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Fremdsprachenunterricht.
The final version of this manuscript was published as: Tschirner, Erwin (2001). Kompetenz,
Wissen, mentale Prozesse: Zur Rolle der Grammatik im Fremdsprachenunterricht. In H. Funk
& M. Koenig, Hrsg., Kommunikative Didaktik in Deutsch als Fremdsprache -
Bestandsaufnahme und Ausblick. Festschrift für Gerhard Neuner (S. 106-25). München:
Iudicium.
0. Einleitung
Der traditionelle, auch kommunikative Fremdsprachenunterricht geht meist davon aus, dass
grammatische Kompetenz ähnlich wie anderes Wissen direkt vermittelt werden kann, dass
die Fähigkeit, grammatisch richtig zu sprechen, dadurch erworben wird, dass man
Grammatikregeln lernt und ihre Anwendung übt. Dies setzt voraus, dass das
psycholinguistische Grammatikwissen im Kopf von Sprachbenutzern identisch mit dem von
Sprachwissenschaftlern aus in erster Linie geschriebenen Texten abgeleiteten grammatischen
Regeln ist. Diese Annahme wird von der psycholinguistischen Forschung nicht gestützt. Im
Gegenteil, es wird davon ausgegangen, dass explizites grammatisches Wissen eine qualitativ
andere Art von Wissen ist als die Fähigkeit, grammatisch richtig zu sprechen, und dass es
diese Fähigkeit nicht ersetzen kann.
Mein Beitrag ist in vier Abschnitte eingeteilt. Im ersten Abschnitt stelle ich ein Modell vor,
das zwischen grammatischer Kompetenz und grammatischem Regelwissen unterscheidet und
das von einer Reihe unterschiedlicher grammatischer Kompetenzen ausgeht. Der zweite
Abschnitt beschäftigt sich mit der Frage, wie grammatische Kompetenz erworben wird. Im
dritten Abschnitt unterscheide ich zwischen einer primären grammatischen Kompetenz und
einer sekundären, kultursprachlichen grammatischen Kompetenz, während ich im vierten
Abschnitt darauf eingehe, welche Vorschläge sich aufgrund dieser theoretischen
Überlegungen für die Didaktik und Methodik des Fremdsprachenunterrichts ableiten lassen.
Lyons (1996) stellt Saussures und Chomskys Unterscheidungen zwischen langue und parole
und zwischen Kompetenz und Performanz einander gegenüber und präzisiert sie auf eine
Weise, die auch für Fremdsprachendidaktiker interessant ist. Er unterscheidet zwischen
Kompetenz, Performanz und Text. Saussure trennt zwischen langue und parole: langue, der
Sprache als soziolinguistischem System, das nicht im Kopf eines einzelnen Sprachbenutzers
existiert, sondern in der Sprachgruppe als Ganzem, und parole, dem Produkt des Sprechens.
Chomsky lehnt Saussures Begriff langue ab und zieht es vor, von Kompetenz zu sprechen. Er
sieht Sprache nicht als ein soziolinguistisches sondern als ein psycholinguistisches System,
als eine Fähigkeit, die allen Teilnehmern einer Sprachgemeinschaft zu eigen ist. Allerdings
fasst auch er Sprache als eine abstrakte Fähigkeit auf, die ein idealer Sprecher-Hörer in einer
homogenen Sprachgemeinschaft besitzt. Unter Performanz versteht er den Akt des
Sprechens. Diesen Akt trennt er allerdings nicht genau vom Produkt, also von Saussures
parole. Lyons macht genau das, trennt Prozess von Produkt und kommt damit zu der
Dreiteilung Kompetenz, Performanz und Text.
Diese Dreiteilung ist aus mindestens zwei Gründen interessant. Zum einen wird in Lyons
Modell klar das Produkt von dem Prozess, der das Produkt generiert, getrennt. Zum anderen
macht es deutlich, dass Fremdsprachen dadurch gelernt werden, dass Prozesse ablaufen, und
nicht dadurch, dass Produkte verändert werden. Da beim Fremdsprachenlernen die
Einzelperson interessiert und nicht ein abstrakter, idealer Sprecher-Hörer, definiere ich, um
Lyons Modell für den Fremdsprachenunterricht fruchtbar zu machen, Kompetenz als eine
Fähigkeit, die jeder einzelne Sprachbenutzer besitzt. Statt Performanz ziehe ich den Begriff
mentale Prozesse vor. Zum einen richtet es den Blick auf die Prozesse, die beim Sprechen,
Schreiben, Zuhören und Lesen auftreten, zum anderen lassen sich dadurch Lernvorgänge
stärker in den Vordergrund rücken (s. Abb. 1).
Mentale Prozesse produzieren und verarbeiten Texte. Besonders Sprech- und Hörprozesse
sind dabei wesentlich den Beschränkungen des Arbeitsgedächtnisses unterworfen. Darüber
hinaus werden sie von der Gesprächssituation, den Teilnehmerrollen, u.Ä. beeinflusst. Über
die Prozesse wird Kompetenz aufgebaut. Kompetenz wiederum steuert die Prozesse. Um der
Tatsache Genüge zu tun, dass eine Reihe unterschiedlicher Kompetenzen zusammenwirken
müssen, um sprachliche Interaktion stattfinden zu lassen, erweitere ich den Kompetenzbegriff
mit Kategorien aus Bachmans (1990) Modell kommunikativer Kompetenz, das wiederum auf
dem Modell von Canale/Swain (1980) bzw. Canale (1981) aufbaut.
Zu Bachmans Kompetenzen füge ich das Weltwissen hinzu, das besonders beim hörenden
und lesenden Verstehen mit den anderen Kompetenzen interagiert und das Verstehen
wesentlich beeinflusst; dies auch unter dem Aspekt, dass dieses Weltwissen kulturspezifisch
ist, also zur fremdsprachlichen Handlungsfähigkeit auch ein fremdsprachliches Weltwissen
gehört. All diese Kompetenzen und Wissensbereiche steuern unterschiedliche Prozesse, die in
ihrem Zusammenspiel mündliche und schriftliche Produkte generieren bzw. diese
verarbeiten. Schwächen oder Lücken bei einer Kompetenz oder in einem Wissensbereich
lassen sich teilweise durch andere Kompetenzen und Wissensbereiche ausgleichen. So kann
z.B. beim Lesen oder Zuhören das Weltwissen fehlendes Wortschatzwissen ausgleichen.
Zudem verändern sich diese Kompetenzen und Wissensbereiche in der sprachlichen
Interaktion, Wissen wird erweitert oder umstrukturiert, sprachliche Systeme entwickeln sich.
Geht man davon aus, dass beim Sprechen, Zuhören, usw. unterschiedliche mentale Prozesse
ablaufen – und diese Feststellung ist sicher trivial – dann kann man auch postulieren, dass
diese unterschiedlichen Prozesse zu unterschiedlichen Kompetenzen führen und zwar auch
auf der grammatischen Ebene. Damit kann man zwischen einer sprech-, hör-, schreib- und
lesegrammatischen Kompetenz unterscheiden. Abbildung 3 zeigt, wie unterschiedliche
Prozesse unterschiedliche Texte produzieren bzw. verarbeiten und wie dabei unterschiedliche
Kompetenzen aufgebaut werden. Die Pfeile, die von den einzelnen Kompetenzen zu den
jeweiligen Prozessen gehen und wieder zurück, sollen andeuten, dass Prozesse Kompetenz
sowohl aufbauen als auch von ihr gesteuert werden. Die Pfeile, die von den Prozessen zu den
Texten gehen und wieder zurück, sollen andeuten, dass die einzelnen Prozesse nicht
unabhängig voneinander ablaufen, sondern dass oft mehrere Prozesse gleichzeitig stattfinden.
Beim Hören ist keine weitere Fähigkeit beteiligt, der Pfeil geht vom mündlichen Text zum
Hörprozess. Bereits beim Sprechen ist allerdings das Hören mitbeteiligt. Der Pfeil geht vom
Sprechen zum Text und kommt wieder zurück zum Hören. Beim Lesen wird oft mental
mitgesprochen und damit auch mental gehört. Es sind also drei Fähigkeiten beteiligt. Beim
Schreiben schließlich liest man, was geschrieben wird, es kann mental mitgesprochen werden
und mitgehört. Beim Schreiben sind also potentiell alle vier Fähigkeiten beteiligt. Damit kann
das Schreiben helfen, Kompetenzen in allen vier Fähigkeiten zu entwickeln.
Anhand dieses Modells lässt sich nun grammatische Kompetenz genauer von grammatischem
Regelwissen unterscheiden. Sprech-, hör-, lese- und schreibgrammatische Kompetenz wird
dadurch aufgebaut, dass mündliche und schriftliche Texte produziert, gehört und gelesen
werden. Grammatisches Wissen beruht auf einer metasprachlichen Beschreibung
geschriebener Texte, und zwar nicht irgendwelcher Texte, die jemand mal schnell
hingeschrieben hat, sondern Texte, die man als Endprodukt langwieriger, rekursiver
Schreibprozesse und vieler Revisionen ansehen muss, oft auch von Autoren produziert, die
sehr bewusst und überdurchschnittlich gut schreiben, wie z.B. Schriftsteller. Aus der
linguistischen Analyse dieser sorgfältig ausformulierten geschriebenen Texte wird das
grammatische Regelwissen gewonnen.
Nach Sharwood Smith (1993) wird grammatische Kompetenz nicht dadurch erworben, dass
Regeln gelernt, sondern dass Syntagmen gespeichert werden. Syntagmen sind
bedeutungstragende, unanalysierte Äußerungseinheiten, die aus einzelnen Wörtern bestehen
können, aber auch aus Verbindungen von Wörtern bis hin zu ganzen (kurzen) Sätzen. Die
Annahme, dass ein Speichern von Syntagmen (Holophrasen, lexikalischen Phrasen) eine
wichtige Rolle im Spracherwerb spielt, wird von einer ganzen Reihe von Forschern und
Theoretikern vertreten, sowohl zur Erklärung muttersprachlicher Kompetenzen
(Pawley/Syder 1983) als auch für den zweit- und fremdsprachlichen Erwerb (Wong-Fillmore
1976, Nattinger/DeCarrico 1992, Ellis 1996).
Pawley und Syder (1983) stellen die Frage, warum Muttersprachler nicht nur wissen, welche
Sätze grammatisch richtig sind, sondern auch welche Sätze aus der unendlichen Menge
grammatisch richtiger Sätze gebräuchlich sind, wie es dazu kommt, dass Muttersprachler
idiomatisch richtig sprechen, und sie fragen, wie Muttersprachler trotz der großen
Beschränkungen des Arbeitsgedächtnisses (Speicherkapazität von 5-9 Einheiten,
Speicherlänge von ca. 10 Sekunden) fließend sprechen können. Ihre Antwort auf beide
Fragen ist die gleiche. Muttersprachler wissen, welche Sätze idiomatisch sind, weil sie
Hunderttausende von lexikalisierten Phrasen, Sätzen und Teilsätzen komplett gespeichert
haben und komplett abrufen können. Sie können fließend sprechen, weil sie nicht jede
Äußerung komplett neu generieren müssen, sondern auf eine Vielzahl von Versatzstücken
zurückgreifen können, auf Satzteile und Teilsätze, die sie im Laufe von vielen Jahren im
Ganzen gespeichert haben und die sie mit Variationen neu zusammenstellen.
Ellis (1996) überträgt das Prinzip des lexikalischen Lernens auf den Zweit- und
Fremdsprachenerwerb und argumentiert, dass sprachliches Lernen aus dem Lernen
sprachlicher Sequenzen besteht, aus dem Lernen von Lauten und Lautfolgen, von Wörtern
und Wortfolgen zusammen mit den syntaktischen und situativen Kontexten, in denen sie
eingebettet sind. Lerner lernen über das Speichern von Satzteilen und Teilsätzen Laut- und
Wortzusammenstellungen. Auf diese Art und Weise wird (implizites) Wissen darüber
aufgebaut, welche Laut- und Wortfolgen in einer Sprache möglich sind und welche
wahrscheinlicher als andere sind. Wissen über Wortarten und noch allgemeiner Wissen über
grammatische Regularitäten wird über eine implizite und automatisch stattfindende Analyse
von Wortfolgen aufgebaut, d.h. über ein Wissen darüber, welche Wörter in welchen
Wortzusammenstellungen und Wortfolgen auftauchen können. Lerner speichern Phrasen,
Satzteile, Teilsätze und ganze Sätze, die erst später syntaktisch analysiert werden. Nach Ellis
findet diese Analyse nicht bewusst statt, sondern unbewusst und automatisch. Bevor diese
implizite Analyse stattfinden kann, muss für jedes grammatische Phänomen eine sehr große
Anzahl von Syntagmen gespeichert sein.
Im Normalfall wenden Lerner Hörstrategien an, das Verstehen steht im Vordergrund, und
richten ihre Aufmerksamkeit auf inhaltstragende Elemente, auf die Silben, die am
deutlichsten gehört werden, die durch Intonation und Betonung besonders hervorgehoben
werden. Bei diesen Silben handelt es sich im Deutschen vor allem um Wortstämme, um die
Anfänge von Wörtern und um die stärker inhaltstragenden Wortarten wie Substantive,
Adjektive und Verben. Nicht vernommen werden Funktionswörter, Präfixe und Suffixe und
andere schwach betonte Silben, d.h. vor allem die Silben, mit deren Hilfe sich grammatische
Kompetenz entwickeln könnte.
Das Lenken der Aufmerksamkeit auf die Sprache kann nun konkret verstanden werden als ein
bewusstes Wahrnehmen der Ausdrucksseite der Sprache, als ein Speichern von klar und
deutlich wahrgenommenen Syntagmen, die mit inhaltlichen und situativen Merkmalen der
Interaktion, der sie entstammen, reichhaltig verknüpft sind. Es kann aber auch abstrakt
verstanden werden als das bewusste Wahrnehmen von Gesetzmäßigkeiten und Regeln. Nach
den meisten der zitierten Autoren ist das konkrete Wahrnehmen der Lautgestalt der Sprache
unabdingbare Voraussetzung für sprachlichen Erwerb. Einige, vor allem Long und andere
(Dowty/Williams 1998), schreiben auch dem abstrakten Wahrnehmen eine erwerbsfördernde
Wirkung zu.
Meine bisherigen Ausführungen bezogen sich auf die grammatische bzw. lexikalisch-
grammatische Kompetenz, die im mündlichen Erst- und Zweitsprachenerwerb erworben wird
und mit deren Hilfe beim spontanen Sprechen Äußerungen gebildet werden. Das ist
allerdings nur ein Teil der grammatischen Kompetenz, die Menschen über ihre Muttersprache
haben. Ein nicht unbedeutender Teil erwachsener muttersprachlicher Kompetenz wird
nämlich erst in der Schule erworben, beim Lesen- und Schreibenlernen, sowie beim
muttersprachlichen Grammatikunterricht. Diese zusätzliche grammatische Kompetenz, ich
nenne sie kulturgrammatische Kompetenz, muss von Fremdsprachenlernern natürlich auch
erworben bzw. gelernt werden, wahrscheinlich auf ähnliche Art und Weise wie sie von
Muttersprachlern gelernt wird, das heißt über die Auseinandersetzung mit der schriftlichen
Variante der zu lernenden Sprache und teilweise über ein Erlernen eines expliziten
analytischen Regelwissens.
Die Fragen, die sich dabei stellen, sind die folgenden. Ist es besser, wie beim
muttersprachlichen Spracherwerb zuerst eine solide Basis in der gesprochenen Sprache
aufzubauen, die intuitiv gelernt wird und universellen psycholinguistischen Regeln gehorcht,
bevor man auf die geschriebene, bewusst gelernte, mit Regeln und Ausnahmen befrachtete
schriftliche Variante der Zielsprache eingeht? Wenn ja, ist es trotzdem möglich, dass das
Schreiben und Lesen und eventuell auch ein analytisches Grammatikwissen den mündlichen
Grammatikerwerb unterstützt, eventuell sogar schneller und effektiver stattfinden lässt?
Wenn ja, wieviel "Vorsprung" sollte dabei jeweils die mündliche Komponente haben und wie
genau kann die schriftliche Auseinandersetzung mit Sprache den mündlichen Spracherwerb
erleichtern?
Helbig (1992) unterscheidet zwischen einer Grammatik A, dem der Sprache selbst
innewohnenden Regelsystem, unabhängig von dessen Beschreibung durch die Linguisten und
von dessen Beherrschung durch die Sprecher, einer Grammatik B, der Abbildung dieses der
Sprache selbst innewohnenden Regelsystems durch die Linguistik, und einer Grammatik C,
dem von einem Sprecher internalisierten Regelsystem, auf Grund dessen dieser die
betreffende Sprache beherrscht. Helbigs Grammatik A weist Ähnlichkeiten mit Saussures
"langue" und seine Grammatik C mit Chomskys "Kompetenz" auf. Die Reihung von A nach
B und C suggeriert darüber hinaus, dass es ein abstraktes Regelsystem gibt, das unabhängig
von den Sprechern einer Sprache existiert, das von Sprachwissenschaftlern auf ebenfalls
abstrakte Weise beschrieben wird und das dann auf dieser Grundlage von den
Sprachbenutzern internalisiert wird. Dies ist eines der größten Probleme der
Fremdsprachendidaktik, denn damit werden diese Grammatiken A, B und C einander
bewusst oder unbewusst gleichgestellt und es wird suggeriert, dass sich die Fähigkeit,
grammatisch richtig zu sprechen (Grammatik C), dadurch einstellt, dass Lerner die
Grammatik B internalisieren, die wiederum aus der Grammatik A abgeleitet ist.
Ich schlage eine andere Reihenfolge vor, mit einer etwas anders gelagerten Definition dieser
Grammatiken, damit sie nicht nur stärker mit den Erkenntnissen der kognitiven Linguistik
übereinstimmt, sondern sich auch fruchtbarer für die Fremdsprachendidaktik erweist. Aus
Helbigs Grammatik C mache ich meine Grammatik A oder Primärgrammatik, die über den
frühkindlichen muttersprachlichen Erwerb erworbene Fähigkeit, grammatisch richtig zu
sprechen. Helbigs Grammatik A definiere ich neu als Grammatik B oder Kulturgrammatik,
die über das Lesen– und Schreibenlernen (inkl. muttersprachlicher Grammatikunterricht)
erworbene Fähigkeit, grammatisch richtig zu schreiben und davon abgeleitet mündlich höhere
Register zu benutzen. Helbigs Grammatik B schließlich wird zu meiner Grammatik C oder
Schulgrammatik, einem von Sprachwissenschaftlern aus gut formulierten schriftlichen Texten
gewonnenen Regelsystem, das grammatische Verhältnisse in "gut" geschriebenen Texten auf
eine logische Art beschreibt.
Sowohl die mündlich erworbene Primärgrammatik als auch die schriftlich erworbene
Kulturgrammatik sind mentale Grammatiken in Einzelpersonen und sind damit konkreter Art.
Die Kulturgrammatik entsteht auf der Grundlage der Primärgrammatik, wird aber von der
Schulgrammatik modifiziert. Die Schulgrammatik ist abstrakt. Sie stellt einen Kompromiss
zwischen zahlreichen, vielen unterschiedlichen Generationen angehörigen
Kulturgrammatiken dar. Die Schulgrammatik beeinflusst die Kulturgrammatik in dem Sinne,
dass das Produkt der Kulturgrammatik, die schriftlichen Texte, möglichst keine Differenzen
zu einem Produkt der Schulgrammatik aufweisen sollte. Sie beeinflusst individuelle
Kulturgrammatiken auch dadurch, dass sie regionale und überregionale Standards schafft,
wobei Syntagmen (lexikalisierte Wortfolgen) gespeichert werden, die ähnlich wie beim
Erwerb idiomatischer Kompetenz zum Erwerb standardsprachlicher (kultursprachlicher)
Kompetenz führen, dadurch, dass sie sowohl als lexikalische Phrasen zur Verfügung stehen,
die komplett abgerufen werden können, wie auch dadurch, dass nach Speicherung einer
genügend hohen Zahl an ähnlichen Phrasen, implizit und automatisch abstrakte Regeln
abgeleitet werden, die die kulturgrammatische Kompetenz erweitern. Die Kulturgrammatik
wiederum beeinflusst, bei jedem Menschen auf andere Weise, die Primärgrammatik, ebenso
wie sie von der Primärgrammatik beeinflusst wird, da beide Grammatiken mentale
Grammatiken im Kopf des gleichen Sprachbenutzers sind, was zu im weitesten Sinne
bilingualen Verhältnissen führt.
Die Primärgrammatik enthält zumeist implizite "Regeln", die über den Muttersprachenerwerb
erworben wurden und die eher selten reflektiert oder verbalisiert werden. Die
Kulturgrammatik enthält die impliziten Regeln der Primärgrammatik, die Texte produzieren,
die der Schulgrammatik gerecht werden. Sie enthält zusätzliche "Korrekturregeln" für die
dialektalen/soziolektalen Elemente der Primärgrammatik, die nicht der Standardsprache
entsprechen, allerdings bei den meisten Menschen nicht für alle dialektalen/soziolektalen
Merkmale, und sie enthält zusätzliche kultursprachliche Regeln, die kein Äquivalent in der
Primärgrammatik haben.
Das Verhältnis der drei Grammatiken zueinander sollte auch davon abhängig gemacht
werden, wie sie sich gegenseitig unterstützen können. Es ist anzunehmen, dass das
Schreibenlernen die mündliche Grammatikentwicklung positiv beeinflussen kann. Eine
weitere Frage, die sich vor allem im Bereich Primärgrammatik stellt, aber teilweise auch bei
den anderen Grammatiken, ist das Verhältnis von Muttersprache zu Zielsprache und das
Verhältnis von Sprachuniversalien zu Besonderheiten der jeweiligen Sprachpaare. Inwieweit
eine bereits gelernte Fremdsprache den Erwerb einer weiteren Fremdsprache beeinflusst, ist
ebenfalls eine interessante Frage, zu der es noch kaum Forschungsansätze gibt. Das, was sich
bis jetzt mit dem Begriff Tertiärsprachenforschung verbindet, besteht aus einer Darstellung
von Sprachlern- und Arbeitsstrategien und aus einem Vergleich der Schulgrammatiken der
involvierten Sprachen. Unter der Perspektive, die in diesem Beitrag eingenommen wird, ist
dies für den Primärgrammatikerwerb, möglicherweise auch für den Kulturgrammatikerwerb,
allerdings nicht so relevant, wie es Modelle mentaler Grammatiken wären, die sich
gegenseitig beeinflussen.
Im Folgenden möchte ich nun auf Fragen der Methodik eingehen. Die Fähigkeit,
grammatisch richtig zu sprechen (Primärgrammatik) ist eine auditiv-mündliche Fähigkeit und
lässt sich, auch wenn schriftliche Übungen durchaus unterstützend wirken können, nur
auditiv-mündlich entwickeln. Dabei sollten drei Arten von Lernerfahrungen im Vordergrund
stehen, die ich mit den aus der Forschung bekannten Termini input enhancement und input
processing und analog dazu mit output enhancement umschreiben möchte. Unter input
enhancement (Sharwood Smith 1993) versteht man das Hervorheben bestimmter Elemente
gehörter oder gelesener Texte, damit sie leichter wahrgenommen und verarbeitet werden
können. Input enhancement und focus on form (Sprachaufmerksamkeit) sind zwei Seiten der
gleichen Münze. Während input enhancement den Blick auf die Lehrperspektive richtet,
darauf, was LehrerInnen und LehrmaterialienentwicklerInnen tun, um Sprache lernbar zu
machen, richtet focus on form den Blick auf die Lernperspektive, darauf, was Lerner machen,
wenn sie mit sprachlichen Materialien arbeiten.
Es ist anzunehmen, dass der Aufbau der Primärgrammatik auch durch abstrakte
Sprachaufmerksamkeit, das bewusste Wahrnehmen sprachlicher Regelmäßigkeiten
unterstützt werden kann. Wenn diese abstrakte Sprachaufmerksamkeit jedoch förderlich für
die Fähigkeit, grammatisch richtig zu sprechen, sein soll, muss mit nicht verschriftlichten
Hörtexten gearbeitet werden. Da es nach VanPatten (1986) fast nicht möglich ist, auf Sprache
und Inhalt gleichzeitig zu achten, setzt dies voraus, dass Hörtexte in mehreren Durchgängen
bearbeitet werden, wobei in den ersten Durchgängen die Aufmerksamkeit auf den Inhalt und
in späteren Durchgängen auf die Lautgestalt und Ausdrucksseite der Sprache gelenkt wird,
z.B. dadurch, dass Lerner gebeten werden, vielleicht in Form eines Lückendiktats, alle
konjugierten Verbformen schriftlich festzuhalten. Die Förderung der Sprachaufmerksamkeit
bei mündlichen Texten hat den weiteren Vorteil, dass Lerner dadurch Strategien lernen, die
sie auch außerhalb des Unterrichts einsetzen können und damit auch in ungesteuerten
Kommunikationssituationen bewusst weiterlernen können. Die gesammelten Beispiele lassen
sich dann im Unterricht natürlich auch weiter bearbeiten, analysieren und klassifizieren,
wobei eine Verschränkung mit der Kulturgrammatik bzw. auch mit der Schulgrammatik
stattfinden könnte.
Nach Keenan und MacWhinney (1987) lassen sich produktive Formen nicht automatisch aus
rezeptiv gespeicherten Formen ableiten, sondern müssen eigens erworben und mit
Sprechintentionen verknüpft werden. Wenn fremdsprachliches Lernen für produktive Zwecke
zu einem bedeutenden Teil darüber stattfindet, dass lexikalische Phrasen gelernt werden, die
später intern analysiert werden, dann sollte die Ausdrucksseite dieser lexikalischen Phrasen
so wohlgeformt wie möglich gespeichert werden können. In Analogie zu input enhancement
bezeichne ich mit output enhancement den Versuch, die Inhalts- und Ausdrucksseite von
produktiv verwendetem sprachlichen Material optimal zu speichern. Auf der Inhaltsseite
bedeutet dies, dass die Situation in der gelernt wird, den Situationen ähnelt, in denen die
Fremdsprache später benutzt werden soll, dass es sich dabei also um authentische
Kommunikationssituationen handelt. Es bedeutet auch, dass der propositionale und
funktionale Inhalt der Äußerungen so klar wie möglich erkannt sind. Auf der Ausdrucksseite
bedeutet dies, dass Anstrengungen gemacht werden, den Lernern zu ermöglichen, phonetisch
und syntaktisch möglichst fehlerfrei zu sprechen. Dies kann z.B. dadurch erreicht werden,
dass mit vorgefertigten Phrasen und Sätzen, mit lexikalischen Phrasen und Versatzstücken,
kommunikativ gearbeitet wird. Wichtig dabei ist, dass Sprechintentionen suggeriert werden,
dass authentische Sprachhandlungen ausgeführt werden, und dass diese mit wohlgeformtem
sprachlichem Material verknüpft werden.
Ähnlich könnte auch bei der Kulturgrammatik vorgegangen werden. Da allerdings über das
Schreiben und Lesen. Die implizite Kompetenz, das Gefühl für grammatisch und situativ
angemessene, geschriebene Sätze und Texte, ließe sich analog zur Primärgrammatik über
input enhancement und output enhancement entwickeln, während die explizite Kompetenz
über input processing aufgebaut würde. Die Übergänge zwischen konkreter
Sprachaufmerksamkeit (input enhancement) und abstrakter Sprachaufmerksamkeit (input
processing) sind im schriftlichen Bereich allerdings eher fließend. Konkrete
Sprachaufmerksamkeit könnte z.B. dadurch hergestellt werden, dass bestimmte grammatische
Elemente in Texten graphisch hervorgehoben werden, z.B. Personal- und
Possessivpronomen, während abstrakte Sprachaufmerksamkeit dadurch hergestellt würde,
dass diese Pronomen ihren Antezendenten zugeordnet werden müssen. Unter output
enhancement könnte man sich z.B. die Verwendung vorgefertigter Phrasen und Sätze zur
Formulierung eigener Schreibintentionen vorstellen. Durch die Verschränkung der
Fertigkeiten beim Schreiben (s. Abschnitt 1) ist anzunehmen, dass das schriftliche Arbeiten
den Erwerb mündlicher Kompetenzen unterstützt.
Die Schulgrammatik schließlich würde als Lesegrammatik eingeführt und eingeübt, sofern sie
bei einer bestimmten Zielgruppe überhaupt eingesetzt werden soll. Dies hat eine Reihe von
Vorteilen. Die interessanten Aspekte, die mit einer grammatischen Betrachtung verbunden
werden, bleiben erhalten, während die frustrierenden Elemente wegfallen. Zu den
interessanten Aspekten gehört z.B. die Frage, wie Sprache funktioniert und welche
Bedeutungszusammenhänge und -unterschiede durch grammatische Elemente gemacht
werden können. Durch eine induktiv-explorative Herangehensweise, die sich bei einer
Lesegrammatik anbietet, kann dieses Interesse geweckt und gestillt werden. Dabei eignen
sich Lerner auch das Handwerkszeug an, das sie benötigen, um über Grammatik zu sprechen.
Ein weiterer Vorteil ist, dass Grammatikunterricht datengesteuert und dadurch authentischer
und relevanter wird. Frustrierende Elemente werden bei einem Lesegrammatikansatz eher
vermieden. Ein großer Nachteil traditioneller Grammatikübungen ist, dass oft und gerade von
schwächeren Schülern viele Fehler gemacht werden. Dies ist nicht nur frustrierend und kann
zu Sprach- und Lernängsten führen, sondern es ist auch problematisch für den
Grammatikerwerb selbst. Da das Gehirn fehlerhafte Sätze genauso wahrnimmt, wie es
korrekte Sätze wahrnimmt, vielleicht sogar durch die beim Schreiben intensivere
Beschäftigung mit der Sprache deutlicher wahrnimmt, ist es wahrscheinlich, dass das Gehirn
versucht, auf der Basis von fehlerhaften Sätzen als Junkdaten (Wong-Fillmore 1976) eine
mentale Grammatik aufzubauen. Die Ironie dabei wäre, dass gerade grammatikorientierte
Lehrmethoden, deren Übungen und Erklärungen Lerner dazu bringen, viele Fehler zu
machen, fossilierte Lernersprachen hervorrufen würden und eher nicht die kommunikativen
Methoden, denen dies oft vorgeworfen wird.
In diesem Beitrag habe ich versucht zu zeigen, dass die Annahme einer einzigen Grammatik
eine sprachwissenschaftliche Abstraktion ist, die weder den mentalen Vorgängen bei der
Verwendung und beim Lernen von Sprache gerecht wird, noch hilfreich für die Entwicklung
der Grammatikdidaktik im Fremdsprachenunterricht ist. Fremdsprachenlerner sind immer
Einzelgänger (Riemer 1997). Grammatikerwerb findet immer in inviduellen Köpfen statt.
Grammatikerwerb führt dazu, dass in Realzeit grammatisch richtig gesprochen und
geschrieben wird bzw. so richtig, wie es eben auch Muttersprachler nur können. Individuelle
grammatische Kompetenz ist prozessorientiert und spontan einsetzbar. Die Schulgrammatik
mit ihrer Einengung auf die überregionale, schriftsprachliche Variante einer Sprache ist
produktorientiert, muss nachgeschlagen werden und ist darüber hinaus ein Kompromiss aus
unzähligen individuellen Grammatiken, was u.a. dazu führt, dass sie nicht gehirnfreundlich
ist und vollgepropft mit Ausnahmen. Zudem ist sie nur eine mögliche logische Beschreibung
von statischen Strukturen und Abhängigkeiten zwischen Wörtern, Satzteilen und Sätzen der
geschriebenen Sprache. Die Regeln dieser Grammatik haben mit den mentalen Regeln, die
Sprecher befähigen, grammatisch richtig zu sprechen, nichts gemein.
Gegen das Diktat der Schulgrammatik habe ich zwischen einer Primärgrammatik, der
intuitiven Fähigkeit, grammatisch richtig zu sprechen, die sich über den kindlichen
Erstspracherwerb entwickelt, einer Kulturgrammatik, der intuitiven Fähigkeit, ein zweites,
gebildetes Register, eine überindividuelle und überregionale Variante der Sprache zu
benutzen, und der Schulgrammatik selbst unterschieden, wobei sowohl die Primärgrammatik,
wie die Kulturgrammatik eine rezeptive und produktive Seite haben. Ich habe postuliert, dass
sich die Primärgrammatik nur auditiv-mündlich erwerben lässt, ohne abstreiten zu wollen,
dass schriftliche Prozesse durchaus unterstützend wirken können. Ebenso entwickelt sich die
Kulturgrammatik vor allem durch Lese- und Schreiberfahrungen und nur teilweise durch ein
Lernen und Üben der Schulgrammatik.
All dies hat mich dazu bewogen, in Lehrwerken eine deutliche Trennung zwischen einer
Grammatik, die sich auf mündliche und schriftliche produktive Kompetenzen konzentriert,
und einer Lesegrammatik, die eher mit traditionellen Begriffen und Progressionen umgehen
kann, vorzuschlagen. Die produktive Grammatik sollte methodisch-didaktisch gesehen in
eine Sprech- und Schreibgrammatik unterteilt werden, terminologisch bräuchte man hier
keine Unterschiede zu machen. Beiden produktiven Grammatiken gemeinsam wäre eine sehr
flache Progression und eine Unterscheidung zwischer einer expliziten und impliziten
Grammatikbetrachtung. In der impliziten Herangehensweise wird versucht, grammatische
Kompetenz durch rezeptive und produktive Speicherung intakter, situierter und semantisierter
lexikalischer Phrasen aufzubauen, und dadurch, dass die Aufmerksamkeit beim Hören bzw.
Lesen auch auf die grammatischen Elemente der Sprache gelenkt wird. In der expliziten
Herangehensweise wird bei ausgewählten Lernergruppen darüber hinaus versucht, auditiv
und visuell Wahrgenommenes zu analysieren und klassifizieren. Wichtig dabei ist, dass die
Sprechgrammatik über das Arbeiten mit auditiven Daten aufgebaut wird, und nicht wie in
aktuellen Lehrwerken durch visuelle Daten. Die Lesegrammatik hätte neben der Funktion,
grammatische Lesestrategien zu entwickeln, die Aufgabe, über Sprache sprechen zu lernen
und dabei terminologisches Handwerkszeug zu erwerben.
Die kognitive Wende in der Fremdsprachendidaktik hat stattgefunden. Allerdings anders, als
dies immer noch in vielen Beiträgen zur Rolle der Grammatik im Fremdsprachenunterricht
thematisiert wird. Es handelt sich hier nämlich nicht um eine Rückkehr zum altbewährten
Grammatikunterricht mit neueren kreativen und autonomiefördernden Methoden, sondern um
ein neues sprachlerntheoretisches Erkenntnisinteresse, das auch eine neue Art von
Grammatikunterricht fordert. Das neue Erkenntnisinteresse ist: Was läuft in den Köpfen der
Sprachlerner ab, wenn sie eine fremde Sprache lernen? Kognitiv bedeutet hier
Fragestellungen aus der kognitiven Psychologie und der kognitiven Linguistik zu
übernehmen. Was läuft in den Köpfen ab und wie kann dem geholfen werden? Dafür
brauchen wir eine präzisere Vorstellung von Grammatik, von unterschiedlichen Arten von
Grammatik. Das habe ich in meinem Beitrag versucht zu zeigen. Antworten auf meine in
diesem Zusammenhang gestellten Fragen könnten dabei den fremdsprachlichen
Grammatikunterricht radikaler ändern, als es die kommunikative Methode der letzten
Jahrzehnte getan hat.
Literaturverzeichnis