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Die Beziehung der Geschwister Gregor und

Grete in Franz Kafkas "Die Verwandlung"

Term Paper, 2008


17 Pages, Grade: 1,0
ND

Nico Dietrich (Author)

Excerpt

Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung

2. Die Beziehung der Geschwister Gregor und Grete


2.1. Die jungen Samsas - Individuen und Geschwister
2.2. Die reziproke Verwandlung
2.3. Absolute Entfremdung

3. Fazit

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung
„Sie wird mich also doch verkommen lassen.“[1] schreibt Franz Kafka im Frühling 1917 an seine
Schwester Otilie, genannt Ottla, nachdem diese die gemeinsame Heimatstadt Prag verlassen
hatte. „Verkommen“ wird auch Gregor Samsa in Franz Kafkas 1915 erschienener Erzählung
„Die Verwandlung“ mit der sich diese Arbeit befasst. Die in „Die Weißen Blätter“ von René
Schickele erstmals veröffentlichte Verwandlungsgeschichte bietet eine Fülle von
Interpretationsmöglichkeiten an. Dabei lassen sich verschiedenste Vorgehensweisen, wie etwa
die theologische Interpretation von Kurt Weinberg[2] oder die psychoanalytische von Hellmuth
Kaiser[3], unterscheiden. Bereits der Titel „Die Verwandlung“ bildet den Rahmen für ein breites
Spektrum von Interpretationen, welche von der metabolischen Verwandlung über den
Rollentausch zwischen Mutter und Tochter bis zur Wandelung der Vater-Sohn-Beziehung
Eingang in der Sekundärliteratur gefunden haben. Um diesen „klassischen“ Themen zu
entrinnen, soll es im Folgenden um die Beziehungen der Geschwister Grete und Gregor Samsa
zueinander gehen. Im Speziellen wird untersucht, ob und wenn ja, inwieweit sich die
Verwandlung des Sohnes reziprok auf die Tochter übertragen lässt. Diesen Aspekt der
Verwandlung innerhalb der Familienmitglieder beziehen nur wenige der unzähligen
Interpretationen in ihre Darstellung ein. Wesentlich häufiger werden Vergleiche zwischen Vater
und Sohn bzw. zwischen Mutter und Schwester literarisch umgesetzt.

Notwendigerweise setzt dieser spezielle Themenbereich eine Analyse der Familienzustände in


der Zeit vor der Verwandlung voraus, um die Entwicklung über den Tod der Hauptfigur hinaus
aufzeigen zu können. Weiterhin soll die Fragestellung durch genaue Analyse ausgewählter
Passagen des Werkes validiert oder ggf. auch falsifiziert werden. Bisherige
Forschungsmeinungen werden an entsprechenden Stellen ebenfalls dargstellt.

Eine vollständige Untersuchung des kompletten Textes bezüglich des Themas verbietet sich
schon deshalb, da sie den Rahmen dieser Arbeit bei weitem übersteigen würde. Auf Aussagen
Kafkas zu seinem Werk, Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte sowie auf die Darstellung
biografischer Auffälligkeiten muss daher verzichtet werden.

2. Die Beziehung der Geschwister Gregor und Grete


2.1 Die jungen Samsas - Individuen und Geschwister

Kafkas Erzählung beginnt schlagartig und verzichtet auf jegliche Exposition, was für den Leser
eine ungewohnte Situation darstellt.

Gregor Samsa, ein Handlungsreisender, erwacht „[...] eines Morgens aus unruhigen Träumen
[...]“[4]in ein „[...] ungeheuere[s] Ungeziefer verwandelt.“[5]Eine genaue Klassifikation seiner
jetzigen Gestalt findet nicht statt. Allerdings lässt sich durch die Selbstbeschreibung seines neuen
Körpers auf eine käferähnliche Gestalt schließen. Gregor zeigt sich schließlich nach einiger
Überlegung seiner Familie, welche sehr bestürzt reagiert und bereits zu Beginn den einstigen
Bruder überwiegend als Tier wahrnimmt und einsperrt. Anfänglich wird Gregor wohlwollend
von der Schwester versorgt. Aufgrund der fehlenden Verständigungsmöglichkeit werden seine
Integrationsversuche stets missgedeutet und enden jeweils gewaltsam zu Gregors Ungunsten.
Letztlich glaubt niemand mehr an eine menschliche Existenz Gregors und das Ungeziefer fällt
der Familie zunehmend zur Last. Es wird vernachlässigt und vertrocknet schließlich, worauf die
Familie Samsa wieder hoffnungsvoll in die Zukunft blickt.

Der Kontrast, welcher sich durch die direkte Charakterisierung der Geschwister innerhalb der
Rückblicke ergibt, könnte größer nicht sein. Gregors menschliche Eigenschaften lassen sich
lediglich aus der Vorgeschichte entnehmen, da er zu Erzählbeginn bereits einen Teil davon
verloren zu haben scheint („Gregor erschrak, als er seine antwortende Stimme hörte [...]“[6]).
Gregor Samsa genoss eine gute Ausbildung, die ihn die Volks- und Bürgerschule absolvieren
ließ und hat den Stand eines Handelsakademikers erreicht. Seit das Geschäft des Vaters
schließen musste, geht er seiner Beschäftigung nach, um die Schulden des Vaters bei der Firma
zu begleichen und gleichzeitig die Familie zu erhalten. Durchaus verantwortungsbewusst arbeitet
er hart und beansprucht nur einen kleinen Teil seines Verdienstes für sich selbst. Wohl fühlt sich
Gregor in seinem Beruf allerdings nicht („Der Teufel soll das alles holen!“[7]) und spielt mit dem
Gedanke, sofort zu kündigen nachdem alle Verbindlichkeiten beglichen sind. Den schlechten
Arbeitsbedingungen gibt er zunächst auch die Schuld an seiner Verwandlung.

Gregor erscheint dem Leser als Einzelgänger, der abends meist zu Hause bleibt, still Zeitung
liest, Fahrpläne studiert oder sich mit Laubsägearbeiten beschäftigt.[8]An seine Militärzeit
erinnert er sich gern zurück, was ein Bild an der Wand, auf dem er als Leutnant in Uniform zu
sehen ist, bezeugt.

Gretes Charakter ist gänzlich komplementär angelegt. Sie geht keiner Arbeit nach, hilft nur ab
und an im Haushalt mit. Ihr Tagesablauf besteht darin, lange zu schlafen, sich nett zu kleiden
und Violine zu spielen, weswegen sich die Eltern „[...] bisher häufig über die Schwester geärgert
hatten, weil sie ihnen als ein etwas nutzloses Mädchen erschienen war.“[9]Gregor dagegen gönnt
es seiner erst 17-jährigen Schwester, ihr Leben auf diese Weise zu gestalten. Obwohl Gregor der
Weg zur Musik bislang versagt blieb, plant er, seine Schwester „[...] ohne Rücksicht auf die
großen Kosten [...]“[10]auf das Konservatorium zu schicken. Am Weihnachtsabend will er seinen
Plan feierlich verkünden. Trotzdem er gegenüber seinen Eltern hauptsächlich die Rolle des
treuen Sohnes verkörpert, richtet er sich damit doch gegen deren Meinung, da sie offenbar nicht
geneigt sind das Violinenspiel Gretes zu fördern und „[...] nicht einmal diese unschuldigen
Erwähnungen gern [...]“[11] hören. Die Beziehung der Geschwister zueinander erscheint zunächst
eine von beiden Seiten harmonisch angelegte zu sein, was sich auch um die ähnlich klingenden
Namen ergänzen lässt. Pfeiffer bezeichnet es sogar als „[...] besonders enge[s] Verhältnis
[,..]“[12].

Bereits zu Beginn der Erzählung grenzt sich das Verhalten der Schwester deutlich vom
elterlichen ab. Während Vater und Mutter, von der Verwandlung noch nichts ahnend, Gregor
lediglich zum Aufstehen nötigen wollen und sich nach kurzer Verständigung wieder
zurückziehen, verweilt Grete an der Tür und beschwört ihren Bruder zu öffnen. Zudem stellt sie
konkrete Fragen an Gregor („Ist dir nicht wohl? Brauchst du etwas?“[13]), was auf ein innigeres
Verhältnis schließen lässt als das es zwischen den Eltern und Gregor der Fall zu sein scheint.
Zieht man wiederum die Vorgeschichte hinzu, so lässt sich die Sorge der Schwester auch als rein
materielle Angst um die finanzielle Absicherung ausmachen, da die Familie auf Gregors Gehalt
angewiesen ist.

Ein marginal auftretender Sachverhalt besteht außerdem darin, dass die Geschwisterbeziehung
auch durch räumliche Nähe geprägt ist. Die Schlafstätten der beiden Kinder befinden sich
während der gesamten Geschichte unmittelbar nebeneinander. Gretes eigentliches Zimmer wird
durch eine Tür mit Gregors verbunden und als sich die Schwester in Folge der Aufnahme der
Zimmerherren im Wohnzimmer niederlassen muss, ist eine unmittelbare Nähe ebenfalls
gegeben[14].

Grete tritt zunächst als engste Vertraute Gregors auf, die ihm einst mündlich und postalisch vom
Tagesablauf der Familie berichtete, wenn er sich auf Reisen befand. Weiterhin ist dem Leser der
Vorname der Schwester bekannt, während die Eltern lediglich als Vater und Mutter bezeichnet
werden. Auch hierin ist ein Indiz für eine eher unterkühlte Beziehung zwischen Eltern und
Kindern zu sehen, wogegen die Geschwister eine engere Bindung aneinander haben. Gestützt
wird jene Aussage durch die Tatsache, dass sich „[...] eine besondere Wärme [...]“[15]zwischen
Eltern und Sohn „[...] nicht mehr ergeben“[16]wollte, obgleich Gregor „[...] den Aufwand der
ganzen Familie zu tragen imstande war und auch trug.“[17]

Im Verlauf der Handlung kommt es zu schwerwiegenden Missverständnissen zwischen den


Geschwistern. So glaubt Gregor die Schwester ziehe sich „[...] aus Zartgefühl, da sie wußte, daß
Gregor vor ihr nicht essen würde [...] “[18]eiligst zurück, was auf den Leser mehr wie eine Flucht
vor dem Anblick des fressenden Tieres wirkt. Trotz seiner naiven Ansichten ist sich Gregor
bewusst, „[…] daß sie sich wohl sehr überwinden musste[…]“[19], um sich täglich in Gregors
Zimmer aufzuhalten. Diese verschiedenen Ansichten beruhen – neben Gregors allgemeiner
Leichtgläubigkeit – freilich auch darauf, dass Gregor den menschlichen Sinn für Rationalität
allmählich verliert. Das oben erwähnte Zartgefühl, welches er auf Grete projiziert, besitzt Gregor
in dem Fall selbst.[20]

[...]

Franz Kafka: Briefe. April 1914-1917. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt am Main: Fischer
[1]

2005. S. 299 Z. 24f.

Vgl. Kurt Weinberg: Kafkas Dichtungen. Die Travestie des Mythos. Bern u.a.: Francke 1963.
[2]

Vgl. Hellmuth Kaiser: Franz Kafkas Inferno. Eine psychologische Deutung seiner
[3]

Strafphantasie. In: Franz Kafka. Hrsg. von Heinz Politzer. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1973 (=
Wege der Forschung Bd. 37).

Franz Kafka: Die Verwandlung. In: Kafka, Franz. Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. von Wolf Kittler
[4]

u.a. Frankfurt am Main: Fischer 1994. (Im Folgenden gekürzt zu ,Kafka: Die Verwandlung.’) S.
115 Z. 1f.

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