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zwd Interview/Literaturgeschichte

Gastbeitrag: Erna Pfeiffer


200 Jahre und kein bisschen
weiblich? – Ein Streifzug durch
die argentinische Literatur
(zwd). Am Anfang steht immer das drängte und Verschwiegene der ar-
Wort, und jede neu gegründete Na- gentinischen „imagined commu-
tion braucht nicht nur eine Unabhän- nity“. Rosa Guerra, Juana Manso,
gigkeitserklärung, eine politische Eduarda Mansilla und Juana Manu-
Verfassung und funktionierende In- ela Gorrim standen für das Weibliche
stitutionen, sondern auch große Er- im Argentinien des 19. Jahrhunderts,
zählungen, die das noch nicht gefes- in dem sich Gauchos, Tyrannen und
tigte Gemeinsame in Geschichte(n) Bürgerkriegskämpfer in der Pampa
fassbar machen. tummelten.
Wer die argentinische Literatur-
geschichten des 19. Entzauberung argentinischer
Jahrhunderts auf- Gründungsmythen
schlägt, kann sich Juana Manso war vor allem eine
des Eindrucks begnadete Rednerin und Pädago-
nicht erweh- gin und erlitt durch ihre protofe-
ren, dass die ministischen Ideen und Lebens-
Urszene fikti- gewohnheiten viel persönliches
onaler Natio- Ungemach – bis zur Verweige-
rriti

nenbildung vor rung eines christlichen Begräb-


la G o

allem männlich nisses. In die Literaturgeschichte


nue

besetzt war: Es- sollte sie wegen zweier Romane


Ma
na

teban Echeverría, eingehen, die zu den ersten über-


ua

Domingo Faustino haupt im Land veröffentlichten ge-


Sarmiento, Juan Bau- hören: La familia del Comendador
tista Alberdi, José Mármol und José (1854) und Los misterios del Plata
Hernández, dies sind die geistigen (1852/67). Ersterer ein flammen-
Gründerväter, die dazu beigetragen der Appell gegen Ras-
haben, das nationale Imaginäre auf- sismus à la Onkel
zubauen mit ihren emblematischen Toms Hütte, zwei-
Texten El matadero (1838-40), Civi- terer ein Antidik-
lización y barbarie: Facundo Qui- tatorenroman,
roga (1845), El gigante Amapolas in dem sie auch
(1842), Amalia (1851-55) und El die Rolle der
gaucho Martín Fierro (1872). Wo- Frau als Ernäh-
n silla

mit sie auch die wichtigsten lite- rerin und Famili-


Ma

rarischen Gattungen Novelle, Es- enmutter subver-


da

say, Drama, Roman und Epos ab- siv umdeutet.


ar
du

E
decken. In den Werken dieser ide- Rosa Guerra und
ellen Staatengründer wurde ständig Eduarda Mansilla ver-
das Bild der „Madre Republikana“ bindet ein Kuriosum, nämlich im sel-
bemüht – jene allegorisch überhöh- ben Jahr 1860 einen Roman über
ten Idealfigur der selbstlosen, aufop- eine paradigmatische weibliche Fi-
fernden Mutter, die für Wohltätigkeit, gur der imaginierten Nationalge-
Fürsorge, Familie und Erziehung zu- schichte veröffentlicht zu haben:
ständig sein sollte. Lucía Miranda, die Legende einer
Insbesondere vier Autorinnen re- sogenannten „Cautiva“, also einer
präsentierten die Kehrseite, das Ver- Weißen, die in der Zeit der Erobe-

Seite IV / Nr. 282/2010 – 24. Jahrgang zwd Frauen.Gesellschaft und Politik


Literaturgeschichte zwd

rung des Rio de la Plata-Gebietes Werke von Frauen bescheiden. Da- der Nationalen Reorganisation“ ma-
von Indios sexuell begehrt und ge- bei gäbe es hier durchaus Interes- chen, wie die Militärjunta ihre eigene
raubt wird. Auch hier werden argen- santes zu entdecken, seien es die Schreckensherrschaft bezeichnete,
tinische Gründungsmythen entzau- urbanen feministischen Gedichte um den vorübergehenden Charakter
bert beziehungsweise ergänzt, in- und surrealen Theaterstücke von dieser Epoche anzudeuten. Auch in
dem dem weiblichen Element und Alfonsina Storni, seien es die phan- Romanen von Marta Traba und Kurz-
der interkulturellen Verständigung tastischen Kurzgeschichten von Sil- geschichten von Luisa Valenzuela
eine weit größere Rolle eingeräumt vina Ocampo, in denen
wird als in den Werken der Auto-

Foto: Víctor Sokolowicz


sich Frauenfiguren in un-

Foto: Erna Pfeiffer


ren. heimlichen Milieus be-
wegen, oder die autobi-
Gorriti: Begründerin des ographischen Essays ih-
phantastischen Genres rer Schwester Victoria.
Juana Manuela Gorriti schließlich, Gegen Mitte des Jahr-
die den Großteil ihres Lebens im hunderts etablieren sich
Exil in Bolivien und Peru verbrachte Alejandra Pizarnik und
und erst im Alter nach Argentinien Olga Orozco als aner-
zurückkehrte, kann als Begründe- kannte Lyrikerinnen. Im
rin des phantastischen Genres und Drama ist vor allem Gri-
wichtigste Vertreterin der argentini- selda Gambaro zu nen-
schen Romantik angesehen wer- nen, deren beklemmen-
den. In ihrem umfangreichen Werk den Stücke die Linie des Alicia Kozameh (links) lebt im Exil, ebenso wie die Kinder
finden sich Indianerlegenden, his- Neogrotesco fortsetzen. Alicia Steimbergs (rechts)
torisch-politische Erzählungen – vor Zusammen mit Diana
allem aus der Zeit der Unabhängig- Raznovich und Aída Bortnik war sie klingt politische Gewalt als Thema
keitskriege – und autobiographische auch eine von drei Frauen, die sich an. Nicht zuletzt wäre das Schrei-
Schriften. Das ausgegrenzte Irratio- am „Teatro Abierto“ (Offenes The- ben von Autorinnen jüdischer Her-
nale findet über Umwege in die Er- ater) – einer theatralischen Wider- kunft zu erwähnen, die heute im eu-
zählstränge zurück, auch zaghafte standsbewegung gegen das Militär- ropäischen Exil leben – wie Luisa Fu-
emanzipatorische Ansätze sind ihr regime – beteiligten. toransky, Reina Roffé und Sara Ro-
nicht fremd. senberg. In Argentinien geblieben
Literarische Verarbeitung sind hingegen Alicia Steimberg und
Theatralische Widerstands- der Diktatur (1976 – 1983) Ana María Shúa, die eine eher ero-
bewegung gegen das Regime Ab den 1980er Jahren dominierte die tisch-humoristisch gefärbte Variante
Eine ähnliche Szenerie finden wir im literarische Verarbeitung der Diktatur, jüdisch-argentinischer Identitätssu-
20. Jahrhundert vor: Während litera- wie zum Beispiel bei den in den USA che betreiben.
rische Größen wie Jorge Luis Bor- lebenden Exilautorinnen Alicia Koz- Alles in allem also ein viel ver-
ges, Leopoldo Lugones und Roberto ameh und Alicia Partnoy. Sie muss- sprechendes und noch immer viel
Arlt auch international Furore mach- ten selbst einschlägige Erfahrungen zu wenig ins Deutsche übersetzte
ten, blieb das Echo auf literarische in Gefängnissen mit dem „Prozess Corpus an hoch interessanten Tex-
ten aus weiblicher Fe-
der. Bleibt zu hoffen,
Foto Furgler Graz

Prof. Erna Pfeiffer


dass die Frankfurter
Erna Pfeiffer, geboren 1963, veröffentlicht und übersetzt Buchmesse hier Im-
wissenschaftliche sowie literarische Werke. Zuletzt ist
von ihr erschienen: „Aus der Rolle gefallen! Neuere pulse setzt, damit ne-
lateinamerikanische Literatur zwischen Machismo und ben Tango, Fußball und
Feminismo“, Verlag Dr. Kovac, 2008. Pfeiffer ist Rindsteak auch der
Professorin am Institut für Romanistik der Uni- „literarische Kontinent“
versität Graz. Sie habilitierte in Hispanistik mit Argentinien in seinen
der Schrift „Territorium Frau: Körpererfahrung
als Erkenntnisprozeß in Texten zeitgenössischer vielfältigen Facetten
lateinamerikanischer Autorinnen“, Frankfurt a.M.: entdeckt und durch-
Vervuert, 1998. streift werden kann. 

zwd Frauen.Gesellschaft und Politik Nr. 282/2010 – 24. Jahrgang / Seite V

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