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 Kadmos 2022; 61(1/2): 145–153

Diether Schürr*
Drei karische Verben
https://doi.org/10.1515/kadmos-2022-0008

Abstract: Mδ-, mδš, mδa und mδane, mlane und mλne sowie šRnne werden als
Verbformen gedeutet: 3. P. Sg. Prät. mit Schwund der ‚lenierten‘, lykisch -de,
lydisch -d und luwisch /-da/ entsprechenden Endung und teilweise einem ange-
hängten Pronomen -ne, das ein Akkusativobjekt ersetzt. Im ersten Fall handelt
es sich bei den Votivinschriften sicher um ein verbum donandi, das zu hethitisch
manijahh- gehören könnte, im zweiten kommt eine Bedeutung ‚schrieb‘ in Frage,
wozu gotisch meljan verglichen werden könnte, im dritten ebenfalls ein verbum
donandi.

Keywords: Karisch, anatolische Sprachen, Verbalendungen, enklitische Prono-


mina.

Adiego 2007, 321 eröffnete seine Analyse möglicher Verbformen in den karischen
Inschriften mit dem Satz:

„The only word I consider to be even a minimally reliable verbal form is


ýbt, for which Melchert suggested a very plausible interpretation (= Lyc.
ubete ‛he offered’).“

Belegt ist das in der archaischen Inschrift auf einer bronzenen Phiale, die 1978
von Gusmani publiziert worden war1:

Šrquqǀ Qtblemśǀ übtǀ snnǀ orknǀ ntroǀ pídl

1 Bei Adiego 2007, 160 als C.xx 1 bezeichnet. Craig Melchert danke ich für das PDF seines neuen
Aufsatzes, Manuela Anelli für ihren Beitrag zum 7th Luwic Workshop im Februar 2022, Zsolt
Simon für PDFs, Hinweise und kritische Bemerkungen.

*Corresponding author: Diether Schürr, Katharina-Belgica-Straße 22b, 3450 Hanau,


Deutschland. E-Mail: diether.schuerr@gmx.net
146 Diether Schürr

Da steht am Anfang ein Personenname, dem ein Patronym folgt, dann übt2 und
Objektbezeichnungen im Akk. Sg. auf -n.
Zu vergleichen ist die lykische Inschrift einer Statuenbasis im Letoon bei
Xanthos (um 400 v. Chr.)3:

[Erb]bina-j-ẽne ubete χruwata Ertẽmi (usw.)


„Erbbina ihn stiftete als χruwata (Akk. Pl. n.!) der Artemis.“

Außerdem endet auf dem Rand eines Marmorbeckens, das ebenfalls im Letoon
gefunden wurde, eine Inschrift mit ]ẽnida ubet[e]4, wo das Verb direkt auf einen
Personennamen folgt.
Die Gleichsetzung von übt mit ubete und schon keilschrift-luwisch ú-pa-at-ta
= /ubata/ („‛furnish, grant’ (or sim.)“ Melchert 1993) ist also plausibel, und Mel-
chert 2021 zeigt nun, daß karisch ù/ü dem ursprünglichen indogermanischen und
anatolischen *u, keilschriftlich ú- bzw. Cu-ú- geschrieben, entspricht, karisch u/ú
aber dem sekundären *o im Hethitischen, Palaischen und Luwischen, keilschrift-
lich u- bzw. Cu-u- geschrieben, und auch *wa-5. Die von Adiego 2007 eingeführten
Umschriften y statt ù und ü für zwei Zeichen, die in den jüngeren Inschriften des
Mutterlandes je nach Region für den gleichen Laut verwendet werden, ý statt w
für den archaischen Vorläufer des ü (hier daher auch mit ü umschrieben wie oben
in übt) und w statt ú für ein Zeichen, das in den archaischen Inschriften mit u
wechselt, erweisen sich damit tatsächlich als irreführend und werden daher hier
nicht gebraucht6. Analog wird hier an í statt j für ein mit i wechselndes Zeichen
festgehalten, das oben in pídl für den Vokal stehen wird, außerdem an ζ statt z,
weil das ja /st/ bezeichnen soll, und χ für eine Form des Chi statt k̂, weil durch-
aus fraglich ist, ob es einen palatalen Laut bezeichnet. Und es hat auf jeden Fall
gar nichts mit dem urindogermanischen Laut zu tun, der so bezeichnet wird. Ein
weiteres griechisches Zeichen ist γ für vermutlich /ng/ statt Adiegos ŋ, analog zu
δ für /nd/.
Dem Mangel an karischen Verbformen läßt sich abhelfen, denn vom Aus-
gangspunkt dieser Inschrift aus lassen sich drei weitere karische Verben mit
einiger Sicherheit bestimmen, was zwar nicht neu ist, aber von Adiego nicht

2 Zu dieser Umschrift im Anschluß.


3 N 311, siehe Bousquet 1992, 159.
4 N 313m, siehe Bousquet 1992, 195, der sonderbarerweise ubete schreibt und angibt „on
distingue le bas de la dernière lettre, réduit à un point“, obwohl in Fig. 8 nichts zu sehen ist.
5 Das Lykische kennt diese Differenzierung nicht. Das karische o ist zumindest in der Regel lang
und dürfte teilweise auf indogermanisches *o unter Akzent zurückgehen.
6 Siehe schon die Besprechung Schürr 2010b, 136f.
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akzeptiert wurde7. Es wäre aber sehr sonderbar, wenn vergleichbare Votivin-


schriften verblos wären.
Zunächst hat eine zweite Inschrift auf einer bronzenen Phiale, angeblich bei
Halikarnassos gefunden8 und ebenfalls 1978 publiziert:

Smδübrsǀ Psnλoǀ mδ’ orkn-tünǀ snn

Da dürfte den Beginn ein Personenname mit dem Zweitglied -übr im Dativ auf -s
bilden, dann folgt ein zweiter im Nominativ und anstelle von übt vor einer Erwei-
terung der gleichen Objektbezeichnungen mδ’, mit vor orkn elidiertem Vokal, wie
aus den gleich folgenden Vergleichen hervorgeht. Daraus folgt nahezu zwingend,
daß es sich um eine Verbform ähnlicher Bedeutung handeln muß.
Nun hat ein zweites von Gusmani 1978 publiziertes Bronzegefäß (ein Dinos)9
die Inschrift:

Üśbiks not: alos-δ χarnos-δ: Íζpe mδa-ne

Daran läßt sich die Inschrift einer Löwenstatuette aus Bronze10 anschließen, die
in Ägypten erworben und 1976 publiziert wurde:

ntros: Prγidas boršacnu mδa-ne: Uksi Úrmś


a

Da kehrt nicht nur mδa-ne wieder, sondern auch ntro im Dativ, und in diesem Fall
steht der Name des Stifters samt Patronym am Ende. Da alle diese Bronzegegen-
stände ungefähr zur gleichen Zeit in den (illegalen) Handel kamen, werden sie
alle aus der gleichen Raubgrabung stammen, d. h. aus einem karischen Heilig-
tum in Ägypten.
Dazu kommt noch die altbekannte Inschrift eines Reliquiars aus Bronze11, die
auf eine ägyptische mit dem gleichen Personennamen folgt, der hier am Beginn
steht:

Šarkbiom: Zidks mδa-ne: ün[ζ?] 2moǀδen: Tumn

7 Siehe zur Kritik auch Simon 2020.


8 Danach C.Ha 1 bei Adiego 2007, 144.
9 C.xx 2 bei Adiego 2007, 161.
10 E.xx 7 bei Adiego 2007, 128.
11 E.Sa 1 bei Adiego 2007, 32.
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Es fällt auf, daß mδa-ne nur im letzten Fall Akkusativobjekten vorausgeht – wobei
Tumn der in der ägyptischen Inschrift angerufene Gott Atum sein wird –, aber
da könnte ün[ζ?] eine zweite Verbform sein (*üns-t)12. Ansonsten scheinen sie
durch das angehängte -ne ersetzt, das dem enklitischen Pronomen (3. P. Sg./Pl.
Akk. c.) lykisch -(ẽ)ne entsprechen kann13. Allerdings wird dieses nicht an Verb-
formen angehängt: Da gibt es nur die Nasalierung der präteritalen Endungen,
wenn es ein Akkusativobjekt gibt. Außerdem gibt es im Gegensatz zu übt bei mδ’
und mδa-ne immer einen Adressaten im Dativ auf -s14: Smδübrs, alos-δ χarnos-δ,
Ntros: Prγidas und /Stidks/. Dagegen ist Üśbiks nach anderen Namen mit dem
Zweitglied -biks ein Personenname im Nominativ, dem mit not wohl ein Verb
folgt. Daran schließt aber alos-δ χarnos-δ wohl an, vergleiche auf einer der Toten-
stelen von Saqqâra15:

[Q]laλis 2[?]iamś-χi 3alos χarnos


„Dem Qlaλi, der des [?]iam (Sohn ist), dem alo (und) χarno.“16

In allen Fällen dürften die Adressaten Personen sein, und das entspricht ägypti-
schem Brauch in der Saïtenzeit. In ntro wird daher eine Ableitung vom Theonym
Notr-, lykisch Natri und mit Apollon geglichen, zu sehen sein, das einen Priester
dieses Gottes bezeichnet. Im Fall der Löwenstatuette ist sein Name Prγida, was
zum griechischen Namen der Branchidai, der Priesterdynastie des Apollontem-
pels in Didyma, gehören dürfte17.
Zu diesen Inschriften kommt nun ein „visitor’s graffito“ in Ägypten, bei
Saqqâra, wo nach ...?]ǀ[.]a/inǀk/u mδa-ne wiederkehrt18. Dann folgt wohl wie
bei der Löwenstatuette ein Personenname (Konuín?) und sicher ein Patronym
(Dbiksś), und so mag es kein Zufall sein, daß die vorausgehende Zeichenfolge an
oršacnu ebenda erinnert. Dann wäre ein Adressat davor zu erwarten.

12 Vergleiche naζ am Beginn von E.As 7 (Adiego 2007, 118), das lykisch nestte, wohl mit Negation
zu astte, entsprechen kann (Schürr 1996, 66).
13 Schürr 1996, 66.
14 Siehe zu dieser umstrittenen Endung Schürr 2013, 26.
15 E.Me 45 bei Adiego 2007, 68.
16 Der Anklang an Halikarnassos (Adiego 2007, 351) muß kein reiner Zufall sein, denn der
Ortsname könnte ja von einem Stamm χarn- gebildet sein, mit griechischem Erstglied.
17 Schürr 1998, 158 und 1999, 30f.
18 Bárta – Adiego 2021, 307. Ich danke Ignasi Adiego herzlich für die Mitteilung schon vor der
Publikation.
 Drei karische Verben 149

II

Zu diesen archaischen Belegen auf Votivobjekten kommen Belege in den jünge-


ren Inschriften des Mutterlandes. In C.Si 219 aus dem Heiligtum des Sinuri bei
Mylasa folgt auf

[Id]rüin Xtmñoś· sb-Ada Xtmñoś 2eri·


„Idrieus, (Sohn) des Hekatmnos, und Ada, (Tochter) des Hekatomnos
eri“20:
Pisñoi mδa· Pñmunśñ· pδa3χmśuñ
Z. 4 Aiλo mδa lrλñ· pospñ vacat
Z. 5f. Sñsi mδa 6sm[

Da folgt also mδa auf mögliche PNN21 und steht vor Akkusativen.
C.Si 122 aus demselben Heiligtum hat:

adü mδš: üriχñ: T[.]rsi: [Q]2tbeś vacat

Da könnte adü eine Personenbezeichnung sein, die als Satzsubjekt fungiert23,


während ein PN samt Patronym erst nach dem Akkusativobjekt folgt. Ganz unklar
ist, warum hier mδš statt mδa erscheint: ein pronominales Element?
Schließlich haben wir vor der Priesternamenliste C.My 1 am Beginn
idraüridsemδΛ und qmolš, ‚Priester‘24 im Nom./Akk. Pl. c., vor der Priesternamen-
liste C. Hy 1 šasqarioδdùmδa.25 Dann folgt die von Adiego erkannte Datierungsfor-
mel (kδuśo Piľipus usoτ 2muoτ armo Trqδos, etwa „under the reign of Philip (III) in

19 Adiego 2007, 139. Mit Versuchen, die Lesung der Inschrift (sowohl das Original als auch der
Abklatsch sind verschwunden) nach den Fotos etwas zu verbessern, in Schürr 1992, 138 (Ada)
und 2010a, 202.
20 Daß eri mit hethitisch /arā-/ ‚Freund(in), Gefährte/in‘ verwandt ist (Simon 2016/2017), wäre
lautlich zwar gut möglich, aber zur Schwester und Ehefrau gar nicht passend. Es gibt dafür auch
keine griechische Entsprechung.
21 Pisñoi zum gleichen Stamm wie Psnλo mit einer Endung, die auch zu -ωιoς gräzisiert belegt
ist, vergleiche auch Πισ[.]νως, wohl zu hethitisch /pis(e)n-/ ‚Mann‘ (Schürr 2001a, 63 und 2001c,
108). Aiλo mit dem gleichen Suffix wie Psnλo, gräzisiert -λδως.
22 Adiego 2007, 138.
23 Siehe zu den bisherigen Interpretationsversuchen Zsolt Simon in eDiAna (Miller et al. online).
24 Siehe Adiego 2019 und vergleiche lykisch kumaza. Das Suffix ist die nordkarische Variante von
-oλ, das eine lykisch -aza vergleichbare Funktion haben dürfte. Die Etymologie von keilschrift-
luwisch kumma/i- usw. ist unklar, siehe David Sasseville in eDiAna (Miller et al. online).
25 Wobei -dùmδa an adümδš in C.Si 1 erinnert (schon Adiego 2007, 349 und 363 assoziiert).
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the year26 four(th) in the month of Tarhunt“27) und darauf ebenfalls qmolš, ἱερεῖες
in Z. 3 rechts entsprechend. Das legt nahe, daß in der sehr abgewetzten ersten
Inschrift auch mδa mit Querstrich statt mδb zu lesen ist und die Datierungsformel
in den Satz eingeschoben ist. In beiden Fällen werden also ‚die Priester‘ Akkusa-
tivobjekt zu mδa sein. Wir haben also hier einen deutlich anderen Gebrauch von
mδa als auf den Votivobjekten, wo es etwa ‚gab‘ bedeuten wird28. Das Subjekt ist
hier unklar und die Bedeutung des Verbs auch. Griechische Parallelen?

III

Es gibt außerdem Belege für Formen, die mδa-ne analog sind, und auch nur in
archaischen Inschriften: mla-ne in den Grafitti im Grabpalast des Montemhet bei
Theben sowie auf einer Oinochoe aus der Nekropole von Hydai in Karien und
zwei solche Formen nacheinander in der Inschrift eines Kraters, der im Zeus-
heiligtum von Iasos gefunden wurde: šRn-ne[ǀ]mλ-ne. Von den Grafitti ist E.Th
10 länger und endet mit mla-ne. E.Th 34 hat nur Lüχseǀ Šišśǀ mla-n (wo sicher
kein e folgt, sondern nur ein kleiner Riß: unvollendet?). Ansonsten ist nur eúmla-
ne belegt, E.Th 44 nach dem PN Dquq, 12 nach ?kbiqmq, 47 nach ùdbośkn, 49
eú<m>la-ne nach bal, jeweils am Inschriftbeginn29. Daneben kommt eúm auch
öfters allein vor. Die Inschrift der Oinochoe30 beginnt mit dem PN Dmuon, dann
folgen [?]τeos31 und mla-ne (usw.).
Adiego 2007, 321ff. will mlane nicht von mδane trennen und wendet dann
S. 324 gegen die Auffassung als Verb ein, daß es sehr ungewöhnlich wäre, wenn
„the same verb was used in very different classes of text“. Da gibt es allerdings
Überschneidungen: So ist mla-ne auf der Oinochoe, mλ-ne auf dem Krater ähnlich

26 Zu luwisch /ussa/i-/, lykisch uhe/i- < *w(e)t-s-, siehe Melchert 1993, 245.
27 Adiego 2019, 20. Adiego umschreibt das neue l-Zeichen mit ĺ, was ich wegen der Umschrift í
und Í nicht übernehmen möchte. Trqδos gleicht ntros, kann aber kaum ein Dativ sein, wie das
bei Piľipus ohne weiteres möglich ist. Die Annahme, daß es „of Tarhunt“ bedeute, also mit einem
luwisch /-assa/i-/ entsprechenden Suffix gebildet sei (was m. E. nicht zu dem o paßt), ist aber
zumindest nicht zwingend: Vergleiche besser Otonosn = Ἀϑηναῖον (C.Ka 5 bei Adiego 2007, 154f.),
wo ein Ethnikonsuffix vorliegt. Das gleiche Suffix könnte hier zur Bildung des Monatsnamens
verwendet sein.
28 Schürr 1996, 66 und Simon 2008, 461 und 2020.
29 Adiego 2007, 99ff.
30 Türkteki – Tekoğlu 2012.
31 Siehe zu dieser Lesung Schürr 2019, 11. Da mla-ne sonst nie mit Dativen belegt ist, dürfte es
sich um ein Ethnikon handeln.
 Drei karische Verben 151

wie mδa-ne auf den Bronzegefäßen belegt und mδa-ne in der neuen Inschrift
ähnlich wie mla-ne im Grabpalast des Montemhet. Aber δ = /nd/ und l bezeich-
nen ganz verschiedene Laute, wobei die Thebaner Grafitti l auch statt λ wie in
Nordkarien gebrauchen32, was auch die Wiederkehr von mla-ne in Hydai erklä-
ren kann. Dagegen ist in Iasos mλ-ne belegt, das m. E. wirklich das gleiche Verb
bieten wird33.
Es läßt sich also wohl eine Ausgangsform *mλa-ne postulieren, die einer-
seits mla-ne, andererseits mλ-ne ergab. Diese Inschrift34 hat ]arešǀ šRn-ne[ǀ]mλ-neǀ
Siùklośǀ šRnn (usw.). Da gibt es also eine figura etymologica: auf das Verb šRn folgt
ein gleichlautendes Substantiv im Akkusativ35. Das dürfte daher nicht Bezugs-
wort des vorausgehenden Genitivs sein, der folglich als Patronym aufzufassen
sein wird, obwohl dessen Bezugswort dann weit entfernt ist. Das könnte auf poe-
tische Diktion deuten.
Nun wird mla-ne am ehesten wohl ‚schrieb es‘ bedeuten, und das könnte
auch in der Kraterinschrift passen: etwa „]areš schenkte es, (be)schrieb es, des
Siùklo (Sohn), das Geschenk“36.
Was die Deutung der Verbformen mδa und mla angeht, ist zu berücksichti-
gen, daß es im Lykischen, Lydischen und Luwischen neben -te bzw. -t bzw. /-ta/
für die Endung der 3. P. Sg. Prät. auch die ‚lenierte‘ Endung -de bzw. -d bzw. /-da/
gibt. Entsprechend wäre im Karischen neben -t auch -d zu erwarten, aber das ist
nicht belegbar. So dürfte das -d geschwunden sein, auch wenn beispielsweise bei
ted gegenüber lykisch tede/i- ‚Vater‘ auslautendes d erhalten ist37, was obliquen
Kasusendungen verdankt sein kann. Das ist jedenfalls die einfachste Erklärung38.
Als Vorform wird man etwa *mVnta- anzusetzen haben, was sich vielleicht an
hethitisch manijahh- ‚einhändigen, übergeben, zuteilen, überlassen‘, aber auch
‚verwalten, beaufsichtigen‘ anschließen läßt, das selbst zu lateinisch manus

32 Schürr 2010a, 200.


33 Siehe zu dieser Alternative schon Schürr 1994, 129.
34 C.Ia 3 bei Adiego 2007, 147, wo die frühere Unterscheidung zwischen a und R beseitigt ist.
Siehe zu dem Zeichen und seinen Varianten Schürr 2010a, 188f.
35 Schürr 1996, 66, wo das auch für mδa und moǀδen in E.Sa 1 erwogen wird, die sich deutlich
unterscheiden. Zum Wechsel von o mit Ø vergleiche den PN Notrs (E.Ab 28 bei Adiego 2007, 90),
Nωτρασσις und ntro.
36 Loiacono 2019, 133f. sieht zwar in šanne (der Lesung Adiegos folgend) ein Verb, nicht aber in
mλne, das „il voto“ o. ä. bedeuten soll.
37 Schürr 2001b, 120.
38 Simon 2020, 409 nimmt eine Endung *-da für mδa an, aber man sollte die Erhaltung des
Endvokals nicht erwarten, und das paßt auch nicht für die anderen hier behandelten Verbformen.
152 Diether Schürr

‚Hand‘ gestellt wird39. Tischler 1990, 120 bemerkte zu manijahh-, „lyk. miñti [...]
kommt semantisch nahe“, und da es sich dabei um eine Art Nekropolenverwal-
tung handelte40, ist das attraktiv. Möglicherweise gehen also das karische Verb
und miñti trotz der ganz verschiedenen Bedeutung auf eine gemeinsame Aus-
gangsform zurück. Mla erinnert an deutsch malen und gotisch meljan, dessen
Bedeutung auf ‚schreiben‘ eingeengt war, obwohl es ja viel früher belegt ist. Diese
Verben werden zwar nicht auf eine gemeinsame Ausgangsform zurückgehen,
könnten aber von der gleichen Wurzel gebildet sein. Bei šRn könnte eine redupli-
zierte Form vorliegen, da R in Kaunos später an die Stelle von š tritt – vergleiche
dazu etwa lykisch pibi(je)- zu pije- ‚geben‘41.
Natürlich muß bei einer so schlecht bezeugten Trümmersprache vieles
unsicher und Spekulation bleiben, und daran wird sich auch in Zukunft nichts
ändern. Aber daß zu den wenigen greifbaren karischen Verbformen mδa oder mδ,
mla oder mλ und šRn gehören, scheint mir sicher.

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31, 127–156.

39 Das sehr ähnliche lateinische mandāre wird plausibel als Univerbierung mit dem Substantiv
gedeutet, wird also unabhängig von dem karischen Verb gebildet sein.
40 Schürr 2008, 166.
41 Schürr 2001c, 112.
 Drei karische Verben 153

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