Sie sind auf Seite 1von 132

Grow up.

Der neue GLA. Ab dem 8. April.

Drive

www.mercedes-benz.de/growup
EINE TELEFONANLAGE,
DIE IMMER DABEI IST?

L AUFT!
MIT ONE NE T BUSINESS
Die virtuelle Telefonanlage, die alles vereint:

Festnetz Mobilfunk Cloud Collaboration-Tools

Einfach auch von unterwegs auf Daten,


Kontakte und Anwendungen zugreifen –
jetzt im GigaNetz von Vodafone. Vodafone
Werden Sie zum Ready Business: Power to you
vodafone.de/onenetbusiness
Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Betr.: Titel, Türkei, Tansania

eit der Wahl Donald Trumps zum US-


Präsidenten hat sich die Stimmung im
NORBERT VON DER GROEBEN / DER SPIEGEL
sonst so optimistischen Silicon Valley
S
deutlich verändert. Bis dahin waren die
Vordenker in den Technologiekonzernen
überzeugt, die Menschheit sei dank des
rasenden Fortschritts unweigerlich auf dem
Weg in eine radikal bessere Zukunft. Doch
der schnelle Wandel der Welt überfordert
die Menschen. Das trägt zum Aufstieg der
Schulz im Silicon Valley Populisten bei. Deswegen sorgen sich viele SI DO NI A
Damen-Halbschuh
im Silicon Valley wegen der Konsequen-
zen des eigenen Tuns. Thomas Schulz, SPIEGEL-Korrespondent in San Fran-
cisco, war in den vergangenen vier Jahren viele Male bei Facebook, Google
und anderen Firmen zu Gast, hat zahlreiche Gespräche mit Managern geführt
und erklärt in der Titelgeschichte, worüber jetzt genau diskutiert wird, wie
Lösungen aussehen können. Ruhiger, da ist Schulz sich sicher, wird es in den
kommenden Jahren nicht werden. Der nächste große Umbruch steht schon
bevor: „Viele im Silicon Valley halten die schnell voranschreitende Entwicklung
der künstlichen Intelligenz für so bedeutend wie die Elektrifizierung im
19. Jahrhundert.“ Seite 12

eheime Botschaftsberichte, die dem SPIEGEL zugespielt wurden, belegen,


G dass die türkische Regierung ihre Staatsbürger in über 30 Ländern bespitzelt.
Die Dateien zeigen, wie die Türkei ihre Auslandsvertretungen nutzt, um belas-
tendes Material über angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung zusammen-
zutragen, deren Gründer von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan für den
gescheiterten Putsch im vergangenen Jahr verantwortlich gemacht wird. Die
Dokumente, die in Auszügen seit einiger Zeit kursieren, wertete der SPIEGEL
zusammen mit dem internationalen Rechercheverbund EIC aus. Außerdem im
Heft: ein Text, der sich mit der verstörenden Gedankenwelt deutsch-türkischer
Erdoğan-Anhänger beschäftigt, und ein Report, der zeigt, welche Auswirkungen
die politischen Verwerfungen in der Türkei auf die Wirtschaft des Landes ha-
ben. Seiten 36, 58, 76

A ls Afrikakorrespondent Bartholo-
mäus Grill sich auf den Weg nach
Tansania machte, begleiteten ihn zwei
Frauen, ohne die seine Recherche wahr-
scheinlich gescheitert wäre. Grill wollte
ADRIANE OHANESIAN / DER SPIEGEL

in Erfahrung bringen, warum im Norden


• AUSGEZEICHNETE PASSFORM
des Landes ein alter Brauch eine Renais-
sance erfährt: Frauen dürfen dort Frauen • SUPERBEQUEM-FUSSBETT
heiraten, was selten möglich ist in Afrika, • OPTIMALE AUFTRITTSDÄMPFUNG
wo gleichgeschlechtliche Beziehungen • GEEIGNET FÜR INDIVIDUELLE EINLAGEN
meist unter Strafe stehen. Es ist jedoch
nicht einfach, als weißer Mann mit Afri-
kanerinnen über intime Themen zu re- Grill, tansanische Familie
den, und so bereiteten die Übersetzerin
Beldina Nyakeke und die Fotografin Adriane Ohanesian die Gespräche vor.
KATALOG UND
Während der Interviews lernte Grill, dass der verklärte Blick des Westens auf
diese Ehen wenig mit der Realität zu tun hat. „Das Wiederaufleben der Tradition BEZUGSQUELLEN:
entspricht leider nicht feministischen Wunschvorstellungen“, sagt Grill. Wieso www.finncomfort.de
das so ist, erklärt er ab Seite 82

DER SPIEGEL 14 / 2017 5 FINNCOMFORT, POSTFACH, D-97433 HASSFURT/MAIN


Die Neuen
Russland Fünf Jahre nach dem Ende der letzten
Protestwelle finden in ganz Russland wieder
Kundgebungen statt. Auf den Straßen zeigt sich eine
junge Generation, ihr Vorbild ist der Oppositions-
politiker Alexej Nawalny. Wer ist dieser Mann, und
woraus speist sich seine Bewegung? Seite 72

SEFA KARACAN / ANADOLU AGENCY


JÜRGEN SCHRADER / BAVARIA360.DE / DER SPIEGEL
MICHAEL UKAS / ACTION PRESS

ULLSTEIN BILD

Der Ampelflirt Einzimmerküchebad Tipps fürs Bett


Parteien Die SPD und Martin Schulz Umweltpsychologie Wie viel Platz braucht Fitness Der britische Schlafexperte Nick
stehen vor einem Dilemma. Distanzieren der Mensch zum Wohnen? Ein deutscher Littlehales berät Sportstars wie den Fuß-
sie sich von der Linken, fehlt eine Macht- Architekt hält 6,4 Quadratmeter für aus- baller Gareth Bale (Foto) von Real Madrid.
perspektive. Zugleich schreckt das Bündnis reichend – und will mit Mikroapartments Er sagt ihnen, wie sie sich in der Nacht opti-
ab. Die Lösung könnte eine Ampelkoalition gegen die Wohnungsnot kämpfen. Doch mal erholen können – trotz der vielfältigen
mit FDP und Grünen sein. Die Liberalen Forscher warnen: Enge mache aggressiv und Ablenkungen durch Freundin, Familie,
zeigen sich erstaunlich offen. Seite 26 schade besonders Kindern. Seite 96 Smartphone und Spielkonsole. Seite 88

6 Titelbild: Foto: [M] B. Vogel / Getty Images


In diesem Heft

Titel Arbeit Der neue BA-Chef Detlef Scheele


sagt im SPIEGEL-Gespräch, wie Hartz-IV-
Zukunft Erstmals fragen sich die Vordenker Empfängern geholfen werden kann 67
des Silicon Valley, ob der Fortschritt, den sie
schaffen, nur Gutes bewirkt 12
Ausland
Deutschland Die Ukraine lässt sich im Streit um

HANNES JUNG / DER SPIEGEL


den Eurovision Song Contest von Russland
Leitartikel Die fatalen Folgen von Trumps provozieren / Staatsstreich in Venezuela 70
Klimapolitik 8 Russland Die junge Opposition und ihr Idol
Meinung Kolumne: Der schwarze Kanal / Alexej Nawalny verändern das Land 72
So gesehen: Ehe für alle 10 Türkei Wie Auslandsvertretungen weltweit
Merkel bleibt beliebter als Schulz / ihre Bürger überwachen 76
Gabriel kritisiert türkische Regierung / Anis Geopolitik US-Präsident Trump und Chinas
Amri bereitete Attentat wochenlang vor 22 Staatschef Xi treffen sich zum ersten Mal 78 Martin Schulz
Parteien Die Pläne von SPD-Kanzlerkandidat Analyse Warum der bevorstehende
Martin Schulz für eine Ampelkoalition 26
Er ist Vorsitzender der SPD
militärische Sieg über den IS trügerisch ist 80
und möchte Bundeskanzler
SPD SPIEGEL-Gespräch mit Altkanzler Tansania Eine Stammestradition werden. Doch im SPIEGEL-
Gerhard Schröder über die Gefahren von erfährt eine Wiedergeburt: die Frauenehe 82
Rot-Rot-Grün und den Machtwillen Gespräch geht es nicht um
von Martin Schulz 31 Politik, sondern um Literatur.
Sport Für Schulz, gelernter Buch-
CSU Horst Seehofer will bleiben – als Partei-
chef und als Ministerpräsident 34 Bayern München – einzigartig und händler, sind Bücher Lebens-
langweilig / Magische Momente: mittel. Seite 116
Karrieren Angela Merkels neuer Der Stehpaddler Chris Bertish über
Wahlkampfstratege Joachim Koschnicke seine Begegnung mit Haien 87
agierte als Cheflobbyist bei
Opel mit fragwürdigen Methoden 35 Fitness Schlafexperte Nick Littlehales
kennt die nächtlichen Fehler der Stars 88
Referendum Auf Facebook-Seiten wie
der „Osmanischen Generation“ Fußball Schlammschlacht um Campo Bahia –
machen Erdoğan-Anhänger Stimmung das Luxusresort in Brasilien, in dem
Joachim Löw seine Weltmeister trimmte 91

ADRIANE OHANESIAN / DER SPIEGEL


gegen Kritiker 36
Theorien SPIEGEL-Gespräch mit dem
US-Politologen Jason Brennan, Wissenschaft
der nur noch die informierten Bürger Wikingerfestspiele, Wikingerserien,
wählen lassen will 38 Wikingermusik – woher kommt der Hype? /
Verkehr Umweltverbände klagen gegen Kolkraben auf Kumpeltreff /
Minister Dobrindts Riesen-Lkw 41 Einwurf: Der ausgebildete Kranke 94
Strafvollzug Mitarbeiter eines privaten Umweltpsychologie Friede in Hütten –
Knastdienstes schmuggelten Handys Forscher erkunden, wie viel
und Drogen, getarnt als Werkzeuglieferungen, Platz der Mensch zum Leben braucht 96 Joyce Wambura
in die JVA Bremervörde 42 Tiere Warum Schimpansen oft Sie ist nicht homosexuell,
Gleichberechtigung Bei Direktkandidaturen Linkshänder sind und Hunde leckere Düfte
mit dem linken Nasenloch erschnuppern 98 aber mit einer Frau
für den Bundestag kommen nur wenige Frauen vermählt. Das ist möglich
von CSU und CDU zum Zuge 44 Klimawandel Geoingenieure wollen die
Strahlkraft der Sonne schwächen und so in Tansania. Doch die
Hauptstadt Volksentscheid für Tegel? 47
die Erde kühlen 100 Frauenehen haben auch eine
Die Arktis erwärmt sich doppelt so dunkle Seite: Mädchen
Gesellschaft schnell wie der Rest des Planeten – mit werden verkauft, sie werden
Früher war alles schlechter: Die Erfindung dramatischen Folgen 103 zwangsverheiratet. Seite 82
des Friedens / Wie bringt man Forensik Wer war Jack the Ripper? 104
Internetpöblern Manieren bei, Herr Ley? 48
Eine Meldung und ihre Geschichte Holländer Kultur
bringt Flugauto auf den Markt 49
Politserie „Baron Noir“ / Schlüsselroman
Karrieren Wie kolumbianische Farc-Kämpfer über Hellmuth Karasek /
nach einem jahrzehntelangen Krieg zu Kolumne: Besser weiß ich es nicht 106
braven Bürgern umerzogen werden sollen 50
Prekariat „Hillbilly-Elegie“, J. D. Vance’
ANDREW SPEAR / DER SPIEGEL

Homestory Mein Exmitschüler wählt AfD 55 gefeiertes Porträt der US-Unterschicht 108
Kunst Die Documenta gastiert in Athen 114
Wirtschaft Lesen SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz
Fiat trickst weiter bei Abgasmessungen / beschreibt im SPIEGEL-Gespräch
Kritik an KfW-Förderpolitik / Finanzämter seine literarischen Vorlieben 116
mahnen Schließfachbetreiber 56 Filmkritik „Ein deutsches Leben“ über
Konjunktur Die Wirtschaft in der Türkei Goebbels’ Sekretärin Brunhilde Pomsel 121
leidet unter den Folgen J. D. Vance
von Präsident Erdoğans Politik 58 Bestseller 120 Er kann erklären, was sich in
Versicherungen Im Allianz-Konzern Impressum, Leserservice 124
muss die Führungsebene Krieg spielen 61
der Ära Trump so viele
Nachrufe 125 fragen: Was ist los in der US-
Konzerne BCG-Chef Rich Lesser
Personalien 126 Unterschicht? Der Autor ist
verteidigt seine Rolle als Berater von
US-Präsident Trump 62 Briefe 128 selbst im Prekariat aufgewach-
Deutsche Bank Mit Christian Sewing und Hohlspiegel / Rückspiegel 130 sen, seine autobiografische
Marcus Schenck greift eine „Hillbilly-Elegie“ wurde zum
neue Generation Banker nach der Macht 64 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ Bestseller. Seite 108

DER SPIEGEL 14 / 2017 7


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Die Dreckschleuder
Trumps Klimapolitik ist gar nicht so schlimm – und trotzdem fürchterlich.

D
er Mensch kann verdrängen und vergessen, er Solche Abkommen funktionieren nur, sie werden nur dann
kann das ganz gut, da sich mit Verdrängung das umgesetzt, wenn nicht alle Beteiligten nach der Unter-
Leben sorglos leben lässt, vorläufig ohne Konse- schrift nach Hause fahren und dort, unter dem Druck der
quenzen. Darum gelingt es dem Menschen, immer wieder Lobbyisten, die eigenen guten Absichten unterlaufen. Ge-
aufs Neue zu ignorieren, wie brutal die Folgen des Klima- rade langfristige, gerade multinationale Politik braucht be-
wandels sein werden und bereits sind; der Stadtmensch dingungslose Entschlossenheit, da sie ansonsten scheitert;
schafft das mühelos: Natur begegnet ihm aufgehübscht und wenn diese Politik ohnehin zu spät begonnen hat,
im Urlaub, Sinnliches gibt’s bei Netflix, und wenn’s zu darf es keine Schlenker und Rückwärtsschritte mehr geben.
heiß wird, hilft die Klimaanlage. Die USA sind und bleiben zudem leider wichtig, sie
Der Klimawandel ist dennoch ganz und gar real. Er löst sind ja eben doch der zweitgrößte Verursacher von CO -
²
schon heute Konflikte um Rohstoffe und Energiequellen Emissionen; alles, was sie tun, ist ein Signal. Einen Leug-
aus und darum Migration. Er wird schlimmer werden. ner des Klimawandels zum Chef der Umweltbehörde zu
In dieser Woche hat die amerikanische Regierung per machen ist so konstruktiv wie einen Pädophilen zum
Dekret das Klimaschutzgesetz Barack Obamas aufgekün- Kindergärtner; der Entzug von Forschungsgeldern verhin-
digt und die Rückkehr zur Verbrennung von Kohle gefei- dert logischerweise Forschung. Und bei den Klimadebatten
ert. Das ist so hilfeschreiend dumm wie die Verachtung innerhalb der Uno geht es um Arm und Reich, um jene
von Wissenschaft und Bil- wohlhabenden Verursacher
dung. Es ist, was es selten zu der Erderwärmung, die mehr
diagnostizieren gibt, zugleich leisten müssen und nur da-
zweierlei: egal und fatal, nicht durch die Kleinen zum Mit-
so schlimm wie befürchtet machen bringen können.
und doch fürchterlich genug. Da die Dreckschleuder aus-
Warum nicht so schlimm? steigt, haben alle anderen ihr
Der alte Mann im Weißen Alibi. Nun werden die USA
Haus will die fossile Industrie das verabredete Ziel (Sen-
wieder stärken, doch Bundes- kung des CO -Ausstoßes bis
²
staaten wie Kalifornien halten 2025 um 26 bis 28 Prozent im
HTTP://WWW.GLOBALCORALBLEACHING.ORG/

gegen; Kalifornien will seinen Vergleich zu 2005) nicht schaf-


CO -Ausstoß bis 2050 um 80 fen; sobald sie den verlachten
²
Prozent (verglichen mit 1990) Vertrag auch offiziell kündi-
reduzieren und schafft schon gen, ist die Weltkrise zurück.
heute die technologischen Wann also kommt der Auf-
Grundlagen dafür. Der Kohle- schrei? Warum sagt die Kanz-
bergbau in den USA geht lerin nichts? Wo bleibt die
ohnehin unter, der einstige Gegenbewegung, wo der Ein-
Marktführer Peabody Energy satz der EU?
ist insolvent; von 250 000 Ar- Vorher, nachher Verdrängung jedenfalls
beitern sind noch 53 000 übrig. wird uns nicht helfen. Wenn
Dank Fracking ist Erdgas billig und zur bedeutenden Ener- ein deutscher Stadtmensch heute, 15 Jahre nach dem ers-
giequelle geworden, neue Kohlekraftwerke zu bauen wäre ten Besuch, an einen Ort wie die afrikanische Insel Praslin
auch für die neue Regierung ökonomischer Unfug; in zurückkehrt, eine der rund 155 Seychellen-Inseln, dann
China wurde gerade der Bau von über hundert Kohle- sieht, spürt, erlebt er die Folgen der Moderne und leider
kraftwerken gestoppt. auch der eigenen Fernreisen: den Klimawandel. Damals:
Überhaupt China: China ist für ein Drittel der welt- die Korallen des Indischen Ozeans in demütig stimmender
weiten CO -Emissionen verantwortlich – die USA hat nur Zartheit; Korallen (so klangsatt ist dieses Wort), Korallen
²
noch einen halb so großen Anteil. Dieses China aber hat also in allen Farben und Formen, verschlungen, leuchtend,
eine Kehrtwende eingeleitet, bis 2020 sollen 360 Milliarden endlos. Hunderttausende Fische, Tausende Arten von Le-
Dollar in regenerative Energien fließen. Weltweit sinken bewesen, mittendrin Delfine, Haie, Schildkröten. Heute:
auch deshalb die Preise für Solarzellen. Die USA stärken alles bleichgrau. Ein Geröllfeld. Einige letzte Fische. Die
mit ihrer Politik China, da sie China jetzt auch zur mora- Erwärmung der Meere hat die Korallen vor Praslin ge-
lischen Weltmacht erheben, und China findet Nachahmer. nauso getötet wie im Great Barrier Reef vor Australien.
Und dennoch ist Amerikas Dummheit fatal. Nein, der Klimawandel wird nicht in ferner Zukunft ir-
Abkommen wie jenes von Paris formulieren politische gendwann anfangen oder vielleicht, hoffentlich, ja doch
Ziele: Die Erderwärmung soll also nach wie vor auf unter nicht. Er ist da. Auf unserer Erde gibt es Orte, wo nichts
zwei Grad begrenzt werden, wie schön, wie verträumt. mehr lebt: Dort ist es bereits vorbei. Klaus Brinkbäumer

8 DER SPIEGEL 14 / 2017


Meinung
Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal

Politisches Bodyshaming
Die Redaktion des El- und man das nicht für erstrebenswert hält?
ternhefts „Nido“ hat Auch politische Meinungsbildung kommt Die letzte
ihren ersten Shit-
storm erlebt. Es ging
nicht ohne Abgrenzung aus. Wer darauf be-
harrt, dass alle politischen Meinungen
Patrone
um eine Liste mit gleich viel wert seien, wird Probleme ha- So gesehen Die Union
Dingen, die erst mit ben, Leute zu überzeugen. Der ganze kämpft unerbittlich
Kindern so richtig Wahlkampf von Martin Schulz beruht da- gegen die Ehe für alle –
Spaß machen, darunter rauf, über andere zu lästern, in dem Fall
„Ketchup essen“, „rut- statt über Dicke über die „selbst ernannten aus Verzweiflung.
schen“ und „lästern“. Ein Vater berichtete, Eliten“, bei denen man froh sein kann, Die CDU ruhte, ideologisch
dass er mit seiner Tochter in einer Apothe- dass man nicht dazugehört. gesehen, auf vier Säulen:
ke gestanden habe, neben sich eine sehr Mich hat das an meine eigene Kindheit Freiheit statt Sozialismus,
korpulente Frau. Er und seine Tochter hät- erinnert. Meine Mutter, die eine überzeug- Deutschland ist kein Einwan-
ten sich daraufhin angesehen und dann te Sozialdemokratin ist, brachte mir von derungsland, Atomkraft ja
darüber geredet, dass die Frau wirklich sehr, klein auf bei, dass der anderen Seite nicht bitte, und die Ehe schließen
sehr dick gewesen sei, und wie froh sie zu trauen sei. Bei uns zu Hause hießen Mann und Frau. Die Ge-
seien, nicht so dick zu sein. Er wisse, dass Konservative nur „die Schwarzen“, wie im schichte hat den real existie-
sich das eigentlich nicht gehöre, aber Kinderspiel vom schwarzen Mann, vor renden Sozialismus entsorgt
die Frau habe ja nichts mitbekommen. dem man sich tunlichst in Sicherheit bringt. und Angela Merkel die bei-
Einige Leser waren trotzdem so empört, Man könnte argumentieren, dass die poli- den folgenden Glaubenssät-
dass sie den Text abfotografierten und ins tische Meinung eine freiwillige Wahl ist, ze. Bleibt also einer. Bloß
Netz stellten. „Echt jetzt? Bodyshaming? Körpergewicht hingegen nicht. Aber das nicht wackeln, heißt jetzt die
2017?“, schrieb eine aufgebrachte „Nido“- stimmt nicht wirklich. Wer den ganzen Tag Devise. Jede Partei braucht
Käuferin. Unter „Bodyshaming“ wird der Burger in sich hineinschaufelt, weiß, dass ein Aufregerthema, um die
Versuch verstanden, zwischen Körper- er davon dick wird. Das ist wie mit der matten Milieus noch zu elek-
formen zu unterscheiden und einige als we- Linkspartei: Wer für Sahra Wagenknecht trisieren, so einen echten
niger attraktiv als andere hinzustellen. stimmt, darf sich nachher nicht beklagen, Schocker, ein Defibrillator-
„Natürlich sind wir für Bodyshaming nicht wenn der Steuersatz auf 53 Prozent steigt. thema, das noch die abge-
zu haben, und natürlich heißen wir Ab- Möglicherweise wird die Prägung durch klärtesten Zeitgenossen er-
grenzung nicht gut“, erklärte die „Nido“- die Eltern ohnehin überschätzt. Wäre es schrocken an die Urne treibt.
Redaktion in einer Entschuldigung. nach meiner Mutter gegangen, würde Ideal wäre: Schwule Sozialis-
Man soll nicht schlecht über andere Men- ich heute noch brav mein Kreuz bei den ten wollen unsere Kernkraft-
schen reden, auch nicht in deren Abwesen- Sozialdemokraten machen. Stattdessen werke zu Standesämtern für
heit, klar. Andererseits ist es schwer, Kin- habe ich eine Kolumne, die „Der schwarze Ausländer umwidmen! Zur
dern beizubringen, was sie zu tun oder zu Kanal“ heißt und alles infrage stellt, was Not tut es auch die abstruse,
lassen haben, ohne Beispiele zu nennen. ich zu Hause gelernt habe. durch nichts begründete Vor-
Wie will man seinem Kind erklären, dass stellung, die Ehe von Paaren
es weniger Zucker essen soll, wenn man An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, gleichen Geschlechts würde
nicht sagen darf, dass Zucker dick macht Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. die anderen deutschen Ehen
beeinträchtigen. Oder den
Kindern der Welt schaden.
Mit Logik hat das nichts zu
Kittihawk tun, es geht um die Pflege
diffuser Ängste.
Die Gesellschaft ist aber
längst weiter. In unserer Kul-
tur darf eine Ehe ruhig aus
der Liebe füreinander ent-
springen. Wenn die erwidert
wird, ist es doch, bei all dem
Rauschen der Welt und der
Eigensinnigkeit des moder-
nen Menschen, ein Wunder.
Wenn sie dann noch – Ja
heißt Ja! – heiraten wollen,
kommt zum ersten Wunder
ein zweites. Welchen guten
Zweck soll es erfüllen, solch
ein Vorhaben zu durchkreu-
zen? Wer die Ehe stärken
und schützen will, muss sie
öffnen. Nils Minkmar

10 DER SPIEGEL 14 / 2017


Mehr unter www.porsche.de oder Tel. 0800 3560 - 911, Fax - 912 (gebührenfrei aus dem deutschen Festnetz).

Verzichten auf nichts.


Das aber konsequent.

Die neuen 911 GTS Modelle.


Reduziert auf das Maximum: 6-Zylinder-Biturbo-Boxermotoren mit 331 kW (450 PS)

für gesteigerte Leistung. Sport Chrono Paket mit Mode-Schalter am GT-Sportlenkrad

für mehr Dynamik. Neue 20-Zoll-Räder mit Zentralverschluss und ein breites Heck für

mehr Sport und weniger Verzicht: www.porsche.de/911GTS

Kraftstoffverbrauch (in l/100 km) innerorts 13,3–10,7 · außerorts 7,6–6,9 · kombiniert 9,7–8,3; CO2-Emissionen kombiniert 220–188 g/km
Titel

Zuckerbergs Zweifel
Zukunft Der rasante Fortschritt überfordert Gesellschaft und Politik. Davon profitieren
Populisten wie Donald Trump. Die Vordenker im Silicon Valley arbeiten an noch größeren
Umbrüchen – und sorgen sich erstmals wegen der die Konsequenzen. Von Thomas Schulz

12 DER SPIEGEL 14 / 2017


Facebook-Konferenz in San Francisco
Eine Welt ohne Widersprüche

Was für eine Verwandlung. Kein Ver-


gleich zu dem unsympathischen Nerd
früherer Jahre, so nuschelig und gebeugt,
so ungelenk in der Öffentlichkeit. Geblie-
ben ist nur die Uniform: immer ein graues
T-Shirt, blaue Jeans, schwarze Nike-Turn-
schuhe. Sich morgens keine Gedanken
über Kleidung zu machen, verschaffe ihm
Zeit für Wichtigeres, sagt Zuckerberg. Für
solche Fragen: „Was können wir tun, um
die Welt wieder enger zusammenzubrin-
gen?“
Es ist eine große Frage, weil Facebook
zuletzt erheblich dazu beigetragen hat, die
Welt zu spalten: weil es riesige Echokam-
mern schafft, die die Meinungsvielfalt un-
tergraben, und den Nährboden liefert für
Fake News, die ungestört um den halben
Planeten rasen.
Die Vorwürfe wiegen schwer: Facebook
trage Mitschuld an der Wahl von Donald
Trump, sei mitverantwortlich für die ak-
tuelle Krise der Demokratie. Zuckerberg
wollte diesen Zusammenhang erst nicht
wahrhaben, er erklärte Facebooks Einfluss
auf die politische Meinungsbildung durch
Fake News zur „verrückten Idee“.
Die Reaktion war falsch, das sah Zucker-
berg später ein, aber sie war nicht über-
raschend. Dass sie, die sich immer für die
Guten hielten, auf der falschen Seite ste-
hen könnten, sprengt das Selbstverständ-
nis, das die Digitalkonzerne so vehement
in die Welt projizieren. Ihre immer und
immer wieder verbreitete Überzeugung
vom Silicon Valley als globalem Motor des
Fortschritts – und dem Fortschritt als ewi-
ger Schwester des Guten.
Mit dieser Botschaft haben die Techno-
logen im Silicon Valley der Politik in den
vergangenen Jahren die Rolle des gesell-
schaftlichen Antreibers abgerungen und
sich und der Welt hohe Ziele gesteckt: die
Menschheit vernetzen, globale Verkehrs-
probleme lösen, zum Mars fliegen, den
Krebs besiegen.
Ihr Glaubensbekenntnis ist, dass Tech-
FACEBOOK

nologie die moderne Gesellschaft zusam-


menhalte; dass der Fortschritt nicht nur
eine wirtschaftliche, sondern eine enorme
kulturelle und politische Kraft sei – und

F
acebook erreicht fast zwei Milliarden zerstritten, nie waren Freunde wichtiger deswegen ständig vorangetrieben werden
Menschen, macht zehn Milliarden als heute.“ müsse. Im Zweifelsfall ohne Rücksicht auf
Dollar Gewinn pro Jahr. Doch wenn Was ist das? Seifenoper? Therapiegrup- Konsequenzen. Denn es sei ja gewiss, dass
der Konzern seinen 13. Geburtstag feiert, pe? die Vorteile stets deutlich überwögen. Dass
wie vor wenigen Wochen, dann läuft das Zuckerberg spricht laut, die Stimme fest, es nicht nötig sei, lange über die Schatten-
so ab: Es gibt Kaffee und Kuchen in der mit einem leicht kehligen Unterton wie seiten des Fortschritts, des eigenen Tuns
Konzernzentrale, in einem Raum mit be- bei Kermit, dem Frosch. Das Kinn ist ge- nachzudenken.
ruhigenden Farben und dämpfendem Tep- reckt, das Kreuz athletisch durchgedrückt, Diese Sicht auf sich selbst und die Welt
pich, Mark Zuckerberg sitzt im Kreis mit der Händedruck fest und nicht selten ge- funktionierte wunderbar – bis zum 8. No-
besonders eifrigen Facebook-Nutzern. Alle folgt von einem Griff an die Schulter. Jeder vember 2016, dem Tag der Wahl Donald
erzählen, was sie bewegt, Tränen fließen, Gesprächspartner wird fixiert. Zuckerberg Trumps zum Präsidenten der USA. Seit-
und Zuckerberg sagt: „Die ganze Welt ist ist, in jeder Faser, ein Anführer, jetzt. dem sind sie zu Zweiflern geworden im

DER SPIEGEL 14 / 2017 13


Titel

ULLSTEIN BILD
Virtuelle Darstellung eines vernetzten Fahrzeugs: Hoffnung oder Horrorszenario?

Silicon Valley, gespeist aus einer bitteren Versprechen einlöst, dass alle besser leben? Abstiegsängste und soziale Ungleichheit,
Erkenntnis: Der Fortschritt schafft viele Damit möglichst bald diese schöne neue echte und gefühlte, treiben die Spannun-
Gewinner, aber auch viele Trump-Wähler, Welt erreicht wird: in der wir weniger ar- gen rund um die Welt. Bald wird es Robo-
Le-Pen-Sympathisanten und AfD-Unter- beiten müssen, weil uns Maschinen pro- ter geben, die Taxis lenken und Gabelstap-
stützer. „Move fast and break things“ wähl- duktiver machen; in der wir länger leben, ler und Laster – und wie viele Jobs fallen
te Facebook einst als Firmenmotto, aber weil Software hilft, den Krebs zu heilen; dabei weg? Die Arbeit wird sich verändern,
offenbar wurde zu viel zerbrochen. Twitter in der wir weniger gestresst sind, weil sich für jeden, aber nicht jeder wird profitieren.
machte Trump erst möglich, und die Pflegeroboter um die Alten kümmern. Was kommt, ist ein potenzieller Brand-
Twitter-Mitarbeiter quält dieser Gedanke Oder muss die Geschwindigkeit gedros- beschleuniger für noch mehr Ungleichheit,
jeden Tag. selt werden, bis die Menschen weniger und an den extremen Rändern warten sie
Ein düsteres Gefühl breitet sich aus: Die überfordert sind? Denn wer sich bedroht nur darauf zu zündeln.
Grundregel von stetig zunehmender Frei- fühlt, will Zäune hochziehen und neigt zu Andererseits: Kluge Maschinen ermög-
heit und wachsendem Wohlstand wird starken Anführern. lichen eine neue Medizin, auch hier ist
bedroht von genau den Kräften, die sie Die Optimisten wollen weiterrennen, eine Revolution unterwegs. Kranke Gene
ermöglicht haben, von Technologie, Glo- ihr Argument geht so: Wissen ist Freiheit, lassen sich verändern, der Krebs kann be-
balisierung und Fortschritt. Fortschritt ist Wohlstand. Wenn sich die siegt werden. Was sind das für tolle Zeiten!
Zu dieser Situation haben viele ökono- Zweifler durchgesetzt hätten, gäbe es kei- Aber vielleicht lassen sich auch Supermen-
mische und politische Faktoren geführt. ne Mondlandung, kein vereinigtes Europa. schen basteln, und die neuen Therapien
Die Mittelklasse muss kämpfen und ver- Es ist ein gutes Argument, historisch be- können eine Million Dollar kosten, gesund
liert oft, Industrien verschwinden, neue legbar. Aber welches Tempo ist erlaubt, sind vielleicht nur die Reichen. Was sind
Mächte entstehen. wenn die Gegenreaktionen so heftig sind, das nur für Zeiten?
Dazu geführt haben aber auch Angst, dass die Fundamente der Demokratien Hier sind drei Meldungen von einem be-
Unsicherheit und Überforderung. Die Men- wackeln? liebigen Montag im Februar, einem einzi-
schen mögen keine Veränderungen, jeden- Es sind große Fragen und vor allem drän- gen Tag nur.
falls nicht zu viele, zu schnell. 1990 war gende: Denn die nächsten Umbrüche ste- Die US-Arzneimittelbehörde gibt grü-
das Leben nicht so viel anders als 1970 – hen unmittelbar bevor. Die künstliche In- nes Licht, genetisch modifizierte Immun-
aber was hat die Gegenwart noch mit 1990 telligenz, lange verbannt in das Reich von zellen klinisch zu testen: Die Zellen zer-
gemein? Science-Fiction, ist auf dem Weg, die do- stören Krebs, in ersten Versuchen wurden
Die Tech-Vordenker rätseln nun, wie es minierende Technologieplattform zu wer- Kleinkinder von Leukämie geheilt.
weitergehen soll: noch schneller, bis der den, für alles. Ein Einschnitt, mindestens Ein Start-up präsentiert einen Algorith-
technologische Fortschritt endlich seine so groß wie die Erfindung des Internets. mus, der an der Stimme erkennt, ob Men-

14 DER SPIEGEL 14 / 2017


schen an Alzheimer oder Depressionen Jahren ebenso selbstgerecht wie bequem book noch Programmiertipps. Und drau-
leiden. eingerichtet als Gegenentwurf zu den In- ßen lockt Kalifornien, manche gehen mor-
Uber arbeitet an fliegenden Autos. vestmentbankern und Finanzmagnaten, gens noch schnell surfen drüben in Santa
Wer glaubt, all das sei Teil des normalen die zuvor die Geschicke der Welt steuerten, Cruz, Marihuana ist legal, alles Gemüse
Wandels, nur ein Nebenschauplatz der die sich Masters of the Universe nannten bio. What a life! Save the world!
zahllosen Wirrungen auf dem Planeten, und ungeniert mit ihrem Einfluss prahlten. Die neuen Masters of the Universe ha-
hat nicht verstanden, was passiert. Die Die Tech-Welt dagegen wollte und will ben die Auseinandersetzung mit ihrem Ein-
Digitalisierung ist nur der Nährboden, anders sein: freundliche Nerds im Kapu- fluss auf Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft
beschleunigt werden alle Bereiche. Alles zenpulli, nur aufs Hacken konzentriert, und Politik lange gescheut. Doch das funk-
beeinflusst alles, wer kann da noch den selbst über den Urinalen hängen bei Face- tioniert nicht mehr. Nicht, wenn die Nach-
Überblick behalten? Niemand, sagen Psy- richt, der Papst unterstütze offiziell Do-
chologen, weil die Evolution den Men- nald Trump, fast eine Million Mal in weni-
schen über Zehntausende Jahre auf linea- Neue Arbeitswelt gen Tagen auf Facebook geteilt wird. Eine
ren, langsamen Fortschritt eingestellt hat. Anteil von Tätigkeiten … und ihre Lüge, wie so vieles, was sich in diesen
Es scheint, als komme die Menschheit an der gesamten Automatisierungs- Tagen ausbreitet über Facebook, Twitter,
bei ihrem eigenen Tempo nicht mehr mit, Arbeitszeit der USA … wahrscheinlichkeit Google, Reddit. „Fake News töten unseren
wenn nur Jahre oder Monate bleiben, um Quelle: McKinsey Geist“, sagt Apple-Chef Tim Cook. Was
sich Umbrüchen und Verwerfungen anzu- für ein Satz!
passen. Abgehängt wird auch die Politik: Und nun?
teils unwillens, teils unfähig, den Wandel Körperliche Arbeit/ „Es sind schwere Zeiten für unser Land,
zu gestalten und zu legitimieren. Führen von Maschinen die Welt ist unruhig“, sagt Sheryl Sand-
Das ist dramatisch, denn grundlegender in Standardsituationen 18% 81% berg, Facebooks Nummer zwei und die
können die Fragen nicht sein, die gestellt politische Vordenkerin. Sie ist smart, sie
werden: Was ist wahr? Wie kommunizie- denkt strategisch. Heute trägt sie Jeans und
ren wir? Wie arbeiten wir? Wie lange le- graue Lackstiefeletten, sie schaut einem
ben wir, und wie tief dürfen wir in unsere Daten- tief in die Augen und hat keine Hemmun-
eigene Biologie eingreifen? Was für Ge- verarbeitung 16% 69% gen, Besucher zu umarmen. „Wir müssen
schöpfe sind wir? Können wir Maschinen weiter tun, worin wir gut sind: mensch-
nach unserem Ebenbild bauen? liche Verbindungen schaffen“, sagt Sand-
Wer Antworten sucht, muss dorthin berg. „Deswegen stehe ich jeden Tag auf.“
schauen, wo sie dem Rest der Welt längst Das klingt so engagiert und emphatisch,
um drei Schritte enteilt sind: in die Kon- Datenerhebung 17% 64% so überzeugend und richtig. Genauso wie
zernzentralen und Forschungslabore im Körperliche Arbeit/ das neue „Mission-Statement“ des Kon-
Silicon Valley. Führen von Maschinen zerns, Zuckerberg hat es vor einigen Wo-
in unvorhersehbaren chen verfasst, 5740 Wörter lang: „Das
Situationen 12% 26% Wichtigste, was wir in diesen Zeiten bei
I. Facebook Facebook tun können, ist, die soziale In-
Die Hoffnung: Die Menschheit vernetzt frastruktur zu entwickeln, die den Men-
sich und rückt enger zusammen. Eine schen die Macht gibt, eine globale Gemein-
Kommunikation
neue, offene Weltgemeinschaft entsteht. mit Projektbeteiligten 16% 20% schaft zu bauen, die für uns alle funktio-
Die Angst: Es ist nicht mehr klar, was niert.“
Fake ist und was Fakt. Echokammern Wie seltsam: Konzernmanager entwer-
spalten die Gemeinschaft, der Hass hat fen die Prinzipien, nach denen unsere Ge-
eine globale Plattform. Einbringen von sellschaft funktionieren soll.
Erfahrungen 14% 18% Aber ohne solch inhaltliche Leitlinien,
2015 hat Facebook seine neue Unterneh- ohne internen moralischen Kompass, lässt
menszentrale bezogen, das modernste Fir- Management 7% 9% sich die zentrale Frage nicht beantworten,
mengebäude der Welt soll es sein, nichts die Facebook, die das ganze Silicon Valley
weniger. Das ganze Dach ein enormes Bio- Arbeitsplätze mit hohem nun zu beantworten versucht: Wie kann
habitat, 15 Meter hohe Panoramafenster Automatisierungspotenzial, in Mio. man die guten Seiten der Technologie
mit dem Blick auf die blaue Bucht von San Ausgewählte Staaten maximieren? „Unser Job bei Facebook ist,
Francisco, in langen Hallen quetscht sich den Menschen zu helfen, den größten
Programmierer an Programmierer: Fabrik- positiven Einfluss zu haben und die Seiten
atmosphäre für die Massenproduktion von zu minimieren, wo Technologie und sozia-
Algorithmen. China le Medien zu Spaltung und Isolation bei-
Fast zwei Milliarden Nutzer hat Facebook, Indien 395,3 tragen“, sagt Zuckerberg.
dazu kommen noch WhatsApp und In- 235,1 Immerhin, da blitzen zwischen den Zei-
stagram, ebenfalls an der Milliardengrenze. len Zweifel auf. Zuckerbergs Zweifel.
Was für eine Medienmacht! Und es ist ganz 60,6 Nicht alles ist automatisch gut.
reale Macht, auch wenn sie das hier nie laut 20,5 35,4 35,6 Das Erfolgskonzept von Facebook ba-
aussprechen. „Facebook ist ein Technolo- siert darauf, seinen Nutzern nur zu zeigen,
gieunternehmen“, sagt Zuckerberg. Aber was sie interessiert. Die Algorithmen mes-
Russland Japan USA
Facebook ist längst mehr: das Fenster zur Deutsch- sen, was gelesen, geteilt, kommentiert
land
Welt für sehr viele Menschen, Nachrichten- wird. Je mehr, desto besser. Das Problem
quelle für fast die Hälfte der Amerikaner. 8,7 9,7 11,8 11,9 dabei: Je mehr die Nutzer mit den Inhalten
Natürlich weiß Zuckerberg das, aber die übereinstimmen, desto mehr engagieren
Tech-Elite hatte es sich in den vergangenen Spanien Frankreich Italien Großbritannien sie sich. Und je mehr sie sich engagieren,

DER SPIEGEL 14 / 2017 15


Titel

desto mehr bekommen sie ähnliche Inhalte


angezeigt.
So entstehen Echokammern und Filter-
blasen. Eine Welt ohne Widersprüche, in
der die eigene Meinung immer wieder be-
stätigt und amplifiziert wird, als einzig rich-
tige erscheint. Eine algorithmisch kuratier-
te Wirklichkeit, die Einfluss auf die politi-
sche Meinungsbildung hat.
Facebook zeichne nur die Wirklichkeit
ab, so wie man sich mit Freunden umgebe
und Medien konsumiere, die den eigenen
Ansichten nahestünden, sagt Adam Mos-
seri, Vice President News Feed, einer der
wichtigsten Manager des Konzerns, ver-
antwortlich für alles, was Facebook-Nutzer
zu sehen bekommen. Mosseris verglastes
Büro steht wie ein Aquarium zwischen
den langen Schreibtischreihen, vor der Tür
drängeln sich Ingenieure und warten da-
rauf, vorgelassen zu werden.
„Wir können den Nutzern nicht andere
Meinungen aufzwingen, wir können keine
politischen Diskussionen gewichten, und
es ist nicht unsere Rolle zu sagen: Dies sind
die wichtigen Informationen des Tages,
schau sie dir an“, meint Mosseri. Er sagt es
freundlich, fast sanft. In den vergangenen
Wochen hat Mosseri viele Debatten führen
müssen, „über das, was wir tun und lassen
sollten“, der Ton sei oft „feindselig“ gewe-
sen, aber er findet das „gesund“.
Mosseri sorgt sich um die Echokam-
mern – das macht er deutlich –, aber er
spricht auch immer wieder von Grenzen,
die es für Facebook nicht zu überschreiten
gelte, von Verzerrungen, die es zu vermei-
den gelte, von der Rolle Facebooks als neu-
traler Plattform, die nichts und niemanden
beeinflussen dürfe. Aber was ist, wenn so

CONTOUR BY GETTY IMAGES


viele die Plattform eben genau dazu nut-
zen: um zu verzerren, Grenzen zu über-
schreiten, zu beeinflussen? Wächst mit
dem Einfluss des Konzerns nicht auch die
moralische Verantwortung, der Druck, Po-
sitionen neu zu überdenken?
„Wir müssen schneller werden, klüger Facebook-Chef Zuckerberg: Nicht alles ist automatisch gut
und bessere Entscheidungen treffen“, sagt
Mosseri. Die vergangenen Monate haben
den Druck deutlich erhöht. Facebook habe Die großen Weltverbesserungspläne der die Gaskammer schicken will, kann er sei-
die Verantwortung, „Fake News möglichst Konzerne sind nicht lediglich hohle PR- ne Ansichten auf Facebook verbreiten?
auf null zu reduzieren“. Deswegen gebe Masche. Die allermeisten Programmierer Volksverhetzung und Onlinemobbing
es nun neue Instrumente, damit erfundene, und Ingenieure hier glauben an ihre Mis- seien schwer zu erkennen für Maschinen,
falsche Nachrichten sich nicht viral ver- sion, die Zivilisation voranzubringen. Face- sagt Mosseri. Und dazu spiele „Kontext“
breiten, aus dem News Feed herausgehal- book hat einen Vice President for Social eine große Rolle: Die Algorithmen verste-
ten werden und die Erfinder nicht mehr Good, eine Art Chef-Gutmenschen, und för- hen keine Ironie, erkennen nicht, was nur
daran verdienen können. dert Gruppen, die Behinderten, Selbstmord- Zitat ist. Facebook wolle kein Zensor sein,
Aber die Verantwortung ginge nicht so gefährdeten und Umweltschützern helfen. „wer hier Fehler macht, muss sie teuer be-
weit, selbst die Lügen herauszufiltern. Aber warum schaffen sie es dann nicht, zahlen“. Es ist eine unbefriedigende Ant-
„Wir können nicht für fast zwei Milliarden offensichtliche Lügen zu eliminieren? Was wort, Mosseri weiß das, „wir brauchen bes-
Menschen entscheiden, was wahr ist“, sagt ist das für ein Kleinmut auf einmal? Face- sere Instrumente“.
Mosseri. „Facebook darf nicht die einzige book marschiert voran in allen Ländern Doch das kann noch dauern, und darin
Quelle der Wahrheit sein, das ist eine heik- der Erde – aber wenn es um Wahrheit und liegt das Problem der Philosophie der Tech-
le Position.“ Die besser die Medien aus- Demokratie geht, dann wird es schwierig, Konzerne: Erfunden wird im Laufschritt,
füllen sollten. wird es kompliziert, sind die Hände ge- oft ohne zu wissen, wo genau es hingeht.
Auch wenn es manchmal so klingt: Zy- bunden? Nackte Brüste werden heraus- Das macht die Prozesse schnell und geht
niker sind sie hier im Silicon Valley nicht. gefiltert, aber wenn jemand Flüchtlinge in gut, solange sich Fehler einfach ausbügeln
16 DER SPIEGEL 14 / 2017
Airbnb bietet weltweit drei Millionen
Übernachtungsmöglichkeiten in Privat-
wohnungen an. Für Reisende ist das oft
billiger und spannender als Hotels, für Ver-
mieter eine zusätzliche Einnahmequelle.
Fast zwei Millionen Menschen weltweit
nutzten Airbnb allein in der vergangenen
Silvesternacht.
Viele sehen jedoch ein anderes Airbnb:
einen Tourismusriesen, der Stadtteile ver-
ändert, weil viele Wohnungen nur noch
tageweise vermietet werden. Der dazu bei-
trägt, dass Wohnraum gerade in den be-
reits überlaufenen Metropolen wie New
York und Berlin weiter verknappt wird,
dass Mieten steigen und die Gentrifizie-
rung zunimmt.
Die einen jubeln über den Wandel, den
Airbnb gebracht hat: Das Leben sei besser
geworden. Und die anderen protestieren
gegen den Wandel, den Airbnb bringt: Das
Leben sei schlechter geworden.
Aber kann es nicht auch ohne Verlierer
gehen? „Wir diskutieren jeden Tag, wie
man das machen kann“, sagt Lehane. Etwa
über Steuern, die Airbnb zahlt, neue Fi-
nanzmittel für die Städte. Lokale Airbnb-
Teams in Dutzenden Städten verhandeln
mit Stadtverwaltungen, Lobbys, Gegnern,
einer „flächendeckenden Organisation wie
für einen US-Präsidentschaftswahlkampf,
nur auf globaler Ebene“.
Lehane war sechs Jahre lang Berater
von Bill Clinton, anschließend Pressespre-
cher von Al Gore, er ist Teil eines an-
schwellenden Trecks von Washington nach
San Francisco: Amazon hat den ehema-
ligen Pressesprecher von Barack Obama
abgeworben, Uber seinen ehemaligen
Wahlkampfchef und Apple die ehemalige
BRAD WENNER / DER SPIEGEL

Leiterin der amerikanischen Umweltbehör-


de. Die Tech-Konzerne stellen sich darauf
ein, den Kampf um den Fortschritt in der
politischen Arena auszutragen. Um trotz
Opposition zu wachsen.
Das ist in den vergangenen zwölf Mo-
Facebook-Zentrale in Menlo Park, Kalifornien: Mission, die Zivilisation voranzubringen naten erheblich schwerer geworden,
„durch die massiven sozioökonomischen
Umwälzungen“, weil „sich Technologie
lassen. Und über allem liegt ein Furnier Das Unternehmensmotto von Airbnb, der schneller entwickelt, als wir es je erlebt
aus Arroganz: alles besser wissen zu wol- Onlineplattform für Übernachtungen, ist: haben, viel schneller als Regierungen und
len und sich von niemandem etwas sagen „Belong anywhere“. Als Trump den Ein- Gesellschaft es verdauen können“, sagt Le-
zu lassen. Doch Tempo und Arroganz er- reisebann für Bürger aus sieben überwie- hane. Nun sei es an der Zeit für das Silicon
geben eine explosive Kombination, wenn gend muslimischen Ländern verkündete, Valley, „gesellschaftliche Verantwortung
die Einsätze höher werden, wenn es darum versprach Airbnb kostenlose Übernach- zu übernehmen“. Wirklich „zu durchden-
geht, Antworten auf gesellschaftliche Kri- tungsmöglichkeiten für vom Einreisestopp ken, was die Konsequenzen von Techno-
sen zu finden. Betroffene und schaltete einen Pro-Ein- logie sind“. Zu diskutieren, „was für die
wanderungs-Spot beim Super Bowl, halb Gesellschaft am besten ist“.
II. Airbnb Amerika schaute zu.
„Es war ein Reflex, ein nackter Moment,
Und wenn nicht? „Dann werden die
Konsumenten mit den Füßen abstimmen.“
Die Hoffnung: Alle profitieren von neuen wenn die Welt einen unverstellten Blick Airbnb ist 30 Milliarden Dollar wert, in
Technologien. Das Leben wird billiger, bekommt, wer du wirklich bist“, sagt Chris spätestens zehn Jahren sollen es 100 Mil-
abwechslungsreicher, gemeinschaftlicher. Lehane, Politikchef von Airbnb. Zumin- liarden sein. Das wird nur klappen, wenn
Die Angst: Neue Technologien produzie- dest, wer sie sein wollen: die Guten in ei- man sich nicht zu viele Feinde schafft.
ren viele Verlierer. Das Leben wird ner oft schlechten Welt. Lehane sagt deswegen solche Sätze:
teurer und schwieriger. Neue Konflikte Die Offensivtaktik ist jedoch nicht „Wir brauchen Regulierung.“ Neue Geset-
entstehen. selbstlos. ze für neue Dinge. Aber die Vordenker

DER SPIEGEL 14 / 2017 17


des Silicon Valley liefen inzwi- fel“, sagt Frank Chen. In den
schen so weit vorneweg, Tech- Neunzigerjahren forschte
nologie rase so schnell voran, Chen für IBM an lernender
„dass es für die Politik oft Software, nun ist er Partner
schwer ist, diese Prozesse zu bei Andreessen Horowitz, der
verstehen“. Also muss nach einflussreichsten Wagniskapi-
dieser Logik selbst Verantwor- talfirma der Welt. Wo An-
tung übernehmen, wer den dreessen Horowitz seine Mil-
Fortschritt vorantreibt. „Diese liarden verteilt, marschiert die
Gespräche haben begonnen“, Welt hin, 4000 Unternehmen
sagt Lehane. aus allen Branchen suchen
Warum nicht stattdessen hier jedes Jahr Rat.
das Tempo drosseln, bis Ge- Frank Chen sieht die neue
sellschaft und Politik wieder Welt so: „Lastwagenfahrer ist
verstehen, was passiert? „So einer der am weitesten ver-
funktioniert die Welt nicht“, breiteten Jobs, und vielleicht
sagt Lehane. „Die Evolution schon in 5 Jahren, spätestens
lässt sich nicht stoppen, es aber in 15 Jahren wird es die-
wird immer weiter vorwärts- sen Job nicht mehr geben.“
gehen, Neues entdeckt, erfun- Weil der Roboter am Steuer
den werden.“ sicherer und ökonomischer ist.
Das selbstfahrende Auto ist
III. Künstliche Intelligenz das stärkste Symbol dafür, wie
schnell heute Realität wird,
Die Hoffnung: Maschinen was gerade noch Science-
unterstützen den Menschen Fiction schien. Es ist das beste
in allen Bereichen. Das Le- Symbol für die enormen Vor-
ben wird leichter und besser teile des Fortschritts: weniger
für alle. Der Mensch muss Verkehrstote, mehr Freiheit
weniger arbeiten. und Komfort im Leben. Und
Die Angst: Maschinen be- für seine Unwägbarkeiten:
drohen den Menschen in „Der menschliche Bediener
allen Bereichen. Das Leben verschwindet aus allem, was

PONIZAK / CARO
wird besser für wenige. sich bewegt“, sagt Frank
Viele Menschen finden keine Chen. Hoffnung? Horrorsze-
Arbeit mehr. nario?
Airbnb-Politikchef Lehane „Künstliche Intelligenz ist
Tatsächlich ist von Verlangsa- Massive sozioökonomische Umwälzungen ein Werkzeug wie jede Tech-
mung keine Spur, im Gegen- nologie, es kommt darauf an,
teil, längst wird mit allen Kräf- wie der Mensch sie verwen-
ten an noch größerer Beschleunigung ge- hat, zeigt man ihr Beispiele, trainiert sie, det“, sagt Yann LeCun, KI-Chef von Face-
arbeitet, und das Werkzeug dazu ist die und sie lernt daraus. book, ein fröhlicher Mann in blauem Polo-
künstliche Intelligenz. Das klingt kompliziert, aber Deep Lear- hemd und mit dicker Brille. „Und derzeit
„Wir sind vor allem anderen ein Künst- ning ist relativ simpel anzuwenden, die ist KI ein Hammer für viele Nägel.“ LeCun
liches-Intelligenz-Unternehmen“, sagt Handwerkszeuge kann sich jeder Informa- ist eine Koryphäe, er studierte in Paris und
Google-Chef Sundar Pichai. „Künstliche tikstudent aus dem Internet herunterladen. lehrt in New York, seit 2013 forscht er für
Intelligenz ist der Kern von allem, was wir Der KI-Boom ist kaum mehr als drei Facebook.
tun“, sagt Microsoft-Chef Satya Nadella. Jahre alt, und doch lesen sich die Nach- „Ohne künstliche Intelligenz würde
Popkultur und Hollywood haben den richten der vergangenen Monate so: Eine Facebook heute nicht funktionieren“, sagt
Begriff in den vergangenen Jahren stark Maschine wurde mit Chorälen von Johann LeCun. Algorithmen lernen die Vorlieben
verwaschen, Maschinen mit Bewusstsein Sebastian Bach trainiert und hat daraus der Nutzer, bald sollen sie flüssige Unter-
und Terminator-Armeen sind weit entfernt, gelernt, Barockmusik im selben Stil zu haltungen mit dem Computer möglich ma-
wahrscheinlich unerreichbar. Worum es komponieren. Eine Software lernt, Lippen chen. Anwendungen sind allerdings zweit-
geht, ist dies: Maschinen, die lernen und zu lesen, und erkennt 93,4 Prozent aller rangig, LeCun forscht vor allem an Grund-
ableiten, die Entscheidungen treffen, die Wörter richtig, menschliche Lippenleser lagen: dass Maschinen lernen, die Welt zu
nicht explizit vorgegeben sind. Die nicht kommen höchstens auf gut 50 Prozent. beobachten, zu verstehen und daraus
wie ein Mensch kreativ denken und han- IBM trainiert eine Maschine, aufgrund der schließen zu können, was die Konsequenz
deln, aber immerhin Auto fahren können. Patientenakte wahrscheinliche Diagnosen einer Handlung ist. So wie Babys irgend-
Lange galt künstliche Intelligenz als to- zu treffen. Und auch dies: Chinesische Wis- wann lernen, dass Objekte zu Boden fallen,
tes Feld, aber nun sind die Sprünge riesig, senschaftler präsentierten ein neuronales wenn man sie loslässt.
vor allem dank einer speziellen Methodik: Netz, das angeblich Kriminelle allein an LeCun spricht viel von Babys, sie sind
Deep Learning. Dabei wird mit künst- ihrem Gesicht erkennen soll. Der Mensch ein gutes Vorbild, wie sich menschliche
lichen neuronalen Netzen das menschliche wird von einer Maschine nach Phänotyp Intelligenz entwickelt und immer besser
Gehirn simuliert. Es ist eine fundamental sozial klassifiziert. Also doch düstere darin wird, eine Situation zu analysieren
andere Art, Computer zu programmieren, Hollywoodvisionen? und daraus abzuleiten, was in der Zukunft
ein Wahrscheinlichkeitsmodell. Statt der „Künstliche Intelligenz wird in jeder An- passiert. „Das ist die Essenz der Intelli-
Maschine genau zu sagen, was sie zu tun wendung sein, daran gibt es keinen Zwei- genz“, sagt LeCun. Seine Forschung zielt

18 DER SPIEGEL 14 / 2017


Titel

am Ende darauf, das Gehirn und 80 000 gute, hoch bezahl-


nachzubauen. te Jobs von Facharbeitern
Wann Maschinen men- verloren gegangen, schätzen
schenähnliche Intelligenz er- Energieexperten, obwohl die
reichen werden, ist umstritten, Geschäfte wieder laufen. Vie-
vielleicht in 20 Jahren, viel- le Ölförderanlagen werden
leicht in 100, die meisten For- nun extern bedient, von weit
scher aber halten es prinzipiell entfernten Steuerungszentra-
für möglich. len voller Monitore.
Erreichen sie diesen Punkt Welch Ironie: Trump be-
erst einmal, könnten sie sich kämpft den Freihandel und
selbst verbessern und zu einer die Globalisierung, aber es
neuen Superintelligenz heran- sind nicht die Chinesen, die
wachsen, so argumentiert der seinen Wählern den Job weg-
Oxford-Philosoph Nick Bo- nehmen, sondern Technolo-
strom. Viele Experten stim- gie, made in America.
men ihm zu. Das klingt ver- Der Fortschritt wird ganze
rückt? Mag sein, doch Google Berufsbilder vernichten, das
veröffentlichte im Januar die- bezweifelt kein Experte mehr,
se Nachricht: Die Konzernfor- aber sie werden durch neue er-
scher haben eine KI-Software setzt werden. Das war bislang
entwickelt, die selbstständig immer so, und wahrscheinlich
neue, bessere KI-Software wird es auch dieses Mal am
programmiert. Ein digitales Ende so sein. Der Programmie-
Perpetuum mobile. rer ist der Facharbeiter der Zu-
Die großen Digitalkonzerne kunft, Ersatz für all die Mecha-
gründeten einen Ethikrat, der niker, Autobauer, Lkw-Fahrer.

ERIC MILLETTE / CONTOUR / GETTY IMAGES


sicherstellen soll, dass KI nicht Die Frage ist nur: Wann ist am
missbraucht wird. So etwa: Es Ende? In 10 Jahren? In 20?
gibt Start-ups, die Maschinen Bis es so weit ist, kann es
darauf trainieren, Terroristen holprig werden, sagt Andrew
aufgrund von Hautfarbe und McAfee, Ökonom am Massa-
anderen körperlichen Merk- chusetts Institute of Technolo-
malen zu erkennen. „Eine gy (MIT), er erforscht seit Jah-
schlimme Idee“, sagt LeCun. ren die Auswirkungen von
Ganz zu schweigen von intel- Technologie auf Wirtschaft
ligenten Waffensystemen. Palantir-Mitgründer Karp und Gesellschaft. Strukturelle
Die führenden KI-Vorden- Maschinen lernen, die Welt zu verstehen Arbeitslosigkeit sei in den
ker sind nun bemüht, der westlichen Industrienationen
Technologie einen humanisti- für einige Zeit wahrscheinlich.
schen Rahmen zu geben. Auf einer Konfe- Die Story der Optimisten im Silicon Val- Eine gesunde Gesellschaft kann einige
renz verabschiedeten sie 23 Prinzipien, die ley geht so: Die Maschine ergänzt den schwere Jahre des Wandels verkraften,
sicherstellen sollen, dass die Technologie Menschen mehr, als sie ihn ersetzt. Bislang denn es wird viele Gewinner geben, der
stets zum Nutzen der gesamten Mensch- ist die Automatisierung ja stets gut aus- Lebensstandard steigt, für die meisten.
heit eingesetzt wird. gegangen. Der Geldautomat hat die Bank- Aber eine ungesunde, verunsicherte Ge-
Das wird schwer, denn kluge Maschinen angestellten nicht überflüssig gemacht, im sellschaft? Wie lange lässt sich der Fort-
sind in vielen Routinejobs schon jetzt bes- Gegenteil, es wurde billiger für die Banken, schrittsoptimismus durchhalten, wenn der
ser als der Mensch. Erst wurden Kassierer mehr Filialen zu eröffnen und damit auch Druck jeden Tag zunimmt, von den Ver-
und Sachbearbeiter ersetzt, dann Steuer- mehr Personal einzustellen. lierern von heute, bevor es die Gewinner
berater und Banker. Banker? Goldman Viele Studien zeichnen ein ähnliches von morgen gibt? Weniger Jobs bedeutet
Sachs hatte bis vor Kurzem noch 600 Ak- Bild. Die Beratungsfirma McKinsey etwa Lohndruck nach unten, wachsende Un-
tienhändler auf dem Börsenparkett, nun schätzt, dass in den nächsten 40 Jahren gleichheit, eine dezimierte Facharbeiter-
sind es 2. Algorithmen machen die Arbeit eine Mehrheit der Arbeitsabläufe automa- schaft. Eine höllisch gefährliche Dynamik.
der anderen 598. Eine halbe Million Mit- tisiert wird. Dass aber bis dahin nur fünf Geert Wilders, der niederländische
arbeiter drohe in den kommenden Jahren Prozent aller Jobs komplett von Maschi- Rechtspopulist, hat die Automatisierungs-
allein in der britischen Finanzindustrie nen übernommen werden. Dass der angst längst als Waffe entdeckt und sam-
durch Software ersetzt zu werden, schätzt Mensch also eine Maschine nur zur Seite melt damit Wählerstimmen. Etwa bei den
die Beratungsfirma Deloitte. gestellt bekommt und noch gebraucht wird, Hafenarbeitern in Rotterdam, wo die Con-
Die Beispiele sind endlos. Frank Chen meistens jedenfalls. tainer schon lange von Robotern verladen
zitierte öffentlich den KI-Forscher Geof- Aber es kann auch so laufen: Unterneh- werden. „Hafenarbeiter wählen Wilders
frey Hinton: „Wir sollten umgehend auf- men setzen Maschinen ein, wo immer sie nicht, weil sie rassistisch, sondern weil sie
hören, Radiologen auszubilden.“ Weil Ma- können, und davon profitieren immer we- wütend sind“, sagt der Chef der Hafen-
schinen Röntgenbilder besser analysieren niger Gutverdiener und Aktionäre, die ei- arbeitergewerkschaft. Die Zahl der Ar-
können. Chen wird attackiert für solche nem wachsenden Heer von Unterbeschäf- beitsplätze im Hafen hat sich in den ver-
Sätze, es schreckt ihn nicht: „Es sind pola- tigten und Arbeitslosen gegenüberstehen. gangenen zehn Jahren nicht verringert.
risierende Zeiten, aber der enorme Nutzen In der amerikanischen Öl- und Gas- Aber die Angst reicht, um die Stimmung
der Technologie ist unbestreitbar.“ industrie sind seit 2014 zwischen 50 000 zu treiben.
DER SPIEGEL 14 / 2017 19
Titel

IV. Medizin
Die Hoffnung: Eine digitale, datenbasier-
te Computermedizin entsteht. Vielleicht
kann der Mensch dank neuer Therapien
bald Jahrzehnte länger leben.
Die Angst: Die Gentechnik macht gren-
zenlose Eingriffe in das Erbgut des Men-
schen möglich. Krebs wird heilbar, aber
nur für eine Elite. Gesundheit wird zum
Symbol der Ungleichheit.

Der Mensch müsse zum Cyborg werden,


die Fähigkeit entwickeln, direkt mit Ma-
schinen zu kommunizieren, um nicht von
künstlicher Intelligenz obsolet gemacht zu
werden. Das sagt kein irrer Verschwörungs-
theoretiker, sondern Elon Musk, Chef von
Tesla und SpaceX, ein Tech-Visionär, aber
einer, dessen Visionen sich oft erfüllen.
Musks jüngste Firma soll neuronale Chips
herstellen. Eingepflanzt ins menschliche
Gehirn, sollen sie Menschen ermöglichen,
Maschinen per Gedanken zu steuern.
Musks Ansichten mögen extrem sein,
aber es besteht kein Zweifel daran, dass
digitale Technologie das Verständnis der
menschlichen Biologie bereits grundlegend
verändert. Viele Forscher sind überzeugt,
am Beginn einer medizinischen Revolution
zu stehen. Wirksame Therapien gegen Alz-
heimer scheinen in greifbare Nähe zu rü-
cken. Gene können manipuliert werden.
Software erkennt Krebszellen und erfindet
neue Moleküle für neue Medikamente. Ro-
boter operieren automatisch und präzise.
Die Gentherapie, lange abgetan als zu
ungenau, zu kompliziert, wird durch Com- Teilnehmer einer Apple-Konferenz in San Francisco: Der Mensch soll zum Cyborg werden und direkt
puter präzise und einfacher, lässt taube
Mäuse wieder hören und könnte Krank-
heiten wie die Sichelzellenanämie heilen. con Valley, um große Datenmengen zu rogant, aber interessant“, fand das Merck-
KI-Systeme erkennen Autismus in Gehirn- analysieren, vor allem für amerikanische Chef Stefan Oschmann, Karp und er trafen
Scans von Babys, Ärzte diagnostizieren Geheimdienste. Palantir, heißt es, hatte sich am Flughafen in München. Sie moch-
ihn meist erst Jahre später. Anteil daran, dass Osama Bin Laden auf- ten sich, ein seltsames Paar, bei ihrem „ers-
Die Technologiekonzerne haben die di- gespürt werden konnte. ten Date“: Oschmann, der promovierte
gitalisierte Medizin als neues Milliarden- Die Firma hat ihren Sitz nur wenige Tiermediziner im Nadelstreifenanzug mit
geschäft identifiziert. Google arbeitet an Hundert Meter von der Stanford Universi- Einstecktuch, und Karp, der promovierte
futuristischen Therapien. Microsoft baut ty entfernt, ein hässlicher Zweckbau, der Philosoph in Jeans und T-Shirt.
eine Abteilung für Krebsforschung auf. Eingang ohne Firmenschild, nur Sicher- „Wir stehen am Beginn einer grund-
So kann die neue Präzisionsmedizin heitsschleusen und eine amerikanische legenden Revolution, nie zuvor in der Ge-
schon heute aussehen: Mediziner am Dana- Flagge am Empfang. „Wir wollen die De- schichte der Medizin ist so viel passiert“,
Farber Krebsinstitut in Boston entnahmen mokratie effizienter machen, den Terroris- sagt Oschmann und malt eine steile Kurve
Leukämiepatienten Krebszellen und kom- mus zu bekämpfen war das erste Ziel, nun auf eine große Tafel in einem engen, kal-
binierten sie mit tumorbekämpfenden Im- suchen wir nach neuen“, sagt Alexander ten Konferenzraum im Palantir-Hauptquar-
munzellen, um daraus individuelle Impf- Karp, der Mitgründer von Palantir, hager tier: Sie zeigt die Zahl der überlebenden
stoffe zu erstellen. 12 von 17 Patienten mit und scheu, die schwarzen Locken gehen Krebspatienten über die Zeit. Je mehr Zeit
einem Durchschnittsalter von 63 Jahren langsam in Grau über. vergeht, desto mehr senkt sich die Kurve
konnte durch die personalisierte Impfung Karp hat seine „prägenden Jahre“ in zu Boden. So war es in der Vergangenheit
geholfen werden. Frankfurt verbracht, um über „Aggression mit der Chemotherapie, am Ende starben
Immunonkologie nennt sich dieses Feld, in der Lebenswelt“ zu promovieren, er die meisten Krebspatienten.
Start-ups und Pharmakonzerne rangeln spricht fließend Deutsch, nennt sich „einen Die Immunonkologie ändert das nun,
um die Vorherrschaft, investieren Milliar- einstigen Neo-Marxisten“, halb ironisch. die Kurve flacht ab, lange bevor sie den
den und suchen neue Kooperationen. Sol- Palantir ist Milliarden Dollar wert und Boden erreicht, denn viele Patienten wer-
che etwa: Der deutsche Traditionskonzern sucht sich seine Kunden selbst aus: „Wir den geheilt. Die Frage ist nun, wie es noch
Merck, gegründet 1668 als Apotheke in wollen das menschliche Befinden verbes- mehr werden können, aber es ist eine kom-
Darmstadt, arbeitet neuerdings eng zusam- sern und arbeiten nur mit Institutionen, plizierte Frage. Die Antwort liegt tief ver-
men mit Palantir, gegründet 2004 im Sili- die das gleiche Ziel haben“, sagt Karp. „Ar- steckt in den Daten, und finden soll sie

20 DER SPIEGEL 14 / 2017


lichen Technik schufen sie Kühe ohne enorm wie die Industrialisierung. Und man
Hörner. wundert sich, dass sich die Politik dennoch
Wie leicht ließe sich ein menschlicher schwertut, über die nächste Legislatur-
Embryo so genetisch verändern? Sehr periode hinauszudenken. Oder dass sie die
leicht, sagen Experten wie Jennifer Doud- Antwort auf den rasenden Wandel in der
na, Biochemikerin an der University of Flucht in ein neues Biedermeier zu sehen
California in Berkeley und Miterfinderin scheint.
der Technologie. „Jeder Wissenschaftler „Wir fordern die Gesetzgeber auf, sich
mit Ahnung von Molekularbiologie kann jetzt mit der Zukunft zu beschäftigen“,
das“, sagt Doudna. Chinesische Forscher sagt Frank Chen, der KI-Experte. Aber es
experimentieren bereits mit Crispr an überwiegt das Gefühl, dass nichts passie-
menschlichen Embryonen. ren wird oder das Falsche, und deswegen
Die Chancen – und die Gefahren – sind beginnen die kalifornischen Fortschritts-
groß. Crispr würde die Menschheit für im- vordenker nun selbst an politischen Instru-
mer umformen. Denn verändern Forscher menten zu basteln: Sie bringen groß ange-
das Erbgut menschlicher Embryonen, be- legte Feldversuche auf den Weg, wie ein
trifft diese Veränderung auch die Keim- universelles Grundeinkommen funktionie-
bahn: Das manipulierte Genom wird über ren könnte. Sie entwerfen Konzepte für
Ei- und Samenzellen weitergegeben. Neue ein neues Bildungssystem, in dem sich Ar-
Generationen könnten damit länger leben, beitnehmer immer wieder für neue Berufe
produktiver, klüger sein. Und überwie- ausbilden lassen, um mit den Maschinen
gend blond. mitzuhalten.
Was für eine verhängnisvolle Entwick-
V. Die Zukunft lung: wenn die Zukunft allein von Unter-
nehmern geformt wird, von einer kleinen
Es ist seltsam: Das revolutionäre Potenzial Elite, die versessen darauf ist, ihren Fuß-
all dieser neuen Technologien liegt so un- abdruck auf der Welt zu hinterlassen.
verkennbar in der Luft, könnte so elektri- Nicht einzelne Milliardäre, sondern Par-
sierend sein, aber ausgerechnet jetzt ent- lamente müssen entscheiden, wie wir le-
GABRIELLE LURIE / AFP / GETTY IMAGES

wickelt die Politik keine Visionen mehr, ben. Doch dazu muss die Politik zunächst
wo es hingehen soll. anerkennen, dass Wandel, Fortschritt,
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- Technologisierung die Spielregeln verän-
derts war der Mond das Ziel, ein vereinig- dern und den Einsatz erhöhen. Dass es
tes Europa, die 35-Stunden-Woche. Längst sich keine Gesellschaft mehr leisten kann,
nicht alles war gut, nicht alles funktionier- die Zukunft zu ignorieren, weil in 5 Jahren
te, aber immerhin: Es ging um mehr, als mehr passieren wird als in den vergange-
den Status quo einzufrieren. Bislang stol- nen 20 Jahren.
mit den Maschinen kommunizieren pert die Menschheit weitgehend ziellos Politische Antworten müssen schneller
durch das 21. Jahrhundert. gefunden werden, aber es dürfen keine
Und so haben es AfD und Trump und reflexhaften, kleinteiligen sein, wie etwa
Palantir, so wie das Unternehmen auch Le Pen leicht mit ihrem rückwärtsgewand- eine europäische Suchmaschine zu fordern,
gut versteckte Terroristen findet. Das ist ten, düsteren Blick: Alles ist schlecht, über- um den Einfluss der US-Konzerne zu kon-
das Dilemma dieser Zeit: Mit derselben all sind Verlierer, dreht die Uhren zurück. tern. Das lässt sich zu leicht als Ablenkung
Technologie lässt sich spionieren oder die Warum gelingt es nicht, dem ein leuch- durchschauen, um die eigentliche Frage zu
Krebstherapie revolutionieren. tendes Bild entgegenzusetzen, nach vorn vermeiden: wie sich Werte anpassen müs-
Was könnte ein besseres Beispiel sein zu schauen? Die Populisten zu entwaffnen, sen an eine Welt, in der Informationen
für die Kraft des Fortschritts als eine radi- mit einem klaren Entwurf, die Zukunft zu überall und Daten alles sind.
kal bessere Medizin? Ein besserer Beweis, gestalten, die Umbrüche zu meistern? Die Ohne den Staat wird es nicht gehen, das
dass wir nur schneller rennen müssen, um Instrumente sind da, um produktiver und ahnen inzwischen auch die größten Tech-
die in diesen Tagen gärenden Konflikte weniger zu arbeiten, ein besseres und ein Optimisten. Es müssen politische Instru-
hinter uns zu lassen? längeres Leben zu schaffen. mente her, um den Wandel zu gestalten,
Andererseits: Die digitale Datenmedizin Stattdessen bleibt es Elon Musk über- denn zu stoppen ist er nicht. Vielleicht so:
verändert auch die Gesundheitssysteme. lassen, die Menschheit zum Mars schicken Unternehmen, die Menschen durch Ma-
Und was hat größere soziale Sprengkraft zu wollen. Es ist Mark Zuckerberg, der schinen ersetzten, zahlen eine Roboter-
als ungleiche medizinische Versorgung? solche Sätze sagt: „Wir müssen die Infra- steuer, damit die Verwerfungen nicht in
Vielleicht kann der Mensch dank all der struktur bauen, damit die Zivilisation die einer einzigen großen Welle kommen.
neuen Therapien bald Jahrzehnte länger nächste Stufe erreicht und wir die Stam- Die Idee stammt von Bill Gates, und der
leben, aber nur Millionäre können sich das mesfehden der Gegenwart hinter uns las- will den Fortschritt nicht bekämpfen, son-
leisten. sen können.“ Hartnäckig halten sich im dern ihn langfristig sichern. Er sagt: „Wenn
Als größte medizinische Entdeckung Silicon Valley Gerüchte, Zuckerberg plane die Menschen Angst vor dem Fortschritt
des Jahrhunderts wird das neue gentech- eine Präsidentschaftskandidatur für 2024, haben, statt sich zu freuen, dann bekom-
nische Werkzeug mit dem Kürzel Crispr aber warum sollte er das tun? Facebook men wir ein richtiges Problem.“
gefeiert, entdeckt vor gerade vier Jahren, zu leiten ist bereits eine politische Kar-
aber so simpel und billig, dass seine Ein- riere, eine längere, stärker globale als Video:
satzmöglichkeiten schon jetzt fantastisch jedes Amt. Mark Zuckerberg im Profil
erscheinen: Bei Hunden verdoppelten For- Im Silicon Valley zweifelt niemand da- spiegel.de/sp142017zuckerberg
scher die Muskelmasse. Mit einer ähn- ran: Eine Zeitenwende hat begonnen, so oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 14 / 2017 21


Homosexuelle

„Beschämend für Deutschland“


Hape Kerkeling kritisiert die Union: Die Einführung der „Ehe für alle“ sei überfällig.
Der Schauspieler und Buchautor Hape Kerke- „Also, Frau Merkel, ran an die Buletten“, so
ling, der erst kürzlich als Delegierter der CDU Kerkeling. „Das schaffen Sie!“ Auch in der
den Bundespräsidenten mitgewählt hat, kriti- CDU mehren sich die Stimmen für einen Kurs-
siert die Partei, weil sie eine Gleichbehandlung wechsel: „Es ist doch zu begrüßen und auch
homo- und heterosexueller Paare ablehnt. „Es wünschenswert, dass Menschen sich binden

URBAN ZINTEL / DER SPIEGEL


ist überfällig, dass die ,Ehe für alle‘ endlich ein- und füreinander einstehen wollen“, sagt Na-
geführt wird“, sagt Kerkeling, dessen Hochzeit dine Schön, Vizechefin der Unionsfraktion und
mit seinem Lebenspartner jüngst bekannt wur- zuständig für Familienpolitik. „Der Staat sollte
de. „Ich finde es beschämend für Deutschland, dies unterstützen.“ Jens Spahn, Parlamentari-
dass das nicht schon längst geschehen ist.“ Eine scher Staatssekretär beim Finanzministerium,
Demokratie müsse sich immer daran messen hatte jüngst den Wunsch geäußert, mit seinem
lassen, wie sie mit ihren Minderheiten umgehe. Kerkeling Partner Kinder zu adoptieren. ama

FRANK-WALTER
STEINMEIER

ANGELA
MERKEL
WOLFGANG
SCHÄUBLE MARTIN
SCHULZ URSULA
VON DER THOMAS SIGMAR
LEYEN DE MAIZIÈRE GABRIEL
HANNELORE CEM HORST
KRAFT ÖZDEMIR SEEHOFER WINFRIED
KRETSCH-
MANN
76
OLAF HEIKO
SCHOLZ MAAS

65 65

55
53
51 50
+9
48 47 47
Kantar Public nannte die Namen von Politikern.
+4 43
BELIEBTHEIT Anteil der Befragten, 37 37
die angaben, dass der genannte Politiker
künftig „eine wichtige Rolle“ spielen solle
+4
Veränderungen zur vorigen Umfrage
im Dezember, in Prozentpunkten
im Dezember nicht auf der Liste
Angaben in Prozent; Veränderungen von bis zu drei Prozentpunkten
liegen im Zufallsbereich, sie werden deshalb nicht ausgewiesen.
Kantar Public für den SPIEGEL vom 27. bis 29. März;
1019 Befragte ab 18 Jahren „Dieser Politiker ist mir unbekannt.“

4 10 9 4 15 14 26 29 24

22 DER SPIEGEL 14 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Sekten erfolgt, da die „Zwölf Stäm- Attentat nach trieb sich Amri immer
Mehr Prügelfreiheit me“ in Tschechien ihren Amri suchte lange wieder am Friedrich-Krause-

Bayerische Behörden können


Glauben ausleben könnten.
In Tschechien ist die körperli- nach Lastwagen Ufer herum. Die Beamten
nehmen an, dass Amri schon
nicht mehr das Kindeswohl che Züchtigung von Kindern Der Berliner Attentäter Anis Wochen vor der Tat überlegt
innerhalb der Glaubensge- nicht gänzlich verboten, auch Amri hat seine Tat offenbar hatte, wie er einen der vielen
meinschaft „Zwölf Stämme“ Hausunterricht ist dort mög- über mehrere Wochen vorbe- dort abgestellten Lkw kapern
schützen. Die Sekte hat zum lich. „Wir haben die tsche- reitet. Nach Erkenntnissen könnte. Sein Mitbewohner
Jahreswechsel ihren Sitz vom chischen Behörden verstän- der Ermittler hielt sich Amri sagte dem SPIEGEL, Amri
Landkreis Donau-Ries end- digt, aber die müssten erst bereits seit Ende November habe sich bestens mit Last-
gültig nach Tschechien ver- einmal Beweise für Körper- fast täglich in der Straße auf, wagen ausgekannt. jdl, kno
legt. 2013 waren Misshand- verletzung finden“, sagt der in der er am 19. Dezember
lungen von Kindern im Gut Donau-Rieser Jugendamts- einen Fahrer erschoss und
Klosterzimmern, dem ehema- leiter Alfred Kanth. „Selbst dessen Lastwagen raubte.
ligen Hauptsitz, bekannt ge- wenn die Behörden ein- Mit dem Fahrzeug raste er
worden. Das Jugendamt hatte schreiten, ziehen die einfach in den Weihnachtsmarkt auf
daraufhin 40 Kinder abge- wieder weg.“ In Bayern sind dem Breitscheidplatz und
holt. Nach Angaben von Sek- noch sieben Kinder in der fuhr elf Menschen zu Tode.

MICHAEL KAPPELER / DPA


tenmitgliedern sei der Umzug Obhut des Jugendamts. cnm Anhand der Standortdaten
des Google-Accounts, der mit
einem der später gefundenen
Handys verknüpft war, konn-
ten die Ermittler ein Bewe-
Umfrage gungsprofil erstellen. Dem- Lkw nach dem Anschlag
Hart, dumm, entrückt
Die vergangenen Tage waren harte Tage, für Martin Schulz
und all die anderen roten und grünen Verlierer nach der Grüne „E-Mails liegen häufig erst
Wahl im Saarland. Da kommt die neue SPIEGEL-Umfrage, Wahlkampf per einmal im Posteingang, und
voilà, vielleicht gerade recht. Ein bisschen Trost, immerhin:
Schulz ist beliebter als vor einem Vierteljahr, er liegt jetzt Messaging-Dienst SMS sind zu teuer.“ Im Paket
für das Pilotprojekt sind rund
schon auf Platz vier. Dumm nur für die Sozialdemokraten, Die Grünen kooperieren für 100 000 Nachrichten enthal-
dass Wolfgang Schäuble und Angela Merkel noch populä- den Bundestagswahlkampf ten, die Kosten dafür liegen
rer und bekanntlich bei der direkten Konkurrenz sind. Und mit dem Schweizer Messa- im vierstelligen Bereich.
auf Platz eins, allen Wahlkämpfern entrückt, wie es sich ge- ging-Dienst Threema. So Über den Verteiler werden
hört: Frank-Walter Steinmeier, der Präsident. kann die Geschäftsstelle bis zur Bundestagswahl bis
mehreren Hundert Menschen zu 1500 Menschen, die für
zeitgleich verschlüsselt Nach- die Grünen Wahlkampf
richten, Fotos und Videos machen oder selbst Kandida-
SAHRA aufs Smartphone senden. ten sind, mit Informationen
ANDREA WAGEN-
NAHLES KNECHT „Die Taktzahl im politischen versorgt. Sie sollen zu zen-
MANUELA CHRISTIAN Geschäft und gerade in Wahl- tralen Botschaften gebrieft
SCHWESIG LINDNER
KATRIN kampfzeiten wird immer und auf Fake News hingewie-
GÖRING- höher, vor allem durch die sen werden, mit denen die
ECKARDT sozialen Medien“, sagt Ge- Grünen häufig zu kämpfen
schäftsführer Michael Kellner. haben. akm

FRAUKE
PETRY
Korruption ruptionsdelikte teilnahmen.
KATJA
KIPPING Schmiergeld für Wilkening soll einem Chef-
den Chefinspektor inspektor des österreichischen
Bundesamts für Verfassungs-
Die Nachrichtenhändlerin schutz und Terrorismus-
34 Christina Wilkening, wegen bekämpfung bis 2016 rund
31 30 Bestechung eines Kriminal- 90 000 Euro gezahlt haben –
28 beamten im Januar zu einer für Informationen über Oli-
Haftstrafe verurteilt, hat garchen und Geheimdienstler,
24 auch in Österreich und der die sie an ihre Kunden weiter-
Schweiz Ermittler korrum- leitete. Ein Beamter der
piert. Dies räumte Wilkening Kantonspolizei im schweize-
14 in einer Vernehmung durch rischen Bern erhielt für Infor-
11 Beamte des Bundeskriminal-
amts ein, an der Ermittler
mationen über Ermittlungs-
verfahren mehrere Tausend
18 15 36 31 34 13 50 der österreichischen Zentral- Euro, wie Wilkening ihren
staatsanwaltschaft für Kor- Vernehmern gestand. gla

DER SPIEGEL 14 / 2017 23


Deutschland

Türkei II scher Asylbewerber steigen:


Diplomaten Aufgrund einer Einschätzung
begehren Asyl des Auswärtigen Amtes über-
arbeitet das Bamf seine Leit-
Immer mehr türkische Diplo- sätze für die Türkei. Dem-
maten und Militärangehörige nach gibt es „deutliche An-
beantragen Asyl in Deutsch- haltspunkte für eine systema-
land. Dem Bundesamt für tische Verfolgung vermeint-
Migration und Flüchtlinge licher Anhänger der Gülen-
(Bamf) liegen 262 Anträge Bewegung“. Terrorvorwürfe
vor. Entschieden wurde noch würden in der Türkei „infla-
keiner. Künftig könnte die tionär“ erhoben, schreibt das
Anerkennungsquote türki- Außenministerium. kno, wow

THOMAS IMO
Gabriel Türkei III 200 Institutionen angeblicher
Mächtiger Gülen-Anhänger, die der

Türkei I listen mehrmals als „Spion“ Geheimdienst MIT dem Bundesnachrich-


tendienst übergeben hat. Da-
Gabriel verschärft und „PKK-Terroristen“ be- Das Bundesinnenministe- runter sind mindestens fünf
Kritik an Erdoğan zeichnet. In der Bundesregie-
rung geht man davon aus,
rium warnte bereits im
Oktober vergangenen Jahres
Einträge, die aus den Spiona-
geberichten von Imamen
Der Ton zwischen Berlin dass Erdoğan mit seiner kom- davor, dass die Türkei mit deutscher Ditib-Moscheen
und Ankara verschärft sich. promisslosen Haltung im Fall ihrem Geheimdienst MIT die stammen. Das wertet ein
Seit mehr als vier Wochen Yücel Sympathien für sein deutsche Innenpolitik mani- hochrangiger Verfassungs-
befindet sich der „Welt“-Kor- umstrittenes Verfassungsrefe- pulieren könnte. In einem schützer als klares Indiz da-
respondent Deniz Yücel in rendum sammeln will. „Man vertraulichen Vermerk heißt für, „wie eng und abge-
Untersuchungshaft, doch muss ja fast annehmen, dass es: Es müsse ermittelt wer- stimmt das Informantennetz
trotz mehrfacher Zusagen Yücel der türkischen Füh- den, inwieweit der MIT „mit- des MIT in Deutschland ist“.
der türkischen Regierung rung als politischer Spielball tels nachrichtendienstlicher Der gescheiterte Putsch vom
durften deutsche Diplomaten in einem schmutzigen Wahl- Einflussoperationen ver- 15. Juli 2016 hat den türki-
ihn bis heute nicht im Istan- kampf dient“, sagt Gabriel. sucht, getarnt in die Willens- schen Geheimdienst nach
buler Gefängnis besuchen. „Das steht sicher nicht im bildung von deutschen Insti- Ansicht der Bundesregierung
„Der Umgang mit Deniz Einklang mit europäischen tutionen einzugreifen und deutlich gestärkt. „Der MIT
Yücel ist rechtsstaatlich und Werten.“ csc die öffentliche Meinung un- ist die Institution, die am
politisch inakzeptabel“, kriti- ter anderem durch Desinfor- meisten Einfluss gewinnen
siert Außenminister Sigmar Lesen Sie auch die Berichte mation zu lenken“. Dass der konnte“, heißt es in einem
Gabriel. Der türkische Präsi- über Erdoğans Fans in Deutsch- MIT in Deutschland umfas- vertraulichen Lagebericht
dent Recep Tayyip Erdoğan land (Seite 36) und Ausspionie- send spioniert, zeigt die Liste des Auswärtigen Amtes vom
hatte den deutschen Journa- rung türkischer Bürger (Seite 76). mit gut 300 Personen und Februar. jös, kno, wow

Brexit größte Nettozahler in der Bundespolizei


Sparen und zahlen EU. Nach Ansicht Oettingers Elektroschocker
EU-Haushaltskommissar
könnte rund die Hälfte des
britischen Beitrags einge- nicht erlaubt
Günther Oettinger stellt die spart werden. Europaparla- Die Bundespolizei darf aus
verbleibenden Mitgliedstaa- mentarier wie der CSU-Fi- rechtlichen Gründen keine
PAUL ZINKEN / PICTURE ALLIANCE / DPA

ten auf höhere Beiträge nach nanzexperte Markus Ferber Elektroschocker einsetzen.
dem Brexit ein. „Ich könnte fordern, „auf eine Umvertei- Zu diesem Schluss kommt
mir vorstellen, dass wir lung komplett zu verzichten eine Ausarbeitung der Wis-
versuchen, einen Teil einzu- und den gesamten britischen senschaftlichen Dienste des
sparen, und sich die übrigen Anteil einzusparen“. Der Bundestages. Sogenannte
27 Mitgliedstaaten darauf Parlamentarische Staatssekre- Elektroimpulsgeräte wie die
einigen, wie sie den rest- tär im Bundesfinanzminis- des US-Herstellers Taser füh-
lichen offenen Betrag erbrin- terium Jens Spahn (CDU) ren zu Kontrollverlust durch
gen sollen“, sagt Oettinger. mahnt eine größere Reform Muskelkrämpfe und berühr- Taser-Vorführung in Berlin
Die EU-Mitglieder beginnen an: „Wir müssen uns stärker ten daher das Grundrecht
derzeit mit den Beratungen auf Bereiche mit echtem auf körperliche Unversehrt- sei mithin eine Gesetzes-
über den künftigen „Mehr- EU-Mehrwert konzentrieren, heit. Ein solcher Eingriff be- änderung notwendig. In den
jährigen Finanzrahmen“, der zum Beispiel die Bewälti- dürfe einer Rechtsgrundlage. USA ist es zu zahlreichen
ab 2021 gelten soll. Bislang gung von Migration, den Elektroschocker gehörten Todesfällen gekommen, in
ist Großbritannien mit mehr Schutz der EU-Außengren- nicht zu den „dienstlich zu- Deutschland testet unter
als zehn Milliarden Euro zen oder grenzüberschreiten- gelassenen Hieb- und Schuss- anderem die Berliner Polizei
nach Deutschland der zweit- de Forschungsprojekte.“ mp waffen“. Für deren Einsatz solche Geräte. aul

24 DER SPIEGEL 14 / 2017


www.der-neue-crafter.de

Der neue Crafter. 2017

Klassenbester
und trotzdem bescheiden.

In jeder Hinsicht kostengünstig.


Der neue Crafter. Die neue Größe.
%HJHLVWHUWVRJDU,KUH%XFKKDOWXQJ'HUQHXH&UDIWHULVWVRZLUWVFKDIWOLFKZLHQLH6HLQH
H[]HOOHQWH9HUDUEHLWXQJXQGGLH/DQJ]HLWTXDOLW¦WVHLQHU%DXWHLOHVRUJHQI¾UJUR¡H
:DUWXQJVLQWHUYDOOHEHVRQGHUVJHULQJHQ9HUEUDXFKXQGHLQHH[WUHPKRKH:HUWVWDELOLW¦W
(UOHEHQ6LHGHQQHXHQ&UDIWHUEHL,KUHP9RONVZDJHQ1XW]IDKU]HXJH3DUWQHU

ZZZYDQRIWKH\HDUFRP$EELOGXQJ]HLJW6RQGHUDXVVWDWWXQJJHJHQ0HKUSUHLV
Deutschland

HERMANN BREDEHORST
SPD-Politiker Schulz: Ungeklärtes Verhältnis zur Linkspartei

Grün für die Ampel


Parteien Nach der Landtagswahl im Saarland sucht SPD-Kanzlerkandidat Martin
Schulz eine Alternative zum Linksbündnis. Die FDP zeigt sich erstaunlich offen.

D
er Sozialdemokrat Karl Lauterbach Schreckgespenst funktioniert.“ Die Debat- dem Fall mit der Linken koalieren, mahnte
war bislang einer der größten Fans te über ein mögliches Bündnis mit der Martin Schulz am Dienstag vor der Frak-
eines Linksbündnisses im Bund. Linken Oskar Lafontaines habe die sozial- tion. „Öffentliche Debatten über Rot-Rot-
Wie kaum ein Zweiter bemühte er sich um demokratischen Wähler gespalten und die Grün sind schädlich.“ Beflügelt von den
eine Annäherung von Sozialdemokraten, Anhänger der CDU mobilisiert. grandiosen Umfragewerten im Bund, hatte
Grünen und Linken. Wie ein Party- Aus der Erkenntnis hat Lauterbach eine Schulz noch wenige Tage vor der Saarland-
veranstalter organisierte Lauterbach im- klare Konsequenz gezogen. Über eine Wahl in kleinem Kreis davon geträumt,
mer neue Runden, bei denen Vertreter mögliche Koalition mit der Linken sollten dass seine Partei gar vor der CDU landen
der drei Parteien zusammenkamen, um die Genossen am besten kein Wort mehr könnte. Am Ende lag sie elf Prozentpunkte
zu diskutieren und Wein zu trinken. „Für verlieren. „Das wäre das Dümmste über- hinter der Union. Als Grund für das schwa-
die Atmosphäre war das wichtig“, sagt haupt.“ Auch als Partyveranstalter will er che Abschneiden machten die Genossen
Lauterbach. „Das Verhältnis ist lockerer fortan nicht mehr wirken. „Wir sollten die- nicht nur die große Popularität von CDU-
geworden.“ se Runden einstellen“, sagt Lauterbach. Frau Annegret Kramp-Karrenbauer aus,
Seit vorigem Sonntag, dem Tag der „Ab jetzt würden sie nur noch schaden.“ sondern auch das eigene ungeklärte Ver-
Landtagswahl im Saarland, ist für Lauter- Sein Parteichef und Kanzlerkandidat hältnis zur Linkspartei.
bach die Zeit der Partys vorbei. „Das Ge- sieht das ähnlich. Man habe gesehen, wie Schulz und die SPD stehen vor einem
rede über Koalitionen mit der Linkspartei gefährlich es für die SPD sei, wenn die Dilemma. Schließen sie eine Koalition mit
schadet uns“, sagt der Abgeordnete. „Das Wähler davon ausgingen, man werde in je- der Linken im Bund kategorisch aus, ginge
26 DER SPIEGEL 14 / 2017
FRANZISKA KRAUFMANN / DPA
FDP-Chef Lindner: Traumatische Erinnerungen an Schwarz-Gelb

ihnen die derzeit realistischste Machtper- und hilflos auf den Höhenflug der eupho- schlossen und den SPD-Kandidaten Stein-
spektive verloren. Ähnlich aussichts- und risierten Genossen gestarrt hatten, gab es meier gar der „Stalkerei“ bezichtigt. 2013
erfolglos hatten die letzten beiden SPD- endlich wieder einen Grund zur Zu- galt die Absage weiter. Der aktuelle FDP-
Kandidaten Frank-Walter Steinmeier und versicht. Ein breitbeiniger Fraktionschef Chef Christian Lindner ist nun fest gewillt,
Peer Steinbrück um das Kanzleramt ge- Volker Kauder gab sich am Wahlabend sich alle Optionen offenzuhalten. Sein
kämpft. Andererseits verschreckt die Aus- überzeugt, dass Angela Merkel in jedem Vize Wolfgang Kubicki wirbt gar für die
sicht, eine Stimme für die SPD könne am Fall weiterregieren werde. Ampelvariante.
Ende die Linke Sahra Wagenknecht an den Viel wird davon abhängen, ob es Schulz Für die SPD ist dies ein Schimmer der
Kabinettstisch befördern, viele Sozialde- und der SPD nun gelingt, den Eindruck Hoffnung nach einer ernüchternden Wo-
mokraten der Mitte. Gravierender noch: zu erwecken, dass man weitere Optionen che. Im Präsidium berichteten die saarlän-
Sie mobilisiert das Heer der müden Kon- habe, um am Ende den Kanzler zu stellen. dische Spitzenkandidatin Anke Rehlinger
servativen. Viele, die sich wegen des Mo- So rückt plötzlich eine Konstellation in und der Landesvorsitzende Heiko Maas
dernisierungskurses der CDU unter Ange- den Fokus, die lange als völlig unrealistisch am Montagmorgen ausführlich von ihren
la Merkel bereits in die innere Emigration galt: ein Bündnis aus SPD, Grünen und Erfahrungen im Wahlkampf. Es habe viel
verabschiedet hatten, ließen sich im Saar- FDP, die Ampel. Zustimmung für die SPD gegeben, gerade
land von der Angst vor Rot-Rot doch wie- Zwar würden den drei Parteien laut ak- auch für Martin Schulz. In den letzten
der zur Stimmabgabe bewegen. Vom um- tuellen Umfragen (siehe Grafik Seite 29) Tagen der Kampagne habe man bei Haus-
gekehrten Schulz-Effekt ist seither die noch ein paar Prozentpunkte zu einer besuchen und Gesprächen auf der Straße
Rede. Es scheint, als wirke die Rote- Mehrheit fehlen, andererseits hat der Wahl- jedoch gemerkt, dass die Stimmung kippe.
Socken-Kampagne des inzwischen verstor- kampf nicht mal offiziell begonnen. Und Die Leute hätten zunehmend skeptisch auf
benen CDU-Generalsekretärs Peter Hintze bisweilen entwickeln neue politische Kon- eine mögliche Koalition mit der Linken
aus dem Jahr 1994 auch 2017 noch. stellationen – anders als Koalitionen mit reagiert.
Im Konrad-Adenauer-Haus hatten die der Linken – erst dann ihren Reiz, wenn Fast eineinhalb Stunden lang debattier-
Strategen selbst nicht geglaubt, dass der viel über sie geredet wird. ten die führenden Genossen ihr Dilemma
alte Gassenhauer noch immer ankommen An der FDP werden die Ampelfantasien mit der Linken. Die Runde war sich einig,
würde. Ebenso ungläubig wie ausgelassen in diesem Wahlkampf jedenfalls nicht dass Sahra Wagenknecht und ihre Mitstrei-
feierten sie die fast 41 Prozent für Anne- mehr scheitern. Im Wahlkampf 2009 hatte ter im Bundestagswahlkampf offensiver
gret Kramp-Karrenbauer. Nachdem die der inzwischen verstorbene Guido Wester- angefasst werden müssen. „Wir müssen sie
Christdemokraten über Wochen neidisch welle die Ampel noch kategorisch ausge- engagierter stellen“, forderte ein Präsi-

DER SPIEGEL 14 / 2017 27


Deutschland

diumsmitglied. Ein anderes assistierte: den in der nächsten Linksfraktion wahr- offenhalten und nach der Wahl schauen,
„Wir müssen sie zwingen, die Karten auf scheinlich weniger pragmatische Ostler was inhaltlich geht“, sagt Fraktionsvize
den Tisch zu legen: Wie steht ihr zur Nato, und mehr „Spinner aus dem Westen“ Sören Bartol. „Das gilt besonders auch für
was wollt ihr von der EU?“ Niemand woll- (SPD-Jargon) sitzen. Verantwortliches Re- Grüne und Liberale.“ Tatsächlich ist der
te die rot-rot-grüne Option für die Bun- gieren dürfte dadurch nicht leichter wer- Gesprächsfaden zwischen den Spitzen bei-
destagswahl ausschließen. Aber fordern den. „Mit 4 Stimmen Mehrheit wie bei der Parteien nie abgerissen. Gabriel traf
oder sie in Aussicht stellen solle sie bis zur Rot-Grün im Jahr 2002 geht es auf keinen sich als Parteichef regelmäßig mit FDP-
Wahl auch niemand. Fall“, sagt ein Genosse. Es müssten wohl Chef Lindner, ebenso Fraktionschef Tho-
Wie weit SPD, Linke und Grüne noch eher 20 sein. Dafür müssten SPD, Grüne mas Oppermann. Und auch Schulz suchte
immer von einer Regierungsbildung ent- und Linke aber gemeinsam fast 50 Prozent nach seiner Nominierung zum Kanzlerkan-
fernt sind, zeigte sich in der vergangenen der Wählerstimmen holen. didaten Kontakt zu Lindner.
Woche eindrucksvoll. Nach der Niederlage Wegen all dieser Probleme wollen die Intensiviert werden sollen die Gesprä-
im Saarland fiel die Linke sofort wieder Genossen nun umschalten und mit der che nach der Landtagswahl in Nordrhein-
in ihr altes Muster zurück und attackierte Ampel ein anderes Dreierbündnis ins Ge- Westfalen Mitte Mai. Als Verbindungs-
ihren Hauptfeind der vergangenen 15 Jah- spräch bringen. Sowohl Schulz als auch mann sei Fraktionsvize Hubertus Heil ein
re: die SPD. Die habe es verbockt, weil Gabriel haben intern klar gesagt, dass dies idealer Kandidat, heißt es in der SPD. Heil
sie sich nicht klar genug für ein Linksbünd- ihr bevorzugtes Bündnis sei. „Die Ampel- pflegte schon in der Vergangenheit gute
nis ausgesprochen habe. Dabei sind Wa- koalition passt für uns am besten, weil die Kontakte zu den Liberalen. Daran könnte
genknecht und ihre linke Truppe selbst Gemeinsamkeiten mit Grünen und FDP er im Frühsommer anknüpfen. Einige So-
weiter kaum zu inhaltlichen Kompromis- am größten sind“, sagt auch der stellver- zialdemokraten halten es für gut möglich,
sen bereit. Der erste Entwurf des Linken- tretende Fraktionschef der SPD im Bun- dass es nach Gesprächen zwischen SPD
Wahlprogramms liest sich wie eine Auf- destag, Carsten Schneider. und FDP auch zu Treffen im Ampelformat
listung von Maximalforderungen. Grüne und FDP, so die Einschätzung kommt.
Die Aussichten auf ein Linksbündnis vieler Sozialdemokraten, stünden dafür Die neue Offenheit der Liberalen für
werden auch dadurch getrübt, dass sich bereit: „Die Grünen machen alles mit, um die Ampel hat vor allem zwei Gründe. Vie-
die Gewichte innerhalb der Linksfraktion zu regieren“, heißt es. Und die FDP könne le von ihnen wollen wieder regieren, aber
im nächsten Bundestag wohl verschieben sich in einer solchen Koalition besser als nicht mehr unbedingt mit der Union. An-
werden. Im Westen dürfte die Partei das Korrektiv profilieren als in einem Jamaika- ders als zu Westerwelles Zeiten sehen die
Ergebnis von 2013 ungefähr halten, im Os- Bündnis mit Union und Grünen. Liberalen die CDU nicht mehr als „natür-
ten drohen ihr durch die Konkurrenz mit „Wir führen zwar keinen Koalitionswahl- lichen Partner“. Man sei sich inzwischen
der AfD deutliche Verluste. Deshalb wer- kampf, sollten aber alle Gesprächskanäle „kulturell fremd“, sagt ein Mitglied des
Präsidiums.
Treibende Kraft einer Annäherung an
die SPD ist Parteivize Wolfgang Kubicki.
„Die Ampelkoalition treibt mir keine
Schweißperlen auf die Stirn“, sagt er. Der
Europaabgeordnete Alexander Graf
Lambsdorff, zugleich Mitglied des Partei-
präsidiums, wird noch deutlicher: „Ich per-
sönlich finde, dass die große Zukunftsfrage
am sinnvollsten sozialliberal beantwortet
wird. Also: Wie erhalten wir unsere wirt-
schaftliche Wettbewerbsfähigkeit und or-
ganisieren gleichzeitig die Verteilung der
Gewinne aus der Globalisierung so, dass
die Gesellschaft zusammenhält?“ Der ba-
den-württembergische Landeschef Michael
Theurer hatte sich schon Anfang des Jah-
res offen für eine Ampel gezeigt.
Dafür müsste den Liberalen jedoch die
Rückkehr in den Bundestag gelingen. Um-
fragen zeigen die FDP seit einem Jahr kon-
stant bei fünf Prozent oder besser. Dann,
so die herrschende Meinung in der Partei,
wolle man auch regieren. Als kleinste Op-
positionspartei hinter AfD, Linken und
Grünen gäbe es sonst kaum Chancen zur
Profilierung.
Im Vergleich zu einer Jamaika-Koalition
mit Union und Grünen hätte die Ampel
MARKUS HINTZEN / DER SPIEGEL

für die Liberalen den Vorteil, dass sie sich


als marktwirtschaftliches Gegengewicht zu
SPD und Grünen profilieren könnten. Das
Korrektiv sei die traditionelle Rolle der
FDP, heißt es in der Parteiführung. Bei Ja-
maika wäre die FDP dagegen nur ein An-
Linken-Fraktionschefin Wagenknecht: Rückfall in alte Muster hängsel der Union. „Jamaika macht mich

28 DER SPIEGEL 14 / 2017


ausleger der AfD. Kubicki konterte mit
Mögliche Koalitionen einem Kalauer: „Taubernuss“. Meine Branche: speziell.
Am Tag nach der Saarland-Wahl befass-
„Welche Partei würden Sie wählen, wenn am
kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre?“ te sich das FDP-Präsidium kritisch mit der Meine kaufmännischen Prozesse:
Union. Die CDU habe im Saarland dazu
32 32 beigetragen, dass die Liberalen den Wie-
dereinzug in den Landtag verpassten. Um individuell.
Lafontaine zu verhindern, hätten viele
potenzielle FDP-Wähler ihr Kreuz bei der Mit Software von DATEV.
CDU gemacht, lautete die Analyse. Die
Veränderung zur letzten Bundes- Liberalen rechnen damit, dass die Union
tagswahl, in Prozentpunkten sie auch im Bundestagswahlkampf als
11 Hauptgegner behandeln werde. „Sie wer-
8 7 6 den uns gnadenlos bekämpfen“, sagte ein
–9,5 +6,3 +6,3 – 0,4 – 1,6 +1,2 Mitglied während der Präsidiumssitzung.
Union SPD AfD Grüne Linke FDP Auch Vizechef Kubicki geht davon aus:
„Die Union ist unser größter politischer
Konkurrent im Wählermarkt, und so be-
Linksbündnis handelt sie uns auch.“
47 % Das größte Hindernis für eine Ampel
im Bund wäre wohl das schwierige Ver-
Ampelkoalition hältnis von FDP und Grünen. Mit Vorliebe
lästern die Liberalen seit je über die „grü-
46 % nen Moralapostel“ und deren „Verbots-
mentalität“. Die Grünen polemisieren
Große Koalition
derweil gegen den „marktradikalen Neo-
64% liberalismus“ der FDP.
Doch auch in dieser Beziehung hat sich
Jamaikakoalition manches verändert. Bei der FDP sitzen
46 % mit dem Vizechef Kubicki und den beiden
Europaabgeordneten Lambsdorff und
Angaben in Prozent; Infratest dimap für ARD-Deutschlandtrend Theurer, die beide für den Bundestag
vom 20. bis 22. März kandidieren, gleich drei Männer im FDP-
Präsidium, die ihre Partei sozialliberaler
nicht gerade fröhlich, ich bin kein großer ausrichten wollen. Parteichef Lindner hegt
Fan mehr von der CDU auf Bundesebene“, immerhin große Wertschätzung für Spit-
sagt Parteivize Kubicki. zenkandidat Cem Özdemir und lobt die-
Die Erinnerungen der Liberalen an die sen sogar öffentlich.
letzte schwarz-gelbe Regierungszeit sind Da auch dem Grünen-Spitzenduo Öz-
beinahe traumatisch. Bis heute sehen demir und Göring-Eckardt ein unbedingter
sie die Union als Hauptverantwortliche Wille zur Macht nachgesagt wird, gehen
dafür, dass die FDP 2013 aus dem Bundes- viele in der Partei davon aus, dass sie am
tag flog. Nach einem dilettantischen Start Ende die nötige Geschmeidigkeit an den
im Herbst 2009 machten die Koalitionäre Tag legen würden, sollte es zu Verhand-
in erster Linie durch den öffentlichen lungen über eine Ampel kommen. Die an-
Gebrauch kreativer Schimpfwörter auf dere Dreierkonstellation mit der FDP, eine
sich aufmerksam, man bezeichnete sich Jamaika-Koalition unter Führung der Uni-
gegenseitig als „Wildsau“ oder „Gurken- on, halten die meisten Grünen jedenfalls
truppe“. für weit problematischer. „Da werden wir
In der FDP fühlten sich viele von der zwischen Union und FDP zerquetscht“, Wenn es um Ihre Branche geht, dann sind Sie Experte.
Union über den Tisch gezogen. Am Ende fürchten Spitzengrüne. Zudem könne man
Auch für Ihre Lohn- und Gehaltsabrechnung oder für die
der vier Jahre schnitt die FDP 9,8 Prozent- sich ein Bündnis mit der CSU Horst See-
punkte schlechter ab als bei der Wahl zu- hofers, den der Parteilinke Jürgen Trittin Finanzbuchführung gibt es ausgewiesene Spezialisten:
vor und verfehlte erstmals seit ihrer Grün- konsequent mit Ungarns Premier Viktor Ihr Steuerberater und die kaufmännische Software von
dung den Einzug ins Parlament. Angela Orbán vergleicht, schlicht nicht vorstellen. DATEV gestalten individuelle Unternehmensprozesse
Merkel persönlich hatte sich am Ende ge- Der Test für eine mögliche Ampel im einfach und zuverlässig.
gen eine von der FDP erbettelte Zweit- Bund läuft seit einem Jahr in Rheinland-
stimmenkampagne gestellt. „Die CDU hat Pfalz, und das erstaunlich harmonisch.
keine Stimme zu verschenken“, dozierte Selbst die Affäre um den Flughafen Hahn, Mehr Infos unter 0800 1001116
die Kanzlerin. als die SPD-geführte Landesregierung bei
Diese und andere Demütigungen sind Verkaufsverhandlungen auf eine Truppe oder auf www.datev.de/meinebranche
nicht vergessen, eine gewisse Grundag- skurriler Blender aus China hereingefallen
gressivität zwischen Konservativen und war, überstanden die Koalitionspartner,
Liberalen ist bis heute geblieben. Anfang ohne sich gegenseitig mit Vorwürfen zu
des Jahres verglich CDU-Generalsekretär überziehen. „Die Ampel funktioniert in
Peter Tauber FDP-Chef Lindner mit unserem Land sehr, sehr gut“, sagt Regie-
Alexander Gauland, dem betagten Rechts- rungschefin Malu Dreyer. „Natürlich kann

DER SPIEGEL 14 / 2017 29


Deutschland

das auch eine Möglichkeit für die Bundes- Gewerkschaften bei der Ministerpräsiden- den und selbst für die FDP anschlussfähig
ebene sein.“ In Rheinland-Pfalz hat es in tin: „Das schafft viel Ruhe und politische sein soll. Bei der Bundestagswahl 2013 hat-
der Vergangenheit mehrere sozialliberale Spielräume, weil wir nicht dem Verdacht te die SPD mit Forderungen nach Steuer-
Koalitionen gegeben. Vor allem Dreyers ausgesetzt sind, dass eine wichtige Position erhöhungen keine guten Erfahrungen ge-
Vorgänger Kurt Beck hatte viel Wert da- bei Entscheidungen im Kabinett aus macht. Diesen Fehler will Schulz nicht
rauf gelegt, den Kontakt zu den Liberalen ideologischen Gründen einfach unter den wiederholen. Als ihm Mitglieder einer in-
nie abbrechen zu lassen. Tisch fällt.“ ternen Arbeitsgruppe um Parteivize Thors-
„Die Koalition hat sich von Anfang an Allerdings funktioniere das Modell nur, ten Schäfer-Gümbel jüngst die Ideen für
als sehr stabil, geschlossen und auch be- weil die Koalitionäre aufeinander Rück- eine Steuerreform präsentierten, wies
lastbar bewährt“, schwärmt Dreyer. „Wir sicht nähmen und nicht versuchten, auf Schulz einen Teil der Vorschläge gleich zu-
arbeiten vertrauensvoll, mit großer Kraft Kosten der anderen zu punkten, sagt Wis- rück. Vor allem die Überlegung, unter Um-
und Engagement zusammen.“ Schon wäh- sing. Das habe er schon ganz anders erlebt ständen bereits Bezieher von Einkommen
rend der Koalitionsverhandlungen zeigte – während der schwarz-gelben Koalition ab rund 60 000 Euro stärker zu belasten,
sich, dass das rot-gelb-grüne  Bündnis für im Bund. Wissing, damals noch Bundes- missfiel ihm. Schulz verwies auf die vielen
alle drei Partner Vorteile bietet. Jeder tagsabgeordneter, hat diese Zeit als „de- Facharbeiter mit entsprechendem Einkom-
konnte exakt die Themen und Ressorts be- saströs“ in Erinnerung, weil keiner dem men: „Das ist doch unsere Kernklientel.“
setzen, die er als seine Kernkompetenz er- anderen einen Erfolg gegönnt habe und Noch ist offen, ob die SPD mit der For-
achtet: die FDP Wirtschaft und Verkehr, Absprachen nicht eingehalten worden sei- derung nach einer Erhöhung des Spitzen-
die Grünen Umwelt und Integration und en. Dagegen sei die Ampel in Rheinland- steuersatzes in die Wahl zieht. Schulz wür-
die SPD Soziales, Arbeit und Bildung. „In Pfalz für ihn „von Empathie geprägt“ und de wohl gern darauf verzichten. Und die
unserer Ampelkoalition kann jeder Part- ein Projekt, „das auch über die Legislatur- Forderung nach einer Vermögensteuer
ner seine Stärken zur Geltung bringen“, periode hinaus Bestand haben könnte“. wird es mit ihm gewiss nicht geben.
sagt Dreyer. „Wir zeigen, dass gerade das Nach diesem Muster könnte sich Wis- Denkbar ist aber, dass der Spitzensteu-
Zusammenspiel unterschiedlicher Positio- sing auch eine Ampelkoalition im Bund ersatz, der aktuell bei 42 Prozent liegt und
nen eine konstruktive und zukunftsfähige vorstellen, mit Martin Schulz als Kanzler. für Singles ab einem Einkommen von gut
Politik ermöglicht.“ Den sozialdemokratischen Hoffnungsträ- 54 000 Euro greift, nur leicht steigen soll –
„Wir nehmen uns gegenseitig nichts ger habe er „nicht als Politiker kennenge- und erst ab einem deutlich höheren Jah-
weg“, bekräftigt Bernhard Braun, Frak- lernt, der morgen die sozialistische Welt- resverdienst fällig wird. Gleichzeitig könn-
tionschef der Grünen im Landtag. Und ein revolution ausruft“. Auf seine Kritiker aus ten mit den Mehreinnahmen untere und
führender Genosse ergänzt: „Mit den Lin- der Union dagegen, die der rheinland-pfäl- mittlere Einkommen entlastet werden. Es
ken würden wir uns doch nur ständig da- zischen FDP Verrat am bürgerlichen Lager wäre ein Programm, das die FDP zwar
rüber streiten, wer die größeren Wohltaten vorwerfen, reagiert Wissing mit wachsen- nicht begrüßen, das sie aber wohl auch
für Arbeitnehmer ausschüttet.“ dem Zorn. „Die Union hat kein Problem, nicht kategorisch zurückweisen würde.
Für FDP-Landeschef Volker Wissing schwarz-grün oder schwarz-rot zu blin- Vor der Bundestagswahl am 24. Septem-
liegt der Vorteil einer rot-gelb-grünen Ar- ken“, schimpft der FDP-Politiker. „Aber ber könnte ausgerechnet von Nordrhein-
beitsteilung darin, dass die wichtigen In- wenn wir mit der SPD über eine Koalition Westfalen ein sozialliberales Signal ausge-
teressengruppen Ansprechpartner in der verhandeln, ist das ein Skandal.“ Auf eine hen. Eine Ampelkoalition hat FDP-Chef
Regierung hätten, denen sie vertrauten: Er solch durchsichtige Debatte dürfe sich die Lindner unter Verweis auf die aus seiner
selbst halte als Wirtschaftsminister engen FDP gar nicht erst einlassen. Sicht sehr speziellen Grünen an Rhein und
Kontakt zu den Unternehmerverbänden, SPD-Chef Schulz lässt derweil intern an Ruhr zwar ausgeschlossen – ein Zweier-
Umweltschützer fühlten sich bei der einem Wahlprogramm feilen, das deutliche bündnis mit der SPD aber explizit nicht.
grünen Umweltministerin gut aufgehoben, Signale in die Mitte der Gesellschaft sen- Umfragen sehen die Liberalen bei bis zu
11 Prozent, die SPD bei knapp 40 Prozent.
Eine sozialliberale Koalition in NRW ist
in den Bereich des Möglichen gerückt.
Während die SPD-Strategen darauf set-
zen, dass die FDP weiter von der zuneh-
menden Unzufriedenheit im bürgerlichen
Lager mit dem CDU-Herausforderer Ar-
min Laschet profitiert, erfreuen sich die
Liberalen an der neuen Aufmerksamkeit.
„Die Sozialdemokraten gehen seit der letz-
ten Umfrage richtig nett mit uns um“, sagt
eine führende Liberale in Düsseldorf. „Es
ist sehr schön, wieder begehrt zu sein.“
Sollte es nach der Wahl in Nordrhein-
Westfalen tatsächlich reichen, wäre dies
eine Neuauflage der sozialliberalen Koali-
tion von 1966. Damals waren SPD und
FDP ein historisches Bündnis eingegangen,
JESCO DENZEL / DER SPIEGEL

wie sich bald herausstellte. Es wurde zum


Wegbereiter für die erste sozialliberale
Koalition unter Willy Brandt und Walter
Scheel im Bund.
Matthias Bartsch, Sven Böll, Markus Feldenkirchen,
Christiane Hoffmann, Ann-Katrin Müller,
Grünen-Spitzenduo Göring-Eckardt, Özdemir: Unbedingter Wille zur Macht Barbara Schmid, Wolf-Wiedmann Schmidt

30 DER SPIEGEL 14 / 2017


ARMIN SMAILOVIC / DER SPIEGEL
Politiker Schröder in seinem Büro in Hannover: „Zwölf Jahre sind genug“

„Er will es“


SPIEGEL-Gespräch Altkanzler Gerhard Schröder, 72, über Martin Schulz, die Gefahren eines
rot-rot-grünen Wahlkampfs und die Chemie zwischen Wladimir Putin und Donald Trump

SPIEGEL: Herr Schröder, der neue SPD- Sie muss nämlich zu Bedingungen der SPD Schröder: Die Situation erinnert mich schon
Kanzlerkandidat Martin Schulz hat große realisierbar sein und nicht zu den Bedin- ein bisschen an 1998. Damals haben wir ja
Erwartungen geweckt. Im Saarland haben gungen der Linkspartei. Wir erklären, wer nicht nur gewonnen, weil wir so gut waren.
sie sich nicht erfüllt. War alles nur ein Koch und wer Kellner ist, um ein bei Rot- Das waren wir, keine Frage, aber wir haben
kurzer Hype? Grün verwendetes Wortspiel aufzugreifen. auch gewonnen, weil die Leute gesagt ha-
Schröder: Es war eine Landtagswahl, zu- Ich glaube aber nicht, dass man das hinbe- ben: Helmut Kohl geht einfach nicht mehr.
dem im kleinsten Flächenland. Dort ist kommt, solange die Familie Lafontaine in Für die neuen Herausforderungen ist er
eine sehr angesehene Ministerpräsidentin der Linkspartei tonangebend ist. nicht der Richtige. Wir haben nicht den Feh-
wiedergewählt worden. Es gibt in Deutsch- SPIEGEL: Sie meinen Oskar Lafontaine und ler gemacht, Helmut Kohl zu behandeln,
land die seltsame Angewohnheit, jede seine Frau Sahra Wagenknecht? als hätte er keine historischen Leistungen
Kommunal- und Landtagswahl zu einer Schröder: Ja, ich glaube, dass man Rot-Rot- vollbracht. Das hat er, da gibt es gar keinen
Abstimmung über die Bundespolitik zu er- Grün erst machen kann, wenn bei den Lin- Zweifel. Wir haben damals einfach nur ge-
klären. Das ist es aber nicht. ken vernünftige Leute wie zum Beispiel sagt: Danke, Helmut, aber jetzt reicht’s.
SPIEGEL: War es ein Fehler, dass Schulz und der thüringische Ministerpräsident Bodo SPIEGEL: Jetzt muss die SPD sagen: Danke,
die SPD so offen für ein rot-rotes Bündnis Ramelow das Sagen haben. Angela, es war gut, aber jetzt reicht’s?
geworben haben? SPIEGEL: Beim Parteitag der SPD wurde Mar- Schröder: Es stimmt ja: Frau Merkel hat
Schröder: Schulz hat gesagt: Ich bin für alle tin Schulz mit 100 Prozent Zustimmung zum nicht nur Fehler gemacht, sondern in vie-
demokratischen Koalitionsmöglichkeiten Kanzlerkandidaten gewählt. So viel Ge- len Situationen richtige Entscheidungen
offen, natürlich unter der Voraussetzung, schlossenheit gab es noch nie bei der SPD. getroffen. Wenn man das anerkennt, zeigt
dass die SPD stärkste Partei ist. Das ist Schröder: Die SPD will gewinnen, endlich man nicht Schwäche, sondern Größe, und
grundsätzlich vernünftig. mal wieder. Und die Partei weiß, dass man das sollte die SPD machen. Ich denke, dass
SPIEGEL: Die Union hätte aber deutlich we- nur gewinnen kann, wenn man geschlossen es im Volk das Bewusstsein gibt: Zwölf
niger Wähler mobilisieren können, wenn auftritt. Insofern hat es ganz offensichtlich Jahre sind genug.
die Sozialdemokraten Rot-Rot-Grün aus- einen kollektiven Bewusstseinswandel in der SPIEGEL: Die guten Umfragewerte der SPD
geschlossen hätten. SPD gegeben, die jetzt mit Überzeugung sagt: haben also weniger mit der Person Martin
Schröder: Die SPD darf sich nicht in ein Wir wollen’s, und mit ihm können wir’s auch. Schulz’ zu tun?
Getto zwingen lassen. Ob diese Option SPIEGEL: Gibt es eine Wechselstimmung in Schröder: Da muss beides zusammenkom-
realisierbar ist, ist eine ganz andere Frage. Deutschland? men: Es gibt einen Wunsch nach Verände-
DER SPIEGEL 14 / 2017 31
Deutschland

rung – nach einer Veränderung ohne radi- SPIEGEL: So ist das nicht bei uns hängen ge- der Union auf der Rechten. In dem Mo-
kale Umbrüche. Und für diesen Wunsch blieben. Als Schulz die Erfolge der SPD ment, in dem CDU und CSU meinen, die
steht Martin Schulz. Von daher ist er, glau- aufzählte, fehlte die Agendapolitik. Da Parolen der AfD übernehmen zu sollen,
be ich, in der jetzigen Situation der richtige kam nur Ihr Nein zum Irakkrieg vor. In stärken sie das Original. Und dann wählen
Kandidat. seiner Rede in Bielefeld sprach er sogar die Leute das Original und nicht das Plagi-
SPIEGEL: Sie hätten sich auch Sigmar Ga- ausschließlich von Fehlern, da war kein at. Aber das wird die SPD auch nicht ma-
briel als Kanzlerkandidaten vorstellen kön- Wort von Verdienst. chen. Ich bin ziemlich sicher, dass Martin
nen. Sie hatten sich sogar öffentlich hinter Schröder: Also jetzt wollen wir mal die Kir- Schulz das ganz genau weiß. Ohne ökono-
ihn gestellt, indem Sie etwa vor ein paar che im Dorf lassen. Die Parteitagsrede ist mische Kompetenz gewinnt man in
Monaten eine Biografie über ihn vorge- viel wichtiger als die Rede in Bielefeld. Deutschland keine Wahlen. Deswegen
stellt haben. Wurden Sie von Gabriels Dort hat er vor Gewerkschaftern gespro- wird er kein Wahlprogramm zulassen, das
Rückzug überrascht? chen und deshalb andere Schwerpunkte diese ökonomische Kompetenz der SPD
Schröder: Ich sag es mal so: Ich war nicht gesetzt. Aber er hat sich nicht von der infrage stellt.
eingeweiht. Aber ich war auch nicht über- Agenda als solcher distanziert, sondern SPIEGEL: Ein anderes wichtiges Thema, mit
rascht. Mein Eindruck war, dass Sigmar lediglich von Fehlern gesprochen. dem die SPD sich im Wahlkampf profilie-
Gabriel innerlich lange unentschieden SPIEGEL: Sie können also grundsätzlich da- ren will, ist die Rüstungspolitik. Donald
war. Aber wenn man Kanzler werden und mit leben, wenn Schulz sagt, Ihre Sozial- Trump hat die Bundesregierung aufgefor-
die SPD in den Wahlkampf führen will, politik müsse an der einen oder anderen dert, das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel
muss man dieses Amt auch wirklich wollen Stelle korrigiert werden? der Nato zu erfüllen, also bis 2024 zwei
und innerlich dazu bereit sein. Er hatte Schröder: Ich habe schon früher gesagt, dass Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Ver-
Zweifel. die Agenda 2010 nicht die zehn Gebote teidigung auszugeben. Sollte Deutschland
SPIEGEL: Gabriel wäre also ohnehin nicht sind und ich nicht Moses bin. Es ist jetzt 14 sich an diese Zusage halten?
der richtige Kandidat gewesen? Jahre her, dass ich die Reformen vorgestellt Schröder: Was Herr Trump erzählt, stimmt
Schröder: Ich finde, dass die engere Führung habe. Damals waren die Rahmenbedingun- überhaupt nicht mit den Beschlüssen der
der SPD das klug gemacht hat. Sie hat ihn gen andere: fünf Millionen Arbeitslose, lee- diversen Nato-Gipfel überein, weder dem
nicht gedrängt, sondern respektiert, dass re Kassen, die Sozialversicherungen kaum von 2002 noch dem von 2014. Es gibt dieses
er, was dieses Amt angeht, mit sich selbst noch bezahlbar für Arbeitgeber und Ar- verbindliche Zwei-Prozent-Ziel gar nicht.
noch nicht im Reinen war. Sie hat ihm sig- beitnehmer. Heute ist die Welt eine andere, Aber ich halte es auch grundsätzlich für
nalisiert: Wir machen das auch mit dir. Das zum Glück. Politik muss sich mit dem Heu- falsch, dauernd mehr Geld für Rüstung zu
war sicher die Voraussetzung dafür, dass te und dem Morgen beschäftigen. fordern. Es wird dann immer versucht, die
er am Schluss aus einer Position der Stärke SPIEGEL: Und das, was es bisher an konkre- angebliche russische Bedrohung ins Feld
sagen konnte: Ich will es nicht. ten Korrekturplänen gibt, etwa am Arbeits- zu führen. Die Realität ist doch eine ganz
SPIEGEL: Mit anderen Worten: So konnte losengeld I und den Regelungen zur be- andere, wenn man hinschaut, wer wie viel
er ohne Gesichtsverlust zurücktreten? fristeten Beschäftigung, überschreitet nicht für Verteidigung ausgegeben hat: USA
Schröder: Hätte die SPD-Führung zugelas- Ihre Schmerzgrenze? 596 Milliarden Dollar, China 215, Saudi-
sen, dass er im Vorfeld dieser Entscheidung Schröder: Bisher hat die SPD-Führung an- Arabien 87, Russland 66, Großbritannien
infrage gestellt wird, hätte es diese Einig- gekündigt, dass sie das Grundprinzip der 56 Milliarden Dollar. Die Amerikaner ge-
keit nicht gegeben. Reformen, das „Fördern und Fordern“, ben also für das Militär neunmal so viel
SPIEGEL: An der Entschlossenheit, die Ga- nicht antasten will. Das ist ein wichtiger aus wie die Russen.
briel fehlte, mangelt es Schulz offenbar nicht. Punkt. Zweitens will sie die Agenda 2010 SPIEGEL: Die Amerikaner wollen nicht län-
Schröder: Er muss ja nicht am Zaun des nicht aufkündigen, sondern fortentwickeln, ger für Europas Sicherheit aufkommen.
Kanzleramtes rütteln und sagen: Ich will insbesondere bei der Frage der Qualifizie- Sie fordern, dass die Europäer, gerade das
hier rein. Aber man kann spüren, dass Mar- rung. Das halte ich angesichts der Digitali- reiche Deutschland, sich stärker um die ei-
tin Schulz Kanzler werden will. Es ist klar: sierung der Wirtschaft nicht nur für ver- gene Verteidigung kümmern. Was ist da-
Er will es, und zwar unbedingt. Das ist nünftig, sondern für zwingend. ran falsch?
auch richtig so. Die Wählerinnen und Wäh- SPIEGEL: Hat Sie Herr Schulz eigentlich vor- Schröder: Das tun wir doch. Das tun wir
ler in Deutschland geben niemandem die- gewarnt, bevor er sich zur Agendapolitik in dem Rahmen, den wir für richtig halten.
ses Amt, wenn sie das Gefühl haben, er äußerte? Das ist das souveräne Recht eines jeden
ist sich eigentlich zu schade dafür. Es gab Schröder: Warum sollte er? Staates. Ich würde Herrn Trump außer-
mal ein SPIEGEL-Gespräch im Anschluss SPIEGEL: Er will Sie ja wahrscheinlich nicht dem sagen: Vergleicht doch mal den An-
an die Kandidatur von Björn Engholm. als Unterstützer im Wahlkampf verlieren. teil der Entwicklungshilfe, den ihr leistet,
Der Tenor war: Wat mutt, dat mutt. Was Schröder: Wird er auch nicht. Ich habe mei- bezogen auf die Selbstverpflichtung der
sein muss, muss sein. Er wollte damit sig- ne Partei immer unterstützt. Auch in Wahl- Vereinten Nationen, mit dem Anteil, den
nalisieren: Ich bin ein anderer Typus von kämpfen zu Zeiten, in denen die Agenda- wir leisten. Unser Beitrag ist auch nicht
Politiker, nicht so machtbewusst wie an- politik ganz offen kritisiert wurde. genug, aber deutlich höher als eurer. In
dere, eher jemand, der sich nicht vor- SPIEGEL: Sie haben also nicht miteinander Amerika macht man den Fehler zu glau-
drängt. Das ist ehrenhaft, aber eben nicht gesprochen? ben, dass Sicherheit nur etwas mit einer
die richtige Strategie. Wenn Sie um das Schröder: Doch. Wir haben ein langes Ge- starken, hochgerüsteten Armee zu tun
Kanzleramt kämpfen, müssen Sie schon spräch nach seiner Rede in Bielefeld ge- hat. Das ist aber nicht so, wie die Flücht-
drängeln. Anders geht es nicht. führt, und das war sehr freundschaftlich. lingsbewegung gezeigt hat. Die hält man
SPIEGEL: Martin Schulz hat versucht, sich SPIEGEL: Ihr Biograf Gregor Schöllgen hält eben nicht mit einer hochgerüsteten Ar-
mit Kritik an Ihrer Agenda 2010 zu profi- die Kritik von Schulz an der Agenda für mee auf.
lieren. Wie schmerzhaft ist das für Sie? falsch und warnt vor einem Linksruck der SPIEGEL: Deswegen will Trump ja nun auch
Schröder: Das ist ja nicht so. In seiner Par- Partei. Er warnt vor Parolen, die nach Os- noch eine Mauer an der Grenze zu Mexiko
teitagsrede hat er gesagt, dass die Reform- kar Lafontaine klingen. bauen.
politik ein großer, notwendiger Wurf war, Schröder: Da hat er in der Tat recht. Da Schröder: Er vergisst dabei nur, dass Ame-
der Deutschland gestärkt hat. würde es der SPD nicht anders gehen als rika auch deswegen so stark und für viele
32 DER SPIEGEL 14 / 2017
SPIEGEL: Sie kennen den russischen Präsi-
denten Putin gut, nennen ihn einen
Freund. Es heißt, Putin und Trump seien
sich ähnlich: zwei Machos, autoritär, tra-
ditionell. Wird die Chemie zwischen bei-
den stimmen?
Schröder: Ich kenne Herrn Trump nicht per-
sönlich. Aber mir scheinen die beiden
doch eher unterschiedliche Charaktere zu
sein. Wladimir Putin agiert deutlich ratio-
naler als Donald Trump.
SPIEGEL: Erwarten Sie, dass es zu einer An-
näherung zwischen Russland und den USA
kommt?
Schröder: Es wäre wünschenswert ange-
sichts der großen Herausforderungen im
Nahen und Mittleren Osten. Die russische
Politik sagt: Wir sind zu jeder Verbesse-
rung des Verhältnisses bereit, aber wir
wollen Taten sehen. Und das gilt umge-
kehrt genauso. Es braucht ein bestimmtes
Vertrauen und einen gegenseitigen Res-
pekt, um zielorientiert verhandeln zu kön-
nen.
SPIEGEL: Am vergangenen Wochenende
gingen Zehntausende in Russland gegen
Korruption in Putins Reich auf die Straße.
Hunderte junge Leute wurden verhaftet.
Ist das die richtige Reaktion auf friedliche
Proteste?
Schröder: Sicherlich nicht. Russland braucht,
um langfristig politisch und wirtschaftlich
erfolgreich zu sein, eine offene Gesell-
schaft. Und Korruption ist eine der größten
ARMIN SMAILOVIC / DER SPIEGEL

Geißeln des Landes. Aber wir müssen


eben auch sehen, dass diese Gesellschaft
in den vergangenen Jahrzehnten nach
dem Zusammenbruch der Sowjetunion
unglaubliche Brüche erlebt hat. Es gibt
dort in einem Teil der Gesellschaft den
Wunsch nach weiterer Modernisierung,
Schröder beim SPIEGEL-Gespräch:* „Wir brauchen mehr Abstand zu Amerika“ aber in einem nicht unwesentlichen Teil
eben auch den Wunsch nach Stabilität.
Leute beispielhaft ist, weil es ein Einwan- Schröder: Ach, schauen Sie, diese Frage ist Und beides muss kluge Politik miteinander
derungsland war. Da verändert sich was. doch Ihrer nicht würdig. verbinden.
Nicht zum Guten. SPIEGEL: Anders gefragt: Ist Trump gefähr- SPIEGEL: Sie sind nicht nur ein Freund Wla-
SPIEGEL: Wie tief ist die Krise der amerika- lich für die Demokratie? dimir Putins, Sie pflegen auch einen ver-
nischen Demokratie? Beginnt mit Donald Schröder: Dass er die seriösen Medien aus- trauensvollen Kontakt mit dem türkischen
Trump das Ende des Westens? zuschalten versucht, ist tatsächlich gefähr- Präsidenten Erdoğan. Hat die Bundes-
Schröder: Das glaube ich nicht. Aber wir lich für die Entwicklung der Demokratie. regierung auf die Nazivergleiche und die
brauchen mehr Abstand. Amerika ist nicht Ich bin trotzdem nicht ganz pessimistisch, Eskalation in der Debatte richtig reagiert?
das gelobte Land. Wenn ich mir den Um- weil ich an die amerikanischen Institutio- Schröder: Erdoğan hat da einen großen Feh-
gang Trumps mit der Presse anschaue, nen glaube. Es hat in Amerika immer die ler gemacht. Deutschland und seine Regie-
dann habe ich schon den Eindruck, dass Extreme gegeben, die Tea Party auf der ei- rung auch nur in diese Nähe zu rücken ist
die Freiheit der Medien wirklich in Gefahr nen und großartige Publizisten, wie etwa in einem hohen Maße unhistorisch, es ist
ist. Wir müssen deshalb sehr deutlich ma- die viel zu früh verstorbene Susan Sontag, unsinnig und verletzend. Dass die Bundes-
chen, wo unsere Grenzen sind, auch ge- auf der anderen Seite. Und diese Balance regierung, Kanzlerin Merkel und Außen-
genüber Amerika. Es reicht nicht, dass wir hat immer funktioniert. Als Ronald Reagan minister Gabriel, darauf ruhig reagiert ha-
das nur gegenüber der Türkei machen, wir gewählt wurde, haben auch alle gejault und ben, war richtig.
müssen auch Herrn Trump sagen, was uns gesagt: Ein ehemaliger Schauspieler, grau- SPIEGEL: Der Streit ist doch eskaliert, weil
nicht passt, auch wenn das ein bisschen enhaft, was kommt da auf uns zu? Reagan Erdoğan das innenpolitisch gebraucht hat.
schwieriger ist, das gebe ich gern zu. wurde einer der bedeutendsten US-Präsi- Schröder: Ja, natürlich. Und deshalb war
SPIEGEL: Ist Herr Trump in Ihren Augen denten, gerade in der Außenpolitik. Wa- es ein Fehler, dass die Bundesregierung
ein lupenreiner Demokrat? rum? Weil er auf kluge Ratgeber gehört sich bei der Frage, wer hier in Deutschland
hat. Die Frage ist: Hört Trump auf solche auftreten darf, hinter den Kommunen ver-
* Mit den Redakteuren Christiane Hoffmann und Marc Leute, oder glaubt er, er kann alles alleine? steckt hat. Wir haben so getan, als ginge
Hujer in Schröders Kanzlei in Hannover. Bisher hört er nicht auf kluge Ratgeber. es dabei nur um fehlende Parkplätze oder
DER SPIEGEL 14 / 2017 33
Deutschland

Jüngster aller
den Brandschutz. Es war aber eine politi- lich Sorgen um den Wahlkampf. Wenn
sche Angelegenheit. Seehofer auf Konfrontationskurs zu Mer-
SPIEGEL: Sie haben als Bundeskanzler maß- kel geblieben wäre, hätte Söder mit sor-

Zeiten
geblich den EU-Beitrittsprozess der Türkei genvoller Miene verkündet: „Wir können
unterstützt. War das, wenn man sich die nur mit der Kanzlerin zusammen gewin-
Türkei heute ansieht, ein Fehler? nen.“ So funktioniert das in der CSU.
Schröder: Im Gegenteil. Wir haben es in den Der Sieg im Saarland hat eher Seehofers
vergangenen Jahren versäumt, die Türkei CSU Horst Seehofer will noch als Söders Sichtweise bestätigt. Der CSU-
enger an Europa zu binden. Es war ein Feh- Chef ist ohnehin der Meinung, dass er der
ler, dass die CDU nach 2005 nur noch von einmal als Vorsitzender und Einzige in seiner Partei sei, dessen strate-
einer privilegierten Partnerschaft und nicht bayerischer Ministerpräsident gischer Weitblick nicht am Erdinger Moos
mehr über eine Mitgliedschaft gesprochen endet. Seine Partei hat er wissen lassen,
hat. Das hat die Europabegeisterung in der
antreten. Nicht alle in der dass er am 6. Mai verkünden werde, wie
Türkei gedämpft und dazu geführt, dass sich Partei freuen sich darüber. er sich seine weitere Zukunft vorstellt. Bis
nicht nur Erdoğan, damals Ministerpräsi- dahin werde er sich mit allen wichtigen

E
dent, sondern gerade auch viele liberal ein- s heißt, der Sieg habe viele Väter, Männern und Frauen beraten, um eine Ent-
gestellte Türken zurückgesetzt fühlen. und die Niederlage sei ein Waisen- scheidung zu fällen. Nun führt Seehofer
SPIEGEL: Wäre das, was heute passiert, zu kind. Das stimmt nicht immer. Die ungern Gespräche, deren Ausgang noch
verhindern gewesen? Landtagswahl im Saarland vom vergange- nicht feststeht. Daher wird er, da ist man
Schröder: Jedenfalls ist es nicht so, dass nur nen Wochenende hatte einige Verlierer, sich in der CSU einig, aus den Beratungen
die Türken Fehler gemacht haben. Egal auch aufseiten der siegreichen Union. Ei- nur eine Botschaft mitbringen: Er muss
wie das Verfassungsreferendum ausgehen ner davon ist der bayerische Finanzminis- zum Wohle der Partei weitermachen.
wird, brauchen wir die Türkei. Sie ist Nato- ter Markus Söder. Das wird ihm nach der Wahl im Saar-
Mitglied und unsere Flanke zu den Bür- Es ist eine Rolle, in die sich Söder ohne land leichter fallen. Er werde sich, so heißt
gerkriegsregionen im Irak und in Syrien. Not hineinmanövriert hat. Er stand im es in seiner Umgebung, vermutlich schon
Sie ist ein wichtiger Wirtschaftspartner. Saarland nicht zur Wahl. Die Wahlgewin- im April erklären. Vertraute rechnen da-
Und nicht zuletzt sind Millionen Deutsche nerin CDU ist die Schwesterpartei von Sö- mit, dass Seehofer bei der Landtagswahl
türkischstämmig. Wir müssen den Blick ders CSU. Eigentlich müsste er sich freuen. 2018 erneut als Ministerpräsident kandi-
nach vorne werfen. Wir brauchen die Tür- Aber Söder möchte CSU-Chef und baye- dieren wird. Auch den Parteivorsitz werde
kei, und ebenso braucht die Türkei Europa rischer Ministerpräsident werden. Horst er nicht abgeben. Alle anderen Ideen wie
und Deutschland. Seehofer, der Amtsinhaber, will das um je- die Trennung von Parteivorsitz und Minis-
SPIEGEL: Wie hilfreich kann in diesem Fall den Preis verhindern. Nahezu alle politi- terpräsidentenamt, die Seehofer zwischen-
ein gutes persönliches Verhältnis zwischen schen Fragen werden in Bayern auch unter zeitlich ventilierte, um Söder zu ärgern,
den politischen Führern sein? diesem Aspekt verhandelt. wären damit hinfällig.
Schröder: Freundschaftliche Beziehungen Seehofer hat seine Partei auf eine unbe- Zu denen, mit denen Seehofer Gesprä-
helfen, das eine oder andere mal leichter dingte Unterstützung Merkels verpflichtet. che führt, gehört auch Söder. Er will ihn
anzusprechen. Aber viel entscheidender Damit hat er viele in der CSU, die andert- noch einmal auffordern, für die Bundes-
sind die Interessen der Staaten, die sie in halb Jahre lang von ihm nur heftige Kritik tagswahl zu kandidieren. Söder hat dies
solchen Ämtern vertreten müssen. an der Kanzlerin gehört hatten, über- schon öffentlich ausgeschlossen. Er wird
SPIEGEL: Wie gut kommt Merkel mit Män- rumpelt. Für Söder war es eine Gelegen- seine Weigerung im Gespräch mit Seehofer
nern wie Erdoğan oder Putin aus? heit, die er nicht ungenutzt lassen konnte. bekräftigen. Der kann dann darauf hinwei-
Schröder: Ich weiß nicht, ob Frau Merkel Es sei „an der Zeit, der SPD etwas ent- sen, dass nicht alle bereit sind, ihr Bestes
dieser Politikertyp wirklich liegt. Macht- gegenzusetzen“, sagte er in der Woche vor zum Wohle der Partei zu geben.
politiker respektieren sich ja meistens. Das der Saarlandwahl dem „Handelsblatt“. Auf eine Frage gibt es bislang keine be-
gilt für die drei sicherlich auch. „Wir werden diesen Wahlkampf nicht im friedigende Antwort: Warum lässt sich
SPIEGEL: Das klingt nicht so, als ob Sie Stil einer Bilanzpressekonferenz gewinnen, Söder auf den Kleinkrieg mit Seehofer
glaubten, dass Frau Merkel mit Machos es braucht auch Emotionen.“ Das war ge- überhaupt ein? „Söder will der jüngste Mi-
umgehen kann. Aber zu anderen Machos gen Merkel gerichtet und damit auch ge- nisterpräsident werden, den die CSU je hat-
hat sie einen ganz guten Draht entwickelt. gen Seehofer. te“, sagt ein Mitglied der Parteispitze. Das
Schröder: Vielleicht sind das dann keine Man würde Söder missverstehen, wenn Ziel könnte er nur erreichen, wenn Horst
Machos. man ihm unterstellte, er mache sich wirk- Seehofer vor der Landtagswahl abtritt.
SPIEGEL: Zwischen Ihnen und Frau Merkel Wahrscheinlicher ist, dass Söder Angst
läuft es aber auch nicht so schlecht, oder? davor hat, Seehofer könnte seinen Aufstieg
Schröder: Frau Merkel hat vor einiger Zeit doch noch verhindern. Was wäre, wenn
eine Biografie über mich vorgestellt, das Söders einstiger Widersacher, der frühere
hat mich schon gefreut. Und ganz grund- Verteidigungsminister Karl-Theodor zu
sätzlich: Wenn man so langsam auf die Guttenberg, in die Politik zurückkehrte?
75 zugeht, relativieren sich alte Gegner- Das ist nicht sehr wahrscheinlich, aber
schaften. Ich treffe mich jetzt sogar häufig auch nicht ausgeschlossen. Seehofer koket-
mal mit Edmund Stoiber. tiert gern mit dieser Möglichkeit. Ein Jahr
SPIEGEL: Herr Schröder, wir danken Ihnen ist in der Politik eine lange Zeit. Derzeit
SVEN HOPPE / DPA

für dieses Gespräch. wäre Söder der einzig ernsthafte Nachfol-


gekandidat, aber das kann sich ändern.
Video: Der Finanzminister weiß, was er auf kei-
Mr Basta nen Fall werden will: der ewige Thronfol-
spiegel.de/sp142017schroeder Söder-Unterstützer auf CSU-Kundgebung ger, der Prinz Charles der CSU.
oder in der App DER SPIEGEL „Es braucht auch Emotionen“ Ralf Neukirch

34 DER SPIEGEL 14 / 2017


„Da wir uns
präsidenten Roland Koch (CDU),
der in Unionskreisen noch immer
großes Ansehen genießt. In einer

kennen“
Präsentation wollten sie Dobrindt
weismachen, die im SPIEGEL zi-
tierten Daten seien falsch inter-
pretiert. Die KBA-Beamten hielten
Karrieren Merkels neuer Wahl- dagegen und verfügten, dass Opel
die Abschalteinrichtungen aus der
kampfstratege war Cheflobbyist Software des Zafira tilgen soll.
von Opel in der Abgasaffäre. Hat Auch die Zulassung des neuen Mo-
dells stand auf dem Spiel.
er den Präsidenten einer Bundes- Nun riss Koschnicke die Geduld.
behörde unter Druck gesetzt? Der Lobbyist fragte am 4. Juli 2016
in einer geharnischten E-Mail an

Z
um Abschied schmeichelte Joachim den KBA-Präsidenten, warum
Koschnicke seinen alten Kollegen. noch immer keine Zulassung für
Nach „vier faszinierenden Jahre mit den Zafira erteilt worden sei. Das
Opel“ bedanke er sich für die Zusammen- werde „potenzielle Auswirkungen

ABACA / DDP IMAGES


arbeit. Jetzt aber werde er für die mäch- auf unseren Geschäftsbetrieb“ ha-
tigste Frau Europas arbeiten. Wer kann da ben, die er dem Behördenchef „auf-
schon Nein sagen? „Von April bis Okto- zeigen“ müsse. Die Produktion in
ber werde ich einmal mehr im Konrad- fünf Werken sei bedroht, „die Aus-
Adenauer-Haus den Wahlkampf der CDU wirkungen wären in jeder Hinsicht
bzw. der Parteivorsitzenden und Bundes- dramatisch“. Deshalb könne es
kanzlerin, Dr. Angela Merkel, unterstüt- auch nur „eine mögliche Antwort“
zen“, schrieb er in einer Mail. geben: nämlich die Genehmigung.
Um seinen neuen Job dürfte ihn jeder Um sicherzustellen, dass der Be-
andere Lobbyist in Berlin beneiden. hördenchef dem Schreiben das nö-
Schließlich wird Koschnicke, 44, nicht nur tige Gewicht beimessen würde,
neue Drähte in die Regierungszentrale le- adressierte Koschnicke es auch an
gen können. Seine Aufgabe wird es auch Zinkes Vorgesetzten: Staatssekre-
sein, die Marke Merkel aufzupolieren. In tär Michael Odenwald, „in Kopie“.
ULLSTEIN BILD
seiner Zunft heißt das „Krisen-PR“, eine Dass Opel mit allen Mitteln ver-
Disziplin, in der er sich in den vergange- suchte, das Verfahren politisch zu
nen Monaten besonders hervorgetan hat. beeinflussen, war den Prüfern be-
Als „Vice President Public Policy“ hat Ko- Parteichefin Merkel, CDU-Wahlkämpfer Koschnicke wusst. Ein beteiligter Spitzenbeam-
schnicke den Rüsselsheimer Autobauer in Ein Glücksfall für den Autobauer ter erinnert sich: „Wir haben stän-
der Dieselaffäre vertreten, mit durchaus dig damit gerechnet, einen Anruf
fragwürdigen Methoden. Interne E-Mails Diese maß auch bei Opel-Modellen hohe aus dem Kanzleramt zu bekommen.“ Den
und Protokolle zeigen, wie der Polit- Stickoxidwerte und verlangte Erklärungen. Vorsitzenden des Bundestags-Untersu-
karrierist die Unregelmäßigkeiten an der Koschnicke griff ein, zunächst betont jo- chungsausschusses zum Abgasskandal, Lin-
Motorsoftware der Opel-Modelle klein- vial. Dem Präsidenten des Kraftfahrt-Bun- ken-Politiker Herbert Behrens, überrascht
redete, Amtsleiter unter Druck setzte und desamtes (KBA), Ekhard Zinke, schrieb er Koschnickes Auftreten nicht, die „Grenze
dabei seine Verbindungen in die Union in einer E-Mail vom 26. November 2015 zwischen Regierung und Wirtschaft“ lasse
spielen ließ. Der Vorgang belegt, wie eng („Da wir uns kennen“), Opel wolle dem sich nicht klar bestimmen. Sein Stellver-
Merkel und ihre Vertrauten mit der Autoin- „Aufklärungsinteresse“ mit „noch mehr treter Oliver Krischer (Grüne) sagt: „Es
dustrie verquickt sind. Ihr ehemaliger Bü- Transparenz“ begegnen. bleibt der Eindruck, dass Koschnicke das
roleiter Michael Jansen leitet die Haupt- Doch mit Offenheit war schnell Schluss, KBA kontrollierte und nicht umgekehrt.“
stadtrepräsentanz von Volkswagen. Merkels als die Beamten feststellten, dass Opel of- Koschnicke ließ eine Anfrage des SPIEGEL
einstiger Staatsminister Eckart von Klaeden fenbar eine ähnliche Abschalteinrichtung unbeantwortet.
dirigiert das Lobbybüro von Daimler. eingesetzt hatte wie VW. Die Prüfer hätten Am Ende erteilte das KBA nur wenige
Auch Koschnicke zählt seit Langem zum „keine einheitlichen Testbedingungen an- Wochen später die Genehmigung für den
Kreis ihrer Getreuen. Zwischen 2005 und gewandt“, beschwerte sich Koschnicke in neuen Zafira. Und das alte Modell ist, an-
2011 stand er dem Bereich Strategische Pla- einer E-Mail vom 1. März 2016. Ihre Er- ders als von Opel versprochen, immer
nung und Strategische Kommunikation in gebnisse seien „rechtlich nicht relevant“. noch nicht umgerüstet. Jetzt hat der Kon-
der CDU-Parteizentrale vor. Merkel schick- Dennoch musste Opel nachbessern, frei- zernvertreter erst einmal sieben Monate
te ihn als Nothelfer 2010 in den Wahlkampf willig, so die gesichtswahrende Lösung. Abwechslung vom Lobbyistenleben. So
nach Nordrhein-Westfalen. Über eine Zwi- Umso genervter war Minister Dobrindt, lange läuft das Engagement in der CDU-
schenstation beim Meinungsforschungs- als er im Mai im SPIEGEL nachlesen konn- Parteizentrale. Bleibt Merkel an der Macht,
institut Forsa landete er schließlich bei Opel. te, dass Opel noch drei weitere Abschalt- winkt ein Job in der Regierung. Verliert
Das sollte sich für den Rüsselsheimer einrichtungen in seinem Familienwagen sie die Wahl, könnte er wieder in die Rüs-
Autobauer als Glücksfall erweisen. Nach Zafira verwendet hatte. Um den Zorn des selsheimer Konzernzentrale wechseln.
dem Ausbruch des Abgasskandals bei Ministers zu dämpfen, musste Konzern- In seiner Abschieds-E-Mail vom Diens-
Volkswagen im September 2015 hatte Ver- chef Karl-Thomas Neumann nach Berlin tag schrieb Koschnicke ins Betreff: „Auf
kehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) eilen. Begleitet wurde er von Koschnicke Wiedersehen /Goodbye“.
eine Untersuchungskommission eingesetzt. und dem ehemaligen hessischen Minister- Sven Becker, Gerald Traufetter

DER SPIEGEL 14 / 2017 35


Deutschland

Verstörende Gedankenwelt
Referendum Auf Internetseiten wie „Osmanische Generation“ oder „Muslim Mainstream“
sammeln sich im Netz Zehntausende Erdoğan-Anhänger – und hetzen gegen Kritiker.

E
ine Frau hat eine kleine Liebes- ihre Finger mit im Spiel? Ömer Faruk,
erklärung an Recep Tayyip Er- Anfang zwanzig, hat vor vier Jahren
doğan verfasst. „Führer bis die Facebook-Seite „Wir haben Er-
zum Tod, ,Ja‘ bis zum Tod, Vaterland doğan“ mitgegründet. Zurzeit ver-
bis zum Tod“, steht auf einem Stück bringt der Frankfurter jeden Tag meh-
Papier, zwei rote Herzen hat sie da- rere Stunden damit, auf Facebook
nebengemalt und das Ganze samt oder Instagram Kommentare, Videos
Wahlzettel mit dem Handy fotogra- oder Nachrichten zu posten. Er sei
fiert. Danach hat sie es via Facebook Teil einer Kerngruppe von 50 bis

SASCHA SCHUERMANN / AFP


in die Welt geschickt. 70 jungen Leuten, die mehrere Seiten
Andere Botschaften im Internet bestücken, sagt er. Die „Osmanische
sind offen feindselig: „Als würde ich Generation“ gehöre zu dem Freun-
die Ungläubigen schlagen, habe ich desnetzwerk genauso wie „Unchained
meinen Stempel gesetzt“, hat ein New Turkey“ oder „Stolz der Tür-
Deutschtürke gedichtet und das Werk kei – R. T. Erdoğan“.
ebenfalls neben seinem Wahlschein „Die deutsch-türkische Communi-
abgelichtet. Bei der Volksabstim- ty ist darauf angewiesen, dass wir das
mung zur Verfassungsänderung in machen“, behauptet Faruk. Die meis-
der Türkei machen die Wähler kein ten Türken fühlten sich durch die
Kreuz, sondern stempeln ihre Ent- deutschen Medien nicht vertreten.
scheidung entweder mit „Hayır“, Außerdem sei das Bedürfnis nach
Nein, oder mit „Evet“, Ja. „richtigen Informationen“ zum The-
Seit hierzulande am 27. März die ma Türkei extrem groß. Warum zum
Wahllokale für 1,4 Millionen wahl- Beispiel, fragt er, zeige kein deut-
berechtigte Türken in Deutschland sches Nachrichtenportal, dass Er-
öffneten, kursieren viele dieser Foto- doğan vor ein paar Tagen in Istanbul
Statements in den sozialen Netzwer- einen Wahlkampfstand der Opposi-
ken, und sie enthalten häufiger Hass tion besucht habe, um den Dialog zu
als Herzchen. Am 16. April fällt die suchen? Seine Antwort liefert er
Entscheidung, ob Staatspräsident Re- gleich dazu: „Weil es nicht in euer
cep Tayyip Erdoğan die Türkei zu ei- Bild von ihm passt.“
nem Präsidialsystem umbauen darf. Zur Recherche ihrer Nachrichten
In deutsch-türkischen Nachrichten- nutzen der Hobbyjournalist und
blogs, auf Facebook-Seiten oder Ins- seine Mitstreiter türkische Medien,
tagram-Profilen gibt es derzeit kaum sie fragten auch direkt bei der Re-
ein anderes Thema. gierungspartei AKP an, sagt Faruk.
Die meisten Erdoğan-Anhänger, Dafür gebe es eine eigene WhatsApp-
die sich dort tummeln, fiebern einem Gruppe mit Abgeordneten in der
Türkei.
MARKUS HINTZEN / DER SPIEGEL

weiteren Machtausbau ihres Präsiden-


ten entgegen. Sie lassen sich in Kom- Faruk ist in Deutschland geboren
mentarspalten von Seiten wie „Mus- und will vom kommenden Winter-
lim Mainstream“ oder „News Special semester an Jura studieren. Er lese
24“ auf Facebook aus. Diese Ange- durchaus auch deutsche Zeitungen
bote haben Zehntausende Nutzer. und Magazine, sagt er, das fällt aber
Die „Osmanische Generation“, die offenbar eher unter das Motto Feind-
eine Türkei in ihrer historischen Grö- Pro-Erdoğan-Demonstranten in Oberhausen, Anhänger Faruk beobachtung. Vieles, was er da sehe,
ße heraufbeschwört, wurde schon „Wer Hass sät, muss damit rechnen, Hass zu ernten“ sei „totaler Quatsch“. Beispielsweise
50 000-mal mit „Gefällt mir“ bedacht. werde häufig falsch aus dem Türki-
Der heftige Streit zwischen Deutschland nungen und anderen Wahrheiten, als sie schen zitiert, behauptet er. Als Erdoğan
und der Türkei um Wahlkampfauftritte in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert über türkischstämmige Bundestagsabge-
türkischer Politiker hat den Pro-Erdoğan- werden. Die Gedankenwelt, die sich hier ordnete, die für die Armenien-Resolution
Gruppen viele neue Fans eingebracht. Zu- offenbart, ist teilweise verstörend. Dass stimmten, sagte, sie hätten „verdorbenes
vor befeuerten die Debatten um das Böh- zionistische Geldgeber hinter deutschen Blut“, sei das wörtlich übersetzt worden.
mermann-Schmähgedicht über Erdoğan Medien steckten, ist unter den Nutzern Treffender sei, dass sie einen schlechten
oder die Bundestagsresolution zum Völ- häufig Konsens, genauso wie die Behaup- Charakter hätten, das bedeute der Aus-
kermord an den Armeniern ihren Furor. tung, dass westliche Mächte am liebsten spruch. Etliche Medien nannten damals
Im Netz ist so eine starke konservativ- ein großisraelisches Reich erschaffen woll- allerdings beide Übersetzungsvarianten.
muslimische Gegenöffentlichkeit entstan- ten. Und hatten die Deutschen beim Cem Özdemir ist eine der meistgehass-
den – mit anderen Themen, anderen Mei- Putschversuch in der Türkei nicht auch ten Figuren in der digitalen türkischen Öf-
36 DER SPIEGEL 14 / 2017
fentlichkeit. Auf vielen Facebook-Seiten anlässlich der niederländischen Wahlen im tunesische Fußballspieler Änis Ben-Hatira
wurde in den vergangenen Tagen ein Vi- Livestream ein „kollektives Morgenkot- Darmstadt 98 verlassen, nachdem er den
deo des Grünen-Parteichefs geteilt, in dem zen“ (mehr als 20 000 Aufrufe) an, um sei- Hilfsverein Ansaar International unter-
er für ein Nein beim Referendum wirbt. ne Botschaften loszuwerden. stützte? Die Organisation ist laut Verfas-
Er wird in den Kommentarspalten fast nur Ömer Faruk von „Wir haben Erdoğan“ sungsschutz eng mit der deutschen Sala-
„Götdemir“ genannt. „Göt“ heißt auf Tür- schlägt längst nicht so schrille Töne an. Er fistenszene verwoben. Oder: Warum wur-
kisch „Arsch“. „Hurensohn“, „ehrloser ist ein höflicher Gesprächspartner. Trotz- de in Deutschland nicht mehr über den
Bastard“ und „bekiffter Hirniii!“ gehören dem löscht er die Hasskommentare vieler Tod eines syrischen Jugendlichen in Bre-
noch zu den schmeichelhafteren Ver- Nutzer nicht. Er befürworte so etwas zwar men berichtet, den Kurden zu Tode geprü-
unglimpfungen. nicht, sagt er. Aber es sei ihm „schon rein gelt haben sollen? Wieso werde nicht stär-
Auch den verfolgten ehemaligen Chef- zeitlich nicht möglich, alles zu kontrollie- ker gegen die PKK vorgegangen, die in
redakteur der „Cumhuriyet“, Can Dündar, ren und zu löschen“. Außerdem: „Wer Deutschland als Terrororganisation verbo-
der in Deutschland im Exil lebt, haben die Hass sät, muss auch damit rechnen, Hass ten ist? „Seiten wie die der ‚Osmanischen
Erdoğan-Anhänger im Visier. Es kursiert zu ernten.“ Er und seine Seite seien selbst Generation‘ befassen sich mit diesen Din-
ein Foto von ihm, bei dem sein Mund häufig Zielscheibe für Drohungen und Be- gen. Sie geben den Jugendlichen das Ge-
durch einen Anus ersetzt wurde. Dem in- schimpfungen, so Faruk, vonseiten der fühl: Wir sind für euch da, ihr seid einer
haftierten deutsch-türkischen Journalisten Rechten, aber auch von Erdoğan-Gegnern. von uns“, sagt Ahmadi. Das spreche sie
Deniz Yücel wünscht man, dass er „im Siamak Ahmadi, 35, kennt die meisten an, gerade in der Pubertät, einer Zeit der
Knast verrecken“ möge. gängigen Verschwörungstheorien. Er fin- Identitätssuche.
Als vermeintlichen Beleg für seine Nähe det sie online, aber auch offline, wenn er Einer Studie der Universität Bielefeld
zu PKK-Terroristen führen manche Portale mit Jugendlichen spricht. Der Berliner zufolge hatten schon 2012 nur 16,5 Prozent
ein Foto Yücels an, das während der Kul- Psychologe hat die Initiative „Dialog der Muslime in Deutschland das Gefühl,
turveranstaltung „Hate Poetry“ aufgenom- macht Schule“ mitgegründet. Sie soll das dass sich die etablierten deutschen Medien
men wurde. Deutsche Journalisten mit Demokratieverständnis und die Persönlich- um ihre Bedürfnisse kümmerten. Seitdem
Migrationshintergrund machen sich auf die- keitsentwicklung von Jugendlichen, die ist viel passiert, was das Verhältnis nicht
sem Podium über rassistische und andere mehrheitlich einen Migrationshintergrund unbedingt verbessert hat. Mehr als 80 Pro-
Hass-Leserbriefe lustig. Die Bühne ist jedes haben, stärken. Ahmadi und sein Team zent meinten, dass Muslime in den Medien
Mal mit Girlanden und Flaggen geschmückt, schicken sogenannte Dialogmoderatoren stereotyp dargestellt würden.
auch das Porträt von PKK-Führer Abdullah in die Schulen, um über Themen wie So- Ein Deutschtürke postete vor einigen
Öcalan hängt bisweilen neben Angela Mer- cial Media, Identität oder Terror zu dis- Tagen seine eigene Botschaft aus der Wahl-
kels Foto am Tisch. Ein satirisches State- kutieren. Manchmal lassen sie die Jugend- kabine eines türkischen Generalkonsulats
ment, kein politisches. Der türkischen Pro- lichen auch Beiträge gestalten, die sie auf auf Facebook. „Dieses Ja ist für euch“,
paganda im Netz dient es als Beweis. Facebook posten können. schrieb er auf einen Zettel neben seinem
Besonders der Blogger Bilgili Üretmen Die Initiative versucht auf diese Weise, Wahlschein. „Für Cem Götdemir und die
hat sich auf den „Welt“-Korrespondenten eine Art Gegengewicht zu den populären deutschen Medien.“
eingeschossen. Als Facebook-Hintergrund- Internetportalen zu bilden. Allein die Seite Susan Djahangard, Katrin Elger
bild hat er auf seiner Profilseite das Kon- „Killuminati Δ“ hat auf Facebook 600 000
terfei des Journalisten hochgeladen, über- Abonnenten. Auf Seiten wie dieser wer- Lesen Sie auch
schrieben mit einem fetten „#FCKYücel“, den nicht nur Verschwörungstheorien prä- Seite 58 Wirtschaft und Tourismus in der
Fuck Yücel. Seinen Videos gibt Üretmen sentiert, sondern auch Fragen aufgeworfen, Türkei leiden unter der politischen Situation
Titel wie „#EVETmitAnlaufinDieFresseE- die sich viele muslimische Jugendliche of- Seite 76 Die türkische Regierung lässt
VET“ (mehr als 140 000 Aufrufe) oder regt fenbar stellen: Warum musste der deutsch- weltweit ihre Bürger bespitzeln

Was dich bewegt. Reportagen aus Europa.


Montag bis Freitag 19:45 auf ARTE und jederzeit im Netz.
@arteRe /REbyARTE arte.tv/re
Deutschland

„Die Wähler sind Hobbits“


SPIEGEL-Gespräch Mehr Demokratie wagen? Bloß nicht, sagt der US-Philosophieprofessor
Jason Brennan. Seine Kur gegen Populisten: nur die informierten Bürger wählen lassen.

Brennan, 37, ist Professor für Politikwissen- den niedrigsten Einkommen kann sich so- Brennan: Ja, und dabei bin ich kein Pater-
schaft und Philosophie an der Georgetown gar über einen Kaufkraftzuwachs von rund nalist. Als Konsumenten können die Men-
University in Washington. Er beschäftigt sich 60 Prozent freuen. Diese Menschen kaufen schen sehr gut Entscheidungen treffen, nur
vor allem mit Demokratietheorie sowie Wah- mehr importierte Waren und wehren sich eben nicht in der Politik. Wenn man sich
len und provoziert zurzeit mit seinem Buch also gegen eine Politik, die ihnen mehr entscheidet, ein bestimmtes Auto zu kau-
„Gegen Demokratie“*. hilft als mir. fen, muss man mit den Konsequenzen
SPIEGEL: Wollen Sie bestreiten, dass die leben. Aber bei der Wahl ändert meine
SPIEGEL: Mr Brennan, Sie haben den Wahl- Einkommen der obersten 10 Prozent in einzelne Stimme überhaupt nichts.
sieg von Donald Trump einen „Tanz der den vergangenen 20 Jahren dramatisch ge- SPIEGEL: Wenn genug Leute genauso den-
Trottel“ genannt. Was meinen Sie damit? stiegen sind, die der unteren 50 Prozent ken, schon.
Brennan: Trump hat besonders große Un- aber stagnieren? Brennan: Aber eben nicht der Einzelne:
terstützung bei den Wählern, die beson- Brennan: Das stimmt für die Vereinigten Wenn ich in einer großen Vorlesung mit
ders wenig über Politik wissen. Staaten und den überwiegenden Rest der tausend Studenten sage, ihr bekommt alle
SPIEGEL: Sie wollen solche Wähler von den Welt, aber das heißt noch lange nicht, dass dieselbe Note, nämlich die Durchschnitts-
Wahlen ausschließen. Wie kommen Sie es politische Entscheidungen waren, die note aller Abschlussklausuren, wird diese
auf eine solch krasse Idee? diesen Leuten geholfen haben und ande- Note eine Sechs sein. Experimente bestä-
Brennan: Ich habe das schon vor dem Brexit ren nicht. Im Gegenteil: Es gibt ein Bündel tigen das. Nicht weil die Leute dumm sind,
und vor der Trump-Wahl vertreten. Doch Maßnahmen, die Menschen mit geringem böse oder unverantwortlich. Die Leute ler-
seit beiden Ereignissen ist das Interesse an Einkommen helfen sollen. Dass im ganzen nen nichts, weil die Anreize falsch sind.
meinen Thesen deutlich gestiegen. In Eng- Land die obersten zehn Prozent höhere So ist es auch in der Demokratie: Sie gibt
land hat sich klar gezeigt: Wer beim Bre- Zugewinne hatten, ist wahrscheinlich das mir Anreize, uninformiert zu sein. Wenn
xit-Referendum für das Bleiben gestimmt Ergebnis einer globalisierten Ökonomie, ich mich informiere, zählt meine Stimme
hat, konnte viel genauer sagen, wie viele die sehr kluge Leute mit großem techni- genauso viel wie die eines Uninformierten.
Einwanderer aus der EU es gab, wie hoch schem Wissen honoriert. SPIEGEL: Ist es nicht das Wesen der reprä-
Investitionen aus der EU waren und wie SPIEGEL: Diese Entwicklung könnte man sentativen Demokratie, dass wir Politiker
teuer Sozialhilfe. Je besser man die Fakten politisch abmildern. wählen, denen wir vertrauen und deren
kannte, umso wahrscheinlicher hat man Brennan: Es gibt auch in den USA Umver- Weltbild halbwegs unserem entspricht, die
fürs Bleiben gestimmt. teilung durch Steuern, das scheint nur dann für uns entscheiden?
SPIEGEL: Meist wird als Mittel gegen Popu- nicht viel zu ändern für Arbeiter vom Brennan: Ja, und weil sich die gewählten
listen mehr Demokratie empfohlen, um Land, die vor 60 Jahren Jobs in Fabriken Politiker häufig auf die Seite der besser
die Leute einzubinden, die sich im poli- hatten und jetzt keine. informierten Wähler schlagen, funktioniert
tischen Prozess nicht gehört fühlen. Sie SPIEGEL: Und diese Leute, die tendenziell es ganz gut. Die empirische Forschung hat
wollen dagegen weniger Herrschaft des wenig über Politik wissen, wollen Sie von herausgefunden, dass George W. Bush am
Volkes. Warum? der Wahl ausschließen. häufigsten auf der Seite der uninformier-
Brennan: Wenn man Länder anschaut, die Brennan: Es würde sie natürlich wütend ten und armen Leute stand, etwa bei der
eine Wahlpflicht haben, zeigt die Empirie, machen, aber es würde ihnen auch helfen, Entscheidung für den Irakkrieg. Obama
dass rechtsextreme Parteien für gewöhn- weil sie im Moment so wählen, dass sie und Kennedy standen eher auf der Seite
lich ein paar Sitze dazugewinnen, weil sich selbst ins Knie schießen. Sie entschei- der Reichen. Aber die Wähler fordern von
dann Leute zur Wahl gehen, die norma- den gegen ihre Interessen. den Politikern nach der Wahl die Wahl-
lerweise zu Hause geblieben wären. Und SPIEGEL: Wie meinen Sie das? versprechen ein, was schadet.
zu der Sorge, dass viele Leute in den USA, Brennan: Wenn man Wähler fragt, in den SPIEGEL: In Ihrem Buch haben Sie verschie-
in Frankreich, in den Niederlanden sagen, USA, in Großbritannien und auch in dene politische Typen kategorisiert.
sie würden nicht gehört: Dieser Glaube Deutschland, können sie die einfachsten Brennan: 50 Prozent der Wähler sind Hob-
basiert selbst auf einer Fehlinformation. Fragen nicht beantworten. Sie wissen bits, sie interessieren sich nicht groß für
SPIEGEL: Was meinen Sie damit? nicht, ob die Arbeitslosenquote zunimmt aktuelle Ereignisse, sie interessieren sich
Brennan: Die Geschichte, die erzählt wird, oder abnimmt, und sie haben nicht ansatz- für ihr zweites Frühstück und wollen ent-
geht doch so: Die amerikanischen Eliten weise einen Schimmer, wie hoch sie ist. spannen. Die nächste Kategorie sind die
hätten die Interessen der weißen Bevölke- Sie wissen nichts über die Staatsschulden Hooligans, sie interessieren sich sehr für
rung auf dem Land übergangen und poli- und die Entwicklung der Kriminalitätsrate. Politik, aber mehr wie Fußballfans sich für
tische Entscheidungen zu deren Lasten ge- Und wenn man nicht weiß, was das Pro- ihr Team interessieren, alles parteiisch ein-
troffen. Das ist eine Tatsachenbehauptung, blem ist, ist man in keiner guten Position, gefärbt. Und dann sind da noch Vulkanier,
und sie ist falsch. Der Freihandel hat dazu eine Lösung zu finden. Wenn man der rationale Menschen, die leidenschaftslos
geführt, dass Menschen mit hohem Ein- Wirtschaft helfen will, sollte man es nicht für das beste Argument entscheiden. Nicht
kommen erleben, dass ihre Kaufkraft um mit merkantilistischen Methoden versu- dass es solche Vulkanier tatsächlich gibt,
etwa 30 Prozent steigt, das Zehntel mit chen, deren Wirksamkeit der Ökonom aber sie hatte der Philosoph Jürgen Ha-
Adam Smith schon 1776 widerlegt hat. bermas für sein Modell der Demokratie
* Jason Brennan: „Gegen Demokratie“. Ullstein; 464 Sei- SPIEGEL: Sie wollen die Bürger wie Kinder vor Augen. Die Daten zeigen, dass wir im-
ten; 26 Euro. Erscheint am 7. April.
Das Gespräch führte die Redakteurin Cordula Meyer in behandeln, die nicht wissen, was gut für mer mehr zum Hooligan werden, je länger
Washington. sie ist? wir uns mit Politik beschäftigen.
38 DER SPIEGEL 14 / 2017
SPIEGEL: Wie soll eine Herrschaft der Wis-
senden praktisch funktionieren?
Brennan: Es wäre besser, ein System zu
nehmen, das uninformierte Wähler nicht
ausschließt, sondern die Stimmen der In-
formierten stärker gewichtet. Alle Wähler
müssten vor dem Urnengang einen Test
machen und angeben, zu welcher demo-
grafischen Gruppe sie gehören, weil das
die Wahl beeinflusst. Dann würde man das
Wahlverhalten der gut Informierten aus
jeder Gruppe nehmen, auf den Rest der
Gruppe hochrechnen und dabei Faktoren
wie Geschlecht und ethnische Herkunft
berücksichtigen. Auf diese Weise würde
man eine perfekt informierte Öffentlich-
keit simulieren, um eine bessere Regierung
zu bekommen.
SPIEGEL: Deutsche könnten sich ans
preußische Dreiklassenwahlrecht erinnert
fühlen. Amerikaner an Wissenstests für
Schwarze, um sie von den Wahlen auszu-
schließen. Ihr Modell ist zutiefst ungerecht.
Brennan: Armen schwarzen Bürgern ist
vielleicht am besten geholfen, wenn man
die 80 Prozent am schlechtesten informier-
ten Weißen nicht wählen lässt. Gut infor-
mierte Weiße sind für Entkriminalisierung
von Drogen, geringere Gefängnisstrafen
und für ein besseres Schulsystem. Schlech-
ter informierte Weiße würden niemals den
nuancierten Sozialprogrammen zustim-
men, die tatsächlich wirken.
SPIEGEL: Die Demokratie wird derzeit in
vielen Ländern attackiert, etwa in Russ-
land, Polen und der Türkei. Wäre es da
nicht wichtiger, die Demokratie zu stär-
ken, statt sie mit Ihren Vorschlägen zu
untergraben?
Brennan: Obwohl mein Buch den Titel „Ge-
gen Demokratie“ trägt, beunruhigt mich
diese Entwicklung sehr. Ich sage nur, dass
repräsentative Systeme wie eine Herr-
schaft der Wissenden, eine Epistokratie,
besser funktionieren als: ein Mensch, eine
Stimme. Putin und Erdoğan wollen die De-
mokratie durch eine autoritäre Herrschaft
ersetzen, die definitiv schlechter funktio-
niert.
SPIEGEL: Sie schreiben, Demokratie sei eine
Art Religion des Westens. Ist das nicht ar-
rogant?
Brennan: Es ist meine intellektuelle Mis-
sion, der Politik den Heiligenschein zu
nehmen. In den USA ist Wählen ein Sa-
krament. Aber wenn wir unsere Verfas-
sung als so heilig erachten wie die Bibel,
nehmen wir uns Chancen. Das parlamen-
tarische System in Deutschland funktio-
LEXEY SWALL / GRAIN / DER SPIEGEL

niert besser als das präsidiale System in


den USA, das dem Präsidenten zu viel
Macht gibt. Unsere Gründungsväter wuss-
ten das 1789 noch nicht, und wir können
nie etwas daran ändern, weil die Verfas-
sung heilig ist.
SPIEGEL: Schon Kanzler Willy Brandt hat
Wissenschaftler Brennan: „Demokratie ist nur ein Werkzeug, das Ergebnisse bringt“ davor gewarnt, Politiker zu idealisieren,
DER SPIEGEL 14 / 2017 39
Deutschland

er sagte: „Wir sind keine Erwählten, wir SPIEGEL: Der belgische Historiker David Brennan: Ja, aber das spielt in meinem
sind Gewählte.“ Weniger gefallen dürfte Van Reybrouck hat vorgeschlagen, dem Buch keine Rolle. Vielleicht ist es libertär
Ihnen einer seiner berühmtesten Sätze: Zufallsprinzip in der Demokratie mehr zu sagen, Demokratie sei nur ein Werk-
„Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Platz einzuräumen. zeug.
Brennan: Das nenne ich demokratischen Brennan: Da ist er nicht der Einzige. Der SPIEGEL: Viele Leute sorgen sich wegen
Fundamentalismus – die Probleme der De- mexikanische Philosoph Claudio López- niedriger Wahlbeteiligung. Sie müssten das
mokratie mit noch mehr Demokratie Guerra hat vorgeschlagen, vor einer Wahl eigentlich gut finden.
beheben zu wollen. Die Menschen haben 20 000 Leute auszulosen, diese wären Brennan: Genau. Wählen ist das Ausüben
eine idealistische Sichtweise, dass die repräsentativ für das ganze Land. Bevor von Macht über andere, und man sollte in-
Demokratie wie ein gutes Klassenzimmer sie wählen dürften, müssten sie ihre formiert sein, wenn man diese Macht aus-
funktioniert: Die Leute haben alles gele- Kompetenz schulen, diskutieren oder übt. Ein Grund, warum die Politik in der
sen, sie haben unterschiedliche Ansichten, Informationsmaterial lesen. Diesen Leuten Schweiz so gut funktioniert, ist, dass viele
sie argumentieren und sehen die Kraft des würde man mehr Einfluss geben, sodass Leute auf lokaler Ebene wählen, wo sie
Arguments des anderen. Der wichtigste sie einen Anreiz hätten, sich zu infor- sich auskennen. In manchen nationalen Re-
Vertreter dieser Schule ist Habermas. mieren. ferenden stimmen nur 20 Prozent ab, die
SPIEGEL: Was ist daran falsch? SPIEGEL: Was versprechen Sie sich von der kennen sich aber besser aus als der Rest.
Brennan: Es ist ein wunderbares Ideal, aber Epistokratie? SPIEGEL: In Ostdeutschland macht man-
wenn jemand in der normalen Welt Belege Brennan: Es würde sich lohnen, solche Ele- cherorts ein Fünftel der Wähler das Kreuz
dafür bekommt, dass er falschliegt, glaubt mente auszuprobieren. Demokratie ist bei der AfD, viele gehen zu Pegida-De-
er noch viel stärker an seine Posi- monstrationen. Die Menschen sa-
tion. Er lässt die Argumente der an- gen, dass es zu viele Ausländer
deren Seite nicht zu. Meine Kolle- gebe und ihre Sorgen nicht gehört
gin Diana Mutz hat eingefleischte würden. Wie, glauben Sie, werden
Demokraten gebeten, zu erklären, diese Menschen reagieren, wenn
warum jemand Republikaner sein Sie sie beiseiteschieben?
könnte. Viele antworteten: „Weil er Brennan: Vielleicht nicht allzu gut?
dumm und böse ist.“ Diese Ant- Das ist eine der Sorgen, die mit der
wort wies im Übrigen darauf hin, Epistokratie verbunden sind. Das
dass die Person in der Politik aktiv System würde bessere Politik pro-
war, häufig wählte und für Wahl- duzieren, aber die Leute würden
kämpfe spendete. gegen das System rebellieren.
SPIEGEL: Es sollte doch wohl jedem SPIEGEL: Und dann?
möglich sein, die Argumente der Brennan: Es könnte sein, dass es un-
anderen Seite zumindest wiederge- beabsichtigte Folgen gibt, die alles
ben zu können. schlechter machen. Ich sage nur,
Brennan: Wer als Demokrat in der dass wir offen sein sollten.
Lage war, republikanische Ideen SPIEGEL: In Brüssel ist die Herrschaft
ODD ANDERSEN / AFP

zutreffend wiederzugeben, war der Experten weitreichend, Jean-


häufig Nichtwähler und nahm auch Claude Juncker, der Präsident der
sonst nicht an der Demokratie teil. Europäischen Kommission, hat
Beängstigend. zugegeben, die europäische Inte-
SPIEGEL: Welches Argument für die Pegida-Demonstration in Dresden gration leise vorangetrieben zu
Demokratie überzeugt Sie am „Sich selbst ins Knie schießen“ haben, um die Wähler nicht zu
meisten? beunruhigen.
Brennan: Unter bestimmten Umständen kein heiliger Wert, sie ist ein Hammer, ein Brennan: Eine Herrschaft der Wissenden hat
gibt es eine Weisheit der Masse, und diese Werkzeug, das Ergebnisse bringt. Wenn nichts mit einer Technokratie zu tun, in der
Weisheit brauchen wir, um gute politische wir ein besseres Werkzeug finden, sollten Experten diktatorenähnliche Macht haben.
Entscheidungen zu treffen. Aber unter wir es nutzen. Man könnte Epistokratie in Herrschen sollen nicht Experten, sondern
welchen Umstände kommt das zum Tra- New Hampshire oder in Dänemark aus- soll das Volk, nur eben nicht das ganze,
gen? Andere Argumente überzeugen mich probieren, Staaten, die nicht korrupt sind sondern die bestinformierten 25 Prozent.
weniger. Die Demokratie ist nicht fair, und gut funktionieren. Als absolutes Mi- SPIEGEL: Welche Politik würden Wähler in
manche Leute haben mehr Einfluss als nimum könnte man Leuten, die einen Wis- einer Epistokratie wollen?
andere. senstest vor der Wahl richtig beantworten, Brennan: Sie sind für Freihandel, für Ein-
SPIEGEL: In den USA vor allem, wenn sie zwischen 100 und 1000 Dollar Steuerfrei- wanderung und Schwulenrechte, sie sind
reich sind und Wahlkämpfe finanzieren. betrag geben. für das Recht auf Abtreibung, das wissen
Brennan: Leute mit Geld haben mehr Ein- SPIEGEL: Es ist ein Wert an sich, dass in wir aus vielen Studien. Sie wollen Steuern
fluss, auch wenn der überschätzt wird. Das einem Land jeder Erwachsene eine Stim- erhöhen, um das Staatsdefizit abzubauen.
Geld, das in den USA für Politik ausgege- me hat und mitreden kann, wie das Land Sie wollen etwas gegen den Klimawandel
ben wird, sind etwa vier Milliarden Dollar, regiert wird. tun und lehnen militärische Interventionen
nicht mehr als das Marketingbudget für Brennan: Das denken die meisten Leute, ab. Und sie achten auf die Bürgerrechte.
Nike. Aber auch Zeitungsredakteure und aber ich widerspreche. Die Demokratie er- SPIEGEL: Ach so, das sind also Leute wie Sie?
Professoren haben Einfluss. Wenn man an mächtigt die Leute nicht, und sie gibt ihnen Brennan: Ja. Aber es ist keine Politik, die
Fairness interessiert ist, braucht man ein keine Stimme. Wenn Sie wissen, dass ich einer Parteilinie entspricht. Höchstens,
Zufallssystem, wie bei den alten Griechen. Clinton und nicht Trump gewählt habe, dass die USA ein bisschen mehr wie die
In der athenischen Demokratie wurde was sagt Ihnen das? Nichts. Schweiz oder Dänemark würden.
nicht viel gewählt, sondern Ämter wurden SPIEGEL: Sie bezeichnen sich selbst als SPIEGEL: Mr Brennan, wir danken Ihnen
mit zufällig ausgewählten Bürgern besetzt. libertär. für dieses Gespräch.
40 DER SPIEGEL 14 / 2017
Ganz schön
giga
Verkehr Im Handstreichverfahren

STEPHAN RUMPF / SZ PHOTO


hat Ressortchef Dobrindt
Lang-Lkw auf deutschen Straßen
zugelassen. Umweltverbände
Verkehrsminister Dobrindt
wollen nun dagegen klagen.

D
irk Flege gehört nicht zu den Ber- Damit wäre das Kalkül aufgegangen, Dass noch immer viele Sicherheits-
liner Lobbyisten, die hinter allem das Dobrindt und sein Vorgänger Peter fragen ungeklärt sind, störte ihn bei der
die ganz große Verschwörung ver- Ramsauer (CSU) nicht nur nach Meinung Entscheidung offenbar genauso wenig wie
muten. Doch inzwischen bezweifelt der von Kritikern von Anfang an verfolgt ha- die Kritik des Bundesrechnungshofes, die
Geschäftsführer der „Allianz pro Schiene“, ben. Beide wollten die Lang-Lkw unbe- Einführung des Regelbetriebs sei verfrüht.
ob die von allen Parteien propagierte För- dingt auf die Straße bringen. Sie wussten Auch über den Hinweis der ihm unterstell-
derung des Verkehrs auf der Schiene wirk- aber um die geringe Popularität des Vor- ten Bundesanstalt für Straßenwesen, dass
lich ernst gemeint ist. Denn die meisten habens in der Bevölkerung und um den es für einige Fragen trotz des mehrjährigen
Entscheidungen der Politik sorgen dafür, politischen Widerstand. Feldversuchs noch immer keine „belast-
dass der Verkehr woanders immer besser Deshalb setzte Ramsauer großzügig auf baren“ Antworten gebe, setzte sich der
rollt: auf der Straße. Freiwilligkeit, als er 2012 einen Feldver- Minister hinweg.
Dazu trägt auch jene Verordnung bei, die such zu den Megatrucks startete. Anfangs Das grundsätzlichere Problem ging in
Bundesverkehrsminister Alexander Dob- beteiligte sich nicht einmal die Hälfte der der Debatte fast unter. „Besonders frag-
rindt (CDU) Ende des Jahres erlassen hat. Bundesländer daran. Doch in Dobrindts würdig ist die Zulassung der Gigaliner aus
Extralange Lkw, sogenannte Gigaliner, die Amtszeit bröckelte die Front der Gegner verkehrspolitischer Sicht“, sagt Bahn-
zuvor nur probeweise fahren durften, sind zusehends. Inzwischen leisten nur noch lobbyist Flege. „Die Schiene verliert er-
nun unbefristet zugelassen. Auf 11 600 Kilo- Berlin und das Saarland Widerstand. neut deutlich an Wettbewerbsfähigkeit.“
meter Straße dürfen sie ohne Einschränkung Auf den Konsens in der Großen Koa- Von jeher wird die Bahn gegenüber dem
fahren. Vor allem auf Autobahnen. lition setzte Dobrindt auch, als er den Straßenverkehr benachteiligt. Entgegen
Von der Stoßstange bis zum Rücklicht Gigalinern endgültig zum Durchbruch allen Sonntagsreden hat sich dieses Pro-
darf ein Gigaliner bis zu 25,25 Meter mes- verhelfen wollte. Im November startete blem in den vergangenen Jahren noch ver-
sen – und damit rund ein Drittel länger er eine Ressortabstimmung, bat also schärft: Diesel ist so günstig wie lange nicht
sein als ein herkömmlicher Lkw. Entspre- seine Kabinettskollegen um Stellungnah- mehr, und die Lkw-Maut ist zuletzt sogar
chend sinken die Kosten. Was Spediteure me zu seinem Verordnungsentwurf. Aller- gesunken. Gleichzeitig leidet die Schiene
und Kunden freut, hält Flege für eine Ka- dings leistete das Umweltministerium unter höheren Trassenpreisen und einer
tastrophe: „Es wird noch mehr Verkehr zähen Widerstand. Selbst Gespräche zwi- steigenden Ökostromumlage.
auf die Straße abwandern.“ schen Dobrindt und Umweltministerin Weil Gigaliner besonders für Langstre-
Seit Jahren geht der Gütertransport auf Barbara Hendricks (SPD) brachten keine cken geeignet und um bis zu 25 Prozent
der Schiene zurück. Inzwischen werden dort Einigung. effizienter sind als herkömmliche Lkw,
nur rund acht Prozent der transportierten Kurz vor Weihnachten hatte Autofreund wird wahrscheinlich zusätzliches Fracht-
Menge befördert. Weil Flege den Nieder- Dobrindt genug. Nun wollte er seine Ver- volumen von der Schiene auf die Straße
gang nicht hinnehmen will, versucht er, mit ordnung auch gegen jene durchboxen, die verlagert. Zudem lehrt die Erfahrung, dass
anderen Umweltverbänden gegenzusteuern. er für unbelehrbar hält. Unterstützung be- niedrigere Kosten insgesamt zu mehr Ge-
Gemeinsam mit der Deutschen Umwelt- kam er von Kanzleramtschef Peter Altmai- schäft führen.
hilfe wird die „Allianz pro Schiene“ gegen er (CDU). Dessen Büroleiter teilte dem Befürworter des Schienenverkehrs wie
Dobrindts Verordnung klagen. „Die unbe- Verkehrsministerium mit, man habe sich Flege fürchten, dass dies erst der Anfang
fristete Zulassung von Giga- „die rechtliche Bewertung ist. Eines nicht allzu fernen Tages dürfte
linern verstößt gegen EU- Gütertransporte zu eigen gemacht“, dass auf Druck der Spediteure auch die letzte
Recht“, sagt Flege. In ande- in Millionen Tonnen 2016 kein Einigungszwang zwi- Restriktion fallen: Bislang gibt es für Lkw
ren EU-Ländern seien die schen den Ressorts bestehe. in Deutschland eine Gewichtsbegrenzung
Lang-Lkw deshalb nur in Er fügte den durchaus be- von 44 Tonnen. Die gilt auch für Gigaliner.
Feldversuchen zugelassen. merkenswerten Satz hinzu: Allerdings dürfen die Lang-Lkw in den
Bis über die Klage der „Die Interpretation der Ge- Niederlanden und Dänemark bereits bis
Ökoverbände entschieden meinsamen Geschäftsord- zu 60 Tonnen transportieren – und in Finn-
ist, könnte sich allerdings nung der Bundesministe- land sogar noch mehr. Als wichtigstes Tran-
längst die Macht des Fak- Schiene Straße rien mag anders ausfallen.“ sitland in Europa wird Deutschland diese
tischen durchgesetzt haben. Dobrindt hatte nun einen Entwicklung wohl früher oder später nach-
Derzeit sind nur rund 361 3593 Freibrief. Er nutzte die ru- vollziehen.
160 Gigaliner in Deutsch- hige Zeit um die Weih- Vielleicht müssen die Spediteure zum
land unterwegs, schon – 4% +6% nachtsfeiertage, um sein Ausgleich dann ein „Museum für Güter-
bald könnten es deutlich Regelwerk rechtzeitig zum verkehr auf der Schiene“ finanzieren.
mehr sein. Veränderung gegenüber 2011 1. Januar in Kraft zu setzen. Sven Böll

DER SPIEGEL 14 / 2017 41


zeige sei nun „5 (!) Monate“ alt, schimpfte
er, „ohne dass operative Maßnahmen ein-
geleitet worden sind“. Er könne dem Ge-
schehen „nicht länger tatenlos zuschauen“.
Die Polizei müsse tätig werden. Sonst wer-

ARANKA SZABO / PICTURE ALLIANCE / DPA


de er sich an das Justizministerium in Han-
nover wenden, um selbst das „offensicht-
liche Leck zu identifizieren und zu schlie-
ßen“, schrieb er.
„Der Vorgang macht fassungslos“, sagt
CDU-Fraktionschef Björn Thümler und
fordert Aufklärung von der grünen Justiz-
ministerin Antje Niewisch-Lennartz.
JVA Bremervörde: „Jo, nummer hat geklappt“ Nach dem Protest des JVA-Leiters kam
Bewegung in die Ermittlungen: Telefone

Drei Handys
sorge, und einen korrupten Mitarbeiter wurden angezapft, Verdächtige observiert.
im Knast, der bis zu 2000 Euro im Monat Einmal lasen die Ermittler mit, als ein Ge-
nebenbei kassiere. An den Bediensteten fangener über SMS-Nachrichten aus der

für Locke
würden präparierte Pakete geschickt, in JVA ein Geschäft organisierte. Er fragte
denen die Handys zwischen Bohrmaschi- seinen Vater draußen, ob der noch eines
nen oder anderen Werkzeugen versteckt dieser dicken Gesetzbücher habe. Ja, habe
seien. er. Mit dem Teppichmesser solle er Platz
Strafvollzug Mitarbeiter eines Am 5. Februar 2016 erstattete der Leiter für drei Handys herausschneiden.
der JVA Bremervörde, Arne Wieben, Der Häftling: „hahaha dicker schaffst
privaten Knastdienstes sollen sich Strafanzeige. Aufgrund der „erheblichen du, soll dir von locke sagen er küsst deine
illegale Einnahmen verschafft Brisanz für unsere Anstalt“ habe nur ein glatze und auto rabatt bekommst auch“.
sehr kleiner Kreis Kenntnis von den Vor- Die Warenübergabe an den „typ, ein ael-
haben – durch den Schmuggel von würfen. Nun ermittelt die Staatsanwalt- terer mit grau/weissen haaren“, den JVA-
Mobilfunkgeräten und Drogen. schaft Verden gegen mindestens fünf Be- Mitarbeiter, sollte morgens um kurz nach
dienstete von Privatfirmen und mehr als sechs bei McDonalds stattfinden.

F
lachbildschirm, Minikühlschrank und zehn Inhaftierte, weil sie Handys und Dro- Dann die Erfolgsmeldung: „Jo, nummer
ein eigenes Bad, das ist die Standard- gen in die JVA geschmuggelt haben sollen. hat geklappt, handys sind jetzt in der kü-
ausstattung der Einzelzellen in der Der Ruf der Anstalt als öffentlich-privates che und morgen mittag sind die bei uns
Justizvollzugsanstalt Bremervörde. Als An- Vorzeigeprojekt ist schon jetzt beschädigt. im essen. geil.“
fang 2013 die ersten Gefangenen einzogen, Die Aussage des Häftlings führte die Ge- Am nächsten Tag beschlagnahmten die
sprach der damalige Justizminister Bernd fängnisleitung in die Schlosserei der An- Beamten die drei Handys. Sie waren tat-
Busemann (CDU) von einem „guten Tag stalt, betrieben von einer BAM-Tochter. sächlich statt des Mittagessens in einer
für die Stadt, die Region und das Land“. Dort übernahmen Häftlinge den Aussagen Essensbox versteckt, unterwegs zu einem
Ein privater Investor der holländischen zufolge die Pakete mit den versteckten Häftling mit dem Spitznamen Locke. Min-
Royal BAM Gruppe hatte 66 Millionen Mobilgeräten und Drogen. Der Trick: destens 34 Handys stellten die Beamten
Euro in den Neubau gesteckt. Es war die Wenn die Post an einen Bediensteten bis Anfang dieses Jahres sicher. Zudem
erste öffentlich-private Partnerschaft in adressiert war, wurde sie an der Pforte fanden sie etliche Drogen, von Gras über
einem niedersächsischen Gefängnis, ein nicht durchleuchtet. Ein weiterer Zeuge Opiate bis zu Spice, einer synthetischen
Vorzeigeprojekt. Nur noch 84 der insge- nannte die Namen von drei Mitarbeitern Cannabis-Droge.
samt 148 Mitarbeiter waren Landesbe- der Schlosserei und von einem angeblich Die Handydealer hatten ein ausgeklü-
dienstete, zuständig für hoheitliche Auf- beteiligten Gefangenen. Auch der Chef geltes Bestell- und Liefersystem entwickelt.
gaben wie die Bewachung der Insassen. der Schlosserei sei dabei. Die Handys seien Erst wenn das Geld über einen Mittels-
Private Dienstleister übernahmen den für 300 Euro im Knast zu haben, manche mann auf dem Konto von Angehörigen
Rest: Gebäudewartung, Reinigung, das Es- kosteten sogar bis zu 1000 Euro, so eine oder Freunden verbucht war, lieferte der
sen, Beschäftigung. Ein Rundumservice für andere Quelle. Händler in der JVA das Gerät aus.
den Superknast, eine perfekte Koopera- Doch in den nächsten Monaten geschah „Der Anfangsverdacht hat sich erhärtet“,
tion – bis Anfang 2016 ein Häftling im zunächst einmal: fast nichts. Akten wur- bestätigt die Verdener Staatsanwaltschaft.
Dienstzimmer eines der staatlichen Ge- den angelegt und an verschiedene Polizei- Neben den Mitarbeitern der Schlosserei,
fängnisaufseher vorsprach. Er wisse, sagte dienststellen geschickt. Lüneburg sollte von denen inzwischen drei aus der JVA
der Mann, wie Mobiltelefone und Rausch- den Fall übernehmen, lehnte aber wegen Bremervörde ausgeschieden sind, richtet
gift in die JVA Bremervörde gelangten. Überlastung ab. Unterdessen erhärteten sich das Verfahren auch gegen einen An-
Hinter Gittern gehören Mobiltelefone weitere Häftlingsaussagen den Verdacht: gestellten der Firma Hectas Facility Ser-
zu den begehrtesten Luxusgütern. Sie er- In der Schlosserei würden die Handys in vices, der als Sicherheitsdienst auch für
möglichen einen unkontrollierten Draht Rohre eingeschweißt, hieß es in einem die Begleitung von Gefangenen innerhalb
zur Außenwelt – und sind streng verboten. Brief. Einer der Drahtzieher unter den Ge- der Anstalt zuständig ist. Einen von ihnen
Wer in U-Haft sitzt, muss Telefonate mit fangenen deale auch mit Drogen. hätte die Polizei Anfang Januar beinahe
Angehörigen vorher richterlich genehmi- Im Sommer stießen Vollzugsbeamte auf auf frischer Tat ertappt. Die Männer mit
gen lassen. Die Gespräche werden über- zwölf Handys, versteckt in einem Quadrat- den Handys warteten auf die Übergabe.
wacht. Denn Zeugen könnten einge- rohr. Die Durchsuchung weise auf „orga- Das Observationsteam hatte sie im Auge.
schüchtert, Beweise vernichtet werden. nisierte Strukturen“ hin, schrieb JVA-Lei- Doch der JVA-Mitarbeiter fuhr an den bei-
Der Informant erzählte, es gebe einen ter Wieben in einem Brandbrief an die den vorbei, ohne anzuhalten. Er fühlte sich
Schlepper draußen, der die Handys be- Staatsanwaltschaft Verden. Seine Strafan- vielleicht beobachtet. Hubert Gude

42 DER SPIEGEL 14 / 2017


bundeswehrkarriere.de
HANS CHRISTIAN PLAMBECK / LAIF
Weibliche Abgeordnete im Deutschen Bundestag: „Mit dem Wettkampf tun sich Männer leichter“

Hinter jedem Mann


Gleichberechtigung Bei der Kür der Direktkandidaten für die Bundestagswahl blieben Unions-
politikerinnen auffallend chancenlos. Frauenverbände beklagen Diskriminierung. Zu Recht?

M
it der Parole „Frauen von heute lor auf der Nominierungsversammlung Merkels Appell an die Landesverbände,
warten nicht auf Wunder. Wir ma- gegen einen Mann. Alois Karl, 66, möchte bei der Kandidatenaufstellung für die Bun-
chen sie“ zog die CSU-Bundes- nach zwölf Jahren als Hinterbänkler im destagswahl auf einen angemessenen Frau-
tagsabgeordnete Barbara Lanzinger vor Parlament noch eine vierte Legislatur- enanteil zu achten, zeigte bislang wenig
einem halben Jahr in den Kampf um das periode dranhängen. Nur einer ihrer drei Wirkung. „Wir haben da wieder große Pro-
Bundestagsdirektmandat im oberpfälzi- Bundestagskolleginnen gelang der ange- bleme“, monierte Merkel beim Netzwerk-
schen Wahlkreis Amberg. strebte Aufstieg vom Listling zur Direkt- treffen der Unionsfrauen im Februar.
Eine Direktkandidatur zu ergattern ist at- kandidatin: der Hofer Juristin Silke Lau- Die Kasseler Professorin für Öffentliches
traktiv für CSU-Politiker, weil sie den siche- nert, Mitglied im Parteivorstand. Insge- Recht Silke Ruth Laskowski sagt: „Frauen
ren Einzug in den Bundestag garantiert: 2013 samt sind gerade mal 17 Prozent der haben bei der Kandidatenkür nicht die glei-
holten die Christsozialen alle Wahlkreise in Direktkandidaten in den 46 bayerischen chen Chancen wie Männer.“ Die „subtile
Bayern. Direkt vom Volk gewählt bedeutet Bundestagswahlkreisen Frauen. Diskriminierung“ von Frauen, die im Orts-
auch einen höheren politischen Wert. Wo bleiben hier die 40 Prozent Frauen, verein häufig in der Minderheit sind, funk-
Lanzinger, 62, die 2013 über die Liste in die Parteichef Horst Seehofer 2010 als Ziel tioniere so: „Mann wählt Mann. Und Posten
den Bundestag eingezogen war, sagt, sie für die Parteispitze ausrief und dafür eine werden vorher ausgekungelt.“ Frauen seien
habe nicht länger als „Abgeordnete zwei- Quote setzte? „Keiner kann den Delegier- zu sehr um Transparenz bemüht und oft
ter Klasse“ Politik machen wollen. Sie ten vorschreiben, dass sie eine Frau wählen Einzelkämpferinnen, die in den männlich
wollte außerdem jungen Frauen in der Par- müssen, weil im Wahlkreis dominierten Parteistruktu-
tei ein Beispiel geben. „Entweder ich ge- nebenan ein Mann gewon- 25% ren ausgebremst würden.
winne das Direktmandat, oder es ist nen hat“, sagt CSU-Gene- CSU-Mann Scheuer be-
Schluss mit Politik“, kündigte sie an. ralsekretär Andreas Scheu- teuert, die Nominierung
Viele andere CSUlerinnen traten an. Im er dazu. Und an der Basis
2002
21% der Direktkandidaten sei
Wahlkreis Starnberg stellte sich Thuy Tran, ist der Geschlechterpro- „natürlich überall demo-
2013
eine Studentin und CSU-Stadträtin mit porz offenbar nicht beson- kratisch abgelaufen“. Doch
vietnamesischen Wurzeln, zur Wahl. Im ders populär. 62 Frauen, er räumt ein, der Frauen-
Münchner Norden kandidierten unter ande- Bayern eben, könnte Anteil: 237 Männer anteil sei, anders als in der
ren eine Zahnärztin und eine Entwicklungs- man meinen. Jenseits der 12% Parteispitze, „geringer“,
helferin, die lange im Kongo eingesetzt war. Landesgrenze sieht es mit- was über die Liste „gut
Die CSU erlebte in den vergangenen Mona- unter allerdings auch nicht 1990 ausgeglichen“ werde. Der
ten einen regelrechten Sturm und Drang der weiblicher aus. Baden- erste Platz soll an die Ab-
Frauen auf Bundestagsdirektmandate. Württembergs CDU-Direkt- Von Frauen gewonnene geordnete Astrid Freuden-
Bloß: Das von Barbara Lanzinger aus- kandidaten sind zu 92 Pro- Direktmandate im stein gehen, die im Wahl-
gerufene Wunder blieb aus. Sie selbst ver- zent männlich. Angela Deutschen Bundestag kreis Regensburg auf frag-
44 DER SPIEGEL 14 / 2017
Deutschland

würdige Weise als Direktkandidatin durch-


gefallen war.
Bei der Nominierungsversammlung kam
es zum Eklat, als der Bundestagsabgeord-
nete Philipp Graf Lerchenfeld öffentlich
bezweifelte, dass „der beste Kandidat“ das
Rennen mache. Er kritisierte indirekt den
CSU-Kreischef Peter Aumer, der selbst
kandidierte und angeblich dafür gesorgt
hatte, dass nur solche Mitglieder als Dele-
gierte nominiert wurden, die ihm gewogen
sind. Am Ende setzte sich Aumer mit drei
Stimmen Vorsprung gegen Freudenstein
durch. Die muss jetzt hoffen, dass das
Wahlergebnis der Union so gut ausfällt,
dass sie über die Liste in den Bundestag
einziehen kann.
Dass auch auf den Listen Frauen häufig
im Nachteil sind, vor allem bei den attrak-
tiven vorderen Plätzen, zeigt das Beispiel
Hamburg. Obwohl sich die CDU ein frei-
williges Quorum auferlegt hat, jeden drit-
ten Listenplatz mit einer Frau zu besetzen,
findet sich in der Hansestadt die erste Bun-
destagskandidatin auf Platz fünf. Als Her-
lind Gundelach zur Rede ihrer vergeb-
lichen Kampfkandidatur um Platz drei GLOBAL
GLOBAL PLAYER
ansetzte, ploppten in der hintersten Reihe
demonstrativ die Bügelbierflaschen auf.
Teil der Wahrheit ist aber auch, dass drei
Frauen, die für eine vordere Position im
Gespräch waren, die Kandidatur ausschlu-
FAMILIEN-
gen, weil sie nicht nach Berlin ziehen
wollten.
Nur 21 Prozent aller Direktmandate im
Bundestag gingen bei der vorigen Bundes-
UNTERNEHMER
tagswahl an Frauen. Unter den insgesamt
254 CDU-Kandidaten in den Wahlkreisen
waren nur 59 Frauen, bei der CSU waren
es 8 von 45. Bei der SPD traten 189 Männer ALTANA – global führend in reiner Spezialchemie. Mit 50 ei-
und 110 Frauen an, das ergibt einen Frau- genständig operierenden Gesellschaften weltweit sind wir
enanteil von immerhin 36,8 Prozent, bei
nicht nur immer in Ihrer Nähe, sondern leidenschaftlich wie Fa-
den Grünen waren es sogar 40,5 Prozent.
Am schlechtesten stand die FDP da mit milienunternehmer für Sie am Werk. Handlungsspielraum und
nur 17,1 Prozent. Derzeit liegt der Frauen- Vertrauen in unsere Mitarbeiter schaffen die besten Vorausset-
anteil insgesamt bei 37 Prozent. Helga Lu- zungen für Innovationen und Spitzenleistungen. Damit Sie in
koschat, Vorsitzende der Europäischen Ihren Märkten durchstarten können.
Akademie für Frauen in Politik und Wirt-
schaft, befürchtet eine spürbare Vermänn-
lichung des Parlaments: „Wenn die AfD
und die FDP den Grünen und der Linken Entdecken Sie dieses Plus für Ihr Geschäft:
das Wasser abgraben, wird der Frauen- www.altana.de/plus
anteil sinken.“ Im Landtag von Sachsen-
Anhalt verringerte er sich mit dem Einzug
der AfD 2016 von 32,4 auf 26,4 Prozent.
Sollten im Herbst wieder mehr Männer
als Frauen ins Parlament einziehen, will
das Aktionsbündnis Parité die Bundes- ANTONIO NASTASI, GESCHÄFTSFÜHRER IM GESCHÄFTSBEREICH ELANTAS ELECTRICAL INSULATION
tagswahl anfechten. Der Zusammenschluss
verschiedener Frauengruppen fordert pari-
tätisch besetzte Wahllisten und Wahlkrei-
se für Europaparlaments-, Bundestags-,
Landtags- und Kommunalwahlen, um so
ein gerechtes Geschlechterverhältnis in
den Parlamenten zu erreichen. 2013 er-
hielten Frauen weniger als ein Drittel der
Sitze im Bayerischen Landtag. Das Bünd-
DER SPIEGEL 14 / 2017 45
Deutschland

Steuern? nis hat deshalb Popularklage vor dem Ver-


fassungsgerichtshof eingereicht.
abredungen in die Quere und seien eine
Gefahr für männliche Parteigewächse, die
Lass ich machen. „Die Bevölkerung will Parteien, in de-
nen Männer und Frauen ausgewogen prä-
jahrelang gewartet hätten und fänden,
„jetzt bin ich dran“.
sent sind“, sagt die Wissenschaftlerin Lu- Maag ist eine der drei Direktkandi-
koschat. Und ausgewogen bedeute, „dass datinnen der CDU in Baden-Württem-
es nicht nur eine Spitzenkandidatin gibt“. berg. In den 38 Wahlkreisen kandidieren
Trotz Angela Merkel als Frontfrau der 35 Männer. 2009 trat Maag erstmals in ei-
Union und Wahlsiegen wie des von Mi- nem Wahlkreis an, den elf Jahre lang eine
nisterpräsidentin Annegret Kramp-Karren- SPD-Frau geholt hatte. „Kompliziert und
bauer, CDU, im Saarland vergangene Wo- aussichtslos. Da muss eine Frau ran“, hieß
che müssten sich Frauen immer noch fra- es. Maag nutzte ihre Chance.
gen lassen: „Kann die das auch wirklich?“ Um den Frauenanteil der Union im Bun-
Gerda Hasselfeldt, 66, Vorsitzende der destag zu steigern, greift Maag mittlerweile
CSU-Landesgruppe im Bundestag, zwei- zu radikalen Mitteln: Wer Frauen nicht för-
malige Ministerin, gibt ihr Mandat zum dert, soll selbst nichts werden. Als Vorsit-
Herbst ab. Als sie vor 30 Jahren in den zende der Gruppe der Frauen ist sie Mit-
Bundestag einzog, war sie eine von drei glied in der „Teppichhändlerrunde“ der
Frauen in der CSU-Landesgruppe. Derzeit Union im Bundestag, die so genannt wird,
sind 15 der 56 Abgeordneten weiblich. weil sie aushandelt, wer aus der Fraktion
„Demokratie bedeutet Wettbewerb und in Gremien und Kuratorien geschickt wird
Wettkampf“, sagt Hasselfeldt, „und ja, da- oder wer einen Sprecherposten bekommt.
mit tun sich Männer nach meiner Erfahrung „Ich kann keine Mehrheiten bieten, aber
häufig leichter.“ Männer würden auch noch immerhin 80 Stimmen – die der Frauen in
stärker auf Netzwerke setzen – das fange der Union“, sagt Maag.
Doch mit der Frauensolidarität ist das so
Das Prinzip „Mann wählt eine Sache. Barbara Lanzinger hat in der
Oberpfalz vergebens auf sie gebaut. „Hinter
Mann“ funktionierte jedem erfolgreichen Mann steht eine starke
hier in der Variante „Frau Frau“, hat die Frauenunion Neumarkt am
Tag vor der Nominierungsversammlung auf
fördert Frau“. Facebook gepostet und damit für Lanzingers
Gegner geworben. Im Bundestag hat die Ab-
schon beim Fußballverein oder bei der frei- geordnete die Erfahrung gemacht: „Männer
willigen Feuerwehr an. Sie selbst wurde in können solche Zicken sein. Aber wenn’s
einem Gasthaus groß. Politik, so Hasselfeldt, drauf ankommt, halten sie zusammen.“
werde nicht immer in offiziellen Runden, Männer haben häufig auch schlicht den
sondern auch nach Sitzungen gemacht, „da größeren Karrierewillen. Anders ist es je-
setzen Frauen oft andere Prioritäten und denfalls kaum zu erklären, warum der bun-
haben dadurch einen Nachteil“. despolitisch völlig unerfahrene Stephan Pil-
Hasselfeldts Nachfolge im Wahlkreis Fürs- singer im Münchner Westen für die CSU
tenfeldbruck tritt die Lokalpolitikerin Katrin antritt – und nicht Julia Obermeier, die 2013
Staffler, 35, an. Hasselfeldt sprach sich zwar über die Liste in den Bundestag eingezogen
nie öffentlich für sie aus und beteuert, sich war. Obermeier hat sich im Parlament einen

VLH. auch im Hintergrund nicht ins Nominierungs-


verfahren eingemischt zu haben. Doch das
Prinzip „Mann wählt Mann“ funktionierte
hier in der Variante „Frau fördert Frau“.
Ruf als Bundeswehrexpertin erarbeitet,
doch erst im Laufe der Legislaturperiode
zog sie nach München. So konnte sie sich
im Kampf um das Mandat gegen den Platz-
Hasselfeldt entdeckte Staffler auf einer hirsch Pilsinger, 30, nicht durchsetzen.
Podiumsdiskussion, als die junge Frau ge- 2015 hatte der den Ortsvereinsvorsitzen-
Wir machen Ihre rade Mitglied der Frauenunion in ihrem
Wahlkreis geworden war. Staffler durchlief
den in Obermenzing von der Macht ver-
drängt. Kurz vor der Wahl waren auffällig

Steuererklärung. Mentoring- und Frauenförderprogramme


der CSU, wurde vor acht Jahren zum ers-
viele Mitglieder der Jungen Union in den
Ortsverein gewechselt. Den Vorwurf der
ten Mal gefragt, ob sie für die Bundestags- Wahlbeeinflussung wischte Pilsinger bei-
liste kandidieren wolle, als die damals 26- seite. Er wolle Internist werden und strebe
Jährige selbst noch gar nicht daran dachte. für die nächsten sechs Jahre kein „höheres
Dass Frauen in ihrer Partei ausgebremst CSU-Amt“ an. Ein Jahr später sagte er in
www.vlh.de würden, sagt Staffler, habe sie nicht erlebt. seiner Bewerbungsrede um das Direkt-
Die Frauenförderung in der CSU gehe teil- mandat, in der CSU in Berlin gebe es kei-
weise sogar so weit, „dass sich gleichaltrige nen Arzt. Daher wolle er sich als künftiges
Männer benachteiligt fühlen“. Bundestagsmitglied um Gesundheitsthe-
Karin Maag, die Vorsitzende der Gruppe men kümmern. Auf seinen Wahlplakaten,
der Frauen in der CDU/CSU-Bundestags- die Pilsinger schon fleißig klebt, posiert er
fraktion, ist dagegen ziemlich frustriert: mit Arztkittel und Stethoskop.
„Frauen fehlt häufig die langjährige So- Barbara Lanzinger tritt nicht mehr an.
zialisierung in der Partei.“ Sie kämen Ver- Anna Clauß

46 DER SPIEGEL 14 / 2017


Wir beraten Mitglieder im Rahmen von § 4 Nr. 11 StBerG.
Himmel
über Berlin
Hauptstadt Ein junger FDP-
Politiker fordert Bürgermeister
Müller heraus – und kämpft
für einen Volksentscheid über die
verkorkste Flughafenpolitik.

A
ls Sebastian Czaja damit begann,
den Flughafen Tegel zu retten,
wurde er in Berlin belächelt. Oder
gleich komplett ignoriert.
Seine Partei, die FDP, spielte in der

DIRK LAESSIG / DAVIDS/


Hauptstadt mit 1,8 Prozent keine Rolle
mehr. Und sein Anliegen, die Offenhaltung
von Tegel, für immer? Eine verrückte Idee,
abwegig, nicht ernst zu nehmen – so klang
es quer durchs politische Establishment,
von der CDU über die SPD bis zu den Grü- Tegel-Befürworter Czaja: „Planerischer und finanzieller Irrsinn“
nen und Linken. Berlin hat sich schließlich
einen neuen, modernen Flughafen gebaut, lang zwischen Nordrhein-Westfalen und Starttermin für den BER nennen kann?
den BER. Und sobald der eröffnet wird, Berlin pendelte; nahezu jedes Wochen- Wenn seine Wirtschaftssenatorin die Te-
soll Tegel schließen – so hat man es schon ende nutzten sie Tegel. Czaja schätzte die gel-Initiative kurzerhand zur „rückwärts-
1996 beschlossen, daran hält man, egal was Nähe zum Zentrum, die kurzen Wege im gewandten Debatte“ erklärt?
kommt oder auch nicht, bis heute fest. Terminal. Und auch die Architektur des Müllers Koalition hält am Konsens-
Doch dann zog Czaja, 33, überraschend Gebäudes, das wie ein funktionierender beschluss von 1996 zwischen Bund, Bran-
wieder ins Abgeordnetenhaus ein. Sein Oldtimer wirke, eng, klapprig, reparatur- denburg und Berlin fest. Darin wurde ver-
zentrales Wahlkampfthema, Tegel, brachte bedürftig, aber mit Charme – wenn man einbart, den BER zum „Single-Airport“
der FDP 6,7 Prozent. Inzwischen wurde nicht gerade in der Einflugschneise lebt. auszubauen, Tempelhof und Tegel zu
aus dem Flughafen-Fanklub eine Volksbe- Bald merkte der gelernte Elektrotechni- schließen.
wegung: 247 000 Menschen unterschrieben ker, dass er nicht der Einzige war, der Czaja präsentiert nun ein bisher unbe-
ein Volksbegehren, das den Weiterbetrieb Tegel gern behalten würde. Während sein achtetes Gutachten des Wissenschaftlichen
des Airports TXL fordert. älterer Bruder Mario, der als CDU-Sozial- Parlamentsdienstes im Abgeordnetenhaus.
Am Dienstag gibt die Landeswahlleite- senator Missstände in der Flüchtlings- In der Expertise von 2013 heißt es, der alte
rin bekannt, wie viele der 247 000 Unter- versorgung zu verantworten hatte, aus Konsensbeschluss sei lediglich eine „poli-
schriften gültig sind. Wird das Quorum von dem Rampenlicht verschwand, stieg Sebas- tische Absichtserklärung oder Willens-
rund 174 000 Stimmen erreicht, soll es im tian Czaja zum FDP-Fraktionschef auf. bekundung“ ohne „rechtliche Bindungs-
September parallel zur Bundestagswahl Und avancierte zum Herausforderer von wirkung“.
einen Volksentscheid geben. Michael Müller. „Ich kann den Starrsinn Die bestehenden Landesentwicklungs-
Zum ersten Mal könnten die Bürger von Müller nicht verstehen“, sagt Czaja. pläne könnten an neue Bedingungen – etwa
dann konkret über die verkorkste Flug- „Der Bürgermeister sollte endlich mal steigende Passagierzahlen – angepasst wer-
hafenpolitik des Senats abstimmen. Der Größe zeigen.“ den: „Damit kann von der bisher vorgese-
Volksentscheid würde zum Ventil für ihren Als der FDP-Politiker in der Stadt Stim- henen Schließung des Flughafens Tegel
aufgestauten Frust über geplatzte Termine, men für sein Volksbegehren sammelte, hät- abgesehen werden.“ Auch der Planfeststel-
überzogene Milliardenetats und dilettan- ten ihm mehrere SPD-Ortsverbände Un- lungsbeschluss von 2004 stehe „einem
tisches Management. terschriften für Tegel übergeben, erzählt Weiterbetrieb des Flughafens Tegel nicht
Im Roten Rathaus diskutieren Vertraute Czaja und behauptet: „Die SPD-Basis entgegen“. Größtes Hindernis bleibt: Es
des Regierenden Bürgermeisters Michael denkt anders als der Regierungschef.“ brauchte dafür Einvernehmen mit dem
Müller (SPD) schon nervös Worst-Case- Müller und seine Koalitionspartner Grü- Bund und Brandenburg.
Szenarien, falls die Berliner mal wieder ne und Linke wollen Tegel weiterhin sechs Und nun? Egal wie es mit den Berliner
per Volksentscheid gegen die eigene Re- Monate nach Eröffnung des BER schließen. Flughäfen weitergeht, für die Steuerzahler
gierung stimmen – wie zuletzt beim Tem- Sie berufen sich auf Verträge und Abspra- wird es so oder so teuer. Sollte sich die
pelhofer Feld, dessen von Müller geplante chen, Planfeststellungsverfahren, Betriebs- Eröffnung des BER bis 2019 hinauszögern,
Bebauung sie verhinderten. Müsste der Be- genehmigungen. Das Gelände soll künftig könnten Abertausende Tegel-Anwohner
trieb des BER, so ihre Horrorvision, dann für Wohnungen, Gewerbe, Forschung und teure Schallschutzmaßnahmen einfor-
ein weiteres Mal umgeplant werden? Lehre genutzt werden. dern – selbst wenn der alte Airport später
Wer ist der Mann, der die verschlafene Aber haben sie die Bürger noch auf ih- geschlossen würde, sagt Czaja. Er bezeich-
Berliner Landespolitik derart durcheinan- rer Seite? Wie kommt es an, wenn Müller net das als „planerischen und finanziellen
derwirbelt? Seine Tegel-Liebe entdeckte im Aufsichtsrat regelmäßig seine Flug- Irrsinn“. Oder kurz gesagt: typisch Berlin.
Czaja durch seine Frau, die, wie er, jahre- hafenchefs feuert und immer noch keinen Markus Deggerich, Frank Hornig

DER SPIEGEL 14 / 2017 47


Q U E L L E : M A X RO S E R , O U R WO R L D I N DATA .O RG ; P E T E R B R EC K E , CO N F L I CT CATA LO G
Summe aller Kriegsjahre Q
Früher war alles schlechter Nº 66: Europas Staaten im Krieg eines halben Jahrhunderts

1500 1550 1600 1650 1700 1750 1800 1850 1900 1950 2000
Albanien
Belgien
Bosnien-Herzegowina
Bulgarien
Dänemark
504
Deutschland
Estland
Finnland
Frankreich
Griechenland
Großbritannien
Irland
Italien
Kroatien
Lettland
Litauen
Luxemburg
Malta
Moldawien
Montenegro
209
Niederlande
Norwegen
Polen
Portugal
Österreich
Rumänien
Russland
Schweden

74
Schweiz
Serbien
Slowakei
Slowenien
Spanien
Tschechien
Ukraine
Ungarn
Vatikan

Sechsmal so viele Selbstmorde wie Kriegsopfer. „Krieg im 20. Jahrhundert im Schnitt noch fünf Prozent aller
scheint so alt zu sein wie die Menschheit. Frieden weltweit Verstorbenen durch Gewalt umgekommen
aber ist eine moderne Erfindung.“ Das sagte der bri- waren, so liegt dieser Wert in der Gegenwart nur
tische Rechtsgelehrte Henry Maine schon 1887. Doch noch bei etwa einem Prozent. Nehmen wir 2015: In
erst die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts machte diesem Jahr verschieden auf Erden laut Weltgesund-
aus dem Frieden den Normalzustand, während er Guido Mingels heitsorganisation insgesamt 56 Millionen Menschen.
für Jahrhunderte auch in Europa die Ausnahme ge- Früher war alles Rund 600 000 Menschen starben eines gewaltsamen
wesen war. Die Grafik oben zeigt, in welchen Jahren schlechter Todes (circa ein Prozent), wobei der Großteil davon
Warum es uns trotz
die europäischen Nationen (oder ihre historischen Kriegen, Krankheiten (470 000) bei Verbrechen zu Tode kam, Kriege töteten
Vorläufer) seit 1500 in kriegerische Konflikte verwi- und Katastrophen 119 000 Menschen. Dagegen gab es etwa sechsmal so
ckelt waren. Für manche Länder kommt dabei über immer besser geht. viele Selbstmorde (790 000) wie Kriegsopfer. Längst
500 Jahre hinweg eine fast durchgängige Linie mit SPIEGEL-Buch bei fällt der Mensch viel eher durch die eigene Hand als
DVA; 128 Seiten;
gelegentlichen friedlichen Unterbrechungen heraus, 14,99 Euro. Erscheint auf dem Schlachtfeld (Und, übrigens: Auch die euro-
erst ab 1950 ergibt sich ein helleres Bild. Während am 3. April. päischen Suizidraten sinken.). guido.mingels@spiegel.de

Debattenkultur seits kommentieren und uns einer Million Flüchtlinge. Es ten. Vorbildlich hingegen sind
Wie bringt man gegenseitig liken, sodass wir gibt Probleme, ja, aber die die der „Tagesschau“, der
Internetpöblern Ma- in den Spalten nach oben rü-
cken und sichtbarer werden.
kriegen wir gewuppt.
SPIEGEL: Es geht also nicht da-
„Welt“, der Bundesregierung
und auch des SPIEGEL, weil
nieren bei, Herr Ley? SPIEGEL: Wie viele sind Sie? rum, Hater oder Pöbler zu deren Seiten aufwendig mode-
Hannes Ley, 43, über seine Ley: Uns gibt es seit drei Mo- bekehren ... riert werden von Menschen,
Facebook-Gruppe #ichbinhier, die naten, und wir haben schon Ley: ... sondern die Mitleser nicht von Algorithmen.
für bessere Umgangsformen 28 000 Mitglieder. Der harte und Unentschlossenen abzu- SPIEGEL: Ihre Gegner sind
in Onlinediskussionen kämpft Kern, etwa 300 Leute, schal- holen. Wir arbeiten gegen die meist in der Überzahl. Wie
tet sich in Diskussionen ein, Verrohung im Netz, für eine merken Sie, ob Ihre Aktio-
SPIEGEL: Wie funktioniert circa 3000 Leute liken. bessere Diskussionskultur. nen Erfolg haben?
#ichbinhier? SPIEGEL: Wie reagiert man Denn die Kommentarspalten Ley: Daran, dass sie uns erst
Ley: Wir reagieren auf Hass- konstruktiv auf Hass? sind oft wie Litfaßsäulen für beschimpfen, als Meinungs-
kommentare auf den Face- Ley: Wir kontern Pauschal- Extremisten oder wie Wahl- polizei oder Stasi 2.0, und ih-
book-Seiten großer Medien, urteile mit Fakten, posten Sta- kampfarenen für die AfD. nen dann die Argumente aus-
indem wir strafrechtlich Rele- tistiken und Quellenangaben, SPIEGEL: Wo finden Sie den gehen. Manchmal drehen wir
vantes bei Facebook melden keine Fake News. Wir sagen: meisten verbalen Schmutz? auch das Kräfteverhältnis um:
oder gleich zur Anzeige brin- Stopp, es ist bei Weitem nicht Ley: Die Facebook-Seiten von 10 Hater und 30 Leute, die
gen. Aber vor allem, indem alles schlecht in diesem Land, „Bild“, „Focus“, N24 und Huf- gegen den Hass anschreiben,
wir Hasskommentare unserer- es herrscht kein Chaos wegen fington Post sind die schlimms- das kommt auch vor. fio

48 DER SPIEGEL 14 / 2017


Gesellschaft
tischen Weg, damit aus ihren fliegenden Visionen irgend-
Der Möglichmacher wann Alltag wird, Carplane aus Braunschweig beispiels-
weise oder Terrafugia aus den USA.
Bislang existiert nur ein einziges Exemplar des Pal-V. Es
Eine Meldung und ihre Geschichte: Wie eine steht in einem Gewerbegebiet südöstlich von Rotterdam,
wo Dingemanse seine Firma Pal-V angesiedelt hat. Pal-V
alte Erfindung endlich flügge wird steht für Personal Air and Land Vehicle. Es parkt in einer
Werkhalle und ist eine Mischform aus Auto, Motorrad und

A
ls Robert Dingemanse, Ingenieur aus den Nieder- Tragschrauber, eine Sonderform des Hubschraubers. Dinge-
landen, sich daranmachte, einen Menschheitstraum manse, der Techniker, erklärt detailverliebt die Konstruk-
Wirklichkeit werden zu lassen, formulierte er zu- tion. Im Pal-V stecken elf Jahre seines Lebens.
nächst zwei Gebote für sich und seine Mitarbeiter. Das Die Idee stammt von Dingemanses Kompagnon, John
erste Gebot lautete: Du darfst nichts erfinden – dafür sind Bakker, einem Techniker wie Dingemanse, der sein Geld
andere zuständig. Das zweite: Du darfst keine Ausnahme- mit Fünf-Achsen-Werkzeugmaschinen gemacht hat. Bak-
genehmigung beantragen – das Ziel muss eine echte Zu- ker ist der Gegenpart zu Dingemanse, er ist der Visionär,
lassung sein, keine Sonderregelung. Das sind erstaunliche der Mann für den großen Entwurf. Und er war klug genug
Vorschriften, wenn die Aufgabe lautet, ein fliegendes Auto zu wissen, was er kann und was er nicht kann. Als die
zu erschaffen. Aber Robert Dingemanse ist auch ein un- Funktionsfähigkeit des Modells erwiesen war, suchte er
gewöhnlicher Mann. sich einen Projektmanager und fand ihn.
Er ist kein genialer Tüftler, der von visionären Projekten Das Flugauto ist ein Dreirad, ganz in Schwarz, ein lang
träumt, es geht ihm nicht um Ruhm. Es geht Dingemanse gestrecktes, schnittiges Oval, auf seinem gläsernen Dach
ums Geld. Er ist ein kühl kalkulierender Kaufmann mit ei- trägt es im Fahrbetrieb zusammengefaltet die Flügel, kaum
ner Vorliebe für risikoreiche Produkte. Er studierte Mess- größer als eine Dachbox. Auf der Straße fährt es erstaun-
technik, machte Karriere im Elek- lich flott, 160 Kilometer pro Stunde
tronikkonzern Philips, kümmerte sind möglich. In Kurven neigt es
sich dort um die Markteinführung sich wie ein Motorrad, um vom Ge-
von Massenprodukten wie Flach- wicht des Rotors und der Flügel
bildfernsehern. Dingemanse verließ nicht umgeworfen zu werden.
den Konzern als wohlhabender In der Luft wirkt es seltsamerwei-
Mann und ist nun selbstständig. Er se weniger spektakulär, ein kleiner
arbeitet in einer wenig beachteten Hubschrauber eben, der Platz für
Nische der Wirtschaft, als Manager zwei Personen bietet, legal nur von
von Erfindungen. Er hat ein gut pro- Aus der „Berliner Zeitung“ Flugplätzen starten darf, es theore-
portioniertes Ego und nennt sich tisch aber von fast jedem Ort aus
selbst einen „Experten für disrupti- könnte. Nötig zum Start sind nur
ve Technologien“. knapp 200 Meter Straße, zum Lan-
Dingemanse ist der Mann, den den reichen 30 Meter. Nachteile des
man erst ruft, wenn man bereits Tragschraubers: Er kann nicht auf
einen Prototyp hat. Er ist der Mann der Stelle schweben, kann nicht
für die zweite Phase, für die Mü- senkrecht starten und landen.
hen der Ebene, wenn es darum Wann also wird es so weit sein,
geht, das Modell in die Wirklich- dass der gewöhnliche Bankange-
keit einzupassen, es behutsam so stellte oder die Ärztin morgens
zu formen, dass es allen Vorschrif- vom Frühstückstisch aufsteht und
ten und Bestimmungen genügt, da- sagt: Schatz, ich flieg dann mal ins
mit am Ende ein markttaugliches Büro? Nicht allzu bald. Dingeman-
Produkt dasteht. Er ist der große se strebt verständlicherweise nicht
Möglichmacher. den Massenmarkt an, sondern erst
Denn die eigentliche Erfindung einmal die Upperclass. Er hofft da-
ist oft nicht das Hauptproblem. rauf, dass der Pal-V zum Status-
Auch das fliegende Auto ist längst symbol avanciert, dass er in den
erfunden. Es existiert, es fliegt, in Villenvierteln der Welt neben Por-
vielen Varianten. Als Auto mit sche Cayenne und Ferraris parkt,
Gleitschirm, als Flugzeug mit Dingemanse mit Prototyp des fliegenden Autos Pal-V als Transportmittel, das Effektivität
klappbaren Flügeln. Die neueste und Lust an der Mobilität vereint.
Variante sind autonome Drohnen, voll mit Batterien, Soft- Statt morgens im Stau stehen oder würdelos in der U-
ware und Sensoren, die selbstständig zum Ziel finden. Bahn, sieht Dingemanse seine künftigen Kunden in
Rund 2000 Konzepte sollen weltweit existieren, rund 300 Schwärmen über den Metropolen pendeln, eine neue Elite,
fliegende Autos haben tatsächlich schon den Erdboden den Niederungen des Alltags enthoben.
verlassen. Bis zur Massenfertigung wird es allerdings noch eine
Aber bislang ist es niemandem gelungen, ein Flugauto Weile dauern. Erste Bestellungen liegen vor, unter ande-
zu bauen, das tatsächlich zulassungsfähig ist. Dingemanse rem aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, dort gibt
sagt, er habe dies geschafft. Rund 1500 einzelne Geneh- es Platz und Geld, die Preise beginnen bei 300 000 Euro.
migungen waren nötig, gut die Hälfte seiner Investitionen Auch das niederländische Militär hat Interesse, die Regie-
wurde aufgefressen vom bürokratischen Prozess. Mittler- rung hat mitfinanziert. Ausgeliefert werden sollen die ers-
weile gehen auch andere Firmen einen ähnlich pragma- ten Exemplare schon im kommenden Jahr. Uwe Buse

DER SPIEGEL 14 / 2017 49


Gesellschaft

Als der Frieden ausbrach


Karrieren 50 Jahre lang kämpfte die kolumbianische Farc-Guerilla für eine linke
Revolution, nun gibt sie die Waffen ab. Der Staat will die Kämpfer zu braven
Bürgern umerziehen. Viele von ihnen fürchten das mehr als den Krieg. Von Juan Moreno

J
eden Morgen, Schlag zehn, beginnt noch Terroristen waren. Natürlich ist das Cartagena. Beide Männer hatten sich ein
der Generator zu dröhnen, damit das ein Problem. Kann man aus einer Bande weißes Hemd angezogen. Sie gaben sich
Internet auch im Dschungel ankommt, marxistisch-leninistischer Staatsfeinde, die die Hand und hielten einen Vertrag hoch.
hier, bei den Farc-Rebellen, die keine mehr ihr Leben lang von der Regierung gejagt Der Krieg war nach mehr als fünf Jahr-
sind. Jemand vom Staat hat eine Satelli- wurde, brave kolumbianische Spießer ma- zehnten vorbei, und niemand hatte gewon-
tenschüssel aufgebaut, man will diese Leu- chen? nen. Er kullerte einfach aus, wie ein
te ins Hier und Jetzt holen. Es sind Krieger, Erst mal wurden professionelle Helfer Glücksrad.
die jahre- und jahrzehntelang abgeschottet in den Dschungel geschickt, das ist nie ver- Der eine, Präsident Santos, erhielt da-
gelebt haben, ohne Netz, ohne Telefon, kehrt. Im Guerillacamp aus Plastikplanen raufhin den Friedensnobelpreis. Als Ver-
fast wie ein Stamm von Ureinwohnern – und Bretterbuden wimmelt es jetzt von teidigungsminister hatte er jahrelang Bom-
allerdings unter Dauerbeschuss und umge- Ärzten, Pflegern, Lehrern, Psychologen, ben über dem Urwald abwerfen lassen.
ben von Sprengfallen und Minenfeldern. Sozialarbeitern. Die Kämpfer lernen, dass Dem anderen, Jiménez, legen Staatsanwäl-
Das kleine Licht am Satellitenempfän- es für den Frieden mindestens so viele Leu- te mehr als hundert Morde zur Last.
ger blinkt. Facebook, Twitter, YouTube te braucht wie für den Krieg. Seit 1966 haben sich der kolumbianische
und all die anderen Herrlichkeiten errei- Die Ärzte untersuchen die Männer und Staat und die Farc bekriegt, es war der
chen die Urwaldlichtung, es gibt WLAN Frauen in einem kleinen, grünen Zelt unter längste Guerillakrieg Lateinamerikas. Ein
hier. Natürlich passiert, was immer pas- mächtigen Gummibäumen. Sie finden zermürbender Kampf, entfesselt geführt.
siert, die Leute sind sofort angefixt. Vor Bandscheibenvorfälle, Rückenprobleme, Sein wahres Grauen deuten die Zahlen
einem Monat wussten sie nicht, was Arthrosen, Rheuma, Typhus, kaputte Bän- nur an: Mehr als fünf Millionen Menschen
Google ist. Sie waren eine Volksarmee, die der und Malaria und fragen sich nach je- wurden vertrieben, 200 000 starben, Zehn-
bei 34 Grad Celsius Hitze und 100 Prozent dem Patienten, wie solche Wracks über- tausende verschwanden oder wurden ent-
Luftfeuchtigkeit ihrer Arbeit nachging. haupt kämpfen konnten. Die Psychologen führt. Viele Parteien wüteten im Land –
Nun, da der Frieden ausgebrochen ist, sind zum Reden gekommen und sitzen am die Farc, das Militär, die von der Rechten
hat man ihnen militärische Übungen ver- Ende mit lauter Fragen da. Wie kann man finanzierten Paramilitärs, die rivalisieren-
boten. Sie liegen in ihren Holzverschlägen, mit 14 Jahren in den Dschungelkrieg zie- den Drogenkartelle, sonstige Kriminelle.
viele mit Mobiltelefon in der Hand, das hen und mit 50 immer noch mitmachen, Vorbei. Jetzt soll Frieden sein und Ver-
sie kürzlich vom Staat bekommen haben, ohne längst durchgedreht zu sein? gebung. Das Abkommen sieht vor, dass
gebrauchte Modelle. Auch Handys waren Wie ein Urvolk werden sie studiert. Ein die knapp 7000 Farc-Kämpfer die Waffen
in ihrem alten Leben natürlich tabu, der unentdecktes Kriegervolk aus dem Ama- abgeben, ein paar Hundert haben das
Feind hätte sie orten können. Nun starren zonasbecken. schon getan, bis zum Juni sollen alle Waf-
sie auf die Displays der Geräte und lernen, Das Wichtigste aber ist der Unterricht. fen übergeben sein. Präsident Santos ver-
wie man ein Rihanna-Video „liked“. Wie Bäume wurden gerodet und mit Macheten sprach großzügige Amnestien, politische
man auf Facebook Freunde gewinnt, die und einer alten Kettensäge eine wandlose Teilhabe, Rückkehrhilfen. Farc-Chef Jimé-
man nicht kennt. Das sind ihre ersten Aula gezimmert, vollgestellt mit Schul- nez beteuerte, dass man auch „den Geist
Schritte zurück in die Gegenwart. tischen und passenden Stühlen. Auf dem und die Herzen entwaffnen“ werde. Es
Es ist ein seltsames Experiment, das Ko- Lehrplan stehen: das kolumbianische gab überhaupt viele Versprechen. Eine
lumbien sich da vorgenommen hat. Eine Wahlsystem. Die beste Art, Kartoffeln zu Landreform soll es bald geben, Friedens-
verwegene Friedensmission, an deren ziehen. Fotografieren für Magazine. Ver- tribunale, eine Wahrheitskommission. Aus
Ende das Land kein Schlachthaus mehr hütungsmethoden. Und, auch sehr wichtig: den Farc soll eine reguläre, langweilige
sein soll. Eine Art Domestizierung ist ge- Was ist Netflix? Partei werden. Die ehemaligen Rebellen
plant: Aus wilden Kriegern sollen vernünf- Wenn sie nicht im Internet surfen, sitzen sollen sesshaft werden, politisch mitwirken,
tige Bürger werden. die Guerilleros in der Aula. Vorn redet ge- womöglich gewählt werden und in Parla-
Überall im Land werden jetzt deshalb rade eine junge Agrarexpertin mit Rasta- menten sitzen. Natürlich applaudierte die
Farc-Lager zu Umerziehungscamps aufge- frisur und erklärt die faszinierende Welt Welt. Jeder mag Happy Ends.
rüstet. Dieses hier, im Süden des Landes des Ackerbaus. „Wenn das hier in einigen
und unweit der ecuadorianischen Grenze Monaten vorbei ist, werdet ihr eure Waf- Boris ist auch nur ein Mensch
gelegen, ist etwa so groß wie ein Fußball- fen abgeben und vielleicht eine Selbstver- Boris Forero, kürzlich 50 geworden, mit
feld. Gut 80 Kämpfer sind hier. Ehemalige sorgerkommune gründen“, kündigt die Do- dem Gesicht und dem haarlosen Schädel
Sprengstoffprofis, Scharfschützen, Aufklä- zentin an. Es klingt wie ein Plan, den sich eines Preisboxers, sitzt an einem frühlings-
rungsexperten, Folterspezialisten der Gue- Claudia Roth ausgedacht hat. Aber es ist haften Montagmorgen in Bogotá, und ihm
rilla. Sie alle haben seit ihrer Kindheit ge- der einzige, den Kolumbien hat. ist nicht nach Happy End. Er trägt einen
gen die Regierung gekämpft, als Mitglieder An einem sonnigen Septembertag des mäßig sitzenden schwarzen Anzug, um ihn
der Fuerzas Armadas Revolucionarias de vorigen Jahres wurde der Frieden besie- herum eilen livrierte Kellner. Er ist als Red-
Colombia, kurz: Farc. Es sind Männer und gelt. Kolumbiens Präsident Juan Manuel ner bei einer Veranstaltung der ACR ein-
Frauen wie Willington Ortíz, Cazika Ata- Santos und der Anführer der Farc, Timo- geladen, der Agencia Colombiana para la
hualpa oder Edwin Cano, die vor Kurzem león Jiménez, standen auf einer Bühne in Reintegración. Die staatliche Agentur küm-
50 DER SPIEGEL 14 / 2017
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL

SCOTT DALTON / DER SPIEGEL


SCOTT DALTON / DER SPIEGEL

SCOTT DALTON / DER SPIEGEL

Farc-Mitglieder Atahualpa, Durn (o. l.), Kämpfer im Camp


Abgeschottet wie ein Stamm von Ureinwohnern

DER SPIEGEL 14 / 2017 51


Gesellschaft

mert sich um die Wiedereingliederung der selbst entscheidet, ob er Fotograf, Fliesen- mand, der übernimmt. Seit geraumer Zeit
ehemaligen Farc-Kämpfer. Sie hat zu einem leger oder Nackttänzer wird. Vor allem be- desertieren Farc-Kämpfer, die nichts von
Empfang in ein edles Hotel geladen. deutet es, dass es den meisten egal sein einem Leben als Busfahrer, arbeitsloser
Boris war früher bei den Farc. Er ist vor wird, was aus Edwin wird. Auch der Partei. Fotograf oder Maniokbauer mit Dorfvor-
Jahren desertiert und hat soeben auf der Edwin ist noch nicht so weit. Sein ganzes steherperspektive halten. Mexikanische
Bühne von seinen Erfahrungen erzählt. Leben hat sich die Guerilla um ihn geküm- Kartelle sind auch in Kolumbien aktiv, sie
„Wenn Sie nur eines mitnehmen“, hat er mert. Er war 13, als er eintrat. Die Guerilla winken nicht mit dem „Kommunistischen
dem Publikum zugerufen, „dann bitte, brachte ihm Lesen und Schreiben bei. Sie Manifest“, sondern mit Dollarbündeln.
dass auch wir Menschen sind.“ fütterte ihn, gab ihm Kleidung, ließ sein Es gibt noch andere alternative Arbeit-
Das Publikum besteht aus Vertretern Gesicht zusammenflicken, als eine Mine es geber im Dschungel, die sogenannte Natio-
von Unternehmen und Behörden; Anzugs- zerfetzte. Edwins Eltern waren Landarbei- nale Befreiungsarmee etwa, ELN genannt,
träger, nicht die erste Garde. Vermutlich ter, die ihren Sohn nicht ernähren konnten was für Ejército de Liberación Nacional
bestand der Chef darauf, dass sie vorbei- und fortschickten. Darum ist er hier. steht, eine Art kleine Schwester der Farc.
schauen. Es sind Leute, die die Agentur Es ist kurz vor Mittag, Boris Forero sitzt Auch mit ihr verhandelt die Regierung, bis-
davon überzeugen möchte, ehemaligen Ex- noch immer im Nobelhotel, die Konferenz her ohne Erfolg, dafür im Bewusstsein, dass
Farc-Leuten einen Job zu geben. Kolum- ist vorbei. Er hat heute nichts mehr vor, die ELN die freien Farc-Gebiete besetzen
bianer sind ein sehr höfliches Volk, viele morgen eigentlich auch nicht. Ein guter könnte und dass Farc-Leute, die keine Lust
versprechen wortreich, darüber nachzu- Moment, um von früher zu erzählen. „Das auf Legalität haben, bei der ELN eine neue
denken. Etwas später, beim Buffet, disku- Leben im Farc-Kollektiv bedeutet, dass Heimat finden könnten.
tieren einige über die Frage, wie man je- viele Entscheidungen für einen getroffen Das kolumbianische Kokageschäft je-
manden feuert, der eine Kalaschnikow werden. Fehler haben Konsequenzen, die denfalls hat unter dem Frieden nicht gelit-
blind zusammenbauen kann. Konsequenzen kennt man, man erduldet ten, im Gegenteil. Noch nie hat Kolumbien
Boris war fast 20 Jahre lang bei den Farc. sie, dann geht es weiter. Das hat etwas Be- so viel Kokain produziert. Experten schät-
Lange gekämpft, mehrmals angeschossen, ruhigendes. Es ist nicht kompliziert.“ zen, dass seit 2015 das Angebot um ein
bis er nicht mehr wusste, warum er einge- Seit Boris nicht mehr kämpft, hat er Drittel gestiegen ist. 710 Tonnen pro Jahr,
treten war. Vor elf Jahren kehrte er zurück Ticks. Seine Hände stehen nicht still, er so viel wie nie zuvor. 188 000 Hektar Ko-
in die Zivilisation und studierte Psycholo- reibt die Finger, greift sich ins Gesicht. „Je- lumbiens sind derzeit mit Kokafeldern be-
gie. Heute spricht er gelegentlich für die der hat Narben. Manche sieht man, andere stellt, eine Fläche, zweimal so groß wie
Agentur mit Farc-Deserteuren. Seine Auf- nicht.“ Boris hat beides. Seine Arme und Berlin, die sich seit 2012 verdoppelt hat.
gabe ist es, ihnen zu erklären, was Freiheit der Rücken sehen aus, als hätte jemand
ist und was Frieden bedeutet. Er müsste Stücke mit einem Küchenmesser rausge- Willington versteht den Hass
wissen, ob die Verwandlung möglich ist. schnitten, die Folgen einer Splitterbombe. Es ist kurz nach Mitternacht im Camp. Der
Die Zähmung der Wilden. Den Krieg muss man sich wie einen Generator wird ausgestellt, einige der
„Gar nichts weiß ich. Außer, dass diese Motor vorstellen, er braucht irgendeinen Brüllaffen scheinen den Krach zu vermis-
armen Teufel keine Ahnung haben, was Treibstoff, um zu laufen. Hass ist gut ge- sen, sie kreischen in die Nacht hinein. Un-
sie hier erwartet und wie verdammt eignet, verliert mit den Jahren aber an ter den Planen gehen die Handydisplays
schwer es wird. Die Guerilla prägt dich. Kraft. Wirklich langlebig macht einen aus. Willington Ortíz macht seine Taschen-
Der Krieg ist dein ganzes Leben. Von dem Krieg nur Geld. Der Krieg gegen die Farc lampe an und schmiert sein Gewehr.
Moment an, an dem ich beschloss aufzu- mag vorbei sein, der Drogenkrieg wird Er ist Unteroffizier bei den Farc, bald
hören, vergingen fünf Jahre, bis ich wirk- weitergehen, solange die Nachfrage der 50 Jahre alt. Ein stiller, kranker Mann mit
lich ging. Die Farc sind ein seltsamer Hau- kokainsüchtigen US-Amerikaner und der sehr nervösen Augen. Seine Bandscheiben
fen, aber das Einzige im Leben eines Gue- kaum weniger süchtigen Europäer anhält. sind kaputt, dem Keuchhusten nimmt man
rillero, was einer Familie ähnelt.“ Die Farc nannten sich zwar Freiheits- 30 Jahre Regenwald sofort ab. Am Bett-
Vor allem waren die Farc ein Sammel- kämpfer und wickelten ihr Gewissen in ende springt ein Äffchen herum. Sein
becken: Aufrichtig Überzeugte kämpften rote Ideale. In Wahrheit waren sie eines Haustier. „Ihr Zivilisten habt doch auch
neben langsam Korrumpierten und zutiefst der größten Drogenkartelle des Planeten. Haustiere, richtig?“, fragt Willington.
Kriminellen. Die Mehrheit stellten aber Etwa 60 Prozent des kolumbianischen Dro- Natürlich konnte es nicht so weiterge-
seit je die Verzweifelten, die Verlorenen, gengeschäfts sollen sie kontrolliert haben. hen, sagt Willington müde. Natürlich hass-
für die das Rebellenleben noch die beste Die EU führte sie lange als Terrororgani- te er die Bombardements der Regierungs-
von vielen schlechten Möglichkeiten war. sation. Eine, die etwa eine Milliarde Dollar truppen. Die Hubschrauber über den
Leute wie Edwin Cano. Umsatz pro Jahr machte. Baumwipfeln, während er im Schlamm
Wenn die Farc dieses Geld wirklich nicht steckte und wartete. Die dauernden Gewalt-
Edwin ist noch nicht so weit mehr wollen, findet sich mit Sicherheit je- märsche mit 60 Kilogramm auf dem Rü-
Edwin ist ein schüchterner Kerl. Er liegt cken. Zum Guerillakrieg gehöre, dass der
in seinem Verschlag und verschickt Smi- Feind nie wissen darf, wo man ist. Willing-
leys an die drei Nummern, die er gespei- ton leidet darunter, dass er nie tief schläft.
chert hat. Er ist 30 Jahre alt, und als ihn Andererseits: Gute Schläfer sterben früh,
ein Sozialarbeiter gestern fragte, was er weil sie die Gefahr nicht kommen hören.
werden wolle, antwortete er, dass in der „Dass alle tot sind, das ist das Schlimms-
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL

Aula jemand über Fotografie geredet habe. te.“ Die Kameraden, seine Eltern, die er
Das habe ihn interessiert. „Aber ob ich mit 17 das letzte Mal sah, seine Ausbilder,
Fotograf werde, entscheide ja nicht ich. Fidel Castro, die Revolution.
Das macht die Partei.“ Für die meisten Kolumbianer sind Leute
Edwin hat den entscheidenden Punkt wie Willington Ortíz Terroristen. Mörder.
nicht verstanden: Der Frieden sieht vor, Willington versteht das. Er hat viele Sol-
dass die Farc verschwinden, dass die Kämp- Ehemaliger Farc-Mann Forero in Bogotá daten erschossen und ihre Gewehre für die
fer frei sein werden. Bedeutet: dass jeder „Der Krieg ist dein ganzes Leben“ Farc erbeutet. Diese M16 beispielsweise,
52 DER SPIEGEL 14 / 2017
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL
Teilnehmer eines Resozialisierungskurses im Farc-Camp: Wer möchte Busfahrer werden, wer Maniokbauer?

die er täglich reinigt. Die toten Soldaten nur noch er, sagt Willington. Willingtons es jetzt dreimal pro Tag warmes Essen,
haben Eltern, Geschwister und Kinder. Freundin wurde nach ein paar Wochen sonntags Musik. Vormittags revolutionäre
Willington weiß, dass viele Menschen gute von einer Bombe in Stücke gerissen. Es Lieder, „Die Internationale“, „Hasta siem-
Gründe haben, ihn zu hassen. Er fragt sich hat nicht lange gedauert, bis er einen guten pre comandante“, solche Sachen, am Nach-
aber schon lange, warum man Leute wie Grund für den Krieg hatte. mittag übernimmt Shakira.
ihn „Terroristen“ nennt, seine alten Feinde Willington sitzt vor einem Computer Cazika Atahualpa, eine hübsche Frau
von der Armee jedoch „Soldaten“? Wird und klappt ihn wütend zu. Am Nachmittag mit dunklen Augen, ist eine der wenigen,
der Krieg der Armen nicht immer und hatte ihm jemand erklärt, was Facebook die sich auf den Frieden freut. Ihr Mann,
überall Terrorismus genannt? Und der Ter- ist. Das Netz macht ihn fertig. „Da stehen Ramiro Durn, ist derzeit „Sekretär für Agi-
rorismus der Reichen Krieg? ja Lügen. In diesem Facebook.“ Er hat vie- tation und Propaganda“ der Einheit.
Willington Ortíz ist wegen eines Mäd- le Falschmeldungen über die Farc gelesen. Cazika hat zwei Kinder. Wenn das hier
chens den Farc beigetreten. Damals, er Die Motivation, seine M16 abzugeben, ist vorbei sei, sagt sie, könne sie zu ihnen ge-
war 17, wartete die Kaffeeplantage seines nicht gestiegen, seit er online ist. hen. Sie leben jetzt bei Ramiros Eltern.
Vaters unweit von Cali auf ihn. Er hieß Willington Ortíz überlegt, in die Partei Gerade waren sie zu Besuch. José ist sie-
auch noch anders, Alex Vargas nämlich, einzutreten, die es bald geben wird. Er ist ben, sie hat ihn nach seiner Geburt sechs
Willington Ortíz ist sein „nom de guerre“, aber nicht der Einzige, dem das ziemlich Jahre lang nicht gesehen. Das zweite ist
den er im Dschungel erhielt. Das Mädchen, heikel erscheint. Seit Jahren werden in Ko- erst einige Monate alt. Da war schon ab-
das er kennengelernt hatte, machte sich lumbien Umweltschützer, Menschenrecht- zusehen, dass es die Farc nicht mehr lange
nichts aus Kaffee. Es sprach vom Klassen- ler und Bauernvertreter ermordet. Eine geben würde. Im Camp sind derzeit sechs
kampf, von einem gerechten Kolumbien, linke Agrarreform, wie sie versprochen Frauen schwanger.
von den Farc. Einer Volksarmee, die Ko- wurde und die eine gerechtere Verteilung „Man darf in der Guerilla keine Kinder
lumbianer entführte und Pablo Escobar des Landbesitzes bringen soll, kann man bekommen. Also behielt ich es für mich.
half, Amerika mit Kokain zu fluten, um in diesem Land nicht vereinbaren, man be- Im sechsten Monat habe ich noch Straßen-
Geld für die „revolución“ zu sammeln. zahlt sie mit Blut. Jeder, der in diesem sperren des Militärs angegriffen. Als die Ge-
Willington verstand nicht viel von Volks- Camp mit dem Gedanken spielt, in die fährten es merkten, waren sie unglaublich
befreiung, aber er liebte es, wie sich die Politik zu gehen, hat diese Angst: an einer sauer. Sie mussten mich ins Krankenhaus
Lippen der jungen Frau spitzten, wenn sie Bushaltestelle oder an einem Rednerpult schaffen, weil es eine Frühgeburt war. Auf
„revolución“ sagte. Er trat mit ihr in die zu stehen und erschossen zu werden. dem Weg dorthin starben drei Kameraden.“
Guerilla ein. Cazika liegt auf einer Pritsche, während
33 Jahre ist das jetzt her. Von den hun- Cazika will zu ihren Kindern sie das erzählt. Eine Ärztin hat sie unter-
dert Rekruten, die mit Willington anfingen Der Frieden hat durchaus sein Gutes, das sucht und Typhus diagnostiziert. Sie hat
und bald mehr als Kameraden waren, lebe sehen auch die Guerilleros. Im Camp gibt ihr eine Kochsalzlösung über eine Infu-
DER SPIEGEL 14 / 2017 53
Gesellschaft

SCOTT DALTON / DER SPIEGEL


Guerillero Ortíz mit Äffchen: „Ihr Zivilisten habt doch auch Haustiere, richtig?“

sionsnadel in den Arm gelegt. Der Beutel den Jungkommunisten, 2001 ging er zu den Geld für Essen, für Strom, für Gas, für Mie-
hängt an einem Baum. Farc. Er möchte in der Partei Karriere ma- te, für Kleidung, sogar für den verdamm-
Cazika ist eine praktische, direkte Frau. chen. Seine Eltern haben ein Ferienhaus ten Müll muss man bezahlen, damit er weg-
Für sie ist die Zukunft ein Geschenk, mit an der Pazifikküste, von dem er Cazika geschafft wird.
dem sie nie gerechnet hat. In der Guerilla immer erzählte, wenn sie unter Beschuss Seit Boris in Frieden lebt, vergeht kaum
beschäftigt man sich nicht damit. Todge- waren. ein Tag, an dem er nicht an den Krieg
weihte planen nicht für morgen, es exis- „Ich möchte es sehen“, sagt Cazika. denkt. Er will nicht sagen, dass er ihn ver-
tiert nur der Moment. misst, den Krieg, aber er denkt häufig an
Mögen sich zwei, gehen sie zum Vorge- Boris bleibt ein Verräter seine schöne Schlichtheit, seine Klarheit.
setzten, denn der muss jederzeit wissen, Boris Forero in Bogotá wird künftig selte- Im Krieg gibt es Gewissheiten, selbst wenn
wo seine Untergebenen sind. Ohne seine ner in schönen Hotels sitzen. Eine feste sie mit dem Tod enden. Schwarz ist schwarz,
Genehmigung darf man nichts. Nicht rau- Stelle als Psychologe hat er nie gefunden, weiß ist weiß. Der Frieden ist grau.
chen, nicht einen Mann lieben. Anfangs und die Agentur braucht ihn jetzt nicht Der Frieden, den Boris bislang erlebt
durfte Cazika ihren Ramiro nachts genau mehr so oft, sein Profil passt nicht mehr hat, war auf seine Weise unruhiger als der
zwei Stunden besuchen. Später bat sie um zu den Anforderungen. Für die Deserteure, Krieg, verwirrender. An manchen Tagen
mehr Stunden. Liebe ist möglich, aber nie- die in den Jahren vor dem Frieden aus sogar härter, sagt Boris. Auch der Frieden
mand nimmt Rücksicht. Paare, die jahre- dem Dschungel kamen, war er der ideale ist ein Kampf. Es geht nicht mehr jeden
lang in derselben Einheit waren, wurden Ansprechpartner, er hatte dieselbe Ge- Tag um Leben und Tod, aber es geht da-
durch einen simplen Versetzungsbefehl für schichte. Die Exkämpfer aber, die jetzt rum, was für ein Leben man führt und ob
immer getrennt. kommen, sind nicht weggerannt, für sie man es für lebenswert hält.
In einer Welt, sagt Cazika, in der eine ist Boris ein Verräter, „die werden nicht Früher trug Boris Forero ein Gewehr
schmächtige 17-Jährige mit einem G3 das mit mir reden“. Er hat die Seiten gewech- und war wichtig. Er wollte die Welt zu ei-
Feuer aufrechterhält, während die Männer selt. Verräter ist man immer, auch wenn nem besseren Ort machen. Heute sucht er
wie Hühner wegrennen, werden die Dinge der Krieg vorbei ist. nach einem Job, um überleben zu können.
anders geregelt. Mut hat kein Geschlecht. Boris steht auf und möchte heim. In sein Er – und all die anderen, die kommen wer-
Noch so eine Kriegsweisheit. nicht sonderlich gutes Apartment in einer den – sind für viele Kolumbianer nur
Auch Cazika weiß nicht, was später nicht sonderlich guten Gegend Bogotás. Freaks aus dem Dschungel, die nicht mal
wird. Nichts hat sie auf die Freiheit vorbe- Boris hat sich den Frieden anders vorge- wissen, wer Siri ist. Mehrere Tausend Gue-
reitet. Sie möchte Krankenschwester wer- stellt, nicht so anstrengend. Hier, in der rilleros kehren gerade in die Zivilisation
den. Ihr Mann Ramiro, ein eloquenter, Freiheit, kümmert sich niemand. Man zurück. Wilde Kämpfer. Sie haben den
hochaufgeschossener Kerl, hat vier Semes- braucht aber Geld zum Leben und einen Krieg verloren, und viele von ihnen wer-
ter Jura in Bogotá studiert und war bei Job, den man nicht kriegt. Man braucht den auch den Frieden nicht gewinnen. I
54 DER SPIEGEL 14 / 2017
Gesellschaft

Mein Mitschüler wurde Sozialpädagoge und trug den


Antiatomkraftstecker am Parka, als ich noch nicht einmal
wusste, ob ich für oder gegen Atomkraft war.
Was ist mit ihm passiert?
Ich schrieb ihm, und er schrieb zurück: Er betrachte sich
immer noch als sozial eingestellt, als links. Aber. Nach dem
Überdosis 11. September 2001 habe er sich mit dem Koran, dem Islam
beschäftigt und festgestellt: Der Islam sei wie Voodoo. Mit
seiner ganzen Intelligenz – und wachsendem Zeitaufwand –
Homestory Mein ehemaliger Mitschüler, der werfe er sich seither auf die Aufgabe, Fehler, Mängel und
Gefahren im Islam zu finden. Er betrachte Religion als Opi-
Pietismus, der Islam und die AfD um fürs Volk, so schrieb er, jede Art von Religion, aber der
Islam sei die gefährlichere Droge als das Christentum. Wel-

N
eulich sah ich ein Bild in einer Zeitung von einem, cher Muslim stelle schon das Grundgesetz über Allah?
der als Kind in meine Klasse gegangen ist, in einem Sollte ich mit den reaktionären Christen kommen, die
schwäbischen Gymnasium, viele Jahre ist es her. Abtreibungskliniken angreifen und Ärzte töten wollen
Der Mitschüler sagte, er werde jetzt AfD wählen, denn und es manchmal auch tun? Oder mit den erbarmungslo-
das sei die einzige richtig islamkritische Partei. sen klerikalen Fundamentalisten, die es im Schwäbischen
Er also auch? Ausgerechnet er? nach wie vor gibt?
Ich weiß noch genau, wie er damals war: schlau, laut, Dass das nicht die ganze Kirche ist, hatte ich irgendwann
brillant in Mathematik und mit scharfem Sinn für Ge- akzeptiert. Martin Luther King trug dazu bei, mit seinen
rechtigkeit. Er widersprach dem Ge- Predigten, die nicht nur politisch, son-
schichtslehrer, der ein erzkonservati- dern auch sprachlich ein Ereignis wa-
ver Kriegsheimkehrer war. Er führte ren. Die Berrigans trugen dazu bei, je-
Debatten über alles und jeden. Der suitische Brüder, die in den USA in
arrogante Deutschlehrer machte ein- eine Atomwaffenfabrik eindrangen
mal einen in der Klasse fertig, da stand und dafür ins Gefängnis gingen. Das
dieser Mitschüler protestierend auf schien mir eine Art von Glauben zu
und verließ den Raum. sein, der zu sinnvollen Dingen führt.
Unser Gymnasium war pietistisch, Mein eigenes Verhältnis zur Kirche
vor allem in den ersten Jahren merkte blieb aber kühl. Wir hatten, glaube ich,
man das sehr. Morgens vor Unterrichts- eine Überdosis Religion abbekommen,
beginn wurde gebetet, wehe, wenn damals in der Schule.
man zu spät kam, und donnerstags in Politische Parteien haben nichts in
der ersten Stunde war Gottesdienst, der Schule verloren, warum ist das ei-
verpflichtend, für die Unterstufe je- gentlich anders mit Religionen? Die
THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL

denfalls. Wir lernten die Namen der übliche Praxis erscheint mir seltsam:
Propheten in der Bibel auswendig Ein parteiischer Gläubiger, beispiels-
(Obadja, Jona, Micha, Nahum, Haba- weise evangelisch, präsentiert den Kin-
kuk ...), zeichneten den See Geneza- dern Religion. Wie wäre es, wenn er
reth und hörten einer asthmatischen nur als einer von vielen aufträte? Wenn
Religionslehrerin beim Flötenspiel zu. der Katholik, der Imam, der Rabbi, der
Ich kann mich nicht erinnern, dass Buddhist, der Atheist, der Agnostiker,
wir über den Inhalt des Koran oder der Wer-auch-Immer die Chance be-
sonst intensiv über andere Religionen käme, selbst für sich zu sprechen?
gesprochen hätten. Ein Mädchen in Nicht, um zu missionieren – sondern
der Klasse hieß Miriam mit Vornamen um vorzustellen, worum es ihm geht?
und musste weder zu den Evangelischen noch zu den Ka- Man würde vielleicht informierter und gelassener mit
tholiken; warum, das hat uns niemand erklärt. dem umgehen, was andere Religionen praktizieren und
Dem Fach Religion fiel auch die sexuelle Aufklärung wofür sie stehen.
zu. Wir lernten da zum Beispiel, dass der Junge das Gas- Vielleicht würde mein Mitschüler heute anders den-
pedal und das Mädchen die Bremse sei. ken. Er ist gegen die Gleichberechtigung des Islam. Er
Es war die Zeit, in der wir anfingen, Rockmusik zu hören, findet, dass eine Gleichbehandlung in Wahrheit Unter-
und engagierte Nonnen gegen das Musical „Jesus Christ drückung sei – und zwar derer, die den Islam verlassen
Superstar“ protestierten, weil es Teufelszeug sei; ein Vor- wollen. Und er sucht eben den Schulterschluss mit denen,
gang, der meinen Abschied von der Religion beschleunigte. die „mutig sind“, sagt er, und den Islam bekämpfen –
Mit 14 konnte ich mich vom Religionsunterricht abmelden, mit der AfD.
musste es allerdings begründen. Meine Begründung war: Oder kann ich bald sagen: suchte?
Ich halte nichts von einem Verein, der Frauen als Hexen Er habe, schrieb mir mein Mitschüler neulich, sein
verbrannt hat. Ich muss allerdings zugeben, dass mir die Engagement stark reduziert. Die Rede des AfD-Mannes
Hexen nicht ganz so wichtig waren wie die Tatsache, dass Björn Höcke über das Holocaust-Mahnmal als „Denkmal
ich dann Freistunde hatte; das Fach Ethik als Alternative der Schande“ empfinde er als Skandal.
gab es bei uns noch nicht. Ich verbrachte die Freistunde im Er erschrak über Höcke, aber sein Schreck, das ist für
Café und las „Stern“-Artikel über Verschwundene in Ar- mich das Erschreckende, hielt nicht lang.
gentinien und Folter in Chile, was mich mehr beschäftigte Und ich hatte schon gedacht: Danke, Herr Höcke. Ich
als alles, was Thema gewesen war im Fach Religion. nehme es zurück. Barbara Supp

DER SPIEGEL 14 / 2017 55


Messepräsentation des Fiat 500X

VITTORIO ZUNINO CELOTTO / GETTY IMAGES


Abgasaffäre

Fiat trickst weiter


Das Kraftfahrt-Bundesamt entdeckt erneut eine Abschalteinrichtung im Dieselmotor.
Deutsche Zulassungsbehörden sind beim Autohersteller wohl beim Hersteller in Turin als auch bei der Regierung in
Fiat erneut auf eine Abschalteinrichtung für das Abgas- Rom verliefen jedoch ergebnislos. Erst eine Klage bei der
system gestoßen. Bei Tests an einem Fiat 500X fiel den Ex- EU bewirkte, dass sich das italienische Verkehrsministeri-
perten auf, dass der Diesel-Pkw nach 90 Minuten die Reini- um der Sache annahm. Fiat besserte nach, und Dobrindts
gungsanlage abregelt. Bundesverkehrsminister Alexander Amtskollege versicherte, die Abschalteinrichtung sei besei-
Dobrindt (CSU) dürfte sich deshalb bei der EU-Kommissi- tigt. Doch in Berlin blieb man misstrauisch, ließ nachmes-
on über die italienischen Zulassungsbehörden beschweren. sen, und die Experten wurden fündig. Jetzt verlangt das
Fiat war im Rahmen der Dieselaffäre bereits aufgefallen, Ministerium nach Aufklärung. Auf Nachfrage erklärte der
weil nach 22 Minuten die Stickoxidreinigung abgeregelt Fiat-Konzern, man könne sich „zu internen Dokumenten
wurde. Das werteten die deutschen Behörden als unzulässi- deutscher Behörden“ nicht äußern, die italienischen Be-
ge Abschalteinrichtung, da der offizielle Zulassungstest 20 hörden jedoch hätten die Emissionsanforderungen des Fiat
Minuten dauert. Beschwerden von Dobrindts Beamten so- 500X „überprüft und erneut bestätigt“. gt

KfW Schneider, SPD-Fraktionsvize 2016 auf 230 Millionen Euro. oder Immobilienbesitzer, die
SPD kritisiert lahme im Bundestag und Mitglied Geplant waren aber 440 Mil- ihr Haus energieeffizienter
Förderpraxis im Verwaltungsrat der KfW.
„Im dritten Jahr in Folge hat
lionen Euro. Bereits 2014 und
2015 hatte die KfW ihre Ziele
machen. „Ich erwarte, dass
der Vorstand Vorschläge für
Die SPD wirft der staatlichen der Vorstand allerdings seine verfehlt. Die Förderleistung neue, alternative Instrumente
Förderbank KfW vor, ihr selbstgesetzten Ziele bei der entspricht vor allem der Sum- macht, damit das Kernge-
Kerngeschäft zu vernachlässi- Förderleistung verfehlt.“ Tat- me jener Zinsverbilligungen, schäft wieder besser läuft
gen. „Die Wirtschaftsförde- sächlich belief sich diese laut die das Institut an seine und die KfW ihren Auftrag
rung ist der wichtigste Auf- dem in dieser Woche vorge- Kunden weitergibt, etwa bei künftig wieder besser erfüllt“,
trag der Bank“, sagt Carsten stellten Geschäftsbericht für Krediten für Existenzgründer sagt Schneider. böl

56 DER SPIEGEL 14 / 2017


Wirtschaft
Rüstungsexporte Bickel: In gewisser Weise
„Kaltes Kalkül“ schon – und deshalb redet die
Branche auch lieber über die

ROLAND GEISHEIMER / ATTENZIONE / AGENTUR FOCUS


Der Journalist und vermeintlich guten Produkte,
Nahostexperte die sie produziert, wie etwa
Markus Bickel, 45, Radfahrzeuge für Uno-Mis-
über Profite, ver- sionen oder Minenräumgerä-
meintliche Stabilitäts- te. Bei der Rüstungssparte
anker und fehlende von Rheinmetall allerdings
Waffenkontrollen entfielen vom 147-Millionen-
Euro-Gewinn 108 Millionen
SPIEGEL: Der Rüstungskonzern auf Waffen und Munition.
Rheinmetall treibt aktuell den SPIEGEL: Im Jahr 2015, be-
Bau einer Panzerfabrik in der schreiben Sie in Ihrem neuen
Türkei voran – das Land sei ja Buch, verkauften deutsche Manöver mit „Leopard 2“-Panzern
Nato-Mitglied hieß es. Ist das Firmen Rüstungsgüter für 4,8
angesichts der Lage dort naiv Milliarden Euro*. Exporte im schen Politikern gern als Sta- Rüstungslobby ist gut ver-
oder skrupellos? Wert von rund einer Milliarde bilitätsanker gepriesen. Dabei netzt. Zudem gibt es ja einen
Bickel: Das ist kaltes Kalkül. gingen an Staaten in Nord- wirft inzwischen sogar der „Gemeinsamen Standpunkt“
Das Abwandern ins Ausland afrika oder Nahost, die in BND der dortigen Regierung der EU, der Exporte in Kri-
ist Teil der Strategie der Kriege wie den im Jemen eine aggressive Interventions- sengebiete beschränken soll.
deutschen Rüstungsindustrie. verwickelt sind. Wie ist das politik vor. Dazu kommt: Das Totschlag-
Dort werden dann etwa Toch- möglich? SPIEGEL: Würde es helfen, argument „Wenn wir es nicht
terfirmen oder Joint Ven- Bickel: Diktaturen wie Saudi- wenn die EU restriktivere tun, machen es andere“ ist
tures gegründet, die deutsche Arabien werden von deut- Waffenexportbestimmungen nicht ganz von der Hand zu
Waffen in Lizenz produ- beschließt? weisen. Bitterarme Länder
zieren. * Markus Bickel: „Die Profiteure des Bickel: Das müsste politisch wie der Sudan verfügen
Terrors. Wie Deutschland an Kriegen
SPIEGEL: Unterläuft das nicht verdient und arabische Diktaturen erkämpft werden, erscheint inzwischen über eine erstau-
die Ausfuhrkontrolle? stärkt“. Westend; 224 Seiten; 18 Euro. derzeit aber illusorisch. Die liche Rüstungsindustrie. nkl

Steuerbetrug Finanzamt oder andere staatli- men jetzt „auf die gesetzliche darauf hin, dass beim Tod des
Meldepflicht für che Behörden gemacht wird“, Anzeigepflicht“ gemäß dem Kunden der Versicherungswert
Schließfächer so etwa die Goldkontor Ham-
burg GmbH. Die Hamburger
Erbschaftsteuergesetz hinge-
wiesen. Zuwiderhandlungen
seines Schließfachinhalts mit-
zuteilen sei. Die Hamburger
Finanzämter gehen gegen pri- Hameko GmbH warb noch am würden als „Steuerordnungs- Finanzbehörde hat andere Fi-
vate Anbieter von Schließfä- vergangenen Donnerstag da- widrigkeit mit Geldbuße ge- nanzämter auf das Problem
chern vor. Diese verlangen oft mit, dass – anders als bei einer ahndet“. Zudem wurden die hingewiesen. „Wir haben das
bis zu zehn Mal höhere Preise Bank – für ihre Schließfächer Firmen gemahnt, falsche Wer- auf dem Schirm und gehen
als Banken. Dafür versprachen „keine Meldepflicht“ bestehe. beversprechen in ihrer „Kun- dem nach“, so ein Sprecher
sie ihren Kunden, dass bei Die Hamburger Finanzbehör- deninformation“ zu korrigie- des niedersächsischen Finanz-
ihnen „keine Meldung an das de hat betroffene Unterneh- ren. Das Finanzamt weist auch ministeriums. red

Vorstände Linde triegasen zusammenschlie-


Das Thomas-Phänomen Ministerin Aigner ßen. Bis zur Hauptversamm-

Das durchschnittliche Vorstandsmitglied* 2017 ist …


kritisiert Fusion lung im Mai sollen die Verträ-
ge für den 60 Milliarden Euro
Die bayerische Wirtschafts- schweren Deal ausgearbeitet
… in Westdeutschland ministerin Ilse Aigner (CSU) sein. Diese Woche hatten sich
… männlich … deutsch ausgebildet unterstützt die Belegschaft des sowohl der Europäische Be-
Industriegasekonzerns Linde triebsrat als auch das Bundes-

93 % 76% 69%
49
von 676
beim Protest gegen den Zu-
sammenschluss mit dem US-
wirtschaftsministerium kri-
tisch über die geplante Fusi-
Vorständen Konkurrenten Praxair. „Der on geäußert. Aigner sagte,
heißen Europäische Betriebsrat von nach ihren Informationen sei
Thomas oder Linde hat sich jetzt klar ge- den Linde-Arbeitnehmerver-
Michael gen eine Fusion von Linde tretern der Fortbestand des
23 % 48% 30% und Praxair gestellt“, sagt eigenen Unternehmens sogar

… Ingenieur … Wirtschafts- … im Ausland


46
Vorstände
Aigner. „Die Haltung der Ar-
beitnehmer muss ernst ge-
nommen werden.“ Linde und
wichtiger als die Arbeitsplatz-
garantie, die mit Praxair für
den Fusionsfall ausgehandelt
wissenschaftler ausgebildet sind Frauen
Praxair wollen sich zum welt- wurde. „Das ist schon bemer-
* bei an der Frankfurter Börse notierten Unternehmen; Quelle: AllBright-Stiftung größten Hersteller von Indus- kenswert“, so Aigner. ran

DER SPIEGEL 14 / 2017 57


Anatolische Wirtschaftsmetropole Kayseri

Ausrotten der Tiger


Konjunktur Die Wirtschaft in der Türkei leidet unter den politischen Verwerfungen
des Landes: Investoren sind verunsichert, Touristen bleiben aus.
Präsident Erdoğan allerdings scheint das nicht zu stören – das hat fatale Folgen.

H
aci Boydak war bis vor Kurzem ein und weitere Manager der Familienholding steuert, wie Erdoğan sein Land in eine
gefragter Mann. Der 56-Jährige in eine Haftanstalt bei Ankara. Boydaks Diktatur umbaut. Etwa 130 000 Staats-
betrieb mehrere Dutzend Firmen, Vermögen wurde beschlagnahmt, seine beamte haben ihren Job verloren oder
darunter die türkischen Ikea-Konkurren- Firmen unter Zwangsverwaltung gestellt. wurden suspendiert, 45 000 Menschen wur-
ten Istikbal und Boytas. Politiker suchten Selbst die Boydak-Arena in Kayseri erhielt den verhaftet.
seinen Rat, seine Heimatstadt Kayseri in einen neuen Namen. Jetzt richtet sich die Säuberungsaktion
Zentralanatolien benannte gar ein Fußball- Erdoğan verdächtigt Boydak, den Islam- zunehmend gegen die Wirtschaftseliten
stadion nach ihm. prediger Fethullah Gülen unterstützt zu des Landes. Etliche Geschäftsleute sitzen
Damit ist Schluss. Nichts im Land soll haben, den angeblichen Drahtzieher des inzwischen als vermeintliche Verschwörer
mehr an Boydak erinnern – auf jeden Fall, gescheiterten türkischen Militärputschs im Gefängnis.
wenn es nach dem Willen des türkischen vom 15. Juli 2016. Und das hat Folgen; das türkische Wirt-
Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan geht. Der Fall des Unternehmers zeigt exem- schaftswunder ist dabei, sich in sein Ge-
Polizisten nahmen den Unternehmer ver- plarisch, in welche Richtung die Türkei seit genteil zu verwandeln: Das Bruttoinlands-
gangenes Frühjahr fest und brachten ihn den Ereignissen des vergangenen Sommers produkt, das unter Erdoğan zwischenzeit-
58 DER SPIEGEL 14 / 2017
Wirtschaft

den, die nun um ihren Lebensstandard Macht gegen dessen Anhänger vor – auch
bangt. Laut einer Umfrage sind zwei Drit- gegen die, die das Land wirtschaftlich stark
tel der Türken mit der wirtschaftlichen gemacht haben.
Entwicklung in ihrem Land unzufrieden. Erdoğan hat in den vergangenen Mona-
Selbst in ehemaligen Hochburgen der Re- ten etwa 800 Firmen im Wert von zehn
gierungspartei AKP wie etwa Kayseri gerät Milliarden Dollar beschlagnahmen lassen.
Erdoğan unter Druck. Allein in Kayseri wurden neben Boydak
Kenan Marasli läuft an einem kalten mindestens 60 Geschäftsleute als vermeint-
Märztag über den Marktplatz von Kayseri. liche Putschisten oder Terroristen fest-
Die Rollläden vieler Geschäfte sind herun- genommen, darunter der Vorsitzende der
tergelassen, in den Schaufenstern hängen Industrie- und Handelskammer. Der Ex-
Schilder mit dem Schriftzug „Zum Ver- port aus der Region Kayseri ist im vergan-
kauf“. „Kayseri ist eine Geisterstadt“, sagt genen Jahr um mindestens vier Prozent
der 54-jährige Unternehmer. „Selbst unter zurückgegangen. Zwei von fünf Läden in
der Junta in den Achtzigerjahren war die der Innenstadt hätten seit dem Putsch-
Lage nicht so hoffnungslos wie heute.“ versuch geschlossen, erzählt der Lebens-
Marasli, ein kräftiger Mann mit Schnauz- mittelhändler Marasli.
bart und schütterem grauem Haar, hat in Erdoğan kümmert das nicht, auch die
Kayseri einen Lebensmittelhandel betrie- Zahlen scheinen ihn nicht zu interessieren.
ben. Nach dem Putschversuch sei sein Ge- Im Gegenteil: Er beschwört in seinen Re-
schäft eingebrochen, erzählt er. Im Dezem- den die Stärke der Türkei, die sich von
ber verübten kurdische Extremisten in der Europa emanzipiert habe und bald schon
Stadt einen Anschlag auf einen Militärbus. zu den größten Wirtschaftsnationen der
Der nationalistische Mob griff daraufhin Welt zählen werde.
das Büro der prokurdischen Partei HDP In Wahrheit ist das Land im Niedergang
an. Auch Marasli, der sich für die HDP en- begriffen. Die Repressionen haben ein Kli-
gagiert, wurde bedroht. Er musste seinen ma der Angst und Verunsicherung geschaf-
Laden schließen, wie viele seiner Kollegen.
Dabei gilt ausgerechnet Kayseri als Ge-
burtsort der „anatolischen Tiger“, jener
muslimisch-konservativen Unternehmer,
die unter Erdoğan zu großem Reichtum ge-
langt sind. Die Stadt liegt im Zentrum Ana-
toliens, etwa gleich weit entfernt von der
EMIN OZMEN / DER SPIEGEL

Mittelmeerküste im Westen und der irani-


schen Grenze im Osten. Ihre Einwohner-
zahl ist in den vergangenen drei Jahrzehn-
ten von 500000 auf 1,4 Millionen explodiert.
2004 bewarb sich Kayseri mit 139 Firmen-
gründungen an einem einzigen Tag für das
Guinnessbuch der Rekorde.
Haci Boydak, der Unternehmer, der jetzt
lich um bis zu 9 Prozent gewachsen war, im Gefängnis sitzt, war einer jener Grün-
ist im dritten Quartal 2016 um 1,8 Prozent der. Seine Firmenholding beschäftigte über
gegenüber dem Vorjahreszeitraum ge- 12 000 Menschen und exportierte Güter in
schrumpft. Die Arbeitslosigkeit ist im De- mehr als 140 Länder. Zugleich war er einer
zember auf 13 Prozent angestiegen, der der wichtigsten Finanziers der AKP. Die
höchste Stand seit sieben Jahren. Die Tür- European Stability Initiative, eine Denkfa-
kische Lira ist im Vergleich zum US-Dollar brik, beschrieb Boydak in einer Studie als
auf einem historischen Tiefstand, was in „islamischen Calvinisten“, als einen Mann,
Dollar verschuldete Firmen in Schwierig- der Islam und Moderne, Kapitalismus und
keiten bringt. Frömmigkeit miteinander verbindet.
All das könnte Erdoğan schneller scha- Wie viele Menschen in Kayseri sympa-
den als gedacht. Am 16. April stimmt die thisierte Boydak mit Fethullah Gülen. Er
Türkei über die Einführung eines Präsidial- soll große Summen an die Gülen-Gemein-
systems ab, das nahezu sämtliche Macht de überwiesen haben, die weltweit Schu-
im Staat beim Präsidenten bündeln würde. len, Medienhäuser und Versicherungen
Die Regierung lag noch Ende vergangenen betreibt. Gülens Anhänger verehren den
Jahres in den Umfragen vorn. Jetzt aber Prediger, der seit 1999 in den USA im Exil
EMIN OZMEN / DER SPIEGEL

könnte der Einbruch der Konjunktur Er- lebt, als muslimischen Reformer. Seine
doğan den Sieg beim Referendum kosten. Gegner bezeichnen ihn als islamistischen
Denn Millionen Türken haben den Prä- Sektenführer.
sidenten nicht wegen dessen nationalis- Gülen und Präsident Erdoğan waren lan-
tischer Agenda oder der islamistischen ge Zeit Verbündete, 2013 allerdings zer-
Parolen gewählt, sondern wegen des Ver- stritten sie sich über Machtfragen. Die Re-
sprechens auf Wohlstand. Unter Erdoğan gierung vermutet den Prediger hinter dem Unternehmer Boydak 2010, Händler Marasli
ist eine anatolische Mittelschicht entstan- Militärputsch, seither geht sie mit aller Die Mittelschicht bangt um ihren Lebensstandard

DER SPIEGEL 14 / 2017 59


Wirtschaft

fen – und das beeinflusst den Standort Tür- dem Großen Basar in Istanbul mussten völkerung, moderne Infrastruktur. „Es ist
kei massiv. laut dessen Händlerverband seit dem alles da.“
Im Istanbuler Bankenviertel Levent pa- Sommer 600 von 2000 Läden schließen. Die gegenwärtige Ausrichtung der Tür-
trouillieren Anti-Terror-Polizisten auf der Die Fluggesellschaft Turkish Airlines hat kei sei für die internationale Industrie aber
Straße. An den Hauswänden prangen Wahl- 30 Flugzeuge stillgelegt. nur schwer verständlich. Zwar seien die
kampfplakate mit dem Porträt Erdoğans. Die Folgen des wirtschaftlichen Ab- deutsch-türkischen Handelsbeziehungen
Tolga Yigit, türkischer Manager einer schwungs sind schon jetzt im Alltag zu krisenfest. Doch früher oder später würden
amerikanischen Investmentbank, schiebt spüren: Firmen sind gezwungen, Mitarbei- sich Unternehmen nach anderen Stand-
sich an der Sicherheitsschranke vorbei in ter zu entlassen und Gehälter zu kürzen. orten umsehen, wenn in der Türkei mit
ein Starbucks-Café im Schatten der Büro- Die Menschen haben weniger Geld. Der Stabilität nicht zu rechnen sei.
türme. Er hat für das Gespräch zwei Be- Binnenkonsum, der im vergangenen Jahr Erdoğan dagegen stellt die Krise als eine
dingungen gestellt: Sein echter Name und 60 Prozent der Gesamtwirtschaft ausmach- Verschwörung ausländischer Mächte gegen
der Name seines Arbeitgebers sollen nicht te, schrumpfte zuletzt. die Türkei dar. „Es gibt keinen Unterschied
genannt werden. Der Investmentbanker Gleichzeitig verliert die Lira dramatisch zwischen einem Terroristen, demjenigen
glaubt, die Regierung werde sonst gegen an Wert. Die Inflation ist auf zehn Prozent mit einer Waffe und einer Bombe, und mit
ihn vorgehen. „Niemand, der Erdoğan kri- gestiegen. „Wir steuern auf das Worst- einem Terroristen, der den Dollar, den
tisiert, ist in der Türkei sicher“, sagt er. Case-Szenario zu: wirtschaftliche Stagna- Euro oder die Zinsraten für seinen Zweck
Yigit hat die AKP unterstützt. Erdoğan, tion bei anhaltender Inflation“, warnt der einsetzt“, sagt er. Beide wollten „die Tür-
sagt er, habe nach seinem Amtsantritt als Istanbuler Wirtschaftspublizist Mustafa kei in die Knie zwingen“.
Premier 2003 die türkische Sönmez. „Die Türkei steht Seit Wochen hetzt die türkische Regie-
Wirtschaft modernisiert. Er Türkische Lira kurz vor dem Bankrott.“ rung gegen europäische Länder, die Wahl-
habe die Bürokratie abgebaut in Eurocent Beobachter fürchten, die kampfauftritte türkischer Regierungspoli-
und den Markt für Privat- Türkei könnte auch andere tiker verboten haben. Erdoğan warf der
investoren geöffnet. Unter- Staaten mit in den Abgrund Bundesregierung „Nazipraktiken“ vor,
nehmer aus dem Ausland ris- 41 reißen. Denn das Land hat „Rassismus“, „Islamhass“. Vergangenen
sen sich darum, bei türkischen sich bei internationalen Ban- Sonntag kündigte er an, nach dem Verfas-
Firmen einzusteigen. Kapital- ken 270 Milliarden Dollar ge- sungsreferendum die türkische Bevölke-
geber investierten zwischen liehen, 87 Milliarden davon al- rung in einer zweiten Abstimmung über
2003 und 2012 rund 400 Mil- Quelle: Thomson 25 lein in Spanien, 42 Milliarden die EU-Beitrittsgespräche zu befragen.
Reuters Datastream
liarden Dollar in der Türkei. 2.1. 29.3. in Frankreich, 15 Milliarden in Ganz offensichtlich will er davon ablen-
Mehr als zehnmal so viel wie 2012 2017 Deutschland. Sollte das Land ken, dass er selbst nicht weiß, wie er dem
in den 20 Jahren zuvor. Einnahmen aus seine Schulden nicht oder nur wirtschaftlichen Niedergang seines Landes
Die Folgen des Putschver- dem Tourismus teilweise zurückzahlen kön- begegnen soll.
suchs – die Massenverhaftun- in Milliarden Dollar nen, drohe Europa eine wei- Tatsächlich versucht Erdoğan fast schon
gen von Oppositionellen, die 34,3 tere Finanzkrise, prophezeit verzweifelt, Kapital aufzutreiben. Die tür-
Beschlagnahmungen von Fir- 29,0 Sönmez. kische Regierung hat eine Sondersteuer
men – schrecken nun aber die Auch Deutschland ist von für Benzin eingeführt und die Erhöhung
22,1 der türkischen Wirtschaftsmi- der Mehrwertsteuer beschlossen. Finanz-
Anleger ab. Die Ratingagen-
turen Moody’s und Standard sere betroffen. Fast 7000 deut- minister Mehmet Șimșek traf im Februar
& Poor’s haben die Kreditwür- sche Firmen sind in der Türkei seinen deutschen Amtskollegen Wolfgang
digkeit der Türkei auf Ramsch- aktiv. 2016 lag das Handelsvo- Schäuble auf der Suche nach Unterstüt-
niveau heruntergestuft. Aus- lumen bei 37 Milliarden Euro. zung für die wankende Wirtschaft seines
2012 2016
ländische Investitionen sind Etliche dieser Unternehmen Landes.
im vergangenen Jahr um über Arbeitslose 12,7 fürchten nun um ihr Geschäft. Und seit Monaten mahnen Experten, die
40 Prozent eingebrochen. in Prozent Volkswagen hat in der Tür- türkische Zentralbank müsse den Leitzins
Er könne kaum noch Ge- kei 2016 etwa ein Drittel we- stärker anheben, um die Lira zu stützen.
10,8 niger Lastwagen verkauft als Doch Erdoğan hat Angst, dass das Wachs-
sprächspartner für Deals in
der Türkei gewinnen, sagt Yi- 9,3 im Vorjahr. „Der Markt in tum dann noch weiter einbrechen würde.
git: „Investoren ist das Risiko der Türkei ist aufgrund der Er macht stattdessen eine „Zinslobby“ für
schlicht zu hoch.“ Kunden, die Dez. Dez.
politischen Entwicklung zum den Lira-Verfall und die Inflation verant-
sich jahrelang in der Türkei 2015 April 2016 Erliegen gekommen“, sagt der wortlich und fordert seine Landsleute auf,
engagiert hatten, ziehen ihr Quelle: Türkisches Stat. Institut Chef der VW-Sparte Truck ihre Dollar- oder Euro-Ersparnisse in Lira
Geld ab. und Bus, Andreas Renschler. umzutauschen. „Lasst uns nicht dazu bei-
Die Kapitalflucht hat eine Abwärts- Die Hamburger ECE, ein Einkaufscenter- tragen, dass fremde Währungen immer
spirale eingeleitet, die besonders in der betreiber im Besitz der Versandhändler- stärker werden“, so sein Credo.
Bauindustrie spürbar ist. Erdoğan hat die familie Otto, musste aus dem Management Yigit kann da nur den Kopf schütteln.
hohen Wachstumsraten vor allem durch einer Shoppingmall in Istanbul aussteigen, Der Investmentbanker war in den vergan-
Infrastrukturprojekte befeuert. Er ließ Au- nachdem das türkische Partnerunterneh- genen Monaten an etlichen Telefonkonfe-
tobahnen errichten, Flughäfen, Kranken- men, dem das Center gehörte, vom Staat renzen mit AKP-Politikern beteiligt. Die
häuser. Für neue Investitionen droht ihm beschlagnahmt worden war. Regierung habe die Dramatik der Situation
nun das Geld aus dem Ausland zu fehlen. Jan Nöther, der Chef der Deutsch-Tür- nicht begriffen, glaubt er. Erdoğan behaup-
Das Wachstum stockt. kischen Industrie- und Handelskammer, te nach wie vor, die Türkei sei eine Welt-
Wegen der politischen Unruhen sind sitzt in seinem Büro in Istanbul mit Blick macht und alle anderen Staaten nur nei-
auch die Einnahmen im Tourismus im ver- auf den Bosporus und hadert mit der disch auf ihren Erfolg. „Unser Präsident“,
gangenen Jahr um knapp ein Drittel ein- Situation. Die Türkei, sagt er, habe das sagt Yigit, „lebt inzwischen in einer eige-
gebrochen. An der türkischen Riviera ste- Potenzial, zu einer erfolgreichen Wirt- nen Realität.“ Maximilian Popp
hen Hunderte Hotels zum Verkauf. Auf schaftsnation aufzusteigen: eine junge Be- Twitter: @Maximilian_Popp

60 DER SPIEGEL 14 / 2017


FLORIAN GENEROTZKY
Ehemalige US-Soldaten beim Führungskräftetraining*, Allianz-Vorstandsvorsitzender Bäte: „Wer einen Fehler macht, ist tot“

Aufmarsch
noch das blaue Allianz-Logo flimmerte, Versicherungskonzern wird durchgesto-
erscheinen Militärhubschrauber, Jagdbom- chen und fintiert, aufgewiegelt und intri-
ber, Landkarten und Militärabzeichen. giert.

bei der Allianz


Afterburner (Nachbrenner) heißt die Innerhalb von knapp zwei Jahren hat
in US-Unternehmen recht bekannte Coa- Bäte, 52, den Konzern in Aufruhr versetzt
ching-Truppe aus ehemaligen Kampfpilo- und viele gegen sich aufgebracht. Er habe
ten und Mitgliedern von Spezialeinheiten einen schlafenden Riesen wachgerüttelt,
Versicherungen Konzernchef des amerikanischen Militärs wie den le- sagen seine Unterstützer; ein glänzend lau-
gendären Navy Seals. Es gehe, erfahren fendes Unternehmen ins Chaos gestürzt,
Oliver Bäte hat viele Mitarbeiter die verdutzten Führungskräfte, um „Deci- warnen die Gegner.
gegen sich aufgebracht. Jetzt sion Making“, das Einüben von schnellen An beiden Lesarten ist etwas dran.
und transparenten Entscheidungsabläufen „Bäte agiert in einem völlig anderen Um-
verschreckt er seine Führungs- nach Vorbild des US-Militärs. feld als seine Vorgänger“, verteidigt ihn
kräfte mit einer Militärübung. Generali und Zurich, die beiden Kon- ein langjähriger Mitarbeiter. Niedrigzinsen
kurrenten, hätten sich zusammengeschlos- zehren am klassischen Versicherungs-

E
s ist Mittwoch, später Nachmittag im sen, schreit ein Teamleiter, während hinter geschäft, die Digitalisierung stellt alther-
Allianz-Auditorium in München. Oli- ihm auf der Leinwand Videos von Bom- gebrachte Abläufe, Vertriebskanäle und
ver Bäte, umstrittener Chef des größ- benabwürfen zu sehen sind. Die militä- ganze Produktlinien infrage.
ten europäischen Versicherungsunterneh- rische Lage sei ernst: Ein abgeschosse- Bäte trat an mit dem Ziel, die Allianz
mens, hat gerade zur Lage des Konzerns ner Kampfjetpilot der Allianz sei über zu modernisieren, solange die Gewinne
geredet. Zurich-Generali-Gebiet abgestürzt. Er noch üppig fließen, erhöhte das Tempo
Im gedämpft beleuchteten Auditorium müsse befreit werden. und den Druck, machte ehrgeizige Rendite-
sitzen rund 200 internationale Führungs- In kleinen Gruppen wird deshalb der vorgaben, verlangte niedrigere Kosten und
kräfte des Unternehmens. Teils gespannt, Kampfeinsatz geplant, unterbrochen von zugleich höhere Gewinne.
teils gelangweilt verfolgen sie Bätes ener- einer Notfallübung, bei der die Topmana- So etwas löst in jedem Konzern Wider-
gischen Auftritt. ger sogar unter die Tische kriechen müs- stände aus. Auch gegen Bätes Vorgänger
Viele von ihnen haben eine klare Erwar- sen. Die Ausbilder mit martialisch klin- Michael Diekmann gingen Mitarbeiter auf
tung, was in den nächsten drei Tagen auf genden Namen wie „Thor“ schnarren dazu die Barrikaden, als er 2006 die Vertriebs-
sie zukommt: endlose Vorträge über die im Kasernenton: „Wer einen Fehler macht, organisation um- und Stellen abbaute.
neue Strategie, Workshops zur Digitalisie- ist tot.“ Bei Bäte kommt allerdings erschwerend
rung, Friedensappelle und die Aufforde- Das sei ein erniedrigendes und absurdes hinzu, dass der ehemalige McKinsey-Mann
rung, die teils offenen, teils verdeckten An- Theater für einen deutschen Konzern, mur- mit neuen Methoden und persönlicher Ex-
griffe auf den Vorstandsvorsitzenden, sei- ren einige Manager. Doch offenen Wider- zentrik provoziert. Auftritte mit dem um-
ne brachiale „Erneuerungs“-Strategie und stand gegen Bätes ungewöhnliche Team- strittenen Rocket-Internet-Gründer Oliver
seine eigenwillige Führungskultur einzu- Building-Maßnahme wagt zunächst keiner. Samwer, rote Schuhe auf der Hauptver-
stellen. Tatsächlich herrscht nicht nur an diesem sammlung, ein Interview im Duz-Modus
Doch dann kommt alles anders. Gegen Nachmittag Krieg in der Allianz. Seit Wo- mit dem YouTuber Tilo Jung – die einen
17 Uhr – Bäte hatte kurz zuvor über Ver- chen liefern sich Kritiker und Unterstützer finden das erfrischend und offen, die an-
einfachung von Prozessen im Unterneh- Bätes erbitterte Grabenkämpfe. In dem deren eitel, anbiedernd und unpassend.
men referiert – stürmen in Tarnanzüge ge- 127 Jahre alten und stockkonservativen Und doch geht es um mehr als den üb-
kleidete US-Militärs die Bühne. Auf den lichen Widerstand modernisierungsunwil-
riesigen Videoleinwänden, wo kurz zuvor * Im Allianz-Auditorium in München. liger Querulanten. Insider werfen Bäte vor,
DER SPIEGEL 14 / 2017 61
Wirtschaft

er fahre mit einem Küchenkabinett von


Vertrauten teils am Vorstand vorbei. Zu-
dem überfordere er mit sprunghaften Vor-
„Eine Stunde Applaus.
Und dann?“
gaben nicht nur die Organisation, sondern
mache auch handfeste Fehler.
So soll Bäte eine mögliche Übernahme
der italienischen Generali oder von Teilen
des Konkurrenten vermasselt haben, ob- Konzerne Rich Lesser, 54, Chef der weltweiten Unternehmensberatung
wohl er mehrfach signalisiert hatte, die Al- Boston Consulting Group (BCG), berät Präsident Donald
lianz wolle auch durch Zukäufe wachsen.
Zu überheblich sei er in Gesprächen mit Trump – und wird dafür von seinen Mitarbeitern heftig gerügt.
den Italienern aufgetreten. Mittlerweile
hat Bäte seine Übernahmepläne insgesamt SPIEGEL: Herr Lesser, Sie gehören zu der dem Sie am Tisch sitzen, diskriminiert
relativiert. exklusiven Runde von 18 Konzernchefs, Frauen, Muslime, Minderheiten.
Die Misstöne in dem Prachtbau am Eng- die Donald Trump beraten. Ist das eine Lesser: BCG nimmt das Thema Vielfalt sehr
lischen Garten in der Münchner Königin- Ehre oder eine Zumutung? ernst. Wir haben 35 Prozent Frauenanteil
straße werden immer lauter, je näher das Lesser: Wenn einen der Präsident um Hilfe im Topmanagement, die Zahl unserer
Comeback von Bätes Vorgänger Diek- und Rat bittet, ist das ein Privileg und eine LGBT*-Mitarbeiter hat sich in den letzten
mann rückt. Mitte März beschloss der Auf- Frage der Verantwortung. zehn Jahren verzehnfacht, die Zahl unserer
sichtsrat seinen Einzug in das Kontrollgre- SPIEGEL: Verantwortung für wen? afroamerikanischen und hispanischen Mit-
mium, Anfang Mai soll er zum Aufsichts- Lesser: Für die Bürger. Wir wollen helfen, arbeiter hat sich in den USA binnen fünf
ratsvorsitzenden gewählt werden. Dinge besser zu machen. Als Strategie- Jahren verdoppelt. Unsere Mitarbeiter wis-
Diekmann sei unglücklich mit Bätes beratung hat BCG viel Sachverstand. sen das. Aber sie wissen auch, dass sich BCG
Kurs, wurde kolportiert, er wolle ihn wo- Wenn wir dieses Wissen weitergeben kön- nicht um schwierige Jobs drückt. Wenn ich
möglich sogar absetzen, auch Teile des nen, tun wir das, an unsere Kunden – und das Gremium verließe, wäre ich für eine
Aufsichtsrats stünden nicht mehr hinter an den Präsidenten. Stunde in den Nachrichten, bekäme viel Auf-
dem Neuen. SPIEGEL: Mit Trump am Tisch zu sitzen, merksamkeit und von einigen Applaus – und
Dass es im Aufsichtsrat ebenfalls rumort, nährt aber den Eindruck, Sie unterstützten dann? Es sind gerade fünf Prozent der Amts-
ist richtig. Allerdings heißt es in Diek- seine Politik. Bei vielen Mitarbeitern hat zeit vorbei. Für die restlichen 95 Prozent
manns Umfeld auch, der habe kein Inte- Ihre Entscheidung daher für Kritik gesorgt. hätten wir keine Stimme mehr am Tisch.
resse, Bäte zu entmachten, und stehe hin- Lesser: Immer wenn man eine öffentlich SPIEGEL: Wie offen haben Sie und die ande-
ter dessen Agenda. Schließlich sei es Diek- sichtbare Rolle übernimmt, wird man zur ren Konzernchefs dem Präsidenten denn ge-
Zielscheibe von Kritik. Das gilt erst recht sagt, was Sie von dem Einreisestopp halten?
„Die Lage ist ernst. nach einer Wahlkampagne, in der sich auf
beiden Seiten so viel an Wut und Frust auf-
Lesser: Vier Firmenchefs in der Runde ha-
ben gebeten, dazu etwas sagen zu dürfen,
Ein Kampfjetpilot wurde gestaut hat. Und natürlich ist einiges, was ich war einer von ihnen. Elon Musk hat
über Zurich-Generali- Präsident Trump vorschlägt, sehr kontro-
vers. Ich habe deshalb vorher mit unserem
selbst öffentlich bestätigt, dass er sich ge-
äußert hat, auch IBM-Chefin Ginni Romet-
Gebiet abgeschossen.“ Management und vielen BCG-Partnern dis- ty. Wir haben sehr direkt unsere Meinung
kutiert, was sie davon hielten, wenn ich die- gesagt und unsere Bedenken vorgetragen.
mann gewesen, der Bäte über Jahre auf- se Rolle übernähme. Wir haben entschie- Es war eine offene, direkte Aussprache.
gebaut und als Nachfolger durchgesetzt den, dass es sinnvoll ist, eine Stimme am SPIEGEL: Der Eindruck der ersten Wochen
habe. Vielmehr dürfte er versuchen, den Tisch zu haben und dort etwas zu bewirken. ist, dass Trump nur auf wenige Vertraute
Konzern zu befrieden und die Reihen zu SPIEGEL: Das erste Treffen fand nur eine wie Stephen Bannon hört und Fakten ein-
schließen. Auch Bäte hatte zuletzt versöhn- Woche nach dem von Trump verhängten fach ignoriert. Was macht Sie so sicher, dass
liche Töne angeschlagen und zu mehr Ge- Einreisestopp für sieben muslimische Län- Sie überhaupt etwas ausrichten können?
meinsamkeit aufgerufen. der statt. Bei vielen Ihrer 14 000 Mitarbeiter Lesser: Als Berater gehen wir grundsätzlich
Das aber war vor dem Aufmarsch der hat das die Frage aufgeworfen, ob man mit erst mal davon aus, dass man uns zuhört.
US-Militärs im Auditorium. Seitdem sind dieser Regierung am Tisch sitzen sollte. Das heißt nie, dass alles, was wir sagen,
die Diskussionen um die Führungsqualitä- Lesser: Die Einreiseverordnung hat diese umgesetzt wird. Aber nehmen wir die
ten Bätes wieder voll entbrannt. Einige Runde viel schneller ins Rampenlicht ge-
Teilnehmer äußerten so massive Kritik an bracht, als wir das alle erwartet hätten. Ich
der Veranstaltung, dass die Allianz inzwi- habe von vielen Mitarbeitern Anrufe und
schen offen Fehler einräumt. Weil das ge- E-Mails bekommen, viele waren in der Tat
wählte Szenario einzelnen Teilnehmern sehr besorgt, andere haben mich unter-
„geschmacklich und kulturell nicht so gut stützt. Ich habe seither bestimmt tausend
gefiel“, heißt es in einer Stellungnahme Mitarbeitern geschrieben, mit vielen tele-
beschwichtigend, werde man die Übung foniert und versucht zu erklären, warum
RODERICK AICHINGER / DER SPIEGEL

so nicht noch einmal durchführen. ich dort sitze. Ich habe ihnen versichert,
Den Schaden hat das Unternehmen den- dass ich ihre Bedenken auch gegenüber dem
noch. Denn wenn es das Militärbündnis Präsidenten geäußert habe. Mein Eindruck
von Generali und Zurich auch nur in der ist, dass die Mehrheit es jetzt versteht.
irren Inszenierung der von Bäte engagier- SPIEGEL: Haben Sie nicht ein Glaubwürdig-
ten Managermotivatoren gibt: Die Kon- keitsproblem? BCG hat sich Vielfalt auf
kurrenz dürfte an den Kriegszuständen bei die Fahne geschrieben. Der Präsident, mit
der Allianz ihre helle Freude haben. Manager Lesser
Frank Dohmen, Martin Hesse * Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender. „Wir drücken uns um gar nichts“

62 DER SPIEGEL 14 / 2017


BLOOMBERG / GETTY IMAGES

Präsident Trump (M.), BCG-Vorsitzender Lesser (r.), Konzernchefs im Weißen Haus: „Ich sitze nicht da und denke, das könnte Aufträge bringen“

zweite Verordnung zum Einreisestopp: zu verbessern. Das Land ist dringend auf lassen und ist seither Senior Adviser, sein
Da gab es durchaus Änderungen, die in mehr Wachstum angewiesen. Viele tradi- Engagement für Trump ist privat.
der Runde thematisiert worden sind, etwa tionelle Jobs werden in den nächsten Jah- SPIEGEL: Gäbe es eine rote Linie, die Sie
die Ausnahme von Visa- und Greencard- ren unter Druck geraten oder verschwin- nicht überschreiten würden? Wann wür-
Inhabern, Ausnahmen für Kinder oder me- den. Die Regierung hat angekündigt, eine den Sie das Gremium verlassen?
dizinische Notfälle. Noch offen ist, ob die Billion Dollar in Infrastruktur zu investie- Lesser: Dieser Präsident hat nie ein öffent-
neue Regelung auch vor den Gerichten be- ren. Je nachdem, wie man sich dabei an- liches Amt gehabt, sein Team kommt gera-
stehen bleiben wird. stellt, kann man entweder 1,5 Millionen de erst an Bord. Ich gehöre nicht zu denen,
SPIEGEL: Viele Konzernchefs, von Apple- Jobs oder 4 Millionen Jobs schaffen. Das die sagen: Ich habe die ersten neun Wochen
Chef Tim Cook über Netflix-Chef Reed ist ein großer Unterschied, und wir haben gesehen, ich weiß, was in den nächsten vier
Hastings bis Twitter-Chef Jack Dorsey, die damit viel Erfahrung. Jahren passiert. Man sollte also nicht darü-
nicht der Runde angehören, haben sich öf- SPIEGEL: BCG arbeitet auch für Regierun- ber spekulieren, was noch kommt. Ich hof-
fentlich vom „Muslim Ban“ distanziert. gen. Erhoffen Sie sich von der Teilnahme fe, dass wir, wie bei jeder Regierung, im
Von BCG war dazu nichts zu lesen. Verge- Beratungsaufträge? Laufe der Zeit Verbesserungen sehen.
ben Sie sich mit der Teilnahme die Chance, Lesser: Nein, ich sitze nicht da und denke, SPIEGEL: Sie persönlich stehen den Demo-
den Präsidenten öffentlich zu kritisieren? das könnte Aufträge bringen. Ich sehe die kraten nahe.
Lesser: Erstens: Wir sind in 48 Ländern ak- Rolle als Beitrag für dieses Land. Lesser: Ja, ich bin registrierter Demokrat.
tiv, es gibt natürlich politische Entschei- SPIEGEL: Ihr langjähriger Seniorberater Ron SPIEGEL: Ist es für Sie schwer zu ertragen,
dungen in diesen Ländern, mit denen wir Nicol berät das Übergangsteam, das der neben Trump zu sitzen?
nicht einverstanden sind. Aber wenn wir Regierung Trump ins Amt hilft. BCG ar- Lesser: Wir müssen Menschen ermuntern,
die Politik eines Landes öffentlich kritisie- beitet zudem für eine Nichtregierungs- sich mit unterschiedlichen Meinungen aus-
ren, müssten wir das auch in anderen Län- organisation, die Trumps Transition Team einanderzusetzen. Sonst riskieren wir, dass
dern tun. Unsere Linie ist deshalb, dass beraten hat. Ist BCG als Ganzes zu nahe Echokammern entstehen, in denen nur
wir uns generell nicht öffentlich zur Politik an der neuen Regierung? noch Menschen miteinander reden, die
äußern. Wir versuchen aber, Einfluss zu Lesser: Darf ich das mal zurechtrücken? gleicher Meinung sind. Das bringt selten
nehmen durch unser Handeln vor Ort. Wir unterstützen die Organisation Partner- die besten Antworten hervor, weder in der
Zweitens: Wenn man in einer solche Run- ship for Public Service seit 2011, also schon Wirtschaft noch in der Politik.
de direkt seine Meinung sagen kann, sollte vor der letzten Wahl. Wenn 4000 Jobs in SPIEGEL: Sie drücken sich um eine Antwort.
man es auch dort tun und nicht öffentlich. einer Regierung wechseln, funktioniert das Lesser: Bei BCG drücken wir uns um gar
SPIEGEL: Uber-Chef Travis Kalanick hat das nicht immer reibungslos. Wir beraten die nichts. Die beste Art, seine Werte zu ver-
Forum verlassen, weil 200 000 Kunden dem NGO seit sechs Jahren pro bono, bekom- teidigen, ist doch, sich zu engagieren. Des-
Fahrdienst aus Protest den Rücken gekehrt men also kein Geld. Bei dieser Wahl haben halb sitze ich in diesem Gremium.
haben. Wie haben Ihre Kunden reagiert? wir, über die NGO, zudem für Hillary Clin- Interview: Isabell Hülsen
Lesser: Einige Kunden hatten Bedenken, ton und Donald Trump gearbeitet. Nach Twitter: @spiegelin
aber die meisten sind wie wir der Über- der Wahl wurden wir gebeten, die Regie-
zeugung, dass man Problemen nicht aus rung bis zur Amtseinführung zu unterstüt- Lesen Sie auch
dem Weg gehen sollte, sondern sie besser zen. Wir waren weder in die Personalaus- Seite 78 Chinas Staatschef Xi besucht Trump
direkt angeht. Und wir haben die Chance, wahl noch in konkrete Politik involviert. Seite 108 Der Autor J. D. Vance schreibt
die wirtschaftliche Situation in den USA Ron Nicol hat BCG im Dezember 2015 ver- über die weiße Unterschicht der USA

DER SPIEGEL 14 / 2017 63


Wirtschaft

MARKUS HINTZEN / DER SPIEGEL


Privatkundenvorstand Sewing: Typ perfekter Schwiegersohn

Achleitners Doppelspitze
Deutsche Bank Der Aufsichtsrat hat Christian Sewing und Marcus Schenck zu Kronprinzen gekürt.
Allerdings wissen die beiden nicht, ob sie gemeinsam kämpfen – oder gegeneinander.

I
m Oktober 2014 trafen sich Marcus über den Haufen. Schon jetzt laufen in der Achleitner sorgt sich, dass er die Unter-
Schenck, 51, und Christian Sewing, 46, Bank Wetten, wann Cryan geht und einer stützung aus Katar verliert.
zum ersten Mal. Die beiden Männer sa- der Kronprinzen – oder beide – ihn be- Zudem hat er mit den Personalien und
ßen gemeinsam in einem der verspiegelten erben. Manche geben dem jetzigen Chef einem Strategieschwenk Richtung Deutsch-
Zwillingstürme der Deutschen Bank in der kaum mehr als ein halbes Jahr. land der Bundesregierung eine Art späten
Frankfurter Taunusanlage und warteten Man kann in dem Aufstieg der Fußball- Tribut gezollt. Als das US-Justizministeri-
darauf, zum Aufsichtsrat vorgelassen zu freunde Sewing und Schenck das Ende ei- um der Deutschen Bank im Herbst 14 Mil-
werden. Die Kontrolleure um Aufsichts- nes radikalen Umbruchs sehen, einen Auf- liarden Dollar Strafe androhte, intervenier-
ratschef Paul Achleitner sollten Schenck bruch in bessere Zeiten – oder eben eine ten Emissäre des Finanzministeriums in
und Sewing in den Vorstand berufen. weitere Etappe des Niedergangs dieser irr- Washington zugunsten des Konzerns. Seit-
Die Aspiranten vertrieben sich die War- lichternden deutschen Institution. dem tauschen Bank und Bund sich inten-
tezeit mit einem Gespräch über Fußball In der Bank herrscht, je nach Lager, Auf- siver aus. In Frankfurt lernte man, dass
und stellten fest, dass sie wie zehn Millio- bruchstimmung oder Verunsicherung, weil die Regierung gern ein dickeres Kapital-
nen andere Deutsche Anhänger des FC Aufsichtsratschef Achleitner ein weiteres polster und mehr Engagement für die deut-
Bayern sind. Der eine, Schenck, weil er Mal den Matchplan ändert. Innovativ ist sche Wirtschaft sähe. Entsprechend gou-
aus Memmingen im bayerischen Allgäu daran vor allem, dass er mit drei Kapitänen tierte Berlin die Umbaupläne.
kommt; der Bielefelder Sewing, weil das spielen lässt, erst einmal. Auf Schenck und Sewing lastet nun der
Sportgeschäft der Rummenigges im nahen Zwar erklärt Cryan, der als uneitel gilt, Druck, den unterschiedlichen Erwartungen
Lippstadt die Tennis-Bezirksmeisterschaf- er denke nicht ans Aufhören, die Bank sei von Aktionären und Politik, Mitarbeitern
ten sponserte, bei denen er regelmäßig im einfach zu groß, um von einem allein ge- und Kunden gerecht zu werden.
Finale stand. Man verstand sich bestens. führt zu werden. Er selbst habe den Sie haben beschlossen, die schwierige
So einfach entstehen manchmal Män- Wunsch mit der Dreierlösung geäußert. Mission möglichst locker anzugehen – und
nerfreundschaften. Und können trotzdem Doch welcher Chef wünscht sich schon, vor allem gemeinsam, zumindest vorerst.
sehr kompliziert werden. drei Jahre vor Ende seiner ersten Amtszeit Am Vorabend ihrer offiziellen Beförde-
Knapp zweieinhalb Jahre nach der ers- zur „lahmen Ente“ gemacht zu werden? rung zogen sie mit ihren Teams aus den
ten Begegnung wurden Schenck und Se- Das Verhältnis zwischen Achleitner und Banktürmen in eine nahegelegene Kneipe,
wing kürzlich wieder vor den Aufsichtsrat Cryan ist schwierig, immer häufiger sei es um das Ereignis zu begießen.
gebeten: Das Gremium beförderte sie An- in den vergangenen Wochen zu handfes- Man nimmt Schenck und Sewing ab,
fang März zu Stellvertretern des britischen tem Streit gekommen, berichten Insider. dass sie sich gut verstehen. Sie feixen über
Bankchefs John Cryan. Während einige einflussreiche Investo- Schweinsteigers Wechsel nach Chicago,
Die Deutsche Bank fügt damit ihrer be- ren in Cryan einen Garanten für Stabilität spielen sich im Gespräch die Bälle zu oder
wegten jüngeren Geschichte ein weiteres sehen, ist er beim Großaktionär aus Katar ziehen sich gegenseitig auf. Beide haben
Kapitel hinzu, korrigiert wieder einmal die in Ungnade gefallen. Dort sorgt man sich, vier Kinder, beide gehören einer neuen
Strategie und wirft das Führungstableau der Brite könnte die Bank kaputtsanieren. Generation von Bankern an, die nahbar

64 DER SPIEGEL 14 / 2017


MARKUS HINTZEN / DER SPIEGEL
Finanzvorstand Schenck: Mann mit „CEO-Potenzial“

wirkt und zum Lachen nicht in den Keller Kündigungen kommt“, sagt Jan Duscheck. sich fragt, wann der große Knall kommt“,
geht. Dabei haben Schenck und Sewing Der Bundesfachgruppenleiter Banken bei sagt einer, der den Aufstieg verfolgt hat.
einen sehr unterschiedlichen Werdegang, Ver.di fürchtet, dass die Belegschaften ge- Doch so angesehen Sewing intern sein
sie bezeichnen sich als komplementär. geneinander ausgespielt werden und mag, in der Finanzwelt ist er ein unbe-
Sewing machte schon seine Lehre bei schickt eine Kampfansage Richtung Se- schriebenes Blatt. „Bei uns kennt den kei-
der Deutschen Bank in Bielefeld und ver- wing: „Es kann nicht sein, dass es am Ende ner“, heißt es bei einem großen Aktionär.
brachte fast sein ganzes Berufsleben in nur für eine Beschäftigtengruppe Kündi- Das hat Marcus Schenck seinem Partner
dem Konzern. Gern kokettiert Sewing da- gungsschutz gibt und für die andere nicht.“ voraus, er ist international profiliert: Noch
mit, dass er Sportreporter werden wollte, Zahlen von bis zu 9000 Jobs stehen für vor der Promotion begann der Volkswirt
seine Abi-Note (2,4) aber nicht für die Jour- einen weiteren Abbau im Konzern über 1991 bei der Unternehmensberatung
nalistenschule gereicht habe. Spötter sagen, die nächsten Jahre im Raum. Zunächst McKinsey. Nichts beeinflusste Schencks
das Talent zu reden habe er durchaus, dürfte es aber um 1000 bis 1500 Stellen in späteres Leben jedoch so, wie sein Wechsel
manchmal rede er etwas zu viel. Zentralfunktionen in Bonn und Frankfurt ins deutsche Büro der Investmentbank
Seinem Weg in der Bank hat das nicht gehen, die wegfallen könnten, wenn das Goldman Sachs 1997. Dort lernte er nicht
geschadet. Sewing kann charmant und do- Privatkundengeschäft der Deutschen Bank nur seine Frau Saskia kennen, die damals
siert frech sein, er ist der Typ perfekter mit der Postbank zusammengelegt wird. beim Goldman-Kunden Daimler arbeitete,
Schwiegersohn. Er hat etwas Jungenhaftes, „Wir haben gezeigt, dass man auch im sondern auch Paul Achleitner, der ihn spä-
etwa wenn er sich freut, dass ihn jüngst schwierigen deutschen Markt ein Privat- ter zur Deutschen Bank holen sollte.
sein heimischer Tennisklub TC Bünde für kundengeschäft erfolgreich umbauen Achleitner ging jedoch erst einmal zur
ein Bezirksligaspiel angefragt hat. kann“, sagt Sewing und kneift die Augen Allianz, Schenck später als Finanzvorstand
Mit dieser Art kommt Sewing auch bei zusammen, wie er es öfter tut, wenn er ei- zu E.on. Der Energiekonzern schwamm
vielen Kunden und Mitarbeitern gut an. ner Sache Nachdruck verleihen will. Des- damals im Geld und suchte in Schenck je-
Dazu kommt eine hohe Disziplin. „Sewing halb sei er auch mit Blick auf die Zusam- manden, der helfen sollte, es sinnvoll in
ist schließlich durch das Boot-Camp Hugo menführung mit der Postbank zuversicht- Übernahmen im Ausland zu investieren.
Bänzigers gegangen“, sagt ein Deutsch- lich. Manch einer bei E.on fremdelte mit dem
Banker. Bänziger war lange Risikovor- Allerdings ist Sewing stark auf Postbank- Investmentbanker, der in Düsseldorf eine
stand des Konzerns und einer der Manager, chef Frank Strauß angewiesen, dem Ach- mit Mauern und Überwachungskameras
die Sewing geprägt haben. leitner einen Posten im Konzernvorstand gesicherte Villa hat. Konservative Stromer
„Ich habe immer Leute bewundert, die versprochen hat. Das birgt Sprengstoff, rümpften die Nase darüber.
es geschafft haben, viele, sehr unterschied- etwa wenn es um die Frage geht, wer seine Gravierender war, dass Schenck als
liche Mitarbeiter mitzunehmen und mit Vertrauten durchbringt. Deal-Macher bei E.on kein gutes Händ-
klarer Führung auf gemeinsame Ziele ein- Noch nicht einmal zwei Jahre bewegt chen hatte, mancher Zukauf erwies sich
zuschwören“, sagt Sewing. sich Sewing in den Niederungen des Pri- als zu teuer. Als die Energiewende das Ge-
Er wird daran gemessen werden, ob ihm vatkundengeschäfts. Zuvor hat er keinen schäftsmodell des Konzerns zerlegte, wur-
das bei der Reintegration der Postbank ge- großen Geschäftsbereich geleitet, auch das de auch die hohe Verschuldung zum Pro-
lingt, nachdem der Konzern die Verkaufs- mag erklären, warum er kaum Feinde hat. blem. Ein „Schönwetter-Finanzvorstand“
pläne aufgegeben hat. Viele Jobs sollen Er war vor allem Risikomanager, eine Wei- sei Schenck, lästert einer, der ihn gut kennt.
wegfallen, harte Verhandlungen mit Be- le Chef der internen Revision, dann kurze Als Schenck 2013 zurück zu Goldman
triebsrat und Gewerkschaft stehen bevor. Zeit Rechtsvorstand. Sachs ging, sollen ihm bei E.on nicht viele
„Wir wollen gemeinsam mit den Beschäf- Sewing sind diese Dinge eher zugefallen, nachgetrauert haben. Schenck sieht sein
tigten von Postbank und Deutscher Bank als dass er sie mit Macht angestrebt hätte. Wirken dort naturgemäß positiver. „Mein
per Tarifvertrag verhindern, dass es zu „Er ist ein solcher Überflieger, dass man wesentlicher Beitrag bei E.on war, den

DER SPIEGEL 14 / 2017 65


IN DER SPIEGEL-APP
Wirtschaft

Konzern umzusteuern, als es nach sehr er-


folgreichen Jahren darum ging, in den Kri-
Richtungswechsel
senbewältigungsmodus zu wechseln.“ Aktienkurs im Branchenvergleich, Veränderung
Bei der Deutschen Bank wartete auf den gegenüber 2. Januar 2015 in Prozent
neuen Finanzvorstand von Anfang an der
Krisenmodus. Dass er sich trotzdem so
kurz nach seiner Rückkehr zu Goldman + 20
für die Deutsche Bank entschied und sogar
Abstriche beim Gehalt in Kauf genommen Stoxx-Europe-
haben soll, dürfte einen Grund gehabt ha- Banken-Index
ben: Achleitner soll ihm schon damals die 0
Chefrolle in Aussicht gestellt haben.
Zumindest deutet auch Schenck das an:
„Für jemanden, der in Deutschland aufge-
– 20
wachsen ist, ist die Deutsche Bank mehr
als ein Unternehmen, es gibt nur wenige
derartige Institutionen in unserem Land.“
Er habe sich 2014 gefragt, wo er in den – 40
nächsten Jahren mehr bewegen könne, bei
Goldman Sachs oder bei der Deutschen
Bank. Und so trafen sich Schenck und Se-
wing kurz darauf vor den Türen des Auf- Quelle: Thomson Reuters Datastream – 60
sichtsratsbüros. 2015 2016 2017
Seither sind zweieinhalb Jahre vergan-
gen, die die Deutsche Bank in ihren Grund- träume sind vorbei“, sagt Davide Serra,
festen erschüttert haben: Die damaligen Gründer des Hedgefonds Algebris.
Kochefs Anshu Jain und Jürgen Fitschen Sewing warb unterdessen bei den Post-
mussten gehen, auch weil sie unfähig wa- bankern in Bonn für die Rückkehr zur un-
ren, die Skandale der Vergangenheit auf- geliebten Mutter, er traf Familienunterneh-
zuarbeiten. Der Sanierer Cryan kam, stell- mer beim Parlamentarischen Abend in
te die Organisation auf den Kopf, Mitar- Berlin, besuchte die Basis der Bank in Bie-
beiter wurden weggeschickt oder flohen, lefeld und anderswo in der Provinz.
die Erträge brachen ein. Und nicht zuletzt All das zeigt: Mit Sewing und Schenck
brachten Milliardenstrafen den Konzern will die Deutsche Bank wieder Fuß fassen.
an den Rand des Zusammenbruchs. Die beiden sollen das Geldhaus wieder in
Erst seit die Bank sich kurz vor Weih- Deutschland verankern, den Schwerpunkt
Achtung, die nachten mit dem US-Justizministerium auf des Konzerns von London und New York
einen Vergleich geeinigt hat, ist die Gefahr nach Frankfurt verlagern.
Deutschen kommen eines Kollapses abgewendet. Dabei wissen sie nicht, ob sie zusammen
Was jetzt kommt, ist ein zäher Kampf oder gegeneinander laufen. Die einen se-
Griechenland braucht derzeit vieles: Ar- gegen den schleichenden Niedergang, ge- hen Sewing vorn, weil er sich als Deutsch-
beitsplätze, Investitionen in die Wirtschaft, rade im Investmentbanking, das Schenck landchef das Label Mr Germany anheften
Unterkünfte für Flüchtlinge. Griechenland übernehmen soll, sobald ein neuer Finanz- darf. Die anderen Schenck, weil er ein
vorstand gefunden ist. Er muss das Kunst- Freund Achleitners sei und noch auf lange
kriegt: eine Kunstausstellung. Die Docu- stück vollbringen, die einstige Gewinnma- Zeit nur ein Investmentbanker die Deut-
menta, eine deutsche Nachkriegsinstitu- schine der Deutschen Bank wieder ins Lau- sche Bank führen könne. Schenck habe
tion, findet erstmals auch in Athen statt – fen zu bringen – allerdings ohne dass die „CEO-Potenzial“, lässt sich sein früherer
und will von der Stadt und dem Land ler- Kasino-Mentalität der Jain- und Acker- Chef bei Goldman Sachs, Alexander Di-
nen. Doch bei vielen Griechen kommt das mann-Jahre wieder Einzug hält. belius, im „Wall Street Journal“ zitieren.
nicht gut an: Mit bitterem Humor spotten Schenck und Sewing sieht man die Stra- Wählte Achleitner einen aus, müsste der
sie über Krisentouristen, Kunstimperialis- pazen der vergangenen Monate an. Sie er- andere wohl gehen. Womöglich wird er
mus und den Unterschied zwischen gut wecken trotzdem den Eindruck, als hätten daher Schenck und Sewing deshalb beide
sie Spaß daran, eben wie Fußballer an ei- zu Kochefs ernennen. „Achleitner ist ein
und gut gemeint. nem aufreibenden Spiel. Müde? Das lacht Freund der Doppelspitze“, heißt es im Um-
man weg. Banking ist Sport, nach dem feld des Aufsichtsrates.
Sehen Sie die Visual Story im digitalen Spiel ist vor dem Spiel. Eine gewisse Logik hätte das: Der Kon-
SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. Am Tag nach ihrer Kür zu Kronprinzen zern wird künftig aus zwei großen Blöcken
ist Schenck zur Roadshow aufgebrochen, bestehen, dem von Schenck verantworte-
um bei Investoren für eine Kapitalerhö- ten Investmentbanking und dem Privat-
hung um acht Milliarden Euro zu werben. kundengeschäft unter Sewing. Die Vermö-
Er war in London, Paris, Zürich, Frankfurt, gensverwaltung läuft nach dem geplanten
München. Die Reaktionen waren mau. Börsengang nebenher.
Man müsse schon Masochist sein, um Deut- Auf dem Fußballplatz allerdings sind
sche-Bank-Aktien zu kaufen, sagt ein re- Doppelspitzen schon lange out. Wer wüss-
nommierter Analyst. Doch es gibt auch te das besser als die beiden Kronprinzen.
andere Stimmen: „Die Bank hat das Erbe Martin Hesse
J E TZ T DI G I TAL L E S E N Jains überwunden, die schlimmsten Alb- Mail: martin.hesse@spiegel.de

66 DER SPIEGEL 14 / 2017


Wirtschaft

„Manchmal braucht es einen Schubs“


SPIEGEL-Gespräch Der neue Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, 60, über Kinder aus
Hartz-IV-Familien, den Sinn von Qualifizierung und seine Idee der „fürsorglichen Belagerung“

SPIEGEL: Herr Scheele, aus Ihrem Munde Mittel mangels Kontrolle verpufft sei. Wie gefragt – egal, welches Parteibuch er hat.
wurden in der Vergangenheit ungewöhn- konnte das passieren? Wenn man gute Vorschläge hat, kann man
liche Redebeiträge überliefert – wie etwa Scheele: Wir wollten in einer sehr ange- möglicherweise auf das Regierungspro-
„Himmel, Arsch und Zwirn“ oder „totaler spannten Lage schnell helfen. Den geflüch- gramm Einfluss nehmen.
Mist“. Müssen wir uns auf einen neuen teten Menschen wollten wir die Möglich- SPIEGEL: Die Debatte um die soziale Ge-
Ton an der Spitze der Bundesagentur für keit geben, schnell Deutsch zu lernen, sich rechtigkeit wird den Wahlkampf prägen.
Arbeit (BA) einstellen? in einer für sie völlig fremden Welt zu ori- Und die BA steht wie keine andere deut-
Scheele: Müssen Sie nicht. Das erste Zitat entieren, statt sie in überfüllten Unterkünf- sche Institution für die Agenda 2010. Fürch-
stammt aus meiner Zeit im Hamburger Se- ten ihrem Schicksal zu überlassen. Da war ten Sie die Rückabwicklung der Reformen?
nat, solche Parlamentsdebatten unterlie- unbürokratisches Handeln gefragt. Hätten Scheele: Die Frage der Rückabwicklung
gen ja völlig anderen Gesetzmäßigkeiten. wir mehr Zeit gehabt, hätten wir sicherlich stellt sich für mich nicht, davor könnte ich
Da ging jemand von der AfD ans Mikrofon andere Voraussetzungen und Prüfkriterien nur warnen. Ohne die Agenda 2010 hätte
und hat schreckliche Dinge über Flüchtlin- für solche Sprachkurse vorgegeben. kein Sozialhilfeempfänger von damals Zu-
ge gesagt. Da hab ich den Fraktionsvorsit- SPIEGEL: Ihr Vorgänger, Frank-Jürgen Wei- gang zu Weiterbildung, die gab es nach al-
zenden der SPD gefragt, ob ich noch mal se, hat die BA 13 Jahre lang geführt. Was tem Recht nämlich nicht. Ohne die Agenda
ans Rednerpult darf. Der meinte: Wenn werden Sie anders machen als er? blieben die Kommunen allein auf den
du dich kontrollieren kannst, dann ja. Scheele: Ich will mich nicht von den Jahren Kosten der Langzeitarbeitslosigkeit sitzen,
SPIEGEL: Können Sie sich denn gut kontrol- mit Frank-Jürgen Weise absetzen. Aber heute übernimmt das der Bund …
lieren? wenn Sie meine Biografie kennen, können SPIEGEL: … klingt ja so, als wären Sie ein
Scheele: Im Rahmen meiner Möglichkeiten. Sie einiges ableiten. Ich war unter anderem leidenschaftlicher Agenda-Fan.
Ich habe also gesagt: „Himmel, Arsch und Geschäftsführer einer großen Beschäfti- Scheele: Im Grundsatz stimmt das, aber
Zwirn. Gucken Sie doch mal im Fernsehen, gungsgesellschaft, Staatssekretär und Ar- nicht in jedem Detail. Natürlich gibt es Re-
wie es in Aleppo aussieht, die Leute kom- beitssenator. Es wird also künftig etwas ar- formbedarf, die Agenda 2010 ist in die Jah-
men doch nicht hierher, um sich ihre Ta- beitsmarktpolitischer zugehen. re gekommen. Damals herrschte Massen-
schen zu füllen.“ So was hatte der Mann SPIEGEL: Sie sind Mitglied der SPD und treten arbeitslosigkeit, in diesem Jahr könnte die
von der AfD jedenfalls behauptet. Irgend- Ihr Amt in einem Wahljahr an. Sie werden al- Arbeitslosenzahl auf einen neuen histori-
wie ist mein Ausbruch in Erinnerung ge- so genau beobachtet werden, vor allem von schen Tiefstwert fallen. Darauf muss man
blieben. Zu meiner Verabschiedung als So- der Union. Ist das ein Vorteil oder Nachteil? reagieren.
zialsenator hat mir die damalige Landes- Scheele: Ein Vorteil, eindeutig. Während SPIEGEL: An welcher Stelle müsste denn
pastorin einen großen Kuchen geschenkt. der Koalitionsverhandlungen wird der aus Ihrer Sicht nachgebessert werden?
Was glauben Sie, was da draufstand? Chef der Bundesagentur für Arbeit in je- Scheele: Wenn Hartz-IV-Empfänger einen
SPIEGEL: Himmel, Arsch und Zwirn? dem Fall als Experte nach seiner Meinung Berufsabschluss nachholen, dann erhalten
Scheele: Treffer. Vielleicht ist mein Sprach-
gebrauch manchmal ungewöhnlich, aber
es geht ja vor allem um die Haltung, die
man transportiert.
SPIEGEL: Sie treten an diesem Samstag Ihr
Amt als neuer Vorstandsvorsitzender der
Bundesagentur für Arbeit an. Müssen Sie
sich als Chef von Deutschlands größter Be-
hörde verbal bremsen?
Scheele: Ich bin ja schon vor anderthalb
Jahren als einfaches Mitglied in den BA-
Vorstand gekommen. Das war goldrichtig,
jetzt muss ich mich nicht so umstellen, wie
es sonst der Fall gewesen wäre. Wenn man
für eine Kommune Verantwortung trägt,
selbst wenn sie so groß ist wie Hamburg,
ist das doch etwas anderes, als eine Behör-
de zu leiten, die in ganz Deutschland So-
zialleistungen verwalten und Förderkurse
durchführen soll. Ich rechne jetzt mit ei-
HC PLAMBECK / DER SPIEGEL

nem eleganten Übergang.


SPIEGEL: Kaum sind Sie im Amt, müssen
Sie sich als Krisenmanager bewähren. Die
BA hat im Herbst 2015 rund 400 Millionen
Euro für Deutschkurse für Flüchtlinge aus-
gegeben. Der Bundesrechnungshof wirft
Ihnen nun vor, dass ein großer Teil der BA-Vorstandschef Scheele: „Vielleicht ist mein Sprachgebrauch manchmal ungewöhnlich“

DER SPIEGEL 14 / 2017 67


Wirtschaft

sie währenddessen nur den SPIEGEL: Dann ist vermutlich der Fall war. Das sehe ich als meine wich-
ganz normalen Regelsatz von auch der zweite Schulz-Vorstoß tigste Aufgabe an. Wir brauchen einen
409 Euro für Alleinstehende. für den Arbeitsmarkt nicht mit Dreiklang: mehr Prävention, mehr An-
Gerade viele Ältere brechen Ihnen abgestimmt. Er lautet, strengung in der Arbeitsvermittlung und
die Kurse ab, wenn sie einen befristete Jobs einzudämmen, mehr Qualifizierung. Und wenn gar nichts
Job bekommen können, in dem wenn die Befristung keinen mehr hilft, kann auch öffentlich geförderte
sie zehn Euro pro Stunde ver-
dienen.
49% wichtigen Grund hat. Was wä-
ren die Folgen?
Beschäftigung die Ultima Ratio sein.
SPIEGEL: Gibt es Fälle, bei denen wirklich
der Teilnehmer
SPIEGEL: Genau deshalb hat die Berufsvorbereitender Scheele: Niemand wünscht sich gar nichts mehr hilft?
Bundesregierung doch vor ei- Bildungsmaßnahmen* ein befristetes Arbeitsverhält- Scheele: Ich habe vor einiger Zeit eine inte-
nem Jahr eine Art Durchhalte- 2015/16 waren nis, weil man die Zukunft da- grative Regelklasse besucht, in der es fünf
prämie für Arbeitslose einge- sechs Monate nach mit nicht vernünftig planen Kinder gab, die so große Schwierigkeiten
führt. Zum Berufsabschluss Beendigung kann. Aber es kann Situatio- hatten, dass sie nur mit einem Betreuer den
gibt es jetzt beispielsweise 1500 sozialversicherungs- nen geben, in denen Befristun- Schulalltag bewältigen konnten. Die Betreu-
Euro obendrauf. pflichtig beschäftigt. gen vernünftig sind. Auch bei er sagten: Die Eltern kannten wir auch schon.
Scheele: Das war ein richtiger der BA haben wir im vergan- Das Schicksal von Arbeitslosigkeit vererbt
Schritt, aber eben nur ein erster.
Die Weiterbildungsprämie ist zu
54% genen Jahr Mitarbeiter mit
sogenannten sachgrundlosen
sich, das bewegt mich sehr. Wir dürfen Eltern
nicht zu Hause rumsitzen lassen, weil sie ih-
waren es bei den
niedrig, da müssen wir noch et- Teilnehmern Beruflicher Befristungen eingestellt, weil rem Nachwuchs vorleben, von Transferleis-
was draufpacken. Außerdem Weiterbildung. wir sehr viele Flüchtlinge be- tungen abhängig zu sein. Wenn Kinder im
muss das Hartz-IV-Regelwerk treuen mussten und nicht Spiel sind, ist es besser, für die Eltern einen
* darunter auch Nachholen von
einfacher werden. Wir brau- Schulabschlüssen; Quelle: wussten, wie lange die Ent- öffentlich geförderten Job zu suchen.
chen mehr pauschale Zahlun- Bundesagentur für Arbeit wicklung andauert. Im Übri- SPIEGEL: Wie viele Menschen gibt es denn,
gen, damit wir mehr Mitarbeiter gen kann ein befristeter Ver- die tatsächlich keine Chance auf dem ers-
für die Vermittlung statt für die Leistungs- trag den Einstieg in das Berufsleben er- ten Arbeitsmarkt haben?
gewährung einsetzen können. Das sind Re- leichtern. Scheele: Ich möchte über keinen einzigen
formen, die das Wesen der Agenda nicht SPIEGEL: Könnte man sachgrundlose Befris- Menschen sagen: Das klappt nie mehr. Als
tangieren, sie aber zeitgemäßer machen. tungen überhaupt ganz abschaffen? ich noch Chef der Hamburger Beschäfti-
SPIEGEL: Ihr Parteifreund Martin Schulz will Scheele: Dann wäre die Gefahr groß, dass gungsgesellschaft war, da hatten wir einen
ganz andere Wege gehen. Der Kanzlerkan- die Arbeitgeber in Zeitarbeit und Werk- Kunden, der von Kopf bis Fuß tätowiert
didat der SPD will das Arbeitslosengeld I verträge ausweichen. war und als nicht vermittelbar galt. Wir
verlängern, wenn die Menschen einen Qua- SPIEGEL: Gerade diese Beschäftigungsfor- sind mit ihm dann in ein Tätowierstudio
lifizierungskurs besuchen. Eine kluge Idee? men haben sich durch die Hartz-Reformen auf der Reeperbahn gegangen. Da arbeitet
Scheele: Ich habe nicht vor, über jedes Stöck- ausgebreitet. Haben sie den Arbeitsmarkt er vielleicht noch heute.
chen zu springen, das mir in den nächsten auch ungerechter gemacht? SPIEGEL: Das war doch ein halbwegs leich-
Monaten hingehalten wird. Es ist immer Scheele: Seit der Finanzmarktkrise wächst ter Fall, wenn es außer flächendeckenden
richtig, den Fokus auf die Weiterbildung zu die Zahl sozialversicherungspflichtiger Be- Tattoos keine „Vermittlungshemmnisse“
richten. Aber die Aufgabe der Bundesagen- schäftigter, und die Tarifabschlüsse sind gibt, wie Ihre Berater sagen.
tur für Arbeit wird immer darin liegen, die gut. Aber der Arbeitsmarkt ist gespalten: Scheele: Stimmt. Ein öffentlicher Arbeits-
Menschen so schnell wie möglich wieder in Wir haben gute Chancen für qualifizierte, markt kommt nur für Menschen infrage,
Arbeit zu bringen. Das ist unsere Priorität. gut ausgebildete Menschen. Es gibt aber die mindestens vier Jahre lang arbeitslos
SPIEGEL: Schulz argumentiert, es sei eine gleichzeitig extreme Schwierigkeiten für sind und unter weiteren Einschränkungen
Frage der Gerechtigkeit, dass ein 50-Jähri- Menschen, die keine Ausbildung haben. leiden: nicht mehr ganz jung, ohne Aus-
ger nicht Angst haben müsse, nach 15 Mo- Bei denen, die aus dem Arbeitsmarkt ge- bildung, mit gesundheitlichen Einschrän-
naten ohne Job auf Hartz IV abzurutschen. fallen sind, entsteht ein Gefühl der subjek- kungen. Nach dieser Definition läge das
Scheele: Man muss die Sorgen der Men- tiven Ungerechtigkeit. Potenzial, um das wir uns kümmern müs-
schen ernst nehmen. Und in der Tat ist es SPIEGEL: Trotz des Jobbooms gibt es noch sen, bei etwa 100 000 bis 200 000 Menschen.
eine berechtigte Sorge, vom normalerwei- immer einen Sockel von fast einer Million Es ist immer besser, Arbeit statt Arbeitslo-
se etwas höheren Arbeitslosengeld I in die Menschen, die statistisch langzeitarbeitslos sigkeit zu bezahlen.
Grundsicherung zu fallen. Aber das wirk- sind. Sind Sie dagegen machtlos? SPIEGEL: In Hamburg sind Sie bekannt ge-
samste Mittel, die Menschen vor dem Ab- Scheele: Menschen, die von Hartz-IV-Leis- worden, weil Sie das Format der „aufsu-
stieg zu schützen, ist doch, sie in Arbeit tungen leben, brauchen mehr Aufmerk- chenden Beratung“ geprägt haben. Müssen
zu bringen. Das gilt gerade für die 50-Jäh- samkeit, als das in den vergangenen Jahren Arbeitslose künftig bundesweit mit Haus-
rigen, die noch 17 Jahre bis zur Rente vor besuchen vom Amt rechnen?
sich haben. Da würde ich immer sagen: Scheele: Unsere Berater und Vermittler
Vermitteln hat Vorrang. müssen den Arbeitslosen und seine Familie
SPIEGEL: Demnach hat Martin Schulz nicht öfter sehen. Wir haben bei der BA Ver-
Ihren Rat eingeholt, bevor er seinen Vor- suche gestartet, in denen wir die Kontakt-
schlag gemacht hat? dichte auf einen Termin pro vier Wochen
HC PLAMBECK / DER SPIEGEL

Scheele: Ich berate keine Politiker im Wahl- erhöht haben, da steigen die Vermittlungs-
kampf. Wäre ich noch Sozialsenator, wür- zahlen deutlich an. Eine so verstandene
de ich Ihnen etwas anderes antworten. fürsorgliche Belagerung finde ich sinnvoll.
Aber das ist vorbei. SPIEGEL: Ist „fürsorgliche Belagerung“ eine
euphemistische Umschreibung für: mehr
* Mit den Redakteuren Markus Dettmer und Cornelia
Druck?
Schmergal in der Hauptstadtvertretung der Bundesagen- Scheele beim SPIEGEL-Gespräch* Scheele: Wenn man länger aus dem Job
tur für Arbeit. „Ich berate keine Politiker“ raus ist, braucht es manchmal einen Schubs,
68 DER SPIEGEL 14 / 2017
MICHELE TANTUSSI / DAVIDS
Ausbildungsplatzbörse in Berlin: „Das Schicksal von Arbeitslosigkeit vererbt sich“

um zurückzukommen. Dass man wieder densfall aktiv werden sollten – also wenn geschaut und die Auswirkungen der Digi-
daran glaubt, eine Chance zu haben, wenn jemand seine Arbeit verloren hat. Wir talisierung bis 2030 untersucht. Ergebnis:
man sich anstrengt und eine Qualifizierung müssen früher eingreifen und eine lebens- Es werden Berufe wegfallen, es werden
macht – und dass man mit 1500 Euro begleitende Qualifizierung anbieten. aber auch neue entstehen. Viele werden
Monatslohn mehr anfangen kann als mit SPIEGEL: Wie soll die aussehen? sich wandeln, was die Anforderungen an-
409 Euro Grundsicherung. Scheele: Die Arbeitsagenturen sollten für geht. Das wird mit Veränderungen ver-
SPIEGEL: Sie haben 14 Jahre lang die Be- Beschäftigte einen Arbeitsplatzcheck an- bunden sein, aber der Wandel kann ohne
schäftigungsgesellschaft Hamburger Arbeit bieten. Wenn jemand das Gefühl hat, sein große Verwerfungen gelingen.
geleitet. Mal ehrlich: Wie viele Langzeit- Arbeitsplatz ist bedroht, muss er sich ohne SPIEGEL: Zur Wahrheit gehört aber auch,
arbeitslose haben Sie kennengelernt, die große Terminvereinbarungen an die Bera- dass ein Arbeitsleben in demselben Beruf
Schleife um Schleife in Weiterbildungskur- ter wenden und fragen können: Stimmen künftig die Ausnahme sein könnte.
sen und Beschäftigungsmaßnahmen ge- meine Befürchtungen? Wie sehen Sie die Scheele: Das ist keine neue Erkenntnis.
dreht und dann doch nicht den Weg auf Situation in dieser Branche und bei meiner Seit ich erwachsen bin, haben wir zum
den Arbeitsmarkt gefunden haben? Qualifikation? Wenn der Arbeitgeber keine Beispiel fast die komplette Druckindustrie
Scheele: Ebenso viele wie es geschafft ha- Anpassungsqualifikation anbieten kann, verloren, aus Hamburg ist der Schiffsbau
ben. Wir waren immer dann erfolgreich – müssen wir tätig werden. Wir möchten nicht fast verschwunden. Etwas Routine beim
auch mit Menschen, die schon mehrfach immer nur eingeschaltet werden, wenn das Wandel am Arbeitsmarkt haben wir schon.
hingeschmissen hatten –, wenn wir wirk- Kind schon in den Brunnen gefallen ist. SPIEGEL: Allerdings trifft es mittlerweile
lich ernsthafte Arbeit anbieten konnten. SPIEGEL: Die Arbeitgeber murren und sa- auch Menschen, die sich aufgrund ihrer
SPIEGEL: Und warum gibt es dann noch im- gen, das könne unmöglich Aufgabe der Qualifikation bisher sicher fühlten: Inge-
mer sinnlose Beschäftigungstherapie? beitragsfinanzierten Bundesagentur sein. nieure, Facharbeiter, Banker.
Scheele: Es sollte auch keine mehr geben. Scheele: Ich verstehe die Skepsis, deshalb Scheele: Das stimmt. Aber hoch qualifi-
Jedenfalls weiß ich, was nicht funktioniert: bin ich ständig im Gespräch mit den Ar- zierte Leute verfügen hoffentlich über die
die Leute einfach nur den Hof fegen las- beitgebern. Wir brauchen keine staatliche Fähigkeit des Lernens und können sich
sen. Damit kann man nichts werden, das Weiterbildungsbehörde, denn die Unter- neue Qualifikationen aneignen. Das haben
bietet keine Hoffnung. Man muss einen nehmen bilden ihre Mitarbeiter selbst fort. wir Angelernten, aber auch Industriefach-
Rahmen schaffen, auf den die Menschen Wir können das Weiterbildungsgeschäft arbeitern in den vergangenen 20 Jahren
stolz sein können und den sie nicht wieder von Philips, Siemens oder Bosch nicht immer wieder abverlangt. Und ob die Di-
verlieren möchten, weil es ihnen auch öko- übernehmen. Aber es gibt eben auch Be- gitalisierung der Hauptgrund für den Ar-
nomisch besser geht. triebe, die Weiterbildung nicht selbst leis- beitsplatzabbau in der Finanzbranche ist –
SPIEGEL: Bundesarbeitsministerin Andrea ten können. Ich glaube, auch die Arbeit- da habe ich so meine Zweifel.
Nahles will die BA zur Bundesagentur für geber sind froh, wenn wir niemanden SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, dass
Arbeit und Qualifizierung umbauen. Was durch die Ritzen fallen lassen. ein Computer auch mal Ihren Job macht?
halten Sie von diesem Plan? SPIEGEL: Eine Studie zweier Oxford-Pro- Scheele: Nein, jedenfalls nicht in den fünf
Scheele: Die Berufsbilder ändern sich fessoren geht davon aus, dass fast jeder Jahren meiner Amtszeit. Ich weiß nicht,
durch die Digitalisierung. Daher werden zweite Beruf durch die Digitalisierung ver- was danach ist. Computer können schon
wir mehr präventive Qualifizierung benö- schwinden könnte. Glauben Sie das auch? heute erstaunliche Dinge, allerdings haben
tigen, und die muss auch die BA anbieten. Scheele: Ich halte das für Quatsch. Unser auch sie Grenzen des Könnens.
Die technologische Entwicklung führt eigenes Forschungsinstitut, das IAB, hat SPIEGEL: Herr Scheele, wir danken Ihnen
dazu, dass wir künftig nicht erst im Scha- sich die deutschen Ausbildungsberufe an- für dieses Gespräch.
DER SPIEGEL 14 / 2017 69
Ausland
Kongo schofskonferenz sieht keinen
Blutige Proteste ernsthaften Willen, Wahlen
abzuhalten; die katholische
Während sein Land in Ge- Kirche brach ihre Vermittlung
walt versinkt, äußert sich der daher ab. Der Außenminister
kongolesische Außenminister dagegen rechtfertigt die Ver-
überraschend optimistisch. zögerung damit, dass die Re-
Eine Einigung mit der Oppo- gistrierung der Wähler nicht
Trumps Woche sition sei in greifbarer Nähe,
behauptet Léonard She Oki-
abgeschlossen und die Staats-
kasse leer sei. Dazu steht die
Als der Präsident am Samstag tundu: „Ende des Jahres kön- Verlängerung der Uno-Mis-
aufwachte, gab es Obamacare nen Wahlen stattfinden.“ Die sion durch den Sicherheitsrat
immer noch. Die Abstimmung Ereignisse in der Demokra- an. Nach der Ermordung
war am Vortag abgesagt wor- tischen Republik Kongo deu- mehrerer Uno-Mitarbeiter in
den, zu viele Republikaner ten jedoch eher auf das Ge- der Rebellenhochburg Kasai
waren gegen ihre eigene Re- genteil hin. Präsident Joseph ist die Lage angespannt.
form. Sie hatten sich nicht mal Kabila ist weiter im Amt, Die Blauhelme sind teuer
von Trump damit erpressen obwohl seine Regierungszeit und den Kongolesen verhasst.
lassen, bei den nächsten Wah- im Dezember abgelaufen ist. Staatschef Kabila könnte
len ihren Sitz zu verlieren. In der Hauptstadt Kinshasa nun die Unsicherheit im Land
Und wo war überhaupt Jared? kommt es daher immer wie- zum Vorwand nehmen,
Der war lieber mit Ivanka Ski der zu blutigen Protesten. um die Wahl weiter hinaus-
fahren gegangen, anstatt sei- Auch der Vorsitzende der Bi- zuschieben. suk
nem Schwiegervater beizuste-
hen. Aber ein Donald Trump
scheitert nicht. Nie. Also twit-
terte er, bald werde es einen Venezuela tär, Luis Almagro, hat das Re-
„großartigen Plan für das Coup gegen das gime ungewohnt deutlich kri-
Gesundheitswesen FÜR DAS
VOLK“ geben. „Obamacare Parlament tisiert und rasche Neuwahlen
gefordert. Die OAS setzt wei-
wird explodieren“. Die Der Oberste Gerichtshof in terhin darauf, dass der von
Demokraten würden dann um Caracas hat den Abgeordne- Papst Franziskus angeschobe-
Reformen betteln. ten der von der Opposition ne Dialog zwischen Opposi-
Gut, dass es da noch Devin beherrschten Nationalver- tion und Regierung wieder
Nunes gab, den Vorsitzen- sammlung die Immunität ab- in Gang kommt. Das ist nun
den des Geheimdienstaus- gesprochen und sie wegen unwahrscheinlicher denn je.
schusses des Repräsentanten- „Amtsmissbrauchs“ entmach- Die Entmachtung der Abge-
hauses. Nunes behauptete, er tet. Präsident Nicolás Maduro ordneten zeigt, dass Maduro
habe Belege für Trumps treibt den südamerikanischen an einem Dialog nie Interesse
Behauptung, er sei unter Oba- Krisenstaat damit ein Stück hatte. Trotzdem war es nütz-
ma abgehört worden. Damit weiter Richtung Diktatur: Sei- lich für ihn, Gesprächsbe-
stiftete er so viel Chaos, dass ne Anhänger kontrollieren reitschaft zu demonstrieren:
die Aufklärung dieser lästi- das Gericht. Maduro reagiert Die Opposition hat sich über
gen Russlandsache in diesem mit seinem Quasi-Coup auf diese Frage gespalten. Viele
Fußnote

92
Ausschuss erst mal auf Eis den Vorstoß der Organisation Venezolaner haben die Hoff-
liegt – am Donnerstag be- Amerikanischer Staaten nung auf Wandel aufgegeben,
gann der Senat eine eigene (OAS), die in dieser Woche sie sind mit dem Überlebens-
Untersuchung. Am Dienstag die Lage in Venezuela dis- kampf beschäftigt. Lebensmit-
tat Trump, was er so gern tut: kutiert hat. Ihr Generalsekre- tel sind knapp und teuer. jgl Prozent
Er schaffte per Dekret eine weniger Krankenschwes-
Obama-Initiative ab. Diesmal tern und -pfleger aus der
traf es den Klimaschutz. EU haben seit dem Brexit-
Amerika setzt jetzt wieder Referendum im Juni 2016
voll auf Kohle. Am Mittwoch beim britischen Gesund-
veröffentlichte Gallup die heitsdienst NHS zu arbei-
neueste Umfrage. Nur 35 Pro- ten begonnen. Mindes-
zent der Amerikaner sind mit tens 55 000 EU-Ausländer
Trump zufrieden. Das sind sind dort insgesamt be-
CARLOS GARCIA RAWLINS / REUTERS

zwei Prozentpunkte weniger, schäftigt, sie stellen fünf


als Obama hatte – auf seinem Prozent des Pflegeperso-
Tiefpunkt. Am selben Tag nals und zehn Prozent der
EDEL RODRIGUEZ FÜR DEN SPIEGEL

machte Trump Ivanka zu sei- Ärzte. Die Regierung in


ner Assistentin, ganz offiziell. London hat es versäumt,
Ist doch am schönsten, EU-Arbeitnehmern eine
wenn man seine Familie im- sichere Perspektive zu ga-
mer um sich hat. Lebensmittelzuteilung in Caracas rantieren.

70 DER SPIEGEL 14 / 2017


Ende der Angst
Etwa 800 fliegende Händler von Barcelona leben in ständiger Furcht vor der
Polizei. Doch nachdem ein Senegalese bei der Verfolgung ums Leben gekommen war,
organisierten sich die meist aus Westafrika stammenden Männer und Frauen,
viele ohne Aufenthaltsgenehmigung, gewerkschaftlich. Jetzt hat die Stadt zunächst
15 von ihnen als Kooperative zugelassen – sie dürfen ihre Waren legal verkaufen.

ANGEL GARCIA
Analyse

Kalkuliertes Mitleid
Mit dem Einreiseverbot für eine russische Sängerin tappt die Ukraine in Moskaus Falle.
Sechs Wochen vor dem Finale des Eurovision Song Contest Genau deswegen jedoch wurde sie überhaupt erst nomi-
hat die Ukraine der russischen Sängerin Julija Samoilowa die niert. Russland setzte mit Samoilowa von Anfang an auf Pro-
Einreise verboten. Die Begründung: Die 27-Jährige sei 2015 vokation und kalkulierte dabei den Mitleidseffekt für die
illegal auf die von Russland annektierte Krim gereist. Russ- Sängerin ein. Das Schlimme ist: Die Ukraine tappte in die Fal-
land behauptet nun, die Ukrainer würden das in Kiew stattfin- le. Der Führung in Kiew scheint die Fähigkeit zu schlauer
dende Finale des Gesangswettbewerbs politisieren. Unpoli- Diplomatie abhandengekommen zu sein. Man hätte sich im
tisch war der Song Contest allerdings nie: Armenien fuhr 2012 Fall Samoilowa großzügig zeigen und eine Ausnahme gestat-
nicht ins aserbaidschanische Baku, und die Ukraine nutzte ten können. Das Krim-Gesetz bietet Spielraum, das Verbot
voriges Jahr den Auftritt ihrer krimtatarischen Sängerin Jama- einer Einreise in die Ukraine auf sechs Monate zu begrenzen.
la als Attacke gegen Moskau. Statt vernünftige Ideen in der Auseinandersetzung mit
Nach dem Einreiseverbot für Samoilowa ist die Empörung dem Aggressor Russland zu entwickeln, liefert Kiew dem
in Russland groß, dort soll die Veranstaltung jetzt nicht über- Nachbarn mit dem Verbot einen neuen Vorwand, seinerseits
tragen werden. Schon gibt es Aufrufe, den Nachbarn zur Fuß- die Ukraine als chaotisches und aggressives Land darzustel-
ball-WM 2018 nicht ins Land zu lassen. Die Ukraine sei „zy- len. Auf die gleiche Weise hat sich Kiew mit der verschärften
nisch und unmenschlich“, klagt Moskau, denn Samoilowa sitzt Blockade der Ostukraine in eine Sackgasse manövriert. Mit
wegen einer fortschreitenden Muskelschwäche im Rollstuhl. Trotz allein aber lässt sich kein Krieg gewinnen. Christian Neef

DER SPIEGEL 14 / 2017 71


Ausland

Aufgewacht
Russland Eine neue Generation demonstriert gegen
Korruption und reißt das Land aus der innenpolitischen
Erstarrung. Das Idol der Jugend ist der Oppositionelle
Alexej Nawalny – und er könnte Präsident Wladimir Putin
noch gefährlich werden. Von Christian Esch

M
ama, hast du heute schon was Eigentlich ist Nawalny, 40, eine bekannte
vor? Kannst du mich eventuell auf Größe in der russischen Politik: einer der
dem Polizeirevier abholen?“ Das Anführer der Proteste von 2011 und 2012,
waren Mischa Seins Worte zu seiner Mut- später Bürgermeisterkandidat in Moskau.
ter, bevor er am Sonntag zur allerersten Rechtsanwalt. Gut aussehend, helle blaue
Kundgebung seines Lebens aufbrach. Augen, kantiges Gesicht, attraktive blonde
Mischa ist 17 Jahre alt, aufgewachsen in Frau, zwei Kinder. Ein Kämpfer gegen Kor-
einem Moskauer Vorort, seit Kurzem Stu- ruption und für den Rechtsstaat, in zweiter
dent der Journalistik. Besonders politisch Linie auch gegen Einwanderung und für
wirkt er nicht. Er ist eher der Typ Künstler, freien Waffenbesitz. Man könnte sagen: zu
mit poetischen Tattoos auf den Armen und drei Vierteln Liberaler, zu einem Viertel
großen Gedanken über Gott und die Welt Trump.
im Kopf. Festgenommen wurde er nicht, Er ist ein begnadeter Politiker (das sagen
im Gegensatz zu 1030 anderen Demons- sogar seine Gegner) und der beste Journa-
tranten allein in Moskau. Als er diese Wo- list des Landes (so scherzen Journalisten
che in einem Café sitzt und auf die vergan- untereinander). Auf seinem Blog leistet er
genen Tage zurückblickt, sagt er: „Das war so viel wie die Investigativabteilungen
das Debüt unserer Generation als politische mehrerer Zeitungen. Er recherchiert kom-
Kraft, und ich bin stolz, dass ich dabei war!“ plizierte Bestechungsfälle und fasst sie sim-
Russland erscheint seither wie ein ande- pel, knapp, witzig zusammen. Panama
res Land. Eine einzigartige Protestwelle Papers, Offshorekonstruktionen, Pipeline-
ging am Sonntag von Wladiwostok bis verträge – bei ihm liest sich das alles lustig,
St. Petersburg, in 82 Städten protestierten bunt, mit saftigen Personalien.
Menschen auf den Straßen gegen Korrup- In Russlands imitierter Demokratie hat
tion. Dramatische Szenen waren zu beob- sich auch die Opposition daran gewöhnt,
achten. Als die Polizei in Moskau den fest- ihre Rolle bloß zu imitieren. Nawalny ist
genommenen Anführer der Proteste, Ale- die große Ausnahme. Er scheint der einzi-
xej Nawalny, abtransportieren wollte, warf ge Politiker im Land zu sein, der noch da-
sich eine wütende Menge vor einen Poli- ran glaubt, dass er durch das beharrliche
zeibus. Männer schoben geparkte Autos Überzeugen seiner Mitbürger Macht ge-
in den Weg, sie schaukelten das Fahrzeug, winnen kann.
als wollten sie es umstürzen. Im Rückblick gab es zwei Anzeichen da-
Für jede dieser Taten droht jahrelange für, dass dieser Mann und die Generation
Haft, diese bittere Lektion hat Russlands von Mischa Sein am Sonntag zusammen- ein Geschenk des Milliardärs Alischer
Opposition vor fünf Jahren gelernt. Da- finden würden. Usmanow) bis hin zum Weingut in der
mals wurde eine Großkundgebung gegen Das eine war der spektakuläre Erfolg Toskana. Ein halbes Jahr lang haben
Präsident Putin gewaltsam aufgelöst, man- des Films, den Nawalnys Anti-Korruptions- Nawalnys Rechercheure ermittelt, wie
che Teilnehmer sind heute noch im Ge- Fonds Anfang März veröffentlichte. Mehr Medwedew im Internet Nike-Turnschuhe
fängnis. Dennoch nehmen an diesem Sonn- als 15 Millionen Menschen haben das selbst kaufte und wohin er sie schicken ließ, auf
tag im ganzen Land Zehntausende an den produzierte Video allein auf YouTube ge- Instagram seine Urlaubsfotos durchstöbert
Demonstrationen teil, viele von ihnen sind, sehen. Der Film greift den Premierminister und die Villen von Drohnen aus gefilmt.
wie Mischa, sehr jung. Es sind Studenten an, und der gilt eigentlich als denkbar un- Mischa, der 17-jährige Demonstrant aus
und Schüler. interessanter Mensch. Dmitrij Medwedew Moskau, hat den Film auch gesehen. „Med-
Was ist bloß in unsere Kinder gefahren, hat das Charisma eines Aktenordners. Er wedew war für uns bloß ein komischer
fragen sich nun viele in Russland. Ist Prä- ist einer, dem man im Guten wie im Bösen Typ“, sagt er, „einer, der bei den Olympi-
sident Wladimir Putin womöglich nicht so nichts zutraut. schen Spielen einschläft, der sich wie ein
populär, wie es scheint? Und wer ist der Aber ausgerechnet dieser Mann hat sich, Teenager anzieht und ein Blog führt. Und
Oppositionsführer Nawalny, der Mann, so behauptet Nawalny, eine Reihe von dann stellt sich heraus, dieser komische
der – in den gehässigen Worten des be- Luxusresidenzen zuschanzen lassen. Re- Typ hat ein Imperium von 70 Milliarden
kannten Talkshowmoderators Wladimir gistriert sind sie auf wohltätige Stiftungen Rubel.“
Solowjow – „unschuldige Seelen im Kessel – angefangen mit einer 3000-Quadratmeter- Der Erfolg des Films führte direkt zur
seiner politischen Ambitionen verfeuert“? Villa an der Rubljowka-Straße (angeblich Kundgebung. Medwedew, das hat Nawalny
72 DER SPIEGEL 14 / 2017
ALEXANDER ZEMLIANICHENKO / AP
Polizisten, Protestierende am 26. März auf dem Moskauer Puschkin-Platz: „Das Debüt unserer Generation als politische Kraft“

verstanden, war das ideale Ziel: einer, den Während die anderen Kandidaten noch 25 Jahre alt, hat der Tag schlecht begon-
man, anders als Putin, weder achtet noch gar nicht feststehen, tourt Alexej Nawalny nen. Man hat ihnen die Wohnungstüren
fürchtet. Ein Normalsterblicher, der umso seit Februar als einziger durch das Land, mit Isolierschaum zugeklebt und die Au-
besser die Ungerechtigkeit des Systems Pu- um Freiwillige für die Unterschriftensamm- toreifen zerstochen. Nawalny selbst ist
tin symbolisiert. Einer, der als Premier den lung zu mobilisieren. Es ist für ihn ein Weg, schon am Flughafen von rabiaten Putin-
Haushalt kürzt und auf seinen Reisen dann sich bekannt zu machen, im Fernsehen Anhängern mit Eiern beworfen worden.
erboste Bürger flapsig abfertigt mit den wird er eisern ignoriert. Kein anderer Am Abend, beim Treffen mit den Frei-
Worten: „Ist halt kein Geld da. Kopf hoch!“ Politiker hat ein Netz wie er, mit nament- willigen in einem angemieteten Saal, ist die
Das zweite Vorzeichen für Nawalnys Er- lich registrierten Helfern in fast allen Re- Stimmung umso besser. Gut 200 junge Men-
folg bei den Jungen ist seine Wahlkam- gionen. Und wo immer er auftritt, kom- schen, meist Männer, stehen dicht gedrängt
pagne in den Regionen. Im März 2018 fin- men Scharen junger Menschen. im Raum. Jeden Einzelnen begrüßt Nawal-
den Präsidentschaftswahlen statt. Nawalny So ist es auch Mitte März in Tomsk, vier ny mit Handschlag. „Hey, Tomsk ist das
hat bereits angekündigt, dass er teilneh- Flugstunden von Moskau entfernt. Tomsk russische Berkeley“, schmeichelt er, „hier
men will. Der Kreml hat für unabhängige ist Sibiriens älteste Universitätsstadt, mit müsste ein Start-up nach dem anderen ent-
Kandidaten fast unüberwindbare Hürden verfallenden Holzhäusern, vor denen sich stehen, auf der Straße müssten coole Leute
errichtet. Wer nicht für eine der registrier- der schmutzige Schnee hoch auftürmt. In mit Kaffee in Pappbechern rumlaufen! Wa-
ten Parteien kandidiert, muss 300 000 Un- Nawalnys lokalem Büro sind die neuen rum ist das nicht so?“
terschriften sammeln – gleichmäßig verteilt Sitzsäcke noch nicht ausgepackt. Und für Dieses Regime, sagt Nawalny, habe außer
auf mindestens 40 Regionen. die Leiterinnen Aljona und Ksenija, 21 und Isolierschaum keine Argumente mehr. Er
DER SPIEGEL 14 / 2017 73
Ausland

EVGENY FELDMAN / IMAGO


Politiker Nawalny in Moskau: Gespräche mit Pöblern Festgenommene Demonstranten in einem Polizeibus:

hält eine Mutmach-Rede, die ein paar Mo- und Putins Kandidat Sergej Sobjanin selbst anreist, sich jede Frage anhört und
nate nachwirken soll, so bald wird er hier konnte trotz kräftigen Nachhelfens nur mit sich dann eine halbe Stunde lang hinstellt,
nicht wieder auftauchen. Er redet, wie er Mühe eine Stichwahl vermeiden. Der Er- damit auch der Letzte noch sein Selfie mit
schreibt: in einfachen Worten, witzig, und folg von 2013 ist das Modell, das Nawalny ihm machen kann. Einer, der es aushält,
immer wieder stellt er Fragen ans Publikum, jetzt auf Landesebene wiederholen will. dass er überall angefeindet wird, und der
die im Chor beantwortet werden. Einen Tag nach Tomsk ist Kemerowo Pöbler in Gespräche verwickelt. Damit
Mitten in seiner Rede betritt ein Polizist dran, ebenfalls in Westsibirien; keine Uni- steht er unter Russlands Oppositionellen
den Saal. Eine Bombendrohung sei einge- versitätsstadt, sondern eine hässliche Berg- allein da. Er hat auf seiner Tour selbst ge-
gangen, das Gebäude müsse geräumt wer- arbeitersiedlung. Die Region ist berüchtigt spürt, wie gut er damit ankommt.
den. Ungläubiges Lachen im Saal. Den Rest für ihren autoritären Gouverneur und wild Dennoch muss ihm der Erfolg am Sonn-
der Rede hält Nawalny draußen im Schnee, gefälschte Wahlergebnisse, die weit von tag für einen Augenblick Angst gemacht
beleuchtet vom Blaulicht eines Feuerwehr- denen in den Nachbarregionen abweichen. haben. Man kann das sehen, als Nawalny
autos. Hören kann man ihn nicht mehr, da- Aber auch hier warten ein paar Hundert im Polizeibus abtransportiert wird und die
für sehen ihn umso mehr Passanten. junge Menschen geduldig auf den Star. Die Menge draußen am Bus rüttelt. Hinter ei-
Nawalny hat gelernt, Angriffe zu seinem gleichen Fragen. Was ist mit der Außen- nem der Fenster zeigt sich kurz sein be-
Vorteil zu wenden. So wie in Barnaul, wo politik, fragt einer, und wie löst man das sorgtes Gesicht. Er zieht von innen die
ihm jemand auf der Straße grünes Des- Vorhänge zu und schickt über Twitter eine
infektionsmittel ins Gesicht spritzte. Weil
es sich nicht einfach so abwaschen lässt,
„Nawalny ist wahrschein- Nachricht: Danke für die Unterstützung,
aber heute protestieren wir nicht gegen
hat Nawalny es verrieben und ist mit lich der einzige Festnahmen, sondern gegen Korruption.
grünem Kopf aufgetreten, als wäre er die
Kinofigur Shrek. Die Bilder waren im In-
selbstständige politische Was hat er sich in diesem Augenblick
gedacht? Dass ihm das Ganze entgleist?
ternet ein Riesenerfolg. Akteur in Russland.“ Man kann ihn das am folgenden Tag fra-
Sein Weg in die Politik begann 2000 in gen, als er dem Richter vorgeführt und zu
der liberalen Jabloko-Partei. Dann machte Problem der Krim? Nawalny hat eigentlich einer Geldstrafe und 15 Tagen Arrest ver-
er einen Abstecher nach rechts, den ihm eine klare Haltung dazu: Er ist für ein neu- urteilt wird. „Ich hab vor allem gedacht,
viele bis heute vorwerfen. Mehrfach ließ es Referendum auf der Halbinsel und hat dass ich mich festhalten muss“, scherzt er.
er sich auf dem alljährlichen „russischen sich entschlossen, dort keine Unterschrif- Hat er so viele Leute erwartet? „So viele
Marsch“ blicken, bei dem Moskaus Rechte ten zu sammeln. Aber er weiß auch, dass Leute – ja. Aber nicht so viele Städte. So
Parolen gegen Migranten brüllen. Es war er um die Außenpolitik lieber einen Bogen etwas hat es in Russland seit den 1980ern
die Zeit, als die Nationalisten zu erstarken macht, da gibt es für Putin mehr Punkte nicht gegeben.“
schienen, später wandte er sich wieder ab. zu holen. „Territoriale Probleme lassen Das ist ein wenig übertrieben. Aber es
Im Protestwinter 2011/12 war Nawalny sich nicht lösen“, antwortet er nur. „Meine wirkt tatsächlich, als wäre das Land aus
schon die wichtigste Figur, das populäre Außenpolitik besteht darin, dass hier end- jenem tiefen Schlaf erwacht, in den es vor
neue Gesicht neben älteren Oppositionel- lich mal der Schnee geräumt wird und dass fünf Jahren gefallen ist. Und als würde
len wie Boris Nemzow. 2013 ließ ihn der die Gehälter steigen. Nur ein reiches Land sich diesmal auch jenes Russland fern der
Kreml versuchshalber bei der Bürgermeis- ist militärisch stark.“ Hauptstädte zu Wort melden, das bisher
terwahl in Moskau antreten. Man hoffte, Es sind die Antworten eines Politikers – geschwiegen hat. Putin wird nach seinen
er würde sich blamieren, stattdessen er- routiniert, simpel, populistisch. Aber es außenpolitischen Erfolgen plötzlich wieder
hielt er offiziell 27 Prozent der Stimmen, sind immerhin Antworten von einem, der daheim herausgefordert, sogar in der Pro-

74 DER SPIEGEL 14 / 2017


DENIS SINYAKOV / DER SPIEGEL
ALEXANDER UTKIN / AFP

Dramatische Szenen Student Sein vor der Moskauer Puschkin-Statue: „Stolz, dass ich dabei war“

vinz. Am Donnerstag zog er in seiner bis ben, aber im Februar erging es fast wort- Nawalny hat jetzt ein Jahr Zeit, die Kos-
dahin einzigen Reaktion dunkle Parallelen gleich ein zweites Mal. Die meisten Beob- ten für seinen Ausschluss von der Wahl in
zum Arabischen Frühling, der habe auch achter sehen in dem Verfahren einen Vor- die Höhe zu treiben. Am Sonntag hat er,
mit solchen Protesten begonnen. Nawalny wand, um Nawalny von der Präsident- den alle Fernsehsender totschweigen, sich
hat an Bedeutung gewonnen, doch nun schaftswahl ausschließen zu können. Sein im ganzen Land ins Gespräch gebracht. Er
droht seinem Anti-Korruptions-Fonds die Bruder Oleg sitzt wegen eines angeblichen hat direkt zu jener Generation gesprochen,
Zerschlagung. Viele Mitarbeiter wurden Wirtschaftsdelikts in Lagerhaft, eine Art die kein Fernsehen schaut und nur im In-
festgenommen, Computer konfisziert. Geisel des Systems. ternet lebt.
Mischa, der junge Moskauer Demons- „Nawalny ist nicht das Projekt von je- Die Überraschung dieser Woche ist, dass
trant, hat erfahren, dass die Wirklichkeit mandem anders“, sagt die Politologin diese Generation, die alle für unpolitisch
veränderlicher ist, als er dachte. Er ist genau Jekaterina Schulman. „Er ist ein selbststän- hielten, auf Nawalnys Ansprache reagiert
23 Jahre jünger als Nawalny, beide sind am diger politischer Akteur – wahrscheinlich hat. Sie ist so jung, dass sie die ängstlichen
4. Juni geboren. Als er ein halbes Jahr alt der einzige in Russland.“ Er ist ein Fremd- Reflexe und das Misstrauen der Älteren
war, kam Putin an die Macht. „Bei uns im körper, der dem politischen System keine noch nicht ausbilden konnte. Sie weiß, dass
Hinterhof stand ein Auto, das nie bewegt Ruhe lässt. Vor der Präsidentschaftswahl ihre Aufstiegschancen angesichts der wirt-
wurde. Ab und zu sagte jemand, das müsste 2018 ist man im Kreml besonders nervös. schaftlichen Lage gering sind. Sie ist nicht
jetzt mal weg. Aber es ist nie etwas passiert. Natürlich könnte Putin – wenn er denn an- direkt gegen Putin auf die Straße gegangen,
Putin ist wie dieses Auto: einfach immer tritt – die Wahl mit Leichtigkeit gewinnen, sondern gegen ein Gefühl des Stillstands.
da.“ Daheim habe sich jeder auf seine Wei- er ist weiterhin populär. Es gibt auch zah- Ob man diese Jugend wirklich politisch
se mit Putin arrangiert. Die Oma nennt ihn me, seit Jahrzehnten bewährte Gegenkan- nennen kann und ob sie dauerhaft Einfluss
„Vater“. Der Mutter ist er egal. Mischas Va- didaten. Aber eine niedrige Wahlbeteili- nehmen will und kann, das ist offen. Viele
ter sagt: „Es ändert sich ja doch nie etwas.“ gung würde dem System Legitimation rau- Jugendliche sind aber offenbar bereit, Na-
Dieser Satz sei die stärkste Stütze von ben. Die bittere Lektion der Dumawahl walny zu vertrauen. Nun versuchen besorg-
Putins Regime, sagt Nawalny. Aber warum 2016 war: Wo es nichts zu entscheiden gibt, te Lehrer, den Jungen ihre Ideen auszutrei-
sollten die Leute ihm vertrauen? Viele Rus- bleibt der Bürger zu Hause. Das spräche ben. Bereits kursieren Videos von Treffen,
sen sind Zyniker, und sie haben gute Grün- aus der Sicht des Kreml dafür, Nawalny auf denen Schuldirektoren oder Unidozen-
de dafür. Warum, fragen sie, soll es in einer trotz allem teilnehmen zu lassen. ten ihre Zöglinge ermahnen.
imitierten Demokratie, wo alles hinter den Andererseits ist diese Präsidentschafts- Eines stammt aus Tomsk. „Geklaut wird
Kulissen abgesprochen wird, einen wirk- wahl die letzte, zu der Putin laut Verfas- überall“, belehrt der Dozent darin seine
lich unabhängigen Politiker geben? Irgend- sung antreten kann. Wer 2018 gut ab- Studenten, schon Peter der Große habe
jemand stehe hinter Nawalny, vermuten schneidet, hat gewissermaßen die Vorwah- das nicht ändern können. Dann zitiert er
sie, sonst säße der längst im Gefängnis. len für 2024 bestanden. Das hieße, dass triumphierend die weisen Worte eines
Dabei steht Nawalny jetzt schon mit ei- Putin seine letzte Amtszeit als „lahme KGB-Generals, wonach „ein Staat, in dem
nem Bein im Gefängnis: Er wurde 2013 un- Ente“ verbringen könnte, während junge es keine Korruption gibt, niemandem et-
ter fadenscheinigen Vorwürfen in der Pro- Nachfolger schon bereitstünden. „Deshalb was bringt“. Twitter: @Moskwitsch
vinzstadt Kirow verurteilt – er soll als Be- sollen 2018 nur alte Politiker antreten, die
rater des Gouverneurs einem staatlichen 2024 keine politische Perspektive haben“, Video:
Forstbetrieb geschädigt haben. Das Urteil sagt die Politologin Schulman. Das wie- Wut auf den Schmiergeld-Adel
wurde vom Europäischen Gerichtshof für derum spricht dafür, Nawalny auf keinen spiegel.de/sp142017russland
Menschenrechte gerügt, später aufgeho- Fall zuzulassen. oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 14 / 2017 75


Ausland

JOHN THYS / AFP


Türkisches Generalkonsulat in Rotterdam: Die meisten Vertretungen kamen der Anordnung aus Ankara bereitwillig nach

Erdoğans weltweites Spitzelnetz


Türkei Die Regierung lässt ihre eigenen Staatsbürger weltweit noch umfassender ausspionieren als
bisher bekannt – selbst in Ulan-Bator oder Daressalam. Das belegen geheime Botschaftsberichte.

D
ie türkische Botschaft in Tokio Aus 35 Ländern kommen die diplomati- Jahren wirft er ihr vor, den Staat zu unter-
machte es sich eher einfach: Sie lis- schen Depeschen, in denen türkische Ver- wandern, wichtige Posten in Justiz, Polizei,
tete in einem geheimen Bericht le- tretungen Informationen gesammelt ha- Militär und Schulwesen zu besetzen und pa-
diglich 15 Schulen auf, die der Bewegung ben: Botschaften in Nigeria, Australien, rallele Strukturen zu schaffen, um letztlich
des Predigers Fethullah Gülen zugerechnet Kenia und Saudi-Arabien berichteten, wel- ihn, Erdoğan, zu stürzen.
werden: Name, Adresse in Japan, Namen che Schulen in ihren Ländern der Gülen- Seit dem Putschversuch nennt er die
der Schulleitung, Mail-Adresse, Telefon- Bewegung zugerechnet werden können. Bewegung nur noch „Fethullahistische
nummer und Gründungsdatum. Eine vier- Sie dokumentierten, in welchen Verbän- Terrororganisation“ oder, abgekürzt, Fetö.
seitige Liste. Kein weiterer Kommentar, den Gülen-Anhänger aktiv sind und für Über 130 000 Beamte – Richter, Staatsan-
keine Einordnung, keine Kritik. welche Medien sie schreiben. Und in wel- wälte, Polizisten, Soldaten, Lehrer – wur-
Die Mitarbeiter in Tokio sind mit ihrer chem Verhältnis sie zur jeweiligen Landes- den in den vergangenen Monaten entlas-
kargen Liste ungewöhnlich nachlässig, ver- regierung stehen. Gemeinsam mit seinen sen oder suspendiert, weil sie der Organi-
glichen mit diplomatischen Vertretern der Partnern des Netzwerks European Inves- sation angeblich zu nahestanden. Dabei
Türkei im Rest der Welt: Diese bespitzeln tigative Collaborations (EIC) hat der SPIE- ist nicht bewiesen, dass Gülen hinter dem
ihre Staatsbürger zu Hunderten, listen in GEL die Dossiers ausgewertet. Putsch steckt.
geheimen Dokumenten Gerüchte und Der Auftrag für die diplomatischen Ver- Hinter der Gülen-Bewegung verbirgt
familiäre Verbindungen zu angeblichen tretungen kam direkt aus Ankara: Am sich ein undurchsichtiges, international ak-
Terrorsympathisanten auf. 20. September 2016 erging eine Anordnung tives Netzwerk, begründet vom muslimi-
So entstand auf über hundert Seiten ein der türkischen Religionsbehörde Diyanet, schen Prediger Fethullah Gülen, der seit
Kompendium vermeintlicher Staatsfeinde „detaillierte Berichte über die Organisa- Jahren im Exil in den USA lebt. Der 75-
weltweit – und ein beeindruckendes Do- tionsstrukturen, Aktivitäten, Bildungsein- Jährige war einst ein Weggefährte Er-
kument, das die weltweiten Spionagetätig- richtungen“ von „Fetö“ nach Hause zu doğans. Irgendwann wurde er wohl zu ein-
keiten gegen vermeintliche Anhänger der schicken. flussreich und selbst zum Verfolgten.
Gülen-Bewegung belegt, die von Staats- Fetö, das ist seit dem gescheiterten Putsch- Erdoğan verlangt von den US-Behörden
präsident Recep Tayyip Erdoğan für den versuch in der Türkei vom 15. Juli 2016 die seit Monaten seine Auslieferung. Der Präsi-
gescheiterten Putsch im vergangenen Jahr geläufige Abkürzung für die Gülen-Bewe- dent will die Welt davon überzeugen, dass
verantwortlich gemacht und im Land ver- gung. Staatspräsident Erdoğan macht diese Gülen ein Verbrecher ist. Auch deshalb lässt
folgt werden. für den Umsturzversuch verantwortlich. Seit die türkische Regierung derzeit wohl Infor-
76 DER SPIEGEL 14 / 2017
mationen in aller Welt zusammentragen; sie santen seit dem Putschversuch „weder zu mitteln und so die öffentliche Meinung zu
braucht belastendes Material, um die Vor- den Gebetszeiten noch zum Freitagsgebet beeinflussen“. In ihrer Berichterstattung
würfe gegen Gülen belegen zu können. in unseren Moscheen erscheinen“. stünden nicht der Putschversuch und der
Erst in dieser Woche berichteten NDR, Mit einem Bericht konfrontiert, bestätigt „Kampf des Volkes für Demokratie“ im
WDR und „Süddeutsche Zeitung“, dass der türkische Botschafter in Stockholm Mittelpunkt, sondern „entlassene Beamte“.
der türkische Geheimdienst MIT ein Dos- nach anfänglichem Zögern, dass seine Bot- Einzelne Journalisten werden in den Be-
sier über angebliche Gülen-Anhänger in schaft diesen verfasst habe und dass die richten namentlich erwähnt, wie der in
der Bundesrepublik dem Bundesnachrich- Religionsbehörde Diyanet dafür zuständig Dänemark tätige Hasan Cücük, der heraus-
tendienst (BND) übergeben hatte – darun- sei. Man habe Informationen über Gülen- fand, dass er nun auf einer Liste steht, die
ter detaillierte Namenslisten von über 300 nahe Schulen gesammelt, an denen die tür- Feinde der Türkei definiert.
Personen, inklusive Handy- und Festnetz- kische Regierung kritisiert werde. Der Bot- „Wir gehen davon aus, dass diesen Men-
nummern und heimlich aufgenommener schafter bezeichnet die Gülen-Bewegung schen die Festnahme droht, sobald sie in die
Fotos der Betroffenen. Ein Vorgang, der als „Krebsgeschwür“. Türkei reisen“, sagt der österreichische Grü-
zeigt, dass die Türken ihre Spionagetätig- Die Dokumente belegen zugleich ein- nen-Politiker Peter Pilz. „Selbst die Tatsa-
keit für rechtmäßig halten. deutig, dass die Gülen-Bewegung ein welt- che, dass sie inzwischen die österreichische
Auch die meisten Botschaften kamen der umspannendes Netzwerk unterhält, zu oder deutsche Staatsangehörigkeit ange-
Anordnung aus Ankara bereitwillig nach. dem Universitäten, Schulen, Kindergärten, nommen haben, schützt sie da nicht.“ Pilz
So berichteten Diplomaten aus Nouakchott Medien, Wirtschaftsverbände, Hilfsorgani- will ein Informations- und Recherchezen-
in Mauretanien, Fetö sei vor allem im Bil- sationen und Jugendvereine gehören. Nur trum über das Erdoğan-Regime gründen,
dungssektor, im Handel sowie in bei dem sich Menschen melden
der Medienbranche aktiv: „Jah- können, wenn sie ausspioniert
relang wurden Fetö-Schulen als oder bedroht werden. „Wir müs-
türkische Schulen präsentiert sen auf dem Rechtsweg gegen die
und haben die Liebe zur Türkei Spionagestrukturen der türki-
im Land ausgenutzt.“ schen Botschaften und Vereine
Aus Daressalam in Tansania vorgehen“, sagt der Politiker.
heißt es, eine Schule, die als Gü- Seit dem Putschversuch im
len-nah gilt, verlange „zwischen Juli hat an den Istanbuler Flug-
6500 und 15 000 Dollar“ Gebüh- häfen die Zahl der Festnahmen
ren pro Jahr. Dort würden die von Einreisenden erheblich zu-
Kinder des Präsidenten, von Mi- genommen. Betroffene, darun-
nistern, Ministerialbeamten, Un- ter Türken, aber auch Staatsbür-
ternehmern, Abgeordneten und ger anderer Länder, die sich
ausländischen Diplomaten unter- kritisch über Erdoğan geäußert
RUTH FREMSON / NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF
richtet; die Gülen-Bewegung su- haben, vermuten gezielte De-
che gezielt die Nähe zu den Rei- nunziationen. Das Auswärtige
chen und Mächtigen. Der türki- Amt in Berlin spricht von min-
sche Botschafter habe mehrfach destens zehn Fällen allein im
verlangt, gegen die Infiltration Februar, in denen Deutschen
der Bildungseinrichtung vorzu- die Einreise verweigert wurde.
gehen, aber die tansanische Seite In Deutschland steht der tür-
habe nichts unternommen. kisch-islamische Dachverband
Ein türkischer Diplomat Ditib unter Verdacht, Gegner
schreibt aus Ulan-Bator in der Erdoğans beobachtet zu haben
Mongolei: „Seit 1994 nutzt Fetö Prediger Gülen in seinem Exil in den USA (SPIEGEL 8/2017). Mehrere Imame
den guten Ruf der Türkei in der „Wie ein Trojanisches Pferd“ sollen hier Mitglieder ihrer Ge-
Mongolei und die religiösen meinden bespitzelt haben, sechs
Werte unserer muslimischen Brüder aus. was die Organisation mit Terror zu tun ha- von ihnen sollen inzwischen aus Deutsch-
Diese Organisation ist wie ein Trojanisches ben soll, das hat die türkische Regierung land abgezogen worden sein, nachdem die
Pferd und ist bereit, alles zu machen, um bislang nicht erklären können. Bespitzelungen bekannt geworden waren.
ihre geheime Agenda zu verwirklichen.“ Trotzdem haben in mehreren Ländern Ähnliche Verdachtsmomente gegen Mo-
Jede kleinste Beobachtung scheint ver- Eltern inzwischen ihre Kinder von Gülen- scheeverbände sind aus 37 anderen Län-
dächtig. Das türkische Generalkonsulat in Schulen genommen – aus Angst vor dern bekannt. In Deutschland hat der Grü-
Salzburg sieht selbst im Schwimmunter- Schmähungen in der jeweiligen türkischen nen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck
richt für Frauen, den der vermeintlich Gü- Gemeinde oder aber auch aus Sorge vor Strafanzeige erstattet, nachdem die regie-
len-nahe Akasya-Verein angeboten habe, einem Einreiseverbot. In Belgien wurde rungskritische Zeitung „Cumhuriyet“ erst-
einen feindlichen Akt. Der Verein habe es sogar ein Schulbus in Brand gesetzt. mals über die Spionage auf deutschem
„durch Bildung, Kultur, karitative Tätigkeit Die weitreichendsten Beschuldigungen Boden berichtet hatte. Jetzt ermittelt die
und Veranstaltungen“ geschafft, Aufmerk- in den Botschaftsrapports richten sich ge- Bundesanwaltschaft.
samkeit auf sich zu ziehen. „Durch vorge- gen Medien. So heißt es aus der türkischen In Österreich geht man wegen ähnlicher
täuschtes Interesse an den Problemen der Botschaft in Kopenhagen, die Gülen-Be- Vorwürfe gegen den Dachverband Atib
Menschen“ und andere „gut klingende Ak- wegung betreibe in Dänemark Zeitungen, vor. Viele dieser Verbände werden von
tivitäten“ habe die „Terrororganisation die „beleidigende und spöttische Nachrich- den Religionsattachés der türkischen Bot-
Fetö versucht, einen guten Eindruck bei ten und Artikel gegen unseren verehrten schaften geführt. „Wir gehen dem Verdacht
unseren Landsleuten zu machen“. Präsidenten und gegen die Türkei“ veröf- nach, dass im Auftrag der Regierung der
In der Schweiz beobachtete ein türki- fentlichten und auf diese Weise versuchten, Türkei gehandelt wurde“, sagt ein Ermitt-
scher Diplomat, dass Gülen-Sympathi- „ein negatives Bild von der Türkei zu ver- ler in Wien. Hasnain Kazim

DER SPIEGEL 14 / 2017 77


Ausland

Treffen sich zwei Dealmaker …


Geopolitik Chinas Staatschef Xi begegnet zum ersten Mal US-Präsident Trump. Es geht um
Macht und Prestige zweier Supermächte – vor allem aber um Krieg und Frieden in Asien.

A
ls Maos Nachfolger Deng Xiaoping Worüber die beiden Staatschefs bei ih- sogar auf eine Interkontinentalrakete, die
1979 Amerika besuchte, flog er rem Treffen sprechen werden, lässt sich amerikanisches Festland erreichen könnte.
nach Texas und setzte sich einen erahnen: Es wird erstens um Nordkoreas In diesen Tagen legen seine Geheim-
Stetson auf. Das Bild des kleinen Mannes Atomwaffenprogramm gehen; zweitens dienste Trump einen Bericht vor, in dem
mit dem Cowboyhut war ein Signal, mit um die Handelsbilanz, die massiv Schlag- sie alle Optionen auflisten, mit denen Kim
Deng begann Chinas Reform- und Öff- seite zu Chinas Gunsten hat; und drittens zu stoppen wäre: von der nuklearen Auf-
nungspolitik. Als Dengs Nachfolger Jiang um die Machtbalance der beiden Super- rüstung Japans oder Südkoreas über ver-
Zemin 1997 die USA besuchte, machte er mächte im Pazifik, um Pekings Gebietsan- schärfte Cyberangriffe bis zu einem Prä-
in Honolulu Station; er nahm sich eine Gi- sprüche im Südchinesischen Meer und um ventivschlag gegen Pjöngjangs Raketenba-
tarre und spielte ein Hawaii-Lied. Vier Jah- die Sorgen von Amerikas Verbündeten. Je- sen. Keine dieser militärischen Optionen
re später trat Peking der Welthandelsorga- des dieser Themen hätte allein Gewicht garantiert einen Erfolg, alle bergen enorme
nisation bei, ein wichtiger Schritt auf Chi- genug für ein Gipfeltreffen. Risiken. Wenn Trump eine Eskalation ver-
nas Weg zur Wirtschaftsmacht. Mit welchen Motiven gehen Xi und hindern will, braucht er die Hilfe Chinas.
Kommende Woche reist Chinas Staats- Trump in ihre erste Begegnung, und wel- Mitte März twitterte Trump: „Nordkorea
chef Xi Jinping nach Amerika. Donald chem Druck sind sie ausgesetzt? Geht es benimmt sich sehr schlecht. China hat we-
Trump hat ihn nach Florida eingeladen, in nur darum, die persönliche Chemie zwi- nig getan, um zu helfen.“ In Mar-a-Lago
sein Luxusresort Mar-a-Lago. Xi wird zwei schen dem Immobilientycoon und dem wird er Xi Jinping daran erinnern.
Tage lang mit Trump in dessen sogenann- Karrierekommunisten auszutesten – oder Xi folgte bislang der Doktrin, die alle
tem Winter White House konferieren – ist sogar ein „Deal“ zwischen diesen bei- chinesischen Führer bevorzugten: das Pro-
wohnen wird er dort nicht. Der Chinese den Männern möglich, die beide für nut- blem aussitzen und in die Zukunft ver-
hat ein Strandhotel in South Palm Beach zenorientiertes und nicht für wertebasier- schieben – in der Hoffnung, dass China
gebucht. Die Symbolik ist unmissverständ- tes Handeln stehen? am Ende den Ausgang der Krise auf der
lich: Xi sucht den Kontakt zu Trump, Was das Hauptthema Nordkorea angeht, koreanischen Halbinsel beeinflussen kann.
gleichzeitig besteht er auf Distanz. scheint jeder Optimismus übertrieben. Seit Doch diese Doktrin hat mit der Eskalation
Donald Trump hat während des Wahl- der Diktator Kim Jong Un 2011 die Macht unter Kim Jong Un ihre Geltung verloren,
kampfs kein Land so hart angegriffen wie übernommen hat, rüstet das Land schneller das wissen die Chinesen, und das gibt
China. Peking „vergewaltige“ die USA, in- auf als je zuvor. Experten rechnen jeden Trump ein Druckmittel in die Hand.
dem es seine Währung künstlich niedrig Augenblick mit einem weiteren Nukleartest, So könnte der US-Präsident von Peking
halte und damit Geld und amerikanische spätestens in zwei Jahren dürfte das Land fordern, die 600 chinesischen Firmen unter
Arbeitsplätze „absauge“. Er werde China in der Lage sein, Atomsprengköpfe auf seine Druck zu setzen, die das Regime in Pjöng-
bestrafen, indem er am ersten Tag seiner Raketen zu montieren, später womöglich jang unterstützen und bislang weitgehend
Amtszeit Importe mit Strafzöllen von bis ungestört operieren. Der Regierungsbera-
zu 45 Prozent belege. Kurz nach seiner ter Ding Yifan deutet sogar eine Art ge-
Wahl stellte Trump sogar die Ein-China- meinsamer Strategie an: „Peking kann
Politik infrage, seit über 40 Jahren die Ba- Nordkorea davon überzeugen, dass der mi-
sis für das komplizierte Verhältnis zwi- litärische Druck der USA wachsen wird,
schen den beiden Staaten. wenn Kim sich nicht bewegt.“ Wenn „die-
Doch kaum war Trump ins Weiße Haus se beiden Bemühungen zusammen“ erfolg-
eingezogen, geschah: nichts. Anfang Fe- ten, sei Nordkorea an den Verhandlungs-
bruar telefonierte er dann mit Xi und er- tisch zurückzubringen.
klärte nachher öffentlich, dass er die Ein- Es wäre überraschend, wenn Xi gegen-
China-Politik anerkenne. über Trump so weit ginge – ebenso überra-
Xi schickte seinen außenpolitischen Be- schend aber wäre es, wenn er sich in der
rater Yang Jiechi nach Washington, der Nordkoreafrage nicht bewegte. Nicht nur
Präsident selbst empfing ihn im Weißen die USA und ihre Verbündeten, auch China
Haus. Trump wiederum entsandte seinen steht unter akutem Handlungsdruck. Wenn
Außenminister Rex Tillerson nach Peking, es in Mar-a-Lago zu einem „Deal“ kommt,
der in der Großen Halle des Volkes als ers- dann beim Thema Nordkorea.
ter Vertreter der USA die Lieblingsphrasen Viel mehr Zeit und viel weniger Druck
der Chinesen aussprach, wonach das Ver- hat Xi in der Wirtschafts- und Handels-
hältnis zwischen den USA und China von politik. Hier laufen bislang alle Trends zu
LINTAO ZHANG / GETTY IMAGES

„gegenseitigem Respekt und einer Win- Chinas Gunsten: Der Handel mit den USA
win-Zusammenarbeit“ getragen sei. betrug im vergangenen Jahr 579 Milliarden
Das Ziel der Bemühungen und Schmei- Dollar, allerdings importiert China viel we-
cheleien der Diplomaten: Xi und Trump niger, als es exportiert. Die Folge: ein US-
sollten so bald wie möglich zusammen- Handelsbilanzdefizit, das seit Xis Amts-
kommen, bevor der Zwist, den Trump als antritt auf enorme 1400 Milliarden Dollar
Kandidat gesät hatte, nachhaltiges Unheil Präsident Xi in Peking angewachsen ist. Während chinesische Bil-
anrichtet. Akuter Verhandlungsdruck ligwaren den US-Markt überschwemmen

78 DER SPIEGEL 14 / 2017


ERIC THAYER / NYT / REDUX / LAIF
Putting-Green in Trumps Luxusresort Mar-a-Lago: „Gegenseitiger Respekt und eine Win-win-Zusammenarbeit“

und chinesische Unternehmen in Amerika legen. Trumps Rückzug aus dem Pazifi- zugehen, fehlte die Unterschrift aus Wa-
Firmen und Immobilien kaufen, erhebt Pe- schen Freihandelsabkommen TPP hat Chi- shington.
king hohe Zölle auf US-Importe und schot- nas ökonomischen Einfluss auf traditionel- Chinas Präsident reist also aus einer
tet ganze Sektoren seiner Wirtschaft ab. le US-Verbündete in der Region erhöht. Position der Stärke in die USA: Er ist in
Da die Empörung über dieses Ungleich- Die Philippinen, Malaysia, auch Thailand fast allen strittigen Fragen mit dem Status
gewicht eine der Kernbotschaften seines und Australien binden sich immer enger quo zufrieden. Das für Peking einzig wich-
Wahlkampfs war, hat es Trump eilig, in an China; Südkorea dürfte dem Trend fol- tige Zugeständnis, nämlich die Anerken-
dieser Frage einen ersten Erfolg vorzuwei- gen, falls, wie erwartet, die Opposition die nung der Ein-China-Politik, hat Trump be-
sen. Für einzelne Produktgruppen Straf- Wahl im Mai gewinnt. reits gemacht. Und was Nordkorea angeht,
zölle zu beschließen steht ihm als Präsi- Hier überschneiden sich Pekings wirt- weiß Xi, dass Trump eine gemeinsame Lö-
dent frei. Getan hat er das noch nicht. Ent- schaftliche und strategische Interessen: Der sung braucht. Hinzu kommt, dass Trump
weder mangelt es ihm an einem konkreten ausdrücklich gegen China geschmiedete ihn geradezu zum Umweltschützer geadelt
Plan – oder seine Drohungen zielten da- Handelspakt TPP war nach den Worten hat. Washington hat faktisch die Klima-
rauf, dass Xi ihm entgegenkommt. des früheren US-Verteidigungsministers schutzziele von Paris aufgekündigt – Xi
Doch ein „großer Deal“ ist in dieser Fra- Ashton Carter „so wichtig wie ein weiterer hält an ihnen fest und gewinnt damit welt-
ge nicht zu erwarten; höchstens könnte Xi Flugzeugträger“. weit an Ansehen. Donald Trump dagegen
eine vorsichtige Öffnung im Banken- und Auch im Streit um Chinas Gebietsan- geht geschwächt in das Gipfeltreffen; in-
Versicherungswesen zusagen, das deutete sprüche im Südchinesischen Meer kann der nenpolitisch hat er bisher noch keines sei-
sein Zentralbankchef gerade an. Zwar hat US-Präsident nicht mit Zugeständnissen ner zentralen Versprechen eingelöst.
sich Xi Jinping jüngst auf dem Weltwirt- rechnen. „Vielleicht wird sich kurzfristig Trotzdem ist Xi nicht unverwundbar. Im
schaftsforum in Davos für Freihandel aus- die Geschwindigkeit verringern“, sagt der Herbst steht der alle fünf Jahre stattfin-
gesprochen, tatsächlich aber folgt China Experte Shi Yinhong. „Langfristig werden dende Parteitag der KP bevor, auf dem
weiterhin protektionistischen Instinkten. wir eher mehr als weniger militärisches Ge- eine Vielzahl zentraler Führungspositionen
„Nicht nur Trump will Amerika wieder rät im Südchinesischen Meer stationieren.“ neu besetzt wird. Bis dahin braucht Xi Sta-
groß machen“, sagt Chinas führender Zumindest in einem Punkt dürften sich bilität, nichts fürchtet Chinas Führung
Amerika-Experte Shi Yinhong. Auch Xi die beiden Präsidenten einig sein – falls er mehr als Unruhe zur falschen Zeit.
stehe vor einem großen Umbau von Chi- denn überhaupt zur Sprache kommt: Die Trump wird nun zeigen müssen, ob er
nas Wirtschaft, daher sei die Beweglichkeit Menschenrechtslage in China, unter allen zumindest in der direkten Begegnung mit
beider Staatschefs begrenzt: „Wenn es ih- seinen Vorgängern ein zentraler Streit- einem anderen Staatschef als der begna-
nen in Florida gelingt, größere Strafmaß- punkt mit Peking, ist für Trump offenbar dete „Dealmaker“ punkten kann, als der
nahmen gegeneinander aufzuschieben, kein Thema mehr. Als Ende Februar elf er sich im Wahlkampf angepriesen hatte.
wäre schon viel gewonnen.“ Staaten, darunter Deutschland, Peking in Oder ob seine neue Chinapolitik nichts
Insgesamt aber ist Xi Jinpings Spielraum einem Brief aufforderten, Berichten über weiter ist als viele seiner anderen Verspre-
größer als der seines amerikanischen Kol- Folter von Menschenrechtsanwälten nach- chen: ein großer Bluff. Bernhard Zand

DER SPIEGEL 14 / 2017 79


Ausland

Wie unter Obama, nur schlechter


Analyse Warum die US-Strategie im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ nichts
taugt und den Grundstein für seine baldige Wiederkehr legt.

E
s sollte ein kraftvolles Signal werden: Die freie Welt Führung, nachdem sie in anderen Provinzen Hunderttau-
steht im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) sende Sunniten vertrieben, Tausende ermordet, Dörfer
zusammen. Deshalb trafen sich in Washington vori- dem Erdboden gleichgemacht haben.
ge Woche Vertreter aus 68 Staaten zum Gipfeltreffen der Kein Plan, keine Logik, nirgends. Jedenfalls keine ame-
Anti-IS-Koalition. Doch seither blieb es seltsam still. Es rikanische. Schon unter Obamas Ägide war unklar, welche
waren kaum Ankündigungen zu vernehmen und erst recht: Ziele die USA inmitten der mörderischen Umbrüche in
kein Plan. Einige Teilnehmer beklagten anschließend, das der arabischen Welt eigentlich verfolgen. Der IS, den Oba-
Treffen sei kaum vorbereitet gewesen. Aber wie auch, ma Anfang 2014 noch als Amateurtruppe abtat, wurde
nachdem im Januar fast die komplette Führungsebene ein Dreivierteljahr später zum Weltfeind Nummer eins
des US-Außenministeriums abtrat, Präsident Donald erklärt. Anstatt grundsätzlich zu überdenken, welche welt-
Trump die Stellen aber bis heute nicht besetzt hat? weiten Gefahren aus dem ignorierten Krieg in Syrien er-
Währenddessen häufen sich Berichte über US-Bom- wachsen können, wollte Washington sich nur einmischen,
bardements in Syrien wie im Irak, bei denen Dutzende ohne sich allzu sehr einzumischen. Der IS sollte bekämpft,
Zivilisten ums Leben gekommen sein sollen – in Mossul ansonsten nichts angerührt werden. Also erklärten die
am 17. März sogar bis zu 200 Emissäre des Pentagons den
Menschen. Es ist das Ergeb- syrischen Rebellen, sie soll-
nis von Trumps Ankündi- ten ihre Waffen am besten
gungen, dem Militär freiere nur auf den IS richten.
Hand zu lassen. Es fallen Das funktionierte nicht.
also immer mehr Bomben, Stattdessen bot sich 2015 die
doch zugleich fehlt ein Plan, flexible kurdische Kader-
wie die Terroristen nach truppe der PKK (die mit
dem absehbaren Fall der IS- derselben Führung, Kom-
Metropolen Mossul und Rak- mandoebene und Personal-
ka besiegt werden sollen. struktur in Syrien als YPG
IVOR PRICKETT / NYT / REDUX / LAIF

Die Organisation, die als auftritt) an, Amerikas Wün-


„Islamischer Staat“ bekannt sche zu erfüllen. Fortan er-
werden sollte, war unter ei- hielt sie Waffen, Luftunter-
nem anderen Namen vor stützung und wurde in Wa-
2010 schon einmal vernich- shington als kampfstarke
tet worden und später Kraft gepriesen. Das wieder-
wiederauferstanden. Zu be- um bestärkte den türki-
fürchten ist, dass dem IS Irakischer Soldat im Häuserkampf gegen den IS in Mossul schen Präsidenten Recep
bald eine zweite Wiederge- Tayyip Erdoğan, den Krieg
burt bevorsteht. Zwar wird gegen die PKK wieder auf-
das „Kalifat“, der vom IS beherrschte Flächenstaat, in ab- zunehmen und in Syrien einzumarschieren. Nun sind die
sehbarer Zeit untergehen. Doch derzeit entsteht der Nähr- US-Special-Forces in der bizarren Lage, verhindern zu
boden für das nächste Monster, einen „Islamischen Staat müssen, dass ihre beiden Verbündeten auf dem Weg nach
2.0“, der wohl wieder im Untergrund operieren wird. Ein Rakka übereinander herfallen.
Grund dafür ist, dass die verfeindeten Truppen der Anti- Der IS verdankt seinen Aufstieg nicht in erster Linie
IS-Koalition sich nach einem militärischen Sieg bald un- der Kraft seiner radikalen Ideologie. Er lebt von anar-
tereinander bekriegen werden. chischen Verhältnissen und der Grausamkeit seiner ört-
Trump, der eigentlich alles anders machen wollte, setzt lichen Gegner, die ihm seine Kernklientel, sunnitische
im Nahen Osten die Politik von Barack Obama fort – nur Muslime, zutreibt. Es wäre nicht so schwer, ihn zu besie-
schlechter. Er verfolgt lauter Ziele, die einander wider- gen, wenn man ihm den Boden entzöge. Wenn die Sunni-
sprechen: In Syrien möchte er, erstens, an der Seite Russ- ten zwischen Rakka und Mossul die Wahl hätten, ohne
lands und damit auch Irans, den IS bekämpfen. Im Jemen, Angst vor Assads Bomben in Syrien oder vor den schiiti-
zweitens, hat Trump Iran als Hauptfeind ausgemacht und schen Milizen im Irak als normale Bürger leben zu können.
will verstärkt Saudi-Arabien und den Golfstaaten helfen, Doch dafür brauchte es eine klare Vorstellung des Westens
die schiitischen Huthi-Rebellen zu bombardieren. Trumps über kurzfristige militärische Siege hinaus, er müsste sich
Begründung: Iran müsse in die Schranken gewiesen wer- auf das Grundübel des sunnitisch-schiitischen Bürgerkriegs
den. Dafür wäre Syrien allerdings der bessere Ort, denn in der Region konzentrieren.
dort organisieren Irans Revolutionswächter den Boden- Was wir stattdessen erleben: Blindflug mit Bomben und
krieg für Diktator Baschar al-Assad. am Boden immer neue Kriegsparteien, die offiziell gegen
Im Irak, drittens, bombt Amerika den schiitischen Mili- den IS und in Wahrheit für ihre eigenen Ziele kämpfen. Das
zen den Weg nach Mossul frei. Diese errichten in der be- wiederum bedeutet goldene Zeiten für den IS. Dessen offiziel-
freiten Osthälfte bereits erste Stützpunkte unter iranischer les Motto lautet zu Recht: „überdauern“. Christoph Reuter

80 DER SPIEGEL 14 / 2017


€ 100 zum Einkaufen für Sie!
LESEN SIE 1 JAHR SPIEGEL DIGITAL, UND GEHEN SIE AUF EINKAUFSTOUR.

Gratis
zur Wahl

100 € Amazon.de Gutschein € 100,– Geldprämie


Über eine Million Bücher sowie DVDs, Erfüllen Sie sich einen Wunsch:
Technik und mehr zur Auswahl. € 100,– als Geldprämie.

Ja, ich möchte SPIEGEL digital lesen und wähle eine Prämie!

52 x SPIEGEL digital lesen


Bereits ab freitags 18 Uhr
Auch offline lesbar
Auf bis zu 5 Geräten
Inklusive SPIEGEL-E-Books
Wunschprämie dazu

Ich lese 52 Ausgaben des SPIEGEL digital für nur € 4,10 pro Ausgabe und erhalte
eine Prämie meiner Wahl.

Jetzt bestellen:
SD17-005

www.spiegel.de/digital17
Ausland

Ein Mädchen gegen neun Kühe


Tansania Bei einem Stamm im Norden des Landes dürfen Frauen traditionell Frauen heiraten.
Nun erfährt der Brauch eine Renaissance. Aber ist er auch ein Zeichen für
gesellschaftlichen Fortschritt? Von Bartholomäus Grill und Adriane Ohanesian (Fotos)

V
eronica ist erst sieben Tage alt, ein im Norden Tansanias, am Rande der welt- worfen.“ Vor einem Monat ist Semeni aus
winziger Säugling, noch ziemlich berühmten Serengeti. Nach Angaben der dem Haus ihrer Peinigerin weggelaufen,
schwach, aber kerngesund. „Und Stammesältesten sollen bereits in 10 bis 15 heim zu den Eltern. „Ich lasse dich nie ge-
hübsch“, sagt Esther. Sie sitzt im Halbdun- Prozent der Haushalte weibliche Ehepaare hen“, rief ihr die jähzornige Alte nach.
kel ihrer Lehmhütte und schaut verzückt leben. Lokale Medien berichten von einer „Wenn sie da nicht rauskommt, ist ihr
auf das Neugeborene, das gerade an der regelrechten Renaissance dieses Brauch- Leben vorbei“, sagt Ghati Mahendi, die
Brust seiner Mutter Joyce trinkt. Es ist das tums, und westliche Frauenmagazine fei- Mutter von Semeni. Sie zeigt Verständnis
zweite Kind, das ihr die junge Ehefrau ge- ern es als alternative Lebensform, die nicht für die Flucht ihrer Tochter, denn deren
schenkt hat, nach Elindi, einem zweijähri- nur die Rechte der Frauen stärke, sondern Partnerin sei zur Diktatorin geworden.
gen Jungen. auch das Risiko von Kinderheiraten, weib- Aber warum hat Ghati dem unseligen Ehe-
„Pass auf, dass euch die Mzungus das licher Genitalverstümmelung, häuslicher vertrag überhaupt zugestimmt? „Weil wir
Baby nicht wegnehmen“, ruft ein kleines Gewalt und sexuellem Missbrauch redu- arm sind. Wir brauchten die Rinder“, ant-
Mädchen durch die offene Hüttentür. Die ziere. „Eine emanzipatorische Tradition, wortet sie und zeigt auf die Kühe, die rings
Mzungus, die Weißen, die zu Besuch in die eine moderne Wiedergeburt erlebt“, um das Gehöft angepflockt sind und gra-
dem kleinen tansanischen Dorf Kewanga schrieb im vergangenen Jahr die US-ame- sen. Neun Stück hat der Vater als Braut-
sind und seltsame Fragen stellen. rikanische Ausgabe der „Marie Claire“. preis für Semeni erhalten. Nun stellt sich
Wir wollen wissen, wie das ist, wenn in Nyumba ntobhu – ein Modell für Afrika, die Frage, wie viele Kühe er der Frau zu-
einer von Männern beherrschten Kultur wo Mädchen und Frauen oft nur wie Ge- rückgeben muss, denn einen Teil der Her-
Frauen Frauen heiraten. Wenn sie das ur- bärmaschinen behandelt werden und in de habe seine Tochter in den vier Ehejah-
alte Recht ihrer Volksgruppe, der Kuria, der Gesellschaft nichts zu sagen haben? ren ja bereits „abgearbeitet“. Darüber
auf gleichgeschlechtliche Ehen nutzen. Schön, wenn es so wäre. Die Wirklichkeit wird demnächst der Dorfrat entscheiden,
Denn solche Lebensgemeinschaften sind sieht anders aus. ein Gremium, in dem ausschließlich alte
in Afrika eigentlich verpönt, sie gelten als Semeni Mahendi kommt vom Einkaufen Männer sitzen. Es ist eher unwahrschein-
„unafrikanisch“. In Tansania, Uganda und aus dem einzigen Laden im Dorf Nyarwa- lich, dass sie der Trennung zustimmen wer-
zahlreichen anderen Ländern wird Homo- na zurück. Die stämmige junge Frau ba- den. Damit würden die Regeln verletzt,
sexualität sogar als Verbrechen geahndet. lanciert einen Sack Maismehl auf dem über deren Einhaltung sie streng wachen.
Wer sich als schwul oder lesbisch outet, Kopf, 30 Kilo schwer. Sie trägt einen tür- Ein dreijähriger Junge hüpft splitter-
wird verfemt, verfolgt, eingesperrt. Oder kisgrünen Wickelrock, auf ihrem zerschlis- nackt auf dem sauber gefegten Innenhof
vom Mob totgeschlagen. senen T-Shirt steht „In Love with Summer“ des Kraals herum. Ibrahim, Semenis Sohn.
Aber Esther Gabriel, 47, und Joyce – verliebt in den Sommer. Ihr abgelegenes Ein alter Mann, bestellt von der „Schwie-
Wambura, 23, sind nicht lesbisch. Sie ha- Elternhaus ist nur über einen zerklüfteten germutter“, hatte ihn gezeugt. So läuft das
ben keinen Sex miteinander, obwohl sie Feldweg zu erreichen, der zu einem Kraal in allen Frauenehen: Die jüngere Partnerin
das Bett teilen. Und dennoch sind die bei- führt: vier Rundhütten, durch einen dich- kann sich verschiedene Sexualpartner neh-
den seit drei Jahren miteinander verheira- ten Naturzaun aus Stachelgewächsen vor men, um Nachwuchs zu bekommen, die
tet, so wie die Männer und Frauen in der wilden Tieren geschützt. Und vor der ge- biologischen Väter haben allerdings kein
Nachbarschaft. walttätigen Frau, der Semeni vor vier Jah- Anrecht auf die Kinder. Sie „gehören“
„Wir sind glücklich“, schwärmt Joyce, ren angetraut wurde. Damals war sie erst nach Stammessitte der älteren Ehefrau und
sie ist die Tochter eines Bauern. „Es hätte 17 Jahre alt. ihrem Clan.
uns nichts Besseres passieren können“, Semeni nennt ihre ältere Ehepartnerin Semeni hat sich geschworen, Ibrahim
sagt Esther, ihre maskulin wirkende Gattin. Mabiara, Schwiegermutter. „Sie war böse nie wieder herzugeben. Aber mehr will
Sie wünscht sich acht Kinder von Joyce, und eifersüchtig. Sie hat mir verboten, mit sie nicht sagen und sich auch nicht foto-
die Väter wollen sie gemeinsam auswählen. anderen Leuten zu reden. Ich musste stän- grafieren lassen. Sie habe Angst vor der
Ein überliefertes Stammesritual der dig schuften und manchmal zur Strafe auf Rache der boshaften Mabiara, sagt sie, und
Kuria erlaubt weibliche Eheschließungen, dem kalten Lehmboden schlafen“, erzählt am Ende könne der Dorfrat gegen sie ent-
wenn Frauen verwitwet sind, von ihren Semeni. „Sie hat mich oft mit einem Stock scheiden. Zwar könnte sie noch eine Zivil-
Männern verlassen wurden oder wie geschlagen und sogar Steine nach mir ge- klage einreichen; sie hätte gute Aussichten
Esther Gabriel keine männlichen Nach- zu gewinnen, denn das tansanische Gesetz
kommen haben. Angeblich schützt sie der erkennt Frauenehen nicht an. Doch in den
Lebensbund mit anderen Frauen vor dem rückständigen Dörfern sind die Traditio-
Zugriff der Männer auf ihr Eigentum, auf
ihre Hütten, ihr Land, das Vieh, die Kleider „Ich verstand als nen stärker als die Staatsmacht, und Se-
meni lehnt den juristischen Weg schon al-
und Kochgeräte. Und auf die Kinder, die
nach dem Tod ihrer Ehemänner üblicher-
13-Jährige nicht, was mit lein deswegen ab, weil sie sich damit ins
soziale Abseits stellen würde. Außerdem:
weise deren Sippe an sich reißt. mir geschah. Heute Wer will schon eine Frau heiraten, die von
„Nyumba ntobhu“ heißt dieses Ritual in
der Sprache der Kuria, „Haus der Armen“.
weiß ich, dass ich nur ein einer Frau geschieden wurde?
Elizabeth Wamburi kennt die Notlage,
Rund 700 000 Menschen zählen zu diesem Tauschgut war.“ in der sich junge Frauen wie Semeni befin-
kleinen Volk, sie leben in der Region Mara den. Sie war erst 13 Jahre alt, als sie zwangs-

82 DER SPIEGEL 14 / 2017


ADRIANE OHANESIAN / DER SPIEGEL
ADRIANE OHANESIAN / DER SPIEGEL

Ehepaar Esther Gabriel und Joyce Wambura, Bewohner der tansanischen Siedlung Komaswa
Sie wünscht sich acht Kinder, die Väter wollen sie gemeinsam auswählen

DER SPIEGEL 14 / 2017 83


verheiratet wurde, auch in ihrem Fall
brauchte die bettelarme Familie Kühe. Der
Vater war froh, die behinderte Tochter los-
zuwerden, einen Mann hätte sie ohnehin
nicht gefunden. Sie war als Kleinkind an
Kinderlähmung erkrankt und musste fortan
mit einem Klumpfuß und einem Buckel
leben. Trotz ihrer Behinderung gebar sie
13 Kinder von verschiedenen Männern,
7 überlebten, 4 Jungen und 3 Mädchen. Ir-
gendwie brachte Elizabeth die Kinder allein
durch, ihre Partnerin starb vor zehn Jahren
– und sie fühlte sich wie befreit. „Ich war
nur ihr Arbeitstier“, sagt Elizabeth.
Zehn Enkelkinder haben sich an diesem
Morgen um die Feuerstelle vor ihrer Hütte
in der Siedlung Komaswa versammelt, der
Bauch der jüngsten aufgedunsen, ein
Zeichen für Mangelernährung. Elizabeth
teilt Kekse aus, kocht Ubukima, Maisbrei,
füttert die Hühner und Enten, putzt die
Rotznasen ihrer Enkel, schrubbt sie der
Reihe nach in einer Plastikwanne ab,
streift den Mädchen saubere Kleider über.
Heute ist Sonntag, gleich geht’s zum Got-
tesdienst.
Die schmächtige, hinkende Frau ist mit
ihren vielleicht 60 Jahren noch immer das
Kraftzentrum der 20-köpfigen Großfamilie.
Ihr genaues Alter weiß sie nicht, sie sei ge-
gen Ende der Kolonialzeit auf die Welt ge-
kommen, irgendwann in den späten Fünf-
zigerjahren. Elizabeth Wamburi ist eine
von Millionen und Abermillionen Afrika-
nerinnen, die das Auskommen ihrer Fami-
lie sichern.

ADRIANE OHANESIAN / DER SPIEGEL


Es sind die namenlosen Frauen, die früh-
morgens zur Arbeit hinaus auf die Felder
ziehen, oft mit einem Säugling auf dem
Rücken und zwei Kindern am Rocksaum.
Die in der Gluthitze des Mittags in endlo-
sen Schlangen stehen und auf Medikamen-
te warten. Die nachmittags Getreide dre-
schen oder Hirse mahlen oder Mais stamp-
fen und abends Wasserkanister schleppen
und Brennholz sammeln. Nebenbei ziehen
sie die Kinder groß. Kochen und waschen.
Pflegen die Alten und Kranken. Verdienen
durch Gelegenheitsjobs das Schulgeld für
ihre Kinder.
Nach einer Schätzung der Vereinten Na-
tionen bauen Afrikanerinnen rund 70 Pro-
zent der Nahrungsmittel des Kontinents
an. Sie investieren 90 Prozent ihres Ein-
kommens in die Versorgung der Angehö-
rigen und die Ausbildung der Kinder.
Ohne ihre Lebensleistung wäre es um Afri-
ka noch viel schlechter bestellt.
ADRIANE OHANESIAN / DER SPIEGEL

Und was machen die Männer? „Die sit-


zen meistens unterm Palaverbaum und
trinken“, sagt Elizabeth. Oder sie spazie-
ren mit plärrenden Transitorradios herum,
wie ihr ältester Sohn, der das Gespräch
mit den Fremden sichtlich missbilligt. Wird
sich an dieser Ungleichheit je etwas än-
dern? „Nein“, sagt Elizabeth, „alles wird Witwe Elizabeth Wamburi, Tochter von Ghati Gechoka
so bleiben, solange wir keine Rechte haben Im Siedlungsgebiet der Kuria sind 38 Prozent der Frauen beschnitten

84 DER SPIEGEL 14 / 2017


Ausland

und nichts besitzen dürfen. Aber wenn Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2013 die von den Kassiabäumen rieseln, liegen
Frauen frei entscheiden könnten, hätten erleident fast die Hälfte der tansanischen leere Flaschen, Plastikfetzen, kaputtes Ge-
wir eine bessere Gesellschaft.“ Frauen physische Gewalt. „Das gehört zur schirr. In einer Ecke klafft ein Erdloch. Die
Elizabeth Wamburi konnte nicht frei traditionellen Kultur“, sagt Nyakeke. „Die Toilette.
entscheiden. Sie wurde gegen ihren Willen Männer glauben, dass sie sich nur dann Ghati schenkte ihrer Partnerin in zwölf
an eine ältere, kinderlose Matrone ver- Respekt verschaffen können, wenn sie ihre Ehejahren sechs Mädchen, eines ist gestor-
kauft, um für diese Nachwuchs zu produ- Frauen schlagen.“ Weil in gleichgeschlecht- ben. Natürlich hätte sie lieber einen Mann
zieren. Doch bei aller Mühsal hat sie ihr lichen Ehen ähnliche Machtverhältnisse geheiratet, sagt sie, mit einem weißen
frohsinniges Wesen bewahrt. Und ihre Le- herrschen, sieht sie keinerlei Vorteile in Brautkleid und einer ordentlichen Hoch-
bensklugheit, obwohl sie nie eine Schule diesen Lebensgemeinschaften. zeitsfeier. Aber es hielt keiner um ihre
besuchen durfte. Unter günstigeren Um- Auch das freizügige Sexleben Hand an. Verbrennungsnarben ha-
ständen hätte es eine Frau wie sie vermut- sei ein Mythos, denn die jun- ben ihr Gesicht entstellt. Jahrelang
lich weit bringen können. Krankenschwes- gen Frauen, die mit Partnern AFRIKA wurde sie vom Leben herumge-
ter wollte sie werden. „Ich verstand als ihrer Wahl schlafen dürfen, schubst, irgendwann landete sie
junges Mädchen nicht, was mit mir ge- würden dabei nichts fühlen – TA N S A N I A als „Sonderangebot“ im Wert
schah“, sagt sie, „heute weiß ich, dass ich sie wurden schon in jungen Jah- von zehn Kühen bei Ulita. Sie
nur ein Tauschgut war.“ ren ihres Lustempfindens beraubt. sagt: „Es ist eine schlechte Tradi-
Die Mehrzahl der viehzüchtenden Kuria Im Siedlungsgebiet der Kuria sind tion, aber ich hatte keine Wahl.“
lebt in Armut, deshalb sind junge Mädchen nach amtlichen Erhebungen 38 Pro- Sie nehme Ulita wie einen Mann
wertvolle Handelsobjekte; ihre Verhei- zent der Frauen beschnitten. Vielerorts wahr, die „Schwiegermutter“ sei der
ratung bringt einen Brautpreis von 10 bis müssen Mädchen schon mit acht Jahren Chef, sagt Ghati. Ihr Hauptauftrag
20 Rindern. Eine Kuh kostet durchschnitt- in einer Zeremonie die genitale Verstüm- heißt: gebären, gebären und nochmals ge-
lich 500 000 Tansania-Schilling, gut 200 melung über sich ergehen lassen. Die Be- bären. Früher habe ihr die alte Frau bei
Euro. Das ist sehr viel Geld für einen mit- schneiderin, Omsali genannt, entfernt mit der Arbeit noch geholfen, aber mittlerwei-
tellosen Familienvater, und es spielt auf einer Rasierklinge, einer Glasscherbe oder le werde sie immer fauler und hocke nur
dem Heiratsmarkt keine Rolle, ob die einem scharfen Messer die Klitoris und Tei- noch herum. An diesem Abend sitzt Ulita
Tochter an einen männlichen oder weibli- le der äußeren und inneren Schamlippen. griesgrämig auf der Türschwelle ihrer Hüt-
chen Bewerber verscherbelt wird. Dieses barbarische Ritual, vererbt in einer te und kratzt mit einem Bambusstock im
Deswegen hält Elizabeth Wamburi nichts jahrhundertealten patriarchalischen Tra- Staub herum.
vom Brauchtum des Nyumba ntobhu, auch dition, soll weibliche Promiskuität verhin- Und so muss Ghati die Mädchenschar
dabei drehe sich alles ums Geschäftliche: dern. Umgekehrt halten die Männer die allein versorgen. Sie verkauft manchmal
Mädchen gegen Tiere. „Dann lebst du mit Vielweiberei für eine Art Naturrecht, das ein Bündel Brennholz und erhält Sozial-
einer Frau unter einem Dach, und es geht ihnen seit Menschengedenken zusteht. hilfe, umgerechnet 13 Euro im Monat. Das
zu wie in jeder Paarbeziehung hier: Der Alle Formen der Verstümmelung weib- Grundstück, auf dem ihre Hütten stehen,
eine herrscht, du musst dienen.“ Frauen- licher Geschlechtsorgane sind zwar straf- gehört dem Straßenbauamt, sie können je-
ehen, sagt sie, seien wie viele Traditionen bar, gebildete, städtisch geprägte Frauen derzeit vertrieben werden. „Wir können
nichts anderes als ein Gefängnis. kämpfen für die Abschaffung dieser Grau- nicht mal ein Haus bauen, das dürfen nur
Auf dem Weg ins nächste Dorf winkt samkeiten, doch auf dem Land werden sie die Männer“, sagt Ghati.
eine hochschwangere Frau. Die Wehen ha- weiterhin ausgeübt. Eine katholische Ge- An manchen Tagen fühlt sie sich von
ben eingesetzt, sie kann nicht mehr auf meindeschwester aus der Provinzhaupt- der Last der Armut erdrückt. Rhobi, 12,
dem Motorradtaxi fahren und bittet darum, stadt Musoma, die selbst beschnitten die älteste Tochter, hat schon die Sorgen-
zur 15 Kilometer entfernten Krankensta- wurde, berichtet, dass jedes Jahr, wenn miene ihrer Mutter. Sie kann nur unregel-
tion mitgenommen zu werden. Dort wird die „Beschneidungssaison“ anbricht, Hun- mäßig zur Schule gehen, weil sie im Haus-
an diesem glutheißen Märztag ihr viertes derte Mädchen in Angst aus den Dörfern halt mitarbeiten muss, putzen, waschen,
Kind geboren werden. in ein Auffangzentrum ihrer Kirche fliehen auf die kleinen Geschwister aufpassen.
Tansania hat eine der höchsten Gebur- würden. Und gelegentlich ihre Mutter vor den Män-
tenraten der Welt, das Bevölkerungswachs- Auch Ghati Gechoka wurde verstüm- nern schützen, die gern um das Gehöft
tum beträgt über drei Prozent per annum. melt, aber mit einem weißen Reporter will streunen. „Ich vermisse einen Vater“, klagt
Das bedeutet: Schon in 20 Jahren wird das sie nicht darüber reden, es ist ihr peinlich. Rhobi. Sie weiß nicht, wer sie gezeugt hat,
Land doppelt so viele Einwohner haben Die 44-Jährige lebt in ehelicher Gemein- und leidet unter dem zweifelhaften Leu-
wie heute, weit über 100 Millionen. „Auch schaft mit ihrer 20 Jahre älteren Partnerin mund ihrer Familie. „In der Schule rufen
Frauenehen erhöhen die Zahl der Gebur- Ulita Nyanokwe in Tarime, dem Verwal- sie mir manchmal Hurenkind nach.“
ten“, erklärt die Journalistin Beldina Nya- tungszentrum des gleichnamigen Bezirks. Die Mädchen und die Alte sind hungrig,
keke. „Denn am Ende läuft es immer aufs Sie hausen in zwei Hütten, der Vorplatz aber heute werde es nichts zu essen geben,
Gleiche hinaus: Kinder, mehr Kinder, um ist vermüllt, zwischen den gelben Blüten, sagt Ghati. „Ich habe nicht mal Maisbrei.“
fürs Alter vorzusorgen. Vom Kindersegen Ihr Los ist bedrückend, es zeigt, dass
verspricht man sich Wohlstand und Sicher- tansanische Frauenehen nur in Ausnahme-
heit.“ Nyakeke berichtet für die nationale fällen eine bessere Alternative sind. Die
Tageszeitung „The Citizen“ aus der Region, Partnerinnen schaffen sich zwar eine ge-
oft über Frauenthemen. Vor drei Jahren Ghati schenkte ihrer meinsame Zuflucht, aber sie teilen ein Le-
deckte sie einen besonders krassen Fall auf:
Eine Greisin nötigte ihre minderjährige
Partnerin in zwölf Ehejahren ben in Armut am Rande der Gesellschaft.
Ghati nimmt das schicksalsergeben hin,
Ehepartnerin zum Geschlechtsverkehr mit sechs Mädchen. Ihr immerhin werde sie nicht verprügelt, sagt
zahllosen Männern, um viele Kinder zu be- Auftrag heißt: gebären und sie. Doch eine Sache hat sie sich ganz fest
kommen; tatsächlich aber hielt sie ihre Le- vorgenommen: „Ich werde meine Töchter
bensgefährtin unter dem Schutzmantel der nochmals gebären. niemals zwingen, eine Frau zu heiraten.“
Frauenehe als Prostituierte. Mail: bartholomaeus.grill@spiegel.de

DER SPIEGEL 14 / 2017 85


Studenten-Sparpaket sichern!
+ P rä m ie und 66 % sparen.
UN I SPIEGE L
12 x DER SPIEGEL +

Prämie
zur Wahl

JBL GO Bluetooth-Lautsprecher 10 € Amazon.de Gutschein


Das Multitalent für unterwegs streamt Musik Erfüllen Sie sich einen Wunsch:
vom Smartphone oder Tablet via Bluetooth. über eine Million Bücher sowie DVDs,
Mit Freisprechfunktion. Zuzahlung € 1,–. Technik und mehr zur Auswahl.

 
Ja, ich möchte 12 x den SPIEGEL für nur € 19,90 frei Haus testen, über 66 % sparen und eine Prämie!
Meine Wunschprämie: JBL GO Bluetooth-Lautsprecher in Schwarz, Zzlg. € 1,– (5416)
Alles inklusive: das Sparpaket für Studenten 10 € Amazon.de Gutschein (5065)
Anschrift:
Frau
Herr
12 x den SPIEGEL testen Name/Vorname

66 % Preisvorteil 19
Straße/Hausnr. Geburtsdatum Gläubiger-Identifikationsnummer DE50ZZZ00000030206

Kostenfreie Lieferung
PLZ Ort

LITERATUR SPIEGEL gratis


Telefon (für eventuelle Rückfragen) E-Mail (für eventuelle Rückfragen)
UNI SPIEGEL gratis Wenn ich mich nach Erhalt der 10. Ausgabe nicht melde, möchte ich den SPIEGEL weiterbeziehen, dann für zurzeit € 3,15 pro Ausgabe statt
€ 4,90 im Einzelkauf. Der Bezug ist zur nächsterreichbaren Ausgabe kündbar.
Praktischer Urlaubsservice Ja, ich wünsche unverbindliche Angebote des SPIEGEL-Verlags und der manager magazin Verlagsgesellschaft (zu Zeitschriften, Büchern,
Abonnements, Online-Produkten und Veranstaltungen) per Telefon und/oder E-Mail. Mein Einverständnis kann ich jederzeit widerrufen.
Ich nutze die bequemste Zahlungsart: per SEPA-Lastschrift*

DE Die Mandatsreferenz wird


separat mitgeteilt.
Gleich mitbestellen! IBAN

Ja, ich möchte zusätzlich den SPIEGEL digital für nur € 0,50 SP17-033
SD17-031
pro Ausgabe beziehen statt für € 4,99 im Einzelkauf. Datum Unterschrift

Coupon p 040 3007-2700  abo.spiegel.de/sma1417


ausfüllen und senden an:
DER SPIEGEL, Kunden-Service, 20637 Hamburg
Der Vorzugspreis von € 0,50 für den SPIEGEL digital gilt nur in Verbindung mit einem laufenden Bezug der Printausgabe, enthalten sind € 0,49 für das E-Paper. Meine Prämie erhalte ich direkt nach Zahlungseingang. Bei Sachprämien wird eine Zuzahlung
von € 1,– erhoben. Ausgenommen sind Gutscheine und Bücher. Eine aktuelle Studienbescheinigung ist erforderlich und ist dem Verlag zuzusenden. Alle Preise inklusive MwSt. und Versand. Das Angebot gilt nur in Deutschland. Hinweise zu den AGB und Ihrem
Widerrufsrecht finden Sie unter www.spiegel.de/agb. SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon: 040 3007-2700, E-Mail: aboservice@spiegel.de
* SEPA-Lastschriftmandat: Ich ermächtige den Verlag, Zahlungen von meinem Konto mittels Lastschrift einzuziehen. Zugleich weise ich mein Kreditinstitut an, die vom Verlag auf mein Konto gezogenen Lastschriften einzulösen. Hinweis: Ich kann innerhalb von
acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Sport
Anzahl der Spieltage bis zur deutschen Meisterschaft und der Vorsprung auf den Tabellenzweiten
33 32 32 34 34 34
30 31
27 28

Bayern München Bor. Dortmund VfL Wolfsburg VfB Stuttgart


2015/16 2014/15 2013/14 2012/13 2011/12 2010/11 2009/10 2008/09 2007/08 2006/07
10 Punkte vor 10 19 25 8 7 5 2 10 2
Bor. Dortmund VfL Wolfsburg Bor. Dortmund Bor. Dortmund Bayern München Bayer Leverkusen Schalke 04 Bayern München Werder Bremen Schalke 04

33 32 34 34 34 33 33
31 30 31

Werder Bremen FC Kaiserslautern


2005/06 2004/05 2003/04 2002/03 2001/02 2000/01 1999/00 1998/99 1997/98 1996/97
5 14 6 16 1 1 0 15 2 2
Werder Bremen Schalke 04 Bayern München VfB Stuttgart Bayer Leverkusen Schalke 04 Bayer Leverkusen Bayer Leverkusen Bayern München Bayer Leverkusen

Fußball waren die Bayern noch schneller: 2014 unter Pep Guardiola,
Meister der Langeweile da holten sie den Titel nach 27 von 34 Spielen. Am nächsten
kam Bremen an den Rekordhalter heran. Otto Rehhagel führte
Wenn München wie bisher marschiert und RB Leipzig 1988 Werder drei Spieltage vor Schluss zur Meisterschaft. In
schwächelt, könnte der FC Bayern schon am 8. April deutscher der 54-jährigen Geschichte der Bundesliga ist Bayern München
Meister sein – es wäre der 27. Titel, ausgerechnet nach dem das einzige Team, das in der Abschlusstabelle einen zweistel-
Spiel gegen den Dauerrivalen Borussia Dortmund. Nur einmal ligen Punkteabstand zum Vizemeister herausspielte.

Magische Momente
„Plötzlich klappte der Weiße Hai das Maul zu“
Der Stehpaddler Chris Bertish, 42, aus Südafrika über seine Atlantiküberquerung auf einem Spezialboard

SPIEGEL: Sie sind stehend von Statt wie geplant zwölf Liter geraten. Sechs Meter hohe Plötzlich klappte er das Maul
Agadir, Marokko, nach Anti- konnte ich täglich nur fünf Wellen und brutaler Wind, zu und schwamm unter mei-
gua in Mittelamerika gepad- trinken. der mich auf eine Felsforma- nem Brett hindurch.
delt. Wie lange waren Sie un- SPIEGEL: Da freut man sich tion vor den Kanaren zu- SPIEGEL: Wie haben Sie ge-
terwegs? auf die Zivilisation. trieb. Ich weiß selbst nicht, schlafen?
Bertish: 93 Tage, seit Dezem- Bertish: Ich habe, fünf Minu- wie es mir gelungen ist, die Bertish: Ich hatte vorn auf
ber. Zwei Millionen Mal ten nachdem ich wieder an zu umfahren. dem Brett eine schulterbrei-
habe ich das Paddel ins Was- Land war, in einen Cheese- SPIEGEL: Danach wurde es te, flache Kabine, etwas kür-
ser getaucht, nach hinten ge- burger gebissen, den mir ein ruhiger? zer als ich selbst. Da habe
zogen und wieder rausge- Freund gekauft hat. Das war Bertish: Nicht wirklich, zwei- ich mich reingelegt. Aber
holt. Ich stand auf einem rie- das pure Glück. mal sah ich einen Weißen schlafen, wenn draußen Wel-
sigen Brett mit Kabine, alles SPIEGEL: Was haben Sie unter- Hai auf mich zuschwimmen, len gegen das Board klat-
zusammen rund 600 Kilo wegs erlebt? mich umkreisen. Ich hielt ein schen, der Wind an dir rüt-
schwer. Ich habe 15 Kilo ab- Bertish: Naturgewalt, Todes- langes Messer in der Hand, telt? Das hat nur selten län-
genommen. angst, Glück. Kurz nach dem der Hai setzte zum Angriff ger als eineinhalb Stunden
SPIEGEL: Was haben Sie ge- Start bin ich in einen Sturm auf mein Radargerät an. geklappt.
gessen? SPIEGEL: Sie wussten, dass Sie
Bertish: Gefriergetrocknetes, bei diesem Weltrekordver-
Proteinriegel und Dörr- such sterben könnten, hatten
fleisch. Kurz vor dem Start kein Begleitboot dabei. Wa-
war mein Essenssponsor aus rum haben Sie es dennoch
Südafrika pleitegegangen. versucht?
Mein Team musste in Marok- Bertish: Ich bin mit zwei älte-
ko Nahrung für drei Monate ren Brüdern aufgewachsen,
kaufen. Ich habe auf See die oft gesagt haben, dass ich
ständig das Gleiche geges- dies und jenes nicht könne.
sen. Zudem hat das Gerät, Der Spruch „Du schaffst das
mit dem ich Salzwasser fil- Bertish nicht“ motiviert mich wohl
terte, schlecht funktioniert. bis heute. mb

DER SPIEGEL 14 / 2017 87


Sport

GRAHAM CHADWICK / SOLO SYNDICATION


Berater Littlehales: „Warmes Kerzenlicht statt kaltes künstliches“

Training für die Nacht


Fitness Der englische Schlafexperte Nick Littlehales erklärt den weltbesten Athleten,
was sie im Bett falsch machen.

Littlehales, 56, berät seit 17 Jahren britische Probleme, in die Gänge zu kommen. Was in der Woche, die oft erst spät in der Nacht
Sportklubs wie Manchester United und Arse- haben Sie ihm geraten? enden?
nal London. Vergangenen Herbst veröffentlich- Littlehales: Das ist vertraulich. Was ich sa- Littlehales: Das ist ein großes Problem. Ich
te er das Buch „Sleep“. gen kann: Um früh fit zu sein, musste er sage meinen Klienten, sie sollen nicht in
lernen, mit seinem Biorhythmus zu arbei- Schlafblöcken von acht Stunden denken,
SPIEGEL: Mr Littlehales, Sie haben Real Ma- ten und vor dem Schlafengehen eine ge- sondern in Zyklen von 90 Minuten. Die
drids Angreifern Cristiano Ronaldo und wisse Routine zu befolgen. sind flexibler planbar, weil sie etwa so lang
Gareth Bale erklärt, wie sie besser schla- SPIEGEL: Wie sieht die aus? sind wie jeweils Einschlaf-, Leichtschlaf-,
fen. Was müssen sie tun? Littlehales: Wichtig ist: die letzte große Tiefschlaf- und Traumschlafphase.
Littlehales: Den natürlichen Licht-Dunkel- Mahlzeit drei Stunden vor dem Einschla- SPIEGEL: Wie kann ich Schlaf flexibel pla-
Zyklus beachten und begreifen, dass sie fen einzunehmen, damit der Darm nicht nen?
ihre innere Uhr nicht austricksen können. weiterarbeitet; warmes Kerzenlicht statt Littlehales: Wer eine kurze Nacht vor sich
Die weiß automatisch, wann es Zeit fürs kaltes künstliches zu nutzen, damit das hat, der sollte entweder anderthalb oder
Bett ist. Gehirn das Schlafhormon Melatonin bil- drei Stunden schlafen. So wacht man nach
SPIEGEL: Von Bale ist bekannt, dass er eine den kann; auf nervenaufreibende Filme einer vollständigen Schlafphase auf und
sogenannte Eule ist – ein Abendmensch, und Bücher zu verzichten. fühlt sich nicht völlig platt. Richtig erholt
der spät müde wird. Anders als Lerchen, SPIEGEL: Wie kann eine solche Routine ist man aber erst nach fünf Zyklen, also
die morgens vor Energie sprühen, hat er entstehen bei bis zu drei Fußballspielen nach siebeneinhalb Stunden.
88 DER SPIEGEL 14 / 2017
SPORTSFILE / GETTY IMAGES
Fußballprofi Bale, Tochter Alba 2016 in Frankreich: „Innere Uhr nicht austricksen“

SPIEGEL: Und wer nur vier Schlafzyklen SPIEGEL: Sollten sie vielleicht. Eine Studie plagten. Also bot ich ihm eine unserer
schafft? der Stanford-Universität hat gezeigt, dass Matratzen an. Das half.
Littlehales: Der kann tagsüber ein 15-, 20- Basketballer, die jede Nacht zehn Stunden SPIEGEL: Wie hat Ferguson reagiert?
oder 30-minütiges Nickerchen machen. schlafen, schneller rennen und sicherer Littlehales: Er war neugierig geworden und
Entweder zur Mittagszeit oder später zwi- treffen. Warum verpflichtet dann nicht fragte, ob ich auch seine Matratze checken
schen fünf und sieben Uhr. Zu diesen Zei- jedes Profiteam seine Athleten zu genü- könne. Er schlief auf einer viel zu harten.
ten erreicht der Biorhythmus jedes Men- gend Schlaf? Also ließ ich ihm eine weichere fertigen.
schen automatisch ein Tief. Littlehales: Weil unsere Gesellschaft Schlaf Die fand er super, weil er sich morgens er-
SPIEGEL: Es heißt doch, Schlaf ließe sich nach wie vor mit Zeitverlust verbindet. Im holter fühlte. Später heuerte er mich als
nicht aufholen. Sport wird Schlaf als etwas gesehen, das Schlaftrainer an.
Littlehales: Das ist auch richtig, aber der jeder Athlet automatisch bekommt. SPIEGEL: Die englische Presse spottete da-
Mittagsschlaf kann eine kurze Nacht kom- SPIEGEL: Alex Ferguson, die Trainerikone mals, Manchester United habe jetzt einen
pensieren. Er baut Stress ab, macht frisch von Manchester United, hatte schon Ende Coach, der die Spieler ins Bett bringt. Wer-
im Kopf. Er sorgt dafür, dass Spieler auf der Neunzigerjahre erkannt, wie wertvoll den Sie heute noch belächelt?
dem Platz schneller reagieren und klügere die Nachtruhe für seine Spieler ist. Littlehales: Von den Medien nicht mehr,
Entscheidungen treffen. Aber es bleibt da- Littlehales: Ja, nachdem ich dem Klub ei- aber manchmal von Sportlern, die glau-
bei: Der nächtliche Schlaf wirkt intensiver. nen Brief geschrieben hatte. ben, das bisschen Schlaf bekämen sie
In der Tiefschlafphase schüttet der Körper SPIEGEL: Was stand da drin? schon geregelt. Und dann kaufen sie die
Somatotropin aus – das Wachstumshormon, Littlehales: Ich arbeitete zu dieser Zeit für irrsinnigsten Schlafzimmerutensilien.
das hilft, Gewebe zu erneuern und Verlet- einen Bettenhersteller und wollte wissen, SPIEGEL: Zum Beispiel?
zungen schneller zu heilen. Wer genügend was sie für den erholsamen Schlaf ihrer Littlehales: Zu harte Boxspringbetten,
schläft, verringert zudem das Risiko, an Alz- Spieler tun. milbenfreundliche Federkernmatratzen,
heimer oder Demenz zu erkranken. SPIEGEL: Das haben die Ihnen gleich gesagt? Daunendecken aus sibirischen Gänse-
SPIEGEL: Der Weltrekordsprinter Usain Bolt Littlehales: Ferguson schrieb zurück, ich federn, unter denen man vor Hitze zer-
oder US-Basketballer LeBron James sollen solle vorbeikommen und mit den Physio- fließt.
bis zu zehn Stunden im Bett verbringen. therapeuten sprechen. Wie sich heraus- SPIEGEL: Sie besuchen Athleten auch zu
Littlehales: Das ist ein Mythos. Kein Profi- stellte, machten sie sich über Schlaf wenig Hause und erklären ihnen, was nicht in
sportler findet während der Saison die Gedanken. Dafür erzählten sie, dass Ver- ihr Schlafzimmer gehört. Was haben Sie
Zeit, so lange zu schlafen. teidiger Gary Pallister Rückenprobleme dort schon zu sehen bekommen?
DER SPIEGEL 14 / 2017 89
Sport

Littlehales: Riesige Flachbildfernseher und


Surroundlautsprecher wie im Heimkino.
Videospielkonsolen, Ladestationen für
Handys, Tablets, Laptops. Alles Geräte mit
Stand-by-Leuchten, die es dem Gehirn
wunderbar schwer machen, in den Tief-
schlaf zu finden.
SPIEGEL: Die von Ihnen mitgestalteten
Schlafräume im Trainingszentrum von
Manchester City sollen dagegen spartanisch
gehalten sein. Worauf haben Sie geachtet?
Littlehales: Die Spieler schlafen dort vor
jedem Heimspiel auf individuell zuge-
schnittenen Matratzen aus viskoelasti-
schem Schaumstoff, der sich dem Körper-
gewicht und der Körperform anpasst. Die
Raumtemperatur beträgt konstant zwi-
schen 16 und 21 Grad Celsius. Außerdem
lassen sich die Zimmer völlig abdunkeln,
Stand-by-Leuchten gibt es keine.
SPIEGEL: Was ist mit dem Licht der Smart-
phones?
Littlehales: Zum Schlafen verleitet es nicht.
Aber schwerer wiegt die tägliche Informa-
tionsflut durch Facebook, Twitter, Insta-
gram. Jeder ist heute 24 Stunden, sieben
Tage die Woche erreichbar. So kann der
Kopf unmöglich abschalten.
SPIEGEL: Manche nehmen Schlaftabletten.
Littlehales: Schlaftabletten sind im Profi-
sport immer gängiger geworden – vor al-
lem bei Mannschaften der National Foot-
ball League, die viel reisen. Einige US-
Teams fliegen mehrmals die Woche durch
verschiedene Zeitzonen, viele Spieler wis-
sen sich nicht anders zu helfen.
SPIEGEL: Was tut Cristiano Ronaldo, wenn
er auf Reisen nicht schlafen kann?
www.spiegel-geschichte.de Littlehales: Über Privates spreche ich nicht.
Jetzt im Nur so viel: Einer meiner Klienten wäscht
seine Bettbezüge immer mit dem gleichen
Handel Waschmittel und nimmt sie mit ins Hotel.
Ein anderer lauscht den Gutenachtge-
schichten für sein Kind, die er tags zuvor
beim Vorlesen aufgenommen hat. Der
nächste spielt auf seinem Smartphone das
Surren der heimischen Klimaanlage ab …
SPIEGEL: … und Roger Federer mietet bei
X Auch als App für iPad, Android Wimbledon gleich zwei Häuser. Eines für
sich und seine Betreuer. Und eines für die
sowie für PC/Mac. Hier testen: Familie. Ist das nicht übertrieben?
spiegel-geschichte.de/digital Littlehales: Federer ist ein Perfektionist, der
nichts dem Zufall überlässt. Er weiß, ohne
seine Frau im Bett und die Kinder im Haus
schläft er ungestörter und fester. Ähnliches
gilt für Ronaldo, der seinen Schlaf bis ins
Detail plant. Auch deshalb sind beide so
erfolgreich.
SPIEGEL: Wird Schlaf im Leistungssport in
Zukunft eine größere Rolle spielen?
Weitere Themen: Littlehales: Profiklubs wollen schnelle Er-
folge. Erst allmählich erkennen sie, was
Frauenrechte Erste, bittere Kämpfe Schlaf für die Regeneration und die mentale
Fitness leisten kann. Allerdings wird es noch
Encyclopédie Die zensierte Vernunft dauern, bis Fußballtrainer am Abend zum
Elfmeter statt einer Lerche lieber eine Eule
antreten lassen. Interview: Matthias Fiedler
Gartenkunst Natur über alles
90 DER SPIEGEL 14 / 2017
Verflogene Träume
Fußball Im Campo Bahia machte Joachim Löw seine Mannschaft fit für den WM-Titel.
Die Deutschen kamen mit großen Ambitionen und Versprechungen nach Brasilien.
Nun streiten sich die Initiatoren der Luxusanlage vor Gericht. Viele Einwohner sind verbittert.

A
uf einer staubigen Piste zwischen to André Ausgangspunkt und Rückzugsort Der DFB spendete gleich mal 33 000
Müllhaufen eifern 22 Jungen und einer triumphalen Geschichte wurde – die Euro für die Sanierung des Dorfplatzes,
Mädchen aus Santo André ihrem endete, als Bastian Schweinsteiger den Welt- doch das Geld versandete schnell. „Das
Idol Bastian Schweinsteiger nach. Sie ki- pokal in die Höhe reckte. Projekt mit dem Fußballplatz ist schief-
cken am Rande des Dorfplatzes und tun Die Deutschen hatten tolle Pläne und gelaufen“, bekennt Bauleiter Junge. Die
sich schwer mit dem Namen ihres Lieb- viele Versprechungen für das Weltmeister- Kicker von Santo André wären heute
lingsspielers. „Schuäinstäischer“, rufen sie. Camp. „Die Luftschlösser waren gigan- schon froh, wenn sie wenigstens Umkleide-
Die Kinder spielen barfuß, ihr Trainer tisch“, sagt Tobias Junge, der deutsche Bau- kabinen hätten.
André Dedeco hat den Ball gekauft. Er leiter des Projekts – für die Jugendfuß- Das Campo Bahia selbst ist ein Luxus-
wäscht auch ihre zerschlissenen Trikots, baller und für viele Einwohner der Region resort mit 14 Villen auf einem weiten, pal-
die den meisten viel zu groß sind. Seit sie- sollte etwas vom Glanz abfallen. „Nach menbepflanzten Grundstück. Yogakurse,
ben Jahren betreibt Dedeco seine Fußball- der Weltmeisterschaft ist seitens der Hotel- ein Edelrestaurant und die Champions-Bar
schule in Santo André. Geld nimmt er da- betreiber eine weitere Nutzung als Internat mit beleuchteten Fotos deutscher Fußball-
für nicht. und Talentschmiede für jugendliche Fuß- helden sollen für Entspannung sorgen.
Vor drei Jahren hatten Dedeco und seine baller als Nachhaltigkeitsprojekt ange- Nun aber gleicht die Prachtanlage einem
Kinder noch von einer großartigen Zukunft dacht“, heißt es in einer Absichtserklärung Geisterdorf. Die meiste Zeit über stünden
geträumt. Damals, als die Deutschen an die zur Nutzung des Campo Bahia, die Wolf- die Häuser leer, berichten Anwohner. Ein
Atlantikküste Brasiliens kamen, die Natio- gang Niersbach, damals Präsident des Großteil der Angestellten sei entlassen
nalmannschaft von Joachim Löw nebenan Deutschen Fußball-Bundes (DFB), und die worden. Und die Initiatoren des Projekts
im berühmten Hauptquartier Campo Bahia Betreiber des Campo Bahia im Oktober sprechen nicht mehr miteinander, sie sind
trainierte und das 800-Einwohner-Nest San- 2013 unterzeichneten. verfeindet und tragen nun eine Schlamm-

MARKUS GILLIAR / GES

Nationalspieler Schweinsteiger, Trainer Dedeco (mit Pfeife), Kinder aus Santo André 2014: „Bescheiden und sehr einfühlsam“

DER SPIEGEL 14 / 2017 91


der Teamspirit, der die Kicker zum WM-
Sieg trug.
In weniger als sieben Monaten stellten
die Betreiber die Luxusanlage an den
Strand. Arbeiter wurden aus dem gut 30 Ki-
lometer entfernten Porto Seguro herange-
karrt, sie schufteten in mehreren Schichten
bis in die Nacht. Gast, der Portugiesisch
spricht, verhandelte mit den Behörden und
kümmerte sich um die Planung. Gleichzei-
tig knüpfte er Kontakte zu den benachbar-
ten Pataxó-Indianern. Sie sollten über Hilfs-
projekte eingebunden werden – auch zur
Imagepflege für den DFB.
Unter der Überschrift „Good Morning
Campo Bahia!“ schickte Gast über 80 Mails
an Hirmer und die Crew vom Campo Ba-
hia, in denen er Probleme und Fortschritte
Luxusanlage Campo Bahia: Wohngemeinschaften für Weltmeister bei den Bauarbeiten meldete. „Herr Gast
war nie in wesentlicher Funktion bei oder
wesentliches ,Mitglied‘ des Campo Bahia“,
behauptet Hirmer dagegen.
Das Klima zwischen den Geschäftspart-
nern kühlte rasch ab. „Wir hatten zahl-
reiche Rechnungen offen, doch Hirmer
schickte kein Geld“, klagt Gast. Mehrmals
prallte er mit Hirmers Frau Christiane zu-
sammen, die für die Inneneinrichtung zu-
ständig war. „Sie ließ sich feiern wie eine
Königin“, so Gast.
Hirmer flog den Schauspieler und Film-
regisseur Ulli Lommel aus München ein. Der
huldigte „Königin Christiane“ später in dem
Buch „Campo Bahia – Vision oder Wahn-
sinn? Die unglaubliche Geschichte des DFB-
Camps in Brasilien“. Ein „großer, schlimmer
Quatsch“, so die „Welt“ über das Werk.
JENS GLÜSING / DER SPIEGEL

Wenige Wochen vor dem Beginn der WM


erteilte Hirmer seinem Geschäftspartner
Gast Hausverbot. Gast sei „angeeckt, weil
er mehr Entscheidungsgewalt wollte“, sagt
der ehemalige Bauleiter Junge, „er wurde
deshalb aus dem Projekt herausgedrängt“.
Pataxó-Indianer mit signiertem Deutschlandtrikot: Imagepflege für den DFB Nach der WM hoffte Gast darauf, dass
Hirmer das Campo Bahia rasch verkaufen
schlacht vor Gericht aus. Es geht um Geld, Spross einer Unternehmerfamilie, die in würde. Ein Makler in Miami präsentierte
um Erpressung – und „um das soziale Erbe München ein bekanntes Modehaus be- mehrere potenzielle Käufer, „doch Hirmer
des Campo Bahia“, sagt Stefan Maria Gast. treibt. hatte offenbar kein Interesse mehr“, so
Der ehemalige Manager verklagt den Hirmer, Junge und dessen Freund Kay Gast, „er ließ geplante Besichtigungster-
Hoteleigentümer Christian Hirmer, einen Bakemeier, ein Allianz-Manager, hatten lan- mine verstreichen“. Die Interessenten hät-
Münchner Unternehmer, auf eine aus- ge vor der WM in Santo André ein 15 000 ten zu wenig Geld geboten, teilt dagegen
stehende Honorarzahlung von rund einer Quadratmeter großes Grundstück am Hirmer mit: „Campo Bahia wurde bis
Million Euro für seine Dienste bei der Ent- Strand erworben. Bei einem Essen mit Hir- heute nicht verkauft, weil ein auch nur
wicklung des WM-Camps. mer und seiner Frau Christiane beim ansatzweise attraktives Angebot, das zu
Gast sollte bei einem Verkauf der Anla- Münchner Edelitaliener Acquarello im No- einem Mehrwert/Gewinn geführt hätte,
ge, deren Wert laut Honorarvertrag vom vember 2012 schlug Gast vor, das Gelände bisher nicht vorgelegen hat.“
21. Mai 2014 auf mindestens 16 Millionen dem DFB als Basecamp anzubieten. Es war Der Streit der Initiatoren wird dem-
Euro geschätzt wurde, beteiligt werden. die Geburtsstunde des Campo Bahia. nächst vor dem Münchner Landgericht
Doch bislang wurde Campo Bahia nicht, Gast entwarf eine 3-D-Projektion des weitergeführt. In Santo André und Umge-
so wie es eigentlich vorgesehen war, ver- zukünftigen Campo Bahia als luxuriöse bung hat das Ansehen der Deutschen aus
äußert. Jetzt streiten sich Hirmer und Gast, Wohngemeinschaft mit Dorfplatz, Bar und anderen Gründen gelitten. Viele Einheimi-
ob dennoch gezahlt werden muss. Swimmingpool. Auf sein Drängen wurde sche sind verbittert, sie fühlen sich ausge-
Gast war Deutschlandchef des deutsch- das Projekt für eine Fußballakademie in nutzt und verschaukelt.
brasilianischen Unternehmernetzwerks die Absichtserklärung aufgenommen. Dem deutschstämmigen Otto Saffran,
Lide, er stellte den Kontakt zwischen DFB- „Bierhoff war begeistert“, sagt Gast. Die Prediger einer Pfingstgemeinde, hatten die
Teammanager Oliver Bierhoff und Immo- Spieler lebten im Campo Bahia wie in Campo-Bahia-Betreiber den Ausbau sei-
bilieninvestor Hirmer her. Hirmer ist Luxuswohngemeinschaften, dort entstand nes Waisenheims versprochen. Saffran be-
92 DER SPIEGEL 14 / 2017
Sport

treut in der Nähe von Santo André 15 Kin- Für den DFB waren die Bilder von der
der und Jugendliche, mehrere waren in Verbrüderung zwischen Nationalspielern
den Drogenhandel verwickelt und werden und Ureinwohnern eine willkommene SPIEGEL-Gespräche
von der Rauschgiftmafia bedroht. Werbung. Nach der WM überreichte der
Für den YouTube-Kanal des Campo Ba-
hia drehten die Hirmers mehrere Werbe-
Verband den Einwohnern einen Scheck
über 10 000 Euro. Mit dem Geld kauften
live im Bucerius
videos mit Padre Otto und seinen Schütz-
lingen. „Es gab zahlreiche Versprechen“,
die Indigenen einen roten Volkswagen für
ihre Gemeinschaft. „Seither haben wir Kunst Forum
sagt Saffran, „doch das Campo Bahia hat nichts mehr von den Deutschen gehört“,
mir überhaupt nicht geholfen.“ Einzig Teil- sagt Häuptling Piki Pataxó.
haber Bakemeier habe ihm mit Privatspen-
den beigestanden. Bakemeier und Junge
In Santo André war der DFB großzügi-
ger: Er spendete 100 000 Euro, die vor al-
Die Aufklärung in
sind inzwischen als Eigentümer ausgestie-
gen, die Anlage gehört nun Hirmer allein.
lem der Dorfschule zugutekommen sollten.
Der Betrag wird in vier Jahresraten von
Deutschland und Europa
Die Werbung des Campo Bahia habe jeweils 25 000 Euro ausbezahlt. „Wir haben

Katrin Kutter
seinem Projekt sogar geschadet, weil an- von dem Geld nie etwas gesehen“, klagt
dere Spender weggeblieben seien, sagt Saf- Schulleiterin Patrícia Agda. Nur ein sig-
fran, „sie dachten, dass ich so viel Geld niertes Trikot und ein paar Fahrräder habe
aus Deutschland bekomme, dass ich auf die Schule erhalten.
keine weiteren Spenden angewiesen sei“. Tatsächlich floss das DFB-Geld zunächst
Saffran will „mit dem Campo Bahia nichts an die Hilfsorganisation IASA in Santo
mehr zu tun haben“. „Wir haben nur ganz André, die damit Tanz- und Malprojekte
am Anfang über eine Stiftung das Projekt finanzieren wollte. Weil sie mit der Ver-
von Pater Otto unterstützt“, sagt Hirmer. waltung überlastet gewesen sei, habe ihre
„Es war Gast, der hier den Anschein er- Organisation vor Kurzem die Verantwor-
weckt hat, es seien entsprechende Zuwen- tung abgegeben, sagt IASA-Koordinatorin
dungen zugesagt worden.“ Ana Carolina França Pinto.
Die bizarrste Hinterlassenschaft des Cam-
Der Übungsplatz po Bahia ist der einstige Übungsplatz der
deutschen Mannschaft vor den Toren von
Der Literaturwissenschaftler Alexander
wird gepflegt, als kämen Santo André – der Ort, von dem die Bilder
Košenina ist ein Fachmann für die
Schweinsteiger und um die Welt gingen, wie sich die deutschen
Nationalspieler auf die großen Aufgaben
Reformideen und Kunstlehren der
Aufklärer, die sich in der Neugier
Kollegen bald zurück. vorbereiteten. Der Platz – eigens von einem auf alles Menschliche vereinigten.
deutschen Rasenfachmann angelegt – wird
Auch die Pataxó-Indianer, die in den weiterhin gepflegt und bewässert, als kä- Košenina, der in Hannover lehrt und
Hügeln hinter Santo André leben, sind men Schweinsteiger und Kollegen bald zu- forscht, diskutiert mit dem SPIEGEL-
auf die Deutschen nicht gut zu sprechen: rück. Er darf aber nicht bespielt werden: Redakteur Johannes Saltzwedel.
„Ihre einzige Hinterlassenschaft ist Das Gelände gehört einem Bankier aus São
das 7:1“, klagt ihr Häuptling Moisés Paulo, der den Zutritt verbietet.
Pataxó – das Ergebnis, mit dem Deutsch- Dass der Ruf der Deutschen in Santo
land die Gastgeber aus dem Turnier ge- André trotz allem nicht völlig ruiniert ist, Montag, 10. April 2017, 20 Uhr
worfen hat. liegt allein an den Spielern der National-
Die Ureinwohner liegen mit der Regie- mannschaft. „Sie traten bescheiden auf Bucerius Kunst Forum,
rung und Farmern wegen der Demarkation und waren sehr einfühlsam“, sagt Léa Rathausmarkt 2, 20095 Hamburg
ihrer Reservate im Streit. Große Länderei- Penteado, eine ehemalige Lokalpolitikerin
en in der Nähe des Campo Bahia, die als und Sprecherin der Anwohner. Tickets sind im Bucerius Kunst Forum und in allen
Privateigentum ausgewiesen werden, re- Vor Ort thront nun ein Wachmann über bekannten Vorverkaufsstellen erhältlich. Die
klamieren die Pataxós für sich: „Wir wur- der von Schlaglöchern übersäten Zufahrt Eintrittskarte (10 Euro/8 Euro) berechtigt am
den vertrieben, obwohl das Land seit Jahr- zum Campo Bahia. Die wenigen Touristen, Veranstaltungstag zum Besuch der Ausstellung
hunderten uns gehört.“ die einen Blick in die Anlage werfen möch- „Paula Modersohn-Becker. Der Weg in die
Im November vergangenen Jahres be- ten, müssen sich mit einem Selfie vor dem Moderne“ (4. Februar bis 1. Mai 2017).
setzten 18 Pataxó-Familien ein Grundstück Tor begnügen. Die Ausstellung ist am Veranstaltungsabend von
in der Nähe des ehemaligen Trainings- Nur der Spruch „Catch your Dream“, 19 bis 19.45 Uhr exklusiv für Veranstaltungsgäste
platzes der deutschen Nationalmannschaft. das Motto der Werbekampagne für Campo geöffnet. Änderungen vorbehalten.
Sie wurden mit Polizeigewalt vertrieben. Bahia, und ein Traumfänger der Pataxó-
„Die Regierung hat gewartet, bis die WM Indianer über dem Eingang erinnern noch
und die Olympischen Spiele vorbei sind, an die magischen Wochen vom Juni 2014.
weil die Räumung dann weniger Aufsehen Die Campo-Bahia-Betreiber hatten bei den
erregt“, klagt Häuptling Pataxó. Ureinwohnern 50 000 Stück davon als Wer- BUCERIUS
Auch das Dorf der Indianer, die mit Spie- beträger in Auftrag gegeben. K U N S T
lern der Nationalmannschaft tanzten, ist Der mit Federn verzierte Weidering ist FORUM
bedroht: „Wir sollen laut Gerichtsbeschluss mit einem Netz bespannt, in dem sich der
vertrieben werden“, klagt der dortige indianischen Mythologie zufolge die guten
Häuptling Piki Pataxó. Über 2000 Urein- Träume verfangen.
wohner würden ihre Häuser verlieren, un- Offenbar sind vor allem die schlechten
ter ihnen 1500 Kinder. Träume hängen geblieben. Jens Glüsing

DER SPIEGEL 14 / 2017 93


Wissenschaft+Technik
Tiere lich die Position der Tiere einem freundlich oder eher
Freund Rabe übermittelten. Mitunter mehr feindlich gesinnt ist“, sagt
als drei Jahre lang beobachte- der Biologe Matthias-Claudio
Auch über große Distanzen ten die Biologen die Flug- Loretto. Die Raben zeigten
hinweg pflegen Kolkraben, bewegungen. Sobald sich Ra- in ihren Bewegungsmustern
die noch als Junggesellen le- ben versammelten, entstün- auch erstaunliche Ähnlich-
ben, soziale Beziehungen. den Freundschaften – jedoch keiten mit Menschen. Man-
So treffen sich die Tiere an oft auch heftige, aggressive che verbringen ihr Leben vor
Orten, an denen sie viel Nah- Auseinandersetzungen, so allem an einem Ort, manche
rung finden, häufig wieder. die Forscher. „Wenn ein sind ständig auf der Reise
Dieses Verhalten untersuch- Rabe sich einer Gruppe an- und ziehen häufig um, so die
ten Kognitionsforscher an schließt, kann es sehr nütz- Forscher. Genau wie beim
der Universität Wien, indem lich sein, sich an vorherge- Menschen sei es dann auch
sie 27 wild lebende Raben hende Interaktionen mit die- für Raben hilfreich, wenn
mit winzigen GPS-Rucksä- sen Artgenossen zu erinnern, sie in der Ferne auf alte Be-
cken ausstatteten, die stünd- um zu entscheiden, wer kannte träfen. kk

Psychologie schen haben Angst vor der geboren, heute wohl am


„Frauen wollen ein Zukunft. Wir beobachten die- liebsten Wikinger wäre.
Wikingerbaby“ se Sehnsucht, die Geschichte
zurückzudrehen.
Die „Vogue“ fragte sich, ob
nach der Paläodiät jetzt die
Fernsehserien, SPIEGEL: Und warum landet Wikingerdiät komme. Frauen
Festspiele, viel- man da ausgerechnet bei den in Großbritannien, die einen
leicht bald eine Wikingern? Samenspender suchen, wol-
eigene Diät – Nordström: Sie passen perfekt len ein „Wikingerbaby“ aus
weshalb sind die in unsere Zeit; sie stehen für Dänemark.
Wikinger derzeit Abenteuer, Eroberung, aber SPIEGEL: Historisch gesehen –
so im Trend? Die auch für starke Frauen. Dazu werden die Wikinger ihrem
schwedische kommt das Bild, das man neuen Ruhm gerecht?
Archäologin Nina sich im Rest der Welt von Nordström: Steuern haben sie
Nordström, 55, untersucht an den skandinavischen Ländern jedenfalls nicht gezahlt, und
der Universität Tübingen die macht. Modernität, Gleich- ob ihre Ernährung herausra-
neue Sehnsucht nach einer an- berechtigung, aber auch Ruhe gend gut war, wissen wir
geblich guten alten Zeit. und Einfachheit. Mit einem nicht. Ich sehe den Wikinger-
Schlag werden die Wikinger Boom deshalb lieber als
SPIEGEL: Was macht die Wi- zum Vorbild in allen mög- Spiegel unserer Zeit: Vor
kinger so interessant? lichen Bereichen. hundert Jahren galten sie als
Nordström: In den Sechziger- SPIEGEL: Wo zum Beispiel? Brutalos, die Kirchen und
jahren hat man noch an Uto- Nordström: Die britische Zeit- Klöster überfielen, in den
pien geglaubt, sich die Zu- schrift „Economist“ schrieb, Siebzigerjahren, Zeit der
kunft schön ausgemalt. Jetzt dass ein Mensch mit durch- Hippies, als friedliche Bauern
leben wir im Zeitalter der schnittlichem Talent und Ein- und Händler. Heute sind sie

6
Globalisierung, und die Men- kommen, würde er wieder- halt die edlen Rebellen. kk Fußnote

Millionen
Paare in Deutschland
sind ungewollt kinderlos,
jedes zehnte Paar weiß
nicht, weshalb. Forscher
am Leibniz-Institut in
Jena haben eine mög-
liche Erklärung: Bei einer
von acht betroffenen
Frauen fanden sie ein ver-
MURDO MACLEOD / POLARIS / LAIF

ändertes Wt1-Gen. Bisher


nahm man an, dass das
Gen nur eine Rolle bei der
Organentwicklung spielt.
An Mäusen zeigte sich
aber, dass Wt1 auch für
die Einnistung des
Wikinger-Folklorefest in Schottland Embryos wichtig ist.

94 DER SPIEGEL 14 / 2017 Mail: wissenschaft@spiegel.de · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen


Lebender Turm
Rund 150 Millionen Monarchfalter überwinterten in diesem Jahr in
den mexikanischen Bergen, hier im Bundesstaat Michoacán. Die
Schmetterlinge, die im Herbst aus Kanada und den USA einwan-
derten, fanden dabei zielsicher ihr Winterquartier. Die ersten Tiere,
die ankamen, suchten sich windgeschützte Stellen an einem

SIPA / ACTION PRESS


Baum. Die Nachfolger reihten sich rundherum ein, sodass eine
turmhohe Traube entstand.

Einwurf

„Sie sind total in Ordnung“


Weshalb Ärzte und Patienten besser miteinander reden müssen
Laut einer Umfrage vertrauen nur 37 Prozent der Patienten Sie sind total in Ordnung.“ Ich bin überrascht. Aber gut.
nach einem Arztbesuch den Informationen des Mediziners. Nur Zucker und Cholesterin. Ich gehe.
63 Prozent haken nach, vor allem im Internet. Bestimmt ist es Zwei Tage später sind die Ergebnisse da. Ich sitze vor einer
clever, das zu tun. Aber die digitale Selbstdiagnose verändert anderen Ärztin, meinen Mantel lasse ich gleich an. Doch sie
auch die Art, wie wir miteinander sprechen. Das habe ich holt aus, mir den Sinn der Untersuchung zu erklären: das
vor Kurzem am eigenen Leib erfahren, man hielt mich näm- Herz, die Gefäße, die Risikofaktoren. Wir reden über Sport,
lich für so eine Bescheidwisser-Patientin. Essen, Gewicht. Mir wird warm, ich ziehe den Mantel aus.
Dienstagmorgen, Großstadtpraxis, der „Check-up 35“ steht Ich frage, weshalb ich mir an selber Stelle kürzlich so eine
an. Beim Blutabnehmen sagt die Helferin: „Dass Sie es wis- Abfuhr geholt habe. Die Ärztin seufzt. Sie erzählt von Patien-
sen: Wir machen nur Zucker und Cholesterin. Mehr zahlt die ten, die kaum von ihren Zetteln mit Hinweisen aus dem Inter-
Kasse nicht.“ Ich frage, ob das zu wenig sei, ob man nicht net aufsähen, mit denen kein Gespräch möglich sei. Die nur
mehr Werte erheben müsse. „Na ja“, sagt die Helferin. „Fra- wollten, dass sie mache, was auf der Liste steht. Die Kollegin
gen Sie die Ärztin.“ habe wohl gedacht, ich sei jemand von der Sorte. Ich frage:
Doch es scheint ein Missverständnis vorzuliegen. Die Ärz- „Selbst wenn, soll man sich nicht informieren?“ „Doch“, sagt sie.
tin will gar nichts gefragt werden. Ich bin noch nicht ganz im „Aber?“ „Kein Aber“, sagt sie. „Wenn jemand wirklich mit
Sprechzimmer, da blafft sie mir entgegen: „Klar reicht das. mir spricht, dann tue ich das umgekehrt auch.“ Kerstin Kullmann

DER SPIEGEL 14 / 2017 95


Wissenschaft

Immerhin kuschelig
Umweltpsychologie Architekten tüfteln an Apartments, kleiner als Garagen,
sie sollen die Wohnraumnot in Städten lindern.
Aber wie viel Platz braucht der Mensch zum Glücklichsein?

U
m sich an diesem Tag im März ein Mietshaus bauen und darin bis zu Es sei daher falsch und wohl auch gefähr-
anzusehen, wie sich Van Bo Le- 200 Mikroapartments vom gleichen Grund- lich, den Menschen in Deutschland Flä-
Mentzel modernes Wohnen vor- riss anbieten, allerdings ohne Ofen. chen anzudienen, wie sie im Arbeiter-
stellt, fährt man mit der U-Bahn bis zur Damit nicht nur Singles dort unterkom- milieu des 19. Jahrhunderts üblich waren.
Haltestelle Prinzenstraße in Berlin-Kreuz- men können, sollen Einheiten zusammen- „Erlebte Enge macht aggressiv“, sagt Flade.
berg und läuft dann noch fünf Minuten bis gelegt und dann als Paar- oder Familien- Allerdings hält sie es auch für ausge-
zu einer Bretterbude, die am Carl-Herz- wohnung genutzt werden. „Die 100 Euro schlossen, dass sich moderne Menschen
Ufer genau einen Parkplatz blockiert. Drin- Miete, die für ein Einzelapartment inklusive ohne extreme Not längerfristig auf derlei
nen versucht Le-Mentzel gerade erfolglos, Heizkosten und Internetzugang fällig wür- Wohnarrangements einlassen – selbst dann
ein Feuer im Ofen zu entfachen. „Kennst den, kann man locker auch mit Flaschen- nicht, wenn sie im hippsten Teil der Stadt
du dich damit aus?“, fragt er. sammeln verdienen“, sagt Le-Mentzel. liegen. Konzepte wie das von Le-Mentzel
Le-Mentzel, 40, wohnt hier nicht, er hat Das Konzept ist radikal und erinnert an würden sich daher wohl allenfalls bei Par-
den schlichten Schuppen namens „Tiny100“ Bilder von Wohnkäfigen aus Hongkong, tygängern bewähren, die gelegentlich mal
aber erfunden und zu Demonstrations- und Tokio oder anderen Megacitys Ostasiens. in der Stadt feiern und ihren Rausch aus-
Werbezwecken am Landwehrkanal aufbau- Und die Idee passt zum Zeitgeist, denn in schlafen wollen.
en lassen. „Schau dich ruhig um“, sagt der Deutschland tüfteln inzwischen viele Stu- Tatsächlich deuten auch die bisherigen
Deutsche, der in Laos geboren wurde. Also: denten, Architekten und Immobilienent- Erfahrungen darauf hin, dass Mikroapart-
Bauch einziehen, seitwärts am qualmenden wickler an der Frage herum, wie man mög- ments der deutschen Gesellschaft nur als
Ofen vorbei, schon steht man in einem lichst viele Menschen auf engem Raum Zeitwohnsitz zu vermitteln sind. Immobi-
Duschbad, das für übergewichtige Men- unterbringen kann – freilich mit unter- lienunternehmen wie GBI oder I-Live bie-
schen schnell zur Klemmfalle werden kann. schiedlichen Motiven. ten in Metropolen wie München, Frankfurt
Nach der Inspektion des „Wellness- Le-Mentzel und andere Vordenker der oder Köln schon seit einigen Jahren Mini-
bereichs“, wie der Architekt das Sanitär- aus den USA stammenden Tinyhouse-Be- wohnungen an, häufig etwa 20 Quadrat-
kabuff ohne einen Anflug von Ironie wegung möchten ein bisschen die Welt meter und damit mindestens dreimal so
nennt, klettert der Besucher über die Holz- retten; sie halten radikale Raumreduktion groß wie das „Tiny100“. In der Regel sind
leiter zur Schlafkoje hinauf. Oben ange- für die klügste Antwort auf Wohnungs- es Studenten und Wochenendpendler, die
langt, kann man die Beine – unter Zuhilfe- mangel, Obdachlosigkeit, Flüchtlingszu- einziehen, und viele bleiben nicht länger
nahme der Arme – unter eine dort ange- zug, Flächenverbrauch, Landflucht und als ein oder zwei Jahre.
brachte Holzplatte schieben, die als Horrormieten. Immobilienunternehmen Anderswo in der modernen Welt macht
Schreibtisch dienen soll. „Fürs Home- treibt ein weniger philanthropischer Ge- man ähnliche Erfahrungen, und wenn die
office“, sagt Le-Mentzel, der inzwischen danke: Sie machen aus der Platznot in Butzen so knapp geschnitten waren wie
mithilfe eines Passanten das Feuer in den Städten eine Tugend, indem sie mög- Le-Mentzels Entwurf, ging die Sache auch
Schwung hat bringen können. lichst viel Geld aus möglichst wenig Raum schon richtig schief. Zum Beispiel in Tokio,
Menschen, die an durchschnittliche deut- ziehen wollen. wo ein Wohnhaus voller Neun-Quadrat-
sche Wohnverhältnisse gewöhnt sind, drän- Das Leben auf 6,4 Quadratmetern wür- meter-Apartments über die Jahre eine
gen sich spätestens bei den komplexen Be- de den Menschen in die Zeiten der indus- gänzlich neue Funktion bekam: Mittler-
wegungsabläufen auf dem Hochbett einige triellen Revolution zurückwerfen: Wäh- weile werden viele der Kabinen als Lager-
Fragen auf: Geht das? Kann man länger rend heute jeder Deutsche durchschnittlich raum genutzt.
als unbedingt nötig in einer Butze wohnen, über 44 Quadratmeter verfügt, hausten da- Gerade in Ländern mit vergleichsweise
die mit 6,4 Quadratmetern ungefähr so mals Mutter, Vater und Kinder auch schon schlechtem Wetter sei ein Mensch auf seine
groß ist wie die Fläche, die in Deutschland mal auf 20 Quadratmetern – also auf Area- eigene Wohnung zurückgeworfen und
einem Häftling zusteht? Und wenn ja – ge- len, die etwas größer waren als eine Ein- brauche „Platz zur Entfaltung“, sagt der
nügen dann knapp 13 Quadratmeter für zelgarage. Einige der Familien besserten Grazer Wohnpsychologe Harald Deinsber-
ein Paar und 26 für eine vierköpfige Fami- ihre Finanzen zusätzlich durch die Beher- ger-Deinsweger. Der Bewohner müsse sich
lie? Was macht es mit Menschen, wenn sie bergung von „Schlafgängern“ auf, die sich individuell einrichten können und die Mög-
so wohnen? keine eigene Bleibe leisten konnten. lichkeit haben, Gäste einzuladen, ohne gro-
Architekt Le-Mentzel, der es als Grün- Die Vorstellungen vom individuellen ßen Aufwand betreiben zu müssen.
der der Berliner „Tinyhouse University“ Raumbedarf gingen in den verschiedenen Deswegen hält der Österreicher auch
und Erfinder von „Hartz-IV-Möbeln“ Kulturen der Welt natürlich schon immer nicht viel von Schlafsofas, hochklappbaren
schon zu gewisser Bekanntheit gebracht weit auseinander, sagt die Hamburger Tischen oder anderem Multifunktions-
hat, meint es ernst mit dem Hüttchen, das Wohnpsychologin Antje Flade, 75. In Re- schnickschnack. Anfangs möge so ein
er mittlerweile umparken musste; es steht gionen, in denen Großfamilien eine wich- Zeug interessant sein. „Aber technische
jetzt auf einer Wiese beim Bauhaus-Archiv tige Rolle spielten, werde ein enges Zu- Spielereien verlieren schnell ihren Reiz,
im Stadtteil Tiergarten. Sobald Le-Mentzel sammenleben eher akzeptiert als dort, wo wenn sie nicht substanziell zum Wohlbe-
ein passendes Grundstück gefunden hat, das Wohlstandsniveau hoch ist und man finden beitragen können“, sagt Deinsber-
will er mit Unterstützung eines Investors dem individualistischen Lebensstil huldige. ger-Deinsweger. Als nervig kann es sich
96 DER SPIEGEL 14 / 2017
JÜRGEN SCHRADER / DER SPIEGEL

RUI CAMILO / LAIF

Miniaturhaus „Tiny100“ in Berlin-Tiergarten,


GEORG MORITZ

Testwohner, Architekt Le-Mentzel


„Die 100 Euro Miete kann man locker mit
Flaschensammeln verdienen“

DER SPIEGEL 14 / 2017 97


Wissenschaft

Bessere
auch entpuppen, dass man in einem Mikro- 56 Quadratmetern lebt, hält es für zu kurz
apartment so gut wie keinen Besitzstand gegriffen, in Quadratmetern zu denken.
anhäufen kann – schließlich beansprucht Wie etliche Berufskollegen glaubt er, dass

Hälfte
jedes Buch, jede Tasche, jedes Paar Schuhe es mehr auf das Umfeld der Wohnung an-
wertvollen Platz. kommt, auf den Grundriss und das Tages-
Besonders heikel finden es Forscher, licht, das in die Zimmer fällt. Er stützt sich
wenn mehr als ein Mensch in eine Mini- dabei auch auf Walter Gropius, Begründer
wohnung einzieht. Es mag zwar sein, dass der Bauhaus-Bewegung. Tiere Menschen sind meist Rechts-
das Leben auf 18 Quadratmetern in der Während eines Kongresses, auf dem es
Ikea-Ausstellung auf den ersten Blick noch um Behausungen für Fabrikarbeiter ging, händer, Kängurus Linkspföter,
irgendwie kuschelig und für junge Paare wetterte Gropius gegen den Flächenfeti- Antilopen führen ihre Jungen
gar begehrenswert aussieht. Im Alltag kön- schismus. „Irrigerweise“ erblickten viele
ne solch beengtes Miteinander aber ganz das Heil für das Wohnungswesen im grö-
rechts – warum? Biologen erkunden
schnell in Trennung, Scheidung und Al- ßeren Raum. Dabei sei Helligkeit wichtiger den Nutzen dieser Asymmetrie.
leinerziehung münden, argumentieren Psy- als Platz, behauptete er – und gab folgende

K
chologen sinngemäß. Losung aus: „Vergrößert die Fenster – ver- arina Karenina liebt Reisen ins Un-
Dak Kopec vom Boston Architectural kleinert die Räume.“ bekannte. Das passt, denn dort, in
College, als Umweltpsychologe ein Exper- Für richtig hält Wohnpsychologe Deins- ferner, gottverlassener Ödnis, leben
te für das Thema „Design und Gesund- berger-Deinsweger den ersten Teil der Gro- die meisten ihrer Forschungsobjekte.
heit“, hält es sogar für schlicht unrealis- pius-Forderung. „Je enger der Wohnraum, Für ihre neueste Studie hockten Ka-
tisch, dass Paare eine glückliche Beziehung desto wichtiger wird der Bezug zur Außen- renina und ihr Kollege Andrej Giljow, Bio-
führen können, wenn sie auf der Fläche welt“, sagt er. Ein Panoramafenster, das logen von der Staatlichen Universität
eines Hotelzimmers leben müssen. den Blick auf Bäume eröffne statt auf Sankt Petersburg, tagelang in der rus-
Mehr noch litten Kinder unter der Enge, eine Brandmauer, mache es einem Men- sischen Steppe. Sie trugen Tarnanzüge
sagen Wissenschaftler von der amerikani- schen leichter, fehlende Fläche zu ertragen. und hofften, eine Herde von Saigaanti-
schen Cornell University im Bundesstaat „Ein attraktiver Innenhof kann bewirken, lopen möge vorbeiziehen. Auf der sibi-
dass auch ein kleiner Raum eine hohe Auf- rischen Taimyrhalbinsel suchten sie mehr
Kinder, die in engen enthaltsqualität erreicht“, sagt der For- als zwei Wochen lang, zunächst erfolglos,
scher. So deuten Studien darauf hin, dass nach den Weideplätzen der Moschus-
Wohnungen leben, Menschen im Krankenhaus schneller ge- ochsen. Und in der Mongolei saßen sie auf
neigen zu Angst und sund werden, wenn sie ins Grüne schauen einem Felsen und warteten auf Wildschafe.
können. „Manchmal“, sagt Karenina, „war es frus-
Aggressionen. Wenn das stimmt, könnte das Konzept trierend.“
der Berliner Firma Cabin Spacey die Seele Vier Jahre dauerten ihre Feldstudien mit
New York. Sie beobachteten Mütter, die in streicheln, wenigstens ein bisschen: Sie will insgesamt elf Tierarten, darunter auch Wal-
einer kleinen Wohnung lebten, und stellten Mikroapartments mit großen Panorama- ross, Weißwal und Rentier. Für eine andere
fest, dass diese öfter stritten und zu wenig fenstern auf die Dächer von Berliner Ge- Untersuchung reisten die Wissenschaftler
Empathie für ihren Nachwuchs zeigten. bäuden pflanzen. Der Bewohner müsste nach Australien. In New South Wales und
Wie sie herausfanden, entwickeln sich sich zwar mit 20 Quadratmetern zufrieden- auf Tasmanien pirschten sie sich mit Fern-
Mädchen und Jungen, die unter solchen geben, Küche und Bad inbegriffen, hätte glas und Kamera an Kängurus heran.
Verhältnissen aufwachsen, daher kognitiv aber einen besseren Ausblick als die meis- Karenina und Giljow gehören zu einer
und sozial schlechter als Altersgenossen, ten Hauptstädter. wachsenden Schar von Forschern, die ein
die nicht so eingeschränkt leben. Sie sind Laut Wohnforschern hilft es auch, wenn altes Dogma über den Haufen wirft: Die
aggressiver, ängstlicher und bringen jeder Mitbewohner Zugang zu einer Ge- Dominanz einer Körperseite für bestimm-
schlechtere schulische Leistungen. Daher meinschaftsfläche hat – ähnlich wie in ei- te Tätigkeiten und Aufgaben, glaubte man
sei es gut, dass es in Deutschland ver- ner WG, wo die Küche oft das kommuni- lange, sei eine hochkomplexe neurologi-
gleichsweise großzügige Wohnraumrege- kative Zentrum ist. In Le-Mentzels geplan- sche Besonderheit, die vor allem Men-
lungen gebe, sagt Wohnforscherin Flade. tem Haus grenzen die Apartments daher schen und Menschenaffen vorbehalten sei.
Für vierköpfige Familien, die im Hartz- an einen „Co-being-space“, auf dem Er- Doch nun tragen Wissenschaftler immer
IV-System leben, gilt eine Wohnungsgröße wachsene miteinander klönen und Kinder mehr verblüffende Belege dafür zusam-
von etwa 85 Quadratmetern als angemes- spielen können. men, dass viele Tierarten – vom Faden-
sen – und eine Wohnung als überbelegt, Le-Mentzel möchte jetzt noch schnell wurm bis zum Haushund – für bestimmte
wenn sich Bruder und Schwester, die älter etwas zeigen. Er macht vier Schritte in den Leistungen eine Lieblingsseite haben.
als zwölf sind, ein Zimmer teilen müssen hinteren Teil seiner Hütte und öffnet eine Die Forscher wollen wissen: Wie ent-
oder die Eltern keinen eigenen Raum ha- Tür, die sich unauffällig in die Rückwand stand im Lauf der Evolution die beim Men-
ben. Das alles seien Standards, an denen fügt. Dahinter befindet sich ein Kämmer- schen ausgeprägte Bevorzugung einer
nicht gerüttelt werden dürfe, sagt Flade. lein, es eignet sich als Stauraum, aber eine Seite? „Wenn wir diese Prozesse bei un-
Die Wissenschaftlerin empfiehlt zudem, Isomatte ließe sich dort zur Not auch aus- terschiedlichen Gruppen von Tieren ver-
Kitas großzügiger zu planen – besonders rollen. „Es wäre also möglich, gelegentlich stehen“, sagt Jegor Malaschitschew, Kare-
in jenen Vierteln, in denen viele Familien einen Untermieter aufzunehmen“, sagt Le- ninas Chef an der Sankt Petersburger Uni,
in vergleichsweise kleinen Wohnungen Mentzel. Welch Platzwunder. „können wir auch herausfinden, wie es
hausten. Die negativen Effekte des Auf- Guido Kleinhubbert beim Menschen zu dieser Asymmetrie
einanderhockens daheim könnten durch kam – und warum sie von Vorteil ist.“
die Verhältnisse in anderen Sphären ver- 360°-Fotos: Tour durch das Offensichtlichstes Beispiel für solche Sei-
ringert werden. „Tiny100“ tenbevorzugungen ist die Rechts- und
Architekt Le-Mentzel, der mit Frau und spiegel.de/sp142017haus Linkshändigkeit des Homo sapiens. Neun
zwei Kindern aus tiefer Überzeugung auf oder in der App DER SPIEGEL von zehn Menschen auf der ganzen Welt
98 DER SPIEGEL 14 / 2017
BRENNA HERNANDEZ / AP
VIDIPHOTO / PICTURE ALLIANCE / DPA

I.SHPILENOK / WILDLIFE
Linkshändige Schimpansen, Weißwal, Saigaantilope mit Nachwuchs: Den Nimbus der Einzigartigkeit entrissen

nutzen vorwiegend die rechte Hand zum und -wahrnehmung. Auch der Säugling be- lich ist, wenn zwei Aufgaben gleichzeitig
Schreiben, Malen und für andere komple- trachtet seine Mama hauptsächlich mit erfüllt werden müssen. Hühner, hat Rogers
xe Tätigkeiten. links – das rechte Auge ist zu nah am Kör- nachgewiesen, können etwa mit dem rech-
Die Händigkeit sei gleichsam als Neben- per der Mutter. ten Auge den Boden nach Futter und mit
produkt der Sprachentwicklung entstan- Erstaunlich viele andere Säugetiere hal- dem linken den Himmel nach Greifvögeln
den, glauben viele Forscher. Fürs Sprechen ten das ähnlich, wie Karenina und Kollegen absuchen.
sowie das Verstehen von Sprache haben gezeigt haben. Beim Walross, aber auch Hunde, das hat wiederum der italieni-
sich bestimmte Bereiche der linken Hirn- bei Saigaantilope und Schwertwal sind die sche Kognitionsforscher Giorgio Vallorti-
hälfte zu solch feiner Perfektion herausbil- Jungtiere auf Schutz und Führung ihrer gara untersucht, erschnüffeln unbekannte
den müssen, dass auch die von ihr gesteu- Mütter angewiesen; und offenbar profitie- Gerüche vorzugsweise mit dem rechten
erte rechte Hand wichtiger geworden sei. ren sie davon am besten, wenn sie sich auf Nasenloch. Handelt es sich um einen Wohl-
Rotnackenwallabys und Östliche Graue deren rechter Seite aufhalten. Wie Men- geruch (Fleisch! Hündinnen!), schalten sie
Riesenkängurus können nicht sprechen, schenbabys haben sie ihre Mama so mit um aufs linke Loch. Unangenehmes wie –
zeigen aber eine ähnlich durchgängige dem linken Auge im Blick. Ein Überlebens- in Vallortigaras Experiment – Tierarzt-
Händigkeit wie Menschen. Die Beuteltiere vorteil: Den Forschern fiel auf, dass jene schweiß oder Adrenalin bleibt dem rechten
sind allerdings mehrheitlich Linkspföter, Jungtiere, die sich meist an diese Regel hiel- Riechloch vorbehalten. Fiese Dünste ver-
wie Karenina und Giljow im Fachblatt ten, im Schnitt seltener von ihren Müttern setzen Hunde in Alarmbereitschaft – und
„Current Biology“ berichten. Die große getrennt waren als Artgenossen, die keine aktivieren die hauptsächlich von der rech-
Mehrheit der beobachteten Tiere benutzt eindeutige Lieblingsseite hatten. ten Hirnhälfte gesteuerte Stressreaktion
die linke Vorderpfote, um sich Nahrung Entenküken können ihre Mütter unter (anders als die Sehnerven verläuft die Ge-
ins Maul zu schieben. Auch bei Menschen- gewissen Voraussetzungen überhaupt nur ruchsverarbeitung im Gehirn nicht über
affen und anderen Tieren konnten mittler- mit einem Auge erkennen. Wissenschaftler Kreuz).
weise Vorlieben für Gliedmaßen auf einer um Antone Martinho von der University Für Vallortigara hält die Lateralitätsfor-
Körperseite nachgewiesen werden, selten of Oxford verdeckten frisch geschlüpften schung am Tier noch viele Erkenntnisse
jedoch so eindeutig für eine bestimmte Sei- Enten ein Auge und präsentierten ihnen bereit, die auch für Menschen von Bedeu-
te wie bei den Kängurus. ein künstliches Muttertier. Der Nachwuchs tung sein könnten. „Hirn-Asymmetrien
Auch einer anderen als typisch mensch- lief ihm munter hinterher, bis die Forscher werden mit vielen Krankheiten von Schi-
lich betrachteten Verhaltensweise entrissen ihnen die Augenklappe auf die andere Sei- zophrenie bis Autismus in Verbindung ge-
die russischen Forscher jetzt den Nimbus te setzen. Mit dem Auge, das die „Mutter“ bracht“, sagt der Wissenschaftler. Ihn in-
der Einzigartigkeit: Die meisten Menschen- nie gesehen hatte, konnten sie sie auch teressieren vor allem die genetischen
mütter halten ihre Säuglinge im linken nicht erkennen – dem Entenhirn fehlt die Grundlagen von Seitenvorlieben: „Darü-
Arm – und zwar nicht, damit sie mit rechts im Denkorgan von Höheren Säugern Bal- ber wissen wir noch sehr wenig.“
die Spülmaschine ausräumen können. Viel- ken genannte Schnittstelle, die schnellen Julia Koch
mehr laufen so Signale vom Baby vorwie- Informationsaustausch zwischen den bei- Mail: julia.koch@spiegel.de
gend über das linke Auge ein und gelangen den Hirnhälften ermöglicht.
via teilweise über Kreuz verlaufende Ner- Lesley Rogers, Neurowissenschaftlerin Video: Woran erkennt
venfasern auch zur rechten Hirnhälfte der an der australischen University of New man Linkspföter?
Mutter. Dort wiederum verorten Hirnfor- England und Pionierin der Lateralitätsfor- spiegel.de/sp142017tiere
scher den Sitz von Emotionsverarbeitung schung, glaubt, dass die Beidseitigkeit nütz- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 14 / 2017 99


Wissenschaft

Die Wetterklempner
Klimawandel Geoingenieure wollen die globale Erwärmung bremsen: mit mutwilligen
Eingriffen in die Stratosphäre. Bis vor Kurzem galten sie als Spinner.

D
er Prozess des Umdenkens begann
für Kerry Emanuel während einer
Diskussion mit dem Dalai-Lama.
Seine Heiligkeit war zu einem Meinungs-
austausch ans Massachusetts Institute of
Technology (MIT) in Cambridge bei Bos-
ton geladen, wo Emanuel als Klimafor-
scher arbeitet. Es ging um die Verantwor-
tung, die der Mensch für seinen Heimat-
planeten trägt.
Darüber, dass Industrie und Verkehr der
Erde einheizen, herrschte Einigkeit. Strittig
aber war, ob der Mensch dieser globalen
Erwärmung aktiv entgegenwirken dürfe. Rettender Dunst? Der Klimaforscher David Keith
möchte mit schnellwirkenden Maß-
Mit anderen Worten: Darf er, um den Scha-
den, den er anrichtet, zu lindern, die Atmo-
Wie der Klimawandel durch nahmen auf die Erdatmospäre ein-
sphäre künstlich kühlen? Versprühen von Aerosolen wirken. Kalkhaltige Aerosole sollen
Zu Emanuels Überraschung gab es da- gebremst werden könnte in der Stratosphäre freigesetzt
werden. Dort reflektieren sie, in
ran für den Geistlichen aus Tibet keinen großer Höhe schwebend, einen Teil
Zweifel: Wenn es wirklich möglich sei, die der Sonneneinstrahlung. Es käme
vom Menschen aufgewärmten Luftschich- ein Kühleffekt zustande wie nach
ten wieder abzukühlen, dann solle man Vulkanausbrüchen.
am besten gleich damit beginnen.
Erst glaubten Emanuel und die anderen
Forscher, der Dalai-Lama habe sie nicht
recht verstanden: Das Klimasystem sei
höchst komplex, versicherten sie ihm, ein
solcher Eingriff berge enorme Risiken. Der
Tibeter jedoch beharrte: Das Geoenginee-
ring, wie die mutwillige Manipulation des Der vom Menschen verursachte Beim geplanten Testflug im
Klimas heißt, sei nicht nur zulässig; er halte CO2-Ausstoß gilt als Hauptursache der Stratosphärenballon versprühte
es sogar für ethisch geboten. Erderwärmung, denn Kohlendioxid sowie Aerosolmenge:
andere Spurengase blockieren die Wärme-
Emanuel war verblüfft: Welch eine An-
maßung liegt darin, das Klima der Erde
abstrahlung der Erde. Maßnahmen gegen ca. 1 Kilogramm
den Klimawandel zielen daher meist auf
nach Gutdünken des Menschen gestalten Emissionsverminderung oder darauf, Wälder Geschätzte
zu wollen. Und doch hielt dieser Mönch,
den Gläubige „Ozean der Weisheit“ nen-
aufzuforsten und Moore zu renaturieren.
Als sogenannte Kohlenstoffsenken binden
17000 000000 kg
(17 Millionen Tonnen) Schwefeldioxid
nen, es offenbar für des Menschen Pflicht, diese CO2 aus der Atmosphäre. wurden 1991 durch den Ausbruch
gleichsam Gott zu spielen. Nachteil: Der erhoffte Effekt kann sich des Vulkans Pinatubo in die Strato-
MIT-Forscher Emanuel ist Experte für allenfalls nach Jahrzehnten einstellen. sphäre geschleudert. In der Folge
Hurrikane. Zur kleinen Schar jener, die sank die globale Temperatur vorüber-
sich selbst Geoingenieure nennen, zählt gehend um 0,4°C.
er nicht. Aber seit jener Begegnung mit
dem Dalai-Lama ließ ihn die Frage nicht
mehr los, ob der Tibeter mit seiner Hal-
tung vielleicht recht haben könnte. Das
bewog Emanuel in der vorigen Woche, sich
zu einer Runde von gut hundert Wissen- CO2
schaftlern zu gesellen, die in der US-Haupt-
stadt Washington zusammengekommen
waren, um sich über die Möglichkeiten des
Geoengineerings auszutauschen – wenige
Tage bevor US-Präsident Donald Trump
per Dekret den amerikanischen Klima-
schutz drastisch zurückschraubte.
So weit wie der Dalai-Lama ging zwar
keiner der angereisten Gelehrten. Zu we-
nig haben sie bisher von der weltumspan-
nenden Klimamaschine verstanden, als
100 DER SPIEGEL 14 / 2017
SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 2. 4., 22.20 – 23.00 UHR | RTL
dass sie dem Wettergott zum gegenwärti- mutwillige Intervention ins Klimagesche-
gen Zeitpunkt ins Handwerk würden pfu- hen durchaus Teil des Portfolios von Maß- Schattenwirtschaft – Bei SPIEGEL TV
schen wollen. Doch war beim Treffen in nahmen sein, mit denen wir dem Klima- melden sich immer mehr Flücht-
Washington unverkennbar, dass sich das wandel begegnen“, heißt es in ihrem Be- linge, die bei der Wohnungssuche
Stimmungsbild in der Forschergemeinde richt. Alle Möglichkeiten auszuloten sei abgezockt werden. Illegale Makler
gewandelt hat. Was einst als Schnapsidee umso dringlicher, als „sich andere Länder kassieren bis zu 7000 Euro steuer-
belächelt wurde, ist zur ernsthaft disku- oder private Unternehmen unabhängig frei; Willkommen im Mittelalter –
tierten Option der Klimapolitik geworden. von der US-Regierung dafür entscheiden Prügelnde Ehemänner haben in
Nach wie vor überwiegen zwar die Kri- könnten, Interventionsexperimente durch- Russland nur mit einer Geldstrafe
tiker des Geoengineerings. Doch müssen zuführen“. zu rechnen; Abstieg Ost – Report aus
sie sich nun einer Reihe von verblüffenden Die Berater des US-Präsidenten werfen Halle, wo die Kinder „Klitschko“
Fakten stellen, über die in der Wissen- damit Fragen auf, die viele Geoingenieure heißen und Familien seit Jahren von
schaft inzwischen weitgehend Einigkeit als besonders drängend empfinden: Wer Hartz IV leben; Raubbau – Wie die
herrscht: eigentlich darf entscheiden, ob Eingriffe Holzindustrie bestehende Gesetze
‣ Kühlende Eingriffe ins Klima sind tech- ins Klima zulässig oder notwendig sind? umgeht und den Markt mit illegal
nisch möglich. Denkbar ist zum Beispiel, Was, wenn einzelne Länder auf eigene geschlagenem Holz überschwemmt.
feinen Dunst sogenannter Aerosole in Rechnung versuchen, am Thermostat des
der oberen Atmosphäre zu versprühen Planeten zu schrauben? Und wer kommt
und so die Strahlkraft der Sonne zu dafür auf, wenn eine Aerosol-Injektion zu SPIEGEL TV WISSEN
schwächen. Dass diese Methode funk- Klimakapriolen führt, die keine Simulation MONTAG, 3. 4., 21.15 – 22.00 UHR | PAY-TV
tioniert, beweist das Studium von Vul- vorhergesehen hat? BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN
kanausbrüchen. Der philippinische Pi- Geoengineering kann zu internationa-
natubo etwa injizierte bei seiner Erup- len Konflikten führen, und wie diese zu Operation Hoffnung
tion im Jahr 1991 rund 17 Millionen lösen sind, soll ein unabhängiges Gremium Jeden Tag pilgern rund tausend
Tonnen Schwefeldioxid in die Strato- Patienten zu João de Deus nach Bra-
sphäre. Die Folge: Auf der Erde wurde
es um 0,4 Grad kühler.
„Wir müssen davon silien, darunter auch viele Deutsche.
Für viele ist der umstrittene Geist-
‣ Solche Eingriffe wirken schnell, und sie ausgehen, dass wir über heiler die letzte Hoffnung.
sind vergleichsweise billig. Während sich
die Aufheizung der Atmosphäre durch
zwei Grad Temperatur-
Treibhausgase schleichend über viele anstieg hinausschießen.“ SPIEGEL GESCHICHTE
Jahrzehnte hinzieht, kühlen Aerosole MONTAG, 3. 4., 21.45 – 22.35 UHR | SKY
binnen Monaten. Die Kosten, um einen ausloten, das im Februar in New York ge-
merklichen Kühleffekt zu erzielen, lägen gründet wurde. Ziel dieser Initiative des Schüsse auf dem Petersplatz –
Schätzungen zufolge bei nicht mehr als Carnegie-Ethikrates soll es sein, gemein- Wer wollte den Papst ermorden?
einigen Milliarden Dollar pro Jahr. Ge- sam mit Umweltschützern und Politikern Im Mai 1981 wurde auf dem Peters-
messen an den Folgekosten des Klima- die juristische Grundlage für eine neuarti- platz in Rom ein Attentat auf Papst
wandels ist das schwindelerregend wenig. ge Form internationaler Vereinbarungen Johannes Paul II. verübt, das dieser
‣ Aerosol-Injektionen haben Simulationen zum Management des Planeten Erde zu nur knapp überlebte. Die Dokumen-
zufolge erstaunlich wenig negative Ne- erarbeiten. tation geht den Spuren und Hinter-
benwirkungen. Zwar lassen sich mit ih- Die Geoingenieure beflügelt es, dass Ja- gründen des Falls nach.
rer Hilfe nicht alle Folgen des Klima- nos Pasztor, der Leiter dieses Ethikrates,
wandels rückgängig machen. Die Ver- zu ihnen gestoßen ist. „Es ist, als hätte ein
sauerung der Ozeane etwa würde durch Erwachsener den Raum betreten“, meint SPIEGEL TV REPORTAGE
eine Spritzkur in der Stratosphäre kaum David Keith von der Harvard-Universität, DIENSTAG, 4. 4., 23.00 – 24.00 UHR | SAT.1
gelindert; auch würde durch sie der einer der Wortführer. In der Tat bringt
Wasserkreislauf des Planeten beein- Pasztor viel diplomatische Erfahrung mit: Rasend schnell und sündhaft
trächtigt. Unter dem Strich jedoch wäre Unter Generalsekretär Ban Ki-moon war teuer – Das bizarre Geschäft mit
die Wirkung vermutlich vorteilhaft: er Klimasekretär der Vereinten Nationen. den Luxusautos
„Mir ist kein Szenario bekannt, bei dem Das Ringen um internationale Verträge hat Wie verkauft man ein Auto, das
die Welt mit Geoengineering am Ende ihn gelehrt, dass die Drosselung der Treib- mehr kostet als ein Einfamilien-
schlechter dastünde als eine Welt ohne hausgasemissionen kaum ausreichen wird, haus? SPIEGEL-TV-Autor Ralph
einen solchen Eingriff“, resümiert um den globalen Temperaturanstieg auf Quinke über Traumschlitten, Rolls-
Klimaforscher Daniel Schrag von der zwei Grad zu begrenzen. „Wir müssen da- Royce-Verkäufer und ihre Kunden.
Harvard-Universität. von ausgehen, dass wir über diesen Schwel-
Angesichts solcher Fakten mehren sich lenwert hinausschießen können“, sagte er
die Stimmen, die eine sorgfältige Prüfung auf dem Treffen in Washington. Es sei des- ARTE Re:
des Geoengineerings fordern. 2013 tauchte halb fahrlässig, auf die Option des Geo- MITTWOCH, 5. 4., 19.45 – 20.15 UHR | ARTE
der Begriff erstmals in den Empfehlungen engineerings zu verzichten.
auf, die der Weltklimarat IPCC Politikern Stratosphärenforscher Keith und seine Heilung unbezahlbar –
mit auf den Weg gibt. Zwei Jahre später Harvard-Kollegen starten unterdessen Griechenlands krankes
plädierte auch die amerikanische Akade- das bisher umfänglichste Forschungspro- Gesundheitssystem
mie der Wissenschaften für mehr For- gramm, das ausdrücklich dem Studium be- Ein Lichtblick in der Krise des
schung auf diesem Feld. wusster Klimamanipulationen gewidmet griechischen Gesundheitssystems ist
Zu einem ähnlichen Schluss kamen An- ist. Mit einem Budget von zunächst 7,5 Mil- die Sozialklinik Ellinikó in Athen –
fang dieses Jahres Experten, die das Weiße lionen Dollar wollen sie die Partikelchemie für viele verzweifelte Patienten die
Haus beraten. „Eines Tages könnte die der Stratosphäre erkunden, Risiken von letzte Anlaufstelle.
DER SPIEGEL 14 / 2017 101
Wissenschaft

Aerosol-Injektionen abschätzen, den Ef-


fekt vergangener Vulkanausbrüche unter-
suchen, aber auch die Ängste der Men-
schen vor staatlichen Eingriffen ins Klima
SPIEGEL-Gespräche live ergründen.
Schon im Jahr 2018 hofft Keith erstmals
experimentell Aerosole in der Stratosphäre
im Thalia Theater – versprühen zu können. Er hat dafür die
Firma WorldView in Arizona gewonnen,
die sich auf Stratosphärenballons spezia-
Planet Deutschland lisiert hat. An einem solchen Ballon will
der Forscher einen Propeller aufhängen,
mit dem er eine 100 Meter breite und einen
Kilometer lange Fahne feiner Aerosol-Par-

Melanie Grande
René Fietzek

Markus Hintzen

Christian O. Bruch
tikel erzeugen kann. In dieser Schwade
hofft Keith dann studieren zu können, wel-
che Art von Teilchen sich bilden und wel-
che chemischen Reaktionen sich auf ihrer
Oberfläche abspielen.
Auch welche Aerosole am besten fürs
Geoengineering geeignet sind, möchte er
herausfinden. Schwefelverbindungen, wie
sie die Vulkane spucken, scheinen Keith
zu heikel, denn sie könnten der Ozon-
schicht schaden. Sein Favorit ist derzeit
Kalk. Dieser neutralisiere ozonschädigen-
Autoren nichtdeutscher Herkunft über Populismus, de Säuren und könne so die Genesung der
Schutzschicht in der Stratosphäre sogar be-
Heimat und die Schönheit der Sprache: fördern.
Nur eines trübte auf dem Forum in Wa-
Sie kamen als Kinder in die Bundesrepublik, eroberten shington die Stimmung. Ursprünglich hat-
sich eine neue Heimat und eine neue Sprache, in der sie ten sich die Forscher treffen wollen, um
ihr Anliegen in Regierungskreisen zu ver-
heute Geschichten schreiben. Was erzählt uns ihre Literatur ankern. Offensiv wollten sie dafür werben,
über Deutschland? Kann ihre Perspektive auf die Bundes- staatliche Gelder für die Erforschung des
Geoengineerings abzuzweigen. Doch als
republik helfen, dieses Land besser zu verstehen, das nur sie diesen Plan schmiedeten, residierte mit
auf dem Papier kein Einwanderungsland ist? Barack Obama noch ein Freund des Kli-
maschutzes im Weißen Haus.
Diese und weitere Fragen wird der Literaturkritiker des Ratlos fragen sich die Geoingenieure
nun, wie sie sich zum neuen US-Präsi-
SPIEGEL, Volker Weidermann, mit den Schriftstellern denten stellen sollen. Trumps jüngstes De-
Olga Grjasnowa, Nino Haratischwili und Feridun Zaimoglu kret, das die Kohleindustrie stärken soll,
lässt keinen Zweifel daran, dass er sich
diskutieren. von den Reduktionszielen seines Vorgän-
gers verabschiedet hat. Ohne die Maß-
nahmen von Obamas „Clean Power Plan“
werden die USA die Versprechen des Pa-
Sonntag, 23. April 2017, 20 Uhr riser Klimaabkommens kaum einhalten
können.
Thalia Theater, Alstertor, 20095 Hamburg „Falls die gegenwärtige Regierung ein
Programm zum Geoengineering auflegen
sollte, werden wir uns dagegenstellen“,
Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter www.thalia-theater.de. verkündete deshalb Peter Frumhoff vom
Eintritt: 9 bis 18 Euro. Einlass ab 19.30 Uhr. Änderungen vorbehalten. Verband besorgter Wissenschaftler (Union
Die Veranstaltung wird per Live-Stream auf www.spiegel.de übertragen. of Concerned Scientists). Auf keinen Fall
dürfe das Geoengineering die Anstrengun-
gen ersetzen, Treibhausgasemissionen zu
senken.
Harvard-Forscher Keith stimmt dem zu.
Auf Regierungsgelder zu verzichten fällt
ihm allerdings leicht, denn das Forschungs-
programm seiner Uni speist sich aus priva-
ten Quellen. „Unter den gegebenen Um-
ständen bin ich darüber ganz froh“, sagt er.
Johann Grolle
Mail: johann.grolle@spiegel.de

102 DER SPIEGEL 14 / 2017


SIPA PRESS / ACTION PRESS
Grönlandeis: Es fehlen fast vier Deutschlands

Schlingern der Winde


Meteorologie Das Jahr 2016 war das wärmste je gemessene – und 2017 setzen sich die Extreme fort.

D
ie gute Nachricht zuerst: Nach der, als das Meereis am Südpol über den stärksten Überflutungen seit
den bizarren Hitzewellen von Jahre stetig zugenommen hat. Erst 2015 20 Jahren. Häuser wurden weggerissen,
November, Dezember und hatte es einen Rekordwert erreicht. Straßen unterspült. Dutzende Men-
Februar ist es in der Arktis doch noch Wenn das Meereis schwindet, erhitzt schen sind gestorben, Tausende ob-
richtig kalt geworden. Das Meereis sich die Atmosphäre umso rasanter. dachlos geworden.
wuchs bis Anfang März. Als es seine Helle Eisflächen werfen das Sonnen- Die Peruaner nennen das Ereignis
maximale Ausdehnung erreicht hatte, licht zurück in den Weltraum – dunk- einen „Küsten-El-Niño“ – eine An-
erstreckte sich die Eiswüste über les Wasser hingegen absorbiert die spielung auf jenes natürliche El-Niño-
14,42 Millionen Quadratkilometer – Sonnenenergie und heizt sich auf. „Die Klimaphänomen, das sich alle zwei bis
ein Gebiet, immerhin 40-mal so groß Arktis erwärmt sich doppelt so schnell sieben Jahre einstellt. Dann erwärmt
wie Deutschland. wie der Rest des Planeten“, sagt An- sich der tropische Pazifik vor Peru,
Und nun die schlechte Nachricht: ders Levermann vom Potsdam-Institut was fast weltweit Klimakapriolen zur
Noch nie seit Beginn der Satellitenauf- für Klimafolgenforschung. Folge hat – Niederschläge in Kalifor-
zeichnung vor 38 Jahren war die maxi- Was in der Arktis geschieht, hat di- nien, Dürren in Indonesien.
male Eisbedeckung der Arktis so ge- rekte Auswirkungen auch auf Deutsch- Ist der Küsten-El-Niño also Vorbote
ring. Gegenüber dem Durchschnitt der land. Zum einen verändert sich der eines neuen El-Niño-Ereignisses? „Das
Jahre 1981 bis 2010 fehlte so viel Eis, polare Jetstream, jenes gewaltige Stark- wäre schon sehr ungewöhnlich“, sagt
wie es der Fläche von fast vier windband, das von West nach Ost bläst der Kieler Meteorologe Mojib Latif.
Deutschlands entsprechen würde. und Wettersysteme vom Atlantik nach Der letzte El Niño, einer der stärksten
Kein Zweifel, der vom Menschen Nordeuropa transportiert. „Das Wind- überhaupt, ist gerade erst zu Ende ge-
gemachte Klimawandel ist in vollem band fängt in einer wärmeren Welt gangen; er hat zu den Rekordtempera-
Gange. Das Jahr 2016, so teilte die an zu schlingern, zu mäandern“, sagt turen 2016 beigetragen. Eine Wieder-
Weltorganisation für Meteorologie in Levermann. Das Ergebnis: Extreme kehr würde ins Gesamtbild passen: Mit
Genf mit, war das wärmste seit Beginn Wetterlagen treffen ungewöhnliche fortschreitender Erwärmung, so glau-
der Aufzeichnungen im Jahr 1880. Orte, ein Polarwirbel erreicht Europa, ben viele Forscher, könnten El Niños
Die globale Durchschnittstemperatur eine Hitzewelle zieht über Grönland. an Zahl und Intensität zunehmen.
lag um 1,1 Grad Celsius über dem Wert Ein zweiter Effekt macht die Situation Latif schaut gebannt auf das, was vor
der vorindustriellen Zeit. noch bedrohlicher. Weil sich die weltum- Peru geschieht. Einen regulären El
Zuvor galt 2015 als das heißeste spannenden Windströme durch den Kli- Niño kann er derzeit noch nicht erken-
Jahr – und davor 2014. Und 2017 lässt mawandel verändern, komme es häufi- nen, weil sich der Pazifik in der Tiefe
sich kaum kühler an; der Januar war ger zu „stehen bleibendem Wetter“, wie über weite Strecken eben nicht er-
nach Angaben der Nasa der dritt- Levermann sagt. Wochen- und monate- wärmt. Aber Latif sieht durchaus An-
heißeste überhaupt, der Februar wurde lang bleiben Hochdruck- oder Tiefdruck- zeichen für einen El Niño anderer
zum zweitwärmsten der Geschichte. systeme stabil – und können so lang Machart – einen, der „sich an der Ober-
Zeitgleich mit dem Nordpol hat auch anhaltendes Extremwetter erzeugen: fläche abspielt“ und der „im Osten an-
der Südpol Anfang März einen Eisman- Starkregen, der zu Fluten ausartet; Hit- fängt und dann nach Westen wandert“.
gel-Rekord aufgestellt: Noch nie seit Be- zewellen, die Rekorddürren verursachen. Bisher sei ein solcher Umkehr-
ginn der Messungen 1979 gab es rund Derzeit geschieht etwas Seltsames El-Niño noch nicht beobachtet worden.
um den antarktischen Kontinent so we- vor Peru. Die Wasseroberfläche vor Je wärmer es werde, desto leichter
nig Meereis. Gegenüber den langjähri- der Küste ist seit Ende Januar bis zu entstünde eine solche Variante. Infolge
gen Durchschnittswerten fehlte ihm sechs Grad wärmer als normal. Dies der Erderwärmung, so Latif, könne
eine Eisfläche, zweimal so groß wie führt wegen der stärkeren Verdunstung dies sogar „ein permanenter Zustand
Deutschland. Das ist umso überraschen- zu verheerenden Niederschlägen und werden“. Armes Peru. Marco Evers

DER SPIEGEL 14 / 2017 103


Wissenschaft

Rohes Fleisch
sche Weise zu ermorden; und das dann ge- autorin tatsächlich eine der rätselhaftesten
nauso schnell wieder in der Versenkung Mordserien aller Zeiten aufgeklärt hat –
verschwand. oder ob sie nicht vielmehr im Zuge der
Nach Cornwells Meinung tötete der Rip- obsessiven Beschäftigung mit Sickert in
Forensik Hat die amerikanische per viel mehr Menschen als bisher be- eine Art Wahn abgeglitten ist.
kannt. Er sei mit der Zeit „immer geschick- Schon ihre Grundannahme mutet ver-
Krimiautorin Patricia Cornwell ter geworden in der Ausführung seiner lüs- wegen an: Eine Operation an seinem Ge-
den Serienmörder Jack the ternen und brutalen Raserei“, mutmaßt nital habe Sickert als Kind schwer verstüm-
Ripper final enttarnt – oder sich die Autorin. Neben Frauen seien auch Kin- melt. Geschlagen mit einem „Loch im Pe-
der unter sein Messer geraten. „Vielleicht nis“, wie Cornwell diagnostiziert, sei der
in eine Obsession gesteigert? tötete er 20 Menschen, möglicherweise in München geborene Maler nie zu Sexual-
auch mehr.“ kontakten in der Lage gewesen. Die daraus

P
atricia Cornwell könnte entspannt Doch während in den finsteren Gassen resultierende Frustration habe den jungen
und sorglos leben, die amerikani- Englands einer der blutrünstigsten Serien- Mann in einen manischen Frauenhasser
sche Schriftstellerin ist enorm erfolg- täter der Neuzeit herangewachsen sei, und Mörder verwandelt, psychologisiert
reich, ihre Kriminalromane verkauften habe die Polizei „nach fünf Morden ein- die Schriftstellerin weiter.
sich weltweit rund hundert Millionen Mal. fach aufgehört zu zählen“, meint Corn- Sickert habe weder lieben noch Mitleid
Wenn da nicht dieser Mann wäre. Dieser well. empfinden können, „er muss ein er-
Mann, der sich in Cornwells Leben ge- Daher sei es auch nie gelungen, Walter bärmliches Dasein geführt haben“, folgert
drängt hat. Der ihre Gedanken gefangen Sickert auf die Spur zu kommen, der erst Cornwell. Nur mag ihr bei dieser kühnen
genommen hat, in ihre Gefühlswelt hinein- im Alter von 82 Jahren starb – und noch Annahme kaum ein Experte folgen.
regiert. wer weiß wie lange dem Morden frönte, Der Sickert-Biograf Matthew Sturgis ist
Es geht um einen Maler, Bohemien wie Cornwell glaubt. „Es gibt niemanden regelrecht entsetzt über die vermeintlichen
durch und durch, der vor Witz sprüht und mehr, der ihn zur Rechenschaft ziehen Erkenntnisse der Erfolgsautorin. „Dass kei-
einen teuflischen Charme besitzt. Aber er kann“, verkündet die Autorin. „Außer ner seiner Freunde, Ehefrauen, Kollegen,
sei auch „zutiefst selbstbezogen und nar- mir.“ Geliebten – oder Biografen – je auf die
zisstisch“, sagt Cornwell, und sie gesteht: Nach anderthalb Jahrzehnten intensiver Idee kam, dass er ein mörderischer Wahn-
„Ich habe ihn gehasst.“ Ermittlungen glaubt Cornwell nun, den sinniger gewesen sein könnte, macht über-
Der Mann, der die Schriftstellerin zu Maler endgültig als Ungeheuer entlarvt zu haupt keinen Eindruck auf sie“, konstatiert
solch stürmischer Emotion bewegt, heißt haben*. Sie wendete Millionen ihres Pri- Sturgis. Auch der Umstand, dass Sickert
Walter Sickert und ist seit 75 Jahren tot. vatvermögens auf, konsultierte Forensiker zumindest ein Kind gezeugt und mit zahl-
Für Kunstkenner ist Sickert ein Maler, der und Kunstexperten. Hat Sickert in sei- losen Frauen geschlafen habe, bringe Corn-
den Übergang vom Impressionismus zur nen Gemälden grausame Details der Schlit- well offenbar nicht von ihrer wunderlichen
Moderne verkörpert. Für Cornwell ist Si- zer-Morde verarbeitet? Benutzte der Penisfixierung ab.
ckert: Jack the Ripper. Künstler gar das gleiche Briefpapier wie Bedenklicher noch: Laut Sturgis urlaub-
Aber Cornwell sieht in Sickert mehr als der Ripper? te Sickert mit seiner Familie in der Nor-
jene Version des Rippers, die beinahe jeder Inzwischen stellt sich jedoch mit gleicher mandie, als ein Großteil der Morde began-
kennt: ein Monstrum, das im Sommer 1888 Berechtigung die Frage, ob die Roman- gen wurde. Aber nicht einmal von diesem
aus dem Nichts auftauchte, um im Londo- Alibi lässt sich Cornwell beirren. Das Gan-
ner Stadtteil Whitechapel von August bis * Patricia Cornwell: „Ripper: The Secret Life of Walter ze sei eine fixe Idee, die umso beherrschen-
November fünf Prostituierte auf bestiali- Sickert“. Thomas & Mercer; 570 Seiten; ca. 23,50 Euro. der werde, je weniger Beweise sie finde,
urteilt Sturgis.
Womöglich geht Cornwell in ihrem Feld-
zug dem pinselnden Exzentriker schlicht
auf den Leim. Sickert äußerte etwa gegen-
über seiner Freundin Lady Hamilton, er
habe überhaupt keine Hemmungen, „zu
töten und rohes Fleisch zu essen“. Ein In-
diz für das krankhafte Gemüt des Künst-
lers? Wohl kaum. „Sickert hat es geliebt,
Leute zu überraschen und zu schockieren“,
befindet Sturgis.
Denkbar, dass sich der Maler zu einem
besonders groben Schabernack hinreißen
ließ und einen oder sogar mehrere jener
Hunderten Bekennerbriefe schrieb, die bei
Scotland Yard wegen der Ripper-Morde
eingingen. Es habe sich unter Kriminalis-
BOCCON GIBOD / OPALE / LEEMAGE / LAIF

ten allerdings als Faustregel bewährt, sagt


Sturgis, „dass Bekenner selten morden und
ART ARCHIVE / FOTOFINDER.COM

Mörder sich selten bekennen“.


Sturgis ist indes überzeugt, dass Provo-
kateur Sickert beides sehr genossen hätte:
sowohl die postume Rufschädigung als
auch den daraus folgenden frischen Ruhm.
Frank Thadeusz
Verdächtiger Sickert um 1910, Autorin Cornwell: „Ich habe ihn gehasst“ Mail: frank.thadeusz@spiegel.de

104 DER SPIEGEL 14 / 2017


Jetzt neu im Handel

SPIEGEL CLASSIC –
Das Magazin für die Generation 50+
MARK LENNIHAN / AP
Skulpturen „Charging Bull“, „Fearless Girl“ in Manhattan

Kunst dann wurde die Frist bis April verlängert. Nun darf die Statue
Stierkampf in New York bis März 2018 bleiben. Dass die Vermögensverwaltung in ihrer
Führungsriege nur wenige Frauen hat – geschenkt. Dass der
Es begann als PR-Gag, wurde zu einer New Yorker Touristen- Bulle, dem das Mädchen so angstfrei gegenübertritt, eigentlich
attraktion und führt nun zu einem Streit über Kunst im öffent- keine Furcht auslösen, sondern die Kraft der US-Wirtschaft
lichen Raum: „Fearless Girl“, die Bronzestatue eines Mädchens, symbolisieren soll – egal. Dass ein mutiges Mädchen überall
aufgestellt im New Yorker Finanzdistrikt am 8. März, dem Beifall bekommt, starke Frauen aber nicht unbedingt – was
Internationalen Frauentag. Entschlossen stemmt „Fearless Girl“ soll’s? Touristen lieben das kleine Mädchen. Fast rund um die
die Hände in die Hüften und blickt auf „Charging Bull“, die Uhr fotografieren sich Menschen neben der Statue, in der
tonnenschwere Skulptur eines aggressiven Stiers. Eine New gleichen mutigen Pose. Sauer ist nur der Schöpfer der im Jahr
Yorker Vermögensverwaltung hatte „Fearless Girl“ in Auftrag 1989 aufgestellten Stierskulptur, Arturo Di Modica. Er habe
gegeben, um damit für mehr Frauen in Führungspositionen zu die US-Wirtschaft feiern wollen, klagt der Künstler, und nun
werben. Eine Woche lang sollte das Mädchen gezeigt werden, werde sein Werk umgewertet, „von einem Reklame-Gag“. ans

Serien ren, er will einen Regenten nende und realistisch wirken- den Dialogen immer wieder
Hass ist politisch stürzen, einen Parteifreund, de Serie, die Politiker als auf: der Spielverderber, der
von dem er sich verraten intelligente Intriganten zeigt. auf EU-Ebene Frankreichs
Halbglatze, akkurat gestutz- fühlt – den französischen „Mit Hass kommt man in der Schuldenmacherei verhindern
ter Bart, gewinnendes Lächeln: Präsidenten. „Baron Noir“ Politik weiter als mit Diplo- will. FranÇois Hollande, der
Der französische Schauspieler ist Frankreichs Antwort auf matie“, sagt Rickwaert. Auch echte Präsident, soll empört
Kad Merad, bekannt aus „House of Cards“, eine span- die Bundesregierung taucht in gewesen sein, als „Baron
der Komödie „Willkommen Noir“ 2016 im französischen
bei den Sch’tis“, hat eine ge- Fernsehen Premiere hatte.
wisse Ähnlichkeit mit Martin Vielleicht war Hollande aber
Schulz, dem Heilsbringer der auch nur beleidigt, dass
SPD. Zufall oder nicht: In der der fiktive Präsident, verkör-
Fernsehserie Baron Noir spielt pert von Niels Arestrup,
SONY PICTURES TELEVISION

Merad jetzt einen Politiker, erheblich charismatischer


nämlich Philippe Rickwaert, wirkt als er. In Deutschland
den (fiktiven) Wahlkampf- läuft „Baron Noir“ ab 6. April
manager von Frankreichs So- beim Sony Channel – die
zialistischer Partei. Ein Job, ideale Einstimmung auf die
in dem Skrupel nur stören. Wahlkämpfe in Frankreich
Rickwaert möchte nicht regie- Arestrup, Merad in „Baron Noir“ und Deutschland. mwo

106 DER SPIEGEL 14 / 2017


Kultur
Pop Things“ oder „You Go to Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
Diese albernen My Head“, verteilt auf drei
Dinge CDs, die er „’Til the Sun
Goes Down“, „Devil Dolls“
Vergoldetes Werben
Der Musiker Bob Dylan, 75, und „Comin’ Home Late“ Das Schöne an unseren Zeiten ist, dass
hat schon immer gemacht, genannt hat. Ein wenig erin- sich alles zu Geld machen lässt. Nicht
worauf er gerade Lust hatte. nert das an die Radiosen- nur die Arbeitskraft, das eigene blon-
Von der Elektrifizierung dung, die er vor einigen Jah- dierte Leben, das Geständnis eines
seiner Gitarre bis zu seiner ren machte, als er nach The- Verbrechens (wenn man die passen-
Entscheidung, den Literatur- men geordnet in 100 Ausga- de Zeitung findet), ein nerdiger Mu-
nobelpreis mit vier Monaten ben seine Lieblingslieder sik- oder Mantelgeschmack. Sondern
Verspätung abzuholen. Die- spielte. In der Radioshow war auch ein Dokument, das wie der Ver-
ses Wochenende wird er für er der alte Mann, der den trag über den Verkauf einer Jacht im
zwei Konzerte in Stockholm Klängen seiner Jugend nach- Steuerfreigebiet eigentlich nur zwei Parteien gilt, zudem
sein und sich zwischendurch spürte. Jetzt ist Dylan der einer Stimmung geschuldet ist oder einem Augenblick,
mit Vertretern der Akademie alte Künstler geworden, dem einer wilden oder sanften Hoffnung, dem Sonnenauf-
treffen. Vielleicht muss diese nichts mehr einfällt. rap oder -untergang der Seele: der Liebesbrief.
Eigenwilligkeit als Erklärung Am meisten Geld bringt er, wie eine Auktion in den
reichen, warum er mit sei- USA unlängst wieder zeigte, bei Personen, die nicht für
nem neuen Dreifachalbum ihre Sprachmächtigkeit bekannt sind. Kafka zum Beispiel
Triplicate weiter an seiner Ver- hat schöne Liebesbriefe geschrieben, aber eben auch sehr,
sion des Great American sehr viele, denn die Beschwörung der Liebe war ihm,
Songbooks arbeitet, obwohl wie Hedwig, Felice und vielleicht auch Milena erfuhren,
er sich damit eigentlich schon näher als deren rüde Verwirklichung. Wenn der Liebes-
mit seiner letzten Platte „Fal- brief der Prokrastination gilt, ist er vermutlich der betö-
len Angels“ in eine künstle- rendste, beredteste, glänzendste und turnierhafteste. Am
rische Sackgasse begeben hat- innigsten Literatur und am wenigsten Western, der Colt
te. Aber nun? Noch einmal wird nicht einmal andeutungsweise gezogen, stattdessen
30 Lieder? Wieder sind sie Beschreibung des Futterals und seines Gewichts. Doch
mit brüchiger Stimme hinge- wer solche Worte zu machen versteht, ist, geldwertig aus-
WILLIAM CLAXTON / SONY MUSIC

brummelt. Wieder mit per- gedrückt, eben weniger populär als der Mann aus kleinen
fekter Steelgitarrenbegleitung Verhältnissen, womöglich unzureichend alphabetisiert,
eingespielt, die so sanft der überhaupt nur schreibt, weil der Brief die größte
schmeichelt wie die Musik im Aussicht verspricht, zum leiblichen Ziel zu kommen.
Fahrstuhl eines Spielkasinos. Wenn der Autor der dringenden Gelegenheit dann noch
Dylan singt Klassiker wie andere Dinge im Kopf hat, einen Russlandfeldzug zum
„Stormy Weather“, „As Time Beispiel, ist jedes seiner Worte mit Gold kaum aufzu-
Goes By“, „These Foolish Dylan wiegen. Man mag sich nicht vorstellen, was ein handge-
schriebener Zettel von Potus für seine Ivana, wenn es
denn so etwas gibt, heute schon einbringen würde. So ist
nur plausibel, dass ein Brief Napoleons an seine Noch-
Literatur mer wieder leicht verrutsch- nicht-Ehefrau Josephine trotz eher dürftiger Versprechen
Der ferne Vater ten Bildern beschrieben, die („Ich sende Dir drei Küsse – einen auf Dein Herz, einen
Redakteure, der Wahnsinn, auf Deinen Mund und einen auf Deine Augen“) vor erst
Der Autor Manuel Karasek, der Ehrgeiz, die Geltungs- zehn Jahren mit 467 958 Dollar deutlich höher bewertet
49, ist der Sohn des lang- sucht, das Genie. Doch Ma- wurde als vergangene Woche ein Briefbündel Jacqueline
jährigen SPIEGEL-Kulturchefs nuel Karasek hat kein Ab- Kennedys an den Diplomaten David Ormsby-Gore, Min-
Hellmuth Karasek (1934 rechnungsbuch geschrieben. destpreis 125 000 Dollar. Auch nicht verwunderlich ist,
bis 2015) und dessen erster Aber ein Buch leiser Trauer, dass männliche schriftliche Bekundungen insgesamt
Ehefrau Marvela Verwunderung höhere Preise erzielen. Frauen werden ja immer schlech-
Ines Mejia-Perez, die und Empathie für ter bezahlt. Im Genre des Liebesbriefes sind sie außer-
aus Venezuela einen fernen Vater, dem usuell: Wer hätte darin größere Übung? Noch nicht
stammt. Sein erster in dem sich dieser so lange dürfen sie Reiseführer, Doktorarbeiten oder
Roman, der jetzt Sohn, trotz all der Regierungserklärungen schreiben oder gar – wie Theresa
erschienen ist, heißt Distanzierungen, May gerade, stilvoll mit schimmernd pinkfarbenen
„Mirabels Entschei- immer auch etwas Nägeln vor Kamin und Flagge, den Antrag auf Brexit –
dung“. Das hierin be- wiedererkennt. Und unterschreiben; in vielen Jahrhunderten zuvor blieben
schriebene Paar trägt dass seine Eltern als stilistische Übungen eigentlich nur das Tagebuch, der
viele Züge seiner aus so unterschied- Liebesroman (unter Pseudonym) oder eben der Brief, vor-
Eltern. Ja, es ist lichen Welten stam- nehmlich an Vertraute. Die schmachtende Hoffnung, das
Manuel
ein Schlüsselroman, Karasek men, zerreißt den sanfte Werben, die hilflose Verletzlichkeit – all das, was
das Kulturressort Mirabels Romanhelden nicht. bei schneidigen Helden von Alexander bis Varoufakis als
des SPIEGEL in den Entscheidung Es ist für ihn der Überraschung gelten darf, ist bei ihnen das Traditions-
Siebzigerjahren Verbrecher Verlag; „Luxus, in zwei Kul- handwerk der Seele.
wird präzise und 248 Seiten; turen verwurzelt zu
ironisch und in im- 24 Euro. sein“. vw An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und Nils Minkmar im Wechsel.

DER SPIEGEL 14 / 2017 107


Ein Trump in jeder Familie
Prekariat J.D. Vance kommt aus der weißen Unterschicht der USA – und ist
einer der ganz wenigen Autoren, die erklären können, was sie bewegt.
Jetzt erscheint sein Buch „Hillbilly-Elegie“ auf Deutsch. Von Philipp Oehmke

ANDREW SPEAR / DER SPIEGEL

Schriftsteller Vance

108 DER SPIEGEL 14 / 2017


Kultur

A
ls James David Vance, genannt Vance berichtet vom weißen Prekariat, seinen Job verloren, und machte dafür die
J. D., vor ein paar Wochen nach von einer Bevölkerungsschicht, der es spä- „Obama Economy“ verantwortlich.
Ohio in seinen Heimatort Middle- testens seit der Jahrtausendwende immer Vance und seine Familie nennen sich
town zurückkehrte, sah er als Erstes, noch schlechter geht und die in den vergange- selbst Hillbillies. Als solche bezeichnet
aus dem Auto, all diese Billboard-Tafeln, nen Jahren in rasanter Geschwindigkeit man Bewohner der Appalachen, weiße Un-
die neuerdings überall in der Stadt aufge- aus dem öffentlichen Blickfeld geraten ist terschicht zumeist, White Trash, mit stark
hängt worden waren. Sie zeigen ein Ge- und sich vom gesellschaftlichen Kollektiv ausgeprägten Familienstrukturen, vielen
mälde von blutroten Bergen, hinter denen verabschiedet hat. Mehr oder minder unter Kindern, großem Unterschichtsstolz sowie
eine gleißende Sonne aufgeht. sich leben sie abgeschieden in den Bergen einer Skepsis gegenüber Fremden.
Dazu in weißen Buchstaben: „Heroin! der Appalachen und in den verfallenen Vance’ Großeltern sind nach dem Zwei-
There Is Help. There Is Hope.“ Darunter Mittel- und Kleinstädten des ehemals in- ten Weltkrieg aus den Bergen Kentuckys
eine Telefonnummer. dustriellen Mittleren Westens. gen Norden nach Ohio gezogen, in den in-
„Es ist die Nummer-eins-Todesursache Vance’ Buch unterscheidet sich in einem dustrialisierten Mittleren Westen, wo Koh-
hier“, sagt Vance. „Noch vor natürlichem entscheidenden Punkt von anderen Studi- le- und Stahlminen ganze Städte beschäf-
Tod.“ Am Abend zuvor hatte er mit seiner en über weißes Prekariat in den USA. Weil tigten und Arbeiter gebraucht wurden.
Mutter telefoniert. Sie ist 56 Jahre alt und er einer von ihnen ist, spricht Vance nicht Sie landeten in Middletown, 60 Kilome-
seit 26 Monaten runter vom Heroin. nur von den äußeren – und damit entlas- ter nördlich von Cincinnati. Vance’ Groß-
Als J. D. in der Highschool war, hatte tenden – ökonomischen Faktoren, die zum vater heuerte Ende der Vierzigerjahre bei
auch er angefangen mit den Drogen. Das Niedergang geführt haben. Vance be- Armco Steel an, einem der größten Stahl-
hörte erst auf, als er bei seiner Mutter und schreibt auch, warum seine Familienmit- werke des Mittleren Westens. Es war ein
ihren wechselnden Boyfriends oder Ehe- glieder und Freunde vor allem kulturell guter Job, der ihn und die Großmutter aus
männern ausziehen und bei seiner Groß- und habituell nicht anschlussfähig sind und der Unterschicht in die untere Mittel-
mutter leben konnte. Dort, in relativer Sta- damit auch eine Mitverantwortung tragen schicht beförderte. Middletown boomte.
bilität, schaffte er den Highschool-Ab- für ihre Situation: weil sie über Jahrzehnte Armco ließ Parks anlegen und Sportplätze,
schluss. Er bewarb sich bei den Marines eigene Verhaltensweisen, einen eigenen stiftete öffentliche Einrichtungen und
und wurde genommen. Er lernte, dass man Blick auf die Welt, auf Wahrheit und Moral finanzierte Schulen.
Erfolg haben kann, wenn man sich ein biss- entwickelt haben, der sie vom Rest des Die Hillbillies brachten ihre Sitten mit
chen anstrengt. Vance hatte das vorher Landes abgekoppelt hat. in die heile Welt. Wenn der Großvater zu
nicht gewusst. Danach studierte er Jura an Die Leute, über die Vance geschrieben viel getrunken hatte, setzte er den Olds-
der Universität Yale, weit weg von Ohio, hat, haben, wie er heute sagt, fast alle mobile im Vorgarten vor den Baum und
unter den Eliten der Ostküste. Als ihn dort Trump gewählt. In Trump und seinem ag- randalierte anschließend in der Küche.
bei einem Restaurantbesuch der Kellner gressiven, lauernden, auf den eigenen Vor- Manchmal mussten die Kinder am nächs-
fragte, ob er sein Wasser still oder spru- teil bedachten Gebaren erkennen sie das ten Morgen versteckt werden, weil sie ein
delnd wollte, hatte J. D. gelacht. Er dachte, wieder, was sie von zu Hause kennen. blaues Auge hatten. Bald war der Großva-
sprudelndes Wasser, das sei ein Witz. Einen solchen Typen, sagt Vance, habe man ter Alkoholiker, die Großmutter zog sich
Dann kam Peter Thiel, Hedgefonds-Mil- in jeder Familie. Trumps Sprache, die sich aus der Welt zurück und ließ das Haus
liardär, Trump-Freund, und stellte Vance aus Eigenlob, Beschimpfungen und Dro- verwahrlosen.
bei einer seiner Risikokapitalgesellschaften hungen zusammensetzt, verstehen sie. Sei- 1961, am Tag der Amtseinführung John
im Silicon Valley an. Heute ist Vance 32. ne Unwahrheiten und Verschwörungstheo- F. Kennedys, wurde Vance’ Mutter gebo-
Er hat das amerikanische Gesellschafts- rien lassen sich in ihr Weltbild integrieren, ren. Sie war die Erste in der Familie, die
spektrum einmal von unten nach oben denn auch sie haben möglicherweise den eine Highschool besuchte, sie hatte gute
durchreist. klaren Blick auf die Realität verloren. Noten und hätte aufs College gehen kön-
Wie ihm das gelungen ist, sich langsam Als hart arbeitend, sagt Vance, würden nen. Doch mit 17 wurde sie erstmals
und schmerzhaft von der Hillbilly-Kultur sich all seine Familienmitglieder bezeich- schwanger. Mit 19 verließ sie den Kinds-
zu trennen, wo die Ursachen für den Ab- nen. Das sei ihr Selbstbild, obwohl eigent- vater, weil die Kämpfe und das Geschrei
sturz der weißen Unterschicht liegen – und lich die wenigsten einen Job haben. In sie zu sehr an ihr eigenes Elternhaus erin-
warum er die Welt, aus der er kommt, Middletown arbeiten 30 Prozent der jun- nerten. Im Sommer 1984 kam J. D. zur
trotzdem liebt, so schockierend ihre Be- gen Männer weniger als 20 Stunden pro Welt. Sein Vater war der zweite Mann der
schreibung für den Leser sein mag, darü- Woche, und doch, sagt Vance, würde man Mutter, der auch schon wieder weg war,
ber hat J. D. Vance im vergangenen Som- keinen einzigen finden, dem seine Faulheit bevor J. D. laufen lernte. So würde es wei-
mer ein mitreißendes, bewegendes, kluges bewusst wäre. Er erzählt von einem Be- tergehen in J. D.s Leben. Es sollten noch
Buch veröffentlicht: „Hillbilly-Elegie“*. kannten, der ihm mitgeteilt habe, er habe circa 15 Stiefväter folgen.
Viele hielten es für das wichtigste Buch es satt, morgens so früh aufzustehen, er Zu der Zeit von J. D.s Geburt begann
über Amerika, das in den vergangenen habe seinen Job gekündigt. Später schrieb der Niedergang von Middletown. Das
Jahren geschrieben wurde. Kommende derselbe Bekannte auf Facebook, er habe Stahlwerk fing an, Arbeiter zu entlassen.
Woche erscheint es auf Deutsch. 1989 kamen die Japaner. Aus Armco Steel
Und tatsächlich, hätte man Vance’ Buch wurde Armco Kawasaki Steel. Die Gegend,
im Sommer vor der Wahl gelesen, man in der J. D.s Großeltern lebten, verarmte.
hätte Angst bekommen können vor diesem
Amerika und diesen Amerikanern im Her- Vance und seine Familie Nachts kam oft die Polizei.
Das Stahlwerk gibt es immer noch, es
zen des Landes. Obwohl der Name Trump
kein Mal fällt, lassen sich die 300 Seiten
nennen sich Hillbillies. überstrahlt die Stadt bis heute – allerdings
auf ganz andere Weise. Das Gelände, ob-
kaum lesen, ohne eine Figur wie Trump Sie sind Bewohner der wohl partiell noch in Betrieb, sieht aus wie
am Ende für unausweichlich zu halten. Appalachen, weiße Unter- eine gigantische Industrieruine. Die Wohn-
gegenden um das Werk herum sind heute
* J. D. Vance: „Hillbilly-Elegie“. Ullstein; 304 Seiten; schicht, White Trash. die schlechtesten, doch auch die einst gu-
22 Euro. ten Viertel im Stadtkern sehen merkwür-

DER SPIEGEL 14 / 2017 109


Kultur

ANDREW SPEAR / DER SPIEGEL


Alltag in Middletown, Ohio: Auch die einst guten Viertel im Stadtkern sehen merkwürdig aus

dig aus. Die meisten Geschäfte sind zuge- nende Kind ins Haus, kurze Zeit später morphinartiger Wirkung, genannt Opioide,
nagelt, ein Gebäude, das aussieht wie ein kam die Mutter und schlug die Tür ein, die ein würdevolleres Sterben ermöglichen
Theater, ist verfallen. Auf der Main Street Polizei kam. Vor Gericht log J. D. für seine könnten. Gleichzeitig erschienen Studien,
nach Süden stehen mächtige Villen mit Ve- Mutter, damit sie nicht verurteilt würde. die zu belegen schienen, dass Opioide bei
randen und Türmchen. Hier haben früher Aber von da an konnte J. D., wann im- medizinischer Verwendung nur geringes
die Chefs von Armco gewohnt. Heute woh- mer er wollte, bei den Großeltern wohnen. Suchtpotenzial aufwiesen.
nen hier die Ärmsten, die Villen sind auf- Der Großvater hatte das Trinken aufgege- 1996 kam Oxycontin auf den Markt und
geteilt in Dutzende kleine Wohnungen, in ben, und die Großmutter wurde im Alter veränderte alles. Es enthielt nur einen
ihren Gärten sitzen Süchtige. Wenn es dun- zu einer verantwortungsvollen, resoluten Wirkstoff: Oxycodon, das aus denselben
kel wird, wird auch hier, wie an vielen an- Frau, die einen Schrank mit 19 Gewehren chemischen Elementen wie Heroin besteht.
deren Plätzen, Heroin verkauft. besaß. Als die Mutter ihren Job als Kran- Oxycontin bot eine entscheidende Neue-
Mit zwölf hatte sich J. D. daran gewöhnt, kenschwester verlor, zog er ganz zur Groß- rung. Es schüttete den Wirkstoff zeitver-
in einem niemals endenden Konflikt zu le- mutter. Die Mutter hatte Schmerztabletten zögert in gleichmäßig geringer Dosis über
ben. Noch heute, sagt Vance, schlage sein gestohlen und musste in Therapie. Die Stunden hinweg aus. Dadurch wird ein
Herz schneller, wenn er an diese Zeit zu- Schmerztabletten waren Opioide. Rausch vermieden, die Suchtgefahr ge-
rückdenkt. Abend für Abend musste er Es war die Zeit um die Jahrtausendwen- senkt. Einige Staaten, darunter Ohio, stell-
miterleben, wie seine Mutter und ihr je- de, als die riesige Opioid- und Heroinwelle te nun für Ärzte das Verschreiben von
weiliger Liebhaber einander anschrien. begann, eine Epidemie, größer als jede bis- Opioiden nicht mehr unter Strafe. Ärzte
J. D. glaubte, das sei die Art, wie Erwach- her da gewesene. Sie hält bis heute an und wurden sogar ermutigt oder unter Druck
sene miteinander reden. Erst viele Jahre wütete nicht wie zuvor in den Metropolen, gesetzt, Opioide zu verschreiben. Zwi-
später, als er seine Frau kennenlernte, die sondern zerstörte biedere Provinzstädte. schen 1999 und 2010 vervierfachte sich der
aus einer Familie in Kalifornien stammt, Ground Zero war hier im südlichen Ohio. Absatz von Opioiden.
begriff J. D., dass Familien auch anders mit- Angefangen hatte alles mit einer Art In Ohio River Valley, nicht weit von Van-
einander kommunizieren können. Schmerz-Revolution. Bis zu den Neunzi- ce’ Heimatort Middletown, wurde noch in
Als J. D. einmal mit der Mutter im Auto gerjahren sah der medizinische Alltag den Neunzigerjahren die erste Praxis er-
zu einer Mall außerhalb der Stadt wollte, Schmerzen als ein Leiden, das in den meis- öffnet, in der die Ärzte nichts anderes ta-
gerieten sie wieder in einen Streit, der es- ten Fällen einfach ausgehalten werden ten, als Oxycontin zu verschreiben. Er gab
kalierte. Die Mutter gab Vollgas und droh- musste, sie gehörten quasi zum Leben. noch nicht einmal einen Untersuchungs-
te, das Auto gegen einen Brückenpfeiler Opiate galten wegen ihrer Suchtgefahr als raum. Pro Patient drei Minuten, 250 Dollar,
zu setzen. J. D. kletterte auf den Rücksitz, riskant und wurden fast nur in Kranken- Cash only. Bald bildeten sich Schlangen
er glaubte, wenn er zwei Anschnallgurte häusern benutzt, doch kaum verschrieben. vor der Praxis. Pill Mills, Pillenmühlen,
benutzte, würde er den Aufprall vielleicht Ab Mitte der Neunzigerjahre aber setzte wurden die Praxen genannt, und sie ver-
überleben. Die Mutter stoppte den Wagen, sich die Ansicht durch, Schmerz sei unter- mehrten sich in ganz Ohio, Kentucky, West
prügelte auf ihren Sohn ein, der floh aus behandelt. Plötzlich war die Rede vom Virginia, später auch in anderen Staaten.
dem Auto zu einem Haus in der Nähe des Recht auf Schmerzfreiheit, vor allem bei Oxycontin-Pillen, kurz Oxys oder Hill-
Highways. Eine dicke Frau ließ das wei- Krebspatienten, denen Substanzen mit billy-Heroin, hatten einen Fehler oder, je
110 DER SPIEGEL 14 / 2017
ANDREW SPEAR / DER SPIEGEL
Warnschild in Middletown: Mehr Menschen an Heroin gestorben als eines natürlichen Todes

nach Betrachtungsweise, einen Vorteil: mer dieselbe Antwort: weil Obama die Die Arbeit an dem Buch, die langen Ge-
Wenn man sie zerhackte, ging die zeitver- Kohleminen geschlossen hat. Ohne Oba- spräche mit seinen Verwandten haben sein
zögerte Ausschüttung verloren, und die Wir- ma gäbe es noch Jobs, und gäbe es noch Selbstbild verändert. Er hatte auch mit
kung setzte mit einem Mal ein. Außerdem Jobs, gäbe es keine Oxys und auch kein einer Therapeutin versucht, seine Kindheit
konnte man sie so durch die Nase ziehen Heroin. Und alles wäre vielleicht nicht so hier zu verarbeiten, aber er hatte das Ge-
oder in Wasser aufgelöst spritzen, was die schlimm. fühl, die Frau verstehe ihn nicht.
Wirkung verstärkte. Es war besser, reiner J. D. Vance ist vor ein paar Wochen Anfangs, wenn er aus Yale nach Ohio
und damit kontrollierbarer als Straßenhe- trotzdem wieder nach Ohio zurückgezo- zurückkam, hat es ihn geschmerzt, die
roin. Jahr für Jahr kamen Hunderttausende gen. Er hat dafür San Francisco aufgege- Menschen in Middletown als die Verlierer
neue Süchtige hinzu, doch die Epidemie ben. Er hat seine Frau gebeten, mit ihm in zu sehen, die sie waren. Er begann, ihre
blieb fast unbemerkt. Es gab keine Drogen- den Rust Belt zu ziehen. verzerrte Wahrnehmung zu erkennen, die
gangs, keine Schießereien, keine Gettos wie „Am Ende“, sagt Vance, „war das Leben Irrationalität, ihre Verlogenheit. Vieles,
in L.A. oder in New York. Es gab nur aller- im Silicon Valley nichts für mich: Der dor- was ihm in seiner Kindheit normal er-
orts einen Haufen süchtiger Kleinstädter tige Glaube, es müsse ständig aufwärts- schien, kam ihm nun wie Unsinn vor.
auf den Parkplätzen vor den Pill Mills. gehen, die Illusion, dass man ein perfektes In dem Buch schreibt Vance: „Wir soll-
Viele ältere Patienten, die Unmengen Leben führe, die Ignoranz gegenüber Ge- ten uns Arbeit suchen, aber wir haben kei-
von Oxys nach einer Knieoperation ver- genden wie Ohio, wo es abwärtsgeht.“ ne Lust. Manchmal kriegen wir doch einen
schrieben bekamen, verkauften ihre Pillen. In Ohio ist Vance dabei, eine Non-Pro- Job, aber der währt nicht lang. Wir wer-
Auf der Straße kosten 80 Milligramm Oxy- fit-Gesellschaft zu gründen, die nach Lö- den gefeuert, weil wir immer zu spät kom-
contin ungefähr 80 Dollar, das ist ein Dol- sungen für die Opioid-Epidemie suchen men, oder weil wir Ware klauen und dann
lar pro Milligramm. Ein Schuss Heroin ist soll. Er wurde gefeiert dafür, dass er es aus bei Ebay verkaufen, oder weil sich ein
inzwischen für 10 Dollar zu bekommen. Ohio rausgeschafft hat. Doch jetzt ist er Kunde über unsere Fahne beschwert hat,
Früher oder später stiegen die meisten um. froh, wieder hier zu sein. oder weil wir fünf Pinkelpausen pro
Ab 2011 begannen die Behörden in Ohio, Schicht machen, jede über eine halbe
gegen die Pill Mills vorzugehen, viele Ärz- Stunde.“
te kamen vor Gericht. Aber es war zu spät. Vance begann zu verstehen, dass es die
Aus tablettensüchtigen Hausfrauen waren geliebte Hillbilly-Kultur ist, die es seinen
Junkies geworden. In Huntington, einer
Kleinstadt auf der anderen Seite des Ohio Wenn er aus Yale nach Leuten erlaubt, sich als Opfer zu sehen
und die Schuld für ihr Leid der Regierung
River, schon in West Virginia, hatten sie
vergangenen Sommer 28 Überdosierun-
Ohio zurückkam, hat und den Eliten zuzuschieben. Doch nicht
nur die Regierung oder Hillary Clinton
gen an einem Tag. Jeder Vierte hier sei es ihn geschmerzt, die oder gar Barack Obama haben die Leute
abhängig von Opioiden, heißt es beim
städtischen Gesundheitsamt. Wenn man
Menschen in Middletown in Middletown unten gehalten, sondern
auch ihre Lebenseinstellung: weder den
die Bewohner Huntingtons fragt, wie es als Verlierer zu sehen. Abendnachrichten zu trauen noch den
so weit kommen konnte, erhält man im- Politikern, die Überzeugung, an den Uni-
DER SPIEGEL 14 / 2017 111
Kultur

Belt-Industriestädte und eure Verschwö-


rungstheorien von listigen Asiaten, die un-
sere Jobs klauen. Die weiße amerikanische
Unterschicht ist einer bösartigen, selbst-
süchtigen Kultur zum Opfer gefallen, de-
ren Haupterzeugnisse Elend und gebrauch-
te Heroinnadeln sind. Donald Trumps
Reden geben ihnen ein gutes Gefühl. Ge-
nauso wie Oxycontin.“
Williamsons Empfehlung für die Hill-
billies lautete, einen Umzugswagen zu be-
stellen und wegzuziehen. Vance sagt, na-
türlich habe Williamson nicht unrecht. Er
beschreibe die eine Seite der Medaille voll-

ANDREW SPEAR / DER SPIEGEL


kommen richtig. Die andere Seite aber
kenne eben nur Vance. Trotzdem seien
Widerstände des Systems gegenüber je-
mandem wie ihm ja real: die Abschätzig-
keit, die auch ihm an der Ostküste entge-
gengeschlagen ist als jemandem, der aus
Stahlwerk in Middletown: Leute wurden entlassen, 1989 kamen die Japaner dem Rust Belt kommt und in den Restau-
rants zur Sicherheit nur Chardonnay be-
stellt hat, weil er nicht wusste, wie man
versitäten benachteiligt zu werden und so- schon er Trump nicht gewählt hat. Er wirft die anderen Weißweinsorten ausspricht.
wieso keine Arbeit zu finden. seinen Parteifreunden und vor allem dem Er als ein Spross jener weißen Armut konn-
Aber, schreibt Vance, „das sind die Lügen, Präsidenten Trump vor, den Hang zur Un- te die „bösartige, selbstsüchtige Kultur“
die wir uns selbst erzählen, um unsere ko- mündigkeit unter den Hillbillies geschürt des Trumpentariats beschreiben und kriti-
gnitive Dissonanz aufzulösen – die Abkopp- zu haben, indem die Republikaner in den sieren – und keiner seiner Familienmitglie-
lung zwischen der Welt, die wir vor Augen vergangenen acht Jahren unter Obama die der war ihm böse. Jemand an der Ostküste
haben, und den Werten, die wir predigen“. Schuld für alles, was schiefging, der Regie- oder von der „New York Times“ dürfe das
Er wirft seiner Familie die Umstände sei- rung zugeschoben haben. aber eben nicht. Natürlich wird es dann
ner Jugend sowie sein Schicksal, dem er ge- Wie man die Schuldfrage beantwortet, schwierig, miteinander zu reden.
rade noch entkommen ist, nicht vor, noch hängt davon ab, ob man den Niedergang Am Sonntag vergangener Woche ist
nicht einmal seiner Mutter. Vance’ Buch der Menschen im Rust Belt eher ökono- J. D. Vance unterwegs nach Newark in
zieht seine Kraft aus dem Spannungsfeld misch oder eher kulturell erklärt. Wer vor Ohio zu einem Spendendinner der dortigen
zwischen Schuldzuweisung und Empathie. allem die ökonomischen Gründe betont, Republikaner. Er soll dort eine Rede halten.
Die Hillbillies haben geholfen, Trump entlastet die Hillbillies. Das hat Trump ge- Es regnet in Strömen, bald so heftig, dass
über die Welt zu bringen. Dürfen wir sie tan: Sein Ausruf „China!“ wurde die Chif- Vance den Wagen unter einer Brücke
dafür anklagen, verachten, oder sollen wir fre dafür. China ist schuld, die Immigran- stoppt. Er könnte jetzt auch in San Fran-
Verständnis für sie haben, weil sie doch ten, die Globalisierung oder die Obama- cisco sitzen. Warum tut er sich das an?
Probleme mit dem Heroin haben? Umweltverordnungen, die Kohle und Stahl Vance überlegt einen Augenblick, das
Es ist traditionell eine Eigenart des linken gekillt haben. Wasser prasselt aufs Autodach. Dann er-
Establishments, die Schuld bei sich zu su- Die Gegenposition, für die man in Vance’ zählt er von der Gerichtsverhandlung ge-
chen. Nicht die Hillbillies sind schuld, nicht Buch auch Belege finden kann, hat der gen seine Mutter, nachdem sie in dem
das „Trumpentariat“, wie die Unterschichts- konservative Kommentator Kevin Wil- Haus der dicken Frau, in das er sich ge-
Trump-Wähler schon genannt werden, son- liamson schon vor der Wahl so beschrie- flüchtet hatte, verhaftet worden war.
dern wir, weil wir ihnen ja nicht zugehört ben: „Die Wahrheit über diese dysfunk- Er hatte nicht nur deswegen vor Gericht
haben. „Die Demokraten halten Kurse ab, tionalen, absteigenden Gemeinden ist, für seine Mutter gelogen, weil er nicht woll-
wie man mit echten Menschen redet“, lau- dass sie es verdienen zu sterben. Öko- te, dass sie ins Gefängnis geht – da war
tete neulich eine Überschrift bei „Politico“ nomisch sind sie ein negativer Wert. Mo- noch ein anderer Grund. Er war zwölf, und
zu einem Artikel über eine Parteiveranstal- ralisch sind sie unhaltbar. Vergesst euren zum ersten Mal verspürte er ein Gefühl
tung, die bewusst aufs Land gelegt wurde. billigen, theatralischen Bruce-Springsteen- von Identität. Die und wir.
Die Beschreibungen jenes Trumpentari- Mist. Vergesst eure Scheinheiligkeit in Be- „In dem Gerichtssaal waren noch fünf
ats in „Hillbilly-Elegie“ machen allerdings zug auf ums Überleben kämpfende Rust- oder so andere Familien, von denen je-
nicht viel Hoffnung, dass es furchtbar sinn- mand angeklagt war. Die sahen alle aus
voll wäre, sich mit ihnen zu unterhalten. wie wir. Jogginghosen, Leggings und aus-
Man hätte wahrscheinlich relativ bald den geleierte T-Shirts, die Haare ein bisschen
Lauf eines der 19 Gewehre von Vance’ fettig. Und dann waren da die, die unser
„Donald Trumps Reden
Großmutter im Gesicht. Schicksal unter sich ausmachten: die Rich-
Deswegen stürzt sich das liberale Estab- ter, Anwälte und Sozialarbeiter. Sie trugen
lishment ja so auf J. D. Vance, und auch
deswegen ist sein Buch so lange in der
geben der weißen Anzüge, klar, aber sie redeten vor allem
anders. Sie sprachen wie die Nachrichten-
Bestsellerliste der „New York Times“: weil amerikanischen Unter- ansager im Fernsehen. Für mich war das
Vance mehr oder weniger der Einzige ist,
mit dem man reden kann.
schicht ein gutes Gefühl. keine echte, sondern Fernsehsprache.“
Der Regen hat nachgelassen, Vance
Dabei ist er, man täusche sich nicht, Genauso wie Oxycontin.“ fährt weiter. Er sagt, er habe von da an
selbst auch Mitglied der Republikaner, ob- gewusst, wo er hingehöre. Twitter: @oehmke

112 DER SPIEGEL 14 / 2017


Ohne Vertragslaufzeit: jetzt
den SPIEGEL frei Haus lesen!

Jederzeit Gratis
łŸōĚĒćš ųšwćıŅ

Gratis für Sie: ğĴōğwųōťĔıųťĬćĒğžœō


^V0(>(^-0-ew0^^F0L(Z&0
œĚğšğĴō^V0(>

Der SPIEGEL jede Woche


frei Haus:
ĿğĚğšğĴŭųšōČĔıťŭğššğĴĔıĒćšğō
ųťĬćĒğłŸōĚĒćš
Ja, ich möchte bequem den SPIEGEL lesen!
œıōğDĴōĚğťŭĒğųĬ 0ĔıŅğťğĚğō^V0(>ĨŸšōųš*+ǽŝšœųťĬćĒğťŭćŭŭ*+/ǽĴŋ
ĴōğŅłćųĨłćōōĿğĚğšğĴŭųšōČĔıťŭğššğĴĔıĒćšğōųťĬćĒğ
Rosenzweig & Schwarz, Hamburg

ĬŸōťŭĴĬğšćŅťĴŋ-ćōĚğŅ
łŸōĚĴĬğōųōĚğšıćŅŭğğĴō^V0(>(šćŭĴťığĨŭōćĔıwųōťĔıĚćų1
łœťŭğōŅœťğškšŅćųĒťťğšžĴĔğ
ĴōłŅųťĴžğ>0eZekZ^V0(>
ĴōĨćĔıĿğŭŭćōĨœšĚğšō!

 abo.spiegel.de/bequem
p 040 3007-2700 "ĴŭŭğłŭĴœōťōųŋŋğšćōĬğĒğō!^VǾ$ǿǾ')
Kultur

Deutschland ausatmen
Kunst Zum ersten Mal findet die Documenta nicht nur in Kassel, sondern auch im Ausland statt, in
Athen. Die Kuratoren setzen auf die Wirkung einer verzweifelten Stadt – und stoßen damit auf Kritik.

S
ollte Kassel in Rauch aufgehen oder ehemaliges Militärgefängnis und auch auf notwendig seien. Für den Transport von
wenigstens das, wofür diese mittel- das Athener Konservatorium, das neben Schlachtvieh gebe es klare Bestimmungen.
große und irgendwie graue hessische den Steinresten der Schule des Aristoteles Nicht aber für Pferde, auf denen jemand
Stadt wundersamerweise steht? Dafür, alle angesiedelt ist und eine eigene Ruine birgt: durch verschiedene Länder reise.
fünf Jahre ein Machtzentrum zu sein, in einen Konzertsaal, der nie vollendet wur- Tiere passen zu diesem Ereignis, das
dem ein Kurator oder eine Kuratorin ent- de. Nun wird diese kalte Betonhöhle er- nicht museal, nicht statisch sein will. Schon
scheidet, welche Kunst zählt, und zwar füllt von einem melancholischen Chorge- Joseph Beuys, für die Kuratorengruppe im-
weltweit. sang, die Lautsprecher sind im Raum ver- mer noch „superimportant“, ließ sich einst
In diesem Jahr eröffnet eine weitere Do- teilt, als wären es Sänger. Der Schöpfer in einer New Yorker Galerie mit einem
cumenta, es ist die 14. Ausgabe dieser 1955 der Musikinstallation ist Emeka Ogboh, Kojoten einsperren, der für ihn auch Sinn-
noch zwischen Ruinen gegründeten Kunst- ein Künstler aus Nigeria, er sagt, er sei bild Amerikas war. Nun wird Aboubakar
ausstellung. Jede der bisherigen veränderte glücklich, diesen Raum nutzen zu dürfen, Fofana aus Mali, wenn alles klappt, mit 54
die Kunstwelt, die Grundlage, auf der über „viele Künstler haben sich das gewünscht“. blau eingefärbten Lämmern an die Ge-
Kunst diskutiert wird. 2017 will sie sich Ein ewiger Rohbau als Sehnsuchtsort, schichte des Farbstoffs Indigo und die der
selbst den gewohnten Boden entziehen. als ideale Bühne. An der Wand will Ogboh Sklavenarbeit erinnern.
Erstmals wird die große, fast übergroße ein Display installieren, auf dem der grie- Diese Documenta schildert – und da
Bedeutung der Documenta geteilt. Nächste chische Aktienindex angezeigt wird. bricht man nicht mit der Tradition – alte
Woche läuft in der griechischen Hauptstadt Jede Documenta hat ihren Schwerpunkt, und neue Missstände und wie alles mit al-
eine Art Exil-Documenta an. Athen soll ihre Stimmung, die wird geprägt vom je- lem zusammenhängt. Oft genug spielt
das neue, das bessere Kassel sein. Das alte weiligen Leiter. Szymczyk, geboren 1970 Deutschland eine Rolle. In Athen wird als
wird im Juni nachziehen, jetzt wird es erst in der Nähe von Lodz, wirkt wie ein Typ eine der historischen Leihgaben ein Ge-
einmal zum Sidekick, einem Ort für Spezi- aus einer Independentband, wie ein Kunst- mälde zu sehen sein, das an die Exekutio-
aleffekte: Wenn in Griechenland die Pres- Nerd, aber er ist durchaus erfolgsorientiert, nen in Polen durch die Deutschen erinnern
sekonferenz beginnt, werden in Kassel auf er kuratierte eine Berlin Biennale mit, lei- soll. In den Augen vieler Griechen dürfte
einem historischen Turm Nebelmaschinen tete die Kunsthalle Basel. Läuft alles gut, es eine Verbindung ziehen zu den Gräueln
angeworfen. Dann lässt grauer Qualm das werden mehr als eine Million Menschen der Wehrmacht in ihrem Land.
Fridericianum – eines der ältesten Museen auf seine geteilte oder verdoppelte Groß- Ein Problem aber ist dieses: Szymczyk
Europas und bisher Mittelpunkt jeder Do- ausstellung kommen. findet Athen für seine Zwecke toll, er will
cumenta – verschwinden. Oder der Dunst Und auf eine stille, unnahbare Art kann sich womöglich verbrüdern, doch in Athen
legt sich, je nach Windrichtung, über die er eben eine ziemliche Lautstärke produ- stößt diese Art der Zuwendung auch auf
Nachbarschaft. Und das fortan jeden Tag zieren. Nach seiner Berufung 2013 kündig- Kritik. Sogar der Umstand, dass ein vor
von 10 bis 20 Uhr. Eine Kuratorin aus dem te er den Ausfallschritt der Documenta Jahren aufwendig saniertes, aber seither
Documenta-Team sagt, das sei „nicht so nach Athen an. Dann ließ er wissen, man überwiegend leer stehendes Museum dank
wagnerianisch“ gemeint. Der Künstler Da- arbeite daran, die heikle Kunstsammlung der Documenta erstmals voller Werke sein
niel Knorr, Urheber des Werks, aber sagt, der Gurlitts zu präsentieren; die Kultur- wird, hilft nicht.
man dürfe sich auch an Bücherverbrennun- staatsministerin dementierte. Zum Thema Der Künstler Poka-Yio gehört zu den
gen und Krematorien der Nazis erinnert wird der Kunstraub der Nazis auf jeden Gegnern, er gründete vor zehn Jahren die
fühlen. Er findet, Deutschland habe immer Fall. Ein Holocaust-Überlebender, der Athen Biennale, die sich den Ruf erwarb,
nur eingeatmet, nun werde es ausatmen. nach der Kunst seiner Familie sucht, sagt, mutig und überraschend zu sein. Eine von
Tatsächlich will die Documenta-Mann- die alten Inventarlisten würden in Kassel Kassel in Aussicht gestellte Kooperation
schaft unter ihrem polnischen Leiter Adam präsentiert. Für Hinweise auf den Verbleib kam nicht zustande. Poka-Yio weiß nicht,
Szymczyk mit der Tradition brechen, das der Werke setze man Belohnungen aus. wie groß das Interesse an einem echten
maßgebliche Kunstereignis ausschließlich Tatsächlich zielt Szymczyk nicht nur Do- Austausch war, für ihn ist die Documenta
an die deutsche Provinz zu koppeln. Nach cumenta-typisch auf den Verstand, sondern eine Megashow, die lokale Institutionen
dem Krieg sollte das Land wieder an Kul- ziemlich oft auch auf das Bauchgefühl der dirigiert und davon profitiert. „Doch das
tur, an Kultiviertheit gewöhnt werden, da- Menschen, auf ihre Empathie. Eine Docu- ist nicht das, was ein Land in Not braucht.“
mals habe es, so heißt es im Team, eine menta-Kuratorin sagt, wir alle hätten „das Seine nächste Biennale, die wenige Tage
Notwendigkeit für eine Schau moderner Gefühl, wir leben im Weimar der Zwanzi- vor der Documenta beginnt, trägt den Titel
Kunst gegeben, eine Dringlichkeit gerade- gerjahre“. Athen, diese Millionenmetropole „Auf die Barbaren warten“. In einem ver-
zu. Heute aber scheint das Deutsche eine voller Existenzängste soll sich scheinbar als lassenen Hotel ist ein Jahr des „aktiven
Metapher für das Bekannte, Bequeme, Verstärker dieser Nervösität erweisen. Wartens“ geplant, man will beobachten,
Festgefahrene zu sein. Anlässlich der Vernissage soll auch ein was auf der Documenta geschieht. Die Ku-
Und wer in Athen einer Probe der aus Orchester spielen, das aus syrischen Musi- ratoren stellen sich selbst aus, ausgeliefert
Haiti stammenden und in Mali lebenden kern besteht. Ross Birrell, ein Künstler aus fühlen sie sich ohnehin.
Performancekünstlerin Kettly Noël und ih- Glasgow, konzipiert den Abend mit, aber Die Kodirektorin der Biennale, Nayia
ren Tänzern beiwohnen darf, ahnt, wie er schickt auch vier Reiter von Athen nach Yiakoumaki, zog vor vielen Jahren nach
laut und emotional es auf der neuen Do- Kassel. Einer der Teilnehmer sagt, die Vor- London, wo sie erfolgreich als Kuratorin
cumenta zugehen wird. Sie verteilt sich bereitung habe sich aufwendig gestaltet, arbeitet. Sie sagt, Griechenland, ihre alte
auf viele Adressen, unter anderem auf ein vor allem wegen der Frage, welche Papiere Heimat, werde von der Documenta als re-
114 DER SPIEGEL 14 / 2017
bellische Nation innerhalb Europas stili-
siert, als besonders authentisch. „Doch was
ist mit authentisch gemeint: die Authenti-
zität einer Stadt voller gekappter sozialer
Bindungen, voller Armut?“ Die Entschei-
dung für Athen sei gefallen, als das Land
durch die von der EU verlangten Sparmaß-
nahmen „geköpft“ worden sei. „Das Do-
cumenta-Team hat nicht verstanden, wel-
che Symbolkraft dieser Schritt zu diesem
Zeitpunkt hatte, wie sich das für die Men-
schen hier anfühlen musste.“
Dieses Jahr ist gefüllt mit Kunstausstel-

MARIA FECK / DER SPIEGEL


lungen, doch die 34 Millionen Euro teure
Documenta mit ihren 160 Künstlern dürfte
Gesprächsthema Nummer eins bleiben.
Das liegt auch an der Abwechslung, die
eine Documenta in einem solchen Umfeld
Klangkünstler Ogboh im Athener Konservatorium: Sehnsucht nach Ruinen bedeutet. Frühlingswetter, Akropolis und
Wirtschaftskrise ergeben eine neuartige
Kulisse. Der Flughafen ist nicht weit, viel-
leicht nutzen einige Sammler den Jacht-
hafen. Tausende ausgewählte Gäste dürfen
sich vor der Eröffnung umsehen, 1500 Jour-
nalisten reisen ebenfalls an.
Szymczyk erfand den Titel „Von Athen
lernen“. Womöglich hat er ebenso von Ba-
sel gelernt, der Stadt, in der er elf Jahre
lang tätig war. Die Kunstmesse dort, die
Art Basel, ist die bekannteste der Welt.
Als cool gilt sie aber erst, seit sie Ableger
in Miami und Hongkong etablierte. Diese
Städte wirken wie das Gegenteil von Basel,
so wie Athen das Gegenteil von Kassel ist.
Es gibt Städte, Länder, die nach der Lo-
gik der Veranstalter eine Documenta nöti-
ger gehabt hätten, Staaten, in denen eine
MARIA FECK / DER SPIEGEL

solche Schau undenkbar wurde.


Im Konservatorium in Athen wird auch
Nevin Aladağ ausstellen, sie kam in der
Türkei zur Welt, wuchs in Deutschland auf.
Über die Lage im Land ihrer Vorfahren
Performerin Noël (r.) bei Probe: Lautstärke eines Weltereignisses möchte sie nicht sprechen, vielleicht des-
halb, weil ihre Kunst grundsätzlicher ge-
meint ist. Für die Documenta entwickelte
sie ihre Serie der „Musikzimmer“ weiter.
Aus Töpfen, Tischen und Sesseln, die sie
in diesem Fall in griechischen Flohmärkten
fand, wurden unter anderem Trommeln,
Westerngitarren, Glockenspiele. Formen,
Funktionen, Kulturen vermischen sich.
Erstmals wird mit solchen Objekten ein
Konzert veranstaltet. Die Bourgeoise eines
Musikzimmers verwandelt in einer Free-
style-Session. Aladağ sagt, sie gebe den
Musikern keine Richtung vor.
Viel Musik, viel Performatives ist auf der
Documenta geplant. Das rein Visuelle dürf-
te im Kurs abgewertet werden. Populäre
Fotomotive wird es dennoch geben, etwa
den Parthenon, der in Kassel aus verbote-
MARIA FECK / DER SPIEGEL

nen Büchern entstehen soll, und das in den


Maßen des antiken Athener Tempels.
Kunst als neue Spiritualität, als Weg zur
Erlösung. Diese Documenta verfolgt einen
mehr als ganzheitlichen Ansatz. Weniger
Künstlerin Aladağ: Freestyle statt Bourgeoisie machtbesessen ist sie nicht. Ulrike Knöfel

DER SPIEGEL 14 / 2017 115


Kultur

„Im Lesen war ich super“


SPIEGEL-Gespräch SPD-Chef, Kanzlerkandidat – und bekanntester Exbuchhändler des Landes:
ein Treffen mit dem Literaturliebhaber Martin Schulz

Schulz, 61, empfängt im Vorzimmer seines aber auch Pearl S. Buck, „Das Mädchen eben am nächsten Tag einrücken. Deshalb
neuen Büros im Willy-Brandt-Haus. Auf dem Orchidee“. Meine Mutter war literarisch in- haben wir ja überhaupt geheiratet.“ Und
Weg hinein beginnt er gleich, den ersten Text teressiert, mein Vater eher an Sachbüchern. ich habe gefragt: „Ja wieso?“ Da hat sie
aus dem Kopf zu zitieren, eine Passage aus Ihn interessierten extrem, ähnlich wie mich, gesagt: „Na wenn er gefallen wäre, hätte
den „Geschichten vom Franz“, einem Buch von historische Biografien. Er hat zum Beispiel ich ’ne Kriegerwitwenrente bekommen.“
Christine Nöstlinger, aus dem er immer seinen Golo Manns „Wallenstein“ richtig durch- Das heißt, es waren Paare, die haben am
Kindern vorgelesen hat. Darin geht es um einen gearbeitet. Wie ich dann später auch. Traualtar nicht über Liebe und Kinder
Jungen, der zu klein ist für sein Alter, und we- SPIEGEL: Sie wollten schon sehr früh Joa- nachgedacht, sondern über Witwenrenten.
gen seiner Locken halten ihn alle für ein Mäd- chim Fests Hitler-Biografie lesen. Warum? Das erste Werk, das ich über die NS-Dik-
chen – das ist sein Problem. Schulz ist kaum Schulz: Ich bin in einem Elternhaus aufge- tatur gelesen habe, war Alan Bullocks Hit-
zu stoppen. Im Büro sind die Buchregale noch wachsen, in dem der Krieg und das „Dritte ler-Biografie. Da war ich 14 oder 15. Ich
fast leer. Die rote Ausgabe der Werke Willy Reich“ eine große Rolle spielten. Mein Va- fand darin so viel wieder, was ich aus Er-
Brandts leuchtet recht ungelesen im Zentrum, ter redete, je älter er wurde, immer mehr zählungen meines Vaters und meiner Mut-
rechts daneben die vierbändige „Geschichte über den Krieg. Und es wurde immer kla- ter kannte. Bullock nannte sein Buch
des Westens“ von Heinrich August Winkler, Ian rer, was das für ihn bedeutete: eine ver- „Eine Studie über Tyrannei“. Also nicht
Kershaws „Höllensturz“, Ernst Jüngers „Strah- lorene Jugend. Meine Eltern haben am eine isolierte Lebensbeschreibung, son-
lungen“ (Band eins bis drei) in einer alten, zer- 30. April 1940 geheiratet. Auf dem Hoch- dern Hitler als Teil eines Mechanismus.
lesenen dtv-Ausgabe, zwei Hans-Fallada-Bände, zeitsbild trägt mein Vater Uniform, und SPIEGEL: Aber dabei blieb die Forschung ja
Joachim Fests „Die unbeantwortbaren Fragen“, ich habe meine Mutter immer gefragt: „Wa- nicht stehen …
Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“, „Der rum steht er eigentlich in Uniform auf dem Schulz: Genau, dann erscheint der Fest, der
General in seinem Labyrinth“ von Gabriel García Foto da?“ Da hat sie gesagt: „Na, er musste Hitler weniger als Teil des Systems be-
Márquez, „Bel Ami“ von Maupas- schreibt, sondern die Frage stellt:
sant und Isabel Allendes „Das Geis- Kann man den Verbrecher Hitler
terhaus“. Rechts unterhalb der groß nennen? Wenn man histo-
Brandt-Werke ein leeres Fach mit rische Größe daran misst, dass
Fernsehanschluss. „Selbst den eine Persönlichkeit mit ihrem
Fernseher hat der Gabriel mitge- Handeln eine epochale Wirkung
nommen?“, fragen wir. „Nee, den erzielt und die Welt nachhaltig
habe ich da rausnehmen lassen“, verändert, dann, antwortet Fest:
antwortet Martin Schulz. Auf sei- ja klar. Europa war danach ein
nem Schreibtisch liegt nur ein Buch: völlig anderes. Als ich von die-
„150 Jahre SPD im Wolfenbütteler sem Buch hörte, dachte ich, im-
Land“. Daneben kopierte Pressedo- mer noch Bullock im Hinter-
kumentationen. Hinter dem Schreib- kopf: „Das musst du lesen! Das
tisch steht ein altes, gigantisches musst du unbedingt lesen!“
Segelschiffmodell, das mit ihm hier SPIEGEL: Hat das jeder in Ihrer
eingezogen ist. Familie lesen wollen?
Schulz: Es gab eine heftige Kon-
SPIEGEL: Herr Schulz, wir wollen troverse in meinem Elternhaus.
über Bücher reden. Fangen wir Meine Mutter – eine Mitbegrün-
ganz vorne an. Welche Rolle hat derin der CDU bei uns – fand
Literatur in Ihrem Elternhaus ge- den Fest ganz toll. „Konservativ,
spielt? ‚Frankfurter Allgemeine‘, das ist
Schulz: Eine zentrale. Meine Mut- ein schlauer Mann, wie der im-
ter war eine große Leserin, mein mer im Fernsehen redet …“
Vater auch. Es waren einfache Meine älteren Geschwister stan-
Leute, sie konnten sich nicht vie- den auf den Barrikaden. Die
le Bücher leisten. Deshalb war hatten über das Buch gelesen
die Stadtbibliothek oder die und fanden es unmöglich. Ich
Fahrbücherei ein Ort, an den ich hab es mir gewünscht, hatte
schon als Kind oft mitgenommen aber das Geld nicht. Dann hat
HANNES JUNG / DER SPIEGEL

wurde. mir mein Bruder Walter zu


SPIEGEL: Was waren das für Bü- Weihnachten 1973 die Schwarte
cher, die Ihre Eltern gelesen ha- geschenkt. Und noch am Heili-
ben? gen Abend hab ich angefangen
Schulz: Meine Mutter liebte Irm- zu lesen. Beide zusammen – die
gard Keun und Vicki Baum, Hitler-Biografien von Bullock
„Menschen im Hotel“ zum Bei- Tagebuchschreiber Schulz und Fest – haben mich extrem
spiel oder „Hotel Shanghai“, „Was hast du heute eigentlich richtig gemacht?“ politisiert.
116 DER SPIEGEL 14 / 2017
VOLKER WEIDERMANN / DER SPIEGEL
Schulz’ Bücherregal in Berlin

„Ich bin schon so als Paddelbootfahrer im Meer


der Bücher und der Literatur unterwegs.“
SPIEGEL: Wie kam es zu Ihrer Entscheidung, der immer, „eigentlich sind wir wandelnde bist du so abgedriftet? Da bin ich in eine
Buchhändler zu werden? Hatte das auch Klappentexte.“ Therapie gegangen, in der ich unter ande-
noch mit Fest zu tun? SPIEGEL: Also Erzählen um des Verkaufens rem Tagesberichte schreiben sollte. Ich
Schulz: Nein, nein. Die Entscheidung habe willen? habe diese Tagesberichte bis zum letzten
ich nur zur Hälfte selbst getroffen. Es war Schulz: Für mich ist Literatur: Lesen, um er- Tag geschrieben und habe es zu Hause fort-
so: Ich musste von der Schule runter, weil zählen zu können. Es sind die Geschichten, gesetzt. Und das mache ich bis heute so.
ich auch im Wiederholungsjahr die Nach- die mich faszinieren. Diesen Zugang zur Ich schreibe jeden Abend eine Seite.
prüfung nicht geschafft habe. Da haben Literatur habe ich bis heute. Und die Buch- SPIEGEL: Wozu ist das gut?
die gesagt: „So, pass auf Schulz, jetzt ist händlerausbildung damals von 1975 bis Schulz: Das hat etwas mit Selbstverge-
hier Schicht.“ Der Superior des Klosters, Ende 1977, das war eine Art Studium gene- wisserung zu tun. Du musst dich fragen,
der Schuldirektor war, hieß auch noch rale. Du hast die deutsche, europäische, in- was hast du heute eigentlich richtig, was
schön rheinisch Pater Schmitz, der hat ge- ternationale Literatur kennen müssen, ein- hast du falsch gemacht. Den Anspruch,
sagt: „Martin, ich weiß mir keinen Rat mit mal quer durch die Epochen. Dazu die Wis- den du an dich selbst stellst, ehrlich zu dir
dir, aber Buchhändler wär vielleicht das senschaftssystematik und Buchführung. Ich zu sein und zu sagen: Das mache ich, und
Richtige für dich. Du bist ein belesener war vielleicht kein besonderes Ass in Buch- das kann ich. Das kann ich nicht, das lasse
Junge.“ Dann hat er bei der Firma, die das führung, aber im Lesen war ich super. ich lieber sein. Das ist ein Grundprinzip,
Kloster mit Büchern belieferte, nachge- SPIEGEL: Haben Sie damals auch mit dem um ins innere Gleichgewicht zu kommen.
fragt, und dann habe ich tatsächlich eine Trinken aufgehört? Um Anspruch und Wirklichkeit in ein adä-
Lehrstelle bekommen. Direkt in der Innen- Schulz: Nee, aber bald danach. quates Verhältnis zu bringen, braucht man
stadt von Aachen. Der Abteilungsleiter SPIEGEL: Sind das Lesen und das Schreiben eine realistische Selbsteinschätzung. Das
dort, Theo Görtz hieß der, wurde eine prä- für Sie, wie Michel Foucault es genannt hat mich zum Tagebuchschreiben ge-
gende Figur in meinem Leben. Und der hat, „eine Sorge um sich“? Eine Art men- bracht. Und das mache ich bis heute so.
Theo hat mir seinen Zugang zur Literatur tale Übung? SPIEGEL: Lesen Sie das manchmal noch mal
vermittelt: „Pass auf! Wir leben davon, den Schulz: Eindeutig, ja. Ich habe von einem nach? Oder geht es nur um den Prozess
Leuten die Dinger zu verkaufen. Und Tag auf den anderen aufgehört. Keine Ent- des Schreibens?
wenn es uns nicht gäbe, dann würden die, ziehungskur, wie manchmal geschrieben Schulz: Nein, natürlich lese ich das regel-
die sie schreiben, hungers sterben. Das wird. Als die Entscheidung getroffen war, mäßig nach.
wollen wir nicht, also müssen wir wissen, war es aus. Seit dem Tag, 37 Jahre ist das SPIEGEL: So wie Sie das beschreiben, klingt
was drinsteht, um sie zu verkaufen. Und jetzt her, habe ich auch nie mehr das Be- es, als wäre das Tagebuchschreiben für Sie
dafür müssen wir sie lesen.“ Das Ganze dürfnis gehabt zu trinken. Aber ich musste ein Gegenprogramm zum Lesen. Beim
im Aachener Dialekt. „Eigentlich“, sagte begreifen, was die Ursache war. Warum Schreiben geht es darum, Selbstbild und
DER SPIEGEL 14 / 2017 117
Kultur

STEFAN MOSES
SPD-Politiker Brandt 1965*

„Grass war ja für das konservative Bürgertum der leibhaftige


Gottseibeiuns. Für meine Mutter war er ein Pornograf.“
Wirklichkeit in Einklang zu bringen, beim Schulz: Mit Heinrich Mann ist das so: Ich deutlich zu machen, dass eine ganz beson-
Lesen von Literatur geht es ja um genau war im Schüleraustausch in Frankreich. Da dere Tradition der Herrschaftsausübung
das andere: das Lesen von Dingen, die eben lernst du natürlich, wer Henri Quatre war. Frankreich schon in der Vormoderne ge-
nicht genau der Wirklichkeit entsprechen. Und dann machten wir einen Ausflug nach prägt hat.
Schulz: Ich glaube nicht, dass das stimmt. Pau, besichtigten das Schloss, in dem Henri Schulz: Ja und da stieß Heinrich Mann auf
Mein Tagebuch ist ja in gewisser Weise auch geboren wurde. Da musste ich das Buch Henri Quatre, diesen aufgeklärten, abso-
die Chronik meines Lebens und meiner Fa- von Heinrich Mann einfach lesen. Der ers- lutistischen Pragmatiker, der Frankreich
milie. Deshalb schaue ich mir die Tagebü- te Satz war toll: „Der Knabe war klein, geprägt hat. Davon handelt das Buch, dann
cher so oft an. Zum Beispiel an Jahrestagen. die Berge ungeheuer.“ Aber es ging mir kommt noch die Bartholomäusnacht, die
Wenn meine Tochter Geburtstag hat, da mit der Jugend und der Vollendung des Hugenottengeschichte bis hin zum Edikt
schaue ich, wie war das eigentlich vor 10 „Henri Quatre“ wie mit „Don Quijote“ von Nantes – als ich diese ganze Hinter-
Jahren, wie war es vor 20 Jahren. Und dann von Cervantes. Der war mir als junger grundgeschichte kannte, habe ich das Buch
blätterst du so weiter, und du siehst, wie sich Mann zunächst zu kompliziert. Ich habe verschlungen.
alles entwickelt. Meine Tochter zum Beispiel ihn mir über einen Umweg erschlossen – SPIEGEL: Hat das Buch Ihr Bild von Frank-
kann das nicht lesen. „Papa, ich muss das eine Jugendausgabe, gekürzt und in leich- reich beeinflusst?
wegtun, da fang ich an zu weinen“, sagt sie. terer Sprache. Erst danach habe ich dann Schulz: In der Tristesse, in der ich mich als
SPIEGEL: Weil es so schön ist? Oder so das Original gelesen und war begeistert. junger Mann befand, war Frankreich mein
schrecklich wie bei Thomas Manns Kin- SPIEGEL: Aber zurück zu Heinrich Mann … Traum- oder Zufluchtsort. Ich suchte jede
dern, die die Tagebücher als Schock der Schulz: So ging es mir mit Manns „Henri Möglichkeit, um Französisch zu sprechen,
Lieblosigkeit empfanden? Quatre“ auch – verstanden habe ich das fuhr über die nahe Grenze nach Lüttich
Schulz: Nein, natürlich weil es schön ist. Buch erst, nachdem ich einen Umweg ge- und Spa in Belgien. Erst später habe ich
Die findet das ganz toll. nommen hatte, in diesem Fall eine Ro- begriffen, dass der Deutsche Heinrich
SPIEGEL: Sie nennen als eines der wichtigen wohlt-Monografie über Heinrich Mann. So Mann mir diese Liebe zu unseren Nach-
Bücher in ihrem Leben Heinrich Manns lernte ich, dass Heinrich Mann von Frank- barn eingeimpft hat.
„Die Jugend des Königs Henri Quatre“ – reich fasziniert war, weil er dort ein Ge- SPIEGEL: Wie lesen Sie heute als Politiker?
wie kamen Sie zu diesem Buch? genkonzept zum wilhelminischen Deutsch- Schulz: Ich bin schon so als Paddelbootfah-
land sah. Das trieb ihn ja auch in einen rer im Meer der Bücher und der Literatur
* Mit den Schriftstellern Günter Grass (4. v. l.), Ingeborg Konflikt mit seinem Bruder Thomas. unterwegs. Ich lese die Literaturbeilagen
Bachmann (M.), Regisseur Fritz Kortner (2.v.l.), Komponist
Hans Werner Henze (3. v. l.), Politiker Karl Schiller (3. v. r.), SPIEGEL: Aber Mann schrieb nicht über die- der Zeitungen und Magazine und bin dann
Schauspielerin Agnes Fink (l.), Ehefrau Rut Brandt (r.). se Zeit, sondern setzte viel früher an, um oft frustriert, weil mich alles interessiert,
118 DER SPIEGEL 14 / 2017
aber alles schaffe ich ja nicht. Dann ver- sellschaftlichen Diskurs wiederzubeleben.
traue ich mich meiner Buchhandlung an. Da ist gerade jetzt wieder viel Bereitschaft
Die Mitarbeiterin, die einst bei mir ihre da, Haltung zu zeigen, weil die Rechts-
Ausbildung gemacht hat, führt den Laden populisten in Europa und der Welt lauter
heute noch. Ich gehe also hin mit dem Vor- werden. Und die SPD ist die Partei, die si-

HANNES JUNG / DER SPIEGEL


satz, einen Titel zu bestellen, und dann cher den breitesten Resonanzboden für den
hat sie das meist schon im Regal stehen, Dialog zwischen Kultur und Politik bieten
weil sie genau weiß, was ich lese. Verlags- kann, und darum bemühe ich mich sehr.
vertreter, die zu ihr kommen, winken oft SPIEGEL: Einer der Autoren, der heute in
schon ab: Sag nichts, das ist sicher für den Europa wichtig ist, in allen Ländern gele-
Schulz. sen wird, ist Michel Houellebecq. Wie ste-
SPIEGEL: Sie sind politisiert worden durch Schulz, SPIEGEL-Redakteure* hen Sie zu ihm?
Willy Brandt. Für dessen Kanzlerschaft wa- „Großes Hallo in der Fraktion“ Schulz: Ich verfolge den Houellebecq seit
ren ja auch Schriftsteller wichtig, vor allem vielen Jahren. Er hat ganz sicher ein Sen-
Günter Grass, der Brandt geradezu geka- nach außen.“ Das ist das Programm einer sorium für unterschwellige Entwicklungen,
pert hatte. Gehörten damals für Sie Lite- nach innen friedlichen Gesellschaft, die vielleicht auch für die Abgründe von Men-
ratur und Politik zusammen? nach außen den Respekt zwischen den schen. Aber ich muss zugeben, dass er mir
Schulz: Grass und Brandt habe ich mitbe- Völkern praktiziert – in einem einzigen sehr fremd ist. Nicht nur in seinem öffent-
kommen, im Wahlkampf 1969. Daran kann Satz solch ein Programm! lichen Auftritt, er ist mir auch zu zynisch,
ich mich, wegen der Debatten bei uns zu SPIEGEL: Und Helmut Schmidt nun? miesepetrig, ja ein bisschen dekadent. Ich
Hause, gut erinnern. Grass war ja für das Schulz: Der steuerte als Verteidigungsmi- muss aber zugeben: Ich will das auch nicht
konservative Bürgertum der leibhaftige nister einen Satz zu dieser Regierungser- näher an mich ranlassen. Meine Konzep-
Gottseibeiuns. klärung bei. Jedes Kabinettsmitglied hatte tion von Politik geht in die komplett an-
SPIEGEL: Auch für Ihre Mutter? zuliefern müssen. Schmidt, Oberleutnant dere Richtung. Genau das, was er – ich
Schulz: Für meine Mutter war er ein Porno- der Luftwaffe, erzogen nach dem Leit- kritisiere ihn dafür nicht, das ist ja gerade
graf. Mein zweitältester Bruder las auf spruch „Die Armee ist die Schule der Na- seine Aufgabe – als potenziell drohende
dem Sofa „Die Blechtrommel“, und meine tion“, lieferte also für Brandt den Satz: Gesellschaft beschreibt, das will ich ver-
Mutter ist immer so dran vorbei (macht „Die Schule der Nation ist die Schule.“ hindern. Ich befasse mich lieber mit einem
mit der rechten Hand neben dem Auge Dass man das danach immer Brandt zu- konstruktiven Gegenprogramm.
eine Scheuklappe). Was waren das für schrieb, hat Schmidt geärgert. Ich lese al- SPIEGEL: Gibt es einen Roman aus unserer
Debatten! les, was ich bekommen kann über die gro- Zeit, der Sie direkt politisch zum Handeln
SPIEGEL: Da wusste man ja noch nicht, dass ßen drei von damals, über Brandt, Wehner inspiriert hat – etwa „Der Circle“ von
Günter Grass ein Mitglied der Waffen-SS und Schmidt. Dave Eggers?
gewesen war. SPIEGEL: Da haben Sie sich etwas vorge- Schulz: Eggers habe ich natürlich gelesen,
Schulz: Nein, das wusste man noch nicht. nommen, denn es erscheint ja nach wie übrigens auf Empfehlung von Frank Schirr-
Ich habe Grass kürzlich übrigens in der vor eine Menge über Willy Brandt und macher. Der war im Silicon Valley gewesen
SPD-Bundestagsfraktion sinngemäß zitiert. Helmut Schmidt. und hat gesagt: Das musst du lesen. Ich
Im „Tagebuch einer Schnecke“ sagt Grass Schulz: Ja. Ich bin als SPD-Vorsitzender ge- habe das verschlungen und war schockiert,
einmal, auf die Fragen seiner Kinder ant- wählt, um in die Zukunft zu denken und ein Grund, weshalb ich mich sehr mit dem
wortend: Kinder, ich weiß jetzt, was Sozial- zu führen. Aber wissen Sie, dass ich mal Thema Grundrechte im digitalen Zeitalter
demokraten sind – Menschen, denen die Vorsitzender der SPD bin, in der Nachfol- auseinandergesetzt habe. Ich beschäftige
Leuchtkraft ihrer Resolutionen wichtiger ge solcher großen historischen Personen, mich auch mit historischen Sachbüchern.
sind als die Ergebnisse ihrer praktischen die unser Land geprägt haben wie Otto Ich habe mit Christopher Clark intensiv
Politik. Großes Hallo in der Fraktion! Wels, Kurt Schumacher oder eben Brandt – über „Die Schlafwandler“ diskutiert. Auch
SPIEGEL: Gibt es denn da noch etwas Neues daran hätte ich nie im Traum gedacht. Ich der „Höllensturz“ von Ian Kershaw ist sehr
zu entdecken, in den Büchern über diese habe Brandt und Schmidt noch als Erwach- wichtig für mich.
Ära? sener eine kindliche Bewunderung entge- SPIEGEL: Weil Sie Parallelen zu heute er-
Schulz: Aber ja. Nehmen Sie Helmut gengebracht, so oft über diese Männer kennen?
Schmidt! Hartmut Soell hat eine Biografie nachgedacht und gelesen – und nun folge Schulz: Nein, so weit ist es zum Glück noch
über Helmut Schmidt geschrieben, zwei ich ihnen im Amt nach –, da wird mir nicht. Aber die Gefahren sind erkennbar.
Bände mit je über 800 Seiten. Da hab ich manchmal schon ein bisschen mulmig. „Wehret den Anfängen“ ist der heimliche
mich durchgequält, durch beide Bände. SPIEGEL: Muss die SPD wieder solche Bünd- Untertitel all dieser Bücher. Ich habe nach
Nebenbei – das habe ich dem Helmut nisse mit Künstlern, Intellektuellen und Karl Dietrich Brachers Tod auch noch mal
Schmidt mal erzählt, aber er hat nur ab- Schriftstellern eingehen, wenn sie gewin- dessen „Weimarer Republik“ gelesen. Vie-
gewinkt: mir alles zu viel. Aber darum fas- nen will? Und mit wem? les hat mich an Dinge erinnert, die ich in
ziniert mich Literatur so, du lernst nie aus. Schulz: Es gibt schon ein großes Bedürfnis Brüssel beobachtet habe, im Europaparla-
In der Schmidt-Biografie habe ich bei- bei Schriftstellern, auch bei Publizisten, ment. Wir dürfen nicht zuschauen, wie die
spielsweise etwas über Brandts berühmte diese seit den Siebzigerjahren und noch Instrumente der Demokratie in die Hände
Regierungserklärung gelernt, deren Satz in den Neunzigern gepflegte republikani- der Demokratiefeinde gelangen. Marine
„Wir wollen mehr Demokratie wagen“ sche Tradition der engagierten Teilnahme Le Pen will die Instrumente des Parla-
heute jeder kennt. Mir ist auch ein anderer von Künstlern und Schriftstellern am ge- ments nutzen, um es abzuschaffen. Und
Satz sehr wichtig, den ich für einen Jahr- wer Ähnliches bei Bracher über das Ende
hundertsatz halte: „Wir wollen ein Volk der Weimarer Republik liest, muss wie ich
der guten Nachbarn sein, nach innen und Video: Was liest Martin Schulz? in höchstem Maße alarmiert sein. Deshalb
Und was nicht? haben diese Werke für mich einen höchst
* Volker Weidermann und Nils Minkmar in Schulz’ Ber- spiegel.de/sp142017schulz praktischen Einfluss.
oder in der App DER SPIEGEL
liner Büro. SPIEGEL: Aber bieten die auch Lösungen?

DER SPIEGEL 14 / 2017 119


Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control); Schulz: Nein. Die historische Literatur ist
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller ein Hilfsmittel. Lösungen müssen wir
selbst erarbeiten. Man kann aber die Pro-
Belletristik Sachbuch bleme von damals lesend erkennen, ver-
stehen. Eine zeitgemäße Antwort müssen
1 (1) Jussi Adler-Olsen 1 (1) Robin Alexander wir selbst geben.
Selfies dtv; 23 Euro Die Getriebenen Siedler; 19,99 Euro
SPIEGEL: Es gibt auch Probleme, die allein
unserer Zeit eigen sind.
2 (2) Carlos Ruiz Zafón Das Labyrinth 2 (8) Yuval Noah Harari Schulz: Ja. Ein praktisches Beispiel: Die
der Lichter S. Fischer; 25 Euro Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro Staaten der Europäischen Union müssen
3 (2) Eckart von Hirschhausen Wunder auch rechtsstaatliche Standards einhalten.
3 (4) Elena Ferrante Meine geniale Um die zu garantieren und notfalls durch-
wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro
Freundin Suhrkamp; 22 Euro zusetzen, wurden gemeinschaftlich Instru-
4 (4) Cameron Bloom / Bradley Trevor Greive mente geschaffen. Wenn sich nun Staaten
4 (3) Martin Suter Penguin Bloom Knaus; 19,99 Euro daran nicht halten, versucht die Europäi-
Elefant Diogenes; 24 Euro
sche Union, das Vereinbarte durchzuset-
5 (5) Roger Willemsen
Wer wir waren zen, und leitet entsprechende Verfahren
5 (5) Julian Barnes Der Lärm S. Fischer; 12 Euro
ein. Und was erleben wir? Was zur Wah-
der Zeit Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
6 (–) Katrin Weber rung unserer gemeinsamen Werte gedacht
6 (11) Hanya Yanagihara Sie werden lachen Aufbau; 18,95 Euro war, wird als Eingriff in die nationalstaat-
Ein wenig Leben Hanser Berlin; 28 Euro liche Souveränität denunziert. Da sagen
7 (6) Peter Wohlleben Das geheime Leben
manche Parteien vor Wahlen: Früher sind
der Bäume Ludwig; 19,99 Euro
7 (6) Zsuzsa Bánk Schlafen werden wir aus Moskau regiert worden, heute wer-
wir später S. Fischer; 24 Euro 8 (–) Dieter Nuhr Die Rettung den wir aus Brüssel regiert. Die Gegner
der Welt Lübbe; 18 Euro der transnationalen Demokratie missbrau-
8 (17) Natascha Wodin chen das zur Verteidigung ihrer autoritären
Sie kam aus Mariupol Rowohlt; 19,95 Euro 9 (7) Andrea Wulf Alexander von Humboldt Entwicklung. Das kannst du in keinem
und die Erfindung der Natur
Buch lesen, das ist ein zeitgenössisches
9 (8) Elena Ferrante Die Geschichte C. Bertelsmann; 24,99 Euro
Problem, das ein deutscher Bundeskanzler
eines neuen Namens Suhrkamp; 25 Euro anpacken muss.
10 (3) Leonhard Horowski Das Europa
10 (7) Sabine Ebert Schwert und Krone. der Könige Rowohlt; 39,95 Euro SPIEGEL: Man kann es aber auch deswegen
Meister der Täuschung Knaur; 19,99 Euro nicht nachlesen, weil in vielen Ländern
11 (18) Elizabeth Blackburn / Elissa Epel die Autoren potenzieller Gegenwarts-
Die Entschlüsselung des Alterns beschreibungen inhaftiert sind, und zwar
11 (9) Sebastian Fitzek Mosaik; 24 Euro
Das Paket Droemer; 19,99 Euro durchaus in unserer Nähe. Wie reagieren
12 (9) Zana Ramadani Die verschleierte Sie politisch darauf?
12 (–) Maja Lunde Die Geschichte Gefahr Europa; 18,90 Euro Schulz: Mit Klarheit. Wenn wir uns selbst
der Bienen btb; 20 Euro treu bleiben wollen, dann muss man de-
13 (–) Andreas Englisch nen, die die Rechtsstaatlichkeit bedrohen,
13 (10) Paul Auster Franziskus C. Bertelsmann; 25 Euro
mit Entschiedenheit entgegentreten. Diese
4321 Rowohlt; 29,95 Euro
14 (–) Barbara Stollberg-Rilinger Entschiedenheit darf man in der interna-
Maria Theresia tionalen Diplomatie zeigen, auch wenn
14 (–) Nicholas Sparks
C. H. Beck; 34 Euro wir feststellen müssen, dass wir im globa-
Seit du bei mir bist Heyne; 19,99 Euro
len Dorf Staaten nicht zu irgendwas zwin-
15 (–) Heinz Strunk gen können. Deshalb braucht es ja die Di-
Die Biografie der vor 300 plomatie. Realpolitisch brauchen wir etwa
Jürgen Jahren geborenen öster-
Rowohlt; 19,95 Euro reichischen Kaiserin, aus- die Türkei, Russland genauso – aber wir
gezeichnet mit dem Preis müssen unseren Prinzipien treu bleiben.
„Der goldene Handschuh“, der Leipziger Buchmesse SPIEGEL: Ist es in so einer Lage denn gut,
Strunks letztes Werk, wurde die Europäische Union mit Untergangs-
von der Kritik gefeiert. Jetzt 15 (10) Kester Schlenz
hat er wieder mit einem Mutti baut ab Mosaik; 12 Euro
romanen wie den „Buddenbrooks“ zu ver-
Unterhaltungsroman Erfolg gleichen?
16 (15) Michail Gorbatschow Schulz: Ich habe nicht die EU mit den Bud-
16 (13) Joanne K. Rowling / John Tiffany / Kommt endlich zur Vernunft – denbrooks verglichen, sondern meine Ge-
Jack Thorne Harry Potter und das Nie wieder Krieg! Benevento; 7 Euro neration. Ich möchte nicht, dass es uns so
verwunschene Kind Carlsen; 19,99 Euro geht wie der berühmten Lübecker Kauf-
17 (11) Peter Wohlleben Das Seelenleben
mannsfamilie: Die erste Generation baut
17 (12) T. C. Boyle der Tiere Ludwig; 19,99 Euro
ein großartiges Werk, die nächste verwal-
Die Terranauten Hanser; 26 Euro
18 (16) Christian Nürnberger / Petra Gerster tet es noch gut, und die dritte tritt es in
18 (–) Mathias Enard Der rebellische Mönch, die entlaufene die Tonne. Ich möchte nicht zu einer Ge-
Kompass Hanser Berlin; 25 Euro
Nonne und der größte Bestseller aller neration gehören, in der das Wohlstands-
Zeiten – Martin Luther Gabriel; 14,99 Euro und Friedensprojekt, das die Europäische
19 (16) Takis Würger Union ist, zerbricht. Ich will deshalb als
19 (14) Heinz Schilling
Der Club Kein & Aber; 22 Euro Bundeskanzler mit allem, was ich kann,
1517 C.H. Beck; 24,95 Euro
für Europa kämpfen.
20 (15) Juli Zeh 20 (20) Volker Weiß Die autoritäre SPIEGEL: Herr Schulz, wir danken Ihnen für
Unterleuten Luchterhand; 24,99 Euro Revolte Klett-Cotta; 20 Euro dieses Gespräch.
120 DER SPIEGEL 14 / 2017
sondern auch schockierendes Filmdokument zu schaffen.
Schockierend, weil sich aus ihren Erzählungen das Bild
einer klassischen Mitläuferin ergibt, einer Frau, die noch
1933 für einen jüdischen Versicherungsmakler arbeitete,
dann aber in die NSDAP eintrat, um eine Stelle beim
Reichsrundfunk in Berlin zu bekommen. Dort stellte man
Dienerin der Diktatur bald fest, dass sie schneller tippen konnte als ihre Kolle-
ginnen – was angeblich der Grund dafür war, dass man
sie 1942 ins Reichspropagandaministerium schickte.
Filmkritik Goebbels’ Sekretärin Brunhilde Die junge Frau zeigte sich dort hoch motiviert, sie be-
Pomsel erzählt aus ihrem Alltag im NS- kam mehr Gehalt als je zuvor, ihr imponierten die elegant
gekleideten Menschen im neuen Umfeld. Sie sei ja damals
Regime – ein Dokument des Opportunismus. „sehr äußerlich“ gewesen, sagt Pomsel im Rückblick. Für
Politik habe sie sich „nicht interessiert“, man sei
eben jung gewesen und wollte leben. Nicht einmal
in Goebbels’ Vorzimmer will sie etwas von den
Verbrechen der Nazis mitbekommen haben. Vom
Holocaust, so behauptet sie, habe sie erst nach
der Rückkehr aus der Gefangenschaft erfahren.
Im Film bleiben solche Äußerungen unkommen-
tiert, alle Fragen oder Nachfragen wurden herausge-
schnitten, das Wort hat allein Goebbels’ Exsekretä-
rin. Die Regisseure behelfen sich nur mit historischen
Filmbildern von Leichenbergen aus Konzentrations-
lagern und anderen dokumentarischen Szenen, die
BLACKBOX FILM & MEDIENPRODUKTION
von Zeit zu Zeit eingeblendet werden: ein fast ver-
zweifelt anmutender Versuch, die Suada der alten
Dame mit Fragezeichen zu versehen.
Auch das Buch, das der Europa-Verlag unter
dem Titel „Ein deutsches Leben“ zum Filmstart
auf den Markt gebracht hat und in dem Pomsels
Zeitzeugin Pomsel 2013 Aussagen dokumentiert sind, kapituliert vor die-
sem Redefluss: „Streckenweise“, gesteht Autor
Thore D. Hansen, habe man „das Gefühl, dass sie

V
on ihrem Chef schwärmte sie bis zum Schluss: „Der sich nicht ehrlich äußert“. Aber wo genau die Grenze zwi-
Goebbels“, so erinnerte sich seine Sekretärin Brun- schen Wahrheit und Legende, zwischen Nichtwissen und
hilde Pomsel, „war ein gut aussehender Mann. Un- Verdrängung verläuft, kann Hansen nicht sagen.
gemein gepflegt, dolle Anzüge.“ Nie sei der Minister im Tatsächlich bestehen Pomsels Erzählungen aus mindes-
Büro cholerisch oder unhöflich gewesen, stets habe er die tens drei Erinnerungsschichten, die für den Betrachter
„Contenance“ bewahrt. Nur dass er hinkte, habe etwas kaum zu unterscheiden sind. Ganz unten liegen Pomsels
gestört und ihr immer „ein bisschen leidgetan“. eigene Wahrnehmungen aus der NS-Zeit; es folgt die be-
Mitleid mit einem der größten Verbrecher der Weltge- schönigende Lesart, mit der sich Goebbels’ Exsekretärin
schichte? Für Brunhilde Pomsel war das bis zuletzt selbst- 1945 gegenüber den Sowjets freizusprechen versuchte;
verständlich. Hellwach und ohne jede Spur von Reue be- und ganz oben liegt ihre Darstellung der Vergangenheit
richtete sie 2013 den Filmemachern Christian Krönes, Olaf aus dem Abstand von 70 Jahren – so wie es wirklich war
S. Müller, Roland Schrotthofer und Florian Weigensamer oder wie sie es gern gehabt hätte.
über ihre Arbeit für den NS-Propagandachef. Aus ihren Befremdlich sind vor allem ihre Versuche, jede Mitver-
Bekenntnissen hat das Quartett einen großen Dokumen- antwortung für das Naziregime abzustreiten. Ja, sie sei
tarfilm gemacht, „Ein deutsches Leben“, der nun in die „feige“ gewesen und habe nicht opponiert, aber Wider-
Programmkinos kommt. Erst Ende Januar ist Brunhilde stand wäre doch auch „dumm“ gewesen, wie man am
Pomsel im biblischen Alter von 106 Jahren gestorben. Schicksal der Studenten der „Weißen Rose“ ablesen könne.
1911 in Berlin geboren, war sie das wohl letzte noch le- Natürlich gebe es heute viele, „die behaupten, sie hätten
bende Mitglied aus dem inneren Kreis des NS-Regimes, damals mehr getan für die armen verfolgten Juden“. Aber
keine Täterin sicherlich, aber eine stille Dienerin der Dik- das sei eine Illusion: „Sie hätten es auch nicht getan ...
tatur. Die Sowjets verhafteten sie nach der Eroberung Wir waren ja alle in einem riesigen Konzentrationslager.“
Berlins im Mai 1945, fünf Jahre lang war sie eingesperrt, Das alles bleibt unwidersprochen, Brunhilde Pomsel re-
unter anderem in Buchenwald und Sachsenhausen, dann, det – und der Zuschauer muss sich seinen Reim darauf
1950, kam sie frei und arbeitete wieder in dem Job, in machen. Für den Geschichtsunterricht bietet „Ein deut-
dem ihre Karriere vor dem Krieg begonnen hatte, als sches Leben“ eine Menge Diskussionsstoff, neue histori-
Sekretärin beim Rundfunk. sche Erkenntnisse wird hier aber niemand gewinnen.
Anders als etwa Hitlers Sekretärin Traudl Junge oder Martin Doerry
sein Telefonist Rochus Misch war Pomsel weitgehend in
Vergessenheit geraten. Die alte Dame hatte nie mit Anek- Video:
doten aus der Nazizeit geprahlt, aber ein gutes Gedächtnis. Ausschnitte aus „Ein deutsches Leben“
Vor der Kamera macht sie davon nun regen Gebrauch: spiegel.de/sp142017pomsel
Material genug, um daraus ein nicht nur spektakuläres, oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 14 / 2017 121


Prämien für Ihr Osterfest!
JETZT LESER WERBEN – SIE MÜSSEN SELBST NICHT ABONNENT SEIN.

Gartenliege Ipanema
Aus Eukalyptusholz, FSC-zertifiziert und zusammen-
klappbar. Inklusive Wendeauflage in Rot/Beige.
Aufstellmaße ca. 178 x 54 x 70 cm. Ohne Zuzahlung.

KitchenAid-Küchenmaschine Beats by Dr. Dre Solo2 Kopfhörer Wagenfeld-Tischleuchte WG 24


Küchenhelfer mit Knethaken, Flachrührer, Jetzt noch bessere Klangqualität und satter, Der Bauhaus-Klassiker! Aus vernickeltem
Schneebesen und 4,28-Liter-Schüssel. klarer Sound! Komfortables Design, faltbar. Metall, Klarglas und Opalglas. Nummeriert.
Maße: 35 x 35 x 22 cm. Zuzahlung € 189,–. Gewicht: nur leichte 205 g. Ohne Zuzahlung. Höhe: ca. 36 cm. Zuzahlung € 149,–.
Schnell bestellen:
nur bis 10.4.2017

€ 110,– Geldprämie
Bei Bestellung bis 10.4.2017 erhalten Sie
€ 110,– als Geldprämie. Schnell sichern!

 
Ja, ich habe geworben und wähle meine Prämie! Ich bin der neue SPIEGEL-Leser.
Anschrift des neuen Lesers:
SPIEGEL-Vorteile  Wertvolle Wunschprämie für den Werber.
Frau
ğšwğšĒğšŋųťťťğŅĒťŭłğĴō^V0(>>ğťğšťğĴō
 -ğšš
ųŋvœšųĬťŝšğĴťťŭćŭŭǽōųšǽĿğųťĬćĒğĴōłŅ>ĴğĨğšųōĬ Fćŋğ, vœšōćŋğ
ųĨwųōťĔıĚğō^V0(>ĚĴĬĴŭćŅĨŸšōųšǽ"ǽĿğųťĬćĒğĴōłŅ
^V0(>#œœłť 19
^ŭšćŬğ+-ćųťōš Geburtsdatum

Wunschprämie (ćšŭğōŅĴğĬğ0ŝćōğŋć ("-"Ǿ*


<ĴŭĔığōĴĚ<ŸĔığōŋćťĔıĴōğ(-ǿǾ*ŅĬǾ.1 V> Lšŭ

Beats <œŝĨıŘšğš("Ǿǿ*
WagenfeldeĴťĔıŅğųĔıŭğ (-5-*ŅĬǾ1 eğŅğĨœō)ĨŸšğžğōŭųğŅŅğZŸĔłĨšćĬğō* DćĴŅ)ĨŸšğžğōŭųğŅŅğZŸĔłĨšćĬğō*
(ŅČųĒĴĬğš0ĚğōŭĴĪłćŭĴœōťōųŋŋğš"ǽǽǽǽǽǽǽ-ǽǿǽ

 ǾǾǽ1(""* bis 10.4.2017. DğĴō<œōŭœĨŸšĚĴğpĒğšſğĴťųōĬ Gleich mitbestellen! :ćĴĔıŋŘĔıŭğųťČŭŅĴĔıĚğō^V0(>ĚĴĬĴŭćŅĨŸšōųšǽ"ǽ


ŝšœųťĬćĒğĒğĴğığōťŭćŭŭĨŸšĴŋĴōğŅłćųĨ
DE ^Ǿ5ǽǾ"
0#F  :ć ĴĔı ſŸōťĔığ ųōžğšĒĴōĚŅĴĔığ ōĬğĒœŭğ Ěğť ^V0(>vğšŅćĬť ųōĚ Ěğš ŋćōćĬğš ŋćĬćĴō vğšŅćĬťĬğťğŅŅťĔıćĨŭ
)ųğĴŭťĔıšĴĨŭğō#ŸĔığšōĒœōōğŋğōŭťLōŅĴōğVšœĚųłŭğōųōĚvğšćōťŭćŅŭųōĬğō*ŝğšeğŅğĨœōųōĚ+œĚğšDćĴŅDğĴō
ĴōžğšťŭČōĚōĴťłćōōĴĔıĿğĚğšğĴŭſĴĚğššųĨğō
Anschrift des Werbers: ğšōğųğĒœōōğōŭŅĴğťŭĚğō^V0(>ĨŸšųōČĔıťŭ"ǿųťĬćĒğōĨŸšųšğĴŭǽŝšœųťĬćĒğťŭćŭŭǽĴŋĴōğŅłćųĨ
Ěğō^V0(>ĚĴĬĴŭćŅųťČŭŅĴĔıĨŸšǽ"ǽŝšœųťĬćĒğćťĒœōōğŋğōŭžğšŅČōĬğšŭťĴĔıĿğſğĴŅťųŋſğĴŭğšğ"ǿųťĬćĒğō
Frau ſğōōōĴĔıŭťğĔıťwœĔığōžœšōĚğĚğť#ğųĬťğĴŭšćųŋťĬğłŸōĚĴĬŭſĴšĚ
 -ğšš
Fćŋğ, vœšōćŋğ Ich zahle bequem per SEPA-Lastschrift* žĴğšŭğŅĿČıšŅĴĔı".ǽĚĴĬĴŭćŅğųťĬćĒğıćŅĒĿČıšŅĴĔıǾ-1
ĴğDćōĚćŭťšğĨğ
DE šğōſĴšĚťğŝćšćŭ
mitgeteilt.
^ŭšćŬğ+-ćųťōš 0#F
^VǾ5Ǿǽ
V> Lšŭ ćŭųŋ kōŭğšťĔıšĴĨŭĚğťōğųğō>ğťğšť

Coupon ausfüllen und senden an:


DER SPIEGEL, Kunden-Service, 20637 Hamburg p 040 3007-2700  www.spiegel.de/p17
ğšwğšĒğšğšıČŅŭĚĴğVšČŋĴğĔćžĴğšwœĔığōōćĔıćıŅųōĬťğĴōĬćōĬĚğťĒœōōğŋğōŭĒğŭšćĬťğšvœšųĬťŝšğĴťžœōǽ"ǽĨŸšĚğō^V0(>ĚĴĬĴŭćŅĬĴŅŭōųšĴōvğšĒĴōĚųōĬŋĴŭğĴōğŋŅćųĨğōĚğō#ğųĬĚğšVšĴōŭćųťĬćĒğğōŭıćŅŭğōťĴōĚǽĨŸšĚćťVćŝğš
#ğĴ^ćĔıŝšČŋĴğōŋĴŭųćıŅųōĬĬŅǿ1FćĔıōćıŋğĬğĒŸıšŅŅğVšğĴťğĴōłŅųťĴžğDſ^ŭųōĚvğšťćōĚćťōĬğĒœŭĬĴŅŭōųšĴōğųŭťĔıŅćōĚ-ĴōſğĴťğųĚğō(#ųōĚĚğŋwĴĚğššųĨťšğĔıŭĪōĚğō^ĴğųōŭğšſſſťŝĴğĬğŅĚğ+ćĬĒ^V0(>vğšŅćĬZųĚœŅĨųĬťŭğĴō
(ŋĒ-34œ<(šĴĔųťťŝĴŭğǾǿǽ"5-ćŋĒųšĬeğŅğĨœōǽǽ-ǽǽ5ǿ5ǽǽDćĴŅćĒœťğšžĴĔğ6ťŝĴğĬğŅĚğ
* SEPA-Lastschriftmandat: 0ĔığšŋČĔıŭĴĬğĚğōvğšŅćĬćıŅųōĬğōžœōŋğĴōğŋ<œōŭœŋĴŭŭğŅť>ćťŭťĔıšĴĨŭğĴōųĴğığōųĬŅğĴĔıſğĴťğĴĔıŋğĴō<šğĚĴŭĴōťŭĴŭųŭćōĚĴğžœŋvğšŅćĬćųĨŋğĴō<œōŭœĬğœĬğōğō>ćťŭťĔıšĴĨŭğōğĴōųŅŘťğō-ĴōſğĴť0ĔıłćōōĴōōğšıćŅĒ
žœōćĔıŭwœĔığōĒğĬĴōōğōĚŋĴŭĚğŋ#ğŅćťŭųōĬťĚćŭųŋĚĴğšťŭćŭŭųōĬĚğťĒğŅćťŭğŭğō#ğŭšćĬťžğšŅćōĬğōťĬğŅŭğōĚćĒğĴĚĴğŋĴŭŋğĴōğŋ<šğĚĴŭĴōťŭĴŭųŭžğšğĴōĒćšŭğō#ğĚĴōĬųōĬğō
Impressum Service
Leserbriefe
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) E-Mail spiegel@spiegel.de
SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg
www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966
E-Mail: leserbriefe@spiegel.de
HERAUSGEBER Rudolf Augstein KOORDINATION INVESTIGATIV Jürgen MOSKAU Christian Esch, Dr. Christian Hinweise für Informanten
(1923 – 2002) Dahlkamp (juergen.dahlkamp@spiegel.de), Neef, Glasowskij Pereulok Haus 7, Office 6, Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und Infor-
Jörg Schmitt (joerg.schmitt@spiegel.de) 119002 Moskau, Tel. +7 495 22849-61, Fax
22849-62 mationen zukommen lassen wollen, stehen Ihnen folgende
CHEFREDAKTEUR KOORDINATION MEINUNG Markus Felden- Wege zur Verfügung:
Klaus Brinkbäumer (V. i. S. d. P.) kirchen, Christiane Hoffmann NEW YORK Philipp Oehmke, 10 E 40th Post: DER SPIEGEL, c/o Investigativ, Ericusspitze 1,
MULTIMEDIA Jens Radü; Alexander Epp, Street, Suite 3400, New York, NY 10016,
20457 Hamburg
STELLV. CHEFREDAKTEURE Roman Höfner, Marco Kasang, Bernhard Tel. +1 212 2217583, Fax 3026258
Susanne Beyer, Dirk Kurbjuweit, Riedmann Telefon: 040 3007-0, Stichwort „Investigativ“
Alfred Weinzierl PA RIS Julia Amalia Heyer, 12 Rue de E-Mail (Kontakt über Website): www.spiegel.de/investigativ
CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Anke Castiglione, 75001 Paris, Tel. +33 1
Jensen (stellv.) Unter dieser Adresse finden Sie auch eine Anleitung, wie
58625120, Fax 42960822
HAUPTSTADTBÜRO Leitung: René Pfister, Sie Ihre Informationen oder Dokumente durch eine
S C H LU S S R E DA KT I O N Gesine Block;
Michael Sauga, Christiane Hoffmann PEKING Bernhard Zand, P.O. Box 170, PGP-Verschlüsselung geschützt an uns richten können.
Christian Albrecht, Regine Brandt, Lutz Peking 100101, Tel. +86 10 65323541,
(stellv.). Redaktion Politik und Wirtschaft: Der dazugehörende Fingerprint lautet:
Diedrichs, Bianca Hunekuhl, Ursula Junger, Fax 65325453
Dr. Melanie Amann, Sven Böll, Markus
Dettmer, Horand Knaup, Ann-Katrin Mül-
Sylke Kruse, Maika Kunze, Katharina 6177 6456 98CE 38EF 21DE AAAA AD69 75A1 27FF 8ADC
Lüken, Stefan Moos, Fred Schlotterbeck, RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Caixa
ler, Ralf Neukirch, Gordon Repinski, Cor-
Sebastian Schulin, Tapio Sirkka, Ulrike
nelia Schmergal, Christoph Schult, Anne
Wallenfels
Postal 56071, AC Urca, Leserservice
Seith, Britta Stuff, Gerald Traufetter, Wolf 22290-970 Rio de Janeiro-RJ,
Tel. +55 21 2275-1204, Fax 2543-9011 Telefon: 040 3007-3540 Fax: 040 3007-2966
Wiedmann-Schmidt. Autoren, Reporter: P RO D U KT I O N Solveig Binroth, Christiane
Markus Feldenkirchen, Konstantin von Stauder, Petra Thormann; Christel Basilon,
E-Mail: leserservice@spiegel.de
ROM Walter Mayr, Largo Chigi 9, 00187
Hammerstein, Marc Hujer, Alexander Neu- Petra Gronau, Martina Treumann
bacher, Christian Reiermann, Marcel
Rom, Tel. +39 06 6797522, Fax 6797768 Nachdruckrechte / Lizenzen für Texte, Fotos, Grafiken
BILDREDAKTION Michaela Herold, Nachdruck und Speicherung in digitalen Medien nur mit
Rosenbach Claudia Jeczawitz (stellv.); Tinka Dietz, SA N F RA N C I S CO Thomas Schulz,
Sabine Döttling, Torsten Feldstein, 1 Post Street, Suite 2750, San Francisco, schriftlicher Genehmigung des Verlags.
D E U TS C H L A N D Leitung: Cordula Meyer, CA 94104, Tel. +1 212 2217583 Für Deutschland, Österreich, Schweiz:
Thorsten Gerke, Andrea Huss, Elisabeth
Dr. Markus Verbeet, Annette Großbon-
gardt (stellv.); Hans-Ulrich Stoldt (Meldun-
Kolb, Matthias Krug, Parvin Nazemi,
TEL AVIV Nicola Abé, P.O. Box 8387,
E-Mail: lizenzen@spiegel.de, Telefon: 040 3007-3540
Peer Peters, Anke Wellnitz Fax: 040 3007-2966
gen). Redaktion: Laura Backes, Katrin Tel Aviv-Jaffa 61083, Tel. / Fax +972 3
Elger, Michael Fröhlingsdorf, Hubert Gude, E-Mail: bildred@spiegel.de 6835339 Für alle anderen Länder: The New York Times Syndicate
Charlotte Klein, Petra Kleinau, Gunther SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, E-Mail: zoe.tucker@nytimes.com, Telefon: +1 212 556-5118
Latsch, Miriam Olbrisch, Andreas Ulrich, Tel. +1 212 3075948 TO KIO Dr. Wieland Wagner, Asagaya
Antje Windmann, Michael Wulzinger. Minami 2-31-15 B, Suginami-ku, Nachbestellungen SPIEGEL-Ausgaben der letzten Jahre so-
GRAFIK Martin Brinker, Johannes Unselt Tokio 166-0004, Tel. +81 3 6794 7828
Autoren, Reporter: Jürgen Dahlkamp, Jan (stellv.); Cornelia Baumermann, Ludger wie alle Ausgaben von SPIEGEL GESCHICHTE und SPIEGEL
Fleischhauer, Julia Jüttner, Beate Lakotta, Bollen, Thomas Hammer, Anna-Lena WA RS C H AU P.O. Box 31, ul. Waszyngtona WISSEN können unter www.amazon.de/spiegel versand-
Bruno Schrep (frei), Katja Thimm, Kornfeld, Gernot Matzke, Cornelia 26, 03-912 Warschau, Tel. +48 22 6179295, kostenfrei innerhalb Deutschlands nachbestellt werden.
Dr. Klaus Wiegrefe Pfauter, Julia Saur, Michael Walter Fax 6179365
Berliner Büro Leitung: Frank Hornig. L AYOUT Wolfgang Busching, Jens Kuppi, WAS H I N GTO N Christoph Scheuermann, Historische Ausgaben Historische Magazine Bonn
Redaktion: Maik Baumgärtner, Sven Reinhilde Wurst (stellv.); Michael Abke, 1202 National Press Building, Washington, www.spiegel-antiquariat.de Telefon: 0228 9296984
Becker, Markus Deggerich, Sven Röbel, Katrin Bollmann, Claudia Franke, Bettina D.C. 20045, Tel. +1 202 3475222, Fax
Michael Sontheimer (frei), Andreas Fuhrmann, Ralf Geilhufe, Kristian Heuer, 3473194 Abonnement für Blinde Audio Version, Deutsche
Wassermann, Peter Wensierski. Autoren, Louise Jessen, Nils Küppers, Sebastian
Blindenstudienanstalt e. V. Telefon: 06421 606265
Reporter: Stefan Berg, Martin Knobbe, Raulf, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen,
Jörg Schindler TITELBILD Katja Kollmann, Arne Vogt; Cordelia Freiwald (stellv.), Axel Pult Elektronische Version, Frankfurter Stiftung für Blinde
Suze Barrett, Svenja Kruse, Iris Kuhlmann, (stellv.), Peter Wahle (stellv.); Jörg-Hinrich Telefon: 069 9551240
W I RTS C H A F T Leitung: Armin Mahler, Gershom Schwalfenberg Ahrens, Zahra Akhgar, Dr. Susmita
Susanne Amann (stellv.), Markus Brauck Arp, Ulrich Booms, Viola Broecker, Abonnementspreise
(stellv.). Redaktion: Simon Hage, Isabell REDAKTIONSVERTRE TUNGEN
D E U TS C H L A N D
Dr. Heiko Buschke, Johannes Eltzschig, Inland: 52 Ausgaben € 239,20
Hülsen, Alexander Jung, Nils Klawitter, Klaus Falkenberg, Catrin Fandja, Dr. André Studenten Inland: 52 Ausgaben € 163,80
Alexander Kühn, Martin U. Müller, Ann- BERLIN Alexanderufer 5, 10117 Berlin; Geicke, Silke Geister, Thorsten Hapke,
Kathrin Nezik, Simone Salden, Jörg Deutsche Politik, Wirtschaft Susanne Heitker, Carsten Hellberg, Auslandspreise unter www.spiegel.de/ausland
Schmitt. Autoren, Reporter: Hauke Goos, Tel. 030 886688-100, Fax 886688-111; Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Kurt
Dietmar Hawranek, Michaela Schießl Deutschland, Wissenschaft, Kultur, Mengenpreise auf Anfrage.
Jansson, Michael Jürgens, Tobias Kaiser,
Gesellschaft Tel. 030 886688-200, Renate Kemper-Gussek, Ulrich Klötzer, Der digitale SPIEGEL: 52 Ausgaben € 213,20
AU S L A N D Leitung: Britta Sandberg, Fax 886688-222 Ines Köster, Anna Kovac, Peter Lake- (der Anteil für das E-Paper beträgt € 187,20)
Juliane von Mittelstaedt (stellv.), Mathieu DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4, meier, Dr. Walter Lehmann-Wiesner,
von Rohr (stellv.). Redaktion: Dieter Befristete Abonnements werden anteilig berechnet.
01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert,
Bednarz, Katrin Kuntz, Jan Puhl, Sandra Sonja Maaß, Nadine Markwaldt-Buchhorn,
Schulz, Samiha Shafy, Helene Zuber.
Fax 26620-20 Kundenservice Persönlich erreichbar
Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich,
Autoren, Reporter: Marian Blasberg, Cle- DÜSSELDORF Frank Dohmen, Barbara Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr, Sa. 10.00 – 18.00 Uhr
Cornelia Moormann, Tobias Mulot, Bernd
mens Höges, Ralf Hoppe, Susanne Koelbl, Schmid, Fidelius Schmid, Benrather Straße Musa, Nicola Naber, Margret Nitsche, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg
Christoph Reuter 8, 40213 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01, Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Dr. Vasi- Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070


Fax 86679-11 lios Papadopoulos, Ulrike Preuß, Axel
WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: E-Mail: aboservice@spiegel.de
FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Rentsch, Thomas Riedel, Andrea Sauer-
Rafaela von Bredow, Olaf Stampf. Martin Hesse, An der Welle 5, 60322 bier, Maximilian Schäfer, Marko Scharlow,
Redaktion: Dr. Philip Bethge, Manfred Frankfurt am Main, Tel. 069 9712680, Fax Mirjam Schlossarek, Dr. Regina Schlüter-
Dworschak, Marco Evers, Dr. Veronika 97126820 Ahrens, Mario Schmidt, Thomas Schmidt,
Hackenbroch, Guido Kleinhubbert, Julia
Koch, Kerstin Kullmann, Hilmar Schmundt, KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36,
Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegen- Abonnementsbestellung
76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737, thaler, Rainer Staudhammer, Tuisko
Matthias Schulz, Frank Thadeusz, Steinhoff, Dr. Claudia Stodte, Rainer bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:
Christian Wüst. Autor: Jörg Blech Fax 9204449
Szimm, Nina Ulrich, Ursula Wamser, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg –
M Ü N C H E N Dinah Deckstein, Anna Clauß, Peter Wetter, Kirsten Wiedner, Holger oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo
KULT UR Leitung: Elke Schmitter, Sebastian Conny Neumann, Rosental 10, 80331 Mün- Wilkop, Karl-Henning Windelbandt,
Hammelehle (stellv.). Redaktion: Tobias chen, Tel. 089 4545950, Fax 45459525 Anika Zeller, Malte Zeller Ich bestelle den SPIEGEL
Becker, Lars-Olav Beier, Anke Dürr, Ulrike
Knöfel, Tobias Rapp, Katharina Stegel- ST U T TG A RT Jan Friedmann, Büchsen- N AC H R I C H T E N D I E N ST E AFP, AP, dpa,
❏ für € 4,60 pro gedruckte Ausgabe
mann, Claudia Voigt, Martin Wolf. Autoren, straße 8/10, 70173 Stuttgart, Los Angeles Times / Washington Post, ❏ für € 4,10 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das
Reporter: Georg Diez, Dr. Martin Doerry, Tel. 0711 664749-20, Fax 664749-22 New York Times, Reuters, sid
Lothar Gorris, Wolfgang Höbel, Thomas
E-Paper beträgt € 3,60)
REDAKTIONSVERTRE TUNGEN AUSL AND
Hüetlin, Dr. Joachim Kronsbein, Dr. Nils BA N G A LO R E Laura Höflinger, 811, 10th SPIEGEL-VERL AG RUDOLF AUGSTEIN ❏ für € 0,50 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das E-Paper
Minkmar, Volker Weidermann, Marianne A Main Road, Suite No. 114, 1st Floor, Ban- GMBH & CO. KG beträgt € 0,49) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe. Der Bezug
Wellershoff galore - 560 038 Verantwortlich für Anzeigen: ist zur nächsterreichbaren Ausgabe kündbar. Alle Preise inkl.
GESELLSCHAF T Leitung: Matthias Geyer, BOSTON Johann Grolle, 25 Gray Street, André Pätzold MwSt. und Versand. Das Angebot gilt nur in Deutschland. Bitte
Özlem Gezer (stellv.), Guido Mingels 02138 Cambridge, Massachusetts,
(stellv.). Redaktion: Fiona Ehlers, Maik Tel. +1 857 9197115 Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 71 vom liefern Sie den SPIEGEL an:
1. Januar 2017
Großekathöfer, Barbara Hardinghaus, Ma- BRÜSSEL Peter Müller, Christoph Pauly, Mediaunterlagen und Tarife:
ren Keller, Ansbert Kneip, Dialika Neufeld, rue Le Titien 28, 1000 Brüssel, Tel. +32 2 Tel. 040 3007-2540, www.spiegel.media
Bettina Stiebel, Jonathan Stock, Takis Wür- 2306108, Fax 2311436
ger. Autoren, Reporter: Uwe Buse, Ullrich Name, Vorname des neuen Abonnenten
Verantwortlich für Vertrieb:
Fichtner, Jochen-Martin Gutsch (frei), Ale- ISTANBUL Maximilian Popp, Stefan Buhr
xander Osang, Cordt Schnibben, Alexan- Tel. +90 5353165486
der Smoltczyk, Barbara Supp K A P STA DT Bartholomäus Grill, Verantwortlich für Herstellung: Straße, Hausnummer oder Postfach
P. O. Box 15614, Vlaeberg 8018, Kapstadt, Silke Kassuba
S P O RT Leitung: Udo Ludwig. Redaktion:
Tel. +27 21 4261191
Rafael Buschmann, Lukas Eberle, Detlef Druck:
Hacke, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil KIEW Luteranska wul. 3, kw. 63, 01001 PLZ, Ort
Stark Druck,
Kiew, Tel. +38 050 3839135 Pforzheim
SONDERTHEMEN Leitung: Dietmar Pieper,
LON DON 26 Hanbury Street, London E1
Dr. Susanne Weingarten (stellv.); Redak- E-Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht)
6QR, Tel. +44 203 4180610, Fax +44 207
tion: Annette Bruhns, Angela Gatterburg, VERL AGSLEITUNG Jesper Doub,
Uwe Klußmann, Joachim Mohr, Bettina 0929055
Dr. Michael Plasse
Musall, Dr. Johannes Saltzwedel, Dr. Eva- MADRID Apartado Postal Número 100 64, Ich zahle nach Erhalt der Rechnung.
Maria Schnurr 28080 Madrid, Tel. +34 650652889 G E S C H Ä F TS F Ü H RU N G Thomas Hass
Hinweise zu den AGB und meinem Widerrufsrecht finde ich
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel unter www.spiegel.de/agb

INTERNE T www.spiegel.de DER SPIEGEL (USPS no 0154520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Known Of-
REDAKTIONSBLOG spiegel.de/spiegelblog Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten SP17-003, SD17-006
fice of Publication: German Language Publications Inc, 153 S Dean St, Englewood NJ SD17-008 (Upgrade)
TWIT TER @derspiegel 07631, 1-855-457-6397. Periodicals postage is paid at Paramus NJ 07652. Postmaster: Send
FACEBOOK facebook.com/derspiegel address changes to: DER SPIEGEL, GLP, PO Box 9868, Englewood NJ 07631.

124 DER SPIEGEL 14 / 2017


Nachrufe
KLAUS LIESEN, 85 dass ein Killer in ein Dorf
Am Ende zählte er zu den kommt und alle Bösewichter
grauen Eminenzen der deut- umbringt. Morricone und

MICHAELA HARTMANN / BABIRADPICTURE


schen Wirtschaft. Diesen Ruf Alessandroni kannten einan-
hatte sich Klaus Liesen über der, seit sie Kinder waren, und
Jahrzehnte erarbeitet, in ver- der Komponist setzte den
schiedenen, stets wichtigen Multiinstrumentalisten bei
Rollen. 1970 wurde der pro- einigen seiner Soundtracks ein,
movierte Jurist, geboren in darunter „Für ein paar Dollar
Köln, in den Vorstand der mehr“ und „Spiel mir das Lied
Ruhrgas AG berufen, sechs vom Tod“. Alessandronis
bekanntester Auftritt dürfte
CHRISTINE KAUFMANN, 72 allerdings „Mah nà mah nà“
Als die größten Erfolge der Schauspielerin bereits einige sein, ein Novelty-Song, für
Jahrzehnte zurücklagen, beantwortete sie in Interviews den er zusammen mit seiner
gern Fragen nach ihrem ungewöhnlichen Leben: „Ich habe Frau ein surreales Gesangs-

PICTURE ALLIANCE / DPA


als Kind dafür gearbeitet, eine Familie zu ernähren“, sagte duett aufnahm – und das
sie. „Die meisten Kinderstars gehen an dieser Erfahrung in der Version der „Sesam-
ein, weil die Erwachsenenwelt glaubt, Ruhm ist eine Kom- straße“ berühmt wurde.
pensation für Kindheit, aber das ist Bullshit.“ Sie war neun Alessandro Alessandroni starb
Jahre alt, als sie 1954 mit der Hauptrolle in „Rosen-Resli“ am 26. März in Rom. rap
bekannt wurde. Ihre Mutter hatte die Karriere der hüb-
schen Tochter zielstrebig betrieben. Die fiel selbst in Holly- Jahre später dessen Vorsitzen- INGEBORG RAPOPORT, 104
wood auf, als 15-Jährige spielte sie an der Seite von Kirk der. Unter seiner Führung ent- Zweimal musste die Kinder-
Douglas in dem Film „Stadt ohne Mitleid“ und erhielt für wickelte sich das Unterneh- ärztin das Land verlassen, in
diese Rolle einen Golden Globe – im Deutschland der men zum größten deutschen dem sie lebte, zuerst 1938
Nachkriegszeit muss das wie ein Märchen erschienen sein. Gasversorger, und Konzernen Deutschland: Wegen ihrer jü-
Sie wurde zu einer Figur der Klatschgazetten, heiratete mit wie der Allianz oder Volks- dischen Abstammung hatte
18 den Schauspieler Tony Curtis, bekam zwei Töchter, ließ wagen diente Liesen als Auf- die Universität Hamburg sie
sich scheiden und kehrte Ende der Sechzigerjahre nach sichtsratsvorsitzender. In sei-
Deutschland zurück. Eine Gescheiterte in den Augen vie- ne Zeit in Wolfsburg, andert-
ler, das vorherrschende Frauenbild damals sah solche halb Jahrzehnte ab 1987, fiel
Kapriolen nicht vor. Kaufmann aber suchte in dieser Situa- die Affäre um den VW-Ein-
tion die Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Werner kaufschef José Ignacio López
Schroeter oder Rainer Werner Fassbinder. Unter Helmut und einige seiner Mitarbeiter,
Dietls Regie spielte sie in „Monaco Franze“ die unschein- die beim Wechsel von Gene-

CHRISTIAN THIEL
bare Olga, die genau durchschaut, was um sie herum ge- ral Motors geheime Unterla-
schieht, Kaufmanns beste Rolle. Doch irgendwann hatte sie gen mitgenommen haben sol-
genug davon, dass Männer sie in Szene setzten. Sie brachte len. Es war auch das Geschick
eine Kosmetiklinie auf den Markt; Schönheit war ihr Liesens, das zu einer außerge-
Lebensthema. Christine Kaufmann starb am 28. März in richtlichen Einigung der bei- nicht zur Verteidigung ihrer
München an den Folgen einer Leukämieerkrankung. clv den Konzerne führte. Klaus Doktorarbeit zugelassen. Die
Liesen starb am 30. März. red Medizinerin emigrierte in die
USA, heiratete dort den Arzt
AHMED KATHRADA, 87 ALESSANDRO und Kommunisten Samuel
Der Südafrikaner verbrachte 26 Jah- ALESSANDRONI, 92 Mitja Rapoport und floh ge-
re im Gefängnis, fast so viele wie „Komm mal, du musst mal meinsam mit ihm 1950 zurück
Nelson Mandela. 1964 wurde er in kurz was pfeifen“, sagte der nach Europa; ihr Mann fürch-
WIREIMAGE / GETTY IMAGES

einem Schauprozess zu lebenslanger Filmmusikkomponist Ennio tete, in der kommunistenfeind-


Haft verurteilt, die Apartheid-Regie- Morricone zu Alessandro lichen McCarthy-Ära politisch
rung wollte den Freiheitskämpfer Alessandroni, als er am Sound- verfolgt zu werden. Ingeborg
für immer aus dem Verkehr ziehen. track zu „Für eine Handvoll Rapoport wurde 1959 an der
Schon als Jugendlicher hatte sich Dollar“ arbeitete. Das machte Humboldt-Universität zu Ber-
Kathrada dem Widerstand gegen das Alessandroni dann auch: Er lin habilitiert und arbeitete
weiße Unrechtsregime angeschlossen, pfiff ein Motiv – es wurde die fortan an der Charité. Sie er-
das nicht nur der schwarzen Bevölkerungsmehrheit, son- Signatur eines stilprägenden hielt einen Lehrauftrag als
dern auch seiner Volksgruppe, den nach Südafrika einge- Westerns, der davon handelte, Professorin und 1969 den Lehr-
wanderten Indern, Bürgerrechte verwehrte. In den Jahren stuhl für Neonatologie, den
auf der Gefängnisinsel Robben Island zählte er zu Mande- ersten deutschlandweit. Ihre
las engsten Vertrauten, nach dem Ende der Apartheid wur- mündliche Dissertationsprü-
de er sein politischer Berater. Der humorvolle Mann wirkte fung holte sie 2015 erfolgreich
FILMMAGIC / GETTY IMAGES

stets im Hintergrund, gehörte aber zu den einflussreichsten nach – im Alter von 102 Jah-
Persönlichkeiten im neuen, demokratischen Südafrika. Und ren. Damit war sie der älteste
er stand zu seinen Prinzipien. Im vergangenen Jahr warf Mensch, der je ein Promo-
er dem korrupten Präsidenten Jacob Zuma vor, die eigenen tionsverfahren abgeschlossen
Ideale verraten zu haben, und forderte ihn zum Rücktritt hat. Ingeborg Rapoport starb
auf. Ahmed Kathrada starb am 28. März in Johannesburg. ill am 23. März in Berlin. lot
DER SPIEGEL 14 / 2017 125
Rollenspiele
Eigentlich ist Kendall Jenner, 21,
berühmt dafür, sie selbst zu
sein: Als Mitglied der Karda-
shian-Familie verbrachte sie
ihr halbes Leben für die TV-
Realitysoap „Keeping up
with the Kardashians“ vor
laufender Kamera. In letzter
Zeit häufen sich Jenners
Versuche, als jemand anderes
zu erscheinen. So kopierte
sie in einem Video für das
„W“-Magazin verschiedene
Performancekünstler, darun-
ter Yoko Ono. Vergangenen
Montag ging ein Video on-
line, in dem das Model für
das Stilmagazin „Love“ von
dem britischen Fotografen
Rankin als brünette Marilyn
Monroe in Szene gesetzt wur-
de. Die jüngere Halbschwes-
ter von Kim Kardashian,
gekleidet in teure Marken-
spitzenwäsche und mit einer
Perlenkette einer Pariser
Modefirma spielend, bewegt
den Mund zu Monroes Stim-
me: „Diamonds Are a Girl’s
Best Friend“ und tanzt ein

RANKIN FOR LOVE


bisschen. Kunst oder Kitsch?
Auf jeden Fall eine Lehrstun-
de für Werbetreibende. ks

Wie im Film, nur erdenklichen Facetten ab. die Tat um: „Du wirst sehen:
schlimmer Dabei zeigt sich: Der Alltags-
Depardieu ist wie in seinen
Ich werde meine dicke Nase
an Putins Wange reiben.“ Sa-
Der französische Schauspie- Filmen, nur noch exzessiver. pin wurde Zeuge, wie Depar-
ler Gérard Depardieu, 68, ließ Der Mann, der sich selbst als dieu aus Protest gegen eine
sich fünf Jahre lang von dem „140 Kilogramm Fleisch“ be- angekündigte Reichensteuer
Comiczeichner Mathieu Sa- zeichnet, ist ein unruhiger Frankreich verließ, im Januar
pin begleiten. Das Ergebnis, Geist, telefoniert ständig, 2013 die russische Staatsbür-
MATHIEU SAPIN / DARGAUD 2017

„Gérard. Cinq années dans stürmt von einem Restaurant gerschaft annahm und damit
les pattes de Depardieu“ ins nächste und neigt zu Wut- das ganze Land in Aufruhr
(„Gérard. Fünf Jahre unter ausbrüchen. Gleichzeitig versetzte. „Die Franzosen
den Pranken von Depardieu“) überrascht er mit seiner fei- sind traurig. Sie gehen mir
ist nun erschienen und bildet nen Beobachtungsgabe, ver- auf die Nerven. Ich haue hier
den Charakter des weltbe- steht es zuzuhören und setzt ab“, sagt Depardieu in dem
rühmten Darstellers in allen scherzhafte Vorsätze gern in Comicporträt. pe

126 DER SPIEGEL 14 / 2017


Personalien
Züchtiges Glitzern Stoffen. Kleidervorschriften
in Tschetschenien zwingen
Vor zwei Wochen präsentier- Frauen, sich züchtig zu klei-
te Aischat Kadyrowa, 18, Desig- den, nur Hände und Gesicht
nerin und Tochter des tsche- dürfen unbedeckt bleiben.
tschenischen Diktators Ram- Das Modelabel Firdaws ist
san Kadyrow, ihre erste von Aischats Mutter gegrün-
Kollektion auf dem Laufsteg. det worden. Sowohl russische
In einem ehemaligen Zaren- und tschetschenische als auch

MATTHIAS SCHMIEDEL / DER SPIEGEL


palast in Moskau trugen Mo- Zuschauer aus dem Nahen
dels ihre hochgeschlossenen Osten besuchten die Show.
Kreationen aus prächtigen Eine Sprecherin von Firdaws
sagte später, es lägen bereits
Bestellungen aus Dubai vor.
Als Nächstes plant das Mode-
haus, in Moskau und St. Pe-
tersburg Geschäfte zu eröff-
nen. Aischats Vater, von Men- Die Augenzeugin
schenrechtsgruppen wegen
seiner despotischen und grau-
samen Herrschaft kritisiert,
„Eis ist etwas Lebendiges“
ULLSTEIN BILD

und Russlands Präsident Wla- In Tübingen haben drei Eisdielenbesitzer das Kartellamt auf
dimir Putin pflegen freund- den Plan gerufen. Sie sollen gemeinsam den Preis erhöht
schaftliche Kontakte. ks haben – auf 1,50 Euro pro Kugel. Auch die Sprecherin der
Union italienischer Speiseeishersteller, Annalisa Carnio, 58,
weiß: Wenn der Frühling kommt, beginnt die Eispreisdebatte.

Davongekommen #FreeDeniz über. Lammert


warf die drei aus dem Plenar-
„Ich habe mich geärgert, als ich in der Zeitung las, in Tü-
bingen hätten Eisdielen ihre Preise abgesprochen. Denn
Der Grünen-Abgeordnete saal: Meinungsbekundungen sobald die Sonne scheint, der Frühling kommt, sprechen
Özcan Mutlu, 49, bekam ver- durch Kleidungsstücke oder alle nur noch über ein Thema: Was kostet eine Kugel
gangene Woche von Bundes- Plakate sind laut Hausord- Eis? Mich rufen dann manchmal zehn Journalisten am
tagspräsident Norbert Lam- nung untersagt. Zuvor war Tag an und fragen: Warum ist Eis teurer geworden?
mert eine unangenehme Mutlu bereits einmal mit Auch Eisdielenbesitzer rufen mich verzweifelt an. Letz-
Nachricht überbracht. Er einem „Refugees Welcome“- tens etwa ein Gelatiere aus Leipzig. Ein Journalist war in
müsse mit einer Geldstrafe T-Shirt im Plenarsaal aufge- seinen Laden gekommen, hatte die Karte fotografiert.
von bis zu 5000 Euro rechnen, fallen. Mutlu beteuert, die Der Mann sagte: ,Ich bin doch kein Verbrecher.‘ Viele
wenn er erneut gegen die Hausordnung zu respektieren. Eisdielenbesitzer trauen sich kaum, ihre Preise zu erhö-
Hausordnung des Bundestags Aber: Ihm seien Merkels Aus- hen. Die Kunden sagen ihnen dann: ,Als ich jung war,
verstoße. Das hatte eine Bera- sagen gegenüber der Türkei kostete eine Kugel 30 Pfennig.‘ Je älter die Kunden, des-
tung im Ältestenrat ergeben. nicht deutlich genug gewesen, to billiger haben sie es in Erinnerung. Doch die Gelatieri
Hintergrund: Vor drei Wochen deshalb habe er ein Zeichen zahlen nicht mehr die Miete von vor 30 Jahren. Alles
hatte Mutlu im Plenarsaal für setzen wollen. Doch er gelobt wird teurer: die Versicherung, der Strom und vor allem
den in der Türkei inhaftierten Besserung, zumindest für das Personal. Früher halfen Onkel und Tanten unentgelt-
Journalisten Deniz Yücel pro- diese Legislaturperiode: „Es lich, heute erhalten sie mindestens den Mindestlohn.
testiert. Er und zwei seiner sind nur noch sechs Monate, Eis bleibt nicht, wie es ist, es ist etwas Lebendiges.
Kollegen zogen sich weiße da werde ich vermutlich Kugeln werden größer und größer. Vor 30 Jahren wog
T-Shirts mit dem Konterfei nicht mehr in Versuchung eine vielleicht 30 Gramm. Und heute? Das Dreifache.
Yücels und dem Aufdruck kommen“, sagt Mutlu. akm Und es ist nicht nur mehr Eis, es sind mehr Sorten.
Wenn Sie früher einen Eisbecher bestellt haben, lagen
darin drei kleine Kugeln: Schokolade, Vanille, Erdbeer.
Heute wird ihnen eine Schale auf den Tisch gestellt
mit frischem Obst und Eis aus Ananas, Blaubeere, Bio-
pistazie, Kiwi oder Papaya. Das hat natürlich einen
anderen Preis.
So müssen Eisdielenbesitzer von Zeit zu Zeit ihre Prei-
se anpassen. Dass sich alle dabei absprechen, kann ich
mir nicht vorstellen. Natürlich, die Gelatieri kennen sich.
Und dann gibt es einen, der ist mutig und entscheidet,
ich mache mein Eis teurer. Das sehen die anderen und
passen ihren Preis an. Dass in Tübingen eine Kugel nun
MICHAEL KAPPELER / DPA

1,50 Euro kostet, finde ich fair. Wenn Sie in Italien oder
Spanien ein Eis kaufen, müssen Sie deutlich mehr Geld
auf den Tresen legen – mehr als zwei Euro. Dass in
Mutlu (M.) Deutschland eine Kugel jemals so viel kostet, kann ich
mir nicht vorstellen.“ Aufgezeichnet von Nico Schmidt

DER SPIEGEL 14 / 2017 127


„London wird immer London bleiben, auch wenn sich
Britannien von Europa abschotten sollte.“
Uwe Tünnermann, Lemgo (NRW)

Es tut weh Fröhliche rosa Schweinchen


Nr. 13/2017 London – Dramatische Zeiten Nr. 12/2017 Eine ungewöhnliche Allianz kämpft dafür,

MATT CROSSICK / EMPICS / ACTION PRESS


in einer wundervollen Stadt dass vegane Wurst auch so heißen darf
Angesichts all der ungeregelten, nicht ein- „Schnitzel fleischfrei“ ist tatsächlich ein
mal bedachten Probleme eines Brexit wird blöder Name für ein pflanzliches Lebens-
deutlich, dass die Engländer gar nicht wuss- mittel – aber keine Täuschung. Schlimm
ten, worüber sie abstimmen. Deshalb kann belogen werden die Verbraucher durch
das Ergebnis der Abstimmung auch nicht bunte Bilder, die suggerieren, der Schinken
als verbindlich angesehen werden. stamme von fröhlichen rosa Schweinchen,
Friedemann Ungerer, Anklam (Meckl.-Vorp.) die ein Leben auf grünen Wiesen im Son-
Premierministerin May nenschein verbringen. Oder Milch von
Was hier geschieht, tut richtig weh, und glücklichen Kühen auf saftigen Weiden.
wir werden irgendwann den typisch briti- im quirligen London, in unserer Realität, Die Realität sieht anders aus: Fleisch und
schen Humor in der steifen EU vermissen. in dieser freien Stadt, die auch für unser Milch sind Qualprodukte. Und wer sich
Die Initiatoren dieses Wahnsinns – David Lebensgefühl, unser modernes Leben und nicht täuschen lässt, wird noch bestraft:
Cameron und Nigel Farage – sind praktisch unsere fast grenzenlosen Möglichkeiten Tierleidfreie Pflanzenalternativen zur
untergetaucht, und Theresa May wirkt in steht. Es ist bitter und furchtbar, aber der Milch gelten als Genussmittel und werden
ihrer unbegreiflichen Aggressivität wie auf Terror ist hier angekommen, in unserem besteuert wie Schnaps und Zigaretten. Das
einem Rachefeldzug gegen Europa. Leben. Wir müssen uns trotz aller Solida- sollte verboten werden, Herr Schmidt!
Erich Janoschek, Kaiserslautern rität, trotz unserer Pseudo-Unbeeindruckt- Petra Sandmann, Berlin
heit darauf einstellen, dass er uns über
Politiker haben es einfacher, nach Anschlä- Jahre begleiten und bedrohen wird. Uns – Na, der Herr Minister sollte sich erst mal
gen Ruhe und Toleranz zu predigen – mit nicht irgendwelche anderen. seinen eigenen Namen („Schmidt“ =
ihren Panzerlimousinen und Bodyguards Dr. Jens Lassen, Kiel Schmied) anschauen: Bedeutungen ändern
sind sie meist keine Opfer. Sie müssen sich sich! Und beim „vegetarischen Schnitzel“
aber fragen lassen, ob unbewaffnete Poli-
zisten vor dem Parlament eine angemes-
Eindeutig Chefin besteht ja nun wirklich keine Verwechs-
lungsgefahr. Das Ganze ist eher Symptom
sene Reaktion auf erhöhte Terrorgefahr Nr. 12/2017 Wie Angela Merkel hinter ihrem Amt einer unterbeschäftigten Ministerialbüro-
verschwindet
durch Islamisten und Trittbrettfahrer sind. kratie und einer exzessiven Regulierungs-
In Paris und Rom stünden an solchen Or- Ich halte eine vierte Amtszeit von Bundes- wut. Was für ein Kohl!
ten neben Polizisten Soldaten mit Sturm- kanzlerin Merkel für nicht vorteilhaft. Es Eberhard Blaum, Oberried (Bad.-Württ.)
gewehren, die einen Angriff vereiteln geht hier nicht nur um Frau Merkel selbst,
könnten, wie zuletzt in Paris-Orly gesche- sondern auch um ihr ganzes Umfeld, das Die Bezeichnungen für vegetarische Pro-
hen. Die Londoner Sicherheitsvorkehrun- mitgewählt würde: den inneren Zirkel, be- dukte müssen ja nicht so albern sein wie
gen, die rund 50 Opfer – die Verletzten stehend aus ihren Anhängern und auch am Ende des Artikels. Ein Paradoxon wie
eingeschlossen – nicht verhindern konn- aus grenzenlosen Opportunisten, die sich „vegetarische Leberwurst“ geht auch nicht.
ten, waren so gesehen fahrlässig. dort eingenistet haben, und den erweiter- Entweder vegetarisch oder Leber. Streicht
Bruno Mellinger, Prien (Bayern) ten Beraterstab, der um die eigenen Posi- die Leber raus, und es wäre in Ordnung.
tionen kämpft. Schon deswegen würde es Auch „vegetarischer Klops“ geht, er darf
Der Mensch ist sehr gut darin, schnell wie- keine nennenswerten Neuerungen geben. aber nicht „Fleischklops“ heißen.
der zu vergessen. London quirlt und wu- Dieter Schmidt, Erlangen Dietmar Kriebel, Leipzig
selt schon wieder vor sich hin. Das ist der
vermeintlich beste Umgang mit einer
Angst, die man nicht aushalten kann und
Ihr Merkel-Porträt erfasst deren Persön-
lichkeit nur unvollständig. Die junge An-
„Signifikant verwickelt“
die sich sonst schmerzhaft in den Köpfen gela Merkel war als Bundesministerin für Nr. 12/2017 SPIEGEL-Gespräch mit BND-Präsident
Bruno Kahl über den vereitelten Putsch in der Türkei
manifestieren würde: In unserer Stadt sind Frauen und Jugend kontaktfreudig, herz-
und Bedrohungen durch Islamisten und Russland
gerade Menschen durch Terror gestorben, lich, unkompliziert, witzig und ausgespro-
die damit genauso wenig zu tun hatten wie chen beliebt. Bei aller Freundlichkeit war Ich selbst war davon betroffen, wie Güle-
die, die es nicht getroffen hat. Natürlich sie eindeutig Chefin. Einige überraschende nisten mittels manipulierter Gerichtsver-
wollen wir unser Leben weiterleben und Reaktionen brachten ihr das Kompliment fahren staatliche Institutionen systema-
geben uns demonstrativ unbeeindruckt. ein: „Sie schießt aus der Hüfte.“ Im Kabi- tisch von politischen Gegnern säuberten.
Damit rückt das Thema schnell wieder in nett, wo sie als Jüngste und Neue aus dem Diese kriminellen Vorgänge sind dokumen-
die Ferne. Denkt man aber mal zurück, Osten nicht gleich aus der Hüfte feuern tiert und international bekannt. Es ist da-
dann ist das, was letzte Woche passiert ist, konnte, erlebte sie manche Herablassung, her ein Schlag ins Gesicht, wenn ein füh-
schrecklich real. Dann liegt da dieser alte offenbar aber nicht von Schäuble. Wenn render Nachrichtendienst wie der BND die
Herr auf der Westminster Bridge, offenbar sie von ihm erzählte, wirkte er stets sym- gülenistische Bewegung als wohlgesinnte
bewusstlos – und dann ist da diese arme pathisch. Merkel, die „kühle, unpersönliche Bildungseinrichtung darstellt. Dagegen hat
Frau, die auf die Straße fiel und von einem Physikerin“: ein Journalisten-Klischee. der Staatsminister im britischen Außen-
der roten Busse überfahren wurde. Mitten Dr. Martin Lenz, Bonn ministerium Sir Alan Duncan zu Protokoll
128 DER SPIEGEL 14 / 2017
Briefe

gegeben, dass Gülenisten „wesentlich an Ich selbst kann nicht sagen, was für ein spur-Evolution ohne Herz und Liebe, wäh-
dem fehlgeschlagenen Putsch beteiligt wa- Mensch ich als 14-Jährige nach zweijähri- rend Sri Aurobindo eine ganzheitliche
ren“ und dafür verantwortlich sind. Der ger Haft in einem Militärgefängnis wäre. Weiterentwicklung des Menschen auf allen
ehemalige britische Außenminister Jack Würde ich Amokläuferin oder ein Fall für Ebenen des Daseins ins Auge fasste.
Straw teilt diese Einschätzung. Als Vier- den Psychiater, weil ich schwer depressiv Wilfried Huchzermeyer, Karlsruhe
sternegeneral im Ruhestand und Mitglied und traumatisiert bin? Es ist für mich nicht
der türkischen Oppositionspartei CHP war-
ne ich davor, den aktuellen politischen
nachvollziehbar, dass solche Überlegungen
offensichtlich gar keine oder, wenn über-
All das Ungesagte
Zerwürfnissen einen unzulässigen Einfluss haupt, nur eine sehr marginale Rolle bei Nr. 12/2017 Weshalb man Briefe des Vaters
aufbewahren sollte
auf die professionelle Bewertung der Fra- israelischen Politikern spielen.
ge zu gewähren, wie wichtig eine stabile Annette Groth, MdB, Die Linke, Menschenrechtspolitische Ich schreibe eigentlich keine Leserbriefe.
Türkei für die Sicherheit Europas ist und Sprecherin, Berlin Aber Ihr Beitrag hat mich berührt. Ich
welche Gefahren in diesem Zusammen- kann Ihre Schilderung gut verstehen, weil
hang von der gülenistischen Bewegung Kritische Berichterstattung und eine stets ich einen ähnlichen Vater habe. Manchmal
ausgehen. Die Briten haben es längst ver- antiisraelische Tendenz des SPIEGEL wer- wünschte ich, das Gespräch würde statt-
standen. Bleibt die Frage, wann der BND de ich wohl immer wieder aushalten müs- finden oder ein Brief wäre da, aber ich
aufwachen will. sen. Der Konflikt im Heiligen Land darf habe auch Angst davor. Sie haben gezeigt,
Tuncer Kılınç, Viersternegeneral i. R. und ehem. General- hinterfragt werden, und es lohnt sich, dass was die Vergänglichkeit und die Flüchtig-
sekretär des türkischen Sicherheitsrats (2001 – 2003), Istanbul er nicht einseitig betrachtet wird. Was je- keit des Lebens mit unseren schwierigen
doch in dieser Erzählung stattfindet, ist
Wichtig zu wissen fast unglaublich. Diesen lautmalerischen
Hass und eine solche Niedertracht gegen-
Nr. 12/2017 Eva Menasse über das Leben in den be- über der israelischen Seite und diese ver-

THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL


setzten palästinensischen Gebieten – eine Erzählung
zuckerte menschenwarme Beschreibung
Diese Geschichte wirft ein grelles Licht der palästinensischen Seite, eine solch vor-
auf die auch für Israel so schädliche zer- eingenommene Herabwürdigung und Her-
störerische Politik der gegenwärtigen Re- vorhebung habe ich selten so gelesen. Wo-
gierung gegenüber den Palästinensern. her kommt diese schriftstellerische Wut,
Man wünscht sich diesen Blick nicht nur warum wird ihr diese Plattform geboten?
auf den Kulturseiten, sondern auch in kri- Peter Hellmich, Berlin
tischer Begleitung der Berliner Politik.
Volker Bethge, Lübeck Es ist so wichtig, dass viele Menschen von Vater-Sohn-Beziehungen anrichten. All
dem Geschehen in Hebron erfahren. Wich- das Ungesagte stimmt uns letztlich nur
Dieser ausgezeichnete Text hat mich sehr tig ist auch zu wissen, dass es nicht anti- traurig. Aber es hätte auch an uns gelegen,
berührt. Vieles, was die Schriftstellerin fast semitisch ist, wenn man über Tatsachen das Schweigen zu brechen. Vielleicht nutze
märchenhaft und doch sehr informativ be- berichtet. ich die Möglichkeit dazu irgendwann, be-
Margit Budinger, Duisburg vor es zu spät ist. Ich danke Ihnen!
Ron Klug, Halle / Saale

Evolution ohne Herz Nein, das sind keine Kleinigkeiten. Sie


ABIR SULTAN / EPA / REX / SHUTTERSTOCK

Nr. 12/2017 SPIEGEL-Gespräch mit dem israelischen sprechen mir aus der Seele. Man weiß von
Historiker Yuval Noah Harari über den
keinem Menschen weniger als von den
gottgleichen Übermenschen Homo Deus
eigenen Eltern oder Kindern.
Brillante Rhetorik und ein ebenso faszi- Ariane Herpich, Nürnberg
nierendes wie beängstigendes Szenario,
das Harari vom Gottmenschen entwirft. Ich frage mich, warum Sie nicht auf Ihren
Doch starben 2010 eben nicht mehr Men- Vater zugegangen sind. Eine weise Frau
schen an Übergewicht als an Hunger, Krie- riet mir vor langen Jahren, dass ich auf
Schnorchelnder israelischer Junge im Jordantal gen, Gewaltverbrechen und Terrorismus meinen Vater zugehen müsse, er werde
zusammen. Nach den Zahlen der Welter- sich nicht mehr ändern. Wenn ich es nicht
schreibt, kann ich von Besuchen oder Be- nährungsorganisation verhungerten allein täte, blieben meine Fragen für immer un-
richten von Friedensinitiativen bestätigen. drei Millionen Kinder unter fünf Jahren. beantwortet.
Doro Röcher-Plenkers, Wuppertal Wigbert Benz, Karlsruhe Stefan Uttke, Neuss (NRW)

Wie Frau Menasse frage ich mich häufig, Die hier dargestellte Entwicklungsperspek- Das erste Mal weinte ich bei dem Artikel
was aus den Kindern wird, die Häuserzer- tive der Menschheit ist nur gruselig, den- über die Flüchtlingsroute in Afrika. Nun
störungen, nächtliche Hausdurchsuchun- noch leider real möglich. Diese Perspek- weine ich das zweite Mal, über so eine
gen, willkürliche Gewalt gegen sie selbst tive konnten selbst Samjatin, Huxley und ehrliche Lebenserfahrung. Mir hat der Text
oder die Eltern und mehr erleben. Noch Orwell bei all ihrer Fantasie nicht ahnen. die Augen geöffnet. Ich habe hoffentlich
traumatischer allerdings ist die Erfahrung Günther Knuth, Reinbek (Schl.-Holst.) genug Zeit, vieles zu ändern. Die Seite
eines Gefängnisaufenthaltes für Minder- habe ich aufgehoben!
jährige. Derzeit sitzen Hunderte palästi- Der Gedanke eines göttlichen Menschen Derya van Helden, Pflach (Österr.)
nensische Kinder in israelischen Gefäng- wurde bereits vor fast 80 Jahren von dem
nissen; das israelische Militärrecht, nach Yogi-Philosophen Sri Aurobindo (1872 bis Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
dem Palästinenser verurteilt werden, sieht 1950) in seinem Werk „The Life Divine“ (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
für Kinder ab 12 Jahren für Steinewerfen ausgesprochen. Harari beschreibt künst- sowie digital zu veröffentlichen und unter
eine Haftstrafe von bis zu 20 Jahren vor. liche Mittel für eine beschleunigte Schmal- www.spiegel.de zu archivieren.

DER SPIEGEL 14 / 2017 129


Hohlspiegel Rückspiegel

Die „Heilbronner Stimme“ über Donald


Endlich Zitate
Trump: „Alle Berichte über eine Zu-
sammenarbeit mit Russland seien ,Fake
News‘ schrieb er. ,Die wahre Geschichte,
um die sich der Kongress, das FBI und
der neue Die „tageszeitung“ zum SPIEGEL-
Bericht „Söldner der Wahrheit“ über die
Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft
andere kümmern sollen, ist, wer geheime 2006 (Nr. 13/2017):
Informationen geleckt hat‘.“
Achilles Spuren und Indizien für krumme Ge-
schäfte rund um die WM-Vergabe 2006
nach Deutschland sind schon reichlich
ermittelt worden. Nun ist das Magazin
DER SPIEGEL auf eine Fährte gestoßen,
die das Bild auf interessante Weise ver-
dichtet. Es gibt nämlich einen zweiten
Türbeschriftung an einem Technikraum Vertrag des deutschen Medienkonzerns
des Bayerischen Rundfunks in Freimann Kirchmedia mit dem libanesischen, mitt-
lerweile verstorbenen Geschäftsmann Eli-
as Zaccour, der auffällig kurz vor der Ver-
Aus dem „Wiesbadener Kurier“: gabe des Turniers ausgehandelt wurde.
„Besser ein Schrecken mit
Ende als ein Ende ohne Schrecken.“ Die „Frankfurter Allgemeine“ zum
SPIEGEL-Bericht „Bleierner Schatten“
über den Tod des Hamburger Fußball-
Aus der „Neuen Presse Coburg“: managers Timo Kraus (Nr. 13/2017):
„Sportchef Rudi Völler mahnte
angesichts von nur fünf Punkten Vor- „Alles, was wir wissen, deutet darauf hin,
sprung auf den Relegationsplatz gar dass es sich um einen Unglücksfall han-
davor, den Blick nach unten ,nicht auf delt“, hieß es bei der Polizei. Als Todes-
die leichte Schulter zu nehmen‘.“ ursache stehe Ertrinken fest. Das habe
die Obduktion ergeben. „Es gibt keine
äußeren Verletzungen und keine Hinwei-
se auf eine Straftat.“ … Im SPIEGEL hat-
te Kraus’ Witwe Zweifel am Unfalltod
geäußert. Unter anderem verwies sie da-
rauf, dass ihr Mann trotz Eiseskälte ohne
Aus den „Wolfsburger Nachrichten“ Jacke gesehen worden sei: „Mein Mann
wäre bei dieser Kälte niemals freiwillig
240 Seiten · € 9,99 [D] · ISBN 978-3-453-60423-0 ohne Jacke umhergelaufen.“
Auch als E-Book · Leseprobe auf heyne.de
Aus der „TV Hören und Sehen“: „Die
Obduktion einer enthaupteten Kinder- Der SPIEGEL zeigte …
leiche durch Rechtsmediziner Dr. An-
dreas Freislederer ergibt, dass der zehn- … in Nr. 6/2017 „America First“ auf
jährige Junge durch massive Gewalt- dem Cover ein Werk des Zeichners Edel
einwirkung auf den Hals gestorben ist.“ Rodriguez, das Donald Trump mit einem
blutigen Messer in der einen Hand und
dem abgetrennten Kopf der Freiheits-
Bildunterschrift im „Göttinger Tages- statue in der anderen Hand darstellt.
Er kann es einfach nicht lassen. Zehn
blatt“ über die Kinderfeuerwehr Groß
Ellershausen: „Mit Feuereifer bauen Jahre nach seinem sportlichen Debüt Der Deutsche Presserat hat die Beschwer-
die Nachwuchsbrandstifter Nistkästen.“ juxt sich Achim Achilles unverdrossen den gegen das Cover als unbegründet
durch die skurrile Welt von Millionen bewertet. „Die Karikatur ist zwar provo-
kant, aber ein zulässiger
deutschen Freizeitsportlern. Er ent-
Beitrag im Rahmen der
larvt die gemeinsten Fitness-Lügen, politischen Berichterstat-
lästert über Yoga – und bleibt seinem tung, der von der Mei-
Motto treu: Wenn nichts mehr geht, nungsfreiheit gedeckt ist“,
entschied der Beschwerde-
einfach locker weiterlaufen. ausschuss. Die Redaktion
Aufdruck einer Werbepost setze sich „in überspitzter
„Dr. Hittich Gesundheits-Mittel“ Art und Weise mit dem
umstrittenen Agieren des
US-Präsidenten und
Aus dem „Schwarzwälder Boten“: seinem Verständnis von
„Auf einen Termin beim Arzt müssen Freiheit auseinander“.
Patienten selten länger als zwei Monate 21 Leser hatten die Darstellung unter
warten – im Wartezimmer selbst anderem als diffamierend und ehrverlet-
kann das wieder ganz anders aussehen.“ zend kritisiert.
130 DER SPIEGEL 14 / 2017
7. APRIL 2017
20:15 UHR

I K P R E I S
E R M U S
#VOX 17
E U T S C H
#Echo20 /Echo D
VOX.DE
Gute Beratung
denkt nicht nur
mit. Sondern
auch digital.

Jeder Mensch hat etwas, das ihn antreibt.

Wir machen den Weg frei.

Willkommen bei der Genossenschaftlichen Beratung.


Die Finanzberatung, die erst zuhört und dann berät –
und zwar ehrlich, kompetent, glaubwürdig. Sie haben
Fragen zum Thema Digitalisierung? Erfahren Sie alles,
was Sie wissen müssen. Jetzt auf vr.de/mittelstand
oder vor Ort in einer unserer über 12.200 Filialen.

Wir machen den Weg frei. Gemeinsam mit den Spezialisten der Genossenschaf tlichen FinanzGruppe Volk sbanken Raif feisenbanken: Bausparkasse
Schwäbisch Hall, Union Investment, R+V Versicherung, easyCredit, DZ BANK , DZ PRIVATBANK , VR Leasing Gruppe, WL BANK , MünchenerHyp, DG HYP.

Das könnte Ihnen auch gefallen