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ffif lndien, charta von Athen, weltkulturerbe

Foto t: Hauptgeschäftszentrum und Fußgängerzone in Sektor 1 7. Die Gebäude kommen in die Jahre

Frauke Kraas, Carsten Butsch

Chandigarh r Evolution
o
einer neuen Hauptstadt
Mit der Teitung Britisch-lndiens 1947 in die Staaten lndien und Pakistan wurde
auch die provinz Punjab geteitt. Die Provinzhauptstadt Lahore fiel an Pakistan,
sodass der indische Bundesstaat Punjab eines neuen Regierungssitzes bedurfte.
Nach Vorstetlung des ersten Ministerpräsidenten lndiens, JawahartaI Nehru,
so[tte die neue Hauptstadt Chandigarh Symbolfür ein neues, modernes lndien
werden. Für die Ptanung wurden renommierte Architekten der Moderne ge-
wonnen, deren ldeen eine einzigartige Stadt prägten. Mit starkem Wachstum
verändern sich Struktur, Funktionen und Ptanungsgrundsätze.

Fl er Auftrag zum Bau einer neuen Hauptstadt mit ca. 28 000 Personen aus bestehenden Dörfern
lJ fti, den l"unjab war zunächst den Städtepla- r,r,urden umgesiedelt (Perera 2004, S. 183/4). 1950
nern Albert Mayer und Matthew Nowicki erteilt begannen die Planungen von Chandigarh, 1952
worden. Nach Nowickis Unfalltod 1950 wurden folgten die Grundsteinlegung und 1953 die offi-
der Architekt Le Corbusier und sein Team Pierre zielle Einweihung (Fondation Le Corbusier o. J.).
Jeanneret, Jane Drew und MaxweII Fry beauf- Die Grundidee Chandigarhs spiegelt die wesent-
tragt; es waren auch mehrere indische Architek- Iichen Prinzipien der Charta von Athen wider, die
ten beteiligt (Chalana und Sprague 2013, S. 201). hier nahezu idealtypisch umgesetzt werden konn-
Als Standort wurde ein leicht abschüssiges, ten: Die Stadt ist in rechtwinklige Sektoren geglie-
Iandwirtschaftlich genutztes Areal am Fuß der dert, in denen die städtischen Funktionen Woh-
Himalaya-Vorberge ausgewählt; 6 000 Familien nen, Arbeiten und Sich-Versorgen entsprechend

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der Leitlinie der Charta von Athen voneinander bauten Umwelt. Dies ist mit Natursymbolen von
getrennt sind (vgl. Karte 1). Der schachbrettartige Sonne, Regen, Blitz, Bäumen und Tieren am Ein-
Stadtgrundriss sah für die erste Phase 29 Sektoren gangsportal des Portico vom Parlamentsgebäude
vor (Sektor 1-30, ohne Sektor 13). Die zweite Aus- repräsentiert (Gast 2000).
bauphase (Sektor 3747) wurde frir eine höhere Im Capitol-Komplex (Sektor 1), konzentrieren
BevöIkerungsdichte geplant (Bose 2017, S. 18-20). sich mit Parlament, Justizgebäude und Secrete-
Jeder Sektor umfasst mit etwa 800 m x 1200 m riat (Ministeriengebäude) die Regierungs- und
eine Fläche von knapp einem Quadratkilometer, Verwaltungsfunktionen. Hier steht auch das
auf dem jeweils etwa 20 000 Einwohner leben. Symbol Chandigarhs, die von Le Corbusier ge-
Für Le Corbusier waren ,,Ordnung als trans- staltete Skulptur der ,,Offenen Hand". In Sektor
zendentes Moment" und ,,Symbolformen [...] 10 konzentrieren sich die Museen, in Sektor 17 die
Ausdruck des Erhabenen und Würdevollen" Einkaufs-, in Sektor 35 die Gastronomiefunktion.
(Gast 2000, 5.112,116), die in der Konzeption Zudem wurde eine - in Indien nahezu einmalig
der gesamten Stadtanlage und den prominenten - große Fußgängerzone realisiert (Bose 2017, S.
Gebäuden verwirklicht wurden. Naturalistische 31). In den Wohnsektoren wurden Einrichtungen
Metaphern verweisen auf die Organisation der des täglichen Bedarfs bereitgestellt: Märkte, Schu-
Stadt in Anlehnung an einen menschlichen Kör- len, Gesundheitsversorgung. Die im Originalplan
per - mit dem Capitol als Kopf, dem Zentralbe- vorgesehenen ausgedehnten Zonen mit Parks
reich als Körper und dem Geschäftszentrum als und Grünflächen orientierten sich an den nord-
Herz. Als Arme werden die parallel dazu liegen- ost-südöstlich fließenden Gewässern. Ein 1952
den Achsen für Bildungs- und Freizeitbereiche zunächst auf 8 km, 1962 dann auf L6 km Radius
angesehen. Wie ,,Blutbahnen des Körpers" (Bose festgelegter Grüngürtel (Periphery Control Area)
2017,5.22) und ohne Ampeln, dafrir mit zahlrei- sollte eine unregulierte Entwicklung verhindern
chen Kreisverkehren, r,l,urde ein hierarchisches und als Reserveraum frir zukünftiges Stadtwachs-
Straßensystem konzipiert (V 1, Inter state road/ tum dienen.
city highway bis V 7, Fußgänger- und V 8, Fahr- Bereits 1965 war das ursprüngliche Konzept zu
radwege). Allerdings bedingt die strikte Trennung erheblichen Teilen umgesetzt (Karte 1 zeigt im
der Funktionen lange Wege. Ein öffentliches Ver- Vergleich die plangetreue Umsetzung, aber auch
kehrssystem wurde nicht mitgeplant. Der Capi- die Unterschiede zum Originalplan). Architekto-
tol-Komplex sollte die Einheit von Mensch, Natur nische Ikonen der Stadt sind der aus Sichtbeton
und Kosmos ausdrücken (Ghosh 2016, S. 22314),in geschaffene monumentale Capitol-Komplex mit
symbolischer Fusion der natürlichen mit der ge- High Court (1952 fertiggestellt), das secretariat

Chandigarh: Le Corbusier Plan 1951

Wohnbebauung V1 - lnter state road . PfjmarV schoo ;r Bebauungsstruktur(1965)


Regrof aleilokale Administrat on - ' V2 -Arterial road .
.
l,4iddle school E§ Grünlächen (Clr4P 20311
0 lrr0i 20C0 3l]C0 4000
- 50ll0rr
Geschäfts- und Gewerbebererch V3 - Sector dividrng road High schoo F uß
Parks und otlene F ächen V4 Shopping sireet + Krankenhaus Flrßbetlistausee
Grunf lächen/offene Flächen iSektor) --- V5 - Sector circulation road . Bürgerzenkum Dorf
(1 965)
-
lndustrlegebiet '""" Straßennetz Stadterweiterung Schu, mmbad
Que leni Fondalion Le Corbusier 2019 (wvo.fondalionlecorbusier.fr), USGS 2019 (Declassifed
Reservefläche Sonstige Straßen ' Verwa tungsgebärde
i - Eisenbahn
Flächen fur Stadtenileiterung 17 Sektornummer
imagesi C0RoNAKH-4Aokt. 1965), ChandigarhAdministratiof 2013 Bose 2017
Layour: F. Kraas R.Spohrer GIS Kartographie: R. Spohner
-
Karte l: Ursprünglicher Plan von Le Corbusier und bauliche Umsetzung bis 1965

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!ffiE lndien, Charta von Athen, weltkulturerbe

1965

2019

20
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..\ Sektor 1 - Capitol
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500 1000 1500m i?
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)
I Bebauung 1965
Bebauung 2019:
I Öffentliche Gebaude Sektor I Sektor 17 Sektor 22 Sektor 21

(Verwaltung. Polizei, Schule, 8ürgerzentrum. Straßenhierarchie:


Krankenhaus, religiöse Elnrichtung) V2 (a(erial road)
Gewerbe. Büro V3 (secior dividing road)
Qlei en: Chardlgarh ACm nisiration 201 3. Chard garh Adffinrstrat on
Wohngebäude (staatlrch, pr vat) V4 lshopping streei)
-- 2019 iSeklcLKarten). v/wwerealto com i-JSGS 2019 lDeclassified
W unbekannte Nutzung V5 (sector circulation road) images: C0RoNAKH-4AOkl. 19051. Go0gle Ea(h 2019
f-l Baum /Buschbestand 2019 V6 (neighbourhood street) Layout: F. Kiaas R. Spohner GlS. Kart0graphle: R. Spohner

Karte 2: Bebauung cha-


rakteristischer Sektoren (1953) und die Legislative Assembly (1955) in d, h. den Anschluss
iiber die,,materielle Domäne",
von Chandigarh (1 965) Sektor 1, das Chandigarh CoIIege ofArts (1961), an die modernsten Entwicklungen von Infrastruk-
und ihre Nachverdich- das Government Museum and Art Gallery (1968), tur, Industrie und Wissenschaft (Chatterjee 1994,
tung bis 2019 das Chandigarh Architecture Museum (1997), Shaw 2009, S. 2).
das Le Corbusier Centre (2008) und die,,offene Entsprechend verbanden sich mit dem Bau
Hand" (1984). Die architektonische Gestaltung von Chandigarh von Beginn an hohe Erwartun-
griff kulturelle und klimatische Bedingungen gen: Es sollte architektonisches Symbol für die
auf: Wegen der Sonneneinstrahlung wurden weit Freiheit und den Aufbruch Indiens in eine neue
überkragende Dächer gebaut, Fassaden wurden Zeit sowie wegweisend ftir die zukünftige Gestal-
mit traditionellen Jalis (Transennen, senkrechte, tung indischer Städte sein (Bose 2017,5.30). Von
transparente Bauelemente) gestaltet, die Schat- Städten, neuen Infrastrukturen und wiederer-
ten spenden und Luft zirkulieren lassen. In jedem starkendem Nationalbewusstsein erwartete man
Wohnhaus befand sich neben obligatorischer Ve- Entwicklungsimpulse für die Modernisierung
randa, Küche, zwei Schlafzimmern und Bad je ein der Wirtschaft. Nehru wollte Indien, in Abkehr
Platz mit Sonnenschutzdächern vor und hinter von Gandhis Vision vom ,,Dorf als Herz Indiens",
dem Haus. durch Industrialisierung und Urbanisierung mo-
dernisieren und damit Armut eliminieren. Für
Postkoloniale Deutungen urbaner ihn standen Städte als Symbol für den Fortschritt
Symbolik des Landes, als Sinnbild projizierter Zukunft
(Ghosh 2016, S. 220; Singh er al. 2019). Bis heute
Nach der Unabhängigkeit entstanden in Indien kann man erleben, wie stolz die Einwohner auf
mehrere neue Hauptstädte, da neue, sprachlich die Einzigartigkeit und die besondere Lebensqua-
homogene Bundesstaaten etabliert wurden, z. B. Iität ihrer Stadt sind.
Bhubaneswar (Odisha) oder Gandhinagar (Guja- International wurde Chandigarh als Exempel
rat). Jedoch erfuhr keine so viel Aufmerksamkeit der Architektur der Moderne und als die ,iuon
wie Chandigarh. Ursachen hierfür sind die strin- oben verordnete" Planstadt wahrgenommen. Ihr
gente Planung und damals konsequente Umset- Konzept wird in der Literatur ambivalent bewertet
zung der Ideen Le Corbusiers. Die städtischen * negativ als inhumane Utopie sozialistisch-zent-
Neugründungen standen im Kontext des komple- ralistischen Staatsdiktats mit architektonischem
xen Prozesses der Dekolonialisierung, in der die ,,Brutalismus", positiv als Aufbruch in eine demo-
Qualitäten und Ziele des neuen, unabhängigen kratische Moderne zum Abbau des Kastensystems
Staates, seine Repräsentation und zukünftigen sowie der religiösen und ethnischen Disparitäten
Prioritäten neu definiert wurden (Shaw 2009). (Fitting 2002, Perera 2004). Kritiker bemängeln
Zentral war die Frage nach dem Bruch oder der die fehlende Passung für den Lebensalltag der
Fortführung kolonialer Verbindungen (Radcliffe indischen Gesellschaft mit ihren religiösen und
2005) bei gleichzeitiger Übernahme der Kontrolle kulturellen Besonderheiten sowie die fehlende

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Adaptationsfähigkeit des,,aus einem Guss geplan- mehr bestehen: Im Zentrum von Sektor 9 wurden
ten" Chandigarh an sich permanent verändernde freistehende Bungalows, am Rand mehrstöckige
dynamische Realitäten (Bose 2017, S. 28f.). Gebäude ergänzt. Am stärksten wurden die Sek-
toren 21 und 22 mit Wohnhauskomplexen nach-
Wachstum, Verdichtung, lnformalität verdichtet. Die bereits 1965 etablierte Modulbau-
weise hochverdichteter Apartmentblöcke wurde
Die Evolution von Chandigarh in den vergange- fortgesetzt und alle Baulücken wurden geschlos-
nen 70 Jahren ist durch Wachstum, Verdichtung sen. In Sektor 22 wurde zudem pionierhaft eine
und die Zunahme von Informalität gekennzeich- an das lokale Klima und die gesellschaftlichen
net. In Bezug auf die Raumgestaltung wurde Bedürfnisse angepasste Planung von Nachbar-
die Bebauung im urbanen Kernbereich unter schaften verwirklicht (Jackson 2013).
Bewahrung der grundsätzlichen Sektor-, Gestal- Die BevöIkerung Chandigarhs stieg seit der
tungs- und getrennten Funktionsprinzipien zwi- Gründung rasant von 24 261 (1951) auf 119 881
schenzeitlich zumeist erheblich nachverdichtet (1961) und 257 251 (L971), dann auf451 610 (1981),
(vgl. Karte 2). Vor allem in Sektor 1 blieben die 64201.5 (1991) und 900 635 (2001), schließIich auf
großen offenen Flächen erhalten. Auch in Sektor 1 054 686 Einwohner (2011) (Chandigarh Master
17 bewahrte man trotz deutlicher Verdichtung Plan 2031, aufBasis des Census oflndia), Die Stadt
der Gewerbe- und Bürogebäude großflächige öf- wurde zu einer prosperierenden Metropole, die
fentliche Räume. In den Wohnbereichen wurde heute das höchste Pro-Kopf-Einkommen aller in-
so stark nachverdichtet, dass keine Raumreserven dischen Städte aufweist (Bose 201,7,5.64). Dieser

-.-.-.- GrenzeBurdesstaat Ka rte 3: Ad ministrative


nanpur re §|13111;93111 liri)!r Corf,) ex
igarh
ib Perlphery Control Area
Grenzen und Planungs-
Chandigarh lnlerstare I,letropolitan Reglon regionen von Chandigarh
OELHI
- C obal Urban Footprrr: 24113

| *- Erserbahn
lrrl):ilt . -- Gesassem-Dil iFluss. KaNa i
-'Brrncesstraße
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CH l-JT: Chandigarh Unjon Tetritory
S.A.S. Nagar; Satlbzada Ajit S:ngh Nagar (N10haii)

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Ouelleo: Chan,ioarhAininisiraiicn 2013 Escn eial 2C17 ALOS JAXA2AiS Gcoqle Earth 2r.l! OSl,1 lodia2O1l l'letänaetti Data[1eei ii],!hrb 20i91
Lalaül: ?. K,aas. R Spohner GlS. Kaftclrarhie

GEOGRAPHISCHE RUNDSCHAU 7 IB 2O2A 55


IEUE lndien, charta von Athen, Wettkulturerbe

'v., lich seit 1952 geschützte urbane Peripherie, wur-


ä,,
-*- de sukzessive bebaut. Fehlender Erhaltungswille
.t'. und Durchsetzungskraft, Ignoranz, Korruption

],d und,,Informalität von oben" (Roy 2009) machten
rriil'
die Gesetzeslage wirkungslos (Chalana 2015).

Urbanes Kulturerbe

Vor dem Hintergrund seiner außergewöhnlichen


Entstehungsgeschichte versuchte Chandigarh bis-
her vergeblich, als Weltkulturerbe der UNESCO
anerkannt zu werden, auch deshalb, um sich die
damit verbundenen Vorteile wie Prestige, Einanz-
mittel und Tourismus zu erschließen (Chalana und
Sprague 2013): Widerstand gab es wegen des jun-
s gen Alters der Stadt und weil viele Gebäude aus der
; Cründungsphase nicht mehr intak! vernachlässigt
§ und unvereinbar mit dem Kulturerbestatus umge-
Foto 2: Individue[[ gestaltete Wohnhäuser im Nordosten nahe des Capitols baut wurden. Bedrückend augenfällig wird dies
in der,Ierwitterte[n] Betonoberfläche mit ihrer
Erfolg zog und zieht erhebliche Migrationsströ- ,Schäbigkeitsästhetik'und der Patina" (Gast 2000, S.
me mit sich, die zu immer weiterbeschleunigtem 120) der Monumentalgebäude des Capitol. Auch in-
Wachstum, zunehmend ins Umland hinein beitra- dische Architekten, die ihren Anteil am Entstehen
gen. Mitte der 1970er-fahre erfolgte der Ausbau Chandigarhs nicht ausreichend gewürdigt sahen,
des Hauptquartiers des Western Command der stellten sich gegen eine UNESCO-Listung.
indischen Armee (Chandimandir Cantonment). Das 2010 gegründete Chandigarh Heritage Con-
In Folge der Reorganisation der indischen Bun- servation Committee (CHCC) nimmt sich in Reak-
desstaaten entlang von Sprachgrenzen wurde der tion daraufFragen der Urheberschaft von Gebäu-
Punjab 1966 in die Bundesstaaten Punjab (Panja- den und Stadtgestaltung, einer lokalen Definition
bi)und Haryana (Hindi) geteilt. Seither fungiert von Kulturerbe oder der Grenzen individueller
Chandigarh als Hauptstadt beider Bundesstaaten Veränderung und Vereinnahmung historischer
(Bose 2017, S. 38) mit dem Rechtsstatus eines der architektonischer Zeugnisse an (Chalana und
indischen Zentralregierung unterstehenden Uni- Sprague 2013, S. 207). Auch bisher unbeachte-
on Territory. Die von Le Corbusier fiir maximal te Kulturerbepotenziale, z. B. das hierarchische
500 000 Einwohner konzipierte Stadt expandierte Stmßensystem, werden inzwischen als schützens-
weit über ihre ursprünglichen Grenzen hinaus. werte Elemente diskutiert (Chalana und Sprague
Die Agglomeration,,Chandigarh urban complex", 2013, S. 213; Bose 2017, S. 69). Auf französische
auch als ,,TriC§" bezeichnet, umfasst die benach- Initiative wurden 2016 weltweit 17 verstreute ar-
barten Städte Sahibzada Ajit Singh Nagar (kurz: S. chitektonische Werke Le Corbusiers in die Welt-
A. S. Nagar, früher: Mohali)und Panchkr.rla. Damit kulturerbeliste aufgenommen, darunter auch der
untersteht sie drei Verwaltungen. Capitol-Komplex.
Innerhalb der inzwischen auf 1,15 Mio. Ein-
wohner (UNDESA 2018) angewachsenen Agglome- Interstaatliche Pla n u ngshera usforde-
ration wichen dabei die strengen Planungs- und rungen und Aushandlungsprozesse
Gestaltungsprinzipien immer mehr alltagsprag-
matischen, teils informellen Kompromiss-, Be- Wachstum und Expansion der Agglomeration
helfs- und Umgehungslösungen: Inzwischen stellen angesichts der administrativen Zersplit-
fungiert die Stadt für zwei Bundesstaaten als terung eine besondere Herausforderung dar
Hauptstadt, Einfamilienhäuser wurden zu Mehr- (vgl. Karte 3). Eine weitere Nachverdichtung im
familienhäusern erweitert, informelle Siedlungen Zentrum Chandigarhs ist nicht möglich. In der
und Märkte okkupieren Frei- und Zwischenräu- zweiten (Sektoren 2647) und dritten (Sektoren
me, Bürgersteige und öffentliche Plätze wer- 48-56) Phase der Stadtentwicklung sowie den Sa-
den als Stauraum, MüIlhalden, Kleingewerbe-, tellitenstädten S. A. S. Nagar und Panchkula wer-
Verkaufsflächen und Parkraum benutzt. Große den bestehende Dörfer nicht mehr umgesiedelt,
Flächen belegen die Cantonments (Militär) sowie sondern in das Sektorenkonzept integriert (Bose
Areale für Baumaterialgewinnung und Ziegelher- 2077, S, 43f.).
stellung. Außerdem wurde ein Information Tech- Mit übergreifenden Entwicklungsplänen wie
nology Hub ausgewiesen und Satellitenstädte für dem Interstate Chandigarh Region Structure PIan
Pensionäre und Expatriats wurden gebaut (Chala- (1984-2001) und dem Chandigarh Interstate Met-
na 2015). Auch der im Le Corbusier'schen Konzept ropolitan Regional Plan (CISMeR Plan, 1999-2021)
verankerte Grüngürtel, die so zentrale und recht- wurde versucht, übergeordnete Konzepte für

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den gesamten Agglomerationsraum zu erarbei- Fitting, P. (2002): Urban Planning/Utopian Dreaming: Le
Corbusier's Cha ndiga rh Today. Utopian Studies 1 3 (1 ),
ten, d.och diese wurden nicht rechtsverbindlich
s. 69-93
anerkannt. Mithilfe des Comprehensive Master Fondation Le Corbusier (o. J.): Urbanisme, Chandigarh, lndia,
PIan for Chandigarh 2013-2031. (CMP 2013) sol- 1 950-1 965 (www.fond ation lecorb
usier.fr/corbuweb/mor-
len nun Lösungen fi.ir die Kernprobleme der Re- pheus.aspx?sysld='l 3&l risObj ectl d=6286&sysLa ngu age=en-

gion erzielt werden: Erhalt des architektonischen en&item Pos=1 74&itemsort=en-en-sort-stringl %20&itemC
o u nt=2 1 5&sysPa re ntN a me=&sysPa rentld=65)
Charakters, Schaffung eines ÖpNV kontrollierte Gast, K.-P. (2000): Le Corbusier. Paris - Chandigarh BaseI
Peripherieentwicklung und Bekämpfung sozialer Ghosh, N. (201 6): Modern Designs: History and Memory in Le
Disparitäten. Der jüngste CMP-PIan wurde durch Corbusier's Chandigarh. JournaI of Architecture and Urba-
die Gouverneure der drei Gebietskörperschaften nism 40 (3), 5.220-228
Jackson, l. (20.l3): Maxwell Fry and Jane Drew's early housing
im April 2015 genehmigt (Bose 2017, S. 60).
and neighbourhood planning in Sector-22, Chandigarh'
De facto gestaltet sich eine Kooperation schwie- Planning Perspectives 28 (1 ), S. 1 -26
rig (Bose 2017,5.4147). Die sehr disparaten Inte- Perera, N. (2004): Contesting visions: hybridlty, liminatity and
ressen und Prioritäten zwingen zu pragmatischen, authorship of the Chandigarh pLan. Planning Perspectives
oft ,,faulen" Kompromissen. Bei großen Infrastruk- 1 9, S. 1 75-1 99

Radcliffe, S. A. (2005): Development and geography: Towards


turvorhaben, etwa dem internationalen Flughafen,
a postcoloniaI devetopment geography? Progress in Human
besteht Dissens über Land- und Finanzierungsfra- Geography 29, S. 291 -298
gen. Zur Eörderung der ökonomischen Diversifizie- Roy, A. (2009): Why lndia cannot plan its cities: lnformality,
rung und Dekoruentration etwa soII der Bau des insurgence and the idiom of urbanization. Planning Theory
Rajiv Gandhi Chandigarh Technology Park (auch: B (1 ), s. 76-87
Shaw, A. (2009): Town Planning in PostcotoniaI India,
IT Park Chandigarh) beitragen, doch offen ist, wer
1947-1965: Chandigarh Re-examined. Urban Geography 30
die Infrastrukturen bereitstellt und später von (8), s.8s7-878
Steuereirmahmen profi.tiert (Chandigarh Official Singh, G., Kahlon, S. und V. Bandhu Singh Chandet (2019):
2018). Problematisch ist auch das Überangebot Political Discourse and the Planned City: Nehru's Projection
bei hochpreisigen Immobilien, bei fehlenden An- and Appropriation ofChandigarh, the CapitaI of Punjab'
Annats of the American Association of Geographers 1 09 (4),
geboten ftir einkommensschwache B evöIkerung.
s.1226-1239
Schwierig umzusetzen sind Ahndung und Strafver- UNDESA (20.18): World Urbanization Prospects: The 2018
folgung vonVerstößen gegen Baugesetze. Offen ist Revision, Online Edition (https://poputation.un'org/wup/
auch, welche gemeinsame Haltung zu sozialen Inf- DownIoad/)
rastruklurfragen eingenommen wird und welche
AUTORI§I UND AUTOR
Lösungen frir die wachsenden informellen Sied-
Prof. Dr. Frauke Kraas, geb. 1 962
lungen, Märkte und Gewerbe gefunden werden Geographisches lnstitut der Universität zu Kötn
können (Bose 2017, S. 55-59)' f. kra as@u ni-koeLn.d e
Von einer für alle BevöIkerungsteile gerechten Schwerpu nkte: Stadt- und Soziatgeographie, Südostasien,
Behandlung zeugen die inkohärenten Ad-hoc- und lnd ien

Kompromisslösungen eher nicht, und dialogische '1980


PD Dr. Carsten Butsch, geb.
Endlosdiskussionen erschweren die Umsetzung Geographisches lnstitut der Universität zu Kötn
gemeinwohlorientierter Maßnahmen ebenso wie butsch c@u ni-koetn.d e
grati-
eine Fülle eigenmächtiger Aktionen unterschied- Schwerpu nkte: Stadtgeographie, Gesund heits- u nd li4i

lichster Akteure. Dies veranschaulicht die Schwie- onsforschun g, Südasien

rigkeiten, die Planstädte erfahren, wenn sie sich


weiterentwickeln. Chandigarh ist heute eine be-
eindruckende Manifestation der Ideen der Charta
von Athen. Die Stadt im Spannungsfeld zwischen
formaler Planung und informeller Evolution illus-
triert deren Stärken und Schwächen. I
I.ITERATUR
Bose, (2017): Chandigarh. Unionsterritorium und Haupt-
l\4.
I Summary
stadt der indischen Bundestaaten Punjab und Haryana
seit 1 949. Die neuen Hauptstädte des 20. Jahrhunderts.
Chandigarh - evolution of a new capital
Ptanung, Reatisierung und aktuelle Anforderungen, Band Frouke Kroqs, Corsten Butsch
2.2. Hamburg
Chatana, IV. (201 5): Chandigarh: City and Periphery. JournaI of After independence and the division of coloniaI British lndia,
Planning History'14 (1), S.62-84
the lndian Punjab needed a new seat of government' With the
Chalana, M. und T. S. Sprague (20'1 3): Beyond Le Corbusier
and the modernist city: reframing Chandigarh's 'Wortd Heri-
construction of Chandigarh as the new capital, Nehru wanted
ta ge' le gacy. Pta n n i n g Perspectives 28 12), S. 1 99 -272 to set a striking, post-colonial symbol for a new and modern
Chandigarh officiat (201 B): lT Park Chandigarh (https://chan- lndia. How has Chandigarh devetoped in 70 years on the basis
digarhoffrc aL.com/it'park-chandigarh/) of the strictty-planned visions? How is the urban culturaI
Chatterjee. D '394 . The Nation and its Fragments: CotoniaI
heritage preserved? What are the present chattenges and
and Post-c: :- : !istories. Princeton
CIVP (20li
--^.': !." " aster Plan 2031 (http://chandigarh. negotiation Processes?
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