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Kreatives Schreiben im
vielsprachigen Deutschunterricht

Inaugural-Dissertation
in der Philosophischen Fakultät II
(Didaktik des Deutschen als Zweitsprache, Linguistik, Soziologie)
der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg

vorgelegt von

Ursula Brock

aus Nürnberg

D29
2

Tag der mündlichen Prüfung: 10. Juli 2003


Dekanin: Prof. Dr. Erdmann
Rektor: Prof. Dr. Grüske
Erstberichtserstatterin: Prof. Dr. Pommerin-Götze
Zweitberichtserstatter: Prof. Dr. Munske
3

Inhalt
0 EINLEITUNG 8
I ALLGEMEINE GRUNDLAGEN DER UNTERSUCHUNG 16
1. KREATIVITÄT 16
1.1 Definitionen 16
1.2 Kreativität in der Forschung 18
1.2.1 Kreativität in der Medizin 18
1.2.2 Kreativität in der Kunst 20
1.2.3 Kreativität in Psychologie und Pädagogik 20
1.3 Merkmale der Kreativität 27
1.4 Der kreative Prozess 31
1.5 Der Kreativitätsbegriff dieser Arbeit 33
2 SCHREIBEN 37
2.1 Historischer Abriss 38
2.2 Schreiben heute 39
2.2.1 Schreiben und moderne Kommunikationsmedien 39
2.2.2 Rückzug aus der Schriftkultur 41
2.3 Merkmale geschriebener Sprache 45
2.4 Text 47
2.5 Schriftspracherwerb in der Primärsprache 49
2.6 Schriftspracherwerb in einer fremden Sprache 51
3 INTERKULTURELLER SPRACHUNTERRICHT 55
3.1 Interkulturelle Pädagogik 55
3.2 Interkulturelle Sprachdidaktik 57
3.3 Interkultureller Deutschunterricht 58
3.4 Mehrsprachigkeit, Sprachaufmerksamkeit,
Sprachbewusstsein 61
4 SCHREIBUNTERRICHT 63
4.1 Schreiben in der Schule 63
4.2 Schreiben in außerschulischen Einrichtungen 68
EXKURS 1: Befragung der Teilnehmer 72
EXKURS 2: Schreiben als Therapie 75
5 KREATIVES SCHREIBEN 78
5.1 Kreatives Schreiben im interkulturellen Unterricht 80
5.2 Förderung kreativer und sprachlicher Kompetenz 83
EXKURS 3: Schreibertypen, Schreibtypen
und andere Stereotypen ... 85
5.3 Der kreative Schreibkurs 88
5.4 Kreative Schreibanlässe 92
5.4.1 Schreiben nach literarischen Vorlagen 93
5.4.2 Finden ungewöhnlicher Vergleiche 96
4

5.4.3 Schreiben nach motivierenden Satzanfängen 97


5.4.4 Schreiben nach Bildern 98
5.4.5 Schreiben nach Musik 100
5.4.6 Schreiben nach Gerüchen 102
5.5 Assoziative Verfahren 102
5.5.1 Cluster 103
5.5.2 GeKo 104
5.5.3 Schreiben nach Schlüsselwörtern 105
5.5.4 Free-Writing 106
5.5.5 Brainstorming 107
5.5.6 Mind-Map 107
5.6 Die Textproduktion 109
EXKURS 4: Schreibblockaden 110
5.7 Die Überarbeitungsphasen 112
5.8 Die Bewertung und Beurteilung kreativ geschriebener Texte 117
II. EMPIRISCHER TEIL 127
1 ZIELSETZUNGEN DER UNTERSUCHUNG 127
2 HYPOTHESEN 128
3 ANLAGE UND DURCHFÜHRUNG DER UNTERSUCHUNG 129
3.1 Methoden und Verfahren 129
3.2 Die Erhebung der Texte 132
3.2.1 Die Schreibgruppen 132
3.2.2 Die Wahl der Themen 135
3.2.3 Die Auswahl der Texte 137
4 KREATIVES SCHREIBEN IN DER GRUNDSCHULE 138
4.1 Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre ... 139
4.1.1 Analyse der inhaltlichen Aussagen 139
4.1.1.1 Aussagen zum Rollenverhalten 140
4.1.1.2 Aussagen zu den Spielgewohnheiten 141
4.1.1.3 Aussagen zu Zukunftsperspektiven 142
4.1.1.4 Aussagen zum Aussehen 143
4.1.2 Analyse des formalen Sprachgebrauchs 144
4.1.3 Die erste inhaltliche Überarbeitung 146
4.1.4 Die erste formale Überarbeitung 150
4.1.5 Der zweite Textentwurf 152
4.1.6 Die zweite Überarbeitungsphase 153
4.1.7 Der dritte Textentwurf 154
4.1.8 Vergleich der Textversionen 156
4.1.9 Abschluss des Schreibkurses 157
4.2 So sollte mein bester Freund/meine beste Freundin sein... 157
4.2.1 Inhaltliche Analyse der Rohfassungen 158
4.2.2 Quantitative Analyse der Rohfassungen 159
4.2.3 Erste Überarbeitungsphase 160
5

4.2.4 Die zweite Textversion 163


4.2.5 Die zweite Überarbeitungsphase 164
4.2.6 Die dritte Textversion 165
4.3 Ich bin... 167
4.3.1 Die erste Textversion 168
4.3.2 Erste Überarbeitungsphase 172
4.3.3 Die zweite Textversion 174
4.4 Rückblick 175
4.4.1 Freude am Schreibkurs 175
4.4.2 Thematische Auseinandersetzungen im Schreibkurs 177
4.4.3 Entwicklung des Sprachbewusstseins im Schreibkurs 180
4.4.4 Sozialverhalten im Schreibkurs 184
4.6 Abschließender Erfahrungsbericht 186
5 KREATIVES SCHREIBEN IN DER ERWACHSENENBILDUNG 189
5.2 Die Auswahl der Themen 192
5.2 Organisation der Schreibkurse 192
5.3. Ich 193
5.3.1 Die ersten Texte 194
5.3.1.1 Inhalt der ersten Texte 194
5.3.1.2 Formale Auswertung 195
5.4 Deutschland 199
5.4.1 Die “Deutschland-Texte” 200
5.4.1.1 Inhaltliche Analyse 201
5.4.1.2 Formale Analyse 203
5.5 Der Deutschkurs 205
5.5.1 Inhaltliche Auswertung 206
5.5.2 Formale Analyse der Texte 207
5.5.3 Formalsprachliche Kriterien 211
5.5.4 Anwendung erlernter Strukturen in den Texten 212
5.5.5 Inhaltliche Kriterien 216
5.6 Schreiben mit Erwachsenen 218
5.6.1 Lust und Laune 219
5.6.2 Förderung der sprachlichen Kompetenz 220
5.6.3 Besonderheiten 222
5.7 Abschließender Erfahrungsbericht 224
6 KREATIVES SCHREIBEN MIT JUGENDLICHEN 226
6.1 Die Situation in der Schreibgruppe 226
6.2 John Silvers Schatzkiste 231
6.2.1 Der Schreibanlass 231
6.2.2 Der Text 232
6.2.2.1 Inhaltliche Auswertung 232
6.2.2.2 Formale Auswertung 234
6.3 Meine Zukunft 236
6

6.3.1 Ideensammlung 236


6.3.2 Der Text 237
6.3.2.1 Analyse der inhaltlichen Aussagen 238
6.3.2.2 Analyse der formalsprachlichen Abweichungen 240
6.4 Meine Arbeit 243
6.4.1 Der Text 244
6.4.1.1 Analyse der inhaltlichen Aussagen 245
6.4.1.2 Analyse der formalsprachlichen Abweichungen 246
6.5.1 Formalsprachliche Kriterien 249
6.5.2 Inhaltliche Kriterien 250
6.6 Schreiben mit Jugendlichen 252
6.6.1 Der Teufelskreis 252
6.6.2 Die Förderung sozialer Kompetenz 253
6.7 Abschließender Erfahrungsbericht 255
7 „DER KURZE WEG ZUM SCHREIBER“ 257
7.1 Die Anlage der Fallstudien 258
7.2 Auswahlkriterien 261
7.3 Der Weg und das Ziel 261
7.4 In der Grundschule 262
7.4.1 Daniela 263
7.4.1.1 Entwicklung der kommunikativen Kompetenz in der
Zielsprache 265
7.4.1.2 Entwicklung individueller Kreativität 266
7.4.1.3 Entwicklung der sprachlichen Kompetenz
in der Zielsprache 267
7.4.1.4 Zusammenfassung 272
7.4.2 Deniz 273
7.4.2.1 Entwicklung der kommunikativen Kompetenz in der
Zielsprache 275
7.4.2.2 Entwicklung des Sprachbewusstseins 277
7.4.2.3 Entwicklung individueller Kreativität 278
7.4.2.4 Entwicklung der sprachlichen Kompetenz
in der Zielsprache 280
7.4.2.5 Zusammenfassung 285
7.5 In der Erwachsenenbildung 286
7.5.1 Aamir 288
7.5.1.1 Entwicklung der kommunikativen Kompetenz in der
Zielsprache 291
7.5.1.2 Entwicklung des Sprachbewusstseins in der Zielsprache 293
7.5.1.3 Entwicklung individueller Kreativität 294
7.5.1.4 Entwicklung der sprachlichen Kompetenz in der
Zielsprache 295
7.5.1.5 Zusammenfassung 304
7

7.5.2 Naby 305


7.5.2.1 Entwicklung der kommunikativen Kompetenz 308
7.5.2.2 Entwicklung eines Sprachbewusstseins 309
7.5.2.3 Entwicklung der individuellen Kreativität 310
7.5.2.4 Entwicklung der sprachlichen Kompetenz in der
Zielsprache 312
7.5.2.5 Zusammenfassung 317
7.6 In der außerschulischen Einrichtung 318
7.6.1 Serkan 319
7.6.1.1 Entwicklung des Sprachbewusstseins 321
7.6.1.2 Entwicklung einer kommunikativen Kompetenz 322
7.6.1.3 Entwicklung der individuellen Kreativität 323
7.6.1.4 Entwicklung der sprachlichen Kompetenz in der
Zielsprache 325
7.6.1.5 Zusammenfassung 327
7.6.2 Danny 328
7.6.2.1 Entwicklung des Sprachbewusstseins 330
7.6.2.2 Entwicklung kommunikativer Kompetenz 331
7.6.2.3 Entwicklung individueller Kreativität 332
7.6.2.4 Entwicklung der sprachlichen Kompetenz 334
7.6.2.5 Zusammenfassung 335
8 ERFAHRUNGEN, ÜBERLEGUNGEN, SCHLUSSFOLGERUNG 336

LITERATUR 344
8

0 Einleitung
In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, ob und inwieweit das Krea-
tive Schreiben als Unterrichtskonzept zur Förderung der Entwicklung sprachli-
cher Kompetenz in der Zielsprache und der kreativen Kompetenz beiträgt.
Konzepte, Verfahren und Techniken zur Förderung sprachlicher Kompetenz –
hier in der Zielsprache Deutsch – basieren auf Forschungsergebnissen der
Spracherwerbsforschung. Eine enge Verzahnung von Ergebnissen wissen-
schaftlicher Untersuchungen und Erfahrungen aus der Praxis ermöglichen die
optimale Abstimmung der Konzepte und Verfahren auf die Bedürfnisse der
Lerner und damit einen sicheren und sinnvollen Zugang zur Zielsprache
Deutsch.
Die Spracherwerbsforschung widmete sich zunächst dem Erwerb der Primär-
sprache.1 Piaget2 ordnete 1923 die sprachliche Entwicklung des Kindes weit-
gehend seiner kognitiven Entwicklung zu. Er wies auf den starken Einfluss der
Interaktion mit der Umwelt auf den Erstspracherwerb und damit auf die kog-
nitive Entwicklung hin. Auch Wygotski3 stellte einen Zusammenhang zwischen
der sprachlichen Entwicklung und der psychischen Entwicklung des Menschen
her. Weisgerber sah einen direkten Zusammenhang zwischen sprachlicher
und kognitiver Entwicklung; für ihn endete diese Verzahnung jedoch nicht mit
dem Abschluss des Erstspracherwerbs: Er ging von einer lebenslangen Prä-
gung des Individuums durch die Primärsprache aus und formulierte 1964 in
4
diesem Zusammenhang das „Gesetz der Muttersprache“ .
In den 60er Jahren wurden die Erkenntnisse der Linguistik mit den
experimentellen Ansätzen der Psychologie in Verbindung gebracht. Aus dieser
Verbindung ging der psycholinguistische Ansatz hervor, der nach dem Bezug
sprachlicher und kognitiver Entwicklung fragt. Die Psycholinguistik wurde
5
stark von Chomsky und seiner Generativen Transformationsgrammatik
beeinflusst. Chomsky ging mit seinem narrativen Konzept davon aus, dass der
(Erst-) Spracherwerb ein autonomer Reifungsprozess sei. Er erklärte den Um-
stand, dass jedes gesunde Kind seine Primärsprache vergleichsweise problem-
los erwirbt, mit einem angeborenen Sprachmechanismus, dem „language ac-
quisition device“. Chomskys Ansatz isolierte damit den Erstspracherwerb von
allen anderen Lernprozessen und der soziokulturellen Umgebung.

1 vgl. Clahsen/Meisel/Pienemann (1983), Felix (1982), Dulay/Burt (1974) u.a.


2 vgl. Piaget (1972)
3 vgl. Wygotski (1986)
4 vgl. Weisgerber (1964)
5 vgl. Chomsky (1969)
9

Die Pädolinguistik, ein integrierender Forschungsansatz vertreten u. a. durch


6
Oksaar , befasste sich vor allem mit neurophysiologischen und kulturellen
Rahmenbedingungen des Erstspracherwerbs. Ausgangspunkt war der kom-
munikative Aspekt, der den Aktionsrahmen des Kindes bezeichnete. Die Pädo-
linguistik erkannte im Gegensatz zur Psycholinguistik jedes Stadium des
Spracherwerbs als eigenständige Ebene der Kindersprache an. Skinner7 ver-
trat, ausgehend von der These, verbales Verhalten sei immer stimuluskontrol-
liert, die behavioristische Ansicht, die Primärsprache werde durch Imitation in
Form von „habits“ erworben. Die Laute des Kindes näherten sich demnach
sukzessive dem Lautsystem der Bezugspersonen an, die das sprachliche Ver-
halten des Kindes wiederum positiv verstärkt.
8
Lado und Fries hatten bereits Ende der 50er Jahre die Kontrastivhypothese
entwickelt. Beabsichtigt waren Vorhersagen über Interferenzanfälligkeit sowie
Lernschwierigkeiten in bestimmten Bereichen der Zweitsprache. Die Kernthe-
se der kontrastiven Linguistik stellt die Ansicht dar, Zweitspracherwerb sei als
„habit formation“ anzusehen, da primärsprachliche „habits“ auf die Zweitspra-
che übertragen werden. Demnach sei der Zweitspracherwerb umso problema-
tischer, je mehr sich die beiden Sprachsysteme der Mutter- und der Zweit-
sprache unterscheiden, denn Sprachdifferenzen, so die Annahme der Vertreter
der Kontrastivhypothese, erschweren einen positiven Transfer.
9 10 11
Im Gegensatz dazu entwickelten Corder , Dulay/Burt , Wode u. a. die Iden-
titätshypothese. Sie nahmen an, Erst- und Zweitspracherwerb verliefen, e-
benso wie das Fremdsprachenlernen Erwachsener, weitgehend identisch. Die
Identitätshypothese besagte, kreative Denkprozesse seien am Spracherwerb
beteiligt und bewirken den Erwerb von Strukturen und Elementen in der zwei-
ten oder fremden Sprache in einer Progression, die der des Erstspracherwerbs
identisch sei.
In der neueren Zweitspracherwerbsforschung nimmt das Konzept der Lerner-
sprache einen zentralen Raum ein. Unter diesem Begriff werden Konzepte zu-
sammengefasst, die zwar nicht identisch, aber dennoch subsumierbar sind:
12 13 14
learner language , transitional competence , interlanguage/interlingua , ap-

6 vgl. Oksaar (1977)


7 vgl. Skinner (1957)
8 vgl. Lado/Fries (1943), Fries (1945), Lado (1957)
9 vgl. Corder (1967)
10 vgl. Dulay/Burt (1974)
11 vgl. Wode (1974)
12 vgl. Corder (1967)
13 vgl. Corder (1967)
14 vgl. Selinker (1972)
10

15 16
proximate systems , Interimsprache , Lernersprache.17 Die Interlanguage-
Forschung ging davon aus, dass der Zweitspracherwerb als Prozess zu werten
sei, der einer gewissen Systematik unterworfen ist. Der Zweitspracherwerb
wurde als eine Folge von Übergängen von einer Lernervarietät zur nächsten
interpretiert. Lernersprache sei ein „Zwischenprodukt auf dem Weg zur End-
form der Zielsprache.“18
Die Interlanguage-Forschung befasste sich vorwiegend mit den sprachlichen
19
Strukturen der Lernersprachen. Die Pidginisierungstheorie von Schuhmann
berücksichtigte die sozialpsychologischen Einflussfaktoren auf den Spracher-
werb. Schuhmann geht davon aus, dass das erste Stadium des Zweitsprach-
erwerbs immer eine Pidginisierung darstellt, d. h. einen Rückgriff auf linguisti-
sche Kategorien („elementare“), die mit der Erstsprache erworben werben.
Dieses Stadium dauere so lang an, wie sich die Funktion der Lernersprache
auf bloße Informationsübermittlung beschränkt. Stagniert die Akkulturation,
stagniert gleichzeitig die Lernersprache. Soziale und psychologische Distanz
hemmen den Spracherwerb bzw. können ihn zum Stillstand bringen.
Andere Forschungsansätze setzen den Schwerpunkt auf den „richtigen
Zeitpunkt“ des Zweitspracherwerbs. Die Frage, in welcher Entwicklungsphase
der Erwerb einer Zweitsprache am günstigsten verlaufe, beschäftigte nicht nur
Spracherwerbsforscher, sondern auch Bildungspolitiker. Sie wurde auch im-
mer wieder zur Rechtfertigung politischer Entscheidungen – wie etwa Famili-
ennachzugsregelungen – herangezogen.
20
Lenneberg nimmt die Existenz einer kritischen Phase an, in der Kinder eine
Zweitsprache schneller und besser erwerben können als in anderen Phasen
der Kindheit. Mit Ausbildung der zerebralen Dominanz, die mit der Pubertät
abgeschlossen ist, stoppe bzw. verändere sich die Fähigkeit zum Spracher-
21
werb. Cummins formulierte die Schwellenniveauhypothese. Diese besagt,
dass vor Beginn des Zweitspracherwerbs eine ausreichende Kompetenz in der
Primärsprache erreicht werden muss, um negative Auswirkungen auf beide
Spracherwerbsprozesse zu vermeiden. Einen ähnlichen Ansatz findet man bei

15 vgl. Nemser (1971)


16 vgl. Raabe (1974), Bausch/Raabe (1978)
17 vgl. Lauerbach (1977), Kielhöfer/Börner (1979), Clahsen/Meisel/Pienemann (1983)
18 vgl. Kupfer-Schreiner (1994)
19 vgl. Schuhmann (1978)
20 vgl. Lenneberg (1967)
21 vgl. Cummins (1976)
11

Fthenakis, der die Ansicht vertrat, ein früher Zweitspracherwerb wirke sich
23
negativ auf die weitere Entwicklung der Primärsprache aus.
In der Pädagogik wurden seit den 70er des 20. Jahrhunderts Konzepte entwi-
ckelt, die zwei historisch-gesellschaftliche Entwicklungen, der Immigrations-
welle seit den 60er Jahren und dem Globalisierungsprozess, gerecht werden
sollten. Die interkulturelle Pädagogik ist keine “neue” Pädagogik, sondern
Bestandteil der allgemeinen Pädagogik.25 Die “Ausländerpädagogik der ersten
Phase”26 stützte sich auf 3 Grundannahmen.27 Erstens nahm man an, dass
Menschen aus anderen Kulturen generell Mängel nicht nur in Hinblick auf Be-
herrschung der deutschen Sprache sondern auch auf die gesamte Lernfähig-
keit hätten. Migranten wurden im Wesentlichen als benachteiligt und somit als
hilfsbedürftig ausgewiesen. Zweitens ging man davon aus, dass Angehörige
von Minderheiten durch divergierende Kulturmuster in einen Identitätskonflikt
getrieben würden. Und drittens nahm man an, diese Position im Niemands-
land zwischen zwei Kulturen führe zu einem permanenten Identitätskonflikt
bzw. der daraus resultierenden Annahme, die Wahrung der kulturellen und
nationalen Identität sei notwendig, um die Minderheitssituation bewältigen zu
können. Die Ausländerpädagogik stützte sich auf defizitorientierte Ansätze
und wurde diesbezüglich stark kritisiert.28
Anfang der 80er Jahre entwickelte sich die interkulturelle Pädagogik, die ihre
Adressaten sowohl in den Minderheitsangehörigen als auch in den Mehrheits-
angehörigen sah. Der pädagogische Diskurs setzte sich mit der Tatsache aus-
einander, dass ethnische, kulturelle und sprachliche Vielfalt in einer modernen
Gesellschaft Normalität geworden waren. Die Fähigkeit zur interkulturellen
Kommunikation wurde als Schlüsselqualifikation für alle Menschen erkannt
und wurde zum Ziel pädagogischer Bemühungen. Die Annahme, alle Kulturen
seien gleichwertig, aber nicht gleichartig, führte zu differenzierenden Ansät-
zen, die u. a. von Radtke29 kritisiert wurden.
Borrelli, ein Vertreter der universalistischen Argumentation30, setzte der kultu-
ralistischen Perspektive der o. g. Differenzhypothese entgegen, dass “Fragen

22 vgl. Fthenakis (1981/1985)


23 vgl. Fthenakis (1981/1985)
24 vgl. Cummins (1976)
25 vgl. Kupfer-Schreiner (1994)
26 vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (2000)
27 dto. S. 20
28 Niekrawitz (1991) u.v.a.
29 vgl. Radtke (1995) u. a.
30 vgl. Borrelli (1988), Dulabaum (o.J), Kalpaka (1993)
12

des Allgemein-Existentiellen”31 wie Krieg und Frieden, Rassismus und Fa-


schismus, Gleichheiten und Ungleichheiten in den Vordergrund rücken müss-
ten.
In den letzten Jahren entstand in der Pädagogik ein viertes Paradigma der
Diskussion über Multikulturalität, das Differenzen weder negiert noch wertet,
sondern mit weiteren Varianten verbindet. Die “Pädagogik der Vielfalt”32 ver-
steht unter Multikulturalismus die Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen
Identitäten (z. B. Geschlecht, Generation, Schicht, Ethnie, Religion).
33
Die Reformpädagogen hatten bereits Ende des 19. Jahrhunderts und zu Be-
ginn des 20. Jahrhunderts Unterrichtskonzepte entworfen und realisiert, in
denen die Kreativitätsförderung einen breiten Raum einnahm. Die Entfaltung
kindlicher Fantasie und Schaffenskraft rückte in den Mittelpunkt der Konzepti-
onen. Nicht nur in der Kunsterziehung und dem Musikunterricht, sondern auch
im Sprachunterricht fanden kreative Verfahren und Techniken ihren Platz. Die
Schüler wurden als individuelle Personen begriffen und dementsprechend
gefördert. Mitte des 20. Jahrhunderts gerieten diese Konzepte in Vergessen-
heit, wurden aber in der Zeit nach dem II. Weltkrieg wieder aufgegriffen. Man
kann von einer Renaissance der Reformpädagogik sprechen, die sich auch auf
34
den Sprachunterricht ausweitete . Die Einsicht, dass (Sprach-) Unterricht, der
Kreativitätsförderung außer Acht lässt, den Anforderungen, die an die Schule
sowohl von innen als auch von außen gestellt werden, nicht gerecht werden
kann, hat zu einem fächerübergreifenden Einsatz kreativer Verfahren und
Techniken geführt.
Das Kreative Schreiben ist seit langem Bestandteil der Programme US-
amerikanischer Hochschulen. Diese Hochschulen bieten Kurse wie „compositi-
on“ und „creative writing“ an, wobei dieses Angebot für Studenten aller Fach-
richtungen offen steht. In den USA wird seit den 70er Jahren angestrebt, das
Kreative Schreiben in den Wissenschaften als moderne Lehrmethode zu nut-
35 36
zen. In der Bundesrepublik hat Gabriele Rico den Verfahren des Kreativen
Schreibens zu hohem Bekanntheitsgrad verholfen. Sie entwickelte ein speziel-
les Trainingsprogramm für Studenten US-amerikanischer Hochschulen, das
auf der Annahme basiert, individuelles, kreatives Potential könne geweckt
werden, würde das Zusammenspiel der Hemisphären optimiert werden.

31 Borrelli (1988) S. 30
32 vgl. Krumm (1989)
33 vgl. Hildebrand (1867), Scharrelmann (1907), Gansberg (1914), Dewey (1934) u.a
34 vgl. Sennlaub (1990)
35 vgl. Martin (1979), Maimon (1981) u.a.
36 vgl. Rico (1993)
13

37
Dem Kreativen Schreiben im schulischen Unterricht haben sich verschiedene
Didaktiker38, wenn auch bezogen auf verschiedene Erwerbskontexte, gewid-
met. All diesen Ansätzen – so unterschiedlich sie sind – ist gemein, dass sie
Alternativen zum traditionellen Aufsatzunterricht anbieten, die schülerorien-
tiert und handlungsorientiert sind sowie das kreative Potential der Schüler in
den Unterricht einbeziehen, nutzen und fördern.
Das Kreative Schreiben bietet Schülern nicht-deutscher Primärsprache man-
nigfaltige Möglichkeiten an, denn
„...der Zweitspracherwerb (läuft) als ein komplexer Vorgang (ab), bei dem der
Lerner kreativ sukzessiv Hypothesen über die Struktur der zu erlernenden
39
Sprache bildet.“
Wenn, um diesem Gedankengang zu folgen, der Spracherwerbsprozess ein
kreativer Prozess ist, dann ist es dringend notwendig, in entsprechende Un-
terrichtskonzepte die Förderung und das Training kreativer Fähigkeiten einzu-
beziehen. Der Erwerb einer Zweit- oder Fremdsprache bedarf der Aktivierung
des individuellen kreativen Potentials des Lerners, um erfolgreich zu verlau-
fen. Demzufolge liegt es nahe, dem Lerner sein kreatives Potential bewusst zu
machen und ihm Wege aufzuzeigen, dieses zu trainieren und sinnvoll in den
Spracherwerbsprozess einzubringen.
In der vorliegenden Arbeit wird in einem ersten Teil die Grundlage, aus der
heraus sich das didaktische Konzept entwickelt, vorgestellt und beleuchtet.
Dieser deduktiv ausgerichtete Teil umfasst die Themenbereiche Kreativität,
Schreiben und interkultureller Unterricht und führt so zu Kreativem Schreiben
und schließt mit einem Beitrag zur Rolle und zur Funktion des Kreativen
Schreibens im interkulturellen Unterricht ab.
In einem empirischen Teil werden die gewonnenen Ergebnisse und Einsichten
überprüft. Zur Überprüfung werden quantitative und qualitative Verfahren he-
rangezogen. Die qualitativen Verfahren regulieren und unterstützen die quan-
titativen Verfahren. Statistische Auswertungen, Beobachtungen, Befragungen
und narrative Interviews werden miteinander verzahnt, die Querschnittsunter-
suchung durch Fallstudien ergänzt.

37 In der vorliegenden Arbeit wurde die Bezeichnung „Kreatives Schreiben“ gewählt, da das Attribut „kreativ“ m. E. die
Besonderheiten dieser Verfahren und Techniken und des daraus resultierenden Konzepts am treffendsten benennt. Die
Grenzen zwischen personalem, authentischem, freiem und kreativen Schreiben sind nicht als strikte Trennung zwischen
verschiedenen Konzepten zu sehen, sondern fließen ineinander über bzw. handelt es sich in den meisten Fällen nicht um
inhaltliche, sondern um Bezeichnungsunterschiede.
38 vgl. Freire (1983), Freinet (1979), Hegele/Pommerin (1983), Mummert (1989), Pommerin (ab 1980), Puhan-Schulz
(1989), Sennlaub (1990), Spitta (1985), v.Werder (1990) und Dietrich (1987)
39 Knapp-Potthoff/Knapp (1982) a.a.O. S.147
14

Die Grundgesamtheit dieser Untersuchung setzt sich aus Personen zusam-


men, deren Sprachkompetenz in der Zielsprache Deutsch in einer (schulischen
oder außerschulischen) Unterrichtssituation gesteuert gefördert werden soll.
Aus dieser Population werden Personenstichproben konstruiert, um die Vertei-
lung bestimmter Kriterien zu erfassen, die der Verteilung dieser Merkmale in
der Grundgesamtheit entspricht. Es werden Untersuchungen in drei Gruppen,
die sich in ihrer Altersstruktur, dem Lernziel sowie dem Ausbildungsstand und
der Unterrichtssituation unterscheiden, durchgeführt. Diese Teilpopulationen
werden einer Querschnittsuntersuchung unterzogen. Dem werden Fallstudien
als Korrektiv gegenübergestellt, in denen der Weg von Schreibern aus den un-
terschiedlichen Schreibgruppen detailliert dargestellt und beleuchtet wird.
Grundlage der Untersuchung sind kreativ geschriebene Texte von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen sowie die Ergebnisse teilnehmender Beobach-
tungen und Befragungen der Schreiber.
Es soll aufgezeigt werden, welcher qualitative und quantitative Lernzuwachs
bei Schreibern deutscher wie auch nicht-deutscher Primärsprache in kreativen
Schreibkursen erreicht werden kann und in den Texten nachweisbar ist. Die
Texte werden einer Inhaltsanalyse unterzogen, sowohl unter quantitativen wie
auch unter qualitativen Aspekten. Die primären Textmerkmale und kommuni-
kativen Kriterien werden mit Hilfe einer Frequenzanalyse quantifiziert. Dieser
wird eine Valenzanalyse zur Seite gestellt, die erfasst, welche Bewertungen
mit den betreffenden Untersuchungsgegenständen verbunden werden. In ei-
nem weiteren Schritt werden die Texte einer qualitativen Inhaltsanalyse40 un-
terzogen. Die qualitative Inhaltsanalyse unterscheidet sich von der quantitati-
ven Inhaltsanalyse insbesondere dadurch, dass die entsprechenden Katego-
rien nicht vorab, sondern in intensiver Auseinandersetzung mit den zu unter-
suchenden Texten entwickelt werden.41 Hierzu werden Texte aller Schreib-
gruppen untersucht, um Kategorien zu entwickeln, die für die gesamte Popu-
lation gelten können, um eine Vergleichbarkeit, und damit ein gewisses Maß
an Objektivität zu gewährleisten.
In der vorliegenden Arbeit wird der Beobachtung und Befragung der Textpro-
duzenten große Bedeutung eingeräumt, um die Analyseleistung einer Kontrol-
le zu unterwerfen, die über eine quantitative Erhebung hinausgeht. Die Befra-
gungen werden sowohl mündlich als auch schriftlich durchgeführt. Die schrift-
lichen Befragungen sind überwiegend standardisiert, sie enthalten nur einen
geringen Anteil an teilstandardisierten Fragen, die offene Antworten zulassen.
Die mündlichen Befragungen können als Experteninterviews bezeichnet wer-
den, da sie eingesetzt werden, um die Textproduzenten zu ihren eigenen Tex-

40 Die quantitative Inhaltsanalyse ermittelt, welche inhaltlichen Äußerungen in welcher Häufigkeit auftreten.
41 vgl. Merten (1983), Mayring (1983)
15

ten oder zu Aussagen, die sie in den Texten getroffen hatten, zu befragen. Es
werden auch Befragungen durchgeführt, die dem narrativen Interview nahe
stehen. Die Rolle des Interviewers beschränkt sich hierbei auf das Aufwerfen
einer Ausgangsfrage und das aufmerksame Zuhören sowie des Protokollierens
der durch sie initiierten Aussagen oder Gespräche. Die standardisierten Befra-
gungen werden quantifizierend ausgewertet, während die leitfadengestützten
oder narrativen Interviews hermeneutisch-rekonstruktiven Auswertungsver-
fahren unterzogen werden.42
Die offenen, teilnehmenden Beobachtungen fanden in natürlichen Situationen
statt, die nicht spezifisch auf den Forschungszweck hin arrangiert wurden.43
Sie beziehen sich auf Verhaltens-, Handlungs- und Interaktionsformen, auf
overte, manifeste Phänomene, die in der Beobachtungssituation auftreten.
Besonderheiten, wie etwa die Intensität der Beteiligung an Gesprächen oder
die Dynamik einer Diskussion wurden an Hand von Tonbandaufzeichnungen
oder schriftlich protokolliert.44
Die Fallstudien werden auf der Grundlage von Texten, die im Schreibkurs pro-
duziert wurden, teilhabender Beobachtungen sowie Befragungen der Schrei-
ber entwickelt. Sie zeigen Bewegungen und Entwicklungen der Schreiber in
Bezug auf ihre sprachliche Kompetenz45 in der Zielsprache Deutsch sowie ih-
rer individuellen Kreativität auf. Es erweist sich als relevant, Längsschnitt-
Design und Längsschnitt-Daten zu differenzieren, denn es werden in einer
einmaligen Untersuchung retrospektiv Daten in Längsschnittform erhoben. Die
Fallstudien ergänzen die Querschnittsuntersuchung in Form einer Kohorten-
studie. Diese Sonderform der Längsschnittuntersuchung dient der Trennung
von Kohorteneffekten, also der Wirkungen, die sich aus der Zugehörigkeit der
Personen zu bestimmten Gruppen ergeben, und anderen Effekten, wie etwa
dem Alterseffekt. Demgegenüber werden den Fallstudien Paneluntersuchun-
gen zugefügt, deren Ziel in erster Linie die Erhebung von Veränderungen auf
der Individualebene ist.46
Fallstudien bzw. die Methode der Fallanalyse wurde ausgewählt, um einen Zu-
gang zur exemplarischen Entwicklung der Schreiber zu eröffnen. Der Lernzu-
wachs der Schreiber soll aufgezeigt und bestimmt werden. Dies geschieht mit
Hilfe der Texte, mit Hilfe von Beobachtungsprotokollen sowie von Befragun-
gen der Schreiber. Die Fallstudien weisen neben Ergebnissen quantitativer

42 vgl. Lamnek (1995)


43 vgl. Whyte (1996)
44 vgl. Bales (1951)
45 Der Begriff "Sprachliche Kompetenz" umfasst hier sowohl die Fähigkeit, Sprachhandlungen angemessen
durchzuführen, als auch eine rein grammatische Kompetenz.
46 vgl. Jacob/Eirmbter/Ludwig-Mayerhofer (2000)
16

Analysen sowie Ergebnissen qualitativer Untersuchungen auch interpretative


Aussagen auf.
Ein abschließender Bericht beschäftigt sich mit Beobachtungen und Erfahrun-
gen in der Praxis, die auf Grund ihrer Häufigkeit oder Deutlichkeit ihres Auf-
tretens exponiert sind.

I Allgemeine Grundlagen der Untersuchung


1. Kreativität
„Müssen wir denn heute schon wieder kreativ sein?“
Der Begriff „Kreativität“ ist in aller Munde. Kreativität scheint in allen Lebens-
bereichen das Zauberwort zu sein. In Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Bil-
dungswesen, Medien, im privaten Bereich, überall wird Kreativität gefordert
und gefördert. Oft scheint jedoch die Vorstellung von dem, was mit dem Beg-
riff „Kreativität“ gemeint sei, eher diffus. Der inflationäre Gebrauch des Beg-
riffs und seine unterschiedlichen Auslegungen führen zu einer Übersättigung,
die wiederum zu einer negativen Besetzung führen kann. „Müssen wir denn
heute schon wieder kreativ sein?“ fragte ein entnervter Nürnberger Grund-
schüler seine Lehrerin. In den Buchläden stapeln sich Titel, die den Begriff
„Kreativität“ in der einen oder anderen Form enthalten. Jede Modezeitschrift
wirbt mit einem eigenen „Kreativbogen“. Eine verwirrende Vielzahl von Veröf-
fentlichungen zum Thema „Kreativität“ liegt vor und häufig werden alte, be-
kannte Inhalte mit dieser Benennung aufgewertet und aktualisiert. Jeder, der
einen Volkshochschulkurs in einer gestalterischen Disziplin belegt, gilt als kre-
ativ, ebenso wie man Kinder, die „freiwillig“ malen oder basteln mit diesem
Prädikat versieht. Aber ist nicht auch ein Kind, das einen Game-Boy besiegt,
kreativ? Ist nicht auch eine Person, die ihrer Familie mit bescheidenen Mitteln
einen relativen Lebensstandard zu schaffen weiß, kreativ? Sind nicht auch
Schüler, die ein großes Lernpensum bewältigen, kreativ? Offensichtlich ist der
Begriff „Kreativität“ nicht eindeutig besetzt. Es erscheint also sinnvoll, den
Begriff für diese Arbeit einzugrenzen. Im Folgenden soll der Begriff „Kreativi-
tät“ aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und für diese Arbeit formu-
liert werden.

1.1 Definitionen
Etymologisch lässt sich der Begriff „Kreativität“ aus dem Lateinischen von
„creatio“ (Schöpfung) bzw. „creare“ (zeugen, gebären, (er-) schaffen) herlei-
ten. Ein breiteres Spektrum umfasst das amerikanische „creativity“, das nicht
nur die Schöpfung bzw. das Schöpferische umfasst, sondern gleichzeitig das
17

gesamte Spektrum kreativer Techniken, kreativer Methoden bis hin zu einer


kreativen Geisteshaltung umfasst.
Am Beispiel der folgenden Definitionen wird deutlich, wie unterschiedlich weit
der Begriff „Kreativität“ gefasst werden kann. Das Spektrum reicht von einfa-
chen, der etymologischen Herkunft entsprechenden Definitionen,
„1. schöpferische Kraft. „. Einfallsreichtum“ 47

über solche, die bestimmte Aspekte einbeziehen (z. B. Sprache, Problemlö-


sungsfähigkeit usw.)
„1. das Schöpferische; Schöpferkraft. 2. Teil der Kompetenz eines Sprachteil-
habers, neue, nie zuvor gehörte Sätze zu bilden und zu erklären
(Sprachw.)“.48
„Kreativität ist die allgemeine Bezeichnung für die Fähigkeit zur Hervorbrin-
gung neuer und origineller Problemlösungen.“ 49
hin zu Definitionen, die auf gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche, politi-
sche, pädagogische u. a. Aspekte der Kreativität eingehen:
“Kreativität ist das kulturelle Gegenstück zum genetischen Veränderungspro-
zeß, der die biologische Evolution bewirkt.” 50
„Kreativität ist die Fähigkeit neue Zusammenhänge aufzuzeigen, bestehende
Normen sinnvoll zu verändern und damit zur allgemeinen Problemlösung in
der gesellschaftlichen Realität beizutragen.“ 51
„Kreativität ist die Fähigkeit des Menschen, Denkergebnisse beliebiger Art
hervorzubringen, die im Wesentlichen neu sind und demjenigen, der sie her-
vorgebracht hat, vorher unbekannt waren. Es kann sich dabei um Imagination
oder um eine Gedankensynthese, die mehr als bloße Zusammenfassung ist,
handeln.“ 52
„Unter Kreativität (verstehe ich) jene mentalen Ereignisse, mit denen ein Or-
ganismus intentional über seine früheren Erfahrungen hinausgeht und zu ei-
nem neuartigen und angemessenen Ergebnis kommt.“ 53
Diese wenigen Beispiele – aus einer Vielzahl von Versuchen, das Wesen der
Kreativität in einer Definition zu erfassen – zeigen bereits, wie weit dieser

47 vgl. Bertelsmann Universallexikon Band 10 (1988)


48 vgl. DUDEN „Fremdwörterbuch“ (1990)
49 vgl. Lexikon zur Soziologie (1973)
50 Csikszentmihalyi (2001) a.a.O. S.17
51 Wollschläger (1972) a.a.O. S.25
52 Drevdahl, zit. nach Schiffler (1973) a.a.O. S.11
53 Lumsden (1998) a.a.O. S.3
18

Begriff gefasst werden kann, weisen aber auch darauf hin, dass es keine all-
gemeingültige Definition geben kann.
„Die Wahrnehmung über das, was kreativ ist, hat sehr viel mit der Person zu
tun, die sich über Kreativität äußert. Offensichtlich ist Kreativität für verschie-
denen Personen etwas sehr Verschiedenes.“ 54
Im folgenden Kapitel soll eine Annäherung an den Begriff „Kreativität“ erreicht
werden und ein, der vorliegenden Arbeit zugrunde liegender Kreativitätsbeg-
riff formuliert werden.

1.2 Kreativität in der Forschung


- historisch und synchron -
Die „Geschichte der Kreativität“ soll hier kurz dargestellt werden. Sie ist eng
mit der Entwicklung der Neurophysiologie und der Psychobiologie verbunden,
aber natürlich auch mit der Entwicklung der Kreativitätsforschung an sich.

1.2.1 Kreativität in der Medizin


Das Interesse des Menschen an der Erforschung des Gehirns und seiner Funk-
tionen lässt sich bis in die Steinzeit zurückverfolgen. Schon vor etwa 25000
Jahren versuchten die Menschen sich mit Hilfe von Werkzeugen aus Feuer-
stein, Einblick in das menschliche Gehirn zu verschaffen. Die Neugier der
Menschen auf das geheimnisvolle Zentrum der Gedanken führte in vielen Kul-
turen in verschiedenen Epochen immer wieder zu Versuchen, ihm auf die Spur
zu kommen. Einen markanten Punkt in der neueren Geschichte der Gehirnfor-
schung stellt die Theorie des deutschen Arztes F.J.Gall, die Lokalisationstheo-
rie dar. Darin versuchte Gall bestimmte >psychologische< Eigenschaften wie
Demut, Fleiß, Esslust usw. den zuständigen Bereichen des menschlichen Ge-
hirns zuzuordnen. Bereits 1850 bzw. 1872 entdeckten Broca und Wernicke die
nach ihnen benannten Sprachzentren in der linken Gehirnhälfte. Gleichzeitig
ortete man in der rechten Gehirnhälfte Bereiche, deren Schädigung dazu
führt, dass Bilder zwar wahrgenommen, aber nicht mehr erkannt werden kön-
nen. Diese Forschungsansätze wurden später heftig kritisiert, da die Erkennt-
nisse, die aus der Untersuchung einer Schädigung eines oder mehrerer Ge-
hirnbereiche gewonnen wurden, nicht eindeutig auf ein gesundes Gehirn über-
tragen werden können. Auch Robert Sperry, der in den 60er Jahren des zwan-
zigsten Jahrhunderts mit seinen Forschungen begann, wurde diesbezüglich
kritisiert. Er untersuchte u. a. Epilepsiepatienten, denen beide Gehirnhälften
operativ getrennt wurden.
Sperry und sein Team erzielten folgende Experimentalergebnisse: Linke und
rechte Gehirnhälfte sind in ihren Kompetenzen bei vielen Menschen sehr a-

54 Peschanel (1993) a.a.O. S.84


19

symmetrisch. Bei der Mehrheit der (untersuchten) Menschen verfügt die linke
Gehirnhälfte über mehr Sprachkompetenz als die rechte; die rechte Gehirn-
hälfte zeigt mehr Kompetenz bei der Verarbeitung visuell-räumlicher Informa-
tionen, linke und rechte Hirnhälfte treten in Kontakt zueinander und arbeiten
– je nach Tätigkeit mit unterschiedlicher Gewichtung – zusammen.
Die Annahme, das Gehirn sei als ein biochemisch-elektrisches System eines
an sich „einheitlichen“ Geistes zu betrachten, erwies sich als Fiktion. Die Idee
einer rationalen und einer kreativen Hemisphäre war damit geboren und ihr
wurde in Folge immer wieder, in verschiedenen Ansätzen mit verschiedensten
Methoden nachgegangen.55 Die Zuteilung von qualifizierenden Merkmalen zu
den Hemisphären setzte sich immer weiter durch.
Im Rahmen der neueren Gehirnforschung wurden vielen Modelle erstellt, die
einzelnen Forschungsschwerpunkten zuzuordnen sind. Aktuelle Forschungsan-
sätze befassen sich weniger mit den einzelnen Funktionen und dem Zusam-
menspiel der beiden Hemisphären, sie wenden sich tendenziell dem Einfluss
genetischer Voraussetzungen und der Umwelt auf die Entwicklung von Intelli-
genz zu. Es wurde eine neue Größe eingeführt, die „Selbstreferenzialität“, die
eine emotional gesteuerte Instanz bezeichnet: Das Gehirn legt Kriterien zur
Informationsaufnahme und –verarbeitung selbstständig fest und kontrolliert
somit den Reizfluss. Eine weitere Tendenz zeichnet sich mit der Untersuchung
des Einflusses der unteren auf die oberen Gehirnregionen ab. Die Frage nach
dem Einfluss des lymbischen und des kortikalen Systems auf das menschliche
Denken und seine Entwicklung wurde zum Forschungsschwerpunkt.56
Ebenso wie die ausschließliche Lokalisierung der rechten Hemisphäre als „Sitz
der Kreativität“, ist auch die starre Zuordnung verschiedener Attribute zu den
Hemisphären nicht mehr aktuell.57 So ist eine Spezialisierung der Hemisphä-
ren nicht von der Hand zu weisen, aber Kreativität ausschließlich als Kompe-
tenz der rechten Hirnhälfte zu bezeichnen, scheint heute unzulässig. Die Iso-
lierung psychischer Faktoren als Ursache für Kreativität erscheint heute eben-
so wenig zufrieden stellend wie die Arbeit mit stark schematisierten kausalen
Kreativitätsmodellen. Kreativität wird nicht mehr ausschließlich unter physi-
schen Aspekten untersucht, ihr psychischer Aspekt rückt mehr und mehr in
den Vordergrund.58

55 vgl. Gazzaniga (1970) u.a.


56 vgl. Götze (1996), List (1987), Popper/Eccles (1994), Roth (1998)
57 vgl. Brodbeck (1995 und 1997)
58 vgl. Roth ((1998)
20

1.2.2 Kreativität in der Kunst


“Kreativität galt für den größten Teil der Menschheitsgeschichte als
Privileg höherer Wesen”59
Im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts war der Begriff „Kreativität“
ebenso wie sein Inhalt lange nicht so populär wie heute. Man sprach von
(künstlerischem) Schaffen und (künstlerischer) Schöpfung, wobei letztere fast
ausnahmslos religiös ausgelegt wurde. Der Schwerpunkt verschob sich im
zwanzigsten Jahrhundert von der „Inspiration“, von der Eichendorff schreibt:
„Garten und Blumen erzählen / Dem Dichter heimlich Geschichten./ Die muß
er dann weiterdichten. / Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort
und fort. / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“ 60
hin zum „Erschaffen“ eines Werkes mit Werkzeugen, der damit verbundenen
Arbeit und den daraus resultierenden Entbehrungen. Dennoch blieben die
Begriffe „Inspiration“, „Schaffen“ usw. auf den religiösen und den künstleri-
schen Bereich beschränkt.
„Man wird einmal erkennen, was diesen großen Künstler so groß gemacht hat:
daß er Arbeiter war, der nichts ersehnte, als ganz, mit allen seinen Kräften, in
das niedrige und harte Dasein seines Werkzeuges einzugehen. Darin lag eine
Art von Verzicht auf das Leben; aber gerade mit dieser Geduld gewann er es:
denn zu seinem Werkzeug kam die Welt.“ 61
Rainer Maria Rilke hebt mit dieser Aussage die systematische Arbeit sowie den
Schaffensprozess hervor und kritisiert damit gleichzeitig den damals volks-
tümlichen Begriff „Inspiration“. Er entspricht damit der Wende in der Auffas-
sung von (Kunst-) Werken, die seiner Zeit typisch war.

1.2.3 Kreativität in Psychologie und Pädagogik


In der Psychologie und der Pädagogik untersuchte man Anfang des letzten
Jahrhunderts Denkmodi, die später als „kreatives Denken“ oder als „kreative
Geisteshaltung“ bezeichnet wurden. Diese Untersuchungen hatten überwie-
gend das kindliche Denken zum Gegenstand. Piaget, der als erster die Logik
des Kindes systematisch mit einer eigens entwickelten klinischen Methode un-
ter völlig neuer Sichtweise untersuchte, leitete damit eine Wende ein, die als
Meilenstein der Kreativitätsforschung anzusehen ist:
Wurde das kindliche Denken vor Piaget als defizitäres Denken angesehen, so
stellte Piaget die qualitative Untersuchung kindlichen Denkens in den Vorder-
grund.

59 Csikszentmihalyi (2001) a.a.O. S. 14


60 Eichendorf zit. nach Stöcklein (1993) a.a.O. S.64
61 Rainer Maria Rilke über Auguste Rodin zit. nach Holthusen (1978) a.a.O. S.73
21

„Während das Problem des kindlichen Denkens zu einem Problem quantitati-


ver Natur gemacht worden ist, hat Piaget es als qualitatives Problem gestellt.
Während man früher in den Fortschritten des kindlichen Verstandes das Er-
gebnis einer bestimmten Zahl von Additionen und Subtraktionen sah, (...)
wird uns nunmehr gezeigt, daß dieser Prozeß vor allem davon abhängt, daß
dieser Verstand nach und nach seinen Charakter verändert.“ 62
Piaget differenzierte zwischen autistischem, egozentrischem und individualisti-
schem Denken einerseits und rationalem, sozialem und logischem Denken an-
dererseits. Das autistische Denken, so Piaget, sei unbewusst und der äußeren
Wirklichkeit nicht angepasst. Das Kind schaffe sich selbst eine Traumwirklich-
keit. Das autistische Denken ziele nicht auf die Befriedigung eines Wunsches
an die Umgebung, sondern bleibe individuell. Das rationale Denken hingegen
sei sozial bezogen. Es sei von der Erfahrung und der Logik geprägt. Zwischen
diesen beiden polaren Denkmodi siedelt Piaget Zwischenvarianten an, deren
Wichtigste das egozentrische Denken darstellt. Den Übergang vom autisti-
schen zum rationalen Denken beschreibt Piaget in einer psychoanalytischen
These:
„Sie (die These) besagt, daß die autistische Form des Denkens primär und
durch die Natur des Kindes selbst bedingt ist. Das rationale Denken dagegen
sei dem Kind von außen, später durch die soziale Umwelt systematisch aufge-
zwungen worden. Die logische Tätigkeit (...) ist nicht die ganze Intelligenz.
Man kann intelligent und dabei nicht sehr logisch sein.“63
Piaget setzte das individuelle, autistische Denken aber dennoch in Gegensatz
zum sozialen, rationalen Denken. Er sprach Kindern einen sozialen Bezug zu
ihrer Umwelt in dieser Hinsicht ab und deckte damit ein Defizit des kindlichen
Denkens gegenüber dem Denken der Erwachsenen auf. Er kam nicht, wie
spätere Autoren64 zu einer positiven Einschätzung dieser (ersten) Entwick-
lungsphase des kindlichen Denkens, sondern hebt lediglich deren positive Ei-
genarten hervor. Wygotsky setzt Kinder mit „Wilden“ gleich, und nennt sie
„erfahrungsblind“.65 Diese „Erfahrungsblindheit“ verbindet sich mit Piagets
Grundannahme, das Denken des Kindes sei nicht von den Einflüssen der Um-
welt zu isolieren, sondern assimiliere sie.
In dieser Phase der „Kreativitätsforschung“ herrschte der Gedanke vor, dass

62 Claparède im Vorwort zu Piaget (1972) a.a.O. S.2


63 Wygotsky (1986) a.a.O. S.2
64 vgl. Broudy (1976)
65 vgl. Wygotsky (1986)
22

„Phantasie und Denken in ihrer Entwicklung Gegensätze sind, deren Einheit


bereits in der ersten Verallgemeinerung, im allerersten beim Menschen gebil-
deten Begriff enthalten ist.“66
Mitte des 20. Jahrhunderts wandelte sich das Verständnis von Kreativität.
Kreativität wurde nicht länger als Werkzeug angesehen, das behilflich sein
könne, Defizite auszugleichen, sondern als Voraussetzung zur Erschaffung von
etwas Neuem. Kreativität wurde in immer größerem Umfang in Relation zu
anderen Eigenschaften gestellt. Letztendlich kann gesagt werden, dass sich
die „Inspiration“ Eichendorffs, die „Arbeit“ Rilkes und die „Denkmodi“ Piagets
zu einem Komplex verbunden haben, in dem sie sich ergänzen und bedingen.
Camus hat dies treffend formuliert:
„Die Schöpfung ist eine geistige und körperliche Zucht, eine Schule der Tat-
kraft. In der Anarchie oder der physischen Schlaffheit habe ich nie etwas Gül-
tiges geschaffen.“ 67
Nach dem zweiten Weltkrieg tauchte der Begriff „Kreativität“, der vorher der
Kunst vorbehalten war, in der Wissenschaft und in Bereichen des alltäglichen
Lebens auf. Kreativität wurde immer häufiger als ein Denkmodus definiert,
der sich durch enge Verbindung von Einfallsreichtum, Fantasie und sachkom-
petenter Tatkraft auszeichnet und der Entwicklung neuer Problemlösungsstra-
tegien in sämtlichen Bereichen unserer Gesellschaft dienen soll. Kreativität ist
immer dann gefragt, wenn Menschen in Zeiten gesellschaftlicher oder indivi-
dueller Not gezwungen sind, neue Strategien zu erschließen.
So wurde die psychologische Kreativitätsforschung nach dem „Sputnikschock“
forciert. Anhand unterschiedlicher Testbatterien wurde versucht, Eigenschaf-
ten wie Flexibilität, Originalität, Improvisationsvermögen u. a. zu quantifizie-
ren, denen man mit Hilfe bekannter Testinstrumentarien, die zum Erfassen
kognitiver Fähigkeiten entwickelt worden waren, nicht nahe kommen konnte.
Es zeigte sich, dass Menschen mit einem überdurchschnittlich hohen Intelli-
genzquotienten in bestimmten Situationen völlig überfordert waren, eben in
jenen Situationen, zu deren Bewältigung eine der oben genannten Eigenschaf-
ten oder Fähigkeiten notwendig war. Menschen, die in derartigen Situationen
nicht erfolgreich waren, entsprachen nicht den Anforderungen von Wirtschaft,
Wissenschaft und Management. Kreative Menschen wurden gefordert, worun-
ter man Menschen subsumierte, die über Eigenschaften und/oder Fähigkeiten
verfügten, die es ihnen ermöglichten, schnell und sicher neue Strategien und
Wege aus problematischen, sogar konfliktären Situationen zu erschließen.
Guilford legte ein Modell vor, das zum Grundstein der modernen Kreativitäts-
forschung werden sollte. Er unterschied unter anderem zwischen konvergen-

66 Wygotsky (1986) a.a.O. S.48


67 Camus zit. nach Lebesque (1976) a.a.O. S.153
23

tem und divergentem Denken.68 Das konvergente Denken charakterisierte er


als ein rationales, einspuriges Denken, für das kennzeichnend ist, eine einzige
Lösung für ein Problem anzustreben. Das divergente Denken zeichnete sich
durch die Produktion vieler Ideen oder Problemlösungsstrategien aus. Diese
strikte Trennung zwischen den beiden Denkmodi, die weitgehend mit den
Begriffen „Intelligenz“ (konvergentes Denken) und „Kreativität“ (divergentes
Denken) übereinstimmen, setzte sich allgemein durch. Diese Theorie basiert
auf Untersuchungen einzelner Menschen, deren Lebenssituation weitgehend
unberücksichtigt blieb. Die Ergebnisse sind demnach personenabhängig und
berücksichtigen das Umfeld der jeweiligen Person nicht.
Der Kreativitätsbegriff der damaligen Zeit wurde in Folge vielfach kritisiert.
Die „traditionelle Theorie der Kreativität“69 wird als Teil jener empirischen
Psychologie verstanden, der Kreativität als besondere Leistung des Intellekts
versteht und zu quantifizieren versucht. Die Vorstellung,
„Nur eine entsprechende Persönlichkeit kann das (kreative Leistungen) voll-
ziehen.“ 70
rückt den Kreativitätsbegriff in die Nähe des Geniegedankens. Menschen, die
im Stand sind, kreative Leistungen zu vollbringen, sollten getestet werden,
um ihre „genialen“ Fähigkeiten zu offenbaren. Gelänge es, diese qualitativ und
quantitativ messbar zu machen, könnten sie isoliert betrachtet und untersucht
werden. Die Ergebnisse dieser Untersuchung könnten „weniger genialen“ Per-
sonen vermittelt werden und damit deren kreatives Potential erhöhen.71 Diese
Vorgehensweise hält zwar den Geniegedanken aufrecht, sieht aber die Genia-
lität als erwerbbar an. Kreativität wird zur Vermassung oder auch Demokrati-
sierung des Geniegedankens. Viele Autoren griffen diesen Kreativitätsbegriff
auf und modifizierten ihn.72 Diese Kreativitätstheorien stützen sich auf das
Modell der Hemisphärentrennung, das den beiden Hemisphären unterschiedli-
che Kompetenzen zuordnet. Aus dieser Grundlage wurden viele – zum Teil
höchst unterschiedliche – Konzepte und Programme zur Entwicklung einer
kreativen Persönlichkeit erstellt.73 Fester Bestandteil dieser Konzepte und Pro-
gramme sind Techniken, die zu einer kreativen Geisteshaltung führen sollen.
In den letzten Jahren wandelte sich der Kreativitätsbegriff erneut. Kreativität
wurde nicht mehr als angeborene Gabe einzelner Menschen verstanden, son-
dern als ein Potential, über das jeder Mensch verfügen kann, sofern er mit

68 siehe Kapitel I. 1.3


69 Brodbeck (1995) a.a.O. S. 353
70 Matussek (1979) a.a.O. S.21
71 siehe Kapitel I. 1.5
72 vgl. de Bono (1992), Rico (1993) u.v.a.
73 vgl. de Bono (1992), Rico (1993), Peschanel (1993), v.Werder (1990/1992) u.v.a.
24

den entsprechenden Techniken vertraut und seine Lebenssituation angemes-


sen ist. Demzufolge ist Kreativität nicht quantifizierbar. Eine Quantifizierung
ist aber auch nicht notwendig, da jedes menschliche Individuum bereits über
die Anlage der Fähigkeiten verfügt, die zur Entwicklung einer kreativen Geis-
teshaltung grundlegend sind. Die Forderung nach Test, die der Ermittlung ei-
nes KQs (Kreativitätsquotienten), der eine Quantifizierung des Umfangs er-
möglicht, in dem eine Person ihr kreatives Potential zu nutzen weiß, wider-
spricht der obigen These der Nichtmessbarkeit, scheint aber einem zutiefst
menschliches Bedürfnis zu entspringen. Der Umstand, dass solche Tests die
Fertigkeit im Umgang mit denselben zeigen und nicht die Höhe eines KQ, und
dass ein Training des Umgangs mit solchen Tests der Ausbildung und dem
Einsatz kreativen Potentials zuwider laufen, scheint paradox. Ebenso ist es
fraglich, in welchem Maße Personen, die lt. Testergebnis über einen hohen KQ
verfügen, ihr kreatives Potential in konkreten Situationen und Problemstellun-
gen z. B. im beruflichen Alltag einsetzen können. Kreativität wird nicht mehr
bestimmten Lebensbereichen und Situationen zugeordnet, sondern wird zum
allgegenwärtigen Denkmodus. Auch eine Differenzierung der Kriterien scheint
nicht mehr notwendig, sondern eher hinderlich, denn der Kreativitätsbegriff
per se wird offener, flexibler und origineller. So greift der „neue kreative
Mensch“ nicht nur in Notfällen auf sein kreatives Potential zurück, sondern
gestaltet sein gesamtes Leben in allen seinen Facetten mit Hilfe eines kreati-
ven Denkmodus. Die Entwicklung einer individuellen Kreativität wird durch ei-
nen aufmerksamen74 und angstfreien Umgang mit der eigenen Person und der
Umwelt ermöglicht.
In der neuesten Kreativitätsforschung wird der Umwelt als Einflussfaktor gro-
ße Bedeutung zugeschrieben. Kreativität gilt als Produkt des Zusammenwir-
kens von Person- und Umweltfaktoren. Die Auseinandersetzung mit der eige-
nen Person und der Umwelt erfordert jedoch eine hohe Sachkompetenz, die
wiederum ständiges Lernen erfordert. Dieses Lernen wird von der menschli-
chen Neugier angetrieben, welche die Entwicklung von Aufmerksamkeit und
Interesse erst ermöglicht. Der Erfolg des Lernens wiederum hängt stark von
Größen wie Motivation und Intelligenz ab. Daraus ergibt sich folgendes Gefü-
ge:

74 aufmerksam im Sinne von Brodbecks „Achtsamkeit“; vgl Brodbeck (1995)


25

Lernen Impuls
Reaktion
Problem/Reiz

Person Umwelt

Wissen Motivation/Neugier Option

In diesem Modell wurde versucht, eine erste Annäherung an den dieser Arbeit
zu Grund liegenden Kreativitätsbegriff zu finden. In welchem Umfang eine
Person ihr kreatives Potential nutzen kann, hängt demzufolge von verschiede-
nen Faktoren ab, die wiederum fördernden oder hemmenden Faktoren ausge-
setzt sind.
Den Mittelpunkt bilden die vier Titel „Person“, „Impuls“, „Motivation/Neugier“
und „Umwelt“. Es herrscht Konsens darüber, dass diese vier Faktoren nicht
unabhängig voneinander betrachtet werden können. So besteht keinerlei
Grund für eine kreative Leistung, wenn kein Impuls, also kein Problem
und/oder kein Reiz auftritt, der einer kreativen Lösung bedarf. Wie dieser Im-
puls geartet ist erscheint kein vorrangiges Kriterium zu sein, sondern die Re-
levanz, die dieser Impuls für die Person hat, also die Motivation. Eine Person,
die nicht über ausreichende Sachkompetenz und Erfahrung (Wissen) verfügt,
die zur Bearbeitung des Impulses oder zur Bewältigung des Problems notwen-
dig sind, wird schwerlich eine kreative Leistung in dieser Domäne hervorbrin-
gen können, wie motiviert sie auch immer sein mag. Demnach sind erfolgrei-
che Lernprozesse notwenige Voraussetzung für eine kreative Leistung. Die
Umwelt beeinflusst die kreative Leistung in einer fördernden oder hemmenden
Arbeitssituation (Option) und damit wird eine Leistung erst dann kreativ,
wenn die Umwelt sie als solche bewertet (Reaktion). In der öffentlichen Dis-
kussion scheint die Frage nach kreativitätsfördernden Faktoren Vorrang zu
haben. So sprechen Designer, Werbefachkräfte und Künstler von Situationen
und Umgebungen, in denen ihnen neue und gute Ideen geradezu „zufliegen“.
Häufig werden bestimmte Orte genannt (Natur, Badewanne, vor einer weißen
Wand, ...) oder bestimmte Arbeitsformen (Teamarbeit, Klausur, ...). Inspirie-
26

rend scheinen auch bestimmte Tätigkeiten zu sein, wie etwa spazieren gehen,
schwimmen, malen und ähnliche. Die Option zu kreativen Leistungen ist dem-
nach individuell sehr unterschiedlich geartet, und es gilt, die beste herauszu-
finden. Die zweite Funktion der Umwelt, die Reaktion, tritt in den Hintergrund.
Dies mag in der Schwierigkeit begründet sein, sich damit auseinanderzuset-
zen, wie die Umwelt auf eine Leistung, die der Produzent selbst kreativ ein-
schätzt, reagiert. Dennoch scheint die Reaktion und die damit einher gehende
Bewertung der Umwelt ein nicht zu vernachlässigender Faktor zu sein. Kreati-
vität steht immer auch im Dienst der Gesellschaft, d. h. sie dient dazu, gesell-
schaftliche Notwendigkeiten zu erfüllen. Czikszentmihalyi betont diesen As-
pekt der Auswahlkriterien und Präferenzen des Feldes, wie er die Umwelt
nennt, ebenso stark wie die Vertrautheit der kreativen Person mit den Regeln
und dem Inhalt der jeweiligen Domäne.75 Diese Auffassung von Kreativität
schließt eine Synthese zwischen den beiden polaren Auffassungen, der Kreati-
vität als personenabhängige oder umweltdeterminierte Größe.
Neuerdings zeichnet sich eine Tendenz ab, die von der demokratisierten Krea-
tivität wieder zum „kreativen Menschen“ führt. Kritiker der Kreativitätsfor-
schung76 geben zu bedenken, dass die Anzahl kreativer Produkte größer ist
als die Anzahl der kreativen Prozesse, die wiederum die Zahl kreativer Men-
schen (d. h. der Menschen, die ihr kreatives Potential in großem Umfang nut-
zen) weit übersteigt. Aus dieser Annahme wird abgeleitet, dass es ganz be-
sonders kreative Menschen gebe, deren kreatives Potential von „normalen“
Menschen auch mit Hilfe intensiven Trainings nicht erreicht werden könne.
Diese „Regenialisierung“ des Kreativitätsbegriffs stellt eine direkte Reaktion
auf dessen inflationären Gebrauch in den letzten Jahren und der damit einher
gehenden Beliebigkeit dar. Czikszentmihalyi unterscheidet zwischen „kleiner“
und „großer Kreativität“77, wobei er die „kleine Kreativität“ als wichtigen Be-
standteil des Alltags bezeichnet, sie jedoch hinter die so genannte „große
Kreativität“ stellt, der er sein Hauptaugenmerk schenkt.
„Kreativität oder zumindest die Form von Kreativität, (...), ist der Prozeß,
durch den eine symbolische Domäne der Kultur verändert wird.“78
Diese Modelle dürfen aber in der Konsequenz nicht dazu führen, dass sich
Menschen, die sich nicht zu den wahrhaft Kreativen zählen, zurückziehen und
darauf verzichten, ihr kreatives Potential zu nutzen. Diese Reaktion wäre fa-
tal, denn angenommen, es gäbe tatsächlich wahrhaft Kreative, wäre das den-
noch kein Grund das kreative Potential, das nachweislich vorhanden ist, nicht

75 vgl. Czikszentmihalyi (2001)


76 vgl. Weinert (2000)
77 Czikszentmihalyi (2001) a.a.O. S. 19
78 dto.
27

auszuschöpfen. In der vorliegenden Arbeit, die sich mit der Rolle der Kreativi-
tät und Kreativitätsförderung im Deutschunterricht79 befasst, soll es nicht um
die Ausbildung wahrhaft Kreativer gehen, sondern um die Möglichkeiten und
Chancen, das kreative Potential „ganz normaler“ Lerner zu aktivieren und es
im Sprachunterricht einzusetzen.
Aus diesem Grund ergeben sich für diese Arbeit verschiedene Perspektiven,
aus denen sich dem Begriff der Kreativität genähert werden soll: Merkmale
der Kreativität und Kreativitätsprozess, die im Folgenden vorgestellt und dis-
kutiert werden sowie Ergebnisse der Kreativität und situative Bedingtheit der
Kreativität80, die im empirischen Teil der Arbeit nachgewiesen und untersucht
werden. Die Berücksichtigung der situativen Bedingtheit von Kreativität
scheint hilfreich und sinnvoll.
„Denn setzt man allein am Produkt oder Ergebnis von Kreativität an, so begibt
man sich gefährlich nah an Konzepte der Genialität, setzt man allein am Pro-
zess an, reduziert man das Phänomen auf psychische Schalt-Vorgänge“ 81

1.3 Merkmale der Kreativität


82
„Mein Gehirn treibt öfters wunderbare Blasen auf.“
Kreativität bezeichnet einen Denkmodus, eine Geisteshaltung. Mit Kreativität
werden folgende Begriffe assoziiert: Flexibilität, Improvisationsvermögen, di-
vergentes Denken, Originalität, assoziatives Denken, Problemlösungsfähigkeit,
Innovation usw. Es wurden verschiedene Kriterienkataloge erarbeitet, in de-
nen Merkmale der Kreativität zusammengestellt wurden.83 Die Kriterien der
Kreativität wurden immer wieder differenziert, erweitert und dem jeweiligen
Bereich, in dem sie zum Tragen kommen sollten, angepasst: Wirtschaft, Wis-
senschaft, Schule, Ausbildungsbetriebe sowie berufliche und nicht-berufliche
Weiterbildung griffen und greifen auf Methoden, Verfahren und Techniken zu-
rück, die aus den Kriterien der Kreativität entwickelt wurden. Diesen Kriterien
liegt der Gedanke zu Grund, kreative Prozesse seien immer auf Wissen, Fä-
higkeiten und Fertigkeiten des Menschen oder der Gesellschaft angewiesen.
Kreativität entsteht demnach nicht aus dem Nichts, sondern wird erst durch
den bereits erworbenen Wissens- und Erfahrungsvorrat möglich.84 Guilford

79 Der Begriff „Deutschunterricht“ bezieht sich in der vorliegenden Arbeit – sofern nicht anders erwähnt – auf den
Unterricht Deutsch als Mutter-, Zweit- und Fremdsprache im schulischen wie auch im außerschulischen Bereich.
Differenzierungen werden in den laufenden Text eingefügt.
80 vgl. v. Henting (1998)
81 Tauss (1998) a.a.O. S.2
82 Friedrich Schiller
83 vgl. Guilford (1970), Pommerin (1986), Ulmann (1974) u. v. m.
84 vgl. Ulmann (1974), Guilford (1970)
28

ermittelte Kriterien der Kreativität, um auf ihrer Grundlage Tests und Übungs-
batterien zu entwickeln, die es einer breiten Masse ermöglichen sollten, ihr
kreatives Potential zu aktivieren und auszubauen. Dieses Vorhaben kann aus
heutiger Sicht nicht mehr ohne Einschränkungen übernommen werden. Den-
noch ist es hilfreich bei dem Versuch, sich dem Begriff „Kreativität“ zu nähern.
Von dem Ansatz ausgehend, dass der Begriff nicht allgemeingültig definiert
werden kann, und dass eine Quantifizierung der Kriterien nicht ausreichend
ist, ihn zu beleuchten, werden die Kriterien in der vorliegenden Arbeit nicht
dogmatisch, sondern deskriptiv aufgefasst. Wenn auch die Kriterien nicht die
gesamte Komplexität des Begriffes „Kreativität“ abdecken können, so sind die
daraus entwickelten Methoden, Verfahren und Techniken unbedingt hilfreich
und notwendig, Lernen und Arbeit sinnvoll und effizient zu gestalten.
Die Kriterien und Merkmale der Kreativität85 führen erst in ihrem Zusammen-
spiel zu kreativen Leistungen. Strategien oder Produkte, die nur ein oder
mehrere, aber nicht alle Kriterien erfüllen, können nicht als kreativ einge-
schätzt werden. So kann etwas durchaus neu sein, aber nicht alles Neue ist
gleichzeitig kreativ, wenn es die anderen Kriterien nicht erfüllt. Kreativität ist
durch folgende Merkmale gekennzeichnet:
Originalität, Neuartigkeit, Inventiveness, Discovery: Die Entwicklung
neuartiger Ideen erscheint problematisch, denn häufig wird die Notwendigkeit
einer neuen Idee erst dann erkannt, während sie entwickelt wird. Die Not-
wendigkeit neuer Ideen ist stark von Situationen und den Zeiten, in denen sie
auftreten, abhängig. In einigen Bereichen müssen ständig neue Ideen entwi-
ckelt werden (z. B. in Wissenschaft und Technik), wobei in anderen Bereichen
weniger neue Ideen nachgefragt werden, weil dort weniger akute Probleme
auftreten, die einer Lösung bedürfen bzw. Probleme auftreten, die mit be-
kannten Strategien bewältigt werden können. Unter „Neuartigkeit“ wird auch
verstanden, wenn eine Idee nicht völlig neu entwickelt wird, sondern eine be-
reits vorhandene in einen anderen Bereich transferiert werden kann, in dem
sie bislang nicht verwendet wurde. Inventiveness bezeichnet die Gabe, Neues
zu erfinden und zu realisieren (z. B. erfand Franklin den Blitzableiter). Die
Strategie oder das Produkt ist demnach absolut neu und noch nie da gewe-
sen. Demgegenüber stehen „Entdeckungen“, d. h. etwas Unbekanntes, das
schon existiert, wird gefunden (Fenical entdeckte das Eleutherobin, ein Wirk-
stoff der Koralle, der in der Krebstherapie angewendet wird). Es gibt Bereiche,
in denen Strategien oder Produkte nicht eindeutig den Kriterien Inventiveness
oder Discovery zugeordnet werden können. Dennoch ist beiden Auslegungen
eines gemein: Sie bezeichnen Strategien oder Lösungen, die der Gesellschaft
bislang nicht bekannt waren, die neu sind und von einer oder mehreren Per-
sonen einer Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.

85 vgl. Guilford (1970), Pommerin (1986), Ulmann (1974) u. v. m.


29

Offenheit: Grundlegend für jegliche kreative Leistung ist eine offene, auf-
nehmende Haltung des Individuums gegenüber seiner Umwelt. Dieses Merk-
mal der Kreativität wird von allen Autoren genannt und als Voraussetzung für
die Entwicklung kreativer Gedanken und Ideen angesehen. Aufmerksamkeit,
Offenheit, Empfänglichkeit stehen für eine Geisteshaltung, die Aufgeschlos-
senheit gegenüber neuen Ideen und Gedanken mit Neugier und Interesse an
der Umwelt vereint. Nur ein Mensch, der bereit und in der Lage ist, Altes und
Bekanntes zu verlassen und neue Wege zu betreten, kann kreativ sein. Den-
noch darf Altes und Bewährtes nicht außer Acht gelassen werden, denn häufig
führt gerade die Kombination von Bewährtem und Neuem zu einem kreativen
Produkt. Eine „aus dem Bauch heraus“ entstandene Idee erfüllt möglicherwei-
se das Kriterium der Offenheit, sie führt jedoch nicht zu einer kreativen Leis-
tung, wenn die anderen Kriterien nicht erfüllt werden.
Produktivität und Gedankenflüssigkeit: Dieses Kriterium bezieht sich
hauptsächlich auf den quantitativen Aspekt kreativen Verhaltens. Kreative I-
deen und Gedanken sind die Voraussetzung für die daraus entstehenden Pro-
dukte. Kreative Strategien basieren auf der Entwicklung kreativer Gedanken.
Denk- und Produktionsblockaden hemmen den kreativen Prozess und verhin-
dern die Entstehung von Neuem und Kreativem. Die Gedankenflüssigkeit wird
auch von der Umwelt gesteuert, sie kann durch Optionen86 gefördert oder ge-
hemmt werden. Eine Umgebung, die nachhaltig die Konzentration stört, kann
sich ebenso negativ auf die Gedankenflüssigkeit auswirken wie Störungen des
körperlichen Wohlbefindens (z. B. Kopfschmerzen, Müdigkeit usw.). Eine Stö-
rung der Gedankenflüssigkeit kann aber auch durch den Prozess selbst ausge-
löst werden, nämlich dann, wenn man sich „in einer Sackgasse verirrt“, d. h.
wenn ein Gedankenstrang nicht weiter führt und gleichzeitig die Entwicklung
einer Alternative blockiert.
Flexibilität: Flexibilität bedeutet hier nicht nur die Fähigkeit, sich auf jede
neue Situation einzustellen und sich ihr anzupassen, sondern bedeutet auch
Spontaneität und divergentes Denken. Das bedeutet, ein Mensch kann ein
Problem anhand neuer Problemlösungsstrategien modifizieren oder lösen, in
dem er je nach den Erfordernissen der Situation geeigneten Strategien an-
wenden und somit situationsgerecht handeln kann. Jeder Mensch verfügt über
bewährte und damit verfestigte Denkmuster und Lösungsstrategien, die ihn in
den meisten Situationen zu angemessenen Lösungen führen. Je häufiger dies
erfolgreich ist, desto starrer und bedingungsloser werden sie angewendet,
oftmals auch in Fällen, in denen sie nicht angemessen sind. Ein kreativer
Mensch zeichnet sich durch Flexibilität aus, das bedeutet, er reagiert auf Blo-
ckaden und Hemmungen und kann sich daraus lösen. Ein flexibler Mensch ist

86 siehe Kapitel I. 1.3


30

in der Lage, auf neue Situationen mit neuen Mustern reagieren zu können.87
Flexibilität darf jedoch nicht mit Beliebigkeit gleichgesetzt werden, stellt sie
doch geradezu das Gegenteil dar: Flexibilität bedeutet eine sinnvolle und ziel-
gerichtete Art und Weise, mit neuen Situationen – positiv wie negativ – um-
zugehen. Flexibilität meint nicht zufällige, beliebige Reaktionen, sondern die
Fähigkeit, sich aus den oben genannten „Sackgassen“ zu befreien und neue
Wege zu erkennen. Menschen, die nicht über diese Fähigkeit verfügen, wer-
den durch Störungen nachhaltig blockiert und sind nicht in der Lage umzu-
schalten. Flexible Menschen erkennen die Blockade und versuchen ihr Ziel auf
einem anderen, sinnvollen Weg zu erreichen.
Problemsensibilität: Hierunter wird die Fähigkeit verstanden, Probleme zu
erkennen. Neben der Fähigkeit, Probleme zu erkennen, zeichnen sich kreative
Menschen durch die Fähigkeit, angemessene Fragen zu stellen, aus. Relevant
sind Fragen, die zur Problemlösung beitragen, also das Problem und dessen
Umfeld hinterfragen. Möglicherweise wird es notwendig, eine bestehende Lö-
sung erneut in Frage zu stellen.
Flüssigkeitsfaktor: Oft wurde der Flüssigkeitsfaktor Guilfords zu dem Begriff
„Fantasie“ synonym aufgefasst. Die darin beinhalteten Aspekte des Assoziati-
onsvermögens und der Fähigkeit zum Transfer wurden damit ignoriert. Der
Flüssigkeitsfaktor bezeichnet nicht die Produktion beliebiger Einfälle, sondern
solcher, die einen inhaltlichen Bezug zum Problem vorweisen. Demzufolge
muss ein kreativer Mensch über Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, um
sinnvolle Gedanken und Ideen produzieren und um diese anwenden zu kön-
nen.
Analysierende Fähigkeiten: Die Fähigkeit, ein Problem zu analysieren und
es in Teile zu zerlegen, ist stark von der Flexibilität abhängig. Je flexibler ein
Mensch ist, desto eher tendiert er dazu, ein komplexes Problem nicht mit ei-
ner alten Strategie zu lösen, sondern das Problem in seine Einzelteile zu zer-
legen. Das exakte Erkennen eines Problems in all seinen Facetten ermöglicht
erst den flexiblen Einsatz von Lösungsstrategien. Je komplexer ein Problem
ist, desto geringer sind die Chancen, es im Ganzen erfolgreich zu lösen. Das
schrittweise Lösen jedoch kann erst dann beginnen, wenn das Problem analy-
siert werden konnte.
Synthetisierende Fähigkeiten: Die Synthese stellt den Gegenpol zur Analy-
se dar. Die Synthese vereinfacht die Problemlösung, da bereits vorhandene
Ideen und Lösungsstrategien eingesetzt werden können. Ein derartiges Vor-
gehen kann allerdings, wie oben erläutert, zu Blockaden führen. Synthese be-
deutet in diesem Zusammenhang jedoch nicht nur eine Synthese verschiede-
ner Probleme, sondern auch die Synthese verschiedener Problemlösungsstra-

87 vgl. Ulmann (1974)


31

tegien. So ist die Synthese eine logische Konsequenz der Analyse. Ein in seine
Einzelteile zerlegtes Problem muss wieder zusammengefügt werden, nachdem
die Einzelteile erfolgreich gelöst werden konnten. Analyse und Synthese be-
deuten die Auflösung einer vorhandenen Struktur und deren sinnvolle Zu-
sammenfassung nach Bearbeitung der Einzelteile.
Reorganisation und Redefinition: Diese beiden Kriterien haben eine Auflö-
sung eines Sachverhaltes und einer Definition zur Voraussetzung. Jede Idee,
jedes Produkt und jede Lösung muss überprüft werden. Sie müssen hinsicht-
lich der Situation und den daraus entstandenen Anforderungen überdacht und
getestet werden. Nicht jede kreative Leistung ist gleichzeitig gut und der Situ-
ation angemessen.
Bewertende Fähigkeiten: Jede kreative Leistung muss bewertet werden
hinsichtlich ihrer Funktionalität und ihrer Angemessenheit. Sie muss daraufhin
überprüft werden, inwieweit sie zur Problemlösung beiträgt bzw. das Problem
mit ihrer Hilfe gelöst werden kann. Erst, wenn das kreative Produkt bewertet
ist, kann es als kreativ eingestuft und zur Anwendung gebracht werden. Oft-
mals wird die abschließende Bewertung nach einer ersten Veröffentlichung
vorgenommen werden. Bewertende Beiträge anderer ermöglichen eine Über-
arbeitung bzw. lassen neue Gedanken entstehen, die dazu beitragen können,
das kreative Produkt zu verbessern.

1.4 Der kreative Prozess


„Notizen, Papierfetzen, unbestimmtes Träumen, jahrelang. Eines Ta-
ges kommt der Einfall, das Konzept, das die einzelnen Teilchen zu-
sammenschweißt. Dann beginnt die lange mühsame Arbeit des Ord-
nens.“ 88
Einmalige, spontane Ideen können – unter Berücksichtigung der genannten
Kriterien der Kreativität – nicht als kreative Leistungen bezeichnet werden.
Kreative Leistungen zeichnen sich durch ihre prozesshafte Entstehung aus. Ei-
ne Idee wird erst dann als kreativ bezeichnet, wenn sie einen Weg durchlau-
fen hat, der aus der ursprünglichen, spontanen Idee eine Problemlösungsstra-
tegie entstehen lässt. In der traditionellen Kreativitätsforschung wurde der
kreative Prozess als Problemlösungsweg89 angesehen. Die neuere Kreativitäts-
forschung erweiterte den Kreativitätsbegriff und bezeichnet damit eine Geis-
teshaltung. Der kreative Prozess wird hier zu einem Teilaspekt einer Geistes-
haltung und nicht mehr getrennt betrachtet.

88 Albert Camus
89 Ein Problem entsteht aus einem Konflikt zwischen einer Person, einer Gruppe von Personen, einer Gesellschaft und
der jeweiligen Umwelt.
32

In Modelldarstellungen wird der kreative Prozess meist in 4 Phasen unter-


teilt.90 Für die vorliegende Arbeit stellt diese Einteilung ein sinnvolles Instru-
ment dar, da sie zum Erkennen des Wesens der Kreativität beiträgt. Die ein-
zelnen Phasen eines kreativen Prozesses können in der Praxis nicht in der
strikt begrenzten Form beobachtet werden, wie sie in den Modellen dargestellt
sind. Die Übergänge zwischen den einzelnen Phasen verwischen sich, ihr Um-
fang variiert je nach situativen Anforderungen, es werden inhaltliche Schwer-
punkte gesetzt. Relevant scheinen das Erkennen des prozesshaften Charak-
ters und eine grobe Schematisierung des Verlaufs. Die Bezeichnung „Phase“
wurde ausgewählt, da die einzelnen Abschnitte des kreativen Prozesses in der
Literatur unterschiedlich benannt werden. Die Phasen treten in jedem kreati-
ven Prozesses auf und werden – je nach Anlass – mehr oder weniger ausge-
prägt dargestellt und betitelt. Die Phasen unterliegen sowohl logischen, sach-
lichen als auch innovativen, ganzheitlichen Aspekten.
Die erste Phase eines kreativen Prozesses dient der Informationssammlung.
In dieser Phase werden neben (Fach-) Wissen und Erfahrung auch Problem-
sensibilität, Assoziationsvermögen sowie die Fähigkeit, neue Ideen hervorzu-
bringen, und Fantasie gefordert. Alle zur Problemlösung relevanten Informati-
onen müssen gesammelt werden. Hier treten Erfahrung und Wissen der
betreffenden Person oder Gruppe in den Vordergrund. Je weniger Kompetenz
vorhanden ist, desto weniger und undifferenziertere Informationen stehen zur
Verfügung. Für die Informationssammlung stehen entsprechende Verfahren
und Techniken zur Verfügung, wie Assoziationsverfahren, Brainstorming etc.91
In der zweiten Phase, auch Versuchsnetz92 genannt, werden die gesammelten
Informationen sortiert und analysiert. Sie werden aus den Bereichen heraus-
gelöst, denen sie bislang zugeteilt waren, gesichtet, untereinander gemischt
und verschoben und zuletzt neu kombiniert. In dieser Phase wird vorwiegend
die Fähigkeit zu divergentem Denken gefordert, aber auch die bereits genann-
ten Fähigkeiten zur Analyse und Synthese kommen zum Tragen. Offenheit
und Flexibilität sind ebenfalls notwendig zum erfolgreichen Verlauf dieser Pha-
se. Die zweite Phase eines kreativen Prozesses gilt dann als erfolgreich abge-
schlossen, wenn sich eine Idee, eine vorläufige Vorstellung einer Problemlö-
sung abzeichnet.
In der nächsten Phase wird der Lösungssuchende „erleuchtet“, eine Problem-
lösung erscheint aus der Vielzahl der gesammelten Ideen oder Assoziationen.
Eine Vorstellung entsteht und wird konkretisiert. Erfahrung und Wissen wer-
den mit der neuen Idee in Verbindung gebracht. Diese Idee kann eine objek-

90 vgl. Dewey (1934), Guilford (1970), Rico (1993) u.a.


91 siehe Kapitel I. 3.5
92 vgl. Rico (1993)
33

tive (= gesellschaftlich relevante) oder subjektive (= individuell relevante)


Kombination der anfänglichen Ideen sein, es ist aber immer eine neue Kombi-
nation. Jetzt beginnen erste Skizzen, Entwürfe oder Zusammenstellungen der
geplanten Ausführung.
In einer abschließenden Phase wird die neue Idee ausgeführt und überprüft.
Sie wird in den vorgesehenen Rahmen eingepasst und in einen Zusammen-
hang gestellt. Begriffe werden redefiniert, Strukturen werden reorganisiert.
Entstandenes wird überarbeitet und gegebenenfalls modifiziert. Die Bedeu-
tung dieser Phase wird häufig unterschätzt und marginal behandelt. Jedoch ist
sie nicht minder relevant als die drei vorangehenden Phasen, werden in ihr
doch die Ideen „zum Leben erweckt“, d. h. hier wird das Produkt in seine
endgültigen Form gebracht, in der es schließlich zur Anwendung kommt.

1.5 Der Kreativitätsbegriff dieser Arbeit


„Man kann einem Menschen nichts lehren, man kann ihm nur helfen,
es an sich selbst zu entdecken.“93
Nach der eingehenden Beschäftigung mit dem Begriff „Kreativität“ und dem
Versuch, sich dem Begriff anhand der Auseinandersetzung mit dem kreativen
Prozess und kreativen Techniken anzunähern, soll der Kreativitätsbegriff dar-
gelegt werden, der dieser Arbeit zu Grunde liegt. Sinnvoll scheint es, heraus-
zufiltern, was es eigentlich bedeutet, etwas Neues zu schaffen, neue, originel-
le Problemlösungen zu finden sowie sinnvolle Veränderungen herbeizuführen,
welche Voraussetzungen dazu erfüllt werden müssen und es gilt, ein Ziel zu
formulieren.
Jede Weiterentwicklung bedarf ebenso der Innovation und der Fantasie wie
auch der Sachkompetenz, ohne die eine Umsetzung der Ideen unmöglich wä-
re. Langfristig würde eine Vernachlässigung einer der Komponenten zu einer
Stagnation der Entwicklung in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen füh-
ren. Starre Strukturen, Muster, Begriffe würden beibehalten werden, wenn
Fantasie und Innovation in den Hintergrund träten. Menschen, die nicht ge-
lernt haben, Ideen zu produzieren und sie umzusetzen und damit ihre indivi-
duellen Möglichkeiten zu nutzen, hätten Schwierigkeiten, bestehende Muster
gegebenenfalls aufzubrechen, zu modifizieren oder gar Neues zu schaffen.
Kreativität kann jedoch nicht nur bedeuten, neue, originelle Ideen zu produ-
zieren. Beließe man diese Ideen unreflektiert und ungefiltert, stünden sie für
sich und könnten nicht in die Praxis umgesetzt werden, denn
„Damit eine Idee Wirkung zeigen kann, muß sie in Begriffe gekleidet werden,
die für andere verständlich sind; sie muß von den Experten im Feld anerkannt
und schließlich in ihre jeweilige kulturelle Domäne aufgenommen werden.“94

93 Galileo Galilei
34

Diese Einschränkung hätte möglicherweise zur Folge, dass die Motivation, I-


deen hervorzubringen, auf Grund der Ineffektivität und Unanwendbarkeit der-
selben stark sänke. Eine allgemeine Stagnation und Resignation wäre eine
mögliche Konsequenz.
„... aber vielleicht liegt auch in jedem kreativen Prozess ein Element von et-
was Unbewußtem. Denn was ist es eigentlich, was wir als >Kreativität< be-
zeichnen? Bedeutet kreativ sein nicht, dass man etwas Neues und Einzigarti-
ges schafft? (...) Und das geschieht durch ein feines Zusammenspiel von Fan-
tasie und Vernunft. Viel zu oft erstickt die Vernunft die Fantasie. Und das ist
schlimm, denn ohne Fantasie kann nichts wirklich Neues entstehen. Ich sehe
die Fantasie als darwinistisches System. (...) Ein >Gedankenmutant< nach
dem anderen taucht aus unserem Bewußtsein auf. Jedenfalls wenn wir uns
keine allzu strenge Zensur auferlegen. Aber nur für einige dieser Gedanken
haben wir wirklich Verwendung. Hier kommt die Vernunft zu ihrem Recht.
Denn auch sie hat natürlich eine wichtige Funktion. (...) Stell dir vor, alles was
uns so einfällt, also jeder Gedankenblitz, dürfte unsere Lippen passieren! Oder
den Notizblock oder die Schreibtischschublade verlassen. Die Welt würde bald
in zufälligen Einfällen ertrinken. Vielleicht schafft die Fantasie etwas Neues,
aber nicht die Fantasie trifft die eigentliche Auswahl. Die Fantasie >kompo-
niert<. (...) In jedem kreativen Prozeß liegt immer ein Element von etwas Zu-
fälligem. In jeder Phase kann es wichtig sein, solche zufälligen Einfälle nicht
auszusperren. Die Schafe müssen ja auch erst mal losgelassen werden, ehe
man sie weiden kann.“ 95
Dieser Ausschnitt aus dem Jugendbuch „Sofies Welt“ zeichnet ein gelungenes
Bild: Kreativität ist kein Synonym zu Fantasie. Der Begriff „Kreativität“
schließt die Fantasie, ein Auftreten von „Gedankenmutanten“ ein, ist damit
aber nicht erschöpft. Fantasie allein kann nichts Neues schaffen. Neue Ideen
bedürfen der Umsetzung in die Praxis. Etwas Neues muss erschaffen werden,
nicht nur erdacht. Das Erschaffen erfordert nicht nur Fantasie und Einfalls-
reichtum, sondern in gleichem Maße Vernunft und Sachkompetenz. Kreativität
bedeutet also immer das Zusammenspiel von Fantasie und Sachkompetenz
bzw. Wissen. Erst, wenn ein Mensch über beide Faktoren verfügt, kann er sein
kreatives Potential entfalten und eine kreative Geisteshaltung und damit die
entsprechenden Denkmodi entwickeln. Der kreative Mensch lässt alte Muster
und Bilder los und schafft somit den Nährboden für Einfälle und Zufälle.
In den vorangehenden Kapiteln wurden 3 unterschiedliche Interpretationen
des Begriffs „Kreativität“ aufgegriffen:

94 Csikszentmihalyi (2001) a.a.O. S.47


95 Gaarder (1993) a.a.O. S.493
35

Kreativität wird Gabe, über die nur wenige verfügen. Diese Genies werden
von Musen geküsst, mit göttlicher Eingebung versehen oder gar vom Geruch
fauliger Äpfel inspiriert. Kreativität steht hier für eine angeborene, elitäre Ga-
be.
Kreativität in demokratisierter Form als erwerbbare und trainierbare Eigen-
schaft, über die jeder Mensch verfügt. Das in jedem Menschen vorhandene
kreative Potential kann anhand diverser Techniken erweckt und ausgebaut
werden.
Kreativität als grundsätzlich erwerbbare Eigenschaft, die aber nur bei wenigen
Menschen in reiner Form auftritt. Diese Interpretation beinhaltet sowohl die
Auffassung, jeder Mensch verfüge über kreatives Potential, das trainierbar sei,
als auch den Geniegedanken, der besagt, dass es Menschen gebe, die von Na-
tur aus kreativ seien und deren Kreativität von „normalen“ Menschen auch mit
viel Training nicht zu erreichen ist.
Der Kreativitätsbegriff dieser Arbeit ist gewissermaßen in der Mitte dieser In-
terpretationen angesiedelt, da weder der Geniegedanke noch die demokrati-
sierte Form vollständig übernommen werden kann. In der Unterrichtssituation
kommen viele unterschiedliche Persönlichkeiten zusammen, arbeiten und ler-
nen in einer heterogenen Gruppe. Kreativitätsförderung bedeutet hier sowohl
die Förderung von Fantasie und Originalität als auch die Förderung von Sach-
kompetenz und Wissen. Es wäre fatal, in der Unterrichtssituation die fantasie-
volle Produktion neuer Ideen als alleiniges Ziel in den Vordergrund zu stellen
und deren Selektion und Umsetzung bzw. Anwendung nachrangig zu behan-
deln. Jede neue Idee muss nach ihrem Entstehen überprüft, gefiltert und ge-
testet werden. Keine Idee soll blank und dem Zufall preisgegeben den
Schreibtisch verlassen. Die Lerner müssen dazu angeleitet werden, ihre Ideen
auszuwählen und zu überprüfen, bevor sie einer Öffentlichkeit präsentiert
werden. Die Lerner sollen jedoch nicht nur Ideen produzieren und überprüfen,
sondern auch angemessen und konstruktiv Ideen anderer bewerten können.
Kreativität und Systematik schließen sich nicht aus, sondern Systematik ist
ein Bestandteil kreativer Prozesse.
Industrie und Wirtschaft suchen Mitarbeiter, die über kreatives Potential ver-
fügen und in der Lage sind, dieses zu nutzen. Häufig wird Wert auf Teamfä-
higkeit gelegt, weil es im Team zu einem Zusammenspiel verschiedener „Ar-
beitstypen“ kommt. Von Mitarbeitern wird Einfallsreichtum, Sachkompetenz,
Flexibilität und Teamgeist gefordert. Diese Fähigkeiten sind typisch für Men-
schen, die gelernt haben, ihr kreatives Potential zu nutzen. Ihre Vermittlung
kann sich im schulischen Bereich jedoch nicht auf die Fächer Musik und
Kunsterziehung sowie auf zeitlich limitierte, ästhetische Projekte, in deren
Zielsetzung und Verlauf die formale Korrektheit zweitrangig ist, beschränken.
36

Ein gewisses kreatives Potential steckt in jedem Menschen. Ohne dieses könn-
te er schwerlich überleben, denn jeder Mensch kommt – bereits als Kleinkind
– in Situationen, die er mit bekannten Strategien nicht bewältigen kann. Ein
Beispiel hierfür sei die „Wortlosigkeit“ kleiner Kinder genannt, die sie mit
kreativen Wortschöpfungen überwinden. Diese kreativen Problemlösungsstra-
tegien, die nach Czikszentmihalyi der „kleinen Kreativität“ zuzuordnen sind,
nehmen mit zunehmendem Alter immer mehr ab, da der Mensch über ein
ständig wachsendes Repertoire an Lösungsstrategien verfügt. Die meisten
Kinder sind nach ein bis zwei Jahren Grundschulbesuch in der Lage, sich aus-
reichend verständlich zu machen und „verlernen“, es kreativ mit ihrer Spra-
che/ihren Sprachen umzugehen. Im Jugend- und Erwachsenenalter entsteht
häufig der Wunsch, sich individuell und fantasievoll auszudrücken, und damit
beginnt der kreative Umgang mit Sprache erneut. Dieser Kreislauf, den die
Entwicklungsstufen eines Individuums darstellen, wurde u. a. von Piaget96 be-
schrieben. Broudy entwickelte ein Modell97, das die Entwicklung von Kreativi-
tät in drei Stufen beschreibt:
Die Phase des naiven Hörens, Sehens und Gestaltens dauert etwa bis zum
siebten Lebensjahr an. Sie ist durch Naivität der Wahrnehmung gekennzeich-
net. Diese äußert sich darin, dass keine feste Vorstellung von dem, was sein
muss, welches Empfinden wann erwartet wird, und wie man sich zu verhalten
hat, besteht. In dieser kindlichen Welt ist alles möglich, sie bietet daher faszi-
nierende Entdeckungen. Aktivitäten werden um ihrer selbst Willen ausgeführt
und gewertet. Notwendige Voraussetzung ist die Offenheit und die Neugier.
Das konventionelle Sehen, Hören und Gestalten beginnt etwa um das achte
und endet ungefähr mit dem sechzehnten Lebensjahr. In der konventionellen
Phase nimmt die manuelle Geschicklichkeit zu, da die Koordination zwischen
Auge und Hand verfeinert wird. Die starke Betonung linkshemisphärischer Fä-
higkeiten im Schulunterricht bewirkt eine Zunahme der mechanisch erlernba-
ren Grundzüge. Die Aufmerksamkeit richtet sich in zunehmendem Maße auf
Details, die Ganzheitlichkeit tritt zu Gunsten eines sequentiellen Denkens in
den Hintergrund. Die Fantasie der Kinder wird in der Schule durch Regeln und
Vorschriften eingeengt und eine Nichtbeachtung dieser Regeln und Vorschrif-
ten zieht Sanktionen nach sich, die dementsprechend demotivierend wirken.
Auf der Stufe des kultivierten Sehens, Hörens und Gestaltens wird der Stil,
der charakteristisch für die naive Phase ist, wieder entdeckt. Es wird versucht,
ihn wieder zu aktivieren. Der (junge) Erwachsene geht zurück zu den Wurzeln
und orientiert sich an der Unbefangenheit der Wahrnehmungen während der
naiven Phase. Alle Kriterien der dort entstandenen Produkte werden erneut

96 vgl. Piaget (1972)


97 vgl. Broudy (1976)
37

aufgegriffen und verarbeitet. Die Unbefangenheit wird nun bewusst initiiert


und mit dem Wissen, das in der konventionellen Phase erworben wurde, ver-
bunden.
Es gilt also, das kreative Potential zu erhalten bzw. es im Galileischen Sinne
(wieder) zu entdecken. Dazu bedarf es diverser Hilfestellungen. Diese setzen
sich aus Fantasie anregenden und systematischen Unterweisungen zusam-
men.98

2 Schreiben
„Schreiben ist Freiheit.“
Der Begriff Schreiben umfasst viele Aspekte. Schreiben kann als rein motori-
sche Tätigkeit, das Halten eines Stiftes und die damit auszuführenden Bewe-
gungen auf dem Papier, verstanden werden, was jedoch bereits die Kenntnis
von Schriftzeichen voraussetzt. Schreiben ist aber auch eine Kulturtechnik,
die für das Überleben in unserer literalisierten Gesellschaft praktisch unent-
behrlich ist und daher in der Schule gelehrt wird. Schreiben ist eine Therapie-
form99, da sich der Schreiber von seinen Äußerungen distanziert und diese als
„reine“ Aussage in zeitlichem und räumlichem Abstand reflektieren kann,
während der Therapeut schriftlich fixierte Aussagen des Patienten analysieren
und auswerten kann. Schreiben ist ebenso eine Lebensauffassung, sobald sich
der Schreiber mit seinem Schreiben identifiziert. Schreiben ist nicht zuletzt
Freizeitbeschäftigung, wenn sich der Schreiber mit der Fixierung von Gedan-
ken, der Dokumentation von Geschehnissen oder dem spielerischen Umgang
mit Sprache die Zeit vertreibt. Schreiben ist Arbeit. Geschriebenes bewahrt
und verbreitet Informationen, bietet Unterhaltung, vermittelt Wissen, beein-
flusst Leser. Schreiben ist Forschungsgegenstand und wird unter historischen,
kulturellen und funktionalen Aspekten untersucht:
„Die Erforschung von Schrift und Schriftlichkeit ist bislang nur unter der Per-
spektive von Einzelwissenschaften betrieben worden, weshalb es heute weder
eine einheitliche Theoriebildung über den Gegenstand gibt noch einen syste-
matischen überfachlichen Austausch.“100
Günther und Ludwig beheben diesen Mangel mit dem Handbuch „Schrift und
Schriftlichkeit“, in dem die verschiedenen Aspekte des Schreibens dargestellt,
die gesellschaftlichen Prozesse der Normierung und Alphabetisierung in ver-
schiedenen Ländern behandelt, Modelle der psychologischen Prozesse beim

98 siehe Kapitel II. 4-7


99 siehe EXKURS: „Schreiben als Therapie“
100 Günther/Ludwig (1994)
101 Günther/Ludwig (1994)
38

Lesen und Schreiben und beim Schriftspracherwerb gekennzeichnet, ausge-


wählte Schriftsysteme mit den Mitteln der modernen linguistischen Schriftsys-
temforschung dokumentiert und Sonderschriften beschrieben werden.

2.1 Historischer Abriss


Über Jahrhunderte hinweg war Geschriebenes – im Gegensatz zu mündlich
Überliefertem102 - die Hauptquelle der Erinnerung an vergangene Ereignisse
und Gedanken früherer Zeiten und weit entfernter Orte. Im Gegensatz zu
mündlich Überliefertem, das im Lauf der Generationen Veränderungen unter-
worfen ist bzw. dessen Weitergabe durch unglückliche Zufälle, wie etwa den
frühzeitigen Tod eines „Wissenden“ und daher keine Weitergabe an die nächs-
te Generation, verhindert werden kann, ist Geschriebenes vergleichsweise si-
cher in seinem Fortbestand. Die Möglichkeit, Geschriebenes zu vervielfältigen,
erlaubt die Weitergabe und eröffnet somit eine weitaus größere Verbreitung
des Inhalts. Der Einzelne kann mehr Informationen erlangen, er muss sich
nicht mehr alles merken, sondern kann verschiedenen Texten die für ihn rele-
vanten Informationen entnehmen. Mehr Informationen bedeuten gleichzeitig
die Chance zu einem differenzierteren Weltbild. Auch wenn heute ein Leben
ohne Schreiben unvorstellbar ist, wenn es ein fester Bestandteil unserer Kul-
tur geworden ist, so wurde doch in der Geschichte immer wieder vor der Ge-
fahr gewarnt, die vom Schreiben ausgeht.103 Platon lässt Sokrates, der kein
einziges geschriebenes Wort hinterlassen hat, im Dialog „Phaidros“ sagen, die
Kunstfertigkeit des Schreibens entfremde die Menschen ihrem Inneren. Ihr
Gedächtnis, von der Schrift seiner Aufgabe beraubt, schwinde dahin. Statt der
Wahrheit, die nur im Inneren des Menschen wohne, würde die gefährliche Il-
lusion des Wissens hervorgerufen. Es scheint in diesem Zusammenhang be-
merkenswert, dass nicht nur Sokrates, sondern auch Buddha, Mohammed und
Christus keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen haben, sich aber de-
ren Anhänger die Mühe gemacht haben, die Hinterlassenschaft schriftlich fest-
zuhalten bzw. aufzubereiten.104 Eine weitere Gefahr, die vom Schreiben aus-
geht, hat John Locke formuliert: Bücher seien potentielle Gefäße von Aber-
glauben und Unwahrheit. Auf Grund ihrer inflexiblen, fixierten Form verleiten
sie dazu, sie wie eingravierte Informationen zu verabsolutieren. In Wirklich-
keit, so Locke, dienten Bücher lediglich als Übermittlungsmechanismus.105
Trotz der Warnungen hat sich das Schreiben als Medium durchgesetzt und ist
zu einem wichtigen Bestandteil der meisten Kulturen geworden.

102 Die Form der mündlichen Überlieferung wird in der vorliegenden Arbeit nur dann explizit berücksichtigt, wenn eine
Gegenüberstellung zur schriftlichen Überlieferung sinnvoll erscheint.
103 vgl. Steinig (1998) a.a.O. S.13
104 vgl. Jaspers (1995)
105 vgl. Traub (1996)
39

Geschriebenes ermöglicht die Weitergabe und die Rezeption von Informatio-


nen. Daher erscheint es klar, weswegen das Lesen und das Schreiben, die
Kunst des Umgangs mit geschriebener Sprache, lange Zeit Privileg ausge-
suchter Personen war. Aus der Sicht dieses elitären Kreises, der an einer
Verbreitung von Wissen und einem demokratischen Zugang zu gewissen
Sachverhalten nicht interessiert war, lag es nahe, die Mehrheit der Menschen
auszuschließen und ihnen das Recht, die Schrift zu erlernen, zu versagen.106
Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht erschloss sich der Zugang zu
geschriebenen Informationen der Allgemeinheit. Das Wissen und die Erfah-
rung der Menschheit wurden demokratisiert. Schreiben wurde zur Kulturtech-
nik und verlor seine Bedeutung als Medium eines elitären Kreises. Jeder
Mensch hat – grundsätzlich – die Möglichkeit und das Recht seine Gedanken,
seine Gefühle und ihm bemerkenswert erscheinende Ereignisse zu Papier zu
bringen, und somit in Raum und Zeit zu veröffentlichen.

2.2 Schreiben heute


Im Zeitalter der Kommunikationstechnologien wandeln sich Bedeutung und
Form des Schreibens. Gesprochene Sprache kann nun ebenfalls fixiert, ver-
breitet und aufbewahrt werden und somit vom Sprecher unabhängig in Zeit
und Raum existieren. Dieser Umstand führte zur allgemeinen Besorgnis, die
sich im Schlagwort „Untergang der Schriftkultur“ manifestiert. Demgegenüber
steht die Entwicklung neuer Formen der Verschriftlichung im Alltag und in der
Literatur.

2.2.1 Schreiben und moderne Kommunikationsmedien


In den letzten Jahren gab es Entwicklungen, die das Schreiben in seiner Rolle
als Kulturtechnik bestärkten: Fax, E-Mail, SMS-Nachrichten usw. werden
schriftlich formuliert. Schreiben wurde somit wiederum modernes Kommuni-
kationsmedium.107. In dieser Funktion behält die geschriebene Sprache ihre
Eigenheiten gegenüber der gesprochenen Sprache bei, denn das Verfassen
von SMS-Nachrichten und E-Mails erfordert eine Verschriftlichung der Inhalte.
Allerdings hat sich gerade in diesem Bereich kurzer schriftlicher Mitteilungen
eine eigenständige Form der Schriftsprache etabliert. Diese Mitteilungen wer-
den meist in einer direkten Übersetzung mündlicher Sprache in Schriftsprache
formuliert, die Unmöglichkeit nonverbale Elemente in die Schriftsprache auf-
zunehmen wird gesprengt: Das Einfügen standardisierter Zeichen ( z. B. :-)
für Freude oder :-( für Enttäuschung) oder Icons (z. B. ☺) übernehmen hier,
die Funktion der Weitergabe nonverbaler Informationen.108 Auch im Bereich

106 vgl. Steinig (1998) a.a.O. S.17


107 vgl. Rösler (2001)
108 vgl. Dehn (1987), Schwertfeger (2001)
40

der Literatur wandeln sich Gestalt und Funktion des Geschriebenen. Nach
Nunberg109 werden verschiedene Buch- bzw. Textsorten aus dem gedruckten
Angebot verschwinden (z. B. Nachschlagewerke). Die Ausbreitung jüngerer
Technologien wird die traditionellen aber nicht auslöschen. Ältere Technolo-
gien werden von ihnen herausgefordert und stimuliert und möglicherweise
grundlegend verändert werden, aber nicht annulliert. Ein Beispiel hierfür ist
der Hypertext, der literarische Text im Internet. Er unterscheidet sich in vielen
Punkten von traditionell gedruckten Texten, bildet aber unzweifelhaft eine
ernst zu nehmende Variante.110
Das Verfassen von Hypertexten unterliegt völlig anderen Bedingungen wie
auch die Rezeption dieser Textsorte vom Medium Internet bestimmt wird. So
arbeitet der Schreiber nach dem „Prinzip der Papyrusrolle“, d. h. der Bild-
schirm stellt sich als endlose Rolle dar, in der Auf- und Abbewegung keine
Mühe verursacht und weder Anfang noch Ende festgelegt sind. Es entsteht
kein Manuskript mehr, der Text befindet sich auf dem Bildschirm von Anfang
an in Reinschrift. Textteile können beliebig ausgeschnitten, eingefügt, ausge-
lagert, verschoben werden. Oftmals entstehen so inkonsistente und zerstreute
Texte. Ein stringentes Vorwärtsschreiben und –lesen wird von fragmentari-
schem Schreiben und Lesen abgelöst. Hypertexte zeigen häufig die Tendenz,
wie das kleine Textbeispiel unten zeigt, auszuwuchern. Durch Links wird der
Leser per Mausklick zu neuen Hypertexten entführt, deren Anzahl stetig
steigt. Auch Texte fremder Schreiber können problemlos in eigene Texte in-
tegriert werden bzw. ein Schreiber kann sich per entsprechendem Link an ei-
nen fremden Text andocken. So entstehen gemeinschaftliche Literaturprojek-
te, die in dieser Form und in diesem Ausmaß nur im Rahmen des Internets
möglich sind. Das Internet hat mit der Möglichkeit zur Produktion von Hyper-
texten einen Raum geschaffen, in dem das spielerische Experimentieren mit
Texten nicht nur möglich, sondern erforderlich wird. Der Hypertext hat sich zu
einer eigenständigen Textsorte entwickelt, die andere Kriterien aufweist als
ein gedruckter oder geschriebener Text.
Die Spekulationen über die Zukunft geschriebener Texte, deren Form und
Vervielfältigung sind weltweit im Gang. Prognosen erscheinen - so der allge-
meine Konsens - nicht möglich, aber Tendenzen zeichnen sich bereits ab. Eine
digitale Revolution scheint wahrscheinlich, wobei die Rolle des gedruckten Bu-
ches als bedeutend eingestuft wird. Der elektronische Diskurs als Welt des
Unpersönlichen, Öffentlichen und Objektiven werde als Gegensatz und Ergän-

109 vgl. Nunberg (1996)


110 vgl. Blatt/Hartmann/Feldner (1996)
111 Beide Textbeispiele stammen aus dem Hypertext „Waltraudes kleine Welt“ von Georg Höngdobler und Ran Huber.
Der Text wurde beim 1. Internationalen Internet-Literaturwettbewerb (ausgeschrieben von der ZEIT und IBM
Deutschland) mit dem zweiten Platz ausgezeichnet.
41

zung neben das Buch als Welt des Persönlichen, Privaten und Subjektiven tre-
ten.112

2.2.2 Rückzug aus der Schriftkultur


Einige Autoren113 beschäftigen sich vorrangig unter einem anderen Aspekt mit
der (Rück-) Entwicklung der Schriftsprache: Eichler114 wirft die interessante
Frage auf, ob eine Teilung der Gesellschaft in die Schriftkultur Gestaltende
(Profischreiber) und an der Schriftkultur passiv Partizipierende (Lesepublikum)
in Aussicht stünde. Die Profischreiber gelangten zu großer Macht, nämlich
dann, wenn ihre schriftlichen Erzeugnisse auf Grund ihrer elitären Ausprägung
die große Menge des Lesepublikums manipulierbar werden ließen. Das Lese-
publikum wird in dieser Diskussion auch als Nur-Konsumenten bezeichnet, die
der Gruppe der modernen Schreibstummen zugeordnet wird.
Die Gruppe der funktionalen Analphabeten, die immer größer wird, ist ein
nicht mehr zu ignorierendes Problem unserer Gesellschaft.115 Diese Menschen
haben die Schriftsprache in der Schule erlernt, aber nicht automatisiert. Sie
haben den Umgang mit der Schriftsprache auf Grund sozialer Umstände und
mangelndem Schreibzwang im täglichen Leben verlernt. Sie ziehen sich aus
der Schriftkultur zurück und treten durch diesen Rückzug in einen Teufelskreis
ein. Sie scheitern auf Grund ihrer Ungeübtheit im Umgang mit der Schrift so-
wohl am Lesen als auch am Schreiben. Schreibmotorik, sprachliche Analyse-
strategien und orthografische Kontrollstrategien, die nicht gründlich und hoch
automatisiert erworben und trainiert wurden, lassen nach und werden zur
Hemmschwelle. Diese Hemmschwelle blockiert einen erneuten Zugang zur
Schriftkultur. Häufig kann noch ein anderes Symptom beobachtet werden:
Nicht so sehr das Nicht-Können ist für den Rückzug bestimmend, sondern die
Einschätzung, es nicht zu können. Wenn diese Einstellung zunächst auch nicht
realistisch ist, bewirkt sie aber dennoch auf Dauer das Nicht-Können. Dies gilt
gleichermaßen für Menschen deutscher wie auch nicht-deutscher Primärspra-
che:
„Funktionale Analphabeten sind Menschen, die aufgrund fehlender, unzurei-
chender oder unsicherer Beherrschung der sich stets wandelnden Schriftspra-
che und aufgrund der Vermeidung schriftsprachlicher Eigenaktivität nicht in
der Lage sind, Schriftsprache für sich und andere im Alltag zu nutzen.“116

112 vgl. Traub (1996), Nunberg (1996)


113 vgl. Eichler (1992), Kretschmann (1986), Giese (1983/84), Ritz-Fröhlich (1971)
114 vgl. Eichler (1992)
115 vgl. Kretschmann (1986), Giese (1983/84)
116 Döbert, (1997) a.a.O. S. 1
42

Derzeit steht erneut zur Diskussion, ob es für Mitbürger nicht-deutscher Pri-


märsprache nicht ausreichend sei, eine gewisse Lesefähigkeit zu erwerben
und auf eine aktive Teilnahme an der Schriftkultur zu verzichten, denn
„Ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache liegen vor, wenn sich der
Einbürgerungsbewerber im täglichen Leben einschließlich der üblichen Kon-
takte mit Behörden in seiner deutschen Umgebung sprachlich zurechtzufinden
vermag und mit ihm ein seinem Alter und Bildungsstand entsprechendes Ge-
spräch geführt werden kann. Dazu gehört auch, dass der Einbürgerungsbe-
werber einen deutschsprachigen Text des alltäglichen Lebens lesen, verstehen
und die wesentlichen Inhalte mündlich wiedergeben kann.“117
So verkündete das bayerische Innenministerium in einer Pressemitteilung, die
Einführung eines Sprachtests für „Einbürgerungsbewerber ohne Schriftspra-
chenkenntnisse“, der so genannte „Test deutsch alfa“, sei eine
„Pioniertat bei der sachgerechten Würdigung der Integrationsleistungen unse-
rer ausländischen Mitbürger.“118
Diese Auffassung reduziert den Zweit- oder Fremdspracherwerb auf den Er-
werb einer mündlichen Kommunikationskompetenz. Dem widersprechen Maas
und Mehlem bereits in den Leitlinien ihres jüngst vorgelegten Gutachtens:
„Bei der Sprachförderung ist zu trennen zwischen dem kommunikativen Be-
reich und dem Bereich der formalen Nutzung der sprachlichen Ressourcen vor
allem in der Schriftsprache. Normierte Vorgaben im Sinne einer kodifizierten
deutschen Standardsprache beziehen sich in erster Linie auf die Schriftspra-
che. Die sprachliche Förderung im Rahmen der Integrationsmaßnahmen muß
notwendig beide Bereiche nach Maßgabe des bei den jeweiligen Zuwanderern
realistisch Möglichen umfassen“119
Im Weiteren führen sie aus, dass auch für Migranten, die aus einer Gesell-
schaft stammen, in der Schriftsprache als Register keinen formalen Status
hat, bzw. aus einer Gesellschaft ohne demotisierte Schriftkultur, der Erwerb
schriftsprachlicher Kompetenzen die Voraussetzung zur Partizipation am ge-
sellschaftlichen Leben in der Bundesrepublik darstellt.
„Für Gesellschaften wie die deutsche gilt, daß die Partizipationschancen an
den gesellschaftlichen Prozessen daran gebunden sind, daß der einzelne über

117 vgl. "Auszug aus der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Staatsangehörigkeitesrecht


(StAR-VwV) des Bayerischen Innenministeriums vom 13. Dezember 2000"
118 Pressemitteilung des Bayerischen Innenministeriums 168/2001 in: SZ 10.4.2001
119 Maas/Mehlem (2002) a.a.O. S.vii
43

symbolische Praktiken verfügt, die nur sprachlich erworben werden kön-


nen.“120
Sie formulieren den Erwerb der Schriftsprache als zentrales Lernziel und for-
dern – zumindest für den Fortgeschrittenenbereich -, dass
„ ... das schriftsprachliche Register im Vordergrund stehen sollte.“121
Von der Annahme ausgehend, Schreiben sei eine Hilfestellung zur Bewälti-
gung persönlicher und individueller Probleme sowie zur persönlichen Identi-
tätsfindung,122 liegt es auf der Hand, dass Schreiben gerade für die Gruppe
der ausländischen Lerner von immenser Bedeutung ist. Ein großer Teil der
ausländischen Mitbürger lebt (immer noch) unter schwierigen Bedingungen in
der Bundesrepublik Deutschland. So gilt allein die fremde Herkunft als soziale
Benachteiligung und damit als ausreichende Voraussetzung zur Aufnahme in
soziale Programme. Vielen Menschen, die unter diesen Bedingungen leben, ist
die Auseinandersetzung mit der eigenen Person und ihrer Umwelt sowie ihrer
Lebenssituation in der Bundesrepublik Deutschland mit Hilfe des Mediums
Schreibens verwehrt, da sie weder in der jeweiligen Primärsprache noch in der
Zielsprache in der Lage sind, sich schriftlich zu äußern. Häufig sind sie in ihrer
Primärsprache nicht oder nicht ausreichend alphabetisiert und haben die
Kenntnisse der Schriftsprache ihrer Mutter- bzw. Herkunftssprache während
des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland nicht erweitert.
Auch Menschen mit Migrationshintergrund, die in der Bundesrepublik geboren
sind und hier die Schule besucht haben, sehen sich in der gleichen Situation:
In ihrer meist national bzw. ethnisch und damit sprachlich homogenen Le-
benswelt haben sie keine Möglichkeit, ihre schriftsprachlichen Fähigkeiten im
Deutschen anzuwenden und so zu trainieren. In ihrer Primärsprache wurden
sie nicht alphabetisiert und somit ist ihr Rückzug aus der Schriftsprache vor-
programmiert.123 Ein Tagebuch zu führen, Briefe zu schreiben und Ähnliches
ist ihnen ebenso fremd wie das Verfassen anderer Textsorten. Das Schreiben
steht ihnen nicht als Medium zur Problembewältigung zur Verfügung. Eine
Auseinandersetzung mit der individuellen Lebenssituation unterbleibt in den
meisten Fällen völlig. Konfrontiert man diese Menschen mit Texten von Auto-
ren mit Migrationserfahrung, löst man großes Staunen darüber aus, dass auch
einer aus ihrer Mitte ein „deutsches Buch“ schreibt, dass dieses in Deutsch-
land veröffentlicht wird und dass der Autor sich möglicherweise darin mit
Problemen beschäftigt, die sie selbst kennen. Wenn allerdings das Schreiben
als motorische und kognitive Leistung nicht automatisiert ist, verpufft der an-

120 dto. a.a.O. S. 9


121 dto. a.a.O. S.58
122 siehe Kapitel II. 4-6
123 vgl. Lamprecht (1993)
44

fängliche Enthusiasmus – „Das probiere ich auch!“ – schnell und wird zu ei-
nem – „Das kann ich nicht!“, womit der Lerner schnell in jenen Teufelskreis
gerät, in dem der Glaube an ein Nicht-Können zur Realität des Nichtkönnens
wird. Hier gilt es im Unterricht, denjenigen aufzufangen und das Schreiben als
Fertigkeit einzuüben. So kann das Schreiben zu einer Bewältigung der Le-
bensprobleme beitragen und den Alltag in der Bundesrepublik erleichtern.
Eine weitere Gruppe, deren Texte im Rahmen dieser Arbeit untersucht wur-
den, hat das Schreiben bereits im primärsprachlichen Bereich als Medium zur
Selbstfindung und Problembewältigung kennen gelernt. Diese Menschen lei-
den schon nach kurzer Zeit in der Bundesrepublik unter ihrer Sprachlosigkeit
im mündlichen wie auch im schriftlichen Sprachgebrauch. Sie empfinden ihre
schriftsprachlichen Defizite als großen Mangel, der ihre Lebensqualität beein-
trächtigt. Sie verstehen das Schreiben auch als Öffnung hin zu deutschen Mit-
bürgern, denen sie ihr Leben in diesem Land verständlich machen wollen. Dies
kann aber meist nur auf Deutsch geschehen und somit sind sie gezwungen,
ihre Texte auf Deutsch zu schreiben, was anfangs große Schwierigkeiten be-
reitet.
Treffen die Prognosen zu einer Zweiteilung der Gesellschaft in Schreiber und
Schreibstumme ein, so ist eine große Mehrheit der Bevölkerung von den In-
formationen, die von professionellen Schreibern publiziert werden, abhängig.
In den letzten Jahren wächst die Menge der Publikationen täglich, während
die Zahl der Autoren gleichermaßen abnimmt. Den Schreibern stehen Hilfs-
mittel zur Verfügung, die es ihnen erlauben, mit immer größer werdender Ge-
schwindigkeit immer mehr zu veröffentlichen. Die meisten Informationen
werden in geschriebener Sprache präsentiert und haben so zumindest den
Anschein einer gewissen Relevanz inne. Die nicht schreibende Mehrheit wird
von einer wahren Flut von Gedrucktem erdrückt. Sie nehmen an diesem
Strang der Entwicklung nicht teil und nehmen eine passive Rolle ein. Zu die-
ser Mehrheit gehören auch die Menschen, die sich ob ihrer Herkunft in einer
marginalen gesellschaftlichen Stellung befinden. Sie haben keine Möglichkeit,
aktiv mitzuwirken, wenn sie nicht mit der deutschen Schriftsprache vertraut
sind und sich dieses Mediums nicht bedienen können. Wie soll eine Öffentlich-
keit über ihr Leben, ihre Situation und ihre Gefühle informiert werden, wenn
nicht über Publikationen? Migrantenliteratur, kleinere Publikationen wie Leser-
briefe oder Ähnliches können der deutschen Gesellschaft wichtige Hinweise
und Informationen zur Situation in diesem Land geben, die zu gegenseitigem
Verständnis beitragen. Ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Bevölke-
rungs- und Publikationsanteil ist erstrebenswert.
Das gesamte Schulsystem sowie die außerschulischen Bildungseinrichtungen
bauen ihre Lernprogramme auf der Basis der Schrift auf. In jedem Unterricht,
45

abgesehen von reinen Kommunikationskursen, werden Lerninhalte schriftlich


fixiert.124 Wenn Lerner aber schon beim Lesen von Lehrbüchern und Arbeits-
materialien Schwierigkeiten haben, welche Probleme werfen dann erst Mit-
schriften, Notizen und Randbemerkungen auf? Wer einmal Skripten schreib-
ungeübter Lerner durchgesehen hat, der weiß, wie fragwürdig dieses Material
als Grundlage für weiteres Lernen ist. Leider ist die personelle Situation im
schulischen wie im außerschulischen Bereich nicht so angelegt, dass die Lehr-
kraft kontinuierlich Mitschriften und dergleichen korrigieren und in eine Fas-
sung bringen kann, mit deren Hilfe die Lerner zu selbständigem Lernen oder
zu sinnvollem Wiederholen von Lerninhalten in der Lage wären. So kann sich
ein fehlerhaftes Grammatikheft ebenso fatal auf den Lernerfolg auswirken wie
nicht korrigierte Hausaufgaben oder andere Übungen. Viele Lerner geben das
Mitschreiben im Unterricht, sei es als Skript oder als Notizen, nach einigen
fehlgeschlagenen Versuchen enttäuscht auf und haben so keine Möglichkeit,
ihre Schreibfertigkeit zu erhöhen, was sich wiederum nachteilig auf den ge-
samten Spracherwerb ausübt. Der Lerner bleibt nicht nur schreibungeübt,
sondern er ist auch in der Aufnahme und Festigung der Lerninhalte benachtei-
ligt. Die Entschriftlichung des Unterrichts ist wohl auf den ersten Blick der ein-
fachere Weg, hat aber weit reichende negative Auswirkungen auf den Lern-
prozess. Die Entschriftlichung des Unterrichts fördert habituellen Analphabe-
tismus anstatt ihn zu bekämpfen. Eine solide Förderung der schriftsprachli-
chen Kompetenzen ist die Basis für effektives Lernen in schulischen und au-
ßerschulischen Einrichtungen.

2.3 Merkmale geschriebener Sprache


Die geschriebene Sprache weist gegenüber der gesprochenen Sprache Beson-
derheiten auf.125 Das augenscheinlichste Merkmal geschriebener Sprache126
und deren Manifestierung gegenüber dem mündlichen Ausdruck ist wohl die
Zeit, die der Schreiber zur Verfügung hat, um seine Aussagen so zu formulie-
ren, dass sie vom Adressaten richtig verstanden werden können. Der zeitliche
und räumliche Abstand vom Rezipienten gibt dem Produzenten die Möglich-
keit, seine Aussagen zu überprüfen und vor ihrer Weitergabe zu überarbeiten.
Schreiben wie auch Lesen sind monologe Formen; das hat einen anders gear-
teten Umgang mit Inhalten zur Folge als in dialogischen Formen der gespro-
chenen Sprache. Beim Sprechen nutzt der Produzent neben bedeutungsvollen
Lautkombinationen, seine Stimme mit Modulierungen, Intonationsmöglichkei-
ten, Regulierung der Lautstärke, den Sprechrhythmus ebenso wie seine Kör-

124 vgl. Portmann (2001)


125 vgl. Coulmas (1986), Glück (1987), Koch (1992) u. a.
126 Dieses Merkmal ist für die vorliegende Arbeit besonders relevant, da es für Sprachanfänger und ungeübte Schreiber
eine wichtige Hilfestellung beim Erwerb der Zielsprache Deutsch bietet (siehe Kapitel II.4-6)
46

perbewegungen, seine Haltung, seine Gestik und Mimik um seine inhaltlichen


Aussagen zu unterstützen. Im Gespräch beeinflussen sich die Gesprächspart-
ner ständig sowohl auf verbaler als auch auf nicht-verbaler Ebene. Während
der Schreiber auf der einen Seite über die Möglichkeit verfügt, seine Aussagen
länger und präziser vorzubereiten, muss er sie auf der anderen Seite konkre-
ter und deutlicher formulieren, da er die oben genannten Mittel des dialogi-
schen Gesprächs nicht zur Verfügung hat und er berücksichtigen muss, dass
seine Aussagen länger bewahrt und möglicherweise weitergegeben werden.
Die Möglichkeit zu längeren und gründlicheren Überlegungen einzelner Formu-
lierungen bieten vielfältige Chancen, können aber auch zur Besessenheit aus-
arten. Ebenso wie Kafka in seinem Tagebuch klagt:
„Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir
entwickelte, wie ich in einem Gewässer vorwärts kam. Mehrmals in dieser
Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken. Wie alles gesagt werden kann,
wie für alle, für die fremdesten Einfälle ein großes Feuer bereitet ist, in dem
sie vergehn und auferstehn ... Die bestätigte Überzeugung, daß ich mich mit
meinem Romanschreiben in schändlichen Niederungen des Schreibens befin-
de. Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang,
mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.“ 127
beschreibt Camus diese „Besessenheit“, indem er in „Die Pest“ seine Romanfi-
gur Joseph Grand Abend für Abend am ersten Satz eines Romans arbeiten
lässt. Unzählige Male ändert, kürzt, erweitert Grand den Satz „An einem
schönen Morgen des Monats Mai durchritt eine elegante Amazone auf einer
wunderbaren Fuchsstute die blühenden Alleen des Bois de Boulogne“. Und mit
jedem Versuch wird ihm deutlicher, wie weit entfernt er sich von einer – für
ihn – gelungenen Formulierung befindet. Er wird seinen Roman nie been-
den.128
Ein weiteres Merkmal geschriebener Sprache ist deren Gebundenheit an die
allgemein gültigen Sprachnormen. Im mündlichen Sprachgebrauch steht die
formale Korrektheit hinter Natürlichkeit und Spontaneität, deshalb wird sie
von Lewandowski als „frei formulierte Sprache“129 bezeichnet. Im Gegensatz
dazu ist Schreiben eine stark sprachanalytisch ausgerichtete Tätigkeit.130
Dennoch wäre es nicht angemessen, Schreiben nur aus dieser Perspektive zu
betrachten. Neben der sprachanalytischen Tätigkeit stehen inhaltliche, kreati-
ve u. a. Elemente, die keinen geringeren Stellenwert innehaben. Schreiben ist

127 Kafka in: Wagenbach (1964) a.a.O. S.74


128 vgl. Camus (1958)
129 vgl. Lewandowsky (1984)
130 vgl. Krumm (1989)
47

ein komplexer Vorgang, dessen Elemente nicht getrennt voneinander existie-


ren und dementsprechend nicht gänzlich isoliert untersucht werden können.

2.4 Text
„Ein Text will, daß jemand ihm hilft zu funktionieren.“131
Beim Schreiben werden Texte produziert. In der Regel wird „Text“ als eine li-
neare und sinnvolle Verknüpfung von Sätzen definiert. Während ältere Defini-
tionen aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts die Relevanz der Verket-
tung einzelner Sätze hervorheben132, wanden sich die Autoren in den 70er
Jahren der kommunikativen Bedeutung des Textes zu.133 Der Text galt nicht
mehr nur als eine lineare, kohärente Satzreihe, sondern wurde zum sprachlich
manifesten Teil einer Äußerung im Rahmen eines Kommunikationsaktes. Die-
ser sprachlich manifeste Teil bildet jedoch immer eine Einbahnstraße im
Kommunikationsakt, da dem Weg vom Autor zum Rezipienten zunächst mehr
Relevanz beigemessen wird als dem umgekehrten Weg vom Rezipienten zum
Autor. Der Weg vom Autor zum Rezipienten wird häufig von paraliterarischen
Faktoren (Werbung, Kritik usw.) beeinflusst.
Das Verständnis des Textbegriffes hat sich, mit dem Abflauen der Kommuni-
kationseuphorie abermals gewandelt. In den 80er Jahren, im Zuge der
„pragmatischen Wende“, die einen Wandel der Linguistik von der Systemlin-
guistik hin zu einem Ansatz bezeichnet, dem Sprache als soziales Handeln zu
Grund liegt, öffneten sich die Wissenschaften. Eine engere Zusammenarbeit
zwischen Linguistik, Sprachdidaktik und Sozialforschung hatte eine Erweite-
rung des herkömmlichen Textbegriffes zur Folge. Man erkannte, dass ein Text
auch anderen Kriterien unterliegen und andere Funktionen erfüllen kann, als
im kommunikativen Ansatz berücksichtigt wurde.
Grundsätzlich gilt, dass sich sprachliche Kommunikation immer in Texten voll-
zieht, niemals in isolierten Sätzen oder Wörtern. Ein Text kann sowohl schrift-
lich als auch mündlich abgefasst sein.134 Texte werden immer absichtlich und
unter Berücksichtigung eines möglichen Rezipienten geschrieben. Gegebenen-
falls können Schreibender und Lesender ein und dieselbe Person sein, wenn
es sich beim Text beispielsweise um Tagebuchaufzeichnungen oder Notizen
handelt.
Jeder Text, nicht nur der autobiografische, ist eine persönliche, individuelle
Auseinandersetzung mit der Person oder dem Leben des Verfassers. Es drängt
sich der Verdacht auf, bei einigen zeitgenössischen Texten könne nur noch ein

131 vgl. Eco (1987)


132 vgl. Steinitz (1968)
133 vgl. Brinker (1985), Grosse (1976), Viehweger (1977)
134 Diese Arbeit berücksichtigt nur die schriftliche Form.
48

Kriterium gelten, nämlich das der Komplexität. Aber auch dieses scheint in
Frage gestellt, wenn Gesprächsfetzen, Interjektionen, stichpunktartige Noti-
zen in Satzfragmente verpackt als Text bezeichnet werden. Fraglich scheint,
inwieweit bereits solche Textfragmente als abgeschlossener Text bezeichnet
werden können. Die Antwort gestaltet sich schwierig, wenn man Textkohä-
renz, inhaltliche Verknüpfung der Konstituenten eines Textes zu einer sprach-
lichen Einheit auf textsyntaktischer, textsemantischer und testpragmatischer
Ebene als Kriterien zulässt. Demnach müsste ein Text eine sinnvoll zusam-
menhängende Folge von Sätzen sein, die miteinander verkettet sind. Es
müssten dazu zwischen den Sätzen Referenzbeziehungen bestehen, die Sätze
oder Äußerungen verbinden.135
Eine eindeutige Definition des Begriffes „Text“ scheint weder möglich noch nö-
tig. Es kann genügen, Kriterien zu Grund zu legen, die als Rahmen dienen,
wenn man eine schriftliche Einheit als vom Schreibenden als solche erdacht
und erschaffen akzeptiert. Damit hängt der Textbegriff auch von der Einschät-
zung und der Intention des Schreibenden ab. Die Helbigschen Kriterien bilden
einen Orientierungsrahmen, dessen Inhalt der Schreibende gestaltet. Der
Begriff „Text“ ist nach Helbig136 ein Komplex von Sätzen, eine kohärente Folge
von Sätzen, eine thematische Einheit, eine relativ abgeschlossene Einheit, ei-
ne Einheit mit erkennbarer kommunikativer Funktion. Der Schreibende kom-
muniziert mit dem Leser und lässt ihn durch das Medium Text an den, im Au-
genblick der Textproduktion individuellen Gegebenheiten, teilnehmen. Hierbei
bestimmt die Schreibintention die sprachlichen und stilistischen Mittel ebenso
wie die „Produktionsformen“137 Der Schreibende hat somit die Möglichkeit,
seine inhaltlichen Aussagen angemessen aufzubereiten und damit auch kon-
kret zu adressieren. Die Auswahl der Textsorte wird durch die Intention des
Schreibenden bestimmt, ebenso wie die Gestaltung des Textes.
„Textsorten sind konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche
Handlungen und lassen sich jeweils als typische Verbindungen von kontextuel-
len (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammati-
schen und thematischen) Merkmalen beschreiben. Sie haben sich ... historisch
entwickelt und gehören zum Alltagswissen.... Sie besitzen zwar eine normie-
rende Wirkung, erleichtern aber zugleich den kommunikativen Umgang, in-
dem sie den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für
die Produktion und Rezeption von Texten geben.“138

135 vgl. Götze (2000)


136 vgl. Helbig (1988)
137 Schuster (1982) a.a.O. S.109
138 Brinker (1985) a.a.O. S. 124
49

Bühler entwickelte 1934 das „Organonmodell der Sprache“.139 Er nennt drei


grundlegende Textarten: Dem ES ordnet er eine referentielle Textsorte zu,
dem DU eine appellative sowie dem ICH eine expressive Textsorte. Letztere,
die expressiven Texte, stehen im Mittelpunkt dieser Arbeit.

2.5 Schriftspracherwerb in der Primärsprache


„Die in unserer Zivilisation fast allen vertraute Fertigkeit der
schriftsprachlichen Äußerung, die sich so leicht ansieht, wenn sie
einmal automatisiert ist, stellt psycho- und neurofunktionell gesehen
dennoch die wohl komplizierteste Form aller Sprachausübung dar.“ 140
Der Erwerb der Schriftsprache wurde sehr lange Zeit als ein dem Spracher-
werb analoger Prozess verstanden und dementsprechend behandelt. Wygotski
hatte bereits in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts den Gegenbeweis
angetreten.141 Allein die Tatsache, dass Kinder142 zu Beginn des Schriftsprach-
erwerbs gewöhnlich um einiges älter sind als zum Zeitpunkt des Erwerbs
mündlicher Sprache deutet darauf hin, dass sich Schriftspracherwerb und Er-
werb mündlicher Sprache unterscheiden. Ein weiteres Indiz ist die Erwerbs-
dauer, so ist ein Kind nach etwa zwei Jahren durchaus in der Lage, sich
mündlich im Rahmen der Normsprache auszudrücken, während ein Kind nach
etwa zwei Jahren ab Beginn des Schriftspracherwerbs sich noch nicht in ver-
gleichbarem Maß schriftlich äußern kann.
Das Kind verfügt zu Beginn des Schriftspracherwerbs bereits über Wortschatz,
Syntax und grammatische Strukturen, die es in mündlicher wie auch in
schriftlicher Form verwenden kann. Die Übernahme der Kenntnisse der münd-
lichen Sprache in die Schriftsprache hat jedoch Grenzen:
„Die schriftliche Sprache ist (...) keine einfache Übersetzung der mündlichen
Sprache in Schriftzeichen, und das Erlernen der schriftlichen Sprache ist auch
nicht einfach eine Aneignung der Technik des Schreibens.“ 143
Die Schriftsprache verlangt für ihre Entwicklung in jedem Stadium einen ho-
hen Grad an Abstraktion. Das Schreiben führt das Kind aus der Welt unmittel-
barer Erfahrung in den mitteilenden Bereich der Abstraktion. Dieser Weg von
der Begegnung mit den Dingen in die Welt der durch Schrift bezeichneten

139 vgl. Bühler (1982)


140 List (1987) a.a.O. S.143
141 Wygotski (1986) a.a.O. S.224
142 Es wird hier von einem Erwerb der Schriftsprache im Kindesalter ausgegangen. In der Regel werden Kinder im
ersten Schuljahr, also mit etwa 6 Jahren in der Primärsprache alphabetisiert. Ausnahmen, wie etwa Erwachsene, die
nicht im Kindesalter in der Primärsprache alphabetisiert wurden und die Schriftsprache erst im Erwachsenenalter
erwerben, werden hier nicht berücksichtigt.
143 Wygotski (1986) a.a.O. S. 224
50

Worte, Vorstellungen und Gedanken dehnt das Bewusstsein des Kindes weit
über die unmittelbar Erfahrung hinaus aus. Der Weg zur Schrift löst das Erle-
ben aus der Verbindung mit der Realität144. Die Schriftsprache ist eine Spra-
che ohne Intonation, ohne das musische und expressive Moment der mündli-
chen Sprache. Sie ist eine Sprache „im Denken“.145 Das bedeutet, dass das
Kind nicht nur lernen muss, die Wörter zu nutzen, sondern eine Vorstellung
dieser Wörter erwerben muss. Man spricht hier vom Problem der „doppelten
Abstraktion“146: Das Kind muss Vorstellungen von den Namen der Dinge zu
Papier bringen und es fehlt der Gesprächspartner. Daraus entsteht eine völlig
andere Situation als im mündlichen Sprachgebrauch, aus der sich die Frage
ergibt: Was erzähle ich dem Papier? Zu Beginn des Schriftspracherwerbs ist
das Kind nicht motiviert, etwas aufzuschreiben, u. a. deshalb, weil es keine
Vorstellung hat, warum und für wen. Der gemeinsame Bezugsrahmen, in dem
mündlichen Kommunikation stattfindet, muss in der geschriebenen Sprache
erst aufgebaut werden. Ebenso wird die zeitliche und räumliche Koexistenz
der Gesprächspartner, die das Kind bislang in mündlicher Kommunikation er-
lebt hat, in der Schreibsituation aufgehoben. Während Gespräche sich durch
ein dynamisches System mit Fragen, Antworten, Reaktionen ergeben, auf
welche das Kind direkt reagiert, erfordert das Schreiben eine Vorstellung die-
ser Dynamik. Die Schriftsprache gleicht in vielen Punkten der „inneren Spra-
che“147 des Kindes, wiewohl sie elaborierter ist, da wir wissen, worüber wir
nachdenken, ein Leser jedoch exakt und konkret über das, was ausgesagt
werden soll, informiert werden muss, da ihm die zu Grunde liegenden Gedan-
ken und Zusammenhänge nicht bekannt sind. Alle Aussagen müssen sprach-
lich aufbereitet und hinsichtlich ihrer Verständlichkeit und ihrer Wirkung auf
den Leser hin überprüft werden.
„Der wesentliche Unterschied zwischen der Entwicklung der Sprache und der
Entwicklung der Schrift besteht nur darin, daß letztere fast von Anfang an nur
von Bewußtsein und Absicht gelenkt werden, und daher kann hier leicht ein
völlig willkürliches System von Zeichen aufkommen, wie z. B. in der Keil-
schrift, während der Prozeß, der die Sprache und ihre Elemente verändert,
fast immer unbewußt bleibt.“ 148
Die Schriftsprache ist die schwierigste und komplizierteste Form der absichtli-
chen und bewussten Sprachtätigkeit149. Die Schriftsprache muss von Grund

144 vgl. Dühnfort (1984)


145 vgl. Wygotski (1986)
146 Wygotski (1986) a.a.O. S.225
147 vgl. Piaget (1972)
148 Wundt (1911) a.a.O. S.165
149 vgl. Dehn (1987)
51

auf in der Schule erworben werden und zwar von allen Kindern,150 während
das Sprechen weitgehend in der primären Sozialisation erworben und trainiert
wird. Der Erwerb der Schriftsprache beginnt gewöhnlich zu einem Zeitpunkt,
an dem die grundlegenden psychologischen Funktionen noch nicht vollständig
entwickelt und teilweise noch nicht angelegt sind. Die Diskrepanz zwischen
Schrift und Wort wird durch die Diskrepanz zwischen dem Entwicklungsniveau
des Kindes und der abstrakten, willkürlichen und nicht bewusst gewordenen
Tätigkeit bestimmt. Das Kind benutzt bestimmte Strukturen, beherrscht diese
aber unwillkürlich und automatisch. Es ist dadurch in der Anwendung seiner
Fähigkeiten sehr begrenzt. Im (schulischen) Unterricht müssen demnach die
Bewusstmachung und das Beherrschen der Primärsprache vermittelt und da-
mit die Grundlage zum Schriftspracherwerb geschaffen werden. Daraus folgt
eine Weiterentwicklung des individuellen Sprachniveaus.
Der Schriftspracherwerb hat für die Entwicklung des Kindes weit reichende
Konsequenzen: Mit dem Schriftspracherwerb vermehren sich die Möglichkei-
ten zu einer Begegnung mit Sprache. Ein umfangreicheres und differenzierte-
res Angebot an sprachlichen Mitteln steht der Entschließung offen. Jedoch
verändert nicht nur die Erweiterung der verfügbaren sprachlichen Mittel das
Verhältnis des Kindes zu seiner Sprache, denn
„Das Erlernen der Schrift und die damit verbundene Distanzierung von Spra-
che bieten dem Heranwachsenden die Möglichkeit, ein neues, bewußtes Ver-
hältnis zur Sprache zu gewinnen und – darauf aufbauend – ein sprachliches
Verhalten anzustreben, das durch die Merkmale der Bewußtheit, der Kritik
und der Selbstverantwortung charakterisiert werden kann.“ 151

2.6 Schriftspracherwerb in einer fremden Sprache


Das Schreiben in einer fremden Sprache unterscheidet sich in vielerlei Hin-
sicht vom Schreiben in der Primärsprache. Ebenso entspricht das Schreiben-
lernen in einer fremden Sprache dem im obigen Kapitel erläuterten Schreiben-
lernen in der Primärsprache nicht in allen Punkten. In der Schreibforschung152,
die methodologisch dem Forschungsansatz der kognitiven Wissenschaft zuzu-

150 Die Formulierung „alle Kinder“ mag ebenso wie die im vorhergehenden Text auftretende Formulierung „das Kind/ein
Kind“ irritierend erscheinen, da sie Kinder, die auf Grund psychischer oder physischer Beeinträchtigungen nicht in der
Lage sind, mündliche und/oder schriftliche Sprache zu erwerben, ausschließt. Dies geschieht jedoch nicht aus
diskriminierenden Absichten, sondern da die Berücksichtigung oben genannter Fälle den Rahmen der Arbeit sowie das
erforderliche medizinische wie therapeutische Wissen der Verfasserin bei Weitem übersteigt. Eine Auseinandersetzung
des Spracherwerbs jener Kinder sollte Spezialisten überlassen bleiben, da mangelnde Fachkenntnisse nicht nur zu
Ungenauigkeiten, sondern auch zu fatalen Fehleinschätzungen führen können.
151 Weisgerber (1983) a.a.O. S.274
152 vgl. Molitor-Lübbert (1989), Feilke (1996); Schröder/Kochan (1995); Antos (1996) u. a.
52

ordnen ist, wurden verschiedene primärsprachliche Schreibmodelle153 entwi-


ckelt, deren Übertragbarkeit auf das Schreiben in einer fremden Sprache
diskutiert wird.154
Grundsätzlich gilt für jeden Schriftspracherwerb, dass sich der Lernende der
Unterschiede zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch be-
wusst werden muss.155 Er muss erfassen, welcher sprachlichen Mittel er be-
darf, um einen schriftlichen Text zu produzieren. Kinder, die in einer zweiten
oder fremden Sprache oder zweisprachig alphabetisiert156 werden, erfahren
hier eine doppelte Belastung. Sie lernen nicht nur ein neues Register kennen,
sondern sie müssen sich in gleichem Maße mit einer zweiten oder fremden
Sprache auseinandersetzen.157
Viele Untersuchungen zum Schreiben in einer fremden Sprache158 beschäfti-
gen sich mit dem Schreibprozess und den Möglichkeiten der Schreibförderung
erwachsener Lerner.159 Erwachsene Lerner haben das Wesen der Schriftspra-
che meist bereits im primärsprachlichen Unterricht im Herkunftsland erfasst
und haben eine Vorstellung von dem, was „Schreiben“ bedeutet. Sie sind es
gewohnt, sich schriftlich zu äußern und übertragen ihre Kenntnisse aus der
Primärsprache in die fremde Sprache. Sie kennen die universellen Probleme,
die im Schreibprozess auftreten. Dazu stellen sich beim Schreiben in einer
fremden Sprache Fragen, die spezifisch fremdsprachlich bedingt sind:
Orthografische, grammatische, lexikalische sowie textpragmatische Schwie-
rigkeiten müssen überwunden werden, um sich in der fremden Sprache an-
gemessen schriftlich äußern zu können. Während für Lerner im Anfangsstadi-
um Fragen, wie „Wie heißt das Wort auf Deutsch?“, „Wie schreibt man das
Wort?“, „Welchen Artikel hat das Wort?“, also lexikalische, orthografische und
grammatische Probleme bei der Textproduktion vorrangig sind, treten in fort-
geschrittenem Lernstadium textpragmatische Fragen in den Vordergrund.160
Der Lerner muss entscheiden, welche Formulierungen in einem deutschen
Text angemessen sind. Solche sprachverarbeitenden Strategien161 werden
meist in der Primärsprache erworben und direkt in die Fremdsprache übertra-
gen. Diese Strategie stellt einerseits eine Hilfe dar, kann aber andererseits zur
Falle werden, wenn in der Primärsprache erworbene Textmuster kulturgeprägt

153 vgl. Hayes/Flower (1980); Scheerer-Neumann (1996); Valtin (1993); Eisenberg/Spitta/Voigt (1994) u. a.
154 vgl. Börner (1989)
155 siehe Kapitel I. 2.5
156 siehe Kapitel II. 4
157 vgl. Pommerin (1988), Lamprecht (1993)
158 vgl. Krumm (2000); ADIEU (2001), Wolf (2001) u. a.
159 siehe Kapitel II. 5
160 vgl. Hufeisen (1998)
161 vgl. Molitor (1985)
53

und -spezifisch sind und sich Differenzen zwischen den Textmustern ergeben.
Die Lerner müssen demnach erkennen, welche Textmuster sich aus der Pri-
märsprache übertragen lassen und welche nicht. Die Entwicklung eines
„Sprachproduktionsbewusstseins“162 wird zur Voraussetzung für erfolgreiche
Textproduktion in einer fremden Sprache. Formalsprachliche Korrektheit kann
also nicht alleiniges Kriterium der erfolgreichen Textproduktion sein; erst die
Angemessenheit von Textfunktion, Textinhalt, Textstruktur und Textstil be-
wirken einen adäquaten Text.
Das Interesse der Forschung an der Textproduktion hat in den letzten Jahren
erheblich zugenommen. Faistauer weist auf die Entwicklung neuer For-
schungsmethoden hin:
„Die introspektiven Verfahren machen es möglich, die Prozeßdimension vor al-
lem bei schriftlichen Sprachverwendungstypen (Schreiben, Lesen, Übersetzen)
zu untersuchen. Im Mittelpunkt dieser Untersuchungen steht die Frage, wie
solche Prozesse mental organisiert sind, also die Frage danach, was sich wäh-
rend des Schreibens, Lesens und Übersetzens im Kopf des (fremdsprachigen)
Schreibenden abspielt.“163
Die Untersuchungen zum fremdsprachlichen Schreiben, in denen introspektive
Verfahren angewendet wurden, beziehen sich jedoch nach Faistauer auf den
Schreibprozess fortgeschrittener Fremdsprachenlerner
„Prozeßmodelle, die auf Grund von Untersuchungen mit Menschen in multikul-
turellen Gruppen aufgestellt wurden (d.h. im DaF- bzw. DaZ-Unterricht), sind
mir nicht bekannt.“164
und sind stark an primärsprachlichen Modellen orientiert.
Krumm165 unterscheidet zwei Tendenzen, die sich für das Schreiben auf fort-
geschritteneren Lernstufen abzeichnen: einerseits die Entwicklung des „funk-
tionalen Schreibens“ von der Reduzierung auf die Textsorte Brief hin zu einem
„erweiterten Spektrum funktionaler Schreibaufgaben“166. Dieses Spektrum
umfasst Aufgaben zu den Bereichen argumentierendes oder begründendes
Schreiben, präsentierendes Schreiben sowie erzählendes Schreiben. In glei-
chem Maße stellen spezifische Formen wie Protokollieren, Mitschreiben,
Notieren in der fremden Sprache für Studierende ein notwendiges Instrument
dar, das eng mit der Rezeption und Verarbeitung gehörter Sprache verbunden
ist.

162 vgl. Mohr (2000)


163 Faistauer (1997) a.a.O. S.55
164 dto. S. 62
165 vgl. Krumm (2000)
166 Krumm (2000) a.a.O. S. 8
54

Andererseits gewinnt das Kreative Schreiben auch im fremdsprachlichen Un-


terricht an Bedeutung.167
„Lernende sollen erfahren, daß sich auch in der Fremdsprache Gefühle, Fanta-
sien, eigene Gedanken gestalten lassen, und daß in der neuen Sprache auch
neue Erfahrungswelten eröffnet werden. (...) Dieses gestaltende Schreiben ist
für die Entwicklung von Motivation und Sprachgefühl, für die Überwindung
von Schreibhemmungen von besonderer Bedeutung. (...) Über das freie
Schreiben nämlich wird jene „Schreibsicherheit“ entwickelt, die dann auch für
die Produktion wissenschaftlicher Texte eine notwendige Voraussetzung ist.“168
Krumm spricht hier drei Aspekte an, die sich in gleichem Maße für jugendliche
oder erwachsene Lerner wie auch für Kinder als relevant erwiesen haben,169
deren Schreiben in der fremden Sprache nicht die Produktion wissenschaftli-
cher Texte zum Ziel hat: Eröffnung neuer Erfahrungswelten, Entwicklung von
Sprachgefühl und Motivation sowie die Erlangung einer Schreibsicherheit ste-
hen bei den Lernern im Vordergrund.
Dies gilt auch für Schreiber, die noch nicht als fortgeschritten bezeichnet wer-
den können. Bereits im Anfangsstadium können kleinere Texte geschrieben
werden, die den Lernern den Einstieg in die schriftliche Äußerung in der frem-
den Sprache bereiten. Schon in den ersten Stunden Deutschunterricht bieten
kleine Texte oder Textfragmente den Lernern die Chance, das neu Erlernte
anzuwenden und mit der fremden Sprache zu experimentieren.170 Das Ziel
des frühen Schreibens kann sicher nicht die angemessene Formulierung rele-
vanter Inhalte sein, es trägt aber zu den von Krumm angesprochenen Voraus-
setzungen für einen erfolgreichen Erwerb der Schriftsprache in der fremden
Sprache bei.
Nicht nur im Anfangsstadium besteht eine Diskrepanz zwischen dem Anspruch
der Schreiber an den eigenen Text und dem sprachlichen Vermögen. Ein häu-
fig zu beobachtendes Phänomen171 ist der stille Kampf, den Schreiber wäh-
rend der Schreibprozesse mit sich austragen. Die Entscheidung, die geplanten
Äußerungen zu vereinfachen und sie damit dem sprachlichen Können anzu-
passen oder auf sprachliche Korrektheit zu Gunsten der Äußerungsintentionen
zu verzichten, muss jeder Schreiber fällen. Zu welcher Entscheidung die
Schreiber aber auch kommen, es bleibt in den meisten Fällen das Gefühl der
Inkompetenz zurück.172

167 vgl. Mummert (1989)


168 Krumm (2000) a.a.O. S.8
169 siehe Kapitel II.
170 dto.
171 dto.
172 vgl. Ruhmann (1995)
55

3 Interkultureller Sprachunterricht
3.1 Interkulturelle Pädagogik
Die Interkulturelle Pädagogik stellt seit vielen Jahren einen festen, integrati-
ven Bestandteil der allgemeinen Pädagogik dar. Diese
„pädagogische Reaktion auf die durch Migrationsbewegungen in den letzten
Jahrzehnten pluralistisch veränderte Gesellschaft (...) wendet sich an alle
Mitglieder der Gesellschaft (...) aber zugleich sieht sie in der Förderung von
Migrantenkindern entsprechend deren Bedürfnissen eine wesentliche Aufga-
be.“173
Die Definition einer angemessenen Reaktion auf die Veränderungen in der Ge-
sellschaft, die seit den 50er Jahren stattfanden, entwickelte sich – ebenso wie
die daraus resultierenden Konsequenzen für den interkulturellen Unterricht –
analog zu Forschung und Politik. Zu Beginn der Migrationsbewegungen nach
dem II. Weltkrieg wurde die Integration der Arbeitsmigranten aus den klassi-
schen Einwanderungsländern nicht als gesellschaftliche Aufgabe gesehen. Die
„Naturmethode – lebe 20 Jahre im Land“ bewährte sich ebenso wenig wie die
defizitorientierte Ausländerpädagogik, die als ein erster Versuch der Reaktion
auf die Zuwanderung bezeichnet werden kann.
„Mit den Mitteln einer kompensatorischen „Ausländerpädagogik“ orientierte
man sich am Status quo des Bildungssystems und versuchte, „Defizite“ der
MigrantInnen und ihrer Kinder auszugleichen (...) Diese Integrationsstrategie,
die sich übrigens in dieser Phase der Ausländerpolitik auch in den meisten an-
deren westeuropäischen Ländern finden läßt, geriet in vielen Fällen zur schlei-
chenden Anpassung der Minderheiten, zur assimilatorischen Integration, in-
dem etwa ausländische Kinder und Jugendliche in der Schule sprachlich und
kulturell in die deutsche Mehrheitsgesellschaft eingebunden werden sollten.“175
Somit wurden neue Schwerpunktsetzungen in der Pädagogik erforderlich, von
denen
„(...) eine konstruktive Auseinandersetzung mit aktuellen Phänomenen, einen
innovativen Schub in Schule und Gesellschaft, der Vorurteile gegenüber den
>>Fremden<< abbauen, die Konfliktfähigkeit im Dialog zwischen den ver-
schiedenen Ethnien erhöhen sowie die gegenseitige Toleranz fördern soll.“176

173 Luchtenberg (1998) a.a.O. S.134


174 Schneider (1971)
175 Rieder (2002) a.a.O. S.1
176 Dağyeli (2002), a.a.O. S.49
56

erhofft wurden. Um dies zu erreichen, musste ein Weg gefunden werden, ei-
nen Lernprozess in Gang zu bringen, der auch die Reflexion über die eigene
Kultur, Lebensform, Geschichte und Gesellschaft beinhaltete. Interkulturelles
Lernen ist dialogisch, es erfordert demnach nicht nur Offenheit gegenüber
dem >>Fremden<<, sondern setzt das Erkennen der eigenen möglicherweise
ethnozentristischen Perspektive und die Fähigkeit, diese durch das >>Frem-
de<< in Frage stellen zu lassen, voraus. Larcher fasst die grundlegenden As-
pekte des Begriffs „Interkulturelles Lernen“ folgendermaßen zusammen:
„Interkulturelles Lernen, so läßt sich nun der gesamte Begriff vorläufig defi-
nieren, bedeutet die Bereitschaft, die Begegnung mit anderen Kulturen
fruchtbar zu machen:
• um mehr Bewußtsein über die eigene Kultur zu gewinnen,
• um die eigene Kultur, den eigenen Ethnozentrismus, zu relativieren,

um – im Zusammenhang mit Angehörigen der anderen Kultur – neue,
zukunftsweisende Entwicklungen einer kulturellen Vielfalt zu erproben,
z. B. auch Mehrsprachigkeit.“177
Das Interkulturelle Lernen war stark an der kulturellen, ethnischen Herkunft
der Menschen orientiert. Insbesondere in der Sprachdidaktik wurde versucht,
eine Brücke zwischen den Angehörigen verschiedener Kulturen zu schlagen.
Dies setzte die Existenz in sich geschlossener, klar unterscheidbarer Kulturge-
bilde voraus. Wenngleich das Interkulturelle Lernen die assimilatorische Stra-
tegie der defizitorientierten Ausländerpädagogik entschärfte, so stieß die kul-
turalistische Denkweise, die dem Interkulturellen Lernen zu Grunde lag, auf
Kritik. Radtke kritisierte, die Implementierung in den Schulen habe
„einer Kulturalisierung und Ethnisierung des professionellen erzieherischen
Denkens Vorschub geleistet, das nun die Aufmerksamkeit von strukturellen
Problemen der Organisation abzieht und auf externe, kulturelle Determinanten
lenkt.“178,
während Borrelli universalistisch argumentierte und die Vermittlung einer
„statischen und damit ahistorischen Kultur“179 ablehnte. Auch andere Kriti-
ker180 lehnten die kulturalistische und differenzierende Sichtweise ab und be-
tonten, dass die Auseinandersetzung mit der Andersartigkeit der Kulturen
Hindernisse auf dem Weg zu einem gleichberechtigten Zusammenleben in ei-
ner multikulturellen Gesellschaft darstellten. Damit begann die Interkulturelle

177 Larcher (1991), a.a.O. S.75


178 Radtke (1995) a.a.O. S. 52
179 Borrelli (1988), a.a.O. S.30
180 vgl. Pommerin (1988), Kalpaka (1993)
57

Pädagogik zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts Fragen der
strukturellen Ungleichheit in ihre Überlegungen einzubeziehen.
Erst in den letzten Jahren ist in der Pädagogik ein neues Paradigma bei der
Diskussion über kulturelle Vielfalt entstanden: die Diversitätshypothese, nach
der
„Multikulturalismus die Zugehörigkeit zu verschiedensten sozialen Identitäten
wie Ethnie, Geschlecht, Schicht, Religion, Generation usw. umfaßt und nach
der in einer „Pädagogik der Vielfalt“ kulturelle Differenzen weder negiert noch
zurückgestellt, sondern mit weiteren Varietäten auf eine Ebene gestellt wer-
den.“181
Die Auseinandersetzung um das Interkulturelle Lernen war und ist ein dyna-
mischer Prozess.182 Der Kulturbegriff, der hinter interkulturellen Konzepten
steht, muss daher immer wieder neu reflektiert und definiert werden.183 Den-
noch ist ein Konsens erkennbar, der die Notwendigkeit Interkulturellen Ler-
nens, der
„Aneignung von Dispositionen, die für das Leben in einer multikulturellen Ge-
sellschaft, sowohl für Angehörige der Mehrheitskultur als auch für Angehörige
ethnischer Minderheiten notwendig sind.“184
sowie der Einsicht, dass ein Nebeneinander in einer holografischen Gesell-
schaft keine Zukunft haben kann, in den Vordergrund stellt.

3.2 Interkulturelle Sprachdidaktik


Die Sprachdidaktik ist stark von den Konzepten Interkulturellen Lernens ge-
prägt, denn Sprachkenntnisse sind eine Komponente in der
„verwirrenden Vielfalt auf der Ebene der Kategorien, in die das jeweils umris-
sene Konstrukt der interkulturellen Handlungskompetenz zerlegt wird.“ 186,
die interkulturelle Kommunikation ermöglichen. Die Beschäftigung mit inter-
kultureller Kommunikation ist interdisziplinär. Während sich die Fremdspra-
chendidaktik auslandsorientiert mit Interkulturellem Lernen beschäftigt, steht
für die Zweitsprachendidaktik die migrationsbezogene Perspektive im Vorder-
grund. Indessen ist eine klare Trennung dieser beiden Disziplinen nicht mög-
lich. Globalisierung, Migrationswellen, bestehende multiethnische Gesellschaf-

181 Röttger (1998), a.a.O. S.3


182 vgl. Luchtenberg (1998)
183 vgl. Roth (1998)

185 Müller-Jacquier (1994) a.a.O. S.3


186 Hinz-Rommel (1994) a.a.O. S.58
187 vgl. Vollmer (1995), Felberbauer (1991), Buttjes (1991) u.v.a.
58

ten lassen die Grenzen zwischen Fremd-, Zweit- und sogar Erstspracherwerb
fließen. Das Forschungsfeld der vorliegenden Arbeit „interkultureller Deutsch-
unterricht“ schränkt die Auseinandersetzung auf den Erwerb der Zielsprache
Deutsch in einer Unterrichtssituation im Zielland ein. Dieser Rahmen umfasst
durchaus unterschiedliche Erwerbskontexte, wenngleich das Hauptaugenmerk
auf den Zweitspracherwerb gerichtet ist. Gerade hat die Diskussion um ein
Zuwanderungsgesetz, das auf der Grundlage des Berichts der unabhängigen
Kommission „Zuwanderung“188 entwickelt wurde, den Diskurs des Zusam-
menhangs zwischen Spracherwerb und Integration erneut belebt.189 Aber
auch die europäische Zukunft und die Globalisierung stellen Ansprüche an die
Sprachdidaktik. Eine mehrsprachige Gesellschaft erfordert sowohl die Beherr-
schung der Primärsprachen, der Lingua franca als auch Kenntnisse in Nach-
barsprachen, Weltsprachen sowie Exklusivsprachen.190

3.3 Interkultureller Deutschunterricht


Die These, Sprachkenntnisse seien ein Baustein und nicht etwa das Funda-
ment des gleichberechtigten Zusammenlebens in einer Gesellschaft, ist ver-
gleichsweise jung. Zu Beginn der Auseinandersetzung um eine „Ausländerpä-
dagogik“ ging man davon aus, Migranten und deren Kinder wiesen Defizite
auf, die durch einen kompensatorischen Sprachunterricht in der Zielsprache
Deutsch behoben werden könnten. Der Erwerb der deutschen Sprache wurde
nicht als Teil des Integrationsprozesses angesehen, sondern als dessen Vor-
aussetzung. Diese Sichtweise führt dazu, dass Probleme, die in einer Einwan-
derungsgesellschaft auftreten, vereinfachend auf die sprachlichen Defizite der
Migranten in der Zielsprache Deutsch zurückgeführt werden. Brosig weist auf
einen gesellschaftlichen Konsens hin, der ihrer Darstellung nach in Politik,
Wirtschaft, Medien, Schulen, Universitäten, aber auch an Stammtischen zu
finden ist:
„Diese Auffassung heißt:
Wer nicht Deutsch spricht, kann nicht sprechen. (So wird vom „Spracherwerb
gesprochen, wenn eigentlich das Deutschlernen gemeint ist. So sprechen alle
von „Sprachdefiziten“ wenn sie meinen, das Niveau der Deutschkenntnisse
reiche für bestimmte Handlungskompetenzen nicht aus.)
Alle Einwanderersprachen sind wertlos (teilweise ausgenommen hiervon ist
Englisch).

188 vgl. Bericht der unabhängigen Kommission “Zuwanderung”: Zuwanderung gestalten – Integration fördern” (2001)
189 vgl. Maas/Mehlem (2002)
190 vgl. Schmitt (1998)
59

Die Benutzung der Erstsprache hindert die Menschen daran, Deutsch zu ler-
nen.“191
und kritisiert:
Diese gesellschaftliche Auffassung ist nicht nur falsch, sondern auch rassis-
tisch.“192
Auch die überdurchschnittliche hohe Zahl der Jugendlichen mit Migrationshin-
tergrund, die ihre Schulzeit ohne Abschluss beenden193, und die daraus resul-
tierende hohe Jugendarbeitslosigkeit werden mit sprachlichen Defiziten er-
klärt.
„Das fremdsprachige Kind ist, generalisiert gesehen, lediglich ein potentieller
Hauptschüler. Zweisprachigkeit wird allgemein nicht als intelligenzfördernder
Faktor gesehen und genutzt (...), sondern als zu negierender Störfaktor über-
sehen.“194
Dies führt zu einer paradoxen Situation: Auf der einen Seite werden die
sprachlichen Kompetenzen der Bi- oder Multilingualen nicht anerkannt, wenn
ihre Sprachkompetenz im Deutschen nicht ein sehr hohes Niveau erreicht, auf
der anderen Seite wird Mehrsprachigkeit als wichtige Kompetenz in der „Einen
Welt“195 vorausgesetzt. Mass und Mehlem unterscheiden „virtuelle Mehrspra-
chigkeit“ von „funktionaler Mehrsprachigkeit“:
„Bei der Analyse von Mehrsprachigkeit sind die gesellschaftlichen und die indi-
viduellen Bezüge zu trennen. In Bezug auf letztere ist ein weiteres hemmen-
des Element in die Konzeptualisierung eine Vorstellung von Mehrsprachigkeit,
wie sie in der Bildungsschicht – gebunden an ein bestimmtes Ideal der höhe-
ren Schule – fest ist. Dieses Bild spiegelt gewissermaßen die einsprachige
Vorstellung wieder, indem es die in der einen Sprache differenzierten Register
im mehrsprachigen Individuum gewissermaßen verdoppelt (vervielfältigt).
Dem entspricht der Idealtypus des Übersetzers, der in mehreren Sprachen zu
Hause ist, und in diesen dann auch entsprechend virtuos über alle Register
verfügt (...). Dieses Modell der virtuosen Mehrsprachigkeit ist aber strikt zu
unterscheiden von dem einer funktional differenzierten Mehrsprachigkeit, bei
der die verschiedenen Sprachen funktional auf verschiedenen Registerebenen
verankert sind und insofern nicht miteinander konkurrieren. In diesem Sinne

191 Brosig (2002) a.a.O. S.27


192 Brosig (2002) a.a.O. S.27
193 Bericht der unabhängigen Kommission “Zuwanderung” (2001) a.a.O. S. 215
194 Schmitt (1998) a.a.O. S. 37
195 dto. S.37
60

sind die meisten Menschen außerhalb der modernen Industriestaaten mehr-


sprachig.“ 196
Es stellt sich die Frage, welche Forderungen sich daraus an den interkulturel-
len Deutschunterricht ergeben. Maas und Mehlem kommen zu dem Schluss,
dass eine funktionale Mehrsprachigkeit anzustreben sei, wobei sie großen
Wert auf den Erwerb der Schriftsprache als besonderes Register legen. Das
Ziel, den Lernenden eine funktionale Mehrsprachigkeit sowie eine hohe Kom-
petenz im schriftsprachlichen Bereich zu vermitteln, kann im interkulturellen
Unterricht jedoch nicht nur für Lernende mit Migrationshintergrund gelten.
Der Einbezug verschiedener Sprachen führt zu einem Bewusstwerden der ei-
genen Primärsprache und damit zu deren Verständnis.
Für den interkulturellen Deutschunterricht ergeben sich folgende Prämissen,
die auf die schulische Realität Bezug nehmen: Die Begriffe Primärsprache und
Deutsch sind nicht mehr kongruent. Die Unterrichtenden müssen dementspre-
chend über zweit- oder fremdsprachendidaktische Kompetenzen verfügen. Die
Schüler stellen keine homogene Gruppe dar, sondern verfügen zum Teil über
sprachliches und kulturelles Wissen, das nicht ignoriert werden darf, und auch
Lernern, für die Deutsch Primärsprache ist, erreichbar werden muss.
Luchtenberg formuliert für den Deutschunterricht die „Notwendigkeit einer
ständigen Hinterfragung des Unterrichts in Bezug auf ein interkulturelles Prin-
zip“199 auch in Hinsicht auf Unterrichtseinheiten, Lernschritte, Lehr- und
Lernmaterial und Lehrpläne. Es müssen lt. Luchtenberg Formen des Deutsch-
unterrichts gefunden werden, die ein Lernen miteinander unter Berücksichti-
gung der individuellen Stärken und Schwächen fördern. Als Beispiel hierfür
steht der erfahrungsentfaltende Deutschunterricht, den Hegele und Pommerin
bereits 1983 beschrieben.200 Grundsätzlich besteht die Forderung nach dem
Einbezug aller sprachlichen Kompetenzen der Lernenden sowie der damit
verwobenen soziokulturellen und pragmatischen Kenntnisse und die Akzep-
tanz der Lehrenden. Ein interkultureller Deutschunterricht, der unter den oben
genannten Voraussetzungen und mit den genannten Zielsetzungen stattfindet,
bedarf dementsprechend ausgerichteter didaktischer Konzepte.

196 Maas/Mehlem (2002) a.a.O. S. 8


197 vgl. Schader (1998)
198 Schader (1998) a.a.O. S. 185
199 Luchtenberg (1998) a.a.O. S. 135
200 Hegele/Pommerin (1983) a.a.O.
61

3.4 Mehrsprachigkeit, Sprachaufmerksamkeit,


Sprachbewusstsein
Ein viel diskutiertes Konzept für die Mehrsprachigkeitserziehung ist das Lan-
guage-Awareness-Konzept. Im Mittelpunkt stehen die Wahrnehmung und die
Akzeptanz von Mehrsprachigkeit, von Sprachmanipulation und der Sprachver-
gleich.201 Das Wahrnehmen von Mehrsprachigkeit, das Aufmerksamwerden,
die Reflexion und die daraus resultierende Entwicklung eines Sprachbewusst-
seins wirken als „interkulturelle Anstöße in den Sprachunterricht“.202 Langua-
ge Awareness ist nicht auf den Sprachunterricht beschränkt, wenngleich dort
sein Schwerpunkt zu suchen ist. Luchtenberg nennt folgende Ziele des Langu-
age-Awareness-Konzepts:
„ Neugierde auf und Interesse an Sprache(n) wecken, Sprachanalyse (auch
von Sprachgebrauch) anregen, Metasprachliche Kommunikation initiieren,
Sprachhandeln in soziokulturellen Kontexten bewußter machen, Aktive Akzep-
tanz sprachlicher und innersprachlicher Vielfalt herstellen, Sprachmanipulation
und –mißbrauch durchschauen lernen.“203
Language-Awareness kann mit einer Folie verglichen werden, die über den
methodischen und didaktischen Überlegungen zu einem interkulturellen
Deutschunterricht oder nach Oomen-Welke einem “vielsprachigen Deutsch-
unterricht”205 gelegt wird. Themenwahl, methodische Überlegungen und die
Durchführung werden an den Zielsetzungen des Konzepts ausgerichtet. So
kann die Steigerung von Adjektiven im Deutschen unter kontrastiven Ge-
sichtspunkten erarbeitet werden, indem auf Schulsprachen wie etwa Englisch
oder auf in der Gruppe vorhandene Sprachen zurückgegriffen wird. Gebrauch
und Geschichte der Sprachen können am Beispiel der Vornamen erfahren
werden,206 unterschiedliches Rollenverhalten kann durch eine Beobachtung
geschlechtsspezifischer Gesprächsführung bewusst gemacht werden. Diese
wenigen Beispiele zeigen bereits, dass Language-Awareness auf vielfältigen
vergleichenden Methoden basiert, die sich
“(...) mit der Vermittlung von Mehrperspektivität und der Anleitung zum Per-
spektivenwechsel im interkulturellem Lernen in Verbindung bringen (...)207

201 vgl. Luchtenberg (1998)


202 Oomen-Welke (1998) a.a.O. S.44
203 Luchtenberg (1998) a.a.O. S.140
204 Luchtenberg (1998) a.a.O. S.140
205 Oomen-Welke (2001)
206 Oomen-Welke (2000)
207 Luchtenberg (1998) a.a.O. S.149
62

lassen. Language-Awareness ist nach Luchtenberg weder Sprachhandeln,


noch Sprachüben noch bilinguale Erziehung, sondern “eine sprachbildende Er-
gänzung”208, die zur Verstärkung des Interkulturellen Lernens, der Erweite-
rung der metakommunikativen Kompetenzen, der Erfahrung von Sprache in
sozialen, kulturellen und historischen Konzepten sowie der Erfahrung von
Sprache als Konzept führt. Hierbei gewinnt die Binnenperspektive interkultu-
reller Bildung an Bedeutung,
“die in erster Linie auf Lebenssituationen unter Einschluß sprachlicher Kom-
munikationen in der Bundesrepublik ausgerichtet ist.”209
Luchtenberg schließt mit einem Fazit, das besagt,
“daß Language Awareness ein wichtiger Ansatz zur Unterstützung interkultu-
reller sprachlicher Bildung im Sinne eines holistischen Sprachzugang ist und
damit auch einen Beitrag zur Mehrsprachigkeitserziehung leistet. Dieser Bei-
trag liegt jedoch nicht in Lehren oder Lernen von Sprache selbst, sondern im
Bewußtmachen der sprachlichen Vielfalt im Makro- wie Mikrobereich.”210
Während der Unterrichtsversuche, die im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit
dokumentiert sind, wurde immer wieder deutlich, welch wertvollen und unver-
zichtbaren Beitrag die Mehrsprachigkeit der einzelnen Lerner sowie der Grup-
pe für einen vielsprachigen oder interkulturellen Deutschunterricht leistet.
Wenn einzelne Lerner immer wieder vergleichend auf ihre Primärsprache oder
eine bereits erworbene Zweit- oder Fremdsprache zurückgreifen, so bedarf es
erhöhter Aufmerksamkeit, diese Rückgriffe zu entdecken, um sie daraufhin
thematisieren zu können. Der aktive Einbezug des Potentials, das die Lerner
mit in den Unterricht bringen, motiviert, aufmerksamer und sensibler mit dem
Konzept Sprache umzugehen und die sprachlichen Kompetenzen, die Lerner in
den Unterricht mitbringen, einzusetzen. So ist Lernern mit Migrationshin-
tergrund häufig nicht bewusst, dass sie mit ihren sprachlichen Kompetenzen
in der Primärsprache oder in bereits erworbenen Sprachen bereits über ein
Konzept verfügen, dass beim Erwerb der deutschen Sprache hilfreich sein
kann. Das Bereiten eines Feldes, auf dem sich der Austausch der Lerner über
Sprache, Sprachgebrauch und Spracherwerb entwickeln kann, der zur Ent-
wicklung eines Sprachbewusstseins führt, ist ein lohnender Schritt, von dem
alle Beteiligten – nicht zuletzt der Unterrichtende – profitieren. Die Akzeptanz
der Mehrsprachigkeit führt auch zu überraschenden Erkenntnissen und zu an-
geregten metasprachlichen Diskussionen. So stellte ein irischer Musiker im-
mer wieder Ähnlichkeiten zwischen dem Deutschen und dem Englisch Sha-
kespeares fest. Ein belgischer Student diskutierte mit einer französischen Fo-

208 dto. a.a.O. S.152


209 Luchtenberg (1998) a.a.O. S.152
210 dto. S.152
63

tografin über die “bessere” Art die Zahl 80 auf Französisch auszudrücken
(quatre-vingt oder novente) und animierte damit die gesamte Gruppe die un-
terschiedlichen Zahlensysteme zu thematisieren. Eine Schülerin aus Hongkong
löste unbeabsichtigt mit einem Referat über das chinesische Horoskop ein re-
ges Gespräch über Monatsnamen in den verschiedenen Sprachen aus und der
Vorschlag der Lehrerin, alle sollten sich duzen, führte zu einer Diskussion über
Respekt und Achtung in verschiedenen Kulturen und deren sprachlicher Mani-
festation.

4 Schreibunterricht
Schreiben ist Kulturtechnik und damit fester Bestandteil der abendländischen
Bildung. Schulische wie auch außerschulische Bildungsinstitutionen bieten
Schreibunterricht an, der je nach Zielsetzungen, Organisation und Zielgruppe
unterschiedlich konzipiert ist. Im empirischen Teil dieser Arbeit wurden Unter-
richtsversuche in schulischen und außerschulischen Institutionen durchge-
führt. Die Besonderheiten, die sich aus den jeweiligen Rahmenbedingungen
ergeben, werden im Folgenden dargestellt.

4.1 Schreiben in der Schule


Schreibunterricht in der Schule wird traditionell in drei Bereiche unterteilt. Or-
thografie-, Grammatik- und Aufsatzunterricht werden getrennt voneinander
konzipiert und annähernd zusammenhangslos unterrichtet. Das Schreiben
stellt so keine Einheit dar, sondern einen Komplex aus Schreibaufgaben in
Lehr- und Arbeitsbüchern, Diktaten, Abschreibübungen, Grammatikübungen,
Nacherzählungen und Aufsatz. Um das Schreiben im interkulturellen Deutsch-
unterricht zu beleuchten, lohnt sich ein Blick auf die Entwicklung der Aufsatz-
didaktik im primärsprachlichen Deutschunterricht.
Der Aufsatz galt und gilt als die Krone des primärsprachlichen Schreibunter-
richts. In dieser Funktion unterlag er in der Vergangenheit ebenso vielen
Wandlungen, wie er auch immer wieder Gegenstand heftig geführter Debatten
der Didaktiker war. Im 18. und 19. Jahrhundert bestand der Aufsatzunterricht
aus der Anwendung erlernter Regeln, an einer inhaltlichen Auseinanderset-
zung des Schreibers mit sich und seiner Lebensumwelt war man sehr wenig
interessiert. Im Vordergrund des Aufsatzunterrichts standen Erörterungen
vorgegebener Lebensweisheiten, die Klärung bestimmter Begriffe und die Be-
schäftigung mit Themen aus den Bereichen Sachkunde, Moral, Vaterland. Die-
se Auseinandersetzung geschah im Rahmen strenger Vorgaben hinsichtlich
der Form des Aufsatzes. Heute spricht man rückblickend wohl treffender von
einem Dressurergebnis, denn von einer kreativen Leistung, betrachtet man
die Ergebnisse dieser Aufsatzdidaktik. Ende des 19. Jahrhunderts begann sich
eine Reform abzuzeichnen. So erschien 1867 „Vom deutschen Sprachunter-
richt in den Schulen. Von deutscher Erziehung und Bildung überhaupt“ von
64

Hildebrand, der bereits eine deutliche Abkehr vom gebundenen Aufsatz des
18. und 19. Jahrhunderts erkennen ließ.
„Die Schüler denken und fühlen, aber bei allem, das sie gelehrt bekommen,
etwas Eigenes in sich, und in diesen stillen Gefühlen und Gedanken, die neben
denen des Lehrers heimlich nebenher laufen, sitzt das Ich des Schülers. Am
besten gelingen denn auch solche Arbeiten (...), in denen man die Schüler
etwas erzählen und frei gestalten läßt, was sie selbst erlebt und erfahren ha-
ben.“ 211
Im Zuge der Reformpädagogik und der Kunsterziehungspädagogik wurde der
Schreibunterricht radikalen Veränderungen unterzogen212. Inhaltlich wandte
man sich der Schilderung persönlicher Erlebnisse und Fantasieerzählungen zu.
Die strengen Vorgaben zu Form und Stil wichen einer künstlerischen Anleitung
und die Unterweisung einer Beratung durch den Lehrer. Die Schüler wurden
als kleine Künstler betrachtet und zu einer dichterischen Sprache ermuntert.
Der Unterricht wurde schülerorientiert gestaltet und gab viel Raum zur freien
Entfaltung. Die Schüler wurden nicht mehr gemäß eines überholten Verständ-
nisses von Kindheit als kleine Erwachsene eingestuft, sondern ihrem Alter
entsprechend behandelt. Ihr Kindsein wurde anerkannt. Die Reform betraf
nicht nur die Textproduktion, sondern auch den Umgang mit den im Unter-
richt geschriebenen Texten. Während ein gebundener Aufsatz vom Lehrer
nach orthografischen, grammatikalischen und stilistischen Kriterien bewertet
worden war, legte man Anfang des letzten Jahrhunderts verstärkt Wert auf
Urteile und Bewertungen von Seiten der (Mit-) Schüler sowie auf Überarbei-
tungsphasen. Der freie Aufsatz wurde zum Unterrichtsgegenstand. Die drei
bislang getrennt bestehenden Elemente, Orthografie, Grammatik und Aufsatz
rückten einander näher.213
Zu Beginn der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts zeichnete sich erneut ein
Wandel ab. Die Tendenz ging weg vom fantasievollen, poetischen und freien
Aufsatz hin zu einer Schulung zweckgerichteter und sachlicher Ausdruckswei-
se. Der sprachschaffende und sprachgestaltende Aufsatz214 hielt Einzug in den
Deutschunterricht. Diese Aufsatzform bildet eine Mischung aus freien und ge-
bundenen Formen. Der Textproduktion gingen die Einübung von Stilformen
und Textsorten voraus, die dann im Aufsatz angewendet werden sollten. Da-
mit konnte ein Lernzuwachs, nämlich die korrekte Anwendung des vorher Er-
lernten im Text, quantitativ gemessen und damit vergleichsweise objektiv be-

211 Hildebrand (1867) a.a.O. S.37


212 vgl. Scharrelmann (1907), Gansberg (1914) u.a.
213 Sennlaub hat sich mit den Ideen der Reformpädagogen auseinandergesetzt und daraus ein Unterrichtsmodell
entwickelt, das veranschaulicht, wie aktuell und modern die Reformer (wieder) sind. vgl. Sennlaub (1990)
214 vgl. Schneider (1926), Seidemann (1927)
65

wertet werden. Sprachgestaltung und Darstellungsform wurden systematisch


gelehrt und wurden dadurch zu messbaren Faktoren. Jedoch fiel die Bewer-
tung, im Gegensatz zum reformpädagogischen Ansatz, wieder der Lehrkraft
zu. Das Publikum, das im reformpädagogischen Ansatz eine wichtige Rolle ge-
spielt hatte, verlor an Bedeutung, die Texte damit Adressaten. Die Aufsätze
wurden in erster Linie zur Bewertung geschrieben, und die Frage „Für wen
schreibe ich?“ trat wieder in den Vordergrund. Das Ziel dieses Aufsatzunter-
richts war, den Schreiber vom subjektbezogenen Erzählen hin zum Verfassen
objektiver Berichte oder Beschreibungen zu führen, um am Ende beide For-
men in der Erörterung zu vereinen. Die Form des sprachschaffenden und
sprachgestaltenden Aufsatzes findet sich bis heute. Wohl nicht zuletzt auf
Grund ihrer vermeintlichen quantitativen Messbarkeit und der Aussicht auf ei-
ne gerechte, objektive Bewertung.215
Der Aufsatzunterricht unterlag immer dem Wandel des Zeitgeistes. In den
70er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Schwerpunkt auf den kommuni-
kativ ausgerichteten Aufsatz gelegt. In den Aufsatzunterricht zogen Begriffe
wie Sender, Empfänger und kommunikative Kompetenz ein. Die Sprache wur-
de auf ein Medium zwischenmenschlicher Verständigung reduziert. Der Sinn
des Schreibens wurde in seiner praktischen Anwendung in kommunikativen
Situationen gesehen. Der Aufsatz musste demnach weitgehend durch Schrei-
ben in Realsituationen ersetzt werden. Diese Forderung erwies sich recht bald
als unrealistisch, da nicht ausreichend viele Realsituationen gefunden werden
konnten. Die Simulation trat an ihre Stelle. Textadressaten waren meist fikti-
ve Personen oder Institutionen, die Schreibanlässe simuliert.216 Die Fähigkeit
schriftlich zu kommunizieren trat absolut in den Vordergrund, während die
Wahl der Textsorte sowie stilistische Kriterien an Relevanz verloren. Das
Schreiben erfuhr eine Abwertung im Unterricht, wogegen das Einüben von
Gesprächssituationen und die Bewältigung kommunikativer Grundbedürfnisse
aufgewertet wurden. Oft wurde argumentiert, der zeitaufwendige Prozess des
Schreibenlernens behindere den raschen Erwerb einer genügenden Kommuni-
kationsfähigkeit.217
Im Gegensatz zum kommunikationsorientierten Schreiben steht der heuristi-
sche Ansatz, der die Sprache als ein Medium der Erkenntnis definiert. Dieser
Ansatz löste den kommunikativ ausgerichteten Aufsatzunterricht ab, das
kommunikative Schreiben trat in den Hintergrund und die Selbstverwirkli-

215 vgl. Beck (1990), Hermann (1974)


216 Es lassen sich zwei kontroverse Ansätze erkennen, zum einen Böttcher (1973), der forderte, sich im Unterricht auf
reale Schreibanlässe zu beschränken und zum anderen hießen Haueis (1971) und Hoppe (1974) den Einzug fiktiver und
simulierter Personen und Situationen in den Aufsatzunterricht gut.
217 siehe Kapitel I. 2.6.1
66

chung des Schreibers nahm die primäre Position im Aufsatzunterricht ein.218


Das Schreiben wurde als Medium zur Selbstreflexion eingeführt und im Unter-
richt gefördert. Die Schüler schrieben nicht, um kommunikativ zu handeln,
sondern um sich und ihre Wirklichkeit zu reflektieren. Die Schüler sollten die
Chance erkennen, die sie aus ihrem eigenen Produkt ziehen können. Der heu-
ristische Ansatz kann als Wegbereiter des Kreativen Schreibens gesehen wer-
den.219
„Die Einsicht ist gewachsen, dass mit realitätsfernen, nicht selten sehr einsei-
tigen Forderungen weder der Sache noch dem Schüler, (...) oder dem Lehrer
gedient ist, schon gar nicht, wenn es bei bloßen Kritiken u. Forderungen
bleibt. Insbesondere scheint sich die Auffassung durchgesetzt zu haben, dass
nur Themen und Wachsenlassen, hier: sachbezogenes, kreatives, gebundenes
und freies, planvoll vorbereitetes und spontan erfolgendes Schreiben allein im
jeweiligen Verbund miteinander einen sach-, situations-, damit auch kindge-
mäßen und u.E. letztlich einzig vertretbaren Weg darstellen.“ 220
Im Folgenden sollen weitere Ansätze Erwähnung finden, die Bewegung in die
Diskussion um die Aufsatzdidaktik gebracht haben. Diese Ansätze stehen vor
dem Hintergrund der kognitiven Wende221, die dem Modell des Behaviorismus
einen anderen Lernbegriff entgegen gestellt hat:
„Neuer Lerninhalt existiert nicht als Information, die es zu übermitteln gilt,
sondern es gibt lediglich Information, die an vorhandenes Wissen assimiliert
werden kann.“222
Dieser Lernbegriff bedeutet Verstehen, was dazu führte, dass sich der Blick
vom Produkt hin zum Prozess richtete. Bisweilen schien der Text als Produkt
geradezu aus dem Blickfeld zu geraten, was u. a. von Feilke/Augst223 m. E. zu
Recht kritisiert wurde. Dennoch hat die kognitive Wende dazu geführt, dass
der Schriftspracherwerb nicht länger als Vorgang des Einprägens gesehen
wird, sondern als aktiver Vorgang des Entdeckens und Regelbildens.224 Unter
dieser Prämisse lassen sich einige neuere Ansätze subsumieren:
Das expressive Schreiben wurde aus dem freien Aufsatz der Reformpädago-
gen entwickelt.225 Der Schwerpunkt des expressiven Schreibens liegt im

218 vgl. Ingendahl (1972)


219 siehe Kapitel I. 3
220 Beck (1990) a.a.O. S.XI; vgl. hierzu auch Fritzsche (1983), Schober (1988)
221 vgl. Scheerer-Neumann (1996); Lorenz (1994), Feilke (1996), Antos (1996), Schröder/Kochan (1995)
222 Lorenz (1994) a.a.O. S.23
223 vgl. Feilke/Augst (1989)
224 vgl. Kochan (1996)
225 vgl. Ludwig (1998)
67

„Nachaußenbringen innerer Zustände“226, das hier als Expression bezeichnet


wird. Das persönliche Schreiben - eng mit dem expressiven Schreiben ver-
wandt - dient der Persönlichkeitsbildung und stellt den Schreiber als individu-
elle Person in den Mittelpunkt. Diesen beiden Ansätzen, dem expressiven und
dem persönlichen Schreiben, steht das Kreative Schreiben nahe, das von kre-
ativer Produktivität bestimmt ist.
Einen weiteren Ansatz, der in den USA entwickelt wurde, stellt das soziale
Schreiben227 dar. Hier steht das Schreiben als prinzipiell soziale Tätigkeit im
Vordergrund. Die Vorstellung eines isoliert handelnden Individuums tritt dem-
gegenüber zurück. Bereits der Rollenwechsel, den ein Schreiber vollzieht,
wenn er seinen Text überarbeitet, sowie die Annahme, dass jeder Text eine
Reaktion auf andere Texte ist, lässt Schreiben zur sozialen Tätigkeit werden.
Schreiben steht immer in einer bestimmten Tradition und ist Teil einer kultu-
rellen Praxis und erhält daher eine andere Qualität. Der Ansatz des sozialen
Schreibens wird in der aktuellen Diskussion breiten Raum einnehmen,228 e-
benso wie das prozessorientierte Schreiben. Der Ansatz des prozessorientier-
ten Schreibens steht nicht neben den bislang erwähnten Ansätzen, sondern ist
mit ihnen verknüpfbar. So schlägt Ludwig229 vor, soziales und prozessorien-
tiertes Schreiben zu verbinden und damit
„eine neue Dynamik in die Schreibforschung als auch in die Schreibdidaktik zu
bringen.“230
Zu Beginn dieses Kapitels wurde der Aufsatz als Krone des Deutschunterrichts
bezeichnet. Jedoch stellt nicht allein die Textproduktion eine komplexe und
schwierige Aufgabe dar, auch die Beurteilung und Bewertung der entstande-
nen Produkte werden sehr kontrovers diskutiert. Im obigen Kapitel wurden,
neben Tendenzen der Aufsatzdidaktik, auch einzelne Beurteilungs- und Be-
wertungstendenzen angesprochen: vom quantifizierbaren Aufsatzmodell hin
zum freien Aufsatz, der eine qualitative Beurteilung durch die Gruppe erfährt.
Verfolgt man die Entwicklungen, denen der Aufsatzunterricht in der Vergan-
genheit unterlag, so kann man eine Wellenbewegung feststellen, deren Ur-
sprung im Bewertungsproblem liegt. Das Problem einer fairen, angemessenen
und gerechten Beurteilung freier Aufsatzformen hat immer wieder zur Rück-
kehr zu einer gebundenen Aufsatzform geführt. Das Bedürfnis nach objekti-
ver, quantitativer Bewertung scheint mit Zielen wie Kreativitätsförderung, An-
regung zur Selbstreflexion, künstlerische Betätigung nicht vereinbar. Dieses

226 Ludwig (1998) a.a.O. S.5


227 dto.
228 vgl. Ludwig (1998)
229 vgl. Ludwig (1998)
230 Ludwig (1998) a.a. O. S. 7
68

Dilemma hat auch heute nichts von seiner Brisanz verloren. Die Beurteilung
eines freien, kreativen, poetischen Texts stellt den Lehrer vor große Probleme,
was oftmals eine Abkehr von diesen Aufsatzformen auslöst.

4.2 Schreiben in außerschulischen Einrichtungen


Das Schreiben in den außerschulischen Bildungsinstitutionen wird kontrovers
diskutiert; Zeitpunkt, Methodik, Lernziele des Schreibunterrichts sind äußerst
umstritten. In der Schule ist zumindest der Zeitpunkt der Alphabetisierung
und des Schriftspracherwerbs konkret festgelegt. Die Schüler werden in der 1.
Regelklasse in der Zielsprache Deutsch alphabetisiert, im weiteren Verlauf
wird das Schreiben in konzentrischen Kreisen unterrichtet. Jede Klassenstufe
hat durch das Curriculum exakt definierte Lernziele als Vorgabe, die den
Schriftspracherwerb leiten. Im schulischen Bereich ist der Hauptdiskussions-
punkt, wie die Schüler zu einem gesicherten und automatisierten Umgang mit
der Schriftsprache angeleitet werden können. In diesem Bereich werden ü-
berwiegend Methoden und Verfahren und deren Eignung diskutiert.
In außerschulischen Einrichtungen231, die nicht dem amtlichen Lehrplan ver-
pflichtet sind, bleibt auch die Frage nach dem Zeitpunkt und den Zielen des
Schreibunterrichts in der zweiten oder einen fremden Sprache umstritten.
Auch der Stellenwert des Erwerbs der fremden Schriftsprache wird im außer-
schulischen Bereich unterschiedlich eingestuft. Die Diskussion um den Schrift-
spracherwerb in Zweit- und Fremdsprache wurde durch vermehrte Forschung
im Bereich der geschriebenen Sprache in Gang gehalten und beeinflusst. Auch
neue Ergebnisse aus der Lernpsychologie und daraus entwickelte Modelle zur
gezielten Schreibförderung232 fanden Eingang in die Diskussion und sorgten
für deren Fortsetzung. Dies soll im Folgenden an zwei Beispielen erläutert
werden, die für die vorliegende Arbeit relevant sind: Erwachsenenbildung an
der Volkshochschule und Förderkurse für Jugendliche ohne Schulabschluss.
Laut einer Entschließung des Präsidiums des deutschen Städtetages233 gehört
zum Aufgabenbereich einer Volkshochschule das Angebot von Deutschkursen
für Ausländer sowie deren Beratung in rechtlichen und wirtschaftlichen Fragen
und Information über das öffentliche Leben in der Bundesrepublik Deutsch-
land. Die Deutschkurse für Ausländer sind mittlerweile zu einem festen Be-
standteil des Angebotes der Volkshochschulen in städtischer Umgebung ge-
worden. Volkshochschulen sind überwiegend kommunale Einrichtungen und
dem Deutschen Volkshochschulverband angegliedert. Nach eignen Angaben

231 Im Rahmen dieser Arbeit wurden Untersuchungen in Schreibgruppen durchgeführt, die in einer außerschulischen
Weiterbildungsmaßnahme für Jugendliche bzw. in Intensivkursen an einer Volkshochschule im Fachbereich
Bildungsarbeit mit Ausländern stattfanden.
232 vgl. Scheerer-Neumann (1996); Lorenz (1994), Feilke (1996), Antos (1996), Schröder/Kochan (1995)
233 vgl. Entschließung des Deutschen Städtetages (1976)
69

decken die Sprachkurse in den Großstädten mehr als 40 % des Gesamtange-


botes – an Unterrichtseinheiten wie an Belegungen – ab.234 Die Dozenten ar-
beiten an annähernd jeder Volkshochschule in Deutschland auf Honorarbasis,
während die jeweiligen Fachbereichsleiter Angestellte im öffentlichen Dienst
sind. Die Forderung des Deutschen Städtetags
„..., dass ihre Arbeit durch die Offenheit gegenüber Themen, Teilnehmern und
Dozenten gekennzeichnet ist.“ 235
wird sehr ernst genommen. Die Volkshochschulen sind berechtigt bzw. ver-
pflichtet, ihre Lehrpläne und Zielsetzungen selbst aufzustellen, wobei zur Si-
cherung des Programms und einer bedarfsgerechten Planung und Durchfüh-
rung von Lehrveranstaltungen eine Abstimmung mit dem kommunalen Träger
und den Landesverbänden erforderlich ist. Diese Abstimmung kann durch
Mitwirkungsgremien, bestehend aus Hörern oder Dozenten, optimiert wer-
den.236 Aus diesen Richtlinien ergibt es sich, dass in der Bundesrepublik
Deutschland keine einheitliche Regelung vorliegt, bezüglich der Zielsetzungen
und der daraus resultierenden Lehrpläne im Bereich Deutsch als Zweit- oder
Fremdsprache. Gilt für den Fremdsprachenunterricht, dass mit der fremden
Sprache auch Bildungsgut erworben wird, d. h. die Fremdsprache dient als
Schlüssel zum Kulturverständnis, so rückt beim Erwerb einer Zweitsprache237
die Ausbildung einer sprachlichen Selbstbehauptung, die das sprachliche Ü-
berleben sichert, in den Vordergrund:
„Deutsch als Zielsprache ist existenznotwendig. Es kommt weitaus weniger
auf sprachliche Korrektheit als vielmehr auf die Fähigkeit an, den Alltag in der
deutschen Sprache zu bewältigen.“ 238
Unterschieden werden drei Teilbereiche der Kommunikationsorientierung: so-
ziale Kommunikationsfähigkeit, kulturelle Kommunikationsfähigkeit und
sprachliche Kommunikationsfähigkeit. In letzterem Lernziel werden Aussagen
zum Umgang mit der Schriftsprache getroffen. Vorgesehen ist lediglich die
Rezeption medienvermittelter oder authentischer Texte. Es werden keine Aus-
sagen über den produktiven Schriftspracherwerb der Teilnehmer getroffen. Es
existiert keine allgemeingültige Regelung für den Schreibunterricht an den

234 vgl. Das Spracheninstitut am Bildungszentrum der Stadt Nürnberg: Entwicklung – Probleme – Perspektiven. (1987)
235 vgl. „Erklärung zu Stellungen und Aufgaben der kommunalen VHS“ vom 8.7.1969
236 vgl. Sauberzweig (1978)
237 Ich verwende hier den Begriff „Zweitsprache“, da die Kursteilnehmer, zumindest zeitweise, überwiegend aber
dauerhaft in der BRD leben und sie in beiden Fällen während der Dauer des Kursbesuchs in einer deutschsprachigen
Umgebung leben. Hier ergibt sich eine andere Sprachlernsituation als beim Erwerb einer Fremdsprache im engeren
Sinn. Die hier verwendeten Begriffe decken sich nicht mit den in den Richtlinien auftretenden, wurden aber zur Klärung
als angemessen befunden.
238 Bildungszentrum a.a.O. S.14
70

Volkshochschulen. Dieses Defizit eröffnet den einzelnen Fachbereichen jedoch


die Möglichkeit, sich stark an den Bedürfnisse der jeweiligen Lernergruppen zu
orientieren.
Das Kursangebot sieht Alphabetisierungskurse bzw. Vorkurse für Teilnehmer,
die nicht in der lateinischen Schrift alphabetisiert sind, vor, welche als Grund-
lage für den Besuch weiterführender Kurse gelten. Der Besuch dieser Kurse ist
jedoch, wie der Besuch aller anderen Kurse, nicht verpflichtend und somit hat
jeder Interessent die Möglichkeit bzw. das Problem, seine eigenen Kenntnisse
einzuschätzen und sich für den passenden Kurs einzuschreiben. Viele Teil-
nehmer haben große Probleme damit, ihre Kenntnisse in der Zielsprache
Deutsch auch nur annähernd angemessen einzustufen, was dann im Unter-
richt häufig für absurde bzw. peinliche Situationen sorgt. So kommt es regel-
mäßig und oft vor, dass Teilnehmer, die der lateinischen Schrift nicht mächtig
sind, zwar auf Alphabetisierungskurse verwiesen werden, dort aber keinen
Platz mehr finden und daher einen normalen Anfängerkurs besuchen. Diese
Teilnehmer haben immer wieder mit Schwierigkeiten beim Schreiben zu
kämpfen. Besonders Buchstaben und Diphthonge, die in der jeweiligen Pri-
märsprache und/oder den bisher erworbenen Fremdsprachen keine Entspre-
chung haben, werden häufig und nachhaltig falsch geschrieben und gelesen
bzw. kurzerhand durch Fantasiezeichen (j  ∫) oder Buchstaben mit optischer
Ähnlichkeit (ß  B) ersetzt. Das Ersetzen von Buchstaben mit optischer Ähn-
lichkeit ist auch bei Teilnehmern zu beobachten, deren Primärsprache eben-
falls lateinisch geschrieben wird, aber denen ein oder einige Buchstaben des
deutschen Alphabets nicht bekannt sind (Umlaute, scharfes S ...). Eine kurze
Einführung des deutschen Alphabets und der Laut-Buchstaben-Beziehungen
im Deutschen ist zu Beginn jedes Grundstufenkurses unerlässlich.
Die Lehrwerke, die speziell für den Unterricht mit erwachsenen Lernern konzi-
piert sind239, beginnen im Bereich der freieren Sprachgestaltung, der parallel
zu patterns läuft, überwiegend mit einer schriftlichen Rekonstruktion von be-
reits eingeübten Kommunikationsstrukturen. Dialogbaukästen und Zuord-
nungsübungen fördern in erster Linie das Leseverständnis, da Sätze und
kleinste Texte vom Lerner einfach abgeschrieben werden müssen. Im weite-
ren Verlauf werden die Lerner über die gesteuerte Textproduktion hin zu freie-
ren Formen der Textproduktion geführt.
Eine freie Textproduktion ist erst zu einem relativ späten Zeitpunkt vorgese-
hen. Assoziative Verfahren wie Brainstorming, Mind Mapping oder Clustering
werden bereits zu einem frühen Zeitpunkt des Fremdspracherwerbs vorge-
schlagen, aber lediglich zur Wortschatzerweiterung herangezogen. Texte wer-
den aus den gewonnenen Ideen und Assoziationen nicht initiiert. Es hat sich

239 z. B. TANGRAM (1998), Moment Mal (1999) u. a.


71

jedoch gezeigt, dass kreative, assoziative und freie Schreibverfahren bereits


zu Beginn der Kurse einen guten Einstieg darstellen240. Ihr Einsatz fördert die
Bereitschaft, Schrift als Kommunikationsmedium zu begreifen, mit dessen
Hilfe sich eigene Anliegen versprachlichen lassen. Gerade die freie Textpro-
duktion weist einen Ausweg aus Hemmungen und Blockaden der mündlichen
Kommunikation, die sehr häufig durch die Unterrichtssituation in den ersten
Tagen des Fremdsprachunterrichts entstehen. Eine neue Sprache, eine neue
Gruppe, ein neuer Dozent, diese Faktoren lassen den Lernern mündliche Äu-
ßerungen in der Zielsprache zur Qual werden. Kleine Texte, wie etwa eine
schriftliche Vorstellung, dienen nicht nur der Fixierung bereits im Unterricht
eingeführter Kommunikationsstrukturen, sondern geben gerade schwächeren
oder eher schüchternen Teilnehmern die Möglichkeit, ihre Aussagen gründlich,
langsam und mit Hilfe eines Wörterbuchs sowie der Aufzeichnungen aus dem
Unterricht vorzubereiten und zu formulieren. Die Schreibphase stellt während
eines Unterrichtstages auch eine willkommene Phase der stillen Konzentration
und des notwendigen Wechsels der Darbietungsform dar. Die Teilnehmenden
werden so mit dem Medium Schreiben vertraut und gewöhnen sich an das
schriftliche Verfassen kleinerer Texte. Lerner hingegen, die erst zu einem spä-
teren Zeitpunkt mit dem Auftrag, einen Text zu schreiben, konfrontiert wer-
den, zeigen sich meist unsicher und überfordert.241
In den Grundkursen sind durchaus schriftliche Übungen vorgesehen, die aller-
dings auf das Einsetzen von Wörtern, Endungen oder Vorsilben begrenzt sind.
Diese Übungen trainieren grammatische Strukturen, sie eignen sich nicht zur
Förderung des Schriftspracherwerbs. Die Lerner haben hier weder die Mög-
lichkeit, eigene Sätze zu bilden, noch das Alphabet ausreichend zu internali-
sieren. Dieser Umstand ist für die Mehrzahl der erwachsenen Lerner auf Dauer
unbefriedigend und frustrierend, was in der Konsequenz dazu führt, dass der
gesamte Spracherwerb zunächst stagniert und für die Teilnehmer zu einer
ernsthaften Belastung wird. Die Aussicht auf Dauer in einem Land zu leben,
dessen Sprache man für schwierig und unerreichbar hält, ist nicht dazu ange-
tan, Lerner zu motivieren.242 Der frühe Beginn einer Schreibschulung mit kre-
ativen Methoden kann dieser Entwicklung entgegenwirken und den Lernern
helfen, sich in ihrer neuen Umwelt zurecht zu finden.
Das Schreiben fördert ein erhöhtes Sprachbewusstsein, es ist eine stark
sprachanalytische Tätigkeit.243 Die Schreiber erfahren beim Schreiben sprach-
liche Normen stärker als im mündlichen Sprachgebrauch244 und erleben eine

240 siehe Kapitel II. 5


241 siehe Kapitel II. 5-6
242 vgl. Apeltauer (2001)
243 siehe Kapitel I. 2.5
244 vgl. Krumm (1989)
72

starke Selbstkontrolle. Sie setzen sich daher intensiver mit der Zielsprache
Deutsch auseinander und stellen höhere Ansprüche an die sprachliche Qualität
ihrer Produkte.245

EXKURS 1: Befragung der Teilnehmer


Jeder Unterricht sollte sich an den jeweiligen Lernern orientieren. Insbesonde-
re erwachsene Lerner haben vergleichsweise konkrete Erwartungen an den
Unterricht. Diese Erwartungen werden von Faktoren wie Herkunftsland, Alter,
Vorbildung, Grund des Sprachenlernens usw. bestimmt.
Exemplarisch wurden die Teilnehmer eines Intensivkurses Stufe II246, nach 8
Wochen Deutschunterricht à 20 Wochenstunden zu folgenden Aussagen be-
fragt247:
Es ist besser erst sprechen zu lernen. ja nein
Ich möchte schnell sprechen lernen. ja nein
Ich möchte schnell schreiben lernen. ja nein
Sprechen ist wichtiger als Schreiben. ja nein
Sprechen ist genauso wichtig wie Schreiben. ja nein
Schreiben ist wichtiger als Sprechen. ja nein
64,3 % der Befragten finden es wichtig, erst sprechen zu lernen. 35,7 % fin-
den ein dem Schriftspracherwerb vorangestelltes Kommunikationstraining
nicht wichtig. Dennoch ist ein hohes Niveau in der mündlichen Ausdrucksfä-
higkeit für die Lerner ein wichtiges Ziel. 85,7 % möchten möglichst schnell
sprechen lernen, während dagegen nur 64,3 % möglichst schnell schreiben
lernen wollen. 35,7 % empfinden das Schreibenlernen nicht als dringlichstes

245 siehe EXKURS 2


246 Die 14 befragten Teilnehmer stammen aus 7 verschiedenen Ländern (Spanien, Äthiopien, Polen, Rußland, Iran,
Irak, China) und sprechen 9 verschiedene Primärsprachen (Kurdisch, Arabisch, Farsi, Amharisch, Spanisch, Katalanisch,
Kantonesisch, Polnisch, Russisch). Sie besuchten im Herkunftsland zwischen 10 und 14 Jahre die Schule und wurden
dort in 9 Sprachen unterrichtet (Katalanisch, Chinesisch, Spanisch, Farsi, Polnisch, Englisch, Russisch, Arabisch,
Kurdisch). Acht Teilnehmer lernten im Herkunftsland Englisch als Fremdsprache, ein Teilnehmer Arabisch, ein
Teilnehmer Französisch und drei Teilnehmer hatten im Herkunftsland keine Fremdsprache gelernt. Vier Teilnehmer
wurden im Herkunftsland in einer Sprache unterrichtet, die nicht ihrer Primärsprache entsprach. Die Teilnehmer lebten
zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 2 und 12 Monate in Deutschland.
247 Die Gruppe der befragten Teilnehmer ist nicht mit einer der im empirischen Teil vorgestellten Schreibgruppen
identisch.
73

Problem. Allerdings meinen nur etwa über die Hälfte der Befragten, nämlich
57,1 %, dass Sprechen wichtiger sei als Schreiben.
Die Teilnehmer legen demnach keinen Wert auf den Erwerb kommunikativer
Strukturen, die ihnen schnell die Möglichkeit eröffnen, in ihrer neuen Umwelt
zurechtzukommen. Dies hängt stark von der Aufenthaltsdauer und den bishe-
rigen Erfahrungen mit Sprachenlernen zusammen: Teilnehmer, die bereits
längere Zeit in Deutschland sind, schätzen den Stellenwert des Schreibens
höher ein und tendieren dazu, den Zeitpunkt des Schriftspracherwerbs dem
des Erwerb des mündlichen Sprachgebrauchs gleichzustellen. Teilnehmer, die
keinerlei Erfahrungen im Fremdsprachenlernen haben und sich erst kurze Zeit
in Deutschland aufhalten, neigen dazu, den Stellenwert des Schreibens im Un-
terricht niedriger einzuschätzen und den Beginn des Schriftspracherwerbs auf
einen späteren Zeitpunkt zu setzen. Ein weiterer Faktor ist der Grund, aus
dem die Teilnehmer Deutsch lernen wollen. Teilnehmer, die sich in Deutsch-
land aufhalten und einen Intensivkurs besuchen, um ihre Ausbildung bzw. ihre
berufliche Situation aufzuwerten, legen mehr Gewicht auf den Schriftsprach-
erwerb, während Teilnehmer, die sich aus politischen oder familiären Gründen
in der Bundesrepublik aufhalten, den Erwerb einer mündlichen Kommunikati-
onsfähigkeit wichtiger einschätzen. Diese Gruppe will schnellstmöglich in all-
täglichen Situationen, wie etwa Einkaufen, Arztbesuch oder Ämtergänge zu-
rechtkommen und stellt das Schreibenlernen hintan. Personen aus dieser
Gruppe, die sich schon längere Zeit in Deutschland aufhalten, streben den Er-
werb der Schriftsprache weitaus intensiver an, da sie die Erfahrung gemacht
haben, dass sie auf Dauer ohne schriftsprachliche Kompetenz nicht auskom-
men können. Besonders schwierig gestaltet sich die Situation von Personen
aus Krisen- oder Kriegsgebieten, deren Schulbesuch im Herkunftsland nur
phasenweise stattgefunden hat und die auf Grund der politischen Situation
weder Schul- noch Berufsausbildung abschließen konnten. Diese Lerner, die
auf eine Rückkehr ins Herkunftsland hoffen, sollte sich die politische Situation
dort entspannen, wollen in den Intensivkursen nur die notwendigsten Rede-
strategien erwerben. Mit dem Andauern ihres Aufenthalts sowie keiner abseh-
baren Besserung der Situation im Herkunftsland werden sie immer unzufrie-
dener mit ihren fragmentarischen Deutschkenntnissen. Dies führt häufig zur
Resignation bzw. sie sehen sich selbst vor dem schier unlösbaren Problem,
Grundkenntnisse im schriftlichen Sprachgebrauch zu erwerben. Erschwerend
kommt hinzu, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits über Kenntnisse mündli-
cher Sprache verfügen, die jedoch stark von der Norm abweichen. Diese Vor-
kenntnisse werden dann eher zum Hindernis, stehen sie vor der Aufgabe, kor-
rekte deutsche Sätze zu bilden und diese schriftlich zu fixieren.
Neben den angesprochenen Alphabetisierungs- und Intensivkursen werden im
außerschulischen Bereich eine Vielzahl anderer Kurse angeboten, in denen die
Förderung des schriftlichen Sprachgebrauchs im Deutschen eine zentrale Rolle
74

spielt. Es werden Kurse angeboten, in denen die schriftliche Ausdrucksfähig-


keit geschult wird sowie eine Vielzahl von Workshops, (online-) Schreibkursen
sowie Schreibwerkstätten. Diese Angebote sind jedoch für Teilnehmer konzi-
piert, die bereits einen hohen Sprachstand in der Zielsprache Deutsch erreicht
haben. (Begleitende) Schreibkurse für Personen, die mehr oder weniger große
Probleme mit der Schriftsprache haben, sind sehr selten zu finden.
Schreibkurse, die im Rahmen einer außerschulischen Maßnahme stattfinden,
deren Teilnehmer einen Schulabschluss anstreben, sind eher selten und gehö-
ren zu den Randerscheinungen. Die Prüfungsvorbereitung im Fach Deutsch
(als Mutter- oder Zweitsprache) orientiert sich stark am Prüfungsinhalt. Zum
Erreichen eines Erfolgreichen oder Qualifizierenden Hauptschulabschlusses
muss eine Prüfung im Fach Deutsch abgelegt werden, die sich aus 3 Teilen
zusammensetzt: Diktat, Textbearbeitung, Sprachlehre. Schüler, die eine Prü-
fung im Fach Deutsch als Zweitsprache ablegen248, müssen ein Lückendiktat,
einen Text sowie einen Grammatikteil erfolgreich bearbeiten. In jedem Fall
wird das Verfassen eines textsorten- und inhaltsbezogenen Textes verlangt.
Meist beschränkt sich die Vorbereitung auf die Prüfung jedoch auf Orthografie
und Textarbeit. Hier drängt sich stark der Eindruck auf, manche Lehrkräfte
trauten sich und ihren Schülern nicht zu, diese auf das Verfassen eines Textes
vorzubereiten. Die Punkte, die die Schüler in der Prüfung erreichen könnten,
schreiben sie einen guten Text, werden zu Gunsten eines passablen Diktates
und einer angemessenen Bearbeitung des Textes vernachlässigt. Die Hoff-
nungslosigkeit, die viele Lehrkräfte verspüren, was den Bereich des schriftli-
chen Sprachgebrauchs betrifft und die daraus resultierende Resignation hin-
terlässt bereits im Unterricht deutliche Spuren: Arbeitsblätter werden so kon-
zipiert, dass die Schüler möglichst wenig schreiben müssen, sondern ankreu-
zen, zuordnen, ergänzen, unterstreichen usw. Auf Heftführung wird wenig
Wert gelegt, manche Schüler verfügen am Ende des Schuljahres lediglich über
einen Ordner, in dem sie mehr oder weniger fleißig Kopien gesammelt haben,
die die Lehrkraft ausgeteilt hat. Wortschatzlisten, Grammatiktabellen, Mathe-
regeln, Lernstoff für die Sachfächer werden abheftet, eigene Notizen sind
nicht erforderlich oder werden von den Schülern zumindest so eingeschätzt.
Lediglich in den Unterrichtssequenzen, in denen das Diktatschreiben geübt
wird, müssen die Schüler ganze Sätze zu Papier bringen. Der Unterricht ist
oftmals so konzipiert, dass die Schüler als schreibstumm249 eingestuft werden
und diesem Defizit insofern Rechnung getragen wird, als die Lehrkraft ihnen
und damit auch sich selbst den mühevollen Weg zum Schreiber erspart. Be-
gründet wird dies meist mit dem Zeitdruck, in dem sich Lehrkräfte wie Schüler

248 dazu sind Schüler berechtigt, die weniger als 6 Jahre in Deutschland leben bzw. keine deutsche Regelklasse besucht
haben.
249 siehe Kapitel I. 2.1.2
75

sehen, die in einem Schuljahr den Stoff der siebten, achten und neunten Klas-
se aufbereiten müssen, um eine erfolgreiche Prüfung zu absolvieren.
In der vorliegenden Arbeit konnten demnach nur Texte untersucht werden,
die im zusätzlichen Förderunterricht eines solchen Lehrgangs geschrieben
wurden. Kreatives Schreiben wird in Einrichtungen, die derartige Lehrgänge
durchführen, überwiegend als „nette Unterbrechung des sonst so anstrengen-
den Schulbetriebs“ 250 belächelt und auch begrüßt.

EXKURS 2: Schreiben als Therapie


Das Schreiben als Therapieform stellt einen Aspekt des Schreibens dar, der in
den letzten Jahren an Bedeutung und öffentlicher Aufmerksamkeit gewonnen
hat. Das Schreiben als Therapieform wird in einem Exkurs vorgestellt, da es
einerseits immer wieder zu Berührungspunkten zwischen dem thematischen
Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit und dem therapeutischen Schreiben
kommt, aber andererseits eine gründliche Diskussion mit Interpretationen,
Auswertungen und Beurteilungen nicht im Rahmen der vorliegenden Arbeit
liegen.
Die Poesietherapie ist die wissenschaftliche Anwendung der Poesie für thera-
peutische Zwecke.
„Der Kern der Poesietherapie besteht in der Einsicht in den therapeutischen
Charakter des poetischen Schreibens und Lesens.“251
Das Schreiben als Therapieform basiert auf der Grundannahme der Tiefenpsy-
chologie: Neurosen werden durch psychische Konflikte hervorgerufen, die ihre
Wurzeln in der Kindheit haben. Diese Konflikte sind auf Grund von Verdrän-
gungsmechanismen unbewusst. Durch Erinnern und Bewusstmachen der in
der Kindheit liegenden Konfliktquellen sollen die Neurosen im Erwachsenenal-
ter geheilt werden. Die Poesietherapie stützt ihre Neurose- und Heilungsvor-
stellungen besonders auf die Tiefenpsychologie der Fantasietätigkeit. Man
nimmt an, dass in der Fantasietätigkeit Erwachsener Spuren kindlicher Verlet-
zungen auffindbar werden. Fantasie gilt als Kompensation empfundener Män-
gel. Eine Regression literarischer und poetischer Texte im Diente des ICH
führt zu einer therapeutischen Stärkung des ICH. Die Fantasietätigkeit nimmt
beim Akt des Schreibens und des Lesens Fühlung mit dem Unbewussten auf.
Das kreative Produkt gibt die Möglichkeit „hinter die Produktoberfläche“252 zu
schauen und damit die Tiefenstruktur zu erschließen, die auf dem Kindheits-

250 Zitat einer Lehrkraft, die nach eigenen Angaben nicht namentlich erwähnt werden möchte.
251 v. Werder (1988) a.a.O. S.19
252 v. Werder (1988) a.a.O. S.23
76

trauma basiert. Hier eröffnen sich Möglichkeiten der Therapie. Zentraler Punkt
der Schreibtherapie sind Kreatives Schreiben und Lesen über die Kindheit.
„Die Poesietherapie versteht die Neurose als Ausdruck der Sprachlosigkeit ü-
ber die Verletzungen der Kindheit.“ 253
Der Ablauf einer poesietherapeutischen Gruppensitzung unterteilt sich in vier
Ebenen: der pädagogische Schreibprozess, der Prozess künstlerischer Kreati-
vität, das literaturpsychologische Erleben von Texten in Rezeption und Pro-
duktion und dem (selbst-) therapeutischen Prozess.
Die Poesietherapie arbeitet mit zwei verschiedenen Methodenpaketen. So ge-
nannte kleine Medien für Anfänger sind: Selbstportrait, Tageslaufgeschichten,
Tagebuch, lyrisches ICH-, DU-, WIR-Gedicht, (Tag-) Träume, Briefe, Be-
schlüsse. Große Medien für Fortgeschrittene stellen Kindheitsautobiografie,
unbewusster Lebenslauf, politische Biografie, Zukunftsbilder, transpersonale
Dichtungen wie Märchen oder Sagen, spirituelle Texte dar. Die Textinhalte
werden in einem weiterführenden Schritt gedeutet. Es wird immer der mani-
feste Text gedeutet, wozu die Poesietherapie drei Textdeutungsmethoden be-
reithält:
Biografisch-genetische Methode: „Was steht im Text zur Kindheit?“
Der Schwerpunkt dieser Methode ist eine Einordnung des Textes in den Zu-
sammenhang der Biografie des Schreibers. Die Erlebnisse der Kindheit werden
an Hand im Text auftretender Spuren rekonstruiert. Die Ergebnisse werden
durch freie Assoziation erweitert und somit die Lebensgeschichte des Schrei-
bers rekonstruiert.
Methode der Symboldeutung: „Welche Symbole deuten auf unbewusste Inhal-
te?“
Es werden im Text auftretende Symbole zugeordnet und gedeutet. Symbole
der präverbalen Entwicklungsphase werden von universalen Symbolen unter-
schieden. Letztere werden in dem Stadium entwickelt, in dem das Kind lernt,
zwischen Symbolen und der Realität, die sie abbilden, zu unterscheiden und
allgemein gültige Symbole zu übernehmen. Der Schreiber wird angeregt, die
individuellen Inhalte und Bedeutungen der in seinem Text auftretenden Sym-
bole zu erkennen und bestimmten Lebenskonflikten zuzuordnen.
Deutung der Textrezeption durch Leser oder Hörer: „Was löst der Text in uns
aus und mit welchen Unterschieden?“
Bei dieser Methode steht eine Interpretation des Textes durch Rezipienten im
Vordergrund. Diese Deutungen oder Interpretationen z. B. durch Mitglieder

253 v. Werder (1988) a.a.O. S.23


77

der Schreibgruppe kann die Einzeldeutung erheblich erweitern oder vertiefen.


Sie verläuft wiederum in drei Stufen:
• textimmanente Arbeit (Beziehungen innerhalb des Textes)
• Teilidentifikation mit Charakteren und Problemen des Textes
• Version der Rezipienten wird verdeutlicht und Reaktionen auf den la-
tenten Textgehalt werden dokumentiert.
Die Anwendung dieser Textdeutungsmethoden ist nicht nur auf den therapeu-
tischen Bereich begrenzt. In der Schulklasse, im Sprachkurs und in der
Schreibwerkstatt treten derartige Ansätze immer wieder, wenn auch in modi-
fizierter Form auf. Häufig beschäftigen sich Jugendliche und Erwachsene mit
dem inhaltlichen Aspekt ihrer Texte auch dann, wenn sie nicht ausdrücklich
darauf hingewiesen werden. Das Interesse an der Frage „Warum schreibe ich
das?“ gewinnt mit der Häufigkeit des Schreibens an Bedeutung. Selbstver-
ständlich tritt diese Frage besonders bei Themenstellungen auf, die einen per-
sönlichen, authentischen Text initiieren (z. B. Mein Land, Heimat ...).
Empfohlene Themen der Poesietherapie sind solche über Bezugspersonen, die
Bilder des Unbewussten anregen, die Lebensprobleme des Schreibers aufgrei-
fen sowie Gefühle, Themen, die die Widersprüche des Lebens, die Gefühlsam-
bivalenzen kreativ verarbeiten (Liebe – Tod, Macht – Ohnmacht ...). Es stellt
sich die Frage, weshalb zu diesen Themen in den meisten Fällen Persönliches
geschrieben wird, obwohl das möglicherweise nicht die Intention des Schrei-
bers ist, oder umgekehrt. Vor allem Erwachsene sprechen dieses Problem
oftmals in der Gruppe an und diskutieren es sehr offen mit den anderen Teil-
nehmern. Diese Gespräche übertreten normalerweise nicht die Grenze zur
Therapie, aber dennoch motivieren sie andere Gruppenteilnehmer dazu, sich
ebenfalls unter diesem Aspekt mit ihren eigenen Texten zu befassen. Eine
Auseinandersetzung mit dem eigenen Text findet statt. Die Schreiber erken-
nen, dass sie eine Textform bevorzugen, einen Erzählstil präferieren, einen
bestimmten Textrhythmus entwickeln und beginnen, dies zu reflektieren. In-
wieweit jedoch diese Textdeutung individuell bleibt oder in der Schreibgruppe
veröffentlicht wird, ergibt sich aus der Zusammensetzung und der Atmosphä-
re in der Gruppe. Die Methode der Textrezeption führt in einer nicht-
therapeutisch orientierten Schreibgruppe weniger zu Teilidentifikationen und
Dokumentationen des latenten Textgehaltes, sondern beschränkt sich auf
praktische Aspekte. In der Schreibgruppe werden die Wirkung des Textes auf
den Rezipienten in Bezug auf Spannung, Lese- bzw. Hörbarkeit, Verständlich-
keit, Logik des inhaltlichen Aufbaus, Bewertung der Angemessenheit der Text-
sorte u. ä. diskutiert. Diese Diskussionen dienen sowohl der Sammlung von
Erfahrung, die den eigenen Texten zu Gute kommt, als auch der Überarbei-
tung des besprochenen Textes.
78

Selbsthilfegruppen und therapeutische Gruppen werden immer von ausgebil-


deten, erfahrenen Trainern oder Therapeuten begleitet. Im Schreibbetrieb oh-
ne therapeutischen Ansatz muss eine deutliche Grenze zwischen kreativem
und therapeutischem Ansatz gezogen werden. „Hobby-Freuds“ unter Lehrern,
Kurs- oder Gruppenleitern, d. h. Menschen ohne angemessene therapeutische
Ausbildung und Erfahrung, können im Ernstfall großen Schaden anrichten.
Hinweise auf persönliche Probleme, die sich in den Texten oder in Gesprächen
über Texte manifestieren, müssen demnach vertraulich behandelt und die Be-
troffenen gegebenenfalls auf die Möglichkeit fachlicher Hilfe hingewiesen wer-
den.

5 Kreatives Schreiben
„Oh Mann, ich bin doch kein Dichter.“
Das Kreative Schreiben ist ein vielseitiges Verfahren, das im Alltag, in der
Schule, in der Berufswelt, an den Hochschulen und in außerschulischen Bil-
dungsinstitutionen eingesetzt wird.
Von der ersten Unterrichtseinheit im Fremdsprachenunterricht bis hin zur
Ausbildung zum Drehbuchautor wird kreativ geschrieben.254 In der Schulpra-
xis wie auch in außerschulischen Maßnahmen255 wird kreativer Schreibunter-
richt jedoch meist noch als Sonderveranstaltung behandelt. Die Einführung
kreativer Schreibtechniken, die kreative Textproduktion oder gar ein kreativer
Schreibkurs256 nehmen meist eine marginale Position ein. Vielerorts werden
diese Verfahren im Rahmen von Projekttagen oder anlässlich eines Schulland-
heimaufenthaltes eingesetzt. Ihr Einsatz in regulären Unterrichtsstunden gilt
in weiten Kreisen als Entspannungsübung, Spielerei oder Lückenfüller. Das
mag im Anspruch der jeweiligen Lehrkräfte begründet sein, einen seriösen
und fundierten Deutschunterricht anzubieten, in dem kein Raum für Methoden
und Verfahren reserviert ist, die von der bekannten Norm abweichen. Die Un-
sicherheit, die möglicherweise bei der Erprobung eines für die Lehrkraft unbe-
kannten Verfahrens auftritt, ist oft der Grund für eine ablehnende und abwer-
tende Haltung der Pädagogen gegenüber innovativen Konzepten.

254 vgl. v. Scheidt (1995), Rico (1993), Highsmith (1985)


255 ausgenommen sind hier Kurse und Workshops, die speziell der schriftlichen Sprachgestaltung und dem kreativen
Schreiben gewidmet sind. Diese Angebote sind jedoch für Primärsprachler bzw. Lerner konzipiert, die bereits einen sehr
hohen Sprachstand in der Zielsprache Deutsch erreicht haben.
256 Die Bezeichnung "kreativer Schreibkurs" bezeichnet eine Unterrichtseinheit, die von den ersten Vorbereitungen bis
hin zum Endprodukt reicht. Er entspricht in weiten Bereichen der Bezeichnung "Projekt", unterscheidet sich jedoch in
einigen Aspekten davon.
79

„<< Das mag in der Grundschule möglich sein, aber wenn du in die Haupt-
schule kommst – da läuft so etwas nicht >> - so oder so ähnliche Kommenta-
re kamen immer wieder von Lehrern, wenn ich (...) Projekte mit Geschichten,
Gedichten und Bildern von Grundschülern ausstellte, die durch ihre Originali-
tät beeindrucken, aber auch Abwehr wachriefen, wenn die Überlegung des
Selbstausprobierens auftauchte. Besonders Hauptschullehrer waren öfter der
Meinung, daß Formen kreativer Sprachförderung und produktiven Schreibens
in ihren Klassen keine Chance zur Durchführung hätten.“ 257
So sieht auch Stiefenhofer258 „freies Schreiben“ nur in bestimmten Situationen
als geeignet an: Besinnung am Morgen, Meditation, schriftliches Brainstor-
ming, Freiarbeit, Wochenplanunterricht, Problemsituationen, Schullandheim-
aufenthalt, Geburtstagsfeier, im Anschluss an Wander- oder Besinnungstage
sowie in explizit ausgewiesenem Projektunterricht. Dagegen wehren sich viele
Autoren259, die den Einsatz kreativer Verfahren in allen Fächern und Unter-
richtssituationen für durchführbar und geeignet befinden.260 Die Förderung
von Kreativität und fachlichem Wissen sowie die Einführung dazu geeigneter
Verfahren darf und kann auf Dauer nicht an den Rand des Unterrichts ge-
drängt werden, will man den Anforderungen der Gesellschaft an die Schüler
(z. B. berufsbezogene Fähigkeiten)261 Rechnung tragen. Den Vorwurf de Bo-
nos,
„Unser Erziehungssystem sorgt sich nicht um die Förderung der Kreativität.
Die Erziehung, so meint man, müsse vorhandenes Wissen weitergeben und
gegen Veränderungen im Lernprozess absichern. Die Erziehung erzieht also
zur Sachkompetenz, nicht zur Kreativität. Sie übermittelt feste Vorstellungen
ohne zu lehren, wie wir Vorstellungen und Idee verändern.“ 262
muss sich das Erziehungssystem auch im 21. Jahrhundert noch gefallen las-
sen. Kreativitätsförderung darf nicht in der Kunsterziehung enden, sie ist ein
grundlegender Anspruch an jeden Unterricht, der einer Vorbereitung auf spä-
teres Leben und berufliche Laufbahn konzipiert ist. Die Anforderungen, die an
Berufseinsteiger, an Studierende und an Arbeitnehmer gestellt werden, haben
sich in den letzten Jahren verändert. Kreative Fähigkeiten, kreative Arbeits-
strategien und kreative Arbeitsformen sind grundsätzliche Anforderungen im
Beruf. Kreative Lösungen sind der Motor für Wirtschaft, Wissenschaft und Kul-

257 Puhan-Schulz (1989) a.a.O. S.165


258 vgl. Stiefenhofer (1996)
259 vgl. v. Werder (1992), Sennlaub (1990), Pommerin (1988), Spitta (1985), Puhan-Schulz (1989), Freinet (1979),
Kupfer-Schreiner (1994) u.a.
260 Zur Frage der Bewertung kreativ geschriebener Texte siehe Kap. 6
261 vgl. Beck (1996) a.a.O. S.62
262 de Bono (1992) a.a.O. S.8
80

tur. Teamfähigkeit der Mitarbeiter die Voraussetzung für einen funktionieren-


den Betrieb. Viele Arbeitgeber setzen hier den Schwerpunkt und schon bei der
Auswahl geeigneter Bewerber spielen oben genannte Kriterien eine wichtige
Rolle. Neugier, die Lust auf Neues, die Fähigkeit, divergent zu denken, Offen-
heit und Flexibilität gelten zwar als Urtrieb des Menschen, werden aber durch
die starke Normierung in Schule und Ausbildung bedroht.263
„Aus einem Volk von Dichtern und Denkern sind Hüter ihres Besitzstandes
geworden.“ 264
Diesem Umstand muss die Schule entgegenwirken, um die oben genannten
kreativen Eigenschaften und Fähigkeiten der Schüler zu entwickeln und zu
fördern, um diese auf die Anforderungen eines späteren Tätigkeitsfeldes und
damit eines potentiellen Arbeitgebers vorzubereiten.

5.1 Kreatives Schreiben im interkulturellen Unterricht


Interkultureller Unterricht bedeutet, wie Kupfer-Schreiner betont, immer eine
Auseinandersetzung zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen.265 Das
Ziel, trotz einer verschiedenen Herkunft, eine gemeinsame Zukunft zu gestal-
ten, kann nur durch Kennen lernen erreicht werden. Das Kreative Schreiben
leistet hier einen nicht unbeträchtlichen Beitrag. Im Kreativen Schreibkurs
wird Gesprächen und Diskussionen über inhaltliche Fragen nicht nur Platz ein-
geräumt, sondern sie werden durch die Auseinandersetzung mit den eigenen
Texten notwendig. Texte wecken Neugier auf den Schreiber und seinen Erfah-
rungshintergrund und regen immer wieder zu wahrhaft interkulturellen Ge-
sprächen und Diskussionen an. Natürlich kann es dazu kommen, dass eine
solche Diskussion nicht zu einer befriedigenden Lösung führt, nämlich dann,
wenn der kulturelle Hintergrund der Lerner in gewissen Punkten keine Über-
einstimmung zulässt. Dennoch sind solche Diskussionen im Unterricht wün-
schenswert, da sie einerseits zu einer Akzeptanz fremder Ein- und Ansichten
beitragen und andererseits die Kommunikationskompetenz in der Zielsprache
Deutsch erheblich fördern, insbesondere da gerade Diskussionen, in denen
kein Konsens gefunden werden kann, stark motivierend sind.266 In emotional
aufgeladenen Gesprächen melden sich auch Lerner zu Wort, die sonst eher
gehemmt sind, sich in der Zielsprache Deutsch zu äußern.
Nicht alle Materialien, mit deren Hilfe eine schriftsprachliche Kompetenz er-
langt und geübt werden können, sind für den interkulturellen Unterricht ge-
eignet. Es hat sich gezeigt, dass Materialien nicht unbesehen exportiert wer-

263 vgl. Csikszentmihalyi (2001)


264 Kroy (1996) a.a.O. S.164
265 vgl. Kupfer-Schreiner (1994)
266 siehe Kapitel II. 4-6
81

den können. Eine Anpassung an den kulturellen und sprachlichen Hintergrund


der Lerner muss erfolgen, um deren Bedürfnissen gerecht zu werden. Das
Kreative Schreiben stellt eine Alternative dar, die dieser Anpassung und Um-
arbeitung nicht bedarf. Kreatives Schreiben ist für den interkulturellen Unter-
richt geeignet, da es per se an den Bedürfnissen der Lerner orientiert ist. Der
kulturelle und sprachliche Hintergrund der Lerner wird nicht nur berücksich-
tigt, sondern er steht im Mittelpunkt.267 Die kreativen Verfahren und Techni-
ken initiieren authentische und persönliche Texte, in denen eben jener Hinter-
grund und seine Darstellung zum Tragen kommen. Persönliche Erfahrungen
und Erlebnisse, die in den Texten aufgegriffen werden, stehen in enger Ver-
bindung zu Kultur und Gesellschaft des Herkunftslandes und auch zur aktuel-
len Lebenssituation der Lerner in der Bundesrepublik Deutschland.268
Das Kreative Schreiben erfüllt so zwei wichtige Anforderungen, die an einen
interkulturellen Sprachunterricht gestellt werden: In den einzelnen Phasen
des Schreibkurses wird sowohl Raum für authentische Äußerungen, persönli-
che Aussagen, Diskussionen und Gespräche über die verschiedene Herkunft
und die gemeinsame Zukunft der Lerner geschaffen, als auch eine gezielte
Unterweisung formalsprachlicher Inhalte angeboten. Beide Pole stehen in ei-
nem engen Zusammenhang und werden nicht getrennt voneinander angebo-
ten. Kreatives Schreiben ist jedoch mehr als ein Verfahren, dass eingesetzt
werden kann, um die Individualität der Lerner einzubeziehen bzw. das sinn-
volle Gelenkstellen zwischen kreativen und systematischen Unterrichtsse-
quenzen erschließt, sondern
„Gerade im Hinblick auf skeptische Stimmen ist es wichtig zu betonen, daß
sich kreatives Schreiben auch positiv auf kognitive und analytische Prozesse
beim Fremdsprachenlernen auswirkt und die Qualität der Texte verbessert.“269
Man könnte das Kreative Schreiben durchaus mit dem neu-deutschen Begriff
„ganzheitlich“ betiteln, da es tatsächlich nicht nur auf die Erfüllung eines
Lernzieles ausgerichtet ist, sondern die Lerner als Menschen mit Gefühlen, I-
deen, Ängsten, Erfahrungen vor seinem individuellen Hintergrund respektiert,
und ihnen die Möglichkeit gibt, ihre Person in einem Ausmaß in den Unterricht
einzubringen, das sie selbst bestimmen. Diese Selbstbestimmung wird nicht
nur in der Erwachsenenbildung zu einem wichtigen Moment. Auch Kinder wis-
sen zu schätzen, wenn ihnen selbst die Entscheidung überlassen bleibt, in-
wieweit sie ihre Persönlichkeit und ihre persönlichen Erfahrungen in den Un-
terricht einbringen wollen und können.270

267 vgl. Pommerin (1982/1996), Mummert (1989), Puhan-Schulz (1989)


268 siehe Kapitel II. 4-6
269 Pommerin/Mummert (1999) a.a.O. S. 202
270 siehe Kapitel II. 4
82

Das Kreative Schreiben ist im interkulturellen Deutschunterricht ein besonders


geeignetes Verfahren zur Entwicklung eines Sprachbewusstseins im Sinne der
Language-Awareness-Konzeptionen, wie sie an anderer Stelle vorgestellt wur-
den. Die projekthafte Arbeitsweise lässt Raum für das Aufgreifen von Lerner-
äußerungen, die einen kontrastiven Rückgriff auf bereits erworbene Sprachen
ebenso zulässt wie metasprachliche Überlegungen und Diskussionen über die
Texte, die geschrieben wurden. In den Phasen der mündlichen Auseinander-
setzung zum jeweiligen thematischen Schwerpunkt gilt es ebenso aufmerk-
sam auf Lerneräußerungen zu achten, wie in den Phasen der redaktionellen
Überarbeitung. Diese Lerneräußerungen stellen wichtige Impulse für meta-
sprachliche Auseinandersetzungen dar und initiieren das Entstehen von
Sprachsensibilität. Luchtenberg unterscheidet verschiedene Perspektiven der
Language Awareness.271 Diese sind im kreativen Schreibkurs nicht nur zuge-
lassen, sondern ergeben sich bereits aus dem Verfahren an sich.
Grammatische, lexikalische, phonologische-orthografische Language Aware-
ness hat ebenso Raum wie die kritische Reflexion von Sprachgeschichte,
Sprachkontakt, Rollenverhalten, nonverbaler Kommunikation, Diskriminierung
und sprachlich-kultureller Pluralität. Kreatives Schreiben erhöht jedoch nicht
nur Sprachbewusstsein und Sprachsensibilität, sondern ist nach Pommerin
“integraler Bestandteil eines komplexen interkulturellen Sprachunterrichts,
der Mehrsprachigkeit auf allen Sprachebenen vorsieht und fördert.” 272
Nicht zuletzt sei daran erinnert, wie hoch eine fehlerfreie Beherrschung der
Schriftsprache in unserer Gesellschaft angesehen ist. Ein Brief, der formal-
sprachliche Abweichungen enthält, eine fehlerhafte oder schlecht formulierte
schriftliche Mitteilung wirken auf die meisten Menschen unseriös und somit
kann der Inhalt auf Grund der formalsprachlichen Abweichungen nicht mit der
nötigen Konsequenz zur Kenntnis gebracht werden. Wer in der deutschen Ge-
sellschaft etwas Wichtiges mitzuteilen hat, muss dies in korrekter Form zu Pa-
pier bringen können, um nicht Gefahr zu laufen, als Minderbemittelter oder
Ungebildeter klassifiziert zu werden. Man denke nur an ein Bewerbungs-
schreiben eines beruflich qualifizierten Bewerbers, der sich schriftlich nicht
einwandfrei auszudrücken vermag. In vielen Fällen werden Bewerbungen in
einem ersten Schritt auf eine Durchsicht des Bewerbungsschreibens hin selek-
tiert, wodurch ein Bewerber keine Chance hat, seine beruflichen Qualifikatio-
nen einzubringen. Natürlich existieren Korrektur- oder Schreibüros, die ihre
Hilfe anbieten, dies erfordert jedoch einen finanziellen Aufwand, den sich nicht
alle Menschen leisten können. Viele sind daher auf die freundliche Hilfe von

271 vgl. Luchtenberg (1998) a.a.O. S. 147


272 Pommerin (1998) a.a.O. S.219
83

Bekannten, Nachbarn oder Kollegen angewiesen, konnten sie keine ausrei-


chende schriftsprachliche Kompetenz im Deutschen erwerben.

5.2 Förderung kreativer und sprachlicher Kompetenz


Die Schriftstellerei ist, je nachdem man sie betreibt, eine Infamie,
eine Ausschweifung, eine Taglöhnerei, ein Handwerk,
273
eine Kunst, eine Tugend ...“
Kreatives Schreiben ist ein kreativer Akt, denn im Schreibkurs werden beide
Säulen der Kreativität gefördert: Fantasie und Sachkompetenz. Jeder Lerner
kann an dem Punkt abgeholt werden, an dem er sich in seinem Spracher-
werbsprozess befindet. Die bereits erworbenen Fähigkeiten werden im kreati-
ven Schreibkurs weiterentwickelt und trainiert, die individuellen Schwierigkei-
ten werden aufgehoben. Ausschlaggebend ist, dass der kreative Schreib-
kurs274 sowohl als auch beinhaltet, systematische Unterweisungen und kreati-
ve Produktion sind eng verzahnt und bedingen einander.275 Ein fantasievoller
Lerner kann sein Talent nicht nutzen, wenn er seine Ideen nicht zu Papier
bringen kann, wenn er nicht über eine ausreichende sprachliche Kompetenz
verfügt. Ein Lerner, der bereits ein hohes sprachliches Niveau erreicht hat,
kann keine ansprechenden Texte formulieren, wenn ihm die Ideen fehlen.
Beide der hier stilisiert dargestellten Lernertypen profitieren von der Teilnah-
me an einem kreativen Schreibkurs.
Im kreativen Schreibkurs werden beide Säulen der Kreativität geschult. Der
Lerner kann in diesem Rahmen seine sprachliche Kompetenz sichern und er-
weitern, ohne dass bisher Erworbenes stagniert oder sich gar zurück entwi-
ckelt. Kreativ schreiben kann nicht alleine die Produktion fantasievoller Texte
bedeuten, sondern Ziel eines Schreibkurses ist die Förderung der sprachlichen
Kompetenz in der Zielsprache, in diesem Fall Deutsch. Formale Korrektheit ist
immer noch ein sehr ernst zu nehmendes Lernziel, auch wenn
276
„Die Orthographie (...) in Deutschland seit dem Wilhelminismus ein reiner Amtsfetisch (war).“

Kreative Schreibkurse schließen dieses Ziel nicht aus, sondern integrieren


formale Lehrgänge. Ein kreativer Schreibkurs beginnt mit dem Schreibanlass,
führt über assoziative Verfahren, kreative Schreibverfahren, Überarbeitungs-

273 v. Schlegel
274 Die Bezeichnung „kreativer Schreibkurs“ kann weitgehend als synonym zu „kreatives Schreibprojekt“ verstanden
werden, dennoch wird in der vorliegenden Arbeit nicht von „Schreibprojekten“ die Rede sein. Die hier vorgestellten und
diskutierten Einheiten entsprechen nicht allen Kriterien eines Projektes (nach Frey), auch wenn sie projekthaft
organisiert sind.
275 siehe Kapitel II. 4-6
276 Enzensberger (1996) a.a.O. S.266
84

phasen hin zum fertigen Produkt in einer möglichen Veröffentlichung. Die


Lehrkraft begleitet die Lerner auf diesem Weg, indem sie die Lerner zu kreati-
ven Verfahren und Techniken anleitet, die ersten Texte einer Sprachstands-
ermittlung und Fehlerdiagnose unterzieht und auf der Basis der Ergebnisse
den Einschub systematischer Unterweisungen plant.277
Natürlich ist das oberste Ziel eines kreativen Schreibkurses die Förderung der
Kreativität. Kreativitätsförderung kann für Systematiker unter den Lernern
bedeuten, Techniken und Verfahren zu erlernen, die Fantasie, Offenheit und
Flexibilität anregen und ihnen einen Weg eröffnen, sie anzuwenden, während
Kreativitätsförderung für Fantasievolle durchaus heißen kann, ihnen das for-
male Handwerkszeug aufzuzeigen, das ihnen hilft, ihre Ideen angemessen zu
verbalisieren und zu verschriftlichen. Für beide Lernertypen, und in gleichem
Maße für alle zwischen diesen Polen angesiedelten Lernertypen, bieten kreati-
ve Schreibkurse Möglichkeiten zum Ausgleich der individuellen Defizite an.
Diese Form des Schreiblehrganges wird somit den Anforderungen der Schule,
der Vermittlung von Wissen und des Trainings kognitiver Leistungen wie auch
der Anforderungen der Lerner, der Hilfestellung in lebenspraktischen Berei-
chen sowie einer Vorbereitung auf das Berufsleben, gerecht. Beide Schwer-
punkte - Förderung der Fantasie und Förderung der Sachkompetenz - werden
abgedeckt.
Für v. Scheidt280 ist das kreative Moment am Kreativen Schreiben durch den
Aspekt der kontinuierlichen Selbsterfahrung gekennzeichnet. Die kontinuierli-
che Selbsterfahrung setzt eine Reaktion der Umwelt voraus. Unter diesem As-
pekt wird das Kreative Schreiben erst dann zum wirklich kreativen Akt, wenn
eine Rückmeldung aus der Umwelt den Schreiber aus seiner Isolation befreit.
Dies geschieht, wenn der Schreiber seinen Text einem Publikum vorstellt und
es zur Diskussion einlädt. Mit seinem Text veröffentlicht der Schreiber seine
Gedanken und Emotionen und erhält ein Feedback. Hier erhält die Schreib-
gruppe großes Gewicht. Wenn auch einzelne Phasen des kreativen Prozesses
alleine durchlaufen werden müssen, so ist die Arbeit und damit die Auseinan-
dersetzung mit anderen von immenser Bedeutung. Die Schreibgruppe spielt
im schulischen wie im außerschulischen Unterricht eine zentrale Rolle. Der
Umstand, dass situationsbedingt mehrere Schreiber an einem Ort zu einer
festgelegten Zeit zusammentreffen, fördert das Arbeiten in der Gruppe. Im
Gegensatz zu privaten oder halböffentlichen Schreibgruppen, entfällt in der
Unterrichtssituation die Rahmenorganisation wie Auffinden geeigneter Räume,
Finden von Terminen und dergleichen. Eine Schreibgruppe in der Schule bzw.

277 siehe Kapitel II. 4-6


278 Zitat einer Sprachkursteilnehmerin aus Argentinien
279 Zitat einer Sprachkursteilnehmerin aus der Ukraine
280 vgl. v. Scheidt (1995)
85

im Rahmen außerschulischer Maßnahmen ist vergleichsweise problemlos zu


organisieren. Die Zusammensetzung der Schreibgruppe unterliegt in diesem
Bereich jedoch anderen Gesetzmäßigkeiten. Besonders im außerschulischen
Bereich sind die Gruppen häufig sehr heterogen zusammengesetzt.281

EXKURS 3: Schreibertypen, Schreibtypen


und andere Stereotypen ...
282
In einer Schreibgruppe treten sehr unterschiedliche Sozialcharaktere auf.
Das stellt hohe Anforderungen an die Lehrkraft, insbesondere, weil die Lerner
nicht nur in Bezug auf den Sprachstand in der Zielsprache unterschiedliche
Voraussetzungen in den Unterricht einbringen. Nach v. Werder283 können in-
nerhalb einer Schreibgruppe fünf Schreibertypen beobachtet werden. Diese
enge Unterteilung wird in der Praxis sicher nicht Stand halten. Dennoch kann
sie dem Schreibgruppenleiter hilfreiche Denkanstöße vermitteln.
Der regressive Typ ist nach v. Werder durch eine primäre Minderwertigkeit
mit selbst zerstörerischer Reaktion gekennzeichnet. Seine Texte sind expres-
siv und an ihrem „dunklen“ Stil erkennbar. Dieser Typ entwickelt beim Schrei-
ben häufiger Hemmungen und Schreibblockaden als andere Teilnehmer und
sollte durch eine Aufschließung seiner Introversion unterstützt werden.
Der aggressive Typ schreibt Texte in einem klaren Stil mit einer aufsteigen-
den Linie. Seine primäre Minderwertigkeitserfahrung, die sich in aggressiven
Reaktionen auf seine Umwelt auswirkt, erfordert eine Auseinandersetzung mit
den individuellen Schwächen, Defiziten und den daraus entstehenden Ängs-
ten.
Der euphorische Typ springt in seinen häufig esoterisch ausgerichteten Tex-
ten von Gipfel zu Gipfel und drückt so seine Distanz zur Realität aus, die –
nach v. Werder – durch Minderwertigkeitsgefühle impliziert ist. Das Erkennen
der selbst gewählten Isolation und der Abgehobenheit sind der Grundstein zu
einer Rückkehr aus dem Inseldasein in die Realität.
Der blockierte Typ zeichnet sich durch einen verkrümmten Stil seiner Texte
aus und ist durch die Last seiner individuellen Erinnerungen und Probleme
blockiert. Die Entwicklung eines eigenen Stils, ausgelöst durch ein Aufbrechen
der zur Last gewordenen Probleme, kann die Blockaden langfristig beseitigen.
Der produktive Typ entwickelt nützliche Reaktionen auf seine Minderwertig-
keitsgefühle und verfügt über ein gut entwickeltes Gemeinschaftsgefühl. Sei-

281 siehe Kapitel II. 5


282 Die im Rahmen der vorliegenden Arbeit untersuchten Gruppen, werden auf Grund ihrer Unterschiedlichkeit, unter
dem Begriff „Schreibgruppen“ zusammengefasst.
283 vgl. v. Werder (1986)
86

ne Texte sind in einem offenen Stil geschrieben. Dieser Typ eignet sich gut für
die Position eines „Co-Trainers“ in der Gruppe und sollte bei möglicherweise
auftretenden Rückschlägen ermuntert werden.
Neben den verschiedenen Sozialcharakteren treten in Schreibgruppen nach
von Werder auch unterschiedliche Schreibtypen auf. Diese Typisierung bezieht
sich auf das Schreibverhalten, das sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann.
Werder unterscheidet drei Schreibtypen, die sich durch unterschiedliche
Schreibakte während des Schreibprozesses unterscheiden.284
Der Schnellschreiber sammelt zuerst Gedanken, macht sich dann entspre-
chende Notizen und wählt das Wichtigste aus. Er erstellt sehr schnell eine
Rohfassung, die er dann von Gruppenmitgliedern überprüfen lässt. Daraufhin
beginnt eine Phase der vergleichsweise langsamen Umformulierung des Tex-
tes.
Der langsame Schreiber dagegen verfährt anders; er assoziiert frei und
setzt dann Schwerpunkte, etwa mit Hilfe eines Clusters und dem daraus ent-
stehenden Versuchsnetz. Er sucht Gespräche mit anderen Gruppenmitgliedern
über seinen Forschungsprozess und beginnt erst im Anschluss daran mit einer
langsamen und bedächtigen Niederschrift.
Der Praxis-Schreiber beginnt die Textproduktion, indem er seine Erinnerun-
gen notiert. Er betreibt Feldforschung und erstellt Berichte über deren Ergeb-
nisse. Diese versieht er mit einer Einleitung und einem Schlusswort. Die ge-
wonnenen Resultate der Feldforschung werden in einer weiteren Arbeitsphase
geordnet und in der Endfassung dargelegt. Der Praxis-Schreiber arbeitet vor-
wiegend alleine.
Es ist sicherlich notwendig, dass sich die Lehrkraft immer wieder ins Bewusst-
sein ruft, dass keine Schreibgruppe homogen zusammensetzt ist. Dennoch
wird es keinem Schreiber gerecht, ihn unkritisch einer der oben genannten
Typen zuzuordnen. So sind Mischtypen nicht nur möglich, sondern der Regel-
fall. Die Lehrkraft muss sich sowohl mit der Zusammensetzung der ihr anver-
trauten Gruppe, als auch mit den einzelnen Teilnehmern auseinandersetzen,
diese Mühe kann obiger Leitfaden keinesfalls ersetzen.

Die Schreibunlust vieler Lerner stellt viele Lehrkräfte vor große Probleme. Auf
der einen Seite sehen die Richtlinien eine Förderung des schriftlichen Sprach-
gebrauchs vor, auf der anderen Seite sitzen Lerner, denen gerade das Schrei-
ben eine Qual ist. Die Lehrkraft sieht sich zwischen den Stühlen dieser so un-
terschiedlich gearteten Ansprüche, die an sie gestellt werden, und lässt sich
auf einen Drahtseilakt ein, der zu keiner befriedigenden Lösung führen kann.

284 vgl. v. Werder (1992)


87

In dieser scheinbar ausweglosen Situation wird verzweifelt nach dem „Sesam-


öffne-dich“ gesucht. Ein Teil der Lehrkräfte gestaltet den Unterricht auf be-
kannte, wenn auch nicht bewährte Art und nimmt in Kauf, dass die Unter-
richtsstunden für Lehrer und Lerner gleichermaßen unbefriedigend verlaufen.
In diesem Fall ist das Risiko, die Schreibunlust der Lerner zu steigern, erheb-
lich. Andere Lehrkräfte suchen den Ausweg aus der viel beklagten Misere, in-
dem sie den Bereich der schriftlichen Sprachgestaltung vernachlässigen und
ihn zum notwendigen Übel degradieren. Die nächste Gruppe informiert sich in
der einschlägigen Literatur über alternative Verfahren und übt sich und die
Lernenden darin weniger überzeugt, denn experimentierfreudig. In den meis-
ten Fällen trauen sich diese Lehrkräfte nicht die entstandenen Texte zu be-
werten, was diese in die bereits erwähnte Randposition schiebt. Dies hat zur
Folge, dass weiterhin Aufsätze nach traditionellen Kriterien geschrieben wer-
den, die dann zur Bewertung herangezogen werden. Noch deutlicher manifes-
tieren sich diese Probleme im interkulturellen Unterricht: Die Heterogenität
des Sprachstands der Gruppe stellen Lehrkraft und Lerner vor große Proble-
me.285
Die kreative Schreibdidaktik eröffnet den Betroffenen unterschiedliche Wege
aus einem frustrierenden Aufsatzunterricht.286
„Im Unterricht wird der ganzheitliche Vorgang des Schreibens in einzelne Teile
– manuelle Schreibfertigkeit, Grammatik und Wortschatz – zerlegt. Das
Schreiben wird so zu einer lästigen Pflicht, die die Schüler unsicher und wi-
derwillig hinter sich bringen.“ 287
Ausgehend von der Annahme, Kinder erzählen gerne Geschichten und beson-
ders Kinder, die aus einem anderen Land, einem anderen Kulturkreis kom-
men, hätten viel zu erzählen, wird deutlich, wie natürlich der Wunsch ist, sich
anhand des Mediums Schreiben eine neue Welt zu erschließen. Der Wunsch,
die Bilder aus dem Kopf zu befreien, ist ebenso natürlich wie der Wunsch, sich
spielerisch und bildnerisch auszudrücken.
„Wir erzählen schon Geschichten, lange bevor wir das erste Wort schreiben
lernen; doch erst, wenn wir sie auf dem Papier festhalten, gewinnen sie an
Dauer und werden für uns zum Medium unserer Auseinandersetzung mit uns
selbst.“ 288
Die Mehrzahl der Techniken des Kreativen Schreibens sind lernerorientiert. Ein
lernerzentrierter Schreibunterricht nimmt den Lernern die natürliche Freude

285 vgl. Brock (1995)


286 vgl. Pommerin (1992), Sennlaub (1990), Spinner (1980) u.v.a.
287 Rico (1993) a.a.O. S.14
288 Rico (1993) a.a.O. S.26
88

nicht, sondern erhält sie bzw. weckt bei Lernern, deren natürliche Schreiblust
nicht mehr vorhanden ist, wieder Lust, von Gedanken, Erlebnissen und Emoti-
onen zu erzählen bzw. sie zu Papier zu bringen. Dies schließt die Reflexion
sprachlicher Zusammenhänge keineswegs aus, sondern initiiert sie geradezu.
Die Reflexion orientiert sich jedoch an den Bedürfnissen der Schüler und fin-
det nicht um ihrer selbst Willen statt.
Es sind nicht nur die Schreibverfahren und –techniken, die das Kreative
Schreiben vom traditionellen Aufsatz abgrenzen; der Umgang mit den kreativ
geschriebenen Texten ist, wie im Folgenden beschrieben, nicht mit dem Um-
gang mit traditionell geschriebenen Texten vergleichbar.

5.3 Der kreative Schreibkurs


„Man kann Sätze nicht machen, man kann sie nur entgegennehmen
oder ablehnen. Sie fallen einem ja ein. Deutlicher kann es nicht ge-
sagt werden. (...) Man kann sie allerdings auch zuerst entgegenneh-
men, dann – etwas später, Tage oder Wochen später – daran herum-
machen, mit ihnen arbeiten, wie ein Choreograph mit einem Tänzer;
vielleicht muß man sie trotz aller Bemühungen dann doch streichen.“
289

Mehrfach wurde bereits auf die Prozesshaftigkeit und Projekthaftigkeit hinge-


wiesen, die dem kreativen Schaffen eigen ist. Kreatives Schreiben kann nicht
mit der Textproduktion anfangen oder zu Ende sein. Kreatives Schreiben be-
deutet immer die Erschaffung eines Textes von der eigentlichen Idee bis zur
möglichen Veröffentlichung. Kreatives Schreiben bedeutet, eine Idee, einen
Gedankenblitz mitsamt den dadurch beim Schreiber hervorgerufenen Assozia-
tionen in einen Zusammenhang zu bringen, der dann als Text formuliert und
zu Papier gebracht wird. Dieser erste Text, die Rohfassung, reift in der Folge-
zeit heran, wird besprochen, bearbeitet, bewertet und letztendlich in eine
Form gebracht, die einer Veröffentlichung würdig ist. Es verhält sich etwa wie
mit dem u. U. sehr kreativen Akt der Essenszubereitung: Niemand würde ei-
nen Korb voll Gemüse, rohem Fleisch und anderen Zutaten als ein gelungenes
Mahl bezeichnen. Erst die Beschäftigung mit den Zutaten, die richtige Kompo-
sition und das Verfeinern lassen aus den Zutaten ein Gericht werden, das ser-
viert werden kann. Weshalb lernenden Schreibern oder schreibenden Lernern
keine Möglichkeit gegeben werden soll, aus den Zutaten ihres Textes, den I-
deen und den Assoziationen, ein ansprechendes Gericht, also einen ange-
messenen Text zu bereiten, ist nicht nachvollziehbar. Ebenso wenig, wie das
Ansinnen, den Text bereits im Stadium der Rohfassung (roh = nicht gekocht)
zu bewerten, nicht nachvollziehbar ist.

289 vgl. Walser (1996)


89

Dennoch muss der kreative Schreibkurs kein Projekt im eigentlichen Sinn dar-
stellen.290 Die Kriterien des Projektes müssen nicht alle erfüllt werden, um ei-
nen erfolgreichen Schreibkurs zu realisieren. Gemeinsam jedoch haben Pro-
jekt und kreativer Schreibkurs folgende Kriterien: die Verringerung der Dis-
tanz zwischen Unterricht und Leben, in den Ablauf integrierte systematische
Lehrgänge, Arbeit in Gruppen, Berichte und Arbeitsergebnisse, Diskussion der
Ergebnisse, gemeinsames Planen von Maßnahmen, Manöverkritik, selbständi-
ges Planen und Ausführen der Arbeit, unterrichtseinheiten- und fächerüber-
greifendes Arbeiten und Vorstellen eines fertigen Produktes.
Im kreativen Schreibkurs sind kreative Phasen eng mit systematischen Un-
terweisungen und Lehrgängen verknüpft. Der Einschub systematischer Unter-
weisungen in den Produktionsprozess ist an den Bedürfnissen der Schreiber
orientiert. Die Unterweisungen greifen Probleme der Schreiber auf, die wäh-
rend des Schreibprozesses auftreten. Sie werden dann eingeschoben, wenn
die Schreiber sprachlich in eine Sackgasse geraten, wenn sie ihre Aussagen
nicht adäquat formulieren können. Die Trennung von Grammatik-, Recht-
schreib- und Aufsatzunterricht wird aufgehoben und die Inhalte werden nach
ihrer Funktion und Relevanz für die entstehenden Texte ausgewählt. Die Ler-
ner lernen also nicht nach Richtlinien „von außen“, sondern die Progression
richtet sich nach Bedürfnissen „von innen“. Planungsgrundlage ist eine Analy-
se der Rohfassungen und der verschiedenen überarbeiteten Fassungen, die im
Lauf des kreativen Schreibkurses entstehen. Inwieweit die Analyse, die von
der Lehrkraft durchgeführt wird, über eine Analyse in den Bereichen Gramma-
tik und Orthografie hinausgeht und auch Kommunikationsstrategien sowie sti-
listische Aspekte einbezieht, ist situationsabhängig. Die Ergebnisse einer sol-
chen Analyse stellen die Grundlage zur Planung der systematischen Unterwei-
sungen dar. Hier unterscheidet sich die Arbeitsweise der Lehrkraft stark von
der traditionellen Unterrichtsweise. Lerninhalte werden nicht mehr in einen
Monats- oder Jahresplan ein- und diesem damit untergeordnet, sondern sie
werden nach Bedarf der Lerner vermittelt. Dies erfordert eine spontane und
flexible Arbeitsweise, die erst mit der fundierten fachlichen Kompetenz der
Lehrkraft möglich wird. Probleme werden dann gelöst, wenn sie auftreten und
nicht, wenn es der Wochenplan vorsieht. Systematische Unterweisungen wer-
den spontan und ohne langfristige Planung eingeschoben, was der Lehrkraft
fachliche wie auch didaktische Kompetenz abverlangt. Dies bedeutet, dass das
Kreative Schreiben eben nicht nur von den Lernern und der Unterrichtsorgani-
sation abhängt, sondern auch von der Qualifikation der Lehrkraft. Die Lehr-
kraft wird im kreativen Schreibkurs nicht als reiner Wissensvermittler tätig,
sondern agiert als Lernberater. Diese Funktion unterscheidet sich grundlegend
von der, die eine Lehrkraft im Rahmen anderer Lehrmethoden erfüllt. Die

290 vgl. Pommerin (1992), Frey (1990)


90

Lehrkraft tritt bewusst in den Hintergrund und berät die Lerner dann, wenn
sie der fachkundigen Beratung und Information bedürfen. Dies erfordert je-
doch nicht nur eine andere Arbeitsform von Seiten der Lehrkraft, sondern
auch den Mut und die fachliche Kompetenz, minutiöse Planung und die fronta-
le Stellung zur Gruppe aufzugeben, um direkt und konkret auf die Bedürfnisse
der Lerner eingehen zu können.291
Der kreative Schreibkurs beginnt mit der generativen Phase, in der der Text
vorbereitet wird. In dieser Phase wird ein „grobes Schreibkonzept“292 entwi-
ckelt. Vorrangiges Ziel dieser Phase ist das Finden einer inhaltlichen Richtung
für den Text, das mit assoziativen Verfahren erreicht werden soll. Ob die
Schreiber nun mit Hilfe des Free-Writings, des Brainstormings, des Mind-
Mappings, der Visualisierung von Naturbildern, der Veranschaulichung von
Begriffen, einer Gliederung, eines Spiels oder des Clusterings zu ihrem Text
finden, ist abhängig von individuellen Bedürfnissen, von der Gruppe, von der
Situation sowie von der geplanten Textsorte. Am Anfang steht der Schreiban-
lass, der je nach Schreibtechnik aus einem Bild, einem Gedicht, einem Ge-
ruch, aus Musik oder Ähnlichem bestehen kann. Der Schreibanlass ruft Asso-
ziationen hervor und regt die Bildung weiterer an. Aus dem groben Schreib-
konzept wird ein differenziertes Schreibkonzept293, ein Versuchsnetz294 entwi-
ckelt. Daraus entsteht in der produktiven Phase dann ein zusammenhängen-
der Text, der meist als Rohfassung angesehen wird. Dieser erste Text ist au-
thentisch, er ist ein Ausdruck der individuellen Erfahrungswelt des Schreibers.
Das Niveau der formalsprachlichen Korrektheit hängt stark vom Sprachstand
des Schreibers ab und ist in dieser Phase noch zweitrangig.
Die Phase, die den zeitlich größten Raum einnimmt, ist die überarbeitende
Phase. Diese Phase gilt in den meisten Konzepten295 als die letzte und ab-
schließende Phase des Schreibkurses. Diese Auffassung kann hier nicht über-
nommen werden. Die überarbeitende Phase nimmt einen breiten Raum ein,
muss jedoch, wie im Folgenden gezeigt wird, keineswegs eine abschließende
Funktion übernehmen. Diese Phase kann nicht als einheitlich bezeichnet wer-
den, da sie je nach Bedarf in kleinere Einheiten unterteilt wird. Analysen der
Rohfassungen durch die Lehrkraft, Überarbeitungsphasen der Schreiber, sys-
tematische Einschübe gehören der überarbeitenden Phase ebenso an wie
mögliche Neufassungen und Gestaltung der Texte. Die Schreiber erhalten in
dieser Phase Informationen von der Lehrkraft, die nicht nur für den laufenden

291 siehe Kapitel II. 4-6


292 v. Werder (1992) a.a.O. S. 27
293 vgl. v. Werder (1992)
294 vgl. Rico (1993)
295 vgl. Rico (1993) u.a.
91

Text von Bedeutung sind, sondern die Kompetenz in der Zielsprache erheblich
fördern können und Instrumente zu weiteren Textproduktionen darstellen.
Ob die Schreiber ihre Texte auch inhaltlich überarbeiten, hängt in erster Linie
von ihrer eigenen Einschätzung und der Reaktion anderer auf ihren Text ab.296
Die Reaktion der anderen Schreibgruppenteilnehmer ist ein wichtiges Moment
im kreativen Schreibprozess und damit auch ein wichtiger Bestandteil des
Schreibkurses. Das Veröffentlichen eines Textes als Rohentwurf oder zu einem
späteren Zeitpunkt des Schreibkurses ist eine Chance, die erst das Schreiben
in der Gruppe eröffnet. Ein erstes Vorstellen des Textes in einem vertrauten
Rahmen dient, wie bereits dargelegt, nicht nur der Selbsterfahrung des
Schreibers, sondern die Reaktion der Hörer bzw. Leser wird auch Anmerkun-
gen zu stilistischen Aspekten, sprachlichen Abweichungen und eine erste Be-
urteilung beinhalten. Es hat sich gezeigt, dass bereits Grundschüler durchaus
in der Lage sind, Texte in einer solchen Situation konstruktiv zu bespre-
chen.297 Die Reaktion auf den vorgelegten Text zeigt dem Schreiber, inwieweit
sein Text sprachlich und inhaltlich verständlich ist und welchen Eindruck er
beim Publikum hinterlässt. Der Schreiber kann überprüfen, ob er seinen Text
so formuliert hat, dass er von den Rezipienten in seinem Sinne verstanden
wird. Hinsichtlich der Ergebnisse der ersten Veröffentlichung wird er daraufhin
seinen Text überarbeiten. Die so entstandene Neufassung wird dann nach
Möglichkeit erneut in dieser Weise auf Verständlichkeit, Spannung, Aussage-
kraft usw. überprüft. Ist der Schreiber wiederum nicht mit der Reaktion der
Gruppe zufrieden298, kann der Text ein weiteres Mal überarbeitet werden. Je-
doch sollte der Autor in keiner der Überarbeitungsphasen allein gelassen wer-
den. Hier ist eine Unterstützung der Lehrkraft von Nöten. Systematische Un-
terweisungen, Diskussionen mit anderen Schreibgruppenteilnehmern sowie
Phasen der Stillarbeit müssen dann erfolgen, wenn der Schreiber sie für eine
Überarbeitung braucht.
Am Ende des Schreibkurses entsteht aus dem Zusammenspiel authentischer
Aussagen, dem Einfallsreichtum und der Anwendung formaler Sprachregeln
der endgültige Text. Ein Text ist dann als endgültig anzusehen, wenn der
Schreiber ihn so versteht. Hier darf nicht der Zeitplan Ausschlag geben, son-
dern jeder Schreiber hat das Recht, seinen Text in eine für ihn zufrieden stel-
lende Form zu bringen. Bei der Arbeit an einer gemeinschaftlichen Veröffentli-
chung z. B. in Buchform, muss der Text auch von den anderen Schreibern als
veröffentlichungswürdig befunden werden. Forderungen einer redaktionellen
Besprechung muss Rechnung getragen werden. Schreibgruppe und Schreiber

296 vgl. Sennlaub (1990), Pommerin (1986) u.a.


297 siehe Kapitel II. 4
298 siehe Kapitel II.4-6
92

müssen einen Konsens finden, der es erlaubt, den Text zusammen mit den
Texten anderer zu veröffentlichen299.

5.4 Kreative Schreibanlässe


„Unter Kreativität verstehe ich die Fähigkeit, aus dem Gefängnis der
alten Ideen auszubrechen und neue zu entwickeln. Kreativität bedeu-
tet sowohl eine Geisteshaltung als auch die Anwendung bestimmter
Techniken“ 300
Die Anwendung von Techniken erscheint vorab unstimmig. Wie sollen alte,
bereits bekannte Techniken in einem kreativen Prozess hilfreich sein, der die
Neubildung von Ideen und Problemlösungen zum Ziel hat? Der Verdacht, das
Denken fiele bei der Anwendung alter, bekannter Techniken in alte, bekannte
Denkmuster zurück, die doch eigentlich aufgelöst werden sollten, liegt nahe.
Andererseits scheint es einleuchtend, dass ein relativ starr strukturierter Pro-
zess mit Hilfe solcher Techniken durchlaufen wird. Kreativität bedeutet ein
Aufbrechen starrer Denkmuster und die Beleuchtung einer Situation oder ei-
nes Sachverhaltes aus einer anderen Perspektive. Mit Hilfe kreativer Techni-
ken kann man trainieren, alte Denkmuster aufzubrechen und neue zuzulas-
sen. Neue Denkmuster sind dann als neu zu bezeichnen, wenn sie dem Indi-
viduum in dieser Form bislang nicht bekannt waren. Auch kreative Techniken
laufen Gefahr, sich zu institutionalisieren und somit zu starren und in diesem
Sinn „alten“ Denkmustern zu werden. Die im Folgenden vorgestellten Techni-
ken sind als eine Art Trainingsprogramm zu verstehen, die zu einer kreativen
Geisteshaltung führen können. Sie werden jedoch nicht als allein gültige,
Kreativität erzeugende Techniken anerkannt. Die Techniken werden immer
der Situation und den Anforderungen entsprechend modifiziert bzw. mit ande-
ren – auch mit alten und bewährten – Ideen kombiniert.
Das Kreative Schreiben kennt viele, unterschiedliche Schreibverfahren und
Schreibtechniken, die in den unterschiedlichsten Schreibsituationen anwend-
bar sind. Im Folgenden wird eine Auswahl an Schreibverfahren vorgestellt301,
die für die vorliegende Arbeit relevant sind. Alle vorgestellten Verfahren und
Techniken wurden in den Schreibgruppen angewandt, jedoch wurden nicht die
Ergebnisse aller Schreibversuche in den empirischen Teil aufgenommen, da
dies den Rahmen der Untersuchung gesprengt hätte. Die Erfahrungen mit den

299 dto.
300 Edward de Bono
301 Alle Verfahren und Techniken wurden in der Praxis erprobt. Anregungen und Anweisungen entstammten diversen
Seminaren zum Thema „Kreatives Schreiben“ der Didaktik des Deutschen als Fremdsprache an der EWF/Nürnberg. Die
Verfahren wurden teilweise in dem Handbuch von Pommerin (1996) beschrieben.
93

einzelnen Verfahren und Techniken, die in der Praxis gemacht wurden, fließen
in deren Beschreibung ein.
Die Verfahren sind nicht nur für Lerner aller Altersgruppen, sondern auch aller
Erwerbsphasen konzipiert. Selbstverständlich wird die Gruppenzusammenset-
zung Einfluss darauf haben, welches der vorgestellten Verfahren besonders
geeignet ist, grundsätzlich aber steht dem Einsatz in allen Lernergruppen
nichts entgegen, denn die vorgestellten Verfahren sind weniger als streng zu
befolgende Richtlinien, denn als modifizierbare Anwendungen zu verstehen.
Der Fantasie der Lehrkraft werden hier nicht durch die Verfahren, sondern
durch die Bedürfnisse der Lernergruppe Grenzen gesetzt. Kreative Schreibver-
fahren sind leicht verständlich und anwendbar. Ihre Einführung bedarf keiner
komplizierten Erklärungen und kann ohne weiteres von Sprachanfängern ver-
standen werden.
Schreibanlässe dienen nicht in erster Linie zum Schreiben eines zielgerichte-
ten Textes. Ein Schreibanlass kann in einer Gruppe sehr unterschiedliche As-
soziationen entstehen lassen. Schreibanlässe initiieren Assoziationen und Tex-
te, die eng mit der Person des Schreibers verbunden sind. Die hier beschrie-
benen Varianten regen sowohl Fantasie als auch Gedankentätigkeit des Rezi-
pienten und späteren Schreibers an und fördern authentische und emotional
ausgerichtete Assoziationen, die sich in den daraus entstehenden Texten wi-
derspiegeln. Ein und derselbe Schreibanlass kann in einer Gruppe zu unter-
schiedlichen Reaktionen führen. Er kann sowohl bei einigen Teilnehmern eine
Assoziationsflut auslösen als auch bei anderen eine Blockade bedingen. Durch
die Heterogenität der individuellen Reaktionen auf einen Schreibanlass kann
keine homogene Schreibmotivation erreicht werden. Es gilt in der Gruppe,
Schreibanlässe zu testen, ihre Wirkung auf die Schreiber zu thematisieren und
gegebenenfalls zu selektieren. Bewährte Verfahren können wiederholt, nicht
bewährte in der weiteren Arbeit ignoriert werden.

5.4.1 Schreiben nach literarischen Vorlagen


Die Literatur bietet eine unendliche Menge an Vorbildern. Warum nicht bei ei-
nem Meister in die Lehre gehen? Während die Lehrkraft das Handwerkszeug
liefert, demonstrieren die literarischen Vorbilder die Anwendung desselben.
Die Literatur stellt für jeden Schreiber eine Quelle der Anregungen, Inspiratio-
nen und Vorbilder dar. Dieser Fundus kann in den kreativen Schreibunterricht
einbezogen werden. Das jahrelang verpönte Abschreiben oder „Abkupfern“ li-
terarischer Texte oder Elementen daraus wurde zu einem Baustein kreativer
Schreibverfahren entwickelt. Die literarischen Textvorgaben werden demnach
nicht nur als Schreibanlass herangezogen, sondern sie werden erweitert, mo-
difiziert, fragmentarisch in eigene Texte eingebaut und zur Vorlage genom-
men. Das Schreiben nach literarischen Textvorlagen erleichtert den Lernern
den Zugang zur Literatur in der Zielsprache Deutsch und baut die Hemm-
94

schwelle im Umgang mit derselben ab. Die Schreiber erkennen in der Arbeit
mit literarischen Texten den Wert eigener Texte. Die Einsicht, dass anerkann-
te Autoren sich mit denselben Themen und Inhalten beschäftigen wie sie und
ihre Texte auch nicht problemlos zu Papier bringen, nimmt den Lernern die
Angst, Texte zu produzieren und sie einem Publikum vorzustellen. Das
Schreiben nach literarischen Textvorlagen kennt wie alle anderen kreativen
Verfahren keine dogmatischen Regeln und Vorschriften. Dem Einfallsreichtum
von Lehrkraft und Lernern sind hier keinerlei Grenzen gesetzt.
Viele Lerner der ausgewählten Schreibgruppen haben von Haus auf keinen
Zugang zu Literatur. Sie lesen nicht, sie werden in ihrem alltäglichen Leben
nicht mit Büchern konfrontiert. Der so entstandene Mangel an Erfahrung
macht das Lesen erst recht zur Qual. Für viele Lerner sind Bücher unbekannte
Wesen aus einer unbekannten Welt, zu der sie keinen Zugang haben und
auch nicht haben wollen. Je weniger Schüler lesen und damit auch den reinen
Lesevorgang üben, desto mehr entfernen sie sich von diesem Medium. Wurde
die Lesefähigkeit schon in der Grundschule nicht vollständig erworben und au-
tomatisiert, dann ist das Risiko, dass sie wieder verloren geht, hoch.302
Die meisten jugendlichen Lerner, deren Lesefähigkeit nicht elaboriert ist,
empfinden Literatur als etwas Verstaubtes, Altmodisches, Intellektuelles, kurz
als etwas, das nicht zu ihrem Leben gehört und das auch nicht verlockend ge-
nug ist, um sich damit zu befassen. Literatur als Bereich, der unverbesserli-
chen Bücherwürmer, bebrillter älterer Herrschaften und anderer Wesen einer
unverständlichen Welt ist für die Jugendlichen ein Berg, den sie nicht zu er-
klimmen erwägen. Das Kreative Schreiben kann hier einen Beitrag leisten,
den Lernern literarische Texte näher zu bringen und ihnen den Zugang zu er-
schließen. Der Umgang mit literarischen Texten wird beim Kreativen Schrei-
ben zum Einstieg und zur Hilfestellung bei der Produktion eigener Texte. Die
Trennung zwischen Rezeption und Produktion literarischer Texte wird aufge-
hoben, beide Formen des Umgangs mit Literatur werden eng verzahnt. Die li-
terarischen Texte rücken in die Nähe der Lerner und lassen sie somit an einer
Welt teilhaben, die bislang außerhalb ihrer Reichweite lag.
Das Schreiben nach literarischen Vorlagen ist ein Training, das zu einem si-
cheren Gefühl für den ganzheitlichen Charakter und die Ästhetik eines Textes
führt. Die literarische Vorlage inspiriert, sie gibt eine Struktur vor, ein ästheti-
sches Muster, dem der Schreiber folgen kann. Der literarische Text nimmt den

302 Zum flüssigen Lesen einer Zeitung oder eines Buches benötigt man eine Lesegeschwindigkeit von mindestens 2500
bis 3000 Wörtern pro Stunde. Ein guter Hauptschüler kann nach dem Schulabschluss etwa 6000 bis 7000 Wörter pro
Stunde lesen. Wird diese Geschwindigkeit aber über einen längeren Zeitraum nicht mehr gefordert, so bildet sich das
Lesevermögen zurück. Fällt die Lesegeschwindigkeit dann unter 2500 Wörter pro Stunde, wird die Kommunikation mit
dem Text zu aufwendig, die Lesemotivation schwindet und damit wird die Einstellung zum Lesen negativ.
95

Schreiber bei der Hand, der Schreiber lernt durch Imitation. Das Schreiben
nach literarischen Vorlagen spricht das bildliche Denken an, denn es lässt den
Lerner auf Textrhythmus und die Anordnung des Textes aufmerksam werden
und gibt Anhaltspunkte für das eigene Schreiben. Schüler mit einem noch ge-
ringen Sprachstandsniveau können sich an literarischen Vorlagen orientieren
und sie als Gerüst benützen, um ihre eigenen Gedanken darzustellen. Ob sie
sich mehr an der Form oder am Inhalt der literarischen Vorlage orientieren,
bleibt ihnen selbst überlassen.
Das Schreiben nach literarischen Vorlagen eröffnet viele Variationsmöglichkei-
ten. Vom Verändern eines bestehenden Textes (das Finden eines neuen An-
fangs, einer neuen Mitte, eines Endes, die Einführung neuer Personen oder
Orte, das Erzählen aus einer anderen Perspektive, das Versetzen des Textes
in eine andere Epoche usw.) zum Erweitern eines Textes (Erfinden neuer Per-
sonen, Einsetzen von Dialogen, ein Briefwechsel zwischen den Figuren des
Textes, das Verknüpfen der Vorlage mit eigenem Text, das Einfügen neuer
Kapitel) zum Umsetzen des Textes in eine andere Textsorte (Roman zur Bal-
lade, Gedicht zum Songtext, Rap zum Prosatext ...) stehen alle Varianten of-
fen. Es bietet sich an, zu einer literarischen Vorlage, mehrere, unterschiedli-
che Verfahren anzubieten. So kann z. B. die Klassenlektüre zum ganzheitli-
chen Unterrichtsprojekt werden.
Als literarische Vorlagen scheinen Gedichte besonders geeignet, denn sie wir-
ken als literarische Miniaturen durch ihre Ganzheitlichkeit. Ein deutliches Mus-
ter und ein leicht erkennbarer Rhythmus sind Merkmale vieler Gedichte und
erleichtern den Lernern den Zugang zu dieser Textsorte. Ein Gedicht zu
schreiben kann zu einem motivierenden Erfolgserlebnis werden. Die Lerner
erkennen, dass diese Textsorte, die ihnen vorab fremd und wenig anspre-
chend erscheint, ein geeignetes Medium darstellt, mit dessen Hilfe sie sich ar-
tikulieren und eigene Emotionen und Befindlichkeiten äußern können. Was
manchen Lernern auf den ersten Blick unmöglich oder gar albern erscheint,
nämlich selbst Gedichte zu verfassen,303 kann zur heimlichen Leidenschaft
werden, wenn die erste Hemmschwelle überwunden wird. Die Lerner erken-
nen schnell, dass diese Textsorte relativ schnell zu ansehnlichen Ergebnissen
führt und ihre Produktion Spaß macht. Gedichte schreiben erlaubt, mit der
Sprache zu spielen, formale Grenzen zu überschreiten und die Zielsprache zu
erkunden.
Das Gedicht stellt ein einheitliches Ganzes dar und ist in sich abgeschlossen.
Daher bieten sich Veränderungen der Form sowie Erweiterungen des Inhalts
meist nicht an. Dieses Verfahren ist vielmehr dazu geeignet, eigene Gedichte
mit Inhalten aus dem eigenen Lebensbereich nach dem Muster, dem Rhyth-

303 vgl. Puhan-Schulz (1989)


96

mus und der Struktur der literarischen Vorlage zu verfassen. In der neueren
deutschen Lyrik finden sich viele Gedichte, die die Sprache selbst thematisie-
ren. Sie überzeichnen den Zusammenhang zwischen Struktur und Bedeutung
und machen diesen Zusammenhang zum Inhalt. Diese bewusst herbeigeführ-
te Spannung zwischen Struktur und Bedeutung bringt Spannung in den
Sprachunterricht und kann auch von Sprachanfängern bewältigt werden.

Deklination
die Frau
die Frau
der Frau
der Frau
- ich habe keine Frau!
Text eines Teilnehmers aus dem Sudan, 6 Mo-
nate in der Bundesrepublik Deutschland.

5.4.2 Finden ungewöhnlicher Vergleiche


Das Finden ungewöhnlicher Vergleiche führt zu kleinen, abgeschlossenen Ein-
heiten, häufig zu Gedichten. „So schön wie...“, „so wichtig wie...“ und andere,
vergleichbare Satzanfänge führen zur Metaphernbildung. Lerner nicht-
deutscher Primärsprache retten sich in den ersten Phasen des Spracherwerbs
häufig mit Metaphern über sprachliche Defizite (geringer Wortschatz etc.)
hinweg. Diese kreative Strategie soll positiv gesehen und trainiert werden, so
dass die Fähigkeit, Metaphern zu bilden und anzuwenden auch dann erhalten
bleibt, wenn sie nicht mehr zur Überbrückung sprachlicher Defizite notwendig
ist. Die entstehenden Vergleiche können aneinander gereiht werden, so dass
aus den einzelnen Fragmenten eine Einheit, ein Gedicht wird. Denkbar ist
auch ein Gedicht, das aus einer Komposition einzelner Arbeiten besteht. So
bleibt unsicheren Lernern die Produktion eines eigenen Gedichtes erstmal er-
spart.
In diesem Bereich wird vom Lerner viel Kreativität und Fantasie gefordert.
Bilder aus dem individuellen Lebensbereich werden in spielerischer Weise
verschriftlicht und in dieser Weise in den Unterricht eingebracht. Ungewöhnli-
che Vergleiche müssen jedoch weder für sich alleine noch zu Beginn eines
Textes stehen. Sie können auch in Texte eingebunden werden, die anhand ei-
nes anderen kreativen Schreibverfahrens produziert wurden, ähnlich eines
Bausteinsystems. Das Finden ungewöhnlicher Vergleiche bzw. die Metaphern-
97

bildung geben den Schülern ein Werkzeug an die Hand, auf das sie in späte-
ren Schreibsituationen immer wieder zurückgreifen können.304

5.4.3 Schreiben nach motivierenden Satzanfängen


Eine Form, in der sich das Schreiben nach literarischen Vorlagen und die Bil-
dung von Metaphern treffen, stellt das Schreiben nach motivierenden Satzan-
fängen dar. Sie werden als Einstieg in den individuellen Text vorgegeben. Ob
sie von der Lehrkraft oder von der Lernergruppe vorgegeben werden, ist situ-
ationsabhängig. Als Einführung eignet es sich wohl besser, wenn die Lehrkraft
der Gruppe einen motivierenden Satzanfang vorgibt, während meist nach der
Einführungsphase Vorschläge von den Schreibern selbst gemacht werden, die
ihrer individuellen Situation entsprechen. Auch junge Lerner sind durchaus in
der Lage, motivierende Satzanfänge zu formulieren, nach denen sie Lust ver-
spüren Texte zu schreiben:

Wenn ich ...


ein Tier wäre, ...
erwachsen wäre, ...
Schuldirektor wäre, ...
Lehrer/-in wäre, ...
ein Rotzlöffel wäre, ...
ein Schlumpf wäre, ...
ein Astronaut wäre, ...
Gott wäre, ...
ein Riese wäre, ...
ein Dinosaurier wäre, ...
ein Polizist wäre, ...
cool wäre, ...
Wenn die Kinder über die Welt bestimmen könnten, ...

Vorschläge einer 4. Grundschulklasse


Diese Art der vorgegebenen Satzanfänge motiviert Lerner stark zum Schrei-
ben eigener kreativer Texte. Allerdings muss beim oben gewählten Beispiel

304 siehe Kapitel II. 4


98

darauf geachtet werden, dass die Schüler bereits über den Konjunktiv II ver-
fügen, um eine Stringenz zwischen vorgegebenem Satzanfang und weiterfüh-
rendem Text schaffen zu können. Dieser Schreibaufgabe muss daher eine
Thematisierung der im Satzanfang vorgegebenen grammatischen Struktur im
Unterricht vorangehen. Dann allerdings bietet sich das Verfassen eines Textes
nach einem so formulierten Satzanfang als Übungsform an. Bei Lernern, die
noch nicht über die entsprechenden grammatischen Kenntnisse verfügen, wie
hier der Konjunktiv II, sollten die Vorgaben sprachlich einfacher strukturiert
sein wie etwa „Ich bin cool, ...“.

5.4.4 Schreiben nach Bildern


Alle visuellen Kunstformen sprechen die Vorliebe des bildlichen Erfassens für
Ganzheiten an. Sie sind als Schreibanlass in jeder Gruppe, unabhängig von
Sprachniveau und Alter, geeignet. Vorlage können Bilder aller Art305 sein:
Kunstdrucke, eigene Bilder aus der Kunsterziehung, Fotos, Zeichnungen, Ka-
rikaturen, Comiczeichnungen u. v. m. Beim Betrachten eines Bildes, eines Fo-
tos oder einer Skulptur wird der dominante Eindruck gefiltert und als Kern-
wort des Clusters eingesetzt. Der Kern kann so z. B. aus einem Wort beste-
hen, das ein Gefühl bezeichnet, das sich beim Betrachten eingestellt hat, oder
eine Reaktion auf eine dominierende Farbe oder Form. Um diesen Kern herum
werden dann Assoziationen gesammelt und im Cluster visualisiert, die mehr
oder weniger Verbindung zur visuellen Vorlage haben. Beim Schreiben nach
Bildern entstehen innerhalb einer Gruppe meist sehr unterschiedliche Texte,
da die visuelle Vorlage nicht auf alle Schreiber dieselbe Wirkung hat und weil
der entstehende Text zwar in direktem Zusammenhang zur visuellen Vorlage
stehen kann, aber nicht muss. Der Inhalt wird je nach dem Kernwort, dem
Cluster und dem daraus entstandenen Versuchsnetz sehr individuell ausfallen.
Das Übertragen einer Information von einer Darstellungsform in eine andere
(hier: vom Bild zum Text) wird in einer Schreibgruppe, der dieses Verfahren
neu ist, meist auf eine Beschreibung äußerer Merkmale, ähnlich einer Bildbe-
trachtung, beschränkt sein. Eine formale Bildbetrachtung stellt für Schreiber,
die keinen Bezug zur visuellen Vorlage finden, oder für Schreiber, die nicht
über die notwendigen sprachlichen Mittel verfügen, eine Alternative dar, die
trotz aller Widrigkeiten vom Bild zum Text führt. Ist die Schreibgruppe jedoch
mit dem Verfahren vertraut, werden die Texte in zunehmendem Maße emoti-
onaler, authentischer und verlassen den sicheren Weg der Beschreibung äu-
ßerer Merkmale. Die Schreiber tauchen in das Bild ein, lassen sich treiben und

305 „Schreiben nach Bildern schließt hier alle visuellen Vorlagen ein. Die Bezeichnung wurde gewählt, um den
Zusammenhang zwischen den visuellen Vorlagen und dem bildhaften Denken herauszustreichen. Auch Skulpturen als
abgeschlossene Ganzheiten können als visuelle Vorlage gelten.
99

formulieren ihre individuellen Eindrücke und Emotionen. Manche Texte verlas-


sen so die visuelle Vorlage und erschließen einen neuen Horizont.
Das Schreiben nach Bildern ist als Schreibanlass für Lerner aller Sprachstand-
niveaus und Altersgruppen geeignet, da die Assoziationen, die sich beim Be-
trachten des Bildes einstellen, frei formuliert werden können. Möglicherweise
wird von der Lehrkraft eine Vorlage ausgewählt, die die Schreiber nicht an-
spricht und somit die Schreibmotivation hemmt. Dieser Umstand sollte the-
matisiert und diskutiert werden sowie alternative Vorschläge der Lerner ein-
bezogen werden. Hier ist im schulischen Bereich eine Verbindung zur Kunster-
ziehung besonders sinnvoll. Eigene Werke der Lerner werden aus der Kunst-
erziehung heraus in den Sprachunterricht übernommen und werden dort zum
Unterrichtsgegenstand. Auch das Kennen lernen verschiedener Maler und de-
ren Werke kann im Sprachunterricht gefestigt und angewendet werden. Hier
ergeben sich ähnliche Möglichkeiten, mit Meisterwerken umzugehen wie beim
Schreiben nach literarischen Vorlagen. Stark motivierend ist das Gestalten
von Texten, also die Verbindung von Text und bildnerischer Kunstform zu ei-
nem Gesamtkunstwerk, das dann in beliebiger Form veröffentlicht werden
kann. Denkbar wäre z. B. ein „Chagall-Buch“.306
Schreiben nach Bildern muss nicht zwangsläufig das Schreiben eines Textes
nach einer Bildvorlage sein. Auch andere Verfahren sind denkbar. Visuelle
Vorlagen können mit Sprech- oder Denkblasen versehen werden, Seiten aus
Comicheftchen können mit neuen Texten versehen werden oder Ähnliches.
Die Situationskomik eigener Fotos kann durch das Erstellen von Untertiteln,
Kommentaren oder Sprechblasen hervorgehoben werden. Diese Verfahren
gestalten sich allerdings nicht so einfach für die Lerner, wie es auf den ersten
Blick erscheinen mag. Die Lerner müssen zwar keinen elaborierten Text
schreiben, sondern kurze Einheiten, sie müssen ihre Aussagen jedoch gerade
auf Grund des geringen Umfanges konkret und präzise formulieren. Diese
Aufgabe ist gerade im Anfangsunterricht schwierig zu bewältigen. Die Lerner
haben hier keine Möglichkeit, auf Vermeidungsstrategien, wie etwa Umschrei-
bungen, zurückzugreifen. Ein Kurzkommentar, ein Untertitel oder das Auffül-
len einer Sprechblase erfordert eindeutige, auf die Vorlage abgestimmte Aus-
sagen, die gerade für Lerner auf einem noch niedrigen Sprachstandsniveau
einen hohen Schwierigkeitsgrad haben. Beim Auffüllen der Sprechblasen oder
beim Erstellen eines eigenen Comics bergen Interjektionen sowie typische
Verschriftlichung von Lauten der Textsorte häufig große Schwierigkeiten, so
geben nicht alle Erdenbürger ein „AU!“ von sich, wenn ihnen jemand auf den

306 vgl. zur Gestaltung von Texten Kap. 3. Die Gestaltung eines Textes ist allerdings nicht nur bei Texten, die nach
einer visuellen Vorlage geschrieben wurden ein stark motivierendes Moment. Auch für Texte, die anhand anderer
Schreibverfahren entstehen, bildet die endgültige Gestaltung mit Farbe, Collagentechnik, Zeichnungen, Schriftgestaltung
etc. eine abschließende Arbeitsphase, die in Kap. 3 beschrieben wird.
100

Fuß steigt. Die Variationen sind hier vielfältig und führen häufig zu Kommuni-
kationsproblemen.
Trotz der Schwierigkeiten findet gerade diese Textsorte bei jüngeren Lernern
großes Interesse. Sie haben Comics bereits kennen und meist lieben gelernt.
Diese Textsorte hat ihren Platz in der Lebenswelt jüngerer Lerner und ist bei
ihnen sehr beliebt. Gerade Lerner, die unter den bereits besprochenen Lese-
und Schreibschwierigkeiten leiden, finden hier einen Einstieg in die Auseinan-
dersetzung mit geschriebener Sprache. Das Anfertigen von Comics bietet Ler-
nern, die unter Schreibschwierigkeiten leiden, aber eine gute Auffassungsgabe
für Situationen sowie gestalterische Talente haben, die Möglichkeit, erfolg-
reich Texte zu produzieren. Eine Zusammenarbeit von Lernern, deren Fähig-
keiten unterschiedlich gewichtet sind, kann zu überraschenden und alle Mitar-
beitenden stark zu weiterer Schreibarbeit motivierenden Ergebnissen führen.
Grundsätzlich sollten jedoch die Spezifika dieser Textsorte herausgearbeitet
und thematisiert werden, um unzulässige Übertragungen auf andere Textsor-
ten zu vermeiden.
Eine ähnliche Aufgabe, das Erstellen eines Fotobuches mit eigenen Fotogra-
fien, die anlässlich eines Wandertages oder Schullandheimaufenthaltes ent-
standen sind, die dann mit kurzen Kommentaren oder kleinen Texten verse-
hen werden, erfordert eine andere Arbeitsweise. Da die Fotos zunächst nicht
extra zu diesem Zweck gemacht wurden, wird ein Auswahlverfahren notwen-
dig. Diese Auswahl erfordert Kriterien, die sich bereits an der Textsorte und
deren spezifischen Anforderungen orientieren. Das Ergebnis, eine mit Sprech-
blasen, Untertiteln und anderen Kommentaren versehene Fotosammlung,
führt schnell zu (sichtbarem!) Erfolg. Diese Arbeiten eignen sich bestens für
Gruppenarbeit, soweit es sich nicht um persönliche Themenstellungen han-
delt. Auch das Schreiben nach visuellen Vorlagen setzt der Fantasie von Ler-
nern und Lehrkraft keine Grenzen und kann je nach Situation und Gruppe va-
riiert werden.

5.4.5 Schreiben nach Musik


Das Schreiben nach Musik ist ein Schreibverfahren, das – ähnlich wie das
Schreiben nach visuellen Vorlagen – die Umsetzung eines Inhalts von einer
Darstellungsform in eine andere erfordert. Aus diesem Grund ist das Schrei-
ben nach Musik ähnlich strukturiert. Der dominante Eindruck, der sich beim
Hören eines Musikstückes einstellt, wird zum Kern des Clusters oder zum „ro-
ten Faden“ im Text. Es bieten sich unterschiedliche Vorgehensweisen an, den
dominanten Eindruck zu verschriftlichen. Die den bislang vorgestellten Verfah-
ren ähnlichste Vorgehensweise nimmt das jeweilige Musikstück zur Vorlage.
Der dominante Eindruck wird zum Kernwort des Clusters, aus dem dann das
Versuchsnetz entsteht, das zu einem ersten Text führt. Das Stück wird den
Schreibern vorgespielt, möglicherweise wird dieser Vorgang wiederholt. Die
101

Schreiber finden ihr Kernwort und schreiben dann ohne Musik oder mit dezen-
ter Hintergrundmusik ihren individuellen Text. Das Musikstück wird zum
Schreibanlass, die Wahl des Kernwortes ist stark vom individuellen Eindruck
des Schreibers abhängig. Auch beim Schreiben nach Musik kann es dazu
kommen, dass ein Schreiber keinen Bezug zum Schreibanlass findet und er
entweder nicht schreibt oder sich auf eine formale Beschreibung des Musik-
stücks beschränkt. In solchen Fällen kann das Kernwort auch eine Bezeich-
nung des dominanten Instrumentes oder der Rhythmus sein. Schreiber, die
sich von der Musik angesprochen fühlen, produzieren möglicherweise sehr
emotionale und persönliche Texte.
Eine weitaus schwieriger zu bewältigende Aufgabe stellt das Schreiben zur
Musik dar. Hier schreiben die Schüler bereits während des ersten Hörens ihre
Eindrücke oder Fantasien auf. Dieses Verfahren erfordert jedoch andere Vor-
aussetzungen als das oben beschriebene. Die Basisidee zum Text, der rote
Faden, muss sich schnell, möglichst zu Beginn des Hörens, einstellen. Der
Schreiber muss seine Ideen während des Hörens weiter spinnen. Bei diesem
Verfahren entstehen meist Textfragmente, Stichworte, Satzfetzen. Eine Wei-
terentwicklung zum Text kann, muss aber nicht stattfinden. Dieses Verfahren
initiiert keine in sich abgeschlossenen Texte, wie die bereits vorgestellten Ver-
fahren.
Das Schreiben zur Musik kann schreibungeübte Lerner vor unlösbare Proble-
me stellen: Unbewusst versucht sich der Schreibrhythmus dem Rhythmus der
Musik anzugleichen, was den Schreiber zu erhöhtem Tempo verleitet, dem
seine sprachlichen Fähigkeiten nicht folgen können. Diese Schreiber fühlen
sich gehetzt und überfordert, sie steigen nach kurzer Zeit aus und finden kei-
nen Zugang mehr. Bei Schreibseminaren an der Universität zeigte sich, dass
auch primärsprachliche Studierende Probleme mit diesem Schreibverfahren
haben können. Dementsprechend sollte dieses Verfahren nur in Schreibgrup-
pen eingeführt werden, die über die notwendigen sprachlichen Fähigkeiten in
der Zielsprache Deutsch verfügen.
Eine Steigerung des Schwierigkeitsgrades stellt eine dritte Variante dar. Das
Verfassen eines zur Musik passenden Textes bietet sich erst für den Fortge-
schrittenenunterricht an. Eine etwas weniger schwierige Aufgabe ist das Ver-
fassen eines Songtextes, wenn die Musik nach dem Text ausgesucht oder zu-
sammengestellt wird. Die Vorgehensweise vom Text zur Musik ist auch für
ungeübtere Schreiber oder Schreiber mit sprachlichen Defiziten leichter zu
bewältigen und daher eher geeignet als die Vorgehensweise von der Musik
zum Text.
Die Transformation der musikalischen Darstellung in die schriftliche ist die
wohl am wenigsten erforschte Form des Kreativen Schreibens. Sie gilt auch
als sehr schwierig und die erfolgreiche Durchführung ist stark situationsab-
hängig. Nicht nur die Auswahl der Musikstücke entscheidet über Erfolg oder
102

Misserfolg, auch die Stimmung der Schreiber und die Atmosphäre des Rau-
mes, in dem geschrieben wird, zählen zu den Faktoren, die über ein Gelingen
des Schreibversuchs entscheiden. Eine Einführung, die über andere Aus-
drucksformen führt, kann den Zugang zur musikalischen Vorlage erleichtern.
Eine mündlich erzählte Geschichte, Pantomime, Tanz oder bildnerisches Ges-
talten können den Weg von der Musik zum Text ebnen. Der Einsatz des
Schreibens nach bzw. zur Musik sollte gezielt auf die Schreibgruppe abge-
stimmt sein, um Misserfolge und demotivierende Schreiberfahrungen nicht zu
provozieren.

5.4.6 Schreiben nach Gerüchen


Die Variante des Schreibens nach Gerüchen steht hier nicht grundlos am Ende
der Aufzählung. Es ist nicht nur das bislang am wenigsten erforschte, sondern
auch das organisatorisch am schwierigsten zu bewältigende Verfahren. Das
Schreiben nach Gerüchen unterscheidet sich grundlegend von den bisher auf-
geführten Verfahren, da es keine Transformation eines Inhaltes von einer
künstlerischen Darstellungsform in eine andere darstellt. Den Schreibanlass
bildet hier ein Geruch. Die Schreiber assoziieren in einem individuellen oder
einem gemeinschaftlichen Cluster frei zu dem Geruch und entwickeln aus dem
Cluster eigene, individuelle Texte. Der Zugang zum Text fällt vielen Schrei-
bern leicht und stellt sich schnell ein. Gerüche sind stark mit Erinnerungen
behaftet und rufen Assoziationen hervor. Leider ist dieses Verfahren im Unter-
richt vergleichsweise schwierig zu bewerkstelligen, da der Geruch jedem
Schreiber auf gleiche Weise präsent sein sollte. Die Arbeit mit Duftölen, ge-
tränkten Wattebäuschchen oder Objekten, denen der gewünschte Geruch zu
Eigen ist (Orangenschalen, Turnschuh...) gestaltet sich aufwendig und hat
möglicherweise eine lange und hartnäckige Anwesenheit des Geruches im
Raum zur Folge, was unter Umständen eher unangenehm sein kann. Dennoch
ist das Verfahren gut geeignet, da Gerüche zu sehr individuellen und auch
emotionalen Assoziationen führen können und damit auch zu sehr authenti-
schen, emotionalen und persönlichen Texten. Auch schreibungeübte Lerner
oder Schreiber, die noch keine oder wenig Erfahrung mit kreativen Schreib-
verfahren haben, finden über dieses Verfahren schnell zum eigenen Text.

5.5 Assoziative Verfahren


Kreative Schreibverfahren dienen unter anderem dazu, den Schreibern den
Weg zum eigenen Text zu erleichtern. Die assoziativen Verfahren helfen, in
den Text einzusteigen, Ideen zu sammeln, Ideen zu ordnen und sie anwend-
bar werden zu lassen. Viele Lerner sitzen, lässt man sie mit der Anweisung ei-
nen Text zu einem bestimmten Thema zu verfassen alleine, vor dem weißen
Papier und fühlen sich überfordert bis hilflos. Ihnen fehlen weder die Ideen
oder noch die formalsprachliche Kompetenz oder gar beides, ihnen fehlt das
Know-how, ihre Fähigkeiten anzuwenden. Bietet man ihnen an diesem Punkt
103

Hilfestellungen an und stellt ihnen Verfahren und Techniken vor, die ihnen den
Einstieg in den eigenen Text erleichtern oder ermöglichen, erspart ihnen dies
die frustrierende und demotivierende Erfahrung, hilflos vor dem weißen Papier
zu sitzen.

5.5.1 Cluster
Das Knüpfen eines Ideennetzes oder Clusters307 ist eines der assoziativen Ver-
fahren, das sich bereits im Anfängerunterricht Deutsch als Fremdsprache be-
währt hat. Rico beschreibt die Entstehung dieses Verfahrens wie folgt:
„Das Buch >The Hidden Order of Art< des Psychiaters Anton Ehrenzweig,
(...), enthält ein kompliziertes, an eine Straßenkarte erinnerndes Schaubild,
mit dem Ehrenzweig verdeutlichen will, was bei einer schöpferischen Ideensu-
che in unserem Gehirn entsteht. Als ich darüber nachdachte, wie man einen
solchen Suchprozess auf dem Papier darstellen könnte, und dabei verschiede-
ne Möglichkeiten durchspielte, stieß ich auf ein Verfahren, das ich >Cluste-
ring< genannt habe. Beim Betrachten von Ehrenzweigs Schemazeichnungen
schrieb ich das erste Wort, das mir in den Sinn kam, in die Mitte eines leeren
Blattes, zog einen Kreis herum – (...) – und fügte, wie elektrisiert durch die
Gedankenverbindungen, die sich in meinem Kopf um diesen Mittelpunkt her-
um sammelten und in alle Richtungen ausstrahlten, immer neue Einfälle, As-
soziationen zu diesem einen Wort hinzu. (...) Während ich noch damit be-
schäftigt war, mein >Cluster< weiter auszuspinnen, verlagerten sich auf ein-
mal die Gewichte: Das Gefühl ziellos herumzuschweifen, machte trotz des
bunten Durcheinanders einer ersten Orientierung Platz, und ich fing an zu
schreiben.“ 308
Das Clustering ist ein nicht-lineares Verfahren, das mit der freien Assoziation
und dem Brainstorming verwandt ist. Das Cluster zeigt eine Vielzahl von Ein-
fällen und Gedanken, die aus einem Teil unseres Gehirns stammen, das In-
formationen unstrukturiert speichert.309 Im Mittelpunkt steht ein Kernwort,
das auslösender, visueller Reiz für die Sammlung aller sich einstellender Asso-
ziationen ist. Die Assoziationsbündel sind immer individuell und einzigartig. In
dieser Phase des kreativen Schreibprozesses ist jede Assoziation erlaubt. Kei-
ne Idee ist falsch, alle werden unzensiert in das Cluster aufgenommen. Die
Selektion beginnt erst zu einem späteren Zeitpunkt. Das Clustering ist ein
Prozess, der einer starken Eigendynamik unterworfen ist. Bei der scheinbar

307 Cluster = Büschel, Traube, Gruppe, Haufen, Anhäufung


to cluster = anhäufen, zusammenballen, zu Büscheln anordnen
vgl. Rico (1993) a.a.O. S.8
308 Rico (1993) a.a.O. S.8
309 vgl. Brock (1995)
104

wahllosen Anordnung von Wörtern und Begriffen um den Kern lassen sich im
Strom der Einfälle Muster erkennen, bis hin zum Festlegen des Schwerpunktes
im Text, was zu einem Schreibimpuls, einer Schreibintention führt. Das
Clustering ist dann beendet, wenn dem Schreiber klar ist, wo der Schwer-
punkt seines Textes liegt und was geschrieben werden soll.
Das Cluster kann im Unterricht als Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit sowie
im Plenum angefertigt werden. Die Arbeitsform richtet sich nach der jeweili-
gen Schreibsituation, die sich aus dem Sprachstand der Lerner, der Textinten-
tion sowie den Unterrichtsinhalten ergibt. Zur Einführung in das Verfahren
bietet sich das Erstellen eines Gemeinschaftsclusters an, an welchem alle Ler-
ner mitwirken.310 Lerner, die über für die Gruppe unterdurchschnittliche
Sprachkompetenz in der Zielsprache Deutsch verfügen, können sich bei der
Arbeit an einem Gemeinschaftscluster an den Beiträgen anderen Lerner orien-
tieren und sich von ihnen anregen lassen. Alle Beiträge werden gleichberech-
tigt, unkommentiert und unzensiert aufgenommen. So entsteht ein gruppen-
spezifischer Wortschatz, der seinerseits zum Unterrichtsgegenstand werden
kann (Sammlung auf Wortkarten u. a. m.). Nicht nur im interkulturellen
Sprachunterricht stellt diese Wortschatzarbeit ein wichtiges Moment dar, denn
hier werden die Lerner zur Wortschatzarbeit motiviert, da die Begriffe ihrer
eigenen Lebenswelt entstammen und nicht um ihrer selbst Willen aufgelistet
werden. Dies motiviert erfahrungsgemäß in weitaus größerem Maße zum Ler-
nen der neuen Vokabeln als vorgegebene Einheiten, zu denen die Lerner kei-
nen persönlichen Bezug haben.
Der Einstieg in den Text wird in zweifacher Hinsicht erleichtert: Zum einen
entsteht ein Fundus an Ideen, mit dessen Hilfe Schreiber, die keine eigenen
Ideen zum jeweiligen Kern oder Thema haben, dennoch einen Text schreiben
können und ein „Wortgerüst“, an das sich jene Lerner halten können, welche
nicht über ausreichende sprachliche Mittel verfügen. Im Cluster treten nicht
nur einzelne Vokabeln auf, sondern auch Begriffe, syntaktische Einheiten, die
im eigenen Text aufgegriffen und verarbeitet werden können.

5.5.2 GeKo
Vom Scheidt entwickelte die Form des Clusters weiter zur GeKo. Die Gedan-
ken-Ketten-Organisation geht einen Schritt weiter als das Cluster. Es werden
nicht nur Begriff, Stichworte und Phraseologien aufgenommen, es sind bereits
ganze Sätze sowie ausformulierte Gedanken und sogar kleine Textpassagen
zugelassen. Zunächst wird die GeKo wie ein Cluster angelegt, doch durch die

310 Im empirischen Teil dieser Untersuchung werden sowohl Texte vorgestellt, die anhand eines Gemeinschaftsclusters
entstanden vorgestellt, als auch solche, die anhand von Gruppenclustern oder individuellen Clustern angefertigt wurden.
Die unterschiedliche Nutzung der so gesammelten Ideen und des gesammelten Wortschatzes werden detailliert
untersucht und dargestellt.
105

elaborierten Ergebnisse ist eine starke Determination des entstehenden Tex-


tes angelegt. V. Scheidt lässt die Ausformulierung der einzelnen Ideen und
Gedanken in der GeKo so weit zu, dass ein Text schon aus der Aneinanderrei-
hung der einzelnen Bestandteile der GeKo entstehen kann.311
Cluster und GeKo liefern Ideen zu den unterschiedlichsten Textsorten: zu Ge-
dichten, Aufsätzen, Kurzgeschichten, Sachtexten, Songtexten, Romanen usw.
Die Verfahren führen fast zwangsläufig zu in sich abgeschlossenen Texten. Die
so entstehende Ganzheitlichkeit und das Gefühl der Befriedigung, das den
Schreiber erfasst, sind die Hauptcharakteristika der ästhetischen Erfahrung.
Um die Ganzheitlichkeit der Texte nicht zu gefährden, wird zumindest zu Be-
ginn der Schreiberfahrung keine Textsorte vorgegeben und die Schreibzeit
auf 10 bis 15 Minuten begrenzt.312
Das GeKo bildet ebenso wie das Cluster einen ersten Schritt zur Textprodukti-
on, der Übergang zum Versuchsnetz313, zu einem ersten Sinnzusammenhang,
den zweiten Schritt. Das Versuchsnetz ist die erste Vorstellung von einem
Text. Es ist ein provisorisches Muster, eine lockere Vorstellung vom zu erwar-
tenden Ganzen, die dem Text seinen Schwerpunkt vorgibt, seine Richtung und
seinen Sinn erkennen lässt. Das Versuchsnetz ist ein Komplex von Erinnerun-
gen, Bildern, Gefühlen, der mehr Aufmerksamkeit erregt als die einzelnen E-
lemente des Clusters. Der Moment des Erkennens der auftretenden Muster,
„in dem das, was bisher nur als Chaos erschien, sich nun als Zentrum eines
Themas erweist.“314
vermittelt den Schreibimpuls.

5.5.3 Schreiben nach Schlüsselwörtern


Das Schreiben nach Schlüsselwörtern ist dem Clustering ähnlich, unterschei-
det sich jedoch in einem wichtigen Punkt: Alle gesammelten Wörter und Beg-
riffe werden im Text verarbeitet. Dazu werden die Schlüsselwörter entweder
vorgegeben oder streng thematisch in der Schreibgruppe gesammelt. Das be-
deutet, dass nicht jeder Vorschlag in die Ideensammlung aufgenommen wird,
sondern nur solche, die im Kontext sinnvoll und passend erscheinen. Der
Schreiber findet hier keinen Zugang zum eigenen Text, sondern arbeitet sich
an den Schlüsselwörtern entlang. Er orientiert sich stark an der Vorgabe und
hat nicht die Möglichkeit, so frei zu arbeiten, wie etwa beim Clustering. Das
Schreiben nach Schlüsselwörtern stellt jedoch gerade im Zweit- und Fremd-

311 vgl. v. Scheidt (1995)


312 Im empirischen Teil der Untersuchung wird auf dieses zeitliche Limit nochmals ausführlich eingegangen, da es sich
in der Praxis sehr bewährt hat.
313 vgl. Rico (1993), Pommerin (1988)
314 Elbow (1981) a.a.O. S.35
106

sprachenunterricht keineswegs eine einfache Aufgabe dar, auch wenn es auf


den ersten Blick so scheinen mag. Die inflexible Vorgabe engt den Schreiber
ein und verpflichtet ihn dazu, die Schlüsselwörter sinnvoll und formalsprach-
lich korrekt zu verknüpfen und in einen Text einzubinden Dies erfordert ein
hohes Maß an sprachlicher Kompetenz, da die vorgegebenen Wörter und Beg-
riffe durch syntaktische Elemente verknüpft werden müssen. Zur Bewältigung
dieser Aufgabe muss der Lerner bereits über die erforderlichen Fähigkeiten
verfügen (Konjunktionen, Satzstellung...). Die Lerner werden durch dieses
Verfahren gezwungen, ihre Vermeidungsstrategien weitgehend aufzugeben
und ihre sprachliche Entwicklung in der Zielsprache zu forcieren. Hier liegt der
Vorteil dieses Verfahrens: Lerner, die dazu neigen, beim Schreiben kreativer
Texte sprachliche Strukturen, derer sie sich nicht sicher sind, zu vermeiden
und dafür entsprechende Strategien entwickelt haben, können mit Hilfe dieses
Verfahrens dazu gebracht werden, ihr Trainingsplateau, ihre Spracherwerbs-
ebene, die sie u. U. zu lange besetzt haben, zu verlassen. Die Lehrkraft sollte
hier situationsbedingt entscheiden, welches Verfahren sie in welcher Weise
einführt oder vorschlägt. So ist es durchaus denkbar, dass nur eine bestimmte
Quote der Schlüsselwörter in die individuellen Texte aufgenommen werden
muss.
Das Schreiben nach Schlüsselwörtern lässt der Fantasie, der individuellen
Schreibintention weniger Raum als andere assoziative Verfahren. Es erfordert
vergleichsweise hohe sprachliche Leistungen und Fähigkeiten sowie einen an-
gemessenen Sprachstand.

5.5.4 Free-Writing
Auch das Free-Writing ist ein nicht-lineares Assoziationsverfahren. Bei Free-
Writing kommt es zuerst nur darauf an, fünf Minuten ohne Pause Gedanken
zum vorgegebenen Thema aufzuschreiben. Stellen sich keine Gedanken zum
Thema ein, so kann auch auf andere, präsente Themen ausgewichen werden
wie z. B. die Farbe des Stiftes. Wichtig ist, dass in den fünf Minuten absolut
ohne Unterbrechung geschrieben wird. Das Free-Writing umfasst folgende
Techniken: freie Assoziation, Assoziationskette, Rapid Writing und automati-
sches Schreiben. Diese Techniken eröffnen jeweils unterschiedliche Zugänge
und Einblicke ins Thema. Die freie Assoziation erfasst das Kreative Schreiben
als Lernmethode, die Assoziationskette zeigt das Kreative Schreiben als Pro-
zess. Das Rapid Writing eröffnet Einblicke in die Praxis des Kreativen Schrei-
bens und das automatische Schreiben stellt eine Verbindung zu den Surrealis-
ten her, die von v. Werder als „Vorläufer des Kreativen Schreibens in der Lite-
ratur“315 bezeichnet werden.

315 v. Werder (1986) a.a.O. S.30


107

Das Free-Writing ist ebenso wie die anderen Verfahren und Techniken des
Kreativen Schreibens variabel. Elbow316 stellt verschiedene Varianten vor:
Schreiben über spontane Gedanken, Vorurteile, erste Visionen, Meditationen,
Dialoge, Wahrheit und Lüge. Diese Vorschläge erleichtern vor allem jenen
Schreibern den Einstieg in das Free-Writing, die Schwierigkeiten haben, ohne
Pause fünf Minuten lang zu schreiben. Weitere Varianten sind natürlich zuge-
lassen und wiederum von der Situation der Gruppe bestimmt.

5.5.5 Brainstorming
Das Brainstorming ist wohl das bekannteste Assoziationsverfahren. Es kann
sowohl in Einzel-, als auch in Gruppenarbeit durchgeführt werden. Diese
Technik verhilft zu einer raschen, ausführlichen Sammlung von Assoziationen
zum jeweiligen Thema. Die Gruppenteilnehmer assoziieren frei oder gebunden
zu einem Thema. Ein Moderator sammelt die Beiträge. Das Brainstorming
kann sowohl linear als auch nicht-linear, mit oder ohne Quotierung sowie ver-
bal oder schriftlich durchgeführt werden.

5.5.6 Mind-Map
Das Mind-Mapping geht auf Buzan318 zurück, der dieses Verfahren
entwickelte. Das Mind-Mapping gleicht in vielen Punkten dem Clustering. Es
werden jedoch verschiedene Varianten beschrieben319: Beim freien Mind-
Mapping werden die Assoziationen zu einem bestimmten Kernwort in beliebi-
ger Anordnung notiert. Die Reihenfolge, in der sich die Assoziationen einstel-
len wird durch eine lineare Verbindung visualisiert und kann damit zu einem
späteren Zeitpunkt nachvollzogen werden. Das freie Mind-Mapping erlaubt die
Aufnahme aller Ideen und Gedanken, die in Stichwörtern, Begriffen, Satz-
fragmenten oder kurzen Textpassagen notiert werden. Im Unterschied zum
Clustering wird die Entwicklung der Gedankenstränge grafisch eindeutiger
aufgezeichnet und dadurch hervorgehoben.
Noch deutlicher wird die Progression beim systematischen Mind-Mapping. Hier
werden die Schwerpunkte im Uhrzeigersinn um den Kern angeordnet und As-
soziationen und Ideen, die sich dazu einstellen auf „Ästen“ der jeweiligen
„Schwerpunktbäume“ angesiedelt. Das systematische Mind-Mapping erfordert
eine erste Strukturierung der Assoziationen und Ideen und erlaubt in einem
ersten Schritt bereits eine erste Zuordnung und Gliederung. Dies bedeutet,
dass im systematischen Mind-Mapping eine Arbeitsphase, die bei den bisher
vorgestellten Verfahren zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt, vorweg genom-

316 vgl. Elbow (1981)


317 vgl. Elbow (1981)
318 vgl. Buzan (1984)
319 vgl. Buzan (1984), Kirchhoff (1989)
108

men wird. Dieses Zusammenziehen zweier Arbeitsschritte hat den Vorteil,


dass eine erste Struktur weitaus schneller entsteht. Die Festlegung auf einige
„Hauptäste“ zu einem frühen Zeitpunkt kann sich aber auch nachteilig auf den
Schreibprozess auswirken. Dieses Verfahren ist nicht dazu angelegt, zu einer
möglichst weit gefächerten und ergiebigen Assoziationssammlung zu gelan-
gen, die einem Text eine unerwartete Wendung oder einen neuen, interessan-
ten Aspekt geben kann. Entscheidend scheint hier die Intention des Textes zu
sein, die über die Auswahl des Assoziationsverfahrens bestimmt. Das syste-
matische Mind-Mapping erfordert bereits vorab eine konkrete Vorstellung von
Thema und Inhalt des Textes, denn nur unter dieser Voraussetzung ist es
dem Schreiber überhaupt möglich, Schwerpunkte zu setzen.
Der Übergang vom Mind-Mapping zu einem ersten Text gestaltet sich bewuss-
ter als das Finden eines Versuchsnetzes beim Clustering. Während das Ver-
suchsnetz sich spontan und ohne vorherige Planung einstellt, wird beim freien
wie auch beim systematischen Mind-Mapping eine systematische Umsetzung
der im Assoziationsverfahren auftretenden Begriffe in eine neue Darstellungs-
form gefordert. Das fertige Mind-Map wird in einen Text oder in kleinere Text-
fragmente übersetzt. Normalerweise werden alle im Mind-Map aufgeführten
Begriffe übernommen, denn eine Selektion wurde bereits beim Erstellen
durchgeführt. Auch in dieser Phase lässt das Mind-Mapping weniger Spielraum
für spontanes Aufnehmen neuer, ungeplanter Ideen bzw. einer neuen inhaltli-
chen Tendenz.
Eine noch stärker strukturierte Variante des Mind-Mappings ist die Visualisie-
rung in Naturbildern. Hier werden die Assoziationen nicht nur unter Schwer-
punkten zusammengefasst, sondern auch hierarchisch, in Hinblick auf den ge-
planten Text, angeordnet. Die Vorlage zum Naturbild sind Bäume und Büsche.
Deren äußere Form, also Stamm, Äste, Zweige und Blätter wird im Assoziati-
onsverfahren nachgebildet. Die Hauptidee bildet den Stamm, diesem werden
Gedanken als Äste zu- und untergeordnet. Dasselbe passiert auf den unterge-
ordneten Ebenen der Zweige und Blätter. Grund- und Folgeideen werden
streng getrennt und gekennzeichnet. Dieses Verfahren erfordert eine starke
Zuordnung und Systematisierung. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt in der
Möglichkeit, sich das Bild eines Baumes oder eines Busches während des As-
soziierens vor Augen zu halten und damit auch die Ideen in einer geordneten
Form vor dem inneren Auge zu haben. So kann diese Form des Assoziierens
auf der einen Seite durchaus hilfreich sein, möglichst schnell zu einem roten
Faden zu kommen, schließt aber andererseits neue Ideen und Aspekte weit-
gehend aus.
109

5.6 Die Textproduktion


„12. Juli: Längst Vergangenheit die blöde Startphase, wo ich dem
Schreibtisch auswich. Er zieht mich an. Tag und Nacht. Will wissen
wie es weitergeht. Jetzt ist das Schreiben wie einen Film anschauen.
Es ist schön. Druck ist nicht mehr nötig, nur noch Kraft, um die ver-
dammten Einfälle zu ordnen und keine neuen zuzulassen.“ 320
Die im vorherigen Kapitel beschriebenen Verfahren und Techniken bereiten
den Rohentwurf vor. Schreibanlass und Assoziationsverfahren stellen die Wei-
chen für den entstehenden Text. Je nach Assoziationen und deren Ausrichtung
erhält der Text seinen inhaltlichen „roten Faden“. Oft wird erst während des
Assoziationsverfahrens deutlich, welches Thema der Text erhält, welche Ideen
und Gedanken der Schreibanlass tatsächlich hervorgerufen hat. Der Schreiber
hat Ideen gesammelt und gebündelt, sie in eine erste Form gebracht und viel-
leicht auch schon in eine Hierarchie eingepasst und beginnt dann seinen Text
zu schreiben. Dieser Text ist ein Rohentwurf und stellt eine erste Verbindung
der Ideen dar. Inwieweit die Rohfassung einer endgültigen Fassung entspricht
hängt stark vom Schreiber ab.
In einer Schreibgruppe, deren Ziel die Förderung der Sprachkompetenz in der
Zielsprache Deutsch ist, wird die Rohfassung meist starke Abweichungen von
der formal korrekten Schreibweise zeigen. Viele Schreiber empfinden den
Gebrauch des Wörterbuchs oder des Grammatikheftes während der Schreib-
phase als lästig und verzichten darauf. Tatsächlich zeigen teilnehmende Beo-
bachtungen deutlich, dass das Zurückgreifen auf Hilfsmittel, die der Rohfas-
sung zu einer formalsprachlichen Korrektheit verhelfen sollen, den Schreib-
prozess ins Stocken geraten lässt321. Die meisten Schreiber geben an, die
Rohfassung „aus dem Bauch heraus“ zu schreiben, da sie so den sich einstel-
lenden Schreibfluss nicht unterbrechen müssten. Es konnte häufig beobachtet
werden, dass Schreiber in den Rohfassungen Vokabeln, die ihnen auf Deutsch
nicht bekannt waren oder die ihnen während des Schreibens nicht einfielen,
kurzerhand in der jeweiligen Primärsprache einfügten, um sie zu einem späte-
ren Zeitpunkt mit Hilfe des Wörterbuches zu übersetzen.
Der Rohentwurf entsteht in Schreibgruppen meist in einem Zug, er wird mög-
lichst ohne Unterbrechung geschrieben. Sehr oft hat ein Beobachter den Ein-
druck, die Lerner schrieben unter Druck. In Gesprächen und Diskussionen ü-
ber den Schreibprozess wurde dieser Eindruck häufig bestätigt. Die Lerner,
unabhängig welcher Altersgruppe, gaben an, sich beim Schreiben in der

320 Joseph v. Westphalen


321 siehe Kapitel II.5
110

Zweit- oder Fremdsprache noch mehr unter Druck zu fühlen, den Anschluss
an den eigenen Text nicht zu verlieren als in der Primärsprache.
„Manchmal ist meine Hand nicht so schnell wie mein Kopf und dann gibt es
Stau.“322

EXKURS 4: Schreibblockaden
Beim Verfassen des Rohentwurfs machen Schreiber möglicherweise die erste
Bekanntschaft mit dem Phänomen der Schreibblockade.323 Schreibblockaden
haben ihre Ursache in den häufigsten Fällen entweder im mangelnden Bezug
des jeweiligen Schreibers zum Schreibanlass bzw. zum vorgegebenen Thema
oder in einem überhöhten Anspruch der Schreiber an den eigenen Text.
Schreibblockaden sind ernst zu nehmen und sollten von der Lehrkraft thema-
tisiert werden. Die Tendenz, Schreibblockaden als Symptome einer latenten
Schreibunlust der Lerner einzuschätzen, führt in den meisten Fällen zu mehr
oder weniger freundlichen Aufforderungen, endlich zu schreiben. Kommt der
Lerner den Aufforderungen nicht nach bzw. kann er ihnen auch beim besten
Willen nicht nachkommen, reagieren manche Lehrkräfte mit Disziplinierungs-
maßnahmen, die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu einer Lösung der Blo-
ckade beitragen. Ausgehend von der Annahme, dass Lerner und ihr individuel-
ler Schreibprozess ebenso ernst zu nehmen sind wie ihre Texte, ergibt sich die
Auffassung, dass die Nicht-Produktion von Texten in gleichem Maße erst zu
nehmen ist. Die Lehrkraft wird individuell entscheiden müssen, welcher Art die
Schreibblockade ist und wo deren Ursache liegt.
Die Aufgabe der Lehrkraft ist es, dem Schreiber Mittel und Wege aufzuzeigen,
wie die Schreibblockade abgebaut werden kann. V. Werder stellt hierzu
Schreibtechniken vor:
Schnell-Schreiben: Der Rohentwurf wird so schnell geschrieben, dass der
„innere Zensor“ auf der Strecke bleibt. Wörterbücher und sonstige Hilfsmittel
werden außer Acht gelassen, damit der Schreibfluss nicht unterbrochen wird.
Möglicherweise sollte mit einem Zeitlimit gearbeitet werden, um dem Lerner
die Möglichkeit zu nehmen, sein Schreiben zu unterbrechen.
In Schichten Schreiben: Der Schreiber arbeitet nicht stringent an seiner
Rohfassung, sondern springt zwischen einzelnen Texteinheiten hin und her,
verbessert und streicht. Der Text wird in einer Weise geschrieben, die mit
dem Malen eines Ölbildes verglichen werden kann. Die Ergebnisse werden erst
am Ende geordnet, woraus dann eine lesbare Fassung wird.

322 Bemerkung eines jugendlichen Schreibers, der im Förderunterricht geschrieben hat.


323 vgl. v.Werder (1992), v. Scheidt (1995)
111

Lautes Schreiben: Vielen Schreibern ist es hilfreich, beim Schreiben (halb-)


laut vor sich hin zusprechen. Insbesondere Lerner, die im mündlichen Sprach-
bereich geübter sind bzw. die sich im mündlichen Ausdruck sicherer fühlen,
tendieren dazu, sich Sätze erst vorzusagen und dann aufzuschreiben. Die
Möglichkeit, das Gesprochene auf seinen Klang hin zu überprüfen gibt ihnen
Sicherheit.
Zuviel Schreiben: Diese Methode ist besonders geeignet für Schreiber, die
mit ihrem „inneren Zensor“ Probleme haben. Hier schreibt der Lerner alle I-
deen und Gedanken auf und streicht in einem zweiten Arbeitsgang die über-
flüssigen Passagen wieder heraus. Er umgeht so im ersten Arbeitsgang die in-
nere Zensur und kann dadurch flüssiger schreiben.
Mit Überzeugung schreiben: Besonders im Sprachunterricht mit jugendli-
chen oder erwachsenen Lernern wird häufig die Schere zwischen der persönli-
chen Überzeugung des Schreibers und dem Anspruch des Publikums oder ei-
nes mögliches Bewerters zur Ursache einer Schreibblockade. Der Schreiber
lässt eigene Gedanken nicht zu, weil er der Meinung ist, sie könnten vor ei-
nem Publikum nicht standhalten. Er balanciert zwischen dem, was er eigent-
lich schreiben möchte und dem, von dem er glaubt, die anderen würden es
von ihm erwarten, hin und her. Hier sollte dem Schreiber empfohlen werden,
nur nach seiner Überzeugung zu schreiben und den ersten Entwurf in einem
zweiten Schritt auf die Ansprüche der Rezipienten hin zuzuschneiden.
Schreiben ist Übungssache. Diese Tatsache muss den Lernern immer wieder
verdeutlicht werden, um mögliche Schreibblockaden zu verhindern. Kein
Schreibanfänger produziert bereits zu Beginn Texte, mit denen er und das
Publikum zufrieden sind. Den Lernern muss vermittelt werden, dass der
Schreibkurs dazu dient, ihre Schreibfertig- und –fähigkeiten zu verbessern
und nicht, um sie zu beweisen. Unter diesem Gesichtspunkt werden die An-
sprüche der Lerner und der Lehrkraft an eine Rohfassung eher niedrig ange-
setzt. Der einzelne Schreiber kann sich in einer gut organisierten Schreib-
gruppe auf die Hilfestellung der anderen Schreiber und der Lehrkraft verlas-
sen und muss nicht demotiviert und resigniert aufgeben, wenn es zu einer
Schreibblockade kommt. Eine Schreibgruppe, die dem einzelnen Teilnehmer
Sicherheit vermittelt, kann entscheidend auf den individuellen Erfolg des
Schreibprozesses Einfluss nehmen.
Eine Schreibblockade kann auch durch eine Veränderung der Schreibsituation
gelöst werden. Die Gestaltung des Arbeitsplatzes, das persönliche Befinden
können sich positiv oder negativ auf den Schreibprozess auswirken. Ein star-
res Festhalten an einer Situation ist dem Schreibprozess nicht dienlich. Auch
im Unterricht kann die Arbeitssituation verändert werden, wenngleich nur in
einem gewissen Rahmen. Warum müssen Lerner beim Schreiben in einer vor-
gegebenen Sitzordnung verbleiben? Es ist durchaus vorstellbar, dass ein
Schreiber im Liegen auf dem Boden besser schreiben kann. Vielen Lernern
112

geht im wahrsten Sinne des Wortes beim Schreiben die Luft aus. Ein kurzer
Spaziergang auf dem Hof kann hier Abhilfe schaffen. Eine erfahrene Lehrkraft
wird ihre Lerner auch darauf aufmerksam machen, dass die Wahl des richti-
gen Schreibgerätes und Papierformates einen nicht als gering einzuschätzen-
den Einfluss auf den Schreibprozess nehmen kann.
Treten in einer Gruppe Schreibblockaden auf, so kann es auch für die nicht
betroffenen Lerner hilfreich sein, diese im Unterricht zu thematisieren. Ge-
spräche über das Schreiben sollten in jedem Unterricht genügend Zeit und
Raum finden. Der Austausch mit andern Schreibern ist nicht nur für Profis hilf-
reich und wichtig, sondern auch – oder gerade – für Schreibanfänger.

Häufig bleibt es im schulischen Unterricht beim Verfassen eines ersten Textes.


Wie im traditionellen Aufsatzunterricht wird eine Textversion verfasst – die
hier als Rohfassung bezeichnet wird – und dann nach einer kurzen Korrektur
des Schreibers („Lies deinen Aufsatz nochmals durch, bevor du ihn abgibst!“)
der Lehrkraft zur Bewertung überlassen. Nach der Rückgabe werden gemein-
hin lediglich Rechtschreibfehler verbessert. Häufig werden kreativ geschriebe-
ne Texte in der schulischen Praxis nicht bewertet, sondern als „kreatives“
Produkt stehen gelassen, da die Lehrkraft befürchtet, eine Korrektur nehme
den Lernern die Motivation zur weiteren Textproduktion. Viele Lehrkräfte be-
richteten, sie hätten Scheu, kreativ geschriebene Texte zu korrigieren, da sie
annähmen, dieser Vorgang vermittle den Lernern das Gefühl, sie könnten die
Texte inhaltlich nicht akzeptieren, würden sie diese mit dem Rotstift bearbei-
ten.
Eine Rohfassung muss jedoch, zumindest nach einer Anfangsphase der
Schreiber, zum Unterrichtsgegenstand werden, wenn das Kreative Schreiben
zur Förderung der Sprachkompetenz in der Zielsprache herangezogen werden
soll. Die Rohfassungen müssen hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen un-
tersucht werden. Die Ergebnisse dieser Untersuchung stellen die Basis der
Überarbeitung dar. Die Strategien, die der Überarbeitung der Texte dienen,
müssen erlernt und deshalb zum Unterrichtsgegenstand werden. Auch in au-
ßerschulischen Schreibgruppen nimmt die Überarbeitung der Rohfassungen
einen breiten Raum ein.

5.7 Die Überarbeitungsphasen


In der Literatur zum Kreativen Schreiben besteht Konsens darüber, dass die
ersten Texte der Schreiber, also die Rohfassungen überarbeitet werden müs-
sen. Es wurde eine Vielzahl von Überarbeitungsstrategien entwickelt, die sich
in ihrer Ausrichtung zum Teil stark unterscheiden.
113

Einige Didaktiker sehen eine Überarbeitung der Rohfassung nur dann vor,
wenn eine Veröffentlichung der Texte geplant ist.324 Sie gehen von der An-
nahme aus, Kreatives Schreiben sei ein Verfahren, das überwiegend privater
Natur sei und der eigenen Freude und Entspannung diene. Aus diesem Blick-
winkel erscheint eine (angeleitete) Überarbeitung tatsächlich nicht von Nöten.
Verbunden mit der Argumentation, die standardisierten Bewertungskriterien
seien irrelevant für die Sprachhaltung und der Inhalt sei zu individuell und
damit zu wenig vergleichbar, um geeignete Kriterienkataloge zur Einschätzung
und Bewertung zu erstellen, findet das Verfahren keinen Platz im Unterrichts-
alltag.325 Das Erstellen einer Schülerzeitung, eines Klassentagebuchs oder pri-
vates Schreiben außerhalb des Unterrichts sind denkbare Varianten aus dieser
Perspektive. Es liegt auf der Hand, dass eine derartig reduzierte Form des
Kreativen Schreibens eine Textüberarbeitung nur vor einer Veröffentlichung
sinnvoll macht.
Im Gegensatz dazu steht eine immer größer werdende Gruppe von Didakti-
kern, die der Überarbeitungsphase, der Auseinandersetzung mit dem eigenen
Text, eine wichtige Funktion des Kreativen Schreibens zuordnen.326 Untrenn-
bar geht damit die Einschätzung des Kreativen Schreibens als prozesshafte,
„harte“ Arbeit einher, die eine enge Verzahnung subjektiver, emotionaler und
kreativer Aspekte mit systematischen darstellt. Das Schreiben als schöpferi-
scher Prozess wäre ohne systematische Komponenten nicht vollständig. Krea-
tives Schreiben eröffnet den Schreibern eben nicht nur ein Medium des per-
sönlichen Ausdrucks, sondern erschließt ihnen dieses Medium in gleicher Wei-
se. Dies bedeutet, dass neben „angenehmen“ Phasen des kreativen Schreib-
kurses auch solche stehen, in welchen sich die Schreiber mit „ernsthaften An-
gelegenheiten“ befassen. Die Auseinandersetzung mit der Zielsprache steht in
diesen Phasen im Vordergrund. Oberstes Lernziel im Sprachunterricht ist der
Erwerb der Zielsprache. Die Förderung sprachlicher Kompetenz sowohl im
mündlichen als auch im schriftlichen Sprachgebrauch ist ohne systematische
Unterweisungen, Übungsphasen und ohne Engagement und Mühe der Lerner
nicht möglich. Die häufig gepriesenen Verfahren, die eine Förderung sprachli-
cher Kompetenzen ohne Mühe und Anstrengung versprechen, haben sich in
der Praxis nur teilweise oder gar nicht bewährt.
Die Überarbeitungsphase wird je nach den Bedürfnissen der Lerner und der
Anforderungen an die Lehrkraft gestaltet. Die wohl bekannteste Form ist die
Schreibkonferenz.327 In einer Schreibkonferenz werden von den Konferenzteil-
nehmern Verbesserungsvorschläge zu den zur Diskussion gestellten Rohfas-

324 vgl. Eichler (1992)


325 siehe Kapitel I.3.1 und II.4
326 vgl. Spitta (1985), Pommerin (1992) u.a,
327 vgl. Spitta (1985)
114

sungen erarbeitet und getestet. Die Rohfassungen werden von den Konferenz-
teilnehmern hinsichtlich inhaltlicher, sprachlicher sowie emotionaler Aspekte
untersucht und bearbeitet. Dieses Verfahren wurde aus dem Konzept der
Schreibkonferenzen entwickelt, das in England in den 80er Jahren des letzten
Jahrhunderts entstanden ist.328 In diesem Konzept sind soziales Lernen und
sprachliches Lernen eng verbunden. Ziel der Schreibkonferenzen ist eine Her-
anführung der Schreiber an professionelle Schreibstrategien ebenso wie eine
Herausbildung einer inneren Haltung der Schreiber gegenüber dem Schreiben,
wie sie professionellen Schreibern zu Eigen ist.
Bei jungen oder jüngeren Schreibern wird sich die Schreibkonferenz ebenso
wie bei unerfahrenen Schreibern mehr auf der inhaltlichen Ebene und auf der
Beziehungsebene konzentrieren. Es liegt an der Situation der Schreibgruppe,
der Intention, die sie mit ihren Texten verfolgt und an der Lehrkraft, inwieweit
die Konferenzteilnehmer die Texte auch hinsichtlich sachlicher und formaler
Kriterien bearbeiten. Im schulischen und außerschulischen Sprachunterricht
kann auf eine Auseinandersetzung auf der Sachebene und der formalsprachli-
chen Ebene nicht verzichtet werden, soll die sprachliche Kompetenz in der
Zielsprache gefördert werden. Hier ist die Lehrkraft verantwortlich, die sich
gleichzeitig einem fundamentalen Rollenwechsel hin zum
„... einfühlsamen, mitlernenden, kompetenten Berater und Begleiter individu-
eller (...) Sprachlernprozesse.“ 329
unterzieht. Die von Spitta angesprochenen Lernprozesse beziehen sich jedoch
nicht ausschließlich auf das Sprachenlernen. Die Förderung der Diskussionsfä-
higkeit (nicht nur in der Zielsprache!), die Bereitschaft zur Teamarbeit, das
Einüben sozialen Handelns schlechthin sind untrennbar mit den Schreibkonfe-
renzen verbunden.
Schreibkonferenzen können mit Lernern jeder Altersgruppe und jedes Er-
werbsniveaus organisiert werden.330 Die Lehrkraft wird sich im Verlauf der
Konferenz mehr und mehr aus dem aktiven Geschehen zurückziehen und die
oben genannte Rolle als Begleiter einnehmen. Vom Scheidt verweist auf die
zentrale Rolle der Themenzentrierten Interaktion in Schreibkonferenzen hin331
und fordert eine gründliche Ausbildung der Lehrkraft in Diskussionsführung
und Vermittlung von Diskussionsregeln. Die Kenntnis von Diskussionsstrate-
gien und deren Training ermöglichen eine konstruktive Auseinandersetzung
mit den Rohfassungen in der (Klein-) Gruppe oder im Plenum. Der Erfolg einer
Schreibkonferenz hängt davon ab, ob die Teilnehmer in der Lage sind, persön-

328 vgl. Graves (1983)


329 vgl. Spitta (1985) a.a.O. S.8
330 siehe Kapitel II.4-6
331 vgl. v. Scheidt (1995) zur TZI nach R.Cohn
115

liche Zu- und Abneigungen gegenüber anderen Teilnehmern zugunsten kon-


struktiver Arbeit hintan zu stellen. Erst dann kann Kritik geäußert und auch
angenommen werden. Treten dennoch während der Schreibkonferenz Konflik-
te zwischen Teilnehmern auf, so müssen sie thematisiert und möglichst beho-
ben werden. Gleichermaßen führen „Freundschaftsbeweise“ zu einem Schei-
tern der Schreibkonferenz, wenn negative Eindrücke, die sich beim Hören o-
der Lesen der Rohfassungen einstellen verschwiegen oder positiv bewertet
werden, um den Schreiber nicht zu verletzen.
Als Handwerkszeug bieten sich für Schreibkonferenzen die operationalen Ver-
fahren332 an. Diese Verfahren sind vergleichsweise problemlos einzuführen
und lenken die Schreibkonferenz. Sie eignen sich für die Arbeit in Gruppen
und führen die Konferenzteilnehmer von der Beziehungsebene zur formalen
Ebene der Überarbeitung. Der Einsatz operationaler Verfahren evaluiert Pha-
sen der Reflexion und der Übung und vermittelt den Ansatz zu konstruktiver,
sprachkritischer und kreativer Spracharbeit an den eigenen Texten. Bereits
verfestigte Strukturen werden aufgebrochen und die sprachliche Kompetenz
wird erweitert. Mit Hilfe der operationalen Verfahren werden sprachliche Mittel
und deren Wirkungen herausgearbeitet und verglichen. Diese Vorgehensweise
erweitert durch einen fast spielerisch zu nennenden Umgang mit der Sprache
den Fundus sprachlicher Mittel der gesprochenen und geschriebenen Sprache.
Die Zusammenarbeit mit den anderen Konferenzteilnehmern bringt neue An-
regungen und verdeutlicht gleichzeitig dem Schreiber des zu untersuchenden
Textes, an welchen Textstellen er seinen Text überarbeiten muss, um ihn in
eine angemessene Form zu bringen. Die Anwendung der operationalen Ver-
fahren führt zu Erkenntnissen und Ergebnissen, die dem Schreiber zeigen, an
welchen Stellen sein Text zu knapp oder zu weit gefasst ist und lassen unpas-
sende Formulierungen hervortreten. Die Konferenzteilnehmer diskutieren die
Schwachstellen des Textes und bieten dem Schreiber Verbesserungsvorschlä-
ge an. Die Entscheidung, ob und inwieweit er diese Textstellen bearbeitet und
dazu die Verbesserungsvorschläge heranzieht, bleibt dem Schreiber überlas-
sen. Er hat das letzte Wort.333
Von Werder stellt ein weiteres Verfahren zur Überarbeitung des Rohentwurfs
vor. Der Schwerpunkt liegt hierbei nicht auf der Zusammenarbeit von Schrei-
bern, sondern es handelt sich um Überarbeitungsstrategien, die der Schreiber

332 zusammengestellt von Glinz (1965), entwickelten sie sich von reinen patterns aus der Fremdsprachendidaktik zu
universal einsetzbaren Textüberarbeitungsstrategien. Für die Zweit- und Fremdsprachendidaktik entwickelten
Hegele/Pommerin (1983) die operationalen Verfahren weiter. Die operationalen Verfahren bestehen aus verschiedenen
„Proben“, anhand derer Sätze, Textpassagen oder ganze Texte auf ihre Aussagekraft, ihre Korrektheit und ihre
ästhetische Wirkung hin überprüft werden können.
333 Die praktische Umsetzung der operationalen Verfahren in einer Schreibkonferenz ist im Teil II der vorliegenden
Arbeit dokumentiert.
116

auch alleine bewältigen kann.334 Die Verfahren können aber auch in Schreib-
konferenzen zum Tragen kommen. Die Techniken können in drei Gruppen zu-
sammengefasst werden.
Der Text wird mit Hilfe verschiedener Lesetechniken hinsichtlich der Bedeu-
tung des ganzen Textes, der Form und der Struktur des Textes sowie einer
Korrektur formalsprachlicher Abweichungen überprüft. Als Hilfestellung wird
eine Checkliste herangezogen. Sie beinhaltet Fragen bezüglich der Textbot-
schaft, des Textaufbaus sowie der Textproportionen, der Häufung von Kli-
schees, dem Vorkommen rassistischer und sexistischer Argumente und des
Textstils. Die Ergebnisse dieser Überprüfung werden mit Korrekturzeichen
vermerkt.
Der Text wird mit Hilfe eines „Führers für Textrevision und Umschreiben“335
überprüft. Dieser Führer nimmt das Revisionsurteil auf und nennt mögliche
Probleme, die als Ursache für die Schwächen des Textes gelten können und
zeigt Lösungsvorschläge auf.336 Die Checkliste zeigt dem Schreiber Möglich-
keiten und Wege zu einer sinnvollen Überarbeitung seiner Rohfassung auf. Als
alleiniges Material zur Überarbeitung scheint diese Liste allerdings nicht ge-
eignet, da sie nur oberflächlich auf Probleme eingeht, die sich bei der Überar-
beitung einstellen können. Jedoch bietet die Liste im Zusammenspiel mit der
Anwendung anderer Überarbeitungsstrategien eine gute Übersicht.
Der Text wird von einem Testleser überprüft. Die Wahl des Testlesers wird
von der Intention des Schreibers bestimmt. Ein Testleser, der gleichzeitig
Schreiber ist, wird den Text hinsichtlich (professioneller) Mängel kritisieren.
Ein Testleser, der weder auf der formalen noch auf der inhaltlichen Ebene Ex-
perte ist, wird den Text auf seine Verständlichkeit hin überprüfen. Hat ein sol-
cher Testleser Verständnisfragen, werden so Textstellen ermittelt, die einer
Überarbeitung unterzogen werden müssen. Inhaltliche Kritik wird am ehesten
von einem Testleser geübt werden, der mit dem thematischen Schwerpunkt
des Textes vertraut ist.
Die Überarbeitung eines Textes mit Hilfe eines Testlesers bringt auch die Ü-
berarbeitungsstrategien v. Werders in die Nähe der Schreibkonferenzen. Die
Auseinandersetzung mit Lesern und deren Kritik und Urteil ist für jeden
Schreiber konstruktiv und wichtig. Die Zusammenarbeit von Schreibern in
Schreibkonferenzen, Schreibwerkstätten und anderen Gruppen wird in einem
allgemeinen Konsens als unverzichtbar angesehen. Im Vordergrund steht
hierbei nicht das gemeinsame Arbeiten am Rohentwurf als Gemeinschaftspro-
duktion, sondern die gemeinsame Überarbeitung der individuell erstellten

334 vgl. v. Werder (1990)


335 vgl. v. Werder (1990) a.a.O. S.76
336 siehe Checkliste 1 im ANHANG
117

Rohentwürfe. Schreiben in der Isolation, ohne Auseinandersetzung mit ande-


ren führt nicht zu auf allen Ebenen qualitativ guten Texten und dient nicht in
angemessenem Umfang der Förderung der sprachlichen Kompetenz der
Schreiber.

5.8 Die Bewertung und Beurteilung kreativ geschrie-


bener Texte
„Schreiben ist viel schwer.“
Kreativ geschriebene Texte werden in der schulischen und außerschulischen
Praxis meist nicht bewertet und bleiben in der Rohfassung stehen. Sie werden
in dieser Form zu einem Geheft zusammengefasst, an die Klassenzimmer-
wand geheftet oder in der Aula ausgehängt und als einmaliges Produkt, in
welchem sich Spontaneität und „Kreativität“337 der Lerner zeigen, gepriesen.
Lehrkräfte, die den kreativ geschriebenen Texten einen höheren Stellenwert
einräumen möchten, scheitern häufig an deren Bewertung. Die erprobten Be-
wertungsstrategien aus dem Aufsatzunterricht scheinen diesen Texten nicht
angemessen, da sie keine Bewertung kreativer Ideen oder Formulierungen
vorsehen, sondern größtenteils auf formalsprachliche Kriterien beschränkt
sind. In einem Schulsystem, das die Ernsthaftigkeit seiner Inhalte von deren
Beurteilung und Bewertung abhängig macht, werden Inhalte, die auf den ers-
ten Blick schwer oder gar nicht bewertbar sind, an den Rand gedrängt. Somit
scheint eine Bewertung kreativ geschriebener Texte nicht nur eng mit dem
Stellenwert des Verfahrens im Unterricht verzahnt, sondern auch der kreative
Schreibkurs kann nur unter der Bedingung der Bewertung einen angemesse-
nen Platz im Unterricht finden.
„Das Dilemma scheint unauflösbar: E n t w e d e r das kreative Schreiben –
dann aber im pädagogischen Schonraum, d. h. ohne Beurteilung und Bewer-
tung – sichert Respekt vor dem individuellen Text, beschert aber auch eine
Außenseiterposition des kreativen Schreibens und der daraus entstehenden
Texte und läuft einer Integration kreativer Sprachförderung mit Erstfallcha-
rakter zuwider. O d e r die Gleichbehandlung kreativer Texte mit funktionalen
Texten führt zu einem Ernstnehmen authentischer Schüler- und Studentenäu-
ßerungen, evoziert gleichzeitig aber auch Ungerechtigkeit bei der Einschät-
zung der authentischen Texte wegen der Unmöglichkeit Bewertungsschemata

337 Hier wird Kreativität nicht als Zusammenspiel von Fantasie und Sachkompetenz gesehen, sondern synonym zu
Fantasie und Originalität verwendet. Der Begriff steht hier in Anführungszeichen, da er sich in dieser Interpretation nicht
mit dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Kreativitätsbegriff deckt.
118

zu übertragen und kann ebenfalls zum Vertrauensbruch zwischen Lernenden


und Lehrenden führen.“338
Im Folgenden sollen Strategien vorgestellt sowie neue entwickelt werden, mit
deren Hilfe kreativ geschriebene Texte bewertet werden können.
„Unterricht (...) setzt Lehr- und Lernbarkeit der Lehr-/Lerninhalte voraus. Hier
stoßen wir beim Verfassen von Texten – vergleichbar mit der Bildenden
Kunst, Musik usw. – an gewisse Grenzen, zumindest im kreativ-
schöpferischen Bereich. Soweit jedoch Faktoren, die den Schreibakt steuern,
ausgegliedert, Teilprozesse operationalisiert, Lehrziele definiert, Lösungswege
und Lernzielkontrollen ermittelt werden können, ist Aufsatzschreiben lehr-
bar.“339
Professionelle Schreiber erlernen während ihrer Ausbildung, ebenso wie
Schreiber, die nebenberuflich oder in privaten Schreibgruppen schreiben, den
Umgang mit dem Text und die Auseinandersetzung mit ihm. Hier spielt die
Zusammenarbeit mit anderen Schreibern eine wichtige Rolle. Anregungen und
Kritik werden nicht von einer hierarchisch übergeordneten Person gegeben,
sondern die Auseinandersetzung mit anderen Schreibern führt zum Erfolg. Im
Unterricht werden Texte in der Rohfassung abgegeben und der Lehrkraft zur
Korrektur und Bewertung überlassen. Die Überarbeitungsphase endet meist
damit, dass der Schreiber den korrigierten Text zur Kenntnis nimmt und or-
thografische Fehler verbessert. Das jeweilige Thema ist damit ebenso wie die
Behandlung der jeweiligen Textsorte abgeschlossen. Der Lerner hat keine
Möglichkeit, sein Produkt zu verbessern oder seine Aussagen zu überprüfen.
Ihm bleiben lediglich die Zensur und die daraus entstehenden Konsequenzen.
Der Lehrgang ist mit der Rohfassung beendet, denn
„Lernerfolgskontrolle, Leistungsmessung und Leistungsbeurteilung zählen zu
den Grundlagen eines curricular ausgerichteten Unterrichts, insbesondere
auch des Aufsatzunterrichts. Jede Unterrichtseinheit ist auf ein Ziel, auf einen
Lernfortschritt, auf ein Ergebnis hin angelegt; die Beurteilung von Verlauf und
Ergebnis haben sich an dieser Aufgaben- und Zielstellung zu orientieren. Zie-
le, Inhalte, Planung und Durchführung von Unterrichtseinheiten auf der einen
Seite sowie Erfassen, Beurteilen und – sofern angezeigt – auch das Bewer-
ten/Benoten von Unterrichtsergebnissen stellen somit eine unaufhebbare Ein-
heit dar.“ 340
Ausgehend von der Annahme, dass Lernende ernst genommen werden müs-
sen und dass eine abschließende Beurteilung den Wert ihrer Arbeit hebt, stellt

338 Pommerin/Mummert (2000) a.a.O. S. 5


339 Beck (1990) a.a.O. S.25
340 Beck (1990) a.a.O. S. 71
119

sich so nicht die Frage nach einer Beurteilung, sondern die Frage nach der Art
der Beurteilung.
„Lehrer müssen das Aufsatzbeurteilen trainieren“ (Schröter, Born)
„Lehrer sollen das Beurteilen den Schülern beibringen“ (Ingendahl)
„Lehrer sollen das Aufsatzbeurteilen sein lassen.“ (Hoppe)
„Lehrer müssen ihre Beurteilungspraktiken verfeinern und differenzieren, um
sie zu objektiveren.“ (Beck)
„Eine Objektivierung kann nur dadurch gelingen, dass Lehrer und Schüler die
Beurteilung zum Unterrichtsgegenstand machen und gemeinsam bewerten.“
(Ingendahl)
„Kriterien sind zu gewinnen aus textlinguistischen Forschungsergebnissen und
Elementen der Rhetorik; diese sind anzuwenden im Horizont der Klasse und
im Rahmen der Entstehungsgeschichte der Texte.“ (Sanner)
„Wichtigstes Kriterium zum Beurteilen ist der Stil.“ (Bohnsch)
„Den Stil eines Schüleraufsatzes zu bewerten ist eine Anmaßung.“ (Ingendahl)
„Die Bewertung setzt sich zusammen aus 2/5 inhaltliche Bewältigung der Auf-
gabe, 2/5 stilistische Bewertung und 1/5 Sprachrichtigkeit“ (Lueg) 341
Wie obige Stimmen zur Aufsatzbewertung zeigen, herrscht keineswegs Kon-
sens in der Frage der Aufsatzbewertung. Wie weitaus schwieriger sich die Dis-
kussion um eine Bewertung kreativ geschriebener Texte gestaltet, ist vor die-
sem Hintergrund zu erahnen.
Ein Korrekturverfahren für kreativ geschriebene Texte muss schülerorientiert,
prozessorientiert, authentizitätsbezogen, rekonstruierend und intersubjektiv
sein. Dieser Anspruch schließt Verfahren wie z. B. Schreibkonferenzen nicht
aus, sondern integriert sie als Bestandteil der Textüberarbeitungsphasen und
der Bewertung. Das Bewerten eines kreativ geschriebenen Textes wirft in ers-
ter Linie folgendes Problem auf: Die Bewertungsstrategien nehmen meist kei-
ne Rücksicht auf den Wert, den der Text für seinen Autor hat. Der individuelle
Text wird an einem einheitlichen Maßstab gemessen und damit werden auch
der Schreiber und sein individueller Entwicklungsprozess an einer allgemein
festgelegten Norm gemessen. Diese Vorgehensweise führt in vielen Fällen da-
zu, dass Schreiber ihre Subjektivität beim Schreiben zurücknehmen und keine
authentischen Texte mehr produzieren. Vielmehr spezialisieren sie sich auf die
Produktion von Texten, die sich an der Bewertungsstrategie orientieren. Dem
kann entgegen gewirkt werden, indem sich die Bewertung nicht auf eine in-

341 vgl. Beck (1990)


120

terpersonale oder kriterienorientierte Bezugsnorm, sondern auf den Lerner


mit seinen Bedürfnissen, seinem Verhalten und seinen Werten bezieht. Zur
Grundlage der Bewertung wird die Fähigkeit des Schreibers, mit diesen Di-
mensionen sowohl sprachlich als auch reflexiv umzugehen. Die sich in den
Texten manifestierenden Identitätsprozesse der Schreiber können einge-
schätzt werden, berücksichtigt man Aussagen der Schreiber über ihre indivi-
duelle Entwicklung.342 Diese Bewertungsstrategie legt den Schwerpunkt nicht
auf eine „Rotstiftzensur“, sondern auf die Kommunikation mit dem Lerner. Die
Kommunikation zwischen Autor und der Person oder den Personen, die den
Text bewerten343 kann schriftlich oder mündlich verlaufen, den ganzen Text
oder nur Textsegmente betreffen. Spinner344 schlägt hierzu eine interpretative
Gesamtnote zum Semesterende vor. Diese stehe anstelle der arithmetischen
Zensur und lasse mehr Raum für die Einschätzung des Entwicklungsprozesses
des Schülers. Ein derartiges Bewertungsverfahren ist durchaus anfechtbar.
Schon der Begriff „interpretative Gesamtnote“ lässt den subjektiven Ansatz
deutlich werden. Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit eine interpretative
Gesamtnote anfechtbarer ist denn eine arithmetische Zensur. Keine Bewer-
tung ist objektiv, keine Bewertung kann sämtliche Aspekte erfassen, keine
Bewertung kann das zu bewertende Objekt aus allen Perspektiven und in all
seinen Facetten erfassen.
Eine Normierung der Lerner und Schreiber, wie sie von einer kriterienorien-
tierten Bezugsnorm gefordert wird, basiert auf einer gezeigten Leistung zu ei-
nem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Situation. Diese Strategie
bietet die Möglichkeit, festzustellen, wo ein Lerner im Vergleich zu einem wei-
ter gesteckten Bezugsrahmen steht, z. B. in einer Lernzielkontrolle am Ende
eines Semesters, vernachlässigt aber die Einschätzung des individuellen Lern-
erfolgs des Lerners. Selbstverständlich ist eine kriterienorientierte Bewertung
in zeitlichen Abständen sinnvoll, um der Gruppe und der Lehrkraft die Mög-
lichkeit zu geben, ihre Arbeit und die daraus resultierenden Fortschritte der
Lerner in einem allgemein anerkannten Bezugsrahmen zu überprüfen. Diese
Zensuren müssen jedoch keineswegs in die Gesamtbewertung der individuel-
len Lernfortschritte eingehen, sondern können als das stehen bleiben, was sie
eigentlich darstellen: eine Bewertung der Lehrkraft und ihrer Arbeit.

342 vgl. Spinner (1980)


343 Die Kommunikation über den Text kann von der Lehrkraft oder von Mitgliedern der Schreibgruppe geführt werden.
Sennlaub u.a. sehen hier die Möglichkeit, Texte von den anderen Schreibern dieser Gruppe bewerten zu lassen. Dazu
jedoch bedarf es einer Anleitung der Teilnehmer an einer solchen Diskussion. In fast allen Fällen führen
Bewertungsverfahren, in die andere Schreiber einbezogen werden oder an denen nur andere Schreiber und keine
Lehrkraft teilnehmen zu konstruktiven und fairen Einschätzungen und Bewertungen. vgl. Sennlaub (1990)
344 vgl. Spinner (1980)
121

Ein weiteres Bewertungsverfahren schlagen Scherner und Beck345 - wenn-


gleich für die Fremdsprachendidaktik - vor. Wenn es das Wesen eines von ei-
nem Lerner produzierten Textes ist,
„(…) sowohl einen eigenen Gedanken zu fassen, als auch die angemessene
sprachliche Form zu finden und das Ganze zudem orthografisch und gramma-
tikalisch richtig schriftlich festzuhalten“,346
dann ist es möglich, die Produktion eines Textes in eine Reihe von Teilprozes-
sen zu gliedern,
„... die den schriftsprachlichen Gestaltungsvorgang ermöglichen und in hohem
Maße analysiert, geplant, eingeübt und überprüft werden können. Diese Ei-
genart teilt das Aufsatzschreiben mit dem bildnerischen Gestalten, der musi-
kalischen Erziehung, mit der Textinterpretation, um nur einige jener Unter-
richts- und Lebensbereiche zu nennen, bei denen Objektives und Subjektives,
Rationales und Emotionales, Reproduktives und Kreatives in einem Gestaltge-
füge eingehen.“ 347
Der Vorschlag, einen prozesshaften Vorgang zur Bewertung in Teilprozesse zu
gliedern und diese einzeln zu bewerten, um so zu einer Gesamtbewertung zu
gelangen, scheint eine Möglichkeit zu sein, einer fairen und angemessenen
Bewertung nahe zu kommen. Eine Aufschlüsselung der einzelnen Faktoren,
die zu einer Gesamtbewertung führen, macht dem Schreiber transparent, in
welchen Punkten seine Arbeit Stärken und Schwächen aufzeigt und gibt ihm
Hinweise zu weiterer Arbeit. Diese Vorgehensweise verhindert auch, dass der
Schreiber seine inhaltlichen, persönlichen Aussagen unangemessen kritisiert
sieht, und lässt ihn erkennen, an welchen Punkten er sie nicht korrekt formu-
liert hat. Hier werden auch detaillierte Erläuterungen und Erklärungen zur Be-
wertung erforderlich, denn der Lerner soll nicht darauf hingewiesen werden,
dass er etwas falsch gemacht hat, sondern ihm soll deutlich werden, was er
falsch gemacht hat. Das Verständnis eines Lerners, weshalb seine Arbeit so
bewertet wurde, ist die Voraussetzung für die Qualität weiterer Texte und
nicht zuletzt für die Motivation zu weiterer Textproduktion überhaupt. Beck
geht an dieser Stelle allerdings nicht darauf ein, wie Subjektives, Emotionales
und Kreatives dieses Gestaltgefüges bewertet werden kann. Dieses Problem,
das gerade bei der Bewertung kreativ geschriebener Texte im Vordergrund
steht, wird zwar berücksichtigt, aber es werden keine Lösungsvorschläge ent-
wickelt.

345 wenngleich in der Fremdsprachdidaktik


346 Beck (1990) a.a.O. S.111
347 Beck (1990) a.a.O. S.111
122

Der Verlauf und die inhaltliche Ausrichtung der Diskussionen über jene Fakto-
ren, die einen Text lesenswert machen, die ihn lebendig erscheinen lassen, ist
stark von den persönlichen Vorlieben und Abneigungen der jeweiligen Diskus-
sionsteilnehmer abhängig. Die subjektiven Vorlieben eines Lesers und damit
auch eines Bewerters treten bei der Einschätzung subjektiver, emotionaler
sowie kreativer Momente in den Vordergrund. Um diesem Mechanismus zu
entgehen, wird der Wunsch nach einer Normierung dieser Faktoren laut. Ver-
suche, Raster zu entwickeln, die der Normierung von Subjektivem, Emotiona-
lem und Kreativem und damit einer Legitimation der Bewertung dienen sollen,
scheitern meist bereits an der Frage, was Subjektivität, Emotionalität und
Kreativität sind. Ist die Hürde der Begriffsklärung und der definitorischen
Festlegung genommen, versperren neue Hindernisse den Weg zu einer sinn-
vollen Lösung. Die Ermittlung und Quantifizierung der oben genannten Fakto-
ren in Texten gestaltet sich ebenso schwierig wie die Quantifizierung von Teil-
faktoren wie Spontaneität, Flexibilität, Offenheit etc.348 Pommerin und Mum-
mert betonen die Problematik einer quantifizierenden Textbewertung und wei-
sen darauf hin, dass das kreative Schreiben gerade unsicheren Lernern „uner-
hoffte sprachliche Erfolge“349 eröffnete:
„Zum e i n e n wachsen in angstfreien Situationen Menschen über sich hinaus,
trauen sich etwas zu und gewinnen durch ihr Selbstvertrauen auch an sprach-
licher Sicherheit, was sich wiederum als positiver Circulus vitiosus auf ihr
Selbstwertgefühl auswirkt. Viele Techniken oder Verfahren des kreativen
Schreibens ermöglichen (...) einen Balanceakt zwischen Normativität und
Kreativität; d. h. die vorgegebenen Reizwörter, Anspielungen etc. bieten ein
Gerüst, an dem sich Fremdsprachenlerner „weiterhangeln“, von dem sie sich
aber auch mit wachsender Sicherheit distanzieren können.
Zum a n d e r e n entzieht sich Autobiographisches, das häufig den Reiz dieser
authentischen Texte ausmacht, per se einer objektiven Textanalyse. Wer,
wenn nicht der Schreibende selbst, kann überhaupt den Wert einer mitgeteil-
ten Lebenserfahrung, eines offen gelegten Wunsches, zugegebener Ängste
und Träume bemessen?“350
Über eine Aufteilung der Intention, des Inhalts sowie der entsprechenden
sprachlich-textualen Binnenbedingungen wird möglicherweise eine Messbar-
keit in einzelnen Teilbereichen erreicht, der Text als Ganzes gerät dabei je-
doch aus dem Blickfeld. Ein Text ist aber ein gestalterisches Produkt und da-
mit ein abgeschlossenes Ganzes,351 das dementsprechend als solches gesehen

348 vgl. Mummert/Pommerin (2000)


349 Pommerin/Mummert (2000) a.a.O. S. 4
350 dto.
351 siehe Kapitel I. 2
123

und bewertet werden muss. Hier treffen zwei verschiedene Anforderungen an


Bewertungskriterien aufeinander: zum einen die möglichst objektive Messung
der Leistung in einzelnen Teilbereichen, und zum anderen die Bewertung ei-
nes Textes als eine Ganzheit, die in einem gestalterischen Prozess entstanden
ist. Um diesen entgegen gesetzten Ansprüchen einer Bewertung eines kreativ
geschriebenen Textes gerecht zu werden, wird eine weitere Teilbewertung im
Bereich „Gesamteindruck“ notwendig, die wiederum zu einer weiteren Diffe-
renzierung führt. Fraglich ist, ob sich eine quantifizierende Messung und eine
interpretative Zensur in einer Gesamtnote vereinen lassen. Das Ergebnis kann
weder dem Anspruch, einen Text möglichst objektiv zu bewerten, noch dem
Anspruch der Lernerpersönlichkeit und deren individuellen Entwicklung Rech-
nung zu tragen, gerecht werden.
Ziel des kreativen Schreibkurses ist es, beide Kompetenzen zu fördern: die
Fähigkeit, authentische Texte zu schreiben und diese in eine formalsprachlich
angemessene Form zu bringen. Eine Leistungsmessung muss beide Bereiche
berücksichtigen und eine Bewertung muss dem Lerner Hilfestellung zu weite-
rer Arbeit geben. Im Folgenden soll ein Lösungsvorschlag entwickelt werden,
der den oben aufgeführten Überlegungen Rechnung trägt.
Ein Text kann auf verschiedenen Ebenen untersucht werden. Eine getrennte
Untersuchung der inhaltlichen Ebene, der Beziehungsebene und der formalen
Ebene ist sinnvoll, da sie sowohl formale als auch inhaltliche sowie subjektive,
emotionale und kreative Kriterien einschließt.
Auf der inhaltlichen Ebene wird untersucht, inwieweit der Schreiber bei der in-
haltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema erfolgreich war. Die sachliche
Korrektheit eines Textes bezieht Recherchen ein, die der Schreiber angestellt
hat. Die inhaltliche und sachliche Korrektheit der enthaltenen Informationen
sowie deren Einpassung in den Text sind ausschlaggebend für einen verständ-
lichen Text und führen somit zu einer positiven Bewertung der Sachebene.
Das Gewicht der sachlichen Ebene wird bei einer Reportage naturgemäß höher
sein, als bei einem emotional ausgerichteten Text, wie etwa einem Gedicht.
Dennoch müssen Inhalte, die einen bestimmten Sachverhalt betreffen, unab-
hängig von der Textsorte, korrekt wiedergegeben werden. Die Korrektheit auf
dieser Ebene kann bei kreativ geschriebenen Texten oftmals nur mit Hilfe des
Schreibers selbst überprüft werden. Verständnisprobleme des Lesers oder et-
waige Ungereimtheiten müssen im Gespräch mit dem Schreiber geklärt wer-
den.352 Die Kriterien der inhaltlichen Ebene beziehen sich auf Botschaft und
political correctness eines Textes. Hier stellt sich die Frage, wo die Toleranz-
grenze der Leser liegt und ob sie vom Schreiber überschritten wird. Das Auf-
treten rassistischer oder sexistischer Aussagen wird von verschiedenen Leser-

352 vgl. Pommerin (1996), Mummert/Pommerin (2000), siehe auch Kapitel II. 4-7
124

gruppen in unterschiedlicher Weise aufgenommen. So kann je nach Sensibili-


sierung und Empfindlichkeiten der Leser ein und dieselbe Aussage als an-
nehmbar oder als unerträglich eingestuft werden. Bewertbar ist jedoch, in-
wieweit der Schreiber die Adressaten seines Textes kennt und deren Grenzen
berücksichtigt. Der hier erforderliche Maßstab sollte von der Gruppe diskutiert
und festgelegt werden. Hier kann es – insbesondere im Unterricht mit Jugend-
lichen – zu großen Diskrepanzen zwischen der Toleranzgrenze der Lehrkraft
und jener der Lernergruppe kommen.
Die Beziehungsebene vermittelt die Beziehung des Textes zu seinen Lesern.
Ihre Untersuchung beinhaltet den ersten Eindruck, der sich beim Lesen eines
Textes einstellt. Weiterführend wird die Textaussage herausgefiltert und eine
Inhaltsangabe erstellt. Ein Schreiber will mit seinem Text einer Lesergruppe
einen bestimmten Inhalt mitteilen. Bei der Erstellung einer Inhaltsangabe
durch die Lesergruppe wird deutlich, ob der Schreiber diesbezüglich erfolg-
reich war, oder wo Unklarheiten herrschen. Die Textstellen, die das Lesever-
ständnis hemmen, werden von der Gruppe mit dem Schreiber besprochen.
Die Untersuchung der Beziehungsebene ist kommunikativ angelegt. Verhand-
lungen mit dem Schreiber führen zu einer Klärung eben jener Verständnis-
probleme. Selbstständige Versuche der Leser, ohne Einbeziehung des Schrei-
bers, führen zu Interpretationen, die möglicherweise dem Anspruch des
Schreibers nicht gerecht werden. Die Gefahr einer Interpretation des Textes
ohne Einbezug des Schreibers liegt darin, dass unklare Textfrequenzen mögli-
cherweise fehl interpretiert werden. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Die
Textsequenzen werden nicht überarbeitet, um den Lesern die Aussage der
Textsequenzen deutlich zu machen, sondern sie werden im Sinne der Inter-
pretation verändert und damit wird die ursprüngliche Intention des Schreibers
in den Hintergrund gedrängt. Die Beziehungsebene eines Textes ist demnach
nur in Zusammenarbeit mit dem Schreiber bewertbar.
Die formale Ebene eines Textes umfasst die formalsprachlich korrekte Umset-
zung eines Inhalts. Die formalsprachliche Korrektheit kann objektiv gemessen
werden, da ihr feste Regeln zu Grund liegen. Orthografie und Grammatik ei-
nes Textes können normativ bewertet werden353. Eine Quantifizierung des
verwendeten Wortschatzes, der Textlänge sowie der im Text vorkommenden
syntaktischen Strukturen ist ebenso wie ihre Qualifizierung möglich. Der Er-
folg eines systematischen Einschubs in einem kreativen Schreibkurs ist an-

353 Formalsprachliche Abweichungen können von der Lehrkraft erkannt und analysiert werden. Das Verständnis des in
diesem Zusammenhang auftretenden Begriffs „Fehler“ ist jedoch nicht so klar abgegrenzt wie die formalsprachlichen
Abweichungen per se. Ein Fehler kann als falsch geschriebenes Wort oder eine falsche Anwendung einer
grammatikalischen Regel definiert, oder wie in der vorliegenden Arbeit als ein Ansatzpunkt zu weiterer Arbeit gesehen
werden. Der dieser Arbeit zu Grund liegende Fehlerbegriff basiert auf den Arbeiten von Kupfer-Schreiner (1994) und
Kuhs (1989)
125

hand eines direkten Vergleichs der beiden ihn einschließenden Textversionen


messbar.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass das Problem der Bewertung sub-
jektiver, emotionaler und kreativer Aspekte eines kreativ geschriebenen Tex-
tes nicht in der Nichtmessbarkeit einzelner Faktoren liegt, sondern sich in zwei
Punkten manifestiert:
Kreativ geschriebene Texte müssen immer vor ihrem Entstehungsprozess ge-
sehen werden. Demzufolge können Texte, die nach kreativen Verfahren ge-
schrieben, aber nicht überarbeitet wurden, nur auf einzelne Kriterien hin un-
tersucht und bewertet werden.354 Die Rohfassung, also ein erster Entwurf,
kann naturgemäß nicht als Ergebnis eines Prozesses angesehen werden. Ei-
nem solchen Text wird keine der bisher angeführten Bewertungsstrategien ge-
recht. Kreativ geschriebene Texte können nur vor dem Horizont der (sprachli-
chen) Entwicklung des Schreibers, die sich in seinen Texten bzw. Textversio-
nen manifestiert, bewertet werden. Der zeitliche Rahmen, in dem der Ent-
wicklungsprozess untersucht wird, kann sich – je nach Anforderungen – über
ein ganzes Schuljahr hinziehen oder sich auf den Zeitraum eines Schreibkur-
ses (vom Schreibanlass bis hin zur endgültigen Textversion) beschränken. Der
prozesshafte Charakter des Schreibkurses erlaubt einen sprachlichen Fort-
schritt festzustellen, da die einzelnen Textversionen einander gegenüber ge-
stellt werden können. Setzt man als Bewertungsgrundlage eine bestimmte
Anzahl von endgültigen Texten oder von Textversionen aus nur einem
Schreibkurs fest, wird es möglich, sowohl die individuelle Entwicklung des
Schreibers auf allen Textebenen als auch den Erfolg der systematischen Un-
terweisungen festzustellen. Bewertet wird der Lernzuwachs zwischen dem
ersten und dem letzten Text im abgesteckten Zeitraum. Die so ermittelte
Zensur ist demnach keine „interpretative Gesamtnote“355 im Sinne Spinners,
sondern sie setzt sich aus den Ergebnissen der Messung des Lernfortschritts
in verschiedenen Lernbereichen zusammen.
Bewertungskriterien, die nach obigem Verständnis nicht objektiv messbar
sind, erfordern eine Bewertung durch mehrere Personen. Aus den bisher an-
gestellten Überlegungen folgt, dass Textkriterien auf der inhaltlichen und der
Beziehungsebene nicht objektiv bewertbar sind, da ein Text bei jedem Leser
einen subjektiven Eindruck hinterlässt. Wird ein Text von einem einzelnen Le-
ser, meist der Lehrkraft, bewertet, so schlägt sich dessen subjektiver Ein-
druck, der von ihrer Persönlichkeit geprägt ist, in der Bewertung nieder.

354 vgl. Mummert/Pommerin (2000)


355 vgl. Spinner (1980)
126

Sennlaub hat Bewertungskonferenzen beschrieben, an denen die Lernenden


beteiligt waren, und kann ebenso wie andere Didaktiker356 von Erfolgen be-
richten. Auch jüngere Schreiber sind durchaus in der Lage, einen Text hin-
sichtlich seiner Stärken und Schwächen im Bereich der subjektiven, emotiona-
len und kreativen Aspekte zu untersuchen. Gerade jungen und jüngeren
Schreibern gelingt es, die subjektiven, emotionalen und kreativen Aspekte ei-
nes kreativ geschriebenen Textes herauszufiltern und ihren persönlichen Ein-
druck, der sich beim Lesen einstellt, in Worte zu fassen. Sie verfügen über ein
gutes Gedächtnis für Geschichten und sind offen für Empfindungen, die ein
Text bei ihnen weckt. Äußerungen wie „der hat schon viel bessere Geschich-
ten geschrieben!“ oder „diese Geschichte ist richtig spannend!“ sind keine Sel-
tenheit im Unterricht mit jungen Lernern.357 Hier gilt es, die Lerner anzuleiten,
von solch allgemein gehaltenen Äußerungen zu differenzierteren Aussagen zu
gelangen. Dazu bedarf es einer Bewusstmachung, welche Kriterien dazu füh-
ren, dass sie einen Text besser oder schlechter als einen anderen empfinden.
Diese Fähigkeit muss mit der Schreibgruppe eingeübt werden. Ob hier mit ei-
ner vorgegebenen Checkliste gearbeitet wird, oder die Gruppe selbst einen
Kriterienkatalog erstellt, oder die Gruppe ohne Anleitung arbeitet, ist situati-
onsabhängig. Schreibgruppen, die zum ersten Mal über eine Textversion kon-
ferieren, werden Anhaltspunkte benötigen. Ist die Schreibkonferenz zur Rou-
tine geworden, können sich die Kriterien, anhand derer Textversionen be-
trachtet werden, durchaus verändern, sofern dies sinnvoll erscheint. In einer
großen Schreibgruppe (z. B. einer Schulklasse) untersagt der zeitliche Rah-
men eine Diskussion aller Texte im Plenum. Hier bietet sich die Arbeit in
Gruppen an, deren Zusammensetzung allerdings nicht von Konferenz zu Kon-
ferenz verändert werden sollte, um die Entwicklung in der Gruppe nicht zu
beeinträchtigen.
Aus den zwei Komponenten – messbarer Lernzuwachs und Gesamteindruck
des Textes und seiner Entstehung – wird eine Gesamtnote ermittelt. Besten-
falls sind die Lerner in der Lage, ihren Gesamteindruck zu formulieren und
diesen, zusammen mit der Bewertung des Lernzuwachses in einer Bewertung
auszudrücken. Hat der Schreiber den zur Bewertung vorgelegten Text in eine
inhaltlich angemessene und formalsprachlich korrekte Form gebracht, so wird
sich dies in der Gesamtbewertung ebenso positiv auswirken wie die Überar-
beitung des Textes hinsichtlich der Inhalte der systematischen Unterweisun-
gen. Auf diese Weise kann ein talentierter Geschichtenerzähler motiviert wer-
den, seine Texte in eine formalsprachlich korrekte Form zu bringen, wie auch
ein Schreiber, dessen Stärke nicht im inhaltlichen Bereich liegt, seinen Text
durch eine formalsprachlich korrekte Form und die Berücksichtigung der sys-

356 vgl. Sennlaub (1990), Pommerin (1986)


357 siehe Kapitel II. 4-6
127

tematischen Einschübe so aufwerten kann, dass er gut bewertet wird. Beide


polare Schreibertypen haben hier, ebenso wie alle jene dazwischen angesie-
delten Schreibertypen, die Aussicht auf eine angemessene und faire Bewer-
tung.
Die Lehrkraft wird als Leiter der Schreibgruppe mit dem Rollenwechsel auch
einen Wechsel der Arbeitsweise vollziehen müssen. Sie ist nicht länger einzige
Bewertungsinstanz, sondern überträgt zumindest einen Teil der Bewertung
und damit der Verantwortung auf die Lerner. Dazu müssen jene in den Tech-
niken, die zu einer erfolgreichen Bewertungskonferenz führen, geschult wer-
den. Oftmals wird das (teilweise) Aufgeben der Funktion der einzigen Bewer-
tungsinstanz von Lehrkräften als schwierig und riskant angesehen. Dennoch
lohnen sich hier Mut und Risikobereitschaft, denn es ergibt sich nicht nur die
Chance zu einer vergleichsweise fairen Bewertung, sondern auch die Chance
zu einer für alle Beteiligten zufrieden stellenden Arbeit mit den jeweiligen Ler-
nern und nicht gegen die Lerner.

II. Empirischer Teil


1 Zielsetzungen der Untersuchung
Das Kreative Schreiben hat sich seit einiger Zeit, insbesondere im primär-
sprachlichen Deutschunterricht der Grundschule und Hauptschule, etabliert.
Kritische Stimmen weisen immer wieder auf einen möglichen Mangel an
ernsthafter Auseinandersetzung mit der Zielsprache hin. Die Befürworter des
Kreativen Schreibens im Sprachunterricht, die dieses Verfahren seit Jahren
mit Erfolg im Unterricht einsetzen, haben es oft nicht leicht, den Einwänden
entgegenzutreten. Das mag wohl in erster Linie an den unterschiedlichen Dis-
kussionsebenen liegen. Ist der einen Fraktion die Kreativität, die Fantasie, die
Freude am Schreiben und gerade damit natürlich auch am Spracherwerb
wichtigstes Lernziel, so argumentieren die Kritiker mit der Einführung kom-
plexer Grammatikstrukturen, der Auseinandersetzung mit Textsorten und de-
ren spezifischer Sprachstile.358
Die vorliegende Untersuchung soll aufzeigen, dass sowohl der Lernerfolg als
auch die Freude am Lernen durchaus im Verfahren des Kreativen Schreibens
vereinbar sind. Dies wird anhand einer Dokumentation verschiedener Schreib-
kurse, durchgeführt in verschiedenen Schreibgruppen mit Teilnehmern unter-
schiedlicher Herkunft und Altersgruppen, mit unterschiedlichen Zielsetzungen

358 ADIEU (2001)


128

und der Auswertung der in diesem Rahmen entstandenen Texte nach formal-
sprachlichen und inhaltlichen Kriterien geschehen.
Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit habe ich mich mit dem Begriff ”Kreati-
vität” auseinandergesetzt, das Schreiben an sich und im Besonderen das
Schreiben im Deutschunterricht beleuchtet und mich mit dem Kreativen
Schreiben - einem Verfahren, in dem sich beide Komponenten, die Kreativität
und das Schreiben, verbinden - beschäftigt. Aus diesem Teil der Arbeit erge-
ben sich die folgenden Hypothesen, die im empirischen Teil der vorliegenden
Arbeit überprüft werden sollen:

2 Hypothesen
Das Kreative Schreiben ist ein geeignetes Verfahren im Deutschunter-
richt für Primär-, Zweit- und Fremdsprachenlerner.
Das Kreative Schreiben ist für jede Lernergruppe geeignet und fördert den
Spracherwerb eines jeden Lerners. Das Verfahren ist in allen schulischen und
außerschulischen Maßnahmen einsetzbar, da es zum Spracherwerb auf allen
Spracherwerbsebenen und in allen Erwerbskontexten beiträgt.
Kreatives Schreiben ist für Lerner aller Altersgruppen geeignet.
Lerner aller Altersgruppen profitieren sowohl in sprachlicher als auch in per-
sönlicher Hinsicht vom Kreativen Schreiben. Kinder, Jugendliche und Erwach-
sene schreiben qualitativ wie auch quantitativ vergleichbare Texte.
Kreatives Schreiben kann in jeder Unterrichtssituation durchgeführt
werden.
Aus den oben dargestellten Hypothesen ergibt sich, dass das Kreative Schrei-
ben in allen Lernsituationen und auf allen Lernebenen anwendbar ist. Demzu-
folge ist das Verfahren für alle Sprachlernmaßnahmen geeignet. Das Kreative
Schreiben ist also keine Sonderveranstaltung, sondern ein Unter-
richtsverfahren, der fächerübergreifend eingesetzt werden kann.
Kreatives Schreiben ist ein Verfahren, das den Erwerb einer schrift-
sprachlichen Kompetenz fördert.
Kreatives Schreiben enthält den Lernern nichts vor. Es umfasst sämtliche in
den Lehrplänen vorgesehene Lerninhalte.
Kreatives Schreiben steht nicht im Gegensatz zu systematischen Un-
terweisungen, sondern integriert sie.
In jeden kreativen Schreibkurs können systematische Unterweisungen ein-
gebaut werden, die inhaltlich auf die Bedürfnisse der Lerner und auf die amtli-
chen Vorgaben abgestimmt sind. Der Lernerfolg ist im Rahmen eines kreati-
ven Schreibkurses messbar.
129

Kreatives Schreiben erhöht die Motivation der Lerner zum Schrift-


spracherwerb.
Durch das Zulassen authentischer und persönlicher Faktoren im Schreib-
unterricht sowie die lerner- und situationsorientierte Unterrichtsform kann der
Lerner seine individuelle Persönlichkeit in den Unterricht einbringen. Das
Schreiben ist nicht mehr nur Abstrahierung verbaler Formen, sondern er-
schließt sich dem Lerner gleichzeitig als Medium zur Lebensbewältigung. Die-
ser Umstand erleichtert den Einstieg in die Textproduktion und fördert die
Lust am Schreiben gleichermaßen wie es die Lust am Erzählen bewahrt bzw.
wieder erweckt. Die hohe Motivation der Lerner führt zu einem raschen und
fundierten Schriftspracherwerb.

3 Anlage und Durchführung der Untersuchung


Die empirische Untersuchung dient der systematischen Erfassung und Deu-
tung von Erscheinungen.
„Empirisch bedeutet, daß theoretisch formulierte Annahmen an spezifischen
Wirklichkeiten überprüft werden. Systematisch weist darauf hin, daß dies nach
Regeln vor sich gehen muß. Theoretische Annahmen und die Beschaffenheit
der zu untersuchenden Realität sowie die zur Verfügung stehenden Mittel be-
dingen den Forschungsverlauf.“359

3.1 Methoden und Verfahren


Im Rahmen dieser Arbeit werden die Produkte kreativer Schreibkurse un-
tersucht. Grundlage der Untersuchung sind kreativ geschriebene Texte von
Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sowie die Ergebnisse teilnehmender
Beobachtungen und Befragungen der Schreiber.
Zur Untersuchung der Erscheinungen, die erfasst und gedeutet werden sollen,
wurden quantitative und qualitative Verfahren herangezogen. Die quantitati-
ven Verfahren stehen hier nicht als Alternative, sondern als Ergänzung der
qualitativen Verfahren. Statistische Auswertungen, Beobachtungen, Befragun-
gen und narrative Interviews werden miteinander verzahnt, die Querschnitts-
untersuchung durch Fallstudien ergänzt. Das Zulassen des Erfahrungsbegriffs
dient als Korrektiv.360
Die Grundgesamtheit für welche die Aussagen dieser Untersuchung gelten
sollen, setzt sich aus all jenen Personen zusammen, deren Sprachkompetenz
in der Zielsprache Deutsch in einer schulischen oder außerschulischen Unter-
richtssituation gesteuert gefördert werden soll. Aus dieser Population wurden

359 Atteslander (1992) a.a.O. S.16


360 vgl. Jakob/Eirmbter/Ludwig-Mayerhofer (2000), Andreß (1999), Flick (1995), Lamneck (1988), Dommer (2000)
130

Personenstichproben konstruiert, um daraus die Verteilung bestimmter Merk-


male zu erheben, die der Verteilung dieser Merkmale in der Grundgesamtheit
entspricht. Dementsprechend wurden drei Gruppen gebildet, die sich in ihrer
Altersstruktur, dem Lernziel sowie dem Ausbildungsstand und der Unterrichts-
situation unterscheiden. Diese Teilpopulationen wurden einer Querschnittsun-
tersuchung unterzogen, d. h. ihr Zuwachs an sprachlicher Kompetenz in der
Zielsprache Deutsch wurde in einem begrenzten, bestimmten Zeitraum unter-
sucht. Dem wurden Fallstudien als Korrektiv gegenübergestellt, in denen der
Weg von 6 Schreibern dargestellt und untersucht wird.
Die Texte wurden in verschiedenen Schreibgruppen361 geschrieben und über-
arbeitet. Die Texte können im Sinne Ballstaedts362 als verbale Dokumente
verstanden werden:
”Unter einem verbalen Dokument verstehen wir aufgezeichnete sprachliche
Äußerungen, also Texte, die ursprünglich nicht zu Forschungszwecken zustan-
de kamen, sondern in natürlichen Kommunikationsprozessen produziert wur-
den.” 363
Die Schreiber haben nicht zum Zweck einer wissenschaftlichen Untersuchung
geschrieben, sondern um im Rahmen ihres regulären Deutschunterrichts ihre
Sprachkompetenz in der Zielsprache Deutsch zu verbessern.
In der Literatur finden sich unterschiedliche Ansätze zur Untersuchung au-
thentischer, kreativ geschriebener Texte364. Sie untersuchen biografische und
sozialökonomische Aspekte, die orthographische Kompetenz, sowie sozialpsy-
chologische Aspekte des Zweitspracherwerbs anhand von Schülertexten. In
der vorliegenden Untersuchung soll aufgezeigt werden, welcher qualitative
und quantitative Lernzuwachs bei Schreibern deutscher wie auch nicht-
deutscher Primärsprache in kreativen Schreibkursen erreicht werden kann und
in den Texten nachweisbar ist. Der Maßstab ist an den amtlich vorgegebenen
Lernzielen und Richtlinien orientiert. Dazu kommen qualitative und quantitati-
ve Kriterien, die sich aus dem Teil I der vorliegenden Arbeit herleiten. Die
Texte wurden einer Inhaltsanalyse unterzogen, sowohl unter quantitativen wie
auch unter qualitativen Aspekten. Die primären Textmerkmale (Textlänge,
Wortschatz), das Auftreten bestimmter Wortarten, grammatikalischer Kon-
struktionen und kommunikativer Kriterien wurden mit Hilfe einer Frequenz-
analyse erfasst und quantifiziert, in der die Häufigkeit des Auftretens der vor-

361 Als Schreibgruppen werden hier sowohl Schulklassen als auch Gruppen aus dem außerschulischen Bereich
bezeichnet. Die einzelnen Schreibgruppen werden im laufenden Text vorgestellt. Damit wird aus dem Kontext deutlich,
ob die Texte im Rahmen einer schulischen oder einer außerschulischen Maßnahme geschrieben wurden.
362 vgl. Ballstaedt (1982)
363 vgl. Ballstaedt (1982) a.a.O. S. 165
364 vgl. Pommerin (1996), Mummert (2000), Kiper (1987), Kupfer-Schreiner (1994), Kuhs (1989)
131

ab definierten Merkmale erhoben wurde. Der bloßen Erfassung des Vorkom-


mens von Wortarten, grammatikalischen Konstruktionen, Begriffen, Themen
wurde eine Valenzanalyse zur Seite gestellt, die erfasst, welche Bewertungen
mit den betreffenden Untersuchungsgegenständen verbunden werden. In ei-
nem weiteren Schritt wurden die Texte einer qualitativen Inhaltsanalyse un-
terzogen. Die qualitative Inhaltsanalyse unterscheidet sich von der quantitati-
ven Inhaltsanalyse insbesondere dadurch, dass die entsprechenden Katego-
rien nicht vorab, sondern in intensiver Auseinandersetzung mit den zu unter-
suchenden Texten entwickelt wurden.365 Hierzu wurden die Texte aller
Schreibgruppen herangezogen, um Kategorien zu entwickeln, die für die ge-
samte Population gelten können, um eine Vergleichbarkeit und damit ein ge-
wisses Maß an Objektivität zu gewährleisten.
Die qualitative Inhaltsanalyse, verbunden mit dem Zulassen des Erfah-
rungsbegriffs, führt demnach zu einem Kontrollproblem, das durch eine Er-
gänzung der Analyse durch andere Methoden der Datenerhebung reduziert
werden soll.
In der vorliegenden Arbeit wurde der Beobachtung und Befragung der Text-
produzenten großer Raum eingeräumt, um die Analyseleistung einer Kontrolle
zu unterwerfen, die über eine quantitative Erhebung hinausgeht.
Die Befragungen waren sowohl mündlich als auch schriftlich durchgeführt
worden. Die schriftlichen Befragungen waren überwiegend standardisiert, sie
enthielten nur einen geringen Anteil an teilstandardisierten Fragen, die offene
Antworten ermöglichten. Die mündlichen Befragungen können als Expertenin-
terviews bezeichnet werden, da sie angewendet wurden, um die Textprodu-
zenten zu ihren eigenen Texten oder zu Aussagen, die sie in den Texten ge-
troffen, hatten, zu befragen. Hierzu wurden Leitfäden entwickelt, die sich aus
der Analyse der Texte ergeben und den Ablauf der Befragung nur im Hinblick
auf die interessierenden Aspekte vorstrukturieren. Diese Befragungsform lässt
auch zu, im Verlauf der Befragung Nachfragen zu stellen bzw. neue Fragen
aufzuwerfen, wenn sich herausstellt, dass wichtige Aspekte oder Tendenzen
im Leitfaden nicht berücksichtigt wurden. Des Weiteren wurden Befragungen
durchgeführt, die dem narrativen Interview nahe stehen. Die Rolle des Inter-
viewers beschränkte sich hierbei auf das Aufwerfen einer Ausgangsfrage und
dem aufmerksamen Zuhören sowie des Protokollierens der durch sie initiier-
ten Aussagen oder Gespräche. Der Interviewer zieht sich demnach zurück und
greift nur ein, wenn das Gespräch der befragten Personen vom Thema ab-
weicht oder ins Stocken gerät. Die standardisierten Befragungen wurden
quantifizierend ausgewertet, während die leitfadengestützten oder narrativen
Interviews hermeneutisch-rekonstruktiven Auswertungsverfahren unterzogen

365 vgl. Merten (1983), Mayring (1983)


132

wurden.366 Die offenen, teilnehmenden Beobachtungen fanden in natürlichen


Situationen statt, die nicht spezifisch auf den Forschungszweck hin arrangiert
wurden367. Die Protokollierung der Beobachtungen war nicht standardisiert,
sondern in Form von Gedächtnis- und Verlaufsprotokoll gehalten. Sie bezieht
sich auf Verhaltens-, Handlungs- und Interaktionsformen, auf overte, mani-
feste Phänomene, die in der Beobachtungssituation auftraten. Beson-
derheiten, wie etwa die Intensität der Beteiligung an Gesprächen oder die Dy-
namik einer Diskussion, wurden in Form von Tonbandaufzeichnungen oder
schriftlich protokolliert.368

3.2 Die Erhebung der Texte


Die Texte, die zur Untersuchung herangezogenen wurden in drei Schreib-
gruppen erhoben, die im Folgenden mit A, B und C bezeichnet werden.

3.2.1 Die Schreibgruppen


Gruppe A setzt sich aus einer Gruppe von 10 Schülern einer vierten Grund-
schulklasse zusammen. Die Klasse befand sich zum Zeitpunkt der Erhebung
im vierten Jahr des Schulversuchs ”Integration ausländischer Schüler in Re-
gelklassen”.369 Die 25 Schüler dieser Klasse bildeten in Bezug auf Herkunft
und Primärsprache eine sehr heterogene Gruppe. 9 Schüler waren türkischer
Herkunft, die größere Gruppe mit 16 Schülern setzte sich aus Kindern russi-
scher, griechischer, deutscher, libanesischer, italienischer und kurdischer Her-
kunft und Primärsprache zusammen. Die türkischen Schüler waren alle zwei-
sprachig alphabetisiert, sie wurden durchgehend parallel in ihrer Primärspra-
che unterrichtet. Durch den Einbezug der Primärsprache der Schüler in den
Unterricht konnte ein rascher und kontinuierlicher Zuwachs der sprachlichen
Kompetenz dieser Schüler - sowohl in der Primär- als auch in der
Zweitsprache - festgestellt werden.370 Für die meisten Schüler dieser Klasse
war Deutsch Zweitsprache. In der Familie und im Freundeskreis wurde die je-
weilige Primärsprache gesprochen, in der Schule war die Unterrichtssprache
Deutsch. Für die Kinder nicht-türkischer Primärsprachen wurde kein pri-
märsprachlicher Unterricht angeboten, womit auch eine zweisprachige Alpha-
betisierung entfiel. Die Schüler der Gruppe A, die sich aus Schülern dieser

366 vgl. Lamnek (1995)


367 vgl. Whyte (1996)
368 vgl. Bales (1951)
369 vgl. Kupfer-Schreiner (1994), Pommerin (1982 und 1992) u.a.
370 vgl. Lamprecht (1993)
133

Klasse zusammensetzt, sind russischer, türkischer, griechischer und deutscher


Herkunft. 371
Bezeichnung Geschlecht Primärsprache Alter
A1 männlich Deutsch 10
A2 weiblich Türkisch 10
A3 weiblich Türkisch 9
A4 weiblich Türkisch 10
A5 weiblich Deutsch 10
A6 weiblich Russisch 11
A7 weiblich Türkisch 9
A8 männlich Deutsch 10
A9 weiblich Deutsch 12
A10 weiblich Griechisch 9
Tabelle 1: Teilnehmer der Schreibgruppe A
Gruppe B setzt sich ebenso wie die Gruppe C aus Teilnehmern außer-
schulischer Maßnahmen zusammen. Die Mitglieder der Gruppe B haben an ei-
nem Intensivkurs ”Deutsch für Ausländer” einer Volkshochschule teilgenom-
men. Sie haben dort die jeweils fünfwöchigen Intensivkurse der Grundstufe 1-
3 absolviert und in diesem Rahmen Texte produziert. Diese Schreibgruppe hat
ab dem ersten Tag regelmäßig Texte nach kreativen Schreibverfahren ge-
schrieben und hatte im Verlauf der Grundstufe einige kreative Schreibtechni-
ken kennen gelernt. Da die Teilnehmer der Gruppe B zu Beginn der Kurse kei-
nerlei Kenntnisse der Zielsprache Deutsch aufwiesen, kann hier eine deutliche
Entwicklung des Spracherwerbs aufgezeigt werden. Für alle Mitglieder dieser
Schreibgruppe war Deutsch Fremdsprache, entwickelte sich aber im Laufe der
Zeit zur Zweitsprache. Die Teilnehmer planten alle einen längeren, wenn nicht
gar unbefristeten Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Alle Teilneh-
mer lebten zum Zeitpunkt der Textproduktion in Deutschland und hatten
mehr oder weniger Kontakte zu deutschsprachigen Personen in ihrem alltägli-
chen Umfeld. Primärsprachen waren Urdu, Russisch, Ukrainisch, Spanisch und

371 Die 10 Schüler, deren Texte in diesem Teil der Arbeit untersucht werden, wurden nach den in Kapitel 3
aufgelisteten Kriterien ausgewählt. Der Umstand, dass in diese Schreibgruppe größtenteils Mädchen aufgenommen
wurden, ergab sich aus den erfüllten Kriterien und hat keinerlei persönliche oder ideologische Hintergründe. Dasselbe
gilt für die Herkunft und die Primärsprachen der ausgewählten Schüler.
134

Türkisch. Die Teilnehmer waren zum Zeitpunkt der Erhebung zwischen 17 und
56 Jahre alt.

Bezeichnung Geschlecht Primärsprache Alter


B1 männlich Urdu 17
B2 weiblich Russisch 31
B3 weiblich Türkisch 21
B4 weiblich Ukrainisch 56
B5 männlich Spanisch 22
Tabelle 2: Teilnehmer der Schreibgruppe B
Gruppe C setzt sich aus Schreibern zusammen, die an einer berufsfördernden
Maßnahme teilgenommen haben, die von einer kommunalen Institution
durchgeführt wurde. Die Teilnehmer holten zum Zeitpunkt der Untersuchung
ihren Qualifizierenden Hauptschulabschluss nach und haben im Rahmen des
vorbereitenden Deutschunterrichts und des begleitenden Förderunterrichts
Texte geschrieben. Die Teilnehmer waren unterschiedlicher Herkunft und Pri-
märsprachen, waren jedoch alle in der Bundesrepublik Deutschland in Regel-
klassen beschult worden. Keiner der Teilnehmer hatte jedoch in der Regel-
schule einen Abschluss erreicht, ein Umstand, der zur Arbeitslosigkeit führte.
Die Maßnahme hatte eine Eingliederung der Teilnehmer in den ersten Ar-
beitsmarkt, so z. B. die Vermittlung in einen Ausbildungsplatz zum Ziel. Ne-
ben der Vorbereitung auf den Qualifizierenden Hauptschulabschluss beinhalte-
te die Maßnahme eine Einführung in das geregelte Arbeitsleben. Die Teilneh-
mer arbeiteten in verschiedenen Werkstätten, um dort einen Einblick in das
jeweilige Tätigkeitsfeld und in erster Linie in einen geregelten Arbeitsalltag zu
bekommen. Das erklärt auch die Zusammensetzung der Gruppe, der zum
Zeitpunkt der Untersuchung kein Mädchen angehörte, da die Teilnehmer in
”klassischen Männerberufen” tätig waren. Der Sprachstand in der Zielsprache
Deutsch war bei einigen Teilnehmern gering, obwohl sie in Deutschland gebo-
ren und aufgewachsen waren. Umgangssprache in den Familien und den peer-
groups war überwiegend die jeweilige Primärsprache.

Bezeichnung Geschlecht Primärsprache Alter


C1 männlich Türkisch 18
C2 männlich Türkisch 19
C3 männlich Deutsch 17
135

C4 männlich Makedonisch 18
C5 männlich Italienisch 19
Tabelle 3: Teilnehmer der Schreibgruppe C

3.2.2 Die Wahl der Themen


Alle Texte wurden im Rahmen des Unterrichtsalltags geschrieben. In den
Gruppen B und C wurden die Themen und Schreibanlässe vorgeschlagen oder
vorgegeben. Die Auswahl der Themen wurde je nach den Bedürfnissen der
Teilnehmer vorgenommen. Die Schüler der Grundschulklasse (Gruppe A) hat-
ten nur das erste Thema als Vorgabe, alle anderen Schreibthemen wurden
von der Klasse vorgeschlagen und von den Lehrkräften lediglich didaktisch
aufbereitet.372 Die Teilnehmer schrieben zu Themen, die ihrer Lebenswelt ent-
stammen. Ein weiteres Argument für die Themenwahl ist das vergleichsweise
niedrige Sprachstandsniveau der Schreiber, das ihnen Recherchen, die zum
Verfassen anderer Textsorten notwendig sind, erheblich erschwert. Dazu
kommt die Unterrichtssituation, die den Aktionsradius der Teilnehmer weitge-
hend auf den Klassenraum beschränkt. Lediglich Gruppe C arbeitete unter
Rahmenbedingungen, die es erlaubten, Recherchen anzustellen und damit
entsprechende Texte zu verfassen. Diesem Umstand soll auch bei der Analyse
der Texte Rechnung getragen werden. Es scheint auch angesichts der Teil-
nehmerstruktur legitim, persönliche Themen vorzugeben oder zuzulassen, da
sich alle Teilnehmer in, aus biografischer Sicht, turbulenten Lebenssituatio-
nen373 befanden:
Während die Schreiber der Gruppe A in einem Alter von durchschnittlich 10
Jahren begannen, sich selbst und das andere Geschlecht zu entdecken und
sich in einer Lebensphase befanden, in der eine Auseinandersetzung mit dem
Rollenverhalten der Elterngeneration beginnt, erlebten die Teilnehmer der
Gruppe C zum Zeitpunkt der Untersuchung den Übergang von der Jugendzeit
in das frühe Erwachsenenalter.374 Die Jugendlichen der Gruppe C standen zum
Untersuchungszeitpunkt an einer Schwelle ihrer Biografie, an der sie nicht nur
ihre Beziehungen zu Gleichaltrigen und zur Elterngeneration neu definieren
mussten, sondern sie mussten sich in einen für sie neuen Lebensrhythmus
einfinden. Gleichzeitig lernten sie neue Rollenerwartungen, die von außen an
sie gestellt wurden (Arbeitgeber), kennen und auch solche, die sich durch ihre
neue Lebenssituation ergaben (Arbeitnehmer). Die Teilnehmer der Gruppe B
befanden sich in einer Situation, die stark vom Wechsel der Lebenssituation,
bedingt durch den Umzug oder der Flucht aus der Heimat in die Bundesrepu-

372 siehe Kapitel II. 4


373 vgl. Erikson (1977)
374 vgl. Bronfenbrenner (1980), Erikson 1977 u.a.
136

blik Deutschland und den damit verbundenen Verlusten und Zukunftsängsten


geprägt war. Die Teilnehmer der Gruppe B waren zum Zeitpunkt der Untersu-
chung erst wenige Wochen oder Monate in der Bundesrepublik und hatten sich
hier noch nicht etabliert. Sie waren weder mit den gesellschaftlichen und kul-
turellen Bedingungen ihrer neuen Heimat vertraut, noch hatten sie eine kon-
krete Vorstellung ihres individuellen Lebens in der Bundesrepublik. Aus diesen
Umständen ergab sich die Auswahl folgender Themen:
Gruppe A: Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre...
So sollte mein bester Freund/meine beste Freundin sein...
Ich bin...
Gruppe B: Ich
Deutschland
Der Deutschkurs
Gruppe C: Die Schatzkiste von John Silver
Meine Zukunft
Meine Arbeit
In den Texten zu den aufgeführten Themen manifestieren sich die Probleme,
die die jeweiligen Schreiber in ihrer individuellen Lebenswelt haben. Die Be-
schäftigung mit der inhaltlichen Ebene der Texte ist selbstverständlich, kann
aber im Rahmen der vorliegenden Untersuchung keine therapeutische Inter-
pretation der persönlichen Lebenssituation und der individuellen Umwelt sein.
Derartige Interpretationen sollten nur im Einvernehmen mit dem Schreiber
und auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin durch einen Fachmann vorge-
nommen werden. Inwieweit Teilnehmer dieser Schreibgruppen, die zum Zeit-
punkt der Textproduktion in eine Therapie eingebunden waren, ihre Texte
dort zum Gegenstand gemacht haben, ist nicht bekannt. 375
Die Auswahl der Themen sollte den Teilnehmern den Einstieg in den eigenen,
kreativ geschriebenen Text ermöglichen und die Schreibmotivation durch das
Zulassen authentischer Aussagen erhöhen. Von einigen Teilnehmern - insbe-
sondere von den Erwachsenen aus Gruppe B - ist bekannt, dass sie, angeregt
durch das Kreative Schreiben im Deutschkurs, (wieder) begonnen haben, ein
Tagebuch zu führen bzw. ihre Gedanken, Eindrücke und Träume schriftlich
festzuhalten. Sie waren von der Idee, die Impressionen und Begebenheiten
ihrer ersten Zeit in der neuen Heimat festzuhalten, begeistert und begannen
zu schreiben.376 Andere Teilnehmer aus dieser Gruppe wurden durch ihre Be-
richte ebenfalls angeregt, ein Tage- oder ein Gedankenbuch zu führen. Zwei

375 siehe Exkurs 1: Schreiben als Therapie


376 siehe Kapitel I. 2.1
137

der Teilnehmer, die sich erst kurze Zeit kannten, tauschten ihre Tagebücher
aus und beide profitierten, nach eigenen Angaben, sehr von den sich daraus
ergebenden Gesprächen. Die Kinder der Gruppe A, der Grundschulklasse,
wurden durch den Schreibkurs ebenfalls zu privatem Schreiben angeregt, al-
lerdings in einer anderen Variante. Einige der Kinder begannen, zu Hause Ge-
schichten zu schreiben, die sie dann entweder in einem Heft sammelten oder
im Familienkreis vorlasen bzw. die Geschichten als Geschenke zu besonderen
Anlässen im Familienkreis zu verschenken. Bei den Kindern stand deutlich der
Wunsch nach schönen und spannenden Geschichten im Vordergrund, während
sie von der Idee eines Tagebuchs eher überfordert waren.
Lediglich die Teilnehmer der Gruppe C wurden nicht zu privatem Schreiben
angeregt. Sie entwickelten zwar im Unterricht Freude am Schreiben und an
den Texten, hatten jedoch kein Bedürfnis, auch in ihrer Freizeit zu schreiben.
Es liegt nahe, dass sich dieser Umstand daraus ergibt, dass es weder in den
Familien noch in den peer-groups üblich war, Gedanken und Begebenheiten
schriftlich zu fixieren, und dass in der persönlichen Umgebung der Jugendli-
chen das Schreiben keinen hohen Stellenwert einnahm. Ein weiterer Grund
dafür, dass das Schreiben für diese Gruppe keinen unterrichtsübergreifenden
Stellenwert bekam, mag darin liegen, dass das Schreiben für die Teilnehmer
dieser Gruppe eine äußerst anstrengende Tätigkeit darstellte. Möglicherweise
hätte dieses Hindernis beseitigt werden können, hätten die Jugendlichen mehr
Zeit und Möglichkeiten gehabt, das Schreiben zu ”trainieren”.

3.2.3 Die Auswahl der Texte


Die Texte, die zur Untersuchung herangezogen wurden, wurden nach fol-
genden Kriterien ausgewählt:
Der Text stammt von einem Teilnehmer einer Schreibgruppe, der über einen
längeren Zeitraum beobachtet werden konnte.
Der Text stammt von einem Teilnehmer einer Lerngruppe, der in dieser konti-
nuierlich gearbeitet hat und somit eine lückenlose Progression aufzeigt.
Aus der Grundschulklasse die Texte von 10 Schülern ausgewählt und zur Ana-
lyse herangezogen. Diese 10 Schüler haben in einem Zeitraum von 4 Monaten
insgesamt jeweils 7 Texte zu 3 Themenstellungen geschrieben. Anhand dieser
70 zu untersuchenden Texten kann eine repräsentative Untersuchung des
Lernzuwachses erstellt werden, da sie die inhaltliche wie auch zeitliche Ent-
wicklung der einzelnen Schüler dokumentieren. Aus Gruppe B werden jeweils
3 Texte von 5 Schreibern zur Untersuchung herangezogen, die in einem Zeit-
raum von 15 Wochen verfasst wurden. Die Schreiber dieser Gruppe haben
ebenfalls zu 3 Themenbereichen geschrieben. Von Gruppe C werden 3 Texte
der 5 Jugendlichen zu 3 Themen analysiert, die in 6 Wochen geschrieben wur-
den.
138

Für die vorliegende Untersuchung wurden aus einem Pool von Texten von ins-
gesamt 33 Schreibern (Gruppe A: 25, Gruppe B: 10, Gruppe C: 8) 100 Texte
von 20 Schreibern nach den oben genannten Kriterien ausgewählt.
Alle Texte wurden im Rahmen des normalen Unterrichtsalltags geschrieben.
Die Texte, die in der Grundschulklasse geschrieben wurden, wurden von der
Klassenlehrerin anschließend, mit Einverständnis der Schüler, mit einer Ge-
samtnote bewertet. Diese wurde in Rücksprache mit den Schülern erstellt und
floss in die Jahresnote ein. Die Texte aus den Gruppen B und C wurden nicht
benotet, da sie in außerschulischen Maßnahmen produziert wurden, in denen
eine Benotung unüblich ist.

4 Kreatives Schreiben in der Grundschule


“Ich möchte gerne noch einmal ein Buch schreiben!”
Die vierte Klasse war seit dem ersten Schuljahr mit kreativen Schreibtechni-
ken und dem Verfassen kleiner Texte vertraut. Bereits zu Beginn des Schrift-
spracherwerbs hatten sie erste Erfahrungen mit dem Schreiben gemacht.
Schon im ersten Schuljahr wurden Assoziationstechniken wie das Cluster ein-
geführt und angewendet. Die Schüler hatten das Schreiben nicht nur als
Technik erworben, sondern als Medium kennen gelernt, mit dessen Hilfe sie
sich äußern können.
Zu Beginn des vierten Schuljahres hatte die Klasse eine Woche im Schul-
landheim verbracht. Während dieser Woche hatten sich die Schüler besser
kennen gelernt und viele Freundschaften geschlossen. Das Thema ”Verliebt-
sein” stand an erster Stelle. Demzufolge wurde ”die erste Liebe” auch im
Deutschunterricht thematisiert. Die Klasse las das Kinderbuch ”Ben liebt An-
na” von Peter Härtling378. In dieser Geschichte lernt ein deutscher Junge ein
polnisches Mädchen kennen und die beiden verlieben sich ineinander. Die Ge-
schichte beschreibt, wie sich die beiden, trotz allen Widerstands ihrer Umge-
bung und trotz aller Hindernisse, ihren gemeinsamen Platz erkämpfen. Die
Schüler hatten während der Lektüre bereits zum Thema ”Verliebtsein” selbst
Texte geschrieben. Sie hatten sich mit dem Thema ”Wenn ich verliebt bin,
fühle ich mich wie ...”379 auseinandergesetzt, Briefe an die Hauptpersonen der

377 Der Nürnberger Schulversuch “Integration ausländischer Schüler in Regelklassen wurde seit September 1990 bis
September 1994 in 42 Klassen durchgeführt. Es handelte sich hierbei um gemischte Regelklassen mit max. 33 %
ausländischen Schülern. Ziel des Schulversuchs war das interkulturelle Lernen als Unterrichtsprinzip zu implementieren
sowie eine Erhöhung der Ausbildungs- und Berufschancen. Beibehaltung und Förderung der Muttersprache waren
zentrale Elemente des Modellversuchs. (vgl. Pommerin u.a. (1996) a.a.O. S.44ff.)
378 vgl. Lamprecht (1993)
379 siehe Kapitel “Kreative Verfahren und Techniken” S. 90
139

Geschichte geschrieben sowie manche Stellen der Geschichte umgeschrieben.


Nicht zuletzt schrieben sie einen Brief an den Schriftsteller Peter Härtling.

4.1 Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre ...


Im Zuge der Arbeit an der Lektüre von ”Ben liebt Anna” kristallisierten sich
immer mehr Vorwürfe der Jungen an die Mädchen: ”Ihr seid immer so zim-
perlich!”, wie auch der Mädchen an die Jungen: ”Jungen sind immer so bru-
tal!” heraus. Die Kinder kritisierten allerdings nicht nur das unerwünschte
Verhalten der jeweils anderen Gruppe, sondern fügten Vorschläge an, die die
Beziehung zwischen Jungen und Mädchen ihrer Meinung nach verbessern
könnten. Das Thema ”Wenn ich ein Junge wäre, ...” bzw. ”Wenn ich ein Mäd-
chen wäre, ...” wurde bei Klassengesprächen, Diskussionen und Streitereien
zum roten Faden. Die Schüler wollten zu diesem Thema einen Text schreiben.
Sie erstellten Gruppencluster zu ”Wenn ich ein Mädchen wäre,...” und ”Wenn
ich ein Junge wäre,...”. Mit Hilfe der vorliegenden Cluster schrieben sie dann
erste Texte zu ”Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre,...”.
Die ersten Texte zu diesem Schreibanlass sind von der emotionalen Moti-
vation der Schreiber gekennzeichnet. Bereits beim ersten Lesen dieser Roh-
fassungen drängen sich einige Eindrücke unweigerlich auf: Die Texte sind
spontan, witzig und teilweise durchaus direkt und mit unerwarteten Inhalten
gespickt.380

4.1.1 Analyse der inhaltlichen Aussagen


Worüber schreiben Kinder?
Bei einer ersten Durchsicht der Rohfassungen fällt auf, dass einige Aussagen
in einem Großteil der Texte auftreten, so z. B. Aussagen zum Verhalten in der
Klasse: ”Wenn ich ein Mädchen wäre, dann wäre ich nicht so zickig!” oder
”Wenn ich ein Junge wäre, dann wäre ich nicht so cool!”. Auch Aussagen über
Spielzeug, das die jeweils andere Gruppe bevorzugt oder ablehnt, finden sich
in vielen der Texte: ”Ich würde nicht mit Barbies spielen, weil die sind nämlich
blöd!” oder ”Jungen haben alle einen Autotick, die spielen immer Spielzeugau-
tos und das finde ich albern!”.
Das häufige Auftreten bestimmter Inhalte ist auf die vorherigen Gespräche
und Diskussionen sowie der Beschäftigung mit dem Thema zurückzuführen.
Die in der Vorbereitungsphase gewonnenen Erkenntnisse wurden also in die
Rohfassungen aufgenommen, dort allerdings durch eigene Gedanken und I-
deen ergänzt.

380 siehe Kapitel I. 3.8


140

4.1.1.1 Aussagen zum Rollenverhalten


Das Thema ”Wenn ich ein Junge/ ein Mädchen wäre, ...” erforderte von den
Schreibern eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Rollenverhalten sowie
mit der eigenen Erwartung gegenüber anderen. Hier stellt sich zuerst die Fra-
ge, inwieweit Viertklässer, also Kinder im Alter von 9 bis 11 Jahren, in der La-
ge sind, ihr Rollenverhalten und das anderer zu reflektieren und Ergebnisse
dieser Reflexion zu Papier zu bringen und dies zudem in der Zweitsprache
Deutsch.
Dank der intensiven Vorbereitung in Gesprächen, Lektüre und Texten381, wur-
de die hier zu bewältigende Aufgabe erleichtert. Die Schreiber hatten zum
Zeitpunkt des Schreibens bereits eine eigene Meinung zum Thema entwickeln
können. Die Aufgabe bestand also darin, diese Meinung zu verbalisieren und
schriftlich darzulegen. Allerdings hatte die lange Vorbereitung auch Konse-
quenzen, die sich in den Texten offenbaren: Einige Aussagen wiederholen sich
in vielen Texten, da sie die Quintessenz der Auseinandersetzung im Plenum
darstellen.
Die Mädchen der Klasse hatten Bilder vom Leben der Jungen entwickelt, die
sich vor allem auf deren ”cooles” und ”brutales” Auftreten im Klassenalltag
bezogen. In den Texten warfen die Mädchen den Jungen dieses Verhalten vor
und entwickelten Alternativen. Ihr eigenes Verhalten war für sie nur insofern
von Bedeutung, als dass sie sich mit Hilfe der Vorwürfe gegen die Jungen
deutlich von deren Verhalten distanzierten. Die Aussage, ”wenn ich ein Junge
wäre, dann wäre ich nicht so cool”, war jedoch nicht eindeutig. Der Begriff
”cool” wurde in keinem Text eindeutig definiert. Er war auch nicht eindeutig
negativ besetzt. Cool sein wurde mit den Begriffen ”angeben”, ”sich auffüh-
ren” und dergleichen, aber auch mit ”überlegen sein ”, ”selbstbewusst sein”
assoziiert. In einer Diskussion, die der ersten Rohfassung folgte, wurde diese
vage Auslegung des Begriffes aufgegriffen und hinterfragt. Die Frage ”Was
meint ihr eigentlich, wenn ihr schreibt, dass ihr nicht so cool wärt, wenn ihr
Jungen wärt?” führte zu einer heftigen Auseinandersetzung unter den Mäd-
chen. Es zeigte sich, dass lange nicht alle Mädchen der Klasse diesen Begriff
gleichermaßen belegt hatten. So war er für einige Mädchen deutlich negativ
besetzt, im Sinne von angeberisch, kalt, arrogant, während andere mit dem
Begriff Eigenschaften verbanden, die sie als positiv einstuften, z. B. unabhän-
gig, stark, wichtig. Eine dritte Gruppe der Mädchen zeigte ein ambivalentes
Verhältnis zu dem Begriff. Einerseits fanden sie die damit verbundenen Eigen-
schaften abstoßend, wenn sie gegen sie gerichtet waren, andererseits bewun-
derten sie dieses Verhalten jedoch insgeheim, da es in ihrem eigenen Verhal-
tensrepertoire nicht oder nur teilweise vorgesehen war. In den Rohfassungen

381 siehe Kapitel II. 4.1


141

der Texte und in der anschließenden Diskussion kam immer wieder der
Wunsch zum Ausdruck, das eigene Verhalten zumindest tendenziell zu ver-
ändern. Das aktive und sichere Auftreten der Jungen imponierte den Mäd-
chen, obwohl sie es in ihrer Rolle, in der es gegen sie gerichtet war, nicht er-
trugen. Aussagen wie ”... wenn ich ein Junge wäre, hätte ich mich an die
Mädchen rangemacht und hätte sie in mein Bett gelegt und hätte gesagt: So,
heute Abend schläfst du bei mir!”, die in den Texten auftraten, wurden in der
Diskussion dahin gehend abgeschwächt, als dass sie nicht als Anregung für
die Jungen gedacht waren und dieses Verhalten von den Jungen auch nicht
erwartet wurde, sondern sie standen für den Wunsch der Mädchen, sich - zu-
mindest teilweise - aus dem von ihnen erwarteten Verhalten zu lösen und aus
ihrer passiven Rolle auszubrechen. Die Mädchen äußerten sich in der Diskus-
sion dahingehend, dass sie gerne die aktive Rolle übernehmen würden, sich
dies allerdings nicht trauten, da es als ”nicht normal” empfunden wurde. Die
Jungen lachten über derartige Aussagen, sagten aber in der Diskussion, dass
ihnen ein aktives Verhalten der Mädchen zwar ”komisch” vorkäme, ihnen aber
einiges leichter machen würde. ”Die warten ja immer nur drauf, dass sie an-
gebaggert werden.”, war eine zentrale Aussage der.
Im Laufe der Diskussion wurde den Schülern klar, dass ihre Erwartungen an
die eigene Rolle wie auch an die Rolle der jeweils anderen Gruppe auseinan-
der klafften. Sie sahen auch keine Möglichkeit, einen Konsens zu finden, we-
der für sich selbst noch für das Zusammenleben mit dem anderen Geschlecht.
In anderen Punkten arbeiteten die Schüler im Rahmen der Diskussion er-
folgreicher an einer Annäherung.
4.1.1.2 Aussagen zu den Spielgewohnheiten
Ein häufig angesprochenes Thema in den Rohfassungen der Texte waren die
Spielgewohnheiten des jeweils anderen Geschlechts. In vielen Texten wurde
der jeweils anderen Gruppe deren ausschließliche Beschäftigung mit ge-
schlechtstypischem Spielzeug vorgeworfen. ”Mädchen spielen immer nur mit
Barbies und sammeln Zaubertrolle.”, diese Aussage deutet auf eine deutlich
negative Einschätzung der Freizeitbeschäftigung der Mädchen hin. Folgende
Aussage aus einem Text eines Mädchens lässt das eigentliche Problem bereits
etwas deutlicher hervortreten: ”Wenn ich ein Junge wäre, würde ich alle
Spielzeugautos aus dem Fenster schmeißen.” Ganz klar tritt der Hintergrund
dieser Aussagen in folgender Textstelle hervor: ”Wenn ich ein Junge wäre,
dann würde ich auch mit Mädchen spielen.” In anschließenden Diskussionen
wurde deutlich, dass die negative Einschätzung des Spielzeugs der jeweils an-
deren Gruppe aus dem Wunsch resultierte, mit den anderen zusammen zu
spielen. Dies war allerdings zum Zeitpunkt der ersten Auseinandersetzung mit
dem Thema nicht möglich. Die festen Spielgewohnheiten der Mädchen mach-
ten es den Jungen unmöglich, ihre Freizeit mit den Mädchen zu verbringen
”ein Junge kann doch nicht mit Barbies spielen”, ebenso wie es für die Mäd-
142

chen indiskutabel war, ihre Freizeit mit den Jungen zu verbringen, da diese
immer nur mit Spielzeugautos zu spielen schienen. Das Spielzeug wurde auf
der einen Seite als ein Symbol der Zusammengehörigkeit, andererseits jedoch
gleichermaßen als Grund für eine unerwünschte Abgrenzung dargestellt. Die
Schüler äußerten in der Diskussion immer wieder den Wunsch, gemeinsame
Spiele und Freizeitbeschäftigungen zu finden.
 ”Ihr Mädchen könnt doch auch mal Fußball spielen!”;
 ”Warum sollen wir denn Fußball spielen? Immer wollt ihr nur das spie-
len, was euch gefällt und was ihr besser könnt!“;
 ”Was sollen wir denn sonst machen - Barbie spielen?“;
 ”Wir spielen ja gar nicht immer Barbie!”;
 ”Doch tut ihr eben schon und dann sagt ihr, wir täten immer nur mit
kleinen Autos spielen, dabei ist das doch Kinderkram.”;
 ”Warum macht ihr’s denn dann?”;
 ”Machen wir gar nicht, wir spielen ganz verschiedenen Sachen!”;
 ”Aber immer nur Jungenspiele!”;
 ”Mädchenspiele sind ja auch doof!”
Es fiel der Klasse schwer, sich von ihren bisherigen Spielgewohnheiten los-
zulösen, obwohl der Wunsch nach gemeinsamen Freizeitbeschäftigungen groß
war. Am Ende der - durchaus hitzigen - Diskussion entstand die Idee, einen
gemeinsamen Bummel durch die Innenstadt zu organisieren, die allen gefiel
und an einem der folgenden Nachmittage umgesetzt wurde.
4.1.1.3 Aussagen zu Zukunftsperspektiven
Auch in den ersten Texten der Jungen deuten einige Aussagen auf Erwar-
tungen hin, denen sich die Jungen ausgesetzt fühlen: ”Wenn ich ein Mädchen
wäre, dann würde ich mir einen Mann mit einer Harley Davidson suchen.” Die
Jungen sahen ihre zukünftige Aufgabe vor allem darin, möglichst viele Presti-
geobjekte anzusammeln, um damit den Mädchen zu imponieren. Gleichzeitig
machten sie den Mädchen zum Vorwurf, dass diese über die Möglichkeit ver-
fügten, sich einen ”reichen” Mann zu suchen und dann ”den ganzen Tag am
Sofa zu liegen und zu telefonieren und nicht mal das Besteck abzutrocknen”.
Auf der einen Seite sahen die Jungen ihre Zukunft darin, zu einem gewissen
Wohlstand zu gelangen, um für ihre Frau und ihre Familie sorgen zu können,
auf der anderen Seite fanden sie es unmöglich, dass ”Mädchen nicht mal was
Richtiges lernen müssen, weil sie ja sowieso heiraten und Kinder kriegen.” Die
Mädchen reagierten auf diese Aussagen mit dem Wunsch, eine eigene Karrie-
re aufzubauen und einen wohlhabenden Mann zu heiraten.
Die Zukunftspläne der Kinder waren temporal in zwei Stufen gegliedert. Zum
einen formulierten sie ihre Erwartungen an ihre ”nähere” Zukunft, also an die
143

Zeit als Jugendliche oder junge Erwachsene. So äußerten insbesondere die


Mädchen den Wunsch, in die Disco zu gehen, schicke Sachen zu tragen und
mehr Freiheit zu erlangen. Einen zweiten Schritt in die Zukunft wagten jene
Schüler, welche sich zu der Zeit äußerten, in der sie ”ein Mann” oder ”eine
Frau” sein würden. So unterscheidet ein Schüler deutlich die nähere und die
fernere Zukunft, wenn er schreibt: ”Wenn ich ein Mädchen wäre würde ich
nicht Röcke anziehen, sondern nur Hosen. Oder wenn ich eine Frau bin auch
Ledersachen anziehen.” In diesem Fall versetzte sich der Schüler in zwei - für
ihn fantastische - Situationen: Er überlegt sich, wie er leben würde, wenn er
ein Mädchen wäre und verbindet dieses Gedankenspiel mit der Vorstellung,
erwachsen zu sein. Die temporale Differenzierung ist formalsprachlich nicht
geglückt: ...”oder wenn ich eine Frau bin ...” steht anstelle der korrekten Kon-
junktiv II-Form. Im nächsten Satz: ”Ein Auto würde ich fahren und mein
Freund eine Harley Davidson.” spiegeln sich deutlich seine eigenen Zukunfts-
wünsche wieder. In der Diskussion näher befragt, gab er an, ein Auto wolle er
unbedingt, das Motorrad wäre der große Traum. Wenn er sich also, aus finan-
ziellen Gründen, für eines der beiden Fahrzeuge entscheiden müsse, dann
würde er das Motorrad wählen. Dazu allerdings brauche er eine Freundin, die
ein Auto besitzt, denn bei Regen müsse das Motorrad in der Garage bleiben.
Eine Freundin, die ein Motorrad und ein Auto besitzt könne er sich beim bes-
ten Willen nicht vorstellen, denn Mädchen haben höchstens ein Auto oder ein
Motorrad, weil Fahrzeuge eigentlich nur für Männer interessant seien.
4.1.1.4 Aussagen zum Aussehen
Die meisten Schreiber machten in ihren Rohfassungen Aussagen zum Outfit
der jeweils anderen und der eigenen Gruppe. Das Aussehen hat
augenscheinlich einen hohen Stellenwert bei der Selbstpräsentation. So steht
die Forderung nach Markenartikeln bei den Jungen im Vordergrund, während
die Mädchen ihre Wünsche eher an Haar- und Augenfarbe, Frisur und Figur
richteten. So wünscht sich ein Mädchen mit braunen Augen und schwarzen,
langen Haaren: ”und blaue Augen haben und rote Haare, wollte Igelhaare ha-
ben, große Ohren haben, gelbe, rote Haare kriegen.” Eine Schreiberin schlug
in ihrer Rohfassung einen Bogen und leitete mit einer konkreten Beschrei-
bung, wie sie - als Junge - eine Freundin finden würde über zu einer Auflis-
tung dessen, was sie an ihren Geschlechtsgenossinnen (nicht) schön findet:
”Sie sollen keine (Haar-)Spangen tragen, sondern Haarreifen tragen und soll-
ten mit den langen Haaren angeben.” Folgende Aussage stammt ebenfalls von
einem Mädchen: ” Mädchen sollten nicht immer Käppis tragen.” Die Mädchen
äußerten sich zu ihrem Aussehen, wenn sie Jungen wären, differenzierter als
die Jungen. Die Jungen betonten lediglich, dass sie - als Mädchen - mehr Wert
auf Markenartikel legen würden. Im anschließenden Gespräch kam zu Tage,
dass die Mädchen, in Bezug auf ihr eigenes Outfit, mehr Wert auf Schmuck,
144

Haarschmuck und Frisur legten als auf die Marke ihrer Kleidung. Dieses Ver-
halten erschien den Jungen unverständlich und auch nicht wünschenswert.

4.1.2 Analyse des formalen Sprachgebrauchs


Wie schreiben Kinder? Fehler - Grenzen oder Chancen?
Das Motto dieses Kapitels, der Wunsch eines Viertklässers: ”Ich möchte gern
noch einmal ein Buch schreiben“382, deutet bereits auf zwei wichtige Ergebnis-
se hin: Diese Aussage zeigt, dass bereits Grundschüler ein Buch schreiben
können, und, dass ihnen das Schreiben so gut gefällt, dass sie sich eine Wie-
derholung wünschen. Zum Verfassen eines Buches sind jedoch nicht nur Fan-
tasie und Motivation notwendig, sondern auch formalsprachliche Kenntnisse.
Die Schüler selbst legten großen Wert auf eine formale Korrektheit ihrer Tex-
te, insbesondere in dem Moment, in dem es an deren Veröffentlichung ging.
Einige Schüler thematisierten ihre eigene Sprachkompetenz in den Rohfas-
sungen. Sie machten indirekte Angaben zu eigenen sprachlichen Defiziten,
wie ”Wenn ich ein Mädchen wäre, dann hätte ich bessere Deutschnoten.”
oder: ”Wenn ich ein Junge wäre, dann würde ich mehr lernen.” Aussagen zur
sprachlichen Kompetenz der Mitschüler bezogen sich häufig auf das Unvermö-
gen, Konflikte verbal zu lösen. Insbesondere Mädchen beklagten sich darüber,
dass Jungen Konflikte häufig handgreiflich austrugen, anstatt sich im Ge-
spräch auseinanderzusetzen: ”Und wenn ich ein Junge wäre, dann würde ich
nie Mädchen hauen.” Insbesondere in den Diskussionen, die sich an die Roh-
fassung anschlossen, wurde immer wieder kritisiert, dass die Jungen nicht be-
reit seien, sich mit den Mädchen - allerdings auch untereinander - zu unter-
halten und Probleme verbal zu lösen. Die Jungen reagierten auf diese Vorwür-
fe hilflos und gaben vor, die Vorwürfe nicht zu verstehen. ”Was soll denn das,
warum sollen wir reden?” war keine seltene Frage der Jungen. Hier konnten
allerdings keine Unterschiede zwischen Kindern deutscher Primärsprache und
Kindern nicht-deutscher Primärsprache festgestellt werden. Das Problem
scheint eher geschlechtsspezifischer Herkunft zu sein denn sprachlicher. So
waren auch türkische Mädchen mit einem relativ niedrigen Sprachstand eher
gesprächsbereit als Jungen, die sich in ihrer Primärsprache gewandt auszu-
drücken vermochten. Allerdings hatte ein türkischer Junge eine Entschuldi-
gung vorzuweisen, als er darauf angesprochen wurde, weshalb er immer
schlage und schlechte Wörter verwende: ”Ich spreche eben nicht so gut
Deutsch!”. Dieses Argument brachte er in einem formalsprachlich völlig kor-
rekten Satz vor.
Die ersten Testfassungen wurden sofort im Anschluss an die Textproduktion
einer ersten Analyse unterzogen. Diese beschränkte sich nicht nur auf inhaltli-

382 abschließender Kommentar zu den ersten beiden Schreibkursen Wenn ich ein .....
145

che Aspekte, sondern es wurden auch formalsprachliche Kriterien untersucht.


383

Der vorgegebene Textanfang ”Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre, ....” er-
fordert eine Fortsetzung des irrealen Bedingungssatzes. Dies setzt bereits eine
hohe Stufe der Sprachbeherrschung voraus.
Der Schreiber muss wissen, dass die Konjunktion ”wenn” einen Konditional-
satz einleitet. Er muss wissen, dass die Konjunktion ”wenn” einen Nebensatz
einleitet, in dem die konjugierte Verbform an letzter Position steht. Ebenso
benötigt er für einen sicheren Umgang mit dieser Konjunktion die Informati-
on, dass sich die Wortstellung hinter dem Komma dann ändert, wenn der
Satz, der durch die Konjunktion ”wenn” eingeleitet wird, vor dem Komma
steht. Die Schüler dieser Klasse hatten keine Probleme mit der Struktur des
Konditionalsatzes. Die Wortstellung war in fast allen Texten durchgehend kor-
rekt, die Sätze waren richtig verbunden. Dieser Umstand zeugt davon, dass
die Schüler nach dreijähriger Beschulung in der Unterrichtssprache Deutsch,
bereits ein gutes Sprachgefühl entwickelt hatten. Sie konnten Strukturen, die
ihnen aus dem Unterricht bekannt waren, problemlos in eigenen Texten an-
wenden. Auch kompliziertere Strukturen, wie die Kombination aus irrealem
Bedingungssatz und aufzählender Satzreihe wurden fehlerlos gemeistert:
”Wenn ich ein Junge wäre, dann hätte ich mich an die Mädchen rangemacht
und hätte sie gefragt, ob sie mit mir ausgehen möchten und wäre mit ihnen in
die Disco gegangen.”
Um den vorgegebenen Satzanfang weiterzuführen, muss der Schreiber den
Konjunktiv II der Hilfsverben beherrschen. Der irreale Bedingungssatz fordert
hier den durchgängigen Gebrauch des Konjunktivs II. Die Schüler lösten das
Problem alle, indem sie den Konjunktiv II mit ”würde + Infinitiv” bildeten. Die
Prädikatsklammer, die durch die Verwendung der zweiteiligen Verbform ge-
bildet werden muss und die daraus resultierende Satzstellung bereiteten den
Schülern keine Schwierigkeiten. Große Schwierigkeiten jedoch hatten die
Schüler im Bereich der Tempusformen des Konjunktiv II, da sie diese nicht
eindeutig zuordnen konnten: ”Wenn ich ein Junge wäre, dann hätte ich keine
Mädchen geschlagen.” Eine weitere Fehlerquelle entstand durch eine unzuläs-
sige Vermengung des Konjunktivs der Gegenwart und des Konjunktivs der
Vergangenheit, bei der das Hilfsverb ”haben” im Konjunktiv II mit dem Infini-
tiv des Vollverbs verbunden wurde und nicht mit dem Partizip II, das diese

383 Die ersten Texte wurden auf Umfang und benutzten Wortschatz hin untersucht und einer EKG-Analyse unterzogen
(vgl. Hegele/Pommerin 1983). Die EKG-Analyse dient der Ermittlung des Erfahrungshintergrundes, der kommunikativen
Kompetenz, der Grammatikkenntnisse sowie der orthographischen Kompetenz der Schreiber. In der vorliegenden
Untersuchung wurde die Analyse der orthographischen Kompetenz nicht berücksichtigt, da die Rechtschreibung als
Lernziel definiert war. Es wurde in der Planung von einer immanenten Einübung der Rechtschreibung ausgegangen.
146

Form verlangt. ”Ich hätte nicht so viel Ausdrücke sagen.” Ebenso fällt in meh-
reren Texten die Verwendung einer - vom regionalen Dialekt beeinflussten - in
der Hochsprache eher unüblichen Form auf. Die Schüler ersetzten in der Kon-
junktiv-II-Konstruktion das Hilfsverb ”werden” durch die Konjunktiv-II-Form
des Verbs ”tun” und verbanden diese mit dem Infinitiv des Vollverbs, was zu
formalsprachlichen Fehlern führte: ”Ich täte (...) sagen.” oder ”Wenn ich ein
Mädchen wäre, dät ich nicht eingebildet sein.” sind als Redewendungen im
mündlichen Sprachgebrauch in der Region durchaus üblich, in der Schriftspra-
che allerdings unangemessen. Die Bildung und Anwendung des Konjunktivs II
der Modalverben wurden meist fehlerfrei gemeistert.
Die erste Durchsicht der Rohfassungen ergab ein weiteres formalsprachliches
Problem: die Zeichensetzung. ”Wenn ich mit meiner Freundin weggehen täte
würde ich mich nicht so aufmerksam benemen, den sonst würden die Leute
denken ich würde nur angeben aber in der Schule würde ich nicht so ange-
ben.” In den Texten wurde überwiegend ausschließlich der Punkt als Satzzei-
chen eingesetzt, obwohl die Schüler durchaus komplexere Satzstrukturen
verwendet hatten. Lediglich ein Text zeigt eine Formulierung der direkten Re-
de mit Anführungszeichen. Alle anderen Schreiber hatten diese Möglichkeit
nicht wahrgenommen.384 Diese Fehlerquelle rührt von zwei Umständen her:
Zum Einen wurde das Thema bis zu diesem Zeitpunkt nicht explizit im
Deutschunterricht behandelt, zum Anderen war den Schülern bei der Produk-
tion der Rohfassungen durchaus bewusst, dass es sich um vorläufige Versio-
nen handelte, die sie im Anschluss überarbeiten würden. Somit erklärt sich
möglicherweise der sorglose Umgang mit Rechtschreibung und Zeichenset-
zung.

4.1.3 Die erste inhaltliche Überarbeitung


Wenn Kinder über Texte sprechen...
... dann mit vollem Einsatz!
Die Cluster sowie die Rohfassungen zum Thema ”Wenn ich Junge/ ein Mäd-
chen wäre...” wurden im regulären Deutschunterricht unter Anleitung der
Klassenlehrerin geschrieben. Es wurde eine erste Auswertung der Rohfassun-
gen durchgeführt. Anhand dieser ersten Eindrücke wurden in einem Brief an
die Klasse Fragen formuliert, die sich auf inhaltliche Verständnisprobleme be-
zogen. Der Brief stellte den Leitfaden für das geplante Gespräch mit bzw. in
der Klasse dar. Er führte zu einem Einstieg in eine Diskussion im Klassenver-
band, in deren Rahmen die Schüler ihre eigenen Aussagen reflektieren sowie

384 In Kapitel II 4.2.1 wird detailliert auf die Abweichungen von der Normsprache eingegangen. Hier werden nur die
auffälligsten Abweichungen erwähnt, um einen Überblick zur Sprachkompetenz der Schreibgruppenteilnehmer in der
Zielsprache Deutsch zu geben.
147

Aussagen anderer kritisch beleuchten sollten. Die Fragen, die zu den Texten
formuliert worden waren, sollten die Schüler zu einem Gespräch über ihre
Texte anregen.

Liebe Kinder,
ich habe Eure Geschichten mit Freude gelesen. Es hat mir gut gefallen, was
ihr über Mädchen und Jungen geschrieben habt. Allerdings habe ich nicht al-
les verstanden, deshalb habe ich einige Fragen an Euch:
1. Was meint ihr mit ”cool sein”?
2. Warum finden die Jungen die Mädchen so zickig?
3. Warum würden die Mädchen, wenn sie Jungen wären, alle Mädchen an-
baggern, küssen und sogar in ihr Bett locken?
4. Warum ist es für Jungen so wichtig, daß Mädchen lange, blonde Haare
haben?
5. Warum meinen die Mädchen, daß die Jungen immer so brutal sind und oft
die Mädchen schlagen?
6. Wie stellt Ihr Euch die Freundschaft mit einem Mädchen/einem Jungen
vor?
7. Warum würden die Mädchen, wenn sie Jungen wären, nicht so angeben
und sich nicht so aufpusten?
8. Warum würden die Jungen, wenn sie Mädchen wären, nicht mit Barbies
spielen?
9. Warum würden die Jungen, wenn sie Mädchen wären, nicht heiraten und
keine Kinder kriegen wollen?
Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr mir diese Fragen beantworten könn-
tet!
Liebe Grüße!

Dieser Brief gab Anlass zu einer über 135 Minuten langen, hitzigen Diskussi-
on. An dieser Diskussion beteiligte sich die ganze Klasse und die Schüler ver-
fochten ihre Meinungen zu den einzelnen Punkten.
Die Diskussion wurde weitgehend auf einer inhaltlichen Ebene geführt. Re-
flexionen über Sprache, wie das bewusste Wahrnehmen und Beschreiben von
Strukturen und Funktionen des Zeichen- und Regelsystems waren im Rahmen
dieser ersten Diskussion nicht möglich. Der dafür erforderliche Abstraktions-
grad wurde in dieser Phase nicht erreicht.
Großen Raum beanspruchte die Beantwortung der Frage ”Was meint ihr mit
”cool sein?”. Die Schüler versuchten das Wort ”cool” zu analysieren und zu ei-
148

ner einheitlichen Definitionen zu gelangen. Hierbei wurde den Schülern durch-


aus bewusst, welche semantischen Probleme beim Verfassen eines Textes
auftreten können. Sie reflektierten die semantische Differenzierung und die
daraus resultierenden Chancen.
Die Schüler beantworteten die Fragen, die in dem Brief gestellt wurden nicht
nacheinander, sondern es zeigte sich, dass alle Fragen zu einem zentralen
Problem hinführten, nämlich zu der Auseinandersetzung mit den Geschlech-
terrollen. Die Schüler beleuchteten dieses Problem von verschiedenen Seiten
und diskutierten dessen unterschiedliche Aspekte. Schwerpunkte lagen zu Be-
ginn im Verhalten der jeweils anderen Gruppe, das zu Beanstandungen Anlass
gab sowie in Versuchen, zu einem Konsens zu gelangen. Mädchen und Jungen
waren sehr daran interessiert, eine Annäherung zu finden, versuchten dies je-
doch auf verschiedenen Ebenen. Die Mädchen waren zu Beginn der Diskussion
weitaus konzilianter als die Jungen. Sie gaben zu erkennen, dass sie durchaus
Verständnis für das Spielen mit Spielzeugautos, die Begeisterung für Fußball
und Catchen sowie die Vorliebe für Kleidung bestimmter Hersteller hatten, ga-
ben jedoch gleichzeitig zu bedenken, dass es auch andere Bereiche gäbe, in
denen eine Annäherung beider Gruppen stattfinden könnte. ”Mädchen können
doch auch Ball spielen, nicht nur Jungens. Das stimmt nicht, wenn ihr immer
sagt, Mädchen können nur Barbies spielen.” Im weiteren Verlauf der Diskussi-
on zeigten die Mädchen dann aber dennoch keinerlei Verständnis für Verhal-
tensweisen, die sie als gegen sich gerichtet empfanden. So äußersten sie sich
eindeutig ablehnend über die raue und brutale Art der Jungen, Konflikte aus-
zutragen. Hier waren sie auch zu keinerlei Nachgeben bereit und vertraten ih-
ren Standpunkt vehement. ”Ihr seid total blöd, weil ihr immer denkt, ihr hät-
tet Recht, aber Recht habt ihr nicht.” Bei den Jungen verlief die Entwicklung
der Diskussionsstrategie exakt gegenläufig. Während sie zu Beginn der Dis-
kussion ihre Ansichten eher aggressiv vertraten, tendierten sie im weiteren
Verlauf dazu, die Mädchen milder zu stimmen und eine Versöhnung herbeizu-
führen. ”Aber das war doch gar nicht so gemeint ...!” war ein oft benutzter
Satzanfang. Während der gesamten Diskussion waren es die Mädchen, die
nachdrücklich auf eine Klärung der Probleme drängten und dies sowohl durch
Lösungsvorschläge als auch durch emotional gefärbte Vorwürfe zu erreichen
suchten. Die Jungen gerieten im Verlauf der Diskussion immer mehr in eine
defensive Position und konnten bis zum Ende die Oberhand nicht zurückge-
winnen.
Die Diskussionsbeiträge wurden durch Beispiele aus dem nahen Lebens-
bereich der Schüler untermauert, so z. B. versuchte ein Schüler seine Mei-
nung über die Rolle der Ehefrau durch folgende Aussage zu untermauern:
”Und meine Tante, die liegt den ganzen Tag auf dem Sofa rum und telefo-
niert, die ruft immer meine Mutter an und dann schimpft mein Vater, weil die
(die Mutter) dann nicht das Geschirr macht und gar nix. Also, so geht das
149

doch nicht. Die (die Tante) liegt bloß rum, ruft an und gibt das ganze Geld
aus.” Dieser Beitrag wurde sofort mit einem „Also, das stimmt ja gar nicht, ich
habe auch eine Tante und die liegt nicht den ganzen Tag rum, sondern die ar-
beitet in einer Firma und hat ganz viel Stress.“ quittiert. Es war schwierig, die
Kinder von dieser Ebene hin zu einer abstrahierenden Diskussionsform zu füh-
ren. Vorrangig lag die Aufgabe der Diskussionsleitung darin, die Sprechzeiten
einzuteilen und auch zu begrenzen. Im Eifer des Gefechts hatten die Schüler
große Probleme, sich an die bereits eingeführten und eingeübten
Gesprächsregeln zu halten. So antwortete eine Schülerin der Lehrerin auf die
Frage, ob sie sich denn nicht an die Gesprächsregeln erinnere, mit einem un-
geduldigen „Ja, ich weiß schon, aber das geht mir jetzt an die Nerven, weil
....“ und setzte ihren Gesprächsbeitrag fort.
Als wichtigste Ergebnisse der Diskussion lassen sich zusammenfassen:
• Die Schüler führten eine umfassende Diskussion über ihre eigenen Texte
und beschäftigten sich über einen längeren Zeitraum mit deren Inhalten.
Sie entwickelten hohe Motivation, über eigene und fremde Texte zu spre-
chen.
• Mädchen und Jungen definierten ihre und die jeweils andere Ge-
schlechterrolle und arbeiteten die durch die unterschiedlichen Verhal-
tensmuster auftretenden Probleme im Klassenverband heraus.
• Die Klasse entwickelte Lösungsvorschläge und -strategien zu Problemen,
die während des Schreibprozesses auftraten sowie zu Schwierigkeiten, die
sich aus der Zusammenarbeit in Gruppe oder Plenum ergaben.
• Die Klasse plante einen konkreten Lösungsversuch, der anschließend in die
Tat umgesetzt wurde.
• Die Schüler reflektierten gemeinsam über die Möglichkeiten der seman-
tischen Differenzierung anhand einiger Beispiele (cool, zickig...) und ent-
wickelte Wort- und Assoziationsfelder.
• Die Klasse begriff Sprache als Mittel der Kommunikation und Instrument
des Handelns.
• Die Schüler entdeckten die Wirkung ihrer eigenen Formulierungen auf den
Leser. Sie erkannten, dass es einer exakten Wortwahl bedarf, um Missver-
ständnissen auf Seiten des Lesers vorzubeugen.
Die oben aufgeführten Ergebnisse der Diskussion sollten im Anschluss in eine
Collage einfließen. Die Unterrichtseinheit sollte die Schüler motivieren, die
gewonnenen Erkenntnisse erneut aufzugreifen und damit zu sichern. Dazu
sollten die Schüler in Gruppenarbeit Collagen zu den Themen: Wenn ich ein
Junge wäre, ...“, „Wenn ich ein Mädchen wäre, ....“, „Ich bin ein Junge.“, „Ich
bin ein Mädchen.“ erstellen.
150

Die Gruppenarbeit, die sich für diese Art der bildnerischen Darstellung an-
bietet, initiiert das Gespräch unter den Schülern zum Thema. Während der
gemeinsamen Arbeit an einer Collage wird eine Diskussion unbedingt notwen-
dig, da die Schüler sich, um erfolgreich arbeiten zu können, intensiv mit dem
Thema auseinandersetzen müssen. Die entstandenen Arbeiten wurden im Ple-
num besprochen, wobei ausschließlich die inhaltliche Bewältigung des Themas
reflektiert wurde.
Diese Phase des Schreibkurses diente der Sicherung und der Vertiefung erster
Ergebnisse. Die Auseinandersetzung mit dem Thema in der Gruppe und die
daraus resultierenden Darstellungen im Medium der Collage setzten sich für
die Lehrkräfte zu einem das ganze Spektrum beleuchtenden Bild zusammen.
Dieser Einblick erlaubte es, den Standpunkt der Schüler zu erfassen und sie
dort abzuholen, wo sie zu diesem Zeitpunkt standen. Die Beobachtung und
Auswertung der Diskussion und der Arbeit an den Collagen ermöglichte eine
detailliert auf den psychologischen wie sprachlichen Entwicklungsstand der
Schüler abgestimmte weitere Unterrichtsplanung.

4.1.4 Die erste formale Überarbeitung


Die sprachliche Überarbeitung der Rohfassungen begann mit einem syste-
matischen Einschub, der an der ersten Analyse der Rohfassungen orientiert
war. Ein erster Schritt war die Einführung der operationalen Verfahren. Diese
Verfahren stehen neben der traditionellen Fragemethode und umfassen ver-
schiedene Verfahren wie Umstellprobe, Ersatzprobe, Weglassprobe, Erweite-
rungsprobe, Klangprobe.
Das Verfahren geht vom kontext- und situationsbedingten Satz bzw. Text aus
und berücksichtigt die Intention des Schreibers sowie die kommunikative Wir-
kung der Sprachhandlung. Der operationale Umgang mit Sprache fördert das
Bewusstsein der Schüler beim Schreiben über Sprache und sprachliche Kreati-
vität. Die Verfahren wurden exemplarisch an einem Schülertext durchgeführt.
Der Autor dieses Textes hatte seinen Text freiwillig zur Verfügung gestellt und
war mindestens ebenso gespannt auf die Arbeit an seinem Text, wie die ande-
ren Schüler. Hier traten die ersten Unterschiede zwischen Kindern und Ju-
gendlichen oder Erwachsenen bezüglich des Umgangs mit einem eigenen Text
auf: Während Jugendliche oder Erwachsene eine gewisse Scheu vor einer ers-
ten Veröffentlichung und der darauf folgenden Kritik zeigen, gehen Kinder
weitaus unbefangener mit dieser Situation um: Sie stellen ihre Texte bereit-
willig zur Verfügung und begreifen eine redaktionelle Überarbeitung als Chan-
ce und Bereicherung. Der hier betroffene Autor war in erster Linie stolz, dass
sein Text - durch den Overhead-Projektor groß an der Wand abgebildet - von
der ganzen Klasse gelesen und besprochen wurde. Es hat sich in der weiteren
Arbeit mit dieser Grundschulklasse immer wieder gezeigt, dass die Kinder
151

durchweg fair und konstruktiv mit den Texten anderer umgingen, und dies im
Gegenzug auch vom Umgang anderer mit ihren Texten erwarten konnten.
Es kam allerdings einige Male zu Situationen, in denen die Klasse einen Text
eines Mitschülers bewusst überbewertete, um ihn zu weiterer Arbeit zu moti-
vieren oder um ihn nicht zu verletzen.
Der ausgewählte Text wurde im Plenum besprochen und daraufhin wurde ein
Satz hervorgehoben. An diesem Satz wurden die operationalen Verfahren ex-
emplarisch vorgestellt und erprobt. Anschließend wurden diese Verfahren in
Gruppen zu je vier Schülern an dem ganzen Text ausprobiert. Die Ergebnisse
dieser Gruppenarbeit wurden gesammelt und im Plenum vorgestellt. Sätze,
die durch eine überdurchschnittliche Wirkung auf den Leser auffielen, wurden
im Plenum analysiert und die Kriterien an der Tafel fixiert.
In einer weiteren Sitzung wurden alle Texte in Gruppenarbeit nach dem vor-
gegeben Muster redaktionell überarbeitet. In den Gruppen387 wurden folgen-
de Verfahren zur Überarbeitung verwendet:

Strategien G1 G2 G3 G4 G5 G6 G7 insgesamt
Erweiterung 6 4 1 2 4 5 5 27
und/oder 1 - - 1 - 1 - 3
Paraphrase 6 6 6 4 4 9 6 41
Adjektive 1 - - - - - - 1
Wortfolge - 1 - 1 1 - - 3
Weglassprobe - - 2 1 1 - 1 5
Verschiebeprobe - - 1 1 1 - 1 4
direkte/indirekte Rede - - - - - 1 - 1

385 Den formalsprachlichen Analysen liegen Helbig/Buscha (xxxx), Dreyer/Schmidt (xxxx) sowie Götze (xxxx) zu
Grunde.
386 Formalsprachliche Abweichungen können von der Lehrkraft erkannt und analysiert werden. Das Verständnis des in
diesem Zusammenhang auftretenden Begriffs „Fehler“ ist jedoch nicht so klar abgegrenzt wie die formalsprachlichen
Abweichungen per se. Ein Fehler kann als falsch geschriebenes Wort oder eine falsche Anwendung einer
grammatikalischen Regel definiert, oder wie in der vorliegenden Arbeit als ein Ansatzpunkt zu weiterer Arbeit gesehen
werden. Der dieser Arbeit zu Grund liegende Fehlerbegriff basiert auf den Arbeiten von Kupfer-Schreiner (1994) und
Kuhs (1989)
387 Die einzelnen Gruppe zu je 4 Schülern werden in Tabelle 3 mit G1, G2, G3 usw. bezeichnet.
152

insgesamt 14 11 10 10 11 16 13 85
“Anwendung der Überarbeitungsstrategien”
Die Textversionen, die aus der ersten Überarbeitungsphase hervorgingen,
wurden von der Lehrkraft formalsprachlich korrekt und maschinenschriftlich
abgetippt und den Schülern zur weiteren Überarbeitung, dem Verfassen einer
zweiten Textversion ausgehändigt.

4.1.5 Der zweite Textentwurf


Der zweite Textentwurf war im Durchschnitt etwas länger als die erste Fas-
sung. Es wurden allerdings nur geringfügig mehr Wörter aus dem ur-
sprünglichen Cluster entnommen. Auffallend ist, dass die zweite Version der
türkischen Kinder mehr an Umfang zugenommen hat als die der nicht-
türkischen Kinder. Die türkischen Kinder hatten ihren Text um durchschnittlich
12 neue Vokabeln erweitert, die nicht aus dem ursprünglichen Cluster stamm-
ten. Die nicht-türkischen Kinder hatten, im Gegensatz dazu, in der zweiten
Version ihren Wortschatz eher reduziert, obwohl die Texte durchschnittlich
etwas länger sind als die ersten Fassungen. Dieser Umstand zeigt, dass die
türkischen Kinder, für die Deutsch nicht Primärsprache, sondern Zweitsprache
ist, in Bezug auf den Wortschatz mehr auf die Hilfen und Anregungen aus dem
Cluster und auf die während der Überarbeitungsphase im Unterricht erarbeite-
ten Strukturen zurückgriffen, um ihre Texte zu verbessern als die Gruppe der
Kinder deutscher Primärsprache. Hier zeigt sich, dass die Schüler das Cluster
und die Ergebnisse der Überarbeitungsphasen als Angebot ansehen, das sie
als Hilfestellung nützen können, aber nicht müssen. Schüler, die bereits siche-
rer mit der Zielsprache umgehen, verzichten mehr oder weniger auf die im
Plenum erarbeiteten Strukturen und experimentieren mit den neu gewon-
nenen Erkenntnissen. Schwächere Schüler jedoch nutzen die Hilfestellungen
sinnvoll und erzielen so zufrieden stellende Ergebnisse, die die Motivation für
die weitere Textproduktion und die weitere Arbeit an den eigenen Texten dar-
stellen. Das Verfahren des Kreativen Schreibens ermöglicht jedem Schüler,
seinen individuellen Sprachstand zu verbessern, ohne jeweils über- oder un-
terfordert zu werden. Dies trug dem heterogenen Sprachstand der Klasse so-
wie dem differenzierten Leistungsniveau der Schüler Rechnung.
Eine überraschende Entwicklung zeichnet sich auf der inhaltlichen Ebene ab:
Die meisten Schüler setzten in der zweiten Version zum Thema: „Wenn ich ein
Junge/ ein Mädchen wäre...“ inhaltlich einen anderen Schwerpunkt als in der
ersten Version. Als die Schüler nach dem Grund, nannten sie überwiegend im
Plenum und während der Gruppenarbeit neu gewonnene Ideen und Gedanken
zum Thema. Ein weiterer Grund für die inhaltlichen Veränderungen bzw. Er-
weiterungen war, dass die Schüler bei der Auseinandersetzung mit den Texten
ihrer Mitschüler bemerkt hatten, wie ähnlich sich die Texte inhaltlich waren. In
153

den zweiten Fassungen äußerte sich das Bestreben, einen individuellen Text
zu schreiben.388

4.1.6 Die zweite Überarbeitungsphase


Um die Ergebnisse der vorangegangenen systematischen Unterweisungen zu
fixieren, wurde nach dem Verfassen der zweiten Textversion eine Grammatik-
stunde eingeschoben. Die besprochenen operationalen Verfahren wurden nun
systematisch zum Erkennen und Bestimmen der Satzglieder angewendet. An-
hand der Verschiebeprobe wurden die Satzglieder abgegrenzt, benannt und
ihre Funktion im Satz besprochen. Die Weglassprobe wurde genutzt, um zu
verdeutlichen, welche Satzglieder notwendig sind, um einen sinnvollen Satz
zu bilden. Die Ersatzprobe zeigt, dass Satzglieder nur vollständig ersetzt wer-
den können. In einer weiteren Phase dieser Unterrichtssequenz erarbeiteten
die Schüler die Grundtypen der Satzstellung des Deutschen. Sie experimen-
tierten mit den vorgegebenen Satzgliedern und erprobten deren Wirkung an
den verschiedenen Positionen und in den unterschiedlichen Satztypen. Die
vorgegebenen Sätze waren alle den vorher produzierten Schülertexten ent-
nommen worden. Die angewandte Methode ermöglichte den Schülern, die
wichtigsten Lerninhalte eigenständig zu erarbeiten und die Regeln selbst zu
formulieren. Auch in dieser Unterrichtseinheit nahm die Lehrkraft eine beglei-
tende und beratende Rolle ein, während die Schüler mit ihren Sätzen „jong-
lierten“. Die für diese Unterrichtseinheit gesetzten Lernziele:
• Einführung der Fachbegriffe (Bezeichnung der Satzglieder),
• Erkennen der Funktion der Satzglieder,
• Reflexionen über die Wirkung der Satzglieder auf verschiedenen Positionen
im Satz
• Bildung von Satzfragen
• Formulieren von Regeln
wurden erfolgreich erreicht.
In der darauf folgenden Unterrichtseinheit wurden die Probleme der Schüler
aufgegriffen, die sich durch die erste inhaltliche Überarbeitung ergeben und
während der Produktion der zweiten Textversion aufgetreten waren: Die Texte
wurden hinsichtlich ihrer Wirkung auf den Leser untersucht. Im Vordergrund
stand die Frage, welche Kriterien einen Text lesenswert, also interessant, lus-
tig oder spannend machen. Die Schüler lasen verschiedene Texte vor und un-
tersuchten deren Wirkung auf die Rezipienten. Zu Beginn waren die Beiträge
allgemein gehalten. Hier zeigte sich nicht nur die anfängliche Unsicherheit in

388 Diesem Umstand wurde in einer der nächsten Sitzungen Rechnung getragen.
154

einem Gespräch auf der Metaebene, sondern in erster Linie die Angst, einen
Mitschüler durch die Kritik zu verletzen. Die Schüler waren äußerst vorsichtig
in ihren Äußerungen. Nach einiger Zeit konnte das Gespräch jedoch so ge-
lenkt werden, dass die Schüler mehr Zutrauen und Mut fassten und ihre Kritik
selbstbewusst äußerten, ohne Angst ihre Mitschüler zu verletzen. So entwi-
ckelten die Schüler durchaus konstruktive Kritik, die ebenso positiv aufge-
nommen wurde.
(1) Ein erster Versuch:
„ ...hm, also, eigentlich, finde ich den Text ein bißchen... also er ist schon
schön, aber ganz so spannend ist er nicht. Warum hast du ...Man kann ja gar
nicht lachen ... Der vom CV ist viel lustiger.“
(2) Ein weiterer Versuch vom gleichen Schüler zum gleichen Text:
„ ... Du hast immer die gleichen Wörter verwendet. Und überhaupt keine lus-
tigen Wörter.“

Im Plenum wurden dann folgende Kriterien zusammengetragen:

Was macht einen Text lesenswert?

Gebrauch von Adjektiven Verwendung lustiger Wörter


Finden ungewöhnlicher Vergleiche Einsatz direkter Rede
Finden von Gegensatzpaaren Umstellung der Satzglieder
Gebrauch von Synonymen Erweiterung von Sätzen
Einsetzen von Sammelwörtern Verwendung unterschiedlicher
Satzanfänge

Die in der zweiten Überarbeitungsphase erzielten Ergebnisse sollten im An-


schluss in eine dritte und letzte Textversion einfließen. Die Schüler waren in-
formiert, dass es sich hierbei um die endgültige Fassung ihrer Texte handeln
sollte.

4.1.7 Der dritte Textentwurf


Nach den oben dokumentierten Sequenzen wurde eine dritte Textfassung ge-
schrieben. Diese wurde nach einer kurzen Einführung in die Textgestaltung
„ins Reine“ geschrieben und bildnerisch so gestaltet, dass sie als Ko-
155

piervorlagen für das geplante Buch gelten konnten. Die dritte und damit end-
gültige Textversion zeigt Merkmale, die hier tabellarisch jenen, der beiden
vorhergehenden Textfassungen gegenübergestellt werden.

1. Fassung türkische Cluster andere Schüler Cluster gesamt Cluster


Schüler
Textlänge 56,3 2,5 73,4 5,5 64,4 4,0
Wortschatz 28,9 2,5 38,4 5,5 33,4 4,0
Substantive 6,5 1,2 6,3 1,5 6,4 1,3
Verben 6,8 1,2 8,1 2,3 7,4 1,7
Adjektive 2,2 0,3 2,5 1,0 2,3 1,7
2. Fassung
Textlänge 62,4 3,3 72,5 5,8 67,7 4,6
+ 6,1 + 1,2 - 0,9 + 0,3 + 3,3 + 0,6
Wortschatz 37,1 3,4 37,0 5,7 37,0 4,6
+ 11,8 + 0,9 - 1,4 + 0,2 + 3,6 +0,6
Substantive 6,1 3,3 72,5 5,8 67,7 4,6
- 0,4 + 1,2 - 0,9 + 0,2 + 3,3 + 0,6
Verben 8,4 0,3 7,6 2,4 8,0 1,7
+ 1,6 - 0,3 - 0,5 + 0,1 + 0,6 +/- 0
Adjektive 2,6 1,1 3,8 1,3 3,2 1,2
+ 0,4 + 0,1 + 1,3 + 0,3 + 0,9 - 0,5
3. Fassung
Textlänge 64,4 3,9 65,0 5,0 64,7 4,5
+ 2,0 + 0,6 - 7,5 - 0,8 - 3,0 - 0,1
+ 8,1 + 1,5 - 8,4 - 0,5 + 0,3 + 0,5
Wortschatz 37,8 3,9 34,6 4,9 35,9 4,5
+ 0,7 + 0,5 - 2,4 - 0,8 - 1,1 - 0,1
+ 12,5 + 1,5 - 3,8 - 0,6 + 2,5 + 0,5
Substantive 6,4 1,2 5,9 1,0 6,1 1,1
+ 0,3 +/- 0 0,7 - 0,2 - 0,3 - 0,1
- 0,2 +/- 0 - 0,4 - 0,5 - 0,3 - 0,2
Verben 8,2 1,2 7,8 2,0 8,0 1,6
156

- 0,2 +/- 0 + 0,2 - 0,4 +/- 0 - 0,1


+ 1,4 +/- 0 - 0,7 - 0,3 + 0,6 - 0,1
Adjektive 2,6 1,1 3,7 1,2 3,2 1,2
+/- 0 + 0,1 - 0,1 - 0,1 +/- 0 +/- 0
+ 0,4 + 0,8 + 1,2 + 0,2 + 0,9 - 0,5
Vergleich der Textversionen „Wenn ich ein Junge / ein Mädchen wäre ...“

Erläuterungen zur Tabelle 6: In der linken Spalte sind die Kriterien aufgelistet, anhand derer die
Texte untersucht wurden. Es wurde die gesamte Textlänge sowie der Umfang des benutzten
Wortschatzes und die Anzahl der Substantive, Verben und Adjektive der drei Textfassungen erho-
ben. Spalte 2 enthält die Ergebnisse der Auswertung der Texte der türkischen Kinder, Spalte 3
zeigt die Anzahl der aus dem Gemeinschaftscluster entnommenen Wörter und Begriffe. In Spalte
4 sind die Textdaten der anderen Schüler aufgelistet und Spalte 5 zeigt auf, wie viele Wörter und
Begriffe jeweils aus dem Cluster übernommen wurden. Die 6. Spalte gibt die Werte der ganzen
Gruppe an, ebenso bezieht sich Spalte 7 auf die ganze Gruppe. Den Daten der zweiten Fassung
wurde der quantitative Unterschied zur ersten Fassung fett beigefügt. Den Daten der dritten und
damit letzten Textfassung wurde die Differenz zur ersten Fassung fett sowie die Differenz zur
zweiten Fassung kursiv gegenüber gestellt.

4.1.8 Vergleich der Textversionen


Die quantitative Auswertung aller im Rahmen dieses Schreibkurses produ-
zierten Texte ergab folgende Ergebnisse, die so auch in die Planung der weite-
ren Schreibkurse eingingen:
Die Texte der türkischen Schüler wurden durchschnittlich während der Über-
arbeitungsphasen um 8 Wörter länger, während die nicht-türkischen Schüler
ihre Texte dagegen um etwa siebeneinhalb Wörter strafften. Die Rohfassun-
gen der türkischen Schüler waren im Durchschnitt 17 Wörter kürzer als die
der anderen Schüler, wobei sich der Unterschied jedoch bereits in der zweiten
Fassung auf 10 Wörter verringert. Im Vergleich zur dritten Textversion zeich-
net sich nur noch eine Differenz von einem Wort ab. Die anfänglich nicht un-
beträchtlichen Unterschiede bezüglich des Textumfangs hoben sich demnach
in der letzten Fassung auf.
Die Differenz zwischen der Textlänge der ersten und der zweiten Textversion
war bei den türkischen Schülern größer als die Differenz zwischen der zweiten
und der dritten Fassung. Bei den anderen Schülern ergab sich diesbezüglich
ein anderes Bild: Hier war der Unterschied zwischen der zweiten und der drit-
ten Textversion erheblicher als zwischen der ersten und der zweiten Version.
Die türkischen Schüler übernahmen in ihre Rohfassungen weniger Wörter aus
dem Gemeinschaftscluster, jedoch steigt die Zahl der übernommenen Wörter
im Verlauf des Schreibkurses an. Daraus wird ersichtlich, dass sich die türki-
schen Schüler erst in der ersten Überarbeitungsphase am Cluster orientierten.
Sie hatten sozusagen eine Schleife zurück zum Anfang des Schreibkurses ge-
zogen. Die nicht-türkischen Kinder gingen bei ihrer Textproduktion einen an-
157

deren Weg: In den dritten Textversionen treten deutlich weniger Wörter aus
dem Cluster auf als in den Rohfassungen. Sie haben das Cluster nicht in dem
Umfang als Hilfe zur Überarbeitung herangezogen wie die türkischen Kinder.
Insgesamt nahm der Umfang der Texte in der zweiten Version um durch-
schnittlich etwa 4 Wörter zu, reduziert sich dann aber in der endgültigen Fas-
sung wieder auf den Wert der Rohfassungen.
Allgemein kann festgestellt werden, dass die Zweitsprachenlerner die Überar-
beitungsphasen eher dazu nutzten, ihre Texte auszubauen und zu erweitern,
während die primärsprachlichen Schreiber ihre Texte in den Überarbeitungs-
phasen eher strafften.

4.1.9 Abschluss des Schreibkurses


Zum Abschluss dieses Schreibkurses wurden die Schüler aufgefordert, eine
Kritik zu schreiben. Die Schüler zeigten überwiegend Interesse, noch einen
Schreibkurs zu machen und wollten sich auch weiter mit dem Thema aus-
einandersetzen.
„Mir hat alles gefallen, außer das lange schreiben.“
„Mir hat alles gefallen und ich möchte gern noch einmal ein Buch machen das
Buch hat mir sehr gefallen.“
„Am meisten hat mir das Titelblatt gefallen.“
„Mir haben die Projekte gefallen. Mir hat nicht gefallen, daß wir immer ge-
sprochen haben. Möchte so etwas noch mal machen, ich möchte noch einmal
Wenn ich ein Madchen wäre machen.“
Zitate aus Schülertexten

4.2 So sollte mein bester Freund/meine beste Freundin


sein...
Dieser Schreibkurs wurde im Anschluss an den unter 4.1 dargestellten
Schreibkurs „Wenn ich ein Junge/ ein Mädchen wäre ...“ in der gleichen
Schulklasse durchgeführt. Das Thema war aus den Ergebnissen der Diskus-
sionen, den Texten und dem Wunsch, sich weiter mit der Thematik zu be-
fassen, entwickelt worden. Den Schülern wurde durch die Formulierung des
Themas freigestellt, ob sie sich mit einem imaginären gleichgeschlechtlichen
Partner oder ihrem Traumpartner des jeweils anderen Geschlechts beschäfti-
gen wollten. Anders als nach den vorbereiteten Gesprächen erwartet, be-
schrieben nur ein Junge und zwei Mädchen ihren Traumpartner des jeweils
anderen Geschlechts. Die andern Schüler beschrieben in ihren Texten ihre Er-
wartungen an einen gleichgeschlechtlichen Freund bzw. Freundin. Eine Schü-
lerin konnte sich nicht entscheiden und löste das Problem, indem sie zwei
158

Texte schrieb. Den Einstieg in den Schreibprozess bildete ein begrenztes Ge-
meinschaftscluster389 zum Wortfeld „Freunde“, da die Schüler schon während
des ersten Schreibkurses „Wenn ich ein Junge/ ein Mädchen wäre...“ inhaltli-
che Aspekte und Assoziationen gesammelt hatten.

4.2.1 Inhaltliche Analyse der Rohfassungen


In der ersten Textversion zum Thema „So sollte mein bester Freund/meine
beste Freundin sein...“ beschäftigten sich die Schüler der Grundschulklasse in
erster Linie mit dem Aussehen, den Eigenschaften und den Vorlieben des i-
maginären Partners. Es wurden Kleidungsstücke, Spielwaren und andere Ge-
genstände aufgezählt, die der Freund/die Freundin besitzen sollte: „Ich träu-
me davon, dass mein Freund nur Reebock-Sachen trägt.“ Des Weiteren wur-
den konkrete Forderungen an das Aussehen des besten Freundes/der besten
Freundin gestellt: „Er soll nicht lange Haare haben, wie meine zwei Onkels,
sondern sie sollen wie jeder Mann kurz sein!“ Hier zeigt sich der starke
Wunsch, einen Partner zu finden, der sich auch nach außen derselben Gruppe
zugehörig fühlt wie der Schreiber.
In einigen Fällen sollte der Partner gar über Kleidung, Accessoires oder mate-
rielle Güter verfügen, die dem Schreiber selbst nicht zur Verfügung standen:
„Dann hätte er ein riesiges Haus wo wir immer spielen würden.“ Ein ähnliches
Phänomen konnte bei der Beschreibung des Charakters und der Fähigkeiten
des Traumpartners beobachtet werden: Neben den Haupttugenden eines
Freundes wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Treue, Hilfsbereitschaft usw. wur-
den immer wieder Charaktereigenschaften gefordert, über die der Autor, nach
eigener Einschätzung, nicht verfügt. „... sie sollte bessere Noten kriegen.“, „Er
müsste so stark wie Van Damme sein!“. Dieses Motiv des Partners als Kom-
pensator (vermeintlicher) eigener Defizite trat vergleichsweise häufig auf.
Diesbezüglich wurde die mögliche Rolle eines solchen Freundes im eigenen
Leben ganz praktisch angesehen. So schrieb ein Junge, sein Traumfreund sol-
le nicht nur Millionär werden, sondern „sollte noch coole-heiße Mädchen ha-
ben“. In einem Gespräch über seinen Text äußerte er freimütig, er selbst
würde in absehbarer Zeit weder zu Geld, noch zu solchen Mädchen kommen
und da fände er einen Freund, der beides im Übermaß zur Verfügung hat,
willkommen, denn „richtige“ Freunde würden ja wohl alles teilen, oder? Die
Frage, was er seinem reichen und begehrten Freund denn so zu bieten habe,
beantwortete er mit einem prägnanten „na, mich!“.
Zwischen den Aussagen der Mädchen und denen der Jungen bezüglich des
Traumpartners konnten keine auffälligen Differenzen festgestellt werden. Bei-

389 Das Gemeinschaftscluster wurde durch die Vorgabe, Wörter und Begriffe zum Thema sowie Synonyme und
Homonyme zu finden, begrenzt. Diese Form wurde gewählt, um die Schüler von der inhaltlichen Ebene zu einer
sprachlichen hinzuführen. Sie sollten durch dieses Verfahren zu einer lexikalischen Sammlung angeregt werden.
159

de Gruppen räumten denselben Charaktereigenschaften, Fähigkeiten sowie


materiellen Begebenheiten gleichen Rang ein. Auffallend war aber, dass sich
die Mädchen eher über einen „Traummann“ Gedanken machten, während die
Jungen überwiegend an einem gleichgeschlechtlichen Freund interessiert wa-
ren. Wobei allerdings die Frage offen blieb, ob die Jungen sich noch keine Ge-
danken über eine „Traumfrau“ gemacht hatten, oder ob sie Hemmungen hat-
ten, über ihre Vorstellungen und Träume zu schreiben.

4.2.2 Quantitative Analyse der Rohfassungen


Die Rohfassungen der Texte zum Thema „So sollte mein bester Freund/ meine
beste Freundin sein...“ wurden einer quantitativen Analyse unterzogen. Es
wurde die Textlänge bestimmt sowie das Auftreten bestimmter Wortarten un-
tersucht. Hierbei wurde die Analyse auf die Wortarten Substantiv, Verb und
Adjektiv beschränkt, da diese bereits vorab im Unterricht besprochen worden
waren. In einem weiteren Schritt wurde der Wortschatz bestimmt, in dem die
Anzahl der benutzten Wörter ohne deren Wiederholungen erhoben wurde.
Die erste Analyse der Rohfassungen ergab folgende Ergebnisse, die hier in ei-
ner Übersicht dargestellt werden:

1. Text türkische Schüler andere Schüler insgesamt


Textlänge 86,7 / +30,4 96,6 / +23,2 92,6 / +28,2
Wortschatz 44,0 / +15,1 41,5 / +3,1 42,5 / +9,1
Substantive 7,7 / +1,2 9,0 / +2,7 8,5 / +2,1
Verben 10,2 / +3,4 10,3 / +2,2 10,2 / +2,8
Adjektive 9,7 / +7,5 6,8 / +4,3 8,0 / +5,7
andere 16,2 / +2,8 15,3 /- 6,2 15,7 / -1,5
quantitative Analyse der Rohfassungen

Erläuterungen zur Tabelle: In der linken Spalte sind die Kriterien aufgelistet, anhand derer die
Texte untersucht wurden. Es wurden die gesamte Textlänge, der benutzte Wortschatz sowie –
hier gesondert ausgewiesen – die Frequenz der verwendeten Substantive, Verben und Adjektive
untersucht. Die zweite Spalte weist die Ergebnisse der Analyse der Texte der türkischen Kinder
aus, die dritte Spalte von links stellt die Ergebnisse der Analyse der Kinder nicht-türkischer Pri-
märsprache vor. In der rechten Spalte wird diesen Daten der durchschnittliche Wert aller Texte
gegenübergestellt. Den Daten der Rohfassungen „So sollte mein bester Freund/meine beste
Freundin sein“ wurde die quantitative Differenz zu den Daten der Rohfassungen „Wenn ich ein
Junge/ein Mädchen wäre,...“ fett gedruckt beigefügt.

Die quantitative Erhebung der oben ausgewiesenen Textdaten ergab, dass die
Texte nicht nur länger waren, sondern im Vergleich zu den Rohfassungen des
ersten Schreibkurses „Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre...“ ein erweiter-
160

ter Wortschatz verwendet wurde. Insbesondere die Texte der türkischen


Schüler zeigen eine starke Entwicklung. Eine starke Zunahme der Textlänge
sowie des Umfangs des Wortschatzes wird im Vergleich zur Rohfassung des
ersten Schreibkurses deutlich. Ebenso treten in den Texten der türkischen
Schüler auffallend mehr Adjektive auf. Auch bei den Schülern nicht-türkischer
Primärsprache konnten Zuwächse verzeichnet werden, jedoch in geringerem
Umfang.
Die Abnahme der Verwendung anderer Wortarten kam überwiegend durch die
Vermeidung komplexer Satzmuster zustande. In den Rohfassungen wurde
häufig auf Nebensätze und damit auch auf die Verwendung von Konjunktionen
verzichtet. Die Rohfassungen lassen den Eindruck aufkommen, die Schreiber
hätten mit dem Verzicht auf mehrteilige Satzmuster eine Strategie entwickelt,
die Fehler, die hier auftreten könnten, zu vermeiden. Inwieweit sich dieser
Eindruck bestätigt, wird sich in den Analysen weiterer Textfassungen zeigen.

4.2.3 Erste Überarbeitungsphase


Die Texte wurden im Klassenverband vorgelesen und besprochen und von den
Schülern, die hier als einzige Jury zugelassen waren, mit wenig Begeisterung
aufgenommen. „Langweilig“, „irgendwie nicht spannend“, „nicht witzig“ waren
die häufigsten Kommentare. Den Schülern war durchaus bewusst, weshalb sie
sowohl ihre eigenen als auch die Texte der Klassenkameraden nicht über-
ragend fanden. Sie erinnerten sich des während des letzten Schreibkurses er-
arbeiteten Katalogs „Was macht einen Text lesenswert?“ und waren mit des-
sen Hilfe durchaus in der Lage, kompetente und konstruktive Kritik zu üben.
„Was kann man denn noch alles machen, damit die Texte nicht so langweilig
werden?“ – diese Frage kristallisierte sich bald aus der allgemeinen Diskussion
heraus. Diese erste Präsentation und Besprechung der Rohfassungen und die
quantitative Analyse führten zu einer Schreibübung zum Thema „Finden un-
gewöhnlicher Vergleiche“. Hinter diesem Titel verbirgt sich ein kreatives
Schreibverfahren, das die Schreiber dazu anregen soll, Bilder und Metaphern
zu entwickeln, mit deren Hilfe sie ihre Aussagen und Texte gestalten können.
„Metaphern erschließen (...) Möglichkeiten, etwas zum Ausdruck zu bringen,
wenn der konventionelle und denotative Sprachgebrauch nicht ausreicht. Da
jeder von uns (...) in der Lage ist, auf seine individuelle Weise Verknüpfungen
herzustellen und seine Bezüge zu erkennen, ist die metaphorische Darstellung
eine sehr persönliche und besonders schöpferische Ausdrucksform.“ 390
Auch wenn das Bilden von Metaphern laut Rico eine natürliche Begabung ist,
über die jeder Mensch verfügt, so hat sich in der Praxis dennoch gezeigt, dass
Kinder im Grundschulalter solche Formulierungen nicht selbstverständlich in

390 Rico (1993) a.a.O. S.197


161

ihre Texte aufnehmen. Ganz im Gegenteil dazu zeigen sie große Scheu, un-
gewöhnliche, bildhafte Ausdrucksformen, die sie im mündlichen Sprach-
gebrauch häufig produzieren, in ihre Texte aufzunehmen und schriftlich zu fi-
xieren. Erst, wenn sie erkennen, dass auch „richtige“ Autoren durchaus auf
derartiges „Werkzeug“ zurückgreifen, trauen sie sich, ihre ganz persönlichen
und individuellen Bilder in ihre Texte einzubauen. Somit erscheint es durchaus
legitim, eine derartig individuelle wie auch fantasievolle Tätigkeit wie das
Schaffen von Sprachbildern zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Zum Ein-
stieg in die Unterrichtseinheit wurde die in einer der Rohfassungen aufgetre-
tene Formulierung „verschwiegen wie ein Grab“ thematisiert. Diese Formulie-
rung wurde im Plenum analysiert und auf ihre Wirkung im Text hin unter-
sucht. Die Schüler kamen im Verlauf dieser Sequenz zu zwei wichtigen Ergeb-
nissen: Sie fanden heraus, dass diese Formulierung den Text belebe und dass
die Verbindung der beiden Begriffe „Grab“ und „verschwiegen“ im Grund ei-
genartig sei, denn ein Grab könne schließlich nicht sprechen und somit auch
nicht schweigen. Und etwas, das nicht schweigen kann, könne demzufolge
auch nicht verschwiegen sein. Diese beiden – inhaltlich sehr unterschiedlichen
– Ergebnisse wurden im Verlauf der weiteren Diskussion beleuchtet. Im Vor-
dergrund standen dabei folgende Fragen:
• Warum macht eine solche Formulierung einen Text lebendig?
• Was ist mit dieser Formulierung gemeint?
• Warum empfinden wir diesen Vergleich als ungewöhnlich?
Im Rahmen dieses Unterrichtsgesprächs wurde der Begriff „Metapher“ ein-
geführt und deren Funktion im Text besprochen. Ziel der Unterrichtseinheit
sollte nicht nur die Erkenntnis sein, dass „ungewöhnliche Vergleiche“ einen
Text aufwerten, sondern auch das Erkennen ihrer Struktur sowie me-
tasprachliche Überlegungen. Es zeigte sich, dass auch Grundschüler in der La-
ge sind, über Metaphern zu reflektieren und sich in der Diskussion auszutau-
schen und dabei die Fachbegriffe zu verwenden.
In einem weiteren Schritt wurde das Verfahren „Finden ungewöhnlicher Ver-
gleiche“ vorgestellt und am Beispiel „so schön wie ...“ geübt. Die Ergebnisse
wurden schriftlich fixiert.
In der folgenden Unterrichtseinheit suchten die Schüler alle Adjektive heraus,
die sie in den Rohfassungen verwendet hatten, und erstellten eine Liste. Hier-
bei stellte sich heraus, dass es für Grundschüler keine leichte Aufgabe ist, die
Wörter eines Textes nach Wortartenzugehörigkeit zu systematisieren. Zu die-
sem Anlass wurde eine Sequenz eingeschoben, in der es um die Bestimmung
von Wortarten ging. Die Schüler zeigten sich äußerst motiviert, bekamen sie
doch Informationen, die ihnen behilflich waren, ihre Texte zu verbessern. Zu-
dem konnten sie das neu erworbene Wissen sofort in der Praxis einsetzen und
162

somit festigen. Zu den gefundenen Adjektiven wurden dann in Gruppenarbeit


ungewöhnliche Vergleiche formuliert.
Die Liste, die hier zusammengestellt wurde, zeigte eine Vielzahl von un-
gewöhnlichen Vergleichen, die die Schüler gefunden haben. Allerdings ist
nicht nur der quantitative Umfang erstaunlich, sondern auch die Bandbreite
der inhaltlichen Aussagen ist bemerkenswert. Die Schüler hatten sowohl Bei-
spiele aus dem alltäglichen Leben, so z. B. aus dem Schulalltag „so langweilig
wie die Schule und der Unterricht“, aus dem Familienleben „so traurig wie ei-
ne Scheidung“, so langweilig wie Wandern“ und aus ganz persönliche Erfah-
rungen „so böse wie ein Monster im Albtraum“, „so langweilig wie Golf spielen
(weil man den Ball nie trifft)“ gebildet, als auch Beispiele aus der Welt des
Fernsehens „so lustig wie Tom und Jerry“, „so stark wie Arnold Schwarzeneg-
ger“. Aber es wurden auch Vergleiche gebildet, die auf erste Begegnungen mit
gesellschaftlicher und politischer Realität hindeuten „so böse wie ein Nazi zu
einem Ausländer“, „so böse wie der Krieg in Jugoslawien“. Die meisten Ver-
gleiche wurden allerdings zu dem Bereich gebildet, der der Altersstruktur der
Schüler wohl am nächsten liegt, dem Freundeskreis: „so hilfsbereit wie Daniel,
weil er uns immer hilft“, „so stark wie Yesim“, „so langweilig, wie wenn die
Jungs uns ärgern“. Es war für die Schüler eine positive Erfahrung, dass sie
„ihre Welt“ mit all ihren Vorzügen und auch Problemen in die Textarbeit ein-
beziehen konnten bzw. sogar sollten. Während der Arbeit in den einzelnen
Gruppen gab es auch immer wieder Gespräche zu Beiträgen, die unklar wa-
ren, bzw. zu solchen, die den anderen Schülern einen neuen Blickwinkel auf
ihren Klassenkameraden frei gaben. So wurde der Schüler, welcher den Ver-
gleich „so traurig wie das Krankenhaus, in dem mein Vater liegt“ bildete, nach
den genaueren Umständen und der Krankheit seines Vaters befragt. Anschei-
nend hatten die Klassenkameraden bis zu diesem Zeitpunkt nichts über die
schwere Krankheit und den langen Krankenhausaufenthalt des Vaters erfah-
ren. Durch die Anteilnahme und das Interesse seiner Mitschüler bestärkt, be-
gann der Junge sich seine „Last“ von der Seele zu reden, und erzählte ihnen
von seiner Situation. Eine andere Schülerin wurde durch ihren Beitrag „so lus-
tig wie Daniel, der immer Witze erzählt“ von ihren Freundinnen umgehend als
verliebt entlarvt. Auch in dieser Gruppe entspann sich eine lebhafte Diskussi-
on über den Beitrag. So führte diese Unterrichtseinheit nicht nur zu neuen Er-
kenntnissen in der Zielsprache Deutsch, sondern auch zu persönlichen, sach-
bezogenen Gesprächen unter Schülern, die ohne Ermahnungen der Lehrer in
der Unterrichtssprache Deutsch geführt wurden. Es hat sich während der
Schreibkurse immer wieder gezeigt, dass sich beim Einsatz kreativer Verfah-
ren während des Unterrichts Nischen bilden, in denen die Schüler unter dem
Deckmantel der Arbeit am jeweiligen Thema Raum finden, persönliche Ge-
spräche zu führen. Hiermit ist nicht gemeint, dass die Schüler genug Zeit und
zu wenig Aufsicht hätten, um schwätzen zu können, sondern dass diese Ver-
163

fahren und Arbeitsformen es den Schülern möglich machen, ernsthaft über ei-
gene Erfahrungen und Probleme zu sprechen. Während der Junge mit dem
kranken Vater in der Pause auf dem Schulhof wohl wenig Gelegenheit gefun-
den hätte, über seine missliche Lage zu sprechen, fand er in der Unterrichtssi-
tuation offene Ohren. Hier fühlte er sich ernst genommen und er hatte keine
Angst, als Langweiler oder Jammerlappen empfunden zu werden. Er hatte
auch jederzeit die Möglichkeit, sich wieder zurückzuziehen und zum „eigentli-
chen“ Thema zurückzukehren, sollte ihm das Gespräch zuwider laufen, ohne
die anderen zu brüskieren. Auch die verliebte Schülerin konnte in der Unter-
richtssituation darauf zählen, dass ihr Liebeskummer von der Gruppe ernst-
haft diskutiert wurde, ohne dass sie sich den üblichen Hänseleien aussetzen
musste. Erstaunlicherweise führten solche Gespräche nicht dazu, dass die je-
weilige Gruppe den Arbeitsauftrag vergaß und sich ausschließlich des jeweili-
gen Gesprächsthemas widmete oder dass die Gruppen private Gespräche als
Vorwand nahmen, um den Arbeitsauftrag nicht auszuführen. Alle Gruppen
schafften es, zum Auftrag zurückzukehren und diesen zu bewältigen. Dies
zeigte sich auch in der daraufhin verfassten zweiten Textversion.

4.2.4 Die zweite Textversion


In die zweite Version des Textes „So sollte mein bester Freund/meine beste
Freundin sein...“391 wurden durchschnittlich etwa vier ungewöhnliche Verglei-
che eingebaut. Davon waren etwas weniger als die Hälfte aus der Liste, die in
der vorangehenden Unterrichtseinheit erstellt worden war, übernommen wor-
den. Der größere Teil der in den zweiten Fassungen vorkommenden unge-
wöhnlichen Vergleiche wurde während des Schreibprozesses neu gebildet. Die
Texte der türkischen Schüler enthalten deutlich weniger ungewöhnliche Ver-
gleiche als die Texte der nicht-türkischen Schüler. Grund hierfür schien die
Weigerung einer türkischen Schülerin zu sein, ihren Text diesbezüglich zu ü-
berarbeiten. Es war allerdings auch in einem persönlichen Gespräch nicht zu
ermitteln, weshalb sie diese Form ablehnte. Eine weitere mögliche Erklärung
dieses statistischen Ergebnisses liegt darin, dass die nicht-türkischen, also
überwiegend primärsprachlichen Schüler so viel Spaß am Bilden der unge-
wöhnlichen Vergleiche gefunden haben, dass sie überdurchschnittlich viele
Vergleiche gebildet und in die Texte aufgenommen haben. Anteilsmäßig ent-
hielten die Texte der türkischen Schüler ebenfalls mehr selbst erfundene Ver-
gleiche als solche aus der im Klassenverband erstellten Liste. Der Anteil der
neu gebildeten Vergleiche liegt bei allen Gruppen etwa gleich hoch. Ein Unter-

391 Die Daten, die in der quantitativen Analyse zu dieser Textfassung erhoben wurden, sind in einer Übersicht
enthalten, in der die drei Textversionen zu diesem Thema verglichen werde. Auf eine Darstellung an dieser Stelle wird
verzichtet, da die Daten in der Gegenüberstellung aussagekräftiger sind und hier nur wiederholt werden könnten.
164

schied ergibt sich bei der Erhebung der verwendeten Vergleiche, die aus der
Liste übernommen wurden:

TEXT 2 Ungewöhnliche von der Liste neu gebildete


Vergleiche übernommen Vergleiche
türkische Schüler 3,5 1,0 2,5
andere Schüler 5,2 2,6 2,6
gesamt 4,4 1,9 2,5
Gebrauch ungewöhnlicher Vergleiche
Auffallend war, dass, während in der vorangegangenen Unterrichtseinheit nur
das Finden ungewöhnlicher Vergleiche anhand von Adjektiven eingeführt und
geübt wurde, in den Texten auch andere Wortarten herangezogen wurden. So
traten ungewöhnliche Vergleiche als Attribute zu Verben „essen wie ein Ele-
fant“, und Verbgefügen „eine Brille tragen wie ein aufgeblasener Lehrer“ auf.
Die Schüler fanden offensichtlich so viel Freude am Finden ungewöhnlicher
Vergleiche, dass einige Texte fast nur aus einer Aneinanderreihung solcher
bestehen. Die Schreiber zeigten sich jedoch bei einer Präsentation der zweiten
Fassungen im Klassenverband sehr zufrieden mit den Texten und äußerten
sich durchweg positiv. Sie betonten immer wieder, dass sie noch nie so witzi-
ge und originelle Texte verfasst hätten. Die Attribute „witzig“, „neu“ und „ori-
ginell“ wurden von den Schülern in einer Diskussion herangezogen, ohne dass
sie vorab mit den Begriffen konfrontiert worden waren, um den Begriff „Krea-
tivität“ jenen zu erklären, denen er bis dahin unbekannt war. Lediglich der
Text der einen Schülerin, die sich geweigert hatte, ihre Rohfassung diesbe-
züglich zu überarbeiten, wurde kritisiert. Durchschnittlich war die zweite Fas-
sung von „So sollte mein bester Freund meine beste Freundin sein...“ um et-
wa 20 Wörter länger als die Rohfassungen und enthielt etwa 11 neue Wörter.
Zu dieser Erweiterung der Texte trugen die ungewöhnlichen Vergleiche maß-
geblich bei. Das zeigt sich auch in dem häufigeren Einsatz von Adjektiven im
Vergleich zu den anderen Wortarten.392

4.2.5 Die zweite Überarbeitungsphase


In den ersten beiden Textfassungen wurde die vorgegebene Formulierung „so
sollte mein bester Freund meine beste Freundin sein...“ auffällig häufig wie-
derholt. Hier ließ sich deutlich ein Defizit sprachlicher Mittel erkennen. Die
Schüler hatten nur wenige sprachliche Alternativen zur Verfügung und griffen
daher immer wieder auf die vorgegebene Struktur zurück. Demzufolge wurde
eine Unterrichtseinheit eingeschoben, in der das Formulieren von Wünschen

392 Exakte Daten hierzu werden in der Tab. 10 aufgeführt.


165

thematisiert wurde. Dazu wurde ein Satz aus einem Schülertext herangezo-
gen und anhand operationaler Verfahren bearbeitet:

4.2.6 Die dritte Textversion


Auf der inhaltlichen Ebene393 überarbeiteten die Schüler ihre Texte hier relativ
wenig. Wenn man die Ergebnisse der inhaltlichen Überarbeitung mit jenen aus
dem ersten Schreibkurs „Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre...“ vergleicht,
so ist diesbezüglich eine deutliche Zurückhaltung zu erkennen. Die Schüler
konzentrierten sich stark auf die Überarbeitung vorhandener Textsequenzen
und deren Erweiterung. Möglicherweise lag dies daran, dass das Thema be-
reits inhaltlich ausgewogene Rohfassungen initiiert hatte. Die Schüler hatten
sich bereits vor dem Beginn des Schreibkurses intensiv mit der Vorstellung
des Traumpartners bzw. des besten Freundes/der besten Freundin beschäf-
tigt. So erschien den Schülern eine inhaltliche Überarbeitung der Texte weni-
ger wichtig als eine sprachliche Aufwertung der Texte. Bereits in der Diskussi-
on der Rohfassungen war weniger an inhaltlichen Aussagen kritisiert worden
als an stilistischen Mängeln. Die systematischen Einschübe „Finden unge-
wöhnlicher Vergleiche“ sowie „Formulieren von Wünschen oder Erwartungen“
waren auf Initiative der Schüler hin erfolgt und wurden somit als willkommene
Hilfe von Seiten der Lehrerin angenommen. Einige Texte weisen überdurch-
schnittlich viele ungewöhnliche Vergleiche sowie Formulierungen von Wün-
schen oder Erwartungen auf. Die Schüler beurteilten diese Texte jedoch in ei-
ner abschließenden Gesprächsrunde als durchaus gelungen und erklärten sie
zu ihrer bislang besten schreiberischen Leistung. Besonders positiv wurde die
Übernahme von Erkenntnissen aus den beiden systematischen Einschüben
bewertet.
In die dritte Textversion wurden die Ergebnisse der Unterrichtseinheit wie
folgt einbezogen:

TEXT 3 Formulierung von der TA neu gebildete


von Wünschen übernommen Formulierungen
türkische 5,2 4,2 1,0
Schüler
andere Schüler 6,2 4,0 2,2
gesamt 5,8 4,1 1,7

„Formulieren von Wünschen“

393 siehe Kapitel I. 3.8


166

Erläuterung zur Tabelle: In der linken Spalte sind die Schreiber der dritten Textversion nach Na-
tionalität aufgelistet. Die Spalte 2 stellt die Anzahl der Textstellen dar, in der Wünsche oder Er-
wartungen geäußert werden. Die davon von der Tafelanschrift übernommenen Strukturen werden
in der dritten Spalte aufgelistet. Die rechte Spalte zeigt auf, wie viele neue Formulierungen zum
Äußern von Wünschen oder Erwartungen gebildet wurden.

Die dritte Textfassung ist durch einen häufigen Einsatz ungewöhnlicher Ver-
gleiche wie durch wechselnde Formulierungen von Wünschen oder Er-
wartungen gekennzeichnet. Die ungewöhnlichen Vergleiche aus der zweiten
Textfassung wurden von den meisten Schülern in die dritte Textfassung über-
nommen. Sie fanden die Aneinanderreihung dieser Formen nicht störend. Die
Bildung und der Einsatz dieser Vergleiche machte ihnen Freude und ließ er-
kennen, wie auch Grundschüler nicht-deutscher Primärsprache Spaß daran
haben, mit der Zielsprache zu spielen. Einige Schüler machten einen richtig
gehend befreiten Eindruck, als sie merkten, dass der spielerische Umgang mit
Strukturen und Vokabeln nicht nur zugelassen, sondern erwünscht war. Sie
begannen mit Eifer und Freude, Aussagen neu zu formulieren bzw. bereits be-
stehende Textstellen umzuformulieren. Der spielerisch-kreative Umgang mit
Sprache ebnete einigen Schülern den Weg zu Texten, die sie in der Folge
schrieben und die einen Zuwachs an kreativen Aussagen bzw. einen kreativen
Umgang mit Sprache ausweisen. Beobachtungen hierzu werden in den Fall-
studien dokumentiert und interpretiert.
Die quantitative Auswertung der Texte ergab eine Zunahme der Textlänge
von der Rohfassung zur zweiten Fassung um etwa 19 Wörter, die sich aus ei-
nem Wortschatz von etwa 10 Wörtern zusammensetzt. Hier treten Unter-
schiede zwischen den Texten der türkischen und Texten der nicht-türkischen
Schüler hervor: Die Texte der türkischen Schüler wurden um etwa 6 Wörter
länger, während die nicht-türkischen Schüler ihre Texte um circa 28 Wörter
erweiterten. Der Wortschatz erweiterte sich in den Texten der türkischen
Schüler um durchschnittlich 5 Wörter, während in den Texten der nicht-
türkischen Schüler im Schnitt 14 neue Wörter auftreten.
Demgegenüber stiegen sowohl Textlänge als auch Wortschatz in der dritten
Textversion der türkischen Schüler weiter an, während die nicht-türkischen
Schüler ihre Texte in der dritten Version strafften und der Umfang des Wort-
schatzes stagnierte. Der weniger häufige Gebrauch von Adjektiven, die die
zweite Textversion der türkischen Schüler aufweist, kann als Reaktion auf die
Einführung der ungewöhnlichen Vergleiche gewertet werden. Anscheinend
wurde hier eine Vermeidungsstrategie entwickelt, mit deren Hilfe die türki-
schen Schüler eine für sie noch neue und damit schwierige Form umgingen.
Diese Einschätzung wird durch die Feststellung untermauert, dass sich dieser
Wert in der dritten Textversion stabilisierte. Diese Beobachtung könnte ein
Hinweis auf unterschiedliche Arbeitsweise und unterschiedliches Arbeitstempo
der beiden Gruppen sein. Die Annahme, die türkischen Kinder würden mehr
167

Zeit benötigen, um ein für sie neues sprachliches Muster zu verarbeiten, bes-
tätigt sich hier.
Im Vergleich zur Erhebung der Daten des Schreibkurses „Wenn ich ein Jun-
ge/ein Mädchen wäre...“ kann als erstes Ergebnis gelten, dass die türkischen
Schüler die Überarbeitungsphasen eher nutzen, um ihre Texte kontinuierlich
zu erweitern, während die nicht-türkischen Schüler in der zweiten Textversion
jeweils ihre Rohfassungen erweitern, um diese erweiterte Version dann in der
endgültigen Textfassung stark zu straffen. Diese Tendenz kann aus allen er-
hobenen Textdaten abgelesen werden.

4.3 Ich bin...


Die Idee, einen Text über die eigene Person zu schreiben und damit der
Wunsch, sich mit der eigenen Person auseinanderzusetzen, entstand während
der Arbeit an den Texten „Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre...“ und „So
sollte mein bester Freund/meine beste Freundin sein...“. Das Thema „Ich
bin...“ wurde von den Schülern vorgeschlagen und formuliert. Das Bedürfnis
der Schüler, sich mit der eigenen Person auseinanderzusetzen, erscheint
unter Berücksichtigung der vorangegangenen Arbeit logisch und verständlich.
Mit Sicherheit hätten die Schüler zu Beginn des Schuljahres große Schwierig-
keiten gehabt, dieses Thema zu bewältigen. Durch die Vorbereitung konnte
auch dieses schwierige Thema in Angriff genommen werden. Eine weitere
günstige Voraussetzung war das gute Verhältnis, das die einzelnen Gruppen-
mitglieder im Laufe der bisherigen Schreibkurse zueinander und zu den Lehre-
rinnen entwickelt hatten.
Am Anfang des Schreibkurses stand ein individuelles Cluster, das jeder
Schreiber in Stillarbeit anfertigte. Die in den Clustern gesammelten Ideen und
Assoziationen waren überwiegend in einer vergleichenden Form formuliert:
„So cool wie ein Eiswürfel“. Einige türkische Schüler hatten ihr Cluster in ihrer
Primärsprache angefertigt. Dieser Umstand ist besonders hervorzuheben, da
sich gerade diese Schüler geweigert hatten, Cluster zu anderen Kernbegriffen
in ihrer Primärsprache anzufertigen. In diesem Fall jedoch schien ihre Her-
kunft für sie an Bedeutung zu gewinnen, und sie hatten das Bedürfnis, sich in
ihrer Primärsprache auszudrücken. In einigen Fällen entstanden zweisprachige
Cluster, die weder gefordert noch geduldet, sondern ausdrücklich als mögliche
Variante ausgewiesen wurden.

ich konuşyorum türkisch

Strang aus einem Cluster zum Thema „ich bin ...“


168

Diese Form des Mischens von Primär- und Zweitsprache trat in diesem
Schreibkurs zum ersten Mal auf. Es entsteht der Eindruck, die Schüler hätten
eines sehr persönlichen Themas bedurft, sich ihrer Bilingualität bewusst zu
werden. Vorher drängte sich immer der Eindruck auf, die türkischen Kinder
vermieden es ganz bewusst, sich in ihrer Primärsprache auszudrücken, ob-
wohl die türkischen Schüler primärsprachlichen Unterricht hatten und in ihrer
Primärsprache alphabetisiert waren. In den vorangegangenen Unterrichtsein-
heiten, hatten die türkischen Schüler auf ein Wörterbuch zurückgegriffen oder
eine andere Formulierung gesucht, wenn sie sprachlich nicht in der Lage wa-
ren, sich in der Zielsprache Deutsch zu äußern. In keinem einzigen Fall wur-
den türkische Vokabeln oder Redewendungen in den Clustern oder Texten
verwendet, obwohl dies ausdrücklich erlaubt war. Überhaupt war in dieser
Grundschulklasse ein geringer Gebrauch der Primärsprachen zu verzeichnen.
Insbesondere die türkischen Schüler verwendeten ihre Primärsprache ver-
gleichsweise sehr wenig, auch im Umgang untereinander. Dies scheint er-
staunlich angesichts der Tatsache, dass sie eine Klasse besuchten, die in ei-
nen Schulversuch eingebunden war, der die Primärsprache in den Unterrichts-
alltag integrierte. Auf diesen Umstand hin angesprochen, erklärte eine türki-
sche Schülerin: „Was soll ich denn hier türkisch sprechen, da verstehen mich
ja nicht alle?“ Die Bereitschaft und der Wunsch, sich auch im Klassenverband
deutsch auszudrücken, zeigt sich auch darin, dass es in dieser Klasse keine
Zweiteilung deutsch-türkisch gab, wobei sich dieser Umstand wiederum posi-
tiv auf den Zweitspracherwerb der türkischen Schüler auswirkte. Lediglich in
einer Kommunikationssituation schalteten die Schüler gelegentlich auf ihre
Primärsprache um: beim Schimpfen und Fluchen. Erstaunlicherweise hatte die
Klasse jedoch auch hier einen gemeinsamen Weg gefunden: Die nicht-
türkischen Schüler bedienten sich in dieser Situation ebenfalls türkischer Aus-
drücke.
Beim Anfertigen des Clusters zum Thema „Ich bin...“ wurden sich die mo-
nolingual aufgewachsenen Schüler eines Defizits bewusst, das sie auch als ein
solches empfanden, nämlich des Umstandes, dass sie ihr Cluster nur in einer
Sprache anfertigen konnten. Einige Schüler äußerten diesbezüglich ihren Un-
mut und fanden letztendlich Trost in der Aussicht, dass sie im nächsten Schul-
jahr Englischunterricht bekommen würden. Möglicherweise konnte sich hier
der Kontakt zu bilingualen Klassenkameraden motivierend auf den eigenen
Fremdsprachenerwerb auswirken.

4.3.1 Die erste Textversion


Die ersten Texte wurden alle auf Deutsch geschrieben, obwohl es den Schrei-
bern ausdrücklich frei gestellt war, die Texte wahlweise in ihrer Primärsprache
oder in der Zielsprache zu schreiben. Die türkischen Schüler gaben an, sie
fühlten sich nicht in der Lage, einen türkischen Text zu schreiben. Auf den
169

primärsprachlichen Unterricht und die türkische Alphabetisierung angespro-


chen, erklärten sie einstimmig, sie seien es eben so gewohnt, ihre Texte in
Deutsch zu verfassen, und Türkisch sei zwar eine Möglichkeit, sich auszudrü-
cken, aber Deutsch sei die Sprache, in der sie gelernt hätten, Texte zu schrei-
ben. Sie gaben an, ihre türkischen Texte seien nicht gut, würden ihnen nicht
gefallen und somit schrieben sie lieber auf Deutsch. Leider war in diesem Fall
der türkische Lehrer nicht von den Vorteilen einer Kooperation zu überzeugen,
die das schriftliche Ausdrucksvermögen der Schüler auch in ihrer Primärspra-
che hätte fördern können.
In den Rohfassungen lag der inhaltliche Schwerpunkt auf einer Präsentation
äußerer Merkmale der eigenen Person. Sowohl die Primärsprache als auch die
intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen (gewünschten) Charakter, die
die Vorbereitung zu dieser Textproduktion geprägt hatten, wurden nicht in die
Rohfassungen übernommen. Die Texte wurden in typischem „Brieffreund-
schaftsstil“ geschrieben, d. h. es wurden möglichst viele Informationen zur
Person, zum Umfeld und zu Freizeitbeschäftigungen in den Text gepackt. Auf
eine intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten wurde verzich-
tet.
Ein Junge schrieb einen Text über einen imaginären Jungen. Er erklärte, dass
er keine Lust habe, über sich zu schreiben. Die Schreibgruppe nahm den ers-
ten Text über den imaginären Jungen sehr ernst und sein Inhalt wurde aus-
giebig diskutiert. Viele fanden die Idee, einen fremden Jungen zu beschreiben,
gut und sie erörterten Möglichkeiten, die sich durch ein solches Verfahren für
sie eröffnen könnten. Sie spielten die verschiedenen Möglichkeiten, die sich
durch das Hineinschlüpfen in eine andere Person ergeben können, gedanklich
durch und erkannten, dass sich hierdurch nicht nur andere Perspektiven erge-
ben könnten, sondern auch dass der Wechsel des Erzählers einen Text stilis-
tisch aufwerten kann.
Die Rohfassungen der „Ich bin...“-Texte wurden einer quantitativen Analyse
unterzogen. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden in einem weiteren
Schritt den Ergebnissen der quantitativen Analyse der Rohfassungen der ers-
ten beiden Schreibkurse, die in dieser Gruppe durchgeführt worden waren ge-
genüber gestellt.

Rohfassung türkische Schüler andere Schüler gesamt


„Ich bin...“
Textlänge 67,3 106,0 93,2
(+0,5) (+28,2)
Wortschatz 41,7 53,0 49,2
(+6,7) (+9,2)
170

Substantive 16,7 24,2 21,7


(+13,2) (+2,1)
Verben 6,7 7,0 6,9
(-3,3) (+2,8)
Adjektive 4,0 8,0 6,7
(-1,3) (+5,7)
andere Wortarten 16,0 8,7 14,0
(-1,7) (-1,5)

Vergleich der Rohfassungen

Erläuterungen zur Tabelle: In Spalte 1 sind die Kriterien aufgelistet, nach denen die Texte untersucht wurden. Es wurde
die gesamte Textlänge, der benutzte Wortschatz sowie gesondert die Anzahl der benutzten Substantive, Verben und Ad-
jektive der Rohfassungen erhoben. Spalte 2 enthält die Ergebnisse der Analyse der Texte der türkischen Kinder. Spalte
3 fasst die Textdaten der nicht-türkischen Kinder zusammen. Spalte 4 stellt die durchschnittlichen Werte aller Texte dar.
Den Daten der ersten Version (Ich bin...) ist der quantitative Unterschied zu den Rohfassungen des ersten Schreibkur-
ses (Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre...) fett sowie zu den Rohfassungen des zweiten Schreibkurses (So sollte
mein bester Freund/meine beste Freundin sein...) kursiv beigefügt.

Die Rohfassungen zum Thema „Ich bin...“ (im Folgenden als Rohfassung III
bezeichnet) sind insgesamt etwas länger als die Rohfassungen der vor-
angegangenen Schreibkurse (im Folgenden Rohfassung I und II genannt). Der
quantitative Unterschied zwischen den Rohfassungen II und III ist allerdings
deutlich geringer als der Unterschied zwischen den Rohfassungen I und II.
Dem entgegen hat sich der Umfang des benutzten Wortschatzes in Rohfas-
sung III etwa um den gleichen Wert erhöht wie bei den Rohfassungen I und
II. Das kann mit einer starken Zunahme der Verwendung von Substantiven
erklärt werden. Es wurden in dieser Rohfassung (III) durchschnittlich 13 Sub-
stantive mehr verwendet als in der Rohfassung II. Dies rührt von dem häufi-
gen Einsatz ungewöhnlicher Vergleiche her. In Rohfassung III ist eine Abnah-
me der Verwendung von Verben und Adjektiven zu erkennen. Es wurden hier
weniger Verben verwendet als in Rohfassung II und I. Während in den Roh-
fassungen II durchschnittlich sechs Adjektive mehr aufzufinden sind als in den
Rohfassungen I, reduzierte sich dieser Wert in den Rohfassungen III um 1,3.
Ebenso wurden in den Rohfassungen III weniger Wörter verwendet, die den
anderen Wortarten zuzuordnen sind.
Die Rohfassungen zum Thema „Ich bin...“ wurden nach einem individuell an-
gefertigten Cluster mit dem Kernwort „ich“ erstellt. Es ergaben sich folgende
Werte:
171

Rohfassung türkische Cluster andere Cluster gesamt Cluster


„Ich bin ...“ Schüler Schüler
Textlänge 67,3 3,3 106,0 9,2 93,2 7,2
Wortschatz 41,7 3,0 53,0 7,2 49,2 5,8
Substantive 16,7 2,0 24,2 2,2 21,7 2,1
Verben 6,7 0,7 7,0 0,8 6,9 0,8
Adjektive 4,0 - 8,0 2,5 6,7 1,7
andere Wortarten 16,0 4,3 8,7 - 14,0 1,4

Daten der Rohfassung III

Erläuterungen zur Tabelle: In Spalte 1 sind die Kriterien aufgelistet, nach denen die Texte untersucht wurden. Es wurde
die gesamte Textlänge, der benutzte Wortschatz sowie gesondert die Anzahl der benutzten Substantive, Verben und Ad-
jektive der Rohfassung II erhoben. Spalte 2 enthält die Ergebnisse der Analyse der Texte der türkischen Kinder. Spalte 3
listet die Anzahl der von dieser Gruppe aus dem Cluster übernommenen Wörter auf. Spalte 4 fasst die Textdaten der
nicht-türkischen Kinder zusammen. Spalte 5 zeigt die Anzahl der aus dem Cluster übernommenen Wörter auf. Spalte 6
stellt die durchschnittlichen Werte aller Texte dar. Den Daten ist in der 7. Spalte die Anzahl der Wörter, die aus dem
Cluster übernommen wurden gegenüber gestellt.
,

Diese Werte, die in der Tabelle dargestellt werden, weisen daraufhin, dass
sich die Schüler eher auf ein individuelles Cluster stützen als auf ein Ge-
meinschaftscluster. So haben sich speziell die primärsprachlichen Schreiber
hier stark an ihrem Cluster orientiert und vergleichsweise viele Begriffe daraus
in ihre Rohfassung übernommen. Die türkischen Schüler hingegen wichen in
ihren Texten stärker von den Assoziationen im Cluster ab. Jedoch sollte bei
einer solchen Gegenüberstellung nicht vergessen werden, dass die türkischen
Schüler ihre Cluster überwiegend zweisprachig bzw. türkisch erstellt hatten.
Ein Transfer der im Cluster auf Türkisch festgehaltenen Gedanken hin zu in
der Zielsprache Deutsch formulierten Aussagen in der Rohfassung hatte offen-
sichtlich nicht stattgefunden. Betrachtet man die Aussagen in den Clustern, so
kann weder von einer sprachlichen noch von einer inhaltlichen Verbindung
zwischen Cluster und Text ausgegangen werden. Die türkischen Schreiber
hatten in den Assoziationssträngen auch inhaltlich andere Aussagen formuliert
als in den Texten. Ein Schüler beantwortete die Fragen nach einer möglichen
Ursache: „Ich denk eben auf Türkisch anders als auf Deutsch und dann passt
das nicht zusammen.“ Offensichtlich traf diese Erklärung auch auf die anderen
Schüler zu, die dann im Gespräch auch gleich die Erklärung nachschoben,
weshalb sie die Texte nicht in ihrer Primärsprache geschrieben hatten: „Und
weil wir da anders denken, wollen wir das nicht aufschreiben.“
Die Schüler hatten zu diesem Zeitpunkt anscheinend eine feste Vorstellung
davon entwickelt, was ihrer Meinung nach in einen Text aufgenommen wer-
172

den sollte und was nicht. Sie hatten – ohne darauf im Unterricht in ir-
gendeiner Form hingewiesen worden zu sein – bereits einen Kriterienkatalog
zur Textsorte angelegt und selektierten unbewusst Gedanken, inhaltliche Aus-
sagen, bevor sie in den Text aufgenommen wurden. Die primärsprachlichen
Schüler kannten dieses „Gefühl“, manche Aussagen gehörten einfach nicht in
einen Text und wurden sich dessen im Gespräch mit ihren türkischen Mitschü-
lern bewusst. Im Vordergrund standen hierbei nicht Aussagen, die auf Grund
ihrer privaten, intimen Natur nicht in die Texte aufgenommen wurden, son-
dern Aussagen, von denen die Schüler überzeugt waren, sie würden keinen
Leser interessieren. Sie schrieben also nicht das, was ihnen an ihrer eigenen
Person interessant erschien, sondern das, wovon sie dachten, es könne ihre
Klassenkameraden interessieren. Die Texte sind demnach nicht unbedingt als
Medium anzusehen, anhand dessen sich die Schüler mit ihrer eigenen Person
und ihrer Lebenswelt auseinandersetzten, sondern als Medium, das vorrangig
der „Unterhaltung“ der Klassenkameraden diente. Diese Einschätzung wird
durch die Beobachtung untermauert, dass auch in diesen Texten sehr viele
ungewöhnliche Vergleiche auftreten. Die Schüler hatten damit versucht, die
Texte für ihre Leser spannend und unterhaltsam zu machen. Aussagen wie
„Ich bin ein ausgeflippter Affe und spinne auch in der Schule“, „Ich ziehe so
schöne Klamotten an wie Janet Jackson.“, „Mein Kopf ist so hohl wie eine alte
Thermoskanne.“ können wohl kaum als Reflexionen zur eigenen Person inter-
pretiert werden, sondern sind eher als schreiberische Effekthascherei einzu-
stufen.
Die Texte weisen fast alle einen inhaltlichen und stilistischen Bruch auf. Gegen
Ende werden die Texte persönlicher und es werden mehr Aussagen gemacht,
die auf eine Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Thema, nämlich der
Reflexion eigenen Verhaltens, schließen lassen. „ Ich werde von meinen Eltern
auch Nina genannt. In der Schule heiße ich Tina.“, „Ich mag auch keine, die
wo so voll auf super tun.“, Manchmal kann ich ein paar Fragen nicht beant-
worten.“ In gleichem Maße lässt der häufige Gebrauch ungewöhnlicher Ver-
gleiche nach. Offensichtlich führte das Schreiben die Schüler näher an das
Thema heran. Sie hatten erstmal versucht, möglichst unterhaltsame Texte zu
schreiben, sich dann aber doch gegen Ende des Schreibprozesses auf das
Thema eingelassen.

4.3.2 Erste Überarbeitungsphase


Die Vorbereitung der Textüberarbeitung bezog sich fast ausschließlich auf in-
haltliche Aussagen. Bei einer Präsentation der Texte im Klassenverband er-
kannten die Schüler, dass sich die Texte inhaltlich sehr glichen und dass sie
einen Leser inhaltlich nicht zufrieden stellen konnten. „Da steht ja eigentlich
gar nichts über dich.“, „Das stimmt doch nicht!“, „Das passt ja auf jeden!“
wurde kommentiert. In der Diskussion klang immer wieder an, die Schreiber
173

hätten nicht so viel über sich und ihre Gedanken geschrieben, weil sie der
Meinung waren, die anderen interessiere das nicht. Dies wurde von der Grup-
pe widerlegt, wobei allerdings den meisten auffiel, dass sie ihre eigenen Texte
ebenso gestaltet hatten.
„Was sollen wir denn jetzt machen? Spannende und lustige Texte schreiben
oder was wir echt meinen?“ wurde zur zentralen Frage. Die Antwort, dass es
kein Patentrezept gebe, dass man das von Fall zu Fall zu entscheiden habe,
und dass diese Frage bei jedem Text neu beantwortet werden müsse, stellte
die Schüler nicht zufrieden. Sie hatten eine eindeutige Anweisung erwartet
und waren von der Offenheit der Antwort sichtlich enttäuscht und überfordert.
Als Ergebnisse dieser Unterrichtseinheit lassen sich folgende Aussagen zu-
sammenfassen:
• Wenn ich nichts über mich selbst schreiben will, weil das die anderen
nichts angeht, dann kann ich einen lustigen Text schreiben und viele un-
gewöhnliche Vergleiche machen.
• Wenn ich nichts über mich selbst schreiben will, weil das die anderen
nichts angeht, dann kann ich eine Person erfinden, die eine Geschichte er-
zählt.
• Wenn ich nichts über mich selbst schreiben will, weil das die anderen
nichts angeht, dann kann ich einfach irgendetwas erfinden.
• Wenn ich über mich und meine Probleme schreiben will und will, dass die
anderen das ernst nehmen, dann muss man das beim Lesen erkennen
können.
• Wenn ich über mich und meine Probleme schreiben will und will, dass die
anderen das ernst nehmen, dann darf ich keine lustigen oder blöden Ver-
gleiche machen.
• Wenn ich über mich und meine Probleme schreiben will und will, dass die
anderen das ernst nehmen, dann müssen die anderen das akzeptieren und
nicht sagen, dass mein Text langweilig ist.
Diese Liste führte auch dazu, dass sich die Klasse überlegte, was sie von den
Texten anderer erwartete. Während im Schreibkurs „Wenn ich ein Junge/ein
Mädchen wäre...“ die Gespräche über die Texte überwiegend die inhaltlichen
Aussagen zum Thema hatten, wurden die Texte im Schreibkurs „So sollte
mein bester Freund/meine beste Freundin sein...“ eher nach stilistischen Kri-
terien beurteilt. Die Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Aussagen war
auch im Gespräch über die „Ich bin...“-Texte anfangs im Hintergrund gestan-
den. Im Laufe des Unterrichtsgesprächs jedoch rückte der inhaltliche Aspekt
immer weiter in den Vordergrund, was dazu führte, dass erstmals die enge
Verbindung zwischen den inhaltlichen Aussagen, der Intention des Schreibers
174

und der Wahl der stilistischen Mittel erkannt und thematisiert wurde. Die
Schüler waren also im Lauf der Schreibkurse einen Weg gegangen, den Harry
Broudy beschreibt:394 Im ersten Schreibkurs hatten sie „einfach drauflos ge-
schrieben“ und die Texte nur nach inhaltlichen Kriterien untersucht und beur-
teilt. Im zweiten Schreibkurs hatten sie die Erkenntnisse aus der vorangegan-
genen Arbeit in den Vordergrund gestellt und sich auf äußere Merkmale der
Textgestaltung konzentriert. Im dritten Schreibkurs versuchten sie, eine Syn-
these zwischen diesen beiden Polen herzustellen, indem sie sowohl Inhalt als
auch Form der Texte betrachteten und die Verquickung beider Stränge im
Text und bei der Beurteilung desselben zum thematischen Schwerpunkt der
Überarbeitungsphase bestimmten.
Auf Grund des thematischen wie auch des zeitlichen Umfangs dieser Un-
terrichtsgespräche wurde in dieser Überarbeitungsphase – auch auf Wunsch
der Schüler – auf eine formalsprachliche Überarbeitung verzichtet. Die Schüler
wollten sich ohne weitere zeitliche Unterbrechung an die zweite Textversion
machen.

4.3.3 Die zweite Textversion


Die zweiten und damit endgültigen Textversionen sind bereits in den vorheri-
gen Schreibkursen überwiegend kürzer als die Rohfassungen. Allerdings wer-
den durchwegs mehr inhaltliche Aussagen getroffen. Die Schreiber hatten
weitgehend auf das Finden ungewöhnlicher Vergleiche wie auch auf den häu-
figen Gebrauch von Adjektiven verzichtet. Sie setzten die beiden Mittel nur
dann ein, wenn es ihnen nötig erschien, ihre Gedanken konkreter und ver-
ständlicher darzustellen. Die Schreiber hatten ihre Rohfassungen zwar ge-
kürzt, aber gleichzeitig war es ihnen überwiegend gelungen, die Aussagen zu
ihrer Person zu komprimieren und zu vertiefen. Einige Schreiber haben jedoch
den „Brieffreundschaftsstil“ beibehalten, da er ihnen zweckmäßig erschien,
um die eigene Meinung darzustellen. „Ich bin katholisch, mir ist es egal, aus
welchem Land du kommst.“. Dieses stilistische Mittel fand bei den anderen
Schülern Gefallen und wurde als „gute Idee“ gelobt.
Die Schüler sprachen sich gegen eine Veröffentlichung dieser Texte aus, ob-
wohl sie diese alle mit der Intention, noch ein Buch zu machen, geschrieben
hatten. Besonders jene Schüler, welche ihre Rohfassungen stark verändert
hatten und sehr persönliche Texte geschrieben hatten, wehrten sich vehe-
ment gegen das Ansinnen, die Texte in einem Geheft zu veröffentliche. „Dann
lesen das ja andere!“, „Dann wollen meine Eltern das lesen.“ und mehr Ein-
wände dieser Art wurden erhoben. Die Schüler gingen auch auf den Vor-
schlag, diese Texte, versehen mit Fotos der jeweiligen Autoren, im Klassen-
zimmer aufzuhängen, nicht ein. Sie wollten die Texte behalten und „für sich

394 vgl. Broudy (1976)


175

aufheben“. Diesem Wunsch wurde selbstverständlich stattgegeben und auf ei-


ne Veröffentlichung verzichtet.
Während der Diskussion um eine mögliche Veröffentlichung der Texte, wurde
die Liste der Kriterien, wie man einen Text schreiben sollte, erweitert. Den
Schülern wurde bewusst, dass die Aussicht, einen Text einem Publikum vor-
zustellen, Einfluss auf den Schreibprozess ausübt. Sie waren sich durchweg
einig, dass ein Text, der zur Veröffentlichung bestimmt ist, inhaltlich andere
Kriterien erfüllen muss, als ein Text, den sie nur zum eigenen Gebrauch
schreiben. Bemerkenswert ist die Beobachtung, dass die Schüler ihre Klassen-
kameraden immer weniger in der Funktion als Textadressaten sahen als in der
Funktion als kritische Helfer in den Überarbeitungsphasen. So machte es ih-
nen nichts aus, ihre eigenen Gedanken im Plenum vorzustellen und sie damit
zum Thema des Unterrichtsgesprächs zu machen, während ihnen eine Veröf-
fentlichung über die Grenzen des Klassenzimmers hinaus unvorstellbar war.
Sie hatten ihre Mitschüler als Teilnehmer einer redaktionellen Überarbeitung
schätzen gelernt und hatten keine Scheu, ihnen ihre Gedanken anzuvertrauen
und sich damit in gleichem Maße verletzbar zu machen. Sie hatten die Ge-
spräche und Diskussionen, die nicht immer ruhig und sachlich abgelaufen wa-
ren, sondern durchaus hitzige und energiegeladene Phasen umfassten, als In-
strument begriffen, das ihnen dazu diente, ihre Texte zu verbessern. Wie viel
Vertrauen sie dabei aufgebaut hatten, wurde ihnen jedoch nicht in vollem Um-
fang bewusst.

4.4 Rückblick
4.4.1 Freude am Schreibkurs
Die Schüler waren während der ganzen Zeit stark motiviert und hatten viel
Freude am Schreiben. So wurde das Erscheinen der zweiten Lehrkraft häufig
mit einem „Jippie – Schreibstunde!“ kommentiert. Die Klasse schätzte aller-
dings nicht nur das reine Schreiben, sondern fand viel Freude an den Schreib-
stunden, also auch an den Phasen, in denen sie sich mit ihren Texten beschäf-
tigten. Sie fühlten sich nicht nur mit ihren Problemen, sondern auch mit ihren
individuellen Fähigkeiten ernst genommen, da sie diese in den Unterricht ein-
bringen konnten. So wurde eine Schülerin, die bekannte, unter Liebeskummer
zu leiden, nicht von den Mitschülern gehänselt oder vom Lehrer auf die Pau-
senzeit verwiesen, sondern sie konnte sich im Unterricht zu diesem Thema
äußern. Ihr Problem wurde von den anderen Schülern ernsthaft durchdacht
und gleichzeitig wurde sie ermuntert, einen Text darüber zu verfassen. Ein
anderer Schüler dieser Klasse hatte große sprachliche Defizite in der Zielspra-
che Deutsch und schämte sich zu Beginn der Schreibkurse, seine Texte zur
Diskussion zu stellen. Er weigerte sich z. B., einen anderen Schüler seinen
Text lesen zu lassen. Dieses Problem wurde gelöst, in dem der Text von der
Lehrkraft vorgelesen wurde. Dieser Junge beteiligte sich anfangs wenig und
176

lustlos am Unterrichtsgeschehen, was sich jedoch schlagartig änderte, als sei-


ne Klassenkameraden entdeckten, dass er im bildnerischen Bereich sehr krea-
tiv war und dass er sehr gut zeichnen konnte, und diese Fähigkeit sofort als
für die ganze Gruppe nützlich erkannten. Der Junge wurde immer wieder ge-
beten oder aufgefordert, kleine Zeichnungen zu den einzelnen Texten anzu-
fertigen, die Collagen zu verzieren und endlich das Deckblatt des gemeinsa-
men Buches zu gestalten. Die Motivation des Schülers, seine kreativen Fä-
higkeiten in den Unterricht einzubringen, stieg beträchtlich und er konnte so-
mit auch seine Hemmungen bei Textproduktion und –bearbeitung im Lauf der
Zeit abbauen. Die Unterrichtsform gab ihm den Raum und die Zeit, seine indi-
viduellen Stärken und Schwächen zu erkennen und sinnvoll in die Schreibkur-
se einzubauen. Die Erkenntnis, dass mit Sprache ebenso kreativ umgegangen
werden kann wie mit bildnerischen Darstellungsformen, öffnete ihm einen
neuen Horizont und damit auch die Freude am Schreiben.
Alle Schüler erkannten die Chancen, die sich ihnen in einer offenen Unter-
richtssituation boten, und lernten diese zu nutzen. So begannen sie schon
bald, sehr sinnvoll mit der Möglichkeit umzugehen, sich aus dem Unter-
richtsgeschehen zeitweise zurückzuziehen und sich in einer Ecke still zu be-
schäftigen. Es kam auch immer wieder vor, dass sich einzelne Schüler weiger-
ten, an Gruppenarbeiten teilzunehmen. Es handelte sich hierbei nicht immer
um dieselben Schüler, sondern um Schüler, die erkannten, dass ihnen in der
aktuellen Situation die Zusammenarbeit mit Klassenkameraden nicht weiter-
helfen konnte und sie ihr Problem allein zu lösen hatten. War das zu ihrer Zu-
friedenheit geschehen, kehrten sie in die Gruppen zurück und gliederten sich
wieder in das Unterrichtsgeschehen ein.
Die Schreibkurse wirkten sich demnach in mehrfacher Hinsicht motivierend
auf die Schüler aus:
• Die Schüler erkannten das Schreiben als Vergnügen und bereichernde Tä-
tigkeit an und fanden Freude daran, sich auf diese Art und Weise aus-
zudrücken. Der kreative Umgang mit Sprache und das Aufbereiten von In-
halten machte ihnen viel Spaß und motivierte sie zu weiterem Schreiben.
• Die Schüler konnten ihre individuelle Persönlichkeit in den Unter-
richtsalltag einbringen. Sie wurden mit all ihren Stärken und Schwächen
von den Klassenkameraden und Lehrkräften ernst genommen und bauten
großes Vertrauen auf. Viele Schüler fanden es zu Beginn der Schreibkurse
faszinierend, wenn ihre Person zum Unterrichtsgegenstand wurde. Mit der
Zeit bezogen sie dieses Gefühl auf die gesamte Schreibarbeit, was sich
stark auf die Atmosphäre und das Arbeitsklima in der Klasse auswirkte.
• Die Schüler konnten im Lauf der Überarbeitungsphasen angemessenes
Verhalten in einer Diskussion und auch ihr mündliches Ausdrucksvermö-
gen trainieren und deutlich verbessern. Sie konnten die Wirkung ihrer ver-
177

balen und nonverbalen Gesprächsbeiträge erfahren Warum stehst du im-


mer auf, wenn du was sagst? Das nervt!“, thematisieren „Mir hört keiner
richtig zu!“, „Mensch, d ... – ich red!“ und verbessern. Allmählich konnten
auch Schüler, die sich anfangs nicht am Gespräch beteiligten, aus der Re-
serve gelockt werden; sie begannen sich rege zu beteiligen. Dafür waren
nicht zuletzt die Themenstellungen verantwortlich, sondern in erster Linie
die Tatsache, dass die Themen von den Schülern initiiert waren.
• Die Schüler erkannten in den vier Monaten die Chancen, die eine offene
Unterrichtskonzeption bietet, erfuhren aber auch die Schwierigkeiten, die
sich daraus ergeben können, und deren Bewältigung. Einige Schüler hat-
ten anfangs große Probleme, ihre Tätigkeit selbst zu organisieren und mit
dem Freiraum, der sich ihnen bot, umzugehen. Diese Schüler orientierten
sich in großem Maße an den Vorschlägen bzw. Anordnungen anderer
Schüler, die die Führung übernahmen. Dieses Gefälle baute sich jedoch in
dem Maß ab, in dem die Schüler sich an die Arbeitsform gewöhnten und
an Selbstvertrauen gewannen. Alle Schüler fanden durchaus Gefallen dar-
an, zumindest einen Teil ihres Unterrichtsalltags selbst zu gestalten und zu
organisieren.
• Die Schüler arbeiteten mit großem Eifer an „ihrem Buch“. Die Aussicht auf
eine Veröffentlichung und besonders die Möglichkeit ihrer Familie zu zei-
gen, was sie geschafft hatten, trieb die Schüler immer wieder zu konzent-
rierter und zügiger Arbeit an. Die Veröffentlichung stellte für sie die
stärkste Motivation dar und das Ergebnis ihrer Arbeit und die positive Auf-
nahme in einer kleinen Öffentlichkeit führte dazu, dass sie im dritten
Schreibkurs Texte zum eigenen Gebrauch schreiben konnten, da sie dieser
Motivation nicht mehr bedurften. Sie hatten erkannt, dass ihre Arbeit von
Außenstehenden positiv aufgenommen wurde und konnten sich daraufhin
ihren Bedürfnissen zuwenden. Schreiben war nun kein „Schulkram“ mehr,
sondern es wurde von den Schülern als Medium angenommen.

4.4.2 Thematische Auseinandersetzungen im Schreibkurs


Die drei in dieser Klasse durchgeführten Schreibkurse waren thematisch stark
auf die aktuellen Bedürfnisse der Klasse bezogen. Wie bereits eingangs er-
wähnt, war die heftige Auseinandersetzung mit dem eigenen Rollenverhalten,
dem Rollenverhalten anderer sowie der daraus resultierenden Situation in der
Klasse während eines Schullandheimaufenthaltes in Gang gebracht worden
und hatte die Schüler auch nach dessen Ende weiterhin stark beschäftigt. Die
Themen „ich und die anderen“, „Jungen/Mädchen“, „Verliebtsein“, „Freund-
schaft“ waren nicht vom Lehrer diktiert, sondern von den Schülern initiiert.
Dieser Umstand hat sich durchweg positiv auf die Arbeit in den Schreibkursen
ausgewirkt. Es erscheint fraglich, ob die Klasse derartig viel Freude und Eifer
gezeigt hätte, wenn ihnen Themen vorgegeben worden wären.
178

Die Auswahl der Themen war nicht nur Ausschlag gebend für die Motivation
zur Textproduktion, sondern bot den Schülern ein Forum für eigene Gedan-
ken, Probleme und Beobachtungen. Sie hatten die Möglichkeit, sich in einer
Situation mit diesen Themen auseinanderzusetzen, die sich ihnen in der Frei-
zeit nicht eröffnete. Die Gespräche und Diskussionen wurden in einem Rah-
men geführt, der ihnen die nötige Sicherheit gab, um diese heiklen Themen
zu erörtern. Sie waren sich bewusst, dass immer eine Lehrkraft, als Supervi-
sor anwesend war und bei Bedarf helfend einschreiten konnte. Sie erkannten
ebenfalls, dass sich die Zusammensetzung einer solchen Gesprächsrunde in
den Pausen oder der Freizeit nicht realisieren ließ. So hätte sich eine Ge-
sprächsrunde mit Jungen und Mädchen zum Thema „Rollenverhalten“ in einer
anderen Situation wohl nicht organisieren lassen.
Die Diskussionen gingen immer weit über die Grenzen des Klassenzimmers
hinaus. Zwar war die Situation in der Klasse häufig Ausgangspunkt, dennoch
wurden die Gespräche nicht auf diesen Rahmen begrenzt. Die Diskussionen
zum Thema „Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre...“ beschäftigten sich
durchaus auch mit dem Spannungsverhältnis zwischen den beiden Geschlech-
tern in der Klasse, führten darüber hinaus aber auch zu allgemeinen Gesichts-
punkten und Beiträgen. Die Schüler sahen die Probleme, die sie beschäftigten
nicht als klassenspezifische Probleme an, sondern eher als persönliche.
Rückblickend kann festgestellt werden, dass die Schüler gelernt hatten, sich
diszipliniert und sachlich mit den jeweiligen Gesprächsthemen auseinan-
derzusetzen. Sie hatten erkannt, dass ihre Meinung von den anderen eher ak-
zeptiert wurde, wenn sie ruhig und konkret vorgetragen wurde. Emotionale
Ausbrüche wurden immer seltener und auch beleidigende Äußerungen ver-
schwanden aus den Gesprächsrunden völlig.
Die Auseinandersetzung mit den thematischen Schwerpunkten schien für die
Schüler von immenser Wichtigkeit zu sein. Sie nutzten nicht nur das Klassen-
zimmer als Forum für eigene Gedanken und Probleme, sondern nahmen die
Gespräche zum Anlass, weitere, differenziertere und abstrahierende Gedan-
ken zum Thema zu entwickeln. Der Austausch mit den Klassenkameraden, die
Entwicklung und Erweiterung eigener Eindrücke und Gedanken beim Schrei-
ben, die Gespräche über die beim Schreiben entstandenen Gedanken und Bil-
der wurden zu einer direkten Hilfe bei der Bewältigung von Problemen, die in
ihrer Lebensphase auftreten. Gerade die Beschäftigung mit relevanten The-
men anhand verschiedenster Verfahren (Diskussion, Cluster, Textproduktion,
Diskussion über die Texte, Überarbeitung, bildnerisches Darstellen) und in
verschiedenen Arbeitsformen (Gruppenarbeit, Plenum, Stillarbeit, Partnerar-
beit, Veröffentlichung) ermöglichte den Schülern, sich intensiv
auseinanderzusetzen. Die Textproduktion wurde als Möglichkeit angesehen,
die eigenen Gedanken und Vorstellungen mit den Anregungen aus den Klas-
sengesprächen zu verbinden und die neu gewonnenen oder relativierten An-
179

sichten zu formulieren. Einen weiteren Schritt stellte dann das Durchleuchten


des schriftlich Fixierten aus einer gewissen Distanz dar. Häufig beurteilten die
Schüler das, was sie selbst schriftlich formuliert hatten, in den nächsten Ta-
gen anders als ursprünglich gedacht. Dabei war ihnen die Besprechung ihrer
Texte in der Gruppe hilfreich und die Anmerkungen wurden auch positiv an-
genommen und verarbeitet. Gerade im letzten Schreibkurs, der eine be-
sondere Stellung einnahm, weil es sich um ein Thema handelte, welches die
persönlichsten Texte initiiert, und weil in diesen Schreibkurs die Erfahrungen
aus den beiden anderen Schreibkursen einfloss, kam dieser Aspekt voll zum
Tragen. Die Schüler waren auf das Thema gut vorbereitet, hatten Vertrauen
zu ihren Klassenkameraden und den Lehrkräften aufgebaut und waren bereits
an einen offenen Gedankenaustausch gewöhnt. Sie wollten eine Auseinander-
setzung mit dem Thema „Ich“ und arbeiteten mit großer Offenheit daran.
Die thematische Auseinandersetzung nahm in den drei durchgeführten
Schreibkursen unterschiedlichen Raum ein. Während im ersten Schreibkurs
„Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre...“ sich die Auseinandersetzung mit
dem Thema und die sprachliche Überarbeitung in etwa die Waage hielten, so
lag der Schwerpunkt im zweiten Schreibkurs „So sollte mein bester
Freund/meine beste Freundin sein...“ deutlich auf der sprachlichen Überarbei-
tung. Im dritten Schreibkurs dann lag der Schwerpunkt eindeutig auf der Aus-
einandersetzung mit dem Thema. Während dieses Schreibkurses wurde die
Sprache, die im vorhergehenden Schreibkurs noch als „Spielzeug“ empfunden
wurde, als Mittel zum Zweck angesehen und ihre formale Korrektheit nicht
mehr um ihrer selbst Willen angestrebt, sondern um Gedanken und Ansichten
zu klären und anderen deutlich zu machen.
Diese Entwicklung zeigt, dass es Grundschülern Schwierigkeiten bereitet, sich
gleichermaßen mit inhaltlichen wie mit sprachlichen Aspekten eines Textes zu
beschäftigen. Erst die langfristige, intensive Beschäftigung mit der Textpro-
duktion konnte den Schülern aus diesem Dilemma helfen. Sie hatten die Be-
rücksichtigung sprachlicher Anforderungen während der Beschäftigung mit für
sie relevanten Inhalten ebenso störend empfunden, wie ihnen gleichermaßen
die intensive thematische Auseinandersetzung lästig war, wenn sie sich auf
die sprachliche Ebene konzentrierten. Dieser Umstand konnte während des
ersten Schreibkurses etwas ausgeglichen werden, da die Texte in zwei Phasen
überarbeitet wurden. Allerdings stellte sich heraus, dass die Schüler Schwie-
rigkeiten hatten, sich über eine so lange Zeitspanne mit einem Text auseinan-
derzusetzen. Dieser Weg war auch deshalb mühevoll geworden, weil den Kin-
dern im Lauf des Schreibkurses das Interesse am thematischen Schwerpunkt
des Textes verloren ging. Aus diesem Grund wurden die beiden folgenden
Schreibkurse auch gestrafft und die Texte jeweils nur einmal überarbeitet.
180

4.4.3 Entwicklung des Sprachbewusstseins im Schreibkurs


Ein nicht unerheblicher Teil der Klasse war nicht nur bilingual aufgewachsen,
sondern bislang auch zweisprachig alphabetisiert und beschult worden. Diese
Gruppe, die in der Dokumentation der Schreibkurse als „türkische Schüler“
bezeichnet wird, kann allerdings nicht als sprachlich homogen angesehen
werden. So waren einige Schüler dieser Gruppe weitaus sicherer in der
Zweitsprache Deutsch als andere, während einige Schüler die Zielsprache nur
im schulischen Alltag als eine der beiden Unterrichtssprachen und als Kom-
munikationsmittel in der Klasse kennen gelernt hatten. Auch die Einstellung
der einzelnen Schüler zu den beiden ihnen zur Verfügung stehenden Sprachen
war sehr unterschiedlich.
So konnte festgestellt werden, dass auch Schüler nicht-deutscher Primärspra-
che, deren Ausdrucksfähigkeit im Deutschen relativ gering war, gerade diese
Sprache zu ihrer „Lieblingssprache“ deklarierten. Sie nutzen in keiner Unter-
richtssituation die ausdrücklich angebotene Möglichkeit, sich in ihrer Primär-
sprache zu äußern. Dies konnte sowohl für den schriftlichen als auch für den
mündlichen Sprachgebrauch beobachtet werden. Eine einzige Ausnahme bil-
dete das individuelle Cluster zum Kernwort „ich“. Daraufhin befragt, konnten
die betroffenen Schüler jedoch keine konkrete Antwort geben, weshalb sie ge-
rade in dieser Situation auf ihre Primärsprache zurückgegriffen hatten. Sie
waren sich dessen nicht bewusst, und zeigten gleichzeitig kein Interesse an
der Erforschung der Ursache ihres eigenen sprachlichen Verhaltens. Im Ge-
gensatz dazu konnte bei den türkischen Schülern, deren Sprachstand höher
eingestuft werden kann, beobachtet werden, dass sie sich häufiger in ihrer
Primärsprache ausdrückten, wenn sie mit anderen türkischen Schülern spra-
chen. Ihnen „rutschte“ auch das eine oder andere türkische Wort heraus,
wenn sie bei einem Gespräch in der Klasse emotional reagierten. So passierte
es durchaus, dass sie einem deutschen Mitschüler auf Türkisch bedeuteten, er
habe den Mund zu halten, sie seien mit ihren Ausführungen noch nicht fertig.
Alle thematischen und sachlichen Beiträge lieferten sie jedoch in der Unter-
richtssprache Deutsch. Diese Schüler schienen sich sowohl in ihrer Primär-
sprache, als auch in der Zielsprache sicherer zu sein als die oben beschrieben
Gruppe. Sie schalteten auch müheloser von der einen Sprache zur anderen
Sprache um, manchmal mitten im Satz, manchmal bei einem Wechsel der
Kommunikationssituation, häufig beim Wechsel zwischen emotionalen (Pri-
märsprache) und thematischen (Unterrichtssprache) Beiträgen. Sie gaben
auch an, keine „Lieblingssprache“ zu haben, sondern beide Sprachen glei-
chermaßen zu mögen. Sie waren sich auch – im Gegensatz zu den oben be-
schriebenen Schülern – bewusst, dass sie die beiden ihnen zur Verfügung ste-
henden Sprachen verschiedenen Situationen zuordneten. Explizit formuliert
hatten sie diesen Umstand bei der Frage, weshalb sie ihre Texte nicht auf Tür-
kisch geschrieben hätten. Sie antworteten, das Schreiben von Texten hätten
181

sie auf Deutsch gelernt und somit fänden sie es sehr schwierig, ihre Texte auf
Türkisch zu schreiben. Das schriftliche Fixeren, auch persönlicher Gedanken,
war bei ihnen eindeutig dem Deutschen zugeordnet. Sie zeigten aber keinerlei
Motivation, diesen Bereich auch in ihrer Primärsprache abzudecken. Die Tat-
sache, dass das Verfassen von Texten auf Deutsch leichter fiel, wurde so ak-
zeptiert. Ein Versuch, diese Situation auch auf Türkisch zu bewältigen, er-
schien ihnen nicht interessant oder gar lohnenswert. Sie empfanden es völlig
ausreichend, eine Situation mit Hilfe einer Sprache bewältigen zu können,
auch wenn sie sich bewusst waren, dass ihnen ihre Zweisprachigkeit zum Vor-
teil gereichte. So urteilten sie auch abfällig über Personen aus ihrer direkten
Umwelt, die die eine oder die andere Sprache weniger gut beherrschten als
sie. „Ich kann mit allen Leuten reden, du nicht!“ hob ein Junge die Vorteile
seiner Zweisprachigkeit gegenüber einem monolingual aufgewachsenen
Klassenkameraden hervor.
Die besondere Situation der Grundschulklasse, mit einem hohen Anteil an
Schülern, die über zwei Sprachen verfügten, wirkte sich auch auf die mo-
nolingualen, deutschen Schüler aus. Die deutschen Primärsprachler erfuhren
täglich ihre Überlegenheit in der Zielsprache Deutsch, andererseits erlebten
sie in gleichem Maße ihre eigene Einsprachigkeit. Diese beiden Empfindungen
hielten sich jedoch die Waage. So versuchten sie, ihre Einsprachigkeit dadurch
zu rechtfertigen, dass sie eben eine Sprache und in diesem Fall auch die für
den Unterrichtsalltag relevante Sprache besser beherrschten. Andererseits
schätzten sie die Beherrschung der Primärsprache nicht zu hoch ein, denn ih-
nen war durchaus bewusst, dass sich diese Überlegenheit aus dem Umstand
ergab, dass sie keine zweite Sprache zur Verfügung hatten.

Ich spreche besser Deutsch! Ich spreche nur Deutsch!

Im schriftsprachlichen Bereich war die Überlegenheit der deutschen Primär-


sprachler weniger deutlich ausgeprägt. So wiesen Texte und Diktate der deut-
schen Schüler durchschnittlich nur geringfügig weniger formalsprachliche Ab-
weichungen auf, als die der türkischen Klassenkameraden. Diese Tatsache
182

war allen bekannt und ein schlagkräftiges Argument der türkischen Schüler,
wenn ihnen oder anderen ihre Defizite in der Zielsprache deutlich wurden. Auf
die deutschen Schüler hatte diese Tatsache allerdings nicht die herausfor-
dernde Wirkung, die zu erwarten wäre. Sie beurteilten diesen Umstand als
ganz normal, denn alle Schüler dieser Klasse hätten Schreiben gleichzeitig ge-
lernt und somit erreichten die türkischen Schüler selbstverständlich die glei-
chen Ergebnisse im schriftsprachlichen Bereich. Das sei etwas ganz anderes
als beim Sprechen auf Deutsch, denn das würden sie besser können, weil sie
es länger praktizierten als ihre türkischen Mitschüler. Die Tatsache, dass ihre
türkischen Klassenkameraden zusätzlich zu den gemeinsam erworbenen
Kenntnissen der deutschen Schriftsprache auch gelernt hatten, türkisch zu
schreiben, berücksichtigten sie nicht.
Durch die individuellen Cluster zum Kernwort „ich“, welche die türkischen
Schüler mehrheitlich zweisprachig oder türkisch angefertigt hatten, entstand
bei den deutschen Schülern ein klares Bewusstsein ihrer Einsprachigkeit und
diese wurde in dieser Situation als Defizit empfunden. Möglicherweise hatten
sie den Eindruck, die türkischen Schüler könnten sich besser zu persönlichen
Themen äußern, da sie dafür eine eigene Sprache hatten. Diese Einschätzung
rührt her von der Beobachtung, dass die deutschen Schüler auffallend großes
Interesse an den Äußerungen der türkischen Klassenkameraden bezüglich ih-
rer Entscheidung, diese Cluster in der Primärsprache anzufertigen, zeigten.
Deren Erklärung, sie könnten „besser“ über sich in ihrer Primärsprache nach-
denken, beschäftigte die deutschen Schüler stark. Sie befragten die zweispra-
chige Gruppe intensiv, um herauszufinden, was diese darunter verstünden.
Offensichtlich waren sie der Meinung, die zweisprachigen Kinder verfügten
über ein Medium, das ihnen behilflich sei, sich intensiver mit sich selbst zu
beschäftigen. „Was meinst du, wenn du sagst, du denkst auf Türkisch an-
ders?“, „Wie anders ist das?“ und ähnliche Fragen wurden gestellt. Auf die
Schwierigkeiten der türkischen Schüler, ihnen diese Fragen zu beantworten,
reagierten sie verständnislos und teilweise unwirsch: „Aber wenn du sagst,
dass das anders ist, dann muss es doch auch anders sein!“. Sie trösteten sich,
wie bereits erwähnt, mit der Aussicht auf den Fremdsprachenunterricht in der
fünften Klasse und erhofften sich von diesem, gerade die Fähigkeit, sich in ei-
ner anderen Sprache besser zur eigenen Person äußern zu können und damit
das erfahrene Defizit ausgleichen zu können. Überlegungen, inwieweit das
Denken in einer anderen Sprache sich auf die Gedanken auswirken könnte,
inwieweit das Umschalten auf eine andere Sprache die Perspektive verändern
könnte, erschienen den Schülern als zu fantastisch und wurden schnell ab-
gebrochen. Dies gilt für die zweisprachigen Schüler ebenso wie für die Gruppe
der einsprachigen Schüler.
Die bilingual aufgewachsenen Schüler nicht-türkischer Herkunft, die diese
Klasse besuchten, ordneten sich selbst der deutschen Gruppe zu. Dies mag
183

darin begründet sein, dass ihnen kein primärsprachlicher Unterricht ange-


boten wurde und sie während der Zeit, in der die türkischen Kinder den türki-
schen Unterricht besuchten, beim deutschen Teil der Klasse blieben. Sie stan-
den bei den Gesprächen über Ein- und Zweisprachigkeit eindeutig auf der Sei-
te der einsprachigen Kinder und ignorierten ihre eigene Zwei- oder Mehrspra-
chigkeit weitgehend. Ein Junge bemerkte zwar, dass er drei Sprachen spre-
chen und verstehen könne, brachte seine Erfahrungen mit seiner Mehrspra-
chigkeit jedoch nicht in die Diskussion ein. Er hatte anscheinend ebenso wie
die anderen zweisprachig aufgewachsenen Kinder nicht-türkischer Herkunft
nicht den Eindruck, er gehöre zu der Gruppe der Zweisprachigen in dieser
Klasse.
Es kann festgestellt werden, dass der primärsprachliche Unterricht und der
Einbezug der Primärsprache in das alltägliche Unterrichtsgeschehen den be-
troffenen Kindern ihre Zweisprachigkeit mit allen „Ventures“395 bewusst ge-
macht hatte. Sie hatten in gleichem Maße wie die deutschen monolingualen
Kinder erkannt, dass ihr Repertoire sowohl positive als auch negative Auswir-
kungen haben kann.

Ich spreche nicht so gut Deutsch! Ich spreche nicht nur Deutsch!

Rückblickend kann festgestellt werden, dass sich alle Schüler während der
Schreibkurse Gedanken zu ihrer sprachlichen Situation gemacht haben. In
den Gesprächen und Diskussion kam es immer wieder dazu, dass Ein-
und/oder Mehrsprachigkeit thematisiert wurden. Die Gruppe der türkischen
Schüler wurde sich ihrer Zweisprachigkeit annähernd in gleichem Maße be-
wusst, wie die Gruppe der deutschen Kinder sich ihrer Einsprachigkeit be-
wusst wurden. Lediglich die Gruppe der mehrsprachigen Kinder nicht-
türkischer Herkunft ließ sich nicht in gleichem Maße auf Reflexionen über ihre
eigene sprachliche Situation ein.396

395 Hier wurde das englische Wort gewählt, da es sowohl den Aspekt „Chance“ wie auch den Aspekt „Risiko“ umfasst,
die Kehrseiten ein und derselben Medaille darstellen.
396 vgl. Luchtenberg (1998), Mohr (2000)
184

Das Anfertigen von Clustern, das Schreiben von Texten wie auch die Ge-
spräche über die Texte regen die Schüler an, im Sinne der Language-
Awareness-Konzepte, die im ersten Teil der vorliegenden Arbeit besprochen
wurden, den eigenen Sprachgebrauch und den der Mitschüler zu reflektieren.
Auch jüngere Kinder im Grundschulalter sind durchaus in der Lage, zu erken-
nen, dass sowohl Einsprachigkeit als auch Zwei- oder Mehrsprachigkeit Chan-
cen und Risiken beinhalten, die entsprechend genutzt oder vermieden werden
sollten.

4.4.4 Sozialverhalten im Schreibkurs


Wie bereits eingangs beschrieben, hatte die Klasse zu Beginn der Schreib-
kurse bereits einen Schullandheimaufenthalt hinter sich, während dessen die
ohnehin freundschaftliche und offene Atmosphäre noch verbessert worden
war. Die zwischenmenschlichen Beziehungen der Schüler waren Ausgangs-
punkt des ersten Schreibkurses gewesen und wurden in seinem Rahmen im-
mer wieder thematisiert und in den Vordergrund gestellt. Während der Arbeit
an den Texten zum Thema „Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre...“ setzten
sich die Schüler mit der Situation in ihrer Klasse intensiv auseinander. Sie er-
stellten nicht nur eine Bestandsaufnahme „Mädchen spielen immer nur mit
Barbies und sammeln Zaubertrolle!!“, sondern suchten die Gründe für Span-
nungen und Probleme, die sich im täglichen Miteinander ergeben hatten „Ihr
wollt immer nur das spielen, was euch besser gefällt und was ihr besser
könnt!“ und versuchten, Lösungen zu finden. „Mädchen können doch auch Ball
spielen, nicht nur Jungens.“ Der breite Raum, der ihnen dafür gegeben wurde,
wurde intensiv und konstruktiv genutzt.
Durch die Wahl des Themas des zweiten Schreibkurses „So sollte mein bester
Freund/meine beste Freundin sein...“ wurde deutlich, wie sehr die Gruppe mit
sich selbst beschäftigt war. Dieses Thema ermöglichte es den Schülern, die
Auseinandersetzung mit der Situation ihrer Gruppe fortzuführen, wenngleich
unter einem anderen Aspekt. So wurde die Auseinandersetzung während des
zweiten Schreibkurses weniger emotional und persönlich geführt und über-
greifende Aspekte wurden mehr beleuchtet. Die Beschreibung des imaginären
besten Freundes oder des Wunschpartners ermöglichte eine Distanzierung von
der konkreten Situation und ließ Raum zum Reflektieren eigener Bedürfnisse
und Erwartungen an andere „Meine beste Freundin sollte bessere Noten krie-
gen.“. Im dritten Schreibkurs, dessen Thema ebenfalls von den Schülern ent-
wickelt und formuliert wurde, zogen sich die Schüler aus der Diskussion um
die Situation in der Klasse zurück und setzten sich mit der eigenen Person
auseinander. Die gemeinsame Auseinandersetzung mit den Beziehungen in
der Klasse war weitgehend abgeschlossen und wurde im dritten Schreibkurs
„Ich bin...“ aus der persönlichen Perspektive der einzelnen Schüler beleuchtet
„Meine Freundin ist genauso gut wie ich in der Schule und sitzt neben mir.“;
185

„Und in der Schule ärgere ich fast immer die Jungen.“ Die Auswahl der The-
men spiegelt die Bedürfnisse der Schüler wieder, sich mit einem thematischen
Schwerpunkt aus verschiedenen Perspektiven auseinanderzusetzen und deu-
tet gleichzeitig darauf hin, wie immens wichtig ihnen die Beschäftigung mit
der Gruppe und der Austausch darüber waren.
Das soziale Miteinander wurde jedoch nicht ausschließlich durch die The-
menauswahl gefördert, sondern die gewählten Arbeitsformen und Sozial-
formen konnten diesen Prozess unterstützen. Die Aufhebung der Sitzord-
nung397 ermöglichte immer neue Konstellationen und Varianten. So kam es
auch zwischen Schülern, die bislang räumlich voneinander getrennt gearbeitet
hatten, zu erfolgreichen Partner- oder Gruppenarbeiten und damit auch zu
engeren persönlichen Kontakten. Gleichzeitig war es einzelnen Schülern mög-
lich, sich zeitweise zurückzuziehen und alleine zu arbeiten, wenn ihnen das
ein Bedürfnis war. Im Lauf der Zeit suchten sich die Schüler ihre Ar-
beitspartner immer weniger nach Kriterien wie Sympathie, Freundschaft etc.
aus, sondern bildeten Gruppen, deren Zusammensetzung eine möglichst ef-
fektive und zufrieden stellende Arbeit in Aussicht stellten. Es wurde zu einer
Selbstverständlichkeit, dass jeder Schüler mit einem Stuhl zu den Gesprä-
chen, an der die ganze Klasse beteiligt war, kam und sich selbstständig in den
Kreis einreihte. Ebenso ordneten die Schüler ihre Stühle in einem Halbkreis an
oder nahmen auf den dahinter stehenden Tischen Platz, wenn die Lehrkraft
etwas an der Tafel oder am Projektor zeigte und erklärte. Einige Schüler zo-
gen es vor, auf dem Boden zu arbeiten, was ihnen niemand verwehrte. Die
Klasse entwickelte schnell ein sicheres Empfinden dafür, welche Anordnung in
welcher Unterrichtssituation angemessen und sinnvoll war.
Der projekthafte, handlungsorientierte Unterricht initiierte einen häufigen
Wechsel der Sozialformen. Diskussionen und Gespräche wurden im Plenum
abgehalten, Texte in Einzelarbeit geschrieben, in Gruppenarbeit überarbeitet
und Informationen der Lehrkraft in darbietender Form gegeben. Der Wechsel
der Sozialformen ergab sich aus dem Unterrichtsgeschehen und erschien den
Schülern aus diesem Grund plausibel und sinnvoll. Die übliche Einteilung von
Gruppen und die daraus resultierenden, möglicherweise abwehrenden Reakti-
onen fanden nicht statt.
Die thematischen Schwerpunkte, die offene Anordnung der Sitzplätze sowie
der häufige Wechsel der Arbeitsformen förderten das entspannte und gute
Klima in der Klasse und einen freundschaftlichen, offenen Umgang der Schüler
untereinander sowie mit der Lehrkraft.

397 In den Schreibstunden gab es keine feste Sitzordnung und keine „Stammplätze“. Die Schüler wählten jeweils nach
eigenem Bedürfnis ihren Sitzplatz aus und konnten diesen immer wechseln, wenn sie es wollten.
186

Nach eigenen Aussagen der Schüler hatte dies jedoch einen negativen Aspekt,
da es ihnen nicht einsichtig war, weshalb sie in den Stunden anderer Lehrkräf-
te nicht in der – für sie bewährten – offenen Form arbeiten konnten bzw.
durften. Anscheinend konnten sie sich nur schwer damit abfinden, wieder fes-
te Sitzplätze einzunehmen, Unterrichtsgespräche in begrenztem Umfang zu
führen, sich nach Anordnung der Lehrkraft zu Gruppen zusammenzufinden
bzw. alleine zu arbeiten. Nach eigener Einschätzung war ihr Verhalten in die-
sen Stunden aufsässig. Sie weigerten sich, den Anordnungen Folge zu leisten,
weil sie ihnen nicht einleuchtend erschienen und litten gleichzeitig unter der
Verschlechterung des Arbeitsklimas, das sich hieraus ergab. Die betroffenen
Lehrkräfte klagten über disziplinäre Schwierigkeiten und die Arbeitsmoral der
Klasse, die sich – ausgelöst durch die Schreibkurse – entwickelt hätten. Leider
konnte auch im weiteren Verlauf keine Lösung gefunden werden, weder zwi-
schen der Klasse und den betreffenden Lehrkräften, noch unter den Lehrkräf-
ten selbst.

4.6 Abschließender Erfahrungsbericht


Ausgehend von der Einsicht, die im theoretischen Teil dargestellt wurde, dass
der Begriff Kreativität nicht eindeutig definiert werden kann, liegt es auf der
Hand, dass Kreativität in Schülertexten nur schwer einzuschätzen ist. Pomme-
rin und Mummert entwickelten Leitfragen, die
„Aspekte von Kreativität, Originalität, Erfindungsgabe, Flüssigkeit und Ästhetik
ermitteln als auch (...) Aspekte von kommunikativer Angemessenheit und
grammatischer Richtigkeit berücksichtigen sollen.“398
Diese Leitfragen beschäftigen sich mit den Bereichen der positiven Wahrneh-
mung, der Fragen an Text und Autor, der Leerstellen und Irritationen, der
Fehler und Defizite sowie der Alternativen, die sich aus Sicht der Rezipienten
ergeben. Sie stellen die Grundlage einer kreativitätsorientierten Analyse 399
der Texte dar. In den Unterrichtsversuchen hat sich gezeigt, dass die Grund-
schüler ohne Zweifel in der Lage sind, eine kreativitätsorientierte Analyse
durchzuführen und ihre Texte redaktionell zu überarbeiten, gibt man ihnen
das notwendige Instrumentarium an die Hand. Die Schüler haben mit der Er-
arbeitung der Kriterien eines lesenswerten Textes400 gezeigt, dass sie Kreati-
ves in ihren Texten aufspüren und benennen können. Die Auseinandersetzung
mit den Texten, die in der Gruppe verfasst wurden, führte dazu, dass sich die
Schüler bei folgenden, eigenen Texten um Kreativität bemühten. Das schein-
bare Paradoxon „sich um Kreativität zu bemühen“ löst sich dann auf, wenn

398 Pommerin/Mummert (2001) a.a.O. S.70


399 Pommerin/Mummert (2001) a.a.O. S.71
400 siehe TA Kapitel 4.1.6
187

der gesamte Prozess beleuchtet wird. Viele Schüler bemühten sich, in ihre
zweite Textfassung die Anregungen der Gruppe einzuarbeiten. Diese Texte er-
scheinen überhäuft von Adjektiven, ungewöhnlichen Vergleichen, Einsatz di-
rekter Rede und weiteren Kriterien lesbarer Texte, die die Klasse erarbeitet
hatte. Diese spürbaren Bemühungen, witzige, originelle, lustige und kurzwei-
lige Texte zu schreiben, wirken häufig aufgesetzt, stereotyp und langweilig.
Erst in einer dritten Textfassung konnten diese Überhäufungen abgebaut und
kreative Elemente akzentuiert eingesetzt werden. Aus dieser Perspektive kann
also durchaus von einem erfolgreichen Bemühen um Kreativität gesprochen
werden. Die letzten Textfassungen sind von einem ausgewogenen Einsatz lus-
tiger, witziger, spannender und origineller Elemente gekennzeichnet, was dar-
auf hindeutet, dass sich Schüler erfolgreich mit Ergebnissen einer kreativi-
tätsorientierten Analyse auseinandersetzen konnten und kreative Aspekte in
Texten anderer aufspüren und auch in eigene Texte einarbeiten konnten.
Die drei durchgeführten Schreibkurse haben sowohl den Spracherwerb in der
Zielsprache Deutsch für die primärsprachlichen Lerner wie auch den Zweit-
spracherwerb der nicht-deutschen Lerner gefördert. Die Schüler verbesserten
sowohl ihre mündliche als auch ihre schriftliche Ausdrucksfähigkeit in der Ziel-
sprache als auch ihre formalsprachlichen Kompetenzen. Sie gewannen deut-
lich an Sicherheit im Umgang mit der Zielsprache und waren in der Lage, über
ihre eigenen Sprachgewohnheiten – auch in der Zielsprache Deutsch – zu re-
flektieren. Primär- und Zweitsprachenlerner konnten ihren Wortschatz erwei-
tern und konkretisieren. Diese Erweiterung konnte sowohl im mündlichen wie
auch im schriftlichen Sprachgebrauch festgestellt werden. Die beiden Gruppen
arbeiteten eng zusammen und halfen sich gegenseitig über im Schreibkurs
entstehende sprachliche Probleme hinweg. Die primärsprachlichen Lerner re-
flektierten über die Zielsprache und erreichten dabei eine metasprachliche E-
bene, die es ihnen ermöglichte, ihre Primärsprache zu beleuchten. Die nicht-
deutschen Lerner erweiterten ihre Kompetenz in der Zielsprache und stellten
Vergleiche zur Primärsprache her. Alle Lerner profitierten von den Schreibkur-
sen, wenngleich nicht inhaltlich identisch, aber dennoch in gleichem Maße.
Die Lerner im Grundschulalter waren durch Verfahren des Kreativen Schrei-
bens im Deutschunterricht nicht überfordert. Sie zeigten Freude und Interesse
an den Verfahren und konnten mit deren Hilfe qualitativ wie quantitativ hoch-
wertige Texte verfassen. Auch die äußere Form des Unterrichts, wie Unter-
richtsform, Sozialformen, handlungsorientierte und projekthafte Unterrichts-
konzeption, entsprach ihren Bedürfnissen. Auch sehr junge Schreiber waren
durchaus in der Lage, ihre Texte inhaltlich wie sprachlich zu analysieren und
zu diskutieren, die Ergebnisse der Analyse in die Überarbeitung einfließen zu
lassen und Texte zu beurteilen.
Die drei Schreibkurse wurden in den regulären Unterricht integriert und be-
rücksichtigten den entsprechenden Lehrplan und die darin beschriebenen
188

Lernziele. Da zur Überarbeitung der Texte systematische Unterweisungen be-


nötigt wurden, fanden die Sprachbetrachtung als auch die Wortschatzarbeit
durchaus breiten Raum.
Das Kreative Schreiben deckte alle Anforderungen an den Schreibunterricht
ab. Da die systematischen Einschübe jedoch nicht langfristig geplant waren
und chronologisch stattfanden, erforderten sie von der Lehrkraft fachliche
Kompetenz und Flexibilität. Sprachliche Probleme wurden dann geklärt, als sie
auftraten und somit wurden die Unterweisungen für die Schüler zu unver-
zichtbaren Informationen, die sie benötigten, um ihre Texte in die von ihnen
gewünschte Form zu bringen. Natürlich steuerte die Auswahl und Formulie-
rung der Themen die Schüler auf einen Lerninhalt zu (Wenn ich ein Junge/ein
Mädchen wäre  Konjunktiv II, Konditionalsatz, Satzstellung im Haupt- und
Nebensatz...), dennoch traten während des Schreibkurses häufig unerwartete
sprachliche Probleme auf, die schnellst möglich gelöst werden mussten, um
die Schüler nicht zu demotivieren. Die Lehrkraft verlor in den Schreibkursen
ihre darbietende, den Ablauf bestimmende Rolle und wurde zum Lernberater
und Supervisor.
Wie der Dokumentation der Schreibkurse zu entnehmen ist, integrierte das
Kreative Schreiben systematische Unterweisungen nicht nur, sondern sie stell-
ten einen unverzichtbaren Bestandteil dar. Ohne die Einschübe hätten die
Schüler ihre Texte nicht in der Form und in dem Umfang überarbeiten können,
wie sie es selbst wünschten. Die systematischen Unterweisungen wurden inte-
ressiert und aufmerksam verfolgt und die Ergebnisse sind in den überarbeite-
ten Textversionen deutlich ablesbar und damit quantifizierbar.
Der Erfolg der Schreibkurse in der Grundschulklasse wurde durch zwei Fakto-
ren begünstigt, die bereits zu Beginn des ersten Schreibkurses zum Tragen
kamen. Zum Einen war die Klasse inhaltlich durch die Situation, in der sie sich
befand (kurz nach einem Schullandheimaufenthalt, nach vierjährigem, ge-
meinsamen Schulbesuch, Altersstruktur), eingestimmt und brannte darauf,
diese Themen im Unterricht zu behandeln, zum Anderen war die Klasse be-
reits durch die frühe Begegnung mit kreativen Schreibverfahren mit diesen
vertraut. Dennoch stiegen Freude und Eifer mit jedem Schreibkurs weiter an.
Einige Schüler wurden zu privatem Schreiben (Tagebuch etc.) angeregt und
fanden Gefallen am Medium Schriftsprache. Das Zulassen authentischer und
persönlicher Faktoren im Unterricht erhöhte nicht nur die Lust der Schüler am
Schreiben, sondern weckte den Wunsch nach formalsprachlicher Korrektheit
sowie stilistisch ansprechender Form der Texte. Je wichtiger den Schülern der
Inhalt ihrer Texte erschien, desto mehr Wert legten sie auf eine entsprechen-
de Form.
189

5 Kreatives Schreiben in der Erwachsenenbil-


dung
“Es ist schwierig, die Wörter in den Satz correct stecken!”
Die Teilnehmer, deren Texte hier vorgestellt und untersucht werden, be-
suchten Intensivkurse Deutsch als Fremdsprache an einer Volkshochschule.
Wie bereits in Kapitel 3.4 des theoretischen Teils dieser Arbeit dargestellt,
handelt es sich jedoch nicht um DaF-Unterricht, sondern die Teilnehmer ler-
nen Deutsch überwiegend als Zweitsprache. Alle Teilnehmer leben zum Zeit-
punkt des Spracherwerbs in Deutschland und die Mehrheit plant langfristig in
Deutschland zu leben, eine Familie zu gründen und zu arbeiten. Nur einige
wenige Teilnehmer besuchen die Sprachkurse während eines vorüberge-
henden, zeitlich begrenzten Deutschlandaufenthalts, wie etwa Austauschschü-
ler und –studenten und Au-Pairs.
Der überwiegende Teil der Teilnehmer ist aus persönlichen Gründen hoch mo-
tiviert, was durch den Umstand, dass die Kurse von den Teilnehmern bezahlt
werden müssen, noch verstärkt wird. Den meisten Teilnehmern, die ihr weite-
res Leben in Deutschland planen, ist durchaus bewusst, wie stark ihre
Sprachkompetenz im Deutschen mit der Integration in die Gesellschaft dieses
Landes verbunden ist. Viele Teilnehmer haben die Hilflosigkeit und Ohnmacht
erlebt, die ihre „Sprachlosigkeit“ auslöst, etwa auf Ämtern und Behörden,
beim Arztbesuch oder beim Versuch, mit deutschen Nachbarn Kontakt auf-
zunehmen. Häufig besuchen die Kinder dieser Teilnehmer die Schule oder ei-
nen Kindergarten und erreichen weitaus schneller eine gewisse sprachliche
Kompetenz in der Zielsprache als ihre Eltern. Hier sehen sich viele Eltern ge-
fordert, diese Differenz auszugleichen und sich auf den weiten und steinigen
Weg des Deutschlernens zu begeben. Die Gruppe jener Teilnehmer, die sich
auf ein Leben in Deutschland einstellen, tut dies überwiegend aus zwei Grün-
den:
Auf der einen Seite stehen die Asylberechtigten, die in Deutschland leben,
weil es für sie in ihrem Herkunftsland keine Perspektive mehr gibt bzw. ihr
Leben dort bedroht ist. Diese Teilnehmer verbringen häufig die Anfangszeit ih-
res Aufenthalts in Deutschland in einer primärsprachlichen Umgebung, da sie
entweder in einem Wohnheim untergebracht sind oder mit ihrer Familie zu-
sammen leben. Häufig sehen diese Teilnehmer ihr Leben in Deutschland als
befristet an, da sie hoffen, die politische Situation in ihren Herkunftsländern
könne sich baldmöglichst ändern, was ihre Rückkehr zur Folge hätte. Aller-
dings hat sich gezeigt, dass dieser Rückkehrwunsch oftmals nicht realistisch
ist, einerseits bedingt durch die Instabilität der im Herkunftsland herrschen-
den Verhältnisse, andererseits durch eine Integration in die deutsche Gesell-
schaft, die sich durch Familiengründung, Firmengründungen, Abschluss von
190

Lebensversicherungen etc. ausdrückt. Dennoch scheint bei dieser Gruppe der


Spracherwerb im Deutschen immer wieder durch den starken Wunsch, ins
Heimatland zurückzukehren, beeinflusst zu werden. Sie sehen das Deutsche
als Mittel an, vorübergehend in Deutschland zurecht zu kommen, was ihre
Motivation lähmt. Besonders stark kommt dies bei Asylberechtigten zum Tra-
gen, die ohne ihre Familie eingereist sind und unter heftigem Heimweh leiden.
Bei der vergleichsweise großen Gruppe der Asylbewerber kommt die ungesi-
cherte rechtliche Grundlage ihres Aufenthalts in Deutschland dazu. So lange
ihr Asylverfahren nicht abgeschlossen ist und eine Abschiebung nicht ausge-
schlossen werden kann, ist ihre Motivation, Deutsch zu lernen, verständli-
cherweise wenig ausgeprägt.
Auf der anderen Seite stehen ausländische Ehegatten deutscher Bürger. Diese
planen ein Leben an der Seite ihrer deutschen Ehegatten, mit denen sie –
zum Zeitpunkt des Besuchs eines Sprachkurses - überwiegend nicht in ihrer
Primärsprache, sondern in einer dritten Sprache – meistens Englisch – kom-
munizieren. Bei den meisten Teilnehmern dieser Gruppe handelt es sich um
Frauen aus Asien, Afrika, Osteuropa und Südamerika. Nur einige dieser Teil-
nehmerinnen verfügen über ausreichende oder gar gute Englischkenntnisse,
ebenso, wie ihre deutschen Ehemänner oftmals eher unzureichend Englisch
sprechen. Die ausländischen Ehegatten werden schon bei der Einreise in die
Bundesrepublik in das deutschsprachige Umfeld ihrer Partner eingeführt und
erleben in den ersten Wochen und Monaten ihres Aufenthalts ein starkes Ge-
fühl der Hilflosigkeit und der Abhängigkeit vom Partner, der jedoch einen gro-
ßen Teil des Tages nicht mit ihnen zusammen verbringen kann, weil er einer
Erwerbstätigkeit nachgeht. Auch das anfängliche Interesse und die anfängli-
che Hilfsbereitschaft der deutschsprachigen Umgebung scheint in dem Maße
nachzulassen, in dem sich die Kommunikation für die deutschen Nachbarn o-
der die Familie des deutschen Ehegatten als mühevoll und anstrengend her-
ausstellt.
In vielen dieser binationalen Partnerschaften entwickelt sich eine eigene Spra-
che, die sich aus einem Gemisch der beiden Primärsprachen und einer lingua
franca zusammensetzt. Es scheint, auch wenn der ausländische Partner sich
immer besser in der Zielsprache auszudrücken vermag, schwierig zu sein, von
dieser „Mischsprache“ auf die Zielsprache Deutsch umzuschalten. Auch der
Versuch, eine zeitlich begrenzte Situation zu schaffen, in der sich beide Part-
ner auf Deutsch unterhalten, scheitert oft. Begründet wird dies von beiden
Seiten meist durch die Ungeduld der deutschen Partner, die sich nach einem
langen Arbeitstag nicht mehr in der Lage sehen, sich mit ihren Angehörigen
intensiv zu unterhalten oder ihnen Fragen zum Unterrichtsstoff zu be-
antworten. Fernsehen, Radio und „Treppenhausgespräche“ mit Nachbarn sind
häufig die einzigen Berührungspunkte mit der Zielsprache Deutsch außerhalb
des Kurses.
191

Eine völlig andere Motivation zum Deutschlernen zeigen die – in den Kursen
eher die kleinere Gruppe stellenden – Austauschschüler, Austauschstudenten
und Au-Pairs. Die jungen Leute kommen nach Deutschland, um das Land und
neue Menschen kennen zu lernen und nicht zuletzt, um ihre Deutschkenntnis-
se zu verbessern und zu erweitern. Es hat sich gezeigt, dass sie vergleichs-
weise schnelle und sichere Fortschritte im Erwerb der Zielsprache Deutsch
machen. Dazu tragen einige Umstände bei: Sie leben überwiegend in deut-
schen Familien oder in Studentenwohnheimen, in denen Deutsch Umgangs-
sprache ist. In der Schule oder an der Universität werden sie auf Deutsch un-
terrichtet und sie kommunizieren mit Klassenkameraden oder Kommilitonen
ebenfalls auf Deutsch. Sie haben nicht die gleichen Probleme wie andere Teil-
nehmer bezüglich Arbeitssuche, Ämtergänge und Wohnungssuche, sondern
können sich auf den Spracherwerb konzentrieren. Ein nicht zu unterschätzen-
des Kriterium ist die Tatsache, dass sie im Gegensatz zu anderen Teilnehmern
keine Probleme mit Lernstrategien, Arbeitsrhythmus und dergleichen haben.
Sie sind es gewohnt zu lernen und verfügen über Lernstrategien und Arbeits-
methoden, die sich andere Teilnehmer, die lange keine Schule oder andere
Bildungsmaßnahmen mehr besucht haben, erst wieder mühevoll aneignen
müssen.
Die Teilnehmerstruktur in den Kursen zeigt eine deutliche Tendenz: Die vor-
aussichtliche Aufenthaltsdauer der Teilnehmer lässt keinen direkten Rück-
schluss auf die Entwicklung einer sprachlichen Kompetenz in der Zielsprache
Deutsch zu. So leben gerade jene Teilnehmer, welche einen langfristigen bzw.
unbefristeten Aufenthalt in Deutschland planen, nicht in einer deutschsprachi-
gen Umgebung. Dagegen hat die Gruppe der Schüler und Studenten, denen
hier auch Au-Pairs zugezählt werden, intensiven Kontakt zu Deutschen und
damit auch zur Zielsprache. Hier scheint nicht nur die Vorbildung sowie die
Lebenssituation in Deutschland eine Rolle zu spielen, sondern in Gesprächen
wird immer wieder betont, man hätte wenig Zeit zur Verfügung und sei somit
auf einen schnellen Spracherwerb angewiesen. Die Teilnehmer, deren Aufent-
halt in Deutschland zum Zeitpunkt der Erhebung unbefristet geplant war, je-
doch äußerten sich gegenteilig: Man würde länger in Deutschland bleiben und
hätte somit mehr Zeit, um die Sprache zu lernen und zuerst müsse man sich
zurechtfinden, womit Wohnungssuche, Ämtergänge, Einschulung der Kinder
und dergleichen gemeint ist. Häufig belegen diese Teilnehmer erst dann einen
Deutschkurs, wenn ihnen bewusst wird, dass sie ohne Deutschkenntnisse kei-
ne Arbeitsstelle finden können. Einige werden dann auch von der zuständigen
Arbeitsagentur zugewiesen. In Gesprächen mit diesen Teilnehmern drängt
sich immer wieder der Eindruck auf, ihnen wäre nicht bewusst, wie wichtig
Kenntnisse in der Zielsprache sind, um das Leben zu führen, das sie selbst als
wünschenswert beschreiben.
192

5.2 Die Auswahl der Themen


Die Teilnehmer der Intensivkurse Deutsch schrieben Texte zu den Themen:
Ich, Deutschland, der Deutschkurs. Die Themen waren vorgegeben und nicht
von den Teilnehmern formuliert. Bei der Themenauswahl wurden folgende Kri-
terien berücksichtigt:
• Die Themen sollten einen direkten Bezug zur derzeitigen Lebenssituation
der Teilnehmer haben.
• Die Themen sollten jenen Teilnehmern, die keine authentischen Texte
schreiben bzw. in der Gruppe veröffentlichen wollten, die Möglichkeit ge-
ben, auszuweichen.
• Die Themen sollten mit dem verfügbaren Sprachmaterial zu bewältigen
sein.
• Die Themen sollten die Schreiber motivieren und die Lust am Schreiben
wecken.
• Die Themen sollten ohne Recherchen, die außerhalb des Kursalltags hätten
stattfinden müssen, zu bearbeiten sein.

5.2 Organisation der Schreibkurse


Die Intensivkurse sind in fünfwöchigen Modulen organisiert. Es hat sich ge-
zeigt, dass die vorgegebenen Inhalte sehr umfangreich sind, so dass der
Kursleiter wenig Zeit hat, vom vorgegeben Lehrwerk und dessen Progression
abzuweichen. Der Balanceakt zwischen dem Programm, das das Lehrwerk
vorgibt und den Bedürfnissen der Schüler, die sehr oft deutlich davon abwei-
chen, erfordert häufig Kompromisse des Dozenten. Während die Lehrwerke
meist einen kommunikativen Unterrichtsansatz verfolgen und starken Wert
auf die Förderung einer rezeptiven Sprachkompetenz legen, fordern die Teil-
nehmer neben produktiven Verfahren (z. B. Verfassen eines Briefs) vor allem
– und hier ganz besonders die Teilnehmer aus den Ländern der ehemaligen
Sowjetunion – systematische Unterweisungen. Dieser Wunsch nach „richtigem
Grammatikunterricht“ entspringt den Lernerfahrungen aus dem Her-
kunftsland, den daraus resultierenden Lerngewohnheiten und dem Anspruch,
formalsprachlich korrektes Deutsch zu sprechen und zu schreiben. Diese Teil-
nehmer lehnen den kommunikativen Ansatz der eingesetzten Lehrwerke ab
und ziehen sich enttäuscht aus dem Unterrichtsgeschehen zurück.
Auf den ersten Blick mag es widersprüchlich erscheinen, dass das Kreative
Schreiben diese beiden Pole zu vereinen mag. Dennoch hat sich gezeigt, dass
eine Verzahnung gerade hier möglich wird und zu motiviertem und effektivem
Lernen führt. Im Gegensatz zu den Schreibkursen, die in der Grundschule
durchgeführt wurden, führte der Weg in den Intensivkursen nicht vom Text
193

zur systematischen Unterweisung, sondern von der Unterweisung zum Text.


Die hier entstandenen kreativ geschriebenen Texte stellten einerseits den
Raum dar, in dem die Teilnehmer bereits erworbene Kenntnisse einbringen
und anwenden konnten, andererseits bildeten sie den Einstieg in ein neues
formalsprachliches Thema.
Aus Gründen, die sich aus den Bedürfnissen der Teilnehmer, aus den Vor-
gaben für den Dozenten sowie dem zeitlichen Rahmen ergeben, wurde in die-
ser Schreibgruppe jeweils nur ein Text zum jeweiligen Thema geschrieben.
Diese Textfassungen wurden auf „Extrapapier“ geschrieben und dem Dozen-
ten zur Korrektur überlassen. Diese Korrektur bestand aus dem Erstellen einer
Kopie der Texte, die ohne formalsprachliche Abweichungen getippt wurden.
Diese Versionen bekamen die Teilnehmer zusammen mit ihren Fassungen zu-
rück. Daraufhin folgte eine Phase, in der die Teilnehmer die Kopien mit ihren
Fassungen verglichen, etwaige Unklarheiten im Einzelgespräch mit dem Do-
zenten besprachen und ihre Texte anschließend in ihr offizielles Deutschheft
übertrugen. In diesen Arbeitsphasen konnten auch Unklarheiten besprochen
werden, die sich bei der Durchsicht und Korrektur der Texte auf Seiten des
Dozenten ergeben hatten. In dieser Phase wurden die Texte dann – auf
Wunsch der Teilnehmer in der korrigierten Form – im Kurs vorgelesen und be-
sprochen.
Diese Organisationsform erlaubt es also nicht, zwei oder drei Fassungen zu
einem Thema zu untersuchen, um einen Fortschritt im Spracherwerb zu mes-
sen. Dennoch zeigen eine Analyse der Texte und der Vergleich zwischen den
Texten deutlich einen Fortschritt der Teilnehmer auf, der so auch quantifizier-
bar ist.

5.3. Ich
Die Texte zum Thema „ich“ wurden bereits am zweiten Kurstag verfasst. Am
ersten Kurstag wird Wortschatz zu den Bereichen „Begrüßung“ und „Vorstel-
lung“ eingeführt. Des Weiteren wurden das deutsche Alphabet, die einzelnen
Laute, die Diphthonge sowie der Begriff „Silbe“ eingeführt. Das Thema „ich“
bot den Teilnehmern die Möglichkeit, den Stoff des Vortags erstmals schrift-
lich anzuwenden und gleichzeitig die Gelegenheit, sich in der Gruppe vorzu-
stellen. Am Vortag hatte nur eine kurze Vorstellung stattgefunden, bei der die
Teilnehmer ihren Vornamen und ihr Herkunftsland nach der vorgegebenen
Struktur „Ich heiße..., Ich komme aus...“ genannt hatten. Da die Teilnehmer
zum Zeitpunkt der Textproduktion über einen sehr begrenzten Wortschatz
verfügten und die Konjugation Präsens noch nicht eingeführt worden war,
wurde der Satzanfang „Ich bin...“ vorgegeben. Diese Formulierung wurde zum
Kernwort der Cluster, die individuell erstellt wurden. Ein Cluster, mit dem sich
die Dozentin der Gruppe vorstellte, wurde exemplarisch an der Tafel angefer-
tigt.
194

Diese visuelle Vorlage erleichterte den Teilnehmern den Einstieg und sie be-
gannen ihre individuellen Cluster mit Hilfe eines Wörterbuchs in der Zielspra-
che Deutsch zu erstellen. Zur weiteren Vorbereitung auf den Text sollten zu
den Buchstaben des Vornamens Begriffe zum Thema „ich mag“ aufgezählt
werden und zu den Buchstaben des Familiennamens Begriffe zum Thema „ich
mag nicht“. Auch hier wurde ein Beispiel an der Tafel erstellt. Dieses Verfah-
ren regt die Teilnehmer dazu an, sich mit ihrem Wörterbuch „anzufreunden“.
Vielen Teilnehmern waren zu Beginn des ersten Deutschkurses die Benützung
eines Wörterbuchs und damit der sachgemäße Umgang mit demselben nicht
vertraut. Auch ist den Teilnehmern in dieser Phase die Reihenfolge der Buch-
staben im deutschen Alphabet nicht geläufig, was ihnen die Arbeit mit dem
Wörterbuch natürlich erschwert. So wird hier nicht nur der Wortschatz erwei-
tert, sondern auch der Umgang mit dem Wörterbuch trainiert.

5.3.1 Die ersten Texte


Die Textproduktion wurde zeitlich auf 15 Minuten begrenzt. Dieser Rahmen
sollte den Teilnehmern aufzeigen, dass von ihnen kein langer Text erwartet
wurde. Es hat sich herausgestellt, dass eine kürzere Schreibzeit unan-
gemessen ist, da die Teilnehmer zu Beginn der Kurse noch relativ lang be-
nötigen, um ein Wort nachzuschlagen und um kurze Sätze zu bilden. An-
dererseits ist eine Begrenzung angemessen, denn es werden in einer längeren
Schreibzeit keine besseren oder umfangreicheren Texte produziert, sondern
die Schreiber tendieren dann dazu, ihre kleinen Texte anhand von Wörterbü-
chern und anderen Hilfsmitteln auszubauen. Diese Versuche führen meist
nicht zum Erfolg, sondern zu inhaltlich völlig unverständlichen sowie sprach-
lich nicht nachvollziehbaren Konstruktionen. Es wirkt auf die Schreiber demo-
tivierend, wenn gerade der Text, bei dessen Produktion sie sich solche Mühe
gegeben haben, unverständlich ist. Es scheint für erwachsene Lerner, insbe-
sondere für jene mit fundierter schulischer Vorbildung sehr schwierig zu sein,
ihre Gedanken in den einfachen sprachlichen Strukturen auszudrücken, über
die sie zu Beginn des Spracherwerbs verfügen. Diese „Sprachlosigkeit“ führt
zu einem Gefühl der Hilflosigkeit und des Verlorenseins in der neuen Umge-
bung. Das Gefühl, sich in der Gruppe nicht als vollwertige Person zeigen zu
können und die Kommunikation auf Belanglosigkeiten beschränken zu müs-
sen, stellt für viele erwachsene Lerner eine große Belastung dar. So kann ih-
nen der zeitliche Rahmen von etwa 15 Minuten Schreibzeit helfen, ihre eige-
nen, zu großen Erwartungen an den Text zu mindern.
5.3.1.1 Inhalt der ersten Texte
Inhaltlich bleiben die ersten Texte eng am vorgegebenen Thema “Ich”. Das ist
im engen sprachlichen Rahmen der Teilnehmer begründet. Die Texte wur-
den in einer Unterrichtssituation geschrieben und auch im Plenum präsentiert,
die als “Vorstellungsrunde” bezeichnet werden kann. Die Schreiber hatten zu
195

diesem Anlass Texte verfasst, mit denen den anderen Gruppenmitgliedern ei-
ne kurze Vorstellung der eigenen Person vorgelegt wurde. In den Texten wur-
den die in dieser Situation üblichen Angaben zur Person gemacht: Name, Her-
kunft, familiäre Situation, Beruf, Alter, Aussehen „Ich habe braun Haare and
grün Augen.“ usw. Einige Teilnehmer machten darüber hinaus Angaben zu ih-
rem Sprachstand in der Zielsprache Deutsch „ich bin kayne doyhc sipreken“
oder gaben Statements zu allgemeinen Themen ab: „Ich sage das alle Leute
gut ist“. Wenn auch die Texte inhaltlich – dem Thema entsprechend – persön-
lich gehalten sind, so kann die Darstellung jedoch als sachlich bezeichnet
werden. Während in anderen Schreibgruppen, deren Teilnehmer über eine
höhere Kompetenz in der Zielsprache Deutsch verfügten, zum Thema “ich”
überwiegend emotional gefärbte Texte geschrieben hatten, können die Texte
dieser Gruppe eher als nüchtern oder sachlich bezeichnet werden. Es ist bei
dieser Einschätzung jedoch zu berücksichtigen, dass sich die Teilnehmer die-
ser Gruppe zum Zeitpunkt der ersten Textproduktion und auch –präsentation
noch fremd waren. In den ersten Texten konnten keine herausragenden krea-
tiven Leistungen aufgespürt werden. Die Schreiber hatten in dieser Schreibsi-
tuation auch nicht den Anspruch erkennen lassen, möglichst originelle und
witzige oder gar spannende Texte zu schreiben, sondern den mühevollen
„Kampf“ mit der für sie neuen Sprache aufgenommen und versucht, wichtige
Informationen zu formulieren. Die Schreibsituation (erster Kurstag, neue
Gruppe) sowie das Thema, das auf eine gängige Vorstellung abzielt, wirkten
„kreativitätshemmend“.
5.3.1.2 Formale Auswertung
Die ersten Texte, die in dieser Gruppe geschrieben wurden, waren durch-
schnittlich etwa 44 Wörter lang.401 Die Teilnehmer verfügten über zirka 30
Vokabeln, die sie in einen ersten Text zum Thema „ich“ einbauen konnten.
Davon übernahmen sie im Schnitt vier Wörter aus dem Cluster. Dieser nicht
unbeträchtliche Anteil der aus dem Cluster übernommenen Vokabeln erstaunt
um so mehr, als die Cluster nicht als Gemeinschaftscluster erstellt worden wa-
ren, sondern als individuelle Cluster nach einem vorgegebenen Beispiel. Aller-
dings hatten die Teilnehmer die Anregungen aus dem vorgegebenen Cluster
weitgehend angenommen und lediglich mit Angaben zu ihrer Person ergänzt.
Der quantitativ am häufigsten vertretene Fehlertypus war mit großem Ab-
stand die Groß- und Kleinschreibung. So können über 35 % der in den Texten
aufgetretenen orthografischen Abweichungen dieser Kategorie zugeordnet
werden. Angesichts des Umstands, dass dieser Text der erste Kontakt der
Teilnehmer mit einer Großschreibung der Substantive darstellte, ist die quan-
titative Spitzenposition durchaus erklärbar und verständlich. Die Groß- und

401 Auch in späteren Gruppen konnte für den jeweils ersten Text eine ähnliche Textlänge ermittelt werden.
196

Kleinschreibung im Deutschen verlangt von Sprachanfängern eine hohe


Sprachkompetenz in der jeweiligen Primärsprache bzw. grammatische Kennt-
nisse in einer bereits vorher erworbenen Fremdsprache, denn sie erfordert
das Bestimmen der Wortart „Substantiv“. Teilnehmer, denen eine grammati-
sche Bestimmung der Wortarten und ihre Differenzierung fremd bzw. unbe-
kannt sind, haben hier große Schwierigkeiten, trotz mehrfacher Hinweise dar-
auf, dass man Substantive im Deutschen groß schreibt.
In fast allen Texten traten Fehler auf, die als Einsatz falscher Vokale be-
zeichnet werden. So trat eine häufige Verwechslung der Vokale „e“ und „i“ auf
(leben – liben), ebenso wurden die Vokale „a“ und „e“ oftmals nicht richtig
eingesetzt (ich spreche – ich sprache). Die Verwechslung von Vokalen und Di-
phthongen entsteht meist durch unzulässige Transfers aus der Primärsprache
(z. B. Russisch: Kino – Kina / Türkisch: deutsch – doytsch)) und/oder aus
dem Englischen als lingua franca (und – and). Ähnliche Interferenzen treten
auch im Bereich der Konsonantenschreibung auf (ich – isch), aber in erheblich
geringerem Umfang. Dies gilt auch für die Vokaldehnung und –kürzung an-
hand von Dehnungs-h, dem Einsatz von „ie“, Doppelvokalen bzw. der Konso-
nantenverdopplung und dem Einsatz von „ck“. Für diesen Fehlerbereich konn-
te das dritthäufigste Auftreten ermittelt werden. Einen weiteren Fehlertypus
stellt die Umlautbildung dar.
In den ersten Texten dieser Gruppe wurden etwa 20 % der Fehler im Bereich
der Vokale erhoben, dagegen aber anteilig nur etwa die Hälfte im Bereich der
Konsonanten. Vokaldehnung und –kürzung nahmen durchschnittlich 11 % der
formalsprachlichen Abweichungen ein, während 9 % der Abweichungen als
Umlautfehler auftraten.
Bei diesem Fehlertypus tritt die Relevanz einer phonetischen Unterweisung
und eines ständigen Aussprachetrainings hervor. Zur Vermeidung dieser Feh-
ler ist es wichtig, die Laut-Buchstaben-Beziehungen in der Zielsprache zu klä-
ren und ihren korrekten Einsatz zu trainieren. Teilnehmer, die bislang noch
keine Zweit- oder Fremdsprache erworben haben, haben oft keine Vorstellung
davon, dass die Verknüpfungen zwischen Lauten und ihrem schriftlichen Sym-
bol in einer anderen Sprache nicht identisch mit jenen ihrer Primärsprache
sein können. Dies gilt es in Verbindung mit der Einführung des deutschen Al-
phabets, einzuführen. Insbesondere die Diphthonge und die Konsonanten-
kombinationen „sch“ und „ch“ bereiten den Teilnehmern aus arabisch- und
turksprachigen Regionen große Schwierigkeiten. Die Umlaute und ihre Aus-
sprache bereiten hingegen fast allen Teilnehmern anfangs Probleme, lediglich
Sprecher von Turksprachen oder finno-ugrischen Sprachen haben hier keine
Schwierigkeiten, da auch ihre Primärsprachen Umlaute kennt. Für den größten
Teil der Lerner jedoch scheint es zu Beginn des Spracherwerbs in der Ziel-
sprache Deutsch annähernd unmöglich, den phonetischen Unterschied zwi-
197

schen den umlautfähigen Vokalen und den entsprechenden Umlauten402 zu


erkennen.
Die ersten Texte dieser Gruppe wiesen fehlerhafte grammatische Strukturen
auf, die folgenden Gruppen zugeteilt werden:
• Artikel (bestimmt, unbestimmt, Nullartikel sowie Genus)
• Präpositionen (falsche Präposition und/oder fehlerhafter Kasus im Präposi-
tionalobjekt)
• Konjugation (Person)
• Konjugation (Tempus)
• Deklination (Kasus)
• Deklination (Plural)
• Deklination der Adjektive
• Possessiva
• fehlerhafter Einsatz der Hilfsverben
• Satzstellung
• Nebensätze (Wortstellung)
• Nebensätze (Konjunktion)
• Negation
Die häufigste Fehlerquelle tritt im Bereich der Präpositionen und Präpositio-
nalobjekte auf. Die Verwendung von Präpositionen ist bei Texten zum Thema
“ich” nicht vermeidbar. Angaben zur Wohnung, zur Herkunft, zur Aufenthalts-
dauer usw. erfordern die Verwendung von lokalen und temporalen Präpositio-
nen und die Bildung präpositionaler Objekte und Ergänzungen. Insbesondere
die Präpositionen temporaler und lokaler Angaben sind meist nicht direkt aus
der jeweiligen Primärsprache zu transferieren. Die hier auftretenden Fehler
entstehen oft aus dem Versuch, Sätze, die in der Primärsprache formuliert
werden, in Gedanken zu übersetzen und dann auf Deutsch niederzuschreiben.
In diesem Bereich ist auch die Arbeit mit dem Wörterbuch äußerst schwierig,
da zu jeder Präpositionen eine ganze Reihe deutscher Entsprechungen aufge-
führt sind, aus denen dann die passende herausgesucht werden muss. Abwei-

402 Da sich diese Schwierigkeiten häufig auch noch auf höheren Spracherwerbsebenen zeigen, implizieren sie häufig
auch grammatische Fehler, da Ablautreihen und grammatische Formen verwechselt werden (er wird – er würde – er
wurde).
403 Vgl. Deutsch aktiv neu 1A
198

chungen im Präpositionalobjekt begründen sich darin, dass die Teilnehmer


zum Zeitpunkt der ersten Textproduktion weder Akkusativ- noch Dativformen
kennen.
Mit einer ähnlich hohen Frequenz traten in den ersten Texten Fehler im Arti-
kelgebrauch auf. Während einigen Teilnehmergruppen (z. B. aus dem russi-
schen Sprachraum) der Gebrauch der Artikel völlig fremd ist, haben andere
große Probleme mit der Genusbestimmung der Substantive, der im Deutschen
nicht durchgängig an deren Endungen erkennbar ist. Hier zeigt sich auch
mangelnde Erfahrung im Umgang mit dem Wörterbuch, da die Teilnehmer die
Angaben zum Genus eines Substantivs dort nicht erkennen bzw. nicht im Text
anwenden können. In diesem Bereich treten Fehler auf, die zwei Gruppen zu-
geteilt werden können: der Einsatz von bestimmten, unbestimmten Artikel-
wörtern und dem Nullartikel und der Genus der Substantive. Beide Gruppen
wurden im Rahmen dieser Analyse unter dem Stichwort “Artikel” zusammen-
gefasst.
Etwa 13 % der formalsprachlichen Abweichungen im grammatischen Bereich
sind dem Bereich Satzstellung zuzuordnen. Hier wurden Satzglieder an die
falsche Position gesetzt bzw. nicht logisch angeordnet. Diese Fehler treten
insbesondere bei Teilnehmern auf, deren Primärsprache ein anderes Satzmus-
ter vorsieht.
Die Verwendung von Possessiva ist beim Anfertigen eines Textes zum Thema
“ich” unumgänglich. Die Darstellung der eigenen familiären Situation ist ohne
Einsatz der entsprechenden sprachlichen Mittel (Possessivpronomen, Genitiv,
“gehören” + Dativ etc.) nicht möglich. Der größte Teil der Teilnehmer kennt
das Possessivpronomen “mein” bereits in einem sehr frühen Stadium des
Spracherwerbs, da sie es über das englische “my” phonetisch sofort erfassen
und es dann auch – allerdings ohne Deklinationsendung - verwenden. Die feh-
lerhafte oder nicht vorhandene Deklination der Possessivpronomen steht mit
einer Quote von über 10 % an vierter Stelle der Fehlerhierarchie. Dieser rela-
tiv hohe Wert kann allerdings bei Texten zu anderen Themen nicht ermittelt
werden.
Insbesondere die Verwendung von Infinitiven („ich leben“) erklärt die hohe
Frequenz im Auftreten dieser Abweichungen von der Normsprache. So wurden
in dem Bereich „Konjugation (Person)“ etwa 9 % der Fehler gemacht. Fehler-
hafte Tempusformen traten zu 6 % auf. Dieser vergleichsweise niedrige Wert
lässt auf bewusste Vermeidungsstrategien der Teilnehmer schließen. Die Tex-
te wurden absichtlich im Präsens geschrieben, da die Teilnehmer zum Zeit-
punkt dieser Textproduktion noch nicht über die notwendigen Sprachmittel
verfügen konnten, um ihre Texte in einer Vergangenheitsform zu verfassen.
Dessen waren sie sich auch bewusst und somit trafen sie nur sehr wenige
Aussagen bezüglich ihrer Vergangenheit.
199

Der Bereich “Adjektivdeklination” nahm mit einem Anteil von etwa 8 % einen
mittleren Rang in der Fehlerhierarchie ein. Dennoch kann festgestellt werden,
dass alle verwendeten Adjektive mit falschen bzw. keinen Deklinationsendun-
gen versehen wurden. Die Quote ist durch den seltenen attributiven Gebrauch
von Adjektiven zu erklären.
Die Negation mit “nicht” oder dem unbestimmten Artikelwort “kein” stellt be-
sonders für Teilnehmer, die die verschiedenen Wortarten nicht differenzieren
können, ein Problem dar. So ist die Zuordnung des Adverbs zu Verben oder
Satzteilen sowie des Artikelwortes zu Substantiven eine häufig auftretende
Fehlerquelle zu Beginn des Spracherwerbs. Erstaunlicherweise wurde in den
ersten Texten für Kasusfehler nur ein Anteil von etwa 3 % ermittelt. Obwohl
die Teilnehmer zum Zeitpunkt der Textproduktion noch nichts über die Verb-
valenz und die Kasusbildung erfahren hatten, konnten sie durch einfach struk-
turierte Sätze diesen Fehlertypus weitgehend vermeiden. Dass dieser Fehler-
typus eher unbewusst vermieden wurde, zeigte sich, als die Deklination sowie
die Bildung von direkten Objekten eingeführt wurde. Möglichweise spielt bei
den Werten, die für die ersten Texte erhoben werden konnten, das Glück bzw.
der Zufall eine Rolle. So kann z. B. ein einfacher Satz mit einem femininen
Substantiv im Akkusativobjekt ohne grammatische Kenntnisse durchaus feh-
lerfrei gebildet werden.
In den Bereich “Nebensätze” werden sowohl die abweichende Satzstellung (fi-
nites Verb am Satzende, Subjekt nach Konjunktion etc.) wie auch die Nicht-
bildung von Nebensätzen (“ich sage das alle Leute ist gut”) einbezogen. Die
Verwendung der entsprechenden Konjunktionen wurde weitgehend vermie-
den. In Texten, die zu Beginn eines Kurses geschrieben werden, treten weni-
ge bzw. keine Konjunktionen auf. Lediglich “weil”, “und”, “dass” werden gele-
gentlich verwendet. Die Ursache liegt hier auf lexikalischer Ebene. Die drei
oben genannten Konjunktionen treten in der gesprochenen Sprache häufig auf
und haben daher einen hohen Bekanntheitsgrad bei den Sprachlernern. Da in
der Umgangssprache das finite Verb – insbesondere in Kausalsätzen mit der
Konjunktion “weil” – auch von Primärsprachlern häufig an die zweite Position
gestellt wird (..., weil ich mag dieses Land), übernehmen die Sprachlerner
diese Form oft auch in ihren schriftlichen Äußerungen.

5.4 Deutschland
Die Texte zum Thema „Deutschland“ wurden zu Beginn der vierten Unter-
richtswoche, also am 13. Unterrichtstag geschrieben. In den vier Wochen, die
zwischen der Produktion der „ich“-Texte und der Texte zum Thema „Deutsch-
land“ lagen, wurden folgende Themen eingeführt und vertieft:
• Grammatik: Adjektive (prädikativ), Akkusativ, Artikel (bestimmt, unbe-
stimmt), Artikel als Pronomen, Dativ, Ergänzungen (lokal, temporal, direk-
tiv), Imperativ, Konjugation Präsens (starke und schwache Verben), No-
200

minativ, Ordinalzahlen, Personalpronomen, Plural, Position des Verbs im


Aussagesatz, Satzfrage/Wortfrage, Verben mit Akkusativ, Verben mit Da-
tiv
• Wortfelder: Adresse, Alphabet, Begrüßung, Datum, Einkaufen, Lebensmit-
tel, Maße, Möbel, Ratschläge, Bitten, Restaurant, Sprachen, Statistische
Angaben zur Person, Termine, Uhrzeit, Währung, Zahlen
Zu Beginn der Unterrichtseinheit wurde an der Tafel ein Gemeinschaftscluster
zum Kernwort “Deutschland” angefertigt. Dazu nannten die Teilnehmer reih-
um ihre Assoziationen zum Kernwort. Während die Beiträge zu Beginn eher
stockend zusammengetragen wurden, nahmen die Anzahl und die Geschwin-
digkeit der Beiträge im Verlauf des Clusterns zu. Sobald die Teilnehmer er-
kannt hatten, dass jeder Beitrag aufgenommen wurde, begannen sie frei und
ohne Hemmungen ihre Assoziationen zum Kernwort zu äußern. So entstand
ein großes Cluster mit vielen Begriffen, die zum Abschluss erklärt und in die
Vokabelhefte übertragen wurden. Das Cluster umfasste inhaltlich viele Facet-
ten und Lebensbereiche.
Die Substantive im Cluster wurden anschließend mit Artikeln und den jeweili-
gen Symbolen zur Pluralbildung (-r Beruf –e) versehen. Dies erleichterte den
Teilnehmern die Eintragung in das Vokabelheft und ersparte das mühsame
und zeitaufwendige Blättern im Wörterbuch.
Anschließend an das Clustern entstand eine Diskussion, in der Vorteile und
Nachteile eines Lebens in der Bundesrepublik erörtert wurden. Erstaunlicher-
weise beurteilten jene Teilnehmer, die sich erst kurz in Deutschland aufhiel-
ten, Land, Leute und Leben eindeutig positiver als jene, die schon länger hier
lebten. Hier kam es auch zu einer Auseinandersetzung zwischen den beiden
Parteien, da die Teilnehmer, die Deutschland positiv bewertet hatten, die kri-
tischen Beiträge anderer nicht akzeptieren konnten bzw. wollten. Sie schienen
geradezu um ihr positives Deutschlandbild und ihren Optimismus bezüglich ih-
res zukünftigen Lebens in diesem Land zu kämpfen.

5.4.1 Die “Deutschland-Texte”


Nachdem die Gruppe durch das Gemeinschaftscluster und die Diskussion auf
das Thema eingestimmt war, wurden die Texte geschrieben. Nachdem in den
vorbereitenden Phasen sehr viel sprachliches und inhaltliches Material zum
Thema gesammelt worden war, erschien es sinnvoll, die Schreibzeit etwas
höher anzusetzen. Sie wurde demnach auf eine halbe Stunde limitiert. Zu Be-
ginn ging viel Zeit verloren, denn viele Teilnehmer suchten trotz der Vokabel-
liste und des Clusters im Wörterbuch nach fehlenden Begriffen. Etwa nach 10
Minuten begannen dann auch die letzten Teilnehmer, nach einem entspre-
chenden Hinweis, zu schreiben.
201

Die Texte wurden von der Kursleitung außerhalb der Unterrichtszeit in sprach-
lich korrekter Form ausgedruckt, in der nächsten Unterrichtseinheit im Plenum
vorgestellt und in der Pause zum Lesen ausgelegt. Diese Texte wurden zum
Anlass genommen, erneut über das Land, in dem die Teilnehmer leben und
über das, was sie hier erleben, zu diskutieren. Dieses Unterrichtsgespräch
verlief weitaus ruhiger als das erste Gespräch im Anschluss an das Cluster.
Die meisten Teilnehmer hatten zu Hause über die erste Diskussion nachge-
dacht und sich teilweise mit verschiedenen Materialien und Informationen auf
eine neue Diskussion vorbereitet. Zwei Teilnehmer hatten zu Hause einen
neuen Text geschrieben und diesen bereits mit Hilfe des jeweiligen (Ehe-
)Partners korrigiert. Diese beiden Texte wurden zusammen mit den anderen
Texten ausgelegt und in das Gespräch mit einbezogen. Auf die Frage hin,
weshalb sie denn zu Hause einen neuen Text verfasst hätten, antworteten sie,
sie hätten sich während der Produktion des ersten Textes im Unterricht
sprachlos und damit hilflos gefühlt, da sie sich nicht in der Lage gefühlt hät-
ten, das zu schreiben, was sie wirklich empfänden. Zu Haus hätten sie mehr
Zeit sowie die Hilfe des Partners zur Verfügung gehabt und damit einen Text
schreiben können, der ihre Meinung weitaus konkreter wiedergebe als der im
Kurs geschriebene. In diesem Gespräch äußerten sich viele Teilnehmer dahin-
gehend, dass sie sich beim Schreiben im Unterricht überfordert fühlten und
mit dem Ergebnis eher unzufrieden gewesen wären. Sie hatten ihrem eigenen
Anspruch nicht gerecht werden können und das hätten sie als sehr frustrie-
rend empfunden “Ich bin traurig. Der Text ist nicht gut. Ich will anderes sa-
gen.”, formulierte eine Teilnehmerin ihr Dilemma. Zu diesem Zeitpunkt äußer-
ten die Teilnehmer zwar den Wunsch, noch mehr Texte zu schreiben, lehnten
es jedoch vehement ab, dies in der Unterrichtszeit zu tun.
Das Thema “Deutschland” hatte die Teilnehmer stark motiviert und auch zu
lebhaften Gesprächen angeregt. Es hat sich gezeigt, dass dieses Thema alle
Teilnehmer schon vor der Auseinandersetzung im Deutschkurs stark beschäf-
tigt hatte. Während der Diskussionen wurden auch immer wieder landeskund-
liche Informationen gefordert. Es wurde der Wunsch formuliert, die Lehrkraft
solle in jeder Sitzung etwas über “ihr” Land erzählen, da sie weder über das
nötige Hintergrundwissen noch über Zugang zu geeignetem Material noch ü-
ber Kontakt zu Deutschen verfügten. Diesem Vorschlag wurde unter der Be-
dingung zugestimmt, dass jeder Teilnehmer ein kurzes Referat über sein Her-
kunftsland anfertigen und im Kurs vortragen sollte. Diese Idee wurde in den
folgenden Wochen erfolgreich in die Tat umgesetzt und fand großen Anklang
bei der Gruppe.
5.4.1.1 Inhaltliche Analyse
Auf Grund des großen Umfangs des Clusters wichen die meisten Texte inhalt-
lich nicht vom Cluster ab, wenn auch vergleichsweise wenige Begriffe über-
nommen wurden. Einzig die Aussagen über das Wetter in Deutschland ent-
202

standen durchgehend neu während der Textproduktion. Die Texte wurden im


Oktober geschrieben, worin möglicherweise die Klagen über das Wetter in
Deutschland ihren Ursprung haben “Ductschland ist biezele kalt.”, “Deutsch-
land ist schön, aber ich finde das wetter ist Deutschland nicht gut.” “..., aber
sommer zer gut Jahreszeit für urlaub.”.
Einen weiteren, nicht aus dem Cluster übernommenen thematischen Schwer-
punkt stellen Aussagen zur deutschen Polizei dar. “Deutsche Polizei ist sehr
schneller.”, “Polizei immer Kontrolle.” und dergleichen Aussagen machen
deutlich, in welchem Ausmaß gerade fremdländisch aussehende Männer Be-
kanntschaft mit der deutschen Polizei machen. Immer wieder werden sie an
U-Bahn-Stationen und in der Innenstadt kontrolliert. Sie gaben in den Ge-
sprächen aber an, das zwar erstaunlich, aber nicht als negativ zu empfinden.
Lediglich die Angewohnheit der Polizisten, sie zu duzen, störe sie und sie ver-
stünden nicht, warum das so sei, bekämen sie doch im Kurs immer wieder
gesagt, sie sollen ihnen fremde Personen mit “Sie” ansprechen. In den Ge-
sprächen erzählten relativ viele Teilnehmer von ihrem Erstaunen, dass die Po-
lizei tatsächlich ihren Ausweis sehen wolle und nicht mit einem Geldschein
zufrieden wäre.
Häufig wurde in den Texten geschrieben, Deutschland sei ein sehr schönes
Land, mit sehr schönen Städten und guter Infrastruktur. “kirche Ductschland
ist schön.”, “Deutschlang – schön Lang”. Oft wird diese positive Einschätzung
verstärkt durch den Eindruck, in Deutschland sei alles sauber und ordentlich.
Alle Teilnehmer haben sich in ihren Texten hierzu positiv geäußert. Dazu be-
fragt, meinte ein Teilnehmer, er wolle wissen, ob es auch in den Häusern so
sauber und ordentlich sei. Er habe noch nie eine Einladung in die Wohnung ei-
ner deutschen Familie bekommen und das würde er darauf zurückführen,
dass es in den Häusern wohl weniger schön und sauber sei. Der mangelnde
Kontakt zu deutschen Familien zeigt sich auch in den vergleichsweise wenigen
Äußerungen über die Deutschen. In den Texten kommen wenige und sehr o-
berflächliche Aussagen über die Deutschen vor. “Deutsch Leute ist sehe gut,
aber ich finde jemanden, allkohel trenke mag nicht.”
Wenige Teilnehmer machten in ihren Texten Aussagen über ihre persönliche
Einstellung zu Deutschland. Lediglich kurze, unkommentierte Aussagen wie
“ich libe Deutchland” wurden getroffen. Es hat den Anschein, dass diese Aus-
sagen bewusst nach den vorhergegangenen Diskussionen vermieden wurden.
Die Texte sind eher deskriptiv und nüchtern gehalten. Emotionale Aussagen
wurden weitgehend vermieden, ebenso wie lustige oder wertende Aussagen.
Die Texte erwecken beim ersten Lesen den Eindruck, die Schreiber hätten sich
hinter einem beschreibenden Stil versteckt, um kritische oder zustimmende
Anmerkungen zu vermeiden. So tauchten auch vorab besprochene Begriffe
wie Arbeitslosigkeit, Armut, Umweltverschmutzung in keinem Text auf.
203

5.4.1.2 Formale Analyse


Im Vergleich zu den “ich”-Texten waren die “Deutschland”-Texte um durch-
schnittlich etwa 35 Wörter länger. Der Umfang des verwendeten Wortschatzes
vergrößerte sich um durchschnittlich 13 Wörter. Bei der Produktion der
“Deutschland”-Texte wurden mehr Begriffe aus dem Cluster übernommen,
was allerdings durch den großen Umfang des Clusters erklärt werden kann.
Auch in diesen Texten stellte die Groß- und Kleinschreibung die häufigste Feh-
lerquelle dar. Trotz der Einführung der Wortarten und deren Bestimmung
wurden Substantive häufig klein geschrieben. Danach befragt, gaben die Teil-
nehmer an, sie könnten sich nicht an die Großschreibung der Substantive im
Deutschen gewöhnen und sie seien froh, überhaupt einen Text schreiben zu
können und daher sei ihnen die Großschreibung nicht wichtig. Der Umstand,
dass die Kleinschreibung eines Substantivs im Deutschen als Fehler gilt, sei
ihnen unverständlich und interessiere sie nicht. Einige Texte zeigen eine wahl-
lose Anwendung der Groß- und Kleinschreibung auf, was darauf hindeutet,
dass diese Teilnehmer zwar wissen, dass es diese Form im Deutschen gibt,
diese allerdings nicht sicher anwenden können.
An zweiter Stelle in der Fehlerhierarchie dieser Texte stehen die Interferenz-
fehler. Dazu wurden hier auch Fehler gezählt, die entstehen, wenn das lateini-
sche Alphabet nicht durchgängig benutzt wurde. “Deutschlang – schön Lang”
zeigt zum Beispiel die Verwendung des russischen “g” an Stelle des Deutschen
“d” ebenso wie das Zeichen “-“, das im Russischen die Funktion des deut-
schen Hilfsverbs “sein” inne hat. Gleichermaßen sind Aussagen wie “Ich kom-
me nax Deutschland” und “Ich gehe zy Schule.” durch Schwierigkeiten mit der
deutschen Laut-Buchstaben-Besetzung zu erklären. Die phonetische Identität
der russischen Zeichen “x” und “y” mit den deutschen Zeichen “ch” und “u”
führten hier zu formalsprachlichen Abweichungen.
19 % der Abweichungen von der formalsprachlichen Norm im Bereich Gram-
matik traten bei der Adjektivdeklination auf. Dieser hohe Wert lässt sich auf
die Einführung der Wortart Adjektiv im prädikativen Gebrauch zurückführen.
Auf Grund der intensiven Wortschatzarbeit wurden viele Adjektive in die Tex-
te eingebaut, allerdings nicht nur im prädikativen Gebrauch, sondern auch
attributiv. Da zu diesem Zeitpunkt die Adjektivdeklination noch nicht einge-
führt worden war, wurden in diesem Bereich viele Abweichungen produziert.
Der Gebrauch des Artikels im Deutschen ruft – wie bereits beschrieben – zwei
Fehlerquellen hervor: den fehlerhaften Gebrauch des bestimmten bzw. des
unbestimmten Artikels und des Nullartikels und die fehlerhafte Bestimmung
des Genus der Substantive. Während im ersten Text Artikelfehler häufig durch
Weglassen entstanden, kommt die hohe Fehlerquote in den zweiten Texten
vermehrt durch fehlerhaften Genusgebrauch bzw. falschen Gebrauch der Arti-
kel zu Stande. In diesem Bereich ist der statistische Wert nicht vergleichbar,
204

da andere Fehlertypen und –ursachen auftreten. Beim Artikelgebrauch kann


auch eine Übergeneralisierung festgestellt werden, da die Teilnehmer tenden-
ziell vor jedes Substantiv einen Artikel gesetzt haben, auch an Positionen, die
keinen Artikel fordern: “in das Deutschland”.
Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Verbkonjugation: Trotz oder gerade we-
gen der intensiven Auseinandersetzung mit der Konjugation im Unterricht tra-
ten in den Texten vergleichsweise viele Konjugationsfehler auf. Während eini-
ge, wenige Teilnehmer durchgängig den Infinitiv verwendeten, hatten andere
Probleme mit der Konjugation starker Verben: “viele Leute hier magen arbei-
ten...” Besonders Teilnehmer aus arabischsprachigen Herkunftsländern bilde-
ten eine, im Deutschen nicht vorgesehene Verlaufsform “...aber alle Partei ist
arbeiten...” Die meisten Teilnehmer tendierten dazu, die Verbkonjugation zu
vermeiden und behalfen sich mit dem Hilfsverb “sein”. Sie konstruierten ein-
fache Sätze mit dem Beginn: “Deutschland ist...” und verwendeten fast aus-
schließlich Verben, die sehr früh eingeführt worden waren, wie “wohnen”, “ar-
beiten”, “leben”. Diese Verben wurden weitgehend fehlerfrei konjugiert, was
den Rückschluss zulässt, sie hätten diese Verben benutzt, da sie sich in der
Anwendung sicher wähnten, während andere, neue Verben bewusst nicht be-
rücksichtigt wurden. So enthält kein Text ein Verb der Gruppe, deren Infinitiv
auf –ern oder –eln endet, obwohl diese Verben in der vorangehenden Unter-
richtseinheit intensiv besprochen und geübt wurden.
Der relativ hohe Anteil der Fehler im Bereich Präpositionen ist darauf zurück-
zuführen, dass diese im Deutschkurs erst zu einem späteren Zeitpunkt explizit
besprochen werden, da zu ihrem Gebrauch die sichere Bildung von Akkusativ-
und Dativformen Voraussetzung ist.
Erstaunlich ist der Anteil der Abweichungen bei der Pluralbildung von 11 %.
Die Pluralbildung nimmt in den ersten Wochen des Deutschkurses einen brei-
ten Raum ein. Bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, dass es den
Teilnehmern zu zeitaufwendig erschien, unbekannte oder nicht gesicherte
Formen im Wörterbuch oder in ihren Unterlagen nachzuschlagen.
So wurde der Plural oftmals durch das Anhängen von falschen Pluralendungen
gebildet. “Auslände”, “Lander”, “Leuten”, was darauf schließen lässt, dass sich
die Teilnehmer der Problematik der Pluralbildung im Deutschen durchaus be-
wusst waren, die verschiedenen Möglichkeiten der Pluralbildung kannten, die-
se aber nicht sicher zuordnen und anwenden konnten.
Dass in keinem der Texte ein Tempusfehler auftrat, kann einerseits durch die
Anforderungen des Themas an einen Text, andererseits durch das Bewusst-
sein der Fehlerquelle erklärt werden. Die Teilnehmer waren sich nach der ein-
gehenden Beschäftigung mit der Konjugation Präsens bewusst, dass andere
Zeitformen andere Verbformen erfordern. Sie schrieben ihre Texte bewusst im
Präsens, da sie sich hier vergleichsweise sicher fühlten. Das Thema “Deutsch-
205

land” erfordert von einem Schreiber, der sich der Problematik der Tempusbil-
dung im Deutschen bewusst ist, keine andere Tempusform als das Präsens.
Der überwiegend sachliche, beschreibende Stil der Texte unterstützt diese
Vermeidungsstrategie. Der Umstand, dass sich die meisten Teilnehmer der
Differenzierung der Tempusformen bewusst waren, deutet darauf hin, dass sie
sich im Rahmen der Beschäftigung mit der Konjugation Präsens auch mit dem
Einsatz der Tempusformen auseinandergesetzt hatten. Sie bemühten sich
nach eigenen Angaben ihre Texte ausschließlich in der Gegenwartsform zu
halten. Hier wird deutlich, wie sehr sich Erwachsene ihrer “Sprachlosigkeit”
bewusst sind und ihre Aussagen hinsichtlich des ihnen zur Verfügung stehen-
den Sprachmaterials eingrenzen. Erwachsene Lerner neigen beim Kreativen
Schreiben in einer Zweit- oder Fremdsprache deutlich weniger zu sprachlichen
Experimenten als Kinder oder Jugendliche, denen in Texten die inhaltlichen
Aussagen wichtiger sind als die formalsprachliche Korrektheit.

5.5 Der Deutschkurs


Das Thema “Der Deutschkurs” hatte sich aus einem Gespräch im Kurs entwi-
ckelt. In der fünften Woche, also in der letzten Woche des Moduls standen die
Teilnehmer vor der Entscheidung, welchen Kurs sie anschließend besuchen
wollten. Neben der Anmeldung für den zweiten Kurs, die Fortsetzung des ers-
ten Moduls, stehen den Teilnehmern diverse Alternativen zur Auswahl: Kurs 1
kann wiederholt werden, die Teilnehmer können vom Intensivkurs in einen
Abendkurs wechseln, es können Kommunikationskurse oder computerunter-
stützte Kurse gebucht werden. Die Entscheidung trifft manche Teilnehmer un-
erwartet, die sich nicht bewusst sind, dass es Alternativen gibt. Eine Beratung
im Kurs ist selbstverständlich und wurde zum Anlass eines intensiven Unter-
richtsgesprächs über Erwartungen an einen Deutschkurs, über Lerngewohn-
heiten, Lerntypen, Lerntechniken usw. Es kristallisierte sich eine Frage her-
aus, die sich die meisten Teilnehmer noch nicht gestellt hatten: Was erwarte
ich von einem Deutschkurs? Diese Frage wurde eingehend diskutiert und es
zeigte sich, dass die Anzahl der unterschiedlichen Erwartungen in etwa so
hoch war wie die Teilnehmerzahl. Es fiel den Teilnehmern schwer, ihre Be-
dürfnisse und Erwartungen differenziert darzustellen. Natürlich wollten alle
“Deutsch lernen” – aber so stellten die Teilnehmer zu ihrem Erstaunen fest,
jeder verstand etwas anderes darunter. Der Vorschlag, einen Text zum Thema
“Deutschkurs” zu schreiben, kam von einer Teilnehmerin, die Probleme hatte,
ihre Meinung in die Diskussion einzubringen, da sie eher zurückhaltend war
und sich nicht durchsetzen konnte. Der Vorschlag wurde von den anderen zu-
stimmend aufgenommen, obwohl die Gruppe nach dem Verfassen der
“Deutschland”-Texte den Wunsch geäußert hatte, keine Texte mehr zu schrei-
ben. Der Wunsch, sich der eigenen Erwartungen und Bedürfnisse hinsichtlich
des nächsten Kurses bewusst zu werden, stand bei diesem Meinungsum-
schwung im Vordergrund, während die Möglichkeit, sich mit den anderen an
206

Hand der Texte auszutauschen, an zweiter Stelle rangierte. Hier stand die
heuristische Funktion des Schreibens deutlich vor der kommunikativen.
Der größte Teil der Gruppe begann die Textproduktion mit einem individuellen
Cluster mit dem Kern “Deutsch lernen”. Der Rest der Gruppe schloss sich an,
nachdem sie diese Vorgehensweise beobachtet hatten. Lediglich ein Teilneh-
mer verzichtete auf das Erstellen eines Clusters und begann sofort zu schrei-
ben. Die Teilnehmer weigerten sich nach dem Schreiben durchgehend, ihre
Cluster mit dem Text zusammen abzugeben. Sie begründeten dies damit,
dass es ihre ganz private Ideensammlung sei und nicht für andere Augen be-
stimmt.404
Die Teilnehmer schrieben sehr zügig und lieferten nach etwa einer Viertel-
stunde ihre Texte ab. Ein Zeitlimit hatte ich nicht gesetzt, da die Auseinander-
setzung mit den eigenen Bedürfnissen hinsichtlich des Deutschlernens sowie
die daraus resultierende Wahl des nächsten Kurses für die Teilnehmer von
entscheidender Bedeutung war und ein Zeitlimit diese Entscheidung mögli-
cherweise beeinflusst hätte.
Zwischen den Texten „Deutschland“ und „Der Deutschkurs“ waren folgende
Themeneinheiten im Unterricht behandelt worden:
• Grammatik: Modalverben, Satzklammer, Perfekt, Perfekt der Modalverben
(+ helfen, sehen, hören, lassen), Deklination der Personalpronomen, Satz-
stellung (Personalpronomen),
• Wortfelder: Arbeit/Freizeit, Nachrichten, Deutschland, Wohnen, Möbel

5.5.1 Inhaltliche Auswertung


Alle Teilnehmer machten in ihren Texten Aussagen zu ihren inhaltlichen Er-
wartungen an einen Deutschkurs. Sie gaben an, Grammatik sei ihnen sehr
wichtig, dicht gefolgt von Sprechen und Verstehen, also dem Erwerb einer
Kommunikationskompetenz in der Zielsprache Deutsch. “Ich möchte in diese
Kurze gramatic lernen, und sprechen, und Leute verstehen.”, “Ich will
Deutsch lernen, ich müß schreiben oder hörn, oder sprechen.”, “ Ich will Gra-
matics Deutsch lernen; und sprechen.” Einige Teilnehmer gaben in ihren Tex-
ten auch an, weshalb sie ihre Kommunikationsfähigkeit verbessern möchten:
“Ich wünsche mit Leuten unterhalten und vielleicht Freunde kennenlernen.”,
“Ich bin ingunier and will arbeiten. Ich kann nicht arbeiten ohne Deutsch
sprache.”, “Ich muß gut Deutsch lerne weil ich bin in Deutschland.” In einigen
Texten werden Aussagen zur eigenen Sprachkompetenz gemacht. “Ich ver-
stehe nicht sprechen, weil Deutsch leute schnell sprechen. Wen sie langsam

404 Aus diesem Grund kann für diesen Text nicht erhoben werde, inwieweit das Cluster zur Textproduktion
herangezogen wurde.
207

sprechen kann ich verstehen.”, “Ich habe kein Wissen, was ist Deutsch.” In
einigen Texten treten auch Aussagen zum eigenen Lernverhalten auf: “Wenn
ich kann jeten tag lerne deutsh, ich gelabe ich kann gut lesen und gut spre-
chen werden.”, “Ich habe hier gekommt, weil in andere Kurs ich habe nicht so
viel Deutsch gelernt.”. Zwei Teilnehmer stellen sich in ihren Texten vor und
skizzieren ihre Lebenssituation, die sie zwingt Deutsch zu lernen: “Ich lebe
mit mainem familie, so ich muss lernen Deutsch.”, “Jetzt bin ich in Deutsch-
land, weil meine Freundin hier arbeitet (...) und ich will in Deutschland studie-
ren, weil meine Freundin möchtet 2 oder 3 Jahre hier arbeiten”. Eine Teilneh-
merin formulierte ihre Erwartungen an den Dozenten: “Ich komme in diese
kurs weil lehrne Deutsch hier und ich möschte wen sie mir helfen Duetsche zu
lehrnen.” Die vorangehende Diskussion sowie die inhaltliche Auswertung der
Texte haben gezeigt, in welch geringem Maße sich die meisten Teilnehmer
bewusst waren, welche konkreten Erwartungen sie an einen Deutschkurs, an
den Dozenten und an die Themenauswahl haben. In gleichermaßen geringem
Umfang hatten sie über ihre Wünsche bezüglich des eignen Spracherwerbs
und dessen Ziele nachgedacht. Weder der Weg noch das Ziel waren definiert
worden, ebenso wenig wie der derzeitige Status. Allen Teilnehmern war klar,
dass sie Deutsch lernen müssen, weil es ihre Lebenssituation erfordert. Allen
Teilnehmern war bewusst, dass ihre bisherigen Kenntnisse in der Zielsprache
unzureichend waren. Alle Teilnehmer wollten “besser” Deutsch sprechen,
schreiben, lesen und verstehen können. Jedoch hatte sich keiner der Teilneh-
mer über den Weg zu einem perfekten Deutsch Gedanken gemacht. Den
meisten Teilnehmern dieses Kurses waren auch ihre individuellen Fortschritte
im Spracherwerbsprozess nicht bewusst. Auch die Ergebnisse der wöchentli-
chen “Montagstests” (Wortschatz und Grammatik der vorhergehenden Woche)
wurden unreflektiert hingenommen. Im nächsten Modul konnte beobachtet
werden, dass die Teilnehmer, welche die hier vorgestellte Unterrichtseinheit
besucht hatten, in erheblich größerem Umfang ihren Lernprozess aktiv mit-
gestalteten. Sie hatten Eigenverantwortung übernommen und analysierten ih-
re Fortschritte ebenso wie ihre Misserfolge.

5.5.2 Formale Analyse der Texte


Die Texte zum Thema “Der Deutschkurs” waren durchschnittlich etwa 37 Wör-
ter lang. Der längste Text wies 99 Wörter auf, während der kürzeste Text aus
14 Wörtern bestand. In den Texten wurden etwa 21 Vokabeln verwendet. Die
Texte wiesen im Durchschnitt 9,5 formalsprachliche Abweichungen auf. Davon
sind etwa drei dem Bereich Orthografie und etwa sieben dem Bereich Gram-
matik zuzuordnen.
Die Abweichungen von der orthografischen Norm gehören überwiegend den
Bereichen “Groß- und Kleinschreibung”, “Dehnung/Kürzung” und “Interferen-
zen” an.
208

Die hohe Anzahl der Abweichungen in dem Bereich “Groß- und Kleinschrei-
bung” kam insbesondere durch die Vokabeln “deutsch”, “Deutsch” sowie
“(die) Deutschen” zu Stande. Hier misslang häufig die Wortartbestimmung, d
.h. der adjektivische bzw. substantivierte Gebrauch konnte nicht differenziert
werden. “Ich will Deutsch lesen.”, “Ich kann nicht arbeiten ohne Deutsch
sprache.” “Ich muss deutsch lernen.” Auch die korrigierten Fassungen riefen
diesbezüglich große Verwirrung hervor, was im Anschluss zu einer Unter-
richtseinheit führte, in der dieses Problem gesondert behandelt wurde.
Formalsprachliche Abweichungen im Bereich der Vokaldehnung und –kürzung
gehen mit phonetischen Schwierigkeiten einher. Die Teilnehmer sprachen zum
Zeitpunkt der Textproduktion noch stark akzentbehaftetes Deutsch. Dieser
Umstand verwehrte ihnen eine “Klangprobe” und so schrieben sie die Wörter
aus dem visuellen Gedächtnis, was häufig zu Fehlern führte.
Auch auf dieser Spracherwerbsebene traten vergleichsweise viele Fehler auf,
die auf einen unzulässigen Transfer aus der jeweiligen Primärsprache hinwei-
sen. So konnte ein pakistanischer Teilnehmer seine Schreibung des Wortes
“(ich) glaube”  “(ich) gelabe” selbst erklären: Es sei für ihn unglaublich
schwierig, Konsonantenhäufungen zu sprechen und da er sie nicht sprechen
könne, schreibe er diese Wörter mit einem Sprossvokal. In seiner Primärspra-
che gebe es keinen Laut, der dem deutschen “au” entspricht und für seine
Ohren wäre die Zusammenfassung von “a” und “u” zum deutschen “au” ein-
fach zu komisch und deshalb könne er sich nicht vorstellen, dass man so viele
Wörter mit dem entsprechenden Diphthong schreibt. Unsicherheit in der An-
wendung der Laut-Buchstabenbeziehungen stellen ebenso eine häufige Feh-
lerquelle dar: “Bezuchen”, “ich möschte”. Auch der fehlerhafte Einsatz der Vo-
kale “e” und “i” kann in diesen Bereich eingebunden werden, da er überwie-
gend von Schreibern gemacht wurde, deren erste Fremdsprache und Um-
gangssprache in Deutschland Englisch ist. Auch Teilnehmer mit der Primär-
sprache Arabisch haben Probleme, diese Vokale auszusprechen und damit
auch die deutsche Laut-Buchstaben-Beziehung herzustellen.
Im Bereich der fehlerhaften Umlautbildung konnte bei der Analyse dieser Tex-
te eine Tendenz zur Übergeneralisierung festgestellt werden. Die Teilnehmer
setzten häufig dort Umlaute ein, wo die Vokale a, o, u ohne Umlaut korrekt
gewesen wären: “ich müß”, “ich habe hier gekömmt”. Die Teilnehmer hatten
die Umlautbildung als Mittel zur Bildung einer grammatischen Form erkannt
und versuchten, wie im obigen Beispiel das Partizip II, grammatische Formen
mit Hilfe der Umlautbildung zu meistern.
Das relativ häufige Verwechseln der Konsonanten “b” und “p” sowie “d” und
“t” deutet auf eine Abweichung hin, die regional bedingt ist. Die Teilnehmer
haben überwiegend zu fränkisch sprechenden Nachbarn oder Freunden Kon-
takt und die Häufigkeit des Auftretens dieses Fehlertypus kann auf eine Inten-
sivierung des Kontaktes zu “Einheimischen” zurückgeführt werden. So kommt
209

es im Deutschkurs auch immer wieder zu Fragen, warum “gell”, “passt scho’”


und dergleichen umgangssprachlicher Ausdrücke nicht im Wörterbuch aufzu-
finden seien. Insbesondere Teilnehmer, die sich bereits seit längerem in der
Region aufhalten und bereits mit Basiskenntnissen in den Deutschkurs kom-
men, haben große Schwierigkeiten mit bereits erworbenen Sprachmitteln, da
sie diese nicht mit der im Kurs vorherrschenden Hochsprache in Einklang
bringen können.
In den Texten wurden weitere Fehler erhoben, die den Bereichen “zusam-
men/getrennt” sowie “Zischlaute” zugeordnet werden. Diese Abweichungen
traten jedoch in geringerem Umfang auf als die anderen Fehlertypen.
Die Teilnehmer verfügten gegen Ende des ersten Moduls bereits über Kennt-
nisse der wichtigsten grammatischen Strukturen. Demzufolge sind in den Tex-
ten komplexere Satzmuster sowie eine höhere Zahl an
Nebensatzkonstruktionen auffindbar. Die Texte sind insgesamt elaborierter
und es wird deutlich, wie sich der Anwuchs der sprachlichen Mittel auf die
Komplexität der inhaltlichen Aussagen auswirkt. So wurden sehr oft Konstruk-
tionen mit Modalverb und Infinitiv gebraucht, die Wünsche und Bedürfnisse
der Teilnehmer ausdrücken: “Ich will Deutsch lernen”, “Ich kann nicht arbei-
ten...”. Hier zeigt sich, wie die Teilnehmer ihre Aussagen konkretisieren bzw.
differenzieren können, verfügen sie über das notwendige “Werkzeug”, die
grammatischen Strukturen. So ist der inhaltliche Unterschied der Aussagen
“Ich lerne Deutsch” (Ich-Text) und “Ich will Deutsch lernen.” (Deutschkurs-
Text) nicht allein durch eine realistischere Einschätzung der Lernsituation er-
klärbar, sondern auch die Tatsache, dass der Schreiber hier über eine Mög-
lichkeit verfügt, den Modus seiner Aussage differenziert darzustellen. Ein
grammatisch differenzierter Text eröffnet aber dennoch nicht ausschließlich
Chancen, sondern birgt auch Risiken, nämlich dann, wenn neue Strukturen
noch nicht sicher angewendet werden können und damit zur Fehlerquelle
werden. Dieser Umstand ist für Teilnehmer oftmals niederschmetternd. Sie er-
leben einen Fortschritt in ihrem persönlichen Spracherwerb, erleben, dass sie
sich immer differenzierter bzw. konkreter ausdrücken können und erfahren
andererseits, dass die Anzahl der formalsprachlichen Abweichungen in ihren
Texten nicht weniger bzw. sogar mehr werden. Hier sind zwei Schreibtypen zu
unterscheiden:
Der Schreiber, der sich bewusst ist, dass er neue Strukturen noch nicht sicher
beherrscht und diese in seinen Texten vermeidet. Er verzichtet auf eine klare
inhaltliche Darstellung seiner Äußerungen, um Fehler zu umgehen.
Die andere Gruppe setzt sich aus Schreibern zusammen, denen die inhaltli-
chen Aussagen wichtiger sind als die formale Korrektheit. Sie scheitern häufig
an der Komplexität ihrer Gedanken, die sie nicht in der Zielsprache Deutsch
darstellen können. Diese Teilnehmer sind oftmals frustriert und äußern auch
immer wieder, wie belastend sie es empfänden, nicht schreiben zu können,
210

was sie möchten. Vermeidungsstrategien lehnen sie mit dem Argument, dann
bräuchten sie gar nicht zu schreiben, ab. Auch der Hinweis, es könne durch-
aus hilfreich seine, komplizierten Gedankengänge mit einfachen sprachlichen
Mitteln formulieren zu müssen, um die Gedanken selbst zu “entwirren”, ist
meist unbefriedigend. “Ich lerne so viel und kann nicht mal sagen, was ich
denke” offenbart das Dilemma, in dem sich diese Schreiber sehen.
In den Texten treten sehr viele Nebensatzkonstruktionen auf, obwohl diese im
Unterricht erst zu einem späteren Zeitpunkt behandelt werden. Die Teilneh-
mer werden in Alltagssituationen jedoch oft mit Kausalsätzen, Konditionalsät-
zen sowie anderen Nebensätzen konfrontiert. Die Konjunktionen “weil”, “o-
der”, “und”, “wenn” sind den Teilnehmern nach einigen Wochen sprachlichen
Kontaktes zu Deutschen bekannt und werden demzufolge in die Texte integ-
riert. Der sehr hohe Anteil der daraus resultierenden Fehler ist auf eine feh-
lerhafte Satzstellung im Nebensatz zurückzuführen. “..., damit ich kann in
Deutschland studieren.”, “..., so ich muss lernen Deutsch.”, “..., weil ich bin in
Deutschland.”
Auch in diesen Texten haben die Fehler bei der Pluralbildung einen hohen An-
teil an der Gesamtquote. Auf die Frage hin, weshalb sie unbekannte Plural-
formen nicht mit Hilfe des Wörterbuchs bilden würden, gaben die Teilnehmer
an, sie hätten während der Textproduktion keine Zeit, das Wörterbuch zu Ra-
te zu ziehen, denn das Nachschlagen bringe sie aus dem Schreibfluss und
wirke sich störend auf die Textproduktion aus. Den fertigen Text vor der Ab-
gabe zu überarbeiten, dazu hätten sie keine Lust, denn das Schreiben mache
sie “völlig fertig”. An dieser Stelle äußerten sich die Teilnehmer auch durch-
weg negativ zu dem Vorschlag, die Texte in der nächsten Sitzung redaktionell
zu überarbeiten. Es war den Teilnehmern sichtlich unangenehm oder gar pein-
lich, den anderen Kursteilnehmern ihre Texte hinsichtlich formaler Abwei-
chungen vorzulegen. Während sie durchaus bereit waren, ihre inhaltlichen
Aussagen zur Diskussion zu stellen, lehnten sie es strikt ab, ihre Texte for-
malsprachlich unkorrigiert zu präsentieren. Es zeigte sich auch, dass man-
gelnde Motivation und unkonzentriertes Arbeiten bei dem Versuch, den eige-
nen Text mit Hilfe von Wörterbuch und Grammatikheft zu überarbeiten, zu
Misserfolg führten, wenngleich die Texte viele Abweichungen enthielten, die
von den Teilnehmern selbst aufgespürt und bereinigt hätten werden können.
Ein ähnliches Problem trat bei der Bildung von Perfektformen auf. Das Perfekt
war kurz vor der Textproduktion eingeführt und geübt worden. Die Teilnehmer
hatten Listen an die Hand bekommen, auf denen die Partizipien II der starken
Verben aufgelistet waren. In einer der vorhergegangenen Unterrichtseinheiten
war der Umgang mit dieser Liste trainiert worden, dennoch war während der
Textproduktion nicht darauf zurückgegriffen worden. Das Partizip II wurde
eher gefühlsmäßig gebildet und nicht – wie erwartet – mit Hilfe der Liste. Die
Teilnehmer gaben an, die Arbeit mit der Liste sei ihnen zu mühsam und man
211

könne auch so erkennen, was gemeint wäre. Mit diesem etwas legeren Um-
gang mit sprachlicher Korrektheit, kann auch die ausnahmslose Bildung der
Perfektform mit dem Hilfsverb “haben” erklärt werden. In den “Deutschkurs”-
Texten trat kein Fehler in den Bereichen “Negation” und “Personalpronomen”
auf.

5.5.3 Formalsprachliche Kriterien


Die drei Texte, die in dieser Schreibgruppe geschrieben wurden, wurden hin-
sichtlich der gleichen Kriterien untersucht. Es wurden die Textdaten erhoben
sowie die formalsprachlichen Abweichungen untersucht und zugeordnet. Die
folgende Tabelle soll einen ersten Überblick geben:

Text 1 Text 2 Text 3


(“ich”) (“Deutschland”) (“Deutschkurs”)
Textdaten
Textlänge 44,1 78,2 36,7
1,5 1,8
Wortschatz 28,8 42,3 21,9
Aus dem Cluster 3,7 6,2 k.A.

Orthografie In % In % In %
Groß-/Kleinschreibung 34 30 20
Umlautbildung 9 7 10
Vokale 19 7 10
Dopplung/Dehnung 12 11 20
Zusammen/getrennt 4 1 7
Zischlaute 7 8 3
Konsonanten 3 16 10
Interferenz 11 16 20
v-f 1 4 -

Grammatik
Artikel 16 18 5
Präpositionen 18 12 9
Konjugation 11 16 11
Nebensätze 2 2 18
212

Tempus 6 3 9
Kasus 4 4 11
Adjektivdeklination 10 19 7
Satzstellung 13 11 5
Possessiva 12 2 4
Plural - 11 16
Negation 5 1 -
Konjunktionen 3 1 5

Grammatische Abweichungen

*) Die hier ermittelten Werte ergeben sich aus dem Quotienten der Textlänge und des Wortschat-
zes und soll deren Relation zueinander darstellen. Je mehr sich dieser Wert der 1 annähert, desto
differenzierter stellt sich der verwendete Wortschatz dar. Diese Größe wurde hier eingeführt, um
den Zusammenhang zwischen dem Ansteigen der Textlänge und der Erweiterung des Wortschat-
zes zu verdeutlichen. So konnte für den 1. Text der niedrigste Wert und für den 2. Text der
höchste Wert ermittelt werden. Für Text 3 wurde ein mittlerer Wert erhoben.

5.5.4 Anwendung erlernter Strukturen in den Texten


In der Tabelle wurden Themenbereiche, die vor der entsprechenden Textpro-
duktion im Unterricht behandelt worden waren, grau unterlegt. Es zeigt sich
die Tendenz, dass der Anteil dieser Fehlertypen nach der Behandlung im Un-
terricht erst ansteigt, um dann beim dritten Text wieder abzufallen.

Grammatik 1. Text 2.Text 3.Text


Artikel 16 18 5
Konjugation 11 16 11
Tempus 6 3 9
Kasus 4 4 11
Satzstellung 13 11 5
Plural - 11 16
Negation 5 1 -
Vergleich der Textversionen

Grundsätzlich konnte in den beiden Texten “Deutschland” und “Deutschkurs”


festgestellt werden, dass die Teilnehmer Strukturen, die im Unterricht behan-
delt worden waren, in großem Umfang in ihre Texte eingebaut haben. Im
zweiten wie auch im dritten Text wurden weitaus mehr Verben gebraucht als
213

im ersten Text. Die Teilnehmer hatten in den vorangehenden Unterrichtsein-


heiten die Konjugation von Verben im Präsens kennen gelernt und diese ein-
gehend geübt. Dazu waren immer wieder neue Verben der verschiedenen
Konjugationsgruppen eingeführt worden.
In der Anfangsphase der Deutschkurse werden die systematischen Unterwei-
sungen immer mit intensiver Wortschatzarbeit verzahnt, da den Teilnehmern
sonst das sprachliche Material fehlen würde, anhand dessen sie die neu er-
worbenen Strukturen üben und festigen können. So werden beispielsweise bei
der Einführung der Konjugation der schwachen Verben die verschiedenen
Gruppen nicht nur mit Hilfe eines oder zweier Beispiele eingeführt, sondern es
werden möglichst viele Verben gesammelt, damit die Teilnehmer dieses Kon-
jugationsmuster ausreichend üben können (Konjugation mit eingeschobenem
“e”: atmen, widmen, leugnen, schneiden, antworten, arbeiten, baden, ... a-
ber: wohnen, lernen, kommen, rennen, fassen...). So verfügen die Teilnehmer
relativ bald über einen umfangreichen Wortschatz.405 Diese Vorgehensweise
lässt sich auch an den Texten, welche die Teilnehmer geschrieben haben, er-
kennen. Der hohe Anstieg des Anteils der Abweichungen im Bereich der Kon-
jugation an der gesamten Fehlermenge im zweiten Text lässt sich auf folgen-
de Ursache zurückverfolgen: Die Teilnehmer hatten sich ausgiebig mit der
Wortart Verb und der Konjugation Präsens beschäftigt. Es waren viele neue
Verben eingeführt worden. Diese Verben wurden nun in die “Deutschland”-
Texte eingebaut. Dieses “Experimentieren” mit neu erworbenen Sprachmitteln
führte jedoch nicht durchgehend zum Erfolg. Häufig wurden Verben falschen
Konjugationsgruppen zugeordnet bzw. starke Verben schwach oder schwache
Verben stark konjugiert. In einigen Fällen verzichteten die Teilnehmer, wenn
sie sich einer Form nicht sicher waren, ganz auf die Konjugation und ließen
das Verb einfach im Infinitiv stehen. Wurden die Teilnehmer auf derartige
Fehler angesprochen, zeigte sich, dass sie die Abweichungen sofort erkennen,
identifizieren und korrigieren konnten. Dies lässt die Weigerung der Teilneh-
mer, ihre Texte nach der Textproduktion selbst – alleine oder in Gruppen – zu
überarbeiten, erstaunlich erscheinen.
In einigen Bereichen konnte eine anders verlaufende Entwicklung festgestellt
werden: Der Anteil der formalsprachlichen Abweichungen in diesen Bereichen
wuchs nach der Besprechung dieser Bereiche im Unterricht zum dritten Text

405 Es hat sich gezeigt, dass sich diese Vorgehensweise der Verzahnung von Grammatik- mit Wortschatzarbeit
durchaus bewährt, jedoch bedarf es immer wieder des Hinweises, die hier eingeführten Vokabeln seien Wortschatz und
sollten daher auch gelernt werden! Häufig beklagen sich Teilnehmer über mangelnde Wortschatzarbeit im Unterricht und
stellen dann bei einem Blick in ihr Heft erstaunt fest, wie viele Vokabeln “nebenbei” eingeführt und verwendet wurden.
Die Gewohnheit, Vokabeln zwar in ein Heft einzutragen, mit ihnen zu arbeiten, sie aber dennoch nicht zu lernen, scheint
weit verbreitet. Auch in der Erwachsenenbildung kann nicht selbstverständlich von eigenverantwortlichen und
motivierten Lernern ausgegangen werden.
214

hin an. Diese Entwicklung trat im Bereich Pluralbildung besonders stark her-
vor. Waren in den ersten Texten keine Fehler in diesem Bereich zu ermitteln,
so stieg der Anteil der Abweichungen in diesem Bereich im zweiten Text auf
11 % und im dritten Text auf 16 % an. Der hohe Anteil der fehlerhaften Plu-
ralbildungen im zweiten und im dritten Text deutet auf eine häufige Verwen-
dung von Pluralformen hin. Es drängt sich der Eindruck auf, die Teilnehmer
hätten bewusst mehr und mehr Pluralformen verwendet, da sie Formen und
Funktion der Pluralbildung kennen gelernt hatten, aber dennoch fehlte ihnen
die Sicherheit im Umgang mit diesen Formen, was zu einer Art Glücksspiel
führte. Vielen Teilnehmern war zum Zeitpunkt der Textproduktion ihre Unsi-
cherheit bei der Bildung der Pluralformen nicht bewusst und sie sahen diesbe-
züglich auch keinen Handlungsbedarf Eine Teilnehmerin gab an, sie schlage
absichtlich nicht im Wörterbuch nach, da sie die Pluralformen automatisch ler-
nen würde, wenn sie die entsprechenden Formen nur oft genug höre. Wenn
sie die Formen nachschlagen oder lernen würde, „käme sie nur durcheinan-
der“, da die Formen weder logisch noch “schön” seien. Auf die Frage, was sie
mit dem Adjektiv “schön” meine, antwortete sie, die Pluralbildung sei in ande-
ren ihr bekannten Sprachen deutlich an der Endung zu erkennen und sie emp-
fände den Gebrauch verschiedener Endungen verwirrend und chaotisch und
damit nicht schön. Konsequenterweise lehnte es diese Teilnehmerin tatsäch-
lich in den nächsten Wochen strikt ab, Pluralformen zu lernen und gewöhnte
sich an, den Plural eines jeden Substantivs mit der Endung –e zu bilden.
Der sukzessive Anstieg des Anteils der Fehler in den Bereichen Pluralbildung
und Kasus erklärt sich durch ein häufigeres Verwenden dieser Formen in den
Texten, also einem Hinweis auf den Bekanntheitsgrad dieser Strukturen, aber
gleichzeitig auch auf die Probleme, die diese Strukturen in der praktischen
Anwendung bereiten. Demgegenüber stehen in dieser Lernphase für die Teil-
nehmer vergleichsweise eindeutige Bereiche wie Negation und Satzstellung,
deren Anwendung in Texten weniger komplexe Reflexionen erfordern. So
wussten die Teilnehmer z. B., dass das konjugierte Verb im Aussagesatz
(meist) an 2. Position hinter dem Subjekt steht und dass ihm Dativ- und Ak-
kusativobjekt folgen. Das Satzmuster S-V-D-A wurde in der im Unterricht ein-
geführten Form in den Texten durchgehend angewandt und somit konnten in
diesem Bereich Abweichungen vermieden werden.
Daraus lassen sich Tendenzen für die Anwendungen der verschiedenen Berei-
che in den Texten erkennen:
• Im Unterricht eingeführte und trainierte Strukturen wurden in den Texten
angewandt und verarbeitet. Die Erweiterung der verfügbaren sprachlichen
Mittel in der Zielsprache Deutsch führte zu inhaltlich wie sprachlich diffe-
renzierteren und komplexeren Äußerungen. Der größte Teil der Lerner er-
kannte hierin die Chance, sich in größerem Umfang mitzuteilen sowie
Wünsche, Meinungen und Informationen schriftlich zu formulieren. Ein
215

kleiner Teil der Lerner sah in der Verfügbarkeit sprachlicher Mittel neben
der Chance, sich konkreter zu äußern, auch das Risiko, diese sprachlichen
Mittel nicht korrekt anzuwenden und versuchte dieses Risiko gering zu hal-
ten, indem er nur bekannte und in der Anwendung sichere Formen und
Strukturen in die Texte einarbeitete. Gleichzeitig nahm dieser Schreibtyp
in Kauf, seine Aussagen inhaltlich zu beschränken.
• In Bereichen, die klar und übersichtlich sind, d. h. bei Strukturen, deren
Anwendung ohne differenzierte Sprachbetrachtung möglich sind, kann
nach deren Einführung im Unterricht eine Reduzierung der formalsprachli-
chen Abweichungen festgestellt werden. Diese Bereiche können an Hand
einfacher Formen bewältigt werden, ohne dass inhaltliche Aussagen redu-
ziert werden müssen. So ist es durchaus möglich, inhaltlich komplexe Aus-
sagen in einem Satz nach dem Muster S-V-D-A406 darzustellen. Eine Her-
absetzung des Fehlerrisikos geht nicht auf Kosten der inhaltlichen Aussa-
ge. Ebenso ist es für Lerner unproblematisch zu entscheiden, ob sie eine
Aussage mit dem unbestimmten Artikel “kein-“ oder mit “nicht” verneinen
müssen, um eine formalsprachlich korrekte Aussage zu formulieren. Diese
beiden Bereiche Satzstellung und Negation stehen hier stellvertretend für
alle Bereiche, die in einer frühen Lernphase stark reduziert und damit klar
und eindeutig eingeführt werden können. Eine differenziertere Auseinan-
dersetzung mit diesen Bereichen kann zu einem späteren Zeitpunkt statt-
finden, ohne dass der Teilnehmer bis dahin zur fehlerhaften Anwendung
oder gar zur Sprachlosigkeit verurteilt wäre. In anderen Bereichen ist es
nicht in diesem Umfang möglich, sprachliche Strukturen so zu begrenzen,
ohne dem Lerner relevante sprachliche Mittel vorzuenthalten.
• Auch Strukturen aus Bereichen, die eine eingehende Beschäftigung mit
der Zielsprache erfordern, werden in den Texten, nach der Einführung im
Unterricht, in hohem Maße angewandt. So ist die korrekte Anwendung der
bestimmten und unbestimmten Artikel nur dann möglich, wenn der
Schreiber in der Lage ist, das Genus des jeweiligen Substantivs zu
bestimmen. Ebenso ist eine korrekte Kasusbildung nur dann möglich,
wenn in einem ersten Schritt ermittelt werden kann, welcher Kasus not-
wendig ist und im einem zweiten Schritt der entsprechende Kasus korrekt
gebildet werden kann. Oftmals kommt es hier zu einer Kombination zweier
problematischer Bereiche, denn eine entsprechende Deklinationsform des
Substantivs kann nur gefunden werden, wenn das Genus sicher bestimmt
werden kann. Diese hier beispielhaft aufgezeigten Bereiche erfordern vom
Schreiber eine genaue sprachliche Analyse der geplanten Satzkonstrukti-
on. Werden diese Voraussetzungen nicht erfüllt, entsteht hier ein hohes

406 Subjekt – konjugiertes Verb – Dativobjekt - Akkusativobjekt


216

Fehlerrisiko, dessen sich die Schreiber durchaus bewusst sind. Erfolgreiche


Entscheidungen hinsichtlich einer korrekten Kasusbildung bzw. eines er-
folgreichen Einsetzens des Artikels bedürfen eines Wechsels der gedankli-
chen Ebenen von der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem jeweiligen
Thema zu einer sprachlichen Auseinandersetzung mit dem geplanten Satz.
Dieser Wechsel wird meist als störend, den Schreibfluss hemmend emp-
funden und aus diesem Grund nicht vollzogen. Ein weiterer Grund für das
Vernachlässigen sprachlicher Überlegungen liegt in dem Zeitaufwand, den
diese beanspruchen.
• Die Möglichkeit, die Texte nicht während des Schreibens auf formalsprach-
liche Korrektheit hin zu bearbeiten, sondern nach dem Schreibprozess in
einer Überarbeitungsphase (mit mehr oder weniger zeitlicher Distanz)
wurde nicht wahrgenommen. Die Weigerung, Texte nach dem Schreiben
einer Überarbeitung zu unterziehen, deutet auf ein weiteres Moment hin,
dass den Wechsel von Überlegungen auf der inhaltlichen Ebene zu Reflexi-
onen auf der sprachlichen Ebene erschwert: Die sprachliche Bearbeitung
der schriftlich formulierten Aussagen wird als extrem mühevoll und an-
strengend empfunden. Erwachsene Lerner sind sich einerseits bewusst,
dass eine Analyse eigener Fehler zum Lernerfolg weitaus mehr beitragen
kann als eine Korrektur von Seiten des Dozenten, sind aber andererseits
nicht bereit, diese – als anstrengend empfundene – Überarbeitung eigener
Texte durchzuführen.407 Eine Überarbeitung eigener Texte und damit das
Erkennen eigener Fehler und deren Ursachen werden von den Teilneh-
mern, im Gegensatz zu den Schülern der vierten Klasse, als frustrierend
und demotivierend empfunden. Die mangelnde Auseinandersetzung mit
den eigenen sprachlichen Defiziten hat eine Stagnation des Lernprozesses
im entsprechenden Bereich zur Folge. So erklärt sich der Anstieg des An-
teils der Fehler aus diesen Bereichen an dem gesamten Fehlerfundus in
den folgenden Texten aus einer nicht stattfindenden Auseinandersetzung
mit dem jeweils vorangehenden Text.

5.5.5 Inhaltliche Kriterien


Die Themen, zu denen geschrieben wurde, “ich”, “Deutschland” und
“Deutschkurs”, waren hinsichtlich der Lebenssituationen der Teilnehmer aus-

407 Im Gegensatz dazu sind erwachsene Lerner durchaus motiviert, ihre eigenen Diktate bzw. die Diktate der anderer
Teilnehmer zu korrigieren. Hier liegen (meist) gedruckte, korrekte Textvorlagen vor, was die Korrektur immens
erleichtert. Dennoch scheint es einen direkten Zusammenhang zwischen der Motivation zu sprachlicher Überarbeitung
und der jeweiligen Schreibsituation, in der die zu korrigierenden Texte entstanden sind, zu geben. So werden Texte mit
eigenem Inhalt weniger motiviert und auch weniger gründlich überarbeitet als Texte, deren inhaltliche Aussagen von
anderen formuliert wurden. Auch die Bearbeitung von „Fehlertexten“, d.h. Texten kursfremder Personen, die mit
formalsprachlichen Abweichungen versehen sind, findet bei den Teilnehmern großen Anklang.
217

gewählt worden. Sie gaben jedoch unterschiedliche thematische Schwerpunk-


te vor. Während das erste Thema “ich” Angaben und Gedanken zur jeweils ei-
genen Person forderte, ließ das Thema “Deutschland” Raum, den Text entwe-
der sachlich, beschreibend oder eher persönlich, emotional zu halten. Das
Thema “Deutschkurs” erforderte eine Auseinandersetzung mit dem eigenen
Lernprozess sowie den eigenen Wünschen und Bedürfnissen in Bezug auf den
Deutschkurs und dessen Gestaltung.
Das Kernwort “ich” ließ den Teilnehmern in der Kombination mit der Situation,
in der die Texte geschrieben wurden, nämlich zu Beginn des ersten Kursmo-
duls, d. h. in einer fremden Umgebung und einer fremden Gruppe, wenig
Raum für Reflexionen der eigenen Person. Die Texte sind durchgehend sach-
lich und nüchtern gehalten und enthalten Informationen zur eigenen Person,
wie sie in einer derartigen Vorstellungsrunde üblich und angemessen sind:
Name, Herkunft, Familienstand, Wohnort usw. Einige wenige Teilnehmer for-
mulierten bereits in den ersten Texten ihre persönliche Meinung zu verschie-
denen Themen. Im Großen und Ganzen beschränkten sich die Schreiber je-
doch auf Grund der Situation in der neuen Gruppe sowie der in geringem Um-
fang zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel auf eine schriftlich formu-
lierte Vorstellung. Die vorab gesammelten Vorlieben und Abneigungen wurden
nur von einer Teilnehmerin als Anregung für den Text verstanden und integ-
riert. Das Thema “Deutschland” wurde gewählt, da die Teilnehmer sich erst
relativ kurze Zeit hier aufhielten. Sie fanden sich am Beginn eines mehr oder
weniger langfristigen oder gar unbegrenzten Aufenthaltes in diesem Land. In
dieser Situation hatten die Teilnehmer bereits verschiedene Eindrücke von
Land, Leuten und Lebensgewohnheiten gesammelt und sich eine erste Mei-
nung gebildet. Dennoch sind die Aussagen zu dem Land, in dem sie ihren Auf-
enthalt planen, eher auf äußere Kriterien wie optische Eindrücke beschränkt.
In Folge des umfangreichen Clusters und der vorangehenden Diskussion wä-
ren Texte zu erwarten gewesen, in denen Deutschland und die Probleme der
Teilnehmer mit bzw. in diesem Land, umfassend beschrieben und diskutiert
würden. Es hat sich aber gezeigt, dass die inhaltlichen Aussagen der Texte
überwiegend oberflächlicher bzw. deskriptiver Art waren. Es wurden Aussagen
zum Wetter, dem optischen Eindruck der Städte sowie zur Vorgehensweise
der deutschen Polizei getroffen sowie ein allgemeiner Eindruck beschrieben.
Ein Teilnehmer (mit 16 Jahren der jüngste dieser Gruppe) äußerte sich zur
politischen Struktur der BRD und stellte seine Schwierigkeiten mit den Le-
bensgewohnheiten der deutschen Bevölkerung dar, indem er deren Gewohn-
heit Alkohol zu trinken kritisierte. Die Texte sind überwiegend, wie auch die
Texte zum Thema “ich”, sachlich gehalten und vergleichsweise eher wenig
aussagekräftig. Die Teilnehmer hatten jeweils einen oder einige Stränge aus
dem Cluster ausgewählt und diese Stichpunkte zu einem Text verarbeitet.
Ähnlich wie die “ich”-Texte zeigen die “Deutschland”-Texte die Tendenz, un-
218

verbindlich zu bleiben und wenig persönliche Äußerungen zu enthalten. Diese


Tendenz wurde erst im dritten Text, den diese Schreiber verfassten, aufge-
weicht. Das Thema “Deutschkurs” verlangte von den Teilnehmern eine Ausei-
nandersetzung mit den eigenen Erwartungen und Bedürfnissen. Durch die Si-
tuation, in der sich die Teilnehmer zu diesem Zeitpunkt befanden (Entschei-
dung, welchen Kurs sie im Anschluss besuchen), und die ausführlichen Ge-
spräche und Diskussionen zum Thema “Lernen”, “Deutschkurs” und “die
Funktion des Deutschkurses im eigenen Sprachlernprozess” waren die Teil-
nehmer nicht nur stark mit dem Thema beschäftigt, sondern auch gut vorbe-
reitet. In diesen Texten beschrieben sie persönliche Erfahrungen und Erwar-
tungen. Tiefer gehende Reflexionen zum eigenen Sprachlernprozess wurden
jedoch nicht in die Texte integriert. Bei einer Durchsicht aller von dieser
Gruppe in diesem Zeitraum geschriebenen Texte konnte festgestellt werden,
dass in den Texten desto mehr persönliche Aussagen getroffen wurden, je
mehr sprachliches Material zur Verfügung stand und je sicherer sich die Teil-
nehmer in der Zielsprache Deutsch fühlten. Die inhaltlichen Aussagen hingen
stark von der eigenen Einschätzung der Kompetenz in der Zielsprache ab. So
erweckten die Texte den Eindruck, die Teilnehmer hätten persönliche Aussa-
gen, die sie mündlich zu treffen durchaus bereit waren, absichtlich vermieden,
um Missverständnisse zu vermeiden. Diese Einschätzung bestätigten Texte
von den gleichen Teilnehmern, die etwa 3 Monate später geschrieben wurden.
Hier konnte auch beobachtet werden, dass sich die Teilnehmer unbefangener
gegenüber Dozenten und anderen Teilnehmern äußerten, obwohl ihnen diese
ebenso fremd waren wie jene zu Beginn des ersten Deutschkurses. Der vor-
sichtige, zurückhaltende Umgang mit den anderen Teilnehmern schien nicht in
einer generellen Scheu vor unbekannten Personen zu gründen, sondern eher
in der Situation, unbekannten Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern
der ganzen Welt zu begegnen. Teilnehmer, die bereits verschiedene Kurse be-
sucht hatten, begegneten ihren “neuen Kollegen” offener und weitaus unbe-
fangener. Demzufolge zeigten sie auch weniger Hemmungen, Texte mit per-
sönlichen Aussagen im Plenum zu präsentieren und diese damit unter Um-
ständen zur Diskussion zu stellen.

5.6 Schreiben mit Erwachsenen


Das Schreiben in Gruppen erwachsener Lerner unterscheidet sich deutlich von
Schreibkursen mit Kindern oder Jugendlichen. Bei der Durchführung von
Schreibkursen mit Erwachsenen treten für die Lehrkraft andere Schwierigkei-
ten auf als in Kindergruppen. Grundsätzlich kann jedoch festgestellt werden,
dass Erwachsene zwar anders mit dem Medium „Schreiben“ im Deutschunter-
219

richt umgehen, jedoch nicht weniger oder mehr hinsichtlich der Erweiterung
ihrer sprachlichen Kompetenz in der Zielsprache profitieren.

5.6.1 Lust und Laune


Die Texte der erwachsenen Lerner deuten auf ein zentrales Problem der Teil-
nehmer mit dem Schreiben hin: Die Erwartungen an eine formalsprachliche
Korrektheit stand bei vielen im Vordergrund. Sie verfassten – insbesondere
bei ersten Schreibversuchen – kurze, unpersönliche Texte, um einerseits Feh-
ler zu vermeiden, und andererseits, um nicht im Rahmen einer Präsentation
im Plenum ihre Meinung gegenüber den anderen Teilnehmern „verteidigen“ zu
müssen. Wenigen Teilnehmern machte das Schreiben Spaß, so wie es bei
Kindern im Grundschulalter beobachtet wurde. Während ein Teil der Teilneh-
mer das Schreiben als Medium schätzte und durchaus bereit war, sich auf ei-
nen Text einzulassen, aber am Mangel sprachlicher Kompetenz scheiterte,
zeigte sich der andere Teil nicht bereit, das Schreiben als Medium, sich zu äu-
ßern, anzunehmen, sondern versuchte mit einer Reduzierung der inhaltlichen
Aussagen das Fehlerrisiko zu schmälern. Beide Schreibertypen waren sich ih-
rer sprachlichen Defizite in der Zielsprache Deutsch bewusst, während die ei-
nen jedoch das Gefühl hatten, an ihrer Sprachlosigkeit zu ersticken, fanden
sich die anderen damit ab und erlebten sprachliche Defizite in der Zielsprache
als etwas Normales, ihrer Lebenssituation entsprechendes. So galt die Aussa-
ge eines Teilnehmers: „Ich kann auf Deutsch nicht sagen, was ich will.“ stell-
vertretend für alle Teilnehmer, wenngleich der individuelle Umgang mit dieser
Problematik jedoch sehr unterschiedlich war. Den wenigsten Teilnehmern war
bewusst, dass das Schreiben in einer Fremd- oder Zweitsprache nicht nur un-
ter dem Aspekt der Förderung einer schriftsprachlichen Kompetenz in der
Zielsprache gesehen werden kann, sondern dass der Versuch sich schriftlich in
einer fremden Sprache auszudrücken, in zweierlei Hinsicht hilfreich sein kann.
Zum Einen ist das Schreiben eine Distanzierung von eigenen Gedanken, die
bei einer Auseinandersetzung mit einem Thema sehr hilfreich sein kann. Zum
Anderen ermöglicht der Gebrauch einer Sprache, die (noch) nicht „Denk-
sprache“ ist, sich dem Thema in einer neuen Art und Weise zu nähern.
Die erwachsenen Schreiber empfanden das Schreiben in bestimmten Phasen
des Sprachlernprozesses als sehr frustrierend. Sie hatten in diesen Phasen
keine Lust zu schreiben und gaben an, das Schreiben als anstrengend, ermü-
dend und erfolglos zu empfinden. Sie waren dann nicht bereit, sich dieser für
sie unangenehmen Situation auszusetzen. Es zeigte sich allerdings immer
wieder, dass sie, wenn sie bewegt werden konnten, wieder mit dem Schreiben
zu beginnen, erneut Spaß am Schreiben fanden. So stellte sich das Schreiben
mit Erwachsenen als ein steiniger Weg dar, der Hochs und Tiefs unterworfen
war. Letztendlich schrieben fast alle Erwachsenen gerne und hatten Freude an
der Textproduktion. Je sicherer sie sich in der Zielsprache Deutsch fühlten,
220

desto mehr gefiel ihnen das Schreiben und der Umgang mit den eigenen Tex-
ten.
Im Unterricht mit erwachsenen Lernern kam ein weiteres Moment zum Tra-
gen: Die Tagesform, also die jeweilige psychische und physische Verfassung
des einzelnen Teilnehmers hatte großen Einfluss auf seine Schreibmotivation.
So begründeten Teilnehmer mangelnde Motivation oft mit Müdigkeit, Kopf-
schmerzen, zu vielen Problemen usw. Es war für die Erwachsenen weitaus
schwieriger als für Kinder, persönliche Befindlichkeiten „abzuschalten“ und
sich auf das Schreiben zu konzentrieren. In den meisten Fällen gelang es den
Teilnehmern, sich nach anfänglichen Schwierigkeiten dennoch auf das Schrei-
ben und den Text einzulassen und sie empfanden das Schreiben im Nachhi-
nein als angenehm und von den negativen Befindlichkeiten ablenkend. Es kos-
tete jedoch allen Beteiligten jedes Mal große Mühe, die anfängliche Unlust zu
überwinden und den Schreibprozess in Gang zu bringen. Ein Teilnehmer fass-
te diese Erfahrung zusammen: „Das ist wie Joggen, erst graust es mir wie
verrückt und hinterher bin ich dann froh, dass ich es gemacht habe!“
5.6.2 Förderung der sprachlichen Kompetenz
Der Drahtseilakt ...
Die Förderung sprachlicher Kompetenz in der Zielsprache Deutsch ist selbst-
verständlich das erste Lernziel bei der Planung und Durchführung der
Deutschkurse. Betrachtet man die Situation in den Deutschkursen genauer, so
kann man eine deutliche Diskrepanz zwischen den Vorgaben und Richtlinien
der Institution und den Erwartungen und Ansprüchen der Teilnehmer erken-
nen. Während die Institution den Schwerpunkt auf die Förderung kommunika-
tiver Kompetenz legt, die zur Bewältigung von Alltagssituationen beiträgt
(Einkaufen, Arztbesuch...), legen die meisten Teilnehmer großen Wert auf
Grammatik- und Wortschatzunterricht. Dies hängt mit den schulischen Erfah-
rungen im Herkunftsland zusammen, die einen unmittelbaren Einfluss auf die
Lerngewohnheiten der Teilnehmer ausüben. Teilnehmer, die aus einem Land
kommen, in dessen Schulen didaktische und methodische Konzepte verfolgt
werden, die stark von denen, die dem Unterricht in der Bundesrepublik zu
Grund liegen, abweichen, haben große Schwierigkeiten, sich auf neue Lern-
konzepte einzulassen. Insbesondere ältere Teilnehmer, die im Herkunftsland
ein von Autorität und Frontalunterricht geprägtes schulisches Lernen kennen
gelernt haben, lösen sich schwer von diesen Erfahrungen. Für sie stehen Spaß
und Freude am Lernen in direktem Gegensatz zu Erfolg beim Lernen. Für sie
steht der Erwerb einer grammatischen Kompetenz im Vordergrund, während
sie kommunikative Kompetenz als eine reine Folgeerscheinung von grammati-
schen Unterweisungen einschätzen.
221

... und eine Lösung


Das Kreative Schreiben erfordert die Anwendung im Unterricht erlernter
Grammatikstrukturen und fördert die kommunikative Kompetenz der Schrei-
ber. Das Kreative Schreiben hebt den Gegensatz zwischen systematischer Un-
terweisung und kreativem, spielerischem Umgang mit Sprache auf. Es ist die
Aufgabe des Dozenten, auf die Verzahnung von Form und Funktion grammati-
scher Strukturen aufmerksam zu machen und den Teilnehmern die Angst vor
einer Anwendung der Formen in der Praxis zu nehmen. Die Verzahnung von
Inhalt und Form muss in gleichem Maß jenen Teilnehmern deutlich gemacht
werden, die Grammatik als nicht relevant einstufen und im Unterricht eine
reine Förderung der kommunikativen Kompetenz erwarten, worunter sie ver-
stehen, mit entsprechenden Übungsformen wie Rollenspielen usw. auf
Sprachsituationen vorbereitet zu werden („Was sage ich auf dem Sozial-
amt?“). Die Polarität der Lernererwartungen sowie der Einsatz des Kreativen
Schreibens als ein Verfahren, dass beide Lernertypen anspricht, stellen zwei
Faktoren dar, die bei einer Feststellung, inwieweit sprachliche Kompetenz mit
Hilfe dieses Verfahrens gefördert werden kann, in gleichem Maße einbezogen
werden müssen. Das Schreiben eines authentischen Textes erfordert sowohl
eine formalsprachliche als auch eine kommunikative Kompetenz der Schrei-
ber. So können Sprechakte wie das Formulieren von Wünschen, Bitten, Auf-
forderungen, Erwartungen, Meinungen, Widersprüchen, Vorlieben, Abneigun-
gen, Gefühlen usw. nur dann erfolgreich in den Text integriert werden, wenn
die dazu notwendigen formalsprachlichen Voraussetzungen erfüllt werden. Die
Aussage „ich will Deutsch lernen, ich müß schreiben oder hörn, oder spre-
chen.“ setzt sich aus zwei Teilen zusammen, denen jeweils eine eigene kom-
munikative Funktion zugeordnet werden kann: Im ersten Teil „ich will Deutsch
lernen“ wird ein Wunsch formuliert, der eine eigene Einschätzung des Teil-
nehmers hinsichtlich seiner – zum Zeitpunkt der Textproduktion aktuellen -
sprachlichen Kompetenz in der Zielsprache beinhaltet. Im zweiten Teil der
Aussage „ich müß schreiben oder hörn, oder sprechen.“ beschreibt er, welche
Bedeutung dieser Wunsch für ihn hat. Die Anwendung der grammatischen
Struktur „Modalverb + Infinitiv“ wird in diesem Beispiel zur Formulierung ei-
nes Wunsches und der daraus entstehenden Konsequenzen verwendet. In
diesem Beispiel wurde der Unterschied zwischen dem, was der Schreiber
wünscht und was er zur Erfüllung seines Wunsches unternehmen muss, durch
die Anwendung der Modalverben „wollen“ und „müssen“ ausgedrückt. Die bei-
den Modalverben zeigen eine Hierarchie der Ereignisse an und deuten darauf
hin, welches Ziel der Schreiber verfolgt: Er schreibt, hört und spricht, um
Deutsch zu lernen. Ein umgekehrter Einsatz der beiden Modalverben (ich
muss Deutsch lernen, ich will schreiben, hören und sprechen) hätte Ziel und
Konsequenz in anderer Gewichtung dargestellt: Er lernt Deutsch, um schrei-
ben, hören und sprechen zu können. Dieses Beispiel macht deutlich, wie stark
222

formalsprachliche und kommunikative Kompetenz in den Texten verquickt


sind.
Das Kreative Schreiben mit Erwachsenen unterscheidet sich in diesem Punkt
stark vom Kreativen Schreiben mit Kindern. Während bei Kindern der An-
spruch, sich in der neuen Sprache mitzuteilen, im Vordergrund steht, tritt bei
Erwachsenen eine „Mischform“ auf: Einige wollen möglichst schnell eine
kommunikative Kompetenz in der Zielsprache erreichen, während der über-
wiegende Teil den Schwerpunkt deutlich auf den Erwerb einer formalsprachli-
chen Kompetenz legt.

5.6.3 Besonderheiten
Die heterogene Zusammensetzung der Teilnehmer hinsichtlich Alter, Herkunft,
Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit, Aufenthaltsdauer und Status in
Deutschland, Bildung usw. fordert vom Dozenten häufig einen Drahtseilakt.
Die Erwartungen, Ansprüche und Vorstellungen der Teilnehmer bezüglich der
Organisation und Methodik des Deutschkurses sind ebenso vielfältig wie die
Einschätzung und der Umgang mit dem eigenen Lernprozess. Nur sehr wenige
erwachsene Lerner sind sich ihres Lernprozesses, seines Ablaufs, seiner Ge-
setzmäßigkeiten und damit der eigenen Lerngewohnheiten, ihres Lerntyps und
der daraus resultierenden Konsequenzen für ihr individuelles Lernen bewusst.
Die überwiegende Zahl der Teilnehmer stand vor der Einreise in die Bundes-
republik Deutschland im Berufsleben und hat seit vielen Jahren nicht mehr
formell gelernt. Diese Teilnehmer haben zu Beginn der Kurse keine Lerntech-
niken zur Verfügung, die den Spracherwerb erleichtern könnten. Arbeitstech-
niken wie Karteikarten anlegen, Heftführung, Lesetechniken, Lerntechniken
sind ihnen ebenso unbekannt wie typischdeutsche Arbeitstugenden (Pünkt-
lichkeit...) und Eigenverantwortung für den Lernprozess. Der Dozent steht vor
der schwierigen Entscheidung, ob und in welchem Maß er sich in die Arbeits-
haltung der erwachsenen Teilnehmer Einfluss nimmt, da er auf der einen Sei-
te deren Freiheit bei der Gestaltung ihrer individuellen Arbeitsweise zu ak-
zeptieren hat und andererseits aber in vielen Fällen erkennt, wie sehr diese
den angestrebten Lernerfolg beeinträchtigt, was sich wiederum auf die in-
dividuelle Motivation wie auch auf die Stimmung in der Lernergruppe negativ
auswirkt.

Hier gilt es, den erwachsenen Teilnehmern möglichst schonend die erfor-
derliche Arbeitshaltung wie auch grundlegende Lerntechniken nahe zu brin-
gen. Dies beginnt bei dem Hinweis, auch in einem Kurs, für den Gebühren
entrichtet werden mussten, sind ein Stift und ein Wörterbuch Materialien, für
die der Teilnehmer selbst zu sorgen hat und endet in der Einführung und Be-
sprechung verschiedener Lerntechniken. Es gibt in jeder Gruppe Teilnehmer,
die geradezu bestürzt sind, wenn sie im Unterricht sprachliche Äußerungen in
223

der Zielsprache Deutsch, sei es in Übungen, Diskussionen oder Texten bei-


steuern sollen, und dieses Ansinnen ablehnen. Häufig gelingt es, diese Teil-
nehmer zu überzeugen, dass es Spaß machen kann, eine Sprache zu lernen
und dass es sich lohnt, die Mühen auf sich zu nehmen. In den wenigsten Fäl-
len kommt es aber dazu, dass Teilnehmer den Kurs abbrechen.

Das kreative Schreiben beinhaltet viele Lern- und Arbeitstechniken, die im


Rahmen dieses Unterrichtsverfahrens eingeführt und trainiert werden kön-
nen408:

• Brainstormverfahren wie Clustern, Mind Mapping etc.


• Arbeit mit dem Wörterbuch
• Nachschlagen im Grammatikheft
• Anwenden des Lernstoffes in selbst formulierten Sätzen und Aussagen
• Sprechen, Diskutieren, Argumentieren
• Notizen anfertigen, Stichpunkte erarbeiten
• Lesen und über Gelesenes sprechen
• Textgestaltung
• Anfertigen von Wortschatzfeldern
Das Schreiben authentischer Texte im Deutschkurs motiviert die Teilnehmer,
kann aber auch zu „außergewöhnlichen“ Situationen im Kursalltag führen. So
passiert es immer wieder, dass gerade Teilnehmer mit Biografien, die von
Krieg, Verfolgung und politischen Problemen im Herkunftsland geprägt sind,
diese in ihren Texten verarbeiten. Der Umgang mit diesen Texten fordert nicht
nur vom Dozenten, sondern auch von den anderen Kursteilnehmern ein hohes
Maß an Sensibilität gegenüber der – für viele – unbekannten Situation und
dem daraus entstandenen Text. Solche persönlichen Aussagen werden in der
Regel von den Teilnehmern als Vertrauensbeweis aufgenommen und dement-
sprechend behandelt. Es hat sich gezeigt, dass auch oder gerade Teilnehmer,
die aus Staaten, Regionen oder Gruppierungen stammen, die sich feindlich
gegenüber stehen, in der Unterrichtssituation sachlich und korrekt mit ihren
„Kollegen“ und deren Aussagen umgehen.
Auf das „interkulturelle Glatteis“ begibt sich eine Gruppe dann, wenn kul-
turspezifische Bräuche und Traditionen wie z. B. Heirat in afrikanischen Län-
dern, Einfluss fundamentalistischer Religionen auf das Privatleben, Rolle der
Frau in islamischen Gesellschaften, Achtung vor älteren Menschen, Autorität

408 vgl. Rampillon (1997)


224

usw. zur Diskussion stehen. Hier treffen der Respekt vor dem jeweiligen Teil-
nehmer und ein völliges Unverständnis gegenüber seinen Äußerungen aufein-
ander. Die Teilnehmer wagen sich inhaltlich auf eine Ebene, die sehr emotio-
nal gefärbt ist und zu deren Bewältigung die sprachlichen Mittel der Teilneh-
mer nicht ausreichen. Der Dozent wird in die Rolle des Schiedsrichters ge-
drängt und es wird von ihm gefordert, im Sinne der Mehrheit Stellung zu
nehmen. Die Haltung vieler Dozenten, solche Themen im Unterricht nicht zu-
zulassen und auch dementsprechend keine Verfahren, wie das Kreative
Schreiben einzuführen, die solche inhaltlichen Auseinandersetzungen auslösen
können, ist verständlich, verschließt aber gleichzeitig die Chance, die kulturel-
le Vielfalt der Gruppe zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Der Dozent
steht vor dem Dilemma, dass er auf der einen Seite die Funktion eines Mode-
rators zu übernehmen hat, der darauf achten muss, dass kein Teilnehmer auf
dem „interkulturellen Glatteis“ ausrutscht bzw. in der Diskussion verletzt wird,
und andererseits ist seine Meinung stark gefragt, ist er doch der einzige Rep-
räsentant des Landes und der Gesellschaft, in der alle Teilnehmer ihr zukünf-
tiges Leben planen. Die beiden Rollen, die dem Dozenten in einer derartigen
Unterrichtssituation zugeteilt werden, die des Moderators und die des „Deut-
schen“, sind häufig schwer zu vereinen. Wird er von den Teilnehmern auch
noch nach seiner persönlichen Meinung gefragt, kommt eine dritte Rolle hin-
zu, die er zu übernehmen hat. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es zur Lösung
eines solchen Problems kein Patentrezept gibt, da ein adäquates Verhalten
des Dozenten in einer derartigen Situation, auf dem „interkulturelle Glatteis“,
stark von der jeweiligen Persönlichkeit abhängt. Jeder Dozent in der Erwach-
senenbildung, der multinationale und multi-ethnische Gruppen unterrichtet,
muss seinen Weg finden, die Gruppe sicher, über das „interkulturelle Glatteis“
zu führen, denn ein Unterdrücken solcher Auseinandersetzungen ist gleichzei-
tig ein Ignorieren der Chancen, die eine heterogene Zusammensetzung einer
Lernergruppe nicht nur in Hinsicht auf eine Förderung der sprachlichen Kom-
petenz bietet. Vielmehr erschließt sich hier die Möglichkeit zu einer Auseinan-
dersetzung mit der Situation in einer multikulturellen Gesellschaft in sachli-
chem, freundschaftlichem Miteinander, die unbedingt genutzt werden sollte.

5.7 Abschließender Erfahrungsbericht


Die Texte der erwachsenen Schreiber können durchaus als „kreagene Produk-
te“ im Sinne Wermkes409 verstanden werden. In den Texten können Originali-
tät und Realitätsadäquanz, Neuheit und Brauchbarkeit, Ungewöhnliches und
Angemessenes aufgespürt werden. Wenn auch die Texte der Schüler der vier-
ten Klasse auf den ersten Blick origineller, innovativer und ungewöhnlicher er-
scheinen, so muss der Bezugsrahmen der Erwachsenen der Betrachtung zu

409 vgl. Wermke (1994) a.a.O. S.119


225

Grunde gelegt werden: Viele Erwachsene hatten keinerlei Erfahrung mit krea-
tiven Verfahren. Der Anspruch, der mit dem Einsatz dieser Verfahren an sie
gestellt wurde, überforderte sie anfangs. Erst im Laufe der Zeit konnten sie
freier und spielerischer mit der für sie noch unbekannten Sprache umgehen.
Die Lerner im Erwachsenenalter profitierten demnach durchaus vom Verfah-
ren des Kreativen Schreibens im Deutschunterricht. Alle Teilnehmer zeigten,
wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten, Interesse an den Verfahren
und konnten mit deren Hilfe qualitativ wie quantitativ hochwertige Texte ver-
fassen. Auch Unterrichtsform, Sozialformen, handlungsorientierte und pro-
jekthafte Unterrichtskonzeption entsprachen ihren Bedürfnissen. Allerdings
zeigten die erwachsenen Lerner anfangs Bedenken gegenüber ihnen unbe-
kannten Unterrichtsmethoden und –verfahren. Ein sensibler Umgang mit indi-
viduellen Lerngewohnheiten und eine umsichtige Heranführung an neue und
unbekannte Verfahren stellte eine wesentliche Voraussetzung für deren er-
folgreichen Einsatz im Unterricht dar.
Anhand des Kreativen Schreibens konnte der Spracherwerb in der Zielsprache
Deutsch gefördert werden. Die Teilnehmer verbesserten sowohl ihre mündli-
che als auch ihre schriftliche Ausdrucksfähigkeit in der Zielsprache wie auch
ihre formalsprachliche und kommunikative Kompetenz. Sie gewannen deutlich
an Sicherheit im mündlichen und schriftlichen Umgang mit der Zielsprache.
Schon zu Beginn des Spracherwerbs konnten kleine Texte geschrieben und im
Unterricht diskutiert werden. Das Zusammenspiel zwischen schriftlichen und
mündlichen Phasen fördert mündliche wie schriftsprachliche Kompetenzen der
Teilnehmer. Im Unterricht eingeführte und geübte Strukturen konnten in die
Texte integriert und somit in einen übergeordneten Zusammenhang gestellt
werden.

Das Kreative Schreiben wurde in den regulären Unterichtsalltag integriert und


berücksichtigte die entsprechenden Richtlinien, die zur Durchführung der Kur-
se vorgegeben sind. Das Kreative Schreiben bot den Teilnehmern die Chance,
im Unterricht erworbenes sprachliches Material in den Texten anzuwenden
und dessen Wirkung auszuprobieren. Die Gespräche und Diskussionen zum
jeweiligen Thema und über die dazu geschriebenen Texte motivierten die
Teilnehmer zu weiterer Arbeit.
Die starke Verzahnung kommunikativer und formalsprachlicher Elemente be-
wirkte, dass das Kreative Schreiben für alle Lernertypen ein angemessenes
und die Sprachkompetenz in der Zielsprache förderndes Verfahren darstellte.
Die Integration formalsprachlicher Strukturen in die Texte und damit deren
praktische Anwendung wies sowohl kommunikativ orientierte Lerner auf die
Funktion und die Relevanz grammatischer Strukturen in kommunikativen
Sprachsituationen hin, als auch formalsprachlich orientierte Lerner auf die
226

Notwendigkeit, grammatische Strukturen nicht als Selbstzweck, sondern im


kommunikativen Kontext zu erwerben.
Die meisten Lerner der multinationalen Gruppe hatten Biografien, die eine
schriftliche Auseinandersetzung geradezu fordern. Der Einbezug persönlicher
Lebensgeschichten und Meinungen motivierte die Teilnehmer zu einer eindeu-
tigen und formalsprachlich korrekten Darstellung. Die Teilnehmer erfuhren in
der Auseinandersetzung mit der Gruppe und den Texten anderer, dass nicht
sie alleine Schwierigkeiten haben, ihr bisheriges Leben im Herkunftsland mit
dem zukünftigen Leben in Deutschland in Einklang zu bringen. Das Kreative
Schreiben ließ Raum, sich – auch in den Augen kritischer Teilnehmer – mit
Inhalten auseinanderzusetzen, die auf den ersten Blick nichts mit dem Lernen
einer neuen Sprache und den daran geknüpften Erwartungen gemeinsam hat-
ten. Der Erwerb einer schriftsprachlichen Kompetenz stand für viele Teilneh-
mer410 an zweiter Stelle hinter dem Erwerb mündlicher Kompetenzen. Das
Kreative Schreiben verband beides und regte die Teilnehmer darüber hinaus
dazu an, sich schriftlich so auszudrücken, dass sie von anderen unmiss-
verständlich verstanden wurden. Die erwachsenen Schreiber legten großen
Wert darauf, dass ihre schriftlich formulierten Aussagen korrekt formuliert wa-
ren und inhaltlich angemessen von den Lesern aufgenommen wurden.

6 Kreatives Schreiben mit Jugendlichen


„Ist voll corect weil wir
uns nur langweilen in Unterricht“
Die Jugendlichen nahmen zum Zeitpunkt der Erhebung an einer berufsorien-
tierenden Maßnahme teil. Ziel der Maßnahme war das Erreichen eines Erfolg-
reichen oder Qualifizierenden Hauptschulabschlusses sowie eine erfolgreiche
Vermittlung der Jugendlichen in den ersten Arbeitsmarkt. Die Maßnahme be-
inhaltete neben schulischem Unterricht, Phasen der beruflichen Orientierung
in Werkstätten (Holz, Farbe, Metall) mit begleitendem Fachunterricht sowie
Vorbereitung auf eine Berufsausbildung.

6.1 Die Situation in der Schreibgruppe


Die Jugendlichen waren zwischen 17 und 19 Jahre alt. Sie hatten alle die
neunjährige Schulpflicht in Deutschland erfüllt, jedoch keinen Abschluss er-
reicht. Drei Jugendliche hatten eine zweisprachige Klasse besucht, diese aber
nicht erfolgreich beendet. Der größere Teil der Jugendlichen war in der Zeit
zwischen dem letzten Schulbesuch und dem Beginn der Maßnahme straffällig

410 siehe Exkurs 1


227

geworden und hatte einen oder mehrere Aufenthalte in einer Strafvollzugsan-


stalt hinter sich. Einige Jugendliche aus dieser Gruppe hatten eine Berufsaus-
bildung abgebrochen, andere hatten nie eine begonnen und waren dement-
sprechend nicht an einen geregelten Arbeits- oder Unterrichtstag gewöhnt.
Arbeitstugenden wie Pünktlichkeit, Fleiß usw. mussten im Lauf der Maßnahme
erworben und trainiert werden. Dennoch waren die Jugendlichen überwiegend
motiviert, da sie ihre Situation realistisch einschätzen konnten und verbessern
wollten. Als problematisch hatte sich der Umstand erwiesen, dass die Jugend-
lichen nicht in der Lage waren, sich in normalem Ausmaß auf den Unterricht
zu konzentrieren. Ein häufiger Wechsel der Unterrichtsform, der Sozialform
sowie der Unterrichtsmedien und –mittel hatte sich als hilfreich, aber auch als
arbeitsintensiv und anstrengend für die jeweilige Lehrkraft erwiesen. Dieser
Umstand hatte ebenso wie die in großem Umfang zur Verfügung stehenden
Nachhilfestunden dazu geführt, dass ich von den Lehrern gebeten wurde,
Schreibkurse zu planen, zu organisieren und durchzuführen. Diese Schreib-
kurse sollten die Jugendlichen besonders auf eine Aufgabenstellung des Quali-
fizierenden Hauptschulabschlusses im Fach Deutsch, den „Aufsatz“ vorberei-
ten. Bei dieser Aufgabe müssen die Prüflinge einen kurzen Text schreiben, in
dem sie entweder ihre Meinung zu einem bestimmten Thema darlegen, einen
Brief o. ä. verfassen müssen. Die geforderten Texte sind häufig sachlich zu
halten und werden vergleichsweise hoch bewertet. Von einer Punktzahl, die
anhand der inhaltlichen Darstellung und des Stils erreicht wird, werden für
Grammatik und Orthografiefehler entsprechend Punkte abgezogen. Dies be-
deutet, dass die Aufgabe keine persönlichen oder authentischen Texte fordert,
sondern Texte, die in formaler und sprachlich korrekter Form verfasst sind.
Hierauf galt es die Teilnehmer dieser Schreibgruppe vorzubereiten.
Die Texte wurden im Rahmen des normalen Unterrichtsalltages geschrieben.
Allerdings ergab sich durch die Anwesenheit einer „neuen“ Lehrkraft und den
Umstand, dass sie nur zu den Schreibstunden anwesend war, dennoch eine
Ausnahmesituation. Die Jugendlichen schrieben zu den Themen:
• Schatzkiste
• Meine Zukunft
• Meine Arbeit
Die Themen wurden in Absprache mit den Jugendlichen ausgewählt. Wich-
tigstes Kriterium bei der Auswahl waren der Bezug zur Lebenssituation der
Jugendlichen, die Möglichkeit sowohl persönliche Texte zu schreiben sowie die
Berücksichtigung der Neigungen und Abneigungen der Jugendlichen.
Probleme ...
In Bezug auf die sprachliche Kompetenz war diese Gruppe sehr heterogen zu-
sammengesetzt. Einer der Jugendlichen war Deutscher und hatte eine deut-
228

sche Hauptschulklasse besucht. Er sprach ein stark restringiertes Deutsch mit


regionaler Lautfärbung. Dieser Jugendliche verzichtete ebenso wie die ande-
ren Lerner im mündlichen Sprachgebrauch durchgehend auf Artikel im Präpo-
sitionalobjekt. „Ich gehe mit Meister auf Baustelle.“ Daraufhin befragt, gab er
an, alle würden so sprechen, man verstünde ihn problemlos und er könne
auch „richtig“ sprechen, sähe darin aber keinen Sinn. In einem weiterführen-
den Gespräch über seine Angewohnheit, Artikel nach Präpositionen wegzulas-
sen, gab er an, eine formalsprachlich korrekte Ausdrucksweise würde ihn von
seinen Freunden distanzieren, da diese ihn dann als eingebildet oder gar arro-
gant empfänden. Seine Ausdrucksweise sei ebenso wie seine Kleidung ein
Zeichen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, auf die er nicht
verzichten könne. Auch die anderen Jugendlichen, für die Deutsch Zweitspra-
che war, schätzten ihre sprachliche Situation in dieser Weise ein. Sie aller-
dings argumentierten, formalsprachlich korrektes Deutsch sei für sie nicht
wichtig, da sie über zwei Sprachen verfügen könnten. Etwa die Hälfte der Ju-
gendlichen meinte zwar, sie würden ihre Primärsprache nicht vollständig be-
herrschen, trösteten sich aber damit, zwei „halbe“ Sprachen seien genauso
gut, wie eine „ganze“ Sprache. Sie verspürten keine Defizite, die aus ihrer
beiderseitigen Halbsprachigkeit resultieren könnten. Ihre Anstrengungen im
Deutschunterricht, der im Rahmen der berufsorientierenden Maßnahme statt-
fand, wurden nur durch die Aussicht auf einen Schulabschluss und die damit
verbundene Chance, einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu finden motiviert,
nicht durch die Aussicht, ihre sprachliche Kompetenz in der Zielsprache
Deutsch zu verbessern. Sie sahen keinerlei Bedarf und konnten auch nicht
verstehen, weshalb Lehrkräfte, Meister und Sozialpädagogen sie dazu anregen
wollten. Jugendliche, die formalsprachlich korrektes Deutsch sprachen, emp-
fanden sie als eingebildet und „aus einer anderen Welt“, zu der eine Zugehö-
rigkeit nicht angestrebt wurde. Einige Jugendliche dieser Gruppe gaben an,
eine Rückkehr in das Herkunftsland der Eltern zu erwägen. Obwohl meistens
in Deutschland geboren oder bereits im Kleinkindalter in die Bundesrepublik
Deutschland übergesiedelt, konnten sie sich vorstellen, im Herkunftsland ein
„gutes“ Leben zu führen, obwohl sie dieses Land nur von Urlaubsaufenthalten
her kannten. In Gesprächen äußerten sie immer wieder, ihre Situation in
Deutschland sei so schlecht, dass ein Umzug in das Herkunftsland eine deutli-
che Verbesserung darstellen müsse. So hoffte ein Jugendlicher aus Mazedo-
nien darauf, dass ihm sein Onkel dort einen sicheren Arbeitsplatz organisieren
könne, auch wenn er in Deutschland keinen Schulabschluss erreichen könne.
Ein anderer Jugendlicher war sich sicher, bei seinem Vater, der in den USA
lebte, sofort einen Arbeitsplatz zu bekommen, da in den USA „eben einfach al-
les anders“ sei, und sein Vater, zu dem er seit Jahren keinen Kontakt habe,
ihn jederzeit aufnehmen und unterstützen würde. Diese Äußerungen deuten
daraufhin, dass den Jugendlichen ihre Situation in der Bundesrepublik
Deutschland bewusst war, sie aber keine Möglichkeit sahen, sie zu verbes-
229

sern. Den bevorstehenden Schulabschluss trauten sie sich alle nicht recht zu
und so suchten sie nach Möglichkeiten, ihr Glück in einem anderen Land zu
versuchen. Häufig hatte es jedoch den Anschein, diese Aussichten seien we-
der begründet noch ernst zu nehmen, sondern ein Traum, der ihnen helfe,
nicht an ihrer derzeitigen Situation zu verzweifeln. Einige der jungen Männer
erwogen eine Rückkehr in den Kosovo, und planten eine Teilnahme an dem
dort ausgebrochenen Krieg. Ihnen erschien die Verteidigung ihrer Heimat
sinnvoller als das Streben nach einem deutschen Schulabschluss, der ihnen
auch bei erfolgreichem Bestehen keinen Ausbildungsplatz garantiert. Nur zwei
der Jugendlichen sprachen zu Hause und in der peer-group Deutsch. Der eine
war oben erwähnter Deutscher, der andere ein Junge, der mit seiner deut-
schen Mutter zusammenlebte, aber einige Jahre bei seinem Vater in den USA
verbracht hatte. Die anderen sprachen zu Hause in der Familie durchwegs die
jeweilige Primärsprache, allerdings immer wieder von deutschen Vokabeln
durchsetzt, wenn der Wortschatz der Primärsprache nicht ausreichte. Mit
Freunden und Bekannten sprachen sie entweder Deutsch oder die Primärspra-
che oder ein Gemisch aus beiden Sprachen, je nach Sprachkenntnissen der
Gesprächspartner.
... über Probleme ...
Alle sprachen jedoch eine gemeinsame Sprache, die sich als Szenensprache
einordnen lässt. Diese enthält neben Anglizismen, Eindeutschungen und
Modewörtern auch grammatische Besonderheiten, wie eben das bereits er-
wähnte Weglassen von Artikeln im Präpositionalobjekt oder auch der Verzicht
auf das Verb „sein“. „Ich Baustelle.“ So sind Sätze wie „Wow, Samstag wir al-
le bei chill-out-See mit Grill, echt krasses Wochenende.“ in diesem Umfeld
völlig normal und werden von allen Gesprächsteilnehmern einwandfrei ver-
standen. Die Szenensprache variiert stark und ist häufigen Änderungen un-
terworfen. Sie dient dazu, eine bestimmte Gruppe von anderen abzugrenzen
und eine Zugehörigkeit zu der Gruppe zu signalisieren. Die Jugendlichen
berichteten, dass sie zu Hause in der Familie so nicht sprechen könnten, weil
die älteren Familienmitglieder sie dann nicht verstünden oder gar, dass ihnen
diese Sprache zu Haus untersagt wäre. Andererseits wurde gerade diese Sze-
nensprache in jüngster Zeit durch Kabarett-Gruppen und Trash-Komiker
salonfähig, was die Jugendlichen geradezu zwang, wiederum eine neue Spra-
che zu entwickeln, um die Gruppenidentität zu wahren. Die Jugendlichen hat-
ten während der Textproduktion große Schwierigkeiten, da sie ihre Gedanken
erst in eine schriftsprachliche Form übersetzen mussten. Sie selbst hatten den
Anspruch, sich in ihren Texten korrekt und verständlich auszudrücken. Sie alle
hatten als vage Erinnerung aus dem Deutschunterricht behalten, dass Gedan-
ken, die schriftlich fixiert werden, eine andere Form haben sollten, als münd-
lich formulierte Aussagen. Dieses Übersetzen bereitete ihnen große Probleme
und erschwerte ihnen die Textproduktion erheblich. Die Schriftsprache er-
230

schien ihnen als fremde Sprache und der Anspruch, eigene Gedanken in ihr zu
formulieren als unerfüllbar. Die Aufforderung, „Schreib doch einfach so, wie
du denkst!,“ erschien ihnen absurd, da sich die Meinung, man dürfe nicht so
schreiben wie man denkt, fest in ihren Köpfen verankert hatte. Die Aussage
eines Jugendlichen „Ich kann nicht schreiben.“ bezog sich demzufolge auch
nicht nur auf formalsprachliche Korrektheit und motorische Fertigkeiten, son-
dern auch auf die Nichtverfügbarkeit einer Ausdrucksform, die ihm der ge-
schriebenen Form angemessen schien.
... und Lösungen
Diese dreifache Barriere musste erst überwunden werden, bevor es zu einer
Textproduktion kommen konnte. Hierbei erwies es sich als hilfreich, in der
Gruppe Texte laut zu lesen, die in eben einer solchen Szenensprache verfasst
sind. Es half den Jugendlichen, „ihre“ Sprache als ein eigenständiges System
zu verstehen, das auch schriftlich umgesetzt werden kann. Sie waren erstaunt
und begeistert, dass es Autoren gibt, die in „ihrer“ Sprache schreiben, oder
ihre Personen in eben jener Sprache sprechen lassen. Das Kennen lernen sol-
cher Texte ebnete den Jugendlichen den Weg zu ersten eigenen Texten und
reduzierte die anfänglichen Hemmungen immens. Sie fanden, wie die Texte
zeigen und wie sie selbst angaben, Spaß am Schreiben und entdeckten damit
ein Medium, das ihnen half „ihre“ Welt zu fixieren und ihre Gedanken auszu-
drücken. Natürlich kam es hierbei zu Übertreibungen und Ausuferungen, die
in der Dokumentation besprochen werden. Diese wurden zu Beginn jedoch
ausnahmslos zugelassen, um die neu gewonnene Lust am Schreiben nicht zu
ersticken. In dieser Schreibgruppe war es notwendig, die Schreiber langsam
an das Schreiben heranzuführen und es ihnen „schmackhaft“ zu machen. Die
Arbeit mit fremden Texten und vorbereitende Gespräche bahnten den Weg
zum ersten eigenen Text.
Die beiden anderen Punkte, die sich negativ auf den Schreibprozess aus-
wirkten waren der habituelle Analphabetismus der Jugendlichen, die das
Schreiben nie automatisiert hatten und die Unfähigkeit, die Texte anspre-
chend zu gestalten. Die Jugendlichen sahen sich nicht nur außer Stande, ei-
nen formalsprachlich korrekten Text zu produzieren, sondern hatten auch
Schwierigkeiten, die aus dem Mangel motorischer Fertigkeiten herrührten.
Den Jugendlichen begannen bereits nach kurzer Schreibzeit, Hände und Arme
zu schmerzen, die Augen zu brennen und zudem waren sie mit dem Schrift-
bild ihrer Produktionen mehr als unzufrieden. In einigen Fällen, in denen ein
Scheitern auf Grund dieser Probleme drohte, wurde Abhilfe geschaffen, indem
die Texte entweder am PC geschrieben oder aber von der Lehrkraft auf for-
malsprachliche Abweichungen hin überarbeitet wurden. Die jeweiligen Fehler-
quellen wurden im anschließenden Unterricht thematisiert und deren Vermei-
dung trainiert. Die Jugendlichen haderten immer wieder mit dem optischen
Eindruck ihrer Produktionen. Sie fanden es peinlich und waren nicht in der La-
231

ge, ihre Texte diesbezüglich zu verbessern. So entstand die Idee einer Zei-
tung, die zum Ende der Maßnahme entstehen sollte und in der ihre Texte ver-
öffentlicht werden konnten. Hierzu fand eine intensive Zusammenarbeit mit
der Lehrkraft statt, die die Gruppe in EDV unterrichtete.

6.2 John Silvers Schatzkiste


Dieser Schreibkurs begann damit, dass den Schreibern eine von der Lehrkraft
erfundene Geschichte von „John Silver und seiner Schatzkiste“ erzählt wurde.
Es war einmal ein gefürchteter Pirat. Sein Name war John Silver und er war
einer der schrecklichsten Piraten, die jemals über die Meere und Ozeane ge-
segelt waren. Die Menschen bekamen eine Gänsehaut, sobald sie seinen Na-
men hörten. Eines Tages wurde er nach einer blutigen Schlacht nach Jamaika
verschlagen und konnte nur seine Schatzkiste retten. In dieser Schatzkiste
hatte er jedoch kein Gold und keine Edelsteine versteckt, sondern er bewahrte
einige persönliche Sachen darin auf: eine Zigarre, ein Messer, eine kleine,
braune Figur, ein silberner Löffel, ein altes Schwert und sein Tagebuch. Als er
fühlte, dass sein Ende nahte, vergrub er die Schatzkiste auf einer Insel. Stell
dir vor, du findest diese Kiste und nimmst einen Gegenstand daraus mit!

6.2.1 Der Schreibanlass


Für diese Schreibgruppe war ein Schreibanlass zu einem ersten Text aus-
gewählt worden, der inhaltlich ihr Interesse weckte und den Jugendlichen die
Möglich offen ließ, ihren Text inhaltlich möglichst frei zu gestalten. Es wurde
bewusst auf eine Ideen- und Informationssammlung verzichtet, da die Einfüh-
rung der entsprechenden Technik den Schreibern Mühe abverlangt hätte, die
zu leisten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht bereit waren. Die Geschichte
von John Silver wurde während des Erzählens ausgeschmückt und in eher
schauspielerischer Weise vorgetragen, um das Interesse der Schreiber zu we-
cken. Geschichtenerzählen war in dieser Gruppe bereits zu einem lieb gewon-
nenen Zeitvertreib während der Pausen geworden. Die Jugendlichen baten
den für sie zuständigen Sozialpädagogen immer wieder, ihnen eine Geschichte
zu erzählen. So war der Einstieg in einen ersten Text für sie nicht neu. Neu
war, dass sie die Geschichte weitererzählen sollten, wie auch das Auftreten
von Gegenständen, die in der Geschichte vorkamen. Diese Gegenstände soll-
ten die Schreiber anregen und ihnen einen „roten Faden“ für ihren Text anbie-
ten.
Die Schreiber fanden auf einem Tisch im Klassenzimmer eine kleine Holzkiste
vor, die mit den im Brief genannten Gegenständen gefüllt war. Die Schreiber
wählten den Gegenstand aus, der sie am meisten ansprach, nahmen ihn mit
zu ihrem Platz und begannen ihre Texte zu schreiben.
232

6.2.2 Der Text


Die Auswahl des Gegenstandes nahm vergleichsweise viel Zeit in Anspruch
und konnte nur erfolgreich abgeschlossen werden, nachdem die Lehrkraft
schlichtend eingriff. Da die Kiste jeden Gegenstand nur in einmaliger Ausfüh-
rung enthielt, entbrannte ein Streit um einzelne Gegenstände. Zwei Schreiber
beschlossen keinen der vorgelegten Gegenstände zu benutzen und erfanden
einen eigenen Gegenstand. Sie entschieden sich beide für eine „(Todes-
)Spritze“, die ihrer Fantasie entsprang. Eigenartigerweise hatten gerade diese
beiden Schreiber in der vorangegangenen Diskussion hartnäckig auf einem
„eigenen“ Gegenstand bestanden. Weshalb sie sich dennoch letztendlich für
ein und denselben Gegenstand entschieden, konnten bzw. wollten sie nicht
erklären. Zwei andere Schreiber entschieden sich für die Zigarre, während je-
weils ein Schreiber das Messer und einer die kleine, braune Figur wählten.
6.2.2.1 Inhaltliche Auswertung
Die Texte zu John Silvers Schatzkiste waren entsprechend der Vorlage eher
reißerisch formuliert.
Vielfältig ...
Die inhaltlichen Aussagen nahmen eine große Bandbreite ein. So entwickelten
auch die Schreiber, welche die gleichen Gegenstände gewählt hatten, inhalt-
lich sehr unterschiedliche Texte. Ein Schreiber, der die Zigarre gewählt hatte,
beschrieb seine Erfahrungen, als er sie fand und geraucht hatte: „Die Zigarre
hat mir so geschmeckt, dass ich nach einer Stunde kotzen wollte und habe
mich sehr scheiße gefühlt.“. Der andere verfasste eine Geschichte, in der die
aufgefundene Zigarre zum Anbetungsgegenstand eines Eingeborenenstammes
wurde „Sie legten es auf einen großen Stein, daß ganze Volk draf sich jeden
driten Sonnenaufgang und bettete das ding auf dem Stein an.“. Die beiden
Schreiber, die sich für die (Todes-) Spritze entschieden hatten, schrieben e-
benfalls inhaltlich sehr unterschiedliche Texte. Einer der beiden erzählte die
vorgelegte Geschichte nach und fügte erst am Ende als eigenen Gedanken bei
„... und eine Totesspritze. Die vergrupp er in Jamaika. Ich fand sie.“, während
der andere Schreiber eine spannende, aufregende, an den guten Geschmack
grenzende Geschichte erzählte, in der sowohl Außerirdische als auch ein Unfall
beim Tauchen sowie eine Vergewaltigung vorkommen. Der Schreiber, der das
Messer als Gegenstand gewählt hatte, ließ John Silver zu einem irischen Mör-
der werden, der mit seinem Messer mehr als 30 Opfer ermordet und zerhackt
hatte. Sein Text wich, bis auf einen kurzen einleitenden Satz „John Silvers
Schatzkiste fande ICH in Jamaika. Ein Messer:...“ völlig von der Vorlage ab.
Ebenso ließ der Schreiber, der die kleine, braune Figur gewählt hatte bald von
der Vorlage ab und ließ aus dem „Überraschungseieingeborenen“ einen „ja-
maikanischen untergrund kämpfer“ werden, der einen Anschlag auf die Firma,
in der die Jugendlichen beschäftigt waren, plante. Der Schreiber wies sich die
233

Rolle des Retters zu, der den Anschlag abwenden konnte, indem er dem „Ü-
berraschungseieingeborenen“ ein Attentat auf den Bundeskanzler – sozusagen
ersatzweise – vorschlug.
Alle Texte bis auf einen berichten von Gewalttaten wie Vergewaltigung oder
Mord. Dazu befragt gaben die Schreiber an, sie „hätten eben einen richtig
spannenden Text“ schreiben wollen, und das wäre ohne Gewalttaten nun ein-
fach nicht möglich. Während der Befragung drängte sich tatsächlich der Ein-
druck auf, dass sich die angesprochenen Schreiber nicht vorstellen konnten,
wie ein Text gleichzeitig spannend und frei von gewalttätigen Gräueltaten sein
könnte. Sie zeigten sich erstaunt, weshalb sie dazu befragt wurden, hatten sie
sich doch lediglich an die Anweisung gehalten, eine richtig spannende Ge-
schichte zu schreiben. Ihrer Meinung nach hätte eine Geschichte ohne Mord
oder Vergewaltigung dieser Vorgabe nicht entsprochen.
..., aber ab und an ausfällig.
Diese Aussagen führten zu einem langen Gespräch über Textstellen, die in-
haltlich nicht innerhalb der Toleranzschwelle der Lehrkraft und anderer Teil-
nehmer der Schreibgruppe liegen. Zuerst erschien es schwierig, die Kluft zwi-
schen „Du hast doch gesagt, wir sollen schreiben, wie wir denken!“ und „Das
ist mein Text und ich schreibe, was und wie ich will und wem das nicht passt,
der braucht ihn nicht zu lesen!“ zu überwinden. Erst, als andere Schreibgrup-
penteilnehmer ihr Unbehagen über die Textsequenzen, die nicht „im grünen
Bereich“ lagen, zu äußern, zeigten sich die betroffenen Schreiber bereit, diese
Textstellen zu diskutieren. Bereits zu Beginn des Gesprächs zeigten sich die
betroffenen Schreiber einsichtig, dass ihre Texte in dieser Form nicht zur Ver-
öffentlichung geeignet seien. Dennoch waren sie nicht bereit, sie zu ändern,
sondern sie wollten lieber auf eine Veröffentlichung verzichten. Dies stieß bei
den anderen Schreibern auf Kritik und Widerwillen. Sie meinten, es sei von
Anfang an eine gemeinsame Veröffentlichung im Rahmen einer Zeitung ge-
plant gewesen und sie würden sich im Stich gelassen fühlen, würden die Be-
troffenen ihre Texte zurückziehen. Den Kritikern fiel aber denn auch keine
Entgegnung auf den Vorwurf ein, sie hätten bei den Textstellen gelacht und
ihren Beifall bekundet, während sie nun auf eine Überarbeitung gerade dieser
Textstellen bestehen würden. Ihr beinahe schüchtern vorgebrachtes „Aber
man kann doch nicht!“ wurde von den betroffenen Schreibern als Verklemmt-
sein und Prüderie interpretiert. Die, in den Texten vorkommenden, Kraftaus-
drücke und unflätigen Begriffe wurden von den Betroffenen als „normale Um-
gangssprache“ eingeschätzt, was sich durchaus nicht leugnen ließ, wurde man
Zeuge ihrer privaten Unterhaltungen.
Nur schwer ließ sich die Gruppe, deren Texte anstößige Stellen enthielten, auf
einen Kompromiss ein: Sie würden ihre Texte diesbezüglich nicht über-
arbeiten, verzichteten jedoch auf eine Veröffentlichung. Bei der Produktion
234

weiterer Texte würden sie sich „zusammenreißen“ und ihre Texte in einer
Form halten, die der political correctness entspricht. Dies, lässt sich vorab sa-
gen, wurde im weiteren Verlauf der Schreibkurse auch weitgehend ein-
gehalten.
Dieses Gespräch drohte den gesamten Schreibkurs zu kippen. Mehr als einmal
kam es zu einem Punkt, an dem Aussagen wie „Wenn euch das nicht passt,
dann schreibe ich eben nichts mehr!“ nicht nur den trotzigen Zorn der betrof-
fenen Schreiber und deren Unfähigkeit Kritik aufzunehmen, hervorhoben,
sondern auch ihre Hilflosigkeit. Sie hatten, vielleicht zum ersten Mal, einen
Text geschrieben, in dem Bewusstsein, sie sollten ihn so gestalten, wie er ih-
nen gefällt und nicht den Vorstellungen einer Lehrkraft entsprechend, und
mussten dann aber feststellen, dass dieser Text massiv kritisiert wurde, ob-
wohl er beim Vorlesen in der Gruppe lautes Gelächter hervorgerufen hatte.
Die anwesenden Lehrkräfte hatten sich während der Diskussion weit gehendst
zurückgehalten. Der Umstand, dass diese Kritik von den anderen Schreibern
kam und nicht von den Lehrkräften, verletzte die betroffenen Schreiber um so
mehr. Insbesondere die – auf den ersten Blick – gegensätzliche Reaktion der
anderen Schreiber, die zuerst an den betreffenden Textstellen ihre Zustim-
mung durch lautes Lachen gezeigt hatten und dann während der Diskussion
ihre Kritik äußerten, war ihnen völlig unverständlich.
Hier war ein Eingreifen der Lehrkräfte notwendig, um drohende Handgreiflich-
keiten zwischen den Diskutierenden zu vermeiden. Es wurde besprochen, dass
Texte durchaus lustige Stellen enthalten können, diese aber dennoch so for-
muliert sein sollten, dass sie im Rahmen der allgemeinen Toleranz liegen. Auf
eine schriftliche Fixierung dieser, von der Gruppe erstellten Schreibregel wur-
de aber ganz bewusst verzichtet, um den betroffenen Schreibern nicht durch
eine „schulmäßige“ Schreibsituation die Lust am Schreiben zu nehmen. Den-
noch, dies sei hier vorweg genommen, sind die weiteren Texte dieser
Schreibgruppe nicht mehr so originell und fantasievoll, wie die des ersten
Schreibversuchs. Das Gespräch hatte die Schreiber in ihrem ersten Schwung
ausgebremst und dies war nicht mehr rückgängig zu machen. Lediglich ein
Schreiber machte hierbei eine Ausnahme, er verfasste seinen nächsten Text
erst recht in einem derben, unflätigen Stil.
6.2.2.2 Formale Auswertung
Die Texte zum Thema „John Silvers Schatzkiste“ waren durchschnittlich etwa
104 Wörter lang. Dabei zählte der längste Text 206 Wörter, während der kür-
zeste Text aus nur 54 Wörtern bestand. Die Texte zeigen im Durchschnitt ei-
nen Wortschatz von etwa 56 Wörtern auf. Nur ein Text war nicht mit einer
Überschrift versehen worden. Von den erhobenen formalsprachlichen Abwei-
chungen konnten 58 % dem Bereich Orthografie zugeordnet werden, während
42 % der Abweichungen zum Bereich Grammatik gezählt werden müssen.
235

Die formalsprachlichen Abweichungen im Bereich der Orthografie sind über-


wiegend zwei Fehlertypen zuzuordnen: Ein Drittel der Abweichungen sind
dem Bereich Groß-/Kleinschreibung zuzuordnen und ein Fünftel der Abwei-
chungen wurden bei der Konsonantendopplung gemacht. Hierbei wurde bei
der Auswertung jedoch nicht unterschieden, ob ein Konsonant unpassend ver-
doppelt wurde, oder ob anstelle eines Doppelkonsonanten ein einfacher Kon-
sonant gesetzt wurde. So wurden Abweichungen wie „er kamm“ ebenso die-
sem Fehlertypus zugeordnet, wie auch Abweichungen, die der folgenden Form
entsprechen: „Tatwafe“. Beide Ausrichtungen kamen in etwa gleicher Häufig-
keit vor. Ein weiterer Fehlertypus, der circa 10 % der orthografischen Abwei-
chungen einnahm, gehört ebenfalls zur Gruppe der Vokalverlängernden oder
–verkürzenden, nämlich der falsche Einsatz des Dehnungs-h. Ebenfalls zu die-
ser Gruppe gehören die drei fehlerhaften Anwendungen des „ie“, die in den
Texten erhoben wurden.
Rund 9 % der erhobenen Abweichungen im orthografischen Bereich sind auf
regionale Aussprachefärbungen zurückzuführen, dies betrifft insbesondere die
Verwechslung von „d“ und „t“, die typisch für die Region sind. Die gleiche Ur-
sache kann für den fehlerhaften Einsatz von „g“ und „k“ angenommen wer-
den.
Die in den Texten auftretenden Umlautfehler sind weitgehend auf Nachläs-
sigkeit beim Schreiben zurückzuführen. Im Eifer hatten die Schreiber die Um-
lautzeichen schlichtweg vergessen. Dies zeigte sich, als sie bei einer ersten
Durchsicht diese Fehler sofort erkannten und korrigierten. Nur ein geringer
Anteil der etwa 8 % Umlautfehler wurde nicht sofort entdeckt und verbessert.
Hierbei handelte es sich ausnahmslos um eine Verwechslung der Buchstaben
„ä“ und „e“, die auf eine falsche Laut-Zeichen-Zuordnung hinweisen. In fast
gleicher Häufigkeit wurden „s“ und „ß“ fehlerhaft angewandt. Hier deuten die
Abweichungen auf eine Unsicherheit der Schreiber diesbezüglich hin, die den
Einsatz der beiden Buchstaben eher wahllos werden lässt.
Die Hauptquelle der Abweichungen im grammatischen Bereich stellt die Bil-
dung von Satzreihen und Satzgefügen dar. In diesen Bereich wurde auch die
fehlerhafte Anwendung der Konjunktionen einbezogen, d. h. sowohl die fal-
sche Auswahl als auch die fehlerhafte Satzstellung im Konjunktionalsatz.
Auch, die in der Zwischenzeit schon von vielen Lehrkräften akzeptierte Stel-
lung des kausalen Nebensatzes „weil + Verb an 2. Position“, wurde in dieser
Arbeit als Abweichung gewertet „..., weil sie wußten nicht, ...“.
Die Schreiber hatten ein offensichtliches Problem mit der Bildung von Re-
lativsätzen, die sie jedoch häufig einsetzten. 12 % der gesamten Menge der
grammatischen Abweichungen sind fehlerhaften Relativsätzen zuzuordnen.
Fehlerquellen waren hier: fehlendes Komma, falsches Relativpronomen, Rela-
tivpronomen fehlerhaft dekliniert, Satzstellung im Relativsatz „…einen silber-
nen Löffel den John Silver zum Essen nimmt.“. Die Lehrkraft, die für die Prü-
236

fungsvorbereitung verantwortlich war, gab dazu an, die Thematisierung von


Nebensätzen sei im Unterricht unwichtig, da fehlerhafte Nebensätze häufig
nur als Satzzeichen zu werten seien und daher in der Bewertung keinen gro-
ßen Raum einnähmen. Sie plane nicht, ihre Schüler mit solchen „Dingen“ zu
belasten, die sie doch nur verwirren würden. Fast 17 % der Abweichungen im
grammatischen Bereich haben eine fehlerhafte Konjugation zur Ursache. Hier
wurden Verbformen, insbesondere Partizip II-Formen gebildet, die nicht der
Norm entsprechen „getöten“, „gefinden“. Im Bereich der Deklination konnten
9 % der Abweichungen der Deklination der Substantive (Pluralform, Genus)
zugezählt werden. Eine weitere Fehlerquelle stellten die Präpositionalobjekte
dar. Hier konnten die Schreiber nicht sicher zuordnen, welche Präposition wel-
chen Kasus fordert und sie konnten nicht richtig einschätzen, welche Präposi-
tion mit dem nachstehenden Artikel zusammengezogen werden kann und wo
dies unzulässig ist „er gingt zun Stein“.

6.3 Meine Zukunft


Das Thema „Zukunft“ war für die Jugendlichen zum Zeitpunkt der Textpro-
duktion sehr aktuell. Die Teilnahme an einer Maßnahme, die sie auf ein Be-
rufsleben vorbereitet und an deren Ende ein nahtloser Übertritt in eine Be-
rufsausbildung stehen sollte, stellte die Jugendlichen beinahe täglich vor die
Frage, wie sie sich ihre Zukunft vorstellten. Während der laufenden Maßnah-
me werden die Jugendlichen immer wieder dazu angehalten, sich um einen
Ausbildungsplatz auf dem 1. Arbeitsmarkt zu bewerben. Dies scheitert – zu-
mindest zu Anfang der Maßnahme – in den meisten Fällen bereits an der Un-
entschlossenheit der Jugendlichen bezüglich der Fachrichtung, in der sie eine
Ausbildung machen wollen. Auf die Frage, was sie denn in der Zukunft beruf-
lich vorhätten, was sie sich vorstellen könnten, sind Antworten wie „kein
Plan“, „Woher soll ich denn das wissen?“ oder „Mir egal!“ an der Tagesord-
nung. In der hier vorgestellten Schreibgruppe hatte keiner der Jugendlichen
eine konkrete Vorstellung oder gar konkrete Pläne bezüglich seines berufli-
chen Werdegangs.
Das Thema wurde somit aus zweierlei Gründen gewählt. Zum Einen hatten
sich die Jugendlichen zum Zeitpunkt der Textproduktion bereits ausführlich
mit dem Thema beschäftigt und zum Anderen sollte die Textproduktion den
Jugendlichen helfen, ihre Gedanken, Wünsche und Vorstellungen zu sammeln,
selektieren und zu formulieren.

6.3.1 Ideensammlung
Die Ideensammlung wurde in der Form eines Gemeinschaftsclusters durch-
geführt, das im Plenum erstellt wurde. Nach den Diskussionen um political
correctness, die im Rahmen des vorangehenden Schreibkurses geführt wur-
den, assoziierten die Jugendlichen nicht frei und unzensiert. Sie achteten dar-
237

auf, dass ihre Beiträge zum Gemeinschaftscluster im Rahmen der von der
Gruppe definierten allgemeinen Toleranz lagen. Auch ein Hinweis auf die un-
zensierende Natur des Clusterings konnte dem nicht entgegenwirken.
Die Jugendlichen hatten recht lustlos am Cluster gearbeitet. Dies hatte zwei
Ursachen. Sie gaben an, das ganze Thema „Zukunft“ hinge ihnen bereits „zum
Hals raus“, sie hätten sich in den letzten Wochen und Monaten wohl ausrei-
chend damit beschäftigt. Auf die Frage, weshalb sie denn keine konkreten
Vorstellungen und Pläne aufzeigen könnten, gaben sie an, sie hätten keine
Zukunft, da sie weder einen Ausbildungsplatz finden könnten, noch eine
Chance sähen, in der Bundesrepublik ein angemessenes Leben führen zu kön-
nen. Sie seien eben anders als der Rest der Bevölkerung, sie wären Kriminel-
le, Drogenabhängige und Arbeitslose und somit gäbe ihnen die Gesellschaft
keine Chance. Sie hätten aber auch keine Möglichkeit „ordentliche“ Menschen
zu werden, denn dazu bräuchten sie einen Ausbildungsplatz und den bekämen
sie nicht, weil sie keine „ordentlichen“ Menschen seien. Diesen Kreislauf sahen
sie sich außer Stande, zu unterbrechen. Diese Aussichtslosigkeit nahm ihnen
jedwede Lust, sich weiterhin mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Ein weiterer Grund für die eher lustlose Arbeit am Gemeinschaftscluster lag in
den Ergebnissen der Diskussion während des vorangegangenen Schreibkur-
ses. Die Jugendlichen waren verunsichert, welche Wörter und Begriffe sie ein-
bringen konnten, ohne der Kritik der anderen Schreibkursteilnehmer ausge-
setzt zu sein. Auch mehrmalige Hinweise, im Cluster sei alles erlaubt, konnten
sie nicht dazu bewegen, ihre Haltung aufzugeben und frei zu assoziieren. Sie
konterten, es habe keinen Sinn, lustige, spontane Assoziationen ins Cluster
aufzunehmen, wenn diese beim Schreiben des Textes nicht wieder aufgegrif-
fen werden könnten. Sie hätten auch keine Lust wieder einen Text zu schrei-
ben, der nicht veröffentlicht werden würde, demzufolge hielten sie sich beim
Clustern zurück. Auf die Anregung hin, ein individuelles Cluster zu erstellen,
meinten sie, das wäre in ihren Augen kein Unterschied, da sie dort zwar alles
schreiben könnten, was ihnen einfiele, aber sie könnten die im individuellen
Cluster vorkommenden Begriffe auch dann nicht in den Text aufnehmen.

6.3.2 Der Text


Die Texte zum Thema „meine Zukunft“ waren durchgehend kürzer als die
Texte zum Thema „John Silvers Schatzkiste“. Auch der Wortschatz war ge-
ringer. Die Texte waren überwiegend deutlich sachlicher gehalten und blieben
größtenteils inhaltlich eng am Thema.
Die Texte wurden alle innerhalb eines zeitlichen Rahmens von 15 Minuten ge-
schrieben. Dieses Limit war gesetzt worden, um die Lerner an zügiges Schrei-
ben zu gewöhnen, wie es auch in der Abschlussprüfung verlangt wird. Die Be-
grenzung der Schreibzeit führte in einigen Fällen dazu, dass die Schreiber ihre
Texte nicht ausformulierten, sondern in Aufzählungsform und Stichpunkten
238

schrieben. Dies erklärt auch den vergleichsweise geringen Umfang der Texte
und den geringen Wortschatz, der darin erhoben wurde.
6.3.2.1 Analyse der inhaltlichen Aussagen
Das Thema „meine Zukunft“ wurde von den Schreibern in ganz unterschied-
licher Weise interpretiert. So stellt sich der Zeitpunkt, an dem für die Schrei-
ber die Zukunft beginnt oder stattfindet, äußerst unterschiedlich dar.
Ein Schreiber legte den Zeitpunkt der Zukunft auf das nächste Jahr, in dem er
die Maßnahme beendet hat, und er beschreibt, wie er sich das folgende Jahr
vorstellt. Er sieht einen Ausbildungsplatz, der ihm gefällt, wünscht sich, dass
er auch in einem Jahr noch mit seiner derzeitigen Freundin zusammen sein
wird, hätte gerne eine eigene Wohnung und würde gerne den Führerschein
machen und sich ein eigenes Auto kaufen. Für einen anderen Schreiber dieser
Gruppe beginnt die Zukunft mit dem 18. Geburtstag. Dann kann er den Füh-
rerschein machen, sich ein Auto zulegen, hat einen guten Verdienst, der ihm
eine gute Rente sichert und im Alter von 20 Jahren plant er eine Familie zu
gründen. Ein Schreiber verfasste seine persönliche „Wunschliste“, die er in 2
Rubriken aufteilte: „Was ich will“ und „was ich nicht will“. Die Texte zum
Thema „meine Zukunft“, die nicht in den Fantasy-Bereich einzuordnen sind,
sind alle mehr oder weniger der Kategorie „Wunschliste“ zuzuordnen. Die
Schreiber entwerfen ein Szenario, das deutlich macht, wie sie sich ihre per-
sönliche Zukunft wünschen. Von möglichen Problemen oder Schwierigkeiten
bei der praktischen Umsetzung dieser Wünsche ist in den Texten nur am Ran-
de die Rede. So zählt der Verfasser des Wunschlisten-Textes in der Rubrik
„Was ich nicht will“ auf: sterben, kein Geld, kein Beruf, Krankheit in der Fami-
lie. Er äußert sich jedoch nicht darüber, wie er zum Beispiel verhindern könn-
te, in der Zukunft keinen Beruf zu haben.
Die jugendlichen Schreiber wünschen sich für ihre Zukunft alle eine eigene
Familie, einen guten Beruf und ein Auto mit dem dazugehörenden Führer-
schein. Diese drei Ziele scheinen allen Jugendlichen eigen zu sein, denn auch
der Schreiber, dessen Text sich auf der Beziehungsebene deutlich von den
anderen Texten abhebt, äußert sich in dieser Richtung. Allerdings verpackte
dieser Schreiber seine Wünsche in eine Form, die – in einer späteren Ge-
sprächsrunde – von den anderen Schreibern als „unmöglich“ und „blöd“ be-
zeichnet wurde. Der Schreiber wünscht sich ebenfalls eine Tätigkeit, die ihm
gute Einkünfte sichert und eine Familie, lässt dann aber seiner Fantasie freien
Lauf und verlässt damit den Bereich, den die Gruppe vorab als „anständig“
definiert hatte.
Ein Jugendlicher hatte zum Thema „meine Zukunft“ einen Fantasy-Text ge-
schrieben, dessen Inhalt nichts über seine persönlichen Wünsche oder Pläne
für die Zukunft aussagt. Er entwirft in seinem Text ein Szenario zum Thema
„die gesamte Menschheit wird jämmerlich zu Grunde gehen.“ In diesem Text
239

kommt es zu einem Krieg zwischen Außerirdischen und den Erdenbewohnern,


der von der NASA versehentlich ausgelöst wird. Dieser Krieg löst eine Natur-
katastrophe aus, die im Weltuntergang endet. Im Rahmen der Diskussion, die
der Text bei seiner Veröffentlichung in der Gruppe auslöste, verteidigte der
Schreiber seinen Text und gab an, er hätte keine Lust, sich Gedanken über
seine Zukunft zu machen, denn er habe keine Zukunft. Gleichzeitig griff er die
anderen Schreiber an und unterstellte ihnen, sie seien dumm und gutgläubig,
denn die Chance, einen guten Beruf zu finden und eine Familie zu gründen,
die sie ernähren könnten, seien verschwindend gering. Er habe keine Hoff-
nung auf ein glückliches und zufriedenes Leben in dieser Gesellschaft, denn er
habe keine Möglichkeit einen Beruf zu finden und er habe auch keine Lust, ei-
ne Familie zu gründen, denn dies erweise sich als ein altmodischer Traum,
würde man sich nur umschauen, wie viele Familien zerbrechen. Er halte es für
verantwortungslos, in „so einer Zeit“ auch nur daran zu denken, alles könne
gut werden. Dieser Schreiber wurde von den anderen stark angegriffen und
erhielt lediglich von dem Verfasser des „anrüchigen“ Textes Hilfe. Die Beiden
verteidigten vehement ihre Ansicht, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit
dem Thema „meine Zukunft“ sei naive Augenwischerei und der Traum von
Glück, Familie und Beruf sei ein Trugbild, das häufigem Fernsehkonsum ent-
spränge.
Eine konkrete Auseinandersetzung der jugendlichen Schreiber mit den ei-
genen Wünschen und Plänen, wie sie von den Pädagogen, welche die Maß-
nahme betreuten, beabsichtigt war, fand nicht statt. Kein Schreiber formu-
lierte einen konkreten Berufswunsch und mögliche Schritte ihn zu verwirk-
lichen. Die Schreiber vermieden eine solche Aussage, indem sie sich entweder
ins Reich der Fantasie zurückzogen oder ihren Text inhaltlich auf Allgemein-
plätze beschränkten. Die Jugendlichen begründeten dies damit, dass sie keine
konkrete Vorstellung von ihrer beruflichen Laufbahn hätten und sich auch kei-
ne Gedanken mehr dazu machen möchten. Sie hätten in den vergangenen
Monaten ständig darüber nachgedacht, welcher Ausbildungsberuf für sie in
Frage käme, hätten viele Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz geschrie-
ben, aber sie empfänden solche Überlegungen und Aktionen mittlerweile als
sinnlos, da sie nur Absagen erhalten haben. Die Resignation der Jugendlichen
schlägt sich deutlich in den Texten nieder. Auch in den Gesprächen über die
Texte, spielte dieses Moment eine gewichtige Rolle. Die Jugendlichen weiger-
ten sich, erneut über Alternativen oder weiteres Engagement auch nur nach-
zudenken. Als einziger Lichtblick erschienen ihnen in zunehmendem Maße die
bereits erwähnten Verwandten im Ausland, die dort gute Jobs bereithalten
würden. Allerdings konnte sich keiner der Jugendlichen vorstellen, im jeweili-
240

gen Ausland tatsächlich zu leben bzw. Deutschland und damit die Familie und
die peer-group wirklich zu verlassen. 411
6.3.2.2 Analyse der formalsprachlichen Abweichungen
54,4 % der in den „Meine Zukunft“-Texten erhobenen formalsprachlichen Ab-
weichungen können dem Bereich Orthografie zugeordnet werden. An erster
Stelle in der Fehlerhierarchie steht, wie bereits im ersten Text, der von dieser
Gruppe geschrieben wurde, die Groß- und Kleinschreibung. Über die Hälfte
der in diesem Bereich erhobenen Abweichungen sind dieser Fehlerquelle zu-
zuordnen (54,8 %). An zweiter Position rangieren Abweichungen, die sich im
Bereich der Konsonantendopplung ergeben haben. Mit einem Anteil von 16,1
% an der Gesamtanzahl der orthografischen Abweichungen, werden hier weit-
aus höhere Werte erreicht, als für andere Fehlertypen, die sich alle im glei-
chen Bereich bewegen. In der folgenden Tabelle werden die Ergebnisse der
Analyse der ersten Texte mit jenen der zweiten Texte verglichen:

Fehlertyp John Silvers Meine Differenz


Schatzkiste Zukunft
Groß-/Kleinschreibung 33 % 54,8 % + 21,8 %
Umlaute 8% 3,2 % - 4,8 %
Vokale 2% - -2%
Dopplung 19,8 % 16,1 % - 3,7 %
Dehnung 13,1 % 3,2 % - 9,9 %
Zischlaute 6,6 % 6,5 % - 0,1 %
t-d 8,8 % 3,2 % - 5,6 %
v-f 2,2 % 3,2 % + 1,0 %
Konsonanten 2,2 % 3,2 % + 1,0 %

Anteil der orthografischen Abweichungen nach Fehlertypus

Wie in der Tabelle deutlich wird, haben die Schreiber bei den „meine Zu-
kunft“-Texten bereits während der Textproduktion mehr auf eine for-
malsprachliche Korrektheit geachtet. Die meisten Fehlertypen treten in die-

411 Keiner der Jugendlichen dieser Gruppe hat die Bundesrepublik in der Zeit nach Beendigung der Maßnahme
verlassen.
241

sem Text in geringerem Umfang auf, als in den ersten Texten zum Thema
„John Silvers Schatzkiste“. Daher ist der Anteil der Fehler im Bereich der
Groß-/Kleinschreibung beträchtlich höher als im ersten Text. Dieser Wert ist
nicht auf einen Anstieg der Abweichungen zurückzuführen, sondern auf eine
Reduzierung der Abweichungen in den weiteren Bereichen. So konnten die
Abweichungen im Bereich der Vokaldehnung deutlich um fast 10 % gesenkt
werden. Die Auswertung der orthografischen Abweichungen und der Vergleich
mit den Ergebnissen der Auswertung der ersten Texte ergab die Notwendig-
keit einer systematischen Sequenz zum Thema „Groß-/Kleinschreibung“. Die-
se wurde im Rahmen des Förderunterrichts durchgeführt, da der Regelunter-
richt – nach Auskunft der dafür verantwortlichen Lehrer – keine Möglichkeit
bot, dieses Thema aufzugreifen. Im Anschluss an diese systematische Unter-
weisung wurden die eigenen Texte korrigiert und in Bezug auf Groß- und
Kleinschreibung überarbeitet. 45,6 % aller formalsprachlichen Abweichungen,
die in den Texten erhoben wurden, gehören in den Bereich der grammati-
schen Abweichungen. Eine Auswertung der grammatischen Abweichungen
dieser Texte ergab eine ausgewogene Verteilung der fehlerhaften Formulie-
rungen auf die einzelnen Fehlerquellen. Im Vergleich dazu die Werte des vo-
rangehenden Textes:

Fehlertyp John Silvers Meine Differenz


Schatzkiste Zukunft
Präposition 14 % 18 % +4%
Satzstellung 3% 11 % +8%
Kasus 11% 21 % + 10 %
Konjunktionalsätze 11 % 25 % + 14 %
Nebensätze 39 % 14 % - 25 %
Adjektivdeklination - 11 % + 11 %
Artikel 3% - -3%
Possessiva 2% - -2%
Konjugation 17 % - - 17 %

Anteil der orthografischen Abweichungen nach Fehlertypus

Die Texte zum Thema „meine Zukunft“ waren inhaltlich insgesamt weniger
spontan und ließen erkennen, dass sie überlegter und langsamer geschrieben
wurden, als die „Abenteuergeschichten“ von John Silvers Schatzkiste. Dieser
242

Umstand mag einerseits durch die Vorgabe des Themas und andererseits
durch die vorangegangenen Gespräche und Diskussionen erklärbar sein. Die
langsamere, überlegte Textproduktion hatte zur Folge, dass die Schreiber
„Experimente“, also die Anwendung von Strukturen, derer sie sich nicht sicher
waren, unterließen. Sie vermieden diese ganz bewusst und umgingen sie, in-
dem sie sich auf überwiegend kurze Aussagesätze ohne Nebensatzkonstrukti-
onen sowie fast ausschließlich indikativische Formen beschränkten. Inwieweit
hierfür die Themenstellung oder die vorangegangenen Besprechungen Ursa-
che waren oder das Zusammenspiel beider Faktoren die Schreiber hemmte,
konnte auch in einem Gespräch mit den Schreibern nicht geklärt werden. Sie
gaben sowohl an, das Thema hätte ihnen keinen Spaß gemacht, wie auch sie
hätten nicht wieder einen Text schreiben wollen, in dem „alles falsch“ ist. So
beschränkte ein Schreiber seinen Text auf eine Aneinanderreihung von Sät-
zen, die alle nach der Struktur „Ich möchte...“ organisiert waren, um Satzbau-
fehler zu vermeiden. Auffallend ist, dass die beiden Texte, die inhaltlich „aus
dem Rahmen fallen“, gleichzeitig die meisten formalen Abweichungen im
grammatischen Bereich aufzeigen. Die beiden Schreiber hatten auch in die-
sem Text die formalsprachliche Korrektheit hintan gestellt und sich auf die in-
haltliche Ebene konzentriert.
Wie konnte das passieren?
oder: Was haben wir falsch gemacht?
Zu dem oben dargestellten Schreibkurs seien an dieser Stelle einige An-
merkungen erlaubt: Das Thema „meine Zukunft“ war zwar in Absprache mit
den Schreibern gestellt worden, aber auf Wunsch der zuständigen Lehrkräfte.
Dies hatte zur Folge, dass die Schreiber sich mehr oder weniger lustlos an das
Thema herangewagt hatten. Hinzu kam, dass die Schreiber auf Grund ihrer
individuellen Vorgeschichte nicht bereit waren, sich mit ihrer persönlichen Zu-
kunft zu beschäftigen und daher auf allgemeine Aussagen oder anstößige
Aussagen zurückgriffen. Die langen und heftigen Diskussionen, die am Ende
des letzten Schreibkurses gestanden hatten, hatten dazu geführt, dass sich
die Schreiber überwiegend nicht mehr trauten, spontane und in ihren Augen
lustige Texte zu schreiben. Sie hatten versucht, Texte zu produzieren, die
auch in den Augen der Lehrkräfte Gefallen finden und von den anderen
Schreibern zur Veröffentlichung frei gegeben werden sollten. Das Resultat wa-
ren Texte, die von allen Lesern als langweilig, eintönig und stereotyp emp-
funden wurden. Diese ungünstigen Voraussetzungen verdarben den Jugendli-
chen die neu entdeckte Lust am Schreiben und da sich diese Unlust in den
Texten niederschlug auch die Freude am Produkt ihrer Arbeit, am fertigen
Text. Sie beurteilten ihre Texte selbst als langweilig und unbefriedigend.
243

6.4 Meine Arbeit


Nach der Erfahrung des Schreibkurses zum Thema „meine Zukunft“, waren
die Jugendlichen nur wenig zu weiterem Schreiben motiviert. Sie wollten aber
dennoch „ihre Zeitung“ fertig stellen und schlugen daher vor, Artikel über ih-
ren Berufsalltag und die Institution, in der sie arbeiteten und lernten zu
schreiben. „Wie richtige Reporter“ wollten sie arbeiten, das war ihre Bedin-
gung zu weiterer Arbeit. Sie hatten allerdings eine eher diffuse Vorstellung
von der Arbeit eines „richtigen Reporters“, die von Fernsehbeiträgen und
Reportage geprägt war. Diese Vorstellung setzte sich aus Schlagworten und
Fragmenten zusammen wie „immer live dabei“, „rasende Reporter“, „Inter-
view mit Renegate“ . Es wurde mit den Jugendlichen ein kleiner Leitfaden er-
stellt, der zu sinnvollen Recherchen führen sollte. Er enthielt folgende Fragen,
die vor einem geplanten Interview geklärt werden sollten.
• Worüber will ich berichten?
• Was will ich darüber wissen?
• Was ist für den Leser wichtig?
• Wer ist der beste Ansprech- /Interviewpartner?
• Wo kann ich zusätzliche Informationen bekommen?
• Was brauche ich (Aufnahmegerät, Schreibzeug, Foto)?
• Welche Fragen will ich stellen?
Weitaus schwieriger als die Entwicklung des Leitfadens stellte sich die Be-
antwortung der ersten Frage „Worüber will ich berichten?“ heraus. Obwohl die
Jugendlichen vorgeschlagen hatten, über ihre Arbeit zu berichten, hatten sie
keine Vorstellung, worüber sie schreiben sollten. Verschiedene Vorschläge ei-
niger Schreiber wurden abgelehnt, da sie der Gruppe „langweilig“ erschienen.
Man einigte sich darauf, einen Themenkatalog zu erstellen, aus dem sich jeder
ein Thema aussuchen konnte. In den Katalog wurden alle Vorschläge aufge-
nommen, die in dieser Runde gemacht wurden:
• Paula, der Hund
• besondere Vorkommnisse
• die dreckigen Toiletten
• die Kollegen
• der kaputte Getränkeautomat
• Graffiti im Treppenhaus oder blöde Schmierereien
• Diebstähle in den Werkstätten
244

• das schreckliche Essen in der Kantine


• die Schreinerei
• die Malerwerkstatt
• die Schlosserei
• der Alltag der Lehrer
• der Alltag der Sozialpädagogen
• der Alltag der Meister
Es wurde beschlossen, dass jeder Schreiber, der sich für eines der aufgeliste-
ten Themen entschieden hat, den Leitfaden zur Hand nehmen und sich mit
dessen Hilfe auf die Recherche und mögliche Interviews vorbereiten sollte. Die
Ergebnisse dieser Arbeitsphase wurden dann im Plenum besprochen und ü-
berarbeitet. Der Schwerpunkt dieser Besprechung lag im organisatorischen
Bereich („Du kannst doch nicht während der Mittagszeit die Kantinenfrauen
nerven!“, „Du kannst doch keinen Hund interviewen!“) und nicht im inhaltli-
chen Bereich, der nur am Rande erwähnt wurde. Im Anschluss an die Bespre-
chung zogen die Jugendlichen, ausgerüstet mit dem jeweils benötigten Gerä-
ten, los, um die Interviews zu führen und Fotos zu schießen.
In der darauf folgenden Sitzung wurde das gesammelte Material gesichtet und
besprochen. Die Jugendlichen entschieden sich dagegen, weitere In-
formationen z. B. aus dem Internet zu besorgen, da sie sofort mit dem
Schreiben beginnen wollten. Sie begannen in Gruppen das Material auszu-
werten und zogen sich dann zurück, um ihre Texte zu schreiben. Kein Ju-
gendlicher nahm das Angebot an, mit einem anderen zusammen zu schreiben,
jeder wollte einen eigenen Text produzieren. Diesen Entschluss begründeten
sie damit, dass es ihnen wichtig sei, ihren Namen unter ihrem Artikel zu fin-
den, der ihr persönlicher Beitrag zur geplanten Zeitung sein sollte.

6.4.1 Der Text


Die Texte zum Thema „meine Arbeit“ erreichten nicht den Umfang der Texte,
die zum Thema „John Silvers Schatzkiste“ geschrieben wurden, waren aber
länger als die Texte zum Thema „meine Zukunft“. Die Texte zeigen einen ver-
gleichsweise hohen Wert im Verhältnis von Textlänge und Wortschatz auf.
Dies deutet darauf hin, dass die Jugendlichen sich bemüht hatten, einen Text
zu schreiben, der nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich einer Veröffent-
lichung angemessen ist.
Der leichte Anstieg von den Werten der zweiten Texte hin zu den Werten, die
für die dritten Texte erhoben werden konnten, entspricht den Aussagen der
jugendlichen Schreiber zu ihrer Schreibmotivation. Sie gaben an, diese sei
zum dritten Text erheblich angestiegen, da sie das Thema interessanter und
245

ansprechender empfunden hätten. Zudem hätte sie die Möglichkeit, wie „rich-
tige Reporter“ zu arbeiten, angeregt.
6.4.1.1 Analyse der inhaltlichen Aussagen
Die Jugendlichen dieser Gruppe schrieben zu folgenden Themen, die aus dem
Themenkatalog ausgewählt wurden:
• die Schreinerei
• die Malerwerkstatt
• der Alltag der Sozialpädagogen
• die Kollegen
• Paula, der Hund
• besondere Vorkommnisse
Der Schreiber, der über Paula412 geschrieben hat, fragt sich und die Leser,
was dieser Hund im Büro macht. Er stellt dazu einige Vermutungen an, wie
„Vielleicht ist es das Maskottchen?“, Es ist ja auch vielleicht kein Hund, son-
dern ein etwas beharrter Jugendlicher.“ und verzichtet auf konkrete Aussa-
gen.
Ein Text berichtet über die Kündigung zweier Kollegen und spekuliert über
mögliche Gründe „Beim Bubi ist eine Persönliches Grund das keiner Erfahren
soll aber mir (...) Reporter kriegen die harteste Nuß zun Knacken.“. Der
Schreiber benutzt seinen Text, um seinen ehemaligen Kollegen zu un-
terstützen und er versucht dessen Unschuld an dem Ereignis, das dessen
Kündigung bewirkt hat, zu beweisen. „Serkan ist angeklagt wegen Brand-
stiftung, aber er berichtet das er unschuldig ist. Die Martina sei daran schuld
sagt er sie hat den Brand verursacht.“
Der Text, der über „die Schreinerei“ geschrieben wurde, berichtet über einen
Arbeitsunfall, der dort einige Tage vorher passiert war. „... er arbeitete bein
den Schreiner an der Stichmaschine und da pasierte es er schnitt sich in den
finger. Der schnit war dief er blutete seher stark.“ Der Schreiber stellt kurz
dar, was sich ereignet hatte und beschreibt dann den weiteren Verlauf. Er be-
richtet vom Arztbesuch, vom Verband und von der Krankmeldung. Abschlie-
ßend bemerkt er dazu: „seit den bassen wier alle besser auf.“.
Zum Alltag der Sozialpädagogen wurde ein Foto herangezogen, das eine Ler-
nergruppe mit einem Pädagogen zeigt. „Vor lauter begeisterung durften die
Schüler länger da bleiben und Lernen.“, beschreibt der Autor die Situation. Er
betrachtet das Foto und kommentiert die darauf abgebildeten Personen „Ein

412 Der Hund eines Sozialpädagogen. Dieser Hund „begleitet“ sein Herrchen täglich zur Arbeit.
246

schlauer Schüler wollte anonym bleiben, drehte den Kopf nicht um.“ Der Text
enthält jedoch keine Angaben zum Thema „Alltag der Sozialpädagogen“. Der
Schreiber meinte dazu, er habe es sich während des Schreibens anders über-
legt, da er das Foto ansprechend gefunden habe und er daher darauf verzich-
tet habe, ein Interview zu führen. Außerdem habe er sich überlegt, dass die
Arbeit der Sozialpädagogen ein ungeeignetes Thema gewesen wäre, da diese
keinen interessanten Beruf hätten und ihr Alltag eher langweilig sei.
Der einzige Maler aus dieser Schreibgruppe berichtete sachlich und detailliert
über einen Arbeitsauftrag und dessen Ausführung. „... und habe mir die Far-
ben Pink und Schwarz, Farroller, Pinsel und Farbwanne besorgt und fing gleich
das Streichen und Rollen an.“ Er beschrieb einen durchschnittlichen Werktag
in der Malerwerkstatt und die anfallenden Arbeiten. Dieser Text ist sachlich
gehalten und als Bericht formuliert.
Der Text zum Thema „die Kollegen“ trägt den Titel „Die drei Muskeltiere“.
Dieser Text stellt den Schreiber und seine zwei Freunde als „einfach nette
Kerle“ vor, die „In der Arbeit (...) kaum zu bremsen (sind).“ Der Schreiber
schließt seinen Text mit einem Hinweis auf die Zukunft, mit dem er einen Bo-
gen zum vorangehenden Text schlägt: „Sie sagen selbstbewusst: „Wir werden
erfolg auf der ganzen Linie haben.“
6.4.1.2 Analyse der formalsprachlichen Abweichungen
In den Texten, die für die Schülerzeitung geschrieben wurden, wurden deut-
lich mehr (74 %) Abweichungen im Bereich der Rechtschreibung erhoben als
im Bereich Grammatik. Insgesamt enthalten diese Textversionen weniger
formalsprachliche Abweichungen als die vorangegangenen Texte.
Folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die anteilige Fehlerhäufigkeit in den
drei Texten, die von dieser Gruppe produziert wurden.

Fehlertyp John Silvers Meine Meine


Schatzkiste Zukunft Arbeit
Groß-/Kleinschreibung 33 % 54,8 % 40,4 %
Umlaute 8% 3,2 % 4,2 %
Vokale 2% - -
Dopplung 19,8 % 16,1 % 21,2 %
Dehnung 13,1 % 3,2 % 2,1 %
Zischlaute 6,6 % 6,5 % 10,6 %
t-d 8,8 % 3,2 % 4,2 %
247

v-f 2,2 % 3,2 % -


Konsonanten 2,2 % 3,2 % 14,9 %

Anteil der orthografischen Abweichungen nach Fehlertypus

Den größten Teil der Abweichungen von der orthografischen Norm bilden die
Abweichungen im Bereich der Groß-/Kleinschreibung. Fast die Hälfte aller er-
hobenen Orthografiefehler sind dieser Fehlerquelle zuzuordnen. Zweit-
häufigster Fehlertypus ist die fehlerhafte Schreibweise von Wörtern, die einen
Doppelkonsonanten oder einen Doppelvokal beinhalten. Dieses Bild entspricht
den Resultaten der Erhebung der beiden anderen Texte, die in dieser Gruppe
geschrieben wurden. Auch für diese Texte hatten die beiden Fehlerquellen die
Liste angeführt. Die Gesamtübersicht gibt deutliche Hinweise zu weiterer,
sinnvoller Arbeit im Deutschunterricht. Sie zeigt klar die Bereiche auf, in de-
nen Defizite der Lerner bestehen, die mit Hilfe entsprechender systematischer
Unterweisungen behoben werden können.
Knapp 15 % der erhobenen Abweichungen im orthografischen Bereich sind
fehlerhaften Laut-Buchstaben-Zuordnungen entsprungen. So kam es zu Ver-
wechslungen der Buchstaben „m“ und „n“ sowie „g“ und „k“, wie etwa bei
„krang“ anstelle von „krank“.
Anzumerken ist, dass die Schreiber sich bei der Besprechung dieser Texte
erstmals zufrieden zeigten. Sie schätzten die Anzahl der Abweichungen als
durchaus normal und angemessen ein. Sie gaben an, dies wären ihre besten
Texte, weil sie die geringste Fehlerzahl aufwiesen. Sie zeigten sich sehr opti-
mistisch in Bezug auf ihre Fortschritte im Bereich der Rechtschreibung und
meinten, die Groß-/Kleinschreibung sei zum einen nicht so wichtig und zum
anderen leicht zu erlernen. Die Jugendlichen gaben an, die Abweichungen in
diesem Bereich seien darauf zurückzuführen, dass sie keinen Sinn in der
Groß-/Kleinschreibung sähen und sie sich demzufolge diesbezüglich während
des Schreibprozesses keine Mühe gäben, formalsprachlich korrekt zu schrei-
ben, obwohl sie grundsätzlich dazu in der Lage seien. Tatsächlich hat sich a-
ber bei der Überarbeitung und Korrektur der Texte durch die Schreiber her-
ausgestellt, dass nur ein geringer Teil der Abweichungen im Bereich der Groß-
/Kleinschreibung erkannt und verbessert wurde, was diese Aussagen nicht
bestätigt. Diese Beobachtung konnte durch eine Durchsicht der Diktate, die
im Deutschunterricht geschrieben worden waren, unterstützt werden. Auch
dort waren die meisten Fehler dem Bereich der Groß-/Kleinschreibung zuzu-
ordnen.
Eine Erhebung der Abweichungen im Bereich der Grammatik zeugt – wie-
derum – von den Schwierigkeiten der Schreiber, Nebensätze mit oder ohne
Konjunktion und Satzreihen korrekt zu bilden. Zeichensetzung sowie Satz-
stellung und die Wahl der passenden Konjunktion gelangen den Schreibern
248

häufig nicht. Insbesondere die Bildung von Relativsätzen war den Schreibern
nicht geläufig. So wurden Relativsätze nicht als solche erkannt und ohne
Komma und ohne Berücksichtigung der Deklination der Relativpronomen ge-
bildet. Die Satzstellung der Relativsätze war, ebenso wie die Satzstellung der
Konjunktionalsätze, überwiegend gelungen. Dies deutet auf ein vergleichswei-
se gut entwickeltes Sprachgefühl, auch der Schreiber nicht-deutscher Primär-
sprache, hin. Kein Schreiber konnte die Frage, weshalb das Verb in dem Satz
„... das nicht sie die Abmahnung gegeben hatt ...“ am Ende steht, beantwor-
ten. Alle Jugendlichen gaben an, sie hätten „so etwas“ nie gelernt und würden
einfach so schreiben, wie sie sprechen. Einer der Jugendlichen erkundigte
sich, ob es denn überhaupt einen Grund für die Stellung des finiten Verbs gä-
be, oder ob ich mich mit meiner Frage über ihn lustig machen wolle.
Ein intensives Gespräch über Grammatik zeigte, dass keiner der jugendlichen
Lerner Grammatikkenntnisse vorweisen konnte. Die Jugendlichen – Primär-
sprachler wie Nicht-Primärsprachler – empfanden dies jedoch nicht als Defizit,
da sie sich im Deutschen auch ohne diese Kenntnisse verständlich ausdrücken
können. Die Jugendlichen, für die Deutsch Zweitsprache war, hatten ein so
gutes Sprachgefühl entwickelt, dass sie Nebensätze – zumindest im mündli-
chen Sprachgebrauch – bilden konnten, ohne dass es zu Verständnisproble-
men geführt hätte, was ihnen einen gesteuerten und fundierten Erwerb der
deutschen Grammatik sinnlos und damit nicht erstrebenswert erscheinen ließ.
So meinte ein Jugendlicher aus Russland, die Artikel und deren Deklination sei
für ihn nicht wichtig, denn „wir haben überhaupt keine solchen kleinen Wörter
und können auch gut reden“, während ein Lerner mit türkischer Primärspra-
che meinte „Grammatik ist nicht wichtig, weil bei uns ist alles andersrum und
stimmt auch“. Dieser Einstellung entspricht auch die zufällige Bildung von Ak-
kusativ und Dativ, die sich in Texten zeigt. Der hohe Anteil der Kasusfehler
(18%), ist darauf zurückzuführen, dass einigen Schreibern die Rektion der
Verben und die Bildung korrekter Präpositionalobjekte nicht geläufig sind, was
zu fehlerhafter Deklination führt. „... hatt sich in einer mit arbeiterin (...) ver-
liebt.“
Auch für den Bereich Grammatik bietet eine Gesamtübersicht Aufschluss über
eine mögliche Richtung weiterer Arbeit im Deutschunterricht:

Fehlertyp John Silvers Meine Meine


Schatzkiste Zukunft Arbeit
Präposition 14 % 18 % 6%
Satzstellung 3% 11 % 6%
Kasus 11% 21 % 18 %
249

Konjunktionalsätze 11 % 25 % 18 %
Nebensätze 39 % 14 % 24 %
Adjektivdeklination - 11 % 6%
Artikel 3% - -
Possessiva 2% - -
Konjugation 17 % - 6%

Anteil der grammatischen Abweichungen nach Fehlertypus

6.5.1 Formalsprachliche Kriterien


Die drei Texte, die in dieser Schreibgruppe geschrieben wurden, wurden hin-
sichtlich der gleichen Kriterien untersucht. Es wurden Textdaten erhoben, die
formalsprachlichen Abweichungen untersucht und zugeordnet. Die folgende
Tabelle soll einen Überblick geben:

Text 1 Text 2 Text 3


(“John Silvers (“Meine (“Meine
Schatzkiste”) Zukunft”) Arbeit”)
Textdaten
Textlänge 104,3 60,7 73,3
Wortschatz 56,2 34,8 38,2

Orthografie In % In % In %
Groß-/Kleinschreibung 33 55 40
Umlautbildung 8 3 4
Vokale 2 - -
Dopplung 20 16 21
Dehnung 13 3 2
Zischlaute 7 6 11
Konsonanten 2 3 4
v-f 2 3 -
t-d 9 3 15
Grammatik
Artikel 3 - -
250

Präpositionen 14 18 6
Konjugation 17 - 6
Nebensätze 39 14 24
Kasus 11 21 18
Adjektivdeklination - 11 6
Satzstellung 3 11 6
Possessiva 2 - -
Konjunktionalsätze 11 25 18

: Anteil der grammatischen Abweichungen nach Fehlertypus

*) Die hier ermittelten Werte ergeben sich aus dem Quotienten der Textlänge und des Wortschat-
zes und soll deren Relation zueinander darstellen. Je mehr sich dieser Wert der 1 annähert, desto
differenzierter stellt sich der verwendete Wortschatz dar. Diese Größe wurde hier eingeführt, um
den Zusammenhang zwischen dem Ansteigen der Textlänge und der Erweiterung des Wortschat-
zes zu verdeutlichen. So konnte für den 1. Text der niedrigste Wert und für den 2. Text der
höchste Wert ermittelt werden. Für Text 3 wurde ein mittlerer Wert ermittelt.

6.5.2 Inhaltliche Kriterien


Das Thema der ersten Texte, die von den Jugendlichen geschrieben wurden,
hatte sich aus dem Umstand ergeben, dass die Jugendlichen gerne Geschich-
ten hörten. So hatte eine Lehrkraft großen Erfolg, indem sie Lerninhalte in
Geschichtenform verpackte und den Jugendlichen so nahe brachte. Diese Vor-
liebe der Jugendlichen wurde aufgegriffen, um den jugendlichen Lernern einen
Einstieg in das narrative Schreiben zu bereiten. Die Geschichte von John Sil-
ver sprach die Jugendlichen an und sie waren begeistert davon, die Gegens-
tände aus der in der Geschichte vorkommenden Schatzkiste im Unterrichts-
raum vorzufinden. Die Gegenwart der Dinge, die sie bereits aus der Geschich-
te kannten, erleichterte ihnen nicht nur den Einstieg in den eigenen Text,
sondern inspirierte sie auch während der Textproduktion. Sie spielten vor und
während des Schreibens ständig mit den Gegenständen und einige Schüler
baten auch, die Gegenstände mit nach Haus nehmen zu dürfen, was sie
selbstverständlich durften.
Die Texte, die zu dieser Geschichte und den Gegenständen geschrieben wur-
den, waren alle in erzählender Form geschrieben und der Textvorlage ange-
passt. Sie spiegeln die Gedankenwelt der postpubertären Schreiber wieder,
was zu einigen Textsequenzen geführt hat, die in einer anschließenden Dis-
kussion von der Schreibgruppe kritisiert und als unpassend beurteilt wurden,
obwohl sie bei der Präsentation beifällig beklatscht worden waren. Die betrof-
fenen Schreiber wehrten sich vehement gegen diese Kritik und waren demzu-
folge auch nicht bereit, die Texte diesbezüglich einer Überarbeitung zu unter-
251

ziehen. Stattdessen erklärten sie sich bereit, auf eine Veröffentlichung in der
geplanten Schülerzeitung zu verzichten.
Das Thema „meine Zukunft“ war für die Jugendlichen nicht neu, wurden sie
doch das ganze Schuljahr dazu angehalten, ihre Vorstellungen und Wünsche
zu konkretisieren und zumindest im beruflichen Bereich konkret zu planen.
Der Text sollte ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer konkreten Vorstel-
lung führen, was allerdings von den Schreibern vermieden wurde. Sie wichen
auf Fantasiegeschichten aus oder beschränkten ihre Texte inhaltlich auf all-
gemeine Aussagen wie „guter Beruf“, „viel Geld“ oder „Familie gründen“. Kein
Text enthielt Aussagen zum Wunschberuf oder zum Berufsfeld, in dem eine
Ausbildung angestrebt werden sollte. Eine anschließende Befragung der
Schreiber ergänzte den Eindruck, den die Texte auf die Leser hatten, denn die
Schreiber gaben an, sie hätten keine Lust mehr, sich mit diesem Thema aus-
einanderzusetzen, es sei ein sinnloses Unterfangen und sie sähen keine Chan-
ce für sich und damit auch keinen Grund sich ernsthaft mit dem Thema zu be-
schäftigen. Auf die Frage, weshalb sie trotz dessen zugestimmt hatten, zu
diesem Thema zu schreiben, antworteten sie, es sei ihnen erst während der
Textproduktion klar geworden, wie wenig positive Zukunftsaussichten sie hät-
ten. Diese Einsicht bzw. Aussicht konnte die Jugendlichen allerdings nicht da-
zu motivieren, sich konstruktive Gedanken zu ihrer Zukunft zu machen, son-
dern ließ sie resignieren. Dieses Thema führte die Gruppe zu einer für sie un-
angenehmen Erfahrung mit dem Schreiben, da sie merkten, dass ein Thema
auch gedanklich durchdrungen sein muss, um zufrieden stellende Texte zu ini-
tiieren.
Der Wunsch der Schreiber, ihre Zeitung zu vollenden, war ausschlaggebend
für einen weiteren Schreibversuch. Sie wollten in dieser Zeitung auch über ih-
ren Alltag schreiben. Dazu kam der Wunsch, wie „richtige Reporter“ zu arbei-
ten. Dieser Vorschlag führte zu einer Unterrichtseinheit, in der Tä-
tigkeitsbereich und Arbeitsweise eines Reporters vorgestellt wurden. Am Ende
dieser Einheit entstand ein Leitfaden für Interviews und eine Liste mit mögli-
chen Themen. Die Schreiber gingen hoch motiviert an die Arbeit und sammel-
ten unterschiedlichstes Material: Tonbandaufzeichnungen von Interviews, Fo-
tos, Notizen, Prospekte. Sie sichteten das Material gemeinsam und begannen
mit dem Schreiben. In dieser Phase merkten sie, dass ihnen noch viele Infor-
mationen fehlten, die nicht aus dem gesammelten Material gezogen werden
konnten. Die Schreiber wussten, dass weitere Recherchen zu besseren Texten
geführt hätten, dennoch waren sie nicht dazu zu bewegen, sich ergänzende
Informationen zu erschließen.
Die Texte sagen vergleichsweise wenig über den Arbeitstag der Jugendlichen
und die Firma aus, in der sie beschäftigt waren. Die Schreiber beschränkten
sich inhaltlich auf ihren engsten Tätigkeitsbereich und berichteten über ein-
zelne Ereignisse, die sie bewegt hatten. Die Texte wurden nicht an Leser ad-
252

ressiert, die nicht zur Schreibgruppe oder deren engsten Umfeld gehörten.
Dies wird besonders deutlich, wenn in den Texten Personen auftauchen, die
weder eingeführt, noch vorgestellt, sondern beim Vornamen genannt werden.
Selbstverständlich hatten die anderen aus der Schreibgruppe keine Probleme
damit, die Personen zu identifizieren, sie dachten jedoch nicht daran, dass
dies für einen außenstehenden Leser zu Verständnisproblemen führen kann.
Es ist den Schreibern hier einerseits nicht gelungen, inhaltlich über die Gren-
zen des alltäglich Erlebten hinaus zu gehen und andererseits Leser anzuspre-
chen, die nicht in diesen Alltag eingebunden waren.413

6.6 Schreiben mit Jugendlichen


Das Schreiben in Gruppen jugendlicher Lerner unterscheidet sich deutlich von
Schreibkursen mit Kindern oder Erwachsenen. Gerade diese Jugendlichen, die
in außerschulische Maßnahmen eingebunden sind, bringen wenig oder keine
Voraussetzungen mit, die einen frühen Erfolg versprechen. Die Jugendlichen
waren weder das Schreiben gewohnt, noch waren sie jemals auf die Idee ge-
kommen, es auszuprobieren. Sie hatten technische und sprachliche Schwie-
rigkeiten, die das Experiment „Schreiben“ in gleichem Maße beeinträchtigten
wie ihre Einstellung, sie seien keine Schriftsteller und sie könnten nicht
schreiben.

6.6.1 Der Teufelskreis


Die jugendlichen Schreiber sahen sich nach der Besprechung der ersten Texte
in einem Teufelskreis gefangen, aus dem sie sich nicht mehr befreien konn-
ten.
Nach der Produktion präsentierten die Schreiber ihre Texte zu John Silvers
Schatzkiste stolz in der Schreibgruppe. Sie waren überrascht, wie viel Spaß
ihnen das Schreiben gemacht hatte, und begeistert von ihren Texten. Die
Texte wurden von der Gruppe durchweg positiv aufgenommen. Die Jugendli-
chen hatten Spaß an ihren Texten und damit am Schreiben gefunden. Sie
sprachen über ihre Texte und auch über deren geplante Veröffentlichung in
der Zeitung. An diesem Punkt gab ein Schreiber zu bedenken, dass einige
Texte wohl nicht zur Veröffentlichung geeignet seien, da sie anstößige Wörter
oder Passagen enthielten. Die Schreiber standen vor einem unlösbaren Prob-
lem: Schrieben sie so, wie es ihnen Spaß machte, dann konnten die Texte
nicht veröffentlicht werden. Schrieben sie so, dass eine Veröffentlichung mög-
lich wurde, dann hatten sie keinen Spaß daran. Der Vorschlag, generell auf

413 Dies gilt auch für Jugendliche, die im folgenden Jahr an der Maßnahme teilgenommen haben. Diesen wurden die
Zeitung vorgestellt. Sie bewerteten die darin enthaltenen Texte durchweg negativ. Sie meinten, diese seien langweilig,
man könne sie nicht verstehen und betitelten sie als „Insider-Gelabere“.
253

eine Veröffentlichung zu verzichten, wurde von ihnen rundweg abgelehnt, da


ihnen die Idee der Zeitung zu verlockend erschien, um sie nicht zu realisieren.
Die Schreiber waren hin und her gerissen zwischen der Lust am Schreiben
und der Lust am Veröffentlichen. Sollten sie Texte schreiben, die ihnen Spaß
machen oder sollten sie Texte schreiben, deren Produktion ihnen ebenso we-
nig Spaß machten wie die Texte an sich? Erstaunlicherweise waren es die ju-
gendlichen Schreiber selbst, die sich in dieses Dilemma brachten.
Die Jugendlichen konnten sich sehr schwer von den Vorstellungen lösen, die
ihnen bereits in der Schule vermittelt worden waren, dass Geschriebenes
ernsthaft und „irgendwie wichtig“ zu sein hat. Obwohl sie ihre John Silver-
Texte toll fanden, konnten sie sich nicht von ihren Vorstellungen lösen. Die
„Schere im Kopf“ blieb und konnte auch mit vereinten Kräften nicht geschlos-
sen werden. Auch Erfahrungen aus andern Schreibgruppen jugendlicher Ler-
ner hat gezeigt, dass Lerner sich desto weniger von Vorschriften und Regeln
lösen können, je weniger sicher sie sich fühlen. Jugendliche, die sich im
schriftlichen Sprachbereich sicher bewegen können, zeigen keine Hemmungen
beim Experimentieren mit für sie neuen Techniken und Verfahren, während
Jugendliche, die wenig Erfahrung mit dem Schreiben haben und sich dement-
sprechend unsicher fühlen, auch dann nicht weiter auf kreative Techniken und
Verfahren einlassen können, wenn sie positive Erfahrungen gemacht haben.
Allein der Vorschlag „Schreib, wie du denkst!“ erschien den jugendlichen Ler-
nern so ungeheuerlich, dass sie ihn nicht in die Tat umsetzen konnten, oder
die Produkte dieser Arbeit nicht vorzeigen wollten.

6.6.2 Die Förderung sozialer Kompetenz


Die Gruppe ...
Die Schreiber pflegten zu Beginn der Schreibkurse ein eher kollegiales denn
freundschaftliches Verhältnis. Die Jugendlichen hatten wenig privaten Kontakt
und eine eher oberflächliche Beziehung zueinander. In der Schreibgruppe hat-
te jeder schnell eine Rolle übernommen und damit seine Position definiert.
Führungsrolle und Außenseiterrolle waren bereits zu Beginn des gemein-
schaftlichen Arbeitens an den Texten besetzt. Das wöchentliche Zusammen-
treffen in der Schreibgruppe führte zur Bildung einer Gruppenstruktur, die bis
zum Abschluss stabil blieb.
Ein Schreiber war seit Beginn der Maßnahme Außenseiter und hatte wenig
Kontakt zu seinen Kollegen und Mitschülern. Er war Ziel des Spottes und litt
unter den Hänseleien der Kollegen. Wortführend in der Gruppe war ein Ju-
gendlicher, der die Rolle des „Spaßvogels“ eingenommen hatte. Er witzelte
über Kollegen und Vorgesetzte und war selten zu einem ernsthaften Gespräch
bereit. Er wurde von den anderen Jugendlichen bewundert, während sie
gleichzeitig seinen Spott fürchteten und sich ihm deshalb unterordneten.
254

Zu einer ersten Auseinandersetzung kam es während der Besprechung der


ersten Texte. Die Auseinandersetzung wurde heftig und kontrovers geführt
und eskalierte mehrmals bedenklich, insbesondere als der Text des Wortfüh-
rers kritisiert wurde. Die Gruppe spaltete sich während der Diskussion in zwei
etwa gleich große Lager. Der Wortführer wurde von Jugendlichen unterstützt,
die seine Freundschaft suchten. Sie verteidigten dabei den Schreiber und
nicht seinen Text. Immer wieder pochten sie auf sein Recht, zu schreiben,
was er wolle und machten nur vereinzelt Aussagen zum Text und den Reakti-
onen, die er hervorgerufen hatte, wie „Der ist doch lustig, ihr habt doch auch
alle gelacht!“. Sie konnten und wollten keine Kritik am Text und damit auch
an ihrem Vorbild zulassen. Die andere Gruppe dagegen, argumentierte auf
sachlicher Ebene und versuchte den Eindruck, den der Text auf sie gemacht
hatte, zu schildern. Die Jugendlichen, die sich an die Seite des Wortführers
gestellt hatten, argumentierten stark emotional und reagierten aggressiv auf
die Kritik. Die Aggression richtete sich in erster Linie auf den Außenseiter der
Schreibgruppe, der zum Wortführer der kritisierenden Gruppe wurde. Seine
sachlichen und vernünftigen Argumente brachten die anderen umso mehr auf,
je ruhiger und bestimmter er sie vortrug. Einige Jugendliche unterstützten ihn
und schlossen sich seiner Meinung an. Die Diskussion eskalierte mehrmals so,
dass Handgreiflichkeiten nur durch die anwesenden Lehrkräfte verhindert
werden konnten.
In den nächsten Sitzungen kam es immer wieder zu Meinungsverschieden-
heiten zwischen den Schreibern, die aber nicht mehr emotional ausgetragen
wurden, sondern vergleichsweise sachlich blieben. Der erste „Machtkampf“
war entschieden worden und damit die Positionen der einzelnen Schreiber de-
finiert. Die Schreiber fühlten sich nicht mehr persönlich angegriffen, wenn ei-
ner ihrer Texte besprochen wurde. Dementsprechend sah auch die Teilgruppe,
die sich dem Wortführer angeschlossen hatte, ihrer Funktion entledigt, diesen
um jeden Preis zu verteidigen. Der anfängliche Außenseiter übernahm mehr
und mehr eine regulierende Rolle und fand dafür bei den anderen Anerken-
nung. Die Gruppe strukturierte sich neu und gelangte zu einem stabilen
Gleichgewicht. Das Schreiben in der Gruppe, die Präsentation der Texte und
das Besprechen der Texte bewirkte ein starkes „wir“-Gefühl in der Schreib-
gruppe.
... das Miteinander
Die ersten Gespräche und Diskussionen in dieser Gruppe verliefen chaotisch.
Die Jugendlichen schrieen durcheinander und versuchten ihren Beiträgen
durch Lautstärke das gewünschte Gewicht zu geben. Der Vorschlag einer
Lehrkraft, Gesprächsregeln zu erarbeiten und anzuwenden, wurde schlichtweg
als „Kindergartenkram“ abgelehnt. Erst, als die Jugendlichen selbst unter ihrer
Disziplinlosigkeit in den Diskussionen zu leiden begannen, bemühten sie sich,
sich angemessen zu verhalten. Sie weigerten sich jedoch weiterhin strikt, Ge-
255

sprächsregeln zu formulieren, riefen sich aber während der Diskussionen ge-


genseitig zur Ordnung „Schrei doch nicht so!“, „Lass den mal ausreden!“,
wenn sie die gemeinsame Arbeit durch unangemessenes Verhalten gefährdet
sahen. Es zeigte sich, dass die Jugendlichen durchaus in der Lage waren, ihre
Diskussionen selbständig zu organisieren und so zu zufrieden stellenden Er-
gebnissen zu gelangen.
Das Bemühen um einen sachlicheren Gesprächsstil und die Angst vor er-
neuten Eskalationen führte dazu, dass Kritik vorsichtiger formuliert wurde, um
zu verhindern, dass sich der jeweilige Schreiber persönlich angegriffen fühlt
und aggressiv reagiert. Die Jugendlichen fanden Formen, in denen die Kritik
von dem Betroffenen angenommen und als konstruktive Hilfestellung der an-
deren akzeptiert werden konnte. Damit war eine Basis zu konstruktiver und
erfolgreicher Arbeit in der Schreibgruppe geschaffen.
Das Kreative Schreiben bietet mit seinen Phasen der Präsentation, der Text-
besprechung und -überarbeitung immer wieder Anlass zu Diskussionen und
Gesprächen. Diese Phasen dienen, wie sich bei der Arbeit mit dieser Schreib-
gruppe gezeigt hat, nicht nur der Förderung der sprachlichen Kompetenz,
sondern auch der sozialen Kompetenz. Diese beiden Komponenten stehen in
engem Zusammenhang. So ist eine soziale Kompetenz in hohem Maß abhän-
gig von sprachlicher Kompetenz. In dieser Schreibgruppe konnte häufig beo-
bachtet werde, dass Jugendliche mit geringem Wortschatz und beschränktem
Ausdrucksvermögen laut und aggressiv wurden, sobald sie ihre Ansichten und
Argumente sprachlich nicht in gewünschtem Maße vertreten konnten. Als sich
die Jugendlichen um eines erfolgreichen Abschlusses ihrer Arbeit Willen be-
mühten, ihre Diskussionen sachlich und ruhig zu führen, waren sie gezwungen
ihre Aussagen so formulieren, dass Missverständnisse vermieden wurden. Sie
trainierten in den Diskussionsphasen ihr mündliches Ausdrucksvermögen und
lernten sich klar und verständlich zu äußern. Dies hatte wiederum positiven
Einfluss auf das soziale Verhalten in der Gruppe. Aus dem anfänglichen Ge-
geneinander wurde ein konstruktives Miteinander, das sich auch auf den be-
ruflichen Alltag positiv auswirkte.

6.7 Abschließender Erfahrungsbericht


In dieser Gruppe waren überwiegend Schreiber versammelt, für die Deutsch
Zweitsprache war. Sie hatten überwiegend zweisprachige Klassen besucht, d.
h. sie waren sowohl in der Primärsprache als auch in der Zielsprache Deutsch
beschult worden. Die Lerner dieser Gruppe müssen überwiegend zu den habi-
tuellen Analphabeten gezählt werden, da sie seit ihrer Schulzeit nicht mehr
geschrieben haben und damit auch die dort mehr oder weniger gefestigt er-
lernten Fertigkeiten und Fähigkeiten nicht mehr trainiert hatten. Für diese
Lerner war es wichtig, das Schreiben als Medium zurückzuerobern und es sich
erneut zu erschließen. Das Verfahren des Kreativen Schreibens hat sich hier
256

als geeignet erwiesen, den Lernern Freude am schriftlichen Ausdruck zu ge-


ben und sie zu Diskussionen über den Schreibprozess anzuregen.
Den Jugendlichen dieser Schreibgruppe war zu Beginn der Schreibkurse das
Schreiben an sich nicht vertraut und war von ihnen nicht als Medium genutzt
worden, sich auszudrücken. Die Jugendlichen konnten keinen Zusammenhang
zwischen ihrer Erfahrungswelt und dem Schreiben erkennen. Schreiben be-
deutete für sie eine langweilige und ermüdende Tätigkeit, die sie aus dem
schulischen Deutschunterricht kannten. Das Kreative Schreiben vermittelte
den Jugendlichen, dass sie ihre Ideen und Gedanken verschriftlichen können.
Der Ansatz, dass ihre Geschichten es durchaus wert seien, aufgeschrieben zu
werden, war vielen Jugendlichen neu. Sie fanden Spaß daran, sich schriftlich
zu äußern, was als viel versprechender Ansatzpunkt zu weiterer Schreibarbeit
gewertet werden kann.
Für diese Gruppe war das Kreative Schreiben, auf Grund organisatorischer
Faktoren, nicht in den Unterrichtsalltag integriert worden. Sie schrieben im
Förderunterricht, also in einer zusätzlichen Unterrichtseinheit. Diese Stellung
unterstützte einen „Schreibkurs-Charakter“, der sich positiv auf die Motivation
der Jugendlichen auswirkte. Sie sahen in den Schreibstunden einen Raum, in
dem es ihnen möglich wurde, ihre Persönlichkeit in den Unterricht einzubrin-
gen und eine willkommene Abwechslung. Gerade für die nicht-schreibenden
Jugendlichen dieser Gruppe hat sich gezeigt, dass das Kreative Schreiben an-
deren Schreiblernverfahren den Weg bereiten kann. Die Jugendlichen erkann-
ten erst beim Schreiben die Notwendigkeit und den Sinn des Erwerbs der
Schriftsprache. Der Weg von der systematischen Unterweisung hin zum Text
hatte sich für die Jugendlichen als fatal erwiesen. Dem entgegen konnte der
Weg vom Text zu systematischen Unterweisungen ihr Interesse wecken.
Die starke Verzahnung kommunikativer und formalsprachlicher Elemente be-
wirkt, dass das Kreative Schreiben für alle Lernertypen ein angemessenes und
die Sprachkompetenz förderndes Verfahren darstellt. Die Integration formal-
sprachlicher Strukturen in die Texte und damit deren praktische Anwendung
weist sowohl kommunikativ orientierte Lerner auf die Funktion und die Rele-
vanz grammatischer Strukturen in kommunikativen Sprachsituationen hin, als
auch formalsprachlich orientierte Lerner auf die Notwendigkeit, grammatische
Strukturen nicht als Selbstzweck, sondern im kommunikativen Kontext zu er-
werben.
Insbesondere für die jugendlichen Lerner hat sich gezeigt, wie grundsätzlich
die Frage der Motivation den Erfolg des Unterrichts beeinflusst. Die Jugendli-
chen, die im Rahmen dieser Schreibkurse geschrieben haben, standen dem
Schreibenlernen ablehnend gegenüber. Sie sahen keinen Grund, ihre schrift-
sprachlichen Kenntnisse zu verbessern, da sie im Alltag wenig oder gar nicht
schrieben. Bislang hatten sie Schreiben im Unterricht nur als unverständliche
257

und mühevolle Angelegenheit erfahren und sie waren zu der Ansicht gelangt,
es sei das Beste, all ihre Mühe darauf zu verwenden, im Diktat weniger als 15
Fehler zu machen. Aufsätze oder kleine Texte taten sie bereits vorab mit ei-
nem „kann ich nicht“ ab. Erst, als sie erkannten, dass auch sie „krasse“ Ge-
schichten schreiben konnten, entdeckten sie einen Sinn, die Schriftsprache zu
erwerben, bzw. ihre Kenntnisse zu verbessern und zu festigen.

7 „Der kurze Weg zum Schreiber“


Falldarstellungen aus einer empirischen Untersuchung zur
Schreibentwicklung
Es ist ein Anliegen der vorliegenden Arbeit, den Zuwachs an kreativer und
sprachlicher Kompetenz zu ermitteln, der mit Hilfe kreativer Verfahren im
Deutschunterricht erreicht werden kann. Die Querschnittsuntersuchung285
wird im Folgenden durch Fallstudien ergänzt. Diese Fallstudien sind geschrie-
bene Zusammenfassungen oder Betrachtungen konkreter, realistischer Fälle,
die auf gesammelten Daten und Research beruhen.
Die Fallstudien wurden auf der Basis von Texten, die im Schreibkurs produ-
ziert wurden, teilhabender Beobachtungen sowie Befragungen der Schreiber
entwickelt. Sie zeigen Veränderungen und Entwicklungen der Schreiber in Be-
zug auf ihre sprachliche Kompetenz in der Zielsprache Deutsch sowie ihrer in-
dividuellen Kreativität auf. Es werden insgesamt 6 Fallstudien angefertigt, die
den individuellen Weg der Schreiber aufzeigen. Es erscheint hier wichtig, zwi-
schen Längsschnitt-Design und Längsschnitt-Daten zu unterscheiden, da hier
in einer einmaligen Untersuchung retrospektiv Daten in Längsschnittform er-
hoben wurden. Die Daten, die zur Entwicklung der Fallstudien herangezogen
wurden, wurden im Zeitraum der Schreibkurse erhoben.414 Die Fallstudien sol-
len die Querschnittsuntersuchung in Form einer Kohortenstudie ergänzen.
Diese Sonderform der Längsschnittuntersuchung dient der Trennung von Ko-
horteneffekten, also der Wirkungen, die sich aus der Zugehörigkeit der Perso-
nen zu bestimmten Gruppen ergeben, und anderen Effekten, wie etwa dem
Alterseffekt. Demgegenüber werden den Fallstudien Paneluntersuchungen zu-

285 siehe Kapitel II. 4-7


414 Die Organisation der Schreibkurse und die Strukturen und Zielsetzungen der einzelnen Schreibgruppen erlauben
keine Beobachtung der Schreiber über einen Zeitraum, der über die Arbeit mit der jeweiligen Schreibgruppe hinausgeht.
Dieser Umstand ist einerseits dadurch verursacht, dass die Schreibgruppe sich nach Abschluss der Schreibkurse auflöste
(die Schreibgruppe aus der Grundschule trat mit Schuljahresende in verschiedene weiterführende Schulen über, die
Teilnehmer des Deutschkurses traten in einen anderen Kurs über oder besuchten keine weiterführenden Kurse) oder –
wie im Fall der jugendlichen Schreiber – es wurde im weiteren Unterricht nicht mehr mit kreativen Verfahren oder
Techniken gearbeitet.
258

gefügt, deren Ziel in erster Linie die Erhebung von Veränderungen auf der In-
dividualebene ist.415
Die Methode der Fallanalyse wurde ausgewählt, um einen Zugang zur exem-
plarischen Entwicklung der Schreiber zu eröffnen. Der Umstand, dass die Tex-
te alle im Schreibkurs verfasst und bearbeitet wurden, also in einer Unter-
richtssituation, von der die Schreiber hinsichtlich ihrer sprachlichen Entwick-
lung profitieren konnten, schützt die Personen vor einem leichtfertigen Um-
gang mit ihren persönlichen Texten. Der Lernzuwachs der Schreiber soll auf-
gezeigt und bestimmt werden. Dies geschieht mit Hilfe der Texte, mit Hilfe
von Beobachtungsprotokollen sowie von Befragungen der Schreiber. Die Fall-
studien weisen neben Ergebnissen quantitativer Analysen sowie Ergebnissen
qualitativer Untersuchungen auch interpretative Aussagen auf, denn eine Eti-
kettierung einer Person ist untrennbar mit den Einstellungen und Zielsetzun-
gen der Beobachter verbunden. Eine völlige neutrale Wahrnehmung eines
Menschen durch einen Beobachter ist unmöglich.
In den folgenden Fallstudien soll durch das Zusammenspiel der oben genann-
ten Verfahren versucht werden, ein Bild von der Entwicklung der sprachlichen
Kompetenz und der individuellen Kreativität der Schreiber zu erstellen, das
der Wirklichkeit entspricht und nicht zum Zweck der Datensammlung erstellt
wurde.

7.1 Die Anlage der Fallstudien


Ausgehend von der im Teil I dieser Arbeit aufgestellten These, kreativ ge-
schriebene Texte müssten unter Berücksichtigung ihrer Entstehungsprozesse
sowie der individuellen (sprachlichen) Entwicklung des Schreibers bewertet
werden, sollen alle verfügbaren Texte des jeweiligen Schreibers in die Fallstu-
dien einbezogen werden, denn der individuelle Lernzuwachs sowie die indivi-
duelle Entwicklung des Schreibers können nur bewertet werden, wenn frühere
Texte oder Textversionen zum Vergleich herangezogen werden.
Den Fallstudien wird eine Kurzbeschreibung der Person vorangestellt. Ihr liegt
eine kurze autobiografische Darstellung zu Grunde, die von den Schreibern
mündlich oder schriftlich angefertigt wurde. Diese Kurzbeschreibungen wur-
den von den Schreibern überprüft und für die vorliegende Arbeit zur Verfü-
gung gestellt. Die Fallstudien wurden mit Hilfe eines Leitfadens erstellt, der
sowohl die Lebenssituation der Schreiber, eine Analyse der Entstehungsbedin-
gungen der Texte als auch eine Analyse der Texte selbst berücksichtigt.
Der Leitfaden soll die Fallstudien strukturieren und hinsichtlich der relevanten
Untersuchungskriterien evaluieren. Mit Hilfe des Leitfadens sollen sowohl die

415 vgl. Jacob/Eirmbter/Ludwig-Mayerhofer (2000)


416 Gstettner (1982) a.a.O. S.9
259

Entwicklung sprachlicher Kompetenz als auch die Entwicklung der individuel-


len Kreativität ermittelt werden.
Der Leitfaden soll aber kein „Korsett“ darstellen, das die Fallstudien in einen
festen Rahmen zwingt, sondern als „roter Faden“ die Fallstudien durchlaufen.
Es scheint nicht möglich, kreative Leistungen auf Grund ihres prozesshaften
Charakters oder kreative Produkte an Hand eines starren Rasters aufzuspüren
oder gar zu messen. Demzufolge wird in den Fallstudien sowohl auf den Leit-
faden zur Bewertung kreativ geschriebener Texte417 als auch auf Einschätzun-
gen der Schreiber, Mitglieder der Schreibgruppe sowie außenstehender Perso-
nen zurückgegriffen. Die Befragung der oben genannten Personen stellt ein
Korrektiv dar, das angesichts folgender These,
„Subjektive, emotionale und kreative Aspekte eines Textes werden (...) zur
Diskussion gestellt, da eine Bewertung durch eine einzelne Person, deren per-
sönliche Vorlieben und Abneigungen in die Bewertung einfließen, nicht annä-
hernd objektiv ausfallen kann.“ 418
unbedingt notwendig wird, um das Einfließen subjektiver Vorlieben zu regulie-
ren. Eine gemeinsame Auseinandersetzung mit den Texten ist nicht nur wäh-
rend der Textproduktion im Rahmen der Schreibgruppen wichtig und notwen-
dig, sondern sollte grundsätzlich in Betracht gezogen werden, wenn die Texte
hinsichtlich kreativer, emotionaler und subjektiver Kriterien einer Analyse un-
terzogen werden.

Leitfaden für die Fallstudien

Der Schreiber
Darstellung der individuellen Ausgangslage des Schreibers
Wer hat geschrieben?
Zielsetzung
Ziel der Schreibgruppe
Mit welchem Ziel wurde in der Gruppe geschrieben?
Ziel des Schreibers
Warum hat der Schreiber Texte verfasst und bearbeitet?
Entstehungsbedingungen der Texte

417 siehe Kapitel I. 3.8.2


418 siehe Kapitel I. 3.8.2
260

Themenwahl
Welche Themen wurden aus welchem Grund ausgewählt?
Schreibzeit
Wie lange schrieben die Lerner an der Rohfassung?
Schreibanlass
Welcher Schreibanlass war zum jeweiligen Thema als Einstieg sinnvoll?
Ideensammlung

Welche Technik schien in Hinblick auf die Schreibgruppe und ihre Bedürf-
nisse sinnvoll?

Entwicklung sprachlicher Kompetenz in der Zielsprache Deutsch


Entwicklung der schriftsprachlichen Kompetenz

Welche Fortschritte können in den Bereichen Wortschatz und Grammatik


(Wort, Satz, Text) festgestellt werden?

Entwicklung der kommunikativen Kompetenz

Über welche kommunikativen Fähigkeiten verfügte der Schreiber vor dem


Schreibkurs? Konnte er seine kommunikative Kompetenz verbessern?

Entwicklung eines Sprachbewusstseins

Konnte der Schreiber ein Sprachgefühl entwickeln? Kann der Schreiber


kontrastiv arbeiten? Wurden Interferenzen vermieden? Traten Interlangu-
age-Fehler auf?

Entwicklung individueller Kreativität


Entwicklung neuer Ideen

Treten in den Texten neue, unerwartete Aspekte auf oder beleuchtet der
Schreiber das Thema aus einer neuen, ungewöhnlichen Perspektive?

Entwicklung origineller Aussagen

Trifft der Schreiber originelle Aussagen bzw. Aussagen, die nicht dem
„main stream“ entsprechen?

Entwicklung divergenter Aussagen


261

Trifft der Schreiber Aussagen, die in diesem Zusammenhang ungewöhn-


lich, neu oder andersartig sind?

Entwicklung einer sprachlich angemessenen Form


Ist der Text angemessen und verständlich formuliert?
Wurden Metaphern gebildet?
Repräsentative Zusammenfassung

7.2 Auswahlkriterien
Um ein repräsentatives Bild erstellen zu können, wurden aus den drei
Schreibgruppen jeweils zwei Schreiber ausgewählt, deren Texte einer Längs-
schnittuntersuchung in der Form von Fallstudien untersucht werden. Auswahl-
kriterien hierbei waren
Der Schreiber hat Texte geschrieben und zur Verfügung gestellt.
Der Schreiber nahm in der betreffenden Schreibgruppe keine außergewöhnli-
che Position ein.
Der Schreiber war bereit, Aussagen zu seiner Person und zu seinen Texten zu
machen und diese zur Verfügung zu stellen.
An Hand dieser Kriterien wurden aus der Grundschulklasse die Texte eines
türkischen und eines deutschen Mädchens ausgewählt, aus dem Deutschkurs
wurden die Texte eines pakistanischen Mannes und eines Mannes von der El-
fenbeinküste herangezogen und aus der Schreibgruppe, die im Rahmen der
außerschulischen Maßnahme geschrieben hatte, wurden die Texte eines türki-
schen und eines deutschen Jugendlichen ausgewählt.

7.3 Der Weg und das Ziel


„Der Kurze Weg zum Schreiber“ – dieser Titel steht hier in doppeltem Sinn: Er
bezieht sich einerseits auf die beschränkte Zeit, die aus organisatorischen
Gründen für die Schreibkurse zur Verfügung stand und andererseits für die
individuelle Entwicklung der Schreiber, die sie in relativ kurzer Zeit das Ziel,
Texte in der Zielsprache Deutsch zu verfassen, erreichen ließ. Während in den
Kapiteln 4 bis 6 dieser Arbeit aufgezeigt wurde, welche Leistungen trotz eines
beschränkten Zeitraumes erzielt werden können, soll mit Hilfe der Fallstudien
der individuelle „Weg“ der Schreiber nachvollzogen und untersucht werden.
Ziel der Längsschnittuntersuchung ist die Feststellung, inwieweit das Kreative
Schreiben die Kompetenz in der Zielsprache Deutsch fördern und gleichzeitig
das individuelle kreative Potential der Schreiber wecken bzw. erweitern kann.
262

7.4 In der Grundschule


In dieser Klasse wurde das Kreative Schreiben mit seinen Verfahren und
Techniken eingeführt, da es sowohl die sprachliche als auch die soziale Kom-
petenz der Schüler fördert. Im kreativen Schreibkurs werden die Lernbereiche
Lesen, Schreiben, Rechtschreiben, Sprachbetrachtung sowie mündlicher
Sprachgebrauch gefördert. Der Lehrplan gibt dazu an:
„Die Gliederung des Lehrplans in die Lernbereiche Lesen, Schreiben, Recht-
schreiben, Sprachbetrachtung, mündlicher Sprachgebrauch und schriftlicher
Sprachgebrauch zeigt die Vielfalt der Aufgaben des Deutschunterrichts, er-
möglicht eindeutige Zielsetzungen, darf jedoch nicht zu einer isolierten Be-
handlung der Lernbereiche verleiten. Vielmehr soll gerade im primärsprachli-
chen Unterricht auf Verbindung und Zusammenschau der verschiedenartigen
Aufgaben geachtet und ihre Verwirklichung auch in fächerübergreifenden Vor-
haben angestrebt werden.“ 419
Diese Anforderungen an den Deutschunterricht werden vom Kreativen Schrei-
ben erfüllt420. Das Schreiben und die Auseinandersetzung mit den Texten er-
fordert nicht nur eine Förderung in den Lernbereichen, die der Lehrplan für
das Fach Deutsch fordert, sondern auch im Bereich des sozialen Lernens, das
in der Schulklasse sinnvoll eingeübt und trainiert wird. Das Erarbeiten und
Anwenden von Gesprächsregeln, das Üben konstruktiver Kritik, das Zurück-
stellen emotionaler Vorlieben und Abneigungen in sachlichen Gesprächen, das
Auseinandersetzen mit inhaltlichen Aussagen, die andere in ihren Texten tref-
fen – dies alles sind Qualifikationen, die vom Lehrplan nur indirekt angespro-
chen werden, aber grundlegend für das Erreichen einer sozialen Kompetenz
sind. Die Schüler lernten im Schreibkurs methodisches Vorgehen in Bezug auf
projekthaftes Arbeiten und die Arbeit im Team, was dazu führte, dass sie auch
über einen längeren Zeitraum konzentriert und engagiert an einem Thema ar-
beiteten, und dass die Teamfähigkeit erheblich gesteigert wurde.
Dennoch hat die Förderung der Schreibfreude Vorrang vor nur verstandesmä-
ßiger Auseinandersetzung mit dem Medium an sich. Der Umgang mit den Tex-
ten kann
„...dem Kind (...) die Kraft der Sprache nahebringen, zum Verständnis ge-
genwärtiger und zukünftiger Lebenssituationen beitragen und seine Urteilsfä-
higkeit entwickeln.“421
Das Kreative Schreiben wurde im Unterricht demnach nicht nur zur Förderung
sprachlicher Kompetenz eingesetzt, sondern lernzielübergreifend.

419 vgl. Lehrplan für Grundschulen


420 siehe Kapitel I. 3
421 dto.
263

7.4.1 Daniela
Daniela hat zum Zeitpunkt der Schreibkurse eine vierte Grundschulklasse be-
sucht, die in den Schulversuch „Integration ausländischer Schüler in Regel-
klassen“ eingebunden war. Daniela war zu diesem Zeitpunkt 10 Jahre alt und
plante den Übertritt ins Gymnasium. Die Schülerin war ein freundliches, auf-
gewecktes Mädchen, das sich im Unterricht durch rege Mitarbeit auszeichnete.
Sie war ein überaus freundliches Kind, das sich den Mitschülern gegenüber
sehr hilfsbereit und kollegial zeigte. Ihre schulischen Leistungen waren gut bis
sehr gut und sie versicherte, die Schule mache ihr Spaß und sie gehe gerne in
den Unterricht. Dies wurde unterstützt durch ihre Beliebtheit in der Klasse und
durch sehr enge, freundschaftliche Beziehungen zu einigen Mädchen der Klas-
se. Ihre schulischen und privaten Freundschaften waren hinsichtlich der Her-
kunft der Freunde heterogen, wenn sie auch im privaten Bereich mehr deut-
sche Freunde hatte, da die Eltern wenig Kontakt zu ausländischen Mitbürgern
hatten. Daniela hatte von ihren türkischen Freundinnen und Klassenkamera-
den einige Worte und Sätze in türkischer Sprache gelernt und war sehr stolz
auf ihre Kenntnisse. Sie fand es schade, dass sie in der fünften Klasse Eng-
lisch als erste Fremdsprache lernen würde und nicht Türkisch, denn dann
könnte sie „richtig“ mit der Mutter ihrer besten Freundin reden, bei der sie
häufig zu Gast war. Über sich selbst schrieb sie:
Ich bin klein, habe kurze braune Haare. Und Grau blaue Augen.
Trage fast nur Jeans. Meine Freundinnen sind Dilek, Steffi, Isabel-
la, Deniz, Meral. lustig bin ich auch. Liblings Tiere hab ich auch und
zwar Hase, Hunde, Hamster, Meerschweinchen und kleine süße
Mäuse. Hobbis, Schwimmen, Rollschuhfahn, Faratfahren.
Zu ihren schulischen Leistungen gab sie in einem Cluster an:
Ich bin gut und schlecht in der Schule.
Die Schülerin schrieb im Rahmen der Schreibkurse folgende Texte:
Wenn ich ein Junge wäre würde ich Mädchen anmachen. Und wenn ich ein
Junge wäre würde ich mich nicht so aufblustern wen ich mich neben ein
Mädchen hogen müsste. Wenn ich ein Junge wäre würde ich nicht so gi-
chern zum beispiel wie Gianni. Und wenn ich ein Junge wäre ich würde nie
Mädchen haun. Und wenn ich ein Junge wäre würde ich mich nicht in jedes
Mädchen auf der Strasse verknaln. Und wenn ich ein Junge wäre würd ich
den Mädchen die Warheit sagen.
Daniela hat diesen Text im Rahmen des Schreibkurses überarbeitet. Die end-
gültige Textfassung zeigt deutliche Unterschiede zur Rohfassung auf:
Wenn ich ein Junge wäre, dann würde ich nicht jedes Mädchen auf der
Straße anmachen. Wenn ich ein Junge wäre, dann würde ich nicht sagen:
264

„Ich bin der Stärkste!“. Wenn ich mich neben ein Mädchen setzen müßte,
würde ich mich nicht so aufplustern, wenn ich ein Junge wäre. Und wenn
ich ein Junge wäre, würde ich nie Mädchen hauen. Wenn ich ein Junge wä-
re, würde ich meiner Freundin immer die Wahrheit sagen.
Das nächste Thema im Schreibkurs war „So sollte mein bester Freund/meine
beste Freundin sein“. Daniela hat dazu folgende Rohfassung geschrieben:
So sollte meine beste Freundin sein

Sie sollte immer für mich da sein. Und sie sollte auch immer hilfsbereit
sein. Ich muß ihr verdrauen können. Sie muß auch lustig und für jeden
Spaß bereit sein. Es wäre aber auch schön wenn ich mit jeden Problem zu
ihr kommen kann, daß wir dann darüber reden.
Daniela hat die Rohfassung zum Thema „So sollte meine beste Freundin sein“
intensiv überarbeitet.
So sollte meine beste Freundin sein

Meine Freundin sollte immer für mich da sein und hilfsbereit zum B. wie
Daniel. Sie müßte so nett zu mir sein wie Frau Lamprecht in der Schule.
Ich muß ihr auserdem vertrauen können wie zum B. Yesim. Ich möchte,
das sie so lustig ist wie ein Clown und für den größten Spaß zu haben ist.
Es wäre aber auch schön, wenn ich mit jedem Problem zu ihr kommen
könnte, damit wir darüber reden.
Daniela hat ihren Text für die Veröffentlichung nochmals überarbeitet und ihn
dann in der folgenden Fassung abgegeben:
Meine Freundin sollte immer für mich da sein und hilfsbereit sein so wie der
Daniel. Sie müßte so nett sein, wie Frau Lamprecht in der Schule. Ich muß
ihr außerdem vertrauen können, wie zum Beispiel Yesim.

Ich möchte, das sie so lustig ist wie ein Clown und für den größten Spaß zu
haben ist. Es wäre aber auch schön, wenn ich mit jeden Problem zu ihr
kommen könnte, damit wir darüber reden können.
Daniela schrieb gerne und entdeckte während der Schreibkurse ihre Vorliebe
für dieses Medium. Zu ihrem Geburtstag, der in der Zeit der Schreibkurse lag,
hatte sie sich ein Tagebuch gewünscht und dies seither eifrig geführt. Sie
tauschte es auch mit ihrer besten Freundin aus und die beiden Mädchen nah-
men dies zum Anlass zu langen, intensiven Gesprächen über den Inhalt der
täglichen Einträge. Zum Abschluss der Schreibkurse wünschte sich Daniela die
Vermittlung einer Brieffreundin.
265

Daniela schrieb im Rahmen des Regelunterrichts. Sie gab an, schreiben ma-
che ihr Spaß, denn sie könne mit ihren Texten „wichtige Sachen“ sagen und
sie hätte dabei nicht mit den Schwierigkeiten zu kämpfen, die sich in Gesprä-
chen stellten, wie ständiges Unterbrechen, Nachfragen, Unruhe usw. Sie
schätzte die Möglichkeit, ihre Aussagen in Ruhe vorzubereiten und zu formu-
lieren, da sie sich in mündlichen Gesprächen häufig „überfahren“ und miss-
verstanden fühlte.
7.4.1.1 Entwicklung der kommunikativen Kompetenz in der Zielsprache
Für Daniela ist Deutsch Primärsprache. Sie beherrscht die Rede- und Kommu-
nikationsstrategien im mündlichen Sprachgebrauch ihrem Alter entsprechend.
Die Übertragung in die Schriftsprache bereitet ihr jedoch Mühe und wird nicht
fehlerfrei geleistet.
In Danielas Texten werden Personen erwähnt, die jedoch nicht eingeführt o-
der vorgestellt werden.
Wenn ich ein Junge wäre würde ich nicht so gichern zum beispiel
wie Gianni.
Daniela hat in keinem Fall berücksichtigt, dass die erwähnten Personen einem
außenstehenden Leser nicht bekannt sind. Offensichtlich hat Daniela Proble-
me, den Wirkungskreis eines von ihr geschriebenen Textes wahrzunehmen
und sich vorzustellen, dass es potentielle Leser außerhalb der Klasse geben
könnte, obwohl die Texte zu einem Buch gebunden und an die Eltern ver-
schenkt werden sollten.
Daniela formuliert in den Texten ihre Meinung und bezieht Stellung zu Sach-
verhalten (s. Beispiel oben). Sie benutzt in den Texten zum Thema „Wenn ich
ein Junge wäre,...“ den Irrealis, um indirekt Kritik an den Jungen zu üben,
macht aber weder konkrete Veränderungsvorschläge, noch beschreibt sie die
Handlungen und Eigenschaften, die sie ablehnt ausführlich oder begründet,
warum sie bestimmte Handlungen oder Eigenschaften nicht mag. Ein Leser ist
hier auf seine Fantasie und auf Erfahrung mit Kindern im Grundschulalter an-
gewiesen, um z. B. nachvollziehen zu können, was Daniela daran stört, dass
ein Junge kichert.
In den Texten formuliert die Schreiberin ihre Vorstellung und ihre Wünsche.
Sie benutzt dazu Verbalisierungen, wie
Ich möchte, ...
Es wäre aber auch schön, ...
oder den Irrealis, z. B.

422 vgl. Lehrplan für Grundschulen


423 dto.
266

Wenn ich mich neben ein Mädchen setzen müßte, würde ich ...
... , würde ich nie Mädchen hauen.
... , würde ich meiner Freundin immer die Wahrheit sagen.
Allen Texten ist gemein, dass sie für ein begrenztes Lesepublikum geschrie-
ben wurden, für die Schulklasse. Es ist Daniela nicht gelungen, ihre Text so zu
schreiben, dass sie für Leser, die nicht zur Klasse gehören, ebenso verständ-
lich sind wie für die Mitschüler. Dies ist erstaunlich, da die Texte von Anfang
an zur Veröffentlichung in einem größeren Kreis bestimmt waren.
In ihrem letzten Text „ich“ stellt sich Daniela dem Leser vor. Dazu formuliert
sie ihren Text in einer Sprache, die einem Brief angemessen ist. Sie schreibt
über ihr Aussehen, ihre Vorlieben, ihre Freunde. Dieser kurze Text erinnert
den Leser an eine Kontaktanzeige aus einem Jugendmagazin. Daniela hat sich
formal und inhaltlich an diesen Stil gehalten.
Hobbis, Schwimmen, Rollschuhfahn, Faratfahren.
Dennoch weist die Passage, in der sie über ihre Freundinnen berichtet wieder-
um darauf hin, dass der Text an ein begrenztes Publikum gerichtet ist, denn
sie stellt die aufgezählten Personen nicht weiter vor.
Meine Freundinnen sind Dilek, Steffi, Isabella, Deniz, Meral.
Ein außenstehender Leser erhält keine differenzierten Aussagen zu Rolle und
Funktion der Freundinnen.
7.4.1.2 Entwicklung individueller Kreativität
Der erste Text, den Daniela geschrieben hat, ist originell. Sie benutzt Wörter,
die für sie, im schriftsprachlichen Bereich, neu sind und beschreibt in witziger
Art und Weise Verhaltensweisen der Jungen in ihrer Klasse.
würde ich mich nicht so aufblustern wen ich mich neben ein Mäd-
chen hogen müsste
nicht so gichern zum beispiel wie Gianni.
würde ich mich nicht in jedes Mädchen auf der Strasse verknaln.
Daniela hat sich bemüht, einen Text zu schreiben, der einerseits ihre Ansich-
ten verdeutlicht und andererseits für das Lesepublikum unterhaltsam ist. Da-
niela war das einzige Mädchen aus dieser Schreibgruppe, das in seinem Text
darauf einging, dass sie das Verhalten der Jungen, wenn sie sich neben ein
Mädchen setzten sollten, nicht korrekt findet. In der anschließenden Diskussi-
on gaben auch die anderen Mädchen an, dass sie dieses Verhalten der Jungen
störe, sie aber nicht daran gedacht hatten, das in ihre Texte aufzunehmen.
Danielas Aussage gab Anlass zu einer heftigen Diskussion in der Klasse. Da-
267

nielas erster Text wirkt originell und witzig, u. a. weil sie ihn spontan zu ei-
nem Thema verfasst hat, das ihr ein Anliegen war.
Danielas überarbeitete Versionen zum Thema „Wenn ich ein Junge wäre,...“
büßen nichts von ihrer Originalität und dem witzigen Stil ein. In der zweiten
Version verstärkt sie den Eindruck, den der Text auf das Lesepublikum mach-
te, indem sie eine direkte Rede einfügte.
Wenn ich ein Junge wäre, dann würde ich nicht sagen: „Ich bin der
Stärkste!“.
Die Rohfassung zum zweiten Thema „So sollte meine beste Freundin sein“
wirkt dazu vergleichsweise ernsthaft. Daniela hat das Thema sehr ernst ge-
nommen und in dieser Fassung auf witzige und neue Elemente verzichtet. A-
ber bereits in der zweiten Fassung zum Thema benutzt sie viele ungewöhnli-
che Vergleiche um ihren Text ansprechender zu gestalten.
lustig wie ein Clown
hilfsbereit wie zum B. Daniel
Der letzte Text, den Daniela verfasst hat, ist weniger fantasievoll und origi-
nell. Daniela hat dies damit begründet, dass sie das Thema „ich“ langweilig
und wenig ansprechend gefunden habe und daher relativ lustlos geschrieben
habe. Sie hatte auch keine Lust, diesen Text diesbezüglich zu überarbeiten
und gab an, sie habe keine Einfälle dazu.
7.4.1.3 Entwicklung der sprachlichen Kompetenz in der Zielsprache
Für Daniela ist Deutsch Primärsprache. Sie wurde deutsch alphabetisiert und
besuchte eine deutsche Regelklasse. Sie war zum Zeitpunkt der Schreibkurse
einsprachig und kannte nur wenige Worte und Redewendungen in anderen
Sprachen wie Englisch und Türkisch.
Der erste Text – eine Bestandsaufnahme
Danielas erste Textversion zum Thema „Wenn ich ein Junge wäre...“ zeigt ne-
ben einem sich wiederholenden Satzmuster formalsprachliche Abweichungen
auf, die überwiegend auf fehlerhafte Laut-Buchstaben-Zuordnungen zurückzu-
führen sind. Im Einzelnen erklären sich die Abweichungen wie folgt:424
aufblustern : dialektbedingter Fehler (pb)
wen: Flüchtigkeitsfehler, da in allen anderen Fällen korrekt.

hogen: dialektbedingter Fehler (ckg)

424 Der formalsprachlichen Analyse liegen im orthografischen Bereich "Das neue deutsche Wörterbuch" (1996) sowie im
grammatischen Bereich "Übungsgrammatik Deutsch" (1991) und "Grammatik der Deutschen Sprache" (1992) zu
Grunde.
268

gichern : dialektbedingter Fehler (kg)


beispiel : Groß-/Kleinschreibung
haun. : dialektbedingter Fehler (Verkürzung der
Infinitivendung auf –n)
Strasse : Ersetzen des scharfen „S“ durch Doppel-“S“
verknaln. : dialektbedingter Fehler (Verkürzung der
Infinitivendung auf –n) und keine Vokalverkürzung
durch Doppelkonsonant
würd : dialektbedingter Fehler (Verkürzung der 1.Person
Singular  ohne Konjugationsendung)
Warheit : keine Vokaldehnung durch Dehnungs-h
Daniela hat in ihrem Text nur Aussagesätze formuliert, die nach dem gleichen
Satzmuster konstruiert sind: Vorangestellter Konditionalsatz mit der Konjunk-
tion „wenn“ und nachgestellter Hauptsatz.
Wenn ich ein Junge wäre würde ich Mädchen anmachen.
In einem Fall hat sie zwei Konditionalsätze mit einem Hauptsatz verbunden:
Und wenn ich ein Junge wäre würde ich mich nicht so aufblustern
wen ich mich neben ein Mädchen hogen müsste.
Sie hat in keinem Fall Hauptsatz und Nebensatz mit einem Komma getrennt.
Die Satzstellung im Nebensatz (konjugiertes Verb an letzter Position) und im
nachgestellten Hauptsatz (Inversion) hat sie bis auf eine Abweichung
Und wenn ich ein Junge wäre ich würde nie Mädchen haun.
gemeistert, was darauf hinweist, dass sie mit der Bildung von Satzgefügen
mit unterordnenden Konjunktionen vertraut ist.
Der vorgegebene Satzanfang fordert ein Weiterführen des Textes im Irrealis,
also die Anwendung des Konjunktiv II. Daniela ist dies gelungen, sie benutzte
allerdings nur bei der Bildung des Konjunktiv II der Hilfs- und der Modalver-
ben die aus dem Präteritum abgeleitete Form. Den Konjunktiv II der Vollver-
ben hat sie ohne Ausnahme mit „würde“ und dem Infinitiv des Vollverbs ge-
bildet. Der Konjunktiv II liegt hier also in der Form vor, in der er gewöhnlich
im mündlichen Sprachgebrauch auftritt.
Und wenn ich ein Junge wäre...
... wen ich mich neben ein Mädchen hogen müsste.
aber: Wenn ich ein Junge wäre würde ich Mädchen anmachen.
269

Die Häufigkeit dialektbedingter Abweichungen sowie die Anwendung des Kon-


junktivs II deuten darauf hin, dass Daniela neben einem gut ausgebauten
Wortschatz auf Satzmuster zurückgreifen kann, die sie im mündlichen
Sprachgebrauch erworben hat. Sie hat jedoch noch kein klares Bewusstsein
über die Eigengesetzlichkeiten des mündlich und des schriftlichen Sprach-
gebrauchs ausgebildet. Sie transferiert Aussagen, die dem mündlichen
Sprachgebrauch entsprechen, unverändert in den schriftlichen Gebrauch.
Wörter, die noch nicht zu dem von ihr ausgebildeten Grundwortschatz der
Rechtschreibung gehören, schreibt sie, wie sie spricht,
aufblustern, hogen, gichern, haun, verknaln, würd
wobei sie jedoch bei den ersten drei Beispielen berücksichtigt, dass die Infini-
tivendungen im schriftlichen Sprachgebrauch korrekt angefügt werden müs-
sen und nicht verkürzt werden dürfen. Sie zeigt, dass sie bereits gewisse Ge-
setzlichkeiten der Schriftsprache kennt, diese aber noch nicht sicher be-
herrscht.
Die zweite Textversion – was ist passiert?
Daniela hat in der endgültigen Fassung ihres Textes zum Thema „Wenn ich
ein Junge wäre,...“ alle orthografischen Abweichungen beseitigt. Sie hat
Haupt- und Nebensätze mit Komma getrennt und auch die Satzstellung im
Nebensatz und im nachgestellten Hauptsatz ist in der endgültigen Fassung
korrekt.
Nachdem dies in der Diskussion kritisiert wurde, hat Daniela bei der zweiten
Textversion darauf geachtet, die einzelnen Sätze nicht alle mit dem gleichen
Satzanfang zu beginnen.
Wenn ich ein Junge wäre, ...
Wenn ich mich neben ein Mädchen setzen müßte, ...
Und wenn ich ein Junge wäre, ...
Es ist ihr jedoch nicht gelungen, von dem „wenn..., dann...“ –Muster, also der
Bildung von voran gestellten Konditionalsätzen abzuweichen.
Daniela hat in die zweite Textversion eine Formulierung in direkter Rede ein-
gefügt.
„Ich bin der Stärkste!“.
Die Möglichkeit, einen Text mit Hilfe der direkten Rede lebendiger zu gestalten
war im Unterricht besprochen worden. Daniela hat diese Anregung aufgegrif-
fen und in ihrem Text korrekt angewandt. Sie hat jedoch keine Formulierung
aus der Rohfassung umgewandelt, sondern eine völlig neue Aussage einge-
fügt.
270

Der nächste Text


Diese Textversion weist nur eine formalsprachliche Abweichung auf, die dem
Bereich Orthografie zugeordnet werden kann. Diese Abweichung ist dialektbe-
dingt.
verdrauen (t  d)
Der Text weist Abweichungen auf, die dem Bereich Grammatik zugeordnet
werden können. So hat Daniela in dem Satz
Sie muß auch lustig und für jeden Spaß bereit sein.
dem Gefüge „bereit sein“ eine in diesem Kontext nicht passende Präposition
zugeordnet. Daniela kannte das Gefüge „bereit sein für“, konnte dies aber
nicht korrekt anwenden, die Kombination mit der Präposition „zu“ war ihr
entweder nicht bekannt oder ihr war der Bedeutungsunterschied, der sich aus
der Wahl der Präposition ergibt, nicht bewusst.
Auffällig sind die häufigen Wechsel der Modi im Text. Daniela beginnt den Text
im Konjunktiv II, entsprechend dem vorgegebenen Satzanfang. Im Gegensatz
zum ersten Text „Wenn ich ein Junge wäre...“ schafft sie es aber nicht, diesen
durchgehend beizubehalten. So ist die Textmitte im Indikativ gehalten
Sie muß auch lustig und für jeden Spaß bereit sein.
während der letzte Satz eine nicht angemessene Mischform aus Indikativ und
Konjunktiv II darstellt:
Es wäre aber auch schön wenn ich mit jeden Problem zu ihr kom-
men kann,
daß wir dann darüber reden.
Dieser letzte Satz der Rohfassung weist Abweichungen auf, die – nach einer
Rekonstruktion ihrer sprachlichen Kompetenz – unerwartet sind. Es fehlt das
Satzzeichen, während im direkt vorher geschriebenen Text Haupt- und Ne-
bensätze korrekt durch ein Komma getrennt wurden. Auch hat sie hier nicht
erkannt, dass das Präpositionalobjekt mit der Präposition „mit“ im Dativ ste-
hen muss. Hier liegt ein unzulässiger Transfer aus der grammatisch nicht kor-
rekten, aber regional üblichen Umgangssprache zu Grunde. Der zweite Ne-
bensatz ist mit einer unzutreffenden Konjunktion eingeleitet. Die Konjunktion
„dass“ leitet keinen Finalsatz ein, wenngleich dies in der gesprochenen Spra-
che häufig vorkommt.
Die überarbeitete Fassung
Daniela hat die Abweichungen, die in der Rohfassung auftraten korrigiert.
verdrauen  vertrauen
für jeden Spaß bereit sein.  für jeden Spaß zu haben sein
271

Es wäre aber auch schön  Es wäre aber auch schön, wenn ich
wenn ich mit jeden mit jedem Problem zu ihr kommen
Problem zu ihr kommen könnte, damit wir darüber reden.
kann, daß wir dann
darüber reden.
Die überarbeitete Fassung weist „neue“ Abweichungen auf, die erst während
der Überarbeitung entstanden sind.
auserdem scharfes „s“
zum B. falsche Abkürzung
Ich möchte das sie lustig ist Nebensatz mit der Konjunktion „dass“ nicht er-
kannt  kein Komma, das  dass
Die endgültige Fassung
Die endgültige Fassung weist formalsprachliche Abweichungen auf, die zum
Teil bereits in früheren Versionen auftraten.
mit jeden Problem
Ich möchte, das sie so lustig ist
Auffällig an dieser Fassung ist der eher „wahllose“ Einsatz der Satzzeichen,
der darauf hindeutet, dass Daniela sich der Problematik bewusst ist, aber
noch nicht weiß, wie sie das Problem lösen kann.
Ein neues Thema
Daniela hat nach Abschluss der beiden Schreibkurse „Wenn ich ein Junge/ein
Mädchen wäre,...“ und „So sollte mein bester Freund/meine beste Freundin
sein“ zum Thema „ich“ geschrieben.425 Folgende Wörter sind nicht korrekt ge-
schrieben:
Grau blaue Groß-/Kleinschreibung, getrennt
.lustig Groß-/Kleinschreibung am Satzanfang
Liblings Tiere kein „ie“, getrennt
Hobbis Fremdwort
Rollschuhfahn dialektbedingter Fehler (Verkürzung der
Infinitivendung auf –n und fehlendes „r“)

425 Text 17
272

Faratfahren. keine Vokaldehnung durch Dehnungs-h,


fehlerhafte Zusammensetzung des
Substantivs, Übergeneralisierung (t  d)
Der Text weist eine Passage auf, die auf den ersten Blick merkwürdig er-
scheint:
Liblings Tiere hab ich auch und zwar Hase, Hunde, Hamster,
Meerschweinchen und kleine süße Mäuse.
Daniela zählt hier ihre Lieblingstiere auf und beginnt die Aufzählung im Singu-
lar, fährt dann aber im Plural fort. Erst eine Befragung konnte die Fehlerquelle
ermitteln. Daniela gab an, sie habe die Pluralendung –n einfach vergessen.
Demnach kann diese Abweichung als Flüchtigkeitsfehler bezeichnet werden.
7.4.1.4 Zusammenfassung
Daniela hat im Rahmen der Schreibkurse drei Texte in insgesamt sechs Versi-
onen geschrieben. Sie konnte dabei ihren Wortschatz, den sie im schrift-
sprachlichen Bereich zur Verfügung hatte erweitern und Syntax wie Orthogra-
fie verbessern. Daniela hat gelernt, verschiedene Satzmuster zu verarbeiten
und ihre Texte dadurch lebendiger zu gestalten. Sie hat sich mit den Themen
auseinandergesetzt und ihre Ansichten, Wünsche und Gefühle zum Ausdruck
gebracht.
Daniela hatte Schwierigkeiten, sich den Regeln der Schriftsprache gemäß aus-
zudrücken. Wortschatz, Orthografie und Syntax weisen ebenso auf inkorrekte
Übertragungen aus dem mündlichen Sprachbereich hin, wie der Verzicht auf
eine differenzierte Wahrnehmung der in den Texten vorkommenden Personen
und Situationen. Erst beim letzten Text dieser Reihe versuchte Daniela, die-
ses Defizit zu bereinigen. Sie wich auf den Briefstil aus, um zu signalisieren,
dass sie den Text für ein Publikum geschrieben hatte. Dennoch ist es ihr auch
hier nicht vollständig gelungen, da sie wiederum Personen in den Text auf-
nahm, die dem Leser nicht vorgestellt werden.
Die individuelle Kreativität und die Authentizität der Texte scheint bei Daniela
stark von dem Reiz abzuhängen, den das jeweilige Thema auf sie ausübt.
Themen, die sie ansprechen, weil sie sich aktuell mit ähnlichen Problemen be-
schäftigt, lösen bereits zu Beginn eine Vielzahl von Assoziationen aus. Dazu
kommt, dass Daniela motiviert ist, ihre Gedanken zum Thema zu verbalisieren
und zu veröffentlichen, sofern es ihr ein persönliches Anliegen ist. Spontane
und persönliche Aussagen werden von den Lesern als kreativ empfunden,
während Aussagen, denen man anmerkt, wie mühevoll sie entstanden sind,
als weniger kreativ eingestuft werden.
Daniela gab in einem Gespräch über ihre Texte an, sie selbst finde ihre Texte
zu den Themen „So sollte meine beste Freundin sein“ und „ich“ nicht so gut.
Sie begründete dies damit, dass sie die Themen nicht so ansprechend gefun-
273

den habe. Das Thema „Wenn ich ein Junge wäre,...“ habe sie interessiert,
denn hier konnte sie das schreiben, was sie in diesem Zeitraum bewegt habe,
während sie sich zu den beiden anderen Themen „extra was“ überlegen muss-
te. Während sie versucht habe, den Text „So sollte meine beste Freundin
sein“ mit Hilfe der ungewöhnlichen Vergleiche ansprechender zu gestalten,
habe ihr der Text „ich“ überhaupt keinen Spaß gemacht, sie habe daher auch
keine Lust gehabt ihn umzugestalten und sie finde das Ergebnis demzufolge
auch nicht ansprechend.
Lust und Freude am Thema förderten Danielas individuelle Kreativität, die sich
in den Texten manifestierte und auch während der Überarbeitung erhalten
blieb.
7.4.2 Deniz
Deniz hat zum Zeitpunkt der Schreibkurse die gleiche Grundschulklasse be-
sucht wie Daniela. Sie war zu diesem Zeitpunkt 10 Jahre alt. Deniz ist ein tür-
kisches Mädchen, ihre Primärsprache und Umgangssprache in der Familie ist
Türkisch.
Sie besuchte den primärsprachlichen Unterricht und war deutsch und türkisch
alphabetisiert. In der Schule sprach Deniz fast ausschließlich Deutsch, auch
mit ihren türkischen Klassenkameraden. Sie begründete dies damit, dass die
deutschen Klassenkameraden nur eine Sprache könnten und sie somit nichts
verstehen würden, spräche sie mit den türkischen Kindern in ihrer Primär-
sprache. Deniz gab an, den primärsprachlichen Unterricht nicht gerne zu be-
suchen, obwohl sie daran interessiert sei, ihre Primärsprache „richtig“ zu ler-
nen. Der primärsprachliche Unterricht mache ihr aber keinen Spaß, da der
türkische Lehrer ihr nicht sympathisch sei und ihr sein Unterrichtsstil missfie-
le. Der „deutsche Unterricht“ sei schöner, interessanter und mache mehr Spaß
und die „deutsche Lehrerin“ sei viel netter. Deniz gab an, sie würde den pri-
märsprachlichen Unterricht nicht besuchen, wenn sie dazu die Möglichkeit hät-
te. Aber eigentlich finde sie es schade, dass ihr der Unterricht in der Primär-
sprache keinen Spaß macht.
Deniz hatte guten Kontakt zu ihren Klassenkameraden und traf sich auch in
ihrer Freizeit mit ihren deutschen und türkischen Freundinnen, sofern es ihre
Mutter erlaubte. Da Deniz kein eigenes Zimmer hatte, war es nur begrenzt
möglich, dass ihre Freundinnen sie zu Hause besuchten. Deniz zeigte sich im
Unterricht aufgeschlossen und interessiert. Ihre Beiträge waren spontan und
sie vertrat ihre Meinung in Unterrichtsgesprächen konsequent. Sie war in der
Klasse beliebt und ging gerne zur Schule.
Deniz schrieb im Rahmen der Schreibkurse folgende Texte:
Wenn ich ein Junge wäre dann wäre ich so klug und kaufe keine Autos um
zu spielen und danach in Hof zu schmeisen. Ich häte keine Mädchen ge-
274

schlagen sondern inen geholfen. Dann würd ich meine freundin fragen ob
sie mit mir gehen möchte ins Resterant. Danach häte ich gefragt ob sie mit
mir ins Bett geht heute abent bei mir. morgen bei dir O.K. süße. Sie sollte
nicht Rauchen ich auch nicht. Sie soll lange Haare haben um schöne Haare
zu machen. Die Mädchen sollen nicht so laut Schreien. Und die Mädchen
sollen in die Arbeit gehen und wir raumen auf. Die Mädchen sollen keine
größe Busen haben.
Deniz hat ihren Text, der bei der Präsentation in der Klasse großen Anklang
gefunden hatte, inhaltlich nicht überarbeitet. Sie hat ihn jedoch sprachlich ü-
berarbeitet und die Abweichungen der ersten Fassung korrigiert:
Wenn ich ein Junge wäre dann, wäre ich so klug und würde keine Autos
kaufen, um zu spielen und sie danach in den Hof zu schmeißen. Ich würde
keine Mädchen schlagen, sondern ihnen helfen. Dann würde ich meine
Freundin fragen, ob sie mit mir ins Restaurant gehen möchte. Danach wür-
de ich sie fragen, ob sie mit mir ins Bett geht, heute Abent bei mir, morgen
Abend bei dir, O.K., süße! Sie sollte nicht rauchen, ich auch nicht. Sie sollte
lange Haare haben, um sich schöne Frisuren zu machen. Die Mädchen soll-
ten nicht so laut schreien. Und die Mädchen sollten in die Arbeit gehen und
wir würden aufräumen. Die Mädchen sollten keinen großen Busen haben.
Deniz hat einen Text zum Thema „So sollte mein bester Freund/meine beste
Freundin sein.“ geschrieben, der in mehrfacher Hinsicht erstaunlich ist. Sie
hat sich, angespornt durch den Erfolg ihres ersten Textes, große Mühe gege-
ben und den Text in einer bereits überarbeiteten Fassung abgegeben. Die ur-
sprüngliche Rohfassung wollte sie nicht vorzeigen, weil sie, nach ihrer Ansicht,
zu viele Abweichungen enthalten hatte. Deniz hat diesen Entwurf mit Hilfe ih-
rer Freundinnen und einem Wörterbuch überarbeitet.
Sehr wenige Mädchen der Klasse hatten die Version „So sollte mein (bester)
Freund sein“ gewählt und in ihren Texten den Jungen beschrieben, den sie
gerne zum Freund hätten. Die meisten Kinder der Klasse hatten einen gleich-
geschlechtlichen Partner beschrieben. Deniz hat in ihrem Text einen imaginä-
ren Freund, ihren „Traumpartner“ beschrieben, worauf sie bereits in der Über-
schrift hinweist:
So stelle ich meine besten Freund vor

Er soll nicht angeben sondern Schlau sein. Mein Freund soll nicht Kämpfen.
Er könnte helfen wenn jemand in Schwierigkeiten ist. Er könnte Cool sein
und mit mir in die Disco gehen. Wenn er mir vertraut dann vertraue ich
ihm. Wenn ich in Schwierigkeiten bin dann muß er mir helfen. Ich möchte
daß er ein Lamborghini hat. Ich will daß er kurze Haare hat. Ich möchte
daß er ein gut riechentes Parfüm hat, und gut riecht wenn wir in die Disco
275

gehen oder woanders hin gehen. Er muß in der Schule gut sein. Ich will
gerne das er einen guten Beruf hat.
Deniz hat ihren Text nochmals überarbeitet, allerdings wiederum nur auf
sprachlicher Ebene. Dies mag darin begründet sein, dass auch dieser Text bei
der Präsentation auf großen Anklang stieß und einige der darin getroffenen
Aussagen inhaltliche Diskussionen entfachten, in denen Deniz ihre Aussagen
vehement verteidigte. Sie genoss es sichtlich, dass sich die meisten Mädchen
ihrer Meinung anschlossen und sie somit zur Wortführerin avancierte. Dem-
nach sah sie keinen Grund, ihren Text inhaltlich zu überarbeiten und versuch-
te nur, ihn in eine formalsprachlich korrekte Form zu bringen.
So stelle ich mir meinen besten Freund vor:

Er soll nicht angeben, sondern schlau sein. Mein freund soll nicht kämpfen.
Er könnte helfen, wenn jemand in Schwierigkeiten ist. Er könnte cool sein
und mit mir in die Disco gehen. Wenn er mir vertraut, dann vertraue ich
ihm. Wenn ich in Schwierigkeiten bin, dann muß er mir helfen. Ich möchte,
daß er ein Lamborghini hat. Ich will, daß er kurze Haare hat. Ich möchte,
daß er ein gut riechendes Parfüm hat und gut riecht, wenn wir in die Disco
gehen oder anders wo hin gehen. Er muß in der Schule gut sein. Ich will
gerne, daß er einen guten Beruf hat.
In einem letzten Text stellt sich Deniz vor:
Ich bin 1m35 groß habe Blonde Haare habe grume krumme Zehne.

Meine Wünsche: Ich wünsche mir ein eigenes Zimmer. Ich wünsche mir ein
Fahrrad. Ich wünsche ich wachse.

Meine Hobbis: Ich lese gern. Ich fahre gern Rollschuhe. Ich fahre gern
Fahrrad.

Geschwiester: Ich habe ein Bruder er ist 8. Jahre er heißt Tayfun. Ich heiße
Deniz bin 10 Jahre alt im am 2. Mai wird ich 11 Jahre alt. Ich kann noch ei-
ne sprache welche? Türkisch.

7.4.2.1 Entwicklung der kommunikativen Kompetenz in der Zielsprache


Deutsch ist für Deniz Zweitsprache. Sie spricht zu Hause die Primärsprache
und verwendet Deutsch in der Schule und, um mit ihren Freunden zu kom-
munizieren. Deniz ist ein offenes Mädchen, das sich rege an Gesprächen in-
nerhalb und außerhalb des Unterrichts beteiligt. Deniz aktualisiert in ihren
Texten vielfältige Sprachhandlungen und Kommunikationsstrategien, wie z. B.
Behauptungen aufstellen, Bitten äußern, Stellung beziehen und Gefühle for-
276

mulieren.426 Bereits ihr erster Text weist, wenn auch in manchen Bereichen
formalsprachlich nicht korrekt, eine Vielfalt an Kommunikationsmitteln auf.
Sie bezieht persönlich Stellung und äußert ihre Meinung zu Verhaltensweisen
anderer:
Wenn ich ein Junge wäre dann wäre ich so klug und kaufe keine Autos um
zu spielen und danach in Hof zu schmeisen.
Sie benutzt verschiedene Modusformen, um ihre Ansichten darzustellen:
Ich häte keine Mädchen geschlagen sondern inen geholfen.
Deniz setzt, wenn auch in einer schriftsprachlich nicht angemessenen Form,
direkte Rede ein, um ihrem Text Lebendigkeit zu verleihen.
Danach häte ich gefragt ob sie mit mir ins Bett geht heute abent bei mir.
morgen bei dir O.K. süße.
Die Texte von Deniz beinhalten eine Menge an Formulierungen, die ihre Inten-
tion beschreiben. Sie bereitet den Leser auf Wünsche, Bitten, Meinungsäuße-
rungen vor und stellt Probleme klar dar. Sie greift dabei nicht nur auf Formu-
lierungen wie „ich möchte“, „ich will“, „er soll“ zurück, sondern formuliert
Satzgefüge und Konjunktionalsätze, um ihre Schreibintention darzulegen.
Wenn ich ein Junge wäre dann wäre ich so klug und kaufe keine Autos um
zu spielen und danach in Hof zu schmeisen.

Ich häte keine Mädchen geschlagen sondern inen geholfen..


Hatte sie Schwierigkeiten, sich im Text verständlich auszudrücken, so überar-
beitete sie ihre Texte diesbezüglich schnell und sicher.
Sie soll lange Haare haben um schöne Haare zu machen.

 Sie soll lange Haare haben, um sich schöne Frisuren zu machen.


Es gelingt Deniz zunehmend, ihre Texte so zu schreiben, dass auch ein au-
ßenstehender Leser keinerlei Verständnisprobleme hat. Sie stellt Personen in
ihren Rollen und Funktionen differenziert vor und ihre Texte weisen keine in-
haltlichen Brüche auf. Sachverhalte und Meinungsäußerungen sind vom Leser
nachvollziehbar und lebendig dargestellt.
Der letzte Text, den Deniz im Rahmen der Schreibkurse produziert hat, zeigt,
dass Deniz gelernt hat, diese Kommunikationsstrategien bewusst einzusetzen.
Ich kann noch eine sprache welche? Türkisch.

426 vgl. Hegele/Pommerin (1983) S. 70


277

Sie ist in der Lage, mit Hilfe ihres Textes mit einem abstrakten Leser zu
kommunizieren. Sie spricht den (noch) imaginären Leser direkt an und baut
so eine Beziehung zu ihm auf. Sie benutzt das Medium Text, um sich dem Le-
ser zu nähern und ihn an ihren Gedanken teilhaben zu lassen. Sie hat im
Schreibkurs verschiedene Kommunikationsanlässe bearbeitet und erfolgreich
bewältigt. Ihr erster Text „Wenn ich ein Junge wäre,...“ gibt Aufschluss über
ihre Einstellung und Meinung. Der zweite Text „So sollte mein Freund sein“
stellt ihre Wünsche und Vorstellungen dar, während sie sich im dritten Text
selbst vorstellt.
7.4.2.2 Entwicklung des Sprachbewusstseins
Deniz erster Text zeigt, dass sie zu Beginn der Schreibkurse bereits über ein
gutes Sprachbewusstsein in der Zielsprache Deutsch verfügt. Es gelingt ihr
durchaus, sich auszudrücken, wenngleich sie noch Probleme hat, diese For-
mulierungen in die Schriftsprache zu transferieren. Diese Probleme manifes-
tieren sich überwiegend in formalsprachlichen Abweichungen und im Bereich
der Interpunktion. Deniz hat ihre Texte auf Deutsch geschrieben, auch die
Rohfassungen sind einsprachig gehalten. Es war für Deniz sehr wichtig, ihre
Texte in korrektem Deutsch zu verfassen, bzw. sie diesbezüglich zu überar-
beiten. Sie war dazu stark motiviert, da sie feststellte, dass die kreativ ge-
schriebenen Texte weniger formalsprachliche Abweichungen aufwiesen als die
bislang im Unterricht geschriebenen Diktate. Sie entwickelte in den Schreib-
kursen ein gutes Gespür dafür, welche Wörter nicht korrekt geschrieben wa-
ren. „Die sehen so komisch aus.“ gab sie als Begründung hierfür an.
Deniz vermied es, in ihren Texten Formulierungen zu wiederholen. Sie gab
dazu an: „Das hört sich komisch an.“ Deniz war nicht immer in der Lage, so-
fort zu erkennen, weshalb sich Sätze für sie eigenartig anhörten oder eigenar-
tig aussahen. Hier bat sie häufig deutsche Klassenkameraden oder eine Lehr-
kraft um Hilfe. Dennoch erkannte sie vergleichsweise sicher, ob eine Formu-
lierung gelungen war oder nicht. Deniz veränderte Sätze, die in ihren Texten
auftraten, während des Vorlesens. Sie las also nicht den ursprünglichen Text
vor, sondern eine korrigierte Version. Sie erklärte, sie merke beim Vorlesen,
dass ihr Text Formulierungen enthalte, die ihr nicht gefielen und diese würde
sie dann eben schon während des Vorlesens ändern. Ihr zielsicherer Einsatz
der Klangprobe weist auf ein gut entwickeltes Sprachgefühl in der Zielsprache
hin.
Deniz legte von Text zu Text mehr Wert darauf, dass „sich der Text richtig
anhört“. Sie entdeckte die Klangprobe als Technik und wendete sie intensiv
an. Sie entdeckte in gleichem Zuge ihr Sprachgefühl, das sie dann mehr und
mehr als Regulativ zuließ. Sie fand Spaß an dieser Technik, die ihr Erfolg be-
scherte, und sie fasste mehr und mehr Vertrauen zu ihrem eigenen Sprachge-
fühl.
278

Bei der Vorbereitung der Texte zum Thema „ich“ wurden die Schreiber aus-
drücklich darauf hingewiesen, dass sie sowohl Text als auch Cluster in der
Primärsprache verfassen könnten. Es wurde ihnen freigestellt, in welcher
Sprache sie sich vorstellen wollten. Nur sehr wenige Schreiber machten
Gebrauch von diesem Angebot und fertigten ein Cluster in ihrer Primärsprache
an. Deniz fertigte ihr Cluster zweisprachig an.
Den Text zum Thema verfasste Deniz auf Deutsch. Sie wich darin inhaltlich
völlig vom Cluster ab. Auf die Frage hin, weshalb sie den Text auf Deutsch ge-
schrieben habe, antwortete sie, sie könne nur auf Deutsch schreiben, sie habe
noch nie auf Türkisch einen Text geschrieben. Sie habe wohl versucht, das
Cluster auf Türkisch zu machen, habe aber gemerkt, dass sie das „komisch“
und unpassend finde. Deshalb habe sie auf Deutsch geschrieben. Türkisch
schreiben mache ihr keinen Spaß. Deniz gab dazu an, sie habe eine Vorstel-
lung von einem deutschen Text, aber nicht die geringste Idee, wie ein Text
auf Türkisch sein müsste. Sie entschied: „Türkisch ist meine Sprechsprache
und Deutsch meine Schreibsprache.“ Diese funktionale Zuordnung der beiden
ihr zur Verfügung stehenden Sprachen konnte auch bei den anderen türki-
schen Schreibern beobachtet werden, obwohl sie alle türkisch alphabetisiert
worden waren. Deniz hatte zwar türkisch schreiben gelernt, hatte aber im
Türkischunterricht nie einen eigenen Text geschrieben. Sie verband Kreatives
Schreiben automatisch mit der Sprache Deutsch und sie konnte sich nicht
vorstellen, einen türkischen Text zu schreiben. Sie gab auch an, sich beim
Verfassen eigener, kreativer Texte in der Zielsprache Deutsch sicherer zu füh-
len. Die Abneigung gegen das Verfassen türkischer Texte wurde offensichtlich
durch ihr angespanntes Verhältnis zum türkischen Lehrer unterstützt. Sie er-
klärte auch, dass es ihr wichtig sei, ihre Texte der Klasse zu präsentieren und
die deutschen Schüler könnten ihre türkischen Texte nicht verstehen. Der As-
pekt der Überanpassung als Ursache für ihre Weigerung, Texte in ihrer Pri-
märsprache zu formulieren, konnte nicht bestätigt werden. Deniz hatte das
Schreiben der Sprache Deutsch zugeordnet und wollte davon nicht abweichen.
Ihr gefielen die Produkte ihrer Schreibversuche auf Türkisch nicht und somit
gab sie dieses „Experiment“ auf.
7.4.2.3 Entwicklung individueller Kreativität
Die Texte von Deniz sind alle in einer lebendigen, ansprechenden Form ge-
schrieben und zeigen inhaltlich neue und in dieser Schreibgruppe einzigartige
Gedanken und Formulierungen auf. Ihr erster Text ist sehr spontan und wit-
zig. Deniz hat, insbesondere für ein türkisches Mädchen, unerwartete Aussa-
gen getroffen und sich offen und frei geäußert.
Danach würde ich sie fragen, ob sie mit mir ins Bett geht,
heute Abent bei mir, morgen Abend bei dir, O.K., süße!
279

Die Mädchen sollten keinen großen Busen haben.


Dieser erste Text wurde überarbeitet und hat in seiner endgültigen Form
nichts an Originalität und Fantasie eingebüßt. Diese Leistung ist durchaus als
kreativ zu werten, da es Deniz gelungen ist, beide „Säulen der Kreativität“,
Fantasie und Kompetenz, miteinander zu verbinden. Die Überarbeitung hat
nicht dazu geführt, dass Deniz sich auf die formale Richtigkeit konzentriert
und dabei aus Sicherheitsgründen die inhaltlichen Aussagen reduziert hat.
Deniz hat ihren Anspruch, formalsprachlich korrekte und ansprechende Texte
zu schreiben, konsequent erfüllt. Dies trifft auch auf ihren zweiten Text zu,
der aber insgesamt einen ernsteren Eindruck macht. Der Text, in dem sie ih-
ren Traumpartner beschreibt, vermittelt dem Leser die Ernsthaftigkeit, mit der
sie sich mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Deniz hat sich nicht ge-
scheut, Wünsche oder Vorstellungen zu formulieren, die im Vergleich zu ande-
ren Texten dieser Schreibgruppe „aus der Reihe tanzen“
Ich möchte, daß er ein gut riechendes Parfüm hat und gut riecht,
wenn wir in die Disco gehen oder anders wo hin gehen.
und diese in Gesprächen über den Text auch verteidigt. Sie sagte, es sei ihr
egal, ob ihre Klassenkameraden der gleichen Meinung seien oder nicht, denn
schließlich sei das ihr Text und sie schreibe, was sie für wichtig und richtig
halte.
Deniz hat in ihrem zweiten Text auf das Einfügen ungewöhnlicher Vergleiche
verzichtet. Sie gab an, es mache ihr Spaß, ungewöhnliche Vergleiche zu bil-
den, aber sie würden nicht zu ihrem Text passen. Sie wollte die Ernsthaftig-
keit, die ihren Text zeichnete, nicht zerstören, denn sie habe sich ernsthaft
mit dem Thema beschäftigt und wolle in der Überarbeitung keinen Witz dar-
aus machen. Deniz unterschied also deutlich zwischen Texten, die witzig und
lustig sein sollten, und Texten, die der Ernsthaftigkeit des Inhalts angemessen
sein sollten. Dies zeigt, dass Deniz eine Beziehung zwischen Inhalt und Form
erkannte und deren Manifestation in den Texten anstrebte.
Es gelang Deniz auch in ihrem dritten Text, diese Beziehung herzustellen und
offenbar werden zu lassen. Ihr Text zum Thema „ich“ ist in stichpunktartig
aufgeführten Äußerungen gehalten. Auch dieser Text enthält unerwartete Äu-
ßerungen in unerwarteten Zusammenhängen wie etwa:
Ich wünsche mir ein Fahrrad. Ich wünsche ich wachse.
Zum Ende des Textes tritt sie mit dem Leser in Kontakt
Ich kann noch eine sprache welche? Türkisch.
und beantwortet seine imaginäre Frage. Sie versetzt sich dazu in den Leser
als Adressaten ihres Textes und gibt dies auch deutlich kund.
280

Es ist Deniz gelungen, die diversen Schreibaufgaben in einer angemessenen


Form und in verständlichen Formulierungen zu Papier zu bringen. Die Texte
enthalten neue, ungewöhnliche Aussagen, die auch durch eine intensive Ü-
berarbeitung nichts an ihrer Spontaneität und Originalität einbüßen, sondern
diese im Gegenteil dazu von einer angemessenen Form unterstützt werden.
Deniz vermeidet auch eine Übergeneralisierung, wie z. B. durch unüberlegtes
Einsetzen ungewöhnlicher Vergleiche. Ihre Texte vermitteln den Eindruck, sie
habe sich in zunehmendem Maße in der deutschen Schriftsprache sicherer ge-
fühlt und sie bewusst und gezielt eingesetzt. Sie verwendet in den letzten
Texten der Schreibkurse Techniken, die im Unterricht besprochen wurden, um
ihre Texte ansprechender zu gestalten (direkte Rede, Fragen, wechselnde
Satzanfänge...), setzt diese aber durchgehend überlegt und gezielt ein. Es ge-
lingt ihr, ihre individuelle Kreativität zu steigern und dies in ihren Texten zum
Ausdruck zu bringen.
7.4.2.4 Entwicklung der sprachlichen Kompetenz in der Zielsprache
Deniz lernte Deutsch als Zweitsprache. Sie sprach in der Schule und mit ihren
deutschen Freundinnen Deutsch, zu Hause in der Familie sprach sie Türkisch.
Sie hatte einen deutschen Kindergarten besucht. Im Bereich der gesproche-
nen Sprache hatte sie keine Probleme, sich auf Deutsch verständlich zu ma-
chen. Sie hatte auch keine Scheu, deutsch zu sprechen, obwohl sie sich ihrer
Defizite bewusst war. So gab sie an, es sei nicht so schlimm, würde sie Fehler
im Deutschen machen, denn sie könne, zum Ausgleich, zwei Sprachen spre-
chen und schreiben.
Der erste Text
Deniz erste Textversion zum Thema „Wenn ich ein Junge wäre...“ zeigt fol-
gende formalsprachliche Abweichungen auf:
schmeisen (s  ß)
häte keine Vokalverkürzung
inen keine Vokaldehnung durch Dehnungs-h
würd dialektbedingter Fehler (Verkürzung der 1. Person
Singular  ohne Konjugationsendung)
freundin Groß-/Kleinschreibung
Resterant falsche Laut-Buchstaben-Zuordnung (Fremdwort)
abent Groß-/Kleinschreibung, dialektbedingte
Übergeneralisierung (d  t)
süße Groß-/Kleinschreibung
281

Rauchen Groß-/Kleinschreibung
Schreien Groß-/Kleinschreibung
raumen Umlautfehler
größe Übergeneralisierung  Umlautfehler
Deniz hat in ihrem ersten Text verschiedene Satzmuster und unterschiedliche
Satzanfänge verwendet. Ihr Text enthält vorangestellte Konditionalsätze mit
der Konjunktion „wenn“, denen ein Hauptsatz mit korrekter Inversion folgt
Wenn ich ein Junge wäre dann wäre ich so klug ....
und vergleichsweise viele andere Konjunktionen:
um ... zu, sondern, dann, ob
In einem Fall hat sie drei Nebensätze mit einem Hauptsatz verbunden:
Wenn ich ein Junge wäre dann wäre ich so klug und kaufe keine Autos
um zu spielen und danach in Hof zu schmeisen.
Sie hat in keinem Fall Hauptsatz und Nebensatz mit einem Komma getrennt.
Die Satzstellung im Nebensatz (konjugiertes Verb an letzter Position) und im
nachgestellten Hauptsatz (Inversion) hat sie fehlerfrei gemeistert, was darauf
hinweist, dass sie mit der Bildung von konjunktionalen Nebensätzen und der
angemessenen Satzstellung vertraut ist.
Der vorgegebene Satzanfang fordert ein Weiterführen des Textes im Irrealis,
also die Anwendung des Konjunktivs II. Dies ist Deniz nicht gelungen. Ihr
Text weist eine Mischung indikativischer und konjunktivischer Formen auf.
dann wäre ich so klug und kaufe keine Autos
Deniz hat Schwierigkeiten, den Konjunktiv der Gegenwart vom Konjunktiv der
Vergangenheit zu unterscheiden und diese Formen angemessen einzusetzen.
Dann würd ich meine freundin fragen ob sie mit mir gehen möchte ins
Resterant.
Danach häte ich gefragt ob sie mit ...
Offensichtlich ist es Deniz noch nicht bewusst, dass es sich um zwei Tempus-
formen des Irrealis handelt, da sie mit dem temporalen Adverb „danach“ die
Vergangenheitsform des Konjunktivs II kombiniert.
Deniz Text weist inhaltlich einen Bruch auf, der verstärkt wird durch den indi-
kativischen Gebrauch des Modalverbs „sollen“. Während sie im ersten Teil des
Textes beschreibt, wie sie verhalten würde, wenn sie ein Junge wäre, gibt sie
im zweiten Teil Ratschläge, wie sich Mädchen verhalten sollten.
Sie (die Freundin) sollte nicht Rauchen ...
282

Die Mädchen sollen nicht so laut Schreien.


Deniz hat noch Probleme mit dem Einsatz der Satzzeichen. Sie hat in ihrem
Text keinen Hauptsatz mit einem Komma vom entsprechenden Nebensatz ge-
trennt. Im Abschnitt
Heute abent bei mir. morgen bei dir O.K. süße.
wird deutlich, dass sie sich der Funktion der Satzzeichen nicht bewusst ist und
daher auf den Punkt als „Allroundzeichen“ ausweicht, der allerdings an den
fraglichen Stellen nicht angemessen ist. Sie verzichtet ebenfalls auf das Fra-
gezeichen und setzt an dessen Stelle wiederum einen Punkt.
Deniz hat keine Schwierigkeiten mit dem Genus und der Deklination der Sub-
stantive, sie hat diese durchgehend mit dem korrekten Artikel versehen, dar-
aus ergibt sich, dass die Abweichung
und danach in Hof zu schmeisen
ein unzulässiger Transfer aus der Umgangssprache ist, in der ein Weglassen
der Artikel im Präpositionalobjekt häufig vorkommt.
Der Satz,
Dann würd ich meine freundin fragen ob sie mit mir gehen möchte ins
Resterant.
weist eine fehlerhafte Satzstellung auf. Die lokale Bestimmung ist nachgestellt
und wirkt wie zusätzlich angefügt. Deniz gab an, sie hätte tatsächlich zuerst
schreiben wollen „Dann würde ich meine Freundin fragen, ob sie mit mir ge-
hen möchte.“, habe es sich dann aber anders überlegt und „ins Restaurant“
angefügt, da der geplante Satz unsinnig sei, da man seine Freundin nicht
mehr zu fragen braucht, ob sie mit einem gehen wolle. Bei der Klangprobe fiel
Deniz diese Unstimmigkeit sofort auf und sie verbesserte sie umgehend.
Die überarbeitete Fassung
Die überarbeitete Fassung weist nur noch eine Abweichung von der formalen
Sprache auf, und diese ist als Flüchtigkeitsfehler zu werten, da sie das gleiche
Wort kurz danach korrekt geschrieben hat.
heute Abent bei mir, morgen Abend bei dir
Deniz hat ihrer überarbeiteten Fassung einige Änderungen angefügt, um den
Text verständlicher zu machen.
Spielen und danach in Hof schmeisen
 spielen und sie danach in den Hof zu schmeißen.
um schöne Haare zu machen
 um sich schöne Frisuren zu machen
283

Sie hat auch den Wechsel der Modi im zweiten Teil beseitigt und den Konjunk-
tiv II durchgängig benutzt, während der inhaltliche Bruch bestehen bleibt, al-
lerdings um einen Satz nach hinten verschoben wurde.
Sie (die Freundin) sollte nicht Rauchen ...
Sie (die Freundin) sollte lange Haare haben, um sich schöne Frisu-
ren zu machen.
Die Mädchen sollten nicht so laut schreien
Deniz war mit ihrem Text sehr zufrieden, da er zum einen gut beim Publikum
ankam und zum anderen weniger formalsprachliche Abweichungen aufwies als
die Diktate, die sie vorher geschrieben hatte. Sie war stolz auf die endgültige
Fassung und wollte unbedingt zu einem anderen Thema schreiben.
Ein neues Thema
Die meisten Abweichungen sind den Bereichen Groß-/Kleinschreibung und In-
terpunktion zuzuordnen, die Deniz noch nicht sicher beherrscht. Die Abwei-
chungen der Kategorie Groß-/Kleinschreibung sind als Übergeneralisierungen
zu werten, da Deniz Adjektive und Verben groß schreibt, die ihr - nach eige-
ner Aussage - wichtig erscheinen.
Schlau, Kämpfen
Deniz hat einen ausgeprägten Wortschatz und verfügt in angemessener Weise
über Wortbildungsarten, die ihr z. B. erlauben, ein adjektivisch gebrauchtes
Partizip I zu bilden, wenngleich ihr die schriftsprachliche Umsetzung nicht feh-
lerfrei gelingt.
ein gut riechentes Parfüm
Auch in diesem Text gibt es Brüche im Modus, die auf einen ungesicherten
Umgang mit den Modi der Verben hinweisen. Der Text enthält Konstruktionen
mit Modalverben im Indikativ, Konstruktionen mit Modalverben im Konjunktiv
II und Vollverben im Indikativ. Der Einsatz der Modi scheint nicht nachvoll-
ziehbar. Möglicherweise ist er dadurch begründet, dass der Konjunktiv II kurz
vorher im Unterricht besprochen wurde und Deniz das neu Erworbene in ihren
Text einbringen wollte, ohne jedoch sicher darüber zu verfügen.
Mein Freund soll nicht Kämpfen. Er könnte helfen, wenn jemand in
Schwierigkeiten ist.
Deniz war aufgefallen, dass der Titel ihres Textes nicht das aussagte, was sie
eigentlich wollte.
So stelle ich meine besten Freund vor
Die Anwendung eines reflexiven Verbs, das ein Reflexivpronomen im Dativ
und ein Akkusativobjekt fordert, überforderte die Schreiberin. Sie probierte
284

einige Möglichkeiten, halblaut vor sich hin murmelnd, aus und kam selbst auf
die Lösung des Problems. Sie erfasste den Bedeutungsunterschied, den das
Weglassen des Reflexivpronomens in diesem Fall verursacht und korrigierte
den Titel selbständig. Ihr Kommentar dazu war: In Deutschland heißt alles
gleich, da gibt’s so wenige Wörter!“
Die fehlerhafte Deklination des Possessivpronomens erklärte sich dadurch,
dass Deniz anfangs vorhatte, einen Text über die beste Freundin zu schreiben
und sie es sich in letzter Sekunde anders überlegt hatte. Bei der eigenen,
selbständigen Überarbeitung war ihr das nicht aufgefallen, erst bei der Prä-
sentation des Textes im Plenum, als sie ihn laut vorlas.
Ebenfalls beim Vorlesen erkannte Deniz, dass sie in dem letzten Satz des Tex-
tes irrtümlich den Artikel „das“ mit der Konjunktion „dass“ verwechselt hatte.
Dies ist erstaunlich, denn Deniz hatte wiederum Haupt- und Nebensätze nicht
durch Satzzeichen getrennt, war sich aber augenscheinlich ihrer Gesetzlichkei-
ten bewusst, was sich auch in der korrekten Satzstellung in den Konjunktio-
nalsätzen manifestiert.
Die endgültige Fassung
Der Text weist nur eine Abweichung auf, die allerdings nicht auf ein Defizit,
sondern eher auf Unachtsamkeit hinweist, da dieses Wort in der ersten Fas-
sung korrekt geschrieben wurde.
freund
Deniz hat ihren Text korrigiert, aber auf eine Umformung der Konjunktivfor-
men verzichtet. Sie beharrte darauf, da sie diese Formen „schön“ fand und ihr
die Sätze in dieser Form gefielen. Auch auf den Hinweis hin, zumindest den
Satz
Er könnte helfen, wenn jemand in Schwierigkeiten ist.
nochmals zu überprüfen, reagierte sie nicht.
Ein letzter Text
Deniz hat auch diesen Text selbst mit Hilfe des Wörterbuchs verbessert. Die
Korrekturen sind oben ersichtlich. Sie erklärte, das Wort „grume“ habe ein-
fach komisch ausgesehen, deshalb habe sie es im Wörterbuch nachgeschlagen
und „im 2. Mai“ habe komisch geklungen, deshalb habe sie es geändert.
Die Abweichungen lassen sich wie folgt zuordnen:
1m35 Transfer aus dem mündlichen Sprachgebrauch
Blonde Groß-/Kleinschreibung
Zehne falsche Laut-Buchstaben-Zuordnung, fehlerhafte
Pluralbildung
285

Hobbis Fremdwort
Geschwiester Vokaldehnung
Sprache Groß-/Kleinschreibung
wird Transfer aus dem mündlichen Sprachgebrauch
Deniz hat auch in diesem Text auf die Verwendung von Kommata verzichtet.
Sie hat jedoch ihr Satzzeichenrepertoire um den Doppelpunkt und das Frage-
zeichen erweitert.
In diesem Text tritt eine inkorrekte Bildung eines Nebensatzes auf,
Ich wünsche ich wachse.
Sie hat hier keine Konjunktion eingefügt und auch auf die Bildung eines Infini-
tivsatzes verzichtet, wenngleich sie diese Möglichkeit in früheren Texten feh-
lerfrei benutzt hat. Dieser Satz war Deniz bei der Klangprobe nicht aufgefallen
und sie beurteilte ihn als korrekt. Sie gab zu, dass eine andere Formulierung,
wie etwa „Ich wünsche mir, dass ich wachse.“ besser klänge, wollte jedoch
nicht von ihrer Formulierung abweichen. Ebenso war ihr nicht einsichtig, wes-
halb sie den Satz
Ich fahre gerne Rollschuhe.
verändern sollte. Sie begründete dies damit, dass sie den Ausdruck „Rollschuh
fahren“ nicht logisch finde, denn sie fahre immer mit 2 Rollschuhen und damit
sei in diesem Fall der Plural angebracht.
Dagegen war ihr beim Vorlesen aufgefallen, dass der Satz
Ich habe ein Bruder er ist 8. Jahre alt ...
nicht korrekt ist. Sie verbesserte ihn schon während des Vorlesens. Das falsch
gebildete Akkusativobjekt ist demzufolge als Flüchtigkeitsfehler einzuschät-
zen. Die Ordinalzahl entstand, wie Deniz erklärte, weil sie zuerst schreiben
wollte „er ist 8.“, sich aber dann während des Schreibens verbessert habe und
vergessen habe, den Punkt auszulöschen
7.4.2.5 Zusammenfassung
Deniz hat im Rahmen der Schreibkurse drei Texte in sieben Versionen ge-
schrieben. Davon hat sie sechs Versionen zur Verfügung gestellt. Eine Version
hat sie zurückgehalten, da sie mit dieser unzufrieden war. Deniz war sehr an
einer formalen Korrektheit interessiert und bemühte sich, diese selbst, mit di-
versen Hilfsmitteln, zu erreichen. Ihr Wunsch war es, „gute“ Texte zu schrei-
ben und den Erfolg, den sie mit ihrem ersten Text erzielt hatte, fortzuführen.
Deniz hat sich sehr ehrgeizig gezeigt und viel Mühe investiert.
Es ist ihr gelungen, die Spontaneität und Authentizität ihrer Rohfassungen
auch in den überarbeiteten Fassungen zu erhalten und sie in eine angemesse-
286

ne, sprachliche Form zu bringen. Ihre Texte, die eine rote Linie von spontanen
Aussagen hin zu bewusst eingesetzten kommunikativen und kreativen
Sprachmitteln aufzeigen, sind lebendig und bemerkenswert offen. Ihre inhalt-
lichen Aussagen, die sie in den Texten trifft, sind außerhalb des klassentypi-
schen main streams einzuordnen und auch das Herstellen einer Beziehung
zwischen Inhalt und Form ist als kreative Leistung zu werten.
Deniz hatte mit dem Kreativen Schreiben ein Medium entdeckt, dass für sie
eine neue Welt erschloss. Es machte ihr Freude, ihre Gedanken schriftlich zu
fixieren und sie einem Publikum zu präsentieren. Sie fand Gefallen daran, ihre
Gedanken in einer sprachlich angemessenen Form zu verpacken und sie gab
an, es mache Freude, zu lernen, wie man Sachverhalte, Meinungen, Wünsche
und Ansichten am besten schriftlich formuliert.
Deniz setzte sich im Rahmen der Schreibkurse auch mit den Unterschieden
zwischen den beiden ihr bekannten Sprachsystemen auseinander, so z. B. ü-
ber den Begriff „Blutsbrüder“.
Bei uns heißt das Blutsfreundinnen! …
Aber warum können Freundinnen kein Blut geben? ...
Was machen denn Busenfreundinnen mit ihrem Busen? Und wenn
sie keinen haben, ich meine.. weil sie noch klein sind? ...
Ich finde Blutsfreundinnen besser, das sagt man bei uns so und
das ist besser, weil es ist irgendwie enger oder so.
Auf Grund ihres anfänglichen Erfolgs und ihrem Spaß am „Jonglieren“ mit
Sprache, konnte Deniz ihr Sprachbewusstsein und ihr Sprachgefühl in der
Zielsprache Deutsch erheblich steigern. Sie scheute sich nicht, deutsche Klas-
senkameraden, Lehrkräfte oder auch das Wörterbuch um Rat zu fragen und
konnte von ihrer Neugier und dem Mut, mit dem sie sich um Hilfe bemühte,
stark profitieren.

7.5 In der Erwachsenenbildung


In den Sprachkursen steht als oberstes Ziel die Entwicklung einer kommuni-
kativen Kompetenz in der Zielsprache Deutsch. Die Lerner sollen sich mög-
lichst schnell und in einfachen Formulierungen in alltäglichen Situationen arti-
kulieren können. Der Erwerb der Schriftsprache und formalsprachlicher Kom-
petenz steht dabei im Hintergrund und ist weiterführenden Kursen zugeord-
net. Diese Reihenfolge „verstehen – sprechen – lesen – schreiben“ entspricht
jedoch nicht den Ansprüchen aller Lerner und stammt aus der Epoche der
„Gastarbeiterbeschulung“. Die meisten Menschen, die diese Sprachkurse be-
suchen, planen – häufig gezwungenermaßen – einen langfristigen oder le-
benslangen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und stellen demzu-
folge andere Ansprüche an einen Sprachkurs. Je nach Zusammensetzung der
287

Gruppe, die zufällig oder nach Kriterien wie Unterrichtszeit, Kosten etc. er-
folgt, muss der Kursleiter entscheiden, welche Ziele und Methoden angemes-
sen sind. Einzig das vorgegebene Lehrwerk gibt eine Richtlinie und eine Liste
der zu behandelnden Lerninhalte vor, die aber nach Ermessen des jeweiligen
Kursleiters behandelt werden können.
Das Kreative Schreiben mit seinen unterschiedlichen Techniken bietet nicht
nur dem Kursleiter Raum, den Unterricht der jeweiligen Gruppe angemessen
zu gestalten, sondern eröffnet den Lernern einen individuellen Zugang zur
Zielsprache. Kreatives Schreiben ist hier gleichzeitig Ausgangspunkt und
Resultat. Ausgehend von ersten Texten wird der Unterricht geplant und ges-
taltet und die Lernerfolge werden am nächsten Text erhoben und gemessen,
was wiederum den Ausgangspunkt zu weiterer Arbeit darstellt.
Es sprechen einige Punkte dafür, den Schriftspracherwerb auch für diese Ziel-
gruppe an den Beginn des Spracherwerbs zu ziehen und sie zu einem frühen
Zeitpunkt mit schriftlichen Äußerungen vertraut zu machen:
Es hat sich gezeigt, dass der Schriftspracherwerb umso schwerer fällt, je stär-
ker die mündliche Kommunikationsfähigkeit ausgebildet ist. Im Gegensatz zur
Ansicht, die Teilnehmer hätten weniger Schwierigkeiten, schreiben zu lernen,
wenn sie schon ein gewisses Maß an mündlicher Kommunikationsfähigkeit er-
worben hätten, hat sich in der Praxis nicht bestätigt, denn diese Teilnehmer
resignieren häufig und verschieben den Schriftspracherwerb immer wieder auf
einen späteren Zeitpunkt. Lerner, die bereits in den ersten Unterrichtseinhei-
ten Kenntnisse der Schriftsprache erwerben, empfinden das Schreibenlernen
nicht als unüberwindbare Mauer, sondern als einen Teil des Spracherwerbs,
der ihnen im Allgemeinen auch nicht mehr Mühe und Anstrengung abverlangt
als die anderen Bereiche. Das Schreiben ist für sie Bestandteil des Unterrichts
und der Auseinandersetzung mit der Zielsprache. Das Kreative Schreiben un-
terstützt diese Auffassung, denn es integriert die einzelnen Aspekte des
Spracherwerbs wie Lesen, Sprechen, Schreiben, Hören bzw. sich unterhalten,
diskutieren, präsentieren, kritisieren, loben, Informationen fordern, Informati-
onen einholen, Informationen geben, sich mitteilen, berichten, Sprachbetrach-
tung und formalsprachliche Aspekte.
Viele Lerner befinden sich in einer turbulenten Lebenssituation.427 Sie haben
aus verschiedenen Gründen ihr Herkunftsland verlassen, die meisten nicht
freiwillig. Viele Lerner haben Heimweh und vermissen ihre Familie und ihre
Freunde, die im Herkunftsland bleiben mussten. Sie haben in Deutschland
noch keinen Anschluss gefunden und haben keine Arbeit. Für die Teilnehmer
ist diese Erfahrung sehr schmerzhaft und sie sehnen sich danach, über ihre
Erfahrungen zu sprechen und sich auszutauschen. Das Schreiben kann ihnen

427 vgl. Erikson (1977)


288

dabei helfen, mit ihrer Situation zurechtzukommen und sich aus ihrer Isolati-
on zu befreien.
Ausländer, die in Deutschland leben, müssen zu einem sehr frühen Zeitpunkt
nach ihrer Einreise bereits mit diversen Einrichtungen und Firmen in schriftli-
chen Kontakt treten. Meist sind sie mit dieser Anforderung schlichtweg über-
fordert und bitten deutsche Nachbarn oder die Dozenten im Sprachkurs um
Hilfe. Das Kreative Schreiben bietet ihnen eine Möglichkeit, sich der deutschen
Schriftsprache spielerisch und behutsam zu nähern und nimmt die Angst vor
dem geschriebenen, deutschen Wort.

7.5.1 Aamir
Aamir stellte sich in einem ersten Text vor:
Ich bin Aamir. Ich bin ein jung. Ich wohne in nurnberg. Ich bin ein
schuller. Ich komme in Pakistin. Ich bin sechszehn jahre alt. Ich
lehrene in deutsch. Ich Sprache im normal deutsch: Ich sage das
alle Leute ist gut.
Aamir war ohne seine Familie aus dem Herkunftsland geflohen und wohnte
hier bei einer Pflegefamilie. Er besuchte am Vormittag ein deutsches Gymna-
sium als Gastschüler und wollte möglichst schnell seine Schulbildung ab-
schließen, um Geld zu verdienen, mit dessen Hilfe er seiner Familie die Reise
von Pakistan nach Deutschland finanzieren könnte.
Die Angaben zu seinem Alter waren äußerst fraglich und auch er gab sein Al-
ter nicht immer mit 16 Jahren an. Er machte optisch wie auch auf Grund sei-
nes Wesens den Eindruck, er sei um mindestens vier oder fünf Jahre älter als
nach seinen ersten Angaben.
Aamir hatte nach eigenen Angaben in Pakistan eine weiterführende Schule
besucht, die ihn zu einem Universitätsstudium berechtigt hätte. Er gab an, er
sei aus politischen Gründen geflohen und er hätte Probleme mit der Armee
gehabt, die ihn veranlassten, sein Land zu verlassen.
Aamir war ein ehrgeiziger und fleißiger Teilnehmer, der sich neben 38 Unter-
richtsstunden, die er als Gastschüler im Gymnasium und als Teilnehmer im
Sprachkurs absolvierte, intensiv und umfassend vorbereitete, Hausaufgaben
und zusätzliche Übungen machte. Er verfügte über ausreichend Lerntechniken
und hatte keine Schwierigkeiten, sich in die Gruppe einzufügen, wenngleich
die anderen Teilnehmer seinen Eifer eher verwundert und teilweise skeptisch
zur Kenntnis nahmen. In seiner knapp bemessenen Freizeit trieb er Sport, er
joggte täglich und fuhr weite Strecken mit dem Fahrrad. Er sah jeden Tag
fern, dies nach eigenen Angaben aber nur, um Deutsch zu lernen. Zum Zeit-
punkt der Schreibkurse schien es fraglich, ob Aamirs Aufenthaltsberechtigung
über seinen 18. Geburtstag hinaus verlängert und ihm Asyl gewährt werden
würde. Dennoch oder möglicherweise gerade deshalb plante er, in den folgen-
289

den zwei Jahren bis zu seiner Volljährigkeit seine Sprachkompetenz in der


Zielsprache so weit wie möglich auszubilden.
Aamir schrieb im Deutschkurs zu vier Themen. Die Texte über Deutschland
wurden mit einem Gemeinschaftscluster begonnen. Jeder Teilnehmer nannte
Assoziationen zum Kernwort „Deutschland“ und die Lehrkraft schrieb sie in ei-
ner formalsprachlich angemessenen Form an die Tafel. Aamir schrieb dazu
folgenden Text:
Das ist Deutschland
Das Deutschland ist schön aber ich finde das wetter ist Deutsch-
land nicht gut. Deutsch Leute ist sehe gut aber ich finde jemanten
allkohel trenke diese ich mag nicht. Deutsch Regierung ist auch
gut – Deutschland hat sechzehn Prteien aber alle Prteie ist unter-
richten arbeiten. Deutsche schule ist sehe gut und alle Lehrer und
Lehrerinen ist viel fleißig und intellektuel – viele Leute hier magen
arbeiten Firma, Hotel und andere viel arbeiten Deutsche Polizei ist
sehr schneller – Deutschland ist viel billger. Und viele spielplätze
und schöner Plätze und viele underscheidung spiele. Ihr ist viele
Leute ist ausländer – Deutschland hat vier jahrezeit aber ich finde
viele Leute magen hund.
Der Text wurde in einer Kooperation von Dozent und Schreiber in eine ver-
ständliche und formalsprachlich korrekte Form gebracht. Diese Arbeit erfor-
derte viele Rückfragen und Verständnisfragen von beiden Seiten. Aamir zeigte
sich sehr interessiert und arbeitete eifrig an einer lesbaren Form:
Das ist Deutschland
Deutschland ist schön, aber ich finde das Wetter ist in Deutschland
nicht gut. Deutsche Leute sind sehr gut, aber ich finde jemanden,
der Alkohol trinkt nicht gut. Das mag ich nicht. Die deutsche Re-
gierung ist auch gut. Deutschland hat sechzehn Parteien aber alle
Parteien arbeiten unterschiedlich. Die deutsche Schule ist sehr gut
und alle Lehrer und Lehrerinnen sind sehr fleißig und intellektuell.
Viele Leute hier mögen in einer Firma oder in einem Hotel und in
vielen anderen Berufen arbeiten Die deutsche Polizei ist sehr
schnell. In Deutschland ist vieles billig. Und es gibt viele Spielplät-
ze und schöne Plätze und viele unterschiedliche Spielgeräte. Hier
sind viele Leute Ausländer. Deutschland hat vier Jahreszeiten, und
ich glaube, viele Leute mögen Hunde.
Folgender Text wurde von Aamir zu Hause verfasst. Die Teilnehmer hatten zu
Hause mündlich einen kleinen Vortrag über ein beliebiges Ereignis vorbereiten
sollen. Sie waren es gewohnt, sich einmal pro Woche auf die Frage „Was
gibt‚s Neues?“ vorzubereiten und im Unterricht über Ereignisse aus dem All-
290

tag, der Politik oder anderen Bereichen zu berichten. Aamir hatte diesmal sei-
nen Beitrag schriftlich formuliert, erklärte, er müsse endlich schreiben lernen
und bat mich, seinen Text zu korrigieren.
Ich setzte am park. und ich kann sehe vorne. vorne fällt ein jung
und diese jung hat beinen geworden und er läuft nicht richtig. und
er hat sehr Bolt ausgehe, ich kann sage prauchen sie helfen aber
er hat gesaght alles oke. und ich habe krankenhaus geanruft. Er
geht krankenhaus. und habe ich ungedult. kann ich argerlich will
er hat gesag ich prauche nicht helfen.
Auch dieser Text wurde in einer Zusammenarbeit von Schreiber und Dozent in
eine lesbare Form übersetzt.
Ich sitze im Park. und ich sehe nach vorne. Vorne fällt ein Junge
hin und dieser Junge hat sich am Bein verletzt und er kann nicht
mehr richtig laufen. Er blutet sehr, ich frage: „Brauchen Sie Hil-
fe?“, aber er sagt: „Alles ok.“, aber ich rufe einen Krankenwagen..
Er kommt ins Krankenhaus. und ich bin enttäuscht. Ich bin ärger-
lich, weil er gesagt hat, ich brauche nicht zu helfen.
Zum Abschluss der Sprachkurse nach 10 Wochen schrieben die Teilnehmer
nach visuellen Vorlagen. Die Vorlagen zeigten Bilder von Vincent Van Gogh.
Die Teilnehmer hatten diese Vorlagen gewählt, da sie den grauen, feuchten
deutschen Herbst nicht ertragen konnten und die Bilder „sonnig“ fanden.
Aamir hatte noch nie von diesem Maler gehört und hatte Schwierigkeiten mit
seinen Werken, da sie seiner Meinung nach aussahen, als hätte sie ein Kind
gemalt. Er konnte nicht verstehen, weshalb Europäer Werke dieses Malers
hoch schätzten. Als ein anderer Teilnehmer von den hohen Preisen erzählte,
die Werke von Van Gogh erzielten, war Aamir zutiefst erstaunt und kommen-
tierte: „Deutsche Leute sind komisch, ich finde.“ Er erzählte, dass diese Bilder
in seinem Herkunftsland keinen Wert haben würden, da die dortige Malerei
grundverschieden sei. Dennoch gab er an, das Bild „La Méridienne“, das er
sich ausgesucht hatte, gefiele ihm gut, wenngleich er seinen künstlerischen
Wert nicht erkennen könne. Er sagte, er finde das Bild schön, weil ihn die Far-
ben ansprächen.
Ich sehe ein Bild das Bild ist sehr schön das Bild hat ein bauer se-
he ich der Bauer ist jeten tag arbeite in das feld und er bracht viele
leben mittel und ihr helfe seine Frau und seine kuh. Er arbeite vie-
len stunden und manchmal er ist müde und dann er mag rest und
nach dem rest noch er arbeite. Wenn Leben miltet sind vertig ist,
dann er geht große hendler und alle sachen sind verkaufe er und
danach er hat sovill geld und er ist sehe klück.
291

Dieser Text wurde, auf die Bitte des Schreibers hin, in Zusammenarbeit mit
anderen Teilnehmern korrigiert. Aamir hatte beim Schreiben gemerkt, dass er
nicht alle seine Gedanken zu dem Bild verbalisieren konnte und war mit dem
Text unzufrieden. Er gab allerdings zu, er habe sich keine große Mühe hin-
sichtlich der formalsprachlichen Korrektheit gegeben, sonder sich darauf ver-
lassen, dass der Text im Anschluss überarbeitet werden würde. Ihm sei wich-
tig gewesen, eine Geschichte zu dem Bild zu schreiben.
Das Resultat der gemeinsamen Überarbeitung, an der drei weitere Teilnehmer
mit dem Schreiber zusammengearbeitet hatten, wurde dem Dozenten zur ab-
schließenden Überprüfung vorgelegt. Folgende Fassung entstand:
Ich sehe ein Bild. Es ist sehr schön. Auf dem Bild ist ein Bauer. Ich
sehe den Bauern auf dem Feld arbeiten, so wie jeden Tag. Er baut
viele Lebensmittel an und er hilft seine Frau und versorgt seine
Kuh. Er arbeitet viele Stunden und manchmal ist er müde und
dann er macht er eine Rast und nach der Rast arbeitet er weiter.
Wenn er geerntet hat, dann geht er zu einem Großhändler und
verkauft alles und dann hat er viel Geld und er ist sehr glücklich.
Nach 5 Wochen im Deutschkurs hat Aamir in einem kleinen Text seine Wün-
sche und Ansprüche an den weiteren Verlauf des Kurses geäußert. Er hat die-
sen Text etwa eine Woche nach dem „Erlebnis“-Text geschrieben.
Ich will Deutsch lernen, ich müß schreiben oder hörn, oder spre-
chen. Ich habe kein wissen, was ist Deutsch aber ich denke wenn
ich kann jeten tag lerne deutch ich gelabe ich kann gut lesen und
gut sprechen werden.
7.5.1.1 Entwicklung der kommunikativen Kompetenz in der Zielsprache
Aamir war zu Beginn des Sprachkurses erst kurze Zeit in der Bundesrepublik
Deutschland. Er hatte im Herkunftsland nach eigenen Angaben Englisch ge-
lernt, sprach jedoch zum Zeitpunkt seiner Einreise in die Bundesrepublik kein
Wort Deutsch. Durch seinen für diese Lernergruppe vergleichsweise intensiven
Kontakt zu Deutschen, nämlich seiner Pflegefamilie und seinen Schulkamera-
den, erwarb er recht schnell eine kommunikative Kompetenz im mündlichen
Sprachbereich, mit der er in den wichtigsten Alltagssituationen zurecht kam
und auch – wenngleich in begrenztem Ausmaß – Gespräche führen konnte. Er
„schnappte“, besonders in der Schule, Begriffe und Ausdrücke auf, die er im
Gespräch wiedergab.
Im schriftlichen Sprachgebrauch hatte er Schwierigkeiten, da seine sprachli-
che Kompetenz nicht seiner Schreibintention entsprach. Er war durchaus in
der Lage, Übungen zu einzelnen Grammatikthemen erfolgreich zu meistern,
scheiterte dann aber häufig beim freien Formulieren seiner Gedanken, Ansich-
ten und Eindrücke. Dies empfand er als sehr belastend. Er war einerseits sehr
292

unzufrieden mit der sprachlichen Ausführung seiner Texte, verließ sich aber
andererseits stark auf die Überarbeitung, bei der er immer um Hilfe bat,
wenngleich er darunter litt, dass die Leser seiner Texte oft Verständnisfragen
hatten.
Aamir hatte keine Probleme, seine Texte adressatenbezogen zu verfassen, er
führte Personen in ihren Rollen und Funktionen klar ein, schilderte Situationen
anschaulich
Ich setzte am park. und ich kann sehe vorne. vorne fällt ein jung
und diese jung hat ..
und seine Texte weisen keine inhaltlichen Sprünge oder Brüche auf.
Er versucht in seinen Texten immer wieder, seine Gefühle oder seine Meinung
darzustellen:
Das Deutschland ist schön aber ich finde das wetter ist Deutsch-
land nicht gut.
Deutsch Leute ist sehe gut aber ich finde jemanten allkohel trenke
diese ich mag nicht. Ich will Deutsch lernen, ich müß schreiben o-
der hörn, oder sprechen.
Doch dies bereitet ihm häufig Schwierigkeiten, insbesondere dann, wenn er
den formalsprachlichen Aspekt zu Gunsten der inhaltlichen Aussage vernach-
lässigt. Er gab an, er vergesse, was er gelernt habe, wenn er einen Text
schreibe, da er sich auf den Inhalt konzentrieren müsse und ihn ein Bemühen
um formalsprachliche Korrektheit nur ablenken würde. Er war sich durchaus
bewusst, dass er Texte, deren kommunikative Funktion und inhaltliche Aussa-
gen der sprachlichen Kompetenz angemessen sind, vergleichsweise fehlerfrei
schreiben hätte können, gab aber dazu an, er hätte seine Aussagen in diesem
Fall inhaltlich drastisch reduzieren müssen und das hätte er nicht gewollt.
Aamir konnte seine kommunikative Kompetenz in der Zielsprache Deutsch in
dem Zeitraum, in dem seine Texte untersucht wurden, deutlich verbessern.
Seine Texte erforderten von Mal zu Mal weniger Rückfragen und Erklärungen.
Es gelang ihm in zunehmenden Maße, seine Äußerungen verständlich zu for-
mulieren. Seinen Texten ist zweifelsfrei zu entnehmen, welche Schreibintenti-
on ihnen zu Grunde liegt. Er weist Textpassagen, in denen er seine Meinung
äußert oder seine Gefühle beschreibt, klar aus, wenngleich er noch nicht über
die formalsprachliche Kompetenz verfügt.
Ich sage das alle Leute ist gut.
kann ich argerlich will er hat gesag ich prauche nicht helfen.
Aamir verfügte bereits aus der Primärsprache über eine gut entwickelte kom-
munikative Kompetenz und versuchte, diesen Standard auch in der Zielspra-
che Deutsch zu erreichen. Diesem Ziel rückte er Text um Text, Überarbeitung
293

um Überarbeitung näher. Die Erkenntnis, dass er über eine besser entwickelte


kommunikative Kompetenz im mündlichen Sprachgebrauch verfügte und er
diese nicht problemlos in den schriftlichen Sprachgebrauch übernehmen konn-
te, spornte ihn zu weiterer Arbeit an.
Das Kreative Schreiben hatte ihm „die Augen geöffnet“ und ihn motiviert, sei-
ne Aussagen auch schriftlich zu formulieren.
7.5.1.2 Entwicklung des Sprachbewusstseins in der Zielsprache
Aamir hatte am Anfang seines Spracherwerbs bereits kritisiert, die deutsche
Sprache klinge nicht schön und die Schrift sei nicht ansprechend. Es wäre al-
les „hart“ und gleiche dem hiesigen Wetter. Auf Grund seines engen Kontak-
tes zu deutschsprachigen Menschen erreichte er zwar eine umfangreiche
kommunikative Kompetenz, aber im Vergleich dazu entwickelte er nur lang-
sam ein Sprachbewusstsein in der Zielsprache. Aamir verwendete lange Zeit
und in immer wiederkehrenden sprachlichen Situationen, die von ihm aus der
Primärsprache transferierte „Verlaufsform“, die er mit Hilfe des Hilfsverbs
„sein“ und dem Infinitiv bildete. Diese Form setzte er überwiegend im schrift-
lichen Sprachgebrauch ein, während er sie im mündlichen Sprachgebrauch
sehr selten formulierte. Trotz mehrmaliger Hinweise und Erläuterungen, die u.
a. kontrastiv ausgerichtet waren, hielt Aamir an dieser im Deutschen unzuläs-
sigen Verbform fest.
Der Umstand, dass Aamir versuchte, die deutsche Sprache entsprechend sei-
ner Primärsprache Urdu sowie seiner ersten Fremdsprache Englisch anzuwen-
den, führte zu Abweichungen, die sich in allen seinen Texten wieder finden.
Aamir erkannte diese Abweichungen in seinen eigenen Texten auch dann
nicht, wenn er darauf hingewiesen wurde. Er hatte zu Beginn seines Wegs
zum Schreiber noch kein Bewusstsein für die deutsche Sprache, insbesondere
für die Schriftsprache entwickelt, war aber daran auch nicht interessiert. Er
war überzeugt davon, er könne durch Fleiß und Eifer ausgleichen, was ihm
andere Lerner an Einfühlungsvermögen voraushatten. Aamir weigerte sich
auch kontrastiv zu arbeiten und sich damit den Unterschied der Strukturen in
seiner Primärsprache und dem Deutschen bewusst zu machen. Darin sah er
keinen Sinn und somit verzichtete er darauf.
In seinen Texten konzentrierte sich der Schreiber auf inhaltliche Aspekte.
Auch bei seinem Text über das Erlebnis im Park hatte er sich ausschließlich
auf die Darstellung des Inhalts konzentriert, zumal er starke Emotionen mit
dem Thema verband. Er war während des Schreibens immer noch wütend und
enttäuscht über die Reaktion des Verletzten, die er nicht nachvollziehen konn-
te. Er hatte sich, so erzählte er, sofort nach dem Ereignis an den Schreibtisch
gesetzt und die Begebenheit auf Deutsch niedergeschrieben. Er hatte seine
Enttäuschung und Wut in den Text gepackt und es habe ihm geholfen, sie zu
überwinden. Als ihn ein anderer Teilnehmer fragte, weshalb er den Text nicht
294

in seiner Primärsprache geschrieben habe, hatte er keine Antwort parat. Nach


kurzer Überlegung meinte er, er habe den Text automatisch auf Deutsch ge-
schrieben, weil sich die Begebenheit in Deutschland zugetragen habe. Nach
einiger Zeit meldete er sich erneut zu Wort und sagte, er glaube den Text auf
Deutsch geschrieben zu haben, da sich der Text in seiner Primärsprache wie
ein Affront gegen die Deutschen angehört hätte, und das hätte er nicht beab-
sichtigt. Er meinte, die Aussage des Textes verändere sich entsprechend der
Perspektive:
Auf Urdu würde er den Text so verstehen, dass alle Deutschen sich so verhal-
ten würden wie der Junge im Park. Auf Deutsch höre sich der Text so an, wie
er gemeint sei, nämlich als Bericht über einen einzelnen Jungen, der nicht re-
präsentativ für alle Deutschen sei.
Die anderen Teilnehmer experimentierten daraufhin mit ihrer Primärsprache
und gaben übereinstimmend an, auch sie empfänden den Text in ihrer Spra-
che als Verallgemeinerung, während sie diesen Eindruck beim Lesen des deut-
schen Textes nicht hätten.
7.5.1.3 Entwicklung individueller Kreativität
Aamir fand keinen ästhetischen Gefallen an der deutschen Sprache und er sah
sie lediglich als Werkzeug an, mit dessen Hilfe er sich und seine Gedanken
äußern konnte.
Es war für Aamir äußerst wichtig, seine Gedanken, Eindrücke und Ansichten
mitzuteilen. Er legte großen Wert auf Diskussionen zu aktuellen und gesell-
schaftlichen Themen und war neugierig auf die Ansichten der anderen Lerner.
Aamir hatte Freude daran, sich durch das Medium Schrift auszudrücken und
schrieb inhaltlich ausgeprägte Texte. Er zeigte demgegenüber wenig Freude
am Experimentieren und am Spiel mit der Sprache. Er verwendete in seinen
Texten weder ungewöhnliche Formulierungen noch trifft er unerwartete Aus-
sagen. Aamir erzählt. Er erzählt, was er in Deutschland erlebt, wie er
Deutschland erlebt und er bezieht Stellung dazu. In seinem letzten Text, den
er nach einer visuellen Vorlage geschrieben hatte, bleibt er bei dem, für ihn
bewährten Muster: er erzählt die Geschichte des Bauern, den er auf dem Bild
sieht. Er beschreibt dessen Tun und dessen Ziele.
Aamirs Weg zum Schreiber führt von einem kleinen Text, in dem er standardi-
sierte Sätze verwendet, um sich vorzustellen, über einen Text, in dem er be-
richtet, wie er die Bundesrepublik Deutschland erlebt, zu einem Text, in dem
er ein persönliches Erlebnis in diesem Land erzählt. Nach einem Text, in dem
er seine Erwartungen und Wünsche an den Sprachkurs beschreibt, vollzieht er
in seinem letzten Text, den er in dieser Reihe geschrieben hat, den Bogen hin
zu einer frei erfundenen Geschichte, der er eine neue Hauptperson – den
Bauern – gibt. Die individuelle Lösung von vorgegebenen Strukturen und in-
haltlichen Aussagen, von deren Wahrheit er überzeugt ist, kann in den Texten
295

nachvollzogen werden. In seinem letzten Text wagt er den Sprung in das


Reich der Fantasie und verlässt damit den für ihn sicheren Boden des Berichts
persönlich erlebter und erfahrener Ereignisse und Eindrücke, auch wenn die-
ser Text, ebenso wie die vorherigen, in einem vergleichsweise sachlichen Stil
gehalten ist.
7.5.1.4 Entwicklung der sprachlichen Kompetenz in der Zielsprache
Aamir war ohne Deutschkenntnisse in die Bundesrepublik eingereist, er hatte
nach eigenen Angaben im Herkunftsland Englisch gelernt, konnte sich aber
auf Englisch sehr schlecht verständigen und griff auch in „Notsituationen“
nicht darauf zurück. In Aamirs Texten spiegeln sich seine Schwierigkeiten wi-
der:
Ich
Aamir stellte sich in der ersten Unterrichtseinheit mit einem kleinen Text
vor428. Er erstellte ein individuelles Cluster und formulierte einen Text. Der
Text enthält, angesichts der Tatsache, dass Aamir über sehr geringe Deutsch-
kenntnisse verfügte, erstaunlich wenig formalsprachliche Abweichungen:
ein jung. Groß-/Kleinschreibung; fehlende Endung
nurnberg. Groß-/Kleinschreibung; kein Umlaut
schuller. Groß-/Kleinschreibung; Vokalverkürzung;
kein Umlaut
Ich komme in Pakistin. Falsche Präposition; Ländername
sechszehn Bildung ohne Weglassen des „s“
jahre Groß-/Kleinschreibung
Ich lehrene in deutsch. „Wörterbuchfehler“ (lehren  lernen),
Konjugation; falsche Präposition
Ich Sprache Groß-/Kleinschreibung; „Wörterbuchfehler“
(sprechen  Sprache)
im normal Groß-/Kleinschreibung; „Wörterbuchfehler“
(Normalfall  normal)
das alle Leute ist gut. Konjunktion, Konjugation (Plural)
Aamir hat sich in diesem Text weitgehend auf Strukturen beschränkt, die in
der ersten Unterrichtseinheit eingeführt werden:

428 Text 29
296

Ich bin ...


Ich wohne in...
Ich komme aus...
Ich spreche ...
In einem Fall wich er von den eingeführten Satzanfängen ab und bildete nach
dem gleichen Muster, jedoch nicht korrekt, einen eigenen Satzanfang:
Ich lehrene ...
Aamir hat, wie alle Lerner, Probleme mit der Groß-/Kleinschreibung im Deut-
schen, er schreibt Wörter am Satzanfang und Namen meist groß, ansonsten
hat er eine nicht selten auftretende Technik angewandt, nämlich alle Wörter
„mittelgroß“ zu schreiben, d.h. der Anfangsbuchstabe wird ein wenig größer
als die weiteren Buchstaben geschrieben und kann somit als „klein“ oder
„groß“ angesehen werden. Aamir hat ebenfalls noch Schwierigkeiten mit dem
deutschen Alphabet, so verzichtet er völlig auf Umlaute und schreibt das gro-
ße „j“ wie das große „i“, allerdings mit Punkt.
In dieser ersten Unterrichtseinheit wurden die Satzanfänge inklusive der ent-
sprechenden Präpositionen eingeführt (s. oben). Aamir hat den ersten Satzan-
fang mit Präposition „ich wohne in“ übernommen und weitere Satzanfänge
nach dem gleichen Muster gebildet, ohne jedoch auf die richtige Präposition
zu achten. Er hat durchgängig die Präposition „in“ verwendet, einmal in Kom-
bination mit dem Artikel „im“, eine Verbindung, die er schon oft gehört hatte.
Ich wohne in nurnberg..
Ich komme in Pakstin.
Ich lehrene in deutsch.
Ich sprache im normal deutsch.
Zum Abschluss seines Textes hat Aamir persönlich Stellung bezogen und dies
mit einem Nebensatz zu lösen versucht. Er hat jedoch Haupt- und Nebensatz
nicht mit einem Komma getrennt und die Konjunktion „dass“ nicht erkannt.
Ebenso ist die Satzstellung im Nebensatz nicht korrekt, das finite Verb steht
nicht an letzter Position.
Ich sage das alle Leute ist gut
Deutschland
Dieser Text weist im Vergleich zu dem ersten Text von Aamir viele formal-
sprachliche Abweichungen auf. Während Aamir in seinem ersten Text über-
wiegend auf Strukturen und Schablonen zurückgegriffen hat, die kurz vorher
eingeführt worden waren, formuliert er in seinem „Deutschland“-Text eigene
297

Gedanken und greift nur in geringem Umfang auf das Cluster zurück. Er hat
um der inhaltlichen Aussage Willen auf die formalsprachliche Sicherheit ver-
zichtet und sich sozusagen auf das sprachliche „Glatteis“ begeben.
Eine Fehleranalyse der Rohfassung wurde erst nach der Überarbeitung er-
stellt, da eine Analyse ohne Absprache mit dem Schreiber zu einem rein inter-
pretativen und spekulativen Umgang mit den formalsprachlichen Abweichun-
gen geführt hätte.
Bei der Fehleranalyse wurden orthografische Abweichungen, Wortschatzfehler
und Abweichungen im Bereich Grammatik getrennt erhoben.429
orthografische Abweichungen
das wetter Groß-/Kleinschreibung
Deutsch Leute,
Deutsch Regierung Groß-/Kleinschreibung
sehe falsche Laut-Buchstaben-Verbindung (e  r)
jemanten (d  t)
allkohel Groß-/Kleinschreibung; Vokalverkürzung, falsche
Laut-Buchstaben-Verbindung (a  l) 
möglicherweise Transfer
trenke falsche Laut-Buchstaben-Verbindung (i  e)
Prteien, Prteie falsche Laut-Buchstaben-Verbindung (r  ar)
schule Groß-/Kleinschreibung
intellektuel Fremdwort
spielplätze Groß-/Kleinschreibung
Ihr (ihr  hier)
ausländer Groß-/Kleinschreibung

429 Abweichungen vom Typus „Groß-/Kleinschreibung wurden dem orthografischen Bereich zugezählt, wenngleich sie
überwiegend von Fehleinschätzungen der betreffenden Wortart herrühren. Dennoch hat sich gezeigt, dass diese
Abweichungen bei der Überarbeitung erkannt und von den Teilnehmern als Orthografie-Fehler eingestuft werden. Die
meisten Teilnehmer speichern demnach nicht die Verbindung „Substantiv = groß“, sondern lernen das Wortbild, z. B.
„Haus = groß“, weshalb sie diese Fehlerquelle dem Rechtschreibbereich zuordnen  nicht „Haus schreibt man groß, weil
es ein Substantiv ist“, sondern: „Haus schreibt man groß.“ Diese Zuordnung wird im Laufe des Spracherwerbs
automatisiert und differenziert. Zu Beginn des Sprachkurses zeigen sich die meisten Teilnehmer aber überfordert, da sie
auch in der Primärsprache keine Wortarten bestimmen können.
298

Wortschatzfehler
aber alle Prteie ist
unterrichten arbeiten unterrichten  unterschiedlich
und andere viel arbeiten arbeiten  Beruf
viele underscheidung spiele. Unterscheidung  unterschiedlich
aber ich finde viele Leute
magen hund. Ich finde  ich glaube
Abweichungen im Bereich Grammatik
Das Deutschland Übergeneralisierung: Artikel
Leute ist Konjugation: Plural
Jemanten allkohel trenke Relativsatz; Konjugation
diese ich mag nicht Satzstellung
aber alle Prteie ist
unterrichten arbeiten Satzstellung, Deklination: Plural;
Konjugation: „Verlaufsform“ ( ist
arbeiten); Plural
alle Lehrer und Lehrerinen
ist viel fleißig Deklination: Plural, Konjugation: Plural
magen falsche Ableitung (ich mag  mögen)
arbeiten Firma, Hotel fehlende Präposition
schöner Plätze. Adjektivdeklination
Ihr ist viele Leute ist
ausländer Konjugation: Plural
Deutsch Leute,
Deutsch Regierung Adjektivdeklination
schneller unzulässiger Komparativ
billger unzulässiger Komparativ
jahrezeit Wortbildung: zusammengesetztes
Substantiv; Deklination: Plural
hund. Deklination: Plural
299

Aamir hat noch erhebliche Probleme mit der Groß- Und Kleinschreibung und
der Interpunktion. Weite Textpassagen sind „mittelgroß“ und ohne Satzzei-
chen geschrieben. Bei der Überarbeitung allerdings konnte Aamir diese Ab-
weichungen weitgehend selbst korrigieren. Er gab an, er habe während des
Schreibens keine Zeit gehabt, diese Probleme zu beachten, da er sich auf die
inhaltlichen Aspekte des Textes konzentriert habe. Er erzählte auch, die Lehr-
kraft im Gymnasium habe ihm erlaubt, alles „mittelgroß“ zu schreiben, da die
korrekte Groß-/Kleinschreibung zweitrangig sei, fügte aber sogleich hinzu, er
werde mein Beharren auf eine korrekte Groß-/Kleinschreibung akzeptieren
und sich im Deutschkurs diesbezüglich größte Mühe geben.
Die Bildung einer „Verlaufsform“, wie z. B. „ist arbeiten“ ist als Transferfehler
zu werten. Die meisten Teilnehmer aus dem persischen oder arabischen
Sprachraum bilden zu Beginn des Spracherwerbs auch in der Zielsprache
Deutsch diese Form, die in etwa der progressiven Form des Englischen ent-
spricht, häufig kommt es auch zu Mischformen der deutschen Konjugation
und der „Verlaufsform“, wie etwa: „Ich bin trinke.“.
Aamir hat in seinem langen Text vergleichsweise wenige Verben verwendet,
sein, finden, trinken, mögen, arbeiten
obwohl die Wortart „Verb“ in den Unterrichtseinheiten vor der Textproduktion
im Mittelpunkt stand. Es waren viele Verben eingeführt und an deren Beispiel
die Konjugationstypen erläutert und geübt worden.
Zum Zeitpunkt der Textproduktion hatte Aamir noch erhebliche Schwierigkei-
ten mit der Zuordnung des Numerus sowie der Pluralbildung. Dabei handelt es
sich nicht ausschließlich um fehlerhafte Pluralendungen wie etwa
Prteie, Lehrerinen, jahrezeit, hund.,
sondern auch um eine abweichende Konjugation, die darauf hinweist, dass
Aamir den Plural des Nominativs trotz Signalwörtern ,wie „alle“ oder „viele“
nicht erkannt hat bzw. keine Verbindung zwischen Numerus des Substantivs
und Numerus des Verbs herstellen konnte:
Deutsch Leute ist
alle Prteie ist
alle Lehrer und Lehrerinen ist viel fleißig und intellektuel
viele Leute ist ausländer
300

Ein Erlebnis initiiert einen Text


orthografische Abweichungen
park. Groß-/Kleinschreibung
ein jung Groß-/Kleinschreibung
Bolt  Blut
beinen Groß-/Kleinschreibung
prauchen pb
sie Groß-/Kleinschreibung;
Höflichkeitsform
oke. Fremdwort; Abkürzung
argerlich Umlaut
Wortschatzfehler
Ich setzte setzen  sitzen
vorne fällt ein jung fallen  hinfallen
hat beinen geworden werden  sich verletzen
er läuft nicht richtig. nicht  nicht mehr
er hat sehr Bolt ausgehe, Blut ausgehen  bluten
helfen helfen  Hilfe
krankenhaus Krankenhaus  Krankenwagen
Er geht krankenhaus. gehen  kommen
und habe ich ungedult. Ungeduld haben  enttäuscht sein
kann ich argerlich können  sein
will will  weil
Abweichungen im grammatischen Bereich
Ich setzte Konjugation: Tempus
am park. Präposition
ich kann sehe vorne. Modalverb + Infinitiv; Satzstellung
diese jung Deklination: Demonstrativpronomen
301

beinen Deklination: Plural


ich kann sage Modalverb + Infinitiv; Satzstellung
gesaght Wortbildung: Partizip II
geanruft. Wortbildung: Partizip II
und habe ich ungedult. Satzstellung
will er hat gesag Satzstellung;
Wortbildung: Partizip II
ich prauche nicht helfen. Infinitiv + zu
An diesem Text wird deutlich, dass Aamir bereits einige Strukturen und Wör-
ter in alltäglichen Situationen erworben hat, ohne diese korrekt erlernt zu ha-
ben. So versucht er an zwei Stellen im Text das Perfekt anzuwenden, was ihm
jedoch nicht gelingt, da er Schwierigkeiten, hat das Partizip II korrekt zu bil-
den. Gleichermaßen ist er sich der Funktion konjunktionaler Nebensätze be-
wusst, kennt aber die Gesetzmäßigkeiten ihrer Bildung noch nicht. Im
Sprachkurs waren diese Themen noch nicht behandelt worden. Ebenso be-
nutzt er in seinem Text Wörter, die er nur akustisch kennt, und versucht diese
zu verschriftlichen (Bolt  Blut).
In den Unterrichtseinheiten vor der Produktion dieses Textes waren die Mo-
dalverben und deren Funktion eingeführt worden. Aamir setzt in seinem Text
Konstruktionen mit Modalverben ein, kann diese jedoch in Form und Funktion
noch nicht sicher anwenden.
Form: ich kann sehe, ich kann sage
Funktion: er läuft nicht richtig  er kann nicht richtig laufen

ich kann sage  ich sage

kann ich ärgerlich  bin ich ärgerlich


Dieser Text weist keine fehlerhaften Pluralbildungen mehr auf. Aamir ist in
diesem Text auch ein differenzierterer Einsatz der Wortart „Verb“ gelungen.
Der Deutschkurs
Dieser Text ist auch ohne Rücksprache mit dem Schreiber lesbar. Es ist Aamir
hier gelungen, sich klar und verständlich auszudrücken, er hat sprachliche
Probleme bewusst umgangen. Da ihm dieser Text, nach eigener Aussage, in-
haltlich nicht in gleichem Maße wichtig war, wie die Texte, die er vorher ge-
schrieben hatte, konnte er sich auf die formalsprachliche Korrektheit konzent-
rieren und inhaltliche Aussagen deren Formulierung ihn sprachlich noch über-
fordert hätten, vermeiden. Er hatte diesen Text inhaltlich auf seine sprachliche
302

Kompetenz abgestimmt und nicht wie in den vorherigen Texten versucht, sei-
nen Text sprachlich auf die inhaltlichen Aussagen hin abzustimmen.
Der Text weist folgende Abweichungen auf:
ich müß schreiben Umlautfehler (Übergeneralisierung)
hörn Konjugation: Person (unzulässiger Transfer
aus dem mündlichen Sprachgebrauch)
kein wissen Groß-/Kleinschreibung
jeten dt
tag Groß-/Kleinschreibung
kann lerne Modalverb + Infinitv
deutch falsche Laut-Buchstaben-Zuordnung
gelabe  glaube
kann sprechen werden Übergeneralisierung
Aamir zeigt mit diesem Text, dass er immer noch Schwierigkeiten mit der Bil-
dung eines Satzes mit Modalverb und Infinitiv hat. Er hat in seinem Text vier
verschiedene Variationen produziert:
Ich will Deutsch lernen,
ich müß schreiben oder hörn, oder sprechen.
ich kann jeten tag lerne deutch
ich kann gut lesen und gut sprechen werden.
Der erste Versuch ist gut gelungen, Form und Satzstellung sind korrekt. Auch
der zweite Satz mit Modalverb ist korrekt, allerdings ist das Modalverb „müs-
sen“ nicht korrekt konjugiert. Im dritten Satz wiederholt Aamir den Fehler,
den er bereits im letzten Text gemacht hat, er konjugiert das Modalverb und
das Vollverb. Gleichzeitig zieht er das Vollverb um eine Position nach vorne.
Dieser Satz
ich kann jeten tag lerne deutch
beinhaltet überdurchschnittlich viele Abweichungen, was auf Unaufmerksam-
keit zurückzuführen ist, denn er hatte die entsprechenden Probleme bereits
früher ohne Schwierigkeiten gelöst.
Im letzten Satz dieses Textes konstruiert Aamir eine Verbform, die erst nach
Rücksprache mit ihm erklärt werden konnte: Das Anfügen des Hilfsverbs
„werden“ rührt von einer noch diffusen Ahnung von der Form des Futur 1 her.
Diese Tempusform war im Sprachkurs noch nicht besprochen worden, aber
Aamir war in der Schule, die er vormittags besuchte, damit konfrontiert wor-
303

den. Er hatte versucht, die entsprechende Verbform mit Modalverb im Futur 1


zu bilden, war aber gescheitert.
Aamir hat keine Satzzeichen gesetzt und völlig auf Interpunktion verzichtet.
Van Gogh
Die Rohfassung zeigt folgende Abweichungen im formalsprachlichen Bereich
auf:
orthografische Abweichungen
ein bauer Groß-/Kleinschreibung
jeten td
tag Groß-/Kleinschreibung
leben mittel Groß-/Kleinschreibung;
getrennt/zusammen
kuh Groß-/Kleinschreibung
stunden Groß-/Kleinschreibung
rest Groß-/Kleinschreibung, Transfer
Leben miltet  Lebensmittel
vertig vf
hendler Groß-/Kleinschreibung; Umlaut
sovill Vokaldehnung
geld Groß-/Kleinschreibung
sehe  sehr
klück. Groß-/Kleinschreibung; g  k
Wortschatzfehler
ihr helfe seine Frau
und seine kuh. ihr  er; helfen  versorgen
dann er mag rest mögen  machen; Rest  Rast
das Bild hat ein bauer haben  sein
große hendler  Großhändler
noch er arbeite. noch  weiter
Leben miltet sind vertig ist Lebensmittel sind fertig  er erntet
304

Abweichungen im grammatischen Bereich


ihr helfe seine Frau und
seine kuh. Personalpronomen, Konjugation: Person;
Deklination: Possessivpronomen
Er arbeite Konjugation: Person
vielen stunden Deklination: Plural
manchmal er ist müde Inversion
dann er mag rest Inversion
noch er arbeite. Inversion; Konjugation: Person
das Bild hat ein bauer Deklination: Kasus
Leben miltet sind vertig ist Konjugation „Verlaufsform“
dann er geht Inversion
sehe ich Inversion
der Bauer ist arbeite Konjugation „Verlaufsform“
in das feld Präposition
er bracht Konjugation : Tempus
sind verkaufe er Konjugation „Verlaufsform“
Aamir hat in der Rohfassung wiederum fast völlig auf Interpunktion verzichtet.
7.5.1.5 Zusammenfassung
Aamir hat im Sprachkurs 5 Texte geschrieben und diese überarbeitet. Aamir
zeigte sich als sehr ernsthafter, junger Mann, der an einem schnellen und si-
cheren Erwerb des Deutschen großes Interesse hatte.
Aamir nahm an Diskussionen zu aktuellen oder gesellschaftlichen Themen mit
großem Engagement teil und legte großen Wert darauf, seine Gedanken, Ein-
drücke und Ansichten mitzuteilen. Er nutzte seine Texte dazu, seine Meinung
zu verbalisieren und den anderen Teilnehmern zu präsentieren. Er litt darun-
ter, dass seine sprachliche Kompetenz in der Zielsprache Deutsch seiner In-
tention nicht angemessen war und er seine Gedanken nicht klar und deutlich
formulieren konnte. Seine „Sprachlosigkeit“ motivierte ihn zu eifriger, enga-
gierter Arbeit, die jedoch nicht dazu führte, dass er mit seinen Leistungen im
schriftlichen Bereich zufrieden war. Beim Schreiben lag der Schwerpunkt für
ihn deutlich auf dem inhaltlichen Aspekt und er gab an, er könne sich beim
Schreiben nicht auf sprachliche Aspekte konzentrieren, ohne die inhaltlichen
Aspekte, die ihm sehr wichtig seien, zu vernachlässigen. Er verließ sich nach
ersten Erfahrungen daher auf die Überarbeitung, bei der er immer um die Hil-
305

fe der Lehrkraft und der anderen Schreiber bat. Eine selbständige Überarbei-
tung traute er sich nicht zu und er versuchte daher nicht, seine Texte mit Hilfe
seiner Aufzeichnungen und/ oder eines Wörterbuchs auf formalsprachliche
Abweichungen hin zu überprüfen.
Aamir verfasste seine Texte überwiegend in einem referentiellen Stil und be-
lächelte Texte, die andere Teilnehmer geschrieben hatten, wenn sie fantasie-
voll, witzig oder märchenhaft waren. Er gab an, diese Texte gefielen ihm sehr
gut, entsprächen jedoch nicht seiner Vorstellung eines „guten“ Textes.
Aamir hatte – auch wegen seiner Bemühungen um inhaltlich aussagekräftige
Äußerungen – erhebliche Probleme im formalsprachlichen Bereich. Dazu trug
seine Weigerung bei, die Zielsprache experimentell und spielerisch zu erfor-
schen. Ich hatte den Eindruck, als wolle er damit den Altersunterschied zu
den anderen Teilnehmern ausgleichen. Er gab zu, er wolle nicht von den Älte-
ren als Jugendlicher behandelt werden. Er wolle als gleichberechtigter Teil-
nehmer akzeptiert werden und es sei ihm wichtig, dass seine Äußerungen mit
dem gleichen Ernst aufgenommen würden, wie die der anderen, älteren Teil-
nehmer. Dieser Wunsch erscheint verständlich, aber vor dem Hintergrund der
freundlichen Atmosphäre, die diesen Kurs auszeichnete, eher überspitzt.
Aamir konnte seine formalsprachliche Kompetenz erweitern und sich in stei-
gendem Maße schriftlich klar äußern. Er entwickelte ein gewisses Bewusstsein
für die Zielsprache und es gelang ihm im letzten Text, sich auf eine fiktive Ge-
schichte einzulassen.

7.5.2 Naby
Naby war zum Zeitpunkt des Sprachkurses 27 Jahre alt. Er war Asylbewerber
und war aus politischen Gründen aus seinem Heimatland, der Elfenbeinküste,
geflohen. Naby sprach Französisch und seine Primärsprache Kwa. Er verfügte
zudem über gute Englischkenntnisse und konnte in einigen afrikanischen
Sprachen kommunizieren. Naby war – wie die meisten Afrikaner - in einer
multilingualen Umgebung aufgewachsen: Er sprach mit seiner Familie Kwa,
war in der Schule auf Französisch unterrichtet worden und in der peer-group
hatte er regionale Dialekte und Sprachen gesprochen. Naby hatte kein Prob-
lem mit der Vorstellung, eine neue Sprache zu lernen. Er empfand es als nor-
mal, mit der Umgebung auch die Sprache zu wechseln. Später bemerkte er
dazu, das Leben in Deutschland sei einfach, da man nur eine Sprache lernen
müsse, um hier leben und arbeiten zu können.
Naby hatte keinen intensiven Kontakt zu Deutschen, er kannte überwiegend
Menschen von der Elfenbeinküste und verbrachte seine Zeit mit ihnen. Dies
war nicht unbedeutend von dem Umstand geprägt, dass er als Asylbewerber
verpflichtet war, in einer entsprechenden Unterkunft zu leben und ihm die Ar-
beitserlaubnis verwehrt blieb. Seine Kontakte zu Deutschen waren auf Be-
306

kanntschaften beschränkt, die er in Diskotheken und bei afrikanischen Kon-


zerten machte.
Naby hielt sich zu Beginn des Sprachkurses 15 Monate in der Bundesrepublik
Deutschland auf und hatte in dieser Zeit „von einem Freund“ Deutsch gelernt,
der im Jahr zuvor ebenfalls einen Sprachkurs besucht hatte. Er sprach in die-
ser Zeit überwiegend Französisch und Englisch. Diese beiden Sprachen hatten
sich für ihn, sowohl in der Unterkunft als auch bei Behördengängen wie in der
Diskothek als ausreichend erwiesen, um sich verständlich zu machen. Deutsch
wollte Naby lernen, um einen Arbeitsplatz finden zu können und um seine
Aussichten auf einen positiven Bescheid bezüglich seiner Aufenthaltsgenehmi-
gung zu erhöhen. Ein weiterer Grund, Deutsch zu lernen war für ihn, dass die
Deutschen nach seiner Einschätzung nicht gut Englisch und Französisch sprä-
chen. „Es ist schwer, mit ihnen zu sprechen.“ Es war für Naby eine erstaunli-
che Tatsache, dass die meisten Europäer neben ihrer Primärsprache lediglich
über Schulkenntnisse anderer Sprachen verfügen.
In seinem ersten Schreibversuch, stellt sich Naby mit einem kleinen Sprach-
spiel430 vor. Er schrieb zu jedem Buchstaben seines Vornamens einen Begriff
zum Thema „ich mag“ und zu jedem Buchstaben seines Familiennamens einen
Begriff zum Thema „ich mag nicht“. Er arbeitete hierzu mit einem Wörterbuch.
Ich mag Ich mag nicht:
Neger, Nürnberg Angst
Auslandsprechen Babylon, Böse sein
Bayerisch Bier – Bort – Bazar Nerveuse – Nein
Yemenisch Hauptstadt Gemeine
Alergi – ALLES
Racismos
Umfall
Naby hat einen weiteren Text zum Thema „ich“ verfasst. Er hat dazu die Per-
sonalpronomen, die in der ersten Unterrichtseinheit eingeführt werden, als
Struktur herangezogen. Er hat dabei zu (fast) jedem Personalpronomen einen
Satz gebildet und diese zu einem kleinen Text verbunden.
Ich habe deutsch Kurz an 24-02-1997 angefange. Mein Lehrerin
heißt USCHI, sie va ganz freundlich mit sein Schulere.
Du lachst immer auf die straße Dana,

430 Der Familienname des Schreibers wurde aus Datenschutzgründen unkenntlich gemacht.
307

sie magt gut dein heimat, weil sein familie libt in Russland
er schreibt immer sein geschicht für sein famili in Afrika
wir durfen nicht sagen du auf polizeie
ihr seind Asylweberber in deutschlan
sie sind alle mein freunde in die stadt Nurnberg
Naby hat einen sehr umfangreichen Text zum Thema „Deutschland“ geschrie-
ben. Als Einstieg in den Text stand auch für Naby das Gemeinschafscluster431
zur Verfügung.
Eine Geschichte von Deutschland
Thema: Mentalität, Konservation, Leben
In Deutschland Bundesrepublik, es gibt viel Städt. Jeden Stadt hat
seinen spreche und hat seinen Burgermaster oder Ministre, Zum
Beilspiel: Bayern (Bayerisch), Franken (Frankisch) ...etc. jede
Stadt Bescheid wie geht in seine stadt, uber (Politik, Economik ...)
Manch Städt acceptieren die Ausländer, aber die stadt Nürnberg ist
erlisch eine nette für die Ausländer. Und Regensburg ist tut weinen
bissen. Ich kenne nicht ganz Deutschland aber umgevier 16 Mona-
ten in Nurnberg, und ich weiß bissen wie ein Arm Afrikanicher kann
gut leben. Er muß heiraten, Trostim, kein Arbeit, kein genuk geld.
Darum alle Armen schwarz mußen eine frau suchen. Das Situation
ist schwer für mich, weil ich heirate nicht zum gut leben, oder in
Deutschland Bleiben – Seite 16 Monaten ich bin in Nurberg, und
ich hatte vier frauen kennelernen in die erster acht Monaten. Sie
wollen alle nur in Deutschland bleiben und nicht in Afrika gehen
mit. Sie wollen alle Ihren Traditionen (Theater, opper, nur in die
Wohnung bleiben der ganz woche, weniger besuchen, weniger kin-
der, viel Arbeiten, viel geld, domination bei die frau ... etc.). Ich
freut mich in Deutschland jeder Jahre für Urlaub mit meine
Deutsch Frau.
Etwa 8 Wochen nach dem „Deutschland“-Text hat Naby den folgenden Text
verfasst. Er hatte sich als visuelle Vorlage für seinen Text eine Version der
Sonnenblumen von Vincent Van Gogh herausgesucht. Weshalb er gerade die-
ses Bild gewählt hatte, darüber gibt er in seinem Text Auskunft.
Ich habe viel gedacht und nachgedacht, Meine Vorstelung uber
dieses Bild ist sehr gut. Das ist für mich ein schönes Bild. Ich will
damit sagen daß die Blumen für mich viel bedeuten. Ich habe eine

431 Siehe S. 308


308

wunderschöne erinerung an diese Blumen. Die sehen wirklich ganz


gut aus, aber wäre die sehr schön geworden wenn alle lustig ge-
wissen wäre ... Hellgrün und Gelb sind meine Lieblingsfarben. Als
ich dieses Bild gesehen habe eine schöne gefule wider bekomen
habe. Auf dem Tisch steht eine Vase. In der Vase sind viele Blu-
men. Manche sind sehr Lustig, vielleich haben sie eine ursache so
zufriden zu sein. Alles kann im Leben passieren, manchhe sind
traurig, aber ich habe Hoffnung, die werden auch so schön, wie die
anderen und sie werden glücklich und fröhlich Das ist mein großer
Wunsch daß Alle auf der Erde glücklich werden.
7.5.2.1 Entwicklung der kommunikativen Kompetenz
Nabys erste Schreibversuche zeigen noch deutliche Schwierigkeiten auf, Ge-
danken und Sätze zu einem sinnvollen Ganzen, einem Text, zu verweben. Der
Text, in dem er sich vorstellt weist Brüche und inhaltliche Sprünge auf. Es ist
ihm hier nicht gelungen, seine Intention, sich in einem kleinen Text vorzustel-
len, zu verwirklichen. Er springt von einem inhaltlichen Aspekt zum nächsten
und achtet nicht darauf, dem Leser ein Ganzes vorzustellen. So beschreibt er
seine persönliche Situation im Deutschkurs und fährt dann ohne logischen
Übergang damit fort, das Verhalten eines anderen Teilnehmers zu schildern.
Du lachst immer auf die straße Dana,
Er verzichtet hier auch darauf, die Personen einzuführen und in ihrer Rolle
vorzustellen:
sie magt gut dein heimat, weil sein familie libt in Russland
er schreibt immer sein geschicht für sein famili in Afrika
Dies mag durch seine Intention, seine Sätze – in Anlehnung an das Acristi-
chon – mit einem Personalpronomen zu beginnen, führt aber zu einem in sich
nicht schlüssigen Text.
Seinen zweiten Text dagegen hat er logisch strukturiert und aufgebaut. Nach
einem Abriss über die politische Struktur Deutschlands geht er über zum Ver-
halten der deutschen Bevölkerung gegenüber Ausländern. Anschließend be-
schreibt er seine Situation als „armer Afrikaner“ und nimmt dazu Stellung.
Darum alle Armen schwarz mußen eine frau suchen. Das Situation
ist schwer für mich, weil ich heirate nicht zum gut leben, oder in
Deutschland Bleiben
Er beschreibt daraufhin seine Erfahrungen mit deutschen Frauen und begrün-
det seine Meinung, die er sich hierüber gebildet hat:
Sie wollen alle nur in Deutschland bleiben und nicht in Afrika ge-
hen mit.
309

Sie wollen alle Ihren Traditionen


Zur Verdeutlichung zählt er Beispiele auf, die seine Schlussfolgerung unter-
mauern.
Theater, opper, nur in die Wohnung bleiben der ganz woche, weni-
ger besuchen, weniger kinder, viel Arbeiten, viel geld, domination
bei die frau ... etc.
Es gelingt ihm, seine Beobachten und die daraus resultierenden Ansichten als
solche wiederzugeben und er entwickelt einen roten Faden, der das Verständ-
nis des Textes auch für einen Leser, der ihn nicht kennt, problemlos gestaltet.
In dieser Phase des Spracherwerbs ist seine kommunikative Kompetenz wei-
ter entwickelt als seine formalsprachliche Kompetenz.
Sein dritter Text, die Auseinandersetzung mit dem Bild von Van Gogh zeigt,
dass er seine kommunikative Kompetenz in der Zielsprache Deutsch in kurzer
Zeit so weit entwickeln konnte, dass er die Gefühle, die das Bild in ihm aus-
löst, zum Ausdruck bringen kann. Es gelingt ihm hier auch, zwischen Textse-
quenzen, in denen er das Bild beschreibt und Sequenzen, in denen er seine
eigenen Gefühle formuliert, Brüche zu vermeiden und logische Übergänge zu
gestalten.
In der Vase sind viele Blumen. Manche sind sehr Lustig,
vielleich haben sie eine ursache so zufriden zu sein.
Seine Mutmaßung über die Schönheit der dargestellten Blumen
Die sehen wirklich ganz gut aus, aber wäre die sehr schön gewor-
den
wenn alle lustig gewissen wäre ...
formuliert er in wechselnden Modi, was den Leser auf den ersten Blick zwi-
schen der Beschreibung der Realität und der Vermutung unterscheiden lässt.
In Nabys Text sind keine Stellen enthalten, die Defizite in der kommunikati-
ven Kompetenz erkennen lassen.
7.5.2.2 Entwicklung eines Sprachbewusstseins
Naby hatte seine Sprachkompetenz in der Zielsprache Deutsch rasch und si-
cher erweitern können. Dies ist nicht zuletzt auf seine gut entwickelte Fähig-
keit, sich auf eine neue Sprache einzulassen, zurückzuführen. Naby war in ei-
ner ausgesprochen multilingualen Umgebung aufgewachsen und er hatte kei-
ne Probleme, von einer Sprache zur anderen „umzuschalten“. Er erklärte, er
finde es völlig normal, mehrere Sprachen zu sprechen und er verstünde nicht,
weshalb Europäer (meist) monolingual aufwüchsen. Naby war zu Beginn des
Sprachkurses etwa eineinhalb Jahre in der Bundesrepublik und hatte in dieser
Zeit einige Deutschkenntnisse erworben. Er war sich aber bewusst, dass diese
310

ungesteuert erworbenen Sprachkenntnisse nicht ausreichten, um Arbeit zu


finden. Naby war in der Lage, seine Kenntnisse realistisch einzuschätzen.
Im Sprachkurs hatte er eine Lerntechnik entwickelt, die es ihm erlaubte, neue
Strukturen vergleichsweise schnell einzuordnen und anzuwenden, er verglich
die Bildung grammatischer Konstruktionen im Deutschen mit dem französi-
schen Sprachmaterial, über das er verfügte und erzielte so rasch Erfolge, die
ihn zu weiterer Arbeit anspornten. Er lernte demnach z. B. die Bildung von
Passivformen nicht als solche, sondern erkannte, dass „werden + Partizip II“
im Deutschen der französische Form „être + Partizip II“ entspricht. Anhand
dieser Technik konnte er die im Unterricht erworbenen Strukturen auch relativ
sicher in seinen Texten anwenden. Naby schrieb sehr gerne und überprüfte
seine Texte immer mit Hilfe der Klangprobe, d.h. er las sie nach dem Schrei-
ben laut und überprüfte ihren Klang. Er bat: „Komm bitte, das ist komisch.
Warum?“, wenn er die entsprechende Textstellen nicht so umgestalten konn-
te, dass er mit dem Ergebnis zufrieden war.
Die Anwendung von im Unterricht erworbenen Strukturen und Vokabeln in
kreativ geschriebenen Texten machte ihm Spaß und er experimentierte ganz
bewusst beim Schreiben mit Formen, die er zum Zeitpunkt des Schreibens
noch nicht sicher beherrschte.
Die sehen wirklich ganz gut aus, aber wäre die sehr schön gewor-
den
wenn alle lustig gewissen wäre ...
Er versuchte auch in den Texten, verschiedene Strukturen miteinander zu
verknüpfen und ihren praktischen Nutzen, ihre Funktion zu erkennen.
Ich kenne nicht ganz Deutschland aber umgevier 16 Monaten in
Nurnberg,
und ich weiß bissen wie ein Arm Afrikanicher kann gut leben.
Naby konnte sein Bewusstsein für Sprachen durch das Kreative Schreiben er-
weitern und gleichzeitig ein Gefühl für die deutsche Sprache entwickeln. Diese
beiden Aspekte standen für ihn in einem sehr engen Zusammenhang, da ihm
sein Bewusstsein für Sprachen zu einem raschen Einstieg in das Deutsche
verhalf und andererseits seine „neuen“ Sprachkenntnisse, seine Vorstellung
von Sprache per se erweitern.
Nicht unerheblich trug Nabys Unbefangenheit gegenüber der „neuen“ Sprache
dazu bei, dass er ein gutes Sprachgefühl entwickeln konnte.
7.5.2.3 Entwicklung der individuellen Kreativität
Bei seinen ersten Texten hat dieser Schreiber Wortschöpfungen verwendet,
die nicht der formalsprachlichen und lexikalischen Norm entsprechen.
311

domination bei die frau


Diese „Verdeutschungen“, also Übertragungen französischer Wörter kann
durchaus als kreative Leistung bewertet werden, da sie dem Schreiber hilft,
seine sprachlichen Defizite in der Zielsprache mit Hilfe dieser selbst kreierten
Begriffe so auszugleichen, dass es ein Leser vergleichsweise problemlos nach-
vollziehen kann, was er ausdrücken möchte. Es gelingt ihm mit Hilfe dieser
Wortschöpfungen, sich trotz eines (noch) erheblich eingeschränkten Wort-
schatzes differenziert und verständlich zu umfassenden Problemen zu äußern.
Naby stellt in seinem Deutschland-Text seine Meinung mit bemerkenswerter
Offenheit dar, was seine Texte von den Texten der anderen Schreiber dieser
Gruppe hervorhebt. Er entwickelt in seinem Text neue Ideen, die das Thema
„binationale Ehen“, das in den Sprachkursen naturgemäß immer auftritt, aus
einer in diesem Umfeld ungewöhnlichen Perspektive beleuchtet. Er weicht hier
vom main-stream ab und wagt sich inhaltlich auf das interkulturelle Glatteis,
auf dem er sich auch in der Diskussion, die seine Aussagen über deutsche
Frauen und „arme Schwarze“ sowie binationale Eheschließungen auslöste, be-
haupten konnte.
Er trifft in diesem Text eine Aussage, die in diesem Zusammenhang eher un-
gewöhnlich ist: Er beschreibt die Problematik binationaler Partnerschaften aus
der Perspektive eines afrikanischen Mannes und beanstandet das Festhalten
der deutschen Frauen an ihren Traditionen:
Sie wollen alle nur in Deutschland bleiben und nicht in Afrika ge-
hen mit.
Sie wollen alle Ihren Traditionen
Das Beleuchten dieser Gegebenheit aus einer, für viele ungewohnten Perspek-
tive, führte zu einer heftigen Auseinandersetzung in der Gruppe. Sie führte
aber in gleichem Maße zu neuen Einsichten und Ansichten anderer Teilneh-
mer, denen die im Text dargestellte Perspektive neu war. Den gleichen Effekt
hatte die von Naby getroffene Aussage,
ich weiß bissen wie ein Arm Afrikanicher kann gut leben. Er muß
heiraten,
Trostim, kein Arbeit, kein genuk geld.
Auch mit dieser Aussage überraschte Naby die Gruppe, die zuerst glaubte, er
habe die Konjunktionen „trotzdem“ und „weil“ verwechselt. Naby jedoch bes-
tätigte, er habe die Arbeitslosigkeit und die schlechte finanzielle Situation sei-
ner Landsleute nicht als kausale Ursache für ihren Heiratswunsch angeben
wollen, sondern den für ihn überraschenden Umstand formulieren, dass sie
heiraten müssten, obwohl sie weder über die finanziellen Möglichkeiten ver-
fügten noch in eine gesicherte Zukunft blicken könnten. Im anschließenden
312

Gespräch äußerte er dann auch, dass eine Heirat unter derartigen Umständen
in seiner Heimat undenkbar sei.
Der dritte Text von Naby ist sehr subjektiv gehalten und er beschreibt darin
die emotionale Wirkung, die die visuelle Vorlage auf ihn ausübt. Er formuliert
diese Schreibintention deutlich und gibt damit den Trend seines Textes vor.
Ich will damit sagen daß die Blumen für mich viel bedeuten.
Auch hier unterschied sich sein Text von den Texten der anderen Teilnehmer,
denn er hatte auf eine Beschreibung der visuellen Vorlage weitgehend ver-
zichtet und sich auf die Wirkung, die das Bild auf ihn ausübte, beschränkt.
In diesem Text hat Naby zur Beschreibung der Blumen Begriffe herangezo-
gen, die in diesem Zusammenhang ungewöhnlich sind:
Manche sind sehr Lustig, vielleich haben sie eine ursache so zufri-
den zu sein.
Alles kann im Leben passieren, manchhe sind traurig,
Darauf angesprochen, dass die Adjektive „lustig“ und „traurig“ im Zusam-
menhang mit Blumen ungewöhnlich seien, antwortete er, er wisse, dass es für
den Zustand der Blumen spezielle Wörter gebe, habe aber gedacht, die bei-
den, von ihm gewählten Adjektive würden seinen Eindruck ebenso gut, wenn
nicht gar besser wiedergeben.
An Nabys Texten ist eine Zunahme an subjektiven, emotionalen und kreativen
Elementen festzustellen. Naby erklärte, das Formulieren von subjektiven Ein-
drücken und persönlichen Gefühlen sei in seiner Heimat üblich. Er habe viel-
mehr Probleme mit der Distanziertheit und Unpersönlichkeit, die er in anderen
Kulturkreisen feststelle. Er habe seine persönlichen Aussagen zu Beginn des
Sprachkurses eingeschränkt, da er die Gruppe noch nicht kannte, habe aber
nach einiger Zeit keinen Grunde mehr sehen können, seine Aussagen in einer
distanzierten und unpersönlichen Weise zu treffen. Er fügte hinzu: „Afrikani-
sche Männer sind nicht peinlich über sich sprechen.“
7.5.2.4 Entwicklung der sprachlichen Kompetenz in der Zielsprache
Ich
Die in diesem Text auftretenden Abweichungen sind zwei Fehlerquellen zuzu-
ordnen: Zum Einen war der Schreiber nicht in der Lage, die im Wörterbuch
aufgefundenen Adjektive zu deklinieren,
Bayerisch Bier, Yemenisch Hauptstadt
zum Anderen hat er Wörter, die er nicht dem Wörterbuch entnommen hat,
entsprechend ihrer Diktion geschrieben. Hier kam es zu französischer
Schreibweise
313

Nerveuse
bzw. zu einer Mischung aus deutscher Aussprache und französischer Schreib-
weise.
Racismos
Naby hat in diesem Text wiederum bereits erworbene Begriffe und Strukturen
mit im Deutschkurs Erlerntem verwoben. So verwendet er das Perfekt und er
bildet Nebensätze und Konstruktionen mit Modalverb + Infinitiv und Präpositi-
onalobjekte. Hierbei treten formalsprachliche Abweichungen auf, die auf eine
unsichere und nicht gefestigte Anwendung hinweisen:
Ich habe angefange. fehlerhaftes Partizip II
mit sein Schulere. Kasus; Possessivpronomen; Plural
Du lachst immer auf
die straße Kasus; Groß-/Kleinschreibung
weil sein familie libt in
Russland Satzstellung; Groß-/Kleinschreibung; i  e
für sein famili Kasus; Possessivpronomen; Groß-/Klein-
schreibung; i  ie
wir durfen nicht sagen ... Satzstellung; Umlaut
Demgegenüber sind folgende Abweichungen auf Übergeneralisierung zurück-
zuführen, da die Konjugation der Hilfsverben und der schwachen Verben ein-
geführt worden war:
ihr seind, wir durfen, sie magt
Diese Annahme wird durch die weitgehend korrekte Konjugation der Verben
aus den besprochenen Verbgruppen gestützt.
Mein Lehrerin heißt, du lachst, er schreibt, sie sind
Einige der im Text auftretenden Abweichung sind als Transferfehler zu wer-
ten:
deutsch Kurz zs
sie va elle va  sie geht (hier: sie ist)
sie magt gut elle aime bien  sie mag gerne
314

Deutschland
Der Text zeigt folgende formalsprachliche Abweichungen auf:
Zum Beilspiel: Groß-/Kleinschreibung
spreche  Sprecher
Frankisch Umlaut
umgevier  ungefähr
bissen  ein bisschen
Arm Afrikanicher Groß-/Kleinschreibung
Trostim,  trotzdem
genuk  genug
geld Groß-/Kleinschreibung
mußen Umlaut; Vokalkürzung
frau Groß-/Kleinschreibung
stadt Groß-/Kleinschreibung
erlisch Vokaldehnung; sch  ch
Bleiben Groß-/Kleinschreibung
frauen Groß-/Kleinschreibung
kennelernen  kennen lernen
Nurberg, Umlaut; Vermeidung der Konsonantenhäufung
Ihren Groß-/Kleinschreibung
opper, Groß-/Kleinschreibung
woche, Groß-/Kleinschreibung
kinder, Groß-/Kleinschreibung
Arbeiten, Groß-/Kleinschreibung
Konservation Transfer
Burgermaster Transfer; Umlaut
Ministre Transfer
Bescheid Transfer
wie geht uber  was passiert
315

Economik Transfer
acceptieren Transfer
ist tut weinen bissen.  ist ein bisschen traurig
domination bei
die frau Transfer
für Urlaub Präposition
viel Städt Pluralbildung
Jeden Stadt Deklination: Genus
in seine stadt Deklination: Kasus; Groß-/Kleinschreibung
Manch Städt Pluralbildung
16 Monaten Pluralbildung
wie ein Arm
Afrikanicher kann
gut leben. Satzstellung
Trostim, kein Arbeit, kein Prädikat
kein genuk geld. Verneinung
Darum alle Armen
schwarz mußen Inversion; Substantivierung; Pluralbildung
Das Situation Deklination: Genus
weil ich heirate nicht
zum gut leben, Satzstellung; Konjunktion
Seite 16 Monaten ich
in in Nurberg, Inversion
in die erster acht
Monaten. Deklination: Kasus
in Afrika gehen mit. Trennbares Verb
der ganz woche, Deklination: Genus
Ich freut mich Konjugation
jeder Jahre Deklination: Genus, Numerus
316

mit meine
Deutsch Frau. Deklination: Kasus
Nabys Text ist trotz zahlreicher Abweichungen von der formalsprachlichen
Norm durchaus verständlich. Der Text wurde mit Hilfe der Dozentin überarbei-
tet und in eine formalsprachlich korrekte Form gebracht.
Van Gogh
Naby konnte in diesem Text seine im Deutschkurs erworbenen Kenntnisse gut
anwenden. Dieser Text weist erstaunlich wenige, formalsprachliche Abwei-
chungen auf:
Vorstelung Vokalverkürzung
uber Umlaut
erinerung Groß-/Kleinschreibung; Vokalverkürzung
aber wäre die sehr
schön geworden Übergeneralisierung: Inversion; Konjugation:
Plural
wenn alle lustig
gewissen wäre ... Partizip II; Konjugation: Plural
eine schöne gefule
wider bekomen habe. Satzstellung
gefule Groß-/Kleinschreibung; Umlaut, Vokaldehnung
wider i  ie
bekomen Vokalverkürzung
vielleich  vielleicht
ursache Groß-/Kleinschreibung
zufriden i  ie
manchhe  manche
Alle Groß-/Kleinschreibung
Naby zeigt mit diesem Text, dass er viele sprachliche Probleme sicher
und problemlos bewältigen kann, wie z. B.
Satzstellung im Nebensatz:
..., daß die Blumen für mich viel bedeuten.
317

Als ich dieses Bild gesehen habe, ...


..., aber ich habe Hoffnung
..., daß Alle auf der Erde glücklich werden
Bildung von Objekten und Deklination
ein schönes Bild
In der Vase
für mich
Substantiv mit Präposition
erinerung an
Konjunktiv II
aber wäre die sehr schön geworden wenn alle lustig gewissen wäre
...
Naby hat auch seinen Wortschatz stark erweitert und kann sich differenziert
und deutlich ausdrücken:
Ich habe viel gedacht und nachgedacht
Naby konnte seine formalsprachliche Kompetenz erheblich steigern und dies
auch in seine Texte einbringen.
7.5.2.5 Zusammenfassung
Naby konnte seine Sprachkompetenz und seine individuelle Kreativität wäh-
rend der Schreibkurse deutlich erweitern. Für Naby war das Kreative Schrei-
ben ein Feld, auf dem er das für ihn neue Sprachmaterial testen und üben
konnte. Er freute sich, wenn er eine grammatische Struktur erworben hatte,
die es ihm möglich machte, Äußerungen zu formulieren, die ihm inhaltlich am
Herzen lagen. So freute er sich beispielsweise über die Einführung des Kon-
junktivs II, da er eine Chance sah, sich differenzierter zu artikulieren und über
seine Wünsche, Vorstellungen und Träume zu sprechen und zu schreiben,
während die anderen Teilnehmer diesen Modus eher als Belastung ansahen.
Seine Einstellung erleichterte ihm die Entwicklung seiner formalsprachlichen
Kompetenz, deren Ausmaß sich in seinen Texten widerspiegelt.
Naby schrieb gern und freute sich, ein Medium gefunden zu haben, das ihm
erlaubte, sich und seine Ansichten, Gefühle und Gedanken in der Gruppe vor-
zustellen. Er ging sehr unbefangen an das Schreiben heran und ließ sich ohne
Hemmungen auf Techniken des Kreativen Schreibens, wie etwa das Clustern,
ein. Er zeigte großes Interesse an spielerischem und experimentellem Um-
gang mit Sprache und erkannte auch dessen Nutzen für den Spracherwerb.
Naby formulierte in seinen Texten in zunehmendem Maße emotionale, subjek-
318

tive und kreative Aussagen, die er ohne Scheu der Schreibgruppe präsentier-
te.
Nabys Texte enthielten auch Äußerungen, die in der Schreibgruppe kontrovers
diskutiert wurden. Seine Aussagen wurden von den anderen Schreibern teil-
weise als provozierend empfunden. Naby löste mit seinen Texten Gespräche
aus, in denen er seine Äußerungen erläuterte und begründete. Diese Situation
förderte seine Kompetenz im mündlichen Sprachgebrauch erheblich und er
profitierte, zumindest in sprachlicher Hinsicht – in hohem Maße von diesen
Diskussionen. Für ihn schienen die Auseinandersetzungen über seine Texte zu
einer Art sprachlichem Trainingsprogramm zu gehören, und er fragte nach ei-
ner hitzigen Diskussion über eine Aussage, die er in einem seiner Texte ge-
troffen hatte: „Will noch jemand mit mir kämpfen?“ Es bereitete ihm Freude
sich verbal mit anderen Lernern in der Zielsprache Deutsch zu duellieren und
er war sich bewusst, welchen Nutzen er hinsichtlich der Entwicklung seiner
sprachlichen Kompetenz aus diesen Diskussionen zog.
Dieser Schreiber weckte den Anschein, er sei völlig frei von affektiven Einflüs-
sen, die den Spracherwerb hemmen können. Er war neugierig und offen ge-
genüber seiner neuen Umgebung und hatte sich gut mit dem unfreiwilligen
Aufenthalt in der Bundesrepublik arrangiert. Er war hoch motiviert und fühlte
sich in der Schreibgruppe wohl. Er hatte guten Kontakt zu den anderen Teil-
nehmern und entwickelte zu einigen ein freundschaftliches Verhältnis. Seine
bemerkenswerte Offenheit gegenüber seiner Lebenssituation trug stark zur
Entwicklung seiner sprachlichen Kompetenz bei, die sich an seinen Texten
nachvollziehen lässt. Naby hatte Spaß am Schreiben gefunden und plante,
seine Erlebnisse als „armer Schwarzer in Deutschland“ auf Deutsch niederzu-
schreiben.

7.6 In der außerschulischen Einrichtung


Die beiden Jugendlichen, deren kurzer Weg zum Schreiber hier erkundet wird,
schrieben im Rahmen einer außerschulischen Bildungsmaßnahme, deren Ziel
der Erwerb des Qualifizierenden Hauptschulabschlusses darstellt. Die Lerner
sollten im Deutschunterricht auf die beiden „Säulen“ der Prüfung, die Textar-
beit und das freie Formulieren vorbereitet werden. Ein großer Teil der Jugend-
lichen, die an dieser Maßnahme teilnehmen sind schreibungeübt und einige
müssen als habituelle Analphabeten bezeichnet werden. Das Schreiben berei-
tet diesen jungen Menschen erhebliche Schwierigkeiten, nicht zuletzt klagen
sie über Schmerzen in den Händen oder Armen. Das Kreative Schreiben sollte
die Lerner an das Medium Schreiben heranführen und ihnen einen Zugang
verschaffen.
Das Kreative Schreiben wurde als geeignetes Verfahren dazu ausgewählt, da
es in vielerlei Hinsicht zur Förderung der Zielgruppe beitragen kann:
319

• Die Lerner sollen das Schreiben per se automatisieren, d.h. sie müssen
Schreiben sowohl als sprachliche wie auch als motorische Fertigkeit
trainieren.
• Die Lerner sollen ihre Kompetenz im schriftsprachlichen Bereich entwi-
ckeln, sie sollen kleine Texte frei formulieren können.
• Die Lerner sollen inhaltliche Themenstellungen bearbeiten und verbali-
sieren.
• Die Lerner sollen Spaß am Schreiben entdecken und ihre Aversion ge-
gen das Schreiben abbauen.
• Die Lerner sollen an ein konstruktives Miteinander und an Teamarbeit
herangeführt werden.
• Die Lerner sollen ihre kommunikative Kompetenz sowie Kompetenz in
der Gesprächsführung entwickeln und erweitern.
Das Kreative Schreiben mit seinen Techniken hat sich als ein geeignetes Ver-
fahren gezeigt, dass alle Ziele, die für diese Gruppe genannt wurden, verfolgt.
In dieser Gruppe wurden Jugendliche deutscher Primärsprache sowie Jugend-
liche nicht-deutscher Primärsprache zusammen unterrichtet. Eine Differenzie-
rung ist im Rahmen der Maßnahme nicht vorgesehen und erfolgte aus organi-
satorischen Gründen nicht.

7.6.1 Serkan
Serkan war zur Zeit der Schreibkurse 19 Jahre alt und war in der Türkei gebo-
ren. Im Vorschulalter war er mit seiner Mutter in die Bundesrepublik einge-
reist, wo der Vater schon viele Jahre lebte.
Serkan hat eine zweisprachige Klasse besucht und schloss seine Schulkarriere
nach dem Erfüllen der Schulpflicht mit der 8. Klasse Hauptschule ab. Serkan
hatte sich daraufhin immer wieder um einen Ausbildungsplatz oder eine Ar-
beitsstelle bemüht, allerdings ohne Erfolg. Nach längerer Arbeitslosigkeit war
er vom zuständigen Arbeitsamt der Maßnahme zugewiesen worden.
Serkan verzichtete im mündlichen Sprachgebrauch auf Präpositionen und den
Artikel im Präpositionalobjekt. „Ich bin Baustelle.“ Er sprach mit starkem, tür-
kischem Akzent. Er verfügte über einen gut entwickelten Wortschatz und
Kenntnisse der grammatischen Strukturen der Zielsprache Deutsch. Es berei-
tete ihm jedoch Schwierigkeiten, sich schriftlich zu äußern und inhaltliche
Aussagen schriftlich zu formulieren. Er begründete dies damit, dass er noch
nie Texte geschrieben habe und ihn das auch nie sonderlich interessiert habe.
Schreiben hatte er in unguter Erinnerung und er schrieb auch im Unterricht
nur nach deutlicher Aufforderung mit. Auf die Anregung hin, er könne die
notwendigen Notizen auch in seiner Primärsprache anfertigen, gab er an, sei-
320

ne Kenntnisse der türkischen Schriftsprache seien geringer als jene, über wel-
che er im Deutschen verfügte. Er hatte sich damit abgefunden, dass Schrei-
ben für ihn ein unüberwindbares Hindernis darstellt und er erwartete von sei-
nen eigenen schriftlichen Äußerungen kaum formalsprachliche Korrektheit. Er
meinte es sei ihm egal, ob er korrekt schreiben könne oder nicht, da es ihm
wichtig sei, verstanden zu werden und das Ziel der Maßnahme, den Schulab-
schluss zu erreichen. Er sprach zu Haus ausschließlich Türkisch und auch in
der peer-group kommunizierte er überwiegend in seiner Primärsprache.
Serkan war in die Schreibgruppe integriert und nahm gerne an den Schreib-
stunden teil. Er war beliebt und hatte keine Probleme, im Team zu arbeiten.
Serkans erster Text, den er im Rahmen der Schreibkurse verfasste, war
gleichzeitig, nach eigenen Angaben, der erste Text, den er auf Deutsch ge-
schrieben hatte.
Serkan stellt in diesem Text sein Herkunftsland, die Türkei vor:
Mein Land
Mein Land ist „Türkei“ und ich wohne in der Stadt Tekirdag. Das
besondere von meiner Stad ist der Alkoholgetränk „Raki“ das iwird
dort erzeugt und die Köfte: ist Hackfleischklöpse. Die schmecken
am besten bei uns. Durch unser Stadt verläuft auch der Egerische
Meer. Deswegen haben wir immer Frischeluft und es ist immer was
los beim Strand. Es gefällt mir immer, wenn ich in mein Heimat-
land fahre. Aber wenn man richtig austoben will, dann wäre am
Besten „BODRUM“ geeignet da ist im Sommer immer was los!
Serkans zweiter Text, den er zum Thema „meine Zukunft“ geschrieben hat, ist
deutlich länger als der erste Schreibversuch „Mein Land“. Serkan hat das
Thema ernst genommen und sich angemessen damit auseinandergesetzt.
Meine Zukunft
Ich will in meinen Zukunft vor allem gesund und glücklich mit ei-
nem guten Beruft, der mir Spaß macht und gut verdienen.. Dann
möchte ich ein gutes Auto haben, mit dem ich dann jedes Wo-
chenende fortfahren kann. Nach dem ich mein Leben als Jugendli-
cher ausgelebt habe, will ich eine Famielie gründen, in dem ich 1
Sohn und eine Tochter habe. Ein Luxusleben muß nicht unbedingt
sein hauptsache, ich kann meine Unterhalt bezahlen und für meine
Famielie sorgen. An die Rente denke ich überhaupt nicht, weil ich
keine Lust habe bis 70 Jahren zu arbeiten, ich will lieber mein ei-
gener Chef werden. Das wärs was ich vom Zukunft erwarte. Wenn
ich anfange meine Träume zu erzählen die ich verwirklichen will,
reichen 10 Blätter nicht aus, also bleiben wir lieber bei realisti-
schen erwartungen.
321

Den Text über den Alltag in der außerschulischen Maßnahme hat Serkan unter
Mitwirkung von zwei weiteren Teilnehmern geschrieben. Die drei Jugendlichen
hatte sich diese Aufgabe gemeinsam gestellt und Serkan hatte den Text ge-
schrieben. Er hat ihn in einer von dem gesamten Team autorisierten Form
abgegeben und zur Verfügung gestellt.
Die drei Muskeltiere
Zu dritt haben sie die ganze (...) erobert. Sie sind einfach nette
Kerle die mit jedem Mitarbeiter gut auskommen. In der Arbeit sind
sie kaum zu bremsen. Sie machen jede Arbeit mit links und per-
fekt. Die Jungs sind wie Arbeitstiere. In der Schule sind sie genau-
so gut. „Matheaufgaben sind keine Probleme“ sagt Gökhan. In dem
Fach Deutsch sind sie eizigartig. Gökhan, Serkan und Selcuk sind
die drei Muskeltiere. Ein perfekt eigespieltes Team. Sie sagen
selbstbewust: „Wir werden in Zukunft erfolg auf der ganzen Linie
haben.
7.6.1.1 Entwicklung des Sprachbewusstseins
Serkan hatte Deutsch im Vorschulalter gelernt und war dann in einer zwei-
sprachigen Klasse unterrichtet worden. Er war sich seiner sprachlichen Defizi-
te in der Zielsprache mehr als bewusst und hatte daher, zumindest in einigen
Bereichen, darunter der des schriftlichen Sprachgebrauchs, resigniert. Zu Be-
ginn der Schreibkurse war er lustlos und desinteressiert. Er war überzeugt, er
könne nicht schreiben und schreiben sei nicht wichtig. Mit einem Hinweis auf
die Abschlussprüfung konnte er überzeugt werden, dass Schreiben für ihn re-
levant sei und dass er seine Defizite durch Training verringern könnte. Serkan
hatte zu Beginn der Schreibkurse keine deutliche Vorstellung von den beson-
deren Bedingungen des schriftlichen Sprachgebrauchs. Er verschriftlichte in
seinem ersten Text Sätze, die er aus dem mündlichen Sprachgebrauch unver-
ändert übernahm:
Durch unser Stadt verläuft auch der Egerische Meer. Deswegen
haben wir immer Frischeluft und es ist immer was los beim Strand
Bei der Besprechung seines Textes reagierte er auf die Kritik der anderen
Teilnehmer an diesem Satz unwirsch und meinte, es sei ihm egal, wie der
Satz klingt, man habe ihm gesagt, er solle erstmal so schreiben, wie er wolle.
Die Leser hätten verstanden, was er über seine Stadt habe sagen wollen und
das genüge ihm. Doch bereits bei seiner zweiten Textproduktion achtete er
verstärkt auf die formalsprachliche Korrektheit und versuchte, seinen Text mit
Hilfe der Klangprobe zu überprüfen. Der Erfolg dieses Versuchs ermutigte ihn,
seinen dritten Text zusammen mit zwei anderen, türkischen Teilnehmern auf
seine Korrektheit hin zu überprüfen und zu überarbeiten.
322

Serkans steigendes Selbstvertrauen bei der Anwendung der deutschen


Schriftsprache ließ seine Offenheit gegenüber Kritik anderer wachsen. Er war
in zunehmendem Maße bereit, seine Texte vorzustellen und Hilfe bei der Ü-
berarbeitung anzunehmen, da er merkte, dass dies seine Texte verbesserte.
Im Bereich des Genus der Substantive und des damit eng verbundenen
Gebrauchs der Artikel zeigte sich Serkan jedoch sehr uneinsichtig. Mit der Be-
gründung, im Türkischen funktioniere alles auch ohne Artikel, verzichtet er
völlig auf den Gebrauch eines Wörterbuchs. Es war ihm durchaus bewusst,
dass zu einer korrekten Form der Einsatz von Artikeln gehört, der wiederum
Kenntnisse des Genus der Substantive erforderte, aber es schien ihm nicht
einleuchtend, weshalb er diese im schriftsprachlichen Gebrauch nicht ebenso
weglassen konnte, wie er es im umgangssprachlichen Gebrauch tat. Er be-
gründete dies damit, dass alle seine Freunde – unabhängig welcher Nationali-
tät und Primärsprache – so sprächen wie er und dass es damit nicht falsch
sein könne, so zu schreiben. Er sei schließlich kein Deutschlehrer und somit
könne der korrekte Gebrauch der Artikel nicht von ihm verlangt werden.
Serkan konnte die Umstellung auf den schriftsprachlichen Gebrauch nach und
nach vollziehen und sein letzter Text weist diesbezüglich einen großen Fort-
schritt auf.
7.6.1.2 Entwicklung einer kommunikativen Kompetenz
Bereits Serkans erster Text weist eine vergleichsweise hohe kommunikative
Kompetenz in der Zielsprache auf. Er führt den Leser klar und verständlich
zum inhaltlichen Schwerpunkt seines Textes hin und berücksichtigt dabei,
dass nicht alle Leser die Stadt, aus der er kommt, kennen.
Mein Land ist „Türkei“ und ich wohne in der Stadt Tekirdag.
Er weist auf Besonderheiten seiner Heimat hin
Das besondere von meiner Stad ist der Alkoholgetränk „Raki“ das
iwird dort erzeugt und die Köfte: ist Hackfleischklöpse. Die schme-
cken am besten bei uns. Durch unser Stadt verläuft auch der Ege-
rische Meer. Deswegen haben wir immer Frischeluft und es ist im-
mer was los beim Strand.
und beschreibt sein Verhältnis zu diesem Ort.
Es gefällt mir immer, wenn ich in mein Heimatland fahre.
Daraufhin wechselt er in einem letzten Satz ohne Übergang über zu einem
Reisetipp:
Aber wenn man richtig austoben will, dann wäre am Besten
„BODRUM“ geeignet da ist im Sommer immer was los!
323

Hier kommt es zu einem inhaltlichen und stilistischen Bruch. Während der ers-
te Teil des Textes in der ich-Form geschrieben ist und der Autor „seine“ Stadt
beschreibt, wechselt er im letzten Abschnitt zu einer unpersönlichen Form ü-
ber. Dieser, durch einen Absatz abgesetzte Abschnitt scheint dem Text zu-
sammenhangslos beigefügt. Die Konjunktion „aber“ vermittelt den Eindruck,
dass der Schreiber hier einen Abschnitt ausgelassen hat, der den Leser auf
den letzten Abschnitt vorbereiten soll. Dieser Eindruck wird durch die fehlende
Einführung des Namens „Bodrum“ unterstützt, der weder in seiner Funktion
noch in seiner Bedeutung eingeführt wird.
Serkans zweiter Text enthält wiederum einen abschließenden Abschnitt, der
hier aber ohne inhaltlichen und stilistischen Bruch angefügt wird.
Das wärs was ich vom Zukunft erwarte. Wenn ich anfange meine
Träume zu erzählen die ich verwirklichen will, reichen 10 Blätter
nicht aus, also bleiben wir lieber bei realistischen erwartungen.
Es ist dem Schreiber in diesem Text gelungen, seine eigenen als „realistischen
Erwartungen“ eingeschätzten Wünsche und Vorstellungen klar und deutlich zu
formulieren und sie als solche explizit auszuweisen. Es gelingt ihm, seine
Aussagen zu begründen und dem Leser zu vermitteln, weshalb er sich seine
Zukunft so vorstellt, wie er es im Text darlegt.
Ein Luxusleben muß nicht unbedingt sein hauptsache, ich kann
meine Unterhalt bezahlen und für meine Famielie sorgen.
Der dritte Text, den Serkan zur Verfügung gestellt hat, weist auf, in welchem
Umfang er seine kommunikative Kompetenz erweitern konnte: Der Text bein-
haltet mehrere sprachliche Formulierungen, die einer Verbesserung der Ver-
ständlichkeit dienen. So setzt der Schreiber die Form der direkten Rede ein,
um die Aussage seiner Freunde wiederzugeben.
„Matheaufgaben sind keine Probleme“ sagt Gökhan.
Sie sagen selbstbewust: „Wir werden in Zukunft erfolg auf der
ganzen Linie haben.
Der dritte Text, den dieser Schreiber verfasst hat, weist keine inhaltlichen
Brüche auf und ist logisch und sinnvoll strukturiert. Es gelingt dem Schreiber,
dem Leser ein Bild zu präsentieren, dass ohne Schwierigkeiten nachvollzieh-
bar ist.
Serkan setzt in seinen Texten den Konjunktiv II ein, um irreale Bedingungen
und Wünsche zu formulieren.
7.6.1.3 Entwicklung der individuellen Kreativität
Serkans erster Text enthält weder unerwartete Aussagen, noch ungewöhnli-
che sprachliche Formulierungen. Die einzige Aussage dieses Textes, die auf
324

den Leser ungewöhnlich und unerwartet wirkt, ist nach Angaben des Schrei-
bers selbst unbeabsichtigt:
Durch unser Stadt verläuft auch der Egerische Meer
Der Text wirkt lebendig und ist, bis auf den letzten Abschnitt, locker und un-
gezwungen formuliert.
Auch der zweite Text, den dieser Schreiber zur Verfügung gestellt hat, wirkt
auf den ersten Blick nicht spontan und ungewöhnlich. Erst im letzten Ab-
schnitt, als der Schreiber begründet, weshalb er seinen Text derart be-
schränkt hat, lässt sich erahnen, welch kreatives Potential im Schreiber
schlummert und weshalb er es beim Schreiben nicht zulässt. Die räumlichen
und zeitlichen Schranken, in denen der Text geschrieben wurde, hatten den
Schreiber gebremst, er hatte sich nicht getraut, in diesem Rahmen über seine
„unrealistischen“ Träume und Wünsche zu schreiben.
Der dritte Text von Serkan, den er unter Mitwirkung zweier Freunde verfasst
hat, enthält nicht nur ungewöhnliche und unerwartete Wortschöpfungen, son-
dern auch Formulierungen, die vom main-stream abweichen:
Die drei Muskeltiere
Zu dritt haben sie die ganze (...) erobert
Die Jungs sind wie Arbeitstiere.
In dem Fach Deutsch sind sie eizigartig.
Es wird offensichtlich, dass Serkan seine Angst und seine Hemmungen beim
Schreiben in der Gruppe abbauen konnte und sich in Bezug auf ungewöhnli-
che, spontane und unerwartete Elemente mehr traute als in früheren Texten,
die er alleine verfasst hatte. Er flocht in diesen Text auch Wendungen aus der
Umgangssprache ein, deren schriftliche Verbalisierung ohne Probleme gelang.
In der Arbeit sind sie kaum zu bremsen.
Sie machen jede Arbeit mit links und perfekt.
Die Jungs sind wie Arbeitstiere.
Der Text „Die drei Muskeltiere“ ist witzig und kurzweilig. Serkan schätzte die-
sen Text als seine beste Arbeit im Rahmen der Schreibkurse ein. Dieser Text
motivierte ihn stark, weitere Texte zu schreiben. Er sagte, er habe nun ge-
merkt, was man schreiben könne und was nicht. Damit meinte er, welche Re-
dewendungen aus dem mündlichen Sprachgebrauch in die Texte aufgenom-
men werden können und welche Reaktionen sie bei einem Leser auslösen
können.
Für die Entwicklung der individuellen Kreativität war es für Serkan wichtig, in
einer Gruppe zu arbeiten, in der er sich insbesondere auf der formalsprachli-
325

chen Ebene unterstützt sah. Während die ersten Texte, die er alleine ge-
schrieben hatte, noch vergleichsweise verkrampft wirken, hinterlässt sein drit-
ter Text beim Leser einen unverkrampften, lockeren Eindruck.
7.6.1.4 Entwicklung der sprachlichen Kompetenz in der Zielsprache
„mein Land“
Dieser Text weist die bereits angesprochenen Probleme Serkans auf:
Präposition und Artikel
Durch unser Stadt
das besondere von meiner Stad
beim Strand
Genus
„Türkei“
der Alkoholgetränk „Raki“
der Egerische Meer.
Unzulässige Übertragungen aus dem mündlichen Sprachgebrauch
iwird
Frischeluft
Im Einzelnen erklären sich die im Text auftretenden formalsprachlichen Ab-
weichungen wie folgt:
Mein Land ist „Türkei“ fehlender Artikel
Das besondere von Groß-/Kleinschreibung; Präposition
Stad d  dt
der Alkoholgetränk Genus
iwird  wird (Sprossvokal)
Köfte: ist Hackfleischklöpse Konjugation (Plural); Satzbau
Durch unser Stadt Deklination (Genus, Kasus)
der Egerische Meer Genus;  Ägäisches Meer
Frischeluft unzulässige Wortbildung
beim Strand Präposition ( am Strand)
man richtig austoben will fehlendes Reflexivpronomen
326

Serkan hat Schwierigkeiten mit der Interpunktion, die er vergleichsweise will-


kürlich einsetzt. Er bildet konjunktionale Nebensätze und Relativsätze,
der Alkoholgetränk „Raki“ das iwird dort erzeugt
Deswegen haben wir immer Frischeluft
Es gefällt mir immer, wenn ich in mein Heimatland fahre.
Aber wenn man richtig austoben will, dann wäre ...
verfügt aber über kein gesichertes Wissen über die Satzstellung im Relativ-
satz.
der Alkoholgetränk „Raki“ das iwird dort erzeugt
Serkan zeigt, dass er über einen ausreichenden Wortschatz verfügt, hat aller-
dings noch Schwierigkeiten diesen – nicht nur unter formalsprachlichen As-
pekten - korrekt anzuwenden:
Durch unser Stadt verläuft auch der Egerische Meer.
Meine Zukunft
Die formalsprachlichen Abweichungen werden folgenden Fehlertypen zuge-
ordnet:
in meinen Zukunft Deklination: Possessivpronomen
Beruft  Übergeneralisierung
Famielie i  ie
hauptsache Groß-/Kleinschreibung
meine Unterhalt Deklination: Possessivpronomen
bis 70 Jahren Deklination: Plural
vom Zukunft Deklination: Genus
erwartungen. Groß-/Kleinschreibung
Serkan hat seinen Text, zusammen mit anderen Teilnehmern der Schreib-
gruppe auf formalsprachliche Kriterien hin überarbeitet. Die überarbeitete
Fassung stellt eine deutliche Verbesserung der formalsprachlichen Korrektheit
dar. Serkan konnte fast alle Fehler aufspüren und korrigieren, so auch die
fehlerhafte Interpunktion.
Der erste Satz des Textes zeigt, dass Serkan in der Lage ist, Relativsätze zu
bilden, diese aber dennoch nicht sicher „im Griff“ hat. Er bildet hier einen
Satz,
Ich will in meinen Zukunft vor allem gesund und glücklich mit ei-
nem guten Beruft,
327

der mir Spaß macht und gut verdienen.


der daraufhin deutet, dass er sich darin „verirrt“ hat. So fehlt im Hauptsatz
das Verb und das Ende des Relativsatzes ist nicht mir einem Komma gekenn-
zeichnet. Serkan hat diese Abweichungen auch bei lautem Lesen nicht be-
merkt und sie daher auch nicht korrigiert.
Die drei Muskeltiere
Dieser Text weist erstaunlich wenige formalsprachliche Abweichungen auf,
von denen zwei als so genannte „Flüchtigkeitsfehler“ interpretiert werden, da
sie allen Teammitgliedern beim Durchlesen aufgefallen sind und verbessert
wurden:
eigespielt, eizigartig
Muskeltiere  Musketiere
Selbstbewust Vokalkürzung
erfolg Groß-/Kleinschreibung
Serkan konnte während der kreativen Schreibkurse seine formalsprachliche
Kompetenz in der Zielsprache Deutsch deutlich erweitern. Nicht zuletzt die
Zusammenarbeit mit anderen Teilnehmern der Schreibgruppe verhalf ihm zu
einem formalsprachlich annähernd korrekten Text. So ist in seinen weiteren
Texten der Lernzuwachs im Vergleich zu seinem ersten Text direkt nachweis-
bar:
in meinen Zukunft, vom Zukunft (Text 1)
in Zukunft (Text 3)
der Alkoholgetränk „Raki“ das iwird dort erzeugt (Text 1)
meine Träume zu erzählen die ich verwirklichen will, (Text 2)
Sie sind einfach nette Kerle die mit jedem Mitarbeiter gut aus-
kommen (Text 3)
Serkan selbst gab an, in Hinsicht auf seine formalsprachliche Kompetenz,
während der Schreibkurse viel gelernt zu haben. Er gab ebenfalls an, dass
ihm das Kreative Schreiben geholfen habe, seine Ängste und die daraus resul-
tierenden Blockaden hinsichtlich seiner orthografischen Kompetenz abzubau-
en, und dass ihm Schreiben jetzt Spaß mache. Besonders in der Gruppe fühle
er sich sicher und er wolle mehr Texte mit seinen Freunden zusammen ver-
fassen und überarbeiten.
7.6.1.5 Zusammenfassung
Serkan hat sich zu Beginn des Schreibkurses als schreibungeübter und desin-
teressierter Teilnehmer gezeigt. Er war überzeugt davon, er könne nicht
328

schreiben, weder auf Deutsch noch in seiner Primärsprache Türkisch. Das


Thema „Schreiben“ hatte er längst abgehakt und er war nur zögerlich bereit,
es wieder aufzugreifen. Sein erster Text zeugt von der immensen Anstren-
gung, die es ihn gekostet hatte, sich schriftlich zu äußern. Er versuchte, be-
sonders ernsthaft und sachlich zu bleiben, eben genauso, wie er annahm,
dass es von ihm erwartet werden würde. Die Präsentation seines ersten Tex-
tes löste beim Publikum wenig Reaktionen aus und Serkan war eher ent-
täuscht über die gleichgültige Resonanz, aber gleichzeitig auch erleichtert,
dass er die Aufgabe bewältigt hatte, ohne sich zu blamieren. Mit seinem zwei-
ten Text setzte er sich mit „realistischen Erwartungen“ hinsichtlich seiner Zu-
kunft auseinander. Im letzten Abschnitt deutet er jedoch an, dass er seinem
Text auch eine andere Couleur hätte geben können, wenn er sich nicht zeitlich
und räumlich eingeschränkt gefühlt hätte. Erst in der Zusammenarbeit mit
anderen Jugendlichen fühlte er sich sicher genug, um den Boden der sachli-
chen Beschreibung zu verlassen und witzige, spontane Elemente in seinen
Text aufzunehmen. Es gelang ihm hier auch, seinem Text durch sprachliche
Mittel Lebendigkeit zu verleihen.
Serkan war beim Schreiben sehr auf eine formalsprachliche Korrektheit be-
dacht. Er stellte sie über die inhaltlichen Aussagen und beschränkte diese auf
Formulierungen, die er sicher zu bewältigen dachte. Tatsächlich standen seine
Angst und seine Resignation in keinem Vergleich zu seiner formalsprachlichen
Kompetenz, die im Vergleich zu den anderen Schreibern dieser Gruppe kei-
neswegs im unteren Bereich angesiedelt war. In den Texten, die er im Weite-
ren verfasste, zeigte er, dass er die Überarbeitung der früheren Texte auf-
nehmen konnte. So verbesserte sich die formalsprachliche Korrektheit seiner
Texte stetig.
Serkan reagierte anfangs eher unwirsch auf im Plenum geäußerte Kritik, er
konnte sie allerdings konstruktiv umsetzen, was seine weiteren Texte bewei-
sen. Die beiden letzten Texte weisen keine inhaltlichen und stilistischen Brü-
che mehr auf.
Serkan bedauerte es sehr, als die Schreibkurse zu Ende gingen und wollte
weiter schreiben. Er gab jedoch gleichzeitig an, alleine könne er nicht schrei-
ben und er habe auch keine Lust, alleine zu schreiben. Er hätte das Schreiben
gerne noch in der Gruppe geübt, dann so könne er sich vorstellen, hätte er
auch Spaß daran finden können, alleine zu schreiben.

7.6.2 Danny
Danny, ein 21-jähriger Jugendlicher, wohnte seit seinem 9. Lebensjahr in
Nürnberg. Danny hatte die Hauptschule besucht und sie nach der Erfüllung
der Schulpflicht verlassen. Er hatte 8 Klassen besucht und ihm wurde nach ei-
nem erfolglosen Abschluss der 8. Klasse empfohlen, die Schule zu verlassen.
Seither hatte Danny einige Male versucht, sich um einen Ausbildungsplatz zu
329

bewerben, war aber auf Grund seiner Schullaufbahn gescheitert. Danny war
ein sehr ruhiger Teilnehmer, der sich auch im Unterricht eher zurückzog. Er
meinte, Lernen mache ihm keinen Spaß und er habe nur schlechte Erfahrun-
gen mit Schule, Unterricht und Lehrkräften gemacht, aber er wolle unbedingt
einen anerkannten Schulabschluss erreichen, um seinen Traum von einer
Ausbildung und einem geregelten Arbeitsleben zu verwirklichen. Er begründe-
te seinen Entschluss damit, dass er es satt habe, ein „arbeitsloser Ossi“ zu
sein und mit diesbezüglichen, abfälligen Bemerkungen konfrontiert zu werden.
Danny war gut in die Gruppe integriert, wenngleich er auch in diesem Rahmen
still und zurückgezogen wirkte. Er hatte, im Vergleich zu den anderen Teil-
nehmern, wenig private Kontakte zu Kollegen, sondern verbrachte seine Frei-
zeit mit seiner Freundin oder alleine. Danny wohnte zum Zeitpunkt der
Schreibkurse bei seiner Mutter.
Dannys Primärsprache ist Deutsch, er hat den Englischunterricht in der
Hauptschule unregelmäßig besucht. Dazu bemerkte er, die Lehrkraft sei ihm
unsympathisch gewesen und somit habe er am Englischunterricht „nicht so
oft“ teilgenommen. Seine Fremdsprachenkenntnisse waren demzufolge sehr
gering, was er jedoch nicht als Defizit verspürte. Diese Einschätzung änderte
sich auch im Laufe der Maßnahme nicht, in deren Rahmen er u. a. Englischun-
terricht hatte.
Danny besuchte während der Maßnahme den Unterricht regelmäßig, wenn
auch mit schwacher Motivation. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich über die
Dauer einer Unterrichtseinheit zu konzentrieren und er berichtete, „mein Kopf
schaltet immer ab“.
Danny hatte keine expliziten Schwierigkeiten im Team zu arbeiten, klinkte
sich aber aus der gemeinsamen Arbeit aus, wenn er nicht direkt angesprochen
wurde.
Danny hat im Rahmen der Schreibkurse drei Texte verfasst. In seinem ersten
Text stellt er die Stadt vor, in der er geboren wurde:
Leipzig kenne ich zwar nicht so gut, weil ich noch klein war, wo ich
noch da gewohnt habe. Die Stadt ist so ähnlich wie Nürnberg, weil
es dort eine Messe gibt und auch ein Volksfest. Dort gibt es auch
viele Arbeitslose. Leipzig hat das Wahrzeichen als Messestadt. Dort
gibt es eine Fußballmannschaft, die besser wie Nürnberg ihre ist.
Leipzig hat eine schöne Altstadt. Im Sommer ist es am schönsten
dort. Es gibt auch viele schöne Frauen. Es hat einen Koppelbahn-
hof.
Als dieser Text im Plenum vorgestellt wurde, kritisierten die anderen Teilneh-
mer, dass die Sätze „irgendwie komisch“ klängen. Danny bestätigte dies,
meinte aber, er habe das beim Schreiben nicht bemerkt. Es folgte ein kurzes
Gespräch, in dem herausgearbeitet wurde, welche Textstellen von den ande-
330

ren als „irgendwie komisch“ empfunden wurden. Danny schilderte seine Prob-
leme, Gedanken und Äußerungen in einer der schriftlichen Form angemesse-
nen Weise zu formulieren. Er habe „einfach so geschrieben, wie (ich) er es
sagen würde.“, weil es ihm zu mühsam sei, seine Äußerungen dem Medium
gemäß zu formulieren.
In seinem zweiten Text beschreibt Danny, wie er sich seine Zukunft vorstellt:

Meine Zukunft
Im nächstem Jahr möchte ich einen Ausbildungsplatz der mir ge-
fällt und mir spaß macht, den Führerschein möchte ich auch schaf-
fen, und mit meiner Freundin noch zusammen sein, mich mit mei-
ner Familie gut verstehen, gesundbleiben und einfach glücklich
sein. Nach der Ausbildung will ich eine eigene Wohnung haben und
einen tollen Beruf, in dem ich ausreichen verdiene.
Der Jugendliche gab nach der Besprechung seiner ersten beiden Texte an, er
habe keine Lust mehr zu schreiben, da seine Texte doch nur „auseinanderge-
rupft“ werden würden. Demzufolge fiel sein dritter Text eher knapp aus:
Der Hund
Was macht dieser Hund in der (...). Vieleicht ist es das Maskotchen
von der (...) Oder er will sein Hauptschulabschluß oder seinen
Quali machen. Es ist ja auch vieleicht kein Hund, sondern ein et-
was beharrter Jugendlicher.
7.6.2.1 Entwicklung des Sprachbewusstseins
Danny verfügte als Primärsprachler über ein, im Vergleich zu den anderen
Probanden, gut entwickeltes Sprachbewusstsein. Dennoch zeigte sein erster
Text, dass dieses Sprachbewusstsein überwiegend dem mündlichen Sprach-
gebrauch zugeordnet werden muss. Er war sich über die Differenz zwischen
mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch bewusst, konnte dies aber
nicht umsetzen. Danny steckte in einem Dilemma, da er sich bewusst war,
dass sich die sprachliche Form einer Aussage im schriftlichen Sprachgebrauch
von jener im mündlichen Sprachgebrauch unterschied, die Gesetzmäßigkeiten
aber nicht kannte. Er hatte sich in seinem ersten Text – nach eigener Aussage
– bewusst dafür entschieden, umgangssprachliche Strukturen zu verschriftli-
chen. Er gab an, er habe immense Schwierigkeiten, schriftlich einen „richti-
gen“ Satz zu bilden, da ihm das zu kompliziert sei. Tatsächlich schien er sich
bei seinen Formulierungsversuchen im Rahmen des Deutschunterrichts an der
sprachlichen Form von Geschäftsbriefen zu orientieren, da diese seinen einzi-
gen Kontakt zur geschriebenen Sprache darstellten. Naturgemäß hatte er
große Schwierigkeiten, seine Texte in „Versicherungsdeutsch“ zu formulieren
331

und aus diesem Grund hatte er die Gelegenheit genutzt, seinen Text in einer,
dem mündlichen Sprachgebrauch entliehenen Form, zu schreiben. Die Kritik
der anderen Schreiber verunsicherte ihn erheblich, da er sich keinen „Zwi-
schenweg“ zwischen Umgangssprache und Amtsdeutsch vorstellen konnte.
Erst der Kontakt zu den Texten der anderen Teilnehmer machte ihm bewusst,
welchen Weg er einschlagen konnte.
Sein zweiter Text weist diesbezüglich eine erhebliche Verbesserung auf,
wenngleich er hier einen „Megasatz“ bildete, der dem Sprachbewusstsein der
anderen, deutschen wie ausländischen Teilnehmer widersprach. Danny konnte
nachvollziehen, welchen Eindruck der Text auf die anderen gemacht hatte,
empfand ihre diffusen Bemerkungen „Das ist irgendwie komisch.“ jedoch als
ungerechtfertigte Kritik. Besonders schwer fiel es ihm, die Kritik von Teilneh-
mern nicht-deutscher Primärsprache anzunehmen. Er verstand nicht, wie ein
Kollege nicht-deutscher Primärsprache seinen Satz als „komisch“ empfinden
konnte. „Sprich du erstmal richtig!“ war in derartigen Situationen seine Stan-
dardantwort.
Er gab an, nicht gerne zu schreiben, weil er seine Gedanken und Äußerungen
nicht angemessen formulieren könne. Er war sich seiner Defizite durchaus
bewusst, benötigte aber Hilfe, um sie beheben zu können. Diese Hilfe jedoch
konnte er nur schwer annehmen und akzeptieren. Als er sich bewusst wurde,
dass er ohne entsprechende Hilfestellung zu keinem befriedigenden Ergebnis
gelangen konnte, zog er sich zurück und verlor die Lust am Schreiben.
7.6.2.2 Entwicklung kommunikativer Kompetenz
Dannys kommunikative Kompetenz war deutlich auf den mündlichen Sprach-
bereich ausgerichtet. Seine kommunikative Kompetenz in der Schriftsprache
entsprach nicht den Anforderungen, die im Rahmen der Maßnahme an ihn ge-
stellt wurden. Dannys kommunikative Kompetenz blieb im schriftlichen Be-
reich weit hinter jener im mündlichen Sprachbereich zurück. Er hatte große
Probleme, sich im schriftsprachlichen Bereich logisch und flüssig auszudrü-
cken. Sein erster Text weist logische Brüche auf, die auf Defizite in diesem
Bereich hinweisen:
Im Sommer ist es am schönsten dort. Es gibt auch viele schöne
Frauen.
Es hat einen Koppelbahnhof.
Danny war sich dieser Defizite durchaus bewusst, konnte aber dennoch die
Kritik der anderen Schreiber nicht konstruktiv annehmen. Er reagierte un-
wirsch auf ihre Bemerkungen bezüglich der Brüche und Sprünge, die sein Text
aufweist. Dennoch bemühte er sich in seinem zweiten Text um einen sinnvol-
len Aufbau und logische Darstellung inhaltlicher Aspekte. Er gibt seinem Text
eine Überschrift und es gelingt ihm, einen „runden“ Text, eine Gesamtheit zu
332

erreichen. Sein zweiter Text ist wiederum beschreibend und er verwendet dar-
in keine stilistischen Elemente, um seinen Text für einen potentiellen Leser in-
teressant zu gestalten. Er tritt nicht in eine Kommunikation mit dem Leser,
sondern beschränkt seinen Text auf eine Auflistung jener Dinge, die er sich für
seine Zukunft wünscht.
Danny war zum Zeitpunkt der dritten Textproduktion hochgradig frustriert
und demotiviert. Die Kritik an seinen beiden ersten Texten hatte in seinen Au-
gen, obwohl in sachlichem und freundlichem Ton vorgetragen, seine eigene
Einschätzung, nicht schreiben zu können, bewiesen. Die Gruppe hatte ihn ü-
berredet, seinen Beitrag für die geplante Schülerzeitung trotz seiner Einwände
anzufertigen. Der dritte Text – „der Hund“ – war als Kommentar zu einem Fo-
to geplant. Danny ging widerwillig und lustlos an die Arbeit und schrieb rasch
und desinteressiert seinen kurzen Text. Die formalsprachlichen Abweichun-
gen, die in diesem Text auftreten, zeugen von seiner Einstellung. Dieser Text
zeigt jedoch, dass Danny durchaus in der Lage ist, mit einem imaginären Le-
ser in Kontakt zu treten: Er stellt Fragen,
Was macht dieser Hund in der (...).
und äußert Vermutungen
Vieleicht ist es das Maskotchen von der (...) Oder er will sein
Hauptschulabschluß oder seinen Quali machen.
und bietet Lösungsvorschläge an:
Es ist ja auch vieleicht kein Hund, sondern ein etwas beharrter Ju-
gendlicher.
Dieser Text sprach die anderen Jugendlichen an, sie bewerteten ihn als sehr
gut. Danny begann daraufhin, Überlegungen anzustellen, weshalb es ihm mit
diesem Text gelungen war, in Kommunikation mit den Lesern zu treten, ob-
wohl er sich keinerlei Mühe gegeben hatte. Er schloss seine Überlegungen mit
folgender Aussage ab: „Immer, wenn mir etwas egal ist, dann wird es gut und
wenn ich mir Mühe gebe, dann wird es nichts, komisch!“
7.6.2.3 Entwicklung individueller Kreativität
Danny war ein Lerner, der bereits im Rahmen der Einführung des Kreativen
Schreibens und der daraus entstandenen Diskussion zum Thema „Was ist
Kreativität?“ bemerkt hatte, Kreativität sei nichts für ihn, er glaube, es sei
wichtig „richtig“ zu arbeiten und halte demzufolge kreative Leistungen für
„Gekrakel“. Er lehnte Kreativität als Lernziel ab und betonte, er nehme an der
Maßnahme teil, um seinen Schulabschluss zu erreichen und einen Ausbil-
dungsplatz zu finden und nicht etwa, um seine individuelle Kreativität zu ent-
wickeln. Erst nach einem Hinweis darauf, dass das Kreative Schreiben nicht
333

nur seine Kreativität fördern, sondern seine sprachliche Kompetenz erweitern


würde, konnte er dazu bewegt werden, an den Schreibkursen teilzunehmen.
Danny legte großen Wert auf eine formalsprachliche Korrektheit seiner Texte
und es gelang ihm auch, sie in einer angemessenen formalsprachlichen Form
zu verfassen.
Dannys erste Texte enthalten keine unerwarteten Aussagen, sie entsprechen
dem main-stream. Seine Aussagen sind stereotyp und wurden von den ande-
ren Schreibern als langweilig empfunden. Obwohl beide Themen persönliche
Aussagen zu Herkunft und Zukunft des Schreibers forderten, gelang es Dan-
ny, authentische und subjektive Aussagen zu vermeiden, während er sich in
den Gesprächen mit der Gruppe durchaus offen und frei über seine Gedanken
und Gefühle äußerte. Hier drängt sich der Eindruck auf, Danny habe seine
Texte absichtlich kühl und distanziert gehalten, weil er dachte, das Medium
Schreiben erfordere eine distanzierte und sachliche Auseinandersetzung mit
dem jeweiligen Thema. In Danny hatte sich die Meinung festgesetzt, ein Text
müsse formal korrekt und sachlich sein. Aus dieser Perspektive ist auch die
unwirsche Reaktion auf die kritischen Anmerkungen erklärbar. Er hatte in sei-
nen Augen sein Bestes gegeben und einen „richtigen“ Text geschrieben.
Erst, als er diesen Anspruch – aus Frustration - fallen ließ, zeigte sich, wel-
ches kreative Potential in diesem Schreiber schlummerte. Sein dritter Text be-
inhaltet Äußerungen, die originell und in diesem Zusammenhang durchaus als
neu zu bezeichnen sind:
Es ist ja auch vieleicht kein Hund, sondern ein etwas beharrter Ju-
gendlicher.
Erst mit der Besprechung dieses Textes in der Gruppe und in Folge der positi-
ven Einschätzung der anderen Schreiber, wurde es für Danny verständlich,
weshalb seine ersten beiden Texte Kritik hervorgerufen hatten. Er versicherte
sich mehrmals, ob es wirklich erlaubt sei, solche inhaltlichen Aussagen zu
treffen und konnte es nicht fassen, dass dieser Text auch von den Lehrkräften
akzeptiert und als gut eingestuft wurde. Es war für Danny schwierig, sich ein-
zugestehen, dass seine ausschließliche Konzentration auf formalsprachliche
Korrektheit nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt hatte und erst die Ver-
bindung mit fantasievollen, lustigen, unerwarteten Elementen seinen Text den
gewünschten Anklang finden ließ.
Leider konnte Danny diese neu gewonnenen Einsichten nicht weiter festigen,
da er auf Grund zwischenmenschlicher Konflikte die Maßnahme verlassen
musste.
334

7.6.2.4 Entwicklung der sprachlichen Kompetenz


Dieser Text von Danny weist keine orthografischen Abweichungen auf, aller-
dings zeigen sich im Bereich der Syntax und des Wortschatzes Abweichungen.
Diese Abweichungen
..., wo ich noch da gewohnt habe.
Leipzig hat das Wahrzeichen als Messestadt
... eine Fußballmannschaft, die besser wie Nürnberg ihre ist.
rühren von einem fehlerhaften Transfer aus dem mündlichen in den schriftli-
chen Sprachgebrauch her. Danny hat Schwierigkeiten, die in der Schriftspra-
che geforderte Satzstellung bezüglich der modalen Angaben einzuhalten.
Im Sommer ist es am schönsten dort.
Dieser Text zeigt folgende formalsprachliche Abweichungen:
spaß Groß-/Kleinschreibung
gesundbleiben getrennt/zusammen
ausreichen  ausreichend
Es ist Danny in diesem Text gelungen, angemessene Sätze mit korrekter
Satzstellung zu formulieren. Dennoch wurde er von den anderen Teilnehmern
bei der Präsentation wegen seines „Megasatzes“ kritisiert.
Im nächstem Jahr möchte ich einen Ausbildungsplatz der mir ge-
fällt und mir spaß macht, den Führerschein möchte ich auch schaf-
fen, und mit meiner Freundin noch zusammen sein, mich mit mei-
ner Familie gut verstehen, gesundbleiben und einfach glücklich
sein.
„Mach doch mal nen Punkt!“ empfahl ein anderer Teilnehmer. Die Gruppe
verbesserte den Satz zusammen und kam zu folgender Lösung:
Im nächstem Jahr möchte ich einen Ausbildungsplatz der mir ge-
fällt und der mir Spaß macht. Den Führerschein möchte ich auch
schaffen und noch mit meiner Freundin noch zusammen sein. Ich
möchte mich mit meiner Familie gut verstehen, gesund bleiben
und einfach glücklich sein
Danny erklärte sich mit dieser Version einverstanden und überarbeitete diese
Textsequenz.
In einem weiteren Schritt überprüfte die Gruppe die Zeichensetzung in Dan-
nys Text. Ein Teilnehmer erkannte, dass der Relativsatz im ersten Abschnitt
nicht mit einem Komma vom Hauptsatz getrennt wurde.
335

Im nächstem Jahr möchte ich einen Ausbildungsplatz der mir ge-


fällt
Danny bemerkte hierzu, er habe noch nie von einem Relativsatz gehört und
es sei ihm daher nicht wichtig, seinen Text diesbezüglich zu überarbeiten.
Dies gelte auch für die anderen kritischen Bemerkungen zur Interpunktion. Er
verließ sich völlig auf die anderen Schreiber und gab ihnen die Anweisung, die
Satzzeichen zu verbessern, ohne ihn damit weiter zu belästigen. In der fol-
genden Unterrichtssequenz, in der die Interpunktion besprochen wurde, gab
er sich demonstrativ demotiviert und verweigerte die Mitarbeit.
Danny hat in diesem Text weitestgehend auf Interpunktion verzichtet. Er
meinte dazu, er habe absichtlich keine Satzzeichen, außer dem Punkt, einge-
setzt, da er keine Lust habe, erneut kritisiert zu werden. „Sollen doch die an-
deren machen!“ schlug er vor.
Er weigerte sich auch, die orthografischen Abweichungen zu überarbeiten:
Vieleicht  vielleicht
Maskotchen Vokalkürzung
beharrter Vokaldehnung
Ebenso konnte er nicht überredet werden, das fehlerhafte Personalpronomen
zu ändern:
Was macht dieser Hund in der (...). Vieleicht ist es das Maskotchen

7.6.2.5 Zusammenfassung
Danny hat im Rahmen der Schreibkurse drei Texte geschrieben und zur Ver-
fügung gestellt. Er hatte geringe Probleme mit der formalsprachlichen Kor-
rektheit seiner Texte. Er hatte eine konkrete Vorstellung, wie ein Text sein
sollte: orthografisch korrekt und sachlich beschreibend. Danny gab zu Beginn
der Schreibkurse an, er schreibe nicht gerne, weil er es nicht könne, war aber
bereit, an den Schreibkursen teilzunehmen, um seine schriftsprachliche Kom-
petenz zu erweitern. Sein erster Text weist nahezu keine formalsprachlichen
Abweichungen auf, es ist dem Schreiber aber nicht gelungen, seine Intention
logisch und zusammenhängend durchzuhalten. Dieses Defizit konnte er be-
reits in seinem zweiten Text beheben und damit einen, in seinen Augen, „gu-
ten“ Text schreiben. Die abermalige Kritik an seinem Text nahm Danny die
Motivation und das Interesse am Kreativen Schreiben. Seinen letzten Text
schrieb er rasch und spontan, da ihn der Rest der Schreibgruppe dazu auffor-
derte. Mit diesem Text, der seiner formalsprachlichen Kompetenz nicht ge-
recht wird, gelang ihm der „Durchbruch“: Der Text wurde von der Gruppe
sehr positiv aufgenommen und bewertet. Danny gab an, er glaube nun zu
wissen, wie er einen „richtig guten“ Text schreiben könne. Er hatte erkannt,
dass sich Kreativität sowohl in Fantasie als auch in Sachkompetenz und dem
336

daraus entstehenden Zusammenspiel äußert. Leider konnte er seine Einsicht


in diesem Rahmen nicht mehr unter Beweis stellen, da er die Maßnahme ver-
lassen musste.
Danny hat im Rahmen der Schreibkurse seine formalsprachliche Kompetenz
nicht erweitert, konnte aber seine kommunikative Kompetenz deutlich aus-
bauen. Das Kreative Schreiben und die Auseinandersetzung mit eigenen und
fremden Texten in der Schreibgruppe förderten die Entwicklung seiner indivi-
duellen Kompetenz und ließen ihn neue Horizonte entdecken.
Für Danny standen die Schreibstunden nicht immer unter einem günstigen
Stern und er fand zuerst keine Lust am Schreiben. Erst am Ende der Schreib-
kurse, das in seinem Fall unerwartet eintrat, entdeckte er die Lust am Schrei-
ben.

8 Erfahrungen, Überlegungen,
Schlussfolgerung
Die Dokumentation der Schreibkurse, die Analysen der Texte sowie die Fall-
studien haben meine Hypothesen weitgehend verifiziert. Zum Abschluss sollen
die wichtigsten Ergebnisse, die aus den Untersuchungen hervorgegangenen
sind, gesondert dargestellt werden.
Thema und Lust
Es hat sich in den unterschiedlichen Schreibgruppen gezeigt, dass die Wahl
der Themen, zu denen geclustert und geschrieben werden soll, für Kinder, Ju-
gendliche und Erwachsene ausschlaggebend für deren Schreiberfolg ist.
Die Schreibgruppe aus der Grundschule hat zu Themen geschrieben, die ent-
weder direkt aus der aktuellen Situation der Kinder entstanden oder von den
Kindern selbst vorgeschlagen wurden. Den Einstieg in die dokumentierte Rei-
he von Schreibkursen bildete das Thema „Wenn ich ein Junge ein Mädchen
wäre,...“, mit dem die Lehrkraft formulierte, was die Klasse zu diesem Zeit-
punkt beschäftigte. Die weiteren Themen „So sollte mein bester Freund/meine
beste Freundin sein...“ und „ich“ ergaben sich aus der Arbeit in der Schreib-
gruppe und wurden von den Kindern selbst vorgeschlagen und formuliert.
Dies führte dazu, dass die Kinder in hohem Maß intrinsisch motiviert waren,
sich mit diesen Themen zu beschäftigen und sie zu bearbeiten. Die Kinder
nutzten ihre Texte als Medium, sich selbst und ihre Meinungen, Erfahrungen,
Emotionen und Ansichten in die Diskussion einzubringen. Sie nutzten das
Schreiben jedoch auch, um sich mit den Themen auseinanderzusetzen und
sich eine eigene Meinung zu bilden.
337

Diese intensive Auseinandersetzung mit den Themen wurde in den anderen


Schreibgruppen nicht immer erreicht. Hier waren die Themen vom Leiter der
Schreibgruppe diktiert und nicht von den Schreibern initiiert worden.
Die schreibenden Erwachsenen fanden einen Zugang, zu den Themen, die ih-
nen vorgeschlagen wurden. Die Themen waren aus dem Lebensbereich der
Teilnehmer entnommen worden und ließen sowohl die Möglichkeit einer per-
sönlichen, als auch die Möglichkeit zu einer sachlichen und distanzierten Bear-
beitung offen. Obwohl die Teilnehmer immer wieder darauf hingewiesen wur-
den, dass das vorgeschlagene Thema nur einen Rahmen bzw. eine Richtlinie
darstellen sollte, nahmen nur einige die Chance wahr, sich einen eigenen Zu-
gang zum Thema zu suchen. Die Mehrzahl der Schreiber hielt sich eng an das
vorgegebene Thema. Je weniger ein Thema die Teilnehmer ansprach, desto
mehr distanzierten sie sich davon in den dazu geschriebenen Texten. Das
Thema „Deutschland“ wurde von den Schreibern gut angenommen, da es ein
zentrales Thema in ihrer derzeitigen Lebenssituation darstellte. In diesem Fall
wurde auch bei den erwachsenen Schreibern das Schreiben zum Medium, sich
in der Gruppe mitzuteilen, den eigenen Standpunkt zu klären und eigene Aus-
sagen zu formulieren und zu überprüfen.
Die Jugendlichen hatten im Rahmen der außerschulischen Maßnahme zu The-
men geschrieben, die ihnen von „außen“, also von Seiten der Lehrkräfte vor-
gegeben wurden. Sie waren nicht bereit, sich intensiv mit den Themen und
den Aspekten, die diese eröffnen hätten können, auseinanderzusetzen. Die
Themen „meine Zukunft“ und „meine Arbeit“ wurden inhaltlich mit einem ge-
wissen Maß an Resignation bearbeitet. Es handelte sich, aus der Sicht der
Schreiber, um typische Aufsatzthemen, die sie mehr oder weniger willig auf-
nahmen. Ein Großteil der Schreiber versuchte, diese Themen mit bewährten
Vermeidungsstrategien zu bewältigen, wie etwa der Aneinanderreihung von
stereotypen Aussagen oder allgemeinen Äußerungen. Die so entstandenen
Texte stellten auch die Schreiber nicht zufrieden, da sie von ihnen als lang-
weilig und nichts sagend befunden wurden. Anders dagegen verhielt es sich
mit dem Vorschlag, eine Klassenzeitung anzufertigen. Die Jugendlichen waren
begeistert von der Idee, Texte zu ihrer Arbeits- und Unterrichtssituation zu
schreiben und sie dann einer Öffentlichkeit zu präsentieren. Hier sahen sie ei-
ne Möglichkeit, sich in die Arbeit an den Texten einzubringen und waren hoch
motiviert, diese Texte zu veröffentlichen. Die so entstandenen Texte sind ver-
gleichsweise lebendig und lassen Lust am Schreiben und Überarbeiten erken-
nen. Die Geschichte von John Silver gefiel den Jugendlichen und motivierte sie
zum Schreiben, was von den Gegenständen, die verteilt wurden, verstärkt
wurde. Das Thema und seine Präsentation hatten einen Reiz ausgelöst, der zu
Texten führte, die mit Lust und Laune geschrieben wurden.
Lust, Interesse und Betroffenheit, durch das Thema ausgelöst, haben sich als
wichtige Voraussetzungen für die erfolgreiche, schriftliche Bearbeitung eines
338

Themas erwiesen. Diese Voraussetzungen wurden bei Themen, die von den
Schreibern selbst vorgeschlagen und formuliert wurden, erfüllt, während eine
gelungene Themenwahl von „außen“ großes Einfühlungsvermögen sowie eine
treffende Einschätzung der Gruppenteilnehmer von Seiten des Schreibgrup-
penleiters erfordert, um nicht dem Zufall überlassen zu bleiben.
Offenheit bezüglich der Themenwahl sowie der individuellen Auslegung eines
Themas tragen ebenfalls zum Erfolg kreativer Schreibkurse bei und geben bei
Schreibern, die erst am Anfang ihrer Schreibkarriere stehen, häufig den Aus-
schlag für Erfolg oder Misserfolg.
Konstruktivität statt Sympathie
Kreatives Schreiben ist kein Schreiben in der Isolation, sondern erfordert, ins-
besondere im Unterricht, die Bereitschaft zu einem konstruktiven Miteinander.
Dieses konstruktive Miteinander wiederum erfordert die Fähigkeit zu sozialem
Handeln und zur Teamarbeit.
Das Kreative Schreiben stellt diesbezüglich hohe Ansprüche an die Schreiber,
da in unterschiedlichen Situationen eine Zusammenarbeit in verschiedenen
Formen unerlässlich wird. Vom Erstellen eines Gemeinschaftsclusters, über
eine gemeinsame Textproduktion hin zu einer redaktionellen Überarbeitung
und zu einer Besprechung und Bewertung der Texte in der Schreibgruppe sind
die Situationen, deren Bewältigung erst ein konstruktives Miteinander möglich
macht, in einem kreativen Schreibkurs zahlreich und vielfältig. Die Teamarbeit
fördert nicht nur die sprachliche Kompetenz in der Zielsprache, denn es wird
in der Unterrichtssprache kommuniziert, sondern auch die Bereitschaft und
Fähigkeit zum Miteinander.
Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben in den Schreibkursen gleicherma-
ßen von diesen Anforderungen, die durch das Kreative Schreiben an sie ge-
stellt wurden, profitiert. Die Grundschüler erwarben neue Verhaltensmuster,
die Jugendlichen erweiterten ihr Verhaltensrepertoire und trainierten den pro-
duktiven und konstruktiven Umgang miteinander und die Erwachsenen hatten
je nach Herkunft und Alter die Möglichkeit, ihre Bereitschaft und Fähigkeit zur
Teamarbeit zu überprüfen bzw. umzugestalten. Eingedenk der Tatsache, dass
sowohl die Jugendlichen als auch die Erwachsenen vor einem Einstieg in das
berufliche Leben in der Bundesrepublik standen, trugen die Erfahrungen, die
sie in den kreativen Schreibkursen machen konnten, durchaus dazu bei, sie
auf die Anforderungen der Arbeitsweise in vielen Berufsfeldern vorzubereiten.
Die erwachsenen Schreiber hatten anfangs große Probleme zusammenzuar-
beiten. Hemmungen, Ängste und Fremdheit blockierten besonders eine ge-
meinsame Besprechung und Überarbeitung der Texte in formalsprachlicher
Hinsicht. Es fiel den erwachsenen Teilnehmern sichtlich schwer, ihre Texte
vorzulegen und sie vermieden es, Texte in der Rohfassung aus der Hand zu
geben. Lediglich dem Dozenten erlaubten sie den Einblick in ihre Produktion.
339

Die Angst, sich zu blamieren bzw. sich der Kritik der anderen Schreiber aus-
zusetzen, war – zumindest in Bezug auf die formalsprachliche Gestaltung der
Texte – fast unüberwindbar. Erst nach einer langen Vorlaufzeit erkannten die
Erwachsenen die Chance, die sich aus einer gemeinsamen Überarbeitung, in-
haltlich wie formal, ergeben kann und das Ausmaß, in dem sie von einem Mit-
einander profitieren konnten.
Die Schreiber der Grundschulgruppe hingegen zeigten keinerlei Scheu, ihre
Texte inhaltlich wie sprachlich zur Diskussion zu stellen. Im Gegensatz zu den
erwachsenen Schreibern legten sie großen Wert darauf, dass der eigene Text
im Plenum besprochen und überarbeitet wurde. Sie betrachteten es als Aus-
zeichnung und erkannten gleichzeitig die Chance, die sich ihnen damit bot.
Die Kinder nicht-deutscher Primärsprache sahen ihre Zweisprachigkeit als
Entschuldigung für formalsprachliche Fehler an, ganz im Gegensatz zu den
erwachsenen Schreibern, die ihre Primärsprache größtenteils als minderwertig
gegenüber der Zielsprache Deutsch einschätzten und damit ihre primär-
sprachlichen Kenntnisse nicht als Vorteil anerkannten.
Die Jugendlichen hatten zu Beginn der gemeinsamen Arbeit Hemmungen, ihre
Texte zu veröffentlichen und der allgemeinen Kritik auszusetzen, verloren die-
se aber bald, als sie realisierten, dass jeder von ihnen mit Schwierigkeiten zu
kämpfen hatte. In dieser Gruppe bereitete die Zusammenarbeit anders
geartete Probleme, da sich die Gruppe zum Zeitpunkt der Schreibkurse noch
nicht als solche organisiert hatte. Die Jugendlichen brauchten viel Zeit und ei-
nige, heftige Auseinandersetzungen, um ihre Rolle in der Gruppe zu bestim-
men und einzunehmen. Die Machtkämpfe und Rangeleien, die notwendig wa-
ren, um eine Gruppenhierarchie zu erstellen, nahmen einen breiten Raum in
den Phasen der gemeinsamen Arbeit ein. Erst als sich eine Gruppenstruktur
ausgebildet hatte, war es den jugendlichen Schreibern möglich, einen Diskus-
sionsstil zu entwickeln, der ihnen in Formulierung und Ton erlaubte, Kritik an-
zubringen und aufzunehmen. Die Zuordnung von Rollen und Funktionen in der
Gruppe gab ihnen die Sicherheit, nicht um Sympathie oder Antipathie Willen
kritisiert zu werden, sondern in Hinblick auf eine konstruktive Überarbeitung
ihrer Texte. Die Jugendlichen weigerten sich strikt, Gesprächsregeln zu formu-
lieren, die ihnen zu einem konstruktiven Miteinander verhelfen sollten. Sie
achteten jedoch mehr und mehr darauf, ihre Aussagen bezüglich des Tons
und der Formulierung der Intention angemessen zu halten. Sie hatten zu ei-
nem frühen Zeitpunkt realisiert, dass ihre Aussagen nur in einer angemesse-
nen Art von den anderen Gruppenmitgliedern angenommen wurden und wa-
ren demnach bemüht, sie so zu formulieren, dass sie andere nicht verletzten,
sondern auf fruchtbaren Boden stießen.
340

Das Drei-Phasen-Modell
Das Kreative Schreiben erfordert von den Schreibern die Bereitschaft und die
Fähigkeit zur Zusammenarbeit. Gleichzeitig bietet es Raum und Möglichkeiten,
diese Faktoren zu trainieren und anzuwenden.
Es konnte in den drei Gruppen ein Phänomen beobachtet werden, dass sich
lediglich im Zeitpunkt seines Auftretens unterschied: Auf eine Phase, in der
sich die Gruppe strukturiert und die Rollen und Funktionen zugewiesen und
übernommen werden, folgt eine Phase, in der größtmögliche Harmonie ange-
strebt wird. In allen drei Gruppen gab es einen Zeitpunkt, zu dem Kritik an
Texten, die zur Überarbeitung vorlagen, nur in sehr begrenztem Rahmen ge-
äußert wurde, um die Schreiber nicht zu verletzen. Texte wurden nicht um ih-
rer selbst Willen analysiert und besprochen, sondern die Schreiber versuchten
sich gegenseitig Mut zu machen. Während dieser „harmonischen“ Phase wur-
de kaum konstruktive oder produktive Kritik geäußert und die Zusammenar-
beit verlief nicht effektiv. Schwächen, die in Texten ausgemacht wurden, wur-
den verschwiegen, Stärken überspitzt hervorgehoben. Die Teilnehmer merk-
ten bald, dass diese Form des Umgangs mit Texten nicht zu dem gewünsch-
ten Ergebnis, nämlich qualitativ guten Texten, führte. Erst in der anschließen-
den dritten Phase, gelang es den Schreibern, auch in Sequenzen, die der Zu-
sammenarbeit bedürfen, konstruktiv miteinander zu arbeiten.
Sprachliche Grenzen und Vermeidungsstrategien
Das Kreative Schreiben bietet den Schreibern die Möglichkeit, sich der Bewäl-
tigung inhaltlicher oder sprachlicher Probleme in gewissem Maß zu entziehen.
So ist es durchaus möglich, dass sich ein Schreiber einem persönlichen Thema
entzieht, indem er es distanziert und sachlich behandelt. Ebenso besteht für
einen Schreiber die Möglichkeit, sich der informativen und sachlichen Ebene
abzuwenden und einen authentischen, emotionalen Text zu produzieren. Ler-
ner, deren sprachliche Kompetenz der Verbalisierung inhaltlicher Aussagen
Grenzen setzt, sehen sich vor dem Problem, sich entscheiden zu müssen, ob
sie ihre inhaltlichen Aussagen ihrer sprachlichen Kompetenz in der Zielsprache
anpassen oder ob sie sich auf das sprachliche Glatteis wagen, indem sie Aus-
sagen treffen, die ihnen wichtig sind, aber deren sprachliche Umsetzung sie in
der Zielsprache (noch) nicht bewältigen können.
Auf welche Weise ein Schreiber das Problem seiner sprachlichen Grenzen und
der kommunikativen Kompetenz löst, scheint sowohl von der Persönlichkeit
als auch von der individuellen Tagesform abhängig zu sein. Während einige
Schreiber die Grenzen ihrer Ausdrucksfähigkeit in der Zielsprache akzeptieren
können, empfinden andere Schreiber ihre Sprachlosigkeit als unerträglich.
Das Bewusstsein der Grenzen, die sprachliche Defizite auferlegen, nimmt mit
dem Alter der Schreiber zu. Gleichermaßen spalten sich die Schreibgruppen,
mit aufsteigendem Alter der Teilnehmer, deutlicher in zwei Gruppen auf:
341

• Jugendliche und Erwachsene, die ihre Persönlichkeit und ihre Gedan-


ken in die Diskussion einbringen möchten, erleben ihre Sprachlosigkeit
in der Zielsprache als persönliche Belastung. Ihre Versuche, kompli-
zierte Sachverhalte und Gedanken in der Zielsprache zu formulieren,
führen immer wieder zu Barrieren oder gar Misserfolgen. Ihre Texte
weisen eine hohe Anzahl formalsprachlicher Abweichungen auf oder
sind gar ohne Hilfe des Schreibers für einen Leser unverständlich, was
sich demotivierend auf den Schreiber auswirkt.
• Jugendliche und Erwachsene, die sich ihrer sprachlichen Grenzen be-
wusst sind und ihre Äußerungen inhaltlich ihrer sprachlichen Kompe-
tenz anpassen, verzichten auf die Darstellung komplizierter Sachver-
halte und eigener Gedanken und reduzieren die inhaltlichen Aussagen
auf ein Minimum. Die so entstehenden Texte weisen einen hohen Grad
an formalsprachlicher Korrektheit auf und sind für einen Leser ver-
ständlich, aber häufig in gleichem Maß langweilig und wenig attraktiv.
Das Kreative Schreiben hat sich als geeignetes Verfahren herausgestellt, bei-
de Gruppen zu fördern, ebenso wie alle zwischen diesen polaren Charakteren
angesiedelten Schreibertypen. Hier kann die Schreibgruppe als Regulativ wir-
ken und im Rahmen der Überarbeitungsphasen und der Arbeit an den Texten
den „sprachlosen Vielschreiber“ dazu veranlassen, seine Aussagen in einfa-
chen und übersichtlichen Strukturen zu verfassen, ebenso wie den „Sicher-
heitsschreiber“ aus der Reserve zu locken und ihn zu inhaltlich differenzierten
Aussagen zu bewegen.
Indifferent oder bewusst
Das Schreiben von Texten sowie deren Überarbeitung offenbart das individu-
elle Sprachvermögen der Schreiber. Die Anwendung im Unterricht erlernter
Inhalte ermöglicht dem Schreiber einen Einblick in den eigenen Spracher-
werbsprozess. Nicht nur der Lehrkraft als bewertender Instanz geben kreativ
geschriebene Texte die Möglichkeit, den Lernzuwachs zu erfassen und zu
messen, sondern auch der Schreiber hat die Chance, seinen individuellen
Lernfortschritt und gleichermaßen seine Defizite einzuschätzen. In allen Grup-
pen hat die Arbeit an den eigenen Texten zur Reflexion über das eigene
Sprachvermögen in der Zielsprache geführt. Die direkte Anwendung im Unter-
richt erworbener sprachlicher Mittel führt den Schreibern sowohl deren Funk-
tion als auch eigene Schwächen und Stärken vor Augen. So gibt es Schreiber,
die in der Einführung des Irrealis im Konjunktiv II die Chance sehen, Schreib-
intentionen zu verwirklichen, während andere darin eine Schikane sehen. Das
Kreative Schreiben kann den Lernern bewusst machen, dass die Progression
des Spracherwerbs neue Perspektiven und Chancen eröffnet. Der funktionale
Ansatz dient demnach nicht nur der Kontrolle, sondern auch der Entwicklung
342

eines Bewusstseins für die Sinn- und Zweckhaftigkeit systematischer Unter-


weisungen.
In diesem Zusammenhang kam es während der Schreibkurse immer wieder
zu Diskussionen und Gesprächen über das Lernen per se. Der Erwerbsprozess,
seine Gesetzmäßigkeiten, das individuelle Lernen, Lerntechniken und
Lernstrategien wurden thematisiert und auch der Austausch über persönliche
Erfahrungen mit dem Spracherwerb fand hier seinen Raum. Diese Me-
tadiskussion hat sich in allen Fällen als sinn- und wertvoll erwiesen. Alle
Schreiber profitierten von den Reflexionen über die eigene Sprachkompetenz
sowie dem daraus resultierenden bewussten Umgang mit dem eigenen Er-
werbsprozess. Die Gespräche über das Schreiben eröffneten den Schreibern
neue Horizonte und förderten nicht nur die sprachliche Kompetenz in der Un-
terrichtssprache Deutsch.
Inhalt oder Form
Jeder Schreiber sieht sich bei der Textproduktion vor zwei Aufgaben gestellt,
der Bewältigung des Inhalts sowie der formalsprachlich korrekten Verschriftli-
chung.
Während des Schreibens ...
Alle Schreiber gaben an, Schwierigkeiten zu haben, während des Schreibens
gleichzeitig inhaltliche und sprachliche Überlegungen anzustellen. Sie beton-
ten in Gesprächen über den individuellen Schreibprozess immer wieder, dass
sie sich während des Schreibens zwischen der Konzentration auf inhaltliche
Kriterien und der Konzentration auf formalsprachliche Korrektheit entscheiden
müssten, um die Aufgabe erfolgreich lösen zu können. Sie erklärten, Konzent-
ration auf beide Ebenen überfordere sie und hemme den Schreibfluss. Der
Vorschlag, das zeitliche Limit abzuschaffen, wurde nicht als Lösung anerkannt,
denn die Schreiber definierten das Problem nicht als zeitliches, sondern mein-
ten, sich auf Inhalt und Form gleichermaßen zu konzentrieren sei „zu viel“.
... und während der Überarbeitung
Da sich die Schreiber überfordert fühlten, versuchten sie sich während des
Verfassens der Texte auf Inhalt oder Form zu konzentrieren. Das führte zu
dem Versuch, den jeweils beim Schreiben außer Acht gelassenen Aspekt be-
wusst in die Überarbeitung aufzunehmen. Die Mehrheit der Schreiber in jeder
Altersgruppe konzentrierte sich beim Verfassen der Rohfassungen auf den in-
haltlichen Aspekt der Texte. Demnach sollte in den Überarbeitungsphasen der
formalsprachliche Aspekt in den Vordergrund treten. Dieses Vorhaben gestal-
tete sich aber in allen Gruppen schwierig. Die Schreiber begannen die Gesprä-
che über die Texte ohne Ausnahme mit einer Erörterung der inhaltlichen Aus-
sagen und der Übergang zu einer Besprechung der formalsprachlichen Aspek-
te fiel ihnen durchweg sehr schwer. Insbesondere, wenn die Texte inhaltlich
343

provozierende oder ungewöhnliche Aussagen beinhalteten, konnte die Diskus-


sion nur mit Mühe auf eine formale Ebene gelenkt werden. Es hat sich aber
auch gezeigt, dass der Übergang von einer Besprechung der formalsprachli-
chen Aspekte hin zu einer Diskussion des Inhalts nicht weniger schwierig war.
Die Schreiber meinten dazu, dass auch in der Überarbeitungsphase eine Kon-
zentration auf beide Textebenen nur bedingt möglich sei und sie überfordere.
Dieser Umstand ließ sich nur durch eine zeitliche Trennung der Besprechun-
gen der verschiedenen Ebenen beheben.
Schlussfolgerung
Das Kreative Schreiben ist als Unterrichtsverfahren geeignet, individuellen
Spracherwerb in der Zielsprache in allen Erwerbskontexten zu fördern. Die
Anlage der kreativen Schreibkurse bietet eine Option auf Situationen, in de-
nen die Schreiber ihre Kompetenz in der gesprochenen und geschriebenen
Sprache erweitern und entwickeln können und ihre individuelle Kreativität neu
entdecken oder erweitern können. Die Offenheit des Lernkonzeptes lässt ein
auf die Bedürfnisse der Gruppe orientiertes Lernen zu und räumt den indivi-
duellen Bedürfnissen der einzelnen Schreiber Priorität ein. Der Spracherwerb
wird in der Unterrichtssituation aus der abstrakten Form gelöst und in ein
funktionales, praxis- und handlungsorientiertes Verfahren eingebettet.
Es hat sich gezeigt, dass das Kreative Schreiben auch oder gerade für so ge-
nannten „Problemgruppen“ ein geeignetes Verfahren ist. Schreibungeübte Ju-
gendliche, ausländische Erwachsene in den ersten Wochen Deutschunterricht,
Grundschüler nicht-deutscher Primärsprache, konnten ihre Sprachkompetenz,
ihre individuelle Kreativität sowie ihre Teamfähigkeit deutlich steigern. Verfah-
ren und Anlage der Schreibkurse bieten auch Gruppen, deren Zusammenset-
zung heterogen ist und deren Mitglieder sich auf unterschiedlichen Sprach-
standniveaus befinden, eine Möglichkeit, konstruktiv und produktiv zusam-
menzuarbeiten.
Das Kreative Schreiben und die erfolgreiche Durchführung der Schreibkurse
erfordern jedoch ausreichend Zeit, damit sich die Schreiber mit den Techniken
und dem Umgang mit ihren Texten anfreunden können und sich die Schreib-
gruppen organisieren können. Die Dauer dieser Orientierungsphase ist stark
von der Gruppenzusammensetzung abhängig, aber es lohnt sich, diesen Weg
auf sich zu nehmen!
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