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Psychologie Heute Juli 07 2016
Psychologie Heute Juli 07 2016
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PsychotheraPie
Wird ihre Wirkung
überschätzt?
juli 2016
aha-MoMente
Lösungen aus
heiterem Himmel?
FussballFans
Warum sie singen
Mut zur
unsicherheit
Die Kunst, in bewegten Zeiten die Balance zu halten
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Junfermann
Liebe Leserin, lieber Leser
L
eben wir heute in einer besonders unsicheren jungen Menschen zeigte. Oder sie veranlassen
Zeit, oder würden Sie sagen, vor 20, 30 Jahren verunsicherte Bürger, bei Wahlen ihre Stimme ext-
war alles genauso unsicher?“ Diese Frage stellt remen Parteien zu geben.
das Institut für Demoskopie Allensbach regelmäßig Was uns in Zeiten der Verunsicherung wirklich
einer repräsentativen Auswahl der deutschen Bevöl- vor unserem „katastrophischen Gehirn“ schützt, ist
kerung. Im Jahr 2011 waren 44 Prozent der Befragten Ambiguitätstoleranz. Also die Fähigkeit, Unsicher-
der Ansicht: „Ja, die Zeiten sind unsicherer als frü- heit nicht nur auszuhalten, sondern auch konstruk-
her.“ 2015 lag der Anteil der Verunsicherten schon tiv mit ihr umzugehen. Wer ambiguitätstolerant ist,
bei 58 Prozent. Gesunken ist hingegen der Prozent- neigt nicht zum Schwarzweißdenken und kann Wi-
satz derjenigen, die mit Hoffnung in die Zukunft dersprüche aushalten. Vor allem aber sieht er nicht
sehen: Zur Jahreswende 2014/15 waren noch 56 Pro- nur die Risiken der Unsicherheit, sondern auch ihre
zent optimistisch, ein Jahr später blickten nur noch Chancen: Wer sich ins „Unbekannt-Land“ wagt,
41 Prozent zuversichtlich nach vorne. macht unter Umständen spannende Entdeckungen.
Zweifellos sind diese Daten vor allem von der Auf jeden Fall entwickelt er sich weiter.
Flüchtlingskrise beeinflusst. Die Deutschen sind Wer dagegen auf Nummer sicher gehen will, sollte
verunsichert, und das ist angesichts der radikalen wissen, woher diese Redewendung kommt: aus dem
Veränderungen durchaus verständlich. Denn der Gefängnis. Dort sind die Zellen numeriert, und wer
Mensch ist grundsätzlich kein Freund von Unsicher- dort eingesperrt ist, sitzt sicher. Wer heute schon wis-
heit und Ungewissheit. Die Abneigung gegen das sen will, was morgen sein wird, lernt die Chancen
Unbekannte ist ein evolutionäres Erbe – das mensch- der Unsicherheit nie kennen. Dafür ist er sicher. So
liche Gehirn rechnet immer mit dem Schlimmsten. sicher, wie man in einer Gefängniszelle nur sein kann.
Schließlich musste es in unendlich langen Zeiträu-
men vor allem als Gefahrensensor funktionieren:
Feinde aller Art waren rechtzeitig zu entdecken und
abzuwehren. Auch heute noch schlägt unser Gehirn
in unvertrauten Lebenslagen Alarm – oder signali-
siert zumindest: „Vorsicht!“
Wie stark wir darauf reagieren, ist individuell
unterschiedlich und hängt natürlich auch von den
Umständen ab. Sind diese in besonderer Weise ver-
unsichernd – wie das gegenwärtig der Fall ist –, wird
unser Bedürfnis nach „kognitiver Geschlossenheit“
größer. Vor 25 Jahren hat der Sozialpsychologe Arie
Kruglanski das vielbeachtete Konzept need for clo-
sure vorgelegt, das er als das „Verlangen nach einer
definitiven Antwort, irgendeiner Antwort anstelle
von Verwirrung und Ambiguität“ beschreibt (Seite
18). In politisch unklaren Zeiten, in privaten oder u.nuber@beltz.de
TITEL
12 Im Fokus:
„Ihr könnt nach Hause fahrn!“
Bei der Fußball-EM werden hoffentlich
packende Spiele geboten – und originelle
Gesangseinlagen! Der Musikpsychologe
Reinhard Kopiez hat Fangesänge analysiert
64 Ausgerechnet im Urlaub!
Wir haben uns so auf die Ferien gefreut –
und dann kommt das Fieber!
Von Jörg Zittlau
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DOSSI
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DOSSIER BERUEFN
LEB
36 Tagelang grübelt man
über einem Problem.
Und dann, von einem Moment
70 Trugbild Traumjob
Wenn die Arbeit nervt, träumen viele von
auf den anderen, hat man die
einer neuen Tätigkeit. Doch der Wechsel ist
Lösung plötzlich vor Augen.
eine Enttäuschung. Woran liegt das?
Was hat es mit diesen magi-
Von Anne Otto
schen Aha-Momenten auf sich?
Fest steht: Die vermeintlichen
Geistesblitze werden im Kopf
sorgfältig vorbereitet RUBRIKEN
16 Therapiestunde
Wenn der Schmerz sprechen könnte
Von Andreas Knuf
78 Pehnts Alltag
Meine heiligen Schriften
Von Annette Pehnt
3 Editorial
6 Themen&Trends
52 Körper&Seele
57 Schilling&Blum: Irgendwas mit Menschen
Wer solche
Einige meiner besten Freunde sind … Freunde hat,
kann doch
Pegida-Vordenker Lutz Bachmann will nicht in der ne Abscheu gegen Asiaten; von denen habe er „die keine Vorurteile
haben.
rechten Ecke stehen. „Ich habe einen türkischen Trau- Nase voll“, schrieb er. Mehr als 450 Amerikaner eu- Oder doch?
zeugen und viele muslimische Freunde“, zitiert ihn ropäischer oder asiatischer Herkunft begutachteten
das Handelsblatt. Bachmann ist nicht der Einzige, das Profil eingehend. Alle Probanden betrachteten
der sich so gegen Kritik absichert. Die sozialen Netz- ein Foto des jungen Mannes Arm in Arm mit einigen
werke quellen über von ähnlichen Disclaimern. Nicht Freunden. Der Clou: Die Psychologen variierten sys-
selten jedoch folgt dem Verweis auf einige Muslime, tematisch deren ethnische Zusammensetzung. Mal
Juden, Schwule oder andere Minderheiten im Be- waren alle hellhäutig, mal hatte sich ein Asiate mit
kanntenkreis die pauschale Abwertung einer großen aufs Foto gemogelt; und in einer dritten Variante war
Gruppe von Menschen. „Die“ sind nämlich grund- ein bunt gemischter Haufen zu sehen.
sätzlich Terroristen, geldgeil oder pervers. Und tatsächlich: Je mehr Asiaten unter den Freun-
Paradoxerweise wollen die, die so etwas sagen, den waren, desto weniger rassistisch wirkte die ab-
trotzdem nicht als rassistisch, antisemitisch oder ho- lehnende Aussage. Das galt sowohl für asiatischstäm-
mophob dastehen. Die Frage ist nun: Gelingt ihnen mige Amerikaner als auch für solche mit europäi-
das? Ja, sagen Psychologen um Michael Thai von der schen Vorfahren. Wohlgemerkt: Die Äußerung selbst
Universität von Queensland in Brisbane. Denn tat- war ein Sprache gewordenes Vorurteil. Wie Thai in
sächlich verschafft der Verweis auf Minderheiten im einer weiteren Studie belegte, braucht es für diesen
Freundeskreis einigen Kredit. Dieser Vorschuss er- Effekt nicht mal ein Beweisfoto. Auch die bloße Be-
laubt es, Vorurteile zu äußern – ohne dass sie mit hauptung asiatischer Freunde reichte aus.
voller Wucht auf den Urheber zurückfallen.
Für seine Untersuchung erstellte Thai ein Profil
im sozialen Netzwerk Facebook. Dort präsentierte Michael Thai u.a.: Friends with moral credentials: Minority friendships re-
sich ein junger hellhäutiger Mann namens Jake Mil- duce attributions of racism for majority group members who make concei-
vably racist statements. Social Psychological and Personality Science, 7/3,
ler. Offenbar hegte dieser Jake Miller eine allgemei- 2016, 272–280. DOI: 10.1177/1948550615624140
DOI: 10.3389/fpsyg.2016.00368
DOI: 10.1080/00224499.2015.1023427
Edward Paul Lemay, Suad Razzak: Perceived acceptance from outsiders shapes security in
romantic relationships: The overgeneralization of extradyadic experiences. Personality and
Social Psychology Bulletin, 2016, online vor Print. DOI: 10.1177/0146167216637844
Rachel B. Thibodeau u.a.: The effects of fantastical pretend-play on the development of exe-
cutive functions: An intervention study. Journal of Experimental Child Psychology, 145, 2016,
120–138. DOI: 10.1016/j.jecp.2016.01.001
Charakterfrage
Extravertierte stehen Großraum-
büros weniger negativ gegenüber;
sie sitzen am liebsten mit zwei bis Gestaltungsbonus
sechs Personen zusammen. Intro- Wer sich sein Büro aussuchen kann, sollte
vertierte wünschen sich häufiger auf Deckenhöhe und Fenster achten:
ein Einzelbüro, sehnen sich nach Bewusst wahrgenommene hohe Räume
Ruheräumen und sind weniger sollen eine abstrakte Informationsverar-
glücklich in einer Umgebung, in beitung und damit kreative Gedanken
der mehr Menschen arbeiten. fördern; Tageslicht am Arbeitsplatz führt
Die Quellen zu dieser Infografik finden Sie auf unserer Website: www.psychologie-heute.de/literatur. Illustration: Frank Maier, Text: Eva-Maria Träger
Freiraum ARBEITSEINHEIT
Über seinen Schreibtisch
Rund 17 Millionen Deutsche verdienen ihr Geld im Büro.
selbst bestimmen zu dür-
fen fördert die Arbeitszu- So unterschiedlich ihre Jobs sein können –
friedenheit: Persönliche die Umgebung ähnelt sich: fünf Erkenntnisse
Dinge wie Modellautos
oder Fotos bieten Anlässe zum Arbeitsalltag zwischen Schreibtischen
für Gespräche und Kon-
takt mit Kollegen und
Kunden. Zudem erinnern
sie die Besitzer an private
Ziele und sorgen so für
effizienteres Arbeiten.
Bürolandschaft
Zimmerpflanzen mag nicht jeder.
Aber: Im Büro machen sie sich gut.
In so begrünten Räumen empfinden
Mitarbeiter die Luft als besser,
sie fühlen sich konzentrierter, sind
produktiver und zufriedener mit
ihrer Arbeit.
Melodie muss man erst einmal erlernen. Das heißt Der echte Trompeten war ein Fürst ausgestattet, wenn er genug
jede Woche üben, weil die Fans ja quasi ein Gesangs- Fan geht Geld hatte. Man zog in den Krieg mit Pauken und
verein ohne Notenbuch sind. Durchschnittlich haben Trompeten. Das ist die musikalische Königsklasse.
nicht zur
die Vereine etwa 70 bis 100 Gesänge, die gepflegt wer- Und das Fußvolk muss singen.
Erholung
den müssen. Das ist eine respektable Leistung für Ehrlich gesagt, das ganze Umfeld eines Fußball-
eine mündliche Kulturform. ins Stadion, spiels mit Trommeln, Fahnen und bemalten Ge-
Sind Fangesänge die neuen Volkslieder? er ist immer sichtern mutet doch recht eigentümlich an.
Ich würde sagen: „jein“. Sie könnten vielleicht mal gefordert Alle Phänomene, die über einen langen Zeitraum
auch wie ein Volkslied gesungen werden. Aber in der eine so hohe Resonanz erzielen, müssen etwas haben,
Regel sind sie im Gegensatz zu den alten Volksliedern was sehr archaische Instinkte in uns anregt. Sonst
an einen Ort gebunden. Was aus der populären Mu- wären sie schnell wieder verschwunden. Einen Er-
sik in die Stadien einsickert, durchläuft sorgfältige klärungsversuch bietet der Bezug zum Ritual. Die
Auswahlprozesse, die nicht transparent sind. Es wird Anthropologie würde sagen, ein Ritual ist alles, was
etwas ausprobiert, was man gehört hat, und auf der nicht alltäglich ist und wiederholt wird. Das Nicht-
langen Bus- oder Bahnfahrt zum Stadion werden die alltägliche ist schon der Ort, den man aufsuchen muss.
Texte geübt. Der ist außerhalb, da muss man hinfahren, das kos-
Wer darf denn ausprobieren? tet Geld und Zeit. Wir treten aus dem Alltag heraus
Bestimmte Personen dürfen das, solche, die sponta- in eine besondere Situation. Und die richtigen Fans,
ne Ideen für neue Texte haben. Entweder werden sie nicht die in den Sitzschalen, sondern die auf den
sofort angenommen oder gleich verworfen. Die Tex- Stehplätzen, haben eine nicht alltägliche Kleidung,
ter haben einen bestimmten Status innerhalb der die Kutte. Eine nicht alltägliche Bewegung, das ist
Gruppe, sind besonders treue Fans oder haben eine das Tanzen, Singen und Klatschen. Und das zugehö-
lautstarke Stimme. Aber bisher ist nicht ganz durch- rige Getränk, das Narkotikum, ist das Bier. Mit die-
schaubar, nach welchen Regeln die Suche verläuft. sen drei Komponenten, Narkotikum, Tanz und Mas-
Die singenden Fans sind während des gesamten ke, sind wir schon ziemlich dicht an dem dran, was
Spiels gefordert, nicht wahr? man in vielen Kulturen beobachten kann, wenn Men-
Sie müssen höllisch aufpassen, weil ständig etwas schen Entgrenzungserfahrungen aufsuchen. Es gibt
Neues passiert. Wir haben ausgerechnet, dass alle eine Sehnsucht nach Deindividualisierung, also da-
neunzig Sekunden irgendeine neue Aktion auf dem nach, in der großen Masse aufzugehen. Das weiß
Feld startet. Wenn eine Singaktion vierzig Sekunden man, wenn man einmal in Dortmund in der Kurve
dauert, hat man bis zum nächsten Einsatz nur eine gestanden hat. Gustave Le Bon hat ja in der Psycho-
kurze Pause zum Luftholen. Der richtige Fan geht logie der Massen beschrieben, wie das funktioniert
nicht zur Erholung ins Stadion, er ist immer gefor- (siehe auch „Im Fokus“, Heft 6/2016). Menschen ver-
dert und muss ständig etwas beitragen. Das führt spüren eine gewisse Lust an der Deindividualisierung
dazu, dass die Stimmführer, die chant leader, die die oder, pointiert ausgedrückt, am Kontrollverlust.
Chöre koordinieren, spätestens bis zur Halbzeit aus- Der auch nicht ungefährlich ist?
getauscht werden. Häufig müssen sie sogar zweimal Stimmt. Ich glaube, da setzt Faszination immer an,
während eines Spiels wechseln, weil sie sich völlig nämlich bei widersprüchlichen Momenten. Sie üben
verausgabt haben. einen Sog aus und haben gleichzeitig etwas Bedroh-
Welche Rolle spielen die Trommler, die manch- liches. Ich verliere und ich gewinne auch etwas. Sich
mal die Mannschaft unterstützen? diesem Strom, dem Kollektiven hinzugeben und
Wer Instrumente mitbringen darf, ist privilegiert. gleichzeitig zu wissen, dass es nicht ungefährlich ist,
Wer zum Beispiel einen Trompeter hat, spielt auch weil die Situation nicht mehr ganz beherrschbar ist.
musikalisch in der ersten Liga. Das ist meines Wis- Wie kommen Menschen dazu, so merkwürdige
sens bei Bayern der Fall, und das war lange bei Schal- Lieder zu singen wie „Allez ho ho, ich geb mein
ke 04 so. Dieser Mensch muss natürlich das Reper- Herz für dich, ich lass dich nicht im Stich“?
toire kennen, und er muss halbwegs brauchbar Trom- O ja. Die Fans, die richtigen Fans wohlgemerkt, iden-
pete spielen. Mit solchen Leuten hat man ein Zugpferd, tifizieren sich so stark mit dem Verein, dass sie unbe-
da machen sofort alle mit. Die zweite Gruppe sind grenzt Zeit, Geld und Leben einsetzen. Fahren nach
die Trommler, die Schlagzeuger, die für eine perma- XY, nehmen drei Tage Urlaub, schlafen kaum und
nente Aktivierung sorgen. Da haben wir natürlich zahlen 800 Euro, um irgendwo in Osteuropa ein Spiel
Parallelen in der Musikgeschichte: Mit Pauken und zu sehen. Es gibt noch drei weitere Motive für so eine
erfolgreiche Trauma-Therapie
Was wir als Erinnerung oder Gedächtnis bezeichnen, erreicht uns oftt
ook erhältlich
tion
unbewusst durch ein Gefühl. Wir können lernen, die komplexe Interaktion
zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Gehirn und Körper besser zu
E-Book
entsteht, wo sie sich verbirgt und wie wir ihr auf die Spur kommen können.
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THERAPIESTUNDE
E
igentlich müsste es mir gutgehen. „Stell dich nicht so an!“ damit wir herausfinden können, was pas-
Meine zwei Kinder sind ein großes siert wenn sie nichts mehr trinkt.
Das war bislang ihre
Geschenk für mich, mit meinem In der nächsten Stunde erzählt sie dann,
Partner verstehe ich mich gut, wir haben Devise. Mit Willenskraft es habe ihr gar keine Schwierigkeit bereitet,
eine schöne Wohnung und nette Freunde. und Alkohol drückt die nichts mehr zu trinken. Und sie sei sehr
Aber irgendwas stimmt nicht, ich fühle froh darüber. „Aber was dann passiert ist,
Klientin ihre Traurigkeit
mich einfach nicht richtig wohl.“ Das sind war interessant. Ich bin nämlich abends
die ersten Sätze, die Frau A. sagt, als sie weg. Kein Wunder, dass oft so traurig geworden.“ Offenbar hatte
bei mir im Therapieraum Platz genommen es ihr nicht gutgeht, sie gar nicht wahrgenommen, dass der
hat. Ich frage sie, was sie genau damit meint der Psychotherapeut Wein wohl dazu diente, diese Traurigkeit
meint, wenn sie sagt, es gehe ihr nicht gut. zu überdecken. Wir lassen uns Zeit, dieses
Sie fühle sich in ihrem Alltag oft getrie- Andreas Knuf Gefühl genauer zu erkunden. Es zeigt sich,
ben, erklärt die Klientin, sie sei unruhig, dass sich bereits seit einigen Jahren ihr all-
fahrig und komme irgendwie nicht zur gemeines Befinden verändert. Ganz lang-
Ruhe. Bei ihren Kindern sehe sie wirkliche sam, Schritt für Schritt und kaum wahr-
spontane Freude, sie selbst sei dazu aber nehmbar wurde sie immer trauriger – oh-
gar nicht mehr in der Lage. Sie fühle sich ne zu wissen warum. Was war passiert?
wie ein Roboter, der einfach funktioniere, Wir finden heraus, dass das Leben für sie
aber keine wirklichen Empfindungen in den letzten Jahren so manche Heraus-
mehr habe. „Das Blöde ist“, sagt sie weiter, forderung bereitgehalten hatte: Erst er-
„dass ich mich für undankbar halte. Ich krankte vor fünf Jahren ihre Mutter schwer,
Andreas Knuf ist
habe doch alles.“ Abends trinke sie oft Psychologischer Psychotherapeut dann musste sie zweimal umziehen, weil
Rotwein, nicht selten sogar eine halbe Fla- mit Praxis in Konstanz. ihr Mann sich beruflich verändert hatte.
Aktuelle Veröffentlichung:
sche. Ich bitte sie, bis zum nächsten Ter- Sei nicht so hart zu dir selbst.
Schließlich ist vor kurzem auch noch ihre
min in 14 Tagen auf Alkohol zu verzichten, Kösel, München 2016 geliebte Katze überfahren worden.
Die Geburt der Kinder vor drei und die berufliche Veränderung ihres Mannes
vor fünf Jahren beschreibt sie als „mein umziehen musste und keine Freunde fand,
größtes Glück und meine größte Heraus- redete sie sich ein, wie toll es doch sei, al-
forderung“. Doch seit einiger Zeit versucht lein eine neue Stadt zu entdecken. Wenn
sie wieder, in ihren alten Job als Grafik- sie abends im Wohnzimmer saß und nicht
designerin einzusteigen. Sie setze sich sehr mehr wusste, wie sie mit ihrem sehr leb-
unter Druck, auch ihre Eltern seien der haften Sohn zurechtkommen sollte, sag-
Meinung, die Kinderpause sei nun lang te sie sich: „Anderen geht es doch auch so
genug. „Aber wenn ich ehrlich bin, weiß wie dir, stell dich nicht so an.“ So war im
ich gar nicht, wann ich die Arbeit noch Laufe der Jahre viel Traurigkeit, Ohn-
unterbringen soll, jetzt ist mir ja oft schon macht und Überforderungserleben zu-
alles zu viel.“ sammengekommen, ohne von ihr wirk-
Als ich sage, dass ihr Leben sich viel- lich wahrgenommen zu werden. Ich er-
leicht manchmal eher wie eine anstren- kläre ihr, dass Unruhe und körperliche
gende Mühsal anfühle als wie ein Ge- Anspannung oft entstehen, wenn Gefüh-
schenk, für das man dankbar sein kann, le und Bedürfnisse lange ignoriert werden. Kurz mal
kommen ihr die Tränen. Ich bitte sie, die Die Energie eines Gefühls verliert sich Linz
Augen zu schließen, und frage: „Wenn der nicht, nur weil wir die Empfindung weg-
Sie haben ein verlängertes
Schmerz sprechen könnte, wie würde er drücken, sondern sie bleibt erhalten und Wochenende frei? Wie wäre es mit
den Satz ,Ich bin so traurig, dass …‘ er- zeigt sich später oft auf einer körperlichen einer Kurzreise nach Österreich?
gänzen?“ Nach einigem Nachdenken ant- oder gedanklichen Ebene, typische Folgen Wir empfehlen 72 Stunden für ein
Medien-Kunst-Wochenende in
wortet sie: „Ich bin traurig darüber, dass sind körperliche Unruhe und auch Grü- Linz. Die Stadt ist eine faszinieren-
sich alles so schwer anfühlt. Früher war belneigung. de Symbiose aus Industrie-, Kul-
tur- und Kreativlandschaft – einge-
mein Leben oft leicht, ich war ein Lebe- Im weiteren Verlauf unserer Termine bettet in eine traumhafte Natur am
mensch, aber das ist vorbei, und ich habe beginnt die Klientin mit Engagement und majestätischen Donaulauf.
keinen Zugang mehr dazu.“ beeindruckender Ehrlichkeit, ihr Leben
und ihre Empfindungen neu zu betrach-
Was empfinde ich gerade? ten. Sie sieht klar, dass es noch zu früh ist,
Ich sehe, dass sie den Mund verschließt, wieder arbeiten zu gehen, ganz egal was
Foto: Linztourismus/Zoe
fast schon die Zähne zusammenbeißt. Da- ihre Eltern und ihr innerer Antreiber da-
her bitte ich sie, den Kiefer zu lösen und zu sagen. Auf den Alkohol verzichtet sie
den Mund leicht zu öffnen. Sie ahnt schon, konsequent. Außerdem stellt sie sich
was passieren wird: „Dann werde ich ja mehrmals am Tag die Frage, was sie ge- Das Ars Electronica Center,
noch trauriger.“ Ich schmunzle: „Ja, ge- rade empfindet. Sie hat sich auf ihrem Museum der Zukunft, gilt mit
seinem jährlichen Festival im
nau, auch wenn es zunächst paradox klin- Handy einen Wecker gestellt, der sie im- September und dem weltweit
gen mag: Es ist gut, sich dem Schmerz mer wieder daran erinnert. So kommt sie einzigartigen Deep Space 8k als
das Highlight der UNESCO City of
zuzuwenden.“ Sie weint weiter, aber die immer besser mit ihren Gefühlen in Kon- Media Arts. Beim „Höhenrausch“
Traurigkeit ist jetzt weniger aufwühlend. takt. Traurigkeit und Überforderungs- stehen dieses Jahr „Andere Engel“
Schließlich wird ihr Atem immer ruhiger, empfinden sind keine Gefühle mehr, die im Fokus: Erkunden Sie himmlische
Sphären bei einer Führung durch
und ich frage, was sie jetzt wahrnimmt. weggedrückt werden müssen, sondern die die Ausstellung über den Dächern
Sie schildert ganz verblüfft, dass sie Ruhe einen Grund haben und denen sie sich der Stadt. Nicht verpassen: die
überdimensionalen Graffiti-Kunst-
und Frieden empfindet, genau das, wo- zuwenden kann. Das entpuppt sich für sie werke bei einer Schifffahrt im
nach sie sich so gesehnt hat. als kleines Zaubermittel, denn sobald sie Linzer Hafen durch die weltweit
Die Erfahrung dieser Therapiestunde wahrnimmt, wie es ihr geht, weiß sie oft größte Outdoor-Gallery.
ermutigt sie, sich während der nächsten auch schon, was zu tun ist. Sie reduziert LINZ-WOCHENENDE 2 ÜN inkl.
ILLUSTR ATION: MICHEL STREICH
Termine ihren Empfindungen mehr zu- ihr Tagesprogramm und lernt, auch mal Frühstück, Linz Card (3 Tage) für
freien Eintritt in Linzer Museen,
zuwenden. Neben der Traurigkeit taucht fünfe gerade sein zu lassen. freie Fahrt mit Bus & Straßenbahn
vor allem eine große Erschöpfung und & Ticket für die Pöstlingbergbahn.
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Müdigkeit auf. Die hat sie bisher versucht
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zu ignorieren, schließlich wollte sie fit sein. www.linztourismus.at/wochenende
Sie hatte über Jahre alle unerwünschten
Erfahrungen weggedrückt. Als sie durch
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PSYCHOLOGIE HEUTE 07/2016 17
TITEL
Mut zur
Unsicherheit
Treffen Sie oft vorschnelle Entscheidungen?
Wollen Sie Probleme möglichst schnell vom Tisch
haben? Hoffen Sie auf einfache Lösungen?
Dann fehlt es Ihnen an Unsicherheitskompetenz.
Nur mit ihr können Sie die Balance halten in
unübersichtlichen Situationen
VON ANNETTE SCHÄFER
Schnell Klarheit schaffen. need for (cognitive) closure. Arie Kruglanski, hat den
Begriff vor rund 25 Jahren eingeführt und seitdem
Unser stressiges Leben zu einer einflussreichen Theorie ausgebaut, mit der
sich zahlreiche Forscher in aller Welt befassen. Was
verstärkt das Bedürfnis nach im Deutschen etwas sperrig als „Bedürfnis nach ko-
gnitiver Geschlossenheit“ bezeichnet wird, definiert
absoluten Wahrheiten Kruglanski als „das Verlangen nach einer definitiven
Antwort, irgendeiner Antwort anstelle von Verwir-
rung und Ambiguität“.
Der Wunsch, bei Fragen und Problemen zu einem
Abschluss zu kommen, ist an sich eine durchaus sinn-
volle Motivation, argumentiert der Sozialpsychologe.
Unsere Zeit ist schließlich begrenzt, und folglich müs-
se die Suche nach Antworten irgendwann mal enden.
Auf der anderen Seite würde es sich auch nicht gut
anfühlen, unsere Überlegungen einfach willkürlich
abzubrechen, wissend, dass man eine Menge rele-
vanter Informationen weggelassen hat. „Aber wir
müssen handeln und entscheiden, was also tun?“,
schreibt Kruglanski in seinem 2004 veröffentlichten
T
agtäglich werden wir mit Situationen Buch The psychology of closed mindedness. „Es scheint,
konfrontiert, die undurchsichtig, sehr als wäre uns Mutter Natur mit einer simplen Lösung
komplex oder widersprüchlich sind. zu Hilfe gekommen: der Fähigkeit, unseren Verstand
Offene Fragen gibt es viele: Wird es gelegentlich dichtzumachen, überzeugt davon, dass
meinen Job in ein paar Jahren noch unser momentanes Wissen schon ausreicht.“ Dies
geben? Wie wird sich unser Leben durch den Zustrom erlaube uns, betont der Wissenschaftler, weiterzu-
von Flüchtlingen verändern? Wie sehr können uns machen, anstatt auf ewig in der Schwebe zu sein und
islamistische Terroristen gefährlich werden? Bewäl- zu grübeln.
tigen wir die Folgen der Erderwärmung? Werde ich Wie ausgeprägt der Drang nach schneller Klärung
im Alter genug Geld zum Leben haben? Was, wenn bei einer Person ist, hängt von verschiedenen Fakto-
meine Ehe zerbricht? ren ab. Manche Menschen haben eine grundsätzlich
Ungewissheit und Mehrdeutigkeit sind keine Er- stärkere Aversion gegen Unsicherheit als andere. Das
findungen der modernen Zeit. Doch heute erscheint kann an ihrem Temperament liegen. Möglicherwei-
uns die Welt „überwältigender und chaotischer als se sind sie aber auch in einer sehr unsicheren Umge-
jemals zuvor“, schreibt der amerikanische Autor Ja- bung groß geworden, beispielsweise mit unbeständig
mie Holmes in seinem aktuellen Buch Nonsense. The handelnden Eltern oder in Kriegsgebieten, sodass sie
Power of Not Knowing. Mit Unsicherheit umzugehen, nun besonders empfindlich auf Ungewissheit und
betont Holmes, entwickelt sich immer mehr zu einer Mehrdeutigkeit reagieren.
zentralen Fähigkeit. „Die Herausforderung des heu- Es gibt auch situative Umstände, die den Drang,
tigen Lebens besteht darin, herauszufinden, wie man rasch zum Ende zu kommen, erhöhen. Dazu gehören
sich verhält – im Job, in Beziehungen, im alltäglichen Zeitdruck, Stress, Lärm und Müdigkeit. Nun leben
Leben –, wenn man keine Ahnung hat, was man tun wir in einer Welt, in der ständiger Zeit- und Schlaf-
soll.“ Doch verwirrt zu sein, keinen Durchblick zu mangel zum Alltag gehören und Anforderungen in
haben ist unangenehm, insbesondere wenn man oh- Berufs- und Privatleben immer weiter zu steigen
nehin gestresst ist. Deshalb greift man in solchen scheinen – also genau die Umstände, unter denen
Situationen schnell nach der erstbesten Lösung oder sich Menschen nach prompten und einfachen
sieht Zusammenhänge, wo es keine gibt. Antworten sehnen. Arne Roets, Professor an der
Universität Gent, hat zahlreiche Studien zum Thema
Die Sehnsucht nach raschen Antworten need for closure durchgeführt und vermutet, dass un-
Wenn man sich für den Umgang mit Unsicherheit ser heutiges stressiges und hektisches Leben für
– die Psychologie spricht von „Ambiguität“ – inter- viele Menschen eine Situation geschaffen hat, die
essiert, kommt man um ein Konzept kaum herum: ein hohes Bedürfnis nach Geschlossenheit fördert.
Wie stark das Begehren nach zügiger Auflösung Man muss kein Psychologe sein, um zu erkennen,
ausgeprägt ist, lässt sich messen. Auf der Basis eines dass ein solches Verhalten in vielen Situationen
Tests von Kruglanski hat Psychologe Roets zusam- abträglich ist. Die Forschung bestätigt, wie weitrei-
men mit seinem Kollegen Alain Van Hiel vor ein paar chend die negativen Folgen sein können.
Jahren eine Kurzskala entwickelt, die 15 Aussagen
enthält (siehe Test Seite 23). Wem in diesem Test ein Übereilte Entscheidungen: In einer Studie nah-
starkes Bedürfnis nach schnellen Antworten beschei- men Probanden an einer simulierten Laienrichter-
nigt wird, empfindet es als unangenehm, bei einer sitzung teil, in der sie über die Klage einer Bauholz-
Frage oder einem Problem in der Luft zu hängen. firma gegenüber einer Airline zu entscheiden hatten.
Solche Menschen tendieren dazu, sich durch zwei Teilnehmer, deren Bedürfnis nach Geschlossenheit
Mechanismen zu schützen: künstlich erhöht worden war, tendierten dazu, in der
– Sie neigen dazu, sich auf die erstbesten Informati- Diskussion schnell der Meinung eines Mitjurors (ei-
onen zu stürzen und ein schnelles Urteil zu fällen, nes Komplizen der Wissenschaftler) zuzustimmen.
selbst wenn sie erst relativ wenig wissen. Zudem drückten sie aufs Gas, um zu einem schnel-
– Wenn sie einmal zu einem Ergebnis oder Urteil len Ergebnis zu kommen. Während die Diskussion
gekommen sind, halten sie daran fest, selbst wenn in der Kontrollgruppe im Schnitt 5:40 Minuten dau-
dies bedeutet, neue oder bessere Informationen zu erte, fiel das Urteil bei Probanden mit hohem Be-
ignorieren. dürfnis nach Abschluss schon nach 3:50 Minuten.
1. Ich mag keine Situationen, die unsicher sind. 11. Ich mag es nicht, wenn eine Äußerung
| _ 1 | _ 2 | _3 | _ 4 | _5 | _6 | einer Person verschiedene Dinge
bedeuten könnte.
2. Ich habe eine Abneigung gegen | _ 1 | _ 2 | _3 | _ 4 | _5 | _6 |
Fragen, die auf viele verschiedene Weisen
beantwortet werden können. 12. Ich finde, dass die Entwicklung von
| _ 1 | _ 2 | _3 | _ 4 | _5 | _6 | gewohnheitsmäßigen Abläufen mir ermöglicht,
mein Leben mehr zu genießen.
3. Ich finde, dass ein gut strukturiertes | _ 1 | _ 2 | _3 | _ 4 | _5 | _6 |
Leben mit geregeltem Tagesablauf
meiner Gemütsart entspricht. 13. Ich genieße es, eine klare und strukturierte
| _ 1 | _ 2 | _3 | _ 4 | _5 | _6 | Lebensweise zu haben.
| _ 1 | _ 2 | _3 | _ 4 | _5 | _6 |
4. Ich fühle mich unwohl, wenn ich nicht
den Grund verstehe, weshalb ein Ereignis 14. Solange ich mir kein eigenes Bild von
in meinem Leben auftrat. etwas gemacht habe, ziehe ich gewöhnlich
| _ 1 | _ 2 | _3 | _ 4 | _5 | _6 | nicht viele andere Meinungen in Erwägung.
| _ 1 | _ 2 | _3 | _ 4 | _5 | _6 |
5. Es ärgert mich, wenn eine Person einer
Ansicht widerspricht, die alle anderen in 15. Unvorhersehbare Situationen
einer Gruppe vertreten. sind mir unangenehm.
| _ 1 | _ 2 | _3 | _ 4 | _5 | _6 | | _ 1 | _ 2 | _3 | _ 4 | _5 | _6 |
W
er schon einmal ein Prüfungsergebnis In einer von Sweeneys Studien berichtete ein
ersehnt hat, auf einen Untersuchungs- Teil der Probanden rückblickend zwar, den Erhalt
befund oder die Entscheidung über schlechter Neuigkeiten als schlimmer empfunden
eine Bewerbung warten musste, kennt das Gefühl zu haben als die Zeit des Wartens darauf. Das
aus Unsicherheit und Kontrollverlust nur zu gut: könnte nach Einschätzung der Forscher aber be-
Wir wissen nicht, was uns erwartet, und wir kön- sonders auf solche Personen zutreffen, die an De-
nen auch nichts tun, um das Resultat zu unseren pressionen leiden oder ein geringes Selbstbe-
Gunsten zu beeinflussen. wusstsein haben. Sie mögen mit der ungeklärten
Diese Spannung kann fast unerträglich sein und Situation auch nicht gut zurechtkommen, sich dem
sogar zu noch größerem Stress führen als das Wis- definitiven Verlust oder einer Niederlage zu stel-
sen zu scheitern. Das legt eine aktuelle Untersu- len, dürfte für sie aber noch schwerer sein.
chung von Forschern am University College Lon-
don nahe. Die 45 Teilnehmer mussten bei einer Wer positiv in die Zukunft blickt, kann
Lernaufgabe am Computer entscheiden, ob sich ungewisse Situationen besser ertragen
unter einem von zwei gezeigten Steinen eine
Schlange befand; wenn ja, erhielten sie einen Elek- Wie sehr jemand das Warten quält, hängt laut
troschock. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei Sweeney und ihren Mitarbeitern auch von einer
einem bestimmten Stein auf eine Schlange trafen, Reihe individueller Eigenschaften und Strategien
variierte über die je 320 Durchgänge, die jeder ab: Wer eher positiv in die Zukunft blickt, Unsi-
durchspielte. cherheit generell besser ertragen kann und ein
Tatsächlich war die empfundene Belastung un- geringeres Bedürfnis nach Vorhersagbarkeit und
ter größtmöglicher Unsicherheit dabei am stärks- klaren Strukturen hat, empfindet in ungeklärten
ten: Bei einer 50:50-Chance auf einen Stromschlag Situationen weniger Angst, fühlt sich nicht so an-
stuften die Probanden sich selbst als gestresster gestrengt und grübelt in geringerem Maße.
ein, und auch ihre körperlichen Stressreaktionen Aktiv mindern könne man die Belastung bei-
fielen heftiger aus. Lag die Wahrscheinlichkeit bei spielsweise durch Ablenkung in Form einer for-
null oder 100 Prozent, war ihre Aufregung am ge- dernden Aufgabe, indem man sich in Gesprächen
ringsten. Die Schlussfolgerung der Forscher: Kön- soziale Unterstützung holt, Gutes tut oder ver-
nen wir den Ausgang eines Ereignisses einschät- sucht, dankbar zu sein für das, was man hat – al-
zen, arrangieren wir uns irgendwie mit dem Er- les Dinge, die auch in anderen Lebenslagen zur
gebnis. Es sei die Ungewissheit beim Warten, die Zufriedenheit beitragen. Empfehlenswert sei zu-
uns Angst einflöße. dem, die negativen Gefühle und Gedanken einfach
zu akzeptieren und sich mit ihnen auseinander-
Was ist schlimmer: das Warten zusetzen – indem man sie etwa ungefiltert auf-
oder die schlechte Nachricht? schreibt oder in Achtsamkeitsübungen wertfrei
wahrzunehmen versucht.
Laut Kate Sweeney und ihren Kollegen von der Für all jene, die das Warten trotzdem nur
University of California, Riverside beeinflusst die schlecht ertragen können, bleibt ein Trost: Sie wer-
Dauer der Wartezeit beziehungsweise der Zeit- den sich über eine positive Nachricht am Ende
punkt die Intensität: Wer erst spät erfährt, ob er wahrscheinlich weit mehr freuen können als jene,
eine Prüfung bestanden hat, dem gelinge es die sich mit der Unsicherheit gut arrangieren
meist relativ gut, seine durch die Unsicherheit können. Letztere ertragen das Warten gut, sind
hervorgerufenen Sorgen über längere Zeit bei- dann aber auch weniger erleichtert und glücklich
seitezuschieben und so die Furcht zu mindern, – und kommen mit einem negativen Ergebnis
schreiben sie. Am schwierigsten zu bezwingen schlechter zurecht. EVA-MARIA TRÄGER
seien die unguten Gedanken und Grübeleien
tendenziell direkt nach der Prüfung und vor al-
lem kurz vor Verkündung des Ergebnisses.
Korrekturen, ohne gleich das große Ganze verwerfen 1. Was wäre wirklich, wenn etwas schiefgeht?
zu müssen. Die Lehre der Achtsamkeit ist heute auch Wäre es wirklich das Schlimmste, wieder bei null
deshalb so in Mode gekommen, weil der technische anzufangen? Das ist sicher schmerzhaft, aber meist
Fortschritt, vor allem die neuen Informations- und nicht so sehr, wie man befürchtet hat. In der Regel
Kommunikationsmedien uns zur Ungeduld und zu geht man klüger und stärker aus dem Scheitern
sofortigen Wunscherfüllungen erzogen haben. Wir hervor. Deshalb gehört zu diesem Vorausdenken auch
erwarten Sofortlösungen für jedes kleine Problem das Szenario: Wie könnte ich wieder auf die Beine
und Instantbefriedigungen aller Wünsche und Im- kommen?
pulse. Das beste Gegenmittel zu dieser Unruhe ist 2. Was, wenn ich nichts tue? Das ist, wenn man
Achtsamkeit – gerade in unsicheren Zeiten und bei es ehrlich zu Ende denkt, fast nie eine Option. Etwas
komplexen Problemen: das ruhige, konzentrierte und aussitzen und abwarten, ob es von selbst besser wird,
wertungsneutrale Beobachten dessen, was um uns mündet in Stagnation und geistiger Trägheit.
herum wirklich geschieht. 3. Was, wenn alles gutgeht? Was, wenn eine Ent-
scheidung richtig war? Sich das Gelingen so realis-
tisch wie möglich vorzustellen kann die lähmende
2. Keine einfachen Lösungen Unsicherheit überwinden helfen.
Das Unbehagen, das durch Unsicherheit entsteht,
weckt in uns den kindlichen Wunsch, diesen Zustand
so schnell wie möglich zu beenden: Es soll wieder so 4. Vorbereitet sein
werden, wie es vorher war! Aber wir sollten lernen, Szenarien vorauszudenken ist ganz besonders in Zei-
den einfachen Lösungen zu misstrauen und den ten von Krisen und schneller Veränderung die beste
schnellen Antworten zu widerstehen. Krisen und „Breitbandstrategie“. Aus der Resilienzforschung ist
Zeiten großer Verunsicherung sind Boomzeiten für bekannt, dass bei allem, was plötzlich und unerwartet
die Vereinfacher – in der Politik, in der Wirtschaft, passiert, manche Menschen oder Institutionen effek-
im privaten Leben. Sie bieten uns vermeintliche Er- tiver reagieren als andere. Weil sie besser vorbereitet
klärungen an – meist monokausal, simpel, unter- sind auf das, was passieren könnte. Sie können also
komplex. Wir erliegen nur zu oft selbsternannten etwa bei Katastrophen fast automatisch reagieren und
Experten – jemand bietet sich als Führer durch unsi- so schneller helfen, weil sie sich auch das Unerwarte-
chere Zeiten oder als Problemlöser an, und wenn te vorgestellt und mögliche Reaktionen eingeübt ha-
er genügend Charisma hat, vertrauen wir ihm ben. Notfallpläne sind ausgearbeitet und können so-
blind. Aber ob es um Finanzen, Ernährung, Gesund- fort umgesetzt werden – während andere Institutio-
heit, Karriereplanung oder andere potenzielle nen noch diskutieren und analysieren. Negative Sze-
Krisenbereiche geht – wir sollten den einfachen narien zu entwickeln, aus vergangenen Katastrophen
Rezepten misstrauen. Es gibt keine Wunderpillen, zu lernen und auch auf das Schlimmste vorbereitet zu
Wunderdiäten, Geheimtipps oder Zauberformeln. sein: so entsteht eine Art Immunsystem, das uns ge-
Der amerikanische Satiriker Henry Louis Mencken gen die Attacken des Schicksals hilft.
hat dies so zusammengefasst: „Für jedes menschliche
Problem gibt es immer eine Lösung: die ist klar,
einleuchtend – und falsch.“ 5. Nicht alles ist unsicher
In unsicheren Zeiten besteht die Gefahr, dass man nur
noch das Instabile wahrnimmt und das, was immer
3 . Vorausdenken noch sicher ist, aus den Augen verliert. Die Frage:
In unsicheren Zeiten gipfelt die emotionale Trias aus „Was ist noch sicher in meinem Leben, worauf kann
Unsicherheit, Verlustangst und Furcht vor Kritik häu- ich zählen, was ist mir geblieben?“, stellt man dann
fig in der lähmenden Fantasie, völlig zu scheitern und oft nicht, sondern konzentriert sich nur auf das
wieder bei null anfangen zu müssen. Dann beherrscht Gefühl der Unsicherheit. Doch Ungewissheit lässt sich
uns ein Worst-Case-Szenario – und wir lassen die am besten aushalten, wenn man die nach wie vor vor-
Finger von allem, was einen unsicheren Ausgang handenen Stützpfeiler erkennt. Wer es schafft, auch
haben könnte. Also von ziemlich vielen Dingen. Wir in unsicheren Zeiten positive Gefühle wie Dankbar-
verharren im sicheren Mittelmaß. Besser wäre, sich keit, Freude oder Verbundenheit mit anderen zu
drei Szenarien so realistisch und detailliert wie nur erleben, kann dem Wunsch nach schnellen Lösungen
möglich vorzustellen. besser widerstehen. PH
So viele Nachrichten,
OMG!
WhatsApp, Facebook und Co machen es leichter als
jemals zuvor, Informationen auszutauschen und miteinander
in Kontakt zu bleiben. Einfacher wird die Kommunikation
durch sie nur bedingt
VON FRANK LUERWEG
D
ie Nachmittagssonne taucht den Sport- Trainer Neumann immer noch nutzt, zunehmend zum
platz in ein warmes Licht. Auf dem Auslaufmodell zu werden. „Viele Eltern schauen heu-
Rasen balgt sich eine Handvoll Kinder te häufiger aufs Handy als in ihre Mailbox“, sagt Neu-
um den Ball. Ab und zu meldet sich mann. „Ich fahre daher immer zweigleisig.“
Rüdiger Neumann zu Wort und gibt Früher war die Sache einfach: Die Oma aus Bottrop
Anweisungen. Der 33-Jährige trainiert in seiner Frei- wurde zum Geburtstag angerufen, die Schulfreundin
zeit den Fußballnachwuchs beim MTV Treubund in in den USA erhielt einen Brief, und beim Büronach-
Lüneburg. Eine Tätigkeit, die einen regen Austausch barn ging man zum Gratulieren kurz vorbei. Heute
mit den Eltern erfordert: Wer ist fürs nächste Spiel ist die Vielfalt der Kommunikationskanäle größer.
aufgestellt? Findet das Training trotz Regen statt? Neu- Entsprechend kompliziert ist die Frage, welche Kon-
mann schreibt in solchen Fällen eine E-Mail an seinen taktmöglichkeit man für welchen Anlass und bei wel-
Elternverteiler – und schickt parallel eine WhatsApp- chem Gesprächspartner am besten wählen sollte. In-
Nachricht: „Bitte E-Mail prüfen.“ stant Messenger wie WhatsApp etwa dienen derzeit
Der Messenger hat in den sieben Jahren seit seiner hauptsächlich der privaten Alltagskommunikation.
ILLUSTR ATIONEN: MICHAEL SZYSZK A
Markteinführung die Kommunikationslandschaft Sobald es förmlicher wird, weichen wir auf E-Mails
enorm verändert. WhatsApp zählt heute zu den mit oder Briefe aus. Christa Dürscheid, die an der Univer-
Abstand beliebtesten Handy-Applikationen – nicht sität Zürich unter anderem den Einfluss des Internets
nur bei Jugendlichen. Rund 33 Millionen Nutzer hat auf die Alltagskommunikation erforscht, spricht von
der Dienst laut einer aktuellen ZDF-Umfrage hierzu- einer ungeschriebenen „Kommunikette“. Doch ein
lande inzwischen, hinzu kommen Konkurrenten wie solcher Kommunikationsknigge hat im Digitalzeital-
Snapchat, Threema oder Telegram. Zumindest im pri- ter meist nur kurze Zeit Bestand. „Jugendliche nutzen
vaten Informationsaustausch droht die E-Mail, die inzwischen beispielsweise kaum noch E-Mails“, sagt
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SAG MIR, WIE DU LIEBST
Von Erotik bis Pragmatismus: 6 Stile im Beziehungsalltag
VON EVA TENZER
D
as Leben als Paar könnte so schön keit von Paaren gemeint, Stress zu bewäl- bei den befragten Paaren sehr stark ver-
sein. Wären da nicht diese gele- tigen, mit Belastungen umzugehen und treten: Auf einer Skala von 1 bis 10 lagen
gentlichen Missverständnisse, sich gegenseitig bei Problemen und All- die Werte der Frauen bei 6,80, die der
diese kleinen und großen Konflikte, die tagswidrigkeiten zu unterstützen. Mehr Männer bei 6,98. Von allen Liebesstilen
die Liebe überschatten. Wie kann man die als 150 Paare aus Deutschland und der geht Eros mit der höchsten Partner-
in Schach halten? Patentrezepte, die für Schweiz wurden befragt. Hier die sechs schaftszufriedenheit einher. Und er be-
alle funktionieren, gibt es nicht, denn Paa- Liebesstile – und wie sie laut den Befun- einflusst auch das Verhalten in der Part-
re praktizieren ganz unterschiedliche den das Beziehungsleben prägen: nerschaft: Die Betroffenen öffnen sich
Spielarten der Liebe. Der kanadische So- dem Partner gegenüber mehr, und sie en-
1
ziologe John Alan Lee analysierte Anfang EROS gagieren sich stärker in der Beziehung.
der 1970er Jahre 4000 Liebesbeziehungen Dieser Liebesstil ist romantisch und Zudem finden sie in Konflikten leichter
in Literatur und Philosophie. Dann führ- beruht auf der erotischen Anzie- Kompromisse sowie konstruktive Lösun-
te er Interviews mit realen Paaren und de- hung der Partner. „Vor allem dieser Stil gen – optimale Voraussetzungen für ein
finierte schließlich sechs Liebesstile. Die hängt bei beiden Geschlechtern mit der harmonisches Liebesleben.
beiden Partner leben typischerweise nicht Fähigkeit, mit Stress umzugehen, sowie
2
nur einen dieser Stile, sondern meist eine mit der Partnerschaftszufriedenheit zu- AGAPE
Mischung – aber dieses Mischungsverhält- sammen“, erläutert Studienleiterin Simo- Bei der altruistischen Liebe dreht
nis ist von Person zu Person unterschied- na Gagliardi. Man unterstützt den Partner sich alles um das Wohl des Part-
ILLUSTR ATION: STEFAN BACHMANN
lich: Jeder Liebesstil hat bei jedem Lieben- beispielsweise durch verständnisvolles ners. Hier steht im Vordergrund, für ihn
den sein individuelles Gewicht. Zuhören. Menschen mit diesem Liebesstil zu sorgen und ihm dabei zu helfen, Prob-
Psychologen der Universitäten Bielefeld zeigen in Belastungssituationen weniger leme zu überwinden. Sowohl Frauen als
und Zürich haben sich jetzt den Zusam- problematische Angewohnheiten wie et- auch Männer erzielten die zweithöchsten
menhang zwischen dem Liebesstil und wa, die Stressmomente des Partners rund- Werte im Liebesstil Agape (6,18 und 6,79
der Partnerschaftszufriedenheit sowie weg zu ignorieren oder ihn sogar mit ab- auf der Skala). Das auf Altruismus bauen-
dem „dyadischen Coping“ in einer Studie wertenden Bemerkungen niederzuma- de Liebesmodell hängt bei Männern deut-
genauer angeschaut. Damit ist die Fähig- chen. Erfreulicherweise war der Erosstil lich mit der Fähigkeit zusammen, mit
Macht Sport
per se schlau?
6
Stress klarzukommen. Bei den Frauen hin- LUDUS
gegen zeigten sich hier keine statistisch Der spielerische und verführeri-
bedeutsamen Zusammenhänge. sche Liebesstil betont das Aben-
teuer und sexuelle Freiheiten. Er zeigte in
3
STORGE dieser wie auch schon in früheren Studi-
Der freundschaftliche, auf ge- en negative Auswirkungen auf die Paar-
meinsamen Interessen beruhende zufriedenheit. Allzu spielerisch und un-
Liebesstil erwächst häufig aus einer langen verbindlich sollte man die Sache also of-
Bekanntschaft und Vertrautheit der Part- fenbar nicht angehen. Dieser Liebesstil
ner; die sexuelle Komponente kommt erst war freilich sowohl bei den Frauen als auch
relativ spät hinzu. Auch dieser Stil ist bei den Männern am niedrigsten ausge-
ziemlich verbreitet und landete bei den prägt, nämlich 2,78 und 2,70. Bei Frauen
Frauen bei 5,42 auf der Skala, bei den Män- geht die spielerische Variante mit einem
nern bei 5,29. Er hängt bei beiden Ge- problematischen Umgang mit Bezie-
schlechtern positiv mit der Partner- hungsstress und mit einer geringeren Part-
schaftszufriedenheit zusammen. Männer nerschaftszufriedenheit einher, nicht aber
profitieren von diesem Stil außerdem im bei Männern. Frauen mit einem spieleri-
Hinblick auf die Fähigkeit, mit Stress um- schen Zugang zur Liebe, die unverbind-
zugehen. liche, manchmal auch mehrere parallele
Beziehungen führen, zeigen im Bezie-
4
MANIA hungsalltag oft destruktive Verhaltens-
Sie ist die besitzergreifende, ver- weisen und nehmen diese auch stärker
absolutierende und eifersüchtige beim Partner wahr. Männer mit dieser
Variante der Liebe. Hier ist die Aufmerk- Art zu lieben hingegen engagieren sich
samkeit völlig auf den Partner konzent- vermutlich weder positiv noch negativ be-
riert. Die Ausprägung dieses Liebesstils sonders stark in der Beziehung. Petra Jansen / Stefanie Richter
lag bei 5,43 unter den Frauen und bei 5,05
unter den Männern. Bei Frauen hängt die- Diese Erkenntnisse könnten in der The- Macht Bewegung
ser Stil interessanterweise positiv mit der rapie eingesetzt werden, meint Gagliardi: wirklich schlau?
Fähigkeit zusammen, gemeinsam mit „Es wäre sinnvoll, im Rahmen einer Paar-
Zum Verhältnis von Bewegung
Stress umzugehen. Bei den Männern zeig- beratung die jeweilige Ausprägung in den und Kognition
te sich kein solcher Zusammenhang. verschiedenen Liebesstilen zu ermitteln.“
Beim spielerischen Stil etwa kann man 2016. 304 S., 26 Abb., 2 Tab., Gb
€ 29.95 / CHF 39.90
5
PRAGMA die Vorteile einer stärkeren Öffnung dem ISBN 978-3-456-85561-5
Bei der pragmatischen Liebe geht Partner gegenüber ansprechen – und ra- AUCH ALS E-BOOK
es vor allem um die Erfüllung der ten, das Bedürfnis nach Abenteuer und
Medienberichte preisen Bewegung oft
Bedürfnisse beider Partner, zum Beispiel Abwechslung in anderen Bereichen wie
als Allheilmittel. Aber abgesehen von den
Familie oder Wohnung. Die Basis bildet Sport, Reisen oder Hobbys auszuleben. unbestrittenen positiven Effekten auf die
hier die gute Passung der Liebenden, also Zwar sei es prinzipiell denkbar, so die For- Gesundheit: Macht Bewegung wirklich
gemeinsame Interessen und Vorlieben. In scher, dass man sich bewusst einen für die auch noch schlauer? Halten wir uns bei-
spielsweise eine Fussballnationalmann-
der Studie lag dieser Liebesstil bei den Partnerschaft „günstigeren“ Liebesstil an- schaft vor Augen – sind diese exzessiv
Frauen bei 4,38, bei den Männern bei 4,09. eignet. Wie weit sich das allerdings gezielt Sport treibenden Spieler automatisch
Männer, bei denen dieser Stil stark aus- verändern lässt, ist bislang nicht bekannt, die Schlauesten im Lande? Sollten wir
den Schulunterricht schlicht durch den
geprägt ist, können oft schlecht mit Part- Studien dazu gibt es nicht. Einen Versuch Sportunterricht ersetzen?
nerschaftsstress umgehen. Bei Frauen hin- in der Praxis kann es dennoch wert sein.
gegen hängt dieser Stil positiv mit dem
Coping zusammen. Offenbar werden
pragmatisch orientierte Frauen, die ohne
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allzu romantische Vorstellungen an eine LITERATUR
Partnerschaft herangehen, besser mit Be- Simona Gagliardi, Guy Bodenmann, Nina Heinrichs:
Dyadisches Coping und Partnerschaftszufrieden-
lastungen in der Beziehung fertig als Män- heit bei verschiedenen Liebesstilen. Zeitschrift für
ner mit diesem Liebesstil. Familienforschung, 27/1, 2015, 105–121
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PSYCHOLOGIE HEUTE 07/2016 41
Wie ticken
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er Bürgerkrieg in der Region Darfur gesammelten Daten auswerteten. „Facebook hat
im Westen Sudans zählt zu den eine Illusion von Aktivismus hervorgezaubert, aber
größten Katastrophen der vergan- keinen wirklichen“, kommentieren die Untersucher
genen Jahre. Mehrere Hunderttau- bitter. Andere Wissenschaftler tauften solches
send Menschen sind bei den Kämp- rein symbolische Helfertum „Faulenzerismus“ (slack-
fen gestorben, mehrere Millionen wurden aus ihren tivism).
Dörfern vertrieben. Das rüttelte auch über eine Hilfsorganisationen können ein Lied singen von
Million Nutzer des riesigen sozialen Netzwerks billig zu habender Hilfsbereitschaft dieser Sorte. So
Facebook auf – jedenfalls ein bisschen. Sie traten ei- startete UNICEF Schweden 2013 eine sarkastische
ner Darfur gewidmeten Onlinegruppe bei, wo Mit- Kampagne. „Liked uns auf Facebook, und wir wer-
glieder spenden und neue Mitglieder werben konnten. den null Kinder gegen Polio impfen“, höhnt eine An-
Doch 72 Prozent gewannen keinen einzigen neuen zeige. Ein Video zeigt einen dunkelhäutigen Jungen
Anhänger, und weit über 99 Prozent spendeten in einer armseligen Behausung. Er macht sich Sorgen,
keinen Cent. Diese traurige Bilanz zog ein Team um so krank zu werden wie seine Mutter, sodass sich
den Soziologen Kevin Lewis von der University of niemand mehr um seinen kleinen Bruder kümmern
California in San Diego, als die Forscher 2014 die könnte. Doch er hat Hoffnung: „Heute hat UNICEF
Mensa anlässlich eines bevorstehenden Gedenktages Menschen. Das zeigte sich bei der nächsten, schwie-
kleine Anstecknadeln verteilen, mit denen den Teil- rigeren Aufgabe. Nun waren sie Polizeichef in einer
nehmern des Ersten Weltkriegs Ehre erwiesen wer- kleinen rassistischen Stadt und mussten neue Poli-
den sollte. Einen Teil der Studenten überredeten die zisten einstellen. Sollte die Hautfarbe keine Rolle
Forscher, die Nadel gleich zu tragen, die anderen spielen? Oder wären weiße Bewerber doch besser, da
sollten sie erst am Gedenktag anstecken. An der die vorhandenen Cops auf schwarze Kollegen erfah-
nächsten Ecke bat ein weiterer Forschungsassistent rungsgemäß feindselig reagierte? Die Studierenden,
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Im Urlaub lässt
Treppe zum
Jungbrunnen
Das biologische Alter eines Menschen ist nicht war physische Aktivität: Je mehr
unbedingt identisch mit dem Alter, das dem Ge- Stockwerke die Probanden in ihrem bisherigen
burtsdatum in seinem Personalausweis entspricht. Leben zu Fuß per Treppe bezwungen hatten,
Der Körper und insbesondere das Gehirn altern desto deutlicher hinkte ihr biologisches
bei dem einen schneller, bei der anderen langsamer. Hirnalter dem chronologischen hinter-
Ein gängiges Maß für das biologische Hirnalter ist her. Der zweite Faktor war die Bildung:
das Volumen seiner „grauen Substanz“, also der ver- Jedes an der Schule verbrachte Jahr redu-
bliebenen Neuronen. Denn Nervenzellen haben die zierte das spätere Hirnalter stati-
unangenehme Angewohnheit, mit den Jahren stisch um 0,95 Jahre. Nun lässt
schleichend zu schwinden. Die gute Nachricht: sich Schulbildung im fortgeschrit-
Dieser Schwund lässt sich wahrscheinlich tenen Alter nicht oder nur mühsam nach-
während der gesamten Lebensspanne dros- holen, aber mit den Treppen ist das ein-
seln. Dafür sprechen Indizien, die jetzt ka- facher: „Anders als bei vielen anderen Formen
nadische Forscher der Concordia Universi- körperlicher Aktivität sind die meisten älteren
ty in Montreal bei einer Vermessung der Ge- Menschen in der Lage, mindestens einmal am Tag
hirne von 331 gesunden Erwachsenen im Alter die Treppen zu benutzen – und viele tun dies auch längst“,
von 19 bis 79 Jahren gefunden haben. Bei der sagt Steffener. So unkompliziert sei also eine wirksame
Befragung ihrer Teilnehmer ermittelten Jason Steffener Prävention zu haben.
und seine Kollegen zwei Faktoren, die deren Gehirne vo-
luminös und damit biologisch jung erhielten. Der erste DOI: 10.1016/j.neurobiolaging.2016.01.014
Patienten vor einer Nieren-OP stattdessen ein 20 Jahre zuvor waren es nur 27 %.
Dennoch sind Ärztinnen dort wei-
Tablet zur Hand, auf dem der Eingriff per terhin unterrepräsentiert, und seit
2009 stagniert ihr Anteil, konstatie-
Videoanimation erklärt wurde. Das Resultat: ren britische Mediziner. Erstautor ist
übrigens: ein Mann.
Diese Patienten verstanden 16 Prozent mehr
als herkömmlich Aufgeklärte, und vier von DOI: 10.1136/bmj.i847
Schweigend beim
Männerarzt
Männer sterben im Schnitt fünf Jahre früher als Frauen.
Das könnte auch damit zu tun haben, dass sie seltener zum
Arzt gehen und dort nur das Nötigste mitteilen. Besonders
gefährdet sind solche Exemplare, die dem traditionellen
Männerbild vom harten, tapferen Kerl verhaftet sind, wie
jetzt zwei Psychologinnen der Rutgers University in New
Jersey aufdeckten. Je höher Männer in einer Onlineum-
frage auf einer „Maskulinitätsskala“ rangierten, die auf
solche Einstellungen zugeschnitten war, desto seltener gin-
gen sie zum Doktor. Wenn sie dann doch einen aufsuchten,
war es meist ein Arzt und keine Ärztin. Und das ist fatal,
wie die Untersucherinnen in einer zweiten Studie feststell-
ten: 250 männliche Studenten wurden in einem klinisch
aussehenden Raum von einem Arzt oder einer Ärztin im frage hatten die Psychologinnen ermittelt, dass auch
weißen Kittel über ihre Beschwerden befragt. Ergebnis: Je Frauen, die in ihrem Selbstbild Tapferkeit und Unabhän-
„männlicher“ die Teilnehmer eingestellt waren, desto we- gigkeit hochhalten, seltener in die Sprechstunde gehen und
niger vertrauten sie sich ausgerechnet dem männlichen dort weniger mitteilsam sind – aber längst nicht so extrem
Doktor an – gegenüber der Ärztin waren sie vergleichs- wie ihre männlichen Gegenstücke. Die Forscherinnen stell-
weise aufgeschlossen. „Das liegt daran, dass sie einem an- ten auch fest, dass diese Haltung mit einem schlechteren
deren Mann gegenüber keine Schwäche oder Angewiesen- Gesundheitszustand bezahlt wird.
heit zeigen wollen“, vermutet Forscherin Diana Sanchez,
„nicht mal, wenn er ein Arzt ist.“ In einer früheren Um- DOI: 10.1016/j.ypmed.2015.12.008
DOI: 10.1111/joim.12496
Schrumpfe, Finger!
Schrumpfe!
Zauberkünstler kennen den Illusionskniff seit lan-
gem: Man zeigt dem Publikum einen vollständigen
Tischtennisball, zerlegt ihn unbemerkt in zwei Hälf-
ten, die man den Zuschauern so präsentiert, dass sie
nur die intakte Seite sehen – und schon hat sich der
Ball in ihren Augen verdoppelt. Solche Täuschungen
machen sich ein grundlegendes Prinzip unseres
Wahrnehmungsapparats zunutze: Wir ergänzen die
nicht sichtbaren Teile eines Objekts im Geiste zu
einem vollständigen Ganzen. Der Experimentalpsy- wahr. Da er nun aber gleichzeitig spürt, dass seine
chologe Vebjørn Ekroll und sein Team an der Katho- Fingerspitze den Ball berührt, muss er die Größen-
lischen Universität Löwen in Belgien haben nun de- verhältnisse mit dem visuellen Eindruck in Einklang
monstriert, dass unser Gehirn diesem Prinzip selbst bringen. Zu diesem Zweck geschieht Sonderbares:
um den Preis absurdester Wahrnehmungseindrücke Der betreffende Finger wird in der Körperwahrneh-
treu bleibt: Die Forscher nahmen einen halben Tisch- mung kurzerhand „geschrumpft“ – so wie in der
tennisball, forderten den Probanden auf, einen Fin- rechten Abbildung. Diese zweite Täuschung, die nur
ger in die hohle Innenseite zu stecken – so wie in der deshalb produziert wird, um die erste aufrechtzuer-
linken Abbildung skizziert. Dann sollte die Versuchs- halten, tauften die belgischen Forscher shrunken fin-
person von oben auf die Fingerkuppe schauen, sodass ger illusion. Keine Angst: Sobald man den Ball ent-
sie wiederum nur die intakte Hälfte des Balls sah. fernt, wächst der Finger unverzüglich zu alter Pracht
Das Ergebnis ist zunächst die bekannte Zaubertrick- nach. Hoffentlich.
täuschung: Obwohl der Teilnehmer weiß, dass er bloß
einen halben Ball vor sich hat, nimmt er einen ganzen DOI: 10.1016/j.cub.2016.02.001
lesen. Daher ist es für Friborg „nicht unvorstellbar, dass das ... der Verband eine Heimat für Profis
Vertrauen und der Glaube an die Wirksamkeit von kogni- wie für Einsteiger bietet
tiver Verhaltenstherapie in den letzten Jahrzehnten zurück- ... er als große Interessenvertretung auch
gegangen ist“. gesellschaftlich ins Gewicht fällt
Dafür avancierte das „Verändern verzerrten Denkens“ in
Informationen über den VFP erhalten Sie hier:
den letzten Jahren zu einem neuen Star unter den Psycho- Verband Freier Psychotherapeuten,
therapien. Zum Beispiel wurde CBM, wie die Methode nach Heilpraktiker für Psychotherapie
der englischen Bezeichnung cognitive bias modification ab- und Psychologischer Berater e.V.
Lister Str. 7, 30163 Hannover
gekürzt wird, zur „neuen klinischen Waffe“ ausgerufen. Bei
Telefon 05 11 / 3 88 64 24
dem Verfahren wird versucht, schädliche automatische Ver- www.vfp.de | info@vfp.de
zerrungen des Denkens oder der Aufmerksamkeit umzu- 9)3
trainieren. Führende Fachzeitschriften druckten euphorische
Berichte. Doch jetzt sind viele Forscher frustriert. „Die kli-
nische Wirksamkeit von CBM ist bislang enttäuschend“,
resümiert Ernst Koster von der belgischen Universität Gent. Das individuelle
So lässt sich – von einigen Ausnahmestudien abgesehen – Arbeitsbuch
nicht belegen, dass CBM tatsächlich gegen Ängste hilft. Zu
diesem Resultat kam Ioana Cristea im Jahr 2015 im British
Journal of Psychiatry. Das gleiche Bild erhielt sie für die Ver-
suche, Depressionen mit dem Verfahren zu behandeln.
Noch die besten Chancen hat CBM im Kampf gegen den
Alkohol. In einer deutschen Rehaklinik absolvierten Hun-
derte von Patienten zusätzlich zum normalen Klinikpro-
gramm ein CBM-Training. Ein Jahr später waren 59 Prozent
der so Trainierten immer noch trocken, ohne das Training
schafften das nur 46 Prozent. Als der Versuch wiederholt
wurde, waren die Ergebnisse ähnlich gut.
Die Psychotherapie hilft – wenn auch längst nicht allen
und bei weitem nicht so gut, wie ihre Protagonisten verspre-
chen. Bisher wird aber auch nicht viel in ihre Verbesserung
investiert. In der Europäischen Union werden weniger als Aktiv und in Eigenregie Phobien, Panik-
attacken und Stress überwinden, das
zwei Prozent der Gelder für medizinische Forschung für
ermöglicht dieses Buch mit Übungen,
psychische Erkrankungen ausgegeben und nur ein Bruchteil Arbeitsbögen und Checklisten sowie
davon für die Entwicklung psychologischer Therapien. Mit ausführlichen Erklärungen und Tipps.
Weil es hilft, sein Leben selbst in die
mehr Geld könnten Forscher die Behandlungen vielleicht Hand zu nehmen.
so verbessern, dass sie wirken, wie die Therapeuten es jetzt 288 Seiten | ISBN 978-3-407-86405-5
schon versprechen. Auch als erhältlich
Leseprobe auf
Eine Literaturliste zu diesem Beitrag finden Sie auf unserer Website:
www.beltz.de
www.psychologie-heute.de/literatur
P
sychotherapie ist wirksam. Studien, die sich mit dem Einfluss der flexibel, erfahren, ehrlich, respektvoll, ver-
Das hat die Forschung der Person der Therapeuten und Therapeu- trauenswürdig, zuversichtlich, interes-
letzten Jahrzehnte nachge- tinnen auf das Behandlungsergebnis be- siert, wach, freundlich, warm und offen
wiesen. Dennoch bessern fassen, zeigen übereinstimmend, dass wahrgenommen wurden, eher als andere
sich bei 30 bis 50 Prozent einige konstant bessere Leistungen auf- in der Lage waren, eine gute therapeutische
der Patienten während der Zeit, in der sie weisen als andere – unabhängig von Di- Beziehung herzustellen. Den Patienten war
Psychotherapie in Anspruch nehmen, agnose, Alter, Medikationsstatus und es besonders wichtig, wie ein Therapeut
die Beschwerden nicht. Trotz der Einfüh- Krankheitsschwere des Klienten. Ver- auf sie reagiert hatte, ob er ihre Reaktionen
rung zahlreicher neuer Therapieverfahren gleicht man die Gruppe der effektivsten auf das, was er gesagt hatte, ernst genom-
ist dieser Anteil während der letzten und diejenige der am wenigsten effektiven men und ob er sein Vorgehen geändert
Jahrzehnte im Wesentlichen unverändert Therapeuten, dann zeigt sich: Die Patien- hatte, wenn die Situation oder der Kontext
geblieben. Wie ist das zu erklären? ten der erfolgreichen Therapeuten weisen dies erforderten. Responsivität, Flexibili-
Ein genauerer Blick auf die Ergebnisse eine um 50 Prozent höhere Besserungs- tät, Akzeptanz und Präsenz waren die
der Forschung zeigt, dass nicht nur der und eine um mindestens 50 Prozent nied- Schlüsselmerkmale, mit denen Patienten
Einfluss von Patienten- und außerthera- rigere Abbrecherrate auf – im Vergleich einen guten Therapeuten beschrieben.
peutischen Faktoren, sondern auch der zu den Patienten der am wenigsten effek- Ungünstige Therapeuteneinflüsse sind
Einfluss der therapeutischen Beziehung tiven Therapeuten. offenbar Dominanz des Therapeuten, ne-
ebenso wie derjenige des Therapeuten gative Gefühle gegenüber dem Patienten
selbst weithin unterschätzt wurde. Neu- Zuversicht, Vertrauen, Offenheit zu Therapiebeginn, subtile feindselige in-
eren Metaanalysen zufolge haben diese Welche Verhaltensweisen und Persönlich- terpersonelle Botschaften in den Interven-
Faktoren einen deutlich größeren Einfluss keitseigenschaften von Therapeuten be- tionen und ein unsicherer Bindungsstil
auf den Behandlungserfolg als zum Bei- einflussen das Therapieergebnis? Mit die- des Therapeuten, zumindest bei Patienten
spiel die Therapiemethode. Vor diesem ser Frage hat sich eine begrenzte Zahl von mit schweren psychischen Problemen.
Hintergrund stellt sich die Frage, was Studien befasst. So ist bekannt, dass es Überraschend ist, dass Berufserfahrung
einen „ausreichend guten“ Therapeuten den Therapieerfolg fördert, wenn Thera- und Umfang der Psychotherapieausbil-
ausmacht. Mit diesem Begriff, der auf peuten ihren Patienten Zuversicht, Hoff- dung nur einen geringen Einfluss auf das
Donald W. Winnicott zurückgeht, der nung und Optimismus vermitteln und Behandlungsergebnis haben.
von der „ausreichend guten Mutter“ ge- wenn sie den von ihnen vertretenen Be- Therapeuten brauchen nicht perfekt zu
sprochen hat, soll angedeutet werden, dass handlungsansatz, welcher es auch sei, sein; Patienten verzeihen ihren Behand-
ein Therapeut in seinen Möglichkeiten überzeugend präsentieren. lern offensichtlich vieles, wenn sich mit
begrenzt ist und es um seinen Umgang Befragungen von Patienten ergaben, ihnen über die unvermeidlichen Missver-
mit dieser Begrenzung gehen muss. dass Therapeuten, die von Patienten als ständnisse und Unzulänglichkeiten ein
E
ndlich der wohlverdiente Urlaub. Man wird es auch gerne paradise paradox genannt: Wir
hat es wegen der Hektik zuvor fast nicht wähnen uns in den schönsten Tagen des Jahres, und
mehr geglaubt, dass er tatsächlich noch heraus kommt genau das Gegenteil. Anspruch und
kommt. Doch jetzt raus aus dem Flie- Wirklichkeit liegen weit auseinander, und dadurch
ger und die Seele baumeln lassen! Ein bauen sich Frustrationen und ein hoher Leidensdruck
bisschen Gymnastik im Fitnessraum, doch ansonsten auf. „Das Leisure-Sickness-Syndrom ist mehr als nur
Chillen am Pool, ein paar Drinks an der Bar und hin eine Bagatelle oder ein Wehwehchen“, erklärt Clau-
und wieder Sightseeing in der Stadt. Doch schon beim dia Möller von der privaten International University
Einchecken im Hotel kommen Kopfschmerzen, und in Bad Honnef. „Es kann für die Betroffenen sehr
am nächsten Tag ist auch noch der Rücken steif und belastend sein.“
die Nase zu. Statt Sonne sind nun längere Aufent-
halte im Hotelzimmer angesagt. Und besser wird es Endlich Zeit für Krankheit
erst kurz vor der Rückkehr nach Hause – als wenn 2002 entwickelte Ad Vingerhoets von der holländi-
sich Körper und Seele freuen würden, endlich wieder schen Tilburg University den Begriff Leisure Sickness.
in die Mühle des Alltags zu kommen. Er rannte damit keineswegs offene Türen ein. Denn
Ausspannen und auftanken! Das sind normaler- die Psychologie war zu dieser Zeit überwiegend da-
ILLUSTR ATIONEN: K ARIN AUE/AGENTAZUR
weise die Schlagworte, die uns bei Urlaub und Frei- mit beschäftigt, wie sich der Stress der Berufswelt
zeit einfallen. Doch die Realität sieht oft anders aus. auf den Menschen auswirkt und wie man sich davor
Aus Durchatmen wird Schnupfen, aus dem Hotel- schützen kann. Dabei spielte die Freizeit eine wich-
zimmer ein Krankenlager, und der Kopf wird nicht tige Rolle, als Ausgleich für die Belastungen im All-
etwa vom Berufsstress befreit, sondern von Schmer- tag. Weswegen man seinerzeit nicht unbedingt hören
zen malträtiert. Für viele Menschen werden Urlaub wollte, dass sie auch krank machen könnte.
oder Wochenende nicht etwa zum Erholungs-, son- Doch Vingerhoets hatte an sich selbst deutliche
dern zum Horrortrip. Sie leiden am sogenannten Indizien dafür gefunden. „Ich wurde nur selten
Leisure-Sickness-Syndrom, also an der Freizeit- krank“, so der Psychologe, „doch wenn, ausgerechnet
krankheit. Im anglo amerikanischen Sprachraum an den Wochenenden und im Urlaub.“ Seine Freun-
Arbeitsleben bestimmen. „Die Menschen wollen ihre rer Arbeitswelt. Die Gründe dafür könnten wieder-
Arbeit mehr denn je absolut fehlerfrei machen“, so um noch tiefer liegen, nämlich in der protestantischen
die Psychologin und Stressforscherin. Doch weil das Ethik der Calvinisten, die in ihrem Bemühen, Gna-
nun einmal unmöglich sei, litten sie permanent dengewissheit zu erlangen und Gottes Ruhm zu meh-
unter dem Gefühl, ihre Arbeit nicht richtig zu Ende ren, ihr komplettes Leben der Arbeit unterordneten.
gebracht zu haben. „Und mit diesem Gefühl“, so Der Soziologe Max Weber (1864–1920) sah in dieser
Kaslow, „kann man natürlich auch in der Freizeit Geisteshaltung einen der Ursprünge des Kapitalismus
kaum zur Entspannung finden.“ – und sie taugt zweifelsohne auch als Erklärung für
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DOSSIER BERUF& LEBEN
DOSSIER
BERUF&
LEBEN
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orgens um acht klingelte Mit dem Gefühl, bei der Arbeit „nicht
Kirsten Frankes* Handy richtig“ zu sein, ist Kirsten Franke nicht
das erste Mal. Dann allein. Die Unzufriedenheit mit der ei-
schaltete die Beraterin genen Position ist bei vielen groß: Die
die Freisprechanlage im Dienstwagen Personalvermittlung Manpower hat
ein, telefonierte mit Auftraggebern oder 2015 mit dem Marktforschungsinstitut
den Chefs der Consulting-Firma. Da- Toluna eine Befragung von 1011 Mitar-
mals beriet die Wirtschaftspsychologin beitern durchgeführt. 49 Prozent der
große Kunden, meistens ging es um Pro- Befragten fühlten sich in ihrem Job un-
zessoptimierung und darum, Mitarbei- Verführerischer zufrieden. 45 Prozent erwogen, den Ar-
ter zu entlassen. Die 34-Jährige machte beitsplatz in den nächsten zwölf Mona-
Gedanke: Noch
ihre Arbeit gut, fühlte sich aber irgend- ten zu wechseln. Zwar interessiert sich
wann unwohl. „Ich litt darunter, immer einmal etwas von diesen Wechselwilligen natürlich
nur profitorientiert zu denken. Der nur ein Teil für einen Aufgaben-, Bran-
Wunsch, vertrauensvoll mit Klienten zu
ganz anderes chen- oder Berufswechsel, dennoch
arbeiten, wurde stärker“, erzählt sie im ausprobieren scheint bei beruflichen Veränderungen
Rückblick. heute rasch die Option mitzuschwingen,
Nach vier Jahren wechselt Franke in noch mal etwas ganz anderes auspro-
die Leitung einer Berufsbildungs- und bieren zu wollen.
Beratungsstelle für Frauen, für sie ein „Die Tendenz, Berufstätigkeit immer
Traumjob. Die ersten Monate laufen gut. wieder neu zu denken, hat damit zu tun,
Im Kontakt mit Klientinnen hat Franke dass auch große Veränderungen mach-
das Gefühl, helfen zu können. Auch die bar scheinen“, erklärt die Hamburger
Organisation der Beratungsstelle fällt Karriereberaterin Svenja Hofert (siehe
ihr leicht. Doch bald kommt es zu Aus- Interview S. 76). Die Regalmeter mit
einandersetzungen mit den Kollegen. Ratgeberliteratur, die uns aufruft, die
Die neue Leiterin ist ihnen zu ehrgeizig. eigene Berufung oder den Traumjob zu
Franke wiederum findet die Mitarbeiter finden, nehmen ebenfalls Einfluss auf
wenig belastbar, „fast unprofessionell“. den Wunsch nach Joboptimierung –
Unbewusst legt sie den Leistungsmaß- und spiegeln den Trend wider.
stab aus der Beraterbranche an. Die „Ich finde es der Arbeitsmarktsitu-
Konflikte eskalieren. Wieder fühlt Fran- ation angemessen, dass man sich beruf-
ke sich am falschen Platz. Nach einem lich weiterentwickeln will“, sagt Hofert.
Jahr kündigt sie enttäuscht. „Es ist jedoch oft ein Fehler, die Lösung
*Name geändert
lich über berufliche Fragen nachdenken Manchmal reicht sel seien schließlich immer mit mehre-
lassen“, sagt Hartmann. Ihrer Meinung ren Jahren Aus- und Weiterbildung und
nach ist das legitim und richtig. Den- schon eine kleine finanziellen Einbußen verbunden.
noch ist sie davon überzeugt, dass in Kurskorrektur „Je älter Klienten sind, die mit Um-
verschiedenen Lebensaltern unter- bruchwünschen kommen, desto deut-
schiedlich große Veränderungen mög- licher frage ich ab, ob sie von dem neu-
lich beziehungsweise ratsam sind (siehe en Beruf leben müssen oder ob aus ei-
Kasten unten). nem ersten Beruf Geld vorhanden ist“,
Wenn Klienten um die dreißig mit sagt Hartmann. Einige Klienten über-
dem Wunsch kommen, noch einmal denken ihre Wünsche dann noch einmal
komplett umzusatteln, ergebe das oft und finden Kompromisse. Manche be-
Sinn. Viele hätten nach dem Studium stehen weiter darauf, sich in einem
und ersten Berufserfahrungen Bedarf, Traumberuf zu verwirklichen. Ab vier-
die Richtung zu verändern und nach- zig kämen viele Menschen dann eher
zubessern. Doch auch hier achtet Hart- mit Sinnkrisen. Auch diese rufen zu-
mann darauf, ob ein kompletter Berufs- nächst häufig das Gefühl hervor, alles
wechsel nötig ist – also zum Beispiel vom neu machen zu müssen. Doch das sei
Rechtsanwalt zum Grafiker – oder ob oft nicht nötig. „Es gibt viele Möglich-
ein Branchensprung oder eine kleinere keiten für neue Wege“, sagt Hartmann.
Kurskorrektur ausreichen. Berufswech- „Ich arbeite mit Klienten oft zu der Fra-
Svenja Hofert: Was sind meine Stärken? Entdecke, was in dir steckt. Gabal, Offenbach 2016
F
ür viele Menschen ist Arbeit ein volle, herausfordernde, selbstbestimm- Bedeutung in ihrer Arbeit zu finden.
notwendiges Übel. Sie haben ei- te Art und Weise zu verdienen? Können Trotzdem gibt es objektive Faktoren, die
nen Job, damit sie ihre Miete nur Juristen, Ärzte und Professoren das job shaping erleichtern.
bezahlen und ihren eigentlichen Inter- Freude an ihrer Tätigkeit empfinden? Firmen können Arbeitsplätze so or-
essen nachgehen können. Für andere Beileibe nicht, sagt Barry Schwartz. ganisieren, dass sie abwechslungsreich
Menschen ist ihr Beruf Berufung. Sie Auch Portiers, Fabrikarbeiter und Call- sind und Angestellten die Möglichkeit
sind leidenschaftliche Putzfrauen, Piz- centeragenten müssen nicht unzufrie- zur Weiterentwicklung ihrer Fähigkei-
zabäcker oder Proktologen. Nichts den sein. Es kommt darauf an, was sie ten bieten. Und vielleicht am wichtigs-
fürchten sie mehr als den Tag, an dem in ihrer Tätigkeit sehen und wie ihre ten: Die Tätigkeit kann von den Arbeit-
sie in Rente gehen müssen. Vorgesetzten diese organisieren. nehmern als bedeutsam empfunden
Was unterscheidet zufriedene von Dass an Schwartzs Einschätzung et- werden, indem sie mit dem Wohl ande-
unzufriedenen Angestellten? Das Gehalt was dran sein könnte, verdeutlicht eine rer Menschen verknüpft wird. Das mag
ist es nicht, sagt Barry Schwartz, Psy- Untersuchung der Psychologin Amy bei helfenden Berufen leichter nachzu-
chologe am Swarthmore College in der vollziehen sein, ist aber grundsätzlich
Nähe von Philadelphia. Ein einfacher in vielen Feldern möglich.
Tischler kann doppelt so glücklich sein Doch die Wirklichkeit ist eine ande-
wie der Manager einer Möbelfabrik,
Wer glaubt, mit re. Viele Jobs sind so gestaltet, als wür-
selbst wenn der Tischler nur halb so viel seiner Arbeit die den Menschen ausschließlich für Geld
verdient. Wichtiger als Geld ist die Ant- arbeiten. Das Bild dahinter wurde von
wort auf die Frage nach dem Sinn des
Welt zu verbessern, Denkern wie Adam Smith, dem Begrün-
eigenen Tuns. Schwartz meint: Wer ist mit seinem Job der der freien Marktwirtschaft, geprägt.
glaubt, mit seiner Arbeit die Welt zu ver- Demnach handeln Arbeitnehmer nach
bessern, schätzt sie auch mehr. zufrieden einem rationalen Kalkül: Sie versuchen,
In seinem Buch Why we work hat den höchstmöglichen Lohn mit dem
Schwartz Faktoren identifiziert, die ei- geringstmöglichen Aufwand zu erzielen
nen Beruf zur Berufung werden lassen. Wrzesniewski. Die Wissenschaftlerin – ein gutes Pferd springt nicht höher,
Förderlich ist es demnach, wenn der Ar- von der Yale-Universität sprach in aus- als es muss. Diese Denkweise beeinflus-
beitsalltag immer neue Herausforde- führlichen Tiefeninterviews mit ameri- se das Handeln von Unternehmern und
rungen bereithält. Zufriedene Lehrer, kanischen Beschäftigten. Einer von ih- Führungskräften, meint Barry Schwartz.
Unternehmensberater oder Fabrikar- nen ist Luke, der als Hausmeister in einem Es äußere sich beispielsweise in Miss-
beiter schätzen es, an Problemen zu Krankenhaus angestellt ist. Zu seinen trauen gegenüber Untergebenen.
wachsen. Leichter fällt dies, sagt Aufgaben gehört es, Zimmer, Toiletten Doch auf lange Sicht stünden Unter-
Schwartz, wenn sie eigenständige Ent- und Flure zu putzen. Doch Luke möch- nehmen mit zufriedenen Angestellten
scheidungen treffen können. Anders ge- te nicht nur saubermachen und Glüh- besser da als ihre Konkurrenten, sagt
sagt: Wenn der Chef jeden Handlungs- birnen wechseln. Lukes Anspruch ist, Schwartz. So seien die Marktführer in
schritt vorschreibt, lernt sein Unterge- Patienten und ihren Angehörigen den den verschiedensten Branchen überzu-
bener wenig. Nicht zuletzt ist der Mensch Aufenthalt so angenehm wie möglich fällig häufig jene Firmen, die ihre An-
ein soziales Wesen. Wer sich morgens zu machen. So gelingt es ihm, seine gestellten gut behandeln. PH
voller Vorfreude auf den Weg ins Büro, Tätigkeit mit mehr Sinn aufzuladen. Job JOHANNES KÜNZEL
in die Behörde oder die Fabrik macht, shaping nennt Amy Wrzesniewski das.
Barry Schwartz: Why we work. Simon & Schuster, New
freut sich oft auch auf den Austausch Kann das jeder? Nein, sagt Barry York 2015
mit Kunden und Kollegen. Schwartz. Jeder Mensch bringt seine
Ist es ein Vorrecht der gesellschaftli- Persönlichkeit mit ins Büro. Und man- Unser nächstes Dossier Beruf & Leben erscheint in der
Ausgabe 10/2016. Thema: Teamwork. Wie arbeiten wir
chen Eliten, ihr Einkommen auf sinn- chen fällt es schwerer als anderen, eine am besten zusammen?
Ich kann mein altes Tagebuch Es gibt Eintrittskarten und Fotos, Striche-
nicht mehr finden. Für mich ist leien und Aufkleber, ausgeschnittene Ar-
das eine Katastrophe, denn die Tagebücher tikel, alles durcheinander und doch ver-
sind die Chronik meines Lebens. Ich be- sammelt als ordentliche Abfolge meiner
wahre sie in einem verschlossenen Glas- Lebensjahre. Ein Schatz, den ich niemals
schrank auf, sodass ich sie immer im Blick zurücklassen würde.
habe, auch wenn ich nur selten darin lese. Wenn ich die hübschen marmorierten,
Aber darum geht es auch gar nicht. Ich in Stoff eingeschlagenen oder ledergebun-
muss ja nicht unbedingt ganz genau wis- denen Bücher im Regal sehe, manchmal
Die Schriftstellerin
sen, welchen Reim ich mir als 27-Jährige ein wenig darin herumblättere und mich
Annette Pehnt
auf die Welt gemacht habe. Oder was ich umschaue im Museum meines Lebens,
(u.a. Briefe an Charly,
vor Jahrzehnten über die Liebe oder das Piper 2015) schreibt
bin ich zutiefst beruhigt.
Zerbrechen derselben dachte. Doch könn- jeden Monat in Fotos dagegen traue ich gar nicht über
te ich das alles nachlesen: die Studienjah- PSYCHOLOGIE HEUTE den Weg. Sie lassen mich merkwürdig
re, die ersten Gedanken über das Schrei- über ihre Alltags- kühl zurück, und wenn ich sie anschaue,
ben, Mutter werden, älter werden. In mei- beobachtungen kann ich mich einfach nicht mehr recht
nen heiligen Schriften gibt es weder Zen- www.annette-pehnt.de in meine eigenen Geschichten verwickeln.
sur noch irgendwelche Aufnahmestopps; Ich sehe die Gesichter aus jüngeren Jahren,
alles, was mich beschäftigt, rührt, quält die Kinder noch so klein, die Freunde so
oder interessiert, wird notiert. Gut, jung, die Büsche im Garten lächerlich
manchmal passiert über Wochen gar klein. Aber in diese Bilder kann ich nicht
nichts, die Seiten bleiben leer, und das Le- eindringen, seltsam bunt und echt, bieten
ben hinterlässt keine weiteren Spuren, zu- sie mir eine Gegenwart, die ich doch nicht
mindest nicht in meinem Büchlein. Dann mehr schmecken, riechen oder fühlen
wieder kann ich gar nicht schnell genug kann. Wie hat sich das angefühlt, ein klei-
mitschreiben, es prasselt nur so von Ge- nes hustendes Kind auf dem Schoß zu ha-
danken, und ich komme kaum hinterher. ben? Einen Säugling an der Brust? Oder
Umzug hinter das Regal gestürzt? Hatte gestrichel? Also bitte. Kommt gar nicht 2016. 248 Seiten, 10 Abb., kart.
es mir jemand weggenommen? Oder hatte infrage. Natürlich muss es Papier sein. € 19,99 (D) / € 20,60 (A) | ISBN 978-3-7945-3129-5
der Zahn der Zeit es zermahlen? Motten? Und wenn dann was verlorengeht, muss
Schimmel? Eine Trauer stieg in mir hoch, ich solche Katastrophen eben hinnehmen.
die ich selbst nicht verstand. Schließlich Besser, als wenn es nie da gewesen
war niemand gestorben. wäre.
S.81
S.82
S.82
S.84
S.84
S.84
S.85
S.86
S.87
S.88
S.89
Die US-Politikwissenschaftlerin Anne- an einer Gesellschaft, die Fürsorge schlecht „Viele Frauen
Marie Slaughter hat sich mit Klugheit oder gar nicht entlohnt.
und Ehrgeiz in männerdominierte Die Autorin belegt, dass die Mutter- sehen, dass
Machtzentren emporgearbeitet. Sie ist schaft einen besseren Indikator für Lohn-
Professorin an der Princeton University ungleichheit darstellt als das Geschlecht. Ehrgeiz und
und Direktorin des Thinktanks New 2013 verdienten US-Amerikanerinnen
America. Von 2009 bis 2011 leitete sie den ohne Kinder 96 Cent für jeden Dollar der
Engagement
Planungsstab des US-Außenministeri- Männer, verheiratete Mütter jedoch nur unverzichtbar
ums unter Hillary Clinton – der Höhe- 76 Cent. Frauen wenden wesentlich mehr
punkt ihrer Karriere. Zeit für die Betreuung von Kindern, Kran- sind, um in
Jeden Montagmorgen ließ sie ihren ken und Senioren auf.
Mann und zwei Söhne im Teenageralter Überzeugend legt sie dar, warum auch
ihrem Beruf
in Princeton zurück, um am Freitagabend Männer für eine Gesellschaft eintreten aufzusteigen,
müde und geschafft von einer strapaziö- sollten, die Erwerbstätigkeit und Betreu-
sen Arbeitswoche in Washington heim- ungsarbeit gleich hochschätzt. Umfragen aber sie wissen
zukehren. Als jedoch ihr ältester Sohn zufolge möchten die meisten Väter mehr
ernste Probleme in der Schule bekam, gab Zeit mit der Familie verbringen, fürchten
nicht, wie sie
sie ihren „absoluten Traumjob“ auf, um aber ernste wirtschaftliche Folgen. Hinzu dabei noch
mehr Zeit mit der Familie zu haben. kommt, dass unsere Kultur Männern bei
Als stolze Feministin hat sie zahlreiche Betreuungs- und Hausarbeiten wenig Raum für ihre
Frauen ermutigt, entschlossen nach den zutraut. Schließlich zeigt Slaughter, dass
Sternen zu greifen. Dennoch reagierten Kinder auf vielfältige Weise von engagier- Familien
viele Mitstreiterinnen mit Enttäuschung ten Müttern und Vätern, Erziehern und schaffen sollen“
und bissiger Kritik auf ihre Entscheidung. Lehrern profitieren. Sie fordert besseren
In der Folge begann Slaughter an einem Rechtsschutz für Elternschaftsurlaub, ANNE-MARIE SLAUGHTER
Internetnutzung gehört in Deutschland tion auseinander und vertreten dabei völ- nicht frei zur Verfügung stellen. Für die
zum Alltag: 80 Prozent der Gesamtbevöl- lig konträre Ansätze. gesellschaftliche Fehlentwicklung macht
kerung sind laut ARD-ZDF-Onlinestudie Der Ulmer Psychiater und Hirnfor- Spitzer in erster Linie die IT-Industrie ver-
2015 heutzutage online. Bei den Jugend- scher Manfred Spitzer will vor allem auf- antwortlich, die ihre Produkte rücksichts-
lichen sind es – nicht zuletzt dank Smart- rütteln und klarmachen, wie schädlich los auch an Kinder vermarkte, sowie die
phone – laut JIM-Studie (Jugend, Infor- und ungesund das digitalisierte Leben ist. Naivität der Medienpädagogik und vieler
mation, Multi-Media) 2015 inzwischen In seinem Buch Digitale Demenz hatte er Eltern, die dem Irrglauben anhingen, man
an die 100 Prozent. bereits appelliert: „Meiden Sie die digita- müsse Kinder und Jugendliche möglichst
Wir nutzen das Internet für Informa- len Medien. Sie machen (…) tatsächlich früh an digitale Medien heranführen, um
tionssuche, Kommunikation, Mediennut- dick, dumm, aggressiv, einsam, krank und ihnen Medienkompetenz zu vermitteln.
zung, Spielen und Transaktionen – und unglücklich.“ Diese Warnung wiederholt Stattdessen empfiehlt er dringend weit-
empfinden das überwiegend als nützlich er in seinem Buch Cyberkrank! mit der- reichende Internetabstinenz, vor allem bei
und erfreulich. Gleichzeitig sind wir aber selben Vehemenz. In einzelnen Kapiteln Kindern und Jugendlichen.
auch mit diversen negativen Onlineerfah- argumentiert er, dass Internetnutzung Spitzers Standpunkt erfreut sich in der
rungen konfrontiert – von Erreichbar- süchtig mache, Cyberstress, Cyberangst Öffentlichkeit großer Beliebtheit. Kein
keitszwang bis Onlinebetrug. Nicht zu- und Cyberhypochondrie, Einsamkeit und Wunder. Mit der Autorität des Hirnfor-
letzt fühlen viele von uns ein diffuses Un- Depression, Schlaf- und Bewegungsman- schers liefert Spitzer ganz einfache und
behagen angesichts der Digitalisierung gel erzeuge, vor allem aber Hirnentwick- klare Antworten auf das Unbehagen in
aller Gesellschaftsbereiche, der wir mit lung und Lernprozesse bei Kindern und der Zivilisation: Durch Internetverzicht –
kaum absehbaren Folgen ausgeliefert sind. Jugendlichen stark beeinträchtige. Das so das Versprechen – werden wir die Wohl-
Das Leben mit dem Internet ist kompli- Internet vergleicht er oft mit einem Sucht- standskrankheiten los. Und wenn laut
ziert, schnelllebig und widersprüchlich. mittel, gar mit harten Drogen. Die würde Spitzer „das Internet“ und „das Smart-
Zwei Bücher setzen sich mit dieser Situa- man Kindern und Jugendlichen ja auch phone“ per se schädlich sind, dann müs-
^^^PUUZHLPÄSTJVT
#InnsaeiFilm
/KraftDerIntuitionFilm
Seit Urzeiten halten Menschen ihre Pläne, tigen, aufgeschrieben nur Stunden nach dem Anschlag auf
Aufgaben, Gedanken und Wünsche in US-Präsident John F. Kennedy von seiner langjährigen Se-
Form von Listen fest. Shaun Usher hat nun kretärin. Besonders anrührend ist die Liste der „Dinge, die
in Lists of Note. Aufzeichnungen, die die es heute zu erledigen gilt“ des Songwriters Johnny Cash,
Welt bedeuten (Heyne, € 34,99) die unge- die neben den Punkten „nicht rauchen“ und „Klavier üben“
wöhnlichsten Listen der Weltgeschichte auch die Punkte „June küssen“ (und „niemand anderen küs-
zusammengestellt: von der ältesten mit Ar- sen“) umfasst. June Cash, selbst ein gefeierter Countrystar,
beiterfehlzeiten aus dem alten Ägypten über Charles Dar- schien einverstanden zu sein mit diesem Punkt auf der Liste,
wins „Liste vom Für und Wider der Ehe“ und Marilyn Mon- immerhin blieb sie 35 Jahre mit Johnny Cash zusammen.
roes Traummännern bis hin zu einer Liste von Tatverdäch-
„Ich geh mal Bäcker.“ „Warst du Frisör?“ Irgendwann fiel Welche Schule für mein Kind?
Diana Marossek auf, dass immer mehr Menschen – auch Ist Nachhilfeunterricht sinnvoll?
solche ohne Migrationshintergrund – ihre Sätze verkürzten Mein Kind kifft – was kann ich
und „wie der Komiker Kaya Yanar“ in der Fernsehsendung tun? Es ist ein langer, manchmal
Was guckst du?! sprachen. Sie nahm ihre Beobachtung zum mühsamer Weg von der Grund-
Anlass für ihre Doktorarbeit, für die sie die Jugendsprache schule bis zum Abitur – nicht
an 30 Berliner Schulen studierte. Doch nicht nur auf Neu- nur für Kinder. „Wie Mütter und
köllner Schulhöfen setzt sich Kurzdeutsch durch, auch Er- Väter die Schule überstehen“,
wachsene verzichten immer häufiger auf Präpositionen und zeigt Karin Brose in ihrem Ratgeber Survival für
Artikel und „gehen Aldi“. In ihrem Buch Kommst du Bahnhof Eltern (Vandenhoeck & Ruprecht, € 15,–). Die ehe-
oder hast du Auto? (Hanser, € 15,90) zeigt die Soziolingu- malige Studienrätin gibt wertvolle Denkanstöße,
istin auch, dass „sch-Laute“ schwer im Kommen sind: Aus wenn sie erklärt, wie man sich beim Elternabend
„richtig“ wird „rischtisch“, und viele deutsche Jugendliche benimmt oder warum es schlau ist, Lehrer nicht
beenden ihre Sätze etwa mit der Sprachroutine: „Ich in die Enge zu treiben. Sie schreibt auch: „Als
schwör“. Reden wir bald alle so? Marossek hält es für wahr- Eltern sind Sie gefragt, Ihrem Nachwuchs plausi-
scheinlich, dass sich das Kurzdeutsch dauerhaft in der Um- bel zu machen, warum der Smartphonegebrauch
gangssprache einnistet. Der Rektor einer in der Schule untersagt sein muss. Sollte Ihr Kind
Berliner Schule berichtet, dass viele Lehrer damit ein Problem haben, dürfte der Grund darin
sich über den Sprachstil ihrer Schützlinge liegen, dass es nicht bereit ist, Regeln einzuhalten,
zunächst amüsiert hätten, mittlerweile aber die nicht seine sind. In diesem Fall haben auch Sie
selbst „Verkürzungstendenzen“ – etwa „Ich ein Problem.“ Ja, das ist dann wohl so. Aber ob
hab Rücken“ – zeigten. Eltern, die sich einen Ratgeber zulegen, mit die-
sem Hinweis geholfen ist?
s 5MFANGREICHE "UCHAUSWAHL
Hochgelobter Päderast ZU DEN 4HEMEN VON
Jürgen Oelkers’ Biografie über Gerold Becker 0SYCHOLOGIE (EUTE
offenbart auch die Schwächen der Reformpädagogik
s ÃBER AUSFàHRLICHE
"UCHEMPFEHLUNGEN
Eine Vorzeigekarriere: 13 Jahre lang lei- Autor den Verantwortlichen vor, „die Tä-
tete Gerold Becker die Odenwaldschule, ter immer besser geschützt zu haben als
das Flaggschiff der Reformpädagogik. Im die Kinder“. Die Reformpädagogik sei s !USGESUCHTE 'ESCHENKTIPPS
Schatten dieses Glanzes missbrauchte er „sakrosankt“ gewesen. Kritik an der Pra-
systematisch Jungen im Alter von sieben xis habe es nie gegeben. Nach Zeugenaus- s !LLE LIEFERBAREN !USGABEN
bis 16 Jahren. Und nie drang etwas nach sagen war allen an der Schule klar, was VON 0SYCHOLOGIE (EUTE UND
außen. Wie war das möglich? läuft. „Kinderficker“ wurde Becker ge-
0SYCHOLOGIE (EUTE #OMPACT
Eine Biografie dieses Mannes zu nannt. Warum trotzdem nichts nach
schreiben, der so weit kommen konnte, draußen drang, erklärt Oelkers damit,
ohne jemals etwas von sich preiszugeben, dass es nicht alle betraf – und dass es ein- s *AHRGANGSPAKETE ZUM
war Ziel des Autors Jürgen Oelkers. Her- fach cool war, auf einer Schule mit derart 3ONDERPREIS
ausgekommen ist zugleich eine harsche gutem Ruf zu sein. Die Erwachsenen hät-
Kritik an den Ankerfiguren der Reform- ten weggeschaut, weil Becker einfach zu
pädagogik sowie den Elitemachern nützlich war. Er platzierte die Schule in Unser Geschenktipp
Geschenk-Tipp
Deutschlands – den Leitmedien, Univer- den Medien und war unschlagbar in der
sitäten sowie der Politik. Es ist ein sper- Akquise reicher Eltern. des Monats
riges Buch geworden, nicht nur wegen Der Zauberberg, wie die Odenwald-
schwer verdaulicher Wahrheiten, sondern schule genannt wurde, war ein Sehn-
auch weil derart weitreichende Kritik gut suchtsort – auch noch nach der Entlar-
begründet sein will. Entsprechend gründ- vung 1999, denn die Taten waren so un-
lich hat der Autor Archive, Briefwechsel, glaublich, dass viele sie nicht wahrhaben
Schulzeitungen sowie wissenschaftliche wollten. „Im Paradies darf es keine Schan-
Publikationen durchforstet. de geben“, schreibt Oelkers. Eine bemer-
Der Junge Gerold Becker wurde emo- kenswerte Arbeit, der jedoch am Ende die
tional karg erzogen und verbrachte die Luft ausgeht. Der Autor gibt wieder, was
Pubertät in bündisch geprägten Jungen- passierte, als die Schule endgültig ge- Die Travel Edition der beliebten Rubbel-
gruppen. Danach studierte er erst Theo- schlossen wurde. Wieder sind die Schüler Weltkarte lässt sich mit auf die Reise nehmen.
logie, dann Pädagogik. Die Recherche er- die Leidtragenden. Es endet als interner Und während Sie auf Tour in der großen
gibt jedoch keine klare Vita, denn: „Becker Kampf. Jene, die die Leiden der Miss- weiten Welt sind, kratzen Sie einfach vor
ist ein Meister des Ungefähren.“ Aber Jür- brauchsopfer erneut kleinreden, erhalten Ort die Goldfolie ab: Hier bin ich!
Auf der Rückseite der Scratch Map gibt es
gen Oelkers findet ein wiederkehrendes auch noch das Schlusswort. Hier hätte ei-
eine Fülle von Anregungen zum Ausfüllen,
Muster: Er „macht sich immer nützlich“, ne Einordnung dieses traurigen Gefühls- Gestalten und Ankleben.
nimmt Menschen für sich ein – und be- wusts stehen müssen. Ein klares Fazit ge-
Scratch Map – Travel Edition.
treut Jungen. Dann verlässt er Hals über gen Missbrauch von Macht. Aber auch Maße: 82,5 x 59,4 cm, in Rolle. € 16,95
Kopf die jeweilige Wirkstätte. Überall gegen Verantwortungslosigkeit gegenüber Best.-Nr. NBDFPLU019
Spuren von „Tat und Flucht“. Schließlich den Opfern. SYLVIA MEISE
+ Buch
landet er ohne profunde Kenntnisse oder
= porto-
Schulpraxis, aber mit viel Chuzpe an der freier
Jürgen Oelkers: Pädago-
Odenwaldschule. Protektiert wurde er gik, Elite, Missbrauch. s "ESTELLHOTLINE Versand
durch seinen Freund Hartmut von Hentig, Die „Karriere“ des Gerold
Becker. Beltz Juventa,
der bis zuletzt zu ihm halten und sein ei- Weinheim 2016, 608 S.,
genes Lebenswerk dadurch ruinieren € 58,–
&AX
wird.
Becker war nicht der einzige Pädophi- s SHOP PSYCHOLOGIE
HEUTEDE
le an der Schule. Angewidert wirft der
Manche Menschen ärgern sich einfach oft Denn Knuf verschweigt die Mühen der
über sich selbst, andere können kaum Ebene nicht, zugleich ist jeder seiner Sät-
Freude empfinden, und manche machen ze getragen von der Überzeugung, dass
sich das Leben tatsächlich selbst zur Höl- Selbstmitgefühl auszubilden unbedingt
le. Der maulende, destruktive Umgang lohnt. Auch weil es uns stärkt für die Ein-
mit sich selbst scheint eine Art Volks- sicht, dass wir unser Leben letztlich – wie
krankheit, die sich auf fatale Weise fort- neurologische Studien immer deutlicher
pflanzt: Denn wer mit sich selbst nicht zeigen – keineswegs so kontrollieren kön-
ztabo
Jebte
PHro 4
eft 3- en,90 €
liebevoll umgehen kann, der kann, wie nen, wie wir gern glauben wollen. Wie
eestfeülrl1 6 schon die Bibel weiß, auch andere nicht heilsam es sein kann, diesen Irrglauben
4 Hbeft
9,80 € wirklich lieben. ebenso wie die ungnädige Strenge gegen-
Andreas Knuf regt an zu „Selbstmit- über uns selbst loszulassen, dafür findet
gefühl in guten und in miesen Zeiten“. der Autor überzeugende Bilder wie das
Selbstmitgefühl meint dabei sowohl die vom Kinderkarussell. „Neulich beobach-
»Heißt die deutsche Politik Flüchtlinge
Fähigkeit, die es auszubilden gilt, als auch tete ich einen kleinen Jungen auf einem
willkommen?« den Weg, diese Fähigkeit anzuwenden. Kinderkarussell. Er saß ganz allein in ei-
Asylmigration nach Deutschland – Ent-
Durch seine Praxis als Psychologischer nem Feuerwehrauto, vor ihm ein Pferd
wicklungen und Herausforderungen Therapeut wiederum ist Knuf vertraut mit und hinter ihm ein grüner Hubschrauber.
den vielfältigen Formen der Selbstver- Vollkommen aufmerksam hielt er das
Die syrische Flüchtlingskrise: Dauerhafte
hinderung, Selbstverurteilung und Selbst- Lenkrad etwas nach links gedreht in
Lebensperspektiven aufbauen!
zerstörung. Das Buch bietet dazu in einer Fahrtrichtung des Karussells. Er (…) war
Die europäische Flüchtlingspolitik im
lockeren Sprache viele leicht umzusetzen- ganz davon in Beschlag genommen, die
Spannungsfeld von Grenzöffnung und de Tipps – und weist gleichzeitig auf eine Richtung zu halten, um nicht mit dem
Grenzschließung Reihe von Fallen hin. Zum Beispiel unse- Pferd vor ihm zusammenzustoßen. Er
Die Relevanz ausländerrechtlicher Rah-
ren Perfektionismus, der einem gütigen, hatte wohl Angst, zu schnell zu fahren und
menbedingungen für junge Flüchtlinge großzügigen Umgang mit uns selbst ent- die Kurve nicht zu kriegen. Genau wie
Qualitätssicherung in der Rechtsberatung
gegensteht. Oder unsere Vorstellung, ein dem kleinen Jungen ergeht es uns in un-
für Flüchtlinge sicherstellen gutes Leben sei ein Leben ohne Krisen serem Leben: Wir strengen uns ungemein
Unabhängige Asylverfahrensberatung
und Schmerzen. Dabei geht es doch an, alles richtig zu machen, doch in Wirk-
darum, durch Selbstmitgefühl den lichkeit gibt es kaum etwas zu tun. Das
Die Unterbringung von Flüchtlingen aus
Schmerzen und Herausforderungen, die Kinderkarussell dreht seine Runden, das
menschenrechtlicher Perspektive
wir unweigerlich erleben, besser gewach- Feuerwehrauto ist fest montiert, der klei-
Trauma – Flucht und weiter Trauma?
sen zu sein. ne Junge könnte freudestrahlend sein Eis
All das sind Grundlagen der Selbstfür- schlecken und seinen Eltern zuwinken.“
Preis Heft 3-4/2016: € 9,80 zzgl. Versandkosten
sorge. Wer sich schon länger mit dem The- GABRIELE MICHEL
Internet: www.juventa.de mehr Selbstmitgefühl machen, und jene, 219 S., € 14,99
Frau Eck, verlieren Frauen in langen Beziehungen Angelika Eck, Dr.sc.hum., ist Diplompsychologin,
zertifizierte systemische Therapeutin und Beraterin (SG),
eher ihre Lust als Männer? systemische Paartherapeutin und Sexualtherapeutin
Ja. Es gibt auch viele Männer, die die Lust auf Sex in eigener Praxis
ein Zugewinn an Erregungskompetenzen und Be- unter diesen Bedingungen. Nichtwollen und Wollen
freiung von Scham bedeuten. Es kann genauso be- deutlicher wahrzunehmen und auszudrücken, damit
deuten, mehr über die erotischen Reize kultureller nicht eine sexuelle Funktionsfähigkeit hergestellt
Prägungen und Verbote bei sich selbst zu erfahren, wird, sondern die Frau eine Erotik erleben kann, die
sie vielleicht sogar als erotisches Potenzial zu entde- es wert ist, gewollt zu werden, ist aus meiner Sicht
cken, etwa sich selbstbewusst auch in eine passive ein attraktives Beratungsziel.
Rolle zu begeben. INTERVIEW: KATRIN BRENNER-BECKER
„Kreativität“ – für viele Menschen hat Ein möglicher Weg, etwas Neues zu
schon das Wort etwas Verheißungsvolles. (er)finden, kann also sein, die Wirklich-
Kreativität als Ausdruck der eigenen Ide- keit radikal unvoreingenommen zu
en, Erfahrungen, Gefühle – ein Wunsch- betrachten, denn „Es gibt nichts Irrefüh-
traum. Insofern antwortet das Buch von renderes als eine eindeutige Tatsache“ – so
Kevin Ashton mit dem verspielten Titel Robin Warren, auf Sherlock Holmes zu-
Wie man ein Pferd fliegt auf ein verbrei- rückgreifend, in seiner Nobelpreisrede.
tetes Bedürfnis. Aber Vorsicht: Dies ist Das klingt leicht und einleuchtend –
kein Ratgeber mit dem Ziel, die Leser zu tatsächlich weist dieses Zitat aber auf eine
den Quellen ihrer Kreativität zu führen. zentrale Barriere hin, die kreativen Im-
Ashtons „ungewöhnliche Konzepte für pulsen im Wege steht: unsere Scheu
Innovation und Kreativität“ sind vielmehr gegenüber allem Neuen, Ungewohnten.
ein spannender Parcours durch die Ge- In der Spannung zwischen „progressiv“
schichte von – teils spektakulären – Er- und „konstruktiv“ entscheiden wir uns
findungen. Zentral ist dabei die Frage, wie oft für das Vertraute – auch wenn wir sa-
Kreativität funktioniert, das heißt, was es gen, dass wir das Neue lieben. In einem
braucht, um eine Idee oder Entdeckung aufschlussreichen Schulexperiment zeig-
Mit glasklarer Analyse und konkreten
in ihrer Bedeutung zu erkennen, zu ent- te sich, dass die große Mehrheit der Leh-
Vorschlägen eröffnet Sahra Wagen-
wickeln und in die Welt zu bringen. rer – 98 Prozent – kreatives Arbeiten so
knecht in ihrem neuen Buch die politi-
sche Diskussion über neue Eigentums-
Anhand von acht Beispielen, die jeweils wichtig fand, dass es täglich unterrichtet
formen und zeigt, wie eine gerechte von einer Figur ausgehen, beschreibt der werden sollte. Bei der Bewertung ihrer
und zukunftsfähige Wirtschaft aus- Autor verschiedene Wege und Techniken Schüler aber, die teils einen hohen IQ hat-
sehen kann. Denn wir leben in einem des Erfindens. Das reicht von Edmond, ten und teils hochkreativ – das heißt
Wirtschaftsfeudalismus, der mit freier einem afrikanischen Sklavenjungen, der witziger, verspielter und weniger bere-
oder sozialer Marktwirtschaft nichts im 19. Jahrhundert einen Weg entdeckte, chenbar – waren, zeigte sich: Die Lehrer
zu tun hat. Und die Innovationen, die die Selbstbefruchtung der Vanillepflanze „mochten die Schüler mit dem hohen
uns bei der Lösung wirklich wichtiger zu befördern, über Woody Allen, der gut IQ, aber nicht die kreativen Kinder“.
Probleme weiterbringen, bleiben aus. 50 Spielfilme, acht Theaterstücke, Fern- Ausgehend von Woody Allens außer-
sehfilme, Kurzfilme und zahllose Regie- gewöhnlicher Produktivität, belegt Ash-
»Das Buch ist wirklich gut geschrieben.
arbeiten produzierte, bis zu Robin Warren, ton zudem anhand zahlreicher Studien,
Die Autorin beherrscht die Kunst des
der 1979 ein im Magen angesiedeltes, für dass intrinsische Motivation wesentlich
klaren Denkens und kennt sich über
den Unterschied von Haben und Nicht-
Gastritis und andere Magenkrankheiten kreativere Prozesse in Gang setzt als ext-
haben auch in der Praxis aus.« verantwortliches Bakterium entdeckte – rinsische Motive wie der Wunsch nach
Peter Gauweiler, Süddeutsche Zeitung das Helicobacter pylori. Warrens Ge- Lob, Ruhm, Karriere. Mehr noch: Ex-
schichte ist besonders interessant, weil sie
ein Phänomen offenlegt, das unser aller
2016. 292 Seiten. € 19,95
ISBN 978-3-593-50516-9 Alltag bestimmt: Der australische Forscher
Kevin Ashton: Wie man ein
Auch als E-Book erhältlich registrierte etwas und nahm es ernst, über Pferd fliegt. Ungewöhnli-
das Kollegen zuvor schon über 104 Jahre che Konzepte für Innovati-
on und Kreativität. Aus
hinweggesehen, es sogar beiläufig erwähnt, dem Englischen von Sigrid
aber nicht als das, was es war, erkannt hat- Schmid. Hanser, München
2016. 311 S., € 24,90
ten: ein Bakterium. Und zwar einfach, weil
der damals herrschenden Lehre zufolge im
Magen keine Bakterien sein konnten.
TREIBSTOFF NEUGIER
Carl Naughton arbeitet als Linguist, Schauspieler, pädagogischer Psycho-
loge und Dozent, beweist sich also als neugierig, denn Neugier ist, ihm
zufolge, die Basis für Vielfalt. Sie ist der Brennstoff, um Freunde zu gewin-
nen, Erfolg zu haben, das Leben zu genießen, Intelligenz zu entwickeln,
Selbstvertrauen zu gewinnen, Ideen zu schmieden und das Gedächtnis zu
trainieren. Neugierige verarbeiten Informationen langsamer, sind dafür
aber am Ende schlauer als zuvor. Wer die „Neugierbrille“ trägt, stellt Fra-
Kierkegaard
gen, die sein Gegenüber aufwerten, so Naughton. Neugier ist deshalb wich- Nr. 28 Sammelbeilage Überblick / Martin Duru
und die Existenz
Vorwort / Vincent Delecroix
tig für Liebesbeziehungen: Die scheitern nämlich meist daran, dass die „Entwed
+ +
er
Oder“ –
(Auszüge)
Partner mit den Jahren die Neugier verlieren, weil sie fälschlicherweise
meinen, alles über den anderen zu wissen. Je weniger neugierig ein Mensch
ist, umso mehr verlässt er sich auf Stereotypen, um Menschen und Situa-
tionen einzuschätzen, und ängstigt sich, wenn diese seinen Vorstellungen
nicht entsprechen. Dieser need for closure (siehe hierzu auch unsere Titel-
geschichte ab Seite 18) setzt Autoritätshörigkeit gegen Vielfalt. Bei Neu-
gierigen übertreffen jedoch die Interessen die Angst.
Die Neugier hat aber auch eine dunkle Seite, nämlich von Thema zu
Thema zu hüpfen, herumzuspionieren oder den Kick durch Drogen zu Jetzt
suchen. Am Ende des Buches stellen sich Fragen: Wie lässt sich diese „dunk-
le Seite“ der Neugier von der „erwachsenen Neugier“ tren- das Probeabo
nen? Was ist mit Menschen, die in ihrem Fachgebiet sehr
neugierig sind, aber sich für Mitmenschen nicht interes-
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PSYCHOLOGIE HEUTE 07/2016 89
AUSSERDEM
HÖREN SEHEN
„Demenz ist nicht nur eine Krankheit, sondern ein Teil des Lebens
vieler im hohen Lebensalter“
Steffen Gaudlitz, Edersleben
die Demenz isoliert vom Leben zu betrach- Angst, Sehnsucht, Vernunft und Hoff-
Herr Professor Wahl, Sie sind Alterns- und Le- Auch das ist ein Klischee. Schauen Sie sich die Zah-
ten, so als sei sie etwas außergewöhnlich nung, dass man aufpassen muss, nicht
benslaufpsychologe. Was bedeutet das eigent- len an: Die meisten alten Menschen sind und werden
lich? nicht dement. Natürlich existiert Demenz. Und es
Ich beschäftige mich mit unterschiedlichen Themen handelt sich dabei um eine schwerwiegende Krank-
des Älterwerdens, die alle etwas mit unseren psycho- heit. Aber als Forscher interessiere ich mich eher für
logischen Leistungen und unserem Erleben zu tun die normalen Formen des Älterwerdens – und da
haben. Beispielsweise haben wir untersucht: Wie steht spielt Demenz eben keine Rolle.
es um unser Wohlbefinden ganz spät im Leben, also Sie sagen also: Mit 90 werde ich noch so glücklich
im hohen Alter? sein, wie ich mit 40 war?
Ich vermute mal, dass es diesen Menschen nicht
besonders gutgeht.
Das glauben viele. Sie meinen, dass alle Hochaltrigen
depressiv sind und tief im Befindlichkeitskeller. Das
ist Unsinn. Wir haben beispielsweise in einer Längs-
schnittstudie Menschen zwischen 80 und 89 über
Auf den einzelnen Menschen bezogen gibt es schon
Unterschiede. Es gibt auch Schwankungen, etwa wäh-
rend einer Erkrankung. Trotzdem: Wenn ich Wohl-
befinden messe auf einer Skala von eins bis zehn und
mit 40 irgendwo zwischen sieben und acht liege, dann
bin ich sehr wahrscheinlich auch mit 70, 80 oder 90
Seltenes. Vielmehr gehört das Vergessen lebensunfähig zu werden. Nach meiner
acht Jahre hinweg untersucht. Dabei entdeckten wir noch im selben Bereich.
zum Leben dazu, so wie der Tod. Wenn Erfahrung ist Trauer meist überwindbar,
etwas Überraschendes: Das Wohlbefinden bei vielen Und wenn man auf Dauer krank wird und der Arzt
dieser sehr alten Menschen ist auch nach all diesen sagt: Das wird nie wieder so, wie es vorher war –
Jahren immer noch hoch. Und das hat Gründe. Die- was macht das mit einem Menschen?
se Menschen haben ja einen langen Weg hinter sich. Ja, wie gehen alte Menschen damit um, dass sie nicht
Sie haben dabei gelernt, ihr Wohlbefinden immer mehr geheilt werden können? Wir haben das am Bei-
wieder zu regenerieren. Sie wissen, was ihnen guttut spiel einer Makuladegeneration untersucht …
und was nicht. … einer schweren Augenkrankheit …
wir über Menschen mit Demenz reden, Heimweh jedoch nicht, weil bis zum Tod
Vielleicht ist es auch eine Sache der Einstellung, … und das Ergebnis wird Sie nicht überraschen: Na-
also wie man die Dinge bewertet, die einem im türlich gibt es erst einmal einen Einbruch im Wohl-
Leben widerfahren? befinden. Der Arzt sagt: Ich kann Ihnen da nicht
Ja, das ist etwas ganz Zentrales. Wie interpretieren helfen – danach geht es einem schlecht. Aufregend
wir unser Leben, wenn die Zeit begrenzter wird? Wir ist für mich das, was danach passiert: Man versucht,
verbringen heute ungefähr ein Viertel unseres Lebens das Beste daraus zu machen, man verändert seine
in der nachberuflichen Phase. Und natürlich geht es Ziele und sagt, okay, ich kann jetzt nicht mehr so
da auch um die Frage: Welche Bedürfnisse habe ich reisen, wie ich das wollte. Aber es gibt ja noch ande-
eigentlich? Welche Ziele habe ich? Was möchte ich
noch erleben mit meinen Kindern und Enkelkindern,
mit meinen Freunden und Bekannten? Es geht auch
um Sinnsuche. Was ist noch los für mich im Leben?
Jedenfalls scheint das Altern vielen ganz gut zu ge-
lingen. Sie sind zufrieden, sie fühlen sich wohl, sie
re tolle Sachen im Leben, und ich versuche jetzt zum
Beispiel, mir mit Hörbüchern den Goethe neu zu
erschließen. Sie könnten sagen: Das machen nur die
Bildungsbürger. Aber wir finden das bei Leuten aus
allen Schichten. Und irgendwann stabilisiert sich das
Wohlbefinden bei sehr vielen Betroffenen wieder auf
sehen wir zunächst das Krankheitsbild die Sehnsucht bleibt, in der Heimat seinen
sind nicht depressiv, die meisten bezeichnen sich auch dem Niveau, das sie vor der Diagnose hatten.
und dann erst den Menschen. Es muss Lebenskreis wieder schließen zu können.
nicht als einsam. Das entspricht der Set point-Theorie des Wohl-
„Leben wir vielleicht Was ist daran aus Ihrer Sicht neu?
Fest steht, dass die Generationen vor uns anders über
befindens, wie sie etwa Ihr amerikanischer Kol-
lege Ed Diener vertritt: Unser persönliches
zu lange?“
das Älterwerden gedacht haben. Das ist für mich auch Glücksniveau bleibt auf lange Sicht immer auf
ganz persönlich von Interesse: Ich bin jetzt 62. Und einem ähnlichen Level.
ich merke, dass es für die Zeit, die vor mir liegt, kei- Natürlich. Und wir wissen heute, dass diese Dinge
ne vorgefertigten Antworten gibt, die ich einfach nur in sehr begrenztem Maße von unserem Lebens-
FOTOS: GUDRUN-HOLDE ORTNER
Kann man mit 90 Jahren überhaupt noch glücklich sein? Man kann!
sind normal! tungen der Altenhilfe und beobachte milie zusätzlich. Und – was ich ihr aber
noch nicht sage – sie verhindert mit all
dem Grübeln den Abschied, das Loslassen.
Denn darum geht es immer bei einem To-
desfall.
Ich lasse sie weiter reden und möchte
mere Gefühle. In diesem Fall wohl die
Ohnmacht. Sich schuldig fühlen ist viel-
leicht leichter zu ertragen als das Ohn-
machtsgefühl, das Gefühl, einer Situation
ganz und gar ausgeliefert und hilflos zu
sein. Lieber sich schuldig und damit eben
ganz und gar ausgeliefert und hilflos zu
sein. Lieber sich schuldig und damit eben
auch in gewisser Weise handlungsfähig
fühlen als dieses lähmende Gefühl der
Ohnmacht. Einerseits also braucht es den
Raum für die Gefühle, andererseits sind
mehr über die Familiensituation wissen. auch in gewisser Weise handlungsfähig auch Wege, Auswege, die letztlich zur
Menschen mit Demenz mit dem Ziel, „ICH WILL MEIN KIND ZURÜCK“ „Gibt es noch andere Kinder?“ Sie ant- fühlen als dieses lähmende Gefühl der Akzeptanz führen, zu suchen.
(Im Interview mit dem Alternsforscher Hans- wortet, dass Sven eine zwei Jahre jüngere
Schwester hat, die so ganz anders ist als
Ohnmacht. Einerseits also braucht es den
Raum für die Gefühle, andererseits sind
Sven hat mit seiner Entscheidung für
den Tod die anderen entmachtet, und in-
D
ie Frau – geschickt von ihrem Der erwachsene „Sein Vater schafft das besser“, sagt sie er. Dann fällt ihr ein, dass sie in der Ver- auch Wege, Auswege, die letztlich zur sofern ist sein Suizid wie jeder andere auch
Hausarzt – ist schwer depressiv, und klingt dabei bitter. „Wenn ich darü- gangenheit reden muss. „Hatte“, verbes- Akzeptanz führen, zu suchen. eine Anklage. Vater und Schwester haben
Sohn nahm sich
das ist offensichtlich: Der Blick ber mit ihm reden will, blockt er ab. Er sert sie sich, wieder unter Tränen. „Mela- SÜber all das spreche ich mit ihr und gelernt, damit zu leben. Oder aber sie ha-
das Leben. Für die
„Leben wir vielleicht zu lange?“ Heft 4/2016) gebracht“. Dabei treten Tränen in ihre
Augen.
sie sich die Chance, von
ihrem Sohn Abschied
se Fragen für sinnlos und stürzt sich statt-
dessen in seine Arbeit. „Was macht Ihr Wie kann die Mutter akzeptieren,
was der Sohn entschieden hat?
es zum Tabu erklärt (totschweigen), was
ja letztlich auch eine Strategie ist, mit Un-
chen oder vergessen.
Über all das spreche ich mit ihr und
Ich habe das Interview mit Interesse ge- menter Menschen zu verbessern. Das In- Hause gewohnt. Zu Familienfesten kam
er und auch zu Weihnachten. Sonst nicht
mehr oft oder lange. „Er hatte inzwischen
die Prüfungen gut hinter sich gebracht
war eigentlich nicht geeignet für so einen
Beruf, das sehe ich an seinem Vater. Der
ist ganz anders, der kann sehr hart sein.“
Und dann: „Ich habe auch viel falsch ge-
ziehungsweise die, die zu ihren Schwächen
standen?“, frage ich. „Ja, so ungefähr war
es.“
Depression kann als vermiedene Trau-
er angesehen werden. Die Mutter will nicht
trauern, will nicht Abschied nehmen – sie
will ihren Sohn zurück. Damit will sie
freilich etwas Unmögliches, und die De-
Ich denke, dass sie zunächst wirklich ei-
nen Raum braucht, wo sie sich aussprechen
kann, Leid, Schmerz und Schuldgefühle
äußern darf. Einen Raum, wo die Gedan-
lesen und bin beeindruckt: Zum einen strument heißt Dementia Care Mapping
gen, die ihn niedergedrückt haben. Ich Margarethe Schindler nes. Um des lieben Friedens willen.“ freilich etwas Unmögliches, und die De- nen Raum braucht, wo sie sich aussprechen
höre, dass das furchtbare Ereignis über ist Psychologische Psychothera- Schuldgefühle, denke ich. Beim Selbst- pression könnte sich endlos hinziehen und kann, Leid, Schmerz und Schuldgefühle
peutin und arbeitet als systemische
ein Jahr zurückliegt, und sie ist weit davon Paar- und Familientherapeutin in
mord eines nahen Angehörigen, erst recht auswirken auf ihr Leben und ihr Umfeld. äußern darf. Einen Raum, wo die Gedan-
entfernt, darüber hinwegzukommen. eigener Praxis in Tübingen. eines Kindes, kommen die Fragen, was Ich denke, dass sie zunächst wirklich ei- ken und Selbstvorwürfe einfach sein dür-
sucht unsere Gesellschaft dringend Wege und wurde von Tom Kitwood und ande-
aus dem demografischen Debakel, und ren entwickelt. Es geht aber nicht nur um Vom Trauma zur
zum anderen gibt Hans-Werner Wahl be- das Wohlbefinden beziehungsweise Un- Tagesordnung?
eindruckende Impulse, die im Interview wohlsein, sondern auch um das Erkennen (Margarethe Schindler beschrieb, wie sie eine
so ganz selbstverständlich aus ihm her- von Diskriminierung dementer Menschen Mutter, die ihren Sohn durch Selbstmord ver-
loren hatte, therapeutisch begleitete. „Ich will
aussprudeln wie ein lebendiges und erfri- in diesen Einrichtungen. Und ich finde, mein Kind zurück“. Therapiestunde. Heft
schendes Bächlein. Dafür danke ich ihm Hans-Werner Wahl hat, ganz sicher ohne 3/2016)
sehr. böse Absicht, Tausende Betroffene diskri-
Doch erstens irritiert mich die Aussa- miniert. Steffen Gaudlitz, Edersleben Die Therapiestunde von Margarethe
ge, dass Wahl zwischen „normalen For- Schindler finde ich erschreckend. Eine
men des Älterwerdens“ – ohne Demenz Heimweh ist seelische Folter Mutter verliert ihr Kind durch Selbstmord Die Redaktion behält es sich vor, Leserbriefe zu kürzen
– und folglich unnormalen Formen des (Klaus Wilhelm beleuchtete das Phänomen – kann es in einem elterlichen Leben noch
Älterwerdens – alt werden mit Demenz Heimweh. „Die kleine Trauer“. Heft 5/2016) schlimmer kommen? Und Margarethe
– unterscheidet. Diese Unterscheidung Für Ihren Bericht danke ich Ihnen. Ihre Schindler beklagt, dass diese offenbar
bedeutet, dass Menschen mit Demenz Ausführungen kann ich nur bestätigen. recht empfindsame Frau (jedenfalls we-
nicht normal sind. Ich sage: Menschen mit Dennoch möchte ich noch deutlicher sentlich empfindsamer als der Rest der
Demenz sind normal! werden. Für mich ist Heimweh nicht nur Familie) es nach einem Jahr – einem ein-
Zweitens ist „Demenz“ tatsächlich eine eine kleine Trauer, für mich ist Heimweh zigen Jahr – noch nicht geschafft hat, „los-
„schwerwiegende Krankheit“. Aber sie eine seelische Folter. Seinerzeit zog ich zulassen“?
kommt so häufig vor, dass es völlig normal vom Rheinland nach Hessen. Mein Heim- „Sie muss darüber reden, immer wie-
sein kann, im hohen Lebensalter an De- weh hat und hatte eine solche Kraft, dass der“, schreibt sie, „… sie braucht einen
menz zu erkranken. Oder anders formu- mein gesamtes Immun- und Abwehrsys- Raum, wo die Gedanken und Selbstvor-
liert: Demenz ist nicht nur eine Krankheit, tem zusammenbrach und ich unheilbar würfe einfach sein dürfen und sie nieman-
sondern ein Teil des Lebens vieler im ho- krank wurde. Heimweh ist eine unbe- dem auf die Nerven geht. Wer sonst will
hen Lebensalter. Es hilft also niemandem, schreibliche Qual, eine Mischung aus noch ihr Gejammer hören?“
FREUNDLICH GEGENÜBER
FREMDEN
Über Fremdenfeindlichkeit wird in diesen Tagen
viel diskutiert. Weniger bekannt ist, dass es auch
das Gegenteil gibt: Xenophilie, die positive Hal-
tung gegenüber fremden Menschen und neuen Er-
fahrungen. Auf den ersten Blick ist dies ein unge-
wöhnliches Phänomen – neigen wir doch dazu, die
eigene Gruppe zu bevorzugen. Aber das Konzept
„Xenophilie“ kann Antwort geben auf Fragen wie:
Warum engagieren sich Menschen für Fremde?
Warum sind manche Menschen offen für das Un-
bekannte, während andere sich vom Fremden be-
droht fühlen?
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