Sie sind auf Seite 1von 3

Methoden

44

Isotherme Titrationskalorimetrie (ITC) Die Kenntnis der Bindungskonstanten


K ermöglicht eine objektive Beurteilung der
zur Charakterisierung biomolekularer Stärke einer Interaktion zwischen zwei Bio-
molekülen. Der Vergleich mit konkurrie-
renden Bindungspartnern oder verschiede-
Wechselwirkungen nen Zuständen der Bindungspartner (Phos-
phorylierung etc.) definiert die Spezifität der
Gerrit J. K. Praefcke1 und Christian Herrmann2
Wechselwirkung und damit ihre physiolo-
1Zentrum für Molekulare Medizin, Universität zu Köln, 2Physikalische Chemie 1, gische Bedeutung. Darüber hinaus erlauben
die gemessenen Enthalpie- und Entropie-
Ruhr-Universität Bochum änderungen Rückschlüsse auf die moleku-
laren Grundlagen der Wechselwirkung[1].
Mit der Kalorimetrie wird die Enthalpie-
 Kalorimetrie ist ein klassisches Verfahren, Auch komplizierte biologische Prozesse änderung direkt und daher sehr präzise er-
um chemische Reaktionen quantitativ zu beruhen meistens auf der Bildung eines halten und gleichzeitig auch die abgeleite-
untersuchen und sie thermodynamisch zu Komplexes zwischen zwei Partnern: ten Größen wie die Änderung der Entropie
beschreiben. Jede Reaktion ist mit einer und der Wärmekapazität[2]. Darüber hinaus
Enthalpie-Änderung (∆H) verbunden, das A + B O AB ergibt die Auswertung einer kalorimetri-
heißt Wärme wird an die Umgebung abge- schen Titration auch die stöchiometrische
geben (exotherme Reaktion) oder von ihr Die Gleichgewichtslage dieses Komple- Zusammensetzung eines Komplexes, lässt
aufgenommen (endotherme Reaktion). Die- xes ist durch die Bindungskonstante K de- also beispielsweise erkennen, ob ein Protein
se universelle Eigenschaft ist unabhängig finiert, die auch als Affinität bezeichnet wird: eine oder zwei Bindungsstellen für einen be-
von der Größe der Moleküle, sodass alle che- stimmten Liganden aufweist. Solche kom-
[ΑΒ]
mischen und biochemischen Reaktionen un- K= plexeren Interaktionen können dann auch
[Α] ⋅ [Β]
tersucht werden können. Dies schließt die bezüglich kooperativer Eigenschaften oder
Bildung von Komplexen zwischen Prote- Diese Konstante ist durch fundamentale bezüglich ihrer Kopplung an andere Gleich-
inen, DNA, Lipiden oder niedermolekula- Gleichungen mit der freien Reaktionsen- gewichte oder dritte Interaktionspartner ana-
ren Biomolekülen ein, die zumeist auf nicht- thalpie ∆G verknüpft, die wiederum aus der lysiert werden[3]. Insbesondere die durch ei-
kovalenten Bindungen beruhen. Ein wei- Reaktionsenthalpie ∆H und der Reaktions- ne Interaktion hervorgerufene Verschiebung
terer Vorteil dieser Methode ist, dass weder entropie ∆S zusammengesetzt ist: von Protonierungsgleichgewichten be-
Immobilisierung noch Markierung der Re- stimmter Aminosäureseitenketten, die auf
aktionspartner erforderlich ist. –RT lnK = ∆G = ∆H–T∆S die Stärke der Bindung oder auf die kataly-

A
B

Abb. 1: (A) Schema eines isothermen Titrationskalorimeters. Die roten und blauen Pfeile repräsentieren den exakt equilibrierten Wärmefluss von der elek-
trischen Heizung (rot) zu der Referenz- und der Probenzelle und von dort zur kühleren Umgebung (blau). Kleinste Temperaturänderungen (∆ ∆T) zwischen den
beiden Zellen werden detektiert und durch Änderung der Heizleistung kompensiert. (B) Typisches ITC Experiment. Zu Beginn wurden 54 µM des Ras-Effek-
tors RalGDS in die Probenzelle und 700 µM Ras in die Spritze vorgelegt. Im oberen Teil führen die Injektionen von Ras im Abstand von 4 Minuten zu jeweils
negativen Peaks in der Heizleistung, die aufgrund zunehmender Sättigung des Komplexes Ras-RalGDS immer kleiner werden. Offensichtlich ist diese Reak-
tion exotherm. Der untere Teil zeigt die Auswertung der Daten, die für den Komplex Ras-RalGDS eine Affinitätskonstante von 7 · 105 M–1 und eine Reak-
tionsenthalpie von – 12 kcal/mol ergibt.

BIOspektrum · 1/05 · 11. Jahrgang


Methoden
46

tische Wirksamkeit der beteiligten Protei- Konzentrationen benötigt, sodass hier die träge der einzelnen Aminosäuren, die sich in
ne einen großen Einfluss haben, ist mit die- Verfügbarkeit oder Löslichkeit der Prote- der Kontaktfläche zwischen den beiden Pro-
ser Methode vielfach untersucht worden[4]. ine limitierend werden kann. Homogene teinen befinden, ist mit Hilfe kalorimetri-
Komplexe, wie zum Beispiel Proteindimere scher Messungen durchgeführt worden[9].
Grundlagen der ITC oder Micellen lassen sich durch Messung der Sie zeigt eine heterogene Verteilung der Bin-
Dissoziation untersuchen[6, 7]. Die dafür not- dungsenergie auf die einzelnen Aminosäu-
In Abbildung 1A ist die Funktionsweise eines wendigen Verdünnungsexperimente können rereste (Abb. 2A), wobei sich die relativ gro-
isothermen Titrationskalorimeters schema- mittels ITC direkt durchgeführt und ausge- ßen enthalpischen und entropischen Beiträ-
tisch dargestellt. Es besteht aus einer Refe- wertet werden. Sogar die Messung von Re- ge der einzelnen Aminosäuren zum größ-
renz- und einer Probenzelle, zwischen de- aktionsgeschwindigkeiten ist innerhalb be- ten Teil kompensieren (Abb. 2B und C). Ei-
nen eine sehr kleine und genau messbare stimmter Grenzen möglich, welche durch ne solche Enthalpie/Entropiekompensation
Temperaturdifferenz besteht. In der Pro- die Antwortzeit des Kalorimeters von meh- ist typisch für biomolekulare Wechselwir-
benzelle wird eine Lösung mit dem Bin- reren Sekunden gesetzt werden, wie an dem kungen, die auf der Bildung von Ionenpaa-
dungspartner B vorgelegt, während die Lö- zeitlichen Verlauf der Änderung der Heiz- ren, Wasserstoffbrücken und van der Waals
sung des Interaktionspartners A in die Sprit- leistung in Abbildung 1B zu sehen ist. Wechselwirkungen beruhen und die gegen
ze gefüllt wird. Aus dieser erfolgen schritt- Effekte veränderter Solvatation und Be-
weise Injektionen in die Probenzelle hinein, Anwendung bei Proteinkomplexen weglichkeit der Moleküle aufgerechnet wer-
sodass B mit A vermischt und der Komplex den müssen.
AB gebildet werden kann. Die Referenzzelle Die Untersuchung der Wechselwirkungen Ein anderes Beispiel zeigt (siehe Abb. 3),
wird nur mit Puffer gefüllt und fest ver- des kleinen GTP-bindenden Proteins Ras wie die Untersuchung von komplexen Bin-
schlossen. Sie dient als Referenzpunkt für mit den zahlreichen Effektorproteinen zeigt, dungsreaktionen die Spezifität der Bin-
die empfindliche Messung einer Tempera- dass trotz großer struktureller Ähnlichkeit dungspartner in ihrem biologischen Kontext
turänderung, die in der Probenzelle statt- der Ras/Effektorkomplexe deutliche Unter- erklären kann[10]. Die an der Endozytose be-
findet. Beide Zellen weisen eine höhere schiede in der Affinität dieser Komplexe und teiligten Proteine Epsin1 und Eps15 verfü-
Temperatur als die sorgfältig thermostati- in den jeweiligen Beiträgen der Enthalpie- gen über mehrere kurze Bindungsmotive für
sierte Umgebung auf, sodass beide Zellen und Entropie-Änderungen bestehen[8]. Ei- eine Domäne des AP2 Adapterkomplexes
jeweils mit einem kontrollier- und messba- ne Mutationsanalyse der energetischen Bei- und konkurrieren in der Zelle mit anderen
ren Heizstrom versorgt werden, um ihre Proteinen um die Bindung. Die
Temperatur konstant (isotherm) zu halten. Titrationskurven zeigen, dass
Nach jeder Injektion aus der Spritze führt beide Proteine über eine hoch
die Bildung des Komplexes AB zu einer zu- affine und zwei bis drei niedrig
sätzlichen Wärmeaufnahme oder -abgabe affine Bindungsstellen für AP2
der Probe. Das Kalorimeter reagiert darauf verfügen. Das erlaubt Eps15
mit einer entsprechenden Erhöhung oder und Epsin1 andere Bindungs-
Absenkung der elektrischen Heizleistung, partner von AP2 zu verdrängen,
um die Temperatur in der Probenzelle ab- wenn sie in großer Dichte an der
solut konstant zu halten. Diese Spitzen der Plasmamembran vorliegen und
Heizleistung sind im oberen Teil der Abbil- damit die Chance zur Vernet-
dung 1B erkennbar. Durch Integration wird zung bieten. Gleichzeitig kann
die frei gesetzte Wärmemenge erhalten, die man bei Kenntnis der relativen
im unteren Teil der Abbildung 1B gegen das Konzentrationen der Proteine
steigende Verhältnis der Konzentrationen vorhersagen, welcher der mög-
von A und B aufgetragen wird. Durch An- lichen Komplexe in der Zelle am
passen einer theoretischen Kurve an diese häufigsten vorliegt.
Daten werden die Bindungskonstante K des
Komplexes AB, dessen Bildungsenthalpie
∆H sowie seine stöchiometrische Zu-
sammensetzung erhalten. Mit Hilfe der oben
Abb. 2: Die energetischen
angegebenen Gleichungen kann auch die Beiträge einzelner Aminosäure-
Änderung der Entropie ∆S berechnet wer- Seitenketten zur Wechselwir-
den. Durch Messung von ∆H bei verschie- kung zwischen Ras und seinem
denen Temperaturen wird außerdem die Än- Effektorprotein RalGDS wurden
durch kalorimetrische
derung der Wärmekapazität ∆Cp bei Bildung Messungen mit den jeweiligen
des Komplexes erhalten. Alanin-Mutanten quantifiziert
Die Empfindlichkeit heutiger Titrations- und hier auf den Kontaktflä-
kalorimeter erlaubt die Verwendung von chen der beiden Proteine (je 90°
zum Betrachter gedreht) durch
Konzentrationen in der Probenzelle (etwa
einen Farbcode dargestellt. Die
1,5 ml) hinunter bis 2 – 5 µM. Das bedeu- Änderungen in der freien Reak-
tet, dass Affinitätskonstanten bis zu 108 M–1 tionsenthalpie (∆∆∆G), der
genau bestimmt werden können. Durch Enthalpie und der Entropie, die
Verdrängungsexperimente mit geeigneten sich durch die jeweilige Alanin-
Mutation im Vergleich zum
Liganden kann dieser Bereich sogar bis K = Wildtyp ergeben, sind rot für
1011 M–1 erweitert werden[5]. Für schwache positive Beiträge zur Interak-
Komplexe (K < 105 M–1) werden höhere tion und blau für negative.

BIOspektrum · 1/05 · 11. Jahrgang


Methoden
47

molekularer Interaktionen enorm vorange- [5] Ohtaka, H., Velazquez-Campoy, A., Xie, D.,
bracht. Zusammen mit thermodynamischen Freire, E. (2002): Overcoming drug resistance in HIV-1
chemotherapy: the binding thermodynamics of Ampre-
Daten, die vor allem mit Hilfe der ITC er- navir and TMC-126 to wild-type and drug-resistant mu-
halten werden, wird auch zunehmend der tants of the HIV-1 protease. Protein Sci. 11: 1908–1916.
quantitative Zusammenhang von Struktur [6] Heerklotz, H., Seelig, J. (2000): Titration
und Bindungsenergie nicht-kovalenter calorimetry of surfactant-membrane partitioning and
Komplexe deutlich. So wird zum Beispiel membrane solubilization. Biochim. Biophys. Acta. 23:
69–85.
durch Berücksichtigung detaillierter Bin-
[7] Keller, M., Kerth, A., Blume, A. (1997): Thermo-
dungsdaten pharmakologisch interessanter dynamics of interaction of octyl glucoside with phos-
Leitstrukturen die Validierung und weitere phatidylcholine vesicles: partitioning and solubilization as
Optimierung dieser Substanzen ermöglicht. studied by high sensitivity titration calorimetry. Biochim.
In Zukunft wird es darauf ankommen, die Biophys. Acta. 1326: 178–192.
Kombination struktureller und energetischer [8] Rudolph, M. G., Linnemann, T. Grünewald, P.
Wittinghofer, A., Vetter, I. R. and Herrmann, C.
Daten weiter auszubauen und sie zu nutzen, (2001): Thermodynamics of Ras/effector and Cdc42/ef-
um theoretische Methoden zur Berechnung fector interactions probed by isothermal titration
und Vorhersage biomolekularer Interaktio- calorimetry. J. Biol. Chem. 276: 23914–23921.
nen zu entwickeln und zu verbessern. [9] Kiel, C., Serrano. L., Herrmann, C. (2004): A de-
tailed thermodynamic analysis of ras/effector complex in-
terfaces. J. Mol. Biol. 23: 1039–1058.
Danksagung
[10] Praefcke G. J. K., Ford M. G. J., Schmid E. M.,
Olesen L. E., Gallop J. L., Peak-Chew S. Y., Vallis
Abb. 3: Vergleich der Titrationen der AP2 Wir danken der Deutschen Forschungsge- Y., Babu M. M., Mills I. G., McMahon H. T. (2004):
bindenden Domänen von Eps15 (Blau) und Evolving nature of the AP2 alpha-appendage hub during
meinschaft, der Europäischen Union (Marie
Epsin1 (Rot) mit ihrem Bindungspartner, einer clathrin-coated vesicle endocytosis. EMBO J. 23:
Domäne der α-Untereinheit des AP2 Komplexes. Curie Programm) und der VW-Stiftung für
4371–4383.
Gut erkennbar verfügen beide Proteine über eine die Unterstützung unserer Forschungsarbeit.
hoch affine Bindungsstelle für AP2, die in den
ersten Titrationsschritten gesättigt wird, bevor
die anderen, niedrig affinen Bindungsstellen Literatur Korrespondenzadresse:
besetzt werden.
[1] Luque, I., Freire, E. (1998): Structure-based predic- Prof. Dr. Christian Herrmann
tion of binding affinities and molecular design of peptide Ruhr-Universität Bochum
ligands. Methods Enzymol. 295: 100–127. Physikalische Chemie I
Ausblick
[2] Leavitt, S., Freire, E. (2001): Direct measurement Arbeitsgruppe Protein-Interaktionen
of protein binding energetics by isothermal titration Fakultät für Chemie
Die abgeschlossenen Genomprojekte haben calorimetry. Curr. Opin. Struct. Biol. 11: 560–566. Universitätsstraße 150
die Möglichkeit geschaffen, mit Hilfe von D-44780 Bochum
[3] Hellmann, N., Jaenicke, E., Decker, H. (2001):
Hochdurchsatztechniken auch auf der Ebe- Tel.: 0234-32-24173
Two types of urate binding sites on hemocyanin from the
crayfish Astacus leptodactylus: an ITC study. Biophys. Fax: 0234-32-14785
ne des Proteoms die komplexe Vielfalt bio- chr.herrmann@rub.de
Chem. 90: 279–299.
logischer Wechselwirkungen zu analysieren.
Ebenso hat die schnell zunehmende Zahl [4] Jelesarov, I., Bosshard, H. R. (1994): Thermody-
namics of ferredoxin binding to ferredoxin:NADP+ reduc-
dreidimensionaler Strukturen von Proteinen tase and the role of water at the complex interface. Bio-
und ihren Komplexen unser Verständnis bio- chemistry 33: 13321–13328.

Das könnte Ihnen auch gefallen