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Kreatives Schreiben im
vielsprachigen Deutschunterricht
Inaugural-Dissertation
in der Philosophischen Fakultät II
(Didaktik des Deutschen als Zweitsprache, Linguistik, Soziologie)
der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg
vorgelegt von
Ursula Brock
aus Nürnberg
D29
2
Inhalt
0 EINLEITUNG 8
I ALLGEMEINE GRUNDLAGEN DER UNTERSUCHUNG 16
1. KREATIVITÄT 16
1.1 Definitionen 16
1.2 Kreativität in der Forschung 18
1.2.1 Kreativität in der Medizin 18
1.2.2 Kreativität in der Kunst 20
1.2.3 Kreativität in Psychologie und Pädagogik 20
1.3 Merkmale der Kreativität 27
1.4 Der kreative Prozess 31
1.5 Der Kreativitätsbegriff dieser Arbeit 33
2 SCHREIBEN 37
2.1 Historischer Abriss 38
2.2 Schreiben heute 39
2.2.1 Schreiben und moderne Kommunikationsmedien 39
2.2.2 Rückzug aus der Schriftkultur 41
2.3 Merkmale geschriebener Sprache 45
2.4 Text 47
2.5 Schriftspracherwerb in der Primärsprache 49
2.6 Schriftspracherwerb in einer fremden Sprache 51
3 INTERKULTURELLER SPRACHUNTERRICHT 55
3.1 Interkulturelle Pädagogik 55
3.2 Interkulturelle Sprachdidaktik 57
3.3 Interkultureller Deutschunterricht 58
3.4 Mehrsprachigkeit, Sprachaufmerksamkeit,
Sprachbewusstsein 61
4 SCHREIBUNTERRICHT 63
4.1 Schreiben in der Schule 63
4.2 Schreiben in außerschulischen Einrichtungen 68
EXKURS 1: Befragung der Teilnehmer 72
EXKURS 2: Schreiben als Therapie 75
5 KREATIVES SCHREIBEN 78
5.1 Kreatives Schreiben im interkulturellen Unterricht 80
5.2 Förderung kreativer und sprachlicher Kompetenz 83
EXKURS 3: Schreibertypen, Schreibtypen
und andere Stereotypen ... 85
5.3 Der kreative Schreibkurs 88
5.4 Kreative Schreibanlässe 92
5.4.1 Schreiben nach literarischen Vorlagen 93
5.4.2 Finden ungewöhnlicher Vergleiche 96
4
LITERATUR 344
8
0 Einleitung
In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, ob und inwieweit das Krea-
tive Schreiben als Unterrichtskonzept zur Förderung der Entwicklung sprachli-
cher Kompetenz in der Zielsprache und der kreativen Kompetenz beiträgt.
Konzepte, Verfahren und Techniken zur Förderung sprachlicher Kompetenz –
hier in der Zielsprache Deutsch – basieren auf Forschungsergebnissen der
Spracherwerbsforschung. Eine enge Verzahnung von Ergebnissen wissen-
schaftlicher Untersuchungen und Erfahrungen aus der Praxis ermöglichen die
optimale Abstimmung der Konzepte und Verfahren auf die Bedürfnisse der
Lerner und damit einen sicheren und sinnvollen Zugang zur Zielsprache
Deutsch.
Die Spracherwerbsforschung widmete sich zunächst dem Erwerb der Primär-
sprache.1 Piaget2 ordnete 1923 die sprachliche Entwicklung des Kindes weit-
gehend seiner kognitiven Entwicklung zu. Er wies auf den starken Einfluss der
Interaktion mit der Umwelt auf den Erstspracherwerb und damit auf die kog-
nitive Entwicklung hin. Auch Wygotski3 stellte einen Zusammenhang zwischen
der sprachlichen Entwicklung und der psychischen Entwicklung des Menschen
her. Weisgerber sah einen direkten Zusammenhang zwischen sprachlicher
und kognitiver Entwicklung; für ihn endete diese Verzahnung jedoch nicht mit
dem Abschluss des Erstspracherwerbs: Er ging von einer lebenslangen Prä-
gung des Individuums durch die Primärsprache aus und formulierte 1964 in
4
diesem Zusammenhang das „Gesetz der Muttersprache“ .
In den 60er Jahren wurden die Erkenntnisse der Linguistik mit den
experimentellen Ansätzen der Psychologie in Verbindung gebracht. Aus dieser
Verbindung ging der psycholinguistische Ansatz hervor, der nach dem Bezug
sprachlicher und kognitiver Entwicklung fragt. Die Psycholinguistik wurde
5
stark von Chomsky und seiner Generativen Transformationsgrammatik
beeinflusst. Chomsky ging mit seinem narrativen Konzept davon aus, dass der
(Erst-) Spracherwerb ein autonomer Reifungsprozess sei. Er erklärte den Um-
stand, dass jedes gesunde Kind seine Primärsprache vergleichsweise problem-
los erwirbt, mit einem angeborenen Sprachmechanismus, dem „language ac-
quisition device“. Chomskys Ansatz isolierte damit den Erstspracherwerb von
allen anderen Lernprozessen und der soziokulturellen Umgebung.
15 16
proximate systems , Interimsprache , Lernersprache.17 Die Interlanguage-
Forschung ging davon aus, dass der Zweitspracherwerb als Prozess zu werten
sei, der einer gewissen Systematik unterworfen ist. Der Zweitspracherwerb
wurde als eine Folge von Übergängen von einer Lernervarietät zur nächsten
interpretiert. Lernersprache sei ein „Zwischenprodukt auf dem Weg zur End-
form der Zielsprache.“18
Die Interlanguage-Forschung befasste sich vorwiegend mit den sprachlichen
19
Strukturen der Lernersprachen. Die Pidginisierungstheorie von Schuhmann
berücksichtigte die sozialpsychologischen Einflussfaktoren auf den Spracher-
werb. Schuhmann geht davon aus, dass das erste Stadium des Zweitsprach-
erwerbs immer eine Pidginisierung darstellt, d. h. einen Rückgriff auf linguisti-
sche Kategorien („elementare“), die mit der Erstsprache erworben werben.
Dieses Stadium dauere so lang an, wie sich die Funktion der Lernersprache
auf bloße Informationsübermittlung beschränkt. Stagniert die Akkulturation,
stagniert gleichzeitig die Lernersprache. Soziale und psychologische Distanz
hemmen den Spracherwerb bzw. können ihn zum Stillstand bringen.
Andere Forschungsansätze setzen den Schwerpunkt auf den „richtigen
Zeitpunkt“ des Zweitspracherwerbs. Die Frage, in welcher Entwicklungsphase
der Erwerb einer Zweitsprache am günstigsten verlaufe, beschäftigte nicht nur
Spracherwerbsforscher, sondern auch Bildungspolitiker. Sie wurde auch im-
mer wieder zur Rechtfertigung politischer Entscheidungen – wie etwa Famili-
ennachzugsregelungen – herangezogen.
20
Lenneberg nimmt die Existenz einer kritischen Phase an, in der Kinder eine
Zweitsprache schneller und besser erwerben können als in anderen Phasen
der Kindheit. Mit Ausbildung der zerebralen Dominanz, die mit der Pubertät
abgeschlossen ist, stoppe bzw. verändere sich die Fähigkeit zum Spracher-
21
werb. Cummins formulierte die Schwellenniveauhypothese. Diese besagt,
dass vor Beginn des Zweitspracherwerbs eine ausreichende Kompetenz in der
Primärsprache erreicht werden muss, um negative Auswirkungen auf beide
Spracherwerbsprozesse zu vermeiden. Einen ähnlichen Ansatz findet man bei
Fthenakis, der die Ansicht vertrat, ein früher Zweitspracherwerb wirke sich
23
negativ auf die weitere Entwicklung der Primärsprache aus.
In der Pädagogik wurden seit den 70er des 20. Jahrhunderts Konzepte entwi-
ckelt, die zwei historisch-gesellschaftliche Entwicklungen, der Immigrations-
welle seit den 60er Jahren und dem Globalisierungsprozess, gerecht werden
sollten. Die interkulturelle Pädagogik ist keine “neue” Pädagogik, sondern
Bestandteil der allgemeinen Pädagogik.25 Die “Ausländerpädagogik der ersten
Phase”26 stützte sich auf 3 Grundannahmen.27 Erstens nahm man an, dass
Menschen aus anderen Kulturen generell Mängel nicht nur in Hinblick auf Be-
herrschung der deutschen Sprache sondern auch auf die gesamte Lernfähig-
keit hätten. Migranten wurden im Wesentlichen als benachteiligt und somit als
hilfsbedürftig ausgewiesen. Zweitens ging man davon aus, dass Angehörige
von Minderheiten durch divergierende Kulturmuster in einen Identitätskonflikt
getrieben würden. Und drittens nahm man an, diese Position im Niemands-
land zwischen zwei Kulturen führe zu einem permanenten Identitätskonflikt
bzw. der daraus resultierenden Annahme, die Wahrung der kulturellen und
nationalen Identität sei notwendig, um die Minderheitssituation bewältigen zu
können. Die Ausländerpädagogik stützte sich auf defizitorientierte Ansätze
und wurde diesbezüglich stark kritisiert.28
Anfang der 80er Jahre entwickelte sich die interkulturelle Pädagogik, die ihre
Adressaten sowohl in den Minderheitsangehörigen als auch in den Mehrheits-
angehörigen sah. Der pädagogische Diskurs setzte sich mit der Tatsache aus-
einander, dass ethnische, kulturelle und sprachliche Vielfalt in einer modernen
Gesellschaft Normalität geworden waren. Die Fähigkeit zur interkulturellen
Kommunikation wurde als Schlüsselqualifikation für alle Menschen erkannt
und wurde zum Ziel pädagogischer Bemühungen. Die Annahme, alle Kulturen
seien gleichwertig, aber nicht gleichartig, führte zu differenzierenden Ansät-
zen, die u. a. von Radtke29 kritisiert wurden.
Borrelli, ein Vertreter der universalistischen Argumentation30, setzte der kultu-
ralistischen Perspektive der o. g. Differenzhypothese entgegen, dass “Fragen
31 Borrelli (1988) S. 30
32 vgl. Krumm (1989)
33 vgl. Hildebrand (1867), Scharrelmann (1907), Gansberg (1914), Dewey (1934) u.a
34 vgl. Sennlaub (1990)
35 vgl. Martin (1979), Maimon (1981) u.a.
36 vgl. Rico (1993)
13
37
Dem Kreativen Schreiben im schulischen Unterricht haben sich verschiedene
Didaktiker38, wenn auch bezogen auf verschiedene Erwerbskontexte, gewid-
met. All diesen Ansätzen – so unterschiedlich sie sind – ist gemein, dass sie
Alternativen zum traditionellen Aufsatzunterricht anbieten, die schülerorien-
tiert und handlungsorientiert sind sowie das kreative Potential der Schüler in
den Unterricht einbeziehen, nutzen und fördern.
Das Kreative Schreiben bietet Schülern nicht-deutscher Primärsprache man-
nigfaltige Möglichkeiten an, denn
„...der Zweitspracherwerb (läuft) als ein komplexer Vorgang (ab), bei dem der
Lerner kreativ sukzessiv Hypothesen über die Struktur der zu erlernenden
39
Sprache bildet.“
Wenn, um diesem Gedankengang zu folgen, der Spracherwerbsprozess ein
kreativer Prozess ist, dann ist es dringend notwendig, in entsprechende Un-
terrichtskonzepte die Förderung und das Training kreativer Fähigkeiten einzu-
beziehen. Der Erwerb einer Zweit- oder Fremdsprache bedarf der Aktivierung
des individuellen kreativen Potentials des Lerners, um erfolgreich zu verlau-
fen. Demzufolge liegt es nahe, dem Lerner sein kreatives Potential bewusst zu
machen und ihm Wege aufzuzeigen, dieses zu trainieren und sinnvoll in den
Spracherwerbsprozess einzubringen.
In der vorliegenden Arbeit wird in einem ersten Teil die Grundlage, aus der
heraus sich das didaktische Konzept entwickelt, vorgestellt und beleuchtet.
Dieser deduktiv ausgerichtete Teil umfasst die Themenbereiche Kreativität,
Schreiben und interkultureller Unterricht und führt so zu Kreativem Schreiben
und schließt mit einem Beitrag zur Rolle und zur Funktion des Kreativen
Schreibens im interkulturellen Unterricht ab.
In einem empirischen Teil werden die gewonnenen Ergebnisse und Einsichten
überprüft. Zur Überprüfung werden quantitative und qualitative Verfahren he-
rangezogen. Die qualitativen Verfahren regulieren und unterstützen die quan-
titativen Verfahren. Statistische Auswertungen, Beobachtungen, Befragungen
und narrative Interviews werden miteinander verzahnt, die Querschnittsunter-
suchung durch Fallstudien ergänzt.
37 In der vorliegenden Arbeit wurde die Bezeichnung „Kreatives Schreiben“ gewählt, da das Attribut „kreativ“ m. E. die
Besonderheiten dieser Verfahren und Techniken und des daraus resultierenden Konzepts am treffendsten benennt. Die
Grenzen zwischen personalem, authentischem, freiem und kreativen Schreiben sind nicht als strikte Trennung zwischen
verschiedenen Konzepten zu sehen, sondern fließen ineinander über bzw. handelt es sich in den meisten Fällen nicht um
inhaltliche, sondern um Bezeichnungsunterschiede.
38 vgl. Freire (1983), Freinet (1979), Hegele/Pommerin (1983), Mummert (1989), Pommerin (ab 1980), Puhan-Schulz
(1989), Sennlaub (1990), Spitta (1985), v.Werder (1990) und Dietrich (1987)
39 Knapp-Potthoff/Knapp (1982) a.a.O. S.147
14
40 Die quantitative Inhaltsanalyse ermittelt, welche inhaltlichen Äußerungen in welcher Häufigkeit auftreten.
41 vgl. Merten (1983), Mayring (1983)
15
ten oder zu Aussagen, die sie in den Texten getroffen hatten, zu befragen. Es
werden auch Befragungen durchgeführt, die dem narrativen Interview nahe
stehen. Die Rolle des Interviewers beschränkt sich hierbei auf das Aufwerfen
einer Ausgangsfrage und das aufmerksame Zuhören sowie des Protokollierens
der durch sie initiierten Aussagen oder Gespräche. Die standardisierten Befra-
gungen werden quantifizierend ausgewertet, während die leitfadengestützten
oder narrativen Interviews hermeneutisch-rekonstruktiven Auswertungsver-
fahren unterzogen werden.42
Die offenen, teilnehmenden Beobachtungen fanden in natürlichen Situationen
statt, die nicht spezifisch auf den Forschungszweck hin arrangiert wurden.43
Sie beziehen sich auf Verhaltens-, Handlungs- und Interaktionsformen, auf
overte, manifeste Phänomene, die in der Beobachtungssituation auftreten.
Besonderheiten, wie etwa die Intensität der Beteiligung an Gesprächen oder
die Dynamik einer Diskussion wurden an Hand von Tonbandaufzeichnungen
oder schriftlich protokolliert.44
Die Fallstudien werden auf der Grundlage von Texten, die im Schreibkurs pro-
duziert wurden, teilhabender Beobachtungen sowie Befragungen der Schrei-
ber entwickelt. Sie zeigen Bewegungen und Entwicklungen der Schreiber in
Bezug auf ihre sprachliche Kompetenz45 in der Zielsprache Deutsch sowie ih-
rer individuellen Kreativität auf. Es erweist sich als relevant, Längsschnitt-
Design und Längsschnitt-Daten zu differenzieren, denn es werden in einer
einmaligen Untersuchung retrospektiv Daten in Längsschnittform erhoben. Die
Fallstudien ergänzen die Querschnittsuntersuchung in Form einer Kohorten-
studie. Diese Sonderform der Längsschnittuntersuchung dient der Trennung
von Kohorteneffekten, also der Wirkungen, die sich aus der Zugehörigkeit der
Personen zu bestimmten Gruppen ergeben, und anderen Effekten, wie etwa
dem Alterseffekt. Demgegenüber werden den Fallstudien Paneluntersuchun-
gen zugefügt, deren Ziel in erster Linie die Erhebung von Veränderungen auf
der Individualebene ist.46
Fallstudien bzw. die Methode der Fallanalyse wurde ausgewählt, um einen Zu-
gang zur exemplarischen Entwicklung der Schreiber zu eröffnen. Der Lernzu-
wachs der Schreiber soll aufgezeigt und bestimmt werden. Dies geschieht mit
Hilfe der Texte, mit Hilfe von Beobachtungsprotokollen sowie von Befragun-
gen der Schreiber. Die Fallstudien weisen neben Ergebnissen quantitativer
1.1 Definitionen
Etymologisch lässt sich der Begriff „Kreativität“ aus dem Lateinischen von
„creatio“ (Schöpfung) bzw. „creare“ (zeugen, gebären, (er-) schaffen) herlei-
ten. Ein breiteres Spektrum umfasst das amerikanische „creativity“, das nicht
nur die Schöpfung bzw. das Schöpferische umfasst, sondern gleichzeitig das
17
Begriff gefasst werden kann, weisen aber auch darauf hin, dass es keine all-
gemeingültige Definition geben kann.
„Die Wahrnehmung über das, was kreativ ist, hat sehr viel mit der Person zu
tun, die sich über Kreativität äußert. Offensichtlich ist Kreativität für verschie-
denen Personen etwas sehr Verschiedenes.“ 54
Im folgenden Kapitel soll eine Annäherung an den Begriff „Kreativität“ erreicht
werden und ein, der vorliegenden Arbeit zugrunde liegender Kreativitätsbeg-
riff formuliert werden.
symmetrisch. Bei der Mehrheit der (untersuchten) Menschen verfügt die linke
Gehirnhälfte über mehr Sprachkompetenz als die rechte; die rechte Gehirn-
hälfte zeigt mehr Kompetenz bei der Verarbeitung visuell-räumlicher Informa-
tionen, linke und rechte Hirnhälfte treten in Kontakt zueinander und arbeiten
– je nach Tätigkeit mit unterschiedlicher Gewichtung – zusammen.
Die Annahme, das Gehirn sei als ein biochemisch-elektrisches System eines
an sich „einheitlichen“ Geistes zu betrachten, erwies sich als Fiktion. Die Idee
einer rationalen und einer kreativen Hemisphäre war damit geboren und ihr
wurde in Folge immer wieder, in verschiedenen Ansätzen mit verschiedensten
Methoden nachgegangen.55 Die Zuteilung von qualifizierenden Merkmalen zu
den Hemisphären setzte sich immer weiter durch.
Im Rahmen der neueren Gehirnforschung wurden vielen Modelle erstellt, die
einzelnen Forschungsschwerpunkten zuzuordnen sind. Aktuelle Forschungsan-
sätze befassen sich weniger mit den einzelnen Funktionen und dem Zusam-
menspiel der beiden Hemisphären, sie wenden sich tendenziell dem Einfluss
genetischer Voraussetzungen und der Umwelt auf die Entwicklung von Intelli-
genz zu. Es wurde eine neue Größe eingeführt, die „Selbstreferenzialität“, die
eine emotional gesteuerte Instanz bezeichnet: Das Gehirn legt Kriterien zur
Informationsaufnahme und –verarbeitung selbstständig fest und kontrolliert
somit den Reizfluss. Eine weitere Tendenz zeichnet sich mit der Untersuchung
des Einflusses der unteren auf die oberen Gehirnregionen ab. Die Frage nach
dem Einfluss des lymbischen und des kortikalen Systems auf das menschliche
Denken und seine Entwicklung wurde zum Forschungsschwerpunkt.56
Ebenso wie die ausschließliche Lokalisierung der rechten Hemisphäre als „Sitz
der Kreativität“, ist auch die starre Zuordnung verschiedener Attribute zu den
Hemisphären nicht mehr aktuell.57 So ist eine Spezialisierung der Hemisphä-
ren nicht von der Hand zu weisen, aber Kreativität ausschließlich als Kompe-
tenz der rechten Hirnhälfte zu bezeichnen, scheint heute unzulässig. Die Iso-
lierung psychischer Faktoren als Ursache für Kreativität erscheint heute eben-
so wenig zufrieden stellend wie die Arbeit mit stark schematisierten kausalen
Kreativitätsmodellen. Kreativität wird nicht mehr ausschließlich unter physi-
schen Aspekten untersucht, ihr psychischer Aspekt rückt mehr und mehr in
den Vordergrund.58
Lernen Impuls
Reaktion
Problem/Reiz
Person Umwelt
In diesem Modell wurde versucht, eine erste Annäherung an den dieser Arbeit
zu Grund liegenden Kreativitätsbegriff zu finden. In welchem Umfang eine
Person ihr kreatives Potential nutzen kann, hängt demzufolge von verschiede-
nen Faktoren ab, die wiederum fördernden oder hemmenden Faktoren ausge-
setzt sind.
Den Mittelpunkt bilden die vier Titel „Person“, „Impuls“, „Motivation/Neugier“
und „Umwelt“. Es herrscht Konsens darüber, dass diese vier Faktoren nicht
unabhängig voneinander betrachtet werden können. So besteht keinerlei
Grund für eine kreative Leistung, wenn kein Impuls, also kein Problem
und/oder kein Reiz auftritt, der einer kreativen Lösung bedarf. Wie dieser Im-
puls geartet ist erscheint kein vorrangiges Kriterium zu sein, sondern die Re-
levanz, die dieser Impuls für die Person hat, also die Motivation. Eine Person,
die nicht über ausreichende Sachkompetenz und Erfahrung (Wissen) verfügt,
die zur Bearbeitung des Impulses oder zur Bewältigung des Problems notwen-
dig sind, wird schwerlich eine kreative Leistung in dieser Domäne hervorbrin-
gen können, wie motiviert sie auch immer sein mag. Demnach sind erfolgrei-
che Lernprozesse notwenige Voraussetzung für eine kreative Leistung. Die
Umwelt beeinflusst die kreative Leistung in einer fördernden oder hemmenden
Arbeitssituation (Option) und damit wird eine Leistung erst dann kreativ,
wenn die Umwelt sie als solche bewertet (Reaktion). In der öffentlichen Dis-
kussion scheint die Frage nach kreativitätsfördernden Faktoren Vorrang zu
haben. So sprechen Designer, Werbefachkräfte und Künstler von Situationen
und Umgebungen, in denen ihnen neue und gute Ideen geradezu „zufliegen“.
Häufig werden bestimmte Orte genannt (Natur, Badewanne, vor einer weißen
Wand, ...) oder bestimmte Arbeitsformen (Teamarbeit, Klausur, ...). Inspirie-
26
rend scheinen auch bestimmte Tätigkeiten zu sein, wie etwa spazieren gehen,
schwimmen, malen und ähnliche. Die Option zu kreativen Leistungen ist dem-
nach individuell sehr unterschiedlich geartet, und es gilt, die beste herauszu-
finden. Die zweite Funktion der Umwelt, die Reaktion, tritt in den Hintergrund.
Dies mag in der Schwierigkeit begründet sein, sich damit auseinanderzuset-
zen, wie die Umwelt auf eine Leistung, die der Produzent selbst kreativ ein-
schätzt, reagiert. Dennoch scheint die Reaktion und die damit einher gehende
Bewertung der Umwelt ein nicht zu vernachlässigender Faktor zu sein. Kreati-
vität steht immer auch im Dienst der Gesellschaft, d. h. sie dient dazu, gesell-
schaftliche Notwendigkeiten zu erfüllen. Czikszentmihalyi betont diesen As-
pekt der Auswahlkriterien und Präferenzen des Feldes, wie er die Umwelt
nennt, ebenso stark wie die Vertrautheit der kreativen Person mit den Regeln
und dem Inhalt der jeweiligen Domäne.75 Diese Auffassung von Kreativität
schließt eine Synthese zwischen den beiden polaren Auffassungen, der Kreati-
vität als personenabhängige oder umweltdeterminierte Größe.
Neuerdings zeichnet sich eine Tendenz ab, die von der demokratisierten Krea-
tivität wieder zum „kreativen Menschen“ führt. Kritiker der Kreativitätsfor-
schung76 geben zu bedenken, dass die Anzahl kreativer Produkte größer ist
als die Anzahl der kreativen Prozesse, die wiederum die Zahl kreativer Men-
schen (d. h. der Menschen, die ihr kreatives Potential in großem Umfang nut-
zen) weit übersteigt. Aus dieser Annahme wird abgeleitet, dass es ganz be-
sonders kreative Menschen gebe, deren kreatives Potential von „normalen“
Menschen auch mit Hilfe intensiven Trainings nicht erreicht werden könne.
Diese „Regenialisierung“ des Kreativitätsbegriffs stellt eine direkte Reaktion
auf dessen inflationären Gebrauch in den letzten Jahren und der damit einher
gehenden Beliebigkeit dar. Czikszentmihalyi unterscheidet zwischen „kleiner“
und „großer Kreativität“77, wobei er die „kleine Kreativität“ als wichtigen Be-
standteil des Alltags bezeichnet, sie jedoch hinter die so genannte „große
Kreativität“ stellt, der er sein Hauptaugenmerk schenkt.
„Kreativität oder zumindest die Form von Kreativität, (...), ist der Prozeß,
durch den eine symbolische Domäne der Kultur verändert wird.“78
Diese Modelle dürfen aber in der Konsequenz nicht dazu führen, dass sich
Menschen, die sich nicht zu den wahrhaft Kreativen zählen, zurückziehen und
darauf verzichten, ihr kreatives Potential zu nutzen. Diese Reaktion wäre fa-
tal, denn angenommen, es gäbe tatsächlich wahrhaft Kreative, wäre das den-
noch kein Grund das kreative Potential, das nachweislich vorhanden ist, nicht
auszuschöpfen. In der vorliegenden Arbeit, die sich mit der Rolle der Kreativi-
tät und Kreativitätsförderung im Deutschunterricht79 befasst, soll es nicht um
die Ausbildung wahrhaft Kreativer gehen, sondern um die Möglichkeiten und
Chancen, das kreative Potential „ganz normaler“ Lerner zu aktivieren und es
im Sprachunterricht einzusetzen.
Aus diesem Grund ergeben sich für diese Arbeit verschiedene Perspektiven,
aus denen sich dem Begriff der Kreativität genähert werden soll: Merkmale
der Kreativität und Kreativitätsprozess, die im Folgenden vorgestellt und dis-
kutiert werden sowie Ergebnisse der Kreativität und situative Bedingtheit der
Kreativität80, die im empirischen Teil der Arbeit nachgewiesen und untersucht
werden. Die Berücksichtigung der situativen Bedingtheit von Kreativität
scheint hilfreich und sinnvoll.
„Denn setzt man allein am Produkt oder Ergebnis von Kreativität an, so begibt
man sich gefährlich nah an Konzepte der Genialität, setzt man allein am Pro-
zess an, reduziert man das Phänomen auf psychische Schalt-Vorgänge“ 81
79 Der Begriff „Deutschunterricht“ bezieht sich in der vorliegenden Arbeit – sofern nicht anders erwähnt – auf den
Unterricht Deutsch als Mutter-, Zweit- und Fremdsprache im schulischen wie auch im außerschulischen Bereich.
Differenzierungen werden in den laufenden Text eingefügt.
80 vgl. v. Henting (1998)
81 Tauss (1998) a.a.O. S.2
82 Friedrich Schiller
83 vgl. Guilford (1970), Pommerin (1986), Ulmann (1974) u. v. m.
84 vgl. Ulmann (1974), Guilford (1970)
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ermittelte Kriterien der Kreativität, um auf ihrer Grundlage Tests und Übungs-
batterien zu entwickeln, die es einer breiten Masse ermöglichen sollten, ihr
kreatives Potential zu aktivieren und auszubauen. Dieses Vorhaben kann aus
heutiger Sicht nicht mehr ohne Einschränkungen übernommen werden. Den-
noch ist es hilfreich bei dem Versuch, sich dem Begriff „Kreativität“ zu nähern.
Von dem Ansatz ausgehend, dass der Begriff nicht allgemeingültig definiert
werden kann, und dass eine Quantifizierung der Kriterien nicht ausreichend
ist, ihn zu beleuchten, werden die Kriterien in der vorliegenden Arbeit nicht
dogmatisch, sondern deskriptiv aufgefasst. Wenn auch die Kriterien nicht die
gesamte Komplexität des Begriffes „Kreativität“ abdecken können, so sind die
daraus entwickelten Methoden, Verfahren und Techniken unbedingt hilfreich
und notwendig, Lernen und Arbeit sinnvoll und effizient zu gestalten.
Die Kriterien und Merkmale der Kreativität85 führen erst in ihrem Zusammen-
spiel zu kreativen Leistungen. Strategien oder Produkte, die nur ein oder
mehrere, aber nicht alle Kriterien erfüllen, können nicht als kreativ einge-
schätzt werden. So kann etwas durchaus neu sein, aber nicht alles Neue ist
gleichzeitig kreativ, wenn es die anderen Kriterien nicht erfüllt. Kreativität ist
durch folgende Merkmale gekennzeichnet:
Originalität, Neuartigkeit, Inventiveness, Discovery: Die Entwicklung
neuartiger Ideen erscheint problematisch, denn häufig wird die Notwendigkeit
einer neuen Idee erst dann erkannt, während sie entwickelt wird. Die Not-
wendigkeit neuer Ideen ist stark von Situationen und den Zeiten, in denen sie
auftreten, abhängig. In einigen Bereichen müssen ständig neue Ideen entwi-
ckelt werden (z. B. in Wissenschaft und Technik), wobei in anderen Bereichen
weniger neue Ideen nachgefragt werden, weil dort weniger akute Probleme
auftreten, die einer Lösung bedürfen bzw. Probleme auftreten, die mit be-
kannten Strategien bewältigt werden können. Unter „Neuartigkeit“ wird auch
verstanden, wenn eine Idee nicht völlig neu entwickelt wird, sondern eine be-
reits vorhandene in einen anderen Bereich transferiert werden kann, in dem
sie bislang nicht verwendet wurde. Inventiveness bezeichnet die Gabe, Neues
zu erfinden und zu realisieren (z. B. erfand Franklin den Blitzableiter). Die
Strategie oder das Produkt ist demnach absolut neu und noch nie da gewe-
sen. Demgegenüber stehen „Entdeckungen“, d. h. etwas Unbekanntes, das
schon existiert, wird gefunden (Fenical entdeckte das Eleutherobin, ein Wirk-
stoff der Koralle, der in der Krebstherapie angewendet wird). Es gibt Bereiche,
in denen Strategien oder Produkte nicht eindeutig den Kriterien Inventiveness
oder Discovery zugeordnet werden können. Dennoch ist beiden Auslegungen
eines gemein: Sie bezeichnen Strategien oder Lösungen, die der Gesellschaft
bislang nicht bekannt waren, die neu sind und von einer oder mehreren Per-
sonen einer Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.
Offenheit: Grundlegend für jegliche kreative Leistung ist eine offene, auf-
nehmende Haltung des Individuums gegenüber seiner Umwelt. Dieses Merk-
mal der Kreativität wird von allen Autoren genannt und als Voraussetzung für
die Entwicklung kreativer Gedanken und Ideen angesehen. Aufmerksamkeit,
Offenheit, Empfänglichkeit stehen für eine Geisteshaltung, die Aufgeschlos-
senheit gegenüber neuen Ideen und Gedanken mit Neugier und Interesse an
der Umwelt vereint. Nur ein Mensch, der bereit und in der Lage ist, Altes und
Bekanntes zu verlassen und neue Wege zu betreten, kann kreativ sein. Den-
noch darf Altes und Bewährtes nicht außer Acht gelassen werden, denn häufig
führt gerade die Kombination von Bewährtem und Neuem zu einem kreativen
Produkt. Eine „aus dem Bauch heraus“ entstandene Idee erfüllt möglicherwei-
se das Kriterium der Offenheit, sie führt jedoch nicht zu einer kreativen Leis-
tung, wenn die anderen Kriterien nicht erfüllt werden.
Produktivität und Gedankenflüssigkeit: Dieses Kriterium bezieht sich
hauptsächlich auf den quantitativen Aspekt kreativen Verhaltens. Kreative I-
deen und Gedanken sind die Voraussetzung für die daraus entstehenden Pro-
dukte. Kreative Strategien basieren auf der Entwicklung kreativer Gedanken.
Denk- und Produktionsblockaden hemmen den kreativen Prozess und verhin-
dern die Entstehung von Neuem und Kreativem. Die Gedankenflüssigkeit wird
auch von der Umwelt gesteuert, sie kann durch Optionen86 gefördert oder ge-
hemmt werden. Eine Umgebung, die nachhaltig die Konzentration stört, kann
sich ebenso negativ auf die Gedankenflüssigkeit auswirken wie Störungen des
körperlichen Wohlbefindens (z. B. Kopfschmerzen, Müdigkeit usw.). Eine Stö-
rung der Gedankenflüssigkeit kann aber auch durch den Prozess selbst ausge-
löst werden, nämlich dann, wenn man sich „in einer Sackgasse verirrt“, d. h.
wenn ein Gedankenstrang nicht weiter führt und gleichzeitig die Entwicklung
einer Alternative blockiert.
Flexibilität: Flexibilität bedeutet hier nicht nur die Fähigkeit, sich auf jede
neue Situation einzustellen und sich ihr anzupassen, sondern bedeutet auch
Spontaneität und divergentes Denken. Das bedeutet, ein Mensch kann ein
Problem anhand neuer Problemlösungsstrategien modifizieren oder lösen, in
dem er je nach den Erfordernissen der Situation geeigneten Strategien an-
wenden und somit situationsgerecht handeln kann. Jeder Mensch verfügt über
bewährte und damit verfestigte Denkmuster und Lösungsstrategien, die ihn in
den meisten Situationen zu angemessenen Lösungen führen. Je häufiger dies
erfolgreich ist, desto starrer und bedingungsloser werden sie angewendet,
oftmals auch in Fällen, in denen sie nicht angemessen sind. Ein kreativer
Mensch zeichnet sich durch Flexibilität aus, das bedeutet, er reagiert auf Blo-
ckaden und Hemmungen und kann sich daraus lösen. Ein flexibler Mensch ist
in der Lage, auf neue Situationen mit neuen Mustern reagieren zu können.87
Flexibilität darf jedoch nicht mit Beliebigkeit gleichgesetzt werden, stellt sie
doch geradezu das Gegenteil dar: Flexibilität bedeutet eine sinnvolle und ziel-
gerichtete Art und Weise, mit neuen Situationen – positiv wie negativ – um-
zugehen. Flexibilität meint nicht zufällige, beliebige Reaktionen, sondern die
Fähigkeit, sich aus den oben genannten „Sackgassen“ zu befreien und neue
Wege zu erkennen. Menschen, die nicht über diese Fähigkeit verfügen, wer-
den durch Störungen nachhaltig blockiert und sind nicht in der Lage umzu-
schalten. Flexible Menschen erkennen die Blockade und versuchen ihr Ziel auf
einem anderen, sinnvollen Weg zu erreichen.
Problemsensibilität: Hierunter wird die Fähigkeit verstanden, Probleme zu
erkennen. Neben der Fähigkeit, Probleme zu erkennen, zeichnen sich kreative
Menschen durch die Fähigkeit, angemessene Fragen zu stellen, aus. Relevant
sind Fragen, die zur Problemlösung beitragen, also das Problem und dessen
Umfeld hinterfragen. Möglicherweise wird es notwendig, eine bestehende Lö-
sung erneut in Frage zu stellen.
Flüssigkeitsfaktor: Oft wurde der Flüssigkeitsfaktor Guilfords zu dem Begriff
„Fantasie“ synonym aufgefasst. Die darin beinhalteten Aspekte des Assoziati-
onsvermögens und der Fähigkeit zum Transfer wurden damit ignoriert. Der
Flüssigkeitsfaktor bezeichnet nicht die Produktion beliebiger Einfälle, sondern
solcher, die einen inhaltlichen Bezug zum Problem vorweisen. Demzufolge
muss ein kreativer Mensch über Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, um
sinnvolle Gedanken und Ideen produzieren und um diese anwenden zu kön-
nen.
Analysierende Fähigkeiten: Die Fähigkeit, ein Problem zu analysieren und
es in Teile zu zerlegen, ist stark von der Flexibilität abhängig. Je flexibler ein
Mensch ist, desto eher tendiert er dazu, ein komplexes Problem nicht mit ei-
ner alten Strategie zu lösen, sondern das Problem in seine Einzelteile zu zer-
legen. Das exakte Erkennen eines Problems in all seinen Facetten ermöglicht
erst den flexiblen Einsatz von Lösungsstrategien. Je komplexer ein Problem
ist, desto geringer sind die Chancen, es im Ganzen erfolgreich zu lösen. Das
schrittweise Lösen jedoch kann erst dann beginnen, wenn das Problem analy-
siert werden konnte.
Synthetisierende Fähigkeiten: Die Synthese stellt den Gegenpol zur Analy-
se dar. Die Synthese vereinfacht die Problemlösung, da bereits vorhandene
Ideen und Lösungsstrategien eingesetzt werden können. Ein derartiges Vor-
gehen kann allerdings, wie oben erläutert, zu Blockaden führen. Synthese be-
deutet in diesem Zusammenhang jedoch nicht nur eine Synthese verschiede-
ner Probleme, sondern auch die Synthese verschiedener Problemlösungsstra-
tegien. So ist die Synthese eine logische Konsequenz der Analyse. Ein in seine
Einzelteile zerlegtes Problem muss wieder zusammengefügt werden, nachdem
die Einzelteile erfolgreich gelöst werden konnten. Analyse und Synthese be-
deuten die Auflösung einer vorhandenen Struktur und deren sinnvolle Zu-
sammenfassung nach Bearbeitung der Einzelteile.
Reorganisation und Redefinition: Diese beiden Kriterien haben eine Auflö-
sung eines Sachverhaltes und einer Definition zur Voraussetzung. Jede Idee,
jedes Produkt und jede Lösung muss überprüft werden. Sie müssen hinsicht-
lich der Situation und den daraus entstandenen Anforderungen überdacht und
getestet werden. Nicht jede kreative Leistung ist gleichzeitig gut und der Situ-
ation angemessen.
Bewertende Fähigkeiten: Jede kreative Leistung muss bewertet werden
hinsichtlich ihrer Funktionalität und ihrer Angemessenheit. Sie muss daraufhin
überprüft werden, inwieweit sie zur Problemlösung beiträgt bzw. das Problem
mit ihrer Hilfe gelöst werden kann. Erst, wenn das kreative Produkt bewertet
ist, kann es als kreativ eingestuft und zur Anwendung gebracht werden. Oft-
mals wird die abschließende Bewertung nach einer ersten Veröffentlichung
vorgenommen werden. Bewertende Beiträge anderer ermöglichen eine Über-
arbeitung bzw. lassen neue Gedanken entstehen, die dazu beitragen können,
das kreative Produkt zu verbessern.
88 Albert Camus
89 Ein Problem entsteht aus einem Konflikt zwischen einer Person, einer Gruppe von Personen, einer Gesellschaft und
der jeweiligen Umwelt.
32
93 Galileo Galilei
34
Kreativität wird Gabe, über die nur wenige verfügen. Diese Genies werden
von Musen geküsst, mit göttlicher Eingebung versehen oder gar vom Geruch
fauliger Äpfel inspiriert. Kreativität steht hier für eine angeborene, elitäre Ga-
be.
Kreativität in demokratisierter Form als erwerbbare und trainierbare Eigen-
schaft, über die jeder Mensch verfügt. Das in jedem Menschen vorhandene
kreative Potential kann anhand diverser Techniken erweckt und ausgebaut
werden.
Kreativität als grundsätzlich erwerbbare Eigenschaft, die aber nur bei wenigen
Menschen in reiner Form auftritt. Diese Interpretation beinhaltet sowohl die
Auffassung, jeder Mensch verfüge über kreatives Potential, das trainierbar sei,
als auch den Geniegedanken, der besagt, dass es Menschen gebe, die von Na-
tur aus kreativ seien und deren Kreativität von „normalen“ Menschen auch mit
viel Training nicht zu erreichen ist.
Der Kreativitätsbegriff dieser Arbeit ist gewissermaßen in der Mitte dieser In-
terpretationen angesiedelt, da weder der Geniegedanke noch die demokrati-
sierte Form vollständig übernommen werden kann. In der Unterrichtssituation
kommen viele unterschiedliche Persönlichkeiten zusammen, arbeiten und ler-
nen in einer heterogenen Gruppe. Kreativitätsförderung bedeutet hier sowohl
die Förderung von Fantasie und Originalität als auch die Förderung von Sach-
kompetenz und Wissen. Es wäre fatal, in der Unterrichtssituation die fantasie-
volle Produktion neuer Ideen als alleiniges Ziel in den Vordergrund zu stellen
und deren Selektion und Umsetzung bzw. Anwendung nachrangig zu behan-
deln. Jede neue Idee muss nach ihrem Entstehen überprüft, gefiltert und ge-
testet werden. Keine Idee soll blank und dem Zufall preisgegeben den
Schreibtisch verlassen. Die Lerner müssen dazu angeleitet werden, ihre Ideen
auszuwählen und zu überprüfen, bevor sie einer Öffentlichkeit präsentiert
werden. Die Lerner sollen jedoch nicht nur Ideen produzieren und überprüfen,
sondern auch angemessen und konstruktiv Ideen anderer bewerten können.
Kreativität und Systematik schließen sich nicht aus, sondern Systematik ist
ein Bestandteil kreativer Prozesse.
Industrie und Wirtschaft suchen Mitarbeiter, die über kreatives Potential ver-
fügen und in der Lage sind, dieses zu nutzen. Häufig wird Wert auf Teamfä-
higkeit gelegt, weil es im Team zu einem Zusammenspiel verschiedener „Ar-
beitstypen“ kommt. Von Mitarbeitern wird Einfallsreichtum, Sachkompetenz,
Flexibilität und Teamgeist gefordert. Diese Fähigkeiten sind typisch für Men-
schen, die gelernt haben, ihr kreatives Potential zu nutzen. Ihre Vermittlung
kann sich im schulischen Bereich jedoch nicht auf die Fächer Musik und
Kunsterziehung sowie auf zeitlich limitierte, ästhetische Projekte, in deren
Zielsetzung und Verlauf die formale Korrektheit zweitrangig ist, beschränken.
36
Ein gewisses kreatives Potential steckt in jedem Menschen. Ohne dieses könn-
te er schwerlich überleben, denn jeder Mensch kommt – bereits als Kleinkind
– in Situationen, die er mit bekannten Strategien nicht bewältigen kann. Ein
Beispiel hierfür sei die „Wortlosigkeit“ kleiner Kinder genannt, die sie mit
kreativen Wortschöpfungen überwinden. Diese kreativen Problemlösungsstra-
tegien, die nach Czikszentmihalyi der „kleinen Kreativität“ zuzuordnen sind,
nehmen mit zunehmendem Alter immer mehr ab, da der Mensch über ein
ständig wachsendes Repertoire an Lösungsstrategien verfügt. Die meisten
Kinder sind nach ein bis zwei Jahren Grundschulbesuch in der Lage, sich aus-
reichend verständlich zu machen und „verlernen“, es kreativ mit ihrer Spra-
che/ihren Sprachen umzugehen. Im Jugend- und Erwachsenenalter entsteht
häufig der Wunsch, sich individuell und fantasievoll auszudrücken, und damit
beginnt der kreative Umgang mit Sprache erneut. Dieser Kreislauf, den die
Entwicklungsstufen eines Individuums darstellen, wurde u. a. von Piaget96 be-
schrieben. Broudy entwickelte ein Modell97, das die Entwicklung von Kreativi-
tät in drei Stufen beschreibt:
Die Phase des naiven Hörens, Sehens und Gestaltens dauert etwa bis zum
siebten Lebensjahr an. Sie ist durch Naivität der Wahrnehmung gekennzeich-
net. Diese äußert sich darin, dass keine feste Vorstellung von dem, was sein
muss, welches Empfinden wann erwartet wird, und wie man sich zu verhalten
hat, besteht. In dieser kindlichen Welt ist alles möglich, sie bietet daher faszi-
nierende Entdeckungen. Aktivitäten werden um ihrer selbst Willen ausgeführt
und gewertet. Notwendige Voraussetzung ist die Offenheit und die Neugier.
Das konventionelle Sehen, Hören und Gestalten beginnt etwa um das achte
und endet ungefähr mit dem sechzehnten Lebensjahr. In der konventionellen
Phase nimmt die manuelle Geschicklichkeit zu, da die Koordination zwischen
Auge und Hand verfeinert wird. Die starke Betonung linkshemisphärischer Fä-
higkeiten im Schulunterricht bewirkt eine Zunahme der mechanisch erlernba-
ren Grundzüge. Die Aufmerksamkeit richtet sich in zunehmendem Maße auf
Details, die Ganzheitlichkeit tritt zu Gunsten eines sequentiellen Denkens in
den Hintergrund. Die Fantasie der Kinder wird in der Schule durch Regeln und
Vorschriften eingeengt und eine Nichtbeachtung dieser Regeln und Vorschrif-
ten zieht Sanktionen nach sich, die dementsprechend demotivierend wirken.
Auf der Stufe des kultivierten Sehens, Hörens und Gestaltens wird der Stil,
der charakteristisch für die naive Phase ist, wieder entdeckt. Es wird versucht,
ihn wieder zu aktivieren. Der (junge) Erwachsene geht zurück zu den Wurzeln
und orientiert sich an der Unbefangenheit der Wahrnehmungen während der
naiven Phase. Alle Kriterien der dort entstandenen Produkte werden erneut
2 Schreiben
„Schreiben ist Freiheit.“
Der Begriff Schreiben umfasst viele Aspekte. Schreiben kann als rein motori-
sche Tätigkeit, das Halten eines Stiftes und die damit auszuführenden Bewe-
gungen auf dem Papier, verstanden werden, was jedoch bereits die Kenntnis
von Schriftzeichen voraussetzt. Schreiben ist aber auch eine Kulturtechnik,
die für das Überleben in unserer literalisierten Gesellschaft praktisch unent-
behrlich ist und daher in der Schule gelehrt wird. Schreiben ist eine Therapie-
form99, da sich der Schreiber von seinen Äußerungen distanziert und diese als
„reine“ Aussage in zeitlichem und räumlichem Abstand reflektieren kann,
während der Therapeut schriftlich fixierte Aussagen des Patienten analysieren
und auswerten kann. Schreiben ist ebenso eine Lebensauffassung, sobald sich
der Schreiber mit seinem Schreiben identifiziert. Schreiben ist nicht zuletzt
Freizeitbeschäftigung, wenn sich der Schreiber mit der Fixierung von Gedan-
ken, der Dokumentation von Geschehnissen oder dem spielerischen Umgang
mit Sprache die Zeit vertreibt. Schreiben ist Arbeit. Geschriebenes bewahrt
und verbreitet Informationen, bietet Unterhaltung, vermittelt Wissen, beein-
flusst Leser. Schreiben ist Forschungsgegenstand und wird unter historischen,
kulturellen und funktionalen Aspekten untersucht:
„Die Erforschung von Schrift und Schriftlichkeit ist bislang nur unter der Per-
spektive von Einzelwissenschaften betrieben worden, weshalb es heute weder
eine einheitliche Theoriebildung über den Gegenstand gibt noch einen syste-
matischen überfachlichen Austausch.“100
Günther und Ludwig beheben diesen Mangel mit dem Handbuch „Schrift und
Schriftlichkeit“, in dem die verschiedenen Aspekte des Schreibens dargestellt,
die gesellschaftlichen Prozesse der Normierung und Alphabetisierung in ver-
schiedenen Ländern behandelt, Modelle der psychologischen Prozesse beim
102 Die Form der mündlichen Überlieferung wird in der vorliegenden Arbeit nur dann explizit berücksichtigt, wenn eine
Gegenüberstellung zur schriftlichen Überlieferung sinnvoll erscheint.
103 vgl. Steinig (1998) a.a.O. S.13
104 vgl. Jaspers (1995)
105 vgl. Traub (1996)
39
der Literatur wandeln sich Gestalt und Funktion des Geschriebenen. Nach
Nunberg109 werden verschiedene Buch- bzw. Textsorten aus dem gedruckten
Angebot verschwinden (z. B. Nachschlagewerke). Die Ausbreitung jüngerer
Technologien wird die traditionellen aber nicht auslöschen. Ältere Technolo-
gien werden von ihnen herausgefordert und stimuliert und möglicherweise
grundlegend verändert werden, aber nicht annulliert. Ein Beispiel hierfür ist
der Hypertext, der literarische Text im Internet. Er unterscheidet sich in vielen
Punkten von traditionell gedruckten Texten, bildet aber unzweifelhaft eine
ernst zu nehmende Variante.110
Das Verfassen von Hypertexten unterliegt völlig anderen Bedingungen wie
auch die Rezeption dieser Textsorte vom Medium Internet bestimmt wird. So
arbeitet der Schreiber nach dem „Prinzip der Papyrusrolle“, d. h. der Bild-
schirm stellt sich als endlose Rolle dar, in der Auf- und Abbewegung keine
Mühe verursacht und weder Anfang noch Ende festgelegt sind. Es entsteht
kein Manuskript mehr, der Text befindet sich auf dem Bildschirm von Anfang
an in Reinschrift. Textteile können beliebig ausgeschnitten, eingefügt, ausge-
lagert, verschoben werden. Oftmals entstehen so inkonsistente und zerstreute
Texte. Ein stringentes Vorwärtsschreiben und –lesen wird von fragmentari-
schem Schreiben und Lesen abgelöst. Hypertexte zeigen häufig die Tendenz,
wie das kleine Textbeispiel unten zeigt, auszuwuchern. Durch Links wird der
Leser per Mausklick zu neuen Hypertexten entführt, deren Anzahl stetig
steigt. Auch Texte fremder Schreiber können problemlos in eigene Texte in-
tegriert werden bzw. ein Schreiber kann sich per entsprechendem Link an ei-
nen fremden Text andocken. So entstehen gemeinschaftliche Literaturprojek-
te, die in dieser Form und in diesem Ausmaß nur im Rahmen des Internets
möglich sind. Das Internet hat mit der Möglichkeit zur Produktion von Hyper-
texten einen Raum geschaffen, in dem das spielerische Experimentieren mit
Texten nicht nur möglich, sondern erforderlich wird. Der Hypertext hat sich zu
einer eigenständigen Textsorte entwickelt, die andere Kriterien aufweist als
ein gedruckter oder geschriebener Text.
Die Spekulationen über die Zukunft geschriebener Texte, deren Form und
Vervielfältigung sind weltweit im Gang. Prognosen erscheinen - so der allge-
meine Konsens - nicht möglich, aber Tendenzen zeichnen sich bereits ab. Eine
digitale Revolution scheint wahrscheinlich, wobei die Rolle des gedruckten Bu-
ches als bedeutend eingestuft wird. Der elektronische Diskurs als Welt des
Unpersönlichen, Öffentlichen und Objektiven werde als Gegensatz und Ergän-
zung neben das Buch als Welt des Persönlichen, Privaten und Subjektiven tre-
ten.112
fängliche Enthusiasmus – „Das probiere ich auch!“ – schnell und wird zu ei-
nem – „Das kann ich nicht!“, womit der Lerner schnell in jenen Teufelskreis
gerät, in dem der Glaube an ein Nicht-Können zur Realität des Nichtkönnens
wird. Hier gilt es im Unterricht, denjenigen aufzufangen und das Schreiben als
Fertigkeit einzuüben. So kann das Schreiben zu einer Bewältigung der Le-
bensprobleme beitragen und den Alltag in der Bundesrepublik erleichtern.
Eine weitere Gruppe, deren Texte im Rahmen dieser Arbeit untersucht wur-
den, hat das Schreiben bereits im primärsprachlichen Bereich als Medium zur
Selbstfindung und Problembewältigung kennen gelernt. Diese Menschen lei-
den schon nach kurzer Zeit in der Bundesrepublik unter ihrer Sprachlosigkeit
im mündlichen wie auch im schriftlichen Sprachgebrauch. Sie empfinden ihre
schriftsprachlichen Defizite als großen Mangel, der ihre Lebensqualität beein-
trächtigt. Sie verstehen das Schreiben auch als Öffnung hin zu deutschen Mit-
bürgern, denen sie ihr Leben in diesem Land verständlich machen wollen. Dies
kann aber meist nur auf Deutsch geschehen und somit sind sie gezwungen,
ihre Texte auf Deutsch zu schreiben, was anfangs große Schwierigkeiten be-
reitet.
Treffen die Prognosen zu einer Zweiteilung der Gesellschaft in Schreiber und
Schreibstumme ein, so ist eine große Mehrheit der Bevölkerung von den In-
formationen, die von professionellen Schreibern publiziert werden, abhängig.
In den letzten Jahren wächst die Menge der Publikationen täglich, während
die Zahl der Autoren gleichermaßen abnimmt. Den Schreibern stehen Hilfs-
mittel zur Verfügung, die es ihnen erlauben, mit immer größer werdender Ge-
schwindigkeit immer mehr zu veröffentlichen. Die meisten Informationen
werden in geschriebener Sprache präsentiert und haben so zumindest den
Anschein einer gewissen Relevanz inne. Die nicht schreibende Mehrheit wird
von einer wahren Flut von Gedrucktem erdrückt. Sie nehmen an diesem
Strang der Entwicklung nicht teil und nehmen eine passive Rolle ein. Zu die-
ser Mehrheit gehören auch die Menschen, die sich ob ihrer Herkunft in einer
marginalen gesellschaftlichen Stellung befinden. Sie haben keine Möglichkeit,
aktiv mitzuwirken, wenn sie nicht mit der deutschen Schriftsprache vertraut
sind und sich dieses Mediums nicht bedienen können. Wie soll eine Öffentlich-
keit über ihr Leben, ihre Situation und ihre Gefühle informiert werden, wenn
nicht über Publikationen? Migrantenliteratur, kleinere Publikationen wie Leser-
briefe oder Ähnliches können der deutschen Gesellschaft wichtige Hinweise
und Informationen zur Situation in diesem Land geben, die zu gegenseitigem
Verständnis beitragen. Ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Bevölke-
rungs- und Publikationsanteil ist erstrebenswert.
Das gesamte Schulsystem sowie die außerschulischen Bildungseinrichtungen
bauen ihre Lernprogramme auf der Basis der Schrift auf. In jedem Unterricht,
45
2.4 Text
„Ein Text will, daß jemand ihm hilft zu funktionieren.“131
Beim Schreiben werden Texte produziert. In der Regel wird „Text“ als eine li-
neare und sinnvolle Verknüpfung von Sätzen definiert. Während ältere Defini-
tionen aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts die Relevanz der Verket-
tung einzelner Sätze hervorheben132, wanden sich die Autoren in den 70er
Jahren der kommunikativen Bedeutung des Textes zu.133 Der Text galt nicht
mehr nur als eine lineare, kohärente Satzreihe, sondern wurde zum sprachlich
manifesten Teil einer Äußerung im Rahmen eines Kommunikationsaktes. Die-
ser sprachlich manifeste Teil bildet jedoch immer eine Einbahnstraße im
Kommunikationsakt, da dem Weg vom Autor zum Rezipienten zunächst mehr
Relevanz beigemessen wird als dem umgekehrten Weg vom Rezipienten zum
Autor. Der Weg vom Autor zum Rezipienten wird häufig von paraliterarischen
Faktoren (Werbung, Kritik usw.) beeinflusst.
Das Verständnis des Textbegriffes hat sich, mit dem Abflauen der Kommuni-
kationseuphorie abermals gewandelt. In den 80er Jahren, im Zuge der
„pragmatischen Wende“, die einen Wandel der Linguistik von der Systemlin-
guistik hin zu einem Ansatz bezeichnet, dem Sprache als soziales Handeln zu
Grund liegt, öffneten sich die Wissenschaften. Eine engere Zusammenarbeit
zwischen Linguistik, Sprachdidaktik und Sozialforschung hatte eine Erweite-
rung des herkömmlichen Textbegriffes zur Folge. Man erkannte, dass ein Text
auch anderen Kriterien unterliegen und andere Funktionen erfüllen kann, als
im kommunikativen Ansatz berücksichtigt wurde.
Grundsätzlich gilt, dass sich sprachliche Kommunikation immer in Texten voll-
zieht, niemals in isolierten Sätzen oder Wörtern. Ein Text kann sowohl schrift-
lich als auch mündlich abgefasst sein.134 Texte werden immer absichtlich und
unter Berücksichtigung eines möglichen Rezipienten geschrieben. Gegebenen-
falls können Schreibender und Lesender ein und dieselbe Person sein, wenn
es sich beim Text beispielsweise um Tagebuchaufzeichnungen oder Notizen
handelt.
Jeder Text, nicht nur der autobiografische, ist eine persönliche, individuelle
Auseinandersetzung mit der Person oder dem Leben des Verfassers. Es drängt
sich der Verdacht auf, bei einigen zeitgenössischen Texten könne nur noch ein
Kriterium gelten, nämlich das der Komplexität. Aber auch dieses scheint in
Frage gestellt, wenn Gesprächsfetzen, Interjektionen, stichpunktartige Noti-
zen in Satzfragmente verpackt als Text bezeichnet werden. Fraglich scheint,
inwieweit bereits solche Textfragmente als abgeschlossener Text bezeichnet
werden können. Die Antwort gestaltet sich schwierig, wenn man Textkohä-
renz, inhaltliche Verknüpfung der Konstituenten eines Textes zu einer sprach-
lichen Einheit auf textsyntaktischer, textsemantischer und testpragmatischer
Ebene als Kriterien zulässt. Demnach müsste ein Text eine sinnvoll zusam-
menhängende Folge von Sätzen sein, die miteinander verkettet sind. Es
müssten dazu zwischen den Sätzen Referenzbeziehungen bestehen, die Sätze
oder Äußerungen verbinden.135
Eine eindeutige Definition des Begriffes „Text“ scheint weder möglich noch nö-
tig. Es kann genügen, Kriterien zu Grund zu legen, die als Rahmen dienen,
wenn man eine schriftliche Einheit als vom Schreibenden als solche erdacht
und erschaffen akzeptiert. Damit hängt der Textbegriff auch von der Einschät-
zung und der Intention des Schreibenden ab. Die Helbigschen Kriterien bilden
einen Orientierungsrahmen, dessen Inhalt der Schreibende gestaltet. Der
Begriff „Text“ ist nach Helbig136 ein Komplex von Sätzen, eine kohärente Folge
von Sätzen, eine thematische Einheit, eine relativ abgeschlossene Einheit, ei-
ne Einheit mit erkennbarer kommunikativer Funktion. Der Schreibende kom-
muniziert mit dem Leser und lässt ihn durch das Medium Text an den, im Au-
genblick der Textproduktion individuellen Gegebenheiten, teilnehmen. Hierbei
bestimmt die Schreibintention die sprachlichen und stilistischen Mittel ebenso
wie die „Produktionsformen“137 Der Schreibende hat somit die Möglichkeit,
seine inhaltlichen Aussagen angemessen aufzubereiten und damit auch kon-
kret zu adressieren. Die Auswahl der Textsorte wird durch die Intention des
Schreibenden bestimmt, ebenso wie die Gestaltung des Textes.
„Textsorten sind konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche
Handlungen und lassen sich jeweils als typische Verbindungen von kontextuel-
len (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammati-
schen und thematischen) Merkmalen beschreiben. Sie haben sich ... historisch
entwickelt und gehören zum Alltagswissen.... Sie besitzen zwar eine normie-
rende Wirkung, erleichtern aber zugleich den kommunikativen Umgang, in-
dem sie den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für
die Produktion und Rezeption von Texten geben.“138
Worte, Vorstellungen und Gedanken dehnt das Bewusstsein des Kindes weit
über die unmittelbar Erfahrung hinaus aus. Der Weg zur Schrift löst das Erle-
ben aus der Verbindung mit der Realität144. Die Schriftsprache ist eine Spra-
che ohne Intonation, ohne das musische und expressive Moment der mündli-
chen Sprache. Sie ist eine Sprache „im Denken“.145 Das bedeutet, dass das
Kind nicht nur lernen muss, die Wörter zu nutzen, sondern eine Vorstellung
dieser Wörter erwerben muss. Man spricht hier vom Problem der „doppelten
Abstraktion“146: Das Kind muss Vorstellungen von den Namen der Dinge zu
Papier bringen und es fehlt der Gesprächspartner. Daraus entsteht eine völlig
andere Situation als im mündlichen Sprachgebrauch, aus der sich die Frage
ergibt: Was erzähle ich dem Papier? Zu Beginn des Schriftspracherwerbs ist
das Kind nicht motiviert, etwas aufzuschreiben, u. a. deshalb, weil es keine
Vorstellung hat, warum und für wen. Der gemeinsame Bezugsrahmen, in dem
mündlichen Kommunikation stattfindet, muss in der geschriebenen Sprache
erst aufgebaut werden. Ebenso wird die zeitliche und räumliche Koexistenz
der Gesprächspartner, die das Kind bislang in mündlicher Kommunikation er-
lebt hat, in der Schreibsituation aufgehoben. Während Gespräche sich durch
ein dynamisches System mit Fragen, Antworten, Reaktionen ergeben, auf
welche das Kind direkt reagiert, erfordert das Schreiben eine Vorstellung die-
ser Dynamik. Die Schriftsprache gleicht in vielen Punkten der „inneren Spra-
che“147 des Kindes, wiewohl sie elaborierter ist, da wir wissen, worüber wir
nachdenken, ein Leser jedoch exakt und konkret über das, was ausgesagt
werden soll, informiert werden muss, da ihm die zu Grunde liegenden Gedan-
ken und Zusammenhänge nicht bekannt sind. Alle Aussagen müssen sprach-
lich aufbereitet und hinsichtlich ihrer Verständlichkeit und ihrer Wirkung auf
den Leser hin überprüft werden.
„Der wesentliche Unterschied zwischen der Entwicklung der Sprache und der
Entwicklung der Schrift besteht nur darin, daß letztere fast von Anfang an nur
von Bewußtsein und Absicht gelenkt werden, und daher kann hier leicht ein
völlig willkürliches System von Zeichen aufkommen, wie z. B. in der Keil-
schrift, während der Prozeß, der die Sprache und ihre Elemente verändert,
fast immer unbewußt bleibt.“ 148
Die Schriftsprache ist die schwierigste und komplizierteste Form der absichtli-
chen und bewussten Sprachtätigkeit149. Die Schriftsprache muss von Grund
auf in der Schule erworben werden und zwar von allen Kindern,150 während
das Sprechen weitgehend in der primären Sozialisation erworben und trainiert
wird. Der Erwerb der Schriftsprache beginnt gewöhnlich zu einem Zeitpunkt,
an dem die grundlegenden psychologischen Funktionen noch nicht vollständig
entwickelt und teilweise noch nicht angelegt sind. Die Diskrepanz zwischen
Schrift und Wort wird durch die Diskrepanz zwischen dem Entwicklungsniveau
des Kindes und der abstrakten, willkürlichen und nicht bewusst gewordenen
Tätigkeit bestimmt. Das Kind benutzt bestimmte Strukturen, beherrscht diese
aber unwillkürlich und automatisch. Es ist dadurch in der Anwendung seiner
Fähigkeiten sehr begrenzt. Im (schulischen) Unterricht müssen demnach die
Bewusstmachung und das Beherrschen der Primärsprache vermittelt und da-
mit die Grundlage zum Schriftspracherwerb geschaffen werden. Daraus folgt
eine Weiterentwicklung des individuellen Sprachniveaus.
Der Schriftspracherwerb hat für die Entwicklung des Kindes weit reichende
Konsequenzen: Mit dem Schriftspracherwerb vermehren sich die Möglichkei-
ten zu einer Begegnung mit Sprache. Ein umfangreicheres und differenzierte-
res Angebot an sprachlichen Mitteln steht der Entschließung offen. Jedoch
verändert nicht nur die Erweiterung der verfügbaren sprachlichen Mittel das
Verhältnis des Kindes zu seiner Sprache, denn
„Das Erlernen der Schrift und die damit verbundene Distanzierung von Spra-
che bieten dem Heranwachsenden die Möglichkeit, ein neues, bewußtes Ver-
hältnis zur Sprache zu gewinnen und – darauf aufbauend – ein sprachliches
Verhalten anzustreben, das durch die Merkmale der Bewußtheit, der Kritik
und der Selbstverantwortung charakterisiert werden kann.“ 151
150 Die Formulierung „alle Kinder“ mag ebenso wie die im vorhergehenden Text auftretende Formulierung „das Kind/ein
Kind“ irritierend erscheinen, da sie Kinder, die auf Grund psychischer oder physischer Beeinträchtigungen nicht in der
Lage sind, mündliche und/oder schriftliche Sprache zu erwerben, ausschließt. Dies geschieht jedoch nicht aus
diskriminierenden Absichten, sondern da die Berücksichtigung oben genannter Fälle den Rahmen der Arbeit sowie das
erforderliche medizinische wie therapeutische Wissen der Verfasserin bei Weitem übersteigt. Eine Auseinandersetzung
des Spracherwerbs jener Kinder sollte Spezialisten überlassen bleiben, da mangelnde Fachkenntnisse nicht nur zu
Ungenauigkeiten, sondern auch zu fatalen Fehleinschätzungen führen können.
151 Weisgerber (1983) a.a.O. S.274
152 vgl. Molitor-Lübbert (1989), Feilke (1996); Schröder/Kochan (1995); Antos (1996) u. a.
52
153 vgl. Hayes/Flower (1980); Scheerer-Neumann (1996); Valtin (1993); Eisenberg/Spitta/Voigt (1994) u. a.
154 vgl. Börner (1989)
155 siehe Kapitel I. 2.5
156 siehe Kapitel II. 4
157 vgl. Pommerin (1988), Lamprecht (1993)
158 vgl. Krumm (2000); ADIEU (2001), Wolf (2001) u. a.
159 siehe Kapitel II. 5
160 vgl. Hufeisen (1998)
161 vgl. Molitor (1985)
53
und -spezifisch sind und sich Differenzen zwischen den Textmustern ergeben.
Die Lerner müssen demnach erkennen, welche Textmuster sich aus der Pri-
märsprache übertragen lassen und welche nicht. Die Entwicklung eines
„Sprachproduktionsbewusstseins“162 wird zur Voraussetzung für erfolgreiche
Textproduktion in einer fremden Sprache. Formalsprachliche Korrektheit kann
also nicht alleiniges Kriterium der erfolgreichen Textproduktion sein; erst die
Angemessenheit von Textfunktion, Textinhalt, Textstruktur und Textstil be-
wirken einen adäquaten Text.
Das Interesse der Forschung an der Textproduktion hat in den letzten Jahren
erheblich zugenommen. Faistauer weist auf die Entwicklung neuer For-
schungsmethoden hin:
„Die introspektiven Verfahren machen es möglich, die Prozeßdimension vor al-
lem bei schriftlichen Sprachverwendungstypen (Schreiben, Lesen, Übersetzen)
zu untersuchen. Im Mittelpunkt dieser Untersuchungen steht die Frage, wie
solche Prozesse mental organisiert sind, also die Frage danach, was sich wäh-
rend des Schreibens, Lesens und Übersetzens im Kopf des (fremdsprachigen)
Schreibenden abspielt.“163
Die Untersuchungen zum fremdsprachlichen Schreiben, in denen introspektive
Verfahren angewendet wurden, beziehen sich jedoch nach Faistauer auf den
Schreibprozess fortgeschrittener Fremdsprachenlerner
„Prozeßmodelle, die auf Grund von Untersuchungen mit Menschen in multikul-
turellen Gruppen aufgestellt wurden (d.h. im DaF- bzw. DaZ-Unterricht), sind
mir nicht bekannt.“164
und sind stark an primärsprachlichen Modellen orientiert.
Krumm165 unterscheidet zwei Tendenzen, die sich für das Schreiben auf fort-
geschritteneren Lernstufen abzeichnen: einerseits die Entwicklung des „funk-
tionalen Schreibens“ von der Reduzierung auf die Textsorte Brief hin zu einem
„erweiterten Spektrum funktionaler Schreibaufgaben“166. Dieses Spektrum
umfasst Aufgaben zu den Bereichen argumentierendes oder begründendes
Schreiben, präsentierendes Schreiben sowie erzählendes Schreiben. In glei-
chem Maße stellen spezifische Formen wie Protokollieren, Mitschreiben,
Notieren in der fremden Sprache für Studierende ein notwendiges Instrument
dar, das eng mit der Rezeption und Verarbeitung gehörter Sprache verbunden
ist.
3 Interkultureller Sprachunterricht
3.1 Interkulturelle Pädagogik
Die Interkulturelle Pädagogik stellt seit vielen Jahren einen festen, integrati-
ven Bestandteil der allgemeinen Pädagogik dar. Diese
„pädagogische Reaktion auf die durch Migrationsbewegungen in den letzten
Jahrzehnten pluralistisch veränderte Gesellschaft (...) wendet sich an alle
Mitglieder der Gesellschaft (...) aber zugleich sieht sie in der Förderung von
Migrantenkindern entsprechend deren Bedürfnissen eine wesentliche Aufga-
be.“173
Die Definition einer angemessenen Reaktion auf die Veränderungen in der Ge-
sellschaft, die seit den 50er Jahren stattfanden, entwickelte sich – ebenso wie
die daraus resultierenden Konsequenzen für den interkulturellen Unterricht –
analog zu Forschung und Politik. Zu Beginn der Migrationsbewegungen nach
dem II. Weltkrieg wurde die Integration der Arbeitsmigranten aus den klassi-
schen Einwanderungsländern nicht als gesellschaftliche Aufgabe gesehen. Die
„Naturmethode – lebe 20 Jahre im Land“ bewährte sich ebenso wenig wie die
defizitorientierte Ausländerpädagogik, die als ein erster Versuch der Reaktion
auf die Zuwanderung bezeichnet werden kann.
„Mit den Mitteln einer kompensatorischen „Ausländerpädagogik“ orientierte
man sich am Status quo des Bildungssystems und versuchte, „Defizite“ der
MigrantInnen und ihrer Kinder auszugleichen (...) Diese Integrationsstrategie,
die sich übrigens in dieser Phase der Ausländerpolitik auch in den meisten an-
deren westeuropäischen Ländern finden läßt, geriet in vielen Fällen zur schlei-
chenden Anpassung der Minderheiten, zur assimilatorischen Integration, in-
dem etwa ausländische Kinder und Jugendliche in der Schule sprachlich und
kulturell in die deutsche Mehrheitsgesellschaft eingebunden werden sollten.“175
Somit wurden neue Schwerpunktsetzungen in der Pädagogik erforderlich, von
denen
„(...) eine konstruktive Auseinandersetzung mit aktuellen Phänomenen, einen
innovativen Schub in Schule und Gesellschaft, der Vorurteile gegenüber den
>>Fremden<< abbauen, die Konfliktfähigkeit im Dialog zwischen den ver-
schiedenen Ethnien erhöhen sowie die gegenseitige Toleranz fördern soll.“176
erhofft wurden. Um dies zu erreichen, musste ein Weg gefunden werden, ei-
nen Lernprozess in Gang zu bringen, der auch die Reflexion über die eigene
Kultur, Lebensform, Geschichte und Gesellschaft beinhaltete. Interkulturelles
Lernen ist dialogisch, es erfordert demnach nicht nur Offenheit gegenüber
dem >>Fremden<<, sondern setzt das Erkennen der eigenen möglicherweise
ethnozentristischen Perspektive und die Fähigkeit, diese durch das >>Frem-
de<< in Frage stellen zu lassen, voraus. Larcher fasst die grundlegenden As-
pekte des Begriffs „Interkulturelles Lernen“ folgendermaßen zusammen:
„Interkulturelles Lernen, so läßt sich nun der gesamte Begriff vorläufig defi-
nieren, bedeutet die Bereitschaft, die Begegnung mit anderen Kulturen
fruchtbar zu machen:
• um mehr Bewußtsein über die eigene Kultur zu gewinnen,
• um die eigene Kultur, den eigenen Ethnozentrismus, zu relativieren,
•
um – im Zusammenhang mit Angehörigen der anderen Kultur – neue,
zukunftsweisende Entwicklungen einer kulturellen Vielfalt zu erproben,
z. B. auch Mehrsprachigkeit.“177
Das Interkulturelle Lernen war stark an der kulturellen, ethnischen Herkunft
der Menschen orientiert. Insbesondere in der Sprachdidaktik wurde versucht,
eine Brücke zwischen den Angehörigen verschiedener Kulturen zu schlagen.
Dies setzte die Existenz in sich geschlossener, klar unterscheidbarer Kulturge-
bilde voraus. Wenngleich das Interkulturelle Lernen die assimilatorische Stra-
tegie der defizitorientierten Ausländerpädagogik entschärfte, so stieß die kul-
turalistische Denkweise, die dem Interkulturellen Lernen zu Grunde lag, auf
Kritik. Radtke kritisierte, die Implementierung in den Schulen habe
„einer Kulturalisierung und Ethnisierung des professionellen erzieherischen
Denkens Vorschub geleistet, das nun die Aufmerksamkeit von strukturellen
Problemen der Organisation abzieht und auf externe, kulturelle Determinanten
lenkt.“178,
während Borrelli universalistisch argumentierte und die Vermittlung einer
„statischen und damit ahistorischen Kultur“179 ablehnte. Auch andere Kriti-
ker180 lehnten die kulturalistische und differenzierende Sichtweise ab und be-
tonten, dass die Auseinandersetzung mit der Andersartigkeit der Kulturen
Hindernisse auf dem Weg zu einem gleichberechtigten Zusammenleben in ei-
ner multikulturellen Gesellschaft darstellten. Damit begann die Interkulturelle
Pädagogik zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts Fragen der
strukturellen Ungleichheit in ihre Überlegungen einzubeziehen.
Erst in den letzten Jahren ist in der Pädagogik ein neues Paradigma bei der
Diskussion über kulturelle Vielfalt entstanden: die Diversitätshypothese, nach
der
„Multikulturalismus die Zugehörigkeit zu verschiedensten sozialen Identitäten
wie Ethnie, Geschlecht, Schicht, Religion, Generation usw. umfaßt und nach
der in einer „Pädagogik der Vielfalt“ kulturelle Differenzen weder negiert noch
zurückgestellt, sondern mit weiteren Varietäten auf eine Ebene gestellt wer-
den.“181
Die Auseinandersetzung um das Interkulturelle Lernen war und ist ein dyna-
mischer Prozess.182 Der Kulturbegriff, der hinter interkulturellen Konzepten
steht, muss daher immer wieder neu reflektiert und definiert werden.183 Den-
noch ist ein Konsens erkennbar, der die Notwendigkeit Interkulturellen Ler-
nens, der
„Aneignung von Dispositionen, die für das Leben in einer multikulturellen Ge-
sellschaft, sowohl für Angehörige der Mehrheitskultur als auch für Angehörige
ethnischer Minderheiten notwendig sind.“184
sowie der Einsicht, dass ein Nebeneinander in einer holografischen Gesell-
schaft keine Zukunft haben kann, in den Vordergrund stellt.
ten lassen die Grenzen zwischen Fremd-, Zweit- und sogar Erstspracherwerb
fließen. Das Forschungsfeld der vorliegenden Arbeit „interkultureller Deutsch-
unterricht“ schränkt die Auseinandersetzung auf den Erwerb der Zielsprache
Deutsch in einer Unterrichtssituation im Zielland ein. Dieser Rahmen umfasst
durchaus unterschiedliche Erwerbskontexte, wenngleich das Hauptaugenmerk
auf den Zweitspracherwerb gerichtet ist. Gerade hat die Diskussion um ein
Zuwanderungsgesetz, das auf der Grundlage des Berichts der unabhängigen
Kommission „Zuwanderung“188 entwickelt wurde, den Diskurs des Zusam-
menhangs zwischen Spracherwerb und Integration erneut belebt.189 Aber
auch die europäische Zukunft und die Globalisierung stellen Ansprüche an die
Sprachdidaktik. Eine mehrsprachige Gesellschaft erfordert sowohl die Beherr-
schung der Primärsprachen, der Lingua franca als auch Kenntnisse in Nach-
barsprachen, Weltsprachen sowie Exklusivsprachen.190
188 vgl. Bericht der unabhängigen Kommission “Zuwanderung”: Zuwanderung gestalten – Integration fördern” (2001)
189 vgl. Maas/Mehlem (2002)
190 vgl. Schmitt (1998)
59
Die Benutzung der Erstsprache hindert die Menschen daran, Deutsch zu ler-
nen.“191
und kritisiert:
Diese gesellschaftliche Auffassung ist nicht nur falsch, sondern auch rassis-
tisch.“192
Auch die überdurchschnittliche hohe Zahl der Jugendlichen mit Migrationshin-
tergrund, die ihre Schulzeit ohne Abschluss beenden193, und die daraus resul-
tierende hohe Jugendarbeitslosigkeit werden mit sprachlichen Defiziten er-
klärt.
„Das fremdsprachige Kind ist, generalisiert gesehen, lediglich ein potentieller
Hauptschüler. Zweisprachigkeit wird allgemein nicht als intelligenzfördernder
Faktor gesehen und genutzt (...), sondern als zu negierender Störfaktor über-
sehen.“194
Dies führt zu einer paradoxen Situation: Auf der einen Seite werden die
sprachlichen Kompetenzen der Bi- oder Multilingualen nicht anerkannt, wenn
ihre Sprachkompetenz im Deutschen nicht ein sehr hohes Niveau erreicht, auf
der anderen Seite wird Mehrsprachigkeit als wichtige Kompetenz in der „Einen
Welt“195 vorausgesetzt. Mass und Mehlem unterscheiden „virtuelle Mehrspra-
chigkeit“ von „funktionaler Mehrsprachigkeit“:
„Bei der Analyse von Mehrsprachigkeit sind die gesellschaftlichen und die indi-
viduellen Bezüge zu trennen. In Bezug auf letztere ist ein weiteres hemmen-
des Element in die Konzeptualisierung eine Vorstellung von Mehrsprachigkeit,
wie sie in der Bildungsschicht – gebunden an ein bestimmtes Ideal der höhe-
ren Schule – fest ist. Dieses Bild spiegelt gewissermaßen die einsprachige
Vorstellung wieder, indem es die in der einen Sprache differenzierten Register
im mehrsprachigen Individuum gewissermaßen verdoppelt (vervielfältigt).
Dem entspricht der Idealtypus des Übersetzers, der in mehreren Sprachen zu
Hause ist, und in diesen dann auch entsprechend virtuos über alle Register
verfügt (...). Dieses Modell der virtuosen Mehrsprachigkeit ist aber strikt zu
unterscheiden von dem einer funktional differenzierten Mehrsprachigkeit, bei
der die verschiedenen Sprachen funktional auf verschiedenen Registerebenen
verankert sind und insofern nicht miteinander konkurrieren. In diesem Sinne
tografin über die “bessere” Art die Zahl 80 auf Französisch auszudrücken
(quatre-vingt oder novente) und animierte damit die gesamte Gruppe die un-
terschiedlichen Zahlensysteme zu thematisieren. Eine Schülerin aus Hongkong
löste unbeabsichtigt mit einem Referat über das chinesische Horoskop ein re-
ges Gespräch über Monatsnamen in den verschiedenen Sprachen aus und der
Vorschlag der Lehrerin, alle sollten sich duzen, führte zu einer Diskussion über
Respekt und Achtung in verschiedenen Kulturen und deren sprachlicher Mani-
festation.
4 Schreibunterricht
Schreiben ist Kulturtechnik und damit fester Bestandteil der abendländischen
Bildung. Schulische wie auch außerschulische Bildungsinstitutionen bieten
Schreibunterricht an, der je nach Zielsetzungen, Organisation und Zielgruppe
unterschiedlich konzipiert ist. Im empirischen Teil dieser Arbeit wurden Unter-
richtsversuche in schulischen und außerschulischen Institutionen durchge-
führt. Die Besonderheiten, die sich aus den jeweiligen Rahmenbedingungen
ergeben, werden im Folgenden dargestellt.
Hildebrand, der bereits eine deutliche Abkehr vom gebundenen Aufsatz des
18. und 19. Jahrhunderts erkennen ließ.
„Die Schüler denken und fühlen, aber bei allem, das sie gelehrt bekommen,
etwas Eigenes in sich, und in diesen stillen Gefühlen und Gedanken, die neben
denen des Lehrers heimlich nebenher laufen, sitzt das Ich des Schülers. Am
besten gelingen denn auch solche Arbeiten (...), in denen man die Schüler
etwas erzählen und frei gestalten läßt, was sie selbst erlebt und erfahren ha-
ben.“ 211
Im Zuge der Reformpädagogik und der Kunsterziehungspädagogik wurde der
Schreibunterricht radikalen Veränderungen unterzogen212. Inhaltlich wandte
man sich der Schilderung persönlicher Erlebnisse und Fantasieerzählungen zu.
Die strengen Vorgaben zu Form und Stil wichen einer künstlerischen Anleitung
und die Unterweisung einer Beratung durch den Lehrer. Die Schüler wurden
als kleine Künstler betrachtet und zu einer dichterischen Sprache ermuntert.
Der Unterricht wurde schülerorientiert gestaltet und gab viel Raum zur freien
Entfaltung. Die Schüler wurden nicht mehr gemäß eines überholten Verständ-
nisses von Kindheit als kleine Erwachsene eingestuft, sondern ihrem Alter
entsprechend behandelt. Ihr Kindsein wurde anerkannt. Die Reform betraf
nicht nur die Textproduktion, sondern auch den Umgang mit den im Unter-
richt geschriebenen Texten. Während ein gebundener Aufsatz vom Lehrer
nach orthografischen, grammatikalischen und stilistischen Kriterien bewertet
worden war, legte man Anfang des letzten Jahrhunderts verstärkt Wert auf
Urteile und Bewertungen von Seiten der (Mit-) Schüler sowie auf Überarbei-
tungsphasen. Der freie Aufsatz wurde zum Unterrichtsgegenstand. Die drei
bislang getrennt bestehenden Elemente, Orthografie, Grammatik und Aufsatz
rückten einander näher.213
Zu Beginn der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts zeichnete sich erneut ein
Wandel ab. Die Tendenz ging weg vom fantasievollen, poetischen und freien
Aufsatz hin zu einer Schulung zweckgerichteter und sachlicher Ausdruckswei-
se. Der sprachschaffende und sprachgestaltende Aufsatz214 hielt Einzug in den
Deutschunterricht. Diese Aufsatzform bildet eine Mischung aus freien und ge-
bundenen Formen. Der Textproduktion gingen die Einübung von Stilformen
und Textsorten voraus, die dann im Aufsatz angewendet werden sollten. Da-
mit konnte ein Lernzuwachs, nämlich die korrekte Anwendung des vorher Er-
lernten im Text, quantitativ gemessen und damit vergleichsweise objektiv be-
Dilemma hat auch heute nichts von seiner Brisanz verloren. Die Beurteilung
eines freien, kreativen, poetischen Texts stellt den Lehrer vor große Probleme,
was oftmals eine Abkehr von diesen Aufsatzformen auslöst.
231 Im Rahmen dieser Arbeit wurden Untersuchungen in Schreibgruppen durchgeführt, die in einer außerschulischen
Weiterbildungsmaßnahme für Jugendliche bzw. in Intensivkursen an einer Volkshochschule im Fachbereich
Bildungsarbeit mit Ausländern stattfanden.
232 vgl. Scheerer-Neumann (1996); Lorenz (1994), Feilke (1996), Antos (1996), Schröder/Kochan (1995)
233 vgl. Entschließung des Deutschen Städtetages (1976)
69
234 vgl. Das Spracheninstitut am Bildungszentrum der Stadt Nürnberg: Entwicklung – Probleme – Perspektiven. (1987)
235 vgl. „Erklärung zu Stellungen und Aufgaben der kommunalen VHS“ vom 8.7.1969
236 vgl. Sauberzweig (1978)
237 Ich verwende hier den Begriff „Zweitsprache“, da die Kursteilnehmer, zumindest zeitweise, überwiegend aber
dauerhaft in der BRD leben und sie in beiden Fällen während der Dauer des Kursbesuchs in einer deutschsprachigen
Umgebung leben. Hier ergibt sich eine andere Sprachlernsituation als beim Erwerb einer Fremdsprache im engeren
Sinn. Die hier verwendeten Begriffe decken sich nicht mit den in den Richtlinien auftretenden, wurden aber zur Klärung
als angemessen befunden.
238 Bildungszentrum a.a.O. S.14
70
starke Selbstkontrolle. Sie setzen sich daher intensiver mit der Zielsprache
Deutsch auseinander und stellen höhere Ansprüche an die sprachliche Qualität
ihrer Produkte.245
Problem. Allerdings meinen nur etwa über die Hälfte der Befragten, nämlich
57,1 %, dass Sprechen wichtiger sei als Schreiben.
Die Teilnehmer legen demnach keinen Wert auf den Erwerb kommunikativer
Strukturen, die ihnen schnell die Möglichkeit eröffnen, in ihrer neuen Umwelt
zurechtzukommen. Dies hängt stark von der Aufenthaltsdauer und den bishe-
rigen Erfahrungen mit Sprachenlernen zusammen: Teilnehmer, die bereits
längere Zeit in Deutschland sind, schätzen den Stellenwert des Schreibens
höher ein und tendieren dazu, den Zeitpunkt des Schriftspracherwerbs dem
des Erwerb des mündlichen Sprachgebrauchs gleichzustellen. Teilnehmer, die
keinerlei Erfahrungen im Fremdsprachenlernen haben und sich erst kurze Zeit
in Deutschland aufhalten, neigen dazu, den Stellenwert des Schreibens im Un-
terricht niedriger einzuschätzen und den Beginn des Schriftspracherwerbs auf
einen späteren Zeitpunkt zu setzen. Ein weiterer Faktor ist der Grund, aus
dem die Teilnehmer Deutsch lernen wollen. Teilnehmer, die sich in Deutsch-
land aufhalten und einen Intensivkurs besuchen, um ihre Ausbildung bzw. ihre
berufliche Situation aufzuwerten, legen mehr Gewicht auf den Schriftsprach-
erwerb, während Teilnehmer, die sich aus politischen oder familiären Gründen
in der Bundesrepublik aufhalten, den Erwerb einer mündlichen Kommunikati-
onsfähigkeit wichtiger einschätzen. Diese Gruppe will schnellstmöglich in all-
täglichen Situationen, wie etwa Einkaufen, Arztbesuch oder Ämtergänge zu-
rechtkommen und stellt das Schreibenlernen hintan. Personen aus dieser
Gruppe, die sich schon längere Zeit in Deutschland aufhalten, streben den Er-
werb der Schriftsprache weitaus intensiver an, da sie die Erfahrung gemacht
haben, dass sie auf Dauer ohne schriftsprachliche Kompetenz nicht auskom-
men können. Besonders schwierig gestaltet sich die Situation von Personen
aus Krisen- oder Kriegsgebieten, deren Schulbesuch im Herkunftsland nur
phasenweise stattgefunden hat und die auf Grund der politischen Situation
weder Schul- noch Berufsausbildung abschließen konnten. Diese Lerner, die
auf eine Rückkehr ins Herkunftsland hoffen, sollte sich die politische Situation
dort entspannen, wollen in den Intensivkursen nur die notwendigsten Rede-
strategien erwerben. Mit dem Andauern ihres Aufenthalts sowie keiner abseh-
baren Besserung der Situation im Herkunftsland werden sie immer unzufrie-
dener mit ihren fragmentarischen Deutschkenntnissen. Dies führt häufig zur
Resignation bzw. sie sehen sich selbst vor dem schier unlösbaren Problem,
Grundkenntnisse im schriftlichen Sprachgebrauch zu erwerben. Erschwerend
kommt hinzu, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits über Kenntnisse mündli-
cher Sprache verfügen, die jedoch stark von der Norm abweichen. Diese Vor-
kenntnisse werden dann eher zum Hindernis, stehen sie vor der Aufgabe, kor-
rekte deutsche Sätze zu bilden und diese schriftlich zu fixieren.
Neben den angesprochenen Alphabetisierungs- und Intensivkursen werden im
außerschulischen Bereich eine Vielzahl anderer Kurse angeboten, in denen die
Förderung des schriftlichen Sprachgebrauchs im Deutschen eine zentrale Rolle
74
248 dazu sind Schüler berechtigt, die weniger als 6 Jahre in Deutschland leben bzw. keine deutsche Regelklasse besucht
haben.
249 siehe Kapitel I. 2.1.2
75
sehen, die in einem Schuljahr den Stoff der siebten, achten und neunten Klas-
se aufbereiten müssen, um eine erfolgreiche Prüfung zu absolvieren.
In der vorliegenden Arbeit konnten demnach nur Texte untersucht werden,
die im zusätzlichen Förderunterricht eines solchen Lehrgangs geschrieben
wurden. Kreatives Schreiben wird in Einrichtungen, die derartige Lehrgänge
durchführen, überwiegend als „nette Unterbrechung des sonst so anstrengen-
den Schulbetriebs“ 250 belächelt und auch begrüßt.
250 Zitat einer Lehrkraft, die nach eigenen Angaben nicht namentlich erwähnt werden möchte.
251 v. Werder (1988) a.a.O. S.19
252 v. Werder (1988) a.a.O. S.23
76
trauma basiert. Hier eröffnen sich Möglichkeiten der Therapie. Zentraler Punkt
der Schreibtherapie sind Kreatives Schreiben und Lesen über die Kindheit.
„Die Poesietherapie versteht die Neurose als Ausdruck der Sprachlosigkeit ü-
ber die Verletzungen der Kindheit.“ 253
Der Ablauf einer poesietherapeutischen Gruppensitzung unterteilt sich in vier
Ebenen: der pädagogische Schreibprozess, der Prozess künstlerischer Kreati-
vität, das literaturpsychologische Erleben von Texten in Rezeption und Pro-
duktion und dem (selbst-) therapeutischen Prozess.
Die Poesietherapie arbeitet mit zwei verschiedenen Methodenpaketen. So ge-
nannte kleine Medien für Anfänger sind: Selbstportrait, Tageslaufgeschichten,
Tagebuch, lyrisches ICH-, DU-, WIR-Gedicht, (Tag-) Träume, Briefe, Be-
schlüsse. Große Medien für Fortgeschrittene stellen Kindheitsautobiografie,
unbewusster Lebenslauf, politische Biografie, Zukunftsbilder, transpersonale
Dichtungen wie Märchen oder Sagen, spirituelle Texte dar. Die Textinhalte
werden in einem weiterführenden Schritt gedeutet. Es wird immer der mani-
feste Text gedeutet, wozu die Poesietherapie drei Textdeutungsmethoden be-
reithält:
Biografisch-genetische Methode: „Was steht im Text zur Kindheit?“
Der Schwerpunkt dieser Methode ist eine Einordnung des Textes in den Zu-
sammenhang der Biografie des Schreibers. Die Erlebnisse der Kindheit werden
an Hand im Text auftretender Spuren rekonstruiert. Die Ergebnisse werden
durch freie Assoziation erweitert und somit die Lebensgeschichte des Schrei-
bers rekonstruiert.
Methode der Symboldeutung: „Welche Symbole deuten auf unbewusste Inhal-
te?“
Es werden im Text auftretende Symbole zugeordnet und gedeutet. Symbole
der präverbalen Entwicklungsphase werden von universalen Symbolen unter-
schieden. Letztere werden in dem Stadium entwickelt, in dem das Kind lernt,
zwischen Symbolen und der Realität, die sie abbilden, zu unterscheiden und
allgemein gültige Symbole zu übernehmen. Der Schreiber wird angeregt, die
individuellen Inhalte und Bedeutungen der in seinem Text auftretenden Sym-
bole zu erkennen und bestimmten Lebenskonflikten zuzuordnen.
Deutung der Textrezeption durch Leser oder Hörer: „Was löst der Text in uns
aus und mit welchen Unterschieden?“
Bei dieser Methode steht eine Interpretation des Textes durch Rezipienten im
Vordergrund. Diese Deutungen oder Interpretationen z. B. durch Mitglieder
5 Kreatives Schreiben
„Oh Mann, ich bin doch kein Dichter.“
Das Kreative Schreiben ist ein vielseitiges Verfahren, das im Alltag, in der
Schule, in der Berufswelt, an den Hochschulen und in außerschulischen Bil-
dungsinstitutionen eingesetzt wird.
Von der ersten Unterrichtseinheit im Fremdsprachenunterricht bis hin zur
Ausbildung zum Drehbuchautor wird kreativ geschrieben.254 In der Schulpra-
xis wie auch in außerschulischen Maßnahmen255 wird kreativer Schreibunter-
richt jedoch meist noch als Sonderveranstaltung behandelt. Die Einführung
kreativer Schreibtechniken, die kreative Textproduktion oder gar ein kreativer
Schreibkurs256 nehmen meist eine marginale Position ein. Vielerorts werden
diese Verfahren im Rahmen von Projekttagen oder anlässlich eines Schulland-
heimaufenthaltes eingesetzt. Ihr Einsatz in regulären Unterrichtsstunden gilt
in weiten Kreisen als Entspannungsübung, Spielerei oder Lückenfüller. Das
mag im Anspruch der jeweiligen Lehrkräfte begründet sein, einen seriösen
und fundierten Deutschunterricht anzubieten, in dem kein Raum für Methoden
und Verfahren reserviert ist, die von der bekannten Norm abweichen. Die Un-
sicherheit, die möglicherweise bei der Erprobung eines für die Lehrkraft unbe-
kannten Verfahrens auftritt, ist oft der Grund für eine ablehnende und abwer-
tende Haltung der Pädagogen gegenüber innovativen Konzepten.
„<< Das mag in der Grundschule möglich sein, aber wenn du in die Haupt-
schule kommst – da läuft so etwas nicht >> - so oder so ähnliche Kommenta-
re kamen immer wieder von Lehrern, wenn ich (...) Projekte mit Geschichten,
Gedichten und Bildern von Grundschülern ausstellte, die durch ihre Originali-
tät beeindrucken, aber auch Abwehr wachriefen, wenn die Überlegung des
Selbstausprobierens auftauchte. Besonders Hauptschullehrer waren öfter der
Meinung, daß Formen kreativer Sprachförderung und produktiven Schreibens
in ihren Klassen keine Chance zur Durchführung hätten.“ 257
So sieht auch Stiefenhofer258 „freies Schreiben“ nur in bestimmten Situationen
als geeignet an: Besinnung am Morgen, Meditation, schriftliches Brainstor-
ming, Freiarbeit, Wochenplanunterricht, Problemsituationen, Schullandheim-
aufenthalt, Geburtstagsfeier, im Anschluss an Wander- oder Besinnungstage
sowie in explizit ausgewiesenem Projektunterricht. Dagegen wehren sich viele
Autoren259, die den Einsatz kreativer Verfahren in allen Fächern und Unter-
richtssituationen für durchführbar und geeignet befinden.260 Die Förderung
von Kreativität und fachlichem Wissen sowie die Einführung dazu geeigneter
Verfahren darf und kann auf Dauer nicht an den Rand des Unterrichts ge-
drängt werden, will man den Anforderungen der Gesellschaft an die Schüler
(z. B. berufsbezogene Fähigkeiten)261 Rechnung tragen. Den Vorwurf de Bo-
nos,
„Unser Erziehungssystem sorgt sich nicht um die Förderung der Kreativität.
Die Erziehung, so meint man, müsse vorhandenes Wissen weitergeben und
gegen Veränderungen im Lernprozess absichern. Die Erziehung erzieht also
zur Sachkompetenz, nicht zur Kreativität. Sie übermittelt feste Vorstellungen
ohne zu lehren, wie wir Vorstellungen und Idee verändern.“ 262
muss sich das Erziehungssystem auch im 21. Jahrhundert noch gefallen las-
sen. Kreativitätsförderung darf nicht in der Kunsterziehung enden, sie ist ein
grundlegender Anspruch an jeden Unterricht, der einer Vorbereitung auf spä-
teres Leben und berufliche Laufbahn konzipiert ist. Die Anforderungen, die an
Berufseinsteiger, an Studierende und an Arbeitnehmer gestellt werden, haben
sich in den letzten Jahren verändert. Kreative Fähigkeiten, kreative Arbeits-
strategien und kreative Arbeitsformen sind grundsätzliche Anforderungen im
Beruf. Kreative Lösungen sind der Motor für Wirtschaft, Wissenschaft und Kul-
273 v. Schlegel
274 Die Bezeichnung „kreativer Schreibkurs“ kann weitgehend als synonym zu „kreatives Schreibprojekt“ verstanden
werden, dennoch wird in der vorliegenden Arbeit nicht von „Schreibprojekten“ die Rede sein. Die hier vorgestellten und
diskutierten Einheiten entsprechen nicht allen Kriterien eines Projektes (nach Frey), auch wenn sie projekthaft
organisiert sind.
275 siehe Kapitel II. 4-6
276 Enzensberger (1996) a.a.O. S.266
84
ne Texte sind in einem offenen Stil geschrieben. Dieser Typ eignet sich gut für
die Position eines „Co-Trainers“ in der Gruppe und sollte bei möglicherweise
auftretenden Rückschlägen ermuntert werden.
Neben den verschiedenen Sozialcharakteren treten in Schreibgruppen nach
von Werder auch unterschiedliche Schreibtypen auf. Diese Typisierung bezieht
sich auf das Schreibverhalten, das sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann.
Werder unterscheidet drei Schreibtypen, die sich durch unterschiedliche
Schreibakte während des Schreibprozesses unterscheiden.284
Der Schnellschreiber sammelt zuerst Gedanken, macht sich dann entspre-
chende Notizen und wählt das Wichtigste aus. Er erstellt sehr schnell eine
Rohfassung, die er dann von Gruppenmitgliedern überprüfen lässt. Daraufhin
beginnt eine Phase der vergleichsweise langsamen Umformulierung des Tex-
tes.
Der langsame Schreiber dagegen verfährt anders; er assoziiert frei und
setzt dann Schwerpunkte, etwa mit Hilfe eines Clusters und dem daraus ent-
stehenden Versuchsnetz. Er sucht Gespräche mit anderen Gruppenmitgliedern
über seinen Forschungsprozess und beginnt erst im Anschluss daran mit einer
langsamen und bedächtigen Niederschrift.
Der Praxis-Schreiber beginnt die Textproduktion, indem er seine Erinnerun-
gen notiert. Er betreibt Feldforschung und erstellt Berichte über deren Ergeb-
nisse. Diese versieht er mit einer Einleitung und einem Schlusswort. Die ge-
wonnenen Resultate der Feldforschung werden in einer weiteren Arbeitsphase
geordnet und in der Endfassung dargelegt. Der Praxis-Schreiber arbeitet vor-
wiegend alleine.
Es ist sicherlich notwendig, dass sich die Lehrkraft immer wieder ins Bewusst-
sein ruft, dass keine Schreibgruppe homogen zusammensetzt ist. Dennoch
wird es keinem Schreiber gerecht, ihn unkritisch einer der oben genannten
Typen zuzuordnen. So sind Mischtypen nicht nur möglich, sondern der Regel-
fall. Die Lehrkraft muss sich sowohl mit der Zusammensetzung der ihr anver-
trauten Gruppe, als auch mit den einzelnen Teilnehmern auseinandersetzen,
diese Mühe kann obiger Leitfaden keinesfalls ersetzen.
Die Schreibunlust vieler Lerner stellt viele Lehrkräfte vor große Probleme. Auf
der einen Seite sehen die Richtlinien eine Förderung des schriftlichen Sprach-
gebrauchs vor, auf der anderen Seite sitzen Lerner, denen gerade das Schrei-
ben eine Qual ist. Die Lehrkraft sieht sich zwischen den Stühlen dieser so un-
terschiedlich gearteten Ansprüche, die an sie gestellt werden, und lässt sich
auf einen Drahtseilakt ein, der zu keiner befriedigenden Lösung führen kann.
nicht, sondern erhält sie bzw. weckt bei Lernern, deren natürliche Schreiblust
nicht mehr vorhanden ist, wieder Lust, von Gedanken, Erlebnissen und Emoti-
onen zu erzählen bzw. sie zu Papier zu bringen. Dies schließt die Reflexion
sprachlicher Zusammenhänge keineswegs aus, sondern initiiert sie geradezu.
Die Reflexion orientiert sich jedoch an den Bedürfnissen der Schüler und fin-
det nicht um ihrer selbst Willen statt.
Es sind nicht nur die Schreibverfahren und –techniken, die das Kreative
Schreiben vom traditionellen Aufsatz abgrenzen; der Umgang mit den kreativ
geschriebenen Texten ist, wie im Folgenden beschrieben, nicht mit dem Um-
gang mit traditionell geschriebenen Texten vergleichbar.
Dennoch muss der kreative Schreibkurs kein Projekt im eigentlichen Sinn dar-
stellen.290 Die Kriterien des Projektes müssen nicht alle erfüllt werden, um ei-
nen erfolgreichen Schreibkurs zu realisieren. Gemeinsam jedoch haben Pro-
jekt und kreativer Schreibkurs folgende Kriterien: die Verringerung der Dis-
tanz zwischen Unterricht und Leben, in den Ablauf integrierte systematische
Lehrgänge, Arbeit in Gruppen, Berichte und Arbeitsergebnisse, Diskussion der
Ergebnisse, gemeinsames Planen von Maßnahmen, Manöverkritik, selbständi-
ges Planen und Ausführen der Arbeit, unterrichtseinheiten- und fächerüber-
greifendes Arbeiten und Vorstellen eines fertigen Produktes.
Im kreativen Schreibkurs sind kreative Phasen eng mit systematischen Un-
terweisungen und Lehrgängen verknüpft. Der Einschub systematischer Unter-
weisungen in den Produktionsprozess ist an den Bedürfnissen der Schreiber
orientiert. Die Unterweisungen greifen Probleme der Schreiber auf, die wäh-
rend des Schreibprozesses auftreten. Sie werden dann eingeschoben, wenn
die Schreiber sprachlich in eine Sackgasse geraten, wenn sie ihre Aussagen
nicht adäquat formulieren können. Die Trennung von Grammatik-, Recht-
schreib- und Aufsatzunterricht wird aufgehoben und die Inhalte werden nach
ihrer Funktion und Relevanz für die entstehenden Texte ausgewählt. Die Ler-
ner lernen also nicht nach Richtlinien „von außen“, sondern die Progression
richtet sich nach Bedürfnissen „von innen“. Planungsgrundlage ist eine Analy-
se der Rohfassungen und der verschiedenen überarbeiteten Fassungen, die im
Lauf des kreativen Schreibkurses entstehen. Inwieweit die Analyse, die von
der Lehrkraft durchgeführt wird, über eine Analyse in den Bereichen Gramma-
tik und Orthografie hinausgeht und auch Kommunikationsstrategien sowie sti-
listische Aspekte einbezieht, ist situationsabhängig. Die Ergebnisse einer sol-
chen Analyse stellen die Grundlage zur Planung der systematischen Unterwei-
sungen dar. Hier unterscheidet sich die Arbeitsweise der Lehrkraft stark von
der traditionellen Unterrichtsweise. Lerninhalte werden nicht mehr in einen
Monats- oder Jahresplan ein- und diesem damit untergeordnet, sondern sie
werden nach Bedarf der Lerner vermittelt. Dies erfordert eine spontane und
flexible Arbeitsweise, die erst mit der fundierten fachlichen Kompetenz der
Lehrkraft möglich wird. Probleme werden dann gelöst, wenn sie auftreten und
nicht, wenn es der Wochenplan vorsieht. Systematische Unterweisungen wer-
den spontan und ohne langfristige Planung eingeschoben, was der Lehrkraft
fachliche wie auch didaktische Kompetenz abverlangt. Dies bedeutet, dass das
Kreative Schreiben eben nicht nur von den Lernern und der Unterrichtsorgani-
sation abhängt, sondern auch von der Qualifikation der Lehrkraft. Die Lehr-
kraft wird im kreativen Schreibkurs nicht als reiner Wissensvermittler tätig,
sondern agiert als Lernberater. Diese Funktion unterscheidet sich grundlegend
von der, die eine Lehrkraft im Rahmen anderer Lehrmethoden erfüllt. Die
Lehrkraft tritt bewusst in den Hintergrund und berät die Lerner dann, wenn
sie der fachkundigen Beratung und Information bedürfen. Dies erfordert je-
doch nicht nur eine andere Arbeitsform von Seiten der Lehrkraft, sondern
auch den Mut und die fachliche Kompetenz, minutiöse Planung und die fronta-
le Stellung zur Gruppe aufzugeben, um direkt und konkret auf die Bedürfnisse
der Lerner eingehen zu können.291
Der kreative Schreibkurs beginnt mit der generativen Phase, in der der Text
vorbereitet wird. In dieser Phase wird ein „grobes Schreibkonzept“292 entwi-
ckelt. Vorrangiges Ziel dieser Phase ist das Finden einer inhaltlichen Richtung
für den Text, das mit assoziativen Verfahren erreicht werden soll. Ob die
Schreiber nun mit Hilfe des Free-Writings, des Brainstormings, des Mind-
Mappings, der Visualisierung von Naturbildern, der Veranschaulichung von
Begriffen, einer Gliederung, eines Spiels oder des Clusterings zu ihrem Text
finden, ist abhängig von individuellen Bedürfnissen, von der Gruppe, von der
Situation sowie von der geplanten Textsorte. Am Anfang steht der Schreiban-
lass, der je nach Schreibtechnik aus einem Bild, einem Gedicht, einem Ge-
ruch, aus Musik oder Ähnlichem bestehen kann. Der Schreibanlass ruft Asso-
ziationen hervor und regt die Bildung weiterer an. Aus dem groben Schreib-
konzept wird ein differenziertes Schreibkonzept293, ein Versuchsnetz294 entwi-
ckelt. Daraus entsteht in der produktiven Phase dann ein zusammenhängen-
der Text, der meist als Rohfassung angesehen wird. Dieser erste Text ist au-
thentisch, er ist ein Ausdruck der individuellen Erfahrungswelt des Schreibers.
Das Niveau der formalsprachlichen Korrektheit hängt stark vom Sprachstand
des Schreibers ab und ist in dieser Phase noch zweitrangig.
Die Phase, die den zeitlich größten Raum einnimmt, ist die überarbeitende
Phase. Diese Phase gilt in den meisten Konzepten295 als die letzte und ab-
schließende Phase des Schreibkurses. Diese Auffassung kann hier nicht über-
nommen werden. Die überarbeitende Phase nimmt einen breiten Raum ein,
muss jedoch, wie im Folgenden gezeigt wird, keineswegs eine abschließende
Funktion übernehmen. Diese Phase kann nicht als einheitlich bezeichnet wer-
den, da sie je nach Bedarf in kleinere Einheiten unterteilt wird. Analysen der
Rohfassungen durch die Lehrkraft, Überarbeitungsphasen der Schreiber, sys-
tematische Einschübe gehören der überarbeitenden Phase ebenso an wie
mögliche Neufassungen und Gestaltung der Texte. Die Schreiber erhalten in
dieser Phase Informationen von der Lehrkraft, die nicht nur für den laufenden
Text von Bedeutung sind, sondern die Kompetenz in der Zielsprache erheblich
fördern können und Instrumente zu weiteren Textproduktionen darstellen.
Ob die Schreiber ihre Texte auch inhaltlich überarbeiten, hängt in erster Linie
von ihrer eigenen Einschätzung und der Reaktion anderer auf ihren Text ab.296
Die Reaktion der anderen Schreibgruppenteilnehmer ist ein wichtiges Moment
im kreativen Schreibprozess und damit auch ein wichtiger Bestandteil des
Schreibkurses. Das Veröffentlichen eines Textes als Rohentwurf oder zu einem
späteren Zeitpunkt des Schreibkurses ist eine Chance, die erst das Schreiben
in der Gruppe eröffnet. Ein erstes Vorstellen des Textes in einem vertrauten
Rahmen dient, wie bereits dargelegt, nicht nur der Selbsterfahrung des
Schreibers, sondern die Reaktion der Hörer bzw. Leser wird auch Anmerkun-
gen zu stilistischen Aspekten, sprachlichen Abweichungen und eine erste Be-
urteilung beinhalten. Es hat sich gezeigt, dass bereits Grundschüler durchaus
in der Lage sind, Texte in einer solchen Situation konstruktiv zu bespre-
chen.297 Die Reaktion auf den vorgelegten Text zeigt dem Schreiber, inwieweit
sein Text sprachlich und inhaltlich verständlich ist und welchen Eindruck er
beim Publikum hinterlässt. Der Schreiber kann überprüfen, ob er seinen Text
so formuliert hat, dass er von den Rezipienten in seinem Sinne verstanden
wird. Hinsichtlich der Ergebnisse der ersten Veröffentlichung wird er daraufhin
seinen Text überarbeiten. Die so entstandene Neufassung wird dann nach
Möglichkeit erneut in dieser Weise auf Verständlichkeit, Spannung, Aussage-
kraft usw. überprüft. Ist der Schreiber wiederum nicht mit der Reaktion der
Gruppe zufrieden298, kann der Text ein weiteres Mal überarbeitet werden. Je-
doch sollte der Autor in keiner der Überarbeitungsphasen allein gelassen wer-
den. Hier ist eine Unterstützung der Lehrkraft von Nöten. Systematische Un-
terweisungen, Diskussionen mit anderen Schreibgruppenteilnehmern sowie
Phasen der Stillarbeit müssen dann erfolgen, wenn der Schreiber sie für eine
Überarbeitung braucht.
Am Ende des Schreibkurses entsteht aus dem Zusammenspiel authentischer
Aussagen, dem Einfallsreichtum und der Anwendung formaler Sprachregeln
der endgültige Text. Ein Text ist dann als endgültig anzusehen, wenn der
Schreiber ihn so versteht. Hier darf nicht der Zeitplan Ausschlag geben, son-
dern jeder Schreiber hat das Recht, seinen Text in eine für ihn zufrieden stel-
lende Form zu bringen. Bei der Arbeit an einer gemeinschaftlichen Veröffentli-
chung z. B. in Buchform, muss der Text auch von den anderen Schreibern als
veröffentlichungswürdig befunden werden. Forderungen einer redaktionellen
Besprechung muss Rechnung getragen werden. Schreibgruppe und Schreiber
müssen einen Konsens finden, der es erlaubt, den Text zusammen mit den
Texten anderer zu veröffentlichen299.
299 dto.
300 Edward de Bono
301 Alle Verfahren und Techniken wurden in der Praxis erprobt. Anregungen und Anweisungen entstammten diversen
Seminaren zum Thema „Kreatives Schreiben“ der Didaktik des Deutschen als Fremdsprache an der EWF/Nürnberg. Die
Verfahren wurden teilweise in dem Handbuch von Pommerin (1996) beschrieben.
93
einzelnen Verfahren und Techniken, die in der Praxis gemacht wurden, fließen
in deren Beschreibung ein.
Die Verfahren sind nicht nur für Lerner aller Altersgruppen, sondern auch aller
Erwerbsphasen konzipiert. Selbstverständlich wird die Gruppenzusammenset-
zung Einfluss darauf haben, welches der vorgestellten Verfahren besonders
geeignet ist, grundsätzlich aber steht dem Einsatz in allen Lernergruppen
nichts entgegen, denn die vorgestellten Verfahren sind weniger als streng zu
befolgende Richtlinien, denn als modifizierbare Anwendungen zu verstehen.
Der Fantasie der Lehrkraft werden hier nicht durch die Verfahren, sondern
durch die Bedürfnisse der Lernergruppe Grenzen gesetzt. Kreative Schreibver-
fahren sind leicht verständlich und anwendbar. Ihre Einführung bedarf keiner
komplizierten Erklärungen und kann ohne weiteres von Sprachanfängern ver-
standen werden.
Schreibanlässe dienen nicht in erster Linie zum Schreiben eines zielgerichte-
ten Textes. Ein Schreibanlass kann in einer Gruppe sehr unterschiedliche As-
soziationen entstehen lassen. Schreibanlässe initiieren Assoziationen und Tex-
te, die eng mit der Person des Schreibers verbunden sind. Die hier beschrie-
benen Varianten regen sowohl Fantasie als auch Gedankentätigkeit des Rezi-
pienten und späteren Schreibers an und fördern authentische und emotional
ausgerichtete Assoziationen, die sich in den daraus entstehenden Texten wi-
derspiegeln. Ein und derselbe Schreibanlass kann in einer Gruppe zu unter-
schiedlichen Reaktionen führen. Er kann sowohl bei einigen Teilnehmern eine
Assoziationsflut auslösen als auch bei anderen eine Blockade bedingen. Durch
die Heterogenität der individuellen Reaktionen auf einen Schreibanlass kann
keine homogene Schreibmotivation erreicht werden. Es gilt in der Gruppe,
Schreibanlässe zu testen, ihre Wirkung auf die Schreiber zu thematisieren und
gegebenenfalls zu selektieren. Bewährte Verfahren können wiederholt, nicht
bewährte in der weiteren Arbeit ignoriert werden.
schwelle im Umgang mit derselben ab. Die Schreiber erkennen in der Arbeit
mit literarischen Texten den Wert eigener Texte. Die Einsicht, dass anerkann-
te Autoren sich mit denselben Themen und Inhalten beschäftigen wie sie und
ihre Texte auch nicht problemlos zu Papier bringen, nimmt den Lernern die
Angst, Texte zu produzieren und sie einem Publikum vorzustellen. Das
Schreiben nach literarischen Textvorlagen kennt wie alle anderen kreativen
Verfahren keine dogmatischen Regeln und Vorschriften. Dem Einfallsreichtum
von Lehrkraft und Lernern sind hier keinerlei Grenzen gesetzt.
Viele Lerner der ausgewählten Schreibgruppen haben von Haus auf keinen
Zugang zu Literatur. Sie lesen nicht, sie werden in ihrem alltäglichen Leben
nicht mit Büchern konfrontiert. Der so entstandene Mangel an Erfahrung
macht das Lesen erst recht zur Qual. Für viele Lerner sind Bücher unbekannte
Wesen aus einer unbekannten Welt, zu der sie keinen Zugang haben und
auch nicht haben wollen. Je weniger Schüler lesen und damit auch den reinen
Lesevorgang üben, desto mehr entfernen sie sich von diesem Medium. Wurde
die Lesefähigkeit schon in der Grundschule nicht vollständig erworben und au-
tomatisiert, dann ist das Risiko, dass sie wieder verloren geht, hoch.302
Die meisten jugendlichen Lerner, deren Lesefähigkeit nicht elaboriert ist,
empfinden Literatur als etwas Verstaubtes, Altmodisches, Intellektuelles, kurz
als etwas, das nicht zu ihrem Leben gehört und das auch nicht verlockend ge-
nug ist, um sich damit zu befassen. Literatur als Bereich, der unverbesserli-
chen Bücherwürmer, bebrillter älterer Herrschaften und anderer Wesen einer
unverständlichen Welt ist für die Jugendlichen ein Berg, den sie nicht zu er-
klimmen erwägen. Das Kreative Schreiben kann hier einen Beitrag leisten,
den Lernern literarische Texte näher zu bringen und ihnen den Zugang zu er-
schließen. Der Umgang mit literarischen Texten wird beim Kreativen Schrei-
ben zum Einstieg und zur Hilfestellung bei der Produktion eigener Texte. Die
Trennung zwischen Rezeption und Produktion literarischer Texte wird aufge-
hoben, beide Formen des Umgangs mit Literatur werden eng verzahnt. Die li-
terarischen Texte rücken in die Nähe der Lerner und lassen sie somit an einer
Welt teilhaben, die bislang außerhalb ihrer Reichweite lag.
Das Schreiben nach literarischen Vorlagen ist ein Training, das zu einem si-
cheren Gefühl für den ganzheitlichen Charakter und die Ästhetik eines Textes
führt. Die literarische Vorlage inspiriert, sie gibt eine Struktur vor, ein ästheti-
sches Muster, dem der Schreiber folgen kann. Der literarische Text nimmt den
302 Zum flüssigen Lesen einer Zeitung oder eines Buches benötigt man eine Lesegeschwindigkeit von mindestens 2500
bis 3000 Wörtern pro Stunde. Ein guter Hauptschüler kann nach dem Schulabschluss etwa 6000 bis 7000 Wörter pro
Stunde lesen. Wird diese Geschwindigkeit aber über einen längeren Zeitraum nicht mehr gefordert, so bildet sich das
Lesevermögen zurück. Fällt die Lesegeschwindigkeit dann unter 2500 Wörter pro Stunde, wird die Kommunikation mit
dem Text zu aufwendig, die Lesemotivation schwindet und damit wird die Einstellung zum Lesen negativ.
95
Schreiber bei der Hand, der Schreiber lernt durch Imitation. Das Schreiben
nach literarischen Vorlagen spricht das bildliche Denken an, denn es lässt den
Lerner auf Textrhythmus und die Anordnung des Textes aufmerksam werden
und gibt Anhaltspunkte für das eigene Schreiben. Schüler mit einem noch ge-
ringen Sprachstandsniveau können sich an literarischen Vorlagen orientieren
und sie als Gerüst benützen, um ihre eigenen Gedanken darzustellen. Ob sie
sich mehr an der Form oder am Inhalt der literarischen Vorlage orientieren,
bleibt ihnen selbst überlassen.
Das Schreiben nach literarischen Vorlagen eröffnet viele Variationsmöglichkei-
ten. Vom Verändern eines bestehenden Textes (das Finden eines neuen An-
fangs, einer neuen Mitte, eines Endes, die Einführung neuer Personen oder
Orte, das Erzählen aus einer anderen Perspektive, das Versetzen des Textes
in eine andere Epoche usw.) zum Erweitern eines Textes (Erfinden neuer Per-
sonen, Einsetzen von Dialogen, ein Briefwechsel zwischen den Figuren des
Textes, das Verknüpfen der Vorlage mit eigenem Text, das Einfügen neuer
Kapitel) zum Umsetzen des Textes in eine andere Textsorte (Roman zur Bal-
lade, Gedicht zum Songtext, Rap zum Prosatext ...) stehen alle Varianten of-
fen. Es bietet sich an, zu einer literarischen Vorlage, mehrere, unterschiedli-
che Verfahren anzubieten. So kann z. B. die Klassenlektüre zum ganzheitli-
chen Unterrichtsprojekt werden.
Als literarische Vorlagen scheinen Gedichte besonders geeignet, denn sie wir-
ken als literarische Miniaturen durch ihre Ganzheitlichkeit. Ein deutliches Mus-
ter und ein leicht erkennbarer Rhythmus sind Merkmale vieler Gedichte und
erleichtern den Lernern den Zugang zu dieser Textsorte. Ein Gedicht zu
schreiben kann zu einem motivierenden Erfolgserlebnis werden. Die Lerner
erkennen, dass diese Textsorte, die ihnen vorab fremd und wenig anspre-
chend erscheint, ein geeignetes Medium darstellt, mit dessen Hilfe sie sich ar-
tikulieren und eigene Emotionen und Befindlichkeiten äußern können. Was
manchen Lernern auf den ersten Blick unmöglich oder gar albern erscheint,
nämlich selbst Gedichte zu verfassen,303 kann zur heimlichen Leidenschaft
werden, wenn die erste Hemmschwelle überwunden wird. Die Lerner erken-
nen schnell, dass diese Textsorte relativ schnell zu ansehnlichen Ergebnissen
führt und ihre Produktion Spaß macht. Gedichte schreiben erlaubt, mit der
Sprache zu spielen, formale Grenzen zu überschreiten und die Zielsprache zu
erkunden.
Das Gedicht stellt ein einheitliches Ganzes dar und ist in sich abgeschlossen.
Daher bieten sich Veränderungen der Form sowie Erweiterungen des Inhalts
meist nicht an. Dieses Verfahren ist vielmehr dazu geeignet, eigene Gedichte
mit Inhalten aus dem eigenen Lebensbereich nach dem Muster, dem Rhyth-
mus und der Struktur der literarischen Vorlage zu verfassen. In der neueren
deutschen Lyrik finden sich viele Gedichte, die die Sprache selbst thematisie-
ren. Sie überzeichnen den Zusammenhang zwischen Struktur und Bedeutung
und machen diesen Zusammenhang zum Inhalt. Diese bewusst herbeigeführ-
te Spannung zwischen Struktur und Bedeutung bringt Spannung in den
Sprachunterricht und kann auch von Sprachanfängern bewältigt werden.
Deklination
die Frau
die Frau
der Frau
der Frau
- ich habe keine Frau!
Text eines Teilnehmers aus dem Sudan, 6 Mo-
nate in der Bundesrepublik Deutschland.
bildung geben den Schülern ein Werkzeug an die Hand, auf das sie in späte-
ren Schreibsituationen immer wieder zurückgreifen können.304
darauf geachtet werden, dass die Schüler bereits über den Konjunktiv II ver-
fügen, um eine Stringenz zwischen vorgegebenem Satzanfang und weiterfüh-
rendem Text schaffen zu können. Dieser Schreibaufgabe muss daher eine
Thematisierung der im Satzanfang vorgegebenen grammatischen Struktur im
Unterricht vorangehen. Dann allerdings bietet sich das Verfassen eines Textes
nach einem so formulierten Satzanfang als Übungsform an. Bei Lernern, die
noch nicht über die entsprechenden grammatischen Kenntnisse verfügen, wie
hier der Konjunktiv II, sollten die Vorgaben sprachlich einfacher strukturiert
sein wie etwa „Ich bin cool, ...“.
305 „Schreiben nach Bildern schließt hier alle visuellen Vorlagen ein. Die Bezeichnung wurde gewählt, um den
Zusammenhang zwischen den visuellen Vorlagen und dem bildhaften Denken herauszustreichen. Auch Skulpturen als
abgeschlossene Ganzheiten können als visuelle Vorlage gelten.
99
306 vgl. zur Gestaltung von Texten Kap. 3. Die Gestaltung eines Textes ist allerdings nicht nur bei Texten, die nach
einer visuellen Vorlage geschrieben wurden ein stark motivierendes Moment. Auch für Texte, die anhand anderer
Schreibverfahren entstehen, bildet die endgültige Gestaltung mit Farbe, Collagentechnik, Zeichnungen, Schriftgestaltung
etc. eine abschließende Arbeitsphase, die in Kap. 3 beschrieben wird.
100
Fuß steigt. Die Variationen sind hier vielfältig und führen häufig zu Kommuni-
kationsproblemen.
Trotz der Schwierigkeiten findet gerade diese Textsorte bei jüngeren Lernern
großes Interesse. Sie haben Comics bereits kennen und meist lieben gelernt.
Diese Textsorte hat ihren Platz in der Lebenswelt jüngerer Lerner und ist bei
ihnen sehr beliebt. Gerade Lerner, die unter den bereits besprochenen Lese-
und Schreibschwierigkeiten leiden, finden hier einen Einstieg in die Auseinan-
dersetzung mit geschriebener Sprache. Das Anfertigen von Comics bietet Ler-
nern, die unter Schreibschwierigkeiten leiden, aber eine gute Auffassungsgabe
für Situationen sowie gestalterische Talente haben, die Möglichkeit, erfolg-
reich Texte zu produzieren. Eine Zusammenarbeit von Lernern, deren Fähig-
keiten unterschiedlich gewichtet sind, kann zu überraschenden und alle Mitar-
beitenden stark zu weiterer Schreibarbeit motivierenden Ergebnissen führen.
Grundsätzlich sollten jedoch die Spezifika dieser Textsorte herausgearbeitet
und thematisiert werden, um unzulässige Übertragungen auf andere Textsor-
ten zu vermeiden.
Eine ähnliche Aufgabe, das Erstellen eines Fotobuches mit eigenen Fotogra-
fien, die anlässlich eines Wandertages oder Schullandheimaufenthaltes ent-
standen sind, die dann mit kurzen Kommentaren oder kleinen Texten verse-
hen werden, erfordert eine andere Arbeitsweise. Da die Fotos zunächst nicht
extra zu diesem Zweck gemacht wurden, wird ein Auswahlverfahren notwen-
dig. Diese Auswahl erfordert Kriterien, die sich bereits an der Textsorte und
deren spezifischen Anforderungen orientieren. Das Ergebnis, eine mit Sprech-
blasen, Untertiteln und anderen Kommentaren versehene Fotosammlung,
führt schnell zu (sichtbarem!) Erfolg. Diese Arbeiten eignen sich bestens für
Gruppenarbeit, soweit es sich nicht um persönliche Themenstellungen han-
delt. Auch das Schreiben nach visuellen Vorlagen setzt der Fantasie von Ler-
nern und Lehrkraft keine Grenzen und kann je nach Situation und Gruppe va-
riiert werden.
Schreiber finden ihr Kernwort und schreiben dann ohne Musik oder mit dezen-
ter Hintergrundmusik ihren individuellen Text. Das Musikstück wird zum
Schreibanlass, die Wahl des Kernwortes ist stark vom individuellen Eindruck
des Schreibers abhängig. Auch beim Schreiben nach Musik kann es dazu
kommen, dass ein Schreiber keinen Bezug zum Schreibanlass findet und er
entweder nicht schreibt oder sich auf eine formale Beschreibung des Musik-
stücks beschränkt. In solchen Fällen kann das Kernwort auch eine Bezeich-
nung des dominanten Instrumentes oder der Rhythmus sein. Schreiber, die
sich von der Musik angesprochen fühlen, produzieren möglicherweise sehr
emotionale und persönliche Texte.
Eine weitaus schwieriger zu bewältigende Aufgabe stellt das Schreiben zur
Musik dar. Hier schreiben die Schüler bereits während des ersten Hörens ihre
Eindrücke oder Fantasien auf. Dieses Verfahren erfordert jedoch andere Vor-
aussetzungen als das oben beschriebene. Die Basisidee zum Text, der rote
Faden, muss sich schnell, möglichst zu Beginn des Hörens, einstellen. Der
Schreiber muss seine Ideen während des Hörens weiter spinnen. Bei diesem
Verfahren entstehen meist Textfragmente, Stichworte, Satzfetzen. Eine Wei-
terentwicklung zum Text kann, muss aber nicht stattfinden. Dieses Verfahren
initiiert keine in sich abgeschlossenen Texte, wie die bereits vorgestellten Ver-
fahren.
Das Schreiben zur Musik kann schreibungeübte Lerner vor unlösbare Proble-
me stellen: Unbewusst versucht sich der Schreibrhythmus dem Rhythmus der
Musik anzugleichen, was den Schreiber zu erhöhtem Tempo verleitet, dem
seine sprachlichen Fähigkeiten nicht folgen können. Diese Schreiber fühlen
sich gehetzt und überfordert, sie steigen nach kurzer Zeit aus und finden kei-
nen Zugang mehr. Bei Schreibseminaren an der Universität zeigte sich, dass
auch primärsprachliche Studierende Probleme mit diesem Schreibverfahren
haben können. Dementsprechend sollte dieses Verfahren nur in Schreibgrup-
pen eingeführt werden, die über die notwendigen sprachlichen Fähigkeiten in
der Zielsprache Deutsch verfügen.
Eine Steigerung des Schwierigkeitsgrades stellt eine dritte Variante dar. Das
Verfassen eines zur Musik passenden Textes bietet sich erst für den Fortge-
schrittenenunterricht an. Eine etwas weniger schwierige Aufgabe ist das Ver-
fassen eines Songtextes, wenn die Musik nach dem Text ausgesucht oder zu-
sammengestellt wird. Die Vorgehensweise vom Text zur Musik ist auch für
ungeübtere Schreiber oder Schreiber mit sprachlichen Defiziten leichter zu
bewältigen und daher eher geeignet als die Vorgehensweise von der Musik
zum Text.
Die Transformation der musikalischen Darstellung in die schriftliche ist die
wohl am wenigsten erforschte Form des Kreativen Schreibens. Sie gilt auch
als sehr schwierig und die erfolgreiche Durchführung ist stark situationsab-
hängig. Nicht nur die Auswahl der Musikstücke entscheidet über Erfolg oder
102
Misserfolg, auch die Stimmung der Schreiber und die Atmosphäre des Rau-
mes, in dem geschrieben wird, zählen zu den Faktoren, die über ein Gelingen
des Schreibversuchs entscheiden. Eine Einführung, die über andere Aus-
drucksformen führt, kann den Zugang zur musikalischen Vorlage erleichtern.
Eine mündlich erzählte Geschichte, Pantomime, Tanz oder bildnerisches Ges-
talten können den Weg von der Musik zum Text ebnen. Der Einsatz des
Schreibens nach bzw. zur Musik sollte gezielt auf die Schreibgruppe abge-
stimmt sein, um Misserfolge und demotivierende Schreiberfahrungen nicht zu
provozieren.
Hilfestellungen an und stellt ihnen Verfahren und Techniken vor, die ihnen den
Einstieg in den eigenen Text erleichtern oder ermöglichen, erspart ihnen dies
die frustrierende und demotivierende Erfahrung, hilflos vor dem weißen Papier
zu sitzen.
5.5.1 Cluster
Das Knüpfen eines Ideennetzes oder Clusters307 ist eines der assoziativen Ver-
fahren, das sich bereits im Anfängerunterricht Deutsch als Fremdsprache be-
währt hat. Rico beschreibt die Entstehung dieses Verfahrens wie folgt:
„Das Buch >The Hidden Order of Art< des Psychiaters Anton Ehrenzweig,
(...), enthält ein kompliziertes, an eine Straßenkarte erinnerndes Schaubild,
mit dem Ehrenzweig verdeutlichen will, was bei einer schöpferischen Ideensu-
che in unserem Gehirn entsteht. Als ich darüber nachdachte, wie man einen
solchen Suchprozess auf dem Papier darstellen könnte, und dabei verschiede-
ne Möglichkeiten durchspielte, stieß ich auf ein Verfahren, das ich >Cluste-
ring< genannt habe. Beim Betrachten von Ehrenzweigs Schemazeichnungen
schrieb ich das erste Wort, das mir in den Sinn kam, in die Mitte eines leeren
Blattes, zog einen Kreis herum – (...) – und fügte, wie elektrisiert durch die
Gedankenverbindungen, die sich in meinem Kopf um diesen Mittelpunkt her-
um sammelten und in alle Richtungen ausstrahlten, immer neue Einfälle, As-
soziationen zu diesem einen Wort hinzu. (...) Während ich noch damit be-
schäftigt war, mein >Cluster< weiter auszuspinnen, verlagerten sich auf ein-
mal die Gewichte: Das Gefühl ziellos herumzuschweifen, machte trotz des
bunten Durcheinanders einer ersten Orientierung Platz, und ich fing an zu
schreiben.“ 308
Das Clustering ist ein nicht-lineares Verfahren, das mit der freien Assoziation
und dem Brainstorming verwandt ist. Das Cluster zeigt eine Vielzahl von Ein-
fällen und Gedanken, die aus einem Teil unseres Gehirns stammen, das In-
formationen unstrukturiert speichert.309 Im Mittelpunkt steht ein Kernwort,
das auslösender, visueller Reiz für die Sammlung aller sich einstellender Asso-
ziationen ist. Die Assoziationsbündel sind immer individuell und einzigartig. In
dieser Phase des kreativen Schreibprozesses ist jede Assoziation erlaubt. Kei-
ne Idee ist falsch, alle werden unzensiert in das Cluster aufgenommen. Die
Selektion beginnt erst zu einem späteren Zeitpunkt. Das Clustering ist ein
Prozess, der einer starken Eigendynamik unterworfen ist. Bei der scheinbar
wahllosen Anordnung von Wörtern und Begriffen um den Kern lassen sich im
Strom der Einfälle Muster erkennen, bis hin zum Festlegen des Schwerpunktes
im Text, was zu einem Schreibimpuls, einer Schreibintention führt. Das
Clustering ist dann beendet, wenn dem Schreiber klar ist, wo der Schwer-
punkt seines Textes liegt und was geschrieben werden soll.
Das Cluster kann im Unterricht als Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit sowie
im Plenum angefertigt werden. Die Arbeitsform richtet sich nach der jeweili-
gen Schreibsituation, die sich aus dem Sprachstand der Lerner, der Textinten-
tion sowie den Unterrichtsinhalten ergibt. Zur Einführung in das Verfahren
bietet sich das Erstellen eines Gemeinschaftsclusters an, an welchem alle Ler-
ner mitwirken.310 Lerner, die über für die Gruppe unterdurchschnittliche
Sprachkompetenz in der Zielsprache Deutsch verfügen, können sich bei der
Arbeit an einem Gemeinschaftscluster an den Beiträgen anderen Lerner orien-
tieren und sich von ihnen anregen lassen. Alle Beiträge werden gleichberech-
tigt, unkommentiert und unzensiert aufgenommen. So entsteht ein gruppen-
spezifischer Wortschatz, der seinerseits zum Unterrichtsgegenstand werden
kann (Sammlung auf Wortkarten u. a. m.). Nicht nur im interkulturellen
Sprachunterricht stellt diese Wortschatzarbeit ein wichtiges Moment dar, denn
hier werden die Lerner zur Wortschatzarbeit motiviert, da die Begriffe ihrer
eigenen Lebenswelt entstammen und nicht um ihrer selbst Willen aufgelistet
werden. Dies motiviert erfahrungsgemäß in weitaus größerem Maße zum Ler-
nen der neuen Vokabeln als vorgegebene Einheiten, zu denen die Lerner kei-
nen persönlichen Bezug haben.
Der Einstieg in den Text wird in zweifacher Hinsicht erleichtert: Zum einen
entsteht ein Fundus an Ideen, mit dessen Hilfe Schreiber, die keine eigenen
Ideen zum jeweiligen Kern oder Thema haben, dennoch einen Text schreiben
können und ein „Wortgerüst“, an das sich jene Lerner halten können, welche
nicht über ausreichende sprachliche Mittel verfügen. Im Cluster treten nicht
nur einzelne Vokabeln auf, sondern auch Begriffe, syntaktische Einheiten, die
im eigenen Text aufgegriffen und verarbeitet werden können.
5.5.2 GeKo
Vom Scheidt entwickelte die Form des Clusters weiter zur GeKo. Die Gedan-
ken-Ketten-Organisation geht einen Schritt weiter als das Cluster. Es werden
nicht nur Begriff, Stichworte und Phraseologien aufgenommen, es sind bereits
ganze Sätze sowie ausformulierte Gedanken und sogar kleine Textpassagen
zugelassen. Zunächst wird die GeKo wie ein Cluster angelegt, doch durch die
310 Im empirischen Teil dieser Untersuchung werden sowohl Texte vorgestellt, die anhand eines Gemeinschaftsclusters
entstanden vorgestellt, als auch solche, die anhand von Gruppenclustern oder individuellen Clustern angefertigt wurden.
Die unterschiedliche Nutzung der so gesammelten Ideen und des gesammelten Wortschatzes werden detailliert
untersucht und dargestellt.
105
5.5.4 Free-Writing
Auch das Free-Writing ist ein nicht-lineares Assoziationsverfahren. Bei Free-
Writing kommt es zuerst nur darauf an, fünf Minuten ohne Pause Gedanken
zum vorgegebenen Thema aufzuschreiben. Stellen sich keine Gedanken zum
Thema ein, so kann auch auf andere, präsente Themen ausgewichen werden
wie z. B. die Farbe des Stiftes. Wichtig ist, dass in den fünf Minuten absolut
ohne Unterbrechung geschrieben wird. Das Free-Writing umfasst folgende
Techniken: freie Assoziation, Assoziationskette, Rapid Writing und automati-
sches Schreiben. Diese Techniken eröffnen jeweils unterschiedliche Zugänge
und Einblicke ins Thema. Die freie Assoziation erfasst das Kreative Schreiben
als Lernmethode, die Assoziationskette zeigt das Kreative Schreiben als Pro-
zess. Das Rapid Writing eröffnet Einblicke in die Praxis des Kreativen Schrei-
bens und das automatische Schreiben stellt eine Verbindung zu den Surrealis-
ten her, die von v. Werder als „Vorläufer des Kreativen Schreibens in der Lite-
ratur“315 bezeichnet werden.
Das Free-Writing ist ebenso wie die anderen Verfahren und Techniken des
Kreativen Schreibens variabel. Elbow316 stellt verschiedene Varianten vor:
Schreiben über spontane Gedanken, Vorurteile, erste Visionen, Meditationen,
Dialoge, Wahrheit und Lüge. Diese Vorschläge erleichtern vor allem jenen
Schreibern den Einstieg in das Free-Writing, die Schwierigkeiten haben, ohne
Pause fünf Minuten lang zu schreiben. Weitere Varianten sind natürlich zuge-
lassen und wiederum von der Situation der Gruppe bestimmt.
5.5.5 Brainstorming
Das Brainstorming ist wohl das bekannteste Assoziationsverfahren. Es kann
sowohl in Einzel-, als auch in Gruppenarbeit durchgeführt werden. Diese
Technik verhilft zu einer raschen, ausführlichen Sammlung von Assoziationen
zum jeweiligen Thema. Die Gruppenteilnehmer assoziieren frei oder gebunden
zu einem Thema. Ein Moderator sammelt die Beiträge. Das Brainstorming
kann sowohl linear als auch nicht-linear, mit oder ohne Quotierung sowie ver-
bal oder schriftlich durchgeführt werden.
5.5.6 Mind-Map
Das Mind-Mapping geht auf Buzan318 zurück, der dieses Verfahren
entwickelte. Das Mind-Mapping gleicht in vielen Punkten dem Clustering. Es
werden jedoch verschiedene Varianten beschrieben319: Beim freien Mind-
Mapping werden die Assoziationen zu einem bestimmten Kernwort in beliebi-
ger Anordnung notiert. Die Reihenfolge, in der sich die Assoziationen einstel-
len wird durch eine lineare Verbindung visualisiert und kann damit zu einem
späteren Zeitpunkt nachvollzogen werden. Das freie Mind-Mapping erlaubt die
Aufnahme aller Ideen und Gedanken, die in Stichwörtern, Begriffen, Satz-
fragmenten oder kurzen Textpassagen notiert werden. Im Unterschied zum
Clustering wird die Entwicklung der Gedankenstränge grafisch eindeutiger
aufgezeichnet und dadurch hervorgehoben.
Noch deutlicher wird die Progression beim systematischen Mind-Mapping. Hier
werden die Schwerpunkte im Uhrzeigersinn um den Kern angeordnet und As-
soziationen und Ideen, die sich dazu einstellen auf „Ästen“ der jeweiligen
„Schwerpunktbäume“ angesiedelt. Das systematische Mind-Mapping erfordert
eine erste Strukturierung der Assoziationen und Ideen und erlaubt in einem
ersten Schritt bereits eine erste Zuordnung und Gliederung. Dies bedeutet,
dass im systematischen Mind-Mapping eine Arbeitsphase, die bei den bisher
vorgestellten Verfahren zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt, vorweg genom-
Zweit- oder Fremdsprache noch mehr unter Druck zu fühlen, den Anschluss
an den eigenen Text nicht zu verlieren als in der Primärsprache.
„Manchmal ist meine Hand nicht so schnell wie mein Kopf und dann gibt es
Stau.“322
EXKURS 4: Schreibblockaden
Beim Verfassen des Rohentwurfs machen Schreiber möglicherweise die erste
Bekanntschaft mit dem Phänomen der Schreibblockade.323 Schreibblockaden
haben ihre Ursache in den häufigsten Fällen entweder im mangelnden Bezug
des jeweiligen Schreibers zum Schreibanlass bzw. zum vorgegebenen Thema
oder in einem überhöhten Anspruch der Schreiber an den eigenen Text.
Schreibblockaden sind ernst zu nehmen und sollten von der Lehrkraft thema-
tisiert werden. Die Tendenz, Schreibblockaden als Symptome einer latenten
Schreibunlust der Lerner einzuschätzen, führt in den meisten Fällen zu mehr
oder weniger freundlichen Aufforderungen, endlich zu schreiben. Kommt der
Lerner den Aufforderungen nicht nach bzw. kann er ihnen auch beim besten
Willen nicht nachkommen, reagieren manche Lehrkräfte mit Disziplinierungs-
maßnahmen, die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu einer Lösung der Blo-
ckade beitragen. Ausgehend von der Annahme, dass Lerner und ihr individuel-
ler Schreibprozess ebenso ernst zu nehmen sind wie ihre Texte, ergibt sich die
Auffassung, dass die Nicht-Produktion von Texten in gleichem Maße erst zu
nehmen ist. Die Lehrkraft wird individuell entscheiden müssen, welcher Art die
Schreibblockade ist und wo deren Ursache liegt.
Die Aufgabe der Lehrkraft ist es, dem Schreiber Mittel und Wege aufzuzeigen,
wie die Schreibblockade abgebaut werden kann. V. Werder stellt hierzu
Schreibtechniken vor:
Schnell-Schreiben: Der Rohentwurf wird so schnell geschrieben, dass der
„innere Zensor“ auf der Strecke bleibt. Wörterbücher und sonstige Hilfsmittel
werden außer Acht gelassen, damit der Schreibfluss nicht unterbrochen wird.
Möglicherweise sollte mit einem Zeitlimit gearbeitet werden, um dem Lerner
die Möglichkeit zu nehmen, sein Schreiben zu unterbrechen.
In Schichten Schreiben: Der Schreiber arbeitet nicht stringent an seiner
Rohfassung, sondern springt zwischen einzelnen Texteinheiten hin und her,
verbessert und streicht. Der Text wird in einer Weise geschrieben, die mit
dem Malen eines Ölbildes verglichen werden kann. Die Ergebnisse werden erst
am Ende geordnet, woraus dann eine lesbare Fassung wird.
geht im wahrsten Sinne des Wortes beim Schreiben die Luft aus. Ein kurzer
Spaziergang auf dem Hof kann hier Abhilfe schaffen. Eine erfahrene Lehrkraft
wird ihre Lerner auch darauf aufmerksam machen, dass die Wahl des richti-
gen Schreibgerätes und Papierformates einen nicht als gering einzuschätzen-
den Einfluss auf den Schreibprozess nehmen kann.
Treten in einer Gruppe Schreibblockaden auf, so kann es auch für die nicht
betroffenen Lerner hilfreich sein, diese im Unterricht zu thematisieren. Ge-
spräche über das Schreiben sollten in jedem Unterricht genügend Zeit und
Raum finden. Der Austausch mit andern Schreibern ist nicht nur für Profis hilf-
reich und wichtig, sondern auch – oder gerade – für Schreibanfänger.
Einige Didaktiker sehen eine Überarbeitung der Rohfassung nur dann vor,
wenn eine Veröffentlichung der Texte geplant ist.324 Sie gehen von der An-
nahme aus, Kreatives Schreiben sei ein Verfahren, das überwiegend privater
Natur sei und der eigenen Freude und Entspannung diene. Aus diesem Blick-
winkel erscheint eine (angeleitete) Überarbeitung tatsächlich nicht von Nöten.
Verbunden mit der Argumentation, die standardisierten Bewertungskriterien
seien irrelevant für die Sprachhaltung und der Inhalt sei zu individuell und
damit zu wenig vergleichbar, um geeignete Kriterienkataloge zur Einschätzung
und Bewertung zu erstellen, findet das Verfahren keinen Platz im Unterrichts-
alltag.325 Das Erstellen einer Schülerzeitung, eines Klassentagebuchs oder pri-
vates Schreiben außerhalb des Unterrichts sind denkbare Varianten aus dieser
Perspektive. Es liegt auf der Hand, dass eine derartig reduzierte Form des
Kreativen Schreibens eine Textüberarbeitung nur vor einer Veröffentlichung
sinnvoll macht.
Im Gegensatz dazu steht eine immer größer werdende Gruppe von Didakti-
kern, die der Überarbeitungsphase, der Auseinandersetzung mit dem eigenen
Text, eine wichtige Funktion des Kreativen Schreibens zuordnen.326 Untrenn-
bar geht damit die Einschätzung des Kreativen Schreibens als prozesshafte,
„harte“ Arbeit einher, die eine enge Verzahnung subjektiver, emotionaler und
kreativer Aspekte mit systematischen darstellt. Das Schreiben als schöpferi-
scher Prozess wäre ohne systematische Komponenten nicht vollständig. Krea-
tives Schreiben eröffnet den Schreibern eben nicht nur ein Medium des per-
sönlichen Ausdrucks, sondern erschließt ihnen dieses Medium in gleicher Wei-
se. Dies bedeutet, dass neben „angenehmen“ Phasen des kreativen Schreib-
kurses auch solche stehen, in welchen sich die Schreiber mit „ernsthaften An-
gelegenheiten“ befassen. Die Auseinandersetzung mit der Zielsprache steht in
diesen Phasen im Vordergrund. Oberstes Lernziel im Sprachunterricht ist der
Erwerb der Zielsprache. Die Förderung sprachlicher Kompetenz sowohl im
mündlichen als auch im schriftlichen Sprachgebrauch ist ohne systematische
Unterweisungen, Übungsphasen und ohne Engagement und Mühe der Lerner
nicht möglich. Die häufig gepriesenen Verfahren, die eine Förderung sprachli-
cher Kompetenzen ohne Mühe und Anstrengung versprechen, haben sich in
der Praxis nur teilweise oder gar nicht bewährt.
Die Überarbeitungsphase wird je nach den Bedürfnissen der Lerner und der
Anforderungen an die Lehrkraft gestaltet. Die wohl bekannteste Form ist die
Schreibkonferenz.327 In einer Schreibkonferenz werden von den Konferenzteil-
nehmern Verbesserungsvorschläge zu den zur Diskussion gestellten Rohfas-
sungen erarbeitet und getestet. Die Rohfassungen werden von den Konferenz-
teilnehmern hinsichtlich inhaltlicher, sprachlicher sowie emotionaler Aspekte
untersucht und bearbeitet. Dieses Verfahren wurde aus dem Konzept der
Schreibkonferenzen entwickelt, das in England in den 80er Jahren des letzten
Jahrhunderts entstanden ist.328 In diesem Konzept sind soziales Lernen und
sprachliches Lernen eng verbunden. Ziel der Schreibkonferenzen ist eine Her-
anführung der Schreiber an professionelle Schreibstrategien ebenso wie eine
Herausbildung einer inneren Haltung der Schreiber gegenüber dem Schreiben,
wie sie professionellen Schreibern zu Eigen ist.
Bei jungen oder jüngeren Schreibern wird sich die Schreibkonferenz ebenso
wie bei unerfahrenen Schreibern mehr auf der inhaltlichen Ebene und auf der
Beziehungsebene konzentrieren. Es liegt an der Situation der Schreibgruppe,
der Intention, die sie mit ihren Texten verfolgt und an der Lehrkraft, inwieweit
die Konferenzteilnehmer die Texte auch hinsichtlich sachlicher und formaler
Kriterien bearbeiten. Im schulischen und außerschulischen Sprachunterricht
kann auf eine Auseinandersetzung auf der Sachebene und der formalsprachli-
chen Ebene nicht verzichtet werden, soll die sprachliche Kompetenz in der
Zielsprache gefördert werden. Hier ist die Lehrkraft verantwortlich, die sich
gleichzeitig einem fundamentalen Rollenwechsel hin zum
„... einfühlsamen, mitlernenden, kompetenten Berater und Begleiter individu-
eller (...) Sprachlernprozesse.“ 329
unterzieht. Die von Spitta angesprochenen Lernprozesse beziehen sich jedoch
nicht ausschließlich auf das Sprachenlernen. Die Förderung der Diskussionsfä-
higkeit (nicht nur in der Zielsprache!), die Bereitschaft zur Teamarbeit, das
Einüben sozialen Handelns schlechthin sind untrennbar mit den Schreibkonfe-
renzen verbunden.
Schreibkonferenzen können mit Lernern jeder Altersgruppe und jedes Er-
werbsniveaus organisiert werden.330 Die Lehrkraft wird sich im Verlauf der
Konferenz mehr und mehr aus dem aktiven Geschehen zurückziehen und die
oben genannte Rolle als Begleiter einnehmen. Vom Scheidt verweist auf die
zentrale Rolle der Themenzentrierten Interaktion in Schreibkonferenzen hin331
und fordert eine gründliche Ausbildung der Lehrkraft in Diskussionsführung
und Vermittlung von Diskussionsregeln. Die Kenntnis von Diskussionsstrate-
gien und deren Training ermöglichen eine konstruktive Auseinandersetzung
mit den Rohfassungen in der (Klein-) Gruppe oder im Plenum. Der Erfolg einer
Schreibkonferenz hängt davon ab, ob die Teilnehmer in der Lage sind, persön-
332 zusammengestellt von Glinz (1965), entwickelten sie sich von reinen patterns aus der Fremdsprachendidaktik zu
universal einsetzbaren Textüberarbeitungsstrategien. Für die Zweit- und Fremdsprachendidaktik entwickelten
Hegele/Pommerin (1983) die operationalen Verfahren weiter. Die operationalen Verfahren bestehen aus verschiedenen
„Proben“, anhand derer Sätze, Textpassagen oder ganze Texte auf ihre Aussagekraft, ihre Korrektheit und ihre
ästhetische Wirkung hin überprüft werden können.
333 Die praktische Umsetzung der operationalen Verfahren in einer Schreibkonferenz ist im Teil II der vorliegenden
Arbeit dokumentiert.
116
auch alleine bewältigen kann.334 Die Verfahren können aber auch in Schreib-
konferenzen zum Tragen kommen. Die Techniken können in drei Gruppen zu-
sammengefasst werden.
Der Text wird mit Hilfe verschiedener Lesetechniken hinsichtlich der Bedeu-
tung des ganzen Textes, der Form und der Struktur des Textes sowie einer
Korrektur formalsprachlicher Abweichungen überprüft. Als Hilfestellung wird
eine Checkliste herangezogen. Sie beinhaltet Fragen bezüglich der Textbot-
schaft, des Textaufbaus sowie der Textproportionen, der Häufung von Kli-
schees, dem Vorkommen rassistischer und sexistischer Argumente und des
Textstils. Die Ergebnisse dieser Überprüfung werden mit Korrekturzeichen
vermerkt.
Der Text wird mit Hilfe eines „Führers für Textrevision und Umschreiben“335
überprüft. Dieser Führer nimmt das Revisionsurteil auf und nennt mögliche
Probleme, die als Ursache für die Schwächen des Textes gelten können und
zeigt Lösungsvorschläge auf.336 Die Checkliste zeigt dem Schreiber Möglich-
keiten und Wege zu einer sinnvollen Überarbeitung seiner Rohfassung auf. Als
alleiniges Material zur Überarbeitung scheint diese Liste allerdings nicht ge-
eignet, da sie nur oberflächlich auf Probleme eingeht, die sich bei der Überar-
beitung einstellen können. Jedoch bietet die Liste im Zusammenspiel mit der
Anwendung anderer Überarbeitungsstrategien eine gute Übersicht.
Der Text wird von einem Testleser überprüft. Die Wahl des Testlesers wird
von der Intention des Schreibers bestimmt. Ein Testleser, der gleichzeitig
Schreiber ist, wird den Text hinsichtlich (professioneller) Mängel kritisieren.
Ein Testleser, der weder auf der formalen noch auf der inhaltlichen Ebene Ex-
perte ist, wird den Text auf seine Verständlichkeit hin überprüfen. Hat ein sol-
cher Testleser Verständnisfragen, werden so Textstellen ermittelt, die einer
Überarbeitung unterzogen werden müssen. Inhaltliche Kritik wird am ehesten
von einem Testleser geübt werden, der mit dem thematischen Schwerpunkt
des Textes vertraut ist.
Die Überarbeitung eines Textes mit Hilfe eines Testlesers bringt auch die Ü-
berarbeitungsstrategien v. Werders in die Nähe der Schreibkonferenzen. Die
Auseinandersetzung mit Lesern und deren Kritik und Urteil ist für jeden
Schreiber konstruktiv und wichtig. Die Zusammenarbeit von Schreibern in
Schreibkonferenzen, Schreibwerkstätten und anderen Gruppen wird in einem
allgemeinen Konsens als unverzichtbar angesehen. Im Vordergrund steht
hierbei nicht das gemeinsame Arbeiten am Rohentwurf als Gemeinschaftspro-
duktion, sondern die gemeinsame Überarbeitung der individuell erstellten
337 Hier wird Kreativität nicht als Zusammenspiel von Fantasie und Sachkompetenz gesehen, sondern synonym zu
Fantasie und Originalität verwendet. Der Begriff steht hier in Anführungszeichen, da er sich in dieser Interpretation nicht
mit dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Kreativitätsbegriff deckt.
118
sich so nicht die Frage nach einer Beurteilung, sondern die Frage nach der Art
der Beurteilung.
„Lehrer müssen das Aufsatzbeurteilen trainieren“ (Schröter, Born)
„Lehrer sollen das Beurteilen den Schülern beibringen“ (Ingendahl)
„Lehrer sollen das Aufsatzbeurteilen sein lassen.“ (Hoppe)
„Lehrer müssen ihre Beurteilungspraktiken verfeinern und differenzieren, um
sie zu objektiveren.“ (Beck)
„Eine Objektivierung kann nur dadurch gelingen, dass Lehrer und Schüler die
Beurteilung zum Unterrichtsgegenstand machen und gemeinsam bewerten.“
(Ingendahl)
„Kriterien sind zu gewinnen aus textlinguistischen Forschungsergebnissen und
Elementen der Rhetorik; diese sind anzuwenden im Horizont der Klasse und
im Rahmen der Entstehungsgeschichte der Texte.“ (Sanner)
„Wichtigstes Kriterium zum Beurteilen ist der Stil.“ (Bohnsch)
„Den Stil eines Schüleraufsatzes zu bewerten ist eine Anmaßung.“ (Ingendahl)
„Die Bewertung setzt sich zusammen aus 2/5 inhaltliche Bewältigung der Auf-
gabe, 2/5 stilistische Bewertung und 1/5 Sprachrichtigkeit“ (Lueg) 341
Wie obige Stimmen zur Aufsatzbewertung zeigen, herrscht keineswegs Kon-
sens in der Frage der Aufsatzbewertung. Wie weitaus schwieriger sich die Dis-
kussion um eine Bewertung kreativ geschriebener Texte gestaltet, ist vor die-
sem Hintergrund zu erahnen.
Ein Korrekturverfahren für kreativ geschriebene Texte muss schülerorientiert,
prozessorientiert, authentizitätsbezogen, rekonstruierend und intersubjektiv
sein. Dieser Anspruch schließt Verfahren wie z. B. Schreibkonferenzen nicht
aus, sondern integriert sie als Bestandteil der Textüberarbeitungsphasen und
der Bewertung. Das Bewerten eines kreativ geschriebenen Textes wirft in ers-
ter Linie folgendes Problem auf: Die Bewertungsstrategien nehmen meist kei-
ne Rücksicht auf den Wert, den der Text für seinen Autor hat. Der individuelle
Text wird an einem einheitlichen Maßstab gemessen und damit werden auch
der Schreiber und sein individueller Entwicklungsprozess an einer allgemein
festgelegten Norm gemessen. Diese Vorgehensweise führt in vielen Fällen da-
zu, dass Schreiber ihre Subjektivität beim Schreiben zurücknehmen und keine
authentischen Texte mehr produzieren. Vielmehr spezialisieren sie sich auf die
Produktion von Texten, die sich an der Bewertungsstrategie orientieren. Dem
kann entgegen gewirkt werden, indem sich die Bewertung nicht auf eine in-
Der Verlauf und die inhaltliche Ausrichtung der Diskussionen über jene Fakto-
ren, die einen Text lesenswert machen, die ihn lebendig erscheinen lassen, ist
stark von den persönlichen Vorlieben und Abneigungen der jeweiligen Diskus-
sionsteilnehmer abhängig. Die subjektiven Vorlieben eines Lesers und damit
auch eines Bewerters treten bei der Einschätzung subjektiver, emotionaler
sowie kreativer Momente in den Vordergrund. Um diesem Mechanismus zu
entgehen, wird der Wunsch nach einer Normierung dieser Faktoren laut. Ver-
suche, Raster zu entwickeln, die der Normierung von Subjektivem, Emotiona-
lem und Kreativem und damit einer Legitimation der Bewertung dienen sollen,
scheitern meist bereits an der Frage, was Subjektivität, Emotionalität und
Kreativität sind. Ist die Hürde der Begriffsklärung und der definitorischen
Festlegung genommen, versperren neue Hindernisse den Weg zu einer sinn-
vollen Lösung. Die Ermittlung und Quantifizierung der oben genannten Fakto-
ren in Texten gestaltet sich ebenso schwierig wie die Quantifizierung von Teil-
faktoren wie Spontaneität, Flexibilität, Offenheit etc.348 Pommerin und Mum-
mert betonen die Problematik einer quantifizierenden Textbewertung und wei-
sen darauf hin, dass das kreative Schreiben gerade unsicheren Lernern „uner-
hoffte sprachliche Erfolge“349 eröffnete:
„Zum e i n e n wachsen in angstfreien Situationen Menschen über sich hinaus,
trauen sich etwas zu und gewinnen durch ihr Selbstvertrauen auch an sprach-
licher Sicherheit, was sich wiederum als positiver Circulus vitiosus auf ihr
Selbstwertgefühl auswirkt. Viele Techniken oder Verfahren des kreativen
Schreibens ermöglichen (...) einen Balanceakt zwischen Normativität und
Kreativität; d. h. die vorgegebenen Reizwörter, Anspielungen etc. bieten ein
Gerüst, an dem sich Fremdsprachenlerner „weiterhangeln“, von dem sie sich
aber auch mit wachsender Sicherheit distanzieren können.
Zum a n d e r e n entzieht sich Autobiographisches, das häufig den Reiz dieser
authentischen Texte ausmacht, per se einer objektiven Textanalyse. Wer,
wenn nicht der Schreibende selbst, kann überhaupt den Wert einer mitgeteil-
ten Lebenserfahrung, eines offen gelegten Wunsches, zugegebener Ängste
und Träume bemessen?“350
Über eine Aufteilung der Intention, des Inhalts sowie der entsprechenden
sprachlich-textualen Binnenbedingungen wird möglicherweise eine Messbar-
keit in einzelnen Teilbereichen erreicht, der Text als Ganzes gerät dabei je-
doch aus dem Blickfeld. Ein Text ist aber ein gestalterisches Produkt und da-
mit ein abgeschlossenes Ganzes,351 das dementsprechend als solches gesehen
352 vgl. Pommerin (1996), Mummert/Pommerin (2000), siehe auch Kapitel II. 4-7
124
353 Formalsprachliche Abweichungen können von der Lehrkraft erkannt und analysiert werden. Das Verständnis des in
diesem Zusammenhang auftretenden Begriffs „Fehler“ ist jedoch nicht so klar abgegrenzt wie die formalsprachlichen
Abweichungen per se. Ein Fehler kann als falsch geschriebenes Wort oder eine falsche Anwendung einer
grammatikalischen Regel definiert, oder wie in der vorliegenden Arbeit als ein Ansatzpunkt zu weiterer Arbeit gesehen
werden. Der dieser Arbeit zu Grund liegende Fehlerbegriff basiert auf den Arbeiten von Kupfer-Schreiner (1994) und
Kuhs (1989)
125
und der Auswertung der in diesem Rahmen entstandenen Texte nach formal-
sprachlichen und inhaltlichen Kriterien geschehen.
Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit habe ich mich mit dem Begriff ”Kreati-
vität” auseinandergesetzt, das Schreiben an sich und im Besonderen das
Schreiben im Deutschunterricht beleuchtet und mich mit dem Kreativen
Schreiben - einem Verfahren, in dem sich beide Komponenten, die Kreativität
und das Schreiben, verbinden - beschäftigt. Aus diesem Teil der Arbeit erge-
ben sich die folgenden Hypothesen, die im empirischen Teil der vorliegenden
Arbeit überprüft werden sollen:
2 Hypothesen
Das Kreative Schreiben ist ein geeignetes Verfahren im Deutschunter-
richt für Primär-, Zweit- und Fremdsprachenlerner.
Das Kreative Schreiben ist für jede Lernergruppe geeignet und fördert den
Spracherwerb eines jeden Lerners. Das Verfahren ist in allen schulischen und
außerschulischen Maßnahmen einsetzbar, da es zum Spracherwerb auf allen
Spracherwerbsebenen und in allen Erwerbskontexten beiträgt.
Kreatives Schreiben ist für Lerner aller Altersgruppen geeignet.
Lerner aller Altersgruppen profitieren sowohl in sprachlicher als auch in per-
sönlicher Hinsicht vom Kreativen Schreiben. Kinder, Jugendliche und Erwach-
sene schreiben qualitativ wie auch quantitativ vergleichbare Texte.
Kreatives Schreiben kann in jeder Unterrichtssituation durchgeführt
werden.
Aus den oben dargestellten Hypothesen ergibt sich, dass das Kreative Schrei-
ben in allen Lernsituationen und auf allen Lernebenen anwendbar ist. Demzu-
folge ist das Verfahren für alle Sprachlernmaßnahmen geeignet. Das Kreative
Schreiben ist also keine Sonderveranstaltung, sondern ein Unter-
richtsverfahren, der fächerübergreifend eingesetzt werden kann.
Kreatives Schreiben ist ein Verfahren, das den Erwerb einer schrift-
sprachlichen Kompetenz fördert.
Kreatives Schreiben enthält den Lernern nichts vor. Es umfasst sämtliche in
den Lehrplänen vorgesehene Lerninhalte.
Kreatives Schreiben steht nicht im Gegensatz zu systematischen Un-
terweisungen, sondern integriert sie.
In jeden kreativen Schreibkurs können systematische Unterweisungen ein-
gebaut werden, die inhaltlich auf die Bedürfnisse der Lerner und auf die amtli-
chen Vorgaben abgestimmt sind. Der Lernerfolg ist im Rahmen eines kreati-
ven Schreibkurses messbar.
129
361 Als Schreibgruppen werden hier sowohl Schulklassen als auch Gruppen aus dem außerschulischen Bereich
bezeichnet. Die einzelnen Schreibgruppen werden im laufenden Text vorgestellt. Damit wird aus dem Kontext deutlich,
ob die Texte im Rahmen einer schulischen oder einer außerschulischen Maßnahme geschrieben wurden.
362 vgl. Ballstaedt (1982)
363 vgl. Ballstaedt (1982) a.a.O. S. 165
364 vgl. Pommerin (1996), Mummert (2000), Kiper (1987), Kupfer-Schreiner (1994), Kuhs (1989)
131
371 Die 10 Schüler, deren Texte in diesem Teil der Arbeit untersucht werden, wurden nach den in Kapitel 3
aufgelisteten Kriterien ausgewählt. Der Umstand, dass in diese Schreibgruppe größtenteils Mädchen aufgenommen
wurden, ergab sich aus den erfüllten Kriterien und hat keinerlei persönliche oder ideologische Hintergründe. Dasselbe
gilt für die Herkunft und die Primärsprachen der ausgewählten Schüler.
134
Türkisch. Die Teilnehmer waren zum Zeitpunkt der Erhebung zwischen 17 und
56 Jahre alt.
C4 männlich Makedonisch 18
C5 männlich Italienisch 19
Tabelle 3: Teilnehmer der Schreibgruppe C
der Teilnehmer, die sich erst kurze Zeit kannten, tauschten ihre Tagebücher
aus und beide profitierten, nach eigenen Angaben, sehr von den sich daraus
ergebenden Gesprächen. Die Kinder der Gruppe A, der Grundschulklasse,
wurden durch den Schreibkurs ebenfalls zu privatem Schreiben angeregt, al-
lerdings in einer anderen Variante. Einige der Kinder begannen, zu Hause Ge-
schichten zu schreiben, die sie dann entweder in einem Heft sammelten oder
im Familienkreis vorlasen bzw. die Geschichten als Geschenke zu besonderen
Anlässen im Familienkreis zu verschenken. Bei den Kindern stand deutlich der
Wunsch nach schönen und spannenden Geschichten im Vordergrund, während
sie von der Idee eines Tagebuchs eher überfordert waren.
Lediglich die Teilnehmer der Gruppe C wurden nicht zu privatem Schreiben
angeregt. Sie entwickelten zwar im Unterricht Freude am Schreiben und an
den Texten, hatten jedoch kein Bedürfnis, auch in ihrer Freizeit zu schreiben.
Es liegt nahe, dass sich dieser Umstand daraus ergibt, dass es weder in den
Familien noch in den peer-groups üblich war, Gedanken und Begebenheiten
schriftlich zu fixieren, und dass in der persönlichen Umgebung der Jugendli-
chen das Schreiben keinen hohen Stellenwert einnahm. Ein weiterer Grund
dafür, dass das Schreiben für diese Gruppe keinen unterrichtsübergreifenden
Stellenwert bekam, mag darin liegen, dass das Schreiben für die Teilnehmer
dieser Gruppe eine äußerst anstrengende Tätigkeit darstellte. Möglicherweise
hätte dieses Hindernis beseitigt werden können, hätten die Jugendlichen mehr
Zeit und Möglichkeiten gehabt, das Schreiben zu ”trainieren”.
Für die vorliegende Untersuchung wurden aus einem Pool von Texten von ins-
gesamt 33 Schreibern (Gruppe A: 25, Gruppe B: 10, Gruppe C: 8) 100 Texte
von 20 Schreibern nach den oben genannten Kriterien ausgewählt.
Alle Texte wurden im Rahmen des normalen Unterrichtsalltags geschrieben.
Die Texte, die in der Grundschulklasse geschrieben wurden, wurden von der
Klassenlehrerin anschließend, mit Einverständnis der Schüler, mit einer Ge-
samtnote bewertet. Diese wurde in Rücksprache mit den Schülern erstellt und
floss in die Jahresnote ein. Die Texte aus den Gruppen B und C wurden nicht
benotet, da sie in außerschulischen Maßnahmen produziert wurden, in denen
eine Benotung unüblich ist.
377 Der Nürnberger Schulversuch “Integration ausländischer Schüler in Regelklassen wurde seit September 1990 bis
September 1994 in 42 Klassen durchgeführt. Es handelte sich hierbei um gemischte Regelklassen mit max. 33 %
ausländischen Schülern. Ziel des Schulversuchs war das interkulturelle Lernen als Unterrichtsprinzip zu implementieren
sowie eine Erhöhung der Ausbildungs- und Berufschancen. Beibehaltung und Förderung der Muttersprache waren
zentrale Elemente des Modellversuchs. (vgl. Pommerin u.a. (1996) a.a.O. S.44ff.)
378 vgl. Lamprecht (1993)
379 siehe Kapitel “Kreative Verfahren und Techniken” S. 90
139
der Texte und in der anschließenden Diskussion kam immer wieder der
Wunsch zum Ausdruck, das eigene Verhalten zumindest tendenziell zu ver-
ändern. Das aktive und sichere Auftreten der Jungen imponierte den Mäd-
chen, obwohl sie es in ihrer Rolle, in der es gegen sie gerichtet war, nicht er-
trugen. Aussagen wie ”... wenn ich ein Junge wäre, hätte ich mich an die
Mädchen rangemacht und hätte sie in mein Bett gelegt und hätte gesagt: So,
heute Abend schläfst du bei mir!”, die in den Texten auftraten, wurden in der
Diskussion dahin gehend abgeschwächt, als dass sie nicht als Anregung für
die Jungen gedacht waren und dieses Verhalten von den Jungen auch nicht
erwartet wurde, sondern sie standen für den Wunsch der Mädchen, sich - zu-
mindest teilweise - aus dem von ihnen erwarteten Verhalten zu lösen und aus
ihrer passiven Rolle auszubrechen. Die Mädchen äußerten sich in der Diskus-
sion dahingehend, dass sie gerne die aktive Rolle übernehmen würden, sich
dies allerdings nicht trauten, da es als ”nicht normal” empfunden wurde. Die
Jungen lachten über derartige Aussagen, sagten aber in der Diskussion, dass
ihnen ein aktives Verhalten der Mädchen zwar ”komisch” vorkäme, ihnen aber
einiges leichter machen würde. ”Die warten ja immer nur drauf, dass sie an-
gebaggert werden.”, war eine zentrale Aussage der.
Im Laufe der Diskussion wurde den Schülern klar, dass ihre Erwartungen an
die eigene Rolle wie auch an die Rolle der jeweils anderen Gruppe auseinan-
der klafften. Sie sahen auch keine Möglichkeit, einen Konsens zu finden, we-
der für sich selbst noch für das Zusammenleben mit dem anderen Geschlecht.
In anderen Punkten arbeiteten die Schüler im Rahmen der Diskussion er-
folgreicher an einer Annäherung.
4.1.1.2 Aussagen zu den Spielgewohnheiten
Ein häufig angesprochenes Thema in den Rohfassungen der Texte waren die
Spielgewohnheiten des jeweils anderen Geschlechts. In vielen Texten wurde
der jeweils anderen Gruppe deren ausschließliche Beschäftigung mit ge-
schlechtstypischem Spielzeug vorgeworfen. ”Mädchen spielen immer nur mit
Barbies und sammeln Zaubertrolle.”, diese Aussage deutet auf eine deutlich
negative Einschätzung der Freizeitbeschäftigung der Mädchen hin. Folgende
Aussage aus einem Text eines Mädchens lässt das eigentliche Problem bereits
etwas deutlicher hervortreten: ”Wenn ich ein Junge wäre, würde ich alle
Spielzeugautos aus dem Fenster schmeißen.” Ganz klar tritt der Hintergrund
dieser Aussagen in folgender Textstelle hervor: ”Wenn ich ein Junge wäre,
dann würde ich auch mit Mädchen spielen.” In anschließenden Diskussionen
wurde deutlich, dass die negative Einschätzung des Spielzeugs der jeweils an-
deren Gruppe aus dem Wunsch resultierte, mit den anderen zusammen zu
spielen. Dies war allerdings zum Zeitpunkt der ersten Auseinandersetzung mit
dem Thema nicht möglich. Die festen Spielgewohnheiten der Mädchen mach-
ten es den Jungen unmöglich, ihre Freizeit mit den Mädchen zu verbringen
”ein Junge kann doch nicht mit Barbies spielen”, ebenso wie es für die Mäd-
142
chen indiskutabel war, ihre Freizeit mit den Jungen zu verbringen, da diese
immer nur mit Spielzeugautos zu spielen schienen. Das Spielzeug wurde auf
der einen Seite als ein Symbol der Zusammengehörigkeit, andererseits jedoch
gleichermaßen als Grund für eine unerwünschte Abgrenzung dargestellt. Die
Schüler äußerten in der Diskussion immer wieder den Wunsch, gemeinsame
Spiele und Freizeitbeschäftigungen zu finden.
”Ihr Mädchen könnt doch auch mal Fußball spielen!”;
”Warum sollen wir denn Fußball spielen? Immer wollt ihr nur das spie-
len, was euch gefällt und was ihr besser könnt!“;
”Was sollen wir denn sonst machen - Barbie spielen?“;
”Wir spielen ja gar nicht immer Barbie!”;
”Doch tut ihr eben schon und dann sagt ihr, wir täten immer nur mit
kleinen Autos spielen, dabei ist das doch Kinderkram.”;
”Warum macht ihr’s denn dann?”;
”Machen wir gar nicht, wir spielen ganz verschiedenen Sachen!”;
”Aber immer nur Jungenspiele!”;
”Mädchenspiele sind ja auch doof!”
Es fiel der Klasse schwer, sich von ihren bisherigen Spielgewohnheiten los-
zulösen, obwohl der Wunsch nach gemeinsamen Freizeitbeschäftigungen groß
war. Am Ende der - durchaus hitzigen - Diskussion entstand die Idee, einen
gemeinsamen Bummel durch die Innenstadt zu organisieren, die allen gefiel
und an einem der folgenden Nachmittage umgesetzt wurde.
4.1.1.3 Aussagen zu Zukunftsperspektiven
Auch in den ersten Texten der Jungen deuten einige Aussagen auf Erwar-
tungen hin, denen sich die Jungen ausgesetzt fühlen: ”Wenn ich ein Mädchen
wäre, dann würde ich mir einen Mann mit einer Harley Davidson suchen.” Die
Jungen sahen ihre zukünftige Aufgabe vor allem darin, möglichst viele Presti-
geobjekte anzusammeln, um damit den Mädchen zu imponieren. Gleichzeitig
machten sie den Mädchen zum Vorwurf, dass diese über die Möglichkeit ver-
fügten, sich einen ”reichen” Mann zu suchen und dann ”den ganzen Tag am
Sofa zu liegen und zu telefonieren und nicht mal das Besteck abzutrocknen”.
Auf der einen Seite sahen die Jungen ihre Zukunft darin, zu einem gewissen
Wohlstand zu gelangen, um für ihre Frau und ihre Familie sorgen zu können,
auf der anderen Seite fanden sie es unmöglich, dass ”Mädchen nicht mal was
Richtiges lernen müssen, weil sie ja sowieso heiraten und Kinder kriegen.” Die
Mädchen reagierten auf diese Aussagen mit dem Wunsch, eine eigene Karrie-
re aufzubauen und einen wohlhabenden Mann zu heiraten.
Die Zukunftspläne der Kinder waren temporal in zwei Stufen gegliedert. Zum
einen formulierten sie ihre Erwartungen an ihre ”nähere” Zukunft, also an die
143
Haarschmuck und Frisur legten als auf die Marke ihrer Kleidung. Dieses Ver-
halten erschien den Jungen unverständlich und auch nicht wünschenswert.
382 abschließender Kommentar zu den ersten beiden Schreibkursen Wenn ich ein .....
145
Der vorgegebene Textanfang ”Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre, ....” er-
fordert eine Fortsetzung des irrealen Bedingungssatzes. Dies setzt bereits eine
hohe Stufe der Sprachbeherrschung voraus.
Der Schreiber muss wissen, dass die Konjunktion ”wenn” einen Konditional-
satz einleitet. Er muss wissen, dass die Konjunktion ”wenn” einen Nebensatz
einleitet, in dem die konjugierte Verbform an letzter Position steht. Ebenso
benötigt er für einen sicheren Umgang mit dieser Konjunktion die Informati-
on, dass sich die Wortstellung hinter dem Komma dann ändert, wenn der
Satz, der durch die Konjunktion ”wenn” eingeleitet wird, vor dem Komma
steht. Die Schüler dieser Klasse hatten keine Probleme mit der Struktur des
Konditionalsatzes. Die Wortstellung war in fast allen Texten durchgehend kor-
rekt, die Sätze waren richtig verbunden. Dieser Umstand zeugt davon, dass
die Schüler nach dreijähriger Beschulung in der Unterrichtssprache Deutsch,
bereits ein gutes Sprachgefühl entwickelt hatten. Sie konnten Strukturen, die
ihnen aus dem Unterricht bekannt waren, problemlos in eigenen Texten an-
wenden. Auch kompliziertere Strukturen, wie die Kombination aus irrealem
Bedingungssatz und aufzählender Satzreihe wurden fehlerlos gemeistert:
”Wenn ich ein Junge wäre, dann hätte ich mich an die Mädchen rangemacht
und hätte sie gefragt, ob sie mit mir ausgehen möchten und wäre mit ihnen in
die Disco gegangen.”
Um den vorgegebenen Satzanfang weiterzuführen, muss der Schreiber den
Konjunktiv II der Hilfsverben beherrschen. Der irreale Bedingungssatz fordert
hier den durchgängigen Gebrauch des Konjunktivs II. Die Schüler lösten das
Problem alle, indem sie den Konjunktiv II mit ”würde + Infinitiv” bildeten. Die
Prädikatsklammer, die durch die Verwendung der zweiteiligen Verbform ge-
bildet werden muss und die daraus resultierende Satzstellung bereiteten den
Schülern keine Schwierigkeiten. Große Schwierigkeiten jedoch hatten die
Schüler im Bereich der Tempusformen des Konjunktiv II, da sie diese nicht
eindeutig zuordnen konnten: ”Wenn ich ein Junge wäre, dann hätte ich keine
Mädchen geschlagen.” Eine weitere Fehlerquelle entstand durch eine unzuläs-
sige Vermengung des Konjunktivs der Gegenwart und des Konjunktivs der
Vergangenheit, bei der das Hilfsverb ”haben” im Konjunktiv II mit dem Infini-
tiv des Vollverbs verbunden wurde und nicht mit dem Partizip II, das diese
383 Die ersten Texte wurden auf Umfang und benutzten Wortschatz hin untersucht und einer EKG-Analyse unterzogen
(vgl. Hegele/Pommerin 1983). Die EKG-Analyse dient der Ermittlung des Erfahrungshintergrundes, der kommunikativen
Kompetenz, der Grammatikkenntnisse sowie der orthographischen Kompetenz der Schreiber. In der vorliegenden
Untersuchung wurde die Analyse der orthographischen Kompetenz nicht berücksichtigt, da die Rechtschreibung als
Lernziel definiert war. Es wurde in der Planung von einer immanenten Einübung der Rechtschreibung ausgegangen.
146
Form verlangt. ”Ich hätte nicht so viel Ausdrücke sagen.” Ebenso fällt in meh-
reren Texten die Verwendung einer - vom regionalen Dialekt beeinflussten - in
der Hochsprache eher unüblichen Form auf. Die Schüler ersetzten in der Kon-
junktiv-II-Konstruktion das Hilfsverb ”werden” durch die Konjunktiv-II-Form
des Verbs ”tun” und verbanden diese mit dem Infinitiv des Vollverbs, was zu
formalsprachlichen Fehlern führte: ”Ich täte (...) sagen.” oder ”Wenn ich ein
Mädchen wäre, dät ich nicht eingebildet sein.” sind als Redewendungen im
mündlichen Sprachgebrauch in der Region durchaus üblich, in der Schriftspra-
che allerdings unangemessen. Die Bildung und Anwendung des Konjunktivs II
der Modalverben wurden meist fehlerfrei gemeistert.
Die erste Durchsicht der Rohfassungen ergab ein weiteres formalsprachliches
Problem: die Zeichensetzung. ”Wenn ich mit meiner Freundin weggehen täte
würde ich mich nicht so aufmerksam benemen, den sonst würden die Leute
denken ich würde nur angeben aber in der Schule würde ich nicht so ange-
ben.” In den Texten wurde überwiegend ausschließlich der Punkt als Satzzei-
chen eingesetzt, obwohl die Schüler durchaus komplexere Satzstrukturen
verwendet hatten. Lediglich ein Text zeigt eine Formulierung der direkten Re-
de mit Anführungszeichen. Alle anderen Schreiber hatten diese Möglichkeit
nicht wahrgenommen.384 Diese Fehlerquelle rührt von zwei Umständen her:
Zum Einen wurde das Thema bis zu diesem Zeitpunkt nicht explizit im
Deutschunterricht behandelt, zum Anderen war den Schülern bei der Produk-
tion der Rohfassungen durchaus bewusst, dass es sich um vorläufige Versio-
nen handelte, die sie im Anschluss überarbeiten würden. Somit erklärt sich
möglicherweise der sorglose Umgang mit Rechtschreibung und Zeichenset-
zung.
384 In Kapitel II 4.2.1 wird detailliert auf die Abweichungen von der Normsprache eingegangen. Hier werden nur die
auffälligsten Abweichungen erwähnt, um einen Überblick zur Sprachkompetenz der Schreibgruppenteilnehmer in der
Zielsprache Deutsch zu geben.
147
Aussagen anderer kritisch beleuchten sollten. Die Fragen, die zu den Texten
formuliert worden waren, sollten die Schüler zu einem Gespräch über ihre
Texte anregen.
Liebe Kinder,
ich habe Eure Geschichten mit Freude gelesen. Es hat mir gut gefallen, was
ihr über Mädchen und Jungen geschrieben habt. Allerdings habe ich nicht al-
les verstanden, deshalb habe ich einige Fragen an Euch:
1. Was meint ihr mit ”cool sein”?
2. Warum finden die Jungen die Mädchen so zickig?
3. Warum würden die Mädchen, wenn sie Jungen wären, alle Mädchen an-
baggern, küssen und sogar in ihr Bett locken?
4. Warum ist es für Jungen so wichtig, daß Mädchen lange, blonde Haare
haben?
5. Warum meinen die Mädchen, daß die Jungen immer so brutal sind und oft
die Mädchen schlagen?
6. Wie stellt Ihr Euch die Freundschaft mit einem Mädchen/einem Jungen
vor?
7. Warum würden die Mädchen, wenn sie Jungen wären, nicht so angeben
und sich nicht so aufpusten?
8. Warum würden die Jungen, wenn sie Mädchen wären, nicht mit Barbies
spielen?
9. Warum würden die Jungen, wenn sie Mädchen wären, nicht heiraten und
keine Kinder kriegen wollen?
Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr mir diese Fragen beantworten könn-
tet!
Liebe Grüße!
Dieser Brief gab Anlass zu einer über 135 Minuten langen, hitzigen Diskussi-
on. An dieser Diskussion beteiligte sich die ganze Klasse und die Schüler ver-
fochten ihre Meinungen zu den einzelnen Punkten.
Die Diskussion wurde weitgehend auf einer inhaltlichen Ebene geführt. Re-
flexionen über Sprache, wie das bewusste Wahrnehmen und Beschreiben von
Strukturen und Funktionen des Zeichen- und Regelsystems waren im Rahmen
dieser ersten Diskussion nicht möglich. Der dafür erforderliche Abstraktions-
grad wurde in dieser Phase nicht erreicht.
Großen Raum beanspruchte die Beantwortung der Frage ”Was meint ihr mit
”cool sein?”. Die Schüler versuchten das Wort ”cool” zu analysieren und zu ei-
148
doch nicht. Die (die Tante) liegt bloß rum, ruft an und gibt das ganze Geld
aus.” Dieser Beitrag wurde sofort mit einem „Also, das stimmt ja gar nicht, ich
habe auch eine Tante und die liegt nicht den ganzen Tag rum, sondern die ar-
beitet in einer Firma und hat ganz viel Stress.“ quittiert. Es war schwierig, die
Kinder von dieser Ebene hin zu einer abstrahierenden Diskussionsform zu füh-
ren. Vorrangig lag die Aufgabe der Diskussionsleitung darin, die Sprechzeiten
einzuteilen und auch zu begrenzen. Im Eifer des Gefechts hatten die Schüler
große Probleme, sich an die bereits eingeführten und eingeübten
Gesprächsregeln zu halten. So antwortete eine Schülerin der Lehrerin auf die
Frage, ob sie sich denn nicht an die Gesprächsregeln erinnere, mit einem un-
geduldigen „Ja, ich weiß schon, aber das geht mir jetzt an die Nerven, weil
....“ und setzte ihren Gesprächsbeitrag fort.
Als wichtigste Ergebnisse der Diskussion lassen sich zusammenfassen:
• Die Schüler führten eine umfassende Diskussion über ihre eigenen Texte
und beschäftigten sich über einen längeren Zeitraum mit deren Inhalten.
Sie entwickelten hohe Motivation, über eigene und fremde Texte zu spre-
chen.
• Mädchen und Jungen definierten ihre und die jeweils andere Ge-
schlechterrolle und arbeiteten die durch die unterschiedlichen Verhal-
tensmuster auftretenden Probleme im Klassenverband heraus.
• Die Klasse entwickelte Lösungsvorschläge und -strategien zu Problemen,
die während des Schreibprozesses auftraten sowie zu Schwierigkeiten, die
sich aus der Zusammenarbeit in Gruppe oder Plenum ergaben.
• Die Klasse plante einen konkreten Lösungsversuch, der anschließend in die
Tat umgesetzt wurde.
• Die Schüler reflektierten gemeinsam über die Möglichkeiten der seman-
tischen Differenzierung anhand einiger Beispiele (cool, zickig...) und ent-
wickelte Wort- und Assoziationsfelder.
• Die Klasse begriff Sprache als Mittel der Kommunikation und Instrument
des Handelns.
• Die Schüler entdeckten die Wirkung ihrer eigenen Formulierungen auf den
Leser. Sie erkannten, dass es einer exakten Wortwahl bedarf, um Missver-
ständnissen auf Seiten des Lesers vorzubeugen.
Die oben aufgeführten Ergebnisse der Diskussion sollten im Anschluss in eine
Collage einfließen. Die Unterrichtseinheit sollte die Schüler motivieren, die
gewonnenen Erkenntnisse erneut aufzugreifen und damit zu sichern. Dazu
sollten die Schüler in Gruppenarbeit Collagen zu den Themen: Wenn ich ein
Junge wäre, ...“, „Wenn ich ein Mädchen wäre, ....“, „Ich bin ein Junge.“, „Ich
bin ein Mädchen.“ erstellen.
150
Die Gruppenarbeit, die sich für diese Art der bildnerischen Darstellung an-
bietet, initiiert das Gespräch unter den Schülern zum Thema. Während der
gemeinsamen Arbeit an einer Collage wird eine Diskussion unbedingt notwen-
dig, da die Schüler sich, um erfolgreich arbeiten zu können, intensiv mit dem
Thema auseinandersetzen müssen. Die entstandenen Arbeiten wurden im Ple-
num besprochen, wobei ausschließlich die inhaltliche Bewältigung des Themas
reflektiert wurde.
Diese Phase des Schreibkurses diente der Sicherung und der Vertiefung erster
Ergebnisse. Die Auseinandersetzung mit dem Thema in der Gruppe und die
daraus resultierenden Darstellungen im Medium der Collage setzten sich für
die Lehrkräfte zu einem das ganze Spektrum beleuchtenden Bild zusammen.
Dieser Einblick erlaubte es, den Standpunkt der Schüler zu erfassen und sie
dort abzuholen, wo sie zu diesem Zeitpunkt standen. Die Beobachtung und
Auswertung der Diskussion und der Arbeit an den Collagen ermöglichte eine
detailliert auf den psychologischen wie sprachlichen Entwicklungsstand der
Schüler abgestimmte weitere Unterrichtsplanung.
durchweg fair und konstruktiv mit den Texten anderer umgingen, und dies im
Gegenzug auch vom Umgang anderer mit ihren Texten erwarten konnten.
Es kam allerdings einige Male zu Situationen, in denen die Klasse einen Text
eines Mitschülers bewusst überbewertete, um ihn zu weiterer Arbeit zu moti-
vieren oder um ihn nicht zu verletzen.
Der ausgewählte Text wurde im Plenum besprochen und daraufhin wurde ein
Satz hervorgehoben. An diesem Satz wurden die operationalen Verfahren ex-
emplarisch vorgestellt und erprobt. Anschließend wurden diese Verfahren in
Gruppen zu je vier Schülern an dem ganzen Text ausprobiert. Die Ergebnisse
dieser Gruppenarbeit wurden gesammelt und im Plenum vorgestellt. Sätze,
die durch eine überdurchschnittliche Wirkung auf den Leser auffielen, wurden
im Plenum analysiert und die Kriterien an der Tafel fixiert.
In einer weiteren Sitzung wurden alle Texte in Gruppenarbeit nach dem vor-
gegeben Muster redaktionell überarbeitet. In den Gruppen387 wurden folgen-
de Verfahren zur Überarbeitung verwendet:
Strategien G1 G2 G3 G4 G5 G6 G7 insgesamt
Erweiterung 6 4 1 2 4 5 5 27
und/oder 1 - - 1 - 1 - 3
Paraphrase 6 6 6 4 4 9 6 41
Adjektive 1 - - - - - - 1
Wortfolge - 1 - 1 1 - - 3
Weglassprobe - - 2 1 1 - 1 5
Verschiebeprobe - - 1 1 1 - 1 4
direkte/indirekte Rede - - - - - 1 - 1
385 Den formalsprachlichen Analysen liegen Helbig/Buscha (xxxx), Dreyer/Schmidt (xxxx) sowie Götze (xxxx) zu
Grunde.
386 Formalsprachliche Abweichungen können von der Lehrkraft erkannt und analysiert werden. Das Verständnis des in
diesem Zusammenhang auftretenden Begriffs „Fehler“ ist jedoch nicht so klar abgegrenzt wie die formalsprachlichen
Abweichungen per se. Ein Fehler kann als falsch geschriebenes Wort oder eine falsche Anwendung einer
grammatikalischen Regel definiert, oder wie in der vorliegenden Arbeit als ein Ansatzpunkt zu weiterer Arbeit gesehen
werden. Der dieser Arbeit zu Grund liegende Fehlerbegriff basiert auf den Arbeiten von Kupfer-Schreiner (1994) und
Kuhs (1989)
387 Die einzelnen Gruppe zu je 4 Schülern werden in Tabelle 3 mit G1, G2, G3 usw. bezeichnet.
152
insgesamt 14 11 10 10 11 16 13 85
“Anwendung der Überarbeitungsstrategien”
Die Textversionen, die aus der ersten Überarbeitungsphase hervorgingen,
wurden von der Lehrkraft formalsprachlich korrekt und maschinenschriftlich
abgetippt und den Schülern zur weiteren Überarbeitung, dem Verfassen einer
zweiten Textversion ausgehändigt.
den zweiten Fassungen äußerte sich das Bestreben, einen individuellen Text
zu schreiben.388
388 Diesem Umstand wurde in einer der nächsten Sitzungen Rechnung getragen.
154
einem Gespräch auf der Metaebene, sondern in erster Linie die Angst, einen
Mitschüler durch die Kritik zu verletzen. Die Schüler waren äußerst vorsichtig
in ihren Äußerungen. Nach einiger Zeit konnte das Gespräch jedoch so ge-
lenkt werden, dass die Schüler mehr Zutrauen und Mut fassten und ihre Kritik
selbstbewusst äußerten, ohne Angst ihre Mitschüler zu verletzen. So entwi-
ckelten die Schüler durchaus konstruktive Kritik, die ebenso positiv aufge-
nommen wurde.
(1) Ein erster Versuch:
„ ...hm, also, eigentlich, finde ich den Text ein bißchen... also er ist schon
schön, aber ganz so spannend ist er nicht. Warum hast du ...Man kann ja gar
nicht lachen ... Der vom CV ist viel lustiger.“
(2) Ein weiterer Versuch vom gleichen Schüler zum gleichen Text:
„ ... Du hast immer die gleichen Wörter verwendet. Und überhaupt keine lus-
tigen Wörter.“
piervorlagen für das geplante Buch gelten konnten. Die dritte und damit end-
gültige Textversion zeigt Merkmale, die hier tabellarisch jenen, der beiden
vorhergehenden Textfassungen gegenübergestellt werden.
Erläuterungen zur Tabelle 6: In der linken Spalte sind die Kriterien aufgelistet, anhand derer die
Texte untersucht wurden. Es wurde die gesamte Textlänge sowie der Umfang des benutzten
Wortschatzes und die Anzahl der Substantive, Verben und Adjektive der drei Textfassungen erho-
ben. Spalte 2 enthält die Ergebnisse der Auswertung der Texte der türkischen Kinder, Spalte 3
zeigt die Anzahl der aus dem Gemeinschaftscluster entnommenen Wörter und Begriffe. In Spalte
4 sind die Textdaten der anderen Schüler aufgelistet und Spalte 5 zeigt auf, wie viele Wörter und
Begriffe jeweils aus dem Cluster übernommen wurden. Die 6. Spalte gibt die Werte der ganzen
Gruppe an, ebenso bezieht sich Spalte 7 auf die ganze Gruppe. Den Daten der zweiten Fassung
wurde der quantitative Unterschied zur ersten Fassung fett beigefügt. Den Daten der dritten und
damit letzten Textfassung wurde die Differenz zur ersten Fassung fett sowie die Differenz zur
zweiten Fassung kursiv gegenüber gestellt.
deren Weg: In den dritten Textversionen treten deutlich weniger Wörter aus
dem Cluster auf als in den Rohfassungen. Sie haben das Cluster nicht in dem
Umfang als Hilfe zur Überarbeitung herangezogen wie die türkischen Kinder.
Insgesamt nahm der Umfang der Texte in der zweiten Version um durch-
schnittlich etwa 4 Wörter zu, reduziert sich dann aber in der endgültigen Fas-
sung wieder auf den Wert der Rohfassungen.
Allgemein kann festgestellt werden, dass die Zweitsprachenlerner die Überar-
beitungsphasen eher dazu nutzten, ihre Texte auszubauen und zu erweitern,
während die primärsprachlichen Schreiber ihre Texte in den Überarbeitungs-
phasen eher strafften.
Texte schrieb. Den Einstieg in den Schreibprozess bildete ein begrenztes Ge-
meinschaftscluster389 zum Wortfeld „Freunde“, da die Schüler schon während
des ersten Schreibkurses „Wenn ich ein Junge/ ein Mädchen wäre...“ inhaltli-
che Aspekte und Assoziationen gesammelt hatten.
389 Das Gemeinschaftscluster wurde durch die Vorgabe, Wörter und Begriffe zum Thema sowie Synonyme und
Homonyme zu finden, begrenzt. Diese Form wurde gewählt, um die Schüler von der inhaltlichen Ebene zu einer
sprachlichen hinzuführen. Sie sollten durch dieses Verfahren zu einer lexikalischen Sammlung angeregt werden.
159
Erläuterungen zur Tabelle: In der linken Spalte sind die Kriterien aufgelistet, anhand derer die
Texte untersucht wurden. Es wurden die gesamte Textlänge, der benutzte Wortschatz sowie –
hier gesondert ausgewiesen – die Frequenz der verwendeten Substantive, Verben und Adjektive
untersucht. Die zweite Spalte weist die Ergebnisse der Analyse der Texte der türkischen Kinder
aus, die dritte Spalte von links stellt die Ergebnisse der Analyse der Kinder nicht-türkischer Pri-
märsprache vor. In der rechten Spalte wird diesen Daten der durchschnittliche Wert aller Texte
gegenübergestellt. Den Daten der Rohfassungen „So sollte mein bester Freund/meine beste
Freundin sein“ wurde die quantitative Differenz zu den Daten der Rohfassungen „Wenn ich ein
Junge/ein Mädchen wäre,...“ fett gedruckt beigefügt.
Die quantitative Erhebung der oben ausgewiesenen Textdaten ergab, dass die
Texte nicht nur länger waren, sondern im Vergleich zu den Rohfassungen des
ersten Schreibkurses „Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre...“ ein erweiter-
160
ihre Texte aufnehmen. Ganz im Gegenteil dazu zeigen sie große Scheu, un-
gewöhnliche, bildhafte Ausdrucksformen, die sie im mündlichen Sprach-
gebrauch häufig produzieren, in ihre Texte aufzunehmen und schriftlich zu fi-
xieren. Erst, wenn sie erkennen, dass auch „richtige“ Autoren durchaus auf
derartiges „Werkzeug“ zurückgreifen, trauen sie sich, ihre ganz persönlichen
und individuellen Bilder in ihre Texte einzubauen. Somit erscheint es durchaus
legitim, eine derartig individuelle wie auch fantasievolle Tätigkeit wie das
Schaffen von Sprachbildern zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Zum Ein-
stieg in die Unterrichtseinheit wurde die in einer der Rohfassungen aufgetre-
tene Formulierung „verschwiegen wie ein Grab“ thematisiert. Diese Formulie-
rung wurde im Plenum analysiert und auf ihre Wirkung im Text hin unter-
sucht. Die Schüler kamen im Verlauf dieser Sequenz zu zwei wichtigen Ergeb-
nissen: Sie fanden heraus, dass diese Formulierung den Text belebe und dass
die Verbindung der beiden Begriffe „Grab“ und „verschwiegen“ im Grund ei-
genartig sei, denn ein Grab könne schließlich nicht sprechen und somit auch
nicht schweigen. Und etwas, das nicht schweigen kann, könne demzufolge
auch nicht verschwiegen sein. Diese beiden – inhaltlich sehr unterschiedlichen
– Ergebnisse wurden im Verlauf der weiteren Diskussion beleuchtet. Im Vor-
dergrund standen dabei folgende Fragen:
• Warum macht eine solche Formulierung einen Text lebendig?
• Was ist mit dieser Formulierung gemeint?
• Warum empfinden wir diesen Vergleich als ungewöhnlich?
Im Rahmen dieses Unterrichtsgesprächs wurde der Begriff „Metapher“ ein-
geführt und deren Funktion im Text besprochen. Ziel der Unterrichtseinheit
sollte nicht nur die Erkenntnis sein, dass „ungewöhnliche Vergleiche“ einen
Text aufwerten, sondern auch das Erkennen ihrer Struktur sowie me-
tasprachliche Überlegungen. Es zeigte sich, dass auch Grundschüler in der La-
ge sind, über Metaphern zu reflektieren und sich in der Diskussion auszutau-
schen und dabei die Fachbegriffe zu verwenden.
In einem weiteren Schritt wurde das Verfahren „Finden ungewöhnlicher Ver-
gleiche“ vorgestellt und am Beispiel „so schön wie ...“ geübt. Die Ergebnisse
wurden schriftlich fixiert.
In der folgenden Unterrichtseinheit suchten die Schüler alle Adjektive heraus,
die sie in den Rohfassungen verwendet hatten, und erstellten eine Liste. Hier-
bei stellte sich heraus, dass es für Grundschüler keine leichte Aufgabe ist, die
Wörter eines Textes nach Wortartenzugehörigkeit zu systematisieren. Zu die-
sem Anlass wurde eine Sequenz eingeschoben, in der es um die Bestimmung
von Wortarten ging. Die Schüler zeigten sich äußerst motiviert, bekamen sie
doch Informationen, die ihnen behilflich waren, ihre Texte zu verbessern. Zu-
dem konnten sie das neu erworbene Wissen sofort in der Praxis einsetzen und
162
fahren und Arbeitsformen es den Schülern möglich machen, ernsthaft über ei-
gene Erfahrungen und Probleme zu sprechen. Während der Junge mit dem
kranken Vater in der Pause auf dem Schulhof wohl wenig Gelegenheit gefun-
den hätte, über seine missliche Lage zu sprechen, fand er in der Unterrichtssi-
tuation offene Ohren. Hier fühlte er sich ernst genommen und er hatte keine
Angst, als Langweiler oder Jammerlappen empfunden zu werden. Er hatte
auch jederzeit die Möglichkeit, sich wieder zurückzuziehen und zum „eigentli-
chen“ Thema zurückzukehren, sollte ihm das Gespräch zuwider laufen, ohne
die anderen zu brüskieren. Auch die verliebte Schülerin konnte in der Unter-
richtssituation darauf zählen, dass ihr Liebeskummer von der Gruppe ernst-
haft diskutiert wurde, ohne dass sie sich den üblichen Hänseleien aussetzen
musste. Erstaunlicherweise führten solche Gespräche nicht dazu, dass die je-
weilige Gruppe den Arbeitsauftrag vergaß und sich ausschließlich des jeweili-
gen Gesprächsthemas widmete oder dass die Gruppen private Gespräche als
Vorwand nahmen, um den Arbeitsauftrag nicht auszuführen. Alle Gruppen
schafften es, zum Auftrag zurückzukehren und diesen zu bewältigen. Dies
zeigte sich auch in der daraufhin verfassten zweiten Textversion.
391 Die Daten, die in der quantitativen Analyse zu dieser Textfassung erhoben wurden, sind in einer Übersicht
enthalten, in der die drei Textversionen zu diesem Thema verglichen werde. Auf eine Darstellung an dieser Stelle wird
verzichtet, da die Daten in der Gegenüberstellung aussagekräftiger sind und hier nur wiederholt werden könnten.
164
schied ergibt sich bei der Erhebung der verwendeten Vergleiche, die aus der
Liste übernommen wurden:
thematisiert wurde. Dazu wurde ein Satz aus einem Schülertext herangezo-
gen und anhand operationaler Verfahren bearbeitet:
Erläuterung zur Tabelle: In der linken Spalte sind die Schreiber der dritten Textversion nach Na-
tionalität aufgelistet. Die Spalte 2 stellt die Anzahl der Textstellen dar, in der Wünsche oder Er-
wartungen geäußert werden. Die davon von der Tafelanschrift übernommenen Strukturen werden
in der dritten Spalte aufgelistet. Die rechte Spalte zeigt auf, wie viele neue Formulierungen zum
Äußern von Wünschen oder Erwartungen gebildet wurden.
Die dritte Textfassung ist durch einen häufigen Einsatz ungewöhnlicher Ver-
gleiche wie durch wechselnde Formulierungen von Wünschen oder Er-
wartungen gekennzeichnet. Die ungewöhnlichen Vergleiche aus der zweiten
Textfassung wurden von den meisten Schülern in die dritte Textfassung über-
nommen. Sie fanden die Aneinanderreihung dieser Formen nicht störend. Die
Bildung und der Einsatz dieser Vergleiche machte ihnen Freude und ließ er-
kennen, wie auch Grundschüler nicht-deutscher Primärsprache Spaß daran
haben, mit der Zielsprache zu spielen. Einige Schüler machten einen richtig
gehend befreiten Eindruck, als sie merkten, dass der spielerische Umgang mit
Strukturen und Vokabeln nicht nur zugelassen, sondern erwünscht war. Sie
begannen mit Eifer und Freude, Aussagen neu zu formulieren bzw. bereits be-
stehende Textstellen umzuformulieren. Der spielerisch-kreative Umgang mit
Sprache ebnete einigen Schülern den Weg zu Texten, die sie in der Folge
schrieben und die einen Zuwachs an kreativen Aussagen bzw. einen kreativen
Umgang mit Sprache ausweisen. Beobachtungen hierzu werden in den Fall-
studien dokumentiert und interpretiert.
Die quantitative Auswertung der Texte ergab eine Zunahme der Textlänge
von der Rohfassung zur zweiten Fassung um etwa 19 Wörter, die sich aus ei-
nem Wortschatz von etwa 10 Wörtern zusammensetzt. Hier treten Unter-
schiede zwischen den Texten der türkischen und Texten der nicht-türkischen
Schüler hervor: Die Texte der türkischen Schüler wurden um etwa 6 Wörter
länger, während die nicht-türkischen Schüler ihre Texte um circa 28 Wörter
erweiterten. Der Wortschatz erweiterte sich in den Texten der türkischen
Schüler um durchschnittlich 5 Wörter, während in den Texten der nicht-
türkischen Schüler im Schnitt 14 neue Wörter auftreten.
Demgegenüber stiegen sowohl Textlänge als auch Wortschatz in der dritten
Textversion der türkischen Schüler weiter an, während die nicht-türkischen
Schüler ihre Texte in der dritten Version strafften und der Umfang des Wort-
schatzes stagnierte. Der weniger häufige Gebrauch von Adjektiven, die die
zweite Textversion der türkischen Schüler aufweist, kann als Reaktion auf die
Einführung der ungewöhnlichen Vergleiche gewertet werden. Anscheinend
wurde hier eine Vermeidungsstrategie entwickelt, mit deren Hilfe die türki-
schen Schüler eine für sie noch neue und damit schwierige Form umgingen.
Diese Einschätzung wird durch die Feststellung untermauert, dass sich dieser
Wert in der dritten Textversion stabilisierte. Diese Beobachtung könnte ein
Hinweis auf unterschiedliche Arbeitsweise und unterschiedliches Arbeitstempo
der beiden Gruppen sein. Die Annahme, die türkischen Kinder würden mehr
167
Zeit benötigen, um ein für sie neues sprachliches Muster zu verarbeiten, bes-
tätigt sich hier.
Im Vergleich zur Erhebung der Daten des Schreibkurses „Wenn ich ein Jun-
ge/ein Mädchen wäre...“ kann als erstes Ergebnis gelten, dass die türkischen
Schüler die Überarbeitungsphasen eher nutzen, um ihre Texte kontinuierlich
zu erweitern, während die nicht-türkischen Schüler in der zweiten Textversion
jeweils ihre Rohfassungen erweitern, um diese erweiterte Version dann in der
endgültigen Textfassung stark zu straffen. Diese Tendenz kann aus allen er-
hobenen Textdaten abgelesen werden.
Diese Form des Mischens von Primär- und Zweitsprache trat in diesem
Schreibkurs zum ersten Mal auf. Es entsteht der Eindruck, die Schüler hätten
eines sehr persönlichen Themas bedurft, sich ihrer Bilingualität bewusst zu
werden. Vorher drängte sich immer der Eindruck auf, die türkischen Kinder
vermieden es ganz bewusst, sich in ihrer Primärsprache auszudrücken, ob-
wohl die türkischen Schüler primärsprachlichen Unterricht hatten und in ihrer
Primärsprache alphabetisiert waren. In den vorangegangenen Unterrichtsein-
heiten, hatten die türkischen Schüler auf ein Wörterbuch zurückgegriffen oder
eine andere Formulierung gesucht, wenn sie sprachlich nicht in der Lage wa-
ren, sich in der Zielsprache Deutsch zu äußern. In keinem einzigen Fall wur-
den türkische Vokabeln oder Redewendungen in den Clustern oder Texten
verwendet, obwohl dies ausdrücklich erlaubt war. Überhaupt war in dieser
Grundschulklasse ein geringer Gebrauch der Primärsprachen zu verzeichnen.
Insbesondere die türkischen Schüler verwendeten ihre Primärsprache ver-
gleichsweise sehr wenig, auch im Umgang untereinander. Dies scheint er-
staunlich angesichts der Tatsache, dass sie eine Klasse besuchten, die in ei-
nen Schulversuch eingebunden war, der die Primärsprache in den Unterrichts-
alltag integrierte. Auf diesen Umstand hin angesprochen, erklärte eine türki-
sche Schülerin: „Was soll ich denn hier türkisch sprechen, da verstehen mich
ja nicht alle?“ Die Bereitschaft und der Wunsch, sich auch im Klassenverband
deutsch auszudrücken, zeigt sich auch darin, dass es in dieser Klasse keine
Zweiteilung deutsch-türkisch gab, wobei sich dieser Umstand wiederum posi-
tiv auf den Zweitspracherwerb der türkischen Schüler auswirkte. Lediglich in
einer Kommunikationssituation schalteten die Schüler gelegentlich auf ihre
Primärsprache um: beim Schimpfen und Fluchen. Erstaunlicherweise hatte die
Klasse jedoch auch hier einen gemeinsamen Weg gefunden: Die nicht-
türkischen Schüler bedienten sich in dieser Situation ebenfalls türkischer Aus-
drücke.
Beim Anfertigen des Clusters zum Thema „Ich bin...“ wurden sich die mo-
nolingual aufgewachsenen Schüler eines Defizits bewusst, das sie auch als ein
solches empfanden, nämlich des Umstandes, dass sie ihr Cluster nur in einer
Sprache anfertigen konnten. Einige Schüler äußerten diesbezüglich ihren Un-
mut und fanden letztendlich Trost in der Aussicht, dass sie im nächsten Schul-
jahr Englischunterricht bekommen würden. Möglicherweise konnte sich hier
der Kontakt zu bilingualen Klassenkameraden motivierend auf den eigenen
Fremdsprachenerwerb auswirken.
Erläuterungen zur Tabelle: In Spalte 1 sind die Kriterien aufgelistet, nach denen die Texte untersucht wurden. Es wurde
die gesamte Textlänge, der benutzte Wortschatz sowie gesondert die Anzahl der benutzten Substantive, Verben und Ad-
jektive der Rohfassungen erhoben. Spalte 2 enthält die Ergebnisse der Analyse der Texte der türkischen Kinder. Spalte
3 fasst die Textdaten der nicht-türkischen Kinder zusammen. Spalte 4 stellt die durchschnittlichen Werte aller Texte dar.
Den Daten der ersten Version (Ich bin...) ist der quantitative Unterschied zu den Rohfassungen des ersten Schreibkur-
ses (Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre...) fett sowie zu den Rohfassungen des zweiten Schreibkurses (So sollte
mein bester Freund/meine beste Freundin sein...) kursiv beigefügt.
Die Rohfassungen zum Thema „Ich bin...“ (im Folgenden als Rohfassung III
bezeichnet) sind insgesamt etwas länger als die Rohfassungen der vor-
angegangenen Schreibkurse (im Folgenden Rohfassung I und II genannt). Der
quantitative Unterschied zwischen den Rohfassungen II und III ist allerdings
deutlich geringer als der Unterschied zwischen den Rohfassungen I und II.
Dem entgegen hat sich der Umfang des benutzten Wortschatzes in Rohfas-
sung III etwa um den gleichen Wert erhöht wie bei den Rohfassungen I und
II. Das kann mit einer starken Zunahme der Verwendung von Substantiven
erklärt werden. Es wurden in dieser Rohfassung (III) durchschnittlich 13 Sub-
stantive mehr verwendet als in der Rohfassung II. Dies rührt von dem häufi-
gen Einsatz ungewöhnlicher Vergleiche her. In Rohfassung III ist eine Abnah-
me der Verwendung von Verben und Adjektiven zu erkennen. Es wurden hier
weniger Verben verwendet als in Rohfassung II und I. Während in den Roh-
fassungen II durchschnittlich sechs Adjektive mehr aufzufinden sind als in den
Rohfassungen I, reduzierte sich dieser Wert in den Rohfassungen III um 1,3.
Ebenso wurden in den Rohfassungen III weniger Wörter verwendet, die den
anderen Wortarten zuzuordnen sind.
Die Rohfassungen zum Thema „Ich bin...“ wurden nach einem individuell an-
gefertigten Cluster mit dem Kernwort „ich“ erstellt. Es ergaben sich folgende
Werte:
171
Erläuterungen zur Tabelle: In Spalte 1 sind die Kriterien aufgelistet, nach denen die Texte untersucht wurden. Es wurde
die gesamte Textlänge, der benutzte Wortschatz sowie gesondert die Anzahl der benutzten Substantive, Verben und Ad-
jektive der Rohfassung II erhoben. Spalte 2 enthält die Ergebnisse der Analyse der Texte der türkischen Kinder. Spalte 3
listet die Anzahl der von dieser Gruppe aus dem Cluster übernommenen Wörter auf. Spalte 4 fasst die Textdaten der
nicht-türkischen Kinder zusammen. Spalte 5 zeigt die Anzahl der aus dem Cluster übernommenen Wörter auf. Spalte 6
stellt die durchschnittlichen Werte aller Texte dar. Den Daten ist in der 7. Spalte die Anzahl der Wörter, die aus dem
Cluster übernommen wurden gegenüber gestellt.
,
Diese Werte, die in der Tabelle dargestellt werden, weisen daraufhin, dass
sich die Schüler eher auf ein individuelles Cluster stützen als auf ein Ge-
meinschaftscluster. So haben sich speziell die primärsprachlichen Schreiber
hier stark an ihrem Cluster orientiert und vergleichsweise viele Begriffe daraus
in ihre Rohfassung übernommen. Die türkischen Schüler hingegen wichen in
ihren Texten stärker von den Assoziationen im Cluster ab. Jedoch sollte bei
einer solchen Gegenüberstellung nicht vergessen werden, dass die türkischen
Schüler ihre Cluster überwiegend zweisprachig bzw. türkisch erstellt hatten.
Ein Transfer der im Cluster auf Türkisch festgehaltenen Gedanken hin zu in
der Zielsprache Deutsch formulierten Aussagen in der Rohfassung hatte offen-
sichtlich nicht stattgefunden. Betrachtet man die Aussagen in den Clustern, so
kann weder von einer sprachlichen noch von einer inhaltlichen Verbindung
zwischen Cluster und Text ausgegangen werden. Die türkischen Schreiber
hatten in den Assoziationssträngen auch inhaltlich andere Aussagen formuliert
als in den Texten. Ein Schüler beantwortete die Fragen nach einer möglichen
Ursache: „Ich denk eben auf Türkisch anders als auf Deutsch und dann passt
das nicht zusammen.“ Offensichtlich traf diese Erklärung auch auf die anderen
Schüler zu, die dann im Gespräch auch gleich die Erklärung nachschoben,
weshalb sie die Texte nicht in ihrer Primärsprache geschrieben hatten: „Und
weil wir da anders denken, wollen wir das nicht aufschreiben.“
Die Schüler hatten zu diesem Zeitpunkt anscheinend eine feste Vorstellung
davon entwickelt, was ihrer Meinung nach in einen Text aufgenommen wer-
172
den sollte und was nicht. Sie hatten – ohne darauf im Unterricht in ir-
gendeiner Form hingewiesen worden zu sein – bereits einen Kriterienkatalog
zur Textsorte angelegt und selektierten unbewusst Gedanken, inhaltliche Aus-
sagen, bevor sie in den Text aufgenommen wurden. Die primärsprachlichen
Schüler kannten dieses „Gefühl“, manche Aussagen gehörten einfach nicht in
einen Text und wurden sich dessen im Gespräch mit ihren türkischen Mitschü-
lern bewusst. Im Vordergrund standen hierbei nicht Aussagen, die auf Grund
ihrer privaten, intimen Natur nicht in die Texte aufgenommen wurden, son-
dern Aussagen, von denen die Schüler überzeugt waren, sie würden keinen
Leser interessieren. Sie schrieben also nicht das, was ihnen an ihrer eigenen
Person interessant erschien, sondern das, wovon sie dachten, es könne ihre
Klassenkameraden interessieren. Die Texte sind demnach nicht unbedingt als
Medium anzusehen, anhand dessen sich die Schüler mit ihrer eigenen Person
und ihrer Lebenswelt auseinandersetzten, sondern als Medium, das vorrangig
der „Unterhaltung“ der Klassenkameraden diente. Diese Einschätzung wird
durch die Beobachtung untermauert, dass auch in diesen Texten sehr viele
ungewöhnliche Vergleiche auftreten. Die Schüler hatten damit versucht, die
Texte für ihre Leser spannend und unterhaltsam zu machen. Aussagen wie
„Ich bin ein ausgeflippter Affe und spinne auch in der Schule“, „Ich ziehe so
schöne Klamotten an wie Janet Jackson.“, „Mein Kopf ist so hohl wie eine alte
Thermoskanne.“ können wohl kaum als Reflexionen zur eigenen Person inter-
pretiert werden, sondern sind eher als schreiberische Effekthascherei einzu-
stufen.
Die Texte weisen fast alle einen inhaltlichen und stilistischen Bruch auf. Gegen
Ende werden die Texte persönlicher und es werden mehr Aussagen gemacht,
die auf eine Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Thema, nämlich der
Reflexion eigenen Verhaltens, schließen lassen. „ Ich werde von meinen Eltern
auch Nina genannt. In der Schule heiße ich Tina.“, „Ich mag auch keine, die
wo so voll auf super tun.“, Manchmal kann ich ein paar Fragen nicht beant-
worten.“ In gleichem Maße lässt der häufige Gebrauch ungewöhnlicher Ver-
gleiche nach. Offensichtlich führte das Schreiben die Schüler näher an das
Thema heran. Sie hatten erstmal versucht, möglichst unterhaltsame Texte zu
schreiben, sich dann aber doch gegen Ende des Schreibprozesses auf das
Thema eingelassen.
hätten nicht so viel über sich und ihre Gedanken geschrieben, weil sie der
Meinung waren, die anderen interessiere das nicht. Dies wurde von der Grup-
pe widerlegt, wobei allerdings den meisten auffiel, dass sie ihre eigenen Texte
ebenso gestaltet hatten.
„Was sollen wir denn jetzt machen? Spannende und lustige Texte schreiben
oder was wir echt meinen?“ wurde zur zentralen Frage. Die Antwort, dass es
kein Patentrezept gebe, dass man das von Fall zu Fall zu entscheiden habe,
und dass diese Frage bei jedem Text neu beantwortet werden müsse, stellte
die Schüler nicht zufrieden. Sie hatten eine eindeutige Anweisung erwartet
und waren von der Offenheit der Antwort sichtlich enttäuscht und überfordert.
Als Ergebnisse dieser Unterrichtseinheit lassen sich folgende Aussagen zu-
sammenfassen:
• Wenn ich nichts über mich selbst schreiben will, weil das die anderen
nichts angeht, dann kann ich einen lustigen Text schreiben und viele un-
gewöhnliche Vergleiche machen.
• Wenn ich nichts über mich selbst schreiben will, weil das die anderen
nichts angeht, dann kann ich eine Person erfinden, die eine Geschichte er-
zählt.
• Wenn ich nichts über mich selbst schreiben will, weil das die anderen
nichts angeht, dann kann ich einfach irgendetwas erfinden.
• Wenn ich über mich und meine Probleme schreiben will und will, dass die
anderen das ernst nehmen, dann muss man das beim Lesen erkennen
können.
• Wenn ich über mich und meine Probleme schreiben will und will, dass die
anderen das ernst nehmen, dann darf ich keine lustigen oder blöden Ver-
gleiche machen.
• Wenn ich über mich und meine Probleme schreiben will und will, dass die
anderen das ernst nehmen, dann müssen die anderen das akzeptieren und
nicht sagen, dass mein Text langweilig ist.
Diese Liste führte auch dazu, dass sich die Klasse überlegte, was sie von den
Texten anderer erwartete. Während im Schreibkurs „Wenn ich ein Junge/ein
Mädchen wäre...“ die Gespräche über die Texte überwiegend die inhaltlichen
Aussagen zum Thema hatten, wurden die Texte im Schreibkurs „So sollte
mein bester Freund/meine beste Freundin sein...“ eher nach stilistischen Kri-
terien beurteilt. Die Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Aussagen war
auch im Gespräch über die „Ich bin...“-Texte anfangs im Hintergrund gestan-
den. Im Laufe des Unterrichtsgesprächs jedoch rückte der inhaltliche Aspekt
immer weiter in den Vordergrund, was dazu führte, dass erstmals die enge
Verbindung zwischen den inhaltlichen Aussagen, der Intention des Schreibers
174
und der Wahl der stilistischen Mittel erkannt und thematisiert wurde. Die
Schüler waren also im Lauf der Schreibkurse einen Weg gegangen, den Harry
Broudy beschreibt:394 Im ersten Schreibkurs hatten sie „einfach drauflos ge-
schrieben“ und die Texte nur nach inhaltlichen Kriterien untersucht und beur-
teilt. Im zweiten Schreibkurs hatten sie die Erkenntnisse aus der vorangegan-
genen Arbeit in den Vordergrund gestellt und sich auf äußere Merkmale der
Textgestaltung konzentriert. Im dritten Schreibkurs versuchten sie, eine Syn-
these zwischen diesen beiden Polen herzustellen, indem sie sowohl Inhalt als
auch Form der Texte betrachteten und die Verquickung beider Stränge im
Text und bei der Beurteilung desselben zum thematischen Schwerpunkt der
Überarbeitungsphase bestimmten.
Auf Grund des thematischen wie auch des zeitlichen Umfangs dieser Un-
terrichtsgespräche wurde in dieser Überarbeitungsphase – auch auf Wunsch
der Schüler – auf eine formalsprachliche Überarbeitung verzichtet. Die Schüler
wollten sich ohne weitere zeitliche Unterbrechung an die zweite Textversion
machen.
4.4 Rückblick
4.4.1 Freude am Schreibkurs
Die Schüler waren während der ganzen Zeit stark motiviert und hatten viel
Freude am Schreiben. So wurde das Erscheinen der zweiten Lehrkraft häufig
mit einem „Jippie – Schreibstunde!“ kommentiert. Die Klasse schätzte aller-
dings nicht nur das reine Schreiben, sondern fand viel Freude an den Schreib-
stunden, also auch an den Phasen, in denen sie sich mit ihren Texten beschäf-
tigten. Sie fühlten sich nicht nur mit ihren Problemen, sondern auch mit ihren
individuellen Fähigkeiten ernst genommen, da sie diese in den Unterricht ein-
bringen konnten. So wurde eine Schülerin, die bekannte, unter Liebeskummer
zu leiden, nicht von den Mitschülern gehänselt oder vom Lehrer auf die Pau-
senzeit verwiesen, sondern sie konnte sich im Unterricht zu diesem Thema
äußern. Ihr Problem wurde von den anderen Schülern ernsthaft durchdacht
und gleichzeitig wurde sie ermuntert, einen Text darüber zu verfassen. Ein
anderer Schüler dieser Klasse hatte große sprachliche Defizite in der Zielspra-
che Deutsch und schämte sich zu Beginn der Schreibkurse, seine Texte zur
Diskussion zu stellen. Er weigerte sich z. B., einen anderen Schüler seinen
Text lesen zu lassen. Dieses Problem wurde gelöst, in dem der Text von der
Lehrkraft vorgelesen wurde. Dieser Junge beteiligte sich anfangs wenig und
176
Die Auswahl der Themen war nicht nur Ausschlag gebend für die Motivation
zur Textproduktion, sondern bot den Schülern ein Forum für eigene Gedan-
ken, Probleme und Beobachtungen. Sie hatten die Möglichkeit, sich in einer
Situation mit diesen Themen auseinanderzusetzen, die sich ihnen in der Frei-
zeit nicht eröffnete. Die Gespräche und Diskussionen wurden in einem Rah-
men geführt, der ihnen die nötige Sicherheit gab, um diese heiklen Themen
zu erörtern. Sie waren sich bewusst, dass immer eine Lehrkraft, als Supervi-
sor anwesend war und bei Bedarf helfend einschreiten konnte. Sie erkannten
ebenfalls, dass sich die Zusammensetzung einer solchen Gesprächsrunde in
den Pausen oder der Freizeit nicht realisieren ließ. So hätte sich eine Ge-
sprächsrunde mit Jungen und Mädchen zum Thema „Rollenverhalten“ in einer
anderen Situation wohl nicht organisieren lassen.
Die Diskussionen gingen immer weit über die Grenzen des Klassenzimmers
hinaus. Zwar war die Situation in der Klasse häufig Ausgangspunkt, dennoch
wurden die Gespräche nicht auf diesen Rahmen begrenzt. Die Diskussionen
zum Thema „Wenn ich ein Junge/ein Mädchen wäre...“ beschäftigten sich
durchaus auch mit dem Spannungsverhältnis zwischen den beiden Geschlech-
tern in der Klasse, führten darüber hinaus aber auch zu allgemeinen Gesichts-
punkten und Beiträgen. Die Schüler sahen die Probleme, die sie beschäftigten
nicht als klassenspezifische Probleme an, sondern eher als persönliche.
Rückblickend kann festgestellt werden, dass die Schüler gelernt hatten, sich
diszipliniert und sachlich mit den jeweiligen Gesprächsthemen auseinan-
derzusetzen. Sie hatten erkannt, dass ihre Meinung von den anderen eher ak-
zeptiert wurde, wenn sie ruhig und konkret vorgetragen wurde. Emotionale
Ausbrüche wurden immer seltener und auch beleidigende Äußerungen ver-
schwanden aus den Gesprächsrunden völlig.
Die Auseinandersetzung mit den thematischen Schwerpunkten schien für die
Schüler von immenser Wichtigkeit zu sein. Sie nutzten nicht nur das Klassen-
zimmer als Forum für eigene Gedanken und Probleme, sondern nahmen die
Gespräche zum Anlass, weitere, differenziertere und abstrahierende Gedan-
ken zum Thema zu entwickeln. Der Austausch mit den Klassenkameraden, die
Entwicklung und Erweiterung eigener Eindrücke und Gedanken beim Schrei-
ben, die Gespräche über die beim Schreiben entstandenen Gedanken und Bil-
der wurden zu einer direkten Hilfe bei der Bewältigung von Problemen, die in
ihrer Lebensphase auftreten. Gerade die Beschäftigung mit relevanten The-
men anhand verschiedenster Verfahren (Diskussion, Cluster, Textproduktion,
Diskussion über die Texte, Überarbeitung, bildnerisches Darstellen) und in
verschiedenen Arbeitsformen (Gruppenarbeit, Plenum, Stillarbeit, Partnerar-
beit, Veröffentlichung) ermöglichte den Schülern, sich intensiv
auseinanderzusetzen. Die Textproduktion wurde als Möglichkeit angesehen,
die eigenen Gedanken und Vorstellungen mit den Anregungen aus den Klas-
sengesprächen zu verbinden und die neu gewonnenen oder relativierten An-
179
sie auf Deutsch gelernt und somit fänden sie es sehr schwierig, ihre Texte auf
Türkisch zu schreiben. Das schriftliche Fixeren, auch persönlicher Gedanken,
war bei ihnen eindeutig dem Deutschen zugeordnet. Sie zeigten aber keinerlei
Motivation, diesen Bereich auch in ihrer Primärsprache abzudecken. Die Tat-
sache, dass das Verfassen von Texten auf Deutsch leichter fiel, wurde so ak-
zeptiert. Ein Versuch, diese Situation auch auf Türkisch zu bewältigen, er-
schien ihnen nicht interessant oder gar lohnenswert. Sie empfanden es völlig
ausreichend, eine Situation mit Hilfe einer Sprache bewältigen zu können,
auch wenn sie sich bewusst waren, dass ihnen ihre Zweisprachigkeit zum Vor-
teil gereichte. So urteilten sie auch abfällig über Personen aus ihrer direkten
Umwelt, die die eine oder die andere Sprache weniger gut beherrschten als
sie. „Ich kann mit allen Leuten reden, du nicht!“ hob ein Junge die Vorteile
seiner Zweisprachigkeit gegenüber einem monolingual aufgewachsenen
Klassenkameraden hervor.
Die besondere Situation der Grundschulklasse, mit einem hohen Anteil an
Schülern, die über zwei Sprachen verfügten, wirkte sich auch auf die mo-
nolingualen, deutschen Schüler aus. Die deutschen Primärsprachler erfuhren
täglich ihre Überlegenheit in der Zielsprache Deutsch, andererseits erlebten
sie in gleichem Maße ihre eigene Einsprachigkeit. Diese beiden Empfindungen
hielten sich jedoch die Waage. So versuchten sie, ihre Einsprachigkeit dadurch
zu rechtfertigen, dass sie eben eine Sprache und in diesem Fall auch die für
den Unterrichtsalltag relevante Sprache besser beherrschten. Andererseits
schätzten sie die Beherrschung der Primärsprache nicht zu hoch ein, denn ih-
nen war durchaus bewusst, dass sich diese Überlegenheit aus dem Umstand
ergab, dass sie keine zweite Sprache zur Verfügung hatten.
war allen bekannt und ein schlagkräftiges Argument der türkischen Schüler,
wenn ihnen oder anderen ihre Defizite in der Zielsprache deutlich wurden. Auf
die deutschen Schüler hatte diese Tatsache allerdings nicht die herausfor-
dernde Wirkung, die zu erwarten wäre. Sie beurteilten diesen Umstand als
ganz normal, denn alle Schüler dieser Klasse hätten Schreiben gleichzeitig ge-
lernt und somit erreichten die türkischen Schüler selbstverständlich die glei-
chen Ergebnisse im schriftsprachlichen Bereich. Das sei etwas ganz anderes
als beim Sprechen auf Deutsch, denn das würden sie besser können, weil sie
es länger praktizierten als ihre türkischen Mitschüler. Die Tatsache, dass ihre
türkischen Klassenkameraden zusätzlich zu den gemeinsam erworbenen
Kenntnissen der deutschen Schriftsprache auch gelernt hatten, türkisch zu
schreiben, berücksichtigten sie nicht.
Durch die individuellen Cluster zum Kernwort „ich“, welche die türkischen
Schüler mehrheitlich zweisprachig oder türkisch angefertigt hatten, entstand
bei den deutschen Schülern ein klares Bewusstsein ihrer Einsprachigkeit und
diese wurde in dieser Situation als Defizit empfunden. Möglicherweise hatten
sie den Eindruck, die türkischen Schüler könnten sich besser zu persönlichen
Themen äußern, da sie dafür eine eigene Sprache hatten. Diese Einschätzung
rührt her von der Beobachtung, dass die deutschen Schüler auffallend großes
Interesse an den Äußerungen der türkischen Klassenkameraden bezüglich ih-
rer Entscheidung, diese Cluster in der Primärsprache anzufertigen, zeigten.
Deren Erklärung, sie könnten „besser“ über sich in ihrer Primärsprache nach-
denken, beschäftigte die deutschen Schüler stark. Sie befragten die zweispra-
chige Gruppe intensiv, um herauszufinden, was diese darunter verstünden.
Offensichtlich waren sie der Meinung, die zweisprachigen Kinder verfügten
über ein Medium, das ihnen behilflich sei, sich intensiver mit sich selbst zu
beschäftigen. „Was meinst du, wenn du sagst, du denkst auf Türkisch an-
ders?“, „Wie anders ist das?“ und ähnliche Fragen wurden gestellt. Auf die
Schwierigkeiten der türkischen Schüler, ihnen diese Fragen zu beantworten,
reagierten sie verständnislos und teilweise unwirsch: „Aber wenn du sagst,
dass das anders ist, dann muss es doch auch anders sein!“. Sie trösteten sich,
wie bereits erwähnt, mit der Aussicht auf den Fremdsprachenunterricht in der
fünften Klasse und erhofften sich von diesem, gerade die Fähigkeit, sich in ei-
ner anderen Sprache besser zur eigenen Person äußern zu können und damit
das erfahrene Defizit ausgleichen zu können. Überlegungen, inwieweit das
Denken in einer anderen Sprache sich auf die Gedanken auswirken könnte,
inwieweit das Umschalten auf eine andere Sprache die Perspektive verändern
könnte, erschienen den Schülern als zu fantastisch und wurden schnell ab-
gebrochen. Dies gilt für die zweisprachigen Schüler ebenso wie für die Gruppe
der einsprachigen Schüler.
Die bilingual aufgewachsenen Schüler nicht-türkischer Herkunft, die diese
Klasse besuchten, ordneten sich selbst der deutschen Gruppe zu. Dies mag
183
Ich spreche nicht so gut Deutsch! Ich spreche nicht nur Deutsch!
Rückblickend kann festgestellt werden, dass sich alle Schüler während der
Schreibkurse Gedanken zu ihrer sprachlichen Situation gemacht haben. In
den Gesprächen und Diskussion kam es immer wieder dazu, dass Ein-
und/oder Mehrsprachigkeit thematisiert wurden. Die Gruppe der türkischen
Schüler wurde sich ihrer Zweisprachigkeit annähernd in gleichem Maße be-
wusst, wie die Gruppe der deutschen Kinder sich ihrer Einsprachigkeit be-
wusst wurden. Lediglich die Gruppe der mehrsprachigen Kinder nicht-
türkischer Herkunft ließ sich nicht in gleichem Maße auf Reflexionen über ihre
eigene sprachliche Situation ein.396
395 Hier wurde das englische Wort gewählt, da es sowohl den Aspekt „Chance“ wie auch den Aspekt „Risiko“ umfasst,
die Kehrseiten ein und derselben Medaille darstellen.
396 vgl. Luchtenberg (1998), Mohr (2000)
184
Das Anfertigen von Clustern, das Schreiben von Texten wie auch die Ge-
spräche über die Texte regen die Schüler an, im Sinne der Language-
Awareness-Konzepte, die im ersten Teil der vorliegenden Arbeit besprochen
wurden, den eigenen Sprachgebrauch und den der Mitschüler zu reflektieren.
Auch jüngere Kinder im Grundschulalter sind durchaus in der Lage, zu erken-
nen, dass sowohl Einsprachigkeit als auch Zwei- oder Mehrsprachigkeit Chan-
cen und Risiken beinhalten, die entsprechend genutzt oder vermieden werden
sollten.
„Und in der Schule ärgere ich fast immer die Jungen.“ Die Auswahl der The-
men spiegelt die Bedürfnisse der Schüler wieder, sich mit einem thematischen
Schwerpunkt aus verschiedenen Perspektiven auseinanderzusetzen und deu-
tet gleichzeitig darauf hin, wie immens wichtig ihnen die Beschäftigung mit
der Gruppe und der Austausch darüber waren.
Das soziale Miteinander wurde jedoch nicht ausschließlich durch die The-
menauswahl gefördert, sondern die gewählten Arbeitsformen und Sozial-
formen konnten diesen Prozess unterstützen. Die Aufhebung der Sitzord-
nung397 ermöglichte immer neue Konstellationen und Varianten. So kam es
auch zwischen Schülern, die bislang räumlich voneinander getrennt gearbeitet
hatten, zu erfolgreichen Partner- oder Gruppenarbeiten und damit auch zu
engeren persönlichen Kontakten. Gleichzeitig war es einzelnen Schülern mög-
lich, sich zeitweise zurückzuziehen und alleine zu arbeiten, wenn ihnen das
ein Bedürfnis war. Im Lauf der Zeit suchten sich die Schüler ihre Ar-
beitspartner immer weniger nach Kriterien wie Sympathie, Freundschaft etc.
aus, sondern bildeten Gruppen, deren Zusammensetzung eine möglichst ef-
fektive und zufrieden stellende Arbeit in Aussicht stellten. Es wurde zu einer
Selbstverständlichkeit, dass jeder Schüler mit einem Stuhl zu den Gesprä-
chen, an der die ganze Klasse beteiligt war, kam und sich selbstständig in den
Kreis einreihte. Ebenso ordneten die Schüler ihre Stühle in einem Halbkreis an
oder nahmen auf den dahinter stehenden Tischen Platz, wenn die Lehrkraft
etwas an der Tafel oder am Projektor zeigte und erklärte. Einige Schüler zo-
gen es vor, auf dem Boden zu arbeiten, was ihnen niemand verwehrte. Die
Klasse entwickelte schnell ein sicheres Empfinden dafür, welche Anordnung in
welcher Unterrichtssituation angemessen und sinnvoll war.
Der projekthafte, handlungsorientierte Unterricht initiierte einen häufigen
Wechsel der Sozialformen. Diskussionen und Gespräche wurden im Plenum
abgehalten, Texte in Einzelarbeit geschrieben, in Gruppenarbeit überarbeitet
und Informationen der Lehrkraft in darbietender Form gegeben. Der Wechsel
der Sozialformen ergab sich aus dem Unterrichtsgeschehen und erschien den
Schülern aus diesem Grund plausibel und sinnvoll. Die übliche Einteilung von
Gruppen und die daraus resultierenden, möglicherweise abwehrenden Reakti-
onen fanden nicht statt.
Die thematischen Schwerpunkte, die offene Anordnung der Sitzplätze sowie
der häufige Wechsel der Arbeitsformen förderten das entspannte und gute
Klima in der Klasse und einen freundschaftlichen, offenen Umgang der Schüler
untereinander sowie mit der Lehrkraft.
397 In den Schreibstunden gab es keine feste Sitzordnung und keine „Stammplätze“. Die Schüler wählten jeweils nach
eigenem Bedürfnis ihren Sitzplatz aus und konnten diesen immer wechseln, wenn sie es wollten.
186
Nach eigenen Aussagen der Schüler hatte dies jedoch einen negativen Aspekt,
da es ihnen nicht einsichtig war, weshalb sie in den Stunden anderer Lehrkräf-
te nicht in der – für sie bewährten – offenen Form arbeiten konnten bzw.
durften. Anscheinend konnten sie sich nur schwer damit abfinden, wieder fes-
te Sitzplätze einzunehmen, Unterrichtsgespräche in begrenztem Umfang zu
führen, sich nach Anordnung der Lehrkraft zu Gruppen zusammenzufinden
bzw. alleine zu arbeiten. Nach eigener Einschätzung war ihr Verhalten in die-
sen Stunden aufsässig. Sie weigerten sich, den Anordnungen Folge zu leisten,
weil sie ihnen nicht einleuchtend erschienen und litten gleichzeitig unter der
Verschlechterung des Arbeitsklimas, das sich hieraus ergab. Die betroffenen
Lehrkräfte klagten über disziplinäre Schwierigkeiten und die Arbeitsmoral der
Klasse, die sich – ausgelöst durch die Schreibkurse – entwickelt hätten. Leider
konnte auch im weiteren Verlauf keine Lösung gefunden werden, weder zwi-
schen der Klasse und den betreffenden Lehrkräften, noch unter den Lehrkräf-
ten selbst.
der gesamte Prozess beleuchtet wird. Viele Schüler bemühten sich, in ihre
zweite Textfassung die Anregungen der Gruppe einzuarbeiten. Diese Texte er-
scheinen überhäuft von Adjektiven, ungewöhnlichen Vergleichen, Einsatz di-
rekter Rede und weiteren Kriterien lesbarer Texte, die die Klasse erarbeitet
hatte. Diese spürbaren Bemühungen, witzige, originelle, lustige und kurzwei-
lige Texte zu schreiben, wirken häufig aufgesetzt, stereotyp und langweilig.
Erst in einer dritten Textfassung konnten diese Überhäufungen abgebaut und
kreative Elemente akzentuiert eingesetzt werden. Aus dieser Perspektive kann
also durchaus von einem erfolgreichen Bemühen um Kreativität gesprochen
werden. Die letzten Textfassungen sind von einem ausgewogenen Einsatz lus-
tiger, witziger, spannender und origineller Elemente gekennzeichnet, was dar-
auf hindeutet, dass sich Schüler erfolgreich mit Ergebnissen einer kreativi-
tätsorientierten Analyse auseinandersetzen konnten und kreative Aspekte in
Texten anderer aufspüren und auch in eigene Texte einarbeiten konnten.
Die drei durchgeführten Schreibkurse haben sowohl den Spracherwerb in der
Zielsprache Deutsch für die primärsprachlichen Lerner wie auch den Zweit-
spracherwerb der nicht-deutschen Lerner gefördert. Die Schüler verbesserten
sowohl ihre mündliche als auch ihre schriftliche Ausdrucksfähigkeit in der Ziel-
sprache als auch ihre formalsprachlichen Kompetenzen. Sie gewannen deut-
lich an Sicherheit im Umgang mit der Zielsprache und waren in der Lage, über
ihre eigenen Sprachgewohnheiten – auch in der Zielsprache Deutsch – zu re-
flektieren. Primär- und Zweitsprachenlerner konnten ihren Wortschatz erwei-
tern und konkretisieren. Diese Erweiterung konnte sowohl im mündlichen wie
auch im schriftlichen Sprachgebrauch festgestellt werden. Die beiden Gruppen
arbeiteten eng zusammen und halfen sich gegenseitig über im Schreibkurs
entstehende sprachliche Probleme hinweg. Die primärsprachlichen Lerner re-
flektierten über die Zielsprache und erreichten dabei eine metasprachliche E-
bene, die es ihnen ermöglichte, ihre Primärsprache zu beleuchten. Die nicht-
deutschen Lerner erweiterten ihre Kompetenz in der Zielsprache und stellten
Vergleiche zur Primärsprache her. Alle Lerner profitierten von den Schreibkur-
sen, wenngleich nicht inhaltlich identisch, aber dennoch in gleichem Maße.
Die Lerner im Grundschulalter waren durch Verfahren des Kreativen Schrei-
bens im Deutschunterricht nicht überfordert. Sie zeigten Freude und Interesse
an den Verfahren und konnten mit deren Hilfe qualitativ wie quantitativ hoch-
wertige Texte verfassen. Auch die äußere Form des Unterrichts, wie Unter-
richtsform, Sozialformen, handlungsorientierte und projekthafte Unterrichts-
konzeption, entsprach ihren Bedürfnissen. Auch sehr junge Schreiber waren
durchaus in der Lage, ihre Texte inhaltlich wie sprachlich zu analysieren und
zu diskutieren, die Ergebnisse der Analyse in die Überarbeitung einfließen zu
lassen und Texte zu beurteilen.
Die drei Schreibkurse wurden in den regulären Unterricht integriert und be-
rücksichtigten den entsprechenden Lehrplan und die darin beschriebenen
188
Eine völlig andere Motivation zum Deutschlernen zeigen die – in den Kursen
eher die kleinere Gruppe stellenden – Austauschschüler, Austauschstudenten
und Au-Pairs. Die jungen Leute kommen nach Deutschland, um das Land und
neue Menschen kennen zu lernen und nicht zuletzt, um ihre Deutschkenntnis-
se zu verbessern und zu erweitern. Es hat sich gezeigt, dass sie vergleichs-
weise schnelle und sichere Fortschritte im Erwerb der Zielsprache Deutsch
machen. Dazu tragen einige Umstände bei: Sie leben überwiegend in deut-
schen Familien oder in Studentenwohnheimen, in denen Deutsch Umgangs-
sprache ist. In der Schule oder an der Universität werden sie auf Deutsch un-
terrichtet und sie kommunizieren mit Klassenkameraden oder Kommilitonen
ebenfalls auf Deutsch. Sie haben nicht die gleichen Probleme wie andere Teil-
nehmer bezüglich Arbeitssuche, Ämtergänge und Wohnungssuche, sondern
können sich auf den Spracherwerb konzentrieren. Ein nicht zu unterschätzen-
des Kriterium ist die Tatsache, dass sie im Gegensatz zu anderen Teilnehmern
keine Probleme mit Lernstrategien, Arbeitsrhythmus und dergleichen haben.
Sie sind es gewohnt zu lernen und verfügen über Lernstrategien und Arbeits-
methoden, die sich andere Teilnehmer, die lange keine Schule oder andere
Bildungsmaßnahmen mehr besucht haben, erst wieder mühevoll aneignen
müssen.
Die Teilnehmerstruktur in den Kursen zeigt eine deutliche Tendenz: Die vor-
aussichtliche Aufenthaltsdauer der Teilnehmer lässt keinen direkten Rück-
schluss auf die Entwicklung einer sprachlichen Kompetenz in der Zielsprache
Deutsch zu. So leben gerade jene Teilnehmer, welche einen langfristigen bzw.
unbefristeten Aufenthalt in Deutschland planen, nicht in einer deutschsprachi-
gen Umgebung. Dagegen hat die Gruppe der Schüler und Studenten, denen
hier auch Au-Pairs zugezählt werden, intensiven Kontakt zu Deutschen und
damit auch zur Zielsprache. Hier scheint nicht nur die Vorbildung sowie die
Lebenssituation in Deutschland eine Rolle zu spielen, sondern in Gesprächen
wird immer wieder betont, man hätte wenig Zeit zur Verfügung und sei somit
auf einen schnellen Spracherwerb angewiesen. Die Teilnehmer, deren Aufent-
halt in Deutschland zum Zeitpunkt der Erhebung unbefristet geplant war, je-
doch äußerten sich gegenteilig: Man würde länger in Deutschland bleiben und
hätte somit mehr Zeit, um die Sprache zu lernen und zuerst müsse man sich
zurechtfinden, womit Wohnungssuche, Ämtergänge, Einschulung der Kinder
und dergleichen gemeint ist. Häufig belegen diese Teilnehmer erst dann einen
Deutschkurs, wenn ihnen bewusst wird, dass sie ohne Deutschkenntnisse kei-
ne Arbeitsstelle finden können. Einige werden dann auch von der zuständigen
Arbeitsagentur zugewiesen. In Gesprächen mit diesen Teilnehmern drängt
sich immer wieder der Eindruck auf, ihnen wäre nicht bewusst, wie wichtig
Kenntnisse in der Zielsprache sind, um das Leben zu führen, das sie selbst als
wünschenswert beschreiben.
192
5.3. Ich
Die Texte zum Thema „ich“ wurden bereits am zweiten Kurstag verfasst. Am
ersten Kurstag wird Wortschatz zu den Bereichen „Begrüßung“ und „Vorstel-
lung“ eingeführt. Des Weiteren wurden das deutsche Alphabet, die einzelnen
Laute, die Diphthonge sowie der Begriff „Silbe“ eingeführt. Das Thema „ich“
bot den Teilnehmern die Möglichkeit, den Stoff des Vortags erstmals schrift-
lich anzuwenden und gleichzeitig die Gelegenheit, sich in der Gruppe vorzu-
stellen. Am Vortag hatte nur eine kurze Vorstellung stattgefunden, bei der die
Teilnehmer ihren Vornamen und ihr Herkunftsland nach der vorgegebenen
Struktur „Ich heiße..., Ich komme aus...“ genannt hatten. Da die Teilnehmer
zum Zeitpunkt der Textproduktion über einen sehr begrenzten Wortschatz
verfügten und die Konjugation Präsens noch nicht eingeführt worden war,
wurde der Satzanfang „Ich bin...“ vorgegeben. Diese Formulierung wurde zum
Kernwort der Cluster, die individuell erstellt wurden. Ein Cluster, mit dem sich
die Dozentin der Gruppe vorstellte, wurde exemplarisch an der Tafel angefer-
tigt.
194
Diese visuelle Vorlage erleichterte den Teilnehmern den Einstieg und sie be-
gannen ihre individuellen Cluster mit Hilfe eines Wörterbuchs in der Zielspra-
che Deutsch zu erstellen. Zur weiteren Vorbereitung auf den Text sollten zu
den Buchstaben des Vornamens Begriffe zum Thema „ich mag“ aufgezählt
werden und zu den Buchstaben des Familiennamens Begriffe zum Thema „ich
mag nicht“. Auch hier wurde ein Beispiel an der Tafel erstellt. Dieses Verfah-
ren regt die Teilnehmer dazu an, sich mit ihrem Wörterbuch „anzufreunden“.
Vielen Teilnehmern waren zu Beginn des ersten Deutschkurses die Benützung
eines Wörterbuchs und damit der sachgemäße Umgang mit demselben nicht
vertraut. Auch ist den Teilnehmern in dieser Phase die Reihenfolge der Buch-
staben im deutschen Alphabet nicht geläufig, was ihnen die Arbeit mit dem
Wörterbuch natürlich erschwert. So wird hier nicht nur der Wortschatz erwei-
tert, sondern auch der Umgang mit dem Wörterbuch trainiert.
diesem Anlass Texte verfasst, mit denen den anderen Gruppenmitgliedern ei-
ne kurze Vorstellung der eigenen Person vorgelegt wurde. In den Texten wur-
den die in dieser Situation üblichen Angaben zur Person gemacht: Name, Her-
kunft, familiäre Situation, Beruf, Alter, Aussehen „Ich habe braun Haare and
grün Augen.“ usw. Einige Teilnehmer machten darüber hinaus Angaben zu ih-
rem Sprachstand in der Zielsprache Deutsch „ich bin kayne doyhc sipreken“
oder gaben Statements zu allgemeinen Themen ab: „Ich sage das alle Leute
gut ist“. Wenn auch die Texte inhaltlich – dem Thema entsprechend – persön-
lich gehalten sind, so kann die Darstellung jedoch als sachlich bezeichnet
werden. Während in anderen Schreibgruppen, deren Teilnehmer über eine
höhere Kompetenz in der Zielsprache Deutsch verfügten, zum Thema “ich”
überwiegend emotional gefärbte Texte geschrieben hatten, können die Texte
dieser Gruppe eher als nüchtern oder sachlich bezeichnet werden. Es ist bei
dieser Einschätzung jedoch zu berücksichtigen, dass sich die Teilnehmer die-
ser Gruppe zum Zeitpunkt der ersten Textproduktion und auch –präsentation
noch fremd waren. In den ersten Texten konnten keine herausragenden krea-
tiven Leistungen aufgespürt werden. Die Schreiber hatten in dieser Schreibsi-
tuation auch nicht den Anspruch erkennen lassen, möglichst originelle und
witzige oder gar spannende Texte zu schreiben, sondern den mühevollen
„Kampf“ mit der für sie neuen Sprache aufgenommen und versucht, wichtige
Informationen zu formulieren. Die Schreibsituation (erster Kurstag, neue
Gruppe) sowie das Thema, das auf eine gängige Vorstellung abzielt, wirkten
„kreativitätshemmend“.
5.3.1.2 Formale Auswertung
Die ersten Texte, die in dieser Gruppe geschrieben wurden, waren durch-
schnittlich etwa 44 Wörter lang.401 Die Teilnehmer verfügten über zirka 30
Vokabeln, die sie in einen ersten Text zum Thema „ich“ einbauen konnten.
Davon übernahmen sie im Schnitt vier Wörter aus dem Cluster. Dieser nicht
unbeträchtliche Anteil der aus dem Cluster übernommenen Vokabeln erstaunt
um so mehr, als die Cluster nicht als Gemeinschaftscluster erstellt worden wa-
ren, sondern als individuelle Cluster nach einem vorgegebenen Beispiel. Aller-
dings hatten die Teilnehmer die Anregungen aus dem vorgegebenen Cluster
weitgehend angenommen und lediglich mit Angaben zu ihrer Person ergänzt.
Der quantitativ am häufigsten vertretene Fehlertypus war mit großem Ab-
stand die Groß- und Kleinschreibung. So können über 35 % der in den Texten
aufgetretenen orthografischen Abweichungen dieser Kategorie zugeordnet
werden. Angesichts des Umstands, dass dieser Text der erste Kontakt der
Teilnehmer mit einer Großschreibung der Substantive darstellte, ist die quan-
titative Spitzenposition durchaus erklärbar und verständlich. Die Groß- und
401 Auch in späteren Gruppen konnte für den jeweils ersten Text eine ähnliche Textlänge ermittelt werden.
196
402 Da sich diese Schwierigkeiten häufig auch noch auf höheren Spracherwerbsebenen zeigen, implizieren sie häufig
auch grammatische Fehler, da Ablautreihen und grammatische Formen verwechselt werden (er wird – er würde – er
wurde).
403 Vgl. Deutsch aktiv neu 1A
198
Der Bereich “Adjektivdeklination” nahm mit einem Anteil von etwa 8 % einen
mittleren Rang in der Fehlerhierarchie ein. Dennoch kann festgestellt werden,
dass alle verwendeten Adjektive mit falschen bzw. keinen Deklinationsendun-
gen versehen wurden. Die Quote ist durch den seltenen attributiven Gebrauch
von Adjektiven zu erklären.
Die Negation mit “nicht” oder dem unbestimmten Artikelwort “kein” stellt be-
sonders für Teilnehmer, die die verschiedenen Wortarten nicht differenzieren
können, ein Problem dar. So ist die Zuordnung des Adverbs zu Verben oder
Satzteilen sowie des Artikelwortes zu Substantiven eine häufig auftretende
Fehlerquelle zu Beginn des Spracherwerbs. Erstaunlicherweise wurde in den
ersten Texten für Kasusfehler nur ein Anteil von etwa 3 % ermittelt. Obwohl
die Teilnehmer zum Zeitpunkt der Textproduktion noch nichts über die Verb-
valenz und die Kasusbildung erfahren hatten, konnten sie durch einfach struk-
turierte Sätze diesen Fehlertypus weitgehend vermeiden. Dass dieser Fehler-
typus eher unbewusst vermieden wurde, zeigte sich, als die Deklination sowie
die Bildung von direkten Objekten eingeführt wurde. Möglichweise spielt bei
den Werten, die für die ersten Texte erhoben werden konnten, das Glück bzw.
der Zufall eine Rolle. So kann z. B. ein einfacher Satz mit einem femininen
Substantiv im Akkusativobjekt ohne grammatische Kenntnisse durchaus feh-
lerfrei gebildet werden.
In den Bereich “Nebensätze” werden sowohl die abweichende Satzstellung (fi-
nites Verb am Satzende, Subjekt nach Konjunktion etc.) wie auch die Nicht-
bildung von Nebensätzen (“ich sage das alle Leute ist gut”) einbezogen. Die
Verwendung der entsprechenden Konjunktionen wurde weitgehend vermie-
den. In Texten, die zu Beginn eines Kurses geschrieben werden, treten weni-
ge bzw. keine Konjunktionen auf. Lediglich “weil”, “und”, “dass” werden gele-
gentlich verwendet. Die Ursache liegt hier auf lexikalischer Ebene. Die drei
oben genannten Konjunktionen treten in der gesprochenen Sprache häufig auf
und haben daher einen hohen Bekanntheitsgrad bei den Sprachlernern. Da in
der Umgangssprache das finite Verb – insbesondere in Kausalsätzen mit der
Konjunktion “weil” – auch von Primärsprachlern häufig an die zweite Position
gestellt wird (..., weil ich mag dieses Land), übernehmen die Sprachlerner
diese Form oft auch in ihren schriftlichen Äußerungen.
5.4 Deutschland
Die Texte zum Thema „Deutschland“ wurden zu Beginn der vierten Unter-
richtswoche, also am 13. Unterrichtstag geschrieben. In den vier Wochen, die
zwischen der Produktion der „ich“-Texte und der Texte zum Thema „Deutsch-
land“ lagen, wurden folgende Themen eingeführt und vertieft:
• Grammatik: Adjektive (prädikativ), Akkusativ, Artikel (bestimmt, unbe-
stimmt), Artikel als Pronomen, Dativ, Ergänzungen (lokal, temporal, direk-
tiv), Imperativ, Konjugation Präsens (starke und schwache Verben), No-
200
Die Texte wurden von der Kursleitung außerhalb der Unterrichtszeit in sprach-
lich korrekter Form ausgedruckt, in der nächsten Unterrichtseinheit im Plenum
vorgestellt und in der Pause zum Lesen ausgelegt. Diese Texte wurden zum
Anlass genommen, erneut über das Land, in dem die Teilnehmer leben und
über das, was sie hier erleben, zu diskutieren. Dieses Unterrichtsgespräch
verlief weitaus ruhiger als das erste Gespräch im Anschluss an das Cluster.
Die meisten Teilnehmer hatten zu Hause über die erste Diskussion nachge-
dacht und sich teilweise mit verschiedenen Materialien und Informationen auf
eine neue Diskussion vorbereitet. Zwei Teilnehmer hatten zu Hause einen
neuen Text geschrieben und diesen bereits mit Hilfe des jeweiligen (Ehe-
)Partners korrigiert. Diese beiden Texte wurden zusammen mit den anderen
Texten ausgelegt und in das Gespräch mit einbezogen. Auf die Frage hin,
weshalb sie denn zu Hause einen neuen Text verfasst hätten, antworteten sie,
sie hätten sich während der Produktion des ersten Textes im Unterricht
sprachlos und damit hilflos gefühlt, da sie sich nicht in der Lage gefühlt hät-
ten, das zu schreiben, was sie wirklich empfänden. Zu Haus hätten sie mehr
Zeit sowie die Hilfe des Partners zur Verfügung gehabt und damit einen Text
schreiben können, der ihre Meinung weitaus konkreter wiedergebe als der im
Kurs geschriebene. In diesem Gespräch äußerten sich viele Teilnehmer dahin-
gehend, dass sie sich beim Schreiben im Unterricht überfordert fühlten und
mit dem Ergebnis eher unzufrieden gewesen wären. Sie hatten ihrem eigenen
Anspruch nicht gerecht werden können und das hätten sie als sehr frustrie-
rend empfunden “Ich bin traurig. Der Text ist nicht gut. Ich will anderes sa-
gen.”, formulierte eine Teilnehmerin ihr Dilemma. Zu diesem Zeitpunkt äußer-
ten die Teilnehmer zwar den Wunsch, noch mehr Texte zu schreiben, lehnten
es jedoch vehement ab, dies in der Unterrichtszeit zu tun.
Das Thema “Deutschland” hatte die Teilnehmer stark motiviert und auch zu
lebhaften Gesprächen angeregt. Es hat sich gezeigt, dass dieses Thema alle
Teilnehmer schon vor der Auseinandersetzung im Deutschkurs stark beschäf-
tigt hatte. Während der Diskussionen wurden auch immer wieder landeskund-
liche Informationen gefordert. Es wurde der Wunsch formuliert, die Lehrkraft
solle in jeder Sitzung etwas über “ihr” Land erzählen, da sie weder über das
nötige Hintergrundwissen noch über Zugang zu geeignetem Material noch ü-
ber Kontakt zu Deutschen verfügten. Diesem Vorschlag wurde unter der Be-
dingung zugestimmt, dass jeder Teilnehmer ein kurzes Referat über sein Her-
kunftsland anfertigen und im Kurs vortragen sollte. Diese Idee wurde in den
folgenden Wochen erfolgreich in die Tat umgesetzt und fand großen Anklang
bei der Gruppe.
5.4.1.1 Inhaltliche Analyse
Auf Grund des großen Umfangs des Clusters wichen die meisten Texte inhalt-
lich nicht vom Cluster ab, wenn auch vergleichsweise wenige Begriffe über-
nommen wurden. Einzig die Aussagen über das Wetter in Deutschland ent-
202
land” erfordert von einem Schreiber, der sich der Problematik der Tempusbil-
dung im Deutschen bewusst ist, keine andere Tempusform als das Präsens.
Der überwiegend sachliche, beschreibende Stil der Texte unterstützt diese
Vermeidungsstrategie. Der Umstand, dass sich die meisten Teilnehmer der
Differenzierung der Tempusformen bewusst waren, deutet darauf hin, dass sie
sich im Rahmen der Beschäftigung mit der Konjugation Präsens auch mit dem
Einsatz der Tempusformen auseinandergesetzt hatten. Sie bemühten sich
nach eigenen Angaben ihre Texte ausschließlich in der Gegenwartsform zu
halten. Hier wird deutlich, wie sehr sich Erwachsene ihrer “Sprachlosigkeit”
bewusst sind und ihre Aussagen hinsichtlich des ihnen zur Verfügung stehen-
den Sprachmaterials eingrenzen. Erwachsene Lerner neigen beim Kreativen
Schreiben in einer Zweit- oder Fremdsprache deutlich weniger zu sprachlichen
Experimenten als Kinder oder Jugendliche, denen in Texten die inhaltlichen
Aussagen wichtiger sind als die formalsprachliche Korrektheit.
Hand der Texte auszutauschen, an zweiter Stelle rangierte. Hier stand die
heuristische Funktion des Schreibens deutlich vor der kommunikativen.
Der größte Teil der Gruppe begann die Textproduktion mit einem individuellen
Cluster mit dem Kern “Deutsch lernen”. Der Rest der Gruppe schloss sich an,
nachdem sie diese Vorgehensweise beobachtet hatten. Lediglich ein Teilneh-
mer verzichtete auf das Erstellen eines Clusters und begann sofort zu schrei-
ben. Die Teilnehmer weigerten sich nach dem Schreiben durchgehend, ihre
Cluster mit dem Text zusammen abzugeben. Sie begründeten dies damit,
dass es ihre ganz private Ideensammlung sei und nicht für andere Augen be-
stimmt.404
Die Teilnehmer schrieben sehr zügig und lieferten nach etwa einer Viertel-
stunde ihre Texte ab. Ein Zeitlimit hatte ich nicht gesetzt, da die Auseinander-
setzung mit den eigenen Bedürfnissen hinsichtlich des Deutschlernens sowie
die daraus resultierende Wahl des nächsten Kurses für die Teilnehmer von
entscheidender Bedeutung war und ein Zeitlimit diese Entscheidung mögli-
cherweise beeinflusst hätte.
Zwischen den Texten „Deutschland“ und „Der Deutschkurs“ waren folgende
Themeneinheiten im Unterricht behandelt worden:
• Grammatik: Modalverben, Satzklammer, Perfekt, Perfekt der Modalverben
(+ helfen, sehen, hören, lassen), Deklination der Personalpronomen, Satz-
stellung (Personalpronomen),
• Wortfelder: Arbeit/Freizeit, Nachrichten, Deutschland, Wohnen, Möbel
404 Aus diesem Grund kann für diesen Text nicht erhoben werde, inwieweit das Cluster zur Textproduktion
herangezogen wurde.
207
sprechen kann ich verstehen.”, “Ich habe kein Wissen, was ist Deutsch.” In
einigen Texten treten auch Aussagen zum eigenen Lernverhalten auf: “Wenn
ich kann jeten tag lerne deutsh, ich gelabe ich kann gut lesen und gut spre-
chen werden.”, “Ich habe hier gekommt, weil in andere Kurs ich habe nicht so
viel Deutsch gelernt.”. Zwei Teilnehmer stellen sich in ihren Texten vor und
skizzieren ihre Lebenssituation, die sie zwingt Deutsch zu lernen: “Ich lebe
mit mainem familie, so ich muss lernen Deutsch.”, “Jetzt bin ich in Deutsch-
land, weil meine Freundin hier arbeitet (...) und ich will in Deutschland studie-
ren, weil meine Freundin möchtet 2 oder 3 Jahre hier arbeiten”. Eine Teilneh-
merin formulierte ihre Erwartungen an den Dozenten: “Ich komme in diese
kurs weil lehrne Deutsch hier und ich möschte wen sie mir helfen Duetsche zu
lehrnen.” Die vorangehende Diskussion sowie die inhaltliche Auswertung der
Texte haben gezeigt, in welch geringem Maße sich die meisten Teilnehmer
bewusst waren, welche konkreten Erwartungen sie an einen Deutschkurs, an
den Dozenten und an die Themenauswahl haben. In gleichermaßen geringem
Umfang hatten sie über ihre Wünsche bezüglich des eignen Spracherwerbs
und dessen Ziele nachgedacht. Weder der Weg noch das Ziel waren definiert
worden, ebenso wenig wie der derzeitige Status. Allen Teilnehmern war klar,
dass sie Deutsch lernen müssen, weil es ihre Lebenssituation erfordert. Allen
Teilnehmern war bewusst, dass ihre bisherigen Kenntnisse in der Zielsprache
unzureichend waren. Alle Teilnehmer wollten “besser” Deutsch sprechen,
schreiben, lesen und verstehen können. Jedoch hatte sich keiner der Teilneh-
mer über den Weg zu einem perfekten Deutsch Gedanken gemacht. Den
meisten Teilnehmern dieses Kurses waren auch ihre individuellen Fortschritte
im Spracherwerbsprozess nicht bewusst. Auch die Ergebnisse der wöchentli-
chen “Montagstests” (Wortschatz und Grammatik der vorhergehenden Woche)
wurden unreflektiert hingenommen. Im nächsten Modul konnte beobachtet
werden, dass die Teilnehmer, welche die hier vorgestellte Unterrichtseinheit
besucht hatten, in erheblich größerem Umfang ihren Lernprozess aktiv mit-
gestalteten. Sie hatten Eigenverantwortung übernommen und analysierten ih-
re Fortschritte ebenso wie ihre Misserfolge.
Die hohe Anzahl der Abweichungen in dem Bereich “Groß- und Kleinschrei-
bung” kam insbesondere durch die Vokabeln “deutsch”, “Deutsch” sowie
“(die) Deutschen” zu Stande. Hier misslang häufig die Wortartbestimmung, d
.h. der adjektivische bzw. substantivierte Gebrauch konnte nicht differenziert
werden. “Ich will Deutsch lesen.”, “Ich kann nicht arbeiten ohne Deutsch
sprache.” “Ich muss deutsch lernen.” Auch die korrigierten Fassungen riefen
diesbezüglich große Verwirrung hervor, was im Anschluss zu einer Unter-
richtseinheit führte, in der dieses Problem gesondert behandelt wurde.
Formalsprachliche Abweichungen im Bereich der Vokaldehnung und –kürzung
gehen mit phonetischen Schwierigkeiten einher. Die Teilnehmer sprachen zum
Zeitpunkt der Textproduktion noch stark akzentbehaftetes Deutsch. Dieser
Umstand verwehrte ihnen eine “Klangprobe” und so schrieben sie die Wörter
aus dem visuellen Gedächtnis, was häufig zu Fehlern führte.
Auch auf dieser Spracherwerbsebene traten vergleichsweise viele Fehler auf,
die auf einen unzulässigen Transfer aus der jeweiligen Primärsprache hinwei-
sen. So konnte ein pakistanischer Teilnehmer seine Schreibung des Wortes
“(ich) glaube” “(ich) gelabe” selbst erklären: Es sei für ihn unglaublich
schwierig, Konsonantenhäufungen zu sprechen und da er sie nicht sprechen
könne, schreibe er diese Wörter mit einem Sprossvokal. In seiner Primärspra-
che gebe es keinen Laut, der dem deutschen “au” entspricht und für seine
Ohren wäre die Zusammenfassung von “a” und “u” zum deutschen “au” ein-
fach zu komisch und deshalb könne er sich nicht vorstellen, dass man so viele
Wörter mit dem entsprechenden Diphthong schreibt. Unsicherheit in der An-
wendung der Laut-Buchstabenbeziehungen stellen ebenso eine häufige Feh-
lerquelle dar: “Bezuchen”, “ich möschte”. Auch der fehlerhafte Einsatz der Vo-
kale “e” und “i” kann in diesen Bereich eingebunden werden, da er überwie-
gend von Schreibern gemacht wurde, deren erste Fremdsprache und Um-
gangssprache in Deutschland Englisch ist. Auch Teilnehmer mit der Primär-
sprache Arabisch haben Probleme, diese Vokale auszusprechen und damit
auch die deutsche Laut-Buchstaben-Beziehung herzustellen.
Im Bereich der fehlerhaften Umlautbildung konnte bei der Analyse dieser Tex-
te eine Tendenz zur Übergeneralisierung festgestellt werden. Die Teilnehmer
setzten häufig dort Umlaute ein, wo die Vokale a, o, u ohne Umlaut korrekt
gewesen wären: “ich müß”, “ich habe hier gekömmt”. Die Teilnehmer hatten
die Umlautbildung als Mittel zur Bildung einer grammatischen Form erkannt
und versuchten, wie im obigen Beispiel das Partizip II, grammatische Formen
mit Hilfe der Umlautbildung zu meistern.
Das relativ häufige Verwechseln der Konsonanten “b” und “p” sowie “d” und
“t” deutet auf eine Abweichung hin, die regional bedingt ist. Die Teilnehmer
haben überwiegend zu fränkisch sprechenden Nachbarn oder Freunden Kon-
takt und die Häufigkeit des Auftretens dieses Fehlertypus kann auf eine Inten-
sivierung des Kontaktes zu “Einheimischen” zurückgeführt werden. So kommt
209
was sie möchten. Vermeidungsstrategien lehnen sie mit dem Argument, dann
bräuchten sie gar nicht zu schreiben, ab. Auch der Hinweis, es könne durch-
aus hilfreich seine, komplizierten Gedankengänge mit einfachen sprachlichen
Mitteln formulieren zu müssen, um die Gedanken selbst zu “entwirren”, ist
meist unbefriedigend. “Ich lerne so viel und kann nicht mal sagen, was ich
denke” offenbart das Dilemma, in dem sich diese Schreiber sehen.
In den Texten treten sehr viele Nebensatzkonstruktionen auf, obwohl diese im
Unterricht erst zu einem späteren Zeitpunkt behandelt werden. Die Teilneh-
mer werden in Alltagssituationen jedoch oft mit Kausalsätzen, Konditionalsät-
zen sowie anderen Nebensätzen konfrontiert. Die Konjunktionen “weil”, “o-
der”, “und”, “wenn” sind den Teilnehmern nach einigen Wochen sprachlichen
Kontaktes zu Deutschen bekannt und werden demzufolge in die Texte integ-
riert. Der sehr hohe Anteil der daraus resultierenden Fehler ist auf eine feh-
lerhafte Satzstellung im Nebensatz zurückzuführen. “..., damit ich kann in
Deutschland studieren.”, “..., so ich muss lernen Deutsch.”, “..., weil ich bin in
Deutschland.”
Auch in diesen Texten haben die Fehler bei der Pluralbildung einen hohen An-
teil an der Gesamtquote. Auf die Frage hin, weshalb sie unbekannte Plural-
formen nicht mit Hilfe des Wörterbuchs bilden würden, gaben die Teilnehmer
an, sie hätten während der Textproduktion keine Zeit, das Wörterbuch zu Ra-
te zu ziehen, denn das Nachschlagen bringe sie aus dem Schreibfluss und
wirke sich störend auf die Textproduktion aus. Den fertigen Text vor der Ab-
gabe zu überarbeiten, dazu hätten sie keine Lust, denn das Schreiben mache
sie “völlig fertig”. An dieser Stelle äußerten sich die Teilnehmer auch durch-
weg negativ zu dem Vorschlag, die Texte in der nächsten Sitzung redaktionell
zu überarbeiten. Es war den Teilnehmern sichtlich unangenehm oder gar pein-
lich, den anderen Kursteilnehmern ihre Texte hinsichtlich formaler Abwei-
chungen vorzulegen. Während sie durchaus bereit waren, ihre inhaltlichen
Aussagen zur Diskussion zu stellen, lehnten sie es strikt ab, ihre Texte for-
malsprachlich unkorrigiert zu präsentieren. Es zeigte sich auch, dass man-
gelnde Motivation und unkonzentriertes Arbeiten bei dem Versuch, den eige-
nen Text mit Hilfe von Wörterbuch und Grammatikheft zu überarbeiten, zu
Misserfolg führten, wenngleich die Texte viele Abweichungen enthielten, die
von den Teilnehmern selbst aufgespürt und bereinigt hätten werden können.
Ein ähnliches Problem trat bei der Bildung von Perfektformen auf. Das Perfekt
war kurz vor der Textproduktion eingeführt und geübt worden. Die Teilnehmer
hatten Listen an die Hand bekommen, auf denen die Partizipien II der starken
Verben aufgelistet waren. In einer der vorhergegangenen Unterrichtseinheiten
war der Umgang mit dieser Liste trainiert worden, dennoch war während der
Textproduktion nicht darauf zurückgegriffen worden. Das Partizip II wurde
eher gefühlsmäßig gebildet und nicht – wie erwartet – mit Hilfe der Liste. Die
Teilnehmer gaben an, die Arbeit mit der Liste sei ihnen zu mühsam und man
211
könne auch so erkennen, was gemeint wäre. Mit diesem etwas legeren Um-
gang mit sprachlicher Korrektheit, kann auch die ausnahmslose Bildung der
Perfektform mit dem Hilfsverb “haben” erklärt werden. In den “Deutschkurs”-
Texten trat kein Fehler in den Bereichen “Negation” und “Personalpronomen”
auf.
Orthografie In % In % In %
Groß-/Kleinschreibung 34 30 20
Umlautbildung 9 7 10
Vokale 19 7 10
Dopplung/Dehnung 12 11 20
Zusammen/getrennt 4 1 7
Zischlaute 7 8 3
Konsonanten 3 16 10
Interferenz 11 16 20
v-f 1 4 -
Grammatik
Artikel 16 18 5
Präpositionen 18 12 9
Konjugation 11 16 11
Nebensätze 2 2 18
212
Tempus 6 3 9
Kasus 4 4 11
Adjektivdeklination 10 19 7
Satzstellung 13 11 5
Possessiva 12 2 4
Plural - 11 16
Negation 5 1 -
Konjunktionen 3 1 5
Grammatische Abweichungen
*) Die hier ermittelten Werte ergeben sich aus dem Quotienten der Textlänge und des Wortschat-
zes und soll deren Relation zueinander darstellen. Je mehr sich dieser Wert der 1 annähert, desto
differenzierter stellt sich der verwendete Wortschatz dar. Diese Größe wurde hier eingeführt, um
den Zusammenhang zwischen dem Ansteigen der Textlänge und der Erweiterung des Wortschat-
zes zu verdeutlichen. So konnte für den 1. Text der niedrigste Wert und für den 2. Text der
höchste Wert ermittelt werden. Für Text 3 wurde ein mittlerer Wert erhoben.
405 Es hat sich gezeigt, dass sich diese Vorgehensweise der Verzahnung von Grammatik- mit Wortschatzarbeit
durchaus bewährt, jedoch bedarf es immer wieder des Hinweises, die hier eingeführten Vokabeln seien Wortschatz und
sollten daher auch gelernt werden! Häufig beklagen sich Teilnehmer über mangelnde Wortschatzarbeit im Unterricht und
stellen dann bei einem Blick in ihr Heft erstaunt fest, wie viele Vokabeln “nebenbei” eingeführt und verwendet wurden.
Die Gewohnheit, Vokabeln zwar in ein Heft einzutragen, mit ihnen zu arbeiten, sie aber dennoch nicht zu lernen, scheint
weit verbreitet. Auch in der Erwachsenenbildung kann nicht selbstverständlich von eigenverantwortlichen und
motivierten Lernern ausgegangen werden.
214
hin an. Diese Entwicklung trat im Bereich Pluralbildung besonders stark her-
vor. Waren in den ersten Texten keine Fehler in diesem Bereich zu ermitteln,
so stieg der Anteil der Abweichungen in diesem Bereich im zweiten Text auf
11 % und im dritten Text auf 16 % an. Der hohe Anteil der fehlerhaften Plu-
ralbildungen im zweiten und im dritten Text deutet auf eine häufige Verwen-
dung von Pluralformen hin. Es drängt sich der Eindruck auf, die Teilnehmer
hätten bewusst mehr und mehr Pluralformen verwendet, da sie Formen und
Funktion der Pluralbildung kennen gelernt hatten, aber dennoch fehlte ihnen
die Sicherheit im Umgang mit diesen Formen, was zu einer Art Glücksspiel
führte. Vielen Teilnehmern war zum Zeitpunkt der Textproduktion ihre Unsi-
cherheit bei der Bildung der Pluralformen nicht bewusst und sie sahen diesbe-
züglich auch keinen Handlungsbedarf Eine Teilnehmerin gab an, sie schlage
absichtlich nicht im Wörterbuch nach, da sie die Pluralformen automatisch ler-
nen würde, wenn sie die entsprechenden Formen nur oft genug höre. Wenn
sie die Formen nachschlagen oder lernen würde, „käme sie nur durcheinan-
der“, da die Formen weder logisch noch “schön” seien. Auf die Frage, was sie
mit dem Adjektiv “schön” meine, antwortete sie, die Pluralbildung sei in ande-
ren ihr bekannten Sprachen deutlich an der Endung zu erkennen und sie emp-
fände den Gebrauch verschiedener Endungen verwirrend und chaotisch und
damit nicht schön. Konsequenterweise lehnte es diese Teilnehmerin tatsäch-
lich in den nächsten Wochen strikt ab, Pluralformen zu lernen und gewöhnte
sich an, den Plural eines jeden Substantivs mit der Endung –e zu bilden.
Der sukzessive Anstieg des Anteils der Fehler in den Bereichen Pluralbildung
und Kasus erklärt sich durch ein häufigeres Verwenden dieser Formen in den
Texten, also einem Hinweis auf den Bekanntheitsgrad dieser Strukturen, aber
gleichzeitig auch auf die Probleme, die diese Strukturen in der praktischen
Anwendung bereiten. Demgegenüber stehen in dieser Lernphase für die Teil-
nehmer vergleichsweise eindeutige Bereiche wie Negation und Satzstellung,
deren Anwendung in Texten weniger komplexe Reflexionen erfordern. So
wussten die Teilnehmer z. B., dass das konjugierte Verb im Aussagesatz
(meist) an 2. Position hinter dem Subjekt steht und dass ihm Dativ- und Ak-
kusativobjekt folgen. Das Satzmuster S-V-D-A wurde in der im Unterricht ein-
geführten Form in den Texten durchgehend angewandt und somit konnten in
diesem Bereich Abweichungen vermieden werden.
Daraus lassen sich Tendenzen für die Anwendungen der verschiedenen Berei-
che in den Texten erkennen:
• Im Unterricht eingeführte und trainierte Strukturen wurden in den Texten
angewandt und verarbeitet. Die Erweiterung der verfügbaren sprachlichen
Mittel in der Zielsprache Deutsch führte zu inhaltlich wie sprachlich diffe-
renzierteren und komplexeren Äußerungen. Der größte Teil der Lerner er-
kannte hierin die Chance, sich in größerem Umfang mitzuteilen sowie
Wünsche, Meinungen und Informationen schriftlich zu formulieren. Ein
215
kleiner Teil der Lerner sah in der Verfügbarkeit sprachlicher Mittel neben
der Chance, sich konkreter zu äußern, auch das Risiko, diese sprachlichen
Mittel nicht korrekt anzuwenden und versuchte dieses Risiko gering zu hal-
ten, indem er nur bekannte und in der Anwendung sichere Formen und
Strukturen in die Texte einarbeitete. Gleichzeitig nahm dieser Schreibtyp
in Kauf, seine Aussagen inhaltlich zu beschränken.
• In Bereichen, die klar und übersichtlich sind, d. h. bei Strukturen, deren
Anwendung ohne differenzierte Sprachbetrachtung möglich sind, kann
nach deren Einführung im Unterricht eine Reduzierung der formalsprachli-
chen Abweichungen festgestellt werden. Diese Bereiche können an Hand
einfacher Formen bewältigt werden, ohne dass inhaltliche Aussagen redu-
ziert werden müssen. So ist es durchaus möglich, inhaltlich komplexe Aus-
sagen in einem Satz nach dem Muster S-V-D-A406 darzustellen. Eine Her-
absetzung des Fehlerrisikos geht nicht auf Kosten der inhaltlichen Aussa-
ge. Ebenso ist es für Lerner unproblematisch zu entscheiden, ob sie eine
Aussage mit dem unbestimmten Artikel “kein-“ oder mit “nicht” verneinen
müssen, um eine formalsprachlich korrekte Aussage zu formulieren. Diese
beiden Bereiche Satzstellung und Negation stehen hier stellvertretend für
alle Bereiche, die in einer frühen Lernphase stark reduziert und damit klar
und eindeutig eingeführt werden können. Eine differenziertere Auseinan-
dersetzung mit diesen Bereichen kann zu einem späteren Zeitpunkt statt-
finden, ohne dass der Teilnehmer bis dahin zur fehlerhaften Anwendung
oder gar zur Sprachlosigkeit verurteilt wäre. In anderen Bereichen ist es
nicht in diesem Umfang möglich, sprachliche Strukturen so zu begrenzen,
ohne dem Lerner relevante sprachliche Mittel vorzuenthalten.
• Auch Strukturen aus Bereichen, die eine eingehende Beschäftigung mit
der Zielsprache erfordern, werden in den Texten, nach der Einführung im
Unterricht, in hohem Maße angewandt. So ist die korrekte Anwendung der
bestimmten und unbestimmten Artikel nur dann möglich, wenn der
Schreiber in der Lage ist, das Genus des jeweiligen Substantivs zu
bestimmen. Ebenso ist eine korrekte Kasusbildung nur dann möglich,
wenn in einem ersten Schritt ermittelt werden kann, welcher Kasus not-
wendig ist und im einem zweiten Schritt der entsprechende Kasus korrekt
gebildet werden kann. Oftmals kommt es hier zu einer Kombination zweier
problematischer Bereiche, denn eine entsprechende Deklinationsform des
Substantivs kann nur gefunden werden, wenn das Genus sicher bestimmt
werden kann. Diese hier beispielhaft aufgezeigten Bereiche erfordern vom
Schreiber eine genaue sprachliche Analyse der geplanten Satzkonstrukti-
on. Werden diese Voraussetzungen nicht erfüllt, entsteht hier ein hohes
407 Im Gegensatz dazu sind erwachsene Lerner durchaus motiviert, ihre eigenen Diktate bzw. die Diktate der anderer
Teilnehmer zu korrigieren. Hier liegen (meist) gedruckte, korrekte Textvorlagen vor, was die Korrektur immens
erleichtert. Dennoch scheint es einen direkten Zusammenhang zwischen der Motivation zu sprachlicher Überarbeitung
und der jeweiligen Schreibsituation, in der die zu korrigierenden Texte entstanden sind, zu geben. So werden Texte mit
eigenem Inhalt weniger motiviert und auch weniger gründlich überarbeitet als Texte, deren inhaltliche Aussagen von
anderen formuliert wurden. Auch die Bearbeitung von „Fehlertexten“, d.h. Texten kursfremder Personen, die mit
formalsprachlichen Abweichungen versehen sind, findet bei den Teilnehmern großen Anklang.
217
richt umgehen, jedoch nicht weniger oder mehr hinsichtlich der Erweiterung
ihrer sprachlichen Kompetenz in der Zielsprache profitieren.
desto mehr gefiel ihnen das Schreiben und der Umgang mit den eigenen Tex-
ten.
Im Unterricht mit erwachsenen Lernern kam ein weiteres Moment zum Tra-
gen: Die Tagesform, also die jeweilige psychische und physische Verfassung
des einzelnen Teilnehmers hatte großen Einfluss auf seine Schreibmotivation.
So begründeten Teilnehmer mangelnde Motivation oft mit Müdigkeit, Kopf-
schmerzen, zu vielen Problemen usw. Es war für die Erwachsenen weitaus
schwieriger als für Kinder, persönliche Befindlichkeiten „abzuschalten“ und
sich auf das Schreiben zu konzentrieren. In den meisten Fällen gelang es den
Teilnehmern, sich nach anfänglichen Schwierigkeiten dennoch auf das Schrei-
ben und den Text einzulassen und sie empfanden das Schreiben im Nachhi-
nein als angenehm und von den negativen Befindlichkeiten ablenkend. Es kos-
tete jedoch allen Beteiligten jedes Mal große Mühe, die anfängliche Unlust zu
überwinden und den Schreibprozess in Gang zu bringen. Ein Teilnehmer fass-
te diese Erfahrung zusammen: „Das ist wie Joggen, erst graust es mir wie
verrückt und hinterher bin ich dann froh, dass ich es gemacht habe!“
5.6.2 Förderung der sprachlichen Kompetenz
Der Drahtseilakt ...
Die Förderung sprachlicher Kompetenz in der Zielsprache Deutsch ist selbst-
verständlich das erste Lernziel bei der Planung und Durchführung der
Deutschkurse. Betrachtet man die Situation in den Deutschkursen genauer, so
kann man eine deutliche Diskrepanz zwischen den Vorgaben und Richtlinien
der Institution und den Erwartungen und Ansprüchen der Teilnehmer erken-
nen. Während die Institution den Schwerpunkt auf die Förderung kommunika-
tiver Kompetenz legt, die zur Bewältigung von Alltagssituationen beiträgt
(Einkaufen, Arztbesuch...), legen die meisten Teilnehmer großen Wert auf
Grammatik- und Wortschatzunterricht. Dies hängt mit den schulischen Erfah-
rungen im Herkunftsland zusammen, die einen unmittelbaren Einfluss auf die
Lerngewohnheiten der Teilnehmer ausüben. Teilnehmer, die aus einem Land
kommen, in dessen Schulen didaktische und methodische Konzepte verfolgt
werden, die stark von denen, die dem Unterricht in der Bundesrepublik zu
Grund liegen, abweichen, haben große Schwierigkeiten, sich auf neue Lern-
konzepte einzulassen. Insbesondere ältere Teilnehmer, die im Herkunftsland
ein von Autorität und Frontalunterricht geprägtes schulisches Lernen kennen
gelernt haben, lösen sich schwer von diesen Erfahrungen. Für sie stehen Spaß
und Freude am Lernen in direktem Gegensatz zu Erfolg beim Lernen. Für sie
steht der Erwerb einer grammatischen Kompetenz im Vordergrund, während
sie kommunikative Kompetenz als eine reine Folgeerscheinung von grammati-
schen Unterweisungen einschätzen.
221
5.6.3 Besonderheiten
Die heterogene Zusammensetzung der Teilnehmer hinsichtlich Alter, Herkunft,
Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit, Aufenthaltsdauer und Status in
Deutschland, Bildung usw. fordert vom Dozenten häufig einen Drahtseilakt.
Die Erwartungen, Ansprüche und Vorstellungen der Teilnehmer bezüglich der
Organisation und Methodik des Deutschkurses sind ebenso vielfältig wie die
Einschätzung und der Umgang mit dem eigenen Lernprozess. Nur sehr wenige
erwachsene Lerner sind sich ihres Lernprozesses, seines Ablaufs, seiner Ge-
setzmäßigkeiten und damit der eigenen Lerngewohnheiten, ihres Lerntyps und
der daraus resultierenden Konsequenzen für ihr individuelles Lernen bewusst.
Die überwiegende Zahl der Teilnehmer stand vor der Einreise in die Bundes-
republik Deutschland im Berufsleben und hat seit vielen Jahren nicht mehr
formell gelernt. Diese Teilnehmer haben zu Beginn der Kurse keine Lerntech-
niken zur Verfügung, die den Spracherwerb erleichtern könnten. Arbeitstech-
niken wie Karteikarten anlegen, Heftführung, Lesetechniken, Lerntechniken
sind ihnen ebenso unbekannt wie typischdeutsche Arbeitstugenden (Pünkt-
lichkeit...) und Eigenverantwortung für den Lernprozess. Der Dozent steht vor
der schwierigen Entscheidung, ob und in welchem Maß er sich in die Arbeits-
haltung der erwachsenen Teilnehmer Einfluss nimmt, da er auf der einen Sei-
te deren Freiheit bei der Gestaltung ihrer individuellen Arbeitsweise zu ak-
zeptieren hat und andererseits aber in vielen Fällen erkennt, wie sehr diese
den angestrebten Lernerfolg beeinträchtigt, was sich wiederum auf die in-
dividuelle Motivation wie auch auf die Stimmung in der Lernergruppe negativ
auswirkt.
Hier gilt es, den erwachsenen Teilnehmern möglichst schonend die erfor-
derliche Arbeitshaltung wie auch grundlegende Lerntechniken nahe zu brin-
gen. Dies beginnt bei dem Hinweis, auch in einem Kurs, für den Gebühren
entrichtet werden mussten, sind ein Stift und ein Wörterbuch Materialien, für
die der Teilnehmer selbst zu sorgen hat und endet in der Einführung und Be-
sprechung verschiedener Lerntechniken. Es gibt in jeder Gruppe Teilnehmer,
die geradezu bestürzt sind, wenn sie im Unterricht sprachliche Äußerungen in
223
usw. zur Diskussion stehen. Hier treffen der Respekt vor dem jeweiligen Teil-
nehmer und ein völliges Unverständnis gegenüber seinen Äußerungen aufein-
ander. Die Teilnehmer wagen sich inhaltlich auf eine Ebene, die sehr emotio-
nal gefärbt ist und zu deren Bewältigung die sprachlichen Mittel der Teilneh-
mer nicht ausreichen. Der Dozent wird in die Rolle des Schiedsrichters ge-
drängt und es wird von ihm gefordert, im Sinne der Mehrheit Stellung zu
nehmen. Die Haltung vieler Dozenten, solche Themen im Unterricht nicht zu-
zulassen und auch dementsprechend keine Verfahren, wie das Kreative
Schreiben einzuführen, die solche inhaltlichen Auseinandersetzungen auslösen
können, ist verständlich, verschließt aber gleichzeitig die Chance, die kulturel-
le Vielfalt der Gruppe zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Der Dozent
steht vor dem Dilemma, dass er auf der einen Seite die Funktion eines Mode-
rators zu übernehmen hat, der darauf achten muss, dass kein Teilnehmer auf
dem „interkulturellen Glatteis“ ausrutscht bzw. in der Diskussion verletzt wird,
und andererseits ist seine Meinung stark gefragt, ist er doch der einzige Rep-
räsentant des Landes und der Gesellschaft, in der alle Teilnehmer ihr zukünf-
tiges Leben planen. Die beiden Rollen, die dem Dozenten in einer derartigen
Unterrichtssituation zugeteilt werden, die des Moderators und die des „Deut-
schen“, sind häufig schwer zu vereinen. Wird er von den Teilnehmern auch
noch nach seiner persönlichen Meinung gefragt, kommt eine dritte Rolle hin-
zu, die er zu übernehmen hat. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es zur Lösung
eines solchen Problems kein Patentrezept gibt, da ein adäquates Verhalten
des Dozenten in einer derartigen Situation, auf dem „interkulturelle Glatteis“,
stark von der jeweiligen Persönlichkeit abhängt. Jeder Dozent in der Erwach-
senenbildung, der multinationale und multi-ethnische Gruppen unterrichtet,
muss seinen Weg finden, die Gruppe sicher, über das „interkulturelle Glatteis“
zu führen, denn ein Unterdrücken solcher Auseinandersetzungen ist gleichzei-
tig ein Ignorieren der Chancen, die eine heterogene Zusammensetzung einer
Lernergruppe nicht nur in Hinsicht auf eine Förderung der sprachlichen Kom-
petenz bietet. Vielmehr erschließt sich hier die Möglichkeit zu einer Auseinan-
dersetzung mit der Situation in einer multikulturellen Gesellschaft in sachli-
chem, freundschaftlichem Miteinander, die unbedingt genutzt werden sollte.
Grunde gelegt werden: Viele Erwachsene hatten keinerlei Erfahrung mit krea-
tiven Verfahren. Der Anspruch, der mit dem Einsatz dieser Verfahren an sie
gestellt wurde, überforderte sie anfangs. Erst im Laufe der Zeit konnten sie
freier und spielerischer mit der für sie noch unbekannten Sprache umgehen.
Die Lerner im Erwachsenenalter profitierten demnach durchaus vom Verfah-
ren des Kreativen Schreibens im Deutschunterricht. Alle Teilnehmer zeigten,
wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten, Interesse an den Verfahren
und konnten mit deren Hilfe qualitativ wie quantitativ hochwertige Texte ver-
fassen. Auch Unterrichtsform, Sozialformen, handlungsorientierte und pro-
jekthafte Unterrichtskonzeption entsprachen ihren Bedürfnissen. Allerdings
zeigten die erwachsenen Lerner anfangs Bedenken gegenüber ihnen unbe-
kannten Unterrichtsmethoden und –verfahren. Ein sensibler Umgang mit indi-
viduellen Lerngewohnheiten und eine umsichtige Heranführung an neue und
unbekannte Verfahren stellte eine wesentliche Voraussetzung für deren er-
folgreichen Einsatz im Unterricht dar.
Anhand des Kreativen Schreibens konnte der Spracherwerb in der Zielsprache
Deutsch gefördert werden. Die Teilnehmer verbesserten sowohl ihre mündli-
che als auch ihre schriftliche Ausdrucksfähigkeit in der Zielsprache wie auch
ihre formalsprachliche und kommunikative Kompetenz. Sie gewannen deutlich
an Sicherheit im mündlichen und schriftlichen Umgang mit der Zielsprache.
Schon zu Beginn des Spracherwerbs konnten kleine Texte geschrieben und im
Unterricht diskutiert werden. Das Zusammenspiel zwischen schriftlichen und
mündlichen Phasen fördert mündliche wie schriftsprachliche Kompetenzen der
Teilnehmer. Im Unterricht eingeführte und geübte Strukturen konnten in die
Texte integriert und somit in einen übergeordneten Zusammenhang gestellt
werden.
sern. Den bevorstehenden Schulabschluss trauten sie sich alle nicht recht zu
und so suchten sie nach Möglichkeiten, ihr Glück in einem anderen Land zu
versuchen. Häufig hatte es jedoch den Anschein, diese Aussichten seien we-
der begründet noch ernst zu nehmen, sondern ein Traum, der ihnen helfe,
nicht an ihrer derzeitigen Situation zu verzweifeln. Einige der jungen Männer
erwogen eine Rückkehr in den Kosovo, und planten eine Teilnahme an dem
dort ausgebrochenen Krieg. Ihnen erschien die Verteidigung ihrer Heimat
sinnvoller als das Streben nach einem deutschen Schulabschluss, der ihnen
auch bei erfolgreichem Bestehen keinen Ausbildungsplatz garantiert. Nur zwei
der Jugendlichen sprachen zu Hause und in der peer-group Deutsch. Der eine
war oben erwähnter Deutscher, der andere ein Junge, der mit seiner deut-
schen Mutter zusammenlebte, aber einige Jahre bei seinem Vater in den USA
verbracht hatte. Die anderen sprachen zu Hause in der Familie durchwegs die
jeweilige Primärsprache, allerdings immer wieder von deutschen Vokabeln
durchsetzt, wenn der Wortschatz der Primärsprache nicht ausreichte. Mit
Freunden und Bekannten sprachen sie entweder Deutsch oder die Primärspra-
che oder ein Gemisch aus beiden Sprachen, je nach Sprachkenntnissen der
Gesprächspartner.
... über Probleme ...
Alle sprachen jedoch eine gemeinsame Sprache, die sich als Szenensprache
einordnen lässt. Diese enthält neben Anglizismen, Eindeutschungen und
Modewörtern auch grammatische Besonderheiten, wie eben das bereits er-
wähnte Weglassen von Artikeln im Präpositionalobjekt oder auch der Verzicht
auf das Verb „sein“. „Ich Baustelle.“ So sind Sätze wie „Wow, Samstag wir al-
le bei chill-out-See mit Grill, echt krasses Wochenende.“ in diesem Umfeld
völlig normal und werden von allen Gesprächsteilnehmern einwandfrei ver-
standen. Die Szenensprache variiert stark und ist häufigen Änderungen un-
terworfen. Sie dient dazu, eine bestimmte Gruppe von anderen abzugrenzen
und eine Zugehörigkeit zu der Gruppe zu signalisieren. Die Jugendlichen
berichteten, dass sie zu Hause in der Familie so nicht sprechen könnten, weil
die älteren Familienmitglieder sie dann nicht verstünden oder gar, dass ihnen
diese Sprache zu Haus untersagt wäre. Andererseits wurde gerade diese Sze-
nensprache in jüngster Zeit durch Kabarett-Gruppen und Trash-Komiker
salonfähig, was die Jugendlichen geradezu zwang, wiederum eine neue Spra-
che zu entwickeln, um die Gruppenidentität zu wahren. Die Jugendlichen hat-
ten während der Textproduktion große Schwierigkeiten, da sie ihre Gedanken
erst in eine schriftsprachliche Form übersetzen mussten. Sie selbst hatten den
Anspruch, sich in ihren Texten korrekt und verständlich auszudrücken. Sie alle
hatten als vage Erinnerung aus dem Deutschunterricht behalten, dass Gedan-
ken, die schriftlich fixiert werden, eine andere Form haben sollten, als münd-
lich formulierte Aussagen. Dieses Übersetzen bereitete ihnen große Probleme
und erschwerte ihnen die Textproduktion erheblich. Die Schriftsprache er-
230
schien ihnen als fremde Sprache und der Anspruch, eigene Gedanken in ihr zu
formulieren als unerfüllbar. Die Aufforderung, „Schreib doch einfach so, wie
du denkst!,“ erschien ihnen absurd, da sich die Meinung, man dürfe nicht so
schreiben wie man denkt, fest in ihren Köpfen verankert hatte. Die Aussage
eines Jugendlichen „Ich kann nicht schreiben.“ bezog sich demzufolge auch
nicht nur auf formalsprachliche Korrektheit und motorische Fertigkeiten, son-
dern auch auf die Nichtverfügbarkeit einer Ausdrucksform, die ihm der ge-
schriebenen Form angemessen schien.
... und Lösungen
Diese dreifache Barriere musste erst überwunden werden, bevor es zu einer
Textproduktion kommen konnte. Hierbei erwies es sich als hilfreich, in der
Gruppe Texte laut zu lesen, die in eben einer solchen Szenensprache verfasst
sind. Es half den Jugendlichen, „ihre“ Sprache als ein eigenständiges System
zu verstehen, das auch schriftlich umgesetzt werden kann. Sie waren erstaunt
und begeistert, dass es Autoren gibt, die in „ihrer“ Sprache schreiben, oder
ihre Personen in eben jener Sprache sprechen lassen. Das Kennen lernen sol-
cher Texte ebnete den Jugendlichen den Weg zu ersten eigenen Texten und
reduzierte die anfänglichen Hemmungen immens. Sie fanden, wie die Texte
zeigen und wie sie selbst angaben, Spaß am Schreiben und entdeckten damit
ein Medium, das ihnen half „ihre“ Welt zu fixieren und ihre Gedanken auszu-
drücken. Natürlich kam es hierbei zu Übertreibungen und Ausuferungen, die
in der Dokumentation besprochen werden. Diese wurden zu Beginn jedoch
ausnahmslos zugelassen, um die neu gewonnene Lust am Schreiben nicht zu
ersticken. In dieser Schreibgruppe war es notwendig, die Schreiber langsam
an das Schreiben heranzuführen und es ihnen „schmackhaft“ zu machen. Die
Arbeit mit fremden Texten und vorbereitende Gespräche bahnten den Weg
zum ersten eigenen Text.
Die beiden anderen Punkte, die sich negativ auf den Schreibprozess aus-
wirkten waren der habituelle Analphabetismus der Jugendlichen, die das
Schreiben nie automatisiert hatten und die Unfähigkeit, die Texte anspre-
chend zu gestalten. Die Jugendlichen sahen sich nicht nur außer Stande, ei-
nen formalsprachlich korrekten Text zu produzieren, sondern hatten auch
Schwierigkeiten, die aus dem Mangel motorischer Fertigkeiten herrührten.
Den Jugendlichen begannen bereits nach kurzer Schreibzeit, Hände und Arme
zu schmerzen, die Augen zu brennen und zudem waren sie mit dem Schrift-
bild ihrer Produktionen mehr als unzufrieden. In einigen Fällen, in denen ein
Scheitern auf Grund dieser Probleme drohte, wurde Abhilfe geschaffen, indem
die Texte entweder am PC geschrieben oder aber von der Lehrkraft auf for-
malsprachliche Abweichungen hin überarbeitet wurden. Die jeweiligen Fehler-
quellen wurden im anschließenden Unterricht thematisiert und deren Vermei-
dung trainiert. Die Jugendlichen haderten immer wieder mit dem optischen
Eindruck ihrer Produktionen. Sie fanden es peinlich und waren nicht in der La-
231
ge, ihre Texte diesbezüglich zu verbessern. So entstand die Idee einer Zei-
tung, die zum Ende der Maßnahme entstehen sollte und in der ihre Texte ver-
öffentlicht werden konnten. Hierzu fand eine intensive Zusammenarbeit mit
der Lehrkraft statt, die die Gruppe in EDV unterrichtete.
Rolle des Retters zu, der den Anschlag abwenden konnte, indem er dem „Ü-
berraschungseieingeborenen“ ein Attentat auf den Bundeskanzler – sozusagen
ersatzweise – vorschlug.
Alle Texte bis auf einen berichten von Gewalttaten wie Vergewaltigung oder
Mord. Dazu befragt gaben die Schreiber an, sie „hätten eben einen richtig
spannenden Text“ schreiben wollen, und das wäre ohne Gewalttaten nun ein-
fach nicht möglich. Während der Befragung drängte sich tatsächlich der Ein-
druck auf, dass sich die angesprochenen Schreiber nicht vorstellen konnten,
wie ein Text gleichzeitig spannend und frei von gewalttätigen Gräueltaten sein
könnte. Sie zeigten sich erstaunt, weshalb sie dazu befragt wurden, hatten sie
sich doch lediglich an die Anweisung gehalten, eine richtig spannende Ge-
schichte zu schreiben. Ihrer Meinung nach hätte eine Geschichte ohne Mord
oder Vergewaltigung dieser Vorgabe nicht entsprochen.
..., aber ab und an ausfällig.
Diese Aussagen führten zu einem langen Gespräch über Textstellen, die in-
haltlich nicht innerhalb der Toleranzschwelle der Lehrkraft und anderer Teil-
nehmer der Schreibgruppe liegen. Zuerst erschien es schwierig, die Kluft zwi-
schen „Du hast doch gesagt, wir sollen schreiben, wie wir denken!“ und „Das
ist mein Text und ich schreibe, was und wie ich will und wem das nicht passt,
der braucht ihn nicht zu lesen!“ zu überwinden. Erst, als andere Schreibgrup-
penteilnehmer ihr Unbehagen über die Textsequenzen, die nicht „im grünen
Bereich“ lagen, zu äußern, zeigten sich die betroffenen Schreiber bereit, diese
Textstellen zu diskutieren. Bereits zu Beginn des Gesprächs zeigten sich die
betroffenen Schreiber einsichtig, dass ihre Texte in dieser Form nicht zur Ver-
öffentlichung geeignet seien. Dennoch waren sie nicht bereit, sie zu ändern,
sondern sie wollten lieber auf eine Veröffentlichung verzichten. Dies stieß bei
den anderen Schreibern auf Kritik und Widerwillen. Sie meinten, es sei von
Anfang an eine gemeinsame Veröffentlichung im Rahmen einer Zeitung ge-
plant gewesen und sie würden sich im Stich gelassen fühlen, würden die Be-
troffenen ihre Texte zurückziehen. Den Kritikern fiel aber denn auch keine
Entgegnung auf den Vorwurf ein, sie hätten bei den Textstellen gelacht und
ihren Beifall bekundet, während sie nun auf eine Überarbeitung gerade dieser
Textstellen bestehen würden. Ihr beinahe schüchtern vorgebrachtes „Aber
man kann doch nicht!“ wurde von den betroffenen Schreibern als Verklemmt-
sein und Prüderie interpretiert. Die, in den Texten vorkommenden, Kraftaus-
drücke und unflätigen Begriffe wurden von den Betroffenen als „normale Um-
gangssprache“ eingeschätzt, was sich durchaus nicht leugnen ließ, wurde man
Zeuge ihrer privaten Unterhaltungen.
Nur schwer ließ sich die Gruppe, deren Texte anstößige Stellen enthielten, auf
einen Kompromiss ein: Sie würden ihre Texte diesbezüglich nicht über-
arbeiten, verzichteten jedoch auf eine Veröffentlichung. Bei der Produktion
234
weiterer Texte würden sie sich „zusammenreißen“ und ihre Texte in einer
Form halten, die der political correctness entspricht. Dies, lässt sich vorab sa-
gen, wurde im weiteren Verlauf der Schreibkurse auch weitgehend ein-
gehalten.
Dieses Gespräch drohte den gesamten Schreibkurs zu kippen. Mehr als einmal
kam es zu einem Punkt, an dem Aussagen wie „Wenn euch das nicht passt,
dann schreibe ich eben nichts mehr!“ nicht nur den trotzigen Zorn der betrof-
fenen Schreiber und deren Unfähigkeit Kritik aufzunehmen, hervorhoben,
sondern auch ihre Hilflosigkeit. Sie hatten, vielleicht zum ersten Mal, einen
Text geschrieben, in dem Bewusstsein, sie sollten ihn so gestalten, wie er ih-
nen gefällt und nicht den Vorstellungen einer Lehrkraft entsprechend, und
mussten dann aber feststellen, dass dieser Text massiv kritisiert wurde, ob-
wohl er beim Vorlesen in der Gruppe lautes Gelächter hervorgerufen hatte.
Die anwesenden Lehrkräfte hatten sich während der Diskussion weit gehendst
zurückgehalten. Der Umstand, dass diese Kritik von den anderen Schreibern
kam und nicht von den Lehrkräften, verletzte die betroffenen Schreiber um so
mehr. Insbesondere die – auf den ersten Blick – gegensätzliche Reaktion der
anderen Schreiber, die zuerst an den betreffenden Textstellen ihre Zustim-
mung durch lautes Lachen gezeigt hatten und dann während der Diskussion
ihre Kritik äußerten, war ihnen völlig unverständlich.
Hier war ein Eingreifen der Lehrkräfte notwendig, um drohende Handgreiflich-
keiten zwischen den Diskutierenden zu vermeiden. Es wurde besprochen, dass
Texte durchaus lustige Stellen enthalten können, diese aber dennoch so for-
muliert sein sollten, dass sie im Rahmen der allgemeinen Toleranz liegen. Auf
eine schriftliche Fixierung dieser, von der Gruppe erstellten Schreibregel wur-
de aber ganz bewusst verzichtet, um den betroffenen Schreibern nicht durch
eine „schulmäßige“ Schreibsituation die Lust am Schreiben zu nehmen. Den-
noch, dies sei hier vorweg genommen, sind die weiteren Texte dieser
Schreibgruppe nicht mehr so originell und fantasievoll, wie die des ersten
Schreibversuchs. Das Gespräch hatte die Schreiber in ihrem ersten Schwung
ausgebremst und dies war nicht mehr rückgängig zu machen. Lediglich ein
Schreiber machte hierbei eine Ausnahme, er verfasste seinen nächsten Text
erst recht in einem derben, unflätigen Stil.
6.2.2.2 Formale Auswertung
Die Texte zum Thema „John Silvers Schatzkiste“ waren durchschnittlich etwa
104 Wörter lang. Dabei zählte der längste Text 206 Wörter, während der kür-
zeste Text aus nur 54 Wörtern bestand. Die Texte zeigen im Durchschnitt ei-
nen Wortschatz von etwa 56 Wörtern auf. Nur ein Text war nicht mit einer
Überschrift versehen worden. Von den erhobenen formalsprachlichen Abwei-
chungen konnten 58 % dem Bereich Orthografie zugeordnet werden, während
42 % der Abweichungen zum Bereich Grammatik gezählt werden müssen.
235
6.3.1 Ideensammlung
Die Ideensammlung wurde in der Form eines Gemeinschaftsclusters durch-
geführt, das im Plenum erstellt wurde. Nach den Diskussionen um political
correctness, die im Rahmen des vorangehenden Schreibkurses geführt wur-
den, assoziierten die Jugendlichen nicht frei und unzensiert. Sie achteten dar-
237
auf, dass ihre Beiträge zum Gemeinschaftscluster im Rahmen der von der
Gruppe definierten allgemeinen Toleranz lagen. Auch ein Hinweis auf die un-
zensierende Natur des Clusterings konnte dem nicht entgegenwirken.
Die Jugendlichen hatten recht lustlos am Cluster gearbeitet. Dies hatte zwei
Ursachen. Sie gaben an, das ganze Thema „Zukunft“ hinge ihnen bereits „zum
Hals raus“, sie hätten sich in den letzten Wochen und Monaten wohl ausrei-
chend damit beschäftigt. Auf die Frage, weshalb sie denn keine konkreten
Vorstellungen und Pläne aufzeigen könnten, gaben sie an, sie hätten keine
Zukunft, da sie weder einen Ausbildungsplatz finden könnten, noch eine
Chance sähen, in der Bundesrepublik ein angemessenes Leben führen zu kön-
nen. Sie seien eben anders als der Rest der Bevölkerung, sie wären Kriminel-
le, Drogenabhängige und Arbeitslose und somit gäbe ihnen die Gesellschaft
keine Chance. Sie hätten aber auch keine Möglichkeit „ordentliche“ Menschen
zu werden, denn dazu bräuchten sie einen Ausbildungsplatz und den bekämen
sie nicht, weil sie keine „ordentlichen“ Menschen seien. Diesen Kreislauf sahen
sie sich außer Stande, zu unterbrechen. Diese Aussichtslosigkeit nahm ihnen
jedwede Lust, sich weiterhin mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Ein weiterer Grund für die eher lustlose Arbeit am Gemeinschaftscluster lag in
den Ergebnissen der Diskussion während des vorangegangenen Schreibkur-
ses. Die Jugendlichen waren verunsichert, welche Wörter und Begriffe sie ein-
bringen konnten, ohne der Kritik der anderen Schreibkursteilnehmer ausge-
setzt zu sein. Auch mehrmalige Hinweise, im Cluster sei alles erlaubt, konnten
sie nicht dazu bewegen, ihre Haltung aufzugeben und frei zu assoziieren. Sie
konterten, es habe keinen Sinn, lustige, spontane Assoziationen ins Cluster
aufzunehmen, wenn diese beim Schreiben des Textes nicht wieder aufgegrif-
fen werden könnten. Sie hätten auch keine Lust wieder einen Text zu schrei-
ben, der nicht veröffentlicht werden würde, demzufolge hielten sie sich beim
Clustern zurück. Auf die Anregung hin, ein individuelles Cluster zu erstellen,
meinten sie, das wäre in ihren Augen kein Unterschied, da sie dort zwar alles
schreiben könnten, was ihnen einfiele, aber sie könnten die im individuellen
Cluster vorkommenden Begriffe auch dann nicht in den Text aufnehmen.
schrieben. Dies erklärt auch den vergleichsweise geringen Umfang der Texte
und den geringen Wortschatz, der darin erhoben wurde.
6.3.2.1 Analyse der inhaltlichen Aussagen
Das Thema „meine Zukunft“ wurde von den Schreibern in ganz unterschied-
licher Weise interpretiert. So stellt sich der Zeitpunkt, an dem für die Schrei-
ber die Zukunft beginnt oder stattfindet, äußerst unterschiedlich dar.
Ein Schreiber legte den Zeitpunkt der Zukunft auf das nächste Jahr, in dem er
die Maßnahme beendet hat, und er beschreibt, wie er sich das folgende Jahr
vorstellt. Er sieht einen Ausbildungsplatz, der ihm gefällt, wünscht sich, dass
er auch in einem Jahr noch mit seiner derzeitigen Freundin zusammen sein
wird, hätte gerne eine eigene Wohnung und würde gerne den Führerschein
machen und sich ein eigenes Auto kaufen. Für einen anderen Schreiber dieser
Gruppe beginnt die Zukunft mit dem 18. Geburtstag. Dann kann er den Füh-
rerschein machen, sich ein Auto zulegen, hat einen guten Verdienst, der ihm
eine gute Rente sichert und im Alter von 20 Jahren plant er eine Familie zu
gründen. Ein Schreiber verfasste seine persönliche „Wunschliste“, die er in 2
Rubriken aufteilte: „Was ich will“ und „was ich nicht will“. Die Texte zum
Thema „meine Zukunft“, die nicht in den Fantasy-Bereich einzuordnen sind,
sind alle mehr oder weniger der Kategorie „Wunschliste“ zuzuordnen. Die
Schreiber entwerfen ein Szenario, das deutlich macht, wie sie sich ihre per-
sönliche Zukunft wünschen. Von möglichen Problemen oder Schwierigkeiten
bei der praktischen Umsetzung dieser Wünsche ist in den Texten nur am Ran-
de die Rede. So zählt der Verfasser des Wunschlisten-Textes in der Rubrik
„Was ich nicht will“ auf: sterben, kein Geld, kein Beruf, Krankheit in der Fami-
lie. Er äußert sich jedoch nicht darüber, wie er zum Beispiel verhindern könn-
te, in der Zukunft keinen Beruf zu haben.
Die jugendlichen Schreiber wünschen sich für ihre Zukunft alle eine eigene
Familie, einen guten Beruf und ein Auto mit dem dazugehörenden Führer-
schein. Diese drei Ziele scheinen allen Jugendlichen eigen zu sein, denn auch
der Schreiber, dessen Text sich auf der Beziehungsebene deutlich von den
anderen Texten abhebt, äußert sich in dieser Richtung. Allerdings verpackte
dieser Schreiber seine Wünsche in eine Form, die – in einer späteren Ge-
sprächsrunde – von den anderen Schreibern als „unmöglich“ und „blöd“ be-
zeichnet wurde. Der Schreiber wünscht sich ebenfalls eine Tätigkeit, die ihm
gute Einkünfte sichert und eine Familie, lässt dann aber seiner Fantasie freien
Lauf und verlässt damit den Bereich, den die Gruppe vorab als „anständig“
definiert hatte.
Ein Jugendlicher hatte zum Thema „meine Zukunft“ einen Fantasy-Text ge-
schrieben, dessen Inhalt nichts über seine persönlichen Wünsche oder Pläne
für die Zukunft aussagt. Er entwirft in seinem Text ein Szenario zum Thema
„die gesamte Menschheit wird jämmerlich zu Grunde gehen.“ In diesem Text
239
gen Ausland tatsächlich zu leben bzw. Deutschland und damit die Familie und
die peer-group wirklich zu verlassen. 411
6.3.2.2 Analyse der formalsprachlichen Abweichungen
54,4 % der in den „Meine Zukunft“-Texten erhobenen formalsprachlichen Ab-
weichungen können dem Bereich Orthografie zugeordnet werden. An erster
Stelle in der Fehlerhierarchie steht, wie bereits im ersten Text, der von dieser
Gruppe geschrieben wurde, die Groß- und Kleinschreibung. Über die Hälfte
der in diesem Bereich erhobenen Abweichungen sind dieser Fehlerquelle zu-
zuordnen (54,8 %). An zweiter Position rangieren Abweichungen, die sich im
Bereich der Konsonantendopplung ergeben haben. Mit einem Anteil von 16,1
% an der Gesamtanzahl der orthografischen Abweichungen, werden hier weit-
aus höhere Werte erreicht, als für andere Fehlertypen, die sich alle im glei-
chen Bereich bewegen. In der folgenden Tabelle werden die Ergebnisse der
Analyse der ersten Texte mit jenen der zweiten Texte verglichen:
Wie in der Tabelle deutlich wird, haben die Schreiber bei den „meine Zu-
kunft“-Texten bereits während der Textproduktion mehr auf eine for-
malsprachliche Korrektheit geachtet. Die meisten Fehlertypen treten in die-
411 Keiner der Jugendlichen dieser Gruppe hat die Bundesrepublik in der Zeit nach Beendigung der Maßnahme
verlassen.
241
sem Text in geringerem Umfang auf, als in den ersten Texten zum Thema
„John Silvers Schatzkiste“. Daher ist der Anteil der Fehler im Bereich der
Groß-/Kleinschreibung beträchtlich höher als im ersten Text. Dieser Wert ist
nicht auf einen Anstieg der Abweichungen zurückzuführen, sondern auf eine
Reduzierung der Abweichungen in den weiteren Bereichen. So konnten die
Abweichungen im Bereich der Vokaldehnung deutlich um fast 10 % gesenkt
werden. Die Auswertung der orthografischen Abweichungen und der Vergleich
mit den Ergebnissen der Auswertung der ersten Texte ergab die Notwendig-
keit einer systematischen Sequenz zum Thema „Groß-/Kleinschreibung“. Die-
se wurde im Rahmen des Förderunterrichts durchgeführt, da der Regelunter-
richt – nach Auskunft der dafür verantwortlichen Lehrer – keine Möglichkeit
bot, dieses Thema aufzugreifen. Im Anschluss an diese systematische Unter-
weisung wurden die eigenen Texte korrigiert und in Bezug auf Groß- und
Kleinschreibung überarbeitet. 45,6 % aller formalsprachlichen Abweichungen,
die in den Texten erhoben wurden, gehören in den Bereich der grammati-
schen Abweichungen. Eine Auswertung der grammatischen Abweichungen
dieser Texte ergab eine ausgewogene Verteilung der fehlerhaften Formulie-
rungen auf die einzelnen Fehlerquellen. Im Vergleich dazu die Werte des vo-
rangehenden Textes:
Die Texte zum Thema „meine Zukunft“ waren inhaltlich insgesamt weniger
spontan und ließen erkennen, dass sie überlegter und langsamer geschrieben
wurden, als die „Abenteuergeschichten“ von John Silvers Schatzkiste. Dieser
242
Umstand mag einerseits durch die Vorgabe des Themas und andererseits
durch die vorangegangenen Gespräche und Diskussionen erklärbar sein. Die
langsamere, überlegte Textproduktion hatte zur Folge, dass die Schreiber
„Experimente“, also die Anwendung von Strukturen, derer sie sich nicht sicher
waren, unterließen. Sie vermieden diese ganz bewusst und umgingen sie, in-
dem sie sich auf überwiegend kurze Aussagesätze ohne Nebensatzkonstrukti-
onen sowie fast ausschließlich indikativische Formen beschränkten. Inwieweit
hierfür die Themenstellung oder die vorangegangenen Besprechungen Ursa-
che waren oder das Zusammenspiel beider Faktoren die Schreiber hemmte,
konnte auch in einem Gespräch mit den Schreibern nicht geklärt werden. Sie
gaben sowohl an, das Thema hätte ihnen keinen Spaß gemacht, wie auch sie
hätten nicht wieder einen Text schreiben wollen, in dem „alles falsch“ ist. So
beschränkte ein Schreiber seinen Text auf eine Aneinanderreihung von Sät-
zen, die alle nach der Struktur „Ich möchte...“ organisiert waren, um Satzbau-
fehler zu vermeiden. Auffallend ist, dass die beiden Texte, die inhaltlich „aus
dem Rahmen fallen“, gleichzeitig die meisten formalen Abweichungen im
grammatischen Bereich aufzeigen. Die beiden Schreiber hatten auch in die-
sem Text die formalsprachliche Korrektheit hintan gestellt und sich auf die in-
haltliche Ebene konzentriert.
Wie konnte das passieren?
oder: Was haben wir falsch gemacht?
Zu dem oben dargestellten Schreibkurs seien an dieser Stelle einige An-
merkungen erlaubt: Das Thema „meine Zukunft“ war zwar in Absprache mit
den Schreibern gestellt worden, aber auf Wunsch der zuständigen Lehrkräfte.
Dies hatte zur Folge, dass die Schreiber sich mehr oder weniger lustlos an das
Thema herangewagt hatten. Hinzu kam, dass die Schreiber auf Grund ihrer
individuellen Vorgeschichte nicht bereit waren, sich mit ihrer persönlichen Zu-
kunft zu beschäftigen und daher auf allgemeine Aussagen oder anstößige
Aussagen zurückgriffen. Die langen und heftigen Diskussionen, die am Ende
des letzten Schreibkurses gestanden hatten, hatten dazu geführt, dass sich
die Schreiber überwiegend nicht mehr trauten, spontane und in ihren Augen
lustige Texte zu schreiben. Sie hatten versucht, Texte zu produzieren, die
auch in den Augen der Lehrkräfte Gefallen finden und von den anderen
Schreibern zur Veröffentlichung frei gegeben werden sollten. Das Resultat wa-
ren Texte, die von allen Lesern als langweilig, eintönig und stereotyp emp-
funden wurden. Diese ungünstigen Voraussetzungen verdarben den Jugendli-
chen die neu entdeckte Lust am Schreiben und da sich diese Unlust in den
Texten niederschlug auch die Freude am Produkt ihrer Arbeit, am fertigen
Text. Sie beurteilten ihre Texte selbst als langweilig und unbefriedigend.
243
ansprechender empfunden hätten. Zudem hätte sie die Möglichkeit, wie „rich-
tige Reporter“ zu arbeiten, angeregt.
6.4.1.1 Analyse der inhaltlichen Aussagen
Die Jugendlichen dieser Gruppe schrieben zu folgenden Themen, die aus dem
Themenkatalog ausgewählt wurden:
• die Schreinerei
• die Malerwerkstatt
• der Alltag der Sozialpädagogen
• die Kollegen
• Paula, der Hund
• besondere Vorkommnisse
Der Schreiber, der über Paula412 geschrieben hat, fragt sich und die Leser,
was dieser Hund im Büro macht. Er stellt dazu einige Vermutungen an, wie
„Vielleicht ist es das Maskottchen?“, Es ist ja auch vielleicht kein Hund, son-
dern ein etwas beharrter Jugendlicher.“ und verzichtet auf konkrete Aussa-
gen.
Ein Text berichtet über die Kündigung zweier Kollegen und spekuliert über
mögliche Gründe „Beim Bubi ist eine Persönliches Grund das keiner Erfahren
soll aber mir (...) Reporter kriegen die harteste Nuß zun Knacken.“. Der
Schreiber benutzt seinen Text, um seinen ehemaligen Kollegen zu un-
terstützen und er versucht dessen Unschuld an dem Ereignis, das dessen
Kündigung bewirkt hat, zu beweisen. „Serkan ist angeklagt wegen Brand-
stiftung, aber er berichtet das er unschuldig ist. Die Martina sei daran schuld
sagt er sie hat den Brand verursacht.“
Der Text, der über „die Schreinerei“ geschrieben wurde, berichtet über einen
Arbeitsunfall, der dort einige Tage vorher passiert war. „... er arbeitete bein
den Schreiner an der Stichmaschine und da pasierte es er schnitt sich in den
finger. Der schnit war dief er blutete seher stark.“ Der Schreiber stellt kurz
dar, was sich ereignet hatte und beschreibt dann den weiteren Verlauf. Er be-
richtet vom Arztbesuch, vom Verband und von der Krankmeldung. Abschlie-
ßend bemerkt er dazu: „seit den bassen wier alle besser auf.“.
Zum Alltag der Sozialpädagogen wurde ein Foto herangezogen, das eine Ler-
nergruppe mit einem Pädagogen zeigt. „Vor lauter begeisterung durften die
Schüler länger da bleiben und Lernen.“, beschreibt der Autor die Situation. Er
betrachtet das Foto und kommentiert die darauf abgebildeten Personen „Ein
412 Der Hund eines Sozialpädagogen. Dieser Hund „begleitet“ sein Herrchen täglich zur Arbeit.
246
schlauer Schüler wollte anonym bleiben, drehte den Kopf nicht um.“ Der Text
enthält jedoch keine Angaben zum Thema „Alltag der Sozialpädagogen“. Der
Schreiber meinte dazu, er habe es sich während des Schreibens anders über-
legt, da er das Foto ansprechend gefunden habe und er daher darauf verzich-
tet habe, ein Interview zu führen. Außerdem habe er sich überlegt, dass die
Arbeit der Sozialpädagogen ein ungeeignetes Thema gewesen wäre, da diese
keinen interessanten Beruf hätten und ihr Alltag eher langweilig sei.
Der einzige Maler aus dieser Schreibgruppe berichtete sachlich und detailliert
über einen Arbeitsauftrag und dessen Ausführung. „... und habe mir die Far-
ben Pink und Schwarz, Farroller, Pinsel und Farbwanne besorgt und fing gleich
das Streichen und Rollen an.“ Er beschrieb einen durchschnittlichen Werktag
in der Malerwerkstatt und die anfallenden Arbeiten. Dieser Text ist sachlich
gehalten und als Bericht formuliert.
Der Text zum Thema „die Kollegen“ trägt den Titel „Die drei Muskeltiere“.
Dieser Text stellt den Schreiber und seine zwei Freunde als „einfach nette
Kerle“ vor, die „In der Arbeit (...) kaum zu bremsen (sind).“ Der Schreiber
schließt seinen Text mit einem Hinweis auf die Zukunft, mit dem er einen Bo-
gen zum vorangehenden Text schlägt: „Sie sagen selbstbewusst: „Wir werden
erfolg auf der ganzen Linie haben.“
6.4.1.2 Analyse der formalsprachlichen Abweichungen
In den Texten, die für die Schülerzeitung geschrieben wurden, wurden deut-
lich mehr (74 %) Abweichungen im Bereich der Rechtschreibung erhoben als
im Bereich Grammatik. Insgesamt enthalten diese Textversionen weniger
formalsprachliche Abweichungen als die vorangegangenen Texte.
Folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die anteilige Fehlerhäufigkeit in den
drei Texten, die von dieser Gruppe produziert wurden.
Den größten Teil der Abweichungen von der orthografischen Norm bilden die
Abweichungen im Bereich der Groß-/Kleinschreibung. Fast die Hälfte aller er-
hobenen Orthografiefehler sind dieser Fehlerquelle zuzuordnen. Zweit-
häufigster Fehlertypus ist die fehlerhafte Schreibweise von Wörtern, die einen
Doppelkonsonanten oder einen Doppelvokal beinhalten. Dieses Bild entspricht
den Resultaten der Erhebung der beiden anderen Texte, die in dieser Gruppe
geschrieben wurden. Auch für diese Texte hatten die beiden Fehlerquellen die
Liste angeführt. Die Gesamtübersicht gibt deutliche Hinweise zu weiterer,
sinnvoller Arbeit im Deutschunterricht. Sie zeigt klar die Bereiche auf, in de-
nen Defizite der Lerner bestehen, die mit Hilfe entsprechender systematischer
Unterweisungen behoben werden können.
Knapp 15 % der erhobenen Abweichungen im orthografischen Bereich sind
fehlerhaften Laut-Buchstaben-Zuordnungen entsprungen. So kam es zu Ver-
wechslungen der Buchstaben „m“ und „n“ sowie „g“ und „k“, wie etwa bei
„krang“ anstelle von „krank“.
Anzumerken ist, dass die Schreiber sich bei der Besprechung dieser Texte
erstmals zufrieden zeigten. Sie schätzten die Anzahl der Abweichungen als
durchaus normal und angemessen ein. Sie gaben an, dies wären ihre besten
Texte, weil sie die geringste Fehlerzahl aufwiesen. Sie zeigten sich sehr opti-
mistisch in Bezug auf ihre Fortschritte im Bereich der Rechtschreibung und
meinten, die Groß-/Kleinschreibung sei zum einen nicht so wichtig und zum
anderen leicht zu erlernen. Die Jugendlichen gaben an, die Abweichungen in
diesem Bereich seien darauf zurückzuführen, dass sie keinen Sinn in der
Groß-/Kleinschreibung sähen und sie sich demzufolge diesbezüglich während
des Schreibprozesses keine Mühe gäben, formalsprachlich korrekt zu schrei-
ben, obwohl sie grundsätzlich dazu in der Lage seien. Tatsächlich hat sich a-
ber bei der Überarbeitung und Korrektur der Texte durch die Schreiber her-
ausgestellt, dass nur ein geringer Teil der Abweichungen im Bereich der Groß-
/Kleinschreibung erkannt und verbessert wurde, was diese Aussagen nicht
bestätigt. Diese Beobachtung konnte durch eine Durchsicht der Diktate, die
im Deutschunterricht geschrieben worden waren, unterstützt werden. Auch
dort waren die meisten Fehler dem Bereich der Groß-/Kleinschreibung zuzu-
ordnen.
Eine Erhebung der Abweichungen im Bereich der Grammatik zeugt – wie-
derum – von den Schwierigkeiten der Schreiber, Nebensätze mit oder ohne
Konjunktion und Satzreihen korrekt zu bilden. Zeichensetzung sowie Satz-
stellung und die Wahl der passenden Konjunktion gelangen den Schreibern
248
häufig nicht. Insbesondere die Bildung von Relativsätzen war den Schreibern
nicht geläufig. So wurden Relativsätze nicht als solche erkannt und ohne
Komma und ohne Berücksichtigung der Deklination der Relativpronomen ge-
bildet. Die Satzstellung der Relativsätze war, ebenso wie die Satzstellung der
Konjunktionalsätze, überwiegend gelungen. Dies deutet auf ein vergleichswei-
se gut entwickeltes Sprachgefühl, auch der Schreiber nicht-deutscher Primär-
sprache, hin. Kein Schreiber konnte die Frage, weshalb das Verb in dem Satz
„... das nicht sie die Abmahnung gegeben hatt ...“ am Ende steht, beantwor-
ten. Alle Jugendlichen gaben an, sie hätten „so etwas“ nie gelernt und würden
einfach so schreiben, wie sie sprechen. Einer der Jugendlichen erkundigte
sich, ob es denn überhaupt einen Grund für die Stellung des finiten Verbs gä-
be, oder ob ich mich mit meiner Frage über ihn lustig machen wolle.
Ein intensives Gespräch über Grammatik zeigte, dass keiner der jugendlichen
Lerner Grammatikkenntnisse vorweisen konnte. Die Jugendlichen – Primär-
sprachler wie Nicht-Primärsprachler – empfanden dies jedoch nicht als Defizit,
da sie sich im Deutschen auch ohne diese Kenntnisse verständlich ausdrücken
können. Die Jugendlichen, für die Deutsch Zweitsprache war, hatten ein so
gutes Sprachgefühl entwickelt, dass sie Nebensätze – zumindest im mündli-
chen Sprachgebrauch – bilden konnten, ohne dass es zu Verständnisproble-
men geführt hätte, was ihnen einen gesteuerten und fundierten Erwerb der
deutschen Grammatik sinnlos und damit nicht erstrebenswert erscheinen ließ.
So meinte ein Jugendlicher aus Russland, die Artikel und deren Deklination sei
für ihn nicht wichtig, denn „wir haben überhaupt keine solchen kleinen Wörter
und können auch gut reden“, während ein Lerner mit türkischer Primärspra-
che meinte „Grammatik ist nicht wichtig, weil bei uns ist alles andersrum und
stimmt auch“. Dieser Einstellung entspricht auch die zufällige Bildung von Ak-
kusativ und Dativ, die sich in Texten zeigt. Der hohe Anteil der Kasusfehler
(18%), ist darauf zurückzuführen, dass einigen Schreibern die Rektion der
Verben und die Bildung korrekter Präpositionalobjekte nicht geläufig sind, was
zu fehlerhafter Deklination führt. „... hatt sich in einer mit arbeiterin (...) ver-
liebt.“
Auch für den Bereich Grammatik bietet eine Gesamtübersicht Aufschluss über
eine mögliche Richtung weiterer Arbeit im Deutschunterricht:
Konjunktionalsätze 11 % 25 % 18 %
Nebensätze 39 % 14 % 24 %
Adjektivdeklination - 11 % 6%
Artikel 3% - -
Possessiva 2% - -
Konjugation 17 % - 6%
Orthografie In % In % In %
Groß-/Kleinschreibung 33 55 40
Umlautbildung 8 3 4
Vokale 2 - -
Dopplung 20 16 21
Dehnung 13 3 2
Zischlaute 7 6 11
Konsonanten 2 3 4
v-f 2 3 -
t-d 9 3 15
Grammatik
Artikel 3 - -
250
Präpositionen 14 18 6
Konjugation 17 - 6
Nebensätze 39 14 24
Kasus 11 21 18
Adjektivdeklination - 11 6
Satzstellung 3 11 6
Possessiva 2 - -
Konjunktionalsätze 11 25 18
*) Die hier ermittelten Werte ergeben sich aus dem Quotienten der Textlänge und des Wortschat-
zes und soll deren Relation zueinander darstellen. Je mehr sich dieser Wert der 1 annähert, desto
differenzierter stellt sich der verwendete Wortschatz dar. Diese Größe wurde hier eingeführt, um
den Zusammenhang zwischen dem Ansteigen der Textlänge und der Erweiterung des Wortschat-
zes zu verdeutlichen. So konnte für den 1. Text der niedrigste Wert und für den 2. Text der
höchste Wert ermittelt werden. Für Text 3 wurde ein mittlerer Wert ermittelt.
ziehen. Stattdessen erklärten sie sich bereit, auf eine Veröffentlichung in der
geplanten Schülerzeitung zu verzichten.
Das Thema „meine Zukunft“ war für die Jugendlichen nicht neu, wurden sie
doch das ganze Schuljahr dazu angehalten, ihre Vorstellungen und Wünsche
zu konkretisieren und zumindest im beruflichen Bereich konkret zu planen.
Der Text sollte ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer konkreten Vorstel-
lung führen, was allerdings von den Schreibern vermieden wurde. Sie wichen
auf Fantasiegeschichten aus oder beschränkten ihre Texte inhaltlich auf all-
gemeine Aussagen wie „guter Beruf“, „viel Geld“ oder „Familie gründen“. Kein
Text enthielt Aussagen zum Wunschberuf oder zum Berufsfeld, in dem eine
Ausbildung angestrebt werden sollte. Eine anschließende Befragung der
Schreiber ergänzte den Eindruck, den die Texte auf die Leser hatten, denn die
Schreiber gaben an, sie hätten keine Lust mehr, sich mit diesem Thema aus-
einanderzusetzen, es sei ein sinnloses Unterfangen und sie sähen keine Chan-
ce für sich und damit auch keinen Grund sich ernsthaft mit dem Thema zu be-
schäftigen. Auf die Frage, weshalb sie trotz dessen zugestimmt hatten, zu
diesem Thema zu schreiben, antworteten sie, es sei ihnen erst während der
Textproduktion klar geworden, wie wenig positive Zukunftsaussichten sie hät-
ten. Diese Einsicht bzw. Aussicht konnte die Jugendlichen allerdings nicht da-
zu motivieren, sich konstruktive Gedanken zu ihrer Zukunft zu machen, son-
dern ließ sie resignieren. Dieses Thema führte die Gruppe zu einer für sie un-
angenehmen Erfahrung mit dem Schreiben, da sie merkten, dass ein Thema
auch gedanklich durchdrungen sein muss, um zufrieden stellende Texte zu ini-
tiieren.
Der Wunsch der Schreiber, ihre Zeitung zu vollenden, war ausschlaggebend
für einen weiteren Schreibversuch. Sie wollten in dieser Zeitung auch über ih-
ren Alltag schreiben. Dazu kam der Wunsch, wie „richtige Reporter“ zu arbei-
ten. Dieser Vorschlag führte zu einer Unterrichtseinheit, in der Tä-
tigkeitsbereich und Arbeitsweise eines Reporters vorgestellt wurden. Am Ende
dieser Einheit entstand ein Leitfaden für Interviews und eine Liste mit mögli-
chen Themen. Die Schreiber gingen hoch motiviert an die Arbeit und sammel-
ten unterschiedlichstes Material: Tonbandaufzeichnungen von Interviews, Fo-
tos, Notizen, Prospekte. Sie sichteten das Material gemeinsam und begannen
mit dem Schreiben. In dieser Phase merkten sie, dass ihnen noch viele Infor-
mationen fehlten, die nicht aus dem gesammelten Material gezogen werden
konnten. Die Schreiber wussten, dass weitere Recherchen zu besseren Texten
geführt hätten, dennoch waren sie nicht dazu zu bewegen, sich ergänzende
Informationen zu erschließen.
Die Texte sagen vergleichsweise wenig über den Arbeitstag der Jugendlichen
und die Firma aus, in der sie beschäftigt waren. Die Schreiber beschränkten
sich inhaltlich auf ihren engsten Tätigkeitsbereich und berichteten über ein-
zelne Ereignisse, die sie bewegt hatten. Die Texte wurden nicht an Leser ad-
252
ressiert, die nicht zur Schreibgruppe oder deren engsten Umfeld gehörten.
Dies wird besonders deutlich, wenn in den Texten Personen auftauchen, die
weder eingeführt, noch vorgestellt, sondern beim Vornamen genannt werden.
Selbstverständlich hatten die anderen aus der Schreibgruppe keine Probleme
damit, die Personen zu identifizieren, sie dachten jedoch nicht daran, dass
dies für einen außenstehenden Leser zu Verständnisproblemen führen kann.
Es ist den Schreibern hier einerseits nicht gelungen, inhaltlich über die Gren-
zen des alltäglich Erlebten hinaus zu gehen und andererseits Leser anzuspre-
chen, die nicht in diesen Alltag eingebunden waren.413
413 Dies gilt auch für Jugendliche, die im folgenden Jahr an der Maßnahme teilgenommen haben. Diesen wurden die
Zeitung vorgestellt. Sie bewerteten die darin enthaltenen Texte durchweg negativ. Sie meinten, diese seien langweilig,
man könne sie nicht verstehen und betitelten sie als „Insider-Gelabere“.
253
und mühevolle Angelegenheit erfahren und sie waren zu der Ansicht gelangt,
es sei das Beste, all ihre Mühe darauf zu verwenden, im Diktat weniger als 15
Fehler zu machen. Aufsätze oder kleine Texte taten sie bereits vorab mit ei-
nem „kann ich nicht“ ab. Erst, als sie erkannten, dass auch sie „krasse“ Ge-
schichten schreiben konnten, entdeckten sie einen Sinn, die Schriftsprache zu
erwerben, bzw. ihre Kenntnisse zu verbessern und zu festigen.
gefügt, deren Ziel in erster Linie die Erhebung von Veränderungen auf der In-
dividualebene ist.415
Die Methode der Fallanalyse wurde ausgewählt, um einen Zugang zur exem-
plarischen Entwicklung der Schreiber zu eröffnen. Der Umstand, dass die Tex-
te alle im Schreibkurs verfasst und bearbeitet wurden, also in einer Unter-
richtssituation, von der die Schreiber hinsichtlich ihrer sprachlichen Entwick-
lung profitieren konnten, schützt die Personen vor einem leichtfertigen Um-
gang mit ihren persönlichen Texten. Der Lernzuwachs der Schreiber soll auf-
gezeigt und bestimmt werden. Dies geschieht mit Hilfe der Texte, mit Hilfe
von Beobachtungsprotokollen sowie von Befragungen der Schreiber. Die Fall-
studien weisen neben Ergebnissen quantitativer Analysen sowie Ergebnissen
qualitativer Untersuchungen auch interpretative Aussagen auf, denn eine Eti-
kettierung einer Person ist untrennbar mit den Einstellungen und Zielsetzun-
gen der Beobachter verbunden. Eine völlige neutrale Wahrnehmung eines
Menschen durch einen Beobachter ist unmöglich.
In den folgenden Fallstudien soll durch das Zusammenspiel der oben genann-
ten Verfahren versucht werden, ein Bild von der Entwicklung der sprachlichen
Kompetenz und der individuellen Kreativität der Schreiber zu erstellen, das
der Wirklichkeit entspricht und nicht zum Zweck der Datensammlung erstellt
wurde.
Der Schreiber
Darstellung der individuellen Ausgangslage des Schreibers
Wer hat geschrieben?
Zielsetzung
Ziel der Schreibgruppe
Mit welchem Ziel wurde in der Gruppe geschrieben?
Ziel des Schreibers
Warum hat der Schreiber Texte verfasst und bearbeitet?
Entstehungsbedingungen der Texte
Themenwahl
Welche Themen wurden aus welchem Grund ausgewählt?
Schreibzeit
Wie lange schrieben die Lerner an der Rohfassung?
Schreibanlass
Welcher Schreibanlass war zum jeweiligen Thema als Einstieg sinnvoll?
Ideensammlung
Welche Technik schien in Hinblick auf die Schreibgruppe und ihre Bedürf-
nisse sinnvoll?
Treten in den Texten neue, unerwartete Aspekte auf oder beleuchtet der
Schreiber das Thema aus einer neuen, ungewöhnlichen Perspektive?
Trifft der Schreiber originelle Aussagen bzw. Aussagen, die nicht dem
„main stream“ entsprechen?
7.2 Auswahlkriterien
Um ein repräsentatives Bild erstellen zu können, wurden aus den drei
Schreibgruppen jeweils zwei Schreiber ausgewählt, deren Texte einer Längs-
schnittuntersuchung in der Form von Fallstudien untersucht werden. Auswahl-
kriterien hierbei waren
Der Schreiber hat Texte geschrieben und zur Verfügung gestellt.
Der Schreiber nahm in der betreffenden Schreibgruppe keine außergewöhnli-
che Position ein.
Der Schreiber war bereit, Aussagen zu seiner Person und zu seinen Texten zu
machen und diese zur Verfügung zu stellen.
An Hand dieser Kriterien wurden aus der Grundschulklasse die Texte eines
türkischen und eines deutschen Mädchens ausgewählt, aus dem Deutschkurs
wurden die Texte eines pakistanischen Mannes und eines Mannes von der El-
fenbeinküste herangezogen und aus der Schreibgruppe, die im Rahmen der
außerschulischen Maßnahme geschrieben hatte, wurden die Texte eines türki-
schen und eines deutschen Jugendlichen ausgewählt.
7.4.1 Daniela
Daniela hat zum Zeitpunkt der Schreibkurse eine vierte Grundschulklasse be-
sucht, die in den Schulversuch „Integration ausländischer Schüler in Regel-
klassen“ eingebunden war. Daniela war zu diesem Zeitpunkt 10 Jahre alt und
plante den Übertritt ins Gymnasium. Die Schülerin war ein freundliches, auf-
gewecktes Mädchen, das sich im Unterricht durch rege Mitarbeit auszeichnete.
Sie war ein überaus freundliches Kind, das sich den Mitschülern gegenüber
sehr hilfsbereit und kollegial zeigte. Ihre schulischen Leistungen waren gut bis
sehr gut und sie versicherte, die Schule mache ihr Spaß und sie gehe gerne in
den Unterricht. Dies wurde unterstützt durch ihre Beliebtheit in der Klasse und
durch sehr enge, freundschaftliche Beziehungen zu einigen Mädchen der Klas-
se. Ihre schulischen und privaten Freundschaften waren hinsichtlich der Her-
kunft der Freunde heterogen, wenn sie auch im privaten Bereich mehr deut-
sche Freunde hatte, da die Eltern wenig Kontakt zu ausländischen Mitbürgern
hatten. Daniela hatte von ihren türkischen Freundinnen und Klassenkamera-
den einige Worte und Sätze in türkischer Sprache gelernt und war sehr stolz
auf ihre Kenntnisse. Sie fand es schade, dass sie in der fünften Klasse Eng-
lisch als erste Fremdsprache lernen würde und nicht Türkisch, denn dann
könnte sie „richtig“ mit der Mutter ihrer besten Freundin reden, bei der sie
häufig zu Gast war. Über sich selbst schrieb sie:
Ich bin klein, habe kurze braune Haare. Und Grau blaue Augen.
Trage fast nur Jeans. Meine Freundinnen sind Dilek, Steffi, Isabel-
la, Deniz, Meral. lustig bin ich auch. Liblings Tiere hab ich auch und
zwar Hase, Hunde, Hamster, Meerschweinchen und kleine süße
Mäuse. Hobbis, Schwimmen, Rollschuhfahn, Faratfahren.
Zu ihren schulischen Leistungen gab sie in einem Cluster an:
Ich bin gut und schlecht in der Schule.
Die Schülerin schrieb im Rahmen der Schreibkurse folgende Texte:
Wenn ich ein Junge wäre würde ich Mädchen anmachen. Und wenn ich ein
Junge wäre würde ich mich nicht so aufblustern wen ich mich neben ein
Mädchen hogen müsste. Wenn ich ein Junge wäre würde ich nicht so gi-
chern zum beispiel wie Gianni. Und wenn ich ein Junge wäre ich würde nie
Mädchen haun. Und wenn ich ein Junge wäre würde ich mich nicht in jedes
Mädchen auf der Strasse verknaln. Und wenn ich ein Junge wäre würd ich
den Mädchen die Warheit sagen.
Daniela hat diesen Text im Rahmen des Schreibkurses überarbeitet. Die end-
gültige Textfassung zeigt deutliche Unterschiede zur Rohfassung auf:
Wenn ich ein Junge wäre, dann würde ich nicht jedes Mädchen auf der
Straße anmachen. Wenn ich ein Junge wäre, dann würde ich nicht sagen:
264
„Ich bin der Stärkste!“. Wenn ich mich neben ein Mädchen setzen müßte,
würde ich mich nicht so aufplustern, wenn ich ein Junge wäre. Und wenn
ich ein Junge wäre, würde ich nie Mädchen hauen. Wenn ich ein Junge wä-
re, würde ich meiner Freundin immer die Wahrheit sagen.
Das nächste Thema im Schreibkurs war „So sollte mein bester Freund/meine
beste Freundin sein“. Daniela hat dazu folgende Rohfassung geschrieben:
So sollte meine beste Freundin sein
Sie sollte immer für mich da sein. Und sie sollte auch immer hilfsbereit
sein. Ich muß ihr verdrauen können. Sie muß auch lustig und für jeden
Spaß bereit sein. Es wäre aber auch schön wenn ich mit jeden Problem zu
ihr kommen kann, daß wir dann darüber reden.
Daniela hat die Rohfassung zum Thema „So sollte meine beste Freundin sein“
intensiv überarbeitet.
So sollte meine beste Freundin sein
Meine Freundin sollte immer für mich da sein und hilfsbereit zum B. wie
Daniel. Sie müßte so nett zu mir sein wie Frau Lamprecht in der Schule.
Ich muß ihr auserdem vertrauen können wie zum B. Yesim. Ich möchte,
das sie so lustig ist wie ein Clown und für den größten Spaß zu haben ist.
Es wäre aber auch schön, wenn ich mit jedem Problem zu ihr kommen
könnte, damit wir darüber reden.
Daniela hat ihren Text für die Veröffentlichung nochmals überarbeitet und ihn
dann in der folgenden Fassung abgegeben:
Meine Freundin sollte immer für mich da sein und hilfsbereit sein so wie der
Daniel. Sie müßte so nett sein, wie Frau Lamprecht in der Schule. Ich muß
ihr außerdem vertrauen können, wie zum Beispiel Yesim.
Ich möchte, das sie so lustig ist wie ein Clown und für den größten Spaß zu
haben ist. Es wäre aber auch schön, wenn ich mit jeden Problem zu ihr
kommen könnte, damit wir darüber reden können.
Daniela schrieb gerne und entdeckte während der Schreibkurse ihre Vorliebe
für dieses Medium. Zu ihrem Geburtstag, der in der Zeit der Schreibkurse lag,
hatte sie sich ein Tagebuch gewünscht und dies seither eifrig geführt. Sie
tauschte es auch mit ihrer besten Freundin aus und die beiden Mädchen nah-
men dies zum Anlass zu langen, intensiven Gesprächen über den Inhalt der
täglichen Einträge. Zum Abschluss der Schreibkurse wünschte sich Daniela die
Vermittlung einer Brieffreundin.
265
Daniela schrieb im Rahmen des Regelunterrichts. Sie gab an, schreiben ma-
che ihr Spaß, denn sie könne mit ihren Texten „wichtige Sachen“ sagen und
sie hätte dabei nicht mit den Schwierigkeiten zu kämpfen, die sich in Gesprä-
chen stellten, wie ständiges Unterbrechen, Nachfragen, Unruhe usw. Sie
schätzte die Möglichkeit, ihre Aussagen in Ruhe vorzubereiten und zu formu-
lieren, da sie sich in mündlichen Gesprächen häufig „überfahren“ und miss-
verstanden fühlte.
7.4.1.1 Entwicklung der kommunikativen Kompetenz in der Zielsprache
Für Daniela ist Deutsch Primärsprache. Sie beherrscht die Rede- und Kommu-
nikationsstrategien im mündlichen Sprachgebrauch ihrem Alter entsprechend.
Die Übertragung in die Schriftsprache bereitet ihr jedoch Mühe und wird nicht
fehlerfrei geleistet.
In Danielas Texten werden Personen erwähnt, die jedoch nicht eingeführt o-
der vorgestellt werden.
Wenn ich ein Junge wäre würde ich nicht so gichern zum beispiel
wie Gianni.
Daniela hat in keinem Fall berücksichtigt, dass die erwähnten Personen einem
außenstehenden Leser nicht bekannt sind. Offensichtlich hat Daniela Proble-
me, den Wirkungskreis eines von ihr geschriebenen Textes wahrzunehmen
und sich vorzustellen, dass es potentielle Leser außerhalb der Klasse geben
könnte, obwohl die Texte zu einem Buch gebunden und an die Eltern ver-
schenkt werden sollten.
Daniela formuliert in den Texten ihre Meinung und bezieht Stellung zu Sach-
verhalten (s. Beispiel oben). Sie benutzt in den Texten zum Thema „Wenn ich
ein Junge wäre,...“ den Irrealis, um indirekt Kritik an den Jungen zu üben,
macht aber weder konkrete Veränderungsvorschläge, noch beschreibt sie die
Handlungen und Eigenschaften, die sie ablehnt ausführlich oder begründet,
warum sie bestimmte Handlungen oder Eigenschaften nicht mag. Ein Leser ist
hier auf seine Fantasie und auf Erfahrung mit Kindern im Grundschulalter an-
gewiesen, um z. B. nachvollziehen zu können, was Daniela daran stört, dass
ein Junge kichert.
In den Texten formuliert die Schreiberin ihre Vorstellung und ihre Wünsche.
Sie benutzt dazu Verbalisierungen, wie
Ich möchte, ...
Es wäre aber auch schön, ...
oder den Irrealis, z. B.
Wenn ich mich neben ein Mädchen setzen müßte, würde ich ...
... , würde ich nie Mädchen hauen.
... , würde ich meiner Freundin immer die Wahrheit sagen.
Allen Texten ist gemein, dass sie für ein begrenztes Lesepublikum geschrie-
ben wurden, für die Schulklasse. Es ist Daniela nicht gelungen, ihre Text so zu
schreiben, dass sie für Leser, die nicht zur Klasse gehören, ebenso verständ-
lich sind wie für die Mitschüler. Dies ist erstaunlich, da die Texte von Anfang
an zur Veröffentlichung in einem größeren Kreis bestimmt waren.
In ihrem letzten Text „ich“ stellt sich Daniela dem Leser vor. Dazu formuliert
sie ihren Text in einer Sprache, die einem Brief angemessen ist. Sie schreibt
über ihr Aussehen, ihre Vorlieben, ihre Freunde. Dieser kurze Text erinnert
den Leser an eine Kontaktanzeige aus einem Jugendmagazin. Daniela hat sich
formal und inhaltlich an diesen Stil gehalten.
Hobbis, Schwimmen, Rollschuhfahn, Faratfahren.
Dennoch weist die Passage, in der sie über ihre Freundinnen berichtet wieder-
um darauf hin, dass der Text an ein begrenztes Publikum gerichtet ist, denn
sie stellt die aufgezählten Personen nicht weiter vor.
Meine Freundinnen sind Dilek, Steffi, Isabella, Deniz, Meral.
Ein außenstehender Leser erhält keine differenzierten Aussagen zu Rolle und
Funktion der Freundinnen.
7.4.1.2 Entwicklung individueller Kreativität
Der erste Text, den Daniela geschrieben hat, ist originell. Sie benutzt Wörter,
die für sie, im schriftsprachlichen Bereich, neu sind und beschreibt in witziger
Art und Weise Verhaltensweisen der Jungen in ihrer Klasse.
würde ich mich nicht so aufblustern wen ich mich neben ein Mäd-
chen hogen müsste
nicht so gichern zum beispiel wie Gianni.
würde ich mich nicht in jedes Mädchen auf der Strasse verknaln.
Daniela hat sich bemüht, einen Text zu schreiben, der einerseits ihre Ansich-
ten verdeutlicht und andererseits für das Lesepublikum unterhaltsam ist. Da-
niela war das einzige Mädchen aus dieser Schreibgruppe, das in seinem Text
darauf einging, dass sie das Verhalten der Jungen, wenn sie sich neben ein
Mädchen setzten sollten, nicht korrekt findet. In der anschließenden Diskussi-
on gaben auch die anderen Mädchen an, dass sie dieses Verhalten der Jungen
störe, sie aber nicht daran gedacht hatten, das in ihre Texte aufzunehmen.
Danielas Aussage gab Anlass zu einer heftigen Diskussion in der Klasse. Da-
267
nielas erster Text wirkt originell und witzig, u. a. weil sie ihn spontan zu ei-
nem Thema verfasst hat, das ihr ein Anliegen war.
Danielas überarbeitete Versionen zum Thema „Wenn ich ein Junge wäre,...“
büßen nichts von ihrer Originalität und dem witzigen Stil ein. In der zweiten
Version verstärkt sie den Eindruck, den der Text auf das Lesepublikum mach-
te, indem sie eine direkte Rede einfügte.
Wenn ich ein Junge wäre, dann würde ich nicht sagen: „Ich bin der
Stärkste!“.
Die Rohfassung zum zweiten Thema „So sollte meine beste Freundin sein“
wirkt dazu vergleichsweise ernsthaft. Daniela hat das Thema sehr ernst ge-
nommen und in dieser Fassung auf witzige und neue Elemente verzichtet. A-
ber bereits in der zweiten Fassung zum Thema benutzt sie viele ungewöhnli-
che Vergleiche um ihren Text ansprechender zu gestalten.
lustig wie ein Clown
hilfsbereit wie zum B. Daniel
Der letzte Text, den Daniela verfasst hat, ist weniger fantasievoll und origi-
nell. Daniela hat dies damit begründet, dass sie das Thema „ich“ langweilig
und wenig ansprechend gefunden habe und daher relativ lustlos geschrieben
habe. Sie hatte auch keine Lust, diesen Text diesbezüglich zu überarbeiten
und gab an, sie habe keine Einfälle dazu.
7.4.1.3 Entwicklung der sprachlichen Kompetenz in der Zielsprache
Für Daniela ist Deutsch Primärsprache. Sie wurde deutsch alphabetisiert und
besuchte eine deutsche Regelklasse. Sie war zum Zeitpunkt der Schreibkurse
einsprachig und kannte nur wenige Worte und Redewendungen in anderen
Sprachen wie Englisch und Türkisch.
Der erste Text – eine Bestandsaufnahme
Danielas erste Textversion zum Thema „Wenn ich ein Junge wäre...“ zeigt ne-
ben einem sich wiederholenden Satzmuster formalsprachliche Abweichungen
auf, die überwiegend auf fehlerhafte Laut-Buchstaben-Zuordnungen zurückzu-
führen sind. Im Einzelnen erklären sich die Abweichungen wie folgt:424
aufblustern : dialektbedingter Fehler (pb)
wen: Flüchtigkeitsfehler, da in allen anderen Fällen korrekt.
424 Der formalsprachlichen Analyse liegen im orthografischen Bereich "Das neue deutsche Wörterbuch" (1996) sowie im
grammatischen Bereich "Übungsgrammatik Deutsch" (1991) und "Grammatik der Deutschen Sprache" (1992) zu
Grunde.
268
Es wäre aber auch schön Es wäre aber auch schön, wenn ich
wenn ich mit jeden mit jedem Problem zu ihr kommen
Problem zu ihr kommen könnte, damit wir darüber reden.
kann, daß wir dann
darüber reden.
Die überarbeitete Fassung weist „neue“ Abweichungen auf, die erst während
der Überarbeitung entstanden sind.
auserdem scharfes „s“
zum B. falsche Abkürzung
Ich möchte das sie lustig ist Nebensatz mit der Konjunktion „dass“ nicht er-
kannt kein Komma, das dass
Die endgültige Fassung
Die endgültige Fassung weist formalsprachliche Abweichungen auf, die zum
Teil bereits in früheren Versionen auftraten.
mit jeden Problem
Ich möchte, das sie so lustig ist
Auffällig an dieser Fassung ist der eher „wahllose“ Einsatz der Satzzeichen,
der darauf hindeutet, dass Daniela sich der Problematik bewusst ist, aber
noch nicht weiß, wie sie das Problem lösen kann.
Ein neues Thema
Daniela hat nach Abschluss der beiden Schreibkurse „Wenn ich ein Junge/ein
Mädchen wäre,...“ und „So sollte mein bester Freund/meine beste Freundin
sein“ zum Thema „ich“ geschrieben.425 Folgende Wörter sind nicht korrekt ge-
schrieben:
Grau blaue Groß-/Kleinschreibung, getrennt
.lustig Groß-/Kleinschreibung am Satzanfang
Liblings Tiere kein „ie“, getrennt
Hobbis Fremdwort
Rollschuhfahn dialektbedingter Fehler (Verkürzung der
Infinitivendung auf –n und fehlendes „r“)
425 Text 17
272
den habe. Das Thema „Wenn ich ein Junge wäre,...“ habe sie interessiert,
denn hier konnte sie das schreiben, was sie in diesem Zeitraum bewegt habe,
während sie sich zu den beiden anderen Themen „extra was“ überlegen muss-
te. Während sie versucht habe, den Text „So sollte meine beste Freundin
sein“ mit Hilfe der ungewöhnlichen Vergleiche ansprechender zu gestalten,
habe ihr der Text „ich“ überhaupt keinen Spaß gemacht, sie habe daher auch
keine Lust gehabt ihn umzugestalten und sie finde das Ergebnis demzufolge
auch nicht ansprechend.
Lust und Freude am Thema förderten Danielas individuelle Kreativität, die sich
in den Texten manifestierte und auch während der Überarbeitung erhalten
blieb.
7.4.2 Deniz
Deniz hat zum Zeitpunkt der Schreibkurse die gleiche Grundschulklasse be-
sucht wie Daniela. Sie war zu diesem Zeitpunkt 10 Jahre alt. Deniz ist ein tür-
kisches Mädchen, ihre Primärsprache und Umgangssprache in der Familie ist
Türkisch.
Sie besuchte den primärsprachlichen Unterricht und war deutsch und türkisch
alphabetisiert. In der Schule sprach Deniz fast ausschließlich Deutsch, auch
mit ihren türkischen Klassenkameraden. Sie begründete dies damit, dass die
deutschen Klassenkameraden nur eine Sprache könnten und sie somit nichts
verstehen würden, spräche sie mit den türkischen Kindern in ihrer Primär-
sprache. Deniz gab an, den primärsprachlichen Unterricht nicht gerne zu be-
suchen, obwohl sie daran interessiert sei, ihre Primärsprache „richtig“ zu ler-
nen. Der primärsprachliche Unterricht mache ihr aber keinen Spaß, da der
türkische Lehrer ihr nicht sympathisch sei und ihr sein Unterrichtsstil missfie-
le. Der „deutsche Unterricht“ sei schöner, interessanter und mache mehr Spaß
und die „deutsche Lehrerin“ sei viel netter. Deniz gab an, sie würde den pri-
märsprachlichen Unterricht nicht besuchen, wenn sie dazu die Möglichkeit hät-
te. Aber eigentlich finde sie es schade, dass ihr der Unterricht in der Primär-
sprache keinen Spaß macht.
Deniz hatte guten Kontakt zu ihren Klassenkameraden und traf sich auch in
ihrer Freizeit mit ihren deutschen und türkischen Freundinnen, sofern es ihre
Mutter erlaubte. Da Deniz kein eigenes Zimmer hatte, war es nur begrenzt
möglich, dass ihre Freundinnen sie zu Hause besuchten. Deniz zeigte sich im
Unterricht aufgeschlossen und interessiert. Ihre Beiträge waren spontan und
sie vertrat ihre Meinung in Unterrichtsgesprächen konsequent. Sie war in der
Klasse beliebt und ging gerne zur Schule.
Deniz schrieb im Rahmen der Schreibkurse folgende Texte:
Wenn ich ein Junge wäre dann wäre ich so klug und kaufe keine Autos um
zu spielen und danach in Hof zu schmeisen. Ich häte keine Mädchen ge-
274
schlagen sondern inen geholfen. Dann würd ich meine freundin fragen ob
sie mit mir gehen möchte ins Resterant. Danach häte ich gefragt ob sie mit
mir ins Bett geht heute abent bei mir. morgen bei dir O.K. süße. Sie sollte
nicht Rauchen ich auch nicht. Sie soll lange Haare haben um schöne Haare
zu machen. Die Mädchen sollen nicht so laut Schreien. Und die Mädchen
sollen in die Arbeit gehen und wir raumen auf. Die Mädchen sollen keine
größe Busen haben.
Deniz hat ihren Text, der bei der Präsentation in der Klasse großen Anklang
gefunden hatte, inhaltlich nicht überarbeitet. Sie hat ihn jedoch sprachlich ü-
berarbeitet und die Abweichungen der ersten Fassung korrigiert:
Wenn ich ein Junge wäre dann, wäre ich so klug und würde keine Autos
kaufen, um zu spielen und sie danach in den Hof zu schmeißen. Ich würde
keine Mädchen schlagen, sondern ihnen helfen. Dann würde ich meine
Freundin fragen, ob sie mit mir ins Restaurant gehen möchte. Danach wür-
de ich sie fragen, ob sie mit mir ins Bett geht, heute Abent bei mir, morgen
Abend bei dir, O.K., süße! Sie sollte nicht rauchen, ich auch nicht. Sie sollte
lange Haare haben, um sich schöne Frisuren zu machen. Die Mädchen soll-
ten nicht so laut schreien. Und die Mädchen sollten in die Arbeit gehen und
wir würden aufräumen. Die Mädchen sollten keinen großen Busen haben.
Deniz hat einen Text zum Thema „So sollte mein bester Freund/meine beste
Freundin sein.“ geschrieben, der in mehrfacher Hinsicht erstaunlich ist. Sie
hat sich, angespornt durch den Erfolg ihres ersten Textes, große Mühe gege-
ben und den Text in einer bereits überarbeiteten Fassung abgegeben. Die ur-
sprüngliche Rohfassung wollte sie nicht vorzeigen, weil sie, nach ihrer Ansicht,
zu viele Abweichungen enthalten hatte. Deniz hat diesen Entwurf mit Hilfe ih-
rer Freundinnen und einem Wörterbuch überarbeitet.
Sehr wenige Mädchen der Klasse hatten die Version „So sollte mein (bester)
Freund sein“ gewählt und in ihren Texten den Jungen beschrieben, den sie
gerne zum Freund hätten. Die meisten Kinder der Klasse hatten einen gleich-
geschlechtlichen Partner beschrieben. Deniz hat in ihrem Text einen imaginä-
ren Freund, ihren „Traumpartner“ beschrieben, worauf sie bereits in der Über-
schrift hinweist:
So stelle ich meine besten Freund vor
Er soll nicht angeben sondern Schlau sein. Mein Freund soll nicht Kämpfen.
Er könnte helfen wenn jemand in Schwierigkeiten ist. Er könnte Cool sein
und mit mir in die Disco gehen. Wenn er mir vertraut dann vertraue ich
ihm. Wenn ich in Schwierigkeiten bin dann muß er mir helfen. Ich möchte
daß er ein Lamborghini hat. Ich will daß er kurze Haare hat. Ich möchte
daß er ein gut riechentes Parfüm hat, und gut riecht wenn wir in die Disco
275
gehen oder woanders hin gehen. Er muß in der Schule gut sein. Ich will
gerne das er einen guten Beruf hat.
Deniz hat ihren Text nochmals überarbeitet, allerdings wiederum nur auf
sprachlicher Ebene. Dies mag darin begründet sein, dass auch dieser Text bei
der Präsentation auf großen Anklang stieß und einige der darin getroffenen
Aussagen inhaltliche Diskussionen entfachten, in denen Deniz ihre Aussagen
vehement verteidigte. Sie genoss es sichtlich, dass sich die meisten Mädchen
ihrer Meinung anschlossen und sie somit zur Wortführerin avancierte. Dem-
nach sah sie keinen Grund, ihren Text inhaltlich zu überarbeiten und versuch-
te nur, ihn in eine formalsprachlich korrekte Form zu bringen.
So stelle ich mir meinen besten Freund vor:
Er soll nicht angeben, sondern schlau sein. Mein freund soll nicht kämpfen.
Er könnte helfen, wenn jemand in Schwierigkeiten ist. Er könnte cool sein
und mit mir in die Disco gehen. Wenn er mir vertraut, dann vertraue ich
ihm. Wenn ich in Schwierigkeiten bin, dann muß er mir helfen. Ich möchte,
daß er ein Lamborghini hat. Ich will, daß er kurze Haare hat. Ich möchte,
daß er ein gut riechendes Parfüm hat und gut riecht, wenn wir in die Disco
gehen oder anders wo hin gehen. Er muß in der Schule gut sein. Ich will
gerne, daß er einen guten Beruf hat.
In einem letzten Text stellt sich Deniz vor:
Ich bin 1m35 groß habe Blonde Haare habe grume krumme Zehne.
Meine Wünsche: Ich wünsche mir ein eigenes Zimmer. Ich wünsche mir ein
Fahrrad. Ich wünsche ich wachse.
Meine Hobbis: Ich lese gern. Ich fahre gern Rollschuhe. Ich fahre gern
Fahrrad.
Geschwiester: Ich habe ein Bruder er ist 8. Jahre er heißt Tayfun. Ich heiße
Deniz bin 10 Jahre alt im am 2. Mai wird ich 11 Jahre alt. Ich kann noch ei-
ne sprache welche? Türkisch.
mulieren.426 Bereits ihr erster Text weist, wenn auch in manchen Bereichen
formalsprachlich nicht korrekt, eine Vielfalt an Kommunikationsmitteln auf.
Sie bezieht persönlich Stellung und äußert ihre Meinung zu Verhaltensweisen
anderer:
Wenn ich ein Junge wäre dann wäre ich so klug und kaufe keine Autos um
zu spielen und danach in Hof zu schmeisen.
Sie benutzt verschiedene Modusformen, um ihre Ansichten darzustellen:
Ich häte keine Mädchen geschlagen sondern inen geholfen.
Deniz setzt, wenn auch in einer schriftsprachlich nicht angemessenen Form,
direkte Rede ein, um ihrem Text Lebendigkeit zu verleihen.
Danach häte ich gefragt ob sie mit mir ins Bett geht heute abent bei mir.
morgen bei dir O.K. süße.
Die Texte von Deniz beinhalten eine Menge an Formulierungen, die ihre Inten-
tion beschreiben. Sie bereitet den Leser auf Wünsche, Bitten, Meinungsäuße-
rungen vor und stellt Probleme klar dar. Sie greift dabei nicht nur auf Formu-
lierungen wie „ich möchte“, „ich will“, „er soll“ zurück, sondern formuliert
Satzgefüge und Konjunktionalsätze, um ihre Schreibintention darzulegen.
Wenn ich ein Junge wäre dann wäre ich so klug und kaufe keine Autos um
zu spielen und danach in Hof zu schmeisen.
Sie ist in der Lage, mit Hilfe ihres Textes mit einem abstrakten Leser zu
kommunizieren. Sie spricht den (noch) imaginären Leser direkt an und baut
so eine Beziehung zu ihm auf. Sie benutzt das Medium Text, um sich dem Le-
ser zu nähern und ihn an ihren Gedanken teilhaben zu lassen. Sie hat im
Schreibkurs verschiedene Kommunikationsanlässe bearbeitet und erfolgreich
bewältigt. Ihr erster Text „Wenn ich ein Junge wäre,...“ gibt Aufschluss über
ihre Einstellung und Meinung. Der zweite Text „So sollte mein Freund sein“
stellt ihre Wünsche und Vorstellungen dar, während sie sich im dritten Text
selbst vorstellt.
7.4.2.2 Entwicklung des Sprachbewusstseins
Deniz erster Text zeigt, dass sie zu Beginn der Schreibkurse bereits über ein
gutes Sprachbewusstsein in der Zielsprache Deutsch verfügt. Es gelingt ihr
durchaus, sich auszudrücken, wenngleich sie noch Probleme hat, diese For-
mulierungen in die Schriftsprache zu transferieren. Diese Probleme manifes-
tieren sich überwiegend in formalsprachlichen Abweichungen und im Bereich
der Interpunktion. Deniz hat ihre Texte auf Deutsch geschrieben, auch die
Rohfassungen sind einsprachig gehalten. Es war für Deniz sehr wichtig, ihre
Texte in korrektem Deutsch zu verfassen, bzw. sie diesbezüglich zu überar-
beiten. Sie war dazu stark motiviert, da sie feststellte, dass die kreativ ge-
schriebenen Texte weniger formalsprachliche Abweichungen aufwiesen als die
bislang im Unterricht geschriebenen Diktate. Sie entwickelte in den Schreib-
kursen ein gutes Gespür dafür, welche Wörter nicht korrekt geschrieben wa-
ren. „Die sehen so komisch aus.“ gab sie als Begründung hierfür an.
Deniz vermied es, in ihren Texten Formulierungen zu wiederholen. Sie gab
dazu an: „Das hört sich komisch an.“ Deniz war nicht immer in der Lage, so-
fort zu erkennen, weshalb sich Sätze für sie eigenartig anhörten oder eigenar-
tig aussahen. Hier bat sie häufig deutsche Klassenkameraden oder eine Lehr-
kraft um Hilfe. Dennoch erkannte sie vergleichsweise sicher, ob eine Formu-
lierung gelungen war oder nicht. Deniz veränderte Sätze, die in ihren Texten
auftraten, während des Vorlesens. Sie las also nicht den ursprünglichen Text
vor, sondern eine korrigierte Version. Sie erklärte, sie merke beim Vorlesen,
dass ihr Text Formulierungen enthalte, die ihr nicht gefielen und diese würde
sie dann eben schon während des Vorlesens ändern. Ihr zielsicherer Einsatz
der Klangprobe weist auf ein gut entwickeltes Sprachgefühl in der Zielsprache
hin.
Deniz legte von Text zu Text mehr Wert darauf, dass „sich der Text richtig
anhört“. Sie entdeckte die Klangprobe als Technik und wendete sie intensiv
an. Sie entdeckte in gleichem Zuge ihr Sprachgefühl, das sie dann mehr und
mehr als Regulativ zuließ. Sie fand Spaß an dieser Technik, die ihr Erfolg be-
scherte, und sie fasste mehr und mehr Vertrauen zu ihrem eigenen Sprachge-
fühl.
278
Bei der Vorbereitung der Texte zum Thema „ich“ wurden die Schreiber aus-
drücklich darauf hingewiesen, dass sie sowohl Text als auch Cluster in der
Primärsprache verfassen könnten. Es wurde ihnen freigestellt, in welcher
Sprache sie sich vorstellen wollten. Nur sehr wenige Schreiber machten
Gebrauch von diesem Angebot und fertigten ein Cluster in ihrer Primärsprache
an. Deniz fertigte ihr Cluster zweisprachig an.
Den Text zum Thema verfasste Deniz auf Deutsch. Sie wich darin inhaltlich
völlig vom Cluster ab. Auf die Frage hin, weshalb sie den Text auf Deutsch ge-
schrieben habe, antwortete sie, sie könne nur auf Deutsch schreiben, sie habe
noch nie auf Türkisch einen Text geschrieben. Sie habe wohl versucht, das
Cluster auf Türkisch zu machen, habe aber gemerkt, dass sie das „komisch“
und unpassend finde. Deshalb habe sie auf Deutsch geschrieben. Türkisch
schreiben mache ihr keinen Spaß. Deniz gab dazu an, sie habe eine Vorstel-
lung von einem deutschen Text, aber nicht die geringste Idee, wie ein Text
auf Türkisch sein müsste. Sie entschied: „Türkisch ist meine Sprechsprache
und Deutsch meine Schreibsprache.“ Diese funktionale Zuordnung der beiden
ihr zur Verfügung stehenden Sprachen konnte auch bei den anderen türki-
schen Schreibern beobachtet werden, obwohl sie alle türkisch alphabetisiert
worden waren. Deniz hatte zwar türkisch schreiben gelernt, hatte aber im
Türkischunterricht nie einen eigenen Text geschrieben. Sie verband Kreatives
Schreiben automatisch mit der Sprache Deutsch und sie konnte sich nicht
vorstellen, einen türkischen Text zu schreiben. Sie gab auch an, sich beim
Verfassen eigener, kreativer Texte in der Zielsprache Deutsch sicherer zu füh-
len. Die Abneigung gegen das Verfassen türkischer Texte wurde offensichtlich
durch ihr angespanntes Verhältnis zum türkischen Lehrer unterstützt. Sie er-
klärte auch, dass es ihr wichtig sei, ihre Texte der Klasse zu präsentieren und
die deutschen Schüler könnten ihre türkischen Texte nicht verstehen. Der As-
pekt der Überanpassung als Ursache für ihre Weigerung, Texte in ihrer Pri-
märsprache zu formulieren, konnte nicht bestätigt werden. Deniz hatte das
Schreiben der Sprache Deutsch zugeordnet und wollte davon nicht abweichen.
Ihr gefielen die Produkte ihrer Schreibversuche auf Türkisch nicht und somit
gab sie dieses „Experiment“ auf.
7.4.2.3 Entwicklung individueller Kreativität
Die Texte von Deniz sind alle in einer lebendigen, ansprechenden Form ge-
schrieben und zeigen inhaltlich neue und in dieser Schreibgruppe einzigartige
Gedanken und Formulierungen auf. Ihr erster Text ist sehr spontan und wit-
zig. Deniz hat, insbesondere für ein türkisches Mädchen, unerwartete Aussa-
gen getroffen und sich offen und frei geäußert.
Danach würde ich sie fragen, ob sie mit mir ins Bett geht,
heute Abent bei mir, morgen Abend bei dir, O.K., süße!
279
Rauchen Groß-/Kleinschreibung
Schreien Groß-/Kleinschreibung
raumen Umlautfehler
größe Übergeneralisierung Umlautfehler
Deniz hat in ihrem ersten Text verschiedene Satzmuster und unterschiedliche
Satzanfänge verwendet. Ihr Text enthält vorangestellte Konditionalsätze mit
der Konjunktion „wenn“, denen ein Hauptsatz mit korrekter Inversion folgt
Wenn ich ein Junge wäre dann wäre ich so klug ....
und vergleichsweise viele andere Konjunktionen:
um ... zu, sondern, dann, ob
In einem Fall hat sie drei Nebensätze mit einem Hauptsatz verbunden:
Wenn ich ein Junge wäre dann wäre ich so klug und kaufe keine Autos
um zu spielen und danach in Hof zu schmeisen.
Sie hat in keinem Fall Hauptsatz und Nebensatz mit einem Komma getrennt.
Die Satzstellung im Nebensatz (konjugiertes Verb an letzter Position) und im
nachgestellten Hauptsatz (Inversion) hat sie fehlerfrei gemeistert, was darauf
hinweist, dass sie mit der Bildung von konjunktionalen Nebensätzen und der
angemessenen Satzstellung vertraut ist.
Der vorgegebene Satzanfang fordert ein Weiterführen des Textes im Irrealis,
also die Anwendung des Konjunktivs II. Dies ist Deniz nicht gelungen. Ihr
Text weist eine Mischung indikativischer und konjunktivischer Formen auf.
dann wäre ich so klug und kaufe keine Autos
Deniz hat Schwierigkeiten, den Konjunktiv der Gegenwart vom Konjunktiv der
Vergangenheit zu unterscheiden und diese Formen angemessen einzusetzen.
Dann würd ich meine freundin fragen ob sie mit mir gehen möchte ins
Resterant.
Danach häte ich gefragt ob sie mit ...
Offensichtlich ist es Deniz noch nicht bewusst, dass es sich um zwei Tempus-
formen des Irrealis handelt, da sie mit dem temporalen Adverb „danach“ die
Vergangenheitsform des Konjunktivs II kombiniert.
Deniz Text weist inhaltlich einen Bruch auf, der verstärkt wird durch den indi-
kativischen Gebrauch des Modalverbs „sollen“. Während sie im ersten Teil des
Textes beschreibt, wie sie verhalten würde, wenn sie ein Junge wäre, gibt sie
im zweiten Teil Ratschläge, wie sich Mädchen verhalten sollten.
Sie (die Freundin) sollte nicht Rauchen ...
282
Sie hat auch den Wechsel der Modi im zweiten Teil beseitigt und den Konjunk-
tiv II durchgängig benutzt, während der inhaltliche Bruch bestehen bleibt, al-
lerdings um einen Satz nach hinten verschoben wurde.
Sie (die Freundin) sollte nicht Rauchen ...
Sie (die Freundin) sollte lange Haare haben, um sich schöne Frisu-
ren zu machen.
Die Mädchen sollten nicht so laut schreien
Deniz war mit ihrem Text sehr zufrieden, da er zum einen gut beim Publikum
ankam und zum anderen weniger formalsprachliche Abweichungen aufwies als
die Diktate, die sie vorher geschrieben hatte. Sie war stolz auf die endgültige
Fassung und wollte unbedingt zu einem anderen Thema schreiben.
Ein neues Thema
Die meisten Abweichungen sind den Bereichen Groß-/Kleinschreibung und In-
terpunktion zuzuordnen, die Deniz noch nicht sicher beherrscht. Die Abwei-
chungen der Kategorie Groß-/Kleinschreibung sind als Übergeneralisierungen
zu werten, da Deniz Adjektive und Verben groß schreibt, die ihr - nach eige-
ner Aussage - wichtig erscheinen.
Schlau, Kämpfen
Deniz hat einen ausgeprägten Wortschatz und verfügt in angemessener Weise
über Wortbildungsarten, die ihr z. B. erlauben, ein adjektivisch gebrauchtes
Partizip I zu bilden, wenngleich ihr die schriftsprachliche Umsetzung nicht feh-
lerfrei gelingt.
ein gut riechentes Parfüm
Auch in diesem Text gibt es Brüche im Modus, die auf einen ungesicherten
Umgang mit den Modi der Verben hinweisen. Der Text enthält Konstruktionen
mit Modalverben im Indikativ, Konstruktionen mit Modalverben im Konjunktiv
II und Vollverben im Indikativ. Der Einsatz der Modi scheint nicht nachvoll-
ziehbar. Möglicherweise ist er dadurch begründet, dass der Konjunktiv II kurz
vorher im Unterricht besprochen wurde und Deniz das neu Erworbene in ihren
Text einbringen wollte, ohne jedoch sicher darüber zu verfügen.
Mein Freund soll nicht Kämpfen. Er könnte helfen, wenn jemand in
Schwierigkeiten ist.
Deniz war aufgefallen, dass der Titel ihres Textes nicht das aussagte, was sie
eigentlich wollte.
So stelle ich meine besten Freund vor
Die Anwendung eines reflexiven Verbs, das ein Reflexivpronomen im Dativ
und ein Akkusativobjekt fordert, überforderte die Schreiberin. Sie probierte
284
einige Möglichkeiten, halblaut vor sich hin murmelnd, aus und kam selbst auf
die Lösung des Problems. Sie erfasste den Bedeutungsunterschied, den das
Weglassen des Reflexivpronomens in diesem Fall verursacht und korrigierte
den Titel selbständig. Ihr Kommentar dazu war: In Deutschland heißt alles
gleich, da gibt’s so wenige Wörter!“
Die fehlerhafte Deklination des Possessivpronomens erklärte sich dadurch,
dass Deniz anfangs vorhatte, einen Text über die beste Freundin zu schreiben
und sie es sich in letzter Sekunde anders überlegt hatte. Bei der eigenen,
selbständigen Überarbeitung war ihr das nicht aufgefallen, erst bei der Prä-
sentation des Textes im Plenum, als sie ihn laut vorlas.
Ebenfalls beim Vorlesen erkannte Deniz, dass sie in dem letzten Satz des Tex-
tes irrtümlich den Artikel „das“ mit der Konjunktion „dass“ verwechselt hatte.
Dies ist erstaunlich, denn Deniz hatte wiederum Haupt- und Nebensätze nicht
durch Satzzeichen getrennt, war sich aber augenscheinlich ihrer Gesetzlichkei-
ten bewusst, was sich auch in der korrekten Satzstellung in den Konjunktio-
nalsätzen manifestiert.
Die endgültige Fassung
Der Text weist nur eine Abweichung auf, die allerdings nicht auf ein Defizit,
sondern eher auf Unachtsamkeit hinweist, da dieses Wort in der ersten Fas-
sung korrekt geschrieben wurde.
freund
Deniz hat ihren Text korrigiert, aber auf eine Umformung der Konjunktivfor-
men verzichtet. Sie beharrte darauf, da sie diese Formen „schön“ fand und ihr
die Sätze in dieser Form gefielen. Auch auf den Hinweis hin, zumindest den
Satz
Er könnte helfen, wenn jemand in Schwierigkeiten ist.
nochmals zu überprüfen, reagierte sie nicht.
Ein letzter Text
Deniz hat auch diesen Text selbst mit Hilfe des Wörterbuchs verbessert. Die
Korrekturen sind oben ersichtlich. Sie erklärte, das Wort „grume“ habe ein-
fach komisch ausgesehen, deshalb habe sie es im Wörterbuch nachgeschlagen
und „im 2. Mai“ habe komisch geklungen, deshalb habe sie es geändert.
Die Abweichungen lassen sich wie folgt zuordnen:
1m35 Transfer aus dem mündlichen Sprachgebrauch
Blonde Groß-/Kleinschreibung
Zehne falsche Laut-Buchstaben-Zuordnung, fehlerhafte
Pluralbildung
285
Hobbis Fremdwort
Geschwiester Vokaldehnung
Sprache Groß-/Kleinschreibung
wird Transfer aus dem mündlichen Sprachgebrauch
Deniz hat auch in diesem Text auf die Verwendung von Kommata verzichtet.
Sie hat jedoch ihr Satzzeichenrepertoire um den Doppelpunkt und das Frage-
zeichen erweitert.
In diesem Text tritt eine inkorrekte Bildung eines Nebensatzes auf,
Ich wünsche ich wachse.
Sie hat hier keine Konjunktion eingefügt und auch auf die Bildung eines Infini-
tivsatzes verzichtet, wenngleich sie diese Möglichkeit in früheren Texten feh-
lerfrei benutzt hat. Dieser Satz war Deniz bei der Klangprobe nicht aufgefallen
und sie beurteilte ihn als korrekt. Sie gab zu, dass eine andere Formulierung,
wie etwa „Ich wünsche mir, dass ich wachse.“ besser klänge, wollte jedoch
nicht von ihrer Formulierung abweichen. Ebenso war ihr nicht einsichtig, wes-
halb sie den Satz
Ich fahre gerne Rollschuhe.
verändern sollte. Sie begründete dies damit, dass sie den Ausdruck „Rollschuh
fahren“ nicht logisch finde, denn sie fahre immer mit 2 Rollschuhen und damit
sei in diesem Fall der Plural angebracht.
Dagegen war ihr beim Vorlesen aufgefallen, dass der Satz
Ich habe ein Bruder er ist 8. Jahre alt ...
nicht korrekt ist. Sie verbesserte ihn schon während des Vorlesens. Das falsch
gebildete Akkusativobjekt ist demzufolge als Flüchtigkeitsfehler einzuschät-
zen. Die Ordinalzahl entstand, wie Deniz erklärte, weil sie zuerst schreiben
wollte „er ist 8.“, sich aber dann während des Schreibens verbessert habe und
vergessen habe, den Punkt auszulöschen
7.4.2.5 Zusammenfassung
Deniz hat im Rahmen der Schreibkurse drei Texte in sieben Versionen ge-
schrieben. Davon hat sie sechs Versionen zur Verfügung gestellt. Eine Version
hat sie zurückgehalten, da sie mit dieser unzufrieden war. Deniz war sehr an
einer formalen Korrektheit interessiert und bemühte sich, diese selbst, mit di-
versen Hilfsmitteln, zu erreichen. Ihr Wunsch war es, „gute“ Texte zu schrei-
ben und den Erfolg, den sie mit ihrem ersten Text erzielt hatte, fortzuführen.
Deniz hat sich sehr ehrgeizig gezeigt und viel Mühe investiert.
Es ist ihr gelungen, die Spontaneität und Authentizität ihrer Rohfassungen
auch in den überarbeiteten Fassungen zu erhalten und sie in eine angemesse-
286
ne, sprachliche Form zu bringen. Ihre Texte, die eine rote Linie von spontanen
Aussagen hin zu bewusst eingesetzten kommunikativen und kreativen
Sprachmitteln aufzeigen, sind lebendig und bemerkenswert offen. Ihre inhalt-
lichen Aussagen, die sie in den Texten trifft, sind außerhalb des klassentypi-
schen main streams einzuordnen und auch das Herstellen einer Beziehung
zwischen Inhalt und Form ist als kreative Leistung zu werten.
Deniz hatte mit dem Kreativen Schreiben ein Medium entdeckt, dass für sie
eine neue Welt erschloss. Es machte ihr Freude, ihre Gedanken schriftlich zu
fixieren und sie einem Publikum zu präsentieren. Sie fand Gefallen daran, ihre
Gedanken in einer sprachlich angemessenen Form zu verpacken und sie gab
an, es mache Freude, zu lernen, wie man Sachverhalte, Meinungen, Wünsche
und Ansichten am besten schriftlich formuliert.
Deniz setzte sich im Rahmen der Schreibkurse auch mit den Unterschieden
zwischen den beiden ihr bekannten Sprachsystemen auseinander, so z. B. ü-
ber den Begriff „Blutsbrüder“.
Bei uns heißt das Blutsfreundinnen! …
Aber warum können Freundinnen kein Blut geben? ...
Was machen denn Busenfreundinnen mit ihrem Busen? Und wenn
sie keinen haben, ich meine.. weil sie noch klein sind? ...
Ich finde Blutsfreundinnen besser, das sagt man bei uns so und
das ist besser, weil es ist irgendwie enger oder so.
Auf Grund ihres anfänglichen Erfolgs und ihrem Spaß am „Jonglieren“ mit
Sprache, konnte Deniz ihr Sprachbewusstsein und ihr Sprachgefühl in der
Zielsprache Deutsch erheblich steigern. Sie scheute sich nicht, deutsche Klas-
senkameraden, Lehrkräfte oder auch das Wörterbuch um Rat zu fragen und
konnte von ihrer Neugier und dem Mut, mit dem sie sich um Hilfe bemühte,
stark profitieren.
Gruppe, die zufällig oder nach Kriterien wie Unterrichtszeit, Kosten etc. er-
folgt, muss der Kursleiter entscheiden, welche Ziele und Methoden angemes-
sen sind. Einzig das vorgegebene Lehrwerk gibt eine Richtlinie und eine Liste
der zu behandelnden Lerninhalte vor, die aber nach Ermessen des jeweiligen
Kursleiters behandelt werden können.
Das Kreative Schreiben mit seinen unterschiedlichen Techniken bietet nicht
nur dem Kursleiter Raum, den Unterricht der jeweiligen Gruppe angemessen
zu gestalten, sondern eröffnet den Lernern einen individuellen Zugang zur
Zielsprache. Kreatives Schreiben ist hier gleichzeitig Ausgangspunkt und
Resultat. Ausgehend von ersten Texten wird der Unterricht geplant und ges-
taltet und die Lernerfolge werden am nächsten Text erhoben und gemessen,
was wiederum den Ausgangspunkt zu weiterer Arbeit darstellt.
Es sprechen einige Punkte dafür, den Schriftspracherwerb auch für diese Ziel-
gruppe an den Beginn des Spracherwerbs zu ziehen und sie zu einem frühen
Zeitpunkt mit schriftlichen Äußerungen vertraut zu machen:
Es hat sich gezeigt, dass der Schriftspracherwerb umso schwerer fällt, je stär-
ker die mündliche Kommunikationsfähigkeit ausgebildet ist. Im Gegensatz zur
Ansicht, die Teilnehmer hätten weniger Schwierigkeiten, schreiben zu lernen,
wenn sie schon ein gewisses Maß an mündlicher Kommunikationsfähigkeit er-
worben hätten, hat sich in der Praxis nicht bestätigt, denn diese Teilnehmer
resignieren häufig und verschieben den Schriftspracherwerb immer wieder auf
einen späteren Zeitpunkt. Lerner, die bereits in den ersten Unterrichtseinhei-
ten Kenntnisse der Schriftsprache erwerben, empfinden das Schreibenlernen
nicht als unüberwindbare Mauer, sondern als einen Teil des Spracherwerbs,
der ihnen im Allgemeinen auch nicht mehr Mühe und Anstrengung abverlangt
als die anderen Bereiche. Das Schreiben ist für sie Bestandteil des Unterrichts
und der Auseinandersetzung mit der Zielsprache. Das Kreative Schreiben un-
terstützt diese Auffassung, denn es integriert die einzelnen Aspekte des
Spracherwerbs wie Lesen, Sprechen, Schreiben, Hören bzw. sich unterhalten,
diskutieren, präsentieren, kritisieren, loben, Informationen fordern, Informati-
onen einholen, Informationen geben, sich mitteilen, berichten, Sprachbetrach-
tung und formalsprachliche Aspekte.
Viele Lerner befinden sich in einer turbulenten Lebenssituation.427 Sie haben
aus verschiedenen Gründen ihr Herkunftsland verlassen, die meisten nicht
freiwillig. Viele Lerner haben Heimweh und vermissen ihre Familie und ihre
Freunde, die im Herkunftsland bleiben mussten. Sie haben in Deutschland
noch keinen Anschluss gefunden und haben keine Arbeit. Für die Teilnehmer
ist diese Erfahrung sehr schmerzhaft und sie sehnen sich danach, über ihre
Erfahrungen zu sprechen und sich auszutauschen. Das Schreiben kann ihnen
dabei helfen, mit ihrer Situation zurechtzukommen und sich aus ihrer Isolati-
on zu befreien.
Ausländer, die in Deutschland leben, müssen zu einem sehr frühen Zeitpunkt
nach ihrer Einreise bereits mit diversen Einrichtungen und Firmen in schriftli-
chen Kontakt treten. Meist sind sie mit dieser Anforderung schlichtweg über-
fordert und bitten deutsche Nachbarn oder die Dozenten im Sprachkurs um
Hilfe. Das Kreative Schreiben bietet ihnen eine Möglichkeit, sich der deutschen
Schriftsprache spielerisch und behutsam zu nähern und nimmt die Angst vor
dem geschriebenen, deutschen Wort.
7.5.1 Aamir
Aamir stellte sich in einem ersten Text vor:
Ich bin Aamir. Ich bin ein jung. Ich wohne in nurnberg. Ich bin ein
schuller. Ich komme in Pakistin. Ich bin sechszehn jahre alt. Ich
lehrene in deutsch. Ich Sprache im normal deutsch: Ich sage das
alle Leute ist gut.
Aamir war ohne seine Familie aus dem Herkunftsland geflohen und wohnte
hier bei einer Pflegefamilie. Er besuchte am Vormittag ein deutsches Gymna-
sium als Gastschüler und wollte möglichst schnell seine Schulbildung ab-
schließen, um Geld zu verdienen, mit dessen Hilfe er seiner Familie die Reise
von Pakistan nach Deutschland finanzieren könnte.
Die Angaben zu seinem Alter waren äußerst fraglich und auch er gab sein Al-
ter nicht immer mit 16 Jahren an. Er machte optisch wie auch auf Grund sei-
nes Wesens den Eindruck, er sei um mindestens vier oder fünf Jahre älter als
nach seinen ersten Angaben.
Aamir hatte nach eigenen Angaben in Pakistan eine weiterführende Schule
besucht, die ihn zu einem Universitätsstudium berechtigt hätte. Er gab an, er
sei aus politischen Gründen geflohen und er hätte Probleme mit der Armee
gehabt, die ihn veranlassten, sein Land zu verlassen.
Aamir war ein ehrgeiziger und fleißiger Teilnehmer, der sich neben 38 Unter-
richtsstunden, die er als Gastschüler im Gymnasium und als Teilnehmer im
Sprachkurs absolvierte, intensiv und umfassend vorbereitete, Hausaufgaben
und zusätzliche Übungen machte. Er verfügte über ausreichend Lerntechniken
und hatte keine Schwierigkeiten, sich in die Gruppe einzufügen, wenngleich
die anderen Teilnehmer seinen Eifer eher verwundert und teilweise skeptisch
zur Kenntnis nahmen. In seiner knapp bemessenen Freizeit trieb er Sport, er
joggte täglich und fuhr weite Strecken mit dem Fahrrad. Er sah jeden Tag
fern, dies nach eigenen Angaben aber nur, um Deutsch zu lernen. Zum Zeit-
punkt der Schreibkurse schien es fraglich, ob Aamirs Aufenthaltsberechtigung
über seinen 18. Geburtstag hinaus verlängert und ihm Asyl gewährt werden
würde. Dennoch oder möglicherweise gerade deshalb plante er, in den folgen-
289
tag, der Politik oder anderen Bereichen zu berichten. Aamir hatte diesmal sei-
nen Beitrag schriftlich formuliert, erklärte, er müsse endlich schreiben lernen
und bat mich, seinen Text zu korrigieren.
Ich setzte am park. und ich kann sehe vorne. vorne fällt ein jung
und diese jung hat beinen geworden und er läuft nicht richtig. und
er hat sehr Bolt ausgehe, ich kann sage prauchen sie helfen aber
er hat gesaght alles oke. und ich habe krankenhaus geanruft. Er
geht krankenhaus. und habe ich ungedult. kann ich argerlich will
er hat gesag ich prauche nicht helfen.
Auch dieser Text wurde in einer Zusammenarbeit von Schreiber und Dozent in
eine lesbare Form übersetzt.
Ich sitze im Park. und ich sehe nach vorne. Vorne fällt ein Junge
hin und dieser Junge hat sich am Bein verletzt und er kann nicht
mehr richtig laufen. Er blutet sehr, ich frage: „Brauchen Sie Hil-
fe?“, aber er sagt: „Alles ok.“, aber ich rufe einen Krankenwagen..
Er kommt ins Krankenhaus. und ich bin enttäuscht. Ich bin ärger-
lich, weil er gesagt hat, ich brauche nicht zu helfen.
Zum Abschluss der Sprachkurse nach 10 Wochen schrieben die Teilnehmer
nach visuellen Vorlagen. Die Vorlagen zeigten Bilder von Vincent Van Gogh.
Die Teilnehmer hatten diese Vorlagen gewählt, da sie den grauen, feuchten
deutschen Herbst nicht ertragen konnten und die Bilder „sonnig“ fanden.
Aamir hatte noch nie von diesem Maler gehört und hatte Schwierigkeiten mit
seinen Werken, da sie seiner Meinung nach aussahen, als hätte sie ein Kind
gemalt. Er konnte nicht verstehen, weshalb Europäer Werke dieses Malers
hoch schätzten. Als ein anderer Teilnehmer von den hohen Preisen erzählte,
die Werke von Van Gogh erzielten, war Aamir zutiefst erstaunt und kommen-
tierte: „Deutsche Leute sind komisch, ich finde.“ Er erzählte, dass diese Bilder
in seinem Herkunftsland keinen Wert haben würden, da die dortige Malerei
grundverschieden sei. Dennoch gab er an, das Bild „La Méridienne“, das er
sich ausgesucht hatte, gefiele ihm gut, wenngleich er seinen künstlerischen
Wert nicht erkennen könne. Er sagte, er finde das Bild schön, weil ihn die Far-
ben ansprächen.
Ich sehe ein Bild das Bild ist sehr schön das Bild hat ein bauer se-
he ich der Bauer ist jeten tag arbeite in das feld und er bracht viele
leben mittel und ihr helfe seine Frau und seine kuh. Er arbeite vie-
len stunden und manchmal er ist müde und dann er mag rest und
nach dem rest noch er arbeite. Wenn Leben miltet sind vertig ist,
dann er geht große hendler und alle sachen sind verkaufe er und
danach er hat sovill geld und er ist sehe klück.
291
Dieser Text wurde, auf die Bitte des Schreibers hin, in Zusammenarbeit mit
anderen Teilnehmern korrigiert. Aamir hatte beim Schreiben gemerkt, dass er
nicht alle seine Gedanken zu dem Bild verbalisieren konnte und war mit dem
Text unzufrieden. Er gab allerdings zu, er habe sich keine große Mühe hin-
sichtlich der formalsprachlichen Korrektheit gegeben, sonder sich darauf ver-
lassen, dass der Text im Anschluss überarbeitet werden würde. Ihm sei wich-
tig gewesen, eine Geschichte zu dem Bild zu schreiben.
Das Resultat der gemeinsamen Überarbeitung, an der drei weitere Teilnehmer
mit dem Schreiber zusammengearbeitet hatten, wurde dem Dozenten zur ab-
schließenden Überprüfung vorgelegt. Folgende Fassung entstand:
Ich sehe ein Bild. Es ist sehr schön. Auf dem Bild ist ein Bauer. Ich
sehe den Bauern auf dem Feld arbeiten, so wie jeden Tag. Er baut
viele Lebensmittel an und er hilft seine Frau und versorgt seine
Kuh. Er arbeitet viele Stunden und manchmal ist er müde und
dann er macht er eine Rast und nach der Rast arbeitet er weiter.
Wenn er geerntet hat, dann geht er zu einem Großhändler und
verkauft alles und dann hat er viel Geld und er ist sehr glücklich.
Nach 5 Wochen im Deutschkurs hat Aamir in einem kleinen Text seine Wün-
sche und Ansprüche an den weiteren Verlauf des Kurses geäußert. Er hat die-
sen Text etwa eine Woche nach dem „Erlebnis“-Text geschrieben.
Ich will Deutsch lernen, ich müß schreiben oder hörn, oder spre-
chen. Ich habe kein wissen, was ist Deutsch aber ich denke wenn
ich kann jeten tag lerne deutch ich gelabe ich kann gut lesen und
gut sprechen werden.
7.5.1.1 Entwicklung der kommunikativen Kompetenz in der Zielsprache
Aamir war zu Beginn des Sprachkurses erst kurze Zeit in der Bundesrepublik
Deutschland. Er hatte im Herkunftsland nach eigenen Angaben Englisch ge-
lernt, sprach jedoch zum Zeitpunkt seiner Einreise in die Bundesrepublik kein
Wort Deutsch. Durch seinen für diese Lernergruppe vergleichsweise intensiven
Kontakt zu Deutschen, nämlich seiner Pflegefamilie und seinen Schulkamera-
den, erwarb er recht schnell eine kommunikative Kompetenz im mündlichen
Sprachbereich, mit der er in den wichtigsten Alltagssituationen zurecht kam
und auch – wenngleich in begrenztem Ausmaß – Gespräche führen konnte. Er
„schnappte“, besonders in der Schule, Begriffe und Ausdrücke auf, die er im
Gespräch wiedergab.
Im schriftlichen Sprachgebrauch hatte er Schwierigkeiten, da seine sprachli-
che Kompetenz nicht seiner Schreibintention entsprach. Er war durchaus in
der Lage, Übungen zu einzelnen Grammatikthemen erfolgreich zu meistern,
scheiterte dann aber häufig beim freien Formulieren seiner Gedanken, Ansich-
ten und Eindrücke. Dies empfand er als sehr belastend. Er war einerseits sehr
292
unzufrieden mit der sprachlichen Ausführung seiner Texte, verließ sich aber
andererseits stark auf die Überarbeitung, bei der er immer um Hilfe bat,
wenngleich er darunter litt, dass die Leser seiner Texte oft Verständnisfragen
hatten.
Aamir hatte keine Probleme, seine Texte adressatenbezogen zu verfassen, er
führte Personen in ihren Rollen und Funktionen klar ein, schilderte Situationen
anschaulich
Ich setzte am park. und ich kann sehe vorne. vorne fällt ein jung
und diese jung hat ..
und seine Texte weisen keine inhaltlichen Sprünge oder Brüche auf.
Er versucht in seinen Texten immer wieder, seine Gefühle oder seine Meinung
darzustellen:
Das Deutschland ist schön aber ich finde das wetter ist Deutsch-
land nicht gut.
Deutsch Leute ist sehe gut aber ich finde jemanten allkohel trenke
diese ich mag nicht. Ich will Deutsch lernen, ich müß schreiben o-
der hörn, oder sprechen.
Doch dies bereitet ihm häufig Schwierigkeiten, insbesondere dann, wenn er
den formalsprachlichen Aspekt zu Gunsten der inhaltlichen Aussage vernach-
lässigt. Er gab an, er vergesse, was er gelernt habe, wenn er einen Text
schreibe, da er sich auf den Inhalt konzentrieren müsse und ihn ein Bemühen
um formalsprachliche Korrektheit nur ablenken würde. Er war sich durchaus
bewusst, dass er Texte, deren kommunikative Funktion und inhaltliche Aussa-
gen der sprachlichen Kompetenz angemessen sind, vergleichsweise fehlerfrei
schreiben hätte können, gab aber dazu an, er hätte seine Aussagen in diesem
Fall inhaltlich drastisch reduzieren müssen und das hätte er nicht gewollt.
Aamir konnte seine kommunikative Kompetenz in der Zielsprache Deutsch in
dem Zeitraum, in dem seine Texte untersucht wurden, deutlich verbessern.
Seine Texte erforderten von Mal zu Mal weniger Rückfragen und Erklärungen.
Es gelang ihm in zunehmenden Maße, seine Äußerungen verständlich zu for-
mulieren. Seinen Texten ist zweifelsfrei zu entnehmen, welche Schreibintenti-
on ihnen zu Grunde liegt. Er weist Textpassagen, in denen er seine Meinung
äußert oder seine Gefühle beschreibt, klar aus, wenngleich er noch nicht über
die formalsprachliche Kompetenz verfügt.
Ich sage das alle Leute ist gut.
kann ich argerlich will er hat gesag ich prauche nicht helfen.
Aamir verfügte bereits aus der Primärsprache über eine gut entwickelte kom-
munikative Kompetenz und versuchte, diesen Standard auch in der Zielspra-
che Deutsch zu erreichen. Diesem Ziel rückte er Text um Text, Überarbeitung
293
428 Text 29
296
Gedanken und greift nur in geringem Umfang auf das Cluster zurück. Er hat
um der inhaltlichen Aussage Willen auf die formalsprachliche Sicherheit ver-
zichtet und sich sozusagen auf das sprachliche „Glatteis“ begeben.
Eine Fehleranalyse der Rohfassung wurde erst nach der Überarbeitung er-
stellt, da eine Analyse ohne Absprache mit dem Schreiber zu einem rein inter-
pretativen und spekulativen Umgang mit den formalsprachlichen Abweichun-
gen geführt hätte.
Bei der Fehleranalyse wurden orthografische Abweichungen, Wortschatzfehler
und Abweichungen im Bereich Grammatik getrennt erhoben.429
orthografische Abweichungen
das wetter Groß-/Kleinschreibung
Deutsch Leute,
Deutsch Regierung Groß-/Kleinschreibung
sehe falsche Laut-Buchstaben-Verbindung (e r)
jemanten (d t)
allkohel Groß-/Kleinschreibung; Vokalverkürzung, falsche
Laut-Buchstaben-Verbindung (a l)
möglicherweise Transfer
trenke falsche Laut-Buchstaben-Verbindung (i e)
Prteien, Prteie falsche Laut-Buchstaben-Verbindung (r ar)
schule Groß-/Kleinschreibung
intellektuel Fremdwort
spielplätze Groß-/Kleinschreibung
Ihr (ihr hier)
ausländer Groß-/Kleinschreibung
429 Abweichungen vom Typus „Groß-/Kleinschreibung wurden dem orthografischen Bereich zugezählt, wenngleich sie
überwiegend von Fehleinschätzungen der betreffenden Wortart herrühren. Dennoch hat sich gezeigt, dass diese
Abweichungen bei der Überarbeitung erkannt und von den Teilnehmern als Orthografie-Fehler eingestuft werden. Die
meisten Teilnehmer speichern demnach nicht die Verbindung „Substantiv = groß“, sondern lernen das Wortbild, z. B.
„Haus = groß“, weshalb sie diese Fehlerquelle dem Rechtschreibbereich zuordnen nicht „Haus schreibt man groß, weil
es ein Substantiv ist“, sondern: „Haus schreibt man groß.“ Diese Zuordnung wird im Laufe des Spracherwerbs
automatisiert und differenziert. Zu Beginn des Sprachkurses zeigen sich die meisten Teilnehmer aber überfordert, da sie
auch in der Primärsprache keine Wortarten bestimmen können.
298
Wortschatzfehler
aber alle Prteie ist
unterrichten arbeiten unterrichten unterschiedlich
und andere viel arbeiten arbeiten Beruf
viele underscheidung spiele. Unterscheidung unterschiedlich
aber ich finde viele Leute
magen hund. Ich finde ich glaube
Abweichungen im Bereich Grammatik
Das Deutschland Übergeneralisierung: Artikel
Leute ist Konjugation: Plural
Jemanten allkohel trenke Relativsatz; Konjugation
diese ich mag nicht Satzstellung
aber alle Prteie ist
unterrichten arbeiten Satzstellung, Deklination: Plural;
Konjugation: „Verlaufsform“ ( ist
arbeiten); Plural
alle Lehrer und Lehrerinen
ist viel fleißig Deklination: Plural, Konjugation: Plural
magen falsche Ableitung (ich mag mögen)
arbeiten Firma, Hotel fehlende Präposition
schöner Plätze. Adjektivdeklination
Ihr ist viele Leute ist
ausländer Konjugation: Plural
Deutsch Leute,
Deutsch Regierung Adjektivdeklination
schneller unzulässiger Komparativ
billger unzulässiger Komparativ
jahrezeit Wortbildung: zusammengesetztes
Substantiv; Deklination: Plural
hund. Deklination: Plural
299
Aamir hat noch erhebliche Probleme mit der Groß- Und Kleinschreibung und
der Interpunktion. Weite Textpassagen sind „mittelgroß“ und ohne Satzzei-
chen geschrieben. Bei der Überarbeitung allerdings konnte Aamir diese Ab-
weichungen weitgehend selbst korrigieren. Er gab an, er habe während des
Schreibens keine Zeit gehabt, diese Probleme zu beachten, da er sich auf die
inhaltlichen Aspekte des Textes konzentriert habe. Er erzählte auch, die Lehr-
kraft im Gymnasium habe ihm erlaubt, alles „mittelgroß“ zu schreiben, da die
korrekte Groß-/Kleinschreibung zweitrangig sei, fügte aber sogleich hinzu, er
werde mein Beharren auf eine korrekte Groß-/Kleinschreibung akzeptieren
und sich im Deutschkurs diesbezüglich größte Mühe geben.
Die Bildung einer „Verlaufsform“, wie z. B. „ist arbeiten“ ist als Transferfehler
zu werten. Die meisten Teilnehmer aus dem persischen oder arabischen
Sprachraum bilden zu Beginn des Spracherwerbs auch in der Zielsprache
Deutsch diese Form, die in etwa der progressiven Form des Englischen ent-
spricht, häufig kommt es auch zu Mischformen der deutschen Konjugation
und der „Verlaufsform“, wie etwa: „Ich bin trinke.“.
Aamir hat in seinem langen Text vergleichsweise wenige Verben verwendet,
sein, finden, trinken, mögen, arbeiten
obwohl die Wortart „Verb“ in den Unterrichtseinheiten vor der Textproduktion
im Mittelpunkt stand. Es waren viele Verben eingeführt und an deren Beispiel
die Konjugationstypen erläutert und geübt worden.
Zum Zeitpunkt der Textproduktion hatte Aamir noch erhebliche Schwierigkei-
ten mit der Zuordnung des Numerus sowie der Pluralbildung. Dabei handelt es
sich nicht ausschließlich um fehlerhafte Pluralendungen wie etwa
Prteie, Lehrerinen, jahrezeit, hund.,
sondern auch um eine abweichende Konjugation, die darauf hinweist, dass
Aamir den Plural des Nominativs trotz Signalwörtern ,wie „alle“ oder „viele“
nicht erkannt hat bzw. keine Verbindung zwischen Numerus des Substantivs
und Numerus des Verbs herstellen konnte:
Deutsch Leute ist
alle Prteie ist
alle Lehrer und Lehrerinen ist viel fleißig und intellektuel
viele Leute ist ausländer
300
Kompetenz abgestimmt und nicht wie in den vorherigen Texten versucht, sei-
nen Text sprachlich auf die inhaltlichen Aussagen hin abzustimmen.
Der Text weist folgende Abweichungen auf:
ich müß schreiben Umlautfehler (Übergeneralisierung)
hörn Konjugation: Person (unzulässiger Transfer
aus dem mündlichen Sprachgebrauch)
kein wissen Groß-/Kleinschreibung
jeten dt
tag Groß-/Kleinschreibung
kann lerne Modalverb + Infinitv
deutch falsche Laut-Buchstaben-Zuordnung
gelabe glaube
kann sprechen werden Übergeneralisierung
Aamir zeigt mit diesem Text, dass er immer noch Schwierigkeiten mit der Bil-
dung eines Satzes mit Modalverb und Infinitiv hat. Er hat in seinem Text vier
verschiedene Variationen produziert:
Ich will Deutsch lernen,
ich müß schreiben oder hörn, oder sprechen.
ich kann jeten tag lerne deutch
ich kann gut lesen und gut sprechen werden.
Der erste Versuch ist gut gelungen, Form und Satzstellung sind korrekt. Auch
der zweite Satz mit Modalverb ist korrekt, allerdings ist das Modalverb „müs-
sen“ nicht korrekt konjugiert. Im dritten Satz wiederholt Aamir den Fehler,
den er bereits im letzten Text gemacht hat, er konjugiert das Modalverb und
das Vollverb. Gleichzeitig zieht er das Vollverb um eine Position nach vorne.
Dieser Satz
ich kann jeten tag lerne deutch
beinhaltet überdurchschnittlich viele Abweichungen, was auf Unaufmerksam-
keit zurückzuführen ist, denn er hatte die entsprechenden Probleme bereits
früher ohne Schwierigkeiten gelöst.
Im letzten Satz dieses Textes konstruiert Aamir eine Verbform, die erst nach
Rücksprache mit ihm erklärt werden konnte: Das Anfügen des Hilfsverbs
„werden“ rührt von einer noch diffusen Ahnung von der Form des Futur 1 her.
Diese Tempusform war im Sprachkurs noch nicht besprochen worden, aber
Aamir war in der Schule, die er vormittags besuchte, damit konfrontiert wor-
303
fe der Lehrkraft und der anderen Schreiber bat. Eine selbständige Überarbei-
tung traute er sich nicht zu und er versuchte daher nicht, seine Texte mit Hilfe
seiner Aufzeichnungen und/ oder eines Wörterbuchs auf formalsprachliche
Abweichungen hin zu überprüfen.
Aamir verfasste seine Texte überwiegend in einem referentiellen Stil und be-
lächelte Texte, die andere Teilnehmer geschrieben hatten, wenn sie fantasie-
voll, witzig oder märchenhaft waren. Er gab an, diese Texte gefielen ihm sehr
gut, entsprächen jedoch nicht seiner Vorstellung eines „guten“ Textes.
Aamir hatte – auch wegen seiner Bemühungen um inhaltlich aussagekräftige
Äußerungen – erhebliche Probleme im formalsprachlichen Bereich. Dazu trug
seine Weigerung bei, die Zielsprache experimentell und spielerisch zu erfor-
schen. Ich hatte den Eindruck, als wolle er damit den Altersunterschied zu
den anderen Teilnehmern ausgleichen. Er gab zu, er wolle nicht von den Älte-
ren als Jugendlicher behandelt werden. Er wolle als gleichberechtigter Teil-
nehmer akzeptiert werden und es sei ihm wichtig, dass seine Äußerungen mit
dem gleichen Ernst aufgenommen würden, wie die der anderen, älteren Teil-
nehmer. Dieser Wunsch erscheint verständlich, aber vor dem Hintergrund der
freundlichen Atmosphäre, die diesen Kurs auszeichnete, eher überspitzt.
Aamir konnte seine formalsprachliche Kompetenz erweitern und sich in stei-
gendem Maße schriftlich klar äußern. Er entwickelte ein gewisses Bewusstsein
für die Zielsprache und es gelang ihm im letzten Text, sich auf eine fiktive Ge-
schichte einzulassen.
7.5.2 Naby
Naby war zum Zeitpunkt des Sprachkurses 27 Jahre alt. Er war Asylbewerber
und war aus politischen Gründen aus seinem Heimatland, der Elfenbeinküste,
geflohen. Naby sprach Französisch und seine Primärsprache Kwa. Er verfügte
zudem über gute Englischkenntnisse und konnte in einigen afrikanischen
Sprachen kommunizieren. Naby war – wie die meisten Afrikaner - in einer
multilingualen Umgebung aufgewachsen: Er sprach mit seiner Familie Kwa,
war in der Schule auf Französisch unterrichtet worden und in der peer-group
hatte er regionale Dialekte und Sprachen gesprochen. Naby hatte kein Prob-
lem mit der Vorstellung, eine neue Sprache zu lernen. Er empfand es als nor-
mal, mit der Umgebung auch die Sprache zu wechseln. Später bemerkte er
dazu, das Leben in Deutschland sei einfach, da man nur eine Sprache lernen
müsse, um hier leben und arbeiten zu können.
Naby hatte keinen intensiven Kontakt zu Deutschen, er kannte überwiegend
Menschen von der Elfenbeinküste und verbrachte seine Zeit mit ihnen. Dies
war nicht unbedeutend von dem Umstand geprägt, dass er als Asylbewerber
verpflichtet war, in einer entsprechenden Unterkunft zu leben und ihm die Ar-
beitserlaubnis verwehrt blieb. Seine Kontakte zu Deutschen waren auf Be-
306
430 Der Familienname des Schreibers wurde aus Datenschutzgründen unkenntlich gemacht.
307
sie magt gut dein heimat, weil sein familie libt in Russland
er schreibt immer sein geschicht für sein famili in Afrika
wir durfen nicht sagen du auf polizeie
ihr seind Asylweberber in deutschlan
sie sind alle mein freunde in die stadt Nurnberg
Naby hat einen sehr umfangreichen Text zum Thema „Deutschland“ geschrie-
ben. Als Einstieg in den Text stand auch für Naby das Gemeinschafscluster431
zur Verfügung.
Eine Geschichte von Deutschland
Thema: Mentalität, Konservation, Leben
In Deutschland Bundesrepublik, es gibt viel Städt. Jeden Stadt hat
seinen spreche und hat seinen Burgermaster oder Ministre, Zum
Beilspiel: Bayern (Bayerisch), Franken (Frankisch) ...etc. jede
Stadt Bescheid wie geht in seine stadt, uber (Politik, Economik ...)
Manch Städt acceptieren die Ausländer, aber die stadt Nürnberg ist
erlisch eine nette für die Ausländer. Und Regensburg ist tut weinen
bissen. Ich kenne nicht ganz Deutschland aber umgevier 16 Mona-
ten in Nurnberg, und ich weiß bissen wie ein Arm Afrikanicher kann
gut leben. Er muß heiraten, Trostim, kein Arbeit, kein genuk geld.
Darum alle Armen schwarz mußen eine frau suchen. Das Situation
ist schwer für mich, weil ich heirate nicht zum gut leben, oder in
Deutschland Bleiben – Seite 16 Monaten ich bin in Nurberg, und
ich hatte vier frauen kennelernen in die erster acht Monaten. Sie
wollen alle nur in Deutschland bleiben und nicht in Afrika gehen
mit. Sie wollen alle Ihren Traditionen (Theater, opper, nur in die
Wohnung bleiben der ganz woche, weniger besuchen, weniger kin-
der, viel Arbeiten, viel geld, domination bei die frau ... etc.). Ich
freut mich in Deutschland jeder Jahre für Urlaub mit meine
Deutsch Frau.
Etwa 8 Wochen nach dem „Deutschland“-Text hat Naby den folgenden Text
verfasst. Er hatte sich als visuelle Vorlage für seinen Text eine Version der
Sonnenblumen von Vincent Van Gogh herausgesucht. Weshalb er gerade die-
ses Bild gewählt hatte, darüber gibt er in seinem Text Auskunft.
Ich habe viel gedacht und nachgedacht, Meine Vorstelung uber
dieses Bild ist sehr gut. Das ist für mich ein schönes Bild. Ich will
damit sagen daß die Blumen für mich viel bedeuten. Ich habe eine
Gespräch äußerte er dann auch, dass eine Heirat unter derartigen Umständen
in seiner Heimat undenkbar sei.
Der dritte Text von Naby ist sehr subjektiv gehalten und er beschreibt darin
die emotionale Wirkung, die die visuelle Vorlage auf ihn ausübt. Er formuliert
diese Schreibintention deutlich und gibt damit den Trend seines Textes vor.
Ich will damit sagen daß die Blumen für mich viel bedeuten.
Auch hier unterschied sich sein Text von den Texten der anderen Teilnehmer,
denn er hatte auf eine Beschreibung der visuellen Vorlage weitgehend ver-
zichtet und sich auf die Wirkung, die das Bild auf ihn ausübte, beschränkt.
In diesem Text hat Naby zur Beschreibung der Blumen Begriffe herangezo-
gen, die in diesem Zusammenhang ungewöhnlich sind:
Manche sind sehr Lustig, vielleich haben sie eine ursache so zufri-
den zu sein.
Alles kann im Leben passieren, manchhe sind traurig,
Darauf angesprochen, dass die Adjektive „lustig“ und „traurig“ im Zusam-
menhang mit Blumen ungewöhnlich seien, antwortete er, er wisse, dass es für
den Zustand der Blumen spezielle Wörter gebe, habe aber gedacht, die bei-
den, von ihm gewählten Adjektive würden seinen Eindruck ebenso gut, wenn
nicht gar besser wiedergeben.
An Nabys Texten ist eine Zunahme an subjektiven, emotionalen und kreativen
Elementen festzustellen. Naby erklärte, das Formulieren von subjektiven Ein-
drücken und persönlichen Gefühlen sei in seiner Heimat üblich. Er habe viel-
mehr Probleme mit der Distanziertheit und Unpersönlichkeit, die er in anderen
Kulturkreisen feststelle. Er habe seine persönlichen Aussagen zu Beginn des
Sprachkurses eingeschränkt, da er die Gruppe noch nicht kannte, habe aber
nach einiger Zeit keinen Grunde mehr sehen können, seine Aussagen in einer
distanzierten und unpersönlichen Weise zu treffen. Er fügte hinzu: „Afrikani-
sche Männer sind nicht peinlich über sich sprechen.“
7.5.2.4 Entwicklung der sprachlichen Kompetenz in der Zielsprache
Ich
Die in diesem Text auftretenden Abweichungen sind zwei Fehlerquellen zuzu-
ordnen: Zum Einen war der Schreiber nicht in der Lage, die im Wörterbuch
aufgefundenen Adjektive zu deklinieren,
Bayerisch Bier, Yemenisch Hauptstadt
zum Anderen hat er Wörter, die er nicht dem Wörterbuch entnommen hat,
entsprechend ihrer Diktion geschrieben. Hier kam es zu französischer
Schreibweise
313
Nerveuse
bzw. zu einer Mischung aus deutscher Aussprache und französischer Schreib-
weise.
Racismos
Naby hat in diesem Text wiederum bereits erworbene Begriffe und Strukturen
mit im Deutschkurs Erlerntem verwoben. So verwendet er das Perfekt und er
bildet Nebensätze und Konstruktionen mit Modalverb + Infinitiv und Präpositi-
onalobjekte. Hierbei treten formalsprachliche Abweichungen auf, die auf eine
unsichere und nicht gefestigte Anwendung hinweisen:
Ich habe angefange. fehlerhaftes Partizip II
mit sein Schulere. Kasus; Possessivpronomen; Plural
Du lachst immer auf
die straße Kasus; Groß-/Kleinschreibung
weil sein familie libt in
Russland Satzstellung; Groß-/Kleinschreibung; i e
für sein famili Kasus; Possessivpronomen; Groß-/Klein-
schreibung; i ie
wir durfen nicht sagen ... Satzstellung; Umlaut
Demgegenüber sind folgende Abweichungen auf Übergeneralisierung zurück-
zuführen, da die Konjugation der Hilfsverben und der schwachen Verben ein-
geführt worden war:
ihr seind, wir durfen, sie magt
Diese Annahme wird durch die weitgehend korrekte Konjugation der Verben
aus den besprochenen Verbgruppen gestützt.
Mein Lehrerin heißt, du lachst, er schreibt, sie sind
Einige der im Text auftretenden Abweichung sind als Transferfehler zu wer-
ten:
deutsch Kurz zs
sie va elle va sie geht (hier: sie ist)
sie magt gut elle aime bien sie mag gerne
314
Deutschland
Der Text zeigt folgende formalsprachliche Abweichungen auf:
Zum Beilspiel: Groß-/Kleinschreibung
spreche Sprecher
Frankisch Umlaut
umgevier ungefähr
bissen ein bisschen
Arm Afrikanicher Groß-/Kleinschreibung
Trostim, trotzdem
genuk genug
geld Groß-/Kleinschreibung
mußen Umlaut; Vokalkürzung
frau Groß-/Kleinschreibung
stadt Groß-/Kleinschreibung
erlisch Vokaldehnung; sch ch
Bleiben Groß-/Kleinschreibung
frauen Groß-/Kleinschreibung
kennelernen kennen lernen
Nurberg, Umlaut; Vermeidung der Konsonantenhäufung
Ihren Groß-/Kleinschreibung
opper, Groß-/Kleinschreibung
woche, Groß-/Kleinschreibung
kinder, Groß-/Kleinschreibung
Arbeiten, Groß-/Kleinschreibung
Konservation Transfer
Burgermaster Transfer; Umlaut
Ministre Transfer
Bescheid Transfer
wie geht uber was passiert
315
Economik Transfer
acceptieren Transfer
ist tut weinen bissen. ist ein bisschen traurig
domination bei
die frau Transfer
für Urlaub Präposition
viel Städt Pluralbildung
Jeden Stadt Deklination: Genus
in seine stadt Deklination: Kasus; Groß-/Kleinschreibung
Manch Städt Pluralbildung
16 Monaten Pluralbildung
wie ein Arm
Afrikanicher kann
gut leben. Satzstellung
Trostim, kein Arbeit, kein Prädikat
kein genuk geld. Verneinung
Darum alle Armen
schwarz mußen Inversion; Substantivierung; Pluralbildung
Das Situation Deklination: Genus
weil ich heirate nicht
zum gut leben, Satzstellung; Konjunktion
Seite 16 Monaten ich
in in Nurberg, Inversion
in die erster acht
Monaten. Deklination: Kasus
in Afrika gehen mit. Trennbares Verb
der ganz woche, Deklination: Genus
Ich freut mich Konjugation
jeder Jahre Deklination: Genus, Numerus
316
mit meine
Deutsch Frau. Deklination: Kasus
Nabys Text ist trotz zahlreicher Abweichungen von der formalsprachlichen
Norm durchaus verständlich. Der Text wurde mit Hilfe der Dozentin überarbei-
tet und in eine formalsprachlich korrekte Form gebracht.
Van Gogh
Naby konnte in diesem Text seine im Deutschkurs erworbenen Kenntnisse gut
anwenden. Dieser Text weist erstaunlich wenige, formalsprachliche Abwei-
chungen auf:
Vorstelung Vokalverkürzung
uber Umlaut
erinerung Groß-/Kleinschreibung; Vokalverkürzung
aber wäre die sehr
schön geworden Übergeneralisierung: Inversion; Konjugation:
Plural
wenn alle lustig
gewissen wäre ... Partizip II; Konjugation: Plural
eine schöne gefule
wider bekomen habe. Satzstellung
gefule Groß-/Kleinschreibung; Umlaut, Vokaldehnung
wider i ie
bekomen Vokalverkürzung
vielleich vielleicht
ursache Groß-/Kleinschreibung
zufriden i ie
manchhe manche
Alle Groß-/Kleinschreibung
Naby zeigt mit diesem Text, dass er viele sprachliche Probleme sicher
und problemlos bewältigen kann, wie z. B.
Satzstellung im Nebensatz:
..., daß die Blumen für mich viel bedeuten.
317
tive und kreative Aussagen, die er ohne Scheu der Schreibgruppe präsentier-
te.
Nabys Texte enthielten auch Äußerungen, die in der Schreibgruppe kontrovers
diskutiert wurden. Seine Aussagen wurden von den anderen Schreibern teil-
weise als provozierend empfunden. Naby löste mit seinen Texten Gespräche
aus, in denen er seine Äußerungen erläuterte und begründete. Diese Situation
förderte seine Kompetenz im mündlichen Sprachgebrauch erheblich und er
profitierte, zumindest in sprachlicher Hinsicht – in hohem Maße von diesen
Diskussionen. Für ihn schienen die Auseinandersetzungen über seine Texte zu
einer Art sprachlichem Trainingsprogramm zu gehören, und er fragte nach ei-
ner hitzigen Diskussion über eine Aussage, die er in einem seiner Texte ge-
troffen hatte: „Will noch jemand mit mir kämpfen?“ Es bereitete ihm Freude
sich verbal mit anderen Lernern in der Zielsprache Deutsch zu duellieren und
er war sich bewusst, welchen Nutzen er hinsichtlich der Entwicklung seiner
sprachlichen Kompetenz aus diesen Diskussionen zog.
Dieser Schreiber weckte den Anschein, er sei völlig frei von affektiven Einflüs-
sen, die den Spracherwerb hemmen können. Er war neugierig und offen ge-
genüber seiner neuen Umgebung und hatte sich gut mit dem unfreiwilligen
Aufenthalt in der Bundesrepublik arrangiert. Er war hoch motiviert und fühlte
sich in der Schreibgruppe wohl. Er hatte guten Kontakt zu den anderen Teil-
nehmern und entwickelte zu einigen ein freundschaftliches Verhältnis. Seine
bemerkenswerte Offenheit gegenüber seiner Lebenssituation trug stark zur
Entwicklung seiner sprachlichen Kompetenz bei, die sich an seinen Texten
nachvollziehen lässt. Naby hatte Spaß am Schreiben gefunden und plante,
seine Erlebnisse als „armer Schwarzer in Deutschland“ auf Deutsch niederzu-
schreiben.
• Die Lerner sollen das Schreiben per se automatisieren, d.h. sie müssen
Schreiben sowohl als sprachliche wie auch als motorische Fertigkeit
trainieren.
• Die Lerner sollen ihre Kompetenz im schriftsprachlichen Bereich entwi-
ckeln, sie sollen kleine Texte frei formulieren können.
• Die Lerner sollen inhaltliche Themenstellungen bearbeiten und verbali-
sieren.
• Die Lerner sollen Spaß am Schreiben entdecken und ihre Aversion ge-
gen das Schreiben abbauen.
• Die Lerner sollen an ein konstruktives Miteinander und an Teamarbeit
herangeführt werden.
• Die Lerner sollen ihre kommunikative Kompetenz sowie Kompetenz in
der Gesprächsführung entwickeln und erweitern.
Das Kreative Schreiben mit seinen Techniken hat sich als ein geeignetes Ver-
fahren gezeigt, dass alle Ziele, die für diese Gruppe genannt wurden, verfolgt.
In dieser Gruppe wurden Jugendliche deutscher Primärsprache sowie Jugend-
liche nicht-deutscher Primärsprache zusammen unterrichtet. Eine Differenzie-
rung ist im Rahmen der Maßnahme nicht vorgesehen und erfolgte aus organi-
satorischen Gründen nicht.
7.6.1 Serkan
Serkan war zur Zeit der Schreibkurse 19 Jahre alt und war in der Türkei gebo-
ren. Im Vorschulalter war er mit seiner Mutter in die Bundesrepublik einge-
reist, wo der Vater schon viele Jahre lebte.
Serkan hat eine zweisprachige Klasse besucht und schloss seine Schulkarriere
nach dem Erfüllen der Schulpflicht mit der 8. Klasse Hauptschule ab. Serkan
hatte sich daraufhin immer wieder um einen Ausbildungsplatz oder eine Ar-
beitsstelle bemüht, allerdings ohne Erfolg. Nach längerer Arbeitslosigkeit war
er vom zuständigen Arbeitsamt der Maßnahme zugewiesen worden.
Serkan verzichtete im mündlichen Sprachgebrauch auf Präpositionen und den
Artikel im Präpositionalobjekt. „Ich bin Baustelle.“ Er sprach mit starkem, tür-
kischem Akzent. Er verfügte über einen gut entwickelten Wortschatz und
Kenntnisse der grammatischen Strukturen der Zielsprache Deutsch. Es berei-
tete ihm jedoch Schwierigkeiten, sich schriftlich zu äußern und inhaltliche
Aussagen schriftlich zu formulieren. Er begründete dies damit, dass er noch
nie Texte geschrieben habe und ihn das auch nie sonderlich interessiert habe.
Schreiben hatte er in unguter Erinnerung und er schrieb auch im Unterricht
nur nach deutlicher Aufforderung mit. Auf die Anregung hin, er könne die
notwendigen Notizen auch in seiner Primärsprache anfertigen, gab er an, sei-
320
ne Kenntnisse der türkischen Schriftsprache seien geringer als jene, über wel-
che er im Deutschen verfügte. Er hatte sich damit abgefunden, dass Schrei-
ben für ihn ein unüberwindbares Hindernis darstellt und er erwartete von sei-
nen eigenen schriftlichen Äußerungen kaum formalsprachliche Korrektheit. Er
meinte es sei ihm egal, ob er korrekt schreiben könne oder nicht, da es ihm
wichtig sei, verstanden zu werden und das Ziel der Maßnahme, den Schulab-
schluss zu erreichen. Er sprach zu Haus ausschließlich Türkisch und auch in
der peer-group kommunizierte er überwiegend in seiner Primärsprache.
Serkan war in die Schreibgruppe integriert und nahm gerne an den Schreib-
stunden teil. Er war beliebt und hatte keine Probleme, im Team zu arbeiten.
Serkans erster Text, den er im Rahmen der Schreibkurse verfasste, war
gleichzeitig, nach eigenen Angaben, der erste Text, den er auf Deutsch ge-
schrieben hatte.
Serkan stellt in diesem Text sein Herkunftsland, die Türkei vor:
Mein Land
Mein Land ist „Türkei“ und ich wohne in der Stadt Tekirdag. Das
besondere von meiner Stad ist der Alkoholgetränk „Raki“ das iwird
dort erzeugt und die Köfte: ist Hackfleischklöpse. Die schmecken
am besten bei uns. Durch unser Stadt verläuft auch der Egerische
Meer. Deswegen haben wir immer Frischeluft und es ist immer was
los beim Strand. Es gefällt mir immer, wenn ich in mein Heimat-
land fahre. Aber wenn man richtig austoben will, dann wäre am
Besten „BODRUM“ geeignet da ist im Sommer immer was los!
Serkans zweiter Text, den er zum Thema „meine Zukunft“ geschrieben hat, ist
deutlich länger als der erste Schreibversuch „Mein Land“. Serkan hat das
Thema ernst genommen und sich angemessen damit auseinandergesetzt.
Meine Zukunft
Ich will in meinen Zukunft vor allem gesund und glücklich mit ei-
nem guten Beruft, der mir Spaß macht und gut verdienen.. Dann
möchte ich ein gutes Auto haben, mit dem ich dann jedes Wo-
chenende fortfahren kann. Nach dem ich mein Leben als Jugendli-
cher ausgelebt habe, will ich eine Famielie gründen, in dem ich 1
Sohn und eine Tochter habe. Ein Luxusleben muß nicht unbedingt
sein hauptsache, ich kann meine Unterhalt bezahlen und für meine
Famielie sorgen. An die Rente denke ich überhaupt nicht, weil ich
keine Lust habe bis 70 Jahren zu arbeiten, ich will lieber mein ei-
gener Chef werden. Das wärs was ich vom Zukunft erwarte. Wenn
ich anfange meine Träume zu erzählen die ich verwirklichen will,
reichen 10 Blätter nicht aus, also bleiben wir lieber bei realisti-
schen erwartungen.
321
Den Text über den Alltag in der außerschulischen Maßnahme hat Serkan unter
Mitwirkung von zwei weiteren Teilnehmern geschrieben. Die drei Jugendlichen
hatte sich diese Aufgabe gemeinsam gestellt und Serkan hatte den Text ge-
schrieben. Er hat ihn in einer von dem gesamten Team autorisierten Form
abgegeben und zur Verfügung gestellt.
Die drei Muskeltiere
Zu dritt haben sie die ganze (...) erobert. Sie sind einfach nette
Kerle die mit jedem Mitarbeiter gut auskommen. In der Arbeit sind
sie kaum zu bremsen. Sie machen jede Arbeit mit links und per-
fekt. Die Jungs sind wie Arbeitstiere. In der Schule sind sie genau-
so gut. „Matheaufgaben sind keine Probleme“ sagt Gökhan. In dem
Fach Deutsch sind sie eizigartig. Gökhan, Serkan und Selcuk sind
die drei Muskeltiere. Ein perfekt eigespieltes Team. Sie sagen
selbstbewust: „Wir werden in Zukunft erfolg auf der ganzen Linie
haben.
7.6.1.1 Entwicklung des Sprachbewusstseins
Serkan hatte Deutsch im Vorschulalter gelernt und war dann in einer zwei-
sprachigen Klasse unterrichtet worden. Er war sich seiner sprachlichen Defizi-
te in der Zielsprache mehr als bewusst und hatte daher, zumindest in einigen
Bereichen, darunter der des schriftlichen Sprachgebrauchs, resigniert. Zu Be-
ginn der Schreibkurse war er lustlos und desinteressiert. Er war überzeugt, er
könne nicht schreiben und schreiben sei nicht wichtig. Mit einem Hinweis auf
die Abschlussprüfung konnte er überzeugt werden, dass Schreiben für ihn re-
levant sei und dass er seine Defizite durch Training verringern könnte. Serkan
hatte zu Beginn der Schreibkurse keine deutliche Vorstellung von den beson-
deren Bedingungen des schriftlichen Sprachgebrauchs. Er verschriftlichte in
seinem ersten Text Sätze, die er aus dem mündlichen Sprachgebrauch unver-
ändert übernahm:
Durch unser Stadt verläuft auch der Egerische Meer. Deswegen
haben wir immer Frischeluft und es ist immer was los beim Strand
Bei der Besprechung seines Textes reagierte er auf die Kritik der anderen
Teilnehmer an diesem Satz unwirsch und meinte, es sei ihm egal, wie der
Satz klingt, man habe ihm gesagt, er solle erstmal so schreiben, wie er wolle.
Die Leser hätten verstanden, was er über seine Stadt habe sagen wollen und
das genüge ihm. Doch bereits bei seiner zweiten Textproduktion achtete er
verstärkt auf die formalsprachliche Korrektheit und versuchte, seinen Text mit
Hilfe der Klangprobe zu überprüfen. Der Erfolg dieses Versuchs ermutigte ihn,
seinen dritten Text zusammen mit zwei anderen, türkischen Teilnehmern auf
seine Korrektheit hin zu überprüfen und zu überarbeiten.
322
Hier kommt es zu einem inhaltlichen und stilistischen Bruch. Während der ers-
te Teil des Textes in der ich-Form geschrieben ist und der Autor „seine“ Stadt
beschreibt, wechselt er im letzten Abschnitt zu einer unpersönlichen Form ü-
ber. Dieser, durch einen Absatz abgesetzte Abschnitt scheint dem Text zu-
sammenhangslos beigefügt. Die Konjunktion „aber“ vermittelt den Eindruck,
dass der Schreiber hier einen Abschnitt ausgelassen hat, der den Leser auf
den letzten Abschnitt vorbereiten soll. Dieser Eindruck wird durch die fehlende
Einführung des Namens „Bodrum“ unterstützt, der weder in seiner Funktion
noch in seiner Bedeutung eingeführt wird.
Serkans zweiter Text enthält wiederum einen abschließenden Abschnitt, der
hier aber ohne inhaltlichen und stilistischen Bruch angefügt wird.
Das wärs was ich vom Zukunft erwarte. Wenn ich anfange meine
Träume zu erzählen die ich verwirklichen will, reichen 10 Blätter
nicht aus, also bleiben wir lieber bei realistischen erwartungen.
Es ist dem Schreiber in diesem Text gelungen, seine eigenen als „realistischen
Erwartungen“ eingeschätzten Wünsche und Vorstellungen klar und deutlich zu
formulieren und sie als solche explizit auszuweisen. Es gelingt ihm, seine
Aussagen zu begründen und dem Leser zu vermitteln, weshalb er sich seine
Zukunft so vorstellt, wie er es im Text darlegt.
Ein Luxusleben muß nicht unbedingt sein hauptsache, ich kann
meine Unterhalt bezahlen und für meine Famielie sorgen.
Der dritte Text, den Serkan zur Verfügung gestellt hat, weist auf, in welchem
Umfang er seine kommunikative Kompetenz erweitern konnte: Der Text bein-
haltet mehrere sprachliche Formulierungen, die einer Verbesserung der Ver-
ständlichkeit dienen. So setzt der Schreiber die Form der direkten Rede ein,
um die Aussage seiner Freunde wiederzugeben.
„Matheaufgaben sind keine Probleme“ sagt Gökhan.
Sie sagen selbstbewust: „Wir werden in Zukunft erfolg auf der
ganzen Linie haben.
Der dritte Text, den dieser Schreiber verfasst hat, weist keine inhaltlichen
Brüche auf und ist logisch und sinnvoll strukturiert. Es gelingt dem Schreiber,
dem Leser ein Bild zu präsentieren, dass ohne Schwierigkeiten nachvollzieh-
bar ist.
Serkan setzt in seinen Texten den Konjunktiv II ein, um irreale Bedingungen
und Wünsche zu formulieren.
7.6.1.3 Entwicklung der individuellen Kreativität
Serkans erster Text enthält weder unerwartete Aussagen, noch ungewöhnli-
che sprachliche Formulierungen. Die einzige Aussage dieses Textes, die auf
324
den Leser ungewöhnlich und unerwartet wirkt, ist nach Angaben des Schrei-
bers selbst unbeabsichtigt:
Durch unser Stadt verläuft auch der Egerische Meer
Der Text wirkt lebendig und ist, bis auf den letzten Abschnitt, locker und un-
gezwungen formuliert.
Auch der zweite Text, den dieser Schreiber zur Verfügung gestellt hat, wirkt
auf den ersten Blick nicht spontan und ungewöhnlich. Erst im letzten Ab-
schnitt, als der Schreiber begründet, weshalb er seinen Text derart be-
schränkt hat, lässt sich erahnen, welch kreatives Potential im Schreiber
schlummert und weshalb er es beim Schreiben nicht zulässt. Die räumlichen
und zeitlichen Schranken, in denen der Text geschrieben wurde, hatten den
Schreiber gebremst, er hatte sich nicht getraut, in diesem Rahmen über seine
„unrealistischen“ Träume und Wünsche zu schreiben.
Der dritte Text von Serkan, den er unter Mitwirkung zweier Freunde verfasst
hat, enthält nicht nur ungewöhnliche und unerwartete Wortschöpfungen, son-
dern auch Formulierungen, die vom main-stream abweichen:
Die drei Muskeltiere
Zu dritt haben sie die ganze (...) erobert
Die Jungs sind wie Arbeitstiere.
In dem Fach Deutsch sind sie eizigartig.
Es wird offensichtlich, dass Serkan seine Angst und seine Hemmungen beim
Schreiben in der Gruppe abbauen konnte und sich in Bezug auf ungewöhnli-
che, spontane und unerwartete Elemente mehr traute als in früheren Texten,
die er alleine verfasst hatte. Er flocht in diesen Text auch Wendungen aus der
Umgangssprache ein, deren schriftliche Verbalisierung ohne Probleme gelang.
In der Arbeit sind sie kaum zu bremsen.
Sie machen jede Arbeit mit links und perfekt.
Die Jungs sind wie Arbeitstiere.
Der Text „Die drei Muskeltiere“ ist witzig und kurzweilig. Serkan schätzte die-
sen Text als seine beste Arbeit im Rahmen der Schreibkurse ein. Dieser Text
motivierte ihn stark, weitere Texte zu schreiben. Er sagte, er habe nun ge-
merkt, was man schreiben könne und was nicht. Damit meinte er, welche Re-
dewendungen aus dem mündlichen Sprachgebrauch in die Texte aufgenom-
men werden können und welche Reaktionen sie bei einem Leser auslösen
können.
Für die Entwicklung der individuellen Kreativität war es für Serkan wichtig, in
einer Gruppe zu arbeiten, in der er sich insbesondere auf der formalsprachli-
325
chen Ebene unterstützt sah. Während die ersten Texte, die er alleine ge-
schrieben hatte, noch vergleichsweise verkrampft wirken, hinterlässt sein drit-
ter Text beim Leser einen unverkrampften, lockeren Eindruck.
7.6.1.4 Entwicklung der sprachlichen Kompetenz in der Zielsprache
„mein Land“
Dieser Text weist die bereits angesprochenen Probleme Serkans auf:
Präposition und Artikel
Durch unser Stadt
das besondere von meiner Stad
beim Strand
Genus
„Türkei“
der Alkoholgetränk „Raki“
der Egerische Meer.
Unzulässige Übertragungen aus dem mündlichen Sprachgebrauch
iwird
Frischeluft
Im Einzelnen erklären sich die im Text auftretenden formalsprachlichen Ab-
weichungen wie folgt:
Mein Land ist „Türkei“ fehlender Artikel
Das besondere von Groß-/Kleinschreibung; Präposition
Stad d dt
der Alkoholgetränk Genus
iwird wird (Sprossvokal)
Köfte: ist Hackfleischklöpse Konjugation (Plural); Satzbau
Durch unser Stadt Deklination (Genus, Kasus)
der Egerische Meer Genus; Ägäisches Meer
Frischeluft unzulässige Wortbildung
beim Strand Präposition ( am Strand)
man richtig austoben will fehlendes Reflexivpronomen
326
7.6.2 Danny
Danny, ein 21-jähriger Jugendlicher, wohnte seit seinem 9. Lebensjahr in
Nürnberg. Danny hatte die Hauptschule besucht und sie nach der Erfüllung
der Schulpflicht verlassen. Er hatte 8 Klassen besucht und ihm wurde nach ei-
nem erfolglosen Abschluss der 8. Klasse empfohlen, die Schule zu verlassen.
Seither hatte Danny einige Male versucht, sich um einen Ausbildungsplatz zu
329
bewerben, war aber auf Grund seiner Schullaufbahn gescheitert. Danny war
ein sehr ruhiger Teilnehmer, der sich auch im Unterricht eher zurückzog. Er
meinte, Lernen mache ihm keinen Spaß und er habe nur schlechte Erfahrun-
gen mit Schule, Unterricht und Lehrkräften gemacht, aber er wolle unbedingt
einen anerkannten Schulabschluss erreichen, um seinen Traum von einer
Ausbildung und einem geregelten Arbeitsleben zu verwirklichen. Er begründe-
te seinen Entschluss damit, dass er es satt habe, ein „arbeitsloser Ossi“ zu
sein und mit diesbezüglichen, abfälligen Bemerkungen konfrontiert zu werden.
Danny war gut in die Gruppe integriert, wenngleich er auch in diesem Rahmen
still und zurückgezogen wirkte. Er hatte, im Vergleich zu den anderen Teil-
nehmern, wenig private Kontakte zu Kollegen, sondern verbrachte seine Frei-
zeit mit seiner Freundin oder alleine. Danny wohnte zum Zeitpunkt der
Schreibkurse bei seiner Mutter.
Dannys Primärsprache ist Deutsch, er hat den Englischunterricht in der
Hauptschule unregelmäßig besucht. Dazu bemerkte er, die Lehrkraft sei ihm
unsympathisch gewesen und somit habe er am Englischunterricht „nicht so
oft“ teilgenommen. Seine Fremdsprachenkenntnisse waren demzufolge sehr
gering, was er jedoch nicht als Defizit verspürte. Diese Einschätzung änderte
sich auch im Laufe der Maßnahme nicht, in deren Rahmen er u. a. Englischun-
terricht hatte.
Danny besuchte während der Maßnahme den Unterricht regelmäßig, wenn
auch mit schwacher Motivation. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich über die
Dauer einer Unterrichtseinheit zu konzentrieren und er berichtete, „mein Kopf
schaltet immer ab“.
Danny hatte keine expliziten Schwierigkeiten im Team zu arbeiten, klinkte
sich aber aus der gemeinsamen Arbeit aus, wenn er nicht direkt angesprochen
wurde.
Danny hat im Rahmen der Schreibkurse drei Texte verfasst. In seinem ersten
Text stellt er die Stadt vor, in der er geboren wurde:
Leipzig kenne ich zwar nicht so gut, weil ich noch klein war, wo ich
noch da gewohnt habe. Die Stadt ist so ähnlich wie Nürnberg, weil
es dort eine Messe gibt und auch ein Volksfest. Dort gibt es auch
viele Arbeitslose. Leipzig hat das Wahrzeichen als Messestadt. Dort
gibt es eine Fußballmannschaft, die besser wie Nürnberg ihre ist.
Leipzig hat eine schöne Altstadt. Im Sommer ist es am schönsten
dort. Es gibt auch viele schöne Frauen. Es hat einen Koppelbahn-
hof.
Als dieser Text im Plenum vorgestellt wurde, kritisierten die anderen Teilneh-
mer, dass die Sätze „irgendwie komisch“ klängen. Danny bestätigte dies,
meinte aber, er habe das beim Schreiben nicht bemerkt. Es folgte ein kurzes
Gespräch, in dem herausgearbeitet wurde, welche Textstellen von den ande-
330
ren als „irgendwie komisch“ empfunden wurden. Danny schilderte seine Prob-
leme, Gedanken und Äußerungen in einer der schriftlichen Form angemesse-
nen Weise zu formulieren. Er habe „einfach so geschrieben, wie (ich) er es
sagen würde.“, weil es ihm zu mühsam sei, seine Äußerungen dem Medium
gemäß zu formulieren.
In seinem zweiten Text beschreibt Danny, wie er sich seine Zukunft vorstellt:
Meine Zukunft
Im nächstem Jahr möchte ich einen Ausbildungsplatz der mir ge-
fällt und mir spaß macht, den Führerschein möchte ich auch schaf-
fen, und mit meiner Freundin noch zusammen sein, mich mit mei-
ner Familie gut verstehen, gesundbleiben und einfach glücklich
sein. Nach der Ausbildung will ich eine eigene Wohnung haben und
einen tollen Beruf, in dem ich ausreichen verdiene.
Der Jugendliche gab nach der Besprechung seiner ersten beiden Texte an, er
habe keine Lust mehr zu schreiben, da seine Texte doch nur „auseinanderge-
rupft“ werden würden. Demzufolge fiel sein dritter Text eher knapp aus:
Der Hund
Was macht dieser Hund in der (...). Vieleicht ist es das Maskotchen
von der (...) Oder er will sein Hauptschulabschluß oder seinen
Quali machen. Es ist ja auch vieleicht kein Hund, sondern ein et-
was beharrter Jugendlicher.
7.6.2.1 Entwicklung des Sprachbewusstseins
Danny verfügte als Primärsprachler über ein, im Vergleich zu den anderen
Probanden, gut entwickeltes Sprachbewusstsein. Dennoch zeigte sein erster
Text, dass dieses Sprachbewusstsein überwiegend dem mündlichen Sprach-
gebrauch zugeordnet werden muss. Er war sich über die Differenz zwischen
mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch bewusst, konnte dies aber
nicht umsetzen. Danny steckte in einem Dilemma, da er sich bewusst war,
dass sich die sprachliche Form einer Aussage im schriftlichen Sprachgebrauch
von jener im mündlichen Sprachgebrauch unterschied, die Gesetzmäßigkeiten
aber nicht kannte. Er hatte sich in seinem ersten Text – nach eigener Aussage
– bewusst dafür entschieden, umgangssprachliche Strukturen zu verschriftli-
chen. Er gab an, er habe immense Schwierigkeiten, schriftlich einen „richti-
gen“ Satz zu bilden, da ihm das zu kompliziert sei. Tatsächlich schien er sich
bei seinen Formulierungsversuchen im Rahmen des Deutschunterrichts an der
sprachlichen Form von Geschäftsbriefen zu orientieren, da diese seinen einzi-
gen Kontakt zur geschriebenen Sprache darstellten. Naturgemäß hatte er
große Schwierigkeiten, seine Texte in „Versicherungsdeutsch“ zu formulieren
331
und aus diesem Grund hatte er die Gelegenheit genutzt, seinen Text in einer,
dem mündlichen Sprachgebrauch entliehenen Form, zu schreiben. Die Kritik
der anderen Schreiber verunsicherte ihn erheblich, da er sich keinen „Zwi-
schenweg“ zwischen Umgangssprache und Amtsdeutsch vorstellen konnte.
Erst der Kontakt zu den Texten der anderen Teilnehmer machte ihm bewusst,
welchen Weg er einschlagen konnte.
Sein zweiter Text weist diesbezüglich eine erhebliche Verbesserung auf,
wenngleich er hier einen „Megasatz“ bildete, der dem Sprachbewusstsein der
anderen, deutschen wie ausländischen Teilnehmer widersprach. Danny konnte
nachvollziehen, welchen Eindruck der Text auf die anderen gemacht hatte,
empfand ihre diffusen Bemerkungen „Das ist irgendwie komisch.“ jedoch als
ungerechtfertigte Kritik. Besonders schwer fiel es ihm, die Kritik von Teilneh-
mern nicht-deutscher Primärsprache anzunehmen. Er verstand nicht, wie ein
Kollege nicht-deutscher Primärsprache seinen Satz als „komisch“ empfinden
konnte. „Sprich du erstmal richtig!“ war in derartigen Situationen seine Stan-
dardantwort.
Er gab an, nicht gerne zu schreiben, weil er seine Gedanken und Äußerungen
nicht angemessen formulieren könne. Er war sich seiner Defizite durchaus
bewusst, benötigte aber Hilfe, um sie beheben zu können. Diese Hilfe jedoch
konnte er nur schwer annehmen und akzeptieren. Als er sich bewusst wurde,
dass er ohne entsprechende Hilfestellung zu keinem befriedigenden Ergebnis
gelangen konnte, zog er sich zurück und verlor die Lust am Schreiben.
7.6.2.2 Entwicklung kommunikativer Kompetenz
Dannys kommunikative Kompetenz war deutlich auf den mündlichen Sprach-
bereich ausgerichtet. Seine kommunikative Kompetenz in der Schriftsprache
entsprach nicht den Anforderungen, die im Rahmen der Maßnahme an ihn ge-
stellt wurden. Dannys kommunikative Kompetenz blieb im schriftlichen Be-
reich weit hinter jener im mündlichen Sprachbereich zurück. Er hatte große
Probleme, sich im schriftsprachlichen Bereich logisch und flüssig auszudrü-
cken. Sein erster Text weist logische Brüche auf, die auf Defizite in diesem
Bereich hinweisen:
Im Sommer ist es am schönsten dort. Es gibt auch viele schöne
Frauen.
Es hat einen Koppelbahnhof.
Danny war sich dieser Defizite durchaus bewusst, konnte aber dennoch die
Kritik der anderen Schreiber nicht konstruktiv annehmen. Er reagierte un-
wirsch auf ihre Bemerkungen bezüglich der Brüche und Sprünge, die sein Text
aufweist. Dennoch bemühte er sich in seinem zweiten Text um einen sinnvol-
len Aufbau und logische Darstellung inhaltlicher Aspekte. Er gibt seinem Text
eine Überschrift und es gelingt ihm, einen „runden“ Text, eine Gesamtheit zu
332
erreichen. Sein zweiter Text ist wiederum beschreibend und er verwendet dar-
in keine stilistischen Elemente, um seinen Text für einen potentiellen Leser in-
teressant zu gestalten. Er tritt nicht in eine Kommunikation mit dem Leser,
sondern beschränkt seinen Text auf eine Auflistung jener Dinge, die er sich für
seine Zukunft wünscht.
Danny war zum Zeitpunkt der dritten Textproduktion hochgradig frustriert
und demotiviert. Die Kritik an seinen beiden ersten Texten hatte in seinen Au-
gen, obwohl in sachlichem und freundlichem Ton vorgetragen, seine eigene
Einschätzung, nicht schreiben zu können, bewiesen. Die Gruppe hatte ihn ü-
berredet, seinen Beitrag für die geplante Schülerzeitung trotz seiner Einwände
anzufertigen. Der dritte Text – „der Hund“ – war als Kommentar zu einem Fo-
to geplant. Danny ging widerwillig und lustlos an die Arbeit und schrieb rasch
und desinteressiert seinen kurzen Text. Die formalsprachlichen Abweichun-
gen, die in diesem Text auftreten, zeugen von seiner Einstellung. Dieser Text
zeigt jedoch, dass Danny durchaus in der Lage ist, mit einem imaginären Le-
ser in Kontakt zu treten: Er stellt Fragen,
Was macht dieser Hund in der (...).
und äußert Vermutungen
Vieleicht ist es das Maskotchen von der (...) Oder er will sein
Hauptschulabschluß oder seinen Quali machen.
und bietet Lösungsvorschläge an:
Es ist ja auch vieleicht kein Hund, sondern ein etwas beharrter Ju-
gendlicher.
Dieser Text sprach die anderen Jugendlichen an, sie bewerteten ihn als sehr
gut. Danny begann daraufhin, Überlegungen anzustellen, weshalb es ihm mit
diesem Text gelungen war, in Kommunikation mit den Lesern zu treten, ob-
wohl er sich keinerlei Mühe gegeben hatte. Er schloss seine Überlegungen mit
folgender Aussage ab: „Immer, wenn mir etwas egal ist, dann wird es gut und
wenn ich mir Mühe gebe, dann wird es nichts, komisch!“
7.6.2.3 Entwicklung individueller Kreativität
Danny war ein Lerner, der bereits im Rahmen der Einführung des Kreativen
Schreibens und der daraus entstandenen Diskussion zum Thema „Was ist
Kreativität?“ bemerkt hatte, Kreativität sei nichts für ihn, er glaube, es sei
wichtig „richtig“ zu arbeiten und halte demzufolge kreative Leistungen für
„Gekrakel“. Er lehnte Kreativität als Lernziel ab und betonte, er nehme an der
Maßnahme teil, um seinen Schulabschluss zu erreichen und einen Ausbil-
dungsplatz zu finden und nicht etwa, um seine individuelle Kreativität zu ent-
wickeln. Erst nach einem Hinweis darauf, dass das Kreative Schreiben nicht
333
7.6.2.5 Zusammenfassung
Danny hat im Rahmen der Schreibkurse drei Texte geschrieben und zur Ver-
fügung gestellt. Er hatte geringe Probleme mit der formalsprachlichen Kor-
rektheit seiner Texte. Er hatte eine konkrete Vorstellung, wie ein Text sein
sollte: orthografisch korrekt und sachlich beschreibend. Danny gab zu Beginn
der Schreibkurse an, er schreibe nicht gerne, weil er es nicht könne, war aber
bereit, an den Schreibkursen teilzunehmen, um seine schriftsprachliche Kom-
petenz zu erweitern. Sein erster Text weist nahezu keine formalsprachlichen
Abweichungen auf, es ist dem Schreiber aber nicht gelungen, seine Intention
logisch und zusammenhängend durchzuhalten. Dieses Defizit konnte er be-
reits in seinem zweiten Text beheben und damit einen, in seinen Augen, „gu-
ten“ Text schreiben. Die abermalige Kritik an seinem Text nahm Danny die
Motivation und das Interesse am Kreativen Schreiben. Seinen letzten Text
schrieb er rasch und spontan, da ihn der Rest der Schreibgruppe dazu auffor-
derte. Mit diesem Text, der seiner formalsprachlichen Kompetenz nicht ge-
recht wird, gelang ihm der „Durchbruch“: Der Text wurde von der Gruppe
sehr positiv aufgenommen und bewertet. Danny gab an, er glaube nun zu
wissen, wie er einen „richtig guten“ Text schreiben könne. Er hatte erkannt,
dass sich Kreativität sowohl in Fantasie als auch in Sachkompetenz und dem
336
8 Erfahrungen, Überlegungen,
Schlussfolgerung
Die Dokumentation der Schreibkurse, die Analysen der Texte sowie die Fall-
studien haben meine Hypothesen weitgehend verifiziert. Zum Abschluss sollen
die wichtigsten Ergebnisse, die aus den Untersuchungen hervorgegangenen
sind, gesondert dargestellt werden.
Thema und Lust
Es hat sich in den unterschiedlichen Schreibgruppen gezeigt, dass die Wahl
der Themen, zu denen geclustert und geschrieben werden soll, für Kinder, Ju-
gendliche und Erwachsene ausschlaggebend für deren Schreiberfolg ist.
Die Schreibgruppe aus der Grundschule hat zu Themen geschrieben, die ent-
weder direkt aus der aktuellen Situation der Kinder entstanden oder von den
Kindern selbst vorgeschlagen wurden. Den Einstieg in die dokumentierte Rei-
he von Schreibkursen bildete das Thema „Wenn ich ein Junge ein Mädchen
wäre,...“, mit dem die Lehrkraft formulierte, was die Klasse zu diesem Zeit-
punkt beschäftigte. Die weiteren Themen „So sollte mein bester Freund/meine
beste Freundin sein...“ und „ich“ ergaben sich aus der Arbeit in der Schreib-
gruppe und wurden von den Kindern selbst vorgeschlagen und formuliert.
Dies führte dazu, dass die Kinder in hohem Maß intrinsisch motiviert waren,
sich mit diesen Themen zu beschäftigen und sie zu bearbeiten. Die Kinder
nutzten ihre Texte als Medium, sich selbst und ihre Meinungen, Erfahrungen,
Emotionen und Ansichten in die Diskussion einzubringen. Sie nutzten das
Schreiben jedoch auch, um sich mit den Themen auseinanderzusetzen und
sich eine eigene Meinung zu bilden.
337
Themas erwiesen. Diese Voraussetzungen wurden bei Themen, die von den
Schreibern selbst vorgeschlagen und formuliert wurden, erfüllt, während eine
gelungene Themenwahl von „außen“ großes Einfühlungsvermögen sowie eine
treffende Einschätzung der Gruppenteilnehmer von Seiten des Schreibgrup-
penleiters erfordert, um nicht dem Zufall überlassen zu bleiben.
Offenheit bezüglich der Themenwahl sowie der individuellen Auslegung eines
Themas tragen ebenfalls zum Erfolg kreativer Schreibkurse bei und geben bei
Schreibern, die erst am Anfang ihrer Schreibkarriere stehen, häufig den Aus-
schlag für Erfolg oder Misserfolg.
Konstruktivität statt Sympathie
Kreatives Schreiben ist kein Schreiben in der Isolation, sondern erfordert, ins-
besondere im Unterricht, die Bereitschaft zu einem konstruktiven Miteinander.
Dieses konstruktive Miteinander wiederum erfordert die Fähigkeit zu sozialem
Handeln und zur Teamarbeit.
Das Kreative Schreiben stellt diesbezüglich hohe Ansprüche an die Schreiber,
da in unterschiedlichen Situationen eine Zusammenarbeit in verschiedenen
Formen unerlässlich wird. Vom Erstellen eines Gemeinschaftsclusters, über
eine gemeinsame Textproduktion hin zu einer redaktionellen Überarbeitung
und zu einer Besprechung und Bewertung der Texte in der Schreibgruppe sind
die Situationen, deren Bewältigung erst ein konstruktives Miteinander möglich
macht, in einem kreativen Schreibkurs zahlreich und vielfältig. Die Teamarbeit
fördert nicht nur die sprachliche Kompetenz in der Zielsprache, denn es wird
in der Unterrichtssprache kommuniziert, sondern auch die Bereitschaft und
Fähigkeit zum Miteinander.
Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben in den Schreibkursen gleicherma-
ßen von diesen Anforderungen, die durch das Kreative Schreiben an sie ge-
stellt wurden, profitiert. Die Grundschüler erwarben neue Verhaltensmuster,
die Jugendlichen erweiterten ihr Verhaltensrepertoire und trainierten den pro-
duktiven und konstruktiven Umgang miteinander und die Erwachsenen hatten
je nach Herkunft und Alter die Möglichkeit, ihre Bereitschaft und Fähigkeit zur
Teamarbeit zu überprüfen bzw. umzugestalten. Eingedenk der Tatsache, dass
sowohl die Jugendlichen als auch die Erwachsenen vor einem Einstieg in das
berufliche Leben in der Bundesrepublik standen, trugen die Erfahrungen, die
sie in den kreativen Schreibkursen machen konnten, durchaus dazu bei, sie
auf die Anforderungen der Arbeitsweise in vielen Berufsfeldern vorzubereiten.
Die erwachsenen Schreiber hatten anfangs große Probleme zusammenzuar-
beiten. Hemmungen, Ängste und Fremdheit blockierten besonders eine ge-
meinsame Besprechung und Überarbeitung der Texte in formalsprachlicher
Hinsicht. Es fiel den erwachsenen Teilnehmern sichtlich schwer, ihre Texte
vorzulegen und sie vermieden es, Texte in der Rohfassung aus der Hand zu
geben. Lediglich dem Dozenten erlaubten sie den Einblick in ihre Produktion.
339
Die Angst, sich zu blamieren bzw. sich der Kritik der anderen Schreiber aus-
zusetzen, war – zumindest in Bezug auf die formalsprachliche Gestaltung der
Texte – fast unüberwindbar. Erst nach einer langen Vorlaufzeit erkannten die
Erwachsenen die Chance, die sich aus einer gemeinsamen Überarbeitung, in-
haltlich wie formal, ergeben kann und das Ausmaß, in dem sie von einem Mit-
einander profitieren konnten.
Die Schreiber der Grundschulgruppe hingegen zeigten keinerlei Scheu, ihre
Texte inhaltlich wie sprachlich zur Diskussion zu stellen. Im Gegensatz zu den
erwachsenen Schreibern legten sie großen Wert darauf, dass der eigene Text
im Plenum besprochen und überarbeitet wurde. Sie betrachteten es als Aus-
zeichnung und erkannten gleichzeitig die Chance, die sich ihnen damit bot.
Die Kinder nicht-deutscher Primärsprache sahen ihre Zweisprachigkeit als
Entschuldigung für formalsprachliche Fehler an, ganz im Gegensatz zu den
erwachsenen Schreibern, die ihre Primärsprache größtenteils als minderwertig
gegenüber der Zielsprache Deutsch einschätzten und damit ihre primär-
sprachlichen Kenntnisse nicht als Vorteil anerkannten.
Die Jugendlichen hatten zu Beginn der gemeinsamen Arbeit Hemmungen, ihre
Texte zu veröffentlichen und der allgemeinen Kritik auszusetzen, verloren die-
se aber bald, als sie realisierten, dass jeder von ihnen mit Schwierigkeiten zu
kämpfen hatte. In dieser Gruppe bereitete die Zusammenarbeit anders
geartete Probleme, da sich die Gruppe zum Zeitpunkt der Schreibkurse noch
nicht als solche organisiert hatte. Die Jugendlichen brauchten viel Zeit und ei-
nige, heftige Auseinandersetzungen, um ihre Rolle in der Gruppe zu bestim-
men und einzunehmen. Die Machtkämpfe und Rangeleien, die notwendig wa-
ren, um eine Gruppenhierarchie zu erstellen, nahmen einen breiten Raum in
den Phasen der gemeinsamen Arbeit ein. Erst als sich eine Gruppenstruktur
ausgebildet hatte, war es den jugendlichen Schreibern möglich, einen Diskus-
sionsstil zu entwickeln, der ihnen in Formulierung und Ton erlaubte, Kritik an-
zubringen und aufzunehmen. Die Zuordnung von Rollen und Funktionen in der
Gruppe gab ihnen die Sicherheit, nicht um Sympathie oder Antipathie Willen
kritisiert zu werden, sondern in Hinblick auf eine konstruktive Überarbeitung
ihrer Texte. Die Jugendlichen weigerten sich strikt, Gesprächsregeln zu formu-
lieren, die ihnen zu einem konstruktiven Miteinander verhelfen sollten. Sie
achteten jedoch mehr und mehr darauf, ihre Aussagen bezüglich des Tons
und der Formulierung der Intention angemessen zu halten. Sie hatten zu ei-
nem frühen Zeitpunkt realisiert, dass ihre Aussagen nur in einer angemesse-
nen Art von den anderen Gruppenmitgliedern angenommen wurden und wa-
ren demnach bemüht, sie so zu formulieren, dass sie andere nicht verletzten,
sondern auf fruchtbaren Boden stießen.
340
Das Drei-Phasen-Modell
Das Kreative Schreiben erfordert von den Schreibern die Bereitschaft und die
Fähigkeit zur Zusammenarbeit. Gleichzeitig bietet es Raum und Möglichkeiten,
diese Faktoren zu trainieren und anzuwenden.
Es konnte in den drei Gruppen ein Phänomen beobachtet werden, dass sich
lediglich im Zeitpunkt seines Auftretens unterschied: Auf eine Phase, in der
sich die Gruppe strukturiert und die Rollen und Funktionen zugewiesen und
übernommen werden, folgt eine Phase, in der größtmögliche Harmonie ange-
strebt wird. In allen drei Gruppen gab es einen Zeitpunkt, zu dem Kritik an
Texten, die zur Überarbeitung vorlagen, nur in sehr begrenztem Rahmen ge-
äußert wurde, um die Schreiber nicht zu verletzen. Texte wurden nicht um ih-
rer selbst Willen analysiert und besprochen, sondern die Schreiber versuchten
sich gegenseitig Mut zu machen. Während dieser „harmonischen“ Phase wur-
de kaum konstruktive oder produktive Kritik geäußert und die Zusammenar-
beit verlief nicht effektiv. Schwächen, die in Texten ausgemacht wurden, wur-
den verschwiegen, Stärken überspitzt hervorgehoben. Die Teilnehmer merk-
ten bald, dass diese Form des Umgangs mit Texten nicht zu dem gewünsch-
ten Ergebnis, nämlich qualitativ guten Texten, führte. Erst in der anschließen-
den dritten Phase, gelang es den Schreibern, auch in Sequenzen, die der Zu-
sammenarbeit bedürfen, konstruktiv miteinander zu arbeiten.
Sprachliche Grenzen und Vermeidungsstrategien
Das Kreative Schreiben bietet den Schreibern die Möglichkeit, sich der Bewäl-
tigung inhaltlicher oder sprachlicher Probleme in gewissem Maß zu entziehen.
So ist es durchaus möglich, dass sich ein Schreiber einem persönlichen Thema
entzieht, indem er es distanziert und sachlich behandelt. Ebenso besteht für
einen Schreiber die Möglichkeit, sich der informativen und sachlichen Ebene
abzuwenden und einen authentischen, emotionalen Text zu produzieren. Ler-
ner, deren sprachliche Kompetenz der Verbalisierung inhaltlicher Aussagen
Grenzen setzt, sehen sich vor dem Problem, sich entscheiden zu müssen, ob
sie ihre inhaltlichen Aussagen ihrer sprachlichen Kompetenz in der Zielsprache
anpassen oder ob sie sich auf das sprachliche Glatteis wagen, indem sie Aus-
sagen treffen, die ihnen wichtig sind, aber deren sprachliche Umsetzung sie in
der Zielsprache (noch) nicht bewältigen können.
Auf welche Weise ein Schreiber das Problem seiner sprachlichen Grenzen und
der kommunikativen Kompetenz löst, scheint sowohl von der Persönlichkeit
als auch von der individuellen Tagesform abhängig zu sein. Während einige
Schreiber die Grenzen ihrer Ausdrucksfähigkeit in der Zielsprache akzeptieren
können, empfinden andere Schreiber ihre Sprachlosigkeit als unerträglich.
Das Bewusstsein der Grenzen, die sprachliche Defizite auferlegen, nimmt mit
dem Alter der Schreiber zu. Gleichermaßen spalten sich die Schreibgruppen,
mit aufsteigendem Alter der Teilnehmer, deutlicher in zwei Gruppen auf:
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