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Kinzinger   Behandlung eines offenen Bisses n 343

Gero Kinzinger

Behandlung eines offenen Bisses mit High-Pull-


Headgear und Gesichtsmaske
Methodik und Fallbeispiel

INDIZES Offener Biss, Compliance, High-Pull-Headgear, Gesichtsmaske Gero Kinzinger


Apl.-Prof. Dr. med. dent.
Willicher Str. 12
47918 Tönisvorst
und
Die Korrektur des offenen Bisses nach Abschluss des Wachstums erfordert in den meisten Fällen eine Klinik für Kieferorthopädie
Universitätsklinikum des
kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behandlung. Im vorliegenden Fallbeispiel wird eine Saarlandes
Methode beschrieben, mit der bei moderaten Formen des offenen Bisses und guter Mitarbeit des Kirrberger Str. 100
66424 Homburg/Saar
Patienten eine chirurgische Intervention vermieden werden kann: Durch die Kombination aus E-Mail:
High-Pull-Headgear und Gesichtsmaske erfährt die Oberkieferdentition im posterioren Bereich eine gero.kinzinger@gmx.de

Intrusion und im anterioren Bereich eine Extrusion. In der Folge rotiert der Unterkiefer nach vorne und
oben, sodass der offene Biss durch Schwenkung der Okklusionsebene geschlossen werden kann.

„ Einleitung diese Schwenkung der Okklusionsebene in modera­


ten Fällen des offenen Bisses auch mit rein kiefer­
Der frontal offene Biss wird morphologisch als dento­ orthopädischen Behandlungsgeräten erreicht werden
alveolär oder skelettal klassifiziert. Während der den­ kann, dürfte eine Reihe von chirurgischen Interven­
toalveolär offene Biss durch eine vertikale Unterent­ tionen vermieden werden können. Vor Behandlungs­
wicklung des anterioren Alveolarfortsatzes verursacht beginn müssen jedoch potenzielle exogene Fakto­
wird, wird der skelettal offene Biss durch eine allge­ ren, vor allem dyskinetische Einflüsse wie atypisches
meine Wachstumsstörung hervorgerufen. Eine Unter­ Schluckmuster, Lutschen oder Zungenpressen, aus­
scheidung ist mitunter schwer möglich, da die meisten geschaltet werden.
offenen Bisse Elemente sowohl einer dentoalveolären Im folgenden Fallbeispiel wird eine Methode be­
als auch einer skelettalen Dysplasie enthalten1. schrieben, mit der bei moderaten Formen des offe­
Bei Erwachsenen zählt der offene Biss zu den am nen Bisses und guter Mitarbeit des Patienten eine
schwierigsten zu behandelnden und rezidivträchtig­s­ chirurgische Intervention vermieden werden kann.
ten Dysgnathien – unabhängig davon, ob er dento­
alveolärer oder skelettaler Ursache ist2. Ist eine
chirurgische Korrektur der Dysgnathie indiziert, so ist
eine Autorotation des Unterkiefers nach Oberkiefer­ „ Behandlungsbeispiel
kranialisierung zu bevorzugen, da bei einer Auto­
rotation des Unterkiefers die Länge der Masseter- „ Diagnose/Befunde
Pterygoid-Schlinge unbeeinträchtigt bleibt und dies
die Rezidivneigung deutlich reduziert3,4. Mit rein •• Bemerkung: Abgeschlossene Erstbehandlung alio
kieferorthopädischen Mitteln ließ sich im Tierexperi­ loco, apikale Resorptionen 13–23.
Manuskript
ment eine ähnliche Rotation der Okklusionsebene •• Oberkiefer (OK): Protrusion der Front, Engstand Eingang: 26.01.2017
durch Intrusion der Seitenzähne erzeugen5,6. Wenn der Front mit Rotationen. Annahme: 15.02.2017

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Abb. 1a bis c Anfangs­


befund (Patientenalter:
18 Jahre 4 Monate),
extraoral. a b c

a b c

Abb. 2a bis e Anfangs­


befund, intraoral, bei
zirkulär offenem Biss.
Ansichten: frontal,
lateral und okklusal. d e

a b c

Abb. 3a bis e Anfangs­


befund im Modell:
frontal, lateral und
okklusal. d e

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FRS-Analyse:
SN – FH: 10°
SN – OE: 16°
SN – PE: 13,5°
FH – PE:   3,5°
FH – OE:   6°
OE – PE: -2,5°

Abb. 4a und b
Anfangsbefund im
Fernröntgenseitenbild
a b mit FRS-Analyse.

Abb. 5 Anfangsbefund
in der Panoramaschicht­
aufnahme.

•• Unterkiefer (UK): Engstand der Front mit Rota­ in Kombination mit High-Pull-Headgear und
tionen. Delaire-Maske.
•• Bisslage: Skelettale Klasse III, Kreuzbiss 26,27/ •• UK: Lingualbogenapparatur mit Lip-Bumper.
36,37, dentoalveolär offener Biss, mesiobasale •• MBA mit vertikalen Gummizügen.
Kieferbasenrelation mit retrognather Maxilla, •• Retentionsgeräte.
UK-Retroalveolie, brachiofazialer Wachstumstyp.
Im vorliegenden Behandlungsfall wies die Patientin
(18 Jahre 4 Monate alt) nach abgeschlossener, alio
„ Therapie/Verlauf loco durchgeführter Erstbehandlung beim Anfangs­
befund der Zweitbehandlung eine skelettale Klasse III
•• Gesamtbehandlungszeit 13 Monate. mit Kreuzbiss 26,27/36,37, einen dentoalveolär
•• OK und UK: Multiband-Bracket-Apparatur (MBA). offe­nen Biss, eine mesiobasale Kieferbasenrelation
•• OK: temporär fix eingegliederte Apparatur mit mit retrognather Maxilla und eine Retroalveolie im
Transversalschraube (1-mal/Monat zu aktivieren). Unterkiefer auf (Abb. 1 bis 5).

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Abb. 6
Behandlungsapparaturen
auf den Labormodellen.
OK: temporär fix ein­
gegliederte Apparatur
mit Transversalschraube
(1­mal/Monat zu ak­
tivieren) in Kombination
mit High­Pull­Headgear
und Delaire­Maske
(nicht im Bild);
UK: Lingualbogenap­
paratur mit Lip­Bumper.

Abb. 7
Behandlungsapparaturen
in extraoraler Ansicht:
Delaire­Maske und
High­Pull­Headgear.
Ziele: Kippung der
Okklusionsebene,
Schließen des offenen
Bisses durch Intrusion
der OK­Molaren und
Extrusion der OK­Inzisivi.

Durch die Kombinationsbehandlung aus High­ Extrusion. In der Folge rotiert der Unterkiefer nach
Pull­Headgear und Gesichtsmaske (Abb. 6 bis 8) vorne und oben, sodass der offene Biss durch
erfährt die Oberkieferdentition im posterioren Be­ Schwenkung der Okklusionsebene geschlossen wer­
reich eine Intrusion und im anterioren Bereich eine den kann.

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a b c

Abb. 8a bis e
Zwischenbefund 1
(Patientenalter: 18 Jahre
5 Monate), intraoral:
frontal, lateral und okklu-
sal. OK: GNE(Gaumen-
nahterweiterung)-
Apparatur zur trans­
versalem Dehnung und
Verblockung des Ober-
kiefers, Delaire-Maske,
Headgear;UK: Frozat mit
d e
Lip-Bumper.

a b c

Abb. 9a bis e
Zwischenbefund 2
(Patientenalter: 19 Jahre
2 Monate), intraoral mit
vertikalen Gummizügen
und Feinnivellierung:
frontal, lateral und
d e okklusal.

Die Zahnbögen wurden abschließend mit einer Abschluss der kieferorthopädischen Behandlung zur
MBA nivelliert und die Okklusion durch Tragen von Rezidiv­prophylaxe medizinisch sinnvoll sind.
vertikalen Gummizügen stabilisiert (Abb. 9). Die Kiefergelenke waren auch nach einer Reten­
Der Abschlussbefund zeigt die Patientin im tionsphase von einem Jahr gesund und symptomfrei,
Alter von 19 Jahren und 5 Monaten mit harmonisch die funktionellen Unterkieferbewegungen lagen im
ausgeformten Zahnbögen, Overjet und Overbite Normbereich. Die Weisheitszähne wurden zeitnah
im Normbereich (Abb. 10 bis 14). Die Behandlungs­ germektomiert.
dauer betrug insgesamt 13 Monate. Während der Das Behandlungsergebnis konnte in der vorlie­
Behandlungs- und Retentionszeit führte die Pa­ genden Form nur dank der exzellenten Mitarbeit der
tientin logopädische Übungen durch, die auch nach Patientin erreicht werden.

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Abb. 10a bis c Schluss­


befund (Patientenalter:
19 Jahre 5 Monate),
extraoral. a b c

a b c

Abb. 11a bis e Schluss­


befund, intraoral.
Ansichten: frontal,
lateral und okklusal. d e

a b c

Abb. 12a bis e Schluss­


befund im Modell.
Ansichten: frontal,
lateral und okklusal. d e

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FRS-Analyse:
SN – FH: 10°
SN – OE: 12°
SN – PE: 13,5°
FH – PE:   3,5°
FH – OE:   2°
OE – PE:   1,5°

Abb. 13a und b


Schlussbefund im
Fernröntgenseitenbild
a b mit FRS-Analyse.

Abb. 14 Schlussbefund
in der Panoramaschicht­
aufnahme.

„ Diskussion Eine Elongation der Frontzähne ist nur bei Patien­


ten indiziert, bei denen die vertikale Entwicklung des
Zur nicht chirurgischen Therapie eines offenen Bisses anterioren Alveolarprozesses unvollständig abgelau­
nach Wachstumsabschluss des Patienten bieten sich fen ist und eine aktive Extrusion der Schneidezähne
in moderaten Fällen als Alternative zur Dysgnathie­ nicht zu einem unbefriedigenden ästhetischen Er­
chirurgie nur wenige Behandlungskonzepte an, die gebnis führt.
eine Reduktion der posterioren Gesichtshöhe bewir­
ken. Neben einer Extraktion im hinteren Seitenzahn­
bereich7,8 oder einem gezielten Einschleifen der Ok­
klusion wird dies durch eine kieferorthopädische „ Schlussfolgerungen
Intrusion posteriorer Zähne ermöglicht. Neben ei­
nem High-Pull-Headgear bieten sich als apparative Bei Ausschaltung exogener Faktoren – vor allem dys­
Alternativen Aufbisse mit bukkalen und lingualen kinetischer Einflüsse wie atypisches Schluckmuster,
Federn9 oder Magneten10–12 an. Lutschen oder Zungenpressen – stellt in moderaten

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Fällen des offenen Bisses die rein durch kieferortho­ möglichkeit ist durch die Kombination von High-
pädische Behandlung erreichbare Schwenkung der Pull-Headgear und Gesichtsmaske gegeben. Ein
Okklusionsebene eine sinnvolle Alternative zur chirur­ guter Behandlungserfolg ist dabei von der Mitarbeit
gischen Intervention dar. Eine apparative Therapie­ des Patienten abhängig.

„ Literatur
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1988;58:136–150. Magneten. Fortschr Kieferorthop 1992;53:179–186.

Open bite treatment with a high-pull headgear and face mask combination.
Method and case report

KEYWORDS Open bite, compliance, high-pull headgear, face mask

Most cases of open bite correction after growth completion require a combined surgical-orthodontic
approach. This paper describes a treatment example using a method that may avoid later surgical
intervention in moderate forms of open bite and with good patient compliance. The combination of
high-pull headgear and a face mask resulted in an intrusion of the posterior dentition and an extrusion
of the anterior dentition. As a result, the mandible rotated forward and upward, resulting in closure
of the open bite by tilting the occlusal plane.

Kieferorthopädie 2017;31(4):343–350

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