −20 °C eine Kerbschlagar-
Dieser kommt zustande, weil der martensitische Zu- beit von mindestens 27 J.
neren Querschnitts des Probenausschnitts bei geringerer probe, da im Gesamtvolumen der Probe mehr und teils
Spannung brechen als das Werkstück. Probenausschnitt größere Defekte enthalten sind als im von Zug belasteten
P2 wird bei höherer Spannung brechen als P1 , da der größ- Bereich der Biegeprobe. Die Wahrscheinlichkeit einen kri-
te Riss a in P2 kleiner als a in P1 ist. Probenausschnitt P3 tischen Riss in einer Faser zu finden, sinkt mit abnehmen-
ist so dünn gewählt, dass er keinen Riss enthält und sollte dem Querschnitt (siehe Bereich P3 in Abb. 15.78a). Wie
daher erst bei der theoretischen Festigkeit brechen, wenn in Abb. 15.78b dargestellt, brechen 2/3 der Zugproben
er eine perfekte Oberfläche hätte. Die Festigkeit hängt so- aus Glas mit 1 mm Durchmesser bereits unter 175 MPa,
mit von der Wahl der Prüfprobe bzw. der Verteilung der während der Großteil der Glasfasern mit 20 µm Durch-
Risse in ihr ab. Die Biegefestigkeit von keramischen Mate- messer mehr als 1000 MPa standhält. Auf diesem Prinzip
rialien ist im Allgemeinen wesentlich höher als ihre Zug- beruhen die hohen Festigkeiten von dünnen Kohlenstoff-
festigkeit, da das zugbelastete Prüfvolumen wesentlich fasern, Glasfasern, Keramikfasern und Aramidfasern, die
kleiner ist, als wenn die ganze Probe einer Zugprüfung in Längsrichtung zur Faserverstärkung von Materialien
unterworfen würde (Abb. 15.79). Der kritische Fehler im genützt werden.
zugbeanspruchten Probenbereich der Biegeprobe ist klei-
ner als viele andere innere Risse in der Probe, wirkt aber
wegen der höheren Randfaserspannung bruchauslösend. Auf dem Abmessungseffekt dünner Fasern beruht
Würde die dargestellte Probe als Zugprobe geprüft, wür- das sogenannte Faser-Paradoxon (Abb. 15.78b): „Je
de sie bei kleineren Zugspannungen (im Allgemeinen dünner eine Faser, umso fester ist sie.“
ca. 60 % der Biegebruchspannung) brechen als die Biege-
450 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Druckkessel dürfen nicht wegen Spaltbruch bersten. eines Druckkessels mit Radius r bei Anwendung der
Nach dem Prinzip „Leck vor Bruch“ soll die Kessel- statischen Belastungsgrenzen gemäß Abb. 15.65. Die-
wand dünner sein als die kritische Risslänge. se Bedingungen werden für einen Druckkessel mit
Die sicherheitstechnische Konsequenz aus der Spalt- r = 150 mm in Abb. 15.74 veranschaulicht, der aus ei-
bruchgefahr ergibt, dass Druckkessel auf keinen Fall nem zähen Druckkesselstahl oder einer hochfesten
durch Spaltbruch bersten dürfen. Die Wanddicke des AlZn4,5Mg-Legierung gefertigt ist. Der Druckkessel
Druckkessels darf keinen Riss mit kritischer Länge be- aus Stahl kann aus maximal 9 mm dickem Blech ge-
kommen. Das ist dann erfüllt, wenn die Wanddicke fertigt werden und mit bis zu 600 bar beladen werden,
während der Aluminiumtank nur aus maximal 1,5 mm
Werkstoffkunde
pr
σ=
t Druckbehälterstahl
pr
= Rp Rp = 1000 MN m–2
1200 t
Kc = 170 MN m–3/2
(1) Beginn plastischer Verformung
Zugspannung in der
Kesselwand in MPa
1000
Wanddickenbereich für Druckkessel
aus Stahl pr Kc
800 = —
t √ πa
—
Kc = 25 MPa √ m
600
(2) kritische
(1) Rp Aluminiumlegierung Risslänge
400
Wanddickenbereich für (2)
200 AlZnMg-Druckkessel
t < akrit akrit (St)
0
0,01 0,1 1 10 100 1000
akrit (Al) Risslänge a in mm
Abb. 15.74 Auslegungsprinzip „Leck vor Bruch“ für Druckkessel mit Radius r , Wanddicke t und Beladungsdruck p . Die statischen Belastungsgrenzen
Rp0,2 (1 ) und KIc (2 ) der Werkstoffbeispiele Druckkesselstahl (rot ) und AlZn4,5Mg-Legierung (blau ) ergeben bei gleichem Druckkesselradius r = 150 mm
für Druckkesselstahl eine Maximaldicke t = akrit = 9 mm bei maximal 60 MPa (600 bar) Druck, für die hochfeste Aluminium-Legierung eine Maximaldicke
t = akrit = 1,5 mm bei maximal 4 MPa (40 bar)
Keramik Hitech-Keramik Zug teilung mit den Parametern Festigkeitsmodul σ0 und dem
bricht ohne Weibull-Modul m als Exponenten:
plastische m
σ
Spannung σ
Verformung, Stahl Ps0 = exp − . (15.23)
daher gilt σ0
linear elastische Je höher der Weibull-Modul m, umso enger ist die Span-
Bruchmechanik poröse nungsverteilung um den Festigkeitsmodul (Abb. 15.80c),
Gebrauchskeramik
hat kleineren E-Modul
d. h., umso zuverlässiger hält das Material bis in die Nä-
und weniger Festigkeit he von σ0 (siehe Beispiel: Überlebenswahrscheinlichkeit).
Für Werkstoffe mit m über 50 kann auf eine statistische
Dehnung ε Prüfmethode verzichtet werden, da der Festigkeitsmodul
Druck innerhalb der experimentellen Streubreite der Bruchfes-
Werkstoffkunde
tigkeit liegt. Komplementär zur Überlebenswahrschein-
lichkeit ist die Versagenswahrscheinlichkeit, die Wahr-
scheinlichkeit eines Bruchs: PB = 1 − Ps .
Einen Größenvergleich der Festigkeitsmoduln gibt
Druckfestigkeit Abb. 15.81, wobei anzumerken ist, dass die Werte auch
der Keramik von der Prüftechnik und der Qualität der Materialherstel-
wesentlich höher als ihre Zugfestigkeit lung abhängen. Wie in Abb. 15.78 bereits dargelegt, hängt
die Festigkeit von plastisch nicht verformbaren Werkstof-
Abb. 15.75 Schematischer Vergleich der Spannungs-Dehnungskurven bei Zug- fen vom Probenvolumen ab. Je größer das Volumen umso
und Druckverformung poröser Keramik und einer Hightech-Keramik mit einem höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es größere Defekte
ferritischen Stahl. Die Druckfestigkeit der Hightech Keramik (liegt außerhalb des
enthält, die Spaltbruch auslösen können. Ist die kumu-
Diagramms) ist signifikant größer als deren Zugfestigkeit
lative Überlebenswahrscheinlichkeit Ps0 aus Prüfungen
einer bestimmten Probengröße mit V0 nach Gleichung
Korngrenze einphasiges Korn (15.23) bekannt, so kann diese für ein Werkstückvolumen
V = n · V0 in folgender Weise umgerechnet werden:
V/V0
Ps (V ) = Pns0 = Ps0 ,
m
V V σ
ln Ps (V ) = ln Ps0 = − ,
Poren, die V0 V0 σ0 (15.24)
Mikrorisse, m
von der die durch V σ
Herstellung Ps (V ) = exp − .
thermische V0 σ0
stammen Abkühl-
spannungen
entstanden
Da der Faktor der Volumenvergrößerung n im Expo-
nenten steht, reduziert sich die Überlebenswahrschein-
lichkeit signifikant wie Tab. 15.15 zeigt: Bei hohem Fes-
tigkeitsmodul für V0 (400 MPa) und m = 10 sinkt die
Einschlüsse einer eingelagertes Korn Spannung auf 40 % für eine Überlebenswahrscheinlich-
zweiten Phase einer anderen Phase keit von 1/e eines Bauteils mit 100-fachem Volumen der
Prüfprobe. Je höher der Weibull-Modul m und je gerin-
Abb. 15.76 Schematische Darstellung von inneren Defekten in polykristallinen ger der Festigkeitsmodul σ0 , umso weniger nimmt die
Keramiken: inter- und intragranulare Einschlüsse, Einlagerungen, Korngrenzen-
risse, Poren
Überlebenswahrscheinlichkeit mit der Volumenzunahme
ab (siehe Bonusmaterial: Überlebenswahrscheinlichkeit
spröder Werkstoffe, Abb. 15.11). Auf das Beispiel der
Glasfasern in Abb. 15.78b zurückkommend, sinkt die Fa-
Ableitung dieser Verteilung nach der Bruchspannung er- serfestigkeit mit steigender Länge einer Prüfprobe. Die
gibt die Kurve der kumulativen Überlebenswahrschein- Angaben zu Faserfestigkeiten sind daher immer dahin-
lichkeit Ps0 von gleichartigen Proben mit dem Volumen gehend zu hinterfragen, auf welche Faserlänge sie sich
V0 . Die Überlebenswahrscheinlichkeit des Materials be- beziehen (Prüfvolumen), und ob der Festigkeitsmodul
trägt 1/e bei der Belastung mit dem Festigkeitsmodul σ0 oder ein Mittelwert angegeben ist. Der Weibull-Modul
(Abb. 15.80b und c). Die mathematische Formulierung wäre auch erforderlich, um die Festigkeitseigenschaften
dieser Kurve (15.23) ergibt die exponentielle Weibull-Ver- zu vervollständigen.
452 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
instabile instabile
Rissausbreitung Rissausbreitung
senkrecht zur an schrägen Rissen
Zugachse in Druckrichtung
sobald sobald
KI = KIC KIII = KIIIC
Werkstoffkunde
a σZ b σD σD
Abb. 15.77 Schematische Darstellung der gleichen Verteilung innerer Risse in Längsschnitten einer Keramikprobe; a Zugbelastung σZ wirkt an dazu senkrechten
Rissen mit dem Spannungsintensitätsfaktor KI an den Rissspitzen und führt dort zu Bruch, wo KIc erreicht wird (gelber Pfeil gibt Rissfortschrittsrichtung an); b Druck-
belastung σD erzeugt Schubspannungen an den Rissspitzen (blau im extra dargestellten Riss mit Zug- und Druckkomponenten) mit dem Spannungsintensitätsfaktor
KIII (in Rissebene und Rissfortschrittsrichtung); instabile Risse in Druckrichtung (rot punktiert ) entstehen, sobald die Bruchzähigkeit KIIIc erreicht wird
3
P3
Abb. 15.78 a Schematische Darstellung einer Verteilung innerer Risse in einem Längsschnitt einer Keramikprobe unter Zugspannung σZ , aus der verschiedene
Probenausschnitte P1 , P2 , P3 mit unterschiedlichen Rissverteilungen geprüft werden; kritische Risslängen 2a in P1 und 2a in P2 führen zu unterschiedlichen
Bruchspannungen, während P3 fehlerfrei angenommen wird; b Zugfestigkeit einer Faser aus Glas, das makroskopisch einen Festigkeitsmodul von 175 MPa aufweist,
in Funktion des Faserdurchmessers: „je dünner, desto fester“
Die Bewertung der Zugfestigkeit eines keramischen 2. Festigkeitsmodul σ0 (je größer die Bruch auslö-
Werkstoffs bedarf dreier Parameter: senden Defekte, umso kleiner σ0 ),
3. Bauteilvolumen im Vergleich zum Volumen der
1. Weibull-Modul m (je enger die Größenverteilung Prüfproben V/V0 , mit denen m und σ0 bestimmt
der Defekte, umso höher m), wurden.
15.10 Festigkeit spröder Werkstoffe 453
Werkstoffkunde
umso zuverlässiger ist das Bauteil. Aus Zuverlässig-
keitsgründen wären Keramikqualitäten mit einen Wei- lion Proben bricht bei 350 MPa Zugbelastung. Für das
bull-Modul m = 30 wünschenswert, was kaum erreicht Volumen der Turbine ergibt sich eine Überlebenswahr-
wird. Wesentlich für die Auslegung ist daher ein mög- scheinlichkeit von 0,9999, d. h., 1 von 10.000 Turbinen
lichst kleines Bauteilvolumen. wird bei einem Testlauf mit 350 MPa Zugbelastung
brechen. Dieses Resultat ist für eine technische An-
Zum Beispiel wird Siliziumnitrid für eine Turbine eines wendung dieser Art akzeptabel. Trotzdem sollen diese
Turboladers eingesetzt (siehe Leitbeispiel). Bei hoch- Tatsachen das Risiko bei der Anwendung von durch
qualitativer Fertigung erreicht der Werkstoff bei einem Spaltbruch gefährdeten Werkstoffen veranschaulichen.
Tab. 15.15 Belastungsgrenzen (MPa) keramischer Werkstoffe in Abhängigkeit vom Bauteilvolumen im Vergleich zu Ergebnissen einer Prüfprobe
Weibull Modul m = 10: m = 20: m = 30:
VBauteil : VProbe
Keramiktyp Höchstfest Aktuelles Opti- Spitzentechnik Bedarf
mum
1:1 Festigkeitsmodul (VBauteil ) 400 (100 %) 300 (100 %) 250 (100 %) 200 (100 %)
10 : 1 σ0 in MPa 252 (63 %) 237 (79 %) 210 (84 %) 186 (94 %)
100 : 1 (Anteil des Festigkeitsmoduls für VProbe ) 160 (40 %) 189 (63 %) 197 (79 %) 172 (86 %)
bruchauslösender F bruchauslösender Ideal für den Einsatz keramischer Werkstoffe sind Kon-
Defekt bei Defekt bei struktionen, die hauptsächlich Druckbelastungen erzeu-
Zugversuch Biegeversuch gen. So werden für hochwertige Kugellager Si3 N4 Kugeln
(Druckfestigkeitsmodul ca. 3 GPa) in Stahlschalen einge-
M d M setzt, wo sie hauptsächlich druckbelastet (mit geringer
Scherbelastung) werden und somit eine 5-fach höhere Le-
σB bensdauer (siehe Abschn. 15.11) erreichen als metallische.
maximale Zugspannung Die höhere Steifigkeit und thermische Stabilität, die klei-
F/2 der Biegeprobe F/2 nere Dämpfung (geringere Geräuschentwicklung) und
in relativ kleinem Prüfvolumen das geringere, spezifische Gewicht als Stahl sind weitere
Vorteile der Keramik (siehe Bonusmaterial Überlebens-
Abb. 15.79 Schematische Darstellung einer Fehlerverteilung in einem Längs- wahrscheinlichkeiten).
schnitt einer Probe der Dicke d ; Dreipunkt-Biegung mit Biegekraft F erzeugt
über das Moment M die maximale Zugspannung σB an der Unterseite; wegen
des markierten kritischen Fehlers im Prüfvolumen (rot markierter Bereich ) bricht
sie; bei Zugbelastung in Längsrichtung der Probe würde sie wegen des größeren
Defektes (blau ) bei kleinerer Spannung brechen: Rm < σB
454 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
1/e 1/e
Werkstoffkunde
Messpunkte
gebrochen für m = 10
100 %
0 0
0 Festigkeitsmodul Festigkeitsmodul
σ0 σ0
a angelegte Bruchspannung σ b σ c σ
Abb. 15.80 Überlebenswahrscheinlichkeit von N gleichartigen Proben des gleichen Materials; a Häufigkeitsverteilung nB ( σ ) /N der Bruchfestigkeiten; Maximal-
zahl der Brüche bei σ0 (Festigkeitsmodul); b kumulative Überlebenswahrscheinlichkeit Ps0 nach der Weibull-Statistik: Probenanteil (1 − 1/e) bricht bei Spannungen
σ σ0 , 1/e bei σ > σ0 ; c Einfluss unterschiedlicher Weibull-Moduln (Weibull-Exponenten) m ; Kreuze stehen für die relative Anzahl der bei der jeweiligen Span-
nung gebrochenen Keramikproben mit m = 10
104
Festigkeitsmoduln σ0 keramischer Werkstoffe
Bruchfestigkeit Rm (= σ0) in MPa
103
näherungsweise statistische
102
101
100
Diamant Si-Carbid Si-Nitrid Quarzglas Al-Oxid Zr-Oxid, Fensterglas Stahlbeton Beton max.
Mullit,
Ti-Carbid
Abb. 15.81 Vergleich der Festigkeitsmoduln (näherungsweise bewertet durch Bruchfestigkeit von 37 % bei Rm (= Re für makroskopische Proben) einiger kerami-
scher Werkstoffe und Gläser mit dem Verbundwerkstoff Stahlbeton
σm < 0 σm = 0 σm > 0
+σ
τ σ = σm + σa sin (2πt/τ) Periode σo
σa reine Wechsel- τ
≈ ε = εm + εa sin (2πt/τ) beanspruchung σa
Zug
σ reine Druck- σm
σm schwell-
t
beanspruchung
f = 1/τ σu
R = 1/5
0 t
τ' R=0
σa' R = –1/3 reine Zugschwell-
σm' t R = –1 beanspruchung
Druck
Werkstoffkunde
f ' = 1/τ' R = –3
τ'' σa''
R=∞ R = σu /σo
σm'' t R=5
–σ
f '' = 1/τ'' Druckschwell- Wechsel- Zugschwell-
a b beanspruchung beanspruchung beanspruchung
Abb. 15.82 a Zeitlicher Verlauf monotoner, sinusförmig schwingender Belastungen mit unterschiedlichen Spannungsamplituden σa (bzw. Dehnungsamplituden
ε a nach dem Hooke’schen Gesetz) bei verschiedenen Mittelspannungen σm und Frequenzen f (Periode τ); b Beispiele monotoner Schwingungsperioden gleicher
Amplituden mit unterschiedlicher Mittelspannung ergeben verschiedene Spannungsverhältnisse R
auf Versetzungsbewegungen innerhalb der Kristallkörner tritt meist unerwartet im elastischen Verformungsbereich
zurückzuführen, in denen lokal die kritische Schubspan- ein, also bei Bauteilbelastungen unterhalb der Elastizi-
nung kleiner ist als deren Mittel über die polykristalline tätsgrenze. Selbst bei Wechselbelastung im plastischen
Struktur. In Kunststoffen können Polymerketten submi- Bereich, in dem Metalle oft verfestigen, sinkt die Festig-
kroskopisch verschoben werden. In porösen Keramiken keit mit der Anzahl der Verformungszyklen. Sie werden
können innere Oberflächen aneinanderreiben (insbeson- nicht genügend Kraft haben, einen Stahldraht abzureißen,
dere in Rissen). Je höher die Dämpfungskonstante eines aber sie können ihn mehrfach hin und her biegen (ab-
Werkstoffes ist, umso größer ist die innere Reibung. An wechselnd Zug- und Druckbelastung in den Randzonen),
mikroskopischen Materialfehlern verursachen derartige bis er als Folge weniger Ermüdungsbelastungszyklen mit
elastische Vibrationen submikroskopische, bleibende Ver- plastischer Verformung bricht.
formungen. Die Wirkung dieser Defekte vergrößert sich
mit steigender Lastspielzahl. Mit der Lastspielzahl nimmt
daher die Belastbarkeit des Materials ab, was als Werk-
stoffermüdung bezeichnet wird. Belastungsspannung erzeugen
Dehnungsschwingungen
Die überwiegende Zahl der Schadensfälle im Maschi-
nenbau lässt sich auf Werkstoffschwächung durch Ermü-
dungsbelastung zurückführen. Der Schädigungsverlauf Abbildung 15.82 zeigt schematisch sinusförmige Be-
mit zunehmender Lastspielzahl wird oft nicht genügend lastungen einer Probe oder eines Werkstückes mit
berücksichtigt. Entweder werden die Einsatzbelastungen verschiedenen, gleichbleibenden Spannungsamplituden
unterschätzt, oder die Ermüdungsbeständigkeit der Bau- σa = |σo − σu |/2 zwischen der Spannungsobergrenze σo
teile wird überschätzt. Abbildung 15.6 zeigt Eisenbahn- und der Spannungsuntergrenze σu . Bei manchen Be-
unfälle, die auf Ermüdungsbrüche der Radreifen zurück- lastungsfällen bleiben die Mittelspannung σm = (σu +
zuführen waren. Erst die Untersuchungen des Lokomo- σo )/2 und die Schwingungsperiode τ bzw. die Frequenz
tivunglücks zum Ende des 19. Jahrhunderts durch Au- f = 1/τ konstant (monotone Schwingungsbelastungen in
gust Wöhler ergaben quantitative Zusammenhänge zwi- Abb. 15.82a), aber meist variieren sie (Betriebsbelastun-
schen schwingender Belastung und Werkstoffbeständig- gen). Abbildung 15.82b skizziert einzelne Perioden mo-
keit. Trotzdem kommt es immer wieder zu Schadensfällen notoner Schwingungsbelastungen mit unterschiedlichen
durch Werkstoffermüdung, wie beispielsweise beim fol- Mittelspannungen. Je nach dem Vorzeichen der Mittel-
genschweren Unglück des Hochgeschwindigkeitszuges spannung σm dominieren entweder Zug- (σm > 0) oder
ICE (siehe Abb. 15.6b), bei dem auch Materialverschleiß Druckspannungen (σm < 0). Bei symmetrischem Verlauf
(siehe Abschn. 15.13) eine Rolle spielte. Warum ist die der Zug- und Druckspannungen wird σm = 0, was als rei-
Beständigkeit der Werkstoffe unter Lastwechseln wesent- ne Wechselbelastung bezeichnet wird. Diese Unterschie-
lich geringer als unter statischer Belastung? Das Versagen de werden durch das Spannungsverhältnis R = σu /σo
456 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
σm
=
R=0 nungsamplitude σa muss unterhalb der Elastizitätsgren-
0,
R
ze bleiben, ohne beim zweiten Zyklus eine plastische
=
–1
rein Zugschwell
Verformung hervorzurufen (ε pl (N > 1) = 0). In Metal-
Wechsel- Zugschwell- len können Versetzungen bei Spannungen unterhalb der
beanspruchung belastung Elastizitätsgrenze nicht durch verschiedene Körner einer
Probe gleiten, um sie plastisch zu verformen. Ein Teil der
R< 1 0<R< 1
Versetzungen – z. B. in einem Randkorn – kann durch
tausende, wechselnde Belastungen an eine Korngrenze
R = ∞ rein Druckschwell 0 gleiten, die an der Werkstoffoberfläche liegen kann, und
σu
dort mikroskopische Stufen in der Größe der Anzahl
σu < 0 R> 1
Werkstoffkunde
Ermüdungsprüfungen bedürfen wegen der wechseln- von beiden Seiten stetig abnehmenden Probenquer-
den Belastungen sowohl stabiler Prüfmaschinen als schnitt) werden auch für Niedriglastspielzahl-Prüfun-
auch genauer Messfühler wegen der kleinen Ampli- gen eingesetzt. Umlaufbiegeprüfungen mit zylindri-
tuden. Wird eine Prüffrequenz von 50 Hz. erreicht, schen Proben sind relativ einfach als 4- und 3-Punkt-
sind für 107 Zyklen 56 h Prüfzeit erforderlich. Die biegeprüfung durchführbar, wie sie Abb. 15.84b und
Ermittlung einer Wöhler-Kurve ist deshalb sehr auf- c zeigen. Einspannungen wie in Abb. 15.84c oh-
wendig. Abbildung 15.84a zeigt verschiedene Prüfan- ne Rotation, aber mit Ultraschallerregern und Pro-
ordnungen: Dreipunktbiegeprüfung (Vierpunktprüf- ben in den Abmessungen für eine Resonanzfrequenz
anordnung siehe Abschn. 15.5), Zug-Druckprüfung werden für Hochfrequenz-Schwingversuche mit über
Werkstoffkunde
für Flach und Rundproben, sowie eine Kompaktzug- 10 kHz eingesetzt, sodass 107 Zyklen mit Abkühlpau-
probe mit Anriss zur Messung des Rissfortschritts sen (die hochfrequente, innere Reibung erwärmt die
(Abb. 15.68). Zug-Druckversuche an sogenannten Uhr- Probe) schon in weniger als einer Stunde erreicht wer-
glasproben (Spannungserhöhung in der Mitte durch den.
ΔF
ΔF ΔF
F/2 F/2
M
F F
M = konst.
F F
3-Punkt- Flachzugprobe
Biegeversuch Lager Probe
ΔF ΔF
ΔF
b 2F
Kompakt- Zug/Druck-
F
a zugprobe rundprobe c
Abb. 15.84 Versuchsanordnungen zur Ermüdungsprüfung; a 3-Punktbiegeproben, Zug-Druckbelastung für Flach- und Rundproben in Uhrglasform, Kom-
paktzugproben zur Rissfortschrittsmessung; b 4-Punktbiegeprüfung; c 3-Punkt-Umlaufbiegeprüfung
geweitet, und die Rissoberfläche vergrößert sich um die Rasterelektronemikroskopie (REM) siehe Bonusmaterial
Länge δ an der Rissspitze. Am Ende der Zugphase federt zu Abschn. 15.9) als Rastlinien sichtbar gemacht werden
der Riss zurück und wird in der Druckphase zusammen- können (Abb. 15.86b). Sobald auf einer Bruchfläche Rast-
gedrückt. Die im Zug vergrößerte Oberfläche wird in das linien erkennbar sind, kann bei Schadensfällen auf einen
Material hineingedrückt und verlängert dadurch den Riss durch Wechselbelastung eingeleiteten Riss geschlossen
bei jedem Zyklus um δ/2. Diese zyklische Verlängerung werden (Bonusmaterial: Fraktografie und Zeitfestigkeit,
des Sekundärrisses durch Gleitbänder erzeugt mikrosko- Abb. 15.14). Auf einer vor dem Ermüdungsversuch po-
pische Stufen in der Rissoberfläche, die im REM (über lierten Oberfläche senkrecht zum Rissfortschritt sind nach
458 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Δσ
Δσ
In
tru
Gleit- sio
ne
bänder n
Δτ Ex
Ve
s tru
Gle
Gl tzun Δ
rse
iteb sio
eit gs τ s
Ra ene ne
eb an
ndk ei n
en hä
orn nes Sekundärriss
en uf
es
Pr
m ung
im
it e
är
ris
s
n
Versetzungs-
serie erzeugt
Δσ Oberflächenstufe 0,5 µm
Werkstoffkunde
Δσ
a in einem Korn b c
Abb. 15.85 Entstehung von Primär- und Sekundärrissen in ermüdungsbelasteten Metallen mit Δσ im elastischen Bereich; a Unsymmetrische Schubspannungs-
amplituden Δτs verschieben Versetzungen eines Randkornes in die Werkstückoberfläche und erzeugen mikroskopische Stufen (Gleitlinien); b TEM-Aufnahme von
Gleitbändern mit zahlreichen Versetzungslinien in einem Korn einer Nickel-Superlegierung; c schematische Darstellung der Orientierungen der Gleitbänder, In- und
Extrusionen an den Oberflächen, sowie ein Primärriss, der als Sekundärriss senkrecht zur Zugspannung weiterwächst
linear-elastische Bruchmechanik
a zierung der
Rissspitze
µm-Bereich
g1
(EPBM)
o6
uM
R≈0
iCrM
AlC
40N
10–3
Rissfortschrittsrate
Stationär-
bereich
Kontinuums-
mechanik
Werkstoffkunde
Schwellwert
10–4
da/dN ≈ ΔK p
atomist-
0,5
nm-Bereich
ische
gCu
Mechanis-
nM
men der
5E
Dämpfung Kth Risswachstum Kmax = KIc
AlZ
C4
a log ΔK
K 10–5
σa = konst.
zykl. Spannungs-
intensitätsfaktor
Kmax
Ka ΔK
Kmittel
da/dN = C·ΔK 3
Kmin –6
10
Zugschwellbelastung 102 103
b t c zykl. Spannungsintensitätsfaktor log (ΔK in N/mm3/2)
Abb. 15.87 Quantifizierung eines Ermüdungsrissfortschritts; a Kompaktzugprobe mit Anriss zur Messung der Rissverlängerung und doppellogarithmische Auf-
tragung des Risswachstums pro Zyklus da /dN über die Änderung der Schwingbreite des Spannungsintensitätsfaktors ΔK in b Nach der Risseinleitungsphase ab
dem Schwellwert Kth beginnt ein Sekundärriss
√ nach dem Paris-Gesetz zu wachsen, bis bei der Bruchzähigkeit KIc Spaltbruch eintritt; c Rissfortschrittsdiagramme
da /dN (in mm) über ΔK (in MPa mm) für einen unlegierten und einen niedrig legierten Stahl sowie für zwei ausscheidungsgehärtete Aluminium-Legierungen,
1
∼ 10−13 MPa−3 mm− 2 (15.25)
∼ 3 · 10−12 , CStahl =
alle ergeben als Exponent p = 3, aber CAl =
schrittsgesetz nach Paris (Prof. P. C. Paris, 1964) lautet: verifiziert werden, um ein Bauteil rechtzeitig vor dem in-
stabilen Risswachstum bei Kmax = KIc aus dem Betrieb zu
nehmen. Periodische Anlagenrevisionen mit Risslängen-
da da
= C · ΔKp ⇒ lg = p · lg ΔK + lg C. (15.25) prüfungen, deren Ergebnisse mit dem Paris-Gesetz für
dN dN den Werkstoff verglichen werden, sind für viele, sicher-
a2 heitsrelevante Anlagen vorgeschrieben. Die verbleibende
da 1 da
dN = ⇒ ΔN = √ p Lastspielzahl bis zum voraussichtlichen Spaltbruch lässt
C · ΔKp C2σa aπ
a1 sich mit (15.25) abschätzen, wenn für a2 = akrit die kriti-
1 1 1 sche Risslänge für die Bauteilspannung eingesetzt wird.
= · p/2−1
− p/2−1 .
C(2σa )p π p/2 (1 − p/2) a2 a1
Die experimentellen Daten für Stähle und Aluminium-
Legierungen ergeben das Paris-Gesetz für den Riss-
Die Konstanten C und p des Paris-Gesetzes sind experi- fortschritt, wie die doppellogarithmische Darstellung in
mentell (z. B. an CT-Proben (compact tension) Abb. 15.68 Abb. 15.87c zeigt, in der das Risswachstum in mm/
und 15.87a) aus einer doppellogarithmischen Grafik der Zyklus und die doppelte Amplitude des Spannungsinten-
√
Prüfergebnisse zu bestimmen, wobei die Maßeinheiten sitätsfaktors in N/mm3/2 = MPa mm aufgetragen sind.
der Skalen zu beachten sind. Über das Integral des Paris- Für beide Legierungen ist bei dieser Skala der Exponent
Gesetzes aus (15.25) kann die Lastspielzahl ΔN errech- p = 3, aber die Konstanten C sind verschieden. Das Riss-
net werden, die erforderlich ist, damit ein bereits vor- wachstum in den Aluminium-Legierungen ist bei gleicher
handener, messbarer Riss a1 bis zu einer Risslänge a2 Schwingbreite der Spannungsintensität 30 mal schneller
anwächst. Praktisch kann dies bei Revisionsprüfungen als in den Stählen.
460 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
in Zugrichtung
Spannungsamplituden σa
müdungsversuchen bis zum Bruch
bei verschiedenen monotonen Rp
Spannungsamplituden σa (nur
Zugphase dargestellt) im elasti- 0 < σa < Rp
schen Bereich zur Bestimmung
der Wöhler-Kurve (S -log N ) im
Zeitfestigkeitsbereich bis zu einer
Grenzlastspielzahl NG
σN
Zeitfestigkeit σNG
Grenzlastspielzahl NG
Werkstoffkunde
–b
· lo
gN pB = 50
B
pB = 0 +
lo pB = 100
gc
Zeit- und Dauerfestigkeit bei elastischen sicherer b I
Schwingungen wird durch die Wöhler-Kurve Betriebsbereich
100
der Zeitfestigkeit
beschrieben
σa · NBb ≤ cb = konst. Übergangs-
II
festigkeit
Basquin-Lebensdauerregel
pB = 0
Beispiele für Dauerfestigkeitsverhältnisse verschiede- fläche wird diese leicht plastisch komprimiert, und
ner Stahlzustände und Zeitfestigkeitsverhältnisse ver- es verbleiben Druckeigenspannungen, die sich den
schiedener Auslagerungszustände einer Aluminium- Spannungsamplituden der Ermüdungsbelastung über-
Knetlegierung. lagern und die Zugspannung reduzieren, sodass die
Bruchlastspielzahl erhöht wird.
Die Ermüdungsbeständigkeit ist nicht nur von der
Werkstoffzusammensetzung, sondern auch vom Ge-
fügezustand abhängig. Meist gilt, je höher bei einem 1,0
Werkstoff die statische Festigkeit ist, umso niedriger 0,8
Werkstoffkunde
ist seine Ermüdungsbeständigkeit. Abbildung 15.90
T4 normalisiert
Dauerfestigkeits- bzw.
Grenzlastspielfestigkeitsverhältnis
vergleicht das Dauerfestigkeitsverhältnis verschiede- 0,6
erholt 30CrNiMo8
ner Wärmebehandlungszustände eines niedrig legier- 0,5
ten Stahls (vergütete Zustände werden in Getrieben 0,4
T6
eingesetzt). Das Grenzlastspielfestigkeitsverhältnis bei
0,3
107 Lastwechseln wird durch die Ausscheidungswär-
vergütet
mebehandlung (T6) gegenüber dem lösungsgeglüh- AW 6082
ten, kalt ausgelagerten Zustand (T4) einer Aluminium- 0,2
Knetlegierung für Karosserieteile wesentlich vermin-
dert, obwohl die Grenzlastspielfestigkeit fast gleich
bleibt.
0,1
Zugeigenspannungen in Bauteilen, die bei der Fer- 0 1000 10.000
tigung oder Wärmebehandlung eingebracht werden, Streck- bzw. 0,2 %-Dehngrenze in MPa
reduzieren die Ermüdungsbeständigkeit, da sie sich
wie Zugmittelspannungen auswirken. Daher werden Abb. 15.90 Wertebereiche der Dauerfestigkeitsverhältnisse sD für ver-
schiedene Wärmebehandlungszustände eines niedrig legierten Stahls
manche Bauteile unter Druckmittelspannungen einge-
30CrNiMo8 (blau ) und Grenzlastspielfestigkeitsverhältnis sNG für den lö-
setzt, sodass die Überlagerung mit einer Wechsel- oder sungsgeglühten (T4) und den warm ausgelagerten, hochfesten (T6) Zustand
Zugschwellbelastung die Zugamplitude vermindert. der ausscheidungshärtenden Aluminium-Knetlegierung AlMgSi1 (AW6082,
Durch Kugelstrahlen einer metallischen Bauteilober- gelb )
σNG -Werte sind für eine Aluminiumknetlegierung im gen der Versetzungen mit den Kohlenstoffatomen nicht
Bonusmaterial Wöhler-Kurven (Bonusmaterial zu Ab- mehr überwinden können. Den Vorteil, dass ferritische
schn. 15.11, Abb. 15.12) eingetragen. Abbildung 15.89 Stähle einer Wechselbelastung σa < σD im Dauerbetrieb
zeigt den Verlauf einer Wöhler-Kurve (log S-log N) mit standhalten, bringen andere Metalle nicht, vor allem
den Streubreiten der Versuchsergebnisse. In der doppel- jene mit kubisch flächenzentrierten Kristallstrukturen
logarithmischen Darstellung zeigt der Zeitfestigkeitsbe- (inkl. austenitische Stähle). Keramiken und einige Kunst-
reich ein lineares Verhalten, das mit einem Potenzgesetz stoffe zeichnen sich auch durch Dauerfestigkeiten aus.
von Basquin beschrieben werden kann: σa NBb = cb , wobei Wie Abb. 15.89 zeigt, gibt es eine gewisse Unsicherheit
die Konstanten b und cb experimentell bestimmt werden über das Niveau der Dauerfestigkeit, die als Übergangs-
müssen. Unterhalb des Streubandes der Spannungsam- festigkeit bezeichnet wird. Bei Spannungsamplituden
plituden werden für die entsprechenden Lastspielzahlen unter der Übergangsfestigkeit sollen alle Proben mehr als
sichere Betriebsbedingungen erwartet. Bei glatten Proben 107 Lastwechsel überleben, sogenannte Durchläufer bei
für Wöhler-Versuche gibt es die Stadien der Einleitung Ermüdungsversuchen, die nicht brechen (siehe Bonusma-
von Primärrissen und der Ausbreitung von Sekundärris- terial: Wöhler-Kurven, Abb. 15.12).
sen (Abb. 15.85).
Reale Bauteile weisen oft fertigungsbedingte Kerben an
Die Fixierung der Versetzungen in ferritischen Stählen der Oberfläche auf (Gewindegänge einer Schraube sind
durch Kohlenstoffatome gilt als Ursache für die Streck- auch Kerben), sodass kaum Primärrisse beobachtet wer-
grenze im Zugversuch (Abschn. 15.6) und für die Tieflage den. Der Einfluss von Kerben auf die aus Wöhler-Kurven
im Kerbschlagversuch (Abschn. 15.9). Dieses Phänomen von glatten Proben bestimmte Zeit- und Dauerfestigkeit
bewirkt auch, dass ferritische Stähle eine Dauerfestigkeit kann mit definiert gekerbten Ermüdungsproben ermit-
σD aufweisen, sobald die Schubspannungen die Bindun- telt werden. Die Ergebnisse können mit denen aus glat-
462 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Belastungsspannung in MPa
bzw. β kN = σN /σNgekerbt , im Allgemeinen gilt β k < αk .
elast.
plastische Verformung σ > Re
Spaltb
600
σD
B ereic
ruch
Die Ermüdungsbeständigkeit eines Werkstoffes wird mit elastischer Verformungsbereich
Spal
500 (Druckkesselstahl)
h für
Si 3N 4
seiner statischen Zugfestigkeit Rm (bzw. dem Festigkeits-
tbru
modul σ0 ) durch das Dauerfestigkeitsverhältnis sD =
Si 3N
ch
400
K>
σD /Rm oder das Grenzlastspielzahlfestigkeitsverhältnis σD
Kc
plastische
sNG = σNG /Rm verglichen (Abb. 15.90). Diese Verhältnis-
(Dr
300 σ > Rp0,2 (AlSiMg1) Verformung
uck
Sp
elast. Bereich für AlSiMg1 σ > Re
werte bewegen sich bei Hightech-Keramiken im Bereich
ke
alt
sse
elast. Bereich
br
200 pa tah
ls
0,8–0,9, bei Metallen zwischen 0,3 und 0,7, bei Kunststof- hK
uc
für Baustahl ltb l)
σD ruc >K
fen zwischen 0,1 und 0,5. Für eine Bauteilauslegung bis zu h K> S2 3 c
Werkstoffkunde
100 Kc (A 5
bestimmten Lastspielen kann ein Zeitfestigkeitsverhält- σNG Spaltb
ruch lSiMg1
)
σNG elast. Bereich Epoxid
nis sN = σN /Rm definiert werden. Tabelle 15.16 ergänzt 0
die Werkstoffkennwerte in Tab. 15.7 mit Kerbschlag- 0,01 0,1 1 10 100 1000
kritische Risslänge in mm
werten, Bruchzähigkeiten und den Dauerfestigkeiten
(bzw. Grenzlastspielfestigkeiten) bei Schwingungen im Abb. 15.91 Belastungsgrenzen für Siliziumnitrid (Si3 N4 ) (gelb ), Druckkessel-
elastischen Bereich, sowie deren spezifischen Kennwer- stahl (blau ), Baustahl S235 (rot ), AW6082 (AlMgSi1, grün ) und Epoxy (rosa )
ten bezogen auf die Dichte der Werkstoffe. Daraus ist unter Berücksichtigung der Dauer- bzw. Grenzlastspielzahlfestigkeit, σD bzw.
ersichtlich, dass die Grenzen der Werkstoffbelastung bei σNG (horizontale, fette Linien ) gegenüber den Elastizitätsgrenzen (gestrichelt )
schwingender Beanspruchung wesentlich unter der stati-
schen Belastbarkeit liegen. Keramiken bieten die höchsten
spezifischen Festigkeiten (statisch und dynamisch) an, al- Zeit- und Dauerfestigkeiten sind niedriger
len voran Diamant. Wie beim statischen Festigkeitsmodul
σ0 gilt auch bei Wechsel- und Zugschwellbelastungen
als die Elastizitätsgrenzen
von Keramiken eine Überlebenswahrscheinlichkeit von
1/e (siehe Abschn. 15.10) für den Ermüdungsfestigkeits- Gegenüber den statischen Belastungsgrenzen in Abb.
modul. Unter den Metallen sticht die Titan-Legierung 15.65 sind in Abb. 15.91 die Grenzen für Wechselbelas-
Ti6Al4V mit den relativ höchsten, statischen und dynami- tungen im elastischen Bereich σD bzw. σNG eingetragen.
schen spezifischen Festigkeiten heraus. Diese Eigenschaft Die Dauerfestigkeit σD der Si3 N4 -Keramik (80 % des Fes-
ist für den Leichtbau attraktiv, kostet aber relativ viel. tigkeitsmoduls) ist wesentlich höher als die des Druckkes-
Der Unterschied in den spezifischen Elastizitätsgren- selstahls, dessen dynamische Belastungsgrenze bei 60 %
zen zwischen hochfesten Aluminium-Legierungen und der Streckgrenze liegt. Die hohe Dauerfestigkeit macht die
den angeführten Stählen ist nicht sehr groß, aber die Keramik attraktiv für die Turbine des Turboladers, sowie
spezifischen Grenzlastspielfestigkeiten der hochfesten für die druckschwellbelasteten Lagerkugeln. Die Dauer-
Aluminium-Legierungen liegen über den spezifischen festigkeit des Baustahls im ausgewählten normalisierten
Dauerfestigkeiten der Stähle. Der Nachteil der Alumi- Zustand beträgt etwa 70 % seiner Streckgrenze, während
nium-Legierungen ist das Fehlen einer Dauerfestigkeit, die Grenzlastspielfestigkeit σNG (107 ) der ausscheidungs-
aber vor allem der höhere Preis gegenüber Stählen. gehärteten Aluminium-Legierung AW6082 nur 35 % ih-
rer 0,2-%-Dehngrenze erreicht (vergleiche sD und sNG
in Abb. 15.90). Dies belegt einen wichtigen Vorteil von
Wechselbelastungen innerhalb des elastischen Ver- Stahl gegenüber Aluminium-Legierungen auch für Ka-
formungsbereiches können je nach Spannungsam- rosserieanwendungen. Der nutzbare elastische Bereich
plitude nach bestimmten Lastspielen Werkstoff- des Epoxidharzes senkt die Grenzlastspielfestigkeit bei
bruch verursachen. Das Ermüdungsverhalten wird
106 Zyklen auf 30 % seiner Streckgrenze. Die Verstärkung
mit Wöhler-Kurven (S-N-Diagrammen) beschrie-
mit Glas- oder Kohlenstofffasern erhöht die Ermüdungs-
ben. Die Zeitfestigkeit hängt von der Lastspielzahl
beständigkeit auf das Niveau der Faserstrukturen, aber
ab und ist mit der Basquin-Regel beschreibbar. Ei-
relativ große Herstellungsdefekte in Bauteilen aus fa-
nige Werkstoffe, vor allem ferritische Stähle, weisen
serverstärkten Kunststoffen limitieren die Ermüdungsbe-
eine Dauerfestigkeit auf, die aber wesentlich kleiner
ständigkeit von beispielsweise Windkraftturbinen. Damit
ist als die Elastizitätsgrenze.
wird deutlich, wie stark die Einsatzgrenzen bei schwin-
gender Belastung gegenüber den statischen Elastizitäts-
grenzen herabgesetzt werden müssen.
Frage 15.11.3
Was bedeuten die Begriffe Zeitfestigkeit, Grenzlastspiel- Mit den Ergebnissen der Wöhler-Kurve für reine Wech-
zahl, Zeitfestigkeitsverhältnis, Übergangsbereich, Dauer- selbelastungen mit der Zeitfestigkeit σN kann der Einfluss
festigkeit, Dauerfestigkeitsverhältnis? einer Mittelspannung σm = 0 auf die Zeitfestigkeit für die
gleiche Bruchlastspielzahl mit der Goodman-Regel abge-
Tab. 15.16 Beispiele wichtiger Kennwerte massiver, monolithischer Werkstoffe bei Raumtemperatur mit Zuordnung zu den Leitbeispielen (LB, fett) in Ergänzung zu Tab. 15.7: Dichte bei Raumtemperatur,
Elastizitätsmodul, Elastizitätsgrenze (Re , Rp0,2 oder Bruchmodul σ0 ), spezifische Elastizitätsgrenze, Kerbschlagarbeit KV , Bruchzähigkeitskennwert KIc , Dauer- bzw. Grenzlastspielzahlfestigkeit (σD oder mit *
markiert σNG ), Dauer- oder Grenzlastspielzahlfestigkeitsverhältnis (σD /Rm oder mit * markiert σNG /Rm ), spezifische Dauer- oder Grenzlastspielzahlfestigkeit, Grenztemperatur für Kriechvorgänge
Massivwerkstoffe ρ E Re , Rp0.2 , σ0∗ spezifische Kv KIc √ σD oder sD oder spezif. Dauer- Kriech-
in Mg/m3 in GPa in MPa Elastizitäts- in J bei RT in MPa m σNG ∗ sNG ∗ bzw. Grenz- beginn-
grenze in in MPa lastspiel*- temp.
MPa/(Mg/m3 ) Festigkeit in in °C
MPa/(Mg/m3 )
Kunststoffe
Silikonkautschuk (SIR) 1,1–1,5 (1-50) · 10−3 ca. 3 2–2,7 – 0,03–0,5 3–5 ∼
= 1/3 2–4,5 > −100
Polypropylen (PP) 0,9 0,9–2 20–37 22–41 – 3–4 12–18 ∼
= 1/2 13–20 > −10
Polyamid (PA 66 konditioniert) in 1,1 1,5–2,5 60–80 54–73 – 2–6 11–40* 0,1–0,6 10–36 > −60
LB-Ölwanne
Epoxy (EP) 1,2–1,3 2,5–4 50–80* 38–65 0,3–1 0,5–2 20–40 ∼
= 1/3 15–35 > −60
Keramiken & keramische Gläser
Acheson-Grafit 1,8–2,3 5–25 10–100* 4–55 – 0,2–0,4 8–80 ∼
= 0,8 4–40 > 1100
Diamant 3,2–3,5 1200 ca. 1200* 340–375 – 3–4 ca. 1000 ∼ 0,8
= 285–310 > 1750
γ-Al2 O3 (Tonerde) 3,5–4 240–380 350–590* 90–170 – 3–5 300–500 ∼
= 0,8 75–140 > 900
Siliziumkarbid α-SiC 3,1–3,2 350–450 400–610* 125–190 – 3–6 350–550 ∼
= 0,9 110–180 > 980
Siliziumnitrid β-Si3 N4 (Turbine) 3,2–3,4 290–330 700–900* 205–280 – 5–7 500–600 ∼
= 0,8 150–190 > 710
Borsilikat-Glas 2,2 64 22–32* 10–15 – 0,5–0,7 20–30 ∼
= 0,9 9–14 > 500
Metalle
Mg-Gusslegierung AZ91 1,8 45 125–165 70–90 – 10–20 80–110* ∼
= 0,6* 44–60* > 10
15.11
Al-Gussleg. AlSi12 (230, in LB- 2,7 73–75 120–150 44–55 7–10 15–40 90–120* ∼
= 0,4* 33–44 > 70
Motor)
Al-Knetleg. AlMgSi1 (AW6082) 2,7 70 250–300 90–110 – 40–70 120–130* ∼
= 1/2* 44–48* > 80
Ti6Al4V (α + β)-Legierung 4,4 115 ± 10 780–1080 180–245 40–60 50–100 600–700* ∼
= 0,6* 136–160* > 480
Messing CuZn30 8,55 114 300–400 35–47 60–75 30–70 200–300* ∼
= 1/2* 23–35* > 200
Grauguss GJV450 (LB-Motorblock) 7,1–7,3 160–185 450–550 60–80 25–45 30–50 200–300 ∼
= 1/2 30–45 > 300
Un-/niedriglegierter Stahl (LB- 7,85 210 ± 10 200–600 25–75 20–50 30–200 150–250 0,7–0,4 19–38 > 400
Zahnrad)
Rostfreier Stahl X5CrNi18-10 7,9 200 200–400 25–50 100–130 60–150 180–250* ∼
= 0,7* 23–32* > 390
Inconel718 Ni-Basis-Superlegierung 8,2 205 800–1100 100–135 8–12 120–150 700–900* ∼ 0,7*
= 85–110* > 380
(LB-Hochtemperaturturbine)
Werkstoffschäden durch Schwingungen
463
Werkstoffkunde
464 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
log
Spannungen; a unregelmäßige
Δσ
n2
log σa
Wechselbelastungen, die in b n2 NB2
σa2
=–
nach der Größenklasse der Span-
b·l
nungsamplituden σai geordnet n3
og
werden; c Die Anzahl der jewei- n3 NB3
σa3
NB
ligen Schwingungen ni bezogen
n4 NB4
+l
n4
auf die Bruchlastspielzahl NBi σa4
og
der entsprechenden monoto-
cb
nen Wechselbelastung aus der
Wöhler-Kurve stellt den bei σai
verbrauchten Lebensdaueranteil log n
dar, dessen Summe die Miner-
Werkstoffkunde
Regel ergibt q
n1 n2 n3 nq ni
+ + + … + = ≤1
NB1 NB2 NB3 NBq i =1 NBi
a b
schätzt werden, solange die Oberspannung kleiner ist als im verformungsverfestigten Material im elastischen Be-
die Elastizitätsgrenze: reich. Bei Wechselbelastung bis zur Dehngrenze plastifi-
ziert das Material durch die Spannungsumkehr bei jedem
σm
σN (σm ) = σN (σm = 0) · 1 − Zyklus in die Gegenrichtung. Tatsächlich können eini-
Rm ge Spannungsamplituden bei Metallen mit Verformungs-
bei σo = (|σm | + σa ) < Rp . verfestigung die Dehnungsamplituden vermindern. Die
Verfestigung bzw. Entfestigung eines Werkstoffes mit je-
Daraus ergibt sich, dass die Zeitfestigkeit umso mehr dem Zyklus spannungsgesteuerter Schwingungen ist in
abnimmt, je näher die Mittelspannung an die Elastizitäts- Abb. 15.93a schematisch dargestellt. Wird die Dehnungs-
grenze herankommt. amplitude mit plastischem Anteil konstant gehalten, be-
Im Bauteileinsatz sind die Schwingungsbelastungen oft wirkt die Verfestigung eine Erhöhung der Spannungs-
nicht monoton, sondern die Amplituden ändern sich amplitude, wie es in Abbildung 15.93b im unteren Dia-
regelmäßig oder statistisch (z. B. im Leitbeispiel Zahn- gramm gezeigt wird. Der umgekehrte Fall einer Entfesti-
rad). Die Bauteillebensdauer lässt sich bei derartigen gung kommt dann vor, wenn der Werkstoff bereits ver-
Betriebsbelastungen im elastischen Bereich nach der Re- formungsverfestigt ist und eine hohe Versetzungsdichte
gel von Miner abschätzen. Abbildung 15.92a zeigt eine aufweist. Dann können die Verformungszyklen Gleitebe-
unregelmäßige Folge von Spannungsamplituden, die in nen für die Versetzungen gleitfähiger machen („Schnei-
Abb. 15.92b nach Größenklassen geordnet sind. Es wird sen durch den Versetzungswald schlagen“), sodass mit
nun angenommen, dass die erfolgten Schwingungen ni den Verformungszyklen eine Entfestigung entsteht. Diese
mit einer Amplitude σa,i einen Teil NBi der Lebensdau- zeigt sich durch folgende Konsequenzen: bei konstanter
er verbrauchen, den der Werkstoff bei dieser Amplitude Spannungsamplitude erhöht sich die Dehnungsampli-
hätte, wenn diese konstant wäre. Die Summe der bei σi tude und bei konstanter Dehnungsamplitude wird die
verbrauchten Lebensdaueranteile ni /NBi darf 100 % des Spannungsamplitude vermindert (siehe Entfestigungszy-
Zeitfestigkeitspotenzials des Werkstoffs nicht überschrei- klen in Abb. 15.93).
ten, woraus sich die Miner-Regel in Abb. 15.92c ergibt.
Sowohl ver- als auch entfestigende Werkstoffe werden
durch die Lastwechsel geschädigt, indem sich Verfor-
mungsporen im Inneren und Gleitbänder an der Ober-
Ermüdungsversagen durch niedrige fläche bilden, an denen Risse entstehen und wachsen.
Plastifizierende Wechselbelastung führt nach bestimmten,
Lastspielzahlen mit plastischer Verformung relativ niedrigen Lastspielzahlen mit Amplituden unter-
halb der statischen Zugfestigkeit zum Bruch. Bei dem ein-
Was passiert, wenn die Spannungs- bzw. Dehnungsam- gangs erwähnten Beispiel eines gezogenen (verformungs-
plitude den elastischen Bereich übersteigt? Dies geschieht verfestigten) Drahtes bewirkt das plastifizierende Biegen
sicher, wenn Werkstoffe ohne Streckgrenze im ersten eine Entfestigung und mit weiteren Biegezyklen eine
Zyklus bis zur 0,2-%-Dehngrenze belastet werden. Die Schädigung durch Einschnürung und Rissbildung, die
weiteren Zyklen einer Zugschwellbelastung mit Ampli- ohne Erreichen der statischen Biegefestigkeit zum Bruch
tuden kleiner oder gleich der 0,2-%-Dehngrenze erfolgen führt. Wird ein Karosserieteil aus kaltgewalztem Stahl-
15.11 Werkstoffschäden durch Schwingungen 465
Werkstoffkunde
ε Wechselbeanspruchungen
Thermische Spannungen bauen sich vor allem in Werk- steigender Temperatur nehmen bei allen Werkstoffen so-
stoffverbunden mit unterschiedlichen Ausdehnungsko- wohl der E-Modul (Bonusmaterial zu Abschn. 15.5: Ener-
effizienten und E-Moduln auf, wenn also gilt: E1 α1 = gieelastizität, Abb. 15.1a) als auch die Elastizitätsgrenze
E2 α2 . Selbst bei Temperaturänderungen, die in beiden ab. Bei Polymeren ist die Abnahme der Steifigkeit und
Werkstoffen ausgeglichen verlaufen, entsteht eine ther- Festigkeit wegen der schwachen Sekundärbindungen re-
misch induzierte Spannung Δσ = (E1 · α1 − E2 · α2 )ΔT, lativ stark, besonders über der Glasübergangstempera-
was beim Bimetallthermometer genützt wird (siehe Auf- tur (Bonusmaterial zu Abschn. 15.5: Energieelastizität,
gabe 15.4f), aber bei hohen Lastspielzahlen zur Ermüdung Abb. 15.1b und Abb. 15.2). Die dominanten Atombin-
des Werkstoffpartners mit geringerer Temperaturwech- dungen der Keramiken bewirken eine geringe Tempe-
selbeständigkeit führen kann. raturabhängigkeit der mechanischen Eigenschaften. Die
Elastizitätsgrenze, also die Spannung, bei der plastische
Verformung einsetzt, sinkt bei allen Werkstoffen mit stei-
gender Temperatur proportional zu ihrer Schmelztempe-
15.12 Festigkeit bei höheren ratur, da die Beweglichkeit der Atome zunimmt.
Temperaturen
Zahlreiche Maschinen und Anlagen werden erhöhten Die Beweglichkeit der Atome
Temperaturen ausgesetzt. Abbildung 15.96 zeigt einige steigt mit der Temperatur
Beispiele für den Einsatz der Werkstoffgruppen in ver-
schiedenen Temperaturbereichen. Die Obergrenze für die
mechanische Belastbarkeit von Werkstoffen wird durch In Gasen und Flüssigkeiten sind die Atome bzw. Molekü-
deren Temperaturstabilität gesetzt. Nur kubisch raum- le leicht verschiebbar und können sich durch Konvektion
zentrierte Metalle (im Speziellen ferritische Stähle) und bewegen. In Festkörpern nehmen die Atome bestimmte
Kunststoffe erfahren eine Versprödung bei Temperatu- Positionen ein, für deren Bewegung Platzwechselvorgän-
ren unterhalb der Raumtemperatur (Abschn. 15.9). Mit ge erforderlich sind. Diese werden durch freie Atom-
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 467
log σa
Werkstoffkunde
terschiedlicher Steigung: die Manson-Coffin-Lebens-
dauerregel im plastischen Bereich (Exponent c) und die b = (0,06–0,13)
Basquin-Lebensdauerregel im elastischen Bereich (Ex- Rp0,2
ponent b) bei Anwendung des Hooke’schen Gesetzes.
Die Spannungsamplituden ergeben nur im elastischen
Schwingungsbereich das Potenzgesetz nach Basquin.
Die Exponenten und die Konstanten müssen für jeden log σa = –b·log NB + log cb
a
Werkstoff experimentell bestimmt werden.
Manson-Coffin:
A εp · NBc = cc εa = σa / E < Rp / E
εa = Rp /E
Abb. 15.95 Lebensdauerregeln nach Manson-Coffin für die Niedrig-Last-
spielzahlermüdung (LCF) mit plastifizierenden Amplituden (rot ) und nach
Basquin für die Zeitfestigkeit im elastischen Bereich (HCF); a doppellogarith-
log εa
mische Darstellung der Spannungsamplitude über der Bruchlastspielzahl mit log εp = –c·log NB + log cc log εa = –b·log NB + log (cb /E )
einer Geraden der Basquin-Regel unterhalb Rp ; b doppellogarithmische Dar-
stellung der Dehnungsamplituden über der Bruchlastspielzahl mit Geraden
für die plastischen Dehnungsamplituden gemäß Manson-Coffin und für die
elastischen Dehnungsamplituden gemäß Basquin 1/4 102 ~ 104
= 106
b log NB
Abb. 15.96 Beispiele für Maschinen und Anlagen mit erhöhten Einsatztemperaturen und die dafür geeigneten Werkstoffgruppen
468 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Diffusionskoeffizient ln (D in m2/s)
Nickel in Eisen, Mangan in Eisen, 10–8
Zink in Kupfer und Kupfer in Alu- C = Einlagerungselement
minium, sowie von interstitiellem 10–10 C in
Kohlenstoff in austenitischem (ku- krz F
e
bisch flächenzentriertem) Eisen, –12
10 Cu in C in kfz Fe
in ferritischem (kubisch raumzen-
Al
triertem) Eisen (außerhalb der
10–14
Gleichgewichtsphasenbereiche Fe Ag
Werkstoffkunde
gestrichelt ) und in hexagonal –EA/R in in A C in
–16 kfz g hdp
dichtestem (hdp) α-Titan (bei 10 Fe Ti
Mn Cu
hohen Temperaturen wegen Kar- Fe in C
in in u
bidbildung gestrichelt ) 10–18 kfz krz Zn in Cu
Fe Fe
10–20
Ni in kfz Fe
10–22
Substitutionselemente
10–24
0,5 1,0 1,5
Temperatur 1/T in 1000/K
c cA = 1 cB = 1
Ts T in K 0,4 Ts
2000 1500 1000 800 700 500
cB = 0 cA = 0 10–8
Mischzone
EAK > EAKG > EAS an der –EAS /R
Oberfläche
Diffusionskoeffizient ln (D in m2/s)
10–10
–EAKG /R
an Korngrenzen
gleichmäßig cA + cB = 1 10–12 und entlang
Versetzungen
–EAK /R
10–14
im
ungestörten
Kornvolumen
10–16
Abb. 15.99 Schematische Darstellung der Interdiffusion zweier Stoffe A und B 0,5 1 1,5 2
mithilfe von Leerstellen; der Materialfluss erzeugt eine Mischzone, bis der örtli- 1/T in 1000 ∙ K–1
che Konzentrationsausgleich beider Stoffe erreicht wird
Abb. 15.100 Arrhenius-Diagramm der Selbstdiffusionskoeffizienten von Silber
als Beispiel für die Unterschiede zwischen den Diffusionskoeffizienten und de-
In Festkörpern gibt es an der Oberfläche und in polykris- ren Aktivierungsenergien im Korn EAK , an Korngrenzen und Versetzungen EAKG
tallinem Material entlang Korngrenzen wesentlich leich- sowie an der Oberfläche EAS ; Querschnitt eines Korngefüges mit Probenrand
tere Diffusionswege als im Werkstoff- bzw. Korninneren. (oben)
470 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Leerstellenkonzentration ln nv/N
L
L
Die Leerstellenkonzentration bei einer Gesamtzahl N L
von Gitterpositionen in einem Festkörper nv /N = L
–8
Cv exp(−EAV /kT ) steigt proportional mit einer Kon- Anstieg –(EAV /k)
Werkstoffkunde
che wird schon unterhalb der homologen Temperatur von Versetzungen können Gleitebenen
0,4 Ts (in K) mit relativ kleiner Aktivierungsenergie EAS
durch thermische Aktivierung verlassen
signifikant. Ab etwa 0,4 Ts gewinnt die Diffusion entlang
der Korngrenzen und Versetzungen (EAKG ) an Bedeu-
tung, aber im Korn mit der höchsten Aktivierungsenergie In Abschn. 15.6 wurde das Gleiten der Versetzungen
EAK erst ab etwa 0,7 Ts . Die Atombindungen in inter- ab einer bestimmten kritischen Schubspannung beschrie-
metallischen Phasen werden bei Temperaturen ab 0,5 Ts ben. Bei erhöhter Temperatur nehmen die Bindungskräfte
schwächer, sodass die Versetzungsbewegung in diesen zwischen den Atomen ab, was an der Abnahme des E-
Überstrukturen erleichtert wird. Werkstoffe aus interme- Moduls erkennbar ist (Bonusmaterial zu Abschn. 15.5:
tallischen Phasen verlieren bei hohen Temperaturen ihre Energieelastizität, Abb. 15.1) und eine Abnahme der kri-
Sprödigkeit und werden verformbar. In Keramiken tritt tischen Schubspannung bewirkt. Darüber hinaus wird
bei hohen Temperaturen nur Korngrenzendiffusion in die Wirkung der Gleithindernisse durch eine Tempera-
Erscheinung, was diese mit langsamer Geschwindigkeit turerhöhung vermindert. Versetzungssegmente können
verformbar macht. Je feiner ihr Korn ist, umso besser ver- ihre Gleitebene durch Diffusion über kleine Distanzen
formbar werden sie. verlassen, um Gleithindernisse zu überwinden. Abbil-
dung 15.101 skizziert, wie eine Versetzung über eine Aus-
scheidung oder ein Dispersoid „klettern“ kann. Wenn in
der Gleitebene eine Schubspannung auf eine Versetzung
Thermisch aktivierte Platzwechselvorgänge von
wirkt, entsteht eine sogenannte Kletterkraft aus der Wech-
Atomen erfolgen in kristallinen Materialien über
selwirkung mit der abstoßenden Kraft des Gleithindernis-
Leerstellen, in amorphen Stoffen durch freie Volumi-
ses. Diese Kräfte bewirken, dass die ursprünglich unge-
na. Die Diffusionsgeschwindigkeit steigt exponenti-
richteten Platzwechselvorgänge in die Zugrichtung aus-
ell mit der Temperatur. Diffusion bewirkt mit der
gerichtet werden. Das Wegdiffundieren von Atomen vom
Zeit eine Abnahme der Konzentrationsgradienten
Versetzungskern ins Korn und wesentlich schneller ent-
bzw. der chemischen Potenziale.
lang der Versetzung ermöglicht die Verschiebung der Ver-
setzung aus der Gleitebene heraus, was als nicht konser-
vative (thermisch aktivierte) Versetzungsbewegung mit
Klettern bezeichnet wird. Das Versetzungshindernis kann
durch die lokal auftretende Diffusion überwunden wer-
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 471
ion
Versetzung fus g Diffusion
klettert Dif ntlan an der Grenzfläche
Atome e
diffundieren der Ausscheidung
weg oder des Dispersoids
c b
Werkstoffkunde
Abb. 15.101 Schematische Darstellung des Kletterns einer Versetzung um eine Ausscheidung oder ein Dispersoid; a Eine Schubspannung τ erzeugt eine Gleitkraft,
und mit der Abstoßungskraft des Versetzungshindernisses resultiert eine Kletterkraft, die den Versetzungskern durch Diffusion verschiebt, wodurch b die Versetzung
das Hindernis überwindet; c schematische Darstellung des Klettervorganges einer senkrecht zur Zeichnungsebene verlaufenden Stufenversetzung
250 gen auch über 600 °C. Titan ist bis 500 °C den anderen
CFK Legierungen überlegen, aber wesentlich teurer. Berylli-
200 um ist wegen seiner Giftigkeit und seines hohen Preises
Rp0,2 /ρ in MPa/(g/cm³)
Glühzeit t = konst.
sekundäre
Rekristallisation
1 mm
d
a 103 600
Korngröße in mm2
500
C
1 400
n°
Ti
300
10–3
3 10 50 90
100 µm Dickenabnahme
b c durch Walzen in %
Abb. 15.104 a Längsschliff mit gestreckten Körnern eines kaltgewalzten Stahlblechs; b rekristallisiertes Gefüge dieses Blechs; c Abhängigkeit der Korngröße von
Walzverformung und Glühtemperatur bei konstanter Glühdauer für ein Al-Blech; d Lichtmikroskopie eines rekristallisierten Gefüges mit einem Bereich sekundärer
Rekristallisation mit extremem Kornwachstum
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 473
verformtes Gefüge
t = konst.
Korngröße
T = konst.
Keimzahl
a Vkrit Verformungsgrad φ
a
Werkstoffkunde
Korngröße
t = konst.
V = konst.
10%
Keimzahl
b TRekristallisation Glühtemperatur T
Korngröße
V = konst.
T = konst.
70%
c Glühdauer t
Bruchdehnung in %
500 Temperatur reduzierte kritische Schubspannung für Ver-
40 setzungsbewegung und die verminderte Verformungs-
verfestigung genutzt. Während der Warmumformung
hebt die dynamische Erholung die Verformungsverfes-
400 30 tigung großteils auf. Über 600 °C beginnt dynamische
Duktilität Rekristallisation, die die Warmumformung (Abschn. 30.3)
(Bruchdehnung) 20 bei relativ niedriger Fließspannung ermöglicht. Ab 600 °C
300
und ϕ = 0,3 (∼ = halbierter Querschnitt) wird deutliche
Werkstoffkunde
20
Korn-
10 wachstum Kriechen ist die thermisch aktivierte, plastische
0 Verformung bei elastischer Beanspruchung
0 300 400 500 600 700
b Wärmebehandlungstemperatur in °C
Kunststoffe sind nahe und über der Glasübergangstem-
Abb. 15.107 a Verlauf der Fließspannung (Dehngrenze) und der Bruch- peratur besonders anfällig für zeitabhängige Verformung
dehnung (Duktilitätsmaß) eines Stahls mit dem Rekristallisationsfortschritt;
b Korngröße in Abhängigkeit von der Wärmebehandlungstemperatur bei glei-
unter Belastung. Die Moleküle können sich in den amor-
cher Glühzeit mit Skizze der Gefügeentwicklung phen Bereichen verschieben, sodass sich Kunststoffe aber
auch Gläser visko-elastisch verhalten (Abb. 15.124). Auf-
grund der Frequenz der Platzwechselvorgänge der Ato-
Verformungsverfestigung 20 °C me in Metallen und Keramiken können sie sich ab etwa
800 0,4 Ts unter andauernder Einwirkung mechanischer Be-
Fließpannung kf in MPa
Nach Verformung erzeugt statische Rekristallation schwindigkeit mehr Rekristallisationskeime und somit
neue Körner; Schmieden, Warmwalzen, Strangpressen kleinere Körner als die niedrigere. Verschiedene Verfor-
werden durch dynamische Erholung und Rekristallati- mungsgeschwindigkeiten ϕ̇ zwischen Schmieden und
on ermöglicht. Warmpressen bewirken unterschiedliche, dynamische
Rekristallisation bei gleichem Verformungsgrad und
Die Temperatur, bei der statische Rekristallisation nach
gleicher Verformungstemperatur. Bei gleicher Tempe-
entsprechender Vorverformung einsetzt, hängt von der
raturführung bei der Verformung einer Legierung wird
Anschmelztemperatur ab. Abbildung 15.109 vergleicht
ihr Pressgefüge grobkörniger sein als ihr Schmiedege-
sie mit der Rekristallisationstemperatur TR der Rein-
füge.
Werkstoffkunde
metalle, die sich kaum von denen der zugehörigen
Basislegierungen unterscheidet. Die mittlere Gerade
in diesem Diagramm entspricht der Beziehung TR ∼ = TS in K
1000 2000 3000
0,4Ts . Diese homologe Temperatur (bezogen auf die 1500
Schmelztemperatur in K) gibt den Beginn signifikan- Hf
Rekristallisationstemperatur in °C
TR in K
auch während der Verformung Entfestigungsvorgän- g Re W
mun
ge statt (dynamische Erholung oder Rekristallisati- 1000 for
um Mo Ta
on), die für die Warmumformung genutzt werden. arm
Magnesium- und Kupfer-Legierungen können schon rW
de Nb 1000
ch Cr
ab 200 °C rekristallisieren, während dies für Stähle und e rei
Nickel-Basislegierungen erst ab 450 °C zu erwarten rb Pd
u Ti
500 rat der
ist. Die Refraktärmetalle weisen die temperaturstabils- pe Be Pt ereich
Te
m Ni Fe
p e r aturb formung
ten Gefüge auf. Warmumformung nützt nicht nur die Au Tem armum
Mg Al Halbw 500
mit steigender Temperatur sinkende Fließspannung, Ag Cu ung
sondern auch die dynamischen Erholungs- und Rekris- Pb Zn Kaltumform
0
tallisationsvorgänge während der Verformung. Dies Cd
Der Proportionalitätsfaktor ANH ist materialabhängig ex- Für das Korngrenzenkriechen muss der Faktor AC ex-
perimentell zu bestimmen (siehe Beispielbox „Kriechprü- perimentell bestimmt werden. Coble-Kriechen ist umso
fung“). Aufgrund der wesentlich höheren Diffusionsge- rascher, je kleiner das Kornvolumen ist, während das
schwindigkeit an den Korngrenzen dominiert bei mittle- Nabarro-Herring-Kriechen umgekehrt proportional zum
ren und kleinen Korngrößen die raschere Korngrenzen- Kornquerschnitt ist. Für beide Mechanismen des Diffu-
diffusion (DKG ), was als Coble-Kriechen bezeichnet wird: sionskriechens gilt ein linearer Zusammenhang mit der
angelegten Spannung. Während kleine Korngrößen die
statische Festigkeit bei Raumtemperatur erhöhen (Fein-
σ kornhärtung, Abschn. 15.6), vermindern sie die Kriech-
ε̇ D,C (σ, T, d) = AC DKG (T ) . (15.27)
d3 beständigkeit. Einkristallschaufeln in Gasturbinen sind
476 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Kriechmechanismen führen bei Belastungen im elasti- derung und eventuell eine kleine nicht proportiona-
schen Bereich bei Temperaturen ab ca. 0,4 Ts zu zeitab- le Rückdehnung, sowie die thermische Kontraktion
hängiger plastischer Verformung durch Diffusionsvor- während der Abkühlung. Die Probe kann nach der
gänge in Richtung der Zugspannung. Die Temperatur- Vermessung der Längenänderung auf eventuelle Schä-
und Spannungsabhängigkeit der Kriechrate wird in digungen (z. B. Querschnittsverjüngung) untersucht
Kriechprüfständen gemäß DIN EN 10 291 und ISO 204 werden. Der unterbrochene Kriechversuch kann durch
gemessen (Abb. 15.112a). Wiedereinbau der Probe, Aufheizen und Belastung
fortgesetzt werden. Für unterbrochene Kriechversu-
Die Längenänderungen der Probe vor Beginn des che rechnet man mit etwa 6000 h Prüfdauer pro Jahr.
Werkstoffkunde
Kriechversuches sind in Abb. 15.112b veranschaulicht. Für 30.000 h Kriechzeit ist mit einer Prüfdauer von
Während des Aufheizens dehnt sich die Probe je nach ca. 5 Jahren zu rechnen, was für Kriechbeständigkeits-
Ausdehnungskoeffizient α proportional der Tempe- prognosen über Einsatzzeiten von 100.000 h erforder-
raturerhöhung ΔT (Abschn. 15.4). Bei der Belastung lich ist.
dehnt sich die Probe elastisch gemäß dem E-Modul bei
der Prüftemperatur, und sie erfährt möglicherweise ei- Für Kunststoffe wird oft ein Kriechmodul angegeben,
ne kleine plastische Anfangsdehnung wie bei einem der für eine Temperatur bei bestimmter Belastungs-
Zugversuch. Sobald die Temperatur und die Belastung dauer mit konstanter Spannung den Quotienten aus
konstant auf die Probe einwirken, beginnt die Kriech- angelegter Spannung und Gesamtdehnung angibt:
periode, in der die Kriechdehnung der Probe ε k (t) mit
einer Dehnmessuhr kontinuierlich gemessen werden σ
ETk (t) = . (15.29)
kann. Für sehr lange Kriechversuche (über 1 Jahr) ist es ε t ( t) T
zuverlässiger, den Versuch nach bestimmten Perioden
zu unterbrechen und die plastische Längenänderung Beginnend mit dem E-Modul bei der jeweiligen Tem-
ε p (t) der abgekühlten Probe zu messen. Während der peratur wird der Kriechmodul mit zunehmender
Entlastung erfährt die Probe eine elastische Rückfe- Kriechdehnung immer kleiner.
Gesamtdehnung εt
Spannung σ
ei T
ei T
Anfangs-
gb
gb
dehnung
Probe
tun
tun
l0 T
tlas
thermische nicht-
las
Be
Dehnung
En
proportionale
beim Rückdehnung
Aufheizen
Heizelemente αΔT εi
Abb. 15.112 a Schema eines Kriechprüfstandes, in dem eine Probe mit der Ausgangsmesslänge l0 auf eine konstante Temperatur T gebracht und über
ein Gewicht mit einer konstanten Spannung belastet wird (die Form des Hebelarms (l2 :l1 ) gleicht bei konstanter Last die Spannungserhöhung durch die
Querschnittsverminderung der Probe während der Dehnung aus); b Dehnung einer Kriechprobe während des Aufheizens auf Prüftemperatur, während der
Belastung im elastischen Bereich tritt möglicherweise gleichzeitig ein plastischer Anfangsdehnungsanteil ε i auf; dann beginnt die Kriechdehnung ε k (t ), die
in-situ kontinuierlich oder bei Versuchsunterbrechungen gemessen werden kann. Bei Entlastung erfolgt die Rückfederung und möglicherweise eine kleine
plastische Rückdehnung ε r (mechanische Hysterese). Bei unterbrochener Kriechversuchsführung schrumpft die Probe während der Abkühlung und danach
wird die bleibende Dehnung ε p (t ) vermessen und mit der Ausgangsmesslänge bei Raumtemperatur verglichen
478 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Beispiel: Hochtemperaturturbine
Am Beispiel eines Strahltriebwerkes wird der Bedarf binen mittels Feingussverfahren gegossen werden (Ab-
an temperaturbeständigen Werkstoffen dargestellt. Su- schn. 30.2). Um eine möglichst hohe Brennraumtempe-
perlegierungen werden auch für Turboladerturbinen ratur zu erzielen, werden die Turbinenschaufeln von
eingesetzt. innen gekühlt. Die Kriechbeständigkeit der Turbinen-
schaufeln wird erhöht, indem die durch die Zentrifu-
Extrem hohe Temperaturen (über 1000 °C) werden galkräfte beanspruchten Korngrenzenflächen reduziert
nicht nur im Leitbeispiel des Turboladers von Verbren- werden. Die Gefüge von Brennraumturbinenschaufeln
nungsmotoren, sondern auch im Brennraum von sta- werden in Abb. 15.113 verglichen: ein konventionelles
tionären Gaskraftwerken und in Flugzeugtriebwerken Korngefüge, gerichtet erstarrtes Gefüge mit in die Zen-
Werkstoffkunde
1500 °C
T
800 °C
Verdichter Brennraum Nachbrenner
200 °C
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 479
log εs
•
•
σ0 = konst. log εs = n · log σ + A
Steigung
εe n = 3 bis 5
εt
Versetzungs-
ε2/3
kriechen
ε0
ε1/2 εk = f (σ, T, t, Struktur)
εp
εi
εr
Werkstoffkunde
primäres sekundäres tertiäres
(Übergangs-) (stationäres) Kriechen Kriechen
Extrapolations- Bereich kleiner Spannungen, n ≈ 1
Kriechen 1 2 3
fehler Diffusionskriechen
t0 t1/2 t2/3 tm
a Kriechdauer t log σ
nären Kriechrate von der angelegten Spannung; die Steigung der Geraden-
T = konst.
abschnitte entspricht dem Spannungsexponenten n , der charakteristisch für
σ0 = konst.
den vorherrschenden Kriechmechanismus ist. Im Bereich hoher Kriechraten
ε• in s–1
stationäre Kriechrate und Spannungen gilt kein Potenzgesetz mehr. Eine Extrapolation des Verset-
ε•s zungskriechens zu niedrigen Kriechraten im Bereich des Diffusionskriechens
unterschätzt die tatsächliche Kriechrate
1 2 3
Gitterdiffusion
gang vom stationären zum tertiären Kriechstadium (3) kennzeichnet. b Die Ab-
leitung der Dehnungskurve nach der Kriechzeit ergibt die Kriechgeschwindigkeit
ε̇(t ), aus der die stationäre Kriechrate ε̇ s (t ) bzw. deren Minimum abzulesen ist rein elastische Diffusionskriechen
Verformung
10–4 Korngrenzen-
diffusion
Die Temperaturabhängigkeit der Verformungsmechanis-
men in Metallen ist in Abb. 15.116 dargestellt. Durch die 10–5
Normierung auf den temperaturabhängigen Schubmodul 0 0,5 1
G und die Schmelztemperatur gelten diese Verformungs- T/Ts
bereiche in etwa für alle Metalle. Bei Spannungen unter
einem Promille des Schubmoduls wird das Diffusions- Abb. 15.116 Legierungsunabhängige Übersicht über die vorherrschenden
Kriechmechanismen mittels der logarithmischen Auftragung der auf den Schub-
kriechen (n = 1) erst ab 0,5 Ts wirksam, zuerst die Korn-
modul G (T ) normierten Kriechspannung σ in Abhängigkeit von der Belastungs-
grenzendiffusion und die Diffusion entlang Versetzun- temperatur, die auf die Anschmelztemperatur Ts bezogen ist: unterhalb der
gen, bei höheren Temperaturen auch die Gitterdiffusion Elastizitätsgrenze (Fließspannung, ca. 1 % des Schubmoduls) geht die elastische
im Korn. Um 0,5 Ts bei Spannungen von etwa 10−3 G kann Verformung um 0,5 Ts in Versetzungskriechen über. Unter 1 Promille des Schub-
superplastische Verformung genutzt werden, sofern klei- moduls dominiert über 0,5 Ts das Diffusionskriechen (Gitterdiffusion im Korn,
ne Korngrößen (unter 50 µm) vorliegen. Versetzungskrie- Kerndiffusion entlang Versetzungen und Korngrenzendiffusion entlang innerer
Grenzflächen)
chen (n = 3 bis 5) wird unterhalb der Elastizitätsgrenze
(etwa bei 1 % der Schubspannungsdehnung) ab 0,5 TS do-
minant.
nen zunehmen. Im tertiären Kriechstadium steigt die
Am Ende des sekundären Kriechens treten Kriechporen, Kriechrate, und der Werkstoff wird bleibend geschä-
Querschnittsverjüngungen oder Oberflächenrisse auf, die digt. Meist beginnt die Kriechschädigung im Inneren des
durch Leerstellendiffusion und Spannungskonzentratio- Werkstoffes. An Gefügeinhomogenitäten (Korngrenzen-
480 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Kriechdehnung εk in %
Stadium; b Längsschliff einer
nach 37.000 h gebrochenen Zunahme der
Kriechprobe eines hochle- Kriechschädigung
gierten, austenitischen Stahls
X8NiMoNb16-16, der bei 650 °C
mit 180 MPa belastet war; der Po-
renanteil (schwarz ) nimmt gegen Beginn der
die Bruchfläche hin zu; die Skizze Kriechschädigung
veranschaulicht die Bildung von Korn-
grenzen-
sekundär
Korngrenzenporen
primär
poren
tertiär
Werkstoffkunde
tripeln, Einschlüssen etc.) werden Zugspannungskonzen- ε (analog zur Dehngrenze im Zugversuch) nach unter-
trationen wirksam. Dorthin diffundieren Leerstellen, die schiedlichen Belastungen bei einer Temperatur T darge-
Poren bilden, die den tragenden Querschnitt vermin- stellt werden. Als absolute Beanspruchungsgrenze gilt die
dern und die Spannungskonzentration erhöhen. Die Leer- Standzeit, bei der der Bruch eintritt. Mit den Kriechkur-
stellenkonzentration im Festkörper regeneriert sich im ven für verschiedene Spannungen bei einer Temperatur
thermodynamischen Gleichgewicht, während die Poren wird in Abb. 15.118a gezeigt, wie die 0,2-%-Zeitdehngren-
zunehmen. Die steigenden lokalen Spannungen führen zen abgelesen werden. Die doppellogarithmische Dar-
zu plastischen Verformungen und zu Rissfortschritt bis stellung der Zeitdehngrenzen über die Zeit ergibt eine
zum Bruch. Abbildung 15.117 korreliert die Kriechkur- Gerade mit einer Steigung mt . Die Abhängigkeit der Be-
ve in ihrem tertiären Stadium mit der Gefügeschädigung anspruchungsdauer bei den Zeitdehngrenzen für 0,2 %
durch Porenbildung im Laufe eines Langzeitversuches. und 1 % bleibende Dehnung, sowie die Zeitstandfestig-
Die Porengröße und der Porenvolumenanteil nehmen in keit über der Standzeit sind für einen warmfesten Stahl
Richtung der Bruchfläche wegen der spannungsinduzier- bei 500 °C Kriechtemperatur in Abb. 15.118 aufgetragen.
ten Diffusion um die Poren zu, sodass die lokalisierte Die Steigung der Geraden mt in dieser doppellogarith-
plastische Verformung meist eine Einschnürung bewirkt, mischen Darstellung spiegelt die Unterschiede in den
bevor die Probe bricht. Spannungsexponenten der Kriechmechanismen wider. In
diesem Beispiel wird veranschaulicht, dass eine Extrapo-
lation aus dem Stadium des Versetzungskriechens (Stei-
∼
Werkstoffkennwerte der Kriechbeständigkeit gung mV t = 0,1) über Belastungsdauern von mehr als
sind Kriechrate, Zeitdehngrenze 1000 h in das Stadium des Diffusionskriechens (steilere
∼
Steigung mD t = 0,15) zur Überschätzung der Betriebsdau-
und Zeitstandfestigkeit er führt. Für sehr lange Betriebszeiten (z. B. für thermische
Kraftwerksanlagen) sind auch sehr lange Prüfzeiten erfor-
Das primäre Kriechstadium ist kaum quantitativ vorher- derlich (Abb. 15.119).
sagbar, da es von der Versetzungsanordnung im Gefüge
des Ausgangszustandes des Werkstoffes abhängt. Mit der Die zeitliche Abhängigkeit der Zeitstandfestigkeit eines
stationären Kriechrate kann die Kriechdehnung im Laufe Werkstoffes bei drei verschiedenen Temperaturen wird
der Beanspruchungsdauer eines Werkstoffes bei konstan- in Abb. 15.119a gezeigt, woraus die Standzeiten tm (σ, T )
ter Spannung und Temperatur abgeschätzt werden: abgelesen werden können. Die Temperaturabhängigkeit
der Kriechrate hängt über den Diffusionskoeffizienten
ε k (t)|T,σ ∼
= ε̇ s · t,
exponentiell von der Temperatur ab. Das drückt sich
bzw. die Beanspruchungsdauer für eine bestimmte durch gekrümmte Standzeitlinien in doppellogarithmi-
Kriechdehnung: schen Darstellungen aus, wie es Abb. 15.119b für einen
ε niedriglegierten, ferritischen Stahl bei zwei Temperaturen
tε |T,σ = k . zeigt. Die zulässigen Betriebsbedingungen (Belastungs-
ε̇ s
spannung, Temperatur) können aus Bruchspannung-
Für die maschinenbauliche Anwendung werden meist Standzeit-Kurven abgelesen werden. Abbildung 15.122
experimentelle Kriechdaten herangezogen, die als Zeit- vergleicht die Bruchspannungen σB100 h (T ) verschiedener
dehngrenze σεT für eine zulässige, bleibende Dehnung Metalle und ihrer Legierungen, die nach 100 h Beanspru-
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 481
400
σ3 > σ2 T = konst.
warmfester Stahl
bei T = 500°C
σ2 > σ1 300
Zugspannung σ in MPa
Ze
εk in %
Ve itstan
rse
σ1 tzu dfest
ng i
1-% skr gkeit
0,2 -Ze iec
200 itd hen
ehn
gre Ex
nze tra
0,2 po
-% lat
Di
-Ze ion
itde
ffu
hng (n sfe
= 3 hler
sio
ren
ns
ze bis
kr
log σ T0,2 = mt · log t + At 5)
iec
Werkstoffkunde
he
(n
100
log σ
n
=
1)
Mechanismenwechsel
0
10 101 102 103 104 105
a log t b Zeit tm in h
Abb. 15.118 a Schematische Kriechkurven bei einer Temperatur mit der abgelesenen Kriechdauer für 0,2-%-Kriechdehnung für verschiedene Spannungen, die als
0,2-%-Zeitdehngrenzen in doppellogarithmischer Darstellung über die zugehörige Zeit eine Gerade mit der Steigung mt ergeben; b Linien für die Zeitdehngrenze und
Zeitstandfestigkeit eines Stahls bei konstanter Temperatur im Stadium des Versetzungskriechens (mtV ∼
= 0,1) und Übergang zum Diffusionskriechen (mtD ∼ = 0,15),
wobei eine Extrapolation des Versetzungskriechens zu einer Lebensdauerüberschätzung führt
103
500 °C
T1 < T2 < T3
Kriechspannung log σB
Kriechspannung σB in MPa
102
T
σ B3 (tm)
600 °C
T1
101
T2
T3
100
Beanspruchungsdauer bis Bruch 100 101 102 103 104 105
a Standzeit log tm b Standzeit tm in h
Abb. 15.119 a Schematische, doppeltlogarithmische Standzeitlinien eines Werkstoffes für drei Temperaturen; b Bruchspannung in Abhängigkeit von der Standzeit
des Stahls 13CrMo4-4 für zwei Beanspruchungstemperaturen in doppellogarithmischer Darstellung
chungsdauer in Abhängigkeit von der Temperatur zu Besonders hohe Anforderungen werden an Werkstoffe
erwarten sind. Aus diesem Diagramm wird die Eignung gestellt, wenn sich die elastische Belastungsspannung
verschiedener Hochtemperatur-Legierungen für relativ bei Kriechtemperatur periodisch ändert oder wenn Tem-
kurze Kriechbeanspruchungen abgelesen. peraturamplituden bei der aufgebrachten Spannung zu
Kriechverformungen führen. Dabei ist mit kleinen plas-
tischen Verformungen bei der Oberspannung bzw. beim
Kriechen ist eine zeitabhängige, plastische Verfor- Temperaturmaximum zu rechnen, was eine Kombinati-
mung, die durch Diffusion (Viskosität) in die Rich- on von Kriechverformungen und Ermüdungsschädigung
tung einer elastischen Zugspannung hervorgerufen ergibt. Derartige Kriechermüdung ähnelt daher den Vor-
wird. Die Einsatzdauer von Metallen bei Tempera- gängen bei der Niedriglastspielzahl-Ermüdung (LCF, Ab-
turen über 0,4 Ts kann mittels Kriechgesetzen für die schn. 15.11). Diese Situation tritt bei allen Hochtempe-
zugrundeliegenden Mechanismen abgeschätzt wer- raturanlagen zumindest durch die Einschalt- und Ab-
den. fahrsituationen auf. Extreme Beanspruchungen in dieser
Hinsicht sind Gießformen für das Druckgießverfahren
482 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Beispiel: Kriechdaten
Beispiele für das Kriechverhalten von 12 %-Chrom- Temperaturbelastung verändert sich auch das Gefü-
Stählen für Dampfturbinen und Nickel-Basislegierun- ge durch Diffusionsprozesse (z. B. Reifung von Aus-
gen für Heizleiter. scheidungen, was eine Verminderung der Ausschei-
dungsverfestigung bedeutet), wodurch die Kriech-
Ferritische 12-%-Cr-Stähle werden für Dampfturbinen
mechanismen und somit die Kriechraten beeinflusst
in thermischen Kraftwerken eingesetzt. Kriechdeh-
werden. Die Einsatzgrenze der aktuell kriechbestän-
nung-Zeitkurven für verschiedene Belastungsspan-
digsten, ferritischen 12-%-Cr-Stähle liegt bei 620 °C.
nungen bei 580 °C werden in Abb. 15.120a in dop-
Höhere Betriebstemperaturen thermischer Kraftwerke
pellogarithmischer Darstellung verglichen. Bei 65 MPa
können mit austenitischen Hochtemperaturlegierun-
Werkstoffkunde
102
Temperatur T = 580°C = konst.
Kriechbruch
dehnung A
u(tm)
Kriechdehnung εk in %
101 terti
äres
Krie
sek
chen
un
dä
res
1%
Kr
iec
he
n
0,2 %
10-1
a 101 5 102 5 103 5 104 5 105
Kriechdauer t in h
Bruchdehnung Au = 55 % Temperatur T = 580°C = konst.
50 %
40 %
102 1% 33 %
31 %
0,2 %
σk in MPa
36 %
Prüfspannung
σ B580 (tm)
σ 05,820 (t) σ 1580 (t)
101 1
10 5 102 5 103 5 104 5 105
b Kriechdauer t in h c
Abb. 15.120 Kriechdaten eines 12-%-Cr-Stahls; a doppellogarithmische Darstellung der Kriechdehnung bis Bruch in Abhängigkeit von der Kriechdauer
mit Zuordnung der sekundären und tertiären Kriechstadien; b daraus abgeleitete Spannungsabhängigkeit als 0,2-%- und 1-%-Zeitdehngrenzen sowie der
Zeitstandfestigkeit mit den Angaben der Bruchdehnung; c Teilbild eines Läufers einer Dampfturbine bei der Reparatur
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 483
σ in MPa T in K
40 60 80 100 200 1073 1023
10–4
Ni 80 Cr 20
Werkstoffkunde
σ = 140 MPa
10–5
112 MPa
T = 1023 K 89 MPa
10–6
1058 K
10–7
1,6 1,8 2,0 2,2 2,4 9,1 9,3 9,5 9,7 9,9
a b log σ c 1/T in 10–3/K
Abb. 15.121 Stationäre Kriechraten einer Nickel-Basislegierung für Heizleiter; a aus Ni80Cr20; b Abhängigkeit der stationären Kriechrate von der ange-
legten Spannung in doppellogarithmischer Auftragung ergibt den Spannungsexponenten n ∼ = 5 für dominanten Versetzungskriechmechanismus (15.28);
c Temperaturabhängigkeit der stationären Kriechrate verschiedener Spannungen in einem Arrhenius-Diagramm ergibt die Aktivierungsenergie EAk für die
Kriechmechanismen (15.30)
ausgesetzt (Abschn. 30.2), die durch die Schmelze auf- konstanten Spannung ausgesetzt sind, aber auch bei be-
geheizt und nach dem Auswerfen des Bauteils durch lastungsbedingter konstanter Dehnung. Der elastische
Besprühen mit einer Schlichte gekühlt werden. Dehnungsanteil erzeugt Spannungsverhältnisse wie in
Abb. 15.110, die Diffusionsvorgänge in die Richtung der
Frage 15.12.4 Zugspannungen bzw. quer zu einer Druckrichtung aus-
Welche Funktion beschreibt die Abhängigkeit der statio- richten, die dadurch Spannungen abbauen. Typische Bei-
nären Kriechrate von der angelegten Spannung und von spiele dafür sind Schraub- oder Nietverbindungen (Ab-
der Temperatur? schn. 26.1), die über ihre elastische Verformung eine
Was versteht man unter 1-%-Zeitdehngrenze und was un- kraftschlüssige Verbindung herstellen. Abbildung 15.123a
ter Zeitstandfestigkeit? stellt den Schnitt durch eine Schraub- oder Nietverbin-
dung mit der Spannung σ dar, die eine konstante Deh-
nung ε t hervorruft (Abb. 15.123b). Wird diese Verbindung
einer Temperatur T ausgesetzt, die Kriechvorgänge aus-
Relaxation – Elastische Spannungen werden löst, so wandelt sich ein Teil der elastischen Dehnung mit
der Belastungsdauer in plastische Kriechdehnung ε k um.
durch Kriechverformung abgebaut Die zeitliche Abnahme der elastischen Dehnung bei kon-
stanter Gesamtdehnung ist verbunden mit der Abnahme
Kriechvorgänge führen zu zeitabhängiger plastischer Ver- der Spannung (Abb. 15.123c). Die Abschätzung der Re-
formung oberhalb von 0,4 Ts , wenn Werkstücke einer laxationsdauer wird in der Vertiefungsbox „Relaxation“
484 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Vertiefung: Relaxation
Die Spannkraft einer kraftschlüssigen, metallischen wenn der Spannungsexponent n größer 1 ist. Je klei-
Verbindung nimmt durch Relaxation ab. Die Zeit für ner n ist, umso rascher wirkt die Relaxation. Beim
eine zulässige Spannungsabnahme kann aus dem Po- Einsetzen einer Sicherheitsgrenzspannung σ kann die
tenzgesetz für Versetzungskriechen (15.28) abgeschätzt Einsatzdauer errechnet werden, bei der die Verbin-
werden. dung überholt werden muss. Den Spannungsabfall mit
der Zeit zeigt Abb. 15.123c, d. h. eine kraftschlüssige
Durch Integration der zeitlichen Änderung der elasti- Verbindung verliert mit der Zeit ihre Spannkraft. Die
schen Dehnung von einer Anfangsspannung σ0 bis zur Spannungsabnahme durch Relaxation lässt sich aus
Spannung σ (t) nach einer gewissen Zeit t ergibt: der umgeformten Beziehung errechnen:
Werkstoffkunde
1 1 1 σ 1
t= − , = mit λ = (n − 1)B · E · σ0n−1 .
( n − 1 ) B( T ) E( T ) σ n− 1 σ0n−1 σ0 1
t
λ +1 ( n− 1 )
Ti Fe Ni
500
100-h-Zeitstandfestigkeit
B (T ) in MPa
400 Co
T
hochschmelzende
Metalle
300
h
σ 100
a
200
100
εt = konst.
Dehnung ε
0
400 600 800 1000 1200 1400 plastisch
Temperatur T in °C εk (t) <
Abb. 15.122 Vergleich der Zeitstandfestigkeit für 100 h Kriechdauer verschie- εelast. (t) >
dener Metalle und ihrer Legierungen in Abhängigkeit von der Betriebstempera-
tur b
beschrieben.
σ0
ε t = ε elast (t) + ε k (t) = konst.
Spannung σ
Hooke'sches Gesetz
σ̇ σ (t1) = E · εelast. (t1)
→ ε̇ t = ε̇ elast + ε̇ k = + B( T ) σ n = 0
E( T )
mit B = A exp − ERT Ak
.
c
t0 t1
Zeit t
Viskose Verformung (Kriechen) ist die Ursache für
Spannungsrelaxation bei aufgezwungenen Dehnun- Abb. 15.123 a Relaxation einer Schraub- oder Nietverbindung bei einer Tem-
gen. peratur T > 0,4 Ts ; b konstante Gesamtdehnung ε t , deren plastischer Anteil ε k
auf Kosten der elastischen Dehnung ε elast mit der Zeit zunimmt; c resultierende
Abnahme der Spannung mit der Zeit
Frage 15.12.5
Welche Beanspruchung ist beim Kriechversuch neben der
Temperatur konstant und welche bei der Relaxation?
Welches sind die jeweiligen veränderlichen Größen?
15.12 Festigkeit bei höheren Temperaturen 485
Die Werkstoffe unter mechanischer Spannung verfor- Kunststoffe wird durch den Kriechmodul Ek (ε t , T )
men sich durch unterschiedliche Mechanismen elas- beschrieben (15.29). Keramiken mit hohem Atombin-
tisch, gedämpft elastisch, hyperelastisch, elasto-plas- dungsanteil sind bis 0,5 Ts kriechresistent. Darüber
tisch oder viskos-elastisch. können Diffusionskriechmechanismen zur langsamen
Umformung genutzt werden. Die Spannungsabhän-
Abbildung 15.124 vergleicht schematisch die einach- gigkeit der Kriechverformung wird mit Potenzgeset-
sigenVerformungsarten der Werkstoffe bei Zugbelas- zen (15.28) beschrieben, während die Kriechrate durch
tung. Keramiken und Duromere sind bis zur Bruch- eine Aktivierungsenergie exponentiell mit der Tempe-
spannung rein elastisch verformbar, ferritische Stähle ratur steigt (Arrhenius-Diagramm (15.30)). Die Kriech-
Werkstoffkunde
bis zur Streckgrenze, solange keine thermische Akti- beständigkeit gegenüber äußeren Spannungen sowie
vierung wirkt. Diese Werkstoffe zeichnen sich durch die Relaxation bei aufgebrachter Dehnung sind bei
eine Dauerfestigkeit aus. Fast alle Werkstoffe, beson- der Bauteilauslegung ab etwa 0,4 Ts zu berücksichti-
ders die Kunststoffe, zeigen bei Wechselbelastung ei- gen (Tab. 15.16). Im elastischen Verformungsbereich
ne Dämpfung, eine Energieabsorption durch innere treten unterschiedliche Kriechmechanismen auf: Diffu-
Reibung an Gefügedefekten, die eine reversible, un- sionskriechen (lineare Spannungsabhängigkeit (15.26),
elastische Verformung ergibt. Bei Ermüdung im elas- (15.27)), Versetzungskriechen nach einem Potenzgesetz
tischen Bereich spielt diese mechanische Hysterese ei- (15.28). Bei inneren Spannungen und bei hohen Be-
ne wesentliche Rolle (Abschn. 15.11). Elastomere und lastungsspannungen nahe der Elastizitätsgrenze stei-
einige Formgedächtnislegierungen zeigen nichtlinea- gen die Kriechraten stärker als nach dem Potenzge-
re, hyperelastische Eigenschaften. Metalle verformen setz. Lebensdauerprognosen bedürfen experimenteller
sich im Allgemeinen elasto-plastisch mit einem Dämp- Kriechdaten, die sich auf die gleichen Gefügezustän-
fungsanteil bei mechanischer Hysterese. Niedriglast- de des Werkstoffes und die gleichen Kriechmecha-
spielzahl-Ermüdung wird durch kleine plastische An- nismen beziehen, die im Einsatz ablaufen. Extrapo-
teile einer Wechselverformung hervorgerufen. Viskos- lationen experimenteller Daten sollen nur innerhalb
elastische Verformung der Kunststoffe bei konstan-
eines Kriechmechanismus erfolgen. Bei Übertragung
ter Spannung ist wie Kriechverformung bei erhöhter
von Kriechversuchen bei höheren Temperaturen als
Temperatur zeitabhängig und erzeugt bleibende Deh-
beim Einsatz, um sie zu beschleunigen, ist riskant,
nungen. Sowohl der E-Modul als auch die Elastizitäts-
da sich mit der Temperatur nicht nur die Mechanis-
grenze aller Werkstoffe sinkt mit steigender Tempera-
men ändern können, sondern auch die zugrundelie-
tur (Bonusmaterial zu Abschn. 15.5: Energieelastizität,
genden Gefügezustände. Für Kriechbeanspruchungen
Abb. 15.1).
bei hohen Temperaturen oder über sehr lange Zei-
Viskose Verformung bei konstanter Last im elasti- ten müssen auch die während dieser Zeit ablaufen-
schen Spannungsbereich tritt bei den meisten Kunst- den Gefügeänderungen durch Diffusion berücksich-
stoffen zeitabhängig im Bereich der Raumtempera- tigt werden (Bildung/Wachstum/Auflösung von Aus-
tur auf, sie ist sehr stark nahe der Glasübergangs- scheidungen), da sich dabei insbesondere bei mehr-
temperatur und darüber. Die Kriechbeständigkeit der phasigen Legierungen die Kriechrate verändert.
reversibel irreversibel
ε ε ε ε ε
Hook'sches Dämpfung Elastomere meisten Metalle zeitabhängige,
Gesetz plastische
Verformung
Abb. 15.124 Schematische Darstellung der Verformungsarten bei Zugbelastung; reversible elastische Verformungen und irreversible plastische Verformun-
gen. Jede plastische Verformung von Festkörpern schließt einen reversiblen, elastischen Verformungsanteil (elasto-plastisch) ein, wenige Werkstoffe weisen
hyperelastische Eigenschaften auf. Kriechverformungen sind visko-elasto-plastisch, da sie mit der Zeit unter konstanter Last zunehmen und ebenfalls einen
elastischen Anteil durch die Belastung unterhalb der Fließspannung aufweisen
486 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Haftungskoeffizient µS Gleitreibungskoeffizient µG
Gegenkörper Gegenkörper
FS = µSFN FN FG = µGFN FN
v
Grundkörper Grundkörper
a b
c d
Werkstoffkunde
e f
Abb. 15.125 Reibungskräfte an der Grenzfläche zwischen einem Gegen- und einem Grundkörper, die mit einer Normalkraft FN aufeinander drücken: a Haftung im
Ruhezustand; b Gleitreibung bei Relativbewegung zwischen den Körpern. Mikroskopische Struktur der Grenzflächen: c verhakte Oberflächenrauigkeit; d Diffusion
der Atome an der Grenzfläche führt zu stoffschlüssigen Brücken; e Elektronenübergang zwischen den Stoffen führt zu chemischer Bindung; f Dipole werden an der
Grenzfläche ausgerichtet und bewirken eine elektrostatische Sekundärbindung
15.13 Abnutzung der Werkstoffe – „Standfestigkeit“ einer Person, die sowohl von ihrem
Gewicht als auch von der Beschaffenheit des Grund-
Verschleiß körpers abhängt: Stellen Sie sich eine leichte und eine
schwere Person auf Eis oder am Erdboden vor. Das Ver-
schieben eines Schreibtisches kann zwar mühsam sein,
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Verschleiß an aber wenn es keine Haftung gäbe, würde er bei jeder
Bauteilen als Abnutzung verstanden. Die Ursache da- Berührung ungebremst weggleiten. Der Haftungskoeffi-
für sind Kräfte zwischen sich berührenden Grund- und zient μs hängt von der Beschaffenheit der Grenzflächen
Gegenkörper, die sich relativ zueinander bewegen. Ab- zwischen Grund- und Gegenkörper ab. Es ist eine Kombi-
bildung 15.125 zeigt das einfache Beispiel eines Gegen- nation von Formschluss durch die Oberflächenrauigkeit
körpers, der mit seinem Gewicht auf einen Grundkörper (Verhaken, Abb. 15.125c) und Kraftschluss durch loka-
drückt. Durch diese Normalkraft FN haften diese beiden le atomare oder molekulare Anziehungskräfte (Kohäsion
Körper (Abb. 15.125 a) mit einer Reibungskraft FS anein- und Adhäsion). Eine teilweise stoffschlüssige Verbindung
ander, die zu überwinden ist, um den Gegenkörper zu kann durch Diffusion während der Kontaktzeit entste-
bewegen. Um seine Bewegung aufrecht zu halten, bedarf hen (Abb. 15.125d). Elektronenübergänge zwischen den
es einer Kraft, die mindestens so groß ist wie die Gegen- Kontaktkörpern können chemische Bindungen erzeugen
kraft durch die Gleitreibung FG (Abb. 15.125b). (Abb. 15.125e). Eine Polarisierung der oberflächlichen
Moleküle kann Anziehungskräfte durch Dipolbildung
hervorrufen (Abb. 15.125f). Derartige Haftung ist ein Zu-
stand der Ruhe, sodass weder Verschleiß noch Energie-
Die Relativbewegung zweier Körper, verluste auftreten, solange die Haftung durch Schubkräf-
die gegeneinander drücken, erzeugt zwischen te nicht überwunden wird. Sobald Gegen- und Grund-
ihnen Reibung körper durch eine äußere Kraft relativ zueinander bewegt
werden, vermindert sich die Reibungskraft durch den
Übergang von der Haftung in Gleitreibung FG , die über
Die Haftung eines Körpers auf seiner Unterlage beruht den Gleitreibungskoeffizient μG (< μs ) der Normalkraft
auf der Normalkraft FN (Abb. 15.125a). Der Widerstand FN proportional ist (Abb. 15.125b).
dagegen, diesen Körper in Bewegung zu versetzen, wird
mit der statischen Reibungskraft Fs quantifiziert. Die Rei- Die Relativbewegung kann die aneinandergepressten
bungskraft ist über den Haftungskoeffizienten μs zur Grenzflächen schädigen, was zu Verschleiß führen kann.
Normalkraft FN proportional: Fs = μs · FN . Die Bedeu- Verschleiß bezeichnet den fortschreitenden Materialver-
tung der Haftung im täglichen Leben zeigt sich in der lust aus der Oberfläche (Oberflächenabtrag) eines festen
15.13 Abnutzung der Werkstoffe – Verschleiß 487
Wenn Werkstoffe aneinander gleiten, so berühren sich ve chemische und/oder mechanische Reinigung ent-
die beiden Oberflächen. Der Gleitwiderstand hängt fernt werden, sodass die Reaktionsschichten direkt
von der Normalkraft, der mikroskopischen Topografie aneinanderhaften. Wird von den Grenzflächen der
und dem atomistischen bzw. molekularen Aufbau der Körper auch die Reaktionsschicht entfernt und deren
Oberflächen ab. Neubildung im Vakuum (z. B. Weltraum) oder durch
innigen Kontakt verhindert, kommt es zur Adhäsion
Werkstoffe durchlaufen einen Formgebungsprozess, zwischen den atomaren Strukturen der Grundwerk-
der das Gefüge an der Oberfläche verändert (Fein- stoffe (Abb. 15.125d–f).
körnigkeit und Oxidation von Gussoberflächen (Guss-
Werkstoffkunde
haut), durch mechanische Formgebung stark verform-
te Oberflächenlagen). Eine spanende Bearbeitung er-
zeugt nicht nur eine entsprechende Oberflächenrau- 1–10 nm Adsorptionsschicht
igkeit, sondern auch verformte Körner mit erhöhter äußere
Versetzungsdichte. Diese Verformungszone kann sich Grenz- 10 nm –1 µm Oxid- oder Reaktionsschicht
einige Mikrometer tief in den Werkstoff erstrecken, schicht
wie in der Skizze dargestellt. Die chemische Wech-
selwirkung der Oberfläche mit der Umgebung in der
Fertigung und im Gebrauch erzeugt eine Reaktions-
schicht, die auch ohne Temperaturbehandlung bis zu durch Umformung oder
1 µm dick werden kann. Moleküle aus dem Umge- innere
spanende Bearbeitung
Grenz- >5 µm
bungsmedium benetzen die Oberflächenschicht (z. B. schicht
plastisch verformte Schicht
Schmiermittel) und werden von dieser mit sekundären mit Oberflächenrauigkeit
Bindungskräften adsorbiert. Diese Adsorptionsschicht
kann mit geeigneten Schmiermitteln für die Schmie-
rung genutzt werden, um die Reibungskoeffizienten
zu reduzieren.
Mechanische Bremsen übertragen die Normalkraft Die Bremsbeläge der Bremsbacken bzw. der Bremsklöt-
durch hohe Reibungskoeffizienten in hohe Reibungs- ze verschleißen mehr und werden nach bestimmter
kräfte Trommel-, Scheiben- und Felgenbremsen funk- Beanspruchungsdauer ausgewechselt.
tionieren über Gleitreibung.
Dass die Reibungskraft proportional zur Normalkraft Radbrems- Brems-
erhöht wird, nützen Bremsen durch Gleitreibung bei zylinder sattel
Trommel-, Scheiben- und Felgenbremsen. Die Brems- Brems-
reibung erfolgt zwischen Bremsbacken und -trommel trommel
Brems-
bzw. zwischen Bremsklötzen und Bremsscheibe oder Rückhol- klötze
Fahrradfelge. Der Reibungskoeffizient zwischen den feder
Brems- Brems-
Werkstoffpaarungen soll trotz Temperaturerhöhung, a backen b scheibe
die mit jeder Reibung verbunden ist, konstant bleiben.
Gleitreibungsbremsen, deren Bremskraft eingeleitet wird a über
Der Verschleiß, vor allem der Bremstrommel bzw. der Radbremszylinder bei Trommelbremsen; b über den Bremssattel bei
Bremsscheibe, soll durch Bremsung relativ gering sein. Scheibenbremsen (wirkt ähnlich wie Felgenbremse eines Fahrrades)
488 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Einflussgruppe
(Struktur) (Beanspruchungskollektiv)
1 2 3 4 5
Grundkörper Gegenkörper 3a Zwischenstoff Belastung Bewegung
3b Umgebungsmedium
Werkstoffpaarung fest, flüssig, gasförmig
Reibung
Verschleiß
Werkstoffkunde
primäres sekundäres tertiäres
tung und für die Gleitreibung berechnet?
Verschleißstadium
Verschleißbetrag
Verschleißrate
Ein tribologisches System besteht aus der Reibpaa-
rung (Grund- und Gegenkörper), den Zwischen- ΔhV, ΔVV, ΔmV
stoffen, der Normalkraft, der Art der Relativbewe-
gung, dem Umgebungsmedium und der Tempera-
tur der Reibflächen. Gemessen wird der Materialab- ΔhV/s, ΔVV/s, ΔmV/s
trag (Verschleiß) zumindest des Grundkörpers.
Bezugsgröße (Weg)
Oberflächen
Die Reibungskraft erzeugt auf den relativ zueinander be- verläuft wie in Abb. 15.128 dargestellt analog zu Kriech-
wegten Körpern fortschreitenden Materialverlust aus der kurven (Abschn. 15.12): eine Einlaufphase (primäres Ver-
Oberfläche eines oder beider Reibpartner. Dieser Materi- schleißstadium), in der vor allem die Oberflächentopo-
alverlust wird in der Technik als Verschleiß bezeichnet. grafie an den Grenzflächen angepasst wird, auf die ein
Verschleiß eines festen Grundkörpers wird durch me- stationäres (sekundäres) Verschleißstadium des gleich-
chanische Belastung (Reibungskraft) über einen festen, mäßigen Materialabtrags mit näherungsweise konstanter
flüssigen oder gasförmigen Gegenkörper hervorgerufen Verschleißrate folgt. Sobald Oberflächenschäden (Risse,
und als Masseverlust (Oberflächenabtrag) einer Stoffober- Ausbrüche etc.) auftreten, beschleunigt sich der Materi-
fläche gemessen. Als Verschleißmessgröße kann der Mas- alabtrag durch lokales Werkstoffversagen (tertiäres Ver-
severlust ΔmV , der Volumenverlust ΔVV oder die Tiefe schleißstadium).
des Oberflächenabtrags ΔhV des Grundkörpers gewählt
werden (Tab. 15.17). Der reziproke Wert des Material- Für den konkreten Einsatz wird empfohlen, das tribolo-
verlustes gibt den Widerstand gegen Verschleiß an. Die gische System für die Verschleißprüfung möglichst den
Verschleißrate gibt den Materialabtrag pro zurückgeleg- realen Verschleißbedingungen in einer Maschine anzu-
tem Verschleißweg an. Für gleichförmige Relativbewe- passen. Bei mikroskopischer Betrachtung der verschlisse-
gung kann der Weg durch die Beanspruchungszeit ersetzt nen Oberflächen werden die ursächlichen Verschleißme-
werden (s = vt) und die konstante Geschwindigkeit v als chanismen identifizierbar (Abb. 15.129 und 15.130), was
Prüfparameter herausgenommen werden, sodass die Ver- helfen kann, den Verschleiß im technischen Einsatz durch
schleißrate pro Weglänge als Verschleißgeschwindigkeit Auswahl einer geeigneten Werkstoffpaarung und durch
ermittelt wird. konstruktive Maßnahmen zu vermindern.
µA µ
µS örtlich verschweißt
σB
Metall B B
20 µm
a b c
Werkstoffkunde
Abb. 15.129 Mikroskopische Darstellung des adhäsiven Verschleißes durch Reibung zweier Metalle: a Rauigkeitsspitzen der beiden Körper wurden durch vor-
ausgehende Abrasion von Adsorptionsschichten befreit; die Reibungskraft ruft an den Kontaktflächen eine Spannungskonzentration hervor, sodass dort die Spitzen
verformt und dadurch nicht nur verfestigt, sondern auch verschweißt werden, was kurzzeitig einen Haftungskoeffizienten μs lokal wirken lässt; b bei weiterer
Relativbewegung bricht eine Spitze; c lokale Bruchfläche nach adhäsivem Verschleiß im Sekundärelektronenbild eines Rastelektronenmikroskops (Bonusmaterial zu
Abschn. 15.9, Rasterelektronemikroskopie, REM) einer Reibungsfläche eines austenitischen Stahls
geschädigter Grundkörper 10 µm
a Grundkörper b c
Abb. 15.130 Abrasiver Verschleiß: a Mikropflügen im Grundkörper durch härteren Gegenkörper; b Abtragung durch harte Partikeln in der Zwischenschicht; c
rasterelektronenmikroskopisches Bild zeigt Schleifriefen auf dem abrasiv abgetragenen Grundkörper
Stoffliche Wechselwirkungen zwischen den reißt (Abb. 15.129b). Diese Bruchflächen sind an der
Verschleißoberfläche im REM-Sekundärelektronenbild in
Grenzflächen verursachen adhäsiven Verschleiß
Abb. 15.129c erkennbar, solange sie nicht durch weitere
Reibung verschmiert werden.
Wenn Grundkörper und Gegenkörper an ihren reinen
Oberflächen durch die Reibungskraft aneinandergepresst Frage 15.13.3
werden, so können lokal atomare oder molekulare Wech- Welche Wechselwirkungen zwischen Grund- und Gegen-
selwirkungen auftreten (Abb. 15.125d–f). Die Anpress- körper bewirkt adhäsiven Verschleiß?
drücke an Oberflächenspitzen können durch eine Haftrei-
bung so groß werden, dass dort die beiden Körper nur
mehr Atomabstände voneinander entfernt sind, sodass
Adhäsion als Bindungskraft zwischen den Atomen an der Harte Gegenkörper oder Partikel tragen einen
Grenzfläche (siehe Vertiefung: Werkstoffoberflächen und duktileren Grundkörper abrasiv ab
Beispiel: Bremsspuren) wirkt.
Abbildung 15.129a zeigt, wie Oberflächenspitzen der Wenn sich Grundkörper und Gegenkörper im Härtewert
beiden metallischen Reibpartner zuerst durch die Re- signifikant unterscheiden, verursachen Oberflächenrau-
lativbewegung abrasiv gereinigt wurden, dann durch igkeiten des härteren Werkstoffpartners mikroskopisches
die Spannungserhöhung am Punktkontakt plastisch ver- Pflügen am anderen Körper, von dem Oberflächenberei-
formt werden und verschweißen, wodurch dort die che abgetragen werden. Abbildung 15.130a illustriert die
Haftungskoeffizienten beider Körper kurzzeitig wirksam Abrasion durch das Mikropflügen. Enthält der Zwischen-
werden. Bei weiterer Relativbewegung bleiben die ver- stoff harte Partikeln, haben diese eine ähnlich abtragende
festigten und verschweißten Oberflächenspitzen haften, Wirkung (Abb. 15.130b). Fragmente, die durch das Mi-
während die Spitze im nicht verfestigten Bereich ab- kropflügen aus den Oberflächen herausgegraben werden
15.13 Abnutzung der Werkstoffe – Verschleiß 491
Beispiel: Bremsspuren
Bremsspuren stammen hauptsächlich von adhäsivem alabtrag von den Reifen. Durch eine Schnellbremsung
Verschleiß der Gummireifen mit dem Fahrbahnbelag. werden Reifen durch den Verschleiß unrund.
Vor allem Werkstoffpaarungen aus gleichartigen Werk-
stoffen neigen zu adhäsivem Verschleiß. Nutzbar ist er Genutzt wird Adhäsion beim Reibschweißen. Die Ro-
beim Reibschweißen. tation eines Gegenkörpers unter Druck auf einen
gleichartigen Gegenkörper führt zum Verschweißen
der beiden Körper ohne lokales Aufschmelzen. Das
Grund- und Gegenkörper aus gleichartigen Werkstof- Reibrührschweißen (friction stir welding, FSW) durch
fen sind besonders anfällig für adhäsiven Verschleiß. ein rotierendes Werkzeug zwischen zwei, aneinander-
Typische Beispiele für adhäsiven Verschleiß treten bei
Werkstoffkunde
gepressten Körpern nützt die Reibungswärme zum Er-
Reibung in Vakuum auf, wie beispielsweise im Welt- weichen der oberflächennahen Schichten, die dadurch
raum, wo dieser der Grund dafür sein kann, dass im festen Zustand mechanisch vermischt werden, so-
sich manchmal Antennen aus Aluminium auf Satelli- dass sie eine stoffschlüssige Verbindung eingehen.
ten nicht öffneten. Eine Verstärkung einer trennenden,
oberflächlichen Oxidschicht kann dies verhindern (sie-
he Vertiefung: Wie sind Werkstoffoberflächen aufge-
baut). Bremsspuren von Fahrzeugen auf Asphalt ent-
stehen durch adhäsiven Verschleiß der Gummireifen.
Da beide Körper aus petrochemischen Verbindungen
bestehen, ist der Haftungskoeffizient relativ hoch. Auf a b
Betonfahrbahnen bzw., wenn der Asphalt auch Steine Bremsspuren auf einer Asphaltstraße als Beispiel für dominant adhäsiven
enthält, verstärkt der abrasive Verschleiß den Materi- Verschleiß: a Gummispuren auf dem Asphalt; b Materialabtrag von den Reifen
(Abrieb), verfestigen sich durch die Verformung und wer- Abrasiver Verschleiß durch harte Partikeln, wie beispiels-
den durch Oxidation härter, sodass sie dann selbst wie ein weise Silizium-Karbidteilchen (Schmirgel) auf Schleifpa-
abrasiver Zwischenstoff wirken. Die Oberfläche des duk- pier wird in Abb. 15.132 je nach Werkstoffart und Härte
tileren Körpers wird durch Schleifriefen in der Richtung eines Grundkörpers bei gleichen Prüfmethoden klassi-
der Relativbewegung abgetragen (Abb. 15.130c). fiziert. Werkstoffe geringer Härte (Polymere und nicht
verfestigte, reine Metalle und Mischkristalllegierungen)
Abrasiver Verschleiß hängt von den Härteunterschieden
(Abschn. 15.7) zwischen Gegen- und Grundkörper bzw.
gegenüber Partikeln im Zwischenstoff ab (siehe Beispiel: Verschleißhochlage
Abrasiver Verschleiß bei der spanabhebenden Bearbei-
tung). Je größer die Härteunterschiede sind, umso größer H1 ≈HA Grundkörper
Verschleißabtrag vom Grundkörper
ist der Materialabtrag des Körpers mit der geringeren mit Härte H1
H1 < H A
Härte. Abbildung 15.131 stellt dies schematisch für Prü-
fergebnisse dar, die unter gleichen tribologischen Bedin-
ΔhV, ΔVV, ΔmV
Drehen, Fräsen, Bohren, Schleifen, Honen, Läppen, Po- (Schleifkörner in einem der Kontur angepassten, wei-
lieren beruhen auf Abrasion des Werkstückes durch chen Gegenkörper) und Polieren (Schleifkörner unter
harte Werkzeuge, aber auch die Werkzeuge verschlei- 1 µm) werden Oberflächen geglättet (Kap. 31).
ßen.
Genützt wird abrasiver Verschleiß durch harte Ge-
genkörper beim Drehen, Fräsen, Bohren und Schlei-
fen von weniger harten Werkstücken als Grundkörper stark verformter
(Kap. 31). Die harten Werkzeugspitzen „pflügen“ in polykristallines
Span
Werkstück
Werkstoffkunde
hi g
Mikropflügen verfe kei sodass Riefen durch Mikropflügen bei gleichbleibender
stigt t
eM
etal
le Reibungskraft kleiner werden. Je höher die Härte aus-
martensitische Stähle scheidungs- oder umwandlungsgehärteter Legierungen
Misc Metalle
talle
Oberflächenabtrag
Mikropflügen, Mikrospanen
sind bruchanfällig (Abschn. 15.10), sodass ihr Verschleiß-
amik
Ker widerstand durch instabiles Versagen oft geringer ist als
Kaltverfestigung der verfestigter Metalle.
g
ungshärtun
Ausscheid
Polymere Mikrospanen, Mikrobrechen
Frage 15.13.4
Wodurch unterscheiden sich adhäsiver und abrasiver Ver-
Werkstoffhärte des Grundkörpers
schleiß?
Abb. 15.132 Schematische Abhängigkeit des Verschleißwiderstandes (rezipro-
ker Verschleißabtrag) verschiedener Werkstoffe in unterschiedlichen Zuständen Welcher Verschleißmechanismus erzeugt eine Brems-
gegenüber Schleifpapier als Gegenkörper, geprüft durch das Schleifpapierverfah- spur?
ren
15.13 Abnutzung der Werkstoffe – Verschleiß 493
c Materialeinschlüsse d Risse e
Erosion von Festkörpern durch flüssige
Werkstoffkunde
oder gasförmige Gegenkörper Abb. 15.133 Beispiel für Oberflächenzerrüttung einer Kugellagerschale;
b durch den rollenden Lauf der gehärteten Kugeln (a); c Druckpunkt (rot ) und
zugehörige punktuell oszillierende, elastische Verformung der Lauffläche (blau );
Wenn sich der Gegenkörper flüssig oder gasförmig über d weiche Materialeinschlüsse unter der Lauffläche (weiß ), verformen sich mehr
die Oberfläche eines festen Grundkörpers bewegt, tref- als die Stahlmatrix, in der Risse (schwarze Linien ) entstehen; e diese rufen in der
Oberfläche Ausbrüche hervor
fen die Flüssigkeits- oder die Gasmoleküle mit kinetischer
Energie auf den Festkörper auf. Je höher der Impuls
der Strömung auf die Oberfläche des Grundkörpers ist,
desto größer ist die abtragende Wirkung, die als Erosi- werden können. Dabei entsteht eine raue, matt schim-
on bezeichnet wird. In der Natur tritt dies bei Wasser- mernde Oberfläche. Beim Wasserstrahlschneiden kön-
läufen im Gestein auf, vor allem bei Wasserfällen und nen Siliziumkarbid- oder Aluminiumoxid-Teilchen in den
durch die Meeresbrandung. Das Sprichwort „steter Trop- Wasserstrahl eingeleitet werden, sodass die Schneidleis-
fen höhlt den Stein“ beruht auf der periodischen Erosion tung wesentlich erhöht wird. Gehärtete Metalle oder Ke-
des Steins über lange Zeiträume. Auch der Wind kann ramiken, die mechanisch nicht geschnitten werden kön-
weiches Gestein abtragen und bizarre Formationen durch nen, da die Sägeblätter zu rasch verschleißen, können
„Windschliff“ erzeugen (z. B. Grand Staircase Escalante mittels Wasserstrahlschneiden mit abrasiven Partikeln ge-
National Monument, Arizona-Utah, USA). Flüssigkeits- teilt werden.
oder Gasdüsen erleiden Erosionsverschleiß, die die Öff-
nung erweitern und Riefen erzeugen. Genützt wird Erosi- Frage 15.13.5
on beim Wasserstrahlschneiden keramischer Werkstoffe, Wie wirkt Sandstrahlen und zu welchem Zweck wird es
Leichtmetalle, Verbundwerkstoffe und Kunststoffe, die eingesetzt?
sich durch spanabhebendes Sägen kaum schneiden las-
sen. Ein Wasserstrahl mit einigen Tausend bar erodiert
eine Schnittbreite, ohne dass die Schnittfläche erwärmt
wird.
Oszillierende Reibungskräfte bewirken
Eine spezielle Erosionsform wird durch Funkenentladung Oberflächenzerrüttung
an Metalloberflächen erzeugt. Hohe elektrische Spannun-
gen können Ionen aus der Oberfläche „herausziehen“.
Technische Anwendung findet die Funkenerosion beim Falls die Relativbewegung zweier Reibpartner oszillie-
verformungsfreien Schneiden von Metallen mit einem rend abläuft, entsteht eine lokale Ermüdungsbelastung
aufgeladenen Draht. Komplexe Formen können durch mit elastischen und gegebenenfalls plastischen Verfor-
lineare oder flächige Funkenerosion ohne mechanische mungen an den Berührungspunkten. An Oberflächen-
Belastung bearbeitet werden. Beim Plasmaschneiden wer- rauigkeiten (Abb. 15.125c) und/oder Gefügeinhomogeni-
den negative Ionen erzeugt, die positive Ionen aus der täten werden mikroskopische Ermüdungserscheinungen
Metalloberfläche herausschlagen, die abgesaugt werden. verstärkt. Sobald es zu lokalen Ausbrüchen an den Ober-
Damit wird die Metalloberfläche gegenüber einer schnei- flächen kommt, wird diese Art der Materialabtragung als
denden oder formgebenden Elektrode abgetragen. Schwingverschleiß oder Oberflächenzerrüttung bezeich-
net. Abbildung 15.133 illustriert ein wichtiges Beispiel
Erosion wird wesentlich verstärkt, wenn die flüssige oder für Verschleiß eines Grundkörpers durch einen harten,
gasförmige Strömung abrasive Feststoffe enthält, wie bei- rollenden Gegenkörper, nämlich ein Kugellager. Abbil-
spielsweise Geröll in Gewässern oder Sand im Wind. dung 15.133c stellt den punktuellen Druck einer auf dem
Beim Sandstrahlen werden Quarzpartikeln durch Gas- Kugellagerring laufenden Kugel dar, die lokal eine wech-
druck auf Werkstückoberflächen geschossen, wodurch selnde elastische Verformung im Grundkörper erzeugt.
Lacke oder Korrosionsschichten von Metallen entfernt Der punktuelle Druck der Kugeln läuft mit dem Abrollen
494 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Strömung
a
Kavitations-
Implosion Kav
Ka
K aviita
av ttaatio
atio
ttions-
Kavitations- nnsss-
schäden
Kavitation sch
sch
sc
chääd
äde
ddeen
schäden
Druck Fließgeschwindigkeit
Dampf-
druck
Werkstoffkunde
Unterdruck
b c
Abb. 15.134 Kavitationsverschleiß: a Strömungssituation mit Kavitation und Implosionen; b zugehöriger Verlauf des Druckes in der Strömung in Beziehung zum
Dampfdruck der Flüssigkeit (Unterdruckbereich erzeugt Kavitationen); c Implosionen führten zu Materialabtragungen auf einer Schiffsschraube
der Kugeln im Lager herum. Somit entstehen punktu- chen oder Abschälungen führen kann. Periodische Gas-
elle Ermüdungsbelastungen entlang der Lauffläche der oder Flüssigkeitsstrahlen können auf dem Grundkörper
Kugeln. Ausbrüche in Kugellagerringen entstehen da- durch oszillierende Erosion Oberflächenzerrüttung verur-
durch, dass sich im Stahl vereinzelt weiche Mangansulfid- sachen.
Einschlüsse befinden, wodurch multiaxiale Spannungs-
und Verformungszustände entstehen, an denen sich in- Frage 15.13.6
nere Risse bilden (Abb. 15.133d). Sobald diese in die Welche Komponenten eines tribologischen Systems füh-
Oberfläche wachsen, verursachen sie Ausbrüche in der ren zu Oberflächenzerrüttung?
Lagerschale (Abb. 15.133e). Die Belastungssituation ist
bei Wälzlagern und abrollenden Zahnflanken bei Zahn- Wie wirkt der Verschleiß in Wälzlagern?
rädern ähnlich. Von den Stählen für Kugel- und Wälzla-
ger sowie für hochbeanspruchte Zahnräder wird deshalb
höchste Reinheit gefordert. Tritt bei rollenden Bewegun- Wasserstrahlschneiden nützt die Erosion zum Tei-
gen zusätzlich Schlupf auf, kann die Oberflächenzerrüt- len von Werkstoffen, die sich schwer spanabhebend
tung durch abrasiven Verschleiß verstärkt werden. bearbeiten lassen. Mit kleinen Amplituden oszillie-
Mechanische Verbindungen, bei denen der Kraftschluss rende Reibungskräfte bewirken einen Materialab-
durch Relaxation nachlässt, bewegen sich dann je nach trag durch Mikro-Ermüdung auf den Kontaktflä-
Belastung mit kleinen Amplituden, wobei oszillierender chen (Oberflächenzerrüttung)
Gleitverschleiß entstehen kann. Ein typisches Beispiel
hierfür ist der sogenannte Passungsrost. Die Abriebteil-
chen einer Stahlverbindung rosten wegen ihrer relativ
großen Oberfläche beschleunigt. Der Rost (Abschn. 15.14)
bewirkt eine Volumenvergrößerung der Partikel und Beschleunigte Strömungen von Flüssigkeiten
kann die Verbindung wieder verfestigen z. B. können aus verursachen Kavitationsverschleiß
diesem Grund Schraubverbindungen nicht mehr gelöst
werden. Bei Werkstoffpaarungen, die oszillierend gleiten
Wenn Flüssigkeiten durch Düsen strömen, kann dort
sollen, kann es zu einem „Fressen“ der beiden Teile kom-
ein Unterdruck entstehen, der zum lokalen Verdamp-
men, was das Gleiten unterbindet. Bei Reibpaarungen
fen der Flüssigkeit führt. Diese Kavitationsbildung wird
aus Leichtmetallen kann oszillierendes Gleiten zu adhäsi-
in Abb. 15.134 erläutert. Sobald diese Dampfblasen wie-
ver Haftung führen, dem sogenannten „Fretting“. Durch
der kondensieren, verkleinert sich das Volumen plötz-
die Gleitreibung wird die Oxidschicht auf Aluminium-
lich: die Flüssigkeit implodiert (Abschn. 22.5). Implo-
oder Titan-Bauteilen entfernt, sodass diese punktuell ver-
dieren Gasblasen in der Nähe eines festen Gegenkör-
schweißen können.
pers, trifft eine Unterdruckwelle mit Sogwirkung auf ihn.
Bei Schlägen eines Gegenkörpers auf einen Grundkör- Die Implosionen können aufgrund der damit verbun-
per (z. B. Werkzeug auf Werkstück) wird dieser durch die denen Ermüdungsbelastung des Gegenkörpers wie bei
Stoßimpulse oszillierend belastet. Dadurch kann Oberflä- der Oberflächenzerrüttung einen Oberflächenabtrag her-
chenzerrüttung eintreten, die zu oberflächlichen Ausbrü- vorrufen. Derartiger Kavitationsverschleiß (gelegentlich
15.14 Werkstoffschädigung durch Korrosion 495
Leitbeispiel Antriebsstrang
Verschleißerscheinungen der Bauteile,
deren Reibungsbelastungen im Betrieb
sehr unterschiedlich sind
Im Turbolader dreht sich die Turbine mit sehr hohen Die Ölwanne wird vom staubigen Fahrtwind um-
Drehzahlen. strömt.
Im Zylinder des Kurbelgehäuses gleitet der Kolben
Werkstoffkunde
Im Getriebe greifen die Zahnräder ineinander und
auf und ab. werden auf gelagerten Achsen gegeneinander ver-
schoben.
Außenseite wird häufig von sandiger Luft geringe Erosion der Außenseite verstärkt durch Sand-
umströmt partikeln
gehärtete Zahnräder reiben aneinander, Achse Oberflächenzerrüttung durch Abrollen der Zahnflan-
dreht in Kugel- oder Wälzlagern, Getriebeöl als ken, die durch Schleifen geglättet wurden; Gleitreibung
Zwischenstoff beim Schalten, Rollreibung in den Lagerungen
als „Sogverschleiß“ bezeichnet) wird an Ventilen, Rühr- „Werkstoffoberflächen“, Abschn. 15.13) aufgelöst oder ab-
werken und Schiffsschrauben (Abb. 15.134c) bei hohen getragen wurde. Wird das Material dadurch geschädigt,
Strömungsgeschwindigkeiten beobachtet. indem der tragende Querschnitt durch die Reaktions-
produkte geschwächt wird, spricht man von Korrosion.
Frage 15.13.7 Abbildung 15.135 illustriert die Wechselwirkungen, die
In welchem Einsatzfall kann Kavitationsverschleiß auftre- vor allem vom Oberflächenzustand des Werkstoffes und
ten? dessen chemischen Eigenschaften gegenüber der Zusam-
mensetzung der Umgebung abhängen. Der Spannungs-
zustand durch äußere Zugbelastungen und/oder Zu-
geigenspannungen erhöht die Korrosionsempfindlichkeit
15.14 Werkstoffschädigung aufgrund verstärkter Diffusion aus dem Umgebungsme-
dium in das Kristallgitter und entlang der Korngrenzen.
durch Korrosion Derartige physikalische Effekte verstärken die chemi-
schen Wechselwirkungen. Die Vertiefung „Klimatische
Die Oberflächen der Werkstoffe können mit Gasen und Bedingungen“ vergleicht die Korrosionsempfindlichkeit
Flüssigkeiten ihrer Umgebung chemisch reagieren, nach- einiger Werkstoffe in unterschiedlichen Klimazonen. So-
dem die leicht gebundene Adsorptionsschicht (Vertiefung wohl die Reaktivität des Werkstoffes als auch die des
496 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Die Werkstoffpaarung und die Art der Relativbewe- te der Werkstoffe, die Oberflächenbeschaffenheit und
gung unter Druckbelastung rufen mittels unterschied- eventuelle Zwischenstoffe beeinflussen die Verschleiß-
licher Verschleißmechanismen Oberflächenabtragung rate. Andererseits werden Verschleißmechanismen zur
hervor, die den verschleißenden Bauteil schwächen Werkstoffbearbeitung genutzt.
und zum Versagen führen oder beitragen. Die Här-
Tab. 15.18 Tribologische Systeme und Verschleißmechanismen, tribometrische Anordnungen zur Prüfung des Verschleißwiderstandes
Verschleiß- Relativbewegung tribometrische Anordnung Beispiele Erscheinungs- Verschleißmechanismen
paarung der Körper formen
Werkstoffkunde
Grundkörper
Rollen aufeinan- Wälzlager, Grübchen- Oberflächenzerrüttung,
der (mit Schlupf) Zahnflanken, bildung, (Mikroermüdung),
rollende Abblättern, Wälzverschleiß
Räder Schälungen (und Gleitverschleiß)
Mit abrasiven wie alle oben, mit- Staub in Kratzer, Verschleißarten wie oben
Zwischen- bewegte Partikeln Gleitlagern, Riefen, und abrasiver Verschleiß
stoffen dazwischen Förderkette, Einbettung
Schleifen von Partikeln
+ + + + +
H H2O
Werkstoff negative Elektronenwolke – +
e +H
n
- Zusammensetzung
ne + + + + +O
tio
- Gefügezustand H
–
eak
- Oberflächen-
(bewegliche Elektronen)
R
beschaffenheit
he
- Eigenspannungen –
+ OH
isc
+ + + +
em
Ko
sch rrosi
ch
Werkstoffkunde
- Verunreinigungen - Eigenspannungen und abgeschieden wird
- Strömungsver- - Betriebsbelastung
hältnisse
Korrosionsprodukte vermindern die Belastbarkeit von
Werkstoffen besonders dann, wenn sich an der Oberfläche
Grübchen ausbilden, die wie Kerben eine Spannungs-
konzentration hervorrufen, die instabilen Bruch einleiten
kann (Abschn. 15.9). Abbildung 15.138 erklärt die örtli-
che Abtragung von Eisen unter einem Wassertropfen und
Abb. 15.135 Chemische Wechselwirkungen der Werkstoffe mit ihrer Umge- die Rostablagerung rundherum, die sogenannten Loch-
bung, gegebenenfalls verstärkt durch mechanische Zugbelastungen und Tempe- fraß (englisch: pitting) hervorruft, wie in Abb. 15.137b)
raturerhöhung, die an Bauteilen Korrosionsschäden bewirken gezeigt. Die Intensität des Lochfraßes hängt sowohl von
der Legierung als auch vom Umgebungsmedium ab-
hängt. Lochfraß tritt auch auf Aluminium-Legierungen
Umgebungsmediums erhöhen sich mit steigender Tempe- auf, wenn punktuell die schützende Oxidschicht durch
ratur. Einlagerungen unterbrochen ist (siehe Vertiefung: Klima-
tische Bedingungen und Abb. 15.141).
Frage 15.14.1
Viele Werkstoffe korrodieren an feuchter Luft Was versteht man unter Rost und wie entsteht er?
und in Wasser
Ist der Gehalt an Oxidationsmitteln in der Umgebung er-
Das bekannteste Korrosionsprodukt ist Rost auf Stäh-
höht, wird der Korrosionsangriff verstärkt. Die Feuchtig-
len. Alle Metalle bestehen aus positiven Ionen und freien
keit und der Schadstoffgehalt verursachen unterschiedli-
Elektronen, daher sind sie anfällig auf Reaktionen mit
che korrosive Abtragungsraten von den Werkstoffober-
Atomen aus der Umgebung, die Elektronen aufnehmen.
flächen. Ein bekanntes Korrosionsmedium ist salzhalti-
Abbildung 15.136 stellt schematisch die elektrochemi-
ges Wasser mit negativen Chloridionen, die die Bildung
sche Reaktion einer Metalloberfläche mit Hydroxidionen
schützender Oxidschichten unterbinden. Werkstoffe für
dar, die durch die Abspaltung des Wasserstoffs aus dem
Straßenfahrzeuge werden mit genormten Salzsprühtests
umgebenden Wasser entstanden. Dabei werden positive
geprüft, um die Korrosionsempfindlichkeit aufgrund der
Wasserstoffionen durch Elektronen aus dem Metall neu-
Massenverluste ΔmK während einer bestimmten Expo-
tralisiert. Der entstehende Wasserstoff kann im Elektro-
nierdauer zu vergleichen.
lyt Gasblasen bilden oder in das Metall eindiffundieren.
An der Eisen-Oberfläche reagieren die Hydroxidionen Medien mit mikrobiologischen Vorgängen werden so ver-
(OH)− mit den zweifach ionisierten positiven Eisenionen ändert, dass sie auch ohne Sauerstoffzufuhr korrosive
zu Fe(OH)2 -Molekülen. Diese Reaktion an Stahloberflä- Schädigung hervorrufen, z. B. korrodieren Eisenwerkstof-
chen ohne Korrosionsschutz ist in Abb. 15.137 dargestellt. fe durch anaerobe, sulfatreduzierende Bakterien. H2 SO4
Die keramischen Reaktionsprodukte sind plastisch nicht fördert den elektrochemischen Angriff des Stahls. Diese
verformbar. Wegen der Schwellung gegenüber Eisen wei- Korrosionsart wird in der Erdölgewinnung unter Luft-
sen sie Risse auf und blättern ab, sodass die Korrosion abschluss beobachtet, wobei das entstehende Eisensulfid
voranschreitet und den tragenden Metallquerschnitt ver- einen schwarzen Belag hinterlässt. Sich bildender Schwe-
mindert. Wirksamer Korrosionsschutz besteht in der Ab- felwasserstoff kann sowohl Metalle als auch Polymere
schirmung der Metalloberfläche von Oxidationsmitteln abtragen.
(siehe Vertiefung: Korrosionsschutz).
498 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
e–
Fe Fe2+ + 2e–
anodische Teilreaktion
a b
Abb. 15.137 Rostbildung auf Eisen durch belüftetes Wasser; a schematische Darstellung der Bildung von Hydroxidionen, die die Elektronen aus dem Metall
Werkstoffkunde
aufnehmen (kathodische Teilreaktion), woraus sich mit doppelt und dreifach ionisiertem Eisen (anodische Teilreaktion) Fe(OH)2 und Fe(OH)3 ausgehend von Keimen
an Oberflächenunregelmäßigkeiten bilden; b rötlicher Rost mit Lochfraß
Je nach klimatischen Bedingungen kann feuchte bzw. porös, mechanisch kaum belastbar und werden meist
verunreinigte Luft ungeschützte Metalle unterschied- vom Regen abgewaschen.
lich rasch flächig oder lokal punktweise abtragen.
Der Lochfraß an einer im Bauwesen eingesetzten Al-
Mg-Si Knetlegierung (AW6060) wird in Abb. 15.140b
Beispiele für flächige Materialabtragungen zeigt veranschaulicht. Die durchschnittliche Tiefe der Kor-
Abb. 15.140a mit in den USA gemessenen Korrosions- rosionsgrübchen, die in verschiedenen Gegenden der
raten (Dickenverlust pro Zeit). Die Abtragungsraten USA nach 20 Jahren Exposition gemessen wurden, sind
wurden über längere Zeiträume gemittelt. Zink, Kup- aufgetragen. Wiederum sind die örtlichen Korrosions-
Werkstoffkunde
fer, Aluminium (und nicht dargestelltes Eisen) sind tiefen in Küstennähe am größten. Die Massenverluste
an Meeresküsten am korrosionsanfälligsten wegen pro Fläche wurden auf einen hypothetischen, flächi-
des Chlor-Gehaltes der Meeresluft. Blei zeigt kaum gen Abtrag umgerechnet und ergeben über die 20-
Unterschiede in der Korrosionsempfindlichkeit in jährige Exposition weniger als 20 µm (Korrosionsra-
verschiedenen Atmosphären. Blei wurde früher für te 1 µm/Jahr), obwohl Lochfraßtiefen von mehr als
Wasserleitungsrohre verwendet, bis die Giftigkeit von 0,3 mm gemessen wurden. Geringste Korrosionsemp-
Pb+ nachgewiesen wurde. Der Materialabtrag bezieht findlichkeit besteht in trockenem, heißem Klima (bei-
sich auf das tragende Metall. Die eventuell aufwach- spielsweise in Arizona, wo Flugzeuge langfristig abge-
senden Korrosionsprodukte (vor allem Chloride) sind stellt werden).
50 0,4
Korrosionsrate verschiedener Metalle Aluminium nach 20 Jahren
in unterschiedlichen Atmosphären in unterschiedlichen
40 Atmosphären
Korrosionsrate in µm/Jahr
Korrosionstiefe in mm
Trocken heiß 0,3 Lochfraß
mäßig feucht
„pitting“
subtropisch,
30 (punktweise
Atlantikküste
Auflösung
Pazifikküste 0,2 in die Tiefe)
Atlantikküste,
20 Industrie
0,1
10
über die Oberfläche
gemittelter Abtrag
0 0
Aluminium Kupfer Blei Zink Gewichtsverlust- mikroskopische
a 99,2 99,9 99,92 98,9 b messung Messung
Abb. 15.140 Korrosionsraten für Metalle in verschiedenen Atmosphären; a flächiger Abtrag von niedriglegiertem Aluminium, technisch reinem Kupfer,
Blei und Zink; b Tiefe der Lochfraßgrübchen auf Aluminium im Vergleich zum gemittelten Abtrag pro Fläche, errechnet aus der Gewichtsverlustmessung
Elektrochemische Potenzialunterschiede
Polymere sind relativ korrosionsbeständig, aber ver-
spröden thermo-oxidativ und photo-oxidativ. Flüs- verursachen galvanische Korrosion
sigkeiten können eindiffundieren und Schwellungen
erzeugen. Metalle besitzen ein elektrochemisches Potenzial, das ge-
genüber einer Normal-Wasserstoffelektrode Elektronen
500 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Vertiefung: Korrosionsschutz
Korrosionsschutz durch selbstheilende, dichte Oxid- die Oxidschicht mechanisch verletzt, wächst sie wie-
schichten auf Aluminium- und Titan- Legierungen, der nach: Sie ist selbstregenerierend. Sie kann durch
sowie auf „rostfreien“, chromreichen Stählen; lackierte Anodisieren bis Zehntel Millimeter verstärkt werden,
Werkstücke können Filiformkorrosion erleiden; Korro- ist aber dann bruchempfindlich wie Keramik. Beim
sion durch Wasser kann durch konstruktive Maßnah- Verformen wird diese Schicht rissig, sodass Flüssig-
men verhindert werden keiten eindringen können, die das Metall unter der
Oxidschicht lokal korrodieren können. Sauerstoff kann
Einige unedle Metalle haben die Fähigkeit, an Luft interstitiell in die Oberfläche von Titanlegierungen
durch Oxidation einen dichten Oxidfilm auszubil- eindiffundieren. Die entstehende Oxidschicht macht
Werkstoffkunde
den, der durch seine keramischen Eigenschaften, das die Legierung korrosionsbeständig und ist mit dem
darunterliegende Metall vor elektrochemischen Re- Werkstoff innig verbunden, d. h., sie kann nicht ab-
aktionen mit der Umgebung schützt. Auf Alumini- blättern, solange sie nicht über 400 °C erhitzt wird.
um wächst bereits bei geringem Sauerstoffgehalt in Magnesium oxidiert zwar sehr leicht, bildet aber keine
der Umgebung eine wenige Nanometer dicke Al2 O3 - dichte, schützende Oxidschicht, sondern die Oxidati-
Sperrschicht und darüber, je nach Oxidationsangebot on schreitet durch die Poren weiter ins Werkstoffinnere
und Luftfeuchtigkeit, eine poröse Deckschicht. Wird fort.
Al2O3 Sperrschicht
ca. 50 nm
Al2O3 + Al(OH)3
poröse
Deckschicht
ca. 200 nm
Deckschicht
Sperrschicht
Aluminium Aluminium
0,1 µm
a b
Wärmeeinflusszone Schweißraupe
Cr-Karbide
Abb. 15.141 Aufbau der selbstregenerierenden, schützenden Oxidschicht; a Schema der dichten Sperr- und Deckschicht mit Wachstumskanälen auf
Aluminiumoberflächen; b Durchstrahlungselektronenmikroskopie quer durch eine Oxidschicht auf einer Aluminium-Probe. c Korngrenzenkorrosion in der
Wärmeausbreitungszone chromhaltiger Stähle, Querschliff mit aufgelösten Korngrenzen (schwarz ); d schematische Darstellung des Verlustes der Kor-
rosionsbeständigkeit neben Schweißnähten, in denen Chrom durch die Erwärmung zu den Korngrenzen diffundierte, dort Karbide bildete, sodass die
Korngrenzenumgebung an Chrom verarmte und dort keine Cr2 O3 -Schutzschicht (gelb ) bilden kann, somit korrosionsempfindlich wird
15.14 Werkstoffschädigung durch Korrosion 501
Stähle mit einigen Gewichtsprozent Chrom sind relativ Ständige Benetzung der Metalloberflächen und der
korrosionsbeständig, da das Chrom an der Oberflä- meisten Kunststoffe mit Wasser fördert die Korrosi-
che eine dichte Cr2 O3 -Schicht bilden kann, die den on. Konstruktionen sollen daher so ausgeführt werden,
Stahl gegen elektrochemische Korrosion schützt. Die- dass Wasser abfließen kann. Spalte, in denen Wasser
se korrosionsbeständigen Stähle werden häufig „rost- eindringen kann, aber kaum Sauerstoff hinzukommt,
freie“ Stähle bezeichnet. Trotzdem können sie neben fördern anodische Korrosion. Um den Wasserzutritt
Schweißnähten korrosionsempfindlich werden, wie zu unterbinden, können diese Spalte mit Dichtmassen
Abb. 15.141c,d zeigt: Durch Erwärmung in der Wär- gefüllt werden. Abbildung 15.142 zeigt einige korrosi-
meausbreitungszone um die Schweißnaht, können im onshemmenden Konstruktionsregeln.
Stahl gelöste Chrom-Atome an die Korngrenzen dif-
fundieren (Abschn. 15.12). Geringer Kohlenstoffgehalt
im Stahl genügt, um an den Korngrenzen Chrom-Kar-
Werkstoffkunde
bide zu bilden, die der nächsten Umgebung Chrom
entziehen. Die chromverarmten Zonen um die Korn- a
Wasser kann
b
Neigung und
c
grenzen dringen auch an die Oberflächen, wo dann sich sammeln Abfluss- Außenseiten
nicht mehr ausreichend Chrom für die Bildung von möglichkeit
Chrom-Oxid vorhanden ist. Die oberflächliche Chrom-
Oxidschicht ist dort unterbrochen und die Korrosion
des Eisens kann entlang der Korngrenzen voranschrei-
ten. Bei geringem Kohlenstoffgehalt im Stahl genügen
mindestens 12 Gew.-% Chrom, um ausreichend Chrom
im Stahl gelöst zu halten, sodass sich an der Oberfläche Außenseiten kein Spalt,
d e f
eine dichte Oxidschicht auch über die Korngrenzen bil- Dichtmasse
kein Spalt, Dichtmasse
den kann.
abgibt oder aufnimmt: unedlere Metalle geben Elektro- zeugen keine dichte Oberflächenschicht, sodass sie weiter
nen leicht ab, während edlere Metalle diese weiterleiten. Elektronen abgeben und die Metallionen mit dem Elek-
Durch den Kontakt zwischen edlen und unedlen Me- trolyten reagieren können. Grafit liegt auf der edlen Seite
tallen über einen Elektrolyten werden elektrochemische und daher auch Kohlenstofffasern. Kohlenstofffasern in
Reaktionen hervorgerufen. Für die Elemente ergibt sich Polymeren können daher ebenfalls ein Lokalelement in
die elektrochemische Spannungsreihe gemäß Abb. 15.143. Kontakt mit unedleren Metallen bilden. Passiviertes Titan
Ein Elektrodenpaar aus einem edlen und einem uned- ist am ehesten mit CFK verträglich (siehe Beispiel: Galva-
len Metall bildet in einem Ionenleiter (Elektrolyten) eine nische Elemente).
galvanische Zelle und kann als Stromquelle genutzt wer-
den, bis das unedlere Element durch die Auflösung in Das galvanische Element in Abb. 15.144a kann als Strom-
positive Ionen im Elektrolyten verbraucht ist. Magnesi- quelle dienen, solange die Kathode edler ist als Eisen,
um ist das unedelste Metall, gefolgt von Aluminium. Auf z. B. aus einem Edelmetall. Wird die anodische Wir-
der edlen Seite stehen die Edelmetalle und Grafit. Alu- kung durch eine äußere Spannung verstärkt, löst sich die
minium- und Zink-Basislegierungen sowie chromlegierte Anode beschleunigt auf. Da die Auflösung an Oberflä-
Stähle bilden an der Oberfläche Oxidschichten, die mit chenspitzen rascher abläuft als an Flächen, kann diese
ihren praktischen Potenzialen eingetragen sind. Die Pas- Anordnung zum Elektropolieren (siehe Bonusmaterial
sivierung dieser Metalle erfolgt durch die dichte, nicht lei- zu Abschn. 15.6: Durchstrahlungselektronenmikroskopie,
tende Oxidschicht (siehe Vertiefung: „Korrosionsschutz“). Abb. 15.5b) verwendet werden, wobei auf Metallen glatte,
Magnesium und Eisen bilden zwar Oxide, aber diese er- glänzende Oberflächen entstehen (Abb. 15.144b).
502 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
1,5
Au
X5CrNi18-10
1,0 Pt
elektrochemisches Potenzial
gegenüber Wasserstoff in V
Pd Ag Grafit Cr
13 CrMo
0,5 Cu
13Cr
passiv
unedel Sb
0
H
aktiv
Sn Pb
Co Ni
–0,5
Fe Cd
Cr
Werkstoffkunde
Zn
–1,0 passiviert durch dichte Oxidschicht
Mn auf der Oberfläche:
positives, praktisches Potenzial
Al
–1,5
Mg
Abb. 15.143 Elektrochemische Spannungsreihe des Normalpotenzials der Metalle gegenüber Wasserstoff; durch Oxidation bilden Aluminium, Zink, Chrom ober-
flächliche Passivierungsschichten (Al2 O3 , Zn(OH)2 , Cr2 O3 ) mit positivem, praktischem Potenzial
O2 + 2 H2O
+ +
kathodisch Fe
e
+ + + 4e– 4 OH –
+0,401 V + + Zn, Mg Fe2+
+ 2e–
Fe
+ +
b Zn, Mg 2e– + Zn2+, Mg2+ + 2OH–
Elektrolyt
Abb. 15.145 Funktionsweise einer Opferanode: a das zu schützende Metall
wird mit einem unedlerem elektrisch verbunden, das sich als Anode anstelle der
anodisch Kathode langsam auflöst; b Zink oder Magnesium als Opferanode auf einem
– – Stahlschiffsrumpf, der dadurch vor Korrosion geschützt wird
–0,440 V – – e
2+
– – Fe
– – Fe(OH)2
beschleunigte Auflösung fällt aus
(elektropolieren) rosionsschutz (Abb. 15.146): Die Zink-Schicht bildet kom-
a b plexe Verbindungen an Luft, die eine passivierende Wir-
kung haben (in Abb. 15.146 vereinfacht mit Zn(OH)2
Abb. 15.144 a Galvanisches Element: die Kathode weist in Bezug zum Sau- bezeichnet). Wenn die Zink-Schicht durchbrochen wird
erstoff eine positive Spannung auf und gibt Elektronen ab, an der Eisen-Anode (Kratzer, Steinschlag), bilden Zink und Eisen ein galva-
gehen positive Ionen im Elektrolyt in Lösung, sobald sie leitend verbunden sind;
Anlegen einer äußeren Spannung mit eingetragener Polarität beschleunigt die
nisches Element, wobei die Zink-Schicht als Opferanode
Auflösung der Anode durch Hydroxidbildung (elektropolieren); b Vergleich eines wirkt. Sobald sie jedoch über größere Flächen verbraucht
Wärmetauschers aus rostfreiem Stahl X5CrNi18-10 vor (oben ) und nach (unten ) ist, erzeugt die rasch fortschreitende Korrosion Löcher im
dem Elektropolieren mit angelegter Spannung ungeschützten Stahlblech.
15.14 Werkstoffschädigung durch Korrosion 503
anodische passive
Stahl Rissflanke
2e – Auflösung
2e– am Rissgrund
Elektrolyt-
Rissaus- lösung
breitung Diffusion Konvektion
Abb. 15.146 Versagen des Korrosionsschutzes einer beschädigten Zink-Be- H Me2+ + 2 (OH)–
schichtung auf Stahl: von der freigelegten Stelle gehen zuerst Zn++ in Lösung
und im weiteren Verlauf auch Fe++ Repass
ivierun
g
Werkstoffkunde
plastische
Zone Risselektrolyt mit
Sauerstoffmangel kathodische
Teilreaktion
Bei der Kombination von galvanischen Elementen
(mit unterschiedlichem, elektrochemischem Poten-
zial) wird das unedlere Metall besonders anfällig für Zugspannung σ
elektrochemische Korrosion. Dieser Effekt kann zum
zeitlich begrenzten Korrosionsschutz durch Opfer- Abb. 15.147 Spannungsrisskorrosion in einem passivierten Metall in feuchter
anoden genutzt werden. Umgebung: Passivierung reißt durch elastische und möglicherweise lokal plas-
tische Verformung der Rissspitze, Elektrolyt löst dort anodisch das Metall, Riss
wächst, frei werdender Wasserstoff dringt ins Metall ein
Frage 15.14.3
Wie funktioniert der Korrosionsschutz von Stahlblech auf. Folglich sind hochfeste Werkstoffe besonders anfäl-
durch Verzinken? lig für Spannungsrisskorrosion. Darüber hinaus sind auch
selbstpassivierende Legierungen gefährdet, da die Oxid-
schicht in Rissen brechen kann (Abb. 15.147). So sind
sowohl rostfreie Stähle als auch höchstfeste Aluminium-
legierungen anfällig für Spannungsrisskorrosion (siehe
Elastische Dehnungen können Bonusmaterial: Spannungsrisskorrosion, Abb. 15.19).
Spannungsrisskorrosion bewirken In Dampfkesseln und in Medien mit atomarem Wasser-
stoff (bei bakterieller Korrosion, beim Beizen, beim galva-
Maschinenteile werden nicht nur im Einsatz mechani- nisch Verzinken, beim Schweißen) diffundieren Wasser-
schen Spannungen ausgesetzt, sondern auch durch ihr stoffatome als Zwischengitteratome sehr leicht und rasch
Gewicht oder durch Eigenspannungen, die bei der Fer- in die Werkstoffe (schneller als C in Abb. 15.98). Dies
tigung eingebracht wurden (Restspannungen von der wird zu einem physikalischen Korrosionsproblem, wenn
Umformung, Abkühlspannungen). Derartige Spannun- sich die H-Atome an Materialdefekten zu H2 -Molekülen
gen werden an Stellen mit Dickenänderungen des Bau- verbinden. Diese können nicht mehr diffundieren, son-
teiles konzentriert. Die dadurch hervorgerufenen elasti- dern stellen gasförmige Einschlüsse dar. Der entstehen-
schen und möglicherweise auch lokal plastischen Verfor- de Gasdruck erzeugt innere hydrostatische Spannungen,
mungen können Risse in den Oxidschichten passivierter die eine Rissbildung von innen hervorrufen können, die
Metalle erzeugen, in die Feuchtigkeit eindringen kann. Spaltbruch verursachen können.
Abbildung 15.147 zeigt schematisch, wie lokale elektro- Nicht nur Metalle sind sensibel auf Spannungsrisskorro-
chemische Korrosion das Risswachstum beschleunigt. sion, sondern auch Polymere und Keramiken. Die elas-
Die Spannung an der Rissspitze kann die Elastizitäts- tische Dehnung der Moleküle ermöglicht das Eindiffun-
grenze des Werkstoffes erreichen, ohne makroskopisch dieren von H+ und OH- -Ionen, die mit den Molekülen
plastische Verformungen zu verursachen. Diese Span- reagieren (Abb. 15.148) und primäre und/oder sekundäre
nung (von außen aufgebracht oder Eigenspannungen) Bindungen aufbrechen können.
und die damit verbundene elastische Dehnung können
also umso höher sein, je höher die Streck- bzw. Dehn- Frage 15.14.4
grenze des Werkstoffes ist. Durch die anodische Teilre- In welchem Verformungsbereich tritt Bruch durch Span-
aktion im Elektrolyten gebildeter Wasserstoff kann als nungsrisskorrosion auf?
Zwischengitteratom leicht in das Metall eindiffundieren Weshalb sind hochfeste Werkstoffe besonders gefährdet?
und die verbleibenden Hydroxidionen lösen das Metall
504 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Aluminium
Kohlenstofffaser-
Cu Fe verstärkter Kunststoff
Kleber
Aluminium
a b
Schematische Darstellung von Werkstoffpaarungen, die zu galvanischer Korrosion führen; a Kupfer-Blech mit Stahlbefestigungen (Schrauben, Nägel, Nie-
te), die sich auflösen; b Stahl- bzw. CFK-Teile verbunden mit Aluminium, das durch den Elektrolyten aufgelöst wird
15.14 Werkstoffschädigung durch Korrosion 505
Zugspannung
Si Si Si Si
Si
langsames OH OH OH
OH OH
Si
Risswachstum OH Si Si Si Si Si Si Si Si
Wasserdampf H2O O O O O O O O O
OH Si Si Si Si Si Si Si Si
OH OH
OH OH OH Si
Si Si
Si Si Si
a b
Werkstoffkunde
Abb. 15.148 Beispiel für Wachstum eines spannungsinduzierten Risses in einer Oxidkeramik durch Aufbrechen der Bindungen aufgrund von Reaktionen mit OH- -
Ionen
Leitbeispiel Antriebsstrang
Korrosionserscheinungen auf den Bauteilen:
Die Umgebungsmedien der Bauteile im Antriebstrang sind
sehr unterschiedlich und unterschiedliche
Korrosionsmechanismen werden wirksam.
Wasser in den Kühlkanälen ist mit Korrosion durch das Kühlwasser wird durch die ober-
Korrosionsinhibitoren versetzt flächliche, dichte Oxidschicht verhindert; galvanische
Korrosion sobald im Kühlkreislauf Oxidationsmittel
mit unterschiedlichem chemischen Potenzial eingeführt
werden
Getriebe läuft in Öl; bei Undichtheiten kann bei Undichtheiten und galvanische Korrosion (Stahl
Wasser ins Getriebegehäuse eindringen gegenüber Lagerschalen aus Kupfer-Legierungen)
Fe2+ Fe2+
Die braune Kurve zeigt einen mit der Zeit zunehmen-
O 2– den Gewichtsverlust durch Materialabtragung, wenn
Fe3+ die Korrosionsprodukte nicht haften oder flüchtig
sind: Zunderschichten (Abb. 15.150) können wegen
ihres Volumenbedarfs und wegen Temperaturschwan-
kungen von der Oberfläche abplatzen. Die neue Ober-
fläche kann wieder verzundern, worauf der Zunder
FeO Fe3O4 Fe2O3 wieder abblättert. Als Konsequenz wird Material abge-
tragen, die Probe erfährt einen Gewichtsverlust, der im
Mittel linear mit der Zeit verlaufen kann. Gewichtsver-
Fe
lust erfährt ein Werkstoff auch, wenn er sich bei hoher
Temperatur zersetzt. Die Refraktäre Wolfram und Mo-
lybdän bilden in sauerstoffhaltiger Umgebung über
450 °C flüchtige Oxide, sodass sie ebenfalls oberfläch-
10 µm 50 µm lich abgetragen werden und Gewicht verlieren. Wolf-
ram- und Molybdän-Heizelemente müssen daher in
Abb. 15.150 Zunderschichten auf Gusseisen und Stählen, die durch Diffusion Hochvakuum oder unter Schutzgas betrieben werden.
von Eisen durch die Oxidlagen (Wüstit FeO und Magnetit Fe3 O4 ) und durch Dif- Duromere und Elastomere schmelzen nicht, sondern
fusion von Sauerstoff durch die äußere Hämatitschicht (Fe2 O3 ) bei Temperaturen zerfallen bei der Zersetzungstemperatur in gasförmige
über 550 °C wachsen Moleküle.
15.14 Werkstoffschädigung durch Korrosion 507
Die chemischen Eigenschaften der Werkstoffoberflä- nischer Elemente beschleunigt. Unter mechanischen
chen gegenüber dem Umgebungsmedium bestimmen Zugspannungen werden auch selbstpassivierende Me-
die Korrosionsrate, mit der die Korrosionsschädi- talle, Polymere und Keramiken physikalisch und che-
gung voranschreitet. Elektrochemische Korrosion ent- misch korrosionsempfindlich. Bei erhöhten Tempera-
steht in Elektrolyten, wofür feuchte Umgebung oft turen führen chemische Reaktionen zu Trockenkorro-
ausreicht. Sie wird durch Werkstoffpaarungen galva- sion.
Werkstoffkunde
Oxidationsmitteln, Δh Abtrag chemischer Flächenabtrag
Flüssigkeiten mit
Oxidationsmitteln
(Elektrolyte) Lochfraß örtlicher Abtrag, lokale elektrochemische
Δh Lochbildung an Material- Korrosion
inhomogenitäten
Elektrolyte, die diffusions- interkristalline Kor- Abtrag entlang Korn- elektrochemische oder
fähige Elemente abspalten, rosion (mit/ohne grenzen durch chemische Trockenkorrosion in poly-
z. B. Wasserstoff Zugbelastung) Reaktivität oder Potenzial- kristallinem Gefüge
differenz
transkristalline beschleunigtes Risswachs- physikalische Versprödung
Risskorrosion unter tum von innen durch H2 - durch innere Spannungen
Zugbelastung Rekombination
Abbildung 15.150 zeigt das Beispiel des komplexen barrier coating) erhöht, die so aufgebaut sind, dass sie auf
Wachstums einer Zunderschicht auf Gusseisen: Eisen rea- der Metalloberfläche auch bei Temperaturwechsel haften.
giert zu FeO (Wüstit), durch diese Schicht diffundiert TBC-Schichten schützen nicht nur vor Trockenkorrosion,
Eisen, um Wüstit bei Temperaturen über 550 °C in Fe3 O4 sondern schirmen die Nickel-Basislegierung auch von der
(Magnetit) mit Eisen-Einschlüssen umzuwandeln; das Verbrennungstemperatur ab, um die innere Kühlung zu
weitere Eindiffundieren von Sauerstoffionen von außen verbessern.
oxidiert die Eisen-Einschlüsse und wandelt Fe3 O4 in sta-
biles Fe2 O3 (Hämatit) um. Eisen-Ionen diffundieren von Frage 15.14.5
innen bevorzugt entlang Korngrenzen, sodass ein kom- Weshalb wird die Trockenkorrosion mit steigender Tem-
plexes Gefüge entsteht. peratur beschleunigt?
Gasturbinenschaufeln sind in der Brennkammer (Abb.
15.113) Temperaturen über 1000 °C in einer Kohlenwas-
serstoffumgebung mit verunreinigten Verbrennungsga- Trockenkorrosion erzeugt oberflächlich Korrosions-
sen ausgesetzt. Ihre Lebensdauer und Temperaturresis- produkte, die am Werkstück diffusionskontrolliert
tenz wir durch keramische TBC-Beschichtungen (thermal
508 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Werkstoffbeanspruchung
aufwachsen und zu einer parabolischen Gewichts-
zunahme führen. Dabei wird der tragende Quer- mechanische (elektro-) chemische
schnitt ebenso geschwächt wie durch das Abplatzen und thermische Belastung + Reaktionen mit Umgebung
der Korrosionsschicht, das durch Gewichtsabnahme
erkennbar ist. Spannungsriss-
äußere korrosion
statisch (kathodisch/anodisch)
Kräfte physikalisch-chemisch
induzierte
Wasserstoffrissbildung
15.15 Mehrfachbelastung und
zügig dehnungsindizierte
Risskorrosion
der Werkstoffe
Werkstoffkunde
Momente
schwingend Schwingungsriss-
Korrosion
(Ermüdung) korrosion
Die mechanische, thermische und chemische Belastbar-
keit der Werkstoffe hängt grundsätzlich von ihrer ato- Erosion Erosionskorrosion
maren Bindungsart ab, nach der Keramiken, Metalle,
Verschleiß Kavitation Kavitationskorrosion
organische Materialien (Naturstoffe und Polymere) un-
terschieden werden (Abschn. 15.2 bis 15.4). Maschinen-
komponenten werden hauptsächlich nach den mecha- Reibung Reiboxidation
nischen Belastungen ausgelegt. Der wesentliche mecha-
Kriechen, Abtragung
nische Belastungsbereich beschränkt sich auf die elas- Kräfte +
Relaxation,
tische Verformung (Abschn. 15.5). Durch Kerbwirkung thermische
thermische Oxidation, Auf-/Ent-
Aktivierung
können Bauteile auch im elastischen Verformungsbereich Ermüdung kohlung, Wasserstoff
spröde brechen, sobald ihre Bruchzähigkeit überschrit-
ten wird (Abschn. 15.9 bis 15.10). Schwingende Belas- Abb. 15.151 Werkstoffbeanspruchung setzt sich aus mechanischen, thermi-
tung kann auch im elastischen Bereich nach bestimm- schen und korrosiven Belastungen zusammen, deren Kombinationen sich mehr
ten Lastspielzahlen zum Versagen eines Bauteils durch als additiv verstärken
Ermüdung führen (Abschn. 15.11), was in der Ausle-
gung oft unterschätzt wird. Bauteile, die bei erhöhten
Temperaturen im elastischen Bereich eingesetzt werden, gleichzeitiger flächiger oder lokaler Schädigung durch
können sich durch Diffusion plastisch verformen (Krie- Verschleiß- und/oder Korrosionsbeanspruchung.
chen), aber auch in ihrer Tragfähigkeit Einbußen erleiden
(Abschn. 15.12). Verschleiß- und Korrosionsbeanspru- Zusammenfassend sind bei der Bauteilauslegung die Art
chungen (Abschn. 15.13 und 15.14) schädigen Werkstof- der mechanischen Belastung und die resultierende Verfor-
fe, indem lokale Querschnittsverminderungen zu plasti- mung zu kennen und zu berücksichtigen (Abb. 15.152).
schen Verformungen und/oder Bruch führen. Kriechver- Die mechanischen Beanspruchungen werden noch durch
formungen und Korrosionsschädigungen sind zeitabhän- die im Gebrauch schlechtestenfalls zu erwartenden Kor-
gig, und daher hängt die Einsatzdauer der Werkstoffe
von ihrer Kriechresistenz, sowie der relevanten Korro-
sionsbeständigkeit ab. Die plastische Verformbarkeit der
Werkstoffe (Abschn. 15.8) wird in der Umformtechnik
genützt, hat aber auch eine sicherheitsrelevante Bedeu- Verformung
tung durch die Energieaufnahmefähigkeit (Zähigkeit) im
Versagensfall. Für die Auslegung eines Bauteils muss
seine Belastung im Gebrauch bekannt sein, die sich im
Allgemeinen aus mehreren der oben angeführten Bean- Spannungsriss- abrasives
korrosion Mikrobrechen
spruchungen zusammensetzt.
Bruch-
Die Kombination mehrerer Belastungsarten beschränkt versagen
den Werkstoffeinsatz durch interaktive Verstärkung der tribochemische
Korrosion Verschleiß
Wirkungsweisen (Abb. 15.151), die bei sicherheitsrelevan- Reaktionen
ten Bauteilen experimentell geprüft werden muss: Einer
statischen Belastung kann sich schwingende Belastung
überlagern. Wenn dazu noch thermische Aktivierung ei- Abb. 15.152 Die Werkstoffschädigungen aus Verformung, chemischem An-
ne Rolle spielt, reduziert sich die Werkstoffbelastbarkeit griff und Verschleiß verstärken in ihrer Kombination die Schädigungsmechanis-
weiter. Wesentliche Beeinträchtigungen ergeben sich bei men
Weiterführende Literatur 509
Leitbeispiel Antriebsstrang
Werkstofflösungen mit Eigenschaftsprofilen, die den Bau-
teilanforderungen genügen:
Die Anforderungen sind im Leitbeispiel: Werkstoffe für
ausgewählte Bauteile angeführt. Die Kennwerte sind den
Tab. 15.7 und 15.16 entnommen.
Bauteil
Werkstoffkunde
Betrachter Teil a Turbine b Kurbelgehäuse c Ölwanne d Zahnrad
Hauptfunktion Verdichterpumpe Verbrennungsraum Ölsammler, -behälter Drehzahl-, Drehmoment-
im Abgasstrom für Kolbenmotor übersetzung
Seriengröße Mittel Groß Groß Groß
Werkstofflösungen IN718 Si3 N4 Al-Si-Guss GJV 300 Thermoplast Einsatzgehärtete Stähle
Super- Keramik Grauguss
legierung
Formgebung Feinguss Sintern Sandguss Spritzguss Sintern, Schmieden
Maßgenauigkeit Schleifen Zylinderbohrung honen, Passflächen Zahnflanken schleifen
erzielen Passflächen schleifen nachbearbeiten
Mecha- E/ρ 25 91 27 25 1,8 27 GPa/Mg/m³
√ √
nische E/ρ 1,7 5,2 3,2 1,9 1,3 1,8 GPa/Mg/m³
Eigen- Rp /ρ 120 210 56 42 60 76 MPa/Mg/m³
schaften
σD,NG /ρ 85–110 150–190 33–44 30–45 10–45 19–38 MPa/Mg/m³
√
KIc 120–150 5–7 50–100 30–50 2–6 30–200 MPa m
Kriechbeständigkeit < 400 °C < 700 °C < 150 °C < 300 °C < 100 °C < 200 °C
Chemische Trockenkorrosion Innen Kühlwasser, Innen Motoröl, Getriebeöl
Beständigkeit außen Salzwasser außen Schmutzwasser
Verschleißsystem Erosion Innen Abrasion durch Außen Erosion Oberflächenzerrüttung,
Kolbenringe Abrasion
Bergmann W (2002) Werkstofftechnik 1, Hanser Macherauch E, Zoch H-W (2011) Praktikum in Werkstoff-
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Callister WD, Bethwisch DG (2010) Materials Science and
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Degischer HP, Lüftl S (2009) Leichtbau, Wiley-VCH (https://doi.org/10.1371/journal.pone.0101298)
DIN EN 10027-1 Kurznamen der Stähle, DIN EN 10027-2 Ostermann F (2007) Anwendungstechnologie Alumini-
nach Nummernsystem um, Springer
DIN EN ISO 11469:2000-10: Sortenspezifische Identifizie- Reissner J (2010) Werkstoffkunde für Bachelors, Hanser
rung und Kennzeichnung von Kunststoff-Formteilen
Riehle M, Simmchen E (2000) Grundlagen der Werkstoff-
DIN EN 573-2-4, Aluminiumlegierungen-Kurzzeichen, technik, 2. Aufl., Wiley-VCH
Werkstoffkunde
Werkstoffkunde
512 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Antwort 15.1
Werkstoffvorschlag Al-Knetlegierung CFK-Rahmen
Formgebung Rohre, Gussmuffen Gewickelte Rahmen
Fügeverfahren Schweißen oder Kleben Kleben
Erforderliche Einbauteile – Verstärkungsmuffen
Werkstoffkunde
Antwort 15.2
Antworten zu den offenen Feldern in Tab. 15.3, (a–d) bezeichnen die Leitbeispielbauteile
Werkstoffbezeichnung Kategorie/Gruppe/Untergruppe Beschreibung/Zusammensetzung in Gew.-% Anmerkung
(b,d) AlSi9Cu3(Fe) Leichtmetall Aluminium- Al mit 9 % Si, 3 % Cu, Fe < 1,3 % Gussteile
(226D, EN-AC46000) legierung Sekundärlegierung für Druckguss
(d) AZ91 Leichtmetall Magnesium- Mg mit 9 % Al, 1 % Zn, Druckguss Gussteile
legierung
(d) C10 (EN 10132-2) Grundstahl Einsatzstahl ∼
= 0,1 Gew.-% C, Oberflächen härtbar Getriebeteil
(d) C22E (Ck22, EN 10132-3) Grundstahl Vergütungsstahl ∼
= 0,2 % C; rein S, P < 0,03 %, härtbar Fest + zäh
(b) GJV300 (EN-GJV-300) Fe-Basislegierung Grauguss mit ~3,6 % C, ~2,1 % Si, „wurmartiger“ Grafit, Kurbelgehäuse
Vermikulargrafit E > 140 GPa, Rm > 300 MPa
(c) Polypropylen (PP) Polymer Thermoplast Polymeris. Propen [C3 H6 ] teilkristallin transparent
(a) Siliziumnitrid Keramik Nitrid Si3 N4 , gesintert, bis 1300 °C einsetzbar Turbine
(a) Superlegierung Schwermetall Nickel-Basis- 50–55 % Ni, 17–21 % Cr, 3 % Mo, 1 % Co, Gasturbine
legierung 0,7–1 % Ti, 0,2–0,8 % Al, 5 % Nb, Rest Fe
(d) 100Cr6 (EN-ISO 683-17) Niedrig legierter Vergütungsstahl 1 % C, 6/4=1,5 % Cr, hochrein Wälzlager
Grundstahl
Antworten zu den Verständnisfragen 513
Antwort 15.3 Kleinserien erlauben keine großen Inves- Streckgrenze erforderlich. Die untere Streckgrenze liefert
titionen für die Fertigung. Daher werden höherwertige die kritische Schubspannung der Versetzung ohne Koh-
Werkstoffe eingesetzt, die gut verarbeitbar sind. Bei Groß- lenstoffatome in ihrem Kern. Die Streckgrenze geht ver-
serien rentieren sich Investitionen für die Serienfertigung loren, sobald die Kohlenstoffatome gleichmäßig verteilt
billiger Werkstoffe (z.B. teure Druckgusseinrichtungen sind nach einer plastischen Verformung oder alle Kohlen-
für billiges Sekundäraluminium) stoffatome in Karbiden gebunden sind. Beim Altern eines
verformten Stahles wandern gelöste Kohlenstoffatome zu
Antwort 15.4 1 g/cm3 = 1 Mg/m3 = 103 kg/m3 = den Versetzungen und vermindern ihre Beweglichkeit.
1 mg/mm3 entspricht 9,81 kN/m3 = 9,81 · 10−3 N/cm3
15.6.6 Gleitet eine Versetzung an eine Ausscheidung her-
Antwort 15.5 an, so benötigt sie eine erhöhte Schubspannung, um kohä-
rente Ausscheidungen zu schneiden oder um inkohärente
Werk- Epoxid- Alumi- Grund- α-Al2 O3 EP/C- Dispersoide mittels Orowan Mechanismus zu umgehen.
Werkstoffkunde
stoff harz nium stahl HM/60f-UD
Elast. 2,3 0,1 0,03 0,02 0,04 15.6.7 Eine Versetzung, die sich zwischen gegenüberlie-
Dehng.(%) genden Korngrenzen durch das ganze Korn zieht, wird
durch die Endpunkte in den Korngrenzen im Gleiten
Antworten 15.6 behindert. Der Hindernisabstand entspricht dem Korn-
durchmesser d. Je kleiner dieser ist umso größer ist die
15.6.1 Die Elastizitätsgrenze ist jene Spannung, ab der Hinderniswirkung Δτkrit ∝ 1/d.
plastische Verformung eines Werkstoffs beginnt.
15.6.8 Fe × 30, Ni × 20, Cu × 30, Al × 20.
In Werkstoffen mit ausgeprägte Streckgrenze ist dies ReH .
In duktilen Werkstoffen wird eine Ersatzstreckgrenze de- 15.6.9 Die druckverformte Innenseite hat eine niedrigere
finiert, die eine minimale plastische Verformung zulässt: 0,2 %-Dehngrenze als die zugverformte Außenseite.
Rp0,1 , Rp0,2 . 15.6.10 Rp /ρ: PA66 : Al-Legierung : Stahl = 1 : 0,5–3 :
Zugfestigkeit Rm ist die maximale technische Zugspan- 0,3–3.
nung, die in einem Zugversuch ermittelt wird. Die zuge-
hörige Gesamtdehnung ist Agt . Bei Entlastung in diesem
Antwort 15.7 Brinellhärte für Aluminiumlegierungen,
Punkt bleibt die plastische Dehnung Ag . Agt −Ag ist die
un- bzw. niedriglegierte Stahlbleche, Rockwell- oder
elastische Rückfederung bei Entlastung von der Zugfes-
Vickershärte für gehärtete Stahlteile; Shore-Härte für Po-
tigkeit.
lymere, für Duromere auch Vickers; Knoop oder Vickers-
15.6.2 Sobald der Versetzungsring die Kornoberfläche Kleinlasthärte für Keramik.
erreicht, erzeugen die gegenüberliegenden Stufenverset-
zungen gegensätzliche Stufen der Größe eines Burgers-
vektors, was eine der Größe des Korns entsprechende Antwort 15.8 σ = F/A0 , σw = F/AN = (1 + ε n )σn , k =
plastische Scherung des Korns ergibt. (1 − 1/E)σw , ε n = Δl/l0 , ε w = ln(1 + ε n ), ϕ = ln(lplast /l0 )
oder ln(AN /A0 ).
15.6.3 Δτkrit ∝ 1/l
15.6.4 Während der plastischen Verformung entstehen Antwort 15.9 Tieflage der Kerbschlagwerte bedeutet
beim Gleiten von Versetzungen über Versetzungen an- Spaltbruch (gehärtete Stähle, Keramiken, Duromere);
derer Gleitsysteme oder andere Versetzungshindernis- Hochlage bedeutet duktiler Bruch (kfz Metalle, duktile
se neue Versetzungen (Versetzungsmultiplikation analog Zustände der Stähle und Ti-Legierungen, Thermoplaste
dem Orowan-Mechanismus), was die Versetzungsdichte oberhalb der Glasübergangstemperatur).
und somit die kritische Schubspannung weiter erhöht.
15.6.5 Stähle enthalten interstitiell gelöste Kohlenstoff- Antwort 15.10 Die Zugfestigkeit einer Probe ist kleiner,
atome. Diese nehmen auf der Zugspannungsseite der weil das Prüfvolumen größer ist als das der Randfaser der
Stufenversetzung energetisch günstige Postionen ein und Biegeprobe gleichen Querschnitts.
üben eine Bindungskraft zwischen den Kohlenstoffato-
men und den Versetzungen aus. Versetzungen können Je länger eine Faser, um so größer ist ihr Volumen und da-
erst gleiten, sobald sie diese Bindung überwunden haben. her auch die Wahrscheinlichkeit eines kritischen Fehlers.
Dafür ist eine Schubspannung entsprechend der oberen Je länger die Faser, um so kleiner deren Festigkeit.
514 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Werkstoffkunde
nen noch Fe-Ionen ins Wasser gelangen.
15.14.4 SRK breitet sich unter Zugspannung aus, die um
so höher sein kann desto höher die Elastizitätsgrenze des
15.14.2 Unter thermo-oxidativer Alterung versteht man
Werkstoffes ist. Deshalb sind höherfeste Metalle (auch Ke-
die Beeinflussung von Kunststoffen durch Wärmeenergie ramik und Kunststoffe) besonders SRK-anfällig.
in Anwesenheit von Sauerstoff. (Hydroxyle können sich
zersetzen, Weichmacher entweichen und der Kunststoff 15.14.5 Der Korrosionsfortschritt steigt wie die Diffusion
versprödet.) exponentiell mit der Temperatur.
516 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Aufgaben
15.1a Weshalb werden vom Automobilbau Gewichtser- 15.2a Was ist der Unterschied zwischen Verbundwerk-
leichterungen gefordert? – geben Sie technische, gesell- stoffen und Werkstoffverbunden? Nennen Sie jeweils 2
schaftliche bzw. gesetzliche Gründe an. Beispiele.
Bezeichnungsweise: Endlosfasern (continuous fibre rein-
15.1b Identifizieren Sie Konstruktionswerkstoffe, die im forced polymers = CFRP) oder Kurzfasern in Polymer-
20. Jh. in wichtigen Lebensbereichen Innovationen ermög- matrix (SMC = sheet molding compound; short fibre
lichten: reinforced polymers = SFRP); particle reinforced metal
(PRM). . . (weitere siehe Abschn. 15.5)
Bauwesen (z. B. für Wolkenkratzer)
Wasserversorgung (z. B. für Pumpen und Rohrleitun-
gen) 15.2b Identifizieren Sie die Gruppen der Leicht- und
Nahrungsmittelversorgung (z. B. für moderne Erntege- Schwermetalle im Periodensystem der Elemente (siehe
räte) Abschn. 14.3, Abb. 14.10)
Energieversorgung (z. B. für Windkraftanlagen)
Medizintechnik (z. B. für Stents als Gefäßstützen)
Transportwesen (z. B. für Flugzeuge) 15.2c Wie hoch ist die Jahresproduktionsmenge von rost-
Sicherheit (z. B. Kugelsichere Westen, Panzerungen) freien Stählen (Abb. 15.4)? Reihen Sie diese in den in
Kommunikation (z. B. Satelliten, Hochleistungskühl- Tab. 15.2 angeführten Werkstoffgruppen nach der Pro-
körper) duktionsmenge und nach dem kg-Preis.
15.1c Welches war der erste, industriell hergestellte 15.2d Welche Naturstoffe können als Verbundwerkstoffe
Kunststoff und das erste Großserien Al-Produkt und in bezeichnet werden ? Welches sind ihre Bestandteile?
welchem Jahrzehnt kamen diese auf den Markt?
Al-Knetlegierungen werden nach ISO Norm mit dem bikes (konkrete Werte finden Sie in Tab. 15.16), berück-
Symbol AW xyyy bezeichnet (Leitziffer x gibt das Le- sichtigen Sie auch die Biegeeigenschaften nach Kap. 14)?
gierungssystem an: 1 (unlegiert), 2 (Cu-legiert), 3(Mn
legiert), 5 (Mg legiert), 6 (Mg+Si legiert), 7 (Zn+Mg le-
giert), 8 (Sonderlegierung z. B. mit Li) 15.3c Erläutern Sie Ihren Werkstoffvorschlag der Ver-
ständnisfrage 15.1, indem Sie die eingegangenen Kom-
Al-Gusslegierungen werden mit den Buchstaben AC promisse bei der Kennwerteverteilung anführen und
xyyyy (Leitziffer x wie für Knetlegierungen, speziell 4 für kommentieren.
Al+Si);
Die weiteren Ziffern yyy(y) sind historisch vergebene 15.3d Eine Instrumententafel aus Stahl steht im Wettbe-
Nummern (siehe einschlägige Norm) werb mit einer aus einem Mg-Gussteil. Entnehmen Sie
Mg-Legierungen verwenden eigene Elementabkürzun- die relativen Preise aus Tab. 15.2 und errechnen Sie aus
Werkstoffkunde
gen (A = Al, Z = Zn, M = Mn) mit Gew.-% Angaben in den Angaben die Stück-kosten und die relative Gewicht-
der Reihenfolge der Elemente. seinsparung, sowie die daraus resultierende Treibstoff-
einsparung für die Fahrzeuglebensdauer von 300.000 km
Ti-Legierungen (Elemente mit Gew.-%-Angaben in ver- (100 kg brauchen ca. 0,5 l Treibstoff ∼
= 1Ξ (Schätzwert für
schiedenen Reihenfolgen), amerikanische Bezeichnungen 2010) pro 100 km).
sind „grade“
Ti2 = Grade 2 Ti mit 0,25 Gew.-% Fe; C, N, O je Werk- Ge- Mate- Fertigungs- Stück- Gewichts- Treib-
ca. 0,1 Gew.-% (höherfest als Reinst-Ti grade 1); TiAl6V4 stoff wicht rial- kosten pro kosten verhältnis stoff-
preis Stück (Ξ) u. (%) anteil
= Ti Grade 5. (Ξ) relativ (Ξ)
Stahl 15 kg ? Ca.2 h auto- ?Ξ Referenz ?
15.3 Aufgaben zu Abschn. 15.3 mat. stanzen, 100 % 100 %
biegen,
schweißen,
15.3a Berechnen Sie die Jahresproduktionsmengen und ausrichten
die Marktvolumina mit den Angaben in Tab. 15.2 für fol- . . . = 100Ξ
gende Produkte (Ξ als relative Währung zum Stahlpreis Mg- 10 kg ? Ca. 1/2 h ? ? ?
Legier- druckgießen,
pro kg):
ung entgraten,
nach-
Produkt Werkstoff Gewicht Serien- Werkstoff- Wirt- bearbeiten
größe menge in schafts- . . . = 30Ξ
pro t pro Jahr vol. pro
Jahr Jahr in Ξ
PKW- Stahl 700 kg 1 Mil- ? ? 15.3e Ein PKW „Fe“ mit 1500 kg dominant aus Fe-
Karos- lion Werkstoffen kostet in der Anschaffung 23.700 Ξ, wäh-
serie rend ein PKW „Al“ mit wesentlichem Leichtmetallanteil
Luxus- Al-Leg. 700 kg 10.000 ? ? 1200 kg wiegt, aber 31.200 Ξ kostet.
Karosse
Flugzeug- Al-Leg. 50 t 100 ? ? Berechnen Sie die Treibstoffkosteneinsparung für
rumpf 100 km Fahrweg mit dem Leichtmetall-PKW (siehe An-
Heck- CFK 8t 100 100 Ξ/kg ? gaben in Aufgabe 15.3d) und die CO2 -Verminderung
flügel (2,5 kg CO2 /l Treibstoff).
Flugzeug- Ti-Leg. 5t 100 70 Ξ/kg ?
Mit welchem km-Stand wird der „break even point“
teile
Satellit Keramik 1t 10 500 Ξ/kg ?
(Kostengleichheit) erreicht? Wieviel Treibstoff und wie-
viel CO2 -Emission würde bis zum „break even point
gespart?
15.3b Begründen Sie die unterschiedlichen Anforderun- Um wie viel verändert sich dieser Punkt, wenn die Ent-
gen für ein Stadtfahrrad und ein Mountainbike (siehe sorgungswerte berücksichtigt werden (durchschnitt-
Verständnisfrage 15.1). Setzen Sie diese mit den in der licher Ertrag: 0,1 Ξ pro kg „Fe“-PKW, 1 Ξ pro kg
Datenspinne für Fahrradrahmen und Tab. 15.5 angeführ- „Al“-PKW)?
ten Kennwerten in Beziehung. Wie unterscheiden sich die Der Einsatz von 100 kg Kohlenstofffaser verstärktem
wesentlichen Kennwerte der Werkstoffe für die beiden Kunststoff (100 Ξ/kg) statt 200 kg Leichtmetall im
Rahmenarten (Geben Sie die Kennwertsymbole an und „Al“-PKW würde diesen um wie viel verteuern und
welche größer oder kleiner sind für den Stadtfahrradrah- den break even point im Vergleich zum „Al“-PKW wie
men aus Stahl gegenüber dem Al-Rahmen des Mountain- weit verschieben?
518 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Bauteil Wichtige Kennwerte Naturstoff Verbund- Werk- Fe-Basis Nicht-Fe Keramik Polymer
(Symbole) werkst. stoffverb.
Turboladerturbine ?
Kurbelgehäuse ?
Ölwanne ?
Getriebezahnrad ?
Selbsttragende ?
Karosserie und
Spaceframe-Struktur
15.3f Fügen Sie in die obige Tabelle die wichtigsten 15.4f Ein 1 m langer Bimetallstreifen besteht aus Stahl
Werkstoffkennwerte ein, die den für die Leitbeispiel- mit α = 14 ppm/K und einer INVAR Legierung (Ni-Fe)
Werkstoffkunde
bauteile angeführten Anforderungen zugeordnet werden mit α = 2 ppm/K. Um wie viele mm verlängern sich die
können (tragen Sie die Symbole gemäß Tab. 15.5 ein) und beiden Metallstreifen unabhängig von einander bei ei-
kreuzen Sie die Werkstoffgruppen bzw. -untergruppen ner Temperaturänderung von 100 °C? Wie groß ist dabei
an, zu denen für die angegebenen Bauteile geeignete der resultierende, relative Längenunterschied zwischen
Werkstoffbeispiele gehören. Ergänzen Sie die Tabelle der den beiden Metallstreifen? Was folgt daraus, wenn diese
Gebrauchseigenschaften der Leitbeispiele für Automobil- beiden Stäbe vor der Temperaturänderung vernietet wur-
karosserien. den?
15.4 Aufgaben zu Abschn. 15.4 15.4g Ein Reineisenstab mit 100 mm Länge wird von
Raumtemperatur (25 °C) auf 1000 °C aufgeheizt. Im krz
15.4a Der spezifische Elastizitätsmodul eines Werkstof- Zustand gilt α910 RT ( α ) = 14 ppm/K und im kfz Zustand
fes ist der E-Modul dividiert durch die spezifische Masse
α1000 ( γ ) = 22 ppm/K. Um wie viel verlängert sich der
ρ des Materials. Die Maßeinheit für E/ρ ergibt sich aus 911
Stab bis 911 °C, um wie viel verkürzt er sich bei der
der direkten Division der Messgrößen zu GPa/(g/cm3 ). vollständigen Umwandlung in γ (siehe Abb. 15.11), und
Rechnen Sie diese Maßeinheit um, indem Sie statt der um wie viel verlängert sich der umgewandelte Stab bis
Dichte das spezifische Gewicht einsetzen und sich eine 1000 °C? Wie groß ist die gesamte, prozentuale Längenän-
einfache Längeneinheit ergibt. Wie groß ist der auf das derung des Stabes?
spezifische Gewicht bezogene Elastizitätsmodul für einen
hoch legierten Stahl (E = 210 GPa, ρ = 8 g/cm3 ) und für
15.4h Schätzen Sie mit der in Abb. 15.8 angegebenen
Aluminium (E = 70 GPa, ρ = 2,7 g/cm3 )? Was fällt Ihnen
Mischungsregel für Gew.-% die Dichte folgender Legie-
dabei auf?
rungen ab:
15.4b Ein Glas mit α+ Intermetallische Phase TiAl und der Legierung
−30 = 4 ppm/K ist in einen quadra-
70
Ti6Al4V (ρTi = 4,5 g/cm3 , ρAl = 2,7 g/cm3 , ρV =
tischen Aluminiumrahmen (α+ −30 = 23 ppm/K) mit 1 m
70
Seitenkante so eingespannt, dass die Passung bei −30 °C 6,1 g/cm3 ). Weshalb differiert der berechnete Wert
bündig ist. Erhitzen sich die Scheibe und der Rahmen in für TiAl von dem an den Legierung gemessenen Wert
der Sonne auf 70 °C, wie viel Spielraum entsteht zwischen ρTiAl = 3,8 g/cm3 signifikant? Setzen Sie die Atompro-
Rahmen und Glasscheibe? zent ein.
Austenitischer Stahl X6CrNiMo 17-12-2 (0,06 Gew.-% C
vernachlässigen, ρCr = 7,14 g/cm3 , ρMo = 10,2 g/cm3 ,
15.4c Leiten Sie die thermische Volumenänderung eines
ρFe und ρNi siehe Abb. 15.8). Vergleichen Sie die-
Körpers ΔV/ΔT von dem in den 3 Raumrichtungen istro-
se Näherung mit dem Dichtewert der Legierung in
pen, linearen Ausdehnungskoeffizienten α ab.
Abb. 15.8.
Schnellarbeitsstahl HS10-4-3-10 (Gew.-%-Angaben in
15.4d Bei der Umwandlung des Ferrit in den Austenit der Reihenfolge W-Mo-V-Co mit ρW = 19,3 g/cm3 ,
verändert sich die Probenlänge um ca. 0,3 %. Um wie viele
ρMo = 10,2 g/cm3 , ρV = 6 g/cm3 , ρCo = 8,83 g/cm3 ,
Prozent verändert sich das Probenvolumen?
Rest Eisen); Vergleichen Sie die Abschätzung mit dem
Realwert 8,3 g/cm3 .
15.4e Das gekühlte Kurbelgehäuse eines Motors aus
90 = 10 ppm/K) wird im Inneren des Brenn-
Gusseisen (α390
raums lokal auf 390 °C erhitzt, bleibt aber in den Wänden 15.5 Aufgaben zu Abschn. 15.5
der Kühlkanäle auf 90 °C. Wie groß ist der dadurch ent-
stehende, lineare Dehnungsunterschied zwischen Innen- 15.5a Ein Zugstab mit zylindrischer Prüflänge von
wand des Brennraums und des Kühlungskanals? 50 mm und dem Durchmesser von 10 mm wird mit einer
Aufgaben 519
Kraft von 78,5 kN gezogen (Werte aus Tab. 15.7; Berech- 15.5e Berechne mit den Angaben in Tab. 15.7 und 15.8
nungen mit max. 3 signifikanten Stellen): die E-Moduln längs mit (15.10) und quer mit (15.11) fol-
gender Verbundwerkstoffe:
Wie groß ist die mittlere Zugspannung in diesem Stab?
Wie groß ist die elastische Dehnung dieses Stabes (ab- Endlosfaserverbundwerkstoffe: PA66/Aramid/50f-
solut (µm) und relativ), wenn er aus Stahl ist, und UD, Epoxy/C-HT/65f-UD, Epoxy/S-Glas/60f-UD,
wenn er aus Aluminium ist? Epoxy/C-HT/60f-0°50 %/90°50 % (Berechne die E-
Wie groß ist die Kontraktion des Durchmessers bei Moduln der Faserlagen längs und quer separat und
dieser Dehnung (absolut (µm) und relativ) und um kombiniere die beiden Ergebnisse, vergleiche mit
wie viel verändert sich das Probenvolumen für bei- Tab. 15.10),
de Metalle? Hätte das Material dieses Zugstabes die Al/C-HM/70f-UD, Al/Al2O3-N610/60f-UD, Ti/SiC/
Poisson-Zahl ν = 0,5 bei einem E-Modul von 210 GPa, 30m-UD.
was bedeutet dies hinsichtlich des Probenvolumens Teilchenverstärkte Verbundwerkstoffe: Berechne den
Werkstoffkunde
und wie groß wäre die Querkontraktion? E-Modul für PA66/Al2O3/20p und AW6061/Al2O3/
Wie groß ist die elastische Energiedichte für Stahl und 20p (Daten gemäß Tab. 15.8).
Aluminium bei dieser Spannung? Berechne die Massendichten dieser Verbundwerkstof-
fe.
15.5b Berechnen Sie den Schubmodul für folgende Berechnen Sie die spezifischen E-Moduln und die
Werkstoffe: spezifischen Biegesteifigkeiten für Balken aus diesen
Werkstoffen. Reihe sie und vergleiche sie mit den mo-
Silikatglas (E = 72 GPa, ν = 0,2), Magnesium (E =
nolithischen Werkstoffen der Aufgabe 15.5d.
45 GPa, ν = 0,35), Kupfer (E = 120 GPa, ν = 0,34), Ti-
tan (E = 115 GPa, ν = 0,33).
Berechne den Scherwinkel (siehe Abb. 15.12b, (15.4)) 15.6 Aufgaben zu Abschn. 15.6
dieser Werkstoffe bei Einwirkung einer Scherkraft von
10 kN entlang einer Fläche von 1 cm2 .
Berechne die elastische Energiedichte dieser Werkstof- 15.6a Ein Zugstab aus einem warm gewalzten Stahl-
fe bei dieser Scherspannung (siehe (15.8)). blech X70 liefert die blaue Spannungs-Dehnungskurve in
Abb. 15.33. Lesen Sie aus der Kurve folgende Kennwerte
15.5c Eine Biegeprobe aus Kohlenstofffaser verstärktem ab:
Kunststoff mit den Abmessungen Ls = 50 mm, B = 5 mm,
h = 1 mm wird geprüft, um den E-Modul zu bestimmen: die obere Streckgrenze ReH ;
den Elastizitätsmodul;
Im 3-Punktbiegeversuch (15.7) biegt sie sich in der Mit- die untere Streckgrenze ReL und die bleibende Lüders-
te um 1 mm durch, wenn sie nach einer Vorlast mit dehnung;
zusätzlich 20 N belastet wird. die Zugfestigkeit Rm und die zugehörigen Gleichmaß-
Wie groß wäre die Durchbiegung dieser Probe im 4- dehnungen Agt , Ag (geben Sie einen Fehlerbereich an);
Punktbiegeversuche mit Ls /4 Prüfbedingung (15.7),
wenn der Druckstempel mit 2 × 20 N belastet wird? Die rote Kurve in Abb. 15.33 zeigt das Ergebnis eines
Zugversuches mit dem gleichen Blech, aber nach einer
15.5d Berechne die spezifischen E-Moduln und die spe- 2 %-igen Vorverformung. Schätzen Sie daraus folgende
zifischen Biegesteifigkeiten
√ für Biegebalken mit rechte- Kennwerte:
ckigem Querschnitt ( E/ρ, siehe Abschn. 14.4) für die
Werkstoffe in Aufgabe 15.5b), wobei folgende Dichtewer- Wie groß war die Rückfederung bei der Entlastung auf
2 %?
te eingesetzt werden: Silikatglas (ρ = 2,5 g/cm3 ), Magne-
Wie groß war dabei die frei werdende, elastische Ener-
sium (ρ = 1,7 g/cm3 ), Kupfer (ρ = 8,9 g/cm3 ), Titan (ρ =
giedichte?
4,5 g/cm3 ); die Rp0,2 -Dehngrenze (geben Sie auch einen Bereich für
Berechne den E-Modul mit Hilfe von (15.12), den spezi- den Ablesefehler an);
fischen E-Modul und die spezifische Biegesteifigkeit für die Zugfestigkeit Rm und die zugehörigen Gleichmaß-
einen Polyurethan-Hartschaum mit ρ = 0,06 g/cm3 (ent- dehnungen Agt , Ag (mit Fehlerbereich);
spricht wieviel Porosität? wenn massives Polyurethan Fassen Sie die wesentlichen Unterschiede dieser bei-
E = 2 GPa, ρ = 1,2 g/cm3 hat) und für zellulares Alumi- den Zugversuche zusammen.
nium mit 90 % Porosität (E, ρ der Zellwandstoffe siehe
Tab. 15.8).
15.6b Lesen Sie folgende mechanischen Kennwerte der
Vergleiche die berechneten Werte mit den spezifischen PP-Folie aus dem Spannungs-Dehnungsdiagramm in der
Biegesteifigkeiten für die Werkstoffe der Leitbeispiele Abb. 15.34 ab und schätzen Sie die zugehörigen Messfeh-
in Tab. 15.8 und reihe sie. ler:
520 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
Die Werte der oberen und unteren Streckgrenzen und Der Volumenanteil von Dispersoiden wird verdoppelt
die zugehörigen totalen Dehnungen. und deren Durchmesser halbiert;
Tragen Sie die Hooke’sche Gerade für E = 1 GPa in die Die Korngröße wird von einem mittleren Durchmesser
Detaildarstellung ein und lesen Sie den elastischen und von 100 µm (ASTM 4) auf 25 µm (ASTM 8) reduziert
den plastischen Dehnungsanteil bei der oberen Streck- und dann weiter auf 1 µm.
grenze ab.
Wie groß sind die Reißfestigkeit und die Reißdehnung? 15.6f Ein polykristalliner Stahl besitzt eine obere Streck-
grenze von 525 MPa. Wie groß ist die mittlere kritische
Schubspannung?
15.6d Zeichnen Sie entsprechend der Skizze einer Stu- Werkstoff Härte- Härte- Meth- Prüf- Kraft Ein-
angabe wert ode kraft in wirk-
fenversetzung deren schrittweise Gleitbewegung bis zur
in kp MPa dauer
plastischen Verformung für die beiden Fälle horizontal
Feinblech 120 ? ? ? ? ?
wirkender Schubspannungen von links und rechts: HBW2,5/
187,5
DC04 130 HV50/ ? ? ? ? ?
30
AW6082T6 95 HRB2,5/ ? ? ? ? ?
62,5
100 HV5 ? ? ? ? ?
Einsatz- 62 HRC ? ? ? ? ?
stahl
Messing 75 HRB ? ? ? ? ?
Rp0,2 = β:130, α:100
120 MPa HV0,05
Si3 N4 20 GPa ? ? ? ? ?
15.6e Vergleichen Sie die Festigkeitssteigerungen durch HV10
folgende Verfestigungsmechanismen (siehe Tab. 15.11), X5CrNi18- 600 HL ? ? ? ? ?
10
indem Sie angeben, um wie viel sich der Abstand l der
Epoxy 70 HSD ? ? ? ? ?
Gleithindernisse und dadurch die kritische Schubspan-
nung ändert:
15.7b Rechnen Sie die Brinell- und die Vickers-
Die Konzentration eines gelösten Legierungselementes
Härtewerten der Aufgabe 15.7a von kp/mm2 in N/mm2
wird 4-fache erhöht;
(MPa) um.
Die Versetzungsdichte wird durch Kaltverformung um
den Faktor 25 erhöht; Die Eindringtiefendifferenz der Diamantspitze in dem in
Der Volumenanteil schneidbarer Ausscheidungen Aufgabe 15.7a angeführten Einsatzstahl betrug wie viele
wird verdoppelt und deren Durchmesser halbiert; µm bei einer Zusatzlast von 140 kp?
Aufgaben 521
Wie groß ist die Eindringtiefe der HRB-Messung in der 15.8f Für Flachzugproben (Ausgangsquerschnitt 10 ×
Messingprobe? 4 mm) aus Stahl (Rp0,2 = 200 MPa, n = 0,15) und einer
Al-Legierung (Rp0,2 = 200 MPa, n = 0,2) kann die Verfesti-
gung ab der 0,2 %-Dehngrenze mittels dem Potenzgesetz
15.8 Aufgaben zu Abschn. 15.8 nach Ludwik simuliert werden. Verwenden Sie die Bezie-
hung für die Fließkurve ln kf ∼
= n ln ϕ + ln Rp .
15.8a Lesen Sie aus Abb. 15.33 näherungsweise folgende
Werte ab: Um wie viel verfestigen die beiden Proben bis 20 % Deh-
nung aufgrund der angegebenen Kennwerte?
ReH der Zugverformung und der Stauchverfor-
mung, bestimmen Sie die Spannungsdifferenz-Effekt
ReH (Druck)/ReH (Zug); 15.8g Vergleichen Sie die spezifische, elastische Energie-
Rm und Ag , dichte (kJ/m3 ) nach (15.8) und die Rückfederungsdeh-
Werkstoffkunde
σw und den zugehörigen ε w -Wert beim Considére Kri- nung (%) eines Zugstabes bei Zugfestigkeit (maximale
terium. spezifische Rückfederungsenergie bzw. maximale elasti-
Errechnen Sie näherungsweise die spezifische Formän- sche Kontraktion) für folgende Werkstoffe (entnehmen Sie
derungsarbeit in Zug und Druck nach (15.19), die E-Moduln und Festigkeiten (soweit hier nicht angege-
sowie die gesamte Verformungsenergiedichte bis ben) der Tab. 15.6 und 15.7):
Bruch im Zugversuch nach (15.20).
Silikonkautschuk;
Wie groß ist das Streckgrenzenverhältnis?
Epoxy;
Al-Knetlegierung AW6082T6 (Rm = 350 MPa);
15.8b Im Bereich der Gleichmaßdehnung beträgt die Karosserie-Stahlblech (Rm = 350 MPa);
technische Dehnung einer Al-Knetlegierung 10 % bei Korrosionsbeständiger, austenitischer Stahl (Rm =
270 MPa technischer Spannung. Wie groß sind die ent- 600 MPa);
sprechenden wahren Dehnungs- und Spannungswerte Thermomechanisch gewalzter Stahl-TMS (Rm =
nach (15.16) und (15.17)? 1100 MPa);
Berechnen Sie für die gleichen Beträge der technischen Dualphasenstahl-DP (Rm =660 MPa);
Stauchung und Stauchspannung die wahren Dehnungs- Messing CuZn30 gewalzt (Rm = 500 MPa);
und Spannungswerte. Siliziumnitrid (Festigkeitsmodul σ0 = 660 MPa, E =
310 GPa);
15.8c Die Rundprobe mit l0 = 70 mm (siehe Abb. 15.55a) Tragen Sie diese Ergebnisse in ein Koordinatensystem
erreicht eine Bruchdehnung von 30 %. Wie lang ist die elastische Energiedichte über Festigkeit, und in anderes
Messlänge über die beiden Probenhälften zusammen in mit der elastischen Kontraktion über dem E-Modul ein.
mm nach dem Bruch?
Die Messlänge der zusammengefügten Probenhälften ei- 15.8h Vergleichen Sie die spezifische, plastische Verfor-
ner anderen gebrochenen Probe der gleichen Ausgangs- mungsenergie für den gesamten Dehnungsbereich (Zä-
geometrie beträgt 84 mm. Wie groß ist die Bruchdehnung? higkeit) nach dem Produkt A80 · Rm der in Abb. 15.56
eingetragenen Werkstoffe (lesen Sie Mittelwerte ab). Tra-
Wie lang muss die Messlänge einer Probe nach Abb. gen Sie die Ergebnisse in ein Koordinatensystem Zähig-
15.55b sein, wenn der Probenquerschnitt 5 × 10 mm2 ist? keit über Festigkeit ein.
15.8d Wie groß ist die maximale Kraft bezogen auf den 15.8i Wie groß ist die relative Verfestigung der verform-
Anfangsquerschnitt (5 × 10 mm2 ) einer Stahlzugprobe, ten Messingknetlegierung gegenüber ihrem unverform-
wenn die Zugfestigkeit 360 MPa beträgt? ten (= weich geglühtem) Zustand gemäß Abb. 15.54
(Vergleich der Mittelwerte)?
Nach Überschreiten der Zugfestigkeit bricht die Zug-
probe bei 300 MPa, wobei die Brucheinschnürung z = Wie groß ist die relative Duktilitätsabnahme dabei?
50 % beträgt. Wie groß ist die wahre Bruchspannung?
Um wie viel verminderte sich die Breite des Pro-
15.9 Aufgaben zu Abschn. 15.9
benquerschnitts, wenn die Dicke auf 4 mm reduziert
wurde? Wie groß ist der zugehörige r-Wert (siehe Bo-
nusmaterial: Verformungsanisotropie und Gl. (30.85))? 15.9a Ein Aluminiumoxideinschluss mit 5 µm Aus-
dehnung in der Belastungsrichtung einer Aluminium-
15.8e Eine zylindrische Stauchprobe wird gleichförmig Knetlegierung wird wie die Al-Matrix, in der dieser einge-
verformt. Wie groß ist relative Durchmesseränderung bei bettet ist, mit 100 MPa gedehnt. Wie groß ist die Differenz
10 % technischer Stauchung? der elastischen Dehnung zwischen dem Einschluss und
522 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
der über die gleiche Länge angrenzenden Al-Legierung nung σa = 100 MPa nach der Beziehung σ (r) =
von
(entnehmen Sie die E-Moduln der Tab. 15.6)? σa 1 + 2ra
Wo können Versetzungsstaus bei plastischer Verfor-
mung auftreten?
15.9i Ein unidirektional mit Glasfasern verstärktes Epo-
Nehmen Sie an, dass jede Versetzung am Rande eines
xy enthält einen 5 mm großen Riss wie in Aufgabe 15.9h.
Korns eine Stufe von 0,1 nm erzeugt. 1000 Versetzun-
Die Haftung der Glasfasern in Richtung der angelegten
gen verformen diese Grenze plastisch. In welcher Grö-
Spannung kann im Riss der Epoxy-Matrix 50 MPa tragen.
ßenordnung kann eine Pore daraus entstehen?
Um wie viel wird die in Aufgabe 15.9h berechnete Span-
Wie tief kann ein Grübchen in der Bruchfläche obiger
nung an der Rissspitze dadurch reduziert?
Al-Knetlegierung in etwa werden, wenn der Alumini-
umoxideinschluss beim Bruch herausgezogen wird?
15.10 Aufgaben zu Abschn. 15.10
Werkstoffkunde
15.9b Erklären Sie die Unterschiede zwischen den 15.10a Ein Würfel von 1 mm Kantenlänge enthält nur
Bruchmechanismen: Spaltbruch, duktiler Bruch mit und einen kritischer Defekt für eine Zugspannung σ, aber
ohne Einschnürung, Scherbruch eines polykristallinen seine Position im Würfel ist unbekannt. Aus der Kom-
Metalls. bination zweier derartiger Würfel wird eine Faser mit
einem Durchmesser von 10 µm hergestellt. Wie groß kön-
15.9c Erklären Sie die Werkstoffeigenschaften: Elastizi- nen der minimale und der maximale Abstand zwischen
tät, Duktilität, Zähigkeit, Bruchzähigkeit, Kerbschlagar- den beiden kritischen Fehlern in der Faser werden? Wie
beit. groß sind die fehlerfreien Faserlängen höchster Festigkeit
in diesen Fällen?
Welche Werkstoffgruppen weisen in der Temperaturab-
hängigkeit der Kerbschlagarbeit Tieflage, Übergangsbe- 15.10b Berechnen Sie die kumulativen Überlebenswahr-
reich und Hochlage auf? Welche nur Hochlage? scheinlichkeiten für eine Si3 N4 -Keramik mit dem Festig-
keitsmodul σ0 = 700 MPa aus verschiedener Fabrikation
15.9d Welche Zähigkeitsbedingung müssen die Stähle gemäß den Angaben in der Tabelle (runden Sie Zahlen
S235KR und S235J0 erfüllen? mit 0,9 . . . erst auf die Stelle nach der letzten 9, andern-
falls auf 2 signifikante Dezimalstellen bzw. eine Stelle mit
Zehnerpotenzen).
15.9e Wenn die Bruchzähigkeit
√ dieses unverformten Ble-
ches (Abb. 15.33) 100 MPa m beträgt, wie groß ist die Weibull- m=5 m = 10 m = 20
kritische Risslänge? Modul
Zug- V/V0 = 1 V/V0 = 1 V/V0 = 10 V/V0 = 100 V/V0 = 1
In welchem Dickenbereich muss dieses Blech gewählt spannung
werden, wenn es für ein mit 10 MPa Druck beaufschlag- 350 MPa: Ps ? ? ? ? ?
tes Rohr mit 1,2 m Durchmesser eingesetzt werden soll, 490 MPa: Ps ? ? ? ? ?
wobei es die Kriterien „Leck vor Bruch“ im elastischen PBruch in % ? ? ? ? ?
Bereich erfüllen soll? 630 MPa: Ps ? ? ? – ?
700 MPa: Ps ? ? ? – ?
15.9f Erstellen Sie das Diagramm für maximale stati- 770 MPa: Ps ? ? – – ?
sche Zugbelastung σ über √ Risslänge für den Stahl der Für hohe Zugspannungen bis 350 MPa ist welche Si3 N4
Abb. 15.33 (KIc = 100 MPa
√ m) und das Polypropylen der Variante eventuell großtechnisch einsetzbar?
Abb. 15.34 (KIc = 3 MPa m) analog zu Abb. 15.74.
15.11 Aufgaben zu Abschn. 15.11
15.9g Welche der in√Abb. 15.64 eingetragenen Werkstoffe
haben KIc > 20 MPa m? 15.11a Ein Flugzeugbauteil aus der Al-Legierung Al-
Cu4SiMg (AW2014) im T6 Zustand (Rp0,2 = 340 MPa,
Wo befindet sich die Linie Gc = 10 kJ/m2 ? Welche Werk- Rm = 400 MPa) wird mit einer Amplitude von 200 MPa
stoffe haben diese kritische Energiefreisetzungsrate in Wechselbelastungen unterworfen.
Abb. 15.64?
Wie hoch ist in etwa die Bruchlastspielzahl bei reiner
Was ist der Unterschied in der Zähigkeit von Mg-, Al- Wechselbelastung gemäß Bonusmaterial Wöhlerkur-
Legierungen und Vergütungsstählen? ven, Abb. 15.12?
Wie groß sind bei dieser Amplitude die Ober- und die
15.9h Zeichnen Sie in einem Diagramm die Spannung Unterspannung bei σm = 0 und bei σm = 100 MPa?
über den Abstand r > 0,1 mm von der Spitze eines Ris- Wie groß sind die Spannungsverhältnisse R dieser bei-
ses a = 5 mm für eine Riss öffnende, äußere Zugspan- den Wechselbelastungen?
Aufgaben 523
Wie groß darf die Amplitude der Wechselbelastung Tragen Sie obiges Paris-Gesetz in das Diagramm in
bei σm = 100 MPa sein, um die gleiche Bruchlastspiel Abb. 15.87c) ein und vergleichen Sie dieses mit der
zu erzielen, wie bei der reinen Wechselspannung mit Rissfortschrittskurve für Stahl.
200 MPa? Berechnen Sie die kritische Risslänge für eine Zugspan-
nung von 510 MPa.
15.11b Eine Periode einer Wechselbelastung eines Kran- Wie groß ist ΔK (Gesamtschwingbreite der Spannungs-
armes dauert 36 s, wobei dieser 2 · 105 Lastwechseln intensität) bei der Spannungsamplitude von 510 MPa,
standhalten soll. wenn ein Riss von 4 mm Länge bei einer Anlagenrevi-
sion entdeckt wurde?
Wie groß ist die Belastungsfrequenz des Kranarmes? Wie groß ist in etwa das Risswachstum bei diesem Re-
Wie lange ist die angestrebte Lebensdauer? visionszeitpunkt nach obigem Paris-Gesetz?
Die Werkstoffprüfung kann mit einer Umlaufbiegeprüf- Wie groß soll der Riss gemäß dem Integral des Paris-
Werkstoffkunde
maschine mit 10 Hz durchgeführt werden. Gesetzes nach weiteren 500 Zyklen bzw. 1000 Zyklen
werden? Wie groß wird bei diesen Zyklenzahlen das
Wie lange dauert die Ermüdungsprüfung mindestens? Risswachstum?
In welchem Bereich der Wöhlerkurve des C45E-Stahles Unter Verwendung des Integrals des Paris-Gesetzes
in Bonusmaterial Wöhlerkurven, Abb. 15.12, liegt die sind bei einem Riss von 4 mm noch wie viele Last-
Spannungsamplitude, die in etwa obige Bruchlast- zyklen mit der gleichen Spannungsamplitude von
spielzahl erreicht? 510 MPa bis zum Spaltbruch zu erwarten?
Nach der Feststellung des 4-mm-Risses würden Sie die
15.11c Für den unlegierten Stahl C45E ergibt sich aus nächste Revision nach wie vielen weiteren Zyklen vor-
Bonusmaterial Wöhlerkurven, Abb. 15.12, die Basquin- schreiben?
Lebensdauerregel mit σa · NB0,1 = 900 MPa. 15.11f Die Nickelsuperlegierung einer Turbinenschaufel
Wie groß ist die zu erwartende Bruchlastspielzahl bei (Leitbeispielbauteil) erfährt bei gelegentlicher Maximal-
σa = 370 MPa und σa = 340 MPa? belastung eine lokale Zugspannung von 1000 MPa bei
Ein Kranarm hat bereits n1 = 3625 Schwingungen er- einer lokalen Gesamtdehnung von 0,59 %. Die Manson-
lebt, bei denen der Stahl mit 370 MPa belastet wurde. Coffin-Lebensdauerregel für diese Legierung lautet Δε pl ·
Welcher Anteil der Lebensdauer wurde dadurch ver- NBo,5 = 5 · 10−3 .
braucht?
Wie viele Schwingungen n2 können diesem Kranarm Wie groß ist die plastische Dehnungsamplitude in die-
noch zugetraut werden, wenn die Spannungsamplitu- ser Wechselbelastung (E-Modul siehe Tab. 15.7)?
de auf 340 MPa gesenkt wird? Berechnen Sie die zu erwartende Lebensdauer für die-
se Turbinenschaufel, wenn sie periodisch der angege-
benen Maximalspannung ausgesetzt wird.
15.11d In der Risseinleitungsphase erreicht pro Zyklus
(f = 0,1 Hz) 1 Stufenversetzung mit dem Burgersvektor 15.11g Mit den Festigkeitsdaten der Tab. 15.7 und
b = 0,25 nm die Oberfläche eines ferritischen Stahles. Bruchzähigkeits- und Ermüdungskennwerten der Tab.
15.16 für die Werkstoffe der Turboladerturbine (Si3 N4 und
Wie groß wird die Oberflächenstufe nach 10.000 Zy- IN718), des Kurbelgehäuses (AlSi12(Mg), GJV450), des
klen? Getriebezahnrads (Einsatzstahl) und der Karosserieble-
Wie groß ist die Risswachstumsgeschwindigkeit in die- che (AW6082 und DC04) berechnen Sie die kritischen
ser Phase, wenn pro Zyklus zwei Versetzungspaare Risslängen bei der Elastizitätsgrenze und bei der Dauer-
mit gegensätzlichem Vorzeichen im Abstand weniger oder Grenzlastspielfestigkeit, sowie die zugehörigen ma-
Gitterebenen an die Oberfläche kommen und eine In- ximalen Spannungsintensitätsfaktoren.
trusion bilden?.
Der Schwellwert des Spannungsintensitätsfaktors
√ die- Werkstoff Re , KIc in√ akrit σD , akrit Kmax
ses Stahles beträgt Kth = 5 MPa m. Wie groß ist der Rp0,2 , MPa m (Rp ) σNG (σNG ) (σNG√) in
zugehörige Anriss bei einem Spannungsmaximum von σo in in in in MPa m
500 MPa ? MPa mm MPa mm
Si3 N4 700 6 ? 500 ? ?
IN718 1000 140 ? 800 ? ?
15.11e Ein Druckkesselstahl mit Rp0,2 = 1000 MPa und AlSi12 150 30 ? 110 ? ?
√
KIc = 170 MPa m (siehe Abb. 15.74) verhält sich im Sta- GJV 450 450 45 ? 210 ? ?
dium des stabilen Wachstums eines Ermüdungsrisses ge- PA 66 80 5 ? 40 ? ?
mäß dem Paris-Gesetz Einsatzstahl 600 50 ? 300 ? ?
AW6082-T6 280 60 ? 130 ? ?
da √
(mm) = 10−13 [ΔK(MPa mm)]3 . Karosserie- 185 140 ? 200 ? ?
dN blech
524 15 Werkstoffe – Leistungspotenziale erkennen und nutzen
15.11h Berechnen Sie für den Stahl im Bimetallstreifen Wievielfach größer ist der Diffusionskoeffizient von Fe
der Aufgabe 15.4f mit der Basquin-Lebensdauerregel aus im krz Fe gegenüber dem von Fe im kfz Fe bei 1000 K?
Aufgabe 15.11c die Bruchlastspielzahl für ΔT = 100 °C Wievielfach größer ist der Diffusionskoeffizient von Ni
(beziehen Sie die Berechnung auf den Spannungszustand im kfz Fe bei 600 °C gegenüber 1200 °C?
bei Δα = 12 ppm/K).
15.12c Lesen Sie die Diffusionkoeffizienten von C in kfz
15.11i Ein Druckbehälterstahl (Re = 600 MPa, E = Fe und Ni in kfz Fe bei zirka 600 °C und 1000 °C aus
210 GPa) eines Wärmetauschers wird innen bei 600 °C Abb. 15.98 ab und berechnen Sie die zugehörigen Diffu-
betrieben und außen periodisch mit Luft- oder Wasserdu- sionslängen für 10 s und 1000 s.
sche gekühlt. (thermische Gefügeveränderungen werden
vernachlässigt).
15.12d Die Temperatur, ab der signifikante Diffusion
Werkstoffkunde
Berechnen Sie den Unterschied der thermischen Deh- und somit Kriechverformung beobachtet wird, kann aus
nung zwischen Innen- und Außenseite des Wärme- der Anschmelztemperatur der Werkstoffe abgeschätzt
tauscherrohres (α = 14 ppm/K), wenn die Luftküh- werden: 0,4 Ts für Metalle und Thermoplaste, 0,5 Ts für
lung die Außentemperatur auf 360 °C reduziert. Die- Keramiken. Errechnen Sie diese Grenztemperaturen für
ser Kühlvorgang reduziert die Innentemperatur auf die Werkstoffe in den Leitbeispielen aus den Ts -Werten in
560 °C. Wie groß ist der periodische Dehnungsunter- Tab. 15.6: Si3 N4 (Tsmin = 1700 °C), IN718, AlSi12, C22 (un-
schied zwischen innen und außen? Wie viel davon legierter Stahl) und PA66. Vergleichen Sie ihre Ergebnisse
kann durch elastische Dehnungen kompensiert wer- mit den Angaben in Tab. 15.16.
den?
Berechnen Sie die Anzahl der Kühlvorgänge, denen
dieser Stahl standhalten kann, wenn die Basquin- 15.12e Wie unterscheiden sich die Potenzgesetze für die
Lebensdauerregel aus Aufgabe 15.11c für elastische stationäre Kriechrate, wenn folgende Kriechmechanis-
Dehnungen gilt. men dominieren:
Wie groß muss das Dauerfestigkeitsverhältnis sD sein, Korngrenzenkriechen (nach Coble)
damit dieser Stahl für diesen Belastungsfall dauerfest Intrakristallines Kriechen (nach Nabarro-Herring)
ist? Versetzungskriechen.
Berechnen Sie den Unterschied der thermischen Deh-
nung zwischen Innen- und Außenseite des Wärmetau-
scherrohres, wenn die Wasserkühlung die Außentem- 15.12f Zeichnen Sie schematisch eine Kriechdehnung-
peratur auf 160 °C und die Innentemperatur auf 460 °C Zeit-Kurve und die zugehörige Dehnratenkurve. Bezeich-
reduziert. Wie groß ist der Dehnungsunterschied zwi- nen Sie die charakteristischen Stadien der Kriechverfor-
schen innen und außen? Wie hoch ist die periodische, mung.
plastische Dehnung?
Berechnen Sie die Anzahl der Kühlvorgänge, denen 15.13 Aufgaben zu Abschn. 15.13
dieser Stahl standhalten kann, wenn die Manson-
Coffin-Lebensdauerregel Δε pl .NBo,5 = 10−3 gilt.
15.13a Der Reibungskoeffizienten zwischen zwei tro-
ckenen Stahlteilen betragen ungefähr μS =0,15 bei Haf-
15.12 Aufgaben zu Abschn. 15.12 tung und μG = 0,12 beim Gleiten. Zwei Stahlkörper
werden mit einer Kraft von 1kN aneinander gedrückt.
15.12a Die Leerstellenkonzentration in einer Al- Wie groß sind Reibungskräfte für Haftung und fürs Glei-
Legierung beträgt bei Raumtemperatur (25 °C) im thermi- ten?
schen Gleichgewicht 10−13 . Die Bildungsenthalpie EAV = Haft- und Gleitreibungskoeffizienten für Aluminium auf
1,2.10−19 J/Leerstelle (k = 1,38 · 10−23 J/K). Berechnen Sie Aluminium sind etwa gleich groß und betragen μS =
gemäß Vertiefung „Leerstellen“ um wievielfach sich die μG = 1,05. Wie groß ist deren Reibungskraft unter glei-
Leerstellenkonzentration beim Lösungsglühen bei 460 °C cher Normalkraft?
erhöht? Wieviele Leerstellen kommen auf eine Million
Gitterplätze?
15.13b Aus welchen Bestimmungsstücken besteht das
tribologische System eines Zahnrades im Getriebe? Wel-
15.12b Lesen Sie aus der Abb. 15.98 ab: che Verschleißmechanismen wirken dabei?
Wievielfach größer ist der Diffusionskoeffizient von C
im krz Fe gegenüber dem von C im kfz Fe bei 1000 K? 15.13c Von der 100 cm2 großen Oberfläche eines gleiten-
Wievielfach größer ist der Diffusionskoeffizient von C den Stahl(gegen)körpers werden bei rotierender Bewe-
im krz Fe gegenüber dem von Fe im krz Fe bei 1000 K? gung, die einem Gleitweg von 100 m entspricht, 100 µm
Aufgaben 525
abgetragen. Wie groß ist der entsprechende Masseverlust? 15.14b Welcher Partner der folgenden Werkstoffpaarun-
Wie groß ist die Verschleißrate (Oberflächenabtrag und gen (Mg–Cu, Al–Fe, Cu–Ni, CFK–Al) kann galvanischer
Massenabtrag) pro m? Korrosion unterliegen?
Die Verschleißrate bleibt bis etwa 500 m Verschleißweg
gleich und steigt dann innerhalb von 10 m auf 1 g/m. Was 15.14c Im Bonusmaterial: Spannungsrisskorrosion wird
bedeutet dieser Verschleißanstieg? In welches Verschleiß- das Beispiel von Stahlkrallen angeführt. Wie unterschei-
stadium kommt das System? den sich die maximalen Spannungen im Stahl S235 gegen-
über S380?
Werkstoffkunde
15.14a Bei einem Salzsprühtest beträgt die Gewichtsab- schen Fall, dass für ein lineares und ein parabolisches
nahme einer Al-Probe mit einer Oberfläche von 200 cm2 Schichtwachstum die Wachstumskoeffizienten zahlenmä-
0,27 g nach 100 h. Wie groß ist die Korrosionsrate ßig gleich wären: kl = 50 mg/h, kp = 50 mg2 /h. Wie groß
ΔmK /Woche? Wie groß ist die entsprechende Dickenab- ist die Gewichtsänderung bei linearem und paraboli-
nahme der Probe und die diesbezüglich Korrosionsrate schem Korrosionsfortschritt einer Probe nach 100 h und
ΔhK /Jahr. 1000 h Exponierdauer?
Legierungstechnologie –
Metalle an Anforderungen
16
anpassen
Wie entstehen die Gefüge
Werkstoffkunde
der Legierungen?
Wie werden die
gewünschten
Werkstoffeigenschaften
erreicht?
Wieso gibt es so viele
Stahlsorten mit
unterschiedlichen
Eigenschaften?
Wie erhalten
Aluminiumlegierungen ihre
Festigkeit?
Reine Metalle erreichen nur relativ geringe Elastizitätsgrenzen Werkstoffe angeführt. Für einige Werkstoffgruppen wer-
(unter 50 MPa). In Abschn. 15.6 sind die Verfestigungsmechanis- den im Folgenden die grundsätzlichen Auswirkungen
men beschrieben. Die Schmelzmetallurgie nützt die Mischbarkeit der thermodynamischen Prinzipien (Kap. 19 und 20) auf
der Elemente im flüssigen Zustand zur Herstellung von Legierun- die Legierungstechnologie dargestellt. Das dominante Le-
gen. Werden unlösliche Feststoffe in die Schmelze eingebracht, gierungselement stellt die Legierungsbasis dar. Ein oder
so spricht man ab etwa 5 % Volumenanteil von der Herstel- zwei weitere Legierungselemente bestimmen das Legie-
lung von Verbundwerkstoffen. Mittels Pulvermetallurgie können rungssystem. Für die grundsätzliche Betrachtung reicht
nicht mischbare Komponenten mechanisch legiert (gemischt) wer- oft die Beschreibung eines Zwei- oder Dreistoffsystems
den (Abschn. 30.2). Jedes Metall kann durch geringe Mengen an (Tab. 16.1). Darüber hinausgehende Zusatzelemente erfül-
Legierungselementen wesentlich verfestigt werden. Während der len unterschiedliche Aufgaben bei der Schmelzebehand-
Erstarrung bilden sich in vielen Legierungen Mischkristalle und/oder lung, für die Erstarrung und die Phasenausbildung im
Entmischungsprodukte in bestimmten Gefügestrukturen. Wie groß festen Zustand und/oder für die Oberflächenbeschaffen-
Werkstoffkunde
ist die Löslichkeit von Legierungselementen in einem Mischkristall? heit des Werkstücks.
Welche Ausscheidungen bilden sich, wenn die Löslichkeitsgrenze
überschritten wird? Wie entstehen Umwandlungsgefüge in Stahl, Neben grundsätzlichen Gesetzmäßigkeiten werden nach-
folgend die Gefügeentwicklungen in einigen Aluminium-
und wo sind sie wünschenswert? Die mechanischen Eigenschaften
einer Legierung werden durch sein Basismetall, die Legierungs- Legierungssystemen (Abschn. 16.2) und im Eisen-Kohlen-
elemente und das sich aus der thermomechanischen Geschichte stoffs-System unter Bedingungen nahe dem thermodyna-
ergebende Gefüge bestimmt. Bei Gusslegierungen entsteht das mischen Gleichgewichts beschrieben (Abschn. 16.3).
Gefüge während der Erstarrung und kann durch nachträgliche Ein Werkstoff befindet sich in thermodynamischem
Wärmebehandlungen verändert werden. Bei einer Knetlegierung Gleichgewicht, wenn sein Zustand in dem betrachteten
wird das Gefüge durch die Verformung und die damit verbun- Temperaturbereich eine minimale innere Energie auf-
denen oder nachfolgenden Wärmebehandlungen eingestellt. Der weist, d. h., die Mengenverhältnisse und die Zusammen-
Werkstoffhersteller legt die Basis für die Gefügeeinstellung, die setzungen seiner Phasen sind stabil, obwohl sich die Form
durch die Weiterverarbeitung verändert wird und im Produkt das der Phasen bei Diffusion zur Reduzierung der Grenzflä-
erforderliche Eigenschaftsprofil ergeben soll. Der Maschinenbau- chenenergie verändern kann (Einformung, Reifung). In
Ingenieur soll die Möglichkeiten der Gefügeeinstellung zumindest vielen Einsatzfällen befinden sich Werkstoffe in meta-
in den Grundzügen kennen. Er muss wissen, wie temperatursta- stabilen Zuständen, die dadurch relativ stabil sind, weil
bil die durch Wärmebehandlung erzielten Gefüge und die damit Diffusion unterbunden wird und der stabile Zustand nur
verbundenen Eigenschaften sind. Besonders wichtig ist, dass bei durch thermische Aktivierung erreicht werden kann.
der Werkstoffauswahl die Temperaturgeschichte eines Bauteils im
Einsatz beachtet wird, die vor allem metastabile Gefügezustände
verändern kann, wodurch sich auch die Eigenschaften ändern. Legierungen werden schmelzmetallurgisch im ther-
modynamischen Gleichgewicht einer Schmelze im
Bereich der mischbaren Zusammensetzung herge-
stellt. Unmischbare Komponenten können im fes-
16.1 Die Erstarrung wichtiger ten Zustand pulvermetallurgisch mechanisch legiert
werden.
Legierungssysteme
Legierungselemente dienen vor allem zur Mischkristall-
bildung, aber in vielen Fällen bilden sich auch mehr- Welche Regeln gelten für die Erstarrung
phasige Gefüge mit intermetallischen Phasen aus, die
die mechanischen Eigenschaften verbessern. Bei mehr- aus der Schmelze?
phasigen Gefügen sind die örtliche Verteilung und die
Gestalt der Phasen wichtig und in gewissen Grenzen bei Alle technischen Legierungen sind im flüssigen Zustand
der Herstellung einstellbar. Die elastischen Eigenschaften im jeweiligen Zusammensetzungsbereich mischbar. Die
mehrphasiger Legierungen können mit den Regeln für Legierungselemente sind in der Schmelze des Basisme-
Verbundwerkstoffe abgeschätzt werden (Abschn. 15.5). talls gelöst. Es kommt aber vor, dass keramische Verun-
Besonders große Variationen in den Eigenschaften durch reinigungen in die Schmelze gelangen, sei es aus dem
unterschiedliche Gefüge erlauben die Eisen-Basislegie- Tiegelmaterial der Schmelze oder aus Reaktionsproduk-
rungen durch ihre Allotropie (Anwendungsbox „Dilato- ten der Schmelzeoberfläche mit der Luft (Oxide, Nitri-
metrie“ in Abschn. 15.4) und die Rolle des Legierungsele- de). Zum Großteil können diese beim Gießen durch Fil-
ments Kohlenstoff. Darüber hinaus können Legierungs- ter entfernt werden. Spülung der Schmelze mit inerten
elemente die Korrosionsbeständigkeit des Werkstoffes Gasen kann Verunreinigungspartikeln an die Schmelze-
verbessern, aber in manchem Fällen auch beeinträchtigen oberfläche bringen, wo sie mit der Krätze abgeschöpft
(Abschn. 15.14). In Abschn. 15.2 wurden gebräuchliche werden. Der Verbleib geringer Mengen mikroskopischer
16.1 Die Erstarrung wichtiger Legierungssysteme 529
Werkstoffkunde
Leichtmetalle Al Cu (< 7 %) Mg (< 2 %) TiB2
Mg (< 6 %)
Mg (< 1,5 %) Si (< 1,5 %)
Zn (< 8 %) Mg (< 3 %) Cu
Ti Al (< 10 %) V in Vakuum
Stähle Fe C (< 2 %) Mn Al
Cr Ni
Schwermetalle Cu Zn (< 35 %)
Ni (bis 100 %)
Ni Cr (> 10 %) Al Ti
Einschlüsse lässt sich mit vertretbarem Aufwand nicht wachstumsfähiger Keime wird Inkubationszeit für die zu
vermeiden. Feste Partikel wirken als Keime für die erstar- bildende Phase genannt. Sobald rK > rkrit ist, überwiegt
renden Kristallite. So werden beispielsweise TiB2 -Partikel die Abnahme der Enthalpie des Kristallkeims gegenüber
in Aluminium-Legierungsschmelzen zugeführt, um als der Schmelze den Enthalpiebedarf für die Bildung der
heterogene Keime eine Kornfeinung des erstarrenden Ge- Grenzfläche zwischen den beiden Phasen.
füges zu bewirken.
Bei rascher Abkühlung wird die Keimbildung zu tiefe-
Ab dem Schmelzpunkt können sich in der Schmelze ren Temperaturen verschoben, wo die Wahrscheinlichkeit
Atomgruppen in kristallografischer Ordnung als homo- der kristallografischen Anordnung der Atome steigt und
gene Keime bilden (Abb. 16.1a, b). Die freie Enthalpie die kritische Keimgröße abnimmt. Das hat zur Folge, dass
(innere Energie und Volumenarbeit eines Stoffes, Kap. 18) die Zahl der wachstumsfähigen Keime steigt (Abb. 16.1e),
eines Stoffes in geschmolzenem Zustand nimmt ab, wenn d. h., die Keimbildungsgeschwindigkeit nimmt mit zu-
er kristallisiert. Die Kristallkeime geben Energie ΔGV ab, nehmender Unterkühlung zu. Für das Wachstum der kris-
die dem erstarrten Volumen proportional (∝ r3 ) ist. Durch tallinen Keime ist Diffusion erforderlich, insbesondere,
die Änderung des Atomvolumens ist damit auch eine po- wenn es sich um eine Keimbildung für eine Phasenum-
sitive oder negative Volumenarbeit verbunden, je nach wandlung im festen Zustand handelt. Da die Diffusi-
Expansion oder Schrumpfung bei der Erstarrung. Ande- onsgeschwindigkeit mit der Temperatur zunimmt, steigt
rerseits entsteht eine Grenzfläche, die die freie Enthalpie auch die Wachstumsgeschwindigkeit der Keime mit der
des Systems um ΔGO proportional zur Grenzfläche (∝ r2 ) Temperatur. Aus der Kombination beider Effekte ergibt
erhöht. Abbildung 16.1d stellt die Bilanz der gegenläufi- sich eine maximale Geschwindigkeit für die umgewan-
gen Enthalpieentwicklungen bei der Phasenumwandlung delte (erstarrte) Materialmenge bei einer kritischen Unter-
flüssig – fest durch die Erstarrung eines Kristallkeimes kühlung. Abbildung 16.2a stellt dies verallgemeinert für
dar: jede Phasenumwandlung dar. Bei einer kritischen Tempe-
ratur Tkrit verläuft die Erstarrung (Phasenumwandlung)
ΔGgesamt = ΔGO − ΔGV .
am raschesten. Abbildung 16.2b zeigt dies anhand der
Bis zu einer kritischen Größe der Keime rkrit wächst Kurven für die Inkubationszeit der Keime, der Dauer
ΔGgesamt . Das bedeutet, dass diese Keime nicht imstande bis zur 50 %igen und vollständigen Phasenumwandlung.
sind, die Grenzflächenenergie zwischen den beiden Pha- Die sogenannte Umwandlungsnase gibt die Temperatur
sen aufzubringen. Keime mit rK < rkrit sind nicht wachs- für den minimalen Zeitbedarf für die Umwandlung an.
tumsfähig, sondern lösen sich wieder auf (Abb. 16.1e). Die kritische Abkühlgeschwindigkeit muss unterschritten
Nur solche Keime, für die aufgrund lokaler Temperatur- werden, um Keime der neuen Phase bilden zu können.
unterschreitung (Unterkühlung ΔT) rK > rkrit ist, können Für Abkühlgeschwindigkeiten gleich oder größer als die
wachsen (Abb. 16.1c, e). Der Zeitaufwand für die Bildung kritische Abkühlgeschwindigkeit erfolgt die Erstarrung
530 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen
Kristall-
dynamische wachstum
Grenzflächenbildung rK
Keimradius rK
Änderung der freien Enthalpie
ΔGO 4 π rK2
+ ΔG
Werkstoffkunde
ΔGK Keimbildungsarbeit
instabile wachstumsfähige
0 Keime Keime
rkrit Keimradius rK rK < rkrit rK > rkrit
– ΔG
Abb. 16.1 Kristallkeimbildung in Schmelze (a) durch kristallografische Atomanordnung (b), die ab der Größe rkrit wachsen (c–e); d zugehörige Enthalpiebilanz
ΔGgesamt der Enthalpie zur Bildung der Grenzflächen ΔGO abzüglich der Kristallisationsenthalpie ΔGV ; e Unterkühlung ist erforderlich, um die Keimbildungsarbeit
ΔGK aufzubringen; mit steigender Unterkühlung sinkt rkrit , während die Keimdichte steigt
Gleichgewichts-Umwandlungstemperatur Gleichgewichts-Umwandlungstemperatur
Unterkühlung
Inkubationszeit
e
ändig
Temperatur
Temperatur
Wachstums-
geschwindig- vollst dlung
ΔT
an
keit Umw
Abb. 16.2 Skizze der Kinetik der Phasenumwandlung; a Keimbildungs- und Wachstumsgeschwindigkeit ergibt Umwandlungsgeschwindigkeit; b Inkubationszeit
für Keime (gelb ) und zeitlicher Verlauf der Menge der neu gebildeten Phase: Umwandlungsnase bei kritischer Unterkühlung; kritische Abkühlgeschwindigkeit (rot )
für Keimbildung
mit amorpher Struktur (Glas) bzw. wird die Phasenum- genommene Tomografie. Während der Unterkühlung der
wandlung unterdrückt. Schmelze von 590–587 °C wurde die Tomografie innerhalb
von 10 s aufgezeichnet und die erstarrten Dendriten seg-
Das Wachstum von Keimen entlang einer gekühlten Ko- mentiert. Die bevorzugten Wachstumsrichtungen der ver-
killenwand ist verbunden mit verstärkter Kühlung ent- zweigten Aluminium-Kristalle sind die Würfelkanten des
lang der festen Kristalle. Die Kristalle wachsen in die kubisch flächenzentrierten Kristallgitters (Abb. 15.22b).
unterkühlte Schmelze entlang bevorzugter kristallogra- Die mittlere Temperatur der flüssigen und der festen Pha-
fischer Richtungen. Dies führt zu einer dendritischen se bleibt auf der Schmelztemperatur bis die Erstarrung
Gestalt der Kristalle, wie es in Abb. 16.3a schematisch dar- das ganze Volumen erfasst hat. Abbildung 16.3c zeigt die-
gestellt ist. Abbildung 16.3b zeigt eine mit Synchrotron- se Haltetemperatur nach der zur Bildung stabiler Keime
strahlung während der Erstarrung von Aluminium auf- notwendigen Unterkühlung.
16.1 Die Erstarrung wichtiger Legierungssysteme 531
Schmelze
587–590°C (transparent)
Festkörper (Dendrite)
hlung
Unterkü
Wärmeabfuhr
Wärmeabfuhr Al-Dendriten
µm
685
b
Wachstums- Treal
Temperatur
mittlere Temperatur
richtung
Werkstoffkunde
flüssig flüssig
fest TKeimnähe
Haltetemperatur
Ts
ΔT
Unter- fest
kühlung
unterkühlte Schmelze
Abb. 16.3 Dendritische Erstarrung a entlang einer gekühlten Wand, von der Kristallkeime in kristallografischen Richtungen in die unterkühlte Schmelzebereiche
wachsen; b Tomografie der Aluminium-Dendriten (blau ) in einer Aluminium-Schmelze (transparent ) bei etwa 590 °C; c zeitlicher Verlauf der mittleren Temperatur
mit Unterkühlung und Haltetemperatur während der Erstarrung
Abständen zwischen 0,1 und 10 µm. Auf gekühlten Kup- Erstarrung real nicht im Gleichgewicht erfolgt, weisen
ferwalzen gesprühte Schmelze erreicht Korngrößen unter die Kristallkörner Seigerungen auf. Die Entstehung der
1 µm, sogar nanoskopische Korngrößen (unter 0,1 µm) Konzentrationsgradienten wird im Bonusmaterial Erstar-
sind erzielbar. Komplexe Legierungen können mit dem rungstechnik in Abb. 16.2 erläutert. Derartige Mikros-
Splat-Abschreckverfahren amorph erstarren, wenn die eigerungen bewirken Konzentrationsgradienten in den
Kristallkeimbildung durch Überschreiten der kritischen Körnern und dazwischen niedrig schmelzende Bereiche
Abkühlgeschwindigkeit unterdrückt wird (Abb. 16.2b). der erstarrten Restschmelze (Beispielbox: „Seigerungen“).
Gegossenes Vormaterial und dicke Gussteile erstarren
Die Erstarrung in einer Schmelze beginnt an he- ausgehend von der gekühlten Oberfläche. Das Strang-
terogenen Keimen (Partikeln, Kokillenwand) oder gussverfahren wird dadurch möglich, dass sich am Um-
über homogene Keime bei Unterkühlung, die in- fang eine feste Randschale bildet, in der die Schmelze
eingeschlossen ist und relativ langsam erstarrt. Im Quer-
Werkstoffkunde
Stahl-Stranggussbrammen kühlen wegen ihres großen größere Mengen an Karbiden in Perlitbereichen aus
Querschnittes (1,5–2,5 m × 0,2–0,5 m) trotz Wasser- (Abb. 16.5a).
kühlung relativ langsam ab. Dabei kommt es zu Mi-
kroseigerungen des Elementes Mangan (Abb. 16.5b). Die Makroseigerung bewirkt bei Stählen ebenfalls
Mangan erweitert den Bereich der Austenitphase Konzentrationsgradienten der Substitutionselemente,
zu niedrigeren Temperaturen, sodass die interdendri- von denen viele bevorzugt Karbide bilden. Beim Wal-
tischen Bereiche mit erhöhtem Mangan-Gehalt noch zen der Brammen verteilen sich diese Karbide in Walz-
austenitisch sind (Abb. 16.26a), wenn der übrige Korn- richtung und bilden flächige Karbidanhäufungen in
bereich umgewandelt ist. Die Löslichkeit von Koh- den Blechen. Beim raschen Abkühlen aus der Auste-
Werkstoffkunde
lenstoff in Austenit ist wesentlich höher als in Fer- nitphase wandeln sich diese Bereich in Martensit um
rit, weshalb in den manganreichen austenitischen Be- (Abschn. 16.6). Die Folge der Mangan-Seigerung zeigt
reichen zwischen den Dendriten auch der Kohlen- sich in Längsschliffen als Karbid- bzw. Perlitzeilen oder
stoffgehalt hoch ist. Bei der Umwandlung dieser Sei- kohlenstoffreiche Martensitstreifen (Bonusmaterial zu
gerungsbereiche in Ferrit (Abb. 16.8) scheiden sich Abschn. 15.6: Festigkeit unter quasi-statischer Belas-
tung, Korngefüge, Abb. 15.7b).
a 1 mm b 1 mm
Abb. 16.5 Ergebnisse der Mikroanalyse an einer Stahlbramme mit 0,14 % Kohlenstoff und 1,4 % Mangan in einem Querschliff. a dendritische Kohlenstoff-
verteilung mit Maxima bis 0,8 % C (dunkle perlitische Gefügebereiche), b parallele Mangan-Seigerung desselben Bereiches mit Maxima bis 1,9 % Mangan
wird auf eigene Homogenisierungsglühungen verzichtet, und Zusammensetzung), indem gleichzeitig zwei feste
da der Energieaufwand für die hohen Glühtemperaturen Phasen entstehen. Aluminium-Silizium-Legierungen ge-
relativ groß ist und die Gefahr der Grobkornbildung be- ben ein Beispiel für ein eutektisches Zustandsdiagramm
steht. (Abb. 16.7a). Ts (Al) = 660 ◦ C, Ts (Si) = 1410 ◦ C, die eu-
tektische Temperatur Te = 577 ◦ C. In der Schmelze sind
Aluminium und Silizium lückenlos mischbar, aber im fes-
ten Zustand besteht eine Mischbarkeitslücke, da sie in
16.2 Aluminium-Legierungen unterschiedlichen Kristallstrukturen erstarren. Die Liqui-
mit Eutektikum duslinie der Zweiphasenbereiche α-Aluminium-Schmel-
ze und Silizium-Schmelze trifft im eutektischen Punkt
(12 % Si, 577 °C) die Soliduslinie, wo die Restschmelze eu-
Viele Legierungen erstarren bei bestimmter Zusammen- tektisch erstarrt:
setzung bei einem Schmelzpunkt, der niedriger ist als der
beider Komponenten. Im Bonusmaterial zu Abschn. 16.1: S → α-Al + Si.
Eutektische Legierungen, ist in Abb. 16.3 ein Zustandsdia-
gramm eines Zweistoffsystems dargestellt, dessen Kom- Die eutektische Temperatur Te erstreckt sich als Solidus-
ponenten im festen nicht löslich sind. Bei dieser Erstar- linie zwischen dem Gebiet des α-Aluminium-Mischkris-
rung entsteht ein eutektisches (aus dem Griechischen: talls und Silizium (die Löslichkeit von Aluminium in Sili-
gut schmelzend) Gefüge. Eine Legierungsschmelze er- zium ist vernachlässigbar). Bei der untereutektischen Zu-
starrt im eutektischen Punkt (bei bestimmter Temperatur sammensetzung Aluminium – 7 % Silizium beginnt die Er-
534 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen
Verschiebung der eutektischen Temperatur und der gesetz 95 % α-Aluminium mit 3,5 % Kupfer gelöst
Zusammensetzungen durch Seigerungen und Unter- und 5 % Restschmelze der eutektischen Zusammen-
kühlung an Beispielen einer Stranggussbramme einer setzung mit 33,2 % Kupfer. Die Restschmelze sam-
Aluminium-Kupfer-Knetlegierung. melt sich in den interdendritischen Bereichen und
erstarrt als α + θ-Eutektikum, wie es das Schliffbild
Bei Legierungen mit eutektischer Erstarrung bewir- in Abb. 16.6a zeigt. Da das Eutektikum wesentlich
ken Mikro- und Makroseigerungen, dass eutektische kupferreicher ist als der α-Aluminium-Mischkristall,
Strukturen in den interdendritischen Bereichen er- kann es in Röntgen-Computertomografie segmentiert
starren und dass die Menge eutektischer Strukturen werden. Abbildung 16.6c zeigt das dreidimensionale
Werkstoffkunde
zum Kern eines Gussformates hin zunimmt. Am Bei- Netzwerk des Eutektikums (ohne die θ-Phase zu sepa-
spiel einer Aluminium–Kupfer-Knetlegierung mit et- rieren) in der gleichen Vergrößerung wie das Schliff-
wa 5 Gew.-% Kupfer (AW2014) wird in Abb. 16.6b die bild. Derartige eutektische Seigerungen in Knetlegie-
Abweichung vom Gleichgewichtszustandsdiagramm rungen müssen durch Homogenisierungsglühungen
für das Zweistoffsystem Aluminium und intermetalli- unter der eutektischen Temperatur aufgelöst werden,
sche Phase θ (Al2 Cu) dargestellt. Im Gleichgewichts- damit die Legierung walz-, schmied- und strangpress-
zustandsdiagramm ist Kupfer im α-Aluminium bei bar wird.
der eutektischen Temperatur bis 5,65 % als Substitu-
tionselement löslich. Die Soliduslinie verschiebt sich Analoge eutektische Seigerungen sind in Schliffbil-
wegen der Seigerungen während der Erstarrung zu dern der Gusslegierung AZ91 (Bonusmaterial zu Ab-
niedrigerer Kupfer-Löslichkeit (analog zu Abb. 16.2 schn. 15.6, Korngefüge, Abb. 15.8b) zu erkennen. Das
im Bonusmaterial Erstarrungskinetik zu Abschn. 16.2). Gleichgewichtszustandsdiagramm für das Zweistoff-
Im Beispiel in Abb. 16.6b sinkt die maximale Lös- system Aluminium-Magnesium ist im Bonusmaterial
lichkeit von Kupfer bis 3,5 % bei 548 °C. Dies ergibt zu Abschn. 16.2, Eutektische Legierungen, Abb. 16.4,
bei der eutektischen Temperatur gemäß dem Hebel- dargestellt.
700
660 °C
Cu in Al-Schmelze L gelöst
Temperatur in °C
600 Restschmelze
5%
α+L
95% α θ+L
5,65 548 °C 33,2 52,5
500 α+θ
5% Eutektikum
α
Eutektikum
400
α+θ
Zweiphasengebiet
(Mischungslücke)
300 c
0,1 mm
200
0,1 mm 0 5 10 20 30 40 50 θ
a b Al Cu in Gew.-% Al2Cu
Abb. 16.6 Zweistoffsystem Aluminium-Al2 Cu (θ) in (b) mit einer Verschiebung der Löslichkeitsgrenze im Ungleichgewicht der Seigerungen (gelb) unter
die Nennzusammensetzung von Al-5 % Cu; resultierende interdendritische Seigerungen der eutektischen Zusammensetzung sind im Schliffbild (a) und 3-
dimensional in einer Röntgen-Tomografie (α-Al transparent, Eutektikum blau) gleicher Vergrößerung in (c) dargestellt
16.2 Aluminium-Legierungen mit Eutektikum 535
Temperatur in °C
pfad der untereutektischen AlSi7- L
slinie
Legierung (blau ), der übereutek- u
uid Si
tischen AlSi17-Legierung (gelb ) unter- übereutektisch Liq
und der eutektischen AlSi12- 1000
Eutektikum
12
Legierung (rot ) mit zugehörigen AlSi12 µm
rasterelektronenmikroskopischen α+L L + Si 21
Gefügebildern gleicher Vergrö- µm
660 m
ßerung; b Eutektikum zwischen
α-Al
577 °C e 6µ
α-Aluminium-Dendriten in AlSi7; 1,6 12 eutektische Soliduslinie
c AlSi12-Eutektikum, d primäre 500 99,8% Si
Werkstoffkunde
Silizium-Kristalle in Eutektikum α-Al
in AlSi17; e rasterelektronen-
mikroskopische 3D-Darstellung
eines Volumenelementes mit ver-
zweigten, eutektischen Silizium- 50 µm
Lamellen (gelb, Al transparent) b c d
0
7 12 17
Al 40 60 80 Si
AlSi7 AlSi17 Silizium in Gew.-%
starrung beim Erreichen der Liquiduslinie bei 625 °C mit Silizium-Kristalle wachsen in der Schmelze mit sinken-
Keimen von α-Aluminium mit circa 1 % substitutionell ge- der Temperatur, wobei in der übereutektischen Schmel-
löstem Silizium gemäß der Soliduslinie. Wie in Abb. 16.7 ze der Silizium-Gehalt abnimmt. Sobald der eutektische
beschrieben, nimmt der Silizium-Gehalt im AlSi7-System Punkt erreicht wird, erstarrt die Restschmelze (circa (100 −
sowohl des Mischkristalls als auch der Schmelze mit sin- 17) : (100 − 12) ergibt 94 % Schmelze nach dem Hebelge-
kender Temperatur zu, wobei der Anteil der Schmelze setz) eutektisch. Das Gefüge der übereutektischen Legie-
gemäß des Hebelgesetzes abnimmt. Sobald die Solidusli- rung Aluminium – 17 % Silizium enthält somit 6 % primär
nie im eutektischen Punkt erreicht wird, erstarrt die Rest- erstarrte Silizium-Kristalle umgeben von AlSi12-Eutekti-
schmelze (circa 50 % mit 12 % Si) eutektisch zwischen den kum (Abb. 16.10d).
bereits erstarrten α-Aluminium-Dendriten. Das Schliffbild
in Abb. 16.7b zeigt ein fein strukturiertes zweiphasiges Frage 16.3
Gefüge aus Silizium-Lamellen mit dazwischen liegendem
Wie ist ein eutektisches Gefüge im Schliffbild erkennbar,
α-Aluminium, das die vorher erstarrten α-Aluminium-
und woraus besteht es?
Dendritenarme umgibt. Das eutektische Gefüge ist fein-
strukturiert, da α-Aluminium-Keime (Mischkristalle mit
1,6 % Silizium) und Silizium-Keime gleichzeitig entste-
hen. Das korallenartige Wachstum des Siliziums erklärt Im eutektischen Punkt eines Zustandsdiagramms er-
sich aus den kurzen Diffusionswegen zwischen den Ver- starrt die Schmelze in einer bestimmten Zusammen-
zweigungen. Abbildung 16.7e zeigt die eutektische Silizi- setzung bei einer definierten Temperatur in zwei
um-Struktur in einer dreidimensionalen Rekonstruktion ineinander vernetzten, festen Phasen (Eutektikum).
schichtweiser, rasterelektronenmikroskopischer Aufnah- Dieser eutektische Punkt sowie die Zusammenset-
men. Im Sekundärelektronenbild einer geätzten Oberflä- zung der Phasen können sich durch Seigerungs- und
che erscheint das Silizium nadelig (Abb. 16.7b,c). Gemäß Unterkühlungseffekte zu geringeren Mischkristall-
dem eutektischen Punkt beträgt die mittlere Zusammen- löslichkeiten und niedrigerer Temperatur verschie-
setzung des Eutektikums α-Aluminium – 12 % Silizium, ben (siehe Beispiel: Verschiebungen von Temperatur
das gemäß Hebelgesetz aus 10,6 Gew.-% Si-Lamellen ein- und Zusammensetzung).
gebettet in 89,4 Gew.-% α-Aluminium, in dem 1,6 % Si ge-
löst sind, besteht. Untereutektische Legierungen enthalten
dendritisch erstarrte Mischkristalle und in den interden- Motor- und Kolbenlegierungen des Systems Aluminium-
dritischen Bereichen zuletzt erstarrtes Eutektikum. Abbil- Silizium müssen warmfest sein. Dies wird durch die ver-
dung 16.7c zeigt das Schliffbild einer eutektisch erstarr- netzte, eutektische Silizium-Struktur teilweise erreicht.
ten Zusammensetzung (Al-12% Si), das keine α-Alumini- Die dreidimensionale Vernetzung der warmfesten Phasen
um-Dendritenarme enthält. Im übereutektischen Zusam- wird durch Zugabe von Nickel, Kupfer und Magnesi-
mensetzungsbereich (über 12 % Silizium) beginnt die Er- um verbessert, die intermetallische Aluminide bilden, die
starrung an der Liquiduslinie mit Silizium-Keimen. Die das Silizium-Netzwerk verstärken. Die Vernetzung dieser
536 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen
Temperatur in °C
stoff-Konzentrationsbereich für δ+ γ S eutektische
Stahl (entspricht dem γ-Bereich) o lid Erstarrung L + Grafit
und rötlich markiertem Gussei- us γ+ L
senbereich um den eutektischen Mischkristall L + Fe3C Grafit
Punkt (4,3 % C bei 1150 °C), wo kfz Fe + 2,1 4,3 1150 °C
interstitieller C γ + Grafit
e
neben Austenit entweder Zemen-
nz
1000 = Austenit γ
gre
tit (Ledeburit) oder Grafit (rot ) Ledeburit
its
eutektisch erstarren. Bei 723 °C 910 γ + Fe3C
ke
α+ γ
ch
wandelt sich Austenit in α-Ferrit
sli
Mischkristall
Lö
mit geringer Kohlenstoff-Löslich- krz Fe +
C-
keit um, sodass sich Zementit interstitieller C 0,02 0,8 723 °C 6,7
Werkstoffkunde
ausscheidet = Ferrit α
α
500
α + Fe3C
6,7 Gew.-% C
Stahl Gusseisen = Fe3C
Zementit
0
Fe 1 2 3 4 5 6
Kohlenstoff in Gew.-%
Phasen bewirkt die Erhöhung der Warmfestigkeit analog Stähle enthalten weniger als 2,1 Gew.-%
zu Verbundwerkstoffen mit interpenetrierenden Kompo- Kohlenstoff und sind gut umformbar
nenten.
Werkstoffkunde
Gefügecharekteristika; a unter- 1000
Temperatur in °C
eutektoid; b übereutektoid in γ G
910 γ
den verschiedenen Phasenge- α+γ
bieten während der Abkühlung; α Fe3C
γ A3 A3 γ
Schliffbilder von Stählen. c C15
γ 723 Ae
mit Perlitinseln im untereutektoi- P S γ
den Ferrit; d C80 mit lamellarem α
γ ≤ 0,02% C γ
Gefüge aus Ferrit und Zementit
(Perlit), e C135 mit übereutek- 500
toidem Sekundärzementit an
ursprünglichen Austenitkorngren- Fe3C
zen umgibt Perlit
unter-
übereutektoide
eutektoide
Stähle
Stähle
a Stähle Perlit
RT
b 0,15 0,5 0,8 1 1,35 2,1 Ni
Fe3C
C in Gew.-%
c 50 µm d 50 µm e 50 µm
bisch raumzentrierten α-Ferrit (Abb. 16.10a). Die maxi- stoff verdrängt und reichert sich zwischen den α-Keimen
male Kohlenstoff-Löslichkeit in α beträgt nur 0,02 % bei an, wo Karbide parallel wachsen. α und Fe3 C wachsen
723 °C, sodass der Kohlenstoffgehalt in γ während der als parallele Lamellen in das Austenitkorn hinein. Die-
Abkühlung bis 0,8 % steigt. Bei 0,8 % Kohlenstoff en- ses eutektoide Gefüge wird als Perlit bezeichnet (10 %
det die Beständigkeit von Austenit bei 723 °C. In diesem Zementit in α). Stähle mit mehr als 0,02 % Kohlenstoff
Punkt (Punkt S in Abb. 16.10b) zerfällt der vorhandene enthalten im Gleichgewichtszustand Perlit in entspre-
Austenit in α und Fe3 C. Diese Umwandlung ist der eutek- chenden Mengen (Abb. 16.10). Ein Stahl mit 0,8 % Kohlen-
tischen Erstarrung ähnlich, aber erfolgt zwischen festen stoff sollte gemäß Abb. 16.8 zu 100 % aus Perlit bestehen
Phasen: γ → α + Fe3 C. Sie wird deshalb als eutektoide (Abb. 16.10d).
Umwandlung bezeichnet. Neben der Änderung der kris-
tallografischen Struktur der Phasen muss der Kohlenstoff
aus dem Eisen-Gitter herausdiffundieren und Karbide Frage 16.4
bilden, sodass das Wachstum der Phasen entsprechende Worin besteht der grundsätzliche Unterschied zwischen
Zeit erfordert. Abbildung 16.9 skizziert diese Gleichge- Stahl und Gusseisen?
wichtsumwandlung. Wachstumsfähige Keime entstehen Welche Unterschiede resultieren daraus für die Formge-
an den Korngrenzen, wo die Diffusion am raschesten bung?
abläuft. Bei der Umwandlung von γ in α wird der Kohlen-
538 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen
Gefügeunterschiede zwischen perlitischen, unter 2,1 % ist, und sie als Formteile vergossen werden,
werden diese als Stahlguss (GS) bezeichnet.
unter- und übereutektoiden Stählen
Frage 16.5
Aus welchen Gefügebestandteilen bestehen untereutek-
Die Gefügeunterschiede der im thermodynamischen toide, eutektoide und übereutektoide Stähle bei Um-
Gleichgewicht aus dem Austenitzustand abgekühlten wandlung im Gleichgewichtszustand?
Stähle beruhen gemäß Abb. 16.8 und 16.10 darauf, ob
der Kohlenstoffgehalt unter 0,8 % liegt (untereutektoide
Stähle), 0,8 % beträgt (perlitische Stähle) oder zwischen
0,8 und 2,1 % liegt (übereutektoide Stähle). Untereutek- Bei Eisengusswerkstoffen werden weißes
toide Stähle wandeln sich über das Zweiphasengebiet
α + γ zwischen der Minimalkonzentration an Kohlen- Gusseisen, Grauguss und Temperguss
Werkstoffkunde
C C
C
Fe 3C
Fe C
3C C
C
Abb. 16.11 Metallografien von Gusseisen; a Schliffbild eines weißen Gusseisens mit großen Ledeburitlamellen und dazwischen feinstrukturiertem Perlit und
Sekundärzementit (Ferrit schwarz ); b Schliffbild eines grauen Gusseisens mit lamellarem Grafit (schwarz ) in Perlit (GJL), REM-Detailbild der Grafitlamellen; c
Werkstoffkunde
Sphäroguss-(GJS)-Schliffbild mit markierten Grafitteilchen (C), REM-Detailbild zweier Grafitkugeln
aus 2,2 Gew.-% Grafit (circa 9 Vol.-%) in Austenit. Zum Stahles durch Grafitbildung im Eutektikum kompensiert
Unterschied zu Ledeburit sind die Grafitteilchen ver- wird (Abschn. 30.2, Vertiefung „Gussfehler“), was nicht
formbar und erhöhen dadurch die Zähigkeit. Dabei ist gelingt, wenn die Speisung des Formteils unterbrochen
die Form der Grafitteilchen von Bedeutung: Grafitlamel- wird, wie die Abb. 16.12 im Beispiel: Interdendritische
len stellen innere Kerben in der Stahlmatrix dar (GJL, Lunker zeigt. Andererseits vermindert der Grafitanteil die
Abb. 16.11b), für unförmige Teilchen ist der Kerbeffekt Steifigkeit auf 115–185 GPa (siehe Abschn. 15.5, Beispiel:
geringer (vermikularer Grafit, GJV) und verschwindet E"-Modul).
weitgehend bei kugelförmigen Teilchen (duktiler Sphä-
roguss, GJS, Abb. 16.11c). Hingegen tragen die Grafit-
teilchen nur indirekt zur Verfestigung bei: die kritische Frage 16.6
Risslänge wird erhöht (Abschn. 15.10), und der Poren- Weshalb wird Grauguss für Motorblöcke dem weißen
gehalt wird vermindert. Das Eisen-Grafit-System zeigt Gusseisen vorgezogen?
die Besonderheit, dass die Erstarrungsschrumpfung des
540 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen
Eisengusswerkstoffe
Erstarrung: metastabil
stabil
GS weißes Sonder- graues
Stahlguss Gusseisen Abb. 16.11a Gusseisen Gusseisen
Abb. 16.13 Eisen-Gusswerkstoffe: Stahlguss (GS), weißes Gusseisen (Hartguss GJH und Temperguss GJM), graues Gusseisen (GJL, GJV, GJS) und hochlegierte
Sondergusseisenlegierungen
Temperatur in °C
n
α 1 α
ge
gierung mit nachfolgender T4- 5,65% 548°C
un
Kalt- oder T6-Warmauslagerung; 500 α
eid
lösungsglühen α
h
b durchstrahlungsmikrokopi- θ
sc
us
sche Aufnahme von inter- und 400
na
intrakristallinen Ausscheidungen
ze
ren
(schwarz ) im T6-Zustand einer 300
g
θ α+θ
rn
AlZn4,5Mg-Legierung (AW7020) intrakristalline
Ko
α warm Ausscheidungen
200
3 warm auslagern αss ausgelagert
α T6
Werkstoffkunde
α 100 αss
abschrecken αss kalt
langsam 2
auslagern
abgekühlt 0 abgeschreckt
Al 2 4 6 8 T4
b 0,5 µm
a Cu in Gew.-%
verfestigung der AW5xxx-Knetlegierungen bewirkt. Das Seigerungen abgebaut und die Legierungszusammenset-
überschüssige Magnesium scheidet sich vornehmlich an zung im Guss- oder Werkstück in Richtung thermody-
den Korngrenzen als Al8 Mg5 (β-Phase) aus (aus dem namisches Gleichgewicht ausgeglichen (homogenisiert)
Gleichgewichtszustand mit maximal 17 % Magnesium in werden. Die Homogenisierung von Vormaterial für die
Lösung könnten sich nahezu 50 Gew.-% β-Phase aus- Umformung ist erforderlich, um eventuell vorhande-
scheiden). In den Magnesium-Aluminium-Gusslegierun- ne, relativ spröde eutektische Strukturen mit niedriger
gen scheidet sich bei der Abkühlung Al12 Mg17 an den Schmelztemperatur aufzulösen. Walzbarren und Strang-
bereits vorhandenen, eutektisch gebildeten δ-Phasen und pressbolzen werden vor der Umformung homogenisiert.
an Korngrenzen aus (Bonusmaterial zu zu Abschn. 16.1: Wird die Aluminium-Legierung weiterverarbeitet, stel-
Eutektische Legierungen, Abb. 16.4). Bis Raumtempera- len sich Gefügezustände je nach Temperatur und Dauer
tur bleiben weniger als 1 % Aluminium im Magnesium in des Verarbeitungsschrittes ein. Eine relativ kurze Lö-
Lösung, woraus sich von der maximalen Löslichkeit von sungsglühung sicherheitshalber knapp unter der eutekti-
13 % Aluminium bei der eutektischen Temperatur etwa schen Temperatur des Systems, die eine Durchwärmung
40 % δ-Phase ergeben. des Werkstückes gewährleistet, erzeugt wieder einen für
diese Temperatur thermodynamischen Gleichgewichts-
Im Eisen–Kohlenstoff-System bleibt im Austenit bei der zustand.
eutektischen Temperatur 1150 °C 2,1 % Kohlenstoff und
im Ferrit bei der eutektoiden Temperatur 723 °C maximal
0,02 % Kohlenstoff interstitiell gelöst (Abb. 16.8). Bei der Eine Homogenisierungsglühung dient zum Abbau
Abkühlung des Austenits endet diese nach Abb. 16.10 im der Seigerungen des Gusszustandes. Die Lösungs-
eutektoiden Punkt (S), wobei 0,8 % Kohlenstoff in Lösung glühung dient zum Auflösen von Entmischungspro-
sind. Die Löslichkeitsabnahme von 2,1 % (E) bis 0,8 % (S) dukten, die bei der Abkühlung entstanden sind.
bewirkt die Ausscheidung von 22 Gew.-% Sekundärze-
mentit, vorwiegend an den Austenitkorngrenzen (mehr
als in C135 in Abb. 16.10e). Bei der Perlitbildung in Punkt Am Beispiel Aluminium mit 4 % Kupfer (AW2024) wird
S bleiben im Ferrit 0,02 % Kohlenstoff gelöst. Durch die in Abb. 16.14 die Wärmebehandlung eines homogeni-
weitere Abkühlung bis Raumtemperatur bleibt praktisch sierten Zustandes (Seigerungen mit Eutektikum wie in
kein Kohlenstoff gelöst. Während der Abkühlung schei- Abb. 16.6 wurden abgebaut) schematisch dargestellt. Bei
det sich bis zu 0,3 Gew.-% tertiärer Zementit vornehmlich langsamer Abkühlung von der Homogenisierungstempe-
an Gitterdefekten aus. ratur (∼ 540 °C) scheiden sich entsprechend der Abnah-
me der Löslichkeit an den Korngrenzen, wo die Keimbil-
dung heterogen erfolgt und die Keime durch relativ hohe
Diffusionsgeschwindigkeit (Abschn. 15.12) rasch wach-
Aluminium-Legierungen sen, Säume aus Al2 Cu (θ) um die α-Al-Körner aus. Diese
θ-Säume werden bei einer ½- bis 1-stündigen Lösungs-
glühung zwischen 530 °C und 550 °C rasch aufgelöst. Da-
Wenn Aluminium-Legierungen mit Zusammensetzungen bei entsteht einphasiger α-Al-Mischkristall, und es stellt
im Mischkristallbereich bei der eutektischen Temperatur sich eine dieser Temperatur entsprechende, hohe Leer-
knapp unter dieser Temperatur geglüht werden, können stellenkonzentration ein (Abschn. 15.12). Beim Abschre-
542 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen
0,2%-Dehngrenze in MPa
Ausscheidungsverfestigung und wird als kalt ausgelager-
Werkstoffkunde
Tab. 16.2 Übersicht über nicht aushärtbare und aushärtbare Aluminium-Knet- und Gusslegierungen mit den Kennzeichnungen nach dem gebräuchlichen System
der American Al-Association (AA) bzw. der DIN-Nummern
Legierungs- AA DINb Hauptlegierungs- Legierungs- AA DINb Hauptlegierungs-
system seriea elemente in Gew.-% system seriea elemente in Gew.-%
nicht aushärtbare Al-Knetlegierungen nicht aushärtbare Al-Gusslegierungen
Al 1xxx 3.02–03nn < 1 Verunreinigungen Al 1xx.x 3.01–02nn < 2 Verunreinigungen
AlMn (Mg) 3xxx 3.05nn Mn 0,1–1,8 (Mg 0,2–1,3) AlSi 4xx.x 3.22nn Si 4,5–13
AlSi 4xxx 3.22nn Si 0,8-11 AlMg 5xx.x 3.33nn Mg 3,6–10,6; Si < 0,3
AlMg 5xxx 3.33nn Mg < 5,6 AlMgMn 3.35nn Mg 2,5–4,5; Mn > 0,4
AlMgMn 3.35nn Mg 0,7–5,6; Mn + Cr >
0,2
aushärtbare Al-Knetlegierungen Ausscheidung aushärtbare Al-Gusslegierungens
Werkstoffkunde
AlCu 2xxx 3.1nnn Cu 0,7–6; Mg < 1,9; Al2 Cu AlCu Al- 2xx.x 3.11nn Cu 3,5–11; Mg,Si < 0,4
Si < 1,3 Al2 CuMg CuMg 3.13nn + Mg 1,3–6,5; Si < 0,7
AlSiMg 4xxx 3.23nn Si 4,5–13,5; Mg 0,2–2 AlSiCu (Mg) 3xx.x 3.21nn Si 5–13; Cu < 5
(Mg 0,4–1,3)
Mg2 Si
AlMgSi (Cu) 6xxx 3.32nn Mg 0,4–1,5; Si < 1,5 AlMgSi 5xx.x 3.32nn Mg 2,5–8,5; Si 0,3–2,2
(Cu < 1,2)
AlZnMg 7xxx 3.43nn Zn 0,8–7,6; Mg 0,5–3,5; Zn2 Mg + AlMgZn 513.x 3.34nn Mg 3,5–4,5; Zn 1,4–2,2
AlZnMgCu 3.41nn + Cu 0,2-2,6 Al2 Cu
AlLi 809x 3.00nn Li 1–3, Cu, Mg Al3 Li AlZnMg 7xx.x 3.43nn Zn 2,7–8; Mg 0,3–1,8;
Cu < 1
a x = Ziffern; b nn = Laufnummern
Ausscheidungen und in noch nicht großtechnisch ein- gierungen (Messing) können CuZn-Überstrukturphasen
geführten Aluminium-Lithium-Legierungen Al3 Li-Aus- gebildet werden.
scheidungen (Tab. 16.2) verfestigend wirken. Den Nickel-
Basislegierungen wird Aluminium und Titan zulegiert,
die Ni3 Al- und/oder Ni3 Ti-Ausscheidungen nach dem Ausscheidungsverfestigung kann in Legierungssys-
Lösungsglühen und Warmauslagerung bei etwa 600 °C temen genutzt werden, bei denen die Löslichkeits-
bilden (Superlegierungen). Die Besonderheit dieser Aus- grenzen mit sinkender Temperatur abnehmen. Eine
scheidungen ist, dass sie mit der Nickel-Matrix soge- Lösungsglühung im Mischkristallbereich mit nach-
nannte γ -Ausscheidungen bilden, in denen sich Nickel- folgendem Abschrecken stellt einen an Legierungs-
Netzebenen mit Aluminium- oder mit Titan-Netzebenen elementen und Leerstellen übersättigten Zustand
abwechseln. Diese kohärenten Überstrukturausscheidun- her. Durch Auslagerung bei relativ niedriger Tem-
gen sind nur durch Versetzungspaare schneidbar, die die peratur scheiden sich intermetallische Phasen intra-
kristallin aus.
Überstrukturanordnung erhalten. Daraus ergibt sich ein
Gleitwiderstand, der bis zu hohen Temperaturen wirk-
sam bleibt. Es gibt auch hochlegierte, austenitische Stähle, In Eisen-Kohlenstoff-Legierungen wirken tertiäre Zemen-
deren Warmfestigkeit durch γ -Ausscheidungen der Le- titausscheidungen verfestigend. Die Aushärtung wird im
gierungselemente Nickel, Aluminium und Titan erhöht folgenden Abschnitt beschrieben. Niob- und/oder Vana-
wird (z. B. X10NiCrATi32-21 in Tab. 15.3). In Titan-Le- dium-Zusätze in mikrolegierten Stählen bewirken Aus-
gierungen mit Aluminium können sich Ti3 Al und TiAl- scheidungsverfestigung durch Sonderkarbide, die sich
Überstrukturausscheidungen bilden. bei der Umwandlung (γ → α + Karbide) bilden.
1600
A
Tm = 1540 °C S +δ Eisen - Grafit / Fe3C - Diagramm
1490 °C H B
δ-Ferrit I
δ +γ
1400
N Schmelze Schmelze + Grafit
D
1300
Austenit Schmelze +
Temperatur in °C
E 1150°C C F
1100
Primärzementit
+ Ledeburit I
Werkstoffkunde
Ledeburit
α-Ferrit Sekundär- + Tertiärzementit Primärzementit
Perlit
Perlit + Sekundär-
600
+ Tertiär- + Tertiär- + Ledeburitkarbide (oder Grafit)
zementit zementit (oder Grafit)
500
Fe 0,8% 1,0 2,0 3,0 4,0 4,3% 5,0 6,0 6,7%
Kohlenstoffgehalt Fe3C
in Gew.-% Zementit
Abb. 16.16 Gleichgewichtszustände im Eisen-Fe3 C bzw. Grafit-System für Stahl und Gusseisen. Die Phasen in den jeweiligen Mischkristall- und Zweiphasenberei-
chen sind im jeweiligen Temperaturbereich eingetragen. Im übereutektischen Gusseisenbereich sind sowohl die stabile Grafitbildung als auch die metastabile Fe3 C-
Bildung dargestellt. Die resultierenden Gefügebilder sind schematisch dem Eisen-Fe3 C-Zustandsdiagramm zugeordnet
Kohlenstoffkonzentration werden untereutektoide, perli- des Austenits aus. Der bei 723 °C verbleibende Auste-
tische und übereutektoide Stähle unterschieden. Untereu- nit enthält 0,8 % Kohlenstoff und wandelt sich in Perlit
tektisches, eutektisches und übereutektisches Gusseisen, um. Bei weiterer Abkühlung scheidet sich im Ferrit des
wobei weißes (mit Zementit) von grauem (mit Grafit) Perlits tertiärer Zementit aus.
Gusseisen unterschieden wird, enthält über 723 °C ei-
ne Austenitmatrix, die sich bei weiterer Abkühlung wie
übereutektoider Stahl verhält. Stähle können bei erhöhter Temperatur in den ein-
phasigen Austenitbereich gebracht werden. Bei der
Untereutektoider Stahl entsteht aus Austenit mit weni- Abkühlung unter Gleichgewichtsbedingungen ent-
ger als 0,8 % Kohlenstoff und besteht nach der Gleich- steht in untereutektoiden Zusammensetzungen Fer-
gewichtsabkühlung aus Ferrit mit Perlit, der mit dem rit mit Perlit, mit 0,8 % Kohlenstoff nur Perlit, in
Kohlenstoffgehalt zunimmt. Der Ferrit enthält bei der übereutektoiden Zusammensetzungen Sekundärze-
eutektischen Temperatur nur 0,02 % C, dessen Löslich- mentit mit Perlit. Die Matrix des Gusseisens ent-
keit mit der Temperatur weiter abnimmt, sodass ter- spricht im Gleichgewicht einem übereutektoiden
tiäre Zementitpartikel ausgeschieden werden, was für Stahl. In allen Stählen und Gusseisensorten scheidet
den gesamten Kohlenstoff-Konzentationsbereich des sich im Ferrit unter 723 °C tertiärer Zementit aus.
Systems zutrifft.
Eutektoider (perlitischer) Stahl mit 0,8 % Kohlenstoff
Anhand des Gleichgewichtszustandsdiagramms in
besteht nur aus Perlit, der unter 723 °C aus 12 % Fe3 C Abb. 16.17 werden die Wirkungen der Gleichgewichts-
in Ferrit mit tertiärem Zementit besteht.
wärmebehandlungen erläutert:
Übereutektoider Stahl geht aus Austenit mit 0,8–
2,1 % Kohlenstoff hervor. Über der eutektoiden Tem- Diffusionsglühen zwischen 1050 °C und 1300 °C baut
peratur scheidet sich der Kohlenstoff ab einem Gehalt Seigerungen ab und löst Karbide auf. Dabei wachsen
von 0,8 % als Sekundärzementit an den Korngrenzen die Austenitkörner. Je nach Umgebungsatmosphäre
16.6 Ungleichgewichtsumwandlungen allotroper Metalle 545
Werkstoffkunde
600 spannungsarm Glühen sions- (Homogenisierungs-), Lösungs-, Grobkorn-,
Ferrit + Perlit Perlit Perlit + Zementit Rekristallisations-, Spannungsarm- und Wasserstoff-
500 armglühung. Für Stähle werden zusätzlich Normal-
0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4
Kohlenstoffgehalt in Gew.-% und Weichglühung eingesetzt.
Temperatur
A1-Linie A3
geschwindigkeit OK beginnt bei Umwandlungstemperaturen A1 und A3 sinken
Az die Bainitbildung (Zwischen- A1
Werkstoffkunde
Vertiefung: Martensit
Ausgehend von der allotropen Kristallumwandlung ne kubisch raumzentrierte Einheitszelle des Gleichge-
von Austenit in Ferrit im Gleichgewicht bewirkt die wichtsferrits mit sehr geringer Kohlenstoff-Löslichkeit
diffusionslose Umwandlung die Bildung eines an Koh- (Abb. 16.20d):
lenstoff übersättigten Martensitgitters. √
0,79 aγ = ar (α), 1,11aγ / 2 = ar (α).
Betrachten wir die Gefügeumwandlung in Stahl von
Austenit in Ferrit in einem vereinfachten Kristallmo- In diese kubisch raumzentrierte Einheitszelle können
dell nach Bain. Abbildung 16.20a zeigt zwei anein- Kohlenstoff-Atome eingebaut werden, wenn die c-
andergrenzende kubisch flächenzentrierte Einheitszel- Achse gedehnt wird. Bei der diffusionslosen Umwand-
Werkstoffkunde
len mit dem Gitterparameter aγ und den möglichen lung von Austenit in tetragonalen Martensit ist die
Kohlenstoff-Zwischengitterplätzen in Oktaederlücken. Dehnung der Kohlenstoff-Achse cm dem Kohlenstoff-
Aus diesen kubisch flächenzentrierten Einheitszellen gehalt proportional, wie Abb. 16.20c zeigt. Sowohl für
kann eine tetragonal raumzentrierte Einheitszelle her- die Ferrit- wie auch die Martensitbildung sind nur
ausgeschnitten werden√(Abb. 16.20b), für die sich Git- geringfügige Änderungen der Atomabstände erforder-
terparameter a = aγ / 2 und c = aγ ergeben. Durch lich. Wesentliche Gleithindernisse für die Versetzungen
eine Kompression um circa 20 % in der c-Richtung und stellen die durch die Kohlenstoff-Übersättigung ver-
eine circa 10 % Expansion der Basisebene entsteht ei- zerrten Martensitbereiche dar.
C C in
aγ c' = aγ
Oktaeder-
lücken
Austenit —
a aγ b a' = aγ /√ 2
Ferrit
cm
0,30
Gitterparameter in nm
0,29 cm
aα
am r
a3
r
a2
0,28
r am
a1
0,27
0 0,5 1,0 1,5 2,0
c Kohlenstoffgehalt in Gew.-% d kubisch raumzentriert
Abb. 16.20 Schematische Umwandlung von Austenit in Ferrit durch Verschiebung der Atompositionen nach Bain; a Aus zwei benachbarten, kubisch
flächenzentrierten Einheitszellen (Gitterparameter aγ ) mit Kohlenstoff in den Oktaederlücken ist in b ein tetragonal raumzentrierte Einheitszelle mit den
Gitterparametern a und c extrahiert, die Kohlenstoff in der c -Achse aufnehmen kann; c tetragonale Verzerrung der kubisch raumzentrierten Zelle in (d)
durch Kohlenstoff-Übersättigung ergibt die Gitterparameter von Martensit cm und am , die mit zunehmendem Kohlenstoffgehalt differieren; d Eine kubisch
raumzentrierte Einheitszelle mit Gitterparameter a r entsteht durch Kompression von c und Expansion von a , sowie die Verzerrung durch C zu cm und am
548 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen
um, bis alle vorhandenen Austenitkörner beim Errei- Abb. 15.11). Die Umwandlungstemperaturen Ar3 und
chen der Martensit-Finishtemperatur im metastabilen, Ar1 sind von der Abkühlgeschwindigkeit abhängig.
martensitischen Zustand sind. Die kritischen Abkühl- Die Abhängigkeit der Gefügeumwandlung von der Ab-
geschwindigkeiten und die Umwandlungstemperaturen kühlgeschwindigkeit wird in Zeit-Temperatur-Umwand-
Az , Ms , Mf sind stark vom Kohlenstoffgehalt und den lungsschaubildern (ZTU-Diagramm) dargestellt, die
anderen Zusatzelementen der Stähle abhängig. Es gibt experimentell für jeden Stahl ermittelt werden. Das Prin-
hochlegierte Stähle, deren Mf unterhalb der Raumtem- zip der ZTU-Diagramme ist in Abb. 16.21 für einen
peratur liegt. Die Variationsbreite der Eigenschaften der eutektoiden Stahl dargestellt. Bei langsamer Abkühlung
Stähle wird durch die Abkühlparameter wesentlich er- würde der Austenit nach einer Haltezeit in ein perlitisches
weitert. Gefüge zerfallen. Mit zunehmender Abkühlgeschwindig-
keit verschiebt sich der eutektoide Punkt S (Abb. 16.10) zu
niedrigeren Temperaturen und Kohlenstoff-Konzentratio-
Obwohl das Kristallgitter bei der Gleichgewicht-
Werkstoffkunde
γ+ E
M γ
MS
·
Tkrit
Mf M γ+ M
0
kritische Abkühlungs- Mf MS
a geschwindigkeit Zeit lg t b Temperatur T
16.6 Ungleichgewichtsumwandlungen allotroper Metalle 549
Temperatur
terschiedlichen Abschreckmedien;
eine nachfolgende Anlassbehand- im Inneren
Vorwärm- Warmbad- Ac1
lung (gelb ) erzeugt ein vergütetes Anlass-
temperatur härten
Gefüge temperatur
Ölhärten Karbid-
Ms
Wasser- bildung
Härten:
Martensit- härten
bildung
Werkstoffkunde
Austenitisierungsdauer Anlassdauer
Zeit
Temperatur T
steht, während die Matrix das Ferritgitter annimmt. Diese Ar3
Anlassbehandlung wirkt ähnlich der Ausscheidungshär- Ar1
tung (Abschn. 16.4), und die fein verteilten Karbide ver- Az
festigen den Stahl und verleihen ihm wieder ausreichen-
de Zähigkeit. Die Kombination aus Härten (Kohlenstoff- Ms
Mf
Übersättigung) und Anlassen (Aushärten) wird als Vergü-
ten bezeichnet und ist in Abb. 16.22 dargestellt. UK OK
a Abkühlgeschwindigkeit v
Für die in Abb. 16.22 skizzierten Abschreckbedingun-
gen sind in Abb. 16.23 die Gefügeausbildungen im Ofen
Abkühlmedium
Vergleich zum ferritisch-perlitischen Gleichgewichtsge-
füge eines untereutektoiden Stahls (Abb. 16.10c) darge- Luft
stellt. Mit zunehmender Abkühlgeschwindigkeit vergrö-
ßert sich die Perlitmenge wegen der Annäherung zum b
Ferrit
eutektoiden Punkt. Die Zementit-Perlit-Streifen werden
wegen der durch die Unterkühlung erhöhten Keimdichte nimmt Salzbad
feiner (Abb. 16.23c, d). Sobald die untere kritische Ab-
kühlgeschwindigkeit (UK) überschritten wird, wandeln c ab
sich einige Austenitkörner ab der Temperatur Az in Fer-
rit mit fein verteilten Karbiden (Zwischenstufengefüge) Perlit
Öl
um. Aus dem verbliebenen Austenit wird ab der Mar-
tensit-Starttemperatur nadeliger Martensit, der unter der d wird
Martensit-Finishtemperatur in Abb. 16.23e) circa 85 % des zunehmend
feinstreifiger
Gefüges einnimmt. Bei Abkühlgeschwindigkeiten über Wasser
der oberen kritischen Abkühlgeschwindigkeit (OK) bleibt
der Austenit bis Ms erhalten und wandelt sich dann bis
e Bainit
Mf in 100 % Martensitgefüge um (Abb. 16.23f).
Martensit
Beim Abschrecken aus dem Austenitbereich be-
stimmt die Abkühlgeschwindigkeit das entstehen-
de Gefüge. Wird die untere kritische Abkühlge- f
schwindigkeit überschritten, beginnt die teilweise
Martensitbildung. Über der oberen kritischen Ab-
Abb. 16.23 Schematische Zuordnung der Gefügeausbildung eines unte-
kühlgeschwindigkeit wandelt sich der gesamte ver- reutektoiden Stahls (wie C35) zu den Abkühlbedingungen in Abb. 16.22;
bliebene Austenit in Martensit um. Nach Härtung a Sinken der Umwandlungstemperaturen mit steigender Abkühlgeschwindigkeit
erhöhen Spannungsarmglühen bzw. Anlassbehand- (Abb. 16.18); b Gleichgewichtsgefüge mit ca. 45 % Perlit; c über 80 % Perlit;
lungen die Zähigkeit. d 100 % feinstreifiger Perlit; e Unterhalb Mf ergeben sich circa 15 % Zwischen-
stufengefüge in Martensit, in f 100 % Martensit (Martensitphasenstahl)
550 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen
Nr. Zustand Rp0,2, ReH Rm A Z Oberfläche mit hoher Härte (Abschn. 15.13). Typische
in MPa in MPa in % in % Einsatzbereiche oberflächengehärteter Stähle sind Zahn-
räder, Nockenwellen und Werkzeuge. Es bieten sich fol-
1 gehärtet ≈1200 ≈1400 ≤2 ≈0
gende Oberflächenhärtungsverfahren an:
2 vergütet ≥ 490 700–850 ≥14 ≥ 35
3 normal- ≥ 340 ≥620 ≥14 ≈60
geglüht Einsatzhärten durch Aufkohlen: Stähle mit niedrigem
1800 Kohlenstoffgehalt unter 0,35 % können durch Diffusi-
Hooke'sche on oberflächlich aufgekohlt werden. Durch Glühung
Gerade des Werkstückes in einem Grafitbett oder in Methan-
gasumgebung oberhalb von Ac3 √diffundiert Kohlen-
Spannung in MPa
1400 1
stoff gemäß der Diffusionslänge Dt (Abschn. 15.12)
in das austenitische Werkstück. Da die kritische Ab-
Werkstoffkunde
Vertiefung: Härten
Mit dem Jominy-Test wird die Aufhärt- und Einhärt- Der Querschnitt eines abgeschreckten Werkstückes
barkeit eines Stahls bestimmt. Beim Härten entstehen weist gemäß der Wärmeleitung zur gekühlten Oberflä-
innere Spannungen, die die Zugbelastbarkeit vermin- che ein Temperaturprofil auf, das mit entsprechenden
dern. Gradienten der thermischen Kontraktion verbunden
ist (Abschn. 15.4). Der heiße Kern kann sich unter
Beim Jominy-Test wird eine zylindrische Stahlprobe
den Druckspannungen der während der Abkühlung
vollkommen austenitisiert und heiß in eine Lagerung
kontrahierenden Oberfläche geringfügig plastisch ver-
gehängt, wo sie von unten mit einem auf die Stirn-
formen (Kriechen, Abschn. 15.12). Sobald der ganze
fläche auftreffenden Wasserstrahl gekühlt wird, wie
Querschnitt abgekühlt ist, bleiben Eigenspannungen:
Werkstoffkunde
in der Abbildung unten dargestellt wird. Auf einer
oberflächennahe Zugspannungen ausgeglichen durch
Schlifffläche wird entlang einer Erzeugenden der Här-
Druckspannungen im Inneren. Derartige Werkstücke
teverlauf mit dem Abstand von der Stirnfläche gemes-
weisen dann nur mehr eine Zugbelastbarkeit auf, die
sen (Abschn. 15.7). Die maximal erzielte Härte (Auf-
der Differenz der Elastizitätsgrenze zur Zugspannung
härtung) und jener Abstand werden bestimmt, bei dem
in der Oberfläche entspricht. Sie werden dadurch für
80 % der geforderten Härte erreicht wird (Einhärtungs-
schwingende Zugbelastungen (Abschn. 15.11) beson-
tiefe).
ders anfällig auf Schädigungen. Es wird daher ei-
ne Spannungsarmglühung unter Ac1 empfohlen, die
Austenitisierungs-
temperatur gleichzeitig eine Anlassbehandlung bedeutet. Vergüte-
te Bauteile sind daher auch spannungsarm geglüht.
Abkühlgeschwindigkeit
Lagerung
Abkühlgeschwindigkeit Materialdicke σ
Druck
T0
Abstand x
(gleichförmiges) (gleichförmiges)
Temperaturprofil 0 Spannungsprofil
T
Aufhärtung bei hoher bei hoher
Temperatur Temperatur)
erwünschte Mindesthärte Zug
80 % Mindesthärte
σ
Härte
Druck
Wasser
Einhärtungstiefe
T0 Temperaturprofil Spannungsprofil
a b Abstand x nach Abschrecken 0 nach
T Abschrecken
Versuchsanordnung beim Jominy-Test; a Eine zylindrische, austenitisierte
Probe wird über die untere Stirnfläche durch einen Wasserstrahl gekühlt; Zug
a b
b Härtemessung auf einer Schlifffläche entlang einer Erzeugenden zur Er-
mittlung der Aufhärtung (maximale Härte) und der Einhärtungstiefe (80 % a Aus dem Temperaturprofil im Querschnitt der abgeschreckten Probe
der geforderten Mindesthärte gelb ) resultiert b ein Spannungsprofil, das am Rand Zugspannungen hervorruft
Einfluss der wichtigsten Legierungselemente Grundstählen sind Angaben über Reinheit und Eigen-
schaften nicht erforderlich, hingegen sind Qualitätsstähle
der Stähle
für bestimmte Anwendungen spezifiziert, nicht jedoch
für Wärmebehandlungen. Bei den unlegierten Stählen
In Tab. 15.4 in der Vertiefung: Bezeichnung der Stähle sind mehr als 0,1 % folgender Elemente zulässig: Mangan
in Abschn. 15.2 sind die DIN-Kurzzeichen und die EN- < 1,6 %, Silizium < 0,5 %, Kupfer < 0,4 %, Chrom, Nickel
DIN-Werkstoffnummern (DIN-EN-10027) einiger Stähle je < 0,3 %. Für unlegierte Baustähle sind die Streckgrenze
angeführt. Tabelle 16.3 zeigt das allgemeine DIN-Num- und Zähigkeit (Kerbschlagarbeit) wichtig, aber auch tech-
merierungssystem am Beispiel einiger Stahlgruppen. nologische Eigenschaften wie Schweißbarkeit, Verform-
und Zerspanbarkeit. Unlegierte Stähle mit weniger als
Abbildung 16.25 zeigt eine Übersicht der Einteilung der 0,35 % Kohlenstoff können durch Aufkohlung gehärtet
Eisen-Basiswerkstoffe nach der chemischen Zusammen- werden und werden als Einsatzstähle bezeichnet. Unle-
setzung. Vor allem für die Schweißeignung werden die gierte Stähle mit 0,25–0,8 % Kohlenstoff (untereutektoid)
Verunreinigungen an Phosphor und Schwefel jeweils un- können sowohl vergütet als auch über Austenitisierung
ter 0,045 % gehalten, bei Edelstählen unter 0,035 %. Bei randschichtgehärtet werden (Vergütungsstähle). Übereu-
Eisenwerkstoffe
unlegiert legiert
niedrig hoch
Anteil der einzelnen Anteil mind. eines
Legierungselemente <5 % Legierungselements >5 %
Abb. 16.25 Einteilung der gebräuchlichsten Stähle nach der Zusammensetzung gegenüber Baustählen, die nach der Festigkeit klassifiziert werden
16.7 Die Vielfalt der Stähle 553
δ δ
Temperatur T
Temperatur T
Temperatur T
A4 A4 A4
γ γ α, δ
γ
A3 A3 A3
α
α
Fe Fe Fe
Konzentration X in Gew.-% Konzentration X in Gew.-% Konzentration X in Gew.-%
Werkstoffkunde
a X = Ni, Mn, Co b X = C, N, Cu, Zn c X = Al, Si, Ti, Cr, Mo, Be, V, W
Abb. 16.26 Einfluss der Legierungselemente auf die Größe des Austenitbereichs im schematischen Zustandsdiagramm Eisen-X; a Austenitbildner; b Eutekto-
idbildner; c Ferritbildner (Verbindung der Phasenfelder δ und α)
tektoide, unlegierte Stähle werden als Werkzeugstähle nitischen Stähle der Legierungskombination 18 % Chrom
eingesetzt, da sie durch Sekundärkarbide verschleißfest und 8 bis 11 % Nickel verwendet (z. B. X5CrNi18-10 in
sind. Niedriglegierte Stähle enthalten vor allem geringe Abb. 16.27). Diese Legierungskombination erfordert den
Mengen karbidbildender Elemente (Chrom, Molybdän), geringsten Nickel-Gehalt zur Stabilisierung des Auste-
die stabilere Karbide bilden als Eisen. Sie werden als nits, solange keine extremen Abkühlgeschwindigkeiten
Werkzeugstähle eingesetzt, wobei die Ausscheidungshär- oder hohe Kaltumformgrade (z. B. Verformungsmarten-
tung durch fein verteilte Karbide genutzt wird. Um die sit beim Drahtziehen) angewandt werden. Der hohe
Legierungselemente ganzzahlig in die Kurzbezeichnung Chrom-Gehalt gewährleistet die Korrosionsbeständigkeit
aufzunehmen, werden für niedriglegierte Stähle verschie- (Abschn. 15.14). Unterhalb 650 °C sind in austenitischen
dene Multiplikatoren verwendet (siehe Beispiel 42CrMo4 Stählen nur mehr unter 0,05 % Kohlenstoff löslich. Hö-
in Abb. 16.25): herer Kohlenstoffgehalt bewirkt Karbidausscheidung im
Austenit, die zur Ausscheidungshärtung dienen kann.
Faktor 4: Cr, Co, Mn, Ni, Si, W; Hochtemperaturstähle (Einsatztemperaturen bis 1000 °C)
Faktor 10 : Al, Cu, Mo, Nb, Ti, V; sind voll austenitisch und erhalten ihre Festigkeit und
Faktor 100 : C, N, P, S; Kriechbeständigkeit durch Mischkristall- und Ausschei-
dungshärtung. X10CrNiAlTi 32-21 enthält Titan- und
Faktor 1000 : B. Chrom-Karbide (bzw. Karbonitride), zwischen 600 °C und
800 °C Ni3 (Al,Ti)-Überstrukturausscheidungen, die sich
Bei den hochlegierten Stählen ist zu unterscheiden, ob die
bei höheren Temperaturen auflösen und deren Legie-
dominanten Legierungselemente das Phasengebiet des
rungselemente dann zur Mischkristallfestigkeit beitragen.
Austenit vergrößern (kubisch flächenzentrierte Struktur
mehr stabilisiert) oder das des Ferrits (kubisch raum- Stähle mit etwa 22 % Chrom und circa 5 % Nickel (und
zentrierte Struktur mehr stabilisiert). In Abb. 16.26 sind etwas Stickstoff) können im Austenit-δ-Ferrit-Zweipha-
Zweistoffzustandsschaubilder für Eisen und einige Legie- sengebiet so geglüht werden, dass sie ungefähr zur Hälfte
rungselemente stilisiert dargestellt. Das wichtigste Auste- aus Ferrit- und Austenitkörnern bestehen (Abb. 16.27).
nit bildende Legierungselement ist Nickel (Abb. 16.26a). Das Duplexgefüge kann bei mäßiger Abkühlgeschwin-
Schon geringe Mengen an Nickel und Mangan erhöhen digkeit erhalten bleiben. Diese sogenannten Duplexstähle
die Zähigkeit bei tiefen Temperaturen (kaltzähe Stähle). (z. B. X2CrNiMoN 22-5-3) zeichnen sich durch hohe Kor-
Ab 25 % Nickel im Eisen verschwindet der ferritische rosionsbeständigkeit, Zähigkeit und Festigkeit aus.
Phasenbereich und somit auch die Tieftemperaturver-
sprödung (nur Hochlage in Abb. 15.70). In Kombination Andererseits ist das kubisch raumzentrierte Chrom ein
mit anderen Elementen sinkt diese Grenzkonzentration. Ferrit stabilisierendes Element. Bei einem Kohlenstoffge-
Abbildung 16.27 zeigt das nach Schäffler benannte Dia- halt unter 0,01 % genügen 12 % Chrom, dass der auste-
gramm zur Phasenbildung in Abhängigkeit von Auste- nitische Phasenbereich verschwindet und die Legierung
nit bzw. Ferrit stabilisierenden Elementen. Die Koordi- bis zum Aufschmelzen ferritisch bleibt. Der δ-Ferritbe-
naten der Nickel- und Chrom-Äquivalente berücksich- reich wird dann nicht mehr durch einen γ-Bereich vom α-
tigen die Wirksamkeit der Legierungselemente additiv Ferrit getrennt (Abb. 16.26c). Das Absenken des Kohlen-
mit den angegebenen Faktoren. Die austenitischen Stäh- stoff-Gehalts erhöht die Zähigkeit der ferritischen Chrom-
le sind nicht martensitisch härtbar und unmagnetisch. Stähle, die Superferrite genannt werden. Die Ferritgrenz-
Am häufigsten werden die korrosionsbeständigen, auste- konzentration verschiebt sich bei 0,1 % Kohlenstoff bis
554 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen
Nickel-Äquivalent:
nitischen 18-10-Legierungen (mit 18 10
gelbem Stern markiert ) α+γ
18Cr10Ni %
20
γ+M 0%
4
l
12 stah 0 %
M uplex 8
γD
härtbar α+
γ+α+M 100 %
Werkstoffkunde
6 α+M
Dualphasen- Ferrit
α+
stahl α
M
0
0 4 8 12 16 20 24 28 32 36 40
Chrom-Äquivalent: Cr + Mo + 1,5 Si + 0,5 (Ta + Nb) + Ti in Gew.-%
21 % Chrom (Abb. 16.27). Die ferritischen Chrom-Stähle hen Einsatztemperaturen weitergeht und ein sogenanntes
sind nicht umwandlungsfähig und können zur Kompen- „Sekundär“-Härtemaximum für eine gewisse Betriebs-
sation des Austenit bildenden Einflusses von Kohlenstoff dauer wirkt, bevor die Ausscheidungen überaltern. Die
und Stickstoff durch andere in Abb. 16.26c und 16.27 Zusammensetzung der Schnellarbeitsstähle (Tab. 15.4) ist
angeführte Elemente stabilisiert werden (z. B.: X6Cr17Ti folgendermaßen genormt: HSw-x-y-z, wobei die Buch-
in Abb. 16.25). Sogenannte halbferritische Stähle (z. B.: staben w-x-y-z für die Gew.-% der Hauptlegierungsele-
X10Cr13 im Dualphasenbereich in Abb. 16.27) sind auste- mente in bestimmter Reihenfolge stehen: w..W, x..Mo,
nitisierbar und somit umwandlungsfähig. Stähle mit über y..V, falls vorhanden z..Co. Neben den Sonderkarbidbild-
12 % Chrom sind korrosionsbeständig („nicht rostende nern Wolfram, Molybdän, Vanadium wirkt Kobalt zur
Stähle“). Die maximalen Einsatztemperaturen komplexer Mischkristallverfestigung. Zum Beispiel HS6-5-2-5 heißt
ferritischer Stählen liegen bei 620 °C. Bis zu dieser Tempe- FeW6Mo5V2Co5 und wird beispielsweise für HS-Bohrer
ratur können sie in Dampfturbinen eingesetzt werden. eingesetzt.
Vertiefung: TM-Walzen
Thermomechanisches Walzen (TM) bedeutet, die Küh- Die Temperaturführung nach Pfad (1) beginnt mit ei-
lung und Walzschritte so zu steuern, dass der Stahl in ner raschen Unterkühlung des Austenits und einer
bestimmten Phasengebieten der Ungleichgewichtszu- Umformung innerhalb weniger Sekunden. Wenn die-
stände umgeformt wird. ses Blech aus der Walze kommt, wird es sofort mit
Warmwalzen im Austenitzustand erlaubt hohe Verfor- Wasser abgeschreckt, sodass es sich in Martensit um-
mungsgrade mit relativ geringen Walzkräften. Abbil- wandelt. Das Produkt ist ein Martensitphasenstahl
dung 16.28 zeigt vereinfacht drei Beispiele zu Tempera- (MS) mit hoher Festigkeit, aber geringer Duktilität und
turführungen für Warmwalzschritte für einen eutektoi- Zähigkeit (Abb. 16.30e). Falls die Umwandlung nicht
vollständig ist, verbleibt metastabiler Restaustenit im
Werkstoffkunde
den Stahl, der unter Gleichgewichtsbedingungen rein
perlitisch würde. Die verschiedenen Temperaturfüh- Stahl, der diesem etwas Duktilität verleiht (TRIP-
rungspfade sind in einem isothermen ZTU-Diagramm Stahl). Bei weiterer Verformung wird der Restaustenit
eingetragen, um die Möglichkeiten der Gefügeeinstel- auch zum Martensit und erhöht die Festigkeit.
lung durch TM-Walzen zu veranschaulichen.
Die Temperaturführung nach Pfad (2) beginnt mit der
Umformung noch vor der Perlitbildung, die aber wäh-
Austenit, stabil
rend der Walzschritte abgeschlossen wird. Die Keim-
Ac3 bildungsrate für Ferrit und Karbide wird durch die Un-
Temperatur T
Ac1
2 terkühlung zusammen mit der Verformung sehr hoch,
Perlit sodass fein strukturierter Perlit ohne ausgeprägt lamel-
Austenit,
metastabil lares Gefüge entsteht. Nach der Abkühlung befindet
Bainit sich der perlitische Stahl im Gleichgewichtszustand, ist
1 3 durch die Karbide und ein feinkörniges Gefüge verfes-
tigt und relativ duktil.
MS
Martensit
Die Temperaturführung nach dem Pfad (3) beginnt
ebenfalls mit der Umformung im metastabilen Auste-
Zeit t nitbereich, aber bei tieferer Temperatur. Die Walzschrit-
te führen in den Zwischenstufenbereich, in dem die
Abb. 16.28 Skizze eines bereichsweisen isothermen ZTU-Diagramms für
dynamische Rekristallisation (Abschn. 15.12) der Aus-
einen eutektoiden Stahl mit eingetragenen Haltezeiten für thermomechani-
sche Umwandlungen des Austenit; (1 ) Walzen im γ-Zustand und Härten; tenitkörner ein feinkörnig bainitisches Gefüge ergibt.
(2 ) Walzbeginn im γ-Zustand bis zur vollständigen Perlitbildung; (3 ) Walz- Fein verteilte Karbide in feinkörnigem Ferrit ergeben
beginn im γ-Zustand bis zur vollständigen Bainitbildung hohe Festigkeit und Zähigkeit.
Zustand des Stahls, in dem er sehr duktil ist. Danach log zu Verbundwerkstoffen erzielt. Das folgende Beispiel
folgt die Abkühlung, die Gefügezustände ergibt, die dem erläutert vorerst die Herstellung von partiellem Mar-
kontinuierlichen ZTU-Diagramm entsprechen. Die Küh- tensitphasenstahl (PM) ohne gleichzeitige Umformung.
lung zwischen bzw. nach den verschiedenen Stufen der Ein untereutektoider Stahl wird im thermodynamischen
Umformung kann geregelt werden, um die Gefügeum- Gleichgewicht in das Zweiphasengebiet α + γ erwärmt.
wandlungen nach partiell isothermen ZTU-Diagrammen Entsprechend dem Kohlenstoffgehalt und der Tempera-
in bestimmte Phasengebiete zu lenken. Die Umformung tur stellt sich ein Mengenverhältnis dieser beiden Phasen
erfolgt während der Haltezeit in dem jeweiligen Pha- nach dem Hebelgesetz ein. In Abb. 16.29a ist dies für
sengebiet. In der Vertiefung TM-Walzen werden einige 30 % γ und 70 % α bei einer Temperatur TPM darge-
Beispiel für Temperaturführungen beim Warmwalzen be- stellt. Wird dieses Gefüge schneller als die obere kritische
schrieben. Abkühlgeschwindigkeit (OK, Abb. 16.18) abgeschreckt,
wandeln sich die γ-Körner in Martensit um (Abb. 16.29b
Die Gefügezustände von Stahl (ohne Berücksichtigung und c). Durch das diffusionslose Umklappen der Kris-
der Möglichkeiten der Ausscheidungshärtung) erstrecken tallstruktur erzeugen die Martensitkörner innere Span-
sich von duktilem Ferrit und Austenit über hochfeste nungen (Abb. 16.19c), die die Ferritkörner verformen
feinperlitische oder bainitische Gefüge bis zu höchstfes- und dabei verfestigen. Das Ergebnis ist ein PM-Stahl,
tem Martensit geringer Zähigkeit. Durch die Mischung der wie ein durch Teilchen verstärkter Verbundwerkstoff
dieser Gefüge werden Eigenschaftskombinationen ana- aus in Ferrit eingebetteten Martensitnadeln aufgebaut ist
556 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen
Leitbeispiel Antriebsstrang
Werkstoffbeispiele für die ausgewählten Bauteile
Um die Anforderungsprofile für eine Turbine eines fahren zu wählen. Das während der Verarbeitung aus-
Turboladers, ein Kurbelgehäuse eines Verbrennungs- gebildete Gefüge bestimmt das Eigenschaftsprofil der
Werkstoffe im Bauteil (siehe Leitbeispielbeschreibun-
Werkstoffkunde
γ
A3
T
70 % α 30 % γ Ab s
TPM ch
α+γ r
α A1 α Perlit
ec
M
ken
α
γ α
Erwärmung
α + Fe3C Bainit M M
α α
M Martensit
M
a C in Gew.-% b log t c
Werkstoffkunde
Abb. 16.29 Illustration der Herstellung des Gefüges eines partiell martensitischen Stahls (PM); a Erwärmung eines untereutektoiden Stahls in das α + γ-Zwei-
phasengebiet des Eisen-Kohlenstoff-Gleichgewichtszustandsdiagramms; bei der Temperatur TPM stellt sich ein Gefüge mit 30 % γ ein; b Abschrecken dieses Gefüge
gemäß kontinuierlichem ZTU-Diagramm über der oberen kritischen Abkühlgeschwindigkeit ergibt c 30 % Martensit eingebettet in durch die Martensitumwandlung
verformte Ferritkörner mit erhöhter Versetzungsdichte
Transformation
Dual-Phasen Complex- Partiell- Martensit-
induced
Stähle Phasen martensitische Phasen
Plasticity
DP Stähle CP Stähle PM Stähle MS
Stähle TRIP
M
α α
α γ M
B
α α
α γ α α M
B M
B α γ B α
α B α B
α α
α + <20 % M α + γ+ B α+ B + M α + >20 % M 100 % M
T γ TDP γ A3
α+γ α+γ
α α α T Ae
α
Temperatur
Temperatur
Temperatur
α + P + Fe3C γ P γ P α α + P + Fe3C γ P
A3Fe C A3Fe C
A1 α B B A1 Temperaturlinie α B
P P
γ γ
B B
T M M M T M M
log t log t
a b Zeit c Zeit d e Zeit
Abb. 16.30 Schematische Übersicht der Mehrphasenstähle und ihrer mechanischen Eigenschaften mit skizzierten Gefügeanteilen und der qualitativen Darstellung
der Temperaturführung (rote Linien ) zu deren Herstellung: Zustands- und ZTU-Diagramm für a DP-Stahl und d PM-Stahl; kontinuierliche ZTU-Diagramme für b TRIP-
Stahl, c CP-Stahl, e MS-Stahl
(Abb. 16.30d). PM-Stahl weist höchste Festigkeit bei hö- hen Diese Stähle werden Dualphasenstahl genannt (DP,
herer Zähigkeit als 100 %-ige Martensitphasenstähle (MS, Abb. 16.30a). Beim thermomechanischen Walzen kann
Abb. 16.30e) auf. Wird das Phasenmengenverhältnis α:γ das Warmwalzen in die Ferritnase geführt werden, bis
so eingestellt, dass sich mehr als 80 % Ferrit bildet, kön- ein Teil des Austenitgefüges umgewandelt ist. Durch
nen beim Abschrecken maximal 20 % Martensit entste- das folgende Abschrecken wird der restliche Austenit in
558 16 Legierungstechnologie – Metalle an Anforderungen anpassen
Die chemische Zusammensetzung dieser unlegierten bis Weißbach W (2010) Werkstoffkunde, 17. Aufl., Vieweg
niedrig legierten Stähle unterscheidet sich nur gering- Teubner
fügig, aber die Variation der Gefügezusammensetzun-
gen bewirkt eine Festigkeitsbandbreite zwischen 140 und
1400 MPa bei entsprechenden Duktilitätsunterschieden
(in Abb. 16.30 durch die Bruchdehnung repräsentiert). Bonusmaterial
Die Eigenschaftsprofile der Stähle können durch Bonusmaterial auf der Internetseite des Buches
Kombinationen der Gleichgewichts- und Ungleich- https://www.springer.com/de/book/9783662558812
gewichtsphasen in weiten Bereichen eingestellt wer- Vertiefung: Erstarrungskinetik eines vollkommen misch-
den: Ultralow-Kohlenstoff-Stähle, ferritisch-perliti- baren Zweistoffsystems
sche Stähle, perlitische Stähle mit Sekundärkarbi-
den, PM- und MS-Stähle, DP-, CP und TRIP-Stähle, Vertiefung: Eutektische Erstarrung im Zweistoffsystem
ferritische Chrom-Stähle, austenitische Stähle, Du- Aluminium – Magnesium
plexstähle, Schnellarbeitstähle. Vertiefung: Zeit–Temperatur-Umwandlungs-Diagramm
(ZTU)
Antwort 16.1 Durch Erhöhung der Keimdichte bei der wicht mit einer Flüssigkeit für den Konzentrationsbereich
Phasenbildung mittels heterogener Keime (Defekte) und/ an, die Soliduslinie gibt demgegenüber die maximale
oder Unterkühlung, durch die die kritische Keimgröße Temperatur für das Gleichgewicht mit einer festen Pha-
verkleinert wird. se für den Konzentrationsbereich an. Bei Temperaturen
innerhalb des Zweiphasengebietes stehen die feste und
Antwort 16.2 Die Liquidus- und Soliduslinie begrenzen die flüssige Phase mit den jeweiligen Konzentrationen
das Zweiphasengebiet flüssig-fest durch die voneinander auf der Solidus- bzw. Liquiduslinie im Gleichgewicht. Die
abhängigen Variablen T und Konzentration. Die Liqui- Mengenverhältnisse können mit der Regel der abgewand-
duslinie gibt die minimale Temperatur für das Gleichge- ten Hebelarme abgeschätzt werden.
Antworten zu den Verständnisfragen 559
Antwort 16.3 Im Schliffbild ist eutektisches Gefüge an bide streben dabei eine kugelige Einformung an, um die
feinstrukturiertem, meist streifigem Gemenge der beiden Grenzflächenenergie zu vermindern. Die kugeligen Kar-
gleichzeitig erstarrten Phasen erkennbar. Eutektikum er- bide erhöhen die Duktilität und die Zähigkeit gegenüber
starrt im eutektischen Punkt mit zwei unterschiedlichen dem streifigen Perlitgefüge.
festen Phasen.
Antwort 16.9 Ferrit hat eine kubischraumzentrierte Struk-
Antwort 16.4 Die Grenze für Stahl ist die maximale tur mit sehr geringer Kohlenstoff-Löslichkeit. Martensit
C-Löslichkeit im Austenit. Laut Fe-C-Diagramm haben hat eine ähnliche Kristallstruktur, aber die Elementarzelle
Stähle maximal 2,1 % C (wenn Stähle mit C < 2,1 % ge- ist tetragonal verzerrt wegen der Kohlenstoff-Einlagerun-
gossen werden, heißt das Produkt Stahlguss). Gusseisen gen entlang der c-Achse.
hat um 4,3 % C in der Umgebung des eutektischen Punk-
tes. Stahl ist historisch schmiedbar, jedenfalls warm- und Antwort 16.10 Unter UK: mit steigender Abkühlge-
kaltumformbar. Gusseisen ist wegen seines eutektischen schwindigkeit feiner strukturiertes ferritisch-perlitisches
Werkstoffkunde
Gefüges nicht umformbar, weder Grauguss noch Weißes Gefüge;
Gusseisen. bei und über UK: bei Abkühlung unter Az aber über Ms
Antwort 16.5 Eutektoider Stahl besteht im Gleichge- Bainit, bei Abkühlung unter Ms auch Martensit;
wichtszustand aus Perlit und enthält 0,8 % C, untereu- bei und über OK: entsteht Martensit bei Abkühlung unter
tektoider Stahl enthält weniger C und besteht daher aus Ms , unter Mf ist der gesamte Austenit in Martensit umge-
Ferrit um Perlit, während übereutektoider Stahl zwischen wandelt.
0,8 und 2,1 % C enthält und somit Sekundärzementit um
Perlit aufweist. Alle diese Stähle scheiden unter Ae terti- Vergüten = Härten + Anlassen (Martensitnadeln scheiden
ären Zementit aus. Karbide aus und nehmen Ferritstruktur an, d. h. aus der
Umwandlungshärtung wird Ausscheidungshärtung).
Antwort 16.6 Grauguss ist zäher als weißes Gusseisen
und dämpft elastische (akustische) Schwingungen stär- Antwort 16.11 a) nur der Rand wird austenitisiert vor
ker. dem Abschrecken, b) die kritische Abkühlgeschwindig-
keit wird nur am Rand überschritten; c) nur der Rand
Antwort 16.7 Kaltauslagerung erfolgt nach dem Abschre-
wird aufgekohlt und gehärtet.
cken von der Lösungsglühtemperatur bei Raumtempe-
ratur, wo die Aluminiummatrix sowohl an Legierungs- Antwort 16.12
elementen als auch an Leerstellen übersättigt ist. Je grö-
ßer die Abschreckgeschwindigkeit desto effizienter ist Kurzbe- Stahlgruppe wichtigste Legie-
die Kaltaushärtung. Wegen der starken Unterkühlung zeichnung rungselemente
ist der kritische Keimradius für die Phasenbildung sehr C80 unlegiert 0,8 % C
klein (nm-Bereich), es besteht eine hohe Keimdichte und 100Cr6 niedrig legiert 1 % C, 1,5 % Cr
die Leerstellenübersättigung ermöglicht Wachstum dieser X10Cr13 Hoch legiert, halb ferritisch 0,1 % C 13 % Cr
Keime. Es bilden sich im Allgemeinen intrakristallin fein X5NiCr32-20 hoch legiert, austenitisch 0,05 % C, 32 % Ni,
verteilte, kohärente Ausscheidungen (< 10 nm) metastabi- 20 % Cr
ler Phasen aus Al und den Legierungselementen sowie HS 10-4-3-10 Schnellarbeitsstahl 10 % W, 4 % Mo,
Leerstellen. Im Laufe der Zeit „heilen“ die überschüssigen 3 % V, 10 % Co
Leerstellen aus und das Ausscheidungswachstum geht zu
Ende (nach etwa 2 Monaten bei Raumtemperatur).
Antwort 16.13 Das Material wird warm umgeformt, wo-
Antwort 16.8 Perlit entsteht durch Abkühlen des Austenit bei sich die Temperatur ändert. Sobald die Umwand-
im eutektoiden Punkt durch Keimbildung von Ferrit- und lungstemperatur Ar1 bzw. Az unterschritten werden, be-
Fe3 C-Lamellen. Da die C-Löslichkeit im Ferrit sehr gering ginnt die Umwandlung. Gleichzeitig entstehen durch die
ist, diffundiert Kohlenstoff heraus und bildet Karbide. Da Umformung vermehrt Keime sowohl für die Umwand-
eine lamellare Struktur kurze Diffusionswege hat, entste- lung als auch für die Rekristallisation. Die Verweilzeit
hen Lamellenpakete aus Ferrit und Fe3 C. Weichglühen in den entsprechenden Temperaturintervallen (isotherm
erfolgt nahe der eutektoiden Temperatur Te , um Diffusion oder bei kontinuierlicher Abkühlung) definiert die Men-
unterhalb des Austenitbereiches zu ermöglichen. Die Kar- ge der umgewandelten Phasen.
Thermodynamik Teil
III
Inhaltsverzeichnis
Thermodynamik
21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse . . . . . . . . 649
561
Grundlagen der
Thermodynamik
17
Wie hilft die
Thermodynamik bei
Problemen im
Maschinenbau?
Was sind System und
Systembilanz?
Welche Systemarten gibt
es?
Welche Energiearten und
-formen gibt es?
Thermodynamik
17.1 Geschichte und Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564
17.2 Wie man Systeme beschreibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
17.3 Temperatur und Gleichgewichtspostulate . . . . . . . . . . . . . . . . . 569
17.4 Energiearten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570
17.5 Die allgemeine Form von Bilanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577
Die Kap. 17 bis 21 befassen sich mit der Technischen Thermody- pragmatische Betrachtungsweise mithilfe der makrosko-
namik. Sie geben einen Einstieg in diese allgemeine Energielehre. pischen Größen enorme Vorteile bietet. Als Beispiel sei
Im Kap. 17 werden zunächst die benötigten Grundlagen für die hier die Auslegung eines Verbrennungsmotors genannt.
Thermodynamik besprochen. Danach werden wir im Kap. 18 die Sie erfolgt auch heute noch mithilfe der Methoden der
Hauptsätze der Thermodynamik kennenlernen. Auf diesen Erfah- technischen Thermodynamik. Erst bei der Feinauslegung
rungssätzen baut das Gebäude der Thermodynamik auf. Im Kap. 19 werden dreidimensionale Effekte und lokale Verteilungen
werden wir dann auf die verwendeten Stoffe und deren ther- mitberücksichtigt. Somit kann die Thermodynamik heute
modynamische Beschreibung eingehen. Hier wird unter anderem als eine allgemeine Energielehre verstanden werden. Mit
behandelt, wann wir einen Stoff noch als ideales Gas ansehen dem ersten und zweiten Hauptsatz der Thermodynamik
können und wann wir ihn als reales Gas beschreiben müssen. In beschreibt sie die gegenseitige Verknüpfung der Energien
den Kap. 20 und 21 werden wir dann verschiedene Beispiele zur und deren Umwandlungsmöglichkeiten und -grenzen.
Verdeutlichung der Anwendung der Hauptsätze und der Anwen-
dung der Thermodynamik auf reale Systeme, wie z. B. Motoren, Das Wort Thermodynamik geht wohl auf die altgrie-
Verdichter, usw. kennenlernen. Die Thermodynamik besitzt eine chischen Wörter θερμóς thermós „warm“ sowie δύναμις
weitreichende Bedeutung in den Natur- und Ingenieurwissenschaf- dýnamis „Kraft“ zurück. Aus dem Begriff Thermodyna-
ten. Diese hat Albert Einstein in dem nachfolgenden, sehr bekannt mik folgt vielfach der Trugschluss, dass sie besonders gut
gewordenen Zitat schön beschrieben: zeitlich schnell veränderliche Prozesse beschreibt. Dem ist
allerdings nicht so. Streng genommen gilt die technische
„Eine Theorie ist desto eindrucksvoller, je größer die Einfachheit ih- Thermodynamik nur für unendlich langsam ablaufende
rer Prämissen ist, je verschiedenartigere Dinge sie verknüpft und je Prozesse. Die Prozesse sollten dabei so langsam ablaufen,
weiter ihr Anwendungsbereich ist. Deshalb der tiefe Eindruck, den dass alle Größen zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit ha-
die klassische Thermodynamik auf mich machte. Es ist die einzige ben wieder einen Gleichgewichtszustand einzunehmen.
physikalische Theorie allgemeinen Inhalts, von der ich überzeugt Also sollte man eigentlich eher von einer „Thermostatik“
Thermodynamik
bin, dass sie im Rahmen der Anwendbarkeit ihrer Grundbegriffe sprechen, was auch manchmal in der englischsprachigen
niemals umgestoßen wird (zur besonderen Beachtung der grund- Literatur der Fall ist. Wäre nun diese strikte Beschrän-
sätzlichen Skeptiker).“ kung in dieser Deutlichkeit allgemein zutreffend, würde
man wohl kaum die technische Thermodynamik so aus-
Albert Einstein führlich im Studium lehren. Vielmehr beobachtet man
in der Realität, dass die Beschreibungen im Rahmen der
technischen Thermodynamik auch für sehr schnell ab-
laufende Prozesse, wie z. B. für die Strömung oder für
17.1 Geschichte und die Verbrennung in einem Motor oder in einem Raketen-
Anwendungsbereiche antrieb, noch sehr gute Näherungen liefern. Dies ist der
Grund für die breite Anwendung, welche die Thermody-
namik heute gefunden hat.
Die phänomenologische oder Technische Thermodyna-
mik entstand vor rund zweihundert Jahren, als man be- Das Kap. 17 möchte die Grundlagen zur Thermodyna-
gann, sich mit Kraft- und Arbeitsmaschinen zu beschäfti- mik vermitteln. Das bedeutet, dass wir uns mit einigen
gen (z. B. mit Dampfkraftprozessen und etwas später mit Definitionen in der Thermodynamik auseinandersetzen
Verdichtern, Otto- und Dieselmotoren). Ein Charakteristi- werden. Dies soll so geschehen, dass auch der Bezug zu
kum der Thermodynamik ist, dass hier der Versuch unter- den anderen Disziplinen in diesem Buch klar wird.
nommen wird, die zugrunde liegenden Prozesse immer
durch möglichst wenige makroskopische Systemgrößen
(wie z. B. Temperatur T, Druck p, Dichte ρ) zu beschrei-
ben. Dies führt dazu, dass man meist nur einen Wert für Der Bezug der Thermodynamik zu anderen
eine Größe (z. B. Temperatur in einem Luftballon) für das Themen in diesem Buch
betrachtete Gebilde angibt. Es wird also zunächst nicht
versucht, die örtliche Verteilung von Größen wie Tem-
peratur oder Druck detailliert zu bestimmen. Diese im Als ein übergeordnetes Leitbeispiel ist in diesem Buch
ersten Moment sehr einfach anmutende Betrachtungs- der gesamte Antriebsstrang eines Autos gewählt wor-
weise hat jedoch zahlreiche Vorteile, da es mit ihr meist den. Hier spielt die Thermodynamik unter anderem eine
gelingt, die technischen Systeme in ihrer Funktionsweise wichtige Rolle bei der Beschreibung aller Prozesse, die im
zu durchleuchten und mithilfe der thermodynamischen Motor ablaufen. Dies werden wir in den folgenden Ab-
Betrachtung zu verstehen. schnitten immer wieder aufgreifen und vertiefen.
Der Anwendungsbereich der technischen Thermodyna- Wie schon angedeutet ist es die Aufgabe der Thermody-
mik hat sich seit den Anfängen bis heute stetig erweitert, namik, die gesamten Vorgänge der Energiewandlung im
da in verschiedensten Bereichen erkannt wurde, dass die Motor zu beschreiben. Wir werden uns also hier auch mit
17.2 Wie man Systeme beschreibt 565
Thermodynamik
verbindet die Thermodynamik dann mit der Fertigungs-
unseres Motors befindet, so ist dies ein Beispiel für ein
technik (siehe hierzu die Kap. 29 bis 33). Wichtig ist es,
geschlossenes System. Diesem System wird in Abb. 17.1
zu beachten, dass jede der oben beschriebenen Diszipli-
durch die äußeren Wände Wärme zugeführt. Eine Kol-
nen natürlich ein eigenes Optimum anstrebt. Allerdings
benbewegung würde eine Arbeitszu- oder abfuhr am
ist es die Zusammenführung aller Einzeldisziplinen, die
System zur Folge haben.
nachher eine wirklich optimale Lösung, wie z. B. einen
modernen, schadstoffarmen Motor zustande bringt, und
dies ist das wichtigste Ziel des gesamten Teams, das an Offenes System
der Auslegung arbeitet.
Bei einem offenen System können sowohl Massen als
auch Energien z. B. in Form von Wärme und Arbeit über
die Systemgrenze treten. Ein Beispiel eines offenen Sys-
17.2 Wie man Systeme beschreibt tems ist der erwähnte Zylinder eines Motors, wenn wir
gerade das brennbare Gemisch ansaugen oder die Abgase
ausschieben (Abb. 17.1). Damit tritt ein Massenstrom über
In diesem Abschnitt wollen wir auf einige für die Thermo- die Systemgrenze. Wird das Ventil geschlossen, haben wir
dynamik ganz zentralen Begriffe eingehen. Hierzu gehört es wieder mit dem oben schon beschriebenen geschlosse-
insbesondere der Begriff des Systems. nen System zu tun. Würde man noch den gesamten Motor
ausbauen und aufwändig isolieren, so hätte man schließ-
lich wieder ein näherungsweise abgeschlossenes System
erhalten.
Das thermodynamische System zeigt uns
welches Objekt wir betrachten und analysieren Sind die physikalischen und chemischen Eigenschaften
im System überall gleich, so hat man es mit einem ho-
mogenen System zu tun. Ein typisches Beispiel eines ho-
Betrachtet man eine Maschine (z. B. den Motor eines mogenen Systems ist Wasser, das sich bei 20 °C und Um-
Autos) mithilfe der Methoden der Thermodynamik, so gebungsdruck in einem mit einem Kolben verschlossenen
bezeichnet man das betrachtete Objekt als ein System. Zylinder befindet. Der Kolben liegt auf der Wasseroberflä-
Das System wird hierbei durch eine Systemgrenze um- che auf und sei frei beweglich. Auch ein Gasgemisch, wie
schlossen. Innerhalb der Systemgrenze befindet sich das z. B. Luft in einem Hörsaal, kann man als homogenes Sys-
System, außerhalb befindet sich die Umgebung. Über die tem behandeln. Besitzt ein System mehrere Phasen, also
Systemgrenze können nun Energien und Arbeiten, aber z. B. einen flüssigen und einen festen Anteil, so bezeichnet
auch Stoffströme und Informationen übertragen werden. man es als ein heterogenes System. Die Phasen sind hier-
Grundsätzlich hat es sich als sinnvoll erwiesen, die fol- bei die homogenen Bereiche des Systems. Betrachten wir
genden drei Arten von Systemen (siehe Abb. 17.1) zu zur Verdeutlichung z. B. den beschriebenen mit Wasser
unterscheiden: gefüllten Zylinder. Erhitzen wir das Wasser auf 100 °C, so
566 17 Grundlagen der Thermodynamik
mL mB mA
Q12 Q12
W12 W12
a b c
Abb. 17.1 Arten von thermodynamischen Systemen. a offenes System, b geschlossenes System, c abgeschlossenes System
Q12 mB
Frage 17.1
Betrachten wir ein halb voll mit Whisky gefülltes Glas.
Nun werfen wir einen Eiswürfel in das Glas. Betrachten
wir als System den Whisky mit dem Eis. Handelt es sich
hierbei um ein homogenes System?
a b
Beschreibung des Systems durch Abb. 17.2 Zustandsänderungen eines Systems bei Wärmezufuhr. a Zufuhr des
Brennstoffs; b Bewegung des Kolbens nach unten aufgrund der Ausdehnung des
Zustandsgrößen und Zustandsänderungen Gases
Nachdem wir nun wissen, wie das System von der Um-
gebung abgegrenzt wird, wollen wir im nächsten Schritt Punkte, die unterschiedliche Volumina haben, da sich der
genauer auf die Beschreibung des Zustands des Systems Kolben von 1 nach 2 bewegt hat. Nehmen wir nun an,
eingehen. Physikalische Größen, die den Zustand des Sys- dass es sich bei dem betrachteten Motor um einen Die-
tems beschreiben, nennt man Zustandsgrößen. Typische selmotor handelt, so kann man den hier betrachteten Ver-
Zustandsgrößen sind z. B.: Druck p, Temperatur T, Volu- brennungsprozess näherungsweise als isobar beschreiben
men V oder die Masse m. Den Übergang eines Systems (Gleichdruckverbrennung).
von einem Ausgangszustand in einen Endzustand be-
zeichnet man als eine Zustandsänderung. Abbildung 17.2 Streng genommen können wir nun keine Aussage dar-
verdeutlicht dies anhand des Zylinders aus Abb. 17.1. über machen, wie man von Punkt 1 zu Punkt 2 gelangt.
Durch Wärmezufuhr (Verbrennung) dehnt sich das Gas Die oben gemachte Aussage, dass der Druck konstant
aus, und der Kolben bewegt sich nach unten. Solche Zu- bleibt, gilt ja nur im Anfangs- und Endpunkt, da dort der
standsänderungen verfolgt man in der Thermodynamik Kolben in Ruhe ist. Für einen Punkt während der Wär-
gerne in Diagrammen, in denen man Zustandsgrößen mezufuhr würde sich der Kolben eventuell beschleunigt
gegeneinander aufträgt. Ein Beispiel eines solchen Dia- bewegen, was zu einem geänderten Innendruck führen
gramms ist das in Abb. 17.3 dargestellte p, V-Diagramm. würde. Geschieht die Zustandsänderung jedoch so lang-
Es beschreibt den Druck des Gases im System in Abhän- sam, dass sich nach jeder kleinen Veränderung des Zu-
gigkeit vom Systemvolumen. Kennzeichnen wir hierin stands (z. B. Volumenzunahme) immer wieder ein thermo-
mit „1“ den Ausgangspunkt und mit „2“ den Endpunkt dynamisches Gleichgewicht einstellt, so liegen ausschließ-
der Zustandsänderung, so ergeben sich in Abb. 17.3 zwei lich Gleichgewichtszustände zwischen 1 und 2 vor, und
17.2 Wie man Systeme beschreibt 567
Leitbeispiel Antriebsstrang
Thermodynamik – Der Motor als thermodynamisches
System
Thermodynamik
Größen kennen müssen. Als Beispiel wollen wir hier ßeres System.
einen Verbrennungsmotor betrachten. Dies steht im
Zusammenhang mit unserem Leitbeispiel „Antriebs- Wie der erste und zweite Hauptsatz für den An-
strang“ . Hierzu ist es wichtig zunächst einmal das triebstrang angewendet wird, werden wir uns dann in
Objekt, das wir betrachten wollen, klar zu definieren, der Box zum Leitbeispiel für Kap. 18 genauer ansehen.
indem wir eine Systemgrenze festlegen. Nehmen wir
an, dass uns die Vorgänge im Kolbenraum interessie-
ren. Dann legen wir eine Systemgrenze so wie im unten
dargestellten Bild fest. Innerhalb der Systemgrenze ist Systemgrenze
das System, das wir betrachten wollen. Alles was sich
außerhalb der Systemgrenze befindet bezeichnen wir
als Umgebung.
Durch die gegebene Systemgrenze ist nun ganz klar,
dass wir bei einer zukünftigen Bilanzierung alle Ener-
gien betrachten, die über diese Systemgrenze treten.
Da Massen (z. B. bei uns durch die Ein- und Auslass-
ventile, siehe auch Abb. 17.1) über die Systemgrenze
treten, haben wir es mit einem offenen System zu tun.
Auch Energien (in Form von Wärme und Arbeiten) tre-
ten über die Systemgrenze. Letztendlich gibt der Motor
Arbeit ab, die über die Systemgrenze geführt und zum
Antrieb des Autos benutzt wird.
Im Kolbenraum des Motors wird der zugeführte
Brennstoff (Benzin oder Diesel) zerstäubt, mit Luft
vermischt und verbrannt und die darin enthaltene che-
mische Energie in Wärme umgewandelt. Wir sehen Darstellung eines Motors als System mit Systemgrenze
wir dürfen die beiden Zustände miteinander verbinden nach dem Durchlaufen mehrerer Zustandsänderungen,
(Abb. 17.3). Derart langsam ablaufende Vorgänge bezeich- wieder den ursprünglichen Zustand ein, so nennt man
net man als quasistatische Zustandsänderungen. Las- diesen speziellen Prozess einen Kreisprozess (Abb. 17.3).
sen wir mehrere Zustandsänderungen hintereinander ab- In unserem speziellen Beispiel besteht dieser Kreisprozess
laufen, so ergibt sich ein Prozess. Nimmt das System, (Dieselprozess) aus zwei Zustandsänderungen, bei denen
568 17 Grundlagen der Thermodynamik
V V V
a b c
Abb. 17.5 Thermisch miteinan- Gas (pA1, VA1, TA1) Gas (pB1, VB1, TB1)
der verbundene Systeme. a Zwei
getrennte Systeme (A und B )
mit unterschiedlichen Drücken
und Temperaturen. Die beiden
Quader sind an allen Seiten (bis
auf die Stirnflächen) gut isoliert, VA1 VB1
System A System B
b Zwei thermisch miteinander
TGG TGG
verbundene Systeme
a b
Thermodynamik
zusätzlich zur Bewegung und Trägheit mitberücksichti-
gen kann, wie sich der Energieinhalt eines Körpers ändert.
Wie warm ein Körper ist, beurteilen wir subjektiv, indem Zweites Gleichgewichtspostulat
wir seine Temperatur (z. B. durch Anfassen) mit unserer
Körpertemperatur vergleichen. Die Erfahrung hat uns Folgendes gelehrt: Ist ein Kör-
per A im thermischen Gleichgewicht mit einem Körper B
und außerdem im thermischen Gleichgewicht mit einem
Körper C, so sind auch die Körper B und C miteinander
Erstes Gleichgewichtspostulat im thermischen Gleichgewicht, d. h., sie besitzen die glei-
che Temperatur. Dieses zweite Gleichgewichtspostulat ist
sehr wichtig, da es uns gestattet, die Temperaturen mehre-
Denken wir uns zwei verschiedene Systeme A und B. rer Körper, die sich an unterschiedlichen Orten befinden,
Diese Systeme bestehen z. B. aus einem Gas, das in zwei miteinander zu vergleichen. Das zweite Gleichgewichts-
quaderförmigen Behältern bei unterschiedlichem Druck postulat bezeichnet man auch als den nullten Hauptsatz
und unterschiedlicher Temperatur eingeschlossen ist. Die der Thermodynamik. Dieser wird im nächsten Kapitel
beiden Quader seien auf fünf Seiten perfekt isoliert. Bringt nochmals eingehend diskutiert.
man die beiden Systeme A und B, in welchen die einge-
schlossenen Gase über unterschiedliche Drücke, Tempe-
raturen und Volumina verfügen, in thermischen Kontakt
(Abb. 17.5), so ändern sich die Zustände durch Wechsel- Die Verwendung von Temperaturskalen
wirkung so lange, bis sich ein Gleichgewicht (thermisches
Gleichgewicht) einstellt. Das bedeutet für unseren kon-
und die Messung der Temperatur
kreten Fall, dass die Temperaturen beider Gase gleich
sind, nicht aber deren Volumina oder deren Drücke. Nach Befinden sich zwei Systeme im thermischen Gleichge-
Eintreten des thermischen Gleichgewichts ist das Gebilde wicht, dann haben sie auch die gleiche Temperatur. Man
von sich aus (ohne äußere Einwirkung) zu keiner messba- benutzt die Einstellung des thermischen Gleichgewichts
ren Änderung mehr fähig. Dieses erste Gleichgewichts- zwischen einem Thermometer und einem Körper zur
postulat ist die Grundlage der Temperaturmessung. Dies Messung der Temperatur dieses Körpers. Vielfach wird
versteht man leicht, wenn man sich klarmacht, dass die im Thermometer die Temperatur über die Ausdehnung
Messung der Temperatur (z. B. mit einem Thermometer) eines Volumens (z. B. von Quecksilber) bestimmt. Die
nichts anderes ist, als zwei Körper (das Thermometer und hierzu benutzten Temperaturskalen sind fast alle empi-
den Körper, dessen Temperatur zu bestimmen ist) mit- rischer Natur. Sie gehen zurück auf besonders markan-
einander ins thermische Gleichgewicht zu bringen. Das te Punkte in unserer Umwelt. Schon recht früh wurde
eigentliche Messen der Temperatur kann dann z. B. beim von Anders Celsius (1701–1744) eine Temperaturskala
570 17 Grundlagen der Thermodynamik
eingeführt, die die beiden Fixpunkte siedendes Wasser In der Thermodynamik betrachten wir nicht nur die Be-
und gefrierendes Wasser bei Umgebungsdruck als Re- wegung des Systems, sondern auch die Änderung seines
ferenzpunkte benutzte. Anders als heutzutage ordnete Zustands im Inneren (z. B. Temperaturänderung). Dies
Celsius jedoch dem gefrierenden Wasser zuerst den Wert bedingt die Einführung einer weiteren Energieart, der in-
100 zu, während die gerade siedende Flüssigkeit den neren Energie U.
Wert 0 bekam. Carl von Linné (1707–1778) kehrte die-
se Zählrichtung im Jahre 1745 um, sodass die heutige
„Celsiusskala“ entstand. Natürlich sind noch viele andere Die innere Energie beschreibt den Energieinhalt im
Skaleneinteilungen denkbar. Vielfach orientieren sie sich System selbst und wird im ersten Hauptsatz der
an der menschlichen Körpertemperatur. Beispiele sind Thermodynamik noch weiter erklärt werden. Damit
die „Fahrenheit-Temperaturskala“ (Daniel Gabriel Fah- ergibt sich die Gesamtenergie des Systems zu:
renheit (1686–1736)), die in den USA noch immer sehr
intensiv genutzt wird und die „Rankine Temperaturska- Eges = U + Ekin + Epot (17.5)
la“ (William John Macquorn Rankine (1820–1872)). Diese
beiden Skalen sind mit der „Celsius Temperaturskala“
durch lineare Beziehungen verknüpft
9 Tabelle 17.1 gibt einen Überblick über verschiedene Ener-
ϑ (in ◦ F) = ϑ (in ◦ C) + 32, giearten. Wie wir sehen, treten die Energiearten natürlich
5 in allen Bereichen der Technik auf (Elektrotechnik, Me-
9
ϑ (in ◦ Ra) = ϑ (in ◦ C) + 491,67. (17.2) chanik, Thermodynamik, . . . ). Sie begleiten uns sozusa-
5 gen durch den ganzen Stoff dieses Buches.
Die Rankine-Temperaturskala benutzt den gleichen Ska-
Thermodynamik
Thermodynamik
Stellen wir uns vor, dass wir uns auf der Fläche in gegeben ist. Es spielt nun für eine Zustandsgröße (wie
der unten angegebenen Abbildung an einem Punkt 1 z. B. die Temperatur) keine Rolle, auf welchem Weg wir
befinden und in verschiedene Richtungen bewegen. von 1 nach 2 gehen. Es wird immer die gleiche Tempe-
Machen wir also einen Schritt in eine beliebige Rich- raturänderung herauskommen. Ganz anders wäre das
tung zu einem Punkt 2, so ändert sich die Temperatur. für die in (17.6) angegebene Arbeit. Hier sehen wir,
Dabei haben wir den Druck und das spezifische Vo- dass der Weg ganz entscheidend für die geleistete Ar-
lumen auch verändert. Wir können nun auch zu dem beit sein wird, da wir die Kraft mit der zugehörigen
gleichen Punkt 2 gelangen, indem wir zunächst ei- Verschiebung multiplizieren. Das zeigt uns noch ein-
ne Größe in der unten stehenden Gleichung, z. B. den mal, dass die Arbeit also eine Prozessgröße ist, die kein
Druck konstant halten und einen Schritt in Richtung totales Differenzial besitzt.
eines veränderlichen spezifischen Volumens machen.
Dabei ändert sich die Temperatur bei festem Druck.
T
Anschließend halten wir dann das spezifische Volu-
men konstant und machen wieder einen Schritt zum
Punkt 2. Dabei ändert sich die Temperatur bei fest ge-
haltenem, spezifischen Volumen v = V/m. Für kleine
Änderungen können wir das auch schreiben als:
∂T ∂T
dT = dp + dv. 2
∂p v ∂v p
Beispiel: Kalorimetrie
Als ein Beispiel zum Umgang mit Temperaturen und Vom Körper 2 wird die gleiche Wärme abgegeben. Es
Wärmen wollen wir uns den Temperaturausgleich in gilt also:
einem Kalorimeter ansehen. Bei der Messung der Wär- Q
me, der Kalorimetrie, bestimmt man die zwischen zwei − 12 = C2 = m2 c2 . (17.10)
ΔT
Körpern übertragene Wärme aus der Temperaturände-
rung. Dabei wird z. B. der Körper 2 mit der Temperatur Die spezifische Wärmekapazität c2 stellt eine thermo-
T2 in das Kalorimeter 1 mit der Temperatur T1 gelegt. dynamische Eigenschaft des Körpers 2 dar. Sie sagt
Man beobachtet nun am Thermometer die Temperatur- aus, wie groß die zugeführte Wärme sein muss, damit
änderung ΔT (Abb. 17.6). sich die Temperatur von einem Kilogramm des Kör-
pers um 1 Grad verändert. Da wir nun die Wärme
auf ganz verschiedene Art und Weise zuführen können
(z. B. bei konstantem Volumen oder bei konstantem
Thermometer Druck), kennzeichnet man die spezifischen Wärmen
dementsprechend:
Rührstab 1 ∂Q 1 ∂Q
cp = , cv = . (17.11)
m ∂T p m ∂T v
Deckel
Thermodynamik
me bei konstantem Druck (cp ) immer größer gleich
der spezifischen Wärme bei konstantem Volumen (cv )
ist. Dies liegt daran, dass sich ein Stoff bei isobarer
Erwärmung im Allgemeinen ausdehnt und hierdurch
Wasser, T1 die zugeführte Wärme noch zusätzlich für eine Volu-
menänderungsarbeit benötigt wird, man also für die
gleiche Temperaturänderung mehr Wärme zuführen
muss.
Körper 2 Interessieren wir uns für die sich einstellende Gleich-
gewichtstemperatur TGT (nach dem sich die Tempera-
turen beider Körper angeglichen haben) wenn wir den
Abb. 17.6 Kalorimeter 1 mit Körper 2 Körper 2 in das Kalorimeter 1 gelegt haben, so kön-
nen wir diese leicht berechnen, wenn wir beachten,
Hierbei gilt dass das Kalorimeter nach außen hin wärmedicht (also
Q12 adiabat) ist:
= C1 = m1 c1 , (17.9)
ΔT
wobei m1 die Masse, C1 ist die Wärmekapazität und c1 m1 c1 T1 + m2 c2 T2 = (m1 c1 + m2 c2 ) TGT ,
die spezifische Wärmekapazität des Kalorimeters sind TGT = (m1 c1 T1 + m2 c2 T2 )/(m1 c1 + m2 c2 ).
und Q12 die vom Kalorimeter aufgenommene Wärme. (17.12)
Wir haben im vorangegangenen Abschnitt schon ver- intensive Zustandsgrößen. Andere Zustandsgrößen sind
schiedene Zustands- und Prozessgrößen eines Systems der Systemmasse proportional und ändern ihren Wert bei
kennengelernt. Betrachten wir nun ein homogenes Sys- der Teilung. Solche Größen sind z. B. das Volumen, die ki-
tem, das wir durch Teilung in mehrere kleinere Teilsyste- netische und potenzielle Energie und die innere Energie.
me untergliedern. Die Zustandsgrößen lassen sich hierbei Solche Zustandsgrößen bezeichnet man als extensive Zu-
bezüglich ihres Verhaltens in zwei verschiedene Klassen standsgrößen.
einteilen. Zum einen wird es Zustandsgrößen geben, die
ihren Wert bei einer Teilung des Systems nicht ändern. Bezieht man eine Zustandsgröße auf die Masse im Sys-
Solche Größen sind z. B. der Druck oder auch die Tempe- tem, so entsteht eine spezifische Zustandsgröße. Dies
ratur. Diese Art von Zustandsgrößen bezeichnet man als macht natürlich nur für extensive Zustandsgrößen Sinn.
574 17 Grundlagen der Thermodynamik
Q12 W12
q12 = , w12 = . (17.14)
m m
Frage 17.3
Da es sich bei den Ausgangsgrößen nicht um Zustands- Warum ist p keine extensive Zustandsgröße?
größen, sondern um Prozessgrößen handelt, bezeichnen
wir diese Größen (q12 , w12 usw.) als spezifische Prozess- Warum ist V eine extensive Zustandsgröße?
größen.
Statt auf die Masse des Systems kann man eine extensive
Thermodynamik
besteht, erhält man für die molaren Größen Die allgemeine Form einer Bilanz ist in (17.17) angegeben.
In ihr wird die zeitliche Änderung der Zustandsgröße Z,
V die den momentanen Zustand eines thermodynamischen
Vm = = vM molares Volumen, Systems beschreibt, durch vier grundsätzliche physikali-
n
U sche Effekte bestimmt: konvektiver Transport, diffusiver
Um = = uM molare innere Energie. (17.16) Transport, Feldeffekte und Quellen bzw. Senken. In
n
Abb. 17.7 ist ein thermodynamisches System zusammen
Wir kennzeichnen sie durch den Index „m“. Wir können mit diesen vier physikalischen Effekten skizziert.
also kurz zusammenfassen: Die allgemeine Form einer Bilanz lautet:
dZSystem
Extensive Zustandsgrößen
dt
= ∑ (KKonvektion )j
über Systemgrenze
sind der Systemmasse proportional. j
Der Term auf der linken Seite von (17.17) beschreibt die
Spezifische Zustandsgrößen zeitliche Änderung der extensiven Zustandsgröße Z, die
den Zustand der Stoffmenge als Ganzes beschreibt, die
sind extensive Zustandsgrößen, die auf die System-
sich zum betrachteten Zeitpunkt innerhalb des Systems
masse bezogen wurden.
befindet. Für Systeme, die sich zeitlich nicht ändern (sta-
tionäres System), ist dieser Term gleich null.
17.5 Die allgemeine Form von Bilanzen 575
Systemgrenze VSystem äußeres Feld Der dritte Term auf der rechten Seite von (17.17) beinhal-
tet alle Einflüsse von Feldern, die auf das System wirken.
Hierunter sind sowohl Gravitationsfeld und Schwerefel-
der in rotierenden Systemen als auch elektrische oder
magnetische Felder zu verstehen. Durch solche Felder
werden Volumenkräfte auf das System ausgeübt, d. h.,
ZSystem die Kräfte wirken auf jedes einzelne Teilchen im gesamten
Systemvolumen unabhängig von seiner Position. Für die
KKonvektion DDiffusion Impulsbilanz sind die Kräfte selber relevant, wohingegen
für die Energiebilanz die Arbeit, die diese Kräfte pro Zeit-
einheit leisten, entscheidend ist. Durch diesen Term wird
Umgebung z. B. auch die Absorption von elektromagnetischer Strah-
Quellen und Senken lung berücksichtigt, falls diese das System durchdringt.
Man erkennt aus diesen Beispielen, dass man ein betrach-
tetes System einfach von manchen Feldern abschirmen
FFeld
kann (etwa von elektrischen und magnetischen Feldern),
während das von anderen jedoch nur schwer möglich ist
(Schwerefelder). Wie der diffusive Transport sind auch
Abb. 17.7 Thermodynamisches System, dessen Zustand von konvektivem die Feldeffekte sowohl für offene als auch für geschlos-
Transport, diffusivem Transport, Feldeffekten und Quellen bzw. Senken bestimmt sene Systeme von Bedeutung.
wird
Im vierten Term auf der rechten Seite von (17.17) werden
Thermodynamik
alle Effekte durch Quellen und Senken zusammengefasst,
also Einflüsse, die durch Prozesse innerhalb des Systems
Der erste Term auf der rechten Seite von (17.17) be- hervorgerufen werden. Solche Effekte können selbst für
schreibt den konvektiven Transport. Er erfolgt durch die ein abgeschlossenes System von Bedeutung sein. Hierun-
makroskopische Bewegung (Transport) einer Stoffmenge ter fallen für eine Stoffbilanz z. B. die Stoffvermehrung
(Massenstrom ṁ), deren Zustand ebenfalls mithilfe der bzw. -verminderung bei chemischen Reaktionen sowie
Zustandsgröße Z beschreibbar ist und durch deren Ein- die bei exothermen oder endothermen Reaktionen auftre-
bzw. Austritt über die Systemgrenze die Zustandsgrößen tenden Reaktionswärmen, die in der Bilanz der inneren
des Systems entsprechend vergrößert bzw. verkleinert Energie berücksichtigt werden müssen. Weiterhin kann
werden. Eine in ein betrachtetes System einströmende man hier die Wärmen nennen, die durch interne Rei-
Masse bringt z. B. einen gewissen Impuls und eine be- bungsprozesse entstehen sowie die damit verbundenen
stimmte Energie mit, sodass sich Impuls und Energie Entropieproduktionen. Hierunter fällt weiterhin auch ei-
des Systems entsprechend ändern. Für geschlossene und ne Umwandlung von innerer Energie in kinetische Ener-
abgeschlossene Systeme ist der konvektive Transport na- gie (und vice versa) z. B. durch einen Volumenänderungs-
türlich gleich null. prozess.
Zeigen Sie an diesem typischen Beispiel, wie eine Bilanz- bedeutet, dass es eine Senke in dem System gibt mit
gleichung nach (17.17) funktioniert, unter der Vorgabe, einer Rate von 10 Plätzchen pro Minute.
dass die zu bilanzierende Zustandsgröße die Anzahl der 4. Langsames Verlassen des Hauses, um seinen Freunden
Plätzchen und das System das Einstein‘sche Haus ist. Plätzchen zu schenken: konvektiver Transport über die
Systemgrenze mit einer Rate von 0,5 Plätzchen pro Mi-
nute.
Lösung 5. Wert der Zustandsgröße am Abend: 45 Plätzchen in
Alberts Nachttischschublade im Einstein‘schen Haus.
1. Wert der Zustandsgröße morgens vor dem Beginn des
Backens: 0 Plätzchen im Einstein‘schen Haus.
2. Backen der Plätzchen: Alle 120 Plätzchen werden in ei- Das Beispiel zeigt uns schön, dass wir mit der allgemei-
ner Stunde gebacken. Das bedeutet, dass es eine Quelle nen Bilanzgleichung nach (17.17) diesen Prozess sehr gut
in dem System gibt mit einer Rate von 2 Plätzchen pro nachverfolgen können. Die Zustandsgröße für dieses Bei-
Minute. spiel war die Anzahl der Plätzchen. Diese Zustandsgröße
3. Aufessen der Plätzchen: Albert isst die Hälfte der wurde für ein bestimmtes System (nämlich das Haus von
Plätzchen (also 60 Stück) in nur 6 Minuten auf. Dies Einstein) bilanziert.
Aufgaben
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer).
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
17.1 • Ein fahrendes Kraftfahrzeug ist als thermo- 2. Berechnen Sie in Temperaturschritten von 10 ◦ C die
dynamisches System zu betrachten. Zeichnen Sie eine Skaleneinteilung zwischen 0 ◦ C und 100 ◦ C. Es ist da-
Prinzipskizze mit folgenden Teilen: von auszugehen, dass das Thermometer vollständig in
den Bereich der zu messenden Temperatur eintaucht.
Fahrgastraum, Motor, Kühler, Einspritzpumpe, Tank, 3. Geben Sie an, welcher maximale Fehler sich einstellt,
Auspuff, Getriebe, Räder, Lichtmaschine, Batterie, Lam- wenn die Skala in gleiche Intervalle eingeteilt wird.
pe. 4. Im praktischen Gebrauch wird nur der Teil des Ther-
Zeichnen Sie für das gesamte Fahrzeug und für die ge- mometers unter der 0 ◦ C-Marke in den zu messenden
nannten Teile Systemgrenzen, und zwar für offene Sys- Temperaturbereich eingetaucht, während sich der Teil
teme blaue und für geschlossene Systeme grüne. Kenn- oberhalb der 0 ◦ C-Marke im Bereich der Raumtempe-
zeichnen Sie die grenzüberschreitenden Energie- und ratur von 20 ◦ C befindet. Welcher Messfehler stellt sich
Thermodynamik
Stoffströme durch Pfeile. ein, wenn an einem Körper mit der Temperatur von
100 ◦ C gemessen wird?
17.2 •• Es soll das Messverhalten eines Quecksilber-
thermometers untersucht werden. Die Kapillare hat einen 17.3 • • • Eine quadratische Scheibe vernachlässigba-
Durchmesser von 0,2 mm. Die Skalenlänge für die Tempe- rer Dicke mit der Seitenlänge 2x ist mit einer Bohrung
raturdifferenz zwischen Siede- und Eispunkt des Wassers vom Durchmesser 2r versehen. Die Größen x und r sind
soll 20 cm betragen. Für Quecksilber gilt die Beziehung als unabhängige Variable aufzufassen.
ρ (0)/ρ (ϑ ) = 1 + Eϑ + Fϑ2 (ϑ in ◦ C) (17.18) 1. Wie lautet die Funktion der Oberfläche A(x, r)? Die Di-
cke der Scheibe ist zu vernachlässigen.
mit folgender Bedeutung der Größen: 2. Stellen Sie das totale Differenzial der Oberfläche durch
geometrische Betrachtung auf.
ρ(0) = Dichte des Quecksilbers bei 0 ◦ C, 3. Stellen Sie das totale Differenzial durch Differenziation
auf.
ρ (ϑ ) = Dichte des Quecksilbers bei einer Temperatur ϑ im
4. Berechnen Sie die Flächendifferenzen A(x, r) −
Bereich 0 ◦ C < ϑ < 100 ◦ C,
A(x0 , r0 ) für x0 = 10 cm, r0 = 5 cm und
E = 1,8182 · 10−4 1/◦ C, (a)x = 1,001x0 , r = 1,001r0
−8 ◦ 2 (b)x = 1,01x0 , r = 1,01r0
F = 0,78 · 10 1/ C .
(c)x = 1,1x0 , r = 1,1r0 .
5. Berechnen Sie die Flächendifferenzen mit Anwendung
Es ist anzunehmen, dass das Volumen des Glaskörpers
des totalen Differenzials, indem Sie für die Differen-
des Thermometers konstant bleibt.
ziale dx und dr die Differenzen Δx und Δr einsetzen.
1. Wie groß ist das Quecksilbervolumen bei 0 ◦ C ? Geben Sie die Fehler an.
Die Hauptsätze der
Thermodynamik
18
Wie viele Hauptsätze gibt
es?
Welche Zustandsgrößen
werden durch die
Hauptsätze axiomatisch
eingeführt?
Inwiefern unterscheidet
sich der dritte Hauptsatz
von den anderen
Hauptsätzen?
Was ist der Unterschied
zwischen den Aussagen
Thermodynamik
des ersten und zweiten
Hauptsatzes und den hier
vorgestellten Bilanzen für
Energie und Entropie?
18.1 Der nullte Hauptsatz Umgebung hin isoliert. Nach einem ausreichend langen
der Thermodynamik Zeitraum stellt man fest, dass der Kühlakku und die Tas-
se Kaffee (subjektiv empfunden) gleich „lauwarm“ sind,
mit anderen Worten: beide besitzen die gleiche Tempera-
Die Temperatur tur.
Thermodynamisch können wir dieses Experiment wie
Die Temperatur ist eine thermodynamische Zustands- folgt beschreiben: Kühlakku und Kaffeetasse sind die
größe, deren genaue physikalische Definition gewisse zwei Teilsysteme eines Gesamtsystems, das durch die
Schwierigkeiten bereitet. Die Temperatur eines Systems Kühltasche nach außen abgeschlossen ist. Die beiden Teil-
ist ein Maß für die mittlere ungerichtete Bewegung von systeme befinden sich in thermischem Kontakt, d. h., dass
Molekülen, kann aber nicht direkt mit der kinetischen sich das Gesamtsystem zu Beginn nicht im thermischen
Energie der Moleküle gleichgesetzt werden, insbesondere Gleichgewicht befand. Nach ausreichend langer Zeit ha-
dann nicht, wenn makroskopische (Drift-) Geschwindig- ben beide Teilsysteme den Zustand des gegenseitigen
keiten überlagert sind. Vor diesem Hintergrund wollen thermischen Gleichgewichts erreicht. Dies bedeutet, beide
wir hier die thermodynamische Zustandsgröße Tempe- Teilsysteme besitzen nach dem ersten Gleichgewichtspos-
ratur durch den nullten Hauptsatz der Thermodynamik tulat von Kap. 17 den gleichen Wert für die intensive
lediglich unter Angabe der charakteristischen Eigenschaf- Zustandsgröße Temperatur, die, wie alle thermodynami-
ten der Temperatur einführen. schen Zustandsgrößen, eine skalare Größe ist. Alle Versu-
che die Zustandsgröße Temperatur zu definieren, laufen
letztlich auf diese durch Beobachtungen bestätigte Er-
fahrung hinaus, die von Fowler im Jahr 1931 in Form
Die allgemeine Aussage des nullten des nullten Hauptsatzes der Thermodynamik formuliert
Hauptsatzes wurde:
Wir stellen uns ein Gedankenexperiment vor, wie es in Für jedes thermodynamische System existiert ei-
Abb. 18.1 skizziert ist. Ein (subjektiv empfunden) kalter ne Zustandsgröße, die Temperatur T genannt wird.
Kühlakku aus dem Gefrierschrank und eine (subjektiv Ihre Gleichheit ist notwendige Voraussetzung für
empfunden) heiße, weil frisch aufgebrühte, Tasse Kaffee das thermische Gleichgewicht zweier Systeme oder
werden zusammen in einer gut isolierten Kühltasche un- zweier Teile des gleichen Systems. Sie wird durch ei-
tergebracht. Der Kühlakku und die Kaffeetasse stehen in ne Zahl charakterisiert, ist also eine skalare Größe.
der Kühltasche im thermischen Kontakt, sind aber zur
18.2 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik 581
Aus dem nullten Hauptsatz ergibt sich die folgende all- vernichtet werden. Wir können die Gesamtenergie wie
gemeine Aussage des zweiten Gleichgewichtspostulates, das Geld auf unserem Bankkonto behandeln, es vermehrt
auf deren Gültigkeit letztlich alle heute bekannten Verfah- oder vermindert sich nur durch Zu- oder Abgänge, die
ren zur Messung der Temperatur beruhen: allerdings die unterschiedlichsten Formen haben können.
Es ist bislang noch nie beobachtet worden, dass die Ge-
samtenergie in einem abgeschlossenen System produziert
Zwei Systeme, die sich im thermischen Gleichge- oder vernichtet wurde, sodass wir ein universell gelten-
wicht mit einem dritten System befinden, sind auch des aber rein empirisches Gesetz formulieren können, das
miteinander im thermischen Gleichgewicht, haben wir den ersten Hauptsatz der Thermodynamik nennen:
also die gleiche Temperatur.
Die Energie
Abschnitt 17.2 diskutiert die Unterschiede zwischen of-
fenen, geschlossenen und abgeschlossenen Systemen. An
Etwa ab dem siebzehnten Jahrhundert begann man in dieser Stelle soll ausdrücklich nochmals darauf hingewie-
Wissenschaft und Technik den Begriff „Energie“ als die
Thermodynamik
sen werden, dass nach dem ersten Hauptsatz die Gesamt-
„Fähigkeit einen Effekt hervorzubringen“ zu verstehen. energie nur in einem abgeschlossenen System konstant
Die meisten Menschen haben heute sicherlich keine Pro- bleibt. Aufgrund der Terme auf der rechten Seite von
bleme, sich intuitiv etwas unter Energie vorzustellen. Ver- (17.17) kann sich aber die Gesamtenergie in offenen oder
suchen wir jedoch eine physikalisch saubere und umfas- geschlossenen System sehr wohl ändern.
sende Definition der thermodynamischen Zustandsgröße
Energie zu geben, so stoßen wir auf Schwierigkeiten. Eini- Ein (gedachtes) abgeschlossenes System, in dem die Ener-
ge Wissenschaftler versuchen die Energie mithilfe der ver- gie zu- oder abnehmen würde oder auch ein geschlos-
tikalen Bewegung eines Gewichtes in einem Schwerefeld senes System mit zeitlich konstantem Energieinhalt, das
zu definieren, müssen letztendlich aber doch zugeben, kontinuierlich Energie aufnimmt oder abgibt nennt man
dass es nicht möglich ist, eine physikalisch allgemeingül- ein Perpetuum mobile der ersten Art. Mit solchen ge-
tige Definition für die Energie zu geben. Schon Richard dachten Maschinen, die Arbeit aus dem Nichts erzeugen,
Feynman hat in den 1960er Jahren im Rahmen seiner be- haben sich in der Geschichte der Technik viele Wissen-
rühmten Physik-Vorlesungen darauf hingewiesen, dass schaftler und Künstler beschäftigt. Ein Beispiel hierzu ist
man in der modernen Physik nicht weiß, was Energie in Abb. 18.2 zu sehen. Solche Systeme widersprechen dem
wirklich ist. Dies ist vor allen Dingen darin begründet, ersten Hauptsatz und sind bislang noch niemals in Natur
dass Energie (und deren Übertragung) in wirklich allen und Technik beobachtet worden.
(!) natürlichen und technischen Prozessen auftritt und
Um den ersten Hauptsatz weiter zu konkretisieren, teilt
immer eine wichtige Rolle spielt. Daher werden wir an
man, wie in Abschn. 17.4 schon erwähnt, die Gesamt-
dieser Stelle die Energie nicht definieren, sondern durch
energie in Beiträge verschiedener Energiearten auf, wobei
den ersten Hauptsatz der Thermodynamik axiomatisch
man historisch bedingt üblicherweise drei Beiträge be-
einführen. Wir werden anstelle einer Definition lediglich
rücksichtigt: die kinetische und die potenzielle Energie
allgemeine Eigenschaften und Gesetzmäßigkeit der ex-
sowie die innere Energie.
tensiven Zustandsgröße Energie kennenlernen.
Eges = U + Ekin + Epot (17.5)
Die allgemeine Aussage des ersten Hauptsatzes Kinetische Energie Ekin Die kinetische Energie setzt sich
aus dem rotatorischen und dem translatorischen Anteil
Der Grund, weshalb der Umgang mit der Energie intuitiv zusammen und beschreibt die Energie, die der makrosko-
keine Probleme bereitet, liegt vermutlich darin, dass man pischen Geschwindigkeit des Systems als Ganzem (z. B.
sie wie in einer einfachen Buchhaltung bilanzieren kann. ein fester Körper oder ein zusammenhängendes Fluid-
Da die Gesamtenergie eine Erhaltungsgröße ist, kann sie element mit einer mittleren Geschwindigkeit) zugeordnet
in einem abgeschlossenen System weder erzeugt noch ist.
582 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik
1 kg
H2O
Beide Wege führen natürlich zu demselben Ergebnis für die Terme KKonvektion und FFeld berücksichtigt; der Zu-
die endgültige Form der Gesamtenergiebilanz eines offe- stand einer über die Systemgrenze transportierten Mas-
nen Systems. se wird durch entsprechende Zustandsgrößen beschrie-
ben). Massen werden immer gegen einen bestimmten
Druck (flächenbezogene Oberflächenkraft) über die Sys-
temgrenze ein- bzw. ausgeschoben. Hierbei werden ent-
Die Bilanz der Gesamtenergie sprechende Volumina verdrängt und Arbeiten (von bzw.
für ein offenes System an dem System) geleistet. Diese Arbeiten werden durch
den Term DDiffusion in (17.17) beschrieben und berechnen
sich (auf die transportierten Massenströme j bezogen) zu
Formt man für ein offenes System basierend auf (17.17) [(pv)j ]über Systemgrenze . Fasst man die Terme u und pv zu
eine Bilanz für die Gesamtenergie, die hier als Summe le- der Zustandsgröße spezifische Enthalpie, h = u + pv (Tab.
diglich der beiden Energiearten kinetischer und innerer 18.1), zusammen, so ergibt sich die erste Summe auf der
Energie rechten Seite von (18.3).
ZSystem = ESystem = [m(u + c2 /2)]System Der Term DDiffusion in (17.17) beinhaltet noch drei weite-
re physikalische Effekte, die in der Gesamtenergiebilanz
definiert ist, so ergibt sich (18.3): von Bedeutung sind. Diese sind erstens Wärmemengen,
die pro Zeiteinheit über die Systemgrenze strömen und
2 die durch die zweite Summe auf der rechten Seite von
d c
U+m + gz (18.3) berücksichtigt werden. Für adiabate System ist die-
dt 2 System se Summe gleich null.
% &
2
Thermodynamik
c Treten zweitens an der Systemoberfläche Schubspannun-
= ∑ ṁj h + + gz
j
2 j über Systemgrenze gen in sich bewegenden Systemteilen auf (z. B. Torsi-
onsschubspannungen in einer sich drehenden Welle), so
+ ∑ Q̇ l über Systemgrenze werden durch diese flächenbezogenen Oberflächenkräfte
l Arbeiten pro Zeiteinheit geleistet. Man nennt diese Ar-
dV beiten technische Arbeiten, die durch die dritte Summe
+∑ Ẇt − p . (18.3)
i über Systemgrenze dt System auf der rechten Seite von (18.3) beschrieben werden. So
i
wie die technische Arbeit hier definiert ist, umfasst sie al-
Diese Gleichung ist die Bilanzgleichung für die Gesamt- le Formen von Arbeiten mit Ausnahme der Arbeiten, die
energie eines offenen, instationären Systems. Trotz eini- mit dem Ein- bzw. Ausschieben von Massen verbunden
ger nicht unwesentlicher Umformungen kann man in die- sind, die Arbeit des Gravitationsfeldes sowie die Volu-
ser Gleichung die vier physikalischen Effekte von (17.17) menänderungsarbeit des Systems selber, da diese durch
wiederfinden. Der Term auf der linken Seite beschreibt die separate Terme in (18.3) berücksichtigt werden.
zeitliche Änderung der Zustandsgröße Gesamtenergie Ändert sich drittens das Systemvolumen VSystem mit der
(innere und kinetische Energie), die den Zustand der Mas- Zeit, so wird infolge des an der sich bewegenden System-
se (Stoffmenge, Gesamtheit aller Moleküle) beschreibt, die oberfläche herrschenden Druckes bei einer Systemexpan-
sich zum betrachteten Zeitpunkt innerhalb des System- sion (dV > 0) Arbeit pro Zeiteinheit von dem System
volumens VSystem befindet (dZSystem /dt in (17.17), siehe an der Umgebung geleistet, während durch eine Sys-
auch Abb. 17.7). Ist das betrachtete System ausschließlich temkontraktion (dV < 0) die Umgebung eine Leistung
dem zeitlich konstanten Gravitationsfeld ausgesetzt (des- an das System überträgt. Diese ebenfalls durch Ober-
sen Gravitationsvektor zudem parallel zur Koordinate z flächenkräfte hervorgerufene differenzielle Arbeit (pro
verläuft), so tritt in dem Feldterm FFeld nur die Arbeit Zeit) nennt man (differenzielle) Volumenänderungsar-
des Gravitationsfeldes auf. Dies hat zur Folge, dass sich beit, welche durch den Term −(pdV/dt)System in die
der zeitliche Änderungsterm auf der linken Seite noch um Bilanzierung eingeht. Ebenso wie der Term auf der linken
einen auf die Systemmasse bezogenen Anteil der potenzi- Seite der Bilanzgleichung ist die Leistung infolge einer
ellen Energie des Gravitationsfeldes (gz)System erweitert. Volumenänderung des Systems für stationäre Systeme na-
Für stationäre Systeme fällt der gesamte Term auf der lin- türlich null.
ken Seite natürlich weg.
Führt man einem System durch einen Rührer, dessen Wel-
Die entsprechenden drei Energiearten (Achtung, jetzt le durch die Systemoberfläche dringt, technische Arbeit
allerdings auf die transportierten Massenströme j bezo- von außen zu, so wird diese im System vollständig in in-
gen! [(u + c2 /2 + gz)j ]über Systemgrenze ) sind ebenfalls zu nere Energie dissipiert. An diesem Beispiel erkennt man
berücksichtigen, wenn Massen über die Systemgrenze leicht, dass wir der Einfachheit halber auch Dissipati-
treten und natürlich mit diesen Massen Energien trans- onsarbeiten, Wdiss , zu den technischen Arbeiten zählen
portiert werden (die Energien werden in (17.17) durch können, obwohl der eigentliche Dissipationsprozess nicht
584 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik
pA
Mit einer ähnlichen Argumentation können wir auch pu VKv
elektrische Arbeiten oder den Energieaustausch bedingt Kontrollvolumen
durch den Einfluss elektrischer oder magnetischer Felder
und infolge der Absorption elektromagnetischer Strah-
lung (FFeld in (17.17)) oder infolge auftretender chemi-
scher Reaktionswärmen (SQuellen und Senken in (17.17)) ent- Q12 = ?
weder zu den technischen Arbeiten pro Zeit oder zu den dT = 0
Wärmeströmen zählen.
Wird von einem System ein bestimmter Prozess von ei- Abb. 18.4 Instationäres Ausströmen von Luft aus einer Pressluftflasche mit
nem Anfangszustand 1 bis zu einem Endzustand 2 durch- VKv = konstant
geführt, so liefert die Integration vom Anfangs- zum End-
zustand (18.5). In dieser Gleichung steht auf der linken Diese Aufgabe kann mit der Bilanz für die Gesamtenergie
Seite die Differenz der Gesamtenergie des Systems zwi- (erster Hauptsatz) eines offenen, instationären Systems
Thermodynamik
schen End- und Anfangszustand. Auf der rechten Seiten gelöst werden. Dazu verwenden wir (18.3):
stehen alle ausgetauschten Wärmen und Arbeiten sowie 2
die Energien, die infolge von konvektiven Stoff- bzw. d c
U+m + gz
Masseübertragungen über die Systemgrenze dem System dt 2 System
zu- oder abgeführt werden. % &
c2
2 = ∑ ṁj h + + gz
c2 c j
2 j über Systemgrenze
U+m + gz − U+m + gz
2 System, 2 2 System, 1 + ∑ Q̇ l über Systemgrenze
% & l
c2
= ∑ Δm12,j h + + gz dV
j
2 j +∑ Ẇt i über Systemgrenze
− p
über Systemgrenze
i
dt System
+ ∑ [(Q12 )l ]über Systemgrenze
l
+ ∑ [(W12 )m ]über Systemgrenze . (18.5) und wenden sie auf das in Abb. 18.4 eingezeichnete Kon-
m trollvolumen VKv an. Kinetische und potenzielle Energien
sowohl der Masse im System als auch der Masse, die gera-
de die Systemgrenze überschreitet, können vernachlässigt
Beispiel Instationäres Ausströmen von Luft aus einer werden. Zudem wird weder technische noch Volumen-
Pressluftflasche änderungsarbeit an der Masse des zeitlich konstanten
Kontrollvolumens geleistet.
Aus einer Pressluftflasche mit dem Volumen VF = 50 l
strömt Luft bis zum Druckausgleich p = pu in die Um- d dm
gebung. Die Luft verhält sich wie ein ideales Gas. Durch dt
(U + 0 + 0 ) = ∑ h dt + Q̇ + 0 − 0.
Wärmeaustausch mit der Umgebung wird dafür gesorgt,
dass die Temperatur der Luft in der Flasche konstant Jetzt multiplizieren wir die Gleichung mit der infinitesi-
bleibt. mal kleinen Zeitdifferenz dt auf beiden Seiten:
Das Differenzial auf der linken Seite können wir mit der Bilanz der inneren Energie
Produktregel ausmultiplizieren.
für ein geschlossenes System
mdu + udm = −hdmab + Q̇dt.
Analog der Bilanz für die Gesamtenergie nach (18.3)
Im Vorgriff auf Abschn. 19.3 verwenden wir nun die kann man auch für die einzelnen Energiearten (kinetische
thermische und die kalorische Zustandsgleichung für ein und innere Energie) Bilanzen aufstellen. Da die Ener-
ideales Gas: giearten auch in abgeschlossenen Systemen ineinander
überführt werden können, erscheinen in diesen Bilanzen
pV = mRL T und du = cv dT. Quellen- bzw. Senkenterme. Die Zustandsgrößen kineti-
sche und innere Energie (Ekin und U) sind also keine
Die thermische Zustandsgleichung lösen wir nach der Erhaltungsgrößen. Subtrahiert man die Bilanz der kine-
Masse, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in der tischen Energie von der der Gesamtenergie, so erhält man
Flasche befindet, auf: die Energiebilanz für ein geschlossenes System:
pVF
m= . dUSystem
RL T
dt
= ∑ Q̇j + ∑ Ẇk . (18.6)
j k
Wie man der Beziehung entnehmen kann, hängt eine Än-
derung der Masse generell von Änderungen des Druckes, Auf der linken Seite der Gleichung steht die zeitliche Än-
des Volumens und der Temperatur ab. In diesem Beispiel derung der inneren Energie des Systems. Auf der rechten
sind aber Volumen und Temperatur konstant, sodass die Seite steht zum einen die Summe aller über die System-
Masseänderung nur durch eine Druckänderung bewirkt grenze übertragenen oder durch innere Quellen auftreten-
Thermodynamik
wird. Die Änderung der Masse innerhalb des Kontrollvo- den Wärmen pro Zeit. Zum anderen steht hier die Summe
lumens dm ist natürlich die negative Masse, die aus dem aller Arbeiten pro Zeit, die die innere Energie unmittelbar
System austritt −dmab : beeinflussen. Für ein einfaches System sind dies nur die
Volumenänderungsarbeit und die Dissipationsarbeit. Bei-
VF pVF p de können Quellen- bzw. Senkenterme sein, da man durch
dm = dp − dT +
!"#$ dVF = −dmab .
RL T RL T 2 RL T !"#$ die Volumenänderungsarbeit reversibel kinetische Ener-
=0 =0 gie in innere Energie und umgekehrt überführen kann.
Durch die Dissipationsarbeit kann man irreversibel ki-
Setzen wir nun die Ergebnisse der thermischen und der netische Energie in innere Energie überführen. Integriert
kalorischen Zustandsgleichung in den ersten Hauptsatz man (18.6), so erhält man:
ein, so ergibt sich:
VF VF
U2 − U1 = ∑ Qj,12 + ∑ Wk,12 . (18.7)
j k
dT +u
mcv !"#$ dp = h dp + Q̇dt.
RL T RL T
=0 In dieser Gleichung steht auf der linken Seite die Ände-
rung der inneren Energie des Systems, während auf der
Nun können wir nach Q̇dt auflösen und den gewonnenen
rechten Seite die bei der Zustandsänderung von 1 nach 2
Ausdruck mit der Definition für die Enthalpie h = u + pv
zu- und abgeführten Wärmen und Arbeiten stehen. Tritt
nach Tab. 18.1 sowie der thermischen Zustandsgleichung
nur Volumenänderungsarbeit und eine Wärme auf, so
für ideale Gase vereinfachen:
kann man (18.7) auch vereinfachend wie folgt schreiben
⎛ ⎞
⎜ ⎟ VF 2
Q̇dt = ⎝u − h⎠ dp = −VF dp. U2 − U1 = Q12 −
! "# $ RL T pdV. (18.8)
−pv
1
Q12 = ?
dT = 0
besteht, wie es in Abb. 18.5 skizziert ist. Die Pressluft Turbine, die auf einer Welle sitzen, sowie einem Brenn-
strömt aus der Flasche in den Ballon, in dem konstan- kammerwärmeübertrager besteht. Das Kraftwerk kann
ter Umgebungsdruck herrscht. Das Kontrollvolumen ist als offenes, stationäres thermodynamisches System, das
jetzt so gewählt, dass die Luft das System nicht verlässt. mit seiner Umgebung sowohl technische Arbeit als auch
Das bedeutet, es liegt hier ein geschlossenes System vor, Wärme austauscht, beschrieben werden.
das allerdings ein zeitlich veränderliches Kontrollvolu-
men besitzt VKv = VKv (t). Ein zeitlich konstanter Massenstrom ṁ tritt an der Stelle
1 im Zustand 1 in das System ein, und ein entsprechen-
Auf dieses System wenden wir nun die Bilanz für die in-
der Massenstrom verlässt das System an der Stelle 2 im
nere Energie nach (18.6) an:
Zustand 2. Während die Masse die Anlage durchströmt,
dUSystem werden verschiedene Zustandsänderungen durchlaufen,
= Q̇ + Ẇ. die zum Energieaustausch pro Zeiteinheit mit der Umge-
dt bung führen, zum einen infolge eines (netto) technischen
Aus der kalorischen Zustandsgleichung für ideale Ga- Arbeitsprozesses Ẇt,12 und zum anderen infolge eines
se folgt, dass die linke Seite der Gleichung für den hier Wärmeübertragungsprozesses Q̇12 . Für diese so skizzier-
vorliegenden isothermen Prozess gleich null sein muss. te Anlage können wir zwei Energiebilanzen aufstellen,
Wir können also die gesuchte Wärme aus der Integration die unabhängig voneinander sind. Zum einen ist dies die
der negativen Volumenänderungsarbeit gewinnen. Hier- Gesamtenergiebilanz nach (18.3), die wir auf das offe-
bei muss die Integration von dem Anfangsvolumen VF bis ne, stationäre System anwenden. Zum anderen können
zu dem noch unbekannten Endvolumen Vu durchgeführt wir aber auch eine unveränderliche Mengeneinheit von
werden: z. B. einem Kilogramm des Stoffes betrachten, die mit
dem Zustand 1 eintritt, die Anlage mit den entsprechen-
Vu den Energieübertragungen instationär durchläuft und mit
Q12 = −W12 = pu dV = pu (Vu − VF ) . dem Zustand 2 wieder aus der Anlage austritt. Für dieses
VF geschlossene, instationäre System, das immer dieselben
Materieteilchen enthält, lässt sich eine Energiebilanz nach
Das Endvolumen Vu besteht aus dem Volumen der Fla- (18.6) aufstellen. Die Bilanz für das offene, stationäre Sys-
sche und dem Volumen des aufgeblasenen Ballons. Es tem nach (18.3) ergibt:
enthält dieselbe Masse, die zu Beginn in der Pressluftfla-
sche enthalten war, sodass sich das Endvolumen mithilfe c21
der thermischen Zustandsgleichung für ideale Gase be- 0 = ṁ h1 + + gz1
2
rechnen lässt:
pA VF p V c22
m= = u u, − ṁ h2 + + gz2 + Q̇12 + Ẇt,12 . (18.9)
RL T RL T 2
18.2 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik 587
t3
t4 t5
t6
Wt,12 Wt,12 t2
t7
c1 2 c1
c2 c2
z1 1 z2 t1
a b
Abb. 18.6 a Darstellung eines Gaskraftwerks als offenes, stationäres thermodynamisches System, das mit seiner Umgebung sowohl technische Arbeit als auch
Wärme austauscht. b Betrachtung eines geschlossenen, instationären Systems einer konstanten Masse, die durch die Kraftwerksanlage strömt (Darstellung zu
verschiedenen Zeiten t1 bis t7 )
Teilt man diese Beziehung durch den Massenstrom ṁ und Die Kombination der Ergebnisse der beiden Energiebilan-
löst anschließend nach der spezifischen technischen Ar- zen führt zu einer Relation für die spezifische technische
beit wt,12 auf, so erhält man: Arbeit:
2
c22 c2 c22 c2
wt,12 = h2 − h1 + − 1 + gz2 − gz1 − q12 . (18.10) wt,12 = wdiss,12 + vdp + − 1 + gz2 − gz1 . (18.15)
2 2 2 2
1
Thermodynamik
Die Energiebilanz für das geschlossene, instationäre Sys-
tem einer unveränderlichen Stoffmenge von einem Ki- Multipliziert man diese Beziehung mit dem Massenstrom
logramm Fluid, das durch das offene System hindurch- ṁ, so erhält man für die technische Leistung, die wir mit
strömt, kann basierend auf (18.6) formuliert werden. dem Symbol Pt,12 bezeichnen:
Dieses geschlossene System kann als einfaches System be-
trachtet werden, sodass als Arbeiten nur die Volumenän- Ẇt,12 = Pt,12 = ṁwt,12
derungsarbeit und die Dissipationsarbeit auftreten, deren 2
c22 c2
differenzielle Beschreibung zusätzliche Information lie- = Ẇdiss,12 + ṁ vdp + ṁ − 1 + gz2 − gz1 .
fert: 2 2
1
(18.16)
du = δq + ∑ δwk = δq + δwdiss − pdv. (18.11)
k Für eine große Anzahl technisch relevanter Anwendun-
gen kann man sowohl die reibungsbedingte Dissipati-
Mithilfe der Relation zwischen innerer Energie und Ent-
onsarbeit als auch die Änderungen von kinetischer und
halpie, h = u + pv, kann diese Beziehung weiter umge-
potenzieller Energie vernachlässigen, sodass sich die tech-
formt werden zu:
nische Arbeit mit guter Genauigkeit aus dem Integral des
Volumens über dem Druck berechnen lässt. Dies wollen
du = d (h − pv) = dh − vdp − pdv = δq + δwdiss − pdv wir am Beispiel einer kontinuierlich arbeitenden Kolben-
(18.12) maschine verdeutlichen, in der wie in Abb. 18.7 darge-
stellt ein Fluid von hohem Druck p1 auf niedrigeren Druck
bzw. p2 expandiert wird. Die Kolbenmaschine befindet sich im
Zustand 0 am oberen Totpunkt, wenn das Einlassventil
dh = δq + δwdiss + vdp. (18.13) öffnet und Fluid mit dem Druck p1 eingeschoben wird.
Infolge der Volumenänderung V1 wird die Volumenände-
Diese Beziehung können wir nun zwischen den Punk- rungsarbeit −p1 V1 an die Kolbenstange abgegeben. Am
ten 1 und 2 integrieren. Hierbei ist zu beachten, dass der Punkt 1 schließt das Einlassventil, und es beginnt der ei-
Eintrittszustand 1 in die Anlage für das geschlossene, in- gentliche Expansionsprozess, der im Zustand 1 beginnt
stationäre System der Anfangszustand ist. Entsprechend und bis zum Zustand 2 verläuft. Der Zustand 2 wird am
stellt der Austrittszustand 2 aus der Anlage den Endzu- unteren Totpunkt erreicht. Bei diesem Prozessschritt wird
stand des geschlossenen, instationären Systems dar: die Volumenänderungsarbeit
2 2
h2 − h1 = q12 + wdiss,12 + vdp (18.14) WV,12 = − pdV (17.8)
1 1
588 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik
an die Kolbenstange abgegeben. Ist der Enddruck p2 er- der Entropie verbunden sind. So ist uns z. B. allen klar,
reicht, öffnet das Auslassventil. Nun muss dem Fluid die dass sich eine heiße Tasse Kaffee, die auf dem Küchen-
Volumenänderungsarbeit p2 V2 über die Kolbenstange zu- tisch steht, nach einer Weile abkühlt. Jeder weiß, dass die
geführt werden, um es gegen den Druck p2 aus dem Herdplatte heißer sein muss als der Topf, um den Topf auf
Zylinder auszuschieben. Nachdem der obere Totpunkt er- dem Herd zu erwärmen. Auch brauchen wir niemandem
reicht ist (Zustand 3), schließt das Auslassventil, und der zu erklären, dass es viel leichter ist, einen Löffel Zucker
Zyklus kann von neuem beginnen. in den Kaffee zu geben als diesen Zucker wieder aus dem
Kaffee herauszuholen.
Die technische Arbeit, die netto über einen Zyklus vom
Fluid an die Kolbenstange abgegeben wird, ist die Summe Wie die Energie so ist auch die Entropie eine extensive
aus allen drei Volumenänderungsarbeiten: Zustandsgröße, d. h., die Systementropie kann vermehrt
oder vermindert werden, indem dem System eine Stoff-
2 menge zu- oder abgeführt wird. Allerdings kann man die
Wt,12 = p2 V2 − p1 V1 − pdV (18.17) Systementropie auch vermehren oder vermindern, indem
1 man dem System Wärme zu- oder sie aus ihm abführt.
Wie wir später noch detailliert diskutieren werden, hängt
Integrieren wir die aus der Produktregel der Differentia- die Zustandsgröße Entropie sehr eng mit der Prozessgrö-
tion folgende Relation ße Wärme zusammen.
d (pV ) = Vdp + pdV (18.18) Wie Energie so lässt sich auch Entropie nicht vernichten,
aber im völligen Gegensatz (und daher vermutlich intui-
von 1 nach 2, so erkennen wir, dass sich die technische
tiv schwerer zu verstehen) können wir Entropie erzeugen
Arbeit für einen Zyklus der Kolbenmaschine aus dem In-
und zwar durch irreversible Prozesse. Immer dann, wenn
Thermodynamik
a V1 V2 V b V c V
Thermodynamik
die Zustandsgröße Energie kennengelernt haben, führen
Prozessgröße Wärme. Aus dieser Relation erkennen wir
wir die Zustandsgröße Entropie axiomatisch durch den
weiterhin, dass die Dimension der Entropie [J/K] ist. Ei-
zweiten Hauptsatz ein. Die folgende Formulierung des
ne weitere Konsequenz von (18.20) und (18.22) ist, dass
zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik stammt von
reversibel ausgetauschte Wärmen als Flächen in einem
Sommerfeld, der als einer der Väter der modernen Physik
T,S-Diagramm dargestellt werden können.
gilt und sehr viele herausragende Physiker der Neuzeit
ausgebildet hat: Multipliziert man nun die Gleichung für die Systementro-
pie mit der absoluten Temperatur T, so ergibt sich
Der zweite Term auf der rechten Seite heißt Entropie- wie sich leicht zeigen lässt, die Entropieproduktion für
erzeugungs- oder Entropieproduktionsrate. Dieser Term das Gesamtsystem aus Kaffeetasse und Kühlakku negativ
erfasst alle innerhalb des Systems produzierte Entropie. würde. In der Natur sind bislang nur Ausgleichsprozesse
Für irreversible Prozesse ist die Entropieproduktionsrate beobachtet worden, bei denen Wärme ohne äußeres Zu-
immer größer als null. Bei einer reversiblen Prozessfüh- tun vom heißeren zum kälteren Körper strömt und beide
rung wird keine Entropie produziert, folglich ist dann die Körper ihre Temperaturen mit der Zeit an- bzw. ausglei-
Entropieerzeugungsrate gleich null: chen.
In diesem Zusammenhang wollen wir noch den Max-
Ψ̇
Ṡprod = 0 (18.27) well’schen Dämon erwähnen. Er wurde von James Clark
im System T im System
Maxwell (1831–1879) im Jahr 1871 erdacht, um eine mögli-
che theoretische Verletzung des zweiten Hauptsatzes auf-
Die Entropieproduktionsrate kann nie negativ werden.
zuzeigen. Der Dämon ist ein hypothetisches Wesen (oder
Dies würde dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik
ein Gerät), das in der Lage ist, die Geschwindigkeit einzel-
widersprechen.
ner Moleküle zu erfassen. Für sein Gedankenexperiment
Ein (gedachtes) System mit einer negativen Entropie- geht Maxwell von zwei mit demselben Gas gefüllten Be-
produktionsrate nennt man ein Perpetuum mobile der hältern aus, die durch eine reibungsfrei verschließbare
zweiten Art. Wie das Perpetuum mobile der ersten Art ist Klappe miteinander verbunden sind und die zu Beginn
auch das der zweiten Art noch nie in Realität beobachtet die gleiche Temperatur, d. h. die gleiche mittlere Ge-
worden. Ein Perpetuum mobile der zweiten Art wäre z. B. schwindigkeit der Gasmoleküle, besitzen. Durch gezieltes
ein Boot, das kontinuierlich einem stehenden Süßwas- Öffnen und Schließen der Klappe kann nun der Dämon
sersee homogener Temperatur, der als Wärmebehälter mithilfe seiner Fähigkeit die Moleküle zu sehen bzw. de-
dient, Wärme entziehen und diese Energie vollständig in ren Geschwindigkeit zu erfassen, alle schnellen Moleküle
mechanische Antriebsarbeit umwandeln würde, wie es in den einen und alle langsamen Moleküle in den ande-
in Abb. 18.8 skizziert ist. Würde eine solche Maschine ren Behälter durchlassen (Abb. 18.9). Mit der Zeit würde
existieren, könnte man mit ihr die innere Energie eines sich die mittlere Molekülgeschwindigkeit und damit die
Sees nutzen, um damit die Boote anzutreiben, die über Temperatur in dem einen Behälter erhöhen und in dem
ihn fahren. Diese Maschine würde dem ersten Hauptsatz anderen Behälter erniedrigen, ohne dass eine Nettoar-
nicht widersprechen, doch der zweite Hauptsatz wür- beit geleistet würde. Dies wäre ein klarer Widerspruch
de verletzt, da für ein Gesamtsystem, das aus Boot und zum zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Obwohl
See besteht, die Entropieproduktionsrate negativ würde. bislang ein solcher Vorgang noch nicht einmal ansatzwei-
Auch das in Abb. 18.1 dargestellte Beispiel einer heißen se beobachtet wurde, taten sich die Wissenschaftler sehr
Tasse Kaffees und eines kalten Kühlakkus, die zusammen schwer, diesen Dämon wirklich auszutreiben. Über ein
für eine längere Zeit in einer gut isolierten Kühltasche un- Jahrhundert lang waren alle Austreibungsversuche un-
tergebracht werden, können wir zur Veranschaulichung zulänglich oder sogar völlig falsch. Man argumentierte
18.3 Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik 591
Beispiel Entropieproduktion
Zeigen Sie, dass die Entropie des abgeschlossenen und
sich selbst überlassenen Gesamtsystems aus einem kalten
Kühlakku und einer heißen Tasse Kaffee, die sich ent-
sprechend Abb. 18.1 in thermischem Kontakt befinden,
Abb. 18.9 Der Maxwell’sche Dämon bei der Arbeit (nach einer Abbildung von
zunimmt.
Darling und Hulbert aus dem Jahr 1955)
Wir betrachten ein kurzes Zeitintervall, für das wir an-
nehmen können, dass sich die Temperaturen des kalten
beispielsweise, dass der Dämon die Molekülgeschwin- Kühlakkus, TK , und des heißen Kaffees, TH , nicht (we-
digkeit messen müsste, um dann zu entscheiden, welche sentlich) räumlich und zeitlich ändern. Während des sehr
Moleküle durchgelassen werden und welche nicht. Wei- kurzen Zeitintervalls wird die infinitesimal kleine Wär-
ter folgerte man, dass dieser Messprozess irreversibel sei memenge δQH→K von dem heißen Kaffee an den kalten
und dabei mehr Entropie produziert würde als bei der Kühlakku abgegeben. Der Einfachheit halber nehmen wir
nachfolgenden Selektion an Entropieabsenkung erreicht an, dass sowohl im Kühlakku als auch in der Tasse Kaffee
werden könnte. Diese Austreibung hatte keinen Bestand, alle Prozesse reversibel ablaufen sollen. Dann lassen sich
Thermodynamik
da man Wege fand, zumindest theoretisch die Molekül- die Entropieänderungen der Teilsysteme „kalter Kühlak-
geschwindigkeit reversibel zu messen. Erst Benett gelang ku“ (Index KA) und „heiße Tasse Kaffee“ (Index HK)
1982 eine Austreibung des Dämons, die bis heute Gültig- gemäß (18.20) wie folgt schreiben:
keit besitzt. Er argumentierte, dass es zwar möglich ist,
δQHK→KA δQHK→KA
reversibel die Molekülgeschwindigkeit zu messen. Da der dSKA = und dSHK = − .
Dämon aber kontinuierlich ein Molekül nach dem anderen TKA THK
misst, muss der Dämon nach jeder Messung das Ergebnis Da die Entropie eine extensive Zustandsgröße ist, ergibt
wieder vergessen (löschen), bevor er die nächste Mo- sich die Entropieänderung des abgeschlossenen Gesamt-
lekülgeschwindigkeit messen kann. Dieser Prozess des systems als Summe der Entropieänderungen der Teilsys-
Vergessens, der Löschprozess also, ist nach Benett grund- teme, also:
sätzlich irreversibel und produziert mehr Entropie als
durch die Molekülselektion an Entropieerniedrigung er- dSGesamtsystem = dSKA + dSHK
reicht werden kann. δQHK→KA δQHK→KA
= − .
Aus dem oben Gesagten erkennen wir, dass der zweite TKA THK
Hauptsatz das universelle Naturgesetz ist, das alle Aus-
Es gilt:
gleichsprozesse beschreibt. Jeder Prozess, der von selbst,
d. h. ohne äußere Energiezufuhr, abläuft, muss nach dem TKA < THK
zweiten Hauptsatz mit der Zeit zu einem Ausgleich der
anfänglich vorhandenen Differenzen (Temperatur, Ge- Also ist die Entropieänderung des Gesamtsystems
schwindigkeit, Konzentration, Ladung, usw.) führen. Dies
bedeutet, dass der zweite Hauptsatz allen Prozessen in dSGesamtsystem > 0,
der Natur und damit auch der Zeit eine eindeutige Rich- was gezeigt werden sollte. Da über die Grenzen des
tung vorgibt. Die Zeit nimmt in Richtung wachsender Gesamtsystems keine Masse oder Wärme übertragen
produzierter Entropie zu. Das ist das Besondere an dem wird, erhöht sich die Entropie ausschließlich infolge ei-
zweiten Hauptsatz, das ihn zum einen schwer verständ- ner Entropieproduktion im Inneren des Gesamtsystems.
lich erscheinen lässt, zum anderen aber auch interessant Es ist leicht einzusehen, dass solange eine Temperatur-
macht für andere Wissenschaftsgebiete bis hin zur Philo- differenz zwischen dem kalten Kühlakku und der heißen
sophie und Theologie. Tasse Kaffee besteht, die Entropie des Gesamtsystems in-
folge des Ausgleichsprozesses (Wärmeübertragung von
Frage 18.4 heiß nach kalt) immer weiter zunimmt. Die Entropiezu-
Ein Erfinder meldet eine Maschine als Patent an, die als nahme verschwindet erst, wenn sich die Temperaturen
Kombination von Backofen und Kühlschrank keine exter- beider Teilsysteme angeglichen haben. Dann haben wir
ne Energiezufuhr benötigt, sondern völlig autark gleich- den Gleichgewichtszustand erreicht, in dem die Entropie
zeitig im Backofen heizt und im Kühlschrank kühlt. Der den Maximalwert annimmt.
592 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik
Die Bilanz der Entropie für ein offenes System Der dritte Ausdruck auf der rechten Seite von (18.28) be-
schreibt als Quellenterm (SQuellen und Senken ) die gesamte
Entropieproduktion pro Zeit Ṡprod infolge aller innerhalb
Formen wir mithilfe der Gesamtenergiebilanz für
des Systems auftretender Irreversibilitäten. Immer dann,
ein offenes, instationäres System nach (18.3) sowie
wenn Gradienten von z. B. Geschwindigkeiten (infolge
der letzten drei hergeleiteten Gleichungen für die
von reibungsbehafteten Strömungen), Temperaturen (in-
Entropieströmungs- und -produktionsrate für ein offe-
folge von Wärmetransport) oder Konzentrationen (infol-
nes System eine Bilanz der Entropie, so ergibt sich die
ge von diffusivem Stofftransport) auftreten, wird Entropie
folgende Beziehung, in der wir wie in (18.3) die vier
produziert, da diese Gradienten quadratisch (also un-
grundsätzlichen physikalischen Effekte erkennen können.
abhängig von der Gradientenrichtung immer positiv) in
Diese Bilanz bezeichnen wir als eine Form des zweiten
den Term der Entropieproduktion eingehen. Durch die-
Hauptsatzes der Thermodynamik für ein offenes Sys-
sen Term werden weiterhin alle Irreversibilitäten von
tem:
Mischungsprozessen, chemischen Reaktionen und Ver-
dSSystem brennungsprozessen erfasst. Egal welcher Art die Irrever-
dt
= ∑ ṁj sj über Systemgrenze sibilitäten sind, dieser Term ist immer positiv und erhöht
j
damit auf jeden Fall die Systementropie. Lediglich bei rei-
Q̇l bungsfreien (ideal reversiblen) Prozessen ist dieser Term
+∑
l
Tl über Systemgrenze gleich null.
+ Ṡprod . (18.28) Der Entropiebilanz nach (18.28) kommt in der Thermo-
im System
dynamik eine große Bedeutung zu. Wie wir später noch
Auf der linken Seite der Gleichung steht die zeitliche detailliert zeigen werden, ermöglicht sie bei reibungsbe-
Thermodynamik
Änderung der Zustandsgröße Entropie, die den Zustand hafteten Prozessen die Bestimmung und Beurteilung der
der Masse (Stoffmenge, Gesamtheit aller Moleküle) be- entstehenden Verluste. Bei reibungsfreien Prozessen er-
schreibt, die sich zum betrachteten Zeitpunkt innerhalb möglicht die Entropiebilanz die Berechnung der maximal
der Systemgrenzen befindet. gewinnbaren bzw. minimal aufzuwendenden Arbeit. Das
heißt, mit der Entropiebilanz können wir berechnen, was
In der ersten Summe auf der rechten Seite der Gleichung unter gegebenen Randbedingungen bestmöglich zu errei-
erkennt man den Term, der den konvektiven Transport chen ist.
(KKonvektion ) beschreibt. Da die Entropie eine extensive
Zustandsgröße ist, wird der Wert der Systemzustands-
größe durch einen Zu- bzw. Abfluss einer Stoffmenge
vergrößert bzw. verkleinert. Jeder über die Systemgren- Beispiel Kühlung für einen Kühlschrank
ze tretende Massenstrom ṁj befindet sich in einem be-
Der Innenraum eines Kühl- bzw. Gefrierschranks soll auf
stimmten Zustand, der durch die spezifische Entropie sj
einer konstanten Temperatur T0 gehalten werden. Der aus
beschrieben wird.
der Küche (Umgebung) einfallende Wärmestrom wird
In der zweiten Summe auf der rechten Seite wird so- durch folgende Relation bestimmt: Q̇0 = kA (Tu − T0 ),
wohl der Einfluss durch diffusiven Transport als auch der wobei A = 8 m2 die Oberfläche des Kühlschranks ist und
durch Feldeffekte zusammengefasst. Jeder Wärmestrom k = 0,25 W/(m2 K) den Wärmedurchgangskoeffizienten
Q̇l , der infolge eines diffusiven Transportes (DDiffusion ) darstellt, der die thermische Isolationswirkung der Kühl-
über die Systemgrenze zu (bzw. von) der Umgebung schrankwände, -decke und -boden insgesamt beschreibt.
übertragen wird, hat einen entsprechenden Entropie- Der Wärmestrom Q̇0 muss von der Kälteanlage aus dem
strom zur Folge. Dieser berechnet sich aus dem jeweiligen Kühlschrank abgeführt werden. Diese arbeitet reversibel
Wärmestrom dividiert durch die absolute Temperatur an und stationär gegen eine Küchentemperatur von Tu =
der Stelle der Wärmeübertragung. Bei homogenen Syste- 300 K und nimmt dabei eine Leistung von Ẇt = 20 W auf.
men ist dies natürlich die Systemtemperatur. Die Terme Welche tiefste Temperatur T0 kann in dem Kühl- bzw. Ge-
dieser Summe können positiv oder negativ sein, d. h., je frierschrank gehalten werden. Handelt es sich um einen
nach Richtung des Wärmestromes wird die Systementro- Kühlschrank oder um einen Gefrierschrank?
pie erhöht oder erniedrigt. Nimmt das System Wärme
durch die Absorption elektromagnetischer Strahlung auf, Wenden wir die Energiebilanz (erster Hauptsatz) für
so wird auch diese Wärmezufuhr von einer entsprechen- ein geschlossenes, stationäres System nach (18.6) auf die
den Entropieerhöhung des Systems begleitet. Die Entro- Kältemaschine unseres Kühlschranks an, so müssen wir
pie der Strahlung wird dabei dem Beitrag von FFeld zu- drei Energieströme berücksichtigen: die aus dem Strom-
geordnet. Auch hier berechnet sich die Entropieänderung netz zugeführte elektrische Antriebsleistung Ẇt , den aus
des Systems (Zu- oder Abnahme) aus der vom System dem Kühlschrank-Innenraum zugeführten Wärmestrom
absorbierten bzw. emittierten Strahlungsenergie dividiert Q̇0 und den an die Küche (üblicherweise über einen an
durch die Systemtemperatur. der Kühlschrank-Rückwand angebrachten mäanderför-
18.4 Der dritte Hauptsatz der Thermodynamik 593
migen Wärmeübertrager) abgeführten Wärmestrom Q̇u : reagieren beide Elemente bei der höheren Temperatur zu
einer chemischen Verbindung. Auch hierfür lässt sich die
dUSystem Entropieänderung berechnen. Danach kühlen wir im letz-
dt
=0= ∑ Q̇j + ∑ Ẇk = Q̇0 + Q̇u + Ẇt . ten Schritt die Verbindung wieder ab, sodass auch sie
j k
am absoluten Nullpunkt in kristalliner Form den ther-
Eine entsprechende Relation erhalten wir, wenn wir nun modynamischen Gleichgewichtszustand einnimmt. Auch
auch die Entropiebilanz (zweiter Hauptsatz) für ein ge- für den dritten Schritt können wir die entsprechende
schlossenes, stationäres System nach (18.28) für die Kälte- Entropieänderung ermitteln. Da die Entropie eine (wegu-
maschine unseres Kühlschranks aufschreiben: nabhängige) Zustandsgröße ist, lässt sich aus der Summe
aller drei Entropieänderungen, die Differenz zwischen
dSSystem der Entropie der beiden Ausgangselemente und der der
dt
=0= ∑ ṁj sj über Systemgrenze chemischen Verbindung am absoluten Nullpunkt bestim-
j
men. Für alle bisher bekannten Verbindungen stellt man
Q̇l
+∑ fest, dass diese Differenz exakt null ist. Aus dieser bislang
l
Tl über Systemgrenze unwiderlegten Beobachtung lässt sich der dritte Haupt-
Q̇ Q̇u satz der Thermodynamik formulieren:
+ Ṡprod = 0+ + Ṡprod .
im System T0 Tu
Befindet sich ein thermodynamisches System am
Die tiefste Temperatur wird im bestmöglichen also im re-
absoluten Nullpunkt der Temperatur (T = 0 K) im
versiblen Fall erreicht, für den Ṡprod = 0 gilt. Wenn wir
thermodynamischen Gleichgewichtszustand, so be-
nun aus Energie- und Entropiebilanz den unbekannten
sitzt die zu diesem Zustand gehörige Entropie einen
Wärmestrom zur Küche Q̇u eliminieren, erhalten wir eine
Thermodynamik
festen Wert S0 , der unabhängig ist vom Volumen,
quadratische Gleichung zur Bestimmung der Kühlraum-
Druck, Zustand, Material, usw. des Systems.
temperatur T0 :
Aus dieser Aussage ergibt sich die folgende Rela-
Tu tion, die den dritten Hauptsatz mathematisch be-
0 = Ẇt + kA (Tu − T0 ) 1 − .
T0 schreibt:
Diese Gleichung hat zwei Lösungen: T0 1,2 = +305 K ± lim S = S0 (18.29)
55 K, wobei die erste (T0 1 = 360 K) nicht sinnvoll ist. Die T →0K, p,...
gesuchte tiefste Temperatur für den reversiblen Fall ist die
zweite und lautet: T0 2 = 250 K, womit wir auch erkennen,
dass es sich bei diesem Beispiel um einen Gefrierschrank
handelt. Im Rahmen der klassischen Thermodynamik lässt sich
dieser Absolutwert der Entropie S0 nicht weiter ermitteln
und kann somit als Konstante frei gewählt werden. Erst
die zusätzlichen Mittel der statistischen Thermodynamik
18.4 Der dritte Hauptsatz erlauben eine genaue Bestimmung des Absolutwertes zu
der Thermodynamik
J
S0 = 0 . (18.30)
K
Im Gegensatz zu dem nullten, ersten und zweiten Haupt-
satz werden wir durch den dritten Hauptsatz der Ther- Der dritte Hauptsatz der Thermodynamik legt somit ein-
modynamik keine weitere Zustandsgröße axiomatisch deutig den Absolutwert der Entropie und aller Zustands-
einführen. Der dritte Hauptsatz legt den Absolutwert der größen, die durch die Entropie bestimmt sind, fest.
Entropie eines Systems fest, das sich am absoluten Null-
punkt der Temperatur im thermodynamischen Gleich- Aus dem dritten Hauptsatz folgt weiterhin, dass alle Iso-
gewicht befindet. Der dritte Hauptsatz wird auch als baren bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt (T →
Nernst’sches Wärmetheorem bezeichnet (nach dem deut- 0 K) asymptotisch denselben Entropiewert S0 = 0 J/K an-
schen Physiker und Chemiker Walther Hermann Nernst streben. Daher kann der absolute Nullpunkt durch eine
(1864–1941)). Betrachten wir zwei Elemente, die sich am Abfolge von verschiedenen Prozessen, z. B. isotherme
absoluten Nullpunkt der thermodynamischen Tempera- (Prozessführung mit konstanter Temperatur) und isentro-
tur jeweils in kristalliner Form im thermodynamischen pe (Prozessführung mit konstanter Entropie) Zustands-
Gleichgewicht befinden. Erwärmen wir nun im ersten änderungen, die zwischen zwei Druckniveaus (p1 und
Schritt beide vom absoluten Nullpunkt auf eine bestimm- p2 ) ablaufen, nur durch unendlich viele Prozessschritte
te höhere Temperatur, so können wir die Entropieände- asymptotisch angenähert, aber niemals erreicht werden.
rung für diese Erwärmung bestimmen. Im zweiten Schritt Dies ist in Abb. 18.10 veranschaulicht.
594 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik
Leitbeispiel Antriebsstrang
Der zweite Hauptsatz bestimmt die maximale Motorleistung
Energie- und Entropiebilanz eines Verbrennungsmotors
Im Leitbeispiel des Kap. 17 wurde beschrieben, dass werden natürlich über die Temperatur- und Druck-
durch die (mit einer Druckerhöhung verbundene) Ver- erhöhung im Zylinderraum die Kolben bewegt und
brennung des Kraftstoff-Luft-Gemisches im Fahrzeug- mechanische Rotationsenergie bzw. -leistung auf die
motor die Kolben bewegt und die Räder angetrieben Getriebeeingangswelle übertragen. Zum anderen wird
werden, und dass ganz generell auf diese Art und Wei- über das Kühlwassersystem und den Radiator-Wärme-
se der Vortrieb des Fahrzeugs erzeugt wird. übertrager Wärme (pro Zeiteinheit) an die Umgebung
abgegeben. Zudem wird auch noch mit dem heißen
Jetzt wollen wir diesen Vorgang durch die eben ge-
Abgasstrom Energie (die innerer Energie und die Aus-
lernten Bilanzierungen genauer beschreiben und be-
schubarbeit der ausgestoßenen Abgase pro Zeiteinheit)
trachten dazu als thermodynamisches System einen
vom Motor an die Umgebung abgeführt. Somit ergibt
einfachen Verbrennungsmotor in einem stationären Be-
sich mit (18.3) die folgende Energiebilanz (pro Zeitein-
triebszustand. Dem Motor werden über den Luftfilter
heit) für den Motor:
Umgebungsluft und vom Fahrzeugtank Kraftstoff so-
2
Thermodynamik
Stoffstrom
mechanische Leistung
Wärmestrom
Abgas
bzw. bzw.
0 = (ṁh)Eintrittsluft + (ṁh)Kraftstoff 0 = (ṁs)Eintrittsluft + (ṁs)Kraftstoff
− (ṁh)Abgas − Q̇Radiator − PWellenleistung . Q̇
− (ṁs)Abgas −
T Radiator
Die Vorzeichen in obiger Gleichung berücksichtigen
schon die Richtung des Energieaustausches mit dem + Ṡprod Verbrennung und sonstige .
System: ein positives Vorzeichen bedeutet einen Zu- Irreversibilitäten im System
fluss und ein negatives Vorzeichen bedeutet einen Ab-
fluss. Die Massenströme sind konstruktionsbedingt gege-
ben. Die spezifischen Enthalpien und Entropien der
Der erste Hauptsatz bilanziert alle auftretenden Ener- ein- und austretenden Massenströme sind durch de-
gien (pro Zeiteinheit), er macht aber keine Aussage ren thermodynamische Stoffdaten bekannt. Die durch
darüber, wie sich diese Energien auf (nutzbare) me- die Verbrennung produzierte Entropie (pro Zeitein-
chanische und (relativ unbrauchbare) thermische Ener- heit) lässt sich durch eine Verbrennungsrechnung be-
gien aufteilen. Diese Aufteilung ist jedoch ganz ent- stimmen, die wir hier aber nicht durchführen wollen.
scheidend für die Effizienz (Kraftstoffverbrauch) des Weitere Irreversibilitäten entstehen z. B. durch den Ver-
Motors. Sie wird vom zweiten Hauptsatz der Thermo- mischungsprozess von Luft und Kraftstoff oder durch
dynamik festgelegt. Hierzu stellen wir eine Entropie- die Reibung innerhalb von Strömungen und an Wän-
bilanz (pro Zeiteinheit) für unser thermodynamisches den, die alle zumindest abgeschätzt werden können.
System Motor basierend auf (18.28) auf: Also lassen sich mit diesen beiden Bilanzen der Ra-
diatorwärmestrom und die Motorleistung bestimmen.
dSMotor Bei fixierten thermodynamischen Zuständen der Mas-
= ∑
Thermodynamik
ṁj sj über Systemgrenze
! dt
"# $ j senströme erhöht sich also mit steigender Entropiepro-
! "# $ duktion die im Radiator abzugebende Wärmeleistung,
=0,
Eintrittsluft, Kraftstoff, Abgas was die Wellenleistung entsprechend vermindert.
da stationär
Q̇l Fazit: Die produzierte Entropie muss infolge von
+∑ Massen- und Wärmeströmen aus dem stationären Sys-
l
Tl über Systemgrenze
! "# $ tem abgegeben werden. Das reduziert jedoch die nutz-
Radiatorwärmestrom bare Wellenleistung. Die verlustbedingte Entropiepro-
duktion bestimmt also die maximal mögliche Motor-
+ Ṡprod Verbrennung und sonstige leistung – je geringer die Entropieproduktion desto
Irreversibilitäten im System größer die Wellenleistung.
st.
kon
p1 = k
p2 =
diese Weise drei Gleichungen erhalten, die die Abhän- lassen sich, wie oben beschrieben, durch Differenziation
gigkeiten der drei intensiven Zustandsgrößen Tempera- und algebraischem Umstellen aus einer der Fundamen-
tur, Druck und chemisches Potenzial von den extensi- talgleichungen eindeutig berechnen. Dies wollen wir hier
ven Zustandsgrößen Entropie, Volumen und Molmengen am Beispiel der Fundamentalgleichung für die freie Ener-
festlegen. Mit anderen Worten: Wir haben auf diese Wei- gie (18.43) durchführen, die ebenfalls eine Funktion von
se Definitionen für Temperatur, Druck und chemisches Temperatur und Volumen ist. Diese Relation soll in unse-
Potenzial erhalten. Lösen wir nun die Fundamentalglei- rem Beispiel für einen reinen Stoff wie folgt lauten:
chung U = U (S, V, n1 , n2 , . . . , nK ) nach der Entropie S = 7 8
S(U, V, n1 , n2 , . . . , nK ) auf und ersetzen mit dem so ge- F = F (T, V ) = −NkB T ln (C0 V ) + ln C1 (kB T )α .
wonnenen Ausdruck die Entropie in (18.36) durch die
innere Energie, so ergibt sich die Beziehung: Wobei N die Anzahl der Moleküle darstellt und die Grö-
ßen kB , C0 , C1 > 0 und α > 1 vorgegebene Konstanten
T = T (U, V, n1 , n2 , . . . , nK ) , (18.38) sind.
die wir wiederum nach der inneren Energie auflösen kön- Schreiben wir das totale Differenzial für die freie Energie
nen. Somit erhalten wir die folgende Gleichung: als Funktion von Temperatur, Volumen und Molmengen
hin:
U = U (T, V, n1 , n2 , . . . , nK ) . (18.39)
∂F ∂F
dF = dT + dV
Diese Beziehung wird die kalorische Zustandsgleichung ∂T V,nj ∂V T,nj
K
genannt. Setzen wir nun noch die Fundamentalgleichung
S = S(U, V, n1 , n2 , . . . , nK ) sowie die kalorische Zustands- ∂F
+∑ dnk
gleichung in (18.37), so erhalten wir die thermische Zu- ∂nk T,V,
Thermodynamik
k=1
nj =nk
standsgleichung:
Mit diesem Ergebnis ergibt sich die kalorische Zustands- Tab. 18.1 Relationen für thermodynamische Potenziale
gleichung, d. h. die Relation zwischen innerer Energie, absolut differenziell
Temperatur und Volumen, zu: K
U = H − pV = F + TS dU = TdS − pdV + ∑ μk dnk
7 8 k =1
U (T, V ) = F + TS = −NkB T ln (C0 V ) + ln C1 (kB T )α
7 8 H = U + pV
K
dH = TdS + Vdp + ∑ μk dnk
+ NkB T ln (C0 V ) + ln C1 (kB T )α + α k =1
k =1
Wir erkennen, dass für die kalorische Zustandsgleichung K
unseres speziellen Beispiels die innere Energie lediglich G = H − TS = U + pV − TS dG = −SdT + Vdp + ∑ μk dnk
k =1
eine Funktion der Temperatur ist, aber nicht vom Volu-
men abhängt.
Wie oben schon erwähnt, enthalten die beiden Glei- dynamischen Potenziale, die alle dieselbe Information der
chungen zusammen (die thermische Zustandsgleichung Fundamentalgleichung beinhalten, erhalten:
p = p (T, V ) und die kalorische Zustandsgleichung U =
U (T, V )) bis auf eine frei wählbare Konstante (Festlegung U = U (S, V, n1 , n2 , . . . , nK ) , (18.41)
des Energienullpunktes. Bei Mehrstoffgemischen wird ei- H = H (S, p, n1 , n2 , . . . , nK ) , (18.42)
ne Konstante pro Stoff benötigt) dieselbe vollständige F = F (T, V, n1 , n2 , . . . , nK ) , (18.43)
thermodynamische Information über einen Stoff wie eine
Fundamentalgleichung. G = G (T, p, n1 , n2 , . . . , nK ) . (18.44)
kann man die Zustandsgleichung für das Volumen V in Die Gibbs-Duhem Gleichung
Abhängigkeit von Temperatur, Druck und Molmenge be-
Ohne Herleitung soll hier die Euler’sche Gleichung
rechnen:
(ebenfalls eine Fundamentalgleichung) genannt werden.
∂G (T, p, n) nβT Sie beinhaltet die gleiche Information wie die Gibbs’sche
V (T, p, n) = = . Fundamentalgleichung, ist im Gegensatz zu dieser aber
∂p T,n p
keine Differenzialgleichung, sondern eine algebraische
Würden wir diese Relation nach dem Druck p auflösen, Beziehung:
so würden wir die thermische Zustandsgleichung in der K
Form von (18.40) erhalten. Helium verhält sich in dem
oben erwähnten weiten Temperaturbereich wie ein idea-
U = TS − pV + ∑ μk nk . (18.45)
k=1
les Gas. Im Vorgriff auf Abschn. 19.3 über das ideale Gas
vermuten wir daher schon an dieser Stelle, dass die Kon- Differenziert man die Euler’sche Gleichung und subtra-
stante β mit der universellen Gaskonstanten Rm identisch hiert davon die Gibbs’sche Fundamentalgleichung für
sein könnte. Mehrstoffsysteme nach (18.34), so erhält man die Gibbs-
Duhem Gleichung in der Schreibweise mit extensiven
Ganz entsprechend gehen wir jetzt vor, um auch die Re- Zustandsgrößen:
lationen für die Entropie und die Enthalpie zu berechnen.
Die Entropie berechnet sich ebenfalls mithilfe eines Koef- K
Thermodynamik
Schreibweise mit molaren Zustandsgrößen:
T p
= −n α − α ln − α + β ln K
T0 p0
T p
0 = Sm dT − Vm dp + ∑ ψk dμk . (18.47)
= n α ln − β ln . k=1
T0 p0
Man kann für jede homogene Phase eine Gibbs-Duhem
Für die Enthalpie gilt nach Tab. 18.1 H = G + TS, was zu Gleichung formulieren, die jeweils eine Restriktion für
folgendem einfachen Ausdruck führt: die Relation zwischen den intensiven Zustandsgrößen
Temperatur, Druck und den chemischen Potenzialen aller
T p Komponenten darstellt. Generell hat man in einem ther-
H (T, p, n) = n α (T − T0 ) − αT ln + βT ln
T0 p0 modynamischen System mit K Komponenten K + 2 Frei-
! "# $ heitsgrade (frei variierbare intensive Zustandsgrößen).
G
Durch die Gibbs-Duhem Gleichung wird einem mehrpha-
T p sigen System (mit P Phasen) pro Phase eine Restriktion
+ T n α ln − β ln
T0 p0 auferlegt, sodass sich durch die Gibbs-Duhem Gleichung
! "# $
S
die Gibbs’sche Phasenregel nach (19.4) ergibt.
= nα (T − T0 ) .
Thermodynamische Zustandsfunktionen in
Vergleichen wir die so erhaltenen Relationen für die Abhängigkeit von Temperatur, Druck und Molmengen
Entropie und die Enthalpie des Heliums im Vorgriff mit
den entsprechenden Beziehungen für ideale Gase aus Ab- Die thermodynamischen Zustandsgrößen Temperatur
schn. 19.3, so drängt sich der Eindruck auf, dass es sich und Druck sind leicht zugänglich und messbar. Daher
bei der Konstanten α wohl um die molare Wärmekapazi- sind in Tab. 18.2 einige hilfreiche thermodynamische Zu-
tät bei konstantem Druck Cp,m handeln könnte. standsfunktionen in Abhängigkeit von Druck, Tempera-
tur und Molmengen zusammengestellt. Mit Ausnahme
Für ein ideales Gas existiert eine sehr einfache Bezie- der freien Enthalpie handelt es sich bei diesen Beziehun-
hung zwischen den Wärmekapazitäten bei konstantem gen aber nicht um Fundamentalgleichungen.
Druck und konstantem Volumen und der universellen
Gaskonstanten: Cp,m − Cv,m = Rm . Mit dieser Relation und
dem Wissen, dass U = H − pV gilt, lässt sich die Relation Beispiel Für ein reines ideales Gas sollen die Ände-
H (T, p, n) sehr leicht in die Relation U (T, V, n) überfüh- rungen von Entropie, innerer Energie und Enthalpie in
ren, die nach (18.39) die kalorische Zustandsgleichung Abhängigkeit von Temperatur und Druck berechnet wer-
darstellt, wobei für ein ideales Gas sowohl die innere den.
Energie als auch die Enthalpie reine Temperaturfunk- Die Tatsache, dass es sich um einen reinen Stoff handeln
tionen sind und weder vom Druck noch vom Volumen soll, bedeutet, dass alle Summenterme in Tab. 18.2 gleich
abhängen. null sind, da die Molmengen der Komponenten sich nicht
600 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik
Tab. 18.2 Thermodynamische Relationen als Funktion von Temperatur, Druck und Molmengen
Name thermodynamische Relationen
K
Volumen dV = ∂V
∂T dT + ∂V∂p dp + ∑ ∂n∂V
dnk
p,nj k T,p, T,nj k =1
nj = nk
K
nCp,m ∂V ∂μk
Entropie dS = T dT − ∂T dp + ∑ ∂T dnk
p,nj k =1 p,nj
⎡ ⎤
∂V ⎢ K
∂μk ⎥
innere Energie dU = nCp,m − p ∂T dT − p ∂V
∂p +T ∂V
∂T dp + ∑ ⎣μk − T ∂T −p ∂V
∂nk T,p,
⎦ dnk
p,nj T,nj p,nj k =1 p,nj
nj = nk
K
∂μk
Enthalpie dH = nCp,m dT + V − T ∂V
∂T dp + ∑ μk − T ∂T dnk
p,nj k =1 p,nj
⎡ ⎤
∂V ∂V ⎢ K
∂V ⎥
freie Energie dF = − S + p ∂T dT − p ∂p dp + ∑ ⎣μk − p ∂nk T,p,
⎦ dnk
p,nj T,nj k =1
nj = nk
K
freie Enthalpie dG = −SdT + Vdp + ∑ μk dnk (Fundamentalgleichung)
k =1
ändern dnk = 0. Im Vorgriff auf Abschn. 19.3 verwenden nRm
dU = nCp,m − p dT
Thermodynamik
Merksatz: Totales Differenzial). hängt die Wärmekapazität des idealen Gases nur noch
von der Temperatur, aber nicht mehr vom Druck ab:
∂Cp,m ∂Cp,m
dCp,m = dT + dp. (18.48) p 2
∂T p,nj ∂p T,nj ∂ Vm
Cp,m = Cp,m −T dp̃. (18.53)
ideales Gas ∂T2 p,ψj
Die partielle Ableitung nach dem Druck können wir mit- 0
hilfe eines Koeffizientenvergleichs der Relation für die
Mit einer ganz analogen Herleitung erhalten wir eine ent-
Entropieänderung aus Tab. 18.2 mit dem totalen Differen-
sprechende Beziehung für die molare Wärmekapazität bei
zial der Entropie gewinnen:
konstantem Volumen:
∂Sm Cp,m Vm 2
= . (18.49) ∂ p
∂T p,ψj T Cv,m = (Cv,m )ideales Gas + T dṼm . (18.54)
∂T2 Vm ,ψj
∞
Diese Beziehung, die auch durch (19.23) gegeben ist, lösen
wir nach Cp,m auf und leiten sie dann partiell bei kon- An diesen Gleichungen erkennen wir, dass sich die Wär-
stant gehaltener Temperatur und Molmengen nach dem mekapazität aus zwei Anteilen zusammensetzt, einem
Druck ab. Anschließend können wir sie mit dem Satz von Idealgasanteil, der nur abhängig von der Temperatur ist,
Schwarz (18.56) weiter umformen. Man erhält: und einem Integralterm, der Realgaskorrektur genannt
wird und der von Temperatur und Druck bzw. spezifi-
% &
∂Cp,m ∂ ∂Sm schem Volumen abhängt.
=T
∂p T,ψj ∂p ∂T p,ψj Die Realgaskorrektur lässt sich mithilfe der thermischen
T,ψj
Thermodynamik
% Zustandsgleichung berechnen, während sich die Wär-
& mekapazität eines idealen Gases mit den Mitteln der
∂ ∂Sm
=T . (18.50) Quantenmechanik und der Statistischen Thermodynamik
∂T ∂p T,ψj
p,ψj eindeutig herleiten lässt. Auf diese (zugegeben etwas um-
fangreiche) Herleitung wollen wir an dieser Stelle nicht
Im nächsten Schritt verwenden wir eine Maxwell- eingehen, sondern nur einige grundsätzliche Anmerkun-
Relation der Tab. 18.3, um die partielle Ableitung der gen zu den physikalischen Zusammenhängen angeben.
Entropie durch eine partielle Ableitung des Volumens zu Die Herleitung findet man z. B. in der schon erwähnten
ersetzen: Vorlesungsreihe über Theoretische Physik von Sommer-
% & feld.
∂Cp,m ∂ ∂Vm
= −T Die innere Energie und die Wärmekapazität sind Zu-
∂p T,ψj ∂T ∂T p,ψj standsgrößen, die die Energiespeicherung auf molekula-
p,ψj
rem Niveau beschreiben. Nach dem Gleichverteilungs-
∂2 Vm
= −T . (18.51) satz der klassischen statistischen Mechanik besitzen die
∂T2 p,ψj Atome und Moleküle die Fähigkeit, Energie in verschie-
denen Energiemoden bzw. Freiheitsgraden zu speichern.
Nun integrieren wir diese Beziehung über den Druck von Der hier verwendete Begriff Freiheitsgrad hat jedoch
0 bis p nichts mit dem Freiheitsgrad der Gibbs’schen Phasenre-
gel zu tun. Die Energiespeicherung der Freiheitsgrade
p kann quadratischen Energiebeiträgen zugeordnet wer-
∂Cp,m
dp̃ = Cp,m (18.52) den, welche proportional zum Quadrat einer Geschwin-
∂p T,ψj digkeit oder einer Verschiebung bzw. Ausdehnung sind
0
(kinetische Energie einer Masse und Energie einer Fe-
p 2
∂ Vm der in Tab. 17.1). Die Wärmekapazität setzt sich aus der
= Cp,m p= 0
−T dp̃.
∂T2 p,ψj
Summe aller relevanten quadratischen Energiebeiträge
0 zusammen. Jeder voll angeregte quadratische Energiebei-
trag addiert den Wert von Rm /2 zum Betrag der molaren
Die Integrationskonstante (Cp,m )p=0 ist die Wärmekapa- Wärmekapazität hinzu. Wir unterscheiden bei den Frei-
zität bei p = 0, d. h. bei unendlich niedrigem Druck. Bei heitsgraden Translation, Rotation, Vibration und Elektro-
sehr niedrigen Drücken verhält sich ein Fluid aber wie nenbeitrag. Letzterer ist nur bei extrem hohen Temperatu-
ein ideales Gas. Die Integrationskonstante ist also nichts
ren (104 K und mehr) von Bedeutung und soll daher hier
anderes als die Wärmekapazität des betrachteten Fluids
nicht weiter diskutiert werden.
in dem Bereich des Phasenraums, in dem es dem idea-
len Gasgesetz folgt, d. h. die Wärmekapazität des idealen Die Translationsfreiheitsgrade hingegen sind bei jedem
Gases. Entsprechend unserer mathematischen Herleitung Temperaturniveau effektiv und beziehen sich auf die
602 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik
lumen bei. Die molare Wärmekapazität bei konstantem leküls sehen, wie der Vibrationsfreiheitsgrad etwa zwi-
Druck ist um Rm größer als diese, sodass der Basis- schen 700 K und 6000 K „aufgetaut“ wird und zu einer
wert der molaren Wärmekapazität bei konstantem Druck Steigerung der Wärmekapazität führt. Man erkennt aus
5/2 Rm beträgt, wie in Abb. 18.11 am Beispiel für das dieser Abbildung, dass es bestimmte Temperaturbereiche
Wasserstoffmolekül zu sehen ist. Alle Gasmoleküle – ob gibt, in denen die Wärmekapazität konstant ist, und dass
einatomig oder mehratomig – besitzen die drei translato- andere Bereiche existieren, in denen sich die Wärmekapa-
rischen Freiheitsgrade. zität (zum Teil beträchtlich) mit der Temperatur ändert.
Mehratomige Moleküle besitzen zudem noch Rotations- Beispiel Ein reiner realer Stoff besitzt die folgenden
freiheitsgrade, da sie um ihren Schwerpunkt rotieren thermodynamischen Eigenschaften:
können. Lineare Moleküle, wie z. B. Kohlendioxid, kön-
nen bei der Rotation um zwei Achsen und nichtlinea- Molare isobare Wärmekapazität im Idealgaszustand:
re Moleküle, wie z. B. Wasser, können bei der Rota-
tion um drei Achsen signifikant Energie einspeichern. Cp,m ideales Gas
= A + BT + CT2 .
Die Rotation um eine Achse entspricht einem Rotations-
freiheitsgrad, dem ein quadratischer Geschwindigkeits- Thermische Zustandsgleichung:
Energiebeitrag mit einer Energie von Rm /2 zugeordnet
ist. Jedoch steht diese Energiespeicherfähigkeit nicht im Rm T a + Tb
p= +
gesamten Temperaturbereich zur Verfügung, da quanten- Vm Vm2
mechanisch begründet Rotationsfreiheitsgrade erst ober-
halb einer bestimmten Temperatur effektiv werden. Man mit den stoffspezifischen Konstanten a, b, A, B und C.
sagt, die Rotationsfreiheitsgrade sind bei tiefen Tempe-
Berechnen Sie die molare isochore Wärmekapazität Cv,m
raturen „eingefroren“. Diese Freiheitsgrade werden erst
des realen Stoffes als Funktion der Temperatur T und des
effektiv, wenn bestimmte Schwellentemperaturen über-
molaren Volumens Vm .
schritten werden, wodurch die Energiespeicherfähigkeit
und damit die Wärmekapazität eines idealen Gases tem- Die Beziehung für die molare isochore Wärmekapazität
peraturabhängig werden. In Abb. 18.11 kann man sehen, eines reinen realen Stoffes lautet (18.54):
wie am Beispiel des Wasserstoffmoleküls H2 ab einer
bestimmten Temperatur die zwei Rotationsfreiheitsgrade Vm 2
∂ p
gemeinsam „aufgetaut“ werden und damit mit steigen- Cv,m = (Cv,m )ideales Gas + T dṼm .
der Temperatur die Wärmekapazität zunimmt. Ab etwa ∂T2 Vm
∞
80 K wird die Speicherfähigkeit der Rotationsfreiheitsgra-
de wahrnehmbar. Erst bei Temperaturen von etwas über In dieser Relation kommt die zweite partielle Ableitung
200 K sind die Rotationsfreiheitsgrade vollständig effek- des Druckes nach der Temperatur bei konstantem Volu-
tiv. men vor, die wir aus der thermischen Zustandsgleichung
18.6 Folgerungen aus den Hauptsätzen und Bilanzen 603
Tab. 18.3 Maxwell’sche Bezie- erste und zweite Variablen erste und dritte Variablen zweite und dritte Variablen
hungen
∂T ∂p ∂μi ∂T ∂μi ∂p
∂V = − ∂S ∂S = ∂n S,V, ∂V = − ∂n S,V,
S,nj V,nj V,nj i S,nj i
nj = ni nj = ni
∂T ∂V ∂μi ∂T ∂μi ∂V
∂p = ∂S ∂S = ∂ni S,p, ∂p = ∂ni S,p,
S,nj p,nj p,nj S,nj
nj = ni nj = ni
∂S ∂p ∂μi ∂S ∂μi ∂p
∂V = ∂T ∂T =− ∂ni T,V, ∂V =− ∂ni T,V,
T,nj V,nj V,nj T,nj
nj = ni nj = ni
∂S ∂V ∂μi ∂S ∂μi ∂V
∂p =− ∂T ∂T =− ∂ni T,p, ∂p = ∂ni T,p,
T,nj p,nj p,nj T,nj
nj = ni nj = ni
Thermodynamik
Vm
k=1
2b
Cv,m = Cp,m − Rm ideales Gas + T 2
dṼm .
T3 Ṽm mit dem totalen Differenzial für die innere Energie als
∞
Funktion von Entropie, Volumen und Molmengen (18.35):
Nach der Integration erhalten wir schließlich das gesuchte
Endergebnis: ∂U ∂U
dU = dS + dV
∂S V,nj ∂V S,nj
2b
Cv,m (T, Vm ) = A + BT + CT2 − Rm − . K
T2 Vm ∂U
+∑ dnk ,
k=1
∂nk S,V,
nj =nk
Thermodynamik
ist. An dieser Stelle wird die große Bedeutung der Entro- Relationen:
pie deutlich. Jede produzierte Entropie (die wir mithilfe
des zweiten Hauptsatzes berechnen können) reduziert die spezifische Enthalpie:
Arbeitsfähigkeit und damit die Effizienz eines Systems. kJ
Je größer die produzierte Entropie ist, desto geringer ist h1 − h0 = 1 (T1 − T0 ) ,
kg K
die Effizienz des Systems. Das wirklich Beeindruckende
an dieser Herleitung ist jedoch, dass dies für alle Systeme spezifische Entropie:
gilt, die durch diese sehr allgemeine Beziehung beschrie- kJ T1 kJ p1
ben werden können. Fassen wir das Ergebnis zusam- s1 − s0 = 1 ln − 0,287 ln .
kg K T0 kg K p0
men: Die maximal gewinnbare Arbeit bzw. die minimal
aufzuwendende Arbeit hängt nicht vom Prozessweg ab, Welche Antriebsleistung Ẇt min ist dem Verdichter min-
sondern nur vom Systemzustand und ist deshalb eine Zu- destens zuzuführen?
standsgröße, die wir Exergie −Wex nennen. Wir erhalten Im Austrittszustand nach dem Verdichter besitzt der
sie für eine nicht näher spezifizierte Prozessführung, die Luftmassenstrom eine bestimmte Exergie. Da der An-
nur die Bedingung der Reibungsfreiheit bzw. der Rever- saugzustand unter Umgebungsbedingungen durch eine
sibilität erfüllen muss: Exergie von null gekennzeichnet ist, muss dem Luft-
massenstrom über den Turboverdichter mindestens die
−Ẇex = −Ẇt rev
2 spezifische Exergie des Austrittszustandes als Antriebs-
d c leistung zugeführt werden:
=− U+m + gz + pu V − Tu S
dt 2
% &
System Ẇex,1u = Ẇt = ṁ [h1 − hu − Tu (s1 − su )]
K min
c2 Im Gegensatz zu (18.59) bezeichnet hier der Index u den
+ ∑ ṁj h + + gz − Tu s
j=1
2 j Eintrittszustand und 1 den Austrittszustand, sodass wir
über Systemgrenze
das Vorzeichen umkehren müssen, bevor wir den nu-
N
Tu merischen Wert der Mindestantriebsleistung berechnen
+ ∑ 1− Q̇ Wärmebehälter l .
l=1
TWärmebehälter l können:
(18.58) kg kJ
Ẇt min = 1 1 298,15 K − 298,15 K
s kg K
Von besonderer technischer Relevanz ist ein offenes, sta- ! "# $
tionäres System, durch das nur ein einziger Massenstrom 0
hindurch tritt, wie es in Abb. 18.12 skizziert ist. Der Mas- kJ 298,15 kJ 6
senstrom besitzt am Eintritt den Zustand 1 (Eintrittszu- − 298,15 K 1 ln −0,287 ln
kg K 298,15 kg K 1
stand) und verlässt das System in dem Zustand u (Aus- ! "# $
trittszustand), der sich im Gleichgewicht mit der Umge- 0
bung befindet. Außer mit der Umgebung wird keine Wär- = 153,3 kW.
606 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik
Antwort 18.1 Die Zustandsgrößen innere Energie und ki- zufuhr) die Temperaturen von Teilsystemen auseinander
netische Energie sind keine Erhaltungsgrößen. Es ist mög- entwickelten.
lich in einem abgeschlossenen System kinetische Energie
in innere Energie zu überführen (zu dissipieren), z. B. Antwort 18.5 Die Funktion U = U (S, V, n) ist eine Fun-
indem durch Reibungsprozesse die Geschwindigkeit ein- damentalgleichung, aus der alle thermodynamischen Zu-
zelner Partikel abgebremst wird, und sich dadurch die standsgrößen ausschließlich durch Differenzieren und al-
Temperatur erhöht. Andererseits ist es aber auch möglich, gebraisches Umstellen bestimmt werden können. Es wird
innere Energie zumindest teilweise in kinetische Energie dabei keine weitere Information benötigt. Für die Funk-
zu überführen, z. B. kann man durch einen Expansions- tion U = U (T, V, n) bzw. T = T (U, V, n) trifft dies jedoch
prozess (bei dem die Temperatur absinkt) einzelne Parti- nicht zu, da sich gemäß (18.36) die Entropie nur durch
kel beschleunigen. eine Integration (mit konstant gehaltenem V und n) der
Funktion
Antwort 18.2 Wenn man bei einem Kolbenverdichter die dU
reibungsbedingte Dissipationsarbeit und die Änderungen dS =
T (U, V, n)
von kinetischer und potenzieller Energie vernachlässigen
darf, dann unterscheiden sich die über einen Arbeitszy-
ermitteln lässt. Für diese Integration benötigt man zusätz-
Thermodynamik
klus summierten Volumenänderungsarbeiten nicht von
liche Information, um die unbekannte Integrationskon-
der insgesamt über diesen Arbeitszyklus zugeführten
stante zu bestimmen.
technischen Arbeit.
Antwort 18.6 Vergleicht man die differenzielle Beziehung
Antwort 18.3 Indem man aus dem geschlossenen ther- für die freie Enthalpie aus Tab. 18.1 mit dem totalen Dif-
modynamischen System Wärme abführt, kann man seine ferenzial für die freie Enthalpie
Entropie verringern. Findet die Wärmeabfuhr bei kon-
stanter Systemtemperatur statt (z. B. bei gleichzeitiger ∂G ∂G
Verdichtung des Systems), so ist die reversible Entropie- dG = dT + dp
∂T p,nj ∂p T,nj
absenkung des Systems entsprechend (18.20) gleich dem
K
Quotienten abgeführte Wärme dividiert durch absolute ∂G
Systemtemperatur (in Kelvin gemessen). + ∑ ∂nk T,p,
dnk ,
k=1
nj =nk
Aufgaben
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer).
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
18.1 • Eine Kaffeemaschine nimmt im stationären d) Welcher Teil der zugeführten elektrischen Leistung
Betrieb eine elektrische Heizleistung von Q̇el = 2 kW wird zur Erwärmung des Kaffeewassers verwendet?
auf. Diese Leistung wird dazu verwendet, kontinuierlich
einen Wassermassenstrom ṁ zunächst von der Tempera- Resultat:
tur T1 = 283,15 K auf seine Siedetemperatur bei Umge- b) 0 = ṁ[(hein − haus ) + g(zein − zaus )] + Q̇el − Q̇Kond .
bungsdruck, nämlich T2 = 373,15 K, zu erhitzen und ihn g
c) ṁ = 0,761 s .
dann zu verdampfen, sodass gerade gesättigter Dampf d) η = 0,1438 = 14,38 %.
bei T2 = 373,15 K entsteht. Dieser Dampf steigt dann von
der Eintrittshöhe zein = 0 auf die Höhe zaus = 0,15 m an.
Bevor er die Kaffeemaschine in der Höhe zaus verlässt, 18.2 •• In einem Raumfahrzeug arbeitet eine Wärme-
kondensiert der Dampf und gibt seine Kondensations- kraftmaschine reversibel mit dem Wirkungsgrad
Thermodynamik
Δz Q̇K = σATK
4
,
dQel /dt
mit der Strahlungskonstanten σ = 5,67 · 10−8 mW2 K4 und
dem Emissionskoeffizienten = 1. Die wärmeabgebende
dm/dt Fläche A soll aus Gewichtsgründen möglichst klein sein.
Schematische Darstellung einer Kaffeemaschine
a) Wie hängt die wärmeabgebende Fläche A von der Tem-
Die spezifische isobare Wärmekapazität cp des flüssigen peratur TK ab?
Wassers sei über den gesamten Temperaturbereich kon- b) Wie groß ist die Temperatur TK , bei der die wärmeab-
stant. gebende Fläche A minimal wird?
c) Wie groß ist diese wärmeabgebende Fläche A?
Stoffdaten des Wassers: d) Wie groß ist der durch die Strahlung abgegebene Wär-
mestrom Q̇K ? Sind die Ergebnisse (TK , Q̇K ) und die
Spezifische isobare Wärmekapazität: cp = 4,2 kgkJK .
Vorgaben (TH , Ẇt rev , ηmax ) miteinander verträglich?
Spezifische Verdampfungsenthalpie bei 373,15 K und
kJ
1013 mbar: r = 2250 kg . Hinweis: Stellen Sie zunächst den ersten Hauptsatz (18.3)
Erdbeschleunigung: g = 9,81 m
s2
. für die Wärmekraftmaschine auf.
18.3 • • • Ein chemischer Reaktor ist mit einer Lösch- 18.5 •• Ein Dampferzeuger soll kontinuierlich flüssi-
anlage für kritische Notfallsituationen ausgestattet. Dazu ges Wasser vom Zustand u mit Tu = 293,15 K; pu = 1 bar
ist eine Stickstoffflasche neben dem Reaktor montiert. Im in Dampf vom Zustand 5 mit T5 = 423,15 K; p5 = 4 bar
Notfall kann der Stickstoff über ein Ventil sehr schnell umwandeln. Der Wasserdampf verhalte sich wie ein idea-
in den Reaktor eingeblasen werden. Es soll angenom- les Gas, und die Änderungen von kinetischer und poten-
men werden, dass sich Druck und Temperatur im Reaktor tieller Energie sowie die Kompressionsarbeit der Pumpe
durch das Einblasen des Stickstoffes nicht ändern. seien vernachlässigbar klein.
Im Folgenden soll eine Beziehung für die Endtemperatur
T2 in der Stickstoffflasche als Funktion von Anfangstem- Zustandspunkt p T h s
peratur T1 , Anfangsdruck p1 und Enddruck p0 sowie
1, festes Wasser 1 bar 273,15 K h1 = 100,0 kJ
kg s1 = 0,0 kJ
kg K
Stoffdaten hergeleitet werden.
2, flüssiges Wasser 1 bar 273,15 K h2 = ? s2 = ?
Stickstoffflasche: p1 , T1 , V u, flüssiges Wasser 1 bar 293,15 K hu = 517,5 kJ
kg su = 1,5177 kJ
kg K
Reaktor: p0
3, flüssiges Wasser 1 bar 373,15 K h3 = ? s3 = ?
4, Wasserdampf 1 bar 373,15 K h4 = ? s4 = ?
Hinweis: Stellen Sie für die Stickstoffflasche den ersten 5, Wasserdampf 4 bar 423,15 K h5 = ? s5 = ?
Hauptsatz (18.3) in geeigneter Form auf. Nehmen Sie an,
dass sich Stickstoff wie ein ideales Gas verhält. Es sind
keine Zahlenwerte einzusetzen. a) Vervollständigen Sie zunächst die vorstehend aufge-
führte Tabelle mithilfe der Definitionen von r (bzw.
Resultat: rE ) nach (19.9) sowie der Enthalpie-Relation nach
Thermodynamik
R
p0 R+ cv Tab. 18.1.
T2 = T1 b) Welche Wärme qu5 muss dem Wasser im Dampferzeu-
p1
ger zugeführt werden, um es von dem Umgebungszu-
stand u in den Zustand 5 zu überführen?
18.4 • Gegeben sei die Fundamentalgleichung der (Vergleichen Sie hierzu das obere Bild der Abbildung)
spezifischen freien Energie eines Stoffes i mit der spezi-
ellen Gaskonstanten R sowie den positiven Konstanten a, Die nötige Wärme soll dem Dampferzeuger unter Aus-
cυ,0 , s0 , f0 , υ0 und T0 . nutzung der Umgebung durch eine Wärmepumpe zuge-
führt werden.
T
f (T, υ) = − cυ,0 T ln − (T − T0 ) c) Welche mindestens aufzuwendende spez. technische
T0
Arbeit wt,u5,min muss dem System aus Wärmepumpe
− a υ0 (T − T0 )2 − s0 (T − T0 ) und Dampferzeuger gemäß des unteren Bildes der Ab-
υ bildung zugeführt werden, um die zum Erreichen des
− R T ln − a T2 (υ − υ0 ) + f0 .
υ0 Zustandes 5 notwendige spez. Wärme qu aus der Um-
gebung reversibel übertragen zu können?
a) Beweisen Sie die Maxwell-Relation: d) Wie groß ist die spez. Exergie des im Zustand 5 vor-
liegenden Wasserdampfes unter den angegebenen Um-
∂s ∂p gebungsbedingungen, und wie groß ist die von der
= . Umgebung aufgenommene spez. Anergie qu , die not-
∂υ T ∂T υ
wendig ist, um den Zustand 5 ausgehend vom Zustand
b) Bestimmen Sie die thermische Zustandsgleichung, u zu erreichen?
p = p(T, v).
c) Bestimmen Sie die spezifische Entropie s(T, v). Stoffeigenschaften des Wassers:
d) Geben Sie die Gleichung zur Berechnung der spez. in-
Spezifische Schmelzenthalpie bei 1 bar und 273,15 K:
neren Energie in Abhängigkeit von Temperatur T und kJ
spezifischem Volumen v an, u = u(T, v). rE = 333,5 kg
Spezifische Verdampfungsenthalpie bei 1 bar und
Resultat: kJ
373,15 K: r = 2250,5 kg
∂( ∂ f )υ ∂ ( ∂ f )T ∂p
a) − ∂∂ υs T = ∂T
∂υ = ∂υ
∂T υ
= − ∂ T υ. Spezifische isobare Wärmekapazität der Flüssigkeit:
∂f T
kJ
b) p = − ∂v T = RT v + aT .
2 cp,fl = 4,2 kgK
∂f
c) s = − ∂T v = cv,0 ln TT0 + 2a(Tv − T0 v0 ) + R ln vv0 + s0 . Spezifische isobare Wärmekapazität des Dampfes:
kJ
d) u = cv,0 (T − T0 ) + a(vT2 − v0 T02 ) + f0 + T0 s0 . cp,g = 2,1 kgK
! "# $ kJ
=u0 Spezielle Gaskonstante des Dampfes: R = 0,462 kgK
610 18 Die Hauptsätze der Thermodynamik
30 °C
qu5 ·
Wt Weinkeller Kühlraum
1 2 8 °C –20 °C
Wärme-
wt, u5, min
· ·
pumpe KM Q Wein Q kühl
qu Erdreich
Thermodynamik
Umgebung mit Tu
Weitere Angaben:
Hinweis: Im überhitzten Gebiet kann der Wasserdampf als
ideales Gas angesehen werden. Q̇Kühl = 1000 W, ε KM = ε K,Carnot /3, ṁCO2 = 0,012 kg/s.
Resultat:
Zustand des Kältemittels (CO2 ) an den Punkten 1 und 2
a) in der Zuleitung ohne Isolationsschicht:
kJ kJ
h2 = 433,5 s2 = 1,2209
kg kg K kJ kJ
ϑCO2 = −20 ◦ C, h1 = 280 , s1 = 1,329 ,
kJ kJ kg K kg
h3 = 853,5 s3 = 2,5311
kg kg K kJ kJ
pCO2 = 18,53 bar, h2 = 300 , s2 = 1,408 .
kJ kJ kg K kg
h4 = 3103,5 s4 = 8,5608
kg kg K
kJ kJ a) Welche elektrische Leistungsaufnahme Ẇt hat die Käl-
h5 = 3208,5 s5 = 8,1844
kg kg K teanlage im Normalbetrieb ohne den Weinkeller, um
den Kühlraum kühl zu halten, wenn draußen eine Um-
kJ
b) qu5 = 2691 kg gebungstemperatur von ϑUmg = +30 °C vorliegt.
kJ b) Berechnen Sie den oben beschriebenen tatsächlich vor-
c) wt,u5,min = 736,6569 kg liegenden Fall, dass ein zusätzlicher Wärmeeintrag
kJ
d) qu = 1954,3431 kg vom Weinkeller hinzukommt, die tatsächliche elektri-
sche Leistungsaufnahme Ẇt∗ der Kältemaschine.
c) Berechnen Sie die Exergieänderung des Kältemittels
18.6 •• Ein Rechtsstreit hat folgenden Tatbestand: beim Durchqueren des Weinkellers von 1 nach 2.
Der Ankläger ist Mieter 1 eines Mehrfamilienhauses, der d) Welchen Rat geben Sie dem Richter? Wer klaut? Was
seinen Keller als Kühlraum (ϑKühl = −20 °C) verwendet wird geklaut?
(siehe Abbildung). Die Kälteanlage dazu befindet sich in
einem anderen Kellerraum. Zwischen diesen beiden Räu- Resultat:
men befindet sich der Keller des Angeklagten, Mieter 2
des Mehrfamilienhauses. Ein Teil der Leitungen führt von a) Ẇt = 592,53 W.
der Kälteanlage durch den Raum des Mieters 2 in den b) Ẇt∗ges = 648,87 W.
Kühlraum von Mieter 1. Der Angeklagte, Mieter 2, hat c) Ẇex,1→2,h = −47,40 W.
an der Zuleitung zum Kühlraum die Isolation entfernt d) Mieter 2 klaut Exergie.
Stoffe und deren
thermodynamische
19
Beschreibung –
Materialgesetze
Wie lässt sich ein Stoff
thermodynamisch
beschreiben?
Wann passt jeweils das
Modell des idealen oder
realen Gases?
Wie beschreibt man ein
Thermodynamik
Mehrphasensystem?
Welche
Zustandsgleichungen gibt
es?
Wie hängt die innere
Energie von anderen
Zustandsgrößen ab?
In den Kap. 17 und 18 haben wir zunächst wichtige grundlegende pu = konst. pu = konst. pu = konst. pu = konst.
Beziehungen in der Thermodynamik und die Hauptsätze der Ther- mKolben
modynamik kennengelernt. Allerdings haben wir bis jetzt noch nicht
mKolben
viel über das Arbeitsfluid gesprochen, das wir bei einem speziellen g
Prozess untersuchen wollen. Führen wir z. B. eine isobare Zustands-
mKolben mKolben
änderung von 1 nach 2 durch, so müssen wir festlegen mit welchem
Stoff das geschieht. Die umgesetzten Wärmen und Arbeiten führen
ja nach dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik zu einer Ände-
rung der inneren Energie. Die innere Energie ist wiederum verknüpft
mit den Zustandsgrößen Temperatur und Druck. Dieser Zusammen- Festkörper Flüssigkeit Dampf
hang wird für jeden Stoff (jedes Arbeitsfluid) unterschiedlich sein. Q Q Q Q
Aus diesem Grund wollen wir uns in diesem Kapitel eingehend a b c d
mit der thermodynamischen Beschreibung von Stoffen beschäfti-
gen. Zunächst wird das Verhalten realer Stoffe vorgestellt, und es Abb. 19.1 Erhitzen eines Stoffes bei konstantem Druck
werden allgemeine Zustandsgleichungen entwickelt. Diese werden
danach für ideale und reale Gase und reale Arbeitsfluide im Nass-
dampfgebiet angewandt. Hierbei werden wir auch kennenlernen, der Erwärmung der Flüssigkeit findet beim herrschenden
wann wir den betrachteten Stoff vereinfacht betrachten können Umgebungsdruck oft nur eine sehr geringe Volumenver-
(z. B. als ideales Gas) und wann wir kompliziertere Gleichungen her- größerung statt. Wir sehen daran, dass die Flüssigkeit
anziehen müssen, um ihn zu beschreiben. näherungsweise volumenbeständig (inkompressibel) ist.
Nachdem sich die erste Dampfblase gebildet hat, be-
obachten wir wieder, dass die Temperatur im Behälter
Thermodynamik
Schmelzlinie
Erstarrungslinie
die Erhitzung von Kohlendioxid kritischer Punkt (K) p1
bei verschiedenen Drücken ie
Ta
elin
ul
ed
in
Si
ie
(3) (4)
p2
(1) (2)
Tripellinie
Desu
inie
blim
ation
slinie
l.-L
Sub
V′ V ′′ V
flüssig
K Bereich 2
flüssig und fest
Thermodynamik
Bereich 3 TK
flüssig und
dampfförmig
Tripellinie
V′ V ′′ V
Wichtig ist es, darauf hinzuweisen, dass alle Zustands- Abb. 19.4 Schematisches p,ρ,T -Diagramm für Kohlendioxid
änderungen, die wir für einen speziellen Stoff durch-
führen (also z. B. Erhitzen, Abkühlen, Verdampfen), nur
ausschließlich auf dieser Zustandsfläche liegen können.
614 19 Stoffe und deren thermodynamische Beschreibung – Materialgesetze
Thermodynamik
gungstemperatur ϑ und weiteren 0,01 6,95 0,00100 129,2093 29,3 2513,3 0,1058 8,9732
spezifischen Zustandsgrößen auf
0,03 24,10 0,00100 45,6775 101,0 2544,7 0,3543 8,5754
den Grenzkurven für Wasser
0,06 36,19 0,00101 23,7484 151,4 2566,7 0,5207 8,3283
0,08 41,54 0,00101 18,1107 173,8 2576,3 0,5922 8,2266
0,10 45,84 0,00101 14,6798 191,7 2583,9 0,6489 8,1480
0,30 69,12 0,00102 5,2308 289,1 2624,4 0,9435 7,7657
0,50 81,34 0,00103 3,2407 340,4 2644,7 1,0906 7,5903
0,80 93,51 0,00104 2,0870 391,6 2664,3 1,2325 7,4300
1,00 99,63 0,00104 1,6936 417,4 2673,8 1,3022 7,3544
2,00 120,23 0,00106 0,8852 504,6 2704,6 1,5295 7,1212
3,00 133,54 0,00107 0,6054 561,3 2723,2 1,6711 6,9859
4,00 143,63 0,00108 0,4621 604,5 2736,5 1,7758 6,8902
6,00 158,84 0,00110 0,3155 670,2 2755,2 1,9301 6,7555
8,00 170,41 0,00112 0,2403 720,6 2768,0 2,0448 6,6594
10,00 179,88 0,00113 0,1944 762,2 2777,5 2,1372 6,5843
20,00 212,37 0,00118 0,0996 908,0 2800,6 2,4455 6,3422
30,00 233,84 0,00122 0,0667 1007,8 2805,5 2,6438 6,1890
50,00 263,92 0,00129 0,0394 1154,0 2794,6 2,9189 5,9735
70,00 285,80 0,00135 0,0273 1267,0 2771,1 3,1202 5,8113
100,00 310,96 0,00145 0,0180 1407,1 2725,6 3,3584 5,6155
130,00 330,81 0,00157 0,0128 1530,5 2662,8 3,5579 5,4338
150,00 342,12 0,00166 0,0105 1609,1 2610,1 3,6818 5,3109
170,00 352,26 0,00178 0,0085 1690,7 2547,3 3,8073 5,1784
200,00 365,71 0,00205 0,0059 1823,6 2415,6 4,0096 4,9371
Zusammenhang durch die Gibbs’sche Phasenregel aus- Beispiel Wir betrachten einen reinen Stoff (also z. B.
drücken: CO2 ). Bei diesem Stoff liegen drei verschiedene Phasen
vor (fest, flüssig und gasförmig). Wir fragen uns nun, wie
F = K + 2 − P. (19.4) viele Freiheitsgrade das System besitzt?
Für das hier angegebene Beispiel haben wir:
In (19.4) gibt F die Anzahl der Freiheitsgrade frei wähl- Anzahl der Komponenten: K = 1,
barer intensiver Zustandsgrößen an, während K die
Anzahl der Phasen: P = 3,
Anzahl der Komponenten und P die Anzahl der auftre-
tenden Phasen angibt. Es ergibt sich also: F = K + 2 − P = 1 + 2 − 3 = 0.
616 19 Stoffe und deren thermodynamische Beschreibung – Materialgesetze
p kritischer p kritischer auf Drücke verdichtet, die oberhalb des kritischen Punk-
H2O Punkt CO2
Punkt tes liegen, so spricht man von einem überkritischen Fluid.
Für ein solches Fluid ist eine Unterscheidung zwischen
flüssig flüssig
fest fest
flüssiger und gasförmiger Phase nicht mehr möglich. Ob
es einen ähnlich ausgezeichneten Punkt auch für die
dampf- dampf-
förmig förmig
Schmelzdruckkurve gibt, ist bis heute nicht bekannt.
Tripelpunkt Tripelpunkt Tabelle 19.3 zeigt einige Werte ausgewählter Stoffe im
kritischen Punkt. Man erkennt deutlich, dass man für eini-
Thermodynamik
Wir sehen, dass das System keine Freiheitsgrade hat. Zum Vergleich zeigt Abb. 19.5 auch noch ein p,T-
Dies bedeutet, dass es nur eine ausgewählte Kombina- Diagramm für Wasser. Wie man sieht, ist bei Wasser
tion von Druck und Temperatur gibt, für die alle drei (H2 O) die Grenzkurve zwischen den Zuständen fest und
Phasen für einen Reinstoff im Gleichgewicht existieren flüssig nach links geneigt. Dies zeigt, dass man bei ge-
können. Diesen ausgezeichneten Punkt bezeichnet man gebener Temperatur, Eis durch eine Druckerhöhung zum
als „Tripelpunkt“. Schmelzen bringen kann (z. B. bei der Bewegung von
Gletschern). Bei Kohlendioxid ist dieselbe Kurve nach
Dieser Sachverhalt lässt sich für das oben gezeigte Bei- rechts gekrümmt, und ein solcher Prozess ist demnach
spiel des Stoffes Kohlendioxid sehr schön in einem p,T- unmöglich.
Diagramm darstellen. Den Zusammenhang zwischen Druck und Temperatur im
An (19.4) und Abb. 19.5 erkennt man, dass für den rei- Zweiphasengebiet (Abb. 19.3) kann man aus der Gleich-
nen Stoff (K = 1) im Zweiphasengebiet (z. B. Flüssigkeit- heit der spezifischen freien Enthalpien g = h − Ts berech-
Dampf) Druck und Temperatur nicht mehr unabhängig nen. Beim Phasengleichgewicht gelten hierbei die folgen-
voneinander wählbar sind. Für die Existenz dreier Pha- den Gleichgewichtsbedingungen:
sen ergibt sich wie oben gezeigt F = 0. Feste, flüssige und
gasförmige Phase liegen also für einen reinen Stoff nur in T = T , (19.6)
einem Punkt gemeinsam vor, dem sogenannten Tripel- p =p ,
punkt. Siede- und Taulinie laufen im kritischen Punkt
g = g .
zusammen. In diesem Punkt hat die Isotherme im p,V-
Diagramm eine Wendepunkttangente für V = VK , bzw.
mit v = V/m auch v = vK , und p = pK , T = TK (Sattel- Für die Änderung der spezifischen freien Enthalpien gilt
punkt, siehe auch Abb. 19.3), was man mathematisch für die flüssige und dampfförmige Phase:
folgendermaßen beschreiben kann:
2 dg = v dp − s dT , (19.7)
∂p ∂ p
= 0, = 0. (19.5) dg = v dp − s dT .
∂v TK ∂v2 TK
Der kritische Punkt (Index K) ist ein ausgezeichnetes, Da sowohl die Drücke der flüssigen Phase p und der
spezifisches Merkmal eines jeden Stoffes. Wird das Fluid dampfförmigen Phase p , als auch die Temperaturen T ,
19.2 Zustandsgleichungen 617
T (T , p , T , p geben hierbei die Zustände der Tempe- Diese Gleichung lässt sich nun leicht integrieren, wenn
ratur auf der Siede- bzw. Taulinie an) im Phasenübergang wir die spezifische Verdampfungsenthalpie als konstant
gleich sind, folgt aus der Gleichheit der spezifischen freien und gleich r0 annehmen. Man erhält:
Enthalpie der flüssigen und der gasförmigen Phase, dass
auch dg = dg ist. Damit ergibt sich mithilfe von (19.7) dp p r dp r dT r 1 1
= 2 0, = 0 2 , ln p − ln p0 = − 0 − ,
der Zusammenhang: dT T R p R T R T T0
r0 1 1
dp s − s p = p0 exp − .
= . (19.8) R T0 T
dT v − v
Dies ist die Steigung der Dampfdruckkurve, die man Hierbei ist p0 ein Bezugsdruck bei einer Bezugstempera-
auch als Clausius-Clapeyron’sche Gleichung bezeichnet. tur T0 . Man sieht an dieser Gleichung sehr gut, wie der
Sie gibt den Zusammenhang zwischen Temperatur und Druck mit der Temperatur bei der Verdampfung zusam-
Druck beim Verdampfungsprozess an, da ja beide Grö- menhängt. Obwohl wir viele einschränkende Annahmen
ßen nicht mehr unabhängig voneinander gewählt werden gemacht haben, stimmt die oben angegebene Gleichung
können (sie beschreibt also den Zusammenhang zwischen doch sehr gut mit der Realität überein. Der Leser kann
Sättigungstemperatur und Sättigungsdruck, den wir aus dies z. B. mithilfe der Tab. 19.1 und Tab. 19.2 selbst über-
Tab. 19.1 und Tab. 19.2 schon kennen). Da im Nassdampf- prüfen, indem er die Werte aus der hier hergeleiteten
gebiet eine isobare Zustandsänderung immer auch eine Gleichung mit den exakten Daten vergleicht!
Isotherme ist, lässt sich die Entropiedifferenz in (19.8)
durch den zweiten Hauptsatz auch leicht durch eine Ent-
halpiedifferenz ausdrücken:
19.2 Zustandsgleichungen
Thermodynamik
dp 1 h − h 1 r
= = , r = h − h = T s − s ,
dT T v − v T v − v
(19.9) Wie schon vorher besprochen, versteht man unter der
thermischen Zustandsgleichung eine Beziehung zwi-
wobei r in (19.9) die spezifische Verdampfungsenthal- schen den Variablen p, V und T gemäß (19.1). Für den
pie darstellt. Einen ähnlichen Zusammenhang kann man realen Stoff ist dies eine komplizierte Fläche im Raum,
analog für den Phasenübergang fest-flüssig oder fest- die meist mathematisch schwierig zu beschreiben ist. Aus
gasförmig herleiten. diesem Grund ist es sinnvoll, zunächst Ableitungen die-
ser Fläche zu bestimmen. Diese sind wie folgt definiert
Beispiel Wie ändert sich der Sättigungsdruck in Ab-
hängigkeit von der Sättigungstemperatur bei der Ver- isobarer Ausdehnungskoeffizient:
dampfung? Leiten Sie aus (19.9) einen Zusammenhang
1 ∂V 1 ∂v
unter der Annahme her, dass das spezifische Volumen β= = ,
V ∂T p v ∂T p
des Dampfes groß im Vergleich zu dem der Flüssigkeit
ist und, dass die spezifische Verdampfungsenthalpie als isochorer Spannungskoeffizient:
konstant betrachtet werden kann.
1 ∂p (19.10)
γ= ,
Wir beginnen hierzu mit (19.9) p ∂T V
isothermer Kompressibiltätskoeffizient:
dp 1 h − h 1 r
= = , r = h − h = T s − s . 1 ∂V 1 ∂v
dT T v − v T v − v χ=− =− .
V ∂p T v ∂p T
Vernachlässigen wir v im Vergleich zu v (da das spezi-
fische Volumen des Dampfes viel größer ist als das der
Flüssigkeit), und nehmen wir näherungsweise an, dass
wir den Dampf als ideales Gas beschreiben können (sie- Diese drei Größen bezeichnet man als isobaren Aus-
he Abschn. 19.3): dehnungskoeffizient β, isochoren Spannungskoeffizient
γ und als isothermen Kompressibilitätskoeffizienten χ.
RT Zwischen den drei Koeffizienten besteht der folgende all-
v =
p gemeine Zusammenhang:
inneren Energie und den thermischen Zustandsgrößen, Wertet man (19.18) bei p = konst. aus, so findet man einen
um z. B. mithilfe des ersten Hauptsatzes die Temperatur- allgemeinen Zusammenhang zwischen den spezifischen
erhöhung bei der Zuführung einer gewissen Energiemen- Wärmekapazitäten cp und cv :
ge berechnen zu können. Einen Zusammenhang der Form
∂h ∂u ∂v
F2 (U, V, T ) = 0 bzw. U = U (V, T ) = cp = cv (v, T ) + +p
∂T p ∂v T ∂T p
bzw. u = u(v, T ) (19.12)
T v β2
= cv + . (19.19)
bezeichnet man als kalorische Zustandsgleichung (siehe χ
(18.39)). Allgemein gilt für einen Reinstoff:
Man erkennt hieran, dass sich cp − cv berechnen lässt,
∂u ∂u ∂u wenn die thermische Zustandsgleichung eines Stoffes be-
du = dv + dT = dv + cv (v, T ) dT
∂v T ∂T v ∂v T kannt ist.
(19.13) Wir sehen also, dass man im Normalfall zwei Zustands-
gleichungen benötigt, um das Verhalten eines Stoffes
wobei cv als Abkürzung für den Differenzialkoeffizienten
beschreiben zu können, nämlich die kalorische und die
(∂u/∂T )v die spezifische Wärmekapazität bei konstan- thermische Zustandsgleichung. Allerdings ist es in spe-
tem Volumen eingeführt wurde. Aus dem ersten Haupt-
ziellen Fällen möglich, dass eine einzige Gleichung aus-
satz in der Form du = Tds − pdv nach (18.33) erhält man:
reicht, um die gesamten Stoffeigenschaften zu beschrei-
ben. Solche Gleichungen bezeichnet man wegen ihrer
∂u ∂s
=T − p. (19.14) herausragenden Eigenschaften auch als kanonische Zu-
∂v T ∂v T standsgleichungen oder Fundamentalgleichungen, da
Thermodynamik
Beispiel Wir wollen hier kurz zeigen, wie man die Dif-
T T ferenzialquotienten nach (19.10) recht einfach bestimmten
kann. Dies sei an der Berechnung des isobaren Ausdeh-
nungskoeffizienten β exemplarisch gezeigt. Wir schreiben
cv s cp s hierzu die thermische Zustandsgleichung zunächst in der
a b Form nach (19.1) an:
Abb. 19.6 Bestimmung der Wärmekapazitäten aus der Steigung der Isobaren pV − mRT = 0.
und der Isochoren in einem T,s -Diagramm
Nun leiten wir die Gleichung partiell nach der Tempera-
tur ab und halten den Druck konstant:
kann man auch cp aus der Steigung der Isobaren im T,s- ∂
(pV − mRT) = 0.
Diagramm bestimmen (Abb. 19.6). Für cp ergibt sich: ∂T p
∂h ∂s Hieraus folgt:
cp = =T . (19.23)
∂T p ∂T p ∂V ∂V mR V
− mR = 0, = = .
Thermodynamik
p
∂T p ∂T p p T
Frage 19.3 Hieraus sieht man nun sofort, dass
Leiten Sie (19.23) her. Führen Sie hierzu die Enthalpie (h =
u + pv) in (18.33) ein. 1 ∂V 1
β= =
V ∂T p T
Setzt man (19.21) in (19.20) ein, so erhält man eine Bestim- ist. Die hier gezeigte Methode des impliziten Diffe-
mungsgleichung für die spezifische Entropieänderung: renzierens ist hervorragend geeignet, um die einzelnen
Differenzialquotienten auch für sehr komplexe Zustands-
1 ∂u p cv gleichungen auszuwerten.
ds = + dv + dT. (19.24)
T ∂v T T T
Aus (19.13) sieht man, dass die innere Energie als ei-
Dies zeigt, dass man auch für die Bestimmung der Entro- ne Funktion von V und T dargestellt werden kann. Die
pie die thermische Zustandsgleichung und die Wärmeka- Volumenabhängigkeit von U ergibt sich aus dem so-
pazität benötigt. genannten Joule’schen Überströmversuch. Hierbei wird
ein gasgefüllter Druckbehälter plötzlich mit einem zwei-
ten, weitestgehend evakuierten Gefäß verbunden. Beide
Gefäße sind gut nach außen hin isoliert, um einen Wär-
19.3 Das ideale Gas meaustausch mit der Umgebung zu vermeiden. Da das
System während des Versuchs auch keine Arbeit nach
außen abgibt, muss seine innere Energie nach dem ers-
Für die thermische Zustandsgleichung eines idealen Ga-
ten Hauptsatz konstant bleiben. Man beobachtet nun für
ses kann man z. B. aus Versuchen, dimensionsanalyti-
ein ideales Gas, dass sich nach kurzer Zeit wieder die
schen oder gaskinetischen Überlegungen die folgende
ursprüngliche Temperatur einstellt. Dies bedeutet, dass
thermische Zustandsgleichung ableiten:
beim idealen Gas
∂U
pV = mRT, pv = RT, pV = nRm T (19.25) =0 (19.27)
∂V T
sein muss. Daraus folgt, dass die innere Energie des idea-
Diese Zustandsgleichung ist genau dann gültig, wenn die len Gases nur von der Temperatur abhängt, und man
Moleküle als Massepunkte ohne Ausdehnung, die nicht erhält aus (19.13):
miteinander wechselwirken, angesehen werden dürfen.
∂U
Offenkundig ist dies näherungsweise der Fall, wenn Gase dU = dT = Cv (T ) dT = m cv (T ) dT. (19.28)
bei sehr geringer Dichte betrachtet werden. ∂T V
620 19 Stoffe und deren thermodynamische Beschreibung – Materialgesetze
Aus dieser Gleichung ergibt sich durch Integration: Dieser Ausdruck lässt sich integrieren und man erhält:
T T
v cv (T̃ )
U − U (T = T0 ) = U − U0 = Cv (T̃ ) dT̃. (19.29) s − s0 = R ln + dT̃. (19.35)
v0 T̃
T0 T0
Für den Sonderfall, dass Cv = mcv konstant ist, erhält man Vielfach kann man die spezifische Wärmekapazität bei
für die innere Energie und für die spezifische innere Ener- konstantem Volumen als konstant betrachten. Damit er-
gie: gibt sich:
U − U0 = Cv (T − T0 ) = m cv (T − T0 ), v T
s − s0 = R ln + cv ln . (19.36)
u − u0 = cv (T − T0 ). (19.30) v0 T0
T
h = u + pv = cv (T̃ )dT̃ + u0 + RT 19.4 Das reale Gas
T0
T Die thermische Zustandsgleichung für das ideale Gas hat
= (cv (T̃ ) + R)dT̃ + u0 + RT0 , den Nachteil, dass sie für bestimmte Bedingungen ihre
T0 Gültigkeit verliert, etwa wenn sich bei hohem Druck die
Abstände der Moleküle verringern. Dies sieht man deut-
T
lich, wenn man bei (19.25) probiert für T = konst. den
h= cp (T̃ )dT̃ + h0 . (19.31) Druck p unendlich stark zu steigern. Hier würde man
T0 aus (19.25) das unsinnige Ergebnis erhalten, dass V → 0
geht. Dies kann aber nicht sein, da die Moleküle über
Für den Spezialfall cp = konst. ergibt sich:
ein Eigenvolumen verfügen. Weiterhin wurde auch die
h = cp (T − T0 ) + h0 . (19.32) Anziehung der Moleküle untereinander in (19.25) ver-
nachlässigt. Dies ist nur dann in Ordnung, wenn das
Für die Differenz der spezifischen Wärmekapazitäten Gas stark verdünnt vorliegt. Johannes Diderik van der
nach (19.19) erhält man für ein ideales Gas: Waals (1837–1923) führte 1873 eine einfache thermische
Zustandsgleichung ein, die diese grundsätzlichen Effekte
∂v
cp (T ) − cv (T ) = p = R. (19.33) bei einem realen Fluid (Eigenvolumen, Anziehungskräf-
∂T p te zwischen den Molekülen) berücksichtigt. Diese Glei-
chung lautet:
Zum Abschluss wollen wir nun wieder die Entropieände-
rung für ein ideales Gas berechnen. Dazu gehen wir von
(19.24) aus: a
p+ (v − b) = RT (19.38)
v2
1 ∂u p cv
ds = + dv + dT.
T ∂v T T T
Da die innere Energie beim idealen Gas nicht von v In dieser Gleichung stellen a und b stoffspezifische Kon-
abhängt, verschwindet der erste Term in dem Klammer- stanten dar, die für jeden Stoff bestimmt werden müssen.
ausdruck auf der rechten Seite. Man erhält unter Verwen- Das spezifische Volumen v ist um das Eigenvolumen b
dung der thermischen Zustandsgleichung für das ideale der Moleküle verringert worden. Weiterhin wurde die
Gas: gegenseitige Beeinflussung der Moleküle in Form der Ko-
häsionskräfte berücksichtigt. Bei großer Entfernung der
R cv (T ) Moleküle voneinander (tiefer Druck) verschwinden Ko-
ds = dv + dT. (19.34)
v T häsionskräfte, bei kleinen Entfernungen (großer Druck)
19.4 Das reale Gas 621
Tab. 19.4 Konstanten a und b für die Van-der-Waals-Zustandsgleichung Bezieht man die Größen in (19.38) auf die Werte im kriti-
a in m2 /kg/s2 b in m3 /kg R in J/kg/K schen Punkt, so ergeben sich die sogenannten reduzierten
Argon 84,92 8,01 · 10−4 208,13 Variablen:
Ethan 616,06 2,16 · 10−3 276,51 p v T
Kohlendioxid 188,75 9,73 · 10−4 188,92 p̄ = , v̄ = , T̄ = . (19.41)
pK vK TK
Stickstoff 174,09 1,38 · 10−4 296,81
Sauerstoff 134,96 1,00 · 10−3 259,84 Setzt man diese Größen in (19.38) ein, so folgt:
Wasserstoff 6117,77 0,0132 4124,26
3
p̄ + 2 (3v̄ − 1) = 8T̄. (19.42)
v̄
nehmen sie zu. Für Moleküle im Inneren eines Gases, Gleichung (19.42) zeigt den interessanten Sachverhalt,
die von anderen Molekülen umgeben sind, heben sich dass die Gleichung in dimensionsloser Form einen uni-
diese Kräfte auf, für die Moleküle an der Gasoberflä- versellen Charakter besitzt, also nicht mehr von den
che aber wirken sie einseitig nach innen, sodass nach stoffspezifischen Größen wie R, a und b abhängt. Wer-
außen (zur Wand) ein geringerer Druck auftritt. Die Ko- tet man für das Van-der-Waals-Gas (oder korrekterweise
häsionskraft, mit der ein Oberflächenmolekül nach innen Van-der-Waals-Fluid) die Beziehungen nach (19.10) aus,
gezogen wird, ist proportional der Dichte (ρ = 1/v). Wei- so ergibt sich:
terhin ist aber auch die Anzahl der Moleküle, die auf
eine Flächeneinheit der Oberflächenschicht entfallen, pro- (v − b)Rv2 Rv2
β= , γ = ,
portional zur Dichte. So wird eine Flächeneinheit der RTv3 − 2a(v − b)2 RTv2 − a(v − b)
Oberflächenschicht durch Molekülkräfte nach innen ge-
( v − b ) 2 v2
zogen und zwar mit einer Kraft, die proportional zum χ= . (19.43)
Thermodynamik
Quadrat der Dichte ist. Um diesen Betrag, der auch Bin- RTv3 − 2a(v − b)2
nendruck genannt wird, ist der allein messbare äußere
Frage 19.5
Gasdruck p geringer als der im Inneren des Gases herr-
Zeigen Sie, dass die in (19.43) angegebenen Größen β, γ
schende Druck pi , sodass pi = p + a/v2 .
und χ in die Beziehungen für das ideale Gas übergehen
Die beiden Konstanten a und b in (19.38) werden norma- (19.26), wenn man a und b gegen Null gehen lässt. Warum
lerweise aus der Bedingung gewonnen, dass die Isother- muss das so sein?
me durch den kritischen Punkt einen Sattelpunkt besitzt,
(19.5). Man erhält: oder unter Verwendung der reduzierten Größen nach
(19.41):
∂p 2a RTK
=0= 3 − ,
∂v TK vK ( vK − b ) 2 8(3v̄ − 1)v̄2 v̄2
2 βTK = , γTK = ,
∂ p 6a 2RTK 24T̄v̄3 − 6(3v̄ − 1)2 T̄ v̄2 − 3/8(3v̄ − 1)
=0=− 4 + . (19.39)
∂v TK
2 vK ( vK − b ) 3 (3v̄ − 1)2 v̄2
χpK = . (19.44)
24T̄v̄3 − 6(3v̄ − 1)2
Hieraus folgt ein Zusammenhang zwischen den Größen
im kritischen Punkt (vK , pK , TK ) und den Konstanten a Die Van-der-Waals-Zustandsgleichung nach (19.38) be-
und b: schreibt nur wenige Stoffe mit guter Genauigkeit. Aus
27 R2 TK 2 diesem Grund wurde (19.38) in der Vergangenheit er-
a = 3pK v2K = , weitert. Die erweiterten Zustandsgleichungen sind in
64 pK der Literatur unter dem Namen Van-der-Waals-Typ-
1 RTK Zustandsgleichungen bekannt (Löst man (19.38) nach
b = vK /3 = ,
8 pK dem Volumen auf, so erhält man eine kubische Glei-
pK vK 3 chung. Aus diesem Grund nennt man Van-der-Waals-
= . (19.40) Typ-Zustandsgleichungen auch kubische Zustandsglei-
RTK 8
chungen). Diese haben den folgenden allgemeinen funk-
tionalen Zusammenhang:
Da die hochgenaue Bestimmung von vK messtechnisch
schwierig ist, werden die Konstanten a und b oft aus Mess- A
p+ 2 (v − B) = RT. (19.45)
werten von pK und TK bestimmt. Typische Werte für die v + CBv + DB2
Größen am kritischen Punkt sind in Tab. 19.3 angegeben.
In Tab. 19.4 sind für einige Stoffe noch die berechneten Für zwei heute häufig verwendete Zustandsgleichungen
Größen a und b für die Van-der-Waals-Zustandsgleichung nehmen die Konstanten A, B, C, D die Werte nach Tab. 19.5
zusammen mit der jeweiligen Gaskonstanten aufgelistet. an.
622 19 Stoffe und deren thermodynamische Beschreibung – Materialgesetze
Darüber hinaus existiert natürlich noch eine große Viel- Für die spezifische Wärmekapazität bei konstantem Volu-
zahl von anderen Typen von thermischen Zustandsglei- men erhält man die Aussage:
chungen zur Beschreibung von realen Gasen. In der in-
dustriellen Anwendung (z. B. auch für die Beschreibung ∂u ∂u a
cv = , = 2
des Gasverhaltens in modernen Motoren) verwendet man ∂T v ∂v T v
vielfach Beziehungen der Form ∂2 u ∂
⇒ =0= (cv ) = 0. (19.49)
pv = Z1 (p, T )RT (19.46) ∂v∂T ∂v
oder Dies bedeutet, dass auch für das Van-der-Waals-Gas cv
nur eine Funktion der Temperatur, nicht aber des spezifi-
pv B( T ) C(T )
= 1+ + 2 +... (19.47) schen Volumens ist. Für den Spezialfall eines konstanten
RT v v spezifischen cv ergibt sich aus (19.48):
Man nennt hierin die Größe Z1 (p,T ) den Realgasfaktor
Thermodynamik
und die rechte Seite von (19.47) die Virialform der ther- a a
u − u0 = − + cv (T − T0 ). (19.50)
mischen Zustandsgleichung. Die Temperaturfunktionen v0 v
B(T ), C(T ), . . . bezeichnet man als Virialkoeffizienten.
Die Größen Z1 (p,T ), B(T ), C(T ), . . . findet man für ver- Aus (19.19) ergibt sich schließlich die kalorische Differenz
schiedene Gase in Tabellenwerken (siehe hierzu z. B. W. cp − cv :
Blanke (1989) Thermophysikalische Stoffgrößen, Sprin-
∂u ∂v Tvβ2
ger). cp − cv = +p =
∂v T ∂T p χ
Die kalorischen Eigenschaften des Van-der-Waals-Gases
lassen sich wie folgt bestimmen. Wir beginnen unsere Un- R R
= = . (19.51)
tersuchungen mit (19.13): 2a(v−b)2 (3v̄−1)2
1− RTv3
1− 4T̄ v̄3
∂u ∂u ∂u
du = dv + dT = dv + cv (v, T ) dT. Frage 19.6
∂v T ∂T v ∂v T
Zeigen Sie, dass die kalorische Differenz cp − cv nach
(19.13) (19.51) für das ideale Gas gleich R wird!
Aus dem ersten Hauptsatz in der Form du = Tds − pdv
nach (18.33) erhält man:
Zum Abschluss soll auch hier wieder die spezifische
∂u ∂s Entropiedifferenz berechnet werden. Wieder gehen wir
=T − p. (19.14) hierzu von (19.24) aus:
∂v T ∂v T
Hieraus erhält man mithilfe der Maxwell’schen Bezie- 1 ∂u p cv
ds = + dv + dT. (19.24)
hung nach Tab. 18.3: T ∂v T T T
∂u ∂p Der erste Term im Klammerausdruck auf der rechten Sei-
=T − p. (19.15)
∂v T ∂T v te der Gleichung ist durch (19.15) gegeben. Damit erhält
man unter Verwendung der thermischen Zustandsglei-
Nun lässt sich der Differenzialquotient (∂u/∂v)T mithil-
chung nach van der Waals:
fe der thermischen Zustandsgleichung bestimmen. Damit
ergibt sich für die spezifische innere Energie: a 1 cv R cv
ds = + p dv + dT = dv + dT. (19.52)
a v2 T T v−b T
du = dv + cv (v, T ) dT,
v2
Für cv = konst. ergibt sich:
T (19.48)
a a
u − u0 = − + cv (T̃ ) dT̃ . T v−b
v0 v s − s0 = cv ln + R ln . (19.53)
T0 T0 v0 − b
19.5 Der reale Stoff im Nassdampfgebiet 623
Thermodynamik
v Die Gleichgewichtsbedingung nach (19.55) hat eine sehr
anschauliche Interpretation. Um dies zu sehen, werten
Abb. 19.7 Verlauf der Isothermen nach der Van-der-Waals-Gleichung in einem wir noch die umgesetzte Volumenänderungsarbeit im
p̄ ,v̄ -Diagramm Nassdampfgebiet bei einem Van-der-Waals-Gas aus:
v v v
Man sieht sehr schön an (19.53), dass im Gegensatz zu der RT a
pdv = dv − dv
Gleichung für das ideale Gas (19.36) in (19.53) das Eigen- v−b v2
v v v
volumen der Moleküle auftritt.
v −b a a
= RT ln + − . (19.56)
v −b v v
19.5 Der reale Stoff Vergleicht man nun (19.55) mit (19.56), so sieht man sofort,
im Nassdampfgebiet dass gilt:
v
Die Beschreibung aller Größen für den realen Stoff im
pdv =p(v − v ). (19.57)
Nassdampfgebiet ist sehr einfach. Wir benutzen die schon
eingeführte Größe des Dampfgehaltes x. Damit hatten wir v
schon in (19.3) das spezifische Volumen berechnet. Alle re-
levanten Größen lassen sich analog berechnen. Hierin ist p(v − v ) die Fläche unter der Isothermen/
Es ist nun von besonderem Interesse zu untersuchen, Isobaren im Nassdampfgebiet, während das Integral die
inwieweit man die oben angegebene Van-der-Waals-Zu- Fläche unter der Isothermen des Van-der-Waals- Gases
standsgleichung benutzen kann, um auch das reale Ver- angibt. Man sieht, dass beide Flächen einander gleich
halten einer Substanz z. B. beim Vorgang der Verflüssi- sind. Dies motiviert die Einführung einer Verbindungs-
gung zu beschreiben. Dazu sehen wir uns den Verlauf geraden von I nach II, für die gilt, dass die Flächen
der Isothermen des Van-der-Waals-Gases nach (19.42) in oberhalb und unterhalb der Geraden einander gleich sein
einem p̄,v̄-Diagramm an. müssen. Diese Verbindungsgerade wird als Maxwell’sche
Gerade bezeichnet. Durch Einführung der Maxwell’schen
In Abb. 19.7 ist weiterhin der Verlauf der Phasengrenzkur- Geraden kann man somit auch das Verhalten im Nass-
ve und einiger ausgewählter Isothermen im Nassdampf- dampfgebiet beschreiben. Dies gilt ganz generell für jede
gebiet eingetragen. Man erkennt den S-förmigen Verlauf thermische Zustandsgleichung, die das Verhalten eines
der Isothermen für T̄ < 1. Hierin ist der aufsteigende Ast, realen Fluids in der Dampf- und der Flüssigkeitsphase
für den (∂p̄/∂v̄)T̄ > 0 ist, thermodynamisch nicht stabil gut wiedergibt.
624 19 Stoffe und deren thermodynamische Beschreibung – Materialgesetze
Antwort 19.1 Wir gehen von der Definition der freien Hieraus folgt nun, dass
Enthalpie und der freien Energie aus und spalten diese
analog zum Volumen nach (19.3) in die Anteile der flüssi- 1
u − u0 = a0 (T − T0 ) + a1 (T − T0 )2
gen und dampfförmigen Phase auf: 2
1
F = FFlüssigkeit + FDampf = a0 + a1 (T − T0 ) (T − T0 )
2
= m f + m f , f = f + x (f − f ),
1
= cv a0 + a1 (T − T0 ) (T − T0 ) .
2
G = GFlüssigkeit + GDampf
= m g + m g , g = g + x (g − g ). Man erhält also das Ergebnis, dass man lediglich die spe-
zifische Wärme bei konstantem Volumen bei der mittleren
Temperatur (T + T0 )/2 nehmen muss.
Antwort 19.2 Eine Zustandsgleichung stellt den Zusam-
menhang zwischen thermischen und kalorischen Größen Antwort 19.5 Nach (19.43) gilt für die Größen.
her. Man unterscheidet zwischen thermischer Zustands-
gleichung (siehe (19.1)) und kalorischer Zustandsglei- (v − b)Rv2 Rv2
β= γ=
Thermodynamik
, ,
chung (siehe (19.12)). Aus einer kanonischen Zustands- RTv3 − 2a(v − b)2 RTv2 − a(v − b)
gleichung kann man die thermische und die kalorische ( v − b ) 2 v2
Zustandsgleichung ableiten. χ= .
RTv3 − 2a(v − b)2
Antwort 19.3 Zur Herleitung von (19.23) gehen wir wie Lassen wir a und b gegen Null gehen, so ergibt sich für β.
folgt vor: Der erste Hauptsatz nach (18.33) lautet:
du = Tds − pdv.
(v − b)Rv2 vRv2 1
β |a→0 = = = .
RTv − 2a(v − b)
3 2 RTv3 T
In diese Gleichung führen wir nun die Enthalpie ein und b→0
erhalten:
Für die Größe γ und χ erhält man:
dh = Tds − vdp.
Rv2 Rv2 1
Bilden wir nun den gewünschten Differenzialquotienten, γ |a→0 = = = ,
RTv2 − a(v − b) RTv2 T
so folgt: b→0
dh ds dp ( v − b ) 2 v2 v2 v2 v
=T −v . χ |a→0 = = = .
dT dT dT RTv − 2a(v − b)
3 2 RTv3 RT
b→0
Wertet man diese Gleichung bei p = konst. aus, so ergibt
sich: Aus der thermischen Zustandsgleichung, (19.38), für das
Van-der-Waals-Fluid sieht man, dass v/(RT ) = 1/p ist,
∂h ∂s ∂p
=T −v . wenn a und b gegen null gehen. Damit ist gezeigt, dass
∂T p ∂T p ∂T p
! "# $ β, γ, χ in die Größen für das ideale Gas für diesen Fall
=0 übergehen. Dies liegt natürlich daran, dass auch die Zu-
standsgleichung nach van der Waals in die für das ideale
Hierin fällt also der letzte Term auf der rechten Seite weg;
Gas übergeht, wenn a und b gegen null gehen.
und wir erhalten (19.23).
Antwort 19.4 Wir gehen von (19.29) für spezifische Grö- Antwort 19.6 Aus (19.51) sehen wir, dass
ßen aus und setzen dort unseren Ansatz ein:
R
T T cp − cv = .
2a(v−b)2
u − u0 = cv (T̃ ) dT̃ = a0 + a1 T̃ dT̃ 1− RTv3
T0 T0
Für ein ideales Gas gilt a = b = 0. Lassen wir in die-
1 ser Gleichung a und b gegen null gehen, so erhalten wir
= a0 (T − T0 ) + a1 (T − T0 )2 .
2 cp − cv = R, also den Zusammenhang für ein ideales Gas.
Aufgaben 625
Aufgaben
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer).
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
19.1 • Leiten Sie die Beziehung nach (19.11) her, in- 19.4 •• Es soll angenommen werden, dass das ther-
dem Sie das totale Differenzial des Druckes als Funktion mische Verhalten eines Systems mit der Masse 1 kg in
von T und v bilden. Werten Sie diesen Ausdruck dann für einem gewissen Zustandsbereich durch die thermische
p = konst. aus! Zustandsgleichung
19.2 • Zeigen Sie aus dem ersten Hauptsatz, dass B
pv = RT 1 −
für ein ideales Gas für v = konst. (cv = konst.) q12 = vT
cv (T2 − T1 ) und für p = konst. (cp = konst.), q12 =
cp (T2 − T1 ) gilt! wiedergegeben wird (Rankine, 1854).
1. Wie lautet die thermische Zustandsgleichung
19.3 •• Berechnen Sie anhand der in folgender Tabel-
Thermodynamik
Φ (p, V, T )für eine beliebige Masse m?
le angegebenen Zustandsvariablen für Wasser die Koeffi-
2. Leiten Sie durch Differenzieren die Funktionen β(p, V ),
zienten β, γ und χ für die Zustände 5 und 17. Ersetzen
γ(p, V ) und χ(p, V ) her!
Sie dabei die Differenzialquotienten vereinfachend durch
3. Kontrollieren Sie die Ergebnisse!
Differenzenquotienten.
Thermodynamik
Wie berechnet man
Zustandsänderungen in
Gasgemischen?
Wie berechnet man
Zustandsänderungen realer
Stoffe im
Nassdampfgebiet?
sehr schön, wenn man die Gleichung für die maximal ge- Ersetzt man noch das Verhältnis der Wärmen durch (20.7),
winnbare Arbeit (Exergie) nach (18.58) für ein stationäres so erhält man schließlich:
System mit einem Wärmebehälter (und unterer Tempera-
tur der Umgebung Tu ) auswertet. Man erhält dann für 1 T 1
ΔSges = −Q41 − 2 . (20.10)
die Exergie der Wärme einen Zusammenhang zwischen TKK T1 THK
maximal gewinnbarer Arbeit und zugeführter Wärme
entsprechend zu: Die (20.10) zeigt uns anschaulich, dass die Gesamt-
entropieerhöhung in der Realität immer größer als
T
−Wex = 1 − u Q23 . (20.5) null ist, wenn es endliche Unterschiede zwischen den
T2 Wärmebehälter- und den Prozesstemperaturen gibt. Die
Gesamtentropiedifferenz strebt nur dann gegen null,
Dass die Entropiedifferenzen ΔS23 und ΔS41 in (20.4) be-
wenn die Temperatur T2 , bei der die Wärme aufgenom-
tragsmäßig gleich sind, erkennt man auch sofort aus:
men wird, gleich der Temperatur THK des oberen Wärme-
ΔSProzess = ΔS23 + ΔS41 = 0. (20.6) behälters wird und weiterhin die Temperatur T1 , bei der
die Wärme abgegeben wird, gleich der Temperatur TKK
Die Entropieänderung für den gesamten Kreisprozess ist des unteren Wärmebehälters wird. Da es in diesem Fall
also gleich null, da die Entropie eine Zustandsgröße ist keine Temperaturdifferenzen bei der Wärmeübertragung
und (17.1) hier greift. Damit ergibt sich sofort die Gleich- zwischen Heißkörper und Prozess sowie Prozess und
heit der Beträge der Entropiedifferenzen. Kaltkörper gibt, würde der Wärmeübergang aber in die-
sem Fall unendlich lange dauern. Da im theoretischen Fall
der verschwindenden Temperaturdifferenzen beim Wär-
Der bestmögliche thermische Wirkungsgrad ist der
meübergang dieser Prozess zu keiner Entropieänderung
Thermodynamik
einer Carnot-Maschine. Er ist gegeben durch:
führt, ist der Carnot-Kreisprozess somit der bestmögliche
Prozess, um Wärme in Arbeit zu wandeln. Er hat als theo-
Tmin
ηth = 1 − . retischer Vergleichsprozess eine große Bedeutung in der
Tmax Thermodynamik, denn er gibt uns Aufschluss über die
thermodynamische Güte anderer Prozesse, die bei glei-
Daraus erhält man auch die maximal gewinnbare
chen Heißkörper- und Kaltkörpertemperaturen ablaufen.
Arbeit (Exergie) für ein stationäres System, bei dem
der untere Wärmebehälter gerade die Umgebung ist.
Frage 20.1
Wie groß ist der thermische Wirkungsgrad einer Carnot-
Da die beiden Zustandsänderungen zwischen 2 → 3 und Maschine, die zwischen 1200 K und 300 K betrieben wird?
4 → 1 isotherm ablaufen, lassen sich die Entropiedifferen- Wie groß ist die Gesamtentropieerhöhung dieser Maschi-
zen in (20.6) leicht berechnen, und man erhält: ne, wenn der Heißkörper eine Temperatur von 1400 K und
Q23 Q der Kaltkörper (Umgebung) eine Temperatur von 283 K
+ 41 = 0. (20.7) hat und eine Wärme Q41 = −2000 J an die Umgebung ab-
T2 T1
gegeben wird?
Eine Wärme dividiert durch eine Temperatur bezeichnet
man als reduzierte Wärme. An (20.7) sieht man, dass
die Summe der reduzierten Wärmen für diesen rever- Bei der hier angestellten Betrachtung zum thermischen
siblen Prozess gleich null ist. Betrachten wir nun noch Wirkungsgrad und den Entropiedifferenzen des Carnot-
die Entropieänderung für den gesamten Prozess. Hier- Prozesses sind wir von einem allgemeinen Arbeitsme-
bei müssen die beiden Wärmebehälter (Heißkörper (HK) dium ausgegangen. Deshalb gelten die hier gemachten
und Kaltkörper (KK)) mit betrachtet werden. Die Gesamt- Aussagen ganz allgemein für beliebige Stoffe und nicht
entropieerhöhung ist gegeben durch: nur für ideale Gase.
ΔSges = ΔSKK + ΔSHK + ΔSProzess . (20.8)
Frage 20.2
Die beiden Entropieänderungen der Wärmebehälter las- Welchen thermischen Wirkungsgrad hätte die Carnot-
sen sich leicht berechnen, wenn man beachtet, dass die Maschine aus der letzten Frage, wenn sie vollständig
Wärmebehälter jeweils eine konstante Temperatur haben. reversibel arbeiten könnte und somit die obere Tempera-
Es ergibt sich: tur der Heißkörpertemperatur und die untere Tempera-
tur der Umgebungstemperatur entsprechen würde? Wie
−Q41 −Q23 1 Q23 1
ΔSges = + = −Q41 + . unterscheidet sich dieser thermische Wirkungsgrad von
TKK THK TKK Q41 THK dem aus Frage 20.1?
(20.9)
630 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik
Gehen wir nun noch einmal zurück zu (20.7), die uns gleichen oberen und unteren Prozesstemperaturen ar-
eine Beziehung zwischen den reduzierten Wärmen im beiten. Eine der Maschine arbeitet reibungsfrei. Die
Prozess angibt. Wir betrachten nun einen allgemeinen zweite arbeitet reibungshaftet. Dann hat natürlich die
Kreisprozess im T,S-Diagramm. reibungsbehaftet arbeitende Maschine einen kleineren
thermischen Wirkungsgrad als die reversibel arbeiten-
T de Maschine (vergleiche hierzu auch die Frage 20.2). Es
δQA
gilt also:
δQB (−Q41,irrev )
ηth,irrev = 1 − . (20.14)
Q23,irrev
S
In dieser Gleichung weist der Index „irrev“ noch ein-
Abb. 20.2 Allgemeiner reversibler Kreisprozess im T ,S -Diagramm
mal darauf hin, dass die Wärmen beim irreversibel
arbeitenden Prozess auftreten. Für die irreversibel ar-
Thermodynamik
Diesen reversiblen Kreisprozess können wir durch beitende Maschine gilt also nicht die Gleichheit dieses
beliebig viele „Carnot-Teilprozesse“ annähern (Abb. Ausdruckes mit den Temperaturen nach (20.4), das be-
20.2). Das zeigt uns, dass für jeden der „Carnot-Teil- deutet, dass für die irreversibel arbeitende Maschine
prozesse“ natürlich die Summe der reduzierten Wärmen nicht gleich null
ist!
δQA δQB
+ =0 (20.11) Für die reversibel arbeitende Maschine können wir
TA TB
hingegen (20.4) benutzen:
sein muss. Summieren wir nun alle reduzierten Wär-
T1
men aller „Carnot-Teilprozesse“ auf, so finden wir, ηth,rev = 1 − . (20.15)
dass das Umlaufintegral T2
Setzen wir nun (20.3) und (20.4) in (20.13) ein, so ergibt
δQrev
=0 (20.12) sich:
T
Q23,irrev Q
sein muss. Dies zeigt, dass die in (20.7) definierte Größe + 41,irrev < 0. (20.16)
der reduzierten Wärme für den betrachteten reversi- T2 T1
blen Kreisprozess eine Zustandsgröße sein muss! Wir
Die Gleichung (20.16) zeigt uns sehr schön, dass für
kennen diese Zustandsgröße schon aus Kap. 18 und
den irreversibel arbeitenden Prozess die Summe der
haben sie dort als Entropie kennengelernt.
reduzierten Wärmen nicht mehr gleich null ist. Es ist
vielmehr so, als ob dem Prozess „etwas Wärme fehlt“.
δQrev
dS = .
T Betrachten wir nun zum Abschluss unserer Überlegun-
gen einen beliebigen Kreisprozess, der sich aus einem
Unsere oben dargestellten Überlegungen gelten für re- reversibel ablaufenden Anteil und einem irreversibel
versible Prozesse, weshalb wir den Index „rev“ bei ablaufendem Teil zusammensetzt. Dieser Prozess ist
der Wärme verwendet haben. Vergleichen wir nun schematisch in Abb. 20.3 in einem T,S-Diagramm dar-
zwei Carnot-Maschinen miteinander, die zwischen den gestellt.
20.2 Ideale Gase 631
S S2 > S1 . (20.19)
Abb. 20.3 Reibungsbehafteter Kreisprozess im T ,S -Diagramm Ist der Prozess vollständig reversibel, so hat man:
Thermodynamik
20.2 Ideale Gase p
1 2
T
V1 V2 V S1 S2 S
a b
Einfache Zustandsänderungen idealer Gase
Abb. 20.4 Isobare Zustandsänderung im a p ,V -Diagramm und im b T ,S -
lassen sich durch einen allgemeinen Diagramm
Zusammenhang beschreiben
Wir gehen zunächst von einem reinen Gas aus. Für dieses
können sich nach (19.1) die thermischen Zustandsgrößen V1 T v1 T
p, V und T ändern. Für diese einfachen Zustandsände-
= 1 bzw. = 1. (20.21)
V2 T2 v2 T2
rungen des Systems nehmen wir nun an, dass eine dieser
Größen konstant gehalten wird. Weiterhin wollen wir Aus dem ersten Hauptsatz für ein geschlossenes System,
auch noch den Fall eines adiabaten Systems (δQ = 0) in (18.8), folgt:
diesem Abschnitt betrachten. Es wird angenommen, dass
U2 − U1 = WV,12 + Q12 bzw.
bei den Zustandsänderungen nur Volumenänderungsar-
beit auftritt. Die dadurch möglichen vier Zustandsände- u2 − u1 = wV,12 + q12 . (20.22)
rungen werden im Folgenden kurz betrachtet. Für die Volumenänderungsarbeit nach (17.8) ergibt sich
für eine isobare Zustandsänderung:
Die isobare Zustandsänderung (p = konstant)
2
Bei der isobaren Zustandsänderung bleibt der Druck kon- WV,12 = − pdV = −p(V2 − V1 ) bzw.
stant. In Abb. 20.4 ist eine solche Zustandsänderung 1
beispielhaft in einem p,V- und in einem T,S-Diagramm wV,12 = −p(v2 − v1 ). (20.23)
dargestellt. Zunächst folgt aus der thermischen Zustands-
gleichung (19.25) für die Zustandsänderung zwischen Dies verdeutlicht, dass die Fläche unter der Zustandsän-
dem Zustand 1 und dem Zustand 2: derung vom Zustand 1 zum Zustand 2 im p,V-Diagramm
632 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik
p T p T
1 1 2
2
2
Q12 = WV,12
1 2
1
WV,12
Q12 = U2 – U1
V S1 S2 S V1 V2 V S1 S2 S
a b a b
Abb. 20.5 Isochore Zustandsänderungen im a p ,V -Diagramm und im b T ,S - Abb. 20.6 Isotherme Zustandsänderungen im a p ,V -Diagramm und im b T ,S -
Diagramm Diagramm
der Volumenänderungsarbeit entspricht (Abb. 20.4). Setzt Das bedeutet, dass die zugeführte Wärme ausschließ-
man (20.23) in (20.22) ein, so folgt: lich zu einer Erhöhung der inneren Energie des Systems
benutzt wird. Ist die spezifische Wärmekapazität bei kon-
2 stantem Volumen konstant, so folgt:
Q12 = U2 − U1 + p(V2 − V1 ) = H2 − H1 = m cp (T ) dT.
1 u2 − u1 = q12 = cv (T2 − T1 ). (20.29)
(20.24)
Thermodynamik
p1 T
= 1. (20.27) Die Volumenänderungsarbeit bei der isothermen Zu-
p2 T2 standsänderung lässt sich aus (17.8) berechnen:
Thermodynamik
Die adiabate Zustandsänderung (Q12 = 0) p2 vκ2 = p1 vκ1 , bzw. pV κ = konst. (20.39)
Bei der adiabaten Zustandsänderung wird keine Wärme Da der Adiabatenexponent κ stets größer als eins ist,
mit der Umgebung ausgetauscht. Für diesen Fall lautet verläuft die Adiabate im p,V-Diagramm steiler als die Iso-
der erste Hauptsatz in differenzieller Form: therme.
dU = δWV,12 bzw. du = δwV,12 . (20.34) Betrachten wir nun die Entropieänderung entlang einer
Adiabaten für ein ideales Gas, (19.36). Dazu vergleichen
Setzen wir in (20.34) die Definition der Volumenände- wir den Ausdruck auf der rechten Seite von (19.36) mit
rungsarbeit nach (17.8), bzw. die Beschreibung der inne- (20.36) für ein konstantes cv . Man sieht sofort, dass für
ren Energie nach (19.28) ein, so folgt die hier betrachtete Adiabate die Entropieänderung gleich
null ist. Man spricht deshalb auch von einer reversiblen
cv (T ) dT = −p dv. (20.35) Adiabaten. Hätten wir bei der adiabaten Zustandsände-
rung nicht nur die Volumenänderungsarbeit berücksich-
In (20.35) muss nun noch der Druck p aus der thermischen tigt, sondern z. B. auch Reibungsarbeit, so wäre es natür-
Zustandsgleichung (19.25) ersetzt werden, damit man die lich zu einer Änderung der Entropie bei dieser adiabaten
Gleichung integrieren kann. Damit erhält man: Zustandsänderung gekommen. Abbildung 20.7 stellt die
reversibel adiabate Zustandsänderung im p,V- und T,S-
2 Diagramm dar.
dT dv dT v1
cv (T ) = −R bzw. cv (T ) = R ln . Die Fläche unterhalb der Zustandsänderung vom Zu-
T v T v2
1 stand 1 zum Zustand 2 kennzeichnet im p,V-Diagramm
(20.36) wiederum die Volumenänderungsarbeit und im T,S-
Diagramm die übertragene Wärme, die hier gleich null
Setzen wir cv = konst. voraus, so lässt sich das Integral in ist.
(20.36) leicht bestimmen, und es ergibt sich:
(κ − 1 )
Die polytrope Zustandsänderung
T2 v1 T2 v2
cv ln = R ln bzw. ln (κ − 1 )
=0 Bei der reversibel adiabaten Zustandsänderung wird kei-
T1 v2 T1 v1 ne Wärme übertragen. Bei der isothermen Zustandsände-
(κ − 1 ) (κ − 1 ) rung wird hingegen die gesamte übertragene Wärme in
bzw. T2 v2 = T1 v1 , (20.37) Volumenänderungsarbeit umgesetzt. Beide Zustandsän-
derungen lassen sich durch die allgemeine Zustandsbe-
wobei der Adiabatenexponent κ wie in (20.38) definiert ziehung
ist (Für ein reales Gas kann man allgemein zeigen, dass
κ = −(cp /cv )(v/p) (∂p/∂v)T ist. Dies bedeutet aber auch, pvn = konst. bzw. pV n = konst. (20.40)
634 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik
γ=0
γ = cv
n=1
γ = cp
n=0 γ
1 1
pv n = konst. s – γlnT = konst.
a v b s
dieser Beziehung in anderen Zustandsgrößen erfolgt ge- Dieser Sachverhalt ist in Abb. 20.8 in einem p,v- und
nauso wie bei der adiabaten, und man erhält: in einem T,s-Diagramm dargestellt
Im T,s-Diagramm kann man alle Zustände durch
Tvn−1 = konst. bzw. T p−(n−1)/n = konst.. (20.41)
den Zusammenhang s − γ ln T = konst. beschreiben,
wobei γ die in Abb. 20.8 gezeigten Werte annimmt.
Für diese Zustandsänderung lässt sich die Volumenände-
rungsarbeit nach (17.8) berechnen. Man erhält:
2 2
Eine übersichtliche Zusammenstellung der Änderungen
1 aller Größen für die hier besprochenen Zustandsänderun-
WV,12 = − pdV = −p1 V1n dV
Vn gen eines idealen Gases findet sich in Tab. 20.1.
1 1
% n− 1 &
p1 V1 V1
=− 1− . (20.42)
n−1 V2
Wie sich Gemische idealer Gase
Setzt man dieses Ergebnis in den ersten Hauptsatz nach thermodynamisch beschreiben lassen
(20.22) ein, so ergibt sich für die übertragene Wärme für
cv = konst.:
Bei vielen technischen Prozessen besteht das Arbeitsme-
n−κ dium aus einem Gemisch von Gasen (z. B. bei der Ver-
Q12 = mcv (T2 − T1 ) = mcn (T2 − T1 ), wendung von Luft). Nachfolgend wird gezeigt, wie sich
n−1
solche Gemische thermodynamisch beschreiben lassen.
n−κ
cn = cv . (20.43)
n−1
Definitionen
In dieser Gleichung wurde die spezifische Wärmekapa-
zität bei einer polytropen Zustandsänderung durch cn Bevor wir die Zustandsgleichungen und Zustandsände-
gekennzeichnet. rungen für Gemische idealer Gase besprechen, sollen zu-
nächst einige allgemeine Definitionen angegeben werden.
Gemische aus zwei Gasen bezeichnet man als binäre Ge-
Es ist nun sehr interessant festzustellen, dass alle mische, haben sie drei Komponenten, so bezeichnet man
in diesem Abschnitt behandelten Zustandsänderun- sie als ternäre Gemische. Gemische mit vielen Komponen-
gen durch den funktionalen Zusammenhang nach ten bezeichnet man als polynäre Gemische. Nimmt man
(20.40) (pvn = konst.) beschrieben werden können, an, dass sich K verschiedene Komponenten in dem Ge-
samtsystem befinden, so ergibt sich die Gesamtmasse m
20.2 Ideale Gase 635
v1 T1 v1κ −1 T1 vn1 −1
v, T T = T1 v= T1 T v = v1 T= vκ −1
T= vn − 1
q12 = cv nn− κ
p1
q12 q12 = p1 v1 ln p2 q12 = cp (T2 − T1 ) q12 = cv (T2 − T1 ) q12 = 0 − 1 ( T2 − T1 )
κ −1 n − 1
p1 v1 v1 p1 v1 v1
wV,12 wV,12 = −q12 wV,12 = −p1 (v2 − v1 ) wV,12 = 0 wV,12 = κ −1 v2 −1 wV,12 = n −1 v2 −1
s2 − s1 = cv nn− κ
p1 T2 T2 T2
s2 − s1 s2 − s1 = R ln p2 s2 − s1 = cp ln T1 s2 − s1 = cv ln T1 s2 − s1 = 0 −1 ln T1
aus den Einzelmassen der Komponenten mi zu: Zustandsgleichungen für Gemische idealer Gase
K Wir betrachten nun ein Gemisch idealer Gase, das aus
Thermodynamik
m= ∑ mk . (20.45) K Komponenten besteht. Nach der Hypothese von Dal-
k=1 ton wirkt ein Gemisch idealer Gase in einem Behälter
so auf die Wände, als ob die Komponenten unabhängig
Entsprechendes gilt für die Gesamtmolmenge des Stoffes
voneinander vorhanden wären. Dies ist plausibel, da bei
n, wenn die Molmenge des i-ten Stoffes ni ist:
idealen Gasen keinerlei Wechselwirkungen zwischen den
K Molekülen vorliegen und die Komponenten sich nicht ge-
n= ∑ nk . (20.46) genseitig beeinflussen können. Nehmen wir also an, dass
k=1 jede Komponente des Gemisches das gesamte Volumen
Der Massenanteil ξ i des i-ten Stoffes und der Molanteil (V) ausfüllt und dass alle Komponenten im thermischen
ψi des i-ten Stoffes sind durch die folgenden Definitionen Gleichgewicht miteinander stehen, also alle die gleiche
gegeben: Temperatur haben, so kann man für die i-te Komponen-
te des Gemisches und auch für das gesamte Gemisch die
mi ni thermische Zustandsgleichung (19.25) schreiben als:
ξi = , ψi = . (20.47)
m n
pi V = mi Ri T, pi V = ni Rm T, pV = mRG T. (20.51)
Summiert man die Molanteile oder die Massenanteile
über alle Komponenten auf, so muss die Summe natür- Summiert man nun über alle Komponenten des Gemi-
lich immer eins ergeben. Dies folgt sofort aus (20.45) und sches, so erhält man:
(20.46). Der Partialdruck pi der Komponente i wird durch
K
die folgende Gleichung definiert, wobei p der Gesamt-
druck des Gemisches ist: ∑ pk = p, (20.52)
k=1
pi = ψi p. (20.48) 1 K K
RG = ∑
m k=1
m k Rk = ∑ ξ k Rk . (20.53)
Die mittlere Molmasse des Gemisches ist definiert durch: k=1
K Es ist also ersichtlich, dass man für das ideale Gasge-
∑ Mk nk K misch einfach eine mittlere spezifische Gaskonstante des
m k=1
MG =
n
=
n
= ∑ ψk Mk . (20.49) Gemisches definieren kann und damit die thermische
k=1 Zustandsgleichung eines Gemisches identisch ist zu der
Zwischen den Molanteilen und den Massenanteilen be- thermischen Zustandsgleichung eines reinen Stoffes. Wei-
steht der folgende Zusammenhang: terhin erkennt man aus (20.52), dass beim Einsetzen der
Definitionsgleichung für den Partialdruck nach (20.48)
Mi ni Mi diese Gleichung identisch erfüllt wird.
ξi = = ψ. (20.50)
K MG i
∑ Mk nk Die kalorischen Eigenschaften von Gemischen idealer Ga-
k=1 se lassen sich auch sehr einfach ableiten. Hierzu bestim-
636 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik
Leitbeispiel Antriebsstrang
Der Diesel-Prozess als Kreisprozess mit einem Idealen Gas
und im Vergleich mit dem Carnot-Prozess
p T
q23 THK
q23 THK 3
2 3
2
p = konst. 4
v = konst.
s = konst. 4
q41 TKK
q41 TKK
1 1
Thermodynamik
v s
a b
Diesel-Prozess im a p ,v - und b T ,s -Diagramm
Wir wollen auch hier wieder einen Bezug zu unse- Wir nehmen nun an, dass wir die Gase im Motor als
rem Leitbeispiel herstellen. Im Abschnitt „der Carnot- ideale Gase betrachten können und dass cv und cp kon-
Prozess als idealer Kreisprozess“ hatten wir festge- stant sind. Wir wollen nun auch bei diesem Prozess den
stellt, dass der Carnot- Prozess den besten thermischen thermischen Wirkungsgrad berechnen:
Wirkungsgrad erreicht. Hier liegt nun die Frage nahe,
wie hier andere, technisch wichtige Kreisprozesse ab- w12 + w23 + w34 + w41 q + q41
ηth = − = 23
schneiden. Aus diesem Grund wollen wir noch einmal q34 q23
einen Kreisprozess eines Verbrennungsmotors etwas (−q41 )
genauer betrachten. Wir wählen hierzu den Diesel- = 1− .
q23
Prozess und weisen darauf hin, dass dieser Prozess im
Kap. 21 auch noch einmal behandelt wird.
Die zugeführte spezifische Wärme q23 wird bei kon-
Beim Diesel-Prozess wird der Brennstoff nach der re- stantem Druck und die abgeführte spezifische Wärme
versibel adiabaten Verdichtung der angesaugten Luft q41 wird bei konstantem Volumen übertragen. Damit
(1 → 2) eingespritzt. Hierbei bewegt sich der Kolben ergibt sich:
nach unten während der Verbrennungsvorgang ab-
läuft, sodass man eine Gleichdruckverbrennung errei- (−q41 )
ηth = 1 −
chen kann. Die Wärmezufuhr (2 → 3) wird also isobar q23
angenommen. Wir denken uns hierzu wieder einen cv (T4 − T1 ) 1 (T4 − T1 )
Heißkörper konstanter Temperatur, der die notwendi- = 1− = 1− .
cp (T3 − T2 ) κ (T3 − T2 )
ge Wärme bereitstellt. Nach der reversibel adiabaten
Entspannung (3 → 4) wird das Ausstoßen der Abgase
als isochore Wärmeabgabe (4 → 1) an die Umgebung Der thermische Wirkungsgrad lässt sich nun in Ab-
(Kaltkörper) behandelt. Nach der Verbrennung liegt hängigkeit des Verdichtungsverhältnisses ε und des
der Zustandspunkt 3 des Diesel-Prozesses vor. Die obi- Einspritzverhältnisses ϕ berechnen (siehe hierzu auch
ge Abbildung zeigt den Prozessverlauf in einem p, v- Kap. 21). Beim Diesel-Prozess verläuft die Verbren-
und in einem T, s-Diagramm. nung bei konstantem Druck:
20.2 Ideale Gase 637
v1 v3 Prozess:
ε= , ϕ= . κR
v2 v2 q23,Diesel = cp (T3 − T2 ) = (T3 − T2 )
κ−1
Man erhält:
= 1004,5(1547,8 − 979,6) J/kg
ϕκ − 1 = 570,76 kJ/kg.
ηth = 1 − .
κ εκ −1 ( ϕ − 1)
Diese zugeführte spezifische Wärme soll für den
Carnot-Prozess gleich groß sein:
Zum Vergleich des Diesel-Prozesses mit dem vorher
beschriebenen Carnot-Prozess sehen wir uns nun noch q23, Carnot = 570,76 kJ/kg.
ein Beispiel an:
Die spezifischen Wärmen, die bei beiden Prozessen an
Wir nehmen an, dass ein Diesel-Prozess und ein Carnot- die Umgebung abgegeben werden, können aus den
Prozess zwischen den gleichen minimalen und maxi- thermischen Wirkungsgraden der Prozesse berechnet
malen Temperaturen arbeiten. Beide Prozesse werden werden:
mit dem als ideal zu betrachtenden Gas Luft Gemisch
(κ = 1,4, R = 287 J/(kg K)) betrieben. Wir wollen weiter q41,Diesel = −(1 − ηth,Diesel )q23 = −208,89 kJ/kg,
annehmen, dass zwischen der konstanten Heißkörper- q41,Carnot = −(1 − ηth,Carnot )q23 = −119,86 kJ/kg.
temperatur und der obersten Prozesstemperatur 30 K
Unterschied herrschen. Ebenfalls haben wir 30 K Un- Damit ergibt sich nun für jeden Prozess die spezifische
terschied zwischen der niedrigsten Prozesstemperatur Gesamtentropieerhöhung nach (20.8) zu:
und der Temperatur des Kaltkörpers, der durch die Um- Δsges = ΔsKK + ΔsHK + ΔsProzess .
Thermodynamik
gebung gegeben ist. Die vier Zustandspunkte haben
beim Dieselprozess die folgenden Zustandsgrößen: Die spezifische Entropieänderung für beide Kreispro-
zesse ist gleich null und man erhält:
Zustandspunkte beim Diesel-Prozess
−q41 −q23
Δsges = ΔsKK + ΔsHK = + ,
Zustandspunkt 1 2 3 4 TKK THK
p (bar) 1 48,5 48,5 1,9
T (K) 323,15 979,6 1547,8 613,1 wobei TKK = TU = 293,15 K und THK = 1577,8 K ist.
v (km3 /kg) 0,92744 0,05797 0,09159 0,92610 Damit ergibt sich:
−q41 −q23
Δsges, Diesel = +
Es soll nun zunächst der thermische Wirkungsgrad bei- TKK THK
der Prozesse miteinander verglichen werden. 208,89 −570,76
= + = 350,8 J/(kg K),
Für den Carnot-Prozess erhalten wir aus (20.4): 293,15 1577,8
−q41 −q23
Tmin 323,15 Δsges, Carnot = +
ηth,Carnot = 1 − = 1− = 0,79. TKK THK
Tmax 1547,8 119,86 −570,76
= + = 47,1 J/(kg K).
Für den Dieselprozess ergibt sich aus den oben ange- 293,15 1577,8
gebenen Gleichungen:
Hieran erkennt man die deutlich größere spezifische
v1 0,92744 v4 Entropieerhöhung bei dem Diesel-Prozess. Dies liegt
ε= = = 16, ϕ= = 10,1. natürlich daran, dass die hier angenommene Wär-
v2 0,05797 v3
meübertragung vom Heißkörper, der eine konstante
ϕκ − 1
ηth,Diesel = 1 − κ −1 Temperatur besitzt, bei sehr viel größeren Temperatur-
κ ε ( ϕ − 1) unterschieden während der Zustandsänderung statt-
(10,1)1,4 − 1 findet als beim Carnot-Prozess. Berechnen wir nun
= 1− = 0,634. noch zum Schluss die spezifischen Arbeiten beider
1,4(16)0,4 (10,1 − 1)
Prozesse als Differenz der zu- und abgeführten spezifi-
Hieran erkennen wir zunächst den deutlich größeren schen Wärmen. Es ergibt sich:
thermischen Wirkungsgrad des Carnot-Prozesses.
wCarnot = 450,9 J/kg,
Nun wollen wir die Frage beantworten, wie groß die wDiesel = 361,87 J/kg.
spezifische Gesamtentropieerhöhung bei beiden Pro-
zessen ist, wenn wir voraussetzen, dass die beiden die In der Box für das Leitbeispiel in Kap. 21 werden wir
gleiche spezifische Wärme vom Heißkörper zur Verfü- dann noch auf einen Vergleich des Diesel-Prozesses mit
gung gestellt bekommen. Man erhält für den Diesel- dem Otto-Prozess näher eingehen.
638 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik
men wir zunächst die innere Energie und die Enthalpie Isolation Trennwand
des Gemisches aus den einzelnen Anteilen der Kompo-
nenten (für konstante Werte von cv und cp ). Man erhält:
VI, pI = pII VII, pII
K K K
UG = ∑ Uk = ∑ mkuk = ∑ cvk mk T,
k=1 k=1 k=1
K K K a
HG = ∑ Hk = ∑ mkhk = ∑ cpk mkT. (20.54)
k=1 k=1 k=1
p = pI = pII
Hieraus folgt für die spezifischen Wärmekapazitäten ei- V = VI + VII
nes Gemisches:
K
cvG = ∑ cvk ξ k , b Isolation Trennwand
k=1
K Abb. 20.9 Irreversible Vermischung zweier Gase
cpG = ∑ cpk ξ k . (20.55)
k=1
Zur Berechnung der Entropieänderung gehen wir von der
Aus allen oben stehenden Gleichungen wird klar, dass
Definitionsgleichung der Entropie aus (18.20). Für den
man Gemische idealer Gase ganz genauso behandeln
vorliegenden Prozess müssen wir also eine gedachte, re-
kann, als ob man es mit einem reinen idealen Gas zu tun
Thermodynamik
Thermodynamik
zifische Entropieerhöhung für ideale Gase mithilfe von
formal berechnen, indem man die beiden Gaskompo- (19.36) berechnen. Man erhält:
nenten einzeln betrachtet und für jede Komponente die
Entropieerhöhung bei der isothermen Expansion nach v2 p1
s2 − s1 = R ln = R ln . (20.64)
(19.37) bestimmt. v1 p2
Man erkennt sofort aus (20.65), dass für den Fall a = b = 0 Die Volumenänderungsarbeit bei der isothermen Zu-
die Beziehung (20.21) für das ideale Gas erhalten wird. standsänderung lässt sich wieder aus (17.8) berechnen:
Für die Volumenänderungsarbeit nach (17.8) ergibt sich
2 2
wieder (20.23), da ja der Druck konstant bleibt. Verwendet RT1 a
man den ersten Hauptsatz nach (20.22), so folgt mithilfe wV,12 = − pdv = − − 2 dv
v−b v
von (19.50) für ein Van-der-Waals-Gas mit cv = konst.:
1
1
q12 = u2 − u1 + p(v2 − v1 ) = h2 − h1 v −b a a
= RT1 ln 1 − +
a a v2 − b v2 v1
= − + cv (T2 − T1 ) + p(v2 − v1 ). (20.66)
v1 v2 v1 − b a a
bzw. WV,12 = m RT1 ln − + .
Man erkennt, dass im Unterschied zum idealen Gas die v2 − b v2 v1
ersten zwei Summanden auf der rechten Seite hinzuge- (20.72)
kommen sind. Aus dem ersten Hauptsatz, (20.22), folgt für die übertra-
Die Entropieänderung bei dieser Zustandsänderung lässt gene spezifische Wärme:
sich mithilfe der Gleichung (19.53) bestimmen, indem
v2 − b
man die Temperatur mithilfe der thermischen Zustands- q12 = −wV,12 + u2 − u1 = RT1 ln . (20.73)
v1 − b
gleichung ersetzt. Man erhält:
Für die Entropiedifferenz bei dieser Zustandsänderung
T2 v2 − b
s2 − s1 = cv ln + R ln . (20.67) ergibt sich schließlich aus (19.53):
T1 v1 − b
v2 − b
s2 − s1 = R ln . (20.74)
Die isochore Zustandsänderung (V = konstant) v1 − b
Thermodynamik
Die isotherme Zustandsänderung (T = konstant) Setzen wir die spezifische Wärmekapazität bei konstan-
tem Volumen als konstant voraus, so lässt sich das Inte-
Bei der isothermen Zustandsänderung bleibt die Tempe- gral in (20.76) leicht bestimmen, und es ergibt sich:
ratur konstant. Aus (19.38) folgt für diese Zustandsände-
T2 v −b
rung: cv ln = R ln 1 ,
T1 v2 − b
p + a
a 1 v21 (v − b ) bzw. T (v − b)R/cv = konst. (20.77)
p + 2 (v − b) = konst., = 2 .
v ( v1 − b ) Diese Gleichung zeigt beim Vergleich mit (19.53) wieder,
p2 + v2a
2 dass für die reversibel adiabate Zustandsänderung die
(20.71) Änderung der Entropie gleich null ist. Eliminiert man aus
20.3 Reale Gase 641
Isotherme v = 100 vK
p = 2 pK Isotherme
v = vK
p = 1,1 pK Isotherme
obiger Gleichung noch die Temperatur mithilfe der ther- (20.62) aus, die besagt, dass die Enthalpie bei der adia-
mischen Zustandsgleichung, so folgt schließlich: baten Drosselung konstant bleibt:
a
p + 2 (v − b)(cv +R)/cv = konst. (20.78) h1 = h2 bzw. dh = 0.
v
Vergleicht man diese Gleichung mit der entsprechenden
Beziehung für das ideale Gas, (20.39), so erkennt man, Aus dem totalen Differenzial der Enthalpie findet man:
dass für den Grenzfall a = b = 0 und cv + R = cp die Glei-
chungen ineinander übergehen. Weiterhin erkennt man ∂h
Thermodynamik
dh = cp dT + dp = 0. (20.79)
an (20.78), dass es anders als beim idealen Gas hier nicht ∂p T
mehr einfach möglich ist, alle einfachen Zustandsglei-
chungen mittels eines Bildungsgesetzes gemäß (20.40) zu Aus (20.79) erhält man die Temperaturänderung bei der
beschreiben. Würde man z. B. in (20.78) den Exponen- adiabaten Drosselung zu:
ten (cv + R)/cv durch n ersetzen, so könnte man durch
diese Gleichung die Isotherme (n = 1) und die Adiabate ∂T 1 ∂h
(n = (cv + R)/cv ) beschreiben, nicht aber die Isobare und
=− . (20.80)
∂p h cp ∂p T
die Isochore.
Zum Abschluss dieses Abschnitts sei noch der Unter- Den Differenzialquotienten auf der linken Seite der Glei-
schied zwischen dem idealen Gasverhalten und dem chung bezeichnet man als isenthalpen Drosselkoeffi-
realen Gasverhalten anhand eines Beispiels demonstriert. zienten, adiabaten Drosselkoeffizienten oder auch als
Hierzu betrachten wir Zustandsänderungen durch zwei Joule-Thomson-Koeffizienten. Er wird normalerweise
ausgezeichnete Punkte für den Stoff Kohlendioxid. Der mit δh bezeichnet. Der Differenzialquotient auf der rech-
erste ausgezeichnete Punkt ist weit vom kritischen Punkt ten Seite wird isothermer Drosselkoeffizient genannt
entfernt (p = 2pK , v = 100vK), der zweite Punkt ist nahe und mit δT bezeichnet. Damit ergibt sich aus (20.80):
am kritischen Punkt (p = 1,1pK , v = vK ).
δT
Man sieht an Abb. 20.11 sehr deutlich, dass die Isotherme δh = − . (20.81)
cp
und die reversibel adiabate Zustandsänderung, die durch
den Punkt weit weg vom kritischen Punkt gehen, für das Der isenthalpe Drosselkoeffizient δh gibt uns an, wie sich
reale und ideale Gas praktisch gleich sind (Abb. 20.11a), die Temperatur bei der adiabaten Drosselung mit der
während deutliche Unterschiede im Verlauf der Kurven einhergehenden Druckänderung verändert. Diese Größe
für den Punkt sehr nahe am kritischen Punkt auftreten soll im Folgenden bestimmt werden. Der isotherme Dros-
(Abb. 20.11). selkoeffizient lässt sich noch anders ausdrücken. Hierzu
Eine übersichtliche Zusammenstellung der Änderungen gehen wir von dem ersten Hauptsatz in Enthalpieformu-
aller Größen für die hier besprochenen Zustandsänderun- lierung nach Tab. 18.1 aus. Diese lautet für den Fall ohne
gen eines Van-der-Waals-Gases findet sich in Tab. 20.2. chemische Reaktionen für spezifische Größen:
dh = v dp + T ds. (20.82)
Bei der adiabaten Drosselung eines realen Aus dieser Gleichung erhält man den isothermen Drossel-
Gases kann sich die Temperatur ändern koeffizienten zu:
∂h ∂s
Wir betrachten nun nochmals die adiabate Drosselung, al- = δT = v + T . (20.83)
lerdings jetzt für ein reales Gas. Hierzu gehen wir von ∂p T ∂p T
642 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik
Tab. 20.2 Zustandsbeziehungen für ein reales Gas, das sich mit der Van-der-Waals-Zustandsgleichung beschreiben lässt ( p̃ = p + a/v2 , ṽ = v − b )
Isotherme Isobare Isochore reversibel Adiabate
T = konst. p = konst. v = konst. δq = 0
−(cv +R)/cv −(cv +R)/cv
Beziehung p̃1 T1 = p̃2 T2
zwischen RT1 a
− 2 =
RT2 a
− 2 p1 + a/v21 p2 + a/v21 (c +R)/cv
p̃1 ṽ1 v
(c +R) /cv
= p̃2 ṽ2 v
p̃1 ṽ1 = p̃2 ṽ2 =
Zuständen 1 ṽ1 v1 ṽ2 v2 T1 T2
und 2 T1 ṽR/cv
= T2 ṽR/cv
1 2
(cv +R)/cv
ṽ1 a a ṽ1
p, v p = p̃1 − 2 p = p1 v = v1 p = − 2 + p̃1
ṽ v v ṽ
(cv +R)/R
T a a T
p, T T = T1 p = p1 p= p̃1 − 2 p = − 2 + p̃1
T1 v1 v T1
R/cv
ṽ a 1 1 ṽ1
v, T T = T1 T = T1 + ṽ − 2 v = v1 T = T1
ṽ1 R v2 v1 ṽ
ṽ2 a a
q12 q12 = RT1 ln q12 = − + q12 = cv (T2 − T1 ) q12 = 0
ṽ1 v1 v2
cv (T2 − T1 ) + p1 (v2 − v1 )
ṽ1 a a a a
wV,12 wV,12 = RT1 ln + − wV,12 = −p1 (v2 − v1 ) wV,12 = 0 wV,12 = − + cv (T2 − T1 )
ṽ2 v1 v2 v1 v2
ṽ2 T2 T2
s2 − s1 s2 − s1 = R ln s2 − s1 = cv ln + s2 − s1 = cv ln s2 − s1 = 0
Thermodynamik
ṽ1 T1 T1
ṽ2
R ln
ṽ1
Mithilfe der Maxwell‘schen Beziehung nach Tab. 18.3 lässt Seite. Hieraus ergibt sich:
sich der zweite Ausdruck auf der rechten Seite der Glei-
chung umformen. Damit ergibt sich für den isenthalpen RTv3 − 2a(v − b)2 − T (v − b)Rv2 = 0,
Drosselkoeffizienten schließlich:
RT a (v − b )2
% & bzw. = (20.86)
v T ∂v v 2 b v2
δh = − 1− − (1 − βT ) . (20.84)
cp v ∂T p cp oder unter Verwendung der bezogenen Größen nach
(19.41):
An dieser Gleichung erkennt man sehr schön, dass es
keine Temperaturänderung bei der adiabaten Drosselung 4 (3v − 1)2
T= . (20.87)
für ein ideales Gas gibt, da der isobare Ausdehnungs- 27 9v2
koeffizient hierfür β = 1/T ist. Für ein reales Gas (Van-
der-Waals-Gas) kann der isobare Ausdehnungskoeffizient Ersetzt man in (20.87) das bezogene, spezifische Volumen
durch (19.43) beschrieben werden. Damit ergibt sich aus durch die thermische Zustandsgleichung nach (19.42), so
(20.84): lässt sich die Inversionslinie auch in Abhängigkeit von p̄
und T̄ angeben. Man erhält:
v RTv3 − 2a(v − b)2 − T (v − b)Rv2
δh = − . (20.85) p = 24 3T − 12T − 27. (20.88)
cp RTv3 − 2a(v − b)2
In Abb. 20.12 ist der Verlauf der Inversionslinie für ein
Aus (20.85) ist ersichtlich, dass es bei der adiabaten
Van-der-Waals-Gas nach (20.87) und (20.88) in einem T, v-
Drosselung eines Van-der-Waals-Gases zu einer Tempe-
bzw. in einem p, T-Diagramm dargestellt. In diesen Dia-
raturänderung kommen kann. Um herauszufinden, ob es
grammen sind auch die Bereiche eingetragen, für die sich
bei einer adiabaten Drosselung zu einer Temperaturer-
ein Gas bei der adiabaten Drosselung erwärmt oder ab-
höhung (δh < 0) oder einer Abkühlung (δh > 0) kommt,
kühlt.
ist es sinnvoll die Kurve zu bestimmen, für die gera-
de keine Temperaturveränderung stattfindet, für die also Hält man sich in dem Bereich auf, in dem die Temperatur
(1 − βT ) = 0 ist. Diese Kurve bezeichnet man als Joule- des Gases bei einer adiabaten Drosselung sinkt, so kann
Thomson-Inversionslinie. Man erhält sie aus (20.85) man durch wiederholte Anwendung dieser Prozedur das
durch Nullsetzen des Klammerausdrucks auf der rechten Gas so stark abkühlen, dass es sich verflüssigt. Dies ist die
20.4 Der reale Stoff im Nassdampfgebiet 643
3 h = konst.
δh > 0 (Abkühlung) 4
1 v 9 p
a 2 b
Grundlage des Luftverflüssigungsverfahrens nach Lin- Man erkennt in Abb. 20.13, dass im Nassdampfgebiet
de. Ist man in dem Bereich, in dem das Gas bei einer für eine isobare Zustandsänderung auch gleichzeitig die
adiabaten Drosselung die Temperatur erhöht, so kann es Temperatur konstant bleibt und wir es somit mit einer
bei leicht entzündlichen Gasen unter Umständen sogar zu isobar-isothermen Zustandsänderung zu tun haben. Die
einer Selbstzündung durch die adiabate Drosselung kom- zugeführte spezifische Wärme ergibt sich aus dem zwei-
men (z. B. Wasserstoff bei Umgebungstemperatur und ten Hauptsatz und den Beziehungen nach (19.3) und der
Umgebungsdruck, der aus einer Gasflasche in die Umge- darunter angegebenen Merkbox zu:
bung ausströmt).
q12 = T (s2 − s1 ) = T s − s (x2 − x1 ) .
Thermodynamik
(20.89)
Die isobare Zustandsänderung (p = konstant) Bei der adiabaten Zustandsänderung wird keine Wärme
zu- oder abgeführt. Weiterhin setzen wir wieder vor-
Bei der isobaren Zustandsänderung bleibt der Druck kon- aus, dass die Zustandsänderung reibungsfrei abläuft. In
stant. In Abb. 20.13 ist eine isobare Zustandsänderung in Abb. 20.15 ist eine reversibel adiabate Zustandsänderung
einem p,v- und in einem T,s-Diagramm skizziert. in einem p,v- und in einem T,s-Diagramm skizziert.
644 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik
t.
ns
ko
p=
1 T, p 2 1 2
T=
kon
st.
wV,12 q12
v′ v1 v2 v′′ v s′ s1 s2 s′′ s
a b
=k 1
1 ons q12
t.
v s
a b
T1
T2 2
wV,12 2
v s
a b
Man erkennt, dass die Entropie bei dieser Zustandsände- Frage 20.5
rung gleich bleibt (s2 = s1 ). Da keine Wärme zugeführt Bei einer reversibel adiabaten Zustandsänderung im
wird, ist q12 = 0, und man erhält für die spezifische Volu- Nassdampfgebiet ist der Ausgangspunkt 1 vollständig
menänderungsarbeit: bekannt (s1 , x1 , v1 , p, T). Vom Zustand 2 ist der Druck
bekannt (und somit die Größen an den Grenzkurven). Be-
wV,12 = u2 − u1 = u2 + x2 u2 − u2 − u1 − x1 u1 − u1 . rechnen Sie den Dampfgehalt.
(20.92)
Antworten zu den Verständnisfragen 645
Antwort 20.1 Der thermische Wirkungsgrad der Carnot- Diagramm haben. Dies führt für die isotherme Zustands-
Maschine berechnet sich nach (20.4). Man erhält: änderung zur größten Entropieänderung. Die Entropie-
änderung ist bei der isochoren Zustandsänderung am
T1 300 kleinsten, da diese im T,S-Diagramm steiler verläuft als
ηth = 1 − = 1− = 0,75.
T2 1200 eine Isobare.
Die Gesamtentropieerhöhung erhält man aus (20.10): Antwort 20.4 Die Volumenanteile (Raumanteile) sind ge-
geben. Damit berechnet sich die Molmasse des Gemisches
1 T2 1 nach (20.49) zu:
ΔSges = −Q34 −
TKK T1 THK
K
1 1200 K 1
= 2 kJ
283 K
−
300 K 1400 K
= 1,35 J/K. MLuft = ∑ ψk Mk = 0,78 MN2 + 0,21 MO2 + 0,01 MAr
k=1
= 28,969 kg/kmol.
Antwort 20.2 Wenn die Carnot-Maschine reversibel zwi- Die Gaskonstante der Luft ergibt sich einfach aus:
schen 1400 K und 283 K arbeiten könnte, würde sie einen
Thermodynamik
thermischen Wirkungsgrad von Rm 8314,3
RLuft = = = 287 J/(kg K).
MLuft 28,969
T1 283
ηth = 1 − = 1− = 0,8
T2 1400
erreichen. Damit wäre der thermische Wirkungsgrad die- Antwort 20.5 Da die Zustandsänderung reversibel adia-
ser Maschine um rund 5 % besser als der Wirkungsgrad bat verlaufen soll, bleibt die Entropie konstant:
der Maschine aus Frage 1.
s2 = s2 − x2 (s2 − s2 ) = s1 .
Antwort 20.3 Die isotherme Zustandsänderung verläuft
als horizontale Linie in einem T,S-Diagramm. Da bei Hieraus lässt sich sofort der Dampfgehalt bestimmen:
allen Zustandsänderungen die gleiche Wärmemenge zu-
geführt wird, müssen alle Zustandsänderungen die glei- s1 − s1
x2 =
che Fläche unter der Zustandsänderung in einem T,S- s2 − s2
646 20 Anwendungen der Hauptsätze der Thermodynamik
Aufgaben
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer).
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
20.1 •• Betrachten Sie einen Carnot-Prozess mit ei- 20.2 • Einem idealen Gas im Zustand 1 wird
nem Van-der-Waals-Gas als Arbeitsmedium. in drei Prozessen die spezifische Wärme q = 200 kJ/kg
zugeführt. Gegeben sind: ϑ1 = 20 ◦ C, p1 = 1 bar, cp =
Der Zustand 1 des Kreisprozesses ist durch die dimen- 1,005 kJ/(kg K), κ = 1,4.
sionslosen Größen T̄1 = 1,5 und v̄1 = 1 gegeben. Im iso-
thermen Entspannungsprozess expandiert das Volumen 1. Berechnen Sie die spezifische Gaskonstante R, die mo-
auf die doppelte Größe; der Zustand 3 liegt auf der kri- lare Masse M und die spezifische Wärmekapazität cv
tischen Isotherme. Vom Van-der-Waals-Medium sind die bei konstantem Volumen. Um welches Gas könnte es
Konstanten in der thermischen Zustandsgleichung be- sich handeln?
kannt: a = 615 Jm3 /kg2 , b = 2,2 · 10−3 m3 /kg, außerdem 2. Geben Sie den Endzustand 2 für den Fall an, dass die
die spezifische Gaskonstante und die spezifische Wärme- Wärme q12 isochor zugeführt wird! Gesucht sind T2
Thermodynamik
Thermodynamik
Technische Anwendungen
thermodynamischer Prozesse
21
Wie beschreiben wir mit
Zustandsänderungen
technische Maschinen?
Welche Formen von
Kreisprozessen lassen sich
unterscheiden?
Wie effizient sind die
Prozesse in Maschinen?
Wie lassen sich
Gas-Dampf-Gemische
thermodynamisch
analysieren?
Thermodynamik
21.1 Kreisprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650
21.2 Arbeits- und Kraftmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653
21.3 Wärmekraftprozesse und thermische Wirkungsgrade . . . . . . . . . . 656
21.4 Kälteprozesse und Leistungszahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664
21.5 Gas-Dampf-Gemische: Feuchte Luft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683
In einem Dieselmotor wird z. B. angesaugte Luft durch gemeinerten Beschreibung können wir somit für beide
den Kolben im Zylinder zunächst verdichtet, dann der Formen auf den Massenstrom bezogene spezifische Grö-
Brennstoff eingebracht, vermischt, gezündet, verbrannt ßen verwenden. Die interne Verbrennung bei offenen Pro-
und anschließend das Gasgemisch entspannt und dabei zessen und die Wärmeübertragung durch einen Wärme-
Arbeit an die Welle abgegeben. Zum Schluss wird das Ab- übertrager bei geschlossenen Prozessen beschreiben wir
gas ausgestoßen. Mit dem Ansaugen frischer Luft beginnt gleichermaßen als Wärmezufuhr. Mit diesen Modellvor-
dann dieser Zyklus erneut. stellungen können wir offene und geschlossene Prozesse
in analoger Art und Weise behandeln.
In diesem Kapitel widmen wir uns zunächst der allge-
meinen thermodynamischen Berechnung und Bewertung Es muss natürlich angenommen werden, dass sich die
von Kreisprozessen. Hier werden wir die Kreisprozesse chemische Zusammensetzung des Arbeitsmediums wäh-
hinsichtlich der Abfolge in ihren einzelnen Teilprozessen rend des Prozesses nicht ändert. Dies ist bei geschlossenen
und der zur vereinfachten Analyse notwendigen Ideali- Prozessen anschaulich gegeben. Bei offenen Prozessen mit
sierungen (z. B. reversible Zustandsänderungen, Arbeits- Verbrennung ist diese Annahme ebenfalls näherungswei-
medium als ideales Gas) diskutieren. Gleichzeitig können se gerechtfertigt, da die eingebrachte Brennstoffmasse im
wir damit die ablaufenden Prozesse und die Effizienz Vergleich zur Masse der Luft gering ist.
der Energieumwandlung in verschiedenen technischen Um einen Kreisprozess technisch zu realisieren, integrie-
Maschinen und Anlagen vergleichend bewerten. Je nach ren wir in einer Anlage Kraft- und Arbeitsmaschinen,
betrachteter Anlage sind unterschiedliche Zustandsände- sodass man auch von Arbeitskraftmaschinen sprechen
rungen zur Betrachtung der Teilprozesse sinnvoll. Dieser kann Ein typisches Beispiel ist eine Gasturbinenanlage,
Sachverhalt wird für verschiedene Anwendungen (z. B. welche aus einem Verdichter, einer Brennkammer und ei-
Motoren, Triebwerke, Kraftwerke, Kältemaschinen und ner Turbine besteht. Je nachdem, ob in der Summe Arbeit
Wärmepumpen) dargestellt. Da bei allen Kreisprozessen gewonnen oder Arbeit zugeführt wird, können wir die-
das Arbeitsmedium in einem Teilprozess verdichtet wird, se Anlagen wiederum den Kraft- oder Arbeitsmaschinen
betrachten wir auch die thermodynamische Beschreibung zuordnen.
von Kolben- und Turboverdichtern.
Oftmals verwenden wir für diese Prozesse Luft aus der Kraftmaschinen werden zur Umwandlung von
Umgebung, sodass der thermodynamische Zustand un- Wärme (z. B. durch Verbrennung, Nuklearreaktion,
seres Arbeitsmediums von den Umgebungsbedingungen Solar- und Geothermie) oder kinetischer Energie
(Druck, Temperatur, Feuchtigkeit) beeinflusst ist. Dies (z. B. Wind, Wasser) in Arbeit eingesetzt, d. h., Ar-
betrifft insbesondere die Klimatisierung von Räumen. Da- beit wird vom System nach außen abgegeben. Dazu
her besprechen wir anschließend die Eigenschaften von gehören z. B. Dampfmaschinen, Motoren und Turbi-
feuchter Luft und die Beschreibung der wichtigsten Zu- nen.
standsänderungen für dieses Arbeitsmedium.
21.1 Kreisprozesse 651
Thermodynamik
ßen Arbeit zugeführt, um daraus einen veränderten
thermodynamischen Zustand des Arbeitsmediums Zunächst betrachten wir hier einige grundlegende Bezie-
zu erhalten. Typische Vertreter sind hier Kolben- hungen zu allgemeinen Kreisprozessen. Wir gehen von der
und Turboverdichter, bei denen das Arbeitsmedium spezifischen Form des ersten Hauptsatzes nach (18.7) aus:
komprimiert und auf einen höheren Druck gebracht
wird.
c2
δq = du − δw = dh − δwt + d + gdz. (21.1)
2
Damit können wir den zyklischen Ablauf verschiede-
ner Zustandsänderungen des Arbeitsmediums und damit Betrachten wir für einen Kreisprozess die geschlossenen
einen Kreisprozess erreichen. Betrachten wir dazu den Kurvenintegrale über den Prozessverlauf, so ergibt sich:
Arbeitszyklus eines Viertaktmotors im p,V-Diagramm
(Abb. 21.1). Von 0 → 1 wird Frischluft oder ein Brennge- δq = du − δw
misch angesaugt (1. Takt), und von 1 → 2 wird das ange-
saugte Arbeitsmedium verdichtet (2. Takt). Die Abfolge c2
2 → 3 → 4 beschreibt den Verlauf während der Brenn- = dh − δwt + d + gdz. (21.2)
2
stoffeinspritzung und Selbstzündung bzw. der Fremd-
zündung des Brenngemisches und somit die Wärmezu- Das geschlossene Kurvenintegral ist für jede Zustands-
fuhr durch Verbrennung. Die Abfolge 4 → 5 stellt die größe (also auch für die spezifische innere Energie und
anschließende Entspannung des Verbrennungsgases un- die spezifische Enthalpie) gleich null; im Gegensatz zu
ter Arbeitsabgabe dar (3. Takt). Zum Schluss erfolgen von den Kurvenintegralen der Prozessgrößen (Arbeit, Wär-
5 → 5 das Auspuffen und von 5 → 0 das Ausschieben me). Da bei einem Kreisprozess nach einem Umlauf der
der restlichen Verbrennungsgase (4. Takt). Somit dienen Ausgangszustand wieder erreicht werden muss, müssen
der 1. Takt und der 4. Takt nur dem Wechsel des Arbeits- auch die Kurvenintegrale der kinetischen und potenziel-
mediums. len Energie gleich null werden. Somit erhalten wir:
Zur thermodynamischen Berechnung solcher Prozessab-
läufe verwenden wir sogenannte Vergleichsprozesse, bei δq = − δw = − δwt = −w. (21.3)
denen alle Zustandsänderungen des Arbeitsmediums in
den Teilprozessen als reversibel angesehen werden. Die
Mit dieser Gleichung (21.3) wird w als spezifische
Teilprozesse werden dann durch einfache reversible Zu-
Kreisprozessarbeit eingeführt. Die spezifische Kreispro-
standsänderungen (z. B. isobar, isochor usw.) dargestellt.
zessarbeit ist nach (21.3) gleich dem Kurvenintegral über
Durch diese Idealisierungen erhalten wir einfache Zusam- die dem Arbeitsmedium zugeführten und den vom Ar-
menhänge zur Auslegung und Berechnung der Kreispro- beitsmedium abgegebenen spezifischen Wärmen. Das
zesse. Gleichzeitig stellt solch ein Vergleichsprozess den Kurvenintegral der spezifischen Wärmen kann daher
652 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse
2
w12 = wV,12 + wdiss,12 = − pdv + wdiss,12 . (21.5)
auch hier die eingeschlossene Fläche die Kreisprozessar-
Thermodynamik
1
beit darstellt.
In einem offenen System gilt für die technische Arbeit bei Hierbei unterschieden wir rechts- und linkslaufende
Vernachlässigung der Änderungen der potenziellen und Prozesse (Rechts- und Linksprozesse). Diese Bezeich-
kinetischen Energie: nung erfolgt anhand der Abfolgerichtung der einzel-
nen Zustandsänderungen im T,s- oder p, v-Diagramm.
2 Rechtsprozesse laufen „in Uhrzeigerrichtung“ und Links-
wt,12 = vdp + wdiss,12 . (21.6) prozesse „entgegen der Uhrzeigerrichtung“ in diesen
1 Darstellungen ab.
Die aus einem irreversiblen Kreisprozess erhaltene nutz- Die spezifische Kreisprozessarbeit stellt die bei einem
bare technische Arbeit ist somit die Kreisprozessarbeit mi- Rechtsprozess abgegebene (w < 0) bzw. einem Linkspro-
nus der Dissipationsarbeit. Für reversible Kreisprozesse, zess zuzuführende (w > 0) spezifische Arbeit dar. Sie
wie wir sie im Folgenden betrachten wollen, erhalten wir entspricht gleichzeitig dem Kurvenintegral der spezifi-
aus (21.3) und (21.5): schen technischen Arbeit wt .
δq = − δw = − δwV
Rechtsprozesse geben in der Summe Arbeit durch
Umwandlung aus zugeführter Wärme und Arbeit
= pdv = − δwt = − vdp = −w, (21.7)
ab. Diese Prozesse stellen Wärmekraft- und Ver-
brennungskraftprozesse dar.
und es ergibt sich aus dem zweiten Hauptsatz eine ein-
fache grafische Veranschaulichung. Nach (18.20) gilt für Linksprozessen wird Arbeit zugeführt, um Wär-
reversible Zustandsänderungen: me, welche bei einem Teilprozess zugeführt wird,
bei einer höheren Temperatur in einem ande-
δqrev = Tds. (21.8) ren Teilprozess abzugeben. Diese Prozesse stellen
Kältemaschinen- und Wärmepumpenprozesse dar.
Damit sind für einen reversiblen Vergleichsprozess in der
Darstellung im T, s-Diagramm die Flächen unter den Kur-
venverläufen ein Maß für die zu- und abgeführten spe- Für die Bewertung der Qualität eines Kreisprozesses be-
zifischen Wärmen, und die eingeschlossene Fläche ver- trachten wir das Verhältnis von Nutzen zu Aufwand.
anschaulicht nach (21.8) direkt die spezifische Kreispro-
zessarbeit (siehe Abb. 21.2). Im p, v-Diagramm sind in Für Rechtsprozesse ist der Nutzen die netto abgegebene
entsprechender Weise die Flächeninhalte unter den Kur- spezifische Kreisprozessarbeit (w < 0) und der Aufwand
ven ein Maß für die Volumenänderungsarbeit, sodass die zugeführte spezifische Wärme (qzu > 0). Das Verhält-
21.2 Arbeits- und Kraftmaschinen 653
nis ist der thermische Wirkungsgrad des Kreisprozesses: den Druck eines gasförmigen Arbeitsmediums durch Ar-
beitszufuhr. Sie können als Kolben- oder als Strömungs-
−w |w | q + qab q − |qab | |q |
ηth = = = zu = zu = 1 − ab . maschinen in einer oder mehreren Stufen ausgeführt sein.
qzu qzu qzu qzu qzu Bei Kolbenverdichtern erfolgt die Druckerhöhung durch
(21.9) Verringerung des Arbeitsraums in einem Zylinder, in dem
sich ein Kolben bewegt. Die dabei auftretenden thermo-
Für Linksprozesse sind unterschiedliche Definitionen
dynamischen Zustandsänderungen können anschaulich
zweckmäßig und gebräuchlich. Bei einem Kältemaschi-
durch den Zusammenhang zwischen Druck des Arbeits-
nenprozess ist der Nutzen die im Kühlraum aufgenom-
gases und Zylindervolumen dargestellt werden. Kolben-
mene, d. h. dem Arbeitsmittel zugeführte, spezifische
verdichter erreichen dabei sehr hohe Drücke bei relativ
Wärme (qzu > 0) und der Aufwand die zugeführte spezi-
kleinen Volumenströmen. Größere Volumenströme kön-
fische Arbeit (w > 0). Das Verhältnis dieser Größen nennt
nen in Turbomaschinen verdichtet werden. Auf einer
man Kälteleistungszahl:
angetriebenen drehenden Welle übertragen sogenannte
qzu Laufschaufeln Arbeit auf das kontinuierlich strömende
εK = . (21.10)
w Arbeitsmedium und führen diesem damit Energie zu. Die
erhöhte Strömungsgeschwindigkeit wird anschließend in
Bei Wärmepumpenprozessen ist der Nutzen die abgege-
stillstehenden Leitschaufeln verzögert, wodurch es in der
bene spezifische Heizwärme (qab < 0), sodass in diesem
Summe zur gewünschten Druckerhöhung des Arbeits-
Fall die Wärmeleistungszahl (oder Wärmezahl) durch
mediums kommt. Der Begriff Turboverdichter bzw. Tur-
|qab | bomaschine weist auf die sich drehende Bewegung (lat.
ε WP = (21.11) turbare: drehen) der Welle hin. Dies gilt auch für eine an-
w
dere wichtige Turbomaschine, die Kraftmaschine (Gas-,
dargestellt wird. Die Bestimmung dieser Parameter für
Thermodynamik
Dampf-)Turbine, bei der, aus der Entspannung eines gas-
idealisierte Vergleichsprozesse ist eine wichtige Aufgabe oder dampfförmigen Arbeitsmediums, Arbeit an die Wel-
der technischen Thermodynamik und soll im folgenden le abgegeben wird.
Abschnitt näher erläutert werden. Dabei ist anzumerken,
dass nicht nur die Qualität (thermischer Wirkungsgrad,
Leistungszahl) den Wert eines Kreisprozesses beschreibt,
sondern auch die Quantität (Größe der gewinnbaren Ar- Wie beschreiben wir die thermodynamischen
beit bzw. Leistung oder der erreichbaren Kälteleistung)
die praktische Ausführung bestimmt.
Vorgänge in Kolbenmaschinen?
% 1,4−1 & 3 2
1,4 kg J 6 1,4
P= 0,4 287 300 K −1
1,4 − 1 s kg K 1
= 80,6 kW
sowie:
4
1,4−1 1
6 1,4
T2 = 300 K = 500,5 K
1
und natürlich Q̇ = 0 W. V3 V4 V1 V
Für b) polytrop ergibt sich: Abb. 21.4 Darstellung der Arbeitsweise eines Kolbenverdichters mit schädli-
chem Raum (V3 > 0)
% 1,2−1 &
1,2 kg J 6 1,2
P= 0,4 287 300 K −1
1,2 − 1 s kg K 1 In der technischen Ausführung wird der Kolben durch
= 71,9 kW die Ventileinbauten nicht am Zylinderkopf anliegen, und
es verbleibt ein sogenannter schädlicher Raum (V3 > 0).
sowie Das darin eingeschlossene verdichtete Gas wird beim
Zurückgehen des Kolbens zunächst expandieren, bevor
Thermodynamik
1,2−1 frisches Gas angesaugt werden kann. Diese Entspannung
6 1,2
T2 = 300 K = 404,4 K und mit Arbeitsabgabe kann ebenfalls als polytrope Zustands-
1
änderung betrachtet werden (Abb. 21.4).
kg 287 J 1,2 − 1,4
Q̇ = 0,4 (404,4 − 300) K Für die gesamte technische Arbeit ergibt sich daraus:
s 1,4 − 1 kg K 1,2 − 1
= −30 kW. Wt = Wt,12 + Wt,34 = Wt,12 − |Wt,34 | , (21.14)
Für c) isotherm gilt mit n = 1 nach Tab. 20.1: und mit p3 = p2 sowie p4 = p1 aus (21.13) erhält man,
wenn man annimmt, dass die Polytropenexponenten für
p2 kg J 6 die Verdichtung und die Entspannung gleich sind:
P = ṁRT1 ln = 0,4 287 300 K ln
p1 s kg K 1 % n− 1 &
= 61,7 kW n p2 n
Wt = (p1 V1 − p4 V4 ) −1
n−1 p1
sowie % n− 1 &
n p2 n
T2 = T1 = 300 K und Q̇ = −P = −61,7 kW. = p1 (V1 − V4 ) −1 . (21.15)
n−1 p1
Man erkennt hier sehr schön, dass die aufzubringende Das geförderte Volumen (Ansaugvolumen): (V1 − V4 ) ist
Leistung bei der isothermen Verdichtung am gerings- also infolge des schädlichen Raums um V4 verringert. Das
ten ist. Allerdings muss hier der Verdichter ideal ge- Hubvolumen ist nun (V1 − V3 ). Führen wir als dimensi-
kühlt werden, was technisch nicht zu realisieren ist, und onslose Größen das Druckverhältnis π, den Füllungsgrad
die Verdichtungsendtemperatur entspricht natürlich der μ und eine Größe ε s zur Charakterisierung des schädli-
Ansaugtemperatur. Die höchste Endtemperatur wird im chen Volumens ein:
betrachteten Beispiel bei der reversibel adiabaten Verdich-
tung erreicht, wobei aufgrund der höheren Temperaturen p2 V1 − V4 V3
π= , μ= , εS = , (21.16)
auch die aufzubringende Leistung am größten ist. Bei der p1 V1 − V3 V1 − V3
betrachteten polytropen Verdichtung muss ein Wärme-
strom von 30 kW an die Umgebung abgeführt werden. so erhalten wir als Zusammenhang zwischen diesen Grö-
ßen:
Frage 21.1
Warum wird bei Gasturbinenanlagen mitunter die ange- μ = 1 − ε S π 1/n − 1 . (21.17)
saugte Luft durch Wassereinspritzung vor der Verdich-
tung gekühlt? Diese Beziehung zeigt anschaulich, wie für ein gewünsch-
tes Verdichtungsdruckverhältnis der schädliche Raum
656 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse
wt,Verl,12
Bei Großverdichtern kann daher durch eine Steuerung
des schädlichen Volumens (Zu- und Abschalten von zu- 2
sätzlichen „schädlichen Räumen“) der geförderte Mas-
senstrom bei konstanter Drehzahl geregelt werden. In der 2,rev
Praxis kann der schädliche Raum bei Ventilverdichtern p1
wt,12
wt,12,rev
bis auf 1 bis 2 % und bei Schiebeverdichtern auf 3 bis 4 %
des Hubvolumens vermindert werden.
1
Frage 21.2
Welcher Zusammenhang ergibt sich zwischen dem
Druckverhältnis π und dem relativen Schadraum ε s für
den Grenzfall eines Kolbenverdichters mit schädlichem s
Raum, bei dem keine Förderung des Arbeitsmediums
mehr vorliegt? Abb. 21.5 Veranschaulichung zur Definition des isentropen Verdichterwir-
kungsgrades
wt,12,rev h1 − h2,rev
Turbomaschinen (z. B. Turboverdichter oder Gasturbi-
nen) werden nach der Strömungsrichtung des Arbeits- Frage 21.3
mediums im Laufschaufelkranz in Axial-, Radial- oder Wie kann der isentrope Turbinenwirkungsgrad in einem
Diagonalmaschinen eingeteilt. Bei einem Turboverdichter h,s-Diagramm veranschaulicht werden?
wird das angesaugte Arbeitsmedium durch die Rotati-
on der Laufschaufeln unter Zufuhr von Arbeit zunächst
beschleunigt und anschließend zur Druckerhöhung ver-
zögert. Die thermodynamische Beschreibung über Eintritt
(Ansaugen), Druckerhöhung (Verdichtung) und Austritt
21.3 Wärmekraftprozesse und
(Ausstoßen) kann daher in gleicher Weise wie für Kol- thermische Wirkungsgrade
benverdichter erfolgen. Da es sich hier um einen offenen
Fließprozess handelt, werden wir im Allgemeinen spezi-
fische Größen zur Beschreibung verwenden. Die Gehäu- Wir betrachten nun verschiedene Wärmekraftprozesse.
seabmessungen sind bei Turbomaschinen oftmals recht Bei diesen Rechtsprozessen wird dem verdichteten Ar-
groß, sodass diese in guter Näherung als adiabat bezüg- beitsmedium Wärme durch Verbrennung oder Wärme-
lich der Umgebung betrachtet werden können und die übertragung zugeführt und durch anschließende Ent-
Verdichtungs- bzw. Entspannungsprozesse im Idealfall spannung in der Summe Arbeit erhalten. Diese Arbeit
reversibel adiabat (isentrop) ablaufen könnten. kann direkt zum Antrieb einer Maschine (motorische
Prozesse) oder als Schubarbeit bei Triebwerksprozessen
Die in der Realität auftretenden Verluste werden hier genutzt werden. Durch Energieumwandlung in einem
durch sogenannte isentrope Wirkungsgrade erfasst. Der Generator in Gas- oder Dampfkraftanlagen kann diese
isentrope Verdichterwirkungsgrad ηsV setzt die im rever- Arbeit auch zur Erzeugung elektrischer Energie einge-
sibel adiabaten Fall aufzuwendende technische Arbeit ins setzt werden.
Verhältnis zur wirklich aufzuwendenden technischen Ar-
beit für das gewünschte Druckverhältnis (Abb. 21.5). Ver-
nachlässigt man die kinetischen und potenziellen Ener- Die Beschreibung motorischer Prozesse
gieänderungen, so erhält man:
kann allgemein durch den gemischten
wt,12,rev h − h1 Vergleichsprozess nach Seiliger erfolgen
ηsV = = 2,rev . (21.18)
wt,12 h2 − h1
Der Seiliger-Prozess ist der Vergleichsprozess für Ver-
Entsprechende Überlegungen führen bei Turbinen als brennungsmotoren, da er die realen Vorgänge in ver-
Arbeitsmaschinen zur Definition des isentropen Turbi- schiedenen Motorvarianten in guter Näherung darstellt
nenwirkungsgrades ηsT als Verhältnis von wirklicher zu und außerdem den Otto- und den Diesel-Prozess als
21.3 Wärmekraftprozesse und thermische Wirkungsgrade 657
p = konst.
2 5
2
s = konst. v = konst.
5 q51
q51 1
1
v s
a b
Spezialfälle beschreibt. Dieser Prozess soll daher hier Zur Ermittlung des thermischen Wirkungsgrades benöti-
etwas ausführlicher betrachtet werden, um die Vorge- gen wir die zu- und abgeführten spezifischen Wärmen:
hensweise bei der Behandlung von Vergleichsprozessen
mit Gasen als Arbeitsmedium zu erläutern. Betrach- qzu,23 = q23 = u3 − u2 (isochor),
ten wir zunächst nochmals Abb. 21.1. Die Besonderheit qzu,34 = q34 = h4 − h3 (isobar),
des Seiliger-Prozesses liegt nun in der Beschreibung der
qab = q51 = u1 − u5 (isochor).
Wärmezufuhr während des Verbrennungsvorgangs. Die-
Thermodynamik
se kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Wird der Somit erhalten wir für den thermischen Wirkungsgrad
Brennstoff mit der Luft vorgemischt (z. B. im Vergaser) nach (21.9):
und das angesaugte Gemisch nach der Verdichtung z. B.
durch einen Zündfunken fremdgezündet, verläuft die |qab | u5 − u1
Verbrennung sehr rasch, sodass sich der Arbeitskolben ηth = 1 − = 1− . (21.23)
qzu u3 − u2 + h4 − h3
im Zylinder während der Verbrennung fast in gleicher
Position befindet und der Verbrennungsvorgang als iso- Zur weiteren Analyse benötigen wir nun die Zusammen-
chore Wärmezufuhr idealisiert werden kann. Wird der hänge zwischen den kalorischen Zustandsgrößen (u, h)
Brennstoff in angesaugte und bereits hochverdichtete Luft und den thermischen Zustandsgrößen (p, T, v) für das
direkt eingespritzt, kann er aufgrund der vorliegenden jeweilige Arbeitsmedium. Bei Gasprozessen wird oft-
hohen Temperaturen selbst zünden. Hier können wir den mals ideales Gasverhalten angenommen. Moderne Ver-
Ablauf der Verbrennung durch den Einspritzvorgang und brennungsmotoren arbeiten mittlerweile bei sehr hohem
die Kolbenbewegung so steuern, dass eine isobare Wär- Druck, sodass vielfach zur genauen Berechnung Real-
mezufuhr erreicht wird. gasverhalten berücksichtigt werden muss. Betrachten wir
Der Seiliger-Prozess umfasst nun beide Möglichkeiten hingegen den vereinfachten Fall eines kalorisch perfekten
durch eine Aufteilung des Verbrennungsvorgangs (2 → Gases (cv und cp = konst.), so gilt mit (20.25) und (20.29):
3 → 4 in Abb. 21.1). Der Prozess wird durch folgende re-
versible Zustandsänderungen beschrieben (Abb. 21.6): q23 = u3 − u2 = cv (T3 − T2 ) ,
q34 = h4 − h3 = cp (T4 − T3 ) ,
1 → 2: reversibel adiabate Verdichtung, q51 = u1 − u5 = cv (T1 − T5 ) . (21.24)
2 → 3: isochore Wärmezufuhr,
3 → 4: isobare Wärmezufuhr, Damit erhält man für (21.23) mit κ = cp /cv für ein ideales
4 → 5: reversibel adiabate Entspannung, Gas:
5 → 1: isochore Wärmeabgabe.
T5 − T1
ηth = 1 − c
Die Zustandsänderungen der Verdichtung und der Wär- T3 − T2 + cpv (T4 − T3 )
mezufuhr werden durch folgende dimensionslose Kenn- ⎛ ⎞
T5
T1 ⎝ − 1
größen zur verallgemeinerten Beschreibung charakteri- = 1−
T1
⎠. (21.25)
siert: T2 T3
− 1 + κ T3 T4 − 1
T2 T2 T3
2
s = konst. 2 v = konst.
4 4
q41
q41
1 1
v s
a b
1 → 2: reversibel adiabate Verdichtung: (Abb. 21.7). Er ist daher der Vergleichsprozess für Ver-
brennungsmotoren, die mit Gleichraumverbrennung ar-
T2 /T1 = (v1 /v2 )κ −1 = εκ −1 , beiten.
2 p = konst. 4
s = konst.
v = konst.
4
q41 q41
1 1
v s
a b
Thermodynamik
motor eingeschränkt?
Leitbeispiel Antriebsstrang
Vergleich des Otto-Prozesses mit dem Diesel-Prozess
Hier sollen nun die bisherigen Ergebnisse genutzt wer- zessarbeit bei gleicher spezifischer Wärmeabgabe) ge-
den, um den Otto- und den Diesel-Prozess miteinander genüber dem Diesel-Prozess. Allerdings ist dann auch
zu vergleichen und eine Bewertung anhand des ther- die Maximaltemperatur (thermische Belastung) beim
mischen Wirkungsgrades vorzunehmen. Stellen wir Otto-Prozess höher.
(21.27) und (21.28) gegenüber,
Der Otto-Prozess ist aber durch die Gefahr der Selbst-
1 zündung in dem möglichen Verdichtungsverhältnis
ηth = 1 − , (21.27)
εκ −1 gegenüber dem Diesel-Prozess eingeschränkt. Verglei-
ϕκ − 1 chen wir nun beide Prozesse bei gleichen maximalen
ηth = 1 − κ −1 , (21.28) Temperatur- und Druckbedingungen, so ergeben sich
ε κ ( ϕ − 1)
für den Diesel-Prozess ein höheres Verdichtungsver-
so sehen wir, dass bei gleichem Verdichtungsverhält- hältnis und eine größere spezifische Kreisprozessarbeit
nis ε der Diesel-Prozess einen kleineren thermischen (eingeschlossene Fläche) bei gleicher spezifischer Wär-
Thermodynamik
Wirkungsgrad aufweist, da das Einspritzverhältnis ϕ meabgabe, wie in der folgenden Abbildung gezeigt.
größer als eins ist. Dies erkennt man im T,s-Diagramm
Die Wärmezufuhr des Diesel-Prozesses findet jetzt bei
in der folgenden Abbildung, da die Isochore bei der
höherer mittlerer Temperatur statt, und bei wieder-
Wärmezufuhr des Otto-Prozesses steiler verläuft als
um gleicher Wärmeabgabe für beide Prozesse ergibt
die Isobare des Diesel-Prozesses.
sich ein höherer thermischer Wirkungsgrad für den
Damit weist der Otto-Prozess eine höhere mittlere Diesel-Prozess. In der Praxis weisen daher Dieselmo-
Temperatur bei der Wärmezufuhr auf, und bei glei- toren größere thermische Wirkungsgrade auf, da hier
cher Wärmeabgabe für beide Prozesse ergibt sich ein das Verdichtungsverhältnis deutlich höher als bei Ot-
höherer Wirkungsgrad (größere spezifische Kreispro- tomotoren gewählt werden kann.
T 3, Otto T 3
p = konst.
v = konst.
3, Diesel
2, Diesel
4 v = konst. 4
2 p = konst.
2, Otto
v = konst. v = konst.
1 1
a s b s
a Vergleich bei gleichem Verdichtungsverhältnis im T ,s -Diagramm. b Vergleich bei gleichem Maximaldruck und gleicher Maximaltemperatur im
T ,s -Diagramm
21.3 Wärmekraftprozesse und thermische Wirkungsgrade 661
q34 q34
Erhitzer
Verdränger-
kolben
V3 = V2 , T 2
Regenerator V4 , T 4 = T 3
Kühler V2 ,T 2 = T1
V1 , T 1
q12
q12
Arbeitskolben
Thermodynamik
T ,s -Diagramm (b) q23
q34
v = konst.
2
T = konst. 4
q41
2 1
q12 q12
1
v s
a b
kungsgrades nur die zu- und abgeführten spezifischen Für Gasturbinenanlagen und Triebwerke ist der
Wärmen bei der isothermen Entspannung und Verdich-
Joule-Prozess der Vergleichsprozess
tung betrachten.
Für ein ideales Gas ergibt sich mit v4 = v1 und v3 = v2 , da
das Arbeitsgas in einem geschlossenen System mit kon- Der Joule-Prozess (mitunter auch Joule-Brayton- oder
stanter Masse vorliegt: Brayton-Prozess) ist der Vergleichsprozess für geschlosse-
ne und offene Gasturbinenanlagen sowie für Triebwerke.
|q12 | RT1 ln (v1 v2 ) T Während bei motorischen Prozessen die Arbeitsmaschi-
ηth = 1 − = 1− = 1− 1. (21.29)
q34 RT3 ln (v4 v3 ) T3 ne (Verdichtung) und die Kraftmaschine (Entspannung)
im Allgemeinen in einem Zylinder integriert sind, sind
Durch die isotherme Wärmezu- und -abfuhr und den in- bei Gasturbinenanlagen der Verdichter und die Gasturbi-
neren regenerativen Wärmeaustausch ist der thermische ne räumlich getrennt, aber z. B. über eine oder mehrere
Wirkungsgrad des Stirling-Prozesses theoretisch gleich Wellen miteinander verbunden. Offene Gasturbinenanla-
groß wie der thermische Wirkungsgrad des Carnot- gen integrieren somit in einem Aggregat einen Verdichter,
Prozesses (siehe Abschn. 20.1). eine Brennkammer und eine Turbine und stoßen mit dem
Abgas nach der Turbine einen Enthalpiestrom in die Um-
Frage 21.6 gebung aus, was wir als Wärmeabgabe interpretieren
Wieso weist der Stirling-Prozess bei gegebenen oberen können. Bei geschlossenen Anlagen ist die Brennkam-
und unteren Prozesstemperaturen den gleichen thermi- mer durch einen Wärmeübertrager ersetzt. Ein weiterer
schen Wirkungsgrad wie der Carnot-Prozess auf? Wärmeübertrager realisiert die Wärmeabgabe an die Um-
gebung.
662 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse
p = konst. 4
2
s = konst.
q41
1 q41 4 1
v s
a b
Brennkammer
p6 2
h2 2
Verdichter
c12 6
Diffusor
–q61
Turbine
2
Thermodynamik
Düse
h1
1
1 2 3 4 5 6
s
a b
Die Zustandsänderungen für die Verdichtung und die Der Joule-Prozess kann auch als Vergleichsprozess für
Entspannung (1 → 2 und 3 → 4) sind als reversibel adia- Strahltriebwerke herangezogen werden. Während bei
bat idealisiert. Die Wärmezufuhr und die Wärmeabfuhr Gasturbinenanlagen die abgegebene Arbeit in der Regel
(2 → 3 und 4 → 1) werden isobar betrachtet (Abb. 21.11). durch einen Generator in elektrische Energie umgewan-
Damit ist der thermische Wirkungsgrad für ein ideales delt wird, soll bei Triebwerken Schub erzeugt werden.
Gas mit cp = konst. als Arbeitsmittel: Das bedeutet, dass z. B. bei einem Flugtriebwerk die Tur-
binenwellenarbeit nur verwendet wird, um den Verdich-
ter anzutreiben. Im Unterschied zu einer Gasturbinenan-
|q41 | h − h1
ηth = 1 − = 1− 4 lage weisen jetzt die Differenzen der kinetischen Energien
q23 h3 − h2 für die ein- und austretenden Massenströme deutliche
Energiebeiträge auf und müssen mit berücksichtigt wer-
T T4 /T1 − 1 T
= 1− 1 = 1− 1, (21.30) den (Abb. 21.12).
T2 T3 /T2 − 1 T2
Die Anströmgeschwindigkeit (Fluggeschwindigkeit) wol-
len wir mit c1 und die Strahlaustrittsgeschwindigkeit mit
wobei T4 /T1 = T3 /T2 aus den Isobaren p2 = p3 und p4 =
c6 bezeichnen. Die Geschwindigkeit am Eintritt wird im
p1 und der Betrachtung für die reversibel adiabaten Zu-
Diffusor mit Druckanstieg vollständig verzögert, was als
standsänderungen (Tp(1−κ )/κ = konst.) bei der Verdich-
reversibel adiabate Verdichtung (1 → 2, h2 = h1 + c21 /2)
tung und der Entspannung folgt.
beschrieben werden kann. Anschließend erfolgen eine
weitere reversibel adiabate Verdichtung (2 → 3) durch
Der thermische Wirkungsgrad hängt damit hier wie beim
den Turboverdichter, die isobare Verbrennung (3 → 4)
Otto-Prozess nur vom Temperaturverhältnis bei der Ver-
und die reversibel adiabate Entspannung in der Turbi-
dichtung ab. Natürlich können wir damit aufgrund der
reversibel adiabaten Verdichtung den Wirkungsgrad auch ne (4 → 5), wobei hier wie bisher die Änderungen in
direkt als Funktion des Verdichtungsdruckverhältnisses der kinetischen Energie vernachlässigt werden können.
π = p2 /p1 darstellen: Am Turbinenaustritt wird der Massenstrom in der Dü-
se beschleunigt, um Schub durch kinetische Energie zu
erhalten. Dieser Beschleunigungsvorgang kann ebenfalls
κ −1 κ −1
T p1 κ 1 κ als reversibel adiabate Entspannung (5 → 6, h5 = h6 +
ηth = 1− 1 = 1− = 1− . (21.31) c26 /2) aufgefasst werden. Durch diese Betrachtung können
T2 p2 π
21.3 Wärmekraftprozesse und thermische Wirkungsgrade 663
Vertiefung: Joule-Prozess
Wie beeinflusst die maximale Temperatur T3 nach der das Maximum der Kreisprozessarbeit bezüglich des
Verbrennung (die sogenannte Turbineneintrittstempe- Druckverhältnisses (∂λ/∂π = 0) erhalten wir den Zu-
ratur) bzw. das Temperaturverhältnis τ = T3 /T1 den sammenhang:
Joule-Prozess? Dazu sehen wir uns die Kreisprozess-
arbeit in einer dimensionslosen Form an: κ
πopt = τ 2(κ −1) .
| w| cp [(T3 − T2 ) − (T4 − T1 )]
λ= =
cp T1 cp T1 Während der thermische Wirkungsgrad mit zuneh-
T3 T2 T mendem Druckverhältnis kontinuierlich ansteigt, er-
= − − 4 + 1.
T1 T1 T1 gibt sich für die maximale Kreisprozessarbeit ein op-
timaler Wert für π, der mit zunehmendem τ ansteigt.
Mit T4 /T1 = T3 /T2 = (T3 /T1 )(T1 /T2 ) folgt daraus:
Obergrenzen in der Turbineneintrittstemperatur sind
κ −1 1− κ hier vor allem durch die Temperaturbeständigkeit der
λ = τ−π κ − τπ κ + 1.
Bauteile in der Brennkammer und der Turbine sowie
Neben dem Druckverhältnis π beeinflusst also auch der jeweiligen Kühlungstechnologie für diese Bauteile
das Temperaturverhältnis τ die Kreisprozessarbeit. Für gegeben.
Thermodynamik
wir die kinetischen Energien einfach in den Verdichtungs- kes ist jedoch die Nutzleistung als Produkt aus Schub-
bzw. Entspannungsprozess einbinden, sodass die gesam- kraft und Fluggeschwindigkeit c1 . Daraus wird der Trieb-
te reversibel adiabate Verdichtung von 1 nach 3 und die werkswirkungsgrad definiert:
gesamte reversibel adiabate Entspannung von 4 nach 6
behandelt werden. Die spezifische Wärmezufuhr und die ṁ(c6 − c1 )c1
ηTW =
spezifische Wärmeabfuhr sind dann durch ṁqzu
2(c6 − c1 )c1 c26 − c21 2c1
qzu = q34 = h4 − h3 , qab = q61 = h1 − h6 (21.32) = = η = ηV ηth .
c26 − c21 2qzu c6 + c1 th
gegeben. Wir erhalten für den thermischen Wirkungsgrad (21.35)
analog zu (21.30) für ein ideales Gas:
Wir erkennen, dass der Triebwerkswirkungsgrad um den
|q61 | h − h1 Faktor ηV (Vortriebswirkungsgrad) kleiner ist als der ther-
ηth = 1 − = 1− 6 mische Wirkungsgrad. Der rein mechanische Vortriebs-
q34 h4 − h3
wirkungsgrad ist wegen c1 < c6 kleiner als eins. Diese
T1 T6 /T1 − 1 T Art der multiplikativen Wirkungsgradbetrachtung wird
= 1− = 1− 1
T3 T4 /T3 − 1 T3 auch verallgemeinert angewendet. Betrachten wir z. B. ei-
κ −1 ne Gasturbinenanlage zur Stromerzeugung (Nutzen), so
1 κ
= 1− ∗ , (21.33) können wir den effektiven Gesamtwirkungsgrad in fol-
π gender Art darstellen:
wobei π ∗ jetzt das Druckverhältnis p3 /p1 für die gesamte |wel |
Verdichtung (Diffusor und Turboverdichter) darstellt. ηeff =
qzu
Mit wt,23 = h3 − h2 = |wt,45 | = h4 − h5 aus der Gleichheit |w | |wtech | |wmech | |wel |
von Turboverdichter- und Turbinenarbeit (wenn Verdich- = theor = ηth ηg ηmech ηel .
qzu |wtheor | |wtech | |wmech |
ter und Turbine auf einer Welle sitzen) können wir den (21.36)
thermischen Wirkungsgrad auch wie folgt angeben
Neben dem thermischen Wirkungsgrad, der die mög-
| w| h − h6 − ( h2 − h1 ) c2 − c21 liche theoretische Arbeit aus der zugeführten Wärme
ηth = = 5 = 6 . (21.34)
qzu qzu 2qzu beschreibt, gehen hier der mechanische Wirkungsgrad
(z. B. Reibungsverluste in Lagern), der elektrische Wir-
Der thermische Wirkungsgrad nach (21.33) oder (21.34) kungsgrad (Verluste im Generator) und der Gütegrad ein.
wird bei Flugtriebwerken als idealer innerer Wirkungs- Dieser beschreibt dabei die im realen Prozess auftreten-
grad bezeichnet. Der eigentliche Nutzen eines Triebwer- den Verluste innerhalb des Kreisprozesses.
664 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse
1
a Clausius-Rankine-Prozess s
b Carnot-Prozess
Dampfkraftprozesse werden nach dem und die isobare Kondensation (Ko, 6 → 1) mit Wärmeab-
Clausius-Rankine-Prozess beschrieben fuhr bis zur Siedelinie. Die von der Turbine abgegebene
Arbeit wird im Generator (G) in elektrische Energie um-
gewandelt.
Bei Dampfkraftprozessen unterliegt das Arbeitsmedium
(im Allgemeinen Wasser) innerhalb des Kreisprozesses Für den thermischen Wirkungsgrad erhalten wir:
Thermodynamik
Vertiefung: Dampfturbine
Wie in Abb. 21.13 gezeigt, sind die Betriebsparame- Wärme zu (isobare Zwischenüberhitzung), bevor dann
ter durch die maximal mögliche Dampftemperatur (T5 ) die Entspannung in der Niederdruckturbine beendet
mitunter so festgelegt, dass sich der Endpunkt der wird. Durch die zusätzliche Wärmezufuhr (6 → 7) und
Entspannung (6) im Nassdampfgebiet befindet. Dann Arbeitsabgabe (7 → 8) erhöht sich auch der thermische
kann es in den letzten Turbinenstufen zu deutlicher Wirkungsgrad, wie in der folgenden Abbildung zu er-
Tropfenbildung und damit zur Erosion der Turbinen- kennen ist.
schaufeln oder des Gehäuses kommen. |q81 |
ηth,ZÜ = 1 −
Um dies zu vermeiden bzw. um die Größen der Trop- q23 + q34 + q45 + q67
fen zu reduzieren, führt man den Dampf nach einer h8 − h1
= 1−
Teilentspannung (in der Hochdruckturbine) nochmals h5 − h2 + h7 − h6
T h
p3 p3
5 7 5 7
Tmax
Tmax p6
K p6 6
3 K 4
4 6
3
Thermodynamik
8
2
2
1
8
1
a s b s
Beide übertragenen Leistungen werden dem Kälteprozess Für die Energiebilanz gilt weiterhin:
zugeführt, deshalb sind keine Betragsstriche notwendig.
Für den linkslaufenden Carnot-Prozess nach Abb. 21.14 0 = Q̇0 + Q̇u + Ẇt .
ergibt sich mit dieser Definition die folgende Leistungs-
zahl: Daraus folgt:
Q̇0,Carnot T0
ε K,Carnot = = . (21.40) TC,u
PCarnot T − T0 Ẇt = −kA(Tu − T0 ) 1 − = 29,17 W
TC,0
Die Leistungszahl ist also umso günstiger, je geringer
und
die zu überwindende Temperaturdifferenz (T − T0 ) ist. In
technisch ausgeführten Kälteanlagen liegt die Kälteleis- Q̇0 100
tungszahl normalerweise zwischen 2 und 4. εK = = = 3,43 oder
Ẇt 29,17
TC,0 240
Beispiel: Kühlung für einen Gefrierschrank Dieses εK = = = 3,43.
TC,u − TC,0 310 − 240
Beispiel für einen Gefrierschrank wurde bereits in Kap. 18
betrachtet. Dort haben wir gesehen, dass die stationär Weil bei gleichbleibendem zugeführtem Wärmestrom
und reversibel arbeitende Maschine bei einer Umgebung- (Kälteleistung) eine immer größere Leistung zugeführt
stemperatur von Tu = 300 K, einer Leistungsaufnahme werden muss (größere zu überwindende Temperaturdif-
von P = Ẇt = 20 W und einem aus der Umgebung zu- ferenz), verringert sich entsprechend die Leistungszahl.
geführten Wärmestrom Q̇0 = kA (Tu − T0 ) (mit A = 8 m2
als Oberfläche des Kühlschranks und k = 0,25 W/(m2 K)
Thermodynamik
p0 q0
b 4 1
v a b s
a b
Luftverdichter saugt kalte Luft vom Zustand 1 an und Unter- oder als Überdruck-Prozess ausgeführt werden.
verdichtet sie reversibel adiabat von 1 nach 2, wobei der Bei dem Unterdruck-Prozess liegt der Druck p auf dem
Druck von p0 auf p und die Temperatur von T1 auf T2 stei- Umgebungsdruckniveau, und Luft wird aus der Umge-
gen. In einem anschließenden Kühler wird die spezifische bung im Zustand 3 angesaugt und nach Durchlaufen des
Wärme q isobar von 2 nach 3 an die Umgebungsluft oder Prozesses im Zustand 2 wieder in die Umgebung ausge-
das Kühlwasser abgegeben. Die abgekühlte Luft wird da- blasen. Bei dem Überdruck-Prozess ist der Druck p0 der
nach in einer Expansionsmaschine reversibel adiabat von Umgebungsdruck, und es wird Luft im Zustand 1 aus
Thermodynamik
3 nach 4 entspannt, wobei sich wieder der Druck p0 ein- dem Kühlraum angesaugt und im Zustand 4 wieder in
stellt. In einer geschlossenen Prozessführung nimmt die diesen ausgeblasen.
Luft in einem Wärmeübertrager von 4 nach 1 aus dem
Kühlraum die spezifische Wärme q0 auf, wobei sie sich Im Kühlraum wird von dem Arbeitsmedium Luft als
maximal bis auf Kühlraumtemperatur erwärmen kann. ideales Gas mit cp = konst. die spezifische Wärmemenge
Im p,v-Diagramm von Abb. 21.16 stellt die Fläche 1–2– q0 von 4 nach 1 aufgenommen:
a–b die aufzuwendende spezifische Verdichterarbeit wV
dar und die Fläche 3–4–a–b die gewinnbare spezifische q0 = cp (T1 − T4 ) (21.42)
Expansionsarbeit wE .
An die Umgebung wird die spezifische Wärmemenge q
Insgesamt muss für den Prozess die spezifische Arbeit von 2 nach 3 abgegeben:
w = wV − |wE | aufgewendet werden (Abb. 21.16a). Die
im Kühlraum isobar von 4 nach 1 aufgenommene spezi- q = cp (T3 − T2 ) (21.43)
fische Wärme q0 (Fläche 4–1–b–a) und die von 2 nach 3
isobar abgegebene spezifische Wärme q (Fläche 2–3–a–b) Wendet man den ersten Hauptsatz auf einen stationären
sind in Abb. 21.16b im T,s-Diagramm dargestellt. Wegen Kaltluftprozess an, so ergibt sich, dass die insgesamt
des Wärmeübergangs in den Wärmeübertragern muss aufzuwendende spezifische Arbeit gleich der negativen
die Kühlluft- bzw. Kühlwassertemperatur T stets unter Summe aller übertragenen spezifischen Wärmen ist:
oder höchstens gleich der tiefsten Temperatur der Zu-
standsänderung 2 → 3 liegen. Ebenfalls muss die Kühl- w = wV + wE = − (q + q0 ) . (21.44)
raumtemperatur T0 stets über oder höchstens gleich der
höchsten Temperatur der Zustandsänderung 4 → 1 sein. Die Leistungszahl für den Kaltluftprozess erhält man
Die Drücke p und p0 können in einem geschlossenen nach einer längeren Rechnung zu:
Prozess frei gewählt werden, sie müssen jedoch so weit
auseinander liegen, dass durch die adiabate Verdichtung 1
ε K, Kaltluft = κ −1 . (21.45)
mindestens die Temperaturdifferenz T − T0 überbrückt p κ
wird: p0 −1
q0 wt
c b a s h5 = h6 h1 h2 h
a b
Verflüssiger (Heizung)
Ein Kreisprozess ist nur dann reversibel, wenn alle 4
Teilprozesse reversibel ablaufen.
5 2
Thermodynamik
von den bisher betrachteten Kreisprozessen unterschei- Drossel
det. Damit hängt die Leistungszahl von dem verwendeten Verdichter
Arbeitsmittel (Kältemittel) ab. Dies ist bei reversiblen
Kreisprozessen nicht der Fall.
Frage 21.8 6 1
In vielen Kältemaschinen werden Drosseln zur Entspan-
nung des Kältemittels verwendet. Welche Zustandsgröße 7
bleibt bei der als adiabat zu betrachtenden Drosselung Verdampfer
konstant? Welcher Vorteil würde sich durch den Einsatz (Gewässer, Erdreich oder Umgebungsluft)
einer Turbine statt der Drosselung ergeben und wieso
werden trotzdem Drosseln verwendet? Abb. 21.19 Prinzipskizze einer Wärmepumpe, die auf dem Kaltdampfprozess
basiert
wt
a c b a s b h5 = h6 h1 h2 h
Die Wärmezahl gibt an, um welchen Faktor die Heiz- Man spricht in diesem Zusammenhang von der Exer-
leistung größer ist als die zugeführte mechanische oder gie der Wärme. Je nach Richtung des Wärmestroms Q̇1
elektrische Leistung, um den Prozess anzutreiben. Je nach und je nach Lage des Temperaturniveaus T1 in Rela-
Einsatzbedingungen kann sie bei handelsüblichen Wär- tion zur Umgebungstemperatur Tu kann man hier die
mepumpen deutlich über 3 liegen. genannten technisch relevanten Fälle unterscheiden: den
Wärmekraftprozess, den Wärmepumpenprozess und den
Die Heizleistung ergibt sich mit dem umgewälzten Kälte-
Kälteprozess.
mittelmassenstrom zu:
Thermodynamik
Q̇ = ṁ (h2 − h5 ) . (21.49)
Der Wärmekraftprozess
Frage 21.9 Einen arbeitsleistenden Prozess, der durch eine Wärme-
Wie unterscheiden sich Wärmepumpen von Kältemaschi- zufuhr auf einem über der Umgebungstemperatur lie-
nen? genden Temperaturniveau gekennzeichnet ist (und da-
durch angetrieben wird), nennen wir Wärmekraftprozess.
In diesem Fall sind die abgegebene Leistung (−Ẇex )
der Nutzen und die zugeführte Wärme pro Zeiteinheit
(Q̇1 ) der Aufwand. Für den reversiblen Prozess wird
Bewertung von Kreisprozessen: Exergie- die Exergie des zugeführten Wärmestroms vollständig
und Anergieströme in gewinnbare technische Leistung umgewandelt. Der
Carnot-Faktor (1 − Tu /T1 ) ist positiv und kleiner als eins,
Abschließend soll hier die Unterscheidung für die ver- d. h., es kann auch im günstigsten Fall nur ein Teil der
schiedenen Kreisprozessführungen anhand der Exergie- zugeführten Wärme in Arbeit umgewandelt werden. Die-
und Anergieströme dargestellt werden. Wir betrachten sen Teil bezeichnen wir als Exergie bzw. bezogen auf
dazu alle Prozesse als geschlossene, stationäre Syste- die Zeiteinheit als Exergiestrom. Den restlichen Teil des
me, bei denen neben der Wärmeübertragung mit der Wärmestroms, die Anergie pro Zeiteinheit, muss für eine
Umgebung nur mit einem weiteren Wärmebehälter eine stationäre Prozessführung als nicht weiter verwendbarer
Wärmeübertragung stattfindet (der Wärmestrom Q̇1 bei Wärmestrom (−Q̇u ) auf Umgebungstemperaturniveau an
konstanter Temperatur T1 ). Für diesen Fall reduziert sich die Umgebung abgeführt werden. Die Exergie- und Aner-
die Exergiebilanz (18.58) aus Kap. 18 auf die schon für gieströme eines reversiblen Wärmekraftprozesses sind in
den Carnot-Prozess bekannte Beziehung, die die gewinn- Abb. 21.21a dargestellt.
bare Arbeit pro Zeiteinheit und die zugeführte Wärme
pro Zeiteinheit in Relation zum thermischen Wirkungs-
grad des Carnot-Prozesses ηth,C setzt: Der Wärmepumpenprozess
Einen arbeitsverbrauchenden Prozess, der durch eine
Tu
−Ẇex = 1− Q̇1 = ηth,C Q̇1 (21.50) Wärmeabfuhr auf einem über der Umgebungstemperatur
T1 liegenden Temperaturniveau gekennzeichnet ist, nennen
wir Wärmepumpenprozess. In diesem Fall sind der ab-
bzw. integriert über eine Zeiteinheit: gegebene Wärmestrom (−Q̇1 ), der zu Heizzwecken ver-
wendet wird, der Nutzen und die zugeführte Leistung
Tu
−Wex = 1− Q1 = ηth,C Q1 . (21.51) (Ẇex ) der Aufwand. Für den reversiblen Prozess wird
T1 die Exergie der zugeführten Leistung, deren umgesetzte
21.5 Gas-Dampf-Gemische: Feuchte Luft 671
Abb. 21.21 Darstellung von Exergie- und Anergieströmen für die technisch
relevanten reversiblen Kreisprozesse
21.5 Gas-Dampf-Gemische:
Energie zu 100 Prozent aus Exergie besteht (z. B. elek- Feuchte Luft
trische Energie), in einen Teil des abgegebenen Wärme-
stroms umgewandelt. Der Carnot-Faktor (1 − Tu /T1 ) ist
In Kap. 20 haben wir schon Gemische idealer Gase ken-
positiv und kleiner als eins, d. h., in diesem Fall ist der ab-
nengelernt und gesehen, dass man ein Gemisch idealer
geführte Wärmestrom größer als die zugeführte Leistung.
Gase genauso wie ein reines ideales Gas behandeln kann,
Den restlichen Teil des abgeführten Wärmestroms, der zu
wenn man nur die thermodynamischen Stoffdaten des
Thermodynamik
100 Prozent aus Anergie besteht, wird durch eine „kos-
Gemisches verwendet. So ist z. B. trockene Luft im We-
tenlose“ Wärmezufuhr (Q̇u ) durch die Umgebung ge-
sentlichen ein ideales Gemisch aus den zwei Gaskompo-
liefert. Wärme wird vom Umgebungstemperaturniveau
nenten Stickstoff (etwa 80 Vol.-%) und Sauerstoff (etwa
auf ein höheres Temperaturniveau „gepumpt“. Mit ande-
20 Vol.-%). Der Einfluss auf die thermodynamischen Ei-
ren Worten: der abgeführte Wärmestrom (−Q̇1 ) setzt sich
genschaften infolge aller anderen Komponenten, wie z. B.
additiv aus der Exergie der zugeführten Leistung (Ẇex )
Kohlendioxid oder Argon, kann normalerweise vernach-
und der Anergie des aus der Umgebung zugeführten
lässigt werden.
Wärmestroms (Q̇u ) zusammen. Die Exergie- und Anergie-
ströme eines reversiblen Wärmepumpenprozesses sind in In diesem Abschnitt wollen wir nun unsere Betrach-
Abb. 21.21b dargestellt. tungen auf sogenannte Gas-Dampf-Gemische erweitern,
die sich von den Gemischen idealer Gase dadurch un-
terscheiden, dass neben den Komponenten des idealen
Der Kältemaschinenprozess
Gases noch mindestens ein Stoff im Gemisch vorliegt,
Einen arbeitsverbrauchenden Prozess, der durch eine der alle Aggregatzustände (fest, flüssig und dampfför-
Wärmezufuhr auf einem unter der Umgebungstempera- mig) annehmen und die entsprechenden Phasenände-
tur liegenden Temperaturniveau gekennzeichnet ist, nen- rungen (Verdunsten, Kondensieren, Schmelzen, Gefrie-
nen wir Kältemaschinenprozess. In diesem Fall sind der ren, Sublimieren und Desublimieren) durchlaufen kann.
aus einem Kühlraum aufgenommene Wärmestrom (Q̇1 ), Der technisch wohl wichtigste Vertreter der Gas-Dampf-
der zur Kühlung dieses Raums dient, der Nutzen und Gemische ist das Gemisch aus der idealen Gaskompo-
die der Kältemaschine zugeführten Leistung (Ẇex ) der nente trockene Luft (als pseudo idealer Reinstoff für ein
Aufwand. Für den reversiblen Prozess wird die Exergie Gemisch aus idealen Gasen) und der realen Kompo-
der zugeführten Leistung, deren umgesetzte Energie zu nente H2 O mit den möglichen Aggregatzuständen fest
100 Prozent aus Exergie besteht (z. B. elektrische Energie), (Eis), flüssig (Wasser) und gasförmig (Dampf). Es reicht
dem zu kühlenden Raum zugeführt. Der Carnot-Faktor jedoch für die Genauigkeitsansprüche normaler techni-
(1 − Tu /T1 ) ist negativ und kann beliebige Werte klei- scher Anwendungen völlig aus, den Wasserdampf als
ner als null annehmen, d. h., in diesem Fall kann der ideales Gas zu beschreiben. Bedeutende technische An-
Wärmestrom, der der Kältemaschine aus dem Kühlraum wendungen für dieses Gas-Dampf-Gemisch sind neben
zugeführt wird, größer als die zugeführte Leistung sein. der Klimatechnik, die Luftkonditionierung zum einen in
Es muss Arbeit aufgewendet werden, um dem zu kühlen- Polymerelektrolytmembran-Brennstoffzellen (PEM), die
den Raum Exergie zuzuführen und Wärme bzw. Anergie zum Protonentransport den Wasserdampf feuchter Luft
zu entziehen. Die Differenz der Beträge aus dem dem benötigen (Elektroosmose), und zum anderen in Kalt-
Kühlraum zugeführten Exergiestrom und dem abgeführ- luftklimaanlagen, deren Energieeffizienz sich durch Was-
ten Anergiestrom ist der der Kältemaschine zugeführte sereinspritzung im Verdichter erhöht. Weiterhin ist der
Wärmestrom (Q̇1 ). Der aus dem Kühlraum aufgenomme- Prozess des Beschlagens von Fensterscheiben z. B. in Fahr-
ne Anergiestrom (der größer ist als der Wärmestrom Q̇1 ) zeugen zu nennen, welcher durch eine entsprechende
672 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse
ckener Luft: sich wie folgt ineinander umrechnen. Nach (20.51) und
(20.52) gilt:
mH2 O kg H2 O
x= mit der Dimension . pL V = mL RL T und pD V = mD RD T
mL kg trockene Luft
(21.52) sowie p = pL + pD . (21.55)
Es gilt also: x = 0 für trockene Luft und x → ∞ für rei- Setzt man dies in die Definitionsgleichung des Wasser-
nes Wasser. Da H2 O im System die drei Aggregatzustände gehalt (21.52) ein, so ergibt sich der Wassergehalt für
fest (Index E für Schnee oder Eis), flüssig (Index W für ungesättigte Luft:
flüssiges Wasser) und dampfförmig (Index D für Dampf)
annehmen kann, setzt sich der Wassergehalt aus drei mD R p R pD
x = xD = = L D = L
Summanden zusammen: mL RD p L RD p − p D
p ϕps
= 0,622 D = 0,622 . (21.56)
x = xD + xW + xE . (21.53) p − pD p − ϕps
Der Summand xD wird auch Dampfgehalt genannt und Für gesättigte Luft gilt eine entsprechende Relation für den
ist, wie wir später noch sehen werden, für ungesättigte Sättigungsgehalt:
Luft identisch mit dem Wassergehalt x. Das Konzentra-
tionsmaß x ist sinnvoll gewählt, da sich für ein System mD,max ps
xs = = 0,622 . (21.57)
feuchter Luft durch Wassereinspritzung oder Auskonden- mL p − ps
sation sehr wohl die Wassermenge, normalerweise aber
nicht die Menge der trockenen Luft ändern kann. Beispiel Welcher Zusammenhang besteht zwischen
Das zweite wichtige Konzentrationsmaß ist die relative dem Sättigungsgrad xD /xS und der relativen Feuchte ϕ?
Feuchte ϕ, die definiert ist als das Verhältnis von Partial- Nach (21.56) und (21.57) gilt:
druck des Dampfes pD zum Dampfdruck von Wasser ps
bei der herrschenden Temperatur, der in diesem Zusam- xD p p − ps p − ps p − ps
menhang auch Sättigungspartialdruck genannt wird: = D =ϕ =ϕ .
xs ps p − pD p − pD p − ϕps
pD
ϕ= . (21.54) Bei nicht zu hohen Temperaturen, wenn ps p ist, gilt da-
ps her näherungsweise:
Es gilt also: ϕ = 0 für trockene Luft und ϕ = 1 für ge- xD
sättigte Luft, das ist feuchte Luft mit der maximalen ≈ ϕ.
xs
Dampfmenge, die sie aufnehmen kann.
21.5 Gas-Dampf-Gemische: Feuchte Luft 673
Frage 21.11 Wie groß sind die Partialdrücke der trockenen Luft und
Warum ist die Aufnahme von Wasser als Dampf in tro- des Wasserdampfes im Gas-Dampf Gemisch?
ckener Luft begrenzt? Da Wasser hier nur in Form von Dampf vorliegt, ermittelt
sich der Wassergehalt x entsprechend seiner Definition
aus:
mH2 O m 0,1 kgWasser kgWasser
Die Dichte der feuchten Luft ist von x= = D = = 0,01 .
mL mL 10 kgtrockene Luft kgtrockene Luft
der Zusammensetzung abhängig
Der Partialdruck des Wasserdampfes kann aus (21.56) be-
Die Dichte der ungesättigten feuchten Luft bestimmt sich rechnet werden. Umgestellt ergibt diese:
aus dem Quotienten aus Gesamtmasse und Gesamtvolu-
men: x 0,01
pD = p= 1 bar = 0,0158 bar
0,622 + x 0,622 + 0,01
mges m + mD m m
ρ= = L = L+ D
V V V V und daraus folgt für den Partialdruck der trockenen Luft:
p p
= ρL + ρD = L + D . (21.58)
RL T RD T pL = p − pD = 1 bar − 0,0158 bar = 0,9842 bar.
Mit der Bedingung nach (21.55), dass die Summe der Par- Welche relative Feuchte liegt nach dem Einspritzen des
tialdrücke den Gesamtdruck ergeben (pL = p − pD ), folgt: Wasserdampfes vor?
p 1 1 pD Hierzu benötigen wir den Sättigungspartialdruck bei der
ρ= − − . (21.59)
Thermodynamik
RL T RL RD T Temperatur von 20 ◦ C. Diesen können wir aus Tab. 19.1
ablesen:
Mithilfe einer massengewichteten spezifischen Gaskon-
stanten Rges für das Gemisch der feuchten Luft kann man ps (20 ◦ C) = 0,0234 bar
die Dichte auch direkt aus der thermischen Zustandsglei-
chung des Gemisches berechnen: und erhalten für die relative Feuchte nach (21.54):
Dies zeigt, dass mit zunehmender relativer Feuchte bei die korrekte Bestimmung der Enthalpie ist, dass der Null-
sonst gleich bleibenden Bedingungen (Gesamtdruck und punkt der Gehalte an flüssigem Wasser und Eis jeweils bei
Temperatur) die Dichte des Gas-Dampf-Gemisches ab- dem Sättigungsgehalt liegt, also für ϑ 0 ◦ C: xW = x − xs
nimmt. bzw. für ϑ 0 ◦ C: xE = x − xs .
Frage 21.12
Die Temperatur eines gesättigten Gas-Dampf-
Warum steigt feuchtere Luft nach oben? Gemischs wird Taupunkttemperatur genannt. Sie
ist eine Funktion der Gemischzusammensetzung
und des Gesamtdruckes.
Bei feuchter Luft lassen sich drei Zustandsbereiche
Die Enthalpie der feuchten Luft setzt sich unterscheiden:
aus mehreren Anteilen zusammen
Ungesättigte feuchte Luft mit 0 < pD <
ps (T ); 0 < ϕ < 1. Sie enthält Wasser nur in
Während wir für die Berechnung der Dichte der feuchten Form von überhitztem Wasserdampf.
Luft die thermische Zustandsgleichung herangezogen ha-
Gesättigte feuchte Luft bei pD = ps (T ); ϕ = 1
ben, benötigen wir nun für die Beschreibung der Enthal-
(bei ϑ 0 ◦ C). Sie enthält gesättigten Wasserdampf
pie der feuchten Luft die kalorische Zustandsgleichung.
und Wasser in flüssiger Form (Nebel, Niederschlag).
Hier müssen wir zuerst den Enthalpie-Nullpunkt festle-
gen. Wir wählen willkürlich den Enthalpie-Nullpunkt für Gesättigte feuchte Luft bei pD = ps (T ); ϕ = 1 (bei
trockene Luft und flüssiges Wasser bei 0 ◦ C und verwen- ϑ 0 ◦ C). Sie enthält außer gesättigtem Wasser-
Thermodynamik
den im Weiteren für die Celsius-Temperatur das Symbol dampf noch Wasser in fester Form (Eisnebel, Schnee,
ϑ. Die Enthalpie ist eine extensive Zustandsgröße und Reif).
lässt sich leicht aus der Summe der massengewichteten
Einzelbeiträge von trockener Luft und Wasser in allen drei
Aggregatzuständen berechnen. Für den eingangs genann-
ten Temperaturbereich können die Stoffwerte in guter Beispiel Es soll die spezifische Enthalpie feuchter Luft
Näherung als konstant angenommen werden. Mit (19.32) bei ϑ = 25 ◦ C und einer relativen Feuchte von 35 % bei
berechnen wir die massenspezifische Enthalpie der idea- Umgebungsdruck (1,01325 bar) ermittelt werden.
len Gase trockene Luft und Wasserdampf. Für flüssiges
Wasser und Eis gelten analoge Gleichungen (spez. Wär- Die feuchte Luft ist ungesättigt. Der Sättigungsparti-
mekapazität c mal Celsius-Temperatur ϑ). Bedingt durch aldruck bei 25 ◦ C beträgt nach Tab. 19.1. ps (25 ◦ C) =
den gewählten Nullpunkt, müssen wir für die Aggre- 0,0317 bar. Daraus ermittelt sich der Wassergehalt nach
gatzustände Eis und Dampf die entsprechenden Pha- (21.56) aus:
senumwandlungswärmen (Schmelzwärme rE bzw. Ver-
ϕps
dampfungswärme rD ) berücksichtigen. Bezogen auf 1 kg x = 0,622
trockene Luft oder (1 + x) kg feuchte Luft ergibt sich so- p − ϕps
mit die folgende spezifische Enthalpie der feuchten Luft. 0,35 · 0,0317 kgWasser
= 0,622
Die Zahlenwerte für die Stoffdaten sind der Tab. 21.1 zu 1,01325 − 0,35 · 0,0317 kgtrockene Luft
entnehmen: kgWasser
= 0,0069 .
h = cpL ϑ + xD cpD ϑ + rD + xW cW ϑ + xE (cE ϑ − rE ) kgtrockene Luft
(21.62)
Aus (21.62) ergibt sich für die spezifische Enthalpie (nur
trockene Luft und Wasserdampf) und den Stoffwerten aus
Für ungesättigte und gerade gesättigte Luft gilt: xD xs
Tab. 21.1:
und xW = 0 sowie xE = 0. Steigt der Wassergehalt in der
Luft über den Sättigungsgehalt hinaus an bzw. wird die
h = cpL ϑ + xD cpD ϑ + rD
sogenannte Taupunkttemperatur unterschritten, so kon-
densiert für ϑ 0 ◦ C flüssiges Wasser in Form von feinen kJ kgWasser
= 1,006 25 ◦ C + 0,0069
Nebeltröpfchen in der Luft aus. Bei tieferen Temperatu- kgtrockene Luft K kgtrockene Luft
ren (ϑ 0 ◦ C) bilden sich feine Eis- oder Schneekristalle
kJ kJ
in der Luft. Für solche übersättigten Zustände, die im so- · 1,92 25 ◦ C + 2500
genannten Nebelgebiet liegen, gilt: xD = xs und xW > 0 kgWasser K kgWasser
bzw. xE > 0. Bei 0 ◦ C können sowohl Nebeltröpfchen als kJ
= 42,7 .
auch Eiskristalle (als auch beide Aggregatzustände zu- kgtrockene Luft
sammen) in der übersättigten Luft auftreten. Wichtig für
21.5 Gas-Dampf-Gemische: Feuchte Luft 675
1
h h h
=
Aufbau eines geradwinkligen (a) =
h = konst. ko
f
und eines schiefwinkligen (b) ns . inie
h ,x -Diagramms nach Mollier
t. ϑ = konst ngsl
cpL,ϑ + xD (cpD ϑ + rD) igu
Sätt
+xWcWϑ
ϑ > 0 °C
ϑ = 0 °C ungesättigt Nebelgebiet
ϑ < 0 °C Wasser
–xErE xw xwhw
Eis Ne
b eli
so
the
Thermodynamik
xE(cEϑ – rE) rm
ϑ = 0 °C e
h=0 x xs
h xrD
=
0
x = konst.
a b
Das h ,x -Diagramm nach Mollier stellt die geprägten Knick der Isothermen entlang der Sättigungsli-
nie führt.
Zustände feuchter Luft anschaulich dar
Da die Enthalpien temperaturabhängig sind, fächern sie
Um Zustände und Zustandsänderungen feuchter Luft sich mit steigenden Temperaturen etwas auf. Für 0 ◦ C
grafisch darzustellen, verwendet man häufig das h,x- kann das Wasser sowohl in Form von Nebeltröpfchen als
Diagramm nach Mollier, das die durch (21.62) beschrie- auch in Form von Eiskristallen in der übersättigten Luft
bene Enthalpie h über dem Wassergehalt x aufträgt. Das vorliegen. Für diese Temperatur gibt es also zwei Iso-
Diagramm hat zwei wesentliche Bereiche, den Bereich der thermen. Die Steigung der einen Isothermen (für reine
ungesättigten Luft und das Nebelgebiet, welche durch Nebeltröpfchen) ist gemäß der Definition des Enthalpie-
die Sättigungslinie getrennt sind. Für die Sättigungslinie Nullpunktes gleich null. Entsprechend ist die Steigung
gilt x = xs , d. h., ϕ = 1. In Abb. 21.22a ist qualitativ ein der anderen Isothermen (für reine Eiskristalle) gleich −rE .
geradwinkliges in Abb. 21.22b ein schiefwinkliges h,x- Treten sowohl Nebeltröpfchen als auch Eiskristalle ge-
Diagramm dargestellt. Ein quantitatives schiefwinkliges meinsam auf (nasser Schnee), so liegen die Zustände
h,x-Diagramm findet man im Abb. 21.23. zwischen diesen beiden Geraden.
Gemäß (21.62) sind Isothermen in dieser Darstellung Ge-
raden, deren Steigungen in den jeweiligen Gebieten gleich Das geradwinklige h,x-Diagramm hat den Nachteil, dass
den Enthalpien des Wassers in den drei Aggregatzu- das technisch wichtige ungesättigte Gebiet nur einen re-
ständen sind. Im ungesättigten Gebiet ist die Steigung lativ schmalen Streifen im Diagramm ausmacht. Durch
gleich der Dampfenthalpie (∂h/∂x)ϑ = hD = cpD ϑ + rD , eine schiefwinklige Darstellung gelingt es, diesen Bereich
im Nebelgebiet für Temperaturen ϑ 0 ◦ C gleich der Ent- weiter auszuweiten. Dies wird dadurch erreicht, dass die
halpie des flüssigen Wassers (∂h/∂x)ϑ = hW = cW ϑ und Isotherme für 0 ◦ C im ungesättigten Gebiet so nach un-
für Temperaturen ϑ 0 ◦ C gleich der Enthalpie des Ei- ten verschoben wird, dass sie horizontal verläuft. Dies
ses (∂h/∂x)ϑ = hE = cE ϑ − rE . Durch die hohe Verdamp- bedeutet, dass jeder Punkt des gesamten Diagramms um
fungsenthalpie unterscheiden sich die Enthalpien von den Betrag xrD vertikal nach unten verschoben wird. Li-
Dampf und Wasser bzw. Eis deutlich, was zu einem aus- nien konstanter Enthalpie verlaufen dann parallel zur
676 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse
kJ
20.000
50.000
0
10.00
0 0 n kg
0 Δh i
00
0 40
45
50
Δx
14
12
0
10
0
0
80
50 %
60
50 % 40 % 60 %
% 20 30 %
%
15
5%
kg trockene Luft
10
φ=
3500
Dampfdruck in bar
80 %
kJ
40 100 %
r
0,9 ba =
ϑ
ei p = 35
0%b
φ = 10 0,8 ba
r °C
Enthalpie h in
r
30 0,7 ba
r
0,6 ba
30
°C
25 0,5 bar
°C 3000
20 0,06
20
°C
0,05
15
°C
10 10
0,04
°C
5 0,03
°C
2500
0
0 0,02
°C
Pol 0
°C
Thermodynamik
(W
as
(E
se
is) 0,01
r)
–5
°C
–10 0
0 5 10 15 20 25 30 35 40
Δh
in kJ 50 10
00
150
0 2000
Δx kg 0
0
g Wasser
Wassergehalt x in
kg trockene Luft
Nebel(tröpfchen)isotherme für 0 ◦ C, von links oben nach Wichtige Zustandsänderungen feuchter Luft
rechts unten, wie in Abb. 21.22b zu sehen ist.
können mit dem h ,x -Diagramm analysiert
Infolge der druckunabhängigen Enthalpie ist das unge- werden
sättigte Gebiet auch für andere Drücke gültig, lediglich
die Sättigungslinie, d. h. der Knick in den Isothermen, ver-
schiebt sich, da der Partialdruck natürlich druckabhängig Mit dem h,x-Diagramm lassen sich die Zustandsänderun-
ist. Mit sinkendem Druck verschiebt sich die Sättigungs- gen feuchter Luft wie Wärmezufuhr, Wärmeabfuhr, Mi-
linie nach rechts, wie man auch in dem h,x-Diagramm in schung feuchter Luftströme, Dampf- oder Wassereinsprit-
Abb. 21.23 sehen kann. zung und Verdunstungsvorgänge anschaulich bewerten
und analysieren.
Die Sättigungslinie (ϕ = 1) stellt eine Grenzlinie im
h,x-Diagramm dar. Mit ihr liegen die Punkte des Wie ändern sich die Zustände feuchter Luft
maximalen Wassergehaltes in dampfförmiger Form bei Wärmeübertragung?
(Partialdruck des Wasserdampfes ist gleich dem Sät- Führt man ungesättigter feuchter Luft Wärme zu, so erhö-
tigungsdruck) fest. Sie trennt das über ihr liegende hen sich Temperatur und Enthalpie, wie wir es von dem
Gebiet der ungesättigten feuchten Luft von dem Verhalten idealer Gase gewohnt sind. Der Wassergehalt
unter ihr liegenden Nebelgebiet. bleibt konstant, und die relative Feuchte verringert sich
entsprechend der Temperaturerhöhung.
Frage 21.13
Wie ändert sich das h,x-Diagramm infolge einer Druck- Das Gleiche gilt auch in umgekehrter Richtung für eine
änderung und warum? Wie ändert sich dann die relative Wärmeabfuhr. Jedoch nur bis zu der Stelle, an der die Sät-
Feuchte in feuchter Luft, wenn bei konstanter Temperatur tigungslinie bzw. der Taupunkt erreicht wird (Punkt 2 in
der Gesamtdruck gesenkt wird? Abb. 21.24). Entzieht man weiter Wärme, so kondensiert
Wasser aus, und es bilden sich feine Nebeltröpfchen. Der
21.5 Gas-Dampf-Gemische: Feuchte Luft 677
h Q=0
ϑ1 4 1
mL1, x1, ϑ 1, h1
mLmix, xmix, ϑ mix, hmix
ϑ2 2
q3′ 4 Mischraum
q13
ϑ3 3′ mL2, x2, ϑ 2, h2
3
=
0
Zustand wandert senkrecht nach unten ins Nebelgebiet. trockene Luft: ṁL1 + ṁL2 = ṁLmix , (21.63)
Aus dem einphasigen Zustand der ungesättigten feuchten Wasser: ṁL1 x1 + ṁL2 x2 = ṁLmix xmix , (21.64)
Luft ist jetzt ein zweiphasiger Zustand aus gasförmi- Energie: ṁL1 h1 + ṁL2 h2 = ṁLmix hmix . (21.65)
ger gesättigter Luft (mit ϕ = 1) und flüssigem Wasser
(mit x → ∞) entstanden. Führt man vom Zustand 1 in Mit den Anteilen der beiden trockenen Luftströme
Abb. 21.24 beginnend insgesamt die spezifische Wärme
Thermodynamik
q13 = h3 − h1 ab, so ergibt sich der zweiphasige Zustand ṁL1 ṁL2
l1 = und l2 = (21.66)
3, wenn das Wasser in Form von feinen Nebeltröpf- ṁL1 + ṁL2 ṁL1 + ṁL2
chen in dem Luftvolumen verbleibt. Scheidet man jedoch
das auskondensierte Wasser an kalten (Wärmeübertra- ergibt sich:
ger) Oberflächen ab und entzieht es dem Volumen, dann
xmix = l1 x1 + l2 x2 , (21.67)
bleibt gerade gesättigte Luft des Zustandes 3‘ zurück. Die
abgeschiedene Wassermenge ist dann gleich dem Gehalt hmix = l1 h1 + l2 h2 . (21.68)
des flüssigen Wassers des (gedachten) Zustandes 3: xW =
x1 − x3‘ . Nach diesem Prinzip funktioniert die Luftent- Den Mischungsprozess können wir sehr gut im h, x-
feuchtung von Klimaanlagen. Heizt man, nachdem man Diagramm darstellen, wie es in Abb. 21.26a zu sehen ist.
das ausgeschiedene Wasser abgeführt hat, die verbleiben- Mit l1 + l2 = 1 lassen sich die Luftstromanteile umformen
de feuchte Luft wieder auf, so erreicht man in Punkt 4 zu:
wieder die ursprüngliche Temperatur (ϑ4 = ϑ1 ). Die nun
zugeführte Wärme q3‘4 = h4 − h3‘ ist jedoch geringer als x2 − xmix xmix − x1
l1 = und l2 = . (21.69)
die ursprünglich abgeführte Wärme q13 , da die abgeschie- x2 − x1 x2 − x1
dene Wassermasse nicht miterwärmt werden muss. Alle
isobar ausgetauschten Wärmen können nach dem ersten Das bedeutet, dass der gesuchte Mischzustandspunkt
Hauptsatz durch Enthalpiedifferenzen ausgedrückt wer- (Punkt M in Abb. 21.26a) auf einer geraden Verbindungs-
den, die als Strecken im h,x-Diagramm abgelesen werden linie zwischen den Zustandspunkten 1 und 2, der Mi-
können. schungsgeraden, liegt. Wir erhalten ihn durch Teilung der
Geraden im Verhältnis l1 : l2 (Hebelgesetz).
Frage 21.14 Aus der Mischung zweier ungesättigter Luftströme kann
Welche Zustandsgröße bleibt bei einer isobaren Erwär- unter bestimmten Bedingungen ein Mischzustand entste-
mung feuchter Luft konstant? Wie verläuft diese Zu- hen, der übersättigt ist, wie die Mischung der Zustände I
standsänderung im h,x- Diagramm? und II zum Zustand N in Abb. 21.26a zeigt. Ein Beispiel
für solche Mischungen ist heißer und feuchter Rauch, der
aus einem Schornstein in eine kalte Umgebung aufsteigt
Die Mischung ohne und mit Wärmeübertragung und sich mit ihr vermischt.
Mischt man in einem adiabaten Mischraum zwei ver- Führt man die Mischung nicht adiabat durch, sondern
schieden feuchte Luftströme 1 und 2, so ergibt sich ein überträgt man während der Mischung noch einen be-
Mischluftstrom (Mischzustand mit dem Index mix), wie stimmten Wärmestrom Q̇, so ist es gleichgültig, ob man
es in Abb. 21.25 zu sehen ist. diesen Wärmestrom vor der Mischung an einen der bei-
Zur Bestimmung der drei Unbekannten des Mischzu- den Zuströme überträgt oder während oder nach der Mi-
standes: Massenstrom der trockenen Luft, Wassergehalt schung dem Mischstrom zu- bzw. abführt. Bedingt durch
678 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse
l1
l
Q 2
ϑ mix
M mLmix
Q
ϑ
m
l2
ix
mL1 M
N
ϑ1
1
ϑI I
ϑ
1 1
x1 x mix x2
x x
h h
= =
a 0 b 0
00
00
60
unterschiedliche spezifische Enthalpiedifferenzen infolge
50
der Wärmeübertragung: mD
xmix – x1 = 00
mL 40
Q̇
h1 − h1 = , M
ṁL1
Thermodynamik
1
h = hD
Q̇
h2 − h2 = , x ϑ
ṁL2 3000
Q̇ h
hmix’ − hmix = . (21.70) x
ϑ =h
h = hD hD
ṁLmix W x ϑ
kJ
Der endgültige Zustandspunkt M‘ der Mischung mit Pol 2500
kg
Wärmeübertragung muss aber aus Energieerhaltungs-
gründen natürlich immer identisch sein. Die Wärmeüber- x
h
tragung vor, während bzw. nach der Mischung lässt sich 1600
=
0
Frage 21.15
Was passiert, wenn man zwei gesättigte feuchte Luftmas- ṁH2 O und der auf die Wassermasse(!) bezogenen spezi-
sen unter adiabaten Bedingungen miteinander mischt? fischen Enthalpie hH2 O (mit der Dimension kJ/kg H2 O)
besteht. Natürlich ist hier der trockene Luftstrom des Mi-
schungszustandes gleich dem trockenen Luftstrom des
Zustroms 1:
Die Dampf- bzw. Wassereinspritzung
Wasser: ṁL1 x1 + ṁH2 O = ṁL1 xmix , (21.71)
Wollen wir Luft (des Zustandes 1 in Abb. 21.27) be-
Energie: ṁL1 h1 + ṁH2 O hH2 O = ṁL1 hmix . (21.72)
feuchten, was z. B. in einer Klimaanlage geschieht, so
werden wir flüssige Wassertröpfchen oder Dampf ein- Aus diesen beiden Gleichungen können wir den Wasser-
spritzen. Diesen Mischprozess können wir jedoch nicht so massenstrom eliminieren und nach der Wasserenthalpie
einfach, wie im vorhergehenden Abschnitt beschrieben, auflösen:
in das h,x-Diagramm eintragen, da reines Wasser einen
Wassergehalt von unendlich besitzt (x → ∞). Für diesen hmix − h1 ∂h
hH2 O = = . (21.73)
technisch wichtigen Fall müssen wir einen anderen Weg xmix − x1 ∂x ϑ
beschreiten.
Der rechte Teil dieser Gleichung gilt streng genommen na-
Wir stellen wiederum eine Massenbilanz für Wasser und türlich nur für infinitesimal kleine Wassereinspritzmen-
eine Energiebilanz entsprechend (21.64) und (21.65) auf, gen. Er liefert uns aber ein wichtiges Resultat. Obwohl
nur mit dem Unterschied, dass der zweite Zustrom in wir den Zustand des Wassers, das einem feuchten Luft-
Abb. 21.25 nun aus reinem Wasser mit dem Massenstrom strom des Zustandes 1 zugemischt wird, nicht in das
21.5 Gas-Dampf-Gemische: Feuchte Luft 679
h
= x
a b 0
h,x-Diagramm eintragen können, ist es doch möglich, die die Verdunstung Energie entzogen, was eine Temperatur-
Richtung dieser Zustandsänderung zu bestimmen. Die absenkung zur Folge hat. Gleichzeitig wird dem Wasser
Zustandsänderung einer Wassereinspritzung bewegt sich aber durch die auftretende Temperaturdifferenz konvek-
im h,x-Diagramm entlang einer Geraden mit der Steigung tiv Wärme zugeführt. Wir stellen uns nun die Frage,
der Wasserenthalpie. Der Mischzustand M ergibt sich welche Endtemperatur das Wasser annehmen wird, an
dann grafisch einfach durch den Schnittpunkt dieser Ge- dessen Oberfläche die Verdunstung auftritt, wenn der Zu-
raden mit der Vertikalen, die durch die insgesamt zuge- stand der Luft, die sich in angemessenem Abstand über
führte Wassermenge bestimmt ist, xmix − x1 = ṁH2 O /ṁL1 , der Wasseroberfläche befindet, unverändert bleiben soll.
Thermodynamik
wie in Abb. 21.27 zu sehen ist. Um die Steigung der Gesucht ist also z. B. die Wassertemperatur eines Frei-
Wassereinspritzgeraden leichter in einem h,x-Diagramm bads, über das Wind einer bestimmten Temperatur und
eintragen zu können, ist es mit einem Randmaßstab ver- Feuchte weht. Da die genaue analytische Lösung dieses
sehen, der ebenfalls in Abb. 21.27 dargestellt ist. Von Problems recht komplex ist, wollen wir uns hier auf eine
dem Bezugspunkt, der auch Pol genannt wird, aus ziehen mehr qualitative Beschreibungsweise der grundsätzlich
wir eine Gerade zu der Markierung des Randmaßsta- auftretenden Phänomene beschränken.
bes mit dem Enthalpiewert des eingespritzten Wassers.
Für flüssiges Wasser ergeben sich Geraden, die wegen Luft des fest vorgegebenen Zustandes 1 (ϑ1 , x1 ) streicht
der geringen Enthalpie von links oben nach rechts un- über eine Wasseroberfläche, wie in Abb. 21.28a zu se-
ten verlaufen. Bei einer Dampfeinspritzung, die bei 0 ◦ C hen ist. Dabei mischen sich Luftballen des Zustandes 1
und einer Dampfenthalpie von 2500 kJ/kg H2 O erfolgt, mit Luftballen, die sich kurz vorher noch direkt über
verläuft die Gerade natürlich horizontal. Höhere Dampf- der Wasseroberfläche befanden und daher einen gesättig-
enthalpien ergeben leicht nach rechts oben ansteigende ten Luftzustand 2( ϕ2 = 1) besitzen. Der sich einstellende
Geraden. Haben wir die Steigung der Geraden auf die- Mischzustand 3 liegt auf der Mischgeraden zwischen 1
se Weise bestimmt, müssen wir sie nur noch parallel in und 2, wie in Abb. 21.28b zu sehen ist. Ein Luftballen
den Zustandspunkt 1 der zuströmenden Luft verschieben des Zustandes 3 wird sich nun wieder zurück zur Was-
(siehe Abb. 21.27). seroberfläche bewegen und dort eine Weile verharren. Der
unmittelbare Kontakt mit der Wasseroberfläche führt zur
Verdunstung, was eine Zustandsänderung in Richtung
Frage 21.16 der Sättigungslinie entlang der Wassereinspritz- bzw. Ver-
Wie verändert sich die Temperatur ungesättigter feuchter dunstungsgeraden mit der Steigung der Wasserenthalpie
Luft bei Zufuhr von flüssigem Wasser? zur Folge hat. Nach kurzer Zeit wird der Luftballen den
gesättigten Zustand 2 erreichen. Nachdem der Luftballen
wieder die Wasseroberfläche verlassen hat, wird er sich
Der Verdunstungsvorgang mit Luft des Zustandes 1 vermischen, und es wird ein
Zustand 3 entstehen, worauf wiederum an der Wassero-
Eine besondere Form der Wassereinspritzung ist die berfläche durch Wasseraufnahme ein Zustand 2 folgt.
Verdunstung. Ein typischer Verdunstungsvorgang liegt
beispielsweise vor, wenn ein feuchter Luftstrom über Der stationäre Endzustand wird dann erreicht, wenn
eine Wasseroberfläche streicht (z. B. Freibad im Som- die Mischgerade und die Verdunstungsgerade parallel
mer). Infolge der Verdunstung wird die Luft unmittel- verlaufen. Beide Geraden fallen dann aufeinander und
bar über der Wasseroberfläche Wasser aufnehmen und bilden die Verlängerung einer Nebelisothermen, die im
eine Zustandsänderung entlang einer Wassereinspritzge- Punkt KG, der Kühlgrenze des Zustandes 1, die Sätti-
raden mit der Steigung der Enthalpie des verdunstenden gungslinie schneidet und die in der Verlängerung durch
Wassers durchführen. Der Wassermenge, an deren Ober- den Zustandspunkt 1 geht (siehe ebenfalls Abb. 21.28b).
fläche der Verdunstungsvorgang stattfindet, wird durch Mit anderen Worten: die beiden physikalischen Effek-
680 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse
ϑ
KG
sers fest, die wir Kühlgrenztemperatur nennen. Die Stei- chen wir nun im h,x-Diagramm die Nebelisotherme ϑKG
gung der Geraden, die durch Punkt 1 geht, besitzt also auf und verlängern diese in das ungesättigte Gebiet bis
den Wert der Enthalpie des Wassers, wenn es seinen zur Temperatur ϑL , so erhalten wir im Schnittpunkt den
stationären Endwert erreicht hat. Der Effekt, dass eine Zustand der feuchten Luft. Damit können wir den zuge-
Flüssigkeit sich abkühlt, wenn (ungesättigte) Luft darüber hörigen Wassergehalt ablesen.
Antwort 21.1 Nach (21.13) ist die aufzubringende tech- Aus (21.17) ergibt sich dann:
nische Arbeit bei der Verdichtung auf ein gewünschtes
Druckverhältnis für ein ideales Gas direkt proportional 1 1
zu: εS = = 1/n
π 1/n − 1 p2
p1 −1
p1 V1 = mRT1 .
1 V2 V3
Daher reduziert eine geringere Verdichtereintrittstempe- = = =
V1
−1 V1 − V2 V1 − V3
ratur die aufzubringende Arbeit bei sonst gleichen Pa- V2
rametern. Bei gleicher Turbinenleistung reduziert sich
damit die Verdichterleistung, und es kann bei einer Gas- und daraus:
turbinenanlage mehr Leistung an den Generator zur
Stromerzeugung abgegeben werden.
V2 = V3 .
Antwort 21.2 Der betrachtete Grenzfall entspricht einem
Füllungsgrad von In diesem Grenzfall wird also das Arbeitsmedium nur
noch im schädlichen Raum abwechselnd verdichtet und
V1 − V4 entspannt, aber kein frisches Medium mehr angesaugt
μ= = 0,V1 = V4 .
V1 − V3 bzw. verdichtetes Medium ausgestoßen.
Antworten zu den Verständnisfragen 681
Antwort 21.3 Bei der irreversiblen Entspannung in ei- Antwort 21.7 Der Joule-Prozess und der Clausius-
ner als adiabat betrachteten Turbine wird die Entropie Rankine-Prozess weisen die gleichen Zustandsänderun-
anwachsen, sodass bei gegebenem Druckverhältnis die gen in den Teilprozessen auf, unterscheiden sich aber
Änderung der spezifischen Enthalpie und damit die abge- durch die Phasenwechsel, die bei Dampfkraftprozessen
gebene spezifische Arbeit geringer ist als bei einer rever- auftreten. Daher kann für den Joule-Prozess das Arbeits-
sibel adiabaten Expansion. Das Verhältnis dieser Größen medium näherungsweise als ideales Gas behandelt wer-
nach (21.19) ist in der folgenden Abbildung veranschau- den, was für den Clausius-Rankine-Prozess nicht zulässig
licht. ist.
Thermodynamik
s
ε WP = 1 + ε K .
Antwort 21.5 Die thermischen Wirkungsgrade können
für beide Prozesse mit den gegebenen Angaben (Arbeits-
medium als ideales Gas mit κ = 1,4) für den Otto-Prozess
(ε O = 8) und für den Diesel-Prozess (ε D = 16, ϕ = 1,58) Antwort 21.10 Bei einer Wärmekraftmaschine kann nach
aus (21.27) und (21.28) direkt ermittelt werden. Abb. 21.21 die Exergie des zugeführten Wärmestroms
vollständig in technische Leistung umgewandelt werden.
1 Die Anergie des zugeführten Wärmestroms wird an die
ηth,Otto = 1 − = 0,565, Umgebung abgeführt.
εκO−1
ϕκ − 1 Bei einer Wärmepumpe wird der vollständig aus Aner-
ηth,Diesel = 1 − = 0,635. gie bestehende zugeführte Wärmestrom auf ein höheres
εκD−1 κ ( ϕ − 1)
Temperaturniveau gebracht. Der abgeführte Wärmestrom
setzt sich dann aus der Exergie der zugeführten techni-
schen Leistung und der Anergie des zugeführten Wärme-
Antwort 21.6 Aufgrund der isothermen Wärmezufuhr stroms zusammen.
und der isothermen Wärmeabfuhr sowie des inneren
regenerativen Wärmeaustausches (reversibel adiabat ge- Bei einer Kältemaschine wird die Exergie der zugeführ-
genüber der Umgebung) ist beim Stirling-Prozess der ten technischen Leistung dem zu kühlenden Raum zuge-
thermische Wirkungsgrad theoretisch gleich groß wie der führt und Anergie (Wärme) entzogen. Die Summe wird
thermische Wirkungsgrad des Carnot-Prozesses. als Anergiestrom (Wärme) an die Umgebung abgegeben.
682 21 Technische Anwendungen thermodynamischer Prozesse
Antwort 21.11 Der Partialdruck des Wasserdampfes in Die relative Feuchte ist also direkt proportional zum Ge-
feuchter Luft kann den Sättigungsdruck nicht überschrei- samtdruck, sodass die Linien konstanter relativer Feuchte
ten, d. h., es gilt für jede Temperatur pD pS (T ). nach
Antwort 21.12 Nach (21.60) gilt: pneu
ϕneu = ϕalt
p 1+x p RL + xRD palt
ρ= = mit Rges =
Rges T RL + xRD T 1+x
umgerechnet werden können. Die Isothermen im Nebel-
und mit (siehe Tab. 21.1): RL = 0,287kJ/(kg K); RD = gebiet liegen dann für jeden Druck anders. Für höhere
0,461kJ/(kg K) wächst Rges mit zunehmendem x an, und Drücke als Umgebungsdruck werden sie sich im h,x-
damit sinkt die Dichte der feuchten Luft. Diagramm nach links verschieben.
Antwort 21.13 Ein h,x-Diagramm gilt nur für einen be-
Antwort 21.14 Bei einer isobaren Wärmezufuhr tritt keine
stimmten Gesamtdruck. Solange wir die feuchte Luft als
Änderung des Wassergehaltes auf. Die Zustandsände-
ein ideales Gas auffassen können, bleibt die Enthalpie
rung verläuft daher im h,x-Diagramm senkrecht.
vom Druck unabhängig, und somit bleiben die Isother-
men der ungesättigten Luft gleich wie für den Fall bei Antwort 21.15 Die adiabate Mischung zweier gesättig-
Umgebungsdruck. Es ändern sich jedoch die Linien kon- ter feuchter Luftmassen erzeugt immer Nebel, da durch
stanter relativer Feuchte. Hierzu können wir (21.56) her- die konkave Krümmung der Sättigungslinie der Mischzu-
anziehen: standspunkt in diesem Fall immer im Nebelgebiet liegt.
pD ϕps
x = 0,622 = 0,622 . Antwort 21.16 Die Zufuhr von flüssigem Wasser zu un-
p − pD p − ϕps
Thermodynamik
Aufgaben
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer).
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
21.1 • Der Quotient aus der technischen Leistung 3 → 4: isobare Wärmeabfuhr im Kondensator bis zum
und dem Wärmestrom ist für einen einstufigen Verdich- Zustand 4, gesättigte Flüssigkeit,
ter gleich –8. Die dimensionslose technische Leistung 4 → 5: isobare Unterkühlung von 7 K im Zustand 5,
Ẇt /(ṁRT1 ) ist gleich 2. Das Arbeitsmedium Argon ist als 5 → 6: adiabate Drosselung auf den Druck p6 = 37,7 bar,
ideales Gas zu behandeln. Berechnen Sie das Druckver- 6 → 7: isobare Wärmezufuhr bei T = 276,15 K im Ver-
hältnis, wenn polytrope Verdichtung angenommen wird. dampfer bis zum Zustand 7, gesättigter Dampf,
7 → 1: isobare Überhitzung von 7 K bis zur Temperatur
T1 = 283,15 K
21.2 •• Ein Diesel-Prozess soll pro Umlauf die glei-
che Arbeit abgeben wie ein Otto-Prozess. Folgende Grö-
ßen sind bei beiden Prozessen gleich: Die Klimaanlage soll eine Kälteleistung von Q̇0 = 7 kW
Thermodynamik
besitzen.
Hubvolumen VH = 1500 cm3 , Ansaugzustand mit T =
323 K und p = 1 bar, ideales Gas mit κ = 1,4. Der kritische Druck des Kohlendioxids ist pkrit =
73,834 bar mit der entsprechenden kritischen Tempera-
Für den Otto-Prozess ist das Verdichtungsverhältnis tur Tkrit = 304,2 K. Die Stoffdaten für Kohlendioxid sind
gleich 8; für den Diesel-Prozess ist das Verdichtungsver- in den beiden folgenden Tabellen Gasgebiet und Nass-
hältnis gleich 16 und das Einspritzverhältnis gleich 1,58. dampfgebiet angegeben.
Welche Werte nehmen die Zustandsgrößen p,V und T in
den Eckpunkten der Teilprozesse an? Tab. Gasgebiet
p in bar T in K v in m3 /kg h in kJ/kg s in kJ/(kg K)
Wie groß sind die thermischen Wirkungsgrade der beiden 37,00 288,15 0,0109768 450,832 1,908
Prozesse? 37,00 283,15 0,0104530 443,136 1,881
38,00 283,15 0,0100275 441,038 1,870
72,31 316,35 0,0053186 439,812 1,789
21.3 • • • Eine Pkw-Klimaanlage soll für den Betrieb
72,31 330,45 0,0062729 467,030 1,873
mit dem Kältemittel R744 (Kohlendioxid) ausgelegt wer-
80,00 323,15 0,0045620 436,312 1,763
den. Der Kreisprozess soll mittels eines einstufigen Pro-
80,00 341,41 0,0056712 472,989 1,874
zesses realisiert werden, der sich aus dem folgenden
Anfangszustand und den angegebenen Zustandsände-
rungen zusammensetzt. 1. Skizzieren Sie den Kreisprozess im p, h-Diagramm.
2. Bestimmen Sie die Enthalpien h1 bis h7 ! Benutzen Sie
Anfangszustand 1: p1 = 37,7 bar und T1 = 283,15 K, für die Berechnung des Prozesses 4 → 5 die spezifische
isobare Wärmekapazität von flüssigem CO2 , cp = 5,537
1 → 2: adiabate Verdichtung vom Zustand 1 bis zum Zu- kJ/(kg K).
stand 2, p2 = 72,31 bar mit einem isentropen Ver- 3. Berechnen Sie die Kälteleistungszahl ε K dieses Systems
dichterwirkungsgrad ηsV = 0,70, unter der Annahme, dass die gesamte im Verdampfer
2 → 3: isobare Enthitzung des Gases bis zum Zustand 3, umgesetzte Leistung zur Kälteleistung beiträgt.
T3 = 303,15 K, gesättigter Dampf, 4. Berechnen Sie den Massenstrom und die Antriebleis-
tung des Verdichters.
Strömungsmechanik
685
Strömungsmechanik – alles
ist im Fluss
22
Was unterscheidet
Flüssigkeiten von
Festkörpern?
Wie berechnet man Kräfte
von Flüssigkeiten auf
Bauteile?
Wodurch unterscheiden
sich laminare von
turbulenten Strömungen?
Was ist die Bedeutung der
dimensionslosen
Kennzahlen?
Wie verhalten sich Gase?
Strömungsmechanik
22.1 Die Bedeutung der Strömungsmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688
22.2 Begriffe und Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689
22.3 Hydrostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693
22.4 Hydrodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706
22.5 Hydrodynamische Ähnlichkeitsgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719
22.6 Innenströmung und Rohrhydraulik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729
22.7 Einführung in die Gasdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749
Im vorliegenden Kapitel behandeln wir die wichtigsten Themen- und turbulenzfreie (laminare) Strömung im Kernbereich
gebiete der Strömungsmechanik. Zuerst die Hydrostatik, in der es bedeutet. Lediglich in Wandnähe (ober- und unterhalb
vor Allem um die Kraftwirkung ruhender Flüssigkeiten auf feste des glatten Bereichs an der Mauer) ist deutlich eine tur-
Wände geht. In der Hydrodynamik werden Erhaltungssätze und Be- bulente Grenzschicht zu sehen. Aufgrund der geringer
wegungsgleichungen erläutert und ihre Anwendung gezeigt. Die werdenden Wassertiefe am Wehr ist die Beschleunigung
Ähnlichkeitsgesetze lassen die Übertragung der Phänomene bei groß, die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Oberflächen-
völlig anderen Abmessungen zu, was in der Rohrhydraulik die Be- wellen dagegen immer kleiner, denn diese ist näherungs-
rechnung vereinfacht. Die Gasdynamik, also das Verhalten von weise gleich der Wurzel aus Erdbeschleunigung g mal
Gasen, wenn Strömungsgeschwindigkeit und Schallgeschwindig- Wassertiefe z und wird auch als Schwallgeschwindigkeit be-
keit von gleicher Größenordnung sind, rundet das Kapitel ab. zeichnet:
√
a= gz.
22.1 Die Bedeutung der Bildet man das Verhältnis der lokalen Strömungsge-
Strömungsmechanik schwindigkeit u zur lokalen Schwallgeschwindigkeit a,
erhält man die Froudezahl Fr:
In vielen Bereichen der Technik und des Maschinenbaus u
werden Kraftwirkungen von Strömungen als wichtige Fr = √ .
gz
Randbedingung für die Berechnung der mechanischen
Festigkeit von Bauteilen benötigt. In der Kraftwerkstech-
Sobald die Froudezahl größer als 1 wird, können be-
nik, der Energie- und Antriebstechnik (Motoren, Flugtur-
reits geringfügige Störungen ein spontanes Abbremsen
binen, Gas- und Dampfturbinen) und in der Verfahrens-
der Strömung auslösen, und ein Großteil der kinetischen
technik (Wärmeübertrager, Boiler) ist das strömungsme-
Energie wird in einem stark verlustbehafteten Vorgang
chanische Verhalten sogar entscheidend für das Gesamt-
dissipiert, d. h. über starke Verwirbelungen in Wärme
verhalten des technischen Systems. Heutzutage sind die
umgewandelt. Die Entropie steigt dabei stark an. Dieser
Optimierung technischer Geräte in Bezug auf Wirkungs-
Vorgang ist im rechten Teil des Bildes unschwer zu erken-
grad, Energiebedarf und ressourcenschonendem Betrieb
nen, ebenso wie der damit verbundene leichte Druckrück-
wichtige Entwicklungsziele der Hersteller, um am Markt
gewinn aus der kinetischen Energie, der bewirkt, dass das
„die Nase vorn“ zu haben.
Wasser sogar bergauf strömt. Im oberen Bereich des Bil-
Dabei ergeben sich manchmal überraschende Analogien des ist dies an der Seitenwand gut zu erkennen, denn
scheinbar völlig unterschiedlicher Fälle, womit wir in die der dunkle (veralgte) Bereich an der Wand markiert eine
Strömungsmechanik
Materie einsteigen wollen: Abbildung 22.1 zeigt die Über- Höhenlinie stehenden Wassers, wenn das Wehr geschlos-
strömung eines Stauwehrs. Die Strömung (von links nach sen ist und nicht überströmt wird. Man spricht wegen
rechts) wird im gezeigten Bereich stark beschleunigt, was des Bergauffließens vom Wassersprung. Die Froudezahl ist
die sehr glatte Oberfläche im linken Bildbereich bewirkt in diesem Bereich wieder kleiner als 1, jede Störung der
Oberfläche breitet sich offensichtlich bis zur fast geraden
Linie des Beginns des Wassersprunges aus. In der linken
Bildhälfte ist also Fr ≥ 1, in der rechten Bildhälfte ist da-
gegen Fr < 1.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die Strö-
Abb. 22.1 Überströmung eines Stauwehrs mit Wassersprung (Alte Mainbrücke mungsbilder des gemächlich fließenden Wassers im Fluss
in Würzburg) und der Überschallströmung des Abgases eines Triebwer-
22.2 Begriffe und Definitionen 689
Strömungsmechanik
genauso verhalten, wie die oben beobachtete Wasserströ-
mung am Wehr: Durch eine kleine Störung kann die Das mechanische Verhalten von Flüssigkeiten und Ga-
Strömung spontan von Überschall auf Unterschall sprin- sen (allgemein Fluide genannt) unterscheidet sich fun-
gen, und der größte Teil der kinetischen Energie wird in damental vom mechanischen Verhalten der Festkörper,
einem stark verlustbehafteten Vorgang in Wärme umge- weil der atomare bzw. molekulare Verbund nur lose ist
wandelt. Nur ein kleiner Teil der Energie führt zu einem und bereits bei kleinen Kräften Verschiebungen zulässt.
Druckanstieg, woraus sich der Name des Vorgangs ergibt: Ein elastisches Verhalten, z. B. Rückfedern, stellt man
In diesem Fall bildet sich ein senkrechter (starker) Verdich- bei den meisten technisch relevanten Fluiden nicht fest.
tungsstoß aus. In Abb. 22.2 ist der Stoß glücklicherweise In der Folge stellen sich beliebig große und bleibende
nicht auf der gesamten Strahlbreite zu erkennen, denn der Verformungen sowie gegebenenfalls auch Volumenver-
Schub könnte bei einem im Triebwerk auftretenden senk- änderungen des betrachteten Bereiches eines Fluides ein,
rechten Stoß auch ganz zusammenbrechen. Bei den im und die Reduzierung eines Flüssigkeitsteilchens auf die
Abgasstrahl erkennbaren schrägen Stößen wird das Medi- Bewegung des Schwerpunktes und seinen Drehimpuls
um zwar verdichtet (wegen der damit verbundenen, hö- (Starrkörperrotation) reicht zur Beschreibung der Bewe-
heren Temperatur leuchtet es auch stärker), bleibt aber mit gung von Fluiden nicht aus. Vorteilhaft ist dabei aber,
Ausnahme der hellen Kernzone im Überschall (schwacher dass der Bewegungszustand stark mit dem inneren Span-
Stoß) und wird kurz darauf wieder durch Expansionswel- nungszustand verbunden ist und sich nennenswerte Ei-
len beschleunigt, d. h. kälter, und der Strahl wird wieder genspannungen bei technischen Fluiden, die (wenigstens
durchsichtig. Stöße und die folgenden Expansionswel- nahezu) in Ruhe sind, auf den Druck beschränken. Diese
le lenken den Strahl etwas um, sodass der Strahlrand Aussage trifft auch auf gleichförmig bewegte Fluide (ho-
wellenförmig zu pulsieren scheint. Trotzdem bleibt der mogene Strömung) zu, weil eine gleichförmige Bewegung
Strahlrand gut erkennbar erhalten, d. h., bei den Vorgän- allein durch einen Wechsel des Beobachterbewegungszu-
gen geht nur wenig kinetische Energie verloren. Dagegen standes in den Ruhezustand abgebildet werden kann.
690 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Übersicht: Geschwindigkeitssymbole
. . . oder warum es nicht nur ein Zeichen für Geschwin- und der Strömungsmechanik ist v oder V für die Ge-
digkeiten gibt schwindigkeiten von Fluiden ungünstig, weil dieser
Für Geschwindigkeiten findet man in der Technik und für das spezifische oder absolute Volumen (volume)
der Physik verschiedene Symbole, gebräuchlich sind des Fluides reserviert ist und in der Gasdynamik oder
insbesondere u, v, w und c. In der Physik und in der der Thermodynamik in denselben Gleichungen vor-
Technischen Mechanik werden häufig die Symbole v kommt. Hinzu kommt die große Ähnlichkeit von v
(velocity) für die Geschwindigkeiten materieller Kör- mit der kinematischen Viskosität ν (griechisches ny)
per und c für die Lichtgeschwindigkeit als universelle im mathematischen Satz. W und w sind in diesen bei-
Konstante verwendet. Der Maschinenbau besteht aus den Disziplinen Symbol für absolute bzw. spezifische
mehreren Teildisziplinen, in denen zugunsten einer Arbeit (work) und wären daher ebenfalls eine Feh-
übersichtlichen Darstellung davon abweichende Sym- lerquelle. Bleiben also nur noch c und u für Fluide,
bole gebräuchlich sind. Eine einheitliche Festlegung wobei in der Thermodynamik u die Zustandsgröße
für alle Gebiete wäre wenig praxisnah, denn es gibt innere Energie ist und dort folgerichtig c verwendet
für einzelne Buchstaben immer mehrere Bedeutun- wird. Das könnte auch in der Strömungsmechanik
gen. Weil diese Frage auch sehr häufig in Vorlesungen Anwendung finden, hier tritt allerdings die Wärme-
gestellt wird, hier eine kurze Erläuterung zur Nomen- kapazität c oder der Widerstandsbeiwert cW in der
klatur dieses Buches, in dem gleichen Gleichung mit der Geschwindigkeit auf, wäh-
rend die innere Energie eher selten explizit erscheint
v für die Geschwindigkeit insbesondere materieller (statt ihrer wird die Enthalpie h verwendet). Folglich
Objekte in Physik und Technischer Mechanik, ist in dieser Disziplin u das Symbol mit den geringsten
c für die Geschwindigkeit von Fluiden in der Ther- bzw. unproblematischsten Doppelbedeutungen.
modynamik,
u für die Geschwindigkeiten von Fluiden und v Dazu kommt, dass die Strömungsmechanik in der
als Geschwindigkeit von Festkörpern (begrenzende praktischen Anwendung eine enge Schnittstelle zur
Wände und Oberflächen) in der Strömungsmecha- Festigkeitsrechnung hat und ein weiteres Geschwin-
nik digkeitssymbol zur Unterscheidung der Geschwindig-
keit des Fluides von der Geschwindigkeit der begren-
stehen. Dazu kommt eine „Sonderregel“ im Strö- zenden festen Wände, besonders bei Umströmungen
mungsmaschinenbau. braucht. Da in der Festkörpermechanik das Symbol v
Strömungsmechanik
Bei den unterschiedlichen Disziplinen geht es dabei verwendet wird, bietet sich dieses auch in der Strö-
immer darum, die Doppelverwendung von Buchsta- mungsmechanik für die Geschwindigkeit der festen
ben mit bestimmter Bedeutung innerhalb einer Glei- Wände an, während u eben für die Fluidgeschwin-
chung zu vermeiden, da dies unnötige Fehler provo- digkeit steht. v ist somit gleichzeitig Randbedingung
zieren würde. Allein der Buchstabe c hat gleich auf den für beide Seiten dieser Schnittstelle. Das wäre in sich
ersten Blick im Maschinenbau mehrere Bedeutungen: c konsistent, wenn da nicht die 150-jährige Historie des
kann in der Technischen Mechanik die Federkonstan- Strömungsmaschinenbaus wäre . . .
te sein, in der Physik wird die Lichtgeschwindigkeit Bereits im 19. Jahrhundert wurde im Strömungsma-
damit assoziiert, in der Thermodynamik ist es eine Ge- schinenbau (Wasserturbinen und Pumpen) die No-
schwindigkeit oder eine Wärmekapazität ebenso wie menklatur c für absolute Strömungsgeschwindigkeit,
in der Strömungsmechanik, hier könnte es auch zu- w für Geschwindigkeit der Strömung relativ zum Lauf-
sätzlich ein Widerstandsbeiwert sein (cW -Wert), in der rad und u für die Umfangsgeschwindigkeit des Lauf-
Elektrotechnik könnte es eine Kapazität bedeuten usw. rades eingeführt. Obwohl man wie in der Mechanik
Das ist für sich betrachtet unproblematisch, denn so- und Physik für Letztere heute eher v verwenden wür-
lange man nicht in einer Gleichung denselben Buch- de, ist dieser Zweig traditionell bei u für das Laufrad
staben für verschiedene Größen verwendet, ergibt sich geblieben. Ingenieure müssen die gängige Praxis die-
meist aus dem Zusammenhang, was jeweils gemeint ser speziellen Branche wenigstens kennen, auch wenn
ist. In der Thermodynamik oder der Strömungsmecha- sie nicht gerade im Sinne einer übergreifend konsisten-
nik ist auch ohne Nomenklatur die Verwechselungsge- ten Regel ist.
fahr von c mit der Lichtgeschwindigkeit eher gering. Eine Bemerkung zum Schluss: Dies gilt sinngemäß
Was Geschwindigkeiten betrifft, gibt es in den ver- auch für andere Größen, denn Bedeutungsüberschnei-
schiedenen Disziplinen des Maschinenbaus unter- dungen sind sehr häufig: p für Impuls (Mechanik) oder
schiedliche Doppelbelegungen der Buchstaben u, v, w Druck, E als E-Modul oder Energie, q für Streckenlast
und c mit Größen, die gegebenenfalls in derselben (Mechanik) oder spezifische Wärme (Thermodynamik
Gleichung auftauchen, sodass hier in der Regel der und Strömungsmechanik), T oder t für Zeit oder Tem-
Buchstabe verwendet wird, der die wenigsten Dop- peratur usw. In solchen Fällen sollten im begleitenden
pelbedeutungen im jeweiligen Kontext besitzt. Das ist Text vor einer Formel die Größen benannt sein, die mit
nicht immer der Buchstabe v. In der Thermodynamik den jeweils verwendeten Zeichen verbunden sind.
22.2 Begriffe und Definitionen 691
Verformung bei festen Körpern Die zeitliche Veränderung des Scherungswinkels lässt
sich auch durch den Geschwindigkeitsgradienten in der
und bei Flüssigkeiten
Strömung quer zur Strömungsrichtung (y) ausdrücken
(Abb. 22.3).
Wirkt auf einen festen Körper eine Scherkraft (Schubspan-
nung τ), verformt sich dieser endlich bis zu einem von der
Kraft abhängigen Scherungswinkel γ, wobei gilt: Für Newton’sche Flüssigkeiten (Abb. 22.4) gilt:
du
γ = f ( τ ). τ=η .
dy
Die Verschiebung geht gegen null, wenn die Schubspan-
Hierbei sind u die Strömungsgeschwindigkeit und
nung gegen null geht. Für Hooke’sche Festkörper gilt die
y die Ortskoordinate senkrecht zur Strömungsrich-
Proportionalität
tung. Die Proportionalitätskonstante η wird als dy-
namische Viskosität bezeichnet.
τ = Gγ.
G nennt man den Gleit- oder Schubmodul. Ein „Zwischending“ zwischen Festkörper und Flüssigkeit
Wirkt dagegen auf eine Flüssigkeit eine Scherkraft ist das sogenannte Bingham-Medium (Abb. 22.4). Es ver-
(Schubspannung), verformt sich diese unbegrenzt mit ei- hält sich bis zu einer Grenzspannung wie ein Hooke’scher
ner von der Schubspannung abhängigen Verformungsge- Körper, darüber hinaus aber wie eine Newton’sche Flüs-
schwindigkeit (d. h. einer Änderung des Scherungswin- sigkeit. Zahnpasta ist ein gutes Beispiel für ein Bingham-
kels mit der Zeit). Anstelle der endlichen Verformung γ Medium: Sie fließt erst aus der Tube, wenn man genügend
bei einem festen Körper tritt also bei Flüssigkeiten die Ver- stark auf die Tube drückt, sodass die Grenzschubspan-
formungsgeschwindigkeit nung überschritten wird. Dieses Fließen geschieht vor
allem in Wandnähe der Tubenaustrittsöffnung, im Kern-
bereich (wo die Grenzschubspannung nicht überschritten
γ̇ = f (τ ) (22.1) wird) behält die Zahnpasta dagegen die Eigenschaft ei-
nes Festkörpers bei und kommt als Strang aus der Tube.
mit der Randbedingung Da unterhalb der Grenzschubspannung die Verformung
endlich bleibt, können Bingham-Medien nicht zu den
γ̇ = f (τ = 0) = 0. (22.2) Flüssigkeiten gerechnet werden.
Strömungsmechanik
Damit es sich bei einem beliebigen Stoff um eine echte Andere Arten von nicht Newton’schen Flüssigkeiten
Flüssigkeit handelt, muss die Verformungsgeschwindig- heißen scherverdünnend, wenn sie mit größer werden-
keit genau dann gegen null gehen, wenn die Schubspan- der Schubspannung überproportional schnellere Verfor-
nung gegen null geht. Für Newton’sche Flüssigkeiten gilt mungsgeschwindigkeit zeigen (d. h., ihre dynamische
die Proportionalität Viskosität nimmt mit steigender Schubspannung ab) oder
scherverdickend im umgekehrten Fall (Abb. 22.4).
τ = η γ̇,
dy
ick
h
u(y)
sc
rd
γ du
γ=
dy
Abb. 22.3 Scherungswinkel und Geschwindigkeitsgradient Abb. 22.4 Newton’sche und nicht Newton’sche Flüssigkeiten
692 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
dem Wert der Dichte, welcher der Masse des Moleküls ge-
tion notwendigen Kräfte nur dann null werden, wenn die teilt durch dessen Volumen entspricht. Somit besitzt die
Deformation selbst gegen null geht. Andernfalls wurden Kontinuumshypothese, die allen Gleichungen der Strö-
die Körper während der Belastung wenigstens zeitweise mungsmechanik vorausgesetzt ist, im Molekularbereich
plastisch verformt (Fließen oder Kriechen). keine Gültigkeit. Wählt man Kontrollvolumina zu klein,
ergibt sich kein sinnvoller Wert einer Dichte, die im klas-
sischen Sinn als mittlere Dichte im Kontrollvolumen zu
verstehen ist, denn diese Dichtedefinition genügt nicht
Die Definition der Dichte mehr der Kontinuumshypothese.
Weiterhin hängt die Dichte vom Druck und von der Tem-
Die mittlere Dichte ρ̄ in einem Volumen ist definiert als peratur ab. Wenn diese orts- und zeitabhängig sind, ist
die Masse Δm, die in diesem Volumen eingegrenzt ist, di- auch die Dichte eine Funktion von Ort und Zeit. Wählt
vidiert durch das Volumen ΔV: man also umgekehrt das Kontrollvolumen zu groß, kann
es innerhalb des Volumens große, wenn auch kontinu-
ierlich verlaufende Dichteunterschiede geben, sodass die
Mittlere Dichte Angabe der mittleren Dichte in diesem zu großen Volu-
Δm men nur von geringer Bedeutung ist.
ρ̄ = .
ΔV
Frage 22.1
Was besagt die Kontinuumshypothese?
Die lokale Dichte erhält man, wenn man bei gleicher Defi-
nition im Grenzübergang das Volumen gegen null gehen
lässt, also:
22.3 Hydrostatik 693
Unterscheidung zwischen kompressiblen Kompressionsmodul des Gases, d. h. p/ρ. Für ideale Gase ist
und inkompressiblen Flüssigkeiten die Schallgeschwindigkeit nur von der absoluten thermo-
dynamischen Temperatur T abhängig:
Strömungsmechanik
Dichte und sind daher inkompressibel.
Gase sind in der Regel kompressibel, können sich 22.3 Hydrostatik
aber unter bestimmten Bedingungen auch inkom-
pressibel verhalten. In der Hydrostatik werden Flüssigkeiten in Ruhe be-
trachtet. Beliebig abgegrenzte Flüssigkeitsteilchen bewe-
gen sich weder relativ zueinander, noch zu den festen
Über Kompressibilität oder Inkompressibilität einer Gas- Wänden der Umgebung. Die Teilchen befinden sich in ei-
strömung gibt die Machzahl M ein Entscheidungskriteri- nem statischen Gleichgewichtszustand, in dem nach dem
um. Newton’schen Gesetz die Summe aller Kräfte auf jedes
Teilchen null ergeben muss. Die Flüssigkeit ist in Ruhe
(Anfangszustand) und sie bleibt in Ruhe (keine Dynamik).
Machzahl Sie ist als das Verhältnis der lokalen Strömungs-
geschwindigkeit u zur sog. Schallgeschwindigkeit a im
Fluid definiert. Trotz ihres Namens ist die Schallge-
schwindigkeit aber keine materielle Geschwindigkeit, Das Newton’sche Gesetz
sondern genauso wie Druck oder Temperatur eine ther-
gilt auch für Flüssigkeiten
modynamische Zustandsgröße. Kein Teilchen bewegt
sich mit dieser Geschwindigkeit, daher ist sie nicht als Ab-
leitung des Ortes nach der Zeit definierbar. Für Gase Das Newton’sche Gesetz (Kap. 5), das für alle Formen der
ist ihr Wert näherungsweise gleich der Ausbreitungsge- Materie gilt, egal ob fest, flüssig oder gasförmig, besagt,
schwindigkeit einer kleinen Störung, z. B. einer Dichte- dass die vektorielle Summe aller Kräfte auf ein Teilchen
schwankung durch eine Schallquelle, daher ihr Name. der Masse m gleich der zeitlichen Änderung des Impulses
Das Quadrat der Schallgeschwindigkeit ist somit auch I dieses Teilchens ist (Anmerkung: Für den Impuls kann
nicht proportional zur kinetischen Energie, sondern zum in diesem Kapitel nicht das Symbol p aus Kap. 5 verwen-
694 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Verhalten eines Fluides in der Strömung und Wahl des lanzgebiet einer strömungsmechanischen Berechnung
Berechnungsgebietes bei der Anwendung der Erhaltungssätze. Die Grö-
ße des in einem strömungsmechanischen Problem zu
Fluidverhalten Kompressibilität ist weniger eine Eigen- verwendenden Kontrollvolumens hängt zunächst na-
schaft des Gases selbst, sondern viel mehr von der türlich von der Fragestellung ab, genauso wichtig
Strömungssituation abhängig. Erst wenn aufgrund ho- sind allerdings auch die auftretenden Temperatur- und
her Geschwindigkeiten die kinetische Energie der Strö- Druckdifferenzen im betrachteten Gebiet, wenn sie
mung eines Gases auch signifikante Änderungen der signifikante Dichteunterschiede bewirken. Gegebenen-
inneren (thermischen) Energie auslöst und dadurch falls muss das betrachtete Gebiet in genügend viele
Temperatur- und Dichteunterschiede auftreten, verhält Teil-Kontrollvolumina unterteilt werden. Diese müs-
sich ein Gas kompressibel. Man spricht dann auch von sen einerseits groß genug sein, damit die Kontinuums-
einer thermischen Strömung. Sind die kinetischen Ener- hypothese nicht verletzt wird, andererseits aber klein
gien in der Strömung dagegen klein, verhalten sich genug, um die maßgeblichen Geschwindigkeits- und
auch Gase inkompressibel. Die Prüfung erfolgt über Dichteveränderungen innerhalb des Fluides erfassen
die Machzahl. zu können. Sie sind daher dem jeweiligen Fall ange-
Die Berechnung eines inkompressiblen Fluides ist passt zu wählen. Während man bei inkompressiblen
deutlich einfacher als bei kompressiblen Strömungen, Fluiden teilweise recht großzügig bei der Wahl sein
weil durch Veränderungen der Dichte in einem festen darf, ist bei kompressibler Strömung immer Vorsicht
Volumen auch Masse gespeichert bzw. „entspeichert“ geboten, um die wesentlichen Effekte erfassen zu kön-
werden kann. Dadurch wird der Erhaltungssatz der nen.
Masse (Kontinuitätsgleichung) mit den anderen Erhal-
tungssätzen verknüpft, wie wir später sehen werden. Ähnlich wie im Falle der Systemgrenze des 1. Haupt-
Wenn es die Machzahl zulässt, sollte also für technische satzes der Thermodynamik (siehe Kap. 18) lässt sich
Anwendungen auch bei Gasen eine inkompressible aber manch komplexes Problem durch geeignete Wahl
Rechnung bevorzugt werden. des Kontrollvolumens stark vereinfachen. Dies gilt
ebenso bei der Anwendung moderner numerischer
Wahl des Kontrollvolumens für Berechnungen Unter Berechnungsverfahren, die auf Basis von finiten Ele-
dem Kontrollvolumen versteht man das betrachtete Bi- menten und finiten Volumina konzipiert sind.
Strömungsmechanik
dI
∑ Fi = dt
. Beispiele für Oberflächenkräfte sind Scher- und Nor-
malspannungen, die von den angrenzenden Flüssigkeits-
i
22.3 Hydrostatik 695
τ = 0.
Als Spannungsvektor σ bezeichnet man die Kraft ΔF
auf eine Oberfläche dividiert durch die Größe der Flä- Das bedeutet, dass eine Flüssigkeit in Ruhe in einem rei-
che ΔA, auf die sie wirkt (Kap. 4), im Grenzfall klein nen Normalspannungszustand ist:
werdender Fläche. Er läßt sich in einen Schubspannungs-
vektor τ (parallel zur Oberfläche) und einen Normalspan- σ = −pn.
nungsvektor σ n = σn n (senkrecht zur Fläche) zerlegen
Strömungsmechanik
(Abb. 22.6): Der im Allgemeinen beliebig orientierte Spannungsvek-
tor σ ist aufgrund des Verschwindens der Scherspannun-
ΔF gen in einer ruhenden Flüssigkeit parallel zum Normalen-
σ = lim = τ + σn n.
ΔA→0 ΔA vektor der Oberfläche oder des Oberflächenabschnittes
des Flüssigkeitsteilchens. Diese Aussage kann sogar als
Wenn ein Spannungsvektor σ in seinen Schub- und Nor- zweite Definition einer Flüssigkeit benutzt werden, denn
malspannungsvektor aufgeteilt wird, hängt das Ergebnis sie grenzt eindeutig das Verhalten von Fluiden gegen an-
also offensichtlich auch von der Orientierung der Flä- dere Stoffe wie Festkörper oder Bingham-Medien ab.
che (beschrieben durch den Einheitsnormalenvektor n der
Fläche) ab.
Die Hydrostatik ist frei von Zug- und Schubspannungen
Zugkräfte, also mathematisch positive Normalspannun-
gen, können echte Flüssigkeiten nicht übertragen. Da- In einer Flüssigkeit in Ruhe steht der Spannungsvek-
her wird der Betrag der Normalspannungen in einer tor immer normal zur Fläche, auf die er wirkt und
Flüssigkeit üblicherweise als Druck bezeichnet und das ist dem Einheitsnormalenvektor n entgegengesetzt
Vorzeichen in der Gleichung selbst korrigiert. Im mathe- gerichtet. Der Betrag des Spannungsvektors in der
matischen Sinne positiv ist der Spannungsvektor, wenn ruhenden Flüssigkeit ist der Druck.
er in die gleiche Richtung zeigt, wie der Normalenvek-
tor an der Fläche. Dieser zeigt per Definition immer weg
vom abgegrenzten Gebiet, also nach außen. Da Flüssig- Darüber hinaus ist der Druck in einer ruhenden Flüs-
keiten aber keine Zugspannungen (die in der üblichen sigkeit an einem bestimmten Punkt in allen Richtungen
Definition positiv sind) übertragen können, ist der Nor- gleich, d. h. unabhängig von der Orientierung der Fläche.
malspannungsvektor immer negativ. Der Wert der Druck- Dies kann man beweisen, indem man ein kleines, pyrami-
spannung oder des Druckes wird üblicherweise positiv denförmiges Flüssigkeitsteilchen (Tetraeder) so abgrenzt,
696 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Warum Schreibfaulheit auch eine Tugend sein kann kartesischen Koordinaten (x, y, z) lautet vollständig:
Fx = max ,
Vektoren Grundsätzlich unterscheidet man in der ma-
thematischen Darstellung zwischen skalaren Größen Fy = may ,
und vektoriellen Größen. Eine skalare Größe besitzt an Fz = maz .
einem Punkt im dreidimensionalen Raum einen Wert,
hat aber keine Richtung. Beispiele sind insbesonde- Es verkürzt sich in symbolischer Darstellung auf:
re die thermodynamischen Zustandsgrößen Druck p,
Temperatur T oder Entropie S. Eine vektorielle Grö- F = ma,
ße besitzt zusätzlich zu ihrem Wert (Betrag des Vektors)
auch eine Richtung. Jede Größe, die diese beiden Ei- was letztlich einer gewissen Schreibfaulheit geschul-
genschaften aufweist, kann daher als Vektor betrachtet det ist (dies ist aber nicht negativ gemeint). Wie in
werden und mit den Gesetzen der Vektorrechnung der Algebra muss man sich bei der Nutzung der sym-
behandelt werden, beispielsweise Geschwindigkeiten, bolischen Vektorrechnung einige wenige Spielregeln
Kräfte und Momente. Auch Flächen weisen mit ihrem merken:
Flächeninhalt und ihrer Orientierung im Raum die not-
wendigen Vektoreigenschaften auf. Integrale oder Differenziale über gerichtete phy-
sikalische Größen ersetzen lediglich das dreifache
Felder Alle in der Technik betrachteten Größen be- Hinschreiben eines immer gleich aussehenden ge-
ziehen sich auf Eigenschaften, die eigentlich mit dem wöhnlichen Integrals in allen Richtungen. In der
Verhalten und den Wechselwirkungen der Materie zu Anwendung können alle Regeln der Integration
tun haben. Trotzdem ist es in der Praxis meist einfacher, und Differenziation verwendet werden; das Vektor-
diese Eigenschaften der Materie für die Berechnung symbol steht dabei für eine Koordinate des Vektors.
nicht den Teilchen (Atomen oder Molekülen) zuzu- Das Skalarprodukt zweier Vektoren ist kommuta-
ordnen, sondern dem Punkt im Raum. Man spricht tiv (a · b = b · a), das Vektorprodukt nicht (a × b =
dann von einem Feld und verschmiert quasi alle Eigen- −b × a).
schaften so im Raum, dass die eigentlich unstetigen Vektoren in Gleichungen dürfen nicht gekürzt wer-
Materieeigenschaften (z. B. die Masse) als kontinuier- den. Die Division wird in der Vektorrechnung durch
Strömungsmechanik
liche Funktionen dargestellt werden. Wenn wir also das Skalarprodukt ersetzt. Um einen Vektor in ei-
von skalaren Feldern oder Vektorfeldern reden, sind ner Gleichung zu eliminieren, multipliziert man ihn
das entweder physikalische Eigenschaften der Materie, (und die ganze Gleichung) skalar mit sich selbst
die sich zum Zeitpunkt der Betrachtung am jeweiligen bzw. mit dem Einheitsvektor in seine Richtung.
Punkt im Raum aufhält oder deren Wechselwirkung. Will man den Wert einer Kraft oder Geschwindig-
keit in eine bestimmte Richtung wissen, multipli-
ziert man die symbolische Gleichung skalar mit
Symbolische Schreibweise Besonders in der Strö- dem Einheitsvektor in dieser Richtung durch. Für
mungsmechanik werden häufig Vektorfelder (Ge- Flächenvektoren ergibt sich so die in Richtung des
schwindigkeiten, Kräfte) in einem dreidimensionalen Einheitsvektors projizierte Fläche.
Gebiet betrachtet, es ist daher wichtig, dass man eine Die Veränderung eines Skalar- oder Vektorfeldes
Schreibweise wählt, die den notwendigen Schreibauf- wird über das Gradientensymbol ∇ (Nabla) be-
wand in Grenzen hält. Hier bietet sich insbesondere schrieben; ∇ ist dabei ein Operator, der formal wie
die symbolische Vektorrechnung an, denn mit etwas ein Vektor behandelt wird.
Übung lassen sich die Gesetze der Vektorrechnung Durch die Anwendung des Gradientensymbols auf
sehr gut nutzen, eine Herleitung kurz zu halten und skalare Felder ensteht ein Vektorfeld, das die Rich-
erst beim Endergebnis in die gesuchten Größen in al- tung der größten Veränderung des skalaren Feldes
len Raumrichtungen aufzulösen. Anstelle ständig die an jedem Punkt und den Wert der Ableitung in
Gleichungen in allen Raumrichtungen getrennt hin- dieser Richtung angibt; ∇T (x, y, z) ist also das Vek-
schreiben zu müssen, reduziert das Vektorsymbol die torfeld, das an jedem Punkt den jeweils stärksten
Schreibarbeit erheblich. Das Newton’sche Gesetz in Anstieg der Temperatur T (x, y, z) beschreibt.
22.3 Hydrostatik 697
Wenn man den Nabla-Operator skalar mit einem abtransportiert werden (weder Massenquelle noch
Vektorfeld multipliziert, erhält man ein skalares Senke).
Feld, die Divergenz, ∇ · a = diva. Sie drückt aus, Wenn man den Nabla-Operator vektoriell mit ei-
ob ein Vektorfeld Quellen oder Senken besitzt. Des- nem Vektorfeld multipliziert, erhält man ein neues
wegen gilt für die Masse als Erhaltungsgröße im Vektorfeld, die Rotation. ∇ × a = rot a. In einem
stationären Fall: div(ρu) = 0, denn Masse, die mit Strömungsfeld ist die Rotation ein Maß für die Win-
dem Geschwindigkeitsfeld u in ein Gebiet hinein- kelgeschwindigkeit und Richtung, mit der ein mit-
fließt, muss an anderer Stelle mit dem Feld wieder schwimmender Körper rotiert, daher der Name.
Strömungsmechanik
Welche Schlussfolgerung kann man aus der Beobachtung
„eine Flüssigkeit ist in Ruhe“ unmittelbar ziehen? selbst eins ergibt. Das Skalarprodukt der Einheitsvektoren
mit dem Flächennormalenvektor n stellt die Komponente
von n in Richtung des jeweiligen Einheitsvektors dar, d. h.
die Projektion der Fläche in Richtung des Einheitsvektors.
Das Skalarprodukt der gerichteten Fläche n ΔA mit den
Ohne Volumenkräfte benötigt man Einheitsvektoren kann als der Betrag der längs des Ein-
nur die Oberflächenkräfte heitsvektors projizierten Fläche interpretiert werden, und
man erhält die jeweilige rückseitige Fläche:
Wenn man die Volumenkräfte, also Kräfte, die im Inneren
1 1
des Teilchens angreifen, vernachlässigen kann, muss man pn nΔA − px i ΔzΔy − py j ΔxΔz
2 2
nur eine Bilanz der Oberflächenkräfte aufstellen. Weil die
Flüssigkeit in Ruhe sein soll, wirkt auf jede der vier Flä- 1
− pz k ΔxΔy = 0 | · i,
chen nur eine Normalkraft. Wir werden nun beweisen, 2
dass der Wert des Druckes in allen Richtungen und an je- 1
der Stelle gleich groß ist. Dazu verwenden wir pn (n · i) ΔA − px ΔzΔy = 0.
2
∑ Fi = 0, Weil nun (n · i) ΔA = 12 ΔzΔy ist, gilt:
i
Dabei sind Form und Größe des Tetraeders beliebig wähl- fusionstechnologie). Diese sind dann natürlich nicht mehr
bar, denn die Herleitung hat an keiner Stelle vorausge- proportional zur Masse, sondern zur Ladungsverteilung
setzt, dass das Teilchen klein sein muss, beliebig große im Fluid. Im Folgenden werden wir uns ausschließlich
Flächen kürzen sich heraus. Man benötigte also insbeson- mit Massenkräften beschäftigen, denn andere Kräfte kön-
dere keinen Grenzübergang ΔA bzw. ΔV → 0. In Fällen, nen im Prinzip gleich behandelt werden. Für die Schwer-
in denen man Volumenkräfte gegen die Oberflächenkräf- kraft gilt (Volumenkraft der Schwere):
te auch großräumig vernachlässigen kann, gilt daher:
ΔF Δmg
f = lim = lim = ρg.
ΔV →0 ΔV ΔV →0 ΔV
Druck in ruhender Flüssigkeit ohne Volumenkräfte
Wir betrachten erneut den Tetraeder (Abb. 22.7) und
Der Druck in einer ruhenden Flüssigkeit ist bei Ver- berücksichtigen die Volumenkraft f in einer beliebigen
nachlässigung der Volumenkräfte an allen Stellen Richtung. Das Volumen einer Pyramide, also auch eines
und in allen Richtungen gleich groß. Tetraeders, ist 1/3 Grundfläche mal Höhe, hier also:
1
ΔV = ΔxΔyΔz.
6
Beispiel Dieser Satz lässt sich unmittelbar am Beispiel
Die zu addierende Volumenkraft ist daher:
des hydraulischen Übersetzungsverhältnisses einer hy-
draulischen Presse oder eines hydraulischen Wagenhe- 1
F V = f ΔxΔyΔz,
bers anwenden. In diesem Fall tritt als Volumenkraft nur 6
die Schwerkraft der Hydraulikflüssigkeit auf, die gegen f = fx i + fy j + fz k.
die hohen Druckkräfte in einer solchen Presse vernach-
lässigbar ist. Es herrscht in der Flüssigkeit an jeder Stelle Die Schritte im Fall ohne Volumenkräfte werden nun mit
und in jeder Richtung der gleiche Druck p. Für die Kräfte der Zusatzkraft F V wiederholt, und man erhält schließ-
an den Hydraulikkolben (die über die Hydraulikflüssig- lich:
keit hydraulisch verbunden sind) erhält man: 1
pn = px + fx Δx ,
3
F1 = pA1 ,
1
F2 = pA2 , pn = py + fy Δy ,
3
1
und somit ist das hydraulische Übersetzungsverhältnis pn = pz + fz Δz .
3
der Kräfte:
Strömungsmechanik
z
Grundgleichung der Hydrostatik:
Δz
∇p = f .
py2ΔyΔz
k
py1ΔyΔz Δy
j y
i
Δx Die Rotation der Volumenkräfte muss null sein
f ΔxΔyΔz
x
Ein hydrostatischer Spannungszustand stellt sich nicht
Abb. 22.8 Quaderförmiges Flüssigkeitsteilchen: Kräfte in y -Richtung bei allen Volumenkräften ein. Aus der Grundgleichung
der Hydrostatik lässt sich eine notwendige Bedingung an
die Volumenkräfte ableiten, damit eine Flüssigkeit über-
Grundgleichung der Hydrostatik haupt hydrostatisch bleibt. Hierzu leitet man (22.5) bis
(22.7) partiell nach den jeweiligen anderen Koordinaten
ab:
Anstelle des Tetraeders verwenden wir nun ein qua-
∂2 p ∂f ∂2 p ∂f
derförmiges Teilchen (Abb. 22.8), das in seinen äußeren = x, = x,
Abmessungen durch die Seitenlängen Δx, Δy und Δz be- ∂y∂x ∂y ∂z∂x ∂z
schrieben wird. Das Teilchen wird mit drei Seiten in der ∂2 p ∂fy ∂2 p ∂fy
Ecke eines kartesischen Koordinatensystems angeordnet, = , = ,
∂x∂y ∂x ∂z∂y ∂z
die Volumenkraft f ist wieder beliebig orientiert. Aus der
Summe aller Kräfte erhalten wir die Kräftegleichungen in ∂2 p ∂f ∂2 p ∂f
= z, = z.
allen Raumrichtungen: ∂x∂z ∂x ∂y∂z ∂y
px1 ΔyΔz − px2 ΔyΔz + fx ΔxΔyΔz = 0, Nun wird berücksichtigt, dass die gemischten partiellen
Ableitungen des Druckes unabhängig von der Reihenfol-
py1 ΔxΔz − py2 ΔxΔz + fy ΔxΔyΔz = 0,
ge der Ableitung sind, dadurch erhält man wieder drei
pz1 ΔxΔy − pz2 ΔxΔy + fz ΔxΔyΔz = 0 Gleichungen:
Strömungsmechanik
und hieraus die Bedingung der Druckänderung über den ∂fx ∂fy
− = 0,
Raumrichtungen am Teilchen: ∂y ∂x
∂fx ∂f
px2 − px1 − z = 0,
= fx , ∂z ∂x
Δx ∂fy ∂fz
py2 − py1 − = 0.
= fy , ∂z ∂y
Δy
pz2 − pz1 In symbolischer Schreibweise entspricht das dem Aus-
= fz .
Δz druck:
a k
z
aufweisen dürfen: Kräfte, die geeignet sind, Wirbel-
bildung auszulösen, können keinen hydrostatischen j
p0 i
Zustand ergeben. y
rot f = 0 x
z
n
p0
b α y
Die Druckverteilung in schwerer Flüssigkeit s dx
n dA
Wir gehen nun vom Fall aus, dass nur die Schwerkraft ds
wirkt und dass die z-Achse des Koordinatensystems par-
allel zur Schwerkraft gewählt wird, aber in Gegenrich- Abb. 22.9 Flüssigkeitsdruck auf die ebene, schräge Wand. a Räumliche An-
tung zeigt, d. h. nach oben. Dadurch wird fx = fy = 0 und sicht. b Seitenansicht
fz = −ρg. Wenn die Volumenkraft nur eine Funktion von
z ist, kann auch der Druck nur eine Funktion von z sein,
p = p(z). Aus der hydrostatischen Grundgleichung erhält mit dem dort herrschenden Druck p beaufschlagt, sodass
man die Kraft dF wirkt:
∂p dp dF = −pndA.
= = −ρg
∂z dz
Die Gesamtkraft auf die Fläche ist dann das Oberflächen-
p=− ρgdz + C integral über die betrachtete Behälterwand:
Wenn die Dichte ρ konstant ist und unter der Randbedin- F ges = dF = − pndA.
gung, dass für einen bestimmten Wert von z0 der Druck A
mit p0 gegeben ist, erhält man die Lösung:
Bei einer ebenen Wand sind die einzelnen Flächenelemen-
te immer gleich orientiert, d. h., der Normalenvektor n
Druckverteilung in einer inkompressiblen, schweren ist an allen Stellen gleich und kann als Konstante vor
Flüssigkeit
Strömungsmechanik
Strömungsmechanik
Momentes erhalten wir: ρg sin αJx Jx
sD = = ,
Fres sc A
Fres sD = (p − p0 )sdA = ρg sin αs2 dA
ρg sin α A xsdA Jxs
A A xD = = .
Fres sc A
= ρg sin α 2
s dA.
Die Koordinate s läuft dabei parallel zur Wand in die
A
Tiefe, ihr Nullpunkt liegt in der Oberfläche der Flüs-
Im s,x Koordinatensystem (das System der Wandfläche) sigkeit. Für die Berechnung der Flächenträgheits-
ist das verbleibende Integral das Flächenmoment 2. Gra- momente um die Koordinatenachsen aus den Ei-
des (Flächenträgheitsmoment) bezüglich der x-Achse: genträgheitsmomenten um die Schwerpunktachsen
(Parallelverschiebung von s, x in den Schwerpunkt
(sc , xc )) werden die Steiner’schen Sätze verwendet:
Jx = s2 dA.
A Jx = Jx,c + s2c A, (22.13)
Jxs = Jxs,c + sc xc A. (22.14)
Somit berechnet man die Lage des Angriffspunktes in s-
Richtung mit:
ellen Ableitungen stetig sind. Das Archimedes-Prinzip lässt sich wie folgt beschreiben:
Ein völlig eingetauchter Körper erfährt einen Auftrieb
(oder eine scheinbare Gewichtsverminderung), deren Be-
Gauß’scher Integralsatz trag gleich dem Gewicht der verdrängten Flüssigkeit ist.
Die Kraft wirkt im Schwerpunkt der verdrängten Flüs-
Der Fluss einer Größe f über die Oberfläche S eines sigkeit. Der Ursprung dieser Kraft liegt in der unter-
abgeschlossenen Volumens V ist gerade gleich der schiedlichen Druckverteilung am Umfang des Körpers
Änderung (dem Gradienten) dieser Größe innerhalb aufgrund der Schwere der Flüssigkeit. Die Unterseite des
des gesamten Volumens. Die Größe f muss hierbei Körpers erfährt eine höhere Druckkraft als dessen Ober-
lediglich stetig und stetig differenzierbar sein, das seite (Abb. 22.10). Dies soll mit Hilfe des Gauß’schen
Gebiet V geschlossen: Integralsatzes hergeleitet werden, was uns gleichzeitig als
Übungsaufgabe zu dessen Anwendung dienen wird.
f ndS = ∇f dV.
S V
Beispiel Herleitung der Auftriebsformel des Archime-
des mit dem Gauß’schen Integralsatz
Lösung Mithilfe des Gauß’schen Integralsatzes lässt sich
Dabei nennt man f n den Fluss der Größe f über die Ober-
der Auftriebssatz einfach herleiten. Als Funktion verwen-
fläche (normal zur Oberfläche), ∇f ist der Gradient der
den wir den Druckverlauf p(x, y, z) in der Flüssigkeit. Ein
Größe f , also die Veränderung im Inneren des Gebietes.
Körper beliebiger und unbekannter Geometrie (z. B. eine
Die Funktion f kann hierbei ein Skalarfeld f , ein Vek-
Kartoffel) mit dem Volumen V sei vollständig in eine Flüs-
torfeld f oder sogar ein Tensor sein. So kompliziert das
sigkeit eingetaucht.
zunächst auch aussieht, so elegant ist die Anwendung.
Im Prinzip ist der Gauß’sche Integralsatz nämlich nichts An jeder Stelle der Oberfläche S (surface) des Kör-
anderes als die Verallgemeinerung der Beziehung für ein- pers herrscht der von der Flüssigkeit ausgeübte Druck
22.3 Hydrostatik 703
Strömungsmechanik
Hydrostatischer Auftrieb – vollständig eingetauchter FS = −(p − p0 )ndS = −(p − p0 )ndS
Körper
S SF
Ein vollständig in eine Flüssigkeit eingetauchter
Körper erfährt eine Druckkraft in positiver z- = −∇(p − p0 )dV = ρgVE k.
Richtung (Auftrieb), die gleich der Gewichtskraft VE
des vom Körper verdrängten Flüssigkeitsvolumens
ist:
Hydrostatischer Auftrieb – nicht vollständig einge-
F S = ρgVk.
tauchter Körper
Ein nicht vollständig in eine Flüssigkeit eingetauch-
Für nicht vollständig eingetauchte Körper an der Ober- ter Körper erfährt eine Auftriebskraft, die gleich der
fläche der Flüssigkeit muss das Gebiet VE für die An- Gewichtskraft des vom Körper unterhalb der Ober-
wendung des Gauß’schen Integralsatzes anders gebildet fläche verdrängten Flüssigkeitsvolumens VE ist:
werden und ist nicht mehr gleich dem Körpervolumen V,
denn an der Oberfläche einer Flüssigkeit ist die Druck- FS = ρgVE k.
funktion nicht stetig differenzierbar. Die von der Flüssig-
keit benetzte Oberfläche des Körpers SF muss aber auf Die Wirkungslinie der Auftriebskraft geht sowohl
jeden Fall Teil der Oberfläche von VE sein, denn hier beim vollständig eingetauchten Körper als auch
werden die Oberflächenkräfte ausgeübt. Der restliche Teil beim schwimmenden Körper durch den Volu-
der Oberfläche von VE , hier SR genannt, muss dagegen menschwerpunkt des Körpers bzw. des Ersatzkör-
neutral bezüglich der Oberflächenkräfte sein. Die Ober- pers.
fläche setzt sich aus SF und SR zusammen, S = SF + SR
704 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Interpretation in der Strömungsmechanik und Wärme- Der instationäre Term (∂/∂t) steht für die lokale Än-
übertragung derung einer Größe und bedeutet lokale Speicherung
Die Totalableitung in n Dimensionen nach einer der oder Entladung der abgeleiteten Größe. Er ist ma-
n Koordinaten ist in der Mathematik definiert als die thematisch unangenehm und wird nach Möglichkeit
Summe aller partieller Ableitungen nach allen Koordi- vernachlässigt, d. h., wenn eine geeignete Begründung
naten multipliziert mit der jeweils nachzudifferenzie- vorliegt. Seine Bedeutung ist: Am festen Ort ändern
renden Koordinate: sich Größen über der Zeit. Fest installierte Messgerä-
te zeigen daher an, ob sich ein System bereits stationär
n
d ∂ dxj verhält, die Messdatenerfassung sollte immer ein Zeit-
dxi
= ∑ ∂xj dxi . signal beinhalten.
j=1
In den vier Dimensionen der technischen Anwendung Die geforderte Bedingung ist im stationären Fall über
(Zeit und Ort: t, x, y, z) ist die häufig benötigte Totalab- einen mehr oder weniger langen Zeitraum gegeben,
leitung nach der Zeit: denn stationär bedeutet, dass sich an jeder (!) festge-
haltenen Stelle im betrachteten Gebiet keine einzige (!)
d ∂ ∂ dx ∂ dy ∂ dz der betrachteten Größen ändern darf.
= + + + .
dt ∂t ∂x dt ∂y dt ∂z dt
Erfreulicherweise gibt es aber eine weitere Bedingung,
Die totale Änderung der Koordinaten nach der Zeit ist damit dieser Term vernachlässigt werden darf: Es ist
an jeder Stelle gleich der Geschwindigkeit der Materie auch ausreichend, wenn der betrachtete Zeitpunkt so
an der jeweiligen Stelle in der betrachteten Koordina- gewählt wird, dass alle Größen gleichzeitig (!) ein Ma-
tenrichtung (u = (ux , uy , uz )): ximum oder Minimum durchlaufen, denn auch dann
gilt ∂/∂t = 0! Auch hochschnelle Vorgänge, die eigent-
d ∂ ∂ ∂ ∂ lich alles andere als stationär sind, können so mit den
= + ux + uy + uz .
dt ∂t ∂x ∂y ∂z vereinfachten, stationären Gleichungen behandelt wer-
den. Diesen Trick nutzt man häufig in der Messtechnik.
Man beachte die übersichtliche Darstellung in symbo-
lischer Schreibweise: Die Wirkung des konvektiven Terms (∇ · u) ist der
∂ Transport der physikalischen Größe mit der strömen-
Strömungsmechanik
d
= +∇ ·u den Materie. Jede Eigenschaft der Materie (z. B. Tem-
dt ∂t
peratur, innere Energie) wird durch die Bewegung
Die Totalableitung nach der Zeit setzt sich somit aus der Materie in Bewegungsrichtung mitgenommen und
dem instationären Term und dem konvektiven Term zu- daher schnell im Raum verteilt. Konvektive Wärme-
sammen, die in der Strömungsmechanik einfach zu übertragung mit diesem Mechanismus ist wesentlich
interpretieren sind: effizienter als molekulare Wärmeleitung.
Natürlich kann man auch ebene und geneigte Wände mit- die Seitendruckkraft berechnen, jedoch ist die zuvor vor-
hilfe von Ersatzkörpern und der Projektionsmethode für gestellte, direkte Methode einfacher.
z in x-Richtung proji-
y zierte Wandfläche
p0 Bestimmung der Kräfte auf gekrümmte Begrenzungs-
wände von Flüssigkeiten
i x Auf- oder Abtriebskraft:
Die Auf- oder Abtriebskraft wird mithilfe ei-
nes vollständig eingetauchten Ersatzkörpers be-
stimmt (Abb. 22.12).
p0 Die Kraftangriffslinie geht durch den Volu-
menschwerpunkt des Ersatzkörpers.
t1
Stromlinien zur Zeit t1
Berechnung der Seitendruckkräfte: bei instationärer
Strömung t2
Der Betrag der Seitendruckkräfte in x- und y-
Richtung ist gleich dem Druck im Flächenschwer- t1
t0
punkt der projizierten Fläche mal der Größe der t = t1 t = t2 > t1
projizierten Fläche (Abb. 22.13). t2
Die Kraftangriffslinien berechnen sich analog zu t = t0 < t1
(22.11) bzw. (22.12) aus den Flächenträgheitsmo- t0
menten der projizierten Flächen. Bahnlinien dreier Teilchen bei instatio-
närer Strömung (unterschiedliche Zeiten)
festen Ort im betrachteten Gebiet V ändert sich über der zu einem Zeitpunkt beschreibt. Auch sie ist in stationärer
Zeit nicht. Strömung identisch mit den beiden anderen Kurven.
Rauchfäden, die man in Windkanälen zum Sichtbarma-
chen der Stromlinien verwendet, sind also in Wahrheit
Was sind Bahnlinie, Stromlinie und Streichlinie? Streichlinien. Im instationären Fall eignen sich Rauchfä-
den für diesen Zweck nicht.
Frage 22.10
Welche Eigenschaft verlieren Stromröhre und Stromfaden
1 mittlere (repräsentative) in instationärer Strömung?
Stromlinie
definierende, geschlossene
Eintritts- Linie
fläche A1
a
Was bedeuten die Begriffe stationäre Strömung
und reibungsfreie Strömung?
2
Strömungsmechanik
und der Geschwindigkeitsvektor kann überall höchstens
parallel zur Oberfläche verlaufen (bei reibungsbehafteter Wenn man beachtet, dass die Schubspannungen propor-
Strömung ist er sogar null). Damit ist eine begrenzende tional zum Geschwindigkeitsgradienten quer zur Strom-
Wand immer gleichzeitig auch eine Stromlinie, und wenn linie (normal dazu, Richtung n) sind, erkennt man, dass
sie (wie bei Rohren) eine geschlossene Fläche bildet, ist reibungsfreie Strömung nicht unbedingt nur mit einer
auch eine Stromröhre definiert. In diesem Falle kann man kleinen dynamischen Viskosität gleichzusetzen ist. Es
die Eigenschaften der Strömung auf die mittleren Eigen- reicht aus, wenn die auftretenden Geschwindigkeitsgra-
schaften beziehen. dienten klein sind:
Für die Lösung eines hydrodynamischen Problems reicht du
es nicht aus, die Strömungsgeschwindigkeiten zu bestim- τ=η ≈ 0.
dn
men, wir benötigen Informationen über den Druck, die
wirkenden Kräfte und Momente, aber auch über die Zu- Dies ist unabhängig vom betrachteten Fluid der Fall,
standsgrößen Dichte und Temperatur des strömenden wenn die Geschwindigkeiten selbst sehr klein sind oder
Fluides. Um diese zu berechnen, müssen wir Gleichun- wenn die Abmessungen quer zur Strömungsrichtung ge-
gen aufstellen, die uns die gewünschten Informationen nügend groß und die Geschwindigkeiten daher nähe-
liefern: rungsweise konstant sind (u ≈ konst), also die Strömung
homogen ist.
die Erhaltungssätze (Kap. 6, 10): Masse (Konti-
nuitätsgleichung), Energie (Bernoulli’sche Gleichung, Reibungsfreiheit
bzw. Energiegleichung), Impuls (Impulssatz = New-
ton’sches Gesetz), Drehimpuls (Drehimpulssatz), Homogene Strömungen (u ≈ konst.) und kriechen-
die Beziehungen für die Zustandsgrößen (Kap. 18): de Strömungen (u ≈ 0) sind in der Praxis reibungs-
Druck, Temperatur, Dichte bzw. spez. Volumen (ther- frei.
mische Zustandsgleichung), Entropie (2. Hauptsatz
708 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Leitbeispiel Antriebsstrang
Abgasturbolader – Vorgehen bei der Berechnung
In vielen Fahrzeugen der Mittel- und Oberklasse dabei streng genommen aus zwei unterschiedlichen
(Abb. 22.16) wird heute die Ansaugluft des Motors Maschinen: Dem Ladeluftkompressor, der die Ansaug-
vorverdichtet, wobei überwiegend Abgasturbolader luft zum Motor fördert, und der Abgasturbine, die
(Abb. 22.17) verbaut werden. Aufgabe des Turbola- das noch heiße und unter Druck stehende Abgas des
ders ist es, die Ladeluft bereits vor dem Einlass in Motors entspannt, zum Auspuff fördert und dabei die
den Zylinder auf höheren Druck und höhere Dichte
zu bringen, sodass sich je Kolbenhub (Hubraum) mehr
Luft im Zylinder befindet und somit proportional hier-
zu auch bei gleichem Hubraum die Leistung des Mo-
Regeleinheit
tors erhöht wird. Umgekehrt kann bei vorgegebener
Leistung der Motor auch kleiner oder mit weniger Zy- Abgas vom
lindern gebaut werden, was aufgrund der deutlichen Motor
Gewichtsreduzierung auch den Gesamtverbrauch ei- Ladeluft-
nes Kfz verringert. Thermodynamisch gesehen kann Verdichter
das insgesamt höhere Druckverhältnis sogar den ther-
mischen Wirkungsgrad verbessern, dies ist aber eher vom Ansaug-
ein sekundärer Effekt, wichtiger ist das vergrößerte, zum
filter
spezifische Leistungsgewicht des Motors (Leistung pro Auspuff
Masse). Mittlerweile ist deswegen aufgrund der mas-
siven Anstrengungen aller Hersteller, den Verbrauch
und den CO2 -Ausstoß deutlich zu reduzieren, der Ein- Abgas- Verbrennungsluft
satz von Turboladern auch im Kleinwagensegment turbine zum Motor
weiter verbreitet als früher.
Strömungsmechanik
variable
Turbinengeometrie
(VIGV-Variable Inlet
Guide Vane)
Strömungsmechanik
Zunächst werden wir aus Kontinuitätsgleichung
(22.22) und Energiegleichung (22.23) den Zusammen-
hang zwischen der notwendigen Antriebsleistung und
der erzeugten Enthalpie bestimmen. Im zweiten Schritt
folgt dann die Berechnung der Antriebsleistung aus
den Strömungsgrößen mithilfe des Drehimpulssatzes.
ω,φ,e φ
A2
n2 c2,r
AD w2 c2
A1 u2
AL
r, er
c1
Abb. 22.19 Turbolader Verdichterlaufrad
x, ex
c1
Wir betrachten folgende Grundsituation (Abb. 22.20):
Das Kompressorlaufrad wird in axialer Richtung an- n1
geströmt, sodass am Eintritt (Ebene 1) eine fast ho-
mogene Luftströmung in die rotierende Beschaufelung
eintritt. Diese darf eine Umfangskomponente um die
Wellenachse herum besitzen (Drall). Im Leitbeispiel Abb. 22.20 Turbolader: Skizze Verdichterlaufrad und Kontrollvolumen
710 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Umschlag- Rohreinlauf
punkt
turbulente Grenzschicht
laminare
Grenzschicht laminare Unterschicht
u∞ vor
Umschlag: nach Umschlag: u0
laminare turbulente Grenzschicht
Grenzschichten
Grenz- mit laminarer vollausgebildete
wachsen zusammen
schicht Unterschicht Strömung
Einlaufstrecke
Abb. 22.21 Grenzschichtentwicklung an der längsangeströmten, ebenen Plat-
te
Abb. 22.22 Grenzschichtentwicklung im geraden Kreisrohr
Was ist die ungestörte Außenströmung senfluss erfolgt. Gleichzeitig wird auch keine Masse in
und was ist eine Grenzschicht? der Stromröhre gespeichert, sodass der durch A1 eintre-
tende Massenstrom betragsmäßig gleich dem durch A2
austretenden Massenstrom sein muss. Als repräsentati-
Wenn eine Strömung auf ein festes Hindernis wie eine in
ve Stromlinie verwenden wir die Stromlinie, auf der die
Strömungsrichtung liegende Platte trifft und diese um-
mittlere Strömungsgeschwindigkeit u1 bzw. u2 herrscht
strömt, haftet die Strömung an der Wand, und ab der
(genauer gesagt: die mittlere Geschwindigkeit als Mas-
Vorderkante entwickelt sich eine Grenzschicht, in der die
senstrommittelwert). Somit ist die Kontinuitätsgleichung
Geschwindigkeit von der freien, ungestörten Anströmge-
an der Stromröhre:
schwindigkeit in Richtung Wand rasch auf null abfällt
(Abb. 22.21).
Innerhalb der Grenzschicht treten große Gradienten auf, Kontinuitätsgleichung (Massenerhaltung) im allgemei-
außerhalb jedoch nicht, sodass die freie Außenströmung in nen stationären Fall
guter Näherung als reibungsfrei betrachtet werden kann. ṁ = ρ1 u1 A1 = ρ2 u2 A2 . (22.17)
In der Grenzschicht ist die Strömung jedoch reibungsbe-
haftet. In der Grenzschichttheorie wird diese Zweiteilung
genutzt, d. h., die Außenströmung wird nahezu reibungs-
Für inkompressible Strömung gilt:
frei gerechnet, weil dort die Strömung von den Druckkräf-
Strömungsmechanik
Strömungsmechanik
lich ein Teilchen genau diesen Weg nehmen.
flusste Strömung (wt = 0) erhält man die gebräuchlichste
Form der Energiegleichung der kompressiblen Strömung
auf einer Stromlinie: Gültigkeit der Energiegleichung und der Bernoul-
li’schen Gleichung
Energiegleichung auf einer Stromlinie im adiabaten, Energiegleichung und Bernoulli’sche Gleichung gel-
stationären Fall ohne äußere Arbeit ten zwischen beliebigen Punkten von Stromlinien.
Die Stromlinien müssen nicht explizit bekannt sein,
1 1 sondern lediglich einen grundsätzlich physikalisch
h1 + u21 + gz1 = h2 + u22 + gz2 . (22.20)
2 2 möglichen Weg beschreiben.
Aus dieser kann jetzt die Bernoulli’sche Gleichung der Der Punkt 1 muss aber immer stromaufwärts des Punk-
inkompressiblen Strömung abgeleitet werden. Zunächst tes 2 liegen, denn der Rückweg ist bei reibungsbehafteter
wird die Definition der Enthalpie eingesetzt, wobei ei hier Strömung (also jeder technischen Strömung) ausgeschlos-
die spezifische innere Energie (als thermodynamische Zu- sen: Alle reibungsbehafteten Vorgänge sind unumkehrbar
standsgröße) des Fluides ist: (irreversibel)!
p
h = ei + .
ρ
Kontinuitäts- und Energiegleichung
Für die inkompressible Strömung ist ρ1 = ρ2 = ρ, sodass
gilt: am beliebigen Kontrollvolumen
p1 1 p 1
+ u21 + gz1 = 2 + u22 + gz2 + (ei,2 − ei,1 ). Die bisherige Beschreibung der Kontinuitäts- und der
ρ 2 ρ 2 Energiegleichung bezog sich auf die Stromröhre im sta-
712 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
werden nur die Bedingung benötigen, dass der Ober- senströme dṁ in Form von Enthalpie, kinetischer Energie
flächenbereich im Inneren des Triebwerkes durch feste und potentieller Energie berücksichtigen:
Wände gebildet wird, die vom Fluid nicht durchdrungen
werden. 1 1
dṁ h + u2 + gz = −ρ (u · n) h + u2 + gz dS.
2 2
Getrennte Oberflächenbereiche kann man mit der Schlitz-
methode verbinden (Abb. 22.23). Will man beim Kon- Im stationären Fall muss die Gesamtbilanz der Energie
trollvolumen in der Form eines Schweizerkäses ein Loch am Kontrollvolumen wieder null sein:
im Inneren (A2 ) ausnehmen, verbindet man es mit der
sichtbaren Außenseite (A1 ) durch (gedachtes) Einstechen Energiegleichung im stationären Fall am beliebigen Vo-
mit einem Messer, sodass sich ein Verbindungsschlitz lumen V mit der Oberfläche S
bildet. Alle Flächen zusammen genommen (S) umschlie-
ßen nur noch Käse. Beide Seiten des Schlitzes (AS1 , AS2 ) 1
P + Q̇ − ρ (u · n) h + u2 + gz dS = 0.
sind bezüglich der Erhaltungsgrößen Masse, Energie, Im- 2
S
puls und Drehimpuls zusammengenommen aber neutral. (22.23)
Schlitze darf man daher beliebig dazufügen, ohne das Ge-
samtergebnis zu ändern!
Gleichungen (22.22) und (22.23) gelten im kompressiblen
Wir definieren ein solches geschlossenes Gebiet V als
und im inkompressiblen Fall.
Kontrollvolumen mit einer beliebig geformten Oberfläche
S und bilanzieren Masse und Energie (später noch Impuls Frage 22.11
und Drehimpuls) für den stationären Fall. Die Oberflä- Warum gelten Kontinuitäts- und Energiegleichung
chenkrümmung wird über den lokalen Normalenvektor (bzw. Bernoulli’sche Gleichung) auch auf einer einzel-
n beschrieben, der an jeder Stelle senkrecht auf S steht nen Stromlinie?
und immer vom Kontrollvolumen weg zeigen soll, al-
22.4 Hydrodynamik 713
Leitbeispiel Antriebsstrang
Abgasturbolader – Berechnung der notwendigen Leistung
aus Kontinuitäts- und Energiegleichung
Strömungsmechanik
nicht durchströmt, Letztere allerdings nur, wenn der 2
Spalt zum Gehäuse klein ist, was wir aber voraussetzen
wollen und können. Für beide Teilflächen gilt daher Damit ist die notwendige Antriebsleistung für die Ver-
(c · n) = 0, und es bleibt übrig: dichtung der Luft:
1 1 2
ρ (c1 · n1 ) dS + ρ (c2 · n2 ) dS = 0. P = ṁ h2 + c22 − ṁ h1 + c1 .
2 2
A1 A2
Die Normalenvektoren auf den verbleibenden Flä- Nach Division durch den Massenstrom ṁ erhalten wir
chen A1 und A2 beschreiben wir ebenso wie die Ge- die notwendige, spezifische technische Arbeit wt :
schwindigkeiten (siehe auch Übersicht zur Lösung von
Impulssatzaufgaben) durch die Einheitsvektoren des 1 1
wt = h2 + c22 − h1 + c21 .
Koordinatensystems, n1 = −ex , n2 = er . Für die Skalar- 2 2
produkte erhalten wir daher:
Im dritten Teil des Leitbeispiels werden wir diese
−ρ1 c1,x (ex · ex ) dS + ρ2 c2,r dS = 0. Antriebsleistung aus dem Drehimpulssatz und dem
A1 A2
Drehmoment mal der Winkelgeschwindigkeit erneut
ermitteln und erhalten dann die gesuchte Beziehung
Geht man von homogener Strömung am Eintritt und zwischen den Strömungsgrößen und der Enthalpie
am Austritt aus, was auch in der Realität recht gut und damit auch Temperatur, Druck und Dichte nach
stimmt, sind die Integranden konstant, und die Kon- dem Laufrad.
714 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Der Impulssatz im stationären Fall Impuls. Das Teilchen behält aber dabei natürlich seine
Masse:
Ebenso wie die Kontinuitätsgleichung und die Bernoulli- d d du
dF = (dmu) = dm (u) = ρ dV.
oder Energiegleichung ist der Impulssatz ein fundamenta- dt dt dt
ler Erhaltungssatz. Aus dem Impulssatz erhält man nicht In kompressibler Strömung könnte das Teilchen sein Vo-
nur Aussagen über den Strömungszustand, sondern auch lumen dV zwar ändern, dies würde aber durch die gegen-
über Kraftwirkungen auf die Strömung oder Kräfte, die läufige Dichteänderung wieder kompensiert; dm = ρdV
von der Strömung auf die festen Wände ausgeübt werden. bleibt also konstant. Wir betrachten jetzt die Strömungssi-
Hinter dem Impulssatz steckt das Newton’sche Gesetz, tuation aller Teilchen innerhalb der Stromröhre zu einem
das meistens mit dem Satz Kraft = Masse x Beschleunigung beliebig wählbaren Zeitpunkt (d. h. wie ein Schnappschuss-
beschrieben wird, aber etwas präziser lautet: Foto) und leiten damit den Impulssatz her.
Die Summe der Kräfte auf alle Teilchen in der Stromröhre
Newton’sches Gesetz muss gleich der äußeren Gesamtkraft F auf die Stromröh-
re sein. Ebenso ist die Summe der Impulsänderungen aller
Die zeitliche Änderung des Impulses eines Körpers
Teilchen in der Stromröhre gleich der Änderung des Ge-
der Masse m ist dem Betrag und der Richtung nach
samtimpulses der Strömung:
gerade gleich der Vektorsumme aller äußeren Kräfte
auf diesen Körper.
dF = F.
dI
= F. (22.24) du dI
dt ρ dV = .
dt dt
V
der eine Kraft ausüben (22.24), denn das Newton’sche Impulses aller Teilchen in V (Gradient der Größe Impuls)
Gesetz (Aktio = Reaktio) bedeutet, dass die äußere Kraft dI/dt gleichgesetzt werden. Gemäß dem Newton’schen
einer anderen Kraft auf ein zweites System genau entge- Gesetz ist diese wiederum gleich der äußeren Kraft F.
gengesetzt gleich sein muss. In diesem Falle ändert sich
der Impuls der beiden Systeme im Betrag gleich, in der Wir bestimmen daher zunächst den Impulsfluss. Der
Richtung aber genau entgegengesetzt. Der Impuls eines Massenstrom Δṁ, der über ein Oberflächenelement ΔS
geschlossenen Systems, das aus immer denselben Mate- der Oberfläche S tritt, hängt von der Normalkomponen-
rieteilchen besteht, kann also ausschließlich durch eine te un senkrecht zu ΔS ab:
von außen auf das System wirkende Kraft geändert wer-
Δṁ = ρun ΔS = ρ (u · n)ΔS.
den. Zur Herleitung des Impulssatzes in der Strömungs-
mechanik stationärer Strömungen verwenden wir wieder Dieser Massenstrom transportiert über ΔS pro Zeiteinheit
die bereits bekannte Stromröhre aus Abb. 22.15. Diese ist den Impuls (Impulsfluss):
durch ihre Eintritts- und Austrittsfläche sowie durch die
von Stromlinien gebildeten Seitenwände eindeutig defi- Δ (İ) = Δṁu = ρ (u · n)uΔS.
niert, in stationärer Strömung ortsfest und ändert ihre Der lokale Impulsfluss pro Flächeneinheit ist daher durch
Form und ihr Gesamtvolumen V mit der Zeit nicht. Der
Impuls eines einzelnen, kleinen Teilchens der Masse dm, Δ (İ)
das auf einer Stromlinie innerhalb der Stromröhre diese İS = lim = ρ (u · n)u
ΔS→0 ΔS
durchläuft, ist:
gegeben. Der gesamte Impulsfluss über die Oberfläche S
dI = dmu = ρudV. der Stromröhre und damit die gesamte Impulsänderung
der Strömung im Volumen V ist daher
Wenn auf das Teilchen eine äußere Kraft dF einwirkt du
(z. B. von einem benachbarten Teilchen oder einem Feld), İS dS = ρ (u · n)udS = ρ dV = F. (22.25)
dt
ändert sich nach dem Newton’schen Gesetz auch sein S S V
22.4 Hydrodynamik 715
Die äußere Gesamtkraft F wird wieder in die Oberflächen- Der Impulssatz gilt also nach dem Überdruckprinzip auch
und die Volumenkräfte aufgeteilt (gegebenenfalls noch allgemein in der folgenden Form:
ergänzt durch Linienkräfte bei freien Flüssigkeitsober-
flächen). Die an der Stromröhre insgesamt angreifende
Oberflächenkraft entspricht dem Integral des Spannungs- Impulserhaltungssatz nach dem Überdruckprinzip
vektors σ über der Oberfläche S, die Volumenkraft ist das An den resultierenden Kräften des Impulssatzes än-
Integral der spezifischen Volumenkraft f über dem Vo- dert sich nichts, wenn man überall anstelle des abso-
lumen V der Stromröhre. Im Falle der Schwerkraft als luten statischen Druckes p den Überdruck über dem
Volumenkraft entspricht dies der Gewichtskraft des in der Luftdruck (p − p0 ) einsetzt:
Stromröhre eingeschlossenen Fluids:
ρ (u · n)udS = [τ − (p − p0 )n] dS + f dV.
F = FS + FV = σdS + f dV.
S S V
S V (22.27)
Der Impulssatz für die stationäre Strömung, bilanziert an
einer Stromröhre, ist daher:
Mit dem Impulssatz in dieser Form lassen sich recht
einfach Strömungskräfte auf die stromführenden Wände
Impulserhaltungssatz im allgemeinen, stationären Fall ausrechnen wenn man die Oberfläche S des Kontrollvo-
lumens so wählt, dass ein Teil dieser Oberfläche der die
ρ (u · n)udS = (τ − pn)dS + f dV. Strömungskräfte aufnehmende Wandbereich ist. Gleiches
S S V gilt für den folgenden Drehimpulssatz, mit dem man di-
(22.26) rekt die Momentenwirkung der Strömungskräfte auf feste
Bauteile ermitteln kann. Das Vorgehen wird in der Über-
sicht „Impuls- und Drehimpulssatzaufgaben lösen – mit
System“ gezeigt. Die konkrete Anwendung des Impuls-
Überdruckprinzip In der praktischen Anwendung ist das satzes zur Kraftberechnung wird im nächsten Abschnitt,
Überdruckprinzip äußerst hilfreich. Grundsätzlich darf der die des Drehimpulssatzes im Leitbeispiel (Laufrad des
umgebende Luftdruck p0 keine resultierende Kraft auf Turboladers) gezeigt.
Bauteile ausüben, obwohl er in der Gleichung an allen
Stellen des Fluids im statischen Druck enthalten ist. Hät-
te der Luftdruck in irgendeiner Weise einen Einfluss auf
die resultierende Kraft auf Bauteile (ein Teil der Oberflä- Die Anwendung ist nicht so schwierig, wie die
Strömungsmechanik
che von S ist die Bauteiloberfläche, hier wird über das
Spannungsintegral die Fluidkraft ausgeübt), könnte man
Gleichung zunächst aussieht
eine Maschine bauen, die alleine vom Luftdruck betrie-
ben wird, also ein Perpetuum mobile. In der Praxis wirkt Zur Erläuterung der 5-Schritte-Methode zur Berechnung
der Luftdruck nicht nur von der Fluidseite her über den von Kräften ist ein Beispiel am besten geeignet. Es soll
statischen Druck p, sondern auch von der Bauteilrück- die Kraft auf ein mobiles Axialgebläse (Abb. 22.24) mit
seite, sodass sich die Kräfte aus dem Luftdruck immer Hilfe der Erhaltungssätze und des Überdruckprinzips be-
gegenseitig aufheben. Daher können wir diesen Anteil stimmt werden. Das Gebläse saugt Umgebungsluft aus
des statischen Druckes ohne Änderung der resultieren- der Ruhe (u0 = 0) über einen gut gerundeten Einlauf
den Kraft herausrechnen. Das Oberflächenintegral über S an und fördert sie mit dem eingebauten Ventilator zur
des Luftdruckes p0 muss an jedem geschlossenen Volu-
men null sein:
(−p0 n)dS = 0. Einlaufdüse ρ = 1,11 kg/m3
p1 Austritt =
S 1 z
2 Freistrahl
Weil es insgesamt immer null ist, darf es von der linken
Seite von (22.26) ohne Änderung des Ergebnisses abgezo- d1 d2
x
gen werden:
u2 = konst.
u1 = konst.
ρ (u · n)udS = (τ − pn)dS − (−p0 n)dS p0
p0
S S S
0
+ f dV.
V Abb. 22.24 Kraft auf ein Axialgebläse
716 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
ebenfalls gut gerundeten Austrittsdüse. Einlauf und Aus- gesamte innere und äußere Oberfläche des Gebläses AW ,
trittsdüse sind beide verlustfrei. Direkt nach dem Einlauf inklusive der Oberfläche des eingebauten Ventilators. Die
in der Ebene 1 und vor dem Ventilator wird ein ne- zweite Teilfläche ist die Austrittsebene A2 , in der die Luft
gativer Überdruck (p1 − p0 ) = −775 Pa gemessen. Der aus dem Kontrollvolumen austritt. Zu einem geschlosse-
Durchmesser im Bereich des Ventilators ist d1 = 300 mm, nen Volumen kommen wir jetzt, indem wir eine große
der Austrittsdurchmesser ist d2 = 200 mm, die Dichte der Blase um das Ganze zeichnen, weil wir als Eintrittsfläche
Luft ist mit ρ = 1,110 kg/m3 gegeben. Die Strömung ist in (A0 ) am einfachsten die ruhende Luft verwenden, denn
den Ebenen 1 (nach Einlauf) und 2 (Austritt) homogen. hier kennen wir sowohl den Druck (Überdruck ist 0) als
auch die Geschwindigkeit (u0 = 0).
Mit diesen wenigen Angaben lassen sich bereits alle
wesentlichen Größen ermitteln. Zunächst müssen wir Schritt 2: Am gesamten KV gilt der Impulssatz:
die Strömungsgeschwindigkeiten bestimmen. Hierzu ver-
wenden wir die Bernoulli’sche Gleichung und die Konti- ρ (u · n)udS = [τ − (p − p0 )n] dS + ρg dV.
nuitätsgleichung. Die Bernoulli’sche Gleichung wird von S S V
einem Punkt 0 weit vor dem Gebläse, wo die Luft in
Ruhe ist, bis zur Ebene 1 aufgestellt. Höhenunterschie- Als Volumenkraft tritt hier nur die Schwerkraft auf, d. h.
de können durch geeignete Wahl einer Stromlinie auf der das gesamte Volumenintegral stellt lediglich das Gewicht
Mittelachse vernachlässigt werden (z0 = z1 = z2 ), der Luft im Kontrollvolumen dar. Bei Gasen ist dieses viel
ρ ρ kleiner als die Impulskräfte und die Oberflächenkräfte,
p0 + u20 + ρgz0 = p1 + u21 + ρgz1 + ΔpV . sodass wir es vernachlässigen können:
2 2
Da der Einlauf verlustfrei ist, erhalten wir damit die Ge- ρ (u · n)u dS = [τ − (p − p0 )n] dS.
schwindigkeit in der Ebene 1:
S S
− 2 ( p1 − p0 ) Schritt 3: Das Kontrollvolumen setzt sich somit aus nur
u1 = = 37,4 m/s.
ρ drei Teilflächen zusammen:
Nun können wir auch den Impulssatz anwenden. ρ (u0 · n0 )u0 dS + ρ (u2 · n2 )u2 dS
A0 A2
Schritt 1: In Schritt 1 der 5-Schritte-Methode legen wir das
Kontrollvolumen (KV) fest (Abb. 22.25). Damit wir die = [−(p0 − p0 )n] dS + t dS
Kraft der Luft auf das Gebläse berechnen können, muss
A0 AW
zwingend die gesamte Kontaktfläche zwischen Luft und
dem Gebläse Teil der Oberfläche des Kontrollvolumens + [−(p2 − p0 )n] dS.
sein, denn hier wird über Schubspannungen und Druck- A2
spannungen diese Kraft übertragen. Das ist letztlich die
Die Fläche A0 wurde so gewählt, dass die Geschwindig-
keit u0 praktisch Null ist, so dass auch das erste Impuls-
flussintegral links Null ist. Sowohl bei A0 als auch bei
A0
A0 A2 ist der Druck gleich dem Umgebungsdruck (p2 = p0 ),
Aw
somit sind auch die beiden zugehörigen Integrale rechts
Aw Aw Null. Das verbleibende Integral rechts ist die äußere Kraft
Aw auf das Kontrollvolumen, deren Gegenkraft die gesuchte
Kraft F auf das Gebläse ist:
A0 A2
Aw ρ (u2 · n2 )u2 dS = t dS = −F.
Aw Aw A2 AW
Aw A0 Schritt 4: Der Einheitsvektor in Strömungsrichtung sei ex ,
A0 mit dem wir die verbleibenden Vektoren darstellen:
Abb. 22.25 Kontrollvolumen zur Berechnung der Kraft auf das Axialgebläse u2 = u2 ex , n2 = ex , (u2 · n2 ) = u2 .
22.4 Hydrodynamik 717
Schritt 5 (Lösung): Alle Größen im Integral sind konstant, Problemen die mathematische Behandlung unmöglich
sodass die gesuchte Kraft machen, während sie bei günstiger Wahl sehr einfach ist.
Für die Anwendung müssen wir als erstes den Bezugs-
F = −ρu22 A2 ex = −247 N ex punkt festlegen. Hier gibt es eine einfache Regel:
ist. Sie zeigt also in negative Strömungsrichtung.
Wahl des Bezugspunktes
Bei rotationssymmetrischen Problemen sollte der
Der Drehimpulssatz (Drallsatz) Bezugspunkt auf der Symmetrieachse liegen. Als
Koordinatensystem verwendet man dann (pro-
im stationären Fall blemangepasst) ein Zylinderkoordinatensystem
(r, ϕ, x), wobei bei Rotationssymmetrie Änderungen
Die gleiche Betrachtung wie beim Impulssatz kann auch in ϕ-Richtung 0 sind. Der Abstandsvektor x im
für den Drehimpuls L angestellt werden. Anstelle der Drehimpulssatz (22.28) ist dann identisch mit dem
Kräfte F wird das Drehmoment der Kräfte M in Bezug Radiusvektor r des Zylinderkoordinatensystems.
auf einen beliebigen Bezugspunkt (Nullpunkt des Koor-
x≡r
dinatensystems) gesetzt, während alle Impulsterme (spez.
Impuls = Geschwindigkeit u) durch den zugehörigen
spez. Drehimpuls l in Bezug auf den gleichen Bezugs-
punkt ersetzt werden. Der Ortsvektor x beschreibt die Weil der Drehimpulssatz vor allem bei rotationssymme-
trischen Problemen angewendet wird, ist dies in der Pra-
Lage jedes Teilchens im Koordinatensystem, d. h., er ist
xis die geläufigste Form.
gleichzeitig der vektorielle Abstand vom Bezugspunkt
des Drehimpulses und der Momente:
Frage 22.12
M = x × F, Welche physikalische Aussage steckt hinter der integralen
Form der stationären Erhaltungssätze?
L = x × I,
L
l= = x × u,
m
L̇S = x × İS = ρ (u · n)(x × u).
Erhaltungssätze im instationären Fall
Der Drehimpulserhaltungssatz für stationäre Strömung
Strömungsmechanik
an einer Stromröhre ist demnach:
Mithilfe von Kontinuitäts-, Energie- und Impulsgleichung
im stationären Fall können Bilanzen an den Rändern (Ein-
Drehimpulserhaltungssatz im allgemeinen stationären tritt, Austritt, Wand) der Stromröhren aufgestellt werden,
Fall ohne dabei über das Verhalten des Fluides im Inneren
irgendeine Information besitzen zu müssen. Dies än-
ρ (u · n)(x × u)dS = (x × σ )dS dert sich sofort, wenn die Strömung instationär ist. In
S S diesem Fall müssen sämtliche lokalen Änderungen der
Strömungsgrößen (u, T, p, ρ . . .) in der Energie- und Mas-
+ (x × f )dV. (22.28) senbilanz, ebenso wie im Impulssatz als Speicherung bzw.
V Entladung berücksichtigt werden. Damit geht der Vor-
teil der stationären Form der Erhaltungssätze allerdings
verloren, denn man muss zunächst das Strömungsfeld
Drehimpuls und Drehmomente entstehen, wenn Bewe- vollständig im zeitlichen Verlauf kennen, bevor man die
gungen und Kräfte einen Versatz der Wirkungslinie in Bilanz der Stromröhre aufstellen kann, was sich aber
Bezug auf den frei wählbaren Bezugspunkt besitzen. In durch die dann bereits gegebene, vollständige Lösung er-
Bezug auf einen Punkt abseits der Bewegungs- bzw. Wir- übrigen würde: Dies hilft also für einfache Rechnungen
kungslinie besitzt also auch eine geradlinig und gleich- nicht wirklich weiter. In solchen Fällen müssen die Erhal-
förmig bewegte Masse einen Drehimpuls und eine Kraft tungsgleichungen als Differenzialgleichungen aufgestellt
entsprechend ein Drehmoment. Im Endergebnis liefert werden (der Impulssatz wird dann z. B. zu einem Satz
der Drehimpulssatz zwar in Bezug auf alle möglichen nichtlinearer Differenzialgleichungen, den Navier-Stokes-
Bezugspunkte das gleiche Ergebnis, jedoch kann eine un- Gleichungen) und sind dann in aller Regel nur numerisch
geschickte Wahl des Bezugspunktes selbst bei einfachen lösbar.
718 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Gültig für Strömungen, die weder in Wärme- noch in Kontinuitäts- und Energiegleichung am allgemeinen Kon-
Arbeitsaustausch mit der Umgebung stehen, also adia- trollvolumen
bat und frei von äußerer Arbeit sind, Bezeichnungen
nach Abb. 22.15 (−) ρ (u · n) dS = 0.
S
Kontinuitätsgleichung (Massenerhaltung) 1
(−) ρ (u · n) h + u2 + gz dS = 0.
2
Inkompressible Strömung: S
Energieerhaltungsgleichung
Drehimpulssatz
Inkompressible Strömung (Bernoulli’sche Gleichung):
Inkompressible und kompressible Strömung:
ρ ρ
p1 + u21 + ρgz1 = p2 + u22 + ρgz2 + ΔpV .
2 2
ρ (u · n)(x × u)dS = (x × σ )dS
Kompressible Strömung: S S
1 1 + (x × f )dV.
h1 + u21 + gz1 = h2 + u22 + gz2 .
2 2 V
Die rechte Seite ist die Summe der äußeren Kräfte (Feld- Die Geometrische Ähnlichkeit
kräfte f , Druckkräfte p und Reibungskräfte aus der Zähig-
keit η), während die linke Seite die totalen Ableitungen
der Geschwindigkeiten u, v und w nach der Zeit, also die Geometrische Ähnlichkeit ist die Ähnlichkeit des Ortes
Beschleunigungen sind. Wir wollen an dieser Stelle nicht und aller Längen der strömungsführenden festen Wän-
näher auf Lösungsmethoden eingehen, denn das würde de und der Objekte im Strömungsweg. Bei geometrischer
den Rahmen und das Ziel dieses Lehrbuchs deutlich über- Ähnlichkeit skalieren sich alle Längen im selben Verhält-
schreiten. Wir belassen es also bei der Erkenntnis: nis, d. h., um alle tatsächlichen Längen eines Problems
zu ermitteln, muss nur eine einzige typische Länge L
bekannt sein. Es ist dabei unerheblich, welche Länge L
Navier-Stokes Gleichungen gewählt wird, solange für alle ähnlichen Geometrien ein-
Die Navier-Stokes Gleichungen sind grundsätz- heitlich festgelegt ist, welche Abmessung als typische
lich der Impulssatz bzw. das Newton’sche Ge- Länge dient. Die Geometrie wird für alle Abmessun-
setz in allgemeiner differenzieller Form, angewen- gen durch dimensionslose Koordinaten beschrieben (z. B.
det auf Strömungen. Als Satz gekoppelter, nichtli- xi /L), sodass durch diese Skalierung mit L alle dimensi-
nearer Differenzialgleichungen und zusammen mit onslosen Längenmaße identisch sind. Der Skalierungsfak-
Kontinuitäts- und Energiegleichung kann ihre Lö- tor der Längenmaße unterschiedlich großer Systeme ist
sung erhebliche mathematische Schwierigkeiten be- für alle Längen daher fest (typische Längen der beiden
reiten. Systeme L∗ bzw. L):
L∗
fL = .
L
22.5 Hydrodynamische
Ähnlichkeitsgesetze Die Kinematische Ähnlichkeit
Die Natur kennt keine Maßeinheiten. Dieser Satz kenn-
Die kinematische Ähnlichkeit ist die Ähnlichkeit in den
zeichnet bereits die Idee der Ähnlichkeitsgesetze, denn
Strömungsgeschwindigkeiten des Problems. An jeder
diese gehen davon aus, dass alle physikalischen Gesetz-
Stelle in dimensionslosen Koordinaten (x/L, y/L, z/L)
mäßigkeiten letztlich so formuliert werden können, dass
müssen im Strömungsfeld gleiche Richtungen der Ge-
keine Maßeinheit mehr benötigt wird, sie also dimensi-
schwindigkeiten vorliegen, die Beträge der Geschwindig-
onslos sind.
keiten skalieren sich ebenfalls in einem festen Verhältnis.
Strömungsmechanik
Gleiches gilt, wenn nicht das Fluid strömt, sondern Objek-
Ähnlichkeitsbedingungen te durch ein ruhendes Fluid bewegt werden. Dann muss
die Bewegungsrichtung der Oberflächenpunkte aller Ob-
Für das Erreichen vollständiger Ähnlichkeit zweier jekte in Bezug auf die Koordinaten im ruhenden Bezugs-
strömungsmechanischer Probleme muss vorausge- system identisch sein. Verwendet man ein System, in dem
setzt werden, dass feste Wände und Objekte ruhen und das Fluid bewegt
wird, müssen in allen Größenmaßstäben die Stromlinien
geometrische Ähnlichkeit (Übertragbarkeit der gleich sein. Die tatsächliche Größe der Geschwindigkeiten
Lage der Ortspunkte x), wird dann durch die Angabe einer einzigen typischen Ge-
kinematische Ähnlichkeit (Übertragbarkeit der schwindigkeit festgelegt. Der Skalierungsfaktor der Ge-
Veränderung der Lage der Ortspunkte, also der schwindigkeiten unterschiedlich großer Systeme ist für
Geschwindigkeit ẋ) und alle Geschwindigkeitsvektoren fest (typische Geschwin-
dynamische Ähnlichkeit (Übertragbarkeit der digkeiten der beiden Systeme U ∗ bzw. U):
Veränderung der Geschwindigkeiten, also der Be-
schleunigungen ẍ und damit der Kräfte) U∗
fk = .
U
vorliegt. Wenn Beschleunigungen und Kräfte auch
noch zeitlichen Änderungen unterworfen sind, müs-
sen als nächste Stufe auch die dritten Ableitungen Die Dynamische Ähnlichkeit
des Ortes (der sog. Ruck) auf Ähnlichkeit geprüft
werden, usw. Im Allgemeinen reicht bei den meis- Wenn bereits geometrische und kinematische Ähnlich-
ten technischen Problemen die Beschränkung bis zur keit vorliegt, müssen sich für vollständige Ähnlichkeit
dynamischen Ähnlichkeit ẍ aber aus. nur noch Veränderungen der Geschwindigkeiten, also Be-
schleunigungen durch wirkende Kräfte ähnlich verhalten.
720 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Fünf Schritte zur Lösung von komplexen Aufgaben- Schritt 3: Die Oberfläche des KV in Teilbereiche aufteilen,
stellungen. ebenso die Oberflächenintegrale Die Teilbereiche der
Oberfläche, für die jeweils andere Bedingungen gelten,
Der größte Fehler, den Einsteiger bei der Lösung von wurden so definiert, dass sie S vollständig beschreiben:
Impulssatzaufgaben machen, ist das Lösen mit Intui- S = A1 + A2 + . . . + An . Dementsprechend sollten Sie
tion oder treffender ausgedrückt: „Aus dem Bauch die Teilintegrationsbereiche auch formal als getrennte
heraus“. In einfachen Fällen mag das zwar funktio- Integrale hinschreiben. Dabei können zur Schreibver-
nieren, aber bei komplexeren Situationen ist es meist einfachung die Oberflächenbereiche zusammen blei-
nicht möglich, die Wirkungsrichtung eines einzelnen ben, für die der jeweilige Integrand gleiche Eigenschaf-
Impulsstromes in Bezug auf das Gesamtsystem rich- ten besitzt. Sparen Sie gerade in diesem Schritt nicht an
tig einzuschätzen. Wenn man sich von Anfang an notwendiger Schreibarbeit, denn die Aufteilung macht
angewöhnt, jede Aufgabe mit einer immer gleichen Lö- jedes Problem übersichtlicher. Das Spannungsintegral
sungsstrategie anzugehen, stellt man fest, dass dies in auf dem Oberflächenbereich der festen Bauteilwände
der Regel schneller zum Ziel führt, als die intuitive Me- ist die Kraft, die die Bauteile auf das Fluid von au-
thode und die Fehlerwahrscheinlichkeit geringer wird. ßen ausüben. Daher wird dieses Teilintegral durch die
Es ist daher sehr empfehlenswert, sich an die hier vor- (meistens gesuchte) negative Gesamtkraft des Fluids
gestellte Strategie in jedem Fall zu halten, auch (oder auf die Wand −F ges ersetzt.
gerade) wenn man das Ergebnis vorab erkennt oder zu
erkennen glaubt. Schritt 4: Vektoren durch Einheitsvektoren ersetzen Alle
Vektoren (Normalen- und Geschwindigkeitsvektoren)
Ein wesentlicher Aspekt der hier vorgestellten Syste- werden durch die Einheitsvektoren des gewählten Ko-
matik ist die Verwendung von Vektoren und Vektor- ordinatensystems ersetzt.
gleichungen anstelle von arithmetischen Gleichungen,
insbesondere bei zwei- oder gar dreidimensionalen Schritt 5: Lösen der Integrale und Sortieren aller Glei-
Kraftwirkungsproblemen. Ich empfehle hier die sym- chungsterme nach Einheitsvektoren Einheitsvektoren
bolische Schreibweise aus einem einfachen Grund: Sie sind im gewählten Koordinatensystem konstante Grö-
spart eine Menge Schreibarbeit, denn das Vektorsym- ßen und können daher wie jede Konstante vor das
bol bedeutet lediglich, dass wir es anstelle einer Glei- Integral gezogen werden. Unter stationären Bedingun-
chung in Wirklichkeit mit drei identisch aufgebauten gen werden am festen Ort (Integrationsbereich Ai )
Strömungsmechanik
Gleichungen in den Raumrichtungen zu tun haben. nach den vorherigen Schritten meistens gar keine In-
Das Integral über einen Vektor ist also gar nichts Ge- tegrale mehr zu lösen sein, sondern es wird nur über
heimnisvolles, sondern die Kurzschreibweise für drei konstante vektorielle Größen C integriert. Das Ergebnis
gewöhnliche Integrale. ist dann Integrand mal Größe des Integrationsbereichs:
Schritt 1: Problemskizze und Eintragen des Kontrollvolu- CdS = CAi .
mens (KV) als Bilanzraum (Fast) der wichtigste Schritt! Ai
Tipps für die Wahl des KV und insbesondere der
Schließlich bleibt nur noch ggf. das Volumenkraftinte-
Oberfläche werden deshalb auch in einer separaten
gral zur Lösung, wenn es nicht vernachlässigbar war.
Übersicht gegeben. Das KV muss den relevanten Strö- Im Falle der Schwerkraft als einziger Volumenkraft ist
mungsbereich abgrenzen, der die gefragten Kräfte auf die Lösung aber auch nicht schwer, denn das Volumen-
Bauteile verursacht. Das Gebiet V muss mathematisch integral ist dann nichts anderes, als die Gewichtskraft
geschlossen sein, d. h., die Oberfläche S des Gebietes des vom KV eingeschlossenen Flüssigkeitsvolumens:
umhüllt das Volumen V vollständig und ist zusam-
menhängend. Im Inneren darf es keine Ausnahmen f dV = −ρgkdV = −gk ρdV
geben (kein Schweizerkäse). Das KV enthält also aus-
V V V
schließlich das Fluid, keinesfalls aber Bauteile.
= −mFluid gk.
Schritt 2: (Dreh-)Impulssatz für das KV vollständig hin- Diese muss nur noch zur z-Richtung addiert werden.
schreiben Schreiben Sie Gleichung 22.26 (oder 22.28) Für die Lösung des Drehimpulssatzes gilt die Aussa-
ohne Vereinfachung auf. Sind die Volumenkräfte für ge entsprechend, wenn man das Drehmoment der Ge-
das Problem von Bedeutung, d. h. von gleicher Grö- wichtskraft des Flüssigkeitsvolumens bestimmt. Hier-
ßenordnung wie Impulskräfte? Nein? Dann ist dies der zu muss man dann allerdings die Lage des Schwerpunk-
richtige Zeitpunkt das Volumenintegral begründet zu tes bestimmen, was (mit Ausnahme von rotationssym-
streichen, sonst lassen Sie es stehen. metrischen Problemen) gegebenenfalls nicht trivial ist.
22.5 Hydrodynamische Ähnlichkeitsgesetze 721
Schritt 1 der Fünf-Schritte-Methode. Ebene Flächen wählen Wenn man quer zu Stromlini-
en schneidet, dann möglichst mithilfe ebener Schnitt-
In diesem Schritt werden die Weichen für eine einfache flächen, denn auf diesen ist der Richtungsvektor n
oder komplizierte Problembeschreibung gestellt, daher der Fläche überall gleich, n = konst. Dementsprechend
ist hier besondere Sorgfalt erforderlich.
darf der Richtungsvektor n sowohl im Flussintegral als
Die Oberfläche des KV wird aus verschiedenen Teilbe- auch im Spannungsintegral vor die Integration gezo-
reichen zusammengesetzt, von denen ein Teil immer gen werden. Die Schnittfläche muss hierbei übrigens
die abgrenzenden Wände sind, die die Strömungskräfte nicht unbedingt senkrecht zu den Stromlinien liegen,
übertragen. Das Spannungsintegral über die Wandflä- damit diese Vereinfachungen greifen.
che kann dann durch die gesuchte Bauteilkraft ersetzt
werden (siehe Übersicht „Impuls- und Drehimpulssatz- Symmetrie und Periodizität Nutzen Sie Symmetrie und
aufgaben lösen – mit System“). Die anderen Teilberei- Periodizität eines Problems aus. Aus beiden Bedin-
che der Oberfläche sollten vor allem eine Eigenschaft gungen lässt sich ableiten, dass bestimmte Kräfte auf
haben: Sie sollten einer Berechnung möglichst einfach Teilbereichen zwar nicht null sind (also nicht einfach
zugänglich sein. Das ist besonders dann gegeben, wenn gestrichen werden dürfen), sich aber gegenseitig auf-
der Integrand in diesem Bereich null oder wenigstens heben: Ist ein Problem symmetrisch und stellen die
konstant ist. Nutzen Sie daher die Möglichkeit, dass das Flächen Ai und Aj entsprechend zueinander symmetri-
KV grundsätzlich in Form und Größe beliebig gewählt sche Teilflächen dar, so gilt für die relevanten Integrale
werden darf, sodass die Rechnung am Ende möglichst der rechten und linken Seite:
einfach wird. Nach dieser Spielregel sollten Sie auch die
Oberflächenteile auswählen:
. . . dS = − . . . dS.
Stromlinien und Stromflächen Quer zu Stromlinien und Ai Aj
Stromflächen findet kein Impulsstrom statt, denn es
gilt (u · n) = 0. Auf diesen Teilflächen verschwinden Entsprechendes gilt für Periodizität der Flächen Ai und
also die Impulsfluss- und Drehimpulsflussintegrale Aj . Folglich lässt man die beiden Teilbereiche auch zu-
(linke Seite). Wie bei der Bernoulli’schen Gleichung sammen, denn es gilt unabhängig vom Integranden:
müssen die Stromlinien hierzu nicht einmal bekannt
sein, es reicht völlig aus, wenn bekannt ist, dass sie
Strömungsmechanik
existieren. . . . dS = 0.
Ai +Aj
Feste Wände Feste Wände sind immer auch Strom-
linien, wenn sie nicht porös sind. Dies gilt für rei-
bungsfreie und reibungsbehaftete Strömungen glei- Schlitze Gelegentlich muss man zur Verbindung ge-
chermaßen, daher fallen auch auf festen Wänden die trennter Oberflächenbereiche einen Schlitz in das KV
Flussintegrale der linken Seite weg. Für poröse Wände einfügen. Ein Schlitz ist eine gedachte, unendlich dün-
(d. h. zwar durchlässig, aber nur mit sehr kleiner Ge- ne Schnittfläche durch das Fluidgebiet (Abb. 22.23).
schwindigkeit) ist das Flussintegral aber ebenfalls null, Stellen Sie sich wieder einen Block Schweizerkäse vor:
weil der zweite Multiplikator u im Integranden für rei- Sie wissen nicht, wo die Löcher sind, Sie wissen nur,
bungsbehaftete Strömung (also in der Natur immer) dass sie da sind. Die Innenoberflächen der Löcher ha-
null ist. ben keine Verbindung zur äußeren Oberfläche, es sei
denn, Sie stechen mit einem sehr dünnen Messer in den
Homogene Strömung In wenigstens näherungsweise Käse ein. Die beiden Seiten der Schlitzoberfläche AS1
homogener Strömung gilt für die Geschwindigkeit u = und AS2 ergänzen nun die Gesamtoberfläche S (Loch
konst., was die Behandlung der Flussintegrale in die- und außen) so, dass ein Zusammenhang entsteht, und
sen Bereichen schon deutlich erleichtert. Dazu kommt, die Käsemasse von S umschlossen wird. In Bezug auf
dass sich auch das Spannungsintegral auf der rechten die Wirkung im Impulssatz sind die beiden gedachten
Seite vereinfacht, denn homogene Strömungsbereiche Schlitzflächen aber neutral, denn es gilt sowohl für das
sind auch reibungsfrei, τ = 0. In diesen Strömungsbe- Impulsfluss- als auch für das Spannungsintegral:
reichen bleiben daher nur die Druckspannungen übrig.
In Verbindung mit der nächsten Regel lassen sich die . . . dS = 0.
Integrale der linken und der rechten Seite dann beson-
AS1 +AS2
ders einfach lösen.
722 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Leitbeispiel Antriebsstrang
Abgasturbolader – Berechnung der notwendigen Leistung
aus der Drehimpulserhaltung: Die Euler’sche Turbinenglei-
chung
Schritt 1 Kontrollvolumen und Oberfläche S nach M + M Reib . Unser Ziel ist es aber, die Energieübertra-
Abb. 22.20: Die Oberfläche wird vollständig in Teilbe- gung auf die Luft zu berechnen, hierzu benötigen wir
reiche untergliedert, S = A1 + A2 + AL + AD . M Reib nicht. Wir können es daher in unserer Betrach-
tung vernachlässigen, ohne einen Fehler zu machen.
Schritt 2 Drehimpulssatz im ruhenden System aufstel- Das Moment M ist das Schaufelmoment auf die Strö-
len. Als Bezugspunkt für Drehimpuls und Momente mung und damit das wirksame Moment der techni-
wird ein Punkt auf der Wellenachse gewählt, der allge- schen Arbeit zur Ermittlung des Austrittszustandes 2
meine Ortsvektor ist daher gleich dem Radienvektor, der Luft.
x = r. Die Volumenkraft (also das Gewicht der Luft im
Laufrad) wird vernachlässigt: Schritt 4 Die noch verbliebenen Vektoren werden nun
durch die Einheitsvektoren er , e ϕ und ex ausgedrückt.
ρ (c · n)(r × c)dS = (r × σ )dS. Für Vektorprodukte gilt: Stehen die Vektoren senkrecht
aufeinander, so ist das Ergebnis ein Vektor, der auf
S S
den beiden anderen senkrecht steht und dessen Betrag
gleich dem Produkt der Beträge ist. Sind die Vektoren
Schritt 3 Die Untergliederung der Oberfläche parallel zueinander, ist das Vektorprodukt 0. Beim Tau-
(Abb. 22.20) wird vollständig auf die Integrale übertra- schen der Reihenfolge entsteht der Gegenvektor. Auf
gen und die Homogenität am Ein- und Austritt (τ = 0) die Vernachlässigung des Eintrittsdralles c1,ϕ können
berücksichtigt: wir verzichten, unsere Lösung wird dadurch nicht be-
einträchtigt. AL und AD werden nicht durchströmt.
ρ1 (c1 · n1 )(r × c1 )dS
c1 = c1,x ex + c1,ϕ e ϕ , n1 = −ex ,
A1
Strömungsmechanik
c2 = c2,r er + c2,ϕ e ϕ , n2 = er ,
+ ρ2 (c2 · n2 )(r × c2 )dS
c1 · n1 = −c1,x , c2 · n2 = c2,r ,
A2
r = rer ,
+ ρ (c · n)(r × c)dS (r × c1 ) = rc1,x (er × ex ) + rc1,ϕ (er × e ϕ )
AL +AD
= −rc1,x e ϕ + rc1,ϕ ex ,
= −p1 (r × n1 )dS + −p2 (r × n2 )dS (r × c2 ) = r2 c2,ϕ (er × e ϕ ) = r2 c2,ϕ ex ,
A1
A2 (r × n1 ) = re ϕ ,
+ (r × σ )dS + (r × σ )dS . (r × n2 ) = 0.
AL AD
! "# $ ! "# $
M M Reib
Schritt 5 Wir interessieren uns ausschließlich für Kräf-
te, die ein Moment bezüglich der Wellenachse besitzen.
M Reib ist dabei das an der Fläche AD auftretende äu-
Alle anderen Momente können wir ausblenden, indem
ßere Reibmoment der Luft im Spalt zwischen Gehäu-
wir die ganze Gleichung skalar mit ex durchmultipli-
se und Laufrad aufgrund der fehlenden Deckscheibe.
zieren. Insbesondere die Drücke p1 und p2 besitzen
Dieses muss natürlich auch von der Abgasturbine ge-
kein Moment bezüglich der Wellenachse, dadurch blei-
liefert werden, trägt aber nicht zur Kompression der
ben nur noch folgende Terme übrig:
Luft bei. Zur Berechnung der Turbine und des Leis-
tungsgleichgewichtes an der Welle müssten wir dieses
zwar ermitteln oder wenigstens abschätzen, denn das −ρ1 c1,x c1,ϕ rdS + ρ2 c2,r c2,ϕ r2 A2 = Mx .
gesamte Antriebsmoment des Laufrades ist M Welle = A1
22.5 Hydrodynamische Ähnlichkeitsgesetze 723
Das verbleibende Integral muss bei dem skizzierten Der Bruch hat auf der Kreisringfläche die Bedeutung
Laufrad gelöst werden, denn der Radius r ist auf A1 eines für den Drehimpulsmittelwert der Anströmung
eine Variable. Wir ersetzen dS durch 2πrdr und inte- repräsentativen mittleren Radius’ r1,m :
grieren vom Innenradius r1,i zum Außenradius r1,a :
Mx = ṁ c2,ϕ r2 − c1,ϕ r1,m .
r1,a
− 2πρ1 c1,x c1,ϕ r2 dr + ṁc2,ϕ r2 = Mx ,
Multipliziert man das Moment mit der Winkelge-
r1,i
schwindigkeit ω = 2πn und berücksichtigt, dass rω =
2
u, also die jeweilige Laufradumfangsgeschwindigkeit
− πρ1 c1,x c1,ϕ r1,a 3 − r1,i 3 + ṁc2,ϕ r2 = Mx ,
3 ist, erhält man die zur Verdichtung notwendige An-
2 r1,a 3 − r1,i 3 triebsleistung P (Euler’sche Turbinengleichung):
−ṁ c1,ϕ − c2,ϕ r2 = Mx .
3 (r1,a 2 − r1,i 2 )
P = Mx ω = ṁ c2,ϕ u2 − c1,ϕ u1,m .
Strömungsmechanik
FT
Bezug auf die bisher bereits angesprochenen Kräfte, die Re = = ∗T = Re∗ .
in technischen Strömungsproblemen auftreten (exotische FR FR
Kräfte werden hier wieder nicht berücksichtigt), sind dies
nur vier wichtige Kräftegruppen, je zwei aus den Oberflä- Haben zwei strömungsmechanische Probleme bei geo-
chenkräften und je zwei aus den Volumenkräften: metrischer und kinematischer Ähnlichkeit in allen drei
dimensionslosen Kennzahlen die gleichen Werte, sind
typische Reibungskraft FR (Zähigkeitskraft) aus den sie auch dynamisch vollständig ähnlich. Für inkompres-
Schubspannungen, sible Strömungen im Unterschallbereich sind dies die
typische Druckkraft FD , Reynoldszahl Re, die Eulerzahl Eu und die Froudezahl
typische Feldkraft Fg (Volumenkraft) z. B. Schwerkraft Fr. Für kompressible (thermische) Strömungen ersetzt die
und Machzahl M die dann nicht relevante Froudezahl.
typische Trägheitskraft FT (Volumenkraft) aus
den Beschleunigungen (insbesondere Impulskraft Reynoldszahl Die Reynoldszahl ist das Verhältnis der ty-
bzw. d’Alembert’sche Scheinkraft). pischen Trägheitskräfte (Impulskräfte) zu den Zähigkeits-
kräften.
Um den Skalierungsfaktor der Beschleunigungen fd zu
FT
bestimmen, müssten also alle vier typischen Kräfte im Re = ,
gleichen Verhältnis zueinander stehen: FR
U
Fg∗ FT ∼ ρU2 , FR ∼ η ,
F∗ F∗ F∗ L
fd = R = D = = T.
FR FD Fg FT ρUL UL
Re = = .
η ν
Frage 22.13
Was bedeutet Ähnlichkeit? Dynamische Zähigkeit η und Dichte ρ werden zur kine-
matischen Zähigkeit ν zusammengefasst.
724 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Dieses Anwendungsbeispiel in mehreren Beispielbo- der Gasdynamik der supersonischen Strömung als Ver-
xen ist als „roter Faden“ durch die folgenden Kapitel dichtungsstoß auftritt. Genauso kann das Beispiel zur
zu verstehen. Es wird immer wieder auf die hier zu- Vertiefung der Bedeutung der Ähnlichkeitstheorie und
nächst allgemein beschriebene Grundsituation Bezug der dimensionslosen Kenngrößen dienen, denn die
genommen. Funktion der Machzahl in der Gasdynamik nimmt in
der Gerinneströmung die Froudezahl ein.
Problemanalyse und Strategie Wir betrachten eine in-
kompressible, ebene und nahezu reibungsfreie Wasser- Lösung Abbildung 22.26 illustriert die Grundsituation,
strömung mit freier Oberfläche zur Luft (Druck p = pL ) mit der wir starten werden. Nach dem Behälter großer
in einem Kanal der Breite b und genügend großer Län- Breite b0 tritt die Strömung in den Kanal konstanter
ge l bei vergleichsweise geringer Tiefe z des Wassers, Breite b ein, wobei der Strömungseinlauf gut gerun-
eine Gerinneströmung (Abb. 22.26). Der Zufluss erfolgt det ist, sodass Reibungseffekte vernachlässigt werden
aus einem großen Behälter, in dem die Geschwindig- können. Ausgangspunkt aller Überlegungen sind die
keit u0 vernachlässigbar ist. Die Höhe des Wasserstan- Bernoulli’sche Gleichung im reibungsfreien Fall und
des im Behälter über dem Kanalboden ist z0 . Wegen der die Kontinuitätsgleichung. Für die Aufstellung der
Annahme der Reibungsfreiheit ist die Strömung in je- Bernoulli’schen Gleichung können wir eine beliebige
dem Querschnitt homogen. Stromlinie verwenden, wenn diese nur physikalisch
möglich ist. Sinnvollerweise sollte bei der Wahl der
Stromlinie darauf geachtet werden, dass möglichst vie-
b0 le Größen bekannt sind.
großer
0 Behälter z0 Bei freien Oberflächen, wie in diesem Fall, bietet sich
Oberflächen-
1 stromlinie immer eine Stromlinie auf der Oberfläche an, weil
b0
hier erstens die Oberfläche als Begrenzung definitiv
Stromlinie ist und weil zweitens der Druck an allen
Stellen gleich dem Luftdruck pL ist und somit aus der
z1
b Gleichung herausfällt. Wir wählen deshalb die Oberflä-
chenstromlinie in der Symmetrieebene (Kanalmitte).
z*
Strömungsmechanik
Eulerzahl Die Eulerzahl ist das Verhältnis der typischen Froudezahl Vom bisherigen Vorgehen abweichend, wird
Druckkräfte zu den Trägheitskräften. Im Strömungsma- bei der Definition von Froude- und Machzahl üblicher-
schinenbau wird sie auch Druckzahl genannt: weise nicht das Kraftverhältnis, sondern die Wurzel dar-
aus verwendet. In den Bewegungsgleichungen tauchen
FD ∼ Δp,
zwar die Quadrate dieser beiden Zahlen auf, was seine
FD Δp Ursache aber lediglich in dieser Definition hat.
Eu = = .
FT ρU2
22.5 Hydrodynamische Ähnlichkeitsgesetze 725
. . . oder: Wie fließt Wasser im Bach? der Konti die Geschwindigkeit u0 vernachlässigbar ist:
u0 = 0. Die Bernoulli’sche Gleichung ergibt zwischen
Problemanalyse und Strategie Zunächst betrachten wir diesen Punkten daher:
die Einströmung aus dem großen Behälter (große Brei- 1
te b0 ) mit der Füllhöhe z0 (Abb. 22.26). Wegen der gz0 = u∗ 2 + gz∗ ,
2
großen Breite ist das Wasser im Behälter praktisch 1
in Ruhe (u0 = 0). Das Gerinne, in dem die Strömung z = z0 − u∗ 2 .
∗
2g
fließt, hat eine konstante Breite b, bei konstantem Zu-
fluss stellt sich ein stationärer Zustand ein. Wir ziehen Die Geschwindigkeit u∗ ersetzen wir noch durch den
erste Schlüsse aus Kontinuitäts- und Bernoulli’scher Volumenstrom, indem wir die Konti nutzen:
Gleichung.
V̇ = u∗ A∗ = u∗ bz∗ ,
Lösung Unter den genannten Voraussetzungen strömt 1 V̇ 2
z∗ = z0 − .
das Wasser aufgrund des Gefälles an der Oberfläche 2g b2 z∗ 2
durch den Kanal, wobei potentielle Energie in kineti-
Wir beziehen die Gleichung auf die Ausgangshöhe z0
sche Energie verwandelt wird. Die maximal mögliche
und schreiben Sie als kubische Gleichung in z∗ /z0 :
Geschwindigkeit bzw. kinetische Energie ist grund-
sätzlich durch die vorhandene Höhe z0 (die vorhande- ∗ 3 ∗ 2
z z 1 V̇ 2
ne potentielle Energie) begrenzt, wobei diese Energie − + = 0.
z0 z0 2g b2 z30
wegen der Kontinuität nicht vollständig genutzt wer-
den kann. Gefragt wird im ersten Teil des Beispiels Die Form dieser Gleichung ist offensichtlich
nach der Wasserhöhe z1 unmittelbar nach dem Einströ-
men in den Kanal in Abhängigkeit vom Volumenstrom f (x) = x3 − x2 + C = 0,
V̇. Zwischen zwei beliebigen Punkten 1 (stromaufwärts mit 0 < x < 1 und C > 0. Je nach Höhe des Wertes
gelegen) und 2 (stromabwärts gelegen) auf einer Ober- von C besitzt diese Gleichung zwei, eine oder keine
flächenstromlinie gilt im reibungsfreien Fall die Ber- Lösung im betrachteten Wertebereich von x, d. h. im
noulli’sche Gleichung in der Form: Umkehrschluss, dass der Volumenstrom V̇ und die
ρ ρ Höhe z0 im Behälter nicht unabhängig voneinander
pL + u21 + ρgz1 = pL + u22 + ρgz2 ,
Strömungsmechanik
2 2 sind. Um zu entscheiden, welche der Lösungen sich
1 2 1 2 tatsächlich ergibt, benötigen wir mehr Informationen,
u + gz1 = u2 + gz2 . insbesondere über den weiteren Verlauf der Strömung
2 1 2
im anschließenden Kanalbereich. Das Minimum der
Die Kontinuitätsgleichung (Konti) an den beiden Punk- Funktion f (x) im Definitionsbereich von x liegt dabei
ten 1 und 2 ergibt wegen der Homogenität:
unabhängig vom Wert von C immer bei x = 2/3. Wie
V̇ = u1 A1 = u2 A2 . wir im nächsten Kapitel sehen werden, hat der Fall,
wenn die Gleichung nur eine Lösung besitzt, eine be-
Die beliebige Indizierung mit 1 und 2 in diesen Glei- sondere Bedeutung. C ist dann gerade so groß, dass die
chungen ersetzen wir jetzt durch die tatsächlich ge- Funktion ihr Minimum und ihre Nullstelle bei x = 2/3
wählten Punkte der Stromlinie zwischen denen bilan- hat:
ziert wird. Dabei ist in einem allgemeinen Fall (der 2 3
nicht reibungsfrei ist) die Zuordnung zur Strömungs- 2 2 4
C= − = .
richtung wichtig, d. h., der hier mit 2 indizierte Punkt 3 3 27
muss stromabwärts liegen. Im vorliegenden Fall rei-
Der spezielle Wert von
bungsfreier Strömung wäre es anders herum zwar
nicht falsch, es ist aber besser, sich die richtige Rei- 2
1 V̇ 8
henfolge von Anfang an anzugewöhnen. Betrachten 2C = =
gz0 bz0 27
wir nun als Punkt stromaufwärts einen Punkt an der
Oberfläche im Behälter (im Bild die Stelle 0) und einen wird uns dann zur dimensionslosen Froudezahl füh-
stromabwärts gelegenen Punkt nach dem Einlauf (im ren, die beide dimensionsbehafteten Variablen (Volu-
Bild und in den Gleichungen mit * markiert). Im Behäl- menstrom V̇ und Höhe z0 ) durch einen einzigen Para-
ter ist der Querschnitt A0 sehr groß, sodass aufgrund meter ersetzt.
726 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Die Froudezahl ist die Wurzel des Verhältnisses der typi- meistens a verwendet, da in diesem Zusammenhang kei-
schen Trägheitskräfte zu den Schwerkräften: ne Verwechselungsgefahr mit der materiellen Beschleuni-
gung a besteht. Streng genommen ist die übliche Formu-
Fg ∼ ρgL, lierung „die Machzahl ist das Verhältnis der Strömungs-
geschwindigkeit zur Schallgeschwindigkeit“ daher auch
FT U
Fr = = . nicht ganz korrekt, weil dies nur unter der einschränken-
Fg gL den Bedingung idealer Gase mit konstanten Stoffwerten
gilt. Trotzdem wird diese gängige Formulierung auch in
diesem Buch so verwendet.
Machzahl Bei kompressiblen Strömungen im Bereich un-
terhalb und oberhalb der Schallgeschwindigkeit, wenn Vom Ergebnis für ideale Gase her ist auch die enge Ver-
Trägkeitskräfte und Kompressionskräfte zur Volumen- wandtschaft zwischen Froudezahl und Machzahl offen-
bzw. Dichteänderung dominieren, wird die Machzahl an- sichtlich:
gewandt und ersetzt die
U
Froudezahl, weil die Schwerkraft dann meist keine Rol- M= √ . (22.31)
le mehr spielt. Bei solchen Vorgängen wird signifikant κRT
Volumenänderungsarbeit geleistet, was auch Tempera-
Frage 22.14
tur und Enthalpie der Strömung nicht vernachlässigbar
verändert. Die typische Kompressionskraft wird durch Wie wird die dynamische Ähnlichkeit überprüft?
die adiabatische Kompressibilität K beschrieben, die bei
der adiabat-isentropen (reibungsfreien) Zustandsände-
rung bei konstanter Entropie s berechnet wird:
Ähnlichkeit bei Innen- und Außenströmungen
1 ∂v
K=− .
v ∂p s
Innenströmungen werden Strömungen genannt, die an
Da bei Gasen für die isentrope Zustandsänderung pvκ = allen Seiten durch feste Wände geführt werden. Außen-
konst. ist, gilt für K: strömungen sind Strömungen, die um einen Störkörper
(Fahrzeug, Flugzeug) herumgeführt werden. Beide kön-
1 nen laminar oder turbulent sein, bei Innenströmungen
K= . (22.29)
κp dann immer im gesamten Strömungsfeld, bei Außen-
strömungen nur in der unmittelbaren Nähe zum Körper
Strömungsmechanik
Die typische Kompressionskraft FK eines Volumens ist (Grenzschicht). Wenn die Strömung von der Zähigkeits-
proportional zum Kehrwert der Kompressibilität: kraft dominiert wird, d. h., die Reynoldszahl unter einem
bestimmten kritischen Wert bleibt, wird Wirbelbildung
1 trotz der Wirkung von Schubspannungen vermieden,
FK ∼ = κp,
K weil eventuelle Wirbel in der Entstehung bereits wie-
der durch die Reibung vernichtet werden. Daher bleiben
sodass sich das Quadrat der Machzahl als Verhältnis der unterschiedliche Schichten trotz ausgeprägter Geschwin-
typischen Trägheitskraft (Impulskraft) zur Kompressions- digkeitsunterschiede vollständig getrennt, ein Materie-
kraft ergibt: austausch findet praktisch nicht statt. Diesen Vorgang
des Nichtmischens kann man beispielsweise beim Ver-
FT ρU2 rühren von Abtönfarbe in weißer Wandfarbe beobachten.
M2 = = . (22.30)
FK κp Trotzdem gilt auch in diesem Fall, dass Geschwindigkeits-
unterschiede und Schubspannungen grundsätzlich die
Für ideale Gase gilt zusätzlich die ideale Gasgleichung turbulente Wirbelbildung begünstigen (Abb. 22.27). Ab
p/ρ = RT, sodass in diesem speziellen Fall die Kompres- einer bestimmten Geschwindigkeit U, d. h. oberhalb einer
sionskraft auch durch das Quadrat der Schallgeschwin-
digkeit idealer Gase a2 = κRT ersetzt werden kann. Trotz
ihres Namens ist die Schallgeschwindigkeit keine Ge- y
schwindigkeit (Betrag und Richtung einer bewegten Mas- u + du
se), denn die Herleitung zeigt, dass sie vielmehr eine dy
Zustandsgröße im Sinne der Thermodynamik darstellt u du
(nämlich κp/ρ). Aus diesem Grund wird sie in der Fachli- τ =η
dy
teratur üblicherweise nicht mit einem Geschwindigkeits-
symbol (v, u oder c) bezeichnet, zumal sie auch kein Abb. 22.27 Geschwindigkeitsunterschiede und Schubspannungen regen die
Vektor, sondern eine skalare Größe ist. Stattdessen wird Wirbelbildung an (Turbulenzen)
22.5 Hydrodynamische Ähnlichkeitsgesetze 727
Leitbeispiel Antriebsstrang
Abgasturbolader – Schlussfolgerungen.
Die Ergebnisse aus der Energiegleichung am Verdich- Wenn der Kanalquerschnitt nun so gestaltet wird, dass
terlaufrad die Transportkomponenten des Massenstroms etwa
konstant bleibt, d. h. c2,r ≈ c1,x ist, erhält man das über-
1 1
P = ṁ h2 + c22 − h1 + c21 raschend einfache Ergebnis:
2 2
und dem Drehimpulssatz 1
wt = u22 = (h2 − h1 ) + u22 .
2
P = ṁ c2,ϕ u2 − c1,ϕ u1,m
Die der Strömung zugeführte technische Arbeit wird
können jetzt zusammengeführt werden: je hälftig die kinetische Energie und die Enthalpie er-
höhen. Dabei ist die zugeführte Arbeit nur noch von
1 2 1 2
c2,ϕ u2 − c1,ϕ u1,m = h2 + c2 − h1 + c1 . der Rotationsgeschwindigkeit u2 des Laufrades am
2 2 Austrittsdurchmesser abhängig! Unter den genannten,
Man erkennt unmittelbar, dass die Arbeitsleistung bei nicht sehr einschränkenden Voraussetzungen ergibt
der Verdichtung, insbesondere die Enthalpieerhöhung, sich für die Enthalpieerhöhung im Laufrad:
eine unmittelbare Folge der am Austritt hohen Um-
fangskomponente der Strömung ist, und dass auch ei- 1 2
h2 − h1 = u .
ne hohe Drehgeschwindigkeit des Laufrades am Aus- 2 2
tritt zu einer großen technischen Arbeit führt. Beson-
ders deutlich wird das Ergebnis, wenn wir die meist Ein Zahlenwertbeispiel soll dieses einfache Ergebnis
vorliegende drallfreie Zuströmung c1,ϕ = 0 und die bei verdeutlichen: Ein Laufrad mit einem Außendurch-
realen Verdichterlaufrädern für Luft häufig verwende- messer von d2 = 15 cm führt bei einer Wellendrehzahl
Strömungsmechanik
te radiale Führung der Luft (wie in Abb. 22.20 gezeigt) n = 45.000 1/min zu einer Enthalpiedifferenz
durch die Schaufel am Austritt verwenden. In diesem
Fall gilt: 1 2 1
h2 − h1 = u = (πd2 n/60)2 = 62,5 kJ/kg.
w2,ϕ = 0, 2 2 2
c2,ϕ = u2 + w2,ϕ = u2 . Bei Kompression von Luft von 1 bar und 20 ◦ C ent-
spricht dies etwa 62 K Temperaturdifferenz (isentrop
Eingesetzt:
und nicht-isentrop!) bei etwas unterhalb von 1,95 bar
1 2 Austrittsdruck (isentrop 1,96 bar).
u22 = (h2 − h1 ) + c2 − c21 .
2 Nach dem Laufrad folgt dann noch der Leitapparat,
Die kinetischen Energien werden durch die Energien der wie ein Strömungsdiffusor arbeitet und in dem
der Komponenten ersetzt: noch wenigstens ein Teil der kinetischen Energie in
Enthalpie umgewandelt wird, sodass die Eintrittstem-
1 2
peratur und der Eintrittsdruck in den Zylinder noch
u22 = (h2 − h1 ) + c2,r + u22 − c21,x .
2 höher liegen.
kritischen Reynoldszahl, schlägt die Strömung in die tur- auch der Wärmeaustausch) sind in turbulenter Strömung
bulente Form um. Der Übergang ist spontan und nicht wesentlich höher als in laminarer Strömung. Der Effekt
allmählich, weil einmal entstehende Wirbel, die nicht des intensiven Impulsaustausches zur Wand hin, der wie
sofort wieder durch Reibung vernichtet werden, den Vor- eine zusätzliche Reibungskraft wirkt, wird als turbulente
gang verstärken. Impuls- und Massenaustausch (damit Scheinreibung bezeichnet.
728 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Übergangsgebiet Der Umschlag laminar-turbulent erfolgt erreichen muss, dass aber für den Fall, dass Turbulenz
allerdings nicht immer genau an einem bestimmten Wert unter allen Umständen vermieden werden muss, die
der Reynoldszahl, da auch die experimentellen Rand- Obergrenze bei 1900–2000 liegt. Der kritische Bereich, in
bedingungen einen erheblichen Einfluss haben. Es ist dem beide Formen auftreten können, liegt zwischen 2040
daher nicht verwunderlich, dass unter exakt kontrollier- und 2300.
ten Laborbedingungen andere Grenzwerte genannt wer-
den, als im technischen Anwendungsfall mit allen mögli-
Längsangeströmte, ebene Platte Als Maß für eine typische
chen Störeinflüssen. Dazu kommt, dass der Umschlag ein
Länge L einer halbunendlichen, längsangeströmten Platte
stochastisches Phänomen ist, deshalb müsste eigentlich
(Abb. 22.21) existiert nur der Abstand von der Vorderkan-
jeder Grenzwert auch zusammen mit einer Umschlag-
te der Platte bis zum beobachtbaren Umschlagpunkt der
wahrscheinlichkeit angegeben werden. Praxisgerechter
sich zunächst laminar entwickelnden Grenzschicht in eine
ist die Angabe eines Übergangsgebietes (Reynoldszahlen- turbulente Grenzschicht mit laminarer Unterschicht. Die
bereich), in dem der Umschlag mit einer Wahrscheinlich- kritische Reynoldszahl des Umschlags laminar-turbulent
keitsverteilung erfolgt, die aber üblicherweise nicht mit (gebildet mit L und der Anströmgeschwindigkeit U) liegt
angegeben wird. Die Grenzen des Gebietes kann man
bei ca. Rekrit ≈ 3 · 105 –5 · 105 . In Abhängigkeit von den
dann so interpretieren, dass unterhalb der Untergrenze
Umgebungsbedingungen kann die laminare Grenzschicht
„in der Praxis nie“ und oberhalb der Obergrenze „in der
Praxis immer“ eine turbulente Strömung auftritt. „Nie“ aber auch bis zu einer Reynoldszahl Rekrit ≈ 1 · 106 und
und „immer“ sind aber nur als kleine und große Wahr- höher bestehen bleiben. Der Übergangsbereich ist also
scheinlichkeiten zu verstehen. deutlich größer und unsicherer als beim Kreisrohr und
unterliegt ebenfalls einer Wahrscheinlichkeitsverteilung.
Gerades Kreisrohr Bei Strömungen in geraden Kreis-
Frage 22.15
rohren liegt die kritische Reynoldszahl des Umschlags
laminar-turbulent (gebildet mit dem Rohrdurchmesser Worin besteht der grundsätzliche Unterschied zwischen
d als typischer Länge und der mittleren Strömungs- laminarer und turbulenter Strömung?
geschwindigkeit als typischer Geschwindigkeit U = ū)
in technischen Anwendungen bei ca. Rekrit ≈ 2300–2350.
Oberhalb dieses Wertes können laminare Strömungen Beispiel: Laminar/turbulenter Umschlag im Kreisrohr
zwar beobachtet werden, sind aber mit wachsender Bei welcher Strömungsgeschwindigkeit und welchem Vo-
Reynoldszahl immer instabiler. Unterhalb dieses Wertes lumenstrom erfolgt mit hoher Wahrscheinlichkeit in zwei
werden turbulente Strömungen unter technischen An- geraden Kreisrohren der Umschlag laminar nach turbu-
wendungsbedingungen dagegen mit hoher Wahrschein- lent, wenn diese von Wasser durchströmt werden (ν =
Strömungsmechanik
die Platte von Luft mit einer Geschwindigkeit von u = 10 decken. Unter Berücksichtigung der Temperaturdifferenz
m/s angeströmt wird (ν = 15 · 10−6 m2 /s)? des zirkulierenden Heizungswassers zwischen Vorlauf
(TV ) und Rücklauf (TR ) ist der insgesamt angeforderte
Lösung Die kritische Reynoldszahl ist im Bereich Rekrit ≈ Massenstrom daher
3 · 105 − 5 · 105 , daher gilt:
Q̇
ṁ = ,
ν cW (TV − TR )
L = Rekrit ,
u wobei cW die spezifische Wärmekapazität des Wassers
15 · 10−6 ist. Aufgabe der Thermostatventile ist es nun, jeweils
L ≈ (3 · 105 − 5 · 105 ) m ≈ (0,45 − 0,75) m.
10 genauso viel des Heizwassers durchzulassen, dass in je-
dem Raum die richtige Wärmemenge Q̇i ankommt, um
die geforderte Raumtemperatur zu halten. Hierzu stel-
len die Thermostatventile den Druckverlust automatisch
nach der Raumtemperatur ein: Ist diese zu niedrig, öffnet
22.6 Innenströmung und das Ventil (Druckverlust sinkt und eine größere Men-
ge geht durch), ist die Solltemperatur erreicht, schließt
Rohrhydraulik es teilweise (Druckverlust steigt) oder sogar vollständig
(kein Durchfluss mehr):
Wesentliches Ziel der Rohrhydraulik ist es, Druckverlust Q̇i = ṁi cW (TV − TR ),
und Volumenstrom in einem Rohrleitungssystem zu be-
6
stimmen, indem man es in verschiedene, leicht berechen-
bare oder bekannte Teilstücke zerlegt, die dann parallel
Q̇ = ∑ Q̇i,
i=1
oder hintereinander geschaltet werden, ähnlich wie elek-
6
trische Widerstände in einem elektrischen Netzwerk. In
diesem Zusammenhang wird auch häufig von hydrau-
ṁ = ∑ ṁi.
i=1
lischen Netzwerken gesprochen. In Abb. 22.28 ist als
Ein solches hydraulisches Netzwerk ist also ein mehr
Beispiel eine einfachen Heizungsanlage auf zwei Stock-
oder weniger komplexes System aus geraden Teilstücken,
werken skizziert. Steigleitungen und meistens im Fuß-
die mit Krümmern, Mischstellen, Verzweigungen oder
boden verlegte Zuleitungen zu den Heizkörpern werden
anderen Einbauten wie Absperrorganen verschaltet wer-
als gerade Rohrstücke dargestellt und gerechnet, andere
den (Abb. 22.29). Wenn man die Widerstandsbeiwerte
verlustbehaftete Elemente sind Krümmer, Verzweigun-
aller einzelnen Elemente kennt, kann man den Wider-
gen und Zusammenführungen, von denen hier nur einige
Strömungsmechanik
standsbeiwert und den Druckverlust, sowie den Massen-
dargestellt sind, und natürlich die Heizkörper mit den
strom in jedem Teilsystem ebenso wie für das Gesamt-
einzelnen Durchfluss regelnden Thermostatventilen. Die
system bestimmen. Ein Teilbereich eines Rohrleitungs-
in der Heizung eingebaute Umwälzpumpe muss nun den
netzes mit Krümmern und Verzweigungen kann über
insgesamt angeforderten Massenstrom ṁ liefern, um den
die Druckverlustbeiwerte der Elemente auf ein einzel-
tatsächlichen Gesamtwärmebedarf der Wohnung Q̇ zu
nes Ersatzelement mit einem resultierenden Druckver-
lustbeiwert zurückgeführt werden. Für alle im Netzwerk
Heizkörper
K G V G V G K
H H H
G K G S G S G K
V G V G V G K G
Heizung G H H H
Vorlauf G K K G S G S G S
Rücklauf
G = gerades Rohr G
K = Krümmer H = Heizkörper
G K
V = Verteiler S = Sammler
Abb. 22.28 Rohrleitungsnetz einer einfachen Heizungsanlage auf zwei Stock-
werken Abb. 22.29 Schaltbild der Heizungsanlage aus Abb. 22.28
730 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
möglichen Strömungswege werden Stromlinien definiert die Möglichkeit der Berechnung selbst komplexer Quer-
(Pfade) und über Kontinuitätsgleichung, Energieerhal- schnittsformen durch Anwendung der bekannten Lösun-
tungsgleichung (Bernoulli’sche Gleichung) und ggf. auch gen des Kreisquerschnitts.
mit dem Impulssatz und der Zustandsgleichung die Zu-
standsgrößen und Geschwindigkeiten an beliebigen Stel-
len der Stromlinien errechnet. Komplexe Gleichungssys- Die vollausgebildete Strömung
teme mit vielen Unbekannten lassen sich in der Regel
dadurch vermeiden, dass durch geschicktes Zusammen-
fassen mehrerer Elemente zu einem Ersatzelement immer Bei vollausgebildeter Strömung hängt das Geschwindig-
nur die Hintereinanderschaltung bzw. Parallelschaltung keitsprofil nicht mehr von der Koordinate in Strömungs-
von zwei Ersatzelementen berechnet werden muss. richtung ab. Diese Bedingung ist erst genügend weit vom
Eintritt in den entsprechenden Abschnitt eines hydrau-
lischen Systems erfüllt, sofern im Einlaufbereich keine
Änderung der Randbedingungen vorliegt. Vollausgebil-
Der hydraulische Durchmesser erlaubt dete Strömung stellt sich daher ausschließlich in geraden
Berechnungen wie bei Kreisrohren Rohren und Kanälen oder in Rohren, die in großem Bo-
gen verlegt sind, ein, wenn die Rohrkrümmung gegen
den Durchmesser vernachlässigbar ist (Rohrkrümmungs-
In einigen technischen Anwendungsfällen liegen keine radius R dhyd ). Die notwendige Einlauflänge l bis zur
Leitungen mit kreisförmigem Querschnitt vor. Lüftungs- vollausgebildeten Strömung wird in Vielfachen des hy-
kanäle werden sehr häufig mit einem rechteckigen Quer- draulischen Durchmessers ausgedrückt:
schnitt gebaut, zum einen weil die Herstellung aus Ble-
chen einfacher ist, zum anderen aber auch aus optischen l > n dhyd .
Gründen in Gebäuden. Mit dem hydraulischen Durch- Als Richtwertbereich kann man ab einem Wert von n über
messer wird bei beliebigen Kanalquerschnitten ein äqui- 10 − 20 (höchstens 50) davon ausgehen, dass die Strö-
valentes Kreisrohr des Durchmessers dhyd definiert, das mung vollausgebildet ist.
sich hydrodynamisch ähnlich verhält wie der tatsächliche
Kanal. Der hydraulische Durchmesser ist definiert durch:
A Die laminare, vollausgebildete Strömung
dhyd = 4 . (22.33)
lU
Couette-Strömung Die Couette-Strömung oder einfache
A ist hierbei der Strömungsquerschnitt in m2 , lU die Länge Scherströmung ist die Lösung eines ebenen Problems,
Strömungsmechanik
des gesamten vom Fluid berührten Umfangs des Kanals wenn eine Seite eines ebenen Strömungskanals gegen die
in m. In laminarer Strömung funktioniert das Ähnlich- andere Seite mit konstanter Geschwindigkeit U verscho-
keitsprinzip des hydraulischen Durchmessers leider nur ben wird, der Abstand der Platten sei h. Diese Form der
bei „kreisähnlichen“ Querschnitten (Ellipsen mit gerin- Strömung wird nicht durch eine Druckdifferenz getrie-
ger Exzentrizität, Sechsecke, Achtecke, . . . ), in turbulenter ben, sondern durch die Kraft F, die zur Verschiebung
Strömung gibt es aber so gut wie keine Einschränkung in der Platte mit der Oberfläche A nötig ist, d. h. durch die
Bezug auf die Querschnittsform bei der Anwendung auf Schubspannung τ = F/A an der Wand. Durch Lösung der
technische Systeme. Bewegungsgleichung im Feld erhält man einen exakt li-
nearen Geschwindigkeitsverlauf:
y
Beispiel Ein rechteckiger Kanal der Breite b und der Hö- u(y ) = U .
he h hat den äquivalenten hydraulischen Durchmesser h
Bemerkung zur Berechnung nicht kreisförmiger Strö- wird ebenfalls mit dem hydraulischen Durchmesser
mungsquerschnitte. definiert:
Für Kanäle mit nicht kreisförmigem Strömungsquer- ūdhyd V̇dhyd 4V̇
schnitt lässt sich bei turbulenter Strömung der hydrauli- Re = = = .
ν Aν lU ν
sche Durchmesser definieren, wobei A die durchström-
te Querschnittsfläche und lU die Länge des vom Fluid Für die Anwendung muss die Reynoldszahl größer
benetzten Umfangs des Kanals ist: sein als die kritische, d. h. Re > Rekrit = 2300 − 2350,
A wobei die Übereinstimmung bei hohen Reynoldszah-
dhyd = 4 . len besser ist, als bei niedrigen.
lU
Ein Kanal mit nicht kreisförmigem Querschnitt verhält
sich dann wie ein gerades Kreisrohr mit dem Durch- Achtung Bei laminarer Strömung ist das Konzept des
messer d = dhyd . Die Reynoldszahl zur Beurteilung hydraulischen Durchmessers in der Regel nicht an-
der Turbulenz sowie in der hydraulischen Berechnung wendbar!
Hagen-Poiseuille-Strömung Die Hagen-Poiseuille-Strö- dieser ist. Die Reynoldszahl wird mit der mittleren Ge-
mung ist die durch einen treibenden Druckgradienten schwindigkeit ū und dem Rohrdurchmesser d gebildet.
erzeugte laminare Strömung im geraden Kreisrohr mit In laminarer Strömung ist der Widerstand nicht von der
Innenradius R. Die Lösung der Bewegungsgleichung hat Wandrauhigkeit abhängig, weil der gesamte Strömungs-
ebenfalls die Form eines quadratischen Geschwindig- bereich zähigkeitsdominiert ist und die Wandrauhigkeit
keitsprofils über dem Radius: daher nur einen verschwindend kleinen Teil der Rei-
bungszone beeinflusst.
r2
u(r) = umax 1− 2 . Wenn die Reynoldszahl den Wert der kritischen
R
Reynoldszahl überschreitet (Rekrit > 2300, Übergangsbe-
Der maximale Wert der Geschwindigkeit in der Mitte reich ca. 2040–2350), schlägt die Strömung bei technischen
umax ist im Kreisrohr zweimal so groß wie die mittle- Anwendungen spontan in die turbulente Strömung um.
Strömungsmechanik
k/d
laminar turbulent, hydraulisch rau
0,05 0,02
0,04 0,01
0,03 0,005
0,002
0,02 0,001
turbulent, hydraulisch glatt
0,0005
0,0002
0,0001
0,01
100 1000 10.000 100.000 1.000.000 10.000.000
Re
einem Wert von etwa 9 bei Reynoldszahlen von 107 an. Frage 22.16
Der Unterschied zum laminaren Profil ist offensichtlich: In welchem Fall darf das Konzept des hydraulischen
Die quadratische Parabel und die 7. bis 9. Wurzel haben Durchmessers zur Ermittlung der Rohrwiderstandszahl
praktisch nichts gemeinsam. Das Geschwindigkeitspro- angewendet werden?
fil der turbulenten Strömung ist insgesamt flacher, al-
so im Kernbereich näher an der homogenen Strömung,
weist aber in der Nähe der Wand viel größere Gradien-
ten auf. Dadurch beeinflussen auch Wandrauhigkeiten in
turbulenter Strömung die Rohrreibungszahl, sodass auch Die Druckverluste in Rohrleitungselementen
die relative Rauhigkeit k/d berücksichtigt werden muss, werden meistens aus Messungen ermittelt
wenn die Rauhigkeitserhebungen aus der wandnächsten
Schicht, der laminaren Unterschicht, herausragen. Ist die
Für andere Rohrleitungselemente, wie Krümmer, Quer-
Wandrauhigkeit geringer als die Dicke der laminaren Un-
schnittsänderungen, Verzweigungen etc. muss man sich
terschicht, nennt man die Wand hydraulisch glatt. Ein
die jeweiligen Druckverlustbeiwerte ζ beschaffen. Grund-
gängiger Ansatz zur Berechnung der Rohrreibungszahl λ
Strömungsmechanik
sätzlich geht man dabei immer von der gleichen Grund-
in turbulenter Strömung ist der Ansatz nach Colebrook:
gleichung für den Druckverlust eines solchen Elementes
√ −1 aus:
λ= . (22.34) ρ
2 log( 2,51
√ + 3,71d )
k
ΔpV = ζ ū2 . (22.35)
Re λ
2
Man beachte, dass hier der Logarithmus zur Basis 10 Der Druckverlustbeiwert ζ wird mit einer Bezugsenergie
verwendet werden muss. Die √ Formel ist zwar nur ite- (meist die kinetische Energie in einem bestimmten Quer-
rativ lösbar (Iteration über λ), konvergiert aber Dank schnitt des Bauteils) multipliziert, um den Druckverlust,
des Logarithmus für alle Startwerte in wenigen Schrit- d. h. die durch Reibung im Bauteil dissipierte Energie zu
ten. Hat man einen guten Schätzwert für λ (z. B. aus dem bestimmen. Dies bedeutet auch, dass zu jeder Angabe ei-
Diagramm Abb. 22.30), ist Konvergenz meist nach zwei nes Wertes von ζ für ein Systemelement eine eindeutige
bis drei Rechenschritten erreicht. Der Druckverlustbei- Beschreibung der Ebene gehört, in der die Bezugsener-
wert einer turbulenten Rohrströmung in einem geraden gie aus Dichte und mittlerer Geschwindigkeit berechnet
Strömungskanal lässt sich unter Verwendung des hydrau- wird, sonst kann der Druckverlust nicht korrekt ermittelt
lischen Durchmessers daher mit dieser Methode schnell werden. In vielen Fällen wird die Eintrittsebene in das
ermitteln: Element als Bezugsebene verwendet. Auf konkrete Zah-
lenwerte für bestimmte Rohrleitungselemente wird hier
lρ 2
ΔpV = λ ū , bewusst verzichtet und auf die einschlägige Literatur und
2
d Tabellen verwiesen, z. B. (Grote, Feldhusen 2012).
k
λ=f Redhyd ; ,
dhyd Frage 22.17
Mit welcher dimensionslosen Kennzahl ist der Druckver-
ūdhyd
Redhyd = . lustbeiwert verwandt?
ν
734 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Übersicht: Rohrwiderstandszahl
Bestimmung für gerade Kreisrohre. schen beiden Strömungsformen hin- und herspringen.
Dies sollte in technischen Anwendungen vermieden
Die Rohrwiderstandszahl λ ist für laminar und tur- werden.
bulent durchströmte Kreisrohre in Abb. 22.30 wieder-
gegeben. Man beachte, dass das Diagramm und die
Formel bei turbulenter Strömung auch für nicht kreis- Laminare, vollausgebildete Strömung
förmige Querschnitte gilt, wenn anstelle von d der
64
hydraulische Durchmesser dhyd eingesetzt und auch λ= .
die Reynoldszahl mit diesem gebildet wird. In der la- Re
minaren Strömung gilt das Diagramm ausschließlich
für Kreisrohre. Im Übergangsgebiet zwischen lami- Turbulente, vollausgebildete Strömung (nach Colebrook)
narer und turbulenter Strömung (Re ≈ 2040 − 2350) √ −1
ist die Strömungssituation nicht eindeutig und daher λ= .
instabil, die Strömung kann im schlimmsten Fall zwi- 2 log( 2,51
√ + 3,71d )
k
Re λ
Widerstände können hintereinander Parallelschaltung Der Strom I teilt sich auf die beiden
oder parallel geschaltet werden Widerstände R1 und R2 auf, I = I1 + I2 , sodass der Span-
nungsabfall an beiden Widerständen gleich dem Gesamt-
spannungsabfall U ist. Der Gesamtwiderstand ist der
Ähnlich wie bei elektrischen Netzwerken (Kap. 35) lassen Kehrwert der Summe der Kehrwerte der Einzelwider-
sich auch hydraulische Netzwerke durch Zusammenfas- stände (der Kehrwert des Widerstandes ist die Leitfähig-
sen von Teilbereichen vereinfacht berechnen. Die Ana- keit):
logie zum elektrischen Netzwerk besteht insbesondere 1 1 1
in Bezug auf ohmsche Widerstände. Wenn U die Span- = + .
Rges R1 R2
nung an einem Widerstand ist und I der elektrische Strom
durch den Widerstand R, dann gilt das ohmsche Gesetz: Das ohmsche Gesetz ist freundlicherweise linear in Bezug
auf U und I für jeden einzelnen Widerstand, sodass sich ein
Strömungsmechanik
Strömungsmechanik
schen Druckdifferenz zwischen der Verzweigung und der
ρ ρ ρ Zusammenführung angetrieben. Der Druckverlust der
ζ gesH u1 2 = ζ A uA 2 + ζ B uB 2 ,
2 2 2 beiden einzelnen Widerstände stellt sich also so ein, dass
uA 2 uB 2 in beiden Pfaden der gleiche statische Druckabfall en-
ζ gesH = ζ A 2 + ζ B 2 . steht. Wenn in beiden Pfaden nur Verluste zu berücksich-
u1 u1
tigen sind, und der statische Druck nicht durch andere
Die Verhältnisse der Geschwindigkeiten werden mithilfe Maßnahmen verändert wird, müssen die Druckverluste
der Kontinuitätsgleichung durch die Querschnitte ersetzt, ebenfalls alle gleich groß sein:
und wir erhalten für den
ΔpV, gesP = ΔpV,A = ΔpV,B = ΔpV ,
ρ ρ ρ
ΔpV = ζ gesP u1 2 = ζ A uA 2 = ζ B uB 2 .
2 2 2
1 AA AB 2 Diese drei Bedingungen lösen wir nach den Geschwindig-
ζA ζB
keiten auf:
A1 A2
2ΔpV 2ΔpV 2ΔpV
a ζgesH u1 = , uA = , uB = .
ρζ gesP ρζ A ρζ B
Auslegung von hydraulischen Netzwerken. In der Pra- (Temperatur, Absolutdruck, Viskosität) spielen wegen
xis werden bei hydraulischen Netzwerken in der Ferti- möglicher Kavitation (Verdampfung aufgrund niedri-
gung und Produktion schon aus Kosten- und Bereit- gen Druckes) eine Rolle, daher sind folgende Werte
haltungsgründen standardisierte Elemente verwendet. wirklich nur als grobe Richtwerte zu verstehen.
Dies betrifft insbesondere Rohrleitungen und den ver-
wendeten Rohrleitungsdurchmesser d. Die Auslegung Flüssigkeiten mit einer Dichte etwa wie Wasser ρ ≈
ist immer eine Abwägung aus Anlagenkosten und Be- 1000 kg/m3 : u ≈ 1 − 5 m/s.
triebskosten (geringen Verlusten), denn eine Vergröße-
Gase, Dampf, vergleichsweise kurze Leitungen : u ≈
rung des Rohrleitungsdurchmessers d senkt die Verlus-
10 − 50 m/s.
te und damit die Betriebskosten grundsätzlich in der
vierten Potenz. Natürlich steigen damit die Anschaf- Luft in Druckluftsystemen, vergleichsweise lange Lei-
fungskosten an. Ein allgemeines Optimum kann man tungen : u ≈ 2 − 10 m/s.
zwar nicht angeben, denn dies ist stark vom Anwen-
dungszweck und von der vorgesehenen Einsatzzeit In der Regel ist es meist wegen der variablen Betriebs-
abhängig, jedoch kann man als Richtgröße die maximal zustände eines Systems sinnvoll, alle Rohrleitungen
auftretenden Rohrleitungsgeschwindigkeiten verwen- gleich auszulegen, sodass die relevanten Querschnitte
den. Da die Dichte ebenfalls linear in die Verluste vor den Bauteilen ebenfalls gleich groß sind. Insofern
eingeht, sind die zulässigen Geschwindigkeiten da- lassen sich die Gleichungen (22.36) und (22.37) daher
zu auch medienabhängig, auch andere Eigenschaften häufig vereinfachen.
In der eindimensionalen Theorie kommen Für die isentrope Strömung gilt daher nach dem zweiten
Hauptsatz der Thermodynamik:
die Erhaltungssätze zum Einsatz
1
dh = dp.
Die eindimensionale Theorie verwendet die bereits her- ρ
geleiteten Gleichungen: Kontinuitätsgleichung (22.17),
Energiegleichung (22.20) und Impulssatz (22.26) können Aufgrund der Vorgabe der Entropie sind von den ur-
ohne Modifikation übernommen werden, anders ist le- sprünglich fünf unbekannten Größen ρ, u, h, p und s nur
diglich die Darstellung. Stoffwerte werden nicht durch noch vier bei einem isentropen gasdynamischen Vorgang
alle beteiligten Größen ausgedrückt (spez. Wärmekapa- zu bestimmen: Dichte ρ, Geschwindigkeit u, Enthalpie h
zitäten, Gaskonstante und Isentropenexponent), sondern und Druck p, wofür die vier oben angegebenen Berech-
nur durch Gaskonstante R und Isentropenexponent κ. Da- nungsgleichungen ausreichen.
bei nutzt man folgende Beziehungen:
1
cv = R , Unterschall und Überschall, Machähnlichkeit
κ−1
κ
cp = R .
κ−1 Wir betrachten eine eindimensionale Stromröhre, deren
mittlere Stromlinie die Stromlinienkoordinate x definiert.
Auch die ideale Gasgleichung wird in etwas ungewohnter
Aus der Kontinuitätsgleichung erhält man durch Ab-
Schreibweise verwendet:
leitung der Größen nach der Stromlinienkoordinate x
h κ−1 (d. h. Betrachtung der Veränderung in x-Richtung):
p = ρRT = ρ R = ρh .
cp κ
1 dρ 1 du 1 dA
+ + = 0. (22.38)
Indirekt haben wir damit zwar auch vorausgesetzt, dass ρ dx u dx A dx
das Gas nicht nur thermisch, sondern auch kalorisch
ideal ist (d. h. h ∼ T), aber dies stellt keine große Ein- Hier ist A die Querschnittsfläche der Kanalkontur in Strö-
schränkung dar, solange wir zunächst nur relativ kleine mungsrichtung. Auch die Energiegleichung und der 2.
Temperaturbereiche ΔT/T betrachten. In diesem Fall sind Hauptsatz bei konstanter Entropie werden abgeleitet:
die Wärmekapazitäten cp und cv tatsächlich konstant.
du dh
u + = 0, (22.39)
Die Kontinuitätsgleichung wird in der Gasdynamik der ein- dx dx
Strömungsmechanik
dimensionalen Strömung in der Form mit veränderlicher
Dichte verwendet: dh 1 dp
− = 0. (22.40)
ṁ = ρuA = konst. dx ρ dx
Die potentielle Energie in der Energiegleichung ist in Lediglich die Zustandsgleichung muss nicht abgeleitet
der Gasdynamik immer klein gegen Enthalpie und ki- werden, da sie an jedem Ort x der Stromröhre gelten
netische Energie und wird ebenfalls vernachlässigt. Die muss.
Energiegleichung in adiabater Strömung ohne äußere Ar- p κ−1
beit reduziert sich also auf: = h. (22.41)
ρ κ
u2
h+ = konst. Jede thermodynamische Zustandsgröße lässt sich durch
2 genau zwei andere, von ihr unabhängige Zustandsgrößen
Schließlich wird auch der zweite Hauptsatz der Thermody- ausdrücken. Für die totalen Differenziale der Zustands-
namik gebraucht, der die Entropie s als wichtige Zustands- größen darf man daher immer die allgemeine, mathemati-
größe der kompressiblen Strömung einführt: sche Form einer Funktion mit zwei Variablen verwenden,
z. B. für den Druck p als Funktion von Dichte ρ und Entro-
1 pie s:
Tds = dq + dwR = dh − dp.
ρ
∂p ∂p
dp = dρ + ds. (22.42)
Für Verluste in der Strömung müsste ein Verlustmodell ∂ρ s ∂s ρ
erstellt werden, sodass auch der Anstieg der Entropie be-
rechnet werden könnte. In dieser Einführung in die Gas- Für die isentrope Strömung ist ds = 0, daher fällt der
dynamik nehmen wir zunächst die adiabat-reibungsfreie zweite Term weg. Gleichzeitig gilt auf der Isentropen
Strömung an, d. h., die Entropie bleibt konstant, Tds = 0. p/ρκ = konst. Die partielle Änderung des Druckes mit
738 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
der Dichte bei konstanter Entropie ist daher indirekt pro- Eine Düse, die ein Gas aus der Ruhe (M = 0) in das Über-
portional zur Kompressibilität (22.29): schallgebiet beschleunigen soll, muss daher zunächst bis
M = 1 im Querschnitt enger werden, bei M = 1 liegt
∂p p 1
= κρκ −1 konst. = κ = . der engste Querschnitt, und ab diesem Punkt muss sich
∂ρ s ρ Kρ für die weitere Beschleunigung der Kanal erweitern. Die
Für annähernd ideales Gaseverhalten kann die Kompres- Gleichung definiert darüber hinaus sogar die optimale
sibilität durch das Quadrat der Schallgeschwindigkeit a Kontur A(x), wenn ein strömungsgünstiger Verlauf der
ersetzt werden: Größen angestrebt wird (z. B. gleichmäßige Beschleuni-
gung du/dx). In diesem Fall entsteht aus A(x) die typi-
1 sche Glockenform eines Raketentriebwerks (Abb. 22.2).
= κRT = a2 ,
Kρ
Die Zustandsgrößen im engsten Querschnitt (*) bei der
was zusammen mit der Definition der Machzahl (22.30) Beschleunigung aus dem Ruhezustand (Index 1) heraus
zur geläufigen Berechnungsformel für M führt (22.31). hängen dabei nur (!) vom Isentropenexponenten κ ab:
Bei vorliegendem realen Gasverhalten muss die Mach-
zahl daher unbedingt aus der ursprünglichen Definiti- T∗ 2
= , (22.44)
on der Kompressibilität ermittelt werden, nicht über die T1 κ+1
Schallgeschwindigkeit a. In diesem Zusammenhang sei 1
a∗ 2 2
noch einmal daran erinnert, dass die Schallgeschwindig- = ,
keit keine Geschwindigkeit im mechanischen Sinne ist, a1 κ+1
κ
sondern eine thermodynamische Zustandsgröße. Ihre Ab- p∗ 2 κ −1
leitung ist keine Beschleunigung, sondern eine Zustands- = ,
p1 κ+1
änderung nach dem Schema von (22.42) für den Druck. 1
Zur deutlichen Abgrenzung von materiellen Geschwin- ρ∗ 2 κ −1
= .
digkeiten (u) wird deshalb sowohl in der Fachliteratur als ρ1 κ+1
auch hier das Symbol a verwendet.
Da wir in diesem Kapitel ausschließlich ideales Gasver-
halten betrachten, gilt: Maximale Ausströmgeschwindigkeit
∂p dp aus einem Kessel berechnen
= = a2 . (22.43)
∂ρ s dρ
Aus den vier Gleichungen (22.38) bis (22.41) und Glei- Es wird die maximal erreichbare Austrittsgeschwindig-
Strömungsmechanik
chung für die Schallgeschwindigkeit (22.43) können wir keit eines Gases aus einem Druckbehälter (Kessel) mit
Enthalpie, Druck und Dichte eliminieren, die Machzahl dem Druck p1 betrachtet. Das Gas ströme aus dem Kessel
M einführen und erhalten nach wenigen Rechenschrit- adiabat-reibungsfrei und damit isentrop in die Umge-
ten folgenden Zusammenhang zwischen Geschwindig- bung mit dem Druck p aus. Aus den Grundgleichungen
keit, Machzahl und Kanalkontur A: und unter Zuhilfenahme der Isentropengleichung
1 du 1 1 dA κ −1
κ
=− . T
=
p
u dx 1 − M2 A dx T1 p1
Die Gleichung hat eine Singularität für M = 1, sodass
die Division durch diesen Term in diesem Fall nicht er- erhält man die Gleichung der Strömungsgeschwindigkeit
laubt wäre. Unabhängig von der Beschleunigung du/dx nach St.Venant-Wantzel für kompressible Strömung:
ist dann die linke Seite gleich null, sodass dA/dx = 0 sein 3 %
4
4 κ p κ −1 &
muss, d. h. dass die Fläche A genau an dem Ort maximal 5 1 p κ
man das Gas bis auf den Druck p = 0 Pa und die Tempe- Normierung auf engsten Querschnitt
ratur T = 0 K expandieren könnte, was allerdings selbst 2,5
im Vakuum des Weltraums in der Praxis nicht erreicht 2 A*/A
wird. Beim Austritt aus der Schubdüse eines Raketen- u/u*
1,5
triebwerkes bleiben Druck und Temperatur endlich. Bei T/T* und h/h*
Raketenstarts kann man beobachten, dass sich der Strahl 1 a/a*
mit sinkendem Umgebungsdruck (wachsender Höhe) im- p/p*
0,5
mer weiter zur Seite hin ausbreitet (Videos im Internet
bei (NASA) und (ESA), Suchbegriff „launch“). Nach dem 0
0 1 2 3 4 5
Austritt aus der Schubdüse erhält der Strahl aus der Rest- Machzahl
enthalpie einen Querimpuls, er ist unterexpandiert.
Abb. 22.32 Strömung in der isentropen Lavaldüse
D/D*
pen Fall auf der Stromlinie zwischen engstem Querschnitt 0
(Index *) und einem beliebigen anderen Querschnitt auf- –1
stellt, erhält man folgende Beziehungen der Strömungs- –2
größen:
–3
0 1 2 3 4 5
1. Fläche über Machzahl: Machzahl
2 κ +1
A 1 2 κ−1 2 κ −1
Abb. 22.33 Kontur der isentropen Lavaldüse für x ∼ M
∗
= 1 + M . (22.45)
A M κ+1
2 2
2. Strömungsgeschwindigkeit über Machzahl:
Würde man also ein Raketentriebwerk mit der Kontur
u 2 1 + κ−
2 nach Abb. 22.33 bauen, wäre das Hauptgewicht im Be-
1
= . reich des Austritts, gerade dieser Teil würde aber nur
u∗ 1 + κ−2 1
1 M2 noch gering zum Impuls, also dem Triebwerksschub bei-
Strömungsmechanik
3. Temperatur, Schallgeschwindigkeit und Druck über tragen. Daher wird der Querschnitt bei Triebwerken nach
Machzahl (die in der Geschwindigkeit „versteckt“ ist): dem engsten Querschnitt schneller vergrößert, denn hier
ist die Strömung gut geführt, zum Austritt hin dafür
T κ − 1 u 2 langsamer: Es entsteht die typische Glockenform, das
= 1− −1 , Triebwerk ist kürzer und leichter und richtet den austre-
T∗ 2 u∗
tenden Strahl auch besser parallel aus als die Kontur nach
a T Abb. 22.33.
∗ = ,
a T∗
κ
p T κ −1 Frage 22.18
∗
= .
p T∗ Eine rotationssymmetrische Raketendüse soll bei einem
Austrittsdurchmesser d2 = 2,1m eine isentrope Austritts-
Trägt man alle Größen über der Machzahl auf, erhält
man die Kontur und alle relevanten Daten einer isen-
trop durchströmten Überschalldüse, die nach ihrem Er-
Geschwindigkeit u/u*
2,5
finder Lavaldüse genannt wird und bereits vor über 2
100 Jahren erstmalig in Dampfturbinen eingebaut wurde 1,5
(Abb. 22.32).
1
Für eine rotationssymetrische Düse mit über x line- 0,5
ar ansteigender Machzahl erhält man die Kontur nach
0
Abb. 22.33. Zu beachten ist hier, dass die Geschwindigkeit 0 1 2 3 4 5
nicht linear mit der Machzahl ansteigt, sondern wegen Machzahl
der kleiner werdenden Schallgeschwindigkeit zum Aus-
tritt der Düse hin immer langsamer wächst (Abb. 22.34). Abb. 22.34 Lavaldüse: Geschwindigkeit über Machzahl
740 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
machzahl M2 = 5,9 aufweisen (κ = 1,4). Wie groß ist der Bereich der verdichteten Luft, Bereich der noch ruhenden Luft,
Durchmesser im engsten Querschnitt d∗ ? die der Kolben vor sich her- bevor die Stoßfront ankommt:
schiebt: Geschwindigkeit uK Geschwindigkeit u1 = 0
Antriebskraft 2 1
Wie entsteht ein senkrechter Verdichtungsstoß?
digkeit weitergegeben werden, sie kann sich also nicht ren, die bewegte und unbewegte Beobachter zum
schneller als die Stoßfront (das ist der Übergang zwi- selben Zeitpunkt ablesen: Sie können dann gar nicht
schen Zone 1 und Zone 2) bewegen. Folglich „merken“ auf andere Werte kommen.
die Luftteilchen in Zone 1 frühestens von dem Gesche-
hen, wenn die Stoßfront sie erreicht. Genau in diesem
Augenblick werden sie von dem sich bereits mit uk be- Diese Aussage klingt zwar zunächst trivial, warum sie
wegenden Luftpolster der Zone 2 schlagartig mitgerissen aber so wichtig ist, erkennt man, wenn man jetzt in Ge-
(extrem beschleunigt) und ihr Zustand, also Druck, Dich- danken den Film des Vorgangs sieht. Die Kamera wird
te und Temperatur, passt sich sofort an die Werte der Zone Folgendes zeigen:
2 an. Weil das Volumen der Zone 2 bei dem Vorgang durch
Von der rechten Seite strömt das Gas vom Zustand 1 deut-
die ständig neu mitgerissene Luft wächst, bewegt sich die
lich im Überschallbereich die Stoßzone an (Abb 22.36).
Stoßfront (nicht die Teilchen in der Stoßfront) deutlich
Irgendwie hat man bei so einer Situation das Gefühl,
schneller als der Kolben nach rechts, uS > uK .
dass die extrem hohe Strömungsgeschwindigkeit einen
Die Fragestellung ist nun: Wie verändern sich die Zu- Einfluss auf den thermodynamischen Zustand in der Zo-
standsgrößen Druck, Dichte, Temperatur, Entropie, etc. ne 1 haben müsste. Das ist definitiv aber nicht der Fall,
über der Stoßfront bei dem Experiment. Diese Frage kön- denn in unserem Experiment sieht es ja nur so aus, als
nen wir durch einen Wechsel des Bezugssystems des Be- wenn sich die Luft bewegt, in „Wirklichkeit“ bewegt
obachters besser beantworten. Für uns als bezüglich der sich die Kamera. Die Kamera filmt also einen statio-
Luft in Zone 1 ruhenden Beobachter ist der Vorgang insta- nären Strömungszustand, bei dem sich an irgendeiner
tionär, denn die Stoßfront (der Ort des Geschehens) ist in Stelle in einem Rohr eine Stoßfront entwickelt hat und
Bewegung. Für einen mit der Stoßfront gleichförmig mit- nun stationär die Zuströmung mit dem Zustand 1 und
bewegten Beobachter ist der Vorgang dagegen stationär die Abströmung mit dem Zustand 2 erfolgt. Die Stoß-
und einer Berechnung leichter zugänglich. Wir stellen uns front ist zwar dünn, hat aber ein endliches Volumen,
also vor, dass wir das gleiche Experiment wiederholen sodass wir die Erhaltungssätze anwenden können. Der
22.7 Einführung in die Gasdynamik 741
Luft der Zone 1 wie verhalten sich Dichte und Temperatur? Betrachten
bewegt sich mit wir zunächst die Dichte und nochmal die Beziehung zum
uS > uK > a1 nach links
Druck:
A1 = A2 >> AW AW
κ +1 p1
ρ2 κ −1 + p2 κ+1
2 A2 A1 1 = p = .
ρ1 1 κ +1
+1 κ−1
p2 κ −1
Strömungsmechanik
Wie berechnet man einen schrägen
Dichteverhältnis über der Stoßfront:
Verdichtungsstoß?
ρ2 ( κ + 1 ) M1 2
= . (22.47)
ρ1 2 + ( κ − 1 ) M1 2 An keilförmigen Flugkörpern, die sich mit Überschall
bewegen, entstehen schräge Verdichtungsstöße, weil die
Temperaturverhältnis über der Stoßfront: Strömung zusätzlich aus ihrer ursprünglichen Richtung
um den Körper herum abgelenkt wird (Abb. 22.37). Die
T2 p ρ
= 2 1. (22.48) Beziehungen des schrägen Stoßes lassen sich aus den Be-
T1 p1 ρ 2 ziehungen des senkrechten Verdichtungsstoßes herleiten,
Machzahl M2 der Abströmung: wenn wir folgende Überlegung anstellen: Ein Beobachter
bewege sich parallel zum Stoß mit der gleichen Tangen-
p1 ρ 1 tialgeschwindigkeit wie die Anströmung, d. h. mit der
M2 2 = M1 2 . (22.49)
p2 ρ 2 Komponente u1,t der Anströmung. Dadurch „sieht“ der
Beobachter wieder die Verhältnisse bei einem geraden
Entropieerzeugung der Stoßfront: Stoß. Aufgrund des Prinzips, dass der Bewegungszu-
κ stand des Beobachters objektiv messbare Größen nicht
s2 − s1 1 p ρ1 beeinflussen darf, bedeutet das:
= ln 2 . (22.50)
R κ−1 p1 ρ 2
Der Anteil der Anströmgeschwindigkeit senkrecht zur
Stoßfront (Normalanteil) muss im Überschallbereich
Eine sehr interessante Folge der Stoßgleichungen ist die sein, u1,n > a1 .
Frage was passiert, wenn die Anströmung mit sehr ho- Aus Impulserhaltungsgründen darf der mitbewegte
her Machzahl M1 → ∞ erfolgt. Das Druckverhältnis geht Beobachter auch keinen Tangentialanteil bei der Ab-
zwar offensichtlich gegen unendlich (p1 /p2 → 0), aber strömung sehen. Der Geschwindigkeitsanteil parallel
742 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
M1 0 M2 > 1
u1,t u1,n
u1,n < a1 u2 x
u1 Temp. T1
α β
α u2,n u2,t
a
Lavaldüse
Keil
Brenn- Strahlrand
β Abströmung: kammer
u2,n < a2
Über-/Unterschall
M1 0 M2 > 1
Abb. 22.37 Schräger Stoß bei der Umlenkung durch einen Keil x
Temp. T1
Expansions-
M* = 1 Stöße
zum Stoß muss daher auch für den ruhenden Beobach- b fächer
ter gleich bleiben: u1,t = u2,t .
Die Zustandsgrößen stellen sich in Bezug auf u1,n und Abb. 22.38 a Sich schneidende und am Rand reflektierte Stöße nach dem Aus-
M1,n = u1,n /a1 wie beim geraden Stoß ein. tritt aus einer Lavaldüse, b überexpandierter Strahl
Der Normalanteil der Abströmung u2,n muss immer
Unterschall sein, sonst wäre es kein Stoß. Die Abström-
machzahl M2 = u2 /a2 kann aber wegen der Abhängig- Machscheibe
keit von der Größe der Tangentialgeschwindigkeit u2,t
Über- oder Unterschall sein.
Expansions-
fächer Überexpan-
Alle Gleichungen des schrägen Stoßes und der sich bei ei- sionsstoß
nem bestimmten Keilwinkel einstellende Stoßwinkel las-
sen sich mit dieser Überlegung herleiten. Aus Platzgrün- Unterschall
den wird daher hier auf die Herleitung verzichtet, denn
diese läuft völlig analog zum geraden Stoß. Zustandsgrö-
Strömungsmechanik
Strömungen in einem Flachwasserkanal und die Faktoren auch gleich sind. Dies trifft nur für ein
theoretisches Gas mit einem bestimmten Wert des Isentro-
gasdynamische Strömungen sind sich ähnlich
penexponenten zu, nämlich κ = 2. Im dreidimensionalen
Raum kann es ein solches Gas aber aus theoretischen
In der Einleitung wurde bereits angedeutet, dass es ei- Gründen nicht geben, denn der Isentropenexponent ist
ne enge Beziehung zwischen den Strömungszuständen durch die Zahl der Freiheitsgrade (f ) thermische Energie
in einem flachen Flussbett und den Strömungszuständen aufzunehmen bestimmt. Es gilt in guter Näherung:
in der Gasdynamik gibt. Diese Verwandtschaft ist durch
f +2
die identische Form der Erhaltungsgleichungen begrün- κ= .
det und lässt sich sehr schön zur Demonstration von f
gasdynamischen Effekten in einem Kanal mit gemäch- Einatomige Gase können nur Translationsenergie aufneh-
lich strömendem Wasser nutzen. Ein solcher Wasserka- men, im dreidimensionalen Raum heißt das f = 3, also
nal lässt sich mit geringem Aufwand bauen und ersetzt κ = 1,6667, ein Wert, der tatsächlich hervorragend für
zu Lehr- und Demonstrationszwecken immens teuere alle Edelgase zutrifft. Zweiatomige Gase haben 5 Haupt-
Überschallwindkanäle. Betrachten wir zunächst einmal freiheitsgrade: Drei Translationen, zwei Rotationen. Dazu
den Aufbau der Gleichungen. Kontinuitätsgleichung und kann das Molekül in Schwingung geraten, was sich bei
Energiegleichung in der Gasdynamik zwischen Eintritt 1 hohen Temperaturen auswirkt: f = 5+, κ ≤ 1,4. Drei und
und Austritt 2 einer Stromröhre hatten wir bereits zu Be- mehratomige Moleküle können erheblich schwingen, des-
ginn beschrieben: halb ist meistens f ≥ 6, κ ≤ 1,33. Unser theoretisches Gas
ṁ = ρ1 u1 A1 = ρ2 u2 A2 , mit κ = 2 kann im dreidimensionalen Raum also gar nicht
2 existieren, denn f = 2 wäre ein einatomiges Gas im zwei-
u1 u 2
+ h1 = 2 + h2 . dimensionalen Raum – leider. Solange wir uns dieser
2 2 Tatsache bewusst sind, ist die Analogie aber hervorra-
Diese Gleichungen hatten wir auch für die Oberflächen- gend gültig. Vergleicht man die Kontinuitätsgleichungen
stromlinie einer näherungsweise reibungsfreien Flach- und die Energiegleichungen miteinander, erkennt man
wasserströmung aufgestellt. Wir erhielten (Ai = Bi zi ): die miteinander korrespondierenden Größen:
V̇ = u1 B1 z1 = u2 B2 z2 ,
M1,2 ⇔ Fr1,2 ,
u1 2 u 2 √ √
+ gz1 = 2 + gz2 . a = κRT ⇔ c = gz,
2 2
A1 B
Offensichtlich hat die potentielle Energie gz in der Flach- ⇔ 1,
wasserströmung genau die gleiche Bedeutung wie die A2 B2
Strömungsmechanik
Enthalpie h in der Gasdynamik. Wenn wir jetzt noch die ρ2 T2 z
und ⇔ 2,
Enthalpie h durch cp T ersetzen, kommt der Wasserhöhe z ρ1 T1 z1
über dem Grund und der Gastemperatur T in den Glei-
a2 z2
chungen exakt die gleiche Bedeutung zu. Stellt man die ⇔ ,
a1 z1
Gleichungen in die dimensionslose Form um und führt 2
die Kennzahlen (Froudezahl und Machzahl) ein, ist die p2 z2
⇔ .
Verwandtschaft nicht mehr zu übersehen: p1 z1
Kontinuität: Die korrespondierende Größe zum Druck (Quadrat der
A1 ρ T2 Höhenverhältnisse) leitet sich aus der idealen Gasglei-
M1 = M2 2 , chung ab, weil sowohl Dichte als auch Temperatur in
A2 ρ1 T1 der Flachwasseranalogie durch die Wasserhöhe z reprä-
B1 z z2 sentiert werden. Für den Entropieanstieg gibt es übrigens
Fr1 = Fr2 2 . aufgrund des Wertes κ = 2 keine analoge Größe.
B2 z1 z1
Energie: s2 − s1 1 p2 κ ρ1
= ln + ln ,
M2 2 T2 2 T2 R κ−1 p1 κ−1 ρ2
M1 1 −
2
= − 1 , 2
M1 2 T1 κ − 1 T1 s2 − s1 z z
= ln 2 2 + 2 ln 1 = ln(1) = 0.
R z1 z2
Fr2 2 z2 z2
Fr1 1 −
2
= 2 − 1 . Mit diesem Satz analoger Größen können wir jetzt das
Fr1 2 z1 z1
Verhalten der Wasserströmung aus den gasdynamischen
Der einzige „Schönheitsfehler“ der Analogie liegt im Vor- Gleichungen vorhersagen, bzw. umgekehrt, Beobachtun-
faktor der rechten Seite dieser Gleichungen. Wirklich gen im Wasserkanal auf eine gasdynamische Strömung
identisches Verhalten der Gleichungen liegt nur vor, wenn übertragen.
744 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Lavaldüse Das Verhalten der Lavaldüse und die Glei- Beruhigungs- Auslauf
chungen der Zustandsgrößen und der Flächen hatten wir kammer
bereits kennengelernt. Überträgt man dies auf den Was- Auffang-
serkanal, muss in den Kanal eine Verengung mit einer behälter
Kontur nach (22.45) eingebaut werden. Zu beachten ist
dabei, dass die Kanalströmung inkompressibel ist und
Lavaldüse
daher im Gegensatz zur Gasströmung der tatsächliche
Strömungsquerschnitt auch bei Fr > 1 sinkt. Es ergibt
sich, dass (22.45) mit κ = 2 nicht für das Flächenverhältnis
A/A∗ , sondern für das Breitenverhältnis B/B∗ gilt. Damit
ist der Breitenverlauf:
3
B 1 2 1 2 2 Einlauf
= 1 + Fr . (22.51)
B∗ Fr 3 2
Auslauf
Im engstem Querschnitt ist Fr = 1. Wegen (22.44) ist das
Wasserhöhenverhältnis im engsten Querschnitt der Düse
zum Ruhezustand im großen Behälter genau z∗ /z1 = 2/3. a b
Der Volumenstrom durch die Düse ist dadurch festgelegt:
Abb. 22.40 Versuchsanordnung Flachwasserkanal
2
∗ ∗ ∗
∗ ∗ √ 2 3
∗
V̇ = u B z = gz z B = g z1 B∗ .
3
im Rahmen der Messgenauigkeit hervorragend überein.
Am Austritt der Düse bestätigt sich die Froudezahl 5,0
Frage 22.20 der Auslegung. Im engsten Querschnitt der Düse ist die
Bestimmen Sie im Wasserkanal den Breitenverlauf der La- Wassertiefe genau 2/3 der Höhe im Behälter, d. h., die
valdüse B/B∗ in Abhängigkeit von der Froudezahl aus Froudezahl ist auch in der Messung exakt 1.
den dimensionslosen Gleichungen.
Die Draufsicht auf die Strömung im Düsenbereich
(Abb. 22.41) lässt einige Details erkennen, die auch bei
Frage 22.21 aufwendigen Schlierenaufnahmen gasdynamischer Strö-
mungen beobachtet werden (Frey, 2001). Nach dem engs-
In einen Wasserkanal der Grundbreite B0 soll eine Laval-
ten Querschnitt beschleunigt die Strömung auf Fr > 1,
düse mit der Austrittsfroudezahl 5 eingebaut werden. Wie
man spricht dann von schießendem Wasser. Bis zum Aus-
groß muss hierzu der engste Querschnitt B∗ sein?
Strömungsmechanik
. . . oder: Beobachtungen zur Analogie mit den gasdy- herrührende Störung, also die ebenfalls schrägen Stö-
namischen Strömungen, die man auch an einem Bach ße inklusive der Reflexionen am Körper selbst, muss
machen kann. man sich allerdings wegdenken). An der Hinterkante
ist ein schwacher Expansionsfächer sowie ein darauf
Problemanalyse und Strategie Den Kernbereich nach folgender erneuter Stoß erkennbar. Das Bild ist mit
dem Austritt aus der Lavaldüse kann man dazu nut- dem Wellenbild eines schnell fahrenden Schiffes mit
zen, um einerseits Phänomene der Überschallströ- spitzem Bug gut vergleichbar. Der stumpfe Körper
mung sichtbar zu machen, andererseits kann man auch im unteren Bildteil zeigt einen von der Vorderkan-
Schlüsse über die optimale Strömungsführung in Ge- te abgelösten (starken) Stoß, der im Gegensatz zum
wässern (Flüsse, Bäche) ziehen. Wenn Sie beim nächs- keilförmigen Körper nicht geradlinig, sondern deut-
ten Spaziergang über eine Brücke gehen, nehmen Sie lich gekrümmt verläuft. Das Bild hinter dem stumpfen
sich ein paar Minuten Zeit und ordnen Sie die Beob- Körper ist zwar prinzipiell gleich, man kann aber an
achtungen in die vorgestellte Systematik ein. der dunkleren Färbung des Wassers erkennen, dass die
Störung des stumpfen Körpers größer ist, obwohl er so-
gar kleiner als der keilförmige Körper ist.
Lösung Vergleichen Sie zunächst Abb. 22.41 mit
Abb. 22.39. Nach dem Ende der Düse im Wasserkanal
läuft die Strömung auf die Kanalwand (= Strahlrand)
zu und wird daher durch einen vom Düsenende ausge-
henden, schrägen Stoß parallel zu dieser ausgerichtet,
dabei steigt die Wasserhöhe (= Druck und Temperatur)
nach dem Stoß an. Offensichtlich ist der Düsenaustritt
im Wasserkanal überexpandiert, genau wie der Aus-
tritt des Gasstrahls beim SSME während des Starts.
Beim Wasserkanal laufen beide Stöße ineinander, so-
dass nach dem Kreuzen eine spitze Verdichtungszone
entsteht (rechter Bildrand in Abb. 22.41). Nach den
schrägen Stößen ist die Strömung aber immer noch
im Übersch(w)allbereich. Beim SSME bildet sich da-
Strömungsmechanik
gegen bereits vor dem Zusammenlaufen der schrägen
Stoßfronten eine Machscheibe aus, also ein senkrech-
ter, starker Stoß, in dem das Medium auf Unterschall
gebremst und daher sehr heiß und hell leuchtend
wird. Hauptsächlicher Grund ist, dass Raketentrieb- Abb. 22.42 Vergleich keilförmiger Körper mit stumpfem Körper
werke bewusst nicht für die kurze Flugphase in der
unteren Atmosphäre (Umgebungsdruck 1 bar), son- Schießende Strömungen haben in Flüssen und Bächen
dern für die Flugphase mit sehr geringem Gegendruck einige negative Folgen. Eine schießende Strömung
(ab etwa 1 Minute „time into flight“) ausgelegt und führt zu erheblich größerer Erosion, als fließendes Was-
daher beim Start stark überexpandiert sind, was am ser (Fr < 1). Dazu kommt, dass die Abflussgeschwin-
Einschnüren des Gasstrahls erkennbar ist. Der zwei- digkeit stark ansteigt, was zu geringeren Wasserhö-
te Mach-Diamant in Abb. 22.39 ist dagegen eindeu- hen, also schlechterer Befahrbarkeit mit Schiffen und
tig spitz, weniger hell und gleicht eher der Form in geringerer Speicherwirkung bei Starkregen, also grö-
Abb. 22.41. ßerer Hochwassergefahr führt. Stark begradigte und
In Abb. 22.42 wird der Vergleich eines keilförmigen kanalisierte Schifffahrtsstraßen wie der Rhein mussten
Körpers mit einem an der Vorderseite stumpfen Kör- daher mit Staustufen versehen werden und müssen
per gezeigt. An der Spitze des keilförmigen Körpers trotzdem meistens dauerhaft durch Ausbaggern frei-
(obere Bildhälfte) werden zwei schräge Stöße ausge- gehalten werden. Bei in früheren Zeiten begradigten
löst (die bereits vor dem Körper vom Düsenauslass und kanalisierten Bachläufen geht man heute verstärkt
746 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Literatur
Avila K, Hof B (2012) Von Wirbelballen zur Turbulenz.
Abb. 22.44 Blick „in den Abgasstrahl“ der Düse
Spektrum der Wissenschaft 03, 16–18
Grote KH, Feldhusen J (Hrsg.) (2012) Dubbel, Taschen-
förmigen Kernbereich des Düsenaustritts am geringsten, buch für den Maschinenbau. 23. Auflage, Springer
die Strömungsgeschwindigkeit am höchsten. Nach dem Spurk J, Aksel N (2010) Strömungslehre: Einführung in
Stoß (erkennbar an der dunkleren Blaufärbung) ist die die Theorie der Strömungen. 8. Auflage, Springer
Wasserschicht dicker, d. h., die Strömungsgeschwindig-
keit sinkt, denn der Stoß richtet die Strömung parallel NASA Veröffentlichte Filme und Fotos im Internet
zur Wand (= Strahlrand) aus. Dieses Phänomen tritt als von Raketenstarts und Shuttlestarts. https://nasa.gov/
Überexpansionsstoß auch am Austritt von Raketentrieb- multimedia/videogallery/index.html
werken auf (vgl. mit Abb. 22.39), auch hier werden die ESA Veröffentlichte Filme und Fotos im Internet von
Stromlinien parallel zum Strahlrand ausgerichtet. Bei ei- Raketenstarts (z. B. Ariane). https://spaceinvideos.esa.
ner gasdynamischen Strömung entspricht der Stoß einem int/Videos
Temperatur-, Druck- und Dichteanstieg über dem Stoß. Frey M (2001) Behandlung von Strömungsproblemen in
Haben sich die beiden schrägen Stöße durchdrungen, ist Raketendüsen bei Überexpansion. Dissertation, Uni-
die Wasserschicht nochmals dicker (man beachte die un- versität Stuttgart
terschiedliche Blaufärbung gegen den hellen Boden), die
Strömungsgeschwindigkeit sinkt also weiter ab. Fefferman Ch, CMI (Hrsg.) Existence and Smoothness of
the Navier-Stokes Equation, Millenium Prize, Clay Ma-
Erhöht man den Volumenstrom der Umwälzpumpe, steigt thematics Institute, Providence RI (USA) https://www.
der Wasserstand im Behälter und damit auch im gleichen claymath.org/videos-2000-millennium-event
Antworten zu den Verständnisfragen 747
Antwort 22.1 Der diskontinuierliche Aufbau der Materie Antwort 22.11 Die Stromröhre darf mit beliebig kleiner
wird ignoriert. Alle physikalischen Eigenschaften der Ma- Eintrittsfläche frei gewählt werden. Ein solcher Strom-
terie werden dem Punkt im Raum zugeordnet und durch faden darf im Grenzfall auch nur noch eine Stromlinie
stetige und stetig differenzierbare Funktionen beschrie- umschließen, trotzdem müssen Massen- und Energieer-
ben, sodass sie mithilfe von Differenzial- und Integral- haltung erfüllt sein.
rechnung behandelt werden können.
Antwort 22.12 Zu- und Abfluss der Erhaltungsgrößen
Antwort 22.2 Die zu einer Verformung notwendigen
Masse bzw. Energie in allen Erscheinungsformen sind an
Scherkräfte gehen genau dann gegen null, wenn die Ver-
einem geschlossenen Kontrollvolumen im stationären Fall
formungsgeschwindigkeit gegen null geht.
immer im Gleichgewicht. Wenn äußere Kräfte bzw. Mo-
Antwort 22.3 Wenn die Machzahl M klein gegen 1 ist, ins- mente auf das Kontrollvolumen wirken, sind diese im
besondere M < 0,1. Gleichgewicht mit dem Zu- und Abfluss an Impuls-
bzw. Drehimpuls.
Antwort 22.4 In einem Fluid in Ruhe wirken an keiner
Stelle Scherspannungen, τ = 0. Antwort 22.13 Unter Ähnlichkeit versteht man im Ideal-
fall identisches Verhalten zweier physikalischer Systeme.
Antwort 22.5 Der Druckgradient, d. h. die Veränderung Betrachtet man dynamische Systeme mit konstanten Kräf-
des Druckes, ist an jeder Stelle im Gleichgewicht mit den ten bzw. Momenten, reicht es aus, die geometrische, die
wirkenden Volumenkräften. kinematische und die dynamische Ähnlichkeit zu über-
prüfen.
Antwort 22.6 Die Rotation der Volumenkräfte muss null
sein, d. h. die Volumenkräfte dürfen keine wirbelförmige
Bewegung auslösen. Antwort 22.14 Aus den typischen am Problem beteiligten
Kräften werden die Verhältnisse zueinander als dimen-
Antwort 22.7 Die resultierende Ersatzkraft ist gleich dem sionslose Kennzahlen gebildet. Sind alle Kennzahlen der
Druck im Flächenschwerpunkt mal der Fläche. beiden Systeme gleich, sind diese im dynamischen Ver-
Strömungsmechanik
Die resultierende Ersatzkraft greift aufgrund der Wirkung halten ähnlich.
der Flächenträgheitsmomente nie im Schwerpunkt an.
Antwort 22.15 Bei laminarer Strömung findet keine
Antwort 22.8 1. Zur Berechnung der Auftriebskraft auf Durchmischung der Strömungsschichten statt. Reibungs-
einen vollständig eingetauchten Körper, indem man das kräfte werden nur durch die dynamische Viskosität ver-
Volumen des Körpers bestimmt. ursacht, Wärmeübertragung quer zur Strömungsrichtung
2. Zur Berechnung der Auf- oder Abtriebskraft auf eine erfolgt ausschließlich über Wärmeleitung. Demgegen-
gekrümmte Oberfläche oder einen teilweise eingetauch- über ist mit turbulenter Strömung auch ein makroskopi-
ten Körper, indem man Form und Volumen eines Ersatz- scher Stoffaustausch verbunden. Dieser bewirkt aufgrund
körpers bestimmt, der von der Flüssigkeit her die gleichen des damit einhergehenden Impuls- und Energietrans-
Kräfte erfährt, wenn er vollständig eingetaucht wird. ports zur Wand hin einerseits erheblich höhere Kräfte,
die sich wie eine zusätzliche Reibungskraft auswirken,
Antwort 22.9 Der gesamte Zu- und Abfluss einer physi- andererseits aber auch einen deutlich besseren Wärme-
kalischen Größe über den Rand eines Gebietes und die
transport. Daher sollten Strömungen in Wärmeübertra-
totale Veränderung der Größe im Inneren des Gebietes gern nach Möglichkeit turbulent sein.
sind gleich groß, wenn die Größe überall stetig und ste-
tig differenzierbar ist.
Antwort 22.16 Das Konzept des hydraulischen Durch-
Antwort 22.10 In instationärer Strömung sind Strom- und messers ist nur in turbulenter Strömung für Rohre mit
Bahnlinie nicht mehr identisch, im Allgemeinen wird praktisch beliebigem, nicht kreisförmigem Querschnitt
daher Materie auch über die Hüllfläche (Stromfläche) tre- anwendbar. Je höher die Reynoldszahl, desto besser ist
ten und nicht nur über die Ein- und Austrittsfläche die Übereinstimmung. In laminarer Strömung darf es da-
(Abb. 22.15). Letzteres ist aber die grundlegende Voraus- gegen auch für Näherungsrechnungen in der Praxis nicht
setzung der Erhaltungssätze für die stationäre Strömung! angewendet werden.
748 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
Antwort 22.17 Löst man die Definition des Druckverlus- Dimensionslose Bernoulli’sche Gleichung:
tes (22.35) nach dem Verlustbeiwert auf, erkennt man
unmittelbar die Proportionalität zur Eulerzahl Eu. Daher z2 Fr 2 + 2
sind Druckverlustbeiwerte bei vorliegender Ähnlichkeit = 12 .
z1 Fr2 + 2
zweier Systeme auch gleich groß und dürfen übertragen
werden. Bernoulli’sche Gleichung in die Kontinuitätsgleichung
Antwort 22.18 Setzt man Machzahl und Isentropenexpo- eingesetzt ergibt:
nent in (22.45) ein, erhält man A2 /A∗ = 49,5. Der Durch-
3
messer des Düsenhalses ist d∗ = 0,3 m. B1 Fr Fr1 2 + 2
2
= 2 .
Antwort 22.19 Das Verhalten eines idealen Gases wird im B2 Fr1 Fr2 2 + 2
gasdynamischen Fall fast ausschließlich durch den Isen-
tropenexponenten κ bestimmt. Maßgebliche Strömungs- Setzt man anstelle des Punktes 1 einen beliebigen Punkt
größe ist die Machzahl M. Daher sollten in der Praxis alle (ohne Index) und für den Punkt 2 den engsten Quer-
physikalischen Berechnungsgleichungen in die dimen- schnitt (Index *, Fr2 = 1) erhält man den gesuchten Zu-
sionslose Form in Abhängigkeit dieser beiden Größen sammenhang (22.51).
transformiert werden. Durch die Reduktion der Variablen
vereinfacht sich die Lösung teilweise erheblich. Antwort 22.21 Am Austritt der Düse ist der Kanal wieder
Antwort 22.20 Dimensionslose Kontinuitätsgleichung auf seiner Grundbreite B0 , daher ist das Breitenverhältnis:
zwischen zwei Punkten 1 und 2 auf der Oberfläche in 3
der Düse: B0 1 2 1 2
= 1 + 25 = 5,4.
3 B∗ 5 3 2
B1 Fr z2 2
= 2 .
B2 Fr1 z1 Die Breite des engsten Querschnitts ist also B∗ = 0,185B0 .
Strömungsmechanik
Aufgaben 749
Aufgaben
Im Folgenden finden Sie Aufgaben zu dem im Kapitel besprochenen Thema. Wenn es sich um Rechenaufgaben
handelt, ist der Schwierigkeitsgrad angegeben (• leicht, •• mittel, ••• schwer), und eine Ergebniszeile zeigt das
zu erwartende Ergebnis.
Die Lösungen zu allen Aufgaben finden Sie auf der Internetseite des Buches (https://www.springer.com/de/book/
9783662558812).
22.1 •• Kraft auf eine schräge, ebene Klappe 22.2 • • • Kraft auf ein walzenförmiges Wehr
z yc hoher Wasserstand
p0
xc z
α s a
ρ b b R
h A a Lager
d1
p0 z φ
45°
p0
x
h
p0
niedriger Wasserstand Mauerlinie
Der Auslass aus einem großen, mit Flüssigkeit der Dich-
Mauer
te ρ gefüllten Behälter ist durch eine elliptische Platte
verschlossen (siehe Abbildung). Über das Gewicht der Ein Stauwehr der Breite b wird durch eine horizontale,
Platte kann der Flüssigkeitsstand h über der Mitte des zylinderförmige Walze mit dem Radius R gebildet, die
Auslasses eingestellt werden. Die Platte steht im Winkel so gelagert ist, dass sie vertikal frei beweglich ist, ho-
von 45◦ (α = 135◦ ) zum kreisförmigen Auslaufrohr des rizontal jedoch durch die Führung gehalten wird (siehe
Durchmessers d1 . Die Platte ist am oberen Punkt A dreh- Abbildung). Die Walze liegt auf der Mauerlinie auf und
bar gelagert und dichtet das Rohr über ihr Eigengewicht dichtet Wasser (Dichte ρ) alleine durch ihre Gewichtskraft
G ab. ab. Der Wasserstand h oberhalb der Mauerlinie kann ma-
Strömungsmechanik
ximal zwischen 0 und 2R variieren. Die Walze hat die
Geg.: d1 , r, g, ρ, p0 Variabel: h, z bzw. s
Masse m.
1. Ermitteln Sie die beiden Halbachsen a und b der ellip-
Geg.: R, b, g, m, ρ, p0 Variabel: h bzw. ϕ
tischen Platte und das Flächenträgheitsmoment um die
Schwerachse xc in Funktion von d1 . 1. Bestimmen Sie die resultierende Dichtkraft FD .
2. Bestimmen Sie die resultierende Kraft auf die Plat- 2. Bei welchem Winkel ϕ wird die Auflagekraft im allge-
te und den Angriffspunkt dieser Kraft zD und sD in meinen Fall minimal?
Abhängigkeit von der variablen Füllhöhe h und das 3. Auf welche horizontale Kraft Fx muss das Lager min-
notwendige Gewicht G der Platte, damit sie ab einer destens ausgelegt sein?
Füllhöhe hmax öffnet. 4. In welcher Tiefe |zD | liegt die Wirkungslinie dieser Ho-
rizontalkraft?
Hinweis: Verwenden Sie die Wandkoordinate s, um die
Flächenmomente zu berechnen. Das Flächenträgheitsmo- Hinweis: Gesucht ist die resultierende Dichtkraft FD für
ment einer Ellipse mit den Halbachsen a, b um xc (siehe beliebige Wasserstände h, mit der die Walze auf der
Abbildung) ist: Mauerlinie aufliegt. Dazu muss das Volumen des Ersatz-
körpers bestimmt werden. Verwenden Sie zunächst als
πa3 b
Jxc = Variable an Stelle von h den Winkel ϕ.
4
Resultat:
Resultat: R2
1 d21 FD = mg − ρgVE = mg − ρgb ( ϕ − sin ϕ cos ϕ) ,
zD = −h 1 + , 2
16 h2 Fx,max = 2ρgR2 b,
π 2 d1 Jc h h 2
G = ρg d1 hmax + . |zD | = |zc | + = + = h.
2 8 |zc |hb 2 6 3
750 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
22.3 •• Inkompressible Strömung in einer Düse 22.4 • • • Kraft auf einen Strahlablenker
Wir betrachten die Strömung in einer rotationssymme- Die Spitze einer Schneide taucht senkrecht in einen ebe-
trischen Düse, also einer Querschnittsverengung (siehe nen Freistrahl der Höhe h (in der Abbildung senkrecht
Abbildung). Die Innenkontur der Düse sei gut gerundet, zur Zeichenebene) ein und lenkt einen Teil des Strahls
sodass die Strömung im betrachteten Bereich nahezu rei- (2) senkrecht in y-Richtung um. Es wird der Zeitpunkt
bungsfrei ist. Diese Annahme ist für Düsen auch in der betrachtet, in dem die Schneide den Strahl gerade im Ver-
Realität meist gerechtfertigt, denn auf kurzem Weg stark hältnis 1 : 2 teilt. Die skizzierte Trennstromlinie ist dann
beschleunigte Strömungen sind bei entsprechender Kon- gleichzeitig Staustromlinie zum Staupunkt in der Nähe
tur der Düse tatsächlich praktisch verlustfrei. Die Düse sei der Schneidenspitze. In den Ebenen 1, 2 und 3 sei die Strö-
horizontal gerichtet. mung näherungsweise homogen, außerdem können Rei-
bungseffekte im Freistrahl, die Reibung des Freistrahls an
p0 der Luft und die Reibung an der Schneide vernachlässigt
, A1 , u 1 Freistrahl
werden. Die Schwerkraft soll senkrecht zur Zeichenebene
wirken.
u2 = konst. Schneide
1 2 2
Freistrahl Staupunkt S
, A2 , u 2 p0 b2
1
y
b1/3
In der Düse kurz vor der Verengung herrscht der Druck x
p1 . Nach der Düse tritt der Strahl als Freistrahl in die um- α
b1
gebende Luft (Druck p0 ) aus. p0
1. Wie groß ist bei gegebenem Druck p1 > p0 der Volu- u1 = konst.
menstrom V̇? p0 b3
Staustromlinie 3
2. Wie groß ist die Austrittsgeschwindigkeit des Strahls
u3 = konst.
aus der Düse u2 ?
Hinweis: Verwenden Sie die Kontinuitätsgleichung und
die Bernoulli’sche Gleichung. Geg.: p0 , u1 , b1 , h, ρ, (b1 h).
1. Wie groß ist der statische Druck pS im Staupunkt S, und
Resultat: welcher Druck pi (i = 1, 2, 3) herrscht in den drei Ebe-
2 ( p1 − p0 ) A21 nen?
Strömungsmechanik
u2 = .
ρ A21 − A22 2. Wie groß sind die Geschwindigkeiten u2 und u3 sowie
die Strahlbreiten b2 und b3 ?
3. Bestimmen Sie mithilfe des Impulssatzes die resultie-
Allgemeine Hinweise für die folgenden Aufgaben: Mit-
rende Kraft auf die Schneide in Betrag und Richtung
hilfe des Impuls- und Drehimpulssatzes können bei kor-
(x- und y- Komponente).
rekter Anwendung nicht nur näherungsweise Kräfte und
4. Um welchen Winkel α wird der Teilstrahl 3 zum be-
Momente bestimmt werden, sondern selbst bei komplexen
trachteten Zeitpunkt abgelenkt? Ändert sich dieser
Systemen in vielen Fällen sogar exakte Lösungen. Schlüs-
Winkel, wenn der Betrag der Geschwindigkeit u1 ver-
selfunktion besitzt die geschickte Wahl der jeweils betrach-
ändert wird?
teten Kontrollvolumina und eine systematische Lösungs-
strategie. Wie in allen Fällen gilt: „Übung macht den Meis- Hinweis: Verwenden Sie Kontinuitätsgleichung und die
ter“. Bearbeiten Sie daher die folgenden Übungsaufgaben Bernoulli’sche Gleichung und gehen Sie bei der Kraftbe-
ohne die dargestellte Lösung zu verwenden. Auch durch rechnung in zwei Raumrichtungen systematisch nach der
Wahl eines anderen Kontrollvolumens kann bei der glei- Fünf-Schritte-Methode vor.
chen Aufgabe der Lösungsweg geübt werden, mit dem
Vorteil, dass das Ergebnis zur Kontrolle bereits bekannt ist. Resultat:
ρ
Zur systematischen Lösung von Impulssatz- (und pS = p1 + u21 , u2 = u3 = u1 ,
2
Drehimpulssatz-) Aufgaben geben die beiden Übersichts- b1 2b1
kästen „Impuls- und Drehimpulssatzaufgaben lösen – b2 = , b3 = ,
3 3
mit System“ und „Wahl des Kontrollvolumens KV“ ei-
b3 b2 b
ne bei ausreichender Kenntnis aller Randbedingungen F S = ρu21 A1 1 − cos α i − ρu21 A1 − 3 sin α j,
immer funktionierende Lösungsstrategie vor. Lesen Sie b1 b1 b1
diese Kästen unbedingt durch, bevor Sie die folgenden b2
sin α = .
Beispiele durcharbeiten. b3
Aufgaben 751
Strömungsmechanik
u1, r larwärme gedacht sind, wird aus Sicherheitsgründen ein
R1 Sicherheitstemperaturbegrenzer (STB) angebracht. Damit
u1,ω sich bei hohen Speichertemperaturen insbesondere Klein-
r
φ, ω R1 R2 kinder nicht verbrühen können, lässt sich der Mischau-
er
tomat so einstellen, dass eine Maximaltemperatur ϑmax
x ex
nicht überschritten wird (siehe Abbildung).
Wir betrachten das Laufrad aus einem ruhenden Bezugs-
ζTB2 = 0,5
system heraus und verwenden problemangepasst ein Zy- STB: Sicherheits-
linderkoordinatensystem (r, ϕ, x) mit der x-Achse in der temperaturbegrenzer
Rotationsachse des Laufrads. Der Bezugspunkt zur Dre- 70 °C
himpulsbildung liegt in der Rotationsachse x.
ϑ max = 50 °C VW
Beim Einströmen in das Laufrad ist in der Praxis zwar ζTB1 = 1...∞
Warm-
häufig das Strömungsmedium drehimpulsfrei (u1,ϕ = 0), Mischautomat VK
wasser-
strömt also in rein radialer Richtung, wir können die ζT1 = 1 10 °C
speicher
Rechnung aber auch ohne eine solche Vorgabe für den h
ζT2 = 0,5 ζWW = 15
allgemeinen Fall durchführen. Ein- und Ausströmung
des Fluids besitzen im Allgemeinen sowohl eine Radial- Ød
komponente ui,r als auch eine Umfangskomponente ui,ϕ 10 °C
(siehe Abbildung). Wenn das Laufrad von einer Welle mit T-Stück
der Winkelgeschwindigkeit ω angetrieben wird, ist hier- V
für ein bestimmtes Drehmoment erforderlich. Das Fluid
strömt aufgrund der Fliehkraft von innen nach außen
durch das Laufrad und erhält über die Schaufeln Dreh- Der Mischautomat mische dem Heißwasser von 70 ◦ C
impuls. aus dem Speicher Kaltwasser von 10 ◦ C zu, indem über
752 22 Strömungsmechanik – alles ist im Fluss
ein T-Stück vor Eintritt in den Speicher Wasser aus der Kaltwasserzumischung) an. Beachten Sie bei den jeweili-
Kaltwasserleitung am Speicher vorbei geführt wird. Alle gen Geschwindigkeiten die Kontinuitätsgleichung.
Rohrquerschnitte sind kreisförmig mit dem Innendurch-
messer d = 10 mm, die gerade Leitung vom T-Stück zum Resultat:
STB überwindet eine Höhe von h = 2,5 m. Die relative 1 2
Rauhigkeit ist k/d = 0,02. Die zur Rechnung notwendi- V̇K = V̇ = 0,1 L/s, V̇W = V̇ = 0,2 L/s,
3 3
gen ζ-Werte sind in der Skizze angegeben (sie wurden
h
zur Verdeutlichung des Berechnungswegs bewusst sehr λ = 0,0515, ζK = λ = 12,87, ΔpV = 55.910 Pa,
hoch gewählt) und beziehen sich beim T-Stück und beim d
Speicher auf die Rohrleitungsgeschwindigkeit am Ein- ζ TB1 = 5,23, ϑmin = 41 ◦ C.
tritt in das jeweilige Bauteil, beim STB bezieht der Wert
sich ausnahmsweise auf den Austritt (das ist einfacher 22.7 • • • Zustandsänderung über einer Stoßfront Be-
zu rechnen). Der Mischautomat im Kaltwasserstrang be- stimmen Sie mithilfe der Erhaltungssätze die Zustands-
sitzt einen Verlustbeiwert von mindestens 1 (offen) bis änderung über einer Stoßfront aus der Anströmmachzahl
unendlich (bei geschlossenem Mischer, wenn die WW- M1
Temperatur unter dem Maximalwert ist, d. h. kein Durch-
fluss). Im betrachteten Betriebsfall soll ein Volumenstrom 1. die Druckdifferenz über die Stoßfront in Abhängigkeit
V̇ = 0,3 l/s entnommen werden. Der STB wird auf eine von den Geschwindigkeiten und den Dichtewerten,
maximale Temperatur von 50 ◦ C eingestellt. Zur Ermitt- 2. das Druckverhältnis p2 /p1 , das Dichteverhältnis ρ2 /ρ1
lung von Rohrwiderstandszahlen bei turbulenter Strö- und das Temperaturverhältnis T2 /T1 ,
mung soll die Colebrook-Formel verwendet werden. Wei- 3. die Abströmmachzahl M2 und die Entropieerzeugung
tere gegebene Werte: Wasser: ρ = 1000 kg/m3 , kinemati- (s2 − s1 )/R.
sche Viskosität: ν = 1,0 · 10−6 m2 /s.
Hinweis: Bilanzieren Sie Masse, Energie und Impuls an
einem Kontrollvolumen, das nur die als sehr dünn ange-
Bestimmen Sie:
nommene Stoßzone enthält. Deren Volumen ist vernach-
1. den Volumenstrom V̇W aus dem WW-Behälter und lässigbar, genauso wie die Berührfläche des Kontrollvolu-
den vom Mischautomat zugemischten Kaltwasser- mens mit der Wand. Verwenden Sie beim Aufstellen des
strom V̇K , Impulssatzes unbedingt die Fünf-Schritte-Methode und
2. die Reynoldszahl, die Rohrwiderstandszahl λ und den berücksichtigen Sie die Zustandsgleichung idealer Gase
Verlustbeiwert ζ K in der Mischleitung, vor und nach der Stoßfront.
3. den Druckverlust ΔpV des Systems (Eintritt T-Stück bis
Austritt STB) und den Verlustbeiwert ζ TB1 des STB in Resultat:
Strömungsmechanik
diesem Betriebsfall,
4. die kleinstmögliche Temperatur ϑmin , auf die sich mit p2 − p1 = ρ1 u1 2 − ρ2 u2 2 ,
den gegebenen Werten der STB überhaupt einstellen p2 κ 2
= 1+2 M1 − 1 ,
lässt. Verwenden Sie hierbei (vereinfachend) die vorher p1 κ+1
berechnete Rohrwiderstandszahl λ. p 1 ρ1
M2 2 = M1 2 ,
p2 ρ 2
Hinweis: Setzen Sie die Bernoulli’sche Gleichung getrennt s2 − s1 1 p2 κ ρ1
= ln + ln .
für die beiden möglichen Strömungswege (Speicher und R κ−1 p1 κ−1 ρ2
Maschinenelemente/ Teil
Konstruktionslehre
V
Inhaltsverzeichnis
Maschinenelemente
753
Die technische Zeichnung –
die Sprache des Ingenieurs
23
Braucht man heute noch
eine technische Zeichnung?
Wie bemaße ich ein
Bauteil?
Was gehört alles auf die
technische Zeichnung?
Maschinenelemente
23.6 Darstellung von Normteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780
Antworten zu den Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781
Ingenieure haben gute Ideen für neue Produkte und Maschinen. Al-
lerdings kann kaum ein Ingenieur sein Produkt selber entwickeln, Kunde
fertigen und dann auch verkaufen. Er ist darauf angewiesen, seine
Ideen anderen eindeutig und vollständig mitzuteilen und zu erklä-
ren. Dabei muss er weltweit verstanden werden. Mit einer Skizze
oder einem Bild können technische Sachverhalte einfacher erklärt
werden als mit vielen Worten. Zumal eine verbale Erklärung ins-
besondere im Ausland meist nicht oder nur fehlerhaft verstanden Lieferant/
wird. Daher haben die Techniker mit der technischen Zeichnung ei- eigene Fertigung
ne eigene Sprache definiert, eine universelle Sprache, die weltweit
Abb. 23.1 Zielrichtungen für die technische Zeichnung
verstanden wird. Damit das funktioniert, sind genaue Konventionen
erforderlich. Es müssen Vokabeln und Regeln für die Grammatik de-
finiert werden. Hierbei kann ein einzelnes Maß für den Durchmesser
eines Drehteils mit einer Vokabel verglichen werden. Die Konventi- Zusätzlich zu diesen grundsätzlichen Zielrichtungen
on, dass ein Maß ohne weitere Angabe in mm definiert ist, steht für wird unterschieden, was dargestellt werden soll. Wir un-
eine Regel der Grammatik. Diese einheitlichen Konventionen sind in terscheiden:
internationalen und nationalen Normen niedergeschrieben. Indus-
triestaaten haben die verbindliche Übereinkunft, dass die Normen Einzelteilzeichnung (EZT) Sie enthält ein Einzelteil, ohne
den Stand der Technik repräsentieren und im nationalen und in- räumliche Zuordnung zu anderen Teilen, welches nicht
ternationalen Geschäft anzuwenden sind. Alle Unternehmen haben zerstörungsfrei weiter zerlegbar ist.
sich daran zu halten und müssen diese Sprache lernen. Die tech-
nische Zeichnung ist also weniger eine Fremdsprache als viel mehr
eine Universalsprache zur eindeutigen und vollständigen Beschrei- Zusammenbauzeichnung (ZSB) Auch Baugruppen-, Ge-
bung technischer Produkte. samt- oder Hauptzeichnung genannt. Sie zeigt die Anord-
nung und Wirksamkeit der Bauteile untereinander. Die
Zu Beginn wollen wir gemeinsam überlegen, welche Ele- ZSB wird mit der Stückliste verlinkt, oder die Stückliste
mente auf eine technische Zeichnung gehören. Welche wird direkt auf die ZSB gebracht. In der Stückliste werden
genauen Angaben muss der Ingenieur auf seiner Zeich- alle Einzelteile mit der genauen Bezeichnung und der ver-
nung machen, damit er verstanden wird? wendeten Anzahl aufgeführt. Auch werden die einzelnen
Bauteile eines Produktes in der ZSB durch Kennzeich-
Frage 23.1 nung mit Nummern für die Stückliste eindeutig identifi-
zierbar. So stellt die ZSB das zentrale Dokument für ein
Was gehört alles auf eine technische Zeichnung? Bitte Produkt dar. Insbesondere dient sie als Vorlage für die
nehmen Sie sich einen Zettel, überlegen selbst und schrei- Montage.
ben die einzelnen Punkte auf.
Strichstärken
Stückliste
Blattgrößen, Blattaufteilung
und Ansichten Schriftfeld Werkstoffe mit in einem definierten
normgerechter Maßstab
Zeichnungsnormen Bezeichnung
Schrauben
Bemaßung des Positionen
Werkstücks
Wärme- und
Oberflächenbehandlung technische Oberflächen
und Kanten Tolerierungsgrundsätze mögliche Abweichungen
Toleranzen und
Passungen
Kantenzustände geometrische
Maßtoleranzen
Produktspezifikationen
voneinander getrennt, gezeichnet werden. Ihre räumliche Bei der Blattaufteilung müssen Sie gleich zu Beginn über-
Zuordnung wird genau eingehalten. legen, welche Ansichten Sie nutzen. Die Zeichnung muss
zwei Grundregeln folgen:
Aber jetzt zurück zu unserer Aufgabe. In Abb. 23.2 ist das
Ergebnis der Gedankensammlung (Brainstorming siehe
auch Kap. 25) von Studierenden dargestellt. Dieses kön- Grundregeln zur Erstellung einer technischen Zeich-
nen Sie mit Ihrem Ergebnis vergleichen. nung
Betrachten wir uns das Ergebnis aus Abb. 23.2 einmal ⇒ Eindeutigkeit
genauer. Wir beginnen mit dem ersten Eintrag zum Zeich- ⇒ Vollständigkeit
nungsblatt. Als erstes muss eine Blattgröße ausgewählt
werden. Dazu nutzen wir genormte Größen. Ein Schrift-
feld zur genauen Kennzeichnung der Zeichnung muss Mit diesen Grundregeln lassen sich viele Fragen beant-
immer auf die Zeichnung, also fehlt uns dieser Platz zur worten. Für ein rotationssymmetrisches Bauteil reicht in
Darstellung des Werkstücks. Auch muss man an Maßan- der Regel eine Ansicht. Befindet sich im Drehteil auf einer
gaben und ergänzende Symbole denken. Also wählen Sie Seite eine Bohrung, kann für diese Bohrung entweder für
Maschinenelemente
die Blattgröße lieber zu groß als zu klein. Daher wird das den Durchmesser oder die Tiefe der Bohrung eine zweite
sonst übliche DIN-A4-Format für technische Zeichnun- Ansicht oder eine Schnittdarstellung sinnvoll sein. Ob es
gen meist nicht genutzt. tatsächlich erforderlich ist, müssen Sie entscheiden. Alle
Merkmale eines Bauteils müssen dargestellt werden, und
Und dann muss z. B. für eine Einzelteilzeichnung das durch z. B. eine doppelte Vermaßung darf die Zeichnung
Werkstück auf dem Blatt positioniert werden. Dafür müs- nicht überbestimmt werden. Die Zeichnung muss eindeu-
sen Sie einen Maßstab festlegen. Für kleinere Werkstücke, tig und vollständig sein!
geht es vielleicht noch 1:1, also 1 mm auf der Zeichnung
entspricht auch in der Wirklichkeit einem Millimeter. Ist das Werkstück auf dem Blatt positioniert, müssen al-
Konstruiert man Windenergieanlagen, Schiffe oder ein- le Maße für Längen, Breiten, Durchmesser, aber auch
fach nur große Maschinen, geht das nicht mehr. Dann für Positionen von z. B. Bohrungen vollständig eingetra-
muss das Bauteil entsprechend verkleinert dargestellt gen werden. Die Fertigung muss ablesen können, welche
werden. Nutzen Sie den Computer mit einer CAD-Soft- Maße das neue Produkt haben soll. Allerdings ist es
ware (Computer Aided Design) übernimmt das System nie möglich, ein Maß exakt zu fertigen. Der Fertigung
die Umrechnung. Zeichnen Sie von Hand, müssen Sie das muß Spielraum für Abweichungen gegeben werden. Dies
leider selber machen. passiert durch das Eintragen von Toleranzen. Diese müs-
758 23 Die technische Zeichnung – die Sprache des Ingenieurs
Normzahlen sind Hilfsmittel gegen die Vielfalt Tab. 23.1 Grundreihen, Stufensprünge und Hauptwerte
R5 R 10 R 20 R 40
√ √ √ √
q5 = 5 10 q10 = 10 10 q20 = 20 10 q40 = 40 10
Für die Blattgrößen nach DIN 323, Blatt 1 und 2 wie = 1,60 = 1,25 = 1,12 = 1,06
auch für viele andere Werte z. B. geometrische Abmessun- 1,00 1,00 1,00 1,00
gen, Längen, Breiten, Durchmesser, aber auch Leistungen
1,06
oder Baugrößen ist es nicht sinnvoll, beliebige Abstufun-
1,12 1,12
gen zuzulassen. Daher werden Vorzugszahlen definiert.
1,18
Für die Definition dieser Vorzugszahlen werden geome-
1,25 1,25 1,25
trische Reihen genutzt. Diese haben den Vorteil, dass sich
1,32
bei kleinen Werten feinere Abstufungen und bei großen
1,25 1,40
Werten gröbere Stufen ergeben. Das entspricht auch den
Anforderungen aus der Praxis. Bei der Lagerhaltung von 1,50
1,60 1,60 1,60 1,60
Schrauben in einer Werkstatt hält man in der Regel bei
den kleinen Abmessungen eine größere Anzahl von un- 1,70
terschiedlichen Schrauben vor als bei den großen Abmes- 1,80 1,80
sungen. 1,90
2,00 2,00 2,00
In Tab. 23.1 sind für die Grundreihen die Stufensprünge 2,12
und die Hauptwerte aufgeführt. Vollständige und gleich- 2,24 2,24
mäßige Grundreihen R x sind geometrische Reihen mit 2,36
x = 5, 10, 20 oder 40 Gliedern je Zehnerstufe und lauten: 2,50 2,50 2,50 2,50
R 5, R 10, R 20 und R 40, wobei der Buchstabe R für 2,65
den französischen Entwickler der Normzahlen Charles 2,80 2,80
Renard und die Ziffer für die Anzahl der Stufen je De- 3,00
zimalbereich stehen. Mit dem Stufensprung wird nach 3,15 3,15 3,15
DIN-Norm das Verhältnis eines Gliedes der Reihe zu sei- 3,35
nem vorhergehenden bezeichnet. Die Hauptwerte sind 3,55 3,55
gerundete Werte, die nur geringfügig von den genauen
3,75
Werten abweichen. Der genaue Wert für R 5 liegt zum 4,00 4,00 4,00 4,00
Beispiel bei 1,5849, gegenüber dem Hauptwert, „Ord-
4,25
nungsnummer 1“, von q15 = 1,60. Produkte und Quo- 4,50 4,50
tienten von Normzahlen sind wieder Normzahlen. Im 4,75
Anwendungsfall haben die groben Reihen Vorrang vor
5,00 5,00 5,00
den feineren Reihen. Anwendungsfälle sind z. B. das Ab-
5,30
stufen von Schrauben- und Gewindedurchmessern, die
5,60 5,60
Auswahl von Nenndurchmessern für Wälz- oder Kugel-
6,00
lager und Leistungsklassen von Motoren. Häufig werden
6,30 6,30 6,30 6,30
im Maschinenbau R 10 und R 20 verwendet. Rundwer-
6,70
treihen werden mit einem Strich gekennzeichnet. Wir
7,10 7,10
unterscheiden schwächer gerundete Werte (R’ 10, R’ 20,
7,50
R’ 40) und stärker gerundete Werte (R” 5, R” 10, R” 20).
8,00 8,00 8,00
Maschinenelemente
8,50
Berechnung der Stufensprünge 9,00 9,00
9,50
Unter der Wurzel steht als Basis die Zahl 10. Der Wur- 10 10 10 10
zelexponent richtet sich nach der Reihe, die auch die
Gliederanzahl angibt. Entsprechend besteht die Reihe R
5 aus 5 Gliedern im Dezimalbereich, also im Zehnerbe-
reich, gerechnet ohne Anfangsglied. Die Abstufung einer
Grundreihe R 5 erfolgt bei Dezimalbereichen über 10 Beispiel Normzahlen werden in der Praxis z. B. bei der
durch das Vervielfältigen der Hauptwerte mit einer Basis Auslegung einer Welle angewendet? Im ersten Schritt ei-
von 10; 100; 1000 usw. und bei Dezimalbereichen klei- ner Wellenberechnung erhält man exakten Wert für den
ner 1 durch das Multiplizieren mit 0,1; 0,01, also durch erforderlichen Wellendurchmesser. Dieser Wert kann z. B.
das Teilen der Hauptwerte durch 10, 100, 1000 usw. Die ∅ = 13,83 mm sein! Es ist nicht sinnvoll, in der techni-
Normzahlen in Tab. 23.1 entsprechen dem Dezimalbe- schen Zeichnung genau diese Dimension zu übernehmen.
reich von 1 bis 10. Sie sollten einen Wert festlegen, der etwas größer ist und
760 23 Die technische Zeichnung – die Sprache des Ingenieurs
Leitbeispiel Antriebsstrang
Eine KFZ-Getriebewelle aus dem Getriebe im Antriebsstrang
Eine Welle dient zur Übertragung von Drehmomenten. Verschieben der Zahnräder zueinander in Eingriff
In Fahrzeugen müssen zur optimalen Leistungsüber- gebracht werden. In der Abbildung ist die Zeich-
tragung die Drehmomente durch die Änderung der nung einer Getriebewelle für ein KFZ-Schaltgetriebe
Übersetzung an die Geschwindigkeit angepasst wer- dargestellt. Insbesondere die Verzahnungsdaten
den. Daher sind auf Wellen immer mehrere Zahnräder müssen in einer eigenen Tabelle zusammengefasst
angeordnet, die je nach geforderter Übersetzung durch werden.
Maschinenelemente
23.2 Das Finden der richtigen Blattgröße und die Nutzung von Zeichnungsnormen 761
Maschinenelemente
teil zu groß für die Zeichnung ist und eine maßstabsge- 1/ 2. Die Formate sind auch deshalb wichtig, damit man
treue Darstellung auch keinen Vorteil bringt. Daher kann auf DIN A 4 für die Ablage also auf Ordnergröße falten
man Werkstücke auch verkleinert darstellen. Der Faktor kann (Abb. 23.4).
unbeschnittenes Format
beschnittenes Format
Zeichenfläche
A2
Jetzt liegt ein leeres Blatt vor uns, und es könnte losge-
A1
hen mit den ersten Strichen. Jede technische Zeichnung
841
1 2 3 4
5 6 7 8 9 10
Abb. 23.5 Beispiel für ein Schriftfeld nach DIN EN ISO 7200
In Abb. 23.5 sehen Sie ein Beispiel für ein ausgefülltes tet werden, dass gerade bei elektronischer Datenver-
Schriftfeld. Im Einzelnen sind die folgenden Angaben waltung der zusätzliche Titel nicht immer ausgegeben
sinnvoll und empfohlen wird. Daher sollte der Titel des Produktes möglichst
1. Verantwortliche Abteilung: Hier wird der Name bzw. die für sich sprechen und das Produkt eindeutig kenn-
Bezeichnung der für die Erstellung und in der Regel zeichnen. Für Kfz gibt es oft Bauteile auf der rechten
auch für die Freigabe verantwortlichen Abteilung ein- und linken Seite des Fahrzeugs. Diese sind spiegelbild-
getragen. lich konstruiert, können sonst aber identisch sein. Zur
2. Technische Referenz: Das ist leider ein Begriff, der sich Identifikation sollte dann die Angabe der Seite im Titel
nicht so leicht selbst erklärt. Hier soll die Kontakt- mit angegeben werden (Beispiel: Spiegel links).
person, die über wesentliche Kenntnisse zum Produkt 8. Dokumentenstatus: Der Dokumentenstatus kennzeich-
verfügt und so Auskunft geben kann, aufgeführt wer- net die Phase im Produktlebenszyklus des Produktes.
den. In der Regel ist das der Projektleiter. Hier wird angegeben, ob es noch in der „Entwicklung“
3. Erstellt durch: z. B. der Konstrukteur oder technische ist oder bereits zur Beschaffung „freigegeben“ ist. Für
Zeichner, der die Zeichnung erstellt hat. diese Angabe müssen Sie sich am Standard des Unter-
4. Genehmigt von: Auch dieser Eintrag erklärt sich von nehmens orientieren.
selbst. Hier steht, wer die Zeichnung genehmigt bzw. 9. Zeichnungsnummer: Vergabe einer eindeutigen Zeich-
freigegeben hat. Meist ist das der Entwicklungslei- nungsnummer nach Unternehmensrichtlinie. Man un-
ter. Für den Konstrukteur muss klar sein, dass der terscheidet „sprechende Codes“, die durch eine Num-
Entwicklungsleiter die Zeichnung nicht mehr systema- mer eine Verknüpfung zu einer technischen Spezifi-
tisch kontrollieren kann. Die Zeichnung muss fehler- kation herstellen. Das kann z. B. die Kennzeichnung
frei zum Chef! Der Entwicklungsleiter kann die letzten eines Fahrzeugtyps sein. Eine Ziffer an erster Stelle
Änderungen bewerten, aber nie eine ganze Zeichnung der Zeichnungsnummer steht für die Zuordnung zu
auf Vollständigkeit und Eindeutigkeit prüfen. Gewöh- einem Fahrzeugtyp (1 = Offroad, 2 = Sportwagen, 3
nen Sie sich an dieser Schnittstelle eine hohes Maß usw.). Diese Kennzeichnung hat den Vorteil, dass bei
entsprechender Kenntnis der Codierung sofort klar ist,
Maschinenelemente
an Präzision an. Ein Ingenieur muss einen hohen An-
spruch an die eigenen Arbeitsergebnisse haben! um welches Fahrzeug es sich handelt. Die Alternative
5. Gesetzlicher Eigentümer: Hier sind das Logo und die ist einfach eine fortlaufende Nummerierung.
Bezeichnung des Unternehmens angegeben. Das Un- 10. Ergänzende Dokumenteninformationen: In unserem Bei-
ternehmen, also der Eigentümer der Zeichnung, ist spiel wird im Feld Änderung durch einen Buchstaben
auch der Inhaber der Urheberrechte an der Konstruk- der Änderungsstatus definiert. Meist wird dazu das
tion. Alphabet mit dem Änderungsstand hoch gesetzt (A,
6. Dokumentenart: Einteilung des Dokuments nach Unter- B, C, ...). Unter Ausgabedatum wird das Datum für
nehmensstandard. Diese Angabe ist wichtig, um das die erste offizielle Freigabe der Zeichnung verstan-
Dokument in der Ablage der Zeichnungen zu identifi- den. Mit einem Hochsetzen des Änderungsindex wird
zieren. auch das Datum aktualisiert. Das Datum ist wesent-
7. Titel, und zusätzlicher Titel: Hier erhält das Produkt ei- lich für das Anmelden von Schutzrechten (Patente,
ne eindeutige Kennzeichnung mit einer ergänzenden Gebrauchsmuster etc.). Mit Spr. wird die verwendete
Beschreibung. Hier kann es sich um die Angabe einer Sprache angegeben und mit Blatt die laufende Seiten-
Norm oder einer Einbaulage handeln. Es muss beach- zahl und ergänzend die Gesamtseitenzahl.
764 23 Die technische Zeichnung – die Sprache des Ingenieurs
Im oberen rechten Feld ist noch der Maßstab M 1 : 1 ein- Tab. 23.4 Linienarten nach EN ISO 128-20:2001(D) (Auszug)
zutragen. Nach der Norm EN ISO 7200:2004 (D) sind die Nr Darstellung Benennung
Angabe des gesetzlichen Eigentümers, der Sachnummer, 01 Volllinie
des Ausgabedatums, der Blattnummer, des Titels, der 02 Strichlinie
genehmigenden Person, des Erstellers und der Dokumen- 03 Strich-Abstandslinie
tenart zwingend. Alle anderen Angaben sind optional. 04 Strich-Punktlinie (langer Strich)
Die Angabe des Erstellers und des Leiters der freigegeben 10 Strich-Punktlinie
hat, ist wichtig, da die Bearbeiter eines solchen Projekts 12 Strich-Zweipunktlinie (langer Strich)
bei Durchgriff der Produkthaftung verantwortlich sind.
Tab. 23.5 Linienarten und Anwendungen nach EN ISO 128-24:1999-12 (Aus-
zug)
Linie Anwendung
Linien und Punkte werden nach DIN EN Nr Benennung,
ISO 128-20 und DIN ISO 128-24 gestaltet Darstellung
01.1 Volllinie, schmal .1 Lichtkanten
.2 Maßlinien
Unbestritten besteht eine Zeichnung aus Linien und .3 Maßhilfslinien
Punkten, die gezeichnet werden müssen. An dieser Stelle .4 Hinweis und Bezugslinien
.5 Schraffuren
soll die Frage besprochen werden, ob man das manu- ...
ell oder mit dem Computer lernen sollte. Studierende 01.1 Freihandlinie, schmal .18 Begrenzungen von Teil- oder
werden sich diese Frage nicht stellen, da sie einer entspre- unterbrochenen Ansichten und
chenden Vorgabe folgen müssen. Trotzdem wollen wir an Schnitten
dieser Stelle Verständnis für die Entscheidung „pro“ ma- 01.2 Volllinie, breit .1 Sichtbare Kanten
nuelles Zeichnen schaffen: .2 Sichtbare Umrisse
.3 Gewindespitzen
...
Computer Aided Design (CAD) vs. Zeichenbrett .6 Systemlinien (Metallbau-Kon-
struktionen)
Zum Einstieg in das technische Zeichnen stellt sich .5 Schraffuren
immer auch die Frage: Wann starte ich mit dem ...
Computer? Heute ist es in allen Bereichen Stan- 02.1 Strichlinie, schmal .1 Verdeckte Kanten
dard, die technische Zeichnung mittels CAD am .2 Verdeckte Umrisse
04.1 Strich-Punktlinie .1 Mittellinien
Computer zu erstellen. Vieles ist automatisiert, Än- (langer Strich), schmal .2 Symmetrielinien
derungen sind in Sekunden durchgeführt, und die .3 Teilkreise von Verzahnungen
Symbole, Linien und Werkstücke werden nahezu .4 Lochkreise
perfekt und sauber dargestellt. Insbesondere müs-
sen die Werkstücke selbst nicht mehr gezeichnet
werden. Diese werden vom dreidimensionalen Mo- Die gute Nachricht ist, dass heute nicht mehr mit Tusche
dell „abgeleitet“. Eigentlich geht alles viel einfacher gezeichnet wird. Es reicht eine Bleistiftzeichnung. Zur Er-
als von Hand. Aber: Zum Einstieg in das Studi- füllung der Forderung nach den richtigen Strichstärken
um sind oft die Kenntnisse zum professionellen reicht die Investition in Druckbleistifte mit den entspre-
Einsatz des Rechners, zur Verwendung technischer chenden Minenstärken.
Software und das drei-dimensionales Vorstellungs-
Maschinenelemente
vermögen nicht ausreichend! Eine gute technische Wie sieht eine Linie aus? Dazu gibt die Norm DIN EN
Zeichnung folgt den Regeln: Eindeutigkeit und Voll- ISO 128-20 eine Definition: „Geometrisches Gestaltungs-
ständigkeit! Dazu braucht man kein CAD. Es besteht element mit einer Länge > 0,5× Linienbreite, das einen
die große Gefahr, dass Einsteiger mehr nach den Anfangspunkt und einen Endpunkt in beliebiger Weise
richtigen Knöpfen suchen, als sich Gedanken über verbindet“. Es geht also um die Linienbreite und um die
eine sinnvolle Blattaufteilung zu machen. Daher ist Länge, aber auch um die Art der Linie. Es werden ver-
die Empfehlung, und so praktizieren es auch viele schiedenste Linienarten wie die Volllinie, die Strichlinie
Universitäten und Hochschulen, erst das manuel- oder die Strichpunktlinie unterschieden. Die Linienarten
le Zeichnen und dann in einem zweiten Schritt die sind nach Norm durchnummeriert. In Tab. 23.4 ist ein
Nutzung des CADs zur Erstellung von 3D-Model- Auszug aus der Norm mit gebräuchlichen Linienarten
len und in einem dritten Schritt die Ableitung der dargestellt.
2D-Zeichnung zu lernen. Daher ist auch die Kennt-
Die in Tab. 23.4 angegebenen Linienarten werden nach
nis der richtigen Strichstärke wichtig.
DIN ISO 128-24 bestimmten Anwendungen zugeordnet.
Diese finden Sie in Tab. 23.5. Auf die Anwendungen in der
23.2 Das Finden der richtigen Blattgröße und die Nutzung von Zeichnungsnormen 765
Tab. 23.6 Zuordnung von Liniengruppen und Linienbreiten nach DIN ISO 128-
24 (Vorzugsliniengruppen sind in fett gekennzeichnet, Maße in mm)
Linienbreiten für die Linien mit
den Kennzahlen
Liniengruppen 01.2–02.2–04.2 01.1–02.1–04.1–05.1
0,25 0,25 0,13
0,35 0,35 0,18
0,5 0,5 0,25
Abb. 23.6 ISO Normschrift Typ B
0,7 0,7 0,35
1 1 0,5
1,4 1,4 0,7
2 2 1 3. Verfassen Sie die Texte einheitlich in Größe und Form.
4. Schreiben Sie leserlich und so, dass auch eine Kopie
noch gut zu erkennen ist. Dafür müssen Sie auf eine
gleichmäßige Strichstärke achten.
letzten Spalte gehen wir jeweils noch im Detail ein. Hier
ist es wichtig, dass man lernt, dass es für jedes Detail eine
definierte Linienart mit der entsprechenden Strichstärke Wenn Sie insgesamt sauber und ordentlich arbeiten, ist
gibt. Dies erleichtert das Lesen komplexer Zeichnungen das für die manuelle Zeichnung ausreichend. Die früher
und ist daher auch sehr wichtig. Erstellen Sie eine Zeich- übliche Verwendung einer Schriftschablone ist nicht er-
nung von Hand, müssen Sie so sauber zeichnen, dass die forderlich.
unterschiedlichen Linienarten erkennbar sind. Ordnung
und Sauberkeit sind bei der Erstellung einer technischen
Zeichnung sehr wichtig.
Alle Einzelteile werden in der Stückliste
Als Letztes müssen wir uns jetzt mit den Linienbreiten
befassen. Nach DIN ISO 128-24 sind einzelne Liniengrup-
zusammengefasst
pen definiert. Je nach Art, Größe und Maßstab muss eine
Liniengruppe ausgewählt werden. Vorzugsliniengruppen Die Stückliste ist ein wesentliches Dokument zur Verwal-
sind: Liniengruppe 0,5 und 0,7. Für die Zeichnungsforma- tung und zum Umgang mit den Einzelteilen einer Bau-
te A2–A4 empfehlen wir die Liniengruppe 0,5 und für gruppe. In der Stückliste werden die Einzelteile detailliert
Formate A1 die Liniengruppe 0,7. Mit „d“ wird die beschrieben und mit einer eindeutigen Positionsnum-
Breite der Linie und damit die Liniengruppe angegeben. mer gekennzeichnet. Die Positionsnummer wird parallel
In Tab. 23.6 sind die Linienbreiten aufgeführt. auch in der ZSB-Zeichnung aufgeführt und gewährleis-
tet durch eine eindeutige Verlinkung mit einem Pfeil o.
ä. zum jeweiligen Einzelteil die korrekte Verbindung vom
Einzeilteil zur Beschreibung in der Stückliste. Zielsetzung
Die Schrift auf der technischen Zeichnung ist dabei, dass mit der Stückliste die Einzelteile einer
Baugruppe eingekauft werden können. Daher sind für
Es gibt umfangreiche Normen zur Darstellung von Schrif- Normteile die vollständigen Normbezeichnungen in der
ten auf der technischen Zeichnung. In DIN EN ISO 3098 ff Stückliste aufgeführt. So kann nach der entsprechenden
werden Größe, Schriftart und alle Details genau beschrie- Norm ein Bauteil wie eine Schraube, ein Stift oder auch ei-
ben. Hier machen wir es uns sehr einfach. Wir verweisen ne Feder eindeutig bestellt werden. Zu den Angaben auf
der Stückliste gehören:
Maschinenelemente
auf den Computer. Die klassische Normschrift muss man
heute nicht mehr lernen. Sie können die Details in der
1. Kennzeichnung der Einzelteile mit Positionsnum-
Norm DIN EN ISO 3098 ff nachlesen und entsprechend
mern, deren Endziffern mit der jeweiligen Zeich-
darauf achten, dass Sie auch am Computer diese Schriftar-
nungsnummer übereinstimmen sollten,
ten verwenden und so ein sauberes und einheitliches Bild
2. Stückzahl bzw. Menge mit Angabe der Einheit,
erzeugen. Für die Zeichnung von Hand muss das nicht
3. die Benennung des Bauteils (stets in Einzahl angege-
mehr trainiert werden. Trotzdem gibt es Vorgaben, an die
ben),
Sie sich auch beim manuellen Zeichnen halten sollten:
4. die Sachnummer/Norm-Kurzbezeichnung: Hier wird
die Zeichnungsnummer bzw. die Norm mit normge-
1. Die Abstände zwischen den Schriftzeichen sollen zwei
rechten Größenangaben aufgeführt.
Linienbreiten betragen. Beim Zusammentreffen be-
stimmter Schriftzeichen (z. B. LA, TV, Tr) darf der
Abstand auf eine Linienbreite verringert werden. Untergeordnete Baugruppen mit eigener Stückliste wer-
2. Verwenden Sie eine Druckschrift, die sich an der den wie ein Teil behandelt und entsprechend auf der
Normschrift orientiert (Abb. 23.6). Stückliste aufgeführt. Generell kann die Stückliste auf
766 23 Die technische Zeichnung – die Sprache des Ingenieurs
der ZSB-Zeichnung über dem Schriftfeld aufgeführt wer- re Zeichen mit z. B. doppelter Schriftgröße darzustel-
den. Es ist aber auch möglich, diese auf einem separaten len.
Schriftstück im Format DIN A4 zu führen. Das hat den
Vorteil, dass die Stückliste einfach separat ausgedruckt
und verwaltet werden kann. Oftmals geschieht das auch
in anderen Software-Systemen, sodass die Stückliste gar Wie werden Änderungen verfolgt?
nicht oder nur mit hohem Aufwand auf die ZSB-Zeich-
nung übernommen werden kann. Hier ist darauf zu ach- Bereits Heraklit von Ephesus (etwa 540–480 v. Chr.) ge-
ten, dass der manuelle Aufwand beim Einpflegen von wann die Erkenntnis dass „Nichts so beständig ist wie der
Änderungen möglichst gering ist. Die Stückliste bezieht Wandel“.
sich in beiden Varianten immer auf die zugehörige Dar-
stellung in der Zusammenbauzeichnung (ZSB). In einem technischen Entwicklungsprozess sind Ände-
rungen in allen Phasen möglich, wenn nicht sogar üblich.
In Abb. 23.7 ist eine Stückliste und in Abb. 23.8 ein
In der Regel sind Änderungen für eine Entwicklung hin-
Ausschnitt einer ZSB-Zeichnung mit entsprechenden Po-
derlich und werfen Probleme und Mehrarbeit auf. Da
sitionsnummern dargestellt. Die Positionsnummern sol-
Änderungen aber nicht vermeidbar sind, geben wir hier
len sich nach DIN EN ISO 6433 deutlich abheben und
sind daher entweder zu umkreisen oder durch größe- Hinweise für den Umgang mit Änderungen:
Maschinenelemente
hängt es von der vertraglichen Vereinbarung ab, ob die uns an die Grundregeln zur Erstellung einer technischen
damit verbundenen Kosten beim Kunden oder beim Zeichnung erinnern:
Lieferanten liegen.
3. Da mit Änderungen immer auch Kosten verbunden Frage 23.2
sind, müssen die Änderungen dokumentiert werden. Nennen Sie die Grundregeln für eine technische Zeich-
Für unsere Stückliste heißt das, dass ein entfallendes nung!
Einzelteil nicht aus der Liste gelöscht wird, sondern
nur gestrichen. So ist später nachzuvollziehen, dass
es das Bauteil einmal gegeben hat, und dass es durch Wenn man aus einer Richtung auf eine Tasse blickt,
eine Änderung entfallen ist. Wenn allerding die Stück- kann man nicht zweifelsfrei erkennen, ob die Tasse einen
liste zu lang und zu unübersichtlich wird, kann ein Henkel hat. Mit diesem einfachen Beispiel kann man
neuer Zeichnungsstand generiert werden, in dem man nachvollziehen, dass man meist mehrere Ansichten zur
bei null anfängt. Die alte Zeichnung unterliegt jedoch Darstellung eines Körpers braucht. Brauchen wir denn
weiterhin der Dokumentationspflicht und darf nicht eine zweite Ansicht, wenn die Tasse keinen Henkel hat?
vernichtet bzw. gelöscht werden. Nein! Durch die Anwendung der Grundregel der Voll-
4. Änderungen bringen einen neuen Freigabestatus der ständigkeit, ist bei der Darstellung nur einer Ansicht klar,
Zeichnung mit sich. Daher ist dieser auch mit einer ein- dass auf der Rückseite kein Henkel sein kann. Wenn dort
heitlichen Kennzeichnung verbunden. Hier hängt es einer wäre, müsste dieser auch auf einer entsprechenden
vom Nummernsystem des Unternehmens ab, wie die- Ansicht zu sehen sein. Gerade für rotationssymmetrische
ser aussieht. Oft wird ein Änderungsindex eindeutig Bauteile ist häufig nur eine Ansicht erforderlich.
über das Datum der Änderung identifiziert. Es kann
aber auch hinter der Zeichnungsnummer ein Klein-
buchstabe hochgesetzt werden a, b, c, . . .
Durch verschiedene Projektionsarten nach
DIN ISO 5456-2 können Werkstücke eindeutig
Auf der Zeichnung kann auch eine eigene Tabelle für eine dargestellt werden
eindeutige Verbindung von Änderungsindex und Ände-
rung aufgeführt werden. In kurzen Stichpunkten wird
hinter dem vergebenen Änderungsindex die Änderung Jetzt sollen dreidimensionale Körper dargestellt wer-
beschrieben. Dies erleichtert den Umgang mit den ein- den. Dies erklären wir an dem Kopf eines Hammers
zelnen Zeichnungsständen. Es ist auch wichtig, dass eine (Abb. 23.9). Im Weiteren werden wir dann die Wahl der
geänderte Zeichnung den Freigabeprozess erneut durch- Ansichten und der Blattaufteilung zur Erstellung der Ein-
laufen muss. Der Entwicklungsleiter muss die Zeichnung zelteilzeichnung besprechen.
freigeben, und Einkauf, Projektleitung und die Fertigung Der Einstieg in die Modellierung, also die geometrische
müssen zeitnah über den neuen Stand informiert werden. Gestaltung eines neuen Produktes, startet am besten mit
Wird dieser nicht sauber geführt, sind schnell mehrere einer Handskizze. Mit Papier und Bleistift ist es viel ein-
aktuelle Zeichnungen im Unternehmen „unterwegs“. Ho- facher, kreativ zu sein. Über das Wie muss man sich keine
he Fehlerkosten können die Folge sein. Daher werden Gedanken machen. Eine Skizze kann jeder erstellen. Und
heute meist die Zeichnungsstände durch eine Datenbank- mit etwas Übung sind auch räumliche Darstellungen wie
verwaltung, ein sogenanntes Produktdatenmanagement
(PDM-System), gepflegt. Der gesamte Freigabeprozess er-
folgt gestützt durch die EDV und kann durch gezielt
Maschinenelemente
angeordnete Terminals mit unterschiedlichen Zugriffs-
rechten im Unternehmen verfolgt werden.
Z
Maschinenelemente
X
Y X
42°
30°
30°
Y
7°
Draufsicht
Maßstab: 1:1
Projektionsmethoden erzeugt
Maschinenelemente
Raum ist die Projektionsmethode 1 üblich. Wie die Lage H 3d
der Ansichten der Körper aus der Vorderansicht abge- b Projektionsmethode 1 c Projektionsmethode 3
leitet werden, ist in Abb. 23.14a zu sehen. Um die linke
Seitenansicht zu erhalten, blickt man von rechts auf den Abb. 23.14 Projektionsmethoden 1 und 3 mit Darstellung der Symbole
zur Kennzeichnung auf der Zeichnung: a Projektionsmethode 1 nach DIN
Körper, der in der Vorderansicht dargestellt ist. Für die ISO 5456-2; b Projektionsmethode 1; c Projektionsmethode 3
rechte Seitenansicht blickt man dann von der linken Sei-
te nach rechts. In beiden Fällen wird die Ansicht dann
in Blickrichtung auf die Blattebene gekippt bzw. gedreht.
Das ist in Abb. 23.14a gut zu erkennen. Analog kippt man tenansicht eindeutig kennzeichnet, in welche Richtung
die Draufsicht von unten nach oben und entsprechend die der Kegelstumpf geklappt wird, um die richtige Darstel-
Untersicht von oben nach unten. Zur eindeutigen Kenn- lung mit zwei sichtbaren Kreisen für die Körperkanten
zeichnung, welche Projektionsmethode verwendet wird, zu erzeugen (Abb. 23.14b). Die Linienbreite d, sowie Län-
muss in der Nähe des Schriftfelds ein Symbol nach DIN ge und Durchmesser des breiteren Endes des Kegels H
ISO 5456-2 eingetragen werden. Das Symbol besteht aus werden abhängig von der Schriftgröße bemessen. Es gilt:
der Vorderansicht eines Kegelstumpfes, der in der Sei- d = h/10 und H = 2h.
770 23 Die technische Zeichnung – die Sprache des Ingenieurs
Ø20
lien Anwendung. Durch Angabe des Symbols erhält man
den eindeutigen Hinweis, welche Methode zur Erstellung
der Zeichnung gewählt wurde.