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Aufgabestellung

“Wir leben in einer Welt der Hochstapler, wir alle müssen zwangsläufig zu Hochstaplern werden, um
voran zu kommen.”
“Im Smalltalk zu brillieren, also seine Außenwirkung gut genug im Griff zu haben, um sein Gegenüber
hinter der Fassade eine authentische und weltgewandtes Persönlichkeit vermuten zu lassen, ist
wichtiger, als tatsächlich irgendeine Persönlichkeit zu entwickeln.”

5. Erläutern Sie kurz in eigenen Worten die These Helene Hegemanns.


5.2 Erörtern Sie, ob bzw. Inwieweit das Leben des Protagonisten in Thomas Manns Romans
aktuelle Verhaltensmuster ausweist.

Wir sind alle Felix Krull


In Zeiten sozialer Netzwerke ist uns Hochstapelei zur zweiten Natur geworden. Nur ein neuer Autismus kann
uns retten. Unsere Autorin hat Saga Noren aus der Serie „Die Brücke“ vor Augen.

Die interessantesten Abenteuergeschichten waren bisher immer die, in denen jemand aufgrund von Charme,
Schönheit und krimineller Energien mehr erreicht als ihm zusteht. Im Fall von Felix Krull ist das der Aufstieg in
eine bessere, gesellschaftliche Schicht. Thomas Mann hat Krulls fiktive Biografie nie vollendet. Es geht um
einen jungen Hochstapler und vielleicht auch um Manns Einsicht, dass ein unaufrichtiges Leben mehr Wert
gewesen sein könnte als sein eigenes. Felix Krull setzt seine Intelligenz nicht zur Selbstoptimierung ein, er
verwendet seine Kraft nicht darauf, der Gesellschaft zu nutzen, sondern lebt von der Gunst naiver, ihm
verfallener Mitmenschen.
Er ist ein Charismatiker, der die Leute gleichzeitig verarscht und begeistert. Aus jeder zwischenmenschlichen
Begegnung zieht er durch geschickte Halbwahrheiten einen persönlichen Vorteil; gleichzeitig lieben die Leute
ihn für die aus seinem Egoismus resultierende Anpassungsfähigkeit, weil er jederzeit zu dem werden kann, was
andere in ihm sehen wollen.
Egal, ob er gerade vom Verlobten seiner Geliebten erschossen werden oder ins Gefängnis gesteckt werden soll,
weder sein Publikum noch er selbst müssen Angst haben, dass ihn sein Verhalten irgendwann zu teuer zu stehen
kommen könnte. Man vertraut auf seine Fähigkeiten: Manipulation, Verführung, ungeheure Smartheit. Und man
vertraut auf die generelle Milde seines Umfelds, das ihm als Wertschätzung seiner Intelligenz immer eine letzte
Chance lässt.
Der Soziologe Norbert Elias hat Ende der dreißiger Jahre versucht, ein Parameter für den Wandel der
Sozialstrukturen Westeuropas zu erstellen. Er ging davon aus, dass man den Unterschied zwischen Barbarei und
Zivilisation davon abhängig machen könne, wie viel Zeit zwischen einem strafbaren Vergehen und dem Urteil
liegt, das über den Täter verhängt wird. Je länger das dauert, desto fortschrittlicher ist die Bevölkerung, zu der
ein Täter gehört – und genau diese Vergesellschaftung ist Felix Krulls Fluchtfenster aus jeder Misere. Für seinen
Charme wird er mit Chancen bezahlt, und die Betrogenen nehmen das in Würde hin.
Das wird interessant, wenn man bedenkt, dass darin ein extremer Kontrast zu unserer Gegenwart
steckt; in der es mehr und mehr um radikale Enthüllungen und Urteilssprüche geht, die Konkurrenten
innerhalb kürzester Zeit für immer ausschalten können. Ein einziger Fehler kann Karrieren ruinieren,
ein missverständlicher Tweet dein ganzes Leben.

Die Rückkehr des Prangers


Der Journalist Jon Ronson hat ein Buch über diesen reaktionären Mechanismus verfasst, „So You’ve
Been Publicly Shamed“, in dem es um etwas geht, das man als „Selbstjustiz im Bürgerwehr-Stil“
übersetzen könnte. Ronson beginnt seine Abhandlung mit einer Geschichte aus seinem eigenen Leben.
Drei Internetforscher erstellen einen als Sozialexperiment getarnten Twitteraccount unter Ronsons
Namen und fangen an, zwanzig Mal am Tag obskure Statements mit dem hashtag #foodie zu
veröffentlichen, meistens über Wasabidumplings, manchmal auch über Schwänze.
Ronson bekommt Angst, dass seine Freunde den Account tatsächlich für seinen eigenen halten könnten
– er konfrontiert die Männer vor laufender Kamera und lädt das Video auf Youtube hoch, woraufhin
die Kommentatoren prompt einen überbordernden Shitstorm gegen die vermeintlichen Betrüger
lostreten. „Gas the cunts. Especially middle cunt. And especially left-side bald cunt. And especially
quiet cunt. Then piss on their corpses.“
Zuerst hält Ronson das für soziale Gerechtigkeit, dann fängt er an, den Verlauf der Internetwut zu
analysieren. Er besucht in Ungnade gefallene Opfer von Shitstorm-Selbstläufern, Justine Sacco zum
Beispiel, die wegen eines zu radikal formulierten Aids-Witzes auf Twitter innerhalb von elf Stunden
ihren Job, ihre Glaubwürdigkeit und die Gunst ihrer Familie verloren hat.
Und er wirft die Frage auf, was ein Comeback der öffentlichen Anprangerung für unsere Kultur
bedeutet, wenn sie absolut jeden treffen kann. Die stille Mehrheit bekommt im Internet eine Stimme.
Doch diese Stimme sucht bloß selbstbestätigende Fehler im Verhalten von Einzelpersonen, sie will die
Grenzen der Normalität neu definieren, indem sie das Leben derer zerstört, die mal kurzzeitig von ihr
abgewichen sind.

Was hat das nun mit Felix Krull zu tun? Ziemlich viel, wenn man bedenkt, das Felix Krull keine
Ausnahmeerscheinung und kein Held mehr ist, sondern der Standard. Wir alle sind er, manche mehr,
manche weniger erfolgreich, doch die Versuchsanordnung in unserem Streben nach
Selbstverwirklichung ist immer dieselbe. Hochstapelei ist eine Anforderung an den modernen
Menschen. Wir leben in einer Welt der Hochstapler, wir alle müssen zwangsläufig zu Hochstaplern
werden, um voran zu kommen.
In jedem Frauenmagazin steht, dass man, um das zu werden, was man sein will, erstmal so tun muss,
als wäre man es schon. Im Smalltalk zu brillieren, also seine Außenwirkung gut genug im Griff zu
haben, um sein Gegenüber hinter der Fassade eine authentische und weltgewandtes Persönlichkeit
vermuten zu lassen, ist wichtiger, als tatsächlich irgendeine Persönlichkeit zu entwickeln.
Die Sehnsucht nach dem Zweckfreien
Fotos werden nicht einer abgedrifteten Stilisierung wegen bearbeitet, sondern um sie durch die
Beseitigung von Störfaktoren natürlicher aussehen zu lassen. Authentizität ist der größte Fake
überhaupt, die Herstellung von Glaubwürdigkeit die schwierigste schauspielerische Leistung, der Satz
„sei einfach du selbst“ der mörderische Leitfaden einer neuen Weltordnung, und die Religion ist nicht
der Wissenschaft gewichen, sondern dem Glauben an sich selbst und daran, bis aufs Äußerste etwas
anderes tun zu können, als sich Gott oder höheren Gewalten hinzugeben – so was Ähnliches hat der
Theologe William James schon Anfang des letzten Jahrhunderts formuliert. Wir sind Einzelkämpfer.
Sensibilisiert für unsere Mechanismen der Hochstapelei, tun wir alles, um andere potentielle
Hochstapler zu entlarven. Macht ein Konkurrent nur den kleinsten Fehler in der Selbstverschleierung,
ist das ein Grund, ihn zum Verbrecher zu degradieren und für einen gewissen Zeitraum seiner
Glaubwürdigkeit zu berauben. Intimbeziehungen und Familienbande werden real unter die
Kapitalbewegung subsumiert, sie verlieren ihre Grundlagen. Damit ist jeder ein Konkurrent. Und jedes
Handeln muss sich irgendwie rechnen.
Gleichzeitig sehnen wir uns mehr denn je nach allem Zweckfreien, das sich nicht rechnet und nur um
seiner selbst willen existiert. Wir wollen um unserer selbst willen gemocht werden und nicht, weil wir
viel Geld haben oder große Brüste, wir wollen bedingungslose Liebe und sportliche und geistige
Höchstleistungen erzielen, die absolut keinem kapitalistischem Kalkül unterworfen sind. Wir wollen
grenzenlosen Luxus, Verschwendung, den Rausch, weil wir Instrumentalisierung hassen. Und trotzdem
beruhen unsere obligatorischen Erfolgsgeschichten darauf, dass alles und jeder instrumentalisiert wird.
Wenn Felix Krull kein Held mehr ist, sondern zumindest unbewusst dem Richtmaß einer strebsamen
Persönlichkeit entspricht, braucht man als neuen Helden den Gegenentwurf zu seiner Existenz:
Menschen, die sich aufgrund von pathologischer Selbstvergessenheit einer Sache verschreiben, ohne
dass es dabei auch nur ansatzweise um ihr persönliches Fortkommen geht.
Isolierte Wissenschaftler, talentierte Sänger, die aus Angst vor der Öffentlichkeit keinen Plattenvertrag
unterschreiben, oder sechsjährige Inselbegabte, die zwar kaum kommunizieren können, aber dafür gut
rechnen oder fotorealistisch Bilder vom Regenwald abzeichnen. Das Idealbild eines aufrichtigen, der
Gesellschaft nützlichen Menschen ist nur noch durch einen gewissen Grad an krankhafter Abweichung
zu erreichen.

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