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Name:

Klasse/Jahrgang:

Standardisierte kompetenzorientierte schriftliche


Reife­prüfung / Reife- und Diplomprüfung / Berufsreifeprüfung

5. Mai 2023

Deutsch
S. 2/24 5. Mai 2023 / Deutsch

Hinweise zur Aufgabenbearbeitung

Sehr geehrte Kandidatin! Sehr geehrter Kandidat!


Ihnen werden im Rahmen dieser Klausur insgesamt drei Themenpakete mit je zwei Aufgaben
vorgelegt. Wählen Sie eines der drei Themenpakete und bearbeiten Sie beide Aufgaben zum
gewählten Thema.

Themenpakete Aufgaben
Saša Stanišić: Herkunft
Textinterpretation (540 – 660 Wörter)
1 Textbeilage (Romankapitel)
1. Literatur – Kunst – Kultur
Freiheit der Kunst
Leserbrief (270 – 330 Wörter)
1 Textbeilage (Interview)
Bedeutung des Sprachenlernens
Erörterung (540 – 660 Wörter)
1 Textbeilage (Bericht)
2. Sprache im digitalen Zeitalter
Emojis
Zusammenfassung (270 – 330 Wörter)
1 Textbeilage (Interview)
Die Oma, der Mythos
Textanalyse (540 – 660 Wörter)
1 Textbeilage (Essay)
3. Familie
Staat und Familie
Leserbrief (270 – 330 Wörter)
1 Textbeilage (Kommentar)

Ihnen stehen dafür 300 Minuten an Arbeitszeit zur Verfügung.


Die Aufgaben sind unabhängig voneinander bearbeitbar.
Verwenden Sie einen nicht radierbaren, blau oder schwarz schreibenden Stift.
Verwenden Sie ausschließlich die Ihnen zur Verfügung gestellten Blätter. In die Beurteilung wird alles
einbezogen, was auf den Blättern steht und nicht durchgestrichen ist. Streichen Sie Notizen auf den
Blättern durch.
Schreiben Sie auf jedes Blatt Ihren Namen und die fortlaufende Seitenzahl. Geben Sie die Nummer
des gewählten Themenpakets und den jeweiligen Aufgabentitel an.
Falls Sie mit dem Computer arbeiten, richten Sie vor Beginn eine Kopfzeile ein, in der Ihr Name und
die Seitenzahl stehen.
Als Hilfsmittel dürfen Sie ein (elektronisches) Wörterbuch verwenden. Die Verwendung von
(gedruckten und online verfügbaren) Enzyklopädien oder elektronischen Informationsquellen ist nicht
erlaubt.
Abzugeben sind das Aufgabenheft und alle von Ihnen verwendeten Blätter.

Ihre Arbeit wird nach folgenden Kriterien beurteilt:

■ Inhalt
■ Textstruktur
■ Stil und Ausdruck
■ normative Sprachrichtigkeit

Viel Erfolg!
5. Mai 2023 / Deutsch S. 3/24

Thema 1: Literatur – Kunst – Kultur


Aufgabe 1

Saša Stanišić: Herkunft

Verfassen Sie eine Textinterpretation.

Lesen Sie das Kapitel An die Ausländerbehörde aus dem Roman Herkunft (2019) von
Saša Stanišić (Textbeilage 1).

Verfassen Sie nun die Textinterpretation und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge:

■  eben Sie den Inhalt des Kapitels kurz wieder.


G
■ Analysieren Sie Aufbau, Erzählperspektive und sprachliche Gestaltung des Textes.
■ Deuten Sie das Kapitel im Hinblick auf die Situation des Protagonisten im März 2008.

Schreiben Sie zwischen 540 und 660 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen.
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Aufgabe 1 / Textbeilage 1

Saša Stanišić: Herkunft (2019)

AN DIE AUSLÄNDERBEHÖRDE

Am 7. März 1978 wurde ich in Višegrad an der Drina geboren. In den Tagen vor meiner Geburt
hatte es ununterbrochen geregnet. Der März in Višegrad ist der verhassteste Monat, weinerlich
und gefährlich. Im Gebirge schmilzt der Schnee, die Flüsse wachsen den Ufern über den Kopf.
Auch meine Drina ist nervös. Die halbe Stadt steht unter Wasser.
Im März 1978 war es nicht anders. Als bei Mutter die Wehen anfingen, brüllte ein heftiger 5
Sturm über der Stadt. Der Wind bog die Fenster vom Kreißsaal und brachte Gefühle durchein-
ander, und mitten in einer Wehe schlug auch noch der Blitz ein, dass alle dachten, aha, soso, jetzt
also kommt der Teufel in die Welt. So unrecht war mir das nicht, ist doch ganz gut, wenn Leute
ein bisschen Angst haben vor dir, bevor es überhaupt losgeht.
Nur gab all das meiner Mutter nicht unbedingt ein positives Gefühl, den Geburtsverlauf be- 10
treffend, und da die Hebamme mit der gegenwärtigen Situation ebenfalls nicht zufrieden sein
konnte, Stichwort Komplikationen, schickte sie nach der diensthabenden Ärztin. Die wollte, so
wie ich jetzt, die Geschichte nicht unnötig verlängern. Es reicht vielleicht zu sagen, dass die Kom-
plikationen mithilfe einer Saugglocke vereinfacht wurden.
Dreißig Jahre später, im März 2008, musste ich zum Erlangen der deutschen Staatsbürger- 15
schaft unter anderem einen handgeschriebenen Lebenslauf bei der Ausländerbehörde einreichen.
Riesenstress! Beim ersten Versuch brachte ich nichts zu Papier, außer dass ich am 7. März 1978
geboren worden war. Es kam mir vor, als sei danach nichts mehr gekommen, als sei meine Bio-
grafie von der Drina weggespült worden.
Die Deutschen mögen Tabellen. Ich legte eine Tabelle an. Trug auch ein paar Daten und Infos 20
ein – Besuch der Grundschule in Višegrad, Studium der Slavistik in Heidelberg –, es kam mir jedoch
vor, als hätte das nichts mit mir zu tun. Ich wusste, die Angaben waren korrekt, konnte sie aber
unmöglich stehen lassen. Ich vertraute so einem Leben nicht.
Ich setzte neu an. Schrieb wieder das Datum meiner Geburt und schilderte den Regen und
dass mir Großmutter Kristina meinen Namen gegeben hat, die Mutter meines Vaters. Sie küm- 25
merte sich auch in den ersten Jahren meines Lebens viel um mich, da meine Eltern studiert haben
(Mutter) beziehungsweise berufstätig waren (Vater). Sie war bei der Mafia, schrieb ich der Aus-
länderbehörde, und bei der Mafia hat man viel Zeit für Kinder. Ich lebte bei ihr und Großvater,
am Wochenende bei den Eltern.
Ich schrieb der Ausländerbehörde: Mein Großvater Pero war mit Herz und Parteibuch Kom- 30
munist und nahm mich mit auf Spaziergänge mit Genossen. Wenn sie über die Politik sprachen,
und das taten sie eigentlich immer, schlief ich super ein. Mit vier konnte ich mitreden.
Ich radierte das mit der Mafia wieder aus, man weiß ja nie.
Ich schrieb stattdessen: Meine Großmutter besaß ein Nudelholz, mit dem sie mir stets Prügel
androhte. Es kam nicht dazu, ich habe aber bis heute ein reserviertes Verhältnis zu Nudelhölzern 35
und indirekt auch zu Teigwaren.
Ich schrieb: Großmutter hatte einen goldenen Zahn.
Ich schrieb: Ich wollte auch einen goldenen Zahn, also malte ich einen meiner Schneidezähne
mit gelbem Filzstift an.
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Ich schrieb der Ausländerbehörde: Religion: keine. Und dass ich quasi unter Heiden aufge- 40
wachsen sei. Dass Großvater Pero die Kirche den größten Sündenfall des Menschen nannte, seit
die Kirche die Sünde erfunden hat.
Er stammte aus einem Dorf, in dem der Heilige Georg, Georg, der Drachentöter, verehrt wird.
Beziehungsweise, wie mir damals schien, mehr so die Drachenseite. Drachen besuchten mich
früh. Vom Hals der Verwandten baumelten sie als Anhänger, Stickereien mit Drachenmotiv wa- 45
ren ein beliebtes Mitbringsel, und Großvater hatte einen Onkel, der schnitzte kleine Drachen aus
Wachs und verkaufte die als Kerzen auf dem Markt. Das war schon gut, wenn man den Docht
anzündete und das Viech aussah, als würde es ein Feuerchen speien.
Als ich fast alt genug war, zeigte mir Großvater einen Bildband. Die fernöstlichen Drachen
fand ich am besten. Die sahen grausam, aber auch bunt und lustig aus. Die slawischen Drachen 50
sahen nur grausam aus. Auch die, die angeblich nett waren und kein Interesse an Verheerung oder
Jungfrauenentführung hatten. Drei Köpfe, krasse Zähne, so was.
Ich schrieb der Ausländerbehörde: Das Krankenhaus, in dem ich geboren wurde, gibt es nicht
mehr. Gott, wie viel Penicillin ich dort in den Arsch gepumpt bekommen habe, schrieb ich,
ließ es aber nicht stehen. Man will ja eine womöglich etepetete Sachbearbeiterin mit solchem 55
Vokabular nicht verstören. Ich änderte also Arsch zu Gesäß. Das kam mir aber falsch vor, und ich
entfernte die ganze Info.
Zu meinem zehnten Geburtstag schenkte mir der Rzav die Zerstörung der Brücke in unserem
Viertel, der Mahala. Ich sah zu vom Ufer, wie der Nebenarm der Drina die Brücke so lange mit
Frühling in den Bergen bearbeitete, bis die Brücke sagte, alles klar, dann nimm mich halt mit. 60
Ich schrieb: Keine biografische Erzählung ohne Kindheitsfreizeitgestaltung. Ich schrieb mit
Großbuchstaben mitten auf das Blatt:

SCHLITTENFAHREN

Die Meisterstrecke begann unter dem Gipfel des Grad, wo im Mittelalter ein Turm über das
Tal gewacht hatte, und endete nach einer engen Kurve vor dem Abgrund. Ich erinnere mich 65
an Huso. Huso schlich mit einem alten Schlitten den Grad hinauf, außer Puste, lachend, und
auch wir, die Kinder, lachten, lachten ihn aus, weil er dürr war und Löcher in den Stiefeln hatte
und viele Zahnlücken. Ein Irrer, dachte ich damals, heute denke ich, er hat einfach am Konsens
vorbeigelebt. Wo man schlief, wie man sich kleidete, wie deutlich man Wörter aussprechen und
in welchem Zustand sich die Zähne befinden sollten. Er ging es anders an als die meisten. Ge- 70
naugenommen war Huso bloß ein arbeitsloser Säufer, der vor dem Abgrund nicht gebremst hat.
Vielleicht weil wir ihn nicht gewarnt hatten vor der finalen Kurve. Vielleicht weil er sich die Re-
flexe weggesoffen hatte. Huso schrie, wir hin, und dann war es ein Freudenschrei gewesen: Huso
saß auf seinem Schlitten, und der Schlitten hing auf halbem Hang im Unterholz.
„Weiter, Huso!“, riefen wir. „Gib nicht auf!“ Angefeuert durch unsere Rufe und vor allem die 75
Tatsache, dass es in seiner Lage leichter war, nach unten als nach oben zu gelangen, schlug sich
Huso aus dem Gestrüpp und rauschte den restlichen Hang hinab. Es war unglaublich, wir waren
ekstatisch, und Huso wurde 1992 angeschossen in seinem Verschlag an der Drina, seinem Haus
aus Karton und Brettern, unweit des Wachturms, wo – die alten Epen besingen es – je nachdem,
wen du fragst, entweder der serbische Held, Königssohn Marko, einst Zuflucht vor den Osmanen 80
fand, oder der bosniakische – Alija Đerzelez auf seiner geflügelten Araber Stute über die Drina
sprang. Huso überlebte, verschwand und kam nicht wieder. Die Meisterstrecke hat nie wieder
einer so gemeistert wie er.
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Ich schrieb eine Geschichte auf, die so begann: Fragt man mich, was für mich Heimat bedeutet,
erzähle ich von Dr. Heimat, dem Vater meiner ersten Amalgam-Füllung. 85
Ich schrieb der Ausländerbehörde: Ich bin Jugo und habe in Deutschland trotzdem nie was
geklaut, außer ein paar Bücher auf der Frankfurter Buchmesse. Und in Heidelberg bin ich mal
mit einem Kanu in einem Freibad gefahren. Radierte beides aus, weil vielleicht Straftaten und
nicht verjährt.
Ich schrieb: Hier ist eine Reihe von Dingen, die ich hatte. 90

Quelle: Stanišić, Saša: Herkunft. München: Luchterhand 2019, S. 6 – 10.

INFOBOX

Saša Stanišić (geb. 1978 in Višegrad, heutiges Bosnien): deutsch-bosnischer Schriftsteller,


lebt nach seiner Flucht vor dem Bosnienkrieg (1992 – 1995) seit 1992 in Deutschland. Im
autobiografisch geprägten Roman Herkunft geht es um Flucht, Abschied, Erinnerung und
Ankommen in einer neuen Umgebung.

Ausländerbehörde: Die Ausländerbehörden sind in Deutschland für Aufenthalt, Erwerbs­


tätigkeit und Integration von Ausländern im Bundesgebiet zuständig.
Vgl.: https://www.gesetze-im-internet.de/aufenthg_2004/__71.html [15.12.2022].

Drina, Rzav: Flüsse


5. Mai 2023 / Deutsch S. 7/24

Thema 1: Literatur – Kunst – Kultur


Aufgabe 2

Freiheit der Kunst

Verfassen Sie einen Leserbrief.

Situation: Sie lesen ein Interview über die Freiheit der Kunst und reagieren darauf mit
einem Leserbrief.

Lesen Sie das Interview Die Kunst und ihre Grenzen mit Hanno Rauterberg aus der
Online-Ausgabe der Tiroler Tageszeitung vom 5. November 2018 (Textbeilage 1).

Verfassen Sie nun den Leserbrief und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge:

■ Nennen Sie Gründe für die Bedrohung der Freiheit der Kunst laut Hanno Rauterberg.
■ Nehmen Sie Stellung zu ausgewählten Aussagen des Kunstkritikers.
■ Begründen Sie Ihre eigene Position zur Bedeutung der Freiheit der Kunst.

Schreiben Sie zwischen 270 und 330 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen.
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Aufgabe 2 / Textbeilage 1

Die Kunst und ihre Grenzen


Gemälde werden abgehängt, Skulpturen vernichtet. Sind die neuen gesellschaftlichen Tabus eine
Bedrohung für die Kunst? Ein Gespräch mit Kunstkritiker Hanno Rauterberg.

Interview: Gerlinde Tamerl Konflikte mit einem Teil des Pub- Zensur „von unten“ bemerkbar. In
likums. Dieses Publikum fühlt sich der Digitalmoderne ist es leich-
Tiroler Tageszeitung: Das Ver- aufgeklärt, zählt zum linkslibera- ter geworden, eine Petition auf-
ständnis, was die Freiheit der Kunst len Milieu und will sich bestimmte zusetzen, um dann ein breites
bedeutet, hat sich sehr gewandelt. Dinge nicht mehr bieten lassen. Echo über die sozialen Medien zu
Inwiefern ist die Freiheit der Kunst Diese Menschen akzeptieren nicht erzeugen. Plötzlich unterschrei-
bedroht? mehr, wenn Künstler als Machos ben eine halbe Million Leute eine
auftreten oder Frauen in der Kunst Petition gegen eine Video-In­
Hanno Rauterberg: Ich spreche oft diskriminiert werden. Auch Tiere stallation und das Museum gerät
mit Künstlern und Museumsdi- dürfen nicht mehr gequält wer- unter Druck. Das Erschreckende:
rektoren. Viele erzählen mir, dass den. Im New Yorker Guggenheim Die Freiheit der Kunst wird auch
sie sich nicht mehr so frei füh- Museum musste eine Video-In­ dort in Frage gestellt, wo sie einst
len. Es gibt einen gesellschaftli- stallation, die angekettete Hunde von der Aufklärung errungen
chen Wertewandel, der sich nicht zeigte, abgebaut werden, weil sich wurde.
nur in der bildenden Kunst, son- Tierschützer dagegen aufgelehnt
dern auch im Film und im Theater haben. Warum ist das so? Weshalb sollen der
bemerkbar macht. Moralische und Kunst neue Grenzen gesetzt werden?
soziale Konflikte werden heute in Was spricht denn dagegen?
den Arenen der Kultur ausgetra- Viele Leute haben ein Problem
gen. Es wird weniger über Ästhetik Nichts spricht gegen Emanzi- mit der Freiheit. Und das liegt an
gestritten, dafür umso mehr über pation, nichts gegen Tierwohl, der gesellschaftlichen und ökono-
moralische Fragen wie zum Bei- doch die Darstellung von Unrecht mischen Liberalisierung, die von
spiel: Darf ein guter Künstler auch in der Kunst ist ja selbst kein manchen Menschen als Bedro-
ein schlechter Mensch sein? Und Unrecht. Das wird oft verwech- hung empfunden wird. Sie wün-
wo verlaufen die sittlichen Gren- selt. Dabei geht es in der Kunst schen sich neue, klare Grenzen.
zen seiner Kunst? ja gerade darum, dass sie frei ist, Für manche sollen es nationale
uns mit Dingen zu konfrontie- Grenzen sein, andere denken
Sie schreiben „Die Kunst war immer ren, die uns unbequem sind, viel- eher an kulturelle Grenzen, um
auch Gegner, ein Hassobjekt“. Wie leicht auch verletzend. Moderne ihre Identität zu schützen. In der
manifestieren sich die Angriffe gegen Kunst, hieß es lange, soll verstö- Kunst jedoch ging es immer um
die Kunst heute? ren. Heute hat man eher den Ein- Entgrenzung. Deshalb ist es nicht
druck: Sie soll uns besänftigen. so verwunderlich, dass sie von
Kunst war immer umstritten, aber manchen angefeindet wird.
es waren meist konservative Par- Die so genannte Digitalmoderne
teien oder die Kirche, die unsittli- spielt dabei eine entscheidende Rolle. Gab es moralische Diskussionen in
che und blasphemische Umtriebe Warum? der Kunst nicht immer schon?
witterten. Heute gibt es immer
noch Konflikte mit der Obrigkeit, Früher gab es die Zensur „von Ja, aber dem Künstler stand es frei,
aber es gibt mindestens so starke oben“. Heute macht sich eine sich über die Moral zu erheben.
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Caravaggios Bilder wusste man zu dass sich im Bewusstsein etwas der Mensch sich in Anbetracht
schätzen, obwohl er als Mensch verändert, nur würde ich davor der Kunst selber fremd wird. Es
ein Scheusal war. Heute ist das warnen, einzelne Kunstwerke braucht die Bereitschaft, die Frei-
anders, das haben wir in der dafür haftbar zu machen, was der heit der Kunst als eine Möglich-
#MeToo-Debatte erlebt. Es ist Urheber möglicherweise verbro- keit der Selbstreflexion auszuhal-
richtig, dass ein Schauspieler wie chen hat. [...] ten. Als einen Spielraum, in dem
Kevin Spacey vor Gericht gestellt auch das Verdrängte seinen Platz
wird, wenn er sich an Minder- Warum ist es so wichtig, dass die hat und alle darüber streiten dür-
jährigen vergangen haben sollte, Freiheit der Kunst gewahrt bleibt? fen. Wie dumm wäre eine Gesell-
aber ihn dafür aus Filmen her- schaft, diesen Spielraum abzu-
auszuschneiden, das ist eine neue Die Kunst lebt vom produkti- schaffen.  n
Dimension. Ich finde es richtig, ven Kontrollverlust, davon, dass

Quelle: https://www.tt.com/artikel/14976397/die-kunst-und-ihre-grenzen [15.12.2022].

INFOBOX

Caravaggio, Michelangelo Merisi da (1571 – 1610): italienischer Maler


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Thema 2: Sprache im digitalen Zeitalter


Aufgabe 1

Bedeutung des Sprachenlernens

Verfassen Sie eine Erörterung.

Lesen Sie den Bericht Wenn der Computer das Sprechen übernimmt von Peter Mayr aus der
Online-Ausgabe der Tageszeitung Der Standard vom 8. Februar 2019 (Textbeilage 1).

Verfassen Sie nun die Erörterung und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge:

■  enennen Sie die beiden in der Textbeilage dargelegten Positionen zu den Auswirkungen
B
neuer Übersetzungstechnologien.
■ Diskutieren Sie die Frage, ob das Erlernen von Fremdsprachen angesichts dieser
Technologien überflüssig wird.
■ Setzen Sie sich mit möglichen Auswirkungen dieser technologischen Entwicklung auf den
gesellschaftlichen Umgang mit Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt auseinander.

Schreiben Sie zwischen 540 und 660 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen.
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Aufgabe 1 / Textbeilage 1

Wenn der Computer das Sprechen


übernimmt
Der digitale Simultandolmetscher ist längst keine Science-Fiction mehr. Wird das Erlernen von
Fremdsprachen überflüssig?

Von Peter Mayr auch andere, wie das Kölner Tech- Englische zutrifft? „Es kann sein,
nologieunternehmen DeepL, das dass man hier sagt: Die erste
Menschen wie Giuseppe Gasparo seit zwei Jahren einen Übersetzer Fremdsprache müssen wir noch
Mezzofanti gab es nur wenige. anbietet. Das Prinzip funktioniert selbst beherrschen. Ich sehe das
Der italienische Kardinal, gebo- gleich: In einem Textfeld wird der Problem eher bei der zweiten oder
ren 1774 in Bologna, soll über ein Originaltext eingespeist, daneben gar dritten. Die Wirtschaft wird
Talent verfügt haben, um das ihn erscheint sofort – dank neuronaler das nicht verlangen. Und es wird
wohl heute noch viele beneiden. Er Netze – die entsprechende Über- dazu führen, dass die Leute deut-
habe rund 50 Sprachen verstanden setzung. lich weniger Sprachen lernen.“
und einen Gutteil davon gespro-
chen, lautet eine Überlieferung. Noch treten dabei immer wieder Am Zentrum für Translationswis-
Und selbst wenn es ein paar weni- Fehler auf, aber diese Systeme wer- senschaft an der Universität Wien
ger waren, ist diese Fähigkeit weit den ständig besser. „Die Qualität wird auf eine andere Zukunft
von jeder Norm entfernt. hat dazu geführt, dass auch profes- gesetzt. Das Sprachenlernen werde
sionelle Übersetzungsdienste jetzt nicht aussterben, sagt Professor
Sprachenvielfalt gilt auch heute bereit sind, damit zu arbeiten“, sagt Gerhard Budin: „Ganz im Gegen-
noch als hohes Gut. Was aber, Martin Volk, Professor am Institut teil. Die Menschen wollen nach
wenn das Erlernen von Sprachen für Computerlinguistik der Uni wie vor Sprachen lernen.“
nicht mehr notwendig ist? Wenn Zürich.
Computer die Übersetzung ins Selbst wenn es heutzutage tech-
Chinesische, Russische oder Fran- „Hobby einer Elite“ nisch möglich sei, in Echtzeit
zösische übernehmen – und das in maschinell zu übersetzen und zu
Echtzeit? Im Roman Per Anhal- Für den Forscher ist klar, wohin dolmetschen, würden die Men-
ter durch die Galaxis von Douglas die Reise geht – zum technischen schen danach trachten, „in vielen
Adams aus dem Jahr 1979 gibt es „Babel fish“ nämlich. Es gebe Situationen in einer gemeinsamen
ein Wesen, der „Babel fish“, der, ins schon erste Systeme, die in diese Sprache zu kommunizieren. Das
Ohr gesetzt, alle Sprachen überset- Richtung gehen würden, gespro- ist ein Verlangen der Menschen.“
zen kann. Kein Wunder, dass ein- chene Sprache zu übersetzen. „Das
mal ein Übersetzungsprogramm ist technisch schon vorgespurt“, Es gehe auch viel um kulturelle
diesen Namen bekam. 2019 macht sagt Volk. Identität, die sich in der Spra-
das kein Fisch wie im Buch, es che einer Gruppe ausdrücke. „Es
macht die Technik. Seine Prognose klingt je nach gibt auch die Angst, sich in einem
Sichtweise ernüchternd oder Einheitsbrei zu verlieren – kultu-
Wie gut maschinelle Übersetzung segensreich: „Das Lernen, fürchte relle Vielfalt drückt sich oft auch
funktioniert, lässt sich leicht erfah- ich, wird zu einem Hobby einer in sprachlicher Vielfalt aus“, meint
ren: Google Translate wird aller- Elite, also das, was Latein heute Budin.
orts benutzt. Natürlich gibt es ist“, sagt er. Ob das auch auf das
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Sprache als Ausdrucksmedium Hart getroffen von den tech- Philosoph Jung: „Eine fremde
nischen Umwälzungen werden Sprache zu erlernen macht uns
Was bedeutet das universelle ganze Branchen. „Es wird – wie reflektierter in Bezug auf die
sprachliche Verstehen für die in vielen Berufen – Spezialanwen- eigene Sprache und Kultur.“ Die
Gesellschaft? Der Philosoph Mat- dungen geben“, sagt der Schwei- Erfahrung, dass in anderen Spra-
thias Jung von der Universität Kob- zer Computerlinguistik-Professor chen die Wirklichkeit mit anderen
lenz-Landau kennt eine Antwort: Martin Volk, aber er prognosti- Mitteln artikuliert werde, andere
„Die Grundfrage lautet: Was ist ziert: „Langfristig wird es weniger Dinge wichtig seien als in der
Sprache? Linguisten, Übersetzer Übersetzer und Dolmetscher Muttersprache, schärfe den Blick
werden sagen, dass sie ein Werk- brauchen.“ Es werde literarische, fürs Eigene und Fremde gleich-
zeug zur Weitergabe von Informa- medizinische oder auch rechtliche zeitig: „Wer mehrere Sprachen
tionen ist. Das greift aber zu kurz. Texte geben, für die es Nachkont- beherrscht, für den sieht die Welt
Sprache ist nämlich auch ein Aus- rolle brauche. farbiger aus.“
drucksmedium, das uns erlaubt, zu
zeigen, was uns wichtig ist, was uns Für den Wiener Übersetzungs- Dass Datenkraken wie Google mit
bedeutend scheint“, sagt er. experten Budin „passieren die Texten en gros gefüttert werden,
Dinge gleichzeitig“. Die Techno- habe natürlich auch eine gefähr-
Sprachen würden sich darin stark logien werden immer besser, „aber liche Komponente: „Mit unseren
unterscheiden, wie sie Wirklich- es braucht weiterhin professionelle digitalen Werkzeugen hinterlassen
keit gliedern: „In Australien gibt es Übersetzer und Dolmetscher, denn wir Spuren“, sagt Volk – und meint
Stämme, die beziehen alle Orte auf die Arbeit wird nicht weniger. Sie damit vorwiegend Verschriftlich-
Berge, die sich dort befinden. Mit verändert sich nur.“ tes. Noch, muss man wohl hinzu-
Begriffen wie Nord oder Süd fange fügen.  n
ich daher wenig an. Das ist sicher Bildungseffekt
ein extremes Beispiel, aber es zeigt
sehr schön, dass es Unterschiede in Der Bildungseffekt dürfe nicht
der Grundhaltung zur Welt gibt.“ außer Acht gelassen werden, sagt

Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000097713412/wenn-der-computer-das-sprechen-uebernimmt [15.12.2022].

INFOBOX

Datenkraken: abwertender Begriff für Unternehmen oder Programme, die systematisch und
in großem Umfang persönliche Daten sammeln und auswerten
en gros: hier massenhaft
neuronale Netze: hier künstliche neuronale Netze, die den Verbindungen im menschlichen
Nervensystem nachgebildet sind und mittels mathematischer Formeln Aufgaben lösen
können
5. Mai 2023 / Deutsch S. 13/24

Thema 2: Sprache im digitalen Zeitalter


Aufgabe 2

Emojis

Schreiben Sie eine Zusammenfassung.

Situation: Im Rahmen eines Projekts im Deutschunterricht zum Thema Sprache im


digitalen Zeitalter fassen Sie für Ihre Mitschüler/innen bzw. Ihre Kurskolleginnen und
-kollegen ein Interview über Emojis zusammen.

Lesen Sie das Interview „Wenn das ❤ plötzlich fehlt, stimmt etwas nicht“ mit Florian Busch aus
der Online-Ausgabe der deutschen Wochenzeitung Die Zeit vom 17. Juli 2020 (Textbeilage 1).

Schreiben Sie nun die Zusammenfassung und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge:

■  eben Sie diejenigen Faktoren wieder, die die Verwendung von Emojis beeinflussen können.
G
■ Beschreiben Sie die Möglichkeiten, die der Gebrauch von Emojis eröffnet, sowie die Gründe
für ihren Erfolg.

Schreiben Sie zwischen 270 und 330 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen.
S. 14/24 5. Mai 2023 / Deutsch

Aufgabe 2 / Textbeilage 1

Emojis

„Wenn das ❤ plötzlich fehlt,


stimmt etwas nicht“
Warum finden wir die Schwiegermutter mit ihren Emojis peinlich, aber den kleinen Bruder nicht?
Der Linguist Florian Busch erklärt, wer welche Emojis benutzt.

Interview: Eike Kühl Sie haben den Gebrauch von Emo- ausdrücken. Das sehen wir auf ver-
jis erforscht. Welche Bevölkerungs- schiedenen sprachlichen Ebenen
Heute schon Emojis in die gruppe verwendet die meisten? wie der Wortwahl oder eben dem
WhatsApp-Gruppe gepostet? Einsatz von Emojis. Die inter-
Wenn nicht, dann mal los. Denn Das ist schwer zu sagen. Viele essantere Frage bei der Untersu-
der 17. Juli ist Welt-Emoji-Tag. linguistische Untersuchungen, chung des Emoji-Gebrauchs ist
Aber wieso verwenden wir meis- die sich mit digitaler Sprache letztlich nicht das Alter und auch
tens die gleichen Emojis? Und beschäftigen, basieren auf einer nicht die Anzahl der Emojis, die
was passiert, wenn wir es mal ver- ausbauwürdigen Datengrundlage. eine Person verwendet, sondern
gessen? Das beantwortet Flo- Das liegt unter anderem daran, welche zum Einsatz kommen und
rian Busch, Sprachwissenschaft- dass viele Menschen ihre privaten welche Funktionen sie überneh-
ler am Germanistischen Institut Nachrichten der Wissenschaft men.
der Martin-Luther-Universität nicht zur Verfügung stellen wol-
Halle-Wittenberg. Er hat unter len. Es gibt zwar Studien, wonach Also ob jemand mit 😃 antwortet
anderem zum Emoji-Gebrauch Frauen mehr Emojis benutzen oder mit 😲🙈🤖?
unter Jugendlichen geforscht. als Männer und wonach die Ver-
wendungshäufigkeit im Kindes- Bei der Verwendung von Emo-
ZEIT ONLINE: Herr Busch, jetzt mal alter hoch ist, dann wieder etwas jis gibt es eine Art soziales Konti-
Hand aufs ❤: Wie viele der bunten abnimmt und in der mittleren nuum. Nehmen wir das lächelnde
Bildchen verwenden Sie als Sprach- Altersgruppe wieder steigt. Aber Emoji 🙂, das vielleicht konserva-
wissenschaftler pro Tag? ob diese Befunde verallgemei­ tivste Emoji überhaupt. Das kön-
nerbar sind, ist fraglich. Die Ver- nen wir uns sogar in einer beruf-
Florian Busch: Das sind sicherlich wendung von Emojis hängt letzt- lichen E-Mail vorstellen. Emojis,
einige. Vor allem in der digitalen lich immer auch von persönlichen die verspielter, bildlicher und bun-
Kommunikation bin ich definitiv Präferenzen ab, die unabhängig ter sind, dagegen nicht. Wer sich
ein Freund des Emojis. Ich habe von Alter oder Geschlecht sind. nun insgesamt konservativ aus-
die Möglichkeit, mein Schrift­ drückt, wird diese Emojis vermut-
inventar durch Bildzeichen auf- Soll heißen: Es gibt auch junge Men- lich vermeiden. Gleichzeitig ent-
zustocken, mit ganzem Herzen schen, die echte Emoji-Muffel sind? wickeln wir Gebrauchsprofile, die
umarmt. Aber das macht natür- wir heranziehen, um mit verschie-
lich nur einen kleinen Teil mei- Es gibt junge Leute, die einen inno- denen Rezipienten zu kommuni-
ner Alltagsschriftlichkeit aus. Im vativen Sprachgebrauch pfle­ gen, zieren – mit der besten Freundin
wissenschaftlichen Schreiben ver- die verspielt sprechen und auch sprechen wir anders als mit einem
wende ich Emojis natürlich nicht. so schreiben. Und es gibt junge Arbeitskollegen. Das gilt auch für
Leute, die sich eher konservativ den Einsatz von Emojis.
5. Mai 2023 / Deutsch S. 15/24

Weshalb ist es eigentlich pein- können, wie sie ein ganzes Jahr Man liest häufig, Emojis seien eine
lich, wenn die Schwiegermutter im über, bis auf wenige Ausnah- eigene Sprache. Stimmt das?
Familienchat plötzlich viele Emojis men, jede einzelne Nachricht
postet, aber völlig normal, wenn der mit einem Herzchen ❤ beendet Nein, ich würde es eher eine
kleine Bruder dasselbe tut? haben. Ursprünglich wollten sich Ergänzung unserer Schriftspra-
beide damit ihrer sozialen Bezie- che nennen. So wie wir münd-
Eine wichtige Funktion von hung gewahr werden. Aber sobald lich mit Lautstärke, Tonlage und
Emojis besteht darin, sprachliche Routine einkehrte, verblasste die Geschwindigkeit einen bestimm-
Äußerungen mit sozialer Infor- Bedeutung. Vielmehr entsprach ten Gemütszustand vermitteln
mation anzureichern, zu beschrei- der Gebrauch nun der erwar- können, können wir das in der
ben, wie wir zueinander stehen. teten Norm. Das Emoji musste Schriftsprache mit Emojis. Sie
Wenn die Schwiegermutter nun nicht immer aufs Neue interpre- dienen als Interpretationsrah-
vielleicht mit vielen Emojis ver- tiert werden. Im Gegenteil, wenn men: Sie kommentieren das, was
sucht, ihre Herzlichkeit in der das Herzchen plötzlich fehlte, wir mit sprachlichen Mitteln ver-
Chatgruppe auszudrücken, könnte wurde das als bedeutsam interpre- schriftet haben. Und sie sind mei-
das als „trying too hard“ rüber- tiert, denn offenbar stimmte etwas nes Erachtens deshalb auch weni-
kommen. Gleichzeitig haben wir nicht. Dann war die Ansage: „Pass ger als Alternative zu Wörtern
natürlich immer soziale Stereo- auf, vielleicht ist mein Gegenüber zu sehen als zu Interpunktions-
type und Vorstellungen im Kopf: verstimmt, frag doch lieber mal zeichen: Wer einen Satz mit „?!“
Von der Schwiegermutter erwar- nach, ob alles okay ist.“ beendet, könnte das auch mit
ten wir möglicherweise nicht diese einem Emoji ausdrücken.
verspielte Kommunikation. Gibt es kulturelle Unterschiede in
der Verwendung von Emojis? Wieso sind Emojis eigentlich vor
Wie viele Emojis sind denn zu viele allem in den vergangenen zehn Jah-
in einer Nachricht? Definitiv. Man kann sagen, dass ren so erfolgreich geworden? Emoti-
es vielleicht einen Grundstock an cons wie :-) gibt es doch schon seit
Das hängt von Normen ab, die etwa fünf Emojis gibt, die welt- Jahrzehnten.
sich in Kommunikationsgemein- weit eingesetzt werden. Zu den
schaften einschleifen. Was in der meistgenutzten Emojis gehört Das hat zwei Gründe. Erstens
einen Gemeinschaft, etwa der etwa das Tränen lachende Smi- wurden Emojis erst 2010 in den
WhatsApp-Gruppe mit Schul- ley 😂, gefolgt vom Herz. Durch Unicode-Standard aufgenommen.
freunden, angemessen ist, ist im die Verbreitung sind sie auch in Seitdem können Emojis auf ver-
Chat mit der Schwiegermutter ihrer Bedeutung festgelegt; jeder schiedenen Systemen und Gerä-
möglicherweise unangemessen. weiß, was sie bedeuten. Doch ten vergleichbar angezeigt wer-
Interessant ist, dass bei der Ver- schon bei den etwas weniger häu- den. Zweitens haben wir durch
wendung von Emojis immer auch fig verwendeten Emojis variiert das Smartphone einen exorbitan-
bestimmte Erwartungsnormen die Bedeutung von Kommunika- ten Anstieg der Alltagsschriftlich-
entstehen. tionsgemeinschaft zu Kommuni- keit erfahren. Wir schreiben nicht
kationsgemeinschaft. Die zusam- mehr nur im schulischen oder
Inwiefern? mengefalteten Hände 🙏 etwa professionellen Kontext, sondern
können ein Zeichen für Beten auch privat rund um die Uhr.
Ich habe in meiner Untersu- sein, für High Five stehen oder, in
chung eines Chats von zwei Mäd- der japanischen Kultur, auch ein Was sagen Sie eigentlich zu der
chen beispielsweise verfolgen Dankeschön bedeuten. Behauptung, durch Emojis würde
S. 16/24 5. Mai 2023 / Deutsch

unsere Sprache verrohen oder sie sondern sie ergänzen die Spra- darauf, dass Kinder nicht mehr
würden unserem Sprachvermögen che und sorgen für mehr sprach- unterscheiden können, wann und
schaden? 😠 liche Variabilität und Schreibstile. wo sie Emojis einsetzen und wann
Auch Kinder und Schüler verler- nicht. Emojis haben ihren Platz
Dem würde ich entschieden nen dadurch nicht die traditionelle in unserer Sprache. Aber deshalb
widersprechen. Emojis verursa- Schriftsprache. Es gibt aus lingu- werden sie unsere Sprache nicht
chen kein Weniger an Sprache, istischer Sicht keine Hinweise ersetzen oder schädigen. n

Quelle: https://www.zeit.de/digital/internet/2020-07/emojis-sprache-internet-chat-linguistik-emotionen-smileys/komplettansicht
[15.12.2022].

INFOBOX

Unicode-Standard: Zeichencodierungssystem, das sprach- und programmunabhängig


den weltweiten Austausch, die Verarbeitung und die Anzeige von Schrift und Zeichen
(auch Emojis) in digitalen Systemen ermöglicht. In der aktuellen Version umfasst der
Zeichensatz knapp 150 000 Zeichen.
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Thema 3: Familie
Aufgabe 1

Die Oma, der Mythos

Verfassen Sie eine Textanalyse.

Lesen Sie den Essay Die Oma, der Mythos von Viktoria Klimpfinger aus der Online-Ausgabe der
Tageszeitung Wiener Zeitung vom 19. November 2020 (Textbeilage 1).

Verfassen Sie nun die Textanalyse und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge:

■ Geben Sie den Inhalt des Essays kurz wieder.


■ Analysieren Sie Aufbau und sprachliche Gestaltung des Textes.
■ Erschließen Sie mögliche Intentionen der Autorin.

Schreiben Sie zwischen 540 und 660 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen.
S. 18/24 5. Mai 2023 / Deutsch

Aufgabe 1 / Textbeilage 1

Familie

Die Oma, der Mythos


Das Bild der Großmutter ist gespickt mit sämtlichen Klischees einer patriarchal geprägten Gesellschaft.

Von Viktoria Klimpfinger Opa Gabelfrühstück essen und 35 musste. Und auch als ihr Mann
die Welt war zumindest vorüber- krank wurde und sie ihn bis zu
Den Kindergarten habe ich gehend wieder in Ordnung. seinem Tod alleine pflegte. Sie
gehasst. Wie generell so ziem- selbst wird nicht krank, das hat 75
lich alle erzwungenen Gruppen- Meine Großmutter war also so sie vor Jahren mal beschlossen.
aktivitäten mit drei-Käse-gleich- etwas wie meine eingeschwo-
hohen Altersgenossen. Bei den 5 rene Komplizin und ist es noch, 40 Wenn ich anderen von ihr
Pfadfindern bestand meine ein- obwohl wir längst nicht mehr erzähle, sind das also meistens
zige soziale Interaktion mit einem zusammen stangeln gehen. Geschichten darüber, wie sie sich
Gleichaltrigen darin, dass mir der In­zwischen wäre ich ihr gerne ihre Platzwunde, die sie sich beim 80
kleine Kevin im Kellerlokal eines hin und wieder eine ebenbür- Dachrinnenreinigen zugezogen
Simmeringer Gemeindebaus 10 tig en­ gagierte Komplizin, die 45 hat, mit Haarshampoo auswäscht,
den Zeigefinger verbog. Und ihr gewisse Dinge abnimmt oder als wäre nichts passiert, wie sie
vom obligatorischen Skikurs will zumindest erleichtert, vor allem, mit gezücktem Küchenmesser im
ich gar nicht erst anfangen – die seit sie mit ihren 83 Jahren zur dunklen Haus nach einem ver- 85
übliche soziale Unsicherheit mit Corona-Risikogruppe zählt. meintlichen Einbrecher sucht
dem zusätzlichen Reiz der stän- 15 oder wie sie mir bei Liebeskum-
digen Verletzungsgefahr? Nein, Doch Hilfe anzunehmen, fällt 50 mer zur Seite steht mit lakoni-
danke. Dass ich nicht besonders ihr nicht leicht; ihren täglichen schen Dauerbrennern wie: „Lie-
anschlussfähig war, ja nicht ein- Gang zum Supermarkt lässt sie besgram und dünner Schiss, das 90
mal Interesse heucheln wollte für sich nicht ausreden. Seit ich sie sind zwei arge Schmerzen. Das
andere ebenbürtig minderreife 20 kenne, markiert sie die Unka- eine macht den Hintern wund,
Gsteameln, machte den meisten puttbare, hatte immer schon 55 das andere die Herzen.“
Erwachsenen in meinem näheren ihren ganz eigenen Kopf, der sich
Umfeld leise Sorgen. in der Vergangenheit – das muss Allerdings bin ich längst nicht
man ihr zugestehen – ja auch als die Einzige, die mit einer bis 95
Außer der Oma. Abrissbirne für so manche Mauer zum Irrationalen resoluten und
bewährt hat. Etwa als sie sich für 60 zugleich bis an die Grenzen der
Die Komplizin 25 meinen Großvater entschied, der Nachvollziehbarkeit liebevollen
aus einem kleinen Dorf im Wein- Oma auftrumpfen kann. Erzähle
Sie war unbeirrt auf meiner Seite. viertel kam und dem eigenwilli- ich von ihr, erzählen mir min- 100
So sehr, dass sie mich an Freita- gen Standesdünkel ihrer Wiener destens drei andere in der Runde
gen oft nicht, wie sie sollte, in den Familie so gar nicht entsprach. 65 von ihrer ebenso coolen Groß-
Kindergarten brachte und mich Als sie mit Mitte 30 und bereits mutter. Und auch meine Oma
in meiner persönlichen Vorhölle 30 Mutter eines Kleinkinds die hat eine Oma, von der sie gerne
bis zum Mittag schmoren ließ; Matura nachmachte und sich erzählt: die „Sandwerk-Oma“, 105
nein, freitags schwänzten wir. schließlich als Schuldirektorin so nennt man sie innerhalb der
Ich durfte sie in den Supermarkt immer wieder gegen chauvinis- 70 Familie, weil sie die Hietzinger
begleiten und danach mit dem tische Männerrunden behaupten Sandwerke führte – mit derber
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Hand. „Die Oma konnte einen „bürgerlichen“ 19. Jahrhunderts, Gegen die Verklärung
Kutscher beleidigen“, sagt meine 110 schreibt Alfred Rommel 1981 in
Oma immer wieder. Soll hei- der Zeit. Mit Božena Němcovás 155 Doch bei aller Romantisierung 200
ßen: Die Sandwerk-Oma konnte 1855 in tschechischer Sprache und Verklärung trägt das Bild der
so arg schimpfen, dass sogar die erschienenem Roman „Babička“ starken, ewig gütigen Großmut-
offenbar sonst sehr wortgewal- wird die gütige, ländliche Groß- ter ein paar dunkle Altersflecken.
tigen Kutscher kleinlaut wur- 115 mutter zur romantisierten Identi- Alfred Rommel schreibt der
den. Sie nahm sich kein Blatt vor fikationsfigur – „alle Kinder lieb- 160 Großmutter-Figur des 19. Jahr- 205
den Mund. Während des Kriegs ten Babička“, bringt Karel Gott hunderts in seinem Zeit-Arti-
„hieß sie den Hitler das Arsch- es noch gut 100 Jahre später auf kel aus den Achtzigern eine „im
lecken“, auch das erzählt meine den Punkt. Alter mehr und mehr sich subli-
Oma immer wieder stolz. Erst als 120 mierende Mütterlichkeit“ zu, eine
ihr daraufhin ein SS-Mann die Dass das so ist, liegt wohl nicht „Urmütterlichkeit“, die sich noch 210
Pistole ansetzte, verstummte sie. zuletzt daran, dass scheinbar jede 165 bis heute in vielen Köpfen und
Schlaganfall. Großmutter mit unnachahm- Darstellungen erstaunlich hart-
lichem Kochtalent und einem näckig hält. Die Oma lebt ganz
Der Mythengang der Großel- Hang zur Überfütterung ihrer für die Familie, besonders für
tern und insbesondere der Groß- 125 Schützlinge ausgestattet ist. das Aufziehen der Enkelkinder, 215
mutter ist weder Zufall noch Schon in Goethes „Dichtung und 170 kocht wie keine zweite, schupft
ein besonders zeitgenössisches Wahrheit“ versorgt die Großmut- den Haushalt und besitzt dabei
Phänomen. Ja, wahrscheinlich ter die Enkerln „mit allerlei guten einen Geduldsfaden aus Stahl.
ist er sogar evolutionär bedingt. Bissen“. Und auch heute steht die
Immerhin versucht die soge- 130 Oma motivisch hoch im Kurs, sei Das Oma-Bild ist gespickt mit
nannte Großmutter-Hypothese es literarisch in der zeitgenössi- 175 sämtlichen Klischees, die eine 220
in der biologischen Anthropo- schen Enkelliteratur, in der die patriarchal geprägte Gesellschaft
logie, die evolutionäre Herkunft Enkelkinder die Geschichten und den Frauen so gerne zuschreibt,
der Menopause damit zu erklä- das Leben ihrer Großeltern aufar- von Hausfrau bis „Powerfrau“
ren, dass es die Überlebenswahr- 135 beiten wie jüngst etwa Lisa Eck- fehlt oft nur die sexualisierte
scheinlichkeit der Enkel erhöht hart in ihrem Erstling „Omama“, 180 Variante. Das gibt zu denken und 225
habe, wenn die Großmütter bei in der Kinder- und Jugendlitera- das wird den Omas letztlich auch
ihrer Versorgung mithalfen. Die tur wie in Mira Lobes „Omama nicht gerecht. Sie sollten keine
Großmutter wäre also ganz prag- im Apfelbaum“, die beweist, dass versteckte Projektionsfläche sein
matisch ein Selektionsvorteil. 140 die Oma nicht zwangsweise bluts- für längst überholte Rollenbil-
verwandt und streng genommen 185 der, mit denen sie selbst wohl 230
Mehr Dickens als Darwin nicht einmal real sein muss, oder allzu oft zu kämpfen hatten. Viel-
musikalisch von Ernst Moldens mehr sollten wir sie als das sehen,
Das Bild der Großmutter, das an „Heanoisa Oma“ bis zur Oma, was sie sind: eigenständige Perso-
so vielen Stellen zitiert wird, ist die im Hühnerstall Motorrad nen, auch außerhalb des Famili-
allerdings weniger Darwin und fährt. Meistens gutmütig, manch- 190 enverbandes, mit Facetten, Stär- 235
viel mehr Dickens. Literarisch 145 mal schrullig und immer irgend- ken und Schwächen. Die Oma ist
haben wir es wohl vor allem der wie ein Original. Ungemein posi- immerhin auch nur ein Mensch.
Romantik zu verdanken, wenn tiv besetzt ist die Oma-Figur also
man sich die zahlreichen Mär- meistens, wobei Ausnahmen die Und jeder Mensch braucht ab
chen von Grimm bis Ander- Regel bestätigen wie die Zucker­ 195 und zu Komplizen. 
sen ansieht, in denen die Oma 150 oma im gleichnamigen österrei-
eine wesentliche Rolle spielt. chischen Film, die war nicht wirk-
Sie sei eine Erscheinung des lich süß, dafür wenigstens siaßlat.

Quelle: https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/mehr-kultur/2082956-Die-Oma-der-Mythos.html [15.12.2022].

Die Infobox befindet sich auf der nächsten Seite.


S. 20/24 5. Mai 2023 / Deutsch

INFOBOX

Babička (tschechisch): Großmutter


Gott, Karel (1939 – 2019): tschechischer Sänger und Komponist
Gsteameln (Dialekt): kleine Menschen, Kinder
„Heanoisa Oma“: Lied in der Wiener Mundart über die Großmutter aus dem Wiener Bezirk
Hernals
Oma, die im Hühnerstall Motorrad fährt: Anspielung auf das Scherzlied „Meine Oma fährt
im Hühnerstall Motorrad“
siaßlat (Dialekt): süßlich im Sinne von scheinheilig, heuchlerisch freundlich, heimtückisch
stangeln gehen (ugs.): schwänzen
5. Mai 2023 / Deutsch S. 21/24

Thema 3: Familie
Aufgabe 2

Staat und Familie

Verfassen Sie einen Leserbrief.

Situation: Sie lesen einen Kommentar zur Rolle von Staat und Familie und reagieren
darauf mit einem Leserbrief.

Lesen Sie den Kommentar Familiendämmerung von Eric Frey aus der Schwerpunktausgabe
Familie der Tageszeitung Der Standard vom 7./8. Dezember 2019 (Textbeilage 1).

Verfassen Sie nun den Leserbrief und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge:

■ Geben Sie kurz Eric Freys Position zum „Niedergang der Familie im Westen“ wieder.
■ Bewerten Sie die Position des Autors.
■ Begründen Sie Ihre eigene Position zu dieser Thematik.

Schreiben Sie zwischen 270 und 330 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen.
S. 22/24 5. Mai 2023 / Deutsch

Aufgabe 2 / Textbeilage 1

Familiendämmerung
Konservative Stimmen betrauern gerne den Niedergang der Familie im Westen. Aber ein Blick in andere
Kulturen zeigt: Wo die Loyalität zur Familie eingefordert wird, herrschen Korruption, Misswirtschaft und
Gewalt. Es ist Zeichen einer modernen Demokratie, dass man sich dafür oder dagegen entscheiden kann.

Von Eric Frey von einer Einwanderin aus Aser- mag zwar einst eine Keimzelle
baidschan zu hören, dass sie bei des Staates gewesen sein. In
Familien werden vor allem in keinem ihrer drei Söhne wohnt? Demokratien mit Rechtsstaat
konservativen Kreisen gerne als Was sind das für Menschen, die und einem sozialen Netz verliert
Keimzellen der Gesellschaft und ihre Mutter alleinlassen, fragte sie allerdings an Bedeutung: Ein
des Staates bezeichnet. Starke vorwurfsvoll die Frau, die mit Europäer kann sich seiner Familie
Familien, so das Argument, sorgen ihrer erwachsenen Tochter in zugehörig fühlen, aber er darf sich
dafür, dass die größere Gemein- einer deutschen Stadt wohnt. auch von ihr entfernen.
schaft auch gut funktioniert. Sollten Sie nicht Ihrer Tochter
mehr Freiheit lassen, fragte meine Diese Entwicklung lässt sich gut
Aber warum sind dann die Fami- Mutter zurück – und stieß damit durch politische Theorie erklären.
lienbande gerade in Entwick- wiederum auf Befremden. Zivilisation basiert auf Koopera-
lungsländern mit schwachen tion, doch diese entsteht nicht von
oder kaum existenten staatlichen In weiten Teilen der Welt ist es der selbst. [...]
Strukturen so ausgeprägt? Warum Normalfall, dass mehrere Genera-
wird dafür in den nordischen tionen unter einem Dach leben, Keimzelle und Gefängnis
Staaten mit ihren reifen Zivilge- die Eltern den Ehepartner aus-
sellschaften kaum noch geheira- suchen und man ihnen auch als Kooperation entsteht erst in
tet und weisen andere europäische Erwachsener gehorcht, die Sexu- gesellschaftlichen Strukturen, in
Demokratien besonders hohe almoral streng ist, die Scheidung denen Vertrauen herrscht, dass
Scheidungsraten auf ? verpönt und die Bevorzugung von auch andere die Regeln befol-
Verwandten gegenüber Fremden gen, und man Bestrafung fürchtet,
Die Rolle der Familie bildet ganz natürlich ist. Was in Europa wenn man gegen Gemeinschafts-
heute eine Frontlinie zwischen als Nepotismus und Korruption interessen handelt. Die traditio-
westlichen und nichtwestlichen gilt, ist anderswo die einzig zuläs- nelle Familie sorgt für beides, für
Gesellschaften. Während hierzu- sige Moral. Wer seine Familie im Geborgenheit und Gehorsam.
lande der Familienbegriff vieler Stich lässt, ist ein Verräter und Sie ist daher die Keimzelle der
Mi­granten als überholtes patriar- muss in manchen Gesellschaf- Zivilisation, aber gleichzeitig ein
chales Korsett gesehen wird, das ten sogar ums Leben fürchten. In Gefängnis, in dem die Angehö-
vor allem Ehefrauen und Kinder kaum einem anderen Bereich ist rigen durch Religion, Scham und
ihrer Freiheiten beraubt, herrscht die kulturelle Kluft so groß wie manchmal auch durch Gewalt
anderswo Unverständnis über die bei der Familie. zum Zusammenhalt gezwungen
fehlende Solidarität und Loyalität werden.
in europäischen oder amerikani- Man kann, muss aber nicht
schen Familien. Ein moderner Rechts- und Sozi-
Das kann man religiös, kulturell, alstaat kann diese Aufgaben viel
Wie kann es nur sein, bekam sozial oder wirtschaftlich erklä- besser erfüllen. Gesetze werden
meine Mutter vor einigen Jahren ren – oder politisch. Die Familie eingehalten, weil man sich sicher
5. Mai 2023 / Deutsch S. 23/24

sein kann, dass der Großteil der geht, ob man den Lebensstil der trauen. Dann wird der destruktive
Mitbürger dies ebenfalls tut. Eltern fortführt oder sich davon Individualismus zwar innerhalb
Gegenseitige Rücksichtnahme trennt, all das steht dem Einzel- der Familien in Schach gehalten,
wird durch das Bildungssystem nen frei. In unserer Individual- dafür aber stehen Familien unter-
sowie gemeinsame Werte ver- gesellschaft ist das Kollektiv der einander im ungeregelten Wett-
mittelt und im Falle von Verstö- Familie nur eine von mehreren bewerb. Das führt zu Korruption,
ßen durch eine funktionierende Wahlmöglichkeiten. Misswirtschaft, bis hin zu Gewalt
Justiz durchgesetzt. Dank eines und Bürgerkrieg.
stabilen Pensionssystems müs- Wer Familienwerte verherrlicht,
sen Kinder nicht für ihre Eltern sollte eines bedenken: Starke Bei aller Liebe zu meiner Frau
im Alter sorgen. Und wer in eine Familien stehen starken Staaten und meinen Kindern, meinen
Notlage gerät, kann sich an staat- im Weg. Wo die Loyalität zum Brüdern und meiner Mutter sehe
liche Stellen wenden. Natürlich eigenen Clan Vorrang hat, dort ich den Niedergang der Fami-
ist es schön, wenn Angehörige entsteht kein gemeinschaftliches lie im Westen ganz nüchtern als
beispringen oder ihre Eltern im Vertrauen. Dann werden Steu- Zeichen des Fortschritts. Ein
Alter pflegen. Aber es ist nicht ern nicht bezahlt und Gesetze starker solidarischer Staat kann
zwingend. Ob man die Eltern ignoriert. Dann setzen Politiker, zwar nicht die menschlichen, sehr
täglich sieht oder nur zu Weih- auch demokratisch gewählte, ihre wohl aber die politischen Funkti-
nachten, ob man seine Geschwis- Angehörigen in alle wichtigen onen der Familie ersetzen. Und er
ter mag oder ihnen aus dem Weg Positionen, weil sie anderen nicht soll das auch.  n

Quelle: Der Standard, 7./8. Dezember 2019, S. 14.

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