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14 Auditive Agnosien
Almut Engelien

14.1 Klinische Merkmale auditiver Agnosien – 145 male Tonaudiometrie auf. Ein für dieses Krankheitsbild
14.2 Generalisierte auditive Agnosie – 147 typischer Fall soll im Folgenden berichtet werden.
14.3 Reine Geräuschagnosie – 147
! Eine normale Tonaudiometrie ist für auditive Agnosien
14.4 Paralinguistische auditive Agnosien: affektive
typisch. Sie schließt grundlegende, zentral-auditive
auditive Agnosie und Phonagnosie – 149
Wahrnehmungsstörungen (auditive Agnosien) nicht
14.5 Ausblick: »Beiträge funktionell
aus.
bildgebender Verfahren« –149

Abgrenzung der auditiven Agnosien


)) von anderen kortikalen Hörstörungen
Es gibt zentrale Hörstörungen, bei denen der Patient er-
Das zentrale Symptom auditiver Agnosien ist, Laute zu hören, taubt (Wernicke u. Friedländer 1883; Tanaka et al. 1991)
ohne sie zu erkennen oder ihren Sinn zu verstehen. Auditive bzw. nur durch selektiv auf das Hören gerichtete Aufmerk-
Agnosien können materialspezifisch oder generalisiert samkeit ein rudimentäres Hören erreichen kann (Engelien
sein und der Prozess von Wahrnehmung und semantischer et al. 2000). Bei den auditiven Agnosien sind hingegen spä-
Erkennung kann auf verschiedenen Stufen gestört sein. tere Verarbeitungsstufen und -prozesse gestört, die zur Er-
kennung eines komplexen Lautes in seiner semantischen
Bedeutung notwendig sind. Das akustische Signal muss für
14.1 Klinische Merkmale auditiver einfache und komplexe physikalische Parameter analysiert
Agnosien werden. Dies sind die Intensität und räumliche Lokalisati-
on des Schallreizes, sowie die spektrale Zusammensetzung
Definition und der zeitliche Verlauf, sowie Muster von spezifischen
Auditive Agnosie bezeichnet eine Beeinträchtigung der Kombinationen der Grundparameter (7 hierzu Kap. 18).
Fähigkeit akustische Signale zu erkennen, obwohl die Hör- Die Analyse dieser Schallparameter ermöglicht die Diskri-
fähigkeit erhalten ist. So weisen solche Patienten eine nor- mination verschiedener auditorischer Reize sowie die Ab-

Fallbeispiel
Der Patient erlitt zunächst einen ersten Schlaganfall in sprechen würden. Bei der Untersuchung mit einfachsten
der linken Hemisphäre mit rechtsseitiger Halbseitenläh- Reizen am Bett des Kranken (z. B. mit einem Uhrticken und
mung und Hemianopie sowie einer Aphasie, die sich im mit Händeklatschen hinter dem Rücken des Patienten),
Verlauf von wenigen Wochen bis Monaten so gut zurück- zeigte sich darüber hinaus eine Unfähigkeit auch für die
gebildet hatte, dass er normal sprechen, kommunizieren Erkennung nonverbaler Geräusche. Diese klinischen Beob-
und Zeitung lesen konnte. Etwa ein Jahr später fühlte sich achtungen wurden später in einer systematischen Unter-
der Patient morgens plötzlich »durcheinander« und er suchung der Wort- und Geräuscherkennung bestätigt. Die
reagierte zunächst nicht mehr auf Ansprache. Nach ca. anderen kognitiven Funktionen waren normal. Die zereb-
2 Tagen zeigte sich klinisch das Syndrom der auditiven rale Bildgebung des Patienten zeigte neben dem alten
Agnosie: Obwohl der Patient hörte und auf akustische linkshemisphärischen Schädigungsareal eine neue, zweite,
Reize reagierte, verstand er dennoch nicht den Inhalt der zerebrale Läsion in der rechten Hemisphäre (Oppenheimer
an Ihn gerichteten gesprochenen Sprache und beschwer- u. Newcombe 1978).
te sich, dass die Ihn behandelnden Ärzte zu undeutlich
146 Kapitel 14 · Auditive Agnosien

grenzung von Klangereignissen vom akustischen Hinter- ! Auditive Agnosien können verbales oder nonverbales
grund. Die Verknüpfung von prototypischen Merkmalen Geräuschmaterial (oder beides) betreffen. Jede dieser
des aktuellen Reizes mit (re-)aktivierten Wissensinhalten Störungen kann prinzipiell in einer apperzeptiven
des semantischen Gedächtnisses ermöglicht die Erkennung Form und in einer assoziativen Form vorkommen.
von Geräuschen und Wörtern. In der auditorischen Moda-
lität stellt sich das besondere Problem, dass mehrere Schall- Aphasische Symptome
quellen kontinuierlich überlappen können. Die Identifika- Begleitend zu einer auditiven Agnosie können aphasische
tion von akustischen Objekten oder Wörtern wird typi- Symptome vorliegen, die relativ mild ausgeprägt sind, d. h.
scherweise durch Benennen oder Zuordnen zu Auswahl- der Patient kann in anderen Sinnesmodalitäten Stimuli er-
mengen von Bildern geprüft (7 auch Kap. 12). kennen, die denen in Komplexität und Vertrautheit entspre-
chen, die in der gesprochenen Sprache oder als nonverbales
! Auditive Agnosien gehören zu den kortikalen Hör-
Geräusch nicht erkannt werden. Auditiv agnostische Patien-
störungen und müssen von einer kortikalen Taubheit
ten können sprechen, wobei leichte Auffälligkeiten der
abgegrenzt werden. Unscharfe Sammelbegriffe wie
Stimmlage (Verschiebung in höhere Tonlagen) und der
»kortikal-auditorische Störung« oder »gemischte au-
Sprachmelodie (Dysprosodie) beschrieben wurden.
ditorische kortikale Störung« sollten nicht verwendet
werden. ! Bei einem Patienten mit einer nur leichten Aphasie
und auffällig schwerer Sprachverständnisstörung
Klassifikation der verschiedenen auditiven liegt wahrscheinlich auch eine auditive Agnosie vor.
Agnosien Die Agnosie für non-verbale Geräusche wird oft
spontan nicht beklagt und muss systematisch ge-
Eine Grundannahme zum theoretischen Verständnis der
prüft werden, um zwischen einer reinen Worttaub-
auditiven Agnosien ist eine Verarbeitungshierarchie, die an
heit und generalisierten auditiven Agnosie zu unter-
verschiedenen kritischen Punkten gestört werden kann.
scheiden.
Eine wichtige Unterscheidung ist die Beeinträchtigung von
Diskriminationsfähigkeit (d. h. Gleich-ungleich-Entschei-
dungen) und Erkennungsfähigkeit. Patienten mit apperzep- Ätiologie
tiven auditiven Agnosien können komplexe akustische Rei- Auditive Agnosien sind in den meisten Fällen durch zwei-
ze nicht unterscheiden und nicht erkennen; Patienten mit zeitige Schlaganfälle der Temporallappen und/ oder des
assoziativen auditiven Agnosien können ebenfalls nicht hinteren Thalamus in beiden Hemisphären bedingt. Die
identifizieren, haben aber eine wesentlich bessere Diskrimi- Insulte sind ischämisch und/oder hämorrhagisch und
nationsleistung (Vignolo 1969, 1982). Ein wichtiges Kriteri- führen zu bilateralen Läsionen der Hörkortizes oder der
um ist also die Leistung in Diskriminationsaufgaben, nach subkortikalen Anteile der Hörbahn (Corpus geniculatum
Darbietung von Geräuschpaaren. mediale, Radiatio acustica; 7 hierzu »Unter der Lupe«). Ma-
Auditive Agnosien können verbales und nonverbales Ge- terialspezifische, selektive auditive Agnosien können auch
räuschmaterial betreffen. In der nonverbalen auditorischen nach einseitiger Schädigung auftreten. Weitere Ursachen
Modalität sind verschiedene Kategorien von Geräuschma- sind Enzephalitiden und Schädel-Hirn-Traumata. Sehr
terial bzw. -merkmalen zu beachten: Umweltgeräusche, die seltene Ursachen sind Medikamentenintoxikationen oder
Objekten oder Handlungen zuzuordnen sind (wie z. B. eine auditive Agnosie als erstmanifestierendes Symptom
14 Schlüsselklirren, Tellerklappern oder Vogelgezwitscher) und einer fokalen bzw. diffusen degenerativen zerebralen Er-
paralinguistische Qualitäten der gesprochenen Sprache (wie krankung (z. B. Demenz vom Alzheimer-Typ und Morbus
z. B. Stimmen oder emotionale Konnotation). Auch musika- Pick).
lische Reize kann man als besondere Kategorie nonverbalen
! Auditive Agnosien sind in den meisten Fällen durch
Klangmaterials betrachten. Bislang wurden Patientenfälle
zweizeitige Schlaganfälle bedingt, die den Temporal-
meist allein entweder für die Verarbeitung von Musik oder
lappen und/oder den hinteren Thalamus beider He-
für die Verarbeitung von Geräuschen und Sprache unter-
misphären schädigen.
sucht, sodass noch nicht sicher geklärt ist, in welchem Aus-
maß diese Syndrome überlappen (7 Abschn. 14.3 und Kap. 39
sowie Peretz 1993 und Peretz et al. 1994).
14.3 · Reine Geräuschagnosie
147 14

Unter der Lupe

Anatomische Grundlagen Die auditorischen Kortexareale sind strukturell asym-


Die Hörbahn beginnt in der Cochlea und erreicht nach metrisch angelegt. Die Heschl’sche Querwindung liegt in
Verschaltung in Kernen des Hirnstammes, des Zwischen- der rechten Hemisphäre mehr anterior und ist häufiger mit
hirnes und des hinteren Thalamus (Corpus geniculatum einer Duplikatur angelegt. Das posterior anschließende
mediale) durch die Radiatio acustica die primären Hörkor- Planum temporale ist in der linken Hemisphäre größer.
texareale im oberen Temporallappen (. Abb. 18.3). Der Darüber hinaus gibt es mikroanatomische Unterschiede.
primäre Hörkortex liegt auf der Heschl’schen Querwin- Direkte kortikokortikale Verbindungen existieren zwi-
dung (Gyrus temporalis transversus) im Brodmann-Areal schen den unimodalen, d. h. nur für die auditorische Moda-
41 und möglicherweise Anteilen von Areal 42. Vom primä- lität zuständigen, Kortexrealen im oberen Temporallappen
ren Kortex ausgehend befinden sich in der oberen Tempo- mit multi- oder heteromodalen Assoziationskortizes in der
ralwindung (Gyrus temporalis superior) und im anschlie- mittleren Temporalwindung, dem inferioren Parietallappen,
ßenden Sulcus (Sulcus temporalis superior) multiple audi- und Strukturen des Frontalhirns. Funktionell anatomische
torische Kortexfelder in einer kaskadenförmigen Verbin- Studien bei Agnosie-Patienten und Gesunden ergänzen in
dungskette, die vorwiegend hierarchisch, teilweise aber neuerer Zeit das neuropsychologische Wissen der komple-
auch parallel organisiert ist (Pandya 1995; Rivier u. Clarke xen Hörverarbeitung beim Menschen (7 Abschn. 14.5 und
1997; Rauschecker 1998). für eine Übersicht z. B. Engelien et al. 2001).

14.2 Generalisierte auditive Agnosie torischen Anteil des Thalamus (Corpus geniculatum medi-
ale und weitere hintere thalamische Kerne). Im Detail sind
Die meisten auditiven Agnosien sind generalisiert. Die Läsionsorte und -ausdehnung variabel. Aufgrund theore-
Prüfung der Verarbeitung nonverbaler auditiver Reize wur- tischer Überlegungen schlug Mesulam (2000) vor, dass ap-
de in der älteren Literatur über die reine Worttaubheit oft perzeptive Störungen durch Läsionen in den unimodalen
gar nicht berücksichtigt und bleibt weiterhin sporadisch, Assoziationskortizes oder durch eine Diskonnektion der
sodass die Inzidenz der auditiven Agnosien wahrscheinlich Verbindungen vom primären sensorischen Kortex zu den
unterschätzt wird. (Für Übersichtsarbeiten mit Hinweisen unimodalen Assoziationsgebieten entstehen könnten. Se-
auf die Fallliteratur s. Ackermann u. Mathiak 1999; Enge- mantisch-assoziative Defizite könnten entsprechend auf
lien 2000; Griffiths et al. 1999.) einer Diskonnektion zwischen unimodalen und heteromo-
dalen Assoziationskortizes beruhen.
! Ein Patient mit generalisierter auditiver Agnosie kann
Systematische Reihenuntersuchungen zu Patienten mit
weder sinntragende Umweltgeräusche noch gespro-
uni- und bilateralen Läsionen auditorischer Kortizes exis-
chene Wörter in ihrer Bedeutung verstehen. Er kann
tieren nur vereinzelt. In der neuesten derartigen Arbeit von
hören, sprechen, und schreiben, wobei leichte apha-
Kaga et al. (1997) wurde bei 10 Patienten mit bilateralen
sische Beeinträchtigungen vorhanden sein können.
Läsionen bestätigt, dass sie einfache Töne hören und so-
Das einfachste Modell der auditiven Erkennungsleistungen wohl für gesprochene Wörter als auch nichtverbale Geräu-
ist das auf Lissauer (1890) zurückgehende hierarchische sche Erkennungsdefizite haben.
Zweistufen-Modell der Apperzeption und Assoziation
(7 Unter der Lupe »Geschichte des Agnosiebegriffs« in Kap. 12).
Empirische Befunde bei auditiv-agnostischen Patienten 14.3 Reine Geräuschagnosie
haben dieses Modell bestärkt (z. B. Engelien et al. 1995;
Eustache et al. 1990; Schnider et al. 1994; Vignolo 1969). Eine reine Geräuschagnosie wurde bislang nur sehr selten
Generalisierte auditive Agnosien enstehen nach bilate- beschrieben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Inzidenz
ralen Läsionen der Temporallappen (. Abb. 14.1). Kritische der reinen Geräuschagnosie stark unterschätzt wird, weil
Strukturen umfassen die obere Temporalwindung (Gyrus Patienten, deren Sprachverständnis nicht gestört ist, selte-
temporalis superior), die Heschl’sche Querwindung sowie ner medizinische Hilfe suchen und die Prüfung zentral-au-
deren afferente und efferente Verbindung bis hin zum audi- ditiver Funktionen nicht hinreichend in der klinisch-neu-
148 Kapitel 14 · Auditive Agnosien

. Abb. 14.1. Typische Läsions-


muster bei auditiven Agnosien

rologischen und neuropsychologischen Untersuchung re- tionen der Musikverarbeitung gestört sein können, wenn
präsentiert ist (Bauer u. Zawacki 1997). Es ist deshalb die Fähigkeit zum Erkennen von Umweltgeräuschen er-
denkbar, dass viele Patienten, die nicht aktiv über die Beein- halten ist und umgekehrt (7 hierzu auch Kap. 39 sowie
trächtigung des Hörens nonverbaler Geräusche berichten Motomura et al. 1986; Peretz et al. 1994; Fujii et al. 1990;
bzw. deren Beschwerden unspezifisch erscheinen, nach Taniwaki et al. 2000).
Durchführung einer Tonaudiometrie und eines Sprach- Im Prinzip ist die Differenzierung von apperzeptiven
verständnistests nicht weiter getestet werden und so die und assoziativen Formen für die reinen Geräuschagnosien
Diagnose einer möglicherweise vorliegenden auditiven denkbar. Die Diskrimination von Geräuschen (Gleich-
Agnosie verpasst wird (typische Fallberichte hierzu finden ungleich-Unterscheidung) wurde in der Literatur nicht
sich z.B bei Spreen et al. 1965 und Fujii et al. 1990). ausreichend untersucht. Manche Autoren definierten eine
apperzeptive reine Geräuschagnosie aufgrund von Defizi-
! Ein Patient mit reiner Geräuschagnosie kann sinntra-
ten in der Verarbeitung von weniger komplexem, nichtse-
gende Umweltgeräusche nicht erkennen, gesproche-
mantischem Geräuschmaterial wie z. B. zeitliche Auflö-
ne Sprache jedoch verstehen. Er kann schreiben und
sungsfähigkeit für zwei rasch aufeinander folgende Click-
lesen, wobei leichte aphasische Beeinträchtigungen
Reize.
vorliegen können. Die Beeinträchtigung des Verar-
Reine Geräuschagnosien entstehen nach bilateralen
beitens und Erkennens nonverbaler akustischer Rei-
oder rechtshemisphärischen Läsionen (. Abb. 14.1). Kriti-
ze wird von den Patienten oft nicht beklagt und ist
sche Strukturen umfassen die obere Temporalwindung
14 auch in ihrem spontanen Verhalten oft nicht zu ent-
(Gyrus temporalis superior), die Heschl’sche Querwin-
decken.
dung, Anteile des inferioren Parietallappens sowie deren
In klassischen Fallberichten über reine Geräuschagnosien afferente und efferent Verbindung bishin zum auditori-
wurde vorwiegend die Verarbeitung von den nonverbalen schen Anteil des Thalamus (Corpus geniculatum mediale
Geräuschen untersucht, die Objekte oder Handlungen und weitere hintere thalamische Kerne).
identifizieren. Im Prinzip sind auch paralinguistische Qua-
litäten der gesprochenen Sprache und Musik zu bedenken.
Die eingeschränkte Identifikation nonverbaler Geräusch-
quellen ist nicht immer mit einer verminderten Fähigkeit
der Rekognition von Melodien vergesellschaftet, da Funk-
14.5 · Ausblick: »Beiträge funktionell bildgebender Verfahren«
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14.4 Paralinguistische auditive 14.5 Ausblick: »Beiträge funktionell
Agnosien: affektive auditive bildgebender Verfahren«
Agnosie und Phonagnosie
Nichtinvasive funktionell bildgebende Verfahren wie die
Gesprochene Sprache vermittelt neben den Worten die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und
Identität, das Alter, das Geschlecht und die Befindlichkeit Positronenemissionstomographie (PET) erlauben Unter-
eines Sprechers sowie den emotionalen Gehalt seiner Äu- suchungen bei Patienten mit erworbenen Hirnläsionen und
ßerung. Das Erkennen solcher paralinguistischen, nonver- gesunden Probanden (7 Kap. 2). Für Übersichtsarbeiten
balen Klangmerkmale der gesprochenen Sprache kann se- zur Anwendung in der auditorischen Modalität siehe z. B.
lektiv gestört sein. Engelien et al. (2001) und Griffiths (2001). Beispielhaft
Die Phonagnosie (Van Lancker et al. 1982) ist eine selek- seien hier nur 3 Arbeiten erwähnt, darunter eine Unter-
tive auditive Agnosie für das Erkennen von Stimmen. Stu- suchung eines Patienten mit auditiver Agnosie und zwei
dien haben gezeigt, dass Patienten mit rechtshemisphäri- neuere Arbeiten aus der Grundlagenforschung bei Gesun-
schen Läsionen Schwierigkeiten hatten, die Stimme von den. Engelien et al. (1995) untersuchten einen Patienten
bekannten Persönlichkeiten zu identifizieren. Die affektive bezüglich der semantischen Klassifikation von Umweltge-
auditive Agnosie (Heilman et al. 1975) bezeichnet dagegen räuschen, nachdem er diese Funktion Jahre nach der zwei-
eine selektive auditive Agnosie für das Verständnis des ten Hirnläsion wiedererlangt hatte. Der Patient rekrutierte
emotinalen Gehaltes von gesprochener Sprache. Heilman homologe Areale bilateral, während Gesunde dabei nur
et al. (1975) verglichen rechts- und linkshemisphärische linkshemisphärische Netzwerke aktivierten. In Studien mit
Patienten mit temporoparietalen Läsionen hinsichtlich ih- Gesunden untersuchten Thierry et al. (2003) die Bearbei-
res Erkennens der emotionalen und der semantischen Be- tung semantischer Inhalte aufgrund von gesprochenen
deutung von gesprochenen Sätzen. Sie fanden, dass die Wörtern oder nichtverbalen Geräuschen. Die Aktivierun-
Gruppe der Patienten mit rechtshemisphärischen Läsionen gen waren – wie die Läsionen bei Patienten mit auditiver
den emotionalen Ausdruck nicht erkennen konnten. Im Agnosie – vorwiegend im Bereich des posterioren G. tem-
Gegensatz zu den anderen auditiven Agnosien sind bislang poralis superior und angrenzender Areale zu finden. Es
keine Einzelfallstudien publiziert, in denen nur diese Hör- zeigte sich eine gewisse Überlappung für die Stimulusmo-
leistungen spezifisch gestört waren. dalitäten, insgesamt wurden mehr rechtshemisphärische
Aktivierungen für Geräusche und mehr linkshemisphäri-
! Patienten mit Phonagnosie oder affektiver auditiver sche für Wörter gefunden. Engelien et al. (2006) untersuch-
Agnosie können den semantischen Inhalt gespro- ten mit einem neuen experimentellen Ansatz die Verarbei-
chener Sprache verstehen, können schreiben und tung von sinntragenden Geräuschen und von speziell für
lesen. Leichte aphasische Beeinträchtigungen kön- jeden Reiz konstruierten Kontrollgeräuschen. Dabei zeigte
nen vorhanden sein. Die Phonagnosie ist eine selek- sich, dass die semantische Komponente der nichtverbalen
tive auditive Agnosie für das Erkennen von Stimmen. Geräusche vorwiegend zu linkshemisphärischen Aktivie-
Die affektive auditive Agnosie dagegen eine selekti- rungen führt und dass Regionen im frontalen und parahip-
ve auditive Agnosie für das Verständnis des affekti- pokampalen Kortex, d. h. außerhalb der klassischen Läsions-
ven Gehaltes von gesprochener Sprache. Die Erken- areale, ebenfalls signifikant aktiv sind. Derartige Untersu-
nungsleistung für nonverbale Umweltgeräusche chungen werden einen wichtigen Beitrag zur Weiterent-
wurde bei diesen Patienten bislang nicht hinreichend wicklung der kognitiv-neuropsychologischen Modelle der
untersucht. höheren auditiven Verarbeitung beim Menschen leisten.
150 Kapitel 14 · Auditive Agnosien

Zusammenfassung
Auditive Agnosien sind Beeinträchtigungen der Fähigkeit rale Läsionen hervorgerufen sein. In den Fallberichten, in
komplexe akustische Signale in ihrer semantischen Be- denen die selektive auditive Agnosie nach einseitiger Hirn-
deutung zu erkennen, obwohl das einfache Hörvermö- läsion auftrat, waren die Läsionen bei reiner Geräuschag-
gen erhalten ist. Wenn eine auditive Agnosie sowohl die nosie immer rechtshemisphärisch und bei reiner Worttaub-
verbale als auch die nonverbale auditorische Modalität heit immer linkshemisphärisch. Rechtshemisphärische Lä-
betrifft, spricht man von einer generalisierten auditiven sionen führen eher zu apperzeptiven auditiven Agnosien,
Agnosie, die bislang nur nach bilateralen Läsionen der linkshemisphärische Läsionen zu assoziativen. Nach rechts-
perisylvischen Region beschrieben wurde. Selektive audi- hemisphärischen Läsionen ist oft die Verarbeitung von
tive Agnosien betreffen entweder nur nonverbale Geräu- nonverbalen akustischen Reizen besonders beeinträchtigt,
sche (reine Geräuschagnosie), oder nur gesprochene wobei dies spezifisch Umweltgeräusche bzw. Musik betref-
Wörter (reine Worttaubheit). Beide können durch bilate- fen kann

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