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Herbert Penzl
To cite this article: Herbert Penzl (1968) Die mittelhochdeutschen Sibilanten und ihre
Weiterentwicklung, Word, 24:1-3, 340-349, DOI: 10.1080/00437956.1968.11435536
1.2 Die Schreibungen. Die Forschung hat von jeher der phonetischen
Bestimmung von mhd. s und z Aufmerksamkeit zugewendet. Schon im
Ahd. werden ja diese zwei Sibilantenphoneme streng unterschieden. Die
Verwendung des traditionellen Affrikatasymbols z für die Spirans scheint
nur deren vorgeschichtliche Entwicklung aus einer Affrikata wieder-
zuspiegeln, was eine phonetische Bestimmung nur teilweise erleichtert.2
s und z werden auch in mhd. Handschriften graphisch streng auseinander-
gehalten, aber letzteres nicht deutlich von der Affrikata unterschieden.
Sogar die "normalisierte" Orthographie unserer Ausgaben schreibt ja oft
waz und schaz; allerdings schatzes, bzw. wazzer im Inlaut. Für die
Affrikata finden wir auch c-Schreibungen vor palatalen Vokalen, ebenso
zahlreiche Digraphien und Multigraphien, wie z.B. tz cz czz zc tzz tss, 3
usw., besonders seit der zweiten Halfte des 13. Jahrhunderts im In- und
Auslaut nach allen Vokalen und Konsonanten. Diese Schreibungen mit
geschriebenem Verschlul3laut t weisen deutlich auf den Lautwert der
Affrikata ais [ts]. c ais [ts] entspricht auch dem spatlateinischen Lautwert
vor e i, den schon ahd. Lehnworter wie zins aus lat. census, cruzi, cruci
'Kreuz' aus lat. crucem, decemo, dezemo 'Zehent' aus lat. decima
bestatigen.
Neben sch in schiere finden sich Schreibungen wie sh ssh ssch ssc, oft
noch sc sk, zuweilen s. 4 Ein Teil dieser Graphien weist auf einen ein-
heitlichen Sibilanten (sh ssh, udgl.) hin, die historische sc- Schreibung ist
charakteristischer Weise besonders haufig in einem lat. Lehnwort wie
schrîben 'schreiben.' Schon im Ahd. zeigten übrigens vielfach Denkmaler
eine abweichende Schreibung des Phonems /k/ nach /s/, oft c auch vor e i
Anzahl von sel- Schreibungen für si aus ahd. Zeit; 18 darunter ist auch die
Schreibung sclaphen 'dormire' in den Altdeutschen Gespriichen, wo ein
romanischer Schreiber anscheinend gesprochenes Ahd. wiederzugeben
trachtete. Wilmanns sah dies ais Schreibung eines Gleitlauts [k] vor [!]
an.I9 Die Annahme eines also wohl apikal-retroflexen, priipalatalen fs/
liel3e sich mit der Bildung eines palatalen Gleitlauts vor dem apikal-
alveolaren /1/ am leichtesten vereinen.
1.5 Die Folgeentwicklung. Aul3er der Vorgeschichte ist auch die
Folgeentwicklung von Bedeutung. Der spiitmhd. Zusammenfall von sund
z, den wir unten (§2.1) behandeln werden, ist selbst ein deutlicher Beweis
für die phonetische Âhnlichkeit der beiden Phoneme, also zumindest für
ihren Zischlautcharakter. Auch die dialektische Verschiedenheit der
neuhochdeutschen (nhd.) Entwicklung kann nicht aul3eracht gelassen
werden. Dal3 in einzelnen Mundarten z.B. der Zusammenfall nur im
Auslaut und in der Gemination des Inlauts eintritt und Lenis-, bzw.
Fortisartikulation im Inlaut (reisen: reifien) die Stelle des Artikulations-
unterschiedes von mhd. s und z einnimmt, deutet auf mhd. s ais Lenis und
mhd. z(z) ais Fortis.
Der spiitmhd. Zusammenfall von mhd. s mit fsf vor Konsonant und nach
r (§2.2 unten) deutet mit Sicherheit auf breitere Allophone von fs/ in diesen
Stellungen. Die Verschiedenheit in den Mundarten, in denen die
Entwicklung von fstf zu fstf teiiweise nur im Aniaut, teiiweise auch in In-
und Auslaut eintrat, konnte schon mhd. Verschiedenheiten der allo-
phonischen Variation wiederspiegeln.
Schwierig ist die Frage der Stimmhaftigkeit von s in stimmhafter
Umgebung im Anlaut und Inlaut. Wie bei den stimmhaften Lenisver-
schlul3lauten gehen nur wenige hochdeutsche Mundarten hier mit der
Hochsprache, die wohi niederdeutschen Einflul3 in der Lautung zeigt.
Auffallend ist aber das Auftreten von stimmhaften s-Lauten in konserva-
tiven südbairischen Mundarten. 2 o Stimmhafte Allophone von mhd. /s/
lassen sich jedoch durch die Folgeentwickiung kaum sicher beweisen.
Auch die Wiedergabe im Siawischen (vgl. §1.3b oben) wird wohi nur sais
Lenis, z ais Fortis bedeuten. Beobachtungen am gesprochenen Deutsch
(und Engiisch!) der Gegenwart biiden die Basis für Martin Joos' Bestim-
mung von mhd. s ais apikai und mhd. z ais "priidorsai," 21 denn eine
18 Braune-Mitzka, Ahd. Gr. §169, Anm. 3.
19 W. Wilmanns, Dtsch. Gr. §153: "weil die alte Artikulationsweise des s eine
Anniiherung der hinteren Zunge an den Gaumen begünstigte,"; Schatz, Ahd. Gr. §208.
zo Eberhard Kranzmayer, Historische Lau/geographie des gesamtbairischen Dialekt-
raumes (Wien, 1956) §32; Schwarz, Reibelaute, p. 41 ff.
21 "The Medieval Sibilants," Language XXVIII (1952), 222-231.
WEITERENTWICKLUNG DER MITTELHOCHDEUTSCHEN SIBILANTEN 345
Artikulationsweise mit gehobener und eine mit gesenkter Zungenspitze
kann beobachtet werden.2z Was nhd. jetzt blo13 individuelle Eigenheit ist,
sol! also einst ahd. und mhd. relevant gewesen sein und zwei Sibilanten-
phoneme unterschieden haben. Die Artikulation mit der Zungenspitze
oder dem Zungenrand kann bei auch nur gering retroflexer Artikulation zu
einer breiteren und tieferen Zungenrinne und damit einem mehr schibilan-
tenhaften Zischlaut führen. Die spiitmhd. Entwicklung jrsj zu jrsj mit
Zungenspitzen-r unterstützt die Annahme apikaler Aussprache von jsj.
Die Vorgeschichte von jzj, das sich aus einer Affrikata mit dentaler oder
alveolarer Komponente entwickelte, spricht eigentlich gegen Artikulation
mit vorderem Zungenrücken ("priidorsal"), eher für apikal-koronale
Aussprache. Joos selbst gibt an, er habe vor apiko-alveolarem Konsonant
auch apikale, sonst nur priidorsale Allophone des /s/. 23 Das Hauptargu-
ment gegen die Rekonstruktion von "apikal" und "priidorsal" ais
relevante Artikulationsopposition besteht wohl darin, da13 der Unter-
schied der Artikulation nur schwer zu horen ist. Sollte die Perzeption der
Vergangenheit so ganz anders und besser gewesen sein?
Die nhd. allgemeine Artikulation von tz ais Affrikata bestiitigt unsere
Lautbestimmung mit demselben Wert. Das gleiche gilt für mhd. sch, das
überall auf hochdeutschem Gebiet einfacher Schibilant ist. Stimmhafte
Varianten sind in Dialekten nur iiu13erst selten belegt, z.B. aber in Gott-
schee, konnen also kaum herangezogen werden. Die Beschreibungen
frühnhd. Grarnmatiker zeigen eindeutig, daB sch im 15. Jhd. ein einfacher
Schibilant ist. Val. Ickelsamer bedauert, dal3 kein einfaches Schriftzeichen
für /s/ verfügbar ist.24
22 Otto von Essen, Allgemeine und angewandte Phonetik (Berlin, 1953), p. 72 f.; Carl
und Peter Martens, Phonetik der deutschen Sprache (München, 1961), p. 167 f.; vgl.
R-M. S. Heffner, General Phonetics (Madison, Wise., 1952), p. 157 über "retroflex
articulation of the tongue tip." Nach W. Viëtor, Elemente der Phonetik des Deutschen,
Englischen und Franzosischen (Leipzig, 1915) §87, Anm. 1 sind die norddeutschen
Laute apikal, die mittel- und süddeutschen "dorsal-alveolar."
23 a.a.O., Fn. 4.
24 Teutsche Grammatica (1537?), bei Johannes Müller, Que/lenschriften und Ge-
schichte des deutschsprachlichen Unterrichts bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts (1882),
p. 139.
F. 11-12
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müssen als sokhe behandelt werden. Wir finden im Mhd. noch folgende
Spiranten: hf(v) und chffwie z.B. in sehen, sprechen, oven 'Ofen,' offen.
Es kontrastiert also Lenis mit Fortis im Inlaut. Dies spricht für eine
parallele Opposition von sund zz in hase 'Hase' und hazze 'hasse,' !esen
und wazzer ais Lenis und Fortis. Ungewohnlich ist die Opposition der
Sibilanten im Auslaut und in der Gemination. Die Opposition bei den
mhd. Verschlul3lauten, d.h. zwischen b und p, d und t, g und kin mittel-
deutschen und oberdeutschen Dialekten scheint keineswegs Stimmbeteili-
gung ais relevanten Zug zu enthalten, also ist dasselbe auch für s und zz
und die übrigen Spiranten nicht anzunehmen.
Die Struktur des Systems weist bei Spiranten und Verschlul3lauten auch
darauf hin, dal3 Unterschiede in der Artikulation gegenüber der Lenis-
Fortisopposition zurücktreten. Diese Einsicht würde den mhd. Unter-
schied zwischen s und z vor allem in der Artikulationsenergie sehen, was
aber nicht für Auslaut und Gemination zutreffen kann.
Das Vorhandensein von 4 Sibilanten mu13 typologisch aber auffallend
erscheinen. Der Vergleich mit der ahd. Entwicklung liegt nahe, wo wir
ursprünglich auch vier dento-alveolare Spiranten hatten: jsj jzj jtzj /th/ in
sibun, muozzan; sitzit (Isidor), thing. th batte wohl die Artikulation des
engl. th in this, also cines postdentalen oder interdentalen Lenis-
reibelautes. Diese Lenisspirans entwickelte sich zum Lenisverschlul3laut /d/,
oder fiel mit jd/ zusammen, wo es sich nicht zur Fortis jtj entwickelt hatte,
also z.B. in den Dialekten des Nordwestens. Die Beseitigung von /th/
führte zu einem System mit gr613erer Symmetrie ais vorher. 2s In Martinets
Terminologie konnen wir von den Sibilanten aus diesen ahd. Wandel eine
Stol3kette ("push-chain") oder einen Schub nennen, von samtlichen
Dentalen aus gesehen ist es eine doppelte Schleppkette ("drag-chain") oder
ein doppelter Sog: zuerst wird vorahd. *t zur Affrikata und zur Spirans
fzzf verschoben, dann nimmt vorahd. *d oberdeutsch und ostfrankisch die
t-Stelle und spater wiederum /th/ die leere d-Stelle ein.
1.7 Das mhd. Sibilantensystem. Wir müssen also annehmen, dal3 die
mhd. Dialekte zwei Sibilanten besaBen: /z/ und jsj. Der Hauptunterschied
zwischen den beiden mu13 gewesen sein, da13 /z/ Fortis und jsj Lenis war.
Dies ergibt sich aus dem System selbst (§1.6 oben), auch aus der Fol-
geentwicklung in den Dialekten (§ 1.5) und a us der strengen Scheidung im
Reim (§1.3a). Die Folgeentwicklung deutet auf bestimmte Allophone des
mhd. jsj: naher an jsj vor Konsonant und nach /r/, naher an /z/ vor Vokal.
25 Herbert Penzl, "The Evidence for the Change from th to d in Old High German,"
Studies in Languages and Linguistics in Honor of Charles C. Fries (Ann Arbor, 1964),
p. 169 tf.
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Stimmhafte Allophone von fsf im Inlaut haben wohl in Dialekten bestan-
den, mit Sicherheit laBt sich das jedoch nicht beweisen. Auch die Annahme
von apikaler Artikulation für fsf gegenüber pradorsaler für fzf ist auf
Grund der modernen Variation nicht beweisbar. Der spiitere Wandel von
fsf nach frf aber deutet auf etwas retroflexe Aussprache des /s/ in dieser
Stellung und also wohl vor Konsonanten überhaupt. Vielleicht ist der
Unterschied zwischen retroflektierter und nicht-retroflektierter Aussprache
wichtiger ais die Stellung der Zungenspitze, die bei einem Folgelaut der
Affrikata wie fzf auch gehoben sein sollte. Ein Unterschied zwischen
retroflexer und nicht-retroflexer Artikulation ist deutlich horbar, was für
apikale und pradorsale Artikulation kaum zutrifft.
Die Affrikata tz konnte ohneweiters ais Verbindung von ft/ und fz/
analysiert werden, besonders wenn der Unterschied in der Stellung der
Zungenspitze kein relevanter Zug ist. Die Hiiufigkeit der Verbindung,
weniger ihre graphische Überschneidung mit fzf, erklaren ihre Rolle
innerhalb des Systems. Der stimmlose Fortisschibilant sch (/sf), dessen
Inlautsallophone noch wie eine Geminata wirken (§1.3a oben), steht zu
den Sibilanten in Opposition. Phonetisch stehen einige Allophone von
fsf ihm recht nahe.
II /s/ lM SPATMITTELHOCHDEUTSCHEN
2.1 Der Zusammenfall /s/ und fzf. Für unsere synchronische Analyse
der mhd. Sibilanten haben wir bereits diachronisches Material herange-
zogen. Jetzt müssen wir eine kurze diachronische Untersuchung an-
schlieBen.
lm 13. Jhd. haufen sich die Anzeichen, daB die Phoneme fsf und fz/
besonders in Gemination und im Auslaut nicht langer graphisch unter-
schieden werden. Zahlreiche Handschriften verwenden s für historisches
z und umgekehrt: 2 6 z.B. dez landez, winez, einas. Für t und s wird auch
nun ofter z tz geschrieben, was im alteren Frühnhd. haufig ist: gotz
'Gottes,' wortz 'Wortes.' 27 Reime zwischen z und s beginnen im 13. Jhd.
haufig zu werden: hûs:ûz, palas:saz, baz:was, gewis:diz usw. 2 8 Diese
Reime sind an und für sich, wie schon Wilmanns 2 9 bemerkte, nicht für
einen vollstandigen Zusammenfall beweisend, da ja bloBe Assonanz
vorliegen konnte, doch liegt hier gegenüber der klassischen Periode eine
Ânderung im Gebrauch der Dichter vor (vgl. §1.3a oben).
26 Weinhold, Al. Gr. §188, Bair. Gr. §153, O. Behaghel, Geschichte der deutsclzen
Sprache (Berlin, 19285) §380.7, Michels, Mhd. El. §184, Moser, Frühnhd. Gr. §146.
27 Weinhold, Al. Gr. §189.
28 Weinhold, Al. Gr. §188, Bair. Gr. §§151, 153, Mhd. Gr. §186.
29 Dtsch. Gr. §105.2.
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