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Trauma – Literatur –
Moderne
Poetische Diskurse zum Komplex
des Psychotraumas seit
der Spätaufklärung
Trauma – Literatur – Moderne
Helmut Grugger
Trauma – Literatur –
Moderne
Poetische Diskurse zum Komplex
des Psychotraumas seit
der Spätaufklärung
Helmut Grugger
Innsbruck, Österreich
J.B. Metzler
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1 Diese soll von Fischer/Riedesser in der neuen Variante einer dialektischen Psychoanalyse
aufgehoben werden und ist laut Seidler durch ein post-psychoanalytisches Zeitalter bereits
ersetzt. Vgl. Fischer/Riedesser 2009 sowie Seidler 2009, S. 5. Aus dem Lehrbuch der Psycho-
traumatologie (Fischer/Riedesser 2009) wird in der Folge mit der Sigle ‚LdP‘ zitiert.
2 Vgl. Culbertson 1995, S. 191.
3 Einen zentralen Hintergrund bildet Freuds Satz: „Wo Es war, soll Ich werden“ (Freud 1999,
S. 86).
4 Die Frage der Nicht-Hintergehbarkeit von Sprache – das Gesprochen-Werden durch die
Sprache – ergänzt in der klassischen Moderne die traditionellere ihrer genuinen Aus-
drucksmöglichkeit (s. u.). Diese Fragen bleiben virulent und werden etwa durch den Kon-
struktivismus und seine Problematisierung der Erreichbarkeit des anderen neu bestimmt.
5 Vietta/Kemper 1998 versuchen durchaus sinnvoll, den gesamten Zeitraum als ästhetische
Moderne abzugrenzen. Hier werden in den Abschnitten B, C und D drei Phasen – Spätaufklä-
rung, Moderne und Spätmoderne – unterschieden, was aus Gründen der Vergleichbarkeit
und der Darstellung erfolgt. Vgl. zum Begriff der Moderne auch Grugger 2010, S. 25. Wenn
von klassischer Moderne die Rede ist, beziehe ich mich auf den traditionellen Einschnitt En-
de des 19. Jahrhunderts (vgl. Becker/Kiesel 2007, S. 7).
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H. Grugger, Trauma – Literatur – Moderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-21102-8_1
2 Einleitung
schaftliche „Neutralitätslösung“, die implizit „Partei für die Täter und gegen
das Opfer“ ergreife.6 Durch philologische Analysen scheint es möglich, sub-
limen Formen, Opfer zu beschuldigen, etikettenhafter Idealisierung oder
scheinbarer Neutralität andere Sprachen gegenüberzustellen und literari-
sche Auseinandersetzungen mit dem Komplex Trauma sichtbar zu machen,
die die langsame Ausdifferenzierung (und partielle Absenz) des Begriffs
durch die Moderne hindurch bis zu den gegenwärtigen Diskursen begleiten.
Das in die Literatur einfließende Wissen der Autoren wird zumindest teil-
weise geformt durch (tentative) wissenschaftliche Objektivierungen psychi-
scher Prozesse, wie sie in Psychologie, Psychoanalyse, therapeutischen Pra-
xen, psychiatrischer Medizin oder neurophysiologischer Forschung betrie-
ben und wie sie – vermittelt durch Medien – in Alltagsdiskursen weiterbe-
arbeitet werden. Von der Trivialliteratur bis hin zur Höhenkammliteratur
sind so in der Gegenwartsliteratur die Traumadiskurse der letzten beiden
Jahrzehnte ebenso spürbar präsent (s. u.), wie analoge, teils auch konträre
Vorstellungen in davor entstandene moderne Werke eingeschrieben sind,
die dennoch durch die Brille der Psychotraumatologie sinnvoll beobachtbar
sind.7 Gleichzeitig konzipieren und formulieren Autoren – gerade in dieser
Schrift behandelte, die umfassend aus dem philosophisch-literarischen Fun-
dus schöpfen – ihre Texte auf dem Hintergrund ihres allgemein kunst- und
kulturgeschichtlichen Wissens und auf der Basis poetologischer Konzepte.
Der philologische Ansatz kann, dies in den Blick nehmend, als Korrektiv für
den gewählten Beobachtungspunkt dienen, denn es soll keine unkritische
oder nivellierende Lektüre von ‚Traumaliteratur‘ stattfinden und die Texte
sollen auch nicht zu einer solchen zurechtgeschrieben werden.
Im Sinne Luhmanns stellen die gegenwärtigen Traumadiskurse relativ ge-
schlossene Systeme dar, die je nach Komplexität der Zugänge diese Schlie-
ßungen eher trivial oder differenziert vollziehen. Der Ausblick auf literari-
sche Formen des Umgangs mit einem als Komplex verstandenen Traumabe-
6 LdP, S. 211. Fischer/Riedesser betonen nicht nur an dieser Stelle eine gewisse Problemlage
in der Forschung: „Leider kann Traumahelferinnen nur begrenzt empfohlen wenden, sich
bei der Korrektur eventueller psychotraumatologischer Vorurteile auf gängige psychologi-
sche, soziologische oder medizinische Theoreme zu verlassen, da diese ihrerseits von psy-
chotraumatologischer Abwehr nicht immer frei sind“ (ebd.). Zur Tendenz der Opferbe-
schuldigung als psychotraumatologischer Abwehrstrategie vgl. LdP, S. 210 f.
7 Dass diese simultan präsent bleiben (vgl. Abschnitt 1 zu Melancholie und Verdrängung),
kann man sich für diesen Fall durch eine Analogie zu Evolution über die Begriffe Variation,
Selektion und Restabilisierung verdeutlichen (vgl. Luhmann 2007, S. 345). Zur Einführung
des Begriffs der Psychotraumatologie zur Abgrenzung psychischer Traumen vgl. Seidler
2009, S. 4.
Einleitung 3
griff, über einen längeren Zeitraum hinweg, ist ein Versuch, diese Diskurse
ein Stück weit zu kontrastieren. Sie werden trotz und teilweise auch in ihrer
Überdetermination als (allerdings stets bedrohter) Fortschritt angesehen,
der dennoch Gefahren in sich birgt, wie sie etwa, plakativ formuliert, mit
dem Gedanken, ‚Trauma‘ gleichsam buchstabieren zu lernen,8 verbunden
sind. Seit den Arbeiten Foucaults und seiner Rezeption durch Reckwitz soll-
te deutlich sein, dass Sätze wie „Ich habe ein Trauma“ auch als Teil der Pra-
xen verstanden werden können, in denen Subjekte sich trainieren. 9
Wenn etwas aus dem Komplex Trauma zu ‚lernen‘ ist,10 Traumatisierte po-
tentiell Wissen voraus haben oder im Trauma Wissen liegt, dann könnte
dies nicht zuletzt den Aspekt einer grundlegenden Haltlosigkeit betreffen,
die auch noch auf den entgleitenden Begriff des Traumas selbst anzuwen-
den ist.11 Wie besonders Kafkas Schloß zeigt, gibt es keine genuine, überge-
ordnete, gleichsam wert- und kontextfreie Beobachtungsposition, von der
aus Traumatisierung beschrieben werden könnte, sondern eine solche ist
erst zu schaffen. Ähnliche Überlegungen treten in der Literatur bereits mit
Kleists kritischer Reflexion der inneren Stimme auf, die für Descartes letzt-
lich noch Gewissheit erzeugen konnte, ebenso wie sie dies anhaltend für
religiöse Diskurse leistet.12 Außerhalb eines solchen Referenzsystems, wie
es im sogenannten westlichen Kontext traditionell die individuelle Würde
des Menschen der Aufklärung darstellt, ist diese genuine Haltlosigkeit nicht
8 Zum Einüben der Aussage „Ich habe ein Trauma“ vgl. die im Abschnitt D 2 behandelte Trilo-
gie von Ágota Kristóf. In Breitenbach/Requardt 2013 ist ein Brief einer Überlebenden sexu-
ellen Missbrauchs durch den Vater an ihren Rechtsanwalt wiedergegeben (vgl. S. 132–139),
an dem besonders deutlich wird, wie der erlebte Terror über den Begriff Trauma und des-
sen Implikationen formuliert und rekonstruiert wird. Sichtbar wird durch die Einordnung in
das Schema der gegebene Halt ebenso wie die sprachliche Objektivierung bzw. Festschrei-
bung der Überlebenden als schwer Traumatisierte.
9 Vgl. etwa Foucault 2007 bzw. Reckwitz 2006. Der Ausdruck ‚trainieren‘ meint hier, weniger
salopp formuliert, dass Subjekte sich in diskursiven Praxen als solche reproduzieren.
10 Literarisch handelt es sich bei der Frage „Wissen aus dem Trauma“ um ein intensiv unter-
suchtes Feld, eine bloße Umdeutung traumatischer Ereignisse zur Lernerfahrung ist aber
alles andere denn unproblematisch (s. u.).
11 Shattered Assumptions (Janoff-Bulman 1992), die Erschütterung des Selbst- und Weltver-
ständnisses (s. u.), meint in diesem Sinn die stets mögliche Aufhebung nur scheinbar existie-
render Sicherheiten und die grundlegende Verwundbarkeit des Menschen.
12 Vgl. Grugger 2010, S. 36. Kleist hält in dem aus Paris abgesandten Brief an Wilhemine von
Zenge vom 15. August 1801 fest, die innere Stimme könne jegliche Taten rechtfertigen:
„Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, ruft dem Seeländer zu ihn zu braten u mit An-
dacht ißt er ihn auf“ (SWB 4, S. 261). Kleist wird nach der Frankfurter Studienausgabe des
Deutschen Klassiker Verlages mit der Sigle ‚SWB‘ zitiert (s. Literaturverzeichnis).
4 Einleitung
zu umgehen.13 Für das System der Literatur im engeren Sinne lässt sich der
Komplex (zunächst im Sinne einer Analogie) formal als der moderne Verlust
einer zentralen, übergeordneten Erzählstimme bzw. Beobachtungs- und
Steuerungsinstanz rekonstruieren.14
Dass sozial verbindliche Werte gesetzt werden müssen, um Traumatisie-
rung überhaupt als Negativum darstellen zu können, bildet einen Kernkom-
plex des Werkes Hermann Brochs. Sein Denken kreist immer wieder um den
Gedanken eines verbindenden ethischen Zentralwertes, der in jeder histori-
schen Epoche neu zu schaffen sei, um stets möglichem Terror zu entgehen,
wie er sich für ihn im menschlich gleichgültigen, unbeteiligten Töten des
Ersten Weltkriegs und im aufkommenden Nazismus darstellte. 15 Mittlerwei-
le sind die gesuchten Werte vielfältig geworden, 16 der Begriff der Differenz
selbst als Wert ist prominent von Lyotard ins Spiel gebracht worden, was
die Problematik normierender (religiöser) Werte deutlicher sichtbar mach-
te. Die Setzung von Differenz muss sich allerdings, um in diesem Kontext
relevant sein zu können, zumindest mit Gedanken wie ihr entsprechender
Toleranz verknüpfen, was bei Lyotard eher implizit der Fall ist. Nicht zu
unterschätzen ist schließlich, in welchem Ausmaß die gegenwärtigen
Traumadiskurse selbst einen impliziten Versuch darstellen, solche Werte zu
13 Die aufgeklärte Wertsetzung entwickelte sich u. a. aus der jüdisch-christlichen Ethik und aus
der antiken Philosophie, um in alternative philosophische Versuche normativer Setzungen
einzumünden, einschließlich einer biologisch gattungsspezifischen Argumentation oder der
Setzung ex negativo. Das Fehlen eines letztgültigen Referenzsystems stellt eines der zentra-
len Probleme für Jean Améry dar, dem er besonders im Auschwitz-Aufsatz nachgeht, wenn
er von der Differenz der religiös oder politisch ‚Gläubigen‘ und der reflexionsoffenen, unge-
schützten Intellektuellen spricht. Die Haltlosigkeit selbst fasst er im Tortur-Aufsatz als Ver-
lust des Heimischen (Améry 2012, S. 81, s. u.).
14 Betroffen sind spätestens mit dem Übergang in die Moderne alle traditionellen Gattungen.
Während noch Bachtin von der nötigen zentralen Beobachtungsposition für das Drama
sprach (vgl. Bachtin 1971, v. a. S. 22 und 41), hatte Kleist seine Stücke bereits dezentral or-
ganisiert (vgl. Grugger 2010, S. 19). Besonders anhand der in Abschnitt C analysierten Lite-
ratur wird deutlich werden, dass Haltlosigkeit und Verlust einer zuverlässigen Beobach-
tungsinstanz in der Tat eng verflochten sind (s. u.).
15 Sein Ausgangspunkt in der Schlafwandler-Trilogie, die fatale Hegemonialstellung des auto-
nom gewordenen ökonomischen Systems ohne Korrektiv für den Kontext des Ersten Welt-
krieges (s. u.), erweist sich als aktuell. In den folgenden Werken (Die Verzauberung, Der Tod
des Vergil, Die Schuldlosen) wendet er sich der Frage des Nazismus zu und zeigt besonders
im Vergil, wie der NS-Terror hinter die historische Wertsetzung des Christentums zurück-
geht. Zunehmend tendiert er in Richtung negativer Wertsetzung, etwa im Sinne des Aus-
schlusses von Terror (s. u.).
16 Vgl. das Aufzeigen der Menschenrechte als (potentiell) männliche, westliche Werte durch
Feminismus und postkoloniale Theorien.
Einleitung 5
17 Dieser Versuch scheint zunehmend ‚universell‘ orientiert, und zwar sowohl als Theorie wie
auch in der Praxis internationaler Krisenintervention, allerdings unter deutlich zunehmen-
der Berücksichtigung kultureller Differenzen für beide Felder.
6 Einleitung
23 Vgl.: „Die sogenannte künstlerische Gestaltung des nackten körperlichen Schmerzes der mit
Gewehrkolben Niedergeknüppelten enthält, sei’s noch so entfernt, das Potential, Genuß
herauszupressen.“ (Adorno 1997b S. 423). Vgl. etwa Meyer 2011, S. 313–323 sowie ausführ-
lich Sander 2008 sowie s. C 3 zur differenzierten Diskussion dieser Thematik in Brochs Der
Tod des Vergil.
24 Hans Mayer gibt in Kleine Geschichte der Zuerkennung des Nobelpreises an Imre Kertész eine
Aussage von dessen Übersetzer Ervin Rosenberg wieder, die von dem Dilemma zeugt.
Kertész sei ein bewusster Sprachkünstler, der, wie Primo Levi, die nazistische Gewalt meis-
terhaft geschildert habe (vgl. Kertész 2003, S. 14).
25 In ihrer Auseinandersetzung mit Karl-Markus Gauß’ Die Hundeesser von Svinia schildert
Beate Eder einen charakteristischen Balanceakt zwischen sprachlicher Differenziertheit, in-
haltlicher Angemessenheit und sozialer Akzeptierbarkeit des Textes (vgl. Eder 2005, S. 133–
137).
8 Einleitung
Wenn Fritz Breithaupt Trauma festlegt als nicht integrierbar oder heilbar,
als „the wound that prevents the self from being a self“ und fortsetzt mit
„Trauma rather consumes the self“,27 dann ist damit exemplarisch eine der
vielen Mischformen aus Definition und Metapher artikuliert, wie sie für den
Traumadiskurs charakteristisch sind. Zahlreiche davon geben, wie schon
öfter festgehalten wurde,28 gute Orientierungspunkte und sind selbst als
eben problematische Versuche zu verstehen, eine Begrifflichkeit für den
Komplex Trauma zu etablieren.29 Metaphorisierungen traumatischer Ereig-
nisse werden mit hoher Frequenz durchgeführt, treten wie ‚schwarzes
Loch‘30 als Neubesetzungen wissenschaftlicher Metaphern auf, kreisen um
Figuren wie ‚haunted by memories/the past‘31, beziehen sich auf „Leere“ wie
der für Laub/Podell zentrale „empty circle“, 32 auf „Eingefroren- bzw. Abge-
storben-Sein“, auf die peritraumatische Erfahrung als „körperliche Ein-
schreibung“33 oder antworten auf die Thematik des Unaussprechlichen wie
Keilsons „Wohin die Sprache nicht reicht“.34
In der Literatur lassen sich viele der üblichen Metaphern in ähnlicher Kon-
struktion, quer durch differente Genre, Entstehungszeiten und Textqualitä-
ten, lange vor den gegenwärtigen Traumadiskursen nachweisen. So heißt es
etwa in E.T.A. Hoffmanns Fräulein von Scuderi, die „falsche Scham“ nage „am
todwunden Gemüt“,35 oder im Goldenen Topf erstarrt ein „engelschönes
Gesicht […] in dem Entsetzen, das seinen Eisstrom darüber goß […] zur To-
tenbleiche“.36 Kleists Penthesilea wird zur „lebendge[n] Leich“, 37 bei Inge-
borg Bachmann ist in Malina die Rede vom Leben in der Abwesenheit sowie
vom bloßen Überleben38 und im Gemeindekind von Ebner-Eschenbach findet
sich: „Die Gespenster der toten Vergangenheit huschten nach in die lebendi-
ge Gegenwart“.39
Deutlich erkennbar ist eine zunehmende Ausbreitung der Traumametapho-
rik in Film und Literatur der Gegenwart, auch in trivialen Texten werden
ähnliche Metaphern zur Ausstaffierung der Handlung genutzt. In der vorlie-
genden Studie werden nicht-triviale Texte analysiert, die über bloße Meta-
phorik hinaus den Komplex Trauma codieren und dazu eine spezifische
Sprache entwickeln. Dabei kann etwa zwischen extensivierenden und inten-
sivierenden, Komplexität steigernden und reduzierenden Verfahren unter-
schieden werden.40 Die Differenz wird so gesetzt zwischen ausstaffierender
Plattitüde und der literarischen Konstruktion komplexer Prozesse mit un-
terschiedlichen Techniken, wobei nur Letzteres hier von Interesse ist.
35 Hoffmann 2015a, S. 824. So Olivier zur Scuderi über seine Mutter im Kontext der isolieren-
den „Mutlosigkeit, welche vom Elend erzeugt wird“. Zur Verknüpfung mit ‚Scham‘ s. u.
36 Hoffmann 2015b, S. 279. Als Kernmetapher und Zentralmotiv fungiert der ‚Tod im Leben‘ in
Travens Totenschiff (vgl. Traven 1982a).
37 SWB 2, Vs. 415.
38 Vgl. Bachmann 1993, S. 172 und S. 225, vgl. auch „Ich werde zu Eis“ (ebd., S. 212).
39 Ebner-Eschenbach 2009, S. 166.
40 Zu extensiven Verfahren vgl. etwa Julia Francks umfassende Umkreisung eines Verlust-
traumas über mehrere Generationen, die sichtlich in Auseinandersetzung mit den gegen-
wärtigen psychologischen Diskursen geführt wird. Zu intensiv-momenthaften Verfahren vgl.
die genaue, sich öffnende Beschreibung des Moments des Umschlags von der höchsten
Übereinstimmung mit sich selbst in die fundamentale Erschütterung in Kleists Über das Ma-
rionettentheater (vgl. SWB 3, S. 561), die vielschichtige Räume öffnet. Komplexität steigernd
wäre etwa Bernhards Die Ursache, die sich syntaktisch gegen identifizierende Lesarten
stellt, reduzierend wäre die Trilogie von Ágota Kristóf, die überzeugend Verfahren der
Sprachsimplifizierung zur Codierung nutzt. Zu den einzelnen Texten s. u. Vgl. auch den
Überblick zu den unterschiedlichen Verfahren im Schlussteil.
10 Einleitung
41 Vgl. den Weg von den Manifesten der Avantgarde zur impliziten ästhetischen Theorie bei
Rilke, Mann (besonders im Dr. Faustus) und Broch mit je spezifischer Spannung zwischen
‚Neuerungsgebot‘ und Rückgriff auf Tradition (s. u.). S. auch den Abschnitt zur Chronologie
im Schlussteil.
42 S. o. und vgl. Grugger 2014a, S. 251 f.
43 Vgl. Geyer/Thorwarth 2009 sowie Grugger 2010, S. 23.
Einleitung 11
Zwei Varianten
Bevor der Raum durch Differenzen markiert ist, sind die Möglichkeiten be-
kanntlich nicht begrenzt. Mit der intendierten Beobachtung unterschiedli-
cher Bezugnahmen auf einen so verstandenen ‚Komplex Trauma‘ (s. u.) in
literarischen Texten ging es in der Konzeption dieser Studie um die prakti-
sche Entscheidung, entweder eine allgemein gedachte ‚Literatur der Moder-
ne‘ (in eher abstrakter Zusammenfassung des Heterogenen) mit den gegen-
wärtigen Traumadiskursen in Verbindung zu bringen oder beispielhaft kon-
krete Einzeltexte im Hinblick auf die Fragestellung zu analysieren und in
den Mittelpunkt zu stellen. Die erste Variante scheint zwar eine bessere
Grundlage für einen allgemein diskutierbaren, abstrakten Entwurf zu bieten,
allerdings um den Preis der Vereinheitlichung von Differentem, verbunden
mit der Drohung, mit der Argumentation im Allgemeinen zu verbleiben. Die
zweite Variante ist zwar die philologisch adäquate und findet in den zu ana-
lysierenden literarischen Texten ihren Orientierungspunkt und ihr konkre-
tes Korrektiv. Ihr ist allerdings die nicht aufzuhebende Problematik inhä-
rent, warum gerade diese Texte ausgewählt wurden und nicht der Entwick-
44 Zum bloßen Zweck der Illustration und dabei grob simplifizierend, könnte der Weg der
Architektur folgendermaßen dargestellt werden: von der Ablehnung des Historismus als
‚Gesamtzitat‘ durch Jugendstil und Moderne zur Neudefinition des Zitats in der postmoder-
nen Architektur. In der Literatur dagegen knüpft etwa Umberto Ecos Der Name der Rose an
von Thomas Mann genutzte Verfahren unmittelbar an.
45 Vgl. für einen kritischen Versuch einer Neupositionierung aktueller Denkmodelle die Arbei-
ten Arbogast Schmitts, besonders die Monographie Moderne und Platon (Schmitt 2008).
12 Einleitung
lung der Zeit in etablierten Begriffen gefolgt wird. Anders gesagt: Während
eine mögliche Arbitrarität der Argumentation durch die konkreten literari-
schen Bezugspunkte reduziert ist, wächst die ‚subjektive Komponente‘
durch die stets hinterfragbare Textwahl.
Die Entscheidung, der zweiten Variante ein stärkeres Gewicht zuzuschrei-
ben, also neben kürzeren Verweisen extensive Textanalysen durchzuführen,
folgt nicht nur dem angestrebten philologischen Ausgangspunkt und der
gewünschten konkreten Verortung abstrakter Überlegungen. Es geht auch
um den praktischen Versuch, ob durch diese Beobachtungsposition exemp-
larisch neue Zugangsmöglichkeiten und Verbindungslinien erzeugt werden
können, was durch eine bloß abstrakte Zusammenführung der Bereiche
Trauma, Moderne und Literatur wohl nur hypothetisch zu beantworten
wäre. Zusätzlich ermöglicht sie eine stärkere praktische Miteinbeziehung
(schreib-)technischer Aspekte, die erst durch konkrete Analysen freigelegt
werden können. Die Ergebnisse bleiben so zwar exemplarisch, 46 sind aber
durch die Untersuchung fundiert, die mit diesem Verfahren ergebnisoffen
durchgeführt werden kann.
Dass in der Studie den exemplarischen Textanalysen eine nicht unbeträcht-
liche Eigenständigkeit belassen wird, ist auch durch die Absicht begründet,
mögliche Gründe für die Überdeterminierung des Traumabegriffs freizule-
gen (s. u.) und zu einem differenzierten Blick auf den Komplex Trauma in
der Literatur zu gelangen, der über eine bloße wissenschaftliche Mode hin-
ausführt. Denn allgemeine Sätze wie „Literatur beschäftigt sich seit jeher mit
dem Trauma“, oder „Die Literatur der Moderne lässt sich gezielt aus dem
Traumaparadigma heraus begreifen“, scheitern an beidem: am undifferen-
zierten Literatur- und am undifferenzierten Trauma-Begriff. In diesem Sinne
verstehen sich die einzelnen Analysen auch als Beiträge zu den Texten und
versuchen bewusst deren Instrumentalisierung für eine bestimmte Frage-
stellung zu vermeiden.
Mir ist bewusst, dass es grundsätzlich nötig wäre, weiter auszuholen und die
Frage zu stellen, welche Konzepte Literatur insgesamt zu dem Komplex
Trauma entwickelt hat,47 von der Problematik der Darstellung traumati-
alternative Ausgangspunkte finden, vom alten Testament über andere Religionen und Kul-
turen. Der Komplex Trauma ist in den ‚großen‘ ebenso wie den ‚kleinen‘ Erzählungen der
‚Menschheit‘ durchgehend präsent.
48 Zu denken ist auch an Kausalattributionen, wie sie (vielfach als polymorphe, teils auch als
explizit diskutierte ‚Ursachenzuschreibungen‘) in den philologischen Analysen dieser Schrift
immer wieder begegnen werden (s. u.). Vgl. auch den Abschnitt zu ‚Antworten auf das
Trauma‘ im Schlussteil.
49 Von den „Dilemmata der Repräsentation“ sprach in Bezug auf den Traumadiskurs bereits
Michael S. Roth 1998, und zwar aus der Perspektive von Psychoanalyse und Geschichtstheo-
rie.
50 Dieser reicht bis hin zur bekannten Problematik der Epochenbegriffe. S. ausführlicher zur
Frage der Repräsentation die betreffenden Ausführungen in Abschnitt A 2 (Punkt 2.3.2).
14 Einleitung
51 Der Begriff der Körperwahrheit als Mischform zweier Diskurse ist praktikabel, aber theore-
tisch zweifelhaft. Ein auf logische Operationen reduzierter Wahrheitsbegriff trifft dagegen
nicht das Gemeinte (siehe auch u.).
52 Vgl. Foucault 2000, S. 203-205 bzw. ausführlicher dazu Grugger 2010, S. 43.
53 Zur Diskussion des Begriffs differenter ‚Textfassungen‘ vgl. Nutt-Kofoth, S. 12 f. Hier geht es
um die Abgrenzung zu sogenannten lebensgeschichtlichen Zeugnissen, die eben nicht im
Fokus dieser Schrift stehen. Der Ansatz kann aber selbstverständlich nicht mehr sein, sich
ausschließlich auf ‚den Text‘ zu beziehen und sich mit einer noch in den 1990ern durchaus
üblichen, proklamativen Geste nur auf diesen zu beziehen.
Einleitung 15
erachtet, sind aber kein Ersatz für die Textanalyse selbst. Die philologische
Arbeit benötigt die Orientierung an den vorliegenden Produkten.
Der grundsätzlichen Kontingenzproblematik entkommt auch dieses Text-
korpus nicht. Es seien aber zumindest die wichtigsten Gründe angegeben,
nach denen ausgewählt wurde:
Neben narrativen Texten werden in dieser Studie auch Dramatik und Lyrik
diskutiert, wobei letztere besonders dann unterrepräsentiert erscheint,
wenn die beiden analysierten lyrischen Romane, Rilkes Malte Laurids Brigge
und Brochs Tod des Vergil, nicht berücksichtigt werden. Das mag verwun-
dern, da besonders das Genre der Lyrik wiederholt als besonders geeignet
genannt wird, um traumatische Erfahrungen zu bearbeiten. Allerdings
scheint dieser Bereich, etwa über die wiederholte Auseinandersetzung mit
Paul Celans Werk, bisher am überzeugendsten repräsentiert zu sein. 54 Der
Schwerpunkt dieser Arbeit liegt also auf umfassenderen Narrationen und
Inszenierungen, wobei auch hier das Verfahren beispielhaft bleiben muss.
Im ohnehin sehr umfangreichen Literaturverzeichnis fehlen neben wichti-
gen Primärtexten auch mehrere theoretische Arbeiten, deren Lektüre mei-
nen Gedankengang mitgeprägt hat, auf die ich aber in der eigentlichen Text-
konzeption nicht mehr zurückkam. Es war im Sinne eines vernünftigen Um-
fangs auf ein Verzeichnis zitierter Werke zu beschränken.
Ein verständlicher Einwand könnte lauten, dass die Themenstellung zu breit
angelegt ist. Während diese Forderung zwar grundsätzlich berechtigt ist,
erscheint der Mut zum größeren Bild aber auch deshalb als bedeutsam, weil
die hier untersuchten Zusammenhänge zwischen Trauma, deutschsprachi-
ger Literatur und Moderne bislang mehr angedeutet als untersucht wurden
54 Vgl. Mahler-Bungers 2000 für eine frühe Celan-Analyse im Kontext von Trauma (s. u.).
16 Einleitung
55 Kaplan/Wang 2008 sprechen in einer an Laub/Felman, Van der Kolk, Caruth, Herman, und
Elaine Scarry anknüpfenden Analyse davon, Trauma und Moderne seien zu Synonymen ge-
worden (vgl. S. 12). Der Ausgangspunkt ist Visualität, ihre Erwartungen sind hoch: „It is our
belief that the humanistic study of trauma needs to initiate a broader socio-historical under-
standing of the destructive forces of the modern world” (ebd., S. 15).
Einleitung 17
Schlafwandler und Der Tod des Vergil, sowie kürzere Abschnitten zu Die
Verzauberung und Die Schuldlosen. Broch erweist sich in zahlreichen Aspek-
ten als besonders interessanter Autor für die Fragestellung. Die Analyse der
genannten zentralen Texte nimmt auch vom Umfang her einen beträchtli-
chen Teil der Schrift ein.
Der Abschnitt D beginnt mit dem Übergang von der unmittelbaren Ausei-
nandersetzung mit dem NS-Terror zur Frage der Erinnerung. Beleuchtet
werden Amérys Essayroman Lefeu als Versuch der Anknüpfung an die klas-
sische Moderne sowie einige epische Schriften und die Lyrik des Trauma-
forschers und Literaten Hans Keilson im Überblick. Das zweite Kapitel be-
schäftigt sich mit autobiographischen Versuchen im weiteren Sinn und de-
ren Bedeutung in den ‚langen‘ 1970er Jahren. Im Zentrum steht hier Thomas
Bernhards Die Ursache. Eine Andeutung, wo die Bearbeitung über einen
Vergleich der Notizen zur Druckfassung erläutert wird, um der spezifischen
Technik in diesem ersten seiner autobiographischen Romane näher zu
kommen. Daneben werden mehrere zeitnahe Texte, u. a. von Marlen Haus-
hofer, Christa Wolf, Helga M. Novak, Bernward Vesper und Franz Innerhofer
besprochen. Überlegt wird dabei die Position autobiographischen Schrei-
bens im Traumadiskurs. Während hier die Frage des Ich-Werdens im Zent-
rum steht, wird im dritten Kapitel mit Werner Schwab eine Dramatik ‚jen-
seits des Subjekts‘ vorgestellt. Das Stück Mein Hundemund, eine radikale
Skizze der Selbstzerstörung, wird im Hinblick auf seine spezifische Sprach-
führung besprochen. Formal gänzlich verschieden ist der Kerntext des letz-
ten Abschnitts, Judith Schalanskys Der Hals der Giraffe. Ähnlich zu Schwab
ist eine am Konstruktivismus geschulte Sprachproduktion. Dieses schlie-
ßende Kapitel behandelt einen Zeitraum, in dem zeitlich parallel zum ent-
stehenden Traumadiskurs geschrieben und auf diesen bereits reagiert wird.
Dass Begriffe dazu verführen, mit ihnen auf Substanzen, Entitäten oder
Ganzheiten Bezug zu nehmen, liegt zunächst an ihrer Funktion der abstra-
hierenden Zusammenfassung, d. h. der Aufhebung von Singularität. Wenn in
der Diskussion etwa davon die Rede ist, dem Trauma gerecht zu werden,
wird ganz offensichtlich personifiziert. Möglich ist dies, weil eine allgemeine
Entität erzeugt wird und die ‚Begrifflichkeit‘ des Ausdrucks ‚Trauma‘ aus
dem Blickfeld gerät. Selbst noch der kürzeste Blick auf die gegenwärtigen
Traumadiskurse genügt, um Prozesse einer ‚Verselbständigung‘ des kon-
Einleitung 19
56 Definitionen (jenseits der Frage der Operationalisierbarkeit) scheinen dieses Problem nicht
zu lösen, sondern zu vertiefen, besonders wenn sie als bloße Verwissenschaftlichung des
Satzes: „Ein Trauma ist …“ fungieren. Als Versuche der Limitierung stoßen sie an die Grenze,
dass eine gelungene Definition theoretischer Begriffe heterogene, offene und auseinander-
strebende Diskurse umschließen müsste. So eröffnen Handbücher zu verschiedenen The-
men seit Jahrzehnten mit der Klage um eine fehlende Definition des Begriffs (vgl. das für
den engeren Kontext wichtige Internationale Handbuch der Gewaltforschung, Heitmey-
er/Hagan 2002).
57 So kann man auch für Begriffe wie Ereignis, Erlebnis, Opfer, Überlebende, Wahrheit, etc.
zunächst nur auf die Problematik verweisen. Stets weiteres Dekonstruieren ist allerdings
ebenso wenig eine Lösung wie bloßes Ignorieren, ein Weitermachen mit immer neuen For-
derungen nach Definitionen oder eine Verabsolutierung pragmatischer Zugänge.
58 Vgl. Grugger 2010, S. 23 f.
59 Man denke daran, wie sehr auch die Diskurse zu Poststrukturalismus, Postmoderne oder
Post-Colonial-Studies Begriffe wie Differenz, Dezentralität, Desubjektivierung, Hybridität,
Othering usw. diskursiv formieren und zugleich ‚entdecken‘, obwohl die Problematik be-
kannt und etwa über das Konzept der Dekonstruktion auch thematisiert ist. Ähnliches gilt
für den konstruktivistischen Diskurs, dessen Spezialität geradezu in diesem Feld liegt. Auch
hier lässt sich die Suche nach dem Inhalt des hegemonial gewordenen Begriffs beobachten.
Insgesamt geht es bei der Verwendung abstrakter Begriffe offensichtlich darum, die prakti-
schen Konsequenzen aus hinreichend bekannten Phänomenen zu ziehen.
20 Einleitung
60 In diesem Sinne können Brochs poetische Erörterungen, wie sie in Abschnitt C 3 diskutiert
werden, verstanden werden. Er ist ein Autor, der die Setzung von Werten für differente so-
ziale Formierungen als entscheidende Aufgabe herausarbeitete. Dieser Prozess kann impli-
zit oder explizit erfolgen, wobei Letzteres auch daran zu prüfen ist, wie weit es sich über das
Auffinden von Inhalten hegemonial werdender Begriffe hinausbewegt.
Abschnitt A: Der Komplex des Psychotraumas
1 Für eine Poetik der Moderne mit Fokus auf neue Konzeptionen von Zeit- und Geschichtsvor-
stellung, Sprache und Subjekt vgl. Kyora 2007b. Grundlegend für die umfangreiche Ausei-
nandersetzung mit der Sprachkrise ist Saße 1977. Wichtig ist festzuhalten, dass Subjekt-
und Sprachthematik sich im Verlaufe des 20. Jahrhunderts immer weiter ausdifferenzieren,
was nicht im Sinne einer linearen Progression zu verstehen ist.
2 Vgl. etwa Seidler 2013, S. 21–31, Seidler 2009, S. 3–12, wo historische Traumaforschung als
„ein neuer Ansatz innerhalb der Psychotraumatologie, der überpersönliche Auswirkungen
von individuellen Gewalterfahrungen vieler Menschen auf kulturelle Phänomene unter-
sucht“, verstanden wird, LdP, S. 33–45, Micale/Lerner 2001, Fischer-Homberger 1999 sowie
Abschnitt B in Seidler et al. 2015, mit Beiträgen zum Traumadiskurs der einzelnen Therapi-
erichtungen sowie zur Geschichte der posttraumatischen Belastungsstörung in den beiden
diagnostischen Systemen ICD (=International Statistical Classification of Diseases and Rela-
ted Health Problems) und DSM (=Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders).
Für eine frühe einflussreiche Geschichte des Psychotraumas als „Forgotten History“ vgl.
Herman 1992, S. 7–32.
3 Im Vorwort zum Sammelband Stadt und Trauma wird bereits 2004 in nicht uncharakteristi-
scher Art und Weise konstatiert, „dass der inflationäre Gebrauch des Begriffs ‚Trauma‘ im-
mer wieder kritisiert wird.“ (Fraisl/Stromberger 2004, S. 14). Auf medizinischer Seite wird,
ebenfalls 2004, „noch ein Traumabuch“ durch den Blickpunkt der medizinischen Praktiker
gerechtfertigt (Friedmann et al. 2004, S. VII). Klaus Dörner kritisiert, wieder 2004, in einem
Kurzbeitrag plakativ ein „[n]eues Fass im Gesundheitsmarkt“, ein „interessengesteuertes
Modekonstrukt“, und sieht ökonomische Interessen (Dörner 2004, S. 327).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
H. Grugger, Trauma – Literatur – Moderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-21102-8_2
22 A 1. Traumadiskurse und Überdeterminierung
4 Vgl. Kuhn 1989. Der wissenschaftstheoretische Einschnitt, den Kuhns zahlreiche konstruk-
tivistische Positionen vorwegnehmende Darstellung ‚naturwissenschaftlicher Revolutionen‘
(trotz des bekanntlich im Text bereits überlasteten Paradigmabegriffs) setzte, geht in ver-
kürzten Bezugnahmen leicht verloren. Der Gedanke, dass durch Änderung der Beobach-
tungsposition „derselbe Vorgang zu einem Hinweis auf einen ganz anderen Aspekt der Ge-
setzmäßigkeit der Natur werden kann“ (ebd., S. 142), wurde in abgewandelter Form für so-
ziale Bereiche weitergedacht. Weiter unten wird hier unter Berücksichtigung von
Laclau/Mouffe von einem neuen paradigmatischen Orientierungspunkt gesprochen, nicht in
einem strengeren Sinne von einem neuen Paradigma. Zur Ergänzung um die Reproduktion
des paradigmatischen Orientierungspunktes durch Prozesse der Verknüpfung/Artikulation
s. u. Für Psychotraumatologie als mögliche neue Disziplin vgl. Seidler 2013, S. 31, der zu-
recht von einer „ähnliche[n] Situation wie vor etlichen Jahrzehnten für die Psychoanalyse“
spricht.
5 Lorenzer 1966, S. 482. Für ihn stellt sich zwischen „der traumatischen Noxe“ und der „dis-
positionellen Schwäche“ (ebd., S. 489) noch die Frage der „Legitimation einer selbständigen
Krankheit ‚Traumatische Neurose‘“, die völlig davon abhänge, „ob es tatsächlich unter der
Einwirkung des traumatisierenden Geschehens zu ‚strukturellen Veränderungen‘ des psy-
chischen Apparates“ komme (ebd., S. 490). Psychoanalytische Phasenlehre wird mit äuße-
ren Situationseinflüssen verknüpft, wobei die Situation „des KZ als eine ausgesprochen
prägnante ‚Verwirklichung einer prägenitalen Konstellation‘“ bestimmt wird. Kurt Eisslers
einschneidender Aufsatz – Die Ermordung von wievielen seiner Kinder muß ein Mensch symp-
tomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben? (Eissler 1963) – ist bereits
zur Kenntnis genommen (vgl. Lorenzer 1966, S. 489 f.), die Distanz zu den gegenwärtigen
Diskursen ist dennoch hinreichend deutlich. Der zynisch anmutende Dispositionsbegriff,
wiederholt als Argument gegen Entschädigungszahlungen genutzt, blieb im Übrigen trotz
Eissler aufrecht, wovon die Berichte aus Traumatisierung in (Ost-)Deutschland zeugen (vgl.
Seidler/Froese 2006). Eissler legt an Fallbeispielen ausführlich dar, wie im Zuge von Wie-
dergutmachungsprozessen Fälle von Extremtraumatisierung von Psychiatern wiederholt als
nicht durch die Verfolgung in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, sondern als
anlagebedingt begutachtet wurden. Er selbst spricht von Trauma und posttraumatischer
Persönlichkeitsveränderung, stützt sich in seiner Argumentation auf literarische Zeugnisse
(vgl. Eissler 1963, S. 280) und argumentiert für situative Faktoren, ohne in seiner histo-
risch-psychoanalytischen Situierung „Stellen relativer Ichschwäche“ (ebd., S. 281) ganz aus-
klammern zu können.
A 1. Traumadiskurse und Überdeterminierung 23
seiner Verwendung bedürfe.6 Wenn damals und davor – wie bei vielen hier
behandelten Autoren – von Trauma die Rede war oder, besonders, von
traumatischer Neurose,7 dann war damit ein anderes, sehr viel engeres Feld
abgedeckt als heute,8 sehr viel stärker bezogen auf die Arbeiten Freuds, als
dies in den gegenwärtigen Diskursen, in den aktuellen Fassungen des Be-
griffs, der Fall ist.9 Aufgrund des fortlaufenden Anwachsens differenter
Traumadiskurse und durch die Schule der gesellschaftstheoretischen Über-
legungen der letzten Jahrzehnte gegangen, erscheint es als sinnvoll, sich
unterschiedliche Verwendungsweisen in ihren jeweiligen Systembezügen zu
vergegenwärtigen.10
Es wäre naiv zu vermuten, durch den explosionsartigen Anstieg der For-
schung in diesem Bereich, inklusive der Aufnahme in ICD und v. a. DSM,
habe eine Klärung des Begriffs stattfinden können. Die semantischen Ausei-
nandersetzungen haben sich hochgradig intensiviert und die (exponentiell
gewachsenen) Bezugnahmen auf den Komplex sind vielschichtiger gewor-
den. Zunächst einmal sollte man sich also zumindest annähernd klarma-
chen, in welchen Diskursen überhaupt von Trauma die Rede ist und, soweit
eine Beantwortung dieser Frage möglich ist, warum. Was verspricht man
sich vom Begriff und wie kommt es zu seiner Überdeterminierung? In einem
zweiten Schritt wird es darum gehen, jenseits der Differenz von Metapher
und Begriff einen Komplex mit unterschiedlichen Dimensionen zu beobach-
ten.
Erfahrung (Mann 2009, S. 189), dem er den Dr. Faustus zugrunde legt (s. u.), Brochs Rede in
der Psychischen Selbstbiographie vom „Initialtrauma“ (vgl. Broch 1999, S. 45), vom misslin-
genden Vorstoß zu den eigentlichen Traumen (vgl. ebd., S. 51), seine Differenzierung von
Trauma und Neurose (vgl. ebd., S, 36) oder Amérys Ablehnung des Traumabegriffs (vgl.
Améry 2012, S. 171).
10 Es erscheint müßig, von einer (allgemeinen) ausufernden Diskussion des Traumabegriffs zu
sprechen, auch weil die Traumaforschung längst über einen klar abzugrenzenden Begriff
hinausgegangen ist. In Seidler 2013 etwa wird beobachtet, wie die Psychotraumatologie auf
der einen Seite über zunehmende Ausdifferenzierung auf die Etablierung einer psychosozia-
len medizinischen Fachdisziplin hindrängt und auf der anderen Seite „für viele andere Hu-
manwissenschaftler ein Forschungsparadigma in ihrer wissenschaftlichen Arbeit“ darstellt
(S. 31). „Forschungsparadigma“ suggeriert hier allerdings eine Einheitlichkeit und eine ge-
wisse diskursive Ordnung in der Bezugnahme, die fraglich erscheint (s. u.).
24 A 1. Traumadiskurse und Überdeterminierung
18 Im Sinne semantischer Machtkämpfe in Wissensgebieten, wie sie etwa in Felder 2006 dar-
gestellt sind (vgl. S. 17 f.).
19 Letzteres kann hier nur andeutungsweise geschehen; es genügt, sich der unterschiedlichen
Diskurse bewusst zu bleiben.
20 Vgl. etwa den Einschnitt durch das 1991 gegründete Deutsche Institut für Psychotraumato-
logie (DIPT), 2006 ergänzt durch das Schweizer Institut für Psychotraumatologie (SIPT).
Heute finden sich zahlreiche Gesellschaften für Psychotraumatologie wie die Deutsche Ge-
sellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) oder das Zentrum für angewandte Psycho-
traumatologie Wien (ZAP). Zur Schnittstelle mit der Pädagogik, die eine Art Zwischenstel-
lung zwischen den beiden hier genannten Blöcken einzunehmen scheint, vgl. Beckrath-
Wilking et al. 2012.
1.1 Zu den Diskursen 27
21 Vgl. den Sammelband zu Trauma and Memory (Flor/Wessa 2010), der sich selbst wieder als
Verknüpfung neurobiologischer, experimenteller, verhaltensbezogener und interventionel-
ler Forschung versteht.
22 Berücksichtigt werden u. a. Ergebnisse der Interkulturalitätsforschung oder der Postcoloni-
al Studies, wenn es darum geht, die Art und Weise der Krisenintervention in lokale Struktu-
ren einzubinden. Vgl. die Analysen zu den Bedingungen interkultureller Behandlungsmög-
lichkeiten von Trauma in Drožđek/Wilson 2007.
23 Vgl. etwa Giesen 2004b für eine soziologische Zentralisierung des Traumadiskurses.
24 Vgl. den wichtigen Sammelband Farley 2003, wo systematisch Zusammenhänge zwischen
Prostitution und Traumatisierung analysiert werden.
25 Seidler spricht von einer neuen „integrativen Orientierung in den Humanwissenschaften“,
und zwar „weit über das klinische Anwendungsfeld hinaus“ (Seidler 2013, S. 28). Zusätzlich
zu den beiden Blöcken existiert eine nicht überschaubare Vielzahl an Publikationen ohne
nähere Zuordenbarkeit, die sich populärwissenschaftlichen Strömungen zurechnen lassen.
28 A 1. Traumadiskurse und Überdeterminierung
Zugänge, etwa mit der Frage der Dominanz der (dialektischen) Psychoana-
lyse oder des von Seidler angeführten postpsychoanalytischen Zeitalters
(s.o.).26
Nötig ist die Etablierung differenzierender Bezugnahmen auf Traumadis-
kurse des ersten Blocks gerade für den ‚kulturwissenschaftlichen‘ zweiten,
um von einer generalisierenden Diskussion zu essentialistisch konzipierten
Traumen wegzukommen, die vielfach mit der PTSD-Diagnose gleichgesetzt
werden. Wenn etwa Andreas Maercker seinen Sammelband Posttraumati-
sche Belastungsstörungen nennt, so sind damit deutlich andere Interessen
festgelegt als im Lehrbuch der Psychotraumatologie mit seiner kritischen
Ausrichtung gegenüber der Symptomorientierung. 27 Maerckers Band richtet
sich an klinisch tätige Ärzte und Psychologen und zielt auf deren Umgang
mit als traumatisiert Diagnostizierten. Der Text von Fischer/Riedesser ist
trotz der Bezeichnung ‚Lehrbuch‘ als ein an die breitere Öffentlichkeit ge-
richteter Beitrag zur Theoriebildung zu verstehen, in dem gängige Praxen
reflektiert werden und die Möglichkeit einer kritischen Psychotraumatolo-
gie (einschließlich ihrer Implikationen für die Praxis) ausgeleuchtet wird.28
Wenn Horst Thomé die sich beschleunigende Ausweitung medizinischer
Diskurse beobachtet, und zwar auf Bereiche, die, so Thomé, davor etwa
Religion, (Populär-)Philosophie und traditioneller Praxis zugeordnet waren,
beschreibt er die psychiatrisch-psychotherapeutische Erfassung von Per-
26 Die Feststellung Seidlers in Auseinandersetzung mit Reemtsma, dass das zum Deutungs-
muster gewordene „Gewalt- und Gewaltfolgenparadigma“ den Anschein habe, „eine Orien-
tierung an der Psychoanalyse nicht nur zu ergänzen, sondern auch abzulösen“ (ebd., S. 28),
scheint besonders für die Literaturwissenschaft mit ihrer starken psychoanalytischen Tra-
dition eher verfrüht und sie verstellt ein wenig den Blick darauf, wie sehr gerade psycho-
analytische Publikationsorgane neue Verknüpfungsmöglichkeiten im Sinne Laclau/Mouffes
(s. u.) suchen.
27 Es geht zum einen um die Spannung zwischen Psychotraumatologie als nomenklaturkriti-
scher Neukonzeption und Operationalität im Sinne normierter therapeutischer Interventi-
on, zum anderen aber auch um grundlegende Fragen von Traumaverständnis, Diagnostik
und Kriterien- vs. Prozessorientierung.
28 Während Fischer/Riedesser in Allgemeine und Differentielle Psychotraumatologie unter-
scheiden: „Was lässt sich allgemein über Trauma sagen?“, bzw. „Wie ist zwischen verschie-
denen Formen des Traumas zu unterscheiden?“, wird dieser Bereich bei Maercker als
„Grundlagen“ gefasst. Beide unterscheiden zusätzlich spezifische traumatische Kontexte, die
zu erforschen sind – Fischer/Riedesser als Spezielle Psychotraumatologie, Maercker unter
dem Titel „Spezielle Aspekte“. Aufgrund der oben genannten Ausrichtung ist bei Letzterem
zusätzlich der Bereich Therapie als eigener Abschnitt abgegrenzt, inklusive Therapiefor-
schung, Wirksamkeitsuntersuchungen usw., die natürlich nicht konzept- bzw. theorieneut-
ral oder wertfrei erfolgen.
1.1 Zu den Diskursen 29
29 Man möchte für die traditionellen Bereiche unmittelbar den Kunstdiskurs ergänzen. Vgl.
Thomé 1993, S. 48, mit Bezug auf Thomas Anz und mit durch Foucault geschärften Blick. Als
Beispiele nennt er Erziehung, Ernährung und Freizeitverhalten (vgl. ebd.). In unmittelbarer
Folge diskutiert er Hysterie und Psychosomatik unter dem Begriff Neurose und verweist auf
Romanfiguren, die eben Charakteristika zeigen, denen noch keine Symptomatik zukommt,
die also im Sinne Foucaults noch nicht entsprechend (als Abweichung) diskursiviert sind.
30 Foucaults diskurstheoretische Metauntersuchungen zur Etablierung wissenschaftlicher
Nomenklaturen, am prominentesten für Wahnsinn und Sexualität, haben einen zentralen
Beobachtungspunkt für diese Verfahren erzeugt (vgl. besonders Foucault 2013 und
Foucault 1987).
31 Traumatische Erfahrungen und Gewalt sind Themen der Literatur seit der Antike, worauf
sich die wissenschaftlichen Diskurse teils beziehen (vgl. etwa den an Freud anknüpfenden
Versuch Von den Dichtern lernen in Fischer 2005), während zentrale Momente des kultur-
wissenschaftlichen Diskurses aus der Medizin fließen.
32 Vgl. Anderson 2005. Als Wegbereiter zur Erforschung kollektiver Traumen gilt die Studie
zum Dammbruch in Buffalo Creek 1972 (Erikson 1976). Vgl. zur Verknüpfung von Trauma
mit kollektiver Erinnerung Neal 1998 bzw. zur Frage der kollektiven Identität Alexander
2004, für eine deutschsprachige Auseinandersetzung mit kollektiven Traumen vgl. Kühner
2007.
33 Eine spannende Schnittstelle zum therapeutischen Diskurs stellt das transkontinentale
Projekt Acting together als Kooperation der Brandeis University und des Netzwerks ‚Theat-
re Without Borders‘ dar (vgl. Cohen et al. 2011).
30 A 1. Traumadiskurse und Überdeterminierung
34 Die Beschäftigung mit Literatur von der Psychotraumatologie aus ist alles andere denn
einheitlich. Fischer versucht selbst Analysen im Sinne einer Kunstpsychologie (s. o.), charak-
teristischer erscheinen die beiden folgenden Lösungen. Luise Reddemann nähert sich über
Van der Kolk und Judith Hermann sowie vor dem Hintergrund des ‚Unsagbaren‘ Rilkes Dui-
neser Elegien als „Traumaverarbeitung“ des Autors (vgl. Reddemann 2013). Im Handbuch
der Psychotraumatologie, Seidler et al. 2015, ist unter Punkt F, „Traumatisierungen in ge-
sellschaftlichen und kulturellen Kontexten“, ein spezifischer Beitrag zu Kriegsliteratur zwi-
schen 1914 und 1938 zu finden, aber keine allgemeinere Diskussion zu Trauma in der Lite-
ratur.
35 Eine weit rezipierte frühe Studie zu Trauma und Kunst ist Laub/Podell 1995, zeitnahe
erschien spezifisch zu Trauma, Psychoanalyse, Literatur und Wissen Hartman 1995.
Laub/Podell fokussieren auf die Metapher des leeren Kreises und verstehen Kunst als Mög-
lichkeit der Repräsentation eben dieser sich entziehenden Erfahrung – „Only a special kind
of art, which we shall designate the ‚art of trauma‘ can begin to achieve a representation of
that wich defies representation in both inner and outer experience“ (Laub/Podell 1995, S.
992). Für Hartmann stellt gerade Literatur die Verbindung zum (Lacan’schen) Realen dar
und dient der Artikulation des so von ihm beschriebenen negativen Moments der Erfahrung
bzw. des Unaussprechlichen (vgl. Hartman 1995, S. 540). Dieser Gedanke wird in der Folge
zum intensiv variierten Topos (s. u.).
36 Der Begriff der ‚Viabilität‘ wird im konstruktivistischen Diskurs von Glasersfeld theoretisch
über den Wahrheitsbegriff Giambattista Vicos hergeleitet und explizit als der Evolutionsfor-
schung entlehnt verstanden (vgl. Glasersfeld 1997, S. 11 f. u. S. 16). Zu Anschlussfähigkeit als
Grundproblem selbstreferentieller Systeme vgl. Luhmann 2012, S. 62.
1.1 Zu den Diskursen 31
37 Vgl. auch die zunehmende Diskussion des Begriffs des „cultural trauma“ in der Folge von
Alexander et al. 2004.
38 Vgl. die Darstellung der Tochter des Arztes in Hanekes Das Weiße Band (2009), wo sexueller
Missbrauch in erster Linie zur Abrundung des Dorfbildes zu dienen scheint. Insgesamt ist
der Film allerdings, wie Haneke Schaffen seit seinem Durchbruch mit Funny Games (1997),
fraglos als ebenso ernsthaft ambitionierte wie ästhetisch avancierte Auseinandersetzung
mit Fragen des Traumas zu sehen.
39 Zu den zahlreichen, überaus heterogenen Möglichkeiten nicht oberflächlicher Verfahren in
der Moderne s. den Analyseteil dieser Studie.
40 Vgl. etwa die Problematisierung von Picassos Guernica in Lefeu (Améry 2007b, S. 424 f.,
bzw. s. D 1), und v. a. die Kritik der Ästhetik in Brochs Vergil inklusive seiner wiederholt be-
kundeten Selbstzweifel (s. C 3). Der Diskurs ist Teil der Tradition, wovon noch Settembrinis
humanistisch-aufklärerische Kritik an der unpolitischen Musik zeugt (vgl. Mann 2002, S.
175). Betroffen ist nicht nur Spielbergs Schindlers Liste oder Benignis Das Leben ist schön,
sondern bereits Lanzmans Shoa, wenngleich natürlich auf anderer Ebene. Vgl. auch die
Problematik der Metaphorisierung der „Gaskammer“ in Ingeborg Bachmanns Malina
(Bachmann 1993, S. 175), einem fraglos ästhetisch äußerst elaborierten Text (s. auch D 2).
32 A 1. Traumadiskurse und Überdeterminierung
Auffällig ist für Betroffene eine Dynamik im Agens, die im öffentlichen Dis-
kurs präsent ist und sich in der Literatur spiegelt: der Wechsel von Ich zu
Wir oder zu man und die Spannung zwischen ihnen.41 Wie können Einzelne
für andere sprechen oder diese gar repräsentieren? Wie können Einzelne
sprechen, ohne sich auf andere oder auf ein Allgemeines zu beziehen? 42 Die
Problematik geht also tiefer, als sie mit dem ‚Bauchreden‘ im oben genann-
ten Sinn gefasst ist, das sich vor allem auf Zugehörigkeit zu einer Gruppe
bezieht, und betrifft letztlich das repräsentative, symbolkonstituierende,
objektivierende Sprechen selbst. Für den Komplex Trauma ist die Frage
erweitert, da ein Riss Einzelner zum Sozialen ein wesentlich konstitutives
Element darstellen und der Singularität der (ausschließenden) Erfahrung
besondere Bedeutung zukommen kann.43
Jenseits der Literatur stellt sich diese Frage heteronomer Versprachlichung
durch die Objektivierung und Professionalisierung subjektiver Erfahrungen
in bestimmten professionellen Diskursen und ihrer Nomenklatur, wo den
Traumatisierten das Wissen der Experten gegenübertritt, sie zum For-
schungsgegenstand werden oder ihnen Interpretationen ihrer Erlebnisse
vorbuchstabiert werden (s. o.).
41 Eine radikalisierte Form dieser Dynamik im Agens mit durchgängiger Unterminierung der
Ich-Funktion findet sich in der dramatischen Welt Werner Schwabs (s. D 3).
42 Vgl. etwa für die Kapitel D 1 und 2: Noch Améry, der sich in den Essays stark auf das Ich
bezieht, wechselt wiederholt zum Wir und zur Situation der Gefolterten (vgl. Améry 2012);
Keilson verknüpft das Ich und das Man in den Essays (vgl. Keilson 2005b); Bernhard spricht
trotz Fokussierung auf das Ich in Die Ursache. Eine Andeutung wiederholt von dem/den
durch das Internat Zerstörten (vgl. Bernhard 2004b); Ota Filip inszeniert die eigene Ge-
schichte als Spiegel der allgemeinen, was einer Grundthematik autobiographischen Schrei-
bens entspricht (vgl. Filip 2001) und Innerhofers autobiographischer Protagonist Holl in
Schöne Tage definiert sich über die Dienstboten (vgl. Innerhofer 2012), um nur einige Bei-
spiele anzuführen.
43 Zum traumatischen Riss zwischen Individuum und Umwelt vgl. LdP, S. 78–88 bzw. s. u.
1.1 Zu den Diskursen 33
44 Die häufige englische Lösung des Victim-Survivors scheint für das Deutsche zu sperrig zu
sein.
45 Vgl. einen Brief aus Narben. Kunstprojekt zur Gewalt: „Ich bin selbst Betroffene bzw. Überle-
bende (wie sich die meisten lieber bezeichnen)“ (anonym in Moser/Wassermann 2011, S.
47), wodurch Kontroverse und Diskursivierung (s. o.) sichtbar werden.
46 Dass eine mögliche Differenz zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus in dem
Unterschied zwischen relativ stabiler und – aufgrund der „historischen Diskontinuitäten
diskursiver Bildungen“ – brüchiger Grenzziehung rekonstruierbar ist, verweist auf die zu-
nehmende Problematik. Vgl. näher die terminologischen Eingrenzungsversuche in Wirtz
2012, S. 241 f.
47 Das ist zugespitzt formuliert, der Hintergrund kann als ein allgemeiner, religiös oder säkular
fundierter Verdacht zum genuin Guten im Menschen gesehen werden. In praktischen The-
rapiekontexten tritt dies teils zugespitzt zu dem Bild auf, jede/r handle so gut es ihm/ihr
möglich sei. Zur Problematik für die Betroffenen s. die Ausführungen zu „Schuld“ im zweiten
Kapitel dieses Abschnitts.
34 A 1. Traumadiskurse und Überdeterminierung
48 Tschan 2005 schreibt etwa dezidiert aus der Perspektive der Überlebenden.
49 Löb 2008 rekonstruiert im Detail die fatalen Implikationen des NS-Terrors, die Opfer in ihre
Auslöschung mit einzubeziehen. Vgl. dazu auch umfassend die in D 1diskutierte Studie von
Sofsky 2008. Siehe auch Kapitel 2 dieses Abschnitts zu Schuld- und Schamproblematik
(Scham des Unterlegen-Seins, der Position in der Ohnmacht, etc.) bzw. die literarischen Er-
örterungen zur Selbstzerstörung der Opfer (s. etwa D 3). Man denke auch den sexuellen
Missbrauch in der Familie, wo das ‚Außen‘ so schwer zu finden ist.
50 Vgl. Jünger 2013.
51 Vgl. den permanenten Wechsel zwischen der Beschreibung der eigenen Ohnmacht und der
des Stolzes auf die ‚Leistungen‘ des Stoßtrupps. Die Gesamtverbindung läuft über den Eh-
renkodex, aber das ist die gewünschte/gesteuerte Rezeptionshaltung.
52 Lust an der Traumatisierung anderer ist prominent von Nietzsche in Zur Genealogie der
Moral festgehalten, wenn er im Kontext (antiker) Kompensation von Unrecht durch das Lei-
den anderer vom „Wohlgefühl“ spricht, „seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich
auslassen zu dürfen“ (Nietzsche 1968, S. 299). Der Begriff des ‚Combat Traumas‘, das in ei-
ner sehr bekannt gewordenen, frühen Untersuchung Jonathan Shays (1994) an Homers Ilias
untersucht wurde (s. o.), inkludiert „beide Seiten“ oder kann sie inkludieren, wovon der
oben angesprochene Wechsel bei Jünger zeugt. Nur so ist auch zu verstehen, dass sich der
gegenwärtige Traumadiskurs aus der Betreuung von Vietnamveteranen entstand, deren
Traumatisierung z. B. Shay erst zur literarischen Thematik geführt hatte. Diese Ambivalenz
steht im krassen Unterschied etwa zu Vergewaltigung, Missbrauch, dem Feld der Prostituti-
on und des Frauen- und Mädchenhandels, wie besonders der bereits erwähnte Sammelband
Farley 2003 belegt.
1.1 Zu den Diskursen 35
des Selbst als Täter und des Gegenübers als Opfer, ein wesentlicher
Zielpunkt.
• Instrumentalisierung durch Traumatisierung stellt ohne Zweifel eine
Realität im Feld des Verbrechens dar. Neben der zu diskutierenden
sprichwörtlichen Beobachtung „Gewalt erzeugt Gewalt“ sind allerdings
gesellschaftliche Ächtung der Opfer, Victim-Bashing oder die Verbin-
dung von Trauma und Stigma zu reflektieren.53
Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige
Wochen bis Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft,
in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet
werden. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre
53 Dass das Bild, Traumatisierte würden Gewalt einfach ‚weitergeben‘, zu naiv ist, scheint
mittlerweile hinreichend belegt. Zu Opferbeschuldigung und Stigma vgl. LdP, besonders S.
40, 210 f., 272 und s. u.
54 Das folgt der Bedeutung des US-amerikanischen Traumadiskurses. Die Darstellung in DSM
ist ausführlicher und sie liegt sowohl dem LdP als auch den anderen hier zitierten deutsch-
sprachigen Nachschlagewerken zu Trauma zugrunde.
55 Wer den kulturwissenschaftlichen Diskurs zu Trauma zumindest ein wenig mitverfolgt,
wird sich von den hier getroffenen Zuordnungen überrascht zeigen, die sich von denen des
DSM deutlich abgrenzen. Trauma soll hier möglichst nahtlos in den bestehenden Katalog
eingefügt sein; die Reaktion auf die betreffenden psychiatrisch-therapeutischen Diskurse
wirkt minimal, was natürlich ebenso einem bestimmten Interesse entspricht (s. o.).
56 Zitiert wird nach der Onlineversion mit Stand 2016, hier http://www.icd-code.de/icd/
code/F43.-.html.
36 A 1. Traumadiskurse und Überdeterminierung
Eine der Kernmetaphern für Trauma der letzten beiden Jahrzehnte ist die
von Wunden, die sich nicht schließen,57 hier ist vom Sonderfall die Rede, der
nach einer bestimmten Zeit in einen anderen Bereich verschoben wird.
Bleibende Traumatisierung „erfasst“ die ICD vor allem unter der Kategorie
„F62.0 Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung“ mit
folgender Beschreibung:
Anders als beim DSM, der als solcher auch immer wieder im Fokus der Kri-
tik steht, ist hier der Schwerpunkt vom Ereignis, das als „Extrembelastung“
übrig bleibt,58 auf die „Störung“ verlagert, was die Integration in die übliche
psychiatrische Diagnostik erleichtert und zugleich genau den Bereich dar-
stellt, gegen den Psychotraumatologen wie Fischer/Riedesser sich wenden.
Diese hatten sich ein neues Verständnis erhofft, das von der Symptomatik zu
komplexeren (polyätiologischen) Beschreibungen übergeht und eine andere
Sichtweise auf die Phänomene eröffnet (s. o.).
57 Ein ähnliches Verständnis lag dem für die Literatur der Moderne relevanten psychoanalyti-
schen Begriff der traumatischen Neurose zugrunde.
58 Für F.43.1 ist die Situation folgendermaßen markiert: „Diese entsteht als eine verzögerte
oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder
längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die
bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (http://www.icd-code.de
/icd/code/F43.-.html).
1.2 Der Begriff des Traumas als Knotenpunkt 37
1.2 Der Begriff des Traumas als Knotenpunkt und die Frage
konkurrierender Konzepte
59 Seriell findet sich der mächtige traumatisierte Held in Person of Interest, ähnlich die Figur
Eric/Magneto in den X-Men-Serien. Beide Seiten lassen sich steigern: immer katastrophalere
traumatische Erfahrungen vs. weiter eskalierende Rache. Der ‚innerlich abgestorbene‘ Held
hat in dieser Konstellation nichts zu verlieren, steht stets am Rande des Suizids, bleibt aber
handlungsfähig und verfügt über besondere Kräfte, wobei die Traumatisierung jede Aggres-
sion rechtfertigt. Im Hintergrund steht der vielschichtige Diskurs zur Wiederherstellung.
Für die komplexere Ausgangslage in den Batman-Comics vgl. Fricke 2004, S. 29–37. Zu Co-
mics und Trauma allgemein, besonders zu japanischen Mangas, vgl. Steinmann 2013.
60 Laclau/Mouffe 1991 entwickeln ihr Modell zeitnahe zum Einsetzen der aktuellen Trauma-
diskurse in Auseinandersetzung mit von Althusser, Derrida, Foucault und Lyotard geschaf-
38 A 1. Traumadiskurse und Überdeterminierung
fenen Grundlagen und in einer darauf aufbauenden Relektüre theoretischer Schriften des
Marxismus. Artikulation ist dabei ein Versuch, unter Berücksichtigung konstruktivistischer
und poststrukturalistischer Gegebenheiten über das Konstatieren von Differenz, die freilich
zentral bleibt, hinauszugelangen, wozu sie prominent Wittgensteins Begriffe Spiel und Fa-
milienähnlichkeit nutzen. Ihr Konzept einer radikalen Demokratie – vor dem Hintergrund
einer „fortlaufende[n] Neudefinition der sozialen und politischen Räume“ gedacht (ebd. S.
203) – basiert auf der Unterscheidung hegemonialer Diskursformationen, die sich aus Äqui-
valenzketten und eben Artikulation von Differenz konstituieren (zu Laclaus ‚Logik der Diffe-
renz‘ und ‚Logik der Äquivalenz‘ vgl. Reckwitz 2012, S. 77). Nahe an Luhmann liegt die Vor-
stellung, dass „eine Formation gerade auf der Basis ihrer eigenen Gesetze“ über die „Kon-
struktion […] innerer Grenzen“ gebildet wird (vgl. ebd. S. 203 f.).
61 Mit Überdeterminierung beziehen sie sich auf einen Schlüsselbegriff des ‚frühen‘ Althusser
(vgl. ebd. S. 145 f.), den dieser aus Linguistik und Psychoanalyse entlehnt. Wie Althusser be-
ziehen sie sich für Letztere auf die Freud’sche Verwendung im Sinne von Elementen, „die
sich in verschiedenen Bedeutungsreihen anreihen, von denen jede auf einem bestimmten
Deutungsniveau ihren eigenen Zusammenhang hat“ (Laplanche/Pontalis 1973, S. 544).
62 Vgl.: „Von diesen [Knotenpunkten] werden offensichtlich einige in hohem Maße überdeter-
miniert sein: Sie können Verdichtungspunkte einer Anzahl sozialer Beziehungen bilden und
somit zum Brennpunkt einer Vielzahl totalisierender Effekte werden“ (Laclau/Mouffe 1991,
S. 198). Dies ist explizit jenseits eines Zentrums des Sozialen gedacht.
63 Vgl. ebd. S. 261. Zur Offenheit als Voraussetzung hegemonialer Praxis vgl. ebd. S. 201.
64 Die Nähe zur konstruktivistischen Viabilität im Sinne der Anschlussfähigkeit ist deutlich.
Von Kuhns Modell (s. o.) bleibt der Gedanke der ‚Normalwissenschaft‘ (vgl. Kuhn 1989, S.
49–56), der Aspekte hegemonialer Praxen freilegt, die nicht im Blickfeld von Laclau/Mouffe
sind: Traumastudien finden auch im Sog eines neuen Leitbegriffs statt, der Wissenschaftler
mit neuen „Spielregeln“ ausstattet (ebd., S. 54).
1.2 Der Begriff des Traumas als Knotenpunkt 39
Dieses Modell in etwas transformierter Form aufgreifend und mit der kon-
struktivistischen Vorstellung von Viabilität verbindend, sollen sich über-
schneidende Bedeutungsketten für die artikulatorische Konstruktion des
Brennpunkts ‚Trauma‘ in Kapitel 2 dieses Abschnitts anhand eines Komple-
xes dargestellt werden, der von einem philologischen Beobachtungspunkt
aus entworfen und dadurch begrenzt wird. An Literatur, Kunst oder Kultur
interessierte Diskurse werden dabei als Teil einer umfassenderen Bewe-
gung verstanden, in der soziale Phänomene zunehmend über den Knoten-
punkt des Traumas beschrieben werden, wobei theoretisch nach wie vor
unterbestimmt ist, wie die Konzeption des Psychotraumas auf soziale Sys-
teme zu übertragen ist.65 Diese Frage ist deutlich mit dem literarischen Dis-
kurs verknüpft, wo produktiv in unterschiedlichen Texten traumatisierende
Ereignisse als Schnittstelle zwischen Individuellem und Kollektivem fungie-
ren, was rezeptiv über die mit der Moderne in den Fokus geratene Proble-
matik der Repräsentation analysiert wird (s. u.). Wohl vorwiegend intuitiv
sind dagegen Aussagen über ‚traumatisierte Nationen‘ oder, um eine Stufe
gesteigert, Ausdrücke wie „verwundetes Land“66 verständlich, die eine hohe
metaphorische Produktivität von Trauma zur Beschreibung des Sozialen
sichtbar machen. Besonders im Mediendiskurs, aber nicht nur, wird dies
reproduziert, ohne dass ab einem gewissen Punkt weitere Erklärungen für
nötig erachtet werden.67
Konkurrierende Konzepte können diachron, im Sinne historisch alternativer
(hegemonialer) Knotenpunkte, und synchron, im Sinne parallel existieren-
der Artikulationen, betrachtet werden, wobei beide Aspekte ineinander
überzugehen pflegen. Sie betreffen Bereiche, die zumindest Schnittflächen
mit dem Komplex Trauma aufweisen. In einer engeren ästhetischen Be-
trachtung, in Bezug auf den Affektdiskurs der Literaturwissenschaften so-
wie vor ideengeschichtlichem Hintergrund stellt Trauma trotz aller Diffe-
65 Vgl. als Gegenbeispiele die oben erwähnten Studien zu kollektiven Traumen. Bei zahlreichen
Arbeiten zu Traumatisierung handelt es sich aber um unmittelbare, nicht weiter reflektierte
Übertragungen des individuellen Konzepts auf soziale Phänomene.
66 So las man auf der Website des Österreichischen Rundfunks am 6.9.2015: „Präsident Asch-
raf Ghani bezeichnete Afghanistan bei einer internationalen Geberkonferenz in Kabul ges-
tern als „verwundetes Land“‘ (http://orf.at/#/stories/2297045/).
67 In Baer/Frick-Baer 2010 ist die Rede von ‚traumatisierten Ländern‘, ohne dass Täter und
Opfer gezielt unterschieden würden (vgl. etwa S. 19). Das Trauma der Verfolgten wird in
dieser Argumentation nahtlos zum Ausdruck des Traumas der Verfolger. Ebenso problema-
tisch ist, dass die Autoren zwar pauschal von ‚Spiegelneuronen‘ als Erklärungsansatz für
transgenerationale Traumatisierung sprechen (vgl. S. 49 f.), durchgehend aber den Eindruck
einer unbewussten, diffusen, gleichsam schicksalhaften Übertragung von einer Generation
auf die nächste insinuieren.
40 A 1. Traumadiskurse und Überdeterminierung
68 Vgl. zu Affektpoetik Meyer-Sickendiek 2005, besonders den Abschnitt zur Elegie (S. 115–
146) vor dem Spannungsverhältnis von Trauer und Melancholie. Der Traumabegriff wird
hier über Freuds Jenseits des Lustprinzips, noch weitgehend unabhängig von den gegenwär-
tigen Diskursen, zur Analyse von Ludwig Tiecks Der blonde Eckbert eingeführt (vgl. S. 304–
309) und unmittelbar mit der posttraumatischen Belastungsstörung verknüpft. Zu Freuds
Traumabegriff vgl. LdP, S. 38–42 sowie den entsprechenden Eintrag in Laplanche/Pontalis
1973, S. 513–518.
69 Vgl. ebd., S. 499, wo das Über-Ich der Melancholie als Reinkultur des Todestriebes diskutiert
wird.
70 Es geht historisch um einen der zentralen Begriffe des Kunstdiskurses, der nach wie vor
aktiv ist. Vgl. etwa die Dissertationsschrift Melancholisches Schreiben nach Auschwitz mit
Verweis auf Hildesheims Melancholiebegriff und Analysen zu Sebald und Améry, die beide
häufig unter dem Aspekt der Traumatisierung gelesen werden (Pflaumbaum 2014). Melan-
cholie war in der Phase der Etablierung psychiatrischer Klassifikationen durchaus noch ei-
nes der Themen. Zur Ausdifferenzierung der Dichotomie Manie vs. Melancholie im Zuge der
Rezeption von Philippel Pinel im 19. Jahrhundert vgl. Thomé 1993, S. 54 f. Sie wird „als ‚dé-
lire exclusif‘ durch einen fest umgrenzbaren Wahn in Gestalt einer fixen Idee gekennzeich-
net“ (ebd.) und von Manie mit oder ohne „délire“, Demenz als Desorganisation des Denkens
und Idiotie als Erlöscht-Sein intellektueller Fähigkeiten abgegrenzt (vgl. ebd., S. 55).
71 Der neuzeitliche Bogen der Melancholiebetrachtung reicht von den berühmten Gemälden
Albrecht Dürers und Lucas Cranachs des Älteren über den romantischen Künstler-
Melancholiker bis zum aktuellen literarischen Diskurs. Neben der Reaktion auf die jeweili-
gen medizinischen Konzepte – gut belegt etwa für Georg Büchner oder E.T.A. Hoffmann
(s u.) –, wird in literarischen Werken stets die dem Kunstsystem immanente Begriffsge-
schichte der Melancholie mit bearbeitet. Diese Tradition hat fraglos auch Sebald im Sinn,
wenn er von sich selbst im Spiegel-Interview als sozusagen rastlosem Melancholiker
spricht: „Ein Melancholiker arbeitet fortwährend: Ich kann zum Beispiel nicht in Ferien fah-
ren“ (Sebald 2001, S. 234).
1.2 Der Begriff des Traumas als Knotenpunkt 41
72 Vgl. umfassend etwa Shay 1994 oder Fischer 2005, sowie zahlreiche, bis in die Sprachprä-
gung gehende Verweise in der psychotraumatologischen Literatur unterschiedlichster Pro-
venienz.
73 LdP, S. 46. Dem Begriff selbst kommt bei ihnen keine Bedeutung zu, da, wie oben erwähnt,
in diesem Feld kein Melancholiediskurs geführt wird. Im (historischen) Kunstdiskurs exis-
tiert naturgemäß ein breites Feld nicht durch Traumen verursachter ‚Melancholie‘.
74 Vgl. ebd., S. 22. Dies zur Illustration, ohne diese Aufteilung selbst damit zu diskutieren.
75 Ein Überblick zur Differenz von Verdrängung und Dissoziation im Kontext der Erinnerung
an traumatische Situationen gibt Barwinski 2010, S. 19–34, die an beiden Begriffen festhält.
Verdrängung versteht sie in Nähe zu Fischer/Riedesser dabei als ein vertikal geschichtetes
System, das die Bewusstwerdung potentiell erschütternder Erinnerungen verhindert (vgl.
ebd., S. 21), während sie Dissoziation in Übereinstimmung mit der Forschungstradition als
horizontale Fraktionierung der traumatischen Gesamterfahrung beschreibt (vgl. ebd., S. 20).
76 Zu beobachten ist eine Koinzidenz der Begriffe im Bereich (der Übersetzung) von „shell-
shocked“, wo Kriegsneurose, Schock und Trauma alternativ verwendet werden.
77 ‚Partiell‘ bezieht sich auch auf die besondere lokale Bedeutung von Verdrängung im Diskurs
der deutschsprachigen Länder nach 1945. Vgl. etwa Lennox, die für die Bachmann-
Forschung retrospektiv das Amerikabild im Österreich der 1950er im Kontext einer Alter-
native diskutiert, „die es den Österreichern erlaubte, sich auf eine Zukunft hin zu bewegen
42 A 1. Traumadiskurse und Überdeterminierung
bewusst zu machen, dass mit dem Konzept der Verdrängung ganz andere
begriffliche Ketten entstehen und mit ihm der unmittelbare Bezug zu einem
stärker semantisch strukturierten, eher geschlossenen Unbewussten herge-
stellt ist, wogegen Deleuze/Guattari mit performativ-dissoziativem Vokabu-
lar anschrieben.78 Améry wendet sich im Kontext der Tortur gegen die feh-
lende Körperlichkeit des Konzepts: „Da gibt es kein ‚Verdrängen‘. Verdrängt
man denn ein Feuermal? Man mag es vom kosmetischen Chirurgen wegope-
rieren lassen, aber die an seine Stelle verpflanzte Haut ist nicht die Haut, in
der einem Menschen wohl sein kann.“ (Améry 2012, S. 75)
Um dies bewusst simplifizierend festzuhalten: Etwas Verdrängtes war in
gewissem Sinne zu einem bestimmten Moment ebenso gegenwärtig wie
fassbar und ist im Unbewussten (als innere Problematik) aufgehoben,
wenngleich nur durch die Überwindung von Widerständen eventuell rekon-
struierbar.79 Der Traumadiskurs mit seinen zentralen Begriffen wie Erschüt-
terung, Ereignis/Erlebnis (traumatische Situation), Dissoziation, Intrusion,
Retraumatisierung oder traumatischem Prozess spricht weniger vom Un-
bewussten, beschäftigt sich mit introjizierten Fremdkörpern vor dem Hin-
tergrund von deren Präsenz und entwickelt aus dissoziierenden Prozessen
das Konzept des gebrochen oder nicht einheitlich (sprachlich) Gespeicher-
ten. Die traumatische Situation und deren Rekonstruktion werden insge-
samt durch andere Denkoperationen beschrieben, die eher oberflächliche
Parallelen zum Verdrängungsdiskurs aufweisen. Wenn es zuweilen zur nicht
reflektierten Verknüpfung kommt, etwa in unbedarfter Rede von der ‚Ver-
drängung des Traumas‘, so scheint die Differenz der beiden Konzepte unzu-
reichend registriert.80 Selbst wo die Unterschiede nicht durch genaue Analy-
und die Vergangenheit zu vergessen – oder zu verdrängen“, als Beispiel eines umfassenden
Topos (Lennox 2004, S. 19). Zur Verschiebung vom Täter- zum Opferdiskurs am Beispiel
von Baer/Frick-Baer 2010 s. o. Zu Ähnlichkeiten zur Etablierung der Psychoanalyse insge-
samt vgl. Seidler 2013, S. 31.
78 Ihnen ging es in einem gänzlich anderen Diskurs um die Re-Formulierung des nach Bedeu-
tung geschiedenen Unterbewussten durch ein ökonomisch strukturiertes, als Fortführung
der marxistischen Ideologiekritik auf neuer Ebene (vgl. Deleuze/Guattari 1997a).
79 Zu Bewußtsein als „Figur des Indirekten“ vgl. Weigel 1999, S. 259.
80 Davon abzugrenzen sind neue Artikulationen, wofür zahlreiche Versuche zur Reformulie-
rungen psychoanalytischer Positionen unter dem Dach des Traumas stehen, wie dies auch
für Fischer/Riedesser (vgl. für ihre Integration des Freud’schen Verdrängungsbegriffs LdP,
S. 117) oder Barwinski (s. o.) gilt. Vgl. als prominentes Beispiel für die Geschichtswissen-
schaften LaCapra 2001, der die psychoanalytischen Begriffe Durcharbeiten (vgl. Laplan-
che/Pontalis 1973, S. 123–125) und Acting-Out (vgl. ebd., 34–37) zentral mit dem Trauma-
komplex verbindet.
1.2 Der Begriff des Traumas als Knotenpunkt 43
sen sichtbar gemacht wurden, sind sie doch in den Diskursen selbst sehr
deutlich präsent.81
Für den öffentlichen Diskurs in den deutschsprachigen Ländern sind Blüte
des Verdrängungskonzepts und Wandel zu Trauma als paradigmatischer
Beobachtungsposition je unterschiedlich zu rekonstruieren, korrespondie-
ren aber zumindest für Österreich und Deutschland deutlich miteinander.
Indem Stichwörter für komplexe Entwicklungen genannt werden, kann die
Erinnerungsverweigerung, wie sie Mitscherlich so prominent in die Diskus-
sion brachten,82 von der Problematisierung der verdrängten eigenen Rolle,
wie sie zeitnahe und umfassend in Österreich entstand,83 ebenso abgegrenzt
werden wie spät einsetzende Diskussionen im Zuge der Kommissionen in
der Schweiz.84 Insgesamt ist der über das Konzept der Verdrängung laufen-
de Diskurs deutlich an die Rolle von Tätern gebunden, die sich der Erinne-
rung und der Auseinandersetzung mit ihren Taten verweigern, und findet
etwa im Kontext subtiler Fortsetzung oder drohender Wiederholung statt. 85
Dem Konzept der Traumatisierung, das nicht zuletzt in Bezugnahme auf die
Überlebenden des Holocaust entwickelt wurde, 86 scheint zumindest auf den
ersten Blick eine nicht unbeträchtliche Gefahr der Nivellierung zu inhärie-
ren, sodass mitunter davon die Rede ist, dass Österreich und Deutschland
nach 1945 ‚traumatisierte Länder‘ waren und Zeugnisse der Verfolgten und
der Täter unterschiedslos als sogenannte menschliche Traumen beobachtet
werden.87 Dazu kommen weitere mit dem Traumabegriff assoziierte Prob-
lemfelder, wie sie etwa durch die Etikettierung der Betroffenen als trauma-
tisiert oder durch die Instrumentalisierung Traumatisierter gegeben sind.
Zugleich bieten die Traumadiskurse allerdings den theoretischen Rahmen
für einen differenzierten gesellschaftlichen Diskurs an, da über sie Phäno-
mene wie Entgrenzung der Täter und Ohnmacht der Opfer analysierbar
sind, über die Re-Integration des Ereignisses fatale Strategien der Opferbe-
schuldigung sichtbar gemacht werden können oder Singularität der Objekti-
vierung und der Nomenklatur der Psychopathologie argumentativ gegen-
übergestellt werden kann.88 Die Auseinandersetzung um einen differenzier-
ten kulturwissenschaftlichen Traumadiskurs mit einem möglichst nicht
essentialistischen und nicht trivialen Grundbegriff, der hier über die Ausar-
beitung eines Komplexes Trauma anstelle einer reduzierenden Leitdefiniti-
on entwickelt werden soll, zeigt sich so als bedeutsam. In der Folge des Mo-
dells zur radikalen Demokratie von Laclau/Mouffe ist die Richtung der Arti-
kulationen, die sich aus den unterschiedlichen Strategien der Überdetermi-
nierung und der Begriffsbesetzung ergibt, als konstitutiv offen zu konzipie-
ren.
Mit dem Melancholiebegriff und dem der Verdrängung als einem ins Soziale
gewendeten Kernbegriff neurotisch-hysterischer Modelle sind wichtige
konkurrierende Konzepte aus Kunst und Psychoanalyse beispielhaft ge-
nannt und andiskutiert.89 Bedeutende Verschiebungen betreffen auch Fra-
87 Offensichtlich ist dies für Baer/Frick-Baer 2010. Aber auch an Konzept und Diskurs zu
Tätertrauma ist die Frage nach hinreichender Differenz zu stellen (vgl. etwa Giesen 2004a
und Giesen/Schneider 2004). Die Thematik (differenzloser) allgemein menschlicher Trau-
matisierung, betrifft Variationen der Konzepte der Liebe und Nächstenliebe, die auf fehlen-
de Differenz zurückzufallen drohen, eben auf das sogenannte allgemein Menschliche. Im
Sinne poststrukturalistischer Positionen liegt hier eher das Problem als die Lösung.
88 Teils ist hier auch das Insistieren auf ‚Unaussprechlichkeit‘ zu nennen, das der objektivie-
renden Beobachtung gegenübertritt und selbst eine kontroversielle Diskursschicht bildet
(s. u.).
89 Weiterführend vgl. Thomé 1993, der die literarische Diskursivierung des Wahnsinns umfas-
send beleuchtet, und dabei zwar weniger den Traumabegriff, dafür umso intensiver den der
Dissoziation zu Beginn der Moderne analysiert. Zumindest hingewiesen sei auf die literari-
sche Verbindung des traumatischen Ereignisses zu fixer Idee und Wahndiskurs, die noch
Eissler 1963 zur Argumentation für mögliche fatale Wirkungen ‚äußerer Ereignisse‘ heran-
zieht (vgl. S. 280). Man denke nur an den Bogen von Woyzecks „Immer zu“ bis zu Haupt-
manns Bahnwärter Thiel.
2.1 Überblick 45
gen der Komorbidität oder des Traumas als Ausgangspunkt von Prozessen,
die durch verschiedene Symptome bestimmt sein können. 90 Dabei kann es
etwa um Depression, Angst- und Panikstörungen ebenso gehen wie um die
Suchtproblematik. In erster Linie soll angedeutet werden, dass mit der Kon-
struktion von Trauma als hegemonialem Knotenpunkt differenter Diskurs-
formationen spezifische Unterscheidungen erzeugt werden bzw. konstru-
ierbar sind. Die Darstellung als Komplex in Kapitel 2 dieses Abschnitts wird
dazu dienen, diese Unterschiede mit der Analyse literarischer Texte ver-
knüpfen zu können, um so einen sinnvollen Beobachtungspunkt zu gewin-
nen, der bestimmte Bedeutungsschichten deutlicher sichtbar macht.
Unterschieden wurde bisher der Traumabegriff in verschiedenen Diskursen
mit zwei schematischen Blöcken. Während der Unterschied zwischen einer
Kritik der Nomenklatur der Psychopathologie und der Operationalisierbar-
keit im Sinne eines Zugriffs (entsprechend Krankheitsbildern) einen tragen-
den Unterschied im ersten Block bildet, wurde mit dem Ausdruck Trauma
als Knotenpunkt die Beziehung des zweiten Blocks (mit seiner langen Ge-
schichte und seinen Differenzen) auf den ersten vor dem Hintergrund von
Laclau/Mouffes Modell der radikalen Demokratie reflektiert. Das Desiderat
nach deutlicheren Metabeobachtungen, die zwischen Diskursen, Interessen
und Erkenntnismöglichkeiten (nicht nur Erkenntnis) unterscheiden, wurde
formuliert. Insgesamt zeigte sich zwischen Terminus, Begriff und Metapher
das Anliegen, einen Komplex mit unterschiedlichen Dimensionen sichtbar
zu machen.
2.1 Überblick
Der Ausdruck Trauma wird nicht nur gerne metaphorisch verwendet, son-
dern ist selbst als Metapher entstanden: Als Bildspender für das Psycho-
trauma gilt τραύμα, u. a. übersetzt als Wunde,91 der Bildempfänger ist ein
seelischer Zustand/Prozess und das Tertium Comparationis liegt vorwie-
gend in der Konsequenz der (fatalen) Einwirkung von außen. Das medizini-
sche Trauma organischer Hinsicht bezeichnet die körperliche Schädigung
von lebendem Gewebe durch Gewalteinwirkung. Von der Metapher zum
Begriff zu gelangen, wäre vor wenigen Jahrzehnten noch ein selbstverständ-
92 Vgl. Hofmannsthal 1991 sowie Riedel 1996, der bekanntlich den Chandos-Brief nicht als
generelle Sprachkritik, sondern als Problematisierung des begrifflichen Denkens im Kontext
von Hofmannsthals Metapherntheorie rekonstruiert.
93 Vgl. u. a. den Weg des Verständnisses von dem Konzept der Übertragung zum Konzept an
Pragmatik orientierter Interaktion (Kurz 2009, S. 14). Was die Metapher für die Traumadis-
kurse so attraktiv macht – mit hoher Produktivität auch im medizinischen Bereich – ist
wohl, dass sie sich „nur hermeneutisch im Hinblick auf interpretative Kontexte explizieren
[lässt], ohne daß ein Ende dieses Prozesses wechselseitiger Interpretation definitiv angege-
ben werden könnte“ (ebd., S. 17). Kurz geht davon aus, dass Sprechen per se metaphorisch
erfolgt, versteht die Metapher aber auch als Transgression des normalen Sprachgebrauchs.
94 Vgl. ebd., S. 23. Die prädikative Grundstruktur der Metapher ist also konstitutiv ergänzt
durch ein Negationselement. Zum Paradoxen: Der traumatische Prozess wird durch Fi-
scher/Riedesser als Versuch beschrieben, „mit einer Erfahrung zu leben, mit der sich nicht
leben lässt“ (LdP, S. 396).
95 Für den Komplex Trauma wird oft über Metaphern nach einem Verständnis des Phänomens
gerungen, was auch die Definitionen prägt, von Freuds ökonomischer Metaphorik (vgl. La-
planche/Pontalis 1973, S. 513 f.) über das Informationstrauma nach Mardi Horowitz (vgl.
LdP, S. 91 f.) bis hin zur „dauerhafte[n] Erschütterung des Selbst und Weltverständnisses“
(ebd., S. 84).
2.1 Überblick 47
96 Über „traumatised chicken“ wurde medial anlässlich der Dreharbeiten zu The Lost City of Z
in Ballygally (Antrim, Nordirland) berichtet (newstalk.ie, 24.9.2015).
97 Ähnliches gilt für trauma-analoge Phänomene. Zur Zuordnung von Hysterie und Neurose
zum psychiatrischen Diskurs vgl. etwa Thomé 1993, S. 49 f.
98 Neben Janet, der aufgrund der Dissoziation heute den zentralen Bezugspunkt bildet, aber
zeitgenössisch weniger rezipiert wurde, ist der Wandel von Freuds Konzeption des Trau-
mas zentral. Dieser führt von den Studien zur Hysterie (1895) über die Integration in eine
Konzeption, die stärker auf „Konstitution und infantile Geschichte abhebt“ (Laplan-
che/Pontalis 1973, S. 517), zur forcierten Wiederaufnahme der Thematik durch den äuße-
ren Anlass der Kriegstraumen und „der klinischen Form der traumatischen Neurose“ (ebd.
S. 517), einfließend in die Traumakonzeption in Jenseits des Lustprinzips (1920), zur Positi-
onierung im Kontext der Angsttheorie innerhalb des zweiten topischen Modells, mit einer
zunehmenden „Symmetrie zwischen der äußeren und der inneren Gefahr“ (ebd., S. 518).
48 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
99 Vgl. LdP, S. 63. Die Autoren versuchen, die Diskrepanzen über den Begriff der ‚Dialektik‘ zu
schließen und benötigen die Unterscheidung für die Gesamtdarstellung. Im Zuge der Ent-
wicklung ihres Modells wird der Begriff der traumatischen Situation als „elementare Be-
obachtungseinheit der Psychotraumatologie“ unter Rückgriff auf Husserl zunehmend aus-
differenziert (vgl. LdP, S. 69–78, hier S. 69). In Seidler 2013 wird die Etablierung der Psy-
chotraumatologie und ihre ökologische Orientierung in die Nähe zur jüngeren Subjektfor-
schung gebracht (vgl. S. 14 f.), was im Sinne einer Verknüpfung nach Laclau/Mouffe (s. o.)
im Detail theoretisch erst zu leisten wäre.
100 Vgl. von den hier behandelten Autoren ganz besonders Broch, der sowohl die Individualpsy-
chologie Adlers als auch die Psychoanalyse Freuds intensiv rezipiert und verarbeitet.
101 Trotz der zeitgenössisch fehlenden wissenschaftlichen Ausdifferenzierung der Psychotrau-
matologie ist die literarische Auseinandersetzung der Autoren der klassischen Moderne mit
dem Komplex Trauma im Hinblick auf Intensität, Dichte und Qualität beeindruckend. Er
kann zu seiner Ausformung auf die vorangegangene Jahrhundertwende zurückgreifen und
liefert die Grundlage für das Kommende (s. u.).
2.2 Dimensionen des Begriffs ‚Trauma‘ 49
Spezifisch für den Komplex Trauma ist eine komplexe Zeitstruktur, die fast
alle Dimensionen betrifft und die bei Fischer/Riedesser über die Abfolge
traumatische Situation (objektives Ereignis und subjektives Erlebnis), un-
mittelbare Reaktion und (möglicher) traumatischer Prozess gefasst ist
(SRP). Diese Abfolge ist zwar chronologisch deutlich bestimmt, aber in der
Erlebnisdimension nicht als ein simples Nacheinander zu verstehen. Rekon-
struierende Bezugnahmen auf die Situation vom Prozess aus können als
Schnittstelle von Trauma und Erinnerung verstanden werden und sind po-
tentiell fragmentiert sowie von unterschiedlicher Qualität. 103 Zentral ist
dabei der Gedanke der Präsenz der traumatischen Erfahrung.
Die Ereignishaftigkeit des Psychotraumas, besonders im Sinne von Einma-
ligkeit, wird zunehmend als eine von mehreren Möglichkeiten sichtbar.
Wenn zwischen situativer Traumatisierung und Traumatisiert-Sein unter-
schieden wird, stellt sich zudem die Frage nach dem Verhältnis von Prozess
und Zustand.104
Nicht chronologische Zeitverhältnisse stellen parallel dazu ein tragendes
Thema der Literatur der Moderne dar. 105 Die Aufhebung der Chronologie im
Roman in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge erfolgt zudem
entlang der Darstellung traumatischer Erinnerungen (s. C 1), deren Präsenz
so über einen komplexen erzählerischen Rahmen repräsentiert wird.
102 Besonders gilt dies, weil gerade die Frage der Repräsentation ab der Moderne zunehmend
zum Problem wird. Die Vorstellung, dass Literatur Trauma darstellen kann, steht in diesem
Sinn, bildhaft gesprochen, aus literarischer Perspektive betrachtet, auf deutlich wackligeren
Beinen als aus psychotraumatologischer.
103 Als traumaspezifisch gelten intrusive Vergegenwärtigungen der traumatischen Situation.
Der Begriff der Rekonstruktion ist auch hier nicht als bewusster Akt zu verstehen.
104 In der ICD wird von „andauernder Persönlichkeitsänderung“ gesprochen, was trotz aller
Problematik zumindest verständlich ist. Übliche Ausdrücke wie „ein Trauma haben“ oder
„an einem Trauma leiden“ verweisen auf eine Zustandskomponente. Latenz (als traditionell
psychoanalytischer Begriff) findet sich nicht mehr in den Sachregistern zur Psychotrauma-
tologie).
105 Zum Aufbrechen der Chronologie s. C 1.
50 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
Zum Konzept des Traumas zählt eine gewisse Radikalität, die der Überde-
terminierung zugrunde liegt. Dass diese nicht mehr automatisch an den
Begriff gekoppelt ist, erhellt sich durch die Abgrenzung zu extremer Trau-
matisierung, d. h. zu einem Ausdruck, der hinzugefügt werden musste, um
die Ausdehnung des Begriffes abzufedern.107 Die Radikalität ist gleichzeitig
im Diskurs wesentlich, was sich u. a. in der Rede von der Überwältigung
durch das Ereignis spiegelt. Ein Thema ist hier die Differenz zwischen Er-
eignis und Erlebnis. Während zum einen ein Begriff für extreme Ereignisse
gesucht wird, wie etwa ‚Sollbruchstelle‘, knüpft an diese Radikalität (in dif-
ferenter Form) für die ‚subjektive Dimension‘, neben der genannten Über-
wältigung, u. a. der Diskurs zum „Zeroprozess“ an, der an die Metaphern des
106 Zur Praxis metaphorischer Hochrechnung traumatischer Erfahrungen auf Kollektive s. auch
oben.
107 Der Satz: „Auch das ist ein Trauma“, dient offensichtlich dem (paradox aufwertenden)
Hinweis auf die Schwere des Ereignisses, wodurch wiederum die Nivellierung des Begriffs
selbst droht. Trotz Begriffen wie extremer Traumatisierung und dem möglichen Hinweis auf
unterschiedliche Schweregrade bleibt die Problematik der enorm differenten Situationen
des Traumatisiert-Seins, was durch abstrakte kulturwissenschaftliche Zugriffe auf einen es-
sentialistisch verstandenen Traumabegriff verstärkt wird. Grundlage der Begriffsausdeh-
nung bleiben Ähnlichkeiten in traumatischer Situation oder traumatischem Prozess.
2.2 Dimensionen des Begriffs ‚Trauma‘ 51
Eingefroren-Seins sowie an die der Erschütterung (s. u.) anschließt. 108 Radi-
kalität kann insgesamt auf die Qualität des Ereignisses, des Erlebnisses und
deren Verhältnis zueinander bezogen werden. Kultur- und kunsttheoretisch
stellt sich für diese Dimension zudem die Frage radikaler Bedeutungslosig-
keit.109
Für den aus der empirischen Beobachtung bekannten Punkt der Erstarrung
(aus der Trias von Ausgesetzt-Sein, Ausweglosigkeit und Ohnmacht heraus)
nehmen Fischer/Riedesser biologische Modelle zur Hilfe.110 Die mehrfache
Unmöglichkeit von Kampf, von Flucht oder Vermeidung der traumatisieren-
den Situation sowie die radikale Ohnmacht und das reale Blockiert-Sein des
Erleidenden werden so im Sinne eines allgemein menschlichen Modells mit
dem Erstarren gekoppelt. Eine Verbindungslinie scheint zur Wiederauf-
nahme unterbrochener Handlungen zu bestehen (s. u.). Von hier aus führt
der Weg zur Tod-im-Leben-Metapher, und zwar im Sinne einer anhaltenden
Erstarrung, die nicht mehr aufgelöst wird. Diese Dimension ist unmittelbar
verknüpft mit dem Diskurs zur Defokussierung als Antwort auf die Ausweg-
losigkeit der traumatischen Situation und damit zu dem grundlegenden der
Dissoziation, die so auch als Weiterführung der Defokussierung verstanden
werden kann. Defokussierung und Dissoziation als Antworten auf eine ‚Soll-
bruchstelle‘ betreffen (in mittlerweile sehr prominenter Art und Weise)
auch die Möglichkeit der Aufzeichnung, d. h. der Re-Konstruktion des Ereig-
nisses/Erlebnisses der traumatischen Situation.111
108 Vgl. Fernando 2012, der sich auf den ‚eingefrorenen Zustand‘ als zeroprozesshaftes Funkti-
onieren mit einem Stillstand der Konstruktionen des Ich (vgl. S. 1058) im traumatischen Zu-
stand bezieht und durch eine Kritik von Freuds Vermengung traumatischer mit dynami-
schen und entwicklungstheoretischen Fragen (vgl. S. 1055) die Psychoanalyse an den
Traumadiskurs anschließt. Als Konsequenz für die Erinnerung spricht er im Kontext eines
Fallbeispiels metaphorisch von einer „Leerstelle“ sowie von „Splitter und Fetzen“, die von
einem „intensiven, aber unverbundenen Eindruck“ übrig bleiben, was den „Kern des
Zeroprozesses“ ausmache (ebd., S. 1060).
109 Vgl. etwa die Kapitel zu Kafkas Schloß (s. C 2) und zu Sofskys Ordnung des Terrors (s D 1).
110 Dies kann als Teil der bereits oben zitierten ökologischen Orientierung der Psychotrauma-
tologie verstanden wird, die in ihrem Fall auf den Situationskreis von Uexkülls aufbaut (vgl.
LdP, S. 78–89, zur „Erstarrung“ vgl. S. 87).
111 Es geht immer wieder darum, dass sozusagen im Unterschied zu einem einfach gedachten
Verdrängungsbegriff die ursprüngliche Registrierung zur entscheidenden Frage wird (s. u.).
52 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
Der Begriff des psychischen Traumas beruht auf der grundlegenden Meta-
pher der Wunde, um die herum sich gleichsam ein System von Metaphern
errichtet hat (s. o.). Die einst vermuteten Mikro-Läsionen spielen heute für
die Bedeutung keine Rolle mehr.112 Neben der Verwundung ging es stets
auch um den Folgezustand – darum, an einem Trauma zu leiden. Gerade
letzteres wird durch den Fokus auf den traumatischen Prozess (SRP)113 oder
durch die Begriffe kumulatives bzw. sequentielles Trauma zwar stärker,114
aber wohl immer noch ungenügend zum Ausdruck gebracht. 115 Das betrifft
den genannten Zustand, der biologisch teils als universell begriffen wird:116
112 Sie wurden von Erichsen (1866) im Umfeld des Railway Spine, im näheren Kontext eines
angenommenen traumatischen Schocks in Folge von Erschütterungen der Wirbelsäule, er-
örtert (vgl. Young 1995, S. 16) und gingen prinzipiell auf die psychiatrische Tradition zu-
rück. Bereits Griesinger (1845) vermutete (noch nicht nachweisbare) organische Läsionen
(vgl. Thomé 1993, S. 58).
113 Innerhalb der grundlegenden Unterscheidung von der peritraumatischen und der postex-
positiorischen Phase folgt im Modell von Fischer/Riedesser auf die Komponenten des (ob-
jektiven) Ereignisses und des unmittelbaren (subjektiven) Erlebnisses eine Reaktion, die in
einen traumatischen Prozess übergehen kann. Die Autoren sprechen für die von ihnen so
verstandene ‚Dialektik‘ von Ereignis und Erlebnis von der traumatischen Situation (s. o.), die
ihrer Konzeption nach erst dann endet, „wenn die zerstörte zwischenmenschliche und ethi-
sche Beziehung durch Anerkennung von Verursachung und Schuld wiederhergestellt wurde
[… und] nicht einfach, wenn die Zeit vergeht“ (LdP, S. 77). Die Struktur von Situation-
Reaktion-Prozess wird hier mit ‚SRP‘ abgekürzt.
114 Das Konzept des kumulativen Traumas, wo es durch die Akkumulation für sich bewältigba-
rer Ereignisse zu Traumatisierung kommt, wurde von Masud Khan vorgeschlagen, der Be-
griff der sequentiellen Traumatisierung geht auf die bereits erwähnte Studie von Hans Keil-
son zurück und bezieht sich auf Ergebnisse einer Längsschnittuntersuchung zum Schicksal
jüdischer Kriegsweisen, in der aufeinander folgende Phasen unterschieden werden (vgl.
Khan 1963 und Keilson 2005d). Die Begriffe werden in der Traumaliteratur wiederholt mit-
einander vermengt.
115 Zur Bedeutung der sozioökologischen Frameworks wie sozialer Mikrosysteme, Exosysteme
und Makrosysteme vgl. Frewen et al. 2013, die mit Verweis auf die Studie zu Kindesmiss-
handlung von Cicchetti/Toth 2005 festhalten, dass zahlreiche Fälle von Missbrauch und
Vernachlässigung nicht als isolierte Begebenheiten, sondern innerhalb einer pathogenen
Beziehungsumwelt stattfinden, die durch chronisches Ausgesetzt-Sein von Gewalt und
Missbrauch charakterisiert ist. Vgl. auch die zunehmende Erkenntnis, „dass PTBS selten eine
Reaktion auf nur eine traumatische Erfahrung darstellt“ (Neuner et al. 2009, S. 308).
116 Mit experimentellen/künstlichen ‚Neurosen‘ hatte bereits Pawlow komplexe Folgen radika-
ler ‚Erschütterung‘ bei Tieren nachgewiesen; vgl. zu den Implikationen für die Traumatolo-
gie Tschan 2005, S. 47, mit Diskussion der betreffenden Darstellung im LdP. Tschan fokus-
siert auf die Konsequenzen basaler, grundlegender Vertrauenserschütterung. Pawlows
Hunde hatten erst durch Irritation zuvor erlernter Regeln apathisch und resignativ reagiert.
2.2 Dimensionen des Begriffs ‚Trauma‘ 53
keit ergibt sich offensichtlich aus dem gleichzeitigen Definitionsversuch von ‚traumatischer
Erfahrung‘ und ‚psychischem Trauma‘.
121 Die Frage ist also die nach Formen kollektiver Erschütterung. Luhmann fasst das Thema
theoretisch als eines des 19. Jahrhunderts auf, wo die sich etablierende Soziologie in der
Abgrenzung von der Psychologie „zunächst mit dem Gegensatz von Individualismus und
Kollektivismus zu ringen“ hatte (Luhmann 2012, S. 350), wobei er bereits für die Fragestel-
lung (bis Habermas) die grundlegende Problematik eines Ganzheitsbezugs konstatiert. Re-
formuliert wird der Gegensatz, Luhmann zufolge, durch Talcott Parsons Subsumption des
personalen und des sozialen Systems unter ein allgemeines Handlungssystem (vgl. ebd., S.
353), wobei zwar die Einheitskonzeption durch konstitutive Differenz ersetzt wird, die
Selbstreferenz allerdings verloren geht. Sein eigener Versuch setzt auf die Differenz der Au-
topoiesis sozialer und psychischer Systeme mit Bewusstsein als spezifischem Operations-
modus psychischer Systeme und Kommunikation als dem des Gesellschaftssystems (vgl.
ebd., S. 60 u. S. 355). Traumatische Ereignisse könnten nach diesem Modell, je unterschied-
lich für soziale und psychische Systeme, über Selbstbeschreibung und systemeigene Opera-
tionen, Bearbeitungsprozesse oder Bezugsrahmen beschrieben werden.
122 Der Referenzpunkt des Selbst- und Weltverständnisses erscheint zwar für Kleist nicht als
unpassend, da dessen Erschütterung etwa in Abschnitten des Prinzen von Homburg gerade-
zu vorgeführt wird, müsste aber weiter gefasst und auf nicht bewusste Prozesse ausgedehnt
werden. Der erste Schritt im Homburg ist die Erschütterung des ‚gefühlsbestimmten‘, siche-
ren Selbst- und Weltverständnisses des Prinzen, hier ist der Ausdruck stimmig. Der zweite
ist die Erschütterung angesichts der Konfrontation mit dem Tod, wo dann die Rede vom
Verständnis nicht mehr so einfach ist (s. u.). Im Zweikampf wiederum ist deutlich, wie Er-
schütterung des Selbst- und Weltverständnisses auf einer nicht bewussten Ebene erfolgen
kann, was wiederum die Begriffswahl des LdP stützt, sofern sie kritisch bleibt: Der Protago-
nistin ist, so viel ist aus dem Text unschwer erlesbar, ihr Selbst- und Weltverständnis kaum
bewusst, was an dessen Erschütterung aber auch nichts abfedert (s. u.). Nur muss man sich
dann auch bewusst sein, dass man sich hier stets auf einer von außen kommenden Be-
schreibungsebene bewegt.
2.2 Dimensionen des Begriffs ‚Trauma‘ 55
differenzieren ist (s. u.). Ästhetisch liegt es nahe, an eine Radikalisierung des
antiken Peripetie-Konzeptes zu denken, das von Aristoteles außerhalb des
Traumatischen positioniert ist.123 Die Verbindungen einer konstitutiven
Erschütterung zur klassischen Moderne, und zwar zu ihrem Selbst- und
Fremdverständnis, sind zahlreich, die Spannung zwischen dem „behütete[n]
Sein im Kosmos“ und der sozialen „geistigen Erschütterung, ja Zerrüttung“
als Kennzeichen des Anbruchs der Moderne wird nicht nur bei Gerhard
Oberlin direkt mit der Situation des Einzelnen verknüpft. 124
Oft stärker im Hintergrund sind die Erschütternden oder Traumatisieren-
den, d. h. mit dem traditionellen Wort formuliert: die Täter. Schriftsteller
und Intellektuelle wie Jean Améry und Ruth Klüger verweisen auf die mögli-
che Reduktion durch den Blickwinkel der Beobachter von ‚Erschütterung‘
für menschlich verursachte Traumen, und damit auf die Gefahr schleichen-
der Entmündigung der Betroffenen.125
Per definitionem geht es um das Trauma der Seele, das so oft auch ein kör-
perliches ist,126 und zwar noch jenseits des aktuellen Diskurses um ‚Em-
123 Aristoteles schließt gerade die radikale Erschütterung des Weltverständnisses aus der
Poetik aus (s. B 1).
124 Sein Ausdruck für die subjektive Dimension ist „Bindungsdeprivation“ (Oberlin 2014, S. 37),
Georg Lukács hatte in seiner Analyse transzendentaler Orientierungspunkte, die mit No-
valis’ Begriff des ‚Heimwehs‘ als ‚transzendentalem Ort‘ und der so verstandenen Totalität
griechischer Philosophie einsetzt, die Form des Romans als einen „Ausdruck der transzen-
dentalen Obdachlosigkeit“ bestimmt und damit einen Schlüsselbegriff zur Beschreibung der
Moderne geprägt (Lukács 1916, S. 234). Seitdem wurden zahlreiche Begriffe entwickelt, die
mit dem der Erschütterung korrespondieren (siehe auch unten). In der Literaturwissen-
schaft geht der Erschütterungsbegriff dem Traumabegriff voraus, vgl. etwa beispielhaft Be-
da Allemanns Essay zu Ironie, die als: „ein Weltzustand beschrieben wird, wie er für Hof-
mannsthal durch die Erschütterungen des sozialen Gefüges im Ersten Weltkrieg sich ent-
hüllt hatte“ (Allemann 1970, S. 32). Der Topos der Erschütterung in der Moderne ist nicht
nur in der unter C 3 analysierten Schlafwandler-Trilogie Hermann Brochs omnipräsent. Kurt
Pinthus etwa versucht a posteriori den Expressionismus als „das voranzeigende Barometer
der Erschütterungen unseres Jahrhunderts“, zu rekonstruieren. (Pinthus 2007, S. 272) Wie-
derholt wird für die ‚Erschütterung der Moderne‘ das Verhältnis der Renaissance zum Mit-
telalter als Vorlage gesehen. S. auch Abschnitt C.
125 Klüger spricht wiederholt davon, sich nicht auf Auschwitz reduzieren zu lassen und Améry
hält gegen eine diagnostische Vereinnahmung fest, eben nicht traumatisiert zu sein (Améry
2012, S. 171, s. auch unten).
126 Fischer/Riedesser verweisen auf Abram Kardiners frühe Unterscheidungsversuche zwi-
schen Physio- und Psychotrauma (1941), die er im Kontext der ‚traumatischen Kriegsneu-
56 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
rose‘ entwickelt (vgl. LdP, S. 32), wobei er Trauma als Verwundung/Verletzung („Trauma
means injury“) festlegt (Kardiner 1941, S. 74) und psychische Aspekte körperlicher Phäno-
mene als „Trauma“ von seiner Bestimmung der „traumatischen Neurose“ (vgl. ebd., S. 84)
abgrenzt. Dabei ist auch die Rede von physiologischen Komponenten, die aufhören, solche
zu sein (vgl. ebd., 71 f.).
127 Der Diskurs zu ‚Embodiment‘ (vgl. für den konstruktivistisch-kognitionswissenschaftlichen
Kontext Varela et al. 1991) ist im Kontext des Traumas oft verknüpft mit der auf Körper-
lichkeit abhebenden Philosophie Merleau-Pontys (vgl. etwa McDonald 2012). Zu körperbe-
zogenen Traumakonzeptionen jenseits von Subjekt und Erinnerung vgl.: „Trauma wird hier
als eine körperliche Einschreibung verstanden, die der Überführung in Sprache und Reflexi-
on unzugänglich ist und deshalb nicht den Status von Erinnerung gewinnen kann“ (Ass-
mann 2010, S. 278). Vgl. auch den eingangs zitierten Diskurs zur Körperwahrheit und die
Frage der körperlichen Speicherung in Culbertson 1995. Für den praktischen Kontext kom-
plementärer Körpertherapien sowie nur körperbezogener Ansätze vgl. im Überblick Ma-
ercker 2009d, S. 142. S. auch den Abschnitt zu Lefeu in D 1.
128 Vgl. eine etwas andere Variante in Van der Kolk/McFarlane 2000, die die Differenz erst zu
den gegenwärtigen Diskursen ziehen und dabei seelische und körperliche Auswirkungen
des (wohl als solchen verstandenen) Psychotraumas verknüpfen: „Obwohl Kunst und Lite-
ratur sich schon immer die Bewältigung der unausweichlichen Tragödien des menschlichen
Lebens zum Thema gemacht hatten, mußten großangelegte wissenschaftliche Untersuchun-
gen zu den Auswirkungen von Traumata auf Leib und Geist bis zum Ausgang dieses Jahr-
hunderts warten“ (S. 27).
129 Zu Kleist und Améry s. u.
130 Vgl. Grugger 2010, S. 113 bzw. s. u.
2.2 Dimensionen des Begriffs ‚Trauma‘ 57
Die Hinwendung zum Trauma kann als Versuch der Re-Integration des Er-
eignisses gelesen werden, und zwar gerade in Abgrenzung zur Analyse inne-
rer Prozesse, wie sie für die Psychoanalyse dominant waren. Fischer/Ried-
esser versuchen dies als Dialektik von Ereignis und Erlebnis zu fassen (s. o.).
Damit verknüpft wäre eigentlich auch eine Re-Integration des Täters in die
Beobachtung zu erwarten, was sich allerdings deutlich ambivalenter verhält
und an einem Pol des Diskurses sogar bis hin zu ihrem Verschwinden reicht,
wie dies etwa in der erwähnten Studie Wie Traumata in die nächste Genera-
tion wirken stattfindet.131
Einige semantische Kämpfe, die hier abzweigen, können zwischen den Ge-
gensätzen von einerseits (erneuter) pathologieorientierter Erfassung der
Traumatisierten und andererseits Besetzung des Trauma-Begriffs als Kritik
an dieser Pathologisierung anschaulich gemacht werden.132 Auf der einen
Seite kommt es also, schematisch dargestellt, in der sogenannten Nomenkla-
tur der Psychopathologie zu einer Erweiterung um den Traumabegriff, wäh-
rend auf der anderen Seite etwa mit dem hässlichen Wort ‚Sollbruchstelle‘
argumentiert wird, um traumatische Reaktionen und Prozesse, wieder zu-
gespitzt formuliert, als ‚normal bzw. gesund‘ den ‚abnormen‘ Ereignissen
gegenüberzustellen.
Bruch/Riss
Zentrale Felder rund um den Begriff Trauma sind mit der Dimension des
Bruchs oder Risses bezeichnet, wobei hier eine besonders intensive Meta-
phorisierung stattfindet. Dabei geht es um den modernen Riss im Subjekt133
sowie den Riss von Subjekt zu Gesellschaft,134 der traumatische Erfahrungen
131 Vgl. Baer/Frick-Baer 2010. Andererseits ist allerdings die gegenwärtige Auseinanderset-
zung um das Trauma auch als Antwort auf die Kritik zu verstehen, die Améry etwa an Be-
griff und Verständnis „traumatisiert“ äußert bzw. im Sinn hat (s.u.).
132 Die Beschreibung von Trauma als ‚normale Reaktion‘ auf eine pathologische Situation ist
üblich, so etwa eindringlich Fischer in Kausale Psychotherapie (Fischer 2007, S. 17) in seiner
Argumentation gegen eine Verwendung der Salutogenese Antonovskys zur Opferbeschuldi-
gung auf Umwegen (vgl. ebd. S. 15–17).
133 Vgl. B 2 zu Gottfried Kellers Winternacht als einen näher analysierten Ausdruck dafür sowie
zahlreiche literarische Beispiele in den einzelnen Abschnitten.
134 Dieser zweite Aspekt bildet einen wichtigen Einschnitt der peritraumatischen Erfahrung für
Fischer/Riedesser (s. o.). Ihre Perspektive unterscheidet sich von der oft betonten Strategie
der (isolierten) Integration traumatischer Erfahrung durch die Überlebenden insofern, als
sie auf soziale Komponenten und potentielle äußere Bedingungen einer ‚Schließung‘ des
Risses abheben, um sich so von einer bloß begrifflichen Verschiebung der traditionellen
Psychoanalyse zu unterscheiden und ihr ‚dialektisches Modell‘ zu forcieren. Vgl. zur Verbin-
58 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
dung der beiden Dimensionen: „Ich war ein Mensch, der nicht mehr ‚wir‘ sagen konnte und
darum nur noch gewohnheitsmäßig, aber nicht im Gefühl vollen Selbstbesitzes ‚ich‘ sagte“
(Améry 2012, S. 86). Judith Herman behandelte diese Frage in einem Kapitel der intensiv
rezipierten frühen Studie Trauma and Recovery (Die Narben der Gewalt) unter dem Titel der
„Disconnection““ (vgl. Herman 1992, S. 51–73), in die deutsche Fassung übersetzt mit dem
sprechenden Begriff der „Nichtzugehörigkeit“.
135 Vgl. etwa das Thema der Einsamkeit bei Broch (C 3) sowie die Kapitel D 2 und D 3.
136 Dieser Bruch mit traditionellen Formelementen äußert sich u. a. an der Aufhebung chrono-
logisch geschlossener Narration oder der fortgesetzten Auflösung von Gattungsmerkmalen
und –grenzen, die etwa Peter Szondi 1959 mit enormer Folgewirkung für das Drama in die
Theorie der Episierung fasst und (ungeachtet zu berücksichtigender Fortentwicklung) recht
überzeugend in den psychologischen Grundlagen der Zeit positioniert (vgl. Szondi 2013).
137 Metaphorisch (ethymologisch-heideggerianisch) argumentiert, sind Sprünge von Bruch zu
Gesellschaft, Brüche im Erzählen, Gebrochen-Sein leicht zu verbinden. Wie weit hier Ver-
bindungen sinnvoll sind, ist die wohl entscheidendere Frage.
138 Besonders relevant für diesen Diskurs zu Brüchen sind die Schlafwandler, siehe unten.
2.2 Dimensionen des Begriffs ‚Trauma‘ 59
Trauma als Bruch (in) der Kommunikation darstellen. Das Ende zumindest
der technischen Seite dieses Modells, vorangetrieben durch konstruktivisti-
sche Vorbehalte gegenüber einem naiv konzipierten Informationsaustausch,
korrespondiert historisch mit der zunehmenden Überdeterminierung des
Trauma-Begriffs. Zurückgewiesen werden damit auch hier allzu reibungslo-
se Vorstellungen von Kommunikation zugunsten von Fragen ihrer grund-
sätzlichen Möglichkeit.139 Anders formuliert: wer sich für Trauma interes-
siert, wird auf (kommunikative) Brüche achten, wie sie bei und seit den
Nachtwachen. Von Bonaventura, Kleist, E.T.A. Hoffmann oder Büchner im-
mer wieder literarisiert werden (s. u.). Kafka etwa wird besonders deutlich
machen, wie rezeptive Prozesse in die Zersetzung von Kommunikation inte-
griert werden können.140 Die Verknüpfung zur Dissoziation erfolgt in litera-
rischen Texten unter anderem über eine Figurenführung mit voranschrei-
tender Auflösung der Stabilität.141
Auch die Metapher der körperlichen Einschreibung des Traumas jenseits des
Subjekts und der Sprache zielt über das Kommunikationsmodell hinaus und
eröffnet eine alternative Vorstellung dieser doppelt isolierten Position des
Traumas als Gebrochen-Sein. Eine gewisse Endgültigkeit des Bruchs wird in
dem Komplex zu suchen sein, der in so verzerrender Weise als Traumato-
philie bezeichnet/rekonstruiert wird (s. u.).142 Über Trauma- und Erinne-
rungsdiskurse werden Aussagen wie die folgende, von Michaela Holdenried
im Kontext von Christa Wolfs Kindheitsmuster getätigte, charakteristisch:
„Spaltungen und Risse, in der Vergangenheit entstandene Wunden reichen
bis in die Gegenwart.“143
Zentrale Begriffe des LdP sind der traumatische Prozess (TP), das Trauma-
schema (TS), das traumakompensatorische Schema (TKS) und das zentrale
traumatische Situationsthema (ZTS).144 Das TS ist nahe am Begriff der Ret-
raumatisierung und betrifft das in der Situation gespeicherte Schema, die
Re-Aktivierung peritraumatischer Erfahrungen, implizite Erinnerungen
sowie die Tendenz zur Wiederholung. Etwas abstrakter formuliert, diskutie-
ren Fischer/Riedesser mit diesem Begriff die Tendenz zur Wiederholung,
zur Wiederaufnahme und Assimilation „aller Reize, die subjektiv in seinen
Radius [i. e. des Traumas] fallen“ (LdP, S. 396) und stellen diese in eine
Spannung zu traumakompensatorischen Aktivitäten, die sie ebenfalls als
Schema (TKS) fassen und eng an die Dissoziation binden. Dessen Zweck ist
eine erträgliche Dosierung, wie sie u. a. durch „States of minds“ und (unver-
bundene) „Skriptteile“ erreicht wird.145 Die Dynamik von TS und TKS be-
stimmt in ihrer Theorie den traumatischen Prozess,146 ihre Kritik an der
Nomenklatur stellt sich hier so dar, dass bloß symptomorientierte Klassifi-
kationen an der (doppelten) Dynamik des Prozesses zwangsläufig vorbeige-
hen.147 Mit dem Begriff des zentralen traumatischen Situationsthemas ver-
suchen sie, den (subjektiven) Erlebnisbereich zu integrieren (in Ergänzung
zum Ereignis): dasjenige, „was die Person zutiefst getroffen und verletzt
hat“, wobei sie dezidiert frühe „traumakompensatorische Mechanismen und
Strukturen“ als „besonders anfällig“ für den Riss/das Zerbrechen schildern.
144 Vgl. zur genaueren Bedeutung dieser Begriffe v. a. den Abschnitt zu „Strukturveränderungen
im traumatischen Prozess“ (LdP, S. 102–12).
145 „Das kompensatorische Schema entwirft ein verändertes Script oder Drehbuch, in dem die
traumatische Erfahrung zwar enthalten ist, jedoch in erträglicher Dosierung und Verarbei-
tung“ (LdP, S. 144).
146 Ihre Überführung der Freud’schen Verdrängungslehre in die Psychotraumatologie besteht
im „automatischen Charakter, bei dem der Selbstbezug des Handelns verloren geht“, den
das „Gegeneinander von traumatischer Angst und kompensatorischer Abwehr“ annimmt
(LdP, S. 117).
147 Zu Symptomen als Kompromiss vgl. LdP., S. 396.
2.2 Dimensionen des Begriffs ‚Trauma‘ 61
(LdP, S. 399) Gemeint sind also Angriffe auf diejenigen Strukturen, die be-
reits auf Traumatisierung antworten.
Der Begriff des Traumas soll eingegrenzt werden, um nicht zum Schlüssel
für alles zu werden, so eine ebenso bekannte wie nachvollziehbare Forde-
rung. In diesem Kontext sind die Versuche zu sehen, Dissoziation über Janet
in den Mittelpunkt zu stellen oder auch die Fokussierung auf ein auslösen-
des Ereignis, das über bestimmte Trigger zu Intrusionen führen kann. Jede
begriffsschärfende Bestimmung funktioniert allerdings auch auf Basis der
Differenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit.
148 Bereits ausgeführt in Nietzsches bekanntem Bild vom Abgrund. Schreiben wird von Psycho-
traumatologen (anders als von Dichtern) eher als sublimierende Transformation denn als
potentiell selbst traumatisch wahrgenommen: „Viele Überlebende scheinen ihr Trauma
zeitweilig überwinden und ihren Schmerz in Akte der schöpferischen Sublimation trans-
formieren zu können, wie anscheinend die Schriftsteller und Holocaust-Überlebenden Jerzy
Kosinski und Primo Levi dies getan haben, nur um am Ende doch der Verzweiflung ihrer Er-
innerungen zu erliegen“ (Van der Kolk/McFarlane 2000, S. 27).
62 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
149 Die sogenannten „Kriegszitterer“, historischer Ausgangspukt für die ‚traumatische Neurose‘
(s. o.) würden heute wohl ebenfalls als extremes Trauma abgegrenzt, wobei sich auch hier
die Frage stellt, ob ‚Ereignis‘ und ‚Erlebnis‘ hier passende Begriffe darstellen.
150 Traumatische Ereignisse können unter bestimmten historischen/sozialen gesellschaftlichen
Verhältnissen, an bestimmten Orten, zur Normalität werden, waren dies und sind dies an-
haltend, was wiederum den Diskurs zum Primat der Veränderung der gesellschaftlichen
Verhältnisse vor der Änderung individuellen Leids, wie er an der Ökonomie festgemacht
wurde, zurück ins Spiel bringt bzw. dessen Hintergründe erhellt (s. B und C). Einen frühen
Versuch der Verbindung zu Postcolonial-Studies mit kritischer Hinterfragung eurozentri-
scher Positionen stellt der Sammelband Bennett/Kennedy 2003 dar, wo der Traumabegriff
an vielen Orten als psychoanalytisches Erbe verstanden wird. Von Problemen mit der PTSD-
Orientierung, mit „starren ‚westlichen‘ Diagnosekriterien“, in der Begutachtung österreichi-
scher Asylsuchender berichtet der auf ein diesbezügliches Forschungsprojekt beruhende
Sammelband Interkulturelle Traumadiagnostik (Ottomeyer/Renner 2006, S. 9).
151 Siehe auch oben. Es sind nicht zuletzt Dostoevskijs komplexe narrative Verfahren, die insbe-
sondere durch die (Bachtins Überlegungen fortführenden) Arbeiten Wolf Schmids sichtbar
gemacht wurden, die eine umfassende Bezugnahme auf Raskolnikows Erleben der Armut
ermöglichen, gerade im Vergleich zur Vielzahl literarisch-realistischer Studien, die eher ei-
nen Außenblick vermitteln.
2.2 Dimensionen des Begriffs ‚Trauma‘ 63
Dissoziation ist der Ausgangsbegriff von Janet und wurde zum zentralen
Begriff der Psychotraumatologie sowie des Traumadiskurses insgesamt.152
Fischer/Riedesser legen ihn ihren beiden Schemata, TS und TKS, zugrunde.
Eine wichtige Differenz zur Verdrängungsmetapher153 liegt, vorsichtig for-
muliert, zunächst in der Problematisierung des subjektiv Gegebenen. Ver-
wendungsweisen von Verdrängung setzten meist voraus, dass ein Ereignis
registriert worden war (s. o.). Einfach formuliert: Damit etwas verdrängt
werden kann, muss es nicht unbedingt bewusst sein, aber es muss als relati-
ve Einheit wahrgenommen werden, damit sinnvoll davon gesprochen wer-
den kann, dass es verdrängt wird. Die Traumaforschung kam für viele Fälle
zu anderen Schlüssen und fokussierte dabei auf die (möglichen) dissoziati-
ven Phänomene des Erlebens. Dann ist die Re-Konstruktion des Ereignisses
noch in einem viel grundlegenderen Verständnis als Konstruktion zu be-
zeichnen.154 In Relation zu den sogenannten subjektiven und objektiven
Elementen des Traumas, von Fischer/Riedesser mit dem Begriff der trauma-
tischen Situation als Dichotomie von Ereignis und Erlebnis gefasst, bezieht
sich Dissoziation auf die (mögliche, partielle oder dissoziative) subjektive
Registrierung durch Betroffene.
Auch hier stellt sich die offene Frage nach einem echten Zusammenhang
dissoziativer Prozesse, wie sie für den traumatischen Prozess beschrieben
werden,155 mit dissoziativen Formen des Schreibens, wie es etwa Rilke,
Kafka, Broch oder Bachmann im Kontext traumatischer Themen betreiben
(s. u.). In Rilkes Fall geht es um eine sukzessive Ablösung ihrer lyrisch poin-
tierten Darstellung, die ein zwar durchaus komplexes, aber eben noch ein-
152 Vgl. zu unterschiedlichen Dissoziationstheorien Spitzer et al. 2015, deren eigenes integrati-
ves Modell die akute Belastung deutlich mit Biographie, Genetik und Neurobiologie im Sinne
von Prädispositionen verknüpft und somit einen gewissen Kontrast zur Rede von der auf
die ‚Sollbruchstelle‘ bezogenen Dissoziation darstellt: „Während es bei einer hohen Dissozi-
ationsneigung für die Symptomauslösung, also die Manifestation von dissoziativen Zustän-
den respektive Störungen, nur geringer psychosozialer Belastungen bedarf, können massive
Traumatisierungen auch bei psychisch Gesunden ohne entsprechende Disposition dissozia-
tive Phänomene hervorrufen“ (S. 35).
153 Siehe zu Verdrängung auch Kapitel 1 dieses Abschnitts.
154 Betroffen ist davon auch LaCapras Leitdifferenz von ‘Working out’ und ‘Working through’
(s. o.).
155 Zu TS und TKS s. o.
64 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
heitliches Gebilde erzeugte.156 Mit dem Begriff der Dissoziation können Pro-
zesse der Defokussierung verknüpft werden, wie sie als Technik der klassi-
schen Moderne präsent sind und sich in Richtung Spätmoderne steigern. 157
Weiter gibt es spätestens seit E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann literarische
Beobachtungen zur möglichen Wechselwirkung von (durch einen Trigger
ausgelöster) Intrusion und dissoziativen Momenten.158
Ideengeschichtlich ist Verdrängung ein Begriff, der auf den im 19. Jahrhun-
dert forcierten Entfremdungsdiskurs antwortete und mit diesem kompati-
bel ist. Im Sinne des Fortwirkens befinden wir uns dabei in einer Vorstel-
lungswelt, die ein kongruentes Ich als Fluchtpunkt voraussetzt, dem man
sich wieder annähern könnte (Ich-Identität). Wenn eine Verschiebung vom
‚entfremdeten‘ zum ‚zerspaltenen‘ Ich beobachtet wird, zu Rissen im Sub-
jekt, so löst die Dissoziation den Leitgedanken der Verdrängung zumindest
partiell ab.159
Die Spannung von Ganzheit vs. Zersplitterung vor dem Hintergrund des auf
Einheit beruhenden, mit sich selbst übereinstimmenden Subjekts kennt
allerdings (zumindest in Ansätzen) bereits die Aufklärung, inklusive der
Vorstellung ihrer magischen Wiederherstellung:
Man sagt, daß Zauberdoktoren aus Japan vor den Augen der
Zuschauer ein Kind zerteilen und das Kind dann, nachdem sie
alle seine Glieder nacheinander in die Luft geworfen haben,
wieder völlig zusammengefügt herabfallen lassen. (Rousseau
2010, S. 59)
156 S. zu dieser Thematik bei Rilke ausführlich C 1, zu Kafkas Poetik s. C 2, zu Bachmanns Malina
aus dem Todesartenzyklus s. D 2.
157 Vgl. als einen komplexen technischen Einschnitt Brochs Schlafwandler mit systematischem
Wechsel des Beobachtungspunktes in der Strukturierung als Zyklus, besonders im Hinblick
auf die Wiederaufnahme der Figuren (C 3).
158 Intrusionen werden im PTSD-Kontext definiert als „[u]ngewollt wiederkehrende und belas-
tende Erinnerungen oder Erinnerungsstücke“, deren „Intensität […] von Einzelerinnerungen
bis zum Überwältigtwerden von der Erinnerung“ reicht (Maercker 2009c, S. 17). Sie können
spontan auftreten oder durch einen Schlüsselreiz, einen sogenannten Trigger, ausgelöst
werden.
159 Literarisch geht es um die zunehmende Aufhebung der „Eigenheit“ von Figuren (vgl. für
Kleist in Differenz zu Goethes Egmont Grugger 2010, S. 46. In den untersuchten Texten wird
diese Bewegung rekonstruiert, die sich philosophisch spätestens mit dem sogenannten
Poststrukturalismus zuspitzt.
2.2 Dimensionen des Begriffs ‚Trauma‘ 65
160 Die psychoanalytische Wiederkehr des Verdrängten wird teils reformuliert als Wiederkehr
der Traumen, was zunächst nahe zu liegen scheint. Bereits die ‚traumatische Neurose‘ steht
unter besonderem Wiederholungsdruck (vgl. Laplanche/Pontalis 1973, S. 629), geht aller-
dings unter den Aspekten der „Verschiebung, Verdichtung, Konversion, etc.“ vor sich (ebd.
632). Insgesamt findet über die Begriffe Trauma, Dissoziation und Retraumatisierung eine
Veränderung grundlegender Vorstellungen statt.
161 Für den deutschen Sprachraum ist die Situation als spezifisch zu betrachten, da die einfluss-
reiche und auch hier häufig zitierte psychotraumatologische Konzeption Fischer/Ried-
essers, die intensiv auf Freud zurückgreifen, einer über den Traumabegriff reformulierten
dialektischen Psychoanalyse zugehört.
162 Vgl. etwa die viel diskutierte Bedeutung von Triggern am Beispiel iatrogener Retraumatisie-
rung in Scherman/Kersting 2015 (S. 276–278) oder die bereits eingangs erwähnte Proble-
matik der Versprachlichung bei Culbertson (s. auch unten).
163 Die Präsenz der traumatischen Erfahrung wird in diesem Kontext u. a. über die Metapher
des ‚Fremdkörpers‘ formuliert (s. u.). Die Textanalysen werden zeigen, dass in der Literatur
eher Gesamt-Metamorphosen versucht werden als eine Integration in ein bestehendes Sys-
tem. In jedem Fall wird darum gerungen, dass der ‚angestrebte Zustand‘ die traumatische
Erfahrung als solche aufnehmen müsste. Zudem sind die Definitionen zu Trauma als Erfah-
rung, die sich nicht integrieren lässt, zahlreich.
66 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
164 Zur problematischen Konzeption von ‚Vergessen‘ als ‚Mitschuld‘ vgl. Boll 2001 und Boll
2007, wo die Situation des über die Verbrechen des Holocaust berichtenden Zeitzeugen im
Mittelpunkt steht.
165 Zu Introjekt und Trauma vgl. Rosenberg 2010 aus um Vermittlung bemühter psychoanalyti-
scher Sicht, der die Entwicklung des Introjektkonzepts von den frühen diesbezüglichen Ar-
beiten von Ferenczi und Klein ab 1909 bis zu jüngeren Studien von Bollas und Kernberg
verfolgt (vgl. S. 9–31). Als entscheidend hält er dabei die Verschiebung des Blickwinkels
„von der Introjektion des personifizierten Objekts zur Introjektion der [ambivalenten] Be-
ziehung zum [Partial-]Objekt“ fest (ebd., S. 15). Neben Dissoziationen kommt dabei Diffusi-
onen (Verschmelzungserlebnissen) besondere Bedeutung zu, die das eigene Überleben ab-
sichern sollen (vgl. ebd., S. 22). Rosenberg argumentiert dafür, dass auch eigene „Ich-Anteile
des abgespaltenen [peritraumatischen] Selbsterlebens“ introjiziert und dann „diese konser-
vierten Selbstzustände ebenso wie die Niederschläge des Objekterlebens dem Ich als fremd-
artige innere Objekte“ gegenübertreten (ebd., S. 23). Weiter argumentiert er für eine Diffe-
renzierung integrierbarer und traumatischer Objekte (vgl. ebd., S. 25) und definiert letzere,
in deutlicher psychoanalytischer Sprachführung, als „einen abgespaltenen Ort im psychi-
schen Apparat, der sich dem denkenden Ich mitsamt seiner Symbolisierungsversuche mit-
tels Spaltung und Verleugnung entzieht“ (ebd., S. 26).
166 Vgl. zur Aufhebung dieser Grenze in der Psychotraumatologie und zur Verbindung mit der
Integration des Ereignisses Seidler 2009, S. 5.
167 Man beachte auch die Verbindungslinie zum ‚Traumatophilie‘-Diskurs.
2.3 Zeit und Rekonstruktion 67
Während die Zeitlosigkeit des Unbewussten seit Freud thematisch ist und u.
a. in die Konzeption des Dr. Faustus einfloss,170 wird im Kriterienkatalog der
ICD auf Latenz als bedeutend für das Traumaverständnis hingewiesen (s. o.)
und in DSM V die Spezifikation einer möglichen „delayed expression“ einge-
fordert:171 Folgewirkungen können verzögert auftreten.
Da ungewöhnliche Wirkungen seit jeher Thema von literarischen Aufzeich-
nungen und Fiktionalisierungen sind und das Konzept der Latenz durch
Freud hinreichend bekannt ist und das Unwahrscheinliche geradezu anbie-
tet, wäre bereits für Romane der klassischen Moderne ein direktes Aufgrei-
fen in der Literatur zu vermuten. In den in Abschnitt C diskutierten Roma-
nen wird allerdings das Unzureichende der Kausalitätsentwürfe des 19.
Jahrhunderts intensiv bearbeitet und mit einer komplexen psychischen
Der zynisch anmutende Begriff der Traumatophilie geht zurück auf Karl
Abrahams Psychoanalytische Studien178 und ist begriffsgeschichtlich mit dem
Todestrieb verknüpft sowie mit dem Wiederholungszwang,179 der sich in
konziser Form definiert als „nicht bezwingbarer Prozeß unbewußter Her-
kunft, wodurch das Subjekt sich aktiv in unangenehme Situationen bringt
177 Letzteres etwa in dem häufigen „Irgendwie“ der Weitergabe in Baer/Frick-Baer 2010. Aber
auch Mathias Hirsch bleibt im Bereich mechanistisch zwanghafter Denkmodelle, und spricht
vor dem Hintergrund des Verdrängungsparadigmas vom Zwang „die eigenen unbewältigten
Komplexe den Kindern zu implantieren, wo sie als wahrlich Fremdes, also als Introjekt,
wirksam werden“ (Hirsch 1997, S. 278).
178 Vgl. Abraham 1998a, S. 176}. In Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen, seinem Beitrag zur
Diskussion über Kriegsneurosen auf dem Internationalen Psychoanalytischen Kongress
1918, konstatiert er genuin labile, wenig männliche Personen, die durch eine „veränderter
Situation“, „die nur sehr geringfügig zu sein braucht“ von schwach aktiv auf gänzlich passiv
mutierten (Abraham 1998b, S. 61). Für diese so definierten ‚Kriegsneurotiker‘, auf die wir
uns heute als Überlebende beziehen würden, spricht er von regressiven Tendenzen, die dem
Narzissmus zustrebten, gebunden an Homosexualität. Historisch bedeutend ist die Fokus-
sierung auf starke Prädisposition, sexuelle Ätiologie und neurotischer Struktur bei zugleich
radikalem Absehen vom Ereignis. Insofern ist sein Beitrag zur ‚Kriegsneurose‘ ein scharfes
Gegenbild zu den gegenwärtigen Diskursen, der historische Probleme psychoanalytischer
Positionen mit dem Traumaansatz offenlegt: „Vertrat die Psychoanalyse in Friedenszeiten
die sexuelle Ätiologie der Neurosen, so hielt man ihr oft die traumatischen Neurosen entge-
gen“ (ebd., S. 58). Vgl. zur Thematik den Sammelband zu Karl Abrahams Begriff der Trauma-
tophilie (Frank/Hermanns 2006).
179 Vgl. dazu Laplanche/Pontalis 1973, S. 627–631, wo Edward Bibrings Vorschlag diskutiert
wird, den Wiederholungszwang in Es und Ich-Komponenten aufzuteilen und für letztere
festgehalten wird: „Die restitutive Tendenz ist eine Funktion, die auf verschiedenen Wegen
versucht, die Situation vor dem Trauma wiederherzustellen“ (ebd., S. 630).
70 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
180 LdP, S. 84 (Herv. im Orig.). Bezeichnet wird mit dem Zeigarnik-Effekt die Tendenz zur Wie-
deraufnahme unterbrochener Handlungen (vgl. S. 84 f.). Diese Tendenz sei als langfristige
Folge der aktuellen (möglichen) katatonischen „Lähmung oder Erstarrung“ (in der perit-
raumatischen Situation) gegenüberzustellen (ebd., S. 84).
181 Es geht um den oben diskutierten Riss im Subjekt und um den Riss von Subjekt zu Gesell-
schaft.
2.3 Zeit und Rekonstruktion 71
182 Hier erfolgt (ohne weitere Theoretisierung) die nahe liegende Verknüpfung zum Konzept
des Todestriebs: „Freud hat in seiner Schrift ‚Jenseits des Lustprinzips‘ verschiedene dieser
traumabedingten Wiederholungsphänomene mit einem ‚Todestrieb‘ in Verbindung ge-
bracht, was historisch sehr zur Verkennung von Traumafolgen beigetragen hat“ (ebd.).
183 Ebd., S. 93. Sie schlagen an dieser Stelle selbst die Brücke zum Begriff des Introjekts als
Fremdkörper, wie etwa von Rosenberg 2010 konzipiert (s. o.).
184 Vgl.: „Those traumatized by extreme events, as well as those empathizing with them, may
resist working through because of what might almost be termed a fidelity to trauma, a fee-
ling that one must somehow keep faith with it“ (LaCapra 2001, S. 22).
185 Sätze dieser Art sind in medialem Kontext zumindest im englischsprachigen Raum nicht
unüblich. Von sozialem Druck und häufiger Resignation von Überlebenden berichtet Boll
2007, S. 32. Fischer/Riedesser betonen im LdP wiederholt die Wichtigkeit der sozialen Re-
aktion und diagnostizieren Umkehrprozesse. Améry wehrt sich gegen die Diagnose und A-
dorno sieht noch den omnipräsenten Zynismus im Umgang mit traumatischen Erfahrungen.
S. auch den Punkt zu Stigma unten.
72 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
social heißt: „Die Sklaven verlieren in ihren Ketten alles bis hin zu dem
Wunsch, ihnen zu entrinnen; sie lieben ihre Knechtschaft wie die Gefährten
des Odysseus ihr tierisches Wesen.“ Und weiter: „Gewalt hat die ersten
Sklaven geschaffen, ihre Feigheit hat diesen Zustand verewigt“. 186 Es findet
sich also auch hier die Implementierung der Verantwortung in das Opfer: es
sei ihre Feigheit, die den Zustand verewigt hat. Kant wird mit seiner Rede
von der Selbstverschuldung darauf zurückkommen, was Adorno in der Ne-
gativen Dialektik als Trug der Subjektivität dekonstruiert.
Ein anderer Ausgangspunkt findet sich über den faustisch-prometheischen
Trotz gegenüber dem Nichts in Nachtwachen. Von Bonaventura, wo mit den
traumatischen Existenzbedingungen abgerechnet und der Bruch in den
Mittelpunkt gestellt wird – beginnend mit dem Wechsel vom Dichter zum
Nachtwächter. Von hier aus reicht eine Linie bis zu Amérys Lefeu, dem Werk
von Thomas Bernhard oder dem von Werner Schwab, um nur einige Bei-
spiele zu nennen. Zwar ist mit diesen ästhetischen Codierungen des trauma-
tischen Risses keine ‚Traumasucht‘ oder ‚Liebe zum Trauma‘ dargestellt,
aber die Position des Traumatisierten kann auch nicht mehr verlassen wer-
den und es wird gleichsam an ihr festgehalten, um den Riss zu bestätigen. 187
Spätestens in der Romantik entsteht eine Verbindung zwischen Selbstwer-
dung und Todessehnsucht, die im Hinblick auf Subjektivierungsprozesse zu
betrachten ist. Freud selbst konnte bei seiner Konzeption von Wiederho-
lungszwang und Todestrieb intensiv aus der Literatur und der Philosophie
schöpfen.188 Neben dem Aufrechterhalten des Risses beobachtete Freud eine
stärker unbewusste, mechanistische Tätigkeit, und zwar die Mit-
Konstruktion von (traumatischen) Situationen der Ausweglosigkeit oder
Ohnmacht, was, metaphorisch formuliert, einem (nicht bewussten) Weiter-
spinnen an zerstörten Netzen entspricht oder der zitierten Definition des
Traumas als unterbrochene Handlung.
189 Laub 1995, S. 61. Wie bereits in Art and Trauma (Laub/Podell 1995) verwendet er in Truth
and Testimony die Lyrik Paul Celans zur Illustration. Für eine wichtige Analyse der Span-
nung zwischen den beiden Celan-Gedichten Todesfuge und Engführung vor einem traumato-
logischen Kontext, ausgehend von der modernen Sprachkrise, den „Aporien des Darstel-
lungswunsches“ (S. 31–34) und in Diskussion mit den Positionen Lyotards und A. Assmanns
vgl. Mahler-Bungers 2000. Man könnte traditionell von subjektiver Wahrheit sprechen, was
die Sache aber nicht verbessert, da es gerade für Traumatisierte um einen Diskurs zum Er-
eignis geht, das eben nicht vom Erlebnis abtrennbar ist.
190 Vgl. Laub 1995, S. 71. Der Holocaust wird vor dem Hintergrund des Fortunoff Video Archives
for Holocaust Testimonies der Yale University als nicht zu erzählendes und bezeugendes Er-
eignis schildert, das dennoch erzählt und bezeugt werden muss. Vgl. zur Kontextualisierung
auch Felman/Laub 1992 sowie Laub 2000. Die Ambivalenz selbst wurde prominent von
Lyotard entfaltet (s. u.).
191 Es kommt immer wieder zu diesem Punkt, wo die Wahrheit des Traumas von der Diskursi-
vierung zu lösen versucht wird, wie dies auch die Konzeption von Körperwahrheit prägt
(s. o.).
74 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
Erinnerung
deres Regelwerk, eine andere ‚Diskursordnung‘, ein anderes ‚Sprachspiel‘ überführt wer-
den“ (Anz 2002b, S. 331). Was dabei für die Philologie mit einem Verweis auf Kyora zurecht
eingefordert wird, ist eine stärkere Konzentration auf poetologische Verfahren (vgl. ebd., S.
332), einschließlich „literarische[r] Transformationen psychoanalytischer Theorieelemen-
te“ (ebd., S. 342). Vgl. auch Anz’ Konzeption des gegenseitigen Verhältnisses als „Interakti-
onsdrama“ (ebd., S. 335), die von Konkurrenz und Kooperation von Literatur und Psycho-
analyse ausgeht und nicht von einseitigen Einflüssen (vgl. ebd.).
196 Vgl. Potocki 2003, S. 699 f., wo der Dämon Don Belial eine Variante des faustischen Paktes
über die streng rational begründete Nicht-Unterscheidbarkeit, d. h. die letztliche Relativität
jeglicher Dichotomien wie ‚Gut‘ vs. ‚Böse‘, ‚Gerechtigkeit‘ vs. ‚Ungerechtigkeit‘ oder ‚Täter‘ vs.
‚Opfer‘ initiiert (vgl. auch Grugger 2011, S. 196). Vgl. zu dieser Frage v. a. auch die Ausfüh-
rungen zu Lefeu in D 1.
197 Vgl. Assmann 2010. Vgl. auch den einflussreichen Sammelband Caruth 1995 sowie Caruth
1996. Zu einer Kritik der impliziten Geschichtstheorie und der Aufhebung der Geschichte in
einer „universalisierten Traumatheorie“ vgl. Weigel 1999, S. 257. Caruth gehe es in der Fol-
ge Paul de Mans darum, „als Antwort auf die Gefahr einer politischen und ethischen Paraly-
se in der poststrukturalistischen Kritik“, den Geschichtsbegriff wiedereinzuführen, diesen
aber nur dort entspringen zu lassen, „wo ein unmittelbares Verständnis ausgeschlossen sei“
(ebd.). Vor allem wehrt sich Weigel gegen eine so konstatierte Gleichsetzung der Dichoto-
mien bewusst/unbewusst und direkt/indirekt, die Freuds dialektische Konzeption auflöse
(vgl. S. 258 f.).
198 Vgl. zu diesen Fragen unter dem Stichwort der ‚Mentalisierung‘ Seidler 2013, S. 47 f., der die
Traumatisierung mit Desubjektivierung verknüpft und anhand eines überzeugenden Fall-
76 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
Es ist das sprichwörtliche weite Feld, das hier umrissen werden soll und das
gerne mit Ausdrücken wie Sprachkrise der Moderne oder Repräsentations-
krise der Postmoderne203 belegt wird. Während als jüngeres Beispiel
Sawyers Lyotard-Lektüre im Abschnitt zu „The Traumatic Sublime“ auf ‚Im-
possible Testimony‘ zu sprechen kommt,204 Sabine Sander in einer Untersu-
chung zu Adorno und Lyotard das Undarstellbare als Topos rekonstruiert 205
oder Ralf Beuthan das Undarstellbare als zentrales Thema der Philosophie
Lyotards markiert und zurecht auf Paralleldiskurse verweist, und zwar zu
dem „‚Unsichtbaren‘ (Merleau-Ponty), dem ‚Unnennbaren‘ (Bloch), dem
‚Unmöglichen‘ (Derrida) und dem Unbeobachtbaren (Luhmann)“,206 wäh-
rend er also den Begriff des Undarstellbaren mit einer Reihe intensiv disku-
tierter moderner bis v. a. spätmoderner philosophischer Positionen ver-
knüpft, ist spätestens seit Günter Saße die Sprachkrise der Moderne mit
ihren zwei Achsen der ontologischen sowie der pragmatischen Bedeutungs-
scher und nicht traumatischer Erinnerungen sowie die Auswirkungen traumatischer Erfah-
rungen auf das Gesamtsystem des Gedächtnisses aus unterschiedlicher Fachperspektive er-
örtert werden.
202 Vgl. für einen der Ausgangspunkte Caruth 1995.
203 Vgl. zur Frage einer ästhetischen Repräsentationskrise der ‚Postmoderne‘ etwa Angermüller
2007, S. 306–312. Thomé 1993 diskutiert die Geltung des Repräsentationskriteriums in der
realistischen Literatur in Nähe zu Aporie (vgl. S. 101), dessen Auflösung in der Moderne
über die Autonomiebewegung der Kunst wiederum an romantische Metareferenz anschlie-
ßen kann. Seit Jean Baudrillards Der symbolische Tausch und der Tod (1976) sind Varianten
des Diskurses zu ‚Hyperrealität‘ zu beobachten, die er selbst als Endpunkt der realistischen
Bewegung versteht (vgl. Baudrillard 1991, S. 112–119).
204 Vgl. Sawyer, S. 179–182. Zur These der Ontologisierung des Traumas bei Lyotard, die auch
als „posttraumatische Reaktion auf die katastrophale Geschichte des 20. Jahrhunderts“ les-
bar sei, vgl. Mahler-Bungers 2000, S. 31.
205 Vgl. Sander 2008, die das Undarstellbare im kunsttheoretischen Diskurs untersucht, v. a.
von Lyotard und Adorno ausgehend und unter Einbeziehung von Cassirers Symboltheorie.
Undarstellbarkeit als Topos der Moderne wird durch den Traumadiskurs vielfach rekontex-
tualisiert und verdichtet. Den Lyotard’schen Begriff des ‚unpresentable‘ verbindet u. a. Hans
Bertens unmittelbar mit einer möglichen Antwort auf die Frage, was die Postmoderne sei
(vgl. Bertens 2000, S. 27).
206 Beuthan 2006, S. 12.
78 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
theorie umrissen.207 Dass Heimböckel diese zu Kleist verlängert, 208 ist der
Sache angemessen, im Sinne Saßes geht es bei ihm allerdings weniger um
die Nichthintergehbarkeit von Sprache als um das Versagen des Ausdrucks
des Selbst durch die Sprache.209 Völlig zurecht nimmt etwa Kyora die
Sprachkritik als wesentliches Merkmal der Poetik der Moderne auf (s. o.).
Wichtig ist festzuhalten, dass im Sinne des oben zu Hegemonie und Überde-
terminierung Diskutierten der kulturwissenschaftliche Diskurs zum Trauma
hier einen seiner zentralen Anknüpfungspunkte findet. Lange-Kirchheim
etwa verknüpft tentativ die beiden hier behandelten Dimensionen, indem
sie den Unsagbarkeitstopos als „rhetorisches Korrelat“ der Nicht-
Repräsentierbarkeit des Traumas versteht. 210 Was sind weitere Ausgangs-
punkte in näherer Beziehung zum Traumadiskurs und der ästhetischen
Diskussion?
207 Vgl. Grugger 2013c, wo ich versucht habe, die Position der Verweisstruktur zu reflektieren
(S. 178 f. u. S. 191–193), was hier (meist) implizit erweitert wird. Saße spricht in einer wich-
tigen Unterscheidung von sprachtraditioneller und sprachdemonstrativer Moderne (vgl.
Saße 1977, S. 84 f. und s. u.).
208 Vgl. Heimböckel 2003. Allgemein zur Sprachkritik um 1800 vgl. Bartl 2005 sowie zu sprach-
theoretischen Konzeptionen bei Lessing, Schiller und Kleist vgl. Oschmann 2007.
209 Also um sprachtraditionelle, nicht um sprachdemonstrative Positionen. Dass auch das
Selbst, und zwar gerade die Subjektivierung zum Problem wird, habe ich in Grugger 2010 zu
zeigen versucht.
210 Lange-Kirchheim 2006, S. 26.
211 Traditionell wäre dieser Vorgang als fremdbestimmt bezeichnet worden. Der Konstrukti-
onsvorgang nach den Poststrukturalisten (v. a. Foucault) ist nicht mehr so einfach: der Be-
griff wird erzeugt, den Betroffenen zur diskursiven Weiterbearbeitung überantwortet und
im selben Moment entzogen. Ihnen gegenüber stehen Experten, die Erfahrungen für sie
restrukturieren. Zur literarischen Bearbeitung dieser Thematik von Kristóf s. D 3.
212 Das gilt u. a. für einen Teil des angelsächsischen Traumadiskurses in der Nachfolge Derri-
das, teils auch Lyotards, wofür Sawyers Studie als Beispiel dienen kann, die Lyotards ‚Diffé-
2.3 Zeit und Rekonstruktion 79
dichtet sich darauf, dass diese das Gesagte zerstört. 213 Der Diskurs zu
Lyotards Worten vom Zeugen als Verräter214 wirft von hier aus beson-
deres Licht auf den Begriff des “Testimony” und dessen Bedeutung im
20. Jahrhundert.
• Die sich entziehende Bedeutung wird zum Gegenstück des Unaus-
sprechlichen und des Undarstellbaren: Der Ursprung ist hier, ähnlich
wie beim Subjekt, eine Geschichte der Säkularisierung. Christliche Per-
formanz, wie sie sich im Ritual ausdrückt, stellt den paradigmatischen
Ausgangspunkt dar, wobei die Passionsgeschichte die isolierte Position
des traumatischen Ereignisses/Erlebnisses verkörpert und eine fortlau-
fend interpretationsbedürftige (i. e. literarische) Narration darstellt.215
Von diesem Punkt aus beobachtet, zeigt sich aber nicht nur eine stets
aufgeschobene Bedeutung des Ereignisses, sondern auch eine zentrali-
sierende Funktion. Beides dürfte erklären, warum die Hinwendung zu
Religion als positive Erfahrung für Überlebende fungieren kann.
• In der traditionellen ästhetischen Diskussion zur Kunst als Ermögli-
chung des Unaussprechlichen kommt in Schopenhauers Betonung der
Kontemplation den Aussagemöglichkeiten der Musik eine entscheiden-
de Rolle zu. Grundidee ist, dass mit ihr etwas über das System der Spra-
che Hinausreichendes formuliert wird. Pierre Bourdieu kehrt, sich ge-
gen den Strom wendend, diese Idee provokativ um. Das Kunstwerk ent-
halte immer etwas Unsagbares, und zwar nicht aus Überfülle, sondern
aus Mangel. Musik sei die körperlichste, nicht die spirituellste Kunst.216
In das weitere Feld fällt auch der umfassende Diskurs zum Schweigen in
Philosophie, Kunst und in der Literatur.217
• Im weiteren Kontext des Paradoxons der traumatischen Information,
mit einer Erfahrung zu leben, mit der sich nicht leben lässt, ist die Rede
vom Paradoxon des Ausdrucks zu sehen, wenn es darum geht, das Un-
sagbare zu formulieren. Zumindest indirekt scheint damit eine Verbin-
dung zur Übertragung philosophischer Probleme auf die Literatur in der
klassischen Moderne gegeben, wo Literatur als Antwort auf die Aporien
begrifflichen Wissens, manifestiert etwa im reduzierten, objektivieren-
den Zugriff auf die Wirklichkeit, der spekulativen Entsagung gegenüber
existentiellen Fragen oder der engen logischen Begrenzung, konzipiert
wurde (s. u.).218
217 Vgl. Reden und Schweigen in Auseinandersetzung mit den Polen der Moderne Baudelaire
und Freud sowie Mystik, Kartäusern und der Weltflucht der Mönche, Satori, Koan und para-
doxer Kommunikation in Zen-Buddhismus (Luhmann/Fuchs 1992). Zu Dramaturgien des
Schweigens vgl. etwa Rykner 1996, mit dem für diesen Kontext zentralen Ausgangspunkt
Maeterlinck, Krammer 2003 und Elzenheimer 2008. Vgl. dagegen für die Traumaforschung
zur Problematik eines möglichen „Pakts des Schweigens“ zwischen Täter und Opfer LdP, S.
274–276.
218 Vgl. jenseits von Broch und Musil und für den Diskurs zum Expressionismus Gottfried Benn,
mit bezeichnendem Rückgriff: „Wer fragte denn sonst noch eigentlich nach dem Menschen?
Etwa die Wissenschaft, diese monströse Wissenschaft, in der es nichts gab als unanschauli-
che Begriffe, künstliche abstrahierte Formeln, das Ganze eine im Goetheschen Sinne völlig
sinnlose konstruierte Welt?“ (Benn 2007, S. 261).
219 Die bereits oben erwähnte Lektüre als Begriffskrise mehr denn als Sprachkrise von Riedel
(1996) korrespondiert mit den Verschiebungen des Verhältnisses des Erkenntnisbereichs
zum ästhetischen Bereich (Stichworte: Baumgartens traditionelle Fassung der Kunst als
minderes Erkenntnismittel; Kants Trennung; Marx’ Übertragung der Verantwortung an die
Kunst (Praxisrelevanz); Freuds Wiederentdeckung der Seher-Funktion).
2.3 Zeit und Rekonstruktion 81
ins Außersprachliche fasst (auf dem Boden eines musikalischen Werkes der
Klage) und dabei die Beziehung zwischen individuellen und kollektiven
traumatischen Ereignissen bearbeitet,220 wird Sebald die Geschichte des
Austerlitz durch Bilder stützen und damit der impliziten Visualität von Sieg-
fried Lenz’ Die Deutschstunde eine explizite gegenüberstellen. Der Schritt
von der Visualität oder Tonalität moderner Texte zu allgemeineren Unter-
suchungen der Intermedialität in literarischem Schreiben ist nahe lie-
gend,221 denn der Diskurs zu Trauma und Literatur ist mit dieser Dimension
eng verknüpft. Wo vom sich simultan äußernden und entziehenden Spre-
chen die Rede ist, stehen meist ikonische und klangzentrierte Systeme ent-
weder in unmittelbar poetischer Hinsicht oder als kunstgeschichtliches Zitat
im Hintergrund.
Dass gerade Literaten wie Kleist oder Kafka, die selbst fiktionale Welten
erzeugen, den Konstruktionscharakter der Wirklichkeit als erste radikal
wahrnehmen, ist nicht überraschend. In diesen Prozess mit einbezogen
werden auch die Rezipienten als Mit-Konstruierende, und zwar umso mehr,
je mehr die genuine Illusion ausgehebelt wird, wobei besonders Kafka diese
Integration des Lesers ausdifferenziert (s. u.). Aber auch in traditionelleren
Erzählformen wird mittlerweile dieser Punkt aufgegriffen: Das Irritierende
und Schockierende an den Darstellungen ehelicher Vergewaltigung in Julia
Francks Mittagsfrau (2007) ist die Normalität des Blicks darauf, und zwar
mit charakteristischer Abstinenz einer die Ereignisse positionierenden Er-
zählerstimme. Jede Form der Traumatisierung kann sozial als ‚völlig normal‘
konstruiert werden. Jenseits religiöser oder ethischer Setzungen, wie sie die
Aufklärung mit dem zentralen Begriff der Würde des Einzelnen und der
Festschreibung der Menschenrechte durchführt,222 droht grundlegend ‚er-
schütternde‘ Indifferenz, auf die gerade auch der Traumadiskurs antwortet
– gleichsam als Recht, nicht traumatisiert zu werden, als Recht auf Unver-
sehrtheit. Wichtig ist dabei die soziale Funktion der Reproduktion von Set-
zungen.
Orientierungstrauma ist nun ein Begriff, den Fischer/Riedesser in die Psy-
chotraumatologie einführten, mit dem auf die Erschütterung basaler Orien-
tierungsmöglichkeiten referiert wird.223 Zentral ist der Begriff in dieser
Schrift für Das Schloß (s. u.), wo diese lange vorbereitete und noch immer
nicht gänzlich realisierte Erkenntnis der Moderne/Postmoderne besonders
intensiv verarbeitet wird: dass Bezugsrahmen für menschliche Tätigkeiten
nur unterschiedlich konstruiert werden können. 224 Die Spannung zwischen
der Conditio humana, die hier mit zur Frage steht, und den konkreten (per-
manenten) Erschütterungen basaler Orientierungsmöglichkeiten trägt Kaf-
kas Roman und ist Teil seiner überzeitlichen Aktualität. Für die poetischen
Verfahren Kafkas gilt insgesamt, dass mit ihnen immer wieder Möglichkei-
ten zur Orientierung zum Scheitern gebracht werden, die jenseits ihrer un-
mittelbaren Situierung auf grundsätzliche Fragen der Subjektivierung abhe-
ben.225
223 Vgl. LdP, S. 391. Vgl. zur Abgrenzung auch die Darstellung des Informationstraumas nach
Horowitz in ebd., S. 91 f.
224 Vielleicht ist die prägnantest mögliche Formulierung Lyotards Rede vom ‚Ende der großen
Erzählungen‘, die selbstverständlich immer weiter fortgeschrieben werden – bei ihm selbst
über die Differenz. Auch konstruktivistisches Denken entkommt diesem fehlenden Bezugs-
rahmen nicht.
225 Vgl. Grugger 2015b.
226 Vgl. Kurz 2009.
227 Der Einschnitt der Schlafwandler ist hier illustrativ, wenn Broch als Teil des historischen
Projekts des Romans um das Allgemeine ringt, ihm zugleich überaus deutlich bewusst ist,
dass Lösungen des 19. Jahrhunderts nicht mehr möglich sind und er vor diesem Hinter-
grund spezifisch moderne Verfahren weiterentwickelt (s. u.).
2.3 Zeit und Rekonstruktion 83
228 Genau habe Goethe Folgendes geäußert: „Es gehöre ein großer Geist des Widerspruches
dazu, um einen so einzelnen Fall mit so durchgeführter, gründlicher Hypochondrie im Welt-
laufe geltend zu machen.“ (Falk 1832, S. 121).
229 S. dazu den Abschnitt B, besonders den Teil zu Kellers Winternacht.
230 In der Literarischen Chronik von 1914 ist für Musil die Novelle „eine Erschütterung; nichts
wozu man geboren ist, sondern eine Fügung des Geschicks“, welche die Singularität der
plötzlichen „Vertiefung“ hervorruft oder, anders gesagt, einer plötzlichen Erkenntnis des
Ganzen aus einem einzigen Erlebnis heraus entspricht (Musil 1978, S. 1465). Musil sucht ei-
nen Weg dorthin, wo die Novelle über sich hinaus sprechend werden soll. Deutlich ist die
Verbindung sowohl zum Undarstellbaren/Unsagbaren als auch zum Anspruch an die Litera-
tur der Moderne, dort zu sprechen, wo dies den rein begrifflich strukturierten Wissenschaf-
ten versagt ist. Zu Trauma und Erkenntnis s. u.
231 Vgl. Bourdieu 2001, S. 9–16. Er wendet sich gegen die Postulierung von Transzendenz über
den kritisierten Topos des ‚Unsagbaren‘ der Kunst, wodurch auf das Singuläre von Kunst
und Kunstwerk gegen die soziologische Betrachtung insistiert werde.
84 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
Insgesamt betrachtet sind die Singularität des Traumas und die Singularität
des Textes anhaltende Reibepunkte der betroffenen Diskurse und die Auf-
forderungen, dem Text gerecht zu werden oder dem Trauma gerecht zu
werden, werden deren (drohendem) Verschwinden in kategorisierender
Begrifflichkeit entgegengestellt.233 Der (gewünschten) Singularität stehen
im Traumadiskurs die allgemeinen Definitionen, selbst die der Sollbruch-
stelle, die ins Allgemeine zielende Metaphorik, die begrenzende Begrifflich-
keit sowie die oben diskutierte Überdeterminierung mit ‚Trauma‘ als Kno-
tenpunkt von Diskursen gegenüber.234 Literarisch konnte traditionell das
Besondere über seine bei Goethe noch gesicherte symbolische Kraft gleich-
zeitig als Allgemeines fungieren, indem es dieses repräsentierte. Der Codie-
rung traumatischer Ereignisse kam hier die Bedeutung zu, diese (beispiel-
haft) poetisch zu erfassen, um damit ein Stück allgemeiner Wirklichkeit in
der für die Kunst vorbestimmten Art und Weise sichtbar zu machen. Mit
zunehmendem Recht des Singulären können literarische Figuren aber nicht
mehr, wie dies noch den großen Realisten des 19. Jahrhunderts offenstand,
stellvertretend als traumatisiert entworfen werden.235 Bourdieus oben zi-
tierte Rede von Metapher und Metonymie zeigt dennoch die anhaltende
Bemühung, an den Verbindungsmöglichkeiten der „konkrete[n] Singularität‘
zur „gesamte[n] Komplexität einer Struktur oder Geschichte“ festzuhalten.
War man sich in der mittelalterlichen Philosophie einig, dass „de singulari-
bus non est scientia“, so gerät in der (klassischen) Moderne der objektivie-
232 Während er sich also auf der produktiven Seite gegen Genie-Akte wendet und das Feld der
Kunst als interagierendes im Blick hat, kommt der Darstellungsebene jenseits der objekti-
vierenden Sprache die Möglichkeit von Singularität als Abgrenzung zum Feld der Wissen-
schaft zu. Vgl. zu Singularität bei Bourdieu Neuhaus 2009, S. 72.
233 Man könnte diese Nähe in der jüngeren Diskussion darauf beziehen, dass ‚Trauma‘ (etwa
über das ‚Unsagbare‘) als Begriff wiederholt ähnlich behandelt wird wie ein Kunstwerk und
diesbezügliche Einwände gegen ‚poststrukturalistische‘ oder ‚postmoderne‘ Positionen for-
mulieren. Die Verbindungslinie ist allerdings historisch deutlich älter und ist zwischen Reli-
gion, Säkularisierung, Kunst und traumatischen Ereignissen zu ziehen, wobei besonders an
das Christentum, dessen Kunstgeschichte und den diesbezüglichen Säkularisierungsprozess
zu denken ist.
234 Vgl. Fischer/Riedesser, die das Problem über eine Dialektik des Allgemeinen und des Be-
sonderen zu lösen versuchen (LdP, S. 77).
235 Die Begriffsverwendung kann hier wie in ähnlichen Fällen nur mit Vorbehalt erfolgen, da es
um die Zeit vor der Einsetzung bzw. Implementierung des Psychotraumas als Begriff geht (s.
auch unten). Zur Problematik des zeichenhaft-repräsentativen Ausdrucks durch konkrete
literarische Figuren vgl. auch C 3.
2.3 Zeit und Rekonstruktion 85
Nicht zuletzt sei noch die Verbindung dieses Bereiches zu den großen politi-
schen Diskursen der Moderne festgehalten. Der Traumabegriff ist noch in
der dargestellten Denkwelt von Manès Sperbers Romantrilogie Wie eine
Träne im Ozean mit dem Nimbus des Konservativen behaftet.239 Sich auf
einzelnes Leid oder auch auf Leiden Einzelner zu konzentrieren, hieß dabei,
von dem zentralen Problem des gesellschaftlichen Umsturzes zu abstrahie-
ren bzw. war mit dem Stigma des mangelnden gesellschaftlichen Bewusst-
seins codiert. Dass eine progressive Wende des Traumadiskurses stattfand,
mag u. a. durch die Psychoanalyserezeption der Frankfurter Schule vorbe-
reitet sein, liegt aber zu einem entscheidenden Teil wohl an der sukzessiven
236 Betroffen ist dabei zunehmend auch die systemtheoretisch zentral werdende Position des
Beobachters, die u. a. von physikalischen und informationellen Verschiebungen wie, um
zumindest Schlagworte zu nennen, Relativitätstheorie, Quantenphysik und Kybernetik mit
geprägt wird. Philosophisch ist an die zunehmende Verschiebung hin auf das Phänomen
und dessen zunächst sprachliche und existentielle, später körperliche Rahmung zu denken.
237 Vgl. Benjamin 2012. Zu „Kulturtheorien der Materialität“ vgl. Reckwitz 2012, S. 106–120.
238 Zima sieht seine dialogische Theorie im Kontext des Diskurses zwischen Moderne und
Postmoderne als Mittelposition der für ihn grundlegenden Unterscheidung zwischen Be-
sonderem (Lyotard) und Universellem (Popper/Habermas) gegenüber und stellt in Mo-
dern/Postmodern die mit den beiden verknüpften Positionen als Scylla und Charybdis dar
(vgl. Zima 2010, 216). Anspruch ist dabei, der Dialektik zwischen Besonderem und Univer-
sellem gerecht zu werden.
239 Zu datieren ist dies über den unmittelbaren Zeitraum des Romans, der in den 1930ern und
1940ern spielt.
86 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
Oben wurde Trauma als Re-Integration des Ereignisses diskutiert, als Rück-
kehr des äußeren Einflusses nach (kontroversiell diskutierter) Verlagerung
in den Innenraum der nicht mehr autonomen Subjekte über die Psychoana-
lyse. Bereits bei Kleist gilt allerdings zumindest literarisch: das Innen ist das
Außen und umgekehrt (s. u.). Die Metapher vom Trauma als ‚Fremdkörper‘
hält die Unterscheidung einer konstitutiven Grenze des Eigenen und des
Fremden aufrecht und Theorien zum Introjekt versuchen Informationsver-
arbeitung entlang dieser Problematik zu beschreiben, bis hin zur Vorstel-
lung, dass eigene (dissoziierte) Ich-Anteile introjiziert werden (s. o.). Mit
‚Überflutung‘ und ‚Traumamembran‘ wurde bereits auf Konzepte verwiesen,
die Traumatisierung selbst mit der Grenzziehung und ihrer Stabilität ver-
knüpfen und dabei äußere Einwirkungen von dem Inneren der Subjekte
abtrennen. Eine Frage ist in dem hier geschilderten Zusammenhang, inwie-
fern in der Psychotraumatologie ein kohärenter, grundsätzlich stabiler In-
nenraum angenommen wird, der durch massive Erschütterung von außen
überfremdet wird und therapeutisch wieder zu einem eigenen zu machen
wäre.
Eines der großen Themen, die mit Foucault aufkamen, ist die Produktion
eben dieser Innenräume etwa über bestimmte Techniken des Selbst, wobei
der grundlegende Ausgangspunkt die doppelte Präsenz von Sprache und
Sprechen ist (de Saussure). Denn durch die dem Sprechen vorgeordnete
Präsenz der Sprache als System wird das Gesprochen-Werden durch die
Langue ebenso theoretisierbar wie die Konstruktion der Langue aus der
Parole heraus und die doppelte (sprachliche) Existenz des Subjekts als Sub-
jektivierendes und Subjektiviertes.240
Einen markanten theoretischen Einschnitt stellen die Versuche im Anti-
Ödipus dar, dem ersten Teil von Kapitalismus und Schizophrenie: die
Wunschproduktion ist sozial. So wie die Autoren formulieren, Freud habe
seine Entdeckung des Unbewussten, mit der die Zurückweisung des sich
selbst als zweckrational verstehenden Menschen verknüpft ist, über den
Was mit Kleists Über das Marionettentheater ins Blickfeld gerät, ist ein
Wechselspiel von individueller und sozialer Reaktion auf die Erschütterung
des Selbstverständnisses, der mit ihr verbundene radikale Verlust von Gra-
zie als (positive) Wirkung auf andere:
Von diesem Tag, gleichsam von diesem Augenblick an, ging ei-
ne unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor.
Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein
Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und un-
241 Vgl.: „Mit Ödipus wurde diese Entdeckung schnell wieder ins Dunkel verbannt: an die Stelle
des Unbewußten als Fabrik trat das antike Theater, an die Stelle der Produktionseinheiten
des Unbewußten trat die Repräsentation, an die Stelle des produktiven Unbewußten trat ein
solches, das sich nur mehr ausdrücken konnte (Mythos, Tragödie, Traum …)“ (Deleuze/Gu-
attari 1997a, S. 33).
242 Zu nennen wäre neben den viel diskutierten Entwicklungen etwa zu ‚Performativität‘ in
Linguistik und Philosophie für den engeren Kontext besonders die Theaterwissenschaft (s.
dazu D 3). Der 1980 acht Jahre nach dem ersten erschienene zweite Teil von Kapitalismus
und Schizophrenie, Tausend Plateaus enthält das bekannte Eröffnungskapitel zum ‚Rhizom‘
(vgl. Deleuze/Guattari 1997b, S. 11–42), das zu einem der Sinnbilder der ‚Postmoderne‘ und
genuiner ‚Offenheit‘ wurde und einen zentralen Platz in Ecos Nachschrift zum Namen der
Rose einnimmt, mit dem er die Konstruktion seines Labyrinths als vieldimensionale Vernet-
zung beschreibt (vgl. Eco 2012, S. 65).
88 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
begreifliche Gewalt schien sich, wie ein Netz, um das freie Spiel
seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war
keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die
die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hat-
te. (SWB 3, S. 561)
Während die Versuche vor dem Spiegel für die versuchte Wiederherstellung
der verlorenen Übereinstimmung mit sich selbst stehen, ist mit dem Verlust
der „Lieblichkeit“ die Außenwirkung markiert. Der mit sich ringende Jüng-
ling verliert seine ursprünglich hohe Attraktivität für andere. In Kleists Text
findet dieser Prozess, der von dem unmittelbaren Verursacher der Erschüt-
terung berichtet wird, isoliert statt, nur die „Augen der Menschen“ deuten
auf die Verschiebung im sozialen Gesehen-Werden.
Die „Situation des Individuums, das von vollständiger sozialer Akzeptierung
ausgeschlossen ist“, bezeichnete Ervin Goffman als „Stigma“. Er verfolgt den
Begriff zunächst historisch zurück auf die griechische Ursprungsbedeutung
der Brandmarkung, die sich mit religiöser Metaphorik (auch des Auser-
wählt-Seins) überlagerte, um ihn dann auf soziale Konstruktionsprozesse zu
beziehen.243 Berichten von Überlebenden zufolge betreffen Prozesse sozia-
len Ausschlusses häufig die Traumatisierten selbst, sodass etwa Opfer von
familialem Missbrauch wiederholt von ihrer Isolierung bis hin zu aktiver
Ausgrenzung berichten.244
Eine mögliche Verbindung existiert zu sozial lebenden Tieren, was den Aus-
schluss, möglicherweise auch den Selbstausschluss ‚verwundeter‘ Artgenos-
sen betrifft, der in der Verhaltensforschung beobachtet wird. Die Erfor-
243 Goffman 2003, S. 7. Zu seiner Begriffsherleitung vgl. ebd., S. 9. Die Stigmaforschung wird mit
Goffmans aus heutiger Sicht durchaus problematischen Text Stigma. Notes on the Manage-
ment of Spoiled Identity (1963) von der Sozialpsychologie auf die Soziologie erweitert. Sein
Ausgangspunkt sind Konstruktionsprozesse sozialer Identität bei ‚Normalen‘, ‚Diskreditier-
ten‘ und ‚Diskreditierbaren‘. Für die Folge konstatieren Link und Phelan „that research on
stigma has had a decidedly individualistic focus“ (Link/Phelan 2001, S. 366) und verbinden
Elemente wie Etikettierung mit Machtstrukturen: „In our definition, stigma exists when el-
ements of labeling, stereotyping, separating, status loss and discrimination co-occur in a
power situation that allows these processes to unfold“ (ebd. S. 382).
Traumen im kulturwissenschaftlichen Diskurs mit dem Nimbus des Auratischen zu verse-
hen, kritisiert aus psychoanalytischer, am Aussprechen interessierter Sichtweise Harald
Weilnböck (2007).
244 Der medial in der Irish Times am 27. 10. 2015 aufbereitete Fall eines Neffen, der vom Onkel
bis zu seinem elften Lebensalter sexuell missbraucht wurde, um dann von der Familie aus-
gestoßen zu werden, dürfte, zahlreichen ähnlichen Berichten zufolge, nicht die Ausnahme
sein, sondern das Muster.
2.4 Dimensionen der Zuschreibung 89
Schuld
„So ist die Welt: Die Scham plagt nicht die Henker, sondern ihre Opfer.“ 245
Bereist E.T.A. Hoffmann sprach im Fräulein von Scuderi, wie bereits oben
zitiert, von der „falsche[n] Scham, die oft an dem todwunden Gemüte
nagt“.246 Der zweite Punkt einer traumatischen ‚Umkehrung‘, der neben dem
Begriff des Stigmas zentral ist, liegt in der Frage des Schuldgefühls.247 Für
die Rollen von Täter und Opfer gilt weiter, dass sie zwischen notwendiger
Differenzierung und Don-Belial-Problematik zu positionieren sind (s. o.). In
diesem Sinn sind die beiden betreffenden Fragen zu verstehen: Wer wird
geächtet und wer empfindet die Verantwortung? Sie können sowohl auf
individueller als auch auf kollektiver Ebene gestellt werden. Der Bogen
reicht dabei von Fallgeschichten, die eben diese Umkehr schildern, über die
Alltagssprache, etwa wenn Jugendliche Ausdrücke wie „du Opfer“ als
Schimpfwort verwenden, bis zu nationalen Fragen. 248
Auf individueller Ebene wird in der Psychotraumatologie die hohe Bedeu-
tung der Auswirkungen der sozialen Antwort auf Einzelne diskutiert. 249 Hier
sind u. a. das Ringen feministischer Positionen um das Ende eines fatalen
Umgangs mit Vergewaltigungen einzuordnen sowie der Umgang mit Opfer-
245 Wiesel 1962, S. 303. Mathias Hirsch zitiert und diskutiert diesen Gedanken von Eli Wiesel
im Kontext von Scham- und Schuldgefühlen der Überlebenden (vgl. Hirsch 1997, S. 220).
Primo Levi prägte den Ausdruck ‚Scham des Überlebens‘ (vgl. ebd. S. 302 bzw. Levi 2015),
ein Gedanke, der auch für Améry und Keilson besondere Bedeutung erlangt (s. D 1).
246 Hoffmann 2015a, S. 824. Vgl. ausführlich zu Trauma, Scham und Schuld Seidler 2013, S. 82–
92, der selbst aus der Schamforschung kommt (vgl. Seidler 1995).
247 Vgl. die kritische Reformulierung von Sandor Ferenczis ‚Introjektion des Schuldgefühls des
Täters‘ über das Erschütterungskonzept im LdP, S. 335 f. Zur literarischen Auseinanderset-
zung vgl. den Teil zu Amérys Lefeu.
248 Besonders intensiv geht Ladilaus Löb in Dealing with Satan diesem Komplex nach (vgl. Löb
2008). Im Danny Boyles Film Trainspotting (1996) lehnen Jugendliche ihr Schottisch-Sein
ab, weil man sich von den Engländern unterdrücken ließ.
249 Vgl. etwa LdP, S. 275 f. oder LdP, S. 335 f.
90 A 2. Zu isolierende Begriffe des Traumadiskurses
250 Fiktionalisiert etwa in Gus van Sants Good Will Hunting (1997), wo in der Schlüsselszene der
Therapie Robin Williams als Therapeut den Satz „Es ist nicht deine Schuld“ einprägsam
wiederholt und so das Verständnis herstellt. Man denke an den Diskurs zu Gerichtsverhand-
lung als Fortsetzung des Verbrechens oder an die Bedeutung der bewusst so bezeichneten
‚Slut Walks‘, um Umkehrungen aufzubrechen.
251 Vgl. bereits oben angeführte filmische Beispiele wie The Punisher.
252 S. D 1 und D 3.
253 Dies erfolgt wohl früh erworbenen oder kulturell codierten Erfahrungen entsprechend. Im
Sinne performativer Ansätze würde das Ich sich darin einüben, sich Schuld zuzuweisen. Vgl.
in Anschluss an die Arbeiten Foucaults etwa Butler 1993, Butler 1997 sowie Reckwitz 2006.
254 Gerade in populären Filmen geht es wiederholt darum, zumindest verbal die Kontrolle zu
behalten. Man denke etwa an die Folterszene von Bond in Casino Royale (2006). Auf kom-
plexer Ebene finden sich besonders in der Poetik Kafkas (falsche, täuschende) Annahmen
der Protagonisten zur Kontrollierbarkeit der Situation (s. C 2).
2.4 Dimensionen der Zuschreibung 91
Quer zu Giesens sozialem Wandel vom Paradigma des Triumphes zum Pa-
radigma des Traumas,255 erscheint Trauma an vielen Orten gerade auch der
Literatur als Weg zum Triumph. Das mächtigste Narrativ in diesem Kontext
ist fraglos die Passionsgeschichte, wo ultimative Traumatisierung mit ulti-
mativem Triumph gekoppelt ist. Der Idee und Struktur von Thomas Manns
Romantetralogie Joseph und seine Brüder folgend, wäre die Geschichte da-
hinter rekonstruierbar. Manns spielt umfassend mit dem ‚Zitathaften‘ –
prominent im exemplarischen Selbstentwurf Josephs über die Identifikation
mit (sich mythisch wiederholenden) Vor-Figuren und Erzählungen –,
wodurch insgesamt die biblische Geschichte und das christliche Narrativ als
Kette interner und externer Zitate sichtbar werden. Es ist nicht schwierig
nachzuvollziehen, dass gerade in der undeutlichen Konzeption und Bedeu-
tungsoffenheit des tragenden christlichen Narrativs ein wesentlicher Grund
für seine Erfolgsgeschichte zu sehen ist. In einem größeren Kontext geht es
hier um Themen wie Trauma als Aufbruch oder Initiation sowie um die
Vorstellung des Durchbruchs bzw. den Durchgang durch traumatische Er-
fahrungen.256 Die engere Thematik kann grob in zwei Teile gegliedert wer-
den:
Der erste Teil bezeichnet dabei Trauma im Umfeld von Erkenntnis und Erlö-
sung vor dem Hintergrund der Unbestimmtheit. Schelling führt ein entspre-
chendes Grundmuster, das noch Brochs Vergil erkennbar strukturiert,257 bis
auf Plato zurück:
Nur derjenige ist auf den Grund seiner selbst gekommen, und
hat die ganze Tiefe des Lebens erkannt, der einmal alles ver-
lassen hatte und selbst von allem verlassen war, dem alles ver-
sank und der mit dem Unendlichen sich allein gesehen: ein
großer Schritt, den Platon mit dem Tode verglichen.258
Der zweite Komplex kann als Widerstand aus dem Trauma heraus bezeich-
net werden, wobei Stärkung aus traumatischen Erfahrungen codiert wird.
Pia Andreatta untersuchte empirisch die Unzulänglichkeit des diesbezügli-
chen, in zahlreichen Sprachen vorhandenen Idioms: „Was dich nicht um-
bringt, macht dich stärker“,259 das selbst wiederum als eine Antwort auf
traumatische Erfahrungen bzw. einen möglichen Umgang mit ihnen ver-
standen werden kann. Der Bogen lässt sich hier zeitnahe vom ‚Stahlbad‘
Ernst Jüngers260 bis zu Travens christlich-marxistischer Fassung des Auf-
stands aus der radikalen Verwundung heraus spannen.261 Die Folter wird in
dieser Vorstellung zum Ausgangspunkt der Erhebung, was in trivialisierter
Form in ‚Mainstreamfilmen‘ immer wieder aufgegriffen wird.
Moderne Varianten dieser Ideenlage finden sich im psychologischen Diskurs
zum Wachsen aus dem Trauma heraus (s. o.), der vom Resilienzdiskurs
abzugrenzen ist. Beide schließen von der Vorstellungswelt her wiederholt
an Fantasien zumindest partieller (künftiger) ‚Unverwundbarkeit‘ an. Die
nötige Kritik an einseitigen Lesarten des prominenten Konzepts der Saluto-
genese von Aaron Antonovsky mit dem Sense of Coherence (SoC) als zentra-
lem Begriff ist von Fischer an mehreren Stellen vorgenommen worden (s.
o.).262 Es geht um die Differenz von Individualisierungsstrategien, die Über-
lebende als prädisponiert für Traumatisierung fassen, vs. der Vorstellung
258 Schelling 1861, S. 217 f. Für ihn ist die Hoffnungslosigkeit in diesem Sinn der Ausgangs-
punkt für jedes Philosophieren (vgl. ebd.).
259 Vgl. Andreatta 2006. S. auch oben zu kumulativer Traumatisierung.
260 Die Konsequenzen des Bildes sind bekanntlich fatal: am Ende steht der gestählte Mensch,
der sich von den Kriegszitterern scheiden lässt.
261 B. Traven behandelt diese Thematik immer wieder in unterschiedlicher Form, vgl. beson-
ders Die Rebellion der Gehenkten (Traven 1982b). Kleist greift in der Penthesilea den Gedan-
ken der Aufklärung auf, dass der Mensch in letzter Konsequenz die Fesseln abwerfe, wenn
er zutiefst unterdrückt werde: „Doch alles schüttelt, was ihm unerträglich, / Der Mensch von
seinen Schultern sträubend ab“ (SWB 2, Vs. 1934 f.).
262 Der ‚SoC‘ wird definiert als eine „globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß
man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens
hat, daß 1. die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umge-
bung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind; 2. einem die Ressourcen zur
Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; 3. diese
Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen.“ (Anto-
novsky 1997, S, 36, Herv. im Orig.). Die bereits oben zitierte Kritik von Fischer greift bezüg-
lich des Konzepts wohl zu kurz, legt aber die Gefahren einer unkritischen Übernahme sehr
deutlich frei (vgl. Fischer 2007, S. 15–17).
2.4 Dimensionen der Zuschreibung 93
einer ‚Sollbruchstelle‘ gerade für extreme Formen von Trauma und damit
um die Frage nach den Ausgangspunkten des Diskurses.263
263 S. o. zu Abraham 1998, Eissler 1963, Seidler/Froese 2006 sowie zur Reintegration des
Ereignisses.
264 Vgl. Barwinski 2011.
265 Vgl. besonders Eriksen/Kress 2005.
94
Übergeordnete Punkte Technische Begriffe der Psychotraumatologie
Komplexe Zeitstruktur. Individuell vs. kollektiv erfahrene traumatische Traumatischer Prozess (TP)
Situationen/Prozesse. Unterschiedliche (zentrale) Themenbereiche Traumaschema (TS)
Traumakompensatorisches Schema (TKS)
Bandbreite des Begriffs Trauma Zentrales traumatisches Situationsthema (ZTS)
Radikalität (Extremtraumatisierung)
Anhaltende Erstarrung: Ausgesetzt-Sein, Aus-
weglosigkeit und Ohnmacht Dimensionen des
Verwundung und Verwundet-Sein Begriffs Trauma Begriff des Traumas in Abgrenzung
Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis Historisch-soziale Dimension der Begriffsbegrenzung
Physisches am Psychotrauma Dissoziation vs. Verdrängung
1 Als zentraler Schnittpunkt der ästhetischen Diskurse mit der Konzeption der Menschrechte
kann von ihren Leitbegriffen wie Schönheit, Erhabenheit, Grazie oder Genie derjenige der
Würde festgehalten werden.
2 Die Etablierung des Bildungsromans aus der „Pathogenese des Subjekts“ heraus zeigt Hans-
Jürgen Schings an den differenten Beispielen des Agathon, Anton Reiser und Wilhelm Meister
(Schings 1984).
3 Das betrifft die bekannte Fortführung der Loslösung aus den ‚lebensweltlichen‘ oder auch
‚sakralen‘ Zusammenhängen, wie sie etwa Thomas Mann in Dr. Faustus literarisch darstellt
bzw. als europäische Kunstgeschichte rekonstruiert (vgl. Mann 2007). Die Bedeutung der
Autonomieposition für die Romantik wurde mit Nachwirkung u. a. in Luhmann 1996 theo-
retisiert.
4 Zur langen Geschichte des Subjekts vgl. Schmitt 2008, Fetz et al. 2012 sowie Grugger 2010.
5 Vgl. dazu die Abschnitte über das bürgerliche und das romantische Subjekt in Reckwitz
2006.
6 Traumadiskurse werden hier eben nicht universell, sondern historisch verstanden, was sich
u. a. an der in dieser Studie öfter diskutierten Entwicklung vom konservativen zum progres-
siven Nimbus des Traumabegriffs festmachen lässt (s. u.).
7 Wer sich nicht damit begnügen möchte, dass Literatur sich immer mit Trauma beschäftigt
habe, findet hier einen differenzierteren Ausgangspunkt. Dennoch, da der Kontingenzprob-
lematik nicht zu entkommen ist, sind auch andere Unterscheidungen möglich, wie Shay
1994 zeigt. Allerdings ist dann von differenten Bezugssystemen wie Mythos oder Religion
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
H. Grugger, Trauma – Literatur – Moderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-21102-8_3
96 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
mäß weniger für die spezifische Textwahl selbst gelten kann. Dennoch wur-
de versucht, möglichst deutliche und zugleich einschneidende Beispiele
heranzuziehen, die Anknüpfungspunkte für den Diskurs der Moderne bie-
ten. Die Überlegung ist, auch hier im Sinne des Viabilitätsgedankens nicht
von modernen Texten avant la lettre zu sprechen, sondern umgekehrt vom
späteren Interesse aus zu denken, d. h. diese Anknüpfungspunkte zu ver-
deutlichen. Hölderlins Stimme des Volkes oszilliert in seinen beiden Fassun-
gen zwischen Individuum und Kollektiv sowie Mythos und Subjektivität,
und zwar vor dem Hintergrund des Todes und einer durchaus problemati-
schen „Todessehnsucht“.8 In Tasso wird der dichterische Ausdruck von Leid
mit Folgewirkung thematisiert und in Kleists Dramatik findet sich eine erste
Zuspitzung von Sprach- und Subjektkrise, die mit traumabezogenen Thema-
tiken in neuer, spezifischer Bearbeitungsweise verknüpft ist. Die Bedeutung
von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann für die engere Thematik ist vielfach
belegt, anhand des Textes Die Elixiere des Teufels können strukturelle Mög-
lichkeiten sichtbar gemacht werden, die sich mit der Spannung zwischen
Psychisch-Realem und Fantastisch-Irrealem verbinden. Die Nachtwachen.
Von Bonaventura stehen für die Grenzen des Ästhetischen,9 für den Trotz
und das Angewidert-Sein am Beobachten, d. h. für eine frühe Problematisie-
rung des literarischen Beobachtens selbst. Die Verknüpfung von Wahn und
traumatischem Ereignis, wie sie sich in Hauptmanns Bahnwärter Thiel zeigt,
lässt sich bis zu Georg Büchner zurückverfolgen, man könnte argumentie-
ren, dass sie eine Variation der Woyzeck-Thematik darstellt.10 Lenz bildet
auszugehen. In der hier vorgelegten Untersuchung werden, als Andeutung formuliert, der
Anschluss der Aufklärung an die Renaissance mit der Etablierung von Wissenschaft sowie
die Descartesrezeption des späten 18. Jahrhunderts mit der Fundierung des individuellen
Subjekts als bedeutende Einschnitte für die Möglichkeit von Traumadiskursen gesehen.
8 Der mit der Romantik verbundene Diskurs zur „große[n] Macht“ des Todes, die Hans Cas-
torp im Zauberberg über die Liebe eindämmen wird (vgl. Mann 2002, S. 748) und auf die
Améry sich als eine durch Auschwitz beendete Möglichkeit der Verklärung des Todes be-
zieht, ist hier komplex dargestellt. Einen deutlichen Hintergrund der Ode bietet die ultima-
tive Ablehnung von Zwangsalternativen. Dass Hölderlin v. a. zu Beginn des 20. Jahrhunderts
entdeckt wurde, ist in der Verbindung der entgrenzenden Thematik zum sich öffnenden
Formalen zu sehen: „Nicht umsonst haben auch die großen Lyriker des zwanzigsten Jahr-
hunderts, von Rilke bis Celan, Hölderlin als Leitfigur begriffen“ (Schmidt 2005, S. 485).
Schmidt bezieht sich u. a. auf die „Sprengung konventioneller Normen insbesondere in den
Gedichten nach 1800“, worin man Hölderlin als „Vorboten und zugleich schon frühen Voll-
ender eigener Ausdruckskunst“ zu erkennen glaubte (ebd.).
9 Vgl. Bonaventura 2003. Der Text wird mit Titelzusatz von 1805 als Nachtwachen. Von Bona-
ventura bezeichnet. Die Angaben zum Verfasser folgen der zitierten Ausgabe.
10 Woyzecks von Marie aufgenommenes, repetitives „Immer zu“ stellt eine stark sprachbezo-
gene Variation der ‚fixen Idee‘ aus einem erschütternden Ereignis heraus dar, gelesen als
B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte 97
den Einstieg für den bereits oben diskutierten Anti-Ödipus, in dem Subjekt
und Bedeutung radikal zu funktionierenden (d. h. eben nicht bedeutenden)
Wunschmaschinen dekonstruiert werden.11 Beispielhaft sollen im Folgen-
den also mögliche, hier beginnende Entwicklungslinien vorgeschlagen und
skizziert werden.
Mit Realismus und Naturalismus werden im nächsten Kapitel neue Momen-
te dazu kommen – v. a. der Kausalitätsdiskurs sowie das literarische Recht
des Einzelfalls vor dem Hintergrund seiner gesellschaftlich-milieutheore-
tischen Relevanz und determinierender sozialer Mechanismen, im tragend
werdenden Kontext von Armut und Verelendung. An bestimmte Punkte der
Sprach-, Subjekt- und Kunstkrise wird allerdings in größerem Umfang erst
wiederum die Moderne anschließen, was sich nicht nur an ihrem Interesse
an Kleist, Hölderlin oder Büchner zeigt.12
Zentrale Aussagen zu Trauma wie die des Fremdkörpers oder die der Dia-
lektik von Erlebnis und Ereignis beruhen, dem Gesagten folgend, auf dem
säkularisierten Individuum, auf dem selbst-reflexiven, zu einem (transzen-
dentalen) Ich zusammengefassten, sprachvermittelten und sprachgesteuer-
ten Subjekt und damit auf Denksystemen, die in der Aufklärung mit grund-
gelegt werden, deren Problematik im Sinne einer ‚Krisenhaftigkeit‘ sich
zeitnahe mit entwickelt und die in der klassischen Moderne ihre ‚ästhetische
Zersetzung‘ erfahren. In praktischen Systemen der Medizin, Rechtspre-
chung, Politik oder Erziehung bleiben sie weiter virulent. Für die zeitgenös-
sischen Reibungspunkte mögen zunächst Schillers indifferente Natur und
Kleists Kutsche als Bilder stehen: die Konstruktion des Individuums in der
Aufklärung in der christlichen Tradition des Werts des Einzelnen – Brochs
Vergil-Thematik – wird brüchig. Für Schiller wird die völlige Indifferenz der
Natur gegenüber dem erhabenen Vernunftsubjekt thematisch, für Kleist
stellen sich in der potentiellen Tödlichkeit eines abrupten Kutschenunfalls,
der auf bloße Kontingenz des Seins verweist, folgende Fragen: Das war es
dann also? Das ist alles, was diese auszudeutende Existenz bedeutet? Genügt
„misogyne Fixierung“ und kontextualisiert in Graczyk 2008, S. 119 f. (vgl. Büchner 2005 so-
wie http://buechnerportal.de/aufsaetze/woyzeck). Dieses Ereignis wird ebenso zum Aus-
gangspunkt des Wahns wie das von Tobias’ Tod im Thiel und die offensichtliche Verbin-
dungslinie ist die sexuelle Triebhaftigkeit, die bei Hauptmann mit dem Zug verknüpft ist
(vgl. für den Thiel Thomé 1993, S. 109, 254 und 373).
11 Vgl. Deleuze/Guattari 1997a, S. 7.
12 Dies betrifft u. a. den Autonomiediskurs (vgl. Luhmann 1996 oder die erwähnte Verlänge-
rung der Sprach- und Subjektkrise bis zurück zu Kleist (vgl. Heimböckel 2003, Grugger 2010
sowie Grugger 2015b).
98 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
ein zufälliger Unfall und das Projekt der Selbstwerdung ist beendet? 13 Anders
als für Schiller ist für ihn die Rettung in die Vernunft nicht mehr möglich,
wobei diese auch bei Schiller in der Entwicklung zu den Ästhetischen Briefen
hin zunehmend problematischer wird. Während Aufklärung und Etablie-
rung der Menschenrechte einen Höhepunkt der säkularisierten, diesseitsbe-
zogenen Wertschätzung des individuellen Menschen bietet, die bis heute die
Grundlage für ihre genauere Definition (Erweiterung) und Einholung (Reali-
sierung) darstellt, zeigt sich ihre Brüchigkeit bereits in den unmittelbaren
Folgejahren der Französischen Revolution.
13 Vgl. im Wortlaut des Briefes an Karoline von Schlieben vom 18. Juli 1801: „Und an einem
Eselsgeschrei hieng ein Menschenleben?“ (SWB 4, S. 243).
14 Vgl. Longinus 2008 bzw. Vom Erhabenen (S. 489–512), Über das Pathetische (S. 512–537),
Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (S. 570–669) und
Über das Erhabene (S. 792–808) in Schiller 2004.
15 Die wörtliche Bedeutung von ‚ὕψος‘ lautet Höhe oder Größe; ästhetisch bedeutsam wird die
übertragene Form des Erhabenen.
16 Die unmittelbare Verbindung des Schreckens als Quelle des Erhabenen und als dominanter
ästhetischer Affekt ist formuliert in Burke 2008: „whatever is in any sort terrible, or is con-
versant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the
sublime“ (S. 36, Herv. im Orig.). Als „king of terror“ und als Referenzpunkt wird der Tod be-
griffen (ebd.), was eine Analogie zu Traumadiskursen darstellt. In aristotelischer Tradition
ist für Burke – wie für Schiller in Vom Erhabenen (vgl. Schiller 2004, S. 496 f.) und für Kant
in Bezug auf das Dynamisch-Erhabene (vgl. Kant 2009, S. 596) – die ästhetische Distanz
entscheidend: “When danger or pain press to nearly, they are incapable of giving any de-
light, and are simply terrible; but at certain distances, and with certain modifications, the
may be, and they are delightful” (Burke 2008, S. 36 f.). Der Ausdruck “delight” markiert da-
bei die zentrale Differenz zu Schillers moralischer Erhebung über das Instinktgebundene.
Die einzelnen Begriffe werden besonders bei Burke, aber auch bei Kant und Schiller in ei-
nem essentialistischen Sinne verwendet.
1.1 Von der Erschütterung zum Erziehungsprogramm 99
Dann geht es, beginnend mit Aristoteles, um die Grenzen der Darstellung
und des Darstellenswerten sowie um ästhetische Distanz, was bis in die
moderne Ästhetik die Frage nach der künstlerischen Bearbeitung traumati-
scher Ereignisse mitbestimmt. Drittens gilt es Schillers von Kant ausgehen-
de Suche nach dem psychischen und sozialen Menschen als Antwort ebenso
festzuhalten, wie die mit ihm verknüpfte Faszination an Größe, die noch den
Hintergrund für Ernst Jüngers Tagebücher bildet. 17
Kant unterscheidet in seiner Analytik des Erhabenen, im zweiten Buch der
Kritik der Urteilskraft, zwei Aspekte des Erhabenen, und zwar das Mathema-
tisch-Erhabene und das Dynamisch-Erhabene.18 Wichtige unmittelbare Be-
züge sind Alexander Baumgartens grundlegende Schrift Aesthetica und Ed-
mund Burkes A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sub-
lime and Beautiful, von letzterem wird die Grundunterscheidung für Ästheti-
sches zwischen Schönem und Erhabenem aufgegriffen. Während Burke aber
das Erhabene mit dem Schrecken verknüpft, stellt Kants Konzeption seiner
ideellen Grundlage (im Gegensatz zur sinnlichen der Schönheit) eher eine
philosophische Variante eines positiv gedachten Großen am Begriff des Er-
habenen dar, wie er über den ‚Pseudo-Longinus‘ überliefert ist.19 Die kürzes-
17 Krieg als ästhetisches Phänomen aus dem Erhabenen heraus findet sich in Kant 2009 als
„vorzügliche Hochachtung für den Krieger“, in dem „Unbezwinglichkeit seines Gemüts durch
die Gefahr erkannt wird“ (S. 598). Und weiter heißt es: „Selbst der Krieg, wenn er mit Ord-
nung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich
und macht zugleich die Denkungsart des Volks, welches ihn auf diese Art führt, nur um des-
to erhabener, je mehreren Gefahren es ausgesetzt war“ (ebd., S. 598 f.). Längerer Frieden
dagegen pflege die „Denkungsart des Volks zu erniedrigen“ (ebd., S. 599). „Wer mit mir geht,
der sei bereit zu sterben!“, äußert Max in Wallensteins Tod (Vs. 2427) und Illo wird später
von dem „fürchterliche[n] Morden“ berichten (Vs. 2670). Es ist bekanntlich nicht nur Ernst
Jünger, der dieses Verständnis so intensiv herbeizitiert (vgl. Jünger 2013). Kleists Natalie
problematisiert die ideale Konzeption des Erhabenen im Prinz von Homburg, wenn sie äu-
ßert: „Das wäre so erhaben, lieber Ohm, / Daß man es fast unmenschlich nennen könnte“
(Vs. 1109 f. Zum Spiel des Erhabenen im Homburg vgl. Grugger 2010, S. 194–196).
18 Beim Mathematisch-Erhabenen überschreitet die Vorstellung von Größe das sinnlich Mögli-
che (vgl. Kant 2009, S. 583); das Dynamisch-Erhabene entsteht aus dem Überwältigenden
einer Naturgewalt (vgl. S. 595). Beide Aspekte sind, wie Kant immer wieder betont, auf das
‚Innere‘ des Subjekts bezogen. Zu unmittelbaren Anknüpfungs- und Folgepunkten von Kants
Ästhetik vgl. etwa Schmidt 2005, S. 509 f. Zu den klassischen Natur-Themen des Erhabenen
(Stürme, Ströme, Meer, Gebirge) in den pindarischen Oden vgl. ebd., S. 511.
19 Zur Rezeptionsgeschichte Longins vgl. Schönberger 2008, S. 152–155, von zentralem Ein-
fluss ist die Übersetzung von Boileau (1674). Der Text ist durch das Interesse am ‚erhabe-
nen Stil‘ geprägt, es geht um gelingende Darstellung des Großen/Erhabenen je unterschied-
lich in Literatur und Rhetorik, den beiden Referenzsystemen des Textes. Zur Positionierung
zwischen Stil und Philosophikum vgl. ebd., S. 141–144.
100 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
te Fassung lautet so: „Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen
das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt“. 20
Im Zuge von sinnlicher Schönheit ist der Gedanke an Trauma nicht nahe
liegend, die interessierende Ambivalenz von Abgrund und Wohlgefallen
liegt von Anfang an im Bereich des Erhabenen. 21 Für Kant ist das Erhabene
allerdings, auch wenn er es „negative Lust“ nennt, was „gleichsam gewalttä-
tig für die Einbildungskraft erscheinen mag“ (ebd., S. 576), insgesamt als
Triumph des aufklärerischen Geistes zu sehen, als Triumph der Selbstver-
gewisserung22 – das Erhabene entsteht in uns selbst, ist „allein in unsern
Ideen zu suchen“ (ebd., S. 582) und dem Sinnlichen gleichsam entgegenge-
setzt: „daß diese [die Natur] vielmehr in ihrem Chaos oder in ihrer wildes-
ten, regellosen Unordnung und Verwüstung, wenn sich nur Größe und
Macht blicken läßt, die Ideen des Erhabenen am meisten erregt.“ (Ebd.,
S. 577)
20 Kant 2009, § 29, S. 605. Burke sieht dieses Gefallen aus der ästhetischen Distanz heraus
zwar ähnlich, bezieht sich aber auf das Erhabene vor dem Hintergrund von Terror und Tod
als größtmögliche (äußere) Affekte (s. o.).
21 In der dialektischen Trennlinie der Psychotraumatologen ausgedrückt, liegt die Ambivalenz
damit auf der Seite des Erlebens. In der schließenden, ergänzenden Erklärung des Erhabe-
nen von § 25 heißt es: „Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Ge-
müts beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft“ (Kant 2009, S. 583, im Original kur-
siv). Ein Teil der kulturwissenschaftlichen ‚Faszination‘ am Traumabegriff entstand, wenn-
gleich mit anderen Vorzeichen, aus dieser Grenzüberschreitung: das Sinnliche transzendiert
das Auffassungsvermögen.
22 Vgl. § 27: „Also ist das Gefühl des Erhabenen in der Natur Achtung für unsere eigene Be-
stimmung, die wir einem Objekte der Natur durch eine gewisse Subreption (Verwechslung
einer Achtung für das Objekt statt der für die Idee der Menschheit in unserem Subjekt) be-
weisen, welches uns die Überlegenheit der Vernunftbestimmungen unserer Erkenntnisver-
mögen über das größte Vermögen der Sinnlichkeit gleichsam anschaulich macht“ (ebd., S.
591). Vgl. auch das Erhabene als „ein Gefühl, daß wir reine, selbständige Vernunft haben“
(ebd., S. 593). Die Position der (distanzierten) Sicherheit (s. o.) ist Voraussetzung für das
Anziehende des Natur-Mächtigen, der „Allgewalt der Natur“ (ebd., S. 597). Wie so oft bringt
Kant hier im Unterschied zu Schiller Beispiele, die eben nicht der Kunst entstammen, son-
dern der kontemplativen Naturbetrachtung. Der Triumph am Erhabenen ist dann, noch
einmal gesagt, die „Überlegenheit über die Natur“, die durch das eigene Gemüt fühlbar ge-
macht wird (ebd., S. 597). Der „gegenwärtigen wirklichen Ohnmacht“ (ebd., S. 598) steht der
Gedanke der „Menschheit in unserer Person“ gegenüber (ebd., S. 597), was Schiller vertiefen
und vor allem von der Naturgewalt auf soziale Situationen überführen wird. Für Kant ist das
Gefühl der Erhabenheit auch das Gegenteil von Ohnmacht, was besonders Schiller rezipie-
ren und neu positionieren wird, und zwar gerade auch das Erhabene als mögliche Antwort
auf diese Ohnmacht. Vgl. zu Unterwerfung, Ohnmacht vs. einer selbstbestimmten Religions-
ausübung vor dem Hintergrund des Erhabenen ebd., S. 599.
1.1 Von der Erschütterung zum Erziehungsprogramm 101
Der (sinnliche) Schrecken mag präsent sein, aber die Erschütterung steht
nicht im Zentrum und wird als solche in der Vernunft aufgehoben. 23 Ein
wichtiger Schritt erfolgt in der Kant-Rezeption Schillers,24 die sich vor allem
auf das Ästhetische detaillierter bezieht, wobei Schiller von Mathematik und
Natur zum Bereich des Menschlichen, heute: Psychologischen und Sozialen,
wechselt. Wenn die Gedankenwelt Kants auch stets erkennbar bleibt, so
geschieht dies doch in einem eigenständigen Konnex. Sein Begriff des Erha-
benen, und besonders des Pathetischerhabenen,25 geht unmittelbar von der
Poetik aus und bezieht sich so etwa auf Figuren wie Medea und Laokoon. Er
betrachtet sie im Hinblick auf ihre Menschlichkeit – bei Laokoon vor dem
Hintergrund seiner Ohnmacht, bei Medea vor dem ihrer eigenen Tat –, die
sie über bloß instinktmäßige Reaktionen erhebt, wodurch sie zu seinem
Bühnenkonzept beitragen.26 Mit der Figur des Laokoon bezieht er sich be-
kanntlich auf die berühmt gewordene Winckelmann-Kritik Lessings, von
dem bereits Kant Grundlegendes für seine Ästhetik gelernt hat (u. a. über
das Wechselspiel von Sehen und Denken).27 Schiller spielt an manchen Stel-
len ein wenig mit der Analogie seines Verhältnis zu Kant mit der von Lessing
zu Gottsched, wenn er dessen (Lessings) Vorzüge als Praktiker heranzieht,
sich also auf ein Wissen bezieht, das Kant naturgemäß fehlt. Der grundle-
gende Unterschied ist allerdings bedeutsam. Während sich Kant vor allem
auf Natur und (oft implizit) auf visuelle Kunst bezieht und diese gleichsam
vor sich sieht, wenn er seine Ästhetik entwickelt, ist Schillers Ausgangs-
23 Mögliche sinnliche Abgründe werden über das Gemüt (den Verstand) geschlossen. Der
Anblick des Ozeans oder des Gebirges selbst ist für Kant eher schrecklich, aber das ist eben
nicht das Erhabene. Das Gefühl des Erhabenen ergibt sich erst aus dem mit Ideen gefüllten
Gemüt. Zur Erschütterung und dem Abgrund selbst heißt es: „Diese Bewegung kann (vor-
nehmlich in ihrem Anfange) mit einer Erschütterung verglichen werden, d. i. mit einem
schnellwechselnden Abstoßen und Anziehen eben desselben Objekts. Das Überschwengli-
che für die Einbildungskraft […] ist gleichsam ein Abgrund, worin sie sich selbst zu verlieren
fürchtet; aber doch auch für die Idee der Vernunft vom Übersinnlichen […] in eben dem Ma-
ße wieder anziehend, als es für die bloße Sinnlichkeit abstoßend war“ (ebd., S. 592).
24 Kant betont durchgängig, dass das Schöne und das Erhabene (interesselos) gefallen. Schiller
ist an deutlich „mehr“ interessiert als an diesem ‚Gefallen‘; er wird nicht nur Erziehungsdis-
kurse im Hintergrund führen, sondern v. a. entlang der Tragödie argumentieren und auf sie
seinen Fokus richten. Longin etwa stellte Tragödiendichter im besten Fall neben den Redner
Demosthenes und den Epiker Homer.
25 Die Nähe von Erhabenem und Pathetischem steht in der Tradition des Pseudo-Longinus. In
Über das Pathetische entfaltet Schiller den Übergang vom kontemplativ Erhabenen zum pa-
thetisch Erhabenen (aus Vom Erhabenen) im Kontext der Sympathie und der moralischen
Person, um zum gesuchten selbständigen Geist vorzudringen.
26 Vgl. Schiller 2004, S. 523–527 bzw. 536.
27 Vgl. Grugger 2010, S. 44.
102 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
punkt, um dies noch einmal zu betonen, die attische Tragödie, die traditio-
nelle Literatur und Poetik im Wechselspiel mit dem Menschenbild der Auf-
klärung, den Umgang mit Gewalt und Trauma inkludierend. 28
Um nun das Beispiel des Laokoon herauszugreifen: An der Stelle der Aeneis
interessiert sich Schiller für den Moment, in dem Laokoon trotz Aussichtslo-
sigkeit und sicherem Tod den Söhnen zu Hilfe eilt, wo er sich also als
Mensch erweist und über das Instinktmäßige triumphiert.29 Ein Moment,
das bei Vergil nicht hervorgehoben ist, aber ohne Zweifel da ist, sodass die
Stelle zwar nicht deshalb gewählt wurde, weil hier das Gemeinte so gut
sichtbar wird, sondern um es in den ästhetischen Diskurs einzuschreiben,
aber dennoch stimmig ist. Aus einer am Trauma interessierten Perspektive
fällt allerdings auf, dass die Aeneis nicht nur auf diesen Punkt nicht fokus-
siert, sondern mit dem Gegenteil endet: mit der Ent-Menschlichung Lao-
koons, wenn dieser selbst in gesteigerter Form zu dem Schlachtstier wird,
den er zunächst im Begriff war zu opfern: „Laokoon […] war dabei, einen
gewaltigen Stier feierlich am Altar zu opfern“,30 als die Schlangen aus dem
Meer auftauchen. Um sein Entsetzen zu schildern, wird er selbst zu diesem
Stier, und zwar in gesteigerter Form, da in diesem Vergleich dessen Schlach-
tung fehlgeschlagen ist. Laokoons Schreie werden nämlich wie folgt darge-
stellt: „So klingt das Brüllen eines Stieres, wenn er verletzt vom Altar flieht
und vom Nacken abwirft das ungenau geführte Beil.“ (Ebd., S. 77)
Sowohl mit Laokoon als auch mit Medea bezieht sich Schiller, wie gesagt, auf
Beispiele Lessings,31 der den Ausdruck des Leidens in der Kunst im Laokoon
thematisiert, und zwar anhand der Pole visuelle Kunst vs. Literatur, Ablauf
28 Die ästhetischen Briefe sind ja dezidiert eine Antwort auf die Gräueltaten der französischen
Revolution. Kants Ästhetik auch des Erhabenen geht radikal von Natur aus, wobei das Erha-
bene als im Gemüte des Urteilenden verhaftet (vgl. ebd., S. 590) gerade nicht von ungestalte-
ten Gebirgsmassen oder der tosenden See bewirkt wird, sondern vom Betrachter und von
dessen Vernunft. Schiller dagegen, der einen weit skeptischeren Naturbegriff hat, interes-
siert sich a priori für Kunst, die für ihn eben nicht mehr als zweite Natur fungiert.
29 Giesen redet mit Nachhall von der historischen Entwicklung von ‚Triumph zu Trauma‘ (s o.).
In ästhetischem Kontext ist hier die ideelle Überwindungsszene dieser Ohnmacht bedeut-
sam. Der ‚Triumph des Menschlichen‘ ist also bereits auf der Basis des Traumatischen for-
muliert, und zwar als intelligibler.
30 Vergilius Maro 2012, S. 75.
31 Zu Medea vgl. Lessing 2014, S. 33. Auch Kant expliziert mit ‚Spiel der Einbildungskraft vs.
Begriff‘ für die Kategorie des Schönen Lessings ‚Sehen vs. Denken‘ (vgl. Grugger 2010, S. 44),
wie er für das Erhabene die Verwandlung des Hässlichen der Natur in ein Schönes der Kunst
(vgl. Lessing 2014, S. 31) aufgreift.
1.1 Von der Erschütterung zum Erziehungsprogramm 103
32 Der Dichter ist nicht genötigt, „sein Gemälde [!] in einen einzigen Augenblick zu concentrie-
ren“ (ebd., S. 35). Rilke wird eben dies versuchen und in den Aufzeichnungen des Malte Lau-
rids Brigge diese Konzentration als vertikale Achse beschreiben und der chronologisch-
horizontalen gegenüberstellen. Der Rilke-Forscher Beda Allemann wird, dies offensichtlich
rezipierend, aus der Differenz der beiden Achsen ein überzeugendes dramaturgisches Mo-
dell für Kleist entwickeln (vgl. Allemann 2005 sowie Grugger 2010 und s. o.).
33 Lessing 2014, S. 21.
34 Ebd., S. 35, Herv. von Vf.
35 Vgl. dazu S. 37 ff. sowie S. 46 f.
36 Zum traumatischen Riss und zum Begriff der Traumatophilie s. A 2.
37 Vgl. Sofsky 2008, S. 315 und s. D 1.
38 Vgl. eine der zum Zeitpunkt der Äußerung höchst irritierenden Hauptthesen von Der Wille
zum Wissen, anstelle von einer Unterdrückung der Sexualität sei es angebracht, von der
hochgradigen Diskursivierung des Feldes zu sprechen (Foucault 1987).
104 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
39 Dass die Hilflosigkeit des Menschen der antiken Literatur durch das göttliche Walten erklärt
wird, wäre in heutiger Konzeption als eine Art Traumabewältigung rezipierbar. Vgl. die
Sinnstiftung im Kontext der Aristotelischen Poetik (s. u).
40 Kleist übernimmt die Integration in den eigenen Kontrollbereich für seinen Titelhelden. Bei
Schiller heißt es: „Er [Laokoon] ist es jetzt gleichsam selbst, der sich aus freier Wahl dem
Verderben hingibt, und sein Tod wird eine Willenshandlung“ (Schiller 2004, S. 526).
41 Vor dem Hintergrund der Gewaltexzesse der französischen Revolution soll der ästhetische
Mensch als Kompromiss entstehen, als dritte Möglichkeit neben dem bloßen Triebmen-
schen der materiellen Natur und dem rein intelligiblen Vernunftmenschen der Form. Die
Verbindung erfolgt u. a. in den ästhetischen Briefen 9 und fünfzehn (vgl. ebd., S. 592–596
bzw. S, 614–619); die Terminologie für die Bereiche Sinnenwelt, Ideenreich und Kunst ist
überaus mannigfaltig.
1.2 Hölderlin 105
ihren Schrecken eingeht,42 und seine Rehabilitation der Dichtung gilt eine
Grenze, die auch für Schiller bedeutsam ist 43 und die noch Broch in den
Schuldlosen markiert: der Schrecken bleibt im Rahmen des Ästhetischen.44
Für ihn bedeutet dies, dass ein Kunstwerk eben nicht das Selbst- und Welt-
verständnis erschüttert, sondern ganz im Gegenteil, diese Erschütterung in
eine Ordnung einschreibt, wie dies auch die christlichen Narrationen oder
der aufgeklärte Humanismus versuchen.45 In diesem Sinn wäre Trauma von
Anfang an zugleich ausgeschlossen und überrepräsentiert, da mit der atti-
schen Tragödie eine Ordnung inszeniert wird, die eben die Auflösung von
Trauma, konzipiert als radikale Erschütterung, durchführt.46
Entstanden ist die Ode Stimme des Volkes in zwei Fassungen (1800/1801)
als „Erweiterung des unter dem gleichen Titel stehenden zweistrophigen
An dem Blick, der mit dieser Ode auf das Individuum geworfen wird, sind
zwei Aspekte entscheidend: der Gegensatz unbewusst steuerlos rauschender
Strom vs. reflektierendes Selbst, d. h. reflexionslose Ungebundenheit vs. Ge-
bundenheit durch die Subjektivierung, und die Spiegelung ins Kollektive, wo
in einer Massensituation die Einzelnen entgrenzt sind. Wenn es heißt: „Und
alle waren außer sich“ (Vs. 57), werden in der Betrachtung diese Einzelnen
wieder auf ihr jeweiliges (verlorenes) ‚Selbst‘ zurückgebrochen, um schließ-
53 Schmidt beschreibt im Kommentar die letzten Jahre vor dem Zusammenbruch: „Es ist ein
tödlicher Drang zu radikaler Befreiung, zum Ausbrechen aus den Grenzen des Daseins“ (S.
500). Sein Beleg, Vers 12 von Mnemosyne: „Und immer / Ins Ungebundene gehet eine Sehn-
sucht“ (Hölderlin 2005, S. 364) greift offensichtlich diese Stelle aus Stimme des Volkes auf
und er formuliert auch unmittelbar: „Andere Gedichte sprechen von der Todeslust“
(Schmidt 2005, S. 500). Wichtig ist die Beschreibung des eben zitierten Verses aus Mnemo-
syne als für Hölderlin charakteristische Erkenntnis im Sinne nicht leicht fassbarer „Entfal-
tungen eines Denkens und Erfahrens, das noch in der gnomischen Ausformulierung Heraus-
forderung und Anspruch an den Leser bleibt“ (ebd., S. 504). Gnome sind dabei nach Pindar
verstanden als „bündig formulierte Einsichten“ (ebd.). Entscheidend ist für die vorliegende
Fragestellung, dass im Kontext der Fichte-Rezeption der Triumph des Subjekts unmittelbar
auf dessen Problematik trifft (vgl. auch Grugger 2010).
54 Zum ‚herben Stil‘ vgl. Schmidt 2005, S. 501, zur stilistischen Zuordnung des Sprunghaften
vgl. S. 503.
55 Hölderlin 2005, S. 311 f., Vs. 9–20.
108 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
56 Vgl. Plutarchus ca. 1860, 3. Brutus. Zur Deutung im stoischen Bild der Ekpyrosis, also der
zyklischen Erneuerung durch den ‚Weltenbrand‘, vgl. Schmidt 2005, S. 793. Hölderlin „ver-
steh[e] sie psychologisierend als zerstörerisches Entgrenzungsgeschehen“ (ebd., S. 840). Zu
Hölderlins Rezeption der Stoa vgl. ebd., S. 641.
57 Vgl. Vers 57 „Und alle waren außer sich selbst“ im Kontext von Entgrenzung und Ekpyrosis
(Hölderlin 2005, S. 313). Zum Massendiskurs in Brochs Vergil s. C 3.
1.2 Hölderlin 109
58 Schmidt 2005, S. 500. Er fokussiert damit deutlich auf die Ode Chiron, die er in Analogie zum
Entwicklungsgedanken der Phänomenologie des Geistes deutet (vgl. ebd.). Die Formulierung
ist nahe an den zwei Seelen in der Brust, denen Goethes Faust zeitnahe nachgeht (s. u.).
59 Vgl. die Konzeption des Subjekts in Reckwitz 2006. Zum cartesianischen Hintergrund des
allgemein konzipierten autonomen Vernunftsubjekts vgl. auch Grugger 2010, S. 33 f.
60 Die Ode schreibt sich so in ästhetisch und inhaltlich spezifischer Form in eine Bewegung ein,
die oben mit dem Verweis auf die Pathogenese des Subjekts im Bildungsroman bereits an-
gedeutet wurde.
61 Laplanche/Pontalis 1973, S. 501.
62 Vgl. die oben zitierte Konzeption der Melancholie als Reinkultur des Todestriebes (ebd., S.
499) sowie Riedel 2008, S. 109 (s. o.).
63 Aus dem Blickpunkt des Traumadiskurses ist die (relative) „Entkoppelung“ vom Ereignis
auffällig: der Suizid dient teils als Antwort auf Traumen, auf Ereignisse und Prozesse, ge-
winnt aber als Todessehnsucht eine eigene, (nicht nur) einheitsstiftende Funktion: das
„wunderbare Sehnen dem Abgrund zu“ (Vs. 19).
64 Mit der Interpretation von Brot und Wein (vgl. v. a. Schmidt 2005, S. 722–726): Das wäre
dem Übergang vom griechischen Tag und der folgenden Nacht zum neuen Tag erst einzu-
schreiben.
110 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
65 In der kollektiven Fassung um Xanthos geht es um ein nach innen bezogenes Phänomen, das
die Gruppe/Stadt/Masse erfasst, wodurch sich die Spannung zwischen (teils irrationaler)
Bezogenheit nach innen und äußerem Anlass konstituiert.
66 Die in der Aufklärung etablierte Differenz zwischen der Autonomiebewegung des Subjekts
und der gesellschaftlichen Formation spitzt sich in der ‚Spätmoderne‘ zu komplexen Absa-
gen an das Soziale zu. Unter anderen Vorzeichen wird sie zeitnahe zu Lefeu in Thomas
Bernhards autobiographischem Roman Die Ursache. Eine Andeutung (mit einer großen Ges-
te der Distanz) formuliert (s. D1 und 2). Die komplexe Literatur Brochs ist zumindest an
Stellen noch einem ‚expressionistischen Wir‘ verpflichtet, das unmittelbarer an den Mensch-
Begriff der Aufklärung anzuschließen versucht (s. u.), der sich in Hölderlins Dichtung suk-
zessive zurückbildet.
67 Hölderlin als ‚Dichter des Dichtens‘ ist ein bekanntes Bild (vgl. Heidegger 2012, S. 31), das
auch für seinen Orientierungspunkt Pindar aufgrund von dessen ausgedehnten poetologi-
schen Reflexionen gerne genutzt wird (vgl. mit Belegstellen und zur Kontextualisierung
Lattmann 2010, S. 1 f.). Auch an diesem Beispiel wird sichtbar, dass neben synoptischen äs-
thetischen Diskursen wie dem zu der mit der Romantik einsetzenden Autonomiebewegung
(Selbstreflexion) stets poetische Impulse aus der produktiven Rezeption heraus im Blick zu
behalten sind. Zur Tragik des Dichters bei Hölderlin und ihrer möglichen Positionierung im
Feld des Erhabenen vgl. Schmidt 2005, S. 509.
68 Schematisch gefasst, könnte man von Mythologisierung bei Hölderlin und Aufhebung der
sich schließenden Bedeutung bei Rilke sprechen, dessen Rückgriff auf den Mythos in den
Orpheus-Sonetten unter modernen Bedingungen erfolgt (s. u.).
1.3 Kurzer Ausblick auf drei Stellen von Faust I 111
risch bearbeiteter Ideen. Dabei ist Metapoetik ein wichtiger, wiederum un-
terschiedlich zu verortender Ausgangspunkt, der diesen Prozess mitbe-
stimmt und der vor allem für Rilke zur Frage wird. Bei Hölderlin ist es auch
die zunehmende gedankliche Loslösung vom Puls der Zeit, die zur sich stei-
gernden Komplexität beiträgt.69 Bezogen auf die engere Thematik dieser
Studie wird die Entwicklung bei Rilke näher zu betrachten sein. Die Viabili-
tät zur Sprach- und Subjektkrise der Moderne könnte kaum deutlicher sein
als in den folgenden, von Schmidt zitierten Versen:
FAUST
Und über Flächen, über Seen
Der Kranich nach der Heimat strebt.
WAGNER
Ich hatte selbst oft grillenhafte Stunden,
Doch solchen Trieb hab’ ich noch nie empfunden.
[…]
FAUST
Du bist dir nur des einen Triebs bewußt;
O lerne nie den andern kennen!
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen;
Die eine hält, in derber Liebeslust,
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
69 Bei Hölderlin ist die Entfernung vom bloßen Menschheitsideal hervorzuheben; bei Rilke
sind es Sagbarkeit, die Autonomieproblematik und die Position des Dichtens, die zu immer
dringlicheren Fragen werden. Siehe C 1.
70 Schmidt 2005, S. 513.
112 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
Die Szene setzt ein mit Fausts Betrachten der sinkenden Abendsonne, die in
ihrem Absterben Platz macht für neues Leben (vgl. Vs. 1073 f.).72 Sein
Wunsch ist es, ihr „nach und immer nach zu streben“. (Vs. 1075) Es folgen
die Topoi des Erhabenen (Berg, Meer), die Sehnsucht nach dem Geistigen,
nach dem, was dem Körperlichen verwehrt ist. „Doch ist es jedem eingebo-
ren, / Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt“. (Vs. 1092 f.) Wagner
dagegen zieht es zum Buch, nicht nach der großen Heimat,73 nicht danach,
ihr „ew’ges Licht zu trinken“. (Vs. 1086). In der oben zitierten Antwort vari-
iert Faust die in Hölderlins Ode thematisierte ‚Todessehnsucht‘ über den
Komplex des nach der Heimat strebenden Kranich sowie über die Ahnen,
ohne dass freilich dieselbe (lyrische) Intensität und Unmittelbarkeit der
Problematik erreicht wird.74 Die Spannung im aufgeklärten Subjekt ist hier
durch die Renaissance-Welt überdeckt, während sie in Hölderlins Ode durch
den Rückgriff auf den Mythos mit kollektiver Entgrenzung verbunden wird.
Freud wird sie in der Moderne als Wechselspiel von Eros und Thanatos
konzipieren und dabei von einem ‚rein‘ theoretischen Ansatz sprechen, wo-
bei er freilich auf Aporien der Beobachtung antwortet.75
71 Goethe wird in dieser Studie nach der Hamburger Ausgabe mit der Sigle ‚HA‘ zitiert. Vgl. für
den Faust HA 3.
72 Die von Schmidt für Hölderlin umfassende Ekpyrosis-Thematik stellt ein durchgängiges Bild
in Faust I dar (s. u.).
73 Die ‚große Heimat‘ ist vergleichbar dem über die ‚Wolke‘ gefassten Bild in der ersten Fas-
sung der Stimme des Volkes: „Und kaum der Erd’ entstiegen, desselben Tags / Kehrt weinend
zum Geburtsort schon aus / Purpurner Höhe die Wolke wieder“ (Hölderlin 2005, S. 310, Vs.
18–20).
74 In der Folge sucht Faust nach einer Position dazwischen: „Geister in der Luft / die zwischen
Erd und Himmel herrschend weben“ (Vs. 1118 f.), möchte hier zu „neuem, buntem Leben“
(Vs. 1121) und möchte den Zaubermantel überziehen, was so etwas wie eine zusätzliche
Dimension eröffnen soll. Bezeichnend ist hier, dass er in der Folge Mephistopheles das erste
Mal wahrnimmt, eingeleitet durch die Frage Wagners: „Was stehst du so und blickst er-
staunt hinaus? / Was kann dich in der Dämmrung so ergreifen?“ (Vs. 1145 f.). S. zu Werner
Schwabs produktiver Rezeption, die hier anknüpft, D 3.
75 Vgl. die umfassende Darstellung zu ‚Todestrieben‘ und ‚Wiederholungszwang‘ in Laplan-
che/Pontalis 1973, S. 494–503 bzw. S. 627–631.
1.3 Kurzer Ausblick auf drei Stellen von Faust I 113
c) Mythische Wiederholung am Ende der Stimme des Volkes und die Rekon-
struktion des Geschehenen als Erzeugung von Vergangenheit
Die Xanthier hätten in ihrer Raserei das Schicksal ihrer Vorfahren wieder-
holt, so Plutarch in Brutus, dem Hölderlin hier auch in der Darstellung der
Wiederholungsthematik folgt, um in der letzten Strophe mit der auf Pindar
verweisenden Reihe Sage, Gedächtnis und Auslegung zu schließen. 77 Die
Vorstellung von ‚ohnmächtiger Todeslust‘ als Ausdruck einer kollektiven
Wiederholung vergangenen Geschehens greift variierend auf mythisches
Denken zurück. Erinnerung als zentrale Thematik von Hölderlins Spätwerk
trifft mit dem Mythosbezug – Sage, Gedächtnis und Auslegung – auf einen
76 Hölderlin 2005, S. 134–138 (Fassung: „Wonne säng ich“), hier S. 137. Die Nähe der ‚Tübin-
ger Hymnen‘ zu Schillers Lied An die Freude ist ebenso spürbar wie bekannt, vgl. dazu etwa
Schmidt 2005, S. 487.
77 Zur Mythenexegese bei Pindar als Vorbild für Hölderlin vgl. ebd., S. 794.
114 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
Der lange Atem dieser Thematik betrifft noch die Konzeption dieses Textes,
dem der Gedanke zugrunde liegt, dass der Versuch kritischen Vergleichens
oder Ausblickens den Zugriff auf Zeiten und Räume außerhalb des überde-
terminierten Traumabegriffs, außerhalb der aktuellen Diskurse und des
unmittelbar Gegebenen zulässt. Wie dabei allerdings in der Regel das Ge-
fundene dem Konstruktionsprozess des Suchenden unterworfen wird,
wussten, wie soeben festgehalten, lange vor der Blüte des Konstruktivismus
bereits Novalis und Goethe.79 Ungeachtet dessen, wie weit diese Distanz als
ein Loslösen vom augenblicklichen Prozess möglich ist, erscheint dieses
kritische Bemühen dennoch als sinnvoll und vernünftig, um zumindest die
Möglichkeit einer Folie zu erhalten. Unterschiedliche Konzepte von Trauma
in der literarischen Entwicklung hin zu Moderne und Spätmoderne im Blick
zu behalten, bedeutet aber auch – und dem entkommt man nicht –, sie ret-
rospektiv zu konstruieren.80
78 Vgl. Riedel 2009, S. 154, der Novalis’ Wissen um den Begriff der ‚Antike‘ als Qualität der
Beziehung und nicht des Seins darlegt.
79 Gerade Goethes Faust ist in seinem zweiten Teil bekanntlich nicht nur Auseinandersetzung
mit der Antike, sondern enthält in der Figur des Euphorion auch die Problematisierung des
klassischen Projekts.
80 Die kritische und in dem hier genannten Sinn bewusste Analyse vergangener Diskurse und
vor allem Texte bietet eine der wenigen Möglichkeiten, sich von den aktuellen zumindest
ein Stück weit abzulösen, aber stets unter den genannten Vorbehalten. Auch dies sollte be-
scheidener machen in den Formulierungen und Überlegungen. Übrigens entkommt man der
Problematik nicht, wenn man sich etwa auf den Melancholiediskurs beschränkt und auf die
Gegenüberstellung zu gegenwärtigen Modellen verzichtet.
1.4 Von Goethe zu Kleist 115
Der grundlegende Impuls der Zeit zum bereits genannten Trauma des
Künstlers oder des Schreibens kam nicht von Hölderlin, sondern lässt sich,
wenn das Bild auch vielschichtig vertreten ist, prominent an Goethes Tasso
festmachen. Von Trauma wäre im zeitgenössischen Diskurs naturgemäß
nicht die Rede gewesen, dafür umso mehr von Melancholie, Hypochondrie
sowie von Genie, Dichter und Wahnsinn.83 Auch erscheint es sinnvoll, von
einem Impuls zu sprechen, da im Unterschied zu den Nachtwachen, zu den
Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge oder besonders zu Tod des Vergil
die engere Thematik zwar einen fundamentalen Riss zwischen Individuum
oder Künstler84 und sozialem Umfeld markiert,85 dieser aber sehr gut als
dem sogenannten ‚Charakter‘ des Tasso zugehörig argumentiert werden
81 Vgl. auch die „Empfindung tragischer Heimatlosigkeit“ (Schmidt 2005, S. 495) als ein The-
ma, an das die Moderne besonders intensiv anschließen konnte.
82 Aus Torquato Tasso wird mit Versangabe zitiert nach HA 5, S. 73–167.
83 S. o. Dass in den Kommentaren bis heute wiederholt vom Melancholiker Tasso (dem histori-
schen) die Rede ist, zeigt, wie sehr sich der literarische Diskurs aus verschiedenen Schichten
zusammensetzt. Als ‚Kur‘ des ‚trüben Eifers‘ Tassos empfiehlt Alfons eine Verbesserung des
Blutes (vgl. Vs. 3059–63).
84 Im engeren Sinn ist der Künstler gemeint, im weiteren das Individuum, denn grundlegend
für das Stück ist nicht der Einzelfall, sondern Tasso als Ausdruck des Künstlers und dieser
als Ausdruck des Menschen. Zugleich ist Tasso als Einzelgänger ein wichtiges Motiv (vgl. Vs.
970), das sich ebenso ausdehnt wie die Gefahr des Scheiterns. Das Allgemeine schimmert
stets durch, was eben in der Codierung des Einzelgängers eine spezifische Spannung er-
zeugt, die den historischen Prozess der Subjektivierung begleitet.
85 Ausgedrückt ist dieser Riss in der bekannten ‚Disproportion des Talents mit dem Leben‘, die
Caroline Herder brieflich äußert (vgl. Atkins 2000 in HA 5, S. 500).
116 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
Was der Problematik dieser Selbstbezogenheit nun folgt, ist zeitgemäß und
verweist auf die gewünschte Metamorphose als Endpunkt dieser Orientie-
rung nach innen. Das semantische Feld des Todes, dem sich die Seidenraupe
mit der Produktion ihres Kunstwerkes entgegenspinnt, eingeschlossen in
ihren Sarg, ist dabei alles andere als zufällig gewählt und verweist nicht nur
auf den Preis des Dichtens, sondern auch auf die letzte (romantische)
91 S. im Einzelnen die Abschnitte C und D. Vgl. zu Leverkühns Klage zwischen Sprache und
Schrei im Dr. Faustus sowie zu Keilsons Ringen um Sagbarkeit vor dem Hintergrund seiner
Poetik eines ‚Schreis ins Leere‘ Grugger 2013c sowie Grugger 2013a.
92 Es ist weder Zufall noch bloß seinen Forschungsinteressen geschuldet, dass Fülleborn die
Linie vom Werther zu Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge zieht und dabei fest-
hält: „Daß Werther mit den Menschen um ihn herum nicht kommunizieren kann, daß die
Isolation perfekt wird und ihn schließlich zerstört, ist selbstverständlich.“ (Fülleborn 1984,
S. 40).
93 Vgl. Reckwitz 2006 bzw. s. o. Dazu gehört noch die Diskussion um Tasso als Charakterdra-
ma. In jedem Fall erlauben Minimalismus im Personal (ähnlich etwa der Iphigenie) sowie
Reduktion der Handlung Goethe Figurenkonstellation und Innenwelt der Figuren besonders
intensiv zu erarbeiten.
118 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
Schließung des Subjekts. Denn für den eigentlichen Durchbruch ist der Dich-
tende auf das Jenseits verwiesen:
Nach der Katastrophe: Der schließende Dialog zwischen Tasso und Antonio
(V/5)
In der Schluss-Szene des Tasso wird die Entdeckung der Kunst als die Ant-
wort auf den Zusammenbruch entwickelt, die dem Schreibenden offen steht,
was hier unmittelbar interessiert.94 Die Qualität oder die ‚Empfindsamkeit‘
dieser subjektiv intensiv dargestellten und von außen weniger motiviert
scheinenden Höllenqualen95 steht dagegen nicht im Vordergrund der Frage-
stellung. Inszeniert ist die Erschütterung von Tassos Welt in sich zuspitzen-
der Isolation und im Festhalten an der problematischen Innenorientierung.
Den Hintergrund bilden wahnhaft geschilderte Verfolgungsbilder. Entschei-
dend ist die Erörterung der Äußerung des Leids, die vom Schrei zur Dicht-
kunst führt. Mit der Zurücknahme der Huldigung an die Prinzessin und der
distanzierten Position am Hof bleibt Tasso in der sozialen Position und im
Feld des Gelten nur sein (un)vollendetes Lied, das ihm aber aus der Verfü-
gungsgewalt genommen ist.96 Wenn er am Ende davon spricht, über Melodie
und Rede zu verfügen, sein Leid zu artikulieren (s. u.), dann hebt er damit
auf das Dichten selbst ab, das ihm als letztes geblieben ist, und nicht mehr
auf das für ihn verlorene Werk.
Motivierung und Hintergründe von Tassos Erschütterung mögen ideal ge-
zeichnet sein, die sich vielleicht gerade deshalb als Modell anbietet. Kleist
wird sich in seiner produktiven Rezeption des Stücks im Homburg unmittel-
94 Siehe unten zu E.T.A. Hoffmann, wo in mehreren Texten innere Zerrissenheit, Wahn und
Qualen an die Kunst selbst gebunden sind und dabei teils ebenso unterbestimmt bleiben.
Man denke als illustratives Beispiel an den Maler B. in der Jesuiterkirche in G. (Hoffmann
2009b, S. 110–140).
95 Hintergrund für die Verwendung des Ausdrucks „Höllenqual, die mich vernichtet“ (Vs.
3373) ist die von Antonio eingemahnte „Lästrung“ Tassos gegenüber den anderen, die die-
sem selbst, angesichts seiner Qualen, zum „leis[en] Schmerzenslaut“ wird (Vs. 3374).
96 Der Fürst hat im Drama Das befreite Jerusalem für sich, Tasso ist damit sein Opus entwendet.
Gelten kann im Sinne des Prestiges verstanden werden oder mit Bourdieu dem ‚symboli-
schen Kapital‘ zugeordnet werden.
1.4 Von Goethe zu Kleist 119
barer auf Fragen des ‚Traumas‘ beziehen, wie wir es heute verstehen. Was
im Tasso jenseits des Ereignisses, aber auf dem Höhepunkt der Erschaffung
von Innenräumen auftritt, ist die subjektive Dimension traumatischer Er-
fahrungen: „Ich fühle mir das innerste Gebein / Zerschmettert, und ich leb
um es zu fühlen.“ (Vs. 3370 f.) In der Diktion von Fischer/Riedesser wäre
hier also die Erlebnisseite ausgearbeitet.
Der schließende Dialog beginnt, indem Antonio Tassos Überzeugung einer
gegen ihn gerichteten, äußeren Feindschaft der anderen: „Daß du von Fein-
den rings umgeben bist“ (Vs. 3287), aufgreift und zurückweist. Tasso selbst
bringt, davon unbeeindruckt, den Tod und seine eigene, vermeintliche Posi-
tion als Opfertier97 ins Spiel und greift im Kontext seines Lieds und seines
Namens (Ruhms) das Thema der Verschwörung auf.98 Der nun geäußerte
Gedanke, der Mensch kenne sich nur als Galeerensklave, betont v. a. den
Umstand, die anderen vorher verkannt zu haben und geht der Zurücknahme
der Huldigung an die Prinzessin voraus: „Euch alle kenn ich! Sei mir das
genug! / Und wenn das Elend alles mir geraubt, / So preist ich’s doch, die
Wahrheit lehrt es mich.“ (Vs. 3356–58)
Durch die Zurücknahme der Huldigung ist er vollends isoliert; dramatur-
gisch vertieft sich der Riss.99 Entfaltet wird nun ein zeitspezifischer Dualis-
mus, ein wichtiger Topos, und zwar der von ‚Entgrenzung‘ und ‚Sich-Fassen‘.
Letzteres lässt sich mit einem auf die Innenräume bezogenen cartesiani-
schen Klaren und Wohlunterschiedenen verbinden, das für Subjekte der
Aufklärung in aktiven Praxen aufzusuchen ist. Es verweist zugleich auf das
mögliche Brechen oder Zerbrechen dieser Fassung, was mit Erschütterung
parallel zu führen ist. Tasso wehrt das Zusprechen mit „sanfter Lippe“ (Vs.
3366) mit folgenden Worten ab:100 „Laß mir das dumpfe Glück, damit ich
97 Die problematische Erhöhung durch die Bekränzung am Eingang des Stückes, die Tassos
Fall vorausgeht, wird den Rahmen für Kleists Spiel im Homburg bieten. Vgl. Grugger 2010.
Die komplexe doppelte Erhöhung des bekränzten Homburg ist mit dem Bruch der ersten
Gewissheit, der Todesdrohung (dem Geopfert-Werden), dem Problem der Symbolwerdung
sowie einer „existentiellen Problematik“ verknüpft (s. u.).
98 Tassos Thema des ‚Verfolgt-Werdens‘ ist auch dasjenige Rousseaus, das sich nicht erst in
den Träumereien eines einsamem Spaziergängers so sichtbar entfaltet, sondern auch in den
Bekenntnissen den Kontrapunkt zur Authentizität setzt und Goethe bestens vertraut war. So
spricht er in der Italienischen Reise von Rousseaus „hypochondrische[m] Jammer“ (HA 11, S.
211).
99 Vgl. auch das oben zitierte Bild der ‚Seidenraupe‘ und die Problematik des Wegs nach innen.
100 Dieser Dualismus bleibt aufrecht bzw. kehrt in verschiedenen Variationen wieder. Für den
Traumadiskurs könnten die beiden Pole in etwa Folgendermaßen angedeutet werden: Aus-
sage, Durcharbeiten, Bewältigung, Restrukturierung, Reintegration vs. Unaussprechliches,
Singuläres, Überwältigung, bleibender Riss (s. o.). „Sich zu fassen“ ist bezeichnenderweise
120 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
nicht / Mich erst besinne, dann von Sinnen komme.“ (Vs. 3368 f.). Gemeint
ist eine Befriedigung aus dem Diffusen heraus im Sinne einer (beglücken-
derweise) fehlenden klaren Wahrnehmung der Situation, die als Flucht vor
dem vernünftigen Sich-Fassen gelesen werden kann.
Durch eine Art Selbstanklage, die im Homburg in erhabenem Stil wiederauf-
genommen wird,101 kommt es zu Rührung bei Antonio, was als versöhnli-
cher Schluss gelesen werden kann. Entfaltet wird so weiter die zentrale
Spannung zwischen Außen und Innen, denn hier beginnt Tasso zu reflektie-
ren, ob denn Alles verloren sei, und zwar in einem Hin und Her zwischen der
intakten Außenwelt und dem zerstörten Innenraum. Die letzterem zugeord-
nete Metapher des Nichts wird dabei durch dreifache Wiederholung intensi-
viert: „bin ich nichts / Ganz nichts geworden? / Nein, es ist alles da und ich
bin nichts“ (Vs. 3415–17),102 und geht über in die Verlusterfahrung des er-
schütterten Selbst: „Ich bin mir selbst entwandt, sie ist es mir!“ (Vs. 3418)
Die beklagte innere Erschütterung wird in diesen assoziativen Erwägungen
Tassos mit äußeren Bewegungen verglichen, um davon abgelöst werden zu
können, wenn dem dreifachen Nichts vorangestellt ist: „Hat der Schmerz, /
Als schütterte der Boden, das Gebäude / In einen grausen Haufen Schutt
verwandelt?“ (Vs. 3409–11)
Antonio gibt nun das Signal zum Finale: „Erkenne was du bist!“ (Vs. 3420),
und liefert damit ein impulsartiges Stichwort, das Tasso aufgreifen und wei-
terführen kann.103 Die erste Form des Trostes, die er selbst als ein trösten-
des Beispiel aus der Geschichte entwirft, um sich gleichsam zu fassen – der
eine Aufforderung, die sich in fast jedem Stück Kleists wiederholt findet. So reflektiert Graf
Wetter vom Strahl im Käthchen von Heilbronn: „Ich weiß, daß ich mich fassen und diese
Wunde vernarben werde: denn welche Wunde vernarbte nicht der Mensch?“ (SWB 2, S.
350) Charakteristisch ist die Regieanweisung für die Protagonistin zu Vs. 1196–1206 im 9.
Auftritt der Penthesilea: „Mit erzwungener Fassung“, da ihr eben die Entgrenzung und nicht
die Fassung entspricht (vgl. Grugger 2012) Vgl. im Tasso auch Antonio: „Und wenn es dir an
Fassung ganz gebricht“ (Vs. 3378). Dass Tassos Geist von einer Grenze zur anderen
schwankt (Vs. 3360) wird zur Kernbestimmung der Protagonistin der Penthesilea.
101 Im Homburg wird es heißen: „Doch dir, mein Fürst, der einen süßern Namen / Dereinst mir
führte, leider jetzt verscherzt (Vs. 1765 f.), Tasso äußert: „Wie schön es war, was ich mir
selbst verscherzte“ (Vs. 3384), beide verbindet die willentliche Annahme ihrer Situation im
Sinne von Schillers Laokoon-Analyse (s. o.).
102 „Nichts“ im Original zweimal gesperrt gesetzt. Kleist variiert die intensivierende Wiederho-
lung im dreifachen Verweis Homburgs ins Nichts durch den Kurfürsten: „In’s Nichts mit dir
zurück, Herr Prinz von Homburg, / In’s Nichts, in’s Nichts!“ (SWB 2, Vs. 74 f.).
103 Im Hintergrund leuchtete bereits davor die ‚Lösung‘ auf, wenn es hieß: „Ist kein Talent mehr
übrig“? (Vs. 3412).
1.4 Von Goethe zu Kleist 121
Gedanke, ‚dem ging es auch so‘104 –, weist Tasso gegenüber sich selbst zu-
rück: „Nein, a l l es ist dahin! – Nur e i n es bleibt“.105 Die zweite Möglichkeit,
die ihm so in den Sinn kommt, die von der Natur gegebene „Träne“ – erwei-
tert zu Lessings „Schrei des Schmerzens“,106 der bleibt, „wenn der Mann
zuletzt / Es nicht mehr trägt“ (Vs. 3438 f.) –, wird akzeptiert und in der Fol-
ge weiterverarbeitet: Während der bloße physische Ausdruck des Schmer-
zes allen offen steht, ist ihm als Dichter im Besonderen dessen präzise Aus-
drucksfähigkeit gegeben.
Diese Stelle ist bedeutend für die weitere Entwicklung, sie antizipiert parti-
ell auch den Schluss des Dr. Faustus, wo die Wehklage in Zeichenlosigkeit
übergeht.107 Während in Tasso noch die dichterische Auflösung der Span-
nung zwischen dem berühmten, oben zitierten „Gab mir ein Gott zu sagen,
wie ich leide“ und dem „Schrei des Schmerzens“, der selbst jenseits der
Formulierung steht, erfolgt, wird bei und teils auch ab Kleist die Spannung
aufrecht bleiben.
Lessing hatte mit enormer Nachwirkung Träne und Schrei des Schmerzens
als Äußerung des Gefühls gegenüber der Stoa verteidigt, die durchaus selbst
als Antwort auf traumatische Erfahrungen gelesen werden kann. Passives
Erdulden des Leids und stoische Wendung nach innen als Abwehr gegen
‚beide Arten des Glücks‘, die fundamental ins christliche Narrativ einge-
drungen sind, bleiben allerdings bedeutsam. Für Tasso wird in Variation der
Lessing’schen Ästhetik die spezifische Äußerungsfähigkeit, seine persönli-
che Aussagekraft, zentral: ihm hat die Natur noch etwas Zusätzliches zum
bloßen Schrei verliehen: „Sie ließ im Schmerz mir Melodie und Rede, Die
tiefe Fülle meiner Not zu klagen.“ (Vs. 3430 f.) „Melodie“ und „Rede“ können
wörtlich genommen sowie, etwas abstrakter, als Form und Inhalt verstan-
den werden. Der Dichter behält, von der Natur damit ausgestattet, ange-
sichts des fundamentalen Leides die formale und inhaltliche Möglichkeit zur
Klage in ihrer „tiefsten Fülle“, was Umfang und Komplexität einschließt. Man
könnte den formalen Ort der Klage problematisieren, wie dies für Lever-
kühns Monolog zur ‚Weheklag‘ in Thomas Manns Dr. Faustus zurecht zu
104 Vgl.: „Hilft denn kein Beispiel der Geschichte mehr / Stellt sich kein edler Mann mir vor die
Augen, / Der mehr gelitten als ich jemals litt“ (Vs. 3422–24).
105 Herv. im Orig. Die Bedeutung von „alles“ gegenüber oben ist deutlich verschoben und be-
zieht sich im hier assoziativen Folgen der Gedanken Tassos auf die Kombination Innen und
Außen, Ich und Welt. Wichtig ist, dass diese ‚Räume‘ hier durchdekliniert werden.
106 Die Stelle steht noch immer im oben besprochenen Kontext des von Lessings eröffneten
Laokoon-Diskurses, den Schiller in Über das Pathetische aufgreift, woran Kleist u. a. mit dem
selbst gewählten Tod im Homburg anschließt.
107 Vgl. Grugger 2013c, S. 199 f und s. u.
122 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
leisten ist, wo ihr Ort zwischen Aussage und Schrei bedeutsam ist (s. u.).108
Hier wäre das aber doch gegen den Text gerichtet, denn die Klage meint an
dieser Stelle die Aussagefähigkeit in Ergänzung bzw. Abgrenzung zum unar-
tikulierten Schrei des Schmerzens.
Tassos letzte Sprachbilder, die hier anschließen, sind assoziativ gestaltet
(Vs. 3440–3453), psychologisch ebenso folgerichtig wie rezeptiv möglich-
erweise irritierend. Die schließende Spannung zwischen Aussagekraft und
diesem assoziativ-bildhaften Sprechen wird Goethes Schreiben auch in der
Folge begleiten.109 Gemeint ist mit dieser Lösung also durchaus das literari-
sche Sprechen in seiner Bedeutungsoffenheit in Abgrenzung zur festlegen-
den Rede.
Zu Goethes Welt gehört noch die Versöhnung der beiden Charaktere. Der
seiner ‚Natur‘ entsprechend als Felsen gezeichnete Antonio erhält allerdings
die letzte Belehrung von Tasso, der (emotional beweglichen) Welle. Eine
Metapher, die neben der Beweglichkeit und Sprunghaftigkeit seines Charak-
ters auf ‚natürliche‘ Ausdrucksfähigkeit referiert, denn in ihr spiegelt sich die
Sonne. Die Verse „Ich kenne mich in der Gefahr nicht mehr, / Und schäme
mich nicht mehr es zu bekennen“ (Vs. 3446 f.) antworten endgültig auf An-
tonios delphischen Impuls zur Selbsterkenntnis. Der mehrdeutige Schluss:
„So klammert sich der Schiffer endlich noch / Am Felsen fest, an dem er
scheitern sollte“ (3452 f.), evoziert noch einmal das Bild von Antonio als
Felsen, zieht eine mögliche Konsequenz für das Ich, verweist aber auch auf
die Rolle des Gegenübers: An dir klammere ich mich fest, an dir bin ich ge-
scheitert. Für das Thema, um das noch einmal festzumachen, bietet Tasso
weniger zur Dimension des Ereignisses, ist dafür wichtig für die grundle-
gende Verbindung von Leiden, Kunst und Ausdrucksfähigkeit sowie v. a.
über die produktive Rezeption für die Thematik des Traumas des Schrei-
bens.
108 Walter Benjamin bestimmt in Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen
diesen Ort im ‚Geist der Moderne‘ wie folgt: „Die Klage ist aber der undifferenzierteste,
ohnmächtige Ausdruck der Sprache, sie enthält fast nur den sinnlichen Hauch; und wo auch
nur Pflanzen rauschen, klingt immer eine Klage mit. Weil sie stumm ist, trauert die Natur.
Doch noch tiefer führt in das Wesen der Natur die Umkehrung dieses Satzes ein: die Trau-
rigkeit der Natur macht sie verstummen. Es ist in aller Trauer der tiefste Hang zur Sprachlo-
sigkeit, und das ist unendlich viel mehr als Unfähigkeit oder Unlust zur Mitteilung“ (Benja-
min 1991, S. 155).
109 Zur Bildhaftigkeit des Tasso vgl. auch das in „Urteile über Torquato Tasso“ wiedergegebene
„Gespräch mit Eckermann“, datiert mit 6. Mai 1827, wo vom „Bild des Tassos“ die Rede ist
(Atkins 2000, S. 504).
1.4 Von Goethe zu Kleist 123
1.4.2 Zur Poetik Kleists als einem wichtigen Ausgangspunkt für die
Fragestellung
Wenn von Tasso nun zu Kleist weitergegangen wird und bereits davor die
Wichtigkeit dieses Dramas für den Homburg und auch für andere Dramen
Kleists herausgestrichen wurde, so ist zumindest darauf hinzuweisen, dass
dies der radikalen intertextuellen Verfahrensweise Kleists entspricht. Der
Homburg ist auch ein „Wallensteiner“,110 ist an Stellen fast ident mit Cor-
neilles Le Cid, greift wie alle Dramen Kleists Shakespeare auf111 und erarbei-
tet sich Neues aus den großen Werken der Theatergeschichte. 112 Aus dem
Tasso nimmt Kleist für dieses Stück u. a. die Bekränzung des Opfertiers, 113
die Betonung des Nichts, die Vereinigung der beiden Bewegungen von An-
tonio und Tasso zu einer Figur 114 und Teile von deren Konflikt für die Kon-
frontation von Kurfürst und Homburg, Elemente der Prinzessin für Natalie
sowie zahlreiche einzelne Verse, die er in sein Drama integriert und die
deutlich nachklingen. Genauso sind Konstellationen aus diesem Stück in die
Penthesilea eingeflossen, v. a. das Grenzenlose gegenüber dem Gefassten,
was Kleist in eine grundlegende Konstellation zur Vernunft der Aufklärung
bringt.115 Auch die Frage der Grazie, wie sie im Marionettentheatertext ver-
handelt wird, findet einen wichtigen und überaus nahe liegenden Bezugs-
punkt im Tasso.116
Mit Kleist treten hier interessierende Neuerungen im Drama auf, die nicht
nur konstitutive Mehrdeutigkeit, Unsagbarkeit, Sprach- und Subjektkrise
oder die massive Darstellung von Gewalt durch narrative Elemente betref-
fen. Hier findet sich ein erster überaus deutlicher und vielschichtiger Aus-
gangspunkt für die Themenstellung, der nicht zu hintergehen ist. Dabei sol-
len mehrere Momente unterschieden werden. Da ich zu Kleist auf die Dra-
maturgie des Subjekts sowie andere Publikationen verweisen kann, werden
hier in der Folge die wichtigsten Ausgangspunkte/Modelle zusammenge-
fasst, ohne dass ich mich neuerlich auf eine Textanalyse stützen würde. Die
Referenzstellen werden im Fall angegeben, es geht in der Folge darum, zu-
sammenfassend Punkte herauszuheben.
Was ist zentral neben den bereits genannten Momenten der konstitutiven
Mehrdeutigkeit, des Unaussprechlichen und des fragilen Subjekts?
Adams Sprache zeigt sich als Introjekt in Eve im Zerbrochnen Krug, als ein
Fremdkörper, den sie nicht loswerden kann. Im ‚Variant‘ wird genau nach-
gespielt, wie es ihm gelang, sich in ihr festzusetzen 117 und dass es dabei um
eine Strategie geht, der sie erliegt und die sie mit: „O der verwünschte Rich-
ter“ (Vs. 2373) zurücklässt. Hier wird sie lustspielhaft überwunden, wenn-
gleich der Schluss in seiner Intransparenz, zumindest heute, einer durch
Kleist’sche Doppelbödigkeit angereicherten Deus-ex-machina-Lösung äh-
nelt.118 Wichtig ist, dass Eve in ihrem Spiel doppelt präsent ist, und zwar
ebenso gegenwärtig dramatisch wie episch narrativ, wobei ihre ‚Erzählung‘
wiederum vorwiegend aus Dialogwiedergabe besteht: Adams Worte sind
dadurch (über sie) unmittelbar präsent. Alkmene wird im Amphitryon in
Limbo zurückgelassen, nachdem sich der oberste Gott an ihr subjektiviert
hat. Hier löst sich die Spannung nur für den männlichen Protagonisten Am-
phitryon, der am Ende über alle erhöht ist, wodurch eine spezifisches Wech-
selspiel von Triumph und Trauma eingeleitet wird, das Kleists dramatisches
Werk in der Folge durchzieht. Auf der Ebene der Dienerschaft wird die
116 Vgl. im Tasso besonders Vs. 947–950, wo Antonios fehlende Grazie im Sinne der Wirkung
auf andere diskutiert wird.
117 Dass Eve dabei die Sätze Adams nachspricht, sie wiederholt und in Szene setzt, ist konstitu-
tiver Teil dieses raffinierten Spiels.
118 Eve erkennt in einem nicht mehr rekonstruierbaren Spiel über die ihr angebotenen Gulden
– mit dem Antlitz des Spanierkönigs/Gottes – die ‚scharfgeprägte Wahrheit‘ Walters und
löst sich von den Sätzen Adams.
1.4 Von Goethe zu Kleist 125
119 Vgl. dazu, wie Kleist hier an Molière anschließt und zur Szene insgesamt Grugger 2010,
S. 96 f.
120 Prothoes Aufforderung an Penthesilea lautet: „Nicht aber wanke in dir selber mehr, / So
lang ein Atem Mörtel und Gestein, / In dieser jungen Brust, zusammenhält“ (Vs 1354–56).
Der Innenraum, der Stabilität bieten soll, wird im Stück durchgehend erschüttert. Vgl. im
Detail ebd., S. 120–123 sowie Grugger 2012.
121 Zwei Begriffe, die für das Spiel nur in einem sehr engen Rahmen passen, aber hier dennoch
verwendet werden sollen, und zwar in Bezug auf die Tötung des Achilles durch Penthesilea.
122 Die Todeserfahrung dient als Wendepunkt, lässt sich aber auch als Initiation lesen (vorge-
schlagen in Fischer-Lichte 2001a). Die Verbindung von Trauma und Initiation wird beson-
ders wichtig in Manns Joseph und seine Brüder (s. den Abschnitt C 3).
123 Vgl. den Dialog zwischen Natalie und dem Kurfürsten in Akt IV, Szene 1 mit ihren oft zitier-
ten Worten zum Anspruch der „lieblichen Gefühle“ (Vs. 1130). Klaus Müller-Salget liest die
beiden vollständigen Verse: „Das Kriegsgesetz, das weiß ich wohl, soll herrschen / Jedoch
die lieblichen Gefühle auch“ (Vs. 1129 f.) als Schlüssel zu Kleists Werk, indem er sie als
kleistspezifisches Sowohl-als-auch versteht (vgl. Müller-Salget 2012, S. 34).
126 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
der Fantasie Antizipierten,124 sondern auch der Fall aus der ersten Gewiss-
heit vom Anderen vorgeführt.125 Dies steht bei Kleist wiederholt als säkula-
risierter Fall aus dem Paradies im Hintergrund 126 und bildet ohne Zweifel
eine Vor-Figur für den Diskurs zu Shattered Assumptions (s. o.), um die er
sehr genau wusste und die er immer wieder dramaturgisch umsetzte. Die
Todeserfahrung sei auch deshalb herausgehoben, weil sie eine Bewegung
skizziert, die in der Literatur der klassischen Moderne von besonderer Be-
deutung sein wird: Codierungen vom Durchgang durch das Trauma. Hier ist
der Begriff absichtlich allgemein gehalten, weil das Traumatische selbst
dabei unterbestimmt sein wird und ab Rilkes Aufzeichnungen des Malte
Laurids Brigge in unterschiedlichen Variationen auftritt. Im Homburg ist die
Symbolwerdung des Prinzen selbst nur durch die Überwindung der Todes-
angst möglich, die allerdings einen Stachel hinterlässt. Was Kleists Stück von
trivialeren Texten unterscheidet, ist auch der Umstand, dass der Prinz am
Ende inmitten der Jubelrufe in Ambivalenz verbleibt. Wenn man, um den
Gedanken zu verdeutlichen, ihn in der Metaphorik des Traumadiskurses
formulieren möchte: Während er in der Folge von Schillers Laokoon-
Ausführungen den Tod willentlich auf sich genommen hat (s. o.), trium-
phiert er nicht klassisch als Mensch, sondern hat jener sich „in ihm“ festge-
setzt.
Zu den genannten Punkten aus dem dramatischen Werk kommen zwei Pro-
satexte, die hier besonders relevant sind und für das Thema Neues bringen:
Das ist zum einen die Erzählung Der Zweikampf und zum anderen der be-
reits in Abschnitt A andiskutierte Text Über das Marionettentheater.127 Der
124 Hier geht es um die symbolische Trias Liebe, Macht, Gelten, die dem somnambulen Hom-
burg in der Eröffnung ‚überreicht‘ wird, um sofort zu entgleiten, und in der Schluss-Szene,
nachdem er durch das ‚Trauma des Nichts‘ gegangen ist, real ‚übergeben‘ wird. Offen bleibt
dabei, ob er aus dem Zustand des ‚lebenden Toten‘ zurückzukehren vermag.
125 Das intuitive Wissen Homburgs um den Kurfürsten und damit auch das Wissen um seine
eigene Position zerbricht. Teil des ‚Nichts‘ ist dieser Verlust der ersten Sicherheit als Über-
einstimmung mit der Welt. Die entscheidende Stelle ist, wo Hohenzollern nach dem Todes-
urteil verwundert ausruft: „Und worauf stützt sich deine Sicherheit!“ (Vs. 867), und Hom-
burg antwortet „Auf mein Gefühl von ihm“ (Vs. 868) und seine Sicherheit (mit den ersten
Zweifeln verknüpft) auszuformulieren beginnt, um in die radikale Erschütterung des Nichts
übergeführt zu werden.
126 So auch, mit langer und intensiver Rezeptionsgeschichte, in Über das Marionettentheater
(s. u.).
127 Vgl. SWB 3, S. 314–350 bzw. S. 555–563. Beda Allemann hat den Gesprächscharakter des
Marionettentheatertextes freigelegt und mit überzeugenden Argumenten von einer Satire
gesprochen (vgl. Allemann 1981/82), was dem komplexen Charakter des Textes eine zu-
sätzliche Schicht hinzufügt (vgl. Grugger 2015b). Zu den Texten vgl. Müller-Salget 2005, v. a.
S. 124–132 bzw. S. 299–307.
1.4 Von Goethe zu Kleist 127
128 Als dieser steht er bereits fest, die Täuschung ist mehrfach markiert, vgl. bereits Schubert
1988/89.
129 Zur konstitutiv gegensätzlichen Strukturierung der Novellen vgl. Müller-Salget 1981, zum
Zweikampf S.186). Das von Schubert gezeigte Spiel der Täuschung hebt die Ambivalenz
nicht auf, sondern ist Teil ihrer Konstruktion. Vgl. zur diskursiven Realitätsproduktion im
Zweikampf Grugger 2010, S. 209.
130 Vgl. Littegardes Versicherung: „Keine Schuld befleckt mein Gewissen; und ging er ohne
Helm und Harnisch in den Kampf, Gott und alle seine Engel beschirmen ihn!“ (SWB 3, S.
332). Auch hier erfolgt die Erschütterung, wie im Marionettentheatertext, aus der absoluten
Gewissheit heraus. Wie später u. a. für E.T.A. Hoffmanns Elixiere des Teufels oder für Brochs
Verzauberung (s. u.) ist die Konstruktion dieser überhöhten Gewissheit für die Radikalität
der Erschütterung von hoher Bedeutung.
131 Vgl. die komplexe Situation Alkmenes im Amphitryon und den ‚brüchigen Wandel‘ zu ihrem
von Zeus verkündeten ‚Triumph‘.
132 Grugger 2010, S. 209.
128 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
bestimmten Systemen erfolgt. Es ist also alles andere als eine triviale Erfah-
rung, die Kleist mit Littegardes Zusammenbruch skizziert. Ästhetisch co-
diert wird der Moment, wo ihre Selbstgewissheit und ihre Weltorientierung
einen Riss erleiden, weil die eigene Repräsentation, die erfahrungsmäßige
Erinnerung, als im (religiösen) System unmöglich wahr erscheint. Dass dies
für die Protagonistin auf einen Augenblick hin verdichtet ist und die Prob-
lematik gleichsam aufscheint, korrespondiert mit Musils Theorie zu den
Möglichkeiten der Novelle: ein Glücksfall, in dem ein Moment sichtbar
wird.133 Gerade im Sinn fundamentaler Erschütterung und der Sprachlosig-
keit aus der Aporie heraus ist Der Zweikampf mit anderen Erzählungen
Kleists verknüpft, wobei er besonders der Marquise von O.…. nahesteht.134
Jochen Schmidt sieht die Verbindung über das Reißen der Sinne, den Wahn-
sinn, was eine weitere Dimension eröffnet, die für die Literatur bedeutend
bleiben wird: den mehrfach codierten Konnex von traumatischem Ereig-
nis/Erlebnis und Wahn, der hier eben in der komprimiert-verdichteten
Form des Augenblicklichen gegenwärtig ist.135 Die treffend beobachtete
Selbstisolierung Littegardes von den anderen, „absolute, verzweifelte Isola-
tion“, erklärt er folgerichtig aus dem „unauflösbaren Widerspruch zwischen
Unschuldsbewußtsein und Schuldspruch“.136
In der spezifischen Situation der Protagonistin erweisen sich also die sub-
jektiven Prozesse des Erinnerns als in ihrer Zeichenhaftigkeit problema-
tisch, wobei in letzter Konsequenz die Deutungsprozesse kollabieren. Gera-
de dadurch wird deutlich, wie sich der Text durch jüngere Diskurse neu
erschließt. Wichtig dafür ist neben dem Traumadiskurs und radikalkon-
struktivistischen Positionen der Erinnerungsdiskurs, der selbst an den Lin-
guistic Turn anschließen kann, sowie an weitere Entwicklungen zu Post-
strukturalismus, zur Postmodernediskussion um die narrative Strukturie-
rung der Wirklichkeit, zu Theorien des Performativen und zu den Cultural
Studies, und der eben in grundlegender Weise mit dem Traumadiskurs kor-
respondiert (s. o.). Man könnte argumentieren, dass dieser Zusammenbruch
der Deutung, den Littegarde erlebt, eine allgemeine ‚menschliche Erfahrung‘
darstellt, die im Kontext der genannten Diskurse neu interpretierbar wird,
137 Flexibel angewandtes Modell für das Dramatisch-Szenische des Zweikampfs ist, wie oft bei
Kleist, das analytische Verfahren des sophokleischen Ödipus.
138 Gerade in dieser produktiven Rezeption des Tassos, wie Kleist sie betreibt, ist mit den
Worten Tassos über Antonio: „Und wem die Gaben dieser Holden [der Grazien] fehlen / Der
kann zwar viel besitzen, vieles geben / Doch läßt sich nie an seinem Busen ruhn.“ (Vs. 947–
950) die wirkungsästhetische Deutung der Grazie angelegt. Die von Günter Blamberger in
Ars und Mars vorgeschlagene Verbindung zu Castigliones Il libro del cortegiano erscheint
zwar nicht nahe liegend, wichtig ist aber der dort eingeführte Übergang von substantieller
zu performativer Grazie (vgl. Blamberger 2000). Bezeichnend für Kleists Mehrfachcodie-
rung ist, dass der grundlegende Begriff für sein ‚dekonstruierendes‘ Spiel von Grazie derje-
nige aus Schillers Anmut und Würde ist. Die nicht subjektivierten, der Problematik der Über-
einstimmung mit sich selbst enthobenen Marionetten sind ja ironisch gegen Schillers Suche
nach Grazie als Ausdruck des spezifisch Menschlichen gerichtet.
130 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
1. Aus der Tradition des Erhabenen heraus lässt sich die Verbindung des
‚Hohen‘ und des ‚Großen‘ mit dem ‚Erschütternden‘ verstehen, die wirk-
sam bleibt. So wird in Rilkes ebenso spezifischer wie semantisch viel-
schichtiger Verwendung des Begriffs das ‚Große‘ mit dem Komplex
Trauma und mit dem Singularitätsdiskurs (Einzigartigkeit) ver-
knüpft.140
2. Dass Menschlichkeitsdiskurs und Drohung der Entmenschlichung von
Beginn an nahe aneinander liegen, wird über Schillers Laokoon-Lektüre
sichtbar.
3. Der Triumph des Subjekts und die (Sehnsucht nach) Desubjektivierung
zeigen sich über die Poetik Hölderlins als ineinander verschränkt. Die
Entgrenzung wird hier mit einer möglichen kollektiven Bewegung ver-
bunden. Neben der Sehnsucht nach dem Anorganischen wird die Um-
deutung von Vergangenheit thematisch bzw. wird die präsente (Re-)
Konstruktion des Geschehenen als einzig möglicher Zugriff diskutiert.
4. Glaubens- und Erfahrungssysteme erweisen sich anhand der Figur Lit-
tegardes aus Kleists Zweikampf als die unmittelbare Wahrnehmung
übersteigende Konstruktionen. Deren Erschütterung lässt die Figur in
Limbo zurück. Bei Kleist findet sich eine Vielzahl bleibender, themenre-
levanter Aspekte und Modelle, die immer wieder aufgegriffen werden.
Dazu zählen die spezifischen Stürze und Ohnmachten, Introjekte, die Er-
schütterung erster Gewissheit (als Teil der bereits genannten Glaubens-
systeme), der Durchgang durch die traumatische Erfahrung, der Um-
schlag von der höchsten Übereinstimmung mit sich selbst zum trauma-
tischen Riss im Subjekt.
5. Kleist hat innerhalb seiner spezifischen intertextuellen Methode wie-
derholt auf den Tasso Goethes geantwortet. Dort wurde die Transforma-
tion des Schreis in die dichterische Aussage diskutiert, mit dem Über-
gang in Visualität – den offenen Ausdruck – und dem Kunstsystem als
139 Meyer-Sickendiek 2012, S. 177. Er bringt sie in Verbindung zum Schamdiskurs und hat wohl
Recht, dass sie das 18. Jahrhundert „so noch nicht kannte“ (ebd., S. 184).
140 Für die Verbindung zu Singularität vgl. etwa den Maeterlinck-Aufsatz.
1.5 E.T.A. Hoffmann 131
letzten Ort. Den Hintergrund bilden die in der Aufklärung anhand des
Modells des cartesianischen Subjekts geschaffenen Innenräume, die in
diesem Stück umfassend versprachlicht werden. Eine wichtige Span-
nung ist die zwischen Fassung und Erschütterung.
1.5.1 Der Sandmann: „darf der Dichter seine Menschen schaffen, um sie
zu vernichten?“141
141 Aus der Rezension der Allgemeinen Literatur-Zeitung (1817) zit. nach Steinecke 2009, S.
963, Herv. im Orig.
142 Vgl. Weber 2014 sowie in Bezug zu Quellen Steinecke 2009, S. 962.
143 Vgl. die oben zitierte Rezension (ebd., S. 963).
144 Für die bildende Kunst nennt Steinecke Alfred Kubins Zeichnungen von 1913 als Einschnitt
(vgl. ebd., S. 965). Freuds Studie Das Unheimliche erscheint 1919.
145 Jochen Schmidt hält in der Geschichte des Genie-Gedankens für den Schluss fest, „daß der
scheinbar auktorial berichtende Erzähler wie so oft aus der Perspektive Nathanaels und
seiner evozierenden Phantasie spricht“ (Schmidt 2004, S. 23). Bezugspunkt ist das Attribut
„riesengroß“ für Coppelius.
146 Genau schreibt sie: „dass er vom Trauma seines Helden ‚infiziert‘ ist, dass er sich aber aus
der Bedrohung seines narrativen, symbolbildenden Vermögens in seine Fähigkeit zum Spiel
zu retten vermag.“ (Lange-Kirchheim 2006, S. 23). Ihre Lektüre ist ein Beispiel für die mit
dem Traumadiskurs auftretende Re-Integration des Ereignisses, für die Integration der
weiblichen Perspektive und der Olimpia-Thematik, die von Freud in gewisser Hinsicht als
satirisch ausklammert wird. Für die Vernachlässigung des Ereignisses zugunsten des Intra-
psychischen referiert sie auf folgende Stelle: „Genug! – ich war bei der Lauscherei entdeckt,
und von Coppelius gemißhandelt worden“ (Hoffmann 2009a, S. 18). Sie spricht von „Ent-
wirklichung des Traumas“ in poetologischen Beiträgen (Lange-Kirchheim 2006, S. 24), wo-
bei die Diskurse nicht auf ihre Viabilität hin überprüft werden und nicht nur die zeitlichen
132 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
Grenzen zu verschwimmen drohen. Sie versucht den Sandmann sozusagen zwischen psy-
choanalytischen, das Trauma verleugnenden, und poetologischen, es in Ästhetik auflösen-
den, Lektüren anzuordnen und wirft beiden ein blindes Auge vor, ohne allerdings die Diffe-
renz der Beobachtungspunkte hinreichend zu reflektieren. Insgesamt liest sie trotz gele-
gentlicher philologischer Hinweise den Text im Sinne einer Fallstudie, mit gewollter Distanz
zum poetologischen Diskurs. Besprochen wird die Situation der Figuren, wie etwa deren
Depression, auf der Basis des Traumadiskurses (s. u.).
147 Seit Hohoff 1988 werden Überlegungen zu Visualität im Sandmann durch den Namen ‚Cop-
pola‘ eingeleitet und mit Alchemie verbunden (vgl. S. 239). Hofhoff hatte noch auf die italie-
nische Grundbedeutung „Schale“ mit der poetischen Verwendung als ‚Augenhöhle‘ sowie die
diesbezügliche medizinische Metaphorik verwiesen. Mittlerweile wird ‚Coppo‘ oder gar ‚Co-
ppola‘ oft schlichtweg mit italienisch ‚Augenhöhle‘ gleichgesetzt.
148 Lange-Kirchheim 2006, S. 24. Vgl. zu einer möglichen theoretischen Verknüpfung mit Disso-
ziation ebd., S. 25. Auch Schmidt spricht davon, dass gerade der „Vorstellungsbereich der
‚Augen‘“ durch das Schreckensmärchen traumatisiert sei, was den Anknüpfungspunkt für
die Verknüpfung des Coppelius mit dem Sandmann biete (Lange-Kirchheim 2006, S. 21).
149 Trotz der grundlegenden Bedeutung der Sprache in Über das Marionettentheater spielt
gerade auch in der Szene des Dornausziehers der Blick (auf sich) eine entscheidende Rolle
(im Scheitern), so wie Visualität für Kleists Poetik insgesamt zentral ist, mit dem allerdings
deutlichen Gipfelpunkt der Penthesilea.
150 Auch Schmidt spricht, anders als dies Lange-Kirchheim nahelegt, fast durchgehend von
Trauma, allerdings mit doch deutlich psychoanalytisch geprägtem Vokabular und mit dem
Schluss, Nathanael projiziere das Zwanghafte in ihm „dämonisierend nach außen“ und er-
fahre es als „radikale Heteronomie“ (Schmidt 2004, S. 27). Wo er also nahe bei Freud bleibt
und wogegen sich Lange-Kirchheim wendet, ist seine Gesamtdeutung zur Einordnung in die
Genie-Ästhetik: „Im ganzen handelt es sich um die Tragödie der autonom sich entfaltenden
Imagination“ (ebd., S. 24).
1.5 E.T.A. Hoffmann 133
Hintergrund zu lesen, stammt von Günter Saße.151 Erhellend ist etwa sein
intertextueller Hinweis: „Claras Auffassung, man könne Irrationales für den
davon Betroffenen rational auflösen, wird in der Rahmenerzählung zu den
Serapions-Brüdern ironisiert“,152 oder die bündige Formulierung der Olim-
pia-Episode als „Kritik an pseudoromantischer Innerlichkeit“ 153 für den
Leser und zugleich „reinstes Glück“ für Nathanael. 154
Als Grundthematik sieht er das „Wiederaufbrechen seiner Seelenwunden“
(ebd., S. 100), wobei „seiner“ für den eben genannten Protagonisten steht.
Saße spricht in der Folge von dessen „Lebenstrauma“ (ebd., S. 108) und
diskutiert die Wiederkehr der „verdrängten Kindheitstraumata“ (ebd., S.
101).155 Die Sprache ist hier bezeichnend: noch die Koppelung steht aller-
dings für den Übergang vom Verdrängungstopos zum Traumadiskurs, der in
Saßes Analyse sichtbar wird. Allerdings ist die Textgestaltung des Sand-
manns auch für sich ein Hinweis auf die Differenz der beiden Herangehens-
weisen und für ihre Bedeutung. Dabei geht es nicht nur um ein semantisches
Argumentieren zwischen Dissoziation vs. Verdrängung oder um die Art der
Speicherung.156 Nathanaels (so stark) visuelles Erlebnis entzieht sich dem
Verdrängungsnarrativ etwa durch die ständige Nähe zu Wahnsinn, Zerris-
sen-Sein und Desubjektivierung sowie durch den fragmentarischen Charak-
ter der innertextuellen Repräsentation und durch die Art und Weise, wie
151 Saße 2004a. Wenngleich Saße Trauma noch vorwiegend mit PTSD gleichsetzt, gelingt es
philologisch, die zeitliche Distanz zu berücksichtigen.
152 Ebd., S. 100, Anm. 6. Zum serapiontischen Prinzip vgl. allgemein Pikulik 2004 und für den
Sandmann auch Schmidt 2004, S. 12 und S. 22. Letzterem geht es hier um die Installation
des Assoziationszwangs (fortlaufende Retraumatisierung) über einen Hebel der Außenwelt,
der initial die innere Fantasie in Gang bringe (vgl. S. 22). Das Verhältnis zwischen Wirklich-
keit und Fantasie ist bei Hoffmann durchgehend entscheidend (vgl. auch Weber 2014, S.
228–230); es auf Prinzipien zu bringen, darf natürlich dennoch nicht die Einzeltextanalysen
ersetzen.
153 Saße 2004, S. 111. In den Grundzügen lässt sich diese Form der Innerlichkeit zumindest bis
zu Rousseaus Sympathie-Begriff zurücklesen, bei dem der seelische Einklang im Zentrum
steht. Vgl. etwa die Begegnung mit „maman“ als Stilisierung sympathetischen Einklangs so-
wie seine Entwicklung zum „homme sensible“ in den Bekenntnissen (Rousseau 2012).
154 Saße 2004, S. 111. Die Stelle gibt eben in der Tat beides: den ästhetischen Bezugsrahmen
und die konkrete Situation des Protagonisten im Text, sodass von hier aus weitere Fragen
zu deren Verknüpfung möglich sind.
155 Zur problematischen Kombination der beiden Konzepte Trauma und Verdrängung s. o. Vgl.
auch: „Wieder setzt die Tabuisierung ein, die vergessen lassen will, was doch nur verdrängt
werden kann“ (ebd., S. 112), die „verdrängten Traumata“ (ebd., S. 113) sowie die „unter-
drückten Kindheitstraumata“ (ebd., S. 109).
156 Dissoziation und Ich-Zerfall werden für E.T.A. Hoffmanns Literatur öfter, wenn auch meist
außerhalb der gegenwärtigen Traumadiskurse analysiert (vgl. etwa Neymeyer 2004).
134 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
das Erleben des Kindes sich präsentiert und entzieht. 157 Gleichzeitig ver-
deutlicht sich an Saßes Rede von der Tabuisierung (s. o.) die Funktion des
Narrativs: Verdrängt wird hier weniger ein in der Komplexion von Kind und
Erwachsener literarisch umkreistes Ereignis als die Auseinandersetzung
damit und mit Nathanaels Zusammenbrüchen.
Das im Text doppelt codierte Ereignis – man denke an den Versuch der
Wiedergabe der kindlichen Perspektive im einleitenden Brief an Lothar und
die Präsenz im erwachsenen Protagonisten – fasst Saße als „Ohnmachtser-
fahrung“,158 was eine sicherlich passende Annäherung darstellt. Hinzuzufü-
gen ist die (bereits oben zitierte) Auflösung, die der erwachsene Schreiben-
de den dargestellten Repräsentationen des Kindes gegenüber anbietet: „Ge-
nug! – ich war bei der Lauscherei entdeckt, und von Coppelius gemißhandelt
worden.“159 Nathanael als Verfasser des Briefes wechselt hier vom nachvoll-
ziehend erlebenden zum aktuell erzählenden Ich und fasst das ausführlich
Beschriebene in einem objektivierenden Satz zusammen, d. h. er rationali-
siert das erzählerisch Evozierte, das dissoziative Wahrnehmungen körperli-
cher Gewalterfahrungen porträtiert.160
Saße geht in seiner Studie auf eine Definition des PTSD in Dorsch Psychologi-
sches Wörterbuch zurück,161 um den Rahmen für die Beziehungsstrukturen
im Text abzustecken. Lange-Kirchheim beruft sich auf Saße, wendet sich im
Unterschied zu diesem aber explizit gegen die von ihr so zusammengefass-
ten poetologischen Forschungsbeiträge. Ihr Traumabegriff entstammt einer
bereits deutlich differenzierteren Forschungslinie, der die Entwicklung des
Traumadiskurses widerspiegelt.162 Problematisch ist dabei aus der Perspek-
tive dieser Schrift, dass der Text zur Fallstudie gerät, seiner zeitgenössi-
schen Poetik enthoben wird und die Schärfung der Diskurse aneinander ins
Hintertreffen gerät (s. o.).
Der doppelte Riss des Subjekts: in sich und zu den anderen, durchzieht den
Sandmann (in seiner Wechselwirkung), wobei er im vielschichtigen Schluss-
satz des Erzählers für den Protagonisten noch einmal unterstrichen wird:
„Es wäre daraus zu schließen, daß Clara das ruhige häusliche Glück noch
fand, das ihrem heitern lebenslustigen Sinn zusagte und das ihr der im In-
nern zerrissene Nathanael niemals hätte gewähren können.“ 163 Für die
Kommunikationsstruktur liest Saße im Detail, wie der Bruch durch die ‚nar-
zisstische Wendung‘ aus dem gescheiterten Kommunizieren des Traumas
heraus mitbestimmt wird.164 Nathanaels Selbstverfallenheit steht so nicht
nur in Abhängigkeit von der traumatischen Erfahrung selbst, sondern auch
von dem genannten Scheitern ihrer Mitteilung. 165 In den Blick kommt damit
161 Vgl. Dorsch/Becker-Carus 1998. PTSD und Trauma werden also gleich behandelt und die
Traumakonzeption wird durch das PTSD-Zitat unterstützt. Absicht dieser Studie ist es,
selbst noch solche gelungenen Untersuchungen hinsichtlich der Verwendung des Traumab-
egriffs zu problematisieren, um zu weiterer Differenzierung zu gelangen.
162 Ihre Studie ist hier, wie gesagt, sehr differenziert und mit Gewinn zu lesen. Was m. E. fehlt,
ist eine klarere Unterscheidung zwischen kumulativer und sequentieller Traumatisierung,
ein etwas genauerer Begriff des TKS und eine deutlichere Konzeption in der Verwendung
transgenerationaler Traumen (s. o.).
163 Hoffmann 2009a, S. 49. Saße betont völlig zurecht einen „ironischen Schleier“ über der
„Schlussidylle“ (Saße 2004, S. 115), der durch die Formulierung „Es wäre daraus zu schlie-
ßen“ unterstrichen wird (Hoffmann 2009a, S. 49). Vgl. zu Claras vermeintlichen Lebensglück
auch: „Aber es scheint nur so“ (Schmidt 2004, S. 27). Auch Lange-Kirchheims Überlegung
vom ‚infizierten Erzähler‘ (s.o.) hat hier einen Punkt. Wichtig ist in Hoffmanns Poetik, dass
die Lösung durch die bloße Ausgrenzung des ‚Dunklen‘ erreicht wird und so, mit Saße, eben
ironischer Schein bleibt.
164 Diese Ausgangslage wird in Amérys Lefeu, im Diskurs zu Alfred Adlers Individualpsycholo-
gie, in veränderter Form durchgespielt. Die Antwort des beweglichen Reflektierens dort ist
mehrfach und enthält die Überlegungen ‚Das ist es (wohl) nicht‘ sowie ‚Das ist nicht alles‘ (s.
D 1).
165 Da Irrationales sich der Rationalität entziehe, gehe Claras Handeln an Nathanaels Proble-
men vorbei, so Saße, und werde schließlich „Teil der Verharmlosungsstrategien, die [seine]
Kindheit durchgängig bestimmt haben (ebd., S. 101). Von der Zurückweisung des ‚dunklen
136 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
das Thema der sozialen Antwort auf traumatische Erfahrungen, das noch
die Rezeptionsgeschichte des Textes mitbestimmt.166 Lange-Kirchheim liest
mehrere Fundierungen von Nathanaels (komplexem) ‚Trauma‘, von denen
zwei deutlich isoliert werden können: das Ereignis mit Coppelius (inklusive
dessen Re-Aktualisierungen) und die grundlegende Abwendung der Mutter
(Depression) bei gleichzeitigem Schweigen des Vaters, was sie wiederum
mit dem Narzissmus verknüpft.167 Was sie dabei im Text sukzessive zurück-
zudrängen scheint, ist wiederum die sich mit dem Schauermärchen ver-
knüpfende Misshandlung selbst zugunsten der Depression. Interessant ist
ihr Schlussgedanke, dass dem Erzähler ein Spiel gelinge, an dem Nathanael
scheitere.
Was sind nun (weitere) markante Einschnitte des Textes, die etwa in Roma-
nen der klassischen Moderne implizit aufgegriffen werden, die also thema-
tisch bleiben und hier festgehalten werden sollen?
• Über die Olimpia-Episode gerät nicht zuletzt die Situation des Dich-
ters168 mit dessen Belebung des Unbelebten in den Blick sowie Literatur
insgesamt mit der Konstruktion fiktionaler Welten.169 Über den Allego-
riediskurs, die Deutungsprozesse durch den „Professor der Poesie und
Verhängnisses‘ durch die Familie und durch Clara gelange Nathanael zu ‚narzisstischer
Selbstbespiegelung‘(Olimpia). Resultat sei, dass er seine kommunikative Isolation unauf-
hebbar mache (vgl. ebd., S. 111 f.). Während er fortlaufend versuche, Clara in seine trauma-
tische Erfahrung zu drängen, gelinge es ihr letztlich, sich zu entziehen (vgl. ebd., S. 115).
Lange-Kirchheim setzt hier etwas andere Akzente und vergleicht das Vorgehen Claras mit
Therapiefehlern (vgl. Lange-Kirchheim 2006, S. 34), kommt aber insgesamt zu vergleichba-
ren Ergebnissen. Für Nathanael liege die Bedeutung der Reaktion in der brüsken Abweisung
seiner Möglichkeit wahrzunehmen, sie raube ihm analog zur Mutter erneut die „Augen als
Sitz der Wahrnehmungsvermögens“ und müsse für ihn „daher täteridentifiziert erscheinen“
(ebd., S. 31).
166 Die Clara-Lektüre von Saße und Lange-Kirchheim sieht den Sandmann als Problematisie-
rung der sozialen Antwort auf traumatische Erfahrungen (s. o.).
167 Zu ihrer Deutung über André Greens Die tote Mutter vgl. Lange-Kirchheim 2006, S. 37, mit
den Eckpunkten Schweigen des Vaters und Traurigkeit der Mutter. Damit begibt sie sich in
das Feld der Disposition für das traumatische Ereignis und koppelt bewusst Psychoanalyse
mit Psychotraumatologie (s. o.).
168 Vgl. das Trauma des Schreibens und den Orpheus-Diskurs in der Moderne (nicht nur bei Ril-
ke), mit der ‚Belebung‘ durch Kunst (s. Abschnitt C).
169 Vgl. zur Situation bei Hoffmann insgesamt Weber 2014 mit Diskussion zum ‚Lebendigtoten‘
(S. 222).
1.5 E.T.A. Hoffmann 137
Ende des Textes fixiert hier die Unauflösbarkeit der Problematik auf die
nicht integrierbare Erfahrung (s. o.) und verweist auf Nathanaels Fest-
halten am ‚Trauma‘.175 Noch der letzte Satz fokussiert in seiner Mehr-
deutigkeit auf die Unaufhebbarkeit des (oben diskutierten) Risses.
• In Verbindung des Felds des Entzündlichen mit Coppolas Perspektiv
steht die Spannung zwischen dem frühkindlichen Ereignis und der Welt
des Dämonischen bzw. der dämonischen Fantasien. Der Sandmann re-
konstruiert eine strukturelle Kopplung, die mehrfach codiert ist: zentral
sind dabei die Worte der Amme, die Aufklärungsversuche durch die
Mutter, die fortlaufenden kindlichen Ängste und die aktuellen Erlebnis-
se/Ereignisse, die vom Protagonisten unterschiedlich bearbeitet wer-
den.176 In der Poetik Hoffmanns stehen die ‚dunklen Mächte‘ allerdings
nicht nur für Verarbeitungen des Innenlebens, sondern beziehen sich,
zunächst textimmanent, auf Fatum oder Transgressiv-Religiöses. Die
sukzessive entstehende Verkettung zwischen Irrational-Fantastischem
und konkreten psychischen Gegebenheiten stellt u. a. auch in den Elixie-
ren des Teufels oder in Ignaz Denner eine wichtige Grundlage für die je-
weilige Schreibbewegung dar. Besonders am Sandmann ist, um es an-
schaulich zu formulieren, dass frühkindliche traumatische Erfahrungen
mit der kindlichen Produktion dämonisch-magischer Fantasiebilder
verknüpft werden. Wie späterer Ich-Zerfall und Wahn daran anschlie-
ßen, bleibt in der Literaturgeschichte wohl einzigartig. Den Hintergrund
dafür bilden der entstehungsgeschichtliche Horizont und Hoffmanns
Auseinandersetzung damit, seine spezifische Poetik aus der Romantik
heraus und in der Absetzbewegung zu ihr sowie die damit verknüpften
literarischen Verfahren und Möglichkeiten.
• Die Prozess-Struktur des Textes insgesamt ist festzuhalten: ein früh-
kindliches Erlebnis/Ereignis, das sowohl Einmaligkeit darstellt als auch
in einen sich wiederholenden Ablauf eingebunden bleibt, der mit dem
Diskurs zu Retraumatisierung korrespondiert. Entlang der textinternen
Bearbeitung der Erfahrung der Misshandlung stellen sich u. a. folgende
Fragen: Geht es wirklich um einen Komplex der Bedeutung? Was ändert
sich durch Verbalisierung und versuchter Rationalisierung? Wie ent-
scheidend ist die Antwort auf diese Verbalisierungsversuche, die bereits
175 In Lange-Kirchheim 2006 wird das „Thanelchen“ (S. 35) explizit nicht auf Freuds Rede von
Thanatos, den Todestrieb, bezogen, was dennoch das interpretatorische Spannungsfeld zwi-
schen ‚destruktivem Trieb‘ und ‚nicht integrierbarer Erfahrung‘ anzeigt.
176 Vgl. den oben diskutierten Brief als Ausgangspunkt.
1.5 E.T.A. Hoffmann 139
im Brief mehrfach codiert stattfinden? Wie entstehen der Riss zur Ge-
sellschaft und die kommunikative (Selbst-)Isolierung?
• In den hier öfter genannten Untersuchungen ist in unterschiedlichem
Ausmaß von einem Bereich des Textes die Rede, den Lange-Kirchheim,
am deutlichsten in den Traumadiskurs eingebunden, unter dem dort
üblichen Begriff der transgenerationalen Weitergabe diskutiert, wobei
sie im Sinne der Fallanalyse auf die (im Text durchaus angelegte) De-
pression der Mutter und die Antwortlosigkeit des Vaters abhebt. Hoff-
mann scheint diesen Punkt hier zumindest konkreter (realistischer) als
in anderen Texten zu verfolgen,177 wenngleich seine grundlegende Poe-
tik dazu eher dem entspricht, was im dunklen Irgendwie in Teilen des
heutigen Traumadiskurses präsent ist, 178 nur dass es sich bei ihm um
erzähltechnisch mehrfach motivierte Konstruktionen handelt, die sozu-
sagen ‚dunkles Wissen‘ integrieren. Umfangreich ausgeführt und dem
Schauerroman entsprechend, sind diese etwa in den Elixieren grundle-
gend,179 auf ähnliche Art angespielt etwa in Ignaz Denner,180 transparent
und gleichzeitig das vernünftig Wahrnehmbare transgredierend sind sie
im Fräulein von Scuderi zur Motivierung der Tat eingesetzt.181
• Die literarischen Verfahren zur Codierung des Prozesses sind zahlreich
und reichen von der grundlegenden Metatextualität 182 über narrative
177 Vor etwas anderem Hintergrund versucht Schmidt zum konkret Realistischem im Sand-
mann so zu argumentieren: Hoffmann breche in einzelnen Dichtungen zur kritischen Analy-
se der poetischen Sonderwelt mit ihren wahnhaft autistischen Zügen durch (vgl. Schmidt
2004, S. 29).
178 S. o. zu Fragen der transgenerationalen Traumatisierung.
179 Und zwar als eigener Teil, wo die Glieder der Ahnenkette per se die fortlaufenden psychi-
schen Widersprüche in Form von Wiederholung erzeugen (s. u .).
180 In Ignaz Denner kommt es v. a. durch ‚echte‘ religiöse Gebundenheit zum Übergang von der
„schrecklichen Begebenheit[, die] den Anders tief im Innersten erschüttert“ hat zu einem
„ruhigen heitern Alter[.], das keine feindliche Macht zu zerstören vermochte“ (Hoffmann
2009b, S. 109). Die drei Texte entstanden zeitnahe.
181 Vgl. Cardillacs Geschichte von der Begebenheit im ersten Monat (!) der Schwangerschaft
seiner Mutter, wo sie den Blick nicht mehr von einer Juwelenkette hätte wenden können.
Dies hätte ihn geprägt, denn: „Weise Männer sprechen viel von den seltsamen Eindrücken,
deren Frauen in guter Hoffnung fähig sind, von dem wunderbaren Einfluß solch lebhaften,
willenlosen Eindrucks von außen her auf das Kind“ (Hoffmann 2015a, S. 831 f.). Die nahe
gelegte ‚dunkle Fortwirkung‘ dient seiner Rechtfertigung und ein Stück weit der von Hoff-
mann geliebten Produktion von Rätselhaftigkeit in der Geschichte.
182 Für Metatextualität bei Hoffmann vgl. Stefan Neuhaus zu Prinzessin Brambilla als Märchen
über Märchen (Neuhaus 2005, S. 365–370). Hier ist dies entscheidend, weil der Diskurs zu
Poetizität in der klassischen Moderne intensiviert und mit dem Feld des Traumas gekoppelt
wird (s. Abschnitt C 1).
140 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
Wechsel der Mediation183 – mit der entscheidenden Wahl der Briefe als
Einstieg – und der differenten Erzählerpositionen, über semantische Vi-
sualisierungsstrategien – Wortfelder der Visualität – bis hin zum Ein-
satz des bloßen Gedankenstrichs, der gefährdende Erinnerungen vom
Ausblick auf glückliche Menschen im „Gütchen“ trennt.184
• Was an der Lektüre des Sandmanns schnell deutlich wird und sich
durch weitere Werke Hoffmanns bestätigen lässt,185 ist eine stete Ambi-
valenz dieses Autors in den textkonstitutiven Erklärungsversuchen der
jeweiligen Erschütterung: Dämonische Mächte stehen menschlichen
Kräften gegenüber, ohne dass das eine das andere überwiegen oder sich
das eine deutlich vom anderen unterschieden lassen würde – was in der
Forschung hinreichend diskutiert ist.186 Im Sandmann, wo ebenfalls sub-
jektive und objektive Bereiche ungeschieden bleiben,187 ist allerdings
das Ineinander-Übergreifen markiert sowie die Produktion dieser
Gleichzeitigkeit über Schauermärchen der Amme, kindliche Verarbei-
tung und skizziertes kindliches Erlebnis aufgezeigt. Die von Hoffmann
porträtierte Innenwelt ist gleichzeitig die Außenwelt, ist deren Bearbei-
tung,188 sodass noch Claras: Das bist du, entschieden zu kurz greift. 189
Durch die Reduktion Nathanaels auf innere Prozesse geht diese konsti-
tutive Ambivalenz verloren.
Wenn der Gedanke von Lange-Kirchheim aufgenommen wird, dass der Er-
zähler im Sandmann in den metaphorischen Sog (des Traumas) des Prota-
gonisten hineingezogen wird, so könnte Folgendes tentativ festgehalten
183 Vgl. zum hier verwendeten Begriff der Mediation die Ausführungen zu Mittelbarkeit des
Erzählens in Stanzel 2008, S. 15–21.
184 Hoffmann 2009a, S. 48. Vgl. zum Gedankenstrich in Kleists Marquise von O…. im Kontext von
konstitutiver Mehrdeutigkeit Grugger 2015b, S. 141–143.
185 Vgl. die Nachtstücke insgesamt sowie besonders die unten besprochenen Elixiere.
186 Vgl. Steinecke 2009, S. 956. Es geht also um gewollte Ambivalenz.
187 S. oben zur Dichotomie von Ereignis und Erlebnis sowie zu SRP im LdP.
188 Vgl. zu Kleists Bearbeitung dieser Grenze Grugger 2011, S. 179–181.
189 Dies ist ein Punkt, denn Saße und Lange-Kirchheim mit Hilfe des Traumabegriffs völlig
zurecht neu aufrollen (s. o.), der aber zugleich eine kritische Reflexion des Subjektivitätsbe-
griffs erfordert.
190 Im Folgenden werden einige Punkte herausgehoben, die für die Fragestellung von besonde-
rer Relevanz sind, und zwar v. a. als Kontrastierung zum Sandmann, als Weiterführung von
Kleist (Penthesilea, Modell der Marionette) und als Vor-Blick auf das Schloß.
1.5 E.T.A. Hoffmann 141
werden: Was sich in der Poetik Kafkas steigern wird, ist der Umstand, dass
über den Erzähler hinaus der Lesende, dem gerade in Das Schloß die Grund-
lage, die stabile Position des Rezipierenden, entzogen ist, nicht nur inhalt-
lich, sondern auch strukturell in den Prozess der Erschütterung mit einbe-
zogen wird.191 Das kann durchaus, muss wahrscheinlich sogar als Fortset-
zung von Hoffmann aufgefasst werden. 192 Wo das Schloß aber noch deutli-
cher an dessen Poetik anschließt, ist in einem strukturellen Verfahren, das
die Elixiere des Teufels durchzieht193 sowie in der Setzung eines gewissen
negativen Kontrapunkts zum weiten Feld des Entwicklungs- und Bildungs-
romans, wie es heute diskutiert wird.194
Als Herausgeber der Klassiker-Ausgabe und Schwergewicht der Hoffmann-
Forschung wendet sich Hartmut Steinecke gegen Vergleiche mit Künstler-,
Entwicklungs- oder Bildungsroman195 und verweist auf das offensichtliche
Vorbild der Elixiere, das in den Gothic Novels zu sehen ist,196 sowie auf „wis-
senschaftliche Schriften zu den ‚Nachtseiten‘ des Geistes“ (ebd., S. 558), wie
sie traditionell mit G. H. Schubert verknüpft werden.197 Gerade die nicht
umstrittene Integration komplexer psychologischer Thematiken 198 in den
Roman erscheint aber zumindest einen Ausblick zu rechtfertigen, der die
zunehmende Ablösung musterhafter Entwicklungsprozesse anspricht.199
191 Vgl. aber auch bei Hoffmann die Konsequenz der (nicht korrigierten) Präsentation innerer
Dynamiken in ambivalenter Motivierung für die Rezeption. Bei Kafka wird es um die struk-
turelle Zersetzung von Narration und Dialog gehen (s. u.).
192 Schmidt etwa beendet seine Sandmann-Analyse mit einem Ausblick auf die Poetik Kafkas
und spricht von der Grundstruktur von Kafkas Leben und Werk, die er in der „Unmöglich-
keit zu leben und zu dichten“ festmacht (Schmidt 2004S. 33, Herv. im Orig.).
193 Zur zeitlichen Nähe des Sandmanns und der Elixiere, die Hoffmann unmittelbar nach Ab-
schluss von Der goldene Topf begann, vgl. Steinecke 2007, S. 527 f. sowie Steinecke 2009, S.
961.
194 In der Sekundärliteratur zunehmend in struktureller Hinsicht, noch den Zauberberg ein-
schließend, aber auch im ironischen Spiel der Primärliteratur mit der Tradition, vgl. etwa
den Untertitel „Bildungsroman“ in Judith Schalanskys Hals der Giraffe (s. D 4).
195 Zumindest klingt das in der einleitenden Bemerkung an: „Mit den Elixieren des Teufels
knüpft Hoffmann nicht an Entwicklungen der deutschen Klassik und Romantik – wie Bil-
dungs- oder Künstlerroman – an, sondern an die englische Tradition des von der deutschen
Kritik fast durchweg als trivial verachteten Schauerromans.“ (Steinecke 2007, S. 527).
196 Die freilich nur „einen Hintergrund“ bilden, „durch dessen Kenntnis sich das Neue und
Eigene an Hoffmanns Behandlung der ‚Schauer‘-Thematik besonders deutlich hervorheben
läßt“ (ebd., S. 562).
197 Vgl. ebd., S. 563–566. Die Klarstellung mag nötig sein, die Ausschließlichkeit erscheint etwas
unzeitgemäß.
198 Vgl. auch ebd. S. 576.
199 Diese deutet sich zumindest partiell an in Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser, gerade auch in
der Skizzierung traumatischer Erfahrungen, und kommt sozusagen, um zu bleiben (s. u.).
142 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
Der Untertitel „Ein psychologischer Roman“ und die programmatische Ausrichtung auf die
„innere Geschichte des Menschen“ mischen sich mit den versprochenen „Beobachtungen[,
die] größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind“ (Moritz 2006, S. 86).
200 Im Anton Reiser eher als Konsequenz der Methode, die statt dem Gesamt den Bruch hervor-
bringt. Vgl. dazu Schings 1984, der das Bild der abgerissenen Fäden aufnimmt und die Zer-
stückelung bis in die Struktur hinein beobachtet, um von der „Geschichte eines objektiven
und ungewöhnlichen Unglücks“ (S. 59) zu sprechen. Zur Differenz sich schließender und ab-
gerissener Fäden vgl. ebd., S. 61. Bei Hoffmann ist der Riss dagegen die Methode, ein Orien-
tierungspunkt der Darstellung.
201 Am berühmtesten wohl in Sophokles’ Fassungen von Ödipus und Antigone mit dem Thema
der ‚verfluchten Geschlechter‘.
202 Ein Kulminationspunkt ist dabei wie im Sandmann die Frage der Hochzeit, worauf die Ge-
schichte immer wieder zuläuft und wodurch unterschiedliche kulturelle Schichten verbun-
den werden.
203 Konstitutiv bleibt die Ambivalenz.
204 Vgl. als Annäherung an diese Fragestellung Riedel 2013. Es geht letztlich um eine Rekon-
struktion dessen, wie Joseph sich entwirft.
1.5 E.T.A. Hoffmann 143
205 Attribution wird grundsätzlich definiert als Erklärungen „die der Alltagsverstand vornimmt,
um Ursachen und Gründe für das Verhalten anderer wie für das eigene Verhalten einzu-
schätzen.“ Diese Zuschreibungen sollen dazu dienen, den „vielfältigen Ereignissen der sozia-
len Umgebung über das bloße Registrieren hinaus Bedeutung zu verleihen, um diese vo-
raussagbar und kontrollierbar sowie eigene Verhaltenskonsequenzen planbar zu machen“
(Witzel 1987, S. 100).
206 Vgl. zu Deutungsaspekten, besonders zu den themenrelevanten Fluchten als Antworten auf
traumatische Ereignisse Hollmer/Meier 2006, S. 984. Zur Frage des ‚Anti-Bildungsroman‘
und der ‚Pathographie‘ vgl. auch Schrimpf 1977, S. 890–893.
207 Adorno 1990, S. 213. Kontext des Ausdrucks ist die Metakritik der praktischen Vernunft:
„Das vermeintlich ansichseiende Subjekt ist in sich vermittelt durch das, was es seinem
Freiheitsbegriff nach nicht sein will, heteronom“ (ebd.).
208 Im Sinne der Mehrfachcodierung des Textes wäre genauer von ‚mehreren interagierenden
Rahmen‘ zu sprechen mit sozusagen differenten Ätiologien für Wahn und Ich-Zersetzung.
144 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
Dass in der Auseinandersetzung mit Ich-Zerfall und Wahn die Vernunft des
Medardus nicht nur mit Schönfeld „ein höchst miserables Ding“ darstellt,
durchzieht den Roman und dehnt sich aus auf die Bereiche, wo diese nicht
hinreicht.209 Wie heißt es dagegen in Wilhelm Meisters Wanderjahre? „‚Wirst
du doch immer aufs neue hervorgebracht, herrliches Ebenbild Gottes!‘ rief
er aus, ‚und wirst sogleich wieder beschädigt, verletzt von innen oder von
außen.‘“210 Über die zentrale Figur wird bei Goethe der Gegensatz zwischen
der triumphalen Festschreibung des Individuums als vernünftiges Subjekt,
einer Kernbewegung der Aufklärung, und diesem Subjekt nicht gerecht
werdender sozialer Realität ästhetisch codiert. Die Spannung ist die zwi-
schen dem alten Bild des Deus secundus, das in der Tradition des Poeten als
zweiten Schöpfer steht und hier auf den Menschen an sich ausgedehnt ist,
und der psychischen Verletzung. Höchste Würde, übernommen aus der
Tradition und humanistisch gewendet, und Trauma konstituieren so den
Widerspruch zwischen der Idee der Würde des Menschen, worin zeitgenös-
sisch die Menschenrechte eingeschrieben sind, und der realen Situation des
Menschen. Die Figur des Medardus steht zwar an einem Knotenpunkt zahl-
reicher Diskurse, ist symbolisch über- und nicht unterbestimmt, gerade am
Vergleich wird aber sichtbar, wie sehr sie außerhalb der Bahnen des genera-
lisierbaren Symbolischen verankert ist. Während auf der einen Seite Litera-
tur in der Tradition des Agathon allgemeine Ideen in ästhetische Form
transformiert und als (mehr oder weniger) geschlossene Bilderwelt ent-
wirft, ist hier ein Übergang in komplexe Fülle zu beobachten. Anstelle eines
Gehalts finden sich gewisse Strukturen, Rahmungen, Anspielungen, De-
tailanalysen und textimmanente Deutungen. Mythologeme, psychologisches
Wissen, Wahn, Welt der Drogen, Katholizismus, Transzendenz und Ästhetik
fungieren als Ingredienzien, wenn Ich-Zerfall aus vielen verschiedenen Per-
spektiven beobachtet wird.211 Komplexität wird dadurch erreicht, dass sich
die Figur nicht ausspricht, wie im Zitat aus dem Wilhelm Meister oben, son-
dern spricht und in eine Welt gestellt ist, die selbst eine Durchmengung von
Innen und Außen darstellt, aber in vielem einer ‚psychischen Welt‘ ent-
209 Hoffmann 2007, S. 259. Schönfeld als Friseur, Künstler, Poeta vates und Vertrauter ist eine
schillernde Figur in multiplen Rollen (vgl. Kremer 2004, S. 81). Zur Rationalisierungskritik s.
auch oben.
210 HA 8, S. 460.
211 Die Bilderwelt als komplexes Zitat verbindet Hoffmann mit Goethe, besonders mit dessen
Alterswerk mit den Säulen Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, Faust II und
West-östlicher Divan. In diesem Sinne ist das Zitat oben als Illustration einer Gedankenwelt
zu verstehen, die in Goethes Roman sozusagen komplex aufbewahrt ist, während Hoffmann
einem gänzlich anderen anthropologischen Bild folgt.
1.5 E.T.A. Hoffmann 145
In Wielands Agathon mit seinem Helden, dem das fehlt, was auf Englisch
nicht unpassend mit „fleshed out“ bezeichnet ist, findet sich neben dem
Glück zu gefallen als Grazie – als Anti-Trauma oder Anti-Stigma –, das oben
für Tasso und Über das Marionettentheater näher beleuchtet wurde, und
neben der feinen Linie, in der Erhabenes und Schönes zusammenfließen,
durchaus auch einiges im engeren Sinne Thematisches. Während konkret
die völlig vergeistigte jugendliche Liebe zweier im Tempel der Vernunft
212 E.T.A. Hoffmann greift so auf seinen Zeitgenossen Kleist zurück und weist besonders auf
Kafka voraus.
213 V. a. natürlich in der Weimarer Klassik und in der ästhetischen Theorie Schillers (s. o.)
214 Das Ungesagte, Schweigen oder Unaussprechliche, das bereits bei Kleist dominant wurde,
erhält gerade durch den Schauerroman und das Fantastische einen traumatischen Orientie-
rungspunkt, etwa wenn Aurelie so bezeichnend formuliert: „laß uns nie an dem Schleier
rühren, der es umhüllt, wer weiß, was grauenvolles, entsetzliches dahinter verborgen“
(Hoffmann 2007, S. 248). Rilke wird in Ewald Tragy den hier genannten ‚Schleier‘ durch ein
‚Fenster der Erinnerung‘ ersetzen (s. C 1).
146 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
215 Vgl. zum entkörperten platonischen Liebesideal etwa S. 206, zur völlig vergeistigten jugend-
lichen Liebe zweier im Tempel (der Vernunft) Erzogener S. 247, zur Frage des ‚kirchlichen
Missbrauchs‘, als gescheiterte Verführung des Knaben S. 227, zur Verführung durch die
Operpriesterin S. 231 in Wieland 1996. Der Riss zur Gesellschaft ist hier markiert durch den
Weg nach innen als Versuch einer permanenten Antwort auf äußeres Unbill (vgl. besonders
S. 279).
216 Vgl. ausführlich zur Produktion dieser Innenräume Reckwitz 2006 bzw. s. o.
217 Vgl. zum Grazienbegriff bei Wieland die genaue Darstellung in Meyer-Sickendiek 2012.
218 Im Agathon findet sich eine Etablierung der Innenräume, aber keine grundlegende Struktur
von deren Erschütterung.
219 Die Elixiere liegen mit der extensiven Form der Erschütterung ganz auf der Linie der Penthe-
silea, die Bedeutung des Falls aus dem Zustand der gewonnenen Sicherheit heraus verbin-
det sie mit Über das Marionettentheater.
1.5 E.T.A. Hoffmann 147
Identitätsnachfolge von diesem, wie das Ich an den Doppelgänger 220 gebun-
den und mit den ‚außen‘ ablaufenden Prozessen verschränkt ist. 221 Wie be-
reits oben festgehalten, ist Hoffmann weit entfernt von artifiziellen ‚Kausali-
täten‘, wie sie sich im 19. Jahrhundert entfalten werden und erinnert nicht
nur an spätere Konzepte der Vielstimmigkeit, sondern vollzieht auch eine
Vielfachcodierung von Zuschreibung (Attribuierungen). Das von Anfang an
deutliche strukturelle Element tritt an allen Schauplätzen des Romans auf,
ist allerdings nicht ganz einfach festzuhalten. Eine erste Annäherung könnte
folgende Elemente isolieren: Aufbau von Zugehörigkeit des Protagonisten
zur Gruppe, Hervortreten – Wechselspiel von Grazie und Hybris222 –,
Sturz/Fall und Bruch zu den anderen aus der ‚Komplexion von Innen und
Außen‘ heraus: Aufleben der genuinen Unfreiheit. 223 Im Kern wiederholt
sich also eine bestimmte Struktur, die zumindest folgende drei Basiselemen-
te enthält: Neubeginn mit dem Gewinn von Grazie, Sicherheit und Vertrauen
– Einsturz und Erschütterung vor dem Hintergrund einer sich entziehenden,
unerreichbaren Welt224 – Katastrophe, Flucht, Aufbruch und Neubeginn.225
220 Der Doppelgänger kann beides sein, das Andere des Selbst (Unterdrückte) sowie dessen
(bloßer) Spiegel, was wiederum die Grenzproblematik vertieft. Die Doppelgängerthematik
findet bereits in den ersten internationalen Rezensionen Interesse (vgl. Steinecke 2007, S.
572 f.), kann aber nur im komplexen Wechselspiel von dem Außen und dem Innen, gebro-
chen durch das Fantastische, annähernd verstanden werden.
221 Das ist nahe an einem mythischen Verständnis, wie es sich in Joseph und seine Brüder ausdif-
ferenzieren wird.
222 Das erste Mal erfolgt dieses Wechselspiel mit Medardus als Prediger, dann fortlaufend
(wiederkehrend) in unterschiedlichen Variationen. Unmittelbar übersetzt könnte man sa-
gen: Medardus gefällt zunächst, gerät dann aber durch einen Fremdkörper, der außen und
innen ist – wiederholt symbolisiert durch den Maler – sowie durch Hybris, durch eine Un-
stimmigkeit in sich (Trauma), in eine Situation des Bruchs und der Isolation, die selbst ge-
schaffen ist, aber auch situativ. Die wiederkehrende Selbstreflexion ‚Falsch ist dein Spiel‘
steht für den Riss im Subjekt, vgl. für diesen Kontext auch die ‚falschen‘ Bilder.
223 Die Elixiere fokussieren auf innere Dynamiken, die sich als Verarbeitungsprozesse lesen
lassen. Wie bereits für den Sandmann andiskutiert, geht der Text aber über die spätere Re-
duktion auf innere Konflikte deutlich hinaus, die selbst thematisch ist. Das Zerbrechen der
jeweiligen geschaffenen Realität kommt teils dem ‚Maler‘ zu, der Medardus ja sozusagen
auch ist (im mythologischen Bild ähnlich dem der Josephs-Romane). Der stete Ausblick –
vgl. die Residenz mit ihrem „Geist der Anmut“ (Hoffmann 2007, S. 146), die sich ihm ver-
schließt und verschließen muss – weist auf die Unerreichbarkeit des Schlosses bei Kafka vo-
raus, die hier nicht als Conditio humana, sondern als Effekt des Traumas konzipiert ist: Für
Medardus gibt es keinen Platz in dieser ‚heilen‘ Welt, nach ruhiger Ankunft folgen wieder
Erschütterung und Bruch des Ich.
224 Man vergleiche die Bedeutung der Hochzeit bei Hoffmann sowohl in den Elixieren als auch
im Sandmann als Möglichkeit des ‚anderen Lebens‘, das nicht zur Verfügung steht und eine
Unmöglichkeit darstellt, mit Aussagen von Broch, wie und unter welchen Umständen ein
‚reales, echtes Leben‘ möglich gewesen wäre.
148 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
In dieser sehr ausgeprägten Form, die den Sturz aus der Grazie von Über das
Marionettentheater ebenso reproduziert wie intensiviert, scheint sie spezi-
fisch. Kafka wird damit umfassend experimentieren, sie bestimmt auch das
Schloß mit, wo jede gewonnene Sicherheit stets in sich zerfällt. Die Unmög-
lichkeit des geglückten Lebens kettet sich objektiv an die Rolle des Mönches,
was als funktionale Wahl im Kontext der Selbstzerstörung gesehen werden
kann.226 Dass es sich dabei um eine „falsche Wahl“ handelt, die dem Inneren
nicht entspricht, macht der Text über die Gefühle der Hybris statt der Beru-
fung mit dem stets hereinbrechenden Gedanken des Erwählt-Seins über-
deutlich.227
Was ist nun die treffendere Bezeichnung für die Elixiere des Teufels: „Ver-
fremdende Darstellung eines Ich-Zerfalls“ oder „Vielschichtigkeit der Codie-
rung“? Die erste Variante würde maximal eine Doppelung erlauben: Codie-
rung des Subjektiven/Objektiven der ‚radikalen, fortlaufenden Erschütte-
rung‘ mit komplexer, sich entziehender ‚Ereignisstruktur‘ und deutlichem
Fokus auf Attribuierungsprozesse. Sie ist allerdings dennoch hilfreich, steht
in der Tradition der kritischen oder dialektischen Psychoanalyse und ver-
weist auch darauf, dass es problematisch ist, das Subjekt aus dem Spiel zu
nehmen bzw. dass es nie genügte, bildhaft vom Tod des Subjekts zu spre-
chen. Die zweite Variante, die Rede von der Vielschichtigkeit, korrespon-
diert mit dem Text und seiner spezifischen Qualität – wird dieser in traditi-
oneller Formulierung stärker gerecht – und verweist auf die „reale Komple-
xion von Innen und Außen“,228 die sich im ersten Ansatz zu verlieren droht.
225 In der ersten Phase geht es um Konsolidierung und den Aufbau einer Position. Die Erschüt-
terung führt zum Einsturz des Bestehenden und beinhaltet einen Moment des Kippens, der
zur Katastrophe führt. Deutlich ist dies in der Fortführung des obigen Beispiels, wo die
Struktur das erste Mal auftritt: Medardus ist im Kloster geschätzt, hat Erfolg mit seinen ge-
nuin ‚falschen‘ Predigten (aus der Hybris heraus, s. o.), es kommt zum Sturz (Maler), durch
Bruch in der Grazie des Redners. Darauf folgt der Verlust der Gabe des Redens, des Kon-
takts, die Situation der Beichte und schließlich der Aufbruch. Für alle Orte des Romans lässt
sich eine analoge Reihe aufstellen.
226 Die Wahl des Mönchstums, selbst zunächst als beglückende Lösung erlebt, steht jenseits des
Glücks, das aufscheint, aber durch sie zur Unmöglichkeit wurde. Psychische Dynamiken, die
Hoffmann hier codiert, ziehen sich wohl bis zu den jüngeren Missbrauchsfällen, bzw. sind
mit diesen assoziierbar (vgl. Tom McCarthys Film Spotlight, 2015).
227 Die Spannungssituation des Medardus entspricht einer konstitutiven Aussichtslosigkeit, wie
sie auch den Sandmann durchzieht. Einem ‚echten Heiligen‘ würde der Weg des ‚Erwählt-
Seins‘ sozusagen offenstehen. Das Ich erlebt und konstituiert sich wiederholt als (hybrider)
Trick-Betrüger.
228 Adornos bereits oben zitierter Satz enthält eine ihm eigene, leichte und schwer zu umge-
hende ‚Widersprüchlichkeit‘, da sein impliziter Gedanke die Begriffe „innen“ und „außen“
zersetzt.
1.5 E.T.A. Hoffmann 149
Sie kann mit Gewinn gegen das letztlich zu einfache Bild der subjektiven
Verformung der Außenwelt gelesen werden. 229
All das ist nahe an Kafkas Schloß, wo allerdings zwei unterschiedliche Ver-
fahren hervortreten werden: Verzicht auf Verfremdendes im Sinne von sich
ausdehnenden transzendenten Systemen zugunsten der Erzeugung einer in
sich geschlossenen Romanwelt und Erschütterung der Möglichkeit des Er-
zählens und der Dialogführung, d. h. von Ästhetik und Kommunikation. Für
die engere Fragestellung ist zu unterscheiden, dass das Schloß als Orientie-
rungstrauma aufgefasst werden könnte, den Elixieren aber eine primäre
Ereignisstruktur oder eine traumatische Kern-Situation fehlt, also in etwa
das, was psychoanalytisch orientierte Traumaforscher/innen als „initiale
Traumatisierung“ bezeichnen würden.230 Der mythisch-katholische Aus-
gangspunkt geht der oben andeutend beschriebenen Struktur stets voraus.
Hoffmann interessiert sich, wie auch im Sandmann und in den Nachtstücken
insgesamt,231 besonders für Wiederholungsphänomene und für Fernwir-
kung. Bildhaft ist dies im gegenwärtigen Diskurs als ‚lebenslange Auswir-
kung traumatischer Erfahrungen‘ erfasst. Nicht nur die nach Handhabbar-
keit suchenden Disziplinen haben damit in der praktischen Analyse ebenso
ihre Schwierigkeiten wie in der Terminologie. 232 Während der Protagonist
229 Der Einschnitt, wo dieses Bild massiv ins Wanken geriet, ist der bereits öfter erwähnte Anti-
Ödipus, wo, durch das Primat der Ökonomie verzerrt, soziale Phänomene der Wunschpro-
duktion in den Fokus gerieten.
230 Vgl. den Nachhall in Brochs oben zitierter Aussage zum „Initialtrauma“ in der Psychischen
Selbstbiographie (S. 45) oder Lange-Kirchheims „Initialtraumatisierung“ (2006, S. 36). Der
Begriff ist meiner Ansicht nach ein Gewinn und eine Gefahr, da er einerseits eine mögliche
Beziehung zu einem bedeutenden Ereignis sichtbar macht, andererseits mit dem Komplex
der Prädisposition verknüpft ist, deren Problematik Eissler (1963) besonders eindringlich
sichtbar gemacht hat. (s. o.) Kremer schreibt für diesen Kontext Folgendes: „Dem Mönch
wird das Zeichen des Kreuzes eingebrannt. In einer Art psychoanalytisch interpretierbarem
Initialtrauma prägt ihm eine Äbtissin das Kreuz ein“ (Kremer 2004, S. 84). Die Bedeutung
dieser ‚frühkindlichen Erlebnisdimension‘ für die Psychoanalyse ist bekannt. Kremer selbst
ist besonders in seinen Bezügen zu Erhabenem und Manierismus (vgl. ebd., S. 82 f.) mit Ge-
winn für die vorliegende Fragestellung zu lesen, ohne dass er dort explizit den Traumabe-
griff verwenden würde, wo „alle Sicherheiten erschüttert“ werden (ebd., S. 83). Im Sinne der
hier verhandelten Fragestellungen wäre dies nahe liegender als das Konzept des ‚Initial-
traumas‘.
231 Vgl. etwa Ignaz Denner, Die Jesuiterkirche in G. oder Das Sanctus.
232 Von der ICD ist dies explizit ausgeschlossen, denn ‚Traumatisierung‘ geht dort diagnostisch
in ‚Persönlichkeitsstörung‘ über (zur Problematik dieser Definition s. A 1). Für die Literatur
geht es auch um den Umgang mit Kausalität. Vgl. C 1 bzw. als ein signifikantes Beispiel
Thomas Manns Dr. Faustus, wo die Fernwirkung über die Zeit hinweg zwar im Zentrum der
Konzeption steht, aber nur noch innerhalb einer Verweisstruktur angedeutet werden kann
(s. D 1).
150 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
233 Vgl. zahlreiche Fallschilderungen zu Religiosität als Wendepunkt sowie Antonovskys SoC
(s. o.). Literarisch berichtet Améry von der gelingenden Verarbeitung des Terrors durch die
‚Religiösen‘, in welche Gruppe er die ‚Politischen‘ mit einrechnete (s. D 1).
234 Man denke für die Elixiere auch an die scheiternde Vernunft, die keine Lösung bietet, und
den Diskurs zu Aberglauben im Text. Die religiöse Welt steht von hier aus gesehen im Feld
von Antwort auf das Trauma und Intensivierung der Problematik.
235 Dazu gehört auch das Motiv der Elixiere selbst. Vgl. auch die Situation des Medardus im
Gefängnis.
236 Vgl. die Redeskription romantischer Kunst in Luhmann 1996.
237 Vgl. für diesen Kontext auch die wiederholte Anknüpfung an das Faust-Narrativ in den
Elixieren als Weiterführung der Problematisierung der Hybris bloßer Vernunft, die eben
weder für Nathanael noch für Medardus eine Antwort bietet.
238 S. auch oben zu ‚Armut‘ sowie zur Frage des Ereignisses insgesamt und der anhaltenden,
prozesshaften Erschütterung.
1.6 Nachtwachen und Büchners Lenz 151
Für beide Texte, die Elixiere und den Sandmann, scheint die Konstruktions-
metapher besser geeignet als die des psychoanalytischen Unbewussten,
zumindest gerät die produktive Tätigkeit jeweils deutlich in den Blick. 239
Luhmann spricht wiederholt von dem Missverständnis, Konstruktion sei ein
bewusst stattfindender, transparenter Prozess. Es geht aber darum, dass
das konstruktivistische Konzept Platz zur Beobachtung für genau diese Art
von Tätigkeit informationsverarbeitender (psychischer) Systeme schafft,
durch die sich die Wiederholungsstruktur des Medardus realisiert und die
traditionell als „Komplexion von Innen und Außen“ gefasst wurde. 240
Nicht nur die komplexe Verschränkung der Narrative verbindet die Elixiere
und die Nachtstücke von Hoffmann mit dem singulär stehenden Text Nacht-
wachen. Von Bonaventura.241 Im Folgenden seien zunächst stichwortartig
239 Vgl. für den weiteren Kontext die grundlegende Problematisierung der Paradigmen der
Bewusstseinsphilosophie, wie sie etwa Arbogast Schmitt an mehreren Orten überzeugend
durchgeführt hat. Grundlegend ist etwa Schmitt 2003.
240 In diesem Punkt ist, einem Gedanken von Peter Zima folgend, klärend hinzuzufügen, dass
die Ausklammerung von Subjekten mit der Gefahr der Konstruktion mythischer Aktanten
und der Anonymisierung sozialer Prozesse verbunden ist (vgl. Zima 2000, S. 325 f.). Gegen
instrumentalisierende „spekulativ erschlossene[n] allgemeine[n] Subjekte“ argumentiert
überzeugend Schmitt 2008, S. 121.
241 Zu zeitgenössischen Konzepten von ‚Nacht‘ vgl. Steinecke 2009, S. 953–960, der den Begriff
im Kontext der oben besprochenen Nachtstücke E.T.A. Hoffmanns von der bildenden Kunst
des 16. Jahrhunderts bis zum Diskurs um Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Natur-
wissenschaft verfolgt. Es ist hier nicht der Ort, um auf die Verfasserfrage der Nachtwachen
einzugehen. Die derzeitige Übereinkunft, nach bestem Wissen E.A.F. Klingemann als Verfas-
ser anzunehmen, löst die (relativ) isoliert stehende Position des Textes nicht auf, was im
Großen und Ganzen auch für die anderen vorgeschlagenen Namen, einschließlich E.T.A.
Hoffmann oder Jean Paul gegolten hätte. Der Text ist zwar zutiefst in der Zeit verankert,
bleibt aber dennoch ein echtes Unikat, wovon noch die etwas zu kurz greifende Nihilismus-
Diskussion Zeugnis gibt (vgl. Ralston 1994). Dennoch trennt die schonungslos-abgründige,
pessimistische Ironie, die, wenn überhaupt, nur ‚bloßen Trotz‘ gelten lässt, die Nachtwachen
von anderen romantischen Experimenten ab, nicht nur von Hippels Kreuz- und Querzügen
des Ritters von A-Z als vorgeschlagener „Verbindungsschrift zwischen dem Roman der Auf-
klärung und dem der Romantik mit ihrer kritischen Ironie“ (Schanze 2007, S. 72), sondern
letztlich von dieser „kritischen Ironie“ selbst. Hans-Jürgen Schrader nennt die Nachtwachen
den „nihilistisch-hoffnungslosesten Satire-Roman der Romantik“ (Schrader 2009, S. 107)
und Wolfgang Paulsen spricht von der Aktualität eines Stückes, wo der „gottferne – wir sa-
152 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
einige Punkte isoliert, die mit der Themenstellung verknüpft sind, 242 wobei
zu betonen ist, dass die spezifische (gleichsam kreisförmige) Struktur der
Nachtwachen mit ineinander verflochtenen Narrativen, gegensätzlicher
Strukturierung, komplex geschichtetem, buntem Fasnachtstreiben mit stol-
pernder Sprache und Transgression der Vernunft, 243 hochgradiger Intertex-
tualität und Intermedialität sowie fortlaufender Selbstreferenz244 für das
Herausarbeiten dieser Punkte grundlegend ist.
gen: säkularisierte – Geist des modernen Menschen […] vor das Nichts gestellt ist“ (Paulsen
2003, S. 176).
242 Vgl. zum Folgenden Grugger 2014b, wo diese Punkte zumindest etwas ausführlicher behan-
delt und als „Stachel im Paradigma des Triumphes“ (S. 263) analysiert werden. Ich be-
schränke mich hier auf einen kurzen Überblick im Sinne der Textprogression. Jüngere Habi-
litationsschriften zum Text stammen von Böning 1996 und Kaminski 2001, die u. a. an die
Forschung zur Verbindung der Nachtwachen mit den Elixieren anschließt. Böning spricht,
zunächst ausgehend von dem fehlenden Kern im textimmanenten Bild der Zwiebel, von ei-
ner als kernlos gedachten Maske als Zentralmotiv der Nachtwachen (vgl. Böning 1996, S.
153 f.). Zum Bild der Zwiebel in Abgrenzung zur ‚Blauen Blume‘ vgl. auch Paulsen 2003 S.
180. Vgl. zur Kritik an den transzendentalphilosophischen Voraussetzungen der Frühro-
mantik sowie grundlegend zu den Nachtwachen Hoffmeister 2003, S. 235.
243 Die Vernunft tritt im Sinne der gegensätzlichen Strukturierung als Wahn auf, der Text ist
selbst eine bunte Welt des Fasnachtstreiben und zugleich überaus komplex geschichtet.
Wieder sind Wahnsinn und Kälte der Vernunft spezifisch. Zum ‚Straucheln der Sprache‘ und
zur Anthropologie vgl. Grugger 2014b, S. 258.
244 Selbstreferenz heißt hier auch Referenz auf den Text als deklarierten Nicht-Text: auf das
Nicht-Literarische, die bloße Wiedergabe oder Berichtform und den angestrebten ‚Nicht-
Ort‘ des Textes. Der fehlende Adressat entspricht der Positionierung als ‚Nachtwächter‘ an-
stelle des Erzählers oder Dichters.
245 Gekoppelt ist beides dargestellt für religiöse Systeme.
1.6 Nachtwachen und Büchners Lenz 153
246 Musil wird unter den Bedingungen der Moderne auf dieses Bild in der Novelle Tonka in
extenso zurückgreifen.
247 Bonaventura 2003, S. 90. Aus den Nachtwachen wird in der Folge mithilfe der Sigle ‚Nw‘
zitiert. Die Szene im Ursulinenkloster ist sichtlich von Diderots Die Nonne inspiriert, der
Verfasser transponiert die Vorlage aber in das Abgründige des aufnehmenden Textes.
248 Freimauer klopfen Steine ins Gemäuer und die Nonnen singen das Misere „über dem Haupte
der Begrabenen“ (vgl. Nw, S. 90–93, hier S. 93) worauf die Frage des Pförtners folgt: „Has-
sest du jetzt die Menschen?“ (Nw, S. 94).
249 In der eingeschobenen Passage Lauf durch die Skala heißt es: „[W]ie? steht kein Ich im
Spiegel, wenn ich davortrete – bin ich nur der Gedanke eines Gedankens, der Traum eines
Traumes – könnt ihr [Larven/Masken – Zustände des Selbst] mir nicht zu meinem Leibe
verhelfen, und schüttelt ihr nur immer eure Schellen, wenn ich denke es sind die meinigen?
[…] nirgends Gegenstand, und ich sehe doch – – das ist wohl das Nichts das ich sehe! – Weg,
weg vom Ich – tanzt nur wieder fort ihr Larven“ (Nw, S. 93, Herv. im Orig.). Im fundamenta-
len Maskenspiel um das Ich und dem bunten Fasnachtstreiben des Textes koppeln sich Ele-
mente wie Marionette oder Hanswurst mit den großen philosophischen Ideen der Ich-
Philosophie. Gegensätzlich strukturiert wird die Vernunft über den Wahn präsentiert und
übrig bleibt die Maske.
154 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
Menschseins kreisen. Die Differenz ist allerdings nicht nur eine formale:
Während der Dichter „dort oben als begeisterter Apostel mit der Flam-
me auf dem Haupte gegen die Menschen zürnte“ (Nw, S. 66), ist der
Nachtwächter längst zum desillusionierten Beobachter geworden. 250
In Oberlins Bericht zu Lenz findet sich ein nun bereits bekanntes Bild: Me-
lancholie als Ausdruck für einen Prozess der ‚Selbstzerstörung‘, als Aus-
druck, den heute als Traumen definierte Zustände zur Zeit der Niederschrift
erfahren hätten. Neben der Melancholie ist die Rede von Anfällen der
Schwermut.252 Büchner, der Oberlins Text stellenweise übernimmt, formu-
liert Zuschreibungen, die Lenz positionieren und so eine differenzierte, lite-
rarisch ausgearbeitete Figur entwerfen. Diese Attributionen entstehen aus
250 „Gott oder Nichts“ gehen allerdings beide mit demselben Trotz entgegen (Nw, S. 71).
251 Der Ausblick erfolgt von Hoffmans Elixieren aus und bleibt punktuell. Büchner ist wie Hoff-
mann mit dem medizinischen Diskurs seiner Zeit vertraut, vgl. im Detail etwa Oberlin 2014,
S. 114 f. sowie Neumeyer 2009, S. 243. Zum Hintergrund der ‚religiösen Melancholie‘ vgl.
Seling-Dietz 2000 sowie in Bezug auf die Textentwicklung Dedner/Gersch 2001, S. 137.
252 Vgl. Oberlin 1984, S. 46. Zur Büchners frühen Kenntnis des Melancholiediskurses sowie zur
Beziehung des Lenz zu dem ein Jahr später entstandenen Woyzeck vgl. Dedner/Gersch 2001,
S. 132.
1.6 Nachtwachen und Büchners Lenz 155
einer Art Fallgeschichte, die sich auf reale Erfahrungen bezieht, und sie sind
gekoppelt an den Diskurs des Wahns, hier verbunden mit der zeitgenössisch
so bedeutenden ‚fixen Idee‘.253 Ein weiterer Begriff, der bis heute für die
Auseinandersetzung mit Büchners Literarisierung der Aufzeichnungen
Oberlins von Interesse ist, und der besonders wichtig für Broch werden
wird, ist der des Nichts.254 Es steht in Verbindung mit innerem Tod (s. u.) und
wird als Metapher für traumatische Erfahrungen den psychotraumatologi-
schen Diskurs durchziehen. Das Ende von Büchners Text mit der Ankunft
von Lenz in Straßburg fokussiert in diesem Sinne nicht auf nomadenhaftes
Wandern,255 Wahnvorstellung, Selbstzerstörung, religiöse Selbst-Quäler-
eien/Melancholie oder ein Zurückkommen auf Ereignisse/Erlebnisse,256
sondern auf genau diesen Punkt: die „entsetzliche Leere“.257 Die zentrale
Stelle dafür verbindet sich mit dem Bruch zu den anderen, der sich hier auf
den Zufluchtsort ausdehnt und in eben diesem Nichts endet:
253 „Am dritten Hornung hörte er, ein Kind in Fouday sey gestorben, er faßte es auf wie eine fixe
Idee.“ (Büchner 2001, S. 42). Vgl. die Rede vom Assoziationszwang in der Sandmann-
Analyse von J. Schmidt (s. o.). Wahn(sinn) wurde zeitgenössisch durch Halluzination und fi-
xe Ideen ‚Geisteskranker‘ bestimmt (vgl. Thomé 1993, S. 54 f.). Zur zeitgenössischen Psychi-
atrie vgl. Borgards 2009, S. 57 f., zur Verknüpfung von fixer Idee und Melancholie vgl. Ded-
ner/Gersch 2001, S. 133–137.
254 Goethes Beschäftigung mit Lenz in Dichtung und Wahrheit nimmt die zeitgenössische empi-
rische Psychologie mit ihrer Aufforderung zur Selbstbeobachtung zum Ausgangspunkt. Lenz
habe sich durch den gegen sich gerichteten „Hang zur Intrige“ von dem allgemeinen Trend
abgegrenzt. Zwei Punkte heftet er an diese Beobachtung, nämlich fehlende Zweckrationali-
tät und Beschäftigungslosigkeit: „Seine Tage waren aus lauter Nichts zusammengesetzt“ (HA
10, S. 8). Mit der Vorstellung ‚zielgerichteter Aktivität‘ kann der goethesche Antwortversuch
auf mögliche traumatische Erfahrungen angedeutet werden, der zugleich als derjenige bür-
gerlicher Werte beschrieben werden kann.
255 So die verkürzt schematisierende Lesart von Deleuze/Guattari 1997a, die den Vater-
Konflikt isolieren, aber auch die Ent-Grenzung beobachten und sie der Produktion oder
Verdichtung von Bedeutung entgegenhalten, dabei aber diese Thematik der Leere überge-
hen (vgl. S. 7 f.).
256 Als solche treten u. a. auf: das tote Kind, der Vater, die Selbst-Deutung als Mörder sowie die
Liebesthematik.
257 Büchner 2001, S. 49. Aus Lenz wird in der Folge mit der Sigle ‚Lz‘ zitiert.
156 B 1. Ausgewählte Ausgangspunkte
Wenn hier die gleichsam zwanghafte Lust zur Wiederholung der Qual zwar
mit dem ‚inneren Tod‘ gekoppelt ist oder dies zumindest nahe gelegt wird,
so ist Büchners Lenz doch weit entfernt von den Kausalattributionen, wie
wir sie im 19. Jahrhundert bis hin zu Ebner-Eschenbach und naturalisti-
schen Texten finden.262 Die Mittel der Relativierung und letztlichen Verab-
schiedung psychomechanischer Codierungen werden sich in vielen Varian-
ten entfalten, mit Lenz sind aber die Offenheit in der Zuschreibung, die An-
regung zur Reflexion der Leerstellen, das Festhalten an der realen Komple-
xion – etwa über die geschickte Vermengung von Innen- und Außenper-
spektive – bereits präsent.263 Seine Darstellung ist nicht bloß deskriptiv und
aus der Beobachtung gewonnen, das wäre ein Missverständnis. 264 Aber sie
bietet aus einer Fallgeschichte konstruierte, literarisch geformte Konstruk-
tionen zur Beobachtung an,265 ohne sie mit der Möglichkeit schließender
Sätze auszustatten. Sie zeigen weniger Bedeutungs- als Impulscharakter,
sind also nicht aufzulösen, sondern rezeptiv weiter zu bearbeiten.
Lenz stellt die literarische Bearbeitung einer ‚Fallgeschichte‘ eines wenn-
gleich prominenten Einzelfalles dar und damit eine Textkonzeption, die in
deutlicher Differenz zu romantischen Verfahren durchgeführt ist. Wenn-
gleich der Kontrast zu den Nachtstücken und den Elixieren gerade durch den
Verzicht auf das Fantastische überaus deutlich ist, 266 stellt die Fokussierung
auf komplexe innere Konflikte, die nicht symbolisch aufgelöst werden, nur
eine der Gemeinsamkeiten mit Hoffmann dar. Als weitere zentrale Konflikte
sind zumindest die grundlegende Problematisierung der Vernunft, 267 die
Bedeutung religiöser Narrative für den ‚Wahn‘ sowie die mit je unterschied-
lichen Techniken konstruierte Pluralität der Perspektiven zu nennen. Büch-
ners Erzählung steht dabei immer wieder am Kippen zur Innenperspektive,
in der Nähe dessen, was Stanzel mit dem Begriff der Reflektorfigur zu erfas-
sen versucht.268
263 S. Abschnitt C, v. a. zur ‚Verweisstruktur‘. Vgl. auch das Festhalten an Komplexion in den
Elixieren.
264 Es handelt sich um eine literarische Fallstudie im besten Sinn des Wortes. Besonders auffäl-
lig ist eine Art frühen personalen Erzählverhaltens bzw. ein spezifischer Wechsel zwischen
Figurenperspektive und Beobachtung mit teils wortwörtlichen Zitaten aus Oberlins Text
(vgl. zu den Übernahmen Borgards 2009, S. 61) und zahlreichen literarischen Mitteln wie
etwa „die zentrale Opposition von Ruhe und Bewegung“ noch im Stilistisch-Formalen (ebd.,
S. 59) oder die Doppelungen als Intensivierung, wie etwa „allein, allein“, (Lz, S. 35) oder
„tod, tod“ (Lz, S. 42), welche die Thematik vorgeben.
265 Dazu gehören neben allen Bildern des Wahns die Formen und Versuche der Selbstzerstö-
rung, die Selbstwahrnehmung als Mörder als sozusagen fixe Idee, Zustandsbeschreibungen
wie gemartertes Gewissen, starkes Zittern, Kopf an die Wand schlagen oder die Skizzierung
einer emotionalen Hochschaubahn (vgl. besonders Lz, S. 49).
266 Vgl. auch den starken Kontrast zu den Nachtwachen.
267 Vgl. den bereits oben zitierten, extensiven Versuch von Gerhard Oberlin zu Wahnsinn der
Vernunft.
268 Vgl. Stanzel 2008, v. a. S. 196–200. Bei Büchner wird auch Stanzels Mediationsbegriff (vgl.
ebd. S. 15–21) in seiner vollen Komplexität bedeutsam. Im Prinzip beobachtet das sogar Ju-
lian Schmidt in seiner Kritik an Lenz vom Gesichtspunkt seiner realistischen Ästhetik aus:
„Am schlimmsten ist es, wenn sich der Dichter so in die zerrissene Seele seines Gegenstan-
158 B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte
des versetzt, daß sich ihm selber die Welt im Fiebertraum dreht“ (Schmidt 1851, S. 122). Be-
troffen ist allerdings nicht der Dichter, sondern sind Prozesse der Mediation, Darstellungs-
ebene und Rezeption. Detailliert zur Form des Erzählens vgl. Borgards 2009, S. 58–62.
269 Bachmann 1995, S. 175. Vgl. zum Kontext der Stelle Lennox 2004, S. 27.
270 Vgl. umfassend zu Lenz als Paradigma einer modernen Strategie der Normvermittlung Anz
1989, S. 15–18 sowie Anz 2013. Anz betont zwei Punkte: Büchners Versuche einer ‚moder-
nen‘ Perspektivenübernahme, die der mit Wilhelm Griesinger verknüpften psychiatrischen
Distanz entgegengestellt ist, sowie die medizinhistorisch belegte Verschiebung von der im
Subjekt verankerten moralischen Verantwortung der Spätaufklärung – gezeigt an Oberlins
Bericht, entsprechend der Kreation der Innenräume, s. o. – zur sozialen Verantwortung für
die Krankheit. Allgemein formuliert geht es um den Wechsel von internen zu externen At-
tribuierungsprozessen, verknüpft mit der Konzeption bedingender sozialer Räume. Die zwei
Aspekte von Anz verbindend, lässt sich beobachten, wie in Lenz durch die ‚moderne‘, Kom-
plexität integrierende Technik soziale Fragen (noch) jenseits des dominant werdenden
Kausalitätsbegriffs untersucht werden.
271 Für Broch und Nietzsche vgl. etwa Lützeler 2009, für Rilke und Nietzsche vgl. Perlwitz 2013.
272 Vgl. Riedel 1996.
B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte 159
a) Die Kausalität und ihre Funktion für die Konzeption sozialer und indivi-
dueller Geschichte (im Sinne kausal-chronologischer Ordnungen);276
b) das soziale Milieu als Thema der Literatur und die Möglichkeit des Er-
zählers zur Repräsentation desselben;277
273 Ebenso unumstritten wie der Einfluss von Nietzsche und Schopenhauer ist u. a. die über-
greifende Bedeutung der Theorien von Marx, Kierkegaard oder Bergson für den Diskurs der
Moderne.
274 Für den Diskurs zu ‚Wahnsinn‘ vgl. etwa Thomé 1993.
275 Diese Bezeichnungen erfolgen, ohne hier auf die Problematik von Epochenbegriffen einge-
hen zu können. Der vorsichtige Umgang mit diesen ist der vorliegenden Schrift grundgelegt,
würde allerdings, wenn übertrieben, die Argumentation lähmen. Vorgeschlagene Entwick-
lungslinien sind vorwiegend auf die deutschsprachige Literatur bezogen, deren Weg in die
Moderne, wenngleich spezifisch, nur als Teil internationaler Dynamiken zu verstehen ist.
276 Kausalität wird spätestens mit dem Agathon ein bedeutendes Strukturierungsprinzips des
Romans, vgl. etwa Schings 1984, S. 57. Die fremde und heterogene Außenwelt soll dabei ab-
getrennt werden vom ‚eigentlichen Ich‘ der so intensiv diskursivierten Innenräume. Die rea-
listische Perspektive setzt mit neuen Fragestellungen bzw. Kontexten hier an. Dabei geht es
u. a. um die Zuspitzung von Kausalität (vor ihrer Problematisierung) und die Verknüpfung
mit Geschichte (nach Hegel und Marx), auch im Sinne der Frage des Telos.
277 Mit der Frage des bedingenden sozialen Milieus einher geht der (gewünschte) Übergang zur
Soziologie: „Die ganze bisherige Ästhetik war nicht, wie sie schon damit prunkte, eine Wis-
senschaft von der Kunst, sondern vorerst nur eine Pseudowissenschaft von ihr. Sie wird sich
zu der wahren, zukünftigen, die eine Soziologie der Kunst sein wird, und nicht wie bisher –
selbst noch bei Taine – eine Philosophie der Kunst, verhalten wie ehedem die Alchemie zur
Chemie oder die Astrologie zur Astronomie (Holz 2008, S. 174, Herv. im Orig.). Es entstehen
Diskurse, in denen (individualisierenden) Fragen des ‚Traumas‘ zunehmend der Nimbus des
Konservativen zugeschrieben wird, sofern sie nicht unmittelbar auf soziale Kontexte rück-
übersetzt werden.
160 B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte
278 Aus dem Realismus, mit seiner bleibenden Symbolwirkung des Einzelfalles, entstehen
zunehmend mikroskopisch-analytische (Detail-)Beobachtungen. Das Erbe der literarischen
Fallstudie (Büchners Lenz) wird gebunden an kausal-logische Ordnungen. Der prozesshafte
Übergang zum Einzelfall und die Wende zum Mikroskop (Holz) werden auch für Rilke be-
deutsam.
279 Stichwortartig kann ein Prozess von Kellers Winternacht bis zu Freuds systematischer
Zurückweisung eines zweckrationalen Ich skizziert werden (s. auch unten).
280 Vgl. den Abschnitt C, beispielsweise Brochs Überlegungen zur Unzulänglichkeit determinis-
tischer Konzepte, festgehalten u. a. in den Schuldlosen, Rilkes Aufhebung der Chronologie
oder die moderne Wende von einem Hegelianischen Verständnis zur Kontingenz der Ge-
schichte.
281 Literarische Analysen wenden sich in einer Steigerung der Singularität, der Beobachtung
des Einzelfalles, der Komplexität einer nicht abbildbaren Realität zu, auf die nur noch ver-
wiesen werden kann (s. u.)
282 Den Einfluss von Ernst Mach, d. h. von dessen empiriokritischer Absage an das Ich und die
Erkenntnismöglichkeit des Subjekts, auf diesen Prozess hob u. a. Ryan 1991 hervor. Vgl. zu
Machs Bedeutung für die Moderne, zu seinem Rückgriff auf die Psychophysik Gustav Theo-
dor Fechners und zur Abgrenzung zum ‚Empiriokritizismus‘ von Richard Avenarius Roth
2012, S. 179–181.
283 Die Problematik führt zur zunehmenden Differenzierung in der Darstellung. Goethes ver-
bindende, sich letztlich schließende ‚Idee‘ des Romans und der Figur wird endgültig durch
auseinanderstrebende ästhetische Bewegungen und Konzepte ersetzt. Die Suche nach neu-
en Möglichkeiten kennzeichnet die in Abschnitt C beschriebenen Romane.
2.1 Droste-Hülshoff 161
Die Judenbuche (1842) der Annette von Droste-Hülshoff gilt zu Recht als
Übergangstext zwischen verschiedenen Systemen. Während die psychologi-
sche Motivierung auf Schiller zurückverweist und im Text nicht nur von den
früheren Zeiten explizit die Rede ist, 284 sondern auch dem Baron als Adeli-
gem und patriarchalem Orientierungspunkt die Rolle des sozialen Aus-
gleichs und der intellektuellen Übersicht zugeschrieben ist, werden Themen
aufgegriffen, welche die Literatur der folgenden Jahrzehnte unter dem
Sammelbegriff des ‚Bürgerlichen Realismus‘ bestimmen werden. 285 Dazu
zählt der sich abzeichnende Wechsel vom Innerpsychischen zu den sozialen
Verhältnissen ebenso wie die explizite Thematisierung von Alkoholismus286
oder die kausale Verknüpfung der Herkunft mit der katastrophalen Lebens-
geschichte, mit Fokussierung auf das implodierende Familiensystem. Die
unmittelbar repräsentative Darstellung von Leid ist ungebrochen;287 es ist
Teil einer Erzählwelt, die aus etablierten religiös-aufklärerischen Gedanken
zusammengesetzt ist und in der die Grundlage der sozialkritischen Schilde-
rungen von Verelendung sich bereits deutlich abzeichnen. Der (sozial) ge-
brochene Mensch wird ein wichtiger Referenzpunkt literarischen Schrei-
bens und die (stilistisch zugespitzte) Darstellung von Traumatisierung wird
zum bedeutenden Teil der Repräsentation der verbesserungswürdigen so-
zialen Welt:
284 Der Text geht auf einen Kriminalfall zurück. Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre gilt
als bekannter Referenztext (vgl. Schiller 2004, S. 13–35). Das Historische des Einzelfalles
schafft die Verknüpfung zu Kleists Kohlhaas (s. o. zum von Falk überlieferten Einwand Goe-
thes) sowie den Anschluss nach vorne zur zunehmenden Bedeutung der Singularität.
285 Vgl. Becker 2003 und s. u.
286 Vgl. Jeremias Gotthelf, der Alkoholismus u. a. in der didaktisch motivierten Erzählung Wie
fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen (1838) als soziales Phänomen rekon-
struiert (Gotthelf 1982).
287 Diese Linie unmittelbarer Darstellung, einschließlich der Perspektivenübernahme, wird sich
bis zum Gemeindekind (s. u.) vor allem technisch ausdifferenzieren, um in der Moderne ihre
Legitimität zu verlieren.
288 Die Schilderung bezieht sich auf Friedrich Mergel (als Johannes auftretend), zurückkehrend
aus langer Sklavenzeit.
162 B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte
Wenn es in der Folge heißt: „Das junge Volk hatte zwar keine Erinnerungen
von ihm, aber die Alten fanden seine Züge noch ganz wohl heraus, so er-
bärmlich entstellt er auch war“ (ebd.), so bewegen wir uns in der sanft
mehrdeutigen Welt des Textes, da die Beobachtenden ja meinen, sie hätten
Johannes Niemand vor sich und nicht Friedrich Mergel, dessen Geschichte
vom ersten Satz an erzählt wird.289 Eckpunkte darin sind zunächst das deso-
late Elternhaus, wobei Alkoholismus des Vaters und angedeutete Hybris der
Mutter eine Bedeutungsschicht bilden, dann Mord und Selbstmord am sel-
ben Platz sowie schließlich die oben geschilderte Rückkehr als Gebrochener
aus der Sklaverei, die der Selbsttötung vorausgeht und die zumindest mit
dem Thema der ‚Bestrafung‘ spielt. Während die Mehrdeutigkeit dadurch
angereichert ist, dass wesentliche Ereignisse ausgespart bleiben, ist das
Erzählverhalten selbst relativ eindeutig angelegt. Charakteristisch ist die
chronologische Ordnung, die mit der Geburt des Protagonisten einsetzt und
mit dessen Beisetzung „auf dem Schindlanger“ endet, 290 wodurch kausale
Beziehungen etabliert werden. Die Beschreibung des Elends erfolgt, wie am
Zitat oben sichtbar, Geschehen und Figuren unmittelbar repräsentierend,
und zwar von einer außerhalb bleibenden Beobachtungsposition des Erzäh-
lers. Elemente wie etwa Dissoziation, Ich-Zerfall, Selbstzerstörung (jenseits
des Suizids) oder sich dem Subjekt entziehende äußere Welt, die Hoffmanns
Nachtstücke/Elixiere mit Büchners Lenz verbunden und Brüche in der Er-
zählanlage bzw. ein unsicheres Erzählen bewirkt hatten, treten ebenso zu-
rück, wie die Ausschilderung der sozialen Situation einsetzt.291
Bereits im Motto-Gedicht ist der Rahmen der Novelle abgesteckt. Die Rede
ist vom „arm verkümmert Sein“ (Vs. 4) und vom nicht rekonstruierbaren
Wechselspiel aus Eitelkeit und erfahrenen Kränkungen in der Kindheit.292
289 Es dient hier auch zur erzähltechnischen Intensivierung des als Sklave erfahrenen (aus der
Erzählung großteils ausgelagerten) Leides, das eben (der simple) Johannes und nicht Fried-
rich erkannt wird, wodurch die Entstellung als drastischer markiert ist als unmittelbar beo-
bachtet.
290 Droste-Hülshoff 2001, S. 58.
291 Deutlicher ist die Verbindung nach vorne zu dem Gemeindekind im Sinne einer hegemonia-
len Form realistischer bis naturalistischer Darstellung von Trauma. Elemente wie Ich-Zerfall
oder Dissoziation dominieren auch bei Ebner-Eschenbach – wo Ausschluss und Bruch im
Vordergrund stehen – nicht.
292 Vgl. den gesamten Text: „Wo ist die Hand so zart, dass ohne Irren / Sie sondern mag be-
schränktes Hirnes Wirren / So fest, dass ohne Zittern sie den Stein / Mag schleudern auf ein
arm verkümmert Sein? / Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen, / Zu wägen jedes
Wort, das unvergessen / In junge Brust die zähen Wurzeln trieb, / Des Vorurteils geheimen
Seelendieb? / Du Glücklicher, geboren und gehegt / Im lichten Raum, von frommer Hand
gepflegt, / Leg hin die Waagschal’, nimmer dir erlaubt! / Lass ruhn den Stein – er trifft dein
2.1 Droste-Hülshoff 163
Der aufgegriffene historische Einzelfall ist zugleich Beispiel. 293 Vor dem
erwähnt religiös-aufgeklärten Hintergrund wird der Bibelspruch vom Wer-
fen des ersten Steins evoziert, der allerdings, und das interessiert hier, in
einen ontogenetischen Kontext gestellt ist: Der katastrophalen sozialen
Situation und Herkunft des Friedrich wird der „Glückliche[.], geborgen und
gehegt“ (Vs. 9) gegenübergestellt, dem kein richtendes Urteil zukomme. 294
Es ist das soziale Umfeld, das nicht nur die Geschichte Friedrichs formt,
sondern dem Außenstehenden eben auch nicht messbar und wägbar ist, wie
es im Denkraum des Gedichtes heißt, und sich gerade der unbeteiligten
Analyse entzieht. Die Darstellung traumatischer (Kindheits-)Erlebnisse ist
von der Judenbuche bis zum Gemeindekind in diesem Sinne stets auch Dar-
stellung traumatischer Verhältnisse, mit denen kausale Beziehungen gezo-
gen und unterschiedliche Appelle vorgelegt werden. Die Mehrfachcodierung
nimmt der Novelle nicht ihre im Motto-Gedicht festgelegte Stoßrichtung, in
deren Kontext die bedingende Umwelt des Protagonisten entworfen wird.
Die europäische Literatur der folgenden Jahrzehnte 295 wird für die soziale
Frage katastrophale Lebensverhältnisse wie die des Friedrich Mergel immer
wieder zu ihrem Thema machen: Die Codierung traumatischer Erfahrungen
wird nicht nur ein ‚beliebtes literarisches Motiv‘, sondern ein genreüber-
greifendes Strukturelement, das sich im Übergang zum Naturalismus zu-
spitzt.296 Dabei wird der Blick an vielen Orten von den detailliert untersuch-
ten psychischen Dynamiken etwa eines Sandmanns auf soziale gewendet,
für die der Einzelfall zum Modell wird. Die Judenbuche selbst steht gemäß
ihrem Untertitel eher noch für ein „Sittengemälde“ als für diese spezifische
Sozialstudie.
eignes Haupt!“ (ebd., S. 3). Als „Vorspruch“ werden die zwölf Verse in den Anmerkungen
verstanden, wo Bezüge und biblische Referenzstellen angeführt sind (Huge 2001, S. 59).
293 Auch das wird für den bürgerlichen Realismus weitergelten, im Prinzip auch noch für den
sozialistischen Realismus. Die modernen Romane dagegen sind an die Problematik der Re-
präsentation gebunden, die bis zur Implosion der Symbolbildung in der Literatur Kafkas
reicht (s. C 2).
294 Gegenwärtig bzw. aktualisiert ist die von Goethe gezogene Differenz zwischen ihm und Karl
Phillip Moritz: „Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir, von derselben Art, nur da vom
Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin“ (Brief Goe-
thes an Charlotte von Stein, Rom, d. 13 [-16] Dec. 86, WA, IV, 8, S. 94).
295 Dickens Oliver Twist etwa erschien wenige Jahre davor (1837–39), Hugos Les Misérables
zwei Jahrzehnte danach (1862), parallel zur in Frankreich bereits einsetzenden ästheti-
schen Moderne.
296 Der im Gemeindekind genannte „Pinsel des Realisten“ (gemeint: Naturalisten) ist Ausdruck
für diese Bewegung, in welcher der realistische Vorbehalt gegenüber der ‚Abbildung‘ einer
sozusagen ‚unbearbeiteten Realität‘ aufgegeben wird (Ebner-Eschenbach 1978, S. 12). Im
Folgenden wird aus dem Gemeindekind mit der Sigle ‚Gk‘ zitiert.
164 B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte
297 „Insgesamt darf man festhalten, dass Ebner-Eschenbach eine vom Adel her denkende Bür-
gerliche war“ (Becker 2003, S. 264). Ljerka Sekulić hatte geschrieben: „Als Angehörige des
Adels sucht sie nicht nach grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen, sondern nach
einer grundlegenden Humanisierung der menschlichen Beziehungen, ungeachtet aller Klas-
senzugehörigkeit“ (Sekulić 1988, S. 203). Interessant ist Beckers Einschätzung des Romans
als „gelungene Synthese zwischen Dorfgeschichte, sozialer Dichtung und Entwicklungsge-
schichte“ mit dem Anspruch: „Das Gemeindekind darf in vielerlei Hinsicht als ein paradigma-
tisches Werk des Bürgerlichen Realismus gelten“ (Becker 2003, S. 262). Sekulić sieht den
Bruch, verortet ihn aber anders als in der vorliegenden Studie und meint: „Menschliche
Werte sind auch hier nicht in der Gemeinschaft, sondern nur trotz der Gemeinschaft reali-
sierbar“ (S. 203).
298 Baur schließt Ebner-Eschenbachs Dorf- und Schloßgeschichten, denen Das Gemeindekind
zugezählt wird (vgl. Rossbacher 2009, S. 212), unter Berufung auf Friedrich Altvater von der
eigentlichen Dorfgeschichte aus, weil hier der für sie konstitutive Wechsel der Perspektive
fehle (vgl. Baur 1978, S. 137 f.), was wohl v. a. auf die soziale Rolle der Autorin referiert. Die
genannte „vorbildliche Güte des Landadels“ der Judenbuche (ebd., S. 138) ist für Ebner-
Eschenbach nicht mehr codierbar, nachvollziehbar ist das briefliche Ersuchen Viktor Adlers
an die Autorin, „einen Fortsetzungsabdruck ihres Romans in einer Proletarierzeitung zu be-
fürworten“ (Rossbacher 2009, S. 213).
299 Die Erzählung wurde von Grillparzer 1831 begonnen und 1848 veröffentlicht. Bachmaier
2002 spricht nicht zu Unrecht vom „psychologischen Realismus“ mit Spuren einer „quälend
naturalistischen Deutlichkeit“ (S. 69).
300 Vgl. die oben zitierte Anspielung im Roman auf den ‚naturalistischen Pinsel‘, die im Kontext
der Schilderung der desolaten Unterkunft Pavels bei seinen ‚Pflegeltern‘ erfolgt.
301 Das Motto ist aus George Sands Histoire de ma vie entnommen. Vgl. den Hinweis auf die
nötige Einbettung der „kleine[n] Geschichte über ein kleines Lebensschicksal“ durch den
Rezipienten (Rossbacher 2009, S. 218) sowie die Verknüpfung zu Sands egalitärem histori-
ographischem Ansatz in Wiedemann 2003, S. 345. Der Kontext des Mottos verdeutlicht
nicht nur die Stoßrichtung, sondern auch die von Sand gesehene Beziehung zwischen Poli-
tik, Geschichte (‚von unten‘) und Literatur: „Tout concourt à l’histoire, tout est l’histoire,
2.2 Ebner-Eschenbach 165
piert ist der Roman für einen als entscheidend verstandenen Moment der
Geschichte. Hinter der Dorfgeschichte zeichnet sich von Anfang an die grö-
ßere ab, über die individuelle Biographie wird der soziale Diskurs geführt.
Entgegen der aufklärerisch-religiösen Läuterung der Judenbuche, ist die
treibende Kraft hier die Frage einer möglichen Schließung des Risses zwi-
schen (deformiertem) Individuum und (deformierter) Gesellschaft, und zwar
in doppelter Hinsicht: Die Frage der sozialen Organisation wird im Text
untergründig zur Kernfrage – auf stetes Unrecht wird eher fokussiert, als
dass es ausgeblendet würde.302 Im Vordergrund steht aber die Frage des
Verhaltens des Einzelnen, des sogenannten Geringsten, und des Umgangs
mit seinem Riss zur Gesellschaft, dem besondere Bedeutung zugemessen
wird.303 Es geht dabei nicht um ein Aufzeigen der Kausalität,304 sondern um
das Erwägen von Möglichkeiten, sie am Einzelbeispiel zu brechen.
Es wäre viel zu kurz gefasst, den Text als bloßes ‚Sozialmärchen‘ vom Auf-
stieg des Ausgeschlossenen, des Gemeindekindes Pavel Holub, aufzufassen
oder die (durchaus deutliche) Sympathie der Autorin mit teils schematisch
skizzierten Unterdrückten305 zu proklamieren, denen teils seltsam anmu-
tende Auswege nahegelegt werden. Am Roman sind neben einfach gestrick-
ten Elementen durchaus komplexere Schichten zu beobachten, die für die
Themenstellung gerade dort relevant sind, wo die entworfenen Beobach-
même les romans qui semblent ne se rattacher en rien aux situations politiques qui les
voient éclore“ (Sand 1970, S. 78) [„Alles trägt zur Geschichte bei, alles ist die Geschichte,
selbst die Romane, die in nichts mit den politischen Situationen verknüpft scheinen, die sie
hervorbringen.“ Übers. von Vf.]. Es ist also nicht nur die ‚ländliche Unterschicht‘, die hier in
den Fokus gerät. Im Text findet sich die aus der Figurenperspektive des Lehrers formulierte
Überlegung, das Verhalten der ‚Ausgestoßenen‘ werde die Zukunft entscheidend bestim-
men: „[I]hr Geringen, ihr seid die Wichtigsten […] von euch geht aus, was Fluch oder Segen
der Zukunft sein wird“ (Gk, S. 172).
302 Weniger in Frage gerät allerdings die grundsätzliche Zuteilung gesellschaftlicher Rollen,
was wohl für Beckers, Sekulićs und Baurs Betonung der sozialen Rolle der Autorin als Adeli-
ge spricht (s. o.).
303 Das verbindet den Roman mit der Erzählung Die Spitzin. In der Welt der Judenbuche mit
ihren traditionellen Werten vermag der Baron das soziale Gefüge noch zusammenzuhalten
und ausgleichend zu wirken. Im Gemeindekind rücken die sozialen Fragen in den Mittel-
punkt. Vgl. auch Rossbacher, der den Kern des Romans darin sieht, dass das Entwicklungs-
potential des Depravierten sich als stärker erweise „als seine Determination durch soziale
Misere“ (Rossbacher 1992, S. 259). Protagonist ist allerdings sowohl im Gemeindekind als
auch in der Spitzin der Ausgegrenzte per se, der großteils jenseits einer möglichen Grup-
penzugehörigkeit geführt wird.
304 Milieutheorie und Milieuschilderungen gehen dem Text voraus, der in diesem Feld eine
Antwort versucht.
305 Dieses Verfahren ist nicht zuletzt als ‚zeitgemäß‘ zu markieren.
166 B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte
Eröffnet wird der Roman mit dem „Schauspiel des ruchlosen Wichtes“ (Gk,
S. 7), des Ziegelschlägers Martin Holub, einem von der Erzählstimme aus-
schließlich negativ porträtierten, gewalttätigen Alkoholiker. Seiner Gewalt
gegenüber Frau Barbara und den beiden Kindern Pavel und Milada, die in
sklavenhaften Zuständen vegetieren, ist keine Grenze gesetzt. Geschildert
wird ihr radikales Ausgesetzt-Sein in klarer, zeitgemäßer Sprache, es geht
um die Ausgangssituation für den Protagonisten, das Gemeindekind Pavel,
die in gedanklicher Linie zu der des Friedrich Mergel der Judenbuche ver-
läuft.306
Der Bruch in der Erzählanlage ergibt sich aus dem oben bereits angespro-
chenen zentralen Anliegen des Textes, den in der Folge detailliert ausge-
schilderten doppelten Riss des Protagonisten (in sich und zur Umwelt) zu
schließen: Der „Pinsel des Realisten“ (s. o.), also die zur naturalistischen
Schilderung gesteigerte realistischen Erzählanlage, verbindet sich mit dem
Versuch, aus der Ideengeschichte – Ethik, Religion, Aufklärung, Klassik –
Antworten auf die Fragen der Zeit zu finden. Das Zitat oben zum Vater steht
im Kontext der Gerichtsverhandlung, in der es um Raubmord am Priester in
der Kirche geht, um die ‚Ruchlosigkeit‘ zu steigern. Während er zum Tode
verurteilt wird, erhält seine Frau Barbara zehn Jahre Kerker, da er sie der
Mittäterschaft beschuldigt, wozu sie schweigt. Deutlich markiert ist hier ihre
bloße, erstarrte, „an Wahnsinn grenzende“ Angst vor dem Mann (Gk, S. 8),
die sich im irrenden Blick verdichtet:307
306 Erkennbare literarische Verschiebungen seien dabei vorausgesetzt. Die Ausgangsituation ist
zwar deutlich gesteigert, die ‚Milieus‘ sind aber analog. Neu ist hier etwa die Kinderarbeit,
dominant bleiben Armut und Alkoholismus.
307 Beobachtet wird eine angstgetriebene menschliche Existenz, wie sie der existentialistische
Kontext entfalten wird.
2.2 Ebner-Eschenbach 167
308 Diese Auseinandersetzung betraf noch in jüngerer Zeit das darstellende Spiel als ‚Verdoppe-
lung der Realität‘, die heute sozusagen geschlossenen Diskussion über die Unmöglichkeit,
die ‚Realität des Leidens‘ auf die Bühne zu bringen. Lehmann argumentiert in diesem Kon-
text, es müsste dazu u. a. auch die bloße Dauer der Ereignisse dargestellt werden, wobei
noch dann, in Fortschreibung von Autonomieästhetik bzw. Selbstreferenz, Repräsentation
ausgeklammert würde: „Worauf es ankommt, ist der Umstand, daß Dauer hier nicht etwa
Dauer abbildet. […] Theater referiert vielmehr auf seinen eigenen Prozess“ (Lehmann 2011,
S. 332).
309 Das für die Entstehungszeit bezeichnende Verfahren ‚realistischen Erzählens‘ läuft nicht
einfach aus, sondern bleibt in Variationen weiter präsent: mit veränderten Darstellungswei-
sen, Kontexten und literarischen Ansprüchen. Die naturalistische Figurenführung, wie pro-
minent in Hauptmanns Die Weber, droht ebenso ins ‚Idealtypische‘ zu kippen wie der ex-
pressionistische Mensch, die proletarischen Helden oder B. Travens Geknechtete. Das Ende
des psychologischen Romans bei Broch meint dessen Scheitern im 19. Jahrhundert. Der (li-
terarische) äußere Blick auf die Subalternen bleibt Diskussionspunkt. Zu beachten ist aller-
dings der hegemoniale Wechsel zur Selbstaussage der Betroffenen – mit changierender Po-
sition zwischen Ich und Wir – und zu indirekten, problematisierten Darstellungen im Über-
gang zur Moderne (s. die Abschnitte C und D).
310 Ebner-Eschenbach ist die Problematik realistischen Erzählens durchaus bekannt, wie die
Rahmenhandlung zur zeitnahen Erzählung „Er lässt die Hand küssen“ (1886) zeigt (s. u.).
Man vergleiche etwa folgende Stelle, wo auf die Schilderung der Scham Mischkas von der
Zuhörerin entgegnet wird: „‚Es ist doch stark, dass Sie jetzt gar in der Haut Mischkas stecken
wollen!“, fuhr die Gräfin höhnisch auf“ (Ebner-Eschenbach 2001b, S. 36). Der intradiegeti-
sche Erzähler hatte sich davor als „ein bisschen Maler, ein bisschen Dichter“ geschildert, der
„aufs Haar genau [wisse], wie sie [die Beteiligten] sich in einer bestimmten Lage benommen
und ausgedrückt haben müssen“ (ebd.).
311 Positive Figuren gibt es dabei kaum; wenn überhaupt, dann sind dies die drei leidenden
Holubs, die sich aus ihrem Elend je unterschiedlich herausarbeiten (s. u.).
168 B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte
ihren Umgang mit dem bereits länger bestehenden Problem der (fehlenden)
Autonomie der Helden betrifft; man könnte auch von einem Rettungsver-
such sprechen.312
Während die Mutter, wie hier ausführlich skizziert, in der Ausgangsszene als
stumm markiert ist313 und von der Erzählerstimme im wörtlichen Sinne
beschrieben wird, mutiert sie am Ende des Romans zur Schiller’schen Hel-
din, die ihre oben skizzierte Situation der Ausweglosigkeit rückblickend als
autonome, rationale Entscheidung markiert. Sie spricht mit „unerschütterli-
cher Ruhe“,314 differenziert zwischen der Barmherzigkeit Gottes und seiner
Gerechtigkeit, wobei ihr letztere zukomme, da sie dem am Altar geleisteten
Schwur, dem Manne untertan zu sein, Folge geleistet habe, und endet mit
den Worten: „Ich hätte dir nicht über die Schwelle treten sollen, bevor ich zu
dir gesagt hätte: Ich bin unschuldig verurteilt worden, Sohn.“ 315 In der un-
mittelbaren Gegenüberstellung ist das Aufeinanderprallen verschiedener
literarischer Codes nur schwer zu übersehen.316 Ebner-Eschenbachs Ver-
such, Schillers Erhabene zu familiarisieren317 und vom sozial hochstehenden
Helden auf die unterste Klasse zu übertragen, ist eines der konstitutiven
Elemente des Romans.318 Spezifisch ist sicherlich, dass die angestrebten
idealen Auswege – sie sucht nach einer Lösung im Sinne der Handlungsmög-
lichkeit im ‚Milieu‘ – sie nicht daran hindern, soziales Elend, Entfremdung,
Ausweglosigkeit und Gewalt gegen Einzelne oft schärfer in den Blick zu
nehmen, als dies in vielen der Aufzeichnungen des von ihr ironisierten blo-
ßen realistischen Pinsels der Fall ist.319
320 Christliches Denken bleibt im Mittelpunkt. Der Text richtet sich gegen Kälte, Unmenschlich-
keit und fehlendes Verständnis der eigenen Taten. Durchgängig ist die Kritik an christlichen
Institutionen, positiv genannt werden die „ethical societies“. Ethische bzw. moralisch-
religiöse Maßstäbe bilden einen bedeutsamen Hintergrund. Miladas Position ist in der
Spannung zwischen dem eigenen ‚Verbrennen‘ am unverständigen Klosterbetrieb (Burn-
out) und ihrer positiven Wirkung auf Pavel. Vgl. auch die höhere Macht, die Pavel fühlt: ein
inneres Erlebnis als Antwort auf tiefste Verzweiflung (Gk, S. 26).
321 Vgl. Pavels ideal skizzierte Bindung an Milada, die sich zur abschließenden Bindung an die
Mutter erweitert. Familiale Rollen sind durchwegs als natürliche nahe gelegt, was zeitge-
nössischen Konstrukten entspricht. Allerdings sind diese in eine ‚Sozialstudie‘ integriert und
das Familiensystem wird am Eingang des Textes aufgerissen. Die Schreckensfigur des nur
äußerlich beschriebenen Vaters als Verursachers des Elends, von Milada in ihre Gebete ein-
geschlossen, bleibt aus der Text- und Figurenentwicklung ausgeklammert.
Die hohe Arbeitsethik Pavels fungiert als Antwort; Hintergrund ist die Selbstdisziplinierung,
die im Gemeindekind mit zugeschriebener körperlicher Stärke korrespondiert. Bildung ist
zumindest in Ansätzen thematisch, wenn Pavel lesen lernt und die ihm vom Lehrer überlas-
senen Bücher durcharbeitet.
Pavel überwindet die soziale Misere durch bürgerliche Tugenden wie Familienbezug, Arbeit
und (partiell) Bildung (vgl. Becker 2003, S. 263), wenngleich er aus allen Klassen ausge-
grenzt ist. Zu diesen kommen (unmittelbar kompatible) ins Ethische gewandelte christliche
Tugenden.
322 Dabei geht es um Aufhebung des ‚Selbst-Ausschlusses‘, der auf dem Bruch zur Gesellschaft
basiert, verbunden mit dem Hass auf die anderen und die Erinnerung an deren Untaten.
323 Damit ist ein weiterer Anknüpfungspunkt zur Aufklärung im Sinne Rousseaus gegeben. Die
Natur Pavels ist von Anfang an als reich gesegnet beschrieben (vgl. Gk, S. 19), seine Defor-
mation als Gemeindekind ist ein sozialer Akt der „Verwahrlosung jeglicher Art“ (ebd.); seine
Natur (i. e. Kraft) wird zum Faktor dagegen, ebenso wie sein langsam anwachsendes Wis-
sen, das aufgrund fehlender Bildung, die er mühsam aufzufüllen versucht, beschränkt bleibt.
Vgl. auch die Frage der Baronin: „und wie kommt das Kind dazu, bei euch zugrunde zu ge-
hen?“ (Gk, S. 8). Sie selbst ist keine positive Figur, im Unterschied zur Judenbuche, wo der
Gutsherr noch als Zusammenhalt fungierte. Der Bruch im Gesellschaftsvertrag Rousseaus ist
offensichtlich.
170 B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte
Wenn der Titelheld vom Bewusstsein unauslöschlichen Hasses auf die ande-
ren, aus dem er seine Kraft zieht (vgl. Gk, S. 47), zum Ausgraben des Steines
geführt wird, in dem sich eben dieser Hass materialisiert hatte, 324 so soll er
damit den Prozess des Romans schließen, die Bindung an die Erinnerung
lösen und zum Vergessen voranschreiten. 325 So eindeutig ist die Sache aber
nicht. Neben dieser christlichen Erzählung des Vergebens sind stets andere
Beobachtungen zur anhaltenden Verwundung Pavels präsent, 326 die sich im
Doppelspiel mit dem Lehrer entfalten. 327 Dieser versteht die „Fülle des
Leids“ (Gk, S. 38) aus sich heraus und verbindet die beiden Wege Miladas
und Pavels: mit ihr teilt er das Burn-out im Sinne einer gescheiterten Ant-
wort,328 mit ihm teilt er die Antwort der Selbstverletzung und Selbstentstel-
lung.329 In der Spannung zwischen Demut/Selbstüberwindung und
Trotz/Hochmut330 neigt er sich zwar Miladas Seite zu, weiß aber auch um
die Problematik, mit der er Pavel konfrontiert und spricht über Latenz bzw.
324 Der vergrabene Stein steht für das Training in der Position der Teilnahmslosigkeit an der
Außenwelt, was als (eben später aufgehobenes) Ziel erklärt wird (vgl. Gk, S. 105) und dient
als Manifestation des Risses. Er ist Symbol im Kontext des Erinnerungsdiskurses, wenn der
(ebenfalls misshandelte) Hund auf ihm liegt, um ihn gleichsam zu beschützen (Gk, S. 155).
Slava hatte ihn einst auf ihn geworfen und er wurde ihm zum Ausdruck des Bösartigen. Als
er sich später in sie verliebt und dann verzichtet, sprechen sie darüber. Kinderhandeln,
meint sie dazu (vgl. Gk, S. 187).
325 Das wäre ein eigenes Thema zum Text, vgl. auch sein vollendetes Vergeben bezüglich Vins-
ka, wenn er die ihm von ihr zugefügten Wunden ‚vergisst‘. Die Spannung aus Festhalten an
Erinnerung und Vergessen als Verzeihen erfolgt im hier so problematischen christlichen
Kontext. Danzer 1997 liest Ebner-Eschenbachs Literatur biographisch vor der Folie des
Verdrängungsparadigmas, was mit einer konkreten Textanalyse schwierig zu verknüpfen
sein dürfte.
326 Der Text schließt auch damit, dass er der einsame Mensch bleibe, zu dem sie ihn gemacht
hätten (vgl. Gk, S. 196), der sich menschlich um die Mutter kümmern wird. Einen Ausblick
auf ein ‚eigenes Leben‘ jenseits der ‚ursprünglichen Traumatisierung‘ gibt es nicht wirklich.
327 Der Lehrer bleibt selbst ambivalent. Nach dem schließenden Gespräch mit ihm wirft Pavel
den symbolisch aufgeladenen Stein ins Wasser.
328 Pavel verbindet das Bild des Lehrers von der Fackel, die an beiden Enden zugleich abbrennt,
mit Milada. Bei ihm (dem Lehrer) führt sie zum Fast-Tod (Trauma), bei Milada zum realen
Tod.
329 Vgl. seine Warnung an Pavel, den eigenen Fehler zu vermeiden und sich nicht zum Ver-
leumder seines Selbst zu machen (Gk, S. 39). In den Aphorismen formuliert sie bereits: „Ge-
brannte Kinder fürchten das Feuer oder vernarren sich darein“ (Ebner-Eschenbach 1988, S.
4) – ihre Texte erzählen stärker vom zweiten Teil und der versuchten Auflösung. Über
‚Traumatophilie‘ weisen sie stets hinaus, denn sie beobachtet anders.
330 Milada beschreibt die unterschiedlichen Wege der beiden Geschwister als solche von Demut
und Trotz: ein doppeltes Still-Sein (vgl. Gk, S. 61).
2.2 Ebner-Eschenbach 171
Fernwirkung: „Jetzt kriegst du die Wunden erst, aber du spürst sie noch
nicht oder oberflächlich, vorübergehend; warte, bis sie sich werden einge-
fressen haben“.331
Der Lehrer Habrecht tritt aber nicht nur als derjenige auf, der aufgrund des
Mehr an Erfahrung sein Wissen weitergeben kann, sondern durchläuft
ebenfalls einen entscheidenden Prozess, der sich für die Versetzung aufzei-
gen lässt: die Problematik, im alten System neu anzufangen, wenn das
Trauma als Stigma mitreist, wofür sein Scheitern an der neuen Stelle steht:
Ja, es war ein Irrtum gewesen, das mit dem Glauben an die
neue Lebenssonne, die ihm in dem neuen Wirkungskreise auf-
gehen würde. Die Gespenster der toten Vergangenheit huschten
nach in die lebendige Gegenwart und richteten Verwirrung und
Hader an, wo Klarheit und Frieden herrschen sollten.
(Gk, S. 166)332
Für die Zeitstruktur scheint im Zitat die Kehrseite der Medaille auf. Wäh-
rend die Latenz auf die Fernwirkung traumatischer Ereignisse vorausweist,
ist hier das Thema der Präsenz angesprochen, wie es im Diskurs zu „Ver-
gangenheit in der Gegenwart“ verhandelt wird. 333 Die Verbindung zum Er-
innerungsdiskurs334 wird im Text als Möglichkeit diskutiert, die mit Effi
Briest zumindest korrespondiert: „Die Erinnerung bildete die unüberbrück-
bare Kluft zwischen ihm und denjenigen, mit welchen Frieden zu schließen
seine liebsten Menschen ihn beschworen.“335 (Gk, S. 179)
Für Pavel ist Lehrer Habrecht ebenso wie Milada allerdings nicht nur Orien-
tierungspunkt, sondern auch Aspekt seiner Isolation. Wenn er sich treulos
verlassen fühlt, „macht [das] all seine Güte und Freundschaft schattenhaft.“
(Gk, S. 128) Die letzte Begegnung und das Überdauern der Beziehung in den
Büchern vermögen die (leichte) Ambivalenz nicht ganz zu schließen, aus-
schließlich positive Beziehungen sind in der Textwelt des Gemeindekinds
nicht möglich; Habrecht ist kein ‚Weiser‘, der selbst die Problematik über-
wunden oder eine schließende Form, mit ihr zu leben, gefunden hätte. 336
Der Tod im Leben, der im Zitat ebenfalls anklingt, ist als Christusfiguration 337
ausgeführt, die als weltliche Geschichte im Kontext des Traumas neue Sym-
bolkraft erhält. Auf dem gewünschten Weg zum Professor war Habrecht
ausgebrannt – Skizze für seine Verbindung zu Milada, die an ihrer Auszeh-
rung sterben wird (s. o.) – war über drei Tage [!] im Sarg in der Leichen-
kammer gelegen und von dort wieder zurückgekehrt. Über die Vorurteile
der Anderen, die diese reale Geschichte anders verstehen als die bibli-
könnte, wenn es denn als Möglichkeit gegeben wäre: „‚Ja, Lethe‘, lächelte Wiesike. ‚Schade,
daß uns die alten Schweden, die Griechen, bloß das Wort hinterlassen haben und nicht zu-
gleich auch die Quelle selbst“, (Fontane 1969, S. 319) worauf Herr von Briest eine „Verges-
senheitsquelle“ imaginiert (ebd., S. 320).
336 Der Text strebt zwar zu (nicht wirklich funktionierenden) Lösungen hin (vgl. etwa die
Position der Mutter am Ende), bleibt aber auch dem Konzept einer gewissen Anti-Idylle
verhaftet, mit kritischem Blick, wo Lösungen banalerer Dorfgeschichten (gemäß Deus-ex-
machina) insgesamt vermieden werden. Habrecht wird allerdings in Nähe zu einer solchen
von einem Freund (möglicherweise) ‚gerettet‘. Im Nachwort wird er nicht zu Unrecht als
Beispiel für die Einzelnen genannt, die hilfreich eingreifen können: „Nur Individuen können
Entwicklungsförderer sein. Das ist eine Botschaft“ (Rossbacher 2009, S. 215). Er steht für
den Übergang vom religiösen zum ökumenisch-ethischen System und dabei auch gegen auf-
kommende Nationalgefühle: das menschliche Leid insgesamt (buddhistisch gedacht) trennt
im Sinne Habrechts nicht zwischen Nationen. Dass bei Eber-Eschenbach französische und
russische Literatur und Kultur ebenso immer wieder durchscheint wie die tschechische
Sprache, passt in dieses Bild. Das Thema der ländlichen Anti-Idylle reicht in der österreichi-
schen Tradition von Ebner-Eschenbach über Franz Innerhofer (s. u.) bis zu Michale Hanekes
Weißes Band.
337 Friedhelm Marx verfolgt Christusfigurationen durch das Werk Thomas Mann und bringt sie
in eine doppelte Verbindung zu Nietzsche: „Einerseits ermöglicht Nietzsches psychologische
Demaskierung des asketischen Priesters, jede Heilandsattitüde auf Herrschsucht und
Ressentiment zurückzuführen, andererseits liest Thomas Mann Nietzsches briefliche Identi-
fikation mit dem Gekreuzigten als Indiz einer absichtsvollen ‚Selbstkreuzigung‘ und Imitatio
Christi (Marx 2002, S. 14, Herv. im Orig.). Die Moderne wird im literarischen Künstlerdis-
kurs immer wieder auf diese Fragen fokussieren. Ebner-Eschenbachs Text beschäftigt dage-
gen das ‚Traumatische‘ des Zwischenzustands, v. a. im sozialen Kontext der Ablehnung und
Stigmatisierung der Traumatisierten (s. u.).
2.2 Ebner-Eschenbach 173
sche,338 wird es heißen: „‚Wo hat sich seine Seele aufgehalten, während die-
ser drei Tage? Aus welchem grauenhaften Bereich kommt sie zurück? …‘
sagten sie.“ Er selbst, als „armer zugrunde gerichteter Mensch“, habe dem
Aberglauben nicht widersprochen und sei so zum „Verräter an der eigenen
Sache“ geworden.339 Diese Stelle kreist auch um die Spannung zwischen Tod
und Leben,340 woran auch das Bild des abgestorbenen Astes anschließt,
wieder im Sinne des ins Leben greifenden Todes, bei dem die Bezüge letzt-
lich offenbleiben.341
Die Erde als „Stätte der Drangsale“, wo „jeder Mensch ein mehr oder minder
schwer Geprüfter“ ist (Gk, S. 166), kann als Antwort im Sinne der Verallge-
meinerung bzw. Ausdehnung traumatischer Erfahrungen gelesen werden.342
Die Aussage fällt nicht zufällig im christlichen Kontext, der sich auf die
ethisch-ökumenische Position erweitert und von den aufstrebenden Natio-
nalgefühlen abgrenzt: Das allgemein menschliche Leid – nicht nur bei Scho-
penhauer auf buddhistischer Folie entworfen – wird zum einheitsstiftenden
Prinzip. Durch das individuelle Leid hindurch soll das allgemeine erkennbar
werden.
Habrechts Verständnis für Pavel ist von seiner eigenen Situation aus ent-
worfen, ihm ist es ein Anliegen, die „Quintessenz [s]einer Erfahrungen“ (Gk,
S. 166) weiterzugeben. Es wird hinreichend klar, dass eben dies nicht un-
mittelbar möglich ist. Ein Teil des Reizes des Textes ist diese Konstellation
mit ihren vielfältigen Spiegelungen, Milada einschließend, in der keine der
Antworten einen sich schließenden Modellcharakter erhält. Der Traurigkeit
Pavels gegenüber bleibt Habrecht relativ unverständig, wenn er sie als „Stil-
338 Das Missverhältnis zwischen der Interpretation biblischer Erzählungen und analoger realer
Ereignisse ist selbst ein Topos, der für den hier interessierenden Zeitraum von den Nacht-
wachen. Von Bonaventura bis zu Musils Tonka reicht, wo er jeweils ein zentrales Thema
ausbildet.
339 Alle Zitate Gk, S. 115.
340 Mit dieser schon öfter genannten ‚Traumametapher‘ geht es auch um das fortlaufende
Eindringen des ‚Toten‘ in das ‚Lebendige‘ oder, in davon differenter zeitlicher Strukturie-
rung, um dessen Präsenz.
341 Vgl. Gk, S. 137 f. In seiner Imagination verbindet Pavel den Anblick eines abgestorbenen
Astes mit einem „Zeichen schweren Siechtums“, und zwar „an dem blühenden Leib eines ge-
liebten Wesens“ (Gk, S. 138), wobei der Referent unbestimmt bleibt: Er selbst? Habrecht?
Milada? Oder gar Vinska? (Er sieht das Bild in dem Moment, in dem er sich von Vinska be-
freit, der er in eigenwilligem, aber durchaus realistisch geschildertem Zwang zugetan war).
342 Siehe dazu Abschnitt A, vor allem den Diskurs zur Singularität. Die Verallgemeinerung
traumatischer Erfahrungen – jeder kenne etwas Trauma – ist Teil der christlichen Konzep-
tion oder Antwort auf traumatische Erfahrungen. Für die Psychotraumatologie wird das
Verschwinden traumatischer Erfahrungen in einem allgemeinen Kulturbegriff des Traumas
diskutiert, zuerst wohl von Weigel 1999 gegen Caruth argumentiert (s. o.).
174 B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte
le“ und „Tod“ gegenüber der Heiterkeit als „Regsamkeit, Bewegung, Leben“
markiert (Gk, S. 168), während die Textbewegung selbst die grundlegend
traumatische Bedeutung dieser Emotion Pavels erarbeitet.343 Auch Miladas
und Habrechts gegenüber Pavel geäußerte Aufforderungen zu Demut,
Selbstüberwindung und Vergessen sind zwar textkonstitutiv, aber nicht mit
einer Textaussage zu verwechseln. Wenn es etwa im Text heißt, „Pavel wur-
de nur stiller, trauriger“ (Gk, S. 123), so ist damit die Fortsetzung des Aus-
schlusses, des Stigmas, formuliert, die sich an dieser Stelle mit dem Lehrer
verbindet.344 Dessen zumindest vorübergehende Aufhebung, wenn er für
einmal die Akzeptanz des Dorfes gegenüber ihm selbst, dem Gemeindekind,
erfährt, wird sich zeitlich mit dem Tod der Schwester verknüpfen, was wie-
derum einer zu idyllischen Version oder Lesart im Sinne von permanenten
Erschütterungen und deren letztlicher Überwindung widerspricht.345 Dass
er den radikalen Bruch zur Gesellschaft löst, was durch das Ausgraben des
Steines symbolisiert ist, lässt vieles offen, 346 was in etwa der Situation am
Ende der Erzählung Die Spitzin entspricht (s. u.).
Ein im Text aufscheinender Widerspruch ist anhaltend. Habrecht zielt mit
seinen Erfahrungen ins Allgemeine, das allgemeine Leid wäre, wie gesagt,
durch das individuelle hindurch zu erkennen. Pavel ist allerdings als Held
bereits so weit in die Rolle des Außenseiters geschrieben, als sogenannter
„Geringster“ jenseits der gesellschaftlichen Dynamiken positioniert und in
343 Hier durchaus auch als Synonym für einen Bereich, der mit traumatischen Erfahrungen und
deren Folgewirkungen aufgefasst werden kann. Pavels Antworten scheinen teils wie Trai-
ningsprogramme der Selbst-Isolierung und der Monotonie: „Nichts vermochte die Gleich-
förmigkeit seiner Lebensweise zu unterbrechen, nichts ihm eine Teilnahmsäußerung für die
Vorgänge in der Außenwelt zu entlocken“ (Gk, S. 105).
344 An diesem Prozess äußert der Text, zumindest aus der Erzählerposition, leise Kritik: „Und
Habrecht, mit dem Egoismus des Kranken, der keine Sorge aufkommen läßt als die um seine
Genesung, wollte nichts wissen von dem Kampf, der sich hinter Pavels anscheinender Ruhe
verbarg;“ (Gk, 123). Die Situation ist folgende: Habrecht will ihn mit Rücksicht auf seine
neue Stelle, aus Angst um seinen Ruf, nicht mitnehmen. Seine Hoffnungen werden sich als
illusorisch erweisen, der Ausgang seines nächsten Projektes (Ethical Society) ist ebenfalls
nicht gesichert. Pavels Antwort ist auch hier: ein arbeitsvolles Leben (vgl. ebd.). Milada als
einzig ihm familiär Nahestehende wird sich, aus seiner Sicht gesehen, ebenfalls ‚bereitwillig‘
von ihm abwenden (vgl. Gk, S. 157).
345 Das Ende, also das Leben mit der zurückgekehrten Mutter nach dem Verzicht auf Slava,
bleibt zumindest im Rahmen der Traurigkeit, trotz oder vielleicht auch wegen der oben
ausgeführten Anklänge ans Erhabene.
346 Eine Frage ist: Was bleibt für Pavel am Ende? Die „klaglose Entsagung“ der Aphorismen
(Ebner-Eschenbach 1988, S. 4)? Ihm, dem duldenden Körpermenschen, gegenüber steht
Amérys Lefeu als Intellektueller, der Widerspruch einlegt. Gemeinsam ist den literarisch so
unterschiedlichen Figuren ein ‚Graben‘ zur sozialen Welt, der sich nicht überbrücken lässt.
2.2 Ebner-Eschenbach 175
eine singuläre Position gerückt, dass seine Erfahrungen des radikalen Aus-
geschlossen-Seins durchaus nicht die der anderen sind.347 Im Sinne der Fra-
gestellung formuliert, geht es um das Singuläre der traumatischen Position
als Erfahrung, die den Bruch zur Gesellschaft bedingt, 348 die eben durchaus
nicht allen zukommt vs. den ins Allgemeine ziehenden Anspruch, wie er sich
u. a. in der Rede von traumatisierten Gesellschaften oder in generalisieren-
den Theorien zu Trauma manifestiert. Letztlich geht es um die Frage des
Traumas als ‚Symbol‘, die gerade für die Moderne virulent werden wird.
Die Spitzin
347 Das Verständnis der Betroffenen füreinander ist im Text ebenso ausgearbeitet wie die
Differenzen, auch die Pavels zu Milada, was eben auch zur Qualität zählt. Die deutlich sicht-
bare allgemeinere Thematik betrifft die weit reichenden Konsequenzen von sozialem Aus-
schluss und Rechtlosigkeit.
348 Zum doppelten traumatischen Riss s. Abschnitt A.
349 Der Vorname ist eine Abkürzung von „provisorisch“ sowie zugleich eine Art Missverständ-
nis.
350 Ebner-Eschenbach 2001a, S. 19.
351 Vgl. die Differenz zum traditionellen Herkunftsdenken, musterhaft in Hardys Tom Jones, wo
auf alte Topoi zurückgegriffen wird, aber auch noch in Oliver Twist grundlegend. Der lange
Prozess bürgerlicher Umdeutung der Herkunftsnarrative zeigt sich besonders deutlich im
Aschenputtel-Stoff, und zwar im Übergang von Basile Version zu der Perraults. Bei Basile ist
die Protagonistin noch aufgrund ihrer reinen Herkunft ‚tugendhaft‘, und zwar völlig unab-
hängig vom realen Verhalten, was sich bei Perrault und den Brüdern Grimm in Richtung
‚bürgerlicher Tugenden‘ verschiebt.
176 B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte
Im rezeptiven Raum steht in der Folge das Bild der eigenen Mutter des Pro-
vi, die eben keine ‚Spitzin‘ war, ohne dass der Vergleich expressis verbis
durchgeführt würde oder die Innenwelt materialisiert würde. Die Beobach-
tungen bleiben von außen durchgeführte. Wenn die sterbende Spitzin Provi
ihr letztes Junges ‚übergibt‘, wird dieser sich überwinden, Hass und Isolati-
on durchbrechen und um Milch bitten. Dies geschieht aus der durch das
Experiment gewonnenen (unbewussten) Erfahrung heraus, womit, so wird
impliziert, eben die Erfahrung der Deprivation nicht weitergegeben, son-
dern tentativ (und vielleicht auch nur momenthaft) aufgefangen wird. Der
Riss zwischen depriviertem, ausgegrenztem Subjekt und versagendem Sozi-
alsystem wird dadurch nicht geschlossen, Ebner-Eschenbachs Mischung aus
Tiergeschichte und psychischer Studie zu einem Feld, das heute als Depriva-
tionstrauma gefasst würde, fokussiert auf ein Moment, ohne dass die Aus-
gangslage durch einen künstlerischen Trick aufgehoben würde. 354
352 Vgl. den zeitgenössischen Einfluss von Zolas 1880 erschienene Studie Le Roman expérimen-
tal (Zola 2014).
353 Wie Pavels Hund spiegelt auch die Spitzin die Situation des Protagonisten (vgl. Ebner-
Eschenbach 2001a, S. 21).
354 Im Vergleich etwa zu Hoffmanns Sandmann ist in Die Spitzin Trauma selbst wenig präsent
bis abwesend, die traumatische Situation dafür umso deutlicher ausformuliert, wie dies für
Realismus und Naturalismus insgesamt bezeichnend scheint.
2.2 Ebner-Eschenbach 177
355 Das alte Umdeuten der Herkunft (Adel und Bürgertum) durch eine überraschende Wendung
(vgl. etwa den eben erwähnten Tom Jones als Muster) wird von der Gegenrichtung aus beo-
bachtet. Die Spannung ist die zwischen Geschäftswelt und Kunst.
356 Vgl. etwa folgende Stelle, die bis ins Detail unmittelbar von Kafka stammen könnte: „Ein
paar Tage darauf trat der Sekretär meines Vaters zu mir auf die Stube und kündigte mir an,
dass ich das elterliche Haus zu verlassen hätte“ (Grillparzer 2002, S. 30). Oder die Frage des
Rahmenerzählers: „Der Einflussreiche, der Mächtige, sein Vater?“ (ebd. S. 17). Kafkas hohe
Wertschätzung des Textes ist bekannt und bis auf den Klappentext der Reclam-Ausgabe
vorgedrungen.
357 Grillparzer übernimmt zwar die spätestens mit dem Werther etablierte Spannung (s. o. zu
Tasso), verändert sie aber radikal, indem der Spielmann eben keinem Typ mehr zuzuordnen
ist, teils wie eine ‚Karikatur‘ gefasst ist, radikal isoliert und ‚entfremdet‘ bleibt und die Kunst
als internalisierte nicht nur keinen Ausdruck findet und keinen Applaus, sondern auch inne-
ren, unzureichenden Regeln unterworfen ist, indem er etwa aus Respekt jede Note der ‚gro-
ßen Komponisten‘ nachzuspielen versucht und dabei technisch das Tempo radikal verfehlt.
Ihm bleiben die Routine (Ordnung seines Zimmerteils, strikter Tagesablauf) und die
Menschlichkeit in einer ‚kalten Umgebung‘, die er gerade angesichts der katastrophalen
Überschwemmung der Leopoldstadt zeigt (vgl. ebd., S. 46 f.).
358 Bei Ebner-Eschenbach sind die Väter wiederholt die ‚elenden Wichte‘, d. h. eher Ungeheuer
als übermächtige Figur.
178 B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte
359 Einzelne Punkte werden im Spiel Brochs mit dem Realismus im zweiten Teil der Schlaf-
wandler-Trilogie gespiegelt, wobei dies im starken literarisch-technischen Gegensatz zum
Gemeindekind innerhalb einer Verweisstruktur passiert und etwa die Herkunft des Protago-
nisten Esch einen Hintergrund des Romans bildet, der nicht mehr ausgemalt wird (s. u.).
360 Vgl. das prägende ‚soziale Umfeld‘, das in der Judenbuche bereits aufscheint, im Gemeinde-
kind ausgefaltet ist und worauf dort eben bereits eine Antwort gesucht wird. Menschen
werden zunehmend zu gewordenen, geprägt durch die Umwelt bzw. das naturalistische Mi-
lieu. Der lange Atem dieser Diskurse zeigt sich heute in der Notwendigkeit, die neuen
Psychomechaniken eines essentialistisch verstandenen Traumabegriffs zu durchbrechen,
naturgemäß mit anderen Mitteln. Traumatisierte sind eben nicht nur dem Trauma Unter-
worfene, wogegen sich prominent Jean Améry und Ruth Klüger zu Wehr setzten (s. o.). Der
historische Prozess der Umstellung vom Herkunfts- auf das Karrierenschicksal– dem die
Kunst formal in der Integration von ‚Neuheit‘ vorauseile (vgl. Luhmann 2007, S. 326) – lässt
sich für viele Texte inhaltlich dann bestätigen, wenn zunächst eine Doppelung angenommen
und ein schrittweises Zurücktreten des traditionellen Herkunftsmythos festgehalten wird.
361 Vgl. dazu Rousseau, der ihn im Gesellschaftsvertrag dringend benötigt, etwas in der Argu-
mentation gegen die Möglichkeit der Sklaverei und für die Freiheit des Vernunftmenschen
mit den charakteristischen „fins de la nature“ (Rousseau 2010, S. 20).
362 Anders formuliert, verschiebt sich die Beobachtung zunehmend von psychologischen zu
soziologischen Fragen. Vgl. zur Rede von der Soziologie als neue (naturalistische) Wissen-
schaft vom Menschen Meyer 2008, S. 25. Zeitnah setzt die zunehmende Desillusionierung
bezüglich der Autonomiefrage ‚neue Heldentypen‘ frei. Becker hält aufgrund der „Crux des
Bürgertums“ – der Autonomiefrage innerhalb einer fremdbestimmten Gesellschaft – für den
Spätrealismus fest: „An die Stelle der bürgerlichen Helden rücken die Außenseiter (Fonta-
ne), die Sonderlinge und die Randexistenzen (Raabe)“ (Becker 2003, S. 229).
2.2 Ebner-Eschenbach 179
fügen wäre, dass in den (hier behandelten) Texten der klassischen Moderne
beides in (wieder) neuer Verschränkung präsent sein wird (s. u.).363
Was Judenbuche und Gemeindekind in der Konstruktion des sozialen Außen-
seiters noch verbindet, ist die Fokussierung auf kindliche Erfahrungen – die
soziale Herkunft als prägendes Umfeld – in desolaten Verhältnissen, die von
Alkoholismus und Armut geprägt sind.364 Der Ortlosigkeit als Teil der sozia-
len Isolierung kommt besondere Bedeutung zu, gerade Ebner-Eschenbach
interessiert sich für Mechanismen der Ausgrenzung und mögliche Antwor-
ten darauf.
Wie sie die Figur des sozialen Außenseiters zur Zuspitzung gesellschaftli-
cher Konflikte verwendet, zeigt sich auch in der zeitnah zum Gemeindekind
entstandenen Meta-Erzählung Er lässt die Hand küssen, in der (gleichsam
literarische) Idylle mit (gleichsam realistischer) Anti-Idylle konfrontiert
wird. Die traumatischen Erfahrungen Mischkas, des Protagonisten der Bin-
nenerzählung, sind dabei ebenso textkonstitutiv wie überbordend: 365 die
sich steigernden Erschütterungen enden mit seinem Tod.366 Der Text aktua-
lisiert die Passionsgeschichte,367 blickt zurück in Unrechtverhältnisse, die zu
363 Ein prägendes Thema des 19. Jahrhunderts ist dieser Übergang zwischen Individuum und
Gesellschaft, der auch in der Analyse immer wieder thematisiert wird (durchgängig bei Be-
cker, deutlich etwa, wenn Kellers Grüner Heinrich in der zweiten Fassung in Bezug auf seine
soziale Referenz rekonstruiert wird, vgl. etwa ebd., S. 192 f. u. S. 195).
364 Vgl. ‚Hunger‘ als wichtiges Thema im Gemeindekind. S. auch Abschnitt A zur Frage von
Armut und Trauma.
365 Die Unschuld des ‚hingerichteten‘ Mischka und die Schuld der anderen wirken ein Stück
weit schematisch; Ungerechtigkeit und Leid intensivieren sich fortlaufend.
366 Die Steigerung der Anti-Idylle erfolgt im Spiegel zur Idylle in der Binnenerzählung: Mischka
wird am Ende vom Totenbett der schwangeren, von seinem gewalttätigen Vater geprügel-
ten (impliziert: zumindest indirekt ermordeten) Geliebten fortgeführt, um ungerechtfertigt
40 Stockhiebe zu erhalten, denen er erliegt, während die Urheberin der Strafe, die Gräfin,
ihr erfolgreiches Schäferspiel (Naturszene) aufführen lässt. Der ‚eigentliche‘ Schäfer, der mit
Frau und Kind deutlich die ausgegrenzte ‚heilige Familie‘ spiegelt, ist natürlich Mischka.
Noch der Applaus zum Schäferspiel bleibt künstlich, die Dichterin ist blind gegenüber den
realen Zustanden: „da mische ich mich nicht hinein“ (Ebner-Eschenbach 2001b, S. 47). Für
den gewalttätigen Vater ist Platz in der Gesellschaft, für Mischka nicht.
367 Die heilige Familie als ausgegrenzte steht im rezeptiven Raum ebenso wie das passive
Erdulden Christi. Hier wird, wie in anderer Form bei B. Traven, das Trauma als Kern des
christlichen Narrativs sichtbar. Dazu zählen u. a. der Riss zu den anderen, die Verbindung
des Bruch mit dem Verkannt-Werden sowie das letztliche Alleine-gelassen-Werden.
180 B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte
368 Der Erzähler bezieht sich am Ende unmittelbar auf seinen aus der Geschichte geläuterten
Umgang mit Mischkas Nachfahren (vgl. Ebner-Eschenbach 2001b, S. 49). Das Ius Gladii wird
als Tyrannei vorgeführt.
369 Für das Gemeindekind wird so deutlich, warum die inneren Gedanken teils zurückgedrängt
sind und der Erzähler sich zumindest ein Stück weit perspektiviert. Eine Lösung, welche die
Moderne hier anbieten wird, ist die über Reflektorfiguren konstruierte Welt, die also nicht
unmittelbar als ‚realistische‘ entworfen ist und so dieses hier bereits deutlich problemati-
sierte ‚Hineinversetzen‘ technisch auflöst. Das sollte im Kontrast von diesem und dem
nächsten Abschnitt deutlich werden.
370 Dass gerade die ‚natürliche Familie‘ Mischkas durch die deformierte Gesellschaft und die
Allmacht der Gräfin Schritt für Schritt zerstört wird, bildet die deutliche Kontrastfolie zur
Aufführung des gräflichen Schäferspiels (s. o.). Der Rahmenerzähler (Graf) wird von der Re-
zipientin (Gräfin) auf den Konstruktionscharakter seiner Erzählung über ihre Vorfahren
hingewiesen. Sie lehnt gerade die Punkte ab, wo er sich in die Figuren versetzt. Allerdings
steht sie auch der „realistischen Erzählweise“ insgesamt skeptisch gegenüber, die sich also
nur durch die „Kriegslist“ durchsetzen lässt. Diese besteht in der Form der Geschichte, über
die das Erzählen möglich wird und Zuhörerschaft gewonnen wird. Ebner-Eschenbach spie-
gelt darin ihre eigenen Versuche, ‚traumatische Ereignisse‘ literarisch zu codieren.
371 Diese Parallele lässt sich eben sehr leicht ziehen; der Weg zu säkularisierten Christus-
Figuren, die durch Außenseitertum und Riss zum Sozialen gekennzeichnet sind, ist in der
Passionsgeschichte angelegt. Die Spannung zur religiösen Gesellschaftsordnung ist seit den
oben diskutierten Nachtwachen nicht mehr steigerbar, sondern nur noch variierbar, d. h. in
neuen Kontexten verhandelbar.
372 Die Struktur einer didaktischen orientierten Meta-Erzählung zu Literatur ist deutlich.
2.2 Ebner-Eschenbach 181
373 Ihre Adeligen sind weit entfernt vom Baron der Judenbuche, interessant sind die kritisch
entworfenen weiblichen Macht-Figuren (Baronin in Gemeindekind, Dichter-Gräfin in Er lässt
die Hand küssen). Außerhalb des Adels sind Frauen deutlich positiver (schematisch: als ‚un-
schuldig‘ Unterworfene in katastrophalen patriarchalen Systemen mit massiver häuslicher
Gewalt) konzipiert.
374 Rossbacher 2009 etwa sieht das Gemeindekind in dieser Spannung: „Der einzelne soll nicht
gelähmt in seinen Verhältnissen stehen, mit der Konsequenz, daß zuerst die Verhältnisse
verbessert werden müßten, bevor ihm Verbesserung und Entfaltung gestattet wären“
(S. 214).
182 B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte
2.3 Der moderne Riss im Subjekt jenseits von Wahn und Erschütterung:
Gottfried Kellers Winternacht
375 Zum Brief siehe oben. Vgl.: „Sie hatte die Situation der ländlichen Unterschicht einfach
früher ausgeleuchtet als die Sozialdemokratie, deren Bemühungen bisher fast ausschließlich
dem Industrieproletariat gegolten hatten“ (ebd., S. 213; vgl. auch S. 218).
376 Die Frage soziologischer vs. psychologischer Motivierung wird eher zur Frage des Verhält-
nisses, vgl. auch das weite Feld der Gruppenpsychologie, die einen anderen Zugangsweg an-
bietet. Vgl. das zunehmende soziologische Interesse an Prozessen der Subjektivierung. Spä-
testens seit dem Musical Hair ist in der populären Kultur die Diskrepanz zwischen politi-
schem Engagement und individueller Lebensführung deutlich.
377 Gerade der sogenannte französische Freudo-Marxismus oder die kritische Theorie haben
erfolgreich versucht, an dieser Schnittstelle zwischen ‚Individuum‘ und ‚Gesellschaft‘ neu
anzusetzen, wobei sich letztere in diesem Kontext an Freuds Unbehagen in der Kultur
(1929) orientieren konnte.
378 Das Gedicht ist vermutlich 1846/47 entstanden (vgl. Kauffmann 1995, S. 999), und zwar im
Zyklus der Neueren Gedichte. Zur Veröffentlichung 1851/54 vgl. ebd. S. 849. In Sautermeis-
ter 2010 wird es im Abschnitt „Naturgedicht und lyrisches Ich“ diskutiert.
2.3 Der moderne Riss im Subjekt 183
tet. Genauer formuliert: Der zweite Aspekt kommt hinzu, der Riss wird als
mögliche Grundkonstitution beobachtbar. Einem beobachtenden Ich tritt
ein Raum des anderen gegenüber.379
Winternacht
Vom Aspekt der Produktion her lässt sich das Gedicht gut in das lyrische
Werk Kellers integrieren: unmittelbar über die Zuordnung zur frühen Na-
turlyrik mit ihrer „Selbstdarstellung des eigenen Ich“,381 in Abgrenzung von
anderen Nacht-Gedichten382 oder im Kontrast zu seinem Abendlied383 oder
379 Man denke daran, dass an Freud (besonders im Kontext der Kränkungen) gerade der Über-
gang zur ‚menschlichen Verfassung‘ neu ist. Das Spezifische, Besondere, des ‚Wahns‘ (aus
dem Trauma) dehnt sich aus.
380 Keller 1995, S. 432 f.
381 Sautermeister 2010, S. 15.
382 ‚Nacht‘ ist hier nicht nur jenseits des ‚Entzündlichen‘ (s. dagegen oben zu Hoffmanns Nacht-
stücke sowie zu den Nachtwachen), sondern auch nur bezogen auf die Winternacht themen-
relevant. Zu Kellers Zyklus Nacht vgl. ebd., S. 9.
383 In Tradition der Abendlieder entfaltet sich dort eine radikal positive Stimmung mit sich
schließendem Subjekt.
184 B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte
Konjunktiv bezogen werden kann (s. o.), unwiederbringlich verloren ist, was natürlich nicht
heißt, dass es danach keine Versuche mehr gegeben hätte, sie herzustellen. Die moderne
Subjektproblematik wird hier aber deutlich festgeschrieben.
387 Durch die letzten beiden Verse ist der Bezug auf das Innere garantiert, selbst wenn die
40 sowie mit Bezug auf Edgar Allan Poes Ligeia Schmitz-Emans 2003, S. 226 f. Ihr Thema
sind ‚Grenzgänge‘ zwischen Leben und Tod; an dieser Stelle diskutiert sie die Unschärfe im
Sinne der Auflösung der Grenze.
389 Zu diesen Fragen, einschließlich der ‚Triebregulierung‘, konnte die psychoanalytische Litera-
turwissenschaft entscheidend beitragen, wozu der typische phallische Baum, der selbst bei
Sautermeister vorkommt, allerdings wenig beiträgt, da dieser wiederum genau die Bedeu-
tungsproduktion und das komplexe entstehende Bild simplifiziert. So könnte der Baum der
Winternacht mit vielleicht mehr Gewinn für das Gedicht als Ausdruck für inneres Leben ge-
lesen werden, das an der Grenze zur Reflexion abstirbt. In jedem Fall kann ein sich öffnen-
der Bedeutungsraum beobachtet werden, der Prozesse der Subjektivierung und ‚mehrfache
Zeitordnungen‘ umschließt. Schmitz-Emans etwa fokussiert – innerhalb ihrer eigenen The-
matik innerer und äußerer ‚Fremde‘ – auf Kommunikationslosigkeit und, mit Referenz auf
die Darstellung in Kaiser 1996 (S. 272), auf die Selbstentfremdung des Ich (Schmitz-Emans
2003, S. 225).
2.3 Der moderne Riss im Subjekt 185
hier als Desiderat festgehalten werden, die vorliegenden Analysen, die naturgemäß immer
wieder auf psychoanalytische Konstrukte zurückkommen, stärker aus dem Blickwinkel des
Traumadiskurses und jenseits von reduzierten biographischen Fragen zu reflektieren.
Muschg 1990 spricht bezogen auf Kellers Jugend vom „verschwiegenen Totenreich seines
Un-Lebens“ (S. 148), mit ‚Seldwyla‘ als Totenstadt. Sautermeister stellt diesen Ansätzen an-
dere Erfahrungen Kellers entgegen.
393 Die hier relevante, antithetische Struktur ist insgesamt bekannt und in Sautermeister 2010
Begriff des Erstarrens, der hier natürlich nahe liegt, sowie die Aspekte von Abbruch, Blo-
186 B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte
noch mit dem Bild der Melancholie aufzufangen wäre, ist neben den oben
geschilderten Aspekten der Zeitverhältnissen und des Bewegungsabbruchs
gerade dieses Erstickte ein Hinweis, dass in diese allgemeine Subjektspal-
tung traumatische Inhalte eindringen. Was das symbolisch aufgeladene
dunkle Gesicht ist, das der Schönheit gegenübertritt oder auch: ihr Antlitz,
ihren Kern, bildet, und das beobachtende Ich über die Zeit hinweg gefangen
nimmt, bleibt letztlich offen.396 Die analytische Reflexion des Anderen des
Ich wird sich zur Methode der Psychoanalyse entwickeln. Während das
Gedicht sich fraglos aus dem Gesichtspunkt des Verdrängungsparadigmas
mit Gewinn lesen lässt, verdeutlichen die ausgeführten Punkte doch, was
durch Einbeziehung des Traumadiskurses sichtbar wird. 397
Während gerade die Tradition der Abendlieder von Matthias Claudius über
Eichendorff in ihrer Naturbetrachtung Geschlossenheit und Lösung gedank-
lich anzubieten und harmonisch darzustellen vermag, tritt dem mit Kellers
Winternacht ein neuer, beunruhigender Aspekt entgegen, der unmittelbar
signifikant für diese Studie ist.
Claudius’ „Kalt ist der Abendhauch“ wird zurecht als nur leise unheimlich
markiert, die Natur ist nur vorsichtig aus dem theologischen Rahmen des
Gebets gelöst.398 Bei Eichendorff löst die Betrachtung des Ich die selbständig
gewordene Naturbetrachtung ab und endet in dem (eine absolute) Einheit
schaffenden „nach Haus“, das in der romantischen Symbolik bekanntlich den
ckade und Ohnmacht, wie sie in der Psychotraumatologie diskutiert und dokumentiert wer-
den.
396 Die Rede über „die sexuelle Wunsch-Angst des Mannes“, wobei „die Angst jegliche Annähe-
rung verhindert“ (Sautermeister 2010, S. 25) erscheint doch verkürzt, wenn dies den ‚Kern‘
des Gedichtes repräsentieren soll. Sie trifft sich mit der erwähnten Deutung des Baums als
Phallus-Symbol. Das ist allerdings keinesfalls typisch für Sautermeisters Analyse, die sich
zwischen den von ihm genannten Polen moderner Welterfahrung und poetischer Realismus
öffnet, auch indem sie Verbindung zu den Traumbildern des Grünen Heinrich herstellt, wo in
einigen eingefügten Gedichten „einem existentiellen Leid Raum gegeben“ wird (ebd., S. 146,
vgl. auch S. 22.). Wichtig ist hier auch die Entstehung des Gedichts (vgl. zur Textgenese ebd.,
S. 18). Der Schlussvers der entfallenen Schlussstrophe: „Wie wenn ich die eigne Seele seh“
hätte das Spiel der Bedeutung enorm verkürzt (vgl. Kauffmann 1995, S. 999). Es geht um
Verfahren zur ästhetischen Präzisierung (s. analog dazu D 2 zu Thomas Bernhards Die Ursa-
che).
397 Trauma- und Verdrängungsparadigma sind hier ungewöhnlich nahe, was u. a. durch das
offen bleibende Bild bewirkt ist.
398 Vgl. Claudius 2015.
2.3 Der moderne Riss im Subjekt 187
Begriff des Todes umschließt (s. o.).399 Auch Homburg hatte seine (hart er-
rungene) Einheit (Todesbereitschaft) in dem Vers: „Ich will zu Hause sie ins
Wasser setzen“ (SWB 2, Vs. 1845) formuliert (s. o.). In Kellers eigenem
Abendlied wird all dies noch einmal aufgegriffen, um in die beiden trium-
phalen Schlussverse zu münden: „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, /
Von dem goldnen Überfluß der Welt“.400
Seine Winternachts-Nixe dagegen ist eines der ersten Zeichen für den irre-
versiblen Bruch im Subjekt, der auch von einer Geschlossenheit im Tode
nicht mehr aufgehoben werden kann. Was heißt dabei irreversibel? Sicher
nicht, dass keine diesbezüglichen Versuche mehr unternommen würden
oder das Thema obsolet würde. Ganzheitlichkeit als Begriff der sogenannten
Alternativbewegung ist omnipräsent und in zahlreichen gesellschaftlichen
Feldern vertreten –als immanente Schließung. Auch Einheit stiftende Religi-
onen sind trotz aller Rede von der säkularisierten Moderne alles andere als
ein Randphänomen und reproduzieren weiter die transzendente Schlie-
ßung. Aber dass in und mit der Moderne ein Riss durch das Subjekt geht –
verarbeitet in wechselnden Begriffen von der berühmten Unhaltbarkeit des
Ich über die Freud’sche Topologie über das hybride Subjekt und das post-
moderne Subjekt hin zur Auflösung des Subjekts und dessen Re-
Installierung – und dieser Bruch ein bedeutender Teil der Denkwirklichkeit
geworden ist, ist deutlicher Bestandteil der diskursiv erzeugten Realität. Am
besten drückt sich das vielleicht immanent darin aus, dass der Begriff der
Ganzheitlichkeit (oder analog des Naturbezugs in Teilen der Grünbewe-
gung) stets als Ringen um diese Ganzheitlichkeit geführt wird, und zwar
gegen eine als zersplittert wahrgenommene (moderne) Konstitution.401
Georg Trakls Sonett Verfall von 1909 etwa schreibt auf hervortretende Art
und Weise die von Keller geschaffene Trennung fort: während die Quartette
Natur und Ich verknüpfen, an die sanfte Bewegung in Eichendorff anschlie-
ßen und vor allem ein geschlossenes Bild vermitteln (in gleichsam formvoll-
endeter Ästhetik), treten dem die Terzette der Erschütterung gegenüber.402
399 S. auch oben zum Eichendorff’schen Konjunktiv: „als flöge sie nach Haus“.
400 Keller 1995, S. 407.
401 Dass bereits das Ende des Mittelalters als Zersplitterung beschrieben werden kann, ist u. a.
Thema in Brochs Schlafwandler (s. C 3).
402 Vgl. Verfall (II). Herbst, Georg Trakl 2007, S. 227 f. Besonders deutlich ist die Verschiebung
des in den Quartetten bestimmenden lyrischen Ich. Die Terzette werden noch durch die Ob-
jektform „mich“ im Eröffnungsvers auf ein „Ich“ bezogen, das danach aus dem Gedicht ab-
tritt: „Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern/ Die Amsel klagt in den entlaubten
Zweigen / Es schwankt der Wein an rostigen Gittern“ (Vs. 9–11). Das schließende Terzett
verdichtet die entpersonifizierte Erschütterung dann in einem bewegten Bild: „Indes wie
188 B 2. Zwischenschritt: Kausalität, Milieu, Geschichte
Wie bei Keller bleiben sie formal geschlossen (auch nach Holz), aber das
Formale ist hier nicht zentral. Hinter diese Spannung (der Nixe) kann nicht
zurückgegangen werden, gerade nicht in der Logik der klassischen Moder-
ne. Anders formuliert: was von der Idylle spricht, ohne die traumatische
Conditio humana zu berücksichtigen, wird, mit Broch gedacht, zum ‚Kitsch‘
(s. u.). Umgekehrt und später einsetzend laden sich dagegen Kitsch und
Mainstream immer mehr mit traumatischen Inhalten auf.403
blasser Kinder Todesreigen/ Um dunkle Brunnenränder, die verwittern / Im Wind sich frös-
telnd blaue Astern neigen“ (Vs 12–14). Die Wirkung des Sonetts beruht nicht zuletzt auf
dem Kontrast zur eröffnenden Idylle des im Einklang mit der Natur imaginierenden Ich.
403 Dies hat sich fraglos verstärkt und findet immer weniger Kritik. Vgl. als ein fast beliebiges
Beispiel: „women and children dying in the street“ (Keane Dolores, The Island) steht in sei-
ner Referenz auf den sogenannten ‚Nah-Ost-Konflikt‘ für eine normale Trällerzeile der Pop-
kultur. Eine Entwicklung, die wiederum etwas lautstärker, um ein bekanntes, illustratives
Beispiel anzuführen Adorno bereits für ‚Anti-Kriegslieder‘ der Vietnam-Bewegung ‚uner-
träglich‘ fand. Heute scheint offensichtlich selbst diese Kritik kaum noch verständlich.
Abschnitt C: Traumadiskurse in der literarischen Moderne
Vorbemerkung zu den Romanen der Moderne
C Vorbemerkung zu den Romanen der Moderne
Im Zentrum dieses Abschnitts stehen ausgewählte Beispiele des modernen
Romans, die in näherer Beziehung zur Fragestellung stehen. 1 Dazu kommen
kurze ergänzende Ausblicke. Behandelt werden auch an scheinbaren Ne-
benstellen ausschließlich Texte, die vor dem Hintergrund zentraler For-
schungsergebnisse einer umfassenden Relektüre unterzogen wurden. 2 Die
Methode bleibt exemplarisch, wodurch weitere Möglichkeiten literarischer
Bearbeitungen des Komplexes Trauma gesichtet und zunächst für sich ana-
lysiert werden. Fokussiert wird auf die Konstruktion literarischer Texte,
sodass ideen- und sozialgeschichtliche Hintergründe zumindest an der
Oberfläche teils ausgeblendet scheinen. 3 Naives Entwicklungsdenken soll
dabei vermieden werden, zugleich sollen wo möglich chronologische Be-
1 Zur Verbindung von Lukács berühmt gewordenem Ausdruck der „transzendentalen Ob-
dachlosigkeit“ (s. o.) mit der Vorstellung einer neuen kulturellen Orientierung durch den
Roman für Broch vgl. Lützeler 2015, S. 199. Zur pragmatischen Zuordnung von Rilkes Auf-
zeichnung zum Sammelbegriff Roman s. u. Zum hier verwendeten Begriff der Moderne s.
auch oben. Neben umfassenderen Begriffen der Moderne, etwa mit dem gemeinsamen Nen-
ner des Subjekts (vgl. Schmitt 2008) finden sich für die Definition des Modernebegriffs zeit-
liche Abschnitte, wofür die Wendung des ‚Blicks nach vorne‘ mit Petrarca ein Beispiel wäre
oder Kombinationen fachlicher und zeitlicher Einschnitte, wie die Phase um 1890 für die
deutschsprachige Literatur. Allgemeiner lässt sich so eine (internationale) künstlerische
Moderne abgrenzen, einschließlich etwa der modernen Architektur mit unterschiedlichen
Einschnitten von Namen wie Flaubert/Baudelaire bis Otto Wagner oder Schönberg, wo Stil-
richtungen wie etwa der ‚Jugendstil‘ eine Rolle spielen. Der oben angeführte Vorschlag Viet-
tas für die ästhetische Moderne geht hier zeitlich deutlich weiter zurück. Fachliche Katego-
risierungen betreffen weiter die philosophische Moderne mit Descartes als Zäsur oder eine
soziologische Moderne mit, ähnlich wie bei Vietta, 1789 als Zäsur (vgl. Engel 2013b, S. 507
mit den drei Begriffen der Differenzierung, Individualisierung und Rationalisierung – Engel
unterscheidet zwischen einem umgangssprachlichen, ästhetischen und soziologischen Mo-
dernebegriff). Ein guter Teil der Verwirrung um den Begriff der ‚Postmoderne‘ besteht frag-
los darin, dass unterschiedliche Bezugspunkte als ‚modern‘ verstanden werden, zunächst v.
a. Philosophie (mit den häufigen Bezugspunkten Kant oder Hegel) oder Kunst (mit so unter-
schiedlichen literarischen Bezugspunkten wie Joyce, Flaubert/Baudelaire, Gide, Proust,
Broch, Musil oder Kafka).
2 Ein vereinheitlichender Überblick, der der Vielfalt moderner Textproduktion niemals ge-
recht werden könnte, scheint nicht zielführend.
3 Die Darstellung von Hintergründen erfolgt im Kontext der Argumentation. Die Folie der
gegenwärtigen Traumadiskurse und ihrer Verbindung zu kulturwissenschaftlichen Frage-
stellungen (s. Abschnitt A) steht im Hintergrund und wird an dieser Stelle vorausgesetzt.
Konstruktion meint hier (wie meist nach Luhmann) einen Vorgang, der zunächst jenseits
der Differenz von bewusst/unbewusst verstanden wird.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
H. Grugger, Trauma – Literatur – Moderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-21102-8_4
190 C Vorbemerkung zu den Romanen der Moderne
4 Bereits bei Rilke trifft Innovation auf Tradition. Umfassend diskutiert wird diese Frage in
Manns Dr. Faustus (vgl. Grugger 2013c).
5 Der Begriff ‚Spätmoderne‘ wird hier für den literarischen Kontext im Sinne der Fortsetzung
von in der klassischen Moderne aufgeworfenen Fragen verwendet.
6 Vgl. Thomé 1993, S. 395 f.
7 Zur Dissoziationslehre Janets als eine der ‚Verdoppelungslehren‘ neben Freud (Traumdeu-
tung) und Bleuers Schizophreniekonzept vgl. Seidler 2013, S. 136. Vgl. zum Begriff der „Ge-
dächtnisphobie“, aus dem heraus die Vorstellungen der Dissoziation entwickelt wurden,
Maercker 2009b, S. 34. Die Bedeutung des „psychophysische[n] Monismus in der Literatur
der Jahrhundertwende“ ist seit Monika Ficks diesbezüglicher Studie belegt. Zu Spannung
von Dissoziation und Monismus bei Musil vgl. Fick 1993, S. 283 f.
8 U. a. am literarischen Beispiel Hermann Bahrs und v. a. an Wilhelm Wundt sowie an der von
ihm so verstandenen Psychologie Schnitzlers (vgl. Thomé 1993).
9 Vgl. für diesen Kontext besonders die in Kapitel drei dieses Abschnitts zitierte Literatur
Brochs.
C Vorbemerkung zu den Romanen der Moderne 191
• Eine dreifache Krise beschreibt u. a. Kyora für die Moderne, womit sie
den Diskurs auf den Punkt bringt. 10 Zu beobachten wäre diese gleichzei-
tig als Neukonzeption von Geschichte und Kausalität, Subjektform und
Sprache. Wichtig wird sein, im Auge zu behalten, wie sich diese Felder
durchdringen und sich sowohl formal als auch inhaltlich zu immer wie-
der neuen Darstellungsmöglichkeiten entfalten.
• Zur Sprachkrise selbst lässt sich mit Saße eine Verdoppelung festhalten
(s. o.), wobei wieder der Krisenbegriff umgedreht werden könnte. Als
spezifisch modern erweist sich dabei weniger der prominente Diskurs
zu Unaussprechlichem oder Unsagbarem, der zwar in der Folge von
Mauthners Beiträgen zu einer Kritik der Sprache und dem berühmten
Chandos-Brief Hugo von Hofmannsthals eine enorme Intensivierung er-
fährt, aber bis zur Spätaufklärung (Schiller und v. a. Kleist) zurückver-
folgt werden kann,11 sondern das von Saße als sprachdemonstrative
Krise bezeichnete Feld. Damit bezieht er sich auf den besonders mit der
Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins verbundenen Gedanken der
Nicht-Hintergehbarkeit von Sprache.12
• Charakteristisch ist die umfassende Ästhetisierung des Unaussprechli-
chen, die im Traumadiskurs eine Wiederbelebung erfahren wird. Be-
sonders ausgeprägt erscheint sie zunächst im dramatischen Werk Mau-
rice Maeterlincks (prominent das Schweigen einbeziehend), erfasst
aber (nicht nur) über Hofmannsthal – gerade wenn man die Deutung
teilt, dass die Metapher nicht von der Kritik erfasst ist, sondern der Be-
griff – auch die anderen literarischen Bereiche. 13
• Es entstehen innovative Formen, die sich durch eine gewisse Radikalität
auszeichnen und die sich zwischen dem Versuch der Erneuerung als
Formzerschlagung und einer Neudefinition vorhandener Mittel positio-
nieren lassen.14 Für den Bereich des Romans dürfte eine der markantes-
ten Neuerungen die von Stanzel für die Moderne konzipierte Reflektor-
figur sein,15 die für Kafkas Romanfragmente ebenso zentral ist wie für
Brochs Vergil.16
• Den letzten Punkt ergänzend, kann von einem Wiederaufgreifen, Inten-
sivieren und einer teilweisen Verwandlung von Formen gesprochen
werden, die auf die Spätaufklärung bzw. die Romantik zurückgehen. Da-
zu zählen etwa das Fragment, der Künstlerroman als Ort des Sprach-
und Subjektdiskurses mit spezifischer Metareferenz oder die Neuerfin-
dung des psychologischen Romans auf mythischer Basis.17
• Viel diskutierte, übergreifende Bezugspunkte des 19. Jahrhunderts für
die modernen Romane sind neben dem literarischen Feld und der
Kunstgeschichte u. a. die unterschiedlichen Theorien von Kierkegaard,
Marx, Nietzsche, Bergson und nicht zuletzt Schopenhauer (s. o.). Zu-
gleich beginnen die Autoren aus dem Vollen der Kunst-und Ideenge-
schichte zu schöpfen, was sich teils mit dem neuen Verständnis von Li-
teratur als alternativer Erkenntnisform verbindet (s. u.). Ein entschei-
dendes Resultat ist die hohe Komplexität und Vielschichtigkeit (heraus-
ragender) moderner Romane.
• Hoher und bis heute anhaltender Bedeutung kommt vor dem Hinter-
grund der Krise des Sagbaren und dem Ende der Repräsentation den
spezifischen selbstreferentiellen Verweisstrukturen zu, wie sie sich ab
den Romanen der klassischen Moderne in extensiver Form beobachten
lassen: von Rilkes Fenster über den unzuverlässigen Erzähler Serenus
Zeitblom bis zu Schalanskys Reflektorfigur Lohmark. 18 Andeuten lassen
sich diese Verweisstrukturen als Netzwerk komplexer Beziehungen, die
15 Zentral für die Definition der Reflektorfigur ist die Gleichung Er = Ich. Eine spezifische Form
von Mehrdeutigkeit entsteht dabei über ein strukturelles Spiel zwischen auktorialer und
personaler Erzählsituation (vgl. Stanzel 2008, S. 254). Zum Vergleich Genette vs. Stanzel vgl.
Martínez/Scheffel 2012, die auf Grundlage des derzeit für die Narratologie produktiveren
Genette entscheidende Punkte ausdifferenzieren. Stanzel ist in seiner Argumentationslinie
jenseits der technischen Lösungen für die Moderne interessant und gerade der Begriff der
Reflektorfigur ist sinnvoll diskutierbar.
16 Mit komplexen Varianten der Reflektorfigur wird die Grundlage geschaffen für den heute so
spielerischen Umgang damit, wie er etwa in Schalanskys Hals der Giraffe durchgeführt ist
(s. u.).
17 Zu Der Tod des Vergil und zu Brochs Verständnis von Joseph und seine Brüder s. u. Brochs
Spiel der ‚Mythenkorrektur‘ ist natürlich auch der Auseinandersetzung mit Joyces Ulysses
geschuldet.
18 S. dazu die einzelnen Abschnitte. Wie die Musil’sche Variante der Verweisstrukur, das ‚Hin-
deutende‘, sich mit der Frage der Sagbarkeit, dem Unbestimmbaren und der Offenheit le-
bendigen Erkennens verknüpft, diskutiert Kyora 2007b, S. 105.
1.1 Der Übergang 193
19 Beschreiben lässt sich dies als Ablöseprozess von der Frage: „Was bedeutet das“? Die Kon-
struktion von Bedeutung selbst gerät in den Fokus, mit differenten, komplexen Techniken
der Erzeugung ‚offener Strukturen‘.
20 Deutlich ist das Ende realistischer Repräsentation und des unmittelbaren, direkten Verwei-
ses. Metareferenz heißt hier auch, dass die Beziehung selbst Teil des Verweises ist. Vgl. et-
wa, wie Manns Joseph Figuren zitiert, diese im Zitat verkörpert und auf sie verweist, womit
zugleich basale Möglichkeiten des Erzählens diskutiert werden.
21 Vgl. Detering 2013, der diese Figur für Keilson und die Repräsentationsproblematik unter-
sucht.
22 Vgl. die ebenso intensive wie differente produktive Rezeption Baudelaires (s. unten das
Beispiel der Aufzeichnungen). Noch Lem, der ausgiebig ‚postmoderne Mittel‘ nutzt, wird von
der Notwendigkeit der Literatur sprechen, (in einem erkenntnistheoretischen Sinn) Fragen
aufzuwerfen (vgl. Grugger 2014a).
23 Aus Rilkes Werken wird nach der im Insel-Verlag erschienenen Kommentierten Ausgabe in
vier Bänden mit der Sigle ‚KA‘ zitiert (s. Literaturverzeichnis). Die einzelnen Aufzeichnungen
des Malte-Romans werden mit ‚Az‘ abgekürzt und (einer sinnvollen Praxis folgend) durch-
gezählt wiedergegeben. Aus den Duineser Elegien und den Sonetten an Orpheus wird mit ‚E‘
bzw. ‚S‘ plus Nummerierung sowie Verszahl für die Elegien zitiert.
194 C 1. Rilke
24 „Verklärung bei Keller, Veredelung bei Fontane sind die Stichworte, mit denen die Autoren
ihre Ästhetik umschreiben und darin das Darstellungsprinzip des poetischen Realismus um-
reißen“ (Amrein/Dieterle 2008, S. 2).
25 Vgl. zur Frage realistischer Aporien der Repräsentation Thomé 1993, S. 24 f. und S. 101.
26 Stahl betont in seinem Kommentar, dass Rilke selbst nicht von einem ‚Roman‘ sprach, son-
dern „allenfalls […] von seinem ‚Prosa-Buch‘, von den ‚Aufzeichnungen‘ oder einfach von
‚Malte Laurids‘“ (Stahl 1996, S. 893). Die (lose) Zuordnung zum ohnedies sehr weit gefass-
ten Begriff des ‚modernen Romans‘ erfolgt hier nicht nur aus pragmatischen Gründen, son-
dern betont die nachträgliche Veränderung des Romanverständnisses auch durch die Auf-
zeichnungen und den mit ihnen verbundenen Einschnitt.
27 Ausdrücke wie ‚Krise der Repräsentation‘ oder ‚Krise des Erzählens‘ möchte ich eher ver-
meiden, wie überhaupt die Rede von einer Krise für die intensivierten Diskurse zu Sprache,
Subjekt und Geschichte nicht ‚überstrapaziert‘ werden soll. Vgl. etwa die bereits mehrfach
erwähnte sprachdemonstrative Krise, die als Gegenteil einer Krise gelesen werden kann,
wenn die Sprachbedingtheit selbst der Epistemologie das erste Mal deutlich in den Blick ge-
rät. Für die Traumadiskurse s. Abschnitt A und vgl. beispielhaft die Fragestellung in LaCapra
2001: “How does trauma or traumatic ‘experience’ disrupt experience and raise specific
problems for representation and writing” (S. 37).
28 Vom Selbstverständnis her geht es um ein ‚neues Erzählen‘, wie dies u. a. für Broch (in
Auseinandersetzung mit Joyce und Kafka) von fundamentaler Bedeutung ist.
29 Zola 1879, S. 307, Herv. im Orig. Man kann Zolas Satz durchaus als Versuch sehen, Einheit zu
produzieren. Entscheidend ist die Beziehung, und zwar nicht mehr diejenige zwischen
Kunstwerk und Welt, sondern die des Künstlers zur Welt, mit der Persönlichkeit des Malers
1.1 Der Übergang 195
als Filter (vgl. in konziser Form Lüthy 1999). Zum Motiv wird der Satz in Amérys Rückgriff
auf die Moderne in Lefeu (s. D 1).
30 Nahe liegend ist hier der Verweis auf die oben diskutierte Trauma-Membran Lindys. Solche
unmittelbaren interdiskursiven Übersetzungsleistungen, deren Gewinn oft bloße aktualisie-
rende Reformulierung wäre, stellen allerdings, wie erwähnt, kein primäres Ziel dieser Stu-
die dar. Der Zusammenbruch dieser Grenze war bereits zentral für Kleist (siehe B 1).
31 Dies entspricht der interkulturellen Situation der Aufzeichnungen, vgl. den sprechenden
Hinweis auf eine Stelle in Rilkes Brief an Gräfin Sizzo vom 17.3.1922, an der er über sein
„ständiges Wohnen im Auslande“ (Rilke 1977, S. 29) spricht, in Lauterbach 2013b, S. 73. Vgl.
zu Französisch als Teil des dezentralisierten Erzählverfahrens im Kontext der Fremdheits-
thematik ebd., wo von „existentieller Desintegration“ die Rede ist. Die Aufzeichnungen voll-
ziehen sich zwischen und in verschiedenen Kulturen und Sprachen (vgl. auch die Ausfüh-
rungen zu Rilkes Bezug zu Russland in Lehmann 2013).
32 Vgl. die üblichen Einteilungen der Aufzeichnungen in Welt/Paris, Ich/Kindheit und Erzäh-
len/Kunstdiskurs/Geschichte. Wichtig ist der Einwand gegen eine angebliche Entwicklung
Maltes, etwa vom subjektiven zum objektiven Erzähler: „Alle diese Formen des Umgangs
mit Erfahrung, mit der eigenen großstädtischen Gegenwart, der eigenen Kindheit auf dem
Lande und der in historischen Berichten, in Chroniken und Biographien überlieferten, das
Sehen, Erinnern und Erzählen, sie gehen im Malte ineinander über und stehen zudem meist
in einem argumentativen Zusammenhang“ (Stahl 1996, S. 899).
33 Betroffen von Dezentralisierung sind besonders die (gebrochenen) Ordnungen von Ort und
Zeit (Anwesenheit und Abwesenheit), was sich auf Reflexionen und Ereignisse ausdehnt.
34 Die Mehrfachcodierung ist u. a. verknüpft mit den Zeitverhältnissen, der interkulturellen
Anlage und dem spezifischen Umgang mit Quellen (vgl. Stahl 1996, S. 884 f.) und Kunstzita-
ten (vgl. Eilert 1991 und s. u.).
35 Bereits von der Anlage her geht es um die Konstruktion einer literarischen Welt (s. u.), um
Beobachtung von Literatur, wodurch die Frage der Selbstreferenz durchgehend anwesend
bleibt.
36 „Weltinnenraum“ wurde zum Ausgangs- und Diskussionspunkt eines verkürzten Rilke-
Verständnisses (mit dem dekontextualisierten Vers der siebenten Elegie: „Nirgends, Gelieb-
te, wird Welt sein, als innen“ (E 7, Vs. 50). Das macht Engels prägnante, den Begriff rekon-
textualisierende Formulierung, die in der Tradition von Allemann steht, umso bedeutender:
„‚Innerlichkeit‘ meint zunächst einmal nichts anderes als unser [bei Rilke spezifisch konzi-
piertes] Bewußtsein“ (Engel 2013a, S. 409) und zwar im Kontext eines offenen und de-
196 C 1. Rilke
zentrierten Ich-Konzepts (vgl. ebd. S. 409 f.). Er verortet mit Rilke die Autoren der Moderne
chronologisch sozusagen zwischen Wirklichkeit (Realismus/Naturalismus) und Sprachim-
manenz (etwa: konkrete Poesie) im Sinne von Wirklichkeit als „Bewußtseinswelt, Welter-
lebnis“ (ebd., S. 410).
37 S. oben zu Stanzels Reflektorfigur. Vgl. Brochs Tod des Vergil, wo die Fortsetzung am deut-
lichsten beobachtbar ist.
38 Dass gerade der Lyriker Rilke damit implizit die Auflösung des Genre des Romans voran-
treibt – man vergleiche zur assoziativ-lyrischen Strukturierung auch die grundlegende Be-
deutung von Theater und Theatralität im Text –, wird sich als Bereicherung erweisen.
39 Beobachten höherer Ordnung ist im systemisch-konstruktivistischen Sinne zu verstehen,
aber dissoziativ, d. h. in die Breite arbeitend, im Ringen mit der Festlegung des Beobach-
tungspunktes.
40 Für die engere Thematik ist zu reflektieren, wie die Aufzeichnungen sich auf einen Bereich
einlassen, in dem der Panther und dessen (relativ) geschlossene Welt nicht mehr genügen
(s. u.).
41 Nicht zuletzt geht es dabei um Fragen sich zuspitzender ‚Authentizität‘ sowie um die Art des
ästhetischen Zugriffs (s. o.). Zu platonischer Differenz ‚Mimesis‘ vs. ‚haple Diegesis‘ und zur
nicht zufrieden stellenden Ausklammerung des Nicht-Narrativen aus der Erzähltheorie (so
auch bei Stanzel) vgl. die Einwände in Schmid 1999, S. 4.
42 Broch wird diese Erwartungen vom stärker ‚individuellen‘ Ausgangspunkt Rilkes in eine
deutlicher dem Sozialen verpflichtete Richtung ausdehnen. Für Kafka beschäftigt sich ein
guter Teil der Forschungsgeschichte gerade mit der Frage der Stoßrichtung. Das Verhältnis
von ‚Subjekt‘ und ‚Gesellschaft‘ ist trotz der Unschärfe der beiden Begriffe für alle drei Auto-
ren wichtig, gerade weil die (unmittelbare) Repräsentation des Realen mittels dechiffrier-
barer Bedeutungssysteme obsolet geworden war.
1.2 Malte Laurids Brigge 197
Vorab: Der Trauma-Begriff von der Textwelt der Aufzeichnungen aus be-
trachtet
Dass die sogenannte Sprach- und Subjektkrise der Moderne mit Rilkes Auf-
zeichnungen verknüpft ist, braucht in dem angedeuteten Kontext nicht be-
tont zu werden, selbst die Auseinandersetzung, ob ein einheitlich gedachtes
Ich ‚erlebender Subjektivität‘ zugegen sei,45 bleibt in diesem Bereich. Den
43 Dies gilt auch, weil das Sprechen nicht souveräner Sprecher immer ein Sprechen in entwor-
fenen Räumen bleibt, das seine eigene Ordnung reproduziert, und, von heute aus betrachtet,
so an der Konstruktion des Realen stets bereits teilhat.
44 Ich-Dissoziation und Trauma sind hier wiederum ein nicht unwesentlicher Teil dieser
möglichen psychischen Zustände, die sich dem einfachen ‚Erzählen‘ in spezifischer Form zu
entziehen scheinen.
45 Fülleborn sieht in den Aufzeichnungen „die größtmögliche Ausweitung des Bewußtseins
eines fingierten Ich-Erzählers“ in Abgrenzung zur „Aufsplitterung der Erzählperspektive“
bei Joyce, stellvertretend für den modernen Roman, mit „ihrer Verlegung in das chaotisch
wogende Bewußtsein verschiedener Personen“ (Fülleborn 1974, S. 197). Herausfordernd
für diese Lesart scheint gerade die von Fülleborn als zentral angesehene letzte Aufzeich-
nung, Az 71, eine Variation der ‚Geschichte des verlorenen Sohnes‘, die jenseits eines Ich
zwischen ‚Er-Form‘ und unpersönlichem ‚Man‘ changiert. Fülleborn wird auch in seinem
Vergleich der Aufzeichnungen mit Kafkas Schloß die Differenz der Erzählformen in die Ich-
Positionen legen (vgl. Fülleborn 1975, S. 449–452). Judith Ryan sieht den Malte-Roman als
„der erlebenden Subjektivität“ verhaftet und versucht, „Sehenlernen [schöpferische Ver-
wandlung des Gesehenen], Erinnern und Versuch des Erzählens“ jenseits des Fragmentari-
schen unter dem Dachbegriff des ‚Dichtens‘ zu verbinden (Ryan 1974, S. 250, Herv. im O-
rig.). Zentral ist das von Stahl beobachtete Fehlen jeder vermittelnden Instanz – auch der
198 C 1. Rilke
eines echten Ich-Erzählers –, was auf die Konzeption des Textes als „Aufzeichnungen“ zu-
rückzuführen ist: „Aus Malte, dem Erzähler, brauchte nur noch Malte, der Schreiber zu wer-
den und jedes Gegenüber konnte wegfallen“ (Stahl 1996, S. 892). Zur ‚rhizomartigen Struk-
tur‘ s. u.
Üblich ist bis heute die subjektivistische Rezeption: „Die ‚Aufzeichnungen sind der Roman
eines Ich. Alles zentriert sich auf Malte“ (Hinck 2006, S. 58). Der Titel von Walter Hincks
Überblick zu Rilkes ‚Prosabuch‘ ist bezeichnend: „Der Weg nach innen“. Hervorgehoben sind
aber auch hier der ‚lyrische Roman‘ und der hohe Grad an Skepsis gegenüber der traditio-
nellen Romanform (vgl. ebd.).
46 Vgl. Horkheimer/Adorno 1991. Für Adorno ist mitzubedenken, dass in seinem Projekt der
Negativen Dialektik die Aufhebung der Illusion des Subjekts durch das Subjekt im Mittel-
punkt steht, und dass für ihn Subjektivität erst dann der Rede/Diskussion wert sei, wenn
über bloße Zwangsalternativen hinausgeschritten wird.
47 Vgl. Az 8 (KA 3, S. 459–464).
48 Freilich bleibt dieser Krankheit das Ich eingeschrieben. Die Annahme einer biologischen
Ordnung traumatischer Ereignisse (bestimmter Abläufe) benötigt, auch wenn sie als solche
plausibel erscheint, einen Beobachtungspunkt, d. h. vor allem auch: Versprachlichung und
Interpretation in einem Wertsystem. Rilkes Figur beobachtet eine Verschiebung, Verwis-
senschaftlichung des Diskurses, was zu Maltes ideologiekritischem Programm passt, das „als
ein gegen vorgefundene Denkmodelle gerichtetes Konzept“ verstanden werden kann (Stahl
1996, S. 899).
1.2 Malte Laurids Brigge 199
Die Ordnungsmuster für Rilkes Roman sind infolge seiner spezifischen Kon-
stitution schier unbegrenzt. Bekannte Deutungen der Aufzeichnungen krei-
sen etwa um die Frage Einheit vs. Vielheit, mit der Kernunterscheidung
Textentwicklung vs. separat bleibende Fragmente, oder um die Positionie-
rung des transgressiven Erzähler-Bewusstseins, das zwischen Subjektge-
bundenheit und Desubjektivierung gelesen wird. Ort und Zeit sind ebenso
dissoziativ aufgespalten wie die Erfahrungen und Reflexionen des Erzäh-
lers.55 Dass dieser Bruch mit dem bislang gültigen Code des Romanschrei-
bens nicht in Beliebigkeit oder bloße ‚Unordnung‘ kippt, verdankt sich we-
sentlich dem Konzept der titelgebenden „Aufzeichnungen“ des fiktiven däni-
schen Schriftstellers Malte Laurids Brigge, mit dem Rilke sich ebenso nach-
drücklich identifizierte, wie er nicht mit ihm verwechselt sein wollte. 56 Die
Technik ihrer unkommentierten Wiedergabe ermöglicht es, die unmittelba-
re erlebnisintensive Auseinandersetzung mit der Umwelt (Paris), die Refle-
xionen zu Kindheitserfahrungen, die dichterischen Fragmente 57 und die
ästhetischen Überlegungen komplex zu kombinieren. Damit ist auch das
Grobraster genannt, das freilich nicht stringent durchgehalten wird, son-
dern eines ins andere übergleiten lässt.58 Die Aufzeichnungen als Codierung
von schriftstellerischer Work in Progress zu verstehen, kann nicht bedeuten,
die fundamentale Verschiebung zu übersehen, die gleich anfangs herausge-
54 KA 3, S. 533. Im Kontext des Zitats geht es um die ‚Auslegung‘ von Graf Christian von Brahe
(s. u.).
55 Dass erste Rezensionen ‚Ort- und Zeitlosigkeit‘ sowie das fehlende ‚Organische‘ selbst des
Schlusses monierten (vgl. Stahl 1996, S. 890), spricht für das Unerwartete dieser Verschie-
bungen.
56 Vgl. zu seiner Betonung des fiktiven Charakters ebd., S. 879, zur Identifikation s. die Beleg-
stellen aus den Selbstkommentaren unten. In seiner Bedeutung für den Roman kaum zu
überschätzen ist folgender Schritt in der Textentwicklung: „Aus Malte, dem Erzähler,
brauchte nur noch Malte, der Schreiber zu werden, und jedes Gegenüber konnte wegfallen“
(ebd., S. 892).
57 Es bietet sich an, die am Ende stehende Parabel als Dichtung des Malte Laurids Brigge zu
lesen, was allerdings aufgrund der unvermittelten Erzählweise nur eine Möglichkeit darstel-
len kann.
58 Ryan stellt, wie erwähnt, ihre drei Tendenzen „Sehenlernen, Erinnern und Versuch des Erzäh-
lens“ (s. o.) in eine Textentwicklung und argumentiert gegen ein fragmentarisches Gewebe,
gegen die Ausdehnung des Bewusstseins. Malte könne nicht unterscheiden zwischen Wahr-
genommenem und inneren Erlebnissen, zwischen fantasiebildender Fiktion und sensori-
scher Faktizität. Eher beschäftigt sich der Text damit, dass diese Unterscheidungen als se-
kundäre Konstruktionen zur gemeinsamen Realitätsproduktion erfolgen (Bourdieu).
1.2 Malte Laurids Brigge 201
strichen werden soll. Wenn Das Gemeindekind mit Becker als Beispiel für
den späten bürgerlichen Realismus gilt,59 so sticht im Vergleich sofort die
Aufhebung von Chronologie und die Umbildung von Kausalität zur Verweis-
struktur ins Auge, auf die noch einzugehen sein wird. Die Fiktion fragmenta-
rischer Notizen erlaubt ein Nebeneinander, indem das einzelne Fragment,
die einzelne Aufzeichnung, seine Unabhängigkeit demonstrieren sowie zu-
gleich als mögliche Bedingung der Erfahrungswelt und der Aufzeichnungs-
tätigkeit fungieren kann. Simultane Präsenz ersetzt zwar die Idee des Ge-
wordenen nicht, rückt aber die Reflexion aus einer schematischen Abfolge
heraus. Wenn traumabezogene Beobachtungen, Reflexionen, Erfahrungen
oder Erlebnisse Maltes geschildert werden, ist naives Denken im Sinne einer
deterministischen Psychomechanik aufgehoben. Die Verknüpfung etwa der
geschilderten Kindheitserfahrungen und der Wahrnehmung von Paris wird
zwar geleistet (s. u.), zu einem entscheidenden Teil aber der (genauen) Re-
zeption überantwortet und so von einer möglichen Chronologie linearen
Erzählens abgetrennt. Das ist in der Tat anders, als die großen Romane des
19. Jahrhunderts verfahren sind, und bietet einen guten Ausgangspunkt, um
von einer lyrischen Grundierung zu sprechen. 60
Die Anzahl sinnvoller Interpretationen, etwa im Sinne einer Bearbeitung
aufgeworfener Fragestellungen, ist ebenfalls schier unbegrenzt. 61 Im Text
umgesetzt sind neben den ‚persönlichen Aufzeichnungen‘ zu Paris und
Kindheit, die am ehesten im Sinne einer Romanhandlung konzipiert sind,
zahlreiche intertextuelle und intermediale Referenzen, die sich in einem
bunten interkulturellen Wechselspiel auf Kunst, Mythos, Religion, Geschich-
te und historische Figuren beziehen.62 Verwiesen ist damit auf die intellek-
tuelle Beschäftigung des Aufzeichnenden als Medium seines Beobachtens
59 S. Abschnitt B 2.
60 Vgl. bereits die Formanalyse in Fülleborn 1974.
61 Der Grund dafür ist ein mehrfacher. Neben der sich extrem öffnenden Struktur ohne vermit-
telnden Erzähler sind der spezifische Umgang mit vielfältigen, der jeweiligen Stelle und der
Netzstruktur eingepassten Quellen sowie Zugangsmöglichkeiten über Lebensdaten (zu bio-
graphisch-psychologischen Untersuchungen vgl. Stahl 1996, S. 906), Selbstzeugnisse und äs-
thetische Schriften zu nennen.
62 Vgl. Eilert 1991 zur Verortung der „einmontierten Fremdmaterialien“ (S. 295 f.) und zur
Abgrenzung der „atmosphärischen Reminiszenzen“ von „Kunstzitate[n]“ im engeren Sinn (S.
296). Neben Literatur und bildender Kunst kommt dem Schauspiel hohe Bedeutung zu. His-
torische Figuren als Bezugspunkte steuern über die Angelpunkte Tod, Liebende, Wahn,
Identität auch inhaltliche Schwerpunkte. Auf die Grobeinteilung Paris, Kindheit und literari-
sche Reminiszenzen hatte bereits Rilke selbst in seiner an den polnischen Malte-Übersetzer
Hulewicz gesandten ‚Bildformel‘ zur Lektüre des Romans hingewiesen (vgl. Lauterbach
2013a, S. 326 f.).
202 C 1. Rilke
und Reflektierens, aber auch seiner Krisen und Sehnsüchte. Der fiktive Au-
tor wird im Prozess der Produktion festgehalten, die einzelnen Aufzeich-
nungen bieten gerade in ihrem fragmentarischen Charakter zahlreiche Zu-
gangswege. Sie können fallweise als tagebuchartige Notizen, Versuche der
Erinnerung sowie als Entwürfe oder Studien gelesen werden, was für jede
Analyse des Malte-Romans zu berücksichtigen ist.63 Deleuze/Guattari haben
das Rhizom als nicht-hierarchische Metapher für Organisationsformen von
Wissen ins Spiel gebracht, Eco hat die Idee für die Klärung seines Labyrinths
im Namen der Rose in Anspruch genommen.64 Wenn das Rhizom als ein
komplex verflochtenes System verstanden wird, 65 das mit bisherigen For-
men bricht, so dient es zumindest ein Stück weit zur Erhellung dessen, was
mit den Aufzeichnungen versucht wird.66
Die initialen Aufzeichnungen zu Paris verfügen jeweils für sich über den
inhaltlichen Reichtum der mit ihnen codierten vielschichtigen unmittelba-
ren Erlebnisse, während sich simultan intra- und intertextuelle Bezüge öff-
nen. Die fragmentarischen Erinnerungen an die Kindheit sind mit diesen
aktuellen Impressionen verknüpft sowie mit dem übergeordneten ästheti-
schen (metareferentiellen) Diskurs, der die Aufzeichnungen durchzieht,
verbunden. Das Lesen, das Schreiben und das Theater bilden ästhetische
Themenkreise aus, die wiederum nicht isoliert, sondern mit dem ästheti-
schen Metadiskurs ebenso vernetzt sind wie mit den im Text aufgeworfenen
Fragen zu Subjekt und Desubjektivierung, Präsenz der Erinnerung, Durch-
gang durch traumatische Erfahrungen, Liebe, etc. Eine komplexe Organisati-
ons- und Verweisstruktur ersetzt die kausale Abfolge, wobei Simultanität
und (offene) hierarchische Bezüge eine neue Darstellungsform bilden. Es
gehört zu der mehrfachen Schichtung des Romans, dass diese formale Frage
63 Der Bruch der Einheit ergibt sich eben aus der spezifischen Fiktion der Aufzeichnungen,
wodurch die Erzählstimme fragmentiert wird (s. o.).
64 S. o. bzw. vgl. Deleuze/Guattari 1997b, S. 11–42 sowie Eco 2012, S. 65. Argumentiert wird
gegen binäre Logik und für eine Struktur, in der jedes Element sich auf unterschiedlichen
Ebenen mit anderen verbinden kann (vgl. etwa Deleuze/Guattari 1997b, S. 16).
65 Zu den einzelnen Verknüpfungstechniken vgl. Lauterbach 2013a, S. 322 f.
66 „Daß sein Gehalt nicht weniger modern ist, blieb in der Forschung oft unbeachtet“ (ebd., S.
319). Anders gesagt: die inhaltliche Grundlage ist mit der formalen Organisation verbunden.
Fülleborn stellte bereits 1961 fest, dass erst mit dem zunehmenden Wissen um die Poetik
der Moderne die Aufzeichnungen jenseits der bloßen Entwicklung Rilkes neu beobachtbar
wurden (vgl. Fülleborn 1974, S. 176).
1.2 Malte Laurids Brigge 203
67 Dies ist Teil der ständig präsenten Metaebene, die bereits durch die Fiktionalisierung des
Schreibens konstituiert ist.
68 Die explizite Thematisierung der selbstanalytischen Funktion des Schreibens in den Auf-
zeichnungen verbindet Thomé 1993 mit Freuds „vergleichsweise diskrete[r] Wiederholung
von Nietzsches Selbstdarstellungen“ und der Fortführung von Mann und Fontanes selbstre-
ferentieller Bezugnahme in der „Darstellung von Nervosität oder der décadence“ (S. 195).
69 Die Interkulturalität Rilkes ist durch das Rilke-Handbuch ausführlich dokumentiert, auch die
besondere Bedeutung des französischen Kulturraums (vgl. Lauterbach 2013b), der ent-
scheidend in die ‚moderne Künstlerfigur‘ des Malte Laurids einfloss (s. o.). Bourdieu disku-
tiert in Regeln der Kunst umfassend den besonderen Einschnitt für die Moderne durch Flau-
bert, was den Hintergrund von Rilkes Roman erhellt. Dabei geht es gerade auch um die Fra-
ge einer ‚traumatischen Künstlerexistenz‘ – als entstehender Topos in der Fremd-und
Selbstbeschreibung – unter modern werdenden Bedingungen. (Veränderten) Nachklang in
den Aufzeichnungen findet der ‚reine Blick‘ Flauberts: „sein Gespür für den Regelverstoß
und den Witz im Verein mit jener Fähigkeit, Distanz zu halten, die ihn die nachdrücklichsten
ästhetischen Effekte aus der bloßen Beschreibung des menschlichen Elends und der Not
ziehen lassen“ (Bourdieu 2001, S. 182). Zu Flaubert, das Aufheben der Genres, ‚Wahnsinn‘
und das ‚Leiden am Schreiben‘ vgl. ebd., S. 159 und zu Zolas ebenfalls themenrelevanten ‚Er-
findung des Intellektuellen‘ als eine Antwort aus der Autonomiebewegung heraus vgl. ebd.
S. 209–214.
70 Vgl. dagegen Az 63, wo ganz traditionell außen und innen abgetrennt wird, und von dem
Versuch, wirklich zu sein, nichts übrig bleibt als „ein Gespött und eine Hälfte: weder Seiende
noch Schauspieler“ (KA 3, S. 615). Hintergrund ist die Unmöglichkeit ‚unmittelbaren Exis-
tenzbezugs‘ für Subjektivierte, wie sie auch Kleist und Kafka untersuchen (vgl. Grugger
2015b).
71 KA 3, S. 505 (Az 23). Vgl. dazu das Wechselspiel von Sich fassen und Auflösung (s. unten zur
Hand-Thematik) sowie das (teils bedrohlich) Gleitende von Sozialem und Individuellem in
der Beobachtung im Kontext der Grenzproblematik.
204 C 1. Rilke
72 Die Grenze ist also brüchig, das Außen ist das Innen und umgekehrt. Genealogische Fragen
des Selbst und seiner Definition bleiben auch für die Elegien von tragender Bedeutung.
73 Die Themen Leiden, Entfremdung, Wahrnehmen und Erkennen aus Literatur der Existenz
(Anz 1977), wurden von Brigitte L. Bradley 1980 (vgl. v. a. S. 36 f.) mit den Aufzeichnungen
verknüpft. Anz selbst bespricht Maltes ‚Entfremdungserfahrungen‘ v. a. im Kontext der
Großstadtthematik (vgl. Anz 1977, S. 73 f.). Eine nahe liegende, einfache Reformulierung
dieser Thematiken über den Dissoziationsbegriff – mit dessen Ausdehnung zu Fragen des
Traumas – soll bewusst vermieden werden, um eine zu schematische Gleichsetzung von
‚Moderne‘ und ‚Trauma‘ zu vermeiden (s. auch Abschnitt A).
1.2 Malte Laurids Brigge 205
Aus dem komplexen Diskurs, der die Elemente durchzieht und verknüpft,
können einzelne nur sehr eingeschränkt hervorgehoben werden. Neben den
74 Vgl. einige der bereits genannten Texte: In Fontanes Effie Briest ist die Fortwirkung deutlich
herausgearbeitet, in der Spitzin sind die impliziten Bezüge deutlich, im Gemeindekind findet
eine Chronologie, ein Ausblick plus ein Diskurs zur Fortwirkung statt. Bei Hoffmann wie-
derholt sich das Schema (Elixiere) oder wird das Ereignis überdeterminiert und genau in
den Blick genommen (Sandmann), bei Kleist ist das körperlich-seelische Stürzen der Penthe-
silea omnipräsent und der Fall des Käthchens ein zentraler (wenngleich sich semantisch öff-
nender) Deutungspunkt. Rilkes Masken-Episode (Az 32) bleibt ein Moment des Textes, das
sich, wieder behelfsmäßig formuliert, rhizomförmig mit anderen verbinden kann.
75 Dass damit kein psychotherapeutischer oder psychotraumatologischer Staat zu machen ist,
interessiert im vorliegenden Kontext nicht. Literarische Kritik an objektivierender Be-
schreibungssprache kann in diesen Diskursen ohnedies nur entsprechend der eigenen Sys-
temlogik reflektiert werden.
76 Mit diesen Überlegungen tritt man unmittelbar in die Gedankenwelt der literarischen Mo-
derne ein, in der es immer wieder darum geht, dem begrifflich gefassten Wissen ‚Erkennt-
nismöglichkeiten‘ zur Seite zu stellen, die dasjenige sichtbar machen, was sich der objekti-
vierenden Wissenschaft entzieht und etwa auf die Differenz von subjektiver Erfahrungs-
und objektiver Beschreibungswirklichkeit zu insistieren, während natürlich zugleich die
Begriffe des Subjektiven und der Sprache/des Schreibens problematisch werden bzw. neu
gefasst werden.
206 C 1. Rilke
stets präsenten Reflexionen zur Kunst 77 sind gerade für den vorliegenden
Kontext die dominante Thematisierung psychischer Verwundungen,78 ein-
schließlich der Grenzthematik und der konstitutiven Spannung zwischen
Sich fassen und Selbst-Auflösung – „unerbittliche Selbstverdichtung fortwäh-
rend ausdampfen wollender Musik“ (KA 3, S. 508) –, sowie der Durchbruch
zu nennen. Letzterer ist im Kontext einer versuchten Integration extremer
Erlebnisse zu sehen, die selbst wieder in Az 23 thematisiert wird (s. u.).
Baudelaires Gedicht Ein Aas kommt dabei besondere Bedeutung zu79 und
Rilke findet hier einen Ansatzpunkt für den vielschichtigen Diskurs zu Liebe
im Text.80 Damit ist der Komplex umrissen, der in den Aufzeichnungen tenta-
tiv als Antwort auf traumatische Erfahrungen gefasst werden kann. Wäh-
rend allerdings Broch in der Verzauberung viel unmittelbarer Liebe als
Antwort schreibend ausprobiert, bleibt hier die deutlich nachvollziehbare
(unbestimmte) Sehnsucht im Hintergrund, und es droht stets das Überbor-
dende des Entsetzens, das jede versuchte Unterscheidung auflöst.81
Insgesamt sind zahlreiche weitere moderne Themen im Malte-Roman ver-
sammelt, wie etwa die Vermassung des Lebens/Sterbens, die wissenschaft-
liche Objektivierung menschlicher Erfahrung vs. die Singularitätsthematik
77 Es geht weniger um Autonomieästhetik als um die Suche danach, was Kunst leisten kann,
die in einem steten Metadiskurs stattfindet. S. auch unten zur Verknüpfung zum lyrischen
Werk mit dem Gedanken, dass Metareferenz, radikal formuliert, ein Stück weit die Sprache
des Panthers ersetzt.
78 Vgl. die Verknüpfung der existentiellen Krise mit der sozial gedachten „Existenz des Entsetz-
lichen in jedem Bestandteil der Luft“ (KA 3, S. 505). S. auch unten.
79 Zu Rilkes Baudelaire-Rezeption vgl. Lauterbach 2013b, S. 77-79. In der eigenwilligen Dialek-
tik des Künstlers Malte Laurids Brigge geht es darum, aus dem ‚Aas‘ die Seligkeit zu produ-
zieren, durch das Leiden hindurchzugehen, um ex negativo zum größtmöglichen Glück zu
gelangen. Das ist nicht auf eine Einzelstelle bezogen, sondern wird wiederholt und ist auch
in den Selbstkommentaren präsent. Rilke geht es um die „Überwindung zu einer neuen Se-
ligkeit“ (MaR, S. 39, mit Bezug zum Künstlerbild Flauberts), der Dichter müsse sich zu den
Aussätzigen gelegt haben, um aufzusteigen. Wichtig für diesen Kontext ist auch folgender
Teilsatz Rilkes: „und darum […] erschien mir der Malte Laurids die längste Zeit nicht so sehr
als ein Untergang, sondern als eine eigentümliche dunkle Himmelfahrt in eine vernachläs-
sigte abgelegene Stelle des Himmels“ (MaR, S. 88). Hier und in der Folge werden nach En-
gelhardt 1974, Materialien zu Rainer Maria Rilke ‚Die Aufzeichnungen des Malte Laurids
Brigge‘, zitierte Briefstellen mit der Sigle ‚MaR‘ versehen und im Literaturverzeichnis nach-
gewiesen.
80 Liebe wird verknüpft mit dem ‚Durchbruch‘. Zum Liebesdiskurs in den Aufzeichnungen vgl.
auch Stahl 1996, S. 904.
81 S. u. zu. Az 23.
1.2 Malte Laurids Brigge 207
(s. o.), der Zerfall des Erlebens und seiner Ordnungsraster,82 das Unaus-
sprechliche, der religiös-monistische Diskurs,83 die Abgründe und die Häss-
lichkeit84, die Neu-Erfindung des Künstlers und der Kunst oder die zuneh-
mende Isolierung des Künstlers.85 Für ihre Behandlung sind neben den ge-
nannten strukturellen Punkten und der Neukonzeption von Zeit die aus
diesen fließende extreme Deutungsoffenheit und Vielschichtigkeit hervor-
zuheben.86 Zur fortlaufenden Metareferenz kommen Intermedialität, Inter-
textualität, Zitat sowie eine komplexe implizite Ästhetik. In diesem Sinne
grundlegend für die weiteren Texte sind auch das Spiel mit den Gattungen,87
die problematisierte symbolische Aussage zwischen Singularität und Ver-
weis sowie die Ansätze zur Mythenkorrektur im weiteren Sinn. 88
Was bei aller Suche nach dem Verhältnis von rhizomförmiger Textentwick-
lung und dem Wechselspiel von Fragment und Gestalt nicht aus dem Blick-
feld geraten sollte, ist die Frage nach der Einheitlichkeit des Konzepts des
aufzeichnenden (dissoziierenden) Dichters, die den (formalen und inhaltli-
chen) Zerfall der Einheit umschließt. Das weist voraus auf die Schlafwandler
Brochs, wo die Essays zum Zerfall der Werte einen konstitutiven, wenngleich
nicht isoliert zu betrachtenden Teil des Zyklus bilden (s.u.).
82 Zur Neufassung der Spiegelmetaphorik s. u., wo das Ich am Spiegel zerbricht und nicht sich
in ihm erkennt (Az 32). Vgl. zur traditionellen Bedeutung von Spiegel im Subjektdiskurs Ko-
nersmann 1991.
83 Vgl. Kapitel 11, „Die Angst der Kreatur: Obstfelders Tagebuch eines Priesters und Die Auf-
zeichnungen des Malte Laurids Brigge“, in Fick 1993, S. 300–318, wo u. a. der für den vorlie-
genden Kontext wichtige Bezug zu Hiob diskutiert wird, mit Themen wie Nacht, Elend,
Schrei, inneres Kochen usw.
84 Man könnte für die Kunstreflexionen des Malte Laurids Brigge von einer an Baudelaire
geschärften, spezifischen ‚Ästhetik des Hässlichen‘ sprechen, die das ‚Hässliche‘ mit Nach-
druck in den ‚Suchprozess‘ integriert, um unter modernen Bedingungen an die Ästhetik Ro-
senkranz’ anzuschließen.
85 Vgl. Bourdieu, Regeln der Kunst, über den Bruch der Künstler mit den Herrschenden und
den damit verknüpften Weg in die Isolierung (Bourdieu 2001, S. 105). Siehe auch oben.
86 In diesem Sinne ist auch das eingangs dieses Abschnitts gewählte Zitat zu verstehen: „denn
das Leben [meines Onkels …] war geradezu grenzenlos auslegbar“ (KA 3, S. 533). Es ist die
Gefahr nicht zu leugnen, den Roman entlang der Thematiken interpretatorisch zu entfalten,
dabei aber wiederum seine Besonderheit als Kunstwerk zu verfehlen.
87 Der bereits in Fülleborn 1974 ausführlich formal begründete Begriff des ‚lyrischen Romans‘
ist vor allem auch vom Reichtum möglicher Konnotationen her ein passender Begriff.
88 Stahl 1996 nennt die schließende Aufzeichnung zum ‚Verlorenen Sohn‘ zurecht eine der
„grandiosen Umdeutungen“ des Romans (S. 884).
208 C 1. Rilke
Wer den Traumadiskurs der letzten beiden Jahrzehnte ein wenig verfolgt
hat, wird gerade im englischen Sprachraum mit der konsequenten Verwen-
dung eines Wortes vertraut sein, das selbst aus Filmserien und Medien
kaum wegzudenken ist: die Rede ist vom Überlebenden, dem Survivor, des
Traumas. Zumindest teilweise entstammt der Begriff dem Versuch, die Im-
plikationen des Opferbegriffs in Hinsicht auf passives Erleiden zu vermeiden
und so zumindest sprachlich Tätigkeit zurückzugeben (s. o.). Eine etwas
andere Verwendung des Ausdrucks in Nähe zum Komplex Trauma des
Schreibens findet sich bei Rilke wiederholt, wohl am eindringlichsten, wenn
er schreibt: „Kannst Du’s begreifen, daß ich hinter diesem Buch recht wie
ein Überlebender zurückgeblieben bin, im Innersten ratlos, unbeschäftigt,
nicht mehr zu beschäftigen?“ (MaR, S. 88) Er verwendet diesen Begriff gera-
de auch zur Beschreibung der Aussichtslosigkeit der aus dem Buch heraus
gewonnenen Position: „der es Überlebende … was soll aus ihm werden, eben
ein Überlebender, oder Gott wird ihm schon einen neuen Auftrag geben
müssen.“ (MaR, S. 87) Wörtlich genommen, hinterlässt das Buch oder auch
das Trauma des Schreibens seinen Verfasser als Überlebenden eines unend-
lichen Schmerzes (vgl. ebd.).
Was er in den Selbstzeugnissen betont, zeigt sich im Kunstdiskurs als eine
erneuerte Form dessen, was spätestens seit Flaubert thematisch ist: „Der
Künstler ist nach meiner Auffassung eine Ungeheuerlichkeit, etwas Wider-
natürliches.“89 Man vergleiche nur Rilkes daran implizit anschließende
Briefstelle: „Ich glaube, es hat nie einer deutlicher durchgemacht, wie sehr
die Kunst gegen die Natur geht“. (MaR, S. 84)
Neben der französischen Moderne scheinen in dieser Selbstreflexion seiner
Versenkung in den Roman auch aktuelle Ideenwelt und traditionelle Kon-
zepte der Autorschaft durch. Die Aufzeichnungen als frühe literarische Co-
dierung von Ich-Zerfall verknüpfen sich vom Zeitgeist her90 unmittelbar mit
Janets Dissoziationslehre, die ein gutes Jahrzehnt zurücklag, sowie zumin-
dest partiell mit Freuds Arbeiten.91 In den Selbstzeugnissen ebenso wie in
89 Flaubert, An die Mutter, 15. 12. 1850, zit. nach Bourdieu 2001, S. 56 (vgl. Flaubert 1964,
S. 163).
90 Der Begriff soll trotz seiner Problematik verwendet werden und bezieht sich auf gedankli-
che Strömungen und Quereinflüsse, die sich nicht immer auf Einflüsse zurückverfolgen las-
sen.
91 Rilke verband die Psychoanalyse mit der Vorstellung einer zu gründlichen Hilfe, und konsta-
tierte: „mich aufgeräumt zu finden eines Tages, wäre vielleicht noch aussichtsloser als diese
Unordnung“ (MaR, S. 90).
1.2 Malte Laurids Brigge 209
den Paralleltexten ist der Bezug zum Diskurs Kunst und Melancholie über-
aus deutlich.92 In dieses Schema fällt etwa, wenn Rilke von der mit dem
Malte-Roman verknüpften „konsequenten Verzweiflung“ spricht. (MaR, S.
84) In deren Kontext kommentiert er die grundsätzliche Ausrichtung der
Aufzeichnungen auf den Tod als Fluchtpunkt hin und führt aus,93 er sei mit
eben dieser Verzweiflung „bis hinter alles geraten […], bis hinter den Tod
gewissermaßen, so daß nichts mehr möglich war, nicht einmal das Ster-
ben.“94 Deutlich werden neben dem Nietzsche-Bezug in diesem Kontext zwei
Punkte. Der Metaaspekt der Aufzeichnungen verbindet sich mit dem Inhalt:
um hinter den Tod zu geraten, ist eine Vogelperspektive einzunehmen. Der
Rezeption mit der Grundannahme des Subjektivismus – Malte bleibe in sei-
ner Welt gefangen95 – wird ein anders geartetes Unternehmen entgegenge-
halten. Der Autor berichtet in diesem Brief von enger Verstrickung mit dem
Ich-Erzähler im Kontext eines schreib-methodisch organisierten Projekts zu
existentiellen Fragen.96
Malte Laurids Brigge lernt sehen, lernt einen neuen Umgang mit den auf ihn
eindringenden Dingen und mit den auftauchenden Erinnerungen. In der
Nachfolge Baudelaires versucht er in Paris, durch die Nachtseite des Lebens
hindurch zu stoßen, um aus dem Elend das Erkennen zu gewinnen. 97 Für die
92 Er spricht von „Schwere und Trübe“ des Lebens, und zwar im Kontext der höchsten Unge-
nauigkeit des Wortes „ich“ (MaR, S. 85).
93 Immer wieder finden wir bei Rilke, wie auch später bei Broch, den Tod als Bezugspunkt,
was zumindest seit Rousseau ein Thema ist: „Ich kann wohl sagen, daß ich erst zu leben be-
gann, als ich mich als einen toten Mann betrachtete“ (Rousseau 2012, S. 227). Er berichtet
an dieser Stelle von einer dreißig Jahre zurückliegenden Krankheit. Die damit verbundene
Schlaflosigkeit habe ihn zur Überzeugung gebracht, dass er „nur noch kurze Zeit zu leben
hätte“ (ebd., S. 226).
94 MaR, S. 84. Man kann das als Referenz auf deutsche Philosophiegeschichte lesen, mit dem
‚Alles-Zertrümmerer‘ Kant und, für Rilke natürlich wichtiger, dem (sogenannten) Nihilismus
nietzscheanischer Prägung.
95 Vgl. Ryan 1974, die von der Diagnose der radikalen Ich-Bezogenheit Maltes ausgehend, in
die sämtliche ‚objektiven Außenerfahrungen‘ eingegliedert werden, zum Schluss gelangt,
dass in „Rilkes Roman […] die Krise der Subjektivität und deren Auswirkungen auf die her-
kömmlichen Möglichkeiten des Erzählens in exemplarischer Weise zum Ausdruck“ komme
(S. 279).
96 Vgl. die einleitenden Worte zur oben zitierten Stelle: „Mir graut ein bißchen, wenn ich an die
Gewaltsamkeit denke, die ich im Malte Laurids durchgesetzt habe“ (MaR, S. 84).
97 Zur Beziehung der Aufzeichnungen zu Baudelaires postum publizierter Prosagedicht-Samm-
lung Le Spleen de Paris von 1869 vgl. Lauterbach 2013a, S. 324.
210 C 1. Rilke
vorliegende Thematik formuliert: der Komplex des ‚Traumas‘ wird auf eine
moderne Weise verbunden mit Wissen, dem Durchbruch, den Fragen der
Kunst, der Erleuchtung oder auch der Erlösung. Damit wird neu an eine
traditionell christliche Basis angeschlossen, 98 mit der die Bedeutungsoffen-
heit geteilt wird, sodass künstlerische Tätigkeit religiöse Bedeutung anneh-
men kann.99 In diesem Sinne ist es alles andere denn ein Zufall, dass der
Text mit der umdeutenden Neufassung einer biblischen Parabel schließt. 100
Zugleich werden feingliedrige, detaillierte Beobachtungen realer Schrecken
an der brüchigen Grenze von Außen und Innen präsentiert.
Während Freuds Entwurf bekanntlich dem deterministischen Denken des
19. Jahrhunderts verhaftet ist, löst dieser Roman die zeitlich-kausalen Bin-
dungen traditioneller Handlungslogik, die nicht nur für die Literatur des
Realismus und des Naturalismus so bestimmend waren und die etwa die
zeitnahe Erzählung Die Spitzin von 1901 (s. o.) strukturieren. Die Aufzeich-
nungen versuchen eine komplexe Anordnung, in der intelligible Welt, Erin-
nerung und aktuelle Wahrnehmung weder unverbunden nebeneinander-
stehen, noch kausallogisch ineinandergreifen. Die Logik der Verbindung
selbst, die sich aus sprechendem, für sich bedeutsamen Teil und fragilem,
aus Fragmenten zusammengesetztem Ganzen ergibt, ist tragender Teil des
Romanprojekts, um das Rilke so intensiv gerungen hatte, und das er konse-
quenterweise für sich stehen lässt (Singularität), ohne ihm einen weiteren
Roman nachzureichen. Analoges wird in gewisser Weise für Musils singulä-
res Unternehmen des Manns ohne Eigenschaften sowie für Broch gelten, der
dieses Problem freilich anders löst, in dem er in Korrespondenz mit zeitge-
nössischen Lösungen in den Schlafwandlern, in der Verzauberung, im Vergil,
und in den Schuldlosen je für sich bleibende, einzigartige Experimente einer
jeweils neuen Romanform durchführt. Die Aufzeichnungen gehen, von ihrer
98 Was in den Aufzeichnungen ebenfalls die größere Bühne des modernen Romans betritt, sind
die von Marx für Thomas Mann untersuchten Christusfigurationen (s. o.), wodurch die (be-
reits intuitiv nachvollziehbare) Bedeutung der Passionsgeschichte für den Konnex Trauma
unterstrichen wird. Neben Mann wird besonders Bulgakov hier umfassend anschließen. Zu
Lebenswegen als „imitatio Christi“ um 1900 vgl. Fick 1993, S. 326, Anm. 24.
99 Man denke auch an die Verbindung des in Abschnitt B diskutierten Erhabenen mit dem
Rilke’schen ‚Großen‘ wie es etwa in Az 23 auftritt. Vgl. zum „Großen“ bei Rilke etwa Lauter-
bach 2013a, S. 323, bzw. s. u.
100 Auch in diesem Sinn der modernen Transformation religiöser Narrative kann man zumin-
dest von einer gewissen ‚Vorläuferschaft‘ zu den modernen Projekten Joseph und seine Brü-
der und Tod des Vergil sprechen.
1.2 Malte Laurids Brigge 211
101 Vgl. die Rodin zugeschriebene Aussage: „Wer eines versteht, der versteht überhaupt; denn
in allem sind dieselben Gesetze“ (KA 4, S. 474).
102 In die antike Realität ist in Brochs Roman der mittelalterliche Mythos des Vergil einge-
schrieben, um zu modernen Fragen der Poetik vorzustoßen, was als Methode erst deutlich
wird, wenn man Thomas Manns Joseph und seine Brüder mit vor sich sieht (s. u.).
103 Lauterbach 2013a, S. 320.
212 C 1. Rilke
Das Ereignis selbst, das sich in der Situation oder im Prozess der Erinnerung
an einen Gegenstand gebunden hat, ist nicht zugänglich. Dieser trägt die
Emotion und wird in der Darstellung mit dem Unsagbaren verbunden: „Oh,
wie man es auch sagt, es kann keiner begreifen, wie furchtbar dieses Fenster
ist“. (Ebd.) Das Fenster ist nicht nur Träger der Emotion, sondern zugleich
deutlich markiert als Erinnerungsschwelle. Das heißt, es geht um den nicht
erinnerten Ort hinter dem Fenster und um die Angst davor: „Ist es nicht
entsetzlich zu denken, daß dahinter noch etwas ist. Eine Kammer? Ein Saal?
Ein Garten?“ (Ebd.) Hier ist der Bereich in Form einer Andeutung ausge-
schildert, für den die traditionelle psychoanalytische Rede von der Verdrän-
gung durch den Diskurs über die komplexen Prozesse der Erinnerung an
traumatische Ereignisse ergänzt, teilweise auch ersetzt worden ist. 106 Für
die Poetik des modernen Romans steht Rilkes Fenster für die hohe Bedeu-
tung von Verweisstrukturen.107
Wichtig in Verbindung mit den Aufzeichnungen ist der Kommunikations-
bruch aus dem Abklingen der Fieberträume heraus, der im Tragy in dieser
Intensität vielleicht etwas unmotiviert erscheint, aber bereits deutlich vo-
rausweist auf die Aufzeichnungen zu Maske und Hand (s. u.): „Umsonst. Er
bleibt vergessen. Er mag rufen und Zeichen geben. Seine Stimme reicht nir-
gends hin“.108
Eröffnet wird der Abschnitt durch den elliptischen Satz: „Die Existenz des
Entsetzlichen in jedem Bestandteil der Luft“, um sogleich das Außen und das
Innen über das Atmen zu verknüpfen. (KA 3, 505) Auffällig ist eine Az 23
charakterisierende Erzählerposition, über die die zwei Teile dieses Ab-
schnitts gegliedert sind: Der Text beginnt hier als Du-Erzählung, in der das
Du dem Ich entspricht, und geht mit der Kette der Anrufungen ab „O Nacht“
(KA 3, 507) über in ein Du, das dem impliziten Ich gegenübertritt. 109 Dieses
Du bezieht sich nun auf die Mutter, wodurch die aktuelle Thematik auf die
106 Die Darstellung schließt hier mit der die Überlegungen schließenden direkten Rede: „Wenn
das nur nicht wiederkommt, Herr Doktor“ (ebd., Herv. im Orig.). Deutlich sind die potentiell
traumatische Konfrontation mit dem Trauma (Retraumatisierung) und die Angst vor der
Wiederkehr nicht des Ereignisses, sondern der Ängste. Dieses ‚Fenster‘, verbunden mit dem
zu vermeidenden Blick auf Traumatisches‘, steht in literarisch-topologischer Tradition, co-
diert um, reichert an und ist v. a. bedeutend für Rilkes Poetik. Verknüpft ist die Stelle auch
zu Az 19 (KA 3, S. 492–498), zur Wiederkehr der Erinnerung im Gespräch mit dem Arzt und
zum ‚Großen‘ als verweisender Begriff auf „tiefste[s] Entsetzen“, in dem sich ganze Bedeu-
tungsketten verdichten (KA 3, S. 497). S. auch oben zu Hoffmanns Elixieren, wo in teils ana-
loger Funktion vom „Schleier“ die Rede ist.
107 Verwiesen wird in dieser indirekten Poetik wie beim ‚Großen‘ auf etwas, das nicht mehr
ausgeführt wird. Zum Fenster bei Rilke als „räumliche Grenze zwischen Ich und Welt“ im
Kontext der zeitgenössischen Literatur vgl. die Beispiele in Anz 1977, S. 74.
108 KA 3, S. 286. Die Codierung bezieht sich auf die Dimension der Ohnmacht, des Ausgeliefert-
Sein, der Ausweglosigkeit und des Erstarrens, s. den Abschnitt A 2.
109 Das erste Du ist möglicherweise am einfachsten zu charakterisieren als Variante der Reflek-
torfigur Stanzels, für die gilt: Er = Ich. Das implizite Ich (also das eröffnende Du) wird dann
nicht mehr genannt, das Du ist also nach außen übergegangen und hat die Bedeutung ver-
ändert, wodurch sich die beiden Teile formen.
214 C 1. Rilke
110 Diese Simultanität schließt an die Durchdringung der Zeiten in Tragy an (s. o.) und ist ein
zentrales Moment der Aufzeichnungen im Kontext der Fragestellung dieser Studie.
111 Eine überaus naive Lesart wäre die, der bedrohlichen Anonymität der modernen Großstadt
eine Idylle der Kindheit entgegenzuhalten.
112 Der Kerngedanke des Anti-Ödipus: die Wunschproduktion sei sozial, sie sei ökonomisch, ist
hier nicht gegeben, wohl aber ist das Soziale als Individuelles präsent.
113 Traditionell wäre die Aufteilung in formal und inhaltlich. Der Endpunkt ist das Überborden-
de, die Nähe zum ‚Traumabegriff‘ ist evident.
1.2 Malte Laurids Brigge 215
tion des Unterscheidens und der Abgrenzung entspricht: „Nun hast du dich
zusammengenommen in dich, siehst dich vor dir aufhören in deinen Hän-
den, ziehst von Zeit zu Zeit mit einer ungenauen Bewegung dein Gesicht
nach.“ (Ebd.)
Im zweiten Teil von A 23 werden diese Phänomene aus der Beobachtung
von Paris an die mentale Präsenz der Kindheit angeschlossen, aber zunächst
gilt es noch, sie genauer zu fassen: „Und in dir ist beinah kein Raum; und fast
stillt es dich, daß in dieser Engheit in dir unmöglich sehr Großes sich aufhal-
ten kann“. (Ebd.) Das Verhältnis des Sozialen und des Eigenen, das Verhält-
nis von Innen und Außen,114 sprengt den Versuch dieser Begrenzung des
Schreckens, um das Soziale im Individuum weiter zu präzisieren:
Das Soziale dringt in das Individuum ein, bzw. steigt im (fremden) Inneren
gleich dem Äußeren, aber ohne Kontrolle, in einer körperlichen Fassung des
Unbewussten bei Rilke, nicht: in einer Bedeutungsschicht (wie bei Freud),
die zu entziffern wäre. Durch diese Körpermetaphorik wird die Präsenz des
Traumatischen ausgedrückt, und zwar in den Bereichen, zu denen das Ich
keinen Zutritt hat und die jenseits des Ich formiert sind. Die Rede ist an
dieser Stelle nicht nur von einem Fremdkörper, sondern auch vom genuin
Fremden der ein Jahrhundert zuvor ausgemessenen Innenräume. Verwiesen
ist auf die Frage ihrer Unzugänglichkeit, die die Aufzeichnungen mitstruktu-
riert. Rilkes Text geht hier aber noch einen Schritt weiter, spitzt sich weiter
zu, wobei nicht nur das Bild des Käfers, in dem der Abschnitt gipfelt, Assozi-
ationen zu Kafka eröffnet:
Ach, und wohin dann, wohin dann? Dein Herz treibt dich aus
dir hinaus, dein Herz ist hinter dir her, und du stehst fast schon
außer dir und kannst nicht mehr zurück. Wie ein Käfer, auf den
man tritt, so quillst du aus dir hinaus, und dein bißchen obere
Härte und Anpassung ist ohne Sinn. (KA, S. 506 f.)
114 Zu grundlegenden Fragen des Verhältnisses von Außen und Innen bei Rilke um und jenseits
von 1910 vgl. etwa Müller 2013, besonders S. 302, sowie Gerok-Reiter 1996, S. 200 f.
216 C 1. Rilke
Das Ansteigen draußen, das das Ansteigen innen bewirkt, wird übermächtig.
Der Innenraum, der eine Reduktion des Katastrophalen anzubieten schien,
wird nicht nur überflutet (das Bild Freuds), er wird nach außen hin ge-
sprengt, die Körpergrenze, das „bißchen obere Härte“, sowie der Versuch
der assimilierenden Bewältigung, die „Anpassung“, bleiben sinnlos. Dadurch
dass es das eigene Herz ist, welches das Ich nach außen treibt, wenn „es
draußen steigt“, das „Unerhörte“, schließt sich das Wechselspiel, das mit
dem Einatmen des Entsetzlichen begann.
Nach dieser letzten Steigerung beginnt der zweite Teil der Az 23, der die
mögliche Beruhigung durch die Mutter thematisiert und entscheidender, die
Kindheit in dieses Geschehen integriert, die in den folgenden Abschnitten
immer prominenter hervortritt. Die letzten Worte dieses Abschnittes über
das Entsetzliche sind sprechend für Rilkes poetisches Projekt, wenn er mit
dem Ausblick auf „Liebe“ endet, die auch Broch, wenngleich in anderer
Form, immer wieder dem Traumatischen gegenüberzusetzen versucht (s.
u.)115
115 Beide lassen sich so von Hans Keilson unterscheiden, der die Problematik des christlichen
Konzepts der Nächstenliebe gegenteilig diskutiert (s. D 1). Vgl. auch den Schlussteil zu Ant-
worten auf das Trauma.
116 Die Nähe zur von Hoffmann geschaffenen Welt der Elixiere und des Sandmanns ist deutlich;
die Poetiken begegnen sich im Komplex des Traumas. Zum Überbordenden bei Rilke auf die
Aufzeichnungen folgend, vgl. Gerok-Reiter 1996, S. 100 f. (Maß und Übermaß).
1.2 Malte Laurids Brigge 217
Für die Erzählung von der Hand in Az 29 lassen sich einleitend zwei basale
Themen unterscheiden. Zum einen wird die Wahrnehmung der eigenen
Hand als Fremdkörper geschildert, wenn sie mit einer als singulär markier-
ten, imaginären Hand, die sich aus der Wand herausschält, in Interaktion
tritt. Dass die fremde Hand als ungewöhnlich mager bezeichnet wird, mag
an den stets im Hintergrund präsenten Tod erinnern, das Gespenstisch-
Unheimliche oder das Wechselspiel von Loslösen und Auflösen verstär-
ken.118 Wichtig für den vorliegenden Kontext ist die abrupte Umwandlung
von Neugier, wofür die eigenmächtig herumtastende, sich loslösende eigene
Hand ebenso steht wie ihre für das beobachtende Ich seltsame Bindung an
die fremde, in Grauen.119
117 Dies ist Teil des komplexen Liebes-Diskurses, die positive Darstellung der Macht, die auch
kippen könnte. Zu biographisch-psychologischen Deutungen einer zerstörerischen Liebe
der Mutter, die besitzergreifend, aber nicht bestätigend agiere, vgl. Stahl 1996, S. 906.
118 Neben psychologischen Lesarten finden sich für das Hand-Erlebnis Maltes poetologisch
orientierte Lektüren. Zur Tradition der Deutung im poetischen Kontext des Schöpferischen
und in Bezug auf ‚Hand‘ in den Aufzeichnungen insgesamt vgl. die Darstellung in Wacker
2013, S. 242–244. Mit der Deutung der Malwerkzeuge als Schreibwerkzeuge liest sie die ‚Vi-
sion‘ als Verlust eben dieser, im Übergang von Schweigen zur wiedergefundene Sprache.
Deutlich an der Episode sind Fremdheit, abrupter Übergang und eben der Bezug zum Erzäh-
len. Eine reine Kunst-Paraphrase ginge aber doch am Text vorbei.
119 Es geht auch um das Momenthafte der Erschütterung, vgl.: „Meine Neugier war noch nicht
aufgebraucht, aber plötzlich war sie zu Ende, und es war nur Grauen da“ (KA 3, S. 520). Die
Stelle kann mit realen und potentiellen frühkindlichen traumatischen Erfahrungen – einer
218 C 1. Rilke
Zum anderen werden hier die Möglichkeit des Erzählens von Erschütterung
und dessen Implikationen in mehreren Anläufen thematisiert. Während in
der Reflexion der Absicht, Erich von der Episode zu erzählen, Zugehörig-
keit120 und Eindruck auf den anderen dominieren, geht es in Bezug auf die
möglichen Adressaten Maman und Mademoiselle um die beiden Komplexe
radikale Individuation und Angst, etwas genauer formuliert, um den Riss
der Verbindung zu den anderen durch Nicht-Mitteilbarkeit bzw. Bruch der
Kommunikation121 sowie um die Angst vor dem Erzählen und der Reaktion
des Anderen – das Erzählen wird dabei als Hören gefasst und als das genuin
Andere zum Ereignis (s. u.) – bzw. vor der Wiederholung durch die Ausfor-
mulierung. Die soziale Abtrennung durch das Ereignis fasst Rilke auch als
Ausdruck für das Besondere, wenn von Dingen die Rede ist, die nur für ei-
nen gemacht sind.122 Der Referenzpunkt dieser intrafiktionalen Deutung
liegt deutlich in christlicher Tradition, wo Leiden und Trauma so massiv mit
Auserwählt-Sein verknüpft sind.123 Die Thematik von Az 29 ist also doppelt
zu fassen: es geht um das Ereignis und dessen Bearbeitung.
Die Fokussierung auf das Erzählen selbst findet bereits einleitend statt.
Malte ist zwar „nahe daran, Maman von der ‚Hand‘ zu erzählen“ (KA 3, S.
518), aber unter dem Verweis auf das Gesicht des Dieners von Az 28 sowie
auf die Problematik der Spiegelung im Gesicht des Anderen124 heißt es: „Und
intensiven Koppelung von Neugier und Erschütterung – gegengelesen werden, bleibt aber
offen. Zum plötzlichen Umschlag s. auch Abschnitt B 1, beginnend mit der ‚Keimzelle‘ abrup-
ter Erschütterung in Kleists Marionettentheatertext, wo dieses Momenthafte auftritt.
120 ‚Zugehörigkeit‘ meint hier natürlich zum Abgetrennten, zur anderen Welt, zu der Erich
gehört. Im Kontext ist diese ‚Welt‘ auch Ausdruck für das Besondere.
121 „Mademoiselle –, wollte ich sagen und konnte es nicht“ (ebd.). Man vergleiche die Sprachlo-
überwiegt die kindliche Sichtweise, wenn vom traurigen, schweren Stolz die Rede ist oder
von der Welt der Erwachsenen und wie man dann herumgehen würde, „voll von Innerem
und schweigsam“ (KA 3, S. 521). Das Grauen wird vergewissert über den Innenraum, der
sich mit der Abtrennung verknüpft. Die ‚ernsten‘, auf sich bezogenen Erwachsenen kennen
sozusagen in dieser kindlichen Fantasie ein Stück des Grauens, das hier wieder an das ‚Gro-
ße‘ (Erhabene) anklingt.
124 Rilke wird dieses Thema weiter beschäftigen. In den Elegien sind es Gesichter der Tiere,
durch deren Betrachtung der Mensch möglicherweise sich aus seiner Subjektivierung, To-
desfixierung, lösen könnte, wenngleich nur augenblickshaft.
1.2 Malte Laurids Brigge 219
ich fürchtete mich trotz der Dunkelheit vor Mamans Gesicht, wenn es sehen
würde, was ich gesehen habe.“ (Ebd.). 125 Daran schließt der Erzähler unmit-
telbar an, er habe die Geschichte Erich erzählen wollen, in der Meinung, er
möge in dessen Achtung steigen, dieser sei aber zurückgewichen. 126 Erst der
dritte Schritt ist die an sich selbst gehaltene Erzählung der Begebenheit der
‚Hand‘, „die nun weit zurückliegt in meiner Kindheit“. (Ebd.) Es lässt sich
sagen, sie erfolgt nun aus der durchaus betonten Distanz heraus, der Rezipi-
ent wird allerdings die ebenfalls betonte Präsenz der kindlichen Ereignisse
für den aufzeichnenden Schriftsteller noch vor sich haben.127 Die Episode
selbst endet mit der bereits oben anzitierten Sprachlosigkeit in der Situati-
on: „Mademoiselle – wollte ich sagen und konnte es nicht, aber da erschrak
sie von selbst, sie warf ihr Buch hin und kniete sich neben den Sessel und
rief meinen Namen; ich glaubte, daß sie mich rüttelte. Aber ich war ganz bei
Bewußtsein. Ich schluckte ein paarmal; denn nun wollte ich es erzählen“
(KA 3, S. 520) – wozu es wieder nicht kommt, denn diese Unmöglichkeit des
Erzählens wird übergeführt in eine immer allgemeinere Fassung.128 Dabei
wird zunächst ganz genau festgehalten, was die Problematik des Erzählens
für das Kind bedeutet, wie sich das Ereignis im Erzählen formt und als ande-
res wiedergegeben wird, wie es sich dabei durch den Prozess des Erzählens
und dadurch auch als traumatisches Ereignis verdoppelt, sodass mit der
Versprachlichung alles „noch einmal durchzumachen“ sei:
125 Ebd. Analog zum Tragy geht es um ‚Trauma‘ aus dem Schrecken und aus der Angst heraus –
im Sinne des Modells von Fischer/Riedesser im LdP wäre zu sagen: aus dem Traumasche-
ma, der traumatischen Verarbeitung des Ereignisses heraus – um Angst vor der Angst. Hier
ist sie allerdings bezogen auf den Anderen als Spiegel und eng verknüpft mit der Frage des
Blicks, des Sehens und des Gesehen-Werdens.
126 Die Situation entspricht einer gewollten Erzählung über ein erfahrenes Trauma zum Presti-
gegewinn.
127 Vgl. eine der bekanntesten Stellen der Aufzeichnungen, mit der Paraphrase des für die
Traumadiskurse konstitutiven Gedankens, Zeit heile nicht alle Wunden: „Ich habe um meine
Kindheit gebeten und sie ist wiedergekommen, und ich fühle, daß sie immer noch so schwer
ist wie damals und daß es nichts genutzt hat, älter zu werden“ (KA 3 S. 499, Az 20).
128 Vgl. v. a. den Beginn von Az 30 (KA 3, S. 521 f.) mit dem (wiederholten) väterlichen Sprech-
befehl, dem Malte nicht zu folgen vermag. So wie die Zeiten ineinander geschichtet sind, ist
das Einzelerlebnis mit dem Allgemeinen (der Wiederholung) vermengt und die beiden Di-
mensionen gehen ineinander über.
220 C 1. Rilke
In Az 23, dem ‚Käfer‘-Abschnitt, war die Mutter aufgetreten, die durch ihre
Präsenz das Ungeheure aufzulösen vermag; sie wird in der Erinnerung von
Az 30 diejenige sein, die nie kam (vgl. KA 3, S. 522). In Az 28 wird über sie
das für den Roman so zentrale Thema des Todes umkreist, und zwar über
Mamans Erzählung zu Ingeborg, dem schrecklichen Tod der Gräfin Öl-
legaard Skeel sowie der im Hintergrund bereits präsenten Thematik von
Mamans eigenem Sterbeprozess.129 Ein Zentrum im Kontext der hier grund-
legenden Thematik des Erzählens bildet ihre Aufforderung an Malte, aus
seiner Erinnerung heraus später der Frage nachzugehen, warum die la-
chende Ingeborg nicht mehr wollte, sowie das Sterben selbst zu fassen. 130
Wenn Maman hier – durchaus metareferentiell deutbar – von der chronolo-
gischen Ordnung des ‚männlichen Erwachsenen‘ 131 für dieses Projekt
spricht, so ist das Feld umschlossen, dem der Text nachkommt und nicht
nachkommt: Die Aufzeichnungen ringen deutlich sichtbar um den genannten
Komplex, der nur um den Preis unzulässiger Reduktion als Wechselspiel von
Tod und Tod im Leben zu bezeichnen wäre. Aber sie brechen dabei eben
genau diese Ordnung des Erzählens multiperspektivisch und vielschichtig
auf.132
Aus dem Diskurs zum Erzählen und den Erinnerungen Maltes heraus entfal-
tet sich am Ende dieser Aufzeichnung die eingangs derselben angekündigte
Geschichte Ingeborgs, d. h. eigentlich die Geschichte mit dem Hund und dem
Diener nach Ingeborgs Beisetzung und der geisterhaft präsenten Ingeborg,
deren aktuelle Niederschrift analog zur ‚Hand‘ angekündigt wird: 133 „Aber in
129 Aufgegriffen wird dieser in Az 33 (KA 3, S. 531–533). Die Todesthematik wird analog fortge-
führt in den Duineser Elegien, wo es immer wieder um den Zwischenbereich geht (s. u.).
130 Wenn Rilke davon spricht, er sei mit dem Text hinter den Tod geraten (s. o.), tritt er gleich-
sam in ein Verhältnis zu seiner Figur und der ihr von Maman übermittelten Aufgabe.
131 Vgl.: „wenn du groß bist, Malte“ (KA 3, S. 514) sowie „wenn ich ein Mann wäre, ja gerade
wenn ich ein Mann wäre, würde ich darüber nachdenken, richtig der Reihe und Ordnung
nach und von Anfang an“ (KA 3, S. 515).
132 Ob und falls ja, wie Malte Laurids Brigge als intradiegetischer Autor selbst um diese ringt,
bleibt ausgeklammert.
133 Gespielt wird also auch hier mit dem Übersinnlichen, bekanntlich eines der strukturieren-
den Elemente der Aufzeichnungen insgesamt. Die geisterhafte Erscheinung der Hand wird so
1.2 Malte Laurids Brigge 221
letzter Zeit schien ihr doch Ingeborg das, was am schwersten zu begreifen
war. Und nun will ich die Geschichte aufschreiben, so wie Maman sie erzähl-
te, wenn ich sie darum bat.“134
Inhaltlich wird berichtet, wie Cavalier, der Hund, Ingeborg entgegenlief und
wie die Beobachtenden eben dies begriffen:
Entscheidend ist nun, wie die sich erinnernde Maman (in der Erinnerung
Maltes) erzählt, wie sie den Diener beobachtet, der ihre Gesichter beobach-
tet: „Er zögerte eine Weile; offenbar war es nicht ganz leicht, auf unsere
Gesichter zuzugehen“ – ausgeklammert, aber deutlich: auf den Schrecken,
der sich in ihnen abzeichnet – „Und dein Vater winkte ihm auch schon, zu
bleiben.“ (Ebd.) Der Abschnitt endet mit scheinbar zielbewusster Handlung,
dem konsequenten, Sicherheit vermittelnden Umgang mit einer eben diese
(Sicherheit) erschütternden Situation, was einem Stabilität reproduzieren-
den „Umgang“ mit traumatischen Ereignissen entspricht.136
Wodurch die Problematisierung der Erzählung der Hand also hier vorberei-
tet wird, ist, kurz gefasst, der Schrecken in der Beobachtung der Beobach-
tung, die in 28 über den Blick erfolgt, über welchen Maman (wiederholt)
berichtet, und der in 29 auf die Ebene der Erzählung übertritt, wobei der
Anschluss einleitend, über eine teils oben bereits zitierte Stelle, hergestellt
wird: „[W]ie gut ich den Diener begriffen hatte, daß er nicht hatte kommen
können auf ihre Gesichter zu. Und ich fürchtete mich trotz der Dunkelheit
mit der geisterhaften Erscheinung Ingeborgs in Beziehung gesetzt. Nachklang in der ersten
Elegie ist, der Engel vermöge kaum zwischen Lebenden und Toten zu unterscheiden (vgl.
E 1, Vs. 83 f.).
134 KA 3, S. 516, im Anschluss an die Schilderung des Verbrennens der Gräfin Öllegard Skeel.
135 Auch hier findet sich die antithetische Konstruktion zwischen Höhepunkt der Freude und
jähem Sturz.
136 „Aber da nahm dein Vater selbst das Tier und ging damit, als wüßte er genau wohin, ins
Haus hinein.“ (KA 3, S. 517). Die Wechselwirkung von Unsicherheit und Sicherheit steht in
Analogie zur Rede vom Begreifen, Umgehen mit dem Trauma, Durcharbeiten, etc., wie oben
u. a. am Beispiel von LaCapra 2001 oder auch der psychotraumatologischen Abwehrstrate-
gien diskutiert.
222 C 1. Rilke
vor Mamans Gesicht, wenn es [nun vermittelt über die Erzählung] sehen
würde, was ich gesehen habe.“137 Erst zum Schluss, nachdem die Erzählung
der ‚Hand‘ abgeschlossen ist, wird übergeleitet auf den Schrecken des Er-
zählens selbst, alles noch einmal durchleben zu müssen in der Erzählung,
wobei eben sofort auf die abgewandelte Form verwiesen ist: die Erzählung
als Variation des Ereignisses, was mit dem Komplex möglicher Retraumati-
sierung korrespondiert138 und sich schematisch betrachtet als Wiedererle-
ben in abgewandelter Form bezeichnen lässt.
Beleuchtet wird die intersubjektive Ausgangsposition (Az 28 und Az 29),
ebenso wie der sich entwickelnde Bruch zu den anderen durch die Unmög-
lichkeit des (bloßen) Erzählens – hier aus spezifischer Perspektive –, welche
ja dem Roman insgesamt zugrunde liegt, 139 sowie durch die unmittelbare
Beobachtung des Anderen. In beiden Fällen bietet der Erzähler imaginierte
Konzepte dessen an, wie sich die Beobachtung der Beobachtung verhält. In
Az 28 ist es die Erzählung Mamans, die rekonstruiert wird und die in Az 29
das Begreifen des Dieners imaginiert, in Az 29 ist es die Imagination des
Erzählens selbst, und zwar retrospektiv gegenüber Maman und Erik sowie
gegenüber Mademoiselle in der Situation selbst, bzw. im unmittelbaren
Anschluss daran.
Der Abschnitt, der an die ‚Hand‘ anschließt, beginnt mit der Einordnung
dieser Erzählung, die der oben bereits angesprochenen Ausweitung hin zu
einer allgemeineren Fassung der Thematik entspricht: „Und dann kam eine
von diesen Krankheiten, die darauf ausgingen, mir zu beweisen, daß dies
nicht das erste eigene Erlebnis war“ (KA 3, S. 521), und verstärkt den Bruch
in der Entwicklungsdynamik, der bei Rilke immer wieder über den Verweis
auf Fiebernächte hergestellt wird. So wie bereits im Tragy ist das Fieber bei
Rilke ein Symbol für die enge Grenze naturwissenschaftlich fundierter Ord-
nungen der menschlichen Erlebniswelt. In der Folge wird nun nicht nur das
137 KA 3, S. 518. Die für Malte konstitutive und intensiv untersuchte Thematik von Sehen und
Erzählen/Schreiben (vgl. Lauterbach 2013a), steht hier im Hintergrund.
138 Es geht also um die Frage einer Retraumatisierung durch Erzählen oder Schreiben (s. u.).
139 Dass psychologisch-medizinische Diskurse diese Unmöglichkeit sehr viel weniger themati-
sieren (offensichtlich in der quantitativen Auswertung von Erzählungen, aber auch in der
qualitativen Auswertung) als linguistische und literaturwissenschaftliche, ist im Sinne der
Differenz der Diskurse zu betrachten und mit Gründen des Praktikablen verbunden (vgl.
den Abschnitt A 1). In dieser Hinsicht scheint Literatur ein Stachel im Fleisch jeglicher psy-
chiatrischen Nomenklatur zu sein.
1.2 Malte Laurids Brigge 223
Das Fieber wühlte in mir und holte von ganz unten Erfahrun-
gen, Bilder, Tatsachen heraus, von denen ich nicht gewußt hat-
te; ich lag da, überhäuft mit mir, und wartete auf den Augen-
blick, da mir befohlen würd, dies alles wieder in mich hinein-
zuschichten, ordentlich, der Reihe nach. Ich begann, aber es
wuchs mir unter den Händen, es sträubte sich, es war viel zu
viel. Dann packte mich die Wut, und ich warf alles in Haufen in
mich hinein und preßte es zusammen; aber ich ging nicht wie-
der darüber zu. Und da schrie ich, halb offen wie ich war,
schrie ich und schrie. (KA 3, S. 521)
140 Die Frage eines Traumas des Schreibens (s. auch unten) wäre hier enger gefasst als Retrau-
matisierung über den Prozess des Sich-Erinnerns im Schreiben. Die angewachsene Bedeu-
tung der Traumadiskurse für den Erinnerungsdiskurs ist bekannt, s. auch oben.
141 In vielen Definitionen und Metaphern zu Trauma, wird es als das verstanden, was sich nicht
integrieren lässt, wie wir dies literarisch bereits seit E.T.A. Hoffmann kennen, wo keine Lo-
gik das Erlebte aufzuheben vermag (s. o.). Neu ist die Beziehung auf die Erinnerungstätig-
keit selbst, auf das Erzählen und implizit das Schreiben. Man vergleiche auch, wie sich das
schon mit dem Bild des Fensters in Tragy angekündigt hatte.
142 Zumindest liegt dies nahe. Für einen autobiographischen Roman würde man in Abgrenzung
vom erlebenden hier vom erzählenden Ich sprechen, was natürlich für die Aufzeichnungen
nicht ganz stimmig sein kann.
224 C 1. Rilke
a) Die Episode der Hand steht als ein bedeutungsoffenes, intensiv erlebtes,
symbolisch aufgeladenes Ereignis im Zentrum dieser Aufzeichnung, das
als potentiell bedrohlich gerade auch für sein Erzählt-Werden markiert
ist. Als solches steht es in der für diesen Roman charakteristischen en-
gen Wechselwirkung mit der unmittelbaren Textumgebung wie auch
mit dem Gesamtgebilde des Romans.
b) Der Prozess des Erzählens (und damit auch der des Schreibens) selbst,
der am Ende auf Erfahrungen von ‚ganz unten‘ ausgeweitet wird, bildet
den komplexen Hintergrund, der mindestens auf folgenden Ebenen be-
leuchtet wird:
c) Erinnern selbst, über Fieber als Transgression markiert, wird als poten-
tiell (re)traumatisierend vorgeführt,143 wobei die Zerstörung des Ich
und von dessen Einheit durch die Tätigkeit des Erinnerns hervorgeho-
ben ist. Thematisiert ist die Unmöglichkeit der Integration der aufge-
wühlten Erfahrungen.
d) Wurde in Az 23 die Problematik der Differenz von Außen und Innen
bearbeitet, ist hier die Spannung des Damals und Jetzt beleuchtet. Durch
die ineinander verschobene Darstellung gerade in Az 30 wird eine kom-
plexe Doppelung erzeugt, die, wie schon mehrfach ausgeführt, dem
Chronologisch-Kausalen gegenübertritt.144
143 Zum einen geschieht dies im Sinne eines Auslösers oder Triggers, zum anderen im Kontext
der Kommunikationssituation mit der Frage der Spiegelung.
144 Die aus dem Traumadiskurs bekannte Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart ist dabei
selbst als nicht zu integrierendes Ereignis markiert.
1.2 Malte Laurids Brigge 225
[S]o war ich einfach Sophie, Mamans kleine Sophie, die sich
häuslich beschäftigte und der Maman einen Zopf flechten muß-
te, damit keine Verwechslung stattfinde mit dem bösen Malte,
wenn er je wiederkäme. (KA 3, S. 524)147
145 Rilke kannte Kleist (im Gegensatz etwa zur Zeit der Duineser Elegien) während der Konzep-
tion der Aufzeichnungen kaum, das frühe Kleistgedicht bezog sich v. a. auf den Mythos des
Selbstmords. Die intensive Rezeption Kleists beginnt erst einige Jahre nach der Publikation.
146 Vgl. etwa Identitätsverluste und Orientierungstrauma in Kafkas Schloß oder mit der Identi-
tätsfrage verknüpfte psychotisch-dissoziative Bilder in der Literatur Brochs (s. u.).
147 Die Dissoziation hier im Sinne einer Fallstudie zu deuten (s. Sandmann-Abschnitt), würde,
um dies noch einmal hervorzuheben, an der philologischen Grundfragestellung vorbeizielen
und, um Maturanas Ausdruck zu entleihen, der (relativen) operationalen Geschlossenheit
literarischer Texte widersprechen.
148 Vgl.: „Wäre sie in eine Religion mit deutlichen und ausführlichen Gebräuchen geraten, es
wäre eine Seligkeit für sie gewesen, stundenlang zu knien und sich hinzuwerfen und sich
recht mit dem großen Kreuz zu gebärden vor der Brust und um die Schultern herum“ (KA 3,
S. 531). Vgl. dagegen die pflichtbewusste Religion des Vaters.
226 C 1. Rilke
sehr entstellt, womit wieder (bloß) auf der Ebene der Problematik an Maltes
Maskenerlebnis angeschlossen wird: „Ich begriff diesen Ausdruck nicht,
aber es fröstelte mich, da ich ihn hörte.“ (KA 3, S. 533)
Der Abschnitt selbst beginnt mit Betrachtungen zur Rückkehr „aus der Welt
dieser Fieber“149 in eine geordnete Welt mit geordneten Bedeutungen, die
Rede ist von „verabredeten Grenzen“ (KA 3, S. 525), also von konventionell
(sprachlich) gesetzten Ordnungen. Unmittelbar wird die eigentliche Erzäh-
lung der ‚Maske‘ dann durch folgende Worte antizipiert:
Entscheidend ist der nun folgende Wechsel von der Bestätigung über Rollen
in die Orientierungslosigkeit aus dem Unbegrenzten heraus, die sich mit
dem letzten Schrank vollzieht, der „statt bestimmter Trachten allerhand
vages Maskenzeug“ beinhaltet, „dessen phantastisches Ungefähr mir das
Blut in die Wangen trieb.“ (Ebd.) So heißt es über die u. a. aufgefundenen
Tücher, Schals und Schleier: „In ihnen erst sah ich wirklich freie und unend-
lich bewegliche Möglichkeiten“ (KA 3, S. 528), – der Ich-Erzähler spricht in
diesem Kontext von einer „Art von Rausch“ (KA 3, S. 527) und betont, vom
Materiellen auf das Intelligible abhebend, dass die Stoffe „kaum zu fassen
waren“ (KA 3, S. 528) – um weiter auf den eigentlichen Punkt, das fatale
Kommende, zuzusteuern: „besonders da auch Masken da waren“. (Ebd.)
Das Unbegrenzte, das „phantastische[.] Ungefähr“ steigert sich, um sich
weiter dem absoluten Höhepunkt der Selbstgewissheit zu nähern. Zunächst
heißt es: „Ich lachte noch, während ich mich verkleidete und ich vergaß
darüber völlig, was ich eigentlich vorstellen wollte. Nun, es war neu und
spannend, das erst nachträglich vor dem Spiegel zu entscheiden.“ (Ebd.)
Malte bringt sich weiter in Pose und steuert auf den Spiegel im Fremden-
zimmer zu, dabei festhaltend: „Das war nun wirklich großartig, über alle
Erwartung. Der Spiegel gab es auch augenblicklich wieder, es war zu über-
zeugend. Es wäre gar nicht nötig gewesen, sich viel zu bewegen; diese Er-
scheinung war vollkommen, auch wenn sie nichts tat.“ (Ebd.)
Nur im Zuge der Vergewisserung des Selbst unter der Maske, im Zug „zu
erfahren, was [er] eigentlich sei“ (ebd.), in großen beschwörenden Bewe-
gungen der versuchten Selbst-Erkenntnis in der Maske, wirft Malte den
kleinen runden Tisch und das Flacon, aus dem „der Rest irgendeiner alten
Essenz herausgespritzt war“ (KA 3, S. 529.), zerbricht, symbolisch relativ
eindeutig für das zersplitternde maskenhafte Ich, haltlos im ‚phantastischen
Ungefähr‘, in „tausend winzige Scherben“. (Ebd.) So wie der Jüngling Kleists
in der fehlenden, nicht anerkannten Übereinstimmung mit dem Anderen
(dem Kunstwerk) seine Grazie und seine Übereinstimmung mit sich selbst
verliert, was bei Kleist von außen berichtet wird, so gerät hier das mit der
unklaren Maske verschmelzende151 Ich in einen, durch es selbst vermittel-
ten, „unsinnigen Zustand, den [es] nicht mehr begriff.“ Malte vermag sich
von dem unklaren Gebilde nicht mehr zu trennen: „Ich zerrte an allem, aber
151 Vgl. noch einmal das sozial entworfene Ich, das abgestreift wird, in der schließenden Auf-
zeichnung zum Verlorenen Sohn.
228 C 1. Rilke
es schloss sich nur noch enger an“. 152 (Ebd.) Was nun folgt, ist eine Konfron-
tation mit dem personifizierten Spiegel als Gegenüber: das Selbst wird zum
Spiegel von außen aufgezwungener Bilder, was im Kontext von Rilkes Sub-
jektmetaphorik wie folgt gefasst ist:
Während die vorgefassten Rollen das Selbst stärkten, wenngleich sie zu-
nächst vom Spiegel nur zögerlich zurückgeworfen wurden, und die Freiheit
im ‚phantastischen Ungefähr‘ das Selbst zunächst zum Triumph zu führen
schien, und selbst den Spiegel zu einer unmittelbaren Wiedergabe führte, so
endet das Spiegelbilder einfordernde unbegrenzte Selbst in der Umkehrung
der Rollen, indem es selbst zum Spiegel einer monströsen Wirklichkeit wird.
Das Ich erschrickt vor dem „großen, schrecklichen Unbekannten“, um sich
aufzulösen: „Eine Sekunde lang hatte ich eine unbeschreibliche, wehe und
vergebliche Sehnsucht nach mir, dann war nur noch er: es war nichts außer
ihm.“ (KA 3, S. 530) In die nun folgende Flucht hinein, in dem das Er gewor-
dene Ich auf Vertraute trifft, spitzt sich die Situation zum Bruch zu: „Aber sie
sprangen nicht herzu und retteten; ihre Grausamkeit war ohne Grenzen. Sie
standen da und lachten, mein Gott, sie konnten dastehn und lachen.“ 153
(Ebd.) Das kindliche Ich weint unter der Maske, wendet sich an die anderen,
aber die Stimme kann diese (unter der Maske) nicht mehr erreichen. Die
Tragy-Situation der sprachlichen Unerreichbarkeit der Anderen (s.o.) hat
hier ihren deutlichsten Rahmen; die Flucht gelingt nicht, die Maske wird ihm
nicht abgenommen, Maltes kniende Aufforderung: „Herausnehmen, wenn es
noch geht, und behalten“ (ebd.), bleibt ungehört, das Ich kann sich nicht
mehr aus der Maske hervorarbeiten, und er selbst verbleibt, von außen
nachgetragen, ohne Besinnung, und wird gleichsam als entseelt wahrge-
nommen: „Und der Schrecken, als sie endlich entdeckten, daß ich ohne Be-
152 In Brochs Schlafwandler wird für den zur dissoziativen Auflösung der Wahrnehmung nei-
genden Pasenow die ‚Uniform‘ zur „Emanation der Haut“ (KW 1, S. 26). Gemeinsam sind die
Verknüpfung der Problematiken der Orientierung und der Körpergrenze (s. auch unten).
153 Vgl. C 3 zur Ästhetik in Brochs Tod des Vergil, besonders zum ‚Lachen‘.
1.2 Malte Laurids Brigge 229
sinnung sei und dalag wie ein Stück in allen den Tüchern, rein wie ein
Stück.“ (Ebd.)
Es ist diese Begegnung, welche die radikalste Form und Variante des
Schlussabschnittes vom verlorenen Sohn bildet (Az 71),154 wo die Problema-
tik, die dem 32. Abschnitt zugrunde liegt und die über mehrere Knoten im
Text variiert wird, noch einmal schließend beleuchtet wird, ohne freilich
etwas des davor Ausgeführten aufzuheben. Dort wird die Möglichkeit des
Verbleibens über den nicht auszudeutenden und nicht zu erläuternden
Bruch hinaus angedeutet, der dort über die Zwänge des Geliebt-Werdens
und die Form sozialer Subjektivierung gebildet wird (vgl. KA 3, S. 635). In
beiden Erzählungen kommt es zum missverstandenen Kniefall. Der erste,
der auf Rettung des Ich unter der Maske gerichtet ist, wird mit Lachen be-
antwortet, da er als Vorstellung missverstanden ist, der zweite, der darauf
abzielt, nicht geliebt zu werden, wird als Unterwerfung missverstanden und
mit Verzeihen beantwortet. Der Bruch bleibt bestimmend.155
Rilkes Maskenepisode führt nicht nur vom Titel her zu der vielleicht stärks-
ten, in enormen Ausmaß verfremdenden Erschütterung des Ichs in der jün-
geren Literaturgeschichte, die sich in S. Lems Erzählung Die Maske (1976/
79) vollzieht156 und die, so Moníková, verdeutliche, wie viel Lem Kafka
schulde,157 womit natürlich der Bezug zur Verwandlung hergestellt wird. Die
154 Kleistisch, im Sinne von den Schreibimpuls Kleists fortsetzend, ist die Auflösung in allge-
meinem Missverstehen.
155 Wagner-Egelhaaf interpretiert in ihrer Mystik-Lektüre der Aufzeichnungen das Maskener-
lebnis als Ausdruck der ‚Unio mystica‘: „Wesentliche Strukturelemente einer unio mystica
sind hier verwirklicht: das Überwältigtwerden wider Willen, das Grauenvolle des Alleins-
eins mit Gott, die völlige Auslöschung des Ichs. Malte kann nur noch die Flucht ergreifen und
in imitatio einer religiösen Haltung auf die Knie sinken“ (Wagner-Egelhaaf 1989, S. 84).
Eckpunkte sind dabei „Präsenz beschwörende[.] Selbstentrückung“ und „Ausfall des Sub-
jekts“. Gemeinsam sind den Lesarten, d. h. der von Wagner-Egelhaaf und der hier vorge-
schlagenen, die Kontexte von Transformation und Überwältigung und deren moderne For-
mung auf traditioneller Grundlage. Die Differenz liegt in der „Auslöschung des Ichs“, die hier
jenseits von Gott als Übergang von konkreten sozialen Rollen zur dissoziativen Zusammen-
setzung aus einem nicht mehr unterscheidbaren äußeren Komplex verstanden wird. Der
Prozess führt zur Zersetzung der Illusion des Ich, das sich als dissoziativer sozialer Körper
gegenübertritt.
156 Vgl. Lem 1982.
157 In der fiktiven Begegnung der Ich-Erzählerin der Pavane für eine verstorbene Infantin mit
Kafka würde sie umgekehrt diesem gerne drei Bücher (als Hommagen an ihn) mitgeben:
Neben Nabokovs Pale Fire sind das Lems Texte Die Maske und Die vollkommen Leere (vgl.
230 C 1. Rilke
Irritation schuldet sich u. a. dem Umstand, dass Lem die Ausgangslage um-
kehrt: Während bei Rilke noch ein kindliches Ich der Komplexität überant-
wortet wird und dieses angenommene Ich sich in vielfältiger Hinsicht auf-
löst und in Kafkas spezifischer Erzählwelt die Metamorphose des Ich zum
Käfer die Erschütterung auslöst, kehrt Lems selbstbewusste Maschine zu
ihrer Ausgangsgrundlage: der Form einer metallischen Gottesanbeterin,
einer zur Tötung entworfenen Maschine, zurück, um in Konfusion ihres
Selbstbewusstseins (und der Frage eines möglichen Grads an Freiheit, ge-
genüber dem noch Kafkas Ausweg vergleichsweise als autonomes Ich er-
scheint) zu enden.
Während ‚phantastisches Ungefähr‘, Auflösung der Rollen, Unbestimmtheit
des Ich in der Maske, die mit dem Spiegel das Ich ablöst, Anhaltspunkte
bieten, um den Selbstverlust in diesem Abschnitt zu reflektieren und sich
hier ein Schwerpunkt der Aufzeichnungen zeigt, der freilich nicht kausallo-
gisch fortwirkt, so wie keines der beschriebenen Kindheitsereignisse als
Auslöser skizziert wird, zeigt sich im Schloss eine permanente Erschütte-
rung jeglicher neu gewonnenen (vermeintlichen) Sicherheit, in welche der
Rezipierende erzähltechnisch integriert wird, was über die Brüche in Kafkas
Text gesteuert ist (s. u.).
Der Rezipierende erlebt gleichsam am eigenen Leib mit, dass das eben zuvor
Gelesene nicht mehr gültig ist. Es ist diese Technik, die Kafka ein traditionel-
leres Erzählverfahren ermöglicht, ohne dass ein Moment der Gedanke des
Überholten, des Unzeitgemäßen, aufträte.
Rilkes 71 Aufzeichnungen, um deren Fluchtpunkt in der Interpretation ge-
rungen wird,158 was aufgrund methodischer Dezentrierung zwangsläufig
scheitern muss, leiten den modernen Roman mit ihrer Problematisierung
der Chronologie und des logischen Voranschreitens, der Bezugspunkte, ein,
wobei Wechsel von Ort und Zeit dem angestrebten Sehen des innerfiktiona-
len Autors durchaus entsprechen können, das sich eben nicht nur, wie dies
höchstens einleitend vor allem der Fall ist, auf die Umgebung richtet, son-
Moníková 2003, S. 221). Lem steht natürlich auch hinter dem namentlich nicht genannten
„polnischen Lieblings-Sci-Fi-Autor“ Brandls in Der Taumel (Moníková 2000, S. 175).
158 Die Einschätzung von Thomé 1993, der in einem Exkurs den durch ein fehlendes einheitli-
ches Analysemodell bedingten „einigermaßen desolaten Zustand“ der Malte-Forschung be-
klagt (S. 461), hat sich zwei Jahrzehnte später wohl erübrigt, nicht zuletzt aus forschungs-
theoretischen Verschiebungen: rhetorische Gesten zu fehlenden verbindlichen Lesarten
sind insgesamt kaum noch zu hören. Diskussionswürdig bleibt die Warnung, ‚verlockende‘
Schlüsselbegriffe „wie ‚Sehen‘, ‚Erzählen‘, ‚Erinnern‘ oder ‚Einbildung‘ nicht in einem um-
gangssprachlichen Sinn zu nehmen, „der die ‚realistische Ontologie‘ immer schon impliziert,
obwohl der Text diese Ontologie abweist“ (ebd., S. 462).
1.2 Malte Laurids Brigge 231
dern u. a. die Komplexion von Innen und Außen, die schon bei Kleist eine
zentrale Problematik ist, neu zu fassen versucht. 159 Die Verdoppelung der
Reflexion durch das Medium des Künstlerromans ist ebenfalls von entschei-
dender Fortwirkung.
164 Die Reduktion auf vier Jamben im letzten Vers erfolgt natürlich als bewusst gesetztes Stil-
mittel.
165 Zur spezifischen Modernität der Neuen Gedichte vgl. Müller 2013, v. a. S. 296–299.
166 Analoges gilt für viele Gedichte der mittleren Periode; vgl. besonders das Sonett Der Gefan-
gene II (KA 1, S. 468 f.), mit einem Auseinanderstreben der Zeitverhältnisse und einem in
ähnlicher Formvollendung dargestellten inneren Rasen, aber dennoch einer deutlichen Ge-
schlossenheit der Vorstellung, was besonders im Vergleich zu den Duineser Elegien gilt.
167 Die Übersetzungen ins Englische scheitern regelmäßig am Schlussvers. Ein Teil der Eleganz
besteht in der Assoziation des ungenauen Lesers, dass das Herz des Panters abstürbe und
nicht das eindringende Bild, d. h. in der durchaus nahe gelegten Doppelung des Erlöschen
des inneren Bildes und des Erlöschen des inneren Seins.
168 Vgl. besonders Gerok-Reiter 1996, S. 218. Es geht also auch um einen der Entwicklung der
Kunst der Moderne entsprechenden Abstraktionsvorgang, zu dem der von der Autorin be-
tonte Wechsel von Präsens zu Präteritum ebenso zählt, wie die Öffnung des konkreten
Raums zum Raum der Bewegung (ebd.) oder „die Verwandlung ins Unsichtbare“ (ebd., S.
1.2 Malte Laurids Brigge 233
201) oder eben die Ablöse des geschlossenen, chronologisch entfalteten Bildes durch die
Reflexion auf das Transitorisch-Gesetzte der Figur. Vgl. das Ende des Reiter-Sonetts: „Doch
uns freue eine Weile nun / der Figur zu glauben. Das genügt“ (S I.11). Zu Figur siehe auch
Engel 2013a, S. 412–416 sowie Allemann 1961a.
169 Analoges gilt für die Sonette an Orpheus. Bekanntlich knüpfen die Elegien (wie Rilke insge-
samt) nicht an expressionistische Verfahren der Sprachreduktion an, wie sie etwa Trakl an
einigen Orten durchführt. Dass sie deshalb, wie immer wieder angeführt wird, unzeitgemäß
wären, entspricht einem verkürzten Verständnis ihres innovativen Potentials und mag der
spezifischen Rezeptionsgeschichte geschuldet sein. Beda Allemann hat auch auf den Einfluss
von Rilke auf Celan verwiesen. Vgl. auch den Versuch der Fortführung Brochs in den Schick-
salselegien des Vergil, die allerdings – zumindest m. E. – zu den wenigen nicht herausragen-
den Teilen des Romans zählen und nicht an Rilke anschließen können.
170 Vgl. Stephens 2013, S. 373. Vgl. auch den Zyklus von sechs Wandteppichen in Malte, umfas-
send analysiert in Eilert 1991, S. 300–314. Ihre Schilderung ist ästhetisch selbstreferentiell
lesbar, besonders wenn auf das ‚Ganze‘ abgehoben wird oder auf Verfahren, das Unsichtba-
re sichtbar zu machen (vgl. ebd. 308). Vgl. auch das ‚in die Breite‘ strebende Verfahren der
Aufzeichnungen.
171 Man denke ebenso an das sich entziehende ‚Fenster‘ in Tragy wie an das verdichtete ‚Große‘
in den Aufzeichnungen (s. o.).
172 Vgl. Eco 2012, S. 9 f.
234 C 1. Rilke
173 Die Bestimmung des Gegenübers: eines Engels, des Engels oder der Engel – der Wechsel
zwischen unbestimmter und bestimmter Singularität sowie Plural des fiktiven Gattungswe-
sens ist charakteristisch –, ist im Gesamt der Elegien von enormer Dynamik. „Gelenke des
Lichtes“ (Vs. 13) und „fast tödliche Vögel der Seele“ (Vs. 2) sind die Engel in der zweiten Ele-
gie, die im Eröffnungsvers mit „Jeder Engel ist schrecklich“ einsetzt, womit Vers sieben der
ersten Elegie (partiell) wiederholt wird. Der verschluckte Lockruf der ersten wird in der sie-
benten Elegie variiert, wenn der Engel als Anvisierter und zugleich dem Sog des Ich Gegen-
überstehender imaginiert wird, mit der gestreckten Hand als Ruf sowie Gleichnis der Ab-
wehr und Warnung. Ort der Aufbewahrung für kleine Dinge des ‚Säglichen‘ ist der Engel in
der neunten Elegie, während er in der zehnten Elegie zum zu Jubel zustimmenden (großen)
Adressaten wird.
174 Vgl. Fuchs 2009, 131 f., die den Schrei mit dem allerdings anders kontextualisierten, oben
zitierten von Az 30 vergleicht (vgl. KA 3, S, 521), denn dort schafft er den Übergang zwi-
schen Präsenz und Erinnerung.
1.2 Malte Laurids Brigge 235
• Der Erinnerungsdiskurs;176
• Zeit in den Kontexten von Präsenz und Abwesenheit sowie von Subjek-
tivierung (bes. in der 4. und 8. Elegie);177
• Tod und die Thematik junger Verstorbener als Wiederaufgreifen der
Erik-Thematik der Aufzeichnungen;178
• Subjekt, Bewusstsein und Identität;179
• Liebe, Trauma und Genealogie/Erinnerung (bes. in der 3. Elegie);180
• Liebe und Metaphysik;
• Melancholie, Vergänglichkeit und Trauer;
• Verlusterfahrungen, Trennung und Einsamkeit.
175 Das Schreckliche korrespondiert mit dem ‚Großen‘ der Aufzeichnungen und dem Erhabenen
der ästhetischen Tradition (s. o.).
176 Vgl. auch überindividuelle Deutungen wie „Folgeschäden der Modernisierung“ in der sieben-
ten und neunten Elegie (Engel 2013a, S. 411 und Engel 2013b, S. 507–13), die mit der Kritik
moderner Objektivierung in den Aufzeichnungen zumindest korrespondieren. Die Präsenz
des Vergangenen und der Bezug zu Vergangenem in der Kunst sind bei Rilke vielschichtig
strukturierte Felder.
177 In der Folge von Jacob Steiners Aufsatz Das Motiv der Puppe bei Rilke Steiner 1967 wurde
wiederholt auf Kleists Über das Marionettentheater als explizite Quelle für die vierte Elegie
hingewiesen, auch von Anthony Stephens, und zwar mit wohl etwas zu weit gehender in-
haltlicher Abgrenzung (vgl. u. a. Stephens 2013), da der Impuls einer produktiven Rezeption
trotz der natürlich anders gelagerten Puppenthematik bei Rilke deutlich ist. Die Verbin-
dungslinien sind bestimmt u. a. vom Prozess der Subjektivierung, dem Fall aus dem Para-
dies, dem Graziendiskurs und dem Treffpunkt des endlichen und unendlichen Bewusstseins.
Auffällig bei Rilke ist die Integration des Zusehens und das Bild der leeren Bühne. Vor dem
Hintergrund des Verdrängungsnarrativs und von Kristeva liest Bühler-Dietrich 2006 die
Puppe in der vierten Elegie und in Rilkes Briefwechsel mit Lou-Salomé, wo sie auf der Bezie-
hungsebene zwischen Belebung und Mortifizierung gedeutet wird („Verpuppung des affek-
tiv besetzten Briefpartners“, S. 132), womit der konzeptuelle Rahmen der Elegien verlassen
wird.
178 Vgl. den Schlussstein der zehnten Elegie, die mit der Todesvision einsetzt und die Umwand-
lung der Erfahrungen vor diesem Hintergrund thematisiert.
179 Engel spricht für die Elegien von einem „mythopoetische[n] Modell der ‚condition humaine‘
[…], das bestimmt war von deren – in Reinform dem Menschen gleichermaßen unerreichba-
ren – Grenzwerten: der bewußtlosen Daseinsgewißheit der Kreatur und der absoluten Be-
wußtheit rein geistiger ‚Schöpfungspotenz im ‚Engel‘“ (Engel 2013a, S. 411), was den Bezug
auf den Marionettentheatertext in der vierten Elegie ausdehnt, da dies ja eine der zentralen
Bewegungen von Kleists Text darstellt.
180 Vgl. dazu v. a. die dritte Elegie mit der Frage nach Liebe als Antwort auf traumatische The-
men. Vgl. auch die Spannung zwischen Leben/Liebe und Tod inkl. des Bildes der aufgehobe-
nen Differenz.
236 C 1. Rilke
Zu diesen Themen kommen zentrale Symbole der Elegien, wie sie etwa
Spiegelung oder Wandel und Metamorphose darstellen. War es in den Auf-
zeichnungen der aus Une charogne / Ein Aas entwickelte Durchgang durch
das Erschütternde hin zur Erhöhung, so steht auch hier die Möglichkeit der
Umwandlung im Vordergrund. Die schließende Elegie deutet eine doppelte
Aussicht an. Sie setzt ein mit: „Daß ich dereinst, an dem Ausgang der grim-
migen Einsicht“ (E 10, Vs. 1), was als eintretender Tod gedeutet werden
kann. Dabei werden die Erfahrungen der Nächte, Schmerz und Leid, als die
Komplexe präsentiert, die auf die Frage der neunten Elegie: „wehe, was
nimmt man hinüber?“ antworten.181 Für die engere Thematik formuliert,
könnte tentativ argumentiert werden: erst der transzendente Bezug wird
ihnen Sinn verleihen und produziert rückblickend das Bild der „Vergeuder
der Schmerzen“. Die mögliche Erlösung über den Durchgang durch das
Trauma ist also immer noch nahe. Nachdem der Rezipient von der Leid-
Stadt immer weiter an den Rand gedrängt wurde und mit dem Frühtoten
einen Blick in die elegische Landschaft der Klagen geworfen hat, 182 endet
dieser mit den Versen: „Einsam steigt er dahin, in die Berge des Ur-Leids. /
Und nicht einmal sein Schritt klingt aus dem tonlosen Los.“ (E 10, Vs. 104 f.)
Danach wird der Blick in einem hypothetischen Bild vom Punkt jenseits des
Todes aus auf die Lebenden zurückgewendet:
181 E 9, Vs. 22. Die Frage war lange Antrieb für Kleist. Rilke nutzt sie für sein Projekt der ästhe-
tischen Transformation des ‚Großen‘/Traumatischen ins Elegische. Dieses steht in der Tra-
dition von Friedrich Beißners Elegienverständnis, dessen zentrale Themen die Überwin-
dung des Schmerzes, der Abstand durch das Wehmütige und die Milderung der Klage sind.
Vor dem Hintergrund von Rilkes transgressivem ‚Fenster‘ geht es also um Erinnerung und
Transformation, nicht um Vergegenwärtigung. Vgl. für diese Aspekte seines historischen
Elegienverständnis Beißner 1965, S. 15 f.
182 Die Stelle ist augenfällig metareferentiell strukturiert, wobei in letzter Konsequenz die
Elegien insgesamt über Metapoetik organisiert und verbunden sind und sich auch so von
unmittelbarer Repräsentation abgrenzen (s. o.).
1.2 Malte Laurids Brigge 237
Der Bezug ist klar in seiner Referenz, die Toten würden auf kleine Naturzei-
chen des anbrechenden Frühlings verweisen, jedoch nur assoziativ fassbar
in seiner innerlyrischen Konsequenz. Deutlich hervorgehoben ist das blei-
bende Spiel mit über das Denken gefasster Erhöhung und (melancholi-
schem) emotional rezipiertem Fall,183 anknüpfend an den fallenden Regen
oder die hängenden „Kätzchen der leeren / Hasel“. Die Erlösungssehnsucht
aus dem Komplex des Großen heraus tritt in den Hintergrund oder wird
zumindest durch die Rührung kontrastiert, was wiederum mit Spiegelung
gegenzulesen ist.184
Der Komplex des Traumas, der in den Aufzeichnungen oder im Panther do-
miniert, scheint in den Elegien eher durch und ist in der konstitutiven Span-
nung von Schönem und Schrecklichem oder teils auch in der grundlegenden
Kondition des Subjekts185 aufgehoben. Für die erhoffte Metamorphose kon-
stitutiv ist die bereits erwähnte Spannung zwischen dem initialen Schrei der
ersten und dem Jubel der schließenden Elegie. An die Fiebernächte des
Tragy und der Aufzeichnungen schließt die dritte Elegie unmittelbar an, wo
das genealogisch erweiterte Gewordene und die innere Bezogenheit da-
rauf186 der möglichen Liebesbegegnung entgegentreten: „dies kam dir, Mäd-
chen, zuvor“.187 Psychoanalytisch lassen sich die Elegien ebenso zu Fragen
183 Vgl. Malte Laurids Brigge Aufsteigen aus dem Niedergang heraus, vgl. den Gang von Brochs
Vergil hinunter zur schließenden Erhöhung.
184 Die Spannung besteht sozusagen zwischen neu gefasster, kulturgeschichtlicher ‚Melancho-
lie‘ und ‚Trauma‘, womit das ‚Große‘ verknüpft ist. Hier hat sozusagen das Elegisch-
Melancholische das letzte Wort, freilich nicht als schließende Antwort des ganzen Zyklus.
Eine alternative Deutung wäre allerdings, dass der Sehnsucht der Lebenden nach Erhöhung
der Hinweis auf konstitutive Funktion der Trauer gegenübergestellt wird, was mit der Ein-
gangsbedeutung des Leidens als Heimstatt für das Totenreich korrespondiert. Vgl. grundle-
gend Engel 1996, S. 687–689, wo die Bewegung des Steigens und Fallens im Gesamt der
zehnten Elegie beobachtet wird.
185 Verweise auf die allgemeine Konstitution Subjektivierter stehen den spezifischen Erfahrun-
gen etwa der dritten Elegie oder der Aufzeichnungen gegenüber.
186 Möglich ist in diesem Kontext folgende Lektüre: Das ‚Trauma‘ ist von subjektiver Seite her
stets bereits präsent und es besteht eine gewisse Problematik, den Blick davon abzuwenden
(s. oben zum problematischen Begriff der Traumatophilie). Als Paraphrase davon wäre zu
sehen: „Ja, das Entsetzliche lächelte … Selten / hast du so zärtlich gelächelt, Mutter. Wie soll-
te / er es nicht lieben, da es ihm lächelte“ (E 3, Vs. 61–63).
187 E 3, Vs. 75. Wir kennen das Motiv in erzählerischer Form bereits aus dem Sandmann. (s. o.)
Vgl. die gesamte Stelle ab dem einleitenden Referenzwort „dies“ mit der für Rilke spezifi-
238 C 1. Rilke
Dass der apollinische Künstler Orpheus, der ähnlich wie Vergil als Präfigura-
tion Christi erscheint,189 von den dionysischen Mänaden zerrissen wird,
stellt nicht nur für die Ästhetik der Moderne einen Messpunkt dar. 190 Von
den hier behandelten Autoren greift Rilke den Mythos umfassend in seinen
Sonetten auf, während Broch ihn besonders im Vergil als Kontrastfolie ver-
wendet (s. u.), und Hans Keilson ihn in dem Gedicht Auch Eurydice (s. u.)
noch enger an den Komplex des Traumas bindet, als dies ohnedies in der
schen Verwendung des iterativen „sondern“: „dies: daß wir liebten in uns, nicht Eines, ein
Künftiges, sondern / das zahllos Brauende; nicht ein einzelnes Kind, / sondern die Väter, die
wie Trümmer Gebirgs / uns im Grunde beruhn, sondern das trockene Flußbett / einstiger
Mütter –; sondern die ganze / lautlose Landschaft unter dem wolkigen oder / reinen Ver-
hängnis –; dies kam dir, Mädchen, zuvor“ (E 3, Vs. 69–75). Natürlich steht diese Stelle mit
zahlreichen anderen Elegien in Bezug, besonders mit der menschlichen Rückwärtsgerichte-
theit der achten.
188 Vgl. etwa die Idee in Reddemann 2013, S. 75, die Engel würden die Eltern repräsentieren,
womit von der lyrischen Komposition auf biographische Fragestellungen übergegangen ist.
189 Die Reihenfolge bei Orpheus ist sozusagen umgekehrt. Dem Abstieg in den Hades folgen
Scheitern, Rückkehr und ‚Zerfleischung‘. Die biblische Geschichte schreitet vom Leiden der
Kreuzigung zu Tod, Aufhebung des Todes und Rückkehr ins Leben. Vgl. dazu parallel den
Abstieg in der Aeneis und dessen produktive Rezeption in Brochs Tod des Vergil (s. u.). Zur
Opposition Einheitsreligion vs. christlicher Dichotomie vgl. Spörl 2013, S, 36, mit Verweis
auf den auf Rilke bezogenen „Paramythie“-Begriff Allemanns. Vgl. auch den Diskurs zu My-
thenkorrekturen (Vöhler et al. 2005).
190 Das Orpheus-Motiv zieht sich bekanntlich quer durch die Kunstgeschichte, vom modernen
Orpheus spricht bereits Rousseau in den Bekenntnissen (vgl. Rousseau 2012, S. 206). Für
Rilkes Bezug auf Orpheus als „Modell und Gewährsmann für die Möglichkeit modernen
Dichtens“ vgl. Spörl 2013, S. 36.
1.2 Malte Laurids Brigge 239
Tradition präsent ist.191 In der Georgica findet sich folgende bekannte Stelle
der Orpheus-Erzählung des Sehers Proteus:192
Vergil schließt damit, dass selbst sein Haupt, bereits vom Körper getrennt,
noch Eurydice gerufen habe.
Der (erweiterte) Blick im ersten Teil der Sonette ist am Tode geschult, ein
Thema des Mythos, das auch in den Schlafwandlern aufgenommen wird.194
Mit den Aufzeichnungen verbindet sich das neue Sehen, das durch den Tod
führt (s. o.). Angeknüpft ist in diesem Kontext auch an die Elegien, und zwar
an das wahre Sehen der Engel, die Tote und Lebende kaum unterscheiden.
So heißt es im sechsten Sonett, dass Orpheus die Erscheinung der Toten in
191 Keilson tut dies mit dem Wissen des frühen Traumaforschers. Im Hintergrund steht wieder-
holt das Trauma des Schreibens, des Dichtens, des Erinnerns. In der Penthesilea-
Interpretation wird das Zerreißen des Achilles meist auf die Bakchen des Euripides bezo-
gen, aber auch auf Orpheus. Das Zerreißen als charakteristische Strafe für den Liebesverrat
wird dabei im Sinne eines Spiegels verstanden, folgt also der Aufhebung der Einheit der Lie-
benden (vgl. Borelbach 1998, S. 85 f.).
192 Zum Kontext: Aristaeus sucht eine Antwort auf seine Not, Proteus wird zu ihr gezwungen,
erzählt die Geschichte des Orpheus und rät zur Opfergabe, um die Toten zu versöhnen. Zu
Rilkes eigener Bezugnahme auf den Mythos vgl. Engel 2013a, S. 407 f., sowie Gerok-Reiter
1996, S. 20, Anm. 8, zum Diskurs zur genuinen Bedeutung des Mythos u. S. 24–27 zur Ent-
wicklung der Orpheusvorstellung Rilkes in Kontrast zu Mallarmé und Poe, mit folgendem
Schlusspunkt: „So wird sich die Frage nach der zyklischen Qualität der Sonette an Orpheus
daran zu entscheiden haben, ob sie dem orphischen Maßstab gemäß symbolistischer Tradi-
tion gerecht werden, d. h. a) als evokative Sprachkomposition genügend integrative Momen-
te aufweisen [notwendige Kürze], b) als Daseinsentwurf eine universale Konzeption anbie-
ten [thematische Universalität], die sich in ihrem äußersten Horizont, ihren Details und
selbst in ihren Bruch sowie Leerstellen von Orpheus her verstehen läßt“ (S. 27). Für einen
konzisen Überblick zum antiken Orpheusmythos vgl. Deufert 2010.
193 Vergilius Maro 2013, S. 141.
194 Siehe für die Schlafwandler den Abschnitt zum ‚Verschütteten‘ Gödicke. Dass für Rilkes
Zyklus eine „Pluralität der Sinne“ die Fokussierung auf das Sehen im mittleren Werk erwei-
tert, stellt Engel vor den Hintergrund der Dominanz des Hörens in zahlreichen Sonetten
(vgl. Engel 2013a, S. 416).
240 C 1. Rilke
alles Gesehene mischt. Dass Orpheus im ersten Teil als der (einzig mögliche)
Dichter vorgeführt ist, scheint hier ebenso bedeutsam wie der an Kleist
erinnernde Wunsch nach Wirkmacht der Sprache in der Nachfolge des Sän-
gers.195 Grundlegend ist der „Doppelbereich“ Leben/Tod von S I.9: das Wis-
sen um den Tod wird so zum Voraussetzungspunkt der Ästhetik,196 wobei
die Thematik mit dem wieder geöffneten Mund, 197 der aus dem Wissen um
das Schweigen spricht, in S I.10 fortgeführt wird. 198
Noch einmal wird deutlich, was an neuer Ästhetik seit den Aufzeichnungen
in unterschiedlichen Formen mit dem Durchgang durch traumatische Erfah-
rungen angestrebt wird.199 An den Malte-Roman knüpfen auch die Behand-
lung der Einsamkeit in S I.16 sowie die Koppelung von Leiden, Tod, Liebe
und Erkenntnis in S I.19 an.200 Der Schlussstein des ersten Teils fokussiert
auf die Diffusion von Orpheus in S I.26, die mit dem rezeptiven Moment
jeder Dichtung schließt.201 Trotz seiner Begegnung mit den Mänaden (dem
Dionysischen) hält er sich in der apollinischen Welt. 202 Die Bewältigung der
195 Im Kontext des hohen Grads der Abstraktion im Spätwerk und der hier öfter unterstriche-
nen Metareferenz geht es dabei um die lyrische Thematisierung dieser Wirkmacht, die mit
der forcierten Eigenbewegung der Sprache korrespondiert (vgl. ebd.).
196 Gerok-Reiter spricht, von allgemeinen Überlegungen zum Mythos ausgehend und die Frage
aufwerfend, ob Rilke eine neue Mythologie auszubilden versucht, von einer Umkehrung des
Mythos: „Die Sprache depotenziert nicht den Tod, die Realisation der Vergänglichkeit [ana-
log zu Durchgang durch das Trauma] potenziert vielmehr das Sprachvermögen“ (Gerok-
Reiter 1996, S. 62, Herv. im Orig.).
197 Vgl. die ironisierende Brechung dieses Motivs anhand der eben erwähnten Figur Gödicke als
Teil von Brochs spezifischem Umgang mit Mythos und Mythenkorrektur (s. C 3).
198 Die hier ebenfalls anknüpfende Verbindung von Lied und Klage des Sonetts I.8 steht u. a.
parallel zu Leverkühns Monolog zu Fausti Weheklag, wo Paralyse, Auflösung des Sprechens
und Klage das Ende des Durchgangs durch die europäische Kulturgeschichte präsentieren
(vgl. Grugger 2013c, S. 199 f.).
199 Ins Bild gefasst in der Interpretation von S I.20 als Zugleich von „hemmende[r] Beschädi-
gung“ und „vollgültige[m] Glücksgefühl“, was diesen Aspekt der dichterischen Bewegung
des Zyklus verdeutlicht (Engel 2013a, S. 419).
200 Im ersten Teil ist Orpheus in mehrfacher Funktion gefasst: Wirkmächtiger Dichter, Wissen-
der um Tod/ Trauma und Einsamer gemäß dem Dichterbild der Moderne nach Flaubert (s.
o.).
201 Vgl. die beiden Schlussverse im letzten Sonett des ersten Teils: „Nur weil dich reißend
zuletzt die Feindschaft verteilte / sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur“ (S
I.26). Im Hintergrund stehen weiter die Verse: „Ein für alle Male / ists Orpheus, wenn es
singt“ (S I.5). Zur Deutung im Kontext der Äquivalenz und des Monismus vgl. etwa Hoff-
mann 1987, S. 198 f. Vgl. Engel zu S I.26: „Nur als radikal entsubjektiviertes, von den Mäna-
den zerrissenes Ich konnte der Sänger zum orphischen Prinzip werden“ (Engel 2013a, S.
411), was er mit der Deutung als Gegen-Christus verbindet.
202 Vgl. die Schlussverse des ersten Quartetts: „hast ihr Geschrei übertönt mit Ordnung, du
Schöner, / aus den Zerstörenden stieg dein erbauendes Spiel“ (S I.26). Vgl. Engel in Bezug
1.2 Malte Laurids Brigge 241
Zerstörung wird zur Grundlage und der aus Rache ‚zerschlagene‘ Gott
Orpheus geht in Natur auf. Das Zerrissene ist so simultan Ausgangspunkt
jeder Dichtung, wie es sich als Natur-Einheit präsentiert.203 Damit ist auch
ein bezeichnendes Bild für Rilkes transformierende Bezugnahme auf Trau-
ma entworfen.
Der zweite Teil, der mit Orpheus und Eurydike nur noch lose verknüpft
ist,204 setzt ein mit dem Ich-Welt-Austausch (Atmen) des lyrischen Ich, wo-
rauf das an das Du gerichtete letzte Sonett über den Bezug zum Atem zu-
rückkommt,205 um gleichzeitig die Verwandlung des Leids und die Selbsti-
dentität in der Metamorphose in den Mittelpunkt zu stellen. 206 Das Ich dehnt
sich in pantheistischem Sinn aus auf die Welt, 207 vollzieht an sich die aus
dem Leid befreiende Metamorphose und wird damit gleichzeitig zum Kreu-
zungspunkt der eigenen Sinnstiftung.208 Das letzte Terzett der Orpheus-
Sonette bringt diese zwei Bewegungen noch einmal zusammen, die auch
hier aus dem Negativen, und zwar konkret dem Vergessenwerden, hervor-
treten: „Und wenn dich das Irdische vergaß, / zu der stillen Erde sag: Ich
rinne. / Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.“ (S. II.29)
Der Orpheus-Mythos bot Rilke die Möglichkeit zur dichterischen Bearbei-
tung von vielem, was mit den Aufzeichnungen und den Elegien aufgeworfen
war. Dazu zählen der Kern des Kunstdiskurs und die Frage des Künstler
schlechthin, die Beziehung zum Trauma und zum Tod, das Wissen aus dem
Totenreich, der poetische Eingriff ins Wirkliche, der Abstieg in die Hölle, die
Beziehung zwischen Schönem und Schrecklichem, zwischen Ordnung des
auf S I.12: „Seine dialektische Volte verdankt sich der gleichen Einsicht, die auch den späten
Nietzsche das Apollinische nicht mehr als Gegenspieler, sondern als Produkt des Dionysi-
schen ansehen ließ“ (Engel 2013a, S. 413, Herv. im Orig.).
203 Vgl. für den gedanklichen Hintergrund Fick 1993.
204 Die ersten Sonette des zweiten Teils bilden also eine Art Panoptikum des Transitorischen,
während sich konkretere orphische Themen verstärkt im Fortlauf der Sonette entwickeln.
Zu Struktur und dem Zurücktreten der Orpheus-Bezüge vgl. Engel 2013a, S. 420. Man könn-
te insgesamt von ‚Meta-Metamorphose‘ sprechen. Zur Vernetzung der Themen und Motive
mit mythopoetischer Fundierung vgl. ebd., S. 421. Die Netzstruktur, verknüpft mit dem lite-
rarisch-kunsthistorischen Bezugsrahmen, steht in Analogie zu den Aufzeichnungen.
205 Während der erste Teil durch Orpheus umrahmt ist, ist der zweite stärker durch das lyri-
sche Ich umrahmt.
206 Vgl.: „Geh in der Verwandlung aus und ein. / Was ist deine leidendste Erfahrung? / Ist dir
Trinken bitter, werde Wein“ (S II.29), bzw. „Sei in dieser Nacht aus Übermaß / Zauberkraft
am Kreuzweg deiner Sinne, / ihrer seltsamen Bewegung Sinn“ (ebd.).
207 Vgl. das erste Quartett, wo das Ich daraus auch Stärke bezieht.
208 Dass im Transitorischen und der modernen Dekonstruktionsbewegung Rilkes, die Engel
2013a ausführlich darlegt (vgl. zu Rilkes ‚Poetik der Figur‘ S. 413–416), keine andere Sinn-
setzung möglich ist, scheint evident.
242 C 2. Kafka
2. Kafka: „… unsere Lage ist so derart, daß wir mit aller Welt
zerfallen sind“210
209 Gerok-Reiter kommt in ihrer umfassenden Studie zu den Sonetten zu einem Schluss, der
eine überzeugende Charakterisierung der versuchten Bewegung Rilkes ausdrückt, wenn sie
schreibt, dass die „ekstatische Erfahrung der Vollzähligkeit des Daseins die tragische Erfah-
rung nicht aus, sondern ein[schließt]“ (Gerok-Reiter 1996, S. 218). Man könnte dazu beson-
ders in Blickrichtung zu den Elegien und noch zurück zu den Aufzeichnungen von einem an-
haltenden ‚Versuch in Brüchen‘ sprechen. Vgl. zur Thematik des Tods im Leben ebd. S. 217.
210 KKAS, S. 315. Aus Kafkas Werken wird in dieser Studie nach der Kritischen Ausgabe der
Werke von Franz Kafka, erschienen bei S. Fischer, mit den üblichen Siglen zitiert (s. Litera-
turverzeichnis).
211 Dieser Riss stellt sich bei Kafka etwa in Form sozialer Ausschlüsse, der Aufhebung oder
Verweigerung von ‚Zugehörigkeit‘ dar (s. u).
212 Der Begriff ‚Orientierungstrauma‘ bezieht sich auf eine Konzeption von Fischer/Riedesser,
die sich auf den traumatischen Verlust basaler Schemata der Orientierung bezieht (vgl. LdP,
S. 391).
213 Jahraus unterteilt aus illustrativen Gründen Zugänge zu Kafka in methodologische und
thematische, wobei er für erstere folgendes Beispiel bringt: „In diesem Sinne sind struktura-
listische oder poststrukturalistische Interpretationen vor allem an jenen im Text geschilder-
ten Prozessen interessiert, an denen deutlich wird, wie jeweils Zeichen etabliert und/oder
auch wieder verworfen werden“ (Jahraus 2006, S. 160). So verstanden, ist im Kontext dieser
Studie – etwa für den mit ‚Orientierungstrauma‘ bezeichneten Fragenkomplex – das Metho-
dologische zugleich das Thematische. Es geht um ein Ineinandergreifen destabilisierender
Erzählverfahren und genuin traumatischer Themen. Zur Frage von Kafka als Prüfstein lite-
2.1 Zur Poetik Kafkas 243
festhaltend. Ihm selbst wird genau dies nicht möglich sein, wenn er in eigener Erfahrung die
‚Unmöglichkeit‘ dieser psychotraumatologischen ‚Abwehrstrategie‘ erfährt (s. Abschnitt A),
die der Distanzbildung von Beobachtern gegenüber der Traumatisierung dient.
225 Erste Versuche liegen vor, die sich allerdings meist noch punktuell und ohne kritische Refle-
xion des Verhältnisses der betroffenen Diskurse zueinander an die Fragestellung annähern
(vgl. Campana 2013). Der Überblick ist wie stets schwierig, da der Begriff Trauma oft wenig
differenziert verwendet wird, auch dort, wo das Konzept seit längerem wissenschaftlich
diskutiert wird. Wenn in der Fontane-Forschung Randall Holt etwa unter dem Titel History
as Trauma: The Absent Ground of Meaning in Irrungen, Wirrungen ‚traumatische Bodenlosig-
keit‘ diskutiert und den Diskurs zu Trauma dabei praktisch auf den Titel beschränkt, so ver-
stellt das doch den Blick auf Prozesse bei Kafka (vgl. Holt 2000). Ähnliches geschieht im sel-
ben Band mit Separationstrauma als Thema für Effi Briest mit Blickrichtung auf das Verhält-
nis von öffentlichen und privaten Raum ohne nähere Differenzierung des Traumabegriffs
(vgl. Shostak 2000).
226 Vgl. zur Subjektivierungsthematik in Bericht für eine Akademie Grugger 2015b. Während
Rotpeter einen Fluchtpunkt findet, bleibt Gregor Samsa noch als Mistkäfer in der familialen
Struktur gefangen, von der er sich einen Moment – vor dem Wegräumen der Möbel, vor der
Aussage der Mutter, er müsse sie doch vermissen, was ihn im Zustand der Subjektivierung
gefangen hält – zu verabschieden scheint: im Vergessen, im bloßen ent-situierten Krabbeln,
das sozusagen einer positiven Form von Seinsvergessenheit entspräche. Die Frage des Aus-
wegs, die im Bericht für eine Akademie so betont werden wird, ist in der Verwandlung als
Hintergrund anwesend.
227 Der Reisende in der Strafkolonie bleibt (fast sichtbar) unbeteiligter Beobachtender, sozusa-
gen dem wissenschaftlichen Bystander entsprechend. Die Protagonisten diskutieren, wäh-
rend der Verurteilte qualvoll hingerichtet wird.
246 C 2. Kafka
ren und die den Prozess anhaltender Erschütterung stützen. 228 Unerschüt-
terlichkeit, wie sie etwa Rotpeter für sich festhält (vgl. KKAD, S. 301) oder
Karl Roßmann sie kurz erlebt, erweist sich wiederholt dort als Trug,229 wo
die Erschütterung von Körperlichkeit, Sicherheit, Orientierung, Identität
oder Weltwissen mit unterschiedlichen erzählerischen Mitteln durchgeführt
wird und wo zunächst harmlos erscheinende Ereignisse sich stets zu fatalen
wandeln oder Beobachter zu Betroffenen werden können.
Insgesamt ist die poetische Welt Kafkas durch den Komplex Trauma deut-
lich strukturiert. Man denke etwa an Strukturen, die Ereignis/Erlebnis und
Prozess schildern,230 an Brüche, die durch Isolierung, Fremdheit und Aus-
grenzung bestätigt werden, an die vielen Formen der Erschütterung der
Protagonisten, die u. a. mit einer Textur der Körperlichkeit, fundamentaler
Ohnmacht und dem steten Kampf um Deutung als diskursives Zirkulieren
verbunden wird, an den stets drohenden Wechsel Beobachter/Betroffener,
an die Komplexe Gewalt und Tod sowie an die stets präsente Scham auf
Seite des Betroffenen, an die Aushebelung des (rezeptiven) Weltverständ-
nisses in den kafkaesken Welten sowie an die meist aussichtslose, proble-
matische Suche nach einem Ausweg oder Fluchtpunkt.231 Anders als bei
Rilke und teils mit negativen Vorzeichen232 erscheint hier am Horizont kein
wie immer gearteter ästhetischer Durchbruch.
228 Der zweiter Ausschluss Karl Roßmanns durch den Onkel, der den ersten durch die Eltern
kritisiert hatte, wird durch die Architektur bei seinem Aufenthalt im ‚Landhaus bei New
York‘ gestützt, was die Flüchte von Treppen und Gängen auf dem Schiff fortsetzt, in einer
Funktion, die im Schloß die weiten Wege übernehmen werden.
229 Im Verschollenen ist deutlich vor Augen geführt, wie die Regelwelt ohne das Wissen des
Protagonisten verletzt wird und wie radikal die Antwort ausfällt: der Fall ins Nichts erfolgt
aus scheinbar gesicherter Position. Auch im Urteil zeigt sich die vermeintlich feste Position
als zutiefst erschütterlich, wobei die Umkehrung ins Auge sticht: zunächst geht es darum,
wie mit dem Freund umzugehen ist. Bezeichnend ist auch der Beginn der Verwandlung, wo
noch von Kleinigkeiten, aufhebbarem Einzelereignissen, etc. die Rede ist, obwohl die Ver-
wandlung zum Mistkäfer schon stattgefunden hat: „[Er] war gespannt, wie sich seine heuti-
gen Vorstellungen langsam auflösen würden“ (KKAD, S. 121). Man vergleiche dies mit der
Rede von der ‚Ignorierbarkeit‘ im Proceß. Immer wieder geht es darum, etwas könnte ver-
hindert werden oder hätte verhindert werden können durch (geringfügig) anderes Handeln,
obwohl die Ereignisse sich bereits fortbewegen. Die Reflexion eigener Versäumnisse wirkt
meist befremdend, wobei die Überschätzung der eigenen Position rezeptiv durch die perso-
nale Erzählsituation verdeutlicht wird.
230 Wie im Roman Proceß, der eben auch einen solchen darstellt, von der initialen Erschütte-
rung bis zum ausweglosen Ende.
231 Vgl. den Gedanken des Überdauerns der Scham im schließenden Satz des Proceß: ‚„Wie ein
Hund!‘ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben“ (KKAP, S. 312).
232 Man denke an den unterschiedlichen Verwandlungsbegriff der beiden. Teils wird in der
Forschung auch eine Linie über die Analyse der Veränderungsprozesse gezogen. Fülleborn
2.2 Das Schloß 247
Die radikale Deutungsoffenheit des Schlosses hat sich nicht nur für die Lite-
raturwissenschaft im engeren Sinn, sondern auch für übergreifende Diszip-
linen wie die Sozialwissenschaft, die Philosophie und die Kulturwissen-
schaft als attraktiv erwiesen. Sozial ausgerichtete Ansätze, die von der Un-
tersuchung autoritärer Organisationsformen234 bis zu Fragestellungen der
Zugehörigkeit, der Ein- und Ausschlussverfahren, reichen, können genauso
unmittelbar aus dem Text fließen wie psychoanalytische Deutungen: Ödipal
familiale Strukturen, wie sie in der Konstellation Klamm, Brückenhofwirtin,
Frieda/K. aufscheinen, lassen sich ebenso ohne viel Mühe rekonstruieren
etwa sieht eine Verbindung von Malte und Schloß über den (je unterschiedlichen) Begriff
von Veränderung, ausgehend von Stephens Malte-Interpretation, die Veränderungen der
inneren und äußeren Welt ein apokalyptisches Geschehen der drastischen Ersetzung der
bekannten Wirklichkeit gegenüberstellt (vgl. Fülleborn 1975, S. 440 f. bzw. Stephens 1974).
233 KKAS, S. 484.
234 Adorno spricht in Anschluss an Klaus Mann davon, dass „der Stoffgehalt jenes Werkes eher
den Nationalsozialismus als das verborgene Walten Gottes“ zitiert (Adorno 1997a, S. 271)
und vergleicht spezifischer für das Schloß etwa Orlas Amalia-Erzählung (s. u.) mit Praxen
der NS-Diktatur (ebd., S. 276). In Tausend Plateaus wird beobachtet, wie „Buchhaltung und
Bürokratie […] zu sprießen beginnen und Rhizomstränge hervortreiben“ (Deleuze/Guattari
1997b S. 27). Im Galeerentagebuch spricht Imre Kertész, wie Adorno den Gedanken an eine
Metaphorik des Transzendenten zurückweisend, von dem „genaue[n] Befund des osteuro-
päischen Lebens“ im Schloß: „das Bild einer Welt der Knechtschaft, die auf allgemeiner
Übereinkunft basiert“ (vgl. Kertész 1997, S. 58–60, hier S. 60). Er verbindet Kafka mit dem
Authentizitätsdiskurs: „Ein authentischer Ton kommt dagegen immer aus der Schwere des
Schicksals, von einem vom Schicksal Heimgesuchten, und nicht von einem, der zwischen
den Schicksalen wählt“ (ebd., S. 39). Zugleich ist Kafka ihm „das Vorbild für jede radikale
Kunst“ (ebd., S. 39 f.): „Er arbeitet gegen sich selbst, wie jeder wahre Künstler“ (ebd., S 39).
Alt spricht von den „anonymen Verwaltungsmaschinerien“, allerdings im Kontext der Bear-
beitung eigener Erfahrungen (Alt 2005, S. 603) – innerhalb seines Modells, Kafka habe
„Elemente der externen Welt in Zeichen psychischer Befindlichkeiten verwandelt“ (ebd.,
S. 592).
248 C 2. Kafka
wie sich nahtlos Diskurse aus dem Schloß als Ort des sich entziehenden
Begehrens formieren.235 In diesem Sinn könnte auch ein am Komplex des
Traumas interessierter Ansatz mühelos den Text als Impuls für direkte Fra-
gestellungen der Psychotraumatologie aufnehmen oder gar eine diesbezüg-
liche Fallstudie betreiben.236 Die philologische Analyse wird allerdings nach
dem Beschreiben der textkonstitutiven Elemente streben, sie wird im Auf-
zeigen ihrer Brüchigkeit liegen, im Konstruktionscharakter und auch darin,
wie diese Elemente erzeugt sind, wie sie geordnet und umgesetzt sind, und
v. a. wie innerhalb der spezifischen fiktionalen Ordnung systematisch die
Möglichkeit des Erzählens untergraben wird. 237 Außerliterarische Konse-
quenzen werden besonders deutlich sichtbar, wenn die hier so fundamental
erschütterte Möglichkeit des sich verständigenden Erzählens als grundle-
gende Bedingung des Mensch-Seins verstanden wird. Die konstitutive Deu-
tungsoffenheit erscheint als eine Fortsetzung der Poetik Kleists, die aller-
dings mit anderen Mitteln und Hintergründen betrieben wird. Um es deut-
lich zu formulieren: Kleist legt die unterschiedlichen Fäden an, die in der
Rezeption vertieft werden, ohne sie gegeneinander zu stellen. Kafka hebt im
Text die (zahlreichen) Deutungen systematisch auf.238 Seine radikale Offen-
heit korrespondiert mit rezeptiver (teils auch figürlicher) Orientierungslo-
sigkeit und verfolgt die Standortgebundenheit des Beobachtens, der Aussa-
ge und des Aussagens, bis in die Einzelsätze. Das Spiel mit Doppeldeutigkeit
235 Zu triadischen Strukturen insgesamt vgl. Jahraus 2006, S. 415, in Anschluss an Neumann,
bzw. den Abschnitt „Figur des Dritten“ (ebd., S. 412–421). Für unterschiedliche Deutungs-
ansätze zwischen biographischen, allegorischen, existentialistischen, psychoanalytischen,
soziologischen, strukturalistischen, intertextuellen, linguistischen, medientheoretischen o-
der parabolischen Lesarten in Richtung Unsagbares vgl. etwa Fromm 2010, S. 308 f. bzw.
Sheppard 1979, S. 446–463. Letzterer beschreibt bereits das mit Kafka grundsätzlich auf-
geworfene methodologische Problem (vgl. S. 445) und nennt zurecht die Allegoresekritik in
Politzer 1950 sowie die philologische Hinwendung zu den im Text angewandten Erzählver-
fahren in Beißner 1952 als entscheidende Einschnitte (vgl. Sheppard 1979, S. 448 f.).
236 Für die lebensgeschichtlichen Hintergründe im Kontext des Schloß-Romans und einen
möglichen Übergang von bürgerlichen Krisen zu existentiellen – mit dem Versuch der Un-
terbrechung schleifenartiger Reflexionsprozesse der Sinnsuche und Selbsthinterfragung
und einem Anschreiben gegen einen drohenden Kollaps – vgl. den Abschnitt „Biographische
Voraussetzungen“ in Jahraus 2006, S. 381–388. Für die unmittelbare Textgenese und den
wichtigen Aufenthalt in Špindlerův Mlýn vgl. Fromm 2010, S. 301–303 sowie Alt 2005, S.
588–591 und S. 595 in Verbindung mit der Position K.s als ‚Fremder‘.
237 All dies ist natürlich nicht gegen die oben genannten Interpretationsmuster gerichtet, die
den Text beleben. Totalitäre Regime sind dargestellt, zugleich natürlich auch ironisiert, u. a.
durch den Meta-Monolog Bürgels (s. u.). Man sollte K. allerdings nicht zu unschuldig oder
unbedarft lesen.
238 Vgl. zu einer gewissen Tradition des Vergleichs der beiden Autoren und zur Frage analoger
Verfahren auch Grugger 2015b, S. 143 f.
2.2 Das Schloß 249
239 KKAS, S. 276. Man vergleiche zur Illustration dieses Verfahrens die zitierte Stelle im Kon-
text: „‚Olga‘, sagte K., ‚Du willst doch nicht scherzen; wie kann über Klamms Aussehen ein
Zweifel bestehen, es ist doch bekannt, wie er aussieht, ich selbst habe ihn gesehn.‘ ‚Gewiß
nicht, K.‘, sagte Olga, ‚Scherze sind es nicht, sondern meine allerernstesten Sorgen‘“ (ebd.).
240 Kafka interessiert sich gerade in den Romanen immer wieder und in der Nachfolge Kleists
für die Sprachproblematik im Sinne des Scheiterns der Rede. Vgl. im Verschollenen: die
sprechende Sprachlosigkeit des Heizers in seiner Aussage und die „schöne Rede“ Schubals
mit „Löcher[n]“ (KKAV, S. 34). Die diskursive Produktion der Wirklichkeit wird wohl aber
erst im Schloß so richtig virulent.
241 KKAS, S, 189. S. auch unten.
250 C 2. Kafka
[…] ich habe dann das Gefühl als sei ich eben erst ins Dorf ge-
kommen, aber nicht hoffnungsvoll, wie ich damals in Wirklich-
keit war, sondern im Bewußtsein daß mich nur Enttäuschun-
gen erwarten und daß ich eine nach der anderen werde durch-
kosten müssen bis zum letzten Bodensatz. (KKAS, S. 221)242
Auch diese Thematik, mit der Kafka in neuer Form an Hoffmann an-
schließt,243 ist, so wie ihr analoge, in Verbindung mit dem spezifischen Kon-
struktionscharakter besser im Blick zu behalten. Es geht dabei nicht um den
Vorschlag, den Deutungsprozess zu unterbrechen, wie er sich etwa in Dis-
kursen zum Schloss/Schloß als Ort der Macht, der Bürokratie, des Begeh-
rens, der Sprache, der Medien244 oder der Religion gebildet hat und durch
einen der grundlegenden Erschütterung, die sich auf narrativer und dialogi-
sche Ebene als Erschütterung der Voraussetzung des Erzählens und Kom-
munizierens spiegelt, zu ersetzen oder gar die Auseinandersetzung um das
Romanfragment auf die bloße Konstruktion des Textes zu beschränken.
Ganz im Gegenteil soll die Beobachtung der mit dem Schloß verbundenen
mehrfachen Erschütterung, der strukturelle Funktion zukommt, die sich auf
den Lesenden/Interpretierenden ausdehnt und die immer wieder auf Orien-
tierung verweist, der Einengung der Lektüre entgegenwirken.
242 Zu dieser sich ausbreitenden ‚Hoffnungslosigkeit‘ gehört auch die ansteigende Müdigkeit.
Schön früh ist die Rede von der „Zerstörung seiner Kräfte“ (KKAS, S. 54). Zur Konstrukti-
onsweise des Textes zählt, dass der Rezipierende die hier geäußerte Erinnerung an die
‚hoffnungsvollen Ankunft‘ als instabile, diskursiv produzierte Schicht zu erkennen lernt, der
ebenso instabile narrative Schichten gegenüberstehen. Anders formuliert: Selbst das Wissen
darum, ob K. bei seiner Ankunft nun „hoffnungsvoll“ war oder nicht, ist dem Rezipienten in
letzter Konsequenz entzogen.
243 Vgl. v. a. die Struktur in Hoffmanns Elixieren (s. o.), die hier fortgeführt, aber weiter ‚gebro-
chen‘ wird.
244 Vor dem Hintergrund von Blick und Optik liest Gerhard Neumann – in seiner Suche nach
dem Dritten, mit dem Fokus auf Medien, Kommunikation und die Beziehung zwischen Ero-
tik und Technik – den Wunsch nach Orientierung, der eine durch Dissoziation zerstörte
Ordnung gegenübersteht (vgl. Neumann 2012, S. 137–170). Bedeutsam sind dabei beson-
ders das Telefon (vgl. ebd., S. 153) sowie die Briefspiele (vgl. ebd., S. 159). Zur Dominanz der
Schrift und des Schreibprozesses in Neumanns Schloß-Lektüre vgl. auch Jahraus 2006, S.
396 f. „Selbstreflexion des Erzählvorgangs“ im Sinne von Selbstreferenz beobachtet Alt mit
Bezug auf Derrida: „In den Akten der scheinbaren Wiederholung, die den Prozeß der An-
kunft des Landvermessers strukturieren, erfaßt der Roman die Regeln seines erzähleri-
schen Verfahrens, das auf die vergebliche Suche nach seinem Ursprung zurückverweist“ (Alt
2005, S. 593). Er beobachtet noch im Fragmentcharakter die Struktur fortlaufenden Begin-
nens und bringt dies in Zusammenhang mit Äußerungen Kafkas über sein Leben als Still-
stand in der Bewegung (vgl. ebd. S. 594).
2.2 Das Schloß 251
Zur radikalen Kritik diskursiver Tätigkeiten zählt die Fortführung und Zu-
spitzung des klassischen Monologs:245 Das Individuum sagt sich in verscho-
bener Form aus, wobei noch der Mono-Dialog Bürgels,246 in dem dieses Sich-
Aussagen selbst thematisiert ist, auf den Anderen bezogen ist. Die Grenze
zwischen Dialog und Monolog ist fließend, was besonders für dieses so selt-
same Verhör gilt.247 Sprechen und Gesprochen-Werden dienen der steten
Umarbeitung der Figuren,248 wobei vor allem der Protagonist diskursiv mit
der fremd bleibenden Regelwelt konfrontiert und über Selbstaussagen und
Dialoge gesteuert und transformiert wird. 249 In diesem Prozess wird wie-
derholt die Umkehrung des Gegebenen produziert, d. h. auch die Aufhebung
früherer Dialoge oder Erzählungen. Sicheren Grund gibt es keinen, denn es
lassen sich zwar diskursive Tätigkeiten beobachten und das Vorhandensein
von Intentionen wird überdeutlich markiert, aber es kommt zu keiner Re-
konstruierbarkeit des (mehrfach aufgehobenen) Geschehenen, das sich so
als unzugänglich erweist.250
245 Vgl. zum Beginn dieser Bewegung bei Kleist Grugger 2010, v. a. S. 186 f., mit Verweisen auf
Max Kommerell und Erika Fischer-Lichte. Kafkas Romane sind dramatisch konzipiert und
werden in ihrer ‚kinematographischen Erzählweise‘ umfassend im Kontext Film diskutiert
(vgl. Alt 2009).
246 Meta-Monolog in dem Sinne, dass das Sprechen durch Bürgel selbst thematisiert wird,
während K. das Gesagte im ‚Schlaf‘ in einem Bild verdoppelt, und zwar in alternativer Aus-
formung. Die anschließende Leere aus der Begegnung von Somnambulismus und Metarefe-
renz in dieser Szene führt zur Reflexion der Müdigkeit und einer sich in ihm ausdehnender
Aussichtslosigkeit zu Beginn des nächsten Kapitels. Im Hintergrund steht die Spannung zwi-
schen Nacht-Seite des Somnambulismus und psychoanalytischer Couch mit den Themen des
Sich-Aussagens und der Selbst- und Fremdverhöre (vgl. auch Josef K. im Bett des Gerichts-
malers im Proceß).
247 Die Bürgel-Szene ist als besonders anstrengendes Verhör markiert (vgl. KKAS, S. 448).
248 Vogl spricht in Mimesis und Verdacht für Kafka am Beispiel der Hochzeitsvorbereitungen auf
dem Lande von einem bestimmten Umgang mit Sichtbarem und Aussagbarem bei Kafka in
Übereinstimmung mit moderner Ästhetik. Figuren werden nicht mehr einfach beschrieben,
sondern geraten in ein Wechselspiel von Sehen und Gesehen-werden (vgl. Vogl 1991, S. 202;
für das Schloß wäre zu ergänzen: Sprechen und Gesprochen-werden). Raban erzeuge sich
selbst als „ungewisses Resultat von Selbstdeutungen, die aus unterstellten Deutungen her-
vorgehen“ (ebd.). In dem gesamten Prozess sei das Verborgene Effekt der Oberfläche (S.
203), was von Foucault aus gedacht ist und in dem gegebenen Zusammenhang eine Form
dessen darstellt, wie Trauma buchstabieren gelernt wird. In Vogls Beispiel ist es der fremde
Blick, durch den „diese Person erzeugt, aufgerufen, bezeichnet, zerlegt, zusammengesetzt
und auf sich selbst verwiesen wird“ (ebd., S. 204).
249 Zum Dialog mit Olga und zu seiner Wirkung auf K. s. u.
250 Dies ist auch ein Effekt des Diskursiven, womit der Text durch Metareferenz ja immer wie-
der spielt. Genauer gesagt, findet sich Wirklichkeit nicht als Text, aber als diskursiv in dieser
Form erst produzierte. Man denke dabei zusätzlich an ein bekanntes innerfiktionales Mo-
ment des Schloß-Romans, das sich rezeptiv ausdehnt: „Die Figuren sind durch eine kommu-
252 C 2. Kafka
Hier wird keine abstrahierende Sprachkritik vollzogen, 251 sondern das Spre-
chen und sein Bezugssystem geraten selbst in Form der unmittelbaren Pro-
duktion von Sprache in den Fokus.252. Die sprachlichen Äußerungen bleiben
dabei ebenso fragil wie die Konstruktion der fiktionalen Welt selbst. Dazu
zählt die bereits angesprochene ständige (teils latente) Präsenz des diskur-
siven Gegenteils und dessen wiederholte Produktion als Konstruktionsprin-
zip. Bildhaft gefasst ist dieses Prinzip: etwas erweist sich als ‚eigentlich‘
etwas anderes, bereits zu Beginn an der Dorfkirche, bei der es sich ‚eigent-
lich‘ nur um eine Kapelle handelt.253 Im Gesamt des Textes wird dies den
Protagonisten betreffen und seine Position, die sich fortlaufend als eine
andere erweisen wird, wobei die Rezipienten durch die Erzählweise in die-
sen Prozess einbezogen sind (s. u.). Wo ein guter Teil der Textentwicklung
darin besteht, das Ausgeführte an späterer Stelle wieder aufzuheben, kön-
nen Sackgassen und Leerläufe dazukommen, die zumindest im Fragment als
aufgegeben erscheinen.254 Auch kann aus einer Person eine andere spre-
chen, wie bei Frieda, wobei sie eigentlich vielleicht auch selbst spricht.255
Fehlender Fluchtpunkt
Im Unterschied zum Proceß,256 der auf ein allerdings komplexes Ende hin
zuläuft, fehlt hier ein Fluchtpunkt bzw. bildet sich dieser ex negativo, denn
wesentliches Moment des Textes ist der hochgradige Ausschluss der Vorge-
schichte K.’s,257 die nur in Andeutungen (minimal) präsent ist. So begegnen
wir einer Art Experiment, wie die einzelnen Fäden strukturell auf genuin
Abwesendes verweisen und dort zusammenlaufen können. Gesetzt wird
also nicht Information im Sinne der Rahmung der Geschichte, sondern das
Fehlen eben dieser Information.
Das Ich des Protagonisten im Laufe der Anwesenheit im Dorf ist in mehrfa-
chen Rollen ebenso präsent, wie es sein diffuses Begehren sowie eine Fülle
von Reflexionsprozessen und die Verwicklung in dieses Ich re-formierende
Dialoge sind. Ob allerdings eine (Abwärts-)Entwicklung stattfindet und wie
diese genau zu beschreiben wäre, ist bereits schwieriger zu beantworten
sowie in innerfiktionale Diskurse eingebettet. 258 Das fast Einzigartige des
Textes ist, wie diesem Ich kaum Verortung über die erzählte Zeit hinaus
gegönnt wird, die sich vom Blick von der Holzbrücke aus „in die scheinbare
Leere“259 bei der Ankunft bis zum beginnenden Aufenthalt bei Gerstäcker
erstreckt, d. h. die radikale Unterbestimmtheit seiner Identität. Bereits für
die ersten Teile des Romans zählen dazu u. a.:
257 Auch die Nachgeschichte bleibt ausgeklammert, was möglicherweise dem Fragmentari-
schen geschuldet ist. Sollte sie ähnlich dem Prozeß verlaufen und eine stete Abwärtsbewe-
gung realisiert werden, dann wäre ein ‚Sterben aus sich heraus‘ gut vorstellbar, was aller-
dings ‚wilde Spekulation‘ bleiben muss. Auszüge der Vorgeschichte blitzen sehr selten auf
und scheinen desintegriert. Die Erinnerung an das (ambivalente) Erfolgserlebnis, die Fried-
hofsmauer in der ‚Heimat‘ erklettert zu haben (vgl. KKAS, S. 49 f.), wirkt eher wie ein
Fremdkörper.
258 Vgl. oben die Stelle zum ‚Durchkosten der Erschütterungen‘, die aber keinesfalls als gesi-
cherte übergeordnete Lesart oder als ‚eigentlicher‘ Plan eines Autors zu rezipieren ist, der in
seiner Literatur eben diese ‚Eigentlichkeit‘ auflöst. Wenn wir durch den Abbruch des Frag-
ments aus Satz und Text aussteigen, bleibt K.s Situation unklar.
259 KKAS, S. 7. Schon der erste Absatz macht bekanntlich vor allem klar, was K. nicht sieht:
Schlossberg und großes Schloss.
254 C 2. Kafka
Was zahllose Romane und Erzählungen in den ersten Sätzen erledigen, wo-
mit sie teils bereits eine Narration in nuce produzieren263 und was in diesen
Texten traditionell nie in Frage steht: die Verortung der Protagonisten, wird
hier systematisch ausgespart und etwa in den Punkten, in denen sie diskur-
siv eingeführt wird, narrativ wieder aufgehoben. 264 Das ist nicht surreal
oder widersprüchlich, sobald Aussagen aus Dialog- und Erzählanteilen kon-
sequent unterschieden werden, sind die Angaben zumindest potentiell
stimmig. Sie bieten aber keinerlei Halt im Sinne einer echten Festlegung des
Protagonisten, und zwar über den ganzen Roman hinweg. Das Schloß zeigt
260 Die Lösung des Proceß, selbst eine Steigerung der Figurenreduktion des Verschollenen wird
weiter zugespitzt. Zum intertextuelle Spiel zählt auch der am Telefon kurz aufblitzende Na-
me „Josef“ (KKAS, S. 37). Die Reduktion ist auch Teil des parabelhaft Allgemeinen, zu dem
‚Dorf‘, ‚Schloss‘, ‚Graf Westwest‘ oder Namen wie ‚Brückenwirt‘, ‚Herrenhof‘ oder ‚Klamm‘ als
klingender Name zählen – im Tschechischen liegt der Stamm „klam“, wie die Kafka-
Forschung längst weiß, u. a. Wörtern wie ‚täuschen‘ oder ‚Täuschen‘ (‚klamat‘ bzw. ‚klamá-
ní‘) zugrunde.
261 Von außen wird nur markiert, dass er in keiner Funktion gebraucht wird.
262 Vgl. bereits K.s Interpretation des ersten vom ‚Boten‘ Barnabas überbrachten Briefes als
Wahlangebot mit aller Konsequenz (KKAS, S. 40–43).
263 Vgl. zwei berühmte, wenngleich konträre Beispiele der internationalen Literatur: „Alexej
Fjodorowitsch Karamasow war der dritte Sohn eines Gutsbesitzers unseres Gouvernements,
Fjodor Pawlowitsch Karamasow, der seinerzeit so viel von sich reden machte (und noch
heute gelegentlich erwähnt wird) durch seinen tragischen und dunklen Tod, der ihn vor ge-
nau dreizehn Jahre ereilte und auf den ich an seiner Stelle zu sprechen kommen werde“
(Dostojewskij 2006, S. 15). Und am anderen Ende des literarischen Spektrums: „SCARLETT
O’HARA was not beautiful, but men seldom realized it when caught by her charm as the Tar-
leton twins were. In her face were too sharply blended the delicate features of her mother, a
Coast aristocrat of French descent, and the heavy ones of her florid Irish father” (Mitchell
1947, S. 3).
264 Vgl. K.s Rede vom ‚verheirateten Landvermesser‘ (KKAS, S. 13) und s. u.
2.2 Das Schloß 255
265 Der Prozess von K., der selbst natürlich seine Vorgeschichte kennt, wird von der Qualität
her rezeptiv gedoppelt, ohne dass er unmittelbar ‚abgebildet‘ werden könnte.
266 Dazu kommt: ‚Orientierungstrauma‘ und ‚massive Erschütterung‘ (s. o.) sind psychologisch,
und nicht soziologisch definiert, für die Moderne wird (kollektiver) Orientierungsverlust
(Wertzerfall) allgemein als signifikanter Hintergrund verstanden, ein häufig behandeltes
Beispiel in diesem Kontext sind die entsprechenden Abschnitte der Schlafwandler-Trilogie
(s. dort).
267 Dies gilt besonders für die Romane. Dadurch ist erzähltechnisch ein Gegenmodell zum
Schema der Aufklärung des eingangs geschaffenen Rätsels geschaffen.
256 C 2. Kafka
Kafkas Text ist in diesem Sinne als eine Gegen-Erzählung lesbar, in der ge-
rade diese nicht nur für die kindliche Sozialisation bedeutenden Fragen
verunmöglicht werden und die Möglichkeit zur Orientierung experimentell
aufgehoben wird. Zu beobachten ist, dass der Text (hier in Umkehrung) zu
den elementarsten Grundlagen des Sprechens und Erzählens zurück-
kehrt.271
268 Besonders deutlich sind die traumatischen Situationen in folgenden Texten ausgeführt: Der
Verschollene, Der Proceß, Die Verwandlung und Der Bericht für eine Akademie (auch als Vari-
ation der Verwandlung, als Fortführung der Suche nach einem Ausweg).
269 In diesem Sinne ist der Bezugspunkt Kafka für Deleuze/Guattari konsequent (vgl. v. a. De-
leuze/Guattari 2008 sowie 1997b).
270 Schmidt 2008, S. 22 (Fußnote getilgt).
271 S. auch unten. Vgl. auch ebd., S. 23, wo die Identitätskonstruktion mit narrativen Strategien
der Selbstbestätigung und der Konstruktion von Geschichte verknüpft wird. Genau diese
fehlende Geschichtlichkeit, die Nicht-Verortung des Protagonisten, trägt entscheidend bei
zur rezeptiven Problematik der Zuordnung, globaler formuliert, des Verstehens. Zumindest
Ähnliches wird für Jorge Luis Borges konstatiert, der die „raum-zeitliche Illusion des mime-
tischen Erzählens selbst“, zerstöre, vergleichbar mit „Kafkas anti-mimetischer Phantastik“
(Blüher 2002, S. 540).
2.2 Das Schloß 257
scher Weise zwar angedeutet, aber eben nicht weiter erläutert. Sein Innen-
leben gehört so von Beginn an einer Ordnung an, die sich der Rezeption
entzieht. Die Aussagen, er sei Landvermesser und warte auf seine Gehilfen,
werden zwar bestätigt, ohne sich dadurch zu bewahrheiten, zugleich aber
massiv unterlaufen.272 Sie scheinen sich partiell zu realisieren, allerdings in
irritierenden (neu geschaffenen) Kontexten.273 Während der Protagonist
damit ringt, die Situation einzuordnen, verdoppelt sich diese Bewegung im
Verständnis der mit dem Roman gegebenen Ausgangslage. Wer ist K. nun
eigentlich, woher kommt er und was will er hier? Die Rede von der Familie
und den Gehilfen, auf die er gewartet hat, erweist sich als zunehmend un-
wahrscheinlich, wird aber nie explizit aufgehoben. Gibt es a priori eine Ver-
bindung zum Schloss des eingangs genannten Grafen Westwinds, der in der
Folge keine Rolle mehr spielt? Welcher Art könnte die sein? Ist er ein bloßer
Landstreicher, der auf die erste Frage hin sein Glück versucht und sich in
der Nähe des Schlosses gleichsam festzusetzen versucht? Was wären dann
seine Erwartungen an das Schloss? Es ist bekannt, dass diese Fragen sich
nicht lösen lassen und den Prozess der mannigfaltigen Kafkainterpretation
ausgelöst haben, der allzu oft um die oben genannte Problematik „Was be-
deutet das?“ kreist.
Die narrative Struktur des Romans wird besonders durch die spezifische Art
der Binnenerzählungen, Monologe und Dialoge und durch ihr komplexes
Wechselspiel zu einer Destabilisierung basaler Möglichkeiten des Sprechens
und Erzählens erweitert, wie zunächst beispielhaft angedeutet werden
soll.274 Olga erzählt in dem Inhalt widerstreitender Form, gleichsam en pas-
sant, die Geschichte der fundamentalen Erschütterung ihrer Familie, stürzt
dabei den Erwartungshorizont des inner- und außerfiktionalen Rezipienten
und verstrickt den zuhörenden K. intensiv in eine fremde Welt, der sich im
272 Vgl. etwa Jahraus 2006, S. 404 f., wo die quer verlaufende Kommunikation beleuchtet wird
und die von K. rekapitulierte ‚Ernennung‘ zum Landvermesser durch das Schloss hervorge-
hoben ist. Die Schwierigkeit der Ausgangslage zeigt sich daran, dass Das Schloß nicht nur im
Schulunterricht immer noch als die Geschichte des Landvermessers K. diskutiert wird.
273 Vgl. etwa die beiden Gehilfen, die vom Schloss ernannt werden, die beobachtete schlechte
Kleidung, die nicht nachkommenden ursprünglichen Gehilfen, die sich nicht bestätigende
Rede von Frau und Kind sowie die Erzählung des Vorstehers von der früheren Bestellung
des Landvermessers (vgl. KKAS, S. 96–112).
274 Vgl. bereits das oben schon erwähnte ‚Scheitern der Rede‘ in der Aussage des Heizers im
Verschollenen: Seine ‚sprechende Sprachlosigkeit‘ ist markiert als „Durcheinanderstrudeln
aller [vorzubringenden Klagen] insgesamt“ (KKAV, S. 27). Damit ist verwiesen auf das Er-
zählen selbst und dessen Basis, Bezugspunkt und Kontrapunkt: das Sprechen. Das komplexe
Durcheinander der die Narration produzierenden und zugleich unterlaufenden Erzählungen
im Schloß ist neu, wobei stets schon bei Kafka vorhandene Verfahren gesteigert werden.
258 C 2. Kafka
Anschluss daran in dem Sinn äußert, dass das Gehörte eine gelungene Er-
zählung darstelle (s. u.). Bürgels Metamonolog reflektiert auf die unmittel-
bare Situation, um sie zu verdoppeln und während des Sprechens zu be-
obachten und hebt das Geschilderte (gemeinsam mit K.) noch im Erzählvor-
gang auf. Pepi bringt eine ‚Auflösung‘ von K.s und Friedas Geschichte, die
das Geschehene alternativ verortet, erzählt gleichzeitig von sich und von der
Situation der Zimmermädchen und hält eine absurd anmutende Rede über
ihren sozialen Aufstieg, die von K. umgedeutet wird, um sich gleichzeitig in
sie hineinzubegeben. Dass er selbst Pepis Auflösung als Ausgeburt ihrer
Fantasie aus dunklen Räumen auffasst, 275 trägt letztlich ebenso wenig zur
Klärung bei wie ihre Erzählung selbst. Stanzels (weitgehende) methodische
Ausklammerung des Mimetischen zur Entwicklung einer Theorie des Narra-
tiven funktioniert hier nicht, die besondere Ansammlung nicht zuverlässiger
Erzähler trägt das Gesamtkonzept, das sich durch doppelte Brüchigkeit und
die komplexe Verweisstruktur deutlich von Rahmenerzählungen abgrenzt.
Über verschiedene Stimmen wird die erzählte Welt als spezifisch brüchige
aufgebaut. Die Ereignisse selbst sind zwar nicht im Sinne einer surrealen
Welt aufgehoben, sie sind allerdings Teil einer hochgradig verfremdeten
Wahrnehmungswelt, die sich dem Protagonisten und (noch mehr) dem
Lesenden entzieht.276
Im Schloß ist also die literarische Konstruktion radikaler Erschütterung der
Orientierung, v. a. der Verortung des Selbst, durchgeführt, welche gezielt die
Rezeption in diesen Prozess mit einbezieht. Während dieses Verfahren auch
in anderen Texten des Autors angewandt wird, stellt dieser Roman die um-
fassendste Studie dar.277 Die Erschütterung der rezeptiven Position gelingt
u. a. über radikale (und erweiterte) Nutzung der Figurenperspektive, 278
wobei die Radikalität darin besteht, diese Figurenperspektive in den allge-
275 Vgl. KKAS, S. 479. Vgl. als ein charakteristisches Beispiel auch, wie die Wirtin en passant, mit
wenigen Worten, K.s ausführliches Gespräch mit dem Vorsteher aufhebt: „Jedenfalls: was
der Vorsteher über Sie verfügt hat, hat keine Bedeutung und mit der Frau werde ich gele-
gentlich reden“ (KKAS, S. 138 f.). Insgesamt finden sich zahlreiche Beispiele für die stete
Umcodierung der Ereignisse.
276 K. verfügt im Unterschied zum Lesenden über etwas Wissen, und zwar über seine eigene
Identität hinausreichend, das strukturell ausgeklammert wird. Markiert wird wiederholt
nur das Faktum, nicht aber der Inhalt seines Wissens.
277 Vgl. zur Illustration der rezeptiven Erschütterung vor allem die Strafkolonie, wo der Lesende
mit in der Rolle des ‚unbeteiligten Beobachters‘ gedrängt wird.
278 Stanzel nennt Kafkas Schloß und Proceß als Muster personalen Erzählverhaltens, das die
Entwicklung des unzuverlässigen Erzählers stützt und mit den Veränderungen des moder-
nen Romans verbunden ist, für den er sich meist auf Joyce bezieht. Im Schloß geht es dabei
aber stets um eine durch die diskursiven Bewegungen gebrochene Wahrnehmung.
2.2 Das Schloß 259
279 Vgl. für das Beispiel des Proceß Stanzel 2008, S. 98.
280 Der Text ist durch das Fehlen jeglicher Gewissheit bezüglich der vorgefundenen Ordnung
konstruiert. Auch hier profitiert Kafka vom ‚Reisenden‘, dem die vorgefundene Regelwelt
nicht vertraut ist und auf dessen Perspektive, weiter reduziert durch von ihm nicht Mitge-
teiltes, die dürftigen Informationen des Rezipierenden beschränkt bleiben.
281 Im Text heißt es „[K]ein Zeichen der versprochenen Erlösung war zu entdecken; was alle
anderen in der Maschine gefunden hatten, der Offizier fand es nicht“ (KKAD, S. 245). Der
entscheidende Punkt scheint folgender: Wer würde ihm das Referenzsystem aufoktroyie-
ren, das er selbst den Verurteilten aufoktroyiert und in das sie sich letztlich (in einer kafka-
esken Version von Erlösung) finden? Die Stelle ist leer, die Maschine muss sozusagen versa-
gen, denn Teil der Bodenlosigkeit ist der fehlenden Punkt hinter den Konstruktionen. Vgl.
aber auch Blamberger 2011, S. 450, wo von einer Fehlfunktion der Maschine ausgegangen
wird.
282 Es bleibt offen, ob Kafka ohne den Abbruch eine partielle Klärung oder auch nur einen
Endpunkt angeboten hätte. Umdeutungen und Metatextualität wären davon allerdings wohl
nicht entscheidend betroffen.
260 C 2. Kafka
Die Gehilfen in ihren komplexen Rollen werden von außen als Jeremias und
Arthur begrüßt – was ihnen von Anfang an eine zweite Rolle zuschreibt,
bestätigt durch die andere Sichtweise Friedas. Sie gehören offensichtlich im
Unterschied zu K. zum Dorf und werden akzeptiert. In der Wahrnehmung
des Protagonisten, auch vermittelt durch die personale Erzählsituation, sind
sie wie Kinder, Narrenfiguren, über die er verfügt, die ihn aber auch bedrän-
gen usw.288 Das Gespräch mit Jeremias kippt diese Elemente radikal, da er
dabei nicht nur aus der Rolle des Gehilfen und Narren heraustritt, indem er
zum verständigen Gesprächspartner wird, sondern nun die vorherige
Wahrnehmung des Protagonisten in keiner Weise bestätigt. 289 Der als Selbst
sprechende Jeremias hat mit dem äußerlich wahrgenommenen bzw. rollen-
haft inszenierten Gehilfen von davor nichts mehr gemein, verweist aber
darauf, wie sehr die Darstellung seiner Figur aus der Perspektive geprägt
war, wodurch sich wiederum die Sicht des Protagonisten mit der gespielten
Rolle des Gehilfen vermischt. Es entsteht so insgesamt eines der zahlreichen
Beispiele des Textes, wo der Rezipient in eine Beobachtungssituation hin-
eingeführt wird, die nicht stabil ist und aufgehoben wird, indem eine neue
geschaffen wird, ohne dass mit narrativen Mitteln das Frühere zurückge-
nommen bzw. als falsch markiert würde: die Realität der Textwelt erweitert
sich über die Selbstbeobachtungen ihrer Figuren. Das ist anders als etwa,
um ein frühes einfaches Beispiel zu nehmen, das Alter Karl Rossmanns 290,
das durch den Erzähler mit 17 festgelegt wird und im Gespräch im Hotel O.,
an späterer Stelle, diskursiv bekanntlich mit 15 angegeben wird. 291 Wäh-
rend hier sich leicht die eben nicht kommentierte Figurenaussage der Er-
zählerangabe unterordnen ließe, ist die erzählerische Destabilisierung im
Schloß ungleich weiter getrieben, wo widersprüchliche Doppelführungen
von Dialog und Narration konsequent fortgesetzt werden. Das ist im Falle
288 Man kann sie mit Einschränkungen als Fortführung der Zelluloidbälle/Praktikanten in
Blumfeld, ein älterer Junggeselle (KKAN1, S. 229–266) sehen. Die narrativen Ordnungen sind
zwar radikal verschieden, zumindest Elemente sind aber in der Tat übergegangen (vgl. auch
Neumann 2012, S. 155). Zu beachten ist die Verdichtung von Bällen und Praktikanten be-
reits im Blumfeld-Fragment.
289 Vgl. KKAS, S. 366–370. Bezeichnend ist, dass K. ihn plötzlich nicht mehr erkennt (vgl. ebd.,
S. 366).
290 Salomonisch als 16-jähriger ausgegeben wird Roßmann in Neumann 2012, S. 137.
291 Ähnliche, nicht klar zu positionierende Beispiele finden sich bereits wiederholt bei Kleist:
kleinere Unstimmigkeiten, die gesetzt wirken, sich aber einer Bedeutungsbestimmung ent-
ziehen.
262 C 2. Kafka
von Jeremias auch anders als in Blumfeld, dem Referenztext für die Gehilfen,
wo die Zelluloidbälle von den Praktikanten klar geschieden sind oder als bei
Gregor Samsa, wo trotz der Verwandlung zum Käfer die Identität fortgesetzt
ist. Dass Jeremias re-perspektiviert wird, hebt den Vortext auf, was eine
intensiv genutzte Methode in diesem Text ist, in dem die Grundlagen von
Erzählen und verbalem Interagieren ausgehebelt werden.
Da sicheres Wissen der Protagonisten, wie bereits bei Kleist, aber anders
gestaltet, relativ unkommentiert in sich zusammenstürzen kann, wird von
dieser permanenten Unsicherheit auch das Ende mit einbezogen. Eindring-
lich geschieht dies im Proceß, wo die Gedanken Josef K.s in Kapitel 10 als
seltsame Einsicht präsentiert werden, sich aber dennoch dem Verständnis
entziehen: Woher kommt diese Zustimmung zur eigenen Vernichtung?
Josef K. steht in Auseinandersetzung mit dem Prozess und K. befindet sich
im Schloß auf der Suche, zunächst nur nach einem Ort zu übernachten. Dar-
gestellt werden hier der Zusammenbruch von Orientierung (Schloß) sowie
dort ein komplexes System eines anderen Gesetzes, das auf das Leben her-
einstürzt, um es zu vernichten, aber einer gewachsenen Identität der Prota-
gonisten wird in beiden Fällen keine Bedeutung zugeschrieben. 292
Weder der Prokurist Josef K. noch der bloße K. 293, der wohl eher nicht, aber
vielleicht doch Landvermesser ist, sind also Figuren in einem traditionellen
Sinne, denen eine Vorgeschichte zukäme. 294 Bei beiden bleibt diese aller-
292 In Lems Maske ist mit Hilfe der technischen Fiktion diese Situation zugespitzt zum unmit-
telbaren Startpunkt einer Existenz ohne reale Vorgeschichte (vgl. Lem 1982), was sich kaum
noch steigern lassen dürfte.
293 Der „Landvermesser“ K. ist eben im Unterschied zum Prokuristen Josef K. und zum
Sohn/Neffen Karl Roßmann im Verschollenen derjenige, dem auch noch dieser Ausgangs-
punkt entzogen ist.
294 Dass das Wort ‚Landvermesser‘ als Sprechakt fungiert (s. o.), bestätigt Pepi mit ihrer Aussa-
ge, Landvermesser sei etwas aktiv zu Realisierendes, nichts Fixes, womit das Haltlose nicht
bestätigter Identität mit artikuliert ist: „Er ist Landvermesser, das ist vielleicht etwas, er hat
also etwas gelernt, aber wenn man nichts damit anzufangen weiß, ist es doch auch wieder
nichts“ (KKAS, S. 465). Dazu kommt das innerfiktionale Spiel Landvermesser vs. Landstrei-
cher, das von Beginn an durchgeführt wird. Ähnliches gilt für Jeremias als Gehilfe und Kell-
ner (s. o.) sowie für K.s Wahrnehmung des Barnabas im Glanz und als Knecht, mit dem (fal-
schen) ‚Seidengewand‘ als äußerer Hülle: „K. hatte sich ihm [dem Missverständnis] ganz
hingegeben. Hatte sich bezaubern lassen von des Barnabas enger seiden glänzender Jacke,
die dieser jetzt aufknöpfte und unter der ein grobes, grauschmutziges, viel geflicktes Hemd
erschien über der mächtigen kantigen Brust eines Knechts“ (KKAS, S. 52). Selbstverständ-
lich ist auch diese Enthüllung des ‚eigentlichen‘ Barnabas keine stabile Zuschreibung.
2.2 Das Schloß 263
Insgesamt ist zu fragen, wie sich die mit dem Schloß durchgeführte Proble-
matisierung von Deutungsprozessen mit dem Komplex Trauma verknüpft.
Während Rilke innerhalb der impliziten ästhetischen Beobachtungen der
Aufzeichnungen anhand des Wandteppichs die Gesamtbeobachtung von der
interessegeleiteten, isoliert bleibenden Abstraktion abgrenzt, diskutiert
Kafka das aufgeworfene Problem innerfiktional u. a. anhand der Briefe:
295 S. o, den Punkt: „Vorbemerkung zu den Romanen der Moderne“ zur zweiten Realität über
Janet, Freud und Bleuer.
296 Vor allem betrifft diese Parallelität die Fiktion totaler Bürokratie und das Verhältnis unzu-
gänglicher Kernbereiche der Macht zu Ausläufern der Bürokratie, die eventuell zugänglich
sind, sowie die komplexem sich entziehende soziale Schichtung mit ihren strengen Hierar-
chien.
297 Der Kontext von Olgas Aussage ist die Botentätigkeit des Barnabas. Formuliert ist damit die
Kontingenzproblematik jeglicher Interpretation.
264 C 2. Kafka
disch äußerst sinnvoll erscheint. Es kann aber nicht die Lösung sein, Überlegungen dazu
ausschließlich der Biologie zu überlassen.
302 Zum Rahmen gehört auch Amalias Aussage, Olga scheine K. zu lieben, sowie die Position K.s
als sich wandelnder Zuhörer und der hier stets wichtige Wechsel der Perspektive. Amalia
habe laut Olgas Erzählung den Verstand gehabt, das zu durchschauen; Mutter habe das Leid
aller mit verwirrtem Sinn getragen. Der Vater sei vollständig zerbrochen. Man vergleiche
auch, wie sich die Unzugänglichkeit des Schlosses für ihn in K. spiegelt.
303 Dass der Anlass zunächst wenig beachtet wird, verbindet sich damit, wie Josef K. dem Pro-
zess begegnet oder Gregor Samsa zunächst von einer kleineren Veränderung ausgeht. Im
Hintergrund steht der soziale Ausschluss. Zur frühen Forschung zu Amalia, die neben Frieda
im Fokus stand, vgl. Sheppard 1979, S. 464. Es ist bezeichnend, dass der Erzählerin Olga
keine nur annähernd vergleichbare Aufmerksamkeit zukam.
304 Vgl.: „[…] daß jemand der von oben mich und was ich tue beobachtet – und die Verwaltung
der großen Dienerschaft ist freilich ein äußerst wichtiger und sorgenvoller Teil der behörd-
lichen Arbeit – daß dann derjenige der mich so beobachtet, vielleicht zu einem milderen Ur-
teil über mich kommt, als andere, daß er vielleicht erkennt, daß ich, in einer jämmerlichen
Art zwar, doch auch für unsere Familie kämpfe und die Bemühungen des Vaters fortsetze.
[…] vielleicht wird man es mir dann auch verzeihen, daß ich von den Dienern Geld annehme
und für unsere Familie verwende“ (KKAS, S. 350, Herv. von Vf.).
305 Genau heißt es: „den Knechten im Herrenhof war ich ein Spielzeug, das zu zerbrechen sie
sich wütend anstrengten“ (KKAS, S. 355). Die Diener als Doppelwesen, ernsthaft im Schloss,
triebhaft in der Nacht, liest sich in seiner Anspielung auf bürgerliche Doppelmoral und der
Nähe zur Psychoanalyse fast wie eine Reminiszenz an eine untergegangene Ordnung: Die
Diener, dem Ruf nach die „eigentlichen Herren im Schloss“, dort „still und würdig“ (KKAS, S.
266 C 2. Kafka
Lessing konnte sich auf die Tradition beziehen, um diese zugleich umzuco-
dieren und hinsichtlich ihres Wertesystems zu aktualisieren. 306 Kafka dage-
gen produziert alles andere denn eine einheitliche Binnenerzählung Olgas,
konterkariert, ironisiert und überspitzt, arbeitet metareferentiell und de-
stabilisiert Bedeutungen, lässt aber zugleich und vor allem jegliches Werte-
system kollabieren, indem ein ‚verschobener‘ Beobachtungspunkt einge-
nommen wird. Wichtig ist dabei weniger eine Dekonstruktion der Literatur-
geschichte im Sinne eines Aufzeigens der historischen Produktion von Be-
deutung und eben Werten im literarisch-philosophischen Diskurs als der
durch die Überzeichnung durchscheinende, erschütternde Blick auf die Aus-
setzbarkeit und Aufhebbarkeit der großen Erzählung von der Würde des
Menschen.307
K. „erklärte, daß er ihr wegen ihrer kleinen Kunstgriffe in der Erzählung gar
nicht böse sei, sondern sie sehr wohl verstehe“: 308 Intradiegetische Narrati-
onen, Dialoge und Monologe im Schloß werden von Metareferenz getragen
und führen so die moderne Bewegung Rilkes mit ihrer besonderen Bedeu-
tung von Metapoetik fort (s. o.).309 Olgas Binnenerzählung zu Amalia ist
zunächst Teil dieses Prozesses, der gerade für diesen Roman Kafkas als
Aufhebung von Orientierung und als Destabilisierung der Grundlagen jegli-
chen Erzählens durchgeführt wird. Sie ist auch durch den Verweis auf
„Kunstgriffe“ in ihrem kommunikativen Bezugsfeld semantisch instabil ge-
halten. Der Rezipient bleibt im Unterschied zu K. im Dunkel, was ein weite-
res Moment des Romans charakterisiert: inneres Wissen der Figuren wird
zwar ausgesprochen, aber in seinem Inhalt zurückgehalten.
Spezifischer betrachtet bezieht sich Olgas Binnennarration auf den sozialen
Deutungshintergrund von Narrationen. Das Fehlen einer übergeordneten
Deutungsinstanz bezeichnet den Kollaps der mit der Aufklärung gewonne-
nen Orientierungsmöglichkeit. Die Idee der natürlichen Würde des indivi-
duellen Menschen, wie sie etwa Rousseau der dieser Natur widersprechen-
den Versklavung entgegenschrieb, benötigt ebenso wie das Ziel der Mün-
348), zeigen sich im Dorf „wie verwandelt; ein wildes, unbotmäßiges, statt von den Gesetzen
von ihren unersättlichen Trieben beherrschtes Volk. Ihre Schamlosigkeit kennt keine Gren-
zen“ (ebd.).
306 Vgl. den bekannten Einfluss von Livius’ Ab Urbe Condita auf Lessings Emilia Galotti.
307 Vgl. den in Abschnitt A diskutierten Versuch der Traumadiskurse, über den Ausschluss von
Traumatisierung einen verbindlichen gemeinsamen Wert zu schaffen.
308 KKAS, S. 365 (K. spricht hier als Rezipient von Olgas Erzählung).
309 Vgl. besonders Olgas Erzählung und den Metamonolog Bürgels. Dass dies an Techniken der
Romantik anschließt, ist trivial. Wichtig erscheint, wie schon für Rilke zu zeigen versucht
wurde, die spezifische Form der Metareferenz der Moderne.
2.2 Das Schloß 267
‚Doch‘, sagte Olga, ‚das konnte man, freilich nicht nach einem
regelrechten Proceß und man bestrafte sie [Amalia] auch nicht
unmittelbar, wohl aber bestrafte man sie auf eine andere Wei-
se, sie und unsere ganze Familie und wie schwer diese Strafe
ist, das fängst Du nun wohl an zu erkennen. Dir scheint das un-
gerecht und ungeheuerlich, das ist eine im Dorf völlig verein-
zelte Meinung, sie ist uns sehr günstig und sollte uns trösten,
und so wäre es auch, wenn sie nicht sichtlich auf Irrtümer zu-
rückgienge‘. (KKAS, S. 306 f.)
Ich kann dir das leicht beweisen, verzeih, wenn ich dabei von
Frieda spreche, aber zwischen Frieda und Klamm ist, abgese-
hen davon, wie es sich schließlich gestaltet hat, etwas ganz
ähnliches vorgegangen wie zwischen Amalia und Sortini und
doch findest Du das, wenn Du auch anfangs erschrocken sein
magst, jetzt schon richtig. Und das ist nicht Gewöhnung, so ab-
310 Dieser Übergang wird für Broch entscheidend sein, etwa mit der extensiven Codierung
dessen, wie die nationalsozialistische Ideologie des Massen-Terrors noch hinter die Entste-
hung des Christentums zurückgeht, im Tod des Vergil. Kafka schreibt den Text gut ein Jahr-
zehnt vor der Machtergreifung, die Problematik ist allerdings durchaus vergleichbar und sie
ist über den hier vorgeführten Kollaps der Wertsetzung verständlich.
311 Es wäre verkürzt zu sagen, dass in einem Unrechtssystem Gerechtigkeit zur Außenposition
würde. Es geht um den Kollaps der Bezugspunkte: mit und für K. ist jegliches sozial Voraus-
gesetzte erschüttert. Auch dieser Text muss zwangsläufig vom Gegenpunkt einer Ordnung
des Terrors aus schreiben, da sich sonst zu ‚Trauma‘ nichts sagen ließe.
268 C 2. Kafka
Das „Ablegen von Irrtümern“ ist ironisch überzeichnet und der gewollten
Gegensätzlichkeit zu herkömmlicher Norm geschuldet. Dennoch wird über
den Gesamtkontext der Szene genau dies deutlich: dass die Frage von
Wahrheit und Irrtum relationalen Systemen erfolgt. Der Logik einer Ord-
nung des Terrors, wie sie von Olga ausgeschildert wird und wie sie von fa-
miliären oder sozialen Gruppen zu politischen Formen wie Diktaturen
reicht, korrespondiert mit der Erschütterung der Orientierung, wie sie von
K. auf die Rezeption ausstrahlt.313 Die Rede, was Traumatisierung, Opfer,
Täter, Verbrechen, Kompensation oder Verantwortung bedeuten, kann in
sozialen Systemen jederzeit gebrochen werden und was Olgas Binnenerzäh-
lung überzeichnet ausmalt, wird von Berichten Überlebender gedeckt. Zum
Komplex Trauma und zum Ringen um den Begriff zählt also fraglos eine
Reihe von Strukturelementen aus Olgas System, die hier v. a. als Um-
Ordnung geschildert sind. Dazu zählen besonders Scham der Opfer, ihre
soziale Ausgrenzung und Ächtung (s. o.).
Verachtung wird in Olgas Gespräch Ausdruck und Konstituens sozialer Ord-
nung, wobei sie sich argumentativ auf die real herrschende Ordnung in
Dorf/Schloss bezieht. Das erfolgt, wie bereits mehrfach hervorgehoben,
ohne Zweifel radikalisiert und überspitzt mit dem Bild von Olga im Haufen
der sich ablösenden Knechte oder der völligen Zerstörung einer Familie
aufgrund eines zerrissenen Briefs, wodurch allerdings die Hoffnungslosig-
keit der Ausgeschlossenen, organisiert durch funktionale Verachtung,314 nur
umso deutlicher hervorbricht.315 Es geht eben um soziale Konstruktionen
am Beispiel von Amalias sogenanntem ‚Vergehen‘, um diskursive Festlegun-
gen in relativen moralischen Systemen. Die Ausdehnung auf die Familie
312 Olgas Aussage ist wieder doppelt codiert. Im Kontext folgt sie deutlich auf die Opposition
‚vereinzelte Meinung‘ vs. ‚Regelsystem des Dorfes‘. Konkret bezieht sie sich auf die sexuelle
Beziehung der Beamten zu den Frauen aus dem Dorf, aber durch das: „Ich kann dir das
leicht beweisen“, sind die Bereiche verknüpft und das „Ablegen von Irrtümern“ bezieht sich
auf K.s Verständnis allgemein. Olga geht hier, nicht ganz selbstverständlich, von einem Ver-
hältnis Klamms zu Frieda aus.
313 Seine Verbindung zu Olga liegt in diesem Punkt.
314 Olga diskutiert die Ausgrenzung als Abgrenzung (s. u.) und hält, das 18. Kapitel schließend,
fest: „Alles, was wir waren und hatten, traf die gleiche Verachtung“ (KKAS, S. 333). Wieder
fungiert Verachtung als soziales Strukturierungsprinzip.
315 Opfer von Gewalt befinden sich in analog strukturierten sozialen Situationen.
2.2 Das Schloß 269
oder der sich übereilende Gehorsam aus Angst erzeugen die Scham der Aus-
gesperrten sozial, was sich von der stärker intrapsychischen erzeugten
Scham des Ermordeten im Proceß abhebt.316
Wenn K. zu Sortinis Vorgehen festhält, der versuchte Missbrauch könnte in
anderen Fällen gelingen und „kann sich jedem Blick entziehen, auch dem
Blick des Mißbrauchten“317, so steht dies in Kontrast zur konstruierten Welt
des Romans, da seine genuin vernünftige Reaktion in diesem Kosmos weder
positionierbar noch überhaupt verständlich ist – in dieser Welt von Ohn-
macht mit ihren spezifischen Regeln, die sich dem Protagonisten und mit
ihm dem Rezipienten immer wieder entziehen. Wenn K. weiter äußert, er
hoffe, der Vater habe sich über Sortini beschwert, so wirkt diese Reaktion
auch auf den impliziten Leser bereits befremdend,318 denn dieser hat längst
verstanden, dass eine solche Beschwerde jenseits der Textlogik liegt, in der
Rechtsempfinden und Regelwelt aufgeklärter Individualität, die mit diesen
Bemerkungen der fremd bleibende Protagonist verkörpert, abwesend ist.319
316 Scham ist das herausragende Wort im oben bereits zitierten Schlusssatz des Prozeß: „‚Wie
ein Hund!‘ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben“.
317 KKAS, S. 304. Besonders auffällig ist hier der vorgestellte Blick der Missbrauchten. Was an
dieser Stelle aufscheint, ist Folgendes: Durch die drohende Umdeutung entgeht den Opfern
das, worum sie ringen, ihr Wissen um Unrecht (auch Améry berichtet darüber, vgl. den Ab-
schnitt D 1).
Der ‚Blick‘ ist in der theatralen Welt des Schloßes insgesamt ein Mittel der Textsteuerung
und trägt zur spezifischen Struktur bei. Hervorzuheben sind etwa der sich entziehende Blick
auf das Schloss, bereits im ersten Absatz (vgl. KKAS, S. 7), dann „die Blicke des Beobachters
konnten sich [am Schloss] nicht festhalten und glitten ab“ (KKAS, S. 156), Frieda und ihr
Blick von besonderer Überlegenheit sowie Klamms Blick, der sie manchmal „aus ihren [der
Gehilfen] Augen durchfährt“ (KKAS, 219). Amalias Blick wiederum „war kalt, klar unbeweg-
lich wie immer“, ging an dem, was er beobachtete, kaum merklich vorbei. Grund dafür sei
ein „jedem andern Gefühl überlegenes Verlangen nach Einsamkeit“ (KKAS, S. 264). Er sei, in
der Erinnerung seiner ersten Wahrnehmung durch K., „für sich selbst nicht häßlich, […],
sondern stolz und in seiner Verschlossenheit aufrichtig“ (ebd.). Vgl. die Veränderung dieser
ersten (narrativen) Wahrnehmung von Amalias Blick durch K., der ihn in der zu Olga getä-
tigten (diskursiven) Äußerung als „stumpfe[n] leblose[n] Blick“ bezeichnet (KKAS, S. 325).
Zentral ist Sortinis Blick, der bei Amalia, zu der er aufschauen muss, Halt macht (vgl. KKAS,
S. 300) und die Reaktion: „Sortini war vielmehr offenbar böse, „daß der Anblick Amalias ihn
ergriffen, ihn von seinen Geschäften abgehalten hatte“ (KKAS, S. 303). Die Blicke sind Teil
der Untersuchung basaler Formen des Erzählens und Interagierens. Vgl. auch die zahlrei-
chen Gucklöcher für das Schauen im Text (etwa bereits KKAS, S. 60, mit dem als solchen ge-
schilderten, unmittelbaren Blick K.s auf Klamm).
318 Man beachte, dass sie vor der destabilisierenden Schule der Lektüre sozusagen die natür-
lichste oder vernünftigste wäre.
319 Dazu gehört auch, dass aufgeklärt-vernünftige Positionen K.s in der diskursiven Textwelt
fast durchgehend als kindlich und unvernünftig porträtiert werden (s. o.).
270 C 2. Kafka
320 Vgl. den Proceß mit dem Unterschied der als solcher deutlich markierten zweiten Wirklich-
keit des Prozessverlaufs, während hier die fremde Regelwelt, in die K. sozusagen aus dem
Nichts als Ankommender fällt, zur einzigen wird.
321 Amalia ist zunächst „überlegene[r] Gegner“ Sortinis (KKAS, S: 304), dann aber geht er
schleichend über zu Amalia als Verantwortlicher: „Amalia, die doch alles verschuldet hatte“
(KKAS, S. 323); auch sucht er aktiv nach einem Fehlverhalten der Familie: „Was seid ihr
doch für Leute“ (KKAS, S. 327). S. Abschnitt A. zu Strategien der Opferbeschuldigung.
322 S. oben zu K.s Rede über die Kunstgriffe Olgas.
2.2 Das Schloß 271
Wie stets mit diesem Roman so wäre es auch hier zu kurz gegriffen, die Be-
drohung des Selbst als letztgültige psychologische Erklärung für die sukzes-
sive Zerstörung der Opfer und die Übertragung der Scham auf sie zu neh-
men. Nicht in erster Linie, weil K.s „Laß die Deutungen“ ausstrahlt, oder weil
Olgas Erzählung insgesamt überzeichnet ist und in fast absurder Spannung
zwischen Inhalt und Erzählduktus steht, sondern weil Das Schloß grundsätz-
lich anders funktioniert. Auch der Zusammenbruch der basalen Möglichkeit
des Erzählens und Sprechens oder der Verlust der Orientierung werden
nicht theoretisch erörtert, sondern über implodierende Bedeutungssysteme
aufgezeigt, die keine Festsetzungen erlauben.
In diesem Roman kontrastieren sich Stimmen aneinander, wodurch narrati-
ve Medialität, wie sie anhand von Erzählerstimme oder Reflektorfigur erfol-
gen könnte, durch Vielseitigkeit und „Unzuverlässigkeit“ gebrochen wird.
Das meint nicht nur ein Vieles an Stimmen, sondern dass keine Stimme
Klarheit bietet. Dass sich viele Stimmen aufheben können, wie am promi-
nentesten wohl Bachtin für Dostoevskijs Romane beobachtete, ist eben nicht
der Fall des Schlosses, sondern dass keine der Stimmen auch nur für sich
zuverlässig oder gar geschlossen wäre. Sie sind in sich und gegeneinander
gebrochen, so dass in der Tat jene Zerrüttung basaler Orientierung in den
Fokus rückt.
Auch weil die Rätselhaftigkeit nicht traditionell über den Text aufgearbeitet
wird,323 bleibt die Chronologie blockiert. Während Rilke in den Aufzeich-
nungen das Schreiben zu Simultanität und anhaltender Präsenz der Bezüge
nutzt, erfüllen die sich aufeinander beziehenden Interaktionen und steten
innerfiktionalen Umdeutungen bei Kafka eine analoge Funktion und verhin-
dern einen gesicherten Abschluss von Ereignissen, auf die in der Folge des
Erzählens aufgebaut werden könnte, was sich zunächst stets auf die Deu-
tungsebene bezieht. Da diese konstitutiv für das Geschehen ist und die nar-
rativen Elemente – etwa die Aussagen, die über die Reflektorfigur getätigt
werden – stets aufgehoben werden können, entzieht sich auch die eigentli-
che Handlung nach und nach. Dies geschieht besonders durch die ständige
Umdeutung von Figuren und von Beziehungskonstellationen und die feh-
lende Verortung des Protagonisten (s. o.). Mit der Zeit wird deutlich, dass
jedes einzelne Moment des Erzählten und Gesprochenen ebenso aufhebbar
323 Vgl. als Gegenbeispiel die klassische analytische Struktur des Kriminalromans.
272 C 2. Kafka
327 K. kommt zu dieser Einsicht, nun davon ausgehend, dass Barnabas zu jung für seine Aufgabe
sei, und Schritt für Schritt geleitet durch Olga, die ihn kurz davor zu beinahe konträren
Überzeugungen geführt hatte.
328 Amérys Lefeu wird um eine analoge Thematik kreisen (s. D 1). Vgl. für diesen Kontext auch
die lose religiöse Symbolik mit Klamm als Gott und der Entfernung von ihm als Taumel.
Lesbar wäre das als Ort der gesuchten Bedeutungsgebung; als Zentrum, wo Bedeutung fest-
geschrieben wird. Im Gegensatz dazu steht die traumatische Suche, denn Traumatisierte
ringen (nicht nur in Kafkas Welt) vergeblich um Bedeutung.
329 Ähnliches passiert in K.s beobachtender Reflexion des todmüden Gehilfen am Gitter, der
(theatral) überaus deutlich K.s eigene Lage spiegelt: Während er über ihn nachdenkt, denkt
er, wie so oft bei Kafka, ‚eigentlich‘ über sich selbst nach – ‚eigentlich‘ im kafkaesken Sinn
274 C 2. Kafka
verwendet. Das Äußere, K.s Drohung mit der Faust, wird als nebensächlich gegenüber den
beschriebenen Reflexionen vorgeführt (vgl. KKAS, S. 254).
330 Die Doppelung der Deutung, wie sie bereits Kleist in der Penthesilea und im Erdbeben in
Chili vorführt (s. auch unten), wird besonders im modernen Roman virulent.
331 Vgl. oben zum Wechsel von harmlos zu fatal. Transformiert auch in dem Sinne, dass Ereig-
nisse stets re-konstruiert werden müssen.
332 Vgl. im Urteil: „Vor einer langen Weile hatte er sich fest entschlossen, alles vollkommen
genau zu beobachten, damit er nicht irgendwie auf Umwegen, von hinten her, von oben her-
ab überrascht werden könnte“ (KKAD, S. 57). Es ist ein Universum, in dem es keine Sicher-
heit gibt und in der das Unerwartete jederzeit auf einen hereinbrechen kann: die (plötzliche,
nicht vorhergesehene) Wendung zum Schrecklichen. Kafkas Interesse gilt aber mehr der
Beobachtung; es gilt diesem nutzlosen Versuch, dem Drohenden durch Antizipation zu ent-
gehen.
333 Vgl. die sozial integrierten Gehilfen und K.s Position als ‚unterster‘.
2.2 Das Schloß 275
334 Vgl. die Versuche Josef K.s, sich dem Prozess entgegenzustellen, so wie die dem Leser meist
halb entzogenen Versuche K.s, den eingangs thematisierten Kampf mit dem Schloss aufzu-
nehmen.
335 Vgl. das LdP zum sozialer Umgang mit Traumata (s. o.). Broch wird in Tod des Vergil diesen
Punkt intensive beleuchten, wenn er im Kern aufzeigt, wie der aufsteigende NS-Terror noch
hinter das Aufkommen monotheistischer Religionen und der damit gewonnenen Werte zu-
rückgeht.
336 Wie schon ausgeführt, kann dies als Steigerung des Modells der Elixiere des Teufels aufge-
fasst werden, v. a. auch dadurch, dass das Erzählen selbst in diesen Sog gerät. Vgl. zur nicht
aufgehobenen, aber dennoch fragilen Unerschütterlichkeit etwa den Bericht für eine Akade-
mie.
337 Der Proceß ist gekennzeichnet durch seine enorme Theatralität (s. o.).
338 Vgl. die Verdoppelung von normaler Welt und Prozesswelt in Kapitel 2, einer Welt, die in
Kapitel 1 auf einmal auftritt und dem Protagonisten nicht bekannt war.
339 Vgl. paradigmatisch die Diener/Knechte in der Erzählung Olgas.
276 C 3. Broch
Einleitung
Ausgehend von den Schlafwandlern und der in der Rezeption noch immer
üblichen Fokussierung auf den integrierten philosophisch-kulturkritischen
Essayzyklus „Zerfall der Werte“ im letzten Teil der Romantrilogie, 341 wäre
eine Verknüpfung zu Dissoziation als Kernkategorie des gegenwärtigen
Traumadiskurses, der ohnedies vom Individuellen zum Sozialen strebt, zu
erwarten oder zumindest leicht herzustellen: endgültiger Abschluss des im
Übergang zur Renaissance einsetzenden sozialen Zerfallsprozesses durch
die Moderne mit daraus folgender Instabilität des aus seinen Wertsystemen
entlassenen, dissoziierenden Subjekts. Es geht aber dieser Studie darum,
gezielt solche Schnellschüsse zu vermeiden. Broch selbst betont die Diffe-
renz zum Tod des Vergil in der sogenannten ‚Zeitdiagnose‘, offensichtlich ist
auch die zur Verzauberung und zu den Schuldlosen, aber es wäre auch zu
kurz gegriffen, in dem von ihm selbst vorgeschlagenen Sinn heute noch eine
objektive, historisch-poetische Entwicklung sozusagen vom „Zerfall der
Werte“ zu den Themen der späteren Romane zu beobachten. 342 Dass Broch
340 Dies ist auch eine Funktion dessen, dass er eben außerhalb des unmittelbaren Geschehens
kaum verortet ist, wodurch das extreme Ausgesetzt-Sein verdichtet werden kann.
341 Dies betrifft vor allem die Rezeption des für die Moderne paradigmatisch gewordenen
Textes außerhalb der engeren Broch-Forschung und wirkt fast wie die Umkehrung der be-
kannten seinerzeitigen, peinlichen Ablehnung, nur der erste Teil sei geeignet. Zum Aufbau
des Romans s. u.
342 Der heutige literarische Diskus findet offensichtlich jenseits des Topos des Kunstwerks als
objektiv notwendigen Ausdrucks der Zeit statt. Theoretisch ist Broch, ähnlich wie Rilke,
wiederholt nahe an Goethes Konzept eines sich im Ganzen schließenden Kunstwerks (s. u.),
Einleitung 277
Paul Michael Lützeler hat u. a. durch die Herausgabe von Brochs Selbst-
kommentaren (als integrativer Teil der kommentierten Werkausgabe) das
objektive, im Denken der Avantgarde gelegene, ästhetische Konzept Brochs
freigelegt, wovon eine der beiden Herausforderungen für ihn, James Joyce,
zeugt (s. o.). Literatur für Broch ist nicht, das Eigene darzulegen, sodass er
gerade die Darstellung eigener Problematik auch gegen Canetti hält. 347 Die
andere genannte Herausforderung, Franz Kafka, der von ihm gleichsam als
natürlich-intuitive Avantgarde gehandelt wird, verweist allerdings auf eine
weitere Facette im Schaffen Brochs, die zumindest ergänzend zur objekti-
vierenden Rechtfertigung der Ästhetik und ihrer normativen Verankerung
im Diskurs steht.348
Der Tod des Vergil als lyrischer Roman wollte das objektive, der Zeit ange-
messene Kunstwerk darstellen, wodurch die großartige, unter der Gefahr
des Manierismus stehende Sprache gerechtfertigt sein sollte. In den Schlaf-
wandlern sind die Essays (auch) eingefügt, um in der Entwicklung des mo-
dernen Romans diesen Schritt überzeugend bewältigen zu können, auch sie
sollen im besten Fall der genannten inneren Notwendigkeit entsprechen. 349
Brochs Suche nach dem objektiv Erforderlichen der Zeit, zu dem (nicht nur)
er eine sich öffnende Neuausrichtung des Romans zählte, führte ihn dazu,
für jeden seiner Entwürfe spezifische Verfahrensweisen zu entwickeln.
Während Rilke sich auf diesen einen umfassenden Roman beschränkte, was
und den Fokus auf den Nachsatz „doch nicht einen Schritt über diese Grenze hinaus“ legend
(KW 9/2, S. 198), weniger einen entscheidenden Impuls als ein offen bleibendes Verhältnis
Brochs zu Joseph und seine Brüder annimmt (Ritzer 2010, S. 155).
347 Vgl. Lützeler 2011, S. 25. Man kann das als gegen die Subjektivität des Expressionismus
gerichtet lesen (vgl. Halsall 2001), allerdings geht es um Brochs poetisches Verständnis ins-
gesamt. Individuellen Traumen nachzugehen – er selbst spricht von seinen sozusagen im
‚außerliterarischen Zusammenhang‘ der Psychischen Selbstbiographie (s. u.), allerdings im
psychoanalytischen Sinn –, wäre für ihn also, wenn dies nicht in einen übergeordneten
Rahmen eingefügt ist, kein Punkt der Literatur.
348 Vgl. für diesen Kontext auch die Nähe Brochs zur Psychoanalyse sowie die Bewunderung
gerade für Kafkas Urteil (Lützeler 2011, S. 28). Zu einer möglichen Faszination an so ver-
standenen ‚mythischen Bildern‘ Kafkas vgl. Ritzer 2006, besonders S. 201.
349 Dabei geht es nicht so sehr um die übliche, moderne Konzeption einer Vorwärtsbewegung
durch innovative Formen, sondern, wie Lützeler 1998 festhält, um einen komplexen Kitsch-
begriff Brochs, der Epigonalität und „Verhaftetsein an immer schon Vorgegebenes“ (S. 41)
ethisch problematisiert und der Kunst neue Sichtweisen abverlangt. Ausführlich legt Broch
seine Position in Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933) dar (KW 9/2, S. 119–157). Diese
Position teilt mit Adornos/Manns ‚Kanon des Verbotenen‘ des Dr. Faustus (s. o.), für den
Broch hier das Grundgerüst legt, u. a. den Standpunkt der ‚Unmöglichkeit‘ überkommener
Mittel. Durch postmoderne Intertextualität und Zitierverfahren ist die Fragestellung heute
zumindest verschoben.
Einleitung 279
das Streben nach Singularität auch im Sinne des Besonderen der Aufzeich-
nungen ausdrückt (s. o.), verwendet Broch seine komplexen experimentel-
len Techniken einmalig und genau reflektiert. Letzteres ist auch durch seine
bereits erwähnten Selbstkommentare belegt, die zumindest partiell als Teil
seines Werkes zu betrachten sind und hier in diesem Sinne berücksichtigt
werden.350
Die Codierung traumatischer Ereignisse bei Broch verfügt über eine enorme
Spannbreite, wobei konstante Bezugspunkte wie u. a. Leere, (existentielle)
Einsamkeit, Ich-Zerfall, Gewalt, Tod oder Verlust voneinander abgegrenzt
werden können. Die Frage nach dem Durchgang durch das Trauma,351 wobei
hier Trauma als das Gegenüber erscheint, das in Brochs ästhetischem Ver-
ständnis meist der Tod darstellt,352 ergänzt diese in Variation und durchaus
vor vielfältigen Hintergründen bearbeiteten Komplexe. Sie ist dominant in
der Verzauberung, wo sie als Frage nach dem Tod im Leben auftritt, sowie
im Vergil. Broch beschäftigt sich wiederholt und intensiv auch mit der Tä-
terseite von Traumatisierung, was hier u. a. in der Analyse der differenten
ödipalen Grundierung der Figuren von Esch und Huguenau in den Schlaf-
wandlern behandelt wird. Für die Irmgard-Szene der Verzauberung spricht
Dragica Rajčić treffend von „kollektive[m] Genuss des Mordens“, 353 dem
Sofsky’schen ‚Mehrwert des Tötens‘ (s. u.), wobei die Nähe zu den im An-
schluss des ersten Entwurfes ausgearbeiteten Massenszenen im Vergil of-
fensichtlich ist.354
Broch hat u. a. mit der Psychischen Selbstbiographie persönliche Aufzeich-
nungen hinterlassen, die seinen eigenen Traumabegriff als psychoanalytisch
und individualpsychologisch geprägt markieren. Die Vorstellung ist dabei
eine von lebensgeschichtlich frühen, sich dem Zugang verwehrenden, ei-
350 Broch selbst war völlig klar, dass er in dem Moment, in dem er zur interpretierenden Stim-
me wechselt, diese zu einer unter vielen möglichen wird. Zu den unterschiedlichen Techni-
ken in den einzelnen Romanen vgl. Lützeler 2007, S. 234 u. siehe unten.
351 Im erweiterten gegenwärtigen Traumadiskurs wird diese Suche, die analog bereits für Rilke
diskutiert wurde und die in Nachfolge der mit Kleists Homburg gegebenen Thematik steht
(s. o.), oft (trivialisiert) als ‚Wachstum durch das Trauma‘ gefasst. S. Abschnitt A, auch zur
Problematik dieser Position.
352 Beginnend mit den Schlafwandlern und sehr deutlich auch in Unbekannte Größe ist der Tod
Messpunkt in jedem Roman und wird mit dem Vergil zum entscheidenden Orientierungs-
punkt. Zu Brochs theoretischer Fundierung dieser Position vgl. etwa KW 9/2, S. 124 f.
353 Rajčić 2011, S. 23.
354 Broch arbeitete zeitnahe, etwa von 1939 bis 1948, an seiner Massenwahntheorie (s. u.), um
den NS-Terror theoretisch zu reflektieren. Der Tod des Vergil untersucht literarisch die Be-
dingungen grundsätzlicher Bereitschaft zu ungehemmter Machtausübung, u. a. im Exzess
der Masse.
280 C 3. Broch
gentlichen Traumen (s. o.). 355 Hier soll aber nicht seine Selbstanalyse oder
gar seine Biographie im Zentrum stehen, sondern, durchaus in Einklang mit
seinem eigenen literarischen Verständnis, geht es nicht um die Person des
Autors, sondern um diejenigen Elemente seiner auf das Über-Individuelle
ausgerichteten Poetik, die sich besonders mit dem Komplex Trauma berüh-
ren, wie er in den gegenwärtigen Diskursen konstruiert wird. 356 Broch ver-
fügt über zahlreiche Sprachen mit feinen Nuancen, um auseinanderfallende
Landschaften des Ich ins literarische Bild zu setzen, gleichzeitig Ereignisse
und Entwicklungen aufzuzeichnen und aktuelle Aporien freizulegen. 357 Die
Frage, was hier Deutung leisten kann, auch angesichts der Vielschichtigkeit
des Unternehmens, ob sie etwa im Lyotard’schen Sinne nur von dieser
Komplexität berichten kann, scheint dennoch so beantwortbar, dass sich die
Texte keinesfalls der Analyse entziehen, sondern geradezu eine Fülle aktuell
gebliebener Fragen aufwerfen, auch wenn dazu manche Überlegungen aus
ihrem zeitlichen Horizont vorsichtig herauszulösen sind.
Im Folgenden werden für die Schlafwandler einige Aspekte isoliert, zu de-
nen u. a. Verfahrensweise, Brüche, Traumdeutung, die spezifische ödipale
Thematik (‚blinde Täter‘) oder der Verschüttete Gödicke zählen, sowie
grundlegende Fragen der Trilogie erörtert, die sich in den Folgetexten fort-
schreiben. Über die letztlich unabgeschlossene Verzauberung und ihre Re-
flexion auf das Archaische und den Konnex des Durchgangs durch das
Trauma soll der Übergang zum Vergil geleistet werden, wo analogen Fragen
umfassender und überzeugenderer nachgegangen werden kann. Letzteres
auch deshalb, weil Broch auf der Basis der Josephs-Romane im Vergil aus
dem in der Verzauberung doch fühlbar präsenten Rahmen der Nächstenlie-
be heraustreten kann, um substantiell Grundlagen der notwendigen Pro-
duktion von Werten freizulegen.358 Der Novellenroman Die Schuldlosen als
letztes großes Projekt Brochs schließt mit der Thematik der ‚entsetzlichen
355 Vgl. Lützeler 2011, S. 251 f., zur Frage der ‚verweigerten mütterlichen Liebe‘ und zur ‚kom-
pensatorischen‘ Entdeckung des Ich.
356 Es ist zweifelhaft, ob er selbst Kernszenen, wie die Verlusterfahrung von Mutter Gisson in
der Verzauberung (s. u.), als traumatische beschrieben hätte, da er eben von einem anderen
Vokabular ausging.
357 ‚Zahlreiche Sprachen‘ ist hier gemeint u. a. in dem Sinn der Mehrfachcodierung der Schlaf-
wandler mit exakt so gewollten unterschiedlichen Schreibstilen oder in dem der einzigarti-
gen Gestaltung des Vergil-Experiments.
358 Zentral wird in Brochs Denken und politischem Engagement der Gedanke eines ethischen
Minimalismus, der die Versklavung des Menschen zurückweist. Das Eingangsbild zum Tod
des Vergil hält einen mitleidlos gequälten Sklaven fest, was in verdichteter literarischer
Form den Punkt darstellt, gegen den sich sein Schreiben in komplexen Anläufen richtet. Vgl.
zum ethischen Minimalismus Lützeler 2007, S. 240 f.
3.1 Die Schlafwandler 281
Die Ordnung der Trilogie, die sich über drei reale Generationen hinweg aus
drei unterschiedlichen literarisch-historischen Stilen und drei Protagonis-
ten, dem adeligen Pasenow, dem bürgerlichen Waisenkind Esch und dem
frei zirkulierenden Ökonomen Huguenau zusammensetzt, kann als meta-
modern bezeichnet werden, ist doch die grob als so bezeichnete Spanne von
Romantik über Realismus zu Moderne selbst in der Gesamtkomposition
komplex aufgehoben.359 Wenn etwa Huguenau über Eschs sprunghaftes und
reizbares Denken reflektiert, tritt die Fortsetzung der Trilogie aus der Kom-
plexion des vorangehenden Teils heraus, um zugleich in dessen Interpreta-
tion einzuwirken, so wie die Bertrand-Figur des zweiten Teils ein neues
Licht auf den ersten wirft. Wie Figuren im Wechsel der Romane neu per-
spektiviert werden, gibt der Trilogie also eine zumindest partiell zyklische
Form, die nicht nur nach vorne drängt. Wenn schließlich die Essays zum
Wertezerfall und die Geschichte des Heilsarmeemädchens in den modernen
dritten Teil eingearbeitet sind,360 so ist dies als bekannte Neuorientierung
des Romans zu verstehen, sollte aber nicht den Blick darauf verstellen, dass
die Verfahrensweise Brochs für die Schlafwandler in der komplexen Kombi-
nation der Elemente besteht, wodurch die moderne Novellistik zugleich
geschaffen und beobachtet wird.361
Den Schlafwandlern und ihrer vielschichtigen Konstruktion sowie internen
Verweisstruktur gerecht zu werden, ist nicht einfach. Für die auf universelle
Verfahren zielende, aus dem Strukturalismus entstandene Erzählforschung
liegt die Konzentration auf die neuen formalen Mittel ebenso nahe wie für
359 Genauer wäre es, für die ersten beiden Teile von einem, grob gesagt, je spezifischen Spiel
mit verschiedenen Stilrichtungen zu sprechen, das selbst auf Verweisstrukturen beruht und
divergierende Momente aufgreift, die in einem gegenüber dem dritten Teil deutlicher ge-
schlossenen Rahmen präsentiert werden.
360 Der ‚moderne‘ Blick des dritten Teils ist im Unterschied zu den vorangehenden Beobach-
tungen mehrfach zergliedert und ist auch für sich selbst beweglicher zwischen den Figuren.
361 Darauf bezieht sich der oben verwendete Begriff des Meta-Modernen.
282 C 3. Broch
362 Vgl. den Einschnitt der frühen Dissertationsschrift Hermann Broch und der polyhistorische
Roman (Steinecke 1968) bzw. den Diskurs zum erneuerten Zeitroman (Lützeler) sowie die
wiederholte Bezugnahme Brochs auf (u. a. durch den Positivismus) ausgeklammertes Wis-
sen.
363 Zu beobachten sind intertextuell neben den literarischen Bezugnahmen, wie etwa dem Spiel
mit dem Faust-Narrativ v. a. im ersten Teil, die vielfältigen philosophischen und religiösen
Bezüge sowie der Diskurs zur antiken Mythologie (s. auch den Abschnitt zu ‚Ödipus‘). In-
termedial spannt sich der Bogen etwa vom bedeutenden Panoramabild des ersten Teils bis
zum von Lützeler untersuchten Isenheimer Altar (vgl. Lützeler 2001), der mit dem realen
Ort Hagenau/Haguenau und der Figur Huguenau verbunden ist (s. auch unten). Insgesamt
entsteht so ein dichtes Netz von Beziehungen, dessen Konstruktion und Struktur bereits in
Reinhardt 1972 intensiv untersucht wird (s. u.).
364 Man könnte in der Struktur eine Variation von Balzacs Zyklusbildung der Comédie humaine
feststellen, wie sie noch Grass und Bachmann antreiben wird (vgl. Albrecht/Göttsche 2013,
S. 129), allerdings ginge dies an der spezifischen Anlage vorbei, die u. a. auf Joyce, Mann und
Gide zu antworten versucht. Zur abwertenden Einschätzung Brochs gegenüber Gides Integ-
rationsversuchen von Wissensdiskursen in den Roman vgl. Lützeler 2011, S. 28. Zu Einwän-
den gegen Manns „geschichtsphilosophische Überlegungen im Zauberberg“ vgl. ebd., S. 78.
365 Vgl. Grugger 2013c, s. u. Es ist eine Welt der gegenseitigen Einflussnahme. Thomas Mann
wird im Faustus viele der Themen Brochs aufgreifen, v. a. in seiner Betrachtung der Avant-
garde. Die beiden Romane teilen teils eine verkürzte Rezeption, die ihrer Komplexität nicht
gerecht wird, wobei in beiden Fällen gerade die Selbstkommentare die Reduktion mit ver-
ursacht haben. Für die Schlafwandler äußert sich diese bereits bei dem auf dem Klappentext
abgedruckten Kommentar Hermann Hesses, der Autor mache den Versuch, „die heutige
Krankheit unserer Zeit, den Zerfall der Werte kritisch zu deuten“ (Hesse zit. nach KW 1).
3.1 Die Schlafwandler 283
Faustus über die Referenz auf das Gespräch Über das Marionettentheater für
Leverkühn ästhetisch ausgeformt wird.
Was bedeutet das alles für das Verhältnis von Narration zum Komplex
Trauma? Auf eine neue Art, die dennoch sichtlich mit dem korrespondiert,
was in den Überlegungen zu den Aufzeichnungen und dem Schloss sichtbar
wurde und durch weitere Textbetrachtungen Brochs sich (wieder anders)
vertiefen soll, werden in den Schlafwandlern die Schwierigkeiten, Möglich-
keiten und Grenzen von Narration vielschichtig bearbeitet. Impliziter mo-
derner Ausgangspunkt ist dabei, dass sich Ereignisse nicht repräsentativ
erzählen lassen bzw. dass Erzähltexte eine nicht hintergehbar differente
Form ausbilden, durch narrative Komposition allerdings Wissen zu funda-
mentalen menschlichen Erfahrungen individueller oder sozialer Art über
eben diese spezifische Form konstruierbar ist. 366 Diese, so die Vorstellung
moderner Autoren wie Broch, lassen sich philosophisch-systematisch nicht
angemessen beobachten bzw. drohen in bloßer Objektivierung aufgehoben
zu werden.367 Dem Formalen kommt auch deshalb so hohe Bedeutung zu, 368
weil eine entscheidende Möglichkeit, jenseits problematisch nivellierender
Aussagesysteme369 über sie zu sprechen, im Medium der Literatur bzw. der
Kunst schlechthin gesehen wird. Das von der Moderne so intensiv beschwo-
rene Unsagbare, an das der gegenwärtige Traumadiskurs meist implizit
anschließt, war stets das über hoch entwickelte Formen der Kunst Sagbare,
dem der bereits öfter erwähnte ‚Kanon des Verbotenen‘ gegenüberstand.370
366 Diese differente Form war auch Basis des modernen Autonomiediskurses, den Broch selbst
in den Schlafwandlern im Zusammenhang von beobachtetem ‚ethischem Desinteresse‘ und
sozialer Unverbindlichkeit diskutiert. Zeitnahe diskutiert er die Problematik in Denkerische
und dichterische Erkenntnis (vgl. v. a. SW 9/2, S. 45–47). Der dabei getätigte Verweis auf das
Vorbild Goethe, auf dessen synthetisierenden Bildungsbegriff mit der „Totalität des Erken-
nens und Erlebens“ als Orientierungspunkt (ebd., S. 46, Herv. im Orig.), wird eher der Inten-
tion des Autors gerecht, d. h. Brochs Suche nach dem Ganzen, als seiner Textwelt.
Wissen ist hier gedacht im Sinne eines deutlich über das Kantische hinausgehenden Er-
kenntnisbegriffs. Broch spricht spezifisch darüber auch in seinen Textkommentaren (vgl.
etwa KW 1, S. 731). Die Nähe zu Robert Musil in diesem Punkt ist deutlich.
367 Die damit entstehenden Aporien wirken zurück auf die Form. Vgl. etwa die Frage der Sym-
bolbildung (s. u.).
368 Im Anschluss an Rilkes Orientierung in die Breite oder Kafkas Fragen zu basalen Möglich-
keiten der Narration.
369 Vgl. auch die Diskurse zu Singularität vs. Objektivierung sowie zur psychiatrischen Nomen-
klatur in Abschnitt A. Für den engeren Kontext geht es um das Wissen darum, dass der sozi-
al konstruierte, begrifflich strukturierte Komplex ‚Trauma‘ hinter dem Erfahrenen und Er-
kannten zurückbleiben muss.
370 S. Abschnitt A 2 zu Adornos/Manns ‚Kanon des Verbotenen‘.
284 C 3. Broch
371 Dies betrifft ‚Übersetzungsprozesse‘ der Literaturanalyse ebenso wie den oben geschilder-
ten Metadiskurs dazu bei Kafka. Im Diskurs zur interkulturellen Literatur wird diese Diffe-
renz auf die Präsenz der (latenten) Muttersprache im (manifesten) fremdsprachigen Text
bezogen (vgl. etwa zum Begriff der ‚Sprachlatenz‘ Chiellino 2016a, S. 191–198). Implizit ist
sie damit auf die Ebene der Bedeutungsproduktion verlagert, die, diesem Bild entsprechend
und (sozio)linguistisch gedacht, von mehreren Sprachen aus erfolgt.
372 Zuspitzend auf die Feststellung, Freud habe das asemantisch-produktive Unbewusste ent-
deckt und zugleich in das Bedeutungsschema der griechischen Tragödie transformiert
(s. o.).
373 Broch schreibt in Das Weltbild des Romans, „daß es eine Traumwelt ist, eine Wunschwelt,
die zur Aufgabe des Dichterischen gesetzt ist (KW 9/2, S. 116). Bereits davor hatte er Freuds
ursprünglich rein auf die Wunscherfüllung bezogene Konzeption der Traumdeutung durch
die Doppelung „Wunsch- oder Angsttraum“ ergänzt (ebd. S. 111).
374 S. Abschnitt B 1 zu Hoffmanns Nachtstücken und zu den Nachtwachen. Zu dem diese Frage
von Beginn an aufwerfenden Titel gibt es zahlreiche Überlegungen – Lützeler etwa fokus-
siert darauf, dass die drei Protagonisten schlafwandlerisch auf je spezifische Art die neue
Kultur/Religion ankündigten (Lützeler 2001, S. 67) und verweist für den Ausdruck zurück
auf Steinecke 1968, S. 101–155. Dittrich liest (für alle drei Protagonisten) „im Kern ein[en]
3.1 Die Schlafwandler 285
mentale[n] Zustand der Halbbewusstheit oder Halbrationalität“ (Dittrich 2009, S. 48). Im Ti-
tel spiegelt sich der Prozess von der Romantik, mit dem Großthema des Somnambulismus,
zur Moderne Freuds. Man denke auch an Freuds eigene frühe Beziehung etwa zur Hypnose
oder an seine vielfältigen Rückbezüge auf die dem aufgeklärten Ich gegenüberstehenden
‚Nachtseiten des Menschen‘, die er in eine neue Art der rationalen Auseinandersetzung
transformiert.
375 Brochs intensive, wenngleich nicht unkritische Beziehung zur Freud’schen Psychoanalyse
ist bekannt; seine schriftstellerische Produktionsweise greift auf dieses Wissen zurück, ist
aber zumindest ebenso deutlich durch literarisch-philosophische Fragen und Traditionen
geprägt.
376 Vgl. Thomé 1993 u. siehe oben.
377 Vgl. Grugger 2010, S. 207, mit Bezug zu Der Tod des Vergil und s. u.
378 Eine bloße Differenz von Neurose zu Psychose wäre unzureichend und verkürzend, wäre
allerdings nahe an dem, was Deleuze/Guattari 1997a betreiben, indem sie dem auf Schlie-
ßung ausgerichteten Freud’schen Subjekt den schizoiden Nomaden entgegenstellen. Zer-
fallsstrukturen bei Broch werden sozial und ‚individuell‘ beobachtet, wobei diese Bezeich-
nungen hier problematisch sind. Vgl. den Vergil, wo der ‚Zerfall einer Figur‘ sozusagen mit
dem großen Scheinwerfer porträtiert wird.
286 C 3. Broch
379 Eine wichtige Ausnahme ist Abschnitt 65 des Huguenau-Romans, wobei das vom dritten Teil
aus erfolgt, sodass hier die Möglichkeit des Rückblicks integriert ist (aus dem sich das Neue
zusammensetzt). Die Perspektivenwechsel stehen insgesamt in Verbindung mit der bereits
in Koopmann 1987 betonten konstitutiven Relativität der Beobachtungspositionen. Dem
steht eine zweite Linie in der Forschung gegenüber. Martens etwa argumentiert mit Dorrit
Cohns Begriff der ‚Psycho-Narration‘ für einen thesenartigen Charakter mit auktorialen
Einmischungen (Martens 2005, S. 89 f.) und sieht keine ‚echte‘ Relativierung des Metadis-
kurses der Wertezerfall-Essays (vgl. S. 95).
380 Gerade das Beispiel Ruzena zeigt so überdeutlich, wie ein literarischer Scheinwerfer funkti-
oniert, gerade weil ihr im zweiten Teil praktisch keine Aufmerksamkeit mehr zukommt.
Ebenso radikal ist die Stil- bzw. Epochenverschiebung von der romantischen Geliebten zur
namenlosen Angehörigen der Unterschicht.
381 KW 1, S. 630. Am Ende des narrativen Strangs spricht er Huguenau selbst als „Hanswurst“
an, was diesen Aspekt nur sehr leicht unterstreicht (KW 1, S. 684).
3.1 Die Schlafwandler 287
382 Vgl. besonders KW 1, S. 366 f. Im Unterschied zu Kafka etwa wird aber dadurch, d. h. durch
den Wechsel personaler zu auktorialer Erzählperspektive, kein Taumel erzeugt, sondern
eher die reale Komplexion der Figuren simuliert, was im Sinne von Brochs Konzepts des
‚erweiterten Naturalismus‘ liegt. Vgl. im Kern KW 9/2, S. 133, ausführlich Lützeler 1973, S.
67–73, sowie bereits den Titel Erweiterter Naturalismus der Schlafwandler-Analyse von
Reinhardt 1972, der „die ‚„Form naturalistischer Erzählung‘“ als gemeinsame Folie der drei
Romane rezipiert (S. 43).
383 Sie reden nicht nur aneinander vorbei, sondern erzeugen bestimmte Wahrnehmungsrealitä-
ten (vgl. Pasenow in Huguenau).
384 Der Roman öffnet mit der (oft analysierten) Zergliederung des Gangs von Joachim von
Pasenows Vater, die mit den Worten endet: „dies alles kann man nämlich herausfinden,
wenn man den Gang des Herrn v. Pasenow mit liebevollem Haß [interpretatorisch] zerglie-
dert. Aber schließlich kann man solches bei den meisten Menschen versuchen. Immer
stimmt irgend etwas“ (KW 1, S. 13).
385 Vgl. Abschnitt 82, S. 653–657. Bereichert werden die Figuren auch durch außerliterarische
Bezüge, bereits die Namen sind zumindest Orten und sozialen bzw., wie in der konträren
Konstellation Huguenaus und des Isenheimer Altars (s. u.), kunstgeschichtlichen Kontexten
zuordenbar, wenngleich auch sie bereits durch Überdetermination verdichtet sind.
386 Die nötige Reduktion der Komplexität gilt natürlich für jede Beschäftigung mit der Trilogie,
wie Broch selbst sehr deutlich sieht.
288 C 3. Broch
387 Hier ist Ecos Definition des Romans als Maschine zur Produktion von Bedeutungen zumin-
dest partiell sinnvoll (vgl. Eco 2012, S. 9 f. bzw. s. o.), wenngleich die Präzision der Lektüre
für die literaturwissenschaftliche Annäherung signifikant ist, um dem genau konstruierten
Spiel zumindest ansatzweise ‚gerecht zu werden‘.
388 Betroffen ist davon nicht nur literarisches Erzählen; wir befinden uns hier im Kern moder-
ner Verfahrensweisen. Vgl. das Zitat von Schmidt zu Narration oben („Functions of Storytel-
ling“). Im engeren Sinn referiert bereits Vollhardt 1986 die Diskussion zur Abwesenheit ei-
nes eigentlichen Erzählers (vgl. S. 249 f.) und führt die in Reinhardt 1972 initiierte Frage der
Verknüpfung der Symbolketten anhand von textuellen Belegstellen fort (vgl. S. 252–295).
389 Vgl. zur Zusammensetzung des Namen Huguenau aus dem Bildhauer Nikolaus Hagenauer
und dem elsässischen Ortsnamen Hagenau/Haguenau etwa Lützeler 2001, S. 53.
390 Rebell und Verbrecher „bringen ihre eigene Ordnung, ihre eigenen Wertgebilde an das
Bestehende heran“ (KW 1, S. 465). Für Huguenau wird der ‚Kurtriersche Bote‘ zur Schnitt-
stelle zwischen seinem eigenen Gesetz als Deserteur und der sozialen Ordnung. Wichtig ist
seine fehlende menschliche, soziale, kulturelle, religiöse und ethische Bindung, die seiner
Zugehörigkeit zu einem autonomisierten ökonomischen Wertsystem entspricht, die wäh-
rend der Zeit der Desertion noch dazu in ihrem Wertcharakter aufgehoben ist (s. u.).
391 Zu ‚Spiel im Spiel‘ und Metareferenz s. auch D 3.
3.1 Die Schlafwandler 289
392 Schlusspunkt ist der Abschnitt 88, als „Zerfall der Werte 10“ und als „Epilog“ markiert (KW
1, S. 689).
393 Vgl. als einen literarhistorischen Ausgangspunkt Kleists konstitutive Doppeldeutigkeit
sowie seine innerfiktionalen Deutungen von Ereignissen und Figuren. „Für die Novellen
wurde gezeigt, wie Das Erdbeben in Chili als Deutung eines Ereignisses ‚inszeniert‘ ist, indem
die Frage der richtigen Lesart selbst in den Mittelpunkt rückt (vgl. Müller-Salget in SWB 3, S.
812). Penthesilea kann in Analogie dazu als nicht abschließbares Kreisen um die Deutung
der Protagonistin gelesen werden (vgl. Grugger 2010, S. 113).
394 Die herkömmlichen Begriffe wie Metapher, Allegorie oder Symbol (vgl. Kurz 2009) genügen
ebenso wenig wie Goethes Idee oder das Innere im Außen des Symbolismus (vgl. Gerok-
Reiter 1996, S. 197-202). Vorgeschlagen wurde eine neue Symbolik Brochs (vgl. Strelka
1959). Festhalten lässt sich folgende Spannung: Symbolisierung trifft bei Broch auf einen
290 C 3. Broch
auf seine Erneuerung zumindest verkürzt, auch weil die komplexe Codie-
rung über mehrere Kanäle und Systeme formal dessen Problematik spiegelt
und auf ihre Art darstellt.
‚erweiterten Naturalismus‘, verstanden als Verweis auf die nicht abbildbare Komplexion des
Realen, sowie auf eine wert- und geschichtsphilosophische Beschreibung eben dieses Rea-
len.
395 Mit „Überwindung des Ödipuskomplexes“ bezieht sich Fischer auf die von ihm in dem hier
zitierten Beitrag vorgeschlagene Form der Mythosinterpretation.
396 So lautet auch der Titel des Abschnitts, aus dem das Zitat stammt: „Modell Ödipus – zwi-
schen transgenerationaler Traumatisierung und Neurose (vgl. ebd. S. 181–198).
3.1 Die Schlafwandler 291
tisierten Ausdruck des anderen wird. 397 Im Mittelpunkt steht dabei insge-
samt betrachtet weniger der Inzest398 als der Vatermord und Broch arbeitet
– bezogen auf die Trias Ablösung, Wiederaufleben und Kultur/Sublimierung
– mit der sublimierten Form,399 sodass es um Mutter- und Vaterfiguren geht,
und Vatermord auch als generationelle Thematik behandelt wird im Sinne
von Mord an den Vätern oder an der vorangegangen Generation.400
Wichtig ist die mehrfache Schichtung des Motivs. Pasenow oder die Roman-
tik setzt mit der Vater-Sohn-Beziehung ein, die Thematik, die vorangehende
Generation zu ermorden, ist Teil des Romans, kann aber sich intern noch
nicht auf einen vorangehenden Roman beziehen. Esch oder die Anarchie
erfährt einen Höhepunkt in der ‚Reise‘ Eschs zu Bertrand, der als ‚heimliche‘
zentrale Figur des vorangegangenen Romans in neuer Konzeption auftritt,
wobei Esch als Waise, als kulturell und persönlich Vaterloser, sich sichtlich
in der Welt Dostoevskijs bewegt.401 Der Mord/Selbstmord ist symbolisch
gefasst, komplex in Bilder geschichtet und romantechnisch elaboriert einge-
bettet.402 Im irrenden Suchprozess Eschs, dessen Gedankenwelt höchst ent-
zündlich bleibt, bezieht er sich auf die zeitbezogenen Gedanken, ist theolo-
gisch überfrachtet (Erlösungsgedanke) und, setzt, das ist hier der Haupt-
punkt, eine (potentiell) enorm reiche Kette möglicher Bedeutungen frei. Die
Sühnedimension des Geschehens wird erst im nächsten Roman vollends
sichtbar, Esch wird sich dem Major Pasenow zuwenden und von ihm und in
einer ‚vorwärts gewandten‘ Rückbesinnung auf Glauben die Erlösung erwar-
397 Man könnte von je spezifischen Re-Vitalisierungen des Zeitromans sprechen, was u. a. den
Zauberberg, die Schlafwandler und Musils Mann ohne Eigenschaften betrifft (vgl. für den
Zauberberg und die Schlafwandler Lützeler 2011, S. 77–83).
398 Siehe unten. Es ist eben Huguenau als bloße Acting-Out-Figur, der am unmittelbarsten
ödipal aktiv ist, aber natürlich ist etwa Mutter Hentjen bereits im Esch-Roman eine spre-
chende Figur. Der innere Konflikt Eschs mit ihrem verstorbenen Mann ist deutlich genug
geschildert. Die Differenz ist die zwischen den Ebenen des Symbolischen und des Realen.
399 Zu den drei psychoanalytischen Konzepten ‚Eliminieren, Konservieren, Sublimieren‘ vgl.
Fischer 2005, S. 197.
400 Vgl. zur Verbindung der transgenerationalen Thematik der Psychotraumatologie mit dem
Ödipusmythos ebd. S. 181–198.
401 Zur Frage von ‚Schuld und Sühne‘, dem Broch vertrauten Titel folgend, s. unten. Eine der
Brücken Eschs zu Raskolnikow ist der Bezug zur ‚Anarchie‘. Vgl. zur zeitnahen Integration
von Schuld und Sühne in religiös-biblische Bezüge in Döblins Berlin Alexanderplatz Kiesel
2004, S. 347. Zu einer möglichen Verbindung von Broch und Döblin über den Begriff des
‚erweiterten Naturalismus‘ vgl. Kyora 2007b, S. 267.
402 In Abschnitt 65 des Huguenau–Romans wird der Selbstmord Bertrands außerhalb des
Bezugsrahmens ‚Esch‘ als Tat der Einsamkeit des Ästheten reflektiert (vgl. KW 1, S. 596). Die
Rede von ‚Mord‘ bezieht sich auf den Beobachtungspunkt des Protagonisten Esch im zwei-
ten Teil des Zyklus (s. u.).
292 C 3. Broch
Mord am Vater und der Generation der Väter ist bereits im ersten Teil prä-
sent, früh im Text heißt es über Joachim von Pasenow, er „hätte vor Scham
dem Alten die Kehle zupressen mögen, um solche geile Rede zurückzuhal-
ten“ (KW 1, S. 20) und noch davor wird zur Generationenfrage über Herrn
von Pasenows Gang festgehalten, ein junger Mann könnte auf die Idee
kommen, diese „Gangart für immer zu vernichten“. 404 Entscheidender für
den Fortgang sind die Schuldgefühle Joachims, der vom Arzt beim Konsilium
das Wort (Vater-)„Mörder“ zu hören fürchtet.405
Im zusammenschauenden Symposion des dritten Teils, Abschnitt 59, das die
drei Komplexe übergeordnet verknüpft, wird dies noch einmal aufleuchten,
ebenso wie „Eschs Vortraum des Todes“ (s. u.), der seine Traum-Reise zu
Bertrand einleitet, und die bevorstehende reale Tat Huguenaus, welche sich
jenseits von Symbolik und kultureller Erinnerung unmittelbar vollzieht.
Grundlegend für den Roman sind dabei diese zwei verschiedenen Formen,
wie die beiden Protagonisten Esch und Huguenau der Ödipusproblematik
begegnen.
Der Übergang vom ersten Teil der Trilogie zum zweiten bringt eine radikale
Neubestimmung von u. a. Stil, Sprache, sozialer Positionierung und allge-
meinem Beobachtungspunkt der Erzählstimme mit sich. Nach seinem
403 Eschs Suche bleibt entzündlich. Die Hinwendung zum rückwärts gerichteten Pasenow löst
seine Orientierung an der (ödipal codierten) Ankunft des ‚Sohnes‘ nicht auf, die auch den
Grund für seine radikale Ablehnung des ‚auferstandenen Gödicke‘ (als Zeichen) bildet. Die
entscheidende Differenz zu Huguenau ist, dass er sich in einer symbolischen Welt ödipal-
religiöser Fragen bewegt. Selbst noch seine wirre Suche bleibt eine Suche.
404 KW 1, S. 12 (über Herrn v. Pasenows Gang).
405 Vgl. KW 1, S. 131, Motiviert ist dies, deutlich erkennbar, durch die Schuldgefühle gegenüber
dem Bruder. Der erste Teil steht dabei in der Tradition familialer Ordnung, die durch Eschs
Waisenstatus bereits in eine andere Form übergeführt ist.
3.1 Die Schlafwandler 293
406 KW 1, S. 195. Der Wechsel von der romantischen zur realistischen Beobachtungsposition
findet trotz der radikalen Neubestimmung vor dem deutlichen Hintergrund der Gesamtan-
lage statt. Zur (so intendierten) stärkeren inneren Bewegtheit vgl. Reinhardt 1972, S. 43.
Zorn ist als ödipales Attribut v.a. mit Esch verknüpft. Seine Ödipus-Handlung ist auch hier
symbolisch-komplexer als die unmittelbare, ‚blinde Imitation‘ Huguenaus, denn er hat (in
verschobener Form) Anteil am Mythos.
407 Major Pasenow hingegen wird in der Welt des ersten Weltkrieges auf Esch und Huguenau
treffen, wo der Blick modern schweift, aber weniger auf Pasenow gerichtet ist.
408 Es geht nicht nur um den Mord an der zentralen Figur des Vorgängerromans, der Vorgän-
gergeneration, sondern auch um die Verdichtung Bertrands mit Hr. Hentjen zu einer Figur.
Die Wiederholung des Ödipusschicksals und seine fortlaufende intergenerationale Bedeu-
tung auf individueller und kollektiver Ebene sind als solche skizziert. Auf das ‚Traumhafte‘
der Begegnung Eschs mit Bertrand verweist bereits ausführlich Lützeler 1973, (vgl. S. 120 u.
S. 171 f.). Zur historischen Quelle des Selbstmordes von Friedrich Alfred Krupp vgl. ebd.,
S. 120.
294 C 3. Broch
Bertrand avanciert von der Mephisto-Figur410 des ersten Teils zum symbol-
geladenen Präsidenten mit Schloss, den Esch als ein „überlebensgroß[es]“
Bild mit sich herumträgt, das etwas kleiner wird, wenn er von ihm im Kon-
text männlicher Prostitution und des Strichjungen Harry Köhler hört, „da es
sich nun verschärfte und verdichtete“.411 Über Harry wird der glänzende
(metaphysische) Bertrand konstruiert, sodass an dieser Stelle Faustnarrativ
und ödipaler Diskurs mit dem religiösen verdichtet werden. 412 In ihrer Be-
gegnung erzählt Harry Esch von seiner Liebe zu Bertrand und spricht dabei
409 Im Hintergrund des innerfiktionalen Diskurses zur Aufhebung der Ordnung von Mord und
Gegenmord, die in Brochs Bild aus Mangel der Bestätigung heraus errichtet wird, durch das
Opfer, steht die Selbstopferung im christlichen Narrativ als Kontrapunkt zu Eschs wirrem
Suchen (s. u.).
410 Das Faust-Narrativ ist im Pasenow-Roman vielschichtig verarbeitet. Wenn es hier (in ver-
zerrter Form) durchschimmert, so in der irren Suche Eschs (s.u.). Grundsätzlich verschiebt
Broch in diesem Roman Narrative ineinander, was der Verschiebungs- und Verdichtungs-
bewegung insgesamt entspricht.
411 KW 1, S. 295. Die Rede vom ‚übergroßen Bild‘ ist Teil der zahlreichen Stellen, an denen
Bertrand als Vaterfigur skizziert wird. Bertrands Homosexualität ist von langer Hand vorbe-
reitet, sie schimmert in der Begegnung mit Elisabeth durch.
412 Die Verdichtung religiöser und ödipaler Diskurse bleibt konstitutiv, v.a. für Esch. In diese
Traumarbeit hineingeschoben ist konstitutiv auch Dostoevskijs Welt von Schuld und Sühne
(über Esch), was den Prozess der Verdichtung intensiviert.
3.1 Die Schlafwandler 295
Eingeleitet wird Eschs Reise mit der ersten von drei lyrisch formulierten,
abgehobenen Passagen. „Wenn Wünsche und Ziele sich verdichten, wenn der
Traum vorstößt zu den großen Wendungen und Erschütterungen des Lebens,
dann verengt sich der Weg zu dunkleren Schächten und der Vortraum des
Todes senkt sich auf den, der bisher im Traume gewandelt hat“.417
Eschs ödipal-religiös strukturierte Konfrontation mit Bertrand weist auf die
eigene Todeserfahrung voraus. Er selbst tritt als Reisender, Rebell, Avant-
gardist und Waisenkind auf, der die Welt über das Opfer des Mordens zum
413 KW 1, S. 296. Der Satz ist aus der Elisabeth-Episode in Pasenow bekannt und wird auch in
den dritten Teil, Huguenau, übernommen.
414 Vgl. auch: „das Wissen, welches der Knabe in sich trug“ (KW 1, S. 297). Harrys „Ich lebe ja
nicht mehr“ fungiert als Aussage zum Ende des Mysteriums der Einheit (ebd.).
415 Ebd. Harry, als von Bertrand gleichsam Weggeworfener, dient als Zeichen der Unschuld in
Unmoral (Prostitution) und wird so mit dem eingesperrten Martin verknüpft.
416 KW 1, S. 214. Wie sich in Eschs entzündlichem Denken Erlösung und Mord verknüpfen,
weist voraus auf die Verzauberung (s. u.).
417 KW 1, S. 328, Herv. im Orig. Zum „Vortraum des Todes“, vgl. Dittrich 2009, S. 211. Für Esch
beginnt mit der Reise bereits sein eigener Tod: die Ermordung durch Huguenau.
296 C 3. Broch
418 Wie im Falle des Zorns hat er auch dadurch implizit Anteil am Mythos (s. o.).
419 Vgl. KW 1, S. 336. Der Nietzsche-Bezug ist deutlich.
420 Vgl. KW 1, S. 338. Ästhet ist Bertrand durchgängig.
421 Deutlich ist die Sonnenfinsternis am Himmel (vgl. KW 1, S. 340) oder das Spiel mit dem
letzten Abendmahl.
422 Im dritten Teil wird Esch u. in der imaginären Theaterszene des ‚Symposions‘ darauf zu-
rückkommen (vgl. KW 1, S. 554). Auch über diese ‚Traum-im-Traum-Begegnung‘ mit Ber-
trand ist Esch in die von Huguenau verlassene Kultur- und Ideengeschichte eingebunden.
423 KW 1, S. 340, Herv. im Orig. Vgl. die sich konnotativ ausdehnende Aussage des Musikers
Alfons, der (mit dem Bezugspunkt Harry) von Eschs Schuld sprechen wird (vgl. KW 1,
S. 363).
424 KW 1, S. 337. Die Aussage erfolgt recht unmittelbar an die Rede von Meuchelmord anschlie-
ßend und ist Teil seiner ununterbrochenen reflexiven Tätigkeit. Für Huguenau, der seine
Tat bloß vollzieht, wird Esch, Titelheld des Vorgängerromans, Lehrer, Vater und Pfarrer (s.
u.), jemand, der moralisch argumentiert. Das Oszillieren zwischen allgemeinem und konkre-
tem Vaterbild ist natürlich absichtlich. In Esch gibt es zusätzlich zur Codierung des fragli-
chen symbolischen Mordes in der Traumreise die Frage eines realen ‚sozialen Mordes‘
3.1 Die Schlafwandler 297
durch die Anzeige wegen Homosexualität als Auslöser von Bertrands Selbstmord. Da Harry
zu exakt dem Zeitpunkt von dessen Selbstmord in der Zeitung liest, zu dem Esch die Anzeige
beim Polizeipräsidium abgibt (vgl. KW 1, S. 363), bleiben die Ebenen miteinander verstrickt.
425 KW 1, S. 300. Unmittelbar davor ist von Präsident B. die Rede, der so in den Sog des Satzes
gerät, sodass der Verdichtungsprozess der beiden Figuren bereits hier einsetzt.
426 Dies gilt v. a. für die beiden Schlafwandler Esch und Pasenow, denn Huguenau sucht keine
Erkenntnisse oder Erleuchtungen. Ihm genügen, mit Brochs Das Böse im Wertsystem der
Kunst formuliert, „Effekte“ wie ‚Reichtum‘ und unmittelbare Triebbefriedigung (vgl. KW 9/2,
S. 146 f.).
427 Für den nach vorne gerichteten Esch ist, konträr zum rückwärts gewandten Pasenow, die
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der schmerzhafte Blick zurück, was bereits sei-
ne Traumreise bestimmt hatte. Verknüpft ist das mit seiner Ausgangssituation, die ihn als
aufgrund fehlender Anerkennung zum Suchen Gezwungenen festschreibt.
428 KW 1, S. 689 (Epilog).
298 C 3. Broch
Das durchgängige Spiel mit dem Ödipus-Motiv, das Broch nicht nur über die
eigene Analyse, sondern v. a. kulturgeschichtlich vertraut ist, bietet ihm eine
hervorragende Grundlage, um darzustellen, was sich mit Huguenau ereig-
net. Dieser ist allein dem autonom gewordenen ökonomischen Teilsystem
zugehörig, das die ebenfalls (relativ) autonome Logik des militärischen an-
treibt.429 Er ist vom religiösen Textverständnis ebenso abgeschnitten wie
vom mythologischen und positioniert sich symbolisch außerhalb der Kul-
turgeschichte.430 Es folgt ein blindes Töten, das Esch über Bertrand bereits
erahnt.431 Huguenau zitiert in seinem Handeln die Kulturgeschichte, ohne
sie als Hochstapler,432 auf sein ökonomisches Teilsystem fixiert, als solche
wahrnehmen zu können.433
Im Epilog ist die Rede vom „Durchbruch des Irrationalen“ und vom „‚Ein-
bruch von unten‘, dem er ausgesetzt ist“, 434 woran sich Erwägungen zum
Verhältnis von Überrationalem und Irrationalem anschließen. Charakteris-
tisch ist für Broch eine sehr spezifische Autonomiekritik435 – hier: an der
autonom gewordenen Vernunft –, von der aus er zum Entscheidenden für
Huguenau vorstößt, und zwar zur Kritik der autonomisierten Partialsyste-
me, die grundsätzlich Irrationalitäten binden können:
429 Die Autonomisierung der Teilsysteme ist Brochs zentraler Bezugspunkt zur konstatierten
radikalen Teilnahmslosigkeit am Leiden anderer im Ersten Weltkrieg.
430 Während Esch in wie immer verzerrten Bezügen steht, ist Huguenau selbst autonomisiert,
vom Prozess sozialer (nicht-ökonomischer) Sinnbildung abgetrennt, und lebt zusätzlich im
Verborgenen.
431 KW 1, S. 339. Huguenaus im Epilog entfalteter Gedanke des ‚Alles zu seiner Zeit‘ verweist
auf Strategien von NS-Tätern voraus, die danach in aller Ruhe ihr Leben gestalteten. In die-
ser Linie liegt auch Huguenaus Konstruktion des Mords als „Ferialhandlung […], getätigt zu
einer Zeit, in welcher auch das kaufmännische Wertsystem aufgehoben und bloß das indivi-
duelle übriggeblieben war“ (KW 1, S. 693).
432 Wichtige Attribute der Figur des Hochstaplers sind Wandelbarkeit und Subjektlosigkeit.
433 Vgl. zu seiner Identifikation mit dem biblischen Johannes: „Zudem weiß Huguenau nicht,
was er hier zitiert.“ (Lützeler 2001, S. 61).
434 KW 1, S. 689. „Unten“ ist hier psychologisch verwendet in Nähe zur Freud’schen Topologie
und literarisch in einem Sinn, in dem es auch Thomas Mann verwendet und gerade im Jo-
seph weiter verwenden wird, und kann sehr gut auf die ödipale Situation und ihr bloßes
Vollziehen bezogen werden.
435 Vgl. auch mit deutlichem Nachklang in Dr. Faustus: „Krieg ist Krieg, l’art pour l’art, [...] dies
ist alles von der nämlichen aggressiven Radikalität“, von einer „unheimlichen [...] metaphy-
sischen Rücksichtslosigkeit“ [...] oh, dies alles ist der Denkstil dieser Zeit!“ (KW 1, S. 495 f.).
3.1 Die Schlafwandler 299
436 Die autonom gewordene Vernunft wird hier als das ‚radikal Böse‘ gefasst, wie es in Das Böse
im Wertsystem der Kunst die immanente Zerstörung eines Systems bezeichnet, also die
Selbstzerstörung durch einen (imitierenden) Teil des Systems (vgl. KW 9/2, S. 143 f.). Ko-
opmann spricht für Huguenau von der „eigentümliche[n] Symbiose von rationaler und irra-
tionaler Welt in ein- und demselben Individuum“ (Koopmann 1987, S. 88), wobei es wohl
stärker um den Durchbruch des Irrationalen im manifest absolut Rationalen geht.
437 Sofsky unterscheidet zwei Gründe für die Eskalation der Gewalt in der Moderne: die techni-
sche Entwicklung und die neue Form der absoluten Macht (Sofsky 2008, s. u.). Broch bezieht
sich auf je spezifische Logiken von Militär und Ökonomie.
438 Vgl. u. a. KW 1, S. 610 f., wo Huguenau zum Kind von ‚Mutter Esch‘ wird oder er plötzlich mit
dem Gedanken der Adoption durch die Familie Esch spielt, er sich plötzlich Marguerite zu-
wendet, usw.
439 Vgl. „Huguenau schrickt zusammen, es ist des Vaters Schritt. Ach Gott, es ist bloß der Esch,
der Herr Pastor“ (KW 1, S. 611). Zunächst innerhalb der Bewegung der familiären Regressi-
on als Vater wahrgenommen, tritt, in der verdichteten Form der Traumdeutung, der Pastor
dazu, mit differierender Besetzung der Elemente. Davor war die Rede vom hageren Lehrer
(vgl. KW 1, S. 547). Psychoanalytisch geschieht dies im Sinne von Conservare und Re-
Aktivierung. Huguenau hebt so zur rein der Lust des Augenblicks verpflichteten Ermordung
des Vaters, des Lehrers und des Pastors an, ohne damit etwa eine revolutionäre Tat setzen
zu wollen.
440 Vgl. auch KW 1, S. 672.
441 Vgl.: „[E]in anscheinend absolut rationaler Mensch wie Huguenau vermag Gut und Böse
nicht zu unterscheiden. In einer absolut rationalen Welt gibt es kein absolutes Wertsystem,
gibt es keine Sünder, höchstens Schädlinge“ (KW 1, S. 597).
300 C 3. Broch
Logik442 der entfesselten Vernunft. So bleibt er auch frei von Reue und ver-
lässt endgültig die Welt Dostoevskijs. Aus der symbolhaft aufgeladenen
Wechselrede Eschs mit Pasenow,443 in der die beiden sich nicht unmittelbar
aufeinander beziehen, ist er, der nur die wörtliche Bedeutung bzw. den
funktionalen Diskurs kennt, ausgeschlossen. Seine Position zu Mythos und
Religion bleibt bloß zynisch,444 bzw. er ist aus dieser Denkwelt ausgeschlos-
sen, sodass er auf die Stufe nicht sublimierter, gewaltsamer Wiederholung
regrediert.
Dass er die Situation instrumentalisieren wird und dies ihn von Anfang an
umtreibt,445 dass der Mord an Esch mit der Möglichkeit, den verletzten Ma-
jor von Pasenow zu nutzen, ökonomischer erscheint als bloßes Plündern
verlassener Häuser, gehört zur Banalisierung des Mordes hinzu und
schreibt sich in die Gesamtkomposition des Textes, besonders die Autono-
misierung der Teilsysteme, ein. Wie reagiert er unmittelbar auf den Mord?
„…kein Zweifel, der ist tot. Huguenau war ihm dankbar, – es war alles gut! er
hockte sich hin und sah in das seitwärts gedrehte Gesicht.“446 Kurz darauf
erfolgt ein zweites Mal als extra gedruckte Zeile: „Es war alles gut“, was dann
ebenfalls die abgetrennte Eröffnungszeile des Epilogs bilden wird. 447
Die Erinnerung an Grünewalds Auferstehungsbild des Isenheimer Altars (als
Sonnengeburt)448 gerät über das brennende Rathaus in Huguenaus Vorstel-
lung. Die Gesamtsituation stark verdeutlichend heißt es:
442 Die Zweckmäßigkeit Huguenaus wird in Abschnitt 31 mit ornamentfreier Logik in Verbin-
dung gebracht, über die es heißt: „Und doch ist mit dieser Ornamentfreiheit das Nichts, ist
mit ihr der Tod verbunden, verbirgt sich hinter ihr das Monstrum eines Sterbens, in dem die
Zeit zerfallen ist“ (KW 1, S. 463 f.). Die Rede von der ornamentfreien Logik bezieht sich na-
türlich noch immer auf Adolf Loos’ Ornament und Verbrechen (Loos 2000, S. 192–202) und
den (architektonischen) Weg vom Jugendstil zur Moderne. Vgl. zu Ornament und Stiltheorie,
einem Kernthema des Buches, Lützeler 1998, S. 37–40. Zu Brochs Kritik an der, so Broch,
„Platitüde der Loos’schen Ideen“ in Ornamente (Der Fall Loos) vgl. KW 10/1, S. 32 f., hier
S. 33.
443 Vgl. zunächst KW 1, S. 547 sowie auch die weitere Folge des Gesprächs.
444 Vgl. in der Theaterszene Huguenaus „Hm, unangenehm“ als Antwort auf die Einsamkeit des
Todes am Kreuz (KW 1, S. 554).
445 Huguenaus Aktionen geschehen wohl wissend, dass er aus der Situation Profit wird schla-
gen können, aber der antizipierte Nutzen ist zunächst noch nicht zur Gänze präsent.
446 KW 1, S. 677, Herv. von Vf.
447 KW 1, S. 678, bzw. S. 689, Herv. von Vf.
448 Abdruck in Lützeler 2001. Das gleißende Licht gleich einem Feuerball ist ein wichtiges
Motiv des Gemäldes. Zu Huguenau als ‚bürgerlichem Faiseur‘ und Grünewalds Isenheimer
Altar vgl. Lützeler 1973, S. 126.
3.1 Die Schlafwandler 301
449 Die Nähe zu Adorno/Horkheimers mit der Dialektik der Aufklärung betriebenem Projekt ist
spätestens hier unmittelbar deutlich. Vgl. zum Diskurs dazu für Brochs Verzauberung Lütze-
ler 2000a, S. 55.
450 Dass Esch für ihn verdichtet als Vater/Lehrer erscheint (s. o.), entspricht also auch der
(regressiven) Huguenau’schen Setzung des ‚Schulausflugs‘, allgemeiner formuliert, einer
von jeglicher traditionellen Wertsetzung losgelösten Episode.
302 C 3. Broch
anders als der des mythischen Königs oder der Raskolnikows frei von jegli-
chem Sühnegefühl, womit Broch einen moralfreien Täter konstruiert. 451
Der Verschüttete
456 Man denke an seine dissoziierenden Gesichtswahrnehmungen, die Frage der Grenze oder
die oben bereits diskutierte Uniform als „Emanation der Haut“. Vgl. allgemein zum Diskurs
um Pasenows Uniform etwa Large 2012).
457 Vgl. etwa, wie sie die sechswöchige Urlaubszeit von Heinrich als „ein Eindämmen ihres Ichs
in die Grenzen der Körperlichkeit […], wie ein schäumendes Hindurchpressen eines Flusses
durch einen Kamm“ erlebt (KW 1, S. 613). Am Ende des Abschnitts wird die Einsamkeit ih-
res Ichs zum ‚Ausdruck‘ der Zeit, der, der Anlage der Trilogie entsprechend, zugleich prob-
lematisiert wird (vgl. KW 1, S. 615).
458 Vgl. v. a. KW 1, S. 395 und 486 f. Sein Weiterüberleben ist gleichsam als ‚Wunder‘ markiert
(vgl. KW 1, S. 394). Dass er sich in das offene Grab legen möchte, spricht von seiner Zwi-
schenposition.
459 Es wird spätestens hier deutlich sein, wie sehr sich der Dr. Faustus bei den Schlafwandlern
bedient, was, wie bereits gesagt, auf Gegenseitigkeit beruht. Nicht in erster Linie, dass die
Schlafwandler auf den Zauberberg antworten und versuchen, die Essays moderner zu integ-
rieren, als es der Gedankenroman dort erlaubte, das auch, aber vor allem bedeutend scheint
die schon angesprochene Möglichkeit, die die Josephs-Romane dem Vergil gaben (s. u.).
460 S. oben zur Passionsgeschichte als ‚Trauma-Narrativ‘.
461 Die ‚Verschüttung‘ wird zur Taufe, zum im religiösen Sinn hervortretenden Merkmal (Stig-
ma). Vgl. die Brunnenmetaphorik in Joseph und seine Brüder und die Thematik der Initiation
(s. u.).
462 Die Figuren sprechen an dieser Stelle, wie oft im Roman, nicht miteinander, sondern in
ihren eigenen Kontexten (Konstruktionen), wobei die anderen zu Stichwortgebern werden.
304 C 3. Broch
Und auch als Esch schloß: ‚Tu dir kein Leid! denn wir sind noch
alle hier!‘ da war es nicht mehr Ruhe, es war Angst, – die Angst,
daß in der Welt des Gleichnisses und der Stellvertretung bloß
das Böse leibhaftig sein könne. ‚Wir sind noch alle hier‘, sagte
Esch nochmals, doch der Major konnte es nicht glauben, denn
es waren nicht mehr Apostel und Jünger vor seinen Augen,
sondern Landsturmleute und Rekruten, Angehörige des Mann-
schaftsstandes, und er wußte, daß Esch gleich ihm, einsam wie
er selber [!], voll Angst auf das Tor starrte. So standen sie ne-
beneinander.
Und da geschah es, daß am Grunde des dunklen Kastens, daß
im Rahmen des Tores eine Gestalt auftauchte, eine rundliche,
untersetzte Gestalt, die sich über den weißen Kies des Hofes
hinbewegte, ohne daß die Sonne sich verdunkelte. Huguenau.
(KW 1, S. 590)463
Wer immer das Ende des Romans – die Wiederholung des Bibelzitats „Tu dir
kein Leid! denn wir sind noch alle hier!“ (KW 1, S. 716) als versöhnlichen
Ausklang lesen möchte, müsste diese Stelle mit einbeziehen, in der es weni-
ger um Hoffnung als um Angst vor dem Kommenden geht, das sich im irrati-
onalen Vollzug des Mythologischen erstrecken wird. 464 Denn in ihrer Folge
wird der bevorstehende Mord (s. o.), den Huguenau real vollstrecken wird,
symbolisch vorweggenommen:
463 KW 1, S. 590. Auch der letzte Satz, der oft als Trost gelesen wurde, ist somit bedeutungsof-
fen und mehrfach codiert. Huguenaus Auftreten als Antichrist kann in Bezug auf Das Böse im
Wertsystem der Kunst gelesen werden und bezieht sich auf die mit ihm sich ereignende
Umwertung des Ethischen zum bloßen, dem jeweiligen System entsprechenden ‚Effekt‘ (vgl.
KW 9/2, S. 145 bzw. S. 143–147).
464 Wichtig ist Paulus, Bezugspunkt des Zitats, als „Ineins von Griechischem, Jüdischem und
Christlichem“ (Lützeler 2007, S. 236). Literarisch kann die Stelle als eine der Schnittstellen
zum Tod des Vergil gesehen werden.
3.1 Die Schlafwandler 305
Die Bibelstunde wird mit einem Gleichnis enden, der Roman selbst wird auf
diese Welt der Gleichnisse und ihr Ende nur noch verweisen. Die Welt der
Zeichen, mit Gödicke als Träger eines Zeichens,465 ist nicht nur in Mehrdeu-
tigkeit aufgelöst, sondern auch im Unverständnis des anscheinend zweckra-
tionalen Huguenau, der zu ihr keinen Zugang mehr hat. Sein unmittelbar
lustbedingter ödipaler Mord bleibt ebenso blind wie zeichenlos. 466
Zur Einbettung des Essayzyklus zum Zerfall der Werte (ZdW) und der Ge-
schichte des Heilsarmeemädchens (GdH)
Bezeichnend für die heutige Aktualität der Schlafwandler ist der Dialog zwi-
schen Flurschütz und Kuhlenbeck, in dem der Erstere eine Zukunft zuneh-
mender Spezialisierung mit anwachsenden Kommunikationsproblemen vor
sich sieht, welcher Vision hingegen der Letztere den Chirurgen gegenüber-
stellt, den Menschen als Schlächter (vgl. KW 1, S. 508). Die Romantrilogie
antwortet aber zunächst ebenso umfassend wie komplex auf die Probleme
der anbrechenden Moderne, und zwar besonders auf den Schrecken des
Ersten Weltkriegs mit „dieser an Wahnsinn grenzenden Gleichgültigkeit
gegen fremdes Leid“. (KW 1, S. 712) 467 Intensiv diskutiert werden dabei der
Durchbruch des Irrationalen, die losgelösten Teilsysteme der Ökonomie und
des Militärs ohne übergeordnetes Korrektiv und die Auflösung von Bedeu-
tungssystemen vor dem Hintergrund einer vielschichtigen Poetik der Dar-
stellung dissoziativer Prozesse.468 Als um Reflexion bemühter Roman der
Moderne stellt sich dabei technisch die Frage nach der Verknüpfung der
Codierung von Wissen und der Codierung von Handlung.
Broch nutzt dazu eine raffinierte Struktur, die ihre komplexen Möglichkei-
ten der Darstellung aus der Wechselwirkung verschiedener Teile gewinnt,
wobei dem Essays-Zyklus zum Zerfall der Werte hier besonders viel Auf-
merksamkeit gewidmet wurde.469 Dieser wird deutlich durch die GdH ge-
465 Das Zeichenhafte ist hier zunächst Mythologie und Religion, dann aber Bedeutungssystemen
insgesamt zugeordnet.
466 Der Schrecken, oder auch ‚das Traumatische‘, tritt aus Bedeutungssystemen heraus und
wird zum bloßen Vollzug.
467 Vgl. in diesem Kontext auch die Figur des am Krieg zerbrochenen Leutnant Jaretzki und
seine Analyse als beispielhaften Vertreter der Langemarck-Generation in Lützeler 1973, S.
131–133.
468 Lützeler hat an zahlreichen Stellen die politischen Implikationen für Broch nachgezeichnet,
wie beispielsweise die Notwendigkeit der Gründung von UNO/Völkerbund oder den Einsatz
für Menschenrechte (vgl. etwa Lützeler 2011. S. 32 f.).
469 Zur Werttheorie und für philosophische Einflüsse auf Broch vgl. Vollhardt 1986, sowie
Dittrich 2009, der weitere wichtige Untersuchungen nennt (vgl. S. 45, Anm. 17). Lützeler
306 C 3. Broch
rahmt, sodass sich die Anlage der zwei Formen von Wissen, d. h. literari-
sches und philosophisches Wissen, intern verdoppelt. Der Protagonist der
GdH ist der intradiegetische Verfasser des ZdW. Beide Reihen stehen wie-
derholt in Wechselwirkung zum narrativen Hauptstrang, auf alle drei bezie-
hen sich weitere herausgehobene Abschnitte, zu denen prominent etwa das
Symposion als Meta-Abschnitt oder das schließende Sonett gehören. Die
eben angesprochene Vielfalt bezieht sich zunächst nur auf den modern ge-
fassten Teil der Trilogie, also auf den dritten Teil, den Huguenau. Die Rah-
mung des ZdW-Zyklus durch die GdH knüpft allerdings unmittelbar an den
zweiten Teil und die dortigen Heilsarmee-Teile an, wie bereits durch den
Namen Bertrand Müller die Rückbindung auch an den ersten hergestellt
wird. Dieser knüpft an die Bertrands der Vorgängerromane an, etwa über
den Konnex der Ästhetik oder die Orte Indien/Amerika und Schloss, beson-
ders aber über die gegen Ende der GdH zunehmende Thematik des Suizids
und der Einsamkeit.470 Im Rahmen der vorliegenden Fragestellung muss
dies Andeutung bleiben, sollte aber mit Unterstützung der oben ausgeführ-
ten Ödipus-Thematik, wo die Interaktion der verschiedenen Teile reflektiert
wurde, doch sichtbar machen, dass die Herausnahme des Essayzyklus aus
diesem Wechselspiel der Anlage nicht gerecht wird. Denn geschaffen wird
verweist auf die Differenz der eigenen Autorenaussage Brochs zum ZdW-Zyklus und be-
schreibt diesen mit Hilfe des in ihm festgehaltenen Ornamentverständnisses als eben dieses
Ornament des Romans – im Sinne des verkürzten Sinngehalts, des Überschüssigen, des
Schmucks (vgl. Lützeler 2001, S. 70). Steinecke spricht für den polyhistorischen Roman für
den ZdW vom „Extremfall“, der dennoch „Teil des Romanganzen“ sei (Steinecke 1968, S.
101). Eines Ganzen, das zu zerfallen strebt, um formal den Wertezerfall zu spiegeln, argu-
mentierte in anderem Kontext Fülleborn 1975. Vollhardt sieht ähnlich wie Martens (s. o.)
die ZdW-Diskurse als übergeordnet an und argumentiert für ihre Rezeption als „Enzyklopä-
die“ für zu erschließende Stellen (vgl. Vollhardt 1986, S. 253). Er weist eine gleichberechtig-
te Integration mit folgender Argumentationslinie zurück: „Nun ist über das Verhältnis der
Exkurse zur Romanhandlung bereits viel geschrieben und mit Recht darauf aufmerksam
gemacht worden, daß die theoretischen Einsprengsel selbst nur ein Teil des Romans sind
und daß sie ebenso wenig wie die Kommentare Brochs als alleiniger Schlüssel gelten dürfen,
soll eine zirkuläre Erklärung vermieden werden. Dem Gedanklichen der Exkurse ist man
damit nicht gerecht geworden“ (ebd., S. 10). Gerade die Elastizität des letzten Zitats ver-
weist auf die entscheidende Frage des Beobachtungspunktes, der sich nicht auf die Frage
philologisch oder philosophisch interessierter Zugang reduzieren lässt. Broch selbst hätte
für diesen Punkt wohl die Zurückweisung vom „mörderischen Künstlerirrtum [geteilt], die
Philosophie, die der Autor ins Gebilde pumpt, sei dessen metaphysischer Gehalt“ (Adorno
1997a, S. 257).
470 Freilich lässt sich dies als ‚unechte‘ Anknüpfung denotieren, so wie auch die Relativierung
der Erzählposition der ZdW-Essays wiederholt als ‚unechte‘ verstanden wird. Beide Momen-
te lassen sich aber mit gutem Recht auch als Teil der komplexen Symbolketten auffassen
und fordern gerade als solche zur weiteren Bearbeitung auf.
3.2 Die Verzauberung 307
hier keine Einheit im Sinne einer sich schließenden Aussage, sondern eine
überaus komplexe interne Verweisstruktur, die Probleme und Aporien mit
literarischen Mitteln der Moderne sichtbar macht.
Insgesamt scheint es erforderlich, die Frage des Wertezentralismus bei
Broch, wie sie mit den Schlafwandlern Bedeutung erlangt, von einem hy-
postasierten fehlenden Pluralitätsdenken loszulösen. Im Text wird zwar die
romantische Rückwendung zum Mittelalter zitiert, so wie Protestantismus
als Verinnerlichung, Formalisierung und Autonomisierung des religiösen
Bereiches diskutiert wird, wenn davon die Rede ist, „mit einem absoluten
Protestantismus das Grauen vor dem abstrakten Gott auf sich zu neh-
men“.471 Wertezentralismus, die Suche nach dem übergeordneten System,
dem Zentralwert, wird aber in vielfältiger Form, und nicht nur in den Es-
says, kontrastiert an den zur Autonomie strebenden Partialsystemen der
Moderne, der Verselbständigung von Rationalität, die bereits in der Spät-
aufklärung Kritik erfuhr, und der mit diesen Prozessen entstehenden Prob-
lemlagen. Entscheidend ist dabei, um es prägnant zu formulieren, dass das
(ausgeklammerte) „Irrationale“ durch die Hintertür kommen wird, dass
gerade Ganzheitlichkeit und übergeordneter Sinn immer wieder neu aufge-
sucht werden und sich nur rational nicht bannen lassen. 472 Es hieße, Brochs
Schreiben grob zu unterschätzen, die Schlafwandler als bloße Kritik an der
Ausdifferenzierung zu Systemen aufzufassen oder gar eine naive, unüber-
windliche Sehnsucht nach mittelalterlicher Ganzheit zu unterstellen.
Der Zustand des Textes ist so, wie er gedruckt ist, ein vorläufiger, was bei
diesem Dichter besonders zu beachten ist. Im Vergleich zu den anderen
großen Projekten: Die Schlafwandler, Der Tod des Vergil und Die Schuldlosen
fehlt das (je) Innovative der Form 474 und die Sprache ist, wiederum nur im
471 KW 1, S. 582. Der mittelalterlichen Geschlossenheit entsprechend, wird etwa in der Verzau-
berung die Totalität des archaischen Bezuges codiert. Beides steht durch Brochs Überlegung
in Verbindung, dass Produktionen von Ganzheitlichkeit nicht zu unterbinden sind, weil sie
ein menschliches Grundbedürfnis darstellen, was allerdings noch kein Einheitsdenken de-
notiert.
472 Man denke für heutige Verhältnisse beispielsweise an den Ökologiediskurs.
473 KW 3, S. 213. Das Zitat bezieht sich auf den Demagogen Ratti.
474 Es geht um die anti-modernen archaischen Elemente des Nazismus, auf die mit dieser tradi-
tionellen Form geantwortet wird. Die unmittelbare Zugänglichkeit scheint dem Vergil ent-
gegengesetzt, für dessen Ausarbeitung Broch sich letztlich entschied.
308 C 3. Broch
475 Das Folgende bezieht sich auf die im Rahmen der KW gedruckt vorliegende, erste Fassung,
die Überarbeitungen wurden mit bedacht.
476 Vgl. die Eröffnung des Abschnitts „Allgemeine Wertung“ in Lützeler 1983: „Ungeteilte Zu-
stimmung hat Brochs Verzauberung selten gefunden“ (S. 287). Zurecht wird in der Folge die
Vielschichtigkeit betont, die divergierende Lesarten eröffnet (vgl. ebd. S. 288 f.). Aus diesem
Komplex werden in der Folge wenige Punkte isoliert, die dennoch als entscheidende Teile
der Poetik Brochs angesehen werden können.
477 Zur Diskussion zur Figur, auch zu ihrer Wandlung in Arbeitsphasen, vgl. die Entstehung-
schronologie von Lützeler in KW 3, S. 411.
478 Die Massenszene bleibt archaisch – ländlich begrenzt, im Unterschied zum Vergil; vgl. den
verbotenen Ort des Bergwerks/Goldes als Symbol.
479 KW 3, S. 387. Hintergrund ist die analog zu Canetti betriebene Massenpsychologie, d. h.
Brochs Massenwahntheorie. Vgl. für eine Abgrenzung auch zu Le Bon und Adler Ritzer
2016, S. 440. Zu Subjekt/Ich vs. Masse bei Döblin vgl. Müller-Salget 1988, S. 356.
480 Vgl. KW 3, S. 383–387. Zur literaturwissenschaftlichen Positionierung zwischen religiösem
und politisch-zeitkritischem Roman vgl. Lützeler 2000a, S. 52.
481 So etwa Lützeler in KW 3, S. 408.
3.2 Die Verzauberung 309
482 Die weitere Ausarbeitung der Verzauberung wird durch die Arbeit an der Völkerbund-
Resolution und dem Vergil, spätestens 1937, ersetzt (vgl. Lützeler in KW 3, S. 410). Die Ar-
beit am Tod des Vergil beginnt 1936, vgl. Lützeler in KW 4, S. 516).
483 In Brochs Bild der Geschlechter ist wohl zudem weiblich-archaisch dem männlichen Ag-
gressiv-Archaischen entgegengesetzt.
484 Insofern scheint es ein Missverständnis in Edelmann 1997a, wo (kritisierend) nach der
direkten Vergleichbarkeit der beiden, Mutter Gissons und Barbaras, gesucht wird, da es u. a.
um die Frage des „Umgangs“ mit dem Verlust, dem elementaren Schmerz, geht.
485 Bereits der Essay-Zyklus der Schlafwandler schildert Setzungen verschiedener Ordnung im
Wechselspiel von Rationalität und Irrationalität, was sich in den narrativen Strängen spie-
gelt (s. o.). Daran schließt der Text sozusagen in einem Diskursfeld an, dass Dehrmann als
im weiteren Sinne anthropologisch definiert, um es mit den Forschungen von Fritz Kramer,
Wolfgang Riedel und Hans Richard Brittnacher verknüpfen zu können. Vgl. dazu sowie zu
den Quellen für Broch Dehrmann 2014, S. 308–310.
310 C 3. Broch
steht die dem Massenwahn geopferte Irmgard, der Leben und Gebären ver-
weigert wurden, symbolisch für den lebensvernichtenden Kern des Nazis-
mus, dessen letztes Ziel die bloße Vernichtung darstellt (vgl. KW 3, S. 362 f.).
Mutter Gisson ist in ihrem Rückgang in der Erinnerung in ihrem Sterbepro-
zess mit beiden Enden im unmittelbaren Kontakt. 486
Mit ihrer Erinnerung an die Angst entfalten sich zugleich Metaphern des
Verschüttet-Sein, die zunächst mit dem Wühlen in der Erde beginnen. Sie
setzt dabei in der Figur Gödicke bereits angelegte Bilder fort, wobei sie als
zentrale Figur in ihrer Stellung, Funktion und Bedeutung im Roman vom
Maurer der Schlafwandler deutlich abgesetzt ist. Es kommt an dieser Stelle
durchaus überraschend, wie sie sterbend gleichsam ihre Seele entblößt und
ihren ‚abgestorbenen Zustand‘ Schritt für Schritt entfaltet, kulminierend
hier im Bild des Todes in sich:
So sucht ich jenen, den man mir geraubt, und grub mit meinen
Händen nach dem Blut, das mir die Erde weggetrunken hat; ich
sah das Ganze dieser Welt nicht mehr, sah nicht mehr ihre
Ränder. Nichts sah ich. – Ich sah bloß mich und sah mich trotz-
dem nicht, denn steinern war der Schmerz um mich und grau
und hart und Stein. […] Die Kinder hab’ ich betreut, gekleidet,
hab’ sie gewaschen und genährt, ich tat’s und wußte nichts da-
von und hab’ sie nicht gesehen. […] Es wuchs der Tod um mich
herum und wuchs in mir, und seine Felsen schütteten mich zu.
(KW 3, S. 363)487
486 Im konnotativen Feld steht, dass, auf eine allgemeine Ebene transportiert, der ‚Tod im
Leben‘ nicht das letzte oder einzige Wort haben möge. Die Analogie zum viel diskutierten
Schneekapitel des Zauberbergs ist, so formuliert, natürlich nicht zu übersehen, wo allerdings
der Kontext doch deutlich anders gelagert ist. Tod im Leben ist bei Broch durchaus im Sinne
der im Traumadiskurs häufig verwendeten Metapher konzipiert.
487 Man könnte, zumindest aus heutiger Sicht, Ausdrücke wie „die Erde weggetrunken hat“ zu
den von Broch im Vergil problematisierten Ästhetisierungen traumatischer Erfahrungen
zählen. Die Stelle ist auch ein Beleg für die häufige Codierung traumatischer Erfahrungen als
Todeserfahrungen bei Broch.
3.2 Die Verzauberung 311
Ich aber lag hier, Hände in der Erde, und alles Licht war Stein,
und hohl war jede Wolke, zerschellend in der Enge. So lag ich
hier, lag eingekerkert zwischen Mauern, und immer höher,
immer höher wuchsen sie, ein toter Schacht, und all mein Seh-
nen war, in seinen Boden tiefer, tiefer einzusinken. In Nacht
vergraben, war ich losgelöst. (KW 3, S. 364, Herv. von Vf.)
Schließlich ist es die für Broch bezeichnende Konzentration auf die soziale
Existenz, und das heißt ganz besonders auf andere, die einen Ausgang aus
dem abgestorbenen Zustand ermöglichen soll, der dadurch im Falle Mutter
Gissons an einem Ort fixiert und zurückgelassen werden kann, der als sol-
cher aber präsent bleibt und den sie nun in ihrem Sterbeprozess wieder
aufsuchen kann.488 Der Ausklang ihrer Schilderung spricht überaus deutlich
von dem Komplex Wissen aus der traumatischen Erfahrung heraus, d. h.
hier aus dem Tod im Leben, dem abgestorbenen Zustand heraus. Diese
Thematik war für Broch ebenso wie für Rilke immer wieder von entschei-
dender Bedeutung:489
Da spürte ich, wie meine Finger, ein Finger nach dem anderen
gelöst und ausgegraben wurden. Es war der Bub, er war zu mir
gekrochen, grub mir die Finger aus, als wären’s Kieselsteine,
und wie mit Kieseln spielte er mit ihnen. Und kroch auf mir
herum, als wäre ich die Erde. – Da ging ich heim und kam nicht
wieder her. – Und tat mein Tagwerk, tat mein Leben, und es
488 Broch war mit dem Verdrängungsnarrativ bestens vertraut, aber er sucht hier offensichtlich
nach einer anderen zeitlichen Struktur.
489 Vgl. die ‚Hadesfahrt‘ des Vergil und natürlich das Auferstehungsnarrativ. Die modernisierte
Variante der Auferstehungsgeschichte (aus dem Trauma), die Broch nicht nur hier entwirft,
die er variiert und neu zu gewinnen versucht, ist zudem in ihrer Nähe zur Romantetralogie
Joseph und seine Brüder interessant, deren erste Teile auch international unmittelbar als
Entwürfe gegen das Archaische der Nazis, gegen deren Besetzung des Mythos, rezipiert
wurden.
312 C 3. Broch
ward gut. Sah in die Ferne, die ihn aufgenommen, und langsam
wurde sie Unendlichkeit, und langsam wußte ich in ihr das Ziel
jenseits des Todes, nein, jenseits aller Tode, das Ziel, zu dem er
hingestrebt und das er nun, als wär’s ein spätes Kind, mir un-
ters Herz gelegt, daß es da wachse. (KW 3, S. 364)490
Mutter Gissons Erzählung richtet sich an den Arzt und dient als Spiegel sei-
ner eigenen Geschichte, mit der die Begebenheit vom Bergdorf in etwas
umfassendere Bezüge transportiert wird.491 Es handelt sich um die Barbara-
Handlung,492 die in etwa zur Mitte des Textes aufgerollt wird und dort un-
mittelbar als weggeschobene Erinnerung eingeführt wird.493 Verortet ist
auch sie zwischen den Polen Leben und Tod:
Als mir das Leid um den Tod der Suck Anna widerfuhr und die
Freude über die Errettung des Wetchy-Buben, da wußte ich
noch nicht, daß beides, Leid und Freude, in einem Erlebnis
verankert war, das ich vor mehr als fünfzehn Jahren hatte. (KW
3, S. 187)
Die Barbara-Handlung selbst setzt damit ein, dass das Bild, welches er ver-
sucht hatte zu tilgen, „wieder zur Gegenwart geworden [ist], und nicht nur
490 Herv. von Vf. Dass ‚der Bub‘ sie sozusagen als Tote behandelt, ermöglicht ihr hier, im Bild,
den Durchbruch zurück zum Ganzen des Lebens, zu dem der Tod als Teil zählt. Dies ist der
Todesfixierung, seiner Position als ‚schwarzes Loch‘, entgegengeschrieben. Was dem mit der
Traumaforschung erstarkten Diskurs zum ‚Unsagbaren‘ wohl zumindest teils als Qualität
gelten würde, sah Schmidt-Dengler 1986 als Schwäche des Textes, indem er es mit Mytholo-
gischem engführt: „Ohne solche Paradoxien kommt Broch in diesem Buch nicht aus. Die
Stimme ist stumm, das Schweigen klagt […], der Tod fällt mit der Geburt zusammen, im
Sichtbaren wird das Unsichtbare vermutet, und zwar ehe noch auf das Sichtbare hingewie-
sen und dessen Qualitäten analysiert werden, so daß vor lauter Unsichtbarem das Sichtbare
nicht augenscheinlich wird“ (S. 162).
491 Die Frage bleibt offen, ob sie, die durch das Trauma des Verlusts gegangen ist, als Modell für
ihn dienen kann.
492 Die Episode ist in der Variante der zweiten Fassung der Verzauberung als Novelle abge-
druckt in Broch 1977. Vgl. zur Barbara-Episode Schlant 1983, wo Broch ein zerstörerisches
Bild des Kommunismus zugeschrieben wird: „Das System, dem Barbara sich verschreibt,
verschlingt wie ein Moloch seine Kinder. Ohne auf irgend ein politisches Programm einzu-
gehen, hält Broch es für evident, daß der Kommunismus nur zerstören kann“ (S. 213). Damit
geht die Dynamik der Figur allerdings verloren.
493 Dies bildet den eröffnenden Rahmen, der schließende Rahmen erfolgt durch Mutter Gissons
Tod. Dass die Begebenheiten nicht präsent sind (vgl. „wußte ich noch nicht“ im folgenden
Zitat), steht in Verbindung mit ihrer Dominanz für das weitere Leben des Ich-Erzählers.
3.2 Die Verzauberung 313
494 Vgl. oben zu den Schlafwandlern bzw. die allgemeine ‚Beliebtheit‘ dieser Thematik bzw.
analoger Bilder bei Broch.
495 KW 3, S. 189. Vgl. zur Verbindung von ‚Schönheit und Tod‘, die hier über die Arztmetapher
erfolgt, den Tristan-Diskurs in Lefeu (s. D 1).
496 „Es war keine Vision, es war eine zweite Wirklichkeit, die plötzlich in das Sichtbare eingezo-
gen war“ (ebd.).
497 Das ‚Schicksalhafte‘ dieser Liebe ist zumindest aus heutiger Perspektive schwer lesbar.
498 Diese Konstellation entspricht dem Reisenden Esch (Waisen), einem Suchprozess aus kind-
licher Verletzung heraus, was deutlich an Brochs Selbstbeschreibung anklingt.
314 C 3. Broch
499 Vgl. Sperber 1993, besonders die Interpretation der Individualpsychologie Adlers durch den
Protagonisten Dojno Faber, der sie als aktives Parteimitglied mit seiner theoretischen Posi-
tion des Kommunismus verbindet, um dann, in zunehmenden Zweifeln, besonders dessen
frühe deutsche Tragödie – etwa die Wahrnehmung der Sozialdemokraten als Hauptfeind
und der Nazis als Übergangsphänomen – aufzuarbeiten. Vgl. auch besonders Sperber 1983
und s. u.
500 KW 3, S. 194, vgl. zu Besessenheit auch S. 193. Bei Dojno Faber wäre es die persönliche
Möglichkeit des Leides, des Traumas, das in dieser Form, individuell betrachtet, als konser-
vativ festgeschrieben wird. Der heutige Umschlag vom konservativen zum progressiven
Trauma-Konzept ist nicht in erster Linie in der zunehmenden Hinwendung zum kollektiven
Trauma zu sehen, sondern in der Ausdehnung des Konzepts des ‚Progressiven‘, der Aufhe-
bung des Primats der Ökonomie und der Vervielfältigung der bloßen Dichotomie Kapitalis-
mus vs. Kommunismus.
501 KW 3, S. 195. In der Liebesbeziehung, als Traum charakterisiert, wäre er auch bereit, Teile
seines Ichs, einbezogen „in die Selbsterlösung dieses Ichs“ aufzugeben. Freuds Rede vom
Todestrieb, die den Hintergrund bildet, ist durch die Rückkehr ins „anonym Naturhafte“
markiert (ebd., s. auch unten zu Die Schuldlosen). Nebenbei erfolgt die Erweiterung der car-
tesianischen Selbstgewissheit zum „Du bist“ (ebd.).
3.2 Die Verzauberung 315
Intuition durch Liebe verlierend, sei sie nicht mehr in der Lage, das Kind zu
behandeln, was den unmittelbaren Bezug, die unmittelbare Konstruktion
ihrer Schuldgefühle an der Oberfläche ausbilden wird. Die Flucht in die Ra-
tionalität misslingt also auch hier.
Der Ich-Erzähler fühlt, dass sein Schicksal an das des symbolisch aufgelade-
nen Kindes geknüpft ist: „ich fühlte etwas Unheimliches aufdämmern.“ (KW
3, S. 200) Der Tod des Kindes folgt der Liebesnacht der Vereinigung (vgl.
KW 3, S. 200 f.), es kommt zu keiner Kommunikation dazu, ihre Selbstbetäu-
bung durch politische Tätigkeit und die Arbeit als Ärztin habe er zu dieser
Zeit nicht wahrgenommen (vgl. KW 3, S. 201) und es setzt die (falsche) Ge-
wissheit ein: „da war meine Zukunftssicherheit zu einem großen Trost er-
blüht“. (Ebd.)
Die Binnenerzählung endet damit, dass sie sich mit Zyankali vergiftet, im
Kontext eines missglückten kommunistischen Putsches. Die Gedanken an
ihr eigenes, erwartetes Kind verknüpfte sie wieder in fortgesetzt mythi-
schem Denken mit dem Tod des Kindes, das sie zu betreuen hatte. Die dar-
aus resultierenden Schuldgefühle502 verbinden sich mit der eigenen Exis-
tenz, d. h. mit der nur angedeuteten erfahrenen Ungerechtigkeit und dem
erfahrenen Leid. Die letzte Nachricht an ihn lautete: „Ich habe dich geliebt“,
(KW 3, S. 202) ihm bleibt die schicksalhafte Zerrissenheit. Die Episode endet
im Gegensatz zum Tode Mutter Gissons mit der Unauflösbarkeit des Bruchs.
Der letzte Satz: „Ich verbrannte alles“ (KW 3, S. 202) bezieht sich unmittel-
bar auf die Putschpläne, strahlt aber auf die fehlende Erinnerung aus. 503
Was Janoff-Bulman als Shattered Assumptions recht allgemein als eine Art
Grundverfassung zu beschreiben versucht (s. o.), wird hier in der Tradition
einer konkret gefassten Peripetie inszeniert. Hintergrundbild bleibt der Fall
aus dem temporären Paradies des höchsten Glücks zum Zeitpunkt höchster
Sicherheit,504 wie er durch folgenden Satz antizipiert wird, der im Kontext
mit dem geplanten Putsch steht: „Die Überstürztheit ihrer Abreise war für
mich nicht weiter auffallend und störte mich nicht in meinem Gefühl absolu-
ter Sicherheit; wir sagten uns auf Wiedersehen.“505
502 Dass Barbara das eigene werdende Kind mit dem gestorbenen verknüpft, wird vom Ich-
Erzähler schnell wieder vergessen (vgl. KW 3, S. 202).
503 Die Nähe zum Verdrängungsnarrativ ist hier deutlich. Zur Position des Erzählers zwischen
Erinnern und Vergessen vgl. Pissarek 2005, S. 169, mit weiteren Verweisen.
504 S. B 1 zu Kleists Homburg und Über das Marionettentheater sowie zur Struktur in den Elixie-
ren E.T.A. Hoffmanns.
505 KW 3, S. 202, Herv. von Vf. Zuvor erfolgen die Erwähnung des gemeinsamen Kindes, ver-
bunden mit den dringender werdenden Heiratsplänen, die Schuldgefühle gegenüber dem
gestorbenen Kind sowie ein geplanter dreitägiger Urlaub Barbaras.
316 C 3. Broch
Die Verbindung der beiden Gewaltereignisse, des Mords an Jäger Gisson und
des Selbstmords von Barbara, welche deutlich sichtbar den Fluchtpunkt für
die beiden Figuren bildet, ist über die Erlebnisdimension und das Ausmaß
ihrer jeweiligen einschneidenden, lebensverändernden Bedeutung gegeben.
Der Arzt zieht sich in das Bergdorf zurück, nachdem er alles hinter sich ver-
brannt hat,506 und droht der ‚Verzauberung‘ zumindest teilweise zu erliegen.
Mutter Gisson geht durch ihre traumatische Erfahrung (wieder: zumindest
teilweise) hindurch und gewinnt aus ihrer Rückkehr vom ‚abgestorbenen
Zustand‘ umfassendes Wissen zum Wechselspiel von Leben und Tod, das
der katastrophalen, gewaltbesetzten, blinden Rückwendung ins Archaische
durch den NS-Terror entgegentritt, indem es dessen Hang zu reiner De-
struktivität erkennt. Denn die Stärke des Marius Ratti ist im Text als das
Nichts ausgegeben. Sie äußert sich als Faszination für Tod und Töten und
formt eine fatale Sozialität aus.507
Vorbemerkungen
Der schwer zugängliche Tod des Vergil stellt einen der komplexesten und
sprachlich herausforderndsten Romane des 20. Jahrhunderts dar. 508 Broch
selbst meinte die musikalisch-lyrisch anmutende Gesamtkomposition des
Romans und den hochgradig elaborierten Stil mit dem Etikett der poetologi-
schen Notwendigkeit rechtfertigen zu müssen. Mehr noch als der des Un-
zeitgemäßen stand der Vorwurf des Manieristischen im Raum. Ob die Dis-
kurse zu Vielschichtigkeit, Differenz und Dekonstruktion, postmodernen
Wissensformen, Metafiktionalität und komplexen intertextuellen / interme-
dialen Zitierverfahren den Roman neu lesbar machen oder vielleicht gar
umgekehrt, moderne literarische Werke wie etwa die Schlafwandler, Der
Tod des Vergil, Joseph und seine Brüder oder Dr. Faustus, um nur einige der
hier interessierenden Projekte zu nennen, überhaupt erst eine substantielle
Grundlage für diese Diskussion ausbilden, 509 ist dabei eine müßige Frage. Da
aber der theoretische Diskurs sichtlich aufgeholt hat, sollte zumindest diese
Barriere überwunden sein, wenngleich immer noch teils überladene Wörter,
die hohe Komplexität der dissoziativ geführten Beobachtungen eines Ster-
benden und diejenigen Elemente der Sprache, die an Heidegger erinnern,
einen adäquaten Zugang erschweren können.510 Hermann Broch reagiert
mit dem Vergil unmittelbar auf die Josephs-Romane,511 so wie er mit den
Schlafwandlern u. a. auf den Zauberberg reagiert hatte und so wie auch
Thomas Mann detailliert auf die Werke Brochs reagiert (s. o.). Die expliziten
und impliziten Textbezüge des Vergil sind allerdings, ganz zeitnahen Projek-
ten von Bulgakov bis Mann entsprechend, überbordend und erstrecken sich
quer durch die Kulturgeschichte.512 Sie werden aufgegriffen, um formal und
inhaltlich einen dem kulturellen Stand der Moderne sowie den für Broch
wichtigen ethischen Herausforderungen an die Kunst entsprechenden Ro-
man zu verfassen.513 Aus Joseph und seine Brüder fließt u. a. unmittelbar das
Mehrfache der Zeit ein, das in der Ineinanderfaltung der beiden Hauptdi-
mensionen des Damals und des Jetzt (Rom/NS-Diktatur) mit dem ‚Quer der
Kulturgeschichte‘ gesehen werden kann. Die für die Schlafwandler geschil-
derten Techniken der Verschiebung und v. a. der Verdichtung 514 erhalten
dadurch eine deutlich ausgeprägte zeitliche Dimension und der traditionel-
509 Vgl. Ecos Verweis auf seine produktive Rezeption des Dr. Faustus (Eco 2012, S. 41), die sich
natürlich nicht auf die Position des unzuverlässigen Erzählers beschränkt.
510 Zum ambivalenten Zugang zu Heidegger siehe auch unten. Worauf Broch in Das Weltbild des
Romans positiv verweist, ist Heideggers Rede vom „höheren metaphysischen Sinn der Sor-
ge“ (KW 9/2, S. 113) in Sein und Zeit (§§ 39–44). Ebenso bezieht er sich in der Sartre-
Rezension, Jean-Paul Sartre. L'Être et le Néant (1946), positiv auf Heideggers Vorstoß „in
bisher völlig ungeahnte und neue Tiefen der Erkenntnis“, und zwar durch seine „dichterisch
anmutende[n] Metaphern“ (KW 10/1, S. 277).
511 Zum Einfluss der Josephs-Romane bereits auf die Verzauberung vgl. etwa Dehrmann 2014,
S. 311. Vgl. Lützeler 2011, S. 218.
512 Vgl. natürlich auch das Schlagwort der ‚Codierung von Gedanken anstelle von Handlungen‘,
besonders verknüpft mit dem Diskurs zu Musils Mann ohne Eigenschaften.
513 Die innerfiktionale Reflexion dieser ethischen Herausforderungen wird mithilfe der bereits
festgehaltenen Mehrzeitigkeit des Romans simultan in Auseinandersetzung mit den ver-
schiedenen Schichten der ästhetischen Tradition geführt.
514 Dass die Personen ineinander übergehen, steigert sich im Roman und ist der Codierung des
Sterbeprozesses, der Innenperspektive sowie den Wahrnehmungen und Reflexionen der Fi-
gur geschuldet.
318 C 3. Broch
len Chronologie des Romans, deren Auflösung bereits für Rilkes Aufzeich-
nungen beschrieben wurde, wird eine innovative Form gegenübergestellt. 515
Es wäre für die Josephs-Romane und für den Vergil ein Missverständnis, in
dem je unterschiedlichen Kontext einer biblischen/historischen Figur von
einer Aktualisierung weit zurückreichender Narrationen zu sprechen. Beide
Romane sind eher als Bemühungen um ‚Mehr-Zeitigkeit‘ gekennzeichnet –
sie spielen sowohl in den ihnen entsprechenden Zeiträumen als sie diese
auch systematisch überschreiten. Da Repräsentation und Symbolisierung
ebenso problematisch wurden wie chronologische Zeitstrukturen, kann das
eine nicht mehr einfach das andere spiegeln. Die Besessenheit der Moderne
mit dem Neuen erhält eine immanente Gegenbewegung, was besonders bei
Broch, seinem Streben nach modernsten Mitteln, um zugleich zurückzubli-
cken, augenfällig ist.516
Die Komplexität des Textes entspringt der Schreib- und Reflexionsbewe-
gung selbst, die ein stetes Kreisen um immer wieder metaphorisch variierte
semantische Felder darstellt, von denen einige beispielhaft genannt seien:
der Tod, die Gewalt, die Leere, das Nichts, die Einsamkeit, das Scheitern, die
Liebe, das Mitleid, das Unaussprechliche, das Schweigen, der Abgrund oder
die Situation des Dichters und der Sprache. Zentrale Fragen werden nicht
logisch-analytisch erörtert, wogegen sich die auseinanderstrebende, disso-
ziative Welt des sterbenden Vergil, in der die Grenze zwischen Innen und
Außen aufgehoben ist, sperren würde. Die Sprache des Romans strebt viel-
mehr danach, die Bewegungen, Erschütterungen und Brüche der Gedanken
sowie die sich teils auflösenden Wahrnehmungen formal nachzubilden.
Dadurch wird ein reflexiv-stockender Spachfluss erzeugt, der mit der Situa-
tion des Protagonisten korrespondiert. In der lyrisch-musikalischen, von
515 Aufgegriffen ist dies etwa in Ecos paradigmatisch postmodernem Roman, der Name der
Rose, wo sich die Zeiten komplex überlappen werden, was die Situation von Joseph und Ver-
gil aufnimmt. Erzeugt wird kein Spiegel, wofür etwa die in die Renaissance gespiegelte
Problematisierung von Fragen der Spätaufklärung in Goethes Faust (zumindest partiell) ein
prominentes Beispiel wäre, sondern eine Mehrfachschichtung, die auf die Auflösung traditi-
oneller Symbolisierungstechniken antwortet und die der modernen Verweisstruktur ent-
spricht. Die von Broch selbst artikulierte allgemeine Form von Fragen, das allgemeine
Menschliche jenseits von sozialen Strukturen (im Kontext der Thematik: Das Universelle
des Traumas), die auch für den Joseph diskutiert wird, geht hinter das Verfahren selbst und
hinter dessen Komplexität zurück.
516 Manns Rückgriff auf Kleists Marionettentheatertext im Dr. Faustus wird diese Fragen fort-
führen. Für Broch und Mann könnte man sagen, dass sie lange nach den –ismen darauf ant-
worten. Sie sind mit ihren innovativen Formen aber Teil einer literarischen Suchbewegung
nach alternativen Zeitverhältnissen zum ‚obsessiven Vorwärtsstreben‘ der Moderne, das
Engel bereits im Rilke-Kontext als nur einen Teilaspekt moderner Poetik diskutiert (s. o.).
3.3 Der Tod des Vergil 319
Womit der Roman an die Projekte Rilkes und Kafkas anknüpft, ist der Ver-
such, „einen Zugang zu jenen Sphären der menschlichen Seele zu finden, die
bisher fast unzugänglich waren“.519 Dass es sich dabei um einen individuel-
len Sterbeprozess handelt, der auf den schon in der Verzauberung dominan-
ten Todeskomplex verweist,520 verbindet Broch mit „dieser Zeit einer gera-
dezu schon irrealen Grausamkeit“, 521 der nötigen „metaphysische[n] Ausei-
nandersetzung“ mit dem Tod im Kontext der NS-Vernichtungspolitik522
sowie mit der Weiterentwicklung narrativer Formen:
517 Die Einsamkeit (des Schreibenden) ist noch einmal gespiegelt, indem die Zugänglichkeit des
Romans durch den Prozess selbst gleichsam blockiert und auf einen engen Raum an Rezipi-
enten reduziert ist.
518 Dies ist charakteristisch für Brochs Poetik, und zwar in der Tradition von Kleist, Rilke oder
Kafka.
519 KW 4, S. 484. Broch versprach sich durch seine Methode eine „Aufdeckung aller Schichten
der Seele“ (KW 4, S. 471).
520 Die Probleme der Verzauberung liegen wohl zumindest teilweise darin, dass dieser Roman
für Broch eine sehr traditionelle Darstellungsweise erforderte, während die modernen Mit-
tel im Vergil mit der Problemlage korrespondieren, im Sinne der von ihm im folgenden Zitat
thematisierten Annäherung.
521 KW 4, S. 463. Es kommt zu einer Neubearbeitung des Durchbruchs des Irrationalen aus der
Schlafwandler-Thematik (s. o.), verbunden auch mit der Frage der Wertezersplitterung (vgl.
ebd.).
522 KW 4, S. 464.
320 C 3. Broch
Für Broch sind diese Mittel im Experiment des Vergil eben der Versuch ei-
nes lyrischen Romans524 sowie die radikale Innenperspektive,525 deren
Kombination den psychologischen und rationalen Formen des inneren Mo-
nologs entgegengehalten wird (vgl. KW 4, S. 458). Dazu konnte er in vielem
auf Ergebnisse der Schlafwandler ebenso zurückgreifen wie auf die literari-
sche und philosophische Gegenwart und Tradition (s. o.). Interessant am
Vergil sind die radikal avantgardistischen Mittel in der Spannung mit diesem
spezifischen, die Zeitstruktur bestimmenden Rückgriff. Dass die Rede vom
Unaussprechlichen, die die Sprach- und Subjektkrise der Moderne mitbe-
stimmt und ebenso prominent im Traumadiskurs der letzten beiden Jahr-
zehnte aufscheint, ganz besonders mit dem Vergil verknüpft ist, hängt mit
dem komplexen Verhältnis von Innen und Außen zusammen, das sich in den
Abschnitten unterschiedlich spiegelt und entwickelt.
Für die historische Vorlage seiner Figur spricht Broch von einem tief sitzen-
den Trauma aus den Bürgerkriegserfahrungen heraus: „die apokalyptischen
Schrecken, deren er in seiner Jugend Zeuge gewesen war, hatten sich in
seinem Wesen für immer eingeprägt und gestalteten in entscheidender
Weise seine persönlichen Probleme und sein ganzes privates Dasein.“ (KW
523 Vgl. Brochs englisch verfassten Kommentar: „moves constantly on the borders of expressi-
bility, forced to express the inexpressible” (KW 4, S. 477). Zum Diskurs des Unaussprechli-
chen in der Moderne und in den Traumadiskursen s. o.
524 Er beruft sich in gewisser Hinsicht auf die Duineser Elegien, wo es eben auch über den „lyri-
schen Moment in seiner Totalität“ hinausgeht zu grundsätzlicheren Fragen (KW 4, S. 463).
Vgl. zu Brochs Beschäftigung mit den Elegien Rilkes um 1939 auch KW 4, S. 517.
525 So analysiert Broch: „selbst die Konversationsszenen des Buches gehen in den innern Mono-
log ein, sind nichts anders als monologisierende und ebenhiedurch so stark abstrahierende
Reproduktion des äußeren Geschehnisses und des realen Dialogs, daß dieser, zumeist fern
aller naturalistischen Darstellung, eine geradezu platonische Färbung erhält“ (KW 4, S. 492).
Hier geht es allerdings darum, das Gesamtkonzept als inneren Monolog zu skizzieren, was
die Leistung des Romans eher schmälert. Die Darstellung ist wohl weniger Rezeptionssteue-
rung als der Versuch, die Lektüre und die Diskussion eines schwer zugänglichen, oft als sti-
listisch eigenwillig verstandenen Buchs zu rechtfertigen bzw. anzukurbeln.
3.3 Der Tod des Vergil 321
4, S. 467)526 Die Lesart Vergils als „magisch ahnenden Künder des Christen-
tums“ stellt er von hier aus in den Kontext der „Prüfung tausendfacher Ver-
nichtung“ des Äneas bei seinem Abstieg in die Unterwelt. 527 Das bereits in
der Verzauberung präsente Thema des Wissens aus traumatischer Erfah-
rung heraus wird so neu verortet, wofür die Figur des Vergil ebenso ent-
scheidend wird, wie die historisch-soziale Situation, die mit dem bereits
angedeuteten zeitgenössischen Anliegen verknüpft wird. Dass und wie die
NS-Ideologie hinter die Entwicklung des Christentums zurückgeht und wo-
rauf dieses überhaupt antwortet,528 wird der Roman selbst plastisch ausar-
beiten. Im Kontext der „Nachwirkungen der schweren Erschütterung“, nach
„einer jahrzehntelangen blutigen Zerrissenheit“ Roms, die erst durch das
Christentum und nicht „durch solchen Totalkonservatismus“ zu beseitigen
waren, fällt der Ausdruck von „mancherlei Analogien zu den Geschehnissen
unserer Zeit“.529 Was auf Kommentarebene einer anderen Ordnung ange-
hört und so als „Analogie“ skizziert werden kann, wäre auf der Ebene des
Textes als die schon angesprochene Technik des Ineinanderfaltens zu fas-
sen. Zu Form und Funktion dieses Prozesses hält Broch fest: „Das lyrische
Gedicht macht die Illogizität der menschlichen Seele mit einem Male logisch,
u. z. im Ungesagten und Bildmäßigen, also in einer zweiten menschlichen
Logosphäre“. (KW 4, S. 458) Das Lyrische soll also einen erkennenden Zu-
526 Deutlich ist hier der Hintergrund Freuds, besonders für die Frage von Latenz und Fernwir-
kung. Zum Diskurs zur Präsenz des ‚Traumas‘ s. o.. Greifbar sind hier zumindest zwei
Broch’sche Themen: die Verbindung des Sozialen mit dem Individuellen und die Frage des
Durchgangs durch das ‚Trauma‘.
527 KW 4, S. 467, hier mit Referenz auf Vergils Georgica. Die Schreibweise ‚Äneas‘ in dieser
Studie (im Unterschied zu üblich ‚Aeneas‘ und ‚Aeneis‘) folgt der von Broch für die Figur im
Roman verwendeten.
528 Es ist hier nicht wichtig, dass wir nicht nur über Karlheinz Deschner eine völlig andere
Geschichte des Christentums kennen gelernt haben, ebenso wie inhumane Aspekte des der-
zeitigen Christentums für diesen Kontext nicht von Bedeutung sind. Entscheidend ist für
Brochs Roman, worauf das Christentum überhaupt antwortet. Für die Stoßrichtung gegen
die Todesfixierung des NS-Terrors denke man zunächst an Adornos (allerdings) allgemein
gefasste Rede von der Rückkehr in die Barbarei, was bei Broch ‚radikale Mitleidlosigkeit‘ im
Verfügen über den anderen bedeutet. Dass er bereits mit der Verzauberung in eine ähnliche
Richtung strebt, zeigt etwa Dehrmann 2014, S. 323–325, der die Sublimierung des ur-
sprünglich realen Opfers im Demeterkult nach Frazer – mit „der spiritualisierten Form eines
Mysteriums“ und der „Hoffnung auf Tod und Auferstehung“ (S. 324 f.) – mit Brochs Text
verknüpft. Vgl.: „Diese Gottesvorstellung [des Gleichnisses] wird […] zugunsten des frühe-
ren, realen Menschenopfers rückgängig gemacht“ (ebd., S. 328). Das Vergil-Projekt scheint
zur Erörterung dieser Fragestellungen allerdings ungleich besser geeignet zu sein, da es
Broch hier überzeugend gelingt, einen Punkt jenseits jeglichen Mitleids in einem komplexen,
aber dennoch sprechenden Kontext zu visibilisieren.
529 KW 4, S. 457. Der Zeitpunkt ist hier 1939.
322 C 3. Broch
gang zum Irrationalen ermöglichen und dieses objektivieren (im Sinne von
manifestieren). Eindringlich geschieht dies in der Bearbeitung der Schnitt-
stelle Innen und Außen, die zentral für den dritten Teil funktioniert, und
zwar im Wechsel von personaler Erzählsituation und dramatischem Mo-
dus.530
Neben dem Bildhaften ist das Musikalische an der Komposition hervorzu-
heben, das am deutlichsten wohl als ‚musikalische Architektonik‘ bezeichnet
wird. Verflechtungen von tragenden Motiven sowie deren Abwandlungen
bestimmen den Aufbau des Textes, was im Selbstkommentar als Methode
der „musikalischen Motiv-Variation“ bezeichnet wird.531 Für die Aufteilung
in vier Abschnitte spricht Broch von den vier Sätzen der Symphonie als Be-
zugspunkt (vgl. ebd.). Wichtig ist der Hinweis auf ein Musik und Literatur
betreffendes Thema, zu dem der Vergil durch diese musikalisch-lyrische
Struktur beitragen will, nämlich das der Simultanität, das im Text auf eine
Verbindung von Erinnerung und Utopie, von Vergangenem und Zukünfti-
gem hinausläuft als „Einheit des Gesamtlebens“. (Ebd.) Im Roman ist dieser
Versuch in der Tat omnipräsent, besonders sichtbar wird er an der Figur
des Lysanias, in der „Gedächtnis- und Prophezeiungs-Einheit“ (ebd.) so of-
fensichtlich zusammenfallen.532
Zur Frage der spezifisch deutschen Geschichte, die so oft in das Zentrum der
Auseinandersetzung mit dem Dr. Faustus gerückt wurde,533 diskutiert Lütze-
ler in seiner Autobiographie eine Briefstelle Brochs, die im Kontext seiner
Einschätzung von Heidegger bemerkenswert ist:
530 Der Ausdruck „dramatischer Modus“ ist hier im Sinne von Martínez/Scheffel 2012 verwen-
det und orientiert sich bekanntlich an Genette, nicht an Stanzel. Die Kombination mag be-
fremden, es geht aber darum, eine sinnvolle Beschreibungssprache zu entwickeln.
531 KW 4, S. 475. Intermedialität ist bei Broch ähnlich zentral wie etwa bei Rilke und Mann.
532 Zu den verschiedenen Rollen des Lysanias s. u.
533 Vgl. Grugger 2013c. Zur Steuerung durch Selbstkommentare s. o.
534 An Willa Muir, 18.3.1935, KW 13/1, S. 337. Vgl. zum Kontext auch Lützeler 1988, S. 209. Zum
Paranoiden, dem Broch durchgehend auf der Spur war, vgl. auch die Beschreibung Hitlers,
wo Hass als entscheidende Triebkraft im Gegensatz zur Liebesorientierung in Vergil gese-
3.3 Der Tod des Vergil 323
Gegliedert ist der Roman bekanntlich in vier Abschnitte, die von den vier
Elementen getragen werden, wobei folgende stichwortartige Annährung die
Struktur anzudeuten vermag:
hen wird: Die Rede ist vom „homosexuellen Onanisten mit nekrophilen Perversionen […],
doch über die neurotischen Züge sind die psychotischen gestülpt. Verfolgungs- und Grö-
ßenwahn übereinandergelagert, daneben die genialischen Einsichten eines Wahnsinnigen,
und dies alles muß zum Nichts-Willen, also zum echten Ver-Nichtungswillen werden, weil es
eben psychotisch entfesselt ist“ (An Trude Geiringer, 5.12.1944, KW 13/2 418 f).
535 Vgl. Lützeler 1988, S. 303. Siehe auch oben.
324 C 3. Broch
3. Erde/Erwartung: Es ist Tag. Die Gespräche mit den Freunden und mit
Augustus zeigen sich als reale Begegnungen und simultan als Traumge-
spräche. Zentral werden die unmittelbare Reflexion des Werkes, der
Aeneis, und die Auseinandersetzung mit Augustus. Die Werte des Kol-
lektivs, des Triumphs, des Namens und der Geschichte stehen dem
kommenden Wert des Einzelnen gegenüber. Macht/Terror vs. Mit-
leid/Würde. Auch im dialogisch-kommunikativen Teil entspricht die
Schnittstelle nach außen der Situation des Sterbenden und steht als sol-
che im Mittelpunkt.536
4. Luft/Heimkehr: Ätherräume. Das neue, beobachtende Innen verweist
über die Existenz hinaus.537
Im Text werden die vier Elemente reflektiert, der Geist dringt in das Seiende
ein und zerlegt es in seine Urelemente: „das ruhend Erleidende vom tätig
Bewegenden scheiden[d]“ Wasser/Erde und Feuer/Äther. (KW 4, S. 304) 538
Aber noch die vollständigste Analyse vermöge keine metaphysische Er-
kenntnis zu liefern, der vollständig analysierte Mensch, – „so daß nichts
übrigbleibt als das ausgesonderte, das göttlich zerknirschte, das unerfaßli-
che Ich“ – bleibt „Erkenntnis des Lebens, doch ohne Erkenntnis des Todes“.
(KW 4, S. 305) Der Sinnzusammenhang jedes Einzelnen ergebe sich erst aus
der Transzendenz und aus dem (immanenten) gesetzlichen Zusammenhang
alles Seienden, in das wiederum „die Menschenseele“ als individuelle inte-
griert sei. (KW 4, S. 304 f.) Diese Reflexionen des Sterbenden eröffnen ein
erstes grobes Textverständnis, das sich zur Orientierung vereinfachend wie
folgt darstellen lässt: Aus dem platonischen Grund und aus der Grundlage
des Gesetzes – das Judentum integrierend – löst sich in den Reflexionen des
sterbenden Vergil das Christentum mit seiner Wertstiftung für den indivi-
duellen Menschen als eine Möglichkeit der Setzung der Setzung ab, um,
sinnstiftend und vor dem Hintergrund der Liebe als Tat, der metaphysi-
schen Leere und der bloßen Gewalt sowie genuinen Mitleidlosigkeit gegen-
überzutreten.539 Diese Leere kann sich als eine einsame, abgegrenzte (mit-
wie metaphysischer Leere, Konzentration auf Nichts, Todeskult (Verzauberung, Vergil) oder
mythischer Wiederholung (Schlafwandler). Zugleich ist Ästhetisierung von Gewalt (zum Ge-
nuss) von hoher Bedeutung (vgl. KW 9/2, S. 95). Dass im Übrigen für Broch Kant, nicht nur
über die Neukantianer vermittelt, und Platon bedeutendere Orientierungspunkte waren als
Nietzsche, steht in Verbindung zu den in der voranschreitenden Moderne sich öffnenden
Bezügen, wo Literatur zunehmend als Gefäß der Kulturgeschichte fungiert (vgl. neben dem
Dr. Faustus besonders Der Meister und Margarita, Bulgakov 1993).
540 KW 4, S. 200. Der Komplex Trauma wird dabei über den ‚frommen Äneas‘ (s. u.), den Flam-
men Trojas entstiegen, an den der Liebe gebunden. Für das engere Thema plakativ und il-
lustrativ gefasst, sehen wir eine Ambivalenz von ästhetischem Mehrwert aus traumatischen
Erfahrungen vs. den Durchgang durch den Schrecken, verknüpft mit einem ‚Trauma des
Schreibens‘.
326 C 3. Broch
dings bereits kantisch aufgeworfen sind. Das Judentum ist u. a. über den
Gesetzesdiskurs (analog zu den Schlafwandlern) und den Diskurs zur Eid-
brüchigkeit präsent. Im durchaus zentralen ästhetischen Diskurs des Ro-
mans steht vor dem Hintergrund von Kants Autonomie und den Fragen der
Ästhetik der Moderne besonders die Kritik an der bloßen Ästhetisierung
von Schrecken und Tod im Mittelpunkt.541 Kritisiert wird die Indifferenz an
Schönheit orientierter Ästhetik über die Reflektorfigur in lyrischer Spra-
che542; zentraler Referenzpunkt ist hier der NS-Terror,543 in seinem Kern
verstanden als Todeskult (s. o.). Die Entgrenzung des (für sich scheiternden)
Täters in Mitleidlosigkeit gegenüber dem Opfer/den Sklaven wird präsen-
tiert im Rausch der Masse und mit Betäubung der metaphysischen Leere
konnotiert.544 Als Messpunkt dient die Einsamkeit vor dem Tod, womit ein
weiteres zentrales Thema der Schlafwandler fortgeführt wird.
Zur modernen Sprach- und Subjektkrise und der Frage des Unaussprechli-
chen kommt ein Diskurs des Gegensätzlichen, wo Begriffe und Deutungen
immer wieder an ihrem Gegenteil gerieben werden: der Sprechende ist der
Gesprochene, der Tod ist das Gebärende, das Oben ist das Unten, der Abstieg
ist auch der Aufstieg. Die so skizzierte mütterliche Einheit der Gegensätze
mit ihrer Drohung der Namenlosigkeit trifft dabei auf die väterliche Diffe-
renz der Sprache: cusanische Coincidentia Oppositorum vs. Dichotomisie-
rung.545
541 Lützeler 1988 verweist auch auf Kierkegaards, von Broch geteilte Überzeugung „daß eine
Erneuerung der Ethik nur von einer ‚religiösen‘ – im Falle Brochs ‚irdisch-absoluten‘ – Hu-
manität erhofft werden könnte“ (S. 297).
542 Indifferenz gegenüber dem Leiden anderer ist, wie öfter festgehalten, eine der zentralen
Problematiken der Schlafwandler. Ästhetisch wird sie dort von Bertrand, von Broch mitun-
ter als heimliche Zentralfigur beschrieben, ausgedrückt. Die Problematik Ethik vs. Ästhetik,
wie sie auch den romantheoretischen Schriften zugrunde liegt (vgl. v. a. KW 9/2, S. 89 –
157), bleibt aktiv und wird im Vergil neu umschrieben. Man erwäge in diesem Kontext auch
folgenden allgemeinen Gedanken: „Mit seinen Kommentaren will Broch gleichsam die Ver-
antwortung, an der es der Dichtung mangelt, nachholen“ (Stašková 2005, S. 129). Im Vergil
geht es um die poetische Auseinandersetzung mit dieser Verantwortung (s. u.).
543 Die Verweisstruktur ist analog zu Thomas Manns beiden Roman-Antworten auf den Terror
und stellt eine Antwort auf die Unmöglichkeit der Narrativierung dar, was Améry und Keil-
son im Erinnerungsdiskurs aufgreifen werden (s. D 1). Gleichzeitig wird so die Position der
Schlafwandler deutlicher, wo Autonomie in anderem Kontext problematisiert wurde. Die
Beziehung zu Adornos ähnlichem (späterem) Projekt, der aus seiner Position sozusagen den
Mehrwert aus dem Leid kritisiert (s. o.), ist evident.
544 Zur Entgrenzung des Täters vgl. Sofsky 2008, S. 36: „Der Exzeß ist ein Akt ungehemmter
Selbstexpansion.“
545 Zum cusanischen Topos des ‚Zusammenfalls der Gegensätze‘ vor dem Hintergrund mysti-
scher Einheit vgl. Meier-Oeser 1989, Riedenauer 2007 sowie Flasch 1998.
3.3 Der Tod des Vergil 327
Die Reflexionen und die Fantasien selbst sind, wie bereits geschildert, hoch-
gradig bildhaft-musikalisch und mit Verweisen durchzogen, sodass Seite für
Seite Assoziationsketten geöffnet werden. Sie beziehen sich an zahlreichen
Stellen auf den Verlust des Beobachtungspunktes, den die Reflektorfigur
erleidet und spiegelt. Ästhetisch gesehen, wird die Beobachtung selbst prob-
lematisch, vor allem, aber nicht nur, in ihrer Indifferenz und in der Befol-
gung ästhetischer Regeln. So wie sich das Verbrechen am Menschen, reprä-
sentiert durch das zynische Lachen, unterhalb des Sozialen und der Mög-
lichkeit der Kommunikation bewegt, findet sich die indifferente, d. h. ihren
eigenen Gesetzen folgende ästhetische Betrachtung des Grauens oberhalb
des Sozialen, sodass beides dessen Möglichkeiten verfehlt, bzw. sich jenseits
des Ethischen im Bruch dazu befindet, was die Reflektorfigur Vergil als Ker-
ker der Dichtkunst reflektiert.551 Der lyrisch-musikalische Roman ist von
dieser durch den Text erzeugten Beobachtung selbst mit betroffen,552 soll
die Problematik aber zugleich sichtbar machen und einen Durchgang zu
einer anderen Form des Schreibens eröffnen, die in jedem Fall jenseits der
ästhetisierten Repräsentation von Leid liegt. Deutlich formuliert und auf die
engere Thematik bezogen, reflektiert der Roman die grundlegende Proble-
matik (distanzierter) Darstellung traumatischer Erfahrungen im ästheti-
schen, auf Schönheit ausgerichteten Code und versucht, die mit dieser Span-
nung verknüpfte Unstimmigkeit sichtbar zu machen.
Die für Broch so bedeutende Thematik der Einsamkeit vor dem Tode als
ultimativem Bezugspunkt, welche bereits in den Schlafwandlern durchde-
kliniert wird, endet im vierten Teil in lyrischer Auflösung, die sich der be-
grifflichen Fassbarkeit entzieht. Davor ist der Durchgang durch die Todeser-
fahrung nötig, womit die Thematik von Kleists Prinz von Homburg variiert
wird.553 In Kleists Drama wird dem Prinzen vom Kurfürst ein dreifaches
Nichts entgegengehalten, das auf die Auseinandersetzung mit dem Tode
bezogen werden kann, die sich in Homburgs Konfrontation mit dem Grab
manifestiert. Aus dem Schrecken der Todesangst tritt er heraus, indem er
sie überwindet. Wie ihn dies allerdings zurücklässt, bleibt in der Schluss-
szene offen, auf der unmittelbaren Ebene tritt er auch aus der Einsamkeit
heraus, um dreifach zu triumphieren, aber hier ist offensichtlich eine zweite
Schicht präsent. Kleists Helden enden zwar gerne mit theatralischer Erhö-
hung, aber im Unbestimmten instabil bleibender Bedeutung, was ein mögli-
ches Gebrochen-Sein stets einschließt.554 Vergleichspunkt für die Broch’sche
Auflösung des vierten Teils wäre der Unsterblichkeitsmonolog des Hom-
burg, zu dem gleichsam eine ausdifferenzierte epische Fassung geboten
wird.555
Wie schon in der Ödipus-Bearbeitung der Schlafwandler ist auch im Todes-
Diskurs des Vergil die Thematik des Selbstbezuges (Subjektthematik) prä-
552 Selbstreferenz, oben für Rilkes Weg von den Aufzeichnungen zu den Orpheus-Sonetten und
für Kafkas Schloß als tragender Teil der Poetik geschildert, ist auch hier von ähnlicher Be-
deutung.
553 S. auch o. Es wird nicht insinuiert, dass Broch bewusst auf den Prinzen von Homburg zu-
rückgreift, sondern, dass er die Thematik unter den Bedingungen der Moderne fortführt.
554 S. o. Vgl. für den Homburg Grugger 2010, S. 206. Brochs Triumph ist wohl weniger ambiva-
lent, aber deshalb nicht weniger komplex.
555 Vgl. besonders „Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist“ (Vs. 1834).
3.3 Der Tod des Vergil 329
gend: „daß er seine eigene Gestalt in der des Todes suche, um hiedurch der
Seele Freiheit zu gewinnen“ (KW 4, S. 81 f.).
[…] nur wer des Todes Auge sucht, dem bricht nicht das eigene,
wenn er ins Nichts schauen soll, nur wer zum Tode hinlauscht,
der braucht nicht zu flüchten, der darf bleiben, denn seine Er-
innerung wird zur Gleichzeitigkeitstiefe, und wer in die Erin-
nerung taucht, dem erklingt der Harfenton jenes Augenblickes,
in dem das Irdische sich zum unbekannt Unendlichen öffnen
soll (KW 4, S. 78)556
Eine Analogie zu Kleists Drama ist an dieser Stelle deutlich. Wenn dort der
Kurfürst Homburg ins Nichts verbannt, so ist der Protagonist auf die Ein-
samkeit der Todeserfahrung verwiesen. Er überwindet die fundamentale
Erschütterung, um von der bloß materiellen Todesbetrachtung zum bereits
von einem transzendenten Punkt aus formulierten Unsterblichkeitsmonolog
zu gelangen, so wie Vergil seine Reise mit der Heimkehr beschließen
kann.557 Zentral sind in beiden Texten Fragen zur Möglichkeit eines Durch-
gangs durch traumatische Erfahrungen.
Der Tod des Vergil kreist um die Todeserfahrung und er beginnt bereits mit
dem drohenden Ende der Figur, das bis zum Schluss des Textes nicht er-
reicht wird – mit dem Sterben Vergils: „das Zeichen des Todes stand auf
seine Stirne geschrieben“. (KW 4, S. 11) Dann folgt die Positionierung in der
Ambivalenz des Ruhelosen: „den Tod fliehend, den Tod suchend, das Werk
suchend, das Werk fliehend“ (KW 4, S. 13), womit eine Verknüpfung ge-
nannt ist, die den Text trägt: der bevorstehende Tod und die zu hinterlas-
sende Aeneis. Als dritter Schritt der Eröffnung geht die eigene Todeserfah-
rung in die allgemeine über, in der Beschreibung der Massenszenen, welche
ähnlich zum Dr. Faustus indirekt über den Terror spricht, und eine frühe
556 Zumindest festgehalten sei die auch sprachliche Nähe zu Kleists angesichts des Todes mo-
derndem Auge des Protagonisten im Prinz von Homburg (vgl. Vs. 1295) und seinem Verwie-
sen-Sein auf das ‚Nichts‘ (s. o.).
557 Dies ist von Broch aus gelesen. Bei Kleist ist die Einsamkeit vor dem Tod dargestellt als die
isolierte Begegnung mit dem Grab. Die materielle Todesbetrachtung zeigt sich im Bild des
modernden Auges. Die Problematik des Schlussbildes ergibt sich eben auch daraus, dass der
Prinz bereits einen jenseitigen Punkt eingenommen hat.
330 C 3. Broch
zentrale Deutung öffnet, wobei der Blick des Dichters auf die Bereitschaft zu
Mord reflektiert wird: 558
Hier war nichts als Tod, nichts als Tod und Abertod! Mit ent-
setzensvoll geöffneten Augen hatte er sich halb aufgerichtet,
jetzt fiel er auf das Lager zurück, übermannt von Grauen, von
Mitleid, von Jammer, von Verantwortungswillen, von Hilflosig-
keit, von Schwäche; nicht Haß war es, was er gegen die Masse
empfand, nicht einmal Verachtung, nicht einmal Abneigung
[…], aber es war etwas Neues in Erscheinung getreten […] die
Verkehrung des Menschen ins Gegenmenschliche, […] so daß
nichts anderes mehr als das gefährlich abgelöste Eigenleben
eines trüben schieren Außen vorhanden bleibt, unheilschwan-
ger, todesschwanger, oh schwanger eines geheimnisvoll hölli-
schen Endes. (KW 4, S. 23)559
Wie in der Verzauberung ist im Tod des Vergil stets eine Antwort auf den
Todeskult oder die Todesfixierung der NS-Terror-Ideologie zu sehen, was
im Eröffnungsabschnitt am nächsten zu einer unmittelbaren Analogie er-
folgt. Thematisiert wird so das „Massentier“, 560 „sich selbst anbetend in der
Person des Einen“ (KW 4, S. 21), das Phänomen „uneingeschränkter Macht“
(KW 4, S. 26) und die Erinnerungslosigkeit (vgl. KW 4, S. 27). Der Sterbepro-
zess Vergils verbindet sich mit dem Sterben der Kultur im Hintergrund:
„nichts als eine verwüstete, vergewaltigte Gegenwart“. (Ebd.) Geschildert
wird die Entgrenzung des Täters, der nichts entgegengesetzt ist: „gegeißelt
der Besiegte, jubelbrüllend der Sieger, steinern der Raum, in dem es ge-
schieht“. (KW 4, S. 28)561
558 Vgl. wie die Todeserfahrung Homburgs zum Symbol wird, Grugger 2010, S. 202–207.
559 Die Ähnlichkeit zum Diskurs übers das Höllische im Dr. Faustus ist offensichtlich (s. u.). In
der für ihn typischen Art verbindet Broch in der Folge dieser Stelle die Körperpositionen
mit unterschiedlichen Ich-Identitäten und spricht über die Todesvergessenheit in aufgerich-
teter Position (vgl. KW 4, S. 25).
560 Der hier skizzierten ‚Herdengemeinschaft‘ steht die fundamentale Einsamkeit gegenüber,
die bereits in den Schlafwandlern zentral war, aber nun in die neue Opposition zum Mas-
senwahn als Antwort auf diese Einsamkeit tritt, die sich wiederum in letzter Konsequenz
auf den Tod bezieht und auf die Angst des Menschen vor ihr und vor dem Tode.
561 Vgl. die Nähe zu den ‚Gestapo-Kellern‘ in Faustus sowie das dort gemalte Bild der Hölle
(Grugger 2013c). Zur Entgrenzung vgl. Sofsky 2008 (s. o.).
3.3 Der Tod des Vergil 331
562 Vgl. die zeitnahe Arbeit an der Massenwahntheorie, die „mit größeren Unterbrechungen[,]
etwa ein Jahrzehnt lang, von 1939 bis 1948“ stattfand (Lützeler, Editorische Notiz, in KW 12,
S. 579). Robert G. Weigel versucht in seiner Analyse der Schlafwandler, des Vergil, der Ver-
zauberung [bei Weigel: Versucher] und der Schuldlosen, über die Massenwahntheorie einen
roten Faden für das Werk Brochs zu konstruieren (vgl. Weigel 1994, S. 12).
563 Vgl. auch den „Abgrund des Nichts“ (KW 4, S. 44) als Conditio humana sowie die Rede vom
Missbrauch des Lebens zur Selbstübersteigerung (KW 4, S. 42).
564 Unmittelbar nach der Ankunft wird diese Gleichgültigkeit im zentralen Bild vom misshan-
delten Sklaven und von dessen selbstverständlicher Verachtung ausgedrückt. Die Nähe zu
‚Olgas Erzählung‘ in Kafkas Schloß ergibt sich aus der Selbstverständlichkeit der Unrechts-
ordnung.
565 Lysanias ist hier noch als namenloser Knabe präsent; zu den verschiedenen Bedeutungs-
schichten s. o. Er bildet gerade hier eine Schnittstelle von Innen und Außen und steht für die
Auflösung der Differenz. Als komplex verdichtete Figur, real präsentiert, aber auch die inne-
re Welt Vergils symbolisierend, ist er absolut zentral für die Konstruktion der ‚Zwischen-
räume‘ des Romans.
332 C 3. Broch
(Ebd.) In nuce findet sich hier das Bild der Konfrontation von Ohnmacht,
Liebe, in dem sehr weiten Sinn des Vergil verstanden, und nazistischem
Todeskult.
Am Ende des ersten Abschnitts steht die zweite Ankunft nach der in Brundi-
sium mit seiner tobenden Masse,566 und zwar die eigentliche Ankunft im
Wohntrakt und die daran anknüpfende Ausbreitung einer Poetik der Stille:
der „Gesang des Schweigens“ oder auch „des Schweigens Glockengeläute“
lösen „die stampfende Herde“ und das ‚Brodeln des Kreatürlichen‘ ab. (KW
4, S. 61) Sein Ankommen endet mit dem Abklingen des Hustens „am Rande
des Abgrunds“ zwischen Leben und Tod, begleitet von den Worten: „es wur-
de wieder zu Atem, zu Ruhen, zu Schweigen“ (KW 4, S. 70), und es erfolgt
der entscheidende Eintritt in die Nacht.
3.3.3 Der Abstieg, der Dichter am Feuer, ästhetische Distanz und Orpheus:
Synopse des zweiten Abschnitts
Der Abstieg beginnt mit dem Ich-Zerfall – noch unmittelbar mit den „Er-
scheinungen des Liegens“ verknüpft (KW 4, S. 71) –, dem Verlust der Ein-
heit, mit der Zergliederung des Körpers und von dessen Wirklichkeit „in
ihrer ganzen Fremdheit, in ihrer zerfallenen Brüchigkeit“. 567 Der Rückzug
ins Ich und die Realität der hereinbrechenden Nacht eröffnen individuelle
Sprach- und Todesreflexionen.568 Den unmittelbaren Referenzpunkt des
Dichtens bildet nun der Tod und Gegenstand der Betrachtung wird die Posi-
tion des Verzichts und der Entsagung durch das Schreiben jenseits von Ge-
meinschaft und Liebe.569 Der „Vergewaltigungswille der rasenden Herde“
(KW 4, S. 86), dem das eigene Trachten gegenübergestellt wird, bleibt Be-
566 Vergil kommt vom symbolisch für die Philosophie stehenden Griechenland als Ort der
Sehnsucht.
567 KW 4, S. 73. „Fremdheit“ und „Brüchigkeit“ sind beide als Schlüsselbegriffe zu lesen.
568 Diese Reflexionen erfolgen ganz im Sinne der Sprachkrise der Moderne und weisen u. a.
voraus auf die Poetik eines Hans Keilson (s. u.). Es geht um das Unsagbare, „wo die Sprache
nicht mehr ausreicht [und] den atembeklommenen, atemraubenden Sekundenabgrund zwi-
schen den Worten aufreißt“ (KW 4, S. 80). Vgl. auch die „brüllende[.] Stummheit“ der Masse
(KW 4, S. 84), „Wände[.] der Unhörbarkeit“ und die „Tiefe des Sprachabgrundes“ (KW 4, S.
85). Umrahmt wird dies gleich einleitend durch die Todesreflexion: „er tat das, was er ein
ganzes Leben lang getan hatte, aber nun wußte er die Antwort: er lauschte dem Sterben“
(KW 4, S. 74).
569 An dieser Stelle sind Themen zentral, die später durch Diskurs um eine ‚Trauma‘-Ästhetik
und deren Aporien erweitert bzw. abgelöst werden. Im Hintergrund steht der allgemeiner
gefasste Komplex ‚Trauma des Schreibens‘ (Moderne) und das damit verknüpfte Tasso-
Thema, nicht endigen zu können.
3.3 Der Tod des Vergil 333
scher Sprache ausgeführt wird, ist neben dem Entsetzlichen der unbeteiligt-
zynischen Tat, wofür das Lachen steht, das Entsetzliche der Schönheit, des
ästhetischen Tuns, was dem Dichter am Fenster als Erkenntnis aus der Be-
obachtung zufließt, wie das Lied bruchstückhaft in die Szene der Gewalt
eindringt:573 Nichts ist damit getan, außer dass Ferne und Fremdes entsteht,
was ästhetische Distanz ausdrückt. So wie das bruchstückhaft hereinbre-
chende Singen der unmittelbaren Tat gegenüber gleichgültig bleibt, ver-
schiebt das Ringen um Schönheit das nahe Ereignis ins Unerforschliche, das
noch „die eigene Hand fremd macht“ und hebt Zeit und Differenz auf. (KW 4,
S. 111) Verdeutlicht und in die ästhetische Tradition gesetzt wird die Prob-
lematik durch retardierende Naturbeobachtungen, die auf die analog zur
Kunst ebenso dem Leiden gegenüber gleichgültig bleibende Natur abhe-
ben.574
Die Rede vom Unaussprechlichen wird problematisch in einem Kontext, wo
die Indifferenz der (autonom gewordenen) Ästhetik in den Blick gerät, was
schon Thema in den Schlafwandlern war.575 Schönheit findet sich nicht nur
jenseits der Erkenntnis, sondern, „verzichtend auf die Unterscheidung von
Gut und Böse“ (KW 4, S. 112), oberhalb (aber in jedem Fall jenseits) unmit-
telbar menschlichen Geschehens, wo „das Grausame und das Gütige, das
Leben und der Tod, das Unverständliche und das Verständliche zu einer
einzigen unterscheidungslosen Gemeinsamkeit werden mögen, umschlos-
sen von dem einheitsstiftenden Band der Schönheit“. (Ebd.) 576
Das ästhetische Grundbedürfnis, „im Spiel an sich [Kant] der Einsamkeits-
angst [in ihrer Beziehung zu dem Tode] zu entgehen“ (KW 4, S. 116), wird
als Fluchtspiel verstanden. In einer Mischung aus antikem Weiterleben im
573 Auch diese Stelle lässt sich selbstreferentiell auf das ‚Lied‘ Der Tod des Vergil beziehen.
Deutlich ist wieder die Nähe zu Manns Versuch über das Unsagbare im Faustus (s. o. und vgl.
auch D 1). Problematisiert wird die ästhetisch-distanzierte Darstellung traumatischer Er-
eignisse (s. u.).
574 Autonomie der Ästhetik bezieht sich schon in den Schlafwandlern auf die Autonomiebewe-
gung der Moderne, bei Broch aber stets auch zurück auf Kants Autonomisierung der Ästhe-
tik, die im Kern Schönheit aus der Natur heraus reflektiert. Es war Schiller, der in seinem
Denken immer wieder um die Gleichgültigkeit der Natur kreist (s. o.).
575 Im narrativen Strang v. a. über den Ästheten Bertrand, in den reflexiven Teilen im Kontext
der Problematik der Partialsysteme und ihrer radikalen Autonomisierung (s. o.).
576 Dass die Problematik anhaltend bedeutsam ist, zeigen etwa die Reden zum Nobelpreis für
Imre Kertész, wo der Schönheitsbegriff auf KZ-Erfahrungen angewandt wird (vgl. Kertész
2003, S. 14 bzw. s. o.). Vgl. auch die Umstellung auf ‚Testimony‘ für diesen Bereich, die aber
dem Diskurs zum formal Gelungenen kaum entkommt.
3.3 Der Tod des Vergil 335
Mund der Nachfahren und modernem ästhetischem Diskurs 577 spricht die
Reflektorfigur Vergil578 von der Verzweiflung, „aus vergänglichem Sein das
Unvergängliche zu schaffen“ (KW 4, S. 116), um zu dem hier interessieren-
den Hauptpunkt vorzustoßen, der selbstverständlich noch den vorliegenden
Text auf einer Metaebene mitbedroht: zur „Schönheit als Grausamkeit“. (KW
4, S. 117)579 Das menschliche Leid wird der so verstandenen Ästhetik zum
bloßen Material, „weil es ihr nicht mehr bedeutet als vergängliches Sein,
nicht mehr als Wort, Gestein, Getön oder Farbe“. (KW 4, S. 117)580 Unschwer
zu erkennen, liegt der Bezug zur vorliegenden Studie, um das noch einmal
zu betonen, in der Frage der Darstellung von Traumata und ihrer Motivie-
rung, auch im Kontext der Instrumentalisierung zu ästhetischen Zwecken. 581
Als Beobachter, Festhaltender und Aufzeichnender der Szene am Fenster
erkennt sich der Dichter Vergil unmittelbar in der Situation der ‚ethisch
fehlenden‘ Beobachteten, da er als feinsinniger ästhetischer Beobachter und
die zynisch vorgehenden Täter sich nur von zwei verschiedenen Seiten in
eine Position jenseits des Ethischen begeben haben. 582
Was bleibt Vergil? In die Reflexionen drängt die Bilanz des eigenen Lebens,
in die Gedankenkette schiebt sich der Selbstvorwurf, den Beruf des Arztes
aufgegeben zu haben, „wider besseres Wissen hoffend es werde die Macht
der Schönheit, es werde des Liedes Zauberkraft den Abgrund der Sprachs-
tummheit zu guter Letzt überbrücken und ihn, den Dichter, zum Erkennt-
nisbringer in der wiederhergestellten Menschengemeinschaft erhöhen“, was
577 Stichworte dafür sind die Autonomieposition der Kunst oder der in Theorie der Avantgarde
(Bürger 1988) zentrierte Begriff der Kunst als Lebenspraxis.
578 Neben Kafkas Proceß und Schloß ist Der Tod des Vergil ein drittes zentrales Beispiel für die
Konzeption des Begriffs ‚Reflektorfigur‘ in Stanzel 2008 und wohl auch das sprechendste.
Aber selbst hier sind dialogische Spuren und ‚auktoriale‘ Teile in ein komplexes Wechsel-
spiel miteingebunden.
579 Wie schon öfter angedeutet, versucht Broch, diese Problematik reflexiv zu unterlaufen –
auch im Sinne eines Aufzeigens, indem in eben dem betreffenden Medium mit zeitgemäßen
Mitteln der (Meta-)Diskurs geführt wird.
580 In Brochs eigener Romantheorie wäre die Rede von ‚Realitätspartikeln‘ oder ‚Realitätsvoka-
beln‘, die in die ‚Syntax‘ des Romans gesetzt werden (vgl. etwa KW 9/2, S. 115).
581 In diesem Sinn ereignet sich Instrumentalisierung nicht nur zu Unterhaltungszwecken in
Mainstream-Filmen (s. A 1), sondern auch im Gebiet der Höhenkammliteratur, im Bemühen
um Ästhetik, im freien Spiel in der Tradition Kants, auf das explizit referiert wird, in der
Trennung von Ethik, Erkenntnistheorie und Ästhetik.
582 Dies wird in der Folge des Textes im komplexen Zusammenspiel von Lachen und Schönheit
diskutiert. Noch die geschilderte Sehnsucht nach Zersprengung mit den Anspielungen auf
den Freud’schen Todestrieb strahlt auf dieses Feld aus.
336 C 3. Broch
Orpheus
Die Nennung von Orpheus ist wichtig, gerade im Broch’schen Kontext der
Dichtung vor dem entscheidenden Hintergrund des Todes. Der Text ver-
583 KW 4, S. 128. Diese gesuchte ‚Wirkmacht‘ der Dichtung schafft einen Bezug zu Rilkes Zugriff
auf den Orpheusmythos (s. o.).
584 Der Tod des Vergil ist zunächst kein Ausdruck einer schriftstellerischen Krise, sondern ein
Versuch der Artikulation einer genuin ästhetischen Problematik und ihrer Lösung. Dass die
formalen Mittel selbst wieder in den inhaltlichen Prozess des Ästhetikdiskurses eintreten,
ist nahe liegend. Vgl. auch die Briefstellen zur ‚Selbstzerknirschung‘ im Kontext einer gefühl-
ten Blasphemie in Lützeler 1988, S. 312.
585 Es scheint nicht zielführend, die von Broch selbst dokumentierten Probleme in diesem
Kontext zu diskutieren oder gar die komplexe ästhetische Problematik darin aufgehen zu
lassen. Die mögliche Spiegelung des eigenen Schreibprozesses und der potentiell traumati-
sche Hintergrund des Schreibens gegenüber dem realen Terror sind allerdings deutlich.
586 Die Gedanken an die Lösung: „Selbstauslöschung und Tod“ (KW 4, S. 136), s. auch unten,
kommen nicht von ungefähr. Aber die ‚Todesbereitschaft‘ wird sich nicht als Lösung erwei-
sen. Man vergleiche für diesen Kontext auch die Gespräche mit Augustus.
3.3 Der Tod des Vergil 337
sucht dessen Dilemma seiner eigenen Logik gemäß zu entwickeln. Als Dich-
ter dem Dionysischen verhaftet, der „rauschhaften Verzauberung einer Ein-
heit, die so lange währt wie der Gesang“ (KA 4, S. 130), sei er von der Spra-
che des ‚Heilsbringer‘ abgetrennt gewesen, so der reflektierende Vergil. 587
Auch er habe versucht, die Sprache der Schönheit zu überwinden und zu
den „schlichten Worten“ vorzudringen, jenseits des „Kerker[s] der Kunst“
(ebd.),588 habe also versucht, im Kontext des Textes gedacht, sich auf dem
aus Wirklichkeit und Liebe konstituierten ethischen Feld (s. u.) und nicht
auf dem der Schönheitsästhetik zu bewegen. Was bereits bei der scheitern-
den Symbolbildung Gödickes in den Schlafwandlern und der Erzählung Mut-
ter Gissons in der Verzauberung diskutiert wurde, nämlich durch die trau-
matische Erfahrung des Todes hindurchzugehen, wird über Orpheus mit der
hier virulent werdenden Frage der Situation des Schreibenden verknüpft.589
Mit Orpheus als Gründungsmythos der Kunst wird also vor kantischem Hin-
tergrund die Problematik der Indifferenz des Ästhetischen in den Mittel-
punkt gestellt und mit der Ohnmacht des Dichters verknüpft, wobei unmit-
telbar vor dieser Stelle Äneas, der Held homerischen Ursprungs, bei dem das
Grausame und das Milde sich aus (bloßer) ästhetischer Gesetzmäßigkeit
587 Vergil zeigt sich an Kant und Massenpsychologie geschult, argumentiert aber aus den histo-
rischen Zusammenhängen heraus. Vgl. die Analogie zu Ecos Versuchen im Rosenroman und
der Mehrfachschichtung dort.
588 Als ‚schlichte Worte‘ gelten hier diejenigen, „die kraft ihrer Todesnähe und Todeserkenntnis
die Fähigkeit gewonnen haben, an die Versperrtheit des Nebenmenschen zu pochen, seine
Angst und seine Grausamkeit zu beruhigen.“ Vorzudringen sei jenseits des Ästhetischen (im
Sinne einer Christusfiguration) „zu der schlichten Sprache unmittelbarer Güte, zur Sprache
der unmittelbaren menschlichen Tugend, zur Sprache der Erweckung“ (KW 4, S. 130). Broch
spricht hier vom „heilsbringende[n] Führer“ (ebd.) im Sinne eines offensichtlichen Kontra-
punkts zum katastrophalen Führer- und Todeskult des NS-Terrors.
589 S. oben zu Rilke, für den im Kontext der Sonette die moderne Anknüpfung an Orpheus
intensiv diskutiert wird sowie die Übertragung in den Erinnerungsdiskurs bei Keilson (D 2).
Vgl. auch weitere Beispiele in Storch 2010, wie etwa den Rückgriff Ingeborg Bachmanns auf
den Orpheus-Mythos.
338 C 3. Broch
590 Die Differenz zwischen ethischem und ästhetischem Gesetz sei bereits bei Homer bzw. in
der Tradition präsent. Der Heilsbringer – im Hintergrund steht die sich mit Vergil ankündi-
gende christliche Religion – habe eine andere Sprache zu sprechen. Diese Reflexionen auf
Figurenebene eröffnen gerade in der Mischung des antiken Denkens mit kantischer Ästhetik
ein weites Feld. Milde, hier als zentraler Begriff, lässt sich lesen als Teil eines Komplexes, zu
dem Begriffe wie Liebe, Humanität, Würde oder Menschenrechte zählen.
591 Zu ‚Hadesfahrt und Kunst‘ bei Nietzsche sowie dessen Rezeption in der Moderne vgl. Görner
2014, der auch Kafkas Proceß mit in die Überlegungen einbezieht. Zum Orpheusmythos in
Der Tod des Vergil vgl. auch die Deutung einer Absage an ein romantisch-kunstreligiöses
Konzept über die Einschränkung des Mythos durch Vergil in Heizmann 2016, S. 185, sowie
Heizmann 1997.
592 Man sieht die Nähe zur Verzauberung, auch noch zu den Schlafwandlern, besonders zu Esch
und zu Bertrands Hinweis aus der Christusfiguration heraus, das Morden zu beenden. Mit
der Verzauberung gemeinsam erfolgt der Hinweis, ‚anders‘ auf das ‚Trauma‘ zu reagieren als
etwa durch ‚Opferwut‘ und ‚Totalregression‘, und zwar, wie hier insinuiert, durch Selbster-
kenntnis, d. h den Abstieg zum Dunkel des Ich.
593 Vgl. zur antiken Aufforderung der Selbsterkenntnis Gnothi seauton. Zu Ursprung und Deu-
tungsgeschichte des delphischen Spruchs (Tränkle 1985).
3.3 Der Tod des Vergil 339
auf Massenphänomene bezogen wird. 594 In diesen Komplex wird der ästhe-
tische Diskurs eingeschrieben, der deutlich zwischen antikem Vergil und
aktueller Situierung oszilliert, mit dem Tod als die zeitliche Differenz trans-
gredierenden Messpunkt und fundamentaler Einsamkeit des Künstlers, die
ihn noch tiefer in die Kunst, in die „Sprachlosigkeit der Schönheit“ (KW 4, S.
134) treibe, als Ausgangspunkt.595 Man beachte hier die Umkehrung des
Topos der Kunst als Medium des Sagbaren, deren spezifisches ästhetisches
System die Auseinandersetzung mit Trauma immer schon blockiere.
Die Stoßrichtung der Reflexionen Vergils ist in diesem Kontext ebenso um-
fassend wie selbstreferentiell und richtet sich zunächst im antiken Kontext
gegen die eigene Dichtung als „unkeusche Schönheitserzeugung“ jenseits
der „Wirklichkeitsschöpfung“. (KW 4, S. 135) Die Verachtung wird zu Selbst-
Verachtung, der Wunsch des Dichters, gefangen im Kerker der Kunst, richtet
sich nach „Selbstauslöschung und Tod“ (KW 4, S. 136), der Wunsch nach
Vernichtung des Werkes ist hier bereits sehr nahe, der „Lahme als Lehrer
der Torkelnden“ habe sozusagen ausgedient, in antik-modernen Denkkrei-
sen wird die Ohnmacht des Schreibenden und des Schreibens durchdekli-
niert. Die Beobachtungssituation des (vermeintlichen) Mordes vom Fenster
aus wird erinnert und als Zeichen verstanden. (KW 4, S. 137)
Der Versuch einer Absetzbewegung des Romans von der ‚Schönheit‘ produ-
zierenden Codierung traumatischer Erfahrungen stellt an dieser Stelle dem
ästhetischen Todeskult ein verklärend-ästhetizistisches Spiel mit dem Tod
zur Seite, das sprachlich immer wieder von der zeitgenössischen Gedan-
kenwelt und Sprachbewegung Vergils aus präsentiert wird und auch als
solches genannt wird:
594 Es war schon bei den Schlafwandlern die Rede davon, dass das Individuelle bei Broch das
Soziale nicht mehr ausdrücken und vor allem nicht symbolisieren kann, worauf mit komple-
xen ‚Symbolketten‘ und spezifischen Verweisstrukturen geantwortet wird. Brochs Literatur
versucht wiederholt den Brückenschlag vom Einzelnen zur sozialen Struktur (weniger zur
Gruppe) unter den Bedingungen der Moderne.
595 Vgl. dazu: „[D]ies, die Aufdeckung des Göttlichen durch das selbsterkennende Wissen um
die eigene Seele, das ist die menschliche Aufgabe der Kunst, ihre Menschheitsaufgabe, ihre
Erkenntnisaufgabe und ebendarum ihre Daseinsberechtigung, erwiesen an der ihr auferleg-
ten dunklen Todesnähe, weil sie bloß in solcher Nähe zur echten Kunst zu werden vermag,
weil sie bloß darum die zum Sinnbild entfaltete Menschenseele ist; wahrlich, dies wußte er“
(KW 4, S. 133).
340 C 3. Broch
Diese Kritik ist zwar deutlich nach außen gerichtet, da dem so beschriebe-
nen, traumatische Erfahrungen verklärenden Schreiben jede Bemühung und
jedes Problembewusstsein fehlt, thematisch bleibt aber auch die Problema-
tik der Indifferenz im Allgemeinen, was die Suche nach dem eigenen Ausweg
inkludiert. Wichtig ist beides, denn es geht damit nicht nur um Ästhetik an
sich, sondern auch um konkrete Poetiken. Die Frage, was angesichts des
Schreckens wie literarisch sagbar und nicht sagbar ist, wie die menschlich-
ethische Situation des Schreibenden zu verstehen ist und wie diesen selbst
die Form der Literatur und die künstlerische Tätigkeit gestaltet, wird in
diesem Text also von allen Seiten umkreist.
Im Zuge des sich innerfiktional intensivierenden Gedächtnisdiskurses 597
bietet der Text eine themenrelevante Variante der Orpheusfigur. Dessen
Ausgangspunkt sei entgegen dem verfehlten eigenen, d. h. dem ästhetischen,
die Liebe gewesen, deren „Erinnerungsstärke“ ihm den Weg in den Abgrund
eröffnet hat, um von dort allerdings „verloren in der Unterweltlichkeit des
Gedächtnisses“ umkehren zu müssen,598 ohne tiefer gelangen zu können.
Während Orpheus sich also in der Erinnerung verliert – im Trauma fixiert
bleibt –, kreisen die folgenden Metaphern um einen Ort dahinter, den Punkt
„größer als jede Furcht und jedes Entsetzen“ (KW 4, S. 151), einen Platz der
völligen Leere an Sinn, des Umschlags „der Leerheit in nacktes Grauen“. (KW
4, S. 155) Die Rede ist von „der toten Mitte“ (KW 4, S. 153), vom Scheintod
oder vom aufgelösten Ich: „[D]as Ich war seiner selbst verlustig geworden,
war beraubt seines Menschentums, von dem nichts geblieben war“. (Ebd.)
Dominant sind Beschreibungen der Leere und des Nichts sowie die Vorstel-
lung eines Unraums. Spiegellosigkeit und Schweigen referieren auf die Ein-
samkeit jenseits von Bedeutung und Sprache. Das „eisige[.] Grauen ohne
Sinnbildhaftigkeit“, das „Nichts der Mitte“ (KW 4, S. 160) oder das „ersti-
ckende Grauen“ (KW 4, S. 161) münden in Unterscheidungslosigkeit, die
dem „Drang nach gesondertem Sein“ (ebd.) gegenübersteht. Man könnte von
596 Es geht nicht nur um den Versuch, das eigene Schreiben davon abzuheben, was deutlich ist,
sondern darum, Formen zu finden, die der bloßen Ästhetisierung des Schreckens nicht un-
terliegen.
597 Vgl. als Ausgangspunkt die unbewegte Beobachtung von Menschenleid um des „Gedächtnis-
ses willen“ (KW 4, S. 145).
598 KW 4, S. 150, Herv. im Orig.
3.3 Der Tod des Vergil 341
Opferungswütige Zeit
Das christliche Narrativ wird in diesem Roman als eine mögliche Antwort
auf das so gesehene allgemein Traumatische menschlicher Existenz beo-
bachtet, mit der metaphysischen Leere gegenüber dem Tod und der genui-
nen Einsamkeit ihm gegenüber. Gesucht wird nach einem Grund für die
ethische Verpflichtung,602 verwiesen ist Vergil dafür auf das Nichts, zu dem
der Abstieg erfolgt, was eine bloße Schöpfung aus einer gedanklichen Leis-
tung heraus, die der Rationalität alleine verpflichtet bliebe, ausschließt.
Durchgang durch Schrecken und Todeserfahrung ist hier aber nicht nur ins
Allgemeine ausgedehnt, da es immer wieder um individuelle Erfahrungen
des Menschen und Dichters Vergil geht. Man könnte Brochs Literatur 603
insgesamt als stets ins Allgemein-Symbolische kippend auffassen604 – mit
Figuren, die von Abbreviaturen bis zu Symbolen für die Zeit reichen, 605 um
übergeordnete Gedanken auszudrücken –, wird sie umgekehrt in ihrer
Komplexität aber besser als Suchbewegung dazu treffen, dass die traditio-
599 Der Text schließt hier noch einmal an Kleists Prinzen an, wenn es heißt: „Oh, zurück! zurück
ins Dunkle, in den Traum, in den Schlaf, in den Tod! oh zurück, noch ein einziges Mal zurück,
oh fliehen, noch einmal zurückfliehen ins Seiende“ (KW 4, S. 154).
600 Vgl. ab KW 4, S. 150, immer wieder die Rede vom gebärenden Nichts.
601 Vgl. für den Komplex der Setzungen in der Moderne bereits die Suchbewegung in Rilkes
Aufzeichnungen sowie die transitorischen Setzungen in seiner Lyrik (s. o.). Zum ‚Nullpunkt‘
der Setzung vgl. auch die oben diskutierten poetischen Strategien Kafkas.
602 Es geht immer wieder um das zentrale Eingangsbild des Sklaven und dessen mitleidlose
Folterung in einem System, das dem von Olga im Schloß geschaffenen entspricht.
603 Vgl. besonders die Schuldlosen und dort Abbreviaturen wie den Imker (s. u.).
604 Broch selbst böte dafür an zahlreichen Orten die Grundlage, etwa wenn er von der Aufgabe
der Dichtung spricht, mithilfe „menschlich typische[r] Gestalten das Allgemein-
Überzeitliche auszudrücken (KW 3, S. 383). Man muss seine Literatur aber keinesfalls gegen
den Strich lesen, um die hier öfter hervorgehobenen ‚offenen Strukturen‘ seines Werkes be-
tonen zu können.
605 Für Abbreviaturen s. u. zu den Schuldlosen.
342 C 3. Broch
606 Diese Erwägungen, die wieder Brochs Interesse für die Psychologie der Täter bekunden,
sind eingeschrieben in den vielschichtigen Diskurs der Zeit und erfolgen vor Sofskys ‚sozio-
logischer Wende‘ der Fragestellung (s. u.).
607 Es geht um Sklaventum und NS-Terror. Zum Scheinopfer und zum Rausch der Grausamkeit,
bezogen auf Rom/Brundisium und Berlin vgl. etwa KW 4, S. 362.
608 Dieser Blick auf den Einzelnen erfolgt im dritten Abschnitt. Zielpunkt ist der ‚Vortraum‘ zum
Konzept der Individualität, hinter das der NS-Terror zurückgeht. Bloße Modernisierung än-
dert nichts an dieser Möglichkeit zur ‚Regression‘ bzw. steht in Verbindung mit der ‚Eskala-
tion der Gewalt‘ (vgl. Fischers Zitat zum Rückfall hinter ‚bürgerliche Ödipalisierung‘ oben
sowie s. D 1 zu Sofskys Verbindung von Gewalt und Moderne). Das Christentum ist hier, wie
gesagt, zunächst eine Folie, eine Form der Setzung; der Tod am Kreuz wird u. a. zur Antwort
auf metaphysische Leere. Zum Opferdiskurs vgl. KW 4, S. 174 f.
609 Es ist in der Tat der Sterbeprozess, aus dem heraus die Darstellungsmöglichkeiten erfolgen.
Die Opposition (sprachloser) Namenlosigkeit vs. (spracherzeugter) Differenz bleibt dabei
thematisch.
610 KW 4, S. 161, Vgl. Edelmann 1997b, S. 93, wo es heißt: „Statt sich dem Entsetzen zu stellen,
hat er es seinem Schönheitskult anverwandelt.“ Das ist psychoanalytisch gedacht, im Sinne
von „Schönheitskult“ statt Durcharbeiten, geht aber am aufgeworfenen Problem vorbei. Der
ästhetische Diskurs ist auf den Kerker der Dichtkunst selbst zu beziehen, auf die kantische
Trennung, weniger auf das eigene Tun, das als ästhetisches davon betroffen bleibt. Der Text
selbst ist als Teil des Systems Literatur betroffen. Anders gesagt: Die grundsätzliche literari-
sche Möglichkeit, „sich dem Entsetzen zu stellen“, wird zur Frage.
3.3 Der Tod des Vergil 343
ven, der Gewaltbereitschaft der Masse und dem Todeskult des ersten Ab-
schnitts nicht nur nach vorne zur ersten Referenzzeit des Romans, sondern
auch nach hinten, zur zweiten Referenzzeit, die sich aus dem Geschehen der
Aeneis ergibt.611
In den Strom der Gedanken schieben sich Fieberfantasien, von denen er in
der Spannung von opferungswütiger Zeit und Vor-Traum des Selbstopfers
zum „Traumbefehl“ des Verbrennens der eigenen Schriften gelangt (KW 4, S.
168) und zu einer Vielzahl von Stimmen bei einem gleichzeitig kleiner wer-
denden Ich sowie „zur Angst um das Werk, das ihm entrissen werde sollte“.
(KW 4, S. 170) Es sind innere Stimmen, bei denen das Andere nicht vom
Eigenen unterscheidbar ist, der Wunsch nach Zerstörung ist fremd- und
selbstbestimmt, worin sich einschreibt, dass er Stimmen außer sich hören
will, nicht mehr den Widerhall der eigenen, zu der Lysanias hinzugezählt
wird,612 und aus seinem Ich heraustreten möchte. 613 Dass die Opferung der
Aeneis, d. h. der Verzicht des Schriftstellers auf das Werk, ebenso der falsche
Schritt wäre wie andere Wege der Selbstzerstörung, wird erst der dritte
Abschnitt aufzeigen.
Der Wissensdiskurs der Moderne mit der Suche nach nicht begrifflichen
Erkenntnismöglichkeiten spaltet sich in einer Art Vorgriff auf Gedanken
Lacans für Vergil in eine einheitliche mütterlich-imaginäre Welt mit der
Gefahr der Namenlosigkeit und das mit dem Vater verknüpfte Differenzie-
rungssystem der Sprache. Wenn an dieser Stelle der Diskurs des Unaus-
sprechlichen geführt wird,614 so wird er auf eben diese Spannung bezogen
und es ist in diesem Sinne die Rede vom „sprachlose[n] Gedicht hinter dem
Wortgedicht“ (KW 4, S. 181) oder vom „Unausdrückbaren, das im Abgrund
aller Sprachräume leuchtet“. (KW 4, S. 183) Gedoppelt wird damit die Ge-
samtkonstruktion des Romans, der immer wieder um Begrifflichkeit kreist,
aber eben immer wieder auch auf die Namenlosigkeit des Rhythmisch-
Bildhaften zurückkommt. Broch wird gesehen haben, dass er damit eine
Differenz poetisch codiert, die Kant von Lessing übernommen hat, um sei-
nen Schönheitsbegriff als Pendeln von Begriff und Vorstellung zu entfal-
611 Hier findet sich eine Dreifachstruktur in Zeit und Ort: Troja – Rom/Brundisium – Berlin.
612 Der vielschichtige Lysanias (s. o.) ist ein gutes Beispiel für das stete Changieren von Realem
und Traumbild.
613 Vgl. KW 4, S. 171. Zu Frage des Namens und dem Heraustreten aus der Namenslosigkeit vgl.
KW 4, S. 172. ‚Namenlos‘ ist in Brochs Roman spezifisch verwendet, greift aber auf Dante,
den Dichter, „der für seine Schilderung des ‚Namenlosen‘ berühmt wurde“, zurück (Hölter
2002, S. 246).
614 Zum Diskurs des ‚Unaussprechlichen‘ s. o.
344 C 3. Broch
615 Bei Lessing heißt die Dichotomie ‚Sehen und Denken‘, bei Kant ‚Einbildungskraft und Be-
griff‘. Vgl. Grugger 2010, S. 44 bzw. s. o.
616 Dadurch wird die prominent mit Cusanus verbundene Tradition des Deus absconditus, des
verborgenen, sich der sprachlichen Bestimmung entziehenden Gottes, im Diskurs zum Un-
sagbaren sichtbar – eine Tradition, die bereits der Suche nach dem Individuum ineffabile
zugrunde lag. Zum ‚Zusammenfall der Gegensätze‘ s. o.
617 Zu Hintergrund vgl.: „‚Ich bin allein‘, sagte er, ‚niemand ist für mich gestorben, niemand
stirbt mit mir; ich habe die Hilfe erwartet, ich habe um sie gerungen, ich habe um sie gefleht,
und sie ist mir nicht geworden.‘ ‚Noch nicht und doch schon‘ erwiderte es so traumleise aus
seiner eigenen Brust, daß es kaum mehr die Stimme des Knaben war“ (KW 4, S. 188). Eine
weitere Wiederholung findet sich auf S. 205, diese Thematik vertiefend. Dann äußert sein
Gegenüber, Vergil sei „unsterblich als Führer, noch nicht und doch schon, dein Los an jeder
Wende der Zeit“ (KW 4, S. 253, Herv. im Orig.). In Variation heißt es über den leeren Raum
des Dazwischen: „Nicht mehr und noch nicht“ vs. „Noch nicht und doch schon“ (KW 4, S.
315). Vgl. auch die Widmung der dritten Fassung für Bunzel: „Noch nicht und doch schon,
die Hoffnung“ (Zit. nach Lützeler, Anmerkungen des Herausgebers, KW 4, S. 512). Wieder
taucht das „Noch nicht und doch schon“ in Die Schuldlosen auf, als Gedanke von A. (KW 5, S.
190).
618 Die Setzung ist hier als wortwörtliche ‚Creatio ex nihilo‘ entworfen. Das christliche Narrativ
wird in seiner Offenheit und Undeutbarkeit zur Antwort. Im Tod des Vergil geht es um die
Möglichkeit einer solchen Antwort in einem historischen Feld.
619 Vgl. den Diskurs zum ‚irdisch Absoluten‘ bei Broch sowie zur Vorstellung, durch das Nichts
hindurch zu neuen Setzungen zu gelangen.
620 Das christliche Narrativ wird in dieser Reflexion von innen aus betrachtet, und zwar als
Selbst-Symbolisierung des Transzendenten, die über die eigene Erzählung hinaus verweist,
also bereits Bedingungen der Moderne mit aufnimmt. Als ‚Vortraum‘ vermag die christliche
Erzählung dies ungleich besser zu leisten denn als historische Wirklichkeit. Die neue Stim-
me, „Bereitschaft zum Erwachen“ (KW 4, S. 203), zeigt sich als unnachahmbar, die eigene
Bereitschaft zum Tode war kein Weg zu ihr gewesen. Vergils durchgehenden Versuche, sie
3.3 Der Tod des Vergil 345
dadurch zu gewinnen, waren durch eben diese Unnachahmlichkeit zum Scheitern verurteilt
gewesen: Sie sei als eine „Stimme der Unerfaßlichkeit“ (ebd.), noch jenseits der Musik.
621 Adrian Leverkühn wird im Dr. Faustus in einer etwas anderen, aber doch vergleichbaren
Form zur Aufzeichnungsfläche der Paralyse werden (s. u.).
622 Vgl. oben zum späten Hölderlin und zum späten Rilke. Hier findet sich Analoges in der Form
des Romans und dessen partieller Auflösung als Genre.
623 In diesem Punkt sucht die ‚NS-Ideologie‘ bekanntlich die Tradition Nietzsches, was auch auf
die Konzeption des Dr. Faustus einwirkt.
624 Die Nähe zu Fragen, wie sie Adorno prominent stellte, ist schwer zu übersehen. Auch auf-
grund und mithilfe des zeitgenössisch gültigen Bildungskanons wurden sie so formuliert
und verstanden.
346 C 3. Broch
Das unmittelbare Ende des zweiten Abschnittes, eingeleitet durch die Worte
des tröstlichen Engel-Knaben: „du aber sei Vergil geheißen, deine Zeit ist
da“, und die Rede von der „Süße des Allesvergessens“, verkündet nicht den
Übergang zum Tod, sondern zum traumlosen Schlaf. (KW 4, S. 218)
625 Broch scheint den Begriff der christlichen Nächstenliebe wenig zu problematisieren. Er ist
dennoch kein (Neo-)Romantiker, das ist schon mit dem ersten Teil der Schlafwandler ge-
klärt. Der bekannte, enge Bezug zu Platon ist gegenwärtig: „[H]och über dem Gesetz der
Schönheit […] steht das Gesetz der Wirklichkeit; steht – göttliche Weisheit Platons – der
Eros in des Seins Ablauf“ (KW 4, S. 234). Broch ist die konstitutive Verbindung von Christen-
tum und Neu-Platonismus natürlich bewusst und Vergil kann, der Textanlage entsprechend,
das Christentum wohl auch nur in Erweiterung einer platonisch geprägten Begriffswelt vor-
ahnen. So ist auch die Folge zu verstehen: „Und obwohl er selber es kaum begriff, stellte das
Wort sich ein: ‚Die Wirklichkeit ist die Liebe‘“ (KA 4, S. 235). Hans Keilson wird hier einen
gegensätzlichen Weg gehen und in den Essays Verbindungen des Konzepts der Nächstenlie-
be zu den Pogromen diskutieren (s. zu Keilson D 1). Broch versucht dagegen, wie bereits
festgehalten, hinter die Setzung dieses Konzepts zu blicken.
626 Zentrale Figur dafür in den Schlafwandlern ist Huguenau (s. o.). Auf wichtige Ähnlichkeiten
zu Sofsky 2008 wurde bereits vereinzelt hingewiesen. Davon abzugrenzen ist der Täter-
trauma-Diskurs mit seiner Gefahr der Nivellierung (s. o.).
3.3 Der Tod des Vergil 347
Das Sterben war bisher auch im Wechselspiel von Innen und Außen auf den
beobachtenden Vergil beschränkt. Nun treten für den dritten Abschnitt Fi-
guren hinzu, ihre Charakterisierung und (umfassendere) Dialoge, die sich
mit den Reflexionsprozessen vermengen. Das Erzählschema drängt beson-
ders durch direkte Rede über die personale Erzählsituation hinaus, bleibt
aber auf den dissoziativ hörenden Protagonisten fokussiert. Die Motive sind
im Sinne der symphonisch-iterativen Konzeption bereits grundgelegt627 und
die Fragen der ästhetischen Indifferenz, der Instrumentalisierung traumati-
scher Erfahrungen und des Bruchs des Dichters zur Wirklichkeit werden in
Variation weiter differenziert. Als tragendes Thema relativ neu kommt der
Wert des Individuums hinzu, der im Dialog mit Augustus die staatspolitische
Ausrichtung auf einerseits die (aufgeklärte) Wechselbeziehung von Einzel-
nem und Sozialität sowie andererseits den bloßen Ruhm des (Namens des)
Volkes als identifikatorisches Angebot diskutiert. Brochs Text reflektiert
hier also die historische Fundierung der Wertsetzung des Individuums und
spricht über ihr Anderes, das bloß die Rede von Macht und Triumph kennt,
aber in genuiner Mitleidlosigkeit agiert. Damit werden die Ausgangsbilder
des ersten Abschnitts – Indifferenz gegenüber der traumatischen Situation
der Sklaven und gewaltbereite Masse628 – noch deutlicher in einen philoso-
phisch-politischen Kontext gestellt.
Neben Indifferenz der Ästhetik und verklärend-instrumentalisierender Poe-
tik (s. o.) wird mit dem anbrechenden Tag nun auch eine unmittelbar fa-
schistische Ästhetik des Performativen in den Blick genommen, die reale
grausame Spiele als dem Code des Schönen zugehörig auffasst:
627 Broch spricht bekanntlich vom Muster der Symphonie mit ihren vier Sätzen (s. o.).
628 Vgl. den Unterschied zur Aufklärung und ihrer Ableitung der Würde des Individuums aus
dem Wesen bzw. der Natur der Menschen.
348 C 3. Broch
Das Szenario beginnt römisch und die Dimension des Ästhetischen ist be-
kannt,630 Nietzsche hatte in der Genealogie der Moral prominent den Mehr-
wert des Leidens anderer für die Verursacher und die Beobachtenden the-
matisiert, und Broch diskutiert hier deutlich die katastrophale Ästhetisie-
rung der Wirklichkeit durch die NS-Diktatur sowie ihr (kommendes) Ende
mit den Mitteln moderner Literatur, und das heißt u. a. im Sinne sich öff-
nender Bezüge.631 Die performative faschistische Ästhetik drückt sich aus in
dem die Leere betäubenden Rausch (vgl. KW 4, S. 341) sowie in dem der
Ironie (dem Lächeln) gegenübergesetzten zynischen Lachen. 632
Parallel zum faschistischen Spektakel des Performativen wird die Heraus-
forderung durch Dichtung als Lebenspraxis erörtert sowie besonders die
Frage ihrer konstitutiven Abwendung vom ‚Realen‘. 633 In der Suche nach
629 Vgl. auch den „Blut- und Todesrausch“ im Kontext des ‚Erlösers‘ (KW 4, S. 361). Der Tod des
Vergil stellt keine (einfache) Umsetzung der romantheoretischen Überlegungen Brochs dar,
die über Begriffe wie ästhetischer Effekt, fehlende ethische Grundierung, ‚Kitsch‘ als das ‚ra-
dikal Böse‘ oder ‚Omnipräsenz‘ des (performativen) Ästhetischen in verdichteter Form dis-
kutiert werden können (vgl. bes. KW 9/2, S. 89–157), sondern bietet, so der Ansatzpunkt
dieser Studie, genuin literarische Erkundungen der Frage des Schreibens vor dem Hinter-
grund der NS-Diktatur.
630 Als Schiller sich in ästhetischem Kontext für die griechische und gegen die römische Antike
äußerte, war er im deutschsprachigen Diskurs sozusagen bereits Traditionalist.
631 Worauf der Text immer wieder hinweist, ist, dass zahlreiche Elemente des NS-Wahns eine
alte Schicht tragen und in Ästhetik, Volksganzem, Masse, Führerorientierung, Imperium als
Bezugspunkt, Rausch/Entfesselung der Gewalt, Todeskult und Todesbereitschaft, in Mitleid-
losigkeit und Aufhebung der Bedeutung des Einzelnen zugunsten des Allgemeinen hinter
das Christentum (aber nicht nur das Christentum) zurückgehen. Vgl. hier etwa die doppelte
Schicht, wo Augustus argumentiert, dem Volk sei der „kindhafte[.] Spiel- und Grausamkeits-
rausch, mit dem es sich vor Verweichlichung schützt“ zu belassen, und zwar innerhalb ge-
wisser Grenzen (KW 4, S. 347).
632 Dies entwickelt sich aus den Beobachtungen am Fenster und dem Bild des zynisch lachen-
den Mörders. Vgl. für den Kontext hier: „der Mensch, in dessen Lächeln trotzalledem das
Göttliche wohnt, so daß er im Lächeln die Neben-Seele, den Neben-Menschen göttlich er-
kennt – die menschliche Verständigung, die Geburt der Menschensprache aus dem Lächeln.
Nichts war davon festgehalten worden, und statt dessen war ein mäßig geglückter Ab-
klatsch des homerischen Vorbildes entstanden“ (KW 4, S. 303). Die Stoßrichtung bleibt ins-
gesamt ähnlich: die Differenz zwischen kommunikativem Lächeln und Kommunikations-
bruch des zynischen Lachens ist analog zu der zwischen Indifferenz und Anteilnahme, zwi-
schen Ästhetik der indifferenten Schönheit und Anteilnahme am Anderen.
633 Vgl. den Leitbegriff zur Lebenspraxis der Theorie der Avantgarde (Bürger 1988). Die Loslö-
sung der Kunst vom Sakralen wird im Faustus wieder thematisch sein, hier meint Wirklich-
keit in der Regel ethisch konzipierte Wirklichkeit.
3.3 Der Tod des Vergil 349
Antwort auf den Kerker von Form/Kunst und im fiktiven Umkreisen der
Zerstörung des Werks, – seiner Verbrennung, so wie Troja verbrannt ist,
was auch als Sühne der Indifferenz gegenüber diesem (berichteten) Gesche-
hen zu lesen ist – werden die Begriffe Wirklichkeit und Liebe auch zum Aus-
druck echter Beziehungsfähigkeit gegenüber der bloßen Verdoppelung in
Ding- und Sprachwelt. Er wendet sich gegen den aufgeblasenen Selbstbezug,
den primären Bruch zur Wirklichkeit und zu den anderen, gegen sich als
„kalten, schönheitsbesessenen Literaten“. (KW 4, S. 242) Die Aeneis beinhal-
te keine Wahrheit, sondern nur Schönheit, sodass er die Freunde Plotius
und Lucius bittet, sie zu vernichten. (KW 4, S. 244).
Einen alternativen Bezugspunkt zu dieser Deutung liefert Lysanias/der
Knabe. „Waffen freilich besangst du, Vergil, doch nicht dem grimmigen
Achill, sondern dem frommen Äneas gilt deine Liebe.“ (KW 4, S. 252) In
Kleists Penthesilea wird die Faszination an der Grausamkeit des Achilles
thematisiert, die von der Protagonistin eingeholt wird – sie vollzieht das
Zerreißen seines Körpers, den sie sich dabei, vom Vergil aus gelesen, wie-
derholend ‚einverleibt‘. Vergils Held dagegen kommt nicht nur aus den
Flammen Trojas und zurück aus dem Hades, um Neues zu errichten, son-
dern seinem Triumphalismus ist als zweite Spur des Textes Mitleid zuge-
schrieben,634 die dem von Augustus gesuchten Gründungsmythos, die Legi-
timation der göttlichen Abstammung einschießend, gegenübertritt. Brochs
produktive Rezeption ist hier in der Nähe zur ‚Zwei-Stimmen-Theorie‘, wie
sie etwa Suerbaum für die Vergil-Forschung der jüngeren Vergangenheit
rekonstruiert:
Aber in den letzten Jahrzehnten ist man auch unter den Philo-
logen hellhöriger geworden für die leisere persönliche Stimme
Vergils, die bei der Devise ‚durch Leid und Opfer zum Sieg‘
nicht nur das letzte Wort betont. Das Epos ist voll von Unter-
tönen des Tragischen, Vergeblichen, Beschränkten, Gefährde-
ten, Unterliegenden und des Mit-Leidens um jene Gestalten, die
die Sendung Roms zu tragen haben – als Opfer, aber auch als
Akteure.635
634 Freilich bleibt diese Auseinandersetzung, so der reflektierende Vergil, im Rahmen der
ästhetischen Gesetze. Für die Themenstellung interessant ist die Verknüpfung des Durch-
gangs durch das Trauma mit der Möglichkeit des Mitleidens.
635 Suerbaum 2011, S. 373. Suerbaum stellt dies einer zweitausendjährigen Vergil-Rezeption im
Kontext des ‚Triumphalismus‘ gegenüber und plädiert bezüglich des impliziten Autors der
350 C 3. Broch
Während die Ordnung des Augustus eine Antwort auf die dem Chaos ent-
stammende „blutigste, roheste Machtsucht“ darstellt (KW 4, S. 316), werden
dessen ‚innerste Gedanken‘ als notwendige „völlige Unterordnung des Ein-
zelnen unter die Staatsgewalt“ aufgefasst.636 Es ist dessen Recht als Indivi-
duum, wie es die Aufklärung in säkularer Form ausbuchstabieren wird, das
Vergil dem Augustus als kommende Erkenntnis entgegenhält. In einem Hyb-
rid von christlich-platonischem Ideal und Internationalismus individueller
Menschenrechte antizipiert er Folgendes: „unteilbar wird die Gerechtigkeit
werden, verletzlich die Gesamtheit in jedem Einzelnen, geschützt das Recht
des Einzelnen in dem der Gesamtheit“.637 Die Frage der Aeneis steht vor
diesem Hintergrund, mit ihrem durch die Flammen Trojas gegangenen und
aus dem Hades zurückgekehrten Helden, dessen Boden anders als für die
Homerischen Figuren schwankte (vgl. KW 4, S. 337). Vorbereitet wurde die
Auseinandersetzung um die neue Ordnung aber auch durch eine genuin
moderne Problemstellung. Gefragt wird – nach dem Scheitern der Philoso-
phie in Fragen der letzten Erkenntnis und nach dem Scheitern der Dichtung
als gleichnishafter638 – nach den Möglichkeiten der grenzüberschreitenden
Dichtung bzw. Kunst auch als Grundlegung von Philosophie. 639
Aeneis für beide Stimmen (gegen eine Bevorzugung der friedliebenden): „Nein, beides sind
personae, Masken. Sie bestehen im impliziten Autor nebeneinander. Man kann höchstens
sagen, daß manchmal die eine Stimme lauter ist als die andere“ (ebd. S. 374). Broch interes-
siert sich für einen Moment des Rückblicks. Das Werk der Aeneis selbst wird implizit als
Kombination beider Stimmen beschrieben; Kernpunkt der reflexiven Überlegungen ist, wie
gesagt, die ästhetische Indifferenz. Zu Brochs Vergilbild insgesamt, das zunächst über Theo-
dor Haecker vermittelt ist, vgl. Lützeler 2000a, S. 100 f. bzw. Haecker 1931.
636 KW 4, S. 345. Vgl. auch, wie Vergil Augustus wahrnimmt, ohne Worte zu hören: „Unbewegt
standen die Worte im Raum, als wären sie des Cäsars innerste Gedanken“ (KW 4, S. 344).
637 KW 4, S. 345. Zum Hybrid vgl. auch: „getragen von der menschlichen Einzelseele, von ihrer
Würde und ihrer Freiheit, getragen von ihrer göttlichen Ebenbildhaftigkeit“ (ebd.).
638 Auch in diesem Punkt wird die kritische Theorie an Broch anschließen, der sich gegen die
positivistische Reduktion zentraler Fragen auf „Scheinprobleme“ ausspricht (KW 9/2, S.
119 f.).
639 Vgl. die folgenden Stellen: „Gerade die große, gerade die um ihre Erkenntnisaufgabe wis-
sende Kunst weiß auch um den Erkenntnisverlust und den Gottesverlust, durch den wir
hindurchgegangen sind; unaufhörlich steht das Grauen der Todesverwüstung vor ihr“ (KW
4, S. 322). Mit der neuen Ordnung müsse eine neue Erkenntnis aufblühen, die außerhalb der
Kunst liege (vgl. KW 4, S. 322 f.). Die Philosophie sei dazu nicht mehr imstande (vgl. KW 4, S.
322). Dichtung sei Grenzüberschreitung (vgl. KW 4, S. 327), die Philosophie müsse ihren Er-
kenntnisgrund in der Kunst haben, Weisheit könne sich nicht selbst grundlegen (vgl. KW 4,
S. 328). Dichtung als Gleichnis scheitere an der Gleichnislosigkeit des Todes (vgl. KW 4, S.
336), i. e. am Unaussprechlichen. Teil dieser Stimmen wird auch die cusanische Frage nach
der Zentralperspektive: „der gemeinsame Blick zum Unendlichen hin ist die Grundlage aller
Verständigung, und ohne sie wird selbst die einfache Mitteilung unmöglich“ (KW 4, S. 324).
3.3 Der Tod des Vergil 351
Gegen Ende des dritten Abschnitts erfolgt noch einmal die Rückkehr zu den
Erlebnissen der Ankunft in Brundisium, dieses Mal als Imagination, die ihn
im Stimmengewirr von den im Zimmer Anwesenden Lucius, Plotius und
dem Arzt ablöst (vgl. 395). Im Zentrum steht in diesem Fantasiebild Vergils
seine eigene Abgrenzung zu denen der Elendsgasse, denen er doch zugehö-
rig ist.640 Vergil findet sich hier im Gelächter, die Rede ist von „Vorwärts“
und auch von „Heimgehen“, was ihn als einfachen Menschen vor dem Tod
festschreibt. Noch einmal erfolgt auch der Blick auf die „Volksmassen und
Volksmassen, bildgierig, sieggierig“ (KW 4, S. 396), was wieder das Imperi-
um Romanum mit dem Nazismus überlagert, und das heißt mit radikaler
Grausamkeit, den bloßen, nicht durch Christentum oder säkularisierte For-
men menschlicher Würde geläuterten Trieben.
In einer Art Karnevalsvision werden Augustus und der Sklave austauschbar
(KW 4, S. 397), um mit der Vision des vergreisten, nackten, machtlosen Au-
gustus auf dem Lumpenlager (KW 4, S. 401) verschiedene Themen zu bün-
deln, aus denen die Einsamkeit vor dem Tode sowie die genuine Herausfor-
derung des Todes hervorragen.641
Die Möglichkeit zur Rettung des Werkes ergibt sich aus diesem Kontext,
genauer: aus der Conditio humana selbst, die Rede ist von der menschlichen
Unstimmigkeit, die sich aus Unzulänglichkeit und Gottesnähe zusammen-
setzt,642 womit das Spezifikum des Menschen gegeben sei (vgl. KW 4, S.
408). Metareferentiell und auf die Moderne hin gebrochen, ist damit auch
das Romanexperiment Tod des Vergil als genuin fehlerhafter Versuch geret-
tet.
Dass sich dieser Blick in einer Bewegung seit dem Mittelalter auflöst, ist bereits Thema der
Schlafwandler. Vgl. zur Verbindung mit der Subjektfrage Grugger 2010, S. 38 f.
640 Das erinnert zwar an die Aufzeichnungen, wo Malte von den Außenstehen-
den/Ausgeschlossenen der Gesellschaft (intuitiv) als einer der ihrigen ‚betrachtet‘ wird,
steht hier aber v. a. für den kommunikativen Bruch des Dichters zu den anderen, der sozu-
sagen mit der fehlenden Zugehörigkeit sich selbst verfehlt. Im Malte-Roman ist die Verbin-
dung zu den ‚Verzweifelten‘ konstitutiv, wenngleich vielschichtig (s. o.).
641 Eine umfassendere (theoretische) Integration des in der Folge der Bachtinrezeption forcier-
ten Diskurses zum Karnevalistischen in den Roman versucht Heizmann 1997, wobei zu dis-
kutieren wäre, wie weit der Text dafür wirklich geeignet ist.
642 Die „Gottesnähe“ ergibt sich sozusagen als Koinzidenz von ‚homo secundus deus‘ und ‚poeta
secundus deus‘.
352 C 3. Broch
643 Mann 2015, S. 7. Vgl. auch den Diskurs zur Depotenzierung und ‚Humanisierung‘ des My-
thos, die darin bestehe, „Distanz zu gewinnen gegenüber der Allmacht der Überlieferung,
der Omnipräsenz der Toten“ (Riedel 2013, S. 162). Bei Broch geht es, sehr vereinfacht for-
muliert und wie bereits in der Verzauberung (s. o.), in diesem Kontext um die Frage der
‚Omnipräsenz des Todes‘ als ‚irrationale Todesfixierung‘.
644 Auch dies erfolgt in der Umkreisung der Grundthematik des Durchgangs durch das ‚Trau-
ma‘.
645 Vorangekündigt am Eingang des Romans, durch die Angst Jaakobs, ausgedrückt wieder über
die Raummetapher: „Es sitzt das Kind an der Tiefe?“ (vgl. den Unterpunkt Der Vater des Er-
öffnungskapitels Am Brunnen in Mann 2015, S. 49–51, hier S. 51).
646 Vgl. ebd., S. 426, S. 451 bzw. S. 454.
3.3 Der Tod des Vergil 353
narrativs, wie dieses selbst zum Zitat von Gewesenem. 647 Joseph sieht sich
selbst als tot und ist bereits in eine andere Welt jenseits der Differenz ge-
flüchtet,648 was im vierten Abschnitt des Vergil nachklingen wird (vgl. KW 4,
S. 426 f.). Die Verbindungslinie zu Brochs Verschütteten wie Gödicke oder
Mutter Gisson ist ebenso offensichtlich wie die zum Abstieg im Vergil. Wenn
Broch und Mann Erkennen oder Initiation aus traumatischen Erfahrungen
heraus codieren und an dem besonders erfolgreichen des Auferstehungs-
narrativs festmachen, so sprechen sie auch über Erzählen im Kontext von
Bewältigungsversuchen.
Mann klammert die Erfahrungsdimension Josephs im Brunnen im Gegensatz
zu seinen Reflexionen eher aus.649 Der Erzähler spricht in einem Nebensatz
davon, dass der Zustand vor der Tat nicht wieder herstellbar ist, 650 was eben
diesen Charakter der Initiation annimmt. Joseph zeigt sich in der Folge auch
eher als losgelöst und frei zu handeln denn als erschüttert. Das „Entsetzen
der Seele“ ist der Grundkonstruktion des Romans gemäß ebenso wie das
symbolisch aufgeladene Zerreißen des Kleides in den Konnex der mythi-
schen Wiederholung eingelassen. (Ebd., S. 425) 651 Die Auflösung des Ratio-
nalen vor dem Tode wird als „Maßnahme der Natur verstanden […], ihm
über das Unerträgliche hinwegzuhelfen.“ 652 Das Reflexive tritt zurück und
das Mystische bricht hervor, womit auf das weite Feld von Religion und
Trauma zumindest verwiesen ist.
Mehr als bei anderen Texten ist für den Vergil ein Gerüst zur Interpretation
zwangsweise fragil und immer wieder neu hinterfragbar. Deutlich scheint
allerdings eine grundlegende Konfrontation mit Traumatischem als Conditio
humana sowie in zahlreichen spezifischeren Aspekten auf sozialer und indi-
647 Joseph galt in anderem Sinn als Präfiguration Christi als Vergil, dennoch ist der Ausgangs-
punkt klar.
648 Vgl. die Metapher zum Tod im Leben. S. o. zu Kleists Homburg.
649 Eine eingehendere, themenrelevante Analyse des Brunnenerlebnisses, die in diesem kurzen
Seitenblick freilich nicht möglich ist, müsste mit Blick auf das spezifische Subjektverständ-
nis in diesem Roman erfolgen. Améry wird in Lefeu (s. u.) das ‚Auferstehungserlebnis‘ des
‚jungen‘ Joseph dem destruktiven Sog der Wortkünstlerin Irene gegenüberstellen (vgl. A-
méry 2007a, S. 352).
650 Mann 2015, S. 423.
651 Der zerrissene Gott, den Joseph hier wiederholt, ist auf den Tammuz-Mythos bezogen,
ebenso wie der Ausdruck Bôr der Brüder, der von Joseph als Wort für Brunnen, Gefängnis
und hier v. a. interessant, das Totenreich verstanden wird (vgl. ebd., S. 425 f.). Näheres ist
mittlerweile dank Anke-Marie Lohmeiers Lexikon zu den Josephs-Romanen einfach zu re-
konstruieren. Vgl. http://literaturlexikon.uni-saarland.de. Lexikon zu ‚Joseph und seine Brü-
der‘ (1933-43).
652 Mann 2015, S. 426.
354 C 3. Broch
vidueller Ebene. Die Suche nach der Antwort danach im Medium der dem
Grauen gegenüber indifferenten Kunst zeigt sich selbst wiederholt als bo-
denlos. Trotz der Auflösung am Ende hallt auch das öfter evozierte Bild des
Kerkers der Kunst nach. Die schon öfter besprochene Orientierungsproble-
matik, die im Vergil ideengeschichtlich aufgerollt ist und sich auf das Fehlen
und die Notwendigkeit der Setzung von Beobachtungspunkten bezieht, wird
analog zur Verzauberung im Kontext der bedrohenden metaphysischen
Leere diskutiert. Als Alternative zu Setzungen erscheint nicht der aus re-
pressiven Systemen entlassene Mensch der humanistischen Psychologie,
sondern die Entfesselung von Gewalt, an vielen Stellen des Romans psycho-
dynamisch gedeutet als Überwindung dieser Leere. Durchgängiger Bezugs-
punkt und formale Errungenschaft ist dabei eine sich am Außen abarbeiten-
de, fragmentiert-dissoziierende Innenperspektive.653 Die aus den Schlaf-
wandlern bekannte Problematik autonomer (sich radikalisierender) Syste-
me bleibt für Broch virulent. Während Kafka die Abwesenheit von Orientie-
rung in ihren destabilisierenden Effekten durchdekliniert, beschäftigt sich
Broch eher mit der Notwendigkeit der Erzeugung von ‚geeigneten‘ Orientie-
rungssystemen, um nicht einem ‚traumatischen Nichts‘ ausgeliefert zu sein,
das in den Schlafwandlern wie auch im Vergil unter je unterschiedlichen
Bedingungen einen leeren Kreislauf des Tötens freisetzt. 654 Anlass der Über-
legungen sind die außerliterarischen Referenzpunkte seines Schreibens:
Weltkriege und NS-Terror als „Zeit einer geradezu schon irrealen Grausam-
keit“.655
Der Novellen-Roman Die Schuldlosen zeigt sich von der formalen Anlage her
wieder als ein neues Experiment für einen neuen Roman. 656 Die Gliederung
erfolgt in eine vorangehende Parabel und elf durchnummerierte Erzählun-
gen/Novellen, die wiederum in drei Bereiche – zwei „Vor-Geschichten“,
sieben „Geschichten“, und zwei „Nach-Geschichten“ – gegliedert und mit
drei eröffnenden lyrischen Teilen ausgestattet sind, die den drei Bereichen
653 Die konstruktivistische Metapher des informationsverarbeitenden Systems, das von seinem
Außen nur affiziert wird, ist hier auf einen Prozess der Auflösung appliziert.
654 Man denke bereits an die diesbezüglichen Diskurse im Esch-Roman, v. a. im Kontext der
‚Traumreise‘ zur Bertrand. Signifikant sind die Beobachtungen der Masse sowie die Frage
der Entgrenzung des Täters
655 S. o. (KW 4, S. 463).
656 Vgl. die Entstehungschronologie von Lützeler in KW 5, S. 344–349 – es handelt sich um
ergänzende Novellen zu einem bereits vorhandenen Korpus.
3.4 Die Schuldlosen 355
die Jahre 1913, 1923 und 1933 zuordnen. Die Referenzzeit kann damit grob
zwischen den Schlafwandlern und den aktuellen Bezügen des Vergil ange-
setzt werden.657 Die zweite ‚Novelle‘, Methodisch konstruiert, fungiert neben
ihrer Einbettung als möglicher Vorgeschichte der Figur Zacharias658 zu-
gleich als Metaerzählung: In einer Art Essay-Novelle beziehen sich die an
ihrem Anfang und Ende durchgeführten poetischen Überlegungen selbstre-
ferentiell auf die erzählte Geschichte und strahlen auf die Gesamtanlage aus.
Sie richten sich gegen naturalistischen Determinismus, den Broch stets
meint, wenn er vom Ende des psychologischen Romans spricht, und stellen
dem nötigen exemplifizierenden Gehalt des Kunstwerks eine gewisse Offen-
heit gegenüber.659
Entstehungsgeschichtlich konzentriert sich der zum Roman zusammenge-
fügte Novellenzyklus auf 1932/33 und 1949, wobei die Entstehungschrono-
logie insgesamt von 1913 bis 1950 reicht. 660 Brochs Ringen mit zerfallenden
Ordnungen äußert sich in der Codierung von Zeit auf mehrfache Weise. Die
problematisch gewordene zeichenhafte Repräsentation einer konkreten Zeit
bzw. bestimmter historischer Entwicklungen durch ein literarisches Werk
trifft auf die Suche nach überzeitlichen Strukturen und spätestens mit dem
Vergil auf poetisch ineinander geschichtete Zeiträume.661 Die Novellen der
Schuldlosen, in denen zahlreiche frühere Themen Brochs wiederaufgenom-
men werden, bieten beobachtbare Verläufe ebenso wie übergreifende The-
matiken. Die Form des Novellen-Romans, die auf die Konzeption zurück-
657 Wenn die Frage der Bystander, der Kolonialisten oder die des wertlos akkumulierenden
‚Kapitals‘ erörtert wird, geht es vom Rahmen her um die Zeit vor bis zur Machtergreifung.
Hintergrund ist damit im Gegensatz zum Vergil nicht der NS-Terror selbst, sondern die Pha-
se dessen Aufkommens.
658 D. h. bezogen auf Novelle 7, Die vier Reden des Studienrats Zacharias. Zur idealtypisch ge-
schilderten Figur des Opportunisten Zacharias und zu seiner Mitläufermentalität vgl. Durz-
ak 1978, S. 147 f. Broch selbst spricht vor dem Hintergrund der gewollten ent-
psychologisierenden Darstellung vom Karikaturhaften der Figur als Teil des Konzepts „ver-
einfachender Übertreibung“ (KW 5, S. 309).
659 Vgl. KW 5, S. 33 und 43 f. Man sollte die Rede vom exemplifizierenden Gehalt nicht als zu
einfache Poetik Brochs verstehen, sondern eher als Punkt der Herausforderungen, an dem
sich Lösungen über die Form vollziehen. Wenn hier vom „Irrtum der Naturalisten“ die Rede
ist (KW 5, S. 43), so ist dies natürlich auf die Vertreter der Epoche und nicht auf die von
Broch durchgängig so benannte naturalistische Darstellungsweise bezogen – zum Begriff
des ‚erweiterten Naturalismus‘ (s. o.).
660 Vgl. Lützeler in KW 5, S. 344–49.
661 Das Modell für die mehrfache Schichtung des Vergil liefern, wie öfter festgehalten, die Jo-
sephs-Romane. Von überzeitlichen Strukturen ist viel im Kontext der Verzauberung die Re-
de, aber auch die Ödipus-Thematik war bereits die der blinden Wiederholung.
356 C 3. Broch
662 Brochs Schreiben ist durch die gewählten Formen mit geprägt, die auf keinen Fall de-
ckungsgleich mit dem sie konzipierenden Gedankenprozess sind. Zu Brochs Konzept eines
Novellenromans im Kontext des ‚Tierkreis-Projekts‘ der 1930er vgl. etwa Lützeler 2000a, S.
85 sowie Durzak 1978, S. 136. Letzterer betont für die Schuldlosen den „Charakter einer epi-
schen Collage, eines kombinatorischen Experiments“ und die „nicht ganz von Zufallseinwir-
kungen freie[.] und weit auseinanderliegende Werkschichten verbindende[.] Entstehungs-
geschichte“ (ebd., S. 136). Brochs eigene Bemerkungen zu den Tierkreis-Erzählungen von
1933 (KW 5, S. 293–300) setzen mit der (in Richtung Metareferenz strebenden) Frage der
poetischen Untersuchung des Symbolbegriffs anhand dieser Erzählungen ein.
663 Das Spiel mit dem Faust-Narrativ der Schlafwandler wird hier durch den Don Juan–Stoff,
besonders in der Ausformung von Mozarts Oper Don Giovanni, ergänzt (vgl. dazu Winkler
1986, S. 185–196). Wichtig sind die Ortssymbole, besonders das (vaginale) Dreieck für die
Regression (Mutter), das im Kontext der Schuldlosen neu kontextualisiert und determiniert
ist. Vgl. zum ‚Dreieck‘ als Teil eines der sogenannten ‚Ur-Symbole‘ im Kontext der Tierkreis-
Erzählungen KW 5, S. 293.
664 Broch codiert immer wieder, was gerade medial nicht selten als postmoderner Zerfall tradi-
tioneller Ordnungen skizziert wird und zunächst einmal ein genuin modernes Problem dar-
stellt. Die Auflösung traditioneller Ich-Stabilität wird, vereinfacht ausgedrückt, in den
Schuldlosen als fatal dargestellt, da die Akzeptanz des Anderen die Anerkennung des eige-
nen Selbst voraussetze. Die psychoanalytischen Konzepte haben aber in der an Zwischen-
räumen interessierten Literatur Brochs selten das letzte Wort. Er dringt u. a. zu weit ins Dis-
soziative ein, als dass die traditionellen (schließenden) Ich-Konzepte oder Freuds Versuch
ihrer Rettung noch eine durchgängige Lösung – etwa als eindeutiges Desiderat im Hinter-
grund – darstellen könnten. Zugleich bildet der ‚fehlende Mut‘ zu einem kritischen Ich im
Sinne Freuds eine nicht zu unterschätzende Folie für den Text.
665 Mit Broch/Lacan: Die Entscheidung erfolgt bloß für das Mütterlich-Imaginäre jenseits des
Väterlich-Symbolischen. Die ödipale Grundierung des Textes ist offensichtlich.
666 Entgegen dem oft nicht problematisierten Übergang von individuellen zu sozia-
len/kollektiven Traumen (s. Abschnitt A) fokussieren Brochs Romane geradezu auf diese
Fragestellung, am differenziertesten und überzeugendsten natürlich in den Schlafwandlern
und im Vergil.
667 Vgl. v. a. Inhalt und Darstellungsmethode der ‚Schuldlosen‘, KW 5, S. 301–311.
3.4 Die Schuldlosen 357
Brochs Texte werden u. a. von Lützeler, der sich dabei auf literarische und
außerliterarische Quellen berufen kann, mit einer Wir-Philosophie ver-
knüpft, die den Schuldlosen deutlich genug entnommen werden kann. 669
Zumindest erklärungsbedürftig scheint in diesem Kontext die radikale Ein-
samkeit, die seine Texte so auffällig durchzieht und wiederholt in ihrem
Mittelpunkt steht, so auch in den Schuldlosen.670 Der explizit in „Alfresco-
Simplifikation“ gemalte Imker,671 der ebenso eine zentrale Figur darstellt,
668 Gewollt ist das Typenhafte (vgl. KW 5, S. 308), das sich, durchaus nicht unproblematisch,
von so verstandenen psychologischen oder psychologisierenden Narrationen abgrenzt.
669 Vgl.: „In dem die ‚Cantos 1933‘ beschließenden ‚Nebo-Gedicht‘ drückt sich – ähnlich wie am
Romanende der Schlafwandler – Brochs Hoffnungsprinzip seiner ‚Wir‘-Philosophie aus, die
eine neue Religiosität anstrebt, in deren Mittelpunkt kein extramundaner Gott, sondern ein
‚irdisch Absolutes‘ steht“ (Lützeler, Anmerkungen des Herausgebers, KW 5, S. 348). Vgl. dazu
im genannten Gedicht die Anrede an den unbekannten Bruder, wo das expressionistische
‚Oh Mensch‘ nachzuklingen scheint (KW 5, S. 243) sowie das ‚Schuldbekenntnis‘ von A.: „Wir
sind ein Wir, doch nicht, weil wir eine Gemeinschaft halten, sondern weil unsere Grenzen
ineinander verfließen“ (KW 5, S. 266), in dem sich Auflösung von Subjektivität im Kontrast
zur Wir-Orientierung ausdrückt. Vieles, was oben zum Vergil gesagt wurde, ließe sich in die-
sen Rahmen stellen, wenngleich in der vorliegenden Untersuchung die Brüche stärker be-
tont werden. Zu einer gewissen Skepsis am versöhnlichen Schluss der Schlafwandler – dem
Bibelzitat: „Tu dir kein Leid! denn wir sind alle noch hier“ (KW 1, S. 716) – siehe oben.
670 Zum zentralen Thema der ‚Einsamkeit‘ bei Broch s. auch oben.
671 Vgl. KW 5, S. 311. Der Weg der Figur führt vom Reißzeugmechaniker über den Maschinen-
arbeiter zum titelgebenden Imker. Zentral ist sein Auftritt als ‚steinerner Gast‘ in der zehn-
ten Novelle. Durzak spricht zunächst von einem „mythische[n] Porträt-Stenogramm, das
358 C 3. Broch
mehr Fragen aufwirft als beantwortet“ (Durzak 1978, S. 143), vom „harmonischen Gleich-
klang dieses idolisierten Lebens in der Nähe einer unfreiwilligen Parodie“ (ebd., 143 f.) und
letztlich von einer im „Pathos verklärten Erscheinung“ (ebd., S. 145). Er liest das Operetten-
hafte des Novellenromans als Mythologisierung, spricht vom „Pathos der heilsgeschichtli-
chen Verklärung“ (ebd.) und stellt gelungenen Codierungen des Transrationalen in den
Schlafwandlern und dem Vergil eine „metaphysische[.] Rollenprosa“ der Schuldlosen gegen-
über (ebd., S. 140).
672 KW 5, S. 92. Dem/der Lesenden ist vertraut, woraus sich seine „Fremdartigkeit“ schöpft: aus
seiner Verlusterfahrung heraus und dem mit ihr verknüpften Bruch (Einsamkeit). Themati-
siert ist hier die Angst vor ‚Übertragungsprozessen‘. Zum Diskurs zu intergenerationalen
Traumata vor dem Hintergrund von mechanistischem Denken s. o.
673 Wie Mutter Gisson in der Verzauberung ist er zunächst ein Modell für die Bewältigung von
einem Trauma, das er gleichsam überwunden hat. Um darüber berichten zu können, muss
3.4 Die Schuldlosen 359
einen weiteren Punkt, der die Erkenntnis aus dem Bereich traumatischer
Erfahrungen ergänzt, sprechen sie doch, wieder ‚alfresco‘, von der Fantasie
der Unversehrtheit: „Staunten sie, daß die Bienen ihm nichts zuleide taten,
so wußten sie zugleich, daß es überhaupt nichts mehr gab, das ihm etwas
anhaben konnte. Er war bienengefeit und weltgefeit und vielleicht sogar
schon todesgefeit“. (KW 5, S. 91) Die drei Begriffe werden zum Schluss der
Novelle (KW 5, S. 93) noch einmal wiederholt, auf einen kleineren ästheti-
schen Diskurs und die Auseinandersetzung mit dem Tode folgend.
Nun ist dies weniger als ein neuer, nivellierender Punkt in Brochs Ausei-
nandersetzung mit traumatischen Ereignissen zu sehen, denn als einer aus
dem Opernbereich, sozusagen dem Fantastischen des Novellenromans,
wozu der Imker/steinerne Gast als verkürzte, transzendent angelegte Figur
ebenso zählt wie Melitta.674 Ebenso gehört dazu die übersteigerte, idealisiert
gemalte Variante des Wissens aus dem Durchgang durch das Trauma/die
Todeserfahrung, was sich etwa bei seinem weiblichen Pendant, Mutter Gis-
son,675 deutlich komplexer darstellt. Allerdings bleibt die Unumkehrbarkeit
der Erfahrung genauso bestehen, wie noch in das Bild des Weisen die Abge-
trenntheit eingeschrieben ist.
Der Alte als Bild des ursprünglichen Philosophen erreicht den natürlichen
Gesang und schließt über den ästhetischen Diskurs implizit an das
Orpheusmotiv an, etwa wenn von „Schatten seiner Todesbezähmung“ die
Rede ist:
allerdings der Bruch noch real sein. Brochs ‚Wissende‘ sind in dieser Position blockiert. Vgl.
auch den sterbenden Vergil, dem die Zugehörigkeit zwar visionär aufsteigt, aber als die Idee
eines sozial Abgetrennten.
674 Broch spricht vom Imker als mythischer und von Melitta als märchenhafter Figur (vgl. KW
5, S. 322).
675 Ein Pendant zu ihr ist er auch in seiner Beziehung zu Natur, zur Ganzheit, wenn er nach
Möglichkeit im Freien schläft, um mit dem Seienden eins zu sein. Zur Funktion dieser The-
men in der Verzauberung s. o.
360 C 3. Broch
Die erste Novelle bietet den Ausgangspunkt und das Gerüst für das Kom-
mende. In ihrem Zentrum stehen die Beobachtungen des jungen Mannes,
Zentralfigur der Schuldlosen, der im Zustand zunehmender Trunkenheit
Außen-Beobachtungen, auf die er in seinem Denkprozess in Überformung
der Ebenen reagiert, mit sich in Verbindung bringt und sie zu einem Narra-
tiv formt, das aus Eigenem gebildet wird. 676 Was im Vergil der Sterbesituati-
on geschuldet ist, das Ineinandergleiten von Gespräch und Reflexion, wird
hier also über das Feld der Intoxikation fortgeführt.
Der Erzähler selbst berichtet in einem der vielen selbstreferentiellen Ver-
weise vom Auftrag durch die Figur: „A. hingegen – denn so will er fortab
genannt sein“, was den Namen für die kommenden Novellen festlegt. 677 Der
prägende Gedanke A.s ist von Beginn an festgelegt:
676 Man könnte hier die Fortsetzung der Aufzeichnungen und von Ryans Aussage, Malte könne
außen und innen nicht unterscheiden, sehen (s. o.), wobei hier die Trunkenheit den Rahmen
für die Plausibilität dieser Beobachtungsform liefert.
677 KW 5, S. 31, s. auch unten.
3.4 Die Schuldlosen 361
Wenn einem die eigene Mutter gerade gestorben ist, sucht man
nicht nach anderen Mütterlichkeiten. Und er bemühte sich, an
den Amsterdamer Friedhof zu denken, an des Vaters Grab dort,
an das er niemals hatte denken wollen, und an das er nun doch
denken mußte, da man auch sie hineingesenkt hatte.
(KW 5, S. 21)678
Mit zunehmender Alkoholisierung wird sich der Gedanke ausprägen zu: „es
wäre gut, eine mütterliche Frau zur Seite zu haben.“ (KW 5, S. 23) Gleichzei-
tig kommt es zu einem Spiel mit dem Selbstmordgedanken, was die Kette
Auflösung, Regression, ungelebtes Leben und (verfehlte) Todesbereitschaft
ausbildet. Letztere steht im deutlichen Gegensatz zur Todeserfahrenheit des
Imkers. Die Situation am Nebentisch, die er nur über Zuhören beobachtet,
erscheint ihm über die wahrgenommenen Stimmen als die von Mutter und
Sohn. Das Verhältnis zeigt sich äußerlich als das eines Liebespaares, das
aber zumindest für A. gleichsam in einer Mutter-Sohn-Beziehung ver-
bleibt.679
Markiert im Sinne offener Verweise sind bereits hier Geld als Ersatzobjekt,
mit dem die Verlorenheit kompensiert werden soll sowie die Reduktion
bzw. Aufhebung von Ich und Namen.680 Entscheidend ist, dass A. von der
ersten Novelle an als im Verlust gefangen porträtiert wird. Daraus konstru-
iert sich der Prozess seiner Regression und Ersatzrealität, aus der er erst
beim Besuch des Steinernen Gasts herauszublicken vermag. Das heißt nicht,
dass es keine Orte der Entscheidung gäbe, wofür im Novellenroman beson-
ders der Bahnhof steht. Aber, wie der steinerne Gast dem schuldlos Schuldi-
gen mitteilt: „Sei unbesorgt. Was du Überlegung nennst, ist für deinen Wil-
len belanglos. Er hat entschieden, ehe du zu überlegen beginnst“. (KW 5,
S. 259)
678 Die Einsamkeit A.s, für Brochs Figuren so bezeichnend, wird durch diese Situation eingelei-
tet und ist gekennzeichnet durch seine ‚genuine Vaterlosigkeit‘ und den Verlust der Mutter.
Die Vaterlosigkeit bezieht sich auf den ‚innerlich abwesenden Vaters‘, auf die Abwesenheit
sprachlicher Differenzierung und letztlich des Ich (s. o. zu mütterlicher Namenlosigkeit und
väterlicher Sprache im Vergil und vergleiche das Gespräch mit dem ‚steinernen Gast‘ in der
zehnten Novelle, S. 260 u. 266–268).
679 Vgl. KW 5, S. 22 f. Es geht um einen Spiegel für die jetzige Situation und für die weiteren
Novellen. S. o. zur Verweisstruktur bei Broch und zu den Symbolketten in den Schlafwand-
lern.
680 Vgl. KW 5, S. 29. Sein abgelegter Name Andreas, als Ausdruck für Tapferkeit, entspricht dem,
was ihm als Regredierendem fehlen wird, bis er vom ‚steinernen Gast‘ über seine Selbstan-
klage wieder in die Differenz zurückgeführt wird.
362 C 3. Broch
Die Beichte des A., der über seine selbstanklagende Aussage vom steinernen
Gast als Andreas bestätigt wird, steuert auf eine Ethik ex negativo hin, da ein
sozial akzeptabler, gemeinsam zu konstruierender Beobachtungspunkt
verloren ist (s. o.). Den Versuch, eine solche über den Differenzbegriff zu
entwerfen, wird etwa die Philosophie Lyotards unternehmen. Im Text heißt
es: „[D]enn in der Dimensionenvielfalt gibt es überhaupt keine Zielpunkte
mehr, so daß die absolute Richtung nicht mehr durch eine Hinwendung zum
Guten, sondern nur noch durch ein Abwenden gehalten werden kann“. (KW
5, S. 270)681
Die Verbindung soll und kann also nur noch über zu Vermeidendes erzielt
werden, so der erkennende Andreas, dessen private Regression 682 und Öko-
nomie der Profitmaximierung683 beide Ausdruck der bereits aus den Schlaf-
wandlern und dem Vergil bekannten Indifferenz waren. Seine Einsicht: „Wir
regen keine Hand mehr“, thematisiert einen Zustand der Lähmung, der nur
noch im Weg von und nicht mehr im Hin zu zu überwinden ist. (KW 5, S.
268) Der gegenwärtige Traumadiskurs nimmt, von hier aus betrachtet, die
Form einer negativen Setzung an, die Übereinkunft dazu sucht, dass die
Zerstörung der Integrität anderer zu vermeiden ist, wobei Integrität als
positiver Begriff nicht besetzt wird.684
681 Die Entgrenzung der Welt wird kommentierend mit neuen Aspekten von Raum und Zeit in
Verbindung gebracht. Zu Relativitätstheorie und Broch vgl. Bendels 2008. Vgl. auch die wie-
derholte Reflexion zu Vieldimensionalität im Text.
682 Vgl.: „Unser Getanes lähmt unser Tun, hat uns zur Unterwerfung gebracht und tief zu ver-
schreckten Fatalisten degradiert, so daß wir zur Mutter zurückflüchten, heim zur einzigen
Beziehung, die ungespenstisch und eindeutig bleibt in der unerklärlichen Vielfalt, gleichsam
als wäre das Haus der Mutter eine Insel der Dreidimensionalität im Unendlichen und jen-
seits jeglicher Aufgabe“ (KW 5, S. 267 f.).
683 Vgl.: „Der Krieg wütete in Europa und ich machte Geld; die russische Revolution verwandel-
te die ehemalige Siegerklasse ihres Landes in eine von Besiegten oder richtiger in eine von
Leichenbergen, und ich machte Geld; das politische Untier Hitler kam vor meinen Augen
Schritt für Schritt zur Herrschaft, und ich machte Geld“ (KW 5, S. 264).
684 Der begriffliche Weg von der ‚Würde‘ der Aufklärung zur ‚Vermeidung der Traumatisierung‘
stellt dabei keinen bloßen Vorzeichenwechsel dar, was u. a. der postkoloniale Diskurs auf-
zeigt (vgl. Albrecht 2008). Ob man damit dem Belial’schen Dilemma (s. o.) entkommen kann,
ist eine andere Frage. Brochs Text bietet in der Wiederaufnahme eines Themas der Aufklä-
rung einen durchaus skeptischen Ausblick auf die fraglos positiven Versuche, traumatische
Erfahrungen in Krisengebieten zu lindern: „Wir ziehen in den Krieg, wir verfaulen in den
Schützengräben, […] wir verlieren unsere Eingeweide aus der zerrissenen Bauchwand, aber
das Rote Kreuz ist zur Stelle, und unsere Feldspitäler sind zu einem großen Teil sehr mo-
dern ausgestattet, und wer Glück hat, kriegt eine Nasenprothese, eine Mundprothese und
3.4 Die Schuldlosen 363
Während der Imker schematisch den Weisen oder Philosophen darstellt und
ebenso wie Melitta dem Fantastischen zugehört, steht A. zunächst für den
aus der Erschütterung der Identität heraus Suchenden und Irrenden in der
Tradition Eschs aus den Schlafwandlern, der allerdings sukzessive festfriert
(s. u.). Seinem regressiven ödipalen Erzsatzverhältnis, das er radikal akti-
viert – er möchte die Baronin nicht überleben – liegen Leere und Unbe-
stimmtheit zugrunde. Auch die anderen Figuren sind radikal einsam, aller-
dings sind die Frauenfiguren bei Broch auch in dieser Hinsicht unterentwi-
ckelt. Sie werden nicht oder allenfalls kaum zu ‚Schlafwandlern‘, was als
Begriff ja auch ein Ausdruck für die Suche nach neuen Formen literarischer
Symbolbildung ist. Brochs Literatur leidet sichtlich an der Einschätzung des
weiblich Passiven,685 sodass in der Analyse vorwiegend von männlichen
Figuren die Rede war, denen die Diskurspunkte zugeschrieben sind. Die
offensichtlichste Ausnahme waren bisher Mutter Gisson, die sich gerade für
das engere Thema als von entscheidender Bedeutung gezeigt hat, und Bar-
bara in der Verzauberung, deren Figurenbildung außerhalb des Mythischen
durchgeführt wird.
In den Schlafwandlern wird Mutter Hentjen/Frau Esch im Hintergrund ge-
halten. Dass sie sexuell v. a. durch ihren früheren Mann traumatisiert ist,
wird ebenso deutlich, wie dieser Strang eben Nebenhandlung bleibt. An
Ruzena ist zwar der Perspektivenwechsel vom ersten zum zweiten Roman
eine silberne Schädelplatte […] Das sind die Kompromisse […], die wir akzeptieren, […] uns
tröstend, daß das Apokalyptische immerhin noch erträglich sei“ (KW 5, S. 269).
685 In der Broch-Forschung wird in diesem Kontext wiederholt ein möglicher Einfluss von
Weininger diskutiert, bekannt für die Differenz des Männlich-Geistigen und des Weiblich-
Natürlichen. Vgl. zu Broch und Weininger Brude-Firnau 2012, zu weiteren Literaturangaben
s. ebd., S. 16. Bekannt ist die Aussage Brochs im Kontext der Schlafwandler, in der für Mutter
Hentjen Weiblichkeit, Natur und Wertfreiheit gleichgesetzt ist (vgl. KW 1, S. 727).
364 C 3. Broch
686 Ihre Darstellung ist dennoch Zeichen von Brochs technisch ausgeprägter Fähigkeit, Figuren
konsistent aus verschiedenen Beobachtungspositionen zu konstruieren.
687 Vgl. zur Figur der Zerline auch Durzak 1978, S. 148–150, wo ein Vergleich zu Huguenau aus
den Schlafwandlern versucht wird: „Der verabsolutierten Rationalität der Geschäftslogik
tritt die entfesselte Irrationalität von elementaren Gefühlsantrieben gegenüber“ (ebd., S.
149). Gestützt wird diese Deutung durch die Rede vom „Herrschaftsantritt“ der Zerline (KW
5, S. 278), vgl. dazu Durzak 1978, S. 146.
688 Dort, in der schließenden elften Novelle, ist es eine pervertierte Form der Unterwerfung, die
ihr zugeschrieben ist, eine skurrile Steigerung ihres Wunsches gegenüber A., vergewaltigt
zu werden. Der historische Referenzrahmen ist deutlich.
689 Die Indifferenz dem Leiden anderer gegenüber ist, wie hoffentlich deutlich wurde, Brochs
Lebensthema. Hildegard stellt nicht einfach die Negativfolie zu Melitta dar, da sie grundsätz-
lich einem anderen Bereich zugehört.
3.4 Die Schuldlosen 365
„auf das geringste Zeichen [ihrer] Zustimmung hin sofort heiraten würde[.]“.
(KW 5, S. 225) Sie hat ihn also nicht nur in der Nacht, die sie den Triumph
seiner Zerstörung spüren ließ, geschlechtlich ‚ermordet‘, sondern die Nacht
selbst war bloße Fortsetzung ihrer Tat. Die entgrenzte Täterin bleibt indiffe-
rent.
Hildegard antwortet, spricht vom Schicksal, gegen das er sich hätte stem-
men müssen. (KW 5, S. 225) A. solle nicht heucheln, ihm sei mit dieser Lö-
sung gedient, für seine Flucht ins Irreale, ins Jagdhaus – gegen Melitta, gegen
das Leben – was sich mit dem Verweis auf das bevorstehende Morden ver-
bindet.690 Sie weiß wie der steinerne Gast um die radikale Regression A.s, ist
in ihrem Aufzeigen aber schonungsloser, da sie nicht aus der transzenden-
ten Position des (mythischen) Weisen, sondern aus der der eigenen Verstri-
ckung spricht.
Chronologisch schreitet der Text zwar voran, ist aber auch durch die Prä-
senz des Abwesenden bestimmt: „Zeitlos bewohnt das Gedächtnis das Ge-
wesene“.691 Broch verwendet Zeitlosigkeit als ein strukturbildendes Ele-
ment, das der Referenz auf konkrete Zeiträume gegenübertritt, um eine
spezifische Spannung zu erzeugen, in der die traditionelle Chronologie des
690 Vgl. zunächst A.s Gedanken an eine Opernszene sowie seine einsetzende Selbstreflexion des
Bestrebens, ins Irreale zu gelangen, „sich im Irrealen aufzulösen“ (KW 5, S. 228). Am Schluss
dieser die Geschichten schließenden neunten Novelle „gedachte er Melittas, die gemordet
worden war von der Unfreiheit, von der Unfreiheit der Marionetten, weil sie selber frei war.
Denn aller Mord geschieht in der Unfreiheit; sie ist es, die mordet “ (KW 5, S. 232). Diese Ge-
danken ereignen sich am zentralen, symbolisch mehrfach bestimmten ‚Dreiecksplatz‘, deh-
nen sich aus und verweisen auf das kommende Morden, wenn es im Anschluss heißt: „Das
Gewimmel der Marionetten erfüllte den Platz, erfüllte die Häuser um ihn“ (ebd.).
691 KW 5, S. 59. Das ist natürlich ein Gedanke, der sich auf Freud bezieht und der den Sprung
von den Vor-Geschichten zu den Nach-Geschichten auslöscht. Mit der Chronologie des Unbe-
wussten geht es um eine weitere Möglichkeit, die Psychoanalyse literarisch zu nutzen.
366 C 3. Broch
Romans mit einer Chronologie des Unbewussten interagiert. 692 In der ödipa-
len Regression A.s kann so der Gerichtspräsident – Vater, Sprache, Differenz,
Gegenpunkt zur Flucht ins Imaginäre – als Abwesender stets anwesend sein.
A.s Bewegung selbst tritt aus dem Voranschreiten der Zeit heraus und ver-
bindet sich mit dem Tod:
Im Tode erstarrt zu sein, wird hier verknüpft mit dem „Glück der Erstar-
rung“ (Regression), zu dessen Gunsten das Ich sich auflöst. Der Verlust des
Ich zugunsten des Imaginären wird in dem Roman symbolhaft gefasst und
es ist wieder der sich im Leben ausbreitende Tod, der als ‚Zeitdiagnose‘ an
den Vergil anknüpft. Dessen Diskurs zur metaphysischen Leere bleibt prä-
sent. Anders als der Waise Esch der Schlafwandler ist der Waise A. der
Schuldlosen letztlich kein irrend Suchender mit entzündlichem Denken,
sondern ein Namenloser, der sich im Prozess seiner regressiven Selbstauflö-
sung dem Bildlich-Triebhaften und damit der Erstarrung des Todes unter-
wirft. Seine Beichte orientiert sich an der Vorstellung eines historischen
Rückblicks, wo der Exzess des Regressiven bewusst wird. Der Referenzrah-
men, um dies noch einmal zu verdeutlichen, ist 1913 bis 1933, könnten also
etwa, verkürzt und konnotativ formuliert, frühe (intellektuelle) Mitläufer
sein. Thematisiert wird in dem Spiel der Zeitlosigkeit aber auch die grund-
sätzlich stets vorhandene Möglichkeit der Regression ins Nicht-Diskursive.
Für Broch liegt dort, von den Schuldlosen aus gedacht, keine Unio mystica,
sondern Todesfixierung.
Diesen Abschnitt schließend, ist für die engere Thematik dieser Untersu-
chung die Metakritik aus der zweiten Novelle im Auge zu behalten, die sich
gegen deterministische Vorstellungen psychischer Prozesse und eine dem-
entsprechende Codierung wendet. Brochs experimentelle Romane streben
nicht zuletzt mit ihrer jeweiligen formalen Anlage über die selbst gesetzten
Rahmen hinaus. Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich eine offene Lektüre
692 Vgl. etwa die Rede davon wie „alles Sein wieder zu Zeitlosigkeit wurde“ (KW 5, S. 67) oder
die „von nonnenhafter Zeitlosigkeit“ zur Charakterisierung der Gesichter von Zerline und
Hildegard (KW 5, S. 70).
3.4 Die Schuldlosen 367
Schematisch lassen sich die Begriffe der Spät- und Postmoderne durch ihren
unterschiedlichen Bezug zur Moderne unterscheiden. Während der Begriff
der ‚Spätmoderne‘ sich eher als Fortsetzung eines Entwicklungsprozesses
versteht und es für ästhetische Fragen erleichtert, die Weiterführung der
Moderne als Epoche der Kunstgeschichte mit in den Blick zu nehmen, wird
mit dem bekanntlich vielfach bestimmten Begriff der ‚Postmoderne‘ nicht
nur teils eine eigene Epoche oder Stilrichtung proklamiert und auf den Ab-
schluss der vorangegangen Bezug genommen, sondern auch Gegenläufigkeit
v. a. zum sogenannten Projekt der philosophischen Moderne, teils auch zur
ästhetischen Moderne artikuliert.1
In dieser Schrift geht es jenseits von Schablonen darum, exemplarisch einige
signifikante Linien der Fortentwicklung zu skizzieren, weshalb hier, ohne
weiter auf die oben behelfsmäßig skizzierte Unterscheidung eingehen zu
können, im Titel von ‚Spätmoderne‘ die Rede ist. Diese Linien reichen bis
herauf zu Texten der Gegenwart, die nun zumindest teilweise bereits auf die
gegenwärtigen Traumadiskurse antworten. Der Übergang ist dabei teils
gleitend. Während die Verwendung des Traumabegriffs von Mann und
Broch noch vor dem Hintergrund der traumatischen Neurose zu sehen ist,
gilt der Schriftsteller, Psychoanalytiker und Traumaforscher Hans Keilson
mit seinem Werk zu sequentieller Traumatisierung bereits als Mitbegründer
oder Vorläufer der gegenwärtigen Psychotraumatologie. 2 Seine Texte codie-
ren ganz deutlich sich verändernde Vorstellungen von Traumatisierung und
sind nahe an heutigen Beobachtungen. Zeitnahe zu Kurt Eisslers wichtigem
1 Zur Frage des Begriffs der Moderne und der Einteilung der Abschnitte dieser Schrift siehe
auch oben. Vgl. zum überdeterminierten Begriff der Moderne Arbogast Schmitts (besonders
für die folgenden Kapitel) interessanten Versuch, die Frage des Subjekts als gemeinsamen
Horizont zu definieren und gleichzeitig das cartesianische Denken zu desavouieren (Schmitt
2008), was selbst die relativ stabile Setzung der ‚modernen Philosophie‘ untergräbt. Wäh-
rend Übersetzungen des deutschen Ausdrucks ins Englische mindestens modernity, moder-
nism, modern age/times unterscheiden müssen, ist spätestens mit late modernity, second
modernity, post-war modernity und postmodernism die Problemlage der deutschen durchaus
verwandt.
2 Der Wechsel vom Neurose- zum Traumabegriff erfolgt für Keilson in engem Kontext des
Holocausts (s. u.).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
H. Grugger, Trauma – Literatur – Moderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-21102-8_5
370 D 1. Übergang zur Spätmoderne
3 S. o. Der sprechende Titel lautet: Die Ermordung von wievielen seiner Kinder muß ein Mensch
symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben? (Eissler 1963). Wich-
tig ist die lange Geschichte dessen, worauf der Traumadiskurs antwortet.
4 Vgl. zur Spannung auch Keilsons Ausführungen zur Frage einer möglichen Traumatisierung
in der Sexualerziehung (verfasst niederländisch als Problemen in de sexuele opvoeding und
1962 bei Broekman & De Meris erschienen), die noch ganz vom traditionellen psychoanaly-
tischen Diskurs getragen sind (vgl. Keilson 1966 im Unterschied zur Sequentiellen Traumati-
sierung und zu seiner Poetik, einschließlich der Essays).
5 Zu Keilsons Poetik vgl. in diesem Zusammenhang Detering 2013 sowie Grugger 2013a;
heute besteht weitgehend Einigkeit, dass für Fragen des ‚Traumas‘ scheinbare wissenschaft-
liche Neutralität keine akzeptable Position darstellt.
6 Die Psychoanalyse, und zwar vor ihrer dialektischen Variante von Fischer (s. o.), stellt den
eindeutigen Bezugspunkt der traumatischen Neurose dar. Eine breitere ästhetische Reakti-
on auf die gegenwärtigen Traumadiskurse lässt sich ab der zunehmenden Etablierung des
Traumabegriffs in den 1990ern feststellen.
7 Vgl.: „Das Problem der Repräsentierbarkeit jenes Geschehens, das mit den gebräuchlichen
Bezeichnungen ‚Holocaust‘ oder ‚Shoah‘ nur angedeutet ist, hat mittlerweile Generationen
von Literatur- und Medienwissenschaftlern, Filmkritikern und Historikern beschäftigt. Im-
mer wieder sind dabei auch exemplarische Einzelwerke erörtert worden, die Dichtungen
Paul Celans oder Nelly Sachs’ etwa, die Ermittlung von Peter Weiss, die Berichte Primo Levis
oder Ruth Klügers, die Comics von Art Spiegelman und Kino- und Fernsehfilme wie Marvin
J. Chomskys Holocaust, Claude Lanzmans Shoah oder Steven Spielbergs Schindler’ List (um
nur einige der meistdiskutierten Beispiele zu nennen)“ (Detering 2013, S. 127).
1.1 Sofskys Studie zum System des Konzentrationslagers 371
Sofskys Studie stellt eine umfassende Analyse des Systems der Konzentrati-
onslager dar10 und beschreibt sie nicht in Gegenläufigkeit, sondern in Ver-
bindung zur Moderne.11 Dabei liefert er einleitend eine fraglos notwendige,
8 Sofskys Habilitationsschrift bietet neben der soziologischen Theorie eine umfassende Do-
kumentation der Aufzeichnungen und Zeugnisse aus dem Terrorsystem der NS-Lager.
9 Während im Vergil oder Dr. Faustus der Blick auf präsente Ereignisse gerichtet ist, geht es
nun um den Umgang mit vergangenen Ereignissen. Vgl. für die Fortsetzung dieses Diskurses
bis heute die Verleihung des Nobelpreises an Imre Kertész 2002. Zum wichtigen Roman ei-
nes Schicksallosen und der Frage des Traumas vgl. Reemtsma 2000. Kertész codiert hier lite-
rarisch, in Auseinandersetzung mit seinen eigenen Erfahrungen, die Sozialisation eines Ju-
gendlichen in Auschwitz, wobei die ‚Bodenlosigkeit’, wie sie oben für Kafkas Schloß geschil-
dert wurde, einen wichtigen Hintergrund bildet.
10 Neben der Aufarbeitung der Fakten über die zugänglichen Daten und ihrer soziologischen
Interpretation auf der Grundlage der Machttheorie von Foucault, dem Begriff der ‚totalen
Institution‘, popularisiert von Goffman, und der Feldtheorie Bourdieus sowie dessen Be-
griffs des Habitus, versucht Sofsky eine Auseinandersetzung mit dem Spezifikum der litera-
rischen Darstellungen von Robert Antelme über Primo Levi bis zu Jean Améry und stützt
sich auf zahlreiche persönliche, im Sinne der Zeugenschaft verfasste Erfahrungsberichte.
11 Zum Topos des Fortschritts wider alle Erfahrung vgl. besonders Sofsky 2008, S. 315 f. Die
Rede vom „Rückfall in die Barbarei“ wird dabei als Abwehr gegen den „beunruhigenden Ge-
danken“ verstanden (ebd., S. 315), „daß organisierter Terror von Tendenzen herrühren
könnte, die in der Struktur der modernen Gesellschaft angelegt sind“ (ebd., S. 316). Die Nähe
372 D 1. Übergang zur Spätmoderne
zur zeitnahen theoretischen Auseinandersetzung mit Holocaust und Moderne bei Zygmunt
Bauman ist deutlich (vgl. Bauman 1989).
12 Einbezogen in die Argumentation ist die Problematik des Begriffs der ‚Unverstehbarkeit‘,
wenn dieser außerhalb der Perspektive der Überlebenden geführt wird. Die Ereignisse sind
sozusagen nicht ‚unaussprechlich‘, sondern in ihrem Schrecken dokumentiert (vgl. ebd., S.
19 f.). Unaussprechlichkeit wäre so bezogen auf das Erleben und auf die Wiedergabe des
Entsetzlichen zu verstehen.
13 Sofsky 2008, S. 36. Zur Entgrenzung des Täters s. auch den Abschnitt zu Brochs Tod des
Vergil.
14 Vgl. ebd., S. 275. Der soziologische Zugang bricht den Topos des ‚Cycle of Violence‘ auf und
zeigt, sozusagen in der Tradition von Brochs Tod des Vergil, die stete Möglichkeit zu Ge-
waltexzessen auf.
15 In unterschiedlichen Fassungen ist die Frage des ‚autoritären Charakters‘ verbunden u. a.
mit Arbeiten von Wilhelm Reich, Erich Fromm oder T. W. Adorno bis zu Stanley Milgrams
1961 begonnenen, zum festen Begriff gewordenen Experimenten an der Yale University zu
‚Gehorsamkeit gegenüber Autoritätsfiguren‘. Vgl. kritisch zu Fragen der Übertragbarkeit
Waller 2007, S. 111 f.
16 Vgl. etwa Sofsky 2008, S. 69 bzw. passim. Während sich Versklavung und Ausbeutung noch
auf ‚Zweckrationalität‘ beziehen, funktioniert absolute Macht, verkürzt dargestellt, als rela-
tiv zweckfreie Selbstreproduktion des Terrors.
1.1 Sofskys Studie zum System des Konzentrationslagers 373
17 Dies setzt den Diskurs von/um Hannah Arendt fort. Bereits 1946 spricht Benedikt Kautsky
von bürokratischen SS-Tätern, die nicht ihre Mittagspause versäumen möchten (vgl. Kaut-
sky 1946, S. 79). Noch Michael Haneke spricht im Interview mit Roy Grundmann zum Wei-
ßen Band von der erschütternden Erfahrung der ‚Durchschnittlichkeit‘ Eichmanns, der, von
Fanatismus getragen, seine Arbeit als pflichtbewusster Beamter ausgeführt habe (vgl. Han-
eke in Grundmann 2010, S. 596). Ein völlig anderes (realitätsnäheres) Bild liefert freilich
Löb 2008, wenn der mit absoluter Entschlossenheit den Holocaust in Ungarn organisieren-
de Eichmann als tragender Teil des nazistischen Systems dargestellt wird. Die Gefahr dieses
Diskurses besteht darin, dass der vor dem Gericht Angeklagte (Eichmann) – oder auch der
in der Nachkriegsordnung zurückgezogen Lebende (Sofskys ‚Durchschnittsmenschen‘) – mit
dem mit absoluter Macht agierenden Täter verwechselt wird und der Technokratiediskurs
den Blick auf die Handelnden trübt. Dass etwa Arendt selbst auf die Dämonisierung des Ein-
zelnen zur Entlastung der vielen antwortet, ist hinreichend bekannt.
18 Dass sie wieder zurückgekehrt sind und sich eingliedern konnten, ist, anders als Sofsky
nahelegt, kein Ausdruck ihrer ‚Durchschnittlichkeit‘. Die Frage ist doch, wie sie zurückge-
kehrt sind, die Differenz besteht im Geschehenen. Im Diskurs der Aufklärung hätten sie ihre
‚Menschlichkeit‘ und ‚Würde‘ verloren, und zwar durch ihre Taten, noch unabhängig von der
Frage ihrer Wahlmöglichkeiten. In dichotomen religiösen Systemen wären sie Ausdruck des
‚Negativen‘, dem allerdings partiell die christliche Variante ‚allgemeiner Menschlichkeit‘ ge-
genübergestellt ist. Der Verzicht auf die Diskursivierung der Täter als solcher kann in jedem
Fall nicht die Lösung sein (s. o. zur ‚Don-Belial-Problematik).
19 Um deutlich zu sein: Sofskys Untersuchung ist von höchster Bedeutung. Das Problem ist die
Hypostasierung absoluter Macht, ein Prozess, der bereits bei Foucault Machtbegriff – trotz
aller Bemühung um eine konsequent nominalistische Position – spürbar ist. ‚Absolute
Macht‘ wird trotz der auch hier klar nominalistischen Position im Schreiben an mehreren
Orten gleichsam personifiziert und als eigener Agens beschrieben, wobei der Begriff zu ei-
nem Schlüssel für Heterogenes zu werden droht.
20 Vgl.: „als wollten sie [die SS] das Gewicht der Schuld auf die Opfer abwälzen“ (Sofsky 2008,
S. 305).
374 D 1. Übergang zur Spätmoderne
• Absolute Ohnmacht gegenüber der totalen Macht und stete Präsenz von
Gewaltexzessen, Folter und Tod;
• Ritual als Zerstörung der persönlichen Geschichte und bereits Einwei-
sungszeremonien als Erschütterung der Menschen in ihrer Grundlage;25
• systematische Verelendung;26
• Ziel des Zusammenbruchs der Identität (vgl. S. 98) und letztlich des
Todes;
21 Ebd., S. 35. Vgl. die ‚Experimente‘ der SS, Menschen zu Hunden machen, sie dazu zu bringen,
dass sie bellen (S. 260). Dass Adorno Sartre in der Negativen Dialektik das utopische Bild
der Freiheit von Zwangsalternativen als ihre Voraussetzung entgegenhält, wird hier auf ka-
tastrophale Art und Weise bestätigt: ‚Individualität‘ zeigt sich als eine Möglichkeit unter be-
stimmten Bedingungen. Seine Kritik richtet sich bekanntlich gegen Sartres Reduktion von
Freiheit auf „die [bloße] Entscheidung in einer Art Regression aufs achtzehnte Jahrhundert“
(Adorno 1990, S. 225).
22 Vgl. Sofsky 2008, S. 275. Er bringt zahlreiche Beispiele für dieses Verfahren.
23 Noch die absurde Äußerung von Boris Yellnikoff, New Yorker Misanthrop und Zwangsneu-
rotiker in Woody Allens Whatever Works (2009), alle verantwortungsbewussten Eltern
würden ihre Kinder in Konzentrationslager senden, um ihnen zu zeigen, wozu die menschli-
che Rasse fähig ist, spricht von den Konsequenzen.
24 Vgl. Sofsky 2008, S. 229–236, u. s. 363, Anm. 7, mit Verweis auf Ryn/Kłodziński 1995.
25 Vgl. Sofsky 2008, S. 99–101. Sofsky argumentiert besonders hier implizit vom Konzept der
‚Shattered Assumptions‘ aus (s. Abschnitt A). Bereits die Einweisungszeremonie „zerstörte
den Zusammenhang einer persönlichen Geschichte“ (ebd., S. 99), „stieß [den Menschen] in
einen Zustand vollkommener Wehrlosigkeit und zertrümmerte die Grundannahmen der
menschlichen Existenz.“ Vgl. für die soziale Dimension und für die Erschütterung von
Grundannahmen durch das System Konzentrationslager: „Die Idealisierung einer unsterbli-
chen Gesellschaft, die dem Alltagsdenken wie der Soziologie insgeheim zugrunde liegt, ist
zersprengt“ (ebd., S. 10). Zum Terror als Schauspiel vgl. ebd., S. 251.
26 Vgl. ebd., S. 37, auch zu extremer Armut, sowie das Kapitel zu Seuchen in ebd., S. 237–245.
Zu Armut als Trauma s. auch oben.
1.1 Sofskys Studie zum System des Konzentrationslagers 375
Die Bedeutungslosigkeit des Terrors ist ein weiterer zentraler Punkt seiner
Studie, sie wird literarisch u. a. in Ágota Kristófs weiter unten diskutierter
Trilogie aufgegriffen. Der Gewaltakt bedeutet für den sich entgrenzenden
Täter nichts und lässt das versachlichte Opfer in absoluter Ohnmacht zu-
rück.30 Bereits Einzeluntersuchungen wie Medizin ohne Menschlichkeit31
sind in der vielfach belegten Indifferenz der Täter gegenüber ihren zu Ver-
suchsobjekten degradierten Opfern kaum erträglich. Die Ordnung des Ter-
rors lässt den Lesenden gerade in der umfassenden Beschreibung und
kommentierenden Sammlung der Taten, die nicht zeitlos, aber auch nicht in
spezifisch deutschem (autoritärem) Charakter gefasst werden, in einer kaf-
kaesken Welt des Bedeutungslosen zurück. In diesem Universum absoluter
Gleichgültigkeit32 stößt noch Werner Schwabs radikal dissoziierender Mein
Hundemund (s. u.) an dieselbe Grenze wie Brochs Vergil, der gerade diese
Indifferenz artikulierte.33 Denn spürbare Voraussetzung für das System der
27 Vgl. ebd., S. 195; vgl. auch S. 261 zur Tortur als radikalster Negation jeglicher Sozialität.
28 Vgl. zu extremsten Formen erzwungener Kollaboration in den ‚Sonderkommandos‘ ebd.,
S. 309.
29 Ebd., S. 319. Anders gesagt: Terror traumatisiert. Sofsky ist hier sehr nahe an der Trauma-
Definition von Fischer/Riedesser (s. o.).
30 Vgl. etwa: „Der Täter erprobte, was das Opfer ‚aushielt‘, was alles er mit ihm anstellen konn-
te. Manchmal unterbrach er die Prozedur, um nebenan eine Zigarette zu rauchen oder sein
Frühstück einzunehmen. Und wenn das Opfer wider Erwarten überlebte, wurde es kurzer-
hand erschossen, erschlagen, vergiftet oder aber, auch dies ist gelegentlich vorgekommen,
freigelassen und mit Rauchwaren beschenkt“ (ebd., S. 261).
31 Mitscherlich/Mielke 2012.
32 Mit dieser Darstellung knüpft Sofsky implizit an Brochs oben skizziertes Ausgangsthema der
Moderne, die Gleichgültigkeit in den Schlafwandlern, an, die als Brücke zu den anderen
Werken, v. a. zum Tod des Vergil gesehen werden kann. Broch steht dem Modell der absolu-
ten Macht an mehreren Punkten nahe; in der gedanklichen Welt der Schlafwandler wäre von
Autonomisierung der Macht zu sprechen, die zu ihrem radikalsten Punkt hin strebt.
33 Noch die Arbeiten von Keilson oder Améry sind ebenso von dieser Bedeutungslosigkeit
betroffen wie Thomas Manns sich entziehendes Grauen im Dr. Faustus. Selbst Kafkas dekon-
struierende Welt des Schlosses verliert ihr (fiktional allerdings bereits ‚ausgeklammertes‘)
Gegenüber.
376 D 1. Übergang zur Spätmoderne
Literatur ist eine Ordnung von Bedeutungen, selbst wenn sich diese in de-
konstruierter oder sich auflösender, zersetzter Form präsentiert. Dies gilt
analog für den Traumadiskurs und dessen Versuch, auf Indifferenz zu ant-
worten.
Durch die neue Dimension der Gewalt in der ‚Ordnung des Terrors‘ verbin-
det sich die Tradition des Authentizitätsdiskurses mit einem vielschichtigen
literarischen Diskurs der Zeugenschaft bzw., mit dem englischen Ausdruck
gefasst, der Testimony,34 der sich nun bereits über mehr als ein halbes Jahr-
hundert erstreckt. Das umschließt neben den von Sofsky bearbeiteten un-
mittelbaren Erfahrungsberichten zahlreiche Textsorten, in denen unter-
schiedlich Fragen literarischer Zeugenschaft nachgegangen wird, zu denen
kanonisch gewordene Texte der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur
zählen.
schen treu naiver und wissender Position oszilliert. Gerade die Naivität ist
notwendig, um die Inszenierung von Leverkühns Teufelsvision mit der Mög-
lichkeit einer realen Begegnung anzureichern. Stets sind hinter dem Erzäh-
ler alternative Erzählstimmen präsent, über die eine komplexe Verweis-
struktur aufgebaut wird.
Auf die beiden Pole der modernen Sprachkrise – Unaussprechliches und
Nicht-Hintergehbarkeit der Sprache – antwortet der Text mit einerseits
(ästhetischer) Überdetermination und andererseits einem Spiel differenter
Sprachen.37 Der letzte Punkt der Aufzeichnungsfläche Leverkühn ist der
Sprachzerfall, Zeitbloms mehrfach relativierter Schlussstein ist seine Ver-
knüpfung mit Deutschland:
Umberto Eco nannte dieses Verfahren: „Alles begreiflich machen durch ei-
nen, der nichts begreift“.38 Die Figur Zeitbloms mit ihrer Naivität ermöglicht
Sätze dieser Art, während Leverkühns Paralyse eine deutlich komplexere
Form der Klage darstellt.39 Der Durchlauf durch die Kunstgeschichte, an
dessen Höhepunkt sich das Avancierteste mit dem Traditionellen verei-
nigt40, endet für ihn in der Ich-Zersetzung, die sich mit ‚Fausti Weheklag‘
verbindet. Dass Zeitblom das Schicksal Leverkühns ‚so irgendwie‘ als Auf-
37 Vgl. Grugger 2013c, S. 178 f., mit Bezug auf Saße 1977. Zur Ablösung der Sprache vom Spre-
cher im „Dicis et non es“ vgl. Grugger 2013c, S. 195.
38 Eco 2012, S. 42. Vgl. zu seiner frühen und prägnanten Diskussion der unzuverlässigen Er-
zählerstimme auch 2012, S. 41 bzw. Grugger 2013c, S. 181.
39 Zu Klage als Form zwischen Sprache und Nicht-Sprache sowie zur ‚Faust-Werdung‘ Lever-
kühns vgl. ebd., S. 199 f.
40 An diesem Punkt treffen sich, dem Modell von Kleists Über das Marionettentheater folgend,
die absolute Reflexion und Strenge mit dem höchsten Ausdruck an Freiheit, der Affekt und
das Sprachlose mit der Sprache (vgl. ebd., S. 188 f.).
378 D 1. Übergang zur Spätmoderne
41 Als Künstlerfigur wird Leverkühn als ‚Medium‘ an die Tradition geknüpft und so zur (ambi-
valenten) Christusfiguration im Sinne von Marx 2002.
42 Mann schreibt über die Kölner Bordellerfahrung Nietzsches im Sinne eines präsent bleiben-
den ‚Traumas‘, der damaligen begrifflichen Konzeption entsprechend: „Am nächsten Tag hat
er dem Kameraden dies Erlebnis gewiß unter Lachen erzählt. […] Es war aber nicht mehr
und nicht weniger, als was die Psychologen ein ‚Trauma‘ nennen, eine Erschütterung, deren
wachsende, die Phantasie nie wieder loslassende Nachwirkung von der Empfänglichkeit des
Heiligen für die Sünde zeugt. Im vierten Teil des ‚Zarathustra‘, entstanden zwanzig Jahre
später, findet sich, in dem Kapitel ‚Unter Töchtern der Wüste‘ ein orientalisierendes Gedicht,
dessen gräßliche Scherzhaftigkeit eine kasteite Sinnlichkeit und ihre Nöte, bei schon gelo-
ckerten Hemmungen, mit qualvoller Geschmacklosigkeit verrät“ (Mann 2009, S. 189 f.).
Die Züge Nietzsches im Text sind vor allem biographische wie „die geographische Herkunft,
das geistige Milieu der Jugend, die intellektuelle Frühreife, die syphilitische Ansteckung, der
Krankheitsverlauf, die Ecce Homo-Pose, die Jahre der Umnachtung, schließlich das Todesda-
tum“ (Vaget 2015, S. 70). Die von Freud inspirierte Zeitlosigkeit des Unbewussten ist auch
Thema der Schuldlosen, s. o.
43 Vgl. im Detail Grugger 2013c, S. 198 f.
44 Der Kontext ist seine Paralyse, die mit dem sexuellen Trauma beginnt und über die Visio
zum Sprach- und Subjektzerfall im Monolog zu Fausti Weheklag führt. Vgl. zur Rezeption
dieser Stelle bei Keilson Detering 2013, S. 131 sowie Grugger 2013a, S. 146.
1.2 Von Dr. Faustus zu Keilson und Améry 379
Dass hier die Zeitlosigkeit der Folter mit markiert ist und die Frage des
sprachlichen Verweises auf sie gestellt ist, setzt den möglichen Bezug zum
NS-Terror, wo analog zum Bild der Hölle „alles aufhört, jedes Erbarmen,
jede Gnade, jede Schonung, jede letzte Spur von Rücksicht“. (Ebd.)46 Der
Text zeigt sich so als literarischer Versuch jenseits des Repräsentationsto-
pos und wird gerade in seinem fortlaufenden Diskurs zu Sprache und
Schweigen, der hier nur angedeutet werden kann, von Hans Keilson und
Jean Améry angenommen.
Die vielfache Verschränkung von Leverkühns Visio mit seiner schließenden
Paralyse bietet einen Kontrast zu den oben zitierten naiven Schlussworten
Zeitbloms.47 Markiert ist sie etwa durch Progression der Syphilis, alt-
deutsch-faustische Atmosphäre, Loslösung der Sprache vom Sprechenden,
den Verweis auf die Grenze des Sprachlichen, die Zerfallsprozesse sowie den
Kunstdiskurs. Der Sache wäre wenig gedient, wenn anstelle der in der Re-
zeptionsgeschichte dominanten, Zeitblom’schen Gleichsetzung Leverkühns
und Deutschlands nun die in Dissoziation verstummende Aufzeichnungsflä-
che als ‚eigentlicher‘ Kern des Romans propagiert würde.48 Die Codierung
traumatischer Ereignisse erfolgt im Dr. Faustus über die Wechselbeziehung
der Elemente: ein Verfahren, das Manns Text mit Brochs Hauptromanen
teilt.49
Analog zum Vergil ist die Verknüpfung von Kunst und Trauma (s. o.). Schlie-
ßend sei zumindest skizziert, wie sich diese über den Text darstellt. Lever-
kühns ‚Trauma‘, das Mann anhand seiner Lektüre von Nietzsches Bordellbe-
such entwickelt, lässt sich in drei Hauptschritte zerlegen, die an einer mögli-
chen Lesart kurz demonstriert seien. Leverkühns sexuelles Trauma, ver-
45 Markiert sind hier auch das Ende bzw. Jenseits von Vernunft und Sprache.
46 Vgl. zu dieser Stelle die Ausführungen im Thomas-Mann-Handbuch, Koopmann 2001, S. 491.
47 Die Visio ist entlang der Meditationen Descartes’ strukturiert (vgl. Grugger 2013c) und
verweist auf den Seher-Dichter, den Poeta vates, der das Kommende intuitiv antizipiert.
48 Es ginge also um den Sprach- und Subjektzerfall Leverkühns als Ahnung, worin sich die
Vision einschreibt, und als Prozess sowie um das Ende der gegenüber dem Terror ver-
stummenden Kunst (s. u.). Bereits Koopmann 2001 wies zurecht einen Kern des Romans zu-
rück (vgl. S. 494), vgl. auch Grugger 2013c, S. 183. Die meisten Schichten des Romans kön-
nen hier nicht einmal andiskutiert werden. Die Doppelung Erzähler und entkoppelte Paraly-
se als von Mann skizzierter traumatischer Prozess ist aber ein zu wenig gesehenes Element.
49 S. oben zu den Schlafwandlern, wo die Interaktion der vier Schichten bedeutend war und
nicht auf die Essays reduziert werden kann, aber auch zur komplexen musikalisch-lyrischen
Komposition des Vergil und zur Verknüpfung der Schuldlosen.
380 D 1. Übergang zur Spätmoderne
50 Erdle verweist auf die zunehmende Bedeutung der „zwischen Theorie und Dichtung glei-
tende[n] Essays“ ab den 1980ern (Erdle 2004, S. 7) und charakterisiert Keilsons Schreib-
weise als „geprägt durch seine Haltung, die Widersprüche, Risse, Ambivalenzen, Diskontinu-
itäten nicht neutralisiert, harmonisiert oder auflöst, sondern sie erkennbar macht (ebd.,
S. 9).
51 Vgl. Grugger 2013a. Zu Sprache und Bezug auf Wittgenstein vgl. ebd. sowie Detering 2013
52 Zu Keilsons Thematisierung der Erinnerung und ihrer sprachlichen Umsetzung vgl. ebd.,
S 142 f.
53 Deutlich ist die Reaktion auf Lorenzer 1966 (s. o.). Probleme mit einer als verpflichtend
gesehenen ‚objektiven Haltung‘, die bestimmte Sprechweisen ausschließt, führen zu einem
kritischen Blickpunkt auf die verwendete eigene Sprache.
54 Vgl. zum Kontext der Datierung Weymann 2013, S. 72, mit vielen Hinweisen zur traumati-
schen Struktur (ebd. S. 74–89) sowie Grugger 2013a, S. 146–151.
55 Vgl. näher ebd., S. 146 f. Ausgangspunkt ist die Angst der Eltern vor dem Kommenden, dem
sie ohnmächtig gegenüberstehen.
1.3 Hans Keilson 381
Zur Illustration und weiteren Analyse der auf Trauma bezogenen, intersub-
jektiven Poetik Keilsons sei im Folgenden auf das Gedicht Auch Eurydice
eingegangen, mit dem an die oben behandelte Orpheus-Thematik der Mo-
derne angeschlossen wird und in dem sich zentrale Punkte seines Schrei-
bens konzentrieren:
Auch Eurydice
56 Vgl. ebd., S. 149 f. Vgl. oben zur Problematik der ‚unbewussten‘ transgenerationalen Weiter-
gabe in Baer/Frick-Baer 2010.
57 Keilson 2005a, S. 355.
58 Ebd., S. 407. Die Rede ist auch von Kind-Werden und von Geborgenheit.
59 Dieser Punkt stellt eine überarbeitete Wiedergabe von Punkt 3: „Sprache und Schrei im
intersubjektiven Zwischenraum von Auch Eurydice“ in Grugger 2013a, S. 152–154 dar.
382 D 1. Übergang zur Spätmoderne
andere hinweise
beide wanderten
der Tartaronaut voran
bereits auf der andern seite
des Styx
Charon teerte das boot
schon tropfte
der erste lichtstrahl
in den schacht
da schreit Eurydice
verwundet
ein riß
auf der netzhaut der ängste
Orpheus
betäubt von
innerem Gesang
stapft weiter
ein sieger
und
geblendet
doch seine leier
die tiefste seite
vernimmt den schrei und
beginnt zu tönen
feindschaft der gebirge
seuchen der flüsse
elend der kunststoffe
und
mulitple
sklerotische informationen
widerwillig fühlt
Orpheus
die drohung fremder
kadenzen in
seiner ohrmuschel
sie weigern
verstummt ahnt er
künftige niederlagen
im moment des
entsetzens
60 Der Abdruck des Gedichts erfolgt nach Keilson 2005b, S, 55–57, die Seitenumbrüche werden
als Zeilenumbrüche wiedergegeben. Paul Celans Verschränkung von Sprache und Schwei-
gen, die sich, mit Saße argumentiert, auf einen sprachtranszendenten Bereich bezieht (Saße
1977, S. 85) und die hier unmittelbar evoziert wird, ist in Mahler-Bungers 2000 analysiert.
384 D 1. Übergang zur Spätmoderne
vermag. Im Spiegel des Verlaufs des Gedichts erweisen sich die einleitenden
sieben Tage Weinen als Form gefasster Trauer. Zunächst wird dieses Wei-
nen ironisierend61 dem Bericht von „stammelndem lebewohl“ als intensive-
res gegenübergestellt, um in der dritten Strophe die rahmende Emotion in
das prägende Bild überzuführen: in den zentralen Schrei der Eurydike, wel-
cher außerhalb von gebrochener Sprache und regulierter Trauer vom
Schrecken kündet. Das Entsetzen klingt erst in der vorletzten Strophe ab,
um wieder an den Anfang zurückzuführen, wenn es heißt: „zusammen wein-
ten sie / voneinander geschieden /schweifend an den ufern“.
Der abgegrenzte Schluss: „Charon teerte sein Boot“, der die Thematik des
gleichgültigen Beobachters evoziert, erfolgt als Wiederholung, die ebenso
wie ‚geordnetes Weinen und Trauer‘ das transgressive Entsetzen einklam-
mert. Für die semantische Strukturierung des Gedichts lässt sich also von
der klammerbildenden gefassten Emotion des Weinens die transgressive
Binnenstruktur abheben. Als Musiker umrahmt Keilson das im Zentrum
angesetzte Entsetzen mit Ouvertüre und Ausklang, ohne diesem dadurch
seinen Schrecken zu nehmen. Zwar irritiert das umrahmend Gefasste durch
seinen emotionalen Kontrast zum Entsetzen des Zentrums, dennoch sind
Schrei und Riss deutlich genug ausgeführt, um jegliche Leichtigkeit aus dem
Geschehen zu entfernen. Wird das Weinen als Struktur analog zu Sprache
gelesen, so dringt von den Rändern her die Sprache in das unglaubliche
Geschehen ein, welches sich, wenngleich lyrisch, in nachvollziehbarer Ord-
nung vollzieht, ohne dadurch seinen Ausdruck als Ganzes zu finden.
Im Kontext von Keilsons Poetik eines ‚intersubjektiven Schreis ins Leere‘ ist
zunächst deutlich, wie das Verhältnis von Sprache und Schrei als reziprokes
dargestellt wird, um sich lyrisch zu visualisieren. Auch der Aspekt des (ge-
brochenen) Intersubjektiven ist durch die Aufnahme des Schreis über das
Instrument der Leier bildhaft prägnant erfasst, wobei die Leier für die hier
anklingende höchste Form der geordneten Sprache in Verbindung mit dem
Sänger steht. Von dem Instrument der Leier greift der Schrei auf die Stimme
selbst über, wenn Orpheus Stimmbänder, „ohne fehl“, sich der Innervierung
verweigern, versagt die Sprache gegenüber dem Schrecken. Mehr noch: sie
wird von diesem zersetzt. Vom Trauma der Eurydice zur Ordnung des
Orpheus führt ein Weg, den dieser nicht gehen kann, da er selbst von ihm
überwältigt würde. Keilsons gegen Wittgensteins Diktum vom Schweigen
61 Offensichtlich ist die ironische Umkehrung, da ja nicht der Inhalt des Mythos als solcher
wissenschaftlich erforscht wird, sondern dessen Darstellungsweise bzw. Funktion. Gleich-
zeitig spiegelt sich assoziativ über die Integration des transgressiven Terrors in die ordnen-
de Welt der Mythologie die Gesamtbewegung des Gedichts.
1.3 Hans Keilson 385
geäußertes: „Man sollte es immer wieder aufs neue versuchen“, 62 lässt sich
hier auf die Darstellungsform des Gedichts beziehen, dessen Versprachli-
chung den Schrecken des Traumas in Wort und Bild aufzunehmen vermag,
ohne ihn zu reduzieren, worauf die Beschreibung von Auch Eurydice nur zu
verweisen vermag.
Das Gedicht ist als ein Versagen der Sprache gegenüber dem Schrei zu le-
sen;63 es ist das Übergreifen des Schreckens auf die Ordnung, das vorgeführt
wird – ein Schrei, der in die höchste Form der Sprache eindringt, so wie sie
der Sänger Orpheus auch in der Moderne symbolisiert (s. o.). Der intersub-
jektive Raum zwischen Eurydice und Orpheus ist durch die Ausbreitung des
Schreis auf die Leier markiert. Wenn der Sänger hier von „innerem gesang“
betäubt ist, ein geblendeter Sieger, so ist er es, welcher den eindringenden
Schrecken nicht wahrnimmt, von ihm nicht getroffen ist, bis der Schrei der
Toten zu ihm dringt.64 Er ist es auch, der von der (sich zersetzenden) Hoff-
nung getragen ist, die Geschehnisse könnten rückgängig gemacht werden.
Das in das Totenreich eindringende Licht ist das symbolisch gefasste Grauen
des Lebens, vielleicht auch der Erinnerung, das bei Eurydice zum Riss „auf
der netzhaut der ängste führt“ und über ihren Schrei auf Orpheus’ apollini-
sche Harmonie, auf seine Doppelidentität als Sieger und Geblendeter über-
zugreifen beginnt, als der seine Identität zersetzende Klang des Schreckens.
In der geschilderten Aufnahme durch die Leier wird zu der nicht integrier-
baren Information gleichsam historisch vorangeschritten. Assoziative Räu-
me werden eröffnet, aber sie sind zu zahlreich, um sie festzumachen. Es fällt
auf, dass auf dem Weg von mit mythologischen Momenten deutlich ver-
knüpften Naturbegriffen über Kunststoffe (Chemie) zu sich zersetzenden
Informationen (Medizin) der Schrecken zum „Weltschrecken“ wird, zeitlich
aus der Antike in die Neuzeit übersetzt, womit an die „neuere[n] forschun-
gen“ am Anfang des Gedichts angeknüpft ist. Was stattfindet, ist eine suk-
zessive Transposition in moderne Formen des Terrors.
Wenn Orpheus’ Leier im Aufnehmen des Schreis der Eurydice tönt, der dem
Eindringen des Lichts, der Welt, durch den Schacht entspringt, markiert
62 Keilson 2005c, S. 149. Vgl. Grugger 2013a, S. 145 f. sowie Detering 2013, S. 128–133. Zum
Kontext von Wittgensteins Zitat und seinem Verhältnis zu literarischen Texten vgl. etwa
Roth 2012, S. 187 f.
63 Auf einer höheren Ebene ist die Sprachlosigkeit des Entsetzens durch die Möglichkeit des
Gedichts zumindest partiell aufgehoben. Die Mittel moderner Lyrik halten dabei dem Schrei
stand und vermögen ihn sozusagen in ihre bildhafte Sprache mit aufzunehmen.
64 „die drohung fremder / kadenzen in / seiner ohrmuschel“ kannn im Sinne der Trauma-
Metapher des Fremdkörpers gelesen werden, die Keilson auch im Tod des Widersachers
nutzt (vgl. Grugger 2013a, S. 147).
386 D 1. Übergang zur Spätmoderne
1.4 Jean Amérys Lefeu oder Der Abbruch vor dem Hintergrund der
Essaysammlung Jenseits von Schuld und Sühne
65 Améry 2007a, S. 485. Aus Lefeu wird in der Folge mit der Sigle ‚L‘ zitiert. Wenn Lefeu von
Heimat spricht, die er traumverloren suchen müsse (vgl. ebd., S. 454), so sind die Suchpro-
zesse in den Schlafwandlern evoziert. Zum Kontext der Stelle in Lefeu vgl. Heidelberger-
Leonard 2005, S. 279. Vgl. auch Unmeisterliche Wanderjahre, wo sich Améry im Sinne eines
‚Bekenntnisses zur Moderne‘ auf die (schwindenden) Protagonisten von Musils Mann ohne
Eigenschaften, Manns Zauberberg und Joyces’ Ulysses als lebenslange Begleiter bezieht und
sich zugleich – im Sinne des in Lefeu thematischen Traditionsverlusts (s. u.) – von Projekten
der Gegenwartsautoren Frisch und Johnson abgrenzt (Améry 2002, S. 333).
1.4 Jean Améry 387
onal wird über die deutschen Kunsthändler ein Bruch im Verständnis zur
Tradition diskutiert, den der Autor zu überwinden sucht (s. u.). 66 Den ge-
wollten Anschluss nach hinten bezeichnet er als das Werk „eines Unzeitge-
mäßen“ und als „gegen die Epoche“ gerichtet. 67
Während nicht nur deutschsprachige Texte zu Trauma und Folter immer
wieder auf die in Amérys Essaysammlung Jenseits von Schuld und Sühne
festgehaltenen Erfahrungen und Reflexionen Bezug nehmen,68 steht Lefeu
demgegenüber zurück und findet erst in jüngerer Zeit vermehrt Aufmerk-
samkeit für entsprechende Fragestellungen. 69 Maria Lassmann etwa kon-
zentriert sich auf Körpergedächtnis und die Codierung von Trauma, wobei
sie auf Sylvia Weilers Améry-Studie aufbauen kann.70 Irene Heidelberger-
Leonard spricht von Vergangenheitsvergegenwärtigung anstelle von ihrer
Bewältigung und Marisa Siguan diskutiert Sagbarkeit sowie Vergegenwärti-
gung des Schmerzes als Grundthematiken Amérys. 71 Weiler selbst beleuch-
tet Amérys Sprach- und Erinnerungsdiskurs in Lefeu vorwiegend über das
Fünfeck Sartre, Merleau-Ponty, Adorno, Barthes und Foucault im Kontext
des Diskurses der Entstehungszeit.72
66 Über die deutschen Kunsthändler in Lefeu wird auch einer der expliziten intertextuellen
Verweise auf den Dr. Faustus durchgeführt (auf den Pariser Kunsthändler Saul Fitelberg, vgl.
L, S. 347 u. 393), der eine weitere wichtige Vorlage für Amérys Projekt darstellt. Der literari-
sche Diskurs der frühen 1970er bot insgesamt wenig Raum für diesen Versuch, an den sub-
jektkritischen modernen Roman anzuschließen und zumindest teilweise lässt sich dies auch
dem innerfiktional thematisierten Bruch mit der Tradition zuschreiben. Im Umfeld heutiger
Diskurse kommt Lefeu fraglos eine höhere Viabilität zu.
67 L, S. 485. In Revolte in der Resignation, der Améry-Biographie, heißt es dagegen zum Lefeu:
„Heute weiß man, daß er selbst als Romancier seiner Zeit voraus war“ (Heidelberger-
Leonard 2005, S. 286). Beides geht zusammen, wenn die Fundierung prominenter postmo-
derner Romane in der Moderne gesehen wird.
68 Die Essaysammlung wurde verfasst und publiziert im Kontext der Frankfurter Auschwitz-
Prozesse, wodurch Améry zur öffentlichen Figur wurde (vgl. ebd., S. 192–204). Zu den Be-
zugnahmen vgl. als ein Beispiel unter vielen die stete Präsenz (besonders des Tortur-
Essays) in Traumatisierungen in (Ost-)Deutschland (Seidler/Froese 2006).
69 Die Auseinandersetzung erfolgt v. a. über die belgische Germanistik, wodurch u. a. die Ein-
bettung des Romans in den französischsprachigen Diskurs verdeutlicht wurde. Zur unmit-
telbaren Rezeption vgl. Heidelberger-Leonard 2005, S. 288-290.
70 Vgl. Weiler 2012. Lassmann stützt sich auf den Teil zu Merleau-Ponty, also auf die phäno-
menologische Interpretation, und endet in diesem Sinn mit den Worten, Lefeu sei ein „Text-
körper der Erinnerung“ (Lassmann 2006, S. 20, Herv. im Orig.).
71 Vgl. Heidelberger-Leonard 2007, S. 688 sowie Siguan 2010 und Siguan Boehmer 2015.
Siguan übernimmt zwar gängige Ausdrücke der Forschung, zitiert aber nur Primärquellen.
72 Weiler kann in ihrer bei Heidelberger-Leonard verfassten Dissertationsschrift auf deren
Arbeiten aufbauen und liefert eine ebenso umfassende wie interessante Studie zu Amérys
Denken vor dem Hintergrund seiner Texte. Dem Denken Foucaults, durchgehend als Bei-
spiel des ‚Strukturalismus‘ gefasst, wird sie allerdings nicht wirklich gerecht. Die außerhalb
388 D 1. Übergang zur Spätmoderne
Hier sollen nach einem synoptischen Blick auf die Essays für die Themen-
stellung relevante Punkte des Romans isoliert werden, die sich im erzählen-
den Text deutlich instabiler zeigen als im argumentativen. Die in Lefeu the-
matisierte Ohnmacht der Sprache samt entsprechender Lösungsversuche
sowie die Krise der stets aufhebbaren Deutung des Erinnerten stehen im
Kontext eines spezifischen Ästhetikdiskurses im Roman, der mit dem inner-
fiktionalen Begriff des Verfall-Verfalls gekennzeichnet wird. Erhellend für
deren Verständnis ist aber zunächst ein Blick auf die „Bewältigungsversuche
eines Überwältigten“, so der Untertitel der Essays.
Dies richtet sich gegen die Nomenklatur der Psychopathologie und gegen
jede Form der Opferdiskreditierung, wie sie auch Fischer/Riedesser wie-
derholt für den Traumadiskurs thematisieren und die eben auch Strategien
von Belgien erschienene Studie zu Lefeu von Ivonn Kappel zieht aufgrund der identischen
Selbstbezeichnung Verbindungen zum ‚Roman-Essay‘ Vespers Die Reise (s. u.), zu dem aller-
dings kaum Berührungspunkte vorliegen (vgl. Kappel 2009). Wünschenswert wären umfas-
sendere Untersuchungen v. a. zur vielschichtigen literarischen Tradition im Roman sowie
zur Auseinandersetzung mit Alfred Adlers Individualpsychologie.
73 Der zitierte Untertitel des fünf Essays umfassenden Bandes ist zugleich Programm. Der
(isolierte) synoptische Blick erfolgt hier in Hinsicht auf unmittelbar themenrelevante As-
pekte sowie auf mögliche Verbindungen zu Lefeu.
74 Améry 2012, S. 171. Aus Jenseits von Schuld und Sühne wird in der Folge mit der Sigle ‚JSS‘
zitiert (s. Literaturverzeichnis). Die Romanfigur Lefeu wird gegenüber den Galeristen der
Düsseldorfer ‚Ars Nova‘ festhalten: „Schon Ihr Verstehen vereinnahmt“ (L, S. 348). Vgl. auch
die Zurückweisung der „objektive[n] Wissenschaftlichkeit“, die aus den „Opfern in schöner
Detachiertheit bereits den Begriff des ‚KZ-Syndroms‘ gewonnen“ hat (JSS, 123).
1.4 Jean Améry 389
75 JSS, S. 98. Zur Nähe zu Fischer/Riedessers Betonung der sozialen Situation s. Abschnitt A.
76 Ebd., S. 14 f. Dies ist kollektiv gemeint, strahlt aber auf das Individuelle aus.
77 Die für Améry ebenso wie für Thomas Bernhard (s. u.) so wichtige Geste der Anklage tritt
der Instrumentalisierung und Diskursivierung als Opfer gegenüber.
78 Vgl. ebd. Amérys Auseinandersetzung mit Selbsttötung ist bekannt. Aber auch für Brochs
fiktionalen Vergil gab es keinen Tag, an dem er nicht sterben wollte.
79 Besonders deutlich geschieht dies in Wie viel Heimat braucht der Mensch? (JSS, S. 82–113).
80 „Ich habe auch nicht vergessen, daß es Momente gab, wo ich der folternden Souveränität,
die sie über mich ausübten, eine Art von schmählicher Verehrung entgegenbrachte. Denn ist
390 D 1. Übergang zur Spätmoderne
• Trauma als Erschütterung zeigt sich als der Zusammenbruch der Hilfs-
erwartung im Sinne der Shattered Assumptions. Das Einbußen des Welt-
vertrauens und die Hilflosigkeit als Keim des Kommenden hängen an
der Zerstörung der eigenen körperlichen Grenze durch die Folterung. 83
nicht, wer einen Menschen so ganz zum Körper und wimmernder Todesbeute machen darf,
ein Gott oder zumindest Halbgott?“ (JSS, S. 74). Die Stelle zeigt auch deutlich, dass Körper-
lichkeit für Améry (und die Reduktion darauf) ein wichtiges, aber sehr problematisches
Konzept ist. Eine genaue Analyse müsste für sein Körperbild zunächst bei Thomas Manns
Zauberberg ansetzten, in der Spannung zwischen der empfundenen Abwertung des intelli-
giblen Menschen durch Körperlichkeit über Settembrini, die für Améry bedeutend bleibt,
der wiederkehrenden Versuche Hans Castorps, Krankheit und Stigma quasi-religiös aufzu-
werten, und der kommentierenden Erzählerstimme (vgl. Mann 2002). Améry schreibt:
„Wenn es wahr ist, was Thomas Mann vor Jahr und Tag im Zauberberg beschrieb, daß näm-
lich der Mensch desto körperhafter ist, je hoffnungsloser dieser sein Körper dem Leiden ge-
hört, dann ist die Tortur das furchtbarste aller Körperfeste“ (JSS, S. 70).
81 Vgl. JSS, S. 32. Der Aufsatz behandelt die Situation des Intellektuellen in Auschwitz anhand
der eigenen Erfahrungen.
82 Vgl. oben zu Antonovskys ‚Sense of Coherence‘ sowie zur Kritik Fischers an vereinfachten
Darstellungen im Kontext von Resilienz. Der eigene, freilich hoffnungslose ‚Wunsch‘ nach
Unerschütterlichkeit durch religiöse oder politische ‚Glaubenssysteme‘ (vgl. JSS, S. 39) ver-
läuft analog zum Satz: „Hier geschah nichts Unerhörtes“ (JSS, S. 38). Deutlich wird auch an
dieser Stelle eine mögliche Verknüpfung der ‚Erfolgsgeschichte‘ des Christentums mit Fra-
gen der ‚Traumatisierung‘ (s. o.).
83 Vgl. zum Aufzwingen der Körperlichkeit des anderen JSS, S. 61 f.
1.4 Jean Améry 391
• Körperlichkeit und Körperdiskurs, wie sie den Lefeu prägen, sind in den
Essays als vollkommene „Verfleischlichung des Menschen“ durch die
Tortur gefasst.84
• Trauma als Riss im Subjekt und zu anderen ist etwa als Fremdheit in
der Welt ausgedrückt, die sowohl als Konsequenz wie auch als ‚Er-
kenntnis‘ der Folter aufscheint.85 Im Gegensatz zu Goethes Wahlver-
wandtschaften, wo der Mensch als das Interessierende benannt wird,
bilden Mensch und Gesellschaft für den Gefolterten das Bedrohliche.
• Das Verhältnis der Täter zum Opfer konstituiert einen Riss im Ich: Die
Gefahr des Verzeihens besteht im endgültigen Verrat des Selbst und
dessen drohender Komplizenschaft.86 Erlebt werden die Entgrenzung
des Täters und seine Indifferenz gegenüber der Zerstörung des Opfers. 87
84 Die Erfahrung der Tortur verknüpft sich mit der Metapher des Traumas als Tod im Leben:
„Daß man aber den lebenden Menschen so sehr verfleischlichen und damit im Leben schon
halb und halb zum Raub des Todes, machen kann, dies hat er erst durch die Tortur erfahren
(JSS, S. 81). An mehreren Stellen diskutiert wird die Reduktion des Menschen auf reine Kör-
perlichkeit (vgl. etwa die Tortur als vollkommene „Verfleischlichung des Menschen“, JSS, S.
70, oder die sich in der Tortur enthüllende Körperlichkeit, vgl. JSS, S. 79). Vgl. auch: „Die
Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs“ (JSS, S. 62). Lesen wird man das als
Variation von Wittgensteins berühmten Satz 5.6 aus dem Tractatus: „Die Grenzen meiner
Sprache bedeuteten die Grenzen meiner Welt“ (Wittgenstein 1997, S. 67, Herv. im Orig.). Die
Missachtung der Körpergrenzen wird dabei erlebt „wie eine Vergewaltigung“, als Erschütte-
rung des mit der Körpergrenze verknüpften Weltvertrauens (JSS, S. 62.). Die Thematik ist
auch hier, ob die Grenzverletzung durch den anderen ‚begradigt‘ werden kann oder nicht,
und zwar nicht durch Rache, sondern durch gewünschte soziale Aufhebung der ‚Unrechtssi-
tuation‘. S. oben zu Der Tod des Vergil. Zu analogen Diskursen bei Broch und Agamben vgl.
auch Lützeler 2009, S. 196.
85 Vgl. etwa „mein eigenes, mir fremdes und unheimliches Geheul aus dem Gewölbe von Bre-
endonk“ (JSS, S. 55).
86 Vgl. die Rede vom „Komplizen meiner Quäler“, JSS, S. 125.
87 Vgl. die Nähe zu Sofsky: „nichts als der schrankenlose Triumph des Überlebenden über den,
der aus der Welt in Qual und Tod hinausgestoßen wird“ (JSS, S. 80). Améry berichtet von der
Lust des Quälens und der Pein des Gequältwerdens (JSS, S. 71), verweist auf Sadismus nach
Bataille als „radikale Negation des anderen“ (JSS, S. 73) und spricht von der augenblickli-
chen Deformation des Intellektuellen „zum schrill quäkenden Schlachtferkel“ durch ihre
Machtposition zelebrierende, sich entgrenzende Täter, die in diesem Sinn stets mehr sind
als „stumpfe Bürokraten der Tortur“ (JSS, S. 74). An die Erzählung Olgas in Kafkas Schloß (s.
o.) knüpft das „gute Gewissen der Schlechtigkeit“ der Nazis an, mit ihrer Praxis des Austrei-
bens eigener Barmherzigkeit (JSS, S. 67).
392 D 1. Übergang zur Spätmoderne
Améry liefert insgesamt ein komplexes Bild des Opfer-Werdens, das sekun-
däre Aspekte durch die Diskursivierung als Traumatisierter einschließt und
die innere Auseinandersetzung ebenso artikuliert wie die Notwenigkeit
einer sozialen Antwort, um den Riss möglicherweise schließen zu können:
„Ich war ein Mensch, der nicht mehr ‚wir‘ sagen konnte und darum nur noch
gewohnheitsmäßig, aber nicht im Gefühl vollen Selbstbesitzes ‚ich‘ sagte.“
(JSS, S. 86) Die isolierte Position des „beschädigten Lebens“ tritt, so die An-
lage der Essays, der gesellschaftlichen Entwicklung entgegen. Beschrieben
wird die Distanz zwischen sozialer Orientierung nach vorne und persönli-
cher Gebundenheit ans Vergangene. 93 Das Individuum, so Améry in einer
Proust-Variation, bleibt „auf der Suche nach der unverlierbaren Zeit“.94
88 Vgl.: „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert“ (JSS, S. 71). „Es war für einmal vorbei. Es ist noch
immer nicht vorbei.“ (JSS, S. 75). Vgl. auch den einleitend genannten Versuch einer „We-
sensbeschreibung der Opfer-Existenz“ (JSS, S. 17).
89 Vgl. etwa: „Verdrängt man denn ein Feuermal?“, JSS, S. 75.
90 JSS, S. 70. Hier geht es, anders als in Hofmannsthal moderner Infragestellung der begriffli-
chen Sprache (s. o.), um die Grenze des ästhetischen Sprechens. Die windgebeugten Pappeln
als ein Bild, das in Lefeu aufgegriffen wird, fungieren in diesem Sinn nicht als Gleichnis (vgl.
JSS, S. 169).
91 Zu Amérys Kritik an der Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno 1991) vgl. JSS, S. 10.
92 Vgl. im Kontext der Zurückweisung der Repräsentation: „Wo ein Ereignis uns bis zum äu-
ßersten herausfordert, dort sollte nicht von Banalität gesprochen werden, denn an diesem
Punkt gibt es keine Abstraktion mehr und niemals eine der Realität sich auch nur annä-
hernde Einbildungskraft“ (JSS, S. 58). Zur Situierung der Aussagen vgl. Heidelberger-
Leonard 2005, S. 190 f.
93 In Lefeu wird diese für den Essayband grundlegende Spannung zwischen der Thematisie-
rung des deutschen (kulturellen) Wiederaufbau und Mörikes Feuerreiter positioniert, der
als bedeutungsoffener Ausdruck für die Gebundenheit an das Gewesene fungiert.
94 JSS, S. 16. Vgl. den Diskurs zur Präsenz des Traumas. Zum Erleben der verordneten Suchbe-
wegung als ‚Fremdkörper‘ oder ‚Trauma der Interpretation‘ s. auch unten.
1.4 Jean Améry 393
95 Der Feuerreiter ist neben Platens Tristan das zentrale Gedicht für den Lefeu. Die Gedichte
sind im Anhang abgedruckt (S. 660–662), allerdings beide (deutlich sichtbar) nicht in der
von Améry verwendeten Fassung. Zum Feuerreiter im Kapitel „Die rote Mütze“ s. u. Der
Witz an Ponges’ Le feu, mit Amérys Lefeu gelesen, ist, dass der sprachexperimentelle Cha-
rakter die aufzehrende Bewegung des ‚Feuers‘ ausdrückt. Damit sind zwei zentrale Elemen-
te von Amérys Roman, Sprachreflexion (inklusive der Irene-Handlung) und ‚traumatische
Erinnerung, deren ‚Symbol‘ das Bild des Feuers darstellt, verknüpft.
96 Dies erfolgt also ‚umgekehrt‘ zur Sprachlatenz als (dialogische) Präsenz der Erstsprache,
wie etwa Chiellino sie vorwiegend untersucht (vgl. Chiellino 2016b, S. 191 f. bzw. S. 249).
Amérys Schreiben ist doppelt codiert und eher interkulturell denn Exilliteratur, wobei er
selbst – mit seinem Insistieren auf den Bruch und gegen die Möglichkeit einer Integration
differenter Lebensläufe – wohl beides ablehnen würde. Wie Keilson schreibt er weiter auf
Deutsch, mit vielfältigen damit verknüpften ‚Rissen‘, aber mit starker Verbindung zur litera-
rischen Tradition.
97 „Lefeu, recte Feuermann“, wie die Figur sich selbst auf ihre deutsche Herkunft und den
geänderten Namen bezieht (L, S. 459). Vgl. auch: „Feuermann gibt es nicht mehr, darum soll-
te es Lefeu nicht geben“ (L, S. 435). Der biographische Bezug zu Hans Mayer/Jean Améry
liegt hier nahe, wo der abgelegte (abgestorbene) Name in der Komposition des Künstlerna-
mens aus Übersetzung und Anagramm durchscheint. Zur Schreibart „Hans Mayer“ vgl. Hei-
delberger-Leonard 2005, S. 359.
98 Aufmerksam gemacht hat auf diese Bedeutung Heidelberger-Leonard 2005: „So also
schließt sich der Kreis: feu Lefeu, der gestorbene Lefeu, erzählt aus der Retrospektive die
394 D 1. Übergang zur Spätmoderne
Vorlage für die Titelfigur Lefeu ist bekanntlich der Maler und Freund Erich
Schmid, sodass Améry sich an dem Anderen orientieren kann, dessen Le-
bensgeschichte mit der eigenen verbunden bleibt.99 Die zugrunde liegenden
Ereignisse sind vielschichtig, der lebensgeschichtliche Hintergrund des Tex-
tes ist folgender: Schmids „Eltern, auch sein Bruder, werden in Auschwitz
ermordet, er selbst überlebt im Untergrund.“ (Ebd., S. 274) Ein zentrales
Symbol des Romans ist das EK I des Ersten Weltkriegs, an das sich der Vater
bei seinem Abtransport klammert und das in das Trauma des Überlebenden
und in die Dynamik von Negation, Scham und Selbstzerstörung eingebunden
ist.100 Noch im Schlusskapitel, der mit „Warum und Wie“ betitelten „Reflexi-
on in der Reflexion“,101 versucht der Autor das Motiv festzuhalten, dass
Lefeu als Alter-Ego Schmids und gleich diesen auch er selbst das Überleben
nicht überlebt hätten.102 Ein Grundthema ist also die literarisch-
essayistische Auseinandersetzung mit dem Trauma des Überlebenden, das
Leere und Suizidalität ebenso beinhalten kann, wie subjektiv empfundene
Schuldgefühle oder Scham. Im Text selbst leuchtet dieser Komplex (ange-
sichts der Flammen von lou Gaz de Lacq) als Intuition auf und ist dezidiert
als instabil markiert. (s. u.) Vermittelt ist er über das zentrale Bild von Mö-
rikes Feuerreiter; insgesamt ist er Teil der vielschichtigen Suche nach dem
Warum der eigenen Situation. Verbunden mit diesem Grundthema des Tex-
tes ist die Entfaltung der ästhetischen Position des Verfall-Verfalls, der radi-
kalen Negation, die im Kontext des schon mehrfach beschriebenen doppel-
ten Bruchs im Subjekt und seiner Aufrechterhaltung zu lesen ist. 103 Lefeu
zeigt sich rückwärtsgewandt im Gegenzug zum vergessenden Wiederaufbau
der nach vorne gerichteten Gesellschaft Deutschlands, der noch ihre eigene
Geschichte seines Sterbens“ (S. 181). Vgl. zum Tod Lefeus die Ausführungen im schließen-
den Essay-Kapitel Warum und Wie in L, S. 505–507.
99 Vgl. „Wer ist Erich Schmidt“ in Heidelberger-Leonard 2005, 274–276. Zur Frage des (Auto-)
Biographischen in Lefeu vgl. ebd. S. 279.
100 Vgl. etwa L, S. 428. Vgl. die Verbindung zu Keilsons Rucksack in Der Tod des Widersachers,
wo sich das Bild im Protagonisten festsetzt, wie der Vater mit Umsicht den Rucksack für die
Deportation ins KZ und in den Tod einpackt.
101 L, S. 501. Das Schlusskapitel bietet eine kurze Reflexion der Entstehungsgeschichte.
102 Améry spricht hier zunächst über die Figur Lefeu und dann über sich selbst: „Kein Verlaß
war gewesen auf den SS-Arzt, der anno 44 mich abtastete, ob ich schon schlachtreif sei. Der
Kerl hatte abgelassen von mir, weiß nicht warum. Seine Nachlässigkeit hatte ich seit 1945
schon so oftmals korrigieren wollen“ (L, S. 505).
103 Vgl. zu nicht heilenden Wunden L, S. 440. Der Protagonist spricht vom Verlangen nach
Zurücknahme des Traumas, nach „Aufhebung der Irreversibilität und damit der Zeit“ (L,
439). Die Sehnsucht nach einem Ausgleich, einem möglichen Gleichgewicht, ist politisch
formuliert in Ressentiments (JSS, S. 114–144).
1.4 Jean Améry 395
kulturelle Vergangenheit entgeht. 104 Wenn er sich mit der Nein-Sage dem
von ihm überall beobachteten Glanz-Verfall der Spätmoderne entgegenset-
zen möchte, so bezieht er sich ebenso auf ästhetische wie auf politische oder
philosophische Widersprüche, die im konnotativen Feld dieses Komposi-
tums positioniert werden können.105
Rekonstruktionsprozesse
104 Im Kontext von Thomas Mann und der eigenen Neigung Lefeus zur Tradition heißt es: „Es
ist wahrscheinlich, daß Monsieur Jacques aus Paris den Mann besser kennt als die jungen
Herren aus Düsseldorf, die alles über Handke, manches über Brecht und nichts über die
große Literatur ihres Landes wissen“ (LS. 394). Améry selbst kehrt nicht zum essayistischen
Roman zurück, um etablierte Verfahren zu reproduzieren, was Brochs übrigens als epigona-
len Kitsch gesehen hätte (s. o.), lehnt allerdings die Neuerungsgelüste der Moderne ebenso
entschieden ab: „Keine Minute lang habe ich versucht, etwas zu konstruieren, mir eine The-
orie abzuzwingen, ein Experiment zu vollbringen, um jeden Preis etwas formal Neues vor-
zulegen“ (L, S. 485).
105 Die Kritik am ‚Glanz-Verfall‘ steht in deutlicher Nähe zur Ästhetik-Kritik im Vergil, wie sie
oben geschildert wurde. Für kulturwissenschaftliche Diskurse ließe sich der Glanz-Verfall
wohl als unbeteiligt bleibende Faszination am Trauma lesen.
106 L, S. 440. Vgl. den in den Essays formulierten Gedanken, eine Lösung sei nur durch Aktuali-
sierung zu finden, „durch die Austragung des ungelösten Konflikts im Wirkungsfeld der ge-
schichtlichen Praxis“ (JSS, S. 125). Umgekehrt kann maligne soziale Rekonstruktion das ei-
gene Kreisen um die Sinnsuche forcieren. Vgl. oben zu Fischer/Riedesser und ihrer Beto-
nung der sozialen Reaktion. Améry geht im Roman (in der gedanklichen Linie Kafkas) dar-
über hinaus, indem er das konstitutiv Unabgeschlossene jeder Deutung betont.
396 D 1. Übergang zur Spätmoderne
112 Die Figur war nie repräsentativ, sondern stets schon als Verweisstruktur aufgebaut, die
aber hier, entgegen der klassischen Moderne, auch scheitert.
113 Die Selbstverbrennung Jan Palachs wird genannt (vgl. L, S. 505), der Startpunkt ist die
Fantasie der brennenden Stadt, die gegen sich selbst gewendet wird. Wichtig ist, dass der
großen symbolischen Geste hier kein Ort zukommt. Zum an Sartre geknüpften Diskurs zur
Gegengewalt vgl. Heidelberger-Leonard 2005, S. 279. Nicht gesehen wird der entsymboli-
sierte Herztod in der Studie zum Melancholischen Schreiben nach Auschwitz, wo von einer
„autodestruktiven Vernichtung des Kunstwerks und des Künstlers“ die Rede ist (Pflaum-
baum 2014, S. 223).
114 Vgl. etwa die Kleist-Variation der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben
oder den Hinweis auf die Verselbständigung des Schreibprozesses (L, S. 488 u. 490).
115 Vgl. Sperber 1983 u. siehe auch oben.
116 Vgl. etwa zu Selbstmord als „Racheakt“ oder Depression als „Tarnform umwegiger, weil
mutlos verhüllter Gewalt“ ebd., S. 144, oder zum Konzept des ‚machlüsternen Neurotikers‘
ebd., S. 180–182, mit einem ausführlichen Zitat aus Adler 1920. Vgl. auch die Ausführungen
zu individualpsychologischen Behandlung, wo die Wirksamkeit von Traumen entschieden
relativiert wird (Adler argumentiert natürlich gegen Freuds zeitgenössischen Traumabe-
griff).
117 Vgl. die versuchte Zurückweisung von Freud und Ader in der Reflexion einer möglichen
Herkunft der Nein-Sage aus dem eigenen Bereich: „mit unausgekochten Oedipiaden ist so
wenig Staat zu machen wie mit dem nur einen nicht sehr scharfen gesunden Menschenver-
stand bestechenden Minderwertigkeitsgefühl“ (L, S. 441). Man denke in diesem Kontext
398 D 1. Übergang zur Spätmoderne
auch an Eissler 1963 und den Prädispositionsdiskurs oder die frühe psychoanalytische Deu-
tung der Tortur der KZ-Überlebenden als Regression (s. o.).
118 Lefeu arbeitet sich reflexiv durch Konzepte der Kausalität, die „als das einzige Aufhellungs-
schema“ (L, S. 466 f.) von der Erlebensdimension nicht auffassbar ist, um ihr (der Kausali-
tät) den mythischen Ausdruck ‚mein Unglück‘ gegenüberzustellen. Die Verknüpfung zu dem
Bild erfolgt unmittelbar: „Ich bleibe bei meinem Unglück. Es ist der schwarze Kern […], es ist
ein ganz expressionistisches Bild“ (L, S. 474).
119 Erich Schmids für den Text so zentrales Gemälde Unglücksvogel/Oiseau de malheur von
1956 ist abgebildet in Améry 2007b, S. 640 bzw. Heidelberger-Leonard 2005, S. 282. Für das
Textverständnis ist es ebenso tragend wie dessen eigene komplexe gedankliche Bewegung,
Mörikes Feuerreiter oder Platens Tristan. Man wird diese charakteristische Verbindung von
logisch-semiotischer Differenz und Lyrisch-Assoziativem als spezifisch modern bezeichnen
wollen.
1.4 Jean Améry 399
120 Vgl. zum unbeabsichtigten Anteil daran, d. h. zu einer Art Verselbständigung der Erzähl-
sprache gegen den Willen des Autors, ebd., S. 288. Améry spricht in Warum und Wie in einer
(fortgesetzten) Anspielung auf Kleist von „der allmählichen Selbständigwerdung der Arbeit“
(L, S. 490).
121 Vgl. dazu Brochs Vergil und den ästhetischen Diskurs dort.
122 L, S. 428. S. oben zu Körperwahrheit und Erzählproblematik: Bereits in der Einleitung disku-
tiert wurde etwa die Auseinandersetzung in Culbertson 1995, die vor dem Hintergrund der
psychoanalytischen Aufforderung zur Versprachlichung steht.
123 Vgl. L, S. 431, wo der Feuerreiter in der konstitutiven Spannung des Ressentiments-Essays
steht: während der Wiederaufbau sich nach vorne orientiert, ist der Feuerreiter zurück ge-
richtet und bleibt sozusagen an das Trauma gebunden.
124 In diesem Kontext steht auch der Bezug zu Don Quijote (s. u.), wenn es um das eigene Zerr-
bild geht.
400 D 1. Übergang zur Spätmoderne
fenheit des Vergangenen für das reflektierende Subjekt liegt darin, dass es
seine eigene Deutung nie als stabile zu fixieren vermag und durch den
‚schwarzen Kern‘ dennoch stets auf diese Deutungsnotwendigkeit verwie-
sen bleibt. Verschärft wird die Situation durch das wiederholt bekundete
Vertrauen in die analytische Vernunft, die im Laufe des Textes sukzessive
dekonstruiert wird.125 Gerade dass Wissen in jeder Form stets entgleitet,
wird zu einer zentralen Auseinandersetzung des Protagonisten. Und das
vernünftige Reflektieren, an das er sich klammert, vermag zwar selbst die
Intuition als instabil zu demaskieren oder die Inbrandsetzung von Paris als
aktive Tat zu verhindern, verweigert aber die Lösung der eigenen Problema-
tik.126
Während in den Essays von Jenseits von Schuld und Sühne abwägend, aber
konsistent zu reflektieren und zu argumentieren war, sind für Améry in der
literarischen Exploration der sich in ihrer Bedeutung entziehenden Ereig-
nisse alle Denkmodelle zu vergegenwärtigen. 127 Deutlich ist dies bereits an
der Hereinnahme von Adlers Narzissmusverdacht, der in seiner verunsi-
chernden Wirkung dargestellt ist. Nirgends wird es aber offensichtlicher als
in der Stellung von Platens Tristan im Text.128 Die im Gedicht betriebene
Verbindung von Ästhetik und Todesverfallenheit strahlt aus auf Lefeus
Nein-Sage und seine spezifische Verfallsästhetik. Der schließende Essay
thematisiert, dass die Verfallssehnsucht Lefeus genau dann in den Tod ein-
mündet, wenn er durch die Flammen von lou Gaz de Lacq den Feuerreiter
gesehen hat (vgl. L, S. 505). Die Schönheit, aus der in Platens Gedicht die
Todesfixierung entsteht, wird dabei umgedeutet zum ‚Bösen‘ – aus der Ah-
nung des Ewigen wird so das sichere Wissen darum, wozu Menschen fähig
sind.129 Literarisch bedeutet das genannte Einmünden der Verfallssehnsucht
in den Tod die Begegnung der beiden strukturierenden Gedichte von Platen
und Mörike.130 Dass Lefeu seine Bilderwelt auf der Basis deutschsprachiger
Lyrikgeschichte codiert und die deutschen Kunsthändler, die dem Dr.
Faustus entstammen, als ihrer eigenen Literaturgeschichte entfremdete
darstellt, ist Teil der Ambivalenz der Deutungsmodelle, der anhaltenden
inneren Spannung.
Lefeu ist auch ein Zeugnis der Auseinandersetzung mit Begriffen wie Trau-
matophilie, Narzissmus, Regression, Minderwertigkeitskomplex oder Prä-
disposition, wie sie Traumatisierten in unterschiedlichen Varianten begeg-
neten, gerade weil das literarisch organisierte Denken im Roman um die
Verlagerung in das Innen kreist. Die Essays hatten den Begriff des Traumas
zurückgewiesen, mit dem in Jahrzehnte später erstarkenden Diskursen auf
die Ausklammerung des Ereignisses geantwortet wird. Der Roman macht
über seine Reflexionen deutlich, dass auch der gegenwärtige Traumabegriff
jederzeit gewendet werden kann, wogegen sich Fischer/Riedesser bereits
beim Entwurf der Psychotraumatologie wandten, besonders mit ihren wie-
derholten Warnungen vor Tendenzen zur Opferbeschuldigung. Die Ästhetik
der Nein-Sage Lefeus steht der wissenschaftlichen Objektivierung ebenso
entgegen, wie die Essays vor der drohenden Entmündigung durch eine No-
menklatur der Psychopathologie gewarnt hatten, in die sich ein unkritischer
Traumabegriff einschreibt.
130 Vgl. eine möglichen Verbindung über Thomas Manns Interpretation des Tristan von Platen,
wo er vom Gedicht „aus romantischeren Sphären“ spricht, (Mann 1960, S. 269) und den Rit-
ter der Schönheit als Todesritter mit dem Autor Platen als Don Quijote, als Ritter von der
traurigen Gestalt, vergleicht (ebd., S. 272). Das Attribut „ritterlich“ für den Feuerreiter in
Lefeu (vgl. etwa L, S. 476) steht in Nähe zum von Mann entfalteten Sinn, der für Pla-
ten/Tristan vom „Bild eines dunklen Rittertums todverfallener und todbeheimateter Liebe“
spricht (Mann 1960 S. 271). Nahe an der Figur des Don Quijote ist auch der Oiseau de mal-
heur, der mit dem Feuerreiter (und damit auch mit Lefeu selbst) am Ende deckungsgleich
wird. Mann geht davon aus, dass die meisten der Zuhörer den Tristan noch auswendig ken-
nen, was wiederum, von den 1970er Jahren aus gesehen, für die verlorene Tradition steht,
mit der die Figur Lefeu verknüpft ist.
131 Vgl. Wagner-Egelhaaf 2005 sowie die Sammelbände zur Theorie und zur Rückkehr des
Autors (Jannidis et al. 2000 bzw. 1999).
402 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
struktion des Lebens über Narrative und deren spezifische Ordnung ver-
mehrt Aufmerksamkeit geschenkt.132 Besonders die psychoanalytische Lite-
raturwissenschaft interessiert sich für die Präsenz von Leben im Werk. Aber
auch philologische Methoden gehen trotz Foucault bis heute den interpreta-
torischen Weg von der Aufhellung der Lebens- und Gedankenwelt des Ver-
fassers und dessen schriftstellerischer Intention zur Analyse des Textes als
Produkt. Dass Literaturwissenschaft es mit ästhetischen Darstellungs- bzw.
Konstruktionsphänomenen innerhalb eines spezifischen Systems mit be-
stimmten Regeln zu tun hat, zeigt sich als jüngere Erkenntnis. 133 Auch auto-
biographische Romane sind vor diesem Hintergrund alles andere denn ein-
fache Transformationen von Lebensgeschichte in das Medium der Literatur,
und das noch vor der Frage nach ihrer sogenannten Authentizität.134
Traditionell für das Genre ist die Spannung zwischen Singularität des ein-
zelnen Lebens und dem Verweis auf das Allgemeine. 135 Lebensgeschichten
werden auch als Ausdruck der ‚Zeit‘ entworfen oder sind, wie im Falle Ca-
nettis, überhaupt nahe an Kulturgeschichten. 136 Was stets im Hintergrund
stand, wird etwa in Ota Filips Der siebente Lebenslauf (2001) teils intensi-
viert und teils zum Spiel: Die eigene Geschichte auf Basis der sozialen zu
erzählen und die allgemeine Geschichte auf Basis der eigenen.137 Dieses
Verhältnis kann literarisch auch schwer in Unordnung gebracht werden.
Thomas Bernhard dehnt das Subjektive gerade in Die Ursache. Eine Andeu-
132 Zur Theorie der (Auto-)Biographieforschung vgl. Fetz 2009, mit umfassender Auswahlbio-
graphie u. a. zu Biographie und Psychoanalyse (S. 550–554). Die Frage traumatischer Erin-
nerung scheint noch vergleichsweise weniger präsent. Zum umfassenden Diskurs der ‚Ver-
lässlichkeit autobiographischer Erinnerung‘ vgl. Eder 2012, S. 321 f., oder Fetz 2006, für
Bernhards Autobiographie etwa Mittermayer 2006a oder Kramer 2011 bzw. s. u.
133 Vgl. Grugger 2011 sowie Grugger 2013b. Mit dem Ausdruck ‚spezifisches System‘ sei hier
auf die Repräsentationsproblematik verwiesen.
134 Dass sich das eigene Leben im anderen spiegeln kann, war Thema für den Lefeu des voran-
gehenden Abschnitts. Das Spektrum reicht vom versteckt Autobiographischen bis zum als
autobiographisch ‚maskierten‘ oder inszenierten Fiktionalen.
135 Vgl. etwa den Wechsel von Ich, Wir und unpersönlichem Man bei Keilson (s. o.) oder die
Konstruktion der Spiegelung des Sozialen und des Individuellen bei Ota Filip (s. u.). Die
Problematik des Übergangs ist analog zu der zwischen individuellem und kollektivem
Trauma.
136 Vgl. die Autobiographie als stilisierte Geschichte des Autors, was für die dreiteilige Lebens-
geschichte Canettis (Die gerettete Zunge, Die Fackel im Ohr und Das Augenspiel, erschienen
zwischen 1977 und 1985) im besonderen Maße zuzutreffen scheint und wodurch im Zu-
sammenspiel mit dem poetischen Sprachfluss am Ausdruck autobiographischer Roman vor
allem das zweite Wort betont wird.
137 Vgl. Grugger 2015a. Filips Text ist interessant, weil die Doppelcodierung auf Deutsch und
Tschechisch es erlaubt, Codierungsprozesse als solche nachzuvollziehen und zu vergleichen.
D 2. Ausgewählte autobiographische Romane 403
April ist Fiktion mit vielen biografischen Details von mir. Das
macht doch jeder Schriftsteller auf die eine oder andere Weise.
Sonst wären wir ja ein anderer Mensch. Aber trotzdem: Der
authentischste Augenblick ist der, in dem ich das Buch ge-
schrieben habe. Das ist authentischer als alles, was vor 20, 30,
40 Jahren passiert ist.140
138 Vgl. Bernhard 2004b. Der Text wird in der Folge meist verkürzt als Ursache benannt und mit
der Sigle ‚U‘ zitiert.
139 Über die Meditationes de prima philosophia (Descartes 1986) war die ‚Wahrheit‘ im reflek-
tierenden Subjekt verankert worden, woran Rousseaus Authentizitätsdiskurs folgenreich
anschließen kann. Zu Goethes Begriff der Grundwahrheit und ihrer Bedeutung im deutsch-
sprachigen Diskurs vgl. etwa den Überblick in Holdenried 2000, S. 160–169.
140 Angelika Klüssendorf in: „Die DDR war wie ein riesiges Kinderheim“. Ein Interview von
Wiebke Porombka. Zeit Online, 14. Februar 2014. http://www.zeit.de/kultur/literatur/
2014-02/kluessendorf-angelika-interview.
141 Zur hinreichend bekannten Debatte um ‚falsche Erinnerungen‘ vgl. Assmann 2010, S. 265–
277. Goethes ‚Grundwahrheit‘ wird im Erinnerungs- und Traumadiskurs, stichwortartig
formuliert, durch den Referenzrahmen der ‚Zeugenschaft‘ und deren spezifische ‚Wahr-
heitskonstellation‘ erweitert.
404 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
142 Vgl. I, Rigoberta Menchú. An Indian Woman in Guatemala (Menchú 2009). R. M. erhielt 1992
den Friedensnobelpreis.
143 Vgl.: „Yet conventions about truth telling, salutary as they are, can be inimical to the ways in
which some writers bring trauma stories into language. The portals are too narrow and the
demands too restrictive. Moreover, the judgments they invite may be too similar to forms in
which trauma was experienced“ (Gilmore 2001, S. 3).
144 Die deutschsprachige Form des autobiographischen Romans übernimmt zumindest implizit
die Frage der Moderne nach literarischer Wahrheit gegenüber objektiv-wissenschaftlicher
Faktenwahrheit.
145 Die Punkte beziehen sich auf die deutschsprachige Literatur insgesamt. Für die Hintergrün-
de dafür in der DDR vgl. Tate 2007, ansonsten vgl. etwa den Überblick in Wagner-Egelhaaf
2005. Zu den 1970er Jahren siehe unten.
146 Die Frage ist bekanntlich die nach dem Verhalten der Elterngeneration, wobei auch interge-
nerationale Konflikte vor dieser Folie geschildert werden. Dazu zählen so unterschiedliche
Texte wie Bernward Vespers Reise (s. u.) oder Christoph Meckels Suchbild. Über meinen Va-
ter. Vgl. zu den ‚Überlebensprojekten‘ der 1980er bis 90er Jahre Holdenried 2000, 264 f.
2.1 Die Ursache. Eine Andeutung 405
Aus dem eigenen Lefeu heraus und geschult an der Sprachkrise der Moderne
nimmt Améry früh die Stellung der Sprachthematik in Bernhards Ursache
wahr.148 Er verweist auf eine – von ihm so gesehene – gewisse Armut der
Sprache bei Bernhard, der er seine Akzeptanz des Textes bzw. (damaligen)
Werkes gegenüberstellt, und auf die Übertreibungsästhetik, die als solche zu
diesem Zeitpunkt noch nicht spezifiziert ist und die er mehr der Person des
Autors zuschreibt als dessen Stilwillen. 149 So versteht er die Hyperbolik der
Ursache als Übertreibungen im Hinblick auf die Sache, die dem Schreiben-
den gleichsam als subjektiver Bezugspunkt zuzugestehen sind, und nicht als
spezifisch Bernhard’sches Verfahren, d. h. als seine künstlerische Sprache,
wie dies heute diskutiert wird.150 Während ihm Korrektur als sinnvoller
Vergleichstext vorliegt,151 kann die Einordnung der Ursache in den autobio-
graphischen Zyklus 1975 natürlich noch nicht erfolgen, aus dem dieser Text
sprachlich so deutlich heraussticht, da Bernhard in den weiteren Teilen zu
ihrer Radikalität (der Ursache) nicht mehr zurückkehrt.
Wer bei der Lektüre des Textes wie Améry die Korrektur vor sich hat, zu-
gleich aber vom Gesamtwerk aus zurückblicken kann, sieht sofort, wie sehr
gerade die Sprache der Ursache aus diesem Text fließt, wenngleich das Ver-
hältnis der beiden Texte zueinander nicht ganz einfach ist. 152 Allerdings ist
147 Holdenried sieht eine Verbindung zu Koeppens Jugend, orientiert beide Texte an Goethes
Rede vom ‚Grundwahren‘ und verortet sie als ‚künstliche Anti-Idyllen‘ (vgl. ebd., S. 262–
265).
148 Vgl. die Doppelrezension zu Ursache und Korrektur mit dem Titel Morbus Austriacus (Améry
2003).
149 Zum Begriff der ‚Übertreibung‘ als Übernahme aus dem Roman Auslöschung vgl. Mitterma-
yer 2006b, S. 126, bzw. Mittermayer 2006a, 79 f., wo eine umfassendere Auseinanderset-
zung zu ‚Wahrheit‘ in Bernhards Autobiographie stattfindet (passim).
150 Vgl. den Begriff des Übertreibungskünstlers, den Schmidt-Dengler seinen Studien überordne-
te (Schmidt-Dengler 1997).
151 Parallelrezensionen zu Korrektur und Ursache waren durchaus üblich, vgl. Huber/Mitter-
mayer 2004, S. 546, sowie mit zahlreichen Beispielen Huber 1987, mit einem umfassenden
Überblick zur medialen Rezeption der Ursache.
152 Die formalen Gemeinsamkeiten, wie etwa der hohe iterative Anteil im Stil, verdecken nicht
die Differenz: das Flüssige der Korrektur gegenüber dem teils Sperrigen der Ursache. Die
Selbstmordthematik, besonders das ‚Aufhängen‘, verknüpft die beiden Texte inhaltlich. In
der Korrektur ist es die Wiederholung des Suizids des Lehrers durch Roithamer, die hervor-
sticht – die ursprüngliche Tat ermöglicht erst die grandiose Dreierkonstellation des Textes:
406 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
der Glücksfall der zeitnahen Konzeption nicht alles, was es dazu zu sagen
gibt. Offensichtlich sucht der Autor für die Codierung von katastrophalen
Erfahrungen als Internatsschüler, die immer wieder um (sozial verursachte)
Selbstmordfantasien kreisen,153 nach einer spezifischen Sprache. Diese kann
zunächst durch die miteinander verbundenen Hauptsäulen Brechen der
Identifikation, iterative Variation und Entgrenzung der Sprache beschrieben
werden:
Ich-Erzähler, Höller und Roithamer als Referenzpunkt. Zum Austausch von Fiktion und er-
innerter Wirklichkeit bei Bernhard vgl. Huber/Mittermayer 2004, S. 540.
153 Symbol dafür ist die mit dem Geigenunterricht verknüpfte ‚Schuhkammer‘ und der Eintritt
in sie als der in den Selbstmordgedanken (vgl. etwa U, S. 15 oder S. 56).
154 Der Unterschied wird, typisch für Bernhard, nivelliert (man denke etwa an die begeisterte
kindliche Lektüre von Jean Pauls Siebenkäs in der Auslöschung, wodurch auch für die fiktio-
nale Figur Murau eine der von Höller für die Autobiographie beschriebenen ‚Künstlerlegen-
den‘ entworfen wird). Vgl. Huber/Mittermayer 2004, S. 552, bzw. Höller 1993, S. 104.
2.1 Die Ursache. Eine Andeutung 407
155 Vgl. zur Demonstration das Beispiel „Todesboden“. Auf S. 47 der Ursache findet sich: „tödli-
che Todesboden“, „tödliche Element auf diesem tödlichen Boden“, „diesem mir angeborenen
Todesboden“. Diese Ausdrücke verweisen zurück auf den Auftakt von S. 12, den „im Grunde
durch und durch menschenfeindlichen architektonisch-erzbischöflich-stumpfsinnig-
nationalsozialisitsch-katholischen Todesboden“ (alle Kursivsetzungen im Original). Der
Ausdruck wird in Nähe zu musikalisch-literarischen Kompositionen der Moderne über den
Text hinweg mehr und mehr aufgeladen (s. o. zu Brochs Tod des Vergil).
156 Analog zu Améry wird mit dieser Geste das Leiden nicht zur Analyse des Leidenden angebo-
ten und das Trauma als (erlittene) ‚Tat‘, nicht als psychische Deformation verstanden. Zu
Bernhards ‚Rhetorik der Bezichtigung‘ vgl. Mittermayer 2011.
157 Zur Bedeutung der Verdrängungsmetapher vgl. auch Mittermayer 2006b, S. 93.
158 Die Darstellung der Erschütterung scheint dadurch ‚realistischer‘, als wenn fein differenziert
würde.
408 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
Wichtig für das sprachliche Ringen um die Aufzeichnungen der Ursache ist,
dass sie am Anfang des Zyklus stehen und so die Versprachlichung von Er-
lebtem im Genre der Autobiographie erst einleiten. Bernhard wird in Der
Atem. Eine Entscheidung eine fundamental andere Sprache wählen, um eine
Grenzsituation zwischen Leben und Tod festzuhalten. 160 Während dieses
traumatische Ereignis ein deutliches, bereits im Titel fixiertes Zentrum des
Textes bildet, ist in der Ursache ein ‚Zeitraum‘ dargestellt (Prozess), der das
Individuelle und das Kollektive komplex aneinanderbindet. Das persönliche
Erleben wird durchgängig durch das Allgemeine und durch die Sprache
aufgebrochen.
159 Höller 2011, S. 84. Der hier geäußerte Gedanke einer ‚Fixierung‘ liegt, von einem anderen
Winkel aus beobachtet, der Zurückweisung psychologistischer Lesarten durch Jahraus in
seiner Klärung des ‚Monomanie‘-Begriffes für Bernhard zugrunde, die noch vor dem Erstar-
ken der gegenwärtigen Traumadiskurse entstand und den Traumabegriff mit dem der ‚fixen
Idee‘ und der ‚Manie‘ parallel führt: „Gerade der Begriff der Monomanie legt es nahe, ein
psychologistisches Interpretationsverfahren anzuwenden. Es ist aus der Psychopathologie
übernommen und bezeichnet ein Trauma im Sinne einer fixen Idee mit einem auf eine
Handlung ausgerichteten Wiederholungszwang. Zwar lässt sich Bernards Produktion, so
wie er sie in ihrer Konsequenz bis zu seinem Tode durchgehalten hat, diese Manie unterstel-
len, aber nicht rechtfertigen“ (Jahraus 1992, S. 29). Deutlich werden an dem Zitat auch die
Verschiebungen von beidem, dem Traumabegriff und seiner Verknüpfung mit Literatur, in
den letzten zweieinhalb Jahrzehnten.
160 Vgl. zur entscheidenden Stelle Huber/Mittermayer 2004, S. 543.
161 Ein Verweis auf den traditionellen ‚autobiographischen Pakt‘ und auf dessen Aufbrechen
(vgl. Kramer 2011), müsste mit einbeziehen, dass keinerlei Absicht zu einem solchen er-
kennbar ist und dieser Text etwa dem identifikatorischen Lesen strikt entgegenarbeitet.
162 Vgl. etwa, wie Stanisław Lem, der zeitnahe den Sci-Fi-Roman als Ort von Reflexionen nutzt
oder Ecos Rosenroman, der wenige Jahre später (1980) den Kriminalroman mit Essayistik
durchzieht.
2.1 Die Ursache. Eine Andeutung 409
Blick auf die Ursache vor dem Hintergrund des Entstehungsprozesses 166
Während Sebald, der die Möglichkeiten der Sprache Bernhards sehr deutlich
wahrnimmt und gerade in Austerlitz aufgreift,167 bereits in Konfrontation
mit den gegenwärtigen Traumadiskursen oder einfach auch in deren Kennt-
163 Weitere wichtige Themen sind u. a. radikale Einsamkeit des Ich, Isolierung, Ohnmacht,
Ausgesetzt-Sein und eine gewisse Deprivation (im Internat).
164 Die Situation in katholischen Schülerheimen, irischen ‚Magdalenenheimen‘ oder anderen
institutionellen Einrichtungen ist in den letzten zwei Jahrzehnten vermehrt in die öffentli-
che Aufmerksamkeit gerückt und die dokumentarischen Berichte bestätigen oder übertref-
fen Bernhards Aussagen. In der frühen Rezeption wurde der Inhalt der Darstellung noch
hinterfragt.
165 Hans Höller spricht in seiner Bernhard-Biographie treffend von der metaphorischen Ver-
klammerung von Stadt und Ich (vgl. Höller 1993, S. 97).
166 Ausgangspunkt dieser Studie ist, dass textgenetische Faktoren philologisch mit Bedacht zu
berücksichtigen sind und keinen Ersatz für die Analyse des publizierten Textes darstellen
sollen, wie er für die Ursache deutlich vorliegt. Das Interesse richtet sich in diesem Sinn auf
mögliche Bearbeitungsprozesse und keinesfalls auf ‚eigentlich Gemeintes oder Intendiertes‘.
167 Vgl. „Mein Vorbild ist Thomas Bernhard, den ich als Autor sehr vermisse“ (Sebald 2001, S.
233), aber auch ohne diesen Hinweis ist der Einfluss nach wenigen Seiten deutlich.
410 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
nis schreibt, sieht sich Bernhard selbst noch dem Paradigma der Verdrän-
gung gegenüber, aus dem er auch reichlich schöpft.168 Zugleich ist der Text
keiner von verschwiegenen oder unterdrückten Wahrheiten, die aufzude-
cken wären,169 sondern buchstäblich einer, in dem die Zerstörung des kind-
lichen Ich, das Wagnis der Erinnerung daran sowie Erzähl- und Sagbarkeit
jenseits traditioneller Fiktionalisierung zentrale Themen sind. Seiner Lö-
sung präziser Komplexität wird Ágota Kristóf, passionierte Bernhard-
Leserin,170 die der präzisen Reduktion gegenüberstellen. Beiden geht es
sichtlich um Alternativen zur immer wieder mit neuen Mitteln wiederbeleb-
ten Repräsentationsliteratur.
Unmittelbares Thema der Ursache ist die von außen verursachte permanen-
te Suizidalität, die mit dem ‚Motto‘ der Rekordzahl an Selbstmorden in Salz-
burg eingeleitet wird.171 Intensiv diskutiert werden der (soziale) ‚Selbst-
mordgedanke‘ und die lebenslange Fortwirkung der Erschütterung. Die
Aufzeichnung des im Text öfter angesprochenen Prozesses der (eigenen)
‚Zerstörung‘, genauer gesagt die titelgebende Andeutung seiner Ursache,
wird als allgemeine durchgeführt. Kontrastfolie ist, wie so oft bei Bernhard,
ein sehr weit verstandener Aufklärungsgedanke, der auf die Vorstellung des
intellektuell und künstlerisch entwickelten Subjekts fokussiert.
168 Wichtig für Bernhard ist auch die mit dem Vorwurf des ‚Verdrängers‘ verknüpfte Geste, die
meist mit ‚Geistfeindlichkeit‘ kombiniert wird. Erwin Ringel wird den österreichischen Dis-
kurs zu ‚Verdrängern‘ in den 1980ern intensivieren (vgl. Ringel 1984 und s. o.).
169 Die Rede von ‚unterdrückten Wahrheiten‘ stellt nur das erste Rezeptionsfeld dar und damit
etwas, womit die Ursache, wie zahlreiche andere Texte Bernhards, an der ‚Oberfläche‘ spielt.
170 Vgl. Kristóf 2016, S. 41. Dass Kristóf genau Bernhards ‚Nein‘ zur Gesellschaft als Vorbild für
jegliches schriftstellerische Schreiben setzt (vgl. ebd., S. 41 f.), ist alles andere denn Zufall.
Faszinierend zu beobachten ist, wie die konträren Mittel zu vergleichbaren Ergebnissen
führen.
171 Vgl. die Meldung aus den Salzburger Nachrichten vom 6. Mai 1975 (U, S. 8). Bereits auf dem
Entwurfsblatt Nachlaß Thomas Bernhard (NLTB), W 10/1 heißt es handschriftlich: „Selbst-
mordrate höher als in Wien, die höchste auf der Welt, 200 in 365 Tagen [mit Pfeil hinunter
zu:] im Jahr im Land Salzburg (Wetter)“ (Herv. im Orig.). Vgl. den Abdruck des Entwurfblatts
in Huber/Mittermayer 2004, S. 535.
2.1 Die Ursache. Eine Andeutung 411
‚Erinnern‘ (Prosa)
Salzburg | Schule | Krieg |
Internat | Tortur172
Auffällig ist neben dem zuerst geplanten Titel: „Erinnern“ das Wort „Tortur“.
Bernhard geht es mit seiner ‚Ursachenforschung‘ von Beginn an um „das
Zentrum [s]einer Erschütterung“, wie er bereits 1968 in Unsterblichkeit ist
unmöglich, formuliert.173 So verwundert wenig, dass dieser Prozess des
Erinnerns wiederholt als zutiefst bedrohlich markiert ist: „die Erinnerung
darf nicht zur Gänze aufgerissen werden.“ 174 Die Änderung zum neuen Titel
ist durchaus als eine Feinabstimmung des Programms zu lesen. Beide Vari-
anten, „Erinnern“ und „Ursache“, scheinen im Umfang ambitionierter als die
Folgetitel des Zyklus.175 Die Stadt selbst ist als Brennpunkt der Darstellung
gewählt und erscheint hier als erstes Wort der Kette, so wie im publizierten
Text die Kausalattributionen auf sie zusteuern werden: 176
172 NLTB, W 10/1a, 1. Bl. Zum Verfahren, zuerst mit Begriffsketten zu arbeiten, vgl. Huber/Mit-
termayer 2004, S. 541 f. Eine zweite solche Kette notiert zuerst Gebäude, dann Personen,
dann Skripts und dehnt sich vom Persönlichen zum Allgemeinen aus, wie dies auch dem
Text entspricht. Vgl. zum Insistieren Bernhards auf der „Allgemeingültigkeit des von ihm Er-
innerten“, ebd. S. 555.
173 Bernhard 1993, S. 27. Zum Begriff der ‚Ursache‘ bei Bernhard im Vorfeld und Umkreis
seines autobiographischen Projekts vgl. Huber/Mittermayer 2004, S. 513 f.
174 NLTB, W 10/3, Bl. 10. Die Formulierung erfolgt hier im Kontext von Kriegserinnerungen.
Durchgestrichen ist: „durchschossenem Schädel oder völlig zerschlagenem Kopf“. Der Krieg
ist im Text bekanntlich thematisch, aber, soweit sich das von den Notizen sagen lässt, im
Schreibprozess eher zurückgedrängt worden. Vgl. auch die Selbstaufforderung: „Versuch
machen, ruhig in Erinnerung rufen, wie das gewesen ist im NS[-Schülerheim] u. i.
Joh[anneum]“ (NLTB, W 10/1).
175 Vgl. zur Entwicklung der einzelnen Titel aber Huber/Mittermayer 2004, S. 517–19, etwa
den über Unseld überlieferten ursprünglichen Plan zu den Folgeprojekten ‚Erinnern 2‘ und
‚Erinnern 3‘. Vgl., zum zwischenzeitlichen Titel ‚Internat‘ ebd. S. 520. (Der herausragende Ti-
tel mit der Reduktion der Aussage auf die Andeutung verdankt sich also möglicherweise
dem Zufall, dass Hugo Dittberners Titel „Das Internat“ lautete.) Die letztlich gewählten, kon-
kretisierenden Folgetitel: Der Keller. Eine Entziehung, Der Atem. Eine Entscheidung, Die Kälte.
Eine Isolation und Ein Kind, stehen so dem sich ausdehnenden, ambitionierten ‚Großprojekt‘
des Einstiegs in den Zyklus gegenüber.
176 Vgl. bereits die ersten Worte: „Die Stadt ist, von zwei Menschenkategorien bevölkert, von
Geschäftemachern und ihren Opfern, dem Lernenden und Studierenden nur auf die
schmerzhafte, eine jede Natur störende, mit der Zeit verstörende und zerstörende, sehr oft
nur auf die heimtückisch-tödliche Weise bewohnbar“ (U, S. 9, Herv. im Orig.). Sie bilden die
Erlebnisdimension ab, die dennoch nicht als innerlich zu missverstehen wäre. In Unsterb-
lichkeit ist unmöglich hält Bernhard fest: „Die Stadt wird zur Angstpsychose für mich. Sie
412 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
[S]o ist doch alles in mir und (an mir) aus ihr, und ich und die
Stadt sind eine lebenslängliche, untrennbare, wenn auch fürch-
terliche Beziehung. Denn tatsächlich ist alles in mir auf diese
Stadt und auf diese Landschaft bezogen und zurückzuführen,
ich kann tun und denken, was ich will, und diese Tatsache wird
mir immer noch stärker bewußt, sie wird mir eines Tages so
stark bewußt sein, daß ich an dieser Tatsache als Bewußtsein
zugrunde gehen werde. (U, S. 47)
Zitate wie das folgende sind im Kontext des sehr offenen und vielfältig vari-
ierenden Bildes zu sehen, das Bernhard von Krankheiten entwirft. Dennoch
macht es deutlich, wie sehr Stadt, Erinnerung und „Absterbensprozess“ in
der Darstellung verknüpft werden:
Es ist, komme ich heute an, derselbe Zustand, […] dieser sofort
bei meinem Ankommen wieder wirksame, in Abwesenheit nur
scheinbar ausgesetzte Krankheitsprozeß, der ununterbrochen
fortschreitet und gegen den es kein Mittel gibt. In Wahrheit ist
es ein Absterbensprozeß, der wieder eingesetzt hat, bin ich erst
da und mache die ersten Schritte, denke die ersten Gedanken.
Wieder atme ich diese nur dieser Stadt entsprechende tödliche
Luft ein, höre ich die tödlichen Stimmen, wieder gehe ich, wo
ich nicht mehr gehen dürfte, durch die Kindheit und durch die
Jugend. Wieder höre ich, gegen alle Vernunft, die gemeinen An-
sichten gemeiner Menschen, bin ich, gegen alle Vernunft, wo
ich nicht mehr reden sollte, ein Redender, wo ich nicht schwei-
gen sollte, ein Schweigender.177 (U, S. 99 f.)
Die Stadt, die die inhaltliche Kette des Entwurfsblatts und den Roman eröff-
net und in der hier die „erste[n] Schritte“ gemacht werden, wird in der Ursa-
che als mit dem Ich verknüpftes Konstrukt behandelt,178 wodurch die per-
wird immer häßlicher, während ich widerwillig Englisch, Französisch lerne und wieder ver-
gesse“ (Bernhard 1993, S. 30).
177 Herv. im Orig. Ein Vergleich zur Fassung dieser Stelle mit NLTB, W 10/2, Bl. 16 zeigt Fol-
gendes. Im endgültigen Text ergänzt ist: „diese nur dieser Stadt entsprechende“. Hand-
schriftlich ergänzt ist auf dem Entwurfsblatt „gegen alle Vernunft“ nach „höre ich“, hand-
schriftlich eingeklammert ist „gegen alle Vernunft“ nach „bin ich“. Geplant war offensichtlich
zunächst die Ersetzung, entschieden hat sich Bernhard, charakteristisch für die Ursache, für
die intensivierende Wiederholung.
178 Vgl. auch die Rede von der „zeitlebens auf mich bezogenen Architektur“ (ebd.).
2.1 Die Ursache. Eine Andeutung 413
Ein klarer Kopf und das offenbar exakt nach seinen Möglich-
keiten und Unmöglichkeiten vollzogene Denken über den Ge-
genstand […] genügen nicht, dieser regelmäßig gegen alle Ver-
nunft nach kürzerem oder längerem, aber tatsächlich immer
wieder sicher auftretenden Geistesschwäche meines Ankom-
mens, Eintretens, Einfahrens […] in diesen für mich nichts als
zerstörerischen, wahrscheinlich tödlichen Geistes- und Ge-
mütsumschwung und also Geistes- und Gemütszustand, zu be-
gegnen. (U, S. 98 f.)
Die zeitnah notierte Textgliederung gibt die früh geplante Struktur wieder:
„10 vorher – Emotion heute / I 30 NS Schülerheim / II 30 Johanneum“. 180
Das NS-Internat spiegelt sich im katholischen und die Gesamtdarstellung in
der „Emotion heute“. Daran schließt das erste Blatt von W 10/2 in schöner
Übersicht unmittelbar an, wo rechts neben „I. Grünkranz / II Onkel Franz“
die Attribute „Nazistisch / Katholisch“ zugeordnet sind. 181
Die Zweiteilung nazistisch vs. katholisch, die im Text zur provokativen, ite-
rativ verwendeten Zusammenziehung „nationalsozialistisch-katholisch“
wird, ist der Erlebnisdimension zugeordnet, die freilich nicht als bloße inne-
re Empfindung zu lesen ist.182 Denn die Bewegung des Textes ist gegenteilig,
179 Die Ähnlichkeit zu dem Komplex, den Psychotraumatologen durch den Begriff der Intrusion
(bildhaft) zu fassen versuchen, ist deutlich. Der dargestellte Prozess ist allerdings umfas-
sender und (für Bernhards Rhetorik spezifisch) mit der Aktivität des Ich verknüpft.
180 NLTB W 10/1 (Zeilenumbrüche durch Schrägstriche wiedergegeben). Die untereinander
gesetzten Ausdrücke „NS-Schülerheim“ und „Johanneum“ sind umklammert mit „70 Seiten“.
Vgl. den Abdruck in Huber/Mittermayer 2004, S. 535. Zur Umstellungen der Anordnung im
Schreibprozess vgl. ebd., S. 529.
181 NLTB W 10/2, Bl 1, abgebildet in Huber/Mittermayer 2004, S. 527. Das Missverstehen als
politische Aussage ist allem Anschein nach intendiert.
182 ‚Ereignis‘ und ‚Erlebnis‘ sind bei Bernard systematisch miteinander verknüpft. Was Ryan als
Unzulänglichkeit der Figur Malte Laurids Brigge beschrieb, nämlich Realität und Erleben zu
trennen (s. o.), bleibt weiter thematisch. Die Vermengung lässt sich auch hier, wenngleich
414 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
sie stülpt nach außen, was gleichsam verinnerlicht wurde. Weder wird dabei
versucht, Differenzen zwischen dem Katholischen und dem NS-Terror in
allgemeiner Form zu reflektieren noch soll der Text der Landschaft, dem
Wetter oder der Architektur der Stadt in irgendeiner Form gerecht werden.
Dass die Vermengung in komplexer, syntaktisch fein abgestimmter Sprache
erfolgt, kann die Realität des Erlebten vom bloß subjektiv so Empfundenen
und damit rezeptiv Einordenbaren ablösen.
Wie schon bei Améry ist bei Bernhard der Bezug zum Geschehenen ebenso
entscheidend wie bedrohlich. Neben der anklagenden Geste teilt das autobi-
ographische Ich mit diesem auch die reflexive Zurückweisung der eigenen
Versehrung: „Ich bin ja gesund, da ich nicht vergesse. Ich trete an gegen das
Quälen und das Gequält-Werden.“183 Die konflikthafte Spannung besteht
dabei im Projekt der Darstellung der eigenen Erschütterung und Zerstörung,
die sich mit der anklagenden Geste gegenüber dem Außen verbindet und
der gleichzeitigen Zurückweisung von Etiketten des Zerstört-Seins. Psycho-
traumatologen versuchen diesen Komplex durch die Rede von Trauma als
der vernünftigen Reaktion auf katastrophale Ereignisse zu berücksichtigen.
Es geht dabei darum, die Traumatisierung nicht durch die Beobachtung zu
verdoppeln.
Während am anderen Ende des Spektrums Kafkas Schloß fast in einem Zug
verfasst wurde, wird in der Ursache sehr bewusst syntaktische Feinabstim-
mung betrieben. So wird – um ein signifikantes Beispiel auszuwählen – im
Kontext der Schülerselbstmorde der Entwurf „ihre angeherrschte und damit
zerstörte Existenz“ in der Textfassung präziser formuliert als „ihre ange-
herrschte und damit zum Selbstmord erschütterte Existenz“. 184 Diese Präzi-
sierung ist im vorliegenden Kontext entscheidend, da sie Suizidalität und
Traumatisierung in einer für die Ursache charakteristischen Weise verbin-
det. Zu vermuten ist insgesamt ein Überarbeitungsprozess durch immer
dichtere Attribuierung, der nur ansatzweise rekonstruierbar ist. Zentral ist
eine exakte Formulierung in exakten Sätzen und exaktem Rhythmus mit
Im Schreibprozess Zurückgedrängtes
Themen, die sich in den Entwürfen verändert darstellen, sind etwa Isolati-
on,185 gewünschte Identifikation mit den Mächtigen 186 und direkte szenische
Attribute wie der Name. Entfernt oder umgearbeitet wurden für die Endfas-
sung glatt interpretierbare konkrete Notizen, die ‚lebendige Schilderungen‘
darstellen. Die individuelle Armut als Grund der Ausgrenzung, wie sie in
folgendem Zitat aufleuchtet, wird – wie andere persönliche Erlebnisse –
durch den Reflexionsprozess ersetzt und durch das Allgemein-
Institutionelle, das die eigene Geschichte in der Erarbeitung der Endfassung
immer mehr umschließt:
Das Zitat zeigt eine geradlinige Narration, die eben aufgehoben werden soll
und gegen die sich die Spracharbeit ebenso richtet wie gegen die mögliche
Identifikationsfläche des ‚rein Persönlichen‘. Analoges gilt für die folgende
185 Bereits in der ersten Themensammlung ist notiert: „Bürger/Künstler/Kein Zugang“ (NLTB
W 10/1, Rückseite), was im Text extensiv nachklingt. Zum einen heißt es: „So war ich, der
ich in dieser Stadt mehr Verwandte hatte als alle anderen im Internat […] gleichzeitig der
Verlassenste von allen“ (U, S. 43 f.). Eingebettet in die Erzählung zu den Verwandten sind
die „Einwohner in dieser Stadt“, womit der Text wieder zwischen Konkretem und Allgemei-
nem oszilliert. Zum anderen wird das Ich als Teil der ‚Schwachen‘ gegenüber den ‚Starken‘
geschildert, mit einer deutlichen Konstruktion einer Wir-Position, um den erwünschten all-
gemeinen Stoßpunkt zu erhalten: es geht um eine Geste der Anklage, nicht um einen Lei-
densbericht.
186 Vgl.: „Grünkranz war ein nationalsozialistischer Offizier und er hatte im Internat seine
Verbündeten, ich wäre gern ein Verbündeter dieses Menschen gewesen, wenn ich es hätte
sein können, um die Zeit im Internat besser überstehen zu können, aber für diesen Vorteil
fehlten mir alle Voraussetzungen, auch musste dem Grünkranz von mehreren Besuchen
meines Großvaters bei ihm klar gewesen sein, dass es sich bei meinem Großvater jedenfalls
nicht um einen Nationalsozialisten handelt“ (NLTB, W 10/3, Bl. 9).
416 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
Notiz, die zudem deutlich macht, was mit der Ausdehnung ins Allgemeine
und der Aufhebung des erlebenden Ich durch die Reflexion gemeint ist.
Denn die szenisch-narrative Schilderung mit Namen, wie sie hier erscheint,
wirkt in ihrer Unmittelbarkeit wie ein Kontrapunkt zur Endfassung des
Textes:
[…] und Grünkranz kam herunter, hörte ich nur sein: Bern-
hard! und war geohrfeigt, überall, wo ich ihm begegnete, hörte
ich sein Bernhard! und war geohrfeigt, ohne dass ich jemals
den Grund für diese seine Ohrfeigen erfahren hätte, ich war
mir keiner Schuld bewusst, der Grünkranz hatte sich ganz ein-
fach zur Gewohnheit gemacht, mich und zwei, drei andre
Schwache fortwährend zu züchtigen, zur Rede zu stellen und
zu ohrfeigen. (NLTB, W 10/3, Bl. 8.)187
187 Vgl. die Transformation zu: „Noch hatte ich die zunehmende Angst vor dem Grünkranz, der
mich, gleich wo er mir begegnete, ohrfeigte, grundlos, meinen Namen nennend, er tauchte
auf, nannte meinen Namen und ohrfeigte mich, als wäre ihm dieser Vorgang, nämlich das
von ihm aus gesehene plötzliche Auftauchen meiner Person wo immer, selbstverständlicher
Anlaß gewesen, mich zu ohrfeigen. […] Und wie mir, so ist es einigen anderen, Schwächeren
oder Schwachen, ergangen, die sich nicht wehren hatten können und tagtäglich Opfer der
Starken, wenn auch oft nur wenig Stärkeren, gewesen waren“ (U, S. 52 f.). Der Übergang von
der personalen Erlebnis- zur Komplexität aufnehmenden Beschreibungsebene ist hier be-
sonders deutlich. Man beachte auch die fast durchgängige Transformation des grammati-
schen Subjekts „ich“ zum indirekten oder direkten Objekt.
2.1 Die Ursache. Eine Andeutung 417
[D]enn auch der aus einer solchen Anstalt als Internat entlas-
sene und entkommene junge Mensch […] ist für sein weiteres
Leben und seine weitere immer zweifelhafte Existenz, […] in
jedem Falle eine zu Tode gedemütigte und zugleich hoffnungs-
lose und dadurch hoffnungslos verlorene Natur, […] er mag
Jahrzehnte weiterleben als was und wo immer. (U, S. 22)
Prozesse der Zerstörung: Die Ursache. Eine Andeutung, Lefeu und das Todes-
arten-Projekt Ingeborg Bachmanns vor dem Hintergrund der Re-Integration
des Ereignisses
Die Ursache. Eine Andeutung schreibt sich ein in eine Literatur, die Prozesse
der Zerstörung festhält. Mit veralteten Begriffen würde man von einer Dia-
lektik der äußeren und inneren Zerstörung sprechen, die auch in anderen
herausragenden Texten der Zeit mit ebenso unterschiedlichen wie ambitio-
nierten Verfahren literarisch codiert wird. Neben dem oben besprochenen
Lefeu, bei dem die eigene Lebensgeschichte durch die des Anderen durch-
scheint, sticht für diese Thematik Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt
ins Auge.188 Zum umfassenden rezipierten, noch zu Lebzeiten publizierten
Roman Malina liegen neben narrativ oder intertextuell orientierten, feminis-
tisch, psychoanalytisch – mit der Folie der Hysterie189 – oder am Erinne-
rungsdiskurs interessierten Studien mittlerweile auch mit dem Traumadis-
kurs verknüpfte Studien vor.190 Dank Herrmann ist die komplexe Komposi-
tion des Textes übersichtlich dargestellt und sind krass reduzierende Lesar-
ten aus philologischer Sicht zurückgewiesen.191 Besonders wichtig sind die
Fortführung der modernen Thematik der Erzählbarkeit und die Problemati-
sierung der Erinnerung vor dem Hintergrund, dass der Roman „in der völli-
gen Zerstörung des Ich“ münde:192
188 Zu Malina, dem wohl ambitioniertesten Versuch, als ‚Bestseller‘ (vgl. Herrmann 2013, S. 130
f.) Zum auseinanderstrebenden Schreibprozess vgl. Ortner 2000, S. 491, wo analog zu Mu-
sils Mann ohne Eigenschaften die Frage eines „Tableau des [produktiven] Scheiterns“ aufge-
worfen wird. Zur Adorno-Rezeption im Kontext der Todesarten bei Bachmann, vgl. Alb-
recht/Göttsche 2013, S. 127, mit der Rede vom „Klima der Verdrängung“ (ebd. – auch Bern-
hard nutzt, wie oben angedeutet, den Verdrängungstopos leidlich); zur Auseinandersetzung
mit Adorno bei Améry, vgl. Weiler 2012.
189 Vgl. Herrmann 2013, S. 140.
190 Vgl. die explizit psychotraumatologisch ausgerichtete Studie Der ungehörte Schrei (Denne-
Was könnte – in extrem verdichteter Form – mit dem oft diskutierten Zerfall
des Ich in Malina angesprochen sein? Die antithetische Strukturierung Mali-
nas über Ort und Zeit, die im kurzen ‚Bericht‘ über das Rigorosum an Kant
gebunden wird,195 konfrontiert Unmittelbarkeit (Ivan) mit der Präsenz des
Vergangenen (Malina). Während Ivan u. a. für Maßlosigkeit, Schönheit und
letztlich ‚Leben‘ steht, verweist Malina über Geist und Maßvolles auf den
Tod.196 Wenn das ‚Ungarngassenland zerfällt‘, scheitern das Exsultate jubila-
193 Es geht um Fragen des Zugangs. Dass die Geschichte „narrativ nicht zu fassen“ ist, knüpft an
die in Abschnitt C geschilderte moderne Thematik an (vgl. Rilkes oben diskutiertes ‚Fenster‘
in Tragy). Zu Dissoziation in der Psychotraumatologie s. auch A 1.
194 Der Klammerausdruck „Bauer, S. 5“ bezieht sich auf Bauer 1998.
195 Vgl. Bachmann 1993, S. 307.
196 Vgl. die ‚Tödlichkeit‘ ‚losgelassener Rationalität‘ in Das Buch Franza. Adorno stand für bei-
des: die Rückkehr zu Barbarei und die Eskalation der Vernunft. Beide Stränge waren bereits
von Broch intensiv bearbeitet worden, der damit implizit eine Bewegung der Spätaufklä-
rung fortsetzte (s. o.). Bachmann interessiert sich besonders für die entgrenzte Rationalität
(s. auch den Abschnitt zu Sofsky oben).
2.1 Die Ursache. Eine Andeutung 419
te, der Versuch Ivan und die Textfragmente. Übrig bleibt nur Camus’ Pest,
der Zusammenfall von entfremdeten und traumatischen Ich.197
Für die vorliegende Fragestellung ist die Verbindung von Suizidalität und
Gesellschaft/Verbrechen/Außen in allen drei Projekten zentral: Die persön-
liche Geschichte verweist stets auf die kollektive. 198 Die Texte ringen sicht-
lich in unterschiedlicher und auch widersprüchlicher Form um das Verhält-
nis von Zerstörung des Ich und komplexer (äußerer) Ereignisstruktur. Be-
sonders gilt dies für Die Ursache, wo die Dokumentation eines zerstörten
Selbst durch die Geste der Anklage und die Komplexion verursachender
Ereignisse auf das Soziale zurückbezogen wird und das Selbst als im Ver-
gleich zu den Anderen zugleich als vernichtet und als gesund geschildert
wird.199 In Amérys Lefeu verweist die Ästhetik der Nein-Sage auf den nicht
schließbaren Riss. Individualpsychologie und Psychoanalyse werden erwo-
gen und können im offenen Reflektieren des Romans nicht zur Gänze zu-
rückgewiesen werden. Deutlich erkannt wird aber die Problematik der blo-
ßen Zurückverweisung ans Ich. Dennoch ist das Ereignis, so eine fundamen-
tale Bedrohung, reflexiv nicht fassbar und durch Deutungsgemeinschaften
stets verschiebbar. Der Text endet mit dem Scheitern der großen Geste. 200
Aber auch Bachmanns von Adorno inspirierte Rede der weiteren Existenz
des Verbrechens schreibt sich bereits hier ein. 201 Umso mehr noch die in Das
Buch Franza und Malina thematisierten ‚Todesarten‘, die auf Geschlechter-
differenz, (sexuelle) Macht und Ohnmacht sowie rationale Objektivierungs-
strategien verweisen und eben nicht auf intrapsychische Dispositionen
(s. o.). Gemeinsam ist den Texten der Fokus auf die Re-Integration des Er-
197 Bachmann 1993, S. 303. Man vergleiche die Verknüpfung von ‚Salzburg‘ und ‚Präsenz‘ in
Bernhards topologisch-chronologischer Verbindung. Die (traumatische) Subjektstruktur
bindet sich an die Zeitstruktur (vgl. im Kontext von Kafkas Rotpeter Grugger 2015b). Wich-
tig für die Zeitdimension des ‚traumatischen Subjekts‘ in Malina ist die (scheiternde) Utopie:
nach vorne Gerichtetes im Gegensatz zum objektivierenden Bemächtigen des Vergangenen.
198 Vgl. für Bachmann: „Die Traumszenarien und der narrativ umkreiste Erinnerungsverlust
beziehen sich so keineswegs allein auf individualpsychologisch deutbare Geschehnisse,
sondern auf die kollektive Kriegs- und Nachkriegsgeschichte (Herrmann 2013, S. 137 f.). Für
Améry u. Bernhard s. o.
199 S. oben, auch zur Ausdehnung des Subjektiven auf die Darstellung und zu den Ketten rheto-
rischer Behauptungen, die simultan als Argumente vorgetragen werden, aber eben nur der
Form nach.
200 Zum Anschreiben gegen Individualpsychologie und Psychoanalyse s. o.
201 Vgl. die oft zitierten Worte der Vorrede von Franza: „Es ist mir, und wahrscheinlich auch
Ihnen oft durch den Kopf gegangen, wohin das Virus Verbrechen gegangen ist – es kann
doch nicht vor zwanzig Jahren plötzlich aus unserer Welt verschwunden sein, bloß weil hier
Mord nicht mehr ausgezeichnet, verlangt, mit Orden bedacht und unterstützt wird“ (Bach-
mann 1993, S. 341). Vgl. Albrecht/Göttsche 2013, S. 127.
420 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
eignisses (s. o.) in diese Prozesse der Selbstzerstörung. Das bedeutet eine
vielschichtige literarische Zurückweisung der Sicht auf das ‚beschädigte
Individuum‘ mit der Brille intrapsychischer Konflikte. Da diese Texte vor
dem gegenwärtigen Traumadiskurs verfasst wurden, stehen sie jenseits von
dessen Begriffsapparat, was etwa anhand von Bernhards ‚Verdrängungsdis-
kurs‘ deutlich sichtbar ist. Deutlich wird über diese Rückblicke die hohe
‚Attraktivität‘ und Viabilität des ‚Traumabegriffs‘ und der Traumadiskurse
für kulturwissenschaftliche Diskurse aus der eigenen Tradition heraus.
202 Vgl. Huber/Mittermayer 2004, S. 522–525. Nicht nur der autobiographische Zyklus zeigt,
dass das Projekt „Erinnern“ Anliegen blieb. Zum Verhältnis von Autobiographischem und
Fiktivem bei Bernhard s. auch oben.
203 Das autobiographische Ich dokumentiert seine ‚bewusstseinserweiternde Drogenerfahrung‘
mit LSD, versteht sich als antifaschistischer Widerstandskämpfer, ist überzeugter Aktivist
der APO mit Zielpunkt Revolution und zelebriert autonome Subjektivität. In Vespers Text
geschieht diese bunte Verbindung auch deshalb, weil er den Anschluss an die US-
amerikanische Literatur sucht. Zudem setzt er (im weiteren Sinn psychoanalytisch motivier-
te) Versuche automatischen Schreibens fort. Zur Reise s. auch unten.
204 Vgl. Wagner-Egelhaaf 2005, S. 191, im Anschluss an ihre Beispiele der Moderne, Hans Ca-
rossa und v. a. Walter Benjamin, dessen „Selbstdarstellung des Erinnerungsvorgangs“ sie
mit dem Fokus auf die Medialität der Sprache sowie die ‚neuen Medien‘ insgesamt verknüpft
(ebd., S. 190).
205 Vgl. ebd., S. 194 bzw. Holdenried 2000, S. 249 f.
2.2. Romane im Umfeld 421
Konziser und selektiver Blick auf zeitnahe Projekte: Himmel, der nirgendwo
endet (Haushofer), Vogel federlos (Novak), Kindheitsmuster (Wolf), Die Reise
(Vesper), Schöne Tage (Innerhofer)
206 Ebd., S. 258. Vgl. zur Situation in der DDR die Darstellung in Shifting Perspectives unter
Betonung des Begriffs der ‚subjektiven Authentizität‘ (vgl. Tate 2007, S. 9). Für Österreich
ist für 1968 Barbara Frischmuth Die Klosterschule hervorzuheben, die sprachliche Verfah-
ren ausbildet, wie sie später etwa auch Elfriede Jelinek intensiv nutzen wird, indem sie über
die unmittelbare Wiedergabe das Phrasenhafte des Sprechens demaskiert. Frischmuth
kommt sichtlich noch von den Diskursen der Moderne her, zwar weniger als der spätere
Lefeu (s. o.), aber deutlich mehr als die meisten autobiographischen Romane der 1970er.
207 Wagner-Egelhaaf 2005, S. 195, mit Verweis auf den Diskurs zum ‚Tod der Literatur‘, in
dessen Kontext Autobiographie als gegen Fiktionalität gerichtet konzipiert wird. Der lange
Atem zeigt sich etwa an Erich Hackls spezifischer Methode einer dokumentarisch genauen
(intertextuellen) Fiktionalisierung, die er seit dem Erstling Auroras Anlaß in verschiedenen
Variationen verfolgt oder, an einem prominenteren Beispiel, in der ‚dokumentarischen Fik-
tion‘ in Sebalds Austerlitz.
208 Zum Etikett „Neue Subjektivität“, vgl. Holdenried 2000, S. 251.
209 Wagner-Egelhaaf 2005, S. 196.
210 Vgl. oben zur SRP im LdP.
211 Bereits ein Blick auf Gilmore 2001 (s. o.) genügt, um zu sehen, dass es um eine internationa-
le Bewegung geht, die nicht alleine aus den Bedingungen der deutschsprachigen Länder zu
erklären sind.
422 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
212 Vgl. die in Holdenried 2000 beschriebene Schwierigkeit, Gruppen abzugrenzen: „Die einzige
durchgängige Tendenz innovativer Gattungsvariation von den 70er-Jahren bis zu den aktu-
ellsten Werken der 90er-Jahre ist jedoch die Hinwendung zum autobiographischen Roman
(oder der autobiographischen Erzählung)“ (S. 258).
213 Vgl. insgesamt Sofsky 2008, S. 378–390, zu frühen Zeugnissen etwa Antelme (1947), Bendel
(1946), Carls (1946), Freund (1945), Langbein (1949), Primo Levi (1947). Der erste Bericht
über SS-Verbrechen war wohl Martin Grünwiedls „Dachauer Gefangene erzählen“ von 1934,
als anonyme Flugschrift erschienen. Vgl. Seubert 2011, S. 78.
214 Vgl. vor allem den Band Kleist. Moos. Fasane (Aichinger 1991) sowie Reichensperger 1995.
2.2. Romane im Umfeld 423
215 Fortgesetzt wird dies u. a. in zwei unten diskutierten Projekten: Innerhofers Schöne Tage
beginnen mit absoluter ‚Fremdheit‘, die dem kindlichen Begreifen entgegengestellt wird. Es
geht von Beginn an darum, eine Sprache zu finden für das Kind, das über ihre reflexiven und
objektivierenden Möglichkeiten nur sehr bedingt verfügt. In anderer Form sucht Gold-
schmidts Absonderung nach der Codierung kindlichen Erlebens (s. u.).
216 Schreiben als Abwehr von Ängsten ist ein literarischer Topos, der prominent etwa mit
Jonathan Harkers Aufzeichnungen in Bram Stokers Dracula (1897) verbunden ist.
217 Es bleibt eine persönliche Auseinandersetzung, der ihre Zeit gelassen und die nicht retro-
spektiv neu positioniert wird, wie dies etwa fast zwangsläufig in Hanekes „Weißes Band“ er-
folgt. Nur zehn Jahre später wären die Ereignisse so wohl kaum zu vermitteln gewesen,
denn im Text scheint nicht durch, dass das Forsthaus auf die NS-Zeit zusteuert. Die Ver-
knüpfung erfolgt eher zur Welt von Hesses Demian, mit dem die Schilderung des Verlusts
der ersten Gewissheit aus kindlicher Perspektive geteilt wird.
424 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
Helga M. Novaks Blick zurück beginnt in den späten 1970ern mit Die Eishei-
ligen und setzt sich 1982 mit Vogel federlos fort.221 Durch die teils poetische
Sprache der Lyrikerin, Montageverfahren, einem kaum kommentierten Pro-
zess des ‚Aufwachens‘,222 die Verbindung des Ich mit dem gesellschaftlichen
Prozess und die Konzentration auf die Perspektive des erlebenden Ich und
die politische Thematik des Stalinismus (aus der NS-Vergangenheit heraus)
hebt sich Vogel federlos von anderen Texten der Zeit ab. Im Hintergrund
stehen die Ereignisse der Eisheiligen, die katastrophale Kindheit im natio-
nalsozialistischen Berlin mit den Demütigungen durch die Adoptivmutter
218 Im Versuch den „wimmernden Nandi“ zu trösten, reflektiert das kindliche autobiographi-
sche Ich seine Schwebeposition: ‚„Es ist doch nur ein Spiel, sei doch nicht so kindisch.‘ Ist es
wirklich nur ein Spiel? Sie weiß es selber nicht mehr. […] Und wer sitzt in Wahrheit vor der
Tür, Sascha oder der Henker?“ (Haushofer 1994, S. 75). Als ‚zu Tode Verurteilte‘ gerät Meta
endgültig in einen traumatischen Zwischenraum des Unbestimmten und Unberechenbaren:
„Es ist alles nur ein Spiel, aber es wäre ihr lieber, sie könnte den Henker sehen. Vielleicht ist
das gar nicht Sascha, der hinter ihr steht und das Schwert durch die Luft sausen läßt. Plötz-
lich fängt ihr Herz wild zu rasen an. Es glaubt also nicht mehr an das Spiel. Sie spürt kaum,
wie Sascha ihr die Fesseln abnimmt. […] Meta fängt an zu zittern und muß sich ins Gras le-
gen. Voll Entsetzen hört sie sich winseln wie einen kleinen Hund“ (ebd. S. 76). Vgl. zur Wie-
dergabe kindlicher Dissoziationserfahrungen auch unten zu Goldschmidts Absonderung.
219 Deutlich ist die Codierung der Differenz im Wissen von Opfer und Täter.
220 Verwendet wird eine Sprache, die ohne die reduktiven Verfahren von Kristóf arbeitet, auch
keine äußere Sprache abbildet wie Frischmuth oder Jelinek. Von einer objektivierenden
Darstellung kindlicher Unterdrückung trennt die begrenzte Perspektive mit dem weitge-
henden Verzicht auf das erzählende Ich ab.
221 Vgl. zu den Eisheiligen ausführlich Holdenried 2000, die im Unterschied zu Vf. den ersten
Teil vorzieht. Aus Vogel federlos wird in der Folge mit der Sigle ‚Vfl‘ zitiert nach Novak 1982.
Der dritte Teil, Im Schwanenhals, erschien erst 2013.
222 Die sozialistische Rede von der ‚Bewusstwerdung‘ ist sozusagen umgedreht: das ‚Bewusst-
werden‘ über den Stalinismus ist ein durchgängiges Thema im Hintergrund.
2.2. Romane im Umfeld 425
„Kaltesophie“, die den Rahmen abgeben für die Rede von Ängsten, die „zu
zerfetzen drohten“ (Vfl, S. 83). Sie werden nicht erinnert, sondern es wird
der Prozess weg von ihnen markiert: „Suchen / einen Sinn erfinden einen
neuen / keine Ursache“. (Vfl, S. 280)
Durchgehendes Thema ist die Instrumentalisierung traumatischer Erfah-
rungen: Herkunftslosigkeit als Bedingung für die „Kaderschmiede“. 223 Zu-
nächst fließen in einer für den Text charakteristischen Weise Informationen
ein, die eine allgemeine Schicht tragen und das Ich bloß affizieren. Kontras-
tiert werden sie am langsamen ‚Erwachen‘ des autobiographischen Ich. 224
Erst am Ende wird diese Antwort auf ihre Erfahrungen zurückgewiesen:
„die Kaderschmiede hat den Staub der Vergangenheit nicht von mir abge-
wischt, im Gegenteil, mit diesem Staub bin ich angetreten, um mich schmie-
den zu lassen, jetzt ist er wieder da, der Staub der Vergangenheit, und hat
mich eingehüllt“. (Vfl, S. 288)
Der Bruch nach außen steht in Spannung zum sozialistischen Wir, das als
‚attraktiver‘ Umgang mit der Beschädigung aufscheint und als Mittel gegen
die Zurückgeworfenheit auf sich dient. 225 Vorgeführt werden auch Prozesse
der Internalisierung, wo das Ich sich nicht nach außen wenden kann. 226 In
Vogel federlos geht es nicht darum, die Sprache des erlebenden Ich aufzufin-
den, sondern durch verschiedene Sprachschichten dessen Erlebniswelt
aufzuzeigen, und zwar mit möglichst geringer Präsenz eines erzählenden
Ich. Der Prozess des ‚Erwachens‘ kann so rezeptiv in seiner inneren Wider-
sprüchlichkeit nachvollzogen werden. Nicht-Sehen-Wollen wird nicht be-
sprochen, sondern vorgeführt. Auch die Makarenko-Methode wird nicht aus
223 Vgl. etwa Vfl, S. 78. Die Kaderschmiede wird, dem Erzählverfahren entsprechend, weniger
als solche diskutiert, sondern vorwiegend vorgeführt.
224 Die Begeisterung am Beginn ist sehr überzeugend dargestellt, auch das Selbstbewusstsein,
die alte Generation habe abgewirtschaftet, was sich mit der eigenen Erfahrung verbindet –
im Sinne der stets erhofften Korrektur (vgl. den Abschnitt zu Améry).
225 Zum Zurückgeworfensein vgl. etwa „Immer selber, selber, selber, selber“ als Antwort auf
Concordias: „Ich finde es wirkungsvoller, den eigenen Kopf anzustrengen und über die so-
genannten Sünden mit sich selbst zu hadern“ (Vfl, S. 176). Vgl. zum Umgang mit dieser
Spannung: „Geißelung und Selbstzerfleischung werden mir nicht helfen, die maßlose Wut,
die mich manchmal überfällt, werden sie nicht zügeln, ich bin allein, und was ich nicht sel-
ber machen, wird kein anderer für mich tun, frei sein heißt ab jetzt alleine sein, und nichts
und niemand wird mich eines besseren belehren“. Und sofort darauf: „[D]as ist ja verrückt,
was will ich denn ohne die anderen anfangen, es ist mein Land und mein Sozialismus, was
geht mich mein Vater an, ich lebe […] alles gehört uns, und damit gehört es mir“ (Vfl, S. 288).
Ich-Werden als Thema der 60er und 70er trifft im Text auf den Riss im Ich und die spezifi-
schen Bedingungen der DDR.
226 Für die beschriebene Dynamik von Selbstreflexion, Schweigen, äußeren Anforderungen und
Schuldgefühlen vgl. etwa Vfl, S. 252.
426 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
dem Nachhinein erzählt, sondern über das Erleben und die Reflexion ein-
treffender Informationen punktuell und assoziativ eingeführt. 227
Für die Darstellung der bei Novak so zentralen, permanenten Verwundung
werden historische Bilder wie Dürers Melencolia,228 direkte Thematisierung
– „so verletzt, so erniedrigt, so elend, so mißachtet, so verwundbar, so unge-
schützt, so ausgeliefert, so nackt, so ratlos, so wehrlos, so hilflos, so rechtlos,
so würdelos“ (Vfl, S. 146) –, Vergleiche wie „der Schlaf ist eine kurze Ohn-
macht zwischen Schrei und Schrei“ (Vfl, S. 163), Rätselgedichte wie das vom
titelgebenden „Vogel federlos“ sowie lyrische Verdichtungen verwendet:
Der mit dem letzten hier zitierten Vers geäußerte Gedanke steht trotz seiner
Zeitgebundenheit in einer gewissen Tradition. Broch hatte die lebenslange
Irrfahrt aus Verletzungen heraus mit fehlender Bestätigung verbunden und
an der Esch-Figur der Schlafwandler besonders plastisch dargestellt. Stets
ein anderer werden zu wollen, war auch hier thematisch. Kafkas Schloß
hatte K. in der Ohnmacht des Suchenden festgeschrieben. Bei Novak liest
sich nun das programmatische Ich-Werden der Zeit in seiner traumatischen
Form des (in der Koinzidenz von Innen und Außen verordneten) Anders-
Werdens. Das Subjekt ist hier verwiesen auf die fortlaufende Auflösung
seiner Identität.230
231 Das Ich ist durch die Brüche hindurch konsistent, gerade die Präsenz traumatischer Erfah-
rung erzeugt einen umschließenden Punkt.
232 Zu den zeitlichen Ebenen vgl. etwa Hilzinger 2000b, S. 603 oder Holdenried 2003b, S. 87 f.
Der Verdrängungsdiskurs ist, wie zu erwarten, Teil des Projekts, allerdings eng verknüpft
mit bewusster Leugnung: Vgl. etwa die Vorstellung vom „Volk von Ahnungslosen, das, zur
Rede gestellt, später wie ein Mann aus Millionen Mündern beteuern wird, es erinnere sich
nicht“ (Wolf 1979, S. 204). Diese Als-ob-Verdrängung ist nicht unähnlich zu Bernhard. Aus
Kindheitsmuster wird in der Folge mit der Sigle ‚Khm‘ zitiert.
233 Vgl. Khm, S. 204 und Khm, S. 358 (den Einschub zu Gedächtnisstörung).
234 Kaplan/Wang 2008, S. 12.
235 Vgl. Lenkas Forderung nach „bedingungslose[r] Einmischung“, die sich explizit gegen do-
kumentarisches Festhalten richtet (Khm, S. 215).
236 Der Text ist politisch wohl als Gradwanderung zu lesen, steht mit solchen Vergleichen
besonders zeitgenössisch aber nicht alleine dar. Man vergleiche die Rede vom „Bauern-KZ“
in Schöne Tage (Innerhofer 2012, S. 208) oder das Bild der Gaskammer in Malina (Bach-
mann 1993, S. 175 f.). Für den jüngeren Traumadiskurs und einen nicht-fiktionalen Text
vergleiche man die gezogene Analogie zwischen 9/11 und Auschwitz in Kaplan 2005, wo
nicht nur die Formulierung problematisch ist, wenn es in einem Klammersatz heißt: „me-
morials at Auschwitz und Dachau come closest to the situation of the Twin Towers“ (S. 140).
428 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
Wie in fast allen Texten der Zeit und spezifisch für das (erweiterte) Genre ist
Ich-Werden ein zentrales, wiederholtes Thema/Motiv des Textes, dem im
DDR-Kontext subversive Bedeutung zukommt.237 Gegenübergestellt ist dem
Ideal des sich schließenden Ich238 das Wir der Nazisten, und zwar über ein
erinnertes Heinrich-Annacker-Gedicht: „Nun fügt das Ich dem großen Wir
sich ein/ und wird zum kleinen Rad an der Maschine.“ 239 Das neue Wir der
sozialistischen Diktatur dürfte mitproblematisiert sein.
Wolfs Rede von subjektiver Authentizität und von phantastischer Genauig-
keit wirkte diskursformierend und führte weg von der kontextuellen Veran-
kerung des Textes einer bekannten Autorin im literarischen und im politi-
schen Feld.240 Der Roman diskutiert Erinnern intensiv,241 spricht früh vom
Körpergedächtnis anhand der Metapher des inneren Gejagt-Seins (vgl. Khm,
S. 467 f.), trennt Kindlich-Visuelles von späterer Verstandesarbeit (vgl. Khm,
S. 186), diskutiert das ‚Überlebenssyndrom‘ als Differenz der „Welt der Le-
benden und [der] Welt der Überlebenden“, die durch Schattenjahre getrennt
237 Vgl. zum Schluss noch einmal die in Klammer gerückte Frage, Nelly betreffend: „Wann
werden du und sie im Ich zusammenfallen (Khm, S. 535). Bei Bernhard steht die Frage des
‚Ich-Werden‘ ebenso wiederholt im Vordergrund wie bei Novak oder, etwas anders gestal-
tet, bei Vesper, zu dem Hilzinger eine stoffliche und strukturelle Verbindung zu Kindheits-
muster sieht, vgl. Hilzinger 2000b, S. 601). Sie ist eine der Leitfragen der zeitgenössischen
autobiographischen Projekte, die für den DDR-Kontext als subversiv gelesen werden kann.
Ich-Werden wird in den fiktionalen Welten von Schwab und Schalansky keine Option mehr
darstellen (s. Kap. 3 und 4 dieses Abschnitts).
238 Vgl. v. a. das Ende des Textes (Khm 549), aber auch: „Denn nur, wenn man sich selbst ver-
gißt, schließt sich für kurze Zeit der Riß zwischen dem, was zu sein man sich zwingt, und
dem, was man ist“ (Khm, S. 307). Die Subjektvorstellung ist noch die des eigentlichen Ich,
die Frage der Selbstvergessenheit verweist auf die Konstitution des modernen Subjekts
(s. o.).
239 Zit. nach Khm, S. 259. Man konnte das auch als Verweis auf die Ideologie der Machthaber
lesen.
240 Von einer „radikal der subjektiven Wahrheit des Erinnerten verpflichteten Haltung“ spricht
Hilzinger 2000a, S. 648. Zur aufgrund der komplexen Textstruktur bedrohten autobiogra-
phischen Erzählinstanz vgl. ebd., S. 654 f. Zur Frage der subjektiven Authentizität vgl. be-
sonders Tate 2007, S. 194–235.
Zum Authentizitätsdiskurs im Text vor dem Hintergrund des ‚Uferlosen‘ (i. e. Nicht-
Abschließbaren) sozusagen ernsthaft betriebener ‚Authentizität‘ vgl. auch Khm, S. 224. In
Bernhards Zyklus wird in Die Kälte Authentizität über eine ‚Wiederbelebung moderner
Sprachkritik‘ zurückgewiesen, was allerdings nicht über das Zitathafte hinausreicht (vgl.
Bernhard 2004a, S. 364).
241 Vgl. etwa als ein Beispiel für die Ortsmetaphorik der Erinnerung: „Schauplätze allzu
schwerwiegender Ereignisse können sich auf Erden nicht halten. Sie tauchen im Gedächtnis
unter und hinterlassen an den Stellen, wo sie wirklich gewesen sind, blasse, unkenntliche
Abdrücke“ (Khm, S. 440).
2.2. Romane im Umfeld 429
seien (Khm, S. 448), thematisiert die ‚tote Aufbewahrung‘, 242 spricht wie-
derholt von Scham, Wunden, Betäubt-Sein243 oder Erschütterungen und
schließt mit der „Grenze des Sagbaren“ (Khm, S. 549), die zunächst über das
bekannte, variierte Wittgenstein-Zitat aufgerissen wurde.244
Während das Erinnern traumatischer Erfahrungen auch auf der Inhaltsebe-
ne präsent ist, verdeutlicht dieser Roman und seine Rezeption auch die poli-
tische Auseinandersetzung damit. Wenn es im Text zutreffend heißt, „daß
jener Apparat, der die Aufnahme und Verarbeitung von Wirklichkeit zu
tätigen hat, von Literatur geformt wird“,245 so wird gerade durch die Mehr-
schichtigkeit deutlich, dass um diese Verarbeitung produktiv und rezeptiv in
sozialen Räumen gerungen wird.246
242 Vgl.: „Nellys äußeres Gedächtnis bewahrte die Szene auf, so wie der Bernstein Fliegen auf-
bewahrt: tot. Ihr inneres Gedächtnis, dessen Sache es ist, die Urteile zu überliefern […]
konnte sich keine Bewegung mehr leisten. Es blieb stumm (Khm, S. 375 f.).
243 Vgl.: „Wieder dieses Mißverständnis: „Betäubt ist nicht tapfer“ (Khm, S. 532). Vgl. auch den
an Brochs fantastischen Imker (s. o.) anschließenden Wunsch nach ‚Unverwundbarkeit‘: „Es
sollte niemals mehr irgendeinem Mensch möglich sein, sie ernstlich zu treffen“ (Khm,
S. 544).
244 Vgl.: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man allmählich zu schweigen aufhö-
ren“ (Khm, S. 242) sowie den berühmten schließenden Satz 7 des Tractatus: „Wovon man
nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ (Wittgenstein 1997, S. 85).
245 Khm, S. 493. Das ‚kindliche Ich‘ wird in den Kontext der Stelle mit einbezogen, wenn es über
diesen ‚Apparat‘ heißt: „bei Nelly war er – sie wußte es nicht – schwer beschädigt“ (ebd.).
246 Der Konstruktionsprozess des Textes und seiner Interpretation wird am Beispiel der Kind-
heitsmuster auch aufgrund der Entstehungsbedingungen deutlich als sozialer sichtbar.
247 Vesper 2012, S. 160.
248 Ebd., S. 54. Genau heißt es an einer insgesamt in Klammern gesetzten Stelle: „Deshalb ist
auch die Bezeichnung ‚Vegetables‘ zutreffend und nutzbringend zur Erkenntnis des faschis-
toiden Deutschen (man lasse diesen Pleonasmus durchgehn!)“ (ebd.).
249 Das System produziere ‚Junkies‘ und müsse, im Jargon der Zeit formuliert, von Grund auf
zerstört werden (vgl. ebd., S. 295). Täglich würden Tausende zugrunde gehen (vgl. ebd., S.
147). Das Argument für die nötige Störung lautete, es sei noch faschistisch geprägt, und Hit-
ler sei ohnedies v. a. ein Werkzeug der Imperialisten gewesen (vgl. ebd., S. 567).
430 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
dies überhaupt nur vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Gleichsetzung familiärer,
ökonomischer und politischer Systeme zu dem quasi-belebten, ‚herrschenden System‘.
258 Innerhofer 2012, S. 40, Herv. im Orig.
259 Die Debatte entstand nicht zuletzt über die im ORF (1982) ausgestrahlte Verfilmung von
Fritz Lehner, die trotz der einprägenden Bilder leider nur wenig bekannt wurde, mittlerwei-
le aber über die Edition Der Standard (5) zugänglich ist. Aus den Folgetexten ragt der Erst-
ling von Anna Mitgutsch, Die Züchtigung (1985), heraus. Die Rezeption in der Literaturwis-
senschaft inkludiert die Annahme, Innerhofer habe sich eine „Existenz als Schriftsteller er-
schreiben wollen“, die „erstaunliche Wortgewalt“ scheine aber nur dazu ausgereicht zu ha-
ben, „der Vergangenheit zu entkommen, nicht aber sich literarisch davon zu lösen“ (Holden-
ried 2000, S. 254), sowie die Einschätzung des Autors als Verfasser linksradikaler Anti-
Heimatromane in Strelka 2001, S. 140. Die Lebensgeschichte erzählt, sehr verkürzt und des
Kontrasts halber formuliert, eher davon, dass der Vergangenheit durch Schreiben gerade
nicht zu entkommen war. Weder Améry noch Bachmann, Bernhard oder Innerhofer, um nur
einige Namen zu nennen, bestätigen den Topos der narrativen Bewältigung von Traumen
durch Schreiben.
260 Anders als bei Christa Wolfs Kindheitsmuster dienen Name und dritte Person nicht zur
Darstellung eines zeitlichen Bruchs. Der zweite Teil, Schattseite (1975), wird über ein auto-
biographisches Ich erzählt. Während der Holl der Schönen Tage in ‚Leibeigenschaft‘ objekti-
viert ist, kann das Ich der Lehre und Berufsschule, das den väterlichen Hof verlassen hat, ak-
tiv handeln.
261 In diesem Sinn ist die Aussage des autobiographischen Erzählers zu sehen, es habe stets nur
Bauernaufstände gegeben, nie Dienstbotenaufstände (Innerhofer 2012, S. 22). Vgl. auch:
„Die Welt der Dienstboten war die einzige, die seiner Welt noch am ehesten entsprach“
(ebd. S. 66).
432 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
Im Prozess der Rezeption beobachten wir Holl bei dem Versuch, sich selbst
anders zu positionieren und seinen Hass zu verorten, was sich in der Span-
nung zwischen Dienstboten und Vater zuspitzt: „Einen Augenblick dachte er
daran, das ganze Haus in Brand zu stecken […] Allein die kleine Habe eines
einzigen Dienstboten hinderte ihn schon, sich an seinem Vater zu rächen.“
(Ebd., S. 51) Der Versuch, sich selbst als positive Figur abzugrenzen, eröffnet
das Feld der Bewältigung. Schreiben erscheint dabei als fortgesetzter Ver-
such, Lösungen im Umgang mit dem Erlebten zu finden – ein Projekt, das
Innerhofer wie vielen anderen nicht gelang und möglicherweise auch nicht
gelingen konnte.
In Schöne Tage geht es offensichtlich darum, eine konkrete Realität zur
Sprache zu bringen und die Literatur soll unmittelbar dazu beitragen,
‚traumaproduzierende Sozialformen‘ sichtbar zu machen. Es ist das so von
Innerhofer mitgeschaffene zeitgenössische Umfeld, das etwa in seiner öster-
reichischen Heimat autobiographisches Schreiben wie Anna Mitgutschs
262 Holl wird als uneheliches Kind von der Mutter mit sechs ‚als Arbeitskraft‘ zum leiblichen
Vater gebracht.
263 Vgl.: „Hatte Holl früher noch öfter trotz der allgemeinen Feindseligkeit versucht, eine Be-
obachtung mitzuteilen, so behielt er sie nun für sich“ (ebd., S. 52).
264 Vgl.: „Das Scheusal von seinem Vater in die Schlucht zu stoßen, kam ihm zu schnell vor. Das
war nur eine augenblickliche Verlockung, weil er an diese Schlucht schon oft gedacht hatte,
entweder um den Vater hinunterzustoßen oder um sich selbst hinabzustürzen, das wechsel-
te nach einer Züchtigung innerhalb von ein paar Handgriffen (ebd., S. 136). Vgl. zur Darstel-
lung eigener Aggressivität, gekoppelt an Orientierungsverlust: „Darauf hatte Holl gewartet;
er wollte die Sau, die ihn durch ihr Geschrei, während er durch den Friedhof ging, sofort auf
andere Gedanken gebracht hatte, noch einmal zappeln sehen. Die Vorgänge der letzten Tage
waren weit über seinen Verstand hinausgegangen“ (ebd., S. 68 f.). Vgl. zum Selbsthass expli-
zit ebd., S. 38 und S. 89.
265 Jahrelanger Missbrauch der Schwester Marias endet damit, dass die Missbrauchte in eine
‚Besserungsanstalt‘ geschickt wird. Im Fokus stehen Normalität und zynischer Umgang mit
der Thematik in katholischem Umfeld (vgl. ebd., S. 126–128).
266 Vgl.: „Selbstmord war und ist für diese Leute Übereinstimmung“ (ebd., S. 53), bzw. mit
Bezug auf sich selbst: „Er spürt nicht einmal, daß es regnet. Er denkt zum erstenmal an
Selbstmord“ (ebd., S. 77).
2.3 Von Goldschmidt zu interkulturellen Aspekten 433
oben genannte Züchtigung prägt,267 aber auch Projekte wie Ceja Stojkas Wir
leben im Verborgenen (1988) erst ermöglicht. Stojkas Tabubruch, sich als
Frau und Romni an die nationalsozialistische Verfolgung der Roma zu erin-
nern, stellt einen überaus bedeutenden Einschnitt in der Minderheitenlite-
ratur und ihrer Auseinandersetzung mit kollektiven Traumata dar. Zugleich
ist die hier angedeutete Bewegung ab den 1970ern in einen internationalen
Rahmen eingebettet, für den zunächst ein – bewusst unscharf formuliert –
‚psychoanalytischer Denkrahmen‘ von tragender Bedeutung bleibt. Sichtbar
soll dies an der nun thematisierten Absonderung werden, an einem Projekt,
das von Freud geprägte Aussagesysteme mit der Grenze des Ich konfron-
tiert.
267 Man vergleiche für Süddeutschland Anna Wimschneiders Herbstmilch (1984) mit der Ver-
filmung von Joseph Vilsmaier (1989). Mitgutsch bleibt in der Folge dem Thema Erinnern
und Schreiben verbunden (vgl. Bartsch/Höfler 2009).
268 Man denke in diesem Kontext an die umfassende Übersetzungstätigkeit des Autors.
269 Frühe Begriffe im Umfeld waren auch derjenige der Migrations- oder Gastarbeiterliteratur,
alternativ findet ein Diskurs zu transkultureller Literatur statt. Zu Sprach- und Kulturwech-
sel vgl. Grugger/Lengl 2015, S. 8 f. sowie die Stichwörter „Kulturaustausch“ und „Sprach-
wechsler“ in Chiellino 2016a, S. 247 und S. 249. Viele der bisher behandelten Autoren, die
kaum der Vorstellung einer einsprachig ausgerichteten Literatur entsprechen, wären im
Übrigen hier schwierig zuzuordnen. Gerade weil ausführlich belegt ist, wie nachhaltig Lite-
ratur über den Zeitraum von etwa zweihundert Jahren, von der Spätaufklärung bis zur
deutschen Einheit, das Konzept der Nation mitformte (vgl. Neuhaus 2002), zeigen sich die
zeitliche Gebundenheit und die spezifische Perspektivität auf einen einheitlichen Sprach-
und Kulturraum ausgerichteter literarischer Diskurse.
270 Vgl. zu Goldschmidts Schreiben in verschiedenen Sprachen (entlang der Unterscheidung
zwischen der Autobiographie La traversée de fleuves (1999) und den ‚autofiktionalen Erzäh-
lungen‘) Asholt 2001.
434 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
271 Goldschmidt, S. 182. Im selben Interview spricht er davon, dass er nicht zwischen zwei
Stühlen, sondern auf zwei Stühlen zugleich sitzt (vgl. ebd., S. 183). Mit Ota Filip teilt er Ver-
suche literarischer Doppelcodierungen, die zu je neuen Fassungen führen (vgl. etwa L’Esprit
du retour/Ein Wiederkommen 2011/12). In Absonderung wird die Sprache zur örtlichen Er-
fahrung: „es hatte sich die neue Sprache um ihn herum wie eine Raumbeschaffenheit entwi-
ckelt“ (Goldschmidt 2008, S. 50).
272 Auffällig ist die Abwesenheit des älteren Bruders, der für die Situation des Protagonisten
offensichtlich nur eine geringe Rolle spielt und auf Seite 29 aus dem Text ‚verschwindet‘, um
sehr viel später wieder erwähnt zu werden (vgl. ebd., S. 167).
273 Die wahrgenommene Differenz wird u. a. über die Art der Landschaftsbeobachtungen ver-
mittelt oder über die spezifische Sensibilität (vgl. ebd., S. 41). Vgl. auch: „‚Pourquoi toujours
moi?‘ Warum soll es denn immer ich sein? heulte er die anderen an, sie wussten darauf kei-
ne Antwort“ (ebd., S. 53).
274 Am Beginn von Bergers Buch wird Schreiben als Befreiung von Spannung im Sinne einer
kathartischen Funktion thematisiert. Das Motto Goldschmidts stammt aus Abschnitt II, beti-
telt „Taedet me vitae“ [das Leben ermüdet mich], beobachtet die Abreise von Thomas und
das Festhalten des Schmerzes, der als dissoziierender Fremdkörper beschrieben wird: „wie
er angefangen hatte beim Handgelenk, den Arm entlang gekrochen war wie eine Lähmung,
in den Körper wie Gift, in die Augen, in die Beine.“ (Berger zit. nach Goldschmidt 2008, S.
11). Bergers Text, zunächst 1944 postum publiziert, war im Zuge der hier beschriebenen
autobiographischen Bewegung erstmals 1981 nachgedruckt und in der Folge neu editiert
worden (vgl. Berger 1981).
275 Handke 2008, S. 7.
2.3 Von Goldschmidt zu interkulturellen Aspekten 435
Jedesmal fiel ihm dann dabei ein, daß er auf das Papierzerrei-
ßen hinter ihm oder auf das Grasrupfen hätte acht geben sol-
len. Rachenartig aufgesperrt, ausgeweitet wurde man mit
feucht-klobigem Gras vollgestopft, bis man, zum Zeichen, daß
es einen noch gab, nur noch mit den Armen fuchteln konnte.
Mit aufgerissenem Mund hörte man um sich herum das Grölen
der Mitschüler. Man konnte noch so stoßen, den Grasknäuel
bekam man doch nicht aus sich selber heraus, man mußte,
während unter einem die eigenen Beine strampelten, die Gras-
fasern nacheinander herausziehen; mit dem Finger bohrte
276 Die Sprache wird für den Rezipienten somit zum ersten Ausdruck der den Text steuernden
‚Welt Kafkas‘ (s. auch unten).
277 Das „Landschaftssehen“ (Goldschmidt 2008, S. 41) im Text hat mehrere Schichten: Es ist, die
Wiedergabe der Bilder inkludierend, einer künstlerischen Tätigkeit vergleichbar. Die land-
schaftlichen Wahrnehmungen des Protagonisten aus seiner Isolation heraus, bilden so ‚das
Andere‘ der Beschreibung. Was daraus folgt, ist ein ‚Überleben‘ in eben dieser Landschafts-
wahrnehmung, die sich als eigene Realität formiert.
278 „Als man ihn endlich losließ, kollerte er vor Schmerz, klappte auf und zu, messerartig, wälz-
te sich auf den Fliesen herum, die Beine in der Hose verfangen, und er sah das alles wie die
anderen mit, sah sich auch die Unterhose von den Knöcheln wegstrampeln, um mehr Platz
zum Ausschlagen zu haben“ (ebd., S. 69, Herv. im Orig.). Vgl. auch die imaginierte Beobach-
terperspektive, sich unter den Augen der lachenden Kinder und Frauen unter der Peitsche
zu krümmen (ebd., S. 81). Zum dissoziativen Aus-sich-Heraustreten vgl. auch: „Von selber
kam er immer näher heran, begab sich von selber zur Strafe, als erwarte er sich selbst dort
oben“ (ebd., S. 128). Wiederholt imaginiert wird auch Nicht-Existenz.
436 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
279 Vgl.: „und konnte wieder ganz Körper werden“ (ebd., S. 54).
280 Vgl.: „So konnte man ihn im Schwitzkasten halten und dabei die Waden peitschen, und trotz
seines Schluchzens […] hörte er sich hinter sich selber hinterherlaufen: Unter dem Arm, ge-
gen die Hüfte des anderen war er wie geborgen: als wäre er nur noch der gehende Hinterteil
des andern Jungen“ (ebd., S. 45). Vgl. auch die Vorstellung zur Bewusstseinskugel zu werden
(ebd., S. 90).
281 Bereits zuvor heißt es über Heimweh: „Der Schmerz war wie ein langer stummer-schriller
Schrei, der aus einem herausschrie“ (ebd. 42).
282 Vgl. etwa ebd., S. 114.
283 Vgl. besonders ebd., S. 94 und S. 135. Deutlich wird der sexuelle Hintergrund von Bullying.
284 Die Folterungen werden zunächst als „Heimwehschutz“ interpretiert (ebd., S. 46) und dann
immer mehr im Kontext der Lust am Gequält-Werden und des gezielten Vor- und Nacherle-
bens.
2.3 Von Goldschmidt zu interkulturellen Aspekten 437
285 Die anderen sind für den Protagonisten lange diejenigen, die einen quälen, weil sie sich den
Schmerz nicht vorstellen können (vgl. etwa ebd., S. 69).
286 In der interkulturellen Autobiographie geht es – einen (mündlich mitgeteilten) Gedanken
Chiellinos variierend – in vielen Fällen darum, sich das eigene Leben in der neuen Sprache
zu erzählen, um es sprachlich neu zu codieren und (vergegenwärtigend) zu objektivieren,
weshalb den autobiographischen Texten interkultureller Autoren besondere Bedeutung zu-
kommt.
438 D 2. Ausgewählte autobiographische Romane
Herausforderung darstellt und der zeigt, wie sich die Erfahrungen mit der
Sprache formen.287 Zusätzlich entstehen immer mehr von der Erzählform
oder dem Inhalt her autobiographienahe Romane. 288 Aglaja Veteranyis au-
tobiographisch geprägter Text Warum das Kind in der Polenta kocht nutzt
für die Codierung traumatischer Ereignisse sprachliche Reduktion und Mi-
nimalismus in ähnlicher Form, wie Ágota Kristóf dies in ihrer fiktionalen
Trilogie macht. Laura Gieser versucht in ihrer Analyse zu Veteranyi die
Wurzeln dafür in der rumänischen Moderne zu finden und vermutet ein
Muster für interkulturelle Autoren.289 Kristófs Trilogie, die zwischen 1986
bis 1991 publiziert wurde,290 stellt eine sehr frühe kritische Auseinander-
setzung mit dem Traumadiskurs dar, deren Bedeutung sich erst nach und
nach erschließt. Neben einer sprachlich gezielt geführten Reduktion, die
Mittel der Moderne neu verwendet und über die extreme Ereignisse codiert
werden,291 ist dieses kritische Moment von besonderem Interesse. In Der
Beweis definiert sich Lucas an mehreren Stellen als durch ein ‚Trauma‘ ge-
kennzeichnet. So heißt es zunächst: „Ich habe nur eine Nervenkrankheit von
einem psychischen Trauma her, in meiner Kindheit, im Krieg“, 292 und dann:
„Ich war [von der Schule] befreit wegen eines Traumas“ (ebd., S. 25), „Ich
hatte ein Trauma, ich bin nicht ganz normal“ (ebd., S. 26) sowie „Ich werde
nie Frieden haben in mir“. (Ebd., S. 30) 293
287 Für eine ausführliche Analyse von Filips autobiographischem Roman Der siebente Lebens-
lauf mit einem Vergleich der tschechischen und der deutschen Fassung vgl. Grugger 2015a.
288 Der Anteil autobiographischen Schreibens bei einer der prominentesten deutschsprachigen
Autorinnen der Gegenwart, Herta Müller, ist bekannt.
289 Vgl. Gieser 2006. Interessant ist in jedem Fall der Gedanke der Überschneidung: der Rück-
griff auf die Avantgarde ermögliche den Beginn beim Nullpunkt in der neuen Sprache. Vgl.
zu Veteranyis Roman ausführlich Lengl 2012, S. 199–268, sowie zur Thematik des Inzest
Lengl 2015.
290 Die Trilogie besteht aus folgenden Teilen: Das große Heft (1986), Der Beweis (1988), Die
dritte Lüge (1991).
291 Besonders die über die Trilogie hinweg vorgenommenen Perspektivenwechsel sind radikal.
Das Verhältnis zwischen Einzeltexten und Gesamt ist dadurch in ‚modernem Sinne‘ kom-
plex.
292 Kristóf 1989, S. 6 f.
293 Die Zitate stehen im Kontext von einerseits abgewiesener (vgl. S. 6 f.) bzw. andererseits
selbst definierter Schwachsinnigkeit und werden im zweiten Fall vom Gegenüber als strate-
gisch interpretiert. Die Antwort des Beamten lautet: „Nicht ganz normal? Wer wird das
glauben? Aber Sie haben recht. Solch eine Beurteilung kann Ihnen viel Scherereien ersparen.
Den Militärdienst zum Beispiel. Ich schreibe also: ‚Chronische psychische Störungen‘“ (ebd.,
S. 26). Kristóf lässt es in der Schwebe, wie sehr die Figur selbst sich ein Trauma zuschreibt
und wie sehr sie vorgeformte Sätze nachspricht. Entscheidend ist der Blick auf die Repro-
duktion diagnostischer Diskurse.
2.4 Schließend 439
Später spricht er von fehlender Liebe und Güte in sich (vgl. ebd., S. 76), auch
der Pfarrer spricht von Verletzung und deren Auswirkung. Das Leere dieser
Sätze ist offensichtlich sehr bewusst gesetzt. An den Selbstaussagen spiegelt
Kristóf die Dynamik der Internalisierung diagnostischer Begriffe und ihre
soziale Verbreitung.
Kristóf entwirft so nicht nur Ereignisse, sondern integriert in diese deren
unmittelbare diskursive Beobachtung. Gleichzeitig lässt sie eben nur die
Figur sprechen, die auf den entstehenden Diskurs verweist, indem sie
Trauma ausbuchstabiert.294 Die begriffliche Beschreibung ist in der strin-
genten Erlebniswelt der Trilogie im unmittelbaren Gebrauch dargestellt.
Der Lesende kennt dies bereits aus dem herausragenden ersten Teil, Das
große Heft, wo die beiden dort namenlosen Protagonisten ihr Selbst in Pra-
xen der Abhärtung trainieren. In der Trilogie sind Nazismus und Stalinismus
als Hintergrund deutlich erkennbar, der Fokus bleibt aber stets auf die un-
mittelbare Beobachtung der Figuren und deren extreme Erfahrungen be-
schränkt.295
Die reflexive Ebene, die Bernhards Ursache trägt, ist hier ausgeklammert.
Die Darstellung verzichtet auf Wertung, Verständnis oder Identifikation.
Verwiesen wird auf Gefühllosigkeit, die als solche nicht bestehen bleibt,
denn die Erzählungen selbst heben die deskriptive Begriffswelt in einer
individuellen Form der Narration auf. Dazu gehört auch die Abwesenheit
einer traditionellen Erzählstimme.
2.4 Schließend
Erinnern war ein zentrales Thema des vorangegangenen Kapitels, mit dem
etwa der Roman-Essay Lefeu neu an Brochs Schlafwandler anknüpfte. „Erin-
nern“ hieß auch das Projekt Bernhards zunächst, dessen erster Band hier
diskutiert wurde. Der Blick auf die Form des autobiographischen Romans
294 Von der figuralen Perspektive aus könnte Lucas von sich auch als Melancholiker, Hysteriker,
Depressiver oder aus einer anderen Ecke der psychopathologischen Diagnostik aus spre-
chen. Gezeigt wird, wie Zuschreibungen sprachlich weiterbearbeitet werden.
295 Zu beschreiben ist dies weder mit dem Begriff der ‚Reflektorfigur‘ noch dem einer ‚internen
Fokalisierung‘ im engeren Sinn. Es geht um die Reduktion der Figur, die sich mit der Sprach-
reduktion verknüpft. Von den Motiven her ist der Text im Extremen angelegt, so wie der
erste Teil. Lucas ist bereits bekannt und wird neu definiert. Der Inzest von Yasmine mit dem
verwachsenen Kind wird ebenso wie die ergrauten Haare der gebrochenen Bibliothekarin
(durch die später zugegebene irrtümliche Ermordung ihres Mannes im Zuge des stalinisti-
schen Terrors) sowie die fatale, mit seiner Ejakulation über ihrer Leiche endende Bruder-
Schwester Beziehung von Viktor in Kristófs spezifischen Ton erzählt, ohne ausgebreitet zu
werden.
440 D 3. Werner Schwab
und seine besondere Bedeutung sowohl in als auch ab den 1970ern zeigt die
zunehmende Ausweitung der Erinnerungsthematik, 296 wofür Schöne Tage
ein paradigmatisches Beispiel bildet. Während sich die Verfahren als durch-
aus unterschiedlich zeigten, wurde der zunehmende Fokus auf das Ich deut-
lich, der dem Genre entspricht und gleichsam auf den ‚Zeitgeist‘ prallt.297
Unterschiedliche Vorstellungen des Ich-Werdens/Anders-Werdens – teils vor
dem Hintergrund der Unmöglichkeit, teils vor dem des Scheiterns – verbin-
den ansonsten differierende Projekte. Für das Schreiben über traumatische
Erfahrungen zeigt sich mit dem Aufkommen der interkulturellen Literatur
ein weiterer, bedeutender Einschnitt, der hier nur beispielhaft angedeutet
werden konnte.298
3.1 Kurzer Blick auf den theoretischen Hintergrund und Verweis auf
Inszenierungen der Erhöhung
296 Von dieser zeugen gerade auch die oben vermerkten Parallelisierungen mit der NS-Zeit.
297 Vgl. von den vielen hier nicht behandelten, einschlägigen Texten etwa Frischs Montauk
(1975) mit seinem Authentizitätsdiskurs ums Ich, der auch ein Beispiel für partielle Frag-
mentierung darstellt, sowie Mars (1977) von Fritz Zorn mit dem Diskurs zum ungelebten
Leben und zur ‚enormen psychischen Dimension von Krankheiten‘, die ab hier zunehmend
beobachtet wird.
298 Während die theoretischen Diskurse der Postcolonial Studies auch die deutschsprachige
Literaturwissenschaft nachhaltig geprägt haben, konzentriert sich der literarische Diskurs
auf Minderheiten und interkulturelle oder auch transkulturelle Produktion. Vgl. aber Alb-
recht 2008, die in ihrer theoretischen Analyse von Literatur, Eurozentrismus und Postcolo-
nial Studies die literarische Codierung des (deutschen) Kolonialismus mit einbezieht.
299 Vgl. Szondi 2013.
3.1 Kurzer Blick auf den theoretischen Hintergrund 441
300 Etwa im Zug der Auswirkungen der Selbstbeobachtung in der zeitnahen Entwicklung der
psychoanalytischen Methode; in jedem Fall nicht mehr im traditionell das Innere objektivie-
renden Dialog (vgl. u. a. ebd. S. 77 und 87).
301 Vgl. Klotz 1985 bzw. Klotz 2010, S. 63–121.
302 Vgl. Pfister 2001.
303 Vgl. Fischer-Lichte 2014, wo die Ablösung des semiotischen Ansatzes diskutiert wird, auf
dessen Höhepunkt Pfister gearbeitet hat und den auch Fischer-Lichte selbst, in mehreren,
intensiv rezipierten Publikationen zur ‚Semiotik des Theaters‘, zur ‚Aufführung als Text‘ und
zum ‚System theatralischer Zeichen‘ (vgl. etwa Fischer-Lichte 2007) für die Theaterwissen-
schaft entscheidend mitgeprägt hat. Mit ihrer wohl noch intensiver diskutierten ‚performa-
tiven Wende‘ versucht sie u. a., den Bogen zurück zur Etablierung der Theaterwissenschaf-
ten durch Max Herrmann zu spannen.
442 D 3. Werner Schwab
wenngleich mit völlig anderem Ausgangspunkt. 304 Seine Studie zum Theater
als ‚Treffpunkt der Künste‘ interessiert sich dezidiert nicht mehr für literari-
sche Ausgangstexte, sondern für Fragen der Aufführungspraxis jenseits des
Textes, der so seine zentrale Position einbüßt. 305 Im Unterschied zu Pfister
ist seine empirische Orientierung an konkreten Aufführungen eines abge-
grenzten Zeitraums wohl auch dem theoretischen Hintergrund geschuldet,
keine allgemeine Theorie zu Theater über ein überzeitliches Klassifikations-
system mehr leisten zu können.
Eine Brücke zwischen diesen insgesamt auseinandertreibenden Kräften von
Literatur- und Theaterwissenschaften306 versuchte Teresa Birkenhauer zu
errichten, deren Vorstellung vom Theater als Schauplatz der Sprache nicht
nur vom Titel her für Schwab hervorragend passt.307 In ihrer Kritik an jeder
radikalen Absage an Bedeutung erarbeitete sie die Simultanität von Bedeu-
tung (Sprache) und Performanz (Schauplatz): das „Theater als Sprachpra-
xis“.308 Ihre Szondi-Lektüre ist nun weniger eine Abgrenzung als eine Be-
nennung des Ausgangspunktes für das von ihr untersuchte Verhältnis von
Sprache und Theater: „Für eine solche Perspektive ist Szondis historische
309 Vgl. etwa im Kontext von Schwabs Faustvariante Höfler 2000, wo die Möglichkeit einer
inhaltlichen Auseinandersetzung mit Rekurs auf Lehmanns Studie Postdramatisches Theater
(s. o.) gleichsam zurückgewiesen wird. Es ist hier nicht der Platz, um dies in Länge zu disku-
tieren, Lehmann bezieht sich allerdings mit seinem Begriff überaus deutlich auf eine Analy-
se von Inszenierungen, was eben die Textanalyse nicht ersetzt. Mit Birkenhauer gedacht,
geht es um ein Wechselspiel semiotischer und performativer Prozesse, die, sobald man sich
dem Text zuwendet, auf ein Spiel mit Bedeutung zurückverwiesen werden (s. u.).
310 Vgl. v. a. die Faust-Variante, aber auch seine spezifische Metadramatik mit wiederholter
Aufhebung des Inszenierten. Die Verdoppelung der bereits im Text angelegten Performativi-
tät steht in der Tradition Kleists.
311 Die ‚Unmöglichkeit‘ theatraler Repräsentation des ‚Realen‘ ist u. a. in Lehmann 2011 deut-
lich herausgearbeitet. Die Metapher einer ‚inneren Bühne‘ scheint gerade für Autoren wie
Kleist oder Schwab sinnvoll, die – naturgemäß in sehr verschiedener Art und Weise – mit
ihren Texten performative theatrale Welten entwerfen, die mit komplexer Bedeutung aus-
gestattet sind.
312 Vgl. Fischer-Lichte 2001b, S. 25.
444 D 3. Werner Schwab
313 Innerlinguistisch lässt sich, vereinfacht formuliert, für das 20. Jahrhundert ein Prozess hin
zur Performanz beobachten, der vom strukturalistischen Blick auf Sprache als abstraktes
Zeichensystem zu pragmatischen Aspekten führt, markiert durch Begriffe wie Interaktion,
Handlung oder Performanz. Im theaterwissenschaftlichen Diskurs geht es zudem um Ab-
wendung von Sprache und Bedeutungssystemen, die von einer tentativen, radikalen Auto-
nomisierung der einzelnen Elemente begleitet wird.
314 Charakteristisch ist ein Spiel mit Abgründen: pervertierte Sehnsüchte, Befriedigung durch
Töten, Quälen, Gewalt, Ekel, extreme Formen der Erniedrigung des Selbst und des Anderen
(vgl. etwa Eskalation ordinär, Schwab 2010b).
315 Sprachdekonstruktion und Desubjektivierung gehen bei Schwab Hand in Hand und werden
über idiomatische und idiolektale Sprachführung, Agensumkehr und weitere Spiele der Per-
sonalisierung durchgeführt. Das Selbst und das Gegenüber werden variantenreich in der
dritten Person Singular benannt (s. u.). Die Theatersprache Schwabs ist untersucht in Mies-
bacher 2003, was u. a. zu ergänzen wäre durch eine Analyse der desubjektivierenden Funk-
tion der dort ausführlich dargestellten sprachlichen Mittel.
316 Wenig diskutiert ist bislang sein diesbezüglich herausfordernder Cover-Faust (Schwab
2009b).
317 Umfassend untersucht ist dieser in Pełka 2005, der versucht, Körperdiskurse von Nietzsche
über Bachtin (Erinnerung, Schnittpunkt Soziales und Individuelles), Adorno/Horkheimer,
Lacan, Foucault, Butler, Baudrillard bis Sloterdijk mit den Dramaturgien von Schwab und Je-
linek zu verknüpfen und dabei zurecht gegen die platte topologische Differenzierung hier
politisches Engagement (Jelinek), dort Individualanarchismus (Schwab) anschreibt.
318 Ein beliebter Ausdruck bei Schwab dafür ist die Rede vom ‚Präsidialen‘, das den Abgründen
gegenübertritt (s. u.). Die Erhöhungsfantasien sind konstitutiv.
319 Vgl. das Hamlet-Paradigma als Verbindung zum Subjektdiskurs (Greiner 2007) sowie den
Eintrag zum Spiel im Spiel in Gero von Wilpert Sachwörterbuch der Literatur in Nähe zum
Konzept der Metadramatik, wenn es heißt: „Schachtelung des Bühnenraums zu versch. Zwe-
cken (Wahrheitssuche, Relativierung, doppelte Ebene, Lehrbeispiel, Illusionsironie“), wobei
die Darsteller des Hauptstücks z. T. das S. i. S. agieren oder unterbrechen (Wilpert 2001, S.
771). In Schwabs Dramatik wird das ‚Spiel im Spiel‘ wiederholt zum ‚Hauptstück‘ oder
Kernelement.
3.2 Zu Schwabs Dramatik 445
320 Die Instabilität der Inszenierungen zeigt sich an den instabilen Dramenschlüssen mit Auf-
hebung des Vorangegangenen, das sich so als mögliche Meta-Fantasie präsentiert oder an
Varianten der Handlung wie in Mesalliance (vgl. Schwab 2010c).
321 Mit verantwortlich dafür ist das Phänomen der Selbstinszenierung als Punkdramatiker zur
Steuerung des Erfolgs. Man vgl. auch den Klappentext zu den Königskomödien (Schwab
2010a), wo es im Sinne des Repräsentationstopos heißt: „zeigt sich auch in diesen Texten,
mit welch unverbrauchtem Witz und schmerzhafter Verdeutlichung die Schwab’sche Spra-
che die Gewaltverhältnisse zwischen den Menschen wiederspiegelt.“
Der hohen Popularität anfangs der 1990er steht eine eher überschaubare wissenschaftliche
Auseinandersetzung zu diesem Autor gegenüber (vgl. aber einige jüngere Dissertationen
etwa von Kern 2004, Meurer 2007 oder Staehle 2008). Die besondere Lebensgeschichte fin-
det immer wieder Interesse in Verbindung mit den Texten, vgl. etwa Schödel 1995 und Hö-
fer 2008.
322 Die komplex strukturierten Königskomödien (1992–1994 erschienen) sind deutlich weniger
geschlossen als die Fäkaliendramen (1991). Durch ihre Bedeutungsoffenheit in einem hohen
Grade anregend, bieten sie – ohne dies wertend verstehen zu wollen – nicht die geradlinige
Eleganz der Fäkaliendramen.
323 Die beiden anderen Stücke, Troiluswahn und Cressidatheater und Antiklimax, sind sogenann-
te Auftragsarbeiten. Die Darstellung der ‚Vorgeschichte‘ des Mariedl aus den Präsidentinnen
in Antiklimax (Schwab 2009a), also einem Selbstcover, ist relativ erwartbar und so unter
dem üblichen Niveau des Autors.
324 In der Steigerung der Vorlage mit ihrer Anlage figuraler ‚Typen‘ (vgl. Schnitzler 2010) wird
bei Schwab das Diskursive zum ‚Ersatz‘ für die Figur. Inszeniert werden Sprachfragmente
ebenso wie idiomatisches Sprechen. Die Entfremdung Schnitzlers wird übersteigert und die
Sexualität wird auf einen dissoziierten Körper bezogen.
446 D 3. Werner Schwab
Mein Gott
wie der verfluchte Scheißdreck stinkt
und nichts sonst kundtut als Gestank329
Das ist keine leere nihilistische Geste, sondern setzt einen Kontrapunkt zur
intellektuell-erhabenen ‚menschlichen Sinnsuche‘, die sich bei Schwab als
Farce erweist. Eine Gemeinsamkeit mit Rückgriffen auf Goethes Faust als
große Erzählung des Individuums der Spätaufklärung besteht im Kontext
der Stalinismuskritik, in der Švankmajer, Filip oder Lem die individuelle
Ausgangslage vor dem Hintergrund umfassenden Terrors und fortlaufender
extremer Traumatisierung als (gescheiterte) Fiktion präsentieren. 330
325 Schwab 2009a, S. 60. Vgl. auch die Selbstaussagen Schwabs zu Faust im Interview: „Ich hab’
einen Sprachtypus entworfen, der, kann man sagen, im gewissen Grad mit dem Goetheschen
Dings kommuniziert.“/„[I]ch hab’ keinen einzigen Satz übernommen, aber zumindest ist es
ein Sprachtypus, der bis jetzt noch nicht vorkam bei mir“ (Trenkler/Schwab 2000, S. 12).
Die Uraufführung erfolgt erst nach Schwabs Tod (vgl. ebd., S. 29).
326 Schwab 2009b, S. 113.
327 Vgl. ebd., S. 105 f.
328 Die Erhöhung ist hier Kontrapunkt zum Ausgangspunkt des (geplanten) Suizids Fausts.
329 Ebd., S. 67. Vgl. Wagner (in ähnlicher Funktion wie in Goethes Faust I) dazu: „Du meine Güte
der Tragödie / was selbst ein Faust nicht alles suchen muß / und ab- und aufzufinden hat im
tragisch Nexus wonniglich / muß suchen sich im Exkrement / als hochbedeutend Antidot /
wie freilich bloß ein Mensch nur hängen kann / wenn er gehenkt wird von des leibeignen
Denkens Schergen“ (ebd., Herv. von Vf.).
330 Die Frage der Traumatisierung wird mit dem Verlust des Narrativs des Individuums ver-
knüpft. Vgl. zu Filip, der bereits an Švankmajers Film Lekce Faust (1994) anschließen kann,
Grugger 2015a, S. 56 f.
3.2 Zu Schwabs Dramatik 447
331 Schwab 2007a, S. 55. „Armes Hascherl“ ist im Süddeutschen Ausdruck für eine bemitlei-
denswerte, untergeordnete Person.
332 Die Tötung wird durch den gemeinsamen Auftritt in der Schlussszene als Inszenierung
präsentiert, auch in den anderen Stücken der ‚Fäkaliendramen‘ lösen sich Bühnenmorde
wieder auf, wodurch u. a. die (alternative) Lesart von in der Imagination der Figuren began-
genen Taten geschaffen wird.
333 Schwab 2007a, S. 55. Vernichtet wird sie als Vermittlerin des Realen, da sie die Fantasiepro-
duktion der beiden anderen abtötet.
334 Aus dem zwar sehr kurzen, aber enorm dichten und aus differenten Bedeutungsschichten
aufgebauten Stück können hier nur einige Punkte isoliert werden. Zentral wären auch der
Hund „Rolfi“ sowie der stets mitlaufende Diskurs zur NS-Zeit.
335 Zu genannten Vorbildern der Figur: Helmut Schödel versucht mit Ingeborg Orthofer als
Interviewerin, Herausgeberin von Schwabs Werken und dessen Ex-Frau, Josef Trink als ‚rea-
le Person‘ hinter dem Hundsmaulsepp zu beschreiben (vgl. Schödel 1995, S- 45–69). Analog
448 D 3. Werner Schwab
Deklamatorischer Monolog
betitelt Bernd Höfer seinen gemeinsam mit Werner Schwab durchgeführten Besuch bei
Herrn Trink (vgl. Höfer 2008, S. 35–41) mit „Besuch beim Trinklseppl oder Die Geburtsstät-
te des Hundsmaulsepp“ (ebd., S. 35). Während die philologische Reduktion der vermeintli-
chen ‚Vorlage‘ auf einen ‚Impuls‘ wichtig ist, verdeutlicht der dargestellte Bezug doch das
‚Ironische‘ an der Figurenbeschreibung „alter krächzender Scheißkerl“ (Schwab 2007b, S.
180), was sich allerdings der genauen Textlektüre ohnedies erschließt. In Theater heute,
92/4, heißt es, Schwab habe Mein Hundemund für den Schauspieler Rainer Frieb geschrie-
ben (vgl. Kralicek 1992, S. 50), was ebenso sinnvoll ist, da die Sprechbewegung im Stück so
zentral ist.
336 Schwab 2007b, S. 222. Aus Mein Hundemund wird in der Folge mit Hilfe der Sigle ‚MH‘ zi-
tiert.
337 Zur Traumametapher des ‚schwarzen Lochs‘ s. o. In Analogie zu der natürlich äußerst diffe-
renten Poetik von Amérys Lefeu (s. o.) und unter radikaler Nutzung dramatischer Mittel
wird in Mein Hundemund die Auseinandersetzung mit traumatischen Erfahrungen als Form
eines Traumas diskutiert. Die beiden Protagonisten sind an zwei verschiedenen Enden intel-
lektueller Tätigkeit angesiedelt.
338 Vgl. etwa die gegeneinander gestellten Inszenierungen in Die Präsidentinnen. Ähnlich sind
die Dialoge der beiden ‚Zwischenstücke‘, Übergewicht, unwichtig: Unform. Ein europäisches
Abendmahl und Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos strukturiert. Letzteres ist
schon von der Titelgebung her als eine Anspielung auf Nestroys Zu ebner Erde und erster
Stock oder Die Launen des Glücks zu erkennen, dessen Anordnung Schwab in ‚postmoderner
Form‘ fortschreibt.
3.2 Zu Schwabs Dramatik 449
339 Die Zugänglichkeit des Inneren wird mit Kleist gemeinsam mit der den Aussagesystemen
der klassischen Monologe entgegengestellten Sprachlosigkeit zum Thema. Monologe wer-
den in diesem Sinn verwendet zum Ausdruck des ‚Inneren‘ der Figuren (von Shakespeare
bis Schiller) sowie zum Gegenteil, zur Problematisierung von eben diesem Ausdruck und
damit zum Verweis auf die Unzugänglichkeit des ‚Inneren‘. Schwabs Hundsmaulsepp drückt
sich nicht aus, sondern spricht und dieses Sprechen ist ebenso auf den Sprecher bezogen
wie auf das Soziale, dem es entstammt.
340 Die Szenen enden stets mit dem Hund Rolfi, am Ende der 2. Szene erklärt der Protagonist:
„der Hund ist abgerichtet auf vergessenes Fleisch / der Hund frißt alles was tot ist“ (MH, S.
207). Auf das ‚tote Selbst‘ ist damit deutlich angespielt.
341 Charakteristisch für Schwab ist u. a. die Selbstanrede in der dritten Person, die teils mit der
Sprachpraxis des Süddeutschen verbunden ist. Für Beispiele und weitere Formen desubjek-
tivierender Rede vgl. Miesbacher 2003, S. 107–114.
342 Der Ausdruck „Hundsmaulstimme / innen“ im Zitat sollte nicht überbewertet werden. Wie
schon bei Kleist ist das (sprachlich geformte) Innen zugleich das Außen.
343 Objektivierend ist hier im Sinne der objektivierenden Funktion der Sprache verwendet (vgl.
Ortner 2000, S. 128–132).
450 D 3. Werner Schwab
344 In Lehmann 2011 wird rekonstruiert, wie die einzelnen Elemente des Theaters autonomi-
siert wurden, um ihre Charakteristik entfalten zu können. Schwab spielt mit dem Deklamie-
ren und dessen Wirkungen, die er performativ und semantisch nützt (zu dieser Doppelung
s. o.).
345 Vgl. etwa: „Heute braucht es ein Opfer / […] / ein fettes Fleischerl / das einem das schlechte
Eigenleben an das Kreuz nagelt“ (MH, S. 196). Zum Opferdiskurs vgl. auch das Wissen des
Protagonisten um den „Unterschied am Sieger über den Besiegten“ (MH, S. 205). Der Kon-
text ist derjenige des sozial Ausgegrenzten und Gequälten.
346 Die Frau deklamiert und der Sohn erzählt. Dass der Protagonist stets Fantasien produziert,
in die er, so die Frau, hineinhöre, diese aber brechen (scheitern) und den Prozess der
Selbstzerstörung indizieren, kommentiert sie folgendermaßen: „Hast du schon wieder in
deine Einbildungen hineingehört / Immer gehorchst du deinen Einbildungen / Dabei sind
deine Einbildungen schädlich für dich und die Welt“ (MH, S. 193). Der Sohn verortet den
Prozess der Selbstvernichtung narrativ: „Der Vater frißt die Schmerzen gegen die Schmer-
zen, die dann Schmerzen bekommen und dem alten dreckigen Vater selber Schmerzen auf-
tischen“ (MH, S. 202).
347 Desubjektivierung und Sprachauflösung erfolgen etwa durch Verbstauungen („weil ich
keines haben können darf“, MH, S. 224), nicht lyrischen Wortschatz in der Deklamation,
auseinanderfallende Bedeutung, Brüche im Rhythmus oder Agensverschiebungen (v. a. Per-
sonifikationen). Dabei entsteht ein eigenständiger, durchgehaltener Rhythmus mit einer für
Schwab und besonders für dieses Stück spezifischen ‚Musikalität‘.
348 Im Sinne von Theresa Birkenhauer wird die Bühne so zum Schauplatz der Sprache im dop-
pelten Sinn von Performanz und (hier: sich teils auflösender) Semiotik. Während Samuel
Becketts Stücke etwa voller (absurder) Symbole sind und voll von Schweigen, wie sich dies
auch in den Dramen Bernhards findet (vgl. Krammer 2003), Peter Handke im Kaspar eine
künstliche Sprechfolterung inszeniert oder Elfriede Jelinek u. a. das (skandalöse) Alltägliche
reproduziert, um es zu demaskieren, wird hier à la Schwab unmittelbar gesprochen und
monologisiert – im Schwab’schen Idiom und in der von ihm betriebenen gebrochenen Art
und Weise.
3.2 Zu Schwabs Dramatik 451
und alles
was ein Fleischgurgelsepp herausreiten kann und herausbeten
kann
ist das Grunzen von der eigenen Innensau (Ebd.)
die Wörter kommen gar nicht richtig aus der Gurgel heraus
geredet wird auf dem Unterfleischboden
innen unten im Beuschl
miteinander mit einem selber
gegen alle Schmerzen
…
wenn die Gurgel sich einmal richtig aufmacht
dann verfaulen die Augen
dann stürzt sich unsereins in den Abort
und erwürgt sich hinunter
freiwillig (MH, S. 186)
tiert. Der Weg führt vom sprachlichen Reiz zur allgemeinen Reflexion, dann
zum bestimmten Augenblick, kehrt zurück zur allgemeinen Reflexion und
endet schließlich in Einzelbegriffen mit brüchigem Zusammenhalt. Der kur-
ze Abschnitt sei hier exemplarisch diskutiert, um Schwabs verzerrende Co-
dierung der inneren Sprachtätigkeit in Mein Hundemund, die immer wieder
um traumatische Prozesse kreist, besser sichtbar zu machen.
Zunächst geht dem „Hundsmaulsepp“ ein Vierzeiler durch seinen Kopf, 350 an
den er unmittelbar anknüpft mit: „ha / das war schon wieder ein Gedicht“
(MH, S. 188).
Die im Stil des Textes ablaufende Reflexion schließt daran an und fokussiert
auf konstruktive Verknüpfung, um gleichzeitig die Frage der Erträglichkeit
mit zu artikulieren:
Die folgende Szene, die den Ausblick auf einen bestimmten Augenblick er-
öffnet, wird über den zentralen Vierzeiler dieses Abschnitts, eine Art naiven
‚Gedichts‘ (im Sinne der Textstelle) eröffnet:
350 Vgl. „täglich und brav / verwalte ich Schädel und Darm / mäste die Sau mit der Welt / ver-
füttere ich Welt an die Schuld (MH, S. 188).
351 Charakteristisch am Zitat ist die ‚Agenszirkulation‘.
352 Formal wird an den initialen, die Stelle einleitenden Vierzeiler angeschlossen (vgl. ebd.).
3.2 Zu Schwabs Dramatik 453
„das Kind hat keine Besinnung halt gehabt / da ist es hineingelaufen in die
Futterarbeit“. (Ebd.) Mit dem nächsten Wort „und“ beginnt nun die Rück-
führung zum Thema ‚Gedicht‘ als ‚Zusammenschau‘ (s. o.).
Das Bild des irrtümlich mit der Sense getöteten Kindes und des sinnlos
schreienden Vaters geht assoziativ über in den „Kronprinzbaum“, der das
Bild eines Ortes der Erinnerung an das Kind weckt und sich mit Alkohol als
‚Linderung‘ verknüpft: „da kühlt der Mostkrug einen jeden Schatten [des
Ereignisses].“ „Gedicht“ ist nun neben dem Vierzeiler, der in „ha/das war
schon wieder ein Gedicht“ den Auftakt bildete, im Sinne der „Sachen […], die
einen auffinden müssen“, verstanden und wird zur synoptischen Tätigkeit
schlechthin, wenn es in unmittelbarer Fortsetzung der Stelle oben heißt:
353 Kronprinz Rudolf bezieht sich auf die bekannte Figur der österreichischen Geschichte.
354 Zwischenabschnitte sind in Mein Hundemund von Schwab meist einfach durch drei Punkte
markiert.
454 D 3. Werner Schwab
Im Sinne der rhetorischen Figur des Pars pro toto ist „das eitrige Beuschel“
als durch eine ‚eitrige Entzündung‘ entstellter (innerer) Mensch zu lesen, 355
der zur Auseinandersetzung mit den davor eingeführten „Gedichtsachen“
gezwungen ist.356 Das ständige Versinken „in den Sachen“ entspricht dem im
Stück betriebenen Monologisieren jenseits von Souveränität oder zielgerich-
teter Aktivität des Ich, das bis zum Punkt der Selbstvernichtung an den de-
struktiven Prozess gebunden bleibt. Der „durchgewetzte[.] Eitersack“ steht
zunächst als pejorative Metapher für die Lunge, dehnt sich konnotativ aber
auf Körper und schließlich wieder den zerstörten (inneren) Menschen aus.
Anschließend an diese Stelle setzt der Wunsch nach Selbsterhöhung und
Präsidentenfantasie – auch: dem autonomen Subjekt – ein,357 die sich so als
Antwort auf das intrusive Getrieben-Sein offenbart und über diese „Sachen“
hinausführen soll, in diesem Stück aber scheitert. 358 Dass der Protagonist
sich nicht zum frei imaginierenden Subjekt zu erhöhen vermag, wird pas-
send über die grundlegende Metapher der Selbstreflexivität, den Spiegel,
355 „Beuschel“ bezeichnet im österreichischen Deutsch die Lunge sowie ein kostengünstiges
Gericht aus Innereien. Gerade Letzteres dient dem Pejorativen. Das Bild des inneren Men-
schen ist eingeführt durch „den inneren Körperführer“.
356 Das Beispiel zeigt, wie in dem von Körpermetaphern geprägten Sprachstrom von Mein
Hundemund Wörter aufgeladen werden, sich zwar der genauen Bedeutung entziehen, aber
ein assoziatives Feld schaffen, was dem deklamatorisch-lyrischen Gesamtcharakter ent-
spricht.
357 Vgl.: „und nie keiner sein müssen wie man ist seit dem Mutterloch“ (MH, S. 189 f.) sowie
„alle würden einem die eingebildeten Füße schleimig lecken“ (MH, S. 190).
358 Das Präsidiale der Allmachtsfantasie erscheint für den Protagonisten als Alternative zum
‚Drecksepp mit seinem Beinstumpf‘, also zu sich (vgl. ebd.). Aus dem Goldpräsident, dem
„goldenen Drecksepp“, würde jedoch der Drecksepp „herausspritzen […] wie ein Durchfall“
(MH, S. 191). Im Gegensatz zu den Präsidentinnen ist hier die Alternativexistenz nie real
imaginiert, statt Entlastung bietet die irreale Produktion nur Zerstörung und jede Vision
zerbricht: „[E]in Feiertag ist ein Lichtprügel / der einem in die Augen drischt / […] / so ein
Präsident ist auch ein Feiertag“ (MH, S. 192). Vgl. auch den Versuch in Krawehl 2008, Dreck
und Präsidiales zu differenzieren.
3.2 Zu Schwabs Dramatik 455
359 MH, S. 214. Zur Verknüpfung von Spiegel und Subjektfrage vgl. etwa Konersmann 1988 bzw.
s. o. Vgl. anschließend an diese Stelle: „brauchen könnt ich sie schon die Präsidenteneinbil-
dung“ (ebd.).
360 Nelly in Kindheitsmuster war noch Platzhalter für eine mögliche Schließung des Ich. Die
Formen für das Selbst hier, die zwischen erster und dritter Person oszillieren, sind Platzhal-
ter der Sprachtätigkeit.
361 Vgl. Lehmanns Untersuchung zur Subjektkonstitution in der Attischen Tragödie mit der
Stimme als Scharnier zwischen Körper und Sprache (Lehmann 1991, S. 41).
362 ‚Verhüllendes Enthüllen‘ war immer wieder Thema dieser Studie, s. etwa den Abschnitt C 1.
363 Zum Protagonisten als Ausgegrenzten vgl. besonders MH, S. 205.
456 D 3. Werner Schwab
Hundeschwanz angebunden hat.“ (Ebd.) 364 Bereits aus dieser Anlage heraus
ergeben sich die wesentlichen Komponenten. Es tritt keine Figur als ‚Person‘
auf, sondern re-produzierende, durchgängig metaphorische Sprachtätigkeit,
die über dem Schauplatz entsprechende Bilder – wie etwa Natur, Boden,
Wald, Gras, Wiese, Feld, Friedhof, Berg, Sandgrube, Haus, Mostkeller,
Schrott, Wellblech, Gerümpel, Sense, Sau, Kuh, Stier, Saustall, Futter, Fleisch,
Speck, Blut, Blutwanne, Schlachtabfälle oder Düngerstätte – gesteuert wird.
Die Kette an Reflexionsprozessen ist aus zahllosen Metaphern und Verglei-
chen zusammengesetzt – immer wieder wird zu Narrationen angesetzt, die
aber durch die visuell-metaphorische Offenheit zugleich blockiert werden.
Elemente wie Wald, Wiese, Friedhof werden vom Deklamierenden unter-
schiedlich symbolisch besetzt, zwar unscharf, aber dennoch einen Bedeu-
tungsraum schaffend. Man vergleiche etwa die Aufladung der bereits oben
diskutierten offenen Metapher „Wald“ mit kognitiven Prozessen, die mit
aufsteigenden Bildern konfrontiert sind: 365
364 Schwabs Verzeichnis ist fast durchgehend in Personen, Raum und Sprache unterteilt. Die
Rede von der „Blechbüchse“ ist in diesem Stück besonders wichtig: die Sprachtätigkeit er-
setzt die Figur bzw. bildet ihren dissoziativen ‚Kern‘.
365 In der vierten Szene humpelt der Protagonist vom ‚Sumpf/Grund‘ zur ‚Wiese‘, dann zum
‚Wald‘ und dann zur ‚Sandgrube‘, die mit je unterschiedlichen Bedeutungsstrukturen aufge-
laden sind. Außen und innen (Personifikationen) gleiten dabei ineinander über.
366 Herv. von Vf. Die „Wiese“ steht für die Heugabel, mit der sich ein Bauer aufgrund von Spiel-
schulden ersticht, „Äcker“ steht für das durch die Sense getötete Kind – beides also für ‚in-
nere Bilder‘.
367 Vgl. „wenn wer ein Bild haben muß / das ihn nicht auskennt / dann heißt es schreien gehen
in den Wald / oder liegen / liegen beim Waldgrund/ bis eine jede Krankheit verblutet / im
Wald rinnt das Blut das keine Farbe haben muß“ (MH, S. 221) bzw. „mein Wald ist der ältes-
te / keine Krone wird umgerissen / da ist es im Innenleben finster / so dunkelfinster / daß
die Sonne ausschaut wie eine Sau mit Rotlauf“ (MH, S. 222).
368 Vgl. etwa (deutlich) die assoziative Verbindung „Landschaftskopf“ mit dem das Bild fertig
denkenden Wald im Zitat oben. Diese Schicht ist stets mit präsent. Vgl. auch: „ein Mensch
muß in den Wald [i. e. in die kognitive Tätigkeit], bis alle Schmerzen aufgefunden sind“
(ebd.).
3.2 Zu Schwabs Dramatik 457
on mit eindringenden Bildern, die durchaus vor dem Hintergrund der Intru-
sionsproblematik deutbar ist, liest sich in der Fortsetzung folgendermaßen:
„der Friedhof ist der Schützengraben der Bilder gegen den Wald“ (MH, S.
221) und vor allem im ultimativen Bruch der Erhöhung (s. o.).
Dass der Protagonist in der 4. Szene den Hof ‚abhumpelt‘, bevor er sich dem
Hund vorwirft, von Sumpf über Wiese und Wald zu Sandgrube und dann zur
(tausendjährigen) Eiche, entspricht einem Humpeln durch eigene und frem-
de Erinnerungen,369 die sich dem Rezipienten nur andeutend enthüllen.
Nach dem eben kurz skizzierten Wald kommt er zur Sandgrube, über die
sein Zerstört-Werden mit der Position eines kognitiv eingeschränkten Au-
ßenseiters konnotiert wird:
Dass er sich als ‚totes Fleisch‘ dem Hund vorwerfen will, wird hier an ein
Ereignis geknüpft, und dessen bleibende Präsenz wird als ‚Hochzeit‘ symbo-
lisiert: „mein Leben hat die Sandgrube behalten“ / willst du du Drecksepp
hat sie gefragt / unsere Sandgrube“ (MH, S. 223), bevor die Situation selbst
wiedergegeben wird:
und dann hat alles so laut gelacht bis ich eingegraben war
einen Meter im roten Loch
den Kriegsstumpf haben sie herausstehen lassen
vor dem Kriegshitlerzeichen haben alle einen Respekt
dann war ich hundert Tage krank
weil der Sand fremdverschissen war (MH, S. 224)370
In der Fortsetzung der Stelle, relativ am Ende des ‚Humpelns‘ durch die
nicht zu bewältigende Erinnerung, spricht er vom letzten Blick zurück und
369 Dies wird verstärkt durch folgende Stelle im Anschluss an den letzten Weg über den Bau-
ernhof, der auf das frühere Bild des Ackers – den Tod des Kindes durch die Sense, s. o. – zu-
rückkommt: „der Acker wird nicht mehr ausgesprochen / das was der Acker ist ist für eine
Gemeinheit / das nehme ich mit in meinen Hund“ (MH, S. 231).
370 Zum „roten Loch“: weiter oben heißt es erklärend „Blutsand“ sowie „das Dorf hat auf den
Kopf geschlagen“ (ebd.).
458 D 3. Werner Schwab
kommt auf den eingangs der vierten Szene aufgeworfenen Begriff des
Grunds zurück:
meine Sandlochgrube
und mein letztes Auge auf sie
mein gutes warmes Auge
das der Hundescheiße angehören wird
bald
gleich
wenn der Grund fertig ist mit mir (MH, S. 224)
„Grund“ ist zumindest dreifach konnotiert: Zunächst stellt die Szene bisher
den Gang über seinen ‚Grund‘ dar, wie das Wort gerade im österreichischen
Deutsch meist kurz für „Grundstück“ verwendet wird. Dann ist bereits ein-
leitend vom ‚inneren Grund‘ im Sinne des Abgrunds die Rede371 und schließ-
lich der Grund als (dem Lesenden großteils entzogene) im Sinne der mögli-
chen ‚Hintergründe‘, die in der deklamatorischen Selbstvernichtung bear-
beitet werden.372
Schwabs Ausstellung des Sprechens vollzieht über die dramatische Form
eine sprachlich und bedeutungsmäßig auseinanderstrebende Strukturie-
rung eines traumatischen Prozesses der ‚Selbstzerstörung‘, der weit ent-
fernt von kausallogischen Attributionen geführt wird. Im Kontrast zur Zu-
gänglichkeit des Inneren in klassischen Selbstgesprächen oder auch den sich
entziehenden Monologen, wie sie mit Kleist aufkommen (s. o.), werden hier
inkongruente Beobachtungsprozesse – „Es ist aus mit dem Blick auf den
Blick“ (MH, S. 229) –im Sinne eines wilden, systematisch flottierenden Den-
kens angeboten.
Die Objektivierung der inneren Sprache erfolgt dissoziativ, das Sprechen ist
zugleich das Gesprochen-Werden. Traumatisch infiziert zeigen sich beson-
ders die mentalen Bearbeitungsprozesse der Sprache, der Erinnerung und
letztlich des in diesen Tätigkeiten dissoziierenden Selbst. Der Hass auf die
reproduzierte Identität wird dabei grenzenlos und kann durch keine Erhö-
hungsfantasie kontrastiert werden, die Schwab sonst seinen Figuren zu-
schreibt, die in Mein Hundemund aber blockiert sind. Da Literatur in der
371 Vgl.: „und meinen Sumpf den verstehe ich am allerbesten / meinen untersten Grund ohne
Boden / wo meine Atemluft verfault“ (MH, S. 219), womit gleichzeitig der Beinstumpf mit
einbezogen wird.
372 Am Ende wird er noch auf radikale Isolation und Deprivation zu sprechen kommen, bevor
sich der Prozess schließt.
3.2 Zu Schwabs Dramatik 459
theatralen Welt dieses Autors wiederholt selbst als eine solche Erhöhungs-
fantasie demaskiert wird, zeigt sie sich indirekt als (wenngleich problemati-
sche) Antwort auf traumatische Konstitutionen. Trauma wird daher auch
codiert als Scheitern selbsterhöhender Fantasieproduktion, als letztliches
Scheitern von Literatur.
‚Du bist der Lärm unserer stummen Schreie. Du bist die Wahr-
heit unserer schlimmen Träume. Du bist das Meer für unsere
eitrigen Wunden.‘
‚Na ja‘, sagte ich, ‚man gibt sich Mühe‘. 373
‚Hinwerfen‘, das für Duves hier zitierte Erzählungen charakteristisch ist, als einen alternati-
ven Antwortversuch lesen, wo wenig ausgeführte Figuren dominieren, die immer wieder
kurz aufleuchten und auf selbstreflexive Prozesse, die auf einer Metaebene durchgeführt
werden, weitgehend verzichtet wird. Die Weiterführung der oben diskutierten Verweis-
struktur ist deutlich.
376 Vgl. oben zur problematischen Konzeption intergenerationaler Traumata in Baer/Frick-
Baer 2010.
4.1. Julia Francks Die Mittagsfrau 461
holt, ist mehrfach codiert und versucht nicht, die Frage nach dem Warum
schließend im Sinne bloßer Psychomechanik zu beantworten. 377
Francks Mittagsfrau nutzt die Rahmenerzählung ihres Romans für einen
modernen Perspektivenwechsel378 und schließt an Intertextualität und Vi-
sualität als kompositorische Mittel an. 379 Dass bei Traumata der visuellen
Dimension besondere Bedeutung zukommt, ist der Autorin sichtlich be-
wusst, sie ist hier in einer Linie mit Sebalds Austerlitz (2001), in der Traditi-
on der Deutschstunde von Lenz (1968),380 eines Romans, der für diesen Kon-
text in der Nachkriegsliteratur einen besonders eindringlichen Einschnitt
darstellt. Dessen ungeachtet ist die Erzählweise des Romans eher konventi-
onell und wird von der im Prolog aufgerissenen Fragestellung zusammen-
gehalten.381
Die Entwicklung des Romans bindet sich für Narration und Metaphorik eng
an aktuelle Diskurse zu intergenerationellem Trauma, Anorexie und Ge-
schlechterdifferenz, wobei auch das Wechselspiel des Figural-Individuellen
und des Historisch-Politischen jenseits bloßer determinierender Kräfte
bleibt. Die englische Übersetzung greift unmittelbar die Traumametaphorik
Francks auf und rückt diese so noch stärker ins Zentrum: „Die Mutter sei am
377 Während die Protagonistin nach diesem Muster reagiert und ihre Erfahrung in ihrem Sohn
‚wiederholt‘, sucht sie zunächst aktiv einen anderen Weg, wobei gerade der Aufbruch zu den
überzeugenden Teilen des Romans gehört. Dessen Scheitern erfolgt eben jenseits des
Zwangsläufigen oder Psychomechanischen. Es wird in der Folge eine mehrdimensionale
persönliche und soziale Situation codiert, die die Wiederholung überhaupt erst auslöst. Man
denke für die Mehrfachcodierung neben der partiellen Deprivation und den wiederholten
Verlusterfahrungen der Protagonistin, verknüpft mit Anorexie, u. a. an ihre Ehe als ‚Verge-
waltigung‘, an die über den Sohn berichtete Vergewaltigung durch russische Soldaten, seine
Männlichkeit, seine Zugehörigkeit zum Vater, zu Deutschland, sowie an die Bindung zu ihrer
das KZ überlebenden Schwester Martha, wodurch ein Netzwerk möglicher ‚Interpretatio-
nen‘ entsteht, die eben nicht fixiert werden, auch nicht in einem möglichen Zusammenwir-
ken.
378 Vgl. paradigmatisch dafür Brochs Schlafwandler (s. o.).
379 Zentral ist Else Lasker-Schüler als Orientierungsfigur für die Protagonistin, die zahlreiche
Funktionen übernimmt (Repräsentation von Judentum, Liebe, Schmerz, etc.).
380 Austerlitz integriert Bilder in die Textkomposition, Die Deutschstunde ist bekanntlich visuell
mit codiert – Bilder prägen nicht nur die Welt von Siggi Jepsen, sondern liefern auch eine
zweite Bedeutungsschicht, welches Verfahren deutlich an Texte der klassischen Moderne
anschließt. Bei Franck geht in einem entscheidenden Moment – das vorgestellte Bild ihrer
Schwester „Martha in dem Viehwaggon“ (Franck 2011, S. 407) – der Text in Visualität über.
381 Mit dieser Erzählweise entkommt der Text der ausführlich anhand von Brochs Tod des
Vergil diskutierten ästhetischen Problematik (s. C 3) nur teilweise. Dies gilt etwa für Sätze
wie „Helene öffnete den Mund, sie konnte nicht schreien. Ihr Schreck saß so tief, dass kein
Laut aus ihrer Kehle kam“ (ebd., S. 405), die, nur für sich genommen, den zahlreichen popu-
lären zeitgenössischen Codierungen von Trauma entsprechen.
462 D 4. Ausblick auf zwei Gegenwartsromane
Judith Schalanskys Der Hals der Giraffe verliert keine Zeit. Schon nach dem
eröffnenden „Setzen“ der Hauptfigur, der Lehrerin Inge Lohmark, weiß der
Rezipient, in welchem Setting er sich befindet.383 Ein paar Sätze weiter hat
er ihre biologistische Brille kennen gelernt und wird erstmals mit ihrer
Form des Darwinismus konfrontiert, wenn sie den Schüler/innen mitteilt:
Mit dem Text betritt man die Welt der Reflektorfigur Lohmark, die gewiss
keine Sympathieträgerin ist.384 Schalansky bietet die Feinstudie einer bezie-
hungslosen Außenseiterin in einer starr geordneten Welt, der wenig Positi-
ves gegönnt wird. Der Figur ist, so ein wesentlicher Punkt, kein eigentliches
Ich mehr zugeordnet,385 sondern sie konstruiert sich über ihre fortlaufende
ordnende Denk- und Sprechtätigkeit. Über diese sollen Regeln, Überschau-
barkeit und vor allem Stabilität produziert werden, die freilich ständig ent-
gleitet. Eine Ich-Erzählung könnte die Unmittelbarkeit dieses Prozesses
nicht wiedergeben, für den das Ich-Werden und die autobiographische Dop-
382 Ebd., S. 119. Der englische Titel lautet The Blindness of the Heart. Die erste „Deprivationser-
fahrung“ von Helene ist nahe an Separation, weil es um die Abtrennung von emotional zu-
nächst vorhandenen Eltern geht, also um eine Verlusterfahrung.
383 Schalansky 2011b, S. 8. Aus dem Hals der Giraffe wird in der Folge mit Hilfe der Sigle ‚HdG‘
zitiert.
384 ‚Reflektorfigur‘ wieder als Hilfsbegriff in dem Sinn Stanzels, dass die fiktionale Welt über sie
konstruiert ist. Allerdings zeigen sich hier terminologische Grenzen, da es um eine ‚zerfal-
lende Figur‘ geht, deren „Ich‘ nur über Konstruktionsprozesse gegeben ist. Es geht also um
eine nicht bewusste Verwendung des Bestimmungswortes „Reflektor“. ‚Interne Fokalisie-
rung‘ wäre hier m. E. keine bessere Lösung, sondern eher unpräziser.
385 Für Seidlers Rede vom ‚postpsychoanalytischen Zeitalter‘, die hier (ähnlich wie für die
Dramatik Schwabs im letzten Kapitel dieses Abschnitts) passend scheint, s. A 1.
4.2 Der Hals der Giraffe 463
pelung in erzählendes und erlebendes Ich keine Rolle mehr spielen.386 Die
Erlebnisebene ist die stete Reflexionsebene, der Prozess des inneren Den-
kens findet jenseits der Dichotomie von bewusst und unbewusst statt.387
Aus Figurensicht wäre der Versuch einer Lebensgeschichte, die über unmit-
telbar stattfindende Prozesse hinausreicht, bloße arbiträre Sinnkonstrukti-
on: „Alle verteidigten nur den eigenen Lebenslauf. Was blieb einem auch
übrig, als der zufälligen, zwangsläufigen Abfolge der Ereignisse irgendeinen
Sinn zuzuschreiben.“ (HdG, S. 52)
Schalansky nutzt die Verbindung von direkter Rede, (wenigen) auktorialen
Einschnitten und tonangebender Reflektorfigur als modernes Erzählverfah-
ren und reichert sie mit einem innovativ präsentierten Wissensdiskurs
an.388 Möglich wird so ein schneller Wechsel von Innen und Außen, wobei
die beiden Dimensionen ineinander übergleiten. 389 Was auffällt, ist die
Leichtigkeit im Umgang mit den genannten Techniken, die längst jenseits
des Experimentellen sind.390 Schalansky genügt damit eine einfache Spra-
che, um komplexe Themen abzuhandeln. Die moderne Integration von Wis-
sen in den Erzählfluss erfolgt visualisiert, über das spezifische Medium der
Biologie, die Zeichencharakter annimmt, und ist in die Figurenperspektive
integriert: Lohmark definiert sich permanent über den biologischen Diskurs
oder genauer: ihr Denken reproduziert sich über diesen. Die innovative
optische Ordnung spielt auf die Struktur eines Lehrbuchs oder Lexikons an,
mit biologischen Begriffen in den Kopfzeilen – links jeweils der symbolisch
aufgeladene Oberbegriff des Abschnitts, rechts der konkrete Detailbegriff.
Dadurch wird dem Text eine zusätzliche Bedeutungsschicht verliehen.
391 Mit der (pathogenetischen) Subjektkonstitution des ‚Bildungsromans‘ (vgl. Schings 1984
bzw. s. o.) hat die konstruktivistische Beobachtungsposition wenig gemein, die Anspielung
reicht aber dennoch über das bloße schulische Milieu hinaus. Zur Umkehrung der Texte
über Schüler vgl. Boog/Emeis 2013, S. 50 f. Zur Figur des ‚gescheiterten‘ Pädagogen vgl. be-
reits Zündels Abgang (1984) von Markus Werner, der als kritische Gegenfigur allerdings
(zumindest unterschwellig) positiv konnotiert ist. Gemeinsam ist den beiden Protagonisten
die Funktion des ‚Symptomträgers‘.
392 In der langen ‚Tradition‘ von Rilkes Aufzeichnungen steht der Verzicht auf Kausalsetzung;
dafür finden sich punktuelle Einstreuungen. Der ‚traumatische Prozess‘ (s. o.) ist dennoch
deutlich rekonstruierbar.
393 Vgl. Boog/Emeis 2013, S. 52.
394 ‚Symptomträgerin‘ ist sie auch in ihrem (partiellen) Unverständnis, warum das NS-
Biologielehrbuch im Schulunterricht nicht mehr verwendbar ist (vgl. HdG, S. 108 und s. u.).
395 Vgl. Boog/Emeis 2013. S. 56.
396 Vgl. oben zu traumatischem Prozess, TS und TKS. Ein ‚Ausweg‘ wird für die Figur nicht
angezeigt.
4.2 Der Hals der Giraffe 465
In Umbruchphasen, wo das alte System noch präsent und das neue in der
Entwicklung ist, werden (relative) Kontingenz sozialer Ordnungen und In-
teraktionsprozesse mit der Umwelt (etwa im Sinne der Piaget’schen Sche-
mata der Adaption und Akkommodation) als solche sichtbar, ohne dass sie
als Ich-Entwicklung rationalisiert wären. 397 Das Scheitern Lohmarks, die
weder für die neue Volkshochschule (Stichwort: Freizeitgesellschaft) noch
für die inklusive Pädagogik Schwannekes taugt, weist in diesem Kontext
zwar über sich hinaus, bleibt aber bedeutungsoffen.
Der sich nicht schließende, konstitutive Bruch der ‚beziehungslosen‘ Loh-
mark nach außen wird zum Ausdruck für die soziale Dimension und über-
nimmt Zeichenhaftigkeit. Ihre teils verständnislosen Beobachtungen der
adaptierenden Umwelt dienen als Spiegel, wenngleich oder gerade weil sie
immer in ihrem starren System verbleiben. Dazu muss der Text seine spezi-
fische Wahrnehmungsposition nicht verlassen.
Es kann dabei nicht mehr die Frage sein, ob eine Repräsentation oder gar
Imitation der natürlichen Prozesse der inneren Sprache über moderne Er-
zählverfahren angestrebt wird. Wichtig sind die Prozesse, ihre Referenzsys-
teme und die daraus entstehende, lebendig geschilderte, komplexe Figur
Lohmark und deren offene Verweisfunktion. Es geht um die permanente
Konstruktion ihrer Realität, die ganz im Verständnis konstruktivistischer
Diskurse großteils nicht über bewusste Operationen erfolgt. Literarisch
verarbeitet werden die Sprach- und Denkmuster narrativ zu einer kongru-
enten Geschichte.
Lohmarks Blick auf Ellen, der sie fehlende Intelligenz und niedrige Aggres-
sion zuschreibt – verdichtet zu „dumpfes Duldungstier“, demonstriert ihre
Konstruktion der Anderen: „Ellen: Dumpfes Duldungstier. Gewölbte Stirn
und Kaninchenblick. Die Miene weinerlich vom Pausengehänsel. Schon jetzt
überflüssig wie eine alte Jungfer. Opfer auf Lebenszeit.“ (HdG, S. 21)
Ihre Schüler/innen nimmt sie ‚erbarmungslos‘ als Typen wahr, durch ihre
spezifisch sozialdarwinistisch-biologistische Brille gefiltert. Die Unterschei-
dung Mensch/Tier lässt sie zusammenbrechen, sehr betont sogar, vermittelt
wird den Schüler/innen die Welt jenseits idealistischer Wertsetzung: „Das
ist nicht grausam, das ist ganz natürlich.“ (HdG, S. 28) Das (biologische)
Leben sei gleichsam nicht das der Klassik, des klassischen Bildungsideals,
der Würde, sondern das der natürlichen Grausamkeit. Dem entspricht auch
ihr Blick auf Jugendliche:
In der Folge wird sie über Übergriffe reflektieren, beobachten, wie „das
Opfer auf Lebenszeit“, Ellen, angegriffen wird und nicht eingreifen: „Wirk-
lich gefährlich sah es nicht aus. Jedenfalls wehrte sie sich noch. Sollte sie
sich selbst helfen. Das würde sich schon regulieren.“ (Ebd.) Was sie beo-
bachtet, sind biologisch (statt: von Gott) gegebene Naturzustände, das Kon-
zept von Erziehung oder auch nur des Eingreifens zur Transformation des
Natürlichen ins Ethische, ist in dieser Denkwelt nicht vorgesehen. Sie nimmt
4.2 Der Hals der Giraffe 467
stets intensiv wahr und verarbeitet dies in ihrer inneren Sprache, die fort-
laufend den Riss zu den anderen reproduziert.
Vom Beobachtungspunkt der Inge Lohmark aus ist Traumatisierung wert-
neutral und Opfer sind für ihr Schicksal prädisponiert: „Zum Opfer machte
man sich immer nur selbst“.400 Traumatisierung bewegt sich im System Loh-
mark nicht nur in biologischen Bahnen, was viele Psychotraumatologen
(unter allerdings differenten Denkvoraussetzungen) bestätigen würden,
sondern ist als ein basaler, natürlicher Prozess beschreibbar, und zwar jen-
seits des Würde-Diskurses der Aufklärung, der hier abgelegt ist. Konträr
etwa zu Broch und nahe an Nietzsche wäre nicht das Heraufziehen der fas-
sungslosen Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer zu erklären,
sondern dies stellte die natürliche Ausgangssituation dar, alles andere wäre
gleichsam humanistische Verbrämung:
Wer die zweite Spur des Textes wahrnimmt, sieht, wie sich ihre Wirklich-
keitskonstruktion gegen sie selbst richtet und gegen die eigene Deprivation,
und zwar im Sinne einer fatalen Strategie. Allerdings ist deutlich, wie sehr
ihre kognitiven Operationen, die durchaus als nicht bewusste Bewältigungs-
versuche markiert sind, die Existenzform der Figur Lohmark ausmachen.401
Sie laufen ununterbrochen ab und lassen keine Vorstellung eines ‚eigentli-
chen Ich‘ außerhalb dieser Operationen zu, das sich von ihnen abheben
ließe.
Trauma ist für sie also das Natürlichste der Welt.402 Ihr biologistischer Kos-
mos spiegelt den Bruch zur Gesellschaft, der, dem Roman folgend, an kei-
nem spezifischen Punkt aus einem bestimmten Ereignis her eintrat, sondern
aus der Beziehungslosigkeit ihrer Eltern erwuchs. Als ‚Symptomträgerin‘
sozialer Problematiken wird ihre Isolation von außen (intensiv) genährt
(vgl. die Position zu Schwanneke), aber gerade auch in ihrer inneren Spra-
che über den biologischen Diskurs (re)produziert, der, so wird angedeutet,
zumindest irgendwann einen Außenbezug repräsentierte – man denke an
die frühen Spaziergänge mit dem Vater – bzw. mit Positivem in Verbindung
stand. So wie sie Ellen als Opfertier wahrnimmt, blickt sie auf sich als Fünf-
undfünfzigjährige, biologistisch Überfällige und letztlich ‚Nutzlose‘, was
wiederum auf ihre Ausgangserfahrungen verweist (s. u.). Während sie stets
scharf beobachtet, kommt es zu keinen Kontakten, die ihre Beobachtungs-
position brechen könnten, da die Außenwelt nur durch den Code des Sys-
tems bearbeitet wird. Die von ihr durchgeführten Operationen lesen sich
vor diesem Hintergrund wie eine Einführung in das Denken Luhmanns.
Über ihr biologistisches Verarbeitungssystem hinaus wird so sichtbar, wie
fatale Systeme alle sie affizierende Informationen gemäß ihrer eigenen Lo-
gik in sich aufnehmen können. Lohmark löst sich nicht von ihren traumati-
schen Erfahrungen, sondern reproduziert diese und bleibt ‚gefangen‘ in
ihrer Konstruktionsweise,403 ohne auch nur in der Nähe der Gedankenwelt
von ‚Traumatophilie‘ zu agieren, wie sie oben beschrieben wurde.
Im Rahmen der Naturhaushalte, im Anschluss an das Artensterben und unter
dem Stichwort Infantizid, ‚inszeniert‘ Inge Lohmark den angeborenen Kai-
nismus der Schreiadler für ihre Schüler/innen. Deren Reaktion hat sie stets
exakt im Blick, ihre Sätze sind genau darauf abgerichtet und die Information
kommt präzise:
403 Vgl. Boog/Emeis 2013, S. 63, die von „Kreisbewegung um festgefahrene Verhaltensweisen“
sprechen.
4.2 Der Hals der Giraffe 469
404 Ausgedrückt auch an den Beispielen „Panda, Koala oder Wal“ (HdG, S. 28).
405 Belegt ist die Aufnahme der Übertragungssituation durch die Schüler etwa durch die zitierte
Frage Tabeas: „Und die Eltern?“.
470 D 4. Ausblick auf zwei Gegenwartsromane
406 Wolfgang dient auch als eine Kontrastfigur. Er ist nicht zur verschärften Wahrnehmung
Lohmarks gezwungen.
407 Ebenso zentral wie stimmig ist die Erinnerung an die Szene, wo Claudia in der Schule auf sie
zugeht und sie selbst, fixiert auf ihre Rolle, sich abwendet: „Claudia stand auf. Lief nach vorn.
Direkt auf sie zu. Sie hatte die Schultern hochgezogen, den Kopf geduckt. Sie wimmerte:
Mama. Ihre ausgebreiteten Arme. Und sie? Was willst du von mir? Das waren ihre Worte.
Ein Stoß. Von sich weg. Was wollte sie von ihr. Claudia fiel. Blieb liegen. Weinte immer noch.
Wie sie da auf dem Boden lag. […] Natürlich war sie ihre Mutter. Aber zuallererst ihre Leh-
rerin“ (HdG, S. 218 f.).
4.2 Der Hals der Giraffe 471
408 Vgl. wie in Claudias Frage an sie, ob sie schön sei, die Erinnerung an die Mutter eindringt,
die auch aufzeigt, dass sie versucht, es sozusagen ‚besser‘ zu machen: „Ob sie schön sei, hat-
te Claudia sie mal gefragt. Was sollte man denn darauf antworten? Du siehst lustig aus. Lus-
tig war doch nett. Ein faltiger Batzen, hässlich wie die Nachgeburt. Wer hatte das gesagt? Ih-
re Mutter. Es war ihr immer noch ein Rätsel, dass diese Frau sie geboren haben sollte […]
Manchmal hatte sie gedacht, Claudia sei gar nicht ihre Tochter“ (HdG, S. 117).
409 Vgl. die wichtigsten Elemente: „Schreiadlerblick“ in der Begegnung mit der Fremden; die
Selbstreduktion auf die Funktion der Lehrerin, wenn ihre Tochter vor ihren Augen kolla-
biert und die weiter unten diskutierte Begegnung mit der Angst der Fledermaus. Zur emoti-
onalen Zuwendung zur Schülerin Erika vgl. Boog/Emeis 2013, S. 54 sowie S. 61. Die eigenen
zärtlichen Gefühle dieser gegenüber irritieren sie sichtlich.
410 Vgl. Boog/Emeis 2013, die das Traumatische der Abwesenheit Claudias betonen (HdG, S.
53 f.).
411 Eingeführt wird der Vater über die Differenz zur Mutter: „Ihr Vater war immer in den Wald
gegangen. Zum Jagen. Aber ihre Mutter hatte keine Lust, die Sammlerin zu spielen.“ (HdG, S.
123). Intensiviert wird die Differenz später, beginnend mit: „Es war ihr immer ein Rätsel,
warum ihre Eltern zusammen gewesen waren.“ (HdG, S. 152). Dann leuchtet die eigene Be-
ziehung der Protagonistin zu ihm auf, die über Naturerlebnisse und den frühen Tod geprägt
ist: „Vater war so früh gestorben. Einfach umgekippt […] Sie war oft mit ihm unterwegs ge-
wesen. Beobachteten Tiere und sammelten Pilze, die ihnen die Mutter widerwillig zuberei-
tete“ (ebd.). Den Schlusspunkt der einströmenden Erinnerung setzt der Kontrapunkt zur
gemeinsamen Naturverbundenheit: „Parteikreisleitung. Was er wirklich arbeitete, wußte
wohl nicht mal ihre Mutter“ (ebd.).
472 D 4. Ausblick auf zwei Gegenwartsromane
Der erbliche Veitstanz. Früher Tod. Das Leben mit vierzig vor-
bei. Als ob es sonst anders wäre. Das galt ja für alle. Zumindest
für jede Frau. Ein Drittel der gesamten Lebensspanne für
nichts und wieder nichts. Postreproduktives Überleben. Das
gab es auch nur beim Menschen. Die Gene überwinterten in
unserem Körper und warteten auf bessere Zeiten.
(HdG, S. 112 f.)412
412 „Vgl. auch über ihr Klimakterium: „Der schleichende Rückbau. Verkrümmung des Ge-
bärtrakts. Einstellung der Periode. Trockene Scheide. Welkes Fleisch“ (HdG, S. 55).
413 Sie ist ihrerseits undifferenziert dem Umstand gegenüber, dass die sozialdarwinistischen
Ideen Hackls von den NS-Ideologen instrumentalisiert wurden (s. u.).
414 Zur Abbildung der Quallen im Text vgl. HdG, S. 32 f.
415 HdG, S. 35. Vgl. auch die Verbindung von Schönheit (Ästhetik) zu klaren Werten bzw. Größe:
„Es war zwecklos, sich mit einer Person zu streiten, der jeglicher Sinn für das wahrhaft
Schöne, für das wahrhaft Große abging.“ (ebd.). Lohmarks Differenzlosigkeit ist keine wahr-
nehmungstechnische, sondern eine, in der Sozialdarwinismus, Natur, Kultur, Klassik und
NS-Lehrbücher ineinander übergehen.
4.2 Der Hals der Giraffe 473
Leben als Kampf,416 Ablehnung von Schwäche oder die permanente Definiti-
on des Menschen als (erbbestimmtes) Tier und Gattungswesen417, als Pro-
dukt einer grausamen Natur: es mangelt im Text nicht an Hinweisen, die
Lohmarks Denkprozesse in (tragischer) Nähe zum Nationalsozialismus posi-
tionieren. Am deutlichsten wird dies im Abschnitt Vererbungslehre, mit dem
direkten Bezug: „Aus einem alten Biologiebuch. Dreißigerjahre“: „Was nor-
mal war, zeigte sich erst in den Abweichungen. Man brauchte die Missbil-
dungen, um zu erkennen, was gesund war. Monster kam von monstrare. Es
ging doch um Anschaulichkeit.“ (HdG, S. 108) 418 Der mehr als nur problema-
tische Bezug zur Vergangenheit strahlt aus und verweist auf die Frage der
Jahrzehnte ihres Unterrichts zu DDR-Zeiten, wo ihre Vermittlung von NS-
Ideologie offensichtlich nicht problematisiert wurde.
416 Vgl. etwa die Darstellung der Pflanzen in HdG, S. 69, die personifiziert als Kämpfende be-
schrieben werden (s. u.).
417 Mit der Problematik der fehlenden Unterscheidung zwischen instinktgebundenem und
ethischem Verhalten, s. o. das Beispiel der Schreiadler und der Diskussion des ‚angeborenen
Kainismus‘, wobei der Begriff selbst wieder die Übertragung auf den Menschen bezogener
Narrative auf tierische spiegelt.
418 Vgl. auch: „Wenn es Rinderrassen gab, dann gab es auch Menschenrassen“ (HdG, S. 112).
419 Dafür steht auch „Kulturfolger“ in der Kopfzeile (ebd.), was auf die Nähe zu Menschen als
Thematik aufmerksam macht. Dem ist die klar geordnete ‚Instinktwelt‘ gegenübergestellt.
Bezeichnend ist, wie am Ende das ängstliche Tier, zunächst als dem Menschen so ähnlich
beschrieben, zum „Vieh“ wird.
474 D 4. Ausblick auf zwei Gegenwartsromane
Ihre oben zitierte Beobachtung „So viel Angst“ führt zu der ablehnend ge-
meinten Überlegung: „Sie waren eher mit den Menschen verwandt als mit
den Mäusen.“ (HdG, S. 55) Ein Blick auf ihre Wünsche zeigt den Hintergrund
des Wandels von Empathie mit der Fledermaus hin zum verachteten „Vieh“:
420 Das Verhalten der Giraffe wird als „richtige Strategie“ beschrieben (ebd.). Vgl. auch analoge
Stellen: „Wie gut es sein musste, einem Trieb zu folgen. Ohne Sinn und Verstand“ (HdG,
S. 88).
421 In der Folge werden die Sätze noch mehr zu Mustern (vgl. HdG, S. 210), die Ansammlung
von Bedeutung löst eben diese auf. Sie wird durch die Verschärfung, das höhere Tempo der
Gedanken, dekonstruiert und der Orientierungsverlust nimmt zu: „Schwindel. Sie musste
sich schon wieder hinsetzen“ (HdG, S. 211).
422 Offensichtlich ist der Wunsch nach einer Existenz ohne Denken und emotionalem Fühlen.
Vgl. dazu auch den bereits oben erwähnten Pflanzendiskurs, der sich mit Wunsch nach Ge-
fühllosigkeit und Kampf ums Dasein verbindet: „Die stumme geduldige Vegetation. Alle Ach-
tung. Sie konnten ohne Sprache kommunizieren und waren ohne Nervensystem schmerz-
empfindlich. Angeblich hatten sie sogar Gefühle. Das wäre allerdings kein Fortschritt. […] Es
war nicht zu übersehen, daß die Flora auf der Lauer lag. In Gräben, Gärten, und Gewächs-
4.2 Der Hals der Giraffe 475
hauskasernen warteten sie auf ihren Einsatz. Schon bald würde sie sich alles zurückholen
[…] mit ihren Wurzeln Asphalt und Beton sprengen“ (HdG, S. 69).
Schlussteil
Eine pessimistische Vorbemerkung
1 Die Frage lässt sich so, in dieser weiten (generalisierenden) anthropologischen Fassung,
zwar kaum, aber eben doch stellen. Sie steht an der Schnittstelle von Soziologie, Philosophie,
Psychologie und Biologie. Literaturgeschichtliche Reflexionen können, so die Annahme die-
ser Studie, zumindest dazu beitragen, ihre Umrisse zu erhellen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
H. Grugger, Trauma – Literatur – Moderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-21102-8_6
478 Schlussteil
Anstelle eines allzu reduzierenden Fazits werden in der Folge fünf Felder in
loser Andeutung vorgestellt, die folgende Bereiche abdecken: die Frage der
Chronologie, das Ringen mit Subjektivität, Funktionen des literarischen
Traumadiskurses, literarische Antworten auf traumatische Erfahrungen und
Wege der Auseinandersetzung (Methodik). Ausgewählte offene Fragen und
Herausforderungen zum Komplex Trauma und Literatur schließen diesen
Schlussteil ab.
1. Zur Chronologie
2 Die Frage ist allerdings, ob im System der Kunst von Restabilisierung überhaupt noch die
Rede sein kann oder ob diese Überlegung nicht doch die traditionell enger gefassten Epo-
chen voraussetzt. Bloße Beschleunigung von Veränderungsprozessen spricht allerdings
noch nicht dagegen. Wer etwa romantische Musik als ein transitives Medium auffasst, in
dem bestimmte ‚minds‘ sich zu bewegen vermögen, könnte für die Gegenwart analoge Me-
dien isolieren, in denen spezifische Schreibprozesse ermöglicht werden, was wiederum als
(partielle, beschleunigt transitorische) Restabilisierung aufgefasst werden könnte.
3 Für das System der Kunst ein bloßes Voranschreiten anzunehmen, wäre naiv. Wie weit
allerdings die Evolutionsmetapher trägt, ist eine eigene Frage.
Schlussteil 479
sen, der sich durch die genannten postmodernen Mittel, die sich wiederum
aus modernen entwickeln, auflockert. Dennoch gilt nach wie vor (zumindest
bis zu einem gewissen Punkt) die Rede von den technisch nicht mehr mögli-
chen Verfahren: Man kann heute nicht mehr schreiben wie etwa in der klas-
sischen Moderne, schon allein, weil die gedanklichen Voraussetzungen weg-
gefallen sind. Sich von der Idee einer linear oder dialektisch voranschrei-
tenden Entwicklung lösend, könnte man, ganz im Sinne der Diskurse der
letzten Jahrzehnte, von ‚Dialogversuchen‘ mit dem je ‚Anderen‘ sprechen,
wissend um die genuine Differenz.
4 Zu Brochs Goetherezeption und zur für ihn (theoretisch) weiter maßgebenden „Totalität
des Erkennens und Erlebens“ s. auch C 3.
5 Zur Zurückweisung des Modells der Psychomechanik etwa in den Schuldlosen s. o.
480 Schlussteil
Was mit der ästhetischen Moderne auftritt, wurde zunächst an Rilkes Auf-
zeichnungen des Malte Laurids Brigge sichtbar, die sich nicht zuletzt aus der
französischen Moderne heraus formieren und mit ihrer Gleichzeitigkeit die
Chronologie des Romans neu definieren. Moderne Techniken, jenseits des
Kausalen, bestimmen von nun an die formale Auseinandersetzung mit
Trauma, deren prominente Stellung für die klassische Moderne an den be-
handelten Autoren sichtbar wurde. 6 Inhaltlich wird diese Auseinanderset-
zung geprägt von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, wie hier beson-
ders an der Literatur Brochs (C 3), aber auch im Abschnitt D diskutiert wur-
de.
An Améry und Keilson wurde der Wechsel zur Erinnerung sichtbar, zur
Frage des Umgangs mit dem Erfahrenen. Literarisch codiert wird etwa im
Lefeu das Traumatische des Prozesses selbst, was sich vor allem mit der
fehlenden Fixierbarkeit der Bedeutung verknüpft. 7
Vor dem Hintergrund einer (zeitgenössisch dominanten) psychoanalyti-
schen Grundierung wurden autobiographische Romane der langen 1970er
analysiert, in denen die Frage des Ich-Werdens selbst noch das Drehbüh-
nen-Modell in Novaks Vogel federlos mitbestimmt. Zugleich zeichnet sich
vielfach der Zerfall eben dieses Ichs ab. Goldschmidts Die Absonderung zeigt
mit der Verbindung von Kafka und Freud auf zwei letztlich auseinander-
strebende Sichtweisen und verweist auf eine Fortführung autobiographi-
scher Projekte in der interkulturellen Literatur. Das Theater Schwabs (D 3),
anfangs der 1990er in einer Hoch-Zeit des deutschsprachigen postmoder-
nen Diskurses entstanden,8 positioniert sich jenseits des Subjekts, selbst
noch die Thematik des Ich-Werdens ist von hier aus nicht mehr vorstellbar.
Traumatisierung ist in dieser Poetik ein durchgängiges Thema, das Schei-
tern der (imaginären) Erhöhung (Literatur im Sinne von Fantasieprodukti-
on) in Mein Hundemund verbindet sich mit dem Komplex Trauma und Ich-
Zerstörung. Neue Modelle des Subjekts, die nicht zuletzt von konstruktivis-
In Goethes Wilhelm Meister ist die Rede von der permanenten Beschädigung
des (traumatischen) Ebenbildes Gottes durch eine ihm, dem Menschen,
feindliche Wirklichkeit. Dieser Gedanke entstammt der Idee des aufgeklär-
ten Subjekts, ist verankert in der religiösen Tradition und steht vor dem
Hintergrund der (literarischen) Produktion von Innenräumen, wie sie u. a.
mit und in den großen Bildungsromanen betrieben wurde. 10
Man kann für Diskurse zu Trauma sehr grob zu unterscheiden versuchen
zwischen:
9 Vgl. den Abschnitt zu Schalanskys Hals der Giraffe und die Ausführungen zum Jenseits des
Ich-Werdens dort. Zeitnahe zur Entwicklung der gegenwärtigen Traumadiskurse erleben
(radikal-)konstruktivistische Ideen eine Blütezeit.
10 Die gegenwärtigen Traumadiskurse sind, wie hier immer wieder gezeigt wurde, vielfach mit
der modernen Frage des Subjekts verbunden und das Subjekt kann als ein gemeinsamer
Ausgangspunkt der unterschiedlichen Konzepte des Begriffs der Moderne definiert werden
(vgl. Schmitt 2008).
11 Auch wenn Reckwitz den Subjektbegriff teils deutlich überstrapaziert (vgl. Reckwitz 2012),
konnte er doch zeigen, wie jenseits von Disziplinierungs- oder Individualisierungsnarrativ
Subjektformationen einen konstitutiven Teil von Gesellschaftsformationen (und von sozia-
ler Theoriebildung) darstellen (vgl. Reckwitz 2006).
482 Schlussteil
• Bereits mit Descartes Trennung von res cogitans und res extensa ist die
Frage der Körperlichkeit aufgeworfen.15 Prominent wird ab der Aufklä-
rung, besonders im Zuge der Descartes-Rezeption Kants und Fichtes, die
Grenze zwischen Innen und Außen, die spätestens mit der Dramatik
Kleists (radikal) problematisiert wird. 16 Die dominante Metapher der
Innenräume erfährt ebenso unmittelbare Kritik, wie bei Hölderlin das
sich selbst verwirklichende Subjekt mit der Entgrenzung konfrontiert
wird. Das ‚autonome‘ Innen wird sich gerade in der Moderne als an-
12 „‚Wirst du doch immer aufs neue hervorgebracht, herrliches Ebenbild Gottes!‘ rief er aus,
‚und wirst sogleich wieder beschädigt, verletzt von innen oder von außen.‘“ (HA 8, S. 460,
s. o.)
13 Vgl. die Ausführungen oben zu Kellers Winternacht als Einschnitt.
14 Bettina Wuttig diskutiert Aspekte dieser Frage, wobei sie sich vor allem für eine philosophi-
sche Verbindungslinie zu Peter Levine interessiert, der durch die Methode des Somatic Ex-
periencing bekannt wurde (vgl. Wuttig 2016). Allgemein zu (komplementären) Körperthe-
rapien vgl. Maercker 2009d, S. 142 bzw. s. o.
15 S. oben zur Frage des Körperdiskurses in Lefeu oder in Mein Hundemund. Wichtige Refe-
renzpunkte für diesen Diskurs sind u. a. Nietzsche und Butler, die auch in der eben zitierten
Studie Wuttigs im Fokus stehen.
16 Vgl. Grugger 2010 und 2011.
Schlussteil 483
17 Vgl. die Zuspitzung auf die Kritiken von Marx, Nietzsche und Freud in Foucault 1992, S. 23 f.,
die (sprachphilosophisch ergänzt) auf eine lange anhaltende Bewegung verweisen (vgl.
auch Grugger 2010, S. 26).
18 Vgl. ebd., S. 173–179. Zum Diskurs der sogenannten Borderline-Persönlichkeitsstörung in
der Psychotraumatologie vgl. etwa Gast 2015.
19 Innerer Monolog, ist wie oben ausgeführt, eine (reduzierende) Selbstbeschreibung Brochs
für den Tod des Vergil. Der Übergang von Schnitzlers Reigen zu Schwabs Cover-Drama, der
oben andiskutiert wurde, zeigt sehr schön die Dynamik dieser Entwicklung.
20 Man denke etwa an Kierkegaards berühmte Subjekt-Definition des Ich als Verhältnis, das
sich zu sich selbst verhält.
484 Schlussteil
„Nützen wollen die Dichter oder erfreuen, vielleicht auch / beides zugleich:
Erfreuliches sagen, was nützlich im Leben,“23 heißt es bei Horaz, was mit der
bekannten Sentenz des „Fabula docet et delectat“ korrespondiert. Für den
Komplex Erkenntnisgewinn (docere) sind verschiedene Perspektiven zu
21 S. Einleitung zur Frage des Aussagens. Vgl. die Ausführungen zu Brochs Vergil zur Eigenlo-
gik des ästhetischen Systems.
22 Im Sinne Laclaus ist ‚Totalregression‘ mit ‚progressiven‘ Elementen verknüpfbar. Man vgl.
den Propagandaapparat und die Formen absoluter Macht der Nazis. Aktuell stellt die Post-
Truth-Kampagne Trumps mit dem Wechsel traditioneller Medien zu über sozialen Netz-
werken verbreiteten Fake-News eine Kombination von ‚Totalregression‘ und ‚Innovation‘
dar.
23 Horaz 2009, S. 303 [Aut prodesse uolunt aut delectare poetae aut simul et iucunda et idonea
dicere uitae Vs. 333 f.].
Schlussteil 485
24 Für den Rahmen dazu ist das Beispiel des Dr. Faustus illustrativ, wo keine unmittelbare
Erkenntnis stattfindet, aber im Sinne der hier mehrfach thematisierten Verweisstruktur ei-
ne permanente Bezugnahme und Reflexion von Ideen- und Kunstgeschichte durchgeführt
wird.
25 Man denke in diesem Kontext auch Brochs Begriff des erweiterten Naturalismus (s. o.).
26 Zur diesbezüglichen Position Adornos sowie zum ästhetischen Diskurs in Der Tod des Vergil
s. o.
27 Die folgenden Punkte sind selbstverständlich nicht im Sinne einer vollständigen Aufzählung
zu sehen, sondern als erste Annäherung im bereits festgehaltenen Sinn eines schließenden
Ausblicks. Karl Bühler hatte bekanntlich 1934 mit der Trias Darstellung, Ausdruck und Ap-
pell (Symbol, Symptom und Signal), eine Bestimmung der Sprachfunktion vorgelegt, die bis
heute praktisch jedem Versuch zugrunde liegt, auch der vielleicht bekanntesten Erweite-
rung durch Roman Jakobson, der neben neuen Namen die metasprachliche, die phatische
und die ästhetische Funktion ergänzte.
28 Diese Funktion ist etwa bei Schwab sicher präsent, ebenso bei Améry oder Keilson.
486 Schlussteil
29 Besonders deutlich und intensiv geschieht dies in Hanekes Funny Games (1997). Es geht
wohl um ein (durchaus alptraumhaftes und nicht unproblematisches) Aufzeigen und Sicht-
bar-Machen eines traumatischen Ausgeliefert-Seins, um die unmittelbare Konfrontation mit
Ohnmacht.
30 Vgl. Bühlers Appellfunktion. Charakteristisch wären hier u. a. die in diesem Kontext öfter
erwähnten Texte B. Travens.
31 Ein prominentes, oben diskutiertes Beispiel ist die Verbalisierung und ästhetische Codie-
rung von Trotz in den Nachtwachen.
32 S. o. zu Beispielen aus Mainstream-Filmen. Die Faszination am Trauma anderer, der rezepti-
ve Thrill aus der Beobachtung, ist zumindest partiell konzipierbar als sublimierte Fortfüh-
rung der historischen Hinrichtungen als Schauspiel (Bystander). Im Hintergrund steht
Nietzsches Gewaltbegriff der ‚Belohnung‘. Vgl. grundsätzlich zur Frage sublimer Formen re-
zeptiver Lust vor dem Hintergrund der ästhetischen Theoriebildung Anz 2002a.
33 Zur Ästhetisierung und Verwandlung jenseits der Instrumentalisierung s. auch unten zu den
Antworten auf das Trauma, etwa zur ‚Elegisierung‘ Rilkes.
34 Ein Beispiel wären für das 19. Jahrhundert wesentliche Teile des Realismus und des Natura-
lismus, vgl. Ebner-Eschenbachs oben angesprochenen ‚Pinsel des Realisten‘.
35 Bereits in der Antike steht dem tragischen Ende (vor dem Hintergrund der Einordnung von
Trauma in eine verstehbare Ordnung, s. o.) die Hochzeit als Happy End gegenüber, als Teil
des Unterhaltungsprogramms der Komödie. Dass die Tragödie auch aus dieser Spannung
ihre Seriosität bezieht, scheint offensichtlich.
Schlussteil 487
36 Trauma weiter im Sinne des oben beschriebenen Komplexes und nicht-essentialistisch ver-
standen. Zu einem kritischen Traumabegriff s. o.
488 Schlussteil
37 Dies gilt umso mehr, als Literatur grundsätzlich ein Medium der Sinnproduktion darstellt,
das auch jenseits von Traumatisierungen mit Kontingenzbewältigung verknüpft ist. Vgl. zu
dieser Frage etwa Culler 2002, S. 133–136 sowie Schmidt 2008 (siehe auch oben).
38 Ein zweiter Strang wäre das Ritual, die katholische Form der Gemeinschaft, wobei auch hier
die Position des Abgespaltenen (traumatischer Riss) in vielen Varianten zur Verfügung
steht.
39 Ähnlich verhält es sich mit der bedeutungsoffenen Ambivalenz von christlicher Gemein-
schaft und konstitutiver Einsamkeit mit dem Symbol vom Tod am Kreuz, was von Broch be-
reits in den Schlafwandlern prominent aufgegriffen wird. Für das Trauma geht es um den
hier immer wieder genannten doppelten Riss.
40 Analoges ließe sich für andere Religionen zeigen, teils auch für den Mythos. Die Josephs-
Romane belegen eindrucksvoll, wie sehr sich bereits Thomas Mann für die intertextuellen
Schichten der Passionsgeschichte interessiert.
41 Vgl. LdP, S. 399, wo Strukturen, die bereits auf Trauma antworten (traumakompensatori-
sche Mechanismen) als besonders anfällig für Traumatisierung hervorgehoben werden
Schlussteil 489
(s. o.). S. auch unten zur Spannung zwischen dem Schreiben über Trauma und dem Trauma
des Schreibens (als Antwort und als Trauma).
42 Zu entsprechenden therapeutischen Ansätzen s. o. Das Aussprechen wurde als wesentlicher
Orientierungspunkt psychoanalytischer Verfahren benannt (vgl. auch die Abschnitte A 1
und D 2). Ebenso wurde öfter festgehalten, dass die gegenwärtigen Traumadiskurse einen
starken psychoanalytischen Zweig besitzen, der aus einer Reformulierung psychoanalyti-
scher Theorieelemente hervorgeht. Es ist nicht so, dass das eine das andere ablösen würde.
43 S. die Ausführungen zu Sofsky in D1.
44 Vgl. etwa Brochs Interesse an der fehlenden Bestätigung durch andere, wie sie erstmals
extensiv für August Esch und dessen (daraus resultierenden) chaotischen Suchprozess in
den Schlafwandlern diskutiert wird. Zur Ohnmacht im Schloß gehört ebenso die vergebliche
Sinnsuche, wie es bei Schwab heißt: „nur das eitrige Beuschel versinkt in den Sachen“, wo-
mit auf eine analoge Suchbewegung verwiesen ist. Diese ‚aufgezwungene‘ Suche ist, wie ge-
schildert, auch ein Kern des Lefeu, wo sie explizit nach rückwärts gerichtet wird.
45 Und zwar sowohl bezogen auf eine traumatische Situation und einen möglichen, auf sie
folgenden Prozess als auch auf Erfahrungen, die diese Ordnung von Situation und Prozess
sprengen.
490 Schlussteil
gedacht werden können, das vom Vollzug von Ritualen bis zu komplexen
Denkoperationen reicht. Im Sinne eines Überblicks sei nun zumindest
stichwortartig (in Form einer Liste) dargestellt, welche Antworten versucht
wurden, ohne dass diese in funktionale und non-funktionale unterschieden
würden. Großteils werden Texte zur Illustrierung genannt. Die Begriffe
selbst können ein weites Feld abdecken, selbst bei zeit- oder epochennahen
Texten. Man vergleiche nur die völlig unterschiedliche Codierung von „Lie-
be“ als Antwort in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge oder in der
Verzauberung. Wie etwa am Beispiel des Schreibens, das für den vorliegen-
den Zusammenhang besonders interessiert, deutlich wird, können einzelne
Elemente doppelt strukturiert sein: dem Trauma des Schreibens steht das
Schreiben als Antwort auf traumatische Erfahrungen gegenüber.46 Mit Fi-
scher/Riedesser wäre die Erschütterung traumakompensatorischer Sche-
mata, also von solchen, die bereits auf traumatische Erfahrungen antworten,
als besonders gravierend anzusehen (s. o.).47
Die versuchten Antworten sind, um dies zumindest festzuhalten, auch in der
sogenannten realen, außerliterarischen Welt ein wesentlicher Teil des
traumatischen Prozesses, auf den m. E. auch psychotraumatologisch zu we-
nig eingegangen wird.48 Es geht dabei nicht um mögliche Lösungen, wohl
aber um den Hinweis auf kreative und konstruktive (einschließlich: fatale)
Tätigkeiten in traumatischen Prozessen, die sich von diagnostischen Diskur-
sivierungen und objektivierenden Verlaufsstudien abheben lassen. Es kann
im Folgenden nur um eine beispielhafte, vereinfachte Andeutung gehen. Die
literarische Skizzierung traumatischer Abwehrstrategien, die hier ebenfalls
im Feld der ‚Antworten‘ angeführt werden, reicht etwa von den Vorschlägen
zur Rationalisierung im Sandmann über die Umcodierung zur ‚Lernerfah-
rung‘ bis zur Skizzierung der Mechanismen von Opferbeschuldigung in ‚Ol-
gas Erzählung‘ im Schloß.
46 Betroffen ist der Prozess des Schreibens selbst. Dabei geht es nicht nur um ein Trauma des
Schreibens, sondern auch um Schreiben als Antwort auf das Trauma. Beides sind bekannte
Bilder (s. u.).
47 Antworten können selbst also, in dieser Terminologie, vom TKS zum TS übergehen. Damit
ist allerdings nur ein Aspekt des Traumas des Schreibens genannt (vgl. etwa die Ausführun-
gen oben zu Der Tod des Vergil, einem zentralen Text zu dieser Thematik).
48 Es geht um die Frage der Bandbreite des aktiven Umgangs mit traumatischen Erfahrungen.
Dabei ist nicht entscheidend, ob diese Antworten bewusst gesucht werden oder es sich um
einen notwendigen Umgang handelt, um unterschiedliche Adaptionsleistungen vor dem
Hintergrund der doppelten Struktur des Subjekts (als formendes und geformtes).
Schlussteil 491
49 Das Erhabene etwa wird also im Sinne einer semantischen Transformation als eine mögli-
che ‚Antwort‘ auf Trauma verstanden, mit Schillers selbständigem Geist und der bewussten
Akzeptanz der Ohnmacht als einer spezifischen Ausformung dieser Antwort (s. o.).
50 Das Erkennen wird teils ausgedehnt zu ‚Erlösungsfantasien‘, aufbauend auf dem christlichen
Narrativ. Während das Idiom „What doesn’t kill you makes you stronger“ aus psychotrau-
matologischer Sicht eindeutig zurückgewiesen wurde (vgl. Andreatta 2006 bzw. s. o.), bildet
der Gedanke der ‚Stärke‘ aus dem Trauma eine ‚breite Schicht‘ der Kulturgeschichte (vgl.
auch oben die Hinweise zu Traven 1982b).
51 Es wurde hier argumentiert, dass so eine Bewegung der Aufzeichnungen des Malte Laurids
Brigge fortgesetzt wird, die bereits einen spezifischen Ordnungsversuch darstellen.
52 Eine Frage ist, wie psychotraumatologische Abwehr, die dieser Umdeutung zur Lernerfah-
rung zugrunde liegt, etwa über eine gezielte Analyse (oder, si magis placet: analytische De-
konstruktion) produktiv weiterbearbeitet werden kann.
492 Schlussteil
55 S. bereits oben den Verweis auf Sperbers Romantrilogie Wie eine Träne im Ozean, wo diese
Thematik einen Kern bildet sowie zu Amérys Charakterisierung der ‚politischen‘ Überle-
benden als Variante der ‚religiösen‘.
494 Schlussteil
56 Diese ‚natürliche Ressource‘ bleibt auch bei B. Traven und darüber hinaus zentral.
57 In konträrer, geglückter Form finden sich solche Schreibszenen in Der Goldene Topf (Hoff-
mann 2015b, S. 229–321).
Schlussteil 495
lung von Leid, auf die Eigenlogik ästhetischer Systeme, auf eine ge-
nuin faschistische Ästhetik sowie auf die eigene Abgrenzung des
Dichters vom Realen im Sinne einer verfehlten Existenz. Die Thema-
tiken des Schreibens über Trauma und das Trauma des Schreibens
bilden, wie oben diskutiert, zwei Hauptsäulen in der Komposition
dieses Romans.
Man vergleiche aber auch das Scheitern des Schreibens in der in-
nerfiktionalen Tragödie Der Mensch bereits in den Nachtwachen
(mit dem Suizid des Dichters). Von Interesse ist dort die Anlage des
Textes als eben kein Produkt des Schreibens über Trauma, sondern
als bloße Beobachtungen eines vom Schreiben ‚geheilten‘ Nacht-
wächters. Die Aufzeichnungen/Beobachtungen erfolgen hier inner-
fiktional ohne Rezipient bzw. ohne eine fiktionale Ausgangskon-
struktion, die eine rezeptive Position ermöglichte. Nachvollziehbar
ist das über einen hier wiederholt besprochenen doppelten trauma-
tischen Riss.58
o Künstlerische Produktivität ist die lange anhaltende Antwort Le-
verkühns im Dr. Faustus, die einen (teils im Hintergrund stattfin-
denden) traumatischen Prozess begleitet, der in der desemantisier-
ten Klage aufgelöst wird.
58 Die Szene im Nonnenkloster etwa (s. o.) entspricht dem aristotelischen „miarón“. Dem kann
keine Sinnproduktion gegenübertreten, sondern nur ‚prometheischer Trotz‘.
59 Vgl. zu den Fluchten in Anton Reiser Hollmer/Meier 2006, S 984.
496 Schlussteil
60 Während dieses Ordnungsmuster zwar nicht im Sinne der ICD einer (statischen) „Persön-
lichkeitsstörung“ entspricht (s. o.), scheint die Unterscheidung zwischen einem (hyposta-
sierten) ‚Kern des Ich‘ und einem traumatischen Prozess dennoch deutlich aufgehoben.
Schlussteil 497
• Die Geste der Anklage und das literarische Insistieren auf die Psychopa-
thologie der Täter – Schreiben wider das Vergessen – verbindet die Poe-
tik Amérys und Bernhards (vgl. besonders Bernhards Ursache). Es geht
etwa bei Améry mit dieser Geste auch um eine bewusste Fokussierung
auf einen problematischen gesellschaftlichen Umgang mit Opfern und
Tätern, der psychotraumatologisch unter dem Stichwort der Opferbe-
schuldigung (als Abwehr) diskutiert wird. Das Anschreiben gegen Nor-
malisierungsstrategien ist Teil einer Antwort, wie sie im Abschnitt zu
den autobiographischen Romanen diskutiert wurden. Man denke hier
auch an die literarische Ermöglichung verschiedener Formen von Tes-
timony.
• Die Codierung von Antwortlosigkeit beginnt spätestens mit dem Sand-
mann, wo die Unmöglichkeit einer ‚normalen‘ alternativen Existenz als
final konzipiert ist. Sich drehen und winden ohne Stabilität ist deutlich
bei Kafka und Broch,61 aber auch im wiederholten Codieren des Wun-
sches, ein anderer werden zu wollen, bei Novak. Als Endpunkt erschei-
nen hier Formen des Suizids und der Selbstzerstörung.
61 Explizit, wenn auch symbolisch, wird diese Drehbewegung bereits im Sandmann über
Nathanaels Schrei artikuliert, der durch Verdoppelung intensiviert ist: „Feuerkreis dreh’
dich – Feuerkreis dreh’ dich“ (Hoffmann 2009a, S. 49, Herv. im O.).
Literarische Antworten auf Traumatisierungen
498
Detaillierte Ebene: Die folgenden Antworten werden teils simultan als kompensatorisch und als traumatogen dargestellt
Liebe und Nächstenliebe Phantasien der Aufhebung der traumatischen Situation Geste des Anklagens
Mit hoher Spannung in diesen Antwortversuchen Imagination alternativer Realitäten Anschreiben gegen Normalisierung
5. Methodisches Feld
Für die poetische Auseinandersetzung mit Trauma führt, sehr verkürzt dar-
gestellt, der Weg von der traditionellen Symbolisierung, mit den Eckpfeilern
Allegorie, Metapher und Symbol, über postautonome Repräsentationsver-
fahren des 19. Jahrhunderts zu modernen Verweisstrukturen, jenseits des
unmittelbaren Symbols, jenseits von Abbildung und Kausalität und jenseits
von l’art pour l’art. Die (einzelnen) verwendeten Verfahren selbst sind zahl-
reich, sie weisen zunehmend und grenzüberschreitend über traditionelle
Genres hinaus, lassen sich aber noch in diesem übergreifenden Interagieren
vor gattungsspezifischen Hintergründen beobachten. 62
Wenn hier einige Beispiele genannt werden, dann ist das wieder kein Ersatz
für die Einzelanalysen, die jeweils in einen bestimmten Kontext eingebun-
den sind. Was wurde beobachtet? Es geht weniger um die immer wieder
neuen Mittel, um die sich die literarische Moderne bemühte, als darum,
zumindest einen exemplarischen Einblick in die Vielfalt anzubieten. Das oft
betriebene verhüllende Enthüllen oder auch enthüllende Verhüllen ist dabei
nicht als Aufbrechen oder Wiederkehr von Verdrängtem zu verstehen, son-
dern als künstlerische Auseinandersetzung. Das Ringen um Sagbarkeit rich-
tet sich in den hier besprochenen Texten großteils gegen (literarische oder
diskursive) Reduktion, gegen Modelle einer Psychomechanik und hält sehr
unterschiedliche Aspekte des ‚Erlebens‘ von traumatischen Situationen und
Prozessen fest. Die nun folgenden, in fünf Gruppen gegliederten Beispiele
sollen von der Vielfalt literarischer Möglichkeiten berichten. Richtig ver-
standen werden können sie, wie betont, nur im Kontext, was in den einzel-
nen Kapiteln zu leisten versucht wurde. Es lassen sich in diesem Sinn
exemplarisch folgende Verfahren nennen: 63
62 Man denke nur an Kellers verdichtete Winternacht, Rilkes Prosabuch als Muster eines mo-
dernen lyrischen Romans, an Schwabs komplexe Nutzung der Dramatik oder an Scha-
lanskys relativ geschlossene Erzählung.
63 In Klammer hinzugefügte Verweise auf Autoren oder Texte sind nicht ausschließlich zu
verstehen. Nähere Informationen finden sich in den betreffenden Abschnitten.
500 Schlussteil
64 Vgl. die Figur des Holl, die jenseits des autobiographischen Ich gehalten wird, wobei der
formale ‚Entzug‘ des Ich mit der Verdinglichung korrespondiert.
65 Zu extensivierenden vs. intensivierenden, die Komplexität steigernden und reduzierenden
Verfahren s. auch die Einleitung.
Schlussteil 501
• Transhistorische Arbeit mit Intertexten (Der Tod des Vergil, an die Jo-
seph-Tetralogie anschließend);
• chronologische Re-Organisation: räumliche Ausdehnung chronologi-
scher Prozesse (Malte-Roman);66
• transformierende Rückgriffe (Poetik Rilkes, Dr. Faustus);
• sich radikal öffnende Bedeutung durch sprachliche Präzisierung (Kel-
lers Winternacht).67
66 Eine ausführliche Beschreibung dieses Verfahrens stammt von Beda Allemann. Der Grund-
gedanke ist ganz offensichtlich den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge entnommen
und wurde von ihm als dramaturgisches Modell für Kleist ausgearbeitet (vgl. Allemann
2005).
67 Vgl. auch die konstitutive Polysemie im Sinne eines Anlegens verschiedener Fäden zur
rezeptiven Weiterbearbeitung in der Poetik Kleist sowie die oben beschriebene, spezifische
Sprach-Technik in Bernhards Die Ursache.
502 Schlussteil
68 Als zentrale Mittel Kleists könnten etwa angeführt werden: Transgression (Gewalt, Ohn-
macht, Sprachlosigkeit etc.), Erzeugung differenter Bedeutungen (Anlegen komplexer Spu-
ren) und ein raffiniertes Ausblenden von Prozessen. Dazu kommt für zahlreiche Figuren ei-
ne ambivalente Schwebeposition zwischen Erhöhung und Fall.
69 Améry hielt dem Argumente entgegen, die sichtlich von den (im weiteren Sinne psychoana-
lytischen) Ich-Konzepten geprägt sind, wie sie oben für die 1970er diskutiert wurden. Et-
was plakativ gefasst, spricht er vom potentiellen Verrat am Selbst.
Schlussteil 503
70 Die Spannbreite reicht vom ersten bis zum letzten hier untersuchten Text; s.o. zur Wieder-
holung bei Hölderlin und zu Selbstreproduktion bei Schalansky. Zum Subjektdiskurs vgl.
Reckwitz 2006 und 2012 bzw. s. o.
71 In den einzelnen Auflagen des LdP ist eine Weiterentwicklung dieses Gegensatzes feststell-
bar, dem allerdings als Teil der Beschreibungssprache eine nicht unwesentliche Funktion
zukommt.
72 Einen zentralen Einschnitt stellt für diesen Kontext die Rezeption von Freuds Schrift Das
Unbehagen in der Kultur durch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule dar. Spätestens
mit Bourdieus Konzept des Habitus und Luhmanns Systemtheorie zeigt sich die traditionelle
Trennung als obsolet.
504 Schlussteil
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
H. Grugger, Trauma – Literatur – Moderne,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-21102-8
506 Literaturverzeichnis
Tortur, (S. 51–81), Wie viel Heimat braucht der Mensch (S. 82–113),
Ressentiments (S. 114–144), Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu
sein (S. 145–173).
KA = Rilke, Rainer Maria (1996–2003): Werke. Kommentierte Ausgabe in
vier Bänden [mit einem Supplementband]. Hrsg. v. Manfred Engel, Ul-
rich Fülleborn, Horst Nalewski und August Stahl. Frankfurt am Main:
Insel. KA 1: Gedichte 1895 bis 1910. Hrsg. von Manfred Engel und Ul-
rich Fülleborn. KA 2: Gedichte 1910 bis 1926. Hrsg. von Manfred Engel
und Ulrich Fülleborn. KA 3: Prosa und Dramen. Hrsg. von August Stahl.
KA 4: Schriften zu Literatur und Kunst. Hrsg. von Horst Nalewski.
Khm = Wolf, Christa (1979): Kindheitsmuster (s. 2).
KKA = Kafka, Franz (2002): Schriften. Tagebücher. Kritische Ausgabe. Hrsg.
von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcom Pasley und Jost Schille-
meit unter Beratung von Nahum Glatzer, Rainer Gruenter, Paul Raabe
und Marthe Robert. KKAD: Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. von Wolf Kitt-
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Pasley. KKAV: Der Verschollene. Hrsg. von Jost Schillemeit.
KW: Broch, Hermann (1974–1981): Kommentierte Werkausgabe in 13 Bän-
den. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
KW 1: Die Schlafwandler. KW 3: Die Verzauberung. KW 4: Der Tod des
Vergil. KW 5: Die Schuldlosen. KW 9/2: Schriften zur Literatur. KW 10
1/2: Philosophische Schriften. KW 12: Massenwahntheorie. KW 13 1/2:
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L = Améry, Jean (2007a): Lefeu (s. 2).
LdP: Fischer, Gottfried; Riedesser, Peter (2009): Lehrbuch der Psychotrau-
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Lz = Büchner, Georg (2001): Lenz (s. 2).
MaR: Materialien zu Rainer Maria Rilke ‚Die Aufzeichnungen des Malte Lau-
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rie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, 30.8.1910 (S. 83–85), An Lili
Schalk, 14. 5. 1911 (S. 85–87), An Fräulein A. Baumgarten, 27.6.1911 (S.
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MH: Schwab, Werner (2007b): Mein Hundemund (s. 2).
Nw: Bonaventura (E.A.F. Klingemann) (2003): Nachtwachen (s. 2).
PTBS = Posttraumatische Belastungsstörung (ICD GM).
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2. Primärliteratur und Quellen 507
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4: Antonovsky, Aaron (1997)).
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Filme Creative Pool/Wega Film et al. 144 Min.
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104 Min.
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Damon. USA: Lawrence Bender Productions. 126 Min.
Herbstmilch (1989). Regie Joseph Vilsmaier. Drehbuch: Peter Steinbach. D:
Perathon Film. 107 Min.
James Bond 007: Casino Royale (2006). Regie: Martin Campbell. Drehbuch:
Neal Purvis, Robert Wade, Paul Haggis. UK/USA/D/CZ: Eon Produc-
tions. 144 Min.
Person of Interest (2011–2016). TV-Serie. 5 Staffeln, 103 Folgen. Idee: Jo-
nathan Nolan. USA: Bad Robot Productions. Laufzeit: 43 Min.
Schindlers Liste (1993). Regie: Steven Spielberg. Drehbuch: Steven Zaillian.
USA: Amblin Entertainment. 197 Min.
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Der Österreichische Film. Edition Der Standard, 5. Hoanzl 2006).
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Min.
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Singer. USA: Open Road Films. 129 Min.
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leigh, Michael France. USA: Artisan Entertainment.
Trainspotting (1996). Regie: Danny Boyle. Drehbuch: John Hodge. UK: Chan-
nel Four Films. 93 Min.
Whatever Works (2009). Regie und Drehbuch: Woody Allen. USA: Gravier
Productions. 92 Min.
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