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22 R a y m o n d Avon

den A u gen der algerischeii N atio n alisten nieraals A u sw e g : eine w ie im mer geartete Teilung AJge-
frei scin. Z ieht die franzosische A rm ee sicíi zu- riens ais unvermeidliche E tappe zwischen den
ruck, so iibem ím m t autom atech dic gehcim c fran zosisd ien D epartem ents und einem kLinftigen
A rm ee der F L N dle K ontrolle uber d as V o lk , und S ta a t. Ich halte selbst einen mit góttlicher All-
die W ahl kan n ebensow enig ais frei bezeichnet macht ausgestatieten de G aulle řiir aufíerstande,
werden. W as jed o d i eine gem einsam e Ober- ub er eine L o su n g zu verhandeln, die das Risiko
wachung durch beide A rm een angeht, so m ódíte in sich birgt, daB die F L N nach einigen Monaten
ich wissen, wie G eneral d e G au lle sle den C h eís od er Jah ren A lgerien in die H an d bekommt.
der řranzosischen A rm ee aufžw ingen will. A n dererseits ist mir un k lar, wie de G aulle den
Beim augenbiiddidien S ta n d der D in ge hat die K rieg noch Ja h re weiterfuhren soli, ohne daB sich
Politik der Selbstbestim m ung an O rt und Stelle d abei sein Prestige und sein Regim e ebensó ver-
'jne.hr Nachteiíe ais V orteilc mit sich gebracht (die brauchen wie die seiner V orgánger.
diplomatischen V brteile sin d dem gegeniiber be* D ic Pobtik der Selbstbestim m ung kann von
trachtlich gew esen). W enn m an der F L N nicht einem M aurice Schum ann oder von den Diplo-
mehr anbietet, ais ihr bis jetzt angebotcn w urde, m aten der Vereinten N ation en begruftt werden,
wird sie den K rieg fortsetzen. D au e rt der K rieg sie ist w eder a is Friedens- noch ais Kriegspoliíik
noch einige Jah re, s o wird es gut sein , sich nach etw as, w as sid i konkrét anwenden liefie. Und
anderen Losungen ais der einer freien A bstim - eben weil sie unanw endbar ist, erweckt sie auf
m ung nach seiner Beendigun g um zusehen. D iese allen Seiten die heftigsťen Leidenschaften, Besoig-
Tatsachen sind so offenkundig, dafi niem and nisse, Iioffnu ngen, triigt sie zu ř Verwirrung der
glaubt, de G aulle wolle sich wirklich stren g an K o p fe und Parteien bei. W enn de Gaulle seinen
das von ihm entwickelte Program m halten. D ie Entschlufi schon gefaB t hat, w enn .er sich fur eine
Politik der Selbstbestim m ung ohne W a&cnstill- n otfalls Ja h re erfordem de F ortsetzun g der Beřrie-
stand fiihrí in eine Sackgasse. D e slialb fragt m an dun g entschiedcn hat, so soli er es nur sagen.
sich auf allen Seiten, w as der S ta a tsd ie í in W irk- W enn er geheim e V erhandlun gen mit der FLN
lidikeit beabsichtígt. W ie hier und da zu hořen im A u g e hat, oder wenn er hofft, gan z allmahlich
ist, will er áb sořort die V erw altun gsstruktur Tatsachen zu schaffen, die einer neuen L osu n g ais
Algeriens um bauen, um d er V erschíedenheit der B a sis diencn konnen, dann w are es ebenfalls
einzelnen Regionen besser R echnung zu tragen. besser fiir ihn, seine Ziele un d m oglichst au d i die
Dieser G edanke kann uns nicht iiberraschen. W ar- ihm vorschwebenden M ittel zu ihrer Erreidiung
um solíte die Funfte R epu blik , nachdem sie schon bekanntzugeben. M an kann eín m odem es Ge-
das „fripfyque" G u y M ollets w iederentdeckt hat> meinwesen a u f die D auer nicht regieren, indem
nidit auf dasR ahm engesetz v o n B o u rg ě s-M au n o u rym an sich einer Sprache bedient, der jeder zustim-
zuriickkommen? W ed er d a s „triptyque“ nodh die men kan n un d die niem anden iiberzeugt. Ein
Selbstbestimmung oder d as R ah m engesetz aber S ta a tsd ie f ist kein Zauberer, der seinem passiven
werden das eigentliche H ind.em is nehm en helřen: un d glaubigen V o lk irgendwelche Wundermittel
die Beendigung des K rieges. G ew ifi, d as M itfel verspricht. E r ist ein M ensch wie alle anderen, der
zu seiner Beendigung ist bekan nt, es heifít: G e- a u f móglichc L osungen hinweist, empfiehlt, fiir
spráche mit der F L N . W ill m an aber keine Ge- welche m an sid i entsdhieiden solle, die einen au£-
sprache fuhren, dan n soli m an die F ranzosen auch fordert, sich ihm anzuschlieften, die anderen, ihn
nicht immer wieder glauben machen, eine L o su n g lo y al zu kritisieren; der nicht im Zwielicht ein-
gefunden z u haben, so n d e m íhnen ofíen sagen , hellige U nterstiitzung zu finden su d it, sondern
dafí der K rieg noch einige Jah re d au em wird. bereit ist, sich neben Freun den auch G egner zu
schafřen. K urz, ein M ann, der die ihm am besten
un wird man fra g e n : gleichgultig, ob verhandelt oder, wie in diesem F alle, am wenigsten schlecht

N wird oder nicht — w as konnte sich eine f ran- dunkende Politik entwickelt. Frankreich wird ohne
zdsisdie Politik in A Jgerien heute uberhaupt zumInstitutionen und politisches Leben bleiben, so-
Ziel setzeň ? Nach meinem Da£iirhalten gibt es lange der M an n, der heute uber alle Macht ver-
im augenbliďdichen Stadium aufier einer unabseH- fiigt, sid i wie eine S p h in x oder ein wundertatiger
baren V erlangerung des K onflikts nur noch einen K o n ig verhált.
ADO LF P O R T M A N N

P t o l e m á e r u n d K o p e r n ik a n e r
Eine biologische Studie

ir leben in einer extremen W elt des w isse A sp ek te dieses Kontrastes deutlicher

W redinenden und technischen V erstan- ins BewuBtsein zu heben: man hat dam als
des. Im R in gen um die W eltgeltung erlebcn
w ir es heute, daB die Forderung dieser Seite
Lévy-Bruhls V orstellung von einer „ám e
prim itive" — von einem pralogisdien, ma-
d e r G eistesarbeit zuř gebieterisdxen Staats- gisch eingestellten Menschen — dem evo-
pflicht gew orden ist, dafí die Tedm ik sich luierten, rationalen entgegengestellt; ja man
a u f die fu r diese Richtúng Begabten stiitzt hat gar versucht, diesen magischen, ar-
un d dafí die grofien wirtschaftlichen Mittel chaisdien T ypu s ais homo divinans vom
der Erw eiterúng aller dieser Forsdiungsrích- homo fab er scharfer abzuheben.1 Lévy-
tungen gelten. Bruhl hat die urspriinglich gemeinte scharfe
In dieser Z w an gslage stellt sich die Frage Sonderung zweier W eisen der W eltbezie-
nach der E m eu eru n g des Menschen fur den hung in der Folge selbst aufgegeben zu-
Biplogen in einer ganz besonders zeit- gunsten einer komplexeren V orstellu ng von
gem afien V aria n té : gilt es doch zu ermitteln, der Einheit des Hum anen. W ir w erden im
w as geschehen mufi, um bei der Obermacht folgenden da und dort prazisieren m iissen,
der eben erwiihnten Anforderungen von worin sich der hier dargestellte G egen satz
Technik und Wrirtschaft eine sinnvolle Pflege von dem durch Lévy-Bruhl bekanntgew or-
vieler heute vernachlássigter Seiten unseres denen unterschcidet.
W esen s zu verwirklidien.
D ie W elt, wie wir sie im intensiven un-
W ir m iissen eine fur uns Menschen vor-
mittelbaren Erleben durch unsere unver-
gegebene prim are A rt der W elterfahrung,
stellten Sinne aufbauen, ist die W elt des
ein in jeder G eb u rt sich erneuerndes Ptole-
Ptolemaers, eine W elt, an déren V ersteh en
m áertum des individuellen W erdeganges, in
auch in dieser ptolemaischen Šicht die sdíarf-
eine jew eils neue W eltsicht uberfuhren, in
sinnigsten D enkoperationen mitform en, um
eine W eltsidit, die heute bereits ungenúgend
bezeidm et ist, wenn wir sie kopernikanisch beispielsweise die Bahněn der Planeten im
Him m elsgew olbe zu durchschauen. Entschei-
nennen, ún d in der W eltvorstellungen, wie
sie durch Einstein, H eisenberg und andere dend ist, dafi ausnahm slos und immer die
N am en bezeidm et werden, bereits mit am unmittelbare E rfah rung der Sinne die erste
W erke sind. E s scheint mir von grofier Be- grobe W ahrheit ist, au f der jede A u ssa g e
deutung, dafi der in jedem Eínzelleben sich uber den Zusam tnenhang der W eltdin ge
auswirkende G egen satz dieser W elten zu aufbaut. D ie erblich vorgegebene Struk tur
einer frudltbaren Spannung gestaltet werde; unserer Sinne arbeitet mit Macht an diesem
daB wir dies ais A u fgab e erkennen. urspriinglichen B ild der W elt.
V or etwa drei Jahrzehnten hat man ver- 1 V g l. W . K op pers, „Lévy-Bruhl und d as .pralogische D ?a-
sudit, durch einen aiideren G egensatz ge- ken' d e r Prim ítiveii“ , in H cxhlsn d, 1951.
24 A d o l f Port m ann

Zu dieser G rundorganisation der W elt­ gegen sind die besonderen Gehalte.in denen
zuwendung gehort der groBe G egensatz von die versdiiedenen Menschengruppen die
Wachsein und Schlafen: in jedem dieser Zu- W eltdinge sexualisieren und das Geschlecht-
stande ist eine besondere Seinsweise unseres lidie vergeistigen, in weitem Mafie von der
Weltérlebens am W erk. H eraklit hat be- Tradition der G ruppe bestimmt.
reits auf diese zwei Lebensformen, au f den 'Wir spradien eben von ererbten „Zustan-
Kosmos des Wachen und den ganz anderen den “ . Idi kann in diesem Oberblidc, welcher
des Schlafenden, hingewiesen. Nícht n ur die dem H erausheben der elementaren Bindun-
Strukturen, mit denen wir die Erfahrungen gen gilt, nidut nadidriicklich genug auf den
unseres Tages m adien — auch die befremd- ererbten C h arakter der Anlagen solcher
lichen Sdíaffensgesetze unseres Traum lebens „Befindlidikeiten" und ihrer Ánderung hin-
sind ja in uns erblich angelegt. weisen. D ie „Stim m ungen", in denen sidi
jeweils die W eltzuw endung abspielt, die am
A sp ek t der jeweiligen W elt bedeutend mit-
urch diese unsere prim áře N átu r sind wirken, sind in íhrem Grundgefiige un-

D auch die Spielregeln gesctzt, welche durdisdiaute, vorgefundene Gegebenheiten.


die Zustande der Frische, der Spannung
oder der Gelostheit hervorbringen, w eldie
Sie sind d as Letzte, was der Psychologe auf-
zeigt; sie sind audi das Letzte, was der Ver-
die Stimmungen der M iidigkeit, des H un- haltensforsdier in der Begriindung tie-
gers oder des D urstes schaffen. Ererbt ist rischen G ebaren s entdecken kann. Freude
auch die grundsatzliA e Zweigeschleditig- und Trauer, M ifimut, Langeweile oder
keit unserer Anlagen und die eigenartige Zorn, Sehnsucht, H offnung wie Geborgen-
Sonderung in weiblich und mannlich, wobei heit und Verlorensein — alle haben sie ge-
in jedem der ausgeform ten Geschlechter das meinsam, ais M oglidikeiten des Befindens
andere Geschlecht in m annigfaltiger W eise in uns bereitzuliegen, in der Verwirklichung
sich trotzdem G eltung verschafft. D ie Psy- in uns verhaltnism afiig langsam jeweils auf-
chologen werden ja immer w ieder von den zukommen und ihre H errschaft ebenso lang­
versdiiedensten Seiten her zu ÁuBerungen sam w ieder an einen anderen Zustand ab-
dieser androgynen Situation des Einzelnen zugeben. Ihnen allen ist auch die enge
gefiihrt. Zum Ererbten in unserem Welt- V erbindung mit vielen O rganen des Aus-
erleben gehort auch die dauernde sexuelle drucks gemeinsam, vor allem mit jenen
Bereitschaft des Menschen wahrend des Systemen, die der Biologe ais Strukturen
ganzen Jahreslaufs, eine Eigenschaft, die wir der spontanen W eltzuwendung bezeichnet.
mit allen hoheren Primaten — den Afřen, A u f diese Stimmungen antwortet der
den Gibbons, den M ensdienaffen — teilen D arm ; sie erregen auch andere Schleimhaute
und auf der im Menschenleben die durdi- unseres Innem , ebenso die Blutkapillaren
gehende Sexualisierung der ganzen Welt- der H aut, die Pupillen unserer Augen, so
erfahrung einerseits, aber audi die ebenso wie sie Schweifi und Tranen auslosen. Seit
durchgehende Moglichkeit der Vergeisti- Urzeiten ist unsere Kultur darauf aus, diese
gung unseres sexuellen Erlebens anderseits aktiven Begrtinder alles W elterfassens,
beruht. Die Eingliederung eines so univer- diese Stimmungen zu beeinflussen; die
sellen Lebensíaktums wiederZweigeschlech- Rauschmittel vom A lkohol bis zum Ha-
tigkeit in das W elterleben des mensdilidien schisdi, vom Opium bis zum M escalin sind
Individuums ist ein Tatsachenkreis von un- uralte W ege der Stimmungsmache. Die
absehbarer Perspektive und ist wohl einer Chemie ist daran, die Zahl dieser Mittel
der machtvollsten Faktoren, die wir ais vor- betrachtlich zu vermehren. Phantastica oder
gegebenen Teil des W elterlebens bewerten M agica, Dynamica, Euphorica und Eidetica
miissen. Vorgegeben sind hier Anlagen, —das ist n ur éine Liste, die ich der speziellen
deren Struktur, deren organismisdie Be- Literatur der Biodiemiker entnehme und
dingtheiten noch zu erforsdien sind — da- die von den vielerlei Beeinflussungen des
Pťolemáer und Kopernikaner 25

Stimmungswesens und damit unseres gan- In allen diesen Jahren der Kindheit ent-
zen Seins zeugt. Ich will hier nur ganz wickelt sich eine zweite Komponente unseres
nebenbei ein einziges dieser Mittel crwah- W elterlebens, von A n fan g im stillen mit am
nen, weil es in jiingster Z eit erst gefunden W erke: die rationale Aktivitát, welche das
und intensiver crforscht worden ist und weil W eben der Einbildungskraít mit den Ein-
es, seit 1938 an Gesunden und Krankcn ge- siditen des Verstandes durchtrankt. D ie
priift, sich wirksamer ais viele bisherige rationale Komponente unseres W elterlebens
Phantastica erwiesen hat. Ich spredie von ist seit vier Jahrhunderten im Abendland in
dem Lysergsáure-diathylamid (L S D der hohem M afie dominant. Die Erfindung alíer
Biodicm iker), einem der M utterkom -A lka­ Bewaffnungen unserer Sinnesorgane, die
loide.2 des Fernrohrs, des M ikroskops, des Baro-
D e r bekannte R ausdistoff M escalin be- meters und aller moglichen Amplifikatoren,
gin n t seine W irkungen mít 0,2 Gramm, bestimmt wesentliche Teile unserer Erfah-
M orphium mít 0,01 Gram m ; Pervitin wirkt rung. D ie A usarbeitung von operativen
b ereits in einer viel schwadieren Menge Methoden der mathematischen Richtung er-
(0,003 bis 0,006 Gram m ). D as Lysergsaure- laubt uns auch dort weiter zu arbeiten,
diathylam id dagegen setzt bereits bei weiter zu denken, wo die anschaulidien Vor-
3 H underttausendsteln eines Gram m s mit stellungen versagen. W ir dringen mit H ilfe
sein er psychischen Umstimmung ein. einer Zeichensprache von symbolhaftem
Id i erwahne diese stofflichen Moglidi- Charakter in die Zone des Unsichtbaren
keiten der Einwirkung, weil sie sicher auf vor; wir lemen, dem Augenschein zu mifi-
fundam entale Gegebenheiten wirken, weil trauen, die unmittelbare Erfahrung nur in
sie wahrscheinlich jene Grundstruktur zu strenger Iogischer Kontrolle gelten zu lassen
beeinflussen vermogen, aus der letztlich un- — ja, oft geht die Abwertung der Sinnes-
sere unmittelbare Einstellung zur W elt erlebhisse so weit, dafi sie zum trugerischen
durch die Stimmungen erfolgt. So haben Schein erklart werden, der das wahre, den
denn diese Einflusse in unserem Oberblick Sinnen unfafibare W esen verdecke.
einen widitigen Platz, wó es darům geht, das
V orgegebene, das in unserer N átur Vorge-
form te der W eltzuwendung zu erfassen. ie W udit der praktischen U m gestaltun-
D a s T h em a dieser W irkungen geht uns aber
audh darům so nahé an, weil das Ausm afi
der Einwirkungsweisen jeden T ag wachst.
D gen, weldie die wissenschaftliche Be-
waltigung der N átu r durch den V erstand
ermoglicht hat, verwandelt, ja zerstort heute
immer mehr die primare ptolemaische W elt
D ie langen Jahre der Kindheit stehen un-
unseres Erlebens, und die Gefahr ist riesen-
ter dem starken Einflufi des Eigenlebens un­
grofi, dafi von vielen Menschen nur noch
serer ererbten Zuwendungsstruktur. Selbst
diese technische A rt der Bewaltigung ganz
ein Schritt wie die Obernahme der tvaditio-
ernst genommen werden kann, wahrend die
nellen Sprache, der doch so recht ein iiber-
andere, die stark von der imaginativen Eigen-
individueller, ein sozialer A k t ist, erlolgt
welt bestimmt ist, ais zweitrangig abgewer-
mit einer friihen Phase, in der eigene W orte
von sehr privater G eltung geschaffen oder tet wird.
Die Technik, welche die unmittelbare Ab-
den ubernommenen W orten vollig indivi-
hangigkeit von der N átur stándig verringert
duelle Inhalte gegeben werden. U nd die
und sich fur eine steigende Z ahl der M en­
Atmosphare, weldie die Alltaigsworte der
schen in den industrialisierten Landern
Gruppe ein Leben lang begleitet, bewahrt
immer ausschliefilicher zwischen N átur und
gar oft Tonungen, zarteste Beimengungen
Mensch einschiebt, verstarkt den Sonderwert
aus der Stimmungswelt jener friihen Tage.
und die ausschliefiliche Geltung der selbst-
* W , A . S tolí, ■Lysergslure-diathylamicl, ein Phantastlkum gemachten rationálen W elt immer mehr.
aus d e r M u ttetkom gruppe“ , Schweizerisdies Archív fiir N euro­
logie und Psychiatrie, Bd. L X , 1947. W er kann ermessen, was es schon heute fiir
26 A d o l f Port m a n n

un$ bedcutet, daB wir d a s N atu rja h r mit dem Logischen, dem Rationalen voran-
seiner symbolisdien M a d it der kosm isdien gehende und daher zugunsten dieser hóhe-
Erneuerung immer m ehr au s unserem Er- ren G eistesstufe zu iiberwindende A rt der
lebniskreis verbannt und darait auch dicse W eltbildung ware. D as Besondere liegt in
reidie Quelle der E rneuerung zum Ver- der dominierenden M adit der Bildersprache,
siegen gebradit Kabenl E s geht tnir heute des D en kens in Im aginationen mit ihren
darům, auf die A ufgabe, au£ die Verantwor- seltsam en, der A n sdiauun g entnommenen
tung auch dcs A bendlandcs hinzuweisen, A n alogien; d as Eigenartige liegt im macht-
das an der Bewahrung eincr vollwertigen vollen V ertrauen in die Erfahrung der
primaren W elt im Meuschen arbeitcn muB, Sinne, der das rechnende D enken zu gehor-
gerade weil dieser Okzident das Entstehen chen hat. D a s ist die W elt, in der die Aus-
eincr sekundaren W elt in einem so aus- saat des Sam ens und das A ufgehen der Saat
schlieBlidien M aBe gefordert hat. Idi sage eine Gew iBheit von der wesentlidien Ver-
das nicht in wchmiitigcm Sinnen um Ent- b indung von U ntergang und Auferstehung
sdíwundenes; es geht um viel mehr: es geht bringt; in der die Verw andlung der Raupe
um die Einheit unserer N átu r, die nur ais zum Falter ein Zeugnis der Seelenwelt und
Synthese von primarer und sekundarer der zauberhaften W andlungsfahigkeit aller
Welt, nur in innigster Durchdringung der Form en ist.
beiden Weisen der Bew altigung vollwertig D ie verborgenen Anlagen, welche dicsc
sein kann. W eltsicht begiinstigen, sind nicht dazu be-
stimmt, von andern abgelost zu werden, die
einer reiíen Lebensform etwa besser ange-
ie primare Form unserer W eltbildung paBt und daher riditiger waren. D ie An­

D ist nidit eine pralogisdie, infantile


Stufe, die im Laufe der Entw iddung des
zelnen wie der G ruppe endgultig iiber-
lagen, die in der ptolem aisdien Weltsicht so
Ein-
stark zur G eltung kommen, sind ein wesent-
liches G lied alles Hum anen schlechthin, ein
stiegen wird und die bei primitiyen Men- uns angeborener Reichtum, den wir nidit
s&engruppen noch weiter bestiindel gegen irgend etwas m ntausdien diirřen. Es
Dicse in unserer Friihentwicklung nur be- gib t nicht eine A rt „naturlichen1' Mensdi-
sonders auffallige, dominantě A r t der Welt- seins, das nur dieser Erlebnisform, die wir
zuwendung arbeitet von allem A n fan g an ptolemaisch nennen, zugeordnet ware — ein
ais Einheit mit der rationalen Funktion un- N aturstan d gleidisam , aus dem sich dann
seres Gcistes und der imaginativen M adit der Kulturm ensdi entwickelt. E s gibt Kom-
der Einbildung, die beide ihre eigene A rt ponenten des Hum anen, stetig wirkende
von Folgeriditigkeit mitbringen. D aB dieses G lieder unseres W’elterfahrens, die in ver-
innige Gewebe der ástlietischen und theore- schiedener M isdiung in Z eit und Raum da
tischen Komponente unserer Weltzuwen- gewesen sind und weiterhin vorkommen
dung ais eine kombinierte Einheitsleistung werden.
auch bci allen den V olkem verwirklicht W ohl liefien sidi Definitionen schmieden,
wird, die man ais „Primitive" oder „Natur- in denen die ptolemaische G eltung der un-
volker" bezeichnet hat, das braudie idi hier mittelbaren Sinneseindriicke ais naturgebun-
nicht besonders zu betonen. Doch mochte idi dener erscheinen, die A bstraktionen der mo-
doch an die Darstellungen dieser humanen dem en Naturforschung aber ais „geistiger”.
Einheit erinnem, die uns Paul Radin ge- Doch sind beide W eltansichten Geisteswerk
schenkt hat und die fiir uns die spannend- und ebenso beide „naturlich", indem sie von
sten Dokumente der Oberwindung einer unserer besonderen humanen N átur aus-
These sind, der Lévy-Bruhl eine Zeidang ein gehen; beide sind jeweils gemeinsame Lei-
so starkes Echo verschafft hatte. stung der Komponenten unseres Denkens,
D ie Besonderheit der ptolemaischen Welt- wenn auch ihre W irkung in den verschie-
form ung liegt nidit darin, daB sie nur eine denen Lebensabsdinitten sich in verschie-
P t o l e m aer und K o p e rn i k a n e r 27

dener W eise verbindet. W enn ich vom blick nur an die des Nachttraums denken,
ptolcmaischen W esen ais der primaren bedeutet eine lange Lebensstrecke fiir jeden
W eltzuwendung spreche, so zielt dies W ort von uns, und was wir in unserer wachen
a u f die zeitliche Folge in unsecein Werden. Lebensfiihrung ihr alles verdanken, ist im
D a s Spiel dieser A nlágen in unserer Ent­ einzeinen schwer zu ermessen.
wicklung žu sehen, ersmeint miř eine der
groficn Aufgaben der Erneuerung unseres

B
G eisteslebens. eďenken wir die grofie Sonderung der
D ie ganze Kindheit ist das Reich der pto- Gesdilechter, so finden wir bei der Frau
lemaischen Weltsicht, in den friihesten in ganz besonderem Ausm afi die produktive
Jah ren in einem besonders hohen M afie: die W irkung der M adite des Gefiihls und die
erste W eltbildung geschieht im Geist des sinnvolle N eigung zu einem ptolemaischen
Ptolem aers. E s ist eine bedeutungsvolle Tat- Leben, in Obereinstimmung mit der Einbet-
sad ie, dafi die jahrelange Kindheit, die der tung des weiblichen D aseins in grofie lebens-
P u bertat vorangeht, bei allen V olkem gleidi bewahrende Aufgaben.
lan g ist, dafi also im W e s e n jeder mensch- Im mannlichen Gesdilecht ist die ptole-
licheti Entwicklung die gleidie Zeitspanne maisdie Weltsicht gerade in jenen Konsti-
fiir die W irkung des urspriinglidien Welt- tutionstypen besonders deutlich, die in den
kon taktes und fiir die Obernahme des Tra- meisten Versuchen zur Typenlehre ais aus-
ditionsgutes vorgebildet ist. W ir wollen geprágter Typus klar erkannt sind. E s sind
d o d i nicht etwa dem Glauben verfallen, die die gedrungenen Gestalten, die pyknischen
tropischen Menscherígruppen hatten eine Manner, mit der von Kretschmer ais zyklo-
rasdiere Entwicklung, sie seien eine A rt ty ii; be/.eidujeten Gemiitslage — ein Men-
Treibh aus wesen; gerade bei sogenannten sdíentypus, der stark sozial eingestellt ist,
Prim itiven liegt die Pubertat sehr spat und der W elt und ihrem Reichtum zugewandt,
die „A kzeleration“, das ungewohnlidie ver- dem Earbigen ganz besonders aufgeschlos-
friihte und gesteigerte Wachstum gemein- sen und einer ganzheitlichen W eltdeutung
sam m it der Vorverlegung der Geschledits- verpflichtet.
reife, wie wir sie im Abendland in den In vielen Rassen und V olkem dominiert
letzten Jahrzehnten feststellen, verlauft ja in Zeit und Raum ein ahnlidier Grundtyp
gerade entgegen dieser A nnahm e: verfriihte mit starker primarer W eltzuwendung — oft
G eschicdiísreife ist ein Phanomen der ex- bis zur volligen H errsdiaft derselben —, und
tremsten Hochzivilisation. Es darf vielleicht eine solche Geisteshaltung ist gar nicht etwa
au dl darau f hingewiesen werden, dafi die auf Primitive beschrankt, sondem auch fiir
lange vorpuberale Kindheit auch jene extrem differenzierte Kulturen kennzeich-
Periode ist, in der die grofien Untersdiiede nend.
der einzeinen M ensdiengruppen am klein- W ir fanděn also in wesentlichen mensch-
sten sind. Erst mit der Pubertat beginnt das Iichen Lebensphasen, die allen Rassen zu-
W achstum, w eldjes die eigentlichcn Rassen- kommen, und ais wesentlichen Anteil in der
untersdiiede der Korpergrofie hervorbringt. Gestaltung der Reifeform eine A rt von
D ie Zeit, die vorangeht, hat eine besondere, Weltzuwendung, die wir ais die primáře
allgemein-humane W ertigkeit ais Entwick- oder die ptolemáische bezeichnet haben. Sie
lungsperiode, geht in auffalligem Mafie H and in Hand
A b er nicht nur die Kindheit ist dem Pto- mit einer Korperlidikeit, die voň gedrunge-
lemaertum zugeordnet — im Leben jedeš ner A rt ist, die audi in der Kindheit der vor-
Einzeinen sdíafft der Schlaf in rhythmischer puberalen Phase zukommt, bei der Frau in
táglicher W iederkehr die Sphare, in der starkerem M afie wirksam bleibt, manche
diese W elt in einer ganz besonderen Aus- Mensdienrassen diarakterisiert und bei an-
sdíliefilidikeit zur Herrschaft kommt. Die deren widitige Konstitutionstypen kenn-
W elt des Xraums, auch wenn wir im Augen- zeichnet. Idi habe in anderem Zusammeh-
28 A d o l f Porím ann

hang versucht, die Gesam theit dieser Ztige Sdíwim m en nicht mehr ablegen miissen,
ais das „Grundmenschliche” zusammenzu- mufi recht eigentlidi ais ein kiinstliches
fassen, um dem polaren Sdíem a m andicr O rgan — nicht ais ein Verbesserer anderer
Konstitutionslehren ein anderes Bild ent- O rgáne wie die Brille, sondem ais ein Zu-
gegenzusetzen: das Bild des Grundmen- satzorgan — gelten. D er ungeduldig War-
sdíen, das die archaischere Menschengestalt tende, der ja die Z eit ohnehin erlebt, sieht
und Verhaltensweise kennzeichnet und das zudem alle Augenblicke auf die Uhr und
auch in der Ontogenese den kindlichen Zu- hat erst so den rechtcn Gewinn von seiner
standen entspricht.a Idi habe von diesem Pein des Zeiterlebens im W arten.
Grundmensdien in einer durchaus ais vor- H eute findet der forschende Mensch gar
laufig gedachten Bezeichnung die „Kopf- heraus, dafi das grofie Zeitmafi der prima-
mensdien“ abgesondert, die ich nicht einem ren W elt, die Erdum drehung mit ihrem
Gestaltungspol zuordnen mochte, da sie Tagesrhythm us, die Z eit ungeniigend mifit.
wohl eher ais mehrere Variationsmóglich- Es gibt nicht viele Fakten, die das auístei-
keiten des Grundtypus aufgefafit werden gende, das immer machtiger eingreifende
miissen. sekundáře Leben klarer bezeichnen ais diese
Kontrolle des primaren Zeitmafies, die nach-
weist, dafi die Erde ais U h r „falsch geht“ .
er sich die tiefe V erankerung dessen, Etwas mehr ais zwei Stunden madit das in
W was wir die primáře Zinvendung zur
Welt nennen, vergegenwartigen wili, wird
2000 Jahren au s — so lese ich. Dieser Nach-
weis ist eine grofie technische Leistung —er
das Erleben des Z eitablaufs beachten. W ir ist zugleich ein Kennzeichen einer ver-
kennen Zustande, in denen wir die Z eit vól- anderten W elt, die aus der Heim at einer
lig vergessen, in denen sie' aus dem Bewufit- echten naturlidien Zeitbildung eines Erden-
sein sdíwindet. Alle gliicklichen Stunden wesens ausgezogen ist in den Weltraum, wo
sind von dieser zeitfreien A rt — im Eluge nadi neuen Konstanten der Zeitmessung ge-
scheinen sie vergangen. sucht werden mufi. W ie lange wird uns das
Bewufite Zeit ist wohl fast immer eine „tropische Ja h r“ geniigen, mit dem wir seit
Last — die „W eile" dauert zu lange. Diese 1956 statt durch die tagliche Erdumdrehung
Langeweile ist das Erleben, das w ir um die Z eit messen, die Zeit, in der die Erde
jeden Preis vermeiden, wenn es da ist, ver- einmal um die Sonne kreist?
jagen wollen. Zeit im Bewufitsein mufi vér- W ird der Mensch mit dem kommenden
trieben, ja totgeschlagen werden — die W eltraumverkehr auch sein primares Zeit-
Spradie ist hier ganz entschieden, erleben abzuschaffen trachten? W as wird er
Die primáře Zuwendung „mifit" auf vie- mit den D rogen anstellen, die ihm crlauben
lerlei A rt seit Urzeiten den Tageslauf. Aber werden, das Zeiterleben nach Wunsch zu
unser Stimmungsleben, unser Gem iit hat verandern?
seinen eigenen U m gang mit der Zeit. Ja D er G rundm ensdi ist in seiner Welt-
diese gélebte Zeit ist etwas vom Sicheren, gestaltung ein Ptolemaer, Er ist damit audi
das wir audi in die sekundáře W elt des tech- der Bewahrer und Verwalťer eines wunder-
nischen, rechnenden Seins hinuberretten, die baren Erbes, das audi fiir die Zukunft der
uns doch auf alle erdenkliche W eise das G attung Mensch von grofier Bedeutung ist.
stete Bewufitsein des A blaufs von mediani- Idi habe bei verschiedenen Gelegenheiten
sdíer Uhrenzeit ins Bewufitsein bringen zugunsten dieses Grundmenschen gespro-
wilí. Bis ins moralische G ebot der Zeit- dien und geschrieben; weil mir scheint, daB
einteilimg, des N iitzens der Zeit, verfestigt seine A nlagen im heutigen Lebenskampfe
sicb der sekundáře U m gang —ja die wasser- und im System der jetzigen Schulung und
dicfite Armbánduhr, die wir a uch beim Reifung zu kurz kommen und sidi nur kiim-
1 A . Portm ann, ,J) o n Q uí/ole und Saního P t n u " , V crlas merlich entfalten konnen. D ieses Schicksal
F , R einiiaidt, B asel 1957. der ptolemaisdien W eltzuwendung ist ein
Ptolemaer und K o p e r n i k a n e r 29

bedeutungsvolles Glied unserer Entwick- běvor eine geniigend grofie Zahl wissen-
Iung und sdíeint mír ein widitiges, zu wenig schaftlich Tatiger mit dem Liditmikroskop
beachtetes Problém unserer Zeit. wahrhaft vertraut ist!
W ir wachsen heran in dieser primáren D ieses Schicksal des A uszuges aus der ur-
W elt; das grundmenschliche Vermogen der spriinglichen Lebensform in eine sekundáře,
Einbildungskraft sdíafft ein Bild der W elt ais deren Symbole die von uns gesdiaffenen
von eindriicklicher Macht und Einheit, ein kiinstlichen Himmelskorper gelten konnen
W eltbild, in dem unsere Sinne voli zuř Aus- — dieses Geschick mit seinen lockenden und
w irkung kommen und in der wir das Wir- drohenden Ausblicken auf die Weltraum-
ken dieser Sinne ais sinnvoll und wohl- fahrt stellt auch die Frage unserer Ereuerung
begrundet erleben. Es ist aber unser in einer besonderen W eise. W ir sind blei-
Schicksal im Individuum wie in der Gruppe, bende Ptolemáer; wir werden ais solche ge-
dafi wir in jedem Einzelleben und in jeder boren, auch in Zukunft, und wir werden es
G eneration au s der grundmenschlidien Pri- auch in der Erlebnisweise des A lltags wie im
m arw elt herauswachsen miissen in eine nicht Wirken unserer GefuMswelt bleiben.
w eniger menschlidie, aber ganz andere, se­
kundáře W elt. Es ist die W elt des rechnen-
den V erstandes, der tedmischen Bewalti- ngesichts der immer gebieterischeren
g u n g des D asein s: eine in letzter Folge dem
Sinnenleben weitgehend entzogene Vor-
stellungsw elt; es ist jenes Reich, in dem uns
A . Forderung, in eine rationale, rechnende
Weltzuwendung hineinzuwachsen und an
der ausgreifenden tedmischen Verwandlung
die M athem atiker lehren, daB wir uns im des gesamten menschlichen Lebensraumes
Extrem fall bei ihxen Begriffcn nidits mehr mitzumachen, muB ais Ausgleičh der Sinn
vorstelien sollen, sondern lediglich dafiir be- fiir die Grofie und fiir die Bedeutung eines
so rg t sein miissen, damit operieren zu qualitativen Universums, das Bediirfnis
konnen. nadi einer reidien W elt der Sinne und
D ieses Herauswachsen aus der primáren Bilder gehegt, ja gesteigert werden. Es gilt
W elt in eine sekundáře war seit Urzeiten in den langen Jahren der Kindheit, in der
Schicksal des Menschen, aber in Friihzeiten Zeit vor der Pubértat, die máchtige Domi-
w ar der Anteil dieser zweiten W elt ein ge- nanz der primáren Lebensform des Grund-
ringer. In seinen letzten Konsequenzen war menschlichen, des Ptolemaertums, zu for­
er wohl sehr oft nur wenigen bedeutenden dem und zu bewahren, und dies so stark,
Einzelnen wirklich zuganglidi; das Leben dafi wir auch im A usbrudi in die Macht-
der G ruppe wurde davon nicht sehr tief be- spháre des Rationalen verankert bleiben in
einflufit. D as hat sich von Grund auf ge- einem tieferen, unser W esen begrundenden
ándert. Menschengruppen, die heute den Boden.
V orm arsdi in eine rechnende Welt, den Idi verteidige hier die Pflege, die Forde­
A u fb a u einer tedmischen Lebensstruktur rung primáren W elterlebens nicht blofi, weil
nicht mitmachen, nennen wir bereits seit es im A ufstieg der rationalen Bewáltigung
einiger Z eit „unterentwickelt": oSenbar des Lebens zu kurz zu kommen droht; nicht
w ird in diesem Fali der Aufbrudi in die se­ einfach, weil es aus gleichsam hygienisdien
kundáře W elt mit unzulanglichen Mitteln Griinden des seelischen Gleidigewidites ge­
erstrebt und fiihrt nicht weit genug. Wie hegt werden mufi — idi verteidige es, weil
scharf unsere Zensur „ungeniigend“ in das mir sein W ert, seine Rolle im Leben jetzt
Leben dieser V olker eingreift, wie groB der wie immer von grofitem W ert erscheint.
Zwang ist, eine bessere Note im Kam pfe um Es ist vielleicht gut, einen Augenblick zu
die Existenz zu erlangen, brauchen wir nicht bedenken, was wir einem fiir diese primáre
besonders hervorzuheben. A u wie vielen W elt besonders kennzeidmenden Men-
Orten entstehen daher heute sogleich Labo- sdíentypus verdanken. W ollen wir nicht
ratorien fiir Elektronenmikroskopie, nodi eine kleine W eile an die geistigen Welten
30 A d olf Portmann

der Imagination denken, welche uns allein stalten durdi die sdíopferisdien Móglidi-
schon das W elterleben der Keltenvolker ge- keiten unseres geistigen U m gangs zu ver-
schenkt h at? W er konnte aus der Kunst, mehrcn, so wie die keltischen Sanger und
aus der Diditung, der M usik unseres D iditer, so wie andere Volker fiir alle
Abendlandes alle die Sagen und Gestalten- Z eiten den Sdíatz der Gestalten, mit dcnen
kreise wegdenken, die wir dieser kraftvollen wir leben, zu mehren wufiten.
Imagination verdanken! V om Zauberer E s gilt, der W elt durdi eine freie schopfe-
Mcrlin zum Konig A rtu š und seinen Ritter- rische G estaltung, durdi kiinstlerisdies
tatcn, von der W elt der Elfen, die uns die Schaffen ihren vollen Sinn ais einer uns zu-
irischen Marchen geschenkt haben, bis zu gehorigen Innenwelt zu erhalten; es gilt,
der von Parsifal, von Tristan und Isolde: diese Sinngehalte zu mehren und offenzu-
wie wiirden die Taten des abendiandischen stehcn fiir die geheimnisvollen Aussagen,
D iditergeistes aussehen, wenn es gelange, die wir durch unsere eigene Spradie der bil-
mit eincm Zauberwort alle die vielverzweig- denden und dichtenden K unst von den Din-
ten W irkungen dieses einzigen Sagenkreises gen der W elt machen kónneu.
auszumerzen, versdiwinden zu lassenl A b er die primare W eltbeziehung muB
nodi etwas anderes leisten. Sie tnuli in einer
Z eit der furchtbarsten Bedrohung des

E
s ist eine der Absiditen meines V ersudis, aufiermenschlidien Lebens den offenen Sinn
ein wenig zur Geltung der primaren in uns wachhaltcn fiir die GroBe aller der
Weltsicht beizutragen, indem ich au£ das
Geschopfe, die w ir selbst niemals zu madien
W under der Strukturen hinweise, weldie imstande sind, die vor uns, aufíer uns, mit
dieser bcsonderen Zuwendung zur W elt die- uns die W elt beleben und deren Todfcind
nen, und auf das Eigenleben, das uns durch wir mit unserer Macht geworden sind. W ir
diese vorbereitete Beziehung gesdienkt wird. sind bcdroht, voli Schrecken schliefilidi in
Die ganze Struktur derprim aren Zuwendung eincr W elt zu leben, in der wir von lauter
ist ja nicht allein eine A u fforderun g zur Dingen umstellt sind, die wir alle selber ge-
orientierendcn und objektivierenden Ein- macht haben. Ich weifi nidit, ob wir heute
richtung in der W elt (obsdion sie au di das schon imstande sind, das G rauen zu spiiren,
zu allen Zeiten gewesen ist und sein wird); das vom Leben in einer solchen W elt aus-
sie ist vielmčhr eine Struktur zum eigenen gelien muB. W er sich audi nur einiger-
inneren U m gang mit den Anregungen inaBen dieser G efahr bewufit wird, weiB
dieser W elt, eine Struktur, geschaffen zum auch, wie wesentlidi es sein wird, unser
schopferischen Entfalten der uns eigenen in­ G efiihl fiir die aufiertnenschliche Lebens-
neren M ádite; sie ist eine Struktur, die uns form in wirksamer W eise zu starken und zu
ermachtigt, den Gehalt der W elt an Gc- bewahren.
LUCIUS BURCKHARDT

Die Wohnkultur
ais Gegenstand der Soziologie

enn heute crneut versucht wird, nicht nur Schonheit in kampferischer Koexistenz. D as Vor-
W Fragen des Kunstpublikum s, sondern kiinst-
lerísche und kunstgewerbliche Ausdrucksweisen
handensein der gegnerischen A u ffassun g ist nicht
zu leugnen, und doch halt man die eigene íur
selbst zum G egenstande einer Soziologie zu neh- richtig. So entdeckt man das W ort „Gesdhmack1*,
men, so' mufi zunáchst eine klesne methodische das friedfertig ist und aggressiv zugleich, das
A bgrenzung gemacht werden, die uns praktischer- scheinbar Toleranz ubt („ de gustibus non est dis-
w eise auch gleich den Zeiťraum aussdieidet, £iir putandum “) und doch impliziert, der „gute Ge-
welchen unsere Betrachtungsweise fruchtbar sein schmack** sei etwas Feststehendes, Selbstverstand-
w ird: wir raeinen die Zeit der burgerlidicn Eman- Iiches. In diesem W orte „Geschmack* sdíeint mir
zipation von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis etwas eingeřangen von jener Epoche in ihrem
zum A u sg a n g des vorígen, oder vom Klassizism us Zwisdienstadium zwischen Allgem einverbind Lidi-
des Lotus X V I. bis zum Jugendstil. — Eine So­ keit und AuílÓsung der Normen, in ihrer gespiel-
ziologie des M bbelstils kónnte in elementarer ten Privatheit und wirklichen Politisíerung aller
W eise so betrieben werden, daB man Objekte Ausdrucksmittel.
vom im m t: hier der Sdíreibtisch A ugusts des Star- E s war den Zeitgenóssen selbst bewufit, daft es
ken, dort der Schreibtisch cíncs unbekannten um die Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Ge-
Schullehrers: das ergabe ein Tatsadienm aterial, schmack etwas Neues, Besonderes au f sidi haben
bei wclchem man dann allenfails noch Oberlegun- miisse, und je nach Einstellung bekámpften sie es
gen anstellen konnte uber Rangabzeichen, iiber oder maditen sie es zur Basis ihrer Asthetik;
den Ausdruck der gcsellschaftlichen Hierarchie in Klopstock noch warnt Yor dem „W órtlein Ge-
den Kulturgutern fruherer Zeiten, analog jener schmack“ in einem Paragraphen der „Gelehrten-
Soziologie des Protzentums, die aň Iian d von republik"; Kants Paragraphen setzen den Ge-
Aiitom odellen und anderen Konsumgutern heute schmack ais oberste asthetische Instanz, und Her-
so p opidár geworden ist. G enau das wollen wir ders Protest dagegen kommt aus verlorener
nicht, denn es ergabe eine zeitlose und statische Position; die zu Ende des 18. Jahrhunderts ange-
Sdíichtung, und wir sprechen ja von einem hochst laufene Entw iddung lafit sich nicht mehr ruckgan-
dynamischen Zeitalter. W ir sudien einen Aus- gig machen. Damit, dafi die gesellschaftliche Spitze
gangspunkt, der uns in den sozialen Prozefi fiihrt, nicht mehr identisch war mit der kulturellen, gibt
ein M odell, das uns erlaubt, gerade die Auflosung es nun sdíeinbar vollendete Kunst, die kulturell
der alten Schichtungen, den Emanzipationsprozefi nicht auf der H ohe ist: den Kitsch; und kultivierte
und schliefilich audi den merkwurdigen Abbruch Kunst, die gesellschaftlich nicht ankom mt: die
der Entwiddung, der dann allerhand politisch in- sdíwerverstandlidie K unst; genauso, wie nun
difíerente GeseUsdiaftstrummer nebeneinander Personen von Stand und Vermogen sidi kost-
ubrig liefí, am A bbild der W ohnkultur zu ver- spielig, aber „ohne Geschmack* einrichten, wáh-
folgen. rend andere in okonom isdi bedingter oder nur ge-
In dem Augenblick, da das Burgertum in kultu- spielter Zuriickhaltung eine edle, „gesdhmackvolle*’
rellen Wettbewerb tritt mit den Kreisen des ancieň Einrichtung zustande bringen. N o d i aber bestand
régime, stehen auch zwei Vorstellungen von eine Verbindung des Geschmacks zu einem Stil,

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