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Gedichtinterpretation – Alfred Lichtenstein: Die Stadt (1913)

Im Folgenden soll das Gedicht „Die Stadt“ von Alfred Lichtenstein, welches im Jahr 1913
(Also in der Epoche des Expressionismus) veröffentlicht wurde, analysiert werden. Es geht
thematisch um die Trübheit der Städte. Die zentrale Aussage des Gedichts besteht darin, die
Gefühle der Tristesse und Hilflosigkeit darzustellen, die man in einer industrialisierten Stadt
empfindet.

Das Gedicht besteht aus vier Strophen, die jeweils drei Verse enthalten. Beim Reimschema
handelt es sich um einen verschränkten Reim (abc/abc/dfe/dfe) und das Metrum ist
durchgehend ein Jambus. Dadurch, dass das Metrum immer gleich ist und die Strophen alle
gleich lang sind, wird die Eintönigkeit und somit die Trübheit der Stadt betont.
Das Gedicht kann als eine Art kurzen Einblick in die Stadt angesehen werden. In der ersten
Strophe betrachtet das Lyrische ich die Stadt von oben, dann „zoomt“ es in der nächsten
Strophe näher an die Stadt und betrachtet die Stimmung der Bewohner. In der dritten Strophe
wird die Hilflosigkeit eines Irren gezeigt; in der letzten Strophe bewegt man sich wieder aus
der Stadt heraus und die Stadt wird bedeckt.
Der Titel „Die Stadt“ stellt natürlich erstmal dar, worum es in dem Gedicht gehen wird. Er
erweckt wenige Gefühle in einem, es handelt sich nur um eine nüchterne Darstellung des
Inhalts. Das passt allerdings gut zu der Grundstimmung des Gedichts, die ja dumpf sein soll.
Alles in allem wird die Stadt durch viele verschiedene Mittel als bedrückend dargestellt. Die
Wortwahl fällt unter diesem Aspekt stark auf: Verben wie u. a. „stieren“ (V. 2), „glotzen“ (V.
4), „quietschen“ (V. 6) oder „stöhnen“ (V. 7) vermitteln alle ein gewisses Unwohlsein; man
kann als Leser die Trostlosigkeit, die das Lyrische Ich beim Betrachten der Stadt empfindet,
nachvollziehen. Das gleiche gilt auch für Adjektive wie „halbtot“ (V. 3), „griesgrämig“ (V.
4), „mager“ (V. 5) oder „grau“ (V. 11). Durch all dies zeigt das Lyrische Ich kein objektives
Bild seiner Umgebung, sondern seine individuellen Gefühle darüber – ein häufiges
Vorkommnis in der Epoche des Expressionismus. Auch die Reizüberflutung des Lyrischen
Ichs wird dargestellt – durch den Reihungsstil von V. 1-5.
Die triste Stimmung wird auch durch verschiedene Stilmittel verdeutlicht: Die Alliterationen
„Griesgrämig glotzt“ (V. 4) und „dünner Droschkenschimmel“ (V. 4) betonen in diesem Fall
die jeweiligen Adjektive. Außerdem ist ein gleicher Anlaut auch etwas Eintöniges, diese
Stimmung stellen die Stilmittel also auch dar. Die Personifikation „stiert eine Stadt“ (V. 2)
(auch eine Alliteration mit dem Wort „eine“ dazwischen) betont, wie die industrialisierte
Stadt in die Schönheit der Natur „eindringt“, indem sie dem Leser ein unbehagliches Gefühl
gibt. Auch „die Winde […] rennen matt“ (V. 5) vermenschlicht den Wind, und zeigt, dass
sogar ihn die Atmosphäre der Stadt bedrückt. Insgesamt wird die Stimmung sehr bildlich
dargestellt, was auch wieder typisch für den Expressionismus ist. Die „grauen Puderhände“
(V. 11), die sich am Ende über die Stadt legen, genauso wie der „sanft verweinte Gott“ (V.
12), können als friedlich oder wieder als eintönig aufgenommen werden – wahrscheinlich
eine gewollte Unklarheit.
Ein weiteres Thema des Gedichts ist die Darstellung des Menschen in der Stadt als blind und
hilflos. Es wird von einem Irren gesprochen, der verzweifelt nach seiner Geliebten sucht (vgl.
V. 7 f.). Obwohl es so viele Menschen in der Stadt gibt, ist er verlassen: Die Leute um ihn
herum „staun[en] und grins[en]“ (V. 9) voll Spott. Sie werden als „Haufen“ (V. 9)
bezeichnet, nicht als Individuum. Der Verlust der Individualität (ein wichtiges Thema im
Expressionismus) in der Stadt wird durch diese Verdinglichung also auch dargestellt.
Ganz am Anfang wird auch noch durch die Metapher „ein weißer Vogel ist der große
Himmel“ (V. 1) aufgegriffen, wie frei die Natur außerhalb der Stadt ist. Durch diesen
Kontrast wird das andere Extrem, die erdrückende Stadt, betont.

Das Gedicht „Die Stadt“ von Alfred Lichtenstein stellt also tatsächlich die Wahrnehmungen
der tristen Atmosphäre einer industrialisierten Stadt dar.
Da dies ein sehr aktuelles Thema am Anfang des 19ten Jahrhunderts / dem Expressionismus
war, merkt man dem Gedicht seine zeitliche Herkunft deutlich an. Die damals modernen
Städte waren etwas Neuartiges und brachten nicht nur Positives, sondern auch
Verschmutzung und eine gewisse Einsamkeit mit sich. Deswegen richteten die Künstler des
Expressionismus sich häufig gegen diese Entwicklung. Heutzutage hat man in großen Städten
zwar immer noch häufig ein solches Gefühl, allerdings haben wir uns fast daran gewöhnt,
weshalb es heutzutage kein so wichtiges Thema wie damals ist.
Auch die sehr bildliche Sprache, die die Gefühle des Lyrischen Ichs nach außen trägt, ist
typisch für diese Epoche. Über diese habe ich persönlich gemischte Gefühle: Einerseits ist sie
häufig sehr schwer verständlich; teilweise ist sie so verschlüsselt, dass ich mir selbst durch
langes Nachdenken nicht die Bedeutung erschließen kann. Andererseits hat es meiner
Meinung nach auch einen gewissen Reiz, dass man länger darüber nachdenken muss. Und
wenn man die Sprache entschlüsselt hat, kann man sehr schön in die Gefühle des Lyrischen
Ichs eintauchen.

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