Sie sind auf Seite 1von 11

Word

ISSN: 0043-7956 (Print) 2373-5112 (Online) Journal homepage: https://www.tandfonline.com/loi/rwrd20

Die mittelhochdeutschen Sibilanten und ihre


Weiterentwicklung

Herbert Penzl

To cite this article: Herbert Penzl (1968) Die mittelhochdeutschen Sibilanten und ihre
Weiterentwicklung, Word, 24:1-3, 340-349, DOI: 10.1080/00437956.1968.11435536

To link to this article: https://doi.org/10.1080/00437956.1968.11435536

Published online: 16 Jun 2015.

Submit your article to this journal

Article views: 1092

View related articles

Citing articles: 1 View citing articles

Full Terms & Conditions of access and use can be found at


https://www.tandfonline.com/action/journalInformation?journalCode=rwrd20
HERBERT PENZL - - - - - - - - - - - - -

Die mittelhochdeutschen Sibilanten


und ihre Weiterentwicklung

1 DIE LAUTBESTIMMUNG DER MHD. SIBILANTEN


1.1 Sibilant und Schibilant. Unser Jubilar André Martinet wies einmal
darauf hin, 1 dal3 die Geschichte der deutschen Zischlaute (Sibilanten) eine
ausführliche Behandlung verdiene, die noch ausstandig sei. In dieser
Arbeit sollen nur einige der einschlagigen Fragen behandelt werden,
namlich das mittelhochdeutsche (mhd.) Sibilantensystem und dessen
lautliche Bestimmung, ferner dessen spatmhd. Weiterentwicklung. Unter
dem Artikulationstyp Sibilant verstehen wir die Art Reibelaut (Spirant),
die vom Anblasen durch eine Zungenrinne gegen Alveolen oder Vorder-
gaumen erzeugt wird. lm klassischen Mhd. finden wir Zischlaute z. B. in
Wortern wie siben 'sieben,' /esen, hase, stat 'Stat(' was 'war,' gewis,
müezen 'müssen,' wazzer 'Wasser,' hazze 'hasse,' fuoz 'Ful3,' waz 'was,'
zemen 'zahmen,' herze, sitzen, schaz 'Schatz,' schiere 'schnell,' leschen
'Ioschen,' tisch. Die Graphien in diesen Wortern, namlich s z tz sch, die
natürlich die Werte des lateinischen Alphabets zeigen, deuten auf Sibilan-
tencharakter. Zur genaueren Lautbestimmung stehen uns für das Mittel-
hochdeutsche aul3erdem metrisches Material, die Wiedergabe von Lauten
in franzosischen Lehnwortern und in slawischen Sprachen, typologisch-
strukturelle Erwagungen und die diachronischen Tatsachen zur Verfügung.
Zu diesen gehoren die Folgeentwicklung im Spatmhd., Frühneuhoch-
deutschen (Frühnhd.) und in modernen Dialekten und das Beweismaterial
für die vorhergehende althochdeutsche (ahd.) Periode, ebenso die Bezie-
hung zu anderen Lautwandlungen.
Über das Erkennen der Phoneme hinaus, mul3 auch eine phonetische
Lautbestimmung versucht werden, denn nur dadurch konnen die relevanten
Züge des Phonemsystems erkannt werden. Die Beschreibung von Lauten
bedeutet die Angabe von Art, Ort und Organ der Artikulation, von
Koartikulation wie Stimmtonerzeugung, von Energie (Fortis, Lenis) und
Quantitat. Bei unseren Zischlauten finden wir im Mhd. anscheinend
1 Économie des changements phonétiques (Bern, 1955), §9.17.
340
WEITERENTWICKLUNG DER MITTELHOCHDEUTSCHEN SIBILANTEN 341
schon drei Typen: Sibilanten, s und z geschrieben, eine Affrikata mit
Sibilantenkomponente (tz z) und sch, einen Zischlaut mit breiterer
Zungenartikulation, einen "Schibilanten," der sich aus ahd. sk ent-
wickelt hatte. lm Franzosischen heil3t der Schibilant chuintante, im
Englischen hushing sibilant gegenüber s, dem hissing sibilant mit engerer,
"spitzigerer" Zungenartikulation.

1.2 Die Schreibungen. Die Forschung hat von jeher der phonetischen
Bestimmung von mhd. s und z Aufmerksamkeit zugewendet. Schon im
Ahd. werden ja diese zwei Sibilantenphoneme streng unterschieden. Die
Verwendung des traditionellen Affrikatasymbols z für die Spirans scheint
nur deren vorgeschichtliche Entwicklung aus einer Affrikata wieder-
zuspiegeln, was eine phonetische Bestimmung nur teilweise erleichtert.2
s und z werden auch in mhd. Handschriften graphisch streng auseinander-
gehalten, aber letzteres nicht deutlich von der Affrikata unterschieden.
Sogar die "normalisierte" Orthographie unserer Ausgaben schreibt ja oft
waz und schaz; allerdings schatzes, bzw. wazzer im Inlaut. Für die
Affrikata finden wir auch c-Schreibungen vor palatalen Vokalen, ebenso
zahlreiche Digraphien und Multigraphien, wie z.B. tz cz czz zc tzz tss, 3
usw., besonders seit der zweiten Halfte des 13. Jahrhunderts im In- und
Auslaut nach allen Vokalen und Konsonanten. Diese Schreibungen mit
geschriebenem Verschlul3laut t weisen deutlich auf den Lautwert der
Affrikata ais [ts]. c ais [ts] entspricht auch dem spatlateinischen Lautwert
vor e i, den schon ahd. Lehnworter wie zins aus lat. census, cruzi, cruci
'Kreuz' aus lat. crucem, decemo, dezemo 'Zehent' aus lat. decima
bestatigen.
Neben sch in schiere finden sich Schreibungen wie sh ssh ssch ssc, oft
noch sc sk, zuweilen s. 4 Ein Teil dieser Graphien weist auf einen ein-
heitlichen Sibilanten (sh ssh, udgl.) hin, die historische sc- Schreibung ist
charakteristischer Weise besonders haufig in einem lat. Lehnwort wie
schrîben 'schreiben.' Schon im Ahd. zeigten übrigens vielfach Denkmaler
eine abweichende Schreibung des Phonems /k/ nach /s/, oft c auch vor e i

2 Herbert Penzl, "Die Phasen der althochdeutschen Lautverschiebung," Taylor


Starck Festschrift (Haag, 1964), p. 27 ff.
3 Karl Weinhold, Alemannische Grammatik (Berlin, 1863), §§184 ff, Bairische Gram-
matik (Berlin, 1867), §§150, 152, Mittelhochdeutsche Grammatik (Paderborn, 1877),
§187, Virgil Moser, Frühneuhochdeutsche Grammatik 1. 1 (Heidelberg, 1929), §29.1.
4 Weinhold, Al.Gr. §192, Bair. Gr. §157, Mlzd. Gr. §§188, 192, U. Schulze, "Bemer-
kungen zur Orthographie von diutisk in den deutschsprachigen Urkunden des 13.
Jhs. und zum Übergang der Lautgruppe sk> sch," PBB (Tübingen) 86 (1964), p. 301 ff.;
Victor Michels, Mittellzochdeutsches Elementarbuch (Heidelberg, 19214) §109.
342 HERBERT PENZL

oder sg, z. B. Notkers fisg 'Fisch.' s Es ist natürlich schwierig, in solchen


Schreibungen auf irgendwelche Vorstufen des Wandels von /sk/ zu fs/
schlieBen zu wollen. Es scheint aber die Schreibung sch eine Zwischenstufe
des Wandels, niimlich /sx/, das sich in niederdeutschen Dialekten
tatsiichlich noch findet, festzuhalten (vgl. §1.4).
1.3 Metrisches und Lehnbeziehungen
a) Sorgfiiltige mhd. Dichter reimen nie Wôrter mit z(z) und s(s). 6 Bindun-
gen wie daz: gras, wîs:flîz, masse:fazze finden sich erst im Spiitmhd. (vgl.
§2.1 unten). Die Reime des klassischen Mhd. bestiitigen also die strenge
graphische Scheidung der beiden Sibilanten.
Die mhd. Verszeilen zeigen, daB sch wie eine Konsonantenverbindung
behandelt wird. Reime mit sch im Inlaut, die allerdings selten sind,
fungieren ais klingende Endung dreihebiger Zeilen im hôfischen Epos. 7
Solche Schreibungen wie ssch ssh scheinen den Geminatenwert im Inlaut
zu bestiitigen. Kurze mhd. Vokale wurden vor sch im Nhd. nie gedehnt:
Fischer, waschen.
b) A us Entlehnung und Übernahme in fremde Sprachen ergibt sich oft
wichtiges Material für die Lautbestimmung. Ahd. s ss geben lat. s ss
wieder: sihhur 'sicher' lat. securus, missa, messa 'Messe,' pressa 'Presse,
Kelter' mlat. pressa. Aber in den altslowenischen Freisinger Texten,
deren Orthographie auf der ahd. beruht, wird s für Schibilanten (sund z)
und z für Sibilanten (sund z) gebraucht: s eine iihnliche Wiedergabe findet
sich in den alttschechischen Denkmiilern des 13. und 14. Jhs.9 Noch bis
in die mhd. Zeit zeigen gegenseitige Wiedergabe in Namen und Lehn-
wôrtern die Beziehung von s und slawischen Schibilanten. 10 Auch für
franzôsische Dialekte finden sich Anzeichen von s ais breiterem Zischlaut,
z.B. die englische Wiedergabe durch Schibilant in push, finish aus frz.
pousser, finiss-.11 Mhd. s ss gibt frz. s ss wieder: z.B. mhd. surziere

s W. Braune-W. Mitzka, Althochdeutsche Grammatik (Tübingen, 196311), §146,


Josef Schatz, Althochdeutsche Grammatik (Gottingen, 1927), §209.
6 W. Wilmanns, Deutsche Grammatik 1 (StraBburg, 19113), §105.2; Karl Wesle,
Frühmittelhochdeutsche Reimstudien (Jena, 1925), p. 97 führt die Seltenheit des Reimes
-s-: -z- auf die Opposition Lenis: Fortis zurück.
7 L. M. Hollander, "Middle High German Sch," JEGP, XLVI (1947), p. 82 ff.;
Michels, Mhd. El. §116.
8 W. Braune, PBB, 1 (1874), p. 527 ff.
9 Primus Lessiak, Beitriige zur Geschichte des deutschen Konsonantismus (Brünn,
Prag, 1933), p. 92 f.; Ernst Schwarz, Die germanischen Reibelaute s, f, ch im Deutsclzen
(Reichenberg, 1926), p. 21.
JO Schwarz, Reibelaute p. 15 ff.: im Mhd. gaben sk, sc, sclz slawische Schibilanten
wieder. Lessiak, Konsonantismus, p. 83 ff.
Il Martinet, Économie, §9.15.
WEITERENTWICKLUNG DER MITTELHOCHDEUTSCHEN SIBILANTEN 343
'Zauberin' afrz. sorciere, mhd. prisûn 'Gefii.ngnis' afrz.prison, mhd. küssen,
küssin (engl. cushion) 'Kissen' afrz. coissin.l2 Nach n findet sich auch s für
frz. (affrizierten ?) Schibilant: mansier 'Essen', auch manzieren frz. manger;
fr anse, auch franze 'Franse, Troddel' frz. frange.l3 Schwarz weist darauf
hin, daB die Orthographie des Ungarischen wohl den EinfluB mhd.
Lautwerte zeigt, da s das Zeichen für /s/ und sz für /s/ wurde.t4
z für spii.tlat. c vor e i (vgl. §1.2 oben zins) deutet auf Affrikata, ebenso
die Wiedergabe von frz. c z, das bis zum 13. Jhd. Affrikata war, z.B.
zimier 'Helmschmuck' afrz. cimier, puze/e 'Mii.dchen' afrz. pucele. Spii.ter
kann s für c eintreten: busele.15
sch gibt auch afrz. Schibilanten wieder: schoye, tschoie 'Freude' afrz.joie;
schave/în 'SpieB' afrz. javelin; schanze 'Glücksfall' afrz. chance.16
Bei Verwendung von Einzelwortern für die historische Lautbestimmung
dürfen wir übrigens nie vergessen, daB Lautnachahmung mehr ais ein
einziges dialektisches Muster in der Gebersprache und mehr ais einen
einzigen Typus von Allophoninventar in der Nehmersprache bedeuten
kann und daB wir bei mhd.-frz. Lehnbeziehungen auch rein graphischen
EinfluB in der Wiedergabe bemerken konnen; z.B. mhd. juste, joste, tyust,
tjost, schuste 'Turnier' für afrz. joste.16
1.4 Die Vorgeschichte von mhd. fsf. Diachronisches Material kann sich
ais iiuBerst wichtig für synchronische Analyse herausstellen und muB stets
in der historischen Forschung herangezogen werden. Die ahd. Vor-
geschichte ist für uns bedeutsam, besonders weil die Schreibungstradition
sich damais festlegte. Der Unterschied von fs/ und fzf bestand in allen
ahd. Dialekten. Wir konnen die Frage aufwerfen, ob die Entwicklung von
fskf zu fs/ selbst zu Schlüssen auf den phonetischen Charakter von ahd. fs/
verwendet werden kann. Natürlich muB die erste Stufe des Lautwandels
die Bildung von bestimmten Allophonen des /s/ vor /k/ gewesen sein. Die
Forschung ist sich nicht ganz einig, was die Zwischenstufen waren, aber
die Mehrzahl neigt dazu, nicht einen allmiihlichen Schwund des Ver-
schluBlautes /k/, sondern dessen Entwicklung zu einer Spirans [x] ais
Zwischenstadium anzusetzen. 17 Auffallend ist die verhiiltnismiiBig groBe
12 Joseph Kassewitz, Die franzosischen Worter im Mittelhochdeutschen (Stra13burg,
1890) §§18, 45.
13 Lessiak, Konsonantismus, p. 85 ff. spricht von dem "verwickelten Problem der
Wiedergabe frz. Zischlaute im deutschen Mittelalter"; Michels, Mhd. El. §122, Anm.
14 E. Schwarz, Reibelaute, p. 21.
15 E. Ôhmann, Neuphilologische Mitteilungen, XXXVIII (1937), 70 ff., (bes. S. 80);
Kassewitz, Frz. Worter im Mhd. §§13, 42.
16 Kassewitz, Frz. Worter im Mhd. §§13, 14, 41, 43; vgl. Fu13note 13 oben.
17 Braune-Mitzka, Ahd. Gr. §146; J. Franck, Altfriinkische Grammatik (Gôttingen,
1909) §116.3; Schatz, Ahd. Gr. §209, U. Schulze, a.a.O.
344 HERBERT PENZL

Anzahl von sel- Schreibungen für si aus ahd. Zeit; 18 darunter ist auch die
Schreibung sclaphen 'dormire' in den Altdeutschen Gespriichen, wo ein
romanischer Schreiber anscheinend gesprochenes Ahd. wiederzugeben
trachtete. Wilmanns sah dies ais Schreibung eines Gleitlauts [k] vor [!]
an.I9 Die Annahme eines also wohl apikal-retroflexen, priipalatalen fs/
liel3e sich mit der Bildung eines palatalen Gleitlauts vor dem apikal-
alveolaren /1/ am leichtesten vereinen.
1.5 Die Folgeentwicklung. Aul3er der Vorgeschichte ist auch die
Folgeentwicklung von Bedeutung. Der spiitmhd. Zusammenfall von sund
z, den wir unten (§2.1) behandeln werden, ist selbst ein deutlicher Beweis
für die phonetische Âhnlichkeit der beiden Phoneme, also zumindest für
ihren Zischlautcharakter. Auch die dialektische Verschiedenheit der
neuhochdeutschen (nhd.) Entwicklung kann nicht aul3eracht gelassen
werden. Dal3 in einzelnen Mundarten z.B. der Zusammenfall nur im
Auslaut und in der Gemination des Inlauts eintritt und Lenis-, bzw.
Fortisartikulation im Inlaut (reisen: reifien) die Stelle des Artikulations-
unterschiedes von mhd. s und z einnimmt, deutet auf mhd. s ais Lenis und
mhd. z(z) ais Fortis.
Der spiitmhd. Zusammenfall von mhd. s mit fsf vor Konsonant und nach
r (§2.2 unten) deutet mit Sicherheit auf breitere Allophone von fs/ in diesen
Stellungen. Die Verschiedenheit in den Mundarten, in denen die
Entwicklung von fstf zu fstf teiiweise nur im Aniaut, teiiweise auch in In-
und Auslaut eintrat, konnte schon mhd. Verschiedenheiten der allo-
phonischen Variation wiederspiegeln.
Schwierig ist die Frage der Stimmhaftigkeit von s in stimmhafter
Umgebung im Anlaut und Inlaut. Wie bei den stimmhaften Lenisver-
schlul3lauten gehen nur wenige hochdeutsche Mundarten hier mit der
Hochsprache, die wohi niederdeutschen Einflul3 in der Lautung zeigt.
Auffallend ist aber das Auftreten von stimmhaften s-Lauten in konserva-
tiven südbairischen Mundarten. 2 o Stimmhafte Allophone von mhd. /s/
lassen sich jedoch durch die Folgeentwickiung kaum sicher beweisen.
Auch die Wiedergabe im Siawischen (vgl. §1.3b oben) wird wohi nur sais
Lenis, z ais Fortis bedeuten. Beobachtungen am gesprochenen Deutsch
(und Engiisch!) der Gegenwart biiden die Basis für Martin Joos' Bestim-
mung von mhd. s ais apikai und mhd. z ais "priidorsai," 21 denn eine
18 Braune-Mitzka, Ahd. Gr. §169, Anm. 3.
19 W. Wilmanns, Dtsch. Gr. §153: "weil die alte Artikulationsweise des s eine
Anniiherung der hinteren Zunge an den Gaumen begünstigte,"; Schatz, Ahd. Gr. §208.
zo Eberhard Kranzmayer, Historische Lau/geographie des gesamtbairischen Dialekt-
raumes (Wien, 1956) §32; Schwarz, Reibelaute, p. 41 ff.
21 "The Medieval Sibilants," Language XXVIII (1952), 222-231.
WEITERENTWICKLUNG DER MITTELHOCHDEUTSCHEN SIBILANTEN 345
Artikulationsweise mit gehobener und eine mit gesenkter Zungenspitze
kann beobachtet werden.2z Was nhd. jetzt blo13 individuelle Eigenheit ist,
sol! also einst ahd. und mhd. relevant gewesen sein und zwei Sibilanten-
phoneme unterschieden haben. Die Artikulation mit der Zungenspitze
oder dem Zungenrand kann bei auch nur gering retroflexer Artikulation zu
einer breiteren und tieferen Zungenrinne und damit einem mehr schibilan-
tenhaften Zischlaut führen. Die spiitmhd. Entwicklung jrsj zu jrsj mit
Zungenspitzen-r unterstützt die Annahme apikaler Aussprache von jsj.
Die Vorgeschichte von jzj, das sich aus einer Affrikata mit dentaler oder
alveolarer Komponente entwickelte, spricht eigentlich gegen Artikulation
mit vorderem Zungenrücken ("priidorsal"), eher für apikal-koronale
Aussprache. Joos selbst gibt an, er habe vor apiko-alveolarem Konsonant
auch apikale, sonst nur priidorsale Allophone des /s/. 23 Das Hauptargu-
ment gegen die Rekonstruktion von "apikal" und "priidorsal" ais
relevante Artikulationsopposition besteht wohl darin, da13 der Unter-
schied der Artikulation nur schwer zu horen ist. Sollte die Perzeption der
Vergangenheit so ganz anders und besser gewesen sein?
Die nhd. allgemeine Artikulation von tz ais Affrikata bestiitigt unsere
Lautbestimmung mit demselben Wert. Das gleiche gilt für mhd. sch, das
überall auf hochdeutschem Gebiet einfacher Schibilant ist. Stimmhafte
Varianten sind in Dialekten nur iiu13erst selten belegt, z.B. aber in Gott-
schee, konnen also kaum herangezogen werden. Die Beschreibungen
frühnhd. Grarnmatiker zeigen eindeutig, daB sch im 15. Jhd. ein einfacher
Schibilant ist. Val. Ickelsamer bedauert, dal3 kein einfaches Schriftzeichen
für /s/ verfügbar ist.24

1.6 Sibilanten und Konsonantensystem. Die endgültige Bestimmung der


einzelnen Laute und Phoneme mu13 stets im Rahmen des Gesamtsystems
durchgeführt werden. Aus dem System selbst ergeben sich wichtige
Hinweise auf die Wahrscheinlichkeit gewisser Einzelwerte. Sibilanten
sind Teile des Spiranten- und überhaupt des Konsonantensystems und

22 Otto von Essen, Allgemeine und angewandte Phonetik (Berlin, 1953), p. 72 f.; Carl
und Peter Martens, Phonetik der deutschen Sprache (München, 1961), p. 167 f.; vgl.
R-M. S. Heffner, General Phonetics (Madison, Wise., 1952), p. 157 über "retroflex
articulation of the tongue tip." Nach W. Viëtor, Elemente der Phonetik des Deutschen,
Englischen und Franzosischen (Leipzig, 1915) §87, Anm. 1 sind die norddeutschen
Laute apikal, die mittel- und süddeutschen "dorsal-alveolar."
23 a.a.O., Fn. 4.
24 Teutsche Grammatica (1537?), bei Johannes Müller, Que/lenschriften und Ge-
schichte des deutschsprachlichen Unterrichts bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts (1882),
p. 139.
F. 11-12
346 HERBERT PENZL

müssen als sokhe behandelt werden. Wir finden im Mhd. noch folgende
Spiranten: hf(v) und chffwie z.B. in sehen, sprechen, oven 'Ofen,' offen.
Es kontrastiert also Lenis mit Fortis im Inlaut. Dies spricht für eine
parallele Opposition von sund zz in hase 'Hase' und hazze 'hasse,' !esen
und wazzer ais Lenis und Fortis. Ungewohnlich ist die Opposition der
Sibilanten im Auslaut und in der Gemination. Die Opposition bei den
mhd. Verschlul3lauten, d.h. zwischen b und p, d und t, g und kin mittel-
deutschen und oberdeutschen Dialekten scheint keineswegs Stimmbeteili-
gung ais relevanten Zug zu enthalten, also ist dasselbe auch für s und zz
und die übrigen Spiranten nicht anzunehmen.
Die Struktur des Systems weist bei Spiranten und Verschlul3lauten auch
darauf hin, dal3 Unterschiede in der Artikulation gegenüber der Lenis-
Fortisopposition zurücktreten. Diese Einsicht würde den mhd. Unter-
schied zwischen s und z vor allem in der Artikulationsenergie sehen, was
aber nicht für Auslaut und Gemination zutreffen kann.
Das Vorhandensein von 4 Sibilanten mu13 typologisch aber auffallend
erscheinen. Der Vergleich mit der ahd. Entwicklung liegt nahe, wo wir
ursprünglich auch vier dento-alveolare Spiranten hatten: jsj jzj jtzj /th/ in
sibun, muozzan; sitzit (Isidor), thing. th batte wohl die Artikulation des
engl. th in this, also cines postdentalen oder interdentalen Lenis-
reibelautes. Diese Lenisspirans entwickelte sich zum Lenisverschlul3laut /d/,
oder fiel mit jd/ zusammen, wo es sich nicht zur Fortis jtj entwickelt hatte,
also z.B. in den Dialekten des Nordwestens. Die Beseitigung von /th/
führte zu einem System mit gr613erer Symmetrie ais vorher. 2s In Martinets
Terminologie konnen wir von den Sibilanten aus diesen ahd. Wandel eine
Stol3kette ("push-chain") oder einen Schub nennen, von samtlichen
Dentalen aus gesehen ist es eine doppelte Schleppkette ("drag-chain") oder
ein doppelter Sog: zuerst wird vorahd. *t zur Affrikata und zur Spirans
fzzf verschoben, dann nimmt vorahd. *d oberdeutsch und ostfrankisch die
t-Stelle und spater wiederum /th/ die leere d-Stelle ein.
1.7 Das mhd. Sibilantensystem. Wir müssen also annehmen, dal3 die
mhd. Dialekte zwei Sibilanten besaBen: /z/ und jsj. Der Hauptunterschied
zwischen den beiden mu13 gewesen sein, da13 /z/ Fortis und jsj Lenis war.
Dies ergibt sich aus dem System selbst (§1.6 oben), auch aus der Fol-
geentwicklung in den Dialekten (§ 1.5) und a us der strengen Scheidung im
Reim (§1.3a). Die Folgeentwicklung deutet auf bestimmte Allophone des
mhd. jsj: naher an jsj vor Konsonant und nach /r/, naher an /z/ vor Vokal.

25 Herbert Penzl, "The Evidence for the Change from th to d in Old High German,"
Studies in Languages and Linguistics in Honor of Charles C. Fries (Ann Arbor, 1964),
p. 169 tf.
WEITERENTWICKLUNG DER MITTELHOCHDEUTSCHEN SIBILANTEN 347
Stimmhafte Allophone von fsf im Inlaut haben wohl in Dialekten bestan-
den, mit Sicherheit laBt sich das jedoch nicht beweisen. Auch die Annahme
von apikaler Artikulation für fsf gegenüber pradorsaler für fzf ist auf
Grund der modernen Variation nicht beweisbar. Der spiitere Wandel von
fsf nach frf aber deutet auf etwas retroflexe Aussprache des /s/ in dieser
Stellung und also wohl vor Konsonanten überhaupt. Vielleicht ist der
Unterschied zwischen retroflektierter und nicht-retroflektierter Aussprache
wichtiger ais die Stellung der Zungenspitze, die bei einem Folgelaut der
Affrikata wie fzf auch gehoben sein sollte. Ein Unterschied zwischen
retroflexer und nicht-retroflexer Artikulation ist deutlich horbar, was für
apikale und pradorsale Artikulation kaum zutrifft.
Die Affrikata tz konnte ohneweiters ais Verbindung von ft/ und fz/
analysiert werden, besonders wenn der Unterschied in der Stellung der
Zungenspitze kein relevanter Zug ist. Die Hiiufigkeit der Verbindung,
weniger ihre graphische Überschneidung mit fzf, erklaren ihre Rolle
innerhalb des Systems. Der stimmlose Fortisschibilant sch (/sf), dessen
Inlautsallophone noch wie eine Geminata wirken (§1.3a oben), steht zu
den Sibilanten in Opposition. Phonetisch stehen einige Allophone von
fsf ihm recht nahe.

II /s/ lM SPATMITTELHOCHDEUTSCHEN
2.1 Der Zusammenfall /s/ und fzf. Für unsere synchronische Analyse
der mhd. Sibilanten haben wir bereits diachronisches Material herange-
zogen. Jetzt müssen wir eine kurze diachronische Untersuchung an-
schlieBen.
lm 13. Jhd. haufen sich die Anzeichen, daB die Phoneme fsf und fz/
besonders in Gemination und im Auslaut nicht langer graphisch unter-
schieden werden. Zahlreiche Handschriften verwenden s für historisches
z und umgekehrt: 2 6 z.B. dez landez, winez, einas. Für t und s wird auch
nun ofter z tz geschrieben, was im alteren Frühnhd. haufig ist: gotz
'Gottes,' wortz 'Wortes.' 27 Reime zwischen z und s beginnen im 13. Jhd.
haufig zu werden: hûs:ûz, palas:saz, baz:was, gewis:diz usw. 2 8 Diese
Reime sind an und für sich, wie schon Wilmanns 2 9 bemerkte, nicht für
einen vollstandigen Zusammenfall beweisend, da ja bloBe Assonanz
vorliegen konnte, doch liegt hier gegenüber der klassischen Periode eine
Ânderung im Gebrauch der Dichter vor (vgl. §1.3a oben).

26 Weinhold, Al. Gr. §188, Bair. Gr. §153, O. Behaghel, Geschichte der deutsclzen
Sprache (Berlin, 19285) §380.7, Michels, Mhd. El. §184, Moser, Frühnhd. Gr. §146.
27 Weinhold, Al. Gr. §189.
28 Weinhold, Al. Gr. §188, Bair. Gr. §§151, 153, Mhd. Gr. §186.
29 Dtsch. Gr. §105.2.
348 HERBERT PENZL

lm vokalischen Iniaut allerdings erhiiit sich in einzeinen Landschaften


nach V. Moser 30 noch bis ins Frühnhd. der orthographische Unterschied
zwischen der Fortis, die nun sz ss geschrieben wird, und der Lenis s.
Doch bieibt der Unterschied nur im Bairischen, Hochalemannischen,
Schiesischen, Mitteifriinkischen, nicht im Niederaiemannischen, Schwii-
bischen, Rheinfriinkischen erhalten. Die Hochsprache der Gegenwart hat
die Opposition wieder in reisen und reijJen, Muse und MujJe.
Der Schreibungszusammenfall und der Reimgebrauch beweisen den
Zusammenfall der Phoneme fsf und fz/ im Ausiaut und in der Gemination
in allen Diaiekten. Wir nehmen an, daB im Ausiaut entweder Fortis oder
Lenis eintrat, aiso dieser für mhd. Spiranten ungewohniiche Unterschied
(vgl. §1.6 oben) nicht langer in dieser Stellung sich erhielt und auch der
Artikulationsunterschied verloren ging. Wo fsf seine retroflexe Artikula-
tion aufgab, muBte es mit fzf zusammenfallen. Die Artikuiation des jzj
scheint aiso vom fsf übernommen worden zu sein, nicht umgekehrt. Der
Sieg der s-Orthographie ist aber verstiindiich, da ja das Zeichen z allein
durch den andauernden, unveriinderten Wert ais Affrikata doppeideutig
erscheinen muBte.
2.2 Zusammenfall von /s/ mit fsf vor Konsonant. Seit dem ausgehenden
13. Jhd. finden sich Schreibungen von sl sm sn sw st sp rs ais schl schm
schn schw rsch, auch scht schp zuerst in schwiibischen, alemannischen,
bairischen, etwas spiiter in eisiissischen und mitteideutschen Texten. 31
Auch umgekehrte Schreibung mit s für sch wie sulmeister, srift usw.
kommt vor.
Die Beschreibungen der Grammatiker der frühnhd. Zeit machen es
deutlich, daB zu ihrer Zeit s nach r und vor lm n w t p zu /8/ geworden ist.
Dafür finden wir deutiiche Hinweise in Johannes KolroB' Enchiridion
(1530), in Fabian Frangks Orthographia (1531), in J. H. MeichBners
Handbüchlein (1538). KoiroB 32 sagt z.B., s werde für sch vor l m n r w
geschrieben, Frangk 33 erwiihnt die Orthographie sprach für schp rach. In
der Hochsprache der Gegenwart zeigt die Orthographie nur bei st sp
graphisch nicht die neuen Werte mit /8/, was sich wohi durch die Erhaitung
von [st] [sp] in In- und Auslaut erkiiirt.
Das Materiai zeigt eindeutig, daB fsf in der Stellung vor Konsonant und
nach r mit /s/ zusammengefallen ist. Die retroflexe Aussprache des /s/

30 Frühnhd. Gr. §146.


31 Weinhold, Al. Gr. §190, Bair. Gr. §154, Mhd, Gr. §190, O. Aron, PBBXVII (1893),
225 tf., Moser, Frühnhd. Gr. §147, Michels, Mhd. El. §183, Martinet, Économie §9.14.
32 Müller, Que/lenschriften, p. 80.
33 Müller, Quellenschriften, p. 104.
WEITERENTWICKLUNG DER MITTELHOCHDEUTSCHEN SIBILANTEN 349
scheint sich noch im Mhd. besonders in diesen Stellungen erhalten zu
haben, aber nicht vor Vokal (vgl. §1.7 oben). Diese Allophone des Mhd.
haben zur phonemischen Spaltung im Spatmhd. geführt. Die "phone-
tische" Erklarung macht Schwierigkeiten, wenn man nach spezifischen
Faktoren der Assimilation sucht, nur bei apikalem, vielleicht etwas
retroflexem frf kann eine apikal-retroflexe, /5/-ahnliche Aussprache des /s/
unmittelbar plausibel gemacht werden. Aron 34 nahm seinerzeit eine
Übertragung dieser Angleichung im Sandhi in allen Fallen an, was die
Forschung allgemein ablehnte.
2.3 Die spiitmhd. Sibilantenentwicklung. lm Spatmhd. finden wir ein
Sibilantensystem mit dem breiten Zischlaut /8/, der Affrikata jtsj und einem
oder zwei Sibilantenphonemen, die sich nur in einer Stellung, namlich im
vokalischen lnlaut ais Fortis, bzw. Lenis unterscheiden. Dem Schibilanten
/8/ steht so nur ein kontrastierender Artikulationstyp gegenüber, es gibt
keine Zwischenlaute mehr, Aus der Dreiheit im Mhd. ist durch eine
Polarisierung der Gegensatze eine Zweiheit im Artikulationstyp geworden.
Die Beseitigung des retroflexen /s/-Typs erfolgte durch Zusammenfall mit
fz/ (vgl. §2.1 oben) oder mit /'S/ (vgl. §2.2 oben). Wenn wir eine ahniiche
Entwicklung im Ahd., wo es /th/ gab (vgl. §1.6 oben), in Betracht zichen,
konnen wir nicht umhin, die Tendenz zu einem etwas symmetrischeren
System ais einen wichtigen Faktor in dem Lautwandel anzusehen, der zu
dem spatmhd. System der Sibilanten führte. Die Keime zu den spatmhd.
Lautwandlungen lagen schon im mhd. Sibilantensystem, das wir oben
phonetisch und phonemisch zu erfassen suchten.
Der Wandel von ahd. /sk/ zu mhd. /8/ hatte zur Foige, dal3 Allophone
von fs/ zum Zusammenfall mit den übrigen Sibilanten gedrangt wurden.
lm Ahd. foigte der hochdeutschen Entwickiung der neuen Spirans jzzj
eine Weiterentwicklung der Spirans /th/ in allen Diaiekten. Schub und
Sog zeigten sich im Ahd. Auch die spatmhd. Wandlung des fsf kann ais
Foige cines Schubs, einer Sto13kette angesehen werden, die schon durch den
Wandel von ahd. /sk/ zu einem mhd. Schibilanten ausgelost wurde. lm
Spatmhd. entwickelt sich ein einfaches, symmetrischeres System.
University of California, Berkeley
34 a.a.O., p. 259 ff; Schwarz, Reibelaute, p. 31 ff; Wilmanns, Dtsch. Gr. §104.1
betont: "die Artikulation des r stützte den alten zerebralen s-Laut mehr ais irgend ein
anderer Konsonant."

Das könnte Ihnen auch gefallen