INHALT

Einleitung 4
SEKUNDÄRZIEL 6
„Agent“ 10
Akuchi 14
Cayman 18
Elijah 22
Haze 26
Kellan Colt 30
Kommando Konwacht 34
Ma’fan 42
TASCHENSPIELERTRICKS 46
Marcos 50
Mika 54
Puck 58
Rigger X 62
Serrin Shamandar 66
DAS TODESSPIEL 72
Sticks 76
Thorn 80
Tommy Talon 84
Winterhawk 88
SECHSMAL STARB ICH 92
William „Bull“ MacCallister 96
Hannibelle 100
Hans Brackhaus 104
Jonathan Blake 110
Kia 114
Tess van Hama 118
Yankee 122
LOSE ENDEN 126
Cerberus 130
Hestaby 134
Kaltenstein 140
Lofwyr 144
Lugh Surehand 150
Martin de Vries 154
Monika Stüeler-Waffenschmidt 158
ICH BIN LEGION 162
Nadja Daviar 166
Nebelherr 172
Rael Whiteoak 176
Richard Villiers & Miles Lanier 180
PRESTIGE 188
GESCHICHTEN VON MORGEN 193

2 Straßenlegenden
IMPRESSUM
TEXTE
Patrick Goodman, Jason M. Hardy, Steven Kenson, James
Meiers, Devon Oratz, Steven “Bull” Ratkovich, Scott
Schletz, Brandie Tarvin, Malik Toms, Michael Wich, Robert
Wieland, Russell Zimmerman
REDAKTION
Jason M. Hardy, Kristin Pomykala
ZUSATZTEXTE DER DEUTSCHEN AUSGABE
Peer Bieber, Lars Blumenstein, Martin Schmidt
ILLUSTRATIONEN
Victor Perez Corbella, Arndt Drechsler, Nate Furman, Phil
Hilliker, Levi Hoffmeier, Jason Juta, Ian King, David Lecossu,
Aaron Miller, Raven Mimura, Mark Molnar, Alessandra Pi-
sano, Ryan Portillo, Steve Prescott, Caleb Salisbury, Andreas
“AAS” Schroth, Andrew Silver, John Stanko, Christophe Swal,
Péter Tikos, Chris Wilhelm, Eric Williams, Kunrong Yap
ZUSATZILLUSTRATIONEN
DER DEUTSCHEN AUSGABE
Luisa Preißler, Klaus Scherwinski, Andreas „AAS“ Schroth

COVERGESTALTUNG
ENTWICKLUNG Ralf Berszuck
Jason M. Hardy

LEKTORAT
DEUTSCHE CHEFREDAKTION Patrick Goodman, Lars Wagner Hansen, Mason Hart, James
Tobias Hamelmann Meiers, Devon Oratz, Steven “Bull” Ratkovich, Jeremy Wey-
and, Michael Wich, Russell Zimmerman

ÜBERSETZUNG
Manfred Sanders LEKTORAT DER DEUTSCHEN AUSGABE
Tobias Hamelmann, Benjamin Plaga

SATZ DER DEUTSCHEN AUSGABE

Ralf Berszuck Pegasus Spiele GmbH,
Straßheimer Str. 2, 61169 Friedberg, unter Lizenz von
Catalyst Game Labs und Topps Company, Inc.
ÜBERARBEITETES DESIGN © 2012 Topps Company, Inc.
Ralf Berszuck, Rita Geers Alle Rechte vorbehalten.
Shadowrun und Topps sind Handelsmarken und/oder
eingetragene Marken von Topps Company, Inc.
ART DIRECTION in den USA, in Deutschland und/oder anderen Staaten.
Catalyst Game Labs ist eine Handelsmarke von
Brent Evans InMediaRes Productions, LLC.

INNENLAYOUT
Matt Heerdt
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Luisa Preißler, Klaus Scherwinski

Straßenlegenden 3
 EINLEITUNG
GEPOSTET VON: FASTJACK
Ich habe in letzter Zeit ein paar interessante Unterhaltungen mit mir
EINLEITUNG
selbst geführt, in denen ich mir die Gründe für diese Datensammlung
dargelegt habe. Grund Nummer eins: Wir waren alle schon mal an
einem Punkt, wo wir alles und jeden gehasst haben. Wo wir überzeugt
waren, dass die glücklichsten Menschen auf dieser gottverdammten
Welt die sind, die keine anderen Menschen brauchen. Wo wir nur
sahen, wie Schmerzen, Elend und sonstiger Blödsinn allein dadurch
entstehen, dass Menschen eben Menschen sind. Und in einer solchen
Welt sollte man besser wissen, wer da sein Unwesen treibt, wer die
Fäden zieht und wer was macht, denn das werden die Leute sein, die
einen aufs Kreuz legen. Egal, ob man einen großen Bogen um sie ma-
chen oder sie aus dem Weg räumen will – so oder so ist man am besten
beraten, wenn man weiß, was sie können und wozu sie fähig sind.
Aber an besseren Tagen bin ich schon mal eher bereit, Menschen
zu akzeptieren, die nicht ich sind. Dann sehe ich einen Nutzen
für sie. Ich habe meine eigenen Talente, natürlich, aber
es gibt viele andere Menschen, deren Fähigkeiten mir
bei meiner Arbeit von Nutzen sein können. Oder
sie können mich dafür bezahlen, Dinge zu tun,
für die sie selbst nicht die nötigen Talente oder
einfach nicht die Zeit haben. Und wenn ich
mit diesen Leuten arbeite, ist es hilfreich zu
wissen, was sie für Fähigkeiten haben, wie
ihr Stil aussieht und wie ich zu ihrem Modus
Operandi passe. Es gehört einfach zum Ge-
schäft, dass ich darüber auf dem Laufenden
bin, was sie tun.
Aber lassen wir beide Argumente mal ei-
nen Augenblick beiseite und denken nicht ans
Geschäft. Denken wir mal nicht an Leute, die uns viel-
leicht helfen oder gefährlich werden können – denken wir an
Leute, die schlicht und einfach interessant sind. Ich habe in meinem
Leben schon viele Leute getroffen, und manche davon waren so lang-
weilig, dass man sich lieber eine Doku über Biedermeiermöbel
ansehen als sich mit ihnen abgeben möchte. Aber dann gibt es
wiederum Menschen, die sind so interessant, dass immer dann,
wenn ihre Kollegen bei ein paar Drinks über die Arbeit und
ihre Pläne plaudern, unweigerlich ihr Name genannt wird
und jeder etwas dazu zu erzählen hat. Es gibt so viele gute
Geschichten über diese Menschen – und Fragen zu dunk-
len Punkten in ihrer Vergangenheit und Gegenwart –, dass
man einfach nicht anders kann, als über sie zu reden.
Ich mag eine ausgiebige Plauderei genauso gern wie ihr
alle, und mit diesem Hintergedanken habe ich auch die fol-
LEGENDEN SPIELEN
Die Werte, die für die Charaktere in diesem Buch angegeben
werden, spiegeln in der Regel ihren legendären Status wider. Es
gibt aber auch einige Charaktere, die nicht deshalb legendär sind,
weil sie so übermäßig mächtig sind, sondern weil sie mehr durch
ihre Nerven, ihren Mut, ihr Glück oder irgendeine andere un-
greifbare Qualität aus der Masse herausragen als allein durch ihre
Attribute. Um dies im Spiel wiederzugeben, kann der Spielleiter
die alternativen Regeln der „Cinematischeren Spielumgebung“
(SR4, S. 98) auf alle Charaktere anwenden, wenn er diese Cha-
4 Shadowrun 4 einbringt.
raktere ins Spiel
gende Sammlung
zusammengestellt,
die Beiträge vieler
alter und neuer
Freunde enthält. Es
ist natürlich keine
vollständige Liste der interessantesten
Leute der Sechsten Welt, auch keine Auflistung aller Personen, die auf
ihrem jeweiligen Gebiet die Besten sind. Es ist eine Datensammlung
von Individuen, über die man redet – Gutes oder Schlechtes. Einige
von ihnen streben nach Höherem und werden sich früher oder spä-
ter unweigerlich in globalem Maßstab bemerkbar machen (oder tun es
schon), während andere damit zufrieden sind, mit dem Hintergrund zu
verschmelzen und ihr Ding durchzuziehen. In dieser Sammlung haben
wir einen berühmten Romanautor mit einem geheimen Doppelleben;
eine Legende, die eine ziemlich finstere Zeit hinter sich hat, jetzt aber
anscheinend wieder auf dem Weg ins Licht ist; einen Kunstschützen; ei-
nen Motorrad fahrenden Draufgänger; und eine ganze Reihe von Leu-
ten, die das eine oder andere zu verbergen haben. Sie werden nicht allzu
glücklich sein, dass ihre schmutzige Wäsche hier an die Öffentlichkeit
gezerrt wird, aber ich schätze, sie werden drüber hinwegkommen. Denn
wer ist nicht gern die Hauptperson in einer Geschichte, die so interes-
sant ist, dass man gar nicht anders kann, als sie weiterzuerzählen?
Seht euch diese Kollektion an und benutzt die Informationen, um
Kontakte herzustellen, der Konkurrenz einen
Schritt voraus zu sein oder um einfach
nur ein paar interessante Ge-
schichten zu hören. Ich den-
ke, das alles sind triftige
Gründe.
Wenn der Spielleiter diese Regeln systematischer anwenden
will, dann können Charaktere, wenn sie 500 Karmapunkte ange-
sammelt haben, 100 Karmapunkte ausgeben, um Legendensta-
tus zu erlangen, was bedeutet, dass sie bei Proben Erfolge erzie-
len, wenn sie eine 4, 5 oder 6 würfeln.
Eine Anmerkung zu Zaubersprüchen
Für jeden magiebegabten Charakter wird eine Liste von Zauber-
sprüchen vorgeschlagen, an die sich der Spielleiter aber nicht un-
bedingt halten muss. Er kann die Sprüche je nach Situation oder
Vorliebe beliebig austauschen.
 Verbinde mit Jackpoint-VPN …
… Matrix-Zugangs-ID verschleiert
… Verschlüsselung generiert
… Verbinde mit Onion Router
> Login
***********************
> Bitte Passwort eingeben
***********************
… Bestätige biometrischen Scan
Verbunden mit <FEHLER: UNBEKANNTER KNOTEN>
„In jeder Legende steckt ein Körnchen Wahrheit.“

JackPoint-Statistik
Willkommen zurück im JackPoint, Chummer;
81 Benutzer sind momentan
im Netzwerk aktiv Letzter Login vor 18 Stunden, 55 Minuten,
News-Ticker
26 Sekunden.
<14.08.73> Wenn ihr irgendwas Ge-
naueres über Puck hört, leitet es bitte an
mich weiter. –FastJack

Dein JackPoint
* Du hast 4 neue private Nachrichten.
AKTUELLE HINWEISE
* 2 Nachrichten warten darauf, anonymi- * Wer sicher sein will, muss schlau und geschickt sein. [Machtspiele – Handbuch für Spione]
siert und weitergeleitet zu werden.
* Du hast keine neuen Metalink-Freund- * Auch die Welt der Magie dreht sich weiter. Gestern warst du noch ein angesagter Adept, heute ken-
schaftsanfragen erhalten.
* Es gibt 18 neue Antworten auf deine
nen schon alle deine Tricks. Bleibe also auf dem Laufenden. [Der Weg des Adepten]
JackPoint-Posts.
* PDA: Drinks mit Kumpels um zehn.
Oder auch allein, wenn Kumpels nicht NEUE DATEIEN
auftauchen.
* PDA: Kellerraum zum Pennen suchen, * Die meisten davon sind völliger Blödsinn, aber wenn auch nur eine stimmt, bedeutet das echten
bis Gras über die Sache gewachsen ist.
Ärger für uns. [Verschwörungstheorien]
Connections * Was abhebt, muss auch wieder runterkommen. [Gefahr in den Wolken]
Du bist vor allen Connections versteckt.

Dein aktueller Rep-Wert:

67 (87 % positiv)
Zeit: 14. August 2073, 01:12
Top-News
* Lofwyr lehnt alle Interviews ab und schweigt zu den Ereignissen auf dem Mount Shasta. Link
* Seattler Bezirksstaatsanwältin Dana Oaks beschuldigt, Orks und Trolle bei Polizeiaktionen benach-
teiligt zu haben. Link
* Verhandlungen um Vertrag von Denver nehmen wegen Grenzstreitigkeiten gewaltsamen Verlauf.
Link

Straßenlegenden
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Sekundärziel
von MALIK TOMS
Sie hatten den Deal bei einer Tasse Kaffee gemacht, in der Vorhalle
eines ausgebombten Hotels in der Zona Norte, Bogotá. Marcos
war etwas zu schnell einverstanden gewesen, da er keine Lust auf
ein weiteres Zusammentreffen mit einem Shade hatte, und jetzt
hockte er hier in diesem Müllcontainer in El Bosque Izquierdo,
ohne verlässliche Informationen und mit all den falschen Leuten,
die er in der kurzen Zeit hatte finden können.
Nichts an dem Job war erste Wahl. Er hatte nur fünf Runner,
sich selbst eingeschlossen. Die Granaten kamen von Juanmi, was
bedeutete, dass die Azzies auch schon wussten, dass er etwas vor-
hatte, denn Juanmi würde seine eigene Mutter verraten. Aber Job
war Job. In Wahrheit mochte er keine Shadowruns, jedenfalls nicht
den Mist, in den Picador ihn hineinzog. Und sie war nicht einmal
hier, um sich die Finger schmutzig zu machen. Sie war tausend
Meter entfernt, hatte sich auf dem Dach des höchsten Gebäudes
eingerichtet, das eine direkte Sichtverbindung zum Ziel hatte. Seit
Red Anya ihr dieses Barret besorgt hatte, hatte Picador es sich zur
Angewohnheit gemacht, sich so weit von ihren Zielen entfernt auf-
zuhalten wie eben möglich.
„Saren, wie ist der astrale Status?“
„Einen Moment“, meldete sich der Magier über die sichere
Kommlink-Verbindung zurück. Saren war ein Arschloch, aber das
war Marcos egal. Jeder, der in dieses Business einstieg und gegen
Bezahlung Krieg führte, musste was an der Murmel haben. Arsch-
löcher waren die geringste seiner Sorgen. Nein, er mochte den ma-
geren Elfen wegen der Art und Weise nicht, mit der er sein Mana
durch die Gegend schleuderte. Es war nichts Subtiles daran. Nur
großes Geknalle, wie ein mystischer Sprengmeister, der durch ei-
nen Kindergarten stapft. Aber Marcos brauchte einen Magier, und
die wuchsen nun mal nicht auf Bäumen.
Der Job war ein Geisterjob: rein, den roten Koffer finden, ihn in
Stücke sprengen, abhauen. Marcos spekulierte gar nicht erst darüber,
was sie da zerstören sollten, schließlich bekam er 25k für den Job,
plus 2k für Ausrüstung. Der Häuserblock gehörte dem Olayakartell,
deshalb glaubte Fitz natürlich, dass in dem Koffer Tempo war. Saren
und Javy stimmten ihm zu. Picador war anderer Meinung. Es war
ihr Schieber, deshalb würde sie es wissen, wenn sie mitten in einen
Drogenkrieg hineinlatschte. Marcos hatte das Gefühl, dass er noch
mehr für den Job hätte herausschlagen können, wenn er etwas län-
ger geblieben wäre, um zu verhandeln. Trotz der Hitze erschauderte
er bei dem Gedanken, zu viel Zeit in der Zona Norte zu verbringen.
Nein, 25k waren ein fairer Preis für diesen Job.
„Javy, Bericht!“ Der junge Schütze war zuständig für die Über-
wachung der Gebäuderückseite. Der Schauplatz des Treffens war
früher die Maschinenhalle einer Fabrik gewesen, bevor man die
Stadt in ein Schlachtfeld verwandelt hatte. Viel offener Raum. Gu-
tes Sichtfeld im Inneren. Die Galerie im ersten Stock hatte Fenster
sowohl zur nördlich gelegenen Straße als auch zum Erdgeschoss.
Johnsons Informationen waren überholt, sie stammten aus veral-
teten städtischen Bauplänen. Marcos wusste nicht, ob es in den
letzten zehn Jahren irgendwelche strukturellen Veränderungen im
Inneren des Gebäudes gegeben hatte.
Javy sagte: „Immer noch alles klar hier.“
„Fitz, gib mir Augen.“ Der irische Söldner war mit einer Bildver-
bindung vercybert, die einem anderen Runner Zugriff auf seinen
visuellen Input ermöglichte. Im Moment blickte er auf zwei Kar-
tellmänner, die an der Vordertür herumlungerten. Fitz’ Fähigkeit,
mit dem Hintergrund zu verschmelzen, gestattete ihm, den Ein-
gang aus weniger als einem Block Entfernung im Auge zu behalten.
Die beiden Wachen hatten keine Ähnlichkeit mit dem Kerl, der
einige Minuten vorher vor die Tür gegangen war, um zu rauchen.
Das hieß, es waren noch sechs weitere Bewaffnete im Gebäude,
plus wer auch immer hier für das Kartell das Sagen hatte.
Picador sagte: „Ich glaube, es ist Showtime. Fitz, du müsstest
jeden Moment eine Limousine vorbeifahren sehen.“
Es wurde auch langsam Zeit. Marcos saß schon den ganzen
Morgen in diesem Müllcontainer. Es war der dem Eingang am
nächsten gelegene Punkt, der nicht videoüberwacht wurde. Er
hatte mit einem Laser winzige Gucklöcher in den Container
gebrannt, durch die er beide Enden der Straße und den Seiten-
eingang sehen konnte, durch den sie eindringen würden. Seit die
Kartellsoldaten am frühen Nachmittag angekommen waren, hatte
keiner mehr die Straße gecheckt. Gelegentlich kam ein Soldat he-
raus, um eine zu rauchen, schaute ein bisschen die Straße rauf und
runter und ging wieder hinein. So weit von Jaime Salazar entfernt
waren die Olayaleute nachlässig geworden, sie fühlten sich durch
ihren Ruf geschützt. Ein Fehler, der sie teuer zu stehen kommen
würde.
Der Plan war einfach. Marcos würde die Seitentür aufbrechen,
mit Saren als Rückendeckung. Sobald sie den Koffer lokalisiert
hatten, würde Saren einen Manablitz in den Raum jagen, dem
Marcos ein paar Sprenggranaten folgen lassen würde. Der daraus
entstehende Brand würde den Koffer mit Sicherheit vernichten.
Ob dabei Kollateralschäden entstehen würden, kümmerte ihn
nicht weiter.
Fitz antwortete: „Ich hab sie. Drei Bodyguards steigen aus und,
hey, seht mal, wen wir hier haben.“
Marcos holte Fitz’ Blickfeld auf sein PAN. Die letzte Person, die
aus der Limousine ausstieg, war eine Frau, die er aus dem Trideo
kannte: Debra „Firestorm“ Herrera, die Gründerin von Ein Bogo-
tá. Spöttische Stimmen behaupteten, sie sei eigentlich nicht viel
mehr als die Anführerin einer Gang, habe es aber geschafft, einen
Machtblock zusammenzuschweißen, groß genug, um mit einem
der großen Kartelle ins Bett zu gehen.
Marcos sagte: „Okay, die Gerüchte scheinen zu stimmen, aber
ich sehe den Koffer nicht.“ Herrera und ihre Muskeln verschwan-
den im Gebäude. Keiner von ihnen hatte das Objekt, das sie zer-
stören sollten.
 Picador sagte: „Da wollen noch mehr mitspielen. Drei Rover-
Geländewagen nähern sich.“
Die Fahrzeuge hielten vor der Halle, und aus jedem stiegen zwei
Leute aus. Das mittlere Fahrzeug erregte seine Aufmerksamkeit.
„Kann jemand die Hauptperson identifizieren?“, fragte Mar-
cos.
„Ja, ich“, sagte Fitz. „Pablo Landeros. Er ist der Assistent – der
Assistent – von Erzbischof Diego Rodriguez.“
„Was zur Hölle hat er hier mit Herrera zu schaffen? Die Kir-
che hat doch ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt.“ Landeros kam mit
schwerem Feuerschutz, als erwarte er einen Kampf. Er hatte vier
Schwerbewaffnete bei sich, deren Abzeichen auf ihren Kampfan-
zügen sie als MET2000 auswiesen, und einen fünften Mann, kahl
und gepanzert, der keine offensichtlichen Waffen trug und keinen
roten Koffer.
„Saren?“
„Bin schon dran.“ Der Magier schickte einen Watcher aus, um
einen besseren Blick zu bekommen. In einem anderen Sprawl hätte
er genauso gut eine Leuchtrakete in die Dunkelheit feuern kön-
nen, aber das hier war Bogotá. Hier fiel ein einzelner Watcher nicht
weiter auf.
Kurz darauf sagte Saren: „Unser kahler Freund ist tatsächlich
ein Magier, wahrscheinlich ein Initiierter, der Anzahl an aktiven
Foki nach zu urteilen, die er mit sich herumschleppt. Ich würde
mal auf die Bruderschaft des Eisernen Halbmondes tippen. Seine
Fähigkeiten gehen weit über das hinaus, was ich kann.“
Fitz sagte: „Sieht aus, als würden wir hier in ein Gipfeltreffen
platzen.“
Aufklärungsdaten sind selten identisch mit den Fakten vor Ort,
aber das hier wurde allmählich lächerlich. Marcos bedauerte inzwi-
schen, dass er nicht mehr Geld herausgeschlagen hatte.
Javy klang nervös, als er sprach. „Wir können diesen Job nicht
machen. Wir sollten ihn nicht machen. Dass Herrera und die Kir-
che zusammenkommen, könnte Gutes für mein Volk bedeuten.
Wir dürfen das nicht aufs Spiel setzen, indem wir sie umlegen.“
Marcos hatte befürchtet, dass das kommen würde. „Wir sind
vertraglich verpflichtet, Javy“, sagte er. „Zeit, zu den Waffen zu
greifen.“
Javy sagte: „Das ist Bullshit.“
Saren sagte: „Das ist unser Job.“
Wenigstens einmal waren Saren und er einer Meinung.
„Ich glaube, die Hauptperson ist im Anmarsch“, sagte Picador.
„Grauer Ford Americar mit einheimischem Fahrer. Ich kann zwei
Leute auf dem Rücksitz erkennen, habe aber keinen günstigen
Winkel für eine ID.“
Durch Fitz’ Augenkamera sah Marcos, wie der Americar vor
dem Eingang zum Halten kam. Der Fahrer ließ den Motor laufen,
während zwei Leute ausstiegen. Marcos konzentrierte sich auf den
Asiaten. Er trug einen kleinen roten Koffer. Dann erkannte er den
anderen Fahrgast.
„Pic, siehst du, was ich sehe?“ Es war unverkennbar Black
Mamba. Sie war in Leder gekleidet und trug ihr Haar in einem
Pferdeschwanz. Er erkannte das Muttermal hinter ihrem linken
Ohr. Marcos versteifte sich. „Du musst Black Mamba kontaktieren
und ihr sagen, was auf sie zukommt.“
„Den Teufel werde ich. Sie schützt das Ziel. Sie wird sich zu-
rückziehen, und wir können das Geld vergessen.“
Er konnte nicht mit Picador streiten. Nicht vor dem Team und
nicht, nachdem er Javy erklärt hatte, was ihr Job war. Selbst wenn
seine Bekannte ins Visier geriet, musste er den Job durchziehen.
Aber das hieß, er musste den Plan ändern.
„Wir machen weiter mit Plan B.“
Fitz lachte leise. „Ich schätze, du wirst ihn uns erklären, sobald
wir losgelegt haben...“
Marcos ignorierte ihn. „Saren, ich brauche dich an der Vorder-
seite des Gebäudes, für den Fall, dass der Koffer auf diesem Weg
rausgebracht wird. Picador, du deckst ihn mit deinem Barret. Javy,
Fitz, ihr kommt mit mir.“ Marcos schob leise den Deckel des Müll-
containers hoch und kletterte heraus. Er überprüfte den Granaten-
gurt, den er über der Brust trug. Die Granaten waren in drei Farben
markiert: rot, grau und gelb. Als er bei seinen Männern war, teilte
er die Sprengkörper zwischen sich und ihnen auf. Dann rannten sie
auf die Seitentür des Gebäudes zu. Marcos schob einen automati-
schen Dietrich in das rostige Schloss und stellte sich rechts neben
die Tür, für den Fall, dass drinnen ein Wächter lauerte. Fitz stellte
sich nach links, Javy hinter ihn.
Innerhalb von zwei Herzschlägen erledigte das Gerät seine Ar-
beit. Marcos hockte sich hin und zog die Tür auf, brachte seine
Colt Cobra in Schussposition.
Die Tür führte in einen Pausenraum. Insekten flüchteten in
dunklere Ecken, als sich das Licht in den Raum ergoss. Eine Dop-
peltür zur Linken führte in die Halle. Eine Tür direkt vor ihm öff-
nete sich auf einen schmalen Flur mit drei Büros und einer Treppe,
die nach oben führte. Zumindest ein paar von Johnsons Informa-
tionen waren korrekt. Marcos justierte seine Cyberohren auf maxi-
male Empfindlichkeit. Er bedeutete den Männern hinter ihm, sich
still zu verhalten. Jedes nahe Geräusch würde seine Ohren jetzt wie
ein Vorschlaghammer treffen. Er hörte gedämpfte Stimmen durch
die Doppeltür. Irgendwo über ihm konnte er die Schritte von drei
Fußpaaren unterscheiden. Er justierte seine Audioempfindlichkeit
wieder herunter und signalisierte Javy, den Ausgang zu sichern,
und Fitz, die Tür zur Halle im Auge zu behalten.
Granaten gibt es in allen Schattierungen. Sprenggranaten eig-
nen sich vorzüglich, wenn man die ganze Hütte zusammenbre-
chen lassen will, aber wenn man nur ein bisschen Unruhe stiften
will, gibt es Besseres. Weitere Handsignale wiesen Fitz an, zwei
IR-Rauchgranaten scharf zu machen. Ihnen würden 8 Sekunden
bleiben, dann würde alles sehr schnell gehen. Wenn Marcos es
schaffte, ins obere Stockwerk zu gelangen, konnte er das Zielob-
jekt ausmachen und den Job erledigen, bevor die Situation außer
Kontrolle geriet.
Er begann zu zählen, als er durch die Tür in den schmalen Bü-
roflur rannte. Der Countdown war halb abgelaufen, als er die Trep-
pe erreichte. Er wartete eine weitere Sekunde, dann rannte er die
Treppe rauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Über ihm
rief jemand: „Granate!“, gefolgt vom vertrauten Ploppen und Zi-
schen einer Rauchgranate. Er kam am oberen Ende der Treppe an,
als sich gerade einer der Kartellmänner umdrehte, um nach unten
zu gehen. Er erschoss den Mann, bevor dieser seine Waffe hoch-
bekam, wobei der Schalldämpfer das charakteristische Wuppwupp
von sich gab. Der zweite Mann beugte sich über das Geländer, das
die Maschinenhalle überragte, und versuchte zu erkennen, was da
unten vor sich ging. Marcos erschoss ihn und suchte nach dem
dritten Mann. Er sah ihn nicht sofort, also riss er zwei gelbe Grana-
ten aus seinem Gurt und warf sie über das Geländer.
Betäubungsgranaten. Marcos zog sich auf die Treppe zurück,
als die Granaten losgingen. Rufe der Verwirrung wurden durch
Wutgeschrei und Schüsse ersetzt. Marcos stürmte die Treppe hi-
nauf und schwang seine Waffe nach links und rechts. Er wusste,
dass hier oben ein dritter Mann war, aber er konnte ihn nicht lo-
kalisieren. Aber er hatte keine Zeit, wie angenagelt an der Treppe
stehenzubleiben. Er musste das Risiko eingehen.
Fitz schrie: „Kontakt!“ Unten erklangen weitere Schüsse.
Marcos huschte zum Geländer der Galerie und starrte hinab
in das Chaos aus IR-Rauch und Schüssen. Der Raum unter ihm
machte mehr den Eindruck einer Disco zu besten Geschäftszeiten
als den einer Maschinenhalle. Er schaltete auf Ultraschall um, und
der Raum verwandelte sich in ein Kaleidoskop aus Mustern und
Wellen. Er konnte vier verschiedene Gruppen ausmachen, die sich
scheinbar ziellos umherbewegten. Die MET-Söldner waren am
leichtesten zu erkennen. Sie bewegten sich mit dem einstudierten
Selbstvertrauen einer militärischen Einheit, die nicht zum ersten
Mal in einen Kampf verwickelt ist. Das Team teilte sich auf. Die
Hälfte ging zum Vordereingang, die anderen drei kehrten um, um
einer unorganisierten Gruppe von Männern Feuerschutz zu leis-
ten, die blind in den Pausenraum feuerten. Das mussten die Kar-
tellmänner sein.
Marcos sagte: „Fitz, Javy, zieht euch zurück. Ihr könnt den
Raum nicht halten.“
„Was ist mit dir?“ Fitz’ Stimme klang angespannt.
„Geht schon, ich finde einen anderen Ausgang.“
Marcos hörte Schritte hinter sich. Er drehte sich um, ging in die
Hocke. Der dritte Kartellsoldat stürmte mit erhobener Uzi auf ihn
zu. Marcos zielt auf seine Beine, um ihn zu Boden zu bringen. Die
Salve traf den Soldaten am Oberschenkel. Marcos feuerte weiter,
zielte dahin, wo der Mann hinfallen musste, tötete den Gegner. Er
kam wieder auf die Füße, war aber immer noch nicht schlauer, was
die Position des Koffers anging. Er schielte wieder über die Kante.
Diesmal sah er Herrera und ihre Leute. Sie hatten sich hinter ir-
gendeiner Barrikade verschanzt und machten keine Anstalten, sich
zu bewegen. Auch sie hatten den Koffer nicht.
„Der Johnson zieht sich zurück!“, rief Saren.
„Hat er den Koffer?“, fragte Marcos.
„Nein. Auch Black Mamba nicht.“
Da stimmte was nicht. Sie hatten nicht genug Zeit gehabt, ei-
nen Deal zu machen. Mr. Johnson musste immer noch den Koffer
haben. Marcos suchte nach den MET2000-Leuten. Sie waren be-
reits an der Tür. Zwei Soldaten gingen zuerst hinaus. Keiner von
ihnen hatte den Koffer. Landeros kam als Nächster. Sein Körper
begann, wild zu zucken, als er durch die Tür ging, und er taumel-
te zurück ins Gebäude, als hätte man seine Fäden durchgeschnit-
ten. Die MET2000-Söldner schrien und deuteten in verschiedene
Richtungen. Landeros hatte ein Loch von der Größe einer Troll-
faust in der Brust.
„Pic, war das dein Schuss?“
„Nein.“
„Landeros ist erledigt. Muss ein Scharfschütze gewesen sein.“
Picador fiel ihm ins Wort. „Verdammt, Marcos. Du hast grö-
ßere Probleme als das. Gepanzerte Fahrzeuge nähern sich eurem
Standort. Vier gepanzerte Vans, die einen Appaloosa flankieren.
Südliche Straße, 2400 Meter entfernt. Kontakt in weniger als zwei
Minuten.“
„Sicher, dass sie hierher kommen?“
„Aztech-Aufkleber, Marcos. Sicher bin ich natürlich nicht, aber
mein Gefühl sagt mir, dass sie wegen euch hier sind. Egal. Wo auch
immer sie hinfahren, sie bedeuten Ärger. Macht euch aus dem
Staub.“
„Fuck.“ Seine Intuition sagte ihm, dass er irgendwas übersah.
Unter ihm formierten sich die MET-Truppen neu, die Hälfte deck-
te Herreras Leute, während die anderen, die zuerst die Kartellsol-
daten unterstützt hatten, jetzt das Feuer auf sie eröffneten. Marcos
sah den Koffer, er stand mutterseelenallein neben einem verroste-
ten Maschinenblock, von allen vergessen.
Er sagte: „Aber erst muss ich etwas wissen.“ Er sprang in den
Rauch hinunter, seine Keramik-Kompositknochen dämpften den
Aufprall. Er stürmte direkt auf den Koffer zu und warf sich dane-
ben auf den Boden. Schüsse peitschten über ihm durch die Luft. Er
schnappte den Koffer und zog sich an den Büros entlang zurück,
wobei er blindlings um sich feuerte. Sobald er in Deckung war,
öffnete er den Koffer.
Leer.
Picador klang ungeduldig. „Bring deinen Arsch in Sicherheit,
Marcos!“
Ein Ablenkungsmanöver. Er warf einen Blick zurück in die
Halle. Die MET2000-Jungs hatten Herreras Leute in die Enge
getrieben. Die wenigen Kartellsoldaten, die den Verrat überlebt
hatten, hatten Deckung gefunden und schrien den MET-Söldnern
zu, das Feuer einzustellen. Allmählich begann alles, einen Sinn zu
ergeben.
„Johnson hat uns auf ein Sekundärziel angesetzt“, sagte Marcos.
„Es war eine Falle. Landeros, Herrera, das Treffen selber war das
eigentliche Ziel. Wir sind nur die Ablenkung.“
„Mach jetzt, dass du rauskommst!“
Der IR-Rauch begann allmählich, sich zu verziehen. Die Schüsse
hatten aufgehört, die gegnerischen Gruppen tauschten jetzt Schreie
statt Kugeln aus. Durch die Schreie hörte man das Rumpeln von
Militärfahrzeugen, die vor dem Eingang zum Stehen kamen.
„Dafür könnte es jetzt zu spät sein.“
 „AGENT“
PERSÖNLICHE DATEN: „AGENT“
Alter: Unbekannt Größe: 1,83 m
Gewicht: 90 kg Haarfarbe: Braun
Augenfarbe: Braun Geschlecht: Männlich
RUNNER
Metatyp: Mensch Erwacht: Ja (Adept)
Wenn man im Dschungel effektiv kämpfen will, muss man die Ge-
gebenheiten des Terrains zu seinem Vorteil nutzen. Das bedeutet
zum Beispiel, dass man die Konturen des Geländes unter dem Bo-
denbewuchs kennt, oder dass man weiß, welche Bäume sich gut als
Deckung eignen und welche sofort jede Hautoberfläche verätzen,
die mit ihnen in Berührung kommt. Aber darüber hinaus bedeutet
das Kämpfen im Dschungel auch, dass man weiß, dass man den
Gegner nicht mit einer massiven Phalanx von Soldaten oder einem
plötzlichen Sturmangriff gepanzerter Fahrzeuge überrennen kann.
Im Gegenteil, man muss sich an den Gegner anschleichen, selber
immer in Deckung bleiben und ihn mit Schüssen niederstrecken,
die aus dem Nichts zu kommen scheinen. Man muss ihn dazu brin-
gen, ständig darüber im Ungewissen zu sein, welche unsichtbaren
Gefahren hinter dem nächsten Baum auf ihn lauern können. Man
muss ihn dazu bringen, alles im Dschungel als potenzielle Gefahr
zu sehen. Wenn man es richtig macht, kann man einige von ihnen
töten und den Überlebenden eine tiefe Angst vor dem Regenwald
und allem, was darin auf sie lauert, einflößen.
Der Mann, den man als „Agent“ kennt, ist in den Regenwäldern
um Bogotá eine Quelle von Chaos und Furcht. Offiziell hat er nichts
mit dem Krieg zu tun – sein Name lautet angeblich entweder Alex-
ander Williams oder Gregory Metcalfe, und er soll für einen Tride-
osender in Bogotá arbeiten, der zu Horizon gehört. Jeder, der von
ihm gehört hat, auch seine angeblichen Kollegen, weiß, dass es sich
dabei nur um eine Tarnidentität handelt, und so ziemlich jeder ver-
mutet, dass er für die Dawkins Group arbeitet. Das bedeutet, dass
seine Aktivitäten im Allgemeinen auf eine Unterstützung Amazoni-
ens hinauslaufen, wobei sich Horizon natürlich das Recht vorbehält,
seinen De-facto-Verbündeten in den Rücken zu fallen, wenn es den
Interessen des Konzerns dient.
> Normalerweise, wenn es schlicht und einfach um Amazonien
gegen Aztlan geht, stehen die Dawkins-Leute auf amazonischer
Seite. Aber das Ganze wird etwas komplizierter, wenn es sich um
andere Aktivitäten in der Region dreht. Nehmen wir mal Saeder-
Krupps taliskrämerische Aktivitäten im amazonischen Regen-
wald. Jedes Telesma, das Amazonien besitzt, bleibt mit großer
Wahrscheinlichkeit in Amazonien; alles, was Saeder-Krupp findet,
landet dagegen sehr wahrscheinlich auf dem freien Markt, was
Horizons Chancen erhöht, es selbst in die Finger zu bekommen.
Deshalb ist Horizon durchaus bereit, S-K-Teams, die sich im
Dschungel herumtreiben, gelegentlich etwas verdeckte Unter-
stützung zukommen zu lassen.
> Frosty
10 „Agent“
GEPOSTET VON: MARCOS
> Agent wird nur selten an solchen Operationen beteiligt sein, da
er als sozialer Adept nicht gerade der beste Scout ist. Er hat jedoch
immer wieder S-K-Expeditionen geholfen, feindliches Territorium
zu durchqueren, um ihnen so den Weg in den Dschungel oder zu-
rück zu erleichtern.
> Thorn
Das sind die Fakten über Agent, soweit sie bekannt sind. Der Rest
sind Vermutungen und Gerüchte.
Agent ist jemand, der die vielfältigen Möglichkeiten der Kriegsfüh-
rung kennt. Er überlässt die Kugeln, Raketen und Granaten anderen.
Stattdessen kämpft er mit Information, Propaganda und Furcht. Ins-
besondere kultiviert Agent die Aura des Schreckens, die den Dschun-
gel umgibt, um feindliche Truppen davon zu überzeugen, dass es viel-
leicht keine gute Idee ist, dorthin zu gehen. Die vielfältigen Mittel und
Wege, mit denen er seine Ziele erreicht, stützen sich oft hauptsächlich
auf die gute, alte Kunst des Redens.
Um einem Aufstand dauerhaft Schwung zu verleihen, ist es er-
forderlich, immer wieder die Energie und Leidenschaft der Leute zu
schüren, die für die eigene Sache kämpfen. Wenn sie ihren Zorn und
ihren Kampfeswillen verlieren, und wenn das Tempo und die Wildheit
ihrer Angriffe nachlassen, lässt irgendwann auch der demoralisierende
Effekt ihrer ständigen Angriffe nach. Und wenn ein Guerillakrieg den
Gegner nicht mehr demoralisiert, dann ist er schon so gut wie vorbei.
Agent durchstreift in seinen zahlreichen Verkleidungen den Regen-
wald, sucht alle amazonischen Zellen auf, die er findet, und motiviert
sie, den Kampf weiterzuführen. Wie jeder gute Manager – vor allem
einer, der für Horizon arbeitet – hat er immer visuelle Präsentationen
dabei, die sein Publikum emotional aufputschen und es dahin brin-
gen, wo er es haben will. Filmmaterial zu finden, das Aztlan und Az-
technology in besonders schlechtes Licht rückt, ist nicht gerade das
Schwierigste auf der Welt, vor allem wenn man nur wenig Skrupel hat,
das Material so zu überarbeiten, dass es ein möglichst negatives Bild
ergibt, oder es sogar selbst zu erfinden. Seine Präsentationen enthalten
Informationen darüber, wie Aztlans Präsenz den Einwohnern Bogo-
tás schadet, aber nicht zu viel, denn wenn die amazonischen Truppen
zu lange darüber nachdenken, könnten sie zu dem Schluss kommen,
dass auch sie mit ihrer Anwesenheit den Einwohnern nicht unbedingt
einen Gefallen tun. Der Hauptteil von Agents Präsentationen befasst
sich mit dem, was Aztlan der Umwelt antut, von der Verbreitung der
Sangre-Del-Diablo-Bäume über die Rodung großer Dschungelregio-
nen für Landeflächen und Militärlager bis hin zur Beschwörung toxi-
scher Geister, die große Teile des Landes verseuchen.
> In letzter Zeit betont er dabei vor allem, dass die als „Absolu-
tes Gleichgewicht“ und „Jüngstes Gericht“ bekannten toxischen
Schamanen unter Aztlans Schutz tätig sind. Es stimmt zwar, dass
beide auf Aztlans Liste der Meistgesuchten auftauchen, aber Agent
(in seinen vielfältigen Tarnidentitäten) beharrt darauf, dass Azt-
lans Bemühungen, den Aktivitäten dieser Schamanen ein Ende zu
bereiten, bestenfalls halbherzig sind. Entweder sind die Schama-
nen mit der stillschweigenden Duldung der aztlanischen Regierung
tätig – wie er allen erzählt, die er trifft – oder Aztlan hat weit-
aus weniger Kontrolle über die Straßen Bogotás, als man das Volk
glauben machen will. Wenn die Leute, mit denen er redet, ihm
eine dieser beiden Geschichten abkaufen, ist er zufrieden.
> Sunshine
 Wenn eine Reihe von Präsentationen ausreichen würde, um einen
Aufstand anzuzetteln, dann gäbe es in jedem Winkel der Welt Unru-
hen und Aufstände (ja, ich weiß, einige von euch glauben, dass wir
ohnehin schon an dem Punkt angelangt sind, aber glaubt mir, so weit
ist es noch nicht). Agents Aktivitäten gehen weit über die Verbreitung
von Propaganda hinaus, und diese Arbeit ist es, die ihn immer mehr
zu einer Legende macht.
Agent verbringt fast genauso viel Zeit mit aztlanischen Truppen wie
mit amazonischen. Dabei besteht seine Aufgabe darin, Fehlinformatio-
nen und Zwietracht zu säen und den Anführern der diversen Einheiten
einzureden, dass sie mehr Angst vor einem Messer im Rücken als vor
einem Schuss ins Gesicht haben müssen. Einer seiner größeren Coups
der letzten Zeit bestand darin, dass er in einem Zeitraum von drei
Stunden alle Befehle, die an eine Einheit Leopardengardisten gingen,

RUNNER
abfing und störte, unter anderem auch den Befehl, einen Infanterie-
vorstoß südwestlich der Stadt zu unterstützen. Die Leopardengardis-
ten rückten natürlich nicht aus, und die aztlanische Infanterie wurde
zerschlagen.

„Agent“ 11
 In der Nacht, als die Infanteriebefehlshaber ihre Verluste bewein-
ten, schloss sich ihnen ein alter Freund an, ein Saufkumpan, den sie
alle irgendwie schon seit ewigen Zeiten kannten, obwohl sich keiner
mehr so genau erinnern konnte, wie er ihn kennengelernt hatte. Er
hatte großes Verständnis für ihre Situation und hörte ihnen mitfüh-
lend zu, als sie die Inkompetenz und/oder Faulheit der Leopardenein-
heit bejammerten, die ihnen eigentlich den Rücken decken sollte. Am
Ende der Unterhaltung waren sich die Kommandeure einig, dass die
Anführer der Leopardeneinheit allesamt Verräter waren, denen man
nicht trauen konnte, und dass sie das nächste Mal, wenn sie sie auf
dem Schlachtfeld trafen, gut beraten seien, lieber sie auszuschalten als
die angeblichen amazonischen Feinde.
Einige Tage später zogen beide Einheiten wieder in den Kampf.
Kein einziger Offizier der Leopardengarde überlebte. Aztlan hat na-
türlich während des gesamten Krieges keinen einzigen Todesfall durch
RUNNER

eigenes Feuer zugegeben, aber Quellen, die die Leichen gesehen ha-
ben, berichten, dass die Austrittswunden alle an der Körpervorderseite
lagen.

> Ich wette, dass Agent Trideomaterial dieser Schlacht hat, das er
sich für eine Veröffentlichung zum richtigen Zeitpunkt aufspart.
Mir fallen spontan ein halbes Dutzend Verwendungsmöglichkeiten
für Aufnahmen ein, auf denen zu sehen ist, wie aztlanische Solda-
ten andere aztlanische Soldaten in den Rücken schießen.
> Dr. Spin

Keiner weiß, wie viele Einheiten Agent auf diese Weise infiltriert
hat. Aztlan hat genügend mutmaßliche Aktionen von ihm miteinan-
der in Verbindung gebracht, um zu wissen, wonach man Ausschau
halten muss. Und sie haben eigene Erwachte Agenten ausgeschickt,
um den Mann aufzuspüren. Eine schwierige Aufgabe, denn es ist ihnen
noch nicht gelungen, seine astrale Signatur schlüssig zu identifizieren,
aber es wird trotzdem allmählich komplizierter für ihn. Wie er vor-
gehen wird, sobald die Leute wissen, wovor sie sich in Acht nehmen
müssen, ist eine interessante Frage.

> Neben seinen individuellen Aktivitäten arbeitet Agent ver-

mutlich auch daran, einige der umfassenderen Pläne der Dawkins
Group für diesen Krieg voranzutreiben. Während die Truppen um
die militärische Vorherrschaft kämpfen, führt die Dawkins Group
einen Krieg um die Überlegenheit auf dem Gebiet der Propaganda
und der Informationsmanipulation. Je besser sie es schaffen, die
öffentliche Wahrnehmung dieses Krieges zu gestalten, desto mehr
Kunden werden sie der Aztechnology-Propagandamaschinerie ab-
werben können – zumindest sind sie selbst dieser Meinung. Man
kann davon ausgehen, dass der Propagandakrieg in Zukunft noch
heißer wird.
> Dr. Spin

Eines der großen Rätsel an Agent ist, dass er zwar ein sozialer Ad-
ept von beträchtlicher Kraft ist, in den Beschreibungen über ihn aber
meistens von einem rechten Cyberarm die Rede ist. Es kursieren ver-
schiedene Theorien darüber – die geläufigste behauptet, dass es Del-
taware ist, die seine Adeptenfähigkeiten nur minimal beeinträchtigt.
Diese Theorie wird dadurch gestützt, dass Agent sich vor Kurzem in
einer brenzligen Situation befand, als er in die Hände einiger Geister
fiel, die gegen seine Überredungskünste immun waren. Sie bearbeite-
ten ihn gründlich, um ihm Informationen zu entlocken, und wurden
bei der Anwendung von Säure an seinem rechten Arm recht kreativ.
Die Gerüchte behaupten, dass der Arm so schwer verletzt wurde, dass
er ersetzt werden musste, und Agent jetzt fieberhaft herauszufinden
versucht, wer die Geister beschworen hat.

12 Shadowrun 4
 Ich halte diese Story aber für erfunden. Die Geschichte seiner Ge- Typen finden, denn die Belohnungen, die auf ihre Köpfe ausge-
fangennahme lässt Agent weitaus unvorsichtiger erscheinen, als ich ihn setzt wurden, sind ziemlich hoch.
kenne. Ich glaube eher, dass er Pseudo-Cyberware verwendet, um ei- > Hard Exit
nen Cyberarm vorzutäuschen. Der einzige Grund, weshalb er das tun
sollte, ist der, dass er selbst auch diese Geschichte gehört hat und ein > Ich bezweifle, dass sie sich eine Blöße geben, nur weil jemand
persönliches Interesse daran hat, Geister ausfindig zu machen, die dazu Spielchen spielt.
neigen, Folter anzuwenden. > Marcos

> Ich schätze ja, er hofft, durch dieses Spielchen die toxischen > Agents Spielchen sind meistens ziemlich gut. Und das ist viel-
Schamanen „Jüngstes Gericht“ und „Absolutes Gleichgewicht“ aus leicht nur sein Eröffnungszug.
ihrem Versteck zu locken. Viele Leute würden gern die Spur dieser > Picador

RUNNER
„AGENT“

K G R S C I L W M EDG ESS INI ID

3 4 5 3 6 5 5 4 6 6 6 10 1
Zustandsmonitor (K/G): 10/10

Panzerung (B/S): 7/2

Fertigkeiten: Ausweichen 3, Beschatten 4, Bodenfahrzeuge 4, Com-

puter 2, Datensuche 2, Einfluss-Fertigkeitsgruppe 6, Einschüchtern
(Verhör) 5 (+2), Erste Hilfe 4, Fälschen 6, Fingerfertigkeit 4, Flug-
zeuge 4, Infiltration 4, Klingenwaffen (Messer) 2 (+2), Laufen 3,
Pistolen (Holdouts) 4 (+2), Spurenlesen 3, Survival (Dschungel) 3
(+2), Verkleiden 5, Wahrnehmung 5

Wissensfertigkeiten: Aztlanische Politik 4, Dschungel-Ökologie 3,

Horizon-Konzernstruktur 4, PR-Techniken 5, Schach 4, Englisch
M, Japanisch 2, Spanisch 6

Gaben: Adept, Aufmerksamkeit, Gelöscht, Soziales Chamäleon

Adeptenkräfte: Adrenalinkick (Charisma) 2, Beschleunigte Heilung 3,

Gesichtsformung 2, Gesteigerte Geschicklichkeit 1, Kampfsinn 1,
Körpersprache 3, Mystischer Panzer 1, Stimmkontrolle, Verbesserte
Wahrnehmung 2

Ausrüstung: Automatischer Dietrich 3, Bereichsstörsender 9, Forman-

gepasste Körperpanzerung (Hemd) [B/S 3/0], 5 gefälschte SINs 6,
Kommlink [Spezialanfertigung; Prozessor 5, Signal 5, Firewall 6,
System 4], Kontaktlinsen [Stufe 3; Bildverbindung, Restlichtver-
stärkung, Smartlink], 3 Dosen Laés, 5 Dosen Neuro-Stun, Victory
Globetrotter Schwere Panzerkleidung [B/S 4/2], 5 Dosen Warp

Waffen:
Keramikmesser (als Stift getarnt) [Klingenwaffe | Reichweite – | Scha-
den 3K | PB –]
Streetline Special [Holdout | Schaden 4K | PB –4 | EM | RK – | 6(s) |
Smartgun; 50 Schuss APDS-Munition]

„Agent“ 13
 AKUCHI
PERSÖNLICHE DATEN: AKUCHI
Alter: 38 Größe: 1,75 m
Gewicht: 68 kg Haarfarbe: Schwarz
Augenfarbe: Braun Geschlecht: Männlich
RUNNER
Metatyp: Mensch Erwacht: Nein
Wenn es kein GridGuide gibt, wenn niemand die Einhaltung der
Verkehrsregeln durchsetzt, und wenn die Mehrzahl der Fahrer keinen
Führerschein oder sonst irgendeine Fahrausbildung hat, dann wird das
Fahren so ähnlich wie Surfen. Um ein guter Fahrer zu sein, muss man
immer vor der Welle bleiben, die einen vorantreibt, aber auch wieder
nicht so weit voraus, dass man sich nicht ihre Geschwindigkeit zunutze
machen kann. Man muss geschickt sein und flink und immer darauf
achten, dass einem die Welle nicht über dem Kopf zusammenschlägt
und einen begräbt.
Akuchi ist ein sehr guter Fahrer.
In Lagos ein Verkehrsmittel zu bewegen, stellt einen vor so ziem-
lich jede Herausforderung, die die Sechste Welt zu bieten hat. Es gibt
ordentliche Straßen voller lahmarschiger Pendler auf Lagos Island. Es
gibt Durchgangsstraßen, die plötzlich in Marktplätze münden, und
diese Märkte scheinen nie zweimal am gleichen Ort aufzutauchen.
Es gibt Gegenden, in denen hauptsächlich Riesenratten und Shedim
hausen und in denen sich die Straßen als schmale Betonpfade zwi-
schen riesigen, zugewucherten Schlaglöchern hindurchschlängeln.
Und überall, wo man hinkommt, wird man von Leuten beäugt, die
mit dem Gedanken spielen, einen umzulegen und auszuplündern oder
vielleicht auch aufzufressen. Meistens schütteln sie nur den Kopf und
ignorieren diesen Gedanken, aber oft genug gehen sie ihm auch nach,
sodass das Leben in dieser Stadt nie langweilig wird.
> Und man sollte sich auch Sorgen über ihre Fähigkeit machen,
sich zusammenzurotten. Wie in jeder Stadt mit einer dermaßen
hohen Kriminalitätsrate wimmelt es auch in Lagos von erfahrenen
Kriminellen, und wenn sich so viele Leute dieser Sorte an einem
Ort herumtreiben, finden sie immer auch eine Möglichkeit, sich
zum allgemeinen Wohl zusammenzuschließen (zu ihrem allgemei-
nen Wohl, nicht dem allgemeinen Wohl). Deshalb sollte man immer
vorsichtig sein, wenn ein paar von ihnen hinter einem her sind
– es besteht eine gewisse Chance, dass sie einen direkt in die
offenen Arme ihrer Kumpel treiben.
> Kane
Akuchi war schon in jeder Ecke der Stadt unterwegs, er hat für
wohlhabende Klienten gearbeitet und für Leute, die nur das besit-
zen, was sie anderen aus den Taschen gezogen haben, und er hat nun
schon viele Jahre lang den Zorn eines der größten Stämme der Region
überlebt. Wenn ihr in Lagos von A nach B wollt, dann ist Akuchi der
Mann, den ihr hinter das Lenkrad setzen solltet.
Akuchi (sein Name bedeutet „gottgegebener Wohlstand“) hat sein
ganzes Leben in Lagos verbracht und wuchs im Spannungsfeld zwi-
14 Akuchi
GEPOSTET VON: BLACK MAMBA
schen Igbo und Yoruba auf. Er ist ein Igbo, und wie so viele andere
junge männliche Igbo schloss auch er sich einer Gruppe Area Boys an.
Die Area Boys sind das, was anderswo die Straßengangs sind – man
betreibt ein bisschen Vandalismus und Kleinkriminalität, und als Ge-
genleistung bekommt man eine Gruppe, zu der man gehört und die
einen ein bisschen vor den anderen Gruppen beschützt.
Als igbostämmischer Area Boy geriet Akuchi natürlich immer mal
wieder mit verschiedenen Yoruba-Gangs aneinander. Darunter war
auch eine Auseinandersetzung, die seinen späteren Lebensweg prägte.
Er nahm an einem Überfall auf einen Lieferwagen teil – der Job be-
stand darin, den Wagen zum Stehen zu bringen, ihn aufzusprengen,
alles Wertvolle an sich zu nehmen und abzuhauen. Der fragliche Lie-
ferwagen transportierte eine Ladung Saphire, es war also ein ganz guter
Ertrag zu erwarten.
> Vor allem in einer Stadt wie Lagos. Da der Zugang zur Matrix
oft unregelmäßig ist (und der Nuyen auch nicht unbedingt hoch
geschätzt wird), nehmen die Händler gern alles Mögliche als Be-
zahlung für Waren und Dienstleistungen an. In vielen Städten der
Welt müsste man nach dem Diebstahl von Saphiren erst mal einen
Hehler finden, aber in Lagos braucht man nur einen Händler zu
suchen, der Edelsteine als Bezahlung annimmt. Und das ist nicht
schwer.
> Traveler Jones
Im Großen und Ganzen lief der Run ganz gut, aber in dem ganzen
Chaos schleuderte der Lieferwagen in eine unerwartete Richtung, und
plötzlich starrte Akuchi direkt in die Linse einer Kamera, die sich im
Wageninneren befand. Und so bekamen die Yoruba-Händler, die Op-
fer dieses kleinen Überfalls wurden, eine wunderschöne Aufzeichnung
seines Gesichts.
Das beunruhigte den jungen Akuchi, und eine Zeit lang versuch-
te er wie besessen, jeden Decker aufzutreiben, den er finden konnte,
um sein Bild löschen zu lassen, damit die Yoruba ihn nicht finden
und ihre Rache an ihm auslassen konnten. Jeder, mit dem er redete,
sagte ihm das Gleiche – die Yoruba konnten das Bild inzwischen
hundertfach kopiert haben, und alle diese Dateien aufzuspüren wür-
de mehr kosten, als ein junger Area Boy sich leisten konnte. Und
so lebte er lange in großer Angst und wartete jeden Moment auf
das Überfallkommando, von dem er sicher war, dass es irgendwann
kommen musste.
Aber er überlebte. Zum Teil lag das daran, dass sich weder Yoruba
noch Igbo den Aufwand leisten können, jeden kleinen Straßengauner
umzulegen, der sie irgendwann einmal geärgert hat, aber zum Teil lag
es auch an seiner Fähigkeit, Ärger zu vermeiden und jedem, der mög-
licherweise hinter ihm her war, immer einen Schritt voraus zu sein.
Seine ständige Besorgnis trug letztlich zur Verbesserung seiner Fahr-
künste bei, denn er entwickelte großes Geschick darin, aus schwierigen
Verkehrssituationen zu entkommen, so verwickelt und eng sie auch
sein mochten.
> Ich dachte immer, Rigger überfahren einfach die Leute, die ih-
nen im Weg stehen.
> Slamm-0!
> Nein, das gibt doch Beulen.
> Rigger X
> Und es geht nicht nur um Leute. Die Straßen in Lagos können
sich innerhalb weniger Meter plötzlich verengen, und wenn euch
einer eine Falle stellen will, könnt ihr darauf wetten, dass er es
an einem dieser Engpässe macht. Wenn ihr am Leben bleiben und
Platz zum Manövrieren behalten wollt, dann müsst ihr ein Gefühl
dafür entwickeln, wann die Leute versuchen, euch einzukesseln,
und ihr müsst zusehen, dass ihr gar nicht erst dahin fahrt, wo man
euch einkesseln will. Diese Art von Vorausschau unterscheidet die
Guten von den Hervorragenden, und Akuchi beherrscht sie besser
als jeder andere.
> 2XL
Als seine Karriere voranschritt, entdeckte Akuchi seine Liebe zu
Motorrädern, vor allem zu seinem Markenzeichen, der Thundercloud
Contrail. Das führte dazu, dass er seltener als Fluchtfahrer arbeitete
und öfter als Kurier oder mobile Kavallerie. Eine der Geschichten über
ihn, die man am häufigsten hört, handelt von einer Fahrt, bei der er in-
nerhalb von dreißig Minuten von den zerstörten Straßen nördlich von
Lagos zu den Docks von Apapa fuhr, und das alles mit einem Rucksack
voller Nitroglyzerin. Er musste über die ganze Strecke auf eine Durch-
schnittsgeschwindigkeit von neunzig Kilometern pro Stunde kommen,
ungeachtet der Qualität der Straßen oder des Verkehrs, der ihm in den
Weg kam. Er nahm eine Abkürzung durch die tote Zone von Surulere,
weil er zu Recht davon ausging, dass er dort nicht viel Verkehr haben
würde. Allerdings bestand die Chance, dass er es dort mit den Shedim
zu tun bekommen würde. Was auch der Fall war.
Als Akuchi endlich in Apapa ankam, stach das Schiff, das er er-
reichen musste, gerade in See. Augenzeugen berichten, dass Akuchi
sich den Rucksack vom Rücken riss, ihn auf Armlänge von seinem
Körper weghielt, um zu verhindern, dass das Nitro durch irgendwel-
che Erschütterungen hochging, und dann zum Ende der Pier fuhr, wo
zufällig eine Planke schräg an einer Kiste lehnte. Er benutzte das Brett
als Rampe, hob von der Pier ab (wobei er mit einer Hand fuhr, da
die andere damit beschäftigt war, den Rucksack ruhig zu halten) und
landete sanft auf dem ablegenden Schiff.
RUNNER
Als er gelandet war, stellten Beobachter fest, dass irgendetwas in der
Nähe des Hinterrads seines Motorrads eingeklemmt war, eine nähe-
re Untersuchung ergab, dass es sich um einen abgerissenen Unterarm
handelte. Als man Akuchi darauf hinwies, zuckte er nur die Schultern
und sagte: „Dann waren sie wohl näher an mir dran, als ich dachte.“
Akuchi 15
 > Ich kenne Leute, die sich von einer solchen Darbietung von > Doch allmählich gerät ihm das ein wenig außer Kontrolle. Es ist
Coolness beeindrucken lassen, aber sich mit den Shedim anzu-
legen, erscheint mir nicht sonderlich tapfer oder kühn, sondern
einfach nur dumm. Die Leute haben schon ihre Gründe, warum sie
Surulere meiden.
> Traveler Jones
Diese Unerschütterlichkeit ist ein wichtiger Bestandteil von Akuchis
Verhalten und auch seines Erfolgs, und sie entstammt seiner allgemeinen
Weltanschauung. Er ist unbestritten sehr gut in dem, was er tut, aber er
gibt auch unumwunden zu, dass Glück eine entscheidende Rolle dabei
spielt, dass er immer noch unter den Lebenden weilt. Wenn die Sprache
auf seine Höllenfahrt durch die Stadt kommt, weist er immer darauf hin,
dass sie im Endeffekt nur deshalb erfolgreich sein konnte, weil zufällig die
Planke an der richtigen Stelle am Ende der Pier war. Sonst wären seine
RUNNER
ganzen Anstrengungen umsonst gewesen. Er ist schon vor Langem zu
der Überzeugung gelangt, dass es Dinge in seinem Leben gibt, die sich
seiner Kontrolle entziehen, und das hat in ihm einen starken Glauben
an das Schicksal hervorgerufen. Er gestattet es sich nicht, nachlässig zu
werden oder auch nur ein bisschen in seiner Wachsamkeit nachzulassen,
aber dieser Glaube durchdringt ihn mit einer tiefen Ruhe. Er macht sich
keine Sorgen um eine bevorstehende Mission, denn wenn es vorgesehen
ist, dass er erfolgreich ist, dann wird er auch erfolgreich sein. Und wenn
seine Zeit zu sterben gekommen ist, dann wird er sterben. Seine eigenen
Ängste und Sorgen können ohnehin nichts daran ändern.
> Das lässt ihn oft leichtsinnig erscheinen. Er ist bereit, sich auf
Risiken einzulassen, die kein anderer eingehen würde, denn er ist
davon überzeugt, dass er es schon schaffen wird, wenn es denn
so sein soll. Er macht natürlich keine dämlichen Sachen – er fährt
nicht auf eine Wand zu und geht davon aus, dass sie ihm schon
ausweichen wird –, aber er stürzt sich in Sachen, die andere weit
von sich weisen. Und er macht es, ohne dass sich seine Herzfre-
quenz ändert.
> Frosty
Auch wenn Akuchi seine einzelnen Aktionen extrem sorgfältig
plant, geht er doch bei der Planung seiner gesamten Karriere weni-
ger sorgfältig vor. Sein Konflikt mit den Yoruba entstand nicht, weil
er einen besonderen Groll gegen sie hegt, und auch nicht aus irgend-
welchem speziellen Stammesstolz. Es ergab sich einfach so. Nach
dem Saphirraub, bei dem Akuchi von der Kamera aufgenommen
wurde, waren die Yoruba verständlicherweise nicht allzu erpicht da-
rauf, Akuchis Dienste in Anspruch zu nehmen. Die Igbo dagegen
waren nur zu gerne bereit, ihn anzuheuern, und es ist nicht weiter
überraschend, dass viele dieser Runs gegen die Yoruba gingen. Dank
seiner Fähigkeiten waren seine Runs in der Regel erfolgreich (oder
zumindest schaffte er es immer zu entkommen, wenn es doch mal
schiefging), und so konnte er im Laufe der Jahre auf eine beachtliche
Liste von Erfolgen gegen die Yoruba zurückblicken. Und so wurde
aus Akuchi, ohne Absicht und ohne irgendwelche politischen Stam-
mesziele im Hinterkopf, so etwas wie ein Volksheld für die Igbo,
während er bei den Yoruba ziemlich weit oben auf der Liste der
Staatsfeinde steht.
Akuchis Neigung, sich treiben zu lassen, hat immer verhindert,
dass er Teil eines festen Teams wurde. Es gibt einige Gruppen, die für
ihn eine verlässliche Einkommensquelle darstellen, aber sie betrachten
Akuchi nicht als einen der Ihren. Er ist ein Mietbiker, und sowohl er
als auch die Leute, die ihn anheuern, sind zufrieden mit diesem Ar-
rangement. Es geht sogar so weit, dass Akuchi sich die Jobs aussuchen
kann, denn dank seiner Fähigkeiten und seines Rufes ist er sehr gefragt.
Wenn Akuchi ein Team bei einem Run begleitet, spricht sich das her-
um und bringt dem Team einen sofortigen Statusbonus.
16 Akuchi
eine Sache, wenn man einen Raum betritt und die Leute vor Ehr-
furcht erstarren, aber eine andere, wenn es sich jedes Mal sofort
herumspricht, dass man für einen Job angeheuert wurde und alle
Leute aufgeregt wissen wollen, was man wann und wo macht – das
ist gar nicht gut.
> Frosty
> Es wäre klug von ihm, sich eine Weile bedeckt zu halten. Man
braucht nicht viel Geld, um in Lagos über die Runden zu kom-
men, und ich schätze, dass Akuchi ein bisschen was auf die Seite
gebracht hat. Er sollte sich zurücklehnen und seinen Palmwein
schlürfen, damit die Yoruba sich ein bisschen beruhigen und die
Igbo ihre positive Aufmerksamkeit auf jemand anderen konzentrie-
ren können, jemanden wie Halim.
> Traveler Jones
> Vielleicht macht er das auch. Aber dann läuft ihm vielleicht wie-
der ein Job über den Weg, der seine Aufmerksamkeit erregt, und
er nimmt ihn an, denn er ist keiner, der zufrieden herumsitzt und
nichts tut, wenn es da draußen was Interessantes zu tun gibt.
> Black Mamba
> Dann hat er seinen Daumen auf der Waage des Schicksals, und
zwar nicht auf der Seite, die gut für ihn ist.
> Traveler Jones
Akuchi ist zwar ein Fatalist, aber kein Idiot, und ihm ist natürlich
nicht entgangen, dass die Mitglieder eines Teams sich zuerst gegensei-
tig schützen, bevor sie sich vor den Mietbiker werfen. Er hat im Lau-
fe der Jahre seine Fertigkeiten im Drohnenriggen verfeinert und sich
damit ein Netzwerk geschaffen, das seine eigenen Bedürfnisse vor die
aller anderen stellt. Wenn er Drohnen auswählt, kümmert er sich nicht
um solche Sachen wie Infiltration oder verdeckte Operationen – sie ge-
hören normalerweise nicht zu seinen Aufgaben. Es geht ihm vielmehr
hauptsächlich darum, potenziellen Ärger rechtzeitig zu erkennen und
ihn zu bekämpfen oder ihm auszuweichen. Deshalb zieht er Drohnen
vor, die ihm einen guten Überblick über die Umgebung verschaffen
und Gegner aufhalten können, bevor sie nahe genug kommen, um
Schaden anzurichten.
Akuchi wird in nächster Zeit vorsichtiger sein müssen, denn auf
den Straßen von Lagos heißt es, dass die Yoruba allmählich die Geduld
mit ihm verlieren. Sie haben ihn aufgefordert, sich nicht mehr an Runs
gegen ihre Interessen zu beteiligen, aber aufgrund seiner manchmal
recht willkürlichen Entscheidung für bestimmte Runs (und seiner Ver-
bindungen zu vielen Igbo-Anführern und -Soldaten) wird er früher
oder später wieder Dinge tun, die den Yoruba gar nicht gefallen, und
ihren Unmut erneut anfachen. Irgendwann werden die Yoruba wohl
das Reden sein lassen und zu aktiveren Maßnahmen greifen, und an-
gesichts ihres Einflusses und ihrer zahlenmäßigen Stärke in Lagos sollte
Akuchi sich gut darauf vorbereiten. Aber vielleicht kann er sich ja auch
darauf verlassen, dass das Schicksal auf seiner Seite steht und ihn noch
eine Weile am Leben erhält.
> Mamba schildert uns, wozu Akuchi an Land fähig ist, dabei ist
er auch auf See nicht schlecht. Nur wenige Leute wagen sich in
die Lagune von Lagos mit ihrer Umweltverschmutzung, ihren Am-
miten und dem völligen Fehlen von Deckung, aber Akuchi weiß,
was Geschwindigkeit wert ist und wie schnell man auf dem offenen
Wasser werden kann. Er ist auf dem Wasser nicht ganz so gut wie
an Land, aber dafür ist es da auch nicht so voll, und so kann er
schnell dahin gelangen, wo er hin will.
> Kane
AKUCHI

K G R S C I L W EDG ESS INI ID

2 6 5(8) 3 3 5 4 3 6 0,5 10(13) 1(3)

Zustandsmonitor (K/G): 9/10

Panzerung (B/S): 8/7

Fertigkeiten: Bodenfahrzeuge 7, Einschüchtern 3, Elektronik-Fertig-

RUNNER
keitsgruppe 5, Elektronische Kriegsführung 2, Fahrzeugmechanik 5,
Klingenwaffen 4, Pistolen 4, Schiffe 4, Schlosser 2, Seefahrtmechanik
2, Sprengstoffe 2, Straßenwissen 2, Waffenbau 2, Wahrnehmung 4

Gaben: Mut, Talentiert (Bodenfahrzeuge), Vertrautes Terrain (Ajegunle)

Bodytech: Cyberaugen [Stufe 2; Infrarotsicht, Smartlink, Sichtverbesse-

rung 3], Cyberohren [Stufe 1; Balanceverstärker], Kommlink [Spezi-
alanfertigung; Prozessor 5, Signal 4, Firewall 4, System 6], Kompo-
sitknochen (Aluminium), Reaktionsverbesserung 1, Reflexbooster 2,
Riggerkontrolle

Ausrüstung: Ammoniumnitrat (1 Kilo), Bereichsstörsender 6, Funk-

zünder, Panzerjacke [B/S 8/6], 3 Sprengkapseln

Drohnen & Fahrzeuge: Knight Errant P4 [Handling +1, Beschleuni-

gung 20/50, Geschwindigkeit 180, Pilot 3, Rumpf 2, Panzerung 2,
Sensor 3], 3 MCT Fly-Spy [Handl. +1, Beschl. 3/15, Geschw. 15,
Pilot 3, Rumpf 1, Panzerung 0, Sensor 2; mit Chamäleonfarbe, Be-
schattung 5, Steuerung 3], 2 MCT-Nissan Roto-Drohnen [Handl. 0,
Beschl. 10/25, Geschw. 100, Pilot 3, Rumpf 3, Panzerung 2, Sensor
3; mit Beschattung 5, Schwimmfähigkeit, Steuerung 3, Waffenhal-
terung (normal, extern, festmontiert, ferngesteuert), Zielerfassung
(Schnellfeuerwaffen) 4; auf jeder Drohne ein HK 227X montiert],
Thundercloud Contrail [Handl. +1, Beschl. 20/40, Geschw. 180,
Pilot 1, Rumpf 6, Panzerung 4, Sensor 1; mit Diebstahlsicherung,
Motortuning (Beschleunigung), Motortuning (Geschwindigkeit),
Ölsprüher, Riggeradapter, Verbesserte Sensorphalanx], Zemlya-Pol-
tava Crest [Handl. +2, Beschl. 10/30, Geschw. 80, Pilot 1, Rumpf
12, Panzerung 6, Sensor 1; mit Motortuning (Beschleunigung), Pan-
zerung, Riggeradapter, Zusätzlicher Treibstofftank]

Programme: Befehl 6, ECCM 4, Scannen 4, Schleicher 2, Verschlüs-

selung 3

Waffen:
Ares Predator IV [Schwere Pistole | Schaden 5K | PB –1 | HM | RK – |
15(s)]
Vibroschwert [Klingenwaffe | Reichweite 1 | Schaden 6K | PB –2]

Akuchi 17
 CAYMAN
Cayman ist das, was man einen echten Runner nennen könnte. Er hat
nie den einen großen Coup gelandet, von dem alle reden. Er hat nie
einen wichtigen Politiker oder Trideostar umgelegt, nie den CEO eines
AA-oder-größer-Kons extrahiert, und er hat nie durch seinen rauen
Straßencharme das Herz eines glamourösen High-Society-Mädchens
oder -Jungen erobert.
Nein, Cayman hat einfach nur seinen Job erledigt, sich aus einigen
gefährlichen und komplizierten Situationen herausgewunden und sich
genug Zähigkeit und Härte angeeignet, dass Leute, die ihm auf der
RUNNER
Straße begegnen, unwillkürlich die Augen senken, um ja keinen zu-
fälligen Blickkontakt herzustellen. Und wenn das nicht ausreicht, um
einen in diesem Business zu einer Legende zu machen, dann such ich
mir einen anderen Job.
Es wäre etwas ungenau, zu behaupten, dass Cayman sich bewusst für
das Leben als Runner entschieden hat. Vielmehr ist er mehr oder weni-
ger hineingestolpert, weil ihn alles andere nie wirklich interessiert hat.
Er wurde in Savannah geboren, und sein richtiger Name ist Tim Brock
(aber sprecht ihn niemals mit Tim an). Als dritter Sohn eines Hafenar-
beiters in Georgia hatte Cayman in seiner Jugend nie viel Geld, doch
das versuchten seine Brüder in Form von Kopfnüssen, die sie großzügig
an ihn verteilten, wettzumachen. Wenn man ihn davon erzählen hört,
so hatten seine Brüder ihm gegenüber immer dreißig Zentimeter und
fünfzehn Kilo Vorsprung, egal wie er auch wuchs, und sie wurden es nie
müde, ihn an diesen Größenunterschied zu erinnern.
> Cayman ist selber ziemlich groß, aber er litt in seiner Jugend
unter einer Art Kleines-Hündchen-Syndrom und bemühte sich
ständig, seinen Körper zu trainieren. Glücklicherweise ist er inzwi-
schen darüber hinweg, was es wesentlich sicherer macht, mit ihm
auf einen Run zu gehen.
> Stone
Er nahm ihnen diese Behandlung immer übel, solange er jung war,
aber sobald er zum Jugendlichen herangewachsen war und den Weg
der Gangs kreuzte, die sich in der Hafengegend tummelten, war er
ihnen sogar dankbar für diese brutalen Lektionen. Er bekam natürlich
noch so einiges ab – er hat unter anderem eine lange Narbe auf seinem
Rücken –, aber er überlebte und lernte dabei, sich so zu präsentieren,
dass die Leute sich lieber nicht mit ihm anlegten. Während sich einige
seiner Altersgenossen ihren Weg in den Jugendstrafvollzug prügelten
und traten, kam Cayman mit einem Minimum an Gewalt aus, indem
er die Leute von vornherein davon überzeugte, dass sie bei ihm den
Kürzeren ziehen würden.
Indem er seine Finger einigermaßen sauber hielt, verschaffte Ca-
yman sich eine Chance, die für viele seiner Altersgenossen nicht in
Frage kam – ein normales, legales Leben. Er versuchte es bei Sicher-
heitsdiensten, beim Militär, bei der Polizei, doch es war alles nicht das
Richtige für ihn. Einen Schreibtischjob zog er nie in Erwägung, und
seine Verwandten und Freunde schlugen ihm so etwas auch gar nicht
erst vor.
Sein zukünftiger Weg zeichnete sich klarer ab, als sein Bruder Burt
bei einem Überfall auf einen gepanzerten Transporter getötet wurde.
Er erfuhr davon, als sein anderer Bruder, Vern, ihn weckte und auffor-
derte, loszugehen und die Leute fertigzumachen, die Burt erledigt hat-
ten. Vern erzählte ihm, dass eine Gang aus Savannah, die Dock Lords,
sie nach dem Überfall abgefangen, ihnen die Beute abgenommen und
Burt umgebracht hatte. Cayman war noch ziemlich verschlafen, aber
18 Cayman
GEPOSTET VON: RISER
immerhin so weit im Besitz seiner geistigen Fähigkeiten, dass er ein
paar Fragen stellen konnte, wie: Woher wussten die Dock Lords von
dem Überfall? Kamen bei dem Angriff noch andere Leute außer Burt
zu Schaden? Wer hatte Vern erzählt, dass die Dock Lords für Burts Tod
verantwortlich waren?
> Manchmal (wenn ich mal zu viel Zeit habe) denke ich, dass dies
eins der Dinge ist, die Shadowrunner von Gangern oder organisier-
ten Kriminellen unterscheidet. Die Motivationen und Taktiken der
Ganger und Gangster sind ziemlich simpel und geradeaus, und ihr
Wert bemisst sich daran, wie gut sie Befehle ausführen können,
ohne Fragen zu stellen. Wenn man aber ein guter Shadowrunner –
und ein lebendiger Shadowrunner – sein will, darf man nicht einfach
Befehle befolgen. Man muss sich überlegen, was um einen herum
vor sich geht, wer versucht, einen übers Ohr zu hauen, und solche
Sachen eben. Sobald Cayman begonnen hatte, auf diese Weise zu
denken, konnte er kein brauchbarer Hafenschläger mehr sein.
> Thorn
Die Antworten, die Cayman fand, überzeugten ihn davon, dass
Vern aufs falsche Pferd gesetzt hatte. Er sagte Vern, dass sie sich nicht
an den Dock Lords rächen würden, Vern sagte, dass sie es sehr wohl
tun würden, und so diskutierten sie eine Weile mit den Fäusten weiter.
Doch Caymans Argumente und Fäuste waren letztlich überzeugender,
und sie gingen nach Hause.
Cayman lernte daraus zwei Lektionen: Erstens sollte man niemals
zulassen, dass jemand anders die Informationen kontrolliert, die man
braucht. Und zweitens sollte man immer darauf vorbereitet sein, sei-
nen Standpunkt auch mit den Fäusten zu verteidigen.
> Er ist recht fanatisch, was den ersten Punkt angeht, vergisst dabei
allerdings nie den Zusatz „die man braucht“. Er weiß, dass es Dinge
gibt, die Mr. Johnson ihm nicht sagen wird, und er weiß auch, dass
es oft besser so ist. Nehmen wir zum Beispiel diesen Run, den er vor
nicht allzu langer Zeit in Denver durchzog. Er war vom Department
of Domestic Investigations der CAS beauftragt worden, mit einigen
ihrer Informanten zu reden. Ein paar UCAS-Agenten hatten denen
mit Bargeld vor dem Gesicht herumgewedelt, und Cayman gehörte
zu einem Team, das sie mit überzeugenden Argumenten auf den
rechten Weg zurückholen sollte. Er sorgte dafür, dass er die Infor-
mationen bekam, die er brauchte – wer die Informanten waren, ihre
Lebensgeschichte, die Chance, dass sie gewalttätig wurden, wenn
man ihnen drohte, und ähnliche Dinge –, aber er wusste auch, dass
es einige Fragen gab, die er nicht stellen durfte. Als er losging, um
seinen Job zu erledigen, fielen ihm ein paar Gemeinsamkeiten bei
den Leuten auf, die er einschüchtern sollte – sie waren alle Metas,
und sein Besuch schien sie mehr zu überraschen als zu erschrecken.
Er ist kein Idiot – er reimte sich zusammen, dass das, was er tat,
nur Show war, dass die Einschüchterungen letztlich nichts ändern
würden und dass es einen Grund dafür geben musste, dass die CAS-
Beamten vorgaben, ihre Leute an einer Rekrutierung durch UCAS-
Agenten zu hindern, ohne wirklich etwas Effektives zu tun. Wenn
er ein bisschen gegraben hätte, hätte er vielleicht die wahren Mo-
tive seiner Auftraggeber herausbekommen, aber er wusste, dass das
nicht sein Job war, also ließ er diese Informationen in den Händen
der Leute, die ihn angeheuert hatten.
> Traveler Jones
> Die CAS lässt zu, dass ihre Meta-Informanten in Kontakt mit
UCAS-Agenten bleiben? Ich würde mal darauf tippen, dass das eine
gemeinsame Operation zwischen der CAS und den Lesker-feind-
lichen UCAS-Fraktionen ist und dass diese Informanten Beweise
für Leskers rassistische Vergangenheit liefern werden, sobald diese
an die Öffentlichkeit gelangt.
> Kay St. Irregular
Nachdem er Vern beruhigt hatte, verbrachte Cayman einige Wo-
chen damit, mehr über den Tod seines Bruders herauszufinden, und
entdeckte schließlich, dass er von den Mitgliedern seines eigenen
Teams umgebracht worden war, damit sie ihm nicht seinen Anteil
zahlen mussten. Dann hatten sie Vern erzählt, die Dock Lords seien
es gewesen, um auf diese Weise eventuell noch ein paar Mitglieder
einer rivalisierenden Gang loszuwerden oder aber Burts Brüder, die
sich sonst vielleicht eines Tages an ihnen rächen würden.

RUNNER

PERSÖNLICHE DATEN: CAYMAN

Alter: 44
Gewicht: 104 kg
Augenfarbe: Braun
Metatyp: Mensch
Größe: 1,85 m
Haarfarbe: Schwarz
mit grauen Strähnen
Geschlecht: Männlich
Erwacht: Nein

Cayman 19
 Doch zu ihrem Pech war Cayman noch am Leben, und sein Rache-
durst wurde immer stärker. Er übernahm die Rolle des Schiebers und
Johnsons für seinen ersten Shadowrun und konnte ein paar Freunde
für eine psychologische Operation gegen Burts früheres Team zusam-
menbekommen. Er wollte sie nicht einfach nur töten – erst wollte er
ihnen Angst einjagen vor dem Tod, der ihnen bevorstand, und dann
wollte er sie töten. Cayman und sein Team bewiesen große Kreativität
bei ihren Bemühungen, das gegnerische Team zu erschrecken – sie hin-
terließen auf Spiegel gekritzelte Nachrichten, platzierten Leichenteile
in ihren Betten, erschufen verstörende Trideobilder, die die Zielperso-
nen an unerwarteten Orten grüßten, und dergleichen –, bis sie ihnen
endlich den Todesstoß versetzten.
Man kann nicht direkt behaupten, dass Cayman an diesem Run
Spaß hatte, aber die Ausübung der Rache verschaffte ihm eine tiefe Be-
friedigung. Aber ihm wurde dabei auch bewusst, welches Risiko damit
RUNNER
verbunden ist, wenn man bei einer Mission emotional zu sehr invol-
viert ist, und so beschloss er, von nun an immer möglichst unbeteiligt
zu bleiben. Er ist nicht mehr die schillernde Rächergestalt, die er bei
seinem ersten Run verkörperte. Sein Auftreten ist im Allgemeinen sehr
geschäftsmäßig, wenn auch ein bisschen schroff, und er interessiert
sich mehr für eine angemessene Bezahlung als für persönliche Belei-
digungen.
> Stimmt, man kann dem Kerl so ziemlich alles an den Kopf wer-
fen, und sogar wenn man ein wahrer Künstler auf dem Gebiet der
Beschimpfung ist, ist es ihm egal. Aber wenn man ihn andererseits
etwas fragt, mit dem man möglicherweise unterstellen könnte,
dass er auf eine Mission nicht ausreichend vorbereitet ist („Du
hast doch Munition dabei, oder?“), geht er in die Luft.
> Black Mamba
> „In die Luft gehen“ bedeutet hier „Fresse polieren“.
> Stone
Aber damit will ich nicht sagen, dass er seinen Sinn für Rache verlo-
ren hätte. Wenn ihm jemand an den Karren pinkelt, sorgt er dafür, dass
derjenige es weiß und dafür bezahlt. Es gibt da einen Straßendoc in Se-
attle, der eine breite Narbe auf Handrücken und Handfläche hat, die
von dem recht großen Messer stammt, mit dem Cayman diese Hand
an den Tisch nagelte, um seiner Enttäuschung darüber Ausdruck zu
verleihen, dass der Doc sich nicht mehr an alle Daten eines Cyberarms
erinnerte, den er bei einer von Caymans Zielpersonen implantiert hat-
te. Wie gesagt, Cayman nimmt seine Informationen ernst, und er hat
nichts für Leute übrig, die ihn in die Irre führen.
Cayman hat bei einigen Gelegenheiten die Rolle des Teamführers
übernommen, aber normalerweise fühlt er sich in der Funktion des
gemieteten Schützen am wohlsten. Er ist kein großer Gesellschafts-
mensch, deshalb sind ihm die Aufgaben, die mit der Führung eines
Teams einhergehen, meistens zu lästig. Er kennt sich mit einer großen
Auswahl an Waffen aus und geht kreativ genug damit um, um in einer
Vielzahl von Missionen nützlich zu sein.
Er weiß, wann es darauf ankommt, genau zu schießen, und wann
es wichtiger ist, einfach nur zu ballern. Einmal war er in einer Knei-
pe in den Seattle Barrens, und einige Mitglieder der Finnigan-Familie
(mit der er schon in der Vergangenheit ein paar Auseinandersetzungen
hatte) stürmten herein und gingen mit gezogenen Waffen auf ihn los.
Es wäre unmöglich gewesen, einen gezielten Schuss anzubringen, be-
vor sie ihn mit Blei vollgepumpt hätten, aber er wusste, dass er auch
20 Cayman
gar keinen gezielten Schuss brauchte. Er hatte eine Schrotflinte ne-
ben sich stehen, die er abfeuerte, ohne sie ganz hochgerissen zu haben.
Der Schuss ging in den Fußboden, ohne jemanden zu treffen, aber
das reichte ihm schon. Er hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, als
er feuerte (und er nutzte zusätzlich den Rückstoß der Waffe aus), des-
halb verfehlte ihn die erste Salve der Finnigans. Bei Caymans Schuss
brach Chaos in der Kneipe aus, und er nutzte das Durcheinander, um
eine Deckung zu finden, von der aus er die Mafiosi einen nach dem
anderen ausschalten konnte, bis sie zu der Überzeugung kamen, dass
es besser wäre, die Finger von ihm zu lassen.
> Das führte dazu, dass einige Finnigans der Meinung waren, Cay-
man müsse sterben, was dazu führte, dass einige Finnigans in den
Straßen ihr Leben aushauchten, was wiederum dazu führte, dass
einige höherrangige Finnigans auf die Sache aufmerksam wurden
und ein Kopfgeld auf Cayman aussetzten. Die Folge ist, dass Cay-
man sich in nächster Zeit wahrscheinlich von Seattle fernhalten
wird. Wie ich hörte, ist er ins Ausland gegangen, möglicherweise
nach Afrika.
> Sunshine
> Ich sage ja immer, es gibt keinen besseren Grund zu verreisen,
als eine Belohnung auf den eigenen Kopf.
> Hard Exit
Das heißt jetzt nicht, dass er sich mit ballernden Kanonen in jede
Situation stürzt. Er weiß, dass eine Waffe manchmal am besten wirkt,
wenn man sie sieht, aber nicht hört. Einmal war er mit einer Extraktion
beauftragt, bei der der zu extrahierende Exec nur ungern gehen wollte.
Er ließ sich von Caymans Team bis auf ein Dach hoch über Manhattan
jagen. Der Exec wollte sich da von einem Hubschrauber abholen lassen,
aber der Hacker aus Caymans Team spielte ein bisschen herum, und so
näherte sich der Hubschrauber dem Dach in einem reichlich wackligen
Zielanflug. Als er näher kam, schnappte Cayman sich eine Waffe, die
er in weiser Voraussicht einer solchen Situation auf dem Dach depo-
niert hatte, und zielte auf den Hubschrauber. Es war ein Thunderstruck
Gaussgewehr. Da der Pilot keine Lust darauf hatte, die Zielscheibe zu
spielen, drehte der Hubschrauber (mit Unterstützung des Hackers) ab
und ließ den jetzt wesentlich kooperativeren Exec allein.
> Komm schon – wer deponiert eine Thunderstruck auf einem
Hochhausdach, nur weil er sie eventuell vielleicht da brauchen
könnte? So ein Ding ist nicht gerade sonderlich gut zu tarnen.
> Butch
> Ein Zauber, um das Ding zu tarnen, ein Zauber, um der Zielper-
son eine vage Idee in den Kopf zu setzen, und solange die Ziel-
person nicht Erwacht ist – und der Exec war es nicht –, hat man
einen brauchbaren Plan.
> Jimmy No
Wie diese Geschichten beweisen, ist Cayman kein Mann für raffi-
nierte Schießkunststückchen oder Showeinlagen. Ihn interessiert nur,
was funktioniert. Er ist zuverlässig, hartnäckig und furchtlos – Quali-
täten, die wir uns alle bei unseren Teamkollegen wünschen. Er muss
euch nicht unbedingt mögen, er erscheint oft ein bisschen mürrisch,
aber er zieht seinen Job durch, er macht ihn gut und er erhöht eure
Chancen, zu überleben. Was will man mehr?
CAYMAN

K G R S C I L W EDG ESS INI ID

5 7 4(6) 5(7) 3 5 4 6 6 1,48 9(11) 1(3)
Zustandsmonitor (K/G): 11(12)/11

Panzerung (B/S): 10/6

Fertigkeiten: Einschüchtern 4, Erste Hilfe 3, Exotische Fernkampf-

waffe (Flammenwerfer) 4, Fallschirmspringen 2, Feuerwaffen-

RUNNER
Fertigkeitsgruppe 6, Geschütze (Artillerie) 4 (+2), Infiltration 2,
Knüppel 4, Laufen 3, Schwere Waffen (Sturmkanonen) 7 (+2),
Sprengstoffe (Plastiksprengstoff) 3 (+2), Survival 2, Waffenbau 2,
Wahrnehmung 4, Wurfwaffen (Granaten) 3 (+2)

Wissensfertigkeiten: CAS-Gangs 2, Musik Mitte 20. Jahrhundert 3,

Runnertreffpunkte 3, Schach 3, Seattler Straßen 4, Taktik kleiner Ein-
heiten 4, Waffenhersteller 5, Englisch M, Spanisch 2, Sperethiel 1

Gaben: Außergewöhnliches Attribut (Geschicklichkeit), Mut, Talen-

tiert (Schwere Waffen), Zähigkeit

Handicaps: Gesucht

Bodytech (alles Betaware): Cyberarm, offensichtlich [Geschicklich-

keit 3, Konstitution 3, Stärke 3, Panzerung 3; Cyberarm-Gyrosta-
bilisator, großer Schmuggelbehälter], Cyberaugen [Stufe 3; Blitz-
kompensation, Infrarotsicht, Restlichtverstärkung, Sichtverbesse-
rung 2, Sichtvergrößerung, Smartlink], Kompositknochen (Alumi-
nium), Reflexbooster 2; Adrenalinpumpe 2, Muskelverstärkung 2,
Thrombozytenfabrik

Ausrüstung: Formangepasste Körperpanzerung (Halbkörper) [B/S

4/1], 2 gefälschte SINs 4, 2 gefälschte Waffenlizenzen 5, Komm-
link [Hermes Ikon mit Iris Orb, Prozessor 4, Signal 3, Firewall 3,
System 3], Panzerweste [B/S 6/4], Plastiksprengstoff 10 (1 kg)

Waffen:
Ares Predator IV [Schwere Pistole | Schaden 5K | PB –1 | HM | RK – |
15(s) | Angepasster Griff, Smartgun; 50 Schuss APDS-Munition, 100
Schuss EX-Explosiv-Munition, 100 Schuss Schocker-Munition]
Ares Thunderstruck Gaussgewehr [Sturmkanone | Schaden 9K | PB –4
| HM | RK (1) | 10(s) | Hüftpolstersystem, eingebauter Lasermar-
kierer, Spitzenentladungsbatterie]
Remington 990 [Schrotflinte | Schaden 7K | PB –1 | HM | RK (1) |
8(m) | Angepasster Griff, Smartgun; 50 Schuss APDS-Munition,
20 Schuss Gelmunition]
5 IR-Rauchgranaten [Granate | Schaden – | PB – | Sprengwirkung 10
m Radius]
10 Splittergranaten [Granate | Schaden 12K(f ) | PB +5 | Sprengwir-
kung –1/m]
10 Sprenggranaten [Granate | Schaden 10K | PB –2 | Sprengwirkung
–2/m]

Cayman 21
 ELIJAH
PERSÖNLICHE DATEN: ELIJAH
Alter: 46 Größe: 1,79 m
Gewicht: 82 kg Haarfarbe: Braun
Augenfarbe: Grün Geschlecht: Männlich
Metatyp: Mensch Erwacht: Ja
RUNNER
(Hermetischer Magier)
Elijah ist ein Problem. Er ist intelligent, hochgebildet und kultiviert,
aber wenn man das falsche Thema anschneidet, haut er einem Theo-
rien um die Ohren, gegen die selbst die von Plan 9 harmlos erschei-
nen. Und dann, wenn man gerade davon überzeugt ist, dass er ein
kompletter Spinner ist, der zu lange in den höheren Gefilden der
akademischen Welt abgeschottet war, um sich an die reale Welt zu
erinnern – dann legt er erst richtig los und legt einem die Beweise
für seine Theorien dar, breitet alles vor einem aus, bis man die Logik
seiner Erklärungen akzeptiert oder einen Punkt erreicht hat, wo man
glaubt, dass er entweder tatsächlich auf etwas gestoßen ist oder ein
außergewöhnliches Talent hat, andere mit seinem eigenen Wahnsinn
anzustecken. Und dann stellt man fest, dass, bei aller Abgedrehtheit
seiner Theorien, der Mann selbst sehr umsichtig in seinen Aktionen
ist und sich nicht darauf einlässt, eine wilde Theorie bis zum irrationa-
len Ende zu verfolgen. Und man fragt sich, wenn er doch so umsichtig
und logisch in dem ist, was er tut, sind seine Theorien dann wirklich
so abwegig?
Vielleicht löst man das Problem um Elijah, wenn man sich verge-
genwärtigt, dass er den größten Teil seiner Zeit irgendwo in einem El-
fenbeinturm verbringt und dass er zwar eine Menge Theorien hat, die
in der Abgeschiedenheit, in der er arbeitet, ganz vernünftig klingen,
die aber in der Hitze der Realität schnell dahinschmelzen. So wie auch
der Mann selbst, könnte man denken. Er macht nicht viel her. Brille,
schütteres Haar, ein Körperbau, der Tendenzen zum Bauchansatz er-
kennen lässt. Was kann so jemand schon darüber wissen, wie es in den
Straßen wirklich aussieht?
Aber lasst mich euch einen Rat geben: Vergesst diesen Gedanken
sofort, wenn Elijah bei einem Run auf der gegnerischen Seite steht.
Unterschätzt ihn nur für eine Sekunde, und ihr gebt ihm genug Frei-
raum, Geister zu beschwören und auf euch zu hetzen, die perfekt auf
ihre vorgesehene Aufgabe eingestimmt sind und euch die Ruhe und
den Frieden eines Hurrikans der Kategorie 5 herbeisehnen lassen.
> Sprichst du hier aus eigener schlechter Erfahrung?
> Butch
> Nicht direkt aus Erfahrung, nein. Ich kenne Elijah lange ge-
nug, um ihn bestimmt nicht zu unterschätzen, falls wir mal auf
verschiedenen Seiten stehen sollten, aber bislang hatte ich im-
mer genug Glück – und Verstand –, es gar nicht erst zu so einer
Situation kommen zu lassen. Aber ich kenne ein paar Leute, die
diesen Fehler begangen haben, darunter einen, dem die Erde un-
ter den Füßen Wellen schlug, als er gerade einen Spruch wirken
22 Elijah
GEPOSTET VON: WINTERHAWK
wollte, und ihn auf den Rücken warf, mit direktem Blick auf einen
Geist über ihm, der aussah wie etwas von Hieronymus Bosch auf
Meskalin. Das Ding ging mit Tentakeln auf ihn los, die sich einen
Scheißdreck um die euklidische Geometrie scherten, und nachdem
sie Kontakt hatten, war der Magier genauso entspannt und fröhlich
wie jemand, der zehn Tage nicht geschlafen hat. Er überlebte –
Elijah hält nichts von unnötigen Todesfällen –, aber er träumt fast
jede Nacht von diesem Geist.
> Winterhawk
Elijah könnte bestimmt jederzeit eine Stelle an jeder besseren thau-
maturgischen Universität bekommen, aber er zieht das Leben als wan-
dernder Professor, Forscher und Freiberufler vor. Er hat Kontakte zu
allen größeren magischen Organisationen – Draco, Atlantean, MCT,
Apep –, auch wenn sich sein Verhältnis zu Aztechnology in letzter Zeit
deutlich verschlechtert hat. Ich weiß nicht, ob mehr dahintersteckt
oder ob er nur einen Einblick in die Art von Magie, mit der die Azzies
sich abgeben, bekommen und dann entschieden hat, dass er sich da-
von lieber fernhält.
> Nach allem, was ich gehört habe, steckt tatsächlich mehr dahin-
ter. Ein Magier, mit dem er ein paarmal zusammengearbeitet hat,
hat sich vor Kurzem an Big A verkauft, in der Hoffnung auf ein an-
genehmes Leben als Lohnmagier. Statt jedoch ruhige und friedliche
Forschung betreiben zu können, fand er sich plötzlich mitten im
Az-Am-Krieg wieder, mit dem Auftrag, Verteidigungszauber gegen
die amazonische Magie zu entwickeln. Er wurde mitten im Kriegs-
gebiet abgesetzt, ohne dass man ihm so richtig erklärt hätte, was
da auf ihn zukam, und gleich das erste Mal, als er in Kampfhand-
lungen verwickelt war, haben ihn irgendwelche Legt-zuerst-den-
Magier-um-Typen aufs Korn genommen und erschossen. Elijah sah
das so, dass sein Freund dermaßen schlecht vorbereitet worden
war, dass es einfach schiefgehen musste. Seitdem traut er Aztech-
nology noch weniger als die meisten von uns.
> Marcos
Wenn man Elijah nach seiner Jugend fragt, sagt er für gewöhn-
lich, dass sie nicht der Rede wert war. Meistens bedeutet das, dass ein
Runner irgendein dunkles Geheimnis zu verbergen hat, über das er
nicht reden will, aber in Elijahs Fall hat er einfach nur recht. Er wurde
von zwei Konzerndrohnen aufgezogen, sein magisches Talent wurde
bemerkt, er bekam die entsprechende Erziehung, und dann zog er aus,
um seinen Weg in der Welt zu gehen. Der Schlüsselmoment, der ihn
auf seinen jetzigen Weg brachte, ereignete sich erst, als er bereits mit
dem College fertig und Mitte 20 war.
Wie jeder in seinem Alter hatte auch Elijah keine Lust, den Rest
seines Lebens in Unterrichtsräumen und Büros zu verbringen. Sooft
er konnte, nahm er an Expeditionen teil, die Orte der Macht, Ge-
genden mit hoher Hintergrundstrahlung oder Regionen mit starken
Geisteraktivitäten erforschten, und das wurde (neben den Geistern)
auch sein Spezialgebiet. Auf einer dieser Forschungsreisen besuchte
er die deutsche Stadt Karlsruhe, die aus einer Vielzahl von Gründen
bemerkenswert ist, unter anderem wegen der Tatsache, dass sie sich
nach und nach in das Erscheinungsbild zurückverwandelt, das sie im
16. Jahrhundert hatte, wobei niemand so recht weiß, wie und warum
das geschieht. Elijah war sofort von der Stadt gefesselt und begann,
ihren ungewöhnlichen symmetrischen Grundriss zu studieren. Er
entdeckte nichts revolutionär Neues, als er eine Verbindung zwischen
den „Speichen“ der Hauptverbindungsstraßen und der Lage wichtiger
mystischer Orte auf der ganzen Welt erkannte, doch sobald er sich
für diese seltsame Tatsache geöffnet hatte, erfuhr er von den Geistern,
mit denen er dort Kontakt aufnahm, merkwürdige Dinge. Die viel-
leicht überraschendste Information, auf die er stieß, drehte sich um
Heinrich Rudolf Hertz’ Entdeckung der elektromagnetischen Wellen
in dieser Stadt im 19. Jahrhundert. Nach dem, was er von den Geistern
in Erfahrung brachte, wurden Hertz’ Forschungen stark von diesem
Grundriss der Stadt inspiriert, und es gab auch wohl Kräfte magischer
Natur, die ihn hinter den Kulissen ein bisschen in die richtige Rich-
tung getrieben haben.
> Na, prima. Das alte „Wissenschaft-war-schon-immer-Magie“-
Argument. Ich freue mich immer wieder, wenn es auf den Tisch
kommt.
> Snopes
RUNNER
Elijah 23
 > Das habe ich nie behauptet. Hertz’ Forschungen brauchten eine
solide wissenschaftliche Untermauerung – sonst wäre alles, was
daraus resultierte, viel zu schwer zu bewerkstelligen gewesen. Ich
glaube nicht, dass elektromagnetische Wellen mit dem Manafeld
der Erde verbunden sind, so wie es manche Leute behaupten. Was
ich bei meinem Besuch in Karlsruhe wirklich entdeckte, war, dass
es mächtige magische Kräfte gab, die wollten, dass der Elektroma-
gnetismus entdeckt wurde, und die wollten, dass die Menschheit
ihn sich zunutze machte. Das hat mich zu ausgedehnten Nachfor-
schungen animiert, wie und wann die Menschheit in bestimmte
Richtungen gedrängt wurde, Nachforschungen, die sich als sehr
fruchtbar erwiesen haben. Die Frage, die noch zu beantworten
bleibt, ist dieselbe, auf die man bei dieser Art von Forschung im-
mer zu stoßen scheint – ich habe zwar eine ungefähre Vorstellung
davon, wer was macht, aber es ist schwierig zu erkennen, warum
RUNNER
sie es tun und auf welches Ziel sie hinarbeiten.
> Elijah
Bei dieser Arbeit musste Elijah mehr lernen, als nur Geister zu
beschwören und sie dazu zu bringen, einen Auftrag auszuführen. Er
musste lernen, wie man Informationen aus ihnen herausbekommt.
Das ist eine recht verzwickte Aufgabe, da Geister oft unverbesserli-
che Schwindler sind, was manchmal sogar so weit geht, dass sie sich
selbst beschwindeln. Es ist zum Beispiel durchaus möglich, einen
Geist zu beschwören, der behauptet, der Geist von Heinrich Rudolf
Hertz zu sein, der mit einem überzeugenden Erscheinungsbild auftritt
und die richtigen Details weiß. Man kann sogar einen „Wahrheit-
Analysieren“-Zauber auf diesen Geist wirken, bei dem nichts heraus-
kommt, weil der Geist selber fest daran glaubt, die Wahrheit zu sa-
gen. Aber das alles heißt noch lange nicht, dass der Geist wirklich das
ist, was er zu sein vorgibt. Elijah hat erfahren, dass Geisterforschung
sehr gründlich und ausgedehnt betrieben werden muss, um effektiv
zu sein. Man muss ein weites Netz über die Geisterpräsenzen in der
Region werfen und sie sehr detailliert befragen, um sich langsam an
die Wahrheit heranzutasten.
Einer der Tricks dabei ist derselbe wie bei jeder Art der Informati-
onsbeschaffung – man muss die Geister mit den besten Informationen
ausfindig machen und an sie herankommen. So gerne Elijah die gehei-
me Geschichte der Sechsten Welt enthüllen würde, es gibt mächtige
Kräfte, bis hin zu den Großen Drachen, die gerade diese Geheimnisse
bewahrt wissen wollen. Diese Mächte sind sehr gut darin, Geister ab-
zusondern, sie an Leute zu binden, die in ihren Diensten stehen, und
dann ihre Diener und die Geister in irgendeine abgeschiedene Gegend
zu schicken, mit genügend Foki, um den Geist festzuhalten und not-
falls neu zu binden.
> Man kann einen Geist natürlich auch mithilfe einer Manabarriere
einsperren, und einige Gruppierungen, insbesondere die Atlantean
Foundation, versenken gern eine solche Barriere, die einen Geist
gefangen hält, auf den Meeresgrund. Und das ist nicht eben die
schlechteste Lösung, vorausgesetzt, man hat einen Magier, der
den Spruch lange genug aufrechterhalten und die Sichtverbindung
lange genug beibehalten kann, dass der Zauber dahin geht, wo er
hin soll. Aber wo ein Geist hingeht, kann auch ein anderer hin,
und deshalb besteht immer das Risiko, dass die Barriere aufgelöst
wird, wenn niemand da ist, der die Sache im Auge behält. Für
gute Sicherheit braucht man Personal, Geister oder beides, um ein
ständiges Auge auf die Dinge zu werfen.
> Frosty
Elijah erzielte einen bemerkenswerten Erfolg bei seiner Arbeit, als
er einen ganz bestimmten Geist bis zur Verlorenen Mine von Abo-
denbo verfolgte. Nachdem er sich durch die Ghulbevölkerung Asa-
24 Elijah
mandos und die im Dorf ansässigen Magier durchgeschlagen hatte,
fand Elijah sich in einem engen Gewölbe fünfhundert Meter im Inne-
ren des Berges wieder. Die Wächter waren ziemlich wild, sie führten
magische Angriffe gegen jeden, den sie nicht kannten, und Elijah hatte
ernsthafte Probleme, voranzukommen. Er zog sich zurück und ver-
brachte einige Tage damit, sich eine Strategie auszudenken, die sich
die Tatsache zunutze machte, dass der Angriff, den er plante, nicht von
den Felsmauern eingeschränkt sein musste, von denen die Wächter
eingeschlossen wurden.
Der Angriff, den er schließlich führte, war eine List. Nach einem
schnellen Geistervorstoß in die Kammer, in der der gesuchte Geist
eingesperrt war, konzentrierte Elijahs immaterielle Armee ihre Bemü-
hungen auf die Wächter der Kammer. Er konnte sie daran hindern,
miteinander zu kommunizieren, daher wusste keiner der Wächter, wie
es um die anderen stand. Und sie bekamen nicht mit, wie oft jeder von
ihnen die Dienste des gebundenen Geistes in Anspruch nahm, um sie
bei ihrem Kampf zu unterstützen.
Nach einer wilden Schlacht, bei der der größte Teil der Mine ein-
stürzte und Elijah selbst von Geröll verschüttet wurde – nur durch eine
physische Barriere davor geschützt, von den Felsen zermalmt zu werden
–, unterlief den Wächtern eine Fehleinschätzung und sie benutzten den
letzten Dienst des Geistes. Sobald dieser Job erledigt war, verschwand
der Geist mit einem triumphalen Kreischen und ließ die verblüfften
Wächter hinter sich zurück. Ihre Überraschung verwandelte sich schnell
in Wut, und sie starteten eine Suche nach Elijahs Aura im gesamten
Berg, um ihn für seine Tat bezahlen zu lassen. Doch alle Geister, die er
beschworen hatte (oder zumindest die, die noch auf dem Schlachtfeld
waren), hatten sich um Elijah geschart, und wenn die Wächter an Elijah
inmitten seiner Festung aus Geröll herankommen wollten, mussten sie
erst durch die Reihen dieser Armee dringen. Nach einigen vergeblichen
Versuchen, Elijahs physische Barriere aufzulösen, flohen sie und ver-
suchten, möglichst schnell möglichst weit weg zu kommen, bevor ihre
Herren herausfanden, was geschehen war, denn die würden sicherlich
weit üblere Dinge mit ihnen anstellen als Elijah.
> Und hat Elijah den Geist schließlich gefunden? Und was hat er
ihm erzählt?
> Jimmy No
> Frage eins: Ja. Er war mir dankbar dafür, dass ich ihn befreit
hatte, auch wenn die Dankbarkeit eines Geistes oft keinerlei Ähn-
lichkeit mit menschlicher Dankbarkeit hat. Frage zwei: Wenn ich
diese Informationen nicht mal dem Vorstand der Draco Foundation
geliefert habe, warum, glaubst du, sollte ich sie dir geben?
> Elijah
Elijahs größte Schwäche ist vielleicht auch die Quelle eines be-
trächtlichen Teils seiner Stärke. Seine Gier nach Wissen hat ihn dazu
getrieben, seine Fertigkeiten bis zu ihrem heutigen Stand zu entwi-
ckeln, aber diese Gier kann manchmal – wenn auch selten – seine
Logik überwältigen. Wenn er einmal weiß, oder auch nur fest davon
überzeugt ist, dass irgendwo ein wichtiges Stück Wissen liegt und auf
ihn wartet, ist es nahezu unmöglich, ihn von der Jagd darauf abzubrin-
gen. Das Bedürfnis, ein Geheimnis, von dem er Wind bekommen hat,
in Erfahrung zu bringen, kann ihn überwältigen und dazu bringen, die
strenge Logik, die sich durch die meisten Aspekte seiner Arbeit zieht,
zu ignorieren. Wenn ich vorhätte, Elijah zu manipulieren, würde ich
dort ansetzen.
> Vielen Dank für die Warnung, Winterhawk. Trotzdem glaube ich,
dass die Gier nach Wissen als Schwäche immer noch nützlicher ist
als viele angebliche Stärken anderer Runner.
> Elijah
> He, Winterhawk, bei seinen Schwächen hast du offenbar verges- > Natürlich hat er das. Er ist ein Magier, oder?
sen zu erwähnen, dass er auch ein ziemlich aufgeblasenes Ego hat. > Slamm-0!
> Pistons

ELIJAH

K G R S C I L W M EDG ESS INI ID

4 3 5 3 4 5 7 5 8 6 6 10 1

Zustandsmonitor (K/G): 10/11

RUNNER
Panzerung (B/S): 5/3

Fertigkeiten: Ausweichen 2, Beschwören-Fertigkeitsgruppe 6, Erste

Hilfe 3, Führung 3, Gebräuche (Geister) 3 (+2), Hexerei-Fertigkeits-
gruppe 5, Medizin 2, Navigation 2, Pistolen 2, Survival 3, Unter-
richt 3, Wahrnehmung 4

Wissensfertigkeiten: Archäologie 3, Architektur 2, Magiegeschichte 5,

Magische Artefakte 5, Magische Gruppen 4, Metaphysik 3, Philoso-
phie 3, Volksmusik (indianisch) 3 (+2), Englisch M, Französisch 3,
Japanisch 2, Mandarin 2, Portugiesisch 3, Russisch 2, Spanisch 4

Gaben: Außergewöhnliches Attribut (Logik), Erhöhte Konzentrations-

fähigkeit, Schutzpatron, Zauberer

Initiatengrad: 3

Metamagie: Geomantie, Intensivierung, Zentrierung

Zauber: Astrale Hellsicht, Astrales Fenster, Astralpanzer, Betäubungs-

ball, Betäubungsblitz, Geister Aufspüren, Geisterbarriere, Geister-
löscher, Geistessonde, Magie Analysieren, Magie Aufspüren, Mana-
barriere, Manablitz, Manafenster, Mananetz, Verwirrung, Wahrheit,
Wahrheit Analysieren

Ausrüstung: Atemgerät 4, Brille [Stufe 4; Bildverbindung, Blitzkom-

pensation, Restlichtverstärkung, Smartlink], Füllfederhalter [Zau-
berspruchfokus (Manipulationszauber) Kraft 4], GPS, Hasenpfote
[Herbeirufungsfokus Kraft 5], Kommlink [Transys Avalon mit No-
vatech Navi, Prozessor 4, Signal 4, Firewall 3, System 3], 5 Mag-
nesiumfackeln, Medkit, Mortimer of London (Anzugjacke, Hose,
Hemd) [B/S 5/3], 20 m myomerisches Seil, Survival-Kit, Taschen-
lampe

Waffen: Hämmerli 620s [Leichte Pistole | Schaden 4K | PB – | HM |

RK 1 | 6(s)]

Schutzpatron: Schlange [+2 auf Wahrnehmungszauber, +2 auf Binden-

Proben; –1 Würfel für Kampfzauber]

Gebundene Geister: 2 Erdgeister (Kraft 3, jeweils 2 Dienste), 2 Geis-

ter des Menschen (Kraft 3, jeweils 3 Dienste), Luftgeist (Kraft 5, 2
Dienste)

Elijah 25
 HAZE
PERSÖNLICHE DATEN: HAZE
Alter: 32 Größe: 1,78 m
Gewicht: 66 kg Haarfarbe: Braun,
blond gefärbt
Augenfarbe: Blau Geschlecht: Männlich
RUNNER
Metatyp: Elf Erwacht: Ja (Schamane)
> Genau wie einige andere hier war auch Pistons nicht allzu er-
freut über Hazes Aktionen im Sommer ‘71, als Tempo zum ersten
Mal in den Straßen von Seattle auftauchte. Ich will hier nicht
wiederkäuen, was damals passiert ist – ihr könnt es in den Ar-
chiven nachlesen, wenn es euch interessiert. Auf dem Höhepunkt
ihrer Verärgerung hat sie den folgenden Text zusammengestellt,
den sie sich wahrscheinlich als eine Art Enthüllungspamphlet
gedacht hat. Was auch immer ihre Motive waren, dieses Doku-
ment ist gleichzeitig eine enthusiastische Würdigung seiner Fä-
higkeiten und eine erbitterte Herabwürdigung seines Charakters,
und ich finde, es gehört einfach in eine Sammlung von Texten
über die wirklich interessanten Leute. Man kann Haze mögen
oder hassen, aber ich denke, Pistons hat recht, wenn sie sagt,
dass man wissen sollte, mit wem man da möglicherweise zusam-
menarbeitet.
> FastJack
Haze ist schon seit Langem ein JackPoint-User, und meine Ent-
scheidung, seine schmutzige Wäsche für alle sichtbar ans Licht zu zer-
ren, mag keine populäre sein. Ich habe mir die Entscheidung sicherlich
nicht leicht gemacht. Einige von euch mögen einwenden, dass Haze
ein Recht auf seine Privatsphäre hat, aber ich sage, dass wir das Recht
haben zu wissen, was das für eine Person ist, von der wir hier unsere
Informationen bekommen und mit der wir vielleicht irgendwann zu-
sammenarbeiten – oder die uns auf der anderen Seite gegenübersteht.
Ich kann euch versprechen, dass dieses Dokument nicht über Jack-
Point hinausgelangen wird, auch wenn er immer noch von Lone Star,
Knight Errant und EuroPol gesucht wird. Ich mag vielleicht vieles sein,
aber ich bin keine Ratte. Das hier ist nur für eure Augen gedacht, und
welche Konsequenzen auch immer mir dafür blühen, ich bin bereit, sie
auf mich zu nehmen.
Haze ist ein soziopathischer Meistermanipulator und ein absolutes
Monster. An seinen guten Tagen. Okay, ich weiß, dass keiner von uns
in nächster Zeit einen Orden für überragende Bürgertugenden bekom-
men wird, aber Haze ist anders. Ich habe mit einem Bekannten geredet,
der irgendwo eine psychologische Ausbildung in seinem Lebenslauf
versteckt, und er sagte, dass Haze viele der typischen Symptome eines
klinischen Soziopathen zeigt – einen Mangel an Einfühlungsvermögen
oder Mitgefühl für andere, eine hartnäckige, krankhafte Neigung zu
Manipulation und Lügen, geringe Selbstbeherrschung, Promiskuität,
das Verlangen nach ständiger Stimulierung oder ein selbstdestruktives
Verlangen nach neuen Sinneserfahrungen, aggressives oder gewalt-
tätiges Verhalten, gefühlsarme oder missbrauchende Beziehungen,
26 Haze
GEPOSTET VON: PISTONS
Redegewandtheit und oberflächlichen Charme, das Verlangen nach
Kontrolle über andere und eine ausgesprochene Tendenz, anderen die
Schuld zu geben oder rationale Begründungen für inakzeptables Ver-
halten zu finden.
> Promiskuität? Ist das dein Ernst? Na, das nenne ich mal einen
Soziopathen. Ich habe mich dazu auch schnell ein bisschen schlau
gemacht, weißt du, und viele dieser Merkmale treffen auf uns alle
hier zu. Wie das Fehlen eines realistischen Lebensplans, ein para-
sitärer Lebensstil, wiederholte Probleme mit dem Gesetz...
> Kat o’Nine Tales
> Aber es sind nicht eins oder zwei dieser Merkmale, die kenn-
zeichnend für jemanden sind, der an APS (antisoziale Persönlich-
keitsstörung, nicht zu verwechseln mit APDS) leidet (ironische
Anführungszeichen optional). Es ist das Vorhandensein aller Merk-
male.
> Butch
Das Gefährliche an Haze ist, dass er seine soziopathischen Tenden-
zen und seine Erwachten Fähigkeiten auf eine beunruhigend synerge-
tische Weise kombiniert. Wie ihr aus seinen Posts hier auf JackPoint
erkannt haben solltet, ist Haze ein versierter Zauberer – ein Schamane.
Er hat sich auf Beherrschung und Geisteskontrolle spezialisiert. Vor
zwei Jahren, als er unter dem Einfluss von Tempo stand (gegen den Rat
vieler von uns), war Haze in den sexuellen Missbrauch eines 19-jäh-
rigen Salish-Mädchens, der Tochter eines Diplomaten, verwickelt. Ich
bezweifle, dass dies das erste Mal war, dass Haze mit magisch sugge-
riertem Einverständnis herumgespielt hat, und es würde mich überra-
schen, wenn es das letzte Mal gewesen wäre. Keines von Hazes Opfern
hat bisher Anklage erhoben, und auch das sollte keine Überraschung
sein. Zusätzlich zu seiner Fähigkeit, die Gedanken und Gefühle sei-
ner Opfer zu kontrollieren, kann Haze auch ihre Erinnerungen nach
Belieben verändern. Das hat ihn all die Jahre davor geschützt, für die
Konsequenzen seiner Handlungen bezahlen zu müssen.
> Verdammt, so langsam geht mir das auf den Sack. Ist es denn
eine so viel schlimmere Nutzung seiner Talente, wenn man je-
manden ins Bett lockt als, sagen wir mal, wenn man jemanden
umlegt? So wie es die Hälfte von uns hier regelmäßig macht?
> Riser
> Sprich für dich selbst. Alle Verbrechen, die ich begehe, richten
sich gegen Organisationen – meistens gesichtslose, böse Mega-
kons – und nicht gegen Individuen. Und das Gleiche gilt für die
meisten hier. Wir sind nicht alle so komplett skrupellos wie unser
Freund Haze.
> The Smiling Bandit
> Und wenn wir töten, töten wir aus einem bestimmten Grund,
und meistens Leute, die selber Mörder sind. Die meisten von uns –
diejenigen, die eine Seele haben oder zumindest ein gewisses Maß
an Zurückhaltung kennen – gehen nicht einfach los und legen Leu-
te um, die sie gar nicht umlegen müssen oder die es nicht zumin-
dest verdient haben. Wenn Haze sich in ähnlicher Zurückhaltung
üben würde, hätte Pistons keinen Grund, sich zu beschweren.
> Aufheben
 Haze – ein männlicher Elf, der nie eine echte SIN hatte und be-
wundernswerte Leistungen dabei vollbracht hat, jede Spur seines ur-
sprünglichen Namens auszulöschen – wurde im Carbonado-Viertel in
den Puyallup Barrens geboren. Sein Vater, Latino und Mitglied der
Chulo-Gang, verschwand von der Bildfläche, bevor er geboren wurde,
und seine Mutter, Kaukasierin und Mensch, musste zwei Jobs anneh-
men, als Kellnerin und als Krankenschwester in einer Straßenklinik,
um über die Runden zu kommen. Seine heilige Ma verbrachte au-
ßerdem eine Menge Zeit auf dem Rücken liegend, während sie sich
von den Chulos pflügen ließ, um Protektion für sich und ihr Baby
zu verdienen. Wenn euch diese Geschichte bekannt vorkommt, dann
wahrscheinlich deshalb, weil Haze sie selber gerne von sich gibt,
wenn er die Sympathiekarte ausspielt.
Ich habe seine rührselige Geschichte nachgeprüft, in-
dem ich in seinem alten Viertel ein bisschen herumgefragt
habe. Die Leute dort erinnern sich mit einem gewissen Neid
an Haze und seine Ma. Immerhin haben sie es geschafft, da
rauszukommen. Aber keiner von ihnen konnte sich an
seinen Namen erinnern. Der paranoide Teil von mir
fragt sich, ob er vielleicht selbst dafür gesorgt
hat.
Schon als kleiner Junge hatte Haze ein
ausgeprägtes Talent dafür, Freunde zu ge-
winnen. Er überredete die Laésa und die
Ancients, ihm Jobs als Päckchenbote zu-
zuschustern („wir Elfen müssen zusam-
menhalten“), und arbeitete als Kurier für
BTLs, Drogen, illegale Waffen, gefälschte
SINs und was sie sonst so zu transportieren
hatten. Er war ein guter Kurier, denn er
war zu jung, um nach Erwachsenenrecht
bestraft zu werden, und ohnehin besaß er
die Zungenfertigkeit, sich aus allem he-
rauszuquatschen. Doch erst, als er wäh-
rend der Pubertät Erwachte, fand Haze
seinen Platz in der Welt und wurde
Runner.
Zuerst jedoch versuchte er
es mit einer wenig erfolgrei-
chen Ausbildung als Lohn-
magier. Seine Kontakte zu
den Laésa verschafften ihm
eine Lehrstelle als Sicher-
heitsberater bei Telestrian
Industries in Seattle.
Aber noch bevor er mit
der Ausbildung fertig
war, wurde er dabei erwischt, wie er Firmenge-
heimnisse verkaufte, und flog raus. Trotz dieses
Rückschlags wuchs Hazes Talent immer weiter.
Es gelang ihm, über lokale Schieber neue Jobs
zu finden, und allmählich machte er sich einen
Namen.
Haze ist ein Meister des Social Engineering
und der sanften Infiltration. Als soziales Cha-
mäleon mit der Gabe, seine Erwachten Fä-
higkeiten zu verbergen, benutzt er Illusions-
und Manipulationsmagie, um sich uner-
kannt in Konzerne einzuschleichen, und
setzt Beherrschungszauber ein, wenn
seine Lügen nicht ausreichen,
um das Vertrauen seiner Opfer
zu gewinnen. Das menschliche
Element ist das schwächste Glied der meisten Sicherheitssysteme, und
auf dessen Manipulation ist Haze spezialisiert. Mithilfe gründlicher
Recherchen und geschickter Lügen kann er seinen Opfern Legitimität
vorgaukeln. Und indem er die dadurch hervorgerufene kognitive Vor-
eingenommenheit ausnutzt, kann er so ziemlich jeden dazu bringen,
so ziemlich alles auszuplaudern.
> Äh, nicht dass ihr mich für einen Trottel haltet, aber kogni-
was?
> Turbo Bunny
> Im Prinzip bedeutet das, dass man mit ein paar winzigen
Informationen über eine Person anfängt und dann einen
Berg von Lügen darum herum baut. Ich gebe dir mal ein
altmodisches Beispiel. Nehmen wir an, du kennst das
RUNNER
Geburtsdatum von jemandem. Jetzt denkst du dir ein
nettes Szenario aus und rufst diese Person an. Du sagst
ihr beispielsweise, dass du für ihre Bank arbeitest und
gerade den Datenbestand updatest und jetzt ein paar
Informationen bestätigt haben müsstest. Du
nennst ihr die Informationen, die du bereits
hast, und die Person füllt bereitwillig ei-
nige der Leerstellen aus. Je glaubwür-
diger du klingst, desto besser klappt
es. Und dann gehst du auf der
Leiter eine Stufe weiter nach
oben. Wenn du zum Beispiel
die Kontonummer der be-
sagten Person bekommen
hast, kannst du dich als sie
ausgeben und bei der Bank
anrufen, dort alle Informati-
onen nennen, die du bekommen
hast, und dann behaupten, dass du
deine PIN vergessen hast. Wenn du noch
über ein bisschen Magie und die Hilfe eines gu-
ten Hackers hinzufügst, sind die Möglichkeiten
unbegrenzt.
> Dr. Spin
> Es ist praktisch so was wie Phishing ohne
Matrix.
>Glitch
Ich habe eine Schilderung eines typischen
Haze-Jobs in einem fünf Jahre alten Shadow-
Sea-Post gefunden, den einer seiner Team-
kollegen in einem unvorsichtigen Anfall von
Angeberlaune da reingestellt hat. Haze war
von einem Yakuza mittleren Ranges ange-
heuert worden, eine Ladung BTLs (haupt-
sächlich CalHots und Kong-Chips) wie-
derzubeschaffen, die dummerweise in
die Hände von Lone Star gefallen wa-
ren. Schnelligkeit war gefragt – der Yak
wollte die Chips zurückhaben, bevor
einer seiner Vorgesetzten Wind von
der Sache bekam (und er sich als
Strafe einen Finger oder Schlim-
meres abschneiden musste). Die
Chips befanden sich in der As-
servatenkammer der lokalen Po-
lizeiwache und sollten in Kürze
Haze 27
 zusammen mit einigen anderen Beweisstücken in einem gepanzerten
Fahrzeug zu einem zentralen Asservatenlager überführt werden, das
man am besten als uneinnehmbare Festung beschreiben könnte. Also
ließ Haze einen Teil seines Teams dafür sorgen, dass der gepanzerte
Transporter nicht rechtzeitig an der Polizeiwache eintraf. Stattdessen
tauchten er und der Rest seiner Leute in Polizeiuniformen und mit
einem Ares Roadmaster an der Wache auf. Magie und dreiste Lügen
erledigten den Rest. Die Lone-Star-Jungs luden für sie die BTLs in
den Lieferwagen, und nachdem die RFID-Marker alle gelöscht wor-
den waren, konnten Haze und seine Leute die übrigen Beweisstücke
als Bonus behalten.
Es waren Jobs wie dieser, die Haze aus der Gosse in die Schatten
brachten und seiner geliebten Mutter eine nette Wohnung in Snoho-
mish verschafften. Aber daraus wird natürlich noch nicht ersichtlich,
warum Haze ein schlechter Mensch ist. Warum das, was er tut, schlim-
RUNNER
mer ist als das, was wir alle tun; und warum ich mir ein moralisches
Urteil anmaße. Deshalb bleibt mir nichts übrig, als euch die traurige
Geschichte von Giselle Harris zu erzählen.
> Du wagst es wirklich? Glaubst du etwa, ich lese das hier nicht? >
Glaubst du wirklich, dass das keine Konsequenzen haben wird?
> Haze
Nehmt dieses altbekannte Szenario: Ein großer Konzern – vielleicht
AAA, vielleicht AA – will einen kleineren Konzern – vielleicht A, viel-
leicht ohne Einstufung – so günstig wie möglich aufkaufen, weil der
kleinere Konzern irgendeinen Prototypen oder besonders talentierten
Mitarbeiter hat, den der große Konzern unbedingt haben will. Diese
Art von Run lässt sich auf tausenderlei Weise erledigen, und wir haben
alle schon mal so etwas gemacht. Aber Hazes Vorgehensweise in ei-
nem dieser Szenarien war, so hoffe ich, einzigartig. Haze wollte Zugang
zum Präsidenten des kleinen Konzerns, damit er ihn davon überzeugen
konnte, zu verkaufen. Doch leider wurde der Präsident zu Hause, im
Büro und überall dazwischen bestens bewacht und abgeschirmt. Also
versuchte Haze es mit der nächstbesten Person, der persönlichen Se-
kretärin des Präsidenten, einer hübschen 23-jährigen Zwergin namens
Giselle Harris.
Mit den heutigen sozialen Netzwerken war es für Haze ein Kinder-
spiel, den Lieblingsnachtclub von Miss Harris ausfindig zu machen.
Sein gutes Aussehen und seine magischen Fähigkeiten machten es für
ihn leicht, sie zu verführen. Und sie hatte keine Chance, sich gegen
seine Zaubersprüche zu wehren. Selbst wenn sie gewusst hätte, was er
im Schilde führte, wäre es ihr egal gewesen, denn Giselle war bis über
beide Ohren in ihn verliebt. Also sorgte Haze dafür, dass Giselle alle
Unterhaltungen ihres Chefs über sichere Kanäle an ihn weiterleitete.
Alle. Unglücklicherweise hatte der Präsident des kleinen Konzerns eine
Affäre mit einem männlichen Troll – etwas, von dem er, wie Haze rich-
tig annahm, auf keinen Fall wollte, dass seine Frau und seine beiden
Kinder davon erfuhren. Mit diesem hervorragenden Erpressungsma-
terial ausgestattet war es für Haze und sein Team ein Leichtes, den
Präsidenten dazu zu bringen, seinen Konzern zu verkaufen, und Haze
strich seinen Anteil ein.
Und Giselle Harris? Nun, es war für die interne Ermittlungsab-
teilung des Konzerns nicht weiter schwierig, das Informationsleck
zu ihr zurückzuverfolgen, und während der Umstrukturierung des
Konzerns nach der Übernahme wurde sie gefeuert, mit der Aussicht,
nie wieder einen Job finden zu können. Aber für Haze reichte das
noch nicht. Er musste sicherstellen, dass er und sein Team sicher
waren. Also kehrte er zurück und löschte alle ihre Erinnerungen
daran, was geschehen war. Aber er schien nicht alles gelöscht zu
haben. Giselle erinnerte sich noch, vielleicht unterbewusst, dass es
einen Mann gegeben hatte, den sie geliebt hatte, einen Mann, der
grausam zu ihr gewesen war und sie verlassen hatte. Sie konnte sich
28 Haze
nicht mehr daran erinnern, wie sie ihren Job verlor und warum ihr
Leben ruiniert war.
Sie war nur noch eine leere Hülle, angefüllt mit vagen, verzweifel-
ten Erinnerungen, und es ist nicht schwer vorherzusagen, was dann ge-
schah. Sie nahm sich das Leben, sprang an der Monorailhaltestelle der
10th Street vor einen einfahrenden Zug. Ich weiß, dass auch manche
von euch bei der Arbeit schon unschuldiges Leben genommen haben.
Habe ich auch. Aber das hier war etwas anderes. Mir fällt kein anderes
Wort dafür ein als geistige Vergewaltigung. Es wäre barmherziger ge-
wesen, wenn er sie direkt getötet hätte.
> Geistige Vergewaltigung? Ist das dein Ernst? Du weißt schon,
dass es genau diese Art des Denkens ist, aus der die Paranoia und
die Vorurteile entstammen, mit denen die Erwachten seit Jahr-
zehnten zu kämpfen haben?
> Winterhawk
> He, es ist nicht meine Schuld, dass ich diesen Ausdruck benut-
zen muss, sondern seine.
Pistons
> Eine Sache stört mich, Pistons. Woher weißt du das alles? Gibt
es da etwas, was wir nicht wissen?
> Marcos
> Ich weiß zufällig, dass Mr. und Mrs. Harris damals ihr bisschen
Erspartes zusammengekratzt haben, um einige Shadowrunner an-
zuheuern, die die Hintergründe für den Selbstmord ihrer Tochter
klären sollten. Vielleicht hat Pistons sich die Mühe gemacht, sie
ausfindig zu machen.
> Sunshine
Dank seiner Fähigkeiten, geschickte Gaunereien und Betrügerei-
en aufzuziehen, erlangte Haze bald den Ruf, ein Mann mit Überblick
zu sein. Eine ganze Clique aufstrebender Runner scharte sich um ihn
herum. Er weitete seine Tätigkeiten etwas aus und war dank seines Ge-
schicks, Dinge in Erfahrung zu bringen, die er eigentlich nicht wissen
sollte, eine Zeit lang als freiberuflicher Infobroker tätig. Obwohl er
noch recht jung dafür ist – meinen besten Schätzungen zufolge dürf-
te Haze irgendwann dieses Jahr 33 werden, plus minus ein oder zwei
Jahre –, arbeitete Haze in Seattle auch als Gelegenheitsschieber, bevor
er gezwungen war, die Stadt zu verlassen, und baute sich einen ganzen
Stall lokaler Talente in und um Puyallup auf.
2071, während er noch auf dem aufsteigenden Ast war, beging
Haze den größten Fehler seines Lebens und begann, Tempo zu neh-
men. Über diesen Teil seines Lebens muss ich euch nichts erzählen
– ich glaube, das ist euch noch frisch in Erinnerung. Er dachte, die
Droge würde ihn zu einem besseren Runner machen und ihm einen
Vorteil verschaffen, vor allem bei Verhandlungen mit Johnsons und
der Beschaffung neuer Connections. In Wirklichkeit war sie nur eine
Krücke und machte ihn abhängig. Es geschah unter dem Einfluss von
Tempo, dass er Mikayah Lakesong mehr oder weniger vergewaltigte.
Und es war Tempo, was die First Nations dealten, als er sich mit ih-
nen einließ. Selbst wenn er es nicht selbst war, der bei Fatima den
Abzug drückte, als sie die Quelle des Giftes zu finden versuchte und
zwischen ihnen und den Ragers zwischen die Fronten geriet, so war
er doch dabei, seine Kumpels legten sie um, und er unternahm nichts
dagegen. Haze war nie ein großartiger Mensch, aber Tempo machte
ihn zum Süchtigen, gefangen in einer abwärts führenden Spirale und
voller Gleichgültigkeit, wen er dabei mit sich reißt, selbst wenn es eine
Person ist, die in ihrem kleinen Finger mehr Menschlichkeit, mehr
Anständigkeit hatte als Haze in seinem ganzen Körper.
Und das werde ich ihm niemals verzeihen.
> Y regreso aqui otra vez y comienzo. Das, was du mir niemals
verzeihen wirst, ist etwas, was ich nicht getan habe. Dein Kreuz-
zug hier ist unsinnig und gegenstandslos, und ich verspreche dir,
dass er nicht gut für dich enden wird. Und was die Abhängigkeit
angeht, auf der du ständig herumhackst – es ist kein Geheimnis,
dass ich seit Monaten clean bin.
> Haze
> Ich sage es nicht gern, Haze, aber ich kenne Alkoholiker, die
noch nach Jahren oder sogar Jahrzehnten der Abstinenz wieder
rückfällig geworden sind. Und hier geht es um Tempo. Wir wissen
immer noch nicht genau, auf wie viele verschiedene Weisen dieses
Scheißzeug einen fertigmachen kann. Die Sucht ist wie die Mafia
– einmal dabei, immer dabei.
> Hard Exit
Da Lakesong die Tochter eines Botschaftsattachés der Salish-Shidhe
war, wird Haze seither als Verdachtsperson in einer laufenden Ermitt-
lung von Lone Star und den Salish-Behörden gesucht. Wer von euch
nebenberuflich als Kopfgeldjäger arbeitet, hat vielleicht schon die hohe
Belohnung bemerkt, die auf Hazes Kopf ausgesetzt ist. Er ist zuerst von
Seattle nach Hongkong geflohen, wobei er seine Tätigkeit als Infobro-
ker quasi mitgenommen hat, seine hochfliegenden Träume als Schie-
ber aber vorerst zurücklassen musste.
Seither flüchtet er um den Globus, den Behörden immer einen
Schritt voraus. Meinen Quellen zufolge wurde er im letzten Jahr unter
anderem in Athabaska, Bogotá, Yokohama, Manhattan und L.A. ge-
HAZE
K G R S C I L W M EDG ESS INI ID
3 4(5) 4 2(3) 6 4 3 4 6 6 5,07 8 1
Zustandsmonitor (K/G): 10/10
Panzerung (B/S): 11/6
Fertigkeiten: Antimagie 4, Askennen (Aura lesen) 2 (+2), Aus-
weichen (Fernkampf ) 2 (+2), Beschwören-Fertigkeitsgruppe
4, Bodenfahrzeuge 2, Einfluss-Fertigkeitsgruppe 5, Heim-
lichkeit-Fertigkeitsgruppe 3, Klingenwaffen 2, Pistolen (Re-
volver) 3 (+2), Ritualzauberei (Manipulation) 3 (+2), Spruch-
zauberei (Manipulation) 5 (+2), Wahrnehmung 3(6)
Wissensfertigkeiten: Clubmusik 3, Gangidentifizierung 3,
Polizeiprozeduren 3, Seattler Sprawl 3, Sicherheitsdesign 3,
Straßendrogen 3, Straßenslang 3, Englisch M, Spanisch 3,
Sperethiel 3
Gaben: Schutzpatron (Schwindler), Soziales Chamäleon, Zauberer
Handicaps: Allergie (Kaltgeschmiedetes Eisen, Mittel), Geas
(Ritual), Niedrige Schmerztoleranz, Schlechter Leumund
Initiatengrad: 2
Metamagie: Intensivierung, Maskierung
sehen. Er hat für die Yakuza gearbeitet, die Ancients, die Koshari und
für viele weitere.
Ich kann euch natürlich nicht vorschreiben, welche Handlungen
euer Gewissen euch diktieren soll, und ich werde jetzt auch keinen
Link auf die Belohnungen, die auf ihn ausgesetzt sind, einfügen. Es
obliegt sicherlich nicht mir, zu beurteilen, ob Haze getötet oder ein-
gesperrt werden sollte, selbst wenn er ein Vergewaltiger der übelsten
Sorte ist und seit Jahrzehnten damit davonkommt. Es genügt mir, dass
ihr jetzt alle wisst, mit wem ihr es bei eurem Kollegen zu tun habt.
> Pistons, ich habe während des gesamten Artikels die Klappe ge-
halten, aber ich glaube, dass du jetzt ein bisschen zu weit gehst.
Ich weiß, wie wichtig Fatima für dich war, wichtiger als für die
meisten von uns. Aber Haze ist zurück von der dunklen Seite und
wieder er selbst. Er ist es schon seit einiger Zeit, und er schwört,
RUNNER
dass er nichts mit ihrem Tod zu tun hatte. Wie lange willst du die-
sen Groll noch kultivieren? So aus dem Nähkästchen zu plaudern,
kann deinem Ruf sehr leicht schaden. Glaubst du, der Rest von uns
vertraut dir jetzt noch irgendwelche Geheimnisse an?
> Nephrine
> Klar, Neph, du denkst, dass Haze in großartiger Kerl ist. Aber
hast du schon mal darüber nachgedacht, ob das wirklich deine
Gedanken sind, die du da denkst, oder vielleicht etwas, was er dir
suggeriert hat? Ich glaube nicht, dass du es überhaupt bemerken
würdest, bis es zu spät ist.
> Pistons
Zauber: Beeinflussen, Betäubungsball, Betäubungsblitz, Cha-
otische Welt, Falsche Erinnerung, Gedanken Beherrschen,
Heißes Eisen, Panzerung, Physische Maske, Reflexe Steigern,
Verbesserte Unsichtbarkeit, Viecher
Bodytech: Kunstmuskeln 1 (Betaware); Katzenaugen, Maßge-
schneiderte Pheromone 1, Schlafregulator
Ausrüstung: Atemgerät 6, Automatischer Dietrich 6, Forman-
gepasste Körperpanzerung (Hemd) [B/S 3/0], gefälschte SIN
[Stufe 4, mit gefälschter Stufe-4-Lizenz für Spruchzauberei und
verdecktes Mitführen], Gefütterter Mantel [mit Elektrischer
Isolierung 5 und Chemischer Isolierung 4] [B/S 6/4], Hasen-
pfote [Kraftfokus Kraft 1], Indian Pathfinder (Rennmotorrad),
Kommlink [Novatech Airware, Prozessor 3, Signal 3, Firewall
2, System 3; Elektroden, Subvokalmikrofon], Kontaktlinsen
[Stufe 3; Bildverbindung, Sichtverbesserung 3, Smartlink],
Kristallprisma an dünner Silberkette [Manipulations-Zauber-
spruchfokus Kraft 2], Magschlossknacker 3, 10 Dosen Psyche,
SecureTech PSB [Arm- und Beinschützer, Suspensorium] [B/S
+2/+2], 20 Sensor-RFID-Marker (Kamera 1), 20 Sensor-RFID-
Marker (Mikrofon 1), 5 Stimulanz-Patches
Waffen:
Cavalier Deputy [Schwere Pistole | Schaden 6K | PB –2 | HM
| RK 1 | 7(tr) | Angepasster Griff, Schnellziehholster, Smart-
gun; EX-Explosiv-Munition]
Cougar Fineblade, kurze Klinge [Klingenwaffe | Reichweite – |
Schaden 3K | PB –1 | Angepasster Griff]
Haze 29
 KELLAN COLT
PERSÖNLICHE DATEN: KELLAN COLT
Alter: 27 Größe: 1,68 m
Gewicht: 55,4 kg Haarfarbe: Blond
Augenfarbe: Blau Geschlecht: Weiblich
RUNNER
Metatyp: Mensch Erwacht: Ja
(Hermetische Magierin)
> Ich hielt es für eine ganz gute Idee, in diese Sammlung auch > Wobei „Crash“ hier wörtlich zu nehmen ist. Kellan und ihre Be-
das Profil einer relativ jungen Runnerin aufzunehmen, die relativ
schnell eine gewisse Karriere gemacht hat, und eigentlich gibt es
nur eine Person, die geeignet ist, uns ihre Geschichte zu erzählen.
Also, JackPoint, Vorhang auf für Lothan.
> FastJack
Okay, Kleines, ich hoffe, du weißt das hier zu würdigen. Aber pass
auf, dass du die Nase nicht zu hoch trägst – dadurch wirst du nur ein
leichteres Ziel. Da du mir schon so oft die Haut gerettet hast, nehme
ich gerne die Gelegenheit wahr, ein paar freundliche Worte über dich
zu verlieren. Man hat mich gefragt, welche Leute ich heute zu den
Besten zählen würde, und auch wenn du jetzt noch nicht ganz dazuge-
hörst, bist du meiner Meinung nach auf dem besten Weg dahin.
Zuerst ein paar Hintergrundinformationen. Runner der zweiten
Generation sind gar nicht mal so selten. Ihnen stehen eigentlich nur
zwei mögliche Wege offen – entweder folgen sie dem Weg ihrer Eltern
in die Gesetzlosigkeit (wobei sie diese Tatsache in der Regel geheim
halten), oder sie tun alles, um bloß nicht so zu werden wie ihre Eltern
und sich aus dem doppelten Einfluss von Herkunft und Umgebung zu
lösen. Kellan Colt ist die Tochter zweier Runner und hat sich für den
ersten Weg entschieden, sie ist ihren Eltern in die Schatten gefolgt. Sie
hat das magische Talent ihres Vaters und die Intelligenz ihrer Mutter
geerbt und dabei noch ein paar eigene Zutaten zu der Mischung bei-
gesteuert.
Kellan ging im Alter von siebzehn Jahren in die Schatten, in dem
magischen Alter im Leben eines Menschen, in dem er alles weiß, weil
er noch nichts erlebt hat. Ihre ersten Jobs erledigte sie in den tödlichen
(ha!) Schatten von Kansas City. In die Oberliga in Seattle stieg sie auf,
als sie in die Stadt kam, um ein mysteriöses Päckchen von ihrer Mutter
aufzuspüren, das ein Amulett enthielt. Ihre frühen Erfolge hatte sie
weniger ihren Fähigkeiten zu verdanken als vielmehr der Geduld des
Teams, mit dem sie zusammenarbeitete, und zu dem auch ich gehörte,
ihr arkaner Mentor Lothan.
Kellans erste Runs waren von der typischen Sorte: Extraktionen,
Datendiebstähle, Personenschutz usw. Die meisten Runs verliefen wie
geplant, gelegentliche Komplikationen wurden von den Fähigkeiten
und der Professionalität meines Teams schnell überwunden. Kellans
jugendliche Begeisterung (lies: Ungeduld) war ein ständiger Anlass zu
Streitigkeiten zwischen ihr und mir. Wir wirken beide Zaubersprüche
und beschwören Geister, aber damit enden die Gemeinsamkeiten zwi-
schen uns auch schon. Ich bin eher ein Planer, während Kellan mehr
30 Kellan Colt
GEPOSTET VON: LOTHAN
die schnelle direkte Aktion vorzieht. Am Anfang ihrer Zusammenar-
beit mit meinem Team war sie sich ihrer Position deutlich bewusst,
und man spürte, dass es ihr nicht gefiel. Wie die meisten jungen Leute
war auch sie es irgendwann leid, im Schatten ihres Mentors zu stehen,
und begann, auf eigene Faust tätig zu werden.
Der erste Run, den sie allein plante, war ein Desaster. Sie war
jung und erlag zu leicht dem ewig lockenden Versprechen des „gro-
ßen Coups“. Obwohl sie erst relativ wenig Zeit in den Schatten von
Seattle verbracht hatte, wagte sie sich auf internationales Terrain und
reiste in den Salish-Shidhe-Rat auf der Suche nach einem vergessenen
Waffenlager aus den alten Tagen der Vereinigten Staaten. Wie sich her-
ausstellte, gab es kein Waffenlager, und Kellan bekam einen Crashkurs
im Umgang mit toxischer Magie.
gleiter rauschten in die NAN, in Erwartung leichter Arbeit und
großen Geldes. Sie drangen in eine verlassene US-Militärbasis ein
und schienen ganz gut voranzukommen, doch dann bemerkten
sie an sich Symptome einer leichten Strahlenkontaminierung. An-
scheinend hatten die Vereinigten Staaten ein Vermächtnis in Form
radioaktiven Mülls hinterlassen. Und es kam noch schlimmer, als
sie auf einen toxischen Schamanen namens Zhade und seine An-
hänger trafen. Es war nicht leicht, aber Kellan und ihre Begleiter
schafften es, den Toxiker kaltzumachen und ihre Ärsche in Sicher-
heit zu bringen, bevor sie ganz unter dem üblen Müll begraben
wurden. Kellan selbst gibt zu, dass es mehr Glück als Können war,
was sie da rausgebracht hat.
> Pistons
Kellan kam nur um Haaresbreite davon und gewann ein viel tie-
feres Wissen um die dunklen Ecken der Welt, jene Orte, gegen die
unsere Schatten wie die Mittagssonne in der Wüste erscheinen. Und
in ihrem Fall erwiesen sich diese Erfahrungen als sehr fruchtbar.
Sie wurde in ihrem Job sehr schnell sehr viel besser. Ich bin ein
bisschen voreingenommen, aber ich glaube, dass es kaum jemanden
gibt, der so schnell lernt wie sie. Ihr größtes Problem dabei ist, dass
sie anscheinend nur aus ihren eigenen Fehlern lernt, nicht aus denen
anderer.
Zur Reife gelangte sie erst, als sie es mit einer üblen Sache zu tun
bekam, deren Wurzeln bis in den Zeiten ihrer Mutter zurückreich-
ten. Das Päckchen, dessentwegen Kellan nach Seattle gekommen war,
enthielt ein sehr ungewöhnliches Amulett, das Verbindung zu einem
Freien Geist hatte, der sie fast umbrachte. Und da erkannte sie zum
ersten Mal den vollen Wert eines Teams, dessen Mitglieder man zu
Recht als „Freunde“ bezeichnen kann und nicht nur als Kollegen. Ihre
Erfahrungen mit diesem kleinen Schmuckstück trugen viel dazu bei,
ihre Zukunft zu formen. Sie ist inzwischen zu einer anerkannten Ex-
pertin für die Identifizierung arkaner Objekte, moderner wie antiker,
geworden. Das Amulett ging verloren, aber Kellan fertigte einen neuen
Fokus in einer ähnlichen Form an, den sie immer noch um den Hals
trägt als Erinnerung an die Macht einiger der Objekte, mit denen sie
in den letzten Jahre zu tun hatte.
> Freunde werden überschätzt. Connections und Geschäftspartner
dagegen kann man gar nicht genug haben.
> Riser
> Jedem das Seine. Ich persönlich bin der Ansicht, dass es Vor-
und Nachteile hat, wenn man Freunde im eigenen Team hat.
Einem Freund kannst du vertrauen, und du weißt, dass er dir den
Rücken freihält, aber wenn ein Freund eine Kugel verpasst kriegt,
wird das rationale Denken oft von blindwütiger Raserei überwäl-
tigt. Das ist jedenfalls meine Meinung. Tatsache ist, dass Colt
in den letzten zehn Jahren zwei gute Freunde verloren hat
und in beiden Fällen ihre Coolness bewahren konnte. Keiner
der beiden blieb ungerächt – der eine Mörder verrottet im
Knast, der andere liegt auf dem Boden des Sound –, aber
in beiden Fällen hat Colt ihre Rache ruhig, wohlüberlegt
und eiskalt serviert.
> Bull
In den letzten zehn Jahren hat Kellan ihre un-
reifen Anfänge hinter sich gelassen und ist zu
einem der besten Runner der amerikanischen
Schattenszene herangereift. Sie und ihr Team
haben vom AMC bis Paraguay überall gear-
beitet. Die meisten Aufträge fielen in drei
Kategorien: Extraktionen, Personenschutz
und Aneignung bzw. Wiederbeschaffung
arkaner Artefakte. Sie hat es geschafft, in
ihrem Team die Fluktuationsrate niedrig
und die Überlebensrate hoch zu halten
– das Team hatte in den letzten zehn
Jahren insgesamt nur neun Mitglieder.
Mit der Erfahrung, die sie in ihrer Zu-
sammenarbeit gesammelt haben, sind sie den
Preis, den sie verlangen, wirklich wert, und
das sage ich nicht nur, weil ich Provision
bekomme.
Kellan und ihre Leute haben in den
letzten Jahren eine Menge erlebt. Als Tem-
po die Straßen in ein Chaos verwandelte,
wurde Kellan persönlich in die Drogen-
problematik hineingezogen. Orion, eines
unserer ursprünglichen Teammitglieder,
war in Partylaune und probierte die
Droge. Er wurde sofort abhängig. Ori-
on wurde bei der Arbeit langsamer und
agierte immer unberechenbarer; ein-
mal griff er sogar Kellan an. Es war ein
hässlicher Kampf, und er kostete Orion
beide Arme. Ich habe die Aufnahmen
einiger Sicherheitskameras, die in der
Nähe waren, falls jemand mal Kellan in
Aktion erleben will.
Nach dieser kleinen Auseinander-
setzung tat Kellan das, was jeder tun
würde, wenn ein guter Freund von
einer Erwachten Droge abhängig wird
– sie begann, Nachforschungen anzu-
stellen, und hörte nicht auf, bis sie die
Wahrheit über Tempo herausgefunden
hatte. Ich bin sicher, dass sie zum Teil
auch durch die Schuldgefühle motiviert
wurde, die sie nach dem Kampf emp-
fand, aber sie stürzte sich mit ganzem
Herzen auf die Aufgabe, ihrem
Freund zu helfen. Nach zwei
Monaten in den Dschungeln
von Mittel- und Südamerika
entdeckte sie, dass von Schattengeistern besessene Bäume eine wichtige
Rolle spielten. Dank ihrer Fähigkeiten und ihrer Kreativität gelang es
ihr, einen einzigartigen rituellen Heilzauber zu entwickeln, der Aspekte
von Heilmagie und Verbannungstechniken miteinan-
der kombinierte. Das Ritual heilte Orion schnell
von seiner Sucht, aber es blieb immer noch das
Problem der körperlichen Schäden. Immer-
hin fehlten unserem hartgesottenen Adepten
zwei Arme zu einem vollständigen Körper.
Durch Tempo und die Verstümmelungen
war er ohnehin schon ziemlich ausgebrannt,
deshalb war es für ihn kein Problem, sich
mit zwei metallenen Ersatzarmen anzufreun-
den, die Kellan ihm kaufte.
RUNNER
> Und da wird auch die Kehrseite von
Risers Freundepolitik klar. Wenn man kei-
ne Freunde hat, dann hat man auch kei-
nen, der sich so für einen einsetzt.
Obwohl dieses Argument natürlich
etwas an Schwung verliert, wenn
man bedenkt, dass es ja Kellan war,
die letztlich für den Verlust seiner Arme
verantwortlich war.
> Netcat
Seit Orions Heilung genießt Kellan den Ruf, neue und
interessante Spruchformeln kreieren und Rituale entwer-
fen zu können, die andere nur für grotesk halten würden.
Wenn ihr irgendwas mit Magie erledigt haben müsst
und nicht genau wisst, wie ihr es machen sollt oder
ob es überhaupt möglich ist, dann wendet euch an sie.
Diese besondere Gabe ist einer der Hauptgründe, wes-
halb ich sie für eine der Besten im Business halte. Sie
hat einige Zauber entworfen, die unglaublich mächtig
sind und von denen sie die meisten gar nicht selber
wirken kann. Bei praktisch allen Zaubern, die sie auf
Vertragsbasis entwickelt hat, hat sie eine Vereinbarung
unterzeichnet, die das Wissen um den Zauber einzig und
allein dem Käufer zusichert. Und sie hält ihr Wort.
Keine krummen Geschäfte, keine schmutzigen Deals,
keine Lügen. Sie ist ein Profi.
Die Erfahrungen, die Kellan und ihr Team im
Dschungel sammelten, verschafften ihnen genug Anse-
hen, um in Aztlan und Amazonien, aber auch in Paragu-
ay, Chile und Peru für weitere Jobs angeheuert zu wer-
den. Seit Ausbruch des Krieges herrscht da unten nicht
mehr so eine große Nachfrage nach Kellans Team,
denn es ist keine Söldnereinheit und außerdem fal-
len sie auf wie bunte Hunde (oder eben wie Grin-
gos in Mittelamerika). Aber sie können dank der
zunehmenden Schattenaktivitäten um Seattle,
Atlanta und Afrika nicht über mangelnde Be-
schäftigung klagen, bei der es sich meistens
um magische Artefakte dreht, die angeblich
aus früheren magischen Zeitaltern stammen
sollen. Und aus dem Süden kommen Ge-
rüchte um arkanarchäologische Stätten,
die in Südamerika fernab der Kriegsge-
biete aufgetaucht sein sollen.
Aber um jetzt mal ein paar falsche
Gerüchte aus der Welt zu schaffen
– ich habe die neuesten Straßenge-
Kellan Colt 31
 rüchte um ein Artefakt gehört, das ihr in die Finger gefallen sein soll
und das angeblich von jedem benutzt werden kann. Das ist Quatsch.
Das Ding kann nur von jemandem benutzt werden, der die Spruch-
zauberei beherrscht. Und es ist kein neueres Artefakt, sondern ein
echtes altes Fundstück. Sie ist auf „das Rohr“, wie ich es nenne, bei
einer, äh, „nicht abgesegneten Eigentumsübertragung“ gestoßen. Der
Gegenstand gehörte zu einer Kollektion von Stücken, die an das Mu-
seo Nacional de Antropología in Tenochtitlán geschickt wurde, und
die abzufangen Kellan beauftragt war. Mr. Johnson wollte einen be-
stimmten Gegenstand haben, ein seltsam geformtes Götzenbild, von
dem Kellan sagte, dass es ihr bei seinem Anblick kalt den Rücken
runterlief, und sie sollte einen Teil ihrer Bezahlung in Form einiger
anderer Gegenstände aus der Kollektion erhalten. Die Hälfte von dem
Zeug war Müll, zwar ziemlich alter Müll, aber eben Müll; Kellans
Auge war scharf genug, den einen Gegenstand herauszupicken, der
RUNNER
wirklich wertvoll war.
Wie sich herausstellte, war das Schwierige dabei, das Ding zu behal-
ten. Kurz nachdem Kellan „das Rohr“ in die Hände bekommen hatte,
rief sie mich an und bat mich, sie in ihrer Wohnung in der Innenstadt
zu besuchen. Kurz darauf flog die Bude in die Luft. Wir hatten Glück
– wir waren kurz vorher durch die Hintertür geschlüpft, um etwas
essen zu gehen. KE schwankte zwischen einer Bombe und einem Gas-
leck, deshalb betrieben wir unsere eigenen Nachforschungen. Kellan
hat ja ein gutes astrales Auge für Foki und andere machtvolle Objekte,
aber ich für meinen Teil lese gern die Geschichte eines Ortes. Sie ent-
deckte irgendein Mojo in der Luft, vielleicht einen Funken, der das
Gas entzündet hatte. Ich warf einen genaueren Blick darauf und hatte
sofort eine Ahnung, wer hinter der Explosion gesteckt haben könnte.
Die Spruchsignatur stank nach Opfermagie. Und so hatten wir keine
achtundvierzig Stunden nach dem Überfall auf den Transport die Az-
zies am Hals.
Und mit den Azzies auf den Fersen, die offensichtlich an den Ge-
genständen interessiert waren, die Kellan gerade erst in ihre Finger
bekommen hatte, machte sie etwas, was ich für einen wirklich raffi-
nierten Schachzug halte. Sie machte Fotos von allen Gegenständen,
packte ein paar Hüter auf eine alte Kiste, in der sie die Dinge verstaute,
und schickte die „Schatzkiste“ auf den Grund des Lake Union, be-
wacht von einer kleinen Armee Wassergeister. Als die Stücke sicher
verstaut waren, fuhr sie zur Pyramide in Seattle und spazierte hinein,
als würde der Laden ihr gehören. Sie traf sich mit einem der hausei-
genen Johnsons und erklärte ihm, wie die Dinge ablaufen sollten. Sie
würde die Gegenstände zurückgeben, dafür würden die Azzies sie und
ihr Team in Ruhe lassen. Mr. Johnson schwang ein paar große Worte
darüber, dass er es nicht nötig hätte zu verhandeln, aber schließlich gab
er nach. Wie sich allerdings herausstellte, hatte sie nicht alles in die
Kiste gepackt. „Das Rohr“ und einen besonders mächtigen Fokus hatte
sie nicht mit hinein getan, und so verkaufte sie den Fokus und behielt
„das Rohr“. Der Rest des Teams wurde in bar ausgezahlt, sie nahm „das
Rohr“ als ihren Anteil.
> Du willst uns also erzählen, dass sie als von Aztechnology
Gesuchte in das Azzie-HQ in Seattle reinspazierte, ihnen ihr ei-
genes Zeug zurückverkaufte und dann als Siegerin wieder raus-
spazierte? Und das in unserem kleinen Forum, in dem es genug
Leute gibt, die skrupelloser sind als unsere Miss Colt hier. Ganz
schön mutig.
> Haze
32 Kellan Colt
> Aztechnology ist ein Konzern, und wo wir unsere Vorstellungen
von Rache und Ehre haben, interessieren sie letztlich nur die Zah-
len unter dem Strich. Offenbar hat Kellan ihnen ein gutes Ange-
bot unterbreitet, und das haben sie lieber angenommen, als ihre
Sachen komplett zu verlieren. Eine ganz einfache Rechnung – ein
bisschen Geld ist besser als kein Geld.
> Marcos
Wir studierten „das Rohr“ (und damit meine ich, dass ich ihr half,
den Raum zu sichern, damit sie es studieren konnte) und fanden her-
aus, dass es einige sehr ungewöhnliche Eigenschaften hat. Nach einer
kurzen Einstimmungszeit konnte ich es benutzen, auch sie konnte es
als Fokus verwenden, aber einige Adepten unter unseren Bekannten
konnten nichts damit anfangen. Keiner unserer weltlichen Teamkol-
legen konnte es benutzen, egal wie lange sie darauf starrten oder wie
hingebungsvoll sie grunzten, wenn sie es in der Hand hielten.
Nach dem Deal mit den Azzies und den Forschungen, die sie an
„dem Rohr“ (ich muss wirklich einen besseren Namen dafür finden)
geleistet hat, ist Kellan jetzt offensichtlich bereit, auf neue Märkte zu
expandieren. Sie hat sich in der Schattenszene einen soliden Ruf für
ihre Spruchentwicklungen erworben, aber ich schätze, dass sie sich als
nächstes mehr auf die Artefaktidentifizierung stürzen wird. Sie hat ein
gutes Team, das ihr dabei helfen kann, besagte Artefakte zu beschaffen
und auch lange genug zu behalten, um sie zu erforschen. Sie wird al-
lerdings ein paar neue Taktiken entwickeln müssen – ich glaube nicht,
dass die „In-den-See-werfen-und-verhandeln“-Taktik noch allzu oft
funktionieren wird.
> Sie hat auch beim ersten Mal nicht funktioniert. Ich fürchte,
Lothans Informationen, dass Kellans Team in den letzten zehn
Jahren nur neun Mitglieder hatte, sind nicht mehr ganz aktuell.
Das Neueste vom Tage: AZT ist soeben wie der Zorn Gottes auf
sie herniedergefahren. Kellan hält sich versteckt und einige, mög-
licherweise alle ihrer Teamkollegen sind tot. Lothan, an deiner
Stelle würde ich mir schleunigst ein sicheres Versteck suchen.
> Sunshine
> Natürlich geht es den großen Kons um das, was unter dem Strich
steht, aber sie kennen auch den wirtschaftlichen Wert wohlplat-
zierter Rache. Manchmal muss man eben die klare Botschaft über-
mitteln, dass man nicht mit sich spielen lässt. Und Aztechnology
ist nur zu gerne bereit, diese Botschaft zu überbringen, wenn es
sich als notwendig erweist.
> Cosmo
Kellan besitzt einen scharfen Verstand, großen Mut und ein gutes
Herz. Sie kennt sich in der Schattenszene aus und hat in den letzten
zehn Jahren genug getan und erlebt, um auch in ihr zu überleben. Sie
weiß, wie sie ihre Instinkte und Fähigkeiten einzusetzen hat, sie ist eine
gute Magierin, eine großartige Anführerin und bewahrt auch unter
Druck immer einen kühlen Kopf. Ich bin froh, dass sie es bis unter die
Großen geschafft hat.
> Ja, groß genug, um persönlich von Big A aufs Korn genommen
zu werden. Wir werden sehen, wie sie sich da wieder herauswindet
– vorausgesetzt, sie lebt lange genug.
> Picador
KELLAN COLT
K G R S C I L W M EDG ESS INI ID
5 5 5 3 5 5 4 5 7 6 6 10 1
Zustandsmonitor (K/G): 11/11
Panzerung (B/S): 6/4
Fertigkeiten: Antimagie 5, Arcana (Ritualzauberformeln) 7 (+2),
Askennen (Foki) 4 (+2), Astralkampf 4, Athletik-Fertigkeits-
gruppe 4, Ausweichen 4, Beschatten 4, Binden 2, Bodenfahr-
zeuge 2, Computer 2, Datensuche 2, Einschüchtern 3, Erste
Hilfe 3, Fallschirmspringen 2, Feuerwaffen-Fertigkeitsgruppe
4, Führung 6, Gebräuche (Straße) 4 (+2), Hardware 1, Her-
beirufen 5, Infiltration 4, Klingenwaffen (Schwerter) 4 (+2),
Knüppel 3, Navigation 3, Ritualzauberei 4, Schiffe 2, Spreng-
stoffe 1, Spruchzauberei (Kampfzauber) 6 (+2), Survival 2,
Überreden 2, Unterricht 3, Verbannen 5, Verhandlung 3,
Verzaubern 2, Waffenloser Kampf 3, Wahrnehmung 5, Wurf-
waffen 3
Wissensfertigkeiten: Atlantische Mythen 4, Antike Mythologie
4, Antike Texte 4, Antike Zivilisationen 4, Arkanarchäologie
5, Drachen (Große) 4 (+2), Geister 3, Magiepolitik 4, Magi-
etheorie 5, Magische Gruppen 4, Seattler Politik 2, Seattler
Straßengangs (Redmond) 3 (+2), Straßen von Atlanta 2, Stra-
ßen von Kansas City 4, Ägyptische Hieroglyphen 3, Arabisch
3, Aramäisch 3, Englisch M, Esperanto 3, Latein 3, Or’zet 2,
Sanskrit 4, Sperethiel 2
Gaben: Hohe Schmerztoleranz 3, Talentiert (Arcana), Überle-
benswille 3, Zauberer
Handicaps: Feind
Initiatengrad: 3
Metamagie: Abschirmung, Maskierung, Reinigung
Zauber: Astrales Fenster, Betäubungsball, Betäubungsblitz, Eis-
decke, Entgiftung, Erwachen, Falsche Erinnerung, Feinde
Aufspüren (Erweitert), Heilen, Geisterbarriere, Geistessonde,
Magie Analysieren, Magie Aufspüren, Sauerstoffmaske, Über-
setzen
Gebundene Geister: Erdgeist (Kraft 4, 3 Dienste), Feuergeist
(Kraft 4, 1 Dienst), 2 Luftgeister (Kraft 4, 2 Dienste), Was-
sergeist (Kraft 6, 4 Dienste)
Ausrüstung: Atemgerät 4, 2 Bereichsstörsender 4, Brille [Stufe
4; Infrarotsicht, Restlichtverstärkung, Sichtvergrößerung],
400 m Camouflageseil mit Katalysatorstab, 50 Datenchips, 2
Drahtzangen, Elektronisches Fernglas [Stufe 2; Restlichtver-
stärkung, Sichtverbesserung 2], 2 Enterhakenkanonen, Fokus
[Herbeirufungsfokus 4, Kraftfokus 2], gefälschte SIN 3, ge-
fälschte Waffenlizenz 3, Handsensor [Cyberwarescanner 5,
RUNNER
MAD-Scanner 3], Handsensor [Lasermikrofon 6, Richtmi-
krofon 6], Kletterausrüstung, Kletterhandschuhe, Kommlink
[Gerätestufe 5], Kontaktlinsen [Restlichtverstärkung, Smart-
link], Lasermikrofon 4, Medkit 4, 6 Mikrokameras [Stufe 6;
Restlichtverstärkung], Mikro-Mikrofon [Stufe 6; Selektiver
Geräuschfilter 3], Mikrofon [Stufe 6; Audioverstärkung 3,
Selektiver Geräuschfilter 3], 2 Mikro-Transceiver 6, 5 Nani-
tencreme-Verkleidungen (kleine Behälter), Ohrhörer [Stufe 3;
Audioverstärkung 3, Selektiver Geräuschfilter 3], Panzerweste
[Elektrische Isolierung 4] [B/S 6/4], 2 Radiosignalscanner 6,
2 RFID-Löscher, 100 Spionage-RFID-Marker, 20 Standard-
RFID-Marker, White-Noise-Generator 6, 4 Zauberspeicher
(2x Kraft 3, 2x Kraft 4), zielgerichteter Störsender 4
Programme: Analyse 3, Befehl 2, Editieren 2, Schmöker 3
Waffen:
Ares Predator IV [Schwere Pistole | Schaden 5K | PB –1 | HM
| RK –1 | 15(s) | Angepasster Griff, Smartgun; 100 Schuss
Gelmunition, 100 Schuss Schockermunition, 100 Schuss
Standardmunition]
AZ-150 Betäubungsschlagstock [Knüppel | Reichweite 1 | Scha-
den 7G(e) | PB –Hälfte]
Colt M23 [Sturmgewehr | Schaden 6K | PB –1 | HM/SM/AM |
RK 5 (6) | 40(s) | Angepasster Griff, Gasventil 3, Smartgun,
selbstjustierendes Unterlaufgewicht; 80 Schuss EX-Explosiv-
Munition, 100 Schuss Standardmunition]
Katana [Klingenwaffe | Reichweite 1 | Schaden 5K | PB –1]
Überlebensmesser [Klingenwaffe | Reichweite – | Schaden 3K |
PB –1 | Unterarmscheide]
6 Betäubungsgranaten [Granate | Schaden 6G | PB –3 | Spreng-
wirkung 10 m Radius]
4 Splittergranaten [Granate | Schaden 12K(f ) | PB +5 | Spreng-
wirkung –1/m]
2 Sprenggranaten [Granate | Schaden 10K | PB –2 | Sprengwir-
kung –2/m]
Kellan Colt 33
 KOMMANDO KONWACHT
GEPOSTET VON: ANNE ARCHISTE

[Zugang Schockwellenreiter-Netzwerk gewährt] [Eintrag mit eingeschränktem Lese- und Schreibzugriff]

# Neu: Archiv “Strassenlegenden”
[Folge Link]
[Anzeigen]
> Parallel zu unserem Strippenzieher Archiv habe ich mit Fastjacks
Zustimmung und Ecotopes Fürsprache mal die Einträge über die Creme
de la Creme der Macher und Spieler in unserem Biz aus dem Jack-
Points hier gespiegelt. Außerdem haben wir mit Hilfe einiger unser-
RUNNER
Ich habe ernsthaft überlegt, ob Kommando Konwacht einen Eintrag
in diesem Archiv braucht. Da aber jede einzelne Person im Führungs-
kreis der Gruppe für sich eine gewisse Berühmtheit erlangt hat und
die Aktionen der Gruppe in den letzten Jahren mehr als nur Aufsehen
in der ADL erregt haben, führt letztendlich kein Weg dran vorbei.
Aufgrund der einigen von euch sicherlich bekannten Verwerfungen
zwischen Mitgliedern in diesem und anderen Netzwerken, und da ich
alle beteiligten Seiten zwar persönlich kenne, aber emotional nicht

er Kollegen damit angefangen die Datenbank mit ein paar detailli- so involviert bin und damit halbwegs so etwas wie Neutralität und
erten Informationen zu unseren heimischen Kandidaten aufzufüllen. Objektivität gewährleisten kann, habe ich mich entschieden, diesen
> Zeitgeist Eintrag zu schreiben.

> Ist wohl auch besser so.

> Corpshark
PERSÖNLICHE DATEN: ANTIFA Um wirklich zu verstehen, worum es hier geht, muss man sich die
enge Verknüpfung aller Beteiligten mit einigen der prägendsten Ereig-
Alter: 37 Größe: 1,85 m nisse der deutschen Schattenszene und jüngeren Geschichte der ADL
bewusst machen.
Gewicht: 72 kg Haarfarbe: Blond Einer der profiliertesten Hacktivisten der ADL der letzten 20 Jah-
Augenfarbe: Blau Geschlecht: Männlich re ist unter dem Namen Konwacht bekannt. Er gilt als Vorbild und
Ziehvater einer ganzen Generation von Autonomen und Hackern,
Metatypus: Mensch Erwacht: Nein der mit seinen öffentlichkeitswirksamen Hacks, seinem kritischen
Umgang mit den Medien, seinen Technoethik-Kommentaren, seiner
Informationstransparenz und seinem Kampf gegen die Konzerne (vor
allem dem Aufdecken ihrer schmutzigen Geschäfte) immer wieder in
die Öffentlichkeit und das Kreuzfeuer der Großkonzerne geriet. Als
Insider der deutschen Wirtschaft und ihrer Strippenzieher war Kon-
wacht seit Gründung des deutschen Schattenlandes auch Mitglied und
PERSÖNLICHE DATEN: DATOR Speerspitze des deutschen Megawatch-Matrix-Blogs.
Der zentrale und gut angebundene Standort der Schattenmatrix
Alter: 50 Größe: 1,76 m in Frankfurt erwies sich jedoch in den Sechzigern als schwerwiegen-
der Nachteil, als im Vorfeld des AGC-Skandals und der Proteus-
Gewicht: 118 kg Haarfarbe: Braun Verschwörung Konzerntruppen die Hardware des Knotens angriffen
Augenfarbe: Braun Geschlecht: Männlich und teilweise zerstörten. Nur durch Konwachts plexweiten Hilferuf
(durch einen parallelen Massenhack) an alle Runner im gesamten
Metatypus: Mensch Erwacht: Nein Großfrankfurter Raum, die den Betreibern ad hoc zur Hilfe eilten und
die AGC-Truppen in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelten,
gelang die Evakuierung eines großen Teils der Hardware und Daten
des Netzwerkes. Trotz großer technischer Probleme bot sich das damals
im Aufbau befindliche Netzwerkgitter von Schattenland Ost-Berlin
Unterstützung und Asyl an, sodass Schattenland kurzfristig in den
Osten der ehemaligen Hauptstadt umzog. Verstärkt durch bekannte
PERSÖNLICHE DATEN: ROTER OKTOBER Hacktivisten, Matrix-Vandalen, Poliblogger und Black-Hats der loka-
len linksautonomen Hackerszene wie Antifa, Dator, Roter Korsar und
Alter: 41 Größe: 1,80 m mich wurde das Schattenland Mitte der Sechziger politisch deutlich
gefärbter. Doch der Traum einer „roten Schattenmatrix“ verpuffte, als
Gewicht: 80 kg Haarfarbe: Schwarz das Innenministerium im Vorfeld des Crashs 2.0 vom Standort des
Augenfarbe: Grün Geschlecht: Männlich neuen Netzwerks erfuhr. Durch den weltweiten Systemausfall und die
Stilllegung des Berliner Gitters war das Schattenland in seiner elektro-
Metatypus: Mensch Erwacht: Nein nischen Wachsamkeit geschwächt, was Einheiten des BIS und des BGS
ausnutzten und 2065 den physischen Standort der Server im Osten
Berlins stürmten. Bei diesem Angriff fand u.a. Roter Korsar den Tod,
und Ahab, Konwacht und Reality Check (die Kernmannschaft vom
Schattenland Frankfurt) wurden verhaftet.

34 Kommando Konwacht
 Während Reality Check und Ahab öffentlich der Prozess gemacht
wurde, um mit der Verurteilung einer „Denunziantin und Landesver-
räterin“ und eines „Matrix-Saboteurs“ die bereits früh nach dem Crash
2.0 aufkeimende harte Matrix- und Sicherheitspolitik zu unterstützen,
verschwand Konwacht von der Bildfläche, ohne dass sein Name in die
Medien geriet. Angestachelt durch das Gerücht, dass Konwacht als
Bestandteil eines „Deals“ von den Behörden an einen Konzern ausge-
liefert worden war, sowie einer regelrechten Nullzone aus Schweigen,
Lügen, Hinhaltetaktiken und veränderten Daten über das Schicksal
des Hackers, gründete sich „Kommando Konwacht“ ursprünglich aus
den Ex-Schattenlandmitgliedern Antifa, Corpshark, Dator und Roter
Oktober, um das Verschwinden des Hackers aufzuklären. Nach drei
Jahren vergeblicher Suche, Überwachung und Hacks von Konzern-
netzen, Accounts hochrangiger Politiker, Geheimdienst-Kanälen und
Organisationen, die ein Interesse an einem Verschwinden des Hackers
hätten haben können, kam es schließlich zu einem Umdenken. Durch
den fehlenden Fortschritt desillusioniert, änderte sich Ende der Sech-
ziger auch im Lichte der Anti-Hacker-Politik der Regierung, die unter
Innenministerin Sagehorn inzwischen volle Fahrt aufgenommen hatte,
der Fokus der Gruppe. Viele neue und jüngere Helfer, Skriptkids und
Hacker schwenkten immer mehr auf einen grundlegenden Kampf ge-
gen repressive Institutionen, Bürgerüberwachung und Einschränkung
demokratischer Bürgerrechte ein, sodass Konwacht – sowie das, wofür
er früher eingestanden, und das, was er dafür “bekommen“ hatte – zu-
nehmend als Symbol verwendet wurde und das Schicksal der Personen
in den Hintergrund geriet.
Was als digitale Assoziation der deutschsprachigen Hacker- und Un-
tergrundmatrix-Szene mit Policlub-ähnlichen Strukturen begonnen
hatte, wurde nicht zuletzt durch den Einfluss autonomer Strömungen
RUNNER
zunehmend radikaler. Corpshark verließ wegen Differenzen über die
Ziele und Methoden der Gruppe 2068 Kommando Konwacht.
> Ich bin gegangen, als die Idee anfing, sich zu ver-
selbstständigen, und ich einsehen musste, dass sich die
aufgestauten Frustrationen vieler Mitglieder (auch in
der Führungsebene) nicht mehr kontrollieren lassen
würden. Wie man sieht, braucht es sehr wenig,
um illegale Aktionen und Kollateralschäden zu
rechtfertigen, und der Grat zwischen Direkter
Aktion und Terrorismus ist sehr schmal.
Siehe GreenWar und die Grünen Zellen.
Für manche reicht es da, eine virtuelle
Kerze an einem digitalen Schrein ei-
ner Hacker-Legende anzuzünden, um
Absolution zu erhalten. Für mich
reicht es nicht.
>
Corpshark
> Hab nichts anderes erwartet. Ar-
roganz und Selbstgerechtigkeit, und
wenn es drauf ankommt, sich keine
schmutzigen Hände machen wol-
len.
> Antifa
>Bevor das hier hochgeht: Antifa,
gerade dir sollten doch die histo-
rischen und politischen Fallen in die-
sem Zusammenhang klar sein, oder?
>Anne Archiste
> Du kennst doch das Sprichwort: Der Weg
zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepfla-
stert.
> Ecotope
In relativ kurzer Zeit entwickelte sich
Kommando Konwacht zu einer Matrix-
Sprawlguerilla-Gruppe, die aufgrund ihrer
tendenziell linken Anti-Konzern- und Anti-
Staat-Haltung viele Sympathisanten und
Partner in anderen linken Sprawlguerilla-
Gruppen (Attack!, Grüne Zellen) fand. Ne-
ben der Zellenorganisation machte die Grup-
pe abseits von DoS-Attacken, Daten- und
digitalem Geldraub (Parteikassen der CVP,
LDFP, Konzernkonten, Behördengelder)
Kommando Konwacht 35
 und virtueller Direkter Aktion (Datenbomben, Datenkorruption,
Netzwerkcrashs) in der Matrix auch mit USBVs (Unkonventionellen
Spreng- und Brandvorrichtungen) erste Gehversuche. Alle Bemü-
hungen seitens der Behörden, die Gruppe schon früh zu zerschlagen,
scheiterten. Im Mai 2070 ging Kommando Konwacht zum ersten Mal
an die Öffentlichkeit und machte eine Ankündigung zu den Zielen
der Gruppe, zur momentanen Lage der Welt und insbesondere in der
ADL. Im Zuge der Technomancer-Hysterie geriet die Gruppe in den
Strudel der medialen Gegenkampagne von Politik und Konzernen
zum Thema verschärfte innere Sicherheit und „Einschränkung der
Bürgerrechte zum Wohl der Allgemeinheit vor Übergriffen von Ha-
ckern und Technomancern in unser neuen digitalisierten Welt“. Als
Reaktion auf eine Welle juristisch sehr zweifelhafter Verhaftungen im
Zuge des Präventiv-Gesetzes gegen Matrixterrorismus hackte Komman-
do Konwacht unter Leitung von Antifa am 12. September 2070 eine
RUNNER
Gulfstream Luxe V von Messerschmitt-Kawasaki und lenkte sie in
die MSI-Arkologie in Berlin, wobei die 25 Angestellten an Bord der
Maschine zu Tode kamen und 79 MSI-Angestellte zum Teil schwer
verletzt wurden.
> Da hat es keine Unschuldigen getroffen. Alle Manager an Bord
hatten sich irgendwelcher Verbrechen schuldig gemacht, sei es ge-
gen die Umwelt, gegen Metas oder gegen die Menschlichkeit. Wir
haben unser Ziel nicht wahllos ausgesucht.
> Antifa
> Wie ich sehe, siehst du immer noch nicht den Punkt. Diese Leute
hatten Familien, Männer, Frauen und Kinder. Viele sind bereits mit
der Konzerndoktrin aufgewachsen. Sie hatten nicht wirklich eine
Wahl.
> Corpshark
> Da draußen ist Krieg, falls du das noch nicht begriffen hast. Und
Krieg erfordert halt Opfer. Mach mich ruhig zum Bad Guy, wenn
du dich dann besser fühlst. Mein Gewissen ist rein. Und man hat
immer eine Wahl.
> Antifa
In der anschließenden Debatte um die Verantwortlichen für den
Anschlag wurde das Bekennerschreiben von Kommando Konwacht
von der Regierung gezielt ignoriert, um einen Vorwand zu haben, die
Technomancer-Debatte weiter anzuheizen. Dennoch landete KK auf
den schwarzen Listen von Saeder-Krupp, der AG Chemie und später
des FBV und wurde zur „ultimativen Bedrohung“ des Status quo er-
klärt.
> Nicht nur bei den Konzernen natürlich. Das Innenministerium
hat Kommando Konwacht als Staatsfeinde im Fadenkreuz und ver-
sucht auch des Öfteren, V-Männer in die Gruppe einzuschleusen.
Es wurde Gerüchten zufolge wohl auch versucht, Shadowrunner für
eine Infiltration zu nutzen, was in den Schatten zu bösem Blut
führte. Zwar steht auf eine Assoziation mit oder Mitgliedschaft in
der Gruppe noch keine so hohe Freiheitsstrafe wie bei GreenWar,
aber die KKs sind auf dem besten Weg dahin, der neue Buhmann
der Nation zu werden.
> Imperativ
Die Brutalität des Anschlags, die Eskalationstaktik und die In-
kaufnahme von Kollateralschäden kosteten die Gruppe jedoch eine
Menge Unterstützung bei assoziierten Gruppen und den Teilen der
Bevölkerung, die mit den freiheitlich-libertären, antiimperialistischen
und –kapitalistischen Idealen der Gruppe in der konzerndominierten
Gesellschaft sympathisierten. Nach 2070 ist eine starke Radikalisie-
36 Kommando Konwacht
rung der Gruppe zu erkennen. Auch wenn extreme Aktionen wie die
in Berlin ausblieben, kam es immer wieder zu Black-Hat-Angriffen
auf Netzwerke, Malware-Infektionen und Cyberattacken auf virtuell
aktive Personen (Spinnen, Manager) mittels Schwarzem IC und psy-
chotropen Algorithmen. In dieser Zeit kam es auch zu einer Annähe-
rung zwischen Kommando Konwacht und den Matrixanarchisten von
UV-X, die nach dem angenommenen Nanowaffen-Anschlag auf EMC
(Ford) in Schönweide/Berlin am 14. April 2072, der die Einleitung
zur Operation Just Cause und zur Wiedervereinigung von Berlin war,
aufgrund des erhöhten Fahndungsdrucks der Behörden und vor allem
der Konzerne schließlich ganz in Kommando Konwacht aufgingen.
BEKANNTE KOMMANDO-
KONWACHT-AKTIONEN
Berlin: Der 3., 7., 12., 15., 16. und 23.Volks-KOMM-Hack.
Dabei wurden jeweils nahezu sämtliche Volks-KOMMs für
mehrere Tage unbrauchbar gemacht und Berlins AR für Wo-
chen in Atem gehalten. Über Zero-Day-Exploits wurden Viren
und Trojaner verbreitet, die die befallenen Volks-KOMMs zu
Sabotageinstrumenten machten, inklusive AR-Vandalismus,
bei dem Nachrichten und Werbung durch AR-Graffiti und
Propaganda ersetzt wurden, Shotgun-Mitteilungen, die andere
Volks-KOMMs vollspammten und dabei den Virus verbreite-
ten, Snowballing, bei dem automatisch bestimmte Netzkno-
ten angewählt und dabei bis zum Zusammenbruch überlastet
wurden, wovon insbesondere die BERVAG betroffen war, und
ein groß angelegtes Service-Bombing, bei dem von jedem infi-
zierten Volks-KOMM Tausende Bestellungen an Lieferservices
aller Art abgesetzt wurden.
Frankfurt: 2073 kam es durch eine Frankfurter radikale
Zelle zu massiven DoS-Attacken auf Krankenhäuser und die
Zentrale des BuMoNA. Aufgrund von Netzabstürzen konnten
mehrere Trauma-Anfragen des Systems nicht bearbeitet wer-
den bzw. wurden gelöscht. Da keine Krankenwagen ausrück-
ten, Scanner versagten bzw. falsche Angaben machten und die
Netzverbindung einer Matrix-Operation falsche Daten über-
mittelte, kamen fünf Personen durch falsche oder fehlende me-
dizinische Hilfe zu Tode.
Hamburg: Durch einen Hack des eigentlichen Hersteller-
betriebes der Relais für Ætherlinks WiFi-Netzwerke konnten
Hardware-Hintertüren in die Verstärker eingebaut werden.
Mit jedem Austausch oder Ersatz wurde das Netz anfälliger.
Mitte 2072 musste Ætherlink den Hersteller wechseln; das Re-
design und der Komplettaustausch der Hardware kosteten den
Konzern fast 80 Millionen Euro.
Rhein-Ruhr-Megaplex: Die Rheinisch-Westfälische Was-
serwerksgesellschaft mbH versorgt über 90 % des Ruhrplexes
mit Wasser, weshalb sie das Ziel zahlreicher Konkurrenten
und Terroristen ist. Insbesondere die Wasseraufbereitungsan-
lagen gelten als Ziel, weswegen S-K keine Kosten und Mühen
gescheut hat, in den letzten Jahren ein neues, elektronisches
Überwachungssystem aufzubauen. Kommando Konwacht ist
es im Oktober 2073 durch einen sozialen Hack gelungen, eine
Hintertür ins System einzubauen, durch die das Netz an ei-
nem Sonntag mit einem selbstreplizierenden Wurm infiziert
wurde, der in den automatisierten Routinen Chaos anrichtete.
Bis auf Weiteres ist S-K gezwungen, diesen Ausfall durch mehr
Sicherheitspersonal zu kompensieren, und sämtliche Termine
für die Wiederinbetriebnahme des Systems wurden vorerst ge-
strichen.
 Seit der Umstrukturierung von Berlin ruft sich Kommando Kon-
wacht immer wieder durch spektakuläre Netzeinbrüche und Matrixsa-
botage ins Gedächtnis, die vor allem zu unangenehmen Veröffentli-
chungen, Ausfällen und Schadensforderungen in Millionenhöhe führ-
ten, auch wenn Todesopfer nicht ausblieben.
Glaubt man den Gerüchten in den Schatten, ist allerdings für die-
ses oder das kommende Jahr eine Aktion mit dem Namen Operation:
Shutdown geplant, bei der es ADL-weit zeitgleich zu konzertierten An-
schlägen kommen soll, die angeblich neue Maßstäbe im Kampf gegen
die Konzerne setzen werden (zumindest ist das der Vibe, mit dem man
die Szene derzeit ködert).
> Wenn man bedenkt, dass dieses Jahr im September eine Wahl
stattfindet, wundert es mich nicht, dass die bei dem elektronischen
Wahlverfahren beteiligten Konzerne ihre Netzwerke schon jetzt in
eine frostige Winterlandschaft verwandeln.
> Spime
Kommen wir zur Führung der Gruppe, auch wenn es sicherlich viele
hochrangige Mitglieder und Hackerberühmtheiten (wie den früheren
UV-X-Anführer Spider oder den Frankfurter „Bankenschreck“ Hägg)
gibt, die hier erwähnenswert wären. Derzeit wird die Gruppe de facto
von einem Triumvirat geführt, das die Ziele festlegt und Geldmittel
akquiriert. KK operiert also tendenziell weniger dezentral als andere
Sprawlguerilla-Zellen.
Alexander Michajlowitsch Orlow alias Dator wurde 2023 in Ber-
lin geboren. Seine Eltern (Mechaniker und „Barsängerin“) schickten
ihn Anfang der 2030er zu seinem „Onkel Boris“, einem Oberst der
russischen Armee, nach St. Petersburg, als alle Zeichen auf Krieg stan-
den. Das Schicksal seiner Eltern nach den Eurokriegen ist ungewiss.
Dator wurde vom Kriegsdienst verschont und schrieb sich 2042 an
der Polytechnischen Universität St. Petersburg ein, wo er schon früh
begann, Hardware für die lokale Unterwelt und die Schatten zu or-
ganisieren, die aufgrund der wirtschaftlichen und gesetzlichen Lage
nur schwer auf offiziellem Weg zu beschaffen war. Dabei kam er dabei
zwangsläufig mit den Roten Vory in Kontakt, die in St. Petersburg ein
dominanter Machtfaktor sind. 2046 ging eines seiner Geschäfte schief,
da eine seiner Lieferungen sich den Container mit Waffen für sibiri-
sche Separatisten teilte, was den Geheimdienst auf den Plan rief. Dator
war gezwungen, nach Berlin zu fliehen, wo er seinen Geburtsnamen
endgültig ablegte.
> Sitzt nicht schon länger ein Boris Orlow weit oben im UGB?
> Zeitgeist
> Ja, ist aber nicht verwandt. War aber schon öfter Anlass für
mehr oder minder dämliche Witze. „Onkel Boris“ sitzt beim Be-
schaffungsamt der russischen Armee.
> Corpshark
Dort entwickelte er sich durch Können und gute paneuropäische
Kontakte schnell zu einem wichtigen Techniklieferanten der Berliner
linken Szene, den jeder Eingeweihte an seinem Multifunktionsman-
tel, dem blauen Technikeroverall, der extrovertierten Gesichtsbehaa-
rung und seinem Stumpen erkennt. Nur wenigen ist bekannt, dass
die Hightech aus Fernost (vor allem von japanischen Tech-Konzernen)
von Zulieferern der Roten Vory durch Russland gekarrt oder per U-
Boot über Kaliningrad nach Berlin geschifft wird. Auch wenn Dator
neben seiner Historie als patenter Datenräuber vor allem als Technik-
freak und Bastelexperte gilt, der sehr viel Tech (inklusive Zündmecha-
nismen, Kommlinks und Servern) selbst nachbaut und maßschneidert
und dem inzwischen auch eine Expertise in Sachen Nanotech nach-
gesagt wird, sind vor allem seine langjährigen Kontakte zu Vory-Tsar
Vasily Romanenko (beide kennen sich noch aus Petersburger Zeiten)
und dem Berliner Boss Karewitsch Dators größter Vorteil und seine
größte Schwachstelle.
> Wieso Schwachstelle?
> Sermon
> Weil man sich schon fragt, wo Dators Loyalitäten liegen, wenn
es hart auf hart kommt. So unterhält Dator auch Geschäftskon-
takte zu den Westlichen Vory und dem Gargari-Syndikat. Und da es
auch Dator war, der den Shadowrunner Damokles und ehemaligen
Sovetnik Gargaris Ende der Sechziger quasi ans Messer lieferte, da-
mit dieser das Attentat auf Don Lupo verüben konnte, was es den
Westlichen Vory ermöglichte, ihr altes Imperium wieder neu aufzu-
bauen, kämpft der Russe im Zweifel nur für einen: sich selbst!
RUNNER
> Queeqeg
Alex Fährmann – nie eine reale SIN besessen – ist ein Urberliner
Straßenpunk und wurde 2032 in die Wirren des Eurokrieges hin-
eingeboren. Nachdem er sich lange als Straßenkind durchgeschlagen
und von der Hand in den Mund gelebt hatte, kam er in einer der
zahlreichen Berliner Kommunen unter und atmete dort das syndi-
kalanarchistische Grundsatzprogramm dieser Zeit ein. Hochdeutsch
lernte er erst später als Fremdsprache, was man aber kaum glaubt,
wenn man ihn heute reden hört. Er lernte linke Straßentaktiken von
der Pike auf, wobei er sich auch eine Zeit lang als Skriptkid und Ma-
trixvandale verdingte. Später nutzte er dieses Computerwissen, um
Flugblätter viral zu verteilen und digitale Flashmobs und Demos über
Newsportale und Schwarze Bretter der linken Szene zu organisieren.
Trotz mehrerer Verhaftungen vor der Volljährigkeit (und ohne SIN)
fiel Fährmann immer wieder durchs System und wurde wieder in die
linken Viertel der ehemaligen Hauptstadt gespült. „Resozialisierung
sinnlos“ steht in einer seiner Akten. Als bedingungsloser Kämpfer für
die Sache an vorderster Front mit ausgeprägter Straßenkampferfah-
rung erhielt er schon früh den Kampfnahmen Roter Oktober sowie
den Respekt anderer linker Gruppierungen. Mangelnde Ressourcen
und Ausbildung machte er durch Intelligenz und Willen wett, poli-
tische und historische Bildung brachte er sich als Autodidakt bei. Da
er sich im Dienst der Autonomen Szene als ausgesprochenes Organi-
sationstalent erwies (so programmierte er ohne großes Vorwissen ein
Schwarzes Brett zum Tauschhandel) und einen erstaunlichen Erfolg
im Schmieden von Allianzen hatte, wurde er bereits mit 21 Jahren
einer der Sokare in Berlin.
Mit seiner markanten roten Jacke mit Anarchismus-Logo blieb er
damit nicht nur seinen Gegnern im Straßenkampf in Erinnerung,
sondern hinterließ auch Eindruck bei den Metamenschen von SIE,
den Grünen Zellen und zahlreichen anderen autonomen Gruppie-
rungen.
> Im Ernst, Roter Oktober kennt wirklich jeden in der Szene. Man
nennt ihm irgendeine beliebige, obskure Kleinstgruppe, und er
kennt immer wen, der da irgendwen kennt!
> Ecotope
Nach dem Fall des Status F und der zunehmenden Ausweglosigkeit
der autonomen Szene gegen den übermächtig wirkenden Gegner wur-
de Roter Oktober zunehmend wütender, auch wenn er weiterhin an
vorderster Front kämpfte und ADL-weit um Unterstützung warb. Die
Gründung und der Fall von Schattenland Ostberlin stellen so etwas
wie einen Wendepunkt dar, als Fährmanns Hoffnung auf eine glorrei-
che Zukunft des autonomen Knotens sich in einen Scherbenhaufen
verwandelte und er nur mit Hilfe von Freuden in Berlin den Exodus
überlebte.
Kommando Konwacht 37
 > Leider hat Roter Oktober einen etwas anderen Weg eingeschla-
gen als ich. Während ich heute weniger zornig auf die Verschmut-
zer bin als in jungen Jahren, ist Roter Oktober klar verbittert.
> Ecotope
> Wie würdest du dich fühlen, wenn das Leben dir immer nur
Scheiße zu fressen gibt?
> Roter Oktober
Auch heute profitiert Kommando Konwacht von seinen Verbin-
dungen zu linken Netzwerken. Seine „Kernkompetenz“ liegt jedoch
im Beschaffen und Organisieren von Gefallen und Geldmitteln. Ro-
ter Oktober ist de facto der „Kassenwart“ der Gruppe, über den jede
„Spende“ läuft, was immer dann zu internen Spannungen führt, wenn
Geldmittel aus eher zweifelhaften Quellen kommen, die die Gruppe
RUNNER
vor dem Großteil ihrer Mitglieder verbergen muss.
> Also ich habe kein moralisches oder ideologisches Problem, Geld HEIMFLUG
und Ressourcen von z.B. V-Leuten des BIS für unsere Ziele einzu-
setzen. Ist ja nicht so, dass wir das nicht wüssten.
> Roter Oktober
Der wohl prominenteste Protagonist von Kommando Konwacht ist –
unter Autonomen – ein echter Sonderfall und passt eigentlich nicht ins
Bild. Groß, schlank, irgendwie „aristokratisch“ und immer einen Tick zu
gut gekleidet, spricht Antifa Deutsch, Englisch und Französisch, kennt
sich mit hochpreisigen Tafelweinen aus und ist akademisch beschlagen
in Politikwissenschaften, Geschichte und Volkswirtschaft bzw. Konzern-
angelegenheiten. Sein Talent als außergewöhnlicher Hacker ist unbe-
stritten, allerdings ist er, im Gegensatz zu vielen Straßenhackern, auch
theoretisch auf dem Gebiet der Informationstechnologien bewandert.
> Ich nehme das jetzt mal als Kompliment, vor allem wenn es von
dir kommt, Anne.
> Antifa
Antifa wurde 2036 in Frankfurt geboren und wuchs in der Schicht der
oberen 10K auf (seinen eigenen Aussagen zufolge konzernassoziiert). Er
war fest dafür vorgesehen, in diesen Zirkeln „seinen Platz“ einzunehmen,
und sein Weg schien damit vorgezeichnet. Dementsprechend besuchte er
die elitärsten Schulen und Universitäten, die man für Geld kaufen kann.
Aufgrund persönlicher Probleme mit dem konzerndominierten Eltern-
haus (ich würde auf eine dominante Vaterfigur tippen, ihr wisst ja, alle
(Netz-)Cowboys haben „Daddy-Issues“) zeigte Antifa schon früh und
immer wieder rebellische Tendenzen gegen alles, was sein Elternhaus und
seinen Status anbelangte. In den Fünfzigern kam es zu einem Zwischen-
fall an der Universität, bei dem Antifa einige seiner Kommilitonen dazu
verleitete, Server von S-K zu hacken, und damit einen „nationalen Zwi-
schenfall“ provozierte, bei dem der Argus als Schlichter eingreifen musste.
Antifa gelang es jedoch, sich vor der Verhaftung mehrerer Studenten mit
einem Kommilitonen abzusetzen, und ließ sein Leben hinter sich, um
zusammen mit Roter Korsar im Status F unterzutauchen.
> Oh, die Sache! Das war ziemlich unschön, und der Boss war „not
very amused“, dass es ein paar Grünschnäbeln gelungen war, einen
Knoten mit sensiblen Daten zu hacken. Hast wohl mehr gesehen,
als für deine jugendlichen Augen bestimmt gewesen war, Andi.
> Heisenberg
> Ha! Ich habe immer schon vermutet, dass der Name nicht nur
die offensichtliche Bedeutung hat, sondern ein Portemanteau dei-
nes richtigen Namens ist.
> Anne Archiste
38 Kommando Konwacht
Später schlossen sich beide dem anarchistischen Untergrund an, wobei
Antifas Verachtung für die Konzerne, ihre Machenschaften und Doktrin
über die Jahre immer mehr zunahm und fanatische Züge annahm.
Antifa kann als so etwas wie der Anführer der Gruppe angesehen wer-
den, da er es wie kein zweiter versteht, Leute für die Sache und die Ziele
zu begeistern. Man sollte sich jedoch von seinem Charme nicht täuschen
lassen. Er ist genauso meinungsstark wie dickköpfig und kann schnell
aufbrausen, vor allem, wenn man ihn argumentativ in die Ecke treibt.
Auch wenn die Ziele der Gruppe an sich hehr sind und ich anfangs
noch mit dem Kampf sympathisierte (ich kann halt auch nicht aus
meiner Haut), sehe nicht nur ich die Entwicklung sehr kritisch. Im
Fadenkreuz der Konzerne und Geheimdienste, mit Geldmitteln aus
fragwürdigem Ursprung, blindem Hass, Fanatismus und moralisch
sehr „flexiblen“ Entscheidungen an der Führungsspitze frage ich mich,
wie lange es dauert, bis das „Projekt“ außer Kontrolle gerät.
Antifa entging keineswegs die Ironie seiner Reise. Als Hacker und gesuch-
ter „Terrorist“ im Untergrund, gejagt von Staat und Konzernen, war er
gerade unter der Nase von zahlreichen S-K- und Großkonzernmanagern
mit einem Erste-Klasse-Flug von Old World Airways von Berlin in die alte
Heimat geflogen und stand mitten im VIP-Bereich des extraterritorialen
Terminals 2, wo die Sicherheitskräfte damit beschäftigt waren, Gefahren
von ihm fernzuhalten, statt ihn unter die Lupe zu nehmen.
Aber verwunderlich war das eigentlich nicht, denn wer würde ihn hier
vermuten? Es gab de facto keine Bilder von ihm in irgendeinem Fahn-
dungsraster. Außerdem besaß er derzeit nicht das Gesicht und das Aussehen
des meistgesuchten „Punks“ Deutschlands, sondern das hochrangige Ab-
ziehbild dessen, was er hätte werden sollen, wenn es nach dem Willen seines
Vaters gegangen wäre. Er verstand den damit einhergehenden Hinweis nur
zu gut. Und dabei war er erst am Anfang des bevorstehenden Drahtseilak-
tes, der nicht nur ihn Kopf, Kragen, Seele und Gewissen kosten könnte.
Am VIP-Verbindungsgang zum Parkhaus erwartete ihn bereits seine Weg-
begleitung der Marke aufgerüstete Ex-Militärs in Anzügen, die ihren Auftrag-
geber nicht beschämten und vermutlich wesentlich größere Kaliber abhielten,
als man annehmen würde. Ein leises Lächeln stieg in Antifa auf, als er sich
in den Audi Signum L8 setzte (natürlich „Executive Decision“). Er konnte
sich wirklich nicht erinnern, wann ihn das letzte Mal jemand mit „Herr“
angeredet hatte. In seiner Wahlheimat gab es nur ein joviales Du, selbst wenn
man den anderen auf dem Kiez erst seit ein paar Sekunden kannte. Heimat.
Leicht nostalgisch betrachtete er die Skyline, während sich der Konvoi aus
Audi und zwei Begleitfahrzeugen auf den Weg machte. Als sie sich dem Ziel
näherten, erkannte er die alte Villa sofort wieder, und er fragte sich, welcher
Dienst der UCAS mittlerweile der Besitzer war und das ehrwürdige Gebäude
für dieses Treffen vertrauensvoll ausgeliehen hatte. Lautlos öffnete sich das Tor,
und sie fuhren zum Hintereingang, wobei Antifa die gepflegte Mischung aus
Staatsschützern, Leibwächtern und Sternschutz-Mitarbeitern der Abteilung
Spezielle Operationen bewunderte. Ohne großen Aufwand wurde er in das
Kaminzimmer der Villa geführt, wo bereits zwei Personen auf ihn warteten.
Antifa hatte den Verdacht, dass der unauffällige Mensch mit dem Auf-
treten eines altgedienten Beamten noch wichtig werden würde, aber sein
Hauptaugenmerk lag derzeit auf dem anderen Mann, der nicht viel äl-
ter schien als er selbst, auch wenn der aktuelle Magistratspräsident von
Groß-Frankfurt, Jurist, Diplomat und ehemalige Vorsitzende der Alfred
Herrhausen Stiftung sowie Zeit seines Lebens das schärfste Werkzeug des
Frankfurter Bankenvereins in Wirklichkeit mehr als doppelt so alt war
wie er selbst. Dr. Léon Fischer hatte schon mit Nachtmeister zusammenge-
arbeitet, dem Drachen die Waffenschmidt vorgestellt und war auch heute
noch ihr besonnener und auf Ausgleich bedachter Ratgeber. In privaten
Dingen war Léon Fischer, Ehemann und Vater mehrerer Kinder, nicht
ganz so bedacht und vor allem nachtragend.
 „Ist ziemlich lange her, Vater.“
Fischer Senior wies auf einen der freien Sessel.
„Auch wenn es uns beiden nicht gefällt, Andi, aber es gibt Dinge,
über die wir reden müssen.“
Dieses Eingeständnis überraschte Andreas Fischer ziemlich, da er so et-
was wie Zugeständnis von seinem Vater nicht gewohnt war.
„Du kannst dir vorstellen, dass ich etwas überrascht war, als ich
nach einigen Hinweisen die Spenden an unseren „Verein“ genauer
geprüft habe und mir dann vorstellen konnte, wo ein Großteil
davon herkam. Und als ich dann deine verschlüsselte Nachricht
gefunden habe, habe ich mir schon gedacht, dass du irgendetwas
Bestimmtes willst. Allerdings hatte ich eher gedacht, wir würden
diese Unterredung im Beisein eines Taktischen Einsatzteams der
AGC führen.“
Kurz blitzte Zorn in Léon Fischer auf.
„Und ich hatte damit gerechnet, dass sich mein Sohn zu einem bril-
lanten Geist entwickelt, der sein Talent nicht dafür nutzt, Flugzeuge in
anderer Leute Häuser fliegen zu lassen!“
Nun schien es dem anderen Gast zu reichen.
„Bitte meine Herren, Ihre Liebesbekundungen können Sie später
austauschen, wir sind nicht Ihrer Familientherapie wegen hier!“
Antifa hatte selten gehört, dass jemand so mit seinem Vater sprach, und
das sah man diesem auch an.
„Und wer sind Sie?“
ANTIFA
K G R S C I L W EDG ESS INI ID
3 5(7) 5 3 4 4 6(8) 5 5 4,31 9 1 thematische SPU, Sim-Modul (modifiziert für heißes Sim)],
Zustandsmonitor (K/G): 10/11
Panzerung (B/S): 5/3
Fertigkeiten: Akrobatik (Tanzen) 2 (+2), Ausweichen 3, Bo-
denfahrzeuge (Pkw) 3 (+2), Computer (Medien) 5 (+2),
Datensuche 6, Einschüchtern (Geistig) 3 (+2), Elektronische
Kriegsführung 4, Erste Hilfe 2, Exotisches Fahrzeug (Jetski)
4, Führung (Überzeugen) 5 (+2), Gebräuche (High Society)
4 (+2), Hacking 6, Hardware 4, Klettern 2, Klingenwaffen
(Fechtwaffen) 3 (+2), Laufen 3, Matrixkampf 6, Navigation 1,
Pistolen 4, Schwimmen 3, Software (offensive Programme) 5
(+2), Überreden 4, Verhandlung (Absichten erspüren) 5 (+2),
Verkleiden 3, Waffenloser Kampf (Blocken) 3 (+2), Wahrneh-
mung 5
Wissensfertigkeiten: Computertheorie (Informationsgeschich-
te) 5 (+2), Geschichte (Zeit der Aufklärung) 3 (+2), Haute
Cuisine 3, Konzernpolitik (ADL) 4 (+2), Matrix-Sicherheits-
prozeduren 5, Matrix-Treffpunkte 4, Megakonzern-Recht
(ADL) 3 (+2), Ökonomie (Makroökonomie) 4 (+2), Sicher-
heitssysteme 4, Sport (Golf ) 3 (+2), Verschwörungstheorien 4;
Deutsch M, Englisch 5, Französisch 4, Latein 2
Gaben: Gelöscht
„Mein Name tut eigentlich nicht viel zur Sache, aber Sie können
mich Hanning nennen, wenn Sie wollen. Ich leite zurzeit einen Teilbe-
reich einer Operation, die von großer Bedeutung für die Allianz und
ihren Fortbestand ist. Antifa, ich darf Sie doch so nennen, kennen Sie
den folgenden Satz: Alle Ratlosigkeit, Verwirrungen und Elend dieser
Nation entsteht nicht durch Mängel der Verfassung, nicht durch den
Mangel an Ehre und Tugend, als vielmehr durch die absolute Ignoranz
der Natur von Münze, Kredit und Verteilung!“
Antifa wusste genau, von wem dieser Satz war, und nickte Hanning
zu. Er hatte ihn selbst in eins der Manifeste von Kommando Konwacht
eingebaut. Wobei es schon bezeichnend war, dass John Adams, der zweite
Präsident der ehemaligen Vereinigten Staaten von Amerika, nach Maßstä-
ben der heutigen Konzernwelt als Sozialist galt.
„Ziemlich belesen für den Leiter eines Ionosphärenforschungsinsti-
tuts in Hessen-Nassau“, konterte er.
RUNNER
Hanning wirkte für einen kurzen Moment erstaunt, aber auf eine ge-
wisse Art und Weise auch beruhigt, dass er sich in seiner Einschätzung
nicht getäuscht hatte.
„Touché, aber dazu kommen wir später noch. Zuerst kommt das
Geschäft. Und bevor Sie sagen, dass Sie Geld auch woanders besorgen
können, wir reden hier nicht nur von Geld. Ich kann Ihnen Ressour-
cen und Hilfe zukommen lassen, die Sie sich kaum vorstellen können.
Und das Gute daran: Sie müssen Ihre Seele noch nicht einmal dem
Teufel verkaufen.“
Bodytech: Modifiziertes Shiawase ExecutiveSuite Silber [Auf-
merksamkeitsbooster 3, Bildverbindung, Datenbuchse,
Kommlink (Prozessor 5, Signal 5, Firewall 4, System 5), Ma-
SimSinn-Booster (Alphaware), Tastverbindung (Betaware);
Hochleistungsgelenke (Alphaware), Muskelstraffung 2, Zere-
bralbooster 2 (Alphaware)
Ausrüstung: BMW RV430, DocWagon-Gold-Vertrag, 4 ge-
fälschte SINs einschließlich erforderlicher gefälschter Lizenzen
(jeweils Stufe 4-6), Kommlink als Fassade für das Headware-
Kommlink [Hermes Ikon mit Iris Orb; Prozessor 4, Signal 3,
Firewall 3, System 3, Skinlink], White-Noise-Generator 5,
Zugriff auf umfangreiche Matrix- und Elektronikressourcen
und ein weitverzweigtes Connection-Netzwerk
Programme: Analyse 6, Angriff 6, Aufspüren 5, Ausnutzen 6,
Befehl 5, Biofeedback-Filter 6, Blackout 6, Datenbombe 5,
ECCM 6, Editieren 6, Entschärfen 6, Entschlüsselung 5, Ent-
waffnen 5, Korrumpieren 6, Medic 6, Panzerung 6, Realitäts-
filter 5, Scannen 5, Schleicher 5, Schmöker 6, Schnüffler 5,
Schwarzer Hammer 5, Täuschung 6, Verschlüsselung 6
Waffen:
Rapier [Klingenwaffe | Reichweite +1 | Schaden 4K | PB –1 |
Angepasster Griff]
Browning Ultra-Power [Schwere Pistole | Schaden 6K | PB –1 |
HM | RK – | 10(s) | Lasermarkierer, Sonderedition „Midnight
Collection 2064“ mit nachtblauem Mattlack, schiefergrauen
Griffschalen und Gewichtsreduktion; Explosivmunition]
Kommando Konwacht 39
 DATOR
K G R S C I L W EDG ESS INI ID
5 4 4(6) 5 3 4 4 4 4 3,97 8(10) 1(3)
Zustandsmonitor (K/G): 11/10
Panzerung (B/S): 6/4
Fertigkeiten: Athletik-Fertigkeitsgruppe 2, Ausweichen 4, Bo-
denfahrzeuge (Pkw) 5 (+2), Computer 4, Datensuche 4,
Einschüchtern 4, Elektronische Kriegsführung 5, Erste Hilfe
RUNNER
(Kampfverletzungen) 3 (+2), Fahrzeugmechanik 3, Fälschen
4, Flugzeuge (Ferngesteuert) 4 (+2), Führung (Taktik) 3 (+2),
Gebräuche (Vory) 3 (+2), Gewehre 3, Hacking 4, Hardware 5,
Heimlichkeit-Fertigkeitsgruppe 3, Klingenwaffen (Messer) 4
(+2), Läufer 4, Matrixkampf 4, Navigation 2, Pistolen (Halb-
automatik) 5 (+2), Schnellfeuerwaffen 3, Software 3, Spreng-
stoffe 4, Survival 3, Überreden 3, Verhandlung (Handeln) 4
(+2), Waffenbau 2, Waffenloser Kampf (Martial Arts) 4 (+2),
Wahrnehmung (Hören) 4 (+2), Wurfwaffen 3
Wissensfertigkeiten: Actionfilme (Südamerikanisch) 3 (+2),
Chemie 2, Computertheorie 3, Fluchtrouten 3, Geografie 4,
Ingenieurswissenschaften 3, Konzernpolitik 3, Literatur (Ost-
europäisch) 3 (+2), Matrix-Treffpunkte 3, Nanotechnologie
3, Sicherheitsprozeduren 4, Sicherheitssysteme 5, Unterwelt-
Politik 5, Verschwörungstheorien 3, Waffenkunde 4; Deutsch
6, Englisch 4, Russisch M
Gaben: Aufmerksamkeit 1
40 Kommando Konwacht
Bodytech: Cyberaugen [Stufe 2, Blitzkompensation, Rest-
lichtverstärkung, Sichtvergrößerung, Smartlink] (Betaware),
Kommlink [Fairlight Caliban mit Novatech Navi, maßgefer-
tigt; Prozessor 5, Signal 6, Firewall 4, System 4; Sim-Modul
(modifiziert für heißes Sim)] (Betaware), Reaktionsverbesse-
rung 2 (Alphaware), Riggerkontrolle (Alphaware), SimSinn-
Booster, Tastverbindung (Alphaware); Schlafregulator
Ausrüstung: Bereichsstörsender 6, Bewegungsmelder 5, Elekt-
ronik-Werkzeugkiste, Fahrzeugmechanik-Werkzeugkiste, 4 ge-
fälschte SINs einschließlich erforderlicher gefälschter Lizenzen
(jeweils Stufe 4-6), Gefütterter Mantel [B/S 6/4], Hardware-
Werkzeugkiste, Medkit 5, Radiosignalscanner 6, modifizierter
Rover Modell 2068 [Diebstahlsicherung, ECM 7, 2 versteckte
Drohnenhalterungen für bewaffnete Flugdrohnen nach Wahl
des Spielleiters], Taschenlampe, Zugriff auf umfangreiche Ma-
trix-, Elektronik- und Fahrzeugressourcen und ein weitver-
zweigtes Connection-Netzwerk
Programme: Analyse 4, Angriff 5, Aufspüren 6, Ausnutzen 6,
Befehl 5, Biofeedback-Filter 6, ECCM 6, Editieren 4, Ent-
schärfen 4, Entschlüsselung 6, Medic 4, Panzerung 6, Scannen
6, Schleicher 4, Schmöker 4, Schnüffler 6, Schwarzer Ham-
mer 5, Täuschung 4, Verschlüsselung 6
Waffen:
Messer [Klingenwaffen | Reichweite – | Schaden 4K | PB –]
Zastava CZ49 [Schwere Pistole | Schaden 5K | PB –5 | HM | RK – |
10(s) | Schalldämpfer, Smartgunsystem; APDS-Munition]
ROTER OKTOBER
K G R S C I L W EDG ESS INI ID
4 5(6) 3(6) 4(5) 5 3 4 4 4 1,31 6(9) 1(2)
Zustandsmonitor (K/G): 12/10
Panzerung (B/S): 10/9
Fertigkeiten: Athletik-Fertigkeitsgruppe 3, Ausweichen 3, Be-
schatten (Abschütteln) 3 (+2), Bodenfahrzeuge (Pkw) 4 (+2),
Computer 4, Datensuche 4, Einschüchtern (Geistig) 5 (+2),
Erste Hilfe 3, Führung (Überzeugen) 6 (+2), Gebräuche 6,
Gewehre (Schrotflinten) 3 (+2), Hacking 4, Hardware 3,
Infiltration (Stadt) 3 (+2), Klingenwaffen (Messer) 4 (+2),
Knüppel 5, Kybernetik 2, Matrixkampf 4, Navigation 1, Pis-
tolen 3, Software 4, Überreden 5, Verhandlung (Diplomatie)
5 (+2), Waffenloser Kampf (Blocken) 4 (+2), Wahrnehmung
(Sicht) 4 (+2)
Wissensfertigkeiten: Computertheorie 3, Gang-Politik (Ber-
lin) 4(5) (+2), Geografie 3, Geschichte 4, Konzernpolitik 3,
Ökonomie (Makroökonomie) 3 (+2), Physik 4, Psychologie
4, Radikale Gruppierungen (Berlin) 6(7) (+2), Recht (ADL) 3
(+2), Sicherheitsprozeduren (Polizeikontrollen) 4 (+2), Sport
(Stadtkrieg) 4 (+2), Verschwörungstheorien 3, Zoologie 3;
Deutsch (Berliner Schnauze) M, Englisch 3, Russisch 4
Gaben: Die Harte Schule des Lebens, Knallhart 2
Bodytech: Aufmerksamkeitsbooster 1 (Alphaware), Balance-
verstärker, Cyberaugen [Stufe 3; Blitzkompensation, Infra-
rotsicht, Restlichtverstärkung, Sichtverbesserung 2, Sichtver-
größerung, Smartlink] (Alphaware), Dämpfer (Alphaware),
Dermalverkleidung 2 (Betaware), Interner Lufttank (Alpha-
ware), Kompositknochen Plastik (Alphaware), Reaktionsver-
besserung 2, Reflexbooster 1 (Betaware), Schmuggelbehälter
(Alphaware), Tastverbindung (Alphaware); Hochleistungsge-
lenke, Muskelstraffung 1 (Alphaware), Muskelverstärkung 1
(Alphaware), Thrombozytenfabrik
Ausrüstung: 4 gefälschte SINs einschließlich erforderlicher ge-
fälschter Lizenzen (jeweils Stufe 4-6), Kommlink [Fairlight
Caliban, maßgefertigt; Prozessor 5, Signal 5, Firewall 5, Sys-
RUNNER
tem 5, Sim-Modul (modifiziert für heißes Sim), Skinlink],
Medkit 4, Panzerjacke [B/S 8/6], wechselnde, leicht mitge-
nommene Klein- oder Mittelklassewagen, Zugriff auf um-
fangreiche Matrix- und Elektronikressourcen und ein äußerst
weitverzweigtes Connection-Netzwerk (v.a. in Berlin)
Programme: Analyse 5, Angriff 5, Aufspüren 4, Ausnutzen 5,
Befehl 4, Biofeedback-Filter 6, Blackout 5, Datenbombe 5,
ECCM 5, Editieren 5, Entschärfen 4, Entschlüsselung 5, Me-
dic 5, Panzerung 5, Realitätsfilter 5, Scannen 5, Schleicher 4,
Schmöker 5, Schnüffler 4, Schwarzer Hammer 4, Täuschung
5, Verschlüsselung 6
Waffen:
Plastik-Kompositknochen [Waffenlos | Reichweite – | Schaden
4K | PB –]
Messer [Klingenwaffe | Reichweite – | Schaden 4K | PB –]
Teleskopschlagstock [Knüppel | Reichweite +1 | Schaden 4K |
PB –]
Cavalier Deputy [Schwere Pistole | Schaden 6K | PB –1 | HM |
RK – | 7(tr) | Smartgunsystem; Explosivmunition]
Kommando Konwacht 41
 MA’FAN
GEPOSTET VON: MIKA

PERSÖNLICHE DATEN: MA’FAN
Alter: 29
Gewicht: Unbekannt
Augenfarbe: Braun
RUNNER
Klettergeschirr versagte und ich mir ein Bein brach. Wenn ich die
Sache nicht so gut durchgeplant und keinen Notfallplan in der
Hinterhand gehabt hätte, hätten sie mich in der Nacht sicherlich
erwischt.
Größe: 1,57 m
> Ma’fan
Haarfarbe: Je nach Job
(meistens schwarz) > Das ist ja auch etwas, was für die Arbeit im Team spricht, meine
Liebe.
Geschlecht: Weiblich > Pistons

Metatyp: Mensch Erwacht: Ja (Adept)
Für die Megakonzerne und diversen Sicherheitsfirmen der Welt, deren
Wege sie während ihrer illustren Karriere gekreuzt hat, ist die Frau,
die sich hinter dem Straßennamen „Ma’fan“ (Mandarin für „Ärger“)
verbirgt, derart schwer zu fassen, dass sie für ihre zahlreichen Feinde
praktisch unangreifbar ist. Und schon das allein macht sie zu einem
Ärgernis.
Ma’fan ist geradezu davon besessen, ihre Datenspuren zu minimie-
ren und eliminieren, egal in welcher Stadt sie gerade tätig ist, sodass es
fast unmöglich ist, ihr auf die Schliche zu kommen (und ich muss es
wissen – ich habe unzählige Stunden mit dem Versuch verbracht, ihre
Spur zu finden, nachdem sie mir mächtig eins ausgewischt hatte, aber
sie ist ungreifbar wie ein Gespenst). Ma’fan geht sehr akribisch vor,
wenn sie einen Job plant; manchmal nimmt sie sich tage- oder wo-
chenlang Zeit, ein Museum oder eine Ausstellung auszukundschaften,
bevor sie das Objekt ihrer aktuellen Begierde an sich bringt. In vielerlei
Hinsicht ist Ma’fan in ihrer Vorgehensweise sehr „old school“. Wenn
sie ein Museum heimsucht, hinterlässt sie oft so gut wie keine Hin-
weise darauf, wo sie in das Gebäude rein- und wieder rausgegangen
ist, und sie ist sehr sorgfältig in ihren Vorbereitungen, sodass für den
Fall, dass sie ein zweites Mal in ein bestimmtes Gebäude hinein muss,
eine gute Chance dafür besteht, dass einige der Sicherheitslücken, die
sie beim ersten Mal ausgenutzt hat, auch beim zweiten Versuch noch
vorhanden sind. Oft dauert es Stunden, bis die Sicherheit überhaupt
merkt, dass sie etwas gestohlen hat, hauptsächlich deswegen, weil sie
meistens sehr gute Fälschungen statt der Originale zurücklässt. Wenn
die Fälschung als solche erkannt wird, ist Ma’fan in der Regel schon
über alle Berge.
Ganz egal, welche Sicherheits- oder Abschreckungsmaßnahmen es
vor Ort gibt, Ma’fan scheint sie alle mit ihrem ausgeprägten Finger-
spitzengefühl und ihrer graziösen Körperbeherrschung überwinden
zu können, und das ganz ohne Hilfe irgendwelcher ausgeklügelter
Hightech-Apparaturen, wie sie Einbruchspezialisten für gewöhnlich
verwenden. Ma’fan umgeht technisch hochentwickelte Sicherheits-
maßnahmen mit ihren eigenen selbstgestrickten Lösungen. Ich habe
Geschichten darüber gehört, wie sie Kaugummi, Alufolie, Spiegel und
Kugellager einsetzte. Wie primitiv einige ihrer Ideen auf den ersten
Blick auch erscheinen mögen – ihr Erfolg spricht Bände für ihre Tech-
nik und ihre Fähigkeiten.
> Ich treffe diese ganzen Vorbereitungen, um die Gefahr zu mi-
nimieren, dass irgendwas schiefgeht. Und wenn es doch mal pas-
siert, habe ich immer noch eine gute Chance, aus dem ganzen
Mist herauszukommen – so wie bei dem Run neulich, als mein
> Je größer das Team, desto kleiner der Profit. Das ist einer der
Gründe, weshalb ich in der Regel allein arbeite. Ich habe ein
großes Problem mit dem Teilen. Außerdem wollen die meisten
Leute gar nicht mit mir zusammenarbeiten, weil sie Angst vor
meinem „Technologie-Fluch“ haben. So bin ich ja auch an den
Namen „Ma’fan“ gekommen. Die Leute glauben, dass ich nur Ärger
bedeute, wenn Technologie im Spiel ist. Aber natürlich habe ich
schon mehr als einmal bewiesen, dass ich besser bin, wenn ich
mich nicht so sklavisch auf die Technik verlassen muss, wie man-
che Leute es tun (ich schau dir in die Augen, Mika).
> Ma’fan
> Ah, da ist ja die Spitze, auf die ich gewartet habe. Dieses ganze
„Mika-sagt-nette-Dinge-über-Ma’fan“-Zeug hat mich schon ganz
durcheinandergebracht.
> Sunshine
Trotz ihrer unerklärlichen Inkompatibilität zur Technologie und
ihrem tiefen Misstrauen ihr gegenüber hat Ma’fan in Dutzende ge-
fälschter SINs, Lizenzen und Reisedokumente investiert, die sie als
effektive Irreführung benutzt, um ihre Abreise aus einer bestimmten
Stadt oder einem Land zu verbergen (und natürlich auch das Ziel ihrer
Reise). Ma’fans Gegner haben bei ihren Possen oft das Gefühl, dass
sie mit ihnen spielt und sich über sie lustig macht. Ma’fan bereitet
in der Regel mindestens drei Fluchtrouten vor, sodass sie problemlos
in den Schatten verschwinden kann, wenn alles schiefgeht. Bei jedem
Job verbraucht sie in der Regel etwa ein halbes Dutzend gefälschter
Identitäten, selbst bei Jobs, bei denen andere Shadowrunner höchstens
eine oder zwei Tarnidentitäten verwenden würden. Im Laufe der Jahre
habe ich so einige ihrer skurrilen Decknamen kennengelernt: Celina
C. Kyle (ja, ich habe dabei auch die Augen verdreht), Tabitha Lynx,
Amanda Aegean, Catherine Chausie, Emuishere Mau, Xian Korat und
Rebecca Manx. Diese Namen spielen alle mehr oder weniger deutlich
auf Katzen an; ein Spleen von ihr, der vielleicht irgendwann zu einem
verräterischen Erkennungsmerkmal werden könnte. Ma’fan ist eine
Adeptin, und sie setzt ihre besonderen Fähigkeiten bei ihrer Arbeit als
„Objektbeschafferin“ ein. Sie folgt dem Schutzpatron Katze, obwohl
ich es schon immer etwas bizarr fand, dass ein Adept einem magischen
Brauch folgt, der sonst eigentlich nur von Zauberern praktiziert wird.
Wie ich gehört habe, wird sie auf allen ihren Reisen immer von einer
bestimmten Katze begleitet: einer weißen Katze mit einem orange-
braun geringelten Schwanz und grünen Augen.
Während sie um den Globus reist und immer wieder seltene Ob-
jekte von ihren bisherigen Standorten entfernt, schafft sie es jedes Mal,
den sie verfolgenden Behörden einen Schritt voraus zu sein. Einer Ver-
haftung durch Interpol (oder irgendeine andere internationale Polizei-
organisation) am nächsten kam Ma’fan im April 2067 in Barcelona.

42 Ma’fan
Ein Interpol-Agent namens Estaban Blanco hatte sich an eine ihrer
Connections herangemacht und den Mann (einen Fälscher, dem sie
vertraute, wenn ich mich recht erinnere) dazu gebracht, Ma’fan eine
Falle zu stellen. Ma’fan entging nur dadurch der Gefangennahme, dass
das Fahrzeug, das sie zu der Zeit benutzte, am falschen Ende der Stadt
liegenblieb und sie deshalb neunzig Minuten zu spät zum verein-
barten Treffen kam. Zu dem Zeitpunkt hatte Agent Blanco
die Überwachung der Kontaktperson bereits abgeblasen,
weil er annahm, Ma’fan hätte irgendwie Wind von der
Falle bekommen und sich abgesetzt. Blanco hat stattdes-
sen Ma’fans Connection hinter Gitter gebracht und sie
selber laufen lassen, damit sie fröhlich ihre Karriere fort-
setzen und uns anderen gelegentlich den Tag versauen
kann, wenn wir ihr über den Weg laufen.
keit und ihrer äußeren Erscheinung weiß, aber diese Daten könnten
genauso gut auch aus dem Vorstrafenregister einer anderen Frau über-
nommen worden sein (was ich Ma’fan auf jeden Fall zutraue). Nach
allem, was ich über ihre geheimnisvolle Vergangenheit rekonstruieren
konnte, ist Ma’fans richtiger Name Yuan Lai, und sie wuchs in den
Straßen von Shanghai auf. In den Polizeidatenbanken taucht sie erst-
mals 2055 auf, wird dort als SINlos aufgeführt, mit einem Al-
ter von 11 Jahren. In ihrem Vorstrafenregister tauchen immer
wieder Gelegenheitsdiebstähle (meistens Taschensekretäre
aus Konzernbesitz, optische Datenchips und beglaubigte
Credsticks) für eine lokale Gang auf. Aber da sie nie mit
einem der Gegenstände erwischt wurde, die sie angeblich
gestohlen haben sollte, und auch keiner der Gegenstände
je wiedergefunden wurde, wurden die meisten Anklagen
gegen sie aus Mangel an Beweisen fallengelassen, und die,

RUNNER
> Wäre Blanco etwas geduldiger gewesen, hätte die tatsächlich zur Verhandlung kamen, wurden im End-
er mich erwischt – mit einer knappen Million effekt mit kaum mehr als einem Klaps auf die Hand
Nuyen in ungeschliffenen Diamanten und bestraft. Beschattungsteams lokaler Sicherheitsfir-
vier Gemälden aus bekannten spanischen men wurden auf diese lästige Frau angesetzt, in der
Museen. Das war ein ziemlich dicker Hoffnung, sie bei einem Fehler zu erwischen, mit
Fischzug damals, der mir einen länger- dem man sie endlich hinter Gitter bringen konnte.
fristigen Aufenthalt in spanischen Ge- Schon in diesem jungen Alter erwies sich Yuan Lai
fängnissen eingebracht hätte. Wenn als schwer zu fassen und entwischte immer wieder
das geschehen wäre, mein Freund, den Agenten, die sie im Auge behalten sollten.
hätten wir nicht die wunderbaren Sie erwarb sich bald den Ruf, mit Leichtigkeit
Abenteuer zusammen erleben kön- irgendwo eindringen und wieder verschwin-
nen, an denen wir uns im Laufe der den zu können, was sie zum Teil ihrem
Jahre erfreut haben. Improvisationstalent zu verdanken hatte.
> Ma’fan Schließlich gab die Polizei von Shanghai es
auf, sich an ihre Fersen zu heften.
> Ich würde unsere Katz-und-Maus-
Spiele nicht unbedingt als „Aben- > Es gibt noch einen Grund, daran zu
teuer“ bezeichnen. Oder als erfreu- zweifeln, dass die Datei für Yuan Lai
lich. Höchstens als nervtötend, tatsächlich Ma’fan beschreibt. Ich
vor allem wenn ich Mr. Johnson habe auch mal einen Blick hi-
gestehen musste, dass du dich neingeworfen, und den Akten
gerade mit dem von ihm (oder zufolge gab es mindestens
ihr) begehrten Objekt aus sechs Anklagen wegen
dem Staub gemacht hattest. Prostitution. Irgendwie
Deine Einmischung hat mehr als einmal dazu glaube ich nicht, dass Ma’fan diesem Gewer-
geführt, dass ich fast getötet wurde. be jemals nachgehen würde.
> Mika > DangerSensei

> Das Gleiche gilt für deine Einmischung >Oh, ich weiß nicht. Sich als Freudenmädchen
bei mir. Also hör auf, über verschüttete auszugeben, kann einem helfen, sich Dinge zu
Soymilch zu jammern. Was das an- verschaffen, mit denen man unerkannt in ein
geht, sind wir einigermaßen quitt. Gebäude eindringen kann: DNA-Proben zum Bei-
> Ma’fan spiel, Retinascans oder Kommlinkdaten. Ma’fan
ist meiner Ansicht nach professionell genug, auch
Genaue Informationen über diesen Ansatz nicht außer Acht zu lassen, wenn
Ma’fans wahre Identität sind sie dadurch das Objekt, hinter dem sie her ist, mit
schwer zu finden. Ich schätze, dass geringstmöglichem Aufwand beschaffen kann.
entweder Ma’fan selbst oder eine > Pistons
ihrer Connections den größten
Teil der Aufzeichnungen über > Aber wenn es wirklich sie war, hätte man sie
ihr früheres Leben gelöscht hat. dann überhaupt geschnappt und verklagt? Vor
Und der Rest wurde dann vom allem später in ihrer Karriere? Ich habe da meine
Crash 2.0 gelöscht oder kor- Zweifel.
rumpiert. Ein paar Details > DangerSensei
über eine junge Frau, von der
ich glaube, dass sie Ma’fan
sein könnte, passen zu dem,
was ich von ihrer Persönlich-

Ma’fan 43
 Sie arbeitete einige Jahre mit einer lokalen Straßengang zusammen.
Anscheinend brachten sie Yuan Lai in Kontakt mit der Triade des Ro-
ten Drachen, die sie gründlich darin ausbildete, in Gebäude einzu-
dringen, die über wesentlich umfangreichere und raffiniertere Sicher-
heitsmaßnahmen verfügten als das, was sie von der Straße kannte. Und
unter Anleitung und Finanzierung der Triade scheint Yuan Lai dann
ihren Highschool-Abschluss gemacht und drei Jahre an der Jiao-Tong-
Universität in Shanghai studiert zu haben, und zwar Kunstgeschichte
mit Elektrotechnik als Nebenfach. Der Großteil ihrer elektrotechni-
schen Ausbildung drehte sich um Funktion und Design moderner
Magschlösser. Yuan Lai war in ihrem vierten Jahr auf der Universität,
als sie Anfang 2065 auf mysteriöse Weise verschwand. Und etwa um
die gleiche Zeit begann eine mysteriöse Frau namens Ma’fan, in und
um Shanghai ihr Unwesen zu treiben, und wo immer sie auftauchte,
verschwanden berühmte Gemälde und Skulpturen.
RUNNER
Wenn Yuan Lai tatsächlich Ma’fan ist, hat sie ungefähr ein Jahr
damit zugebracht, ihre Techniken an den Museen Shanghais zu per-
fektionieren – vom Shanghai Museum, in dem sie Steinsiegel stahl,
die Wen Peng und He Zhen zugeschrieben wurden, bis hin zum C.Y.
Tung Maritime Museum, wo sie Artefakte gestohlen haben soll, die
aus dem Wrack eines Handelsschiffes aus dem 15. Jahrhundert gebor-
gen wurden. Man geht allgemein davon aus, dass Lai in diesem einen
Jahr Artefakte, Skulpturen und Kunstwerke im Wert von bis zu 15
Millionen Nuyen raubte. Bis Mitte 2066 jedoch hatte sie sich von den
Museen Shanghais bis zu den großen Museen der ganzen Welt hoch-
gearbeitet und tauchte in Manhattan, Kairo, Rom, Madrid, Moskau,
Kuala Lumpur, London, Paris und Barcelona auf.
Mein erstes persönliches Zusammentreffen mit Ma’fan ereigne-
te sich am 3. November 2066 im Metropolitan Museum of Art in
Manhattan. Ich brach gerade einen Schaukasten im ersten Stock auf,
als mein Kommlink mich auf eine Bewegung in der Ausstellungshalle
über mir aufmerksam machte – so schwach, dass sie kaum von den
Bewegungssensoren erfasst wurde. Es hätte eine Ratte oder irgendwas
sein können, aber ich befand mich in einer prekären Situation und
musste sicherstellen, dass es nicht die Wachleute auf einem ungeplan-
ten Rundgang waren. Also checkte ich noch einmal alle bekannten
Faktoren durch – Wachleute, Wartungs- und Reinigungsteams, Droh-
nen – und loggte mich dann in die Überwachungskameras ein, die das
Büro der Sicherheitsmannschaft zeigten, um zu sehen, was die Sicher-
heitsleute von dieser Anomalie hielten. Alle drei hingen bewusstlos auf
ihren Stühlen.
Als ich anschließend die Ausstellungsräume checkte, in denen ich
die Bewegung bemerkt hatte, stellte ich fest, dass der Eindringling sehr
geschickt darin war, den Kameras auszuweichen, indem er sich ent-
weder in den Schatten oder außerhalb des Blickfeldes hielt. Und ich
stellte fest, dass er zwei der Kameras in der Halle etwas verdreht hat-
te, sodass sich ein blinder Fleck genau dort ergab, wo ein bestimmtes
Gemälde hing, Ghost Dance Justice. Inzwischen hatte ich bereits den
Gegenstand an mich genommen, der der Grund meiner Anwesenheit
war, deshalb hätte ich mich eigentlich verdrücken können, aber ich
war neugierig, wer dieser zweite Dieb sein mochte und wie gut er wirk-
lich war. Wenn ich eine etwas militantere Einstellung hinsichtlich der
Erhaltung meiner Heimatkultur hätte, hätte es mich vielleicht etwas
mehr aufgeregt, dass dort im zweiten Stock gerade jemand dabei war,
ein Kunstwerk zu stehlen, das von einem Sioux geschaffen worden
war, der die Umerziehungslager der alten Vereinigten Staaten überlebt
hatte. Aber der pragmatisch orientierte Teil meiner selbst kannte den
Straßenwert dieses Werkes und wusste, dass dieser Dieb oder sein Auf-
traggeber eine kluge Wahl getroffen hatte. Und ich respektierte den
guten Geschmack dieses Kunstdiebes.
Ich verwendete mehr Zeit als gewöhnlich darauf, die Kameras zu
checken, die die Zugänge zur Ausstellungshalle überwachten, weil ich
44 Ma’fan
hoffte, einen Blick auf diesen ungewöhnlichen Dieb erhaschen zu kön-
nen. Nachdem ich einige Minuten Schatten gejagt hatte, gelang mir
ein kurzer Blick auf eine Frau, die durch einen Luftschacht verschwand
(ein Luftschacht mit Bewegungssensoren, die passenderweise genau in
diesem Augenblick aufhörten zu funktionieren). In den ein oder zwei
Sekunden, während der sie in die Kamera blickte, erkannte ich eine
verblüffende Ähnlichkeit zu einer weiblichen Sicherheitsbeamtin, die
heute Dienst hatte und gerade im Erdgeschoss ihre Runde machte.
Wer immer sie war, sie war auf jeden Fall raffiniert genug, das Gesicht
der Wachfrau zu stehlen – mit technischen oder magischen Mitteln –,
um ihre wahre Identität zu verbergen. Später erfuhr ich von meinen
Connections und Hehlern, dass die Frau, die das Bild gestohlen hatte,
Ma’fan war. In den darauffolgenden Jahren sollte mir dieser Name nur
zu geläufig werden.
Seit unserer ersten Begegnung in Manhattan hat Ma’fan viele be-
rühmte Kunstwerke geraubt, wie etwa Der Verlust der Unschuld aus
dem Tate Museum in London, diverse religiöse Figuren aus den Va-
tikanischen Museen in Rom, Porträts Erwachter Zauberer aus der
„Virgin-Casters“-Ausstellung im Museum of Modern Art in Manhat-
tan, Momentaufnahme der Vergessenen (ein wundervolles Werk, das den
Renraku-Bürgern gewidmet ist, die beim Arkologie-Shutdown ihr Le-
ben verloren) aus dem Kaiserlichen Museum in Neo-Tokio und Mühsal
der Metamenschheit aus dem Musée du Louvre in Paris. Ich vermute
sogar, dass Ma’fan auch an dem Diebstahl des Diskos von Phaistos aus
dem Archäologischen Museum Heraklion beteiligt gewesen sein könnte
(wenn auch nur als Berater des eigentlichen Diebes, Malcolm Carella).
In unserer langjährigen Rivalität haben wir beide unsere Siege und
Niederlagen erlebt. Es schmerzt mich ein bisschen, zugeben zu müs-
sen, dass ich Jackson Pollocks No. 5, 1948 an Ma’fan verloren habe.
Ich war eine Stunde zu spät dran, um Monets Le Bassin Aux Nympheas
vor ihr zu bergen. Ich hatte das Pech, sowohl Rubens’ Massaker der
Unschuldigen als auch Picassos Drei Musikanten zu verlieren. Trotz die-
ser bitteren Verluste wissen wir beide, dass immer wieder der Moment
kommt, die verpassten Gelegenheiten wettzumachen. Das Spiel geht
weiter, und wir kämpfen beide darum, das wiederzubeschaffen, was
der andere gestohlen hat.
In letzter Zeit zeigt Ma’fan verstärktes Interesse an einigen der we-
niger bekannten Artefakte aus Dunkelzahns Nachlass, wahrscheinlich
immer auf der Suche nach einer noch größeren Herausforderung,
einem noch größeren Kick. Zu den Objekten, hinter denen sie her
war, gehörten die Münzen des Glücks (ich bin stolz darauf, dass es mir
gelungen ist, ihr den Raub der zweiten Münze zu vereiteln, der Mün-
ze der Langlebigkeit; ich weiß, wann sie geraubt wurde und wer sie
jetzt wahrscheinlich hat, und das wird diese Frau ziemlich wurmen),
der Todespfeil des Roten Drachen, der Rosenkristall und der Jadedra-
che von Wind und Feuer. Es gibt Gerüchte, dass jemand wegen eines
Jobs mit Ma’fan in Verhandlung steht, bei dem sie herausfinden soll,
was in den Boxen gewesen sein könnte, die für George „Lokomotive“
Fenamore gekennzeichnet waren und die in Dunkelzahns Testament
erwähnt werden, und ob diese Boxen tatsächlich wie angeordnet ver-
nichtet wurden.
> Weißt du, ich habe viel über diese verschlossenen Stahlboxen
nachgedacht. Und ich bin zu dem Schluss gelangt, dass manche
Geheimnisse am besten ungelüftet bleiben.
> Lyran
> Mika! Du Drecksack! Ich habe achtzehn Monate nach dieser
Scheißmünze gesucht! Argh! Das nächste Mal, wenn wir uns tref-
fen, werden wir keine Artigkeiten und geistreiche Neckereien aus-
tauschen!
> Ma’fan
 Ma’fans Philosophie ist einfach: leise bewegen und unsichtbar bleiben.
Zu diesem Zweck wendet Ma’fan üblicherweise eine Vielzahl an Drogen
und Giften bei metamenschlichen Wachleuten und ihren Wachcrittern
an: Laés, Slab, Narcoject, Breathtaker, Gamma-Skopolamin. Diese Dro-
gen vermischt sie normalerweise mit DMSO und trägt es auf ihre Klin-
genwaffen auf. Ihr Misstrauen gegenüber der Technik geht so weit, dass
MA’FAN
K G R S C I L W M EDG ESS INI ID
4 6 6(7) 5 4 4 5 4 11 7 6 10(11) 1(2)
Zustandsmonitor (K/G): 10/10
Panzerung (B/S): 4/0
Fertigkeiten: Akrobatik 5, Askennen 4, Ausweichen (Nah-
kampf ) 4 (+2), Bodenfahrzeuge 4, Chemie 4, Einschüchtern
3, Entfesseln 4, Erste Hilfe 3, Exotische Nahkampfwaffe
(Shuko-Handkrallen) 5, Fallschirmspringen 2, Fingerfertig-
keit 6, Flugzeuge 4, Gebräuche 3, Hardware (Magschlösser)
4 (+2), Infiltration (Stadt) 7 (+2), Klettern 4, Klingenwaffen
6, Laufen 4, Schiffe 2, Schlosser 6, Schwimmen 4, Überreden
5, Verhandlung 6, Verkleiden (Kosmetik) 6 (+2), Waffenloser
Kampf (Gegner festhalten) 5 (+2), Wahrnehmung 6
Wissensfertigkeiten: Kunstgeschichte 5, Kunsthehler 5, Kunst-
stile 4, Magietheorie 3, Magische Sicherheit 6, SOTA-Sicher-
heitssysteme 4, Englisch 5, Kantonesisch 3, Mandarin M
Gaben: Außergewöhnliches Attribut (Edge), Gelöscht (5 GP),
Schutzpatron (Katze), Talentiert (Infiltration)
Handicaps: Gremlins (20 GP)
sie solche Sachen wie Pfeilpistolen oder Kapselgeschosse meidet. Ma’fan
scheut sich auch nicht, jemandem die Kehle durchzuschneiden, aller-
dings nur, wenn es gar nicht anders geht. Ihre bevorzugte Waffe sind die
Shuko-Handkrallen, die ihr nicht nur das Klettern und das Überwinden
von Wänden und anderen Hindernissen erleichtern, sondern auch sehr
gut als Defensivwaffe eingesetzt werden können.
Initiatengrad: 5
Adeptenkräfte: Adrenalinkick (Geschicklichkeit) 4, Astrale
RUNNER
Wahrnehmung, Befehlsstimme, Eidetisches Sinnesgedächt-
nis, Geschärfter Sinn (Infrarotsicht, Niederfrequenz-Hören,
Restlichtverstärkung, Richtungssinn), Geschickte Finger,
Gesichtsformung 4, Gesteigerte Reflexe 1, Großer Sprung 2,
Kampfsinn 1, Melaninkontrolle, Mystischer Mantel 4, Spur-
loser Schritt, Stimmkontrolle, Wurfkraft 2
Metamagie: Adeptenzentrierung, Erkenntnis, Flexible Signatur,
Maskierung, Physische Kontrolle
Ausrüstung: 3 Dosen Breathtaker, Camouflageseil mit Katalysa-
torstab, Dietrich-Set, Endoskop, Enterhakenkanone, Fernglas
(optisch), 6 Dosen Gamma-Skopolamin, Kletterhandschuhe,
3 Dosen Laés, Leuchtstab, Microwire, Mini-Schweißgerät,
myomerisches Seil, 6 Dosen Narcoject, Panzerkleidung [B/S
4/0], Periskop, 3 Dosen Slab
Waffen:
Shuko-Handkrallen [Klingenwaffe | Reichweite – | Schaden 4K
| PB –]
Wurfmesser [Wurfwaffen | Reichweite – | Schaden 6K | PB –]
Keramikmesser [Klingenwaffe | Reichweite – | Schaden 4K | PB –]
Cougar Fineblade, kurze Klinge [Klingenwaffe | Reichweite – |
Schaden 4K | PB –1]
Ma’fan 45
Taschenspieler-
tricks
von Malik Toms
In dem Moment, als ich Timur das Leben rettete, wusste ich, ich würde
ihn töten müssen. Ich las es in seinen Augen. Ein Mann wie er konnte
es nicht ertragen, in jemandes Schuld zu stehen. Falls es irgendeine Be-
deutung hat, so will ich anmerken, dass nicht ich es war, die schließlich
den Abzug drückte. Aber das macht mich nicht weniger schuldig, vor
allem wenn man bedenkt, wie die ganze Sache begann.
Sie hatten ihn in der Nähe von Chayka erwischt, als er aus einem
der Fleischsalons kam, die seinem Boss Nikolay Podatev gehörten. So-
gar die Triaden waren nicht so dumm, Timur auf Vory-Territorium
anzugreifen, deshalb ließen sie ihn einige Blocks weit fahren, bevor ein
Teenager mit Irokesenschnitt eine Granate unter seinen Wagen warf.
Damit hatte ich nicht gerechnet.
Der Geländewagen überschlug sich zweimal und landete auf der
Seite, die Türen waren verbeult und unbrauchbar. Ich trat auf die Stra-
ße und legte den eifrigen Teenager um, der gerade seinen Job zu Ende
bringen wollte. Der Junge konnte nicht älter sein als fünfzehn, aber
die Narben zweier erfolgreicher Tötungen zierten schon seine Wangen.
Fast hätte er es auf drei gebracht. Der Junge hielt eine weitere Granate
umklammert. Ich nahm sie, sorgfältig darauf bedacht, den Stift nicht
zu bewegen. Dann ging ich zum Wagen. Ich umklammerte Timurs
dicken Unterarm und zerrte ihn durch die Windschutzscheibe seines
havarierten Toyota Coaster ins Freie. Die anderen Triadensoldaten ka-
men schnell näher. Durch das Jaulen der Autoalarmanlagen um uns
her konnte ich das Klatschen ihrer Stiefel auf dem Asphalt hören. Ich
warf die Granate auf den Vordersitz. Sekunden später hatte der Coaster
nur noch Erinnerungswert.
„Wir sollten verschwinden, bevor sie die Straße abriegeln“, sagte
ich. Ich sah, wie sein Mienenspiel verschiedene Ausdrücke durchlief.
Erst Überraschung, dann Erkennen, dann etwas, das mir gar nicht ge-
fiel. Er setzte an, etwas zu sagen, öffnete langsam den Mund, doch
dann überlegte er es sich anders und starrte mich verunsichert an.
Mein Pickup parkte in einer Seitenstraße knapp einen Block entfernt.
Wir überwanden die Entfernung in wenigen Sekunden, halb zog, halb
trug ich den fetten Mann durch die Straßen. Falls uns jemand wegfah-
ren sah, tat er so, als würde er es nicht bemerken.
„Danke“, sagte Timur. Nach einer kurzen Pause atmete er tief durch
und fügte hinzu: „Mein Name ist...“
„Timur Alexandrei. Ich weiß. Ich habe nach Ihnen gesucht.“
Schweiß tropfte auf die Vorderseite seines roten Seidenhemdes. Seine
geschmacklose Goldjacke war an mehreren Stellen eingerissen. Timur
hatte ein paar Kratzer und Beulen, aber der gepanzerte Geländewagen
hatte ihn vor Schlimmerem bewahrt. Er war unruhig und nervös. Sein
rundes Gesicht wurde rot. Ich weiß nicht, ob es am Adrenalin lag, das
langsam abgebaut wurde, oder ob es allgemeines Misstrauen war. Er
sagte: „Und ich kenne Sie auch. Sie sind Mihoshi Oni.“
Ich mochte die Art nicht, wie er mich musterte. Ich hatte sie schon
früher bei der Yakuza erlebt. Eine unhöfliche Mischung aus Faszinati-
on, Bewunderung und Abscheu. Nicht-Metas finden Trollfrauen nor-
malerweise nicht attraktiv, aber ich bin eine Fomori, und das heißt,
dass ich mehr nach Märchen als nach Alptraum aussehe. Ich ließ die
Finger durch mein langes schwarzes Haar gleiten und kokettierte ein
bisschen mit seiner Bewunderung. Ich versuchte es mit der besten
Puppenstimme, die einer Trollin möglich ist, und fragte: „Wissen Sie,
wer diese Männer waren?“
 Timurs Gesichtsausdruck wurde mürrisch. Er nickte und sagte:
„Die Zehntausend-Löwen-Triade. Diese Gangster sind schon seit ei-
niger Zeit hinter meinem Kopf her. Ich weiß nicht, wie sie mich ge-
funden haben.“
„Eine der Frauen im Bordell – eine der Festangestellten – hat ge-
redet.“
„Woher wissen Sie das?“
„Was glauben Sie, wie ich Sie gefunden habe?“
Timur grummelte vor sich hin und richtete seine Aufmerksamkeit
auf die Kratzer und Schnitte an seinen Armen und Beinen. Draußen
wich der Sprawl von Wladiwostok der kalten Einöde Russlands. Im
Osten lag die dunkle Narbe des Japanischen Meeres und dahinter mei-
ne Heimat. Wir fuhren auf der M-60 nach Norden. Die Straße vor
uns wand sich durch die Mandschurei, eine Gegend, in der keiner von
uns beiden sicher war. Ich fuhr auf den ersten Rastplatz außerhalb der
Stadt und parkte meinen GAZ Pickup auf einem Platz etwas abseits
der flackernden Lichter der einzigen Toilette.
Mein Fahrgast gewann allmählich seine Fassung zurück. Er sagte:
„Okay, was jetzt? Sie haben mich gekidnappt. Ich bin Bankier. Ich
kann zahlen.“
„Ich habe gerade Ihren Arsch gerettet, Timur. Sie sollten etwas
mehr Dankbarkeit zeigen.“ Ich schlug den Kragen meines Mantels bis
über die Ohren hoch und trat in die Nacht hinaus. Timur folgte.
„Was erwarten Sie denn, dass ich davon halte? Wir haben nichts
miteinander zu tun, und jetzt stehen wir hier, in der Kälte mitten in
der Nacht, und mir fällt kein vernünftiger Grund ein, warum Sie mir
das Leben gerettet haben.“
„Wie gesagt, ich habe nach Ihnen gesucht.“
Er knurrte nur und suchte in seinen Taschen nach einer Zigarette.
Sie hatten den Unfall nicht überlebt, aber ich konnte ihm eine India
Red und ein Feuerzeug reichen.
„Die Zehntausend Löwen kamen vor vier Nächten in mein Apart-
ment“, sagte ich. „Sie waren schwer bewaffnet. Hätte ich geschlafen,
würde ich jetzt noch da liegen. Aus irgendeinem Grund waren sie un-
terwegs, um offene Rechnungen zu begleichen. Als ich hörte, dass Sie
der nächste auf der Liste sind, habe ich beschlossen, Sie zu warnen. Und
mir dabei vielleicht die eine oder andere Gefälligkeit zu verdienen.“
Er schien mir zu glauben. Was durchaus Sinn ergab, denn es war
eine glaubwürdige Geschichte. Timur rauchte zu Ende und steckte sich
eine neue Zigarette an. Abgesehen von den Bordellen war das Rauchen
sein einziges Laster. Das bewunderte ich an ihm. Meine Laster lasen
sich wie die To-Do-Liste einer Sekretärin. Ganz oben stand Haute Cou-
ture. Mode war eine der wenigen Sachen, die mir halfen, mich wie eine
Lady zu fühlen, was auch der Grund dafür war, dass ich mich anstren-
gen musste, beim Anblick dieses Kerls nicht zu würgen. Timur Alex-
andrei war ein grauenhafter Anblick. Er war bekannt für seine teuren
Seidenhemden und die aus Goldlamé gewobenen Freizeitjacken. Der
Modefreak in mir war entsetzt. Der Bodyguard in mir erkannte, dass
die Kleidung Timur zu einem viel zu guten Ziel machte. Man kann
nicht in der Menge untertauchen, wenn man so aussieht wie er, oder
wie ich. Irgendjemand wird etwas merken und es ausnutzen.
„Ich glaube, ich weiß, wie wir beide aus dieser Sache rauskommen.“
Timur sah mich misstrauisch an, aber er ließ mich weiterreden. „Ihr
Sovetnik, Podatev. Er vertraut Ihnen. Er kann mit der Triade reden und
die Angelegenheit klären.“ Ein Sovetnik ist das russische Äquivalent
eines Chefs auf mittlerer Ebene. Timurs Boss kontrollierte eine Hand-
voll Stadtviertel in Wladiwostok. Er hatte genug Einfluss, die Triaden
an den Verhandlungstisch zu holen, vielleicht sogar, sie dazu zu brin-
gen, die Finger von Timur zu lassen.
„Warum sollte Podatev Ihnen helfen wollen?“, fragte Timur und
starrte aus dem Fenster.
„Mir nicht, aber Sie sind Gruppa Obespechenie, Sie wissen, wo sein
ganzes Geld versteckt liegt. Es ist in seinem besten Interesse, Ihnen zu
helfen. Er wird Ihnen helfen, und Sie schulden mir jetzt etwas.“
Timur dachte einen Moment darüber nach. Er musterte die Pa-
ckung India Red, überlegte, ob er noch eine dritte rauchen sollte.
Schließlich nickte er und sagte: „Ich werde es arrangieren, aber ich
kann Ihnen nichts versprechen. Sie haben mir das Leben gerettet, jetzt
werde ich es uns beiden retten.“
Nikolay Podatev blieb nie lange an einem Ort. Mehrere Syndikate,
unter anderem die Yakuza, waren darauf aus, ein Exempel an ihm zu
statuieren. Timur rief ihn über mein Kommlink an – seins hatte er
bei dem Unfall verloren. Es kostete ihn fünf Minuten, die Beinarbeit
zu erledigen, an der ein Dutzend meiner Connections gescheitert wa-
ren. Ich startete den Wagen und fuhr wieder Richtung Wladiwostok.
Wir schwiegen den größten Teil der Fahrt. Timur schlief, während ich
mich auf die Straße konzentrierte. Es bestand eine gewisse Chance,
dass jemand meinen Pickup gesehen hatte, als ich ihn gerettet hatte.
Die Triaden wollten seinen Kopf immer noch auf einem Silbertablett,
deshalb wollte ich auf einen neuen Anschlag vorbereitet sein. Als wir
noch fünf Minuten von unserem Ziel entfernt waren, rüttelte ich ihn
vorsichtig, um ihn zu wecken. Er lächelte mich an und schenkte mir
wieder diesen eigentümlichen Blick, den ich allmählich zu hassen be-
gann. Er sagte: „Wussten Sie, dass wir Russen noch einen anderen Na-
men für Sie haben?“
„Ist das so?“, fragte ich, wobei es mir eigentlich egal war, wie dieser
Name lautete. Die Tatsache, dass Podatevs Leute überhaupt einen Na-
men für mich hatten, war allein schon positiv. Das hieß, dass ich mir
bereits einen gewissen Ruf in Wladiwostok erworben hatte.
„Wir nennen Sie Rusalka. Das ist ein kleines Wortspiel. Wir sagen,
dass Sie das Monster sind, das von jenseits des Wassers kam, also haben
wir Sie nach unserem Wasserdämon benannt. Genauso, wie der Name,
den Sie selbst gewählt haben, ‘schöner Dämon’ bedeutet.“
Das ist zwar nicht die Bedeutung meines Namens, aber jetzt war
nicht die Zeit, sich um Worte zu streiten. „Na ja, es ist gut zu wissen,
dass mein Name da draußen bekannt ist.“
„Sagen Sie, wie kommt es, dass so viele von uns, die in diesem Busi-
ness tätig sind, Ihren Namen kennen? Ist Mihoshi Oni wirklich so eine
große Samurai, wie man immer sagt?“
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Ich dachte wirklich,
Timur würde scherzen, bis ich seinen Blick sah. Er meinte die Frage
tatsächlich ernst, etwa so wie ein Kind, das für Märchen zu alt gewor-
den ist und seine Eltern fragt, wer der Weihnachtsmann wirklich ist.
Ich schüttelte den Kopf und sagte: „So großartig bin ich gar nicht,
Timur. Und ich kenne auch keinen einzigen Runner, der es ist. Was
wir machen, ist hauptsächlich Augenwischerei. Taschenspielertricks.
Manchmal passiert es, dass man mit jemandem aneinandergerät, der
sich bereits einen Namen gemacht hat. Man besiegt ihn, und plötzlich
gilt man als noch gefährlicher als er. Auf diese Weise habe ich meinen
Ruf erworben. Ich habe das Ganze hochgespielt. Ich habe dafür ge-
sorgt, dass man mich als Bodyguard der richtigen Kunden sah. Für sie
war es mehr oder weniger ein Spiel, sich von der hübschen Trollfrau
den Rücken decken zu lassen. Meine Kunden erzählten die richtigen
Dinge über mich, größtenteils um sich selbst wichtiger klingen zu las-
sen, aber dadurch erscheine ich auch weit talentierter, als ich wirklich
bin. Es unterscheidet sich gar nicht so sehr von dem, was Leute wie
Podatev machen.“
„Ich glaube nicht, dass Podatev solche Taschenspielertricks benutzt.
Er ist ein Metzger. Ich habe gesehen, was er mit Leuten macht, die ihm
querkommen. Er tötet sie nicht, jedenfalls nicht gleich. Er bringt ihre
Familie um, und wenn sie nichts mehr haben und ihn um die Gnade
des Todes anflehen, foltert er sie, bis sie es nicht mehr aushalten. Ich
glaube nicht, dass sie so sind, Rusalka.“
Stille breitete sich im Wagen aus. Er hatte recht, was Podatev an-
ging. Wir waren verschieden. Ich erwarb mir meinen Ruf, indem ich
Leben rettete. Der Vory-Mann erwarb sich seinen Ruf auf dem Rücken
der Unbeteiligten, die er tötete. In den Schatten ist der eigene Ruf alles.
Man kultiviert ihn. Man päppelt ihn hoch wie ein Kind, in der Hoff-
nung, dass er sich eines Tages auszahlt, und das tut er auch immer.
„Tut mir leid, es sagen zu müssen, aber Podatev ist ein Dummkopf.
Er herrscht durch Furcht. Diese Art von Herrschaft hält sich nur so
lange, wie man der Stärkste ist, und das ist man nie lange. Für eine
echte dauerhafte Herrschaft braucht man giri.“
„Wer ist diese Giri?“
Meine Augen davon abzuhalten, sich zu verdrehen, erforderte eine
über-metamenschliche Anstrengung. „Es ist kein Wer, es ist ein Was.
Die Art und Weise, wie ich meinen Job erledige, erfordert es, dass ich
Leute in meiner Nähe habe, auf deren Informationen, deren Arbeit,
deren Schutz ich mich verlassen kann. Wir erweisen uns gegenseitig
Gefälligkeiten und sind loyal zueinander. Wenn ich etwas brauche, das
eine geschicktere Hand als meine erfordert, dann gibt es Freunde, an
die ich mich wenden kann. Als Gegenleistung bin ich verpflichtet, ih-
nen meine Dienste zur Verfügung zu stellen.“
Jetzt war es an ihm, zu lachen. „Das klingt nach einer ziemlich
gefährlichen Art und Weise, seinen Job zu machen. Woher wollen Sie
wissen, um welche Gefälligkeit sie Sie bitten werden?“
„Ich weiß es nicht. Ich muss darauf vertrauen, dass sie nur das von
mir einfordern, was ich auch leisten kann, und ich muss darauf ver-
trauen, dass sie es mir irgendwann zurückzahlen werden. Aber unab-
hängig davon werde ich tun, um was sie mich bitten, auch wenn es
mich das Leben kostet. In Japan nennen wird das giri.“
„Es ist ein Wunder, dass überhaupt noch irgendwelche Yakuza am
Leben sind.“ Er lachte in sich hinein. Timurs Angaben dirigierten
mich nach Ermilova Estates, einer kleinen Ansammlung exklusiver
Stadthäuser, weit genug entfernt vom Konzernsektor, um leicht über-
sehen zu werden. Ein Ork, der mit einem Sturmgewehr bewaffnet war
und aussah, als würde er keinen Spaß verstehen, wartete am Tor auf
uns. Timur rief ihm zu, er solle uns durchlassen, und wir fuhren eine
lange Straße entlang, vorbei an Stadthäusern, die in zwei Halbkreisen
angeordnet waren. Der Bankier dirigierte mich zu einem dritten Halb-
kreis von Häusern, die sich in eine Waldlichtung drängten. Fast wäre
ich rot geworden, als wir vor dem dritten Haus parkten. Die Autos in
den Einfahrten waren mehr wert, als ich in den letzten zehn Jahren
verdient hatte.
Timur sagte mir, das Apartment gehöre Podatevs Geliebter, einem
Model, das erst vor Kurzem die Titelseite der Vogue geziert hatte. Wahr-
scheinlich hatte ich sie gesehen. „Lassen Sie Ihre Waffen hier. Wenn
Nikolay sieht, dass Sie bewaffnet sind, wird er Sie töten. Seine Männer
sind ehemalige Spetsnaz und sehr gut in ihrem Job.“
Es waren zwei, beide Nicht-Metas, die in der Dunkelheit gut als
Orks hätten durchgehen können. Der größere von ihnen reichte mir
bis zu den Achselhöhlen. Ich lächelte ihn an, als er mich filzte, zeigte
Hauer und weiße Zähne. Er trug eine Ceska-Maschinenpistole in ei-
nem Tragegurt. Ich speicherte die Information für später ab. Der klei-
nere Wachmann trat einen Schritt zurück und wartete ab, seine Hände
ruhten auf seinen Hüften. Er hatte eine schwere Ruger in seinen Ho-
senbund geschoben.
Nikolay Podatev hatte ein Büro im ersten Stock. Die Wachleute
hielten mich an der Tür zurück, ließen Timur aber durch. Podatev
saß am anderen Ende des Raums hinter einem Schreibtisch, seine
Gespielin stand hinter ihm und trug Spitzenunterwäsche, die so
knapp war, dass man sie auch als Zahnseide hätte benutzen kön-
nen, und ein Vashon-Hemdchen, das zumindest einen Hauch von
Sittsamkeit andeutete. Podatev war weniger zurückhaltend. Sein
Mortimer-Morgenrock klaffte bis zur Hüfte auf. Eine vernickelte
SIG Sauer lag auf dem Tisch und seine Nase war in einem Haufen
braunen Puders begraben, das mir nach Tempo aussah. Der Vory-
Mann zog sich eine letzte Nase voll rein, dann erhob er sich, um
seinen Freund zu begrüßen. Ich nutzte die Gelegenheit, mir den
Raum genauer anzusehen.
Eine Sitzgruppe überbrückte den Raum zwischen Tür und Schreib-
tisch. Sie bestand aus zwei cremefarbenen Sofas, zwischen denen ein
Couchtisch stand. Auf einem Tablett auf dem Tisch standen eine Fla-
sche Wodka und ein beeindruckender Stapel Gläser.
Timur umarmte seinen Geschäftspartner und bedeutete dann den
beiden Wachleuten, mich einzulassen. Sie traten beiseite, drehten sich
um, als ich durch die Tür ging, und folgten mir in den Raum. Ich
setzte mich auf eins der Sofas und gab mich entspannt. Die Mihoshi
Oni, die sie kannten, würde in einer solchen Situation cool bleiben.
Ein Pech, dass sie gar nicht existiert, aber ich tat mein Bestes, mich
wie eine gute Annäherung an diese Legende zu verhalten. Das Herz
klopfte wild in meiner Brust, aber ich lächelte und fuhr mir mit den
Fingern durchs Haar.
„Du hast Freunde mitgebracht, Timur?“, fragte Nikolay Podatev.
Er hatte einen vollen Bariton, der zu seiner muskulösen Gestalt passte.
Es war nichts von dem Lallen zu bemerken, dass ich von Gelegenheits-
Tempobenutzern kannte. Also nahm er das Zeug schon länger. Podatev
wechselte ins Russische über, wahrscheinlich dachte er, ich würde ihn
nicht verstehen. Er befahl seiner Mätresse Svetlana, im Schlafzimmer
auf ihn zu warten. Dann nannte er Timur einen Idioten.
Der Bankier antwortete auch auf Russisch. Er sagte: „Sie hat mir
das Leben gerettet, Nikolay. Die Triade hat mich gefunden, und sie hat
mich vor ihnen gerettet.“
„Du bist clever, wenn es um Geld geht, Timur, aber sonst bist du
ein fetter alter Idiot. Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass diese
Kreatur dich reingelegt haben könnte?“
„Wie meinst du das?“
„Wie meine ich das?“ Er wiederholte die Worte mehr wie eine Fest-
stellung als wie eine Frage. „Ich meine, sie könnte diejenige gewesen
sein, die der Triade gesagt hat, wo sie dich finden kann. Sie könnte dich
gerettet haben, um dein Vertrauen zu erschleichen.“
„Warum sollte sie das tun?“
Podatev wechselte wieder vom Russischen zum Englischen. Der
Zorn in seiner Stimme machte seinen Akzent schwer und kaum ver-
ständlich. „Ja, warum solltest du das tun, Rusalka? Ich wette, es war
deine Idee, zu mir zu kommen.“
Die vier Männer starrten mich an. Die beiden Leibwächter nah-
men an gegenüberliegenden Seiten des Raums Aufstellung, die Hände
an den Waffen. Der größere der beiden ging nach links bis an den
Rand meines Blickfeldes und dann hinter mich. Podatev sagte: „Also,
was ist? Hast du Timur reingelegt, um an mich heranzukommen?“
Ich seufzte, tat so, als würde ich einen Fussel von meiner Hose
schnippen, während ich den Raum ein letztes Mal scannte. Ich sah
den kleineren Bodyguard einen Schritt näher kommen, gerade eben
innerhalb meiner Reichweite. Dann blickte ich Nikolay Podatev in die
Augen und sagte: „Ja.“
Der große Wachmann bewegte sich zuerst, er griff nach seiner
Maschinenpistole. Ich ließ mich vom Sofa rutschen, fiel auf ein Knie,
packte den kleineren Wachmann und riss ihn vor mich. Die erste Salve
fuhr ihm in die Brust. Ich bewegte mich bereits, als der Leibwächter
erneut schoss. Ich bin zweieinhalb Meter groß, aber ich kämpfe wie
ein Mädchen – mit Knien und Ellbogen und spitzen Schuhen. Ich
brachte meinen Ellbogen unter das Kinn des größeren Wachmannes.
Es gab ein dumpfes Knacken. Ich fühlte, wie der Knochen nachgab,
und er fiel zu Boden.
Podatev langte nach seiner SIG Sauer. Ich streckte einen Arm aus
und wischte sie zur Seite. Ich riss die Ruger aus dem Hosenbund des
kleineren Leibwächters und richtete sie auf Podatev. Er trat einen
Schritt zurück und brummte: „Wenn du mich tötest, Troll, werden
meine Leute jeden jagen, der dich jemals gekannt hat. Sie werden lei-
den, und erst danach wird es dir gestattet sein zu sterben.“
„Sie haben mich missverstanden, Mr. Podatev. Ich bin keine At-
tentäterin.“ Ich stand einen Moment da und ließ ihm Zeit, die Ver-
wirrung zu verarbeiten. Ich bedeutete Timur, zur Seite zu gehen, und
schob Podatev zurück auf seinen Stuhl, die Ruger auf seinen Kopf ge-
richtet. „Erinnern Sie sich daran, was Sie letzten Monat in Shinjuku
getan haben?“
Podatev machte ein finsteres Gesicht und blickte zur Seite.
„Inagawa Hiroki fühlte sich durch Ihre Aktionen respektlos behan-
delt. Er wollte Sie töten und Ihre Leichenteile an die anderen Bosse
schicken. Aber Meister Hiroki ist ein großzügiger Mann. Er hat mir
schon viele Gefallen getan. Also war ich gern bereit, ihm eine Gefäl-
ligkeit zu erweisen.“
Ich hielt die Waffe auf Podatevs Kopf gerichtet, während ich be-
dächtig ein zeremonielles Taschentuch auf dem Tisch ausbreitete. „Be-
vor es Schusswaffen gab, wurden geschäftliche Angelegenheiten mit
dem Schwert geklärt. Die Geschicklichkeit mit dem Schwert bewahrte
einen davor, übervorteilt zu werden. Unglücklicherweise kann man ein
Schwert ohne kleinen Finger nicht richtig halten. Deshalb mussten
diejenigen, die auf diese Weise bestraft wurden, sich auf den Schutz des
örtlichen Oyabun verlassen. Sie sehen also, es ist rein symbolisch.“
Ich packte seine linke Hand und presste sie auf den Tisch. Er ver-
suchte sich zu wehren, aber ich konnte hundertfünfzig Kilo mehr in
die Waagschale werfen. Er schrie Timur zu, er solle etwas tun, jeman-
den holen. Timur sah nur zu.
„Wenn ich Ihnen jetzt den kleinen Finger abnehme, so zeigt das,
dass sie sich nicht selbst schützen können. Von nun an müssen Sie
sich bei allen geschäftlichen Angelegenheiten in Neo-Tokio auf den
Inagawa-gumi verlassen. Haben Sie das verstanden?“
„Sie gehören nicht zur Yakuza! Sie sind Freiberuflerin. Wir beide
haben kein Problem miteinander. Warum sollten Sie das tun?!“, jam-
merte Podatev.
Ich zuckte die Schultern und sagte: „Giri.“
Seinen Finger abzunehmen, ging schnell. Er biss die Zähne zusam-
men und knurrte nur ein wenig. Ich bewunderte seine Nervenstärke.
Als es vorbei war, wickelte ich das abgetrennte oberste Fingerglied in
das zeremonielle Taschentuch und steckte es in mein Hemd. Wenn ich
weg war, würde ich es an einem sichereren Platz verstauen, aber fürs
Erste hatte ich den erwünschten Effekt erzielt.
„Fick dich selbst, du dreckige Schlampe! Ich werde mich an dich
erinnern. Ich werde dich finden und ganz langsam töten!“
Ich lächelte. „Ja, das könnten Sie tun. Aber um mich zu finden,
müssten Sie Ressourcen einsetzen. Ressourcen, die Sie gegenüber der
Organizatsi rechtfertigen müssten. Und dazu müssten Sie zugeben,
dass ich so nahe an Ihnen dran war. Deshalb werden Sie mich in Ruhe
lassen. Sie haben einen Kodex, genau wie ich einen Kodex habe. Wir
machen das, was geht. Momentan sind die einzigen, die wissen, was
hier und heute geschah, Sie, ich und natürlich Timur.“
Der Vory-Sovetnik und ich blickten Timur an, der angestrengt ver-
suchte, sich in einer Zimmerecke in Luft aufzulösen. Podatev umklam-
merte seine verletzte Hand und starrte seinen Geschäftspartner wütend
an. „Du hast diese Schlampe zu mir gebracht.“
Mir gefiel diese Bezeichnung nicht, aber noch weniger gefiel mir
der Gedanke, dass die Situation eskalieren könnte. Mein Job war erle-
digt. Wenn Podatev jetzt starb, hieße das, ich hätte versagt. Indem man
einen kühlen Kopf bewahrt, schafft man sich eine Reputation. Leute
umzubringen, ist keine gute Idee, denn dann ist jeder, der weiß, wozu
man fähig ist, zu tot, um darüber zu reden. Ich ging zur Tür.
„Wo gehen Sie hin?“, flehte Timur.
Ich machte mir nicht die Mühe zu antworten.
 MARCOS
PERSÖNLICHE DATEN: MARCOS
Alter: 37 Größe: 1,76 m
Gewicht: 83 kg Haarfarbe: Schwarz
Augenfarbe: Braun Geschlecht: Männlich
RUNNER
Metatyp: Mensch Erwacht: Nein
> Für diesen Artikel habe ich einen Außenstehenden hinzugezo-
gen, denn ich dachte mir, wenn man vorhat, einen bestimmten
Söldner anzuheuern, dann ist es vielleicht ein ganz gute Idee,
sich mal jemanden anzuhören, der ihn bereits früher angeheuert
hat. Blake hat mit Marcos gearbeitet, und er ist ein kompetenter
Bursche und sehr direkt in seinen Meinungsäußerungen. Außerdem
hoffe ich, dass er, wenn er das hier schreiben darf, vielleicht nicht
ganz so böse darüber ist, dass in dem Abschnitt über ihn einige
seiner Geheimnisse ausgeplaudert werden...
> FastJack
> Hat leider nicht funktioniert.
> Jonathan Blake
Es gibt viele Theorien darüber, was einen guten Söldner ausmacht.
Mut ist natürlich wichtig, ebenso die Eigenschaft, unter Beschuss ei-
nen kühlen Kopf zu bewahren. Kreativität ist gut, aber auch die Fä-
higkeit, Befehle schnell zu befolgen, ohne jedes Mal zu hinterfragen,
was einem aufgetragen wird. Auch technische Fertigkeiten sind wichtig
– man muss genau schießen können, schnell nachladen und eine Waffe
wieder funktionsfähig machen können, wenn sie Ladehemmung oder
ein anderes Problem hat.
Im Endeffekt laufen die Dinge, die ein Auftraggeber an einem
Söldner schätzt, auf eines hinaus – die Fähigkeit, zu überleben. Ein
guter Söldner ist einer, der sich in jede Situation stürzen kann, egal
wie höllisch sie auch ist, und das Ganze lebend übersteht (der Teil mit
dem Hineinstürzen ist natürlich auch wichtig, denn ein Söldner, der
überlebt, indem er dem Kampf aus dem Weg geht, nützt keinem et-
was). Nicht, dass die Auftraggeber sich sonderlich um die Individuen
scheren, die sie anheuern, aber es ist einfach eine Tatsache, dass ein
Toter einem nichts mehr nützt.
Der Mann, den wir als Marcos kennen, ist ein guter Söldner.
Marcos ist schlicht und einfach ein Überlebenskünstler. Egal, wie
schlecht die Situation ist, egal, wie mies seine Chancen sind, Marcos
findet immer einen Ausweg. Er wurde schon mit miesen Chancen ge-
boren, und sein ganzes Leben lang kämpfte er gegen sie an, im wörtli-
chen wie im übertragenen Sinne.
> Einen Moment. Ich muss mal eben einen Soundtrack mit schnul-
zigen Streichern hochladen, damit ich beim Lesen angemessen be-
eindruckt bin. Okay, fertig. Kann weitergehen.
> Slamm-0!
50 Marcos
GEPOSTET VON: JONATHAN BLAKE
Das Erste, was man wissen muss, ist, dass „Marcos“ nicht der Name
ist, mit dem er geboren wurde. Er hat ihn später in seinem Leben an-
genommen, vor allem weil er unauffällig ist und ganz anders als sein
richtiger Name, der im Nebel der Vergangenheit verloren gegangen ist.
Marcos wurde praktisch in eine Gang hineingeboren. Sein Großva-
ter, ein reifer alter Mann von 47 Jahren, war Seniormitglied der Four
Kings, einer Straßengang in Managua. Sein Vater verbrachte den größ-
ten Teil seines Lebens als Mitglied dieser Gang, und als Marcos in das
richtige Alter kam, wurde auch von ihm erwartet, dass er sich der Gang
anschloss.
> Man sollte wissen, dass man bei dieser Gang das „richtige Alter“
mit neun erreicht.
> Picador
Marcos war jung, als seine Zeit kam, aber er hatte bereits gesehen,
was das Gangleben mit seinem Vater und seinem Großvater gemacht
hatte (beide zeigten immer wieder stolz ihre diversen Narben, die von
Schuss- und Stichverletzungen stammten), und hatte für sich selbst an-
dere Pläne. Er hatte nicht etwa Angst vor dem Kämpfen, er glaubte nur
nicht, dass die Vorteile ihres Lebensstils den Preis wettmachten, den sie
zahlen mussten. Wenn ihm schon Kugeln um den Kopf fliegen sollten,
dann wollte er wenigstens mehr aus seinem Leben machen, als Jahr
für Jahr dumme Spielchen zwischen Straßengangs zu spielen. Und als
die Four Kings ihn schließlich aufforderten, für sie zu arbeiten, gab er
ihnen zwar nicht direkt einen Korb, aber er ließ sich auch nicht gleich
als Vollmitglied aufnehmen. Stattdessen erledigte er Botendienste, be-
förderte Waren und Nachrichten und achtete darauf, immer den Kopf
unten zu halten und zuverlässig, aber unauffällig zu bleiben.
Er brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass er aus den Informa-
tionen, die er beförderte, eine recht gute Vorstellung gewinnen konnte,
wann und wo es zu den nächsten Bandenkämpfen kommen würde. Er
arbeitete ein bisschen an seinem Timing und wurde schließlich ziem-
lich gut darin, immer kurz nach dem Ende einer Schießerei am Schau-
platz aufzutauchen, aber noch vor der Polizei. Er filzte diese Schlacht-
felder und schnappte sich jede Waffe, die er finden konnte. Er nahm
sie mit nach Hause (wo er sie vor den neugierigen Augen seines Vaters
und seines Großvaters versteckt hielt), überprüfte ihre Funktionsfähig-
keit, reinigte sie ein bisschen und machte sie zum Weiterverkauf bereit.
Und das war sein Einstieg in die Waffenschieberei.
> Bessere Ware zum Weiterverkauf findet man nicht – wo alle zur
Identifizierung nötigen Daten schon abgefeilt oder sonst wie ge-
löscht wurden.
> Marcos
Er achtete gut darauf, seine Waren an verschiedene Gangs zu ver-
kaufen. Dadurch wurde er nützlich für alle, aber fest verbunden mit
keiner. Dieses Gleichgewicht funktionierte eine Zeit lang, aber wenn
man genug verdient, um davon zu leben, erregt man irgendwann die
Aufmerksamkeit der Herrschenden. Nach einigen Jahren einer erfolg-
reichen Karriere als Waffenhändler meldete sich der aztlanische Staat
zu Wort.
Offiziell waren die Behörden empört, dass Marcos Waffen an die
Straßengangs lieferte, weil dadurch die Gewalt in den Straßen ange-
heizt wurde. Inoffiziell waren sie empört, weil mit jedem Verkauf an
die Straßengangs durch inoffizielle Kanäle die von Aztechnology un-
terstützten Kanäle umso weniger verkauften, und Big A ist nie beson-
ders glücklich darüber, wenn jemand seine Profite schmälert.
Aber Marcos hatte schon für diesen Tag vorausgeplant und war da-
rauf vorbereitet, den aztlanischen Forderungen nachzukommen. Tat-
sächlich kam er ihnen sogar zuvor, noch bevor sie ihre erste Drohung
aussprechen konnten. Er ließ sie wissen, dass er eine Liste seiner Kun-
den habe, die er gerne den Waffenhändlern der Regierung überlassen
würde. Darüber hinaus würde er seine eigenen Geschäfte einstellen
und sich selbst als Konkurrenz ausschalten. Er bat lediglich um die
Gelegenheit, hin und wieder als Feuerunterstützung für Azzie-Runner
zu arbeiten. Die Regierungsvertreter waren davon überzeugt, dass er in
der Rolle nicht lange überleben und sich als Störfaktor quasi von selbst
erledigen würde, und stimmten seinem Vorschlag zu.
Im Laufe der Jahre erwies sich Marcos als wertvoller Aktivposten

RUNNER
für Aztlan, obwohl er, wie es seine Gewohnheit war, allen Versuchen
widerstand, ihn als Vollzeitmitarbeiter zu gewinnen. Er verkaufte keine
Waffen mehr an die Gangs, aber gelegentlich übernahm er Sicherheits-
aufträge für sie, hauptsächlich, um den Kontakt nicht zu verlieren und
um den Azzies zu zeigen, dass er ihnen nicht gehörte. Wie schon in
seinen Zeiten als Waffenschieber war es sein Können, das ihm diese
Unabhängigkeit ermöglichte. Seine geistige Beweglichkeit und Flexibi-
lität wurde in jenen Tagen gründlich geschult, denn die Sicherheitslage
in Aztlan ist immer unvorhersehbar und kann sich von einem Moment
auf den anderen ändern. Es gab einen bemerkenswerten Fall, bei dem
Marcos einen Vertrag einging, bei dem er einen aztlanischen Beam-
ten schützen sollte, der nach Oaxaca reiste; gleichzeitig stand er auf
Abruf bereit, einen Leutnant eines lokalen Zweiges des Davidkartells
zu schützen, wenn dieser unterwegs war. Wie sich herausstellte, war
der Beamte für einige sehr scharfe Anti-Kartell-Gesetze verantwortlich,
und der Leutnant kam auf die Idee, ein Exempel an ihm zu statuieren.
Also war der eine Mann, den Marcos schützen sollte, unterwegs, um
den anderen Mann, den Marcos schützen sollte, umzulegen. Marcos
hatte nicht viel Zeit, auf die Situation zu reagieren (der Leutnant teilte
seine Anschlagspläne nur seinem innersten Kreis mit), aber es gelang
ihm, eine Lösung zu improvisieren, bei der beide Schutzbefohlenen am
Leben blieben. Die Lösung war sehr elegant in ihrer Einfachheit – er
ließ die Luft aus den Reifen der Fahrzeuge im Konvoi des Beamten,
um sie aufzuhalten, dann begab er sich schnell an den Anschlagsort, an
dem sich der Leutnant positioniert hatte. Er spürte alle Teammitglie-
der des Leutnants auf und tötete sie, einen nach dem anderen, bis nur
noch der Leutnant übrig war – und er hinterließ keine Hinweise dar-
auf, dass er hinter den Anschlägen steckte. Als der Leutnant erkannte,
dass er allein war, blies er den Überfall ab, und beide Männer überleb-
ten – obwohl sie viele Leichen in ihrem Kielwasser hinterließen.

> Das ist ein gutes Beispiel für Marcos’ spezielle Spielart von Mo-
ralvorstellungen. Ich würde nicht sagen, dass er völlig unmora-
lisch ist, aber seine Moral ist sicherlich situationsabhängig. Wie
für viele von uns besteht auch für Marcos das Hauptanliegen darin,
dass der Job so reibungslos wie möglich über die Bühne geht.
Und da es normalerweise Ärger vermeidet, wenn möglichst weni-
ge Leute draufgehen, zielen seine Aktionen meist auch in diese
Richtung – aber nur, weil er damit Ärger vermeidet, nicht etwa,
weil er besondere Bedenken gegen das Töten von Menschen hätte.
Als Söldner gerät er natürlich oft genug in Situationen, in denen
Waffengewalt unumgänglich ist, und dann agiert er schnell und
tödlich und führt präzise Schläge aus, um die Hindernisse, die sich
ihm in den Weg stellen, zu beseitigen.
> Black Mamba

Marcos 51
 > Das klingt sehr nach mir, aber wir könnten wahrscheinlich lan-
ge darüber diskutieren, was es heißt, „Bedenken gegen das Töten
von Menschen“ zu haben. Ich bin nicht so kaltblütig, wie du
mich darstellst – ich ziehe es normalerweise vor, dass die Leute
leben, egal wer sie sind. Aber in erster Linie ist es mir wichtig,
dass ich selbst am Leben bleibe, ebenso meine Klienten und die
Leute, die mir etwas bedeuten. Ist das denn so viel anders als
bei anderen?
> Marcos
> Nur hinsichtlich der Anzahl der Todesopfer.
> Frosty
Marcos’ nächster Karriereschritt war nicht geplant, sondern aus der
Not geboren. Wie jeder, der regelmäßig für Aztlan oder Aztechnolo-
RUNNER
gy arbeitet, hatte er sich mehrmals in Situationen befunden, in denen
die Karten zu seinen Ungunsten gezinkt zu sein schienen, aber immer
hatte er überlebt und sich gedacht, dass so etwas eben zum Business ge-
hört. Aber auf seinem letzten Run für Aztlan saß er richtig in der Tinte.
Auf lange Sicht neigen die Kartelle dazu, besonders talentierte Leute,
mit denen sie zu tun haben, entweder zu eliminieren oder zu rekrutie-
ren, und Marcos war lange genug im Geschäft, um von ihnen bemerkt
zu werden – und um eindeutig klarzumachen, dass er sich nicht rekru-
tieren ließ. Entgegen besseres Wissen übernahm er einen Job, bei dem
er einen von Ding Ramos’ privaten Kumpels schützen sollte, und alles
schien gut zu laufen, bis eines Abends die Limousine vor einem Club
hielt und besagter Freund tot war. Marcos hatte die Limousine die
ganze Zeit beschattet und keinen Angriff oder irgendwelche Hinweise
auf den Schuss, der den Mann getötet hatte, mitbekommen. Er wusste,
dass es schlimm genug war, einen toten Schutzbefohlenen auf seinem
Konto zu haben, aber wie schlimm seine Lage wirklich war, erfuhr er
kurz darauf, als Ramos’ Leute das Gerücht in die Welt setzten, dass
nicht lasche Sicherheitsmaßnahmen für den Tod des Mannes verant-
wortlich seien, sondern dass Marcos selbst ihn ermordet habe. Sie wa-
ren nicht ernsthaft hinter Marcos her – dann würde er wahrscheinlich
nicht mehr unter uns weilen –, sondern sahen es mehr als diskreten
Wink, dass sie nichts dagegen hätten, wenn er schleunigst das Land
verließe. Das tat er, und er nahm eine gehörige Portion Bitterkeit gegen
sein früheres Heimatland mit sich. Er ließ sich in Bogotá nieder, das
als Stadt frei genug war, um ihn vor Ärger mit Aztlan zu bewahren,
während er seinem Job nachging.
> Große Nationen fördern und nutzen ihre einheimischen Talente. > Redest
Mittelmäßige Nationen verjagen sie. Grund genug, verärgert zu
sein, oder nicht?
> Marcos
Der Umzug hat Marcos nicht sehr geschadet, denn jetzt verlegte er
sich von Personenschutz auf Söldnerjobs, bei denen seine Genauigkeit,
Verstohlenheit und Improvisationsfähigkeit noch besser zur Geltung
kommen. Der Az-Am-Krieg gibt ihm mehr als genug Gelegenheiten,
seiner Verärgerung über Aztlan aktiv Ausdruck zu verleihen, und er ist
mittlerweile zu einem hervorragenden und passionierten Dschungel-
kämpfer geworden. Er hat immer noch viel mit Waffen zu tun, aber
jetzt feuert er sie häufiger selbst ab als früher.
52 Marcos
Es gab einen Fall, da schickte er aztlanische Soldaten durch einen
Spießrutenlauf, bei dem Erwachte Kämpfer in den Baumkronen auf
der Lauer lagen und auf Anweisung von Zauberern, die telepathisch
mit ihnen in Verbindung standen, Granaten auf sie fallen ließen, was
die Nerven der Soldaten völlig blank liegen ließ. Als die Soldaten aus
dem Dschungel kamen, waren sie reine Nervenbündel und vergaßen
jegliche Deckung, was sie zu leichten Zielen für Marcos machte, der
am Rand des Regenwaldes auf sie wartete.
Solange die Situation unten im Süden ungeklärt bleibt, wird Mar-
cos weiterhin jede Menge Arbeit finden. Für jemanden, der einen
kühlen Kopf behält und von einem Augenblick auf den anderen um-
schalten kann, während ihm die Kugeln um die Ohren fliegen, gibt
es dort genug zu tun.
Marcos übernimmt jetzt mehr Söldneraufträge als vorher, aber seine
Waffengeschäfte hat er keineswegs aufgegeben. Während er sie früher be-
treiben musste, um zu überleben, hat er jetzt mehr Spielraum darin, sich
seine Kunden auszusuchen. Er hat immer noch eine Abneigung gegen
feste Bündnisse, aber seine Erfahrungen mit der aztlanischen Kapitalisten-
Autokratie haben ihn empfänglich für anarchistische und neokommunis-
tische Anliegen gemacht, und heute arbeitet er eher mit kleinen Gruppen
zusammen als mit den großen Nationen auf beiden Seiten des Konfliktes.
Er hat oft für Los Matan Gigantes gearbeitet, und er hegt große Sympa-
thien für Erika Anohi und ihre Organisation. Seine wahre Zuneigung
allerdings gilt den einheimischen Stämmen; für Victors Volk beschafft
er immer wieder Waffen, erledigt aber auch Aufträge. Er versucht, Vic-
tor Alejandra dazu zu bringen, über seinen Konflikt mit den Ch’ujutat-
Stämmen hinauszublicken und einzusehen, dass es für sie alle besser ist,
wenn sie sich mehr den großen Feinden (lies: Aztlan) zuwenden. Aber er
muss auch zugeben, dass Victor nicht ganz unrecht hat, wenn er sagt, dass
jeder Kampf, den sein Volk führt, wesentlich effektiver wäre, wenn es ein
Heimatland hätte, für das es kämpfen könnte.
> Marcos vermutet schon seit Langem, dass Aztlan hinter den
Bombardierungen steckt, mit denen das Territorium von Victors
Volk vernichtet wurde, aber er ist ihm noch nicht gelungen, Be-
weise zu finden, mit denen er Victor überzeugen kann. Ich glaube
nicht, dass er so weit gehen würde, die Beweise von jemandem fäl-
schen zu lassen, aber er ist sich bestimmt nicht zu schade, Bewei-
se zu sammeln, die die Azzies schlecht aussehen lassen, während
er alles, was sie entlastet, ignoriert.
> Hard Exit
du von Beweisen hinsichtlich Victors Volk oder von
allem, mit dem Aztlan zu tun hat?
> Cosmo
> Es ist immer das Gleiche. Sobald man die Augen nicht mehr vor
dem verschließt, was die Konzerne und ihre Marionetten in den
Staatsregierungen tun, kommen immer irgendwelche Leute daher
und behaupten, man sei voreingenommen, während sie selbst die
verlogene Propaganda der Konzerne stillschweigend ignorieren.
> Aufheben
> Heute in defensiver Stimmung?
> /dev/grrl
MARCOS

K G R S C I L W EDG ESS INI ID

4 7(11) 6(8) 4 3 6 4 5 6 1,1 12(14) 1(3)

Zustandsmonitor (K/G): 10/11

Panzerung (B/S): 11/6

Fertigkeiten: Ausweichen 4, Bodenfahrzeuge 3, Einschüchtern 3,

RUNNER
Exotische Fernkampfwaffe (Flammenwerfer) 4, Fallschirmspringen
2, Feuerwaffen-Fertigkeitsgruppe 6, Geschütze 2, Führung 2, Infil-
tration 3, Klingenwaffen 3, Laufen 3, Schiffe 2, Survival 4, Waffen-
bau 2, Waffenloser Kampf 3, Wahrnehmung 5

Wissensfertigkeiten: Aztlanische Politik 2, Aztlanische Straßengangs

4, Kartellstruktur 3, Militärtaktik 4, Söldnergruppen 4, Straßen von
Bogotá 4, Waffenhersteller 3, Englisch 5, Japanisch 2, Spanisch M

Gaben: Außergewöhnliches Attribut (Geschicklichkeit), Hohe

Schmerztoleranz, Mut, Zähigkeit

Bodytech: Cyberaugen [Stufe 3, Blitzkompensation, Infrarotsicht,

Restlichtverstärkung, Smartlink], Kompositknochen (Aluminium),
Reflexbooster 2; Muskelstraffung 4, Thrombozytenfabrik

Ausrüstung: Atemgerät 4, Formangepasste Körperpanzerung (Hemd)

[B/S 3/0], 2 gefälschte SINs 4, 2 gefälschte Waffenlizenzen 5,
Kommlink [Hermes Ikon mit Novatech Navi, Prozessor 4, Signal
3, Firewall 3, System 4], 2 Medkits 5, Mini-Signalraketenkanone
mit 10 Mini-Signalraketen, Panzerjacke [B/S 8/6]

Waffen:
HK Urban Fighter [Schwere Pistole | Schaden 5K | PB –1 | HM |
RK – | 10(s) | 50 Schuss APDS-Munition, 50 Schuss Schocker-
munition]
Ares HVAR [Sturmgewehr | Schaden 5K | PB –| HM/SM/AM | RK 3
(4) | 50(s) | 100 Schuss APDS-Munition, 100 Schuss EX-Explosiv-
Munition, 100 Schuss Schockermunition]
Cougar Fineblade, lange Klinge [Klingenwaffe | Reichweite – | Scha-
den 4K | PB –1]

Marcos 53
 MIKA
PERSÖNLICHE DATEN: MIKA
Alter: 31 Größe: 1,73 m
Gewicht: 78,2 kg Haarfarbe: Schwarz
Augenfarbe: Braun Geschlecht: Männlich
RUNNER
Metatyp: Mensch Erwacht: Ja (Adept)
Mika und ich sind jetzt seit sieben Jahren Rivalen. Schlicht gesagt ist
er eine absolute Nervensäge, er ist ehrgeizig, er ist einfallsreich, und
ob es einem gefällt oder nicht (mir sicherlich nicht), er ist einer der
Besten der Welt, wenn es darum geht, in ein gut gesichertes Gebäude
einzudringen (auch wenn er dabei Methoden anwendet, die ich ver-
achte). Er ist definitiv ein würdiger Gegner, der für seine Leistungen
(ein bisschen) Respekt verdient.
Was Mika davon abhält, wirklich in meiner Liga zu spielen, ist
sein übermäßiges Vertrauen auf Hightech-Spielzeug wie Magschloss-
Sequencer, Abdruckhandschuhe oder Magschlosskarten-Kopierer. Er
macht sich dadurch verwundbar, falls seine Hightech mal ausfallen oder
er durch die Umstände gezwungen sein sollte, auf sie zu verzichten. Ich
bin der festen Überzeugung, dass dieses Hightech-Zeug nichts kann,
was Einfallsreichtum, Erfahrung und sorgfältige Planung nicht genauso
gut oder sogar noch besser können (und ich muss es wissen – ich habe
Mika und seine Hightech schon so manches Mal in diesem Katz-und-
Maus-Spiel geschlagen). Hightech-Ausrüstung ist oft nur eine Krücke,
sie erledigt Dinge für einen, die man eigentlich selber können sollte.
Wenn man sich zu lange zu sehr auf Hightech verlässt, wird man ir-
gendwann nachlässig und lässt seine natürlichen Fähigkeiten verküm-
mern, gleichzeitig gewöhnt man sich an eine Bequemlichkeit, die ei-
nen nicht mehr zwingt, sein eigenes Potenzial voll auszuschöpfen. Mit
Hightech macht man es sich zu leicht, wohingegen die harte Tour (also
die althergebrachte Weise) besser für die eigenen langfristigen Ziele ist
und einem neue Wege eröffnen kann, die man sonst gar nicht sieht. Das
Bedauerliche an Mika ist, dass er zwar ein außergewöhnlicher Adept ist,
aber in dem, was er tut, noch sehr viel besser sein könnte, wenn er seine
Abhängigkeit von der Technik aufgeben und mehr seine natürlichen
Fähigkeiten ausbauen würde. Aber bis heute hat er diese Wahl noch
nicht getroffen, und solange das so bleibt, wird er immer von seinen
eigenen, selbstauferlegten Beschränkungen behindert werden.
> Ist schon jemandem aufgefallen, dass mein Artikel über Ma’fan
damit beginnt, dass ich beschreibe, wie gut sie ist, während sie
damit anfängt, was ich ihrer Meinung nach falsch mache? Nicht
sehr nett.
> Mika
Anders als ich (die ich das Privileg hatte, SINlos zu sein) kam Mika
als Kind einer Mittelschicht-Konzernfamilie zur Welt, die für Gaeatro-
nics arbeitete. Diese Herkunft brachte eine SIN und eine unvermeidli-
che Datenspur mit sich. Mika wurde im Januar 2043 als Enapay King
in Cheyenne, Sioux Nation, geboren. Der größte Teil seines frühen
54 Mika
GEPOSTET VON: MA’FAN
Lebens war wenig bemerkenswert – seine Durchschnittsnote in der
Highschool war nur 2,7 von 4 (wirklich traurig – ich hätte mehr von
ihm erwartet). Als er 2061 achtzehn wurde, gehorchte er dem Ruf der
Wehrpflicht seines Landes und trat in die Sioux Defense Force (SDF)
ein, wo er von den Mitgliedern seines Trupps den Ehrennamen „Mika“
erhielt, was so viel wie „intelligenter Waschbär“ heißt. Die Bezeich-
nung scheint aus der Zeit seiner Grundausbildung zu stammen. Als
neuer Rekrut erwarb sich Mika schnell den Ruf, auf dem Stützpunkt
alles Gewünschte beschaffen zu können, auch Dinge, zu denen Rekru-
ten eigentlich keinen Zugang haben sollten, wie etwa Sonderpässe für
unbegrenzten Ausgang, zusätzliche Bezugsscheine für den Proviant-
meister, verbotene oder eingeschränkte Ausrüstungsgegenstände aus
den UCAS oder sogar zusätzliche Matrixprivilegien.
> Mich würde interessieren, woher du diese Informationen hast.
Als ich in die Schatten ging, habe ich so ziemlich als Erstes meine
frühere SIN aufgegeben, außerdem habe ich mehrere Hacker darauf
angesetzt, alles, was sie über mich finden konnten, zu löschen. Ich
dachte, meine Vergangenheit sei tot und begraben.
> Mika
> Vielleicht hättest du FastJack fragen sollen, um sicherzugehen,
dass deine Informationen wirklich weg sind. Aber im Ernst, Daten-
spuren sind einfach heimtückisch. Nur weil du einiges aus deiner
Vergangenheit aus ein paar Datenbanken gelöscht hast, heißt das
noch lange nicht, dass es nicht doch noch irgendwo Informati-
onen über dich gibt. Deine Sioux-Dateien sind gründlich gelöscht
worden, aber die Daten, die die UCAS über dich hatten, schienen
noch ziemlich intakt zu sein, ebenso die von Evo. Oh, und ich habe
tonnenweise Informationen über dich durch deinen P2.0-Account
gefunden (du verbringst viel zu viel Zeit auf diesen Klatschseiten,
nebenbei bemerkt). Deshalb tue ich alles, was ich kann, um mei-
ne Datenspuren zu minimieren. Du solltest von mir lernen. Mein
Markenzeichen mag vielleicht mein Interesse für Katzen sein, aber
deines ist deine unübersehbare Datenspur. Und das ist seltsam,
denn von uns beiden bist du doch derjenige, der mehr von Compu-
tern versteht und es eigentlich besser wissen sollte.
> Ma’fan
Sein Schnorrertalent verschaffte Mika während seiner Militärzeit
einen ganz ordentlichen Profit, sehr zum Leidwesen seiner Vorgesetz-
ten. Mikas Militärdienst war nicht gerade vorbildlich, in seiner Akte
finden sich drei Verweise wegen Schlägereien mit anderen Soldaten,
und er wurde viermal wegen Diebstahls angeklagt (allerdings konnten
diese Anklagen nie bewiesen werden und wurden später fallengelas-
sen). Seine Vorgesetzten bestraften ihn für seine Insubordination mit
einem zusätzlichen Jahr Dienst in der SDF. Widerwillig diente Mika
auch diese Verlängerung ab und wurde am 15. Januar 2062 zusammen
mit einigen anderen aus seinem Trupp aus dem Militärdienst entlas-
sen. Zu diesem Zeitpunkt verschwand Mika aus dem Netz.
Es wird allgemein vermutet, dass er seine Karriere als Shadowrunner
in den Straßen von Seattle begann. Er zeichnete sich durch Einbrüche
in Konzerneinrichtungen aus, wie etwa die Aztechnology-Pyramide
oder die ehemalige Renraku-Arkologie (nachdem Deus und seine Hel-
fershelfer vertrieben worden waren). Vermutlich war Mika einer der
wenigen Diebe, die bereit waren, noch vor den Pionieren der UCAS
Army in die übel zugerichtete Arkologie einzudringen, um einen Teil
der einzigartigen Technologie zu bergen, nach der die anderen Megakons lechzten. (Vielen
Dank, Mika, dass du uns Deus in Gestalt der Schnitter-Naniten zurückgebracht hast.
Deine Runnerkollegen wissen es bestimmt zu schätzen.) Seine Karriere als Kunstdieb
begann im Oktober 2063, als er in das Wing-Luke-Asienmuseum einbrach und sich
mit Objekten – von Seidenkimonos und Schwertern bis hin zu seltenen Masken und
Statuetten – im Wert von zwei Millionen Nuyen aus dem Staub machte. Als Mika in
das Wing-Luke-Museum einbrach, arbeitete er schon allein. Es ist gut möglich, dass
seine Trips in die Arkologie seine Omaes das Leben kosteten, aber ich habe keine
schlüssigen Beweise für diese Annahme.

> Nein, sie starben nicht in der Arkologie (obwohl ich manchmal
wünschte, es wäre so). Einige Monate vor meinem Job im Wing
Luke machten wir bei einem fetten Raubzug in einem Museum in
Denver Beute im Wert von knapp fünf Millionen Nuyen. Meine
sogenannten Chummer kamen überein, mich auf ziemlich ge-

RUNNER
waltsame Weise aus dem Deal zu drängen und meinen Anteil
unter sich aufzuteilen. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass
das, was danach geschah, nicht sehr schön war.
> Mika

> Es scheint dir öfter zu passieren, dass man dich übers

Ohr zu hauen versucht, oder? Ich meine – da war ja noch
dieser wohlbekannte Zwischenfall mit Evo...
> Ma’fan

> Darüber will ich nicht reden.

> Mika
> Ich wollte eigentlich nur sagen, dass es anschei-
nend deine charmante Persönlichkeit ist, die dich
immer wieder in solche Situationen bringt. Viel-
leicht solltest du mal daran arbeiten.
> Ma’fan

Mika glaubt, dass wir uns zum ersten Mal im

November 2066 im Metropolitan Museum of
Modern Art in Manhattan über den Weg gelaufen
sind, wo ich das Gemälde Ghost Dance Justice an
mich brachte, während er sich ein paar präkolumbi-
anische Anhänger griff. Seines Wissens stimmt das auch.
Aber er weiß nicht, dass ich ihn schon zwei Monate vorher
im Guggenheim Museum (auch in Manhattan) in Aktion gesehen habe.
Mein Klient hatte mich angeheuert, ein bestimmtes Bild von Paul Cézanne
zu beschaffen, das gerade erst vollständig restauriert und für die Ausstellung
vorbereitet worden war. Während der Vorbereitungszeit, als ich Passwörter
und biometrische Proben sammelte, ein paar RFID-Karten mitgehen ließ
und mich mit dem Grundriss des Museums vertraut machte, entdeckte
ich auch verdächtige Anzeichen für einen bevorstehenden Einbruch eines
anderen Teams. Ich kam darauf, als ich eine plötzliche und unerwartete
Änderung in den Lieferzeiten der Spedition des Museums bemerkte. Es
gab eine plötzliche Veränderung der Wachdienstpläne, wobei Wachleu-
te, die nicht den besten Ruf genossen, in die Nachtschicht versetzt wur-
den, und ein neuer Ersatzfahrer wurde über einen Zeitraum von zwei
Tagen mit Anlieferungen und Abholungen am Guggenheim Museum
betraut. Ich entdeckte, dass die Lieferpapiere für die Anlieferungen
und Abholungen manipuliert worden waren und ein paar verdäch-
tige Kisten an Museumsmitarbeiter geliefert wurden, die entweder
gerade in Urlaub waren oder vor Kurzem gekündigt hatten, sodass
das Museumspersonal die Kisten nicht sofort öffnete. Als
mir klar wurde, dass ich Konkurrenz bekam, be-
schloss ich, meinen Zeitplan zu straffen, um
meinen Einbruch mit ihrem zu koordinieren.
Das würde mir ermöglichen, die Stärke meiner

Mika 55
 Konkurrenz einzuschätzen und unter Umständen eventuelle Fehler,
die sie begingen, als Ablenkungsmanöver zu benutzen und meine ei-
gene Arbeit zu erledigen, während die Museumssicherheit das andere
Team jagte.
In der Nacht, in der meiner Meinung nach der Einbruch stattfin-
den musste, wartete ich am Museum. Ich wusste, dass das andere Team
durch das Lager in das Museum eindringen würde. Und gegen 1:00
Uhr tauchte die Person auf, die ich später als Mika identifizieren soll-
te. Er gelangte ohne Schwierigkeiten durch das Lager (wahrscheinlich
kannte er sich dort dank der Anlieferung, die er früher an diesem Tag in
seiner Verkleidung als Speditionsfahrer getätigt hatte, bereits gut genug
aus). Wie ich erwartet hatte, befand sich der größte Teil seiner Ausrüs-
tung bereits im Museum, versteckt in den Kisten, die in den letzten
Tagen angeliefert worden waren. Mika kannte bereits die Identitäten,
Touren und schlechten Angewohnheiten der einzelnen Wachleute. Er
RUNNER
wusste, dass die Wachleute an diesem Tag schon eine halbe Stunde
hinter ihrem Plan her hinkten, was ihm ein ausreichendes Zeitfenster
für seinen Job gab. Als ich Mika in das Museum folgte, stellte ich fest,
dass er sich fachmännisch um die technischen Sicherheitsvorkehrun-
gen gekümmert hatte. Er wusste genau, wo die Bewegungsmelder und
Laserlichtschranken waren, und vermied geschickt alle Druckpolster
im Boden. Auch wenn seine Informationsbeschaffung anders funktio-
nierte als meine, erreichte er das Gleiche: Kein Alarm wurde ausgelöst,
er konnte ungestört arbeiten. Es kostete ihn weniger als zwanzig Minu-
ten, die Sicherheitssysteme in der Ausstellungshalle zu umgehen und
die Bilder aus ihren Rahmen zu lösen (unter anderem einen Braque
und einen Degas). Nachdem er die Halle mit seiner Beute verlassen
hatte, schnappte ich mir das, was ich brauchte, und verließ das Mu-
seum auf meiner eigenen Fluchtroute. Ich nehme an, dass er auf dem
gleichen Weg wieder aus dem Museum rauskam und mittels der Kis-
ten, die er für die Abholung am nächsten Tag vorgesehen hatte, seine
Ausrüstung barg. Wenn er die Kisten am nächsten Tag abholte, konnte
er die Ausrüstung in Sicherheit bringen, als würde es zu seinem nor-
malen Job als Fahrer gehören, während er sich gleichzeitig umhören
konnte, was die Ermittlungsbeamten über den Diebstahl wussten. Ich
überprüfte die elektronischen Lieferpapiere und sah, dass Mika daran
gedacht hatte, die Kisten, die er geliefert hatte, aus den Dateien des
Museums zu löschen. Es würde wahrscheinlich einige Tage dauern, bis
jemandem auffiel, dass einige Kisten, die für abwesende Mitarbeiter ge-
liefert worden waren, nicht mehr da waren. Bis dahin war Mika längst
mit den Gemälden und seiner Ausrüstung über alle Berge. Insgesamt
war der Job professionell und meisterhaft erledigt worden – aber wenn
ich Mika damals gekannt hätte und gewusst hätte, was für ein Ärgernis
er für mich sein kann, wäre ich vielleicht versucht gewesen, zurückzu-
kehren und seine Ausrüstung zu stehlen.
Seit diesen frühen Tagen ist Mika weltweit als Runner tätig gewe-
sen, er hat Jobs an Orten wie Manhattan, Seattle, Neo-Tokio, DeeCee,
L.A., Hongkong, London und Paris erledigt. Seit 2066 sind wir uns
öfter in die Quere gekommen, als mir lieb ist (wie ihr wohl auch sei-
nem Artikel über mich entnommen haben dürftet). Ja, ich habe die
Porträts der Erwachten Zauberer aus dem Museum of Modern Art
in Manhattan mitgenommen, aber das war nur ein Trostpreis, nach-
dem ich erfahren hatte, dass Mika sich mit dem, was ich eigentlich
stehlen wollte, aus dem Staub gemacht hatte: Astrale Glückseligkeit,
eine Originalskulptur von einem Adepten namens Sebastian Henry
aus dem Jahre 2024. Man hielt das Stück mehr als zwei Jahrzehnte
lang für verloren, bis es 2049 von Lone Star bei einer Razzia im Haus
eines Privatsammlers gefunden wurde. Der Wert dieses Kunstwerks
hat sich inzwischen verdreifacht, seit Henry letztes Jahr verschwand
(die Behörden glauben, dass sein Verschwinden mit seiner Tempo-
sucht zusammenhängt). Ich raubte die Mühsal der Metamenschheit aus
56 Mika
dem Louvre in Paris als Friedensangebot an Miss Johnson, weil es
mir misslungen war, den Van Gogh zu beschaffen, den sie eigentlich
haben wollte. Es kostete mich vier Monate, den Privatsammler ausfin-
dig zu machen, der das Bild von Mika gekauft hatte, damit ich es für
Miss Johnson zurückstehlen konnte. Dieses Abenteuer kostete mich
fast eine Million Nuyen und jede Menge Zeit, in der ich genauso gut
einen anderen Job hätte erledigen können. Und selbst jetzt noch lässt
es sich Mika nicht nehmen, mich zu verspotten, indem er behauptet,
den genauen Aufenthaltsort der Zweiten Münze des Glücks zu ken-
nen, sich aber weigert, mir zu sagen, wo sie ist oder wer sie hat. Eines
Tages werde ich diese Rivalität beenden müssen. Aber ich muss den
richtigen Zeitpunkt abwarten und werde mich fürs erste mit kleinen
Rachefreuden begnügen – zum Beispiel mit dem Wissen, dass ich
immer noch eine bessere Diebin bin als Mika und ihn eines Tages
besiegen werde.
> Na, na, Ma’fan. Du hast mir vorgeworfen, dass ich es mir zu
leicht mache. Was wäre ich für ein Mensch, wenn ich es jetzt dir
zu leicht machen und dir verraten würde, wo diese Münze ist? Ich
sorge doch nur dafür, dass du in deinem Beruf immer besser wirst,
indem ich dich selber danach suchen lasse.
> Mika
> Sarkasmus steht dir nicht.
> Ma’fan
Mika kann ziemlich dreist sein, wenn er sich Informationen über
ein Zielobjekt beschafft. Eine von Mikas Methoden, die sich von
meinen eigenen unterscheidet, besteht darin, dass er gerne sehr nahe
an das Ziel herangeht, näher als ich es zum Beispiel für ratsam halte.
In seinen Jobs, die sich mit meinen überkreuzt haben, hat er sich als
Zusteller, Chefassistent, Journalist, Wachmann, Lone-Star-Cop oder
Schadensermittler einer Versicherung ausgegeben und sich einmal
sogar auf die Gästeliste eines Geschäftsessens hochrangiger Politiker
und Sponsoren in der CAS gesetzt, um nahe genug an ein bestimmtes
Kunstwerk zu kommen. Während ich Tage oder Wochen aufwende,
um einen Standort von außen auszukundschaften (um das Ziel herum-
zuschleichen wie eine Katze um ihre Beute), infiltriert er üblicherweise
die Organisation und findet ihre Schwächen von innen heraus.
Ich habe eine beträchtliche Zeit damit verbracht, Mikas Techniken
zu studieren, und ich glaube, dass Mika sich selbst mit ein paar un-
natürlichen Modifikationen versehen hat, die es ihm erleichtern, das
Personal in der Umgebung seines Zieles zu infiltrieren. Ich glaube, er
hat an seinem genetischen Profil Phänotypanpassungen vorgenommen
(dadurch fühlt sich seine Aura ziemlich synthetisch an). Wegen der
Unbeschwertheit, mit der er an seine Zielpersonen herangeht, kann
man fast sicher davon ausgehen, dass er eine Genwischer-Behandlung
hat durchführen lassen, die es ihm gestattet, jede beliebige Oberfläche
zu berühren, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass er irgendwel-
ches identifizierbares Genmaterial zurücklässt. Und ich vermute, dass
er, um die Verfolgung genetischen Materials noch schwieriger zu ge-
stalten, auch die Larven-Technologie nutzt. Das Ganze macht aus ihm
sozusagen ein „unbeschriebenes Blatt“, das je nach Erfordernissen der
Infiltration mit einem anderen genetischen Profil beschrieben werden
kann. Möglicherweise hat er auch durch genetische Therapien seine
Fingerabdrücke entfernen lassen.
Ich erinnere mich noch gut an eine Zeit, als Adepten nicht einmal
im Traum daran dachten, ihre Verbindung zur Magie zu gefährden,
indem sie körperfremde Modifikationen zuließen. So etwas wurde als
Talentvergeudung betrachtet, ja geradezu als Blasphemie. Die Zeiten
haben sich geändert.
MIKA

K G R S C I L W M EDG ESS INI ID

4 6 5 5 6 5 6 4 6 5 5,6 10 1

Zustandsmonitor (K/G): 10/10

Panzerung (B/S): 8/6

Fertigkeiten: Akrobatik 6, Askennen 3, Ausweichen (Fernkampf ) 4

(+2), Bodenfahrzeuge 4, Computer 4, Datensuche 4, Entfesseln 5,

RUNNER
Erste Hilfe 3, Fallschirmspringen 3, Fingerfertigkeit (Taschendieb-
stahl) 6 (+2), Gebräuche 5, Hardware (Magschlösser) 6 (+2), In-
filtration (Bewegungsmelder) 6 (+2), Klettern 5, Klingenwaffen 3,
Laufen 5, Pistolen 6, Schiffe 2, Schlosser 4, Schnellfeuerwaffen 5,
Schwimmen 4, Software 4, Überreden 5, Verhandlung 5, Verklei-
den (Kosmetik) 5 (+2), Waffenloser Kampf 5, Wahrnehmung 5

Wissensfertigkeiten: Kunstgeschichte 6, Kunsthehler 6, Kunststile

5, Magische Sicherheit 4, Private Kunstsammler 4, SOTA-Sicher-
heitssysteme 6, Englisch 6, Lakota M, Spanisch 2

Bodytech: Phänotypanpassungen: Abdruckentfernung, Genwischer,

Larve

Gaben: Beidhändigkeit, Unauffälligkeit

Handicaps: Geas (Ritual), Gesucht, SIN-Mensch

Initiatengrad: 1

Adeptenkräfte: Astrale Wahrnehmung, Eidetisches Sinnesgedächt-

nis, Geschickte Finger, Kampfsinn 2, Magieresistenz 2, Mystischer
Mantel 3, Spurloser Schritt, Stimmkontrolle, Wandlaufen

Metamagie: Flexible Signatur

Ausrüstung: Automatischer Dietrich 6, Bereichsstörsender 6, 3 C2-

Reiniger, Camouflageseil mit Katalysatorstab, Chamäleonanzug
[B/S 6/4], Dietrich-Set, Drahtzange, Endoskop, Enterhakenka-
none, Fernglas (optisch), Gasmaske, Gecko-Tape-Handschuhe,
Gussform für Abdruckhandschuh 3, Kletterhandschuhe, Latex-
Gesichtsmaske, Leuchtstab, Magschlosskarten-Kopierer 5, Mag-
schlossknacker 5, MicroWeave-Spinne, Microwire, Mini-Schweiß-
gerät, Myomerisches Seil, 4 Nanitencreme-Verkleidungen (große
Behälter), Periskop, RFID-Löscher, Schlangenhaut, Sequencer 6,
Tarnanzug [B/S 8/6], 2 Thermit-Brennstäbe

Waffen:
2 HK Urban Fighter [Schwere Pistole | Schaden 6G(e) | PB –Hälfte |
HM | 10(s) | Schalldämpfer; Schockermunition]
HK Urban Combat [Maschinenpistole | Schaden 6G(e) | PB –Hälfte |
HM/SM/AM | RK 2 | 36(s) | Schockermunition]
Keramikmesser [Klingenwaffe | Reichweite 0 | Schaden 4K | PB 0]
Victorinox Flexstahlmesser [Klingenwaffe | Reichweite 1 | Schaden 5K
| PB –1]

Mika 57
 PUCK
PERSÖNLICHE DATEN: PUCK
Alter: Unbekannt Größe: 1,75 m
Gewicht: 64 kg Haarfarbe: Weiß/Silber
Augenfarbe: Grau Geschlecht: Männlich
RUNNER
Metatyp: Mensch Erwacht: Nein
Das Wichtigste zuerst: Puck ist draußen. Frei. Ich weiß es. Ich habe
keinen direkten Beweis dafür, keine Nachricht von ihm oder so etwas.
Ich habe nicht einmal einen Augenzeugen, der ihn gesehen hat. Aber
was ich habe, ist trotzdem mehr als nur ein Gefühl. Es gibt gewisse
Communitys, die ich im Auge behalte, ich beobachte den Fluss der
Informationen durch diese Kanäle, sehe, wie die Leute sich verhalten,
und da habe ich ihn gespürt. Er ist da draußen, hinter den Kulissen, er
ist aktiv, er sammelt seine Kräfte, er bereitet sich auf das vor, was auch
immer er als Nächstes tun wird. Ich weiß nicht, was das sein wird,
aber ich hoffe, dass zumindest dieses Mal seine Handlungen mit seinen
Idealen übereinstimmen werden.
Ich weiß, dass es hier viele gibt, die Puck nicht mögen und die ihm
für das, was er getan hat, niemals vergeben werden. Ich bin zwar nicht
ihrer Meinung, aber ich kann sie verstehen. Puck war an schreckli-
chen Dingen beteiligt, und er ist nicht gerade ein Mensch, der einen
sonderlich reumütigen Eindruck erweckt. Aber wenn man erst einmal
versteht, warum er diese Dinge getan hat, und sieht, was er zu bewegen
versucht, dann verspürt man etwas mehr Sympathie für den Mann. Ich
will damit nicht sagen, dass seine Absichten seine Taten rechtfertigen,
aber der Kerl hat eine Menge durchgemacht (darunter wohl auch et-
was, was ihn in letzter Zeit von uns fernhält), und das, was er gesehen
und erlebt hat, geht nicht einfach spurlos an einem Menschen vorbei.
Aber vielleicht sollte ich aufhören, in Allgemeinplätzen zu reden,
und lieber konkreter werden. Dabei werde ich allerdings einige Dinge
enthüllen müssen, die Puck eigentlich nicht preisgeben wollte. Es wird
ihm wahrscheinlich nicht gefallen, was ich hier mache, aber das Risiko
muss ich eingehen. Puck erschien in den Zeiten vor der drahtlosen
Matrix zum ersten Mal als Otaku auf der Bildfläche. Er traf eine We-
senheit namens Deus (eine KI – ihr habt sicher davon gehört...) und
erfuhr von Deus’ Plänen, die Matrix neu zu erschaffen. Das gefiel Puck
– er hatte die physische Welt immer als eine Welt voller Schmerzen,
Beschränkungen und Ungerechtigkeiten empfunden, während die
Matrix die Möglichkeit der Freiheit eröffnete, der Gleichheit und sogar
der Unsterblichkeit durch die Bewahrung der Daten, die – wie manche
Leute glauben – das Fundament unseres Bewusstseins sind.
> „Wie manche Leute glauben“? Heißt das, du hast eine alternati-
ve Theorie über die Natur des Bewusstseins, die du mit uns teilen
möchtest?
> Slamm-0!
58 Puck
GEPOSTET VON: ICARUS
> Bitte keine Abschweifungen. Pucks Geschichte sollte uns genug
Stoff zum Nachdenken geben, ohne dass wir uns auf eine Diskussi-
on über Metaphysik einlassen.
> Dr. Spin
Es gibt eine Sache, die viele von uns nicht wissen, vergessen ha-
ben oder sich zu akzeptieren weigern – nämlich dass die Kinder, aus
denen später die Otaku wurden, mit wenigen Ausnahmen ein Leben
lebten, gegen das die Dickensschen Waisenkinder in Glanz und Glo-
ria schwelgten. Puck kam aus dem Nichts, überlebte die schlimmsten
Höllen, die man sich vorstellen kann, und fand irgendwie den Weg
hinaus. Er fand die Matrix, als sie noch verkabelt war, kontrolliert und
normalerweise für Mittellose unerreichbar. In dieser Matrix fand er
einen Stamm, die Tiefenresonanz und einen Lebensinhalt. Deus bot
Puck nicht nur einen Weg, seine Ideale zu verfolgen – er bot ihm eine
Heimat und einen Stamm. Puck ist ein Mann voller Ideale, doch um
diese Ideale in die Tat umzusetzen, brauchte er eine Führung, die er
nicht hatte, bevor er Deus traf, was er vor dieser schicksalhaften Begeg-
nung im SCIRE-Host nicht einmal sich selbst gegenüber eingestanden
hatte. Puck wurde einer von Deus’ Weißen, dem inneren Kreis seiner
Otaku, und eine Zeit lang setzte er eifrig alles daran, Deus’ Anwei-
sungen zu befolgen und auf die Revolution hinzuarbeiten, die die KI
plante.
Und dann fand diese Revolution in der Renraku-Arkologie statt,
und Puck erkannte, was Deus wirklich plante – und was der Preis dafür
sein würde. Die Dinge, die er in der Arkologie sah, brannten sich in
sein Gehirn ein, und er hat mir einmal erzählt, dass er sich nicht nur
perfekt an alles erinnern kann, was er sah; er kann es fühlen. Wenn ihr
ein ARO öffnet, kann er es mit einem Bild aus der Arkologie ausfüllen.
Wenn er euch nicht mag, präsentiert er es euch als SimSinn. Er trägt
diese Bilder immer mit sich herum, egal wo er hingeht. Selbst wenn er
es versuchte, könnte er sie nicht vergessen.
> Er hat es dir erzählt? Er hat dir erzählt, was er gesehen hat?
Na klar doch. Weil Puck ja so verdammt mitteilsam über seine
Vergangenheit ist.
He, ich will nicht behaupten, dass deine Informationen falsch sind
– sie passen zu dem, was ich weiß –, aber ich weigere mich zu
glauben, dass er dir einfach so irgendwelche Sachen aus seiner
Vergangenheit erzählt hat. So etwas macht Puck nicht.
> Slamm-0!
> So etwas macht Puck nicht bei dir.
> Icarus
Puck verließ die Weißen nicht sofort, vielleicht weil er nicht wuss-
te, wohin er sonst gehen sollte. Aber die Saat für die Trennung war
gesät. Puck mag geglaubt haben, durch seine Erfahrungen mit Deus
weiser geworden zu sein, und vielleicht hatte er auch das eine oder
andere gelernt, aber nur wenige Jahre nach der Sache mit der Arkolo-
gie beging er die gleichen alten Fehler. Wieder einmal verkaufte ihm
ein charismatischer Anführer eine Vision von der Neugestaltung der
Matrix. Wieder einmal sprach dieser Anführer nur von allgemeinen
Dingen, mit denen Puck voll und ganz einer Meinung war, und ver-
heimlichte die abscheulichen Details seiner Pläne. Und wieder ein-
mal ließ sich Puck vereinnahmen. Pax, die Anführerin von Ex Pacis,
blendete Puck mit ihren Idealvorstellungen einer offenen, universel-
len Matrix (während sie ihm die Einzelheiten ihrer Dissonanz-Vision
verschwieg).
Es gibt viele, viele Leute, darunter auch viele JackPointer, die Puck
niemals die Rolle vergeben werden, die er bei der Verbreitung des Jor-
mungand-Virus gespielt hat. Er hat nie um Vergebung gebeten und
wird es auch nie tun – was, wie ich denke, zu seinen Gunsten spricht.
Der Versuch einer Erklärung oder eine Bitte um Vergebung würde
nichts am Geschehenen ändern. Er weiß, was er getan hat, und er
muss mit den Konsequenzen seiner Taten leben. Eine Entschuldigung
macht da keinen großen Unterschied.

> Blödsinn (ihr habt es kommen sehen, oder?). Sieh mal, Puck
übernimmt keine Verantwortung für irgendwas, und er lebt ver-
dammt noch mal nicht mit den Konsequenzen dessen, was er getan

RUNNER
hat, weil er nicht zugibt, was er getan hat. Wie hat er für seine
Taten bezahlt? Was hat er verloren? Beantworte mir das, und wir
können uns über Konsequenzen unterhalten.
> Slamm-0!

> Puck ist nicht in den Knast gewandert oder auf andere Weise
offiziell zur Rechenschaft gezogen worden, falls es das ist, was du
meinst, aber er hat seinen Stamm verloren. Er verlor das Einzige,
das ihm in seinem ganzen Leben so etwas wie ein Zugehörigkeits-
gefühl gegeben hat. Er hat die Verbindung zu ihnen abgebrochen,
weil er wusste, zu was sie in der Lage waren. Das ist schon ein
ziemlicher Verlust.
> Arete

> Ich glaube, uns entgeht hier gerade etwas Wichtiges – Icarus
hat gerade etwas bestätigt, was Slamm-0! schon seit einiger Zeit
behauptet. Und das bedeutet, dass Slamm-0! in Zukunft noch un-
erträglicher sein wird.
> Netcat

So viel zu Pucks Vergangenheit. Es gibt Dinge über seine Gegenwart,

die er lieber für sich behalten möchte, und da ich glaube, dass er bald
wieder zu uns zurückkehrt, werde ich seinen Wunsch respektieren.

> *hüstel* Technomancer *hüstel*

> Clockwork
Aber so viel kann ich sagen – er hat keinen festen Auftraggeber und
arbeitet mit keinem festen Team zusammen, aber die Leute, mit denen
er zusammengearbeitet hat, haben nur Positives über ihn zu berichten.
Sie sagen, dass er effizient und professionell ist und immer bereit, ein
Team dabei zu unterstützen, eine Mission möglichst ohne Blutvergie-
ßen zu Ende zu bringen. Sie sagen, dass er gern über die aktuelle Arbeit
spricht, aber nicht gern über sich selbst redet. Aber das wissen wir ja.
Sie sagen auch, dass er als Person oft einen nervösen, gehetzten Ein-
druck macht. Ihr müsst wissen, dass Puck sich deshalb sein ganzes Le-
ben lang für eine freie und offene Matrix eingesetzt hat, weil die Matrix
seine Heimat ist. Die Fleisch-und-Blut-Realität, in der die meisten von
uns ihr Leben leben, ist für ihn nur ein blasser Abklatsch der einzig
wichtigen Realität, der Realität, in der er schnell und mächtig ist, und
in der er alles tun kann, was er sich ausmalt. Das ist seit vielen Jahren
der Ort, an dem er sich wohlfühlt und wo er seinen Frieden findet, wo
er hingehört.
Puck folgt weiterhin nur seinen eigenen Moralvorstellungen und
sieht auch keinen Anlass, sie anderen zu erklären, die sie nicht verste-
hen. Vor einiger Zeit, kurz vor seinem Verschwinden, führte er eine
virtuelle Infiltration gegen einen Saeder-Krupp-Knoten an, auf dem
sich angeblich Informationen über Artefakte befinden sollten, die

Puck 59
 schon eine Reise um den ganzen Globus hinter sich hatten. Da wa-
ren zwei Spinnen, die ihm besondere Probleme bereiteten – der eine
mit einem Trommelfeuer aus Schwarzem IC, die andere mit etwas
sanfterem IC, das Eindringlinge fernhalten sollte, ohne ihnen größere
Schäden zuzufügen. Als die Mission vorüber war, war die Spinne mit
dem Schwarzen Eis zwar frustriert, aber ansonsten unversehrt; die an-
dere Spinne lag auf dem Boden, vom Auswurfschock fast getötet, das
Nachbild des virtuellen Blitzes, der sie erwischt hatte, war direkt in ihr
Hirn gebrannt.
Pucks Teamkollegen hatten keine Ahnung, warum die beiden
Spinnen eine unterschiedliche Behandlung erhalten hatten. Einer von
ihnen berichtete, dass Puck sich während des Kampfes mit beiden
Spinnen unterhalten hatte, und vielleicht ist bei der Unterhaltung mit
der zweiten Spinne etwas gesagt worden, das zu ihrem schmerzhaften
Auswurf aus der Matrix führte.
RUNNER
> Puck soll durchgedreht sein, weil jemand etwas Mieses zu ihm
gesagt hat? Das kann ich mir kaum vorstellen. Er ist schon als so
ziemlich alles beschimpft worden, immer wieder, und sollte sich
mittlerweile daran gewöhnt haben. Und wenn er nicht wegen dem,
was Slamm-0! ihm um die Ohren gehauen hat, in die Luft gegan-
gen ist, dürfte ihn eine einzelne Spinne wohl kaum mehr ärgern
können.
> Netcat
> Es könnte sich um eine Frage der Ehre handeln. Ein Gegner, der > Du hast uns mit deiner Einleitung hängen lassen, Icarus. Warum
sich auf dem Schlachtfeld direkt auf dich stürzt, signalisiert damit,
dass er dich als ebenbürtig und als würdigen Gegner anerkennt.
Jemand, der den Kampf vermeidet (jedenfalls so, wie manche es
interpretieren), deutet damit an, dass er dich nicht als richtigen
Gegner sieht. Mit dem Angriff könnte Puck auf seine Weise klarge-
stellt haben wollen, dass er ernst zu nehmen ist.
> Kia
> Puck schert sich um Ehre genauso viel wie um Beleidigungen. > Aber es fehlt immer noch etwas. Nämlich die Frage, auf die wir,
Ich schätze, dass es tatsächlich etwas in der Unterhaltung mit den
Spinnen war, was ihn dazu brachte, so zu handeln, vielleicht nichts
über ihn selbst, sondern darüber, wie die Spinnen die Matrix und
ihre Grundprinzipien sahen. Das ist etwas, das ihm nahegeht und
das ihn zu so einer Tat treiben könnte.
> FastJack
Puck verbringt zwar immer noch den größten Teil seiner Zeit in der
Matrix, aber sie ist für ihn längst nicht mehr der Ort des Friedens und
der Geborgenheit, der sie früher war. Einer der Aspekte, den Puck im-
mer an der Matrix geliebt hatte, ist ihre Eigenschaft, dass sie nie etwas
vergisst, dass die Dinge und Personen, die dort gespeichert sind, nie
vollständig verschwinden. Doch genau das ist jetzt für ihn eine Qual,
denn auch Deus ist immer noch da draußen. Die KI weiß, dass einer
ihrer wichtigsten Hauptleute sie verlassen hat. Ich weiß nicht, wie eine
KI denkt, vor allem eine wie Deus, aber es ist wahrscheinlich, dass
Deus sich durch Pucks Weggang verraten und im Stich gelassen fühlt.
Puck weiß besser als jeder andere, wie unbarmherzig Deus sein kann,
und in jedem Augenblick, den er in der Matrix verbringt, muss er da-
60 Puck
rauf gefasst sein, dass Deus ihn findet und seine wie auch immer ge-
artete Rache an ihm auslässt. Und vielleicht noch schlimmer als Deus
ist Pax. Auch sie ist dort draußen, versteckt zwar, aber jederzeit in der
Lage, etwas gegen ihn zu unternehmen. Sie kennt ihn besser als jeder
andere – abgesehen von der KI –, und sein Tod ist ihr vielleicht nicht
genug. Sie weiß, dass Puck immer noch unterwegs ist und etwas sucht.
Er hat immer gesagt, dass Deus ihn geprägt hat, aber ich glaube, es war
Pax, die ihn letztlich zu dem gemacht hat, was er ist. Deus würde ihn
wahrscheinlich einfach nur töten, aber Pax könnte ihn zu einer Gefahr
für sich selbst, für uns und für jeden in der Matrix machen.
> He, Deus! Brauchst du noch Tipps, wie du den Bastard aufstö-
bern kannst? Ruf mich an!
> Slamm-0!
> Ich glaube, das Problem ist nicht, Puck aufzustöbern, sondern
zu entscheiden, was er dann mit ihm anstellen wird.
> Icarus
> Ich bin mir ja ziemlich sicher, dass die Gerüchte darüber, dass
Deus immer noch sein Unwesen treibt, jeglicher Grundlage entbeh-
ren, aber das hat letztlich nichts mit dem Rest dieses Artikels zu
tun, also was soll’s?
> Snopes
glaubst du, dass er frei ist? Und wo ist er gewesen?
> FastJack
> Ich habe es offen gelassen, weil es nicht meine Sache ist, diese
Geschichte zu erzählen. Was ich zu sagen hatte, habe ich gesagt.
Aber die Geschichte wird bald erzählt werden.
> Icarus
glaube ich, alle eine Antwort verdienen: Warum ist er auf Jack-
Point? Was macht ihn so verdammt besonders?
> Slamm-0!
> Normalerweise ignoriere ich den Scheiß von dem Kleinen, aber
diesmal muss ich ihm recht geben. Ich habe die Klappe gehalten,
als ich hörte, dass er zu dieser Gruppe hier gehört hat. Ich habe
gehofft, dass er nie zurückkommt. Aber... Er hat unsere Freunde
getötet, Jack.
> Bull
> Ich habe die ganzen Beurteilungen gesehen – die von Renraku,
von JTF-Seattle, von GOD, sogar die von Pax und Deus. Icarus’ Be-
urteilung trifft genau ins Schwarze. Was Icarus nicht erwähnt hat,
ist, dass Puck kein reguläres Team hatte, keine regulären Klienten
oder irgendwelche anderen Konstanten in seinem Leben – er hatte
uns. Die Alternative spricht für sich selbst. Ich habe zwei Matrix-
crashs miterlebt.
> FastJack
PUCK Handicaps: Schlechter Leumund

K G R S C I L W EDG RES ESS INI ID Lebende Persona: Firewall 6, Prozessor 5, Signal 3, System 6
2 5 5 2 4 5 5 6 6 6 6 10 1
Komplexe Formen: Analyse 5, Angriff 6, Aufspüren 5, Ausnut-
Zustandsmonitor (K/G): 9/11 zen 6, Datenbombe 4, ECCM 5, Editieren 5, Entschärfen
4, Entschlüsselung 5, Korrumpieren 4, Medic 3, Nuke 4,

Panzerung (B/S): 6/1
Fertigkeiten: Ausweichen 3, Cracken-Fertigkeitsgruppe 6, Elek-
tronik-Fertigkeitsgruppe 6, Gebräuche (Matrix) 2 (+2), Klin-
genwaffen (Messer) 2 (+2), Kybernetik 3, Laufen 2, Pistolen
(Holdout) 2 (+2), Schlosser 2, Tasken-Fertigkeitsgruppe 5,
Überreden 3, Wahrnehmung 4
Wissensfertigkeiten: Combatbiking-Ligen 3, Computerge-
schichte 2, Künstliche Intelligenzen 3, Matrixarchitektur 5,
Matrixgruppen 3, Matrixprogramme 6, Matrix-Sicherheits-
techniken 5, Englisch M, Französisch 2, Japanisch 4, Spa-
nisch 3
Gaben: Fotografisches Gedächtnis, Programmier-Genie, Tech-
nomancer
RUNNER
Panzerung 6, Säubern 2, Scannen 4, Schleicher 6, Schmöker
4, Schnüffler 3, Schwarzer Hammer 6, Täuschung 5, Ver-
schlüsselung 6
Ausrüstung: Bereichsstörsender 6, Formangepasste Körperpan-
zerung (Hemd) [B/S 3/0], 5 Dosen Jazz, Magschlossknacker
6, Medkit 5, 5 Dosen Psyche, SecureTech-PSB-Schienbein-
schützer [B/S +0/+1], 5 Stimulanz-Patches 5, 5 Trauma-Pat-
ches, Victory Globetrotter-Kollektion: Leichte Panzerklei-
dung [B/S 3/0]
Waffen:
Morrissey Élan [Holdout | Schaden 6G(e) | PB –Hälfte | HM |
RK – | 5(s) | 100 Schuss Schockermunition]
Cougar Fineblade, kurze Klinge [Klingenwaffe | Reichweite – |
Schaden 2K | PB –1]

Puck 61
 RIGGER X
PERSÖNLICHE DATEN: RIGGER X
Alter: 53 Größe: 1,75 m
Gewicht: 61 kg Haarfarbe: Schwarz
Augenfarbe: Schwarz Geschlecht: Männlich
RUNNER
Metatyp: Mensch Erwacht: Nein
> Rigger X wurde in der Vergangenheit mehrmals davor gewarnt,
irgendwelchen Dreck über Mitglieder dieses Netzwerkes auszugraben
und an den Meistbietenden zu verkaufen. Zumindest eine Messer-
klaue namens Quillon war über diese seine Angewohnheit dermaßen
angepisst, dass er den folgenden Text über Rigger X für das Shadow-
Sea-Netzwerk verfasst hat. Normalerweise wäre es mir relativ egal,
was Rigger X getan hat; JackPoint kann auf sich selbst aufpassen.
Aber da ich nun einmal sowieso gerade diese Datei über legendäre
Runner zusammenstelle – na, sagen wir es mal so: Rigger X verdient
es, hier erwähnt zu werden. In mehr als einer Hinsicht.
> FastJack
> He, warte mal. Wessen Geheimnisse hat Rigger X denn ver-
kauft?
> Slamm-0!
> Jack?
> Slamm-0!
Ich weiß, dass der folgende Text nach einer ziemlichen Schweinerei
gegenüber einem Mit-Shadowrunner aussehen muss, aber lasst mich
bitte ausreden. Ich zahle hier nur eine Gefälligkeit zurück.
Zuerst ein paar Informationen über mich... aber um etwas über
mich zu erzählen, muss ich erst ein bisschen über ihn erzählen. Rigger
X ist schon seit langer Zeit im Geschäft, aber er arbeitet mit keinem
festen Team zusammen. Stattdessen sucht er sich lieber eine Hand-
voll Leute, die seinen Vorstellungen von Professionalität und Moral
entsprechen, und arbeitet einige Monate oder vielleicht ein Jahr mit
ihnen zusammen, um sie dann wieder zu verlassen und sich neue Leute
zu suchen. Er zieht es vor, mit jungen Runnern zu arbeiten, die zwar
erfahren genug sind, keinen Mist zu bauen, aber noch grün genug, dass
er sie unter Kontrolle halten kann. Und glaubt mir, die Kontrolle ist
ihm wichtig. Er gibt den Ton an, vermeidet es aber sorgfältig, das Team
nach außen zu vertreten, um möglichst wenig aufzufallen.
Vor etwa einem Jahr war Rigger X der Meinung, dass mein Team
seinen Vorstellungen entsprach. Ein lokaler Schieber brachte uns zu-
sammen. Er war bereit, unter bestimmten Bedingungen mit uns zu-
sammenzuarbeiten – eine davon war, dass wir keine Fragen über sein
letztes Team stellten –, aber diese Bedingungen erwähnten nichts da-
von, dass er unsere Daten an den Meistbietenden verkaufen würde.
Meine Chummer und ich, wir arbeiteten erst seit ein paar Jahren zu-
sammen. In unserer Gruppe war ich mit meinen acht Jahren in den
Schatten wahrscheinlich der Erfahrenste. (Wie ihr vielleicht inzwischen
62 Rigger X
GEPOSTET VON: QUILLON
herausgefunden habt, vor allem wenn ihr euch zu Rigger X’ innerem
Kreis zählt, bin ich ein ehemaliges Mitglied der Tír Peace Force Special
Forces, besser bekannt als die Ghosts. Ich habe mich nicht gerade in
alter Freundschaft von dieser Organisation getrennt, und für jemanden
mit meinen Fertigkeiten gab es auf dem legalen Arbeitsmarkt nur we-
nig Nachfrage.) Anfangs waren wir von dem Burschen fasziniert. Sein
Straßenruf war solide wie ein Fels, und wir waren uns sicher, dass wir
von seiner jahrelangen Erfahrung profitieren würden.
Das Problem ist nur, dass es einen guten Grund dafür gibt, weshalb
dieser Sack so lange im Business tätig ist, ohne sich dauerhafte Freunde
gemacht zu haben. Ich bin mir sicher, dass ich nicht der erste Team-
kollege bin, dessen Geheimnisse er für gutes Geld verkauft hat. Aber
glaub’ mir, X, du Arschloch, wenn du das hier liest: Du bist nicht der
Einzige, der nach Informationen graben kann.
Rigger X – aber wir wollen ihn von nun an bei seinem richtigen
Namen nennen: Genzo Watanabe – ist ein männlicher japanischer
Mensch, der im April 2020 in Kyoto als Kind zweier MCT-Sarari-
leute zur Welt kam. Genzo war erst neun, als es zu dem Crash von
2029 kam. Beide Eltern starben während des Crashs an Bord eines
Orbitalshuttles, das abstürzte, weil die Luftverkehrs-Kontrollsoftware
vom Crash-Virus zerlegt wurde. Genzo wurde vom Konzern adoptiert
– zum einen aus einem Gefühl der Verpflichtung des Konzerns der
Familie gegenüber, zum anderen weil er hervorragende Ergebnisse in
allen Eignungstests aufweisen konnte. Er verbrachte die nächsten neun
Jahre auf höheren technischen Schulen des Konzerns und bekam als
Jugendlicher eine der ersten Datenbuchsen implantiert. Als er 2038
seinen Abschluss machte, wurde er dank seiner hohen Matrixaffinität
und seines großen Interesses an fernbedienten physischen Systemen
– Sicherheitsnetzwerke und Drohnen – in ein spezielles Ausbildungs-
programm für angehende Sicherheitsspezialisten aufgenommen. Als er
21 war, hatte er einen gemütlichen Konzernjob als oberster Sicher-
heitsrigger – Spinne nennt man es heute, eine passende Bezeichnung
– in einem Mitsuhama-Automatronics-Werk in Kyoto. Seine Nächte
verbrachte er damit, Shadowrunner wie uns im Netz einzufangen und
zu töten.
> Obwohl das Werk, in dem Rigger X arbeitete, wohl kaum wichtig
genug war, um wirklich jede Nacht angegriffen zu werden, weiß
ich, dass das mit dem „Töten“ kein Witz ist. Mitsuhamas Null-
zonenpolitik bedeutet, dass ihre Sicherheitskräfte niemals einen
Eindringling lebend entkommen lassen.
> Hard Exit
Genzos Leben war wenig ereignisreich, er verbrachte es als Sicher-
heitsberater für verschiedene MCT-Einrichtungen, bis er sechs Jahre
später etwas sah, was absolut nicht für seine Augen bestimmt war. Er
überarbeitete das Sicherheitssystem einer MCT-Wohnanlage, als er zu-
fällig die Kamerabilder aus einem Raum zu sehen bekam, in dem sich
der Sohn eines Yakuza-Oyabun – der Verbindungen in die höchsten
MCT-Ränge hatte – mehr als nur übereifrig an einer Prostituierten
austobte. Und zwar so übereifrig, dass die Frau anschließend ein Fall
für die Rechtsmedizin war.
Die Frage, ob Genzo vorhatte, jemandem zu erzählen, was er beob-
achtet hatte, erwies sich als irrelevant. Der Mörder hatte seine eigenen
Ressourcen und tauchte eines Nachts in Genzos Wohnung auf, beglei-
tet von zwei erfahrenen Yakuza-Schlägern. Doch zu ihrem Pech hatte
Genzo eine für sein Alter ungewöhnlich ausgeprägte Paranoia kulti-
viert. Das ausgeklügelte Sicherheitssystem in seiner Wohnung wurde
ausgelöst und tötete den Sohn des Oyabun.
Obwohl es eigentlich nicht seine Schuld war, hatte sich Genzo die
Yakuza in ihrem eigenen Hinterhof zum Feind gemacht. Und da diese
spezielle Gruppe der Yakuza obendrein enge Verbindungen zu MCT
hatte, war auch seine Karriere im Eimer. Ihm blieb nichts anderes üb-
rig, als seine Flucht aus der Stadt zu arrangieren – wahrscheinlich mit
Hilfe einer anderen Yakuza-Gruppe – und seinen legalen Job, seine
SIN und sein bisheriges Leben zurückzulassen. Er nahm nur eins mit
– Mitsuhamas Nullzonenpolitik. Auf einen Shadowrunner angewen-
det, bedeutet das, dass Genzo nicht im Geringsten bereit ist, auch nur
einen seiner Gegner am Leben zu lassen. Das klingt genauso krank, wie
es ist, und ich werde noch darauf zurückkommen.
In den 2050ern hatte sich Genzo in den Schatten etabliert, und
er warf nie einen Blick zurück. Vor allem in Seattle genoss er die Pro-

RUNNER
tektion des unabhängig eingestellten Shotozumi-rengo, der bereit war
(zumindest größtenteils und zumindest bis zu diesem Artikel hier), die
Augen vor der Tatsache zu verschließen, dass einige wichtige Leute in
Kyoto nach seinem Blut lechzten. Genzo hatte mehr als zwanzig Jahre
Zeit, sich sicher zu fühlen und sich einen Ruf, ein Vorstrafenregister
und einen Lebenslauf aufzubauen, während er andere ausschnüffelte,
verkaufte und verriet.

> Okay, ich muss einfach fragen. Was zum Henker hat Rigger X
diesem Quillon-Typen so Übles getan, dass der hier dermaßen
überreagiert?
> Jimmy No

> Genau wie das Geheimnis, vor dem Rigger X anscheinend weg-
läuft, war es gar nicht so schlimm. Als damals 2064 der Bürger-
krieg in Tír Tairngire ausbrach, stellte sich heraus, dass Quillon
ohne eigenes Verschulden auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Er
war Paladin eines der alten Bosse und wurde losgeschickt, einen
der neuen Bosse umzulegen. Unglücklicherweise verlor der Rat der
Prinzen, und Rinelle ke’Tesrae gewann, so einfach war das. Der
Prinz, dem zu dienen Quillon eidlich verpflichtet war, wurde getö-
tet, Quillon wurde als Terrorist gebrandmarkt und ging als Ronin
ins Exil. Ich vermute, dass Rigger X das irgendwie herausbekom-
men und Quillon an die Tír Peace Force verkauft hat. Wenn ich
ständig irgendwelche Kommandos der Tír Ghosts am Arsch hätte,
würde mir das auch den Tag versauen.
> Thorn

Ich bin mir sicher, ihr habt alle schon mal das Missvergnügen ge-
habt, mit Pazifisten zusammenzuarbeiten. „No-Kill“-Shadowrunner?
Also, ich gehöre sicherlich nicht in das Lager. Aber Genzo hat genau
das gegenteilige Problem. Er hat MCTs Nullzonenpolitik in seinen
eigenen Modus Operandi übernommen. Genzo lässt nicht gern je-
manden am Leben. Ich will damit nicht sagen, dass er vielleicht ein
Psychopath ist. Ein Psychopath kann nichts dafür. Aber Genzo? Eine
bessere Bezeichnung für ihn ist vielleicht Soziopath, aber wenn ihr bei
dem Wort zu sehr das Gefühl habt, in einem Glashaus zu sitzen und
mit Steinen zu werfen, dann nennt ihn stattdessen gründlich.
Ich will euch ein Beispiel geben. Wir sind eines Nachts auf einem
Job unterwegs, okay? Wir klauen eine Ladung von irgendeinem
üblen Biowaffenscheiß aus einem Zeta-ImpChem-Lagerhaus im
Hafen. Alles läuft so weit gut. Ich und der Troll (ich könnte ihn
genauer beschreiben, aber das soll reichen) schleppen die schweren
Sachen.
Der Hacker überwacht die Umgebung, falls irgendwas in die
Hose geht. Unser Schamane hält im Astralraum Wache. Und
Genzo macht, was immer er macht. Er hat den Lieferwagen
warmlaufen lassen, okay, aber er macht auch diese Multitas-

Rigger X 63
 king-Sache, er beobachtet den Schauplatz aus einem Dutzend ver-
schiedener Richtungen. Der Magier hat uns unsichtbar gemacht und
getarnt, alle neun. Der Hacker hat das Tor unter Kontrolle und eine
Endlosschleife in die Kameras eingespielt. Alles, was wir tun müssen,
ist, das Zeug durch die Vordertür zu schleppen und in den Lieferwagen
zu laden. Null Problemo, richtig? Falsch.
Irgendjemand löst einen der Bewegungsmelder in der Nähe des
Wachhauses aus. Einen von denen, denen wir so vorsichtig aus dem
Weg gegangen sind. Einer der beiden Orks im Wachhaus zieht seinen
Betäubungsschlagstock und geht raus, um nachzusehen. Er ist etwa
dreißig Meter von uns entfernt. Wir erstarren, setzen den großen Ka-
nister mit der Scheiße ganz leise auf den Boden und verhalten uns
so unauffällig wie möglich. Der Wachmann scheint beruhigt zu sein
und will gerade wieder umkehren, als er vom Autofeuer der Schienen-
drohne auf dem Außenmauer zerfetzt wird. Von ihrer Schienendrohne.
RUNNER
Meine Systeme sind sofort auf elf hochgedreht, ich bin bereit loszu-
stürmen und jemanden umzulegen, scanne ungefähr eine Sekunde
lang mit meinen Cyberaugen die Umgebung, und da sehe ich den an-
deren Wachmann, wie er mit dem Gesicht nach unten in einer großen
Pfütze Blut liegt. In dem Moment weiß ich Bescheid.
Genzo selber hat den Bewegungsmelder ferngesteuert ausgelöst
und dann die Schienendrohne übernommen. Und den anderen Wach-
mann hat er mit einem schallgedämpften Scharfschützengewehr von
der Optic-X aus umgelegt, die er über uns kreisen hatte. Später fragte
ich ihn, warum er das getan hatte, ohne Vorwarnung, ohne Absprache
mit dem Rest des Teams? Gut, keiner von uns war wirklich sauer, denn
wir waren problemlos rausgekommen, und eine Murkserei, die den
Job nicht versaut, ist eigentlich keine Murkserei.
„Sie könnten uns gesehen haben“, sagte er, als würde das alles erklä-
ren. Wie gesagt, ich scheue mich nicht, jemanden zu töten – wenn es
notwendig ist. Aber es gibt jetzt zwei Leute weniger auf diesem Scheiß-
planeten, nur weil ihm gerade danach war. „Eine Frage des Prinzips“,
sagte er.
> Nicht, dass ihr mich für einen Warmduscher haltet, aber hier
bin ich mit diesem Quillon-Typen einer Meinung. Das war wirklich
ziemlich kaltblütig. Und unnötig.
> Stone
> Ich finde, es macht Sinn, was X gemacht hat. Man kann nie
mit Sicherheit wissen, ob ein Wachmann nicht irgendwas gesehen
oder gehört oder gerochen oder gepingt hat, was später einmal
dazu führen kann, dass ihr und eure Chummer irgendwann tot seid
oder schlimmer. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Wenn sich die
Gelegenheit ergibt, potenzielle Zeugen mit absoluter Sicherheit
zu eliminieren, warum zur Hölle nicht? Schließlich sind wir keine
Sozialarbeiter.
> Jimmy No
Rückblickend betrachtet hätte mich nichts von dem, was danach
geschah, überraschen sollen. Genzo kennt keine Gnade, keine Reue
und absolut keine Skrupel. Ich wiederhole noch einmal, dass er kein
blutrünstiger Psychopath ist. Tatsächlich glaube ich, dass die kilometer-
lange Blutspur, die er hinter sich herzieht, ebenso sehr seiner Vorsicht
wie allem anderen entspringt. Ich habe noch nie jemanden getroffen,
der so besessen davon ist, um jeden Preis zu überleben.
64 Rigger X
Die ganze Zeit, während mein Team mit ihm zusammenarbeitete,
sammelte Genzo Informationen über uns. Okay, ich kann ihm wohl
kaum einen Vorwurf machen, dass er seinen Lieferwagen verwanzt
hatte. Der Wagen eines Riggers ist seine Festung. Aber er hatte Wanzen
in unserer Kleidung versteckt. In unseren Verstecken. Unseren Fahr-
zeugen. Ich bin froh, dass ich keine Verwandten in Seattle habe, denn
die hätte er wahrscheinlich auch noch verwanzt. Auf einem Run ist so
etwas ein Geschenk Gottes. Der Bursche weiß zum Beispiel, welche
Sicherheitsdrohnen jeder gottverdammte größere Konzern bevorzugt
benutzt. Und er hat von jeder Sorte mindestens eine. Also lackiert er
sie in der richtigen Farbe, mit den richtigen Logos, modifiziert ihre
Zugangs-IDs und schickt sie in das Gebäude. Sie fügen sich in das
Netzwerk ein, wir erhalten ein vollständiges Bild des Gebäudes, und
darauf aufbauend können wir unseren Plan entwerfen. Der Kerl ist
ein echtes Wunder, was Sicherheitssysteme angeht, und wenn wir ein-
mal im Gebäude drin sind, kann er die Kameras, die Türschlösser, das
Licht, die Klimaanlage, einfach alles zu unserem Vorteil einsetzen.
Aber so talentiert er ist, ist Genzo doch ein eiskalter Bastard, und
ich hoffe, dass seine Freunde aus Kyoto ihm irgendwann geben, was er
verdient. Ich mag es nicht, wenn man mich ausspioniert, und meine
Teamkollegen genauso wenig. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln,
dass er die Informationen über uns an den Meistbietenden verkaufen
wollte. In meinem Fall weiß ich, dass er es getan hat. Gut, wir haben
alle unsere eigenen Vorstellungen von Etikette, aber manche Dinge
macht man einfach nicht. Ich muss meinem Team vertrauen können,
und mein Team muss mir vertrauen können. Ihr Privatleben ist ihre
Sache, und sie sollen sich gefälligst aus meinem heraushalten.
Denn wenn wir keine „Ehre unter Dieben“ mehr haben, was bleibt
uns dann noch? Also überlegt euch gut, was ihr tut, falls ihr mit dem
Gedanken spielt, zukünftig Rigger X’ Dienste in Anspruch zu nehmen
oder mit ihm zusammenzuarbeiten. Glaubt bloß nicht, dass er eure
Leichen im Keller ruhen lässt.
> Ich weiß nicht, ob irgendjemand diesem Mist genug Bedeu-
tung beimisst, um sich für meine Sicht der Dinge zu interessieren,
aber wenn doch, bitte sehr. Und anders als Quillon kann ich mich
kurz fassen. Ich schäme mich nicht dafür, dass ich Vorkehrungen
für den Fall treffe, dass der eine oder andere meiner Verbündeten
vielleicht irgendwann mein Feind wird. Ihr wärt alle gut beraten,
es mir gleichzutun. Was Quillons Geschichte von der Wahrheit un-
terscheidet, ist die Tatsache, dass alles, was ich an Informationen
über ihn sammelte und weitergab, im Zuge eines Auftrags geschah,
und zwar lange, nachdem unsere Zusammenarbeit beendet war.
Quillon verschweigt übrigens den Grund, weshalb ich die Zusam-
menarbeit mit ihm beendet habe. In erster Linie muss er noch
lernen, dass man nicht jedes Problem dadurch lösen kann, dass
man seinen Reflexbooster auf 11 aufdreht und sich mit erhobenem
Schwert mitten ins Getümmel stürzt. Eines Tages wird diese Unpro-
fessionalität seine Teamkollegen das Leben kosten, und ich habe
keine Lust, mit diesem sinkenden Schiff unterzugehen. Aber wir
sind ja nicht im Kindergarten, und ich brauche euch nicht zu sa-
gen, was ihr denken sollt oder wie ihr eure Jobs zu machen habt.
Nebenbei bemerkt... ich suche noch ein paar Leute für einen inte-
ressanten Job, den ich in Kürze durchzuziehen plane. Schickt mir
eine Nachricht, wenn ihr interessiert seid.
> Rigger X
RIGGER X
K G R S C I L W EDG ESS INI ID
4 4(6) 5(8) 3 3 4 5(7) 3 5 1,93 9(12) 1(2)
Zustandsmonitor (K/G): 10/10
Panzerung (B/S): 8/8
Fertigkeiten: Athletik-Fertigkeitsgruppe 1, Ausweichen 2, Bo-
denfahrzeuge (ferngesteuert) 4(6) (+2), Elektronik-Fertig-
keitsgruppe 3, Elektronische Kriegsführung 4, Flugzeuge
(ferngesteuert) 4(6) (+2), Gebräuche (Konzern) 2 (+2), Ge-
schütze 4, Hacking (Drohnen) 4 (+2), Heimlichkeit-Fertig-
keitsgruppe 3, Klingenwaffen 3, Läufer (ferngesteuert) 3(5)
(+2), Mechanik-Fertigkeitsgruppe 2, Navigation 3, Schiffe
2(4), Schnellfeuerwaffen (Maschinenpistolen) 2 (+2), Über-
reden (Imitation) 2 (+2), Wahrnehmung 4
Wissensfertigkeiten: Sicherheitsdesign (Mitsuhama) 5 (+2), Si-
cherheitsprozeduren (Mitsuhama) 5 (+2), Straßendrogen 3,
Yakuza-Politik 2, Englisch 6, Japanisch M
Handicaps: Abhängigkeit (Betameth, leicht), Feind (Die Vier
Oyabun), SIN-Mensch
Bodytech: Datenbuchse, Fingerkuppenbehälter (Betaware), Na-
nitenbrüter 2 (Alphaware), Reaktionsverbesserung 2, Reflex-
booster 1 (Alphaware), Riggerkontrolle (Alphaware); Mus-
kelstraffung 2, Thrombozytenfabrik, Zerebralbooster 2; Neu-
roverstärker (Neokortikal 2), Riggerkontrollen-Booster 2
Ausrüstung: Atemgerät 5, Ausrüstungsbeutel und Werkzeug-
gürtel, Automatischer Dietrich 6, Bereichsstörsender 5, 20
Dosen Betameth, Bikerpanzerung [Elektrische Isolierung 6,
Wärmedämpfung 4] [B/S 4/7], Brille [Stufe 4; Bildverbin-
dung, Blitzkompensation, Restlichtverstärkung, Smartlink],
DocWagon-Vertrag (Gold, ein Jahr), Drahtzange, Elektronik-
Werkzeugkiste, Formangepasste Körperpanzerung (Halbkör-
per) [B/S 4/1], Gasmaske, gefälschte SIN [Stufe 5, mit ge-
fälschter Lizenz für verdecktes Mitführen, Führerschein und
Drohnenführerschein, jeweils Stufe 5], GPS, Hand-Lasermi-
krofon 6, Holoprojektor, diverse Kartensofts 6, Kommlink
[Transys Avalon, maßgefertigt; Firewall 5, Signal 6, System
5, Prozessor 6; Biometrischer Scanner, Elektroden, Satelliten-
verbindung, Sim-Modul (modifiziert für heißes Sim), Skin-
link, Subvokalmikrofon], Latex-Gesichtsmaske, Medkit 6,
20 Dosen Psyche, 5 schwarze Reisetaschen, RFID-Löscher,
20 Sicherheits-RFID-Marker, 20 Spionage-RFID-Marker, 5
Stimulanz-Patches 6, Survival-Kit, 5 Tranq-Patches 6, zielge-
richteter Störsender 5
Fahrzeuge & Drohnen: Cyberspace Designs Dragonfly [Handl.
+1, Beschl. 3/15, Geschw. 30, Pilot 3, Rumpf 1, Panzerung
1, Sensor 2; C12 (Sprenggranate), Zielerfassung-4-Autosoft],
Ferret RPD 1X [Handl. 0, Beschl. 10/20, Geschw. 60, Pilot
3, Rumpf 1, Panzerung 3, Sensor 6; Chamäleonfarbe, Ver-
besserte Sensorphalanx, Waffenhalterung (extern, flexibel,
mit Cavalier SafeGuard und Zielerfassung(Pistolen)-3-Auto-
soft)], Ford LEBD-1 [Handl. 0, Beschl. 5/20, Geschw. 80,
Pilot 3, Rumpf 3, Panzerung 9, Sensor 3; Abwehr 4, Me-
chanischer Arm, Verbessertes Start/Landeprofil 2, Waffen-
halterung (extern, flexibel, ferngesteuert, mit Ares HVAR),
RUNNER
Zielerfassung (Schnellfeuerwaffen) 4], 2 Lockheed Optic-
X [Handl. 0, Beschl. 5/20, Geschw. 50, Pilot 3, Rumpf 2,
Panzerung 6, Sensor 2; Chamäleonfarbe, Verbessertes Start/
Landeprofil 2, Waffenhalterung (extern, festmontiert, fern-
gesteuert, mit schallgedämpfter Ruger 100), Zielerfassung
(Gewehre) 3], 2 MCT Fly-Spy [Handl. +1, Beschl. 3/15, Ge-
schw. 15, Pilot 3, Rumpf 1, Panzerung 0, Sensor 2; Manöv-
rierfähigkeit 2, Verbessertes Start/Landeprofil 2], modifizierte
GMC Chariot [Handl. 0, Beschl. 10/25, Geschw. 40, Pilot 3,
Rumpf 2, Panzerung 2, Sensor 2; Waffenhalterung (getarnt,
festmontiert, ferngesteuert, mit Mossberg AM-CMDT), Zie-
lerfassung (Gewehre) 3], Renraku Stormcloud [Handl. –3,
Beschl. 5/10, Geschw. 25, Pilot 3, Rumpf 3, Panzerung 0,
Sensor 3; Chamäleonfarbe, Clearsight 3, Luftschiff], Rover
Model 2068 [Handl. +1, Beschl. 20/35, Geschw. 140, Pilot
3, Rumpf 13, Panzerung 20, Sensor 6; Diebstahlsicherung,
2 kleine Drohnenhalterungen, 2 Mini-Drohnenhalterungen,
GridLink-Überbrückung, Innenkameras, Riggeradapter, Rig-
ger-Schutzblase, Schleudersitze, Straßenstreifenauswerfer], 2
Shiawase Kanmushi [Handl. +1, Beschl. 2/10, Geschw. 10,
Pilot 3, Rumpf 0, Panzerung 0, Sensor 5; Geckofüße], Sikor-
ski-Bell Mikroskimmer [Handl. +1, Beschl. 2/10, Geschw.
10, Pilot 3, Rumpf 0, Panzerung 0, Sensor 5], 2 Stonebrooke
Smokecloud [Handl. +1, Beschl. 2/10, Geschw. 10, Pilot 3,
Rumpf 0, Panzerung 0, Sensor 2; Ablenkungssystem], Suzu-
ki Mirage [Handl. +2, Beschl. 20/50, Geschw. 200, Pilot 3,
Rumpf 6, Panzerung 12, Sensor 3; Diebstahlsicherung, Rig-
geradapter], Wuxing Crimson Samurai [Handl. +1, Beschl.
15/30, Geschw. 100, Pilot 3, Rumpf 4, Panzerung 12, Sensor
3; Waffenhalterung (externer Fernlenkturm mit GE Vindica-
tor Minigun)]
Programme: Analyse 5, Aufspüren 5, Ausnutzen 5, Befehl 5,
Biofeedback-Filter 4, ECCM 5, Editieren 5, Entschlüsse-
lung 5, Panzerung 4, Scannen 5, Schleicher 5, Schmöker 5,
Schnüffler 5, Täuschung 5, Verschlüsselung 5
Waffen:
Monofilamentschwert [Reichweite 1 | Schaden 5K | PB –1 | An-
gepasster Griff]
HK MP-5 TX [Maschinenpistole | Schaden 5K | PB – | HM/
SM/AM | RK 2 (3) | 20(s) | Gasventil 2, Laufverkürzung,
Schallunterdrücker, Smartlink (extern), Tarnholster; 10 Strei-
fen APDS-Munition, 5 Streifen Schockermunition]
Rigger X 65
 SERRIN SHAMANDAR
PERSÖNLICHE DATEN: SERRIN SHAMANDAR
Alter: über 50 Größe: 1,94 m
Gewicht: 84 kg Haarfarbe: Grau
Augenfarbe: Grau Geschlecht: Männlich
Metatyp: Mensch Erwacht: Ja
RUNNER
(Hermetischer Zauberer)
Serrin Shamandar ist mehrmals in die Schatten ein- und wieder auf-
getaucht. Nachdem bei seiner ersten Schattenphase während eines
Renraku-Jobs sein Bein schwer verletzt worden war, zog er sich aus
den Schatten zurück und ging ein nur geringfügig legaleres Arbeitsver-
hältnis mit ein paar britischen Staatsangehörigen ein. Während seiner
ersten Periode als Runner arbeitete er auf fast jedem Kontinent und
konnte eine beeindruckende Bilanz an hervorragend geplanten und
ausgeführten Operationen aufweisen. Am Anfang seiner Karriere war
er eher ein Organisator und versuchte, seine Gegner lieber durch gute
Planung als durch Waffengewalt (oder in seinem Fall Magie) zu besie-
gen. Sein erstes Grimoire bestand hauptsächlich aus Wahrnehmungs-
und Illusionszaubern, von denen Serrin viele selbst formuliert hatte.
Auch für seine Beschwörungsfertigkeiten war er bekannt, insbesondere
für die Beschwörung von Watchern (wobei es mir ein Rätsel ist, wie
sich jemand gerade auf diese Art von Geistern spezialisieren kann).
Weniger bekannt, aber von nicht geringerer Wichtigkeit, ist seine
Geschicklichkeit mit der Maschinenpistole, wobei die Ingram Smart-
gun X üblicherweise die Waffe seiner Wahl ist. Serrin war einer der
Magier, die manchmal in die Möchtegern-Straßensamurai-Kategorie
abrutschten, obwohl die Schallunterdrückung seiner Waffe gut zu sei-
ner eher subtilen Herangehensweise passte. Auch mit anderen kleine-
ren Waffen hat er bemerkenswertes Geschick bewiesen. Er hat jedoch
keine bekannten Cybersysteme, was auch Sinn ergibt, denn er macht
meiner Meinung nach nicht den Eindruck von jemandem, der sich ein
Smartlink kauft, aber sein Bein nie in Ordnung bringen lässt.
Nach seiner Beinverletzung und während seiner minimal legaleren
Tätigkeit war er an der erfolgreichen Festnahme des „Jack-the-Ripper“-
Nachahmers 2054 beteiligt. Er arbeitete für einen Angehörigen des
niederen britischen Adels und verdiente sich eine nette kleine Insel vor
der Küste von Wales, wo er den größten Teil seiner Zeit verbrachte. Die
Insel war ein hübscher kleiner Rückzugsort, doch statt den Rest seines
Lebens in Ruhe und Frieden verbringen zu können, wurde Shamandar
von Luther von Hayek wieder in das Chaos der Welt hineingezogen.
Es heißt, von Hayek sei ein elfischer Nosferatu gewesen, infiziert mit
dem Bruckner-Langer-Stamm des MMVV. Ob das nun stimmt oder
nicht, jedenfalls war er völlig bekloppt und hinter Shamandar her, weil
der das seltene Gen RA-17 trug. Nachdem Shamandar sich eine Weile
mit von Hayek herumgeärgert hatte, löste er das Problem schließlich
mithilfe eines kleinen Teams von Verbündeten. Was genau sie taten, ist
nicht bekannt, aber seit ’55 hat niemand mehr etwas von von Hayek
gesehen oder gehört.
Serrin heiratete ein Xhosa-Mischlingsmädchen namens Kristen und
setzte sich zur Ruhe, doch 2057 hatte ihn die Welt wieder eingeholt.
66 Serrin Shamandar
GEPOSTET VON: LYRAN
Es kursieren Gerüchte über ein Beinahe-Weltuntergangs-Szenario, bei
dem der Vatikan, Renraku und ein einsiedlerischer Elf namens Leonar-
do beteiligt waren. Soweit ich herausgefunden habe, trat dieser Elf als
Erfinder tatsächlich in die Fußstapfen seines berühmten Namensvet-
ters, und einige seiner Erfindungen hätten die Matrix von Grund auf
umkrempeln können. Der Crash von ’64 hätte sich schon ’57 ereignen
können, wenn Serrin und seine Leute nicht erfolgreich in schwierigen
Gewässern manövriert wären.
Nach diesen Ereignissen schaffte er es, bis ’64 mehr oder weniger
seine Ruhe zu haben. Im Ernst, der Mann hat so oft versucht, sich
zur Ruhe zur setzen, dass er mich an diese Sportlerstars erinnert, die
jedes Jahr ein neues Comeback versuchen. Seine letzte Rückkehr in die
Schatten hatte jedoch einen tragischeren Hintergrund. Als das Flug-
zeug, in dem sich seine Frau befand, beim Crash von ’64 abstürzte,
veränderte sich Shamandar drastisch. Eine Woche nach dem Crash
brannte er sein Häuschen auf der Insel nieder und tauchte unter.
> Und ab hier wird diese Gutenachtgeschichte unheimlich. Von
diesem Punkt bis etwa 2070 ist alles nur Spekulation und Hören-
sagen. Ich möchte noch einmal betonen, dass Shamandar so oder
so eine Legende ist, und alles, was wir über ihn sagen, sollte mit
dem gebührenden Respekt geschehen.
Also – Shamandar verschwand für über fünf Jahre. Während dieser
Zeit entstand ein Straßenmythos um eine Gestalt, die unter dem
Namen Ire unterwegs war. Niemand weiß genau, ob Ire wirklich
all das getan hat, was man ihm zuschrieb, oder ob einfach alle
möglichen üblen Untaten diesem gesichtslosen Namen unterge-
schoben wurden. Niemand wusste, wer Ire war, denn Ire hinterließ
nie lebende Zeugen.
Doch man begann, Zusammenhänge herzustellen. Ire und Shama-
ndar sind wie Superman und Clark Kent – nie sieht man sie am
gleichen Ort. Wenn Ire nach seiner neuesten Verbrechenswelle
untertaucht, taucht Shamandar wieder auf. Wenn Shamandar in
den Schatten verschwindet, geht Ire wieder in Aktion. Und beide
Männer haben eine besondere Begabung dafür, Watcher zu be-
schwören.
Das sind natürlich nur Indizien. Ich weiß, dass es im weiteren
Verlauf dieses Artikels einige Spekulationen geben und so mancher
seine eigenen Schlüsse ziehen wird. Aber erinnert euch an das,
was Shamandar geleistet hat, und zeigt den nötigen Respekt.
> FastJack
Von hier an wird alles, was mit Shamandar zusammenhängt, ein
wenig unklar, deshalb habe ich ein paar Kommentare von Leuten zu-
sammengesucht, die direkt mit ihm in Kontakt standen. Der Erste ist
ein Runner namens Streak:
Ich kannte Serrin schon, als seine Frau starb. Ich habe das Ge-
spenst, das von ihm übrig geblieben war, den Strand bei seinem
Haus entlangwandern sehen. Er ging stundenlang immer wieder
denselben Weg entlang, bis seine Fußspuren so tief in den Sand
eingegraben waren, dass selbst die Flut sie nicht wegspülen konn-
te. Er war wie ein dunkler Sturm, der sich zusammenbraute, wie ein
tropisches Tief, das sich langsam zu einem Hurrikan entwickelt.
Manche sagen, er habe sein Häuschen angezündet, nachdem das
Unglück geschehen war, aber er hat es nicht nur angezündet, er
hat es bis auf die Grundmauern eingeäschert. Ich weiß das, weil
ich dabei war. Ich war gekommen, um einem Freund in der Trauer
beizustehen, und als ich ging, war ich entsetzt, was aus diesem
einstmals so warmherzigen Mann geworden war. Das letzte Mal,
als ich ihn sah, war er unten am Wasser und redete mit Merlyn,
einem gemeinsamen Freund, obwohl es eigentlich mehr so war,
dass Merlyn auf ihn einredete. Serrin hatte uns da schon größten-
teils verlassen.
Ich war gerade im Haus, um eine Tasche mit ein paar Sachen zu
holen, die ich dort deponiert hatte. Ich dachte mir, dass ich nicht
so bald wieder hierherkommen würde. Ich war gerade wieder ein
paar Meter aus der Haustür heraus, als das ganze Haus in Flam-
men aufging. Das ganze verdammte Haus. Es ging so schnell in
Flammen auf, dass der Luftzug mich auf die Tür zu riss. Es war
keine Explosion, nur Feuer. Das Verrückteste, was ich je gesehen
habe. Ich ging in Abwehrhaltung, und weil ich dachte, dass es ein

RUNNER
Angriff auf Serrin war, baute ich die Verteidigung nach hinten auf,
aber die einzige Person dort war Merlyn. Er starrte verblüfft auf die
Feuersbrunst, und Serrin war nirgendwo zu sehen.

Als nächstes ein Runner namens Wolf, der etwas darüber weiß, wie
Ire arbeitet:

Ich habe einige Jahre lang ein paar Nebenjobs für einen Typen bei
Lone Star erledigt, bevor der Konzern Seattle verlor. Ließ mich ein
paar Dinge untersuchen, bei denen er von Rechts wegen nicht zu
tief graben durfte. Ich habe zwei Fälle in Seattle recherchiert, die
beide Ire zugeschrieben wurden. Der erste war ziemlich unkompli-
ziert, ein abgebranntes Lagerhaus, in dem ein Team von Runnern
in einer eigenen kleinen Verbrecherkommune gelebt hatte. Der
Star hat seine Untersuchungen angestellt, ein bisschen oberfläch-
lich nachgeforscht und das Ganze dann unter den Teppich gekehrt.
Keiner wollte für dieses Runnerpack wertvolle Ressourcen auf
genauere Ermittlungen verschwenden. Allerdings war der Typ,
für den ich arbeitete, mit einem der Verstorbenen verwandt,
deshalb wollte er Antworten.
Das Lagerhaus lag in der Nähe des Hafens, und Ire hatte sich
irgendwie an der Hafensicherheit vorbeigeschlichen. Ich
fand Spuren von Illusionszaubern in einer Nebenstraße, wo
ein Sicherheitsmann ein Mädchen gefunden hatte. Nach
Aussage des Mannes war das Mädchen aus dem Nichts er-
schienen, als er, nachdem er einen Schrei gehört hatte,
die Straße kontrollieren wollte. Es gab Anzeichen von
Geisteraktivitäten in der Gegend, wahrscheinlich Ver-
schleierungskräfte. Das klingt so weit ganz harmlos,
aber das Mädchen hatte eine fünfzehn Zentimeter lange
Schnittwunde im Oberschenkel und einen Eispickel in
der Kehle. Der Wachmann versuchte, sie zu retten, und
das Lagerhaus ging in Flammen auf. Ein Irrer, jemand
ohne Fähigkeit zu planmäßigem Vorgehen, hätte den
Wachmann einfach umgelegt, aber Ire ging methodisch
vor. Er wusste, dass er mehr Zeit gewann, wenn der Wach-
mann versuchte, den Helden zu spielen.
Der zweite Tatort, den ich mir ansah, war ein Apartment-
haus, das einem langjährigen Vory-Soldaten gehörte. Der
Soldat war so weit im Ruhestand, wie es bei den Vory
überhaupt möglich ist, und wieder wollte der Star keine
Ressourcen dafür aufwenden, den Mord an einem Verbrecher zu
klären. Mein Auftraggeber bekam unter dem Tisch einen kleinen
Bonus von seinen Vory-Kontakten und ließ einen Teil da-
von in meine Richtung fließen, um herauszufinden,
wer für die Tat verantwortlich war.
Ich schlich mich ein und schnüffelte ein bisschen
herum. Ich fand eine Signatur und einen Gestank

Serrin Shamandar 67
 im Astralen, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Damals kannte ich
mich mit einigen Aspekten der Magie noch nicht so aus, vor allem
mit Blutmagie, aber der Astralraum um den Tatort herum roch de-
finitiv nach Blut. Jedenfalls im Erdgeschoss. Damals wusste ich
nicht, was es war, aber heute weiß ich, dass es der Geruch nach
Herbeirufung und Opferung ist. Ire rief einen Geist mit dem Blut
der Tochter des Opfers und ließ den Geist dann den Rest tun.
Dieser wahnsinnige Bastard ließ den Vory-Soldaten von dem blu-
tigen Abbild seiner eigenen Tochter in Stücke reißen.
Bei seinen ersten Abstechern in die Schatten war Shamandar vor al-
lem wegen seiner Wahrnehmungs- und Schutzzauber und wegen seiner
Meisterschaft in der Beschwörung von Watchern bekannt, aber diese
zweite Phase öffnete vielen Leuten, die vorher mit ihm zu tun gehabt
hatten, die Augen. Durch Selbstinitiation erweiterte er seine magischen
RUNNER
Fähigkeiten immens und lenkte seine Gaben jetzt in eine offensivere
Richtung. Gerüchten zufolge soll er nach dem Tod seiner Frau und sei-
ner magischen Neuorientierung auch fundierte Kenntnisse und Fertig-
keiten auf dem Gebiet der Blutmagie erworben haben. Ebenso wenig
wie für die vermutete Verbindung zwischen Ire und Shamandar gibt es
handfeste Beweise dafür, dass der Elf tatsächlich Blutmagie anwendet.
Sollte das der Fall sein, besteht die Möglichkeit, dass die Draco Found-
ation für Shamandar ein beträchtliches Kopfgeld zahlt.
Die Ire-Shamandar-Verbindung hat durch die dunklen Geheimnis-
se, die Ire und seine Arbeit umgeben, noch an Attraktivität gewonnen.
Ire hat sich den Ruf eines finsteren, aber methodischen Killers erwor-
ben. Wetwork, Kopfgeldjagd – wenn ein Job das Töten von Leuten
beinhaltete, stand er ganz oben auf der Liste der Anwärter. Niemand
wusste wirklich etwas über ihn, abgesehen von seiner Brutalität und
seiner Gründlichkeit. Er handelte alle Verträge in der Matrix in Gestalt
eines Standardicons aus und hinterließ nie irgendwelche Zeugen, die
ihn identifizieren konnten. Er war einige Jahre lang tätig, bevor die ers-
ten Spekulationen über seine Verbindung zu Shamandar laut wurden.
> Es ist absolut unmöglich, dass Shamandar, der hinkende Elf mit
dem Watcher-Spleen, dieselbe Person ist wie Ire. Ire ist ein Stra-
ßenmythos. Er erinnert mich an die frühen Tage von Teachdaire.
He, vielleicht ist Ire ja Teachdaire; seht euch mal die letzten drei
Buchstaben des Namens an. Vielleicht brauchte der alte elfische
Killer eine neue Identität. Ich kaufe die Geschichte nicht.
> Riser
> Ires Modus Operandi unterscheidet sich von dem Teachdaires. >
Teachdaire hat die Zeugen immer irgendwie benebelt. Ire hat jeden
umgelegt, der ihn gesehen hat.
> Fianchetto
> Schon mal was vom Pfad des Rades gehört? Elfen folgen im Lau-
fe ihres Lebens verschiedenen Pfaden. Vielleicht hat Serrin diesen
Pfad gewählt. Und Ire könnte dann sein Kriegerpfad gewesen sein.
Und außerdem war Teachdaire schon längst eine Legende, als Ser-
rin herumhumpelte und astrale Augäpfel beschwor.
> Frosty
> Dazu kann ich nur sagen: Wenn die beiden tatsächlich eine
Person sind, dann muss Serrin einen schweren psychischen Knacks
abbekommen haben. Ire könnte eine Manifestation seiner Wut und
Feindseligkeit gegenüber den unverrückbaren Wahrheiten der Welt
sein. Der Mann verhinderte einen frühen Matrixcrash, nur um dann
durch ebendiesen Crash einige Jahre später seine Frau zu verlieren.
Ich kann seinen Knacks verstehen.
> Kay St. Irregular
68 Serrin Shamandar
Ob er sich jetzt in einer dunklen Höhle versteckt oder als Ire gelebt
hat, jedenfalls war Shamandar in den Jahren auf finsteren Pfaden un-
terwegs. Bis er eine junge Elfe traf, deren Leben sich ebenfalls an jenem
schicksalhaften Tag im Jahr 2064 verändert hatte. Sie hatte keinen Ver-
lust erlitten wie Shamandar – diese Elfe hatte neue Kräfte gewonnen,
die sie nicht verstand und wegen derer sie verfolgt wurde. Die Elfe war
eine Technomancerin, und angeblich soll Serrin sie vor einem wüten-
den Mob gerettet, dabei aber durch die magische Anstrengung sein
Bewusstsein verloren haben.
Und es war auch nicht gerade hilfreich, dass er schon durch seine
vorherigen Aktivitäten hohen Entzug erlitten hatte. Weniger als einen
Block entfernt brannte ein Yakuza-Treffpunkt zusammen mit etlichen
Leichen bis auf die Grundmauern nieder. Dieser Anschlag wurde ei-
nem bestimmten Mann zugeschrieben, nämlich Ire, weil jemand an
eine Mauer in der Straße die Worte „Falscher Ort, falsche Zeit“ ge-
kritzelt hatte, was so etwas wie die Visitenkarte des Runners war. Und
diese völlige Auslöschung einer ganzen Gruppe von Kriminellen ge-
schah, direkt bevor Shamandar in der Nähe erschien, um die junge
Technomancerin zu retten.
> Nicht dass ich dieser spannenden Geschichte ihre Coolness neh-
men will, aber ich bin mir nicht so sicher, dass er wirklich diese
Elfe retten wollte. Eine Meute von Leuten einen halben Block ent-
fernt vom Schauplatz eines Massakers stellt einen Haufen Zeugen
dar. Ich glaube, er wollte nur aufräumen.
> Stone
> Was auch immer der Grund war, er erwachte als neuer Elf.
> Netcat
> Ich weiß nicht, ob es so eine gute Idee ist, diese potenzielle
Verbindung zwischen Ire und Shamandar hier so breitzutreten.
Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob sie stimmt oder nicht.
Die Yaks könnten sich einen Unschuldigen schnappen, nur um es
herauszufinden.
> /dev/grrl
> Da musst du dir keine Sorgen machen, grrl. Das haben die Yaks
schon ’72 versucht. Die unausgesprochene Verbindung zwischen
den beiden ist auf der Straße allgemein bekannt. Sagen wir es mal
so – in Shamandar den Ire zu wecken, ist keine so gute Idee, selbst
wenn man eines der größten Syndikate der Welt ist.
Hard Exit
> Ich kaufe die Geschichte immer noch nicht.
> Riser
Dieses Ereignis brachte Shamandar auf eine lange Reise zurück zu
seinem alten Ich, doch der Mythos um Ire und ihre Verbindung hatte
seinen Ruf verändert. Und es waren nicht nur die Straßen von Seattle,
die Ire fürchteten; die Schatten der ganzen Welt kannten seinen Na-
men. Dieses finstere Zwischenspiel hatte aus dem legendären Informa-
tionsspezialisten einen legendären Jäger gemacht.
Die Elfe, deren Leben er rettete und die als Gegenleistung ihn ret-
tete, war niemand anders als unsere kleine Netcat. Sie hat Shamandar
gedrängt, auf JackPoint zu gehen, doch bislang hat er sich ferngehal-
ten. Daran ist zum Teil sein tiefes Misstrauen gegenüber der Matrix
verantwortlich. Er hat ein paar Jobs für einige Ludditengruppen erle-
digt, seit er wieder auf der Bühne erschienen ist, und er zieht es vor,
jede Technik, die ihm in die Quere kommt, zu verschrotten, statt sich
die Mühe zu machen, einen Hacker zu beauftragen.
> Na gut, dann ist die Katze also aus dem Sack. Ich habe Ire
getroffen – und Shamandar – und ich habe überlebt. Gerade eben.
Aber eins muss ich klarstellen: Er hat mich nicht gerettet. Ich
hatte alles unter Kontrolle. Und auch wenn er sich verändert hat,
so hat er sich jedenfalls nicht über Nacht verändert.
> Netcat
> Natürlich hat er dich nicht gerettet. Ich bin sicher, du hattest
die Lage voll im Griff...
> Slamm-0!
> In der Tat. Ich wurde nicht von dem Mob angegriffen; die Leute
folgten mir, weil ich sie davon überzeugt hatte, dass ich ihre Tech
vor den bösen Technomancern schützen konnte. (Ich muss geste-
hen, dass ich manchmal ein bisschen manipulativ sein kann.) Ich
hatte also diese kleine Menschenmenge um mich versammelt, um
ihnen meine Fähigkeiten zu demonstrieren und dann ein bisschen
Cash einzusammeln, und plötzlich explodierte das Gebäude ein
paar Häuser weiter.
Die Meute verlagerte ihr Interesse, und ich zog mich in den Rü-
cken der Menge zurück. Sie griffen mich nicht an, aber ich habe
schon genügend wütende Mobs gesehen, um mich vorsichtshal-
ber aus der Schusslinie zu halten. Ich hatte einen guten Blick
über die Straße, und aus dem Feuer und dem Rauch erschien eine
schattenhafte Gestalt. Das wäre eine großartige Trideoeinstel-
lung gewesen, aber leider habe ich keine Aufzeichnungen ge-
macht. Unmittelbar nachdem die Gestalt aus dem Inferno heraus-
kam, stürzte die ganze Menschenmenge zu Boden. Jeder einzelne
von ihnen sank erst auf die Knie und fiel dann zu Boden. Keine
Schreie, nichts.
Die Gestalt ging ein paar Schritte, stolperte, hob eine Hand an
den Kopf und brach dann zusammen. Die ganze Szenerie deutete
darauf hin, dass der Kerl ein hartes Bürschchen war. Ein Kerl, den
zu kennen sich vielleicht auszahlen konnte, also schleppte ich ihn
in ein kleines Versteck, dass ich in der Nähe hatte.
Als er aufwachte, wusste er nicht, wo er war, und nannte mich
ständig Kristen. Ich behielt ihn eine Weile bei mir. Wir redeten,
und ich glaube, der alte Bursche hat ein bisschen einen Narren an
mir gefressen. Ich habe ihm bei einigen seiner Probleme geholfen
– nur bei einigen wenigen der vielen, aber das reichte, um Serrin
Shamandar aus der Finsternis zurück in die Schatten zu bringen.
> Netcat
Wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf, setzt Shaman-
dar seit seinem Schattencomeback die gefährlicheren seiner Fähigkei-
ten nicht in vollem Umfang ein. Der Bursche schleppt eine Menge
Altlasten mit sich herum und ist offenbar der Meinung, dass er für sei-
ne Taten zwischen ’64 und ’71 noch einiges wiedergutzumachen hat.
Einen Großteil seiner Arbeit in der letzten Zeit hat er auf Eigeninitia-
tive erledigt, was ganz gut so ist, denn die Kons scheuen immer mehr
davor zurück, ihn zu anzuheuern, da sie Bedenken hinsichtlich seiner
psychischen Stabilität haben. Jedenfalls offiziell. Der wahre Grund ist
wohl eher, dass es nicht einfach sein dürfte, ihn im Bedarfsfall zu besei-
tigen, da er dafür zu gut ist und zu viele Freunde hat.
> Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wollen die meisten Johnsons Sha-
mandar nicht anheuern. Er genießt einen wohlverdienten schlech-
ten Ruf dafür, Zahltage in Blutbäder zu verwandeln, wenn man
ihn zu hintergehen versucht, oder wenn er glaubt, hintergangen
zu werden.
Einmal wurde Shamandar in Nordeuropa für einen Job auf See an-
geheuert. Der Job bestand darin, zu einem Frachtschiff rauszufah-
ren und zu einer bestimmten Zeit die Kommunikation zu blocken.
Mr. Johnson hatte gehört, dass Shamandar einen gewissen Ruf
dafür hatte, Technik zu sabotieren, außerdem arbeitete er für ge-
wöhnlich allein, also dachte er, das sei der richtige Mann für den
Job. Und ein einzelner Runner ist natürlich deutlich billiger als ein
ganzes Team.
Der Elf macht den Job, legt das Schiff auf dem Meer mit irgend-
welcher Geisterhilfe lahm. Sobald die Kommunikation zusammen-
bricht, wird der Frachter von einem Schiff der polnischen Küsten-
wache angefunkt, mit der Bitte um Identifizierung. Natürlich kann
RUNNER
der Frachter keine Antwort schicken, also wird er unter Beschuss
genommen. Serrin kann sich gerade noch retten, wieder mithilfe
einiger Geister, und schafft es zurück an die Küste.
Wie sich herausstellte, war der Frachter ein mit Waren vollbela-
denes Schiff von Mærsk, und ESUS hatte der polnischen Marine
einen Tipp gegeben, dass ein requirierter russischer Kreuzer durch
die Region fahren würde. Ein Konzern spielte Spielchen mit einem
anderen, und Serrin war nur der nützliche Idiot.
Und so sieht sich Mr. Johnson beim abschließenden Treffen einem
ziemlich wütenden Elfen gegenüber. Ire kommt zum Vorschein, und
Mr. Johnson endet als hilfloses Seil in einem Tauziehen zwischen
einem Feuer- und einem Wassergeist. Und solche Geschichten gibt
es noch viele.
> Rigger X
Die Konzerne lieben uns, wenn wir amoralische Söldner sind, die
scharf auf ein paar Nuyen sind, aber sobald wir anfangen, Situationen
und Handlungen in Kategorien von „richtig“ und „falsch“ zu beurtei-
len, machen sie sich Sorgen, dass ihr Geld nicht ausreicht, um uns bei
der Stange zu halten. Shamandar ist an diesem Punkt angelangt und
sogar schon darüber hinaus. Das Endergebnis ist, dass er ein Leben
lebt, das Stoff für etliche Trideos liefern könnte, aber hier draußen auf
der Straße ist es nicht leicht, eine Legende zu sein.
Ein Wort der Warnung an alle, die das hier lesen und mit Sha-
mandar zu tun haben: Der alte Serrin, der von damals, war ein netter
Kerl, und der neue Shamandar mag vielleicht noch besser sein, aber
reizt ihn nie so weit, dass er den schwierigen Shamandar dazwischen,
besser bekannt als Ire, zum Vorschein bringt. Ich kannte so einige Leu-
te, die gerne einmal das berüchtigte „Falscher Ort, falsche Zeit“-Zitat
hören wollten, aber nicht alt genug wurden, um davon zu erzählen.
Ein Monster steckt in Shamandar. Im Moment ist es eingesperrt, aber
gezähmt werden wird es nie.
> Shamandar verdient momentan woanders Geld, und ich glaube,
ich weiß auch, wo. In Denver haben in letzter Zeit die „Men in
Black“-Sichtungen in der ganzen Stadt zugenommen. Sie eignen
sich hervorragend als Augen und Ohren, aber auch als Kuriere. Ich
habe sie askennt, und sie fühlen sich wie Watcher an, sind aber
nicht nur die üblichen dummen fliegenden Augen. Ich vermute,
Serrin steckt dahinter und macht ordentlich Nuyen mit den Infor-
mationen, die sie ihm beschaffen.
> Stone
Serrin Shamandar 69
 SERRIN SHAMANDAR
K G R S C I L W M EDG ESS INI ID
4 5 4 4 9 5 5 6 10 5 6 9 1
Zustandsmonitor (K/G): 10/11
Panzerung (B/S): 8/3
Fertigkeiten: Antimagie (Kampfzauber) 5 (+2), Arcana 6, As-
kennen 6, Astralkampf 5, Athletik-Fertigkeitsgruppe 2, Aus-
RUNNER
weichen 5, Beschatten 3, Binden 4, Bodenfahrzeuge (Motor-
rad) 3 (+2), Computer 2, Datensuche 3, Entfesseln 2, Erste
Hilfe 3, Exotische Fernkampfwaffe (Netzpistole) 2, Gebräu-
che (Magie) 6 (+2), Herbeirufen (Watcher) 6 (+2), Infiltrati-
on 5, Klingenwaffen 4, Medizin 1, Navigation 3, Pistolen 3,
Projektilwaffen (Bögen) 2 (+2), Ritualzauberei 3, Schnellfeu-
erwaffen (Maschinenpistolen) 4 (+2), Sprengstoffe 3, Spruch-
zauberei 7, Survival 3, Überreden 3, Unterricht 2, Verbannen
5, Verhandlung 5, Verzaubern 3, Waffenloser Kampf (Carro-
meleg) 4 (+2), Wahrnehmung 5, Wurfwaffen 3
Wissensfertigkeiten: Britischer Adel 1, Geister 5, Geographie
2, Magietheorie 6, Magische Phänomene 5, Metaebenen 3,
Ortskenntnis (Bogotá) 2, Ortskenntnis (Caracas) 3, Orts-
kenntnis (Denver) 2, Ortskenntnis (Kapstadt) 3, Ortskennt-
nis (Karavan) 1, Ortskenntnis (London) 3, Ortskenntnis
(New York) 1, Ortskenntnis (Rhein-Ruhr) 2, Ortskenntnis
(Seattle) 4, Parabotanik 3, Parazoologie 3, Polizeiprozeduren
4, Straßengangs 3, Unterweltpolitik 3, Deutsch 3, Englisch
M, Esperanto 3, Latein 2, Sperethiel 3
Gaben: Außergewöhnliches Attribut (Charisma), Erhöhte
Konzentrationsfähigkeit 2, Freundliche Geister (Watcher),
Kampfkunst (Carromeleg, 2), Schlechte Verbindung, Talen-
tiert (Spruchzauberei), Zauberer
Initiatengrad: 6
Metamagie: Abschirmung, Anrufung, Intensivierung, Maskie-
rung, Opferung, Zentrierung
Zauber: Betäubungsball, Betäubungsblitz, Chaotische Welt,
Computer Rammen, Energieschlag, Feinde Aufspüren, Feuer-
ball, Heilen, Heißes Eisen, Kameras Vernichten, Kampfsinn,
Kommlink Zertrümmern, Kommlinks Vernichten, Magie
Aufspüren, Manabarriere, Physische Maske, Reflexe Steigern,
Schmerz, Schmerzresistenz, Schusswaffen Aufspüren, Schuss-
waffen Vernichten, Stimulanz, Verbesserte Unsichtbarkeit,
Verwirrung, Zielfähigkeit Steigern
Gebundene Geister: Erdgeist (Kraft 6, 4 Dienste), Feuergeist
(Kraft 8, 3 Dienste), Geist des Menschen (Kraft 10, 4 Diens-
te), Luftgeist (Kraft 8, 2 Dienste), 9 Serrins Watcher (Kraft 6,
6 Stunden), Wassergeist (Kraft 6, 3 Dienste)
70 Serrin Shamandar
Ausrüstung: Atemgerät 5, 4 Datenchips, Formangepasste Kör-
perpanzerung (Halbkörper) [B/S 4/1], gefälschte SIN 3, ge-
fälschte Waffenlizenz 3, 3 Heilfetische, 2 Herbeirufungsfokus
[Kraft 4, Uhrkette], Illusionsfetische, 4 Kampffetische, Komm-
link [Fairlight Caliban mit Novatech Navi, aufgerüstet; Prozes-
sor 5, Signal 5, Firewall 5, System 5], Kontaktlinsen [Smart-
link], 4 Manipulationsfetische, Medkit 4, Radiosignalscanner
5, 20 Standard-RFID-Marker, Synergist Business-Kollektion:
Langer Mantel [B/S 4/2], 6 Wahrnehmungsfetische, White-
Noise-Generator 4, Zauberspruchfokus [Kraft 4, Taschenuhr]
Programme: Agent 4, Analyse 4, Befehl 4, Editieren 4, Pocket
Hacker, Schmöker 4
Kampftechniken: +2 Würfel auf Überraschungsproben, wenn
ein Angriff begonnen wird (2)
Waffen:
Colt Manhunter [Schwere Pistole | Schaden 5K | PB –1 | HM
| RK – | 16(s) | Lasermarkierer, Tarnholster, Schalldämpfer,
Smartgun; 80 Schuss EX-Explosiv-Munition, 100 Schuss
Schockermunition, 100 Schuss Standardmunition]
Ingram Smartgun X [Maschinenpistole | Schaden 5K | PB – | SM/
AM | RK 3 (4) | 32(s) | Angepasster Griff, Einziehbare Schul-
terstütze, Gasventil 2, Smartgun; 80 Schuss APDS-Munition,
100 Schuss Gelmunition, 100 Schuss Standardmunition]
Vibroschwert [Reichweite 1 | Schaden 6K | PB –2]
2 Betäubungsgranaten [Granate | Schaden 6G | PB –3 | Spreng-
wirkung 10 m Radius]
2 Splittergranaten [Granate | Schaden 12K(f ) | PB +5 | Spreng-
wirkung –1/m]
2 Sprenggranaten [Granate | Schaden 10K | PB –2 | Sprengwir-
kung –2/m]
4 IR-Rauchgranaten [Granate | Sprengwirkung 10 m Radius]
Anmerkung: Shamandar beherrscht die Herbeirufung einer
speziellen Form von Watchern, die als „Serrins Watcher“
bezeichnet werden. Er kann jedoch auch normale Watcher
herbeirufen.
SERRINS WATCHER
K G R S C I L W M EDG ESS INI ID
1 1 1 1 K K K K K 0 K K+1 2(3)
Fertigkeiten: Askennen, Ausweichen, Beschatten, Infiltration,
Wahrnehmung
Kräfte: Bewusstsein, Einfluss, Materialisierung, Suche, Ver-
schleierung, Verwirrung
Anmerkung: Diese Geister haben alle dieselbe Erscheinungs-
form: der klassische Mann im schwarzen Anzug. Sie verwen-
den Infiltration + Intuition statt Geschicklichkeit.
DAS TODESSPIEL
VON MALIK TOMS
Die sechste Leiche war die schlimmste. Die Polizei fand sie außerhalb
der Lichter von St. Louis in einem kleinen braunen Haus, das abge-
legen genug war, um noch als Waldhütte durchzugehen. Am Himmel
wirbelten und blitzten die roten und blauen Lichter. Der Regen spülte
in Strömen über die verwitterte dreckige Straße, die in die Zivilisation
führte.
„So was bekommen wir nicht oft zu sehen.“ Detective Sam McIn-
tosh fuhr sich nachdenklich mit den Fingern über die Handknöchel,
wieder und wieder. Er war als Erster hineingegangen, nachdem die
Spurensicherung das Gelände abgesperrt hatte.
„So was hatten wir überhaupt noch nicht, Sir.“
Das Opfer war männlich. Die Verstümmelungen an seinem Körper
machten es schwer, sein Alter abzuschätzen. „Die tödliche Verletzung
war anscheinend ein Schnitt durch die Halsschlagader.“ Der stumpf-
nasige Forensiker machte mit seinem Daumen eine Bewegung von
der linken Seite seines Halses zur rechten. Er trug einen sackartigen
dunkelblauen Overall mit der Aufschrift Crime Scene Investigations
und darunter kleiner: KE – St. Louis. „Unser Mörder hat das Opfer
ausbluten lassen und dann erst so richtig bearbeitet.“
Sam kniete sich neben die Leiche. Am schlimmsten hatte der Mör-
der Rumpf und Gesicht des Opfers verstümmelt. Arme und Beine wa-
ren praktisch unversehrt.
„Wir haben in seiner linken Hand etwas gefunden, das wie eine
Tarotkarte aussieht.“ Der Forensiker reichte dem Kriminalbeamten
eine Plastiktüte. In der Tüte war eine vergilbte, blutverschmierte
Tarotkarte.
„Lassen Sie es im Labor nach Fingerabdrücken untersuchen.“ Er
gab die Tüte zurück, er interessierte sich mehr für den Raum als für
das, was am Opfer gefunden wurde. Das Haus war älter als jedes, das
er bisher betreten hatte. Und ungewöhnlicher. Irgendjemand, vermut-
lich das Opfer, hatte den gesamten Fußboden mit arkanen Symbolen
bemalt. Die Wände waren von einem blaugrünen Moos bedeckt, das
er noch nie gesehen hatte.
„Was ist das für ein Zeug?“, fragte er.
„Das ist eine Art Erwachtes Moos. Im Handel läuft es unter ‘Glüh-
moos’. Wenn eine Erwachte Manapräsenz in seine Nähe kommt, also
ein Geist oder ein Magiebegabter, fängt es an zu glühen. Manchmal
wird es in Sicherheitssysteme integriert, aber es ist relativ selten und
entsprechend teuer. Unser Opfer muss eine Menge Angst vor Magie
gehabt haben, wenn er hier so viel von dem Moos hat.“
Sam ließ seinen Blick über die schäbige Umgebung schweifen. Das
Gebäude, in dem das Opfer gelebt hatte, verdiente kaum die Bezeich-
nung Hütte. Es hatte vier Wände und ein Dach, aber nur wenig davon
schien in halbwegs brauchbarem Zustand zu sein. Nichts hier drin sah
nach Geld aus, mit Ausnahme des Mooses und der ledergebundenen
Bücher im Regal gegenüber dem Bett.
„Gehen Sie bitte raus“, sagte er. „Ich brauche ein bisschen Zeit al-
leine mit dem Raum.“
 Der Forensiker nickte und ging hinaus.
Das Opfer, oder wem auch immer die Hütte gehörte, hatte eine
beträchtliche Menge Geld für den Kauf richtiger Bücher ausgegeben.
Sie standen in drei säuberlichen Reihen auf den Plastholzregalen, die
sich unter dem Gewicht durchbogen. Etwas kribbelte am Rand seines
Geistes, eine Präsenz zwischen den Büchern, die ihm vorher nicht
aufgefallen war. Instinktiv berührte der Kriminalbeamte den Rücken
jedes Buches und zog leicht daran. Auf dem zweiten Regal fand er, was
er suchte. Er ließ sich auf ein Knie nieder und zog vorsichtig. Auf dem
Rücken stand Neuromancer, aber das Gewicht unterschied sich von
dem der anderen Bücher. Es war leichter. Er zog das Buch aus dem
Regal und schlug es auf. Die Seiten waren in der Mitte ausgehöhlt
und bildeten ein selbstgemachtes Geheimfach. Ein kleiner Tablet-PC
befand sich darin.
Sam McIntosh streckte seinen Geist danach aus, auf diese rät-
selhafte Weise, wie er es seit dem Crash schon ein paarmal gemacht
hatte. Seit der Nacht, in der sein Bruder, Officer Erik McIntosh,
starb; der Nacht, in der Sam sein Leben als nichtsnutziger Netzsur-
fer beendet hatte. Sams Bewusstsein berührte das Gerät leicht, rief
es. Der Tablet-PC antwortete und erwachte zum Leben. Das Gerät
gehörte einem Dr. Johansen von der Horizon Group. Die Ortsken-
nung des letzten Eintrags lautete Kanpur, Indien. Es waren Notizen
in Kurzschrift. Er konnte sie nicht lesen, aber vielleicht, mit ein
bisschen Zeit...
Das seltsame Moos begann zu glühen. Sam fühlte, wie sich seine
Nackenhaare aufstellten. Er wirbelte herum und riss seine Waffe aus
dem Holster. Jemand kniete über der Leiche. Ein Indianer, gekleidet
wie ein Schamane mit vollem Kopfputz. Sam rief: „Keine Bewegung!“
Der Indianer bewegte sich sowieso nicht, er starrte auf die Leiche
hinab.
„Gehen Sie ganz langsam von der Leiche weg.“
Der Mann drehte den Kopf und sah ihn an. Der Schamane war
aufwärts von der Brust an nackt und schien sich nicht um die für diese
Jahreszeit ungewöhnliche Kälte zu kümmern. Die tiefen Alterslinien in
seinem Gesicht erzählten eine andere Geschichte als sein muskulöser
Oberkörper. Er machte keine Anstalten, sich zu bewegen.
Sam rief: „Stehen Sie langsam auf und gehen Sie von der Leiche
weg!“
Der Schamane erhob sich langsam und löste sich in Luft auf.
Sam senkte überrascht seine Waffe. War das gerade wirklich pas-
siert? Seit dem Crash hatte er schon oft Sachen gesehen, die nicht wirk-
lich waren, zumindest nicht in der physischen Welt. Sachen wie seinen
toten Bruder. Sachen, die er nicht erklären konnte, genauso wenig wie
er erklären konnte, wie er an seine neuen Fähigkeiten gekommen war.
Er hatte die Berichte in der Matrix gelesen. Er wusste, was er war, und
er wusste auch, wie die meisten Leute darüber dachten, also hielt er es
geheim.
Vielleicht war diese Präsenz wieder so ein Geist in der Maschine
gewesen, allerdings hatte er den Schamanen nicht so gespürt wie den
Tablet-PC. Er konnte nicht mit seinem Bewusstsein nach diesem
Mann greifen, aber der Mann war körperlich dort gewesen, oder? Das
konnte nur eins bedeuten.
„Ist alles okay, Sir?“ Der CSI-Mann stand in der Tür, seine Frett-
chenaugen schossen zwischen Sams Waffe und dem Boden hin und
her, wobei er sorgfältig jeden Augenkontakt vermied.
„Ja. Nein. Gerade ist jemand eingedrungen. Ich glaube, es war ein
Geist. Rufen Sie die Zentrale an und lassen Sie den Schichtleiter wis-
sen, dass wir hier einen Magier brauchen.“
„Sir, der Schichtleiter ist bereits unterwegs. Er bringt jemanden
mit.“
 Sam nickte überrascht und erhob sich. Er steckte seine Waffe weg.
Der Tablet-PC verschwand in seiner Tasche. Durch die Tür konnte er
sehen, wie ein schwarzer Americar am Tatort ankam.
„Heilige Scheiße. Bundespolizei?“ Der schwarze Wagen hielt di-
rekt vor dem Absperrband. Zwei Gestalten stiegen aus. In dem Fahrer
erkannte Sam den diensthabenden Schichtleiter seiner Wache. Die
andere Gestalt war in einen Trenchcoat gehüllt. Eine dicke schwarze
Kapuze schützte ihren Kopf vor dem Regen.
Sam trat von der wackligen Veranda herunter und ging auf die
beiden zu. Er sagte: „Sir, gerade eben ist jemand in das Haus einge-
drungen. Ich glaube, es war ein Geist. Ich habe noch nie im Leben
einen gesehen, aber er war einfach da und ist dann vor meinen Augen
verschwunden. Er hat sich für die Leiche interessiert.“
Wenn der Captain ihn hörte, so ließ er es nicht erkennen.
„Was liegt an, Captain Barber, Sir?“ Sam konzentrierte sich auf die
andere Person. Sie schlug die Kapuze zurück und ließ den Regen über
ihr kurzgeschorenes Haar rinnen. Krähenfüße zierten ihre Augen- und
Mundwinkel und ließen die Indianerin noch ernster wirken als ohnehin
schon. Ihr Gesicht hatte einen harten Ausdruck, als hätte sie in ihrem
Leben schon zu viel gesehen, um sich noch entspannen zu können.
Sam streckte unwillkürlich seine mentalen Fühler aus. Ihre Cyber-
ware war nur minimal, aber sehr exklusiv. Ihr PAN war die neueste
Software, die Ares zu bieten hatte. Er schlängelte sich an ihrer Sicher-
heit vorbei und dachte erst, als er schon drinnen war, daran, dass er
hier gerade unbefugt eindrang. Das Netzwerk aus Hard- und Software
war mit einem Namen verbunden: Anne Ravenheart, Colonel, Ares
Firewatch. Da war noch mehr. Ihr Netzwerk war mit einigen Input-/
Output-Fäden verbunden, die tief in die Matrix hinein reichten. Er
kletterte diese Fäden hinauf, ließ seinen Geist tiefer in ihr PAN greifen,
folgte der Verbindung dorthin, wo ihn die Daten hinführten.
Etwas trat ihm dort mit einer Kraft entgegen, die er nicht erwartet
hatte. Es sah wie ein Rabe aus, seine schwarzen Flügel mit Flammen-
mustern durchsetzt. Der Rabe krächzte laut und fuhr seine Diamant-
krallen aus. Was auch immer dieses Ding war, es war kein Sicherheits-
programm. Es fühlte sich wie ein Sprite an, aber Ravenheart war nicht
wie Sam. Es sollte nicht dort sein. Sam zog sich schnell zurück.
Das alles geschah in einem Augenblick.
Er blinzelte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die äu-
ßere Welt. Sie starrte ihn an. Sie starrte einen Moment länger. Ein
Lächeln umspielte ihre Lippen.
Der Captain räusperte sich. „Detective, dies ist Colonel Anne Ra-
venheart. Sie kommt von Firewatch, vom Büro für Sonderermittlun-
gen. Sie leitet die Ermittlungen in einem Fall, der dem ähnelt, was wir
hier haben. Sie glaubt, dass unser Fall Teil eines Musters ist.“
Sam dachte an die ungewöhnliche Tarotkarte in der Hand des Toten.
„Glauben Sie, wir haben es mit einem Serientäter zu tun, Colonel?“
„Ich glaube, KE will sichergehen, dass es nicht so ist, Detective.
Verstehen wir uns?“ Sie hatte eine harte, befehlsgewohnte Stimme. Als
sein Blick ihre grünen Augen traf, fand er auch dort etwas Hartes.
„Wer ist am Tatort gewesen?“
„Ein paar CSI-Jungs und ich“, sagte Sam. Ravenheart ging an ihm
vorbei zur verfallenen Hütte mit dem Moos, das inzwischen wieder
dunkel geworden war.
„Bleiben Sie bitte draußen. Niemand geht hinein, bis ich fertig bin.“
Captain Barber zuckte die Schultern und ging zurück zum Wagen.
Der Detective konnte seine Überraschung nicht verbergen. Dies konn-
te ein wichtiger Fall sein, ein Karrieresprung, und Barber gab ihn weg
wie ein drei Tage altes Brot. Sam starrte ihm nach. Der Mann schien
von Ravenheart eingeschüchtert zu sein, aber das ergab eigentlich kei-
nen Sinn. Sam kannte das Konzernrecht. Firewatch war eine Abtei-
lung für Spezialoperationen. Sie konnten nicht einfach eine staatliche
Polizeiermittlung in ihre Hände nehmen, nicht nach Chicago. Nicht
ohne Anordnung des Distriktstaatsanwaltes oder eines Vertreters des
Staates.
Chicago. Plötzlich wusste er wieder, wer sie war. Colonel Ravenheart
schob sich an ihm vorbei. Er versuchte sich wieder an ihrem PAN, aber
diesmal kam er nicht an ihrer Sicherheit vorbei. Er ließ seinen Geist in
die Matrix wandern und konzentrierte seine Gedanken auf ihren Na-
men. Die Dateien erschienen sofort. Alte. Öffentliche. Schlüsselwörter
schossen vor seinen Augen vorbei. Chicago. Die Cermak-Explosion.
Insektengeister.
Sie war schon an der Tür, als er sagte: „Ma’am, ich kann Sie da nicht
hineinlassen!“
„Es heißt ‘Colonel’, und ich glaube, Sie haben keine Wahl.“
„Tut mir leid, Colonel, aber ich kann es nicht zulassen. Sie sind hier
außerhalb Ihres Zuständigkeitsbereiches. Außerdem ist hier vor eini-
gen Minuten jemand eingedrungen. Ich muss den Tatort abriegeln, bis
unser Magier hier ist. Tut mir leid, aber so lauten die Vorschriften.“
„Wir wissen beide, dass sich meine Zuständigkeit auch hierauf er-
streckt, und ich glaube nicht, dass wir heute Nacht den diensthaben-
den Magier brauchen.“ Sie lächelte und fuhr mit dem Finger den Tür-
rahmen entlang. Die moosbedeckten Wände im Inneren des Hauses
glühten wie ein Sankt-Elms-Feuer.
Er richtete sich auf. „Das ist immer noch mein Tatort. Ich komme
mit.“
Ravenheart lachte in sich hinein und trat ins Haus. Nach kurzem
Zögern folgte Sam ihr. Wenn Ravenheart etwas dagegen hatte, dann
zeigte sie es nicht. Sie begann mit dem Bücherregal, kniete sich neben
die Sammlung des Toten. Reflexartig tastete er nach dem Tablet-PC,
den er vor ein paar Minuten eingesteckt hatte. Als hätte sie seine Ge-
danken gelesen, fing Ravenheart seinen Blick auf und fragte: „Haben
Sie etwas gefunden?“
Er stammelte: „Ich frage mich nur, warum wir hier noch nichts von
diesem Serienmörder gehört haben.“
„Wir hielten es unter Verschluss, bis wir sicher sein konnten, womit
wir es zu tun haben.“ Sie entspannte ihre Schultern. Das Moos in der
Nähe des Bettes leuchtete hell auf.
„Unser erstes Opfer fanden wir in einem Müllcontainer in Boston.
Nach dem zweiten wussten wir, dass wir es mit etwas Größerem zu tun
hatten. Alle waren mit der gleichen Waffe verstümmelt worden. Alle
hielten eine Tarotkarte in der linken Hand. Jede Karte war anders, wie
der Teil eines Musters, als würde der Mörder ein Spiel mit uns spielen.
Die Tarotkarten sind eine Nachricht.“
Ravenheart berührte den Hals des Mannes mit ihren bloßen Hän-
den. Ihre Hände zitterten leicht, als wäre es anstrengend, sie in direkter
Nähe des Todes ruhig zu halten.
„Mein Gott, Colonel. Die Leiche ist ein Beweisstück. Was tun Sie
da?“
 „Menschliche Emotionen können im Astralraum eine Markierung
hinterlassen, eine Art Narbe. Wenn sich etwas so Traumatisches wie
ein Mord ereignet, bleibt die Energie dieser Emotionen zurück. Ich
lese diese Energie.“
„Sie sehen aus, als hätten Sie etwas gefunden. Aber doch keine In-
sektengeister, oder?“
Ravenheart grinste. „Wie ich sehe, haben Sie mein Dossier gelesen.“
Sam nickte. „Nur überflogen.“
Sie deutete mit dem Kinn auf seine Jackentasche. „Seit ich ange-
kommen bin, haben Sie Ihre Hand nicht aus der Tasche genommen.
Was verstecken Sie da?“
Sams Herz setzte für einen Schlag aus. Er umklammerte das Gerät
in der Tasche. Als ihre Blicke sich trafen, grinste sie.
„Lassen Sie die Finger vom Poker“, sagte sie. „Das ist nicht Ihr
Spiel.“
„Ich spiele hier keine Spiele, Colonel Ravenheart. Dies ist mein Zu-
ständigkeitsbereich. Mein Fall. Es gibt hier nicht viele Gelegenheiten,
Karriere zu machen. Das ist meine Chance, ein Versprechen an meine
Familie einzulösen.“
Anne Ravenheart stand auf und wischte sich die Hände an einem
Taschentuch ab. Sie fragte: „Seit wann wissen Sie, dass Sie ein Tech-
nomancer sind?“
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“
„Doch. Sie haben mein PAN gehackt und versucht, meinen Anruf
an mein Büro zurückzuverfolgen. Ich wette, Sie haben diesen Tablet-
PC in Ihrer Tasche genauso gehackt.“
Sein Herz schlug schneller. Sie konnte das unmöglich wissen. „Ich
weiß nicht, was Sie mir da vorwerfen, aber wenn Sie glauben...“
„Seeks-the-Moon“, sagte Colonel Ravenheart.
Das Glühmoos leuchtete für einen Moment heller auf. Sams Na-
ckenhaare richteten sich wieder auf, und als er sich umdrehte, sah er
wieder den indianischen Geist von vorhin. Colonel Ravenheart nickte
dem Geist zu. Als sie Sam ansprach, lag Kälte in ihrer Stimme. So
musste ihre Stimme geklungen haben, als sie ihren Truppen den Befehl
gab, ihrem sicheren Tod im Cermak-Nest entgegenzumarschieren. Sie
sagte: „Seeks-the-Moon hat gesehen, wie Sie das Gerät genommen ha-
ben, und Poe, das Sprite, dem Sie begegnet sind, als Sie mich hackten,
hat mir den Rest berichtet. Es sagte, dass Sie nicht trainiert sind, sonst
wären Sie in der Lage gewesen, es auszuschalten. Ich frage Sie also noch
einmal: Seit wann wissen Sie es?“
Sam schwieg einige Sekunden. Er starrte den Geist an und dann
Colonel Ravenheart. Lügen würden ihm nichts nützen. „Ich lag nach
dem Crash sechs Monate im Koma. Kurz nachdem ich das Bewusst-
sein wiedererlangte, begann ich Dinge zu sehen, Dinge, die nicht da
sein konnten. Es dauerte noch ein Jahr, bis ich es wagte, mit meinem
Bewusstsein in die Matrix zu greifen.“
„Wie oft haben Sie es seitdem getan?“
„So selten wie möglich.“
Sie sah enttäuscht aus. „Es gibt weit seltsamere Dinge in dieser Welt
als Technomancer, Detective. Seien Sie dankbar für Ihre Gabe, so wie
ich es für meine bin.“
Ravenheart zog eine beschlagene Plastiktüte aus ihrer Tasche und
legte sie neben die Leiche. Sam musste sich vorbeugen, um zu sehen,
was in der Tüte war, und als er es erkannte, schreckte er zurück. Übel-
keit stieg in ihm auf. „Ist das eine menschliche Hand?“
Sie ignorierte ihn und setzte sich im Schneidersitz vor die Leiche
und die Hand. Sam hatte schon öfter forensische Magier bei der Arbeit
gesehen. Die Magie, die er kannte, war eine unsichtbare Kunst, die
umrahmt wurde von arkanen Handschriften, Beschwörungsgesängen
und präzisem Timing. Colonel Anne Ravenheart machte nichts der-
gleichen. Sie atmete tief ein und ließ die Luft langsam entweichen. Das
Glühmoos leuchtete grün auf. Einige Augenblicke später verblasste das
Glühen wieder.
Sie wandte sich an den Geist und fragte düster: „Du siehst es auch,
nicht wahr?“
Seeks-the-Moon antwortete: „Zwei Menschen können nicht die
gleiche astrale Signatur haben.“
„Und sechs?“
Seeks-the-Moon sagte nichts.
„Du sagst, es sei unmöglich, aber doch ist es so. Was für eine andere
Erklärung gibt es? Könnten es Nahualli sein?“
„Nein, das auch nicht. Nahualli ist mehr wie eine Farbe – ein Satz
passender Karten, eingeprägt in die Seele. Man liest sie als zusammen-
gehörend, aber nicht als identisch.“
Sam hörte der Unterhaltung schweigend zu. Er wusste noch, was
in Chicago geschehen war, als Knight Errant dort die Insektengeister
entdeckt hatte. Die Stadt war unter Quarantäne gestellt worden. Sie
schickten Firewatch hinein, mit einem ganzen Berg an Magie und Feu-
erkraft, konnten dem Stock aber nichts anhaben. Also handelte Knight
Errant aus Verzweiflung. Sie setzten die mächtigste Waffe ein, die ihnen
zur Verfügung stand: eine Atombombe. Achtzehn Jahre später war der
Wiederaufbau immer noch nicht sonderlich weit vorangeschritten. Co-
lonel Ravenheart war damals mitten im Geschehen gewesen. Jetzt war
sie hier in dieser Stadt und hockte neben der Leiche eines Mannes, der
eindeutig Angst vor Magie gehabt hatte. Colonel Ravenheart musterte
die Leiche ein letztes Mal, bevor sie sich an Sam wandte. „Detective, ich
glaube, Sie sollten mir jetzt sagen, was auf dem Tablet-PC war.“
Verwirrt erzählte Sam alles, was er wusste. Sie hörte schweigend
zu. Dann sagte sie: „Die anderen standen auch in Verbindung zu Ho-
rizon. Glauben Sie, Sie können etwas Sinnvolles aus diesen Notizen
herausholen?“
„Mit etwas Zeit könnte es mir vielleicht gelingen.“
Seeks-the-Moon sagte: „Dies ist keine Tat der Geisterwelt. Men-
schen taten es.“
„Wie?“
Ein Hauch von Verdruss zeigte sich im Gesicht des Geistes. „Wenn
ich gebraucht werde, findest du mich. Ich würde gern mehr hierüber
erfahren.“
Und dann war er weg. Colonel Ravenheart runzelte die Stirn und
legte abwesend die Hand auf die Brust.
Sam hatte genug. „Colonel, ich will wissen, was zur Hölle hier los
ist. Ist das immer noch mein Tatort?“
Sie schüttelte den Kopf. „Sagen Sie Ihrem Schichtleiter, dass das
Büro für Sonderermittlungen den Fall übernimmt.“
Er schluckte schwer. „Glauben Sie, dass Insektengeister dahinter-
stecken?“
„Nein. Leider ist es nicht so einfach.“ Dann dachte sie einen Mo-
ment nach und fügte hinzu: „Und Sie haben recht, Detective. An
einem Ort wie diesem gibt es nicht viele Gelegenheiten, Karriere zu
machen. Was würden Sie davon halten, für mich zu arbeiten?“
 STICKS
PERSÖNLICHE DATEN: STICKS
Alter: 37 Größe: 2,07 m
Gewicht: 113 kg Haarfarbe: Schwarz
Augenfarbe: Braun Geschlecht: Männlich
RUNNER
Metatyp: Mensch Erwacht: Nein
Wenn wir schon dabei sind, Lagerfeuergeschichten zu erzählen, kön-
nen wir doch den guten alten Sticks nicht auslassen. Ich möchte mich
schon mal im Voraus entschuldigen, denn nicht alles, was ich zu sagen
habe, ist schmeichelhaft für ihn, und vielleicht fügen unsere Poster ja
noch schlimmere Sachen hinzu. Sticks ist nicht leicht zu verstehen.
Man kann den ganzen Tag lang an den Fäden seiner Psyche zupfen
und steht am Ende doch mit leeren Händen da. Der Schlüssel liegt
in dem, was er in den 50ern erlebt hat. Sticks war damals noch ein
freakiger Jugendlicher, der so tat, als sei er ein Shadowrunner, als er an
die Universelle Bruderschaft geriet. Er kaufte ihnen ihr Gefasel ab, ver-
hökerte seine Seele und wurde dazu auserwählt, mit Insektengeistern
verschmolzen zu werden.
Da lag er also auf dem Tisch, völlig unter Drogen und als Abend-
essen für die Bugs vorgesehen, als Ares Firewatch die Türen einrannte
und die ganzen Viecher umnietete. Sticks verbrachte zwei Jahre in ei-
ner Klapse in Chicago, wo die Docs versuchten, die Gehirnwäschen
der Universellen Bruderschaft rückgängig zu machen. Damals kannte
ich Sticks noch nicht, aber ich bin sicher, dass diese Erfahrung ihn
verändert hat. Wenn die Bugs sich darauf vorbereiten, mit einem zu
verschmelzen, gibt es eine Phase, in der man zu etwas weitaus Pri-
mitiverem als einem Menschen wird. UB-Opfer gehen damit unter-
schiedlich um. Für Sticks bestand das Verarbeiten darin, dass er jeden
Insektengeist jagte und zur Strecke brachte, den er nur finden konnte.
Sticks nahm seinen Straßennamen nach seiner Zeit bei der Uni-
versellen Bruderschaft an. Bis dahin war er unter dem Namen Remus
unterwegs gewesen. Er änderte den Namen, nachdem er zwei Jahre
in verschiedenen Dojos verbracht und nicht-tödliche Kampftechniken
erlernt hatte. In den Anfängen seiner Karriere verlegte er sich haupt-
sächlich auf das Kassieren von Belohnungen und Kopfgeldern, also an-
ders ausgedrückt auf das Schnappen und Ausliefern von Leuten. Das
kann manchmal etwas problematisch werden – denn obwohl es eigent-
lich vernünftig wäre, sich zu ergeben, wenn einen jemand im Visier
hat, läuft die Sache doch gelegentlich aus dem Ruder, wenn dem Be-
treffenden die Rückkehr ins Gefängnis oder Schlimmeres droht. Man
hat es also mit jemandem zu tun, der um sein Leben kämpft und auch
bereit ist, seinen Jäger zu töten, und trotzdem muss man die Zielperson
lebendig ausliefern. Gebrochene Knochen und ähnliche Verletzungen
der Zielperson nimmt man in Kauf, aber bei lebensgefährlichen Ver-
letzungen wird der Auftraggeber schnell mal eine Null vom Honorar-
scheck streichen. Und so lernte Sticks, wie man jemanden ausschaltet,
ohne ihm bleibende Schäden zuzufügen. Sein Straßenname spielt auf
76 Sticks
GEPOSTET VON: BLACK MAMBA
die beiden Tonfa-Stäbe an, die er gerne bei der Arbeit einsetzt. Mit
ihnen konnte er die Anzahl seiner „Bergungsunfälle“ minimieren und
sich den Ruf erwerben, den er heute genießt. Aber natürlich ist dieser
Ruf variabel, je nachdem, in welchem Teil der Welt man sich befindet
und wen man fragt.
Es gibt verschiedene Arten von Kopfgeldjägern. Da gibt es einmal
die Leute, die Kautionsflüchtlinge jagen; dann die Leute, die auf das
Aufspüren flüchtiger internationaler und Konzernverbrecher speziali-
siert sind; und schließlich Jäger, die sich auf exotischere Jagden begeben,
etwa die Jagd nach Insektengeistern. Wenn man Leute fragt, die ihn
kennen, gehört Sticks in die dritte Kategorie. Er ist in erster Linie Wan-
zenjäger, und noch dazu einer der besten, die ich kenne. Man schreibt
ihm offiziell die Entdeckung von siebzehn Nestern und über vierzig
unabhängigen Geistern weltweit zu. Alle großen Konzerne haben, auch
wenn sie es nie zugeben würden, eine Art Kopfgeldjäger-Rangliste, auf
der die Anzahl der aktuell vermissten Aktivposten und die Namen der
Kopfgeldjäger, die für sie gearbeitet haben, verzeichnet sind. Ares listet
Sticks als seine Nummer drei für Nordamerika auf, also Hut ab.
> Wer sind Nummer eins und zwei?
> Baka Dabora
> Nummer eins ist ein ehemaliges SEAL-Team in Tsimshian, das sich
auf Materialwiederbeschaffung spezialisiert hat. Nummer zwei sind
die UCAS-Marshalls. Ares hat eine Vereinbarung mit der Regierung
getroffen, alle Flüchtigen auszuliefern, die innerhalb der Konzernzu-
ständigkeit aufgegriffen werden. Ich weiß, dass der Deal nicht im-
mer so ganz eingehalten wird, denn ich habe Sticks auf der Liste der
UCAS-Marshalls gesehen, und Ares hat ihn noch nicht ausgeliefert.
> Cosmo
> Das klingt nach der Art und Weise, wie die meisten Konzerne ih-
ren Geschäften nachgehen. Sie geben einem, was sie nicht haben
wollen, solange man selbst ihnen gibt, was sie wollen. Zumindest
wenn man kein Drache ist. In diesem Fall geben sie einem alles,
um das man bittet, und fordern nichts als Gegenleistung.
>
Wenn Sticks’ Arbeit als Kopfgeldjäger sich auf die Jagd nach Insek-
tengeistern beschränken würde, würde ich ihn als Shadowrunner des
Jahres vorschlagen, aber wie ich schon sagte, Sticks ist etwas primitiver
gestrickt. Der Kick der Jagd treibt ihn dazu, immer mehr Jobs anzu-
nehmen, sogar solche, die er lieber lassen sollte oder die zu viel für
ihn sind. Ein Kopfgeldjäger fängt Flüchtige gegen Bezahlung ein. Das
müssen nicht unbedingt Leute sein, die etwas Böses getan haben, son-
dern es kann auch jemand sein, der aus dem einen oder anderen Grund
jemandem gehört und abhandengekommen ist. Sticks erledigt Jobs,
die andere nicht machen können oder wollen. Wenn ihr die richtigen
Leute in Addis Abeba fragt, werden sie sagen, dass er ein Prominenter
ist. Er hat sich seinen internationalen Ruf und ein kleines Vermögen
dadurch erworben, dass er weggelaufene Sexsklaven einfängt und zu
ihren Besitzern zurückbringt.
> Das ist einfach übel.
> Mihoshi Oni
 RUNNER
> He, ich mache nicht die Regeln. Ich folge ihnen. Der
Markt ist lukrativ, und es ist eine gute Möglichkeit,
den eigenen Namen ins Gespräch zu bringen. Im Üb-
rigen werden in einigen Ländern Kinder von Anfang an
dazu erzogen, diese Rolle auszufüllen. Als Gegenleistung
für ihre Dienste kümmert man sich um ihre Familien, und wenn
das Mädchen (oder manchmal der Junge) wegläuft, verliert die
Familie ihre Essensmarke.
> Sticks

> Ich weiß nicht, was schlimmer ist – dass du es tust oder dass
du dir solche Mühe gibst, es zu rechtfertigen.
> Riser

> Und das von jemandem, der mordet, um seine Miete be-
zahlen zu können.
> Sticks

Und das bringt mich darauf, wie wir uns trafen. Wenn er
nicht gerade Bugs jagt oder kleine Mädchen einfängt, über-
nimmt Sticks gelegentlich private Jobs. Ich war auf der Jagd
nach einem kleinen MET2000-Scheißer, der seinen kom-
mandierenden Offizier umgelegt und sich dann aus dem
Staub gemacht hatte. Ich stieß nur auf Sackgassen. Ein
gemeinsamer Freund brachte mich mit Sticks in Kontakt,
der gerade in der Stadt war, um einen vermissten Exec zu
suchen. Unsere Wege kreuzten sich. Der geflüchtete Söld-
ner gehörte jetzt zum Sicherheitsteam des Execs, und so
arbeiteten wir einen Plan aus, wie wir in einer Galerie in
Prag an sie herankommen konnten. Ein Teil des Plans
sah vor, dass ich mich von der Sicherheit schnappen las-
sen sollte, während Sticks die Ablenkung dazu nutzte,
unsere Zielpersonen mit Sendern auszustatten.

Sticks 77
 Es funktionierte fast. Der Söldner bemerkte Sticks, als er den
Sender anbrachte, und wollte die Angelegenheit mit Waffengewalt
klären. Das Sicherheitsteam des Execs wandte sich gegen Sticks und
stürzte sich mit ins Getümmel. Bevor wir uns aus dem Staub machen
konnten, war mein Söldner tot und Sticks’ Exec verschwunden. Ich
wertete es trotzdem als Sieg. Der Söldner hatte bekommen, was ihm
zustand, und es kamen immer noch genug Nuyen auf mein Konto,
um meinem neuen Freund ein Bier auszugeben. Er war sauer, dass der
Exec abgehauen war, aber ich versuchte ihm zu erklären, dass die Welt
einen nicht nach denen beurteilt, die einem durch die Lappen gehen,
weil die Welt davon nichts erfährt. Man wird nach denen beurteilt,
die man schnappt, und da hatte Sticks schon eine Menge Kerben vor-
zuweisen.
> Ich wünschte, ich könnte dir zustimmen, Black Mamba, aber ich
RUNNER
bin nur so gut wie der letzte, der mir entkommen ist. Es sind mir
mehr durch die Lappen gegangen, als ich erwischt habe. Manchmal
liege ich nachts wach und denke darüber nach, wie ich das ändern
kann.
> Sticks
> Dann erzähl uns von dem, der dich am meisten wachhält.
> Jimmy No
> Das muss Adegoke Yoba sein, ein Waffenhändler aus Mombasa,
Kenia. Ich wurde von der südafrikanischen Regierung beauftragt,
ihn aufzuspüren und zu einer Anhörung zu bringen. Er sah mich
aus der Pfandleihe kommen, wo der Ladenbesitzer mir einen Tipp
gegeben hatte. Egal ob schwarz oder weiß, Nordamerikaner fallen
auf diesem Kontinent nun einmal auf. Er stürmte zu seinem Wagen,
und ich erreichte ihn gerade, als er den Motor anließ. Ich folgte
ihm ein Stück zu Fuß, zum Glück kamen wir an meinem Mietwagen
vorbei, und mit dem verfolgte ich ihn bis zur Likonibrücke, wo
mir ein Streifenwagen den Weg abschnitt. In Afrika halten sich
die Cops nicht lange damit auf, Fragen zu stellen und die Leute in
Schach zu halten. Sie schalteten mich mit einem Taser aus, sobald
ich ausgestiegen war. Ich verbrachte drei Tage in einem kenia-
nischen Gefängnis, wo ich versuchte, mich aus der Auslieferung
herauszuquatschen. Ich habe es nur einer lokalen Connection zu
verdanken, dass ich diesen Post nicht von Folsom aus schreibe.
Mein Kontaktmann erzählte mir, dass Yoba Verbindungen zur Poli-
zei und zu United Oil hatte. Ich muss immer wieder daran denken,
dass dieser Job mir eine ganze Reihe weiterer hochkarätiger Kopf-
geldjobs eingebracht haben könnte.
> Sticks
> Yoba war vor etwa zwei Wochen wegen eines Waffendeals in
Seattle, falls du interessiert bist.
> Riser
> Im Ernst? Lass uns offline reden. Ich bin sicher, wir können uns
einigen.
> Sticks
Unsere erste gemeinsame Kopfgeldjagd fand 2064 statt, es war ein
Tierfängerjob für Renraku. Der Konzern hatte einen seiner Nacktgo-
rillas verloren, der zur Arkologie in der Nähe von Luzon auf den Phi-
lippinen transportiert werden sollte. Sie wollten ihre wackligen Be-
ziehungen mit Masaru und den Huks nicht durch die Aussendung
eines Bergungsteams aufs Spiel setzen, aber sie konnten das Biest auch
schlecht mit einem RFID-Marker von Renraku frei herumlaufen las-
sen. Also heuerte Renraku sechs unabhängige Kopfgeldjäger an, die
78 Sticks
das Tier einfangen sollten. Sticks zog mich hinzu, weil ich das Ter-
rain und die Leute dort kenne, was ihm einen Vorteil gegenüber seiner
Konkurrenz verschaffte.
Ich mag Sticks, aber er ist nicht für den Dschungelkrieg geschaf-
fen. Wir heuerten einen Huk-Kundschafter an, um das Tier durch die
Wälder um den Mount Pinatubo zu verfolgen. Wir dachten, es würde
einfach in zufällige Richtungen flüchten, aber nachdem wir es einen
Tag lang verfolgt hatten, erkannten wir, dass es auf die Pyramide von
Asien zulief und dann einen Bogen schlug, um uns abzuhängen. In der
Gegend wimmelt es von Huk-Leuten, also gingen wir zu einer Stelle
zwanzig Meilen südlich der magischen Stätte und stellten dem Biest da
eine Falle. Na ja, auch wenn Sticks in rauem Terrain nicht gerade eine
gute Figur macht, würde ich ihm in einem Handgemenge jederzeit
mein Leben anvertrauen. Denn darauf lief es hinaus. Wir ballerten
sechs Betäubungsgeschosse auf das Viech ab, und es stürzte sich ein-
fach auf uns, wobei es sich auch noch auf die Brust trommelte. Nach
einiger Zeit wirkten die Geschosse dann doch immerhin gut genug,
dass Sticks das Tier mit seinen Tonfa-Stäben ausschalten konnte.
Wir haben im Laufe der Jahre noch mehrmals zusammengearbei-
tet, jedes Mal in einem Höllenloch, das noch schlimmer war als das
vorherige. Ich kann nicht leugnen, dass er ein dreckiger Hundesohn
ist, aber er ist gut in dem, was er tut. Sticks ist ein lebendes Mahnmal
dafür, dass man in den Schatten leben kann, ohne sich an die Konzerne
zu verkaufen. Es laufen genug Leute in der Gegend herum, die nur
darauf warten, eingesammelt zu werden, und da kann man sich aussu-
chen, für wen man arbeitet.
> Was ist der Unterschied zwischen einer Kopfgeldjagd und einer
handelsüblichen Extraktion?
> Baka Dabora
> Es gibt klare Regeln für den Umgang mit flüchtigen Konzern-
angehörigen. Jemand, der extrahiert wird, wird sofort zu einem
Vermissten oder – im Falle einer Mittäterschaft an der Extraktion
– zu einem Flüchtigen erklärt. Der Konzern kann dann durch den
Konzerngerichtshof einen Haftbefehl ausstellen lassen und eine
Belohnung für die sichere Wiederbeschaffung der Person ausset-
zen. Der knifflige Teil ist die Frage, ob man offiziell beauftragt
wird, den Flüchtigen einzufangen. Wenn der Konzern einem offi-
ziell den Auftrag dazu gibt, was manche tun, dann gibt es einen
ganzen Berg Papierkram, der sich mindernd auf die Zahl unter dem
Strich auswirkt. Wenn es eine verdeckte Operation ist, gelten die
Straßenregeln.
> Kia
> In meinem Fall muss ich üblicherweise meine Absicht bekannt-
geben, auf die Jagd nach Bugs zu gehen, denn Ares hat über die
meisten Orte, an denen ich Nester gefunden habe, die juristische
Zuständigkeit. Wir schließen einen Vertrag, und ich mache mich
an die Arbeit. Ohne diesen Vertrag unterliegen alle Abschüsse, die
ich auf Ares-Gelände tätige, nicht der Bezahlung, ja, sie könnten
mich sogar für die Beschädigung von Insektengeistern auf Ares-
Territorium verklagen. Man lernt recht schnell, das Kleingedruckte
zu verstehen, denn ein Konzern lässt sich nicht allzu offensichtlich
darüber aus, dass er vorhat, einen übers Ohr zu hauen.
> Sticks
> Zusammengefasst heißt das, wenn man jemanden extrahiert, der
als Flüchtiger markiert ist, dann ist man ein Kopfgeldjäger. Wenn
man jemanden von dem Ort extrahiert, an dem er arbeitet, ist man
ein Shadowrunner.
> Rigger X
STICKS

K G R S C I L W EDG ESS INI ID

6 4(6) 5 5(7) 3 4 4 3 5 3,6 9 1

Zustandsmonitor (K/G): 11/10

Panzerung (B/S): 14/8

Fertigkeiten: Athletik-Fertigkeitsgruppe 5, Beschatten 5, Bodenfahrzeu-

ge 4, Computer 3, Einschüchtern (Physisch) 5 (+2), Erste Hilfe 4,

RUNNER
Flugzeuge 3, Gewehre (Scharfschützengewehre) 5 (+2), Infiltration 3,
Knüppel 6, Navigation 3, Schiffe 4, Schnellfeuerwaffen (Automatik-
pistolen) 6 (+2), Spurenlesen (Wüste) 5 (+2), Survival 5, Waffenbau
3, Wahrnehmung 6, Wurfwaffen (Granaten) 4 (+2)

Wissensfertigkeiten: Gesuchte Verbrecher 6, Insektengeister 4, Polizei-

organisationen 4, Polizeitechniken 5, Verbrecherverstecke 4, Englisch
M, Französisch 3, Japanisch 2, Spanisch 4, Swahili 4, Yoruba 2

Gaben: Mut, Zähigkeit

Bodytech: Cyberaugen [Stufe 3; Infrarotsicht, Orientierungssystem (Al-

phaware), Radarsensor 2 (Alphaware), Restlichtverstärkung, Sichtver-
größerung], Kunstmuskeln 2

Ausrüstung: Automatischer Dietrich 6, Bereichsstörsender 6, Formange-

passte Körperpanzerung (Ganzkörper) [B/S 6/2], Kommlink [Spezi-
alanfertigung; Prozessor 4, Signal 5, Firewall 5, System 4], Panzerjacke
[B/S 8/6], Professionelle Kamera [Infrarotlinse, Super-Teleobjektiv],
RFID-Löscher, Zielgerichteter Störsender 8

Programme: Analyse 4, Aufspüren 4, Schleicher 4

Waffen:
Steyr TMP [Automatikpistole | Schaden 4K | PB – | HM/SM/AM | RK 2
| 30(s) | Gasventil 2, Smartgun; 100 Schuss Gelmunition, 100 Schuss
Schockermunition]
Barret Model 121 [Scharfschützengewehr | Schaden 9K | PB –4 | HM |
RK (2) | 14(s) | 100 Schuss Gelmunition, 100 Schuss Schockermu-
nition]
Tonfa [Knüppel | Reichweite 1 | Schaden 5K | PB –]

Sticks 79
 THORN
PERSÖNLICHE DATEN: THORN
Alter: 59 Größe: 1,81 m
Gewicht: 93 kg Haarfarbe: Schwarz
Augenfarbe: Grün Geschlecht: Männlich
RUNNER
Metatyp: Elf Erwacht: Ja (Adept)
> Ich hatte Fianchetto ursprünglich gebeten, das folgende Dossier
für mich persönlich zusammenzustellen, aber ich finde, es passt
ganz gut in diese Sammlung. Also füge ich es hier ein, zusammen
mit einigen Anmerkungen von verschiedenen Leuten, die an der
Zusammenstellung der Daten beteiligt waren.
> FastJack
> Das Ganze ist leider unvollständig, FastJack, aber für die Zeit,
die mir zur Verfügung stand, und für den Mann, um den es geht,
muss es reichen. Ein großer Teil dieser Informationen stammt aus
seinen bestehenden Argus-Dateien (vielen Dank an Netcat und
Slamm-0! für ihre Hilfe dabei), aber den Rest habe ich über meine
eigenen Kanäle beschafft.
Ich verstehe die Bedenken, die einige JackPointer zur Sprache ge-
bracht haben, aber ich persönlich bin der Auffassung, dass Thorn eine
wertvolle Verstärkung als regelmäßiger Teilnehmer auf JackPoint dar-
stellt. Sein informativer Text über die moderne Spionage kam ganz
gut an, und seither hat er immer wieder nützliche Ergänzungen zu
anderen Artikeln gepostet und einigen von uns in der physischen Welt
durch direkte Aktionen zur Seite gestanden. Sicherheitsbedenken sind
schön und gut, aber nicht aus den Gründen, die Picador vorbringt.
> Fianchetto
> Ich bin offensichtlich anderer Meinung. Wenn wir ohnehin schon
Sicherheitsprobleme haben, mit denen wir uns herumschlagen
müssen, dann ist das Letzte, was wir brauchen, ein professioneller
Mörder und Lügner, der sein halbes Leben damit zugebracht hat,
für den Abschaum der Erde zu arbeiten.
> Picador
> Na, wenn das nicht mein Herz erfreut. So viele freundliche Worte,
und dabei habe ich noch nicht einmal angefangen, den Artikel zu
lesen. Ich kann nur annehmen, dass Jackie das hier absichtlich hat
liegenlassen, damit ich es finde, also freue ich mich schon darauf, es
zu überfliegen und alle Fehler, die ich finde, zu korrigieren.
> Thorn
Richtiger Name: Caolain, Rory Michael
Geburtsdatum: 16. August 2014
Bekannte Pseudonyme: Mikhael Bystrolyotov, Michael Baird,
Robert Bishop, Michael Carter, Nick Carver, Samuel Cooper, Rho-
dry Cwnic [Die Liste enthält noch einige Hundert weitere Einträge.
Realistischerweise kann man einfach annehmen, dass er mehr SINs
hat als der Teufel. -F]
80 Thorn
GEPOSTET VON: FASTJACK
Erwacht/digital Erwacht: Adept
Sprachen: Englisch, Irisches Gälisch, Walisisch, Schottisches Gä-
lisch, Deutsch, Französisch, Russisch, Spanisch, Sperethiel, Italienisch,
Japanisch, Arabisch, Yoruba, Swahili, Afrikaans, Haussa [Und auch
hier noch viele mehr, mit unterschiedlichem Grad an Flüssigkeit und
Tiefe. Offensichtlich hat er seine Adeptenfähigkeiten dazu verwendet,
seine Sprachkenntnisse zu erweitern. -F]
Bekannte Arbeitgeber: Argus, MET2000, Rinelle ke’Tesrae,
Irish National Liberation Army, Söhne Alamos, United Nations Ar-
med Forces [Und noch eine unvollständige Liste. Die angegebenen
Organisationen sind solche, mit denen er bekanntermaßen mehrmals
zusammengearbeitet hat und bei denen er wahrscheinlich heute noch
Kontakte hat, unabhängig von seinem Verhältnis zur Führung der je-
weiligen Organisation. -F]
Gegenwärtiger Aufenthaltsort: Nordamerika
Der Geheimdienstmitarbeiter, der bei seiner Organisation unter dem
Decknamen „Thorn“ geführt wird, ist eine schwer greifbare Person. Er
begann seine Karriere als selbsternannter Freiheitskämpfer gegen die Un-
terdrückung durch die herrschende Elite in Tír na nÓg, arbeitete danach
etwa zwei Jahre lang als unabhängiger Söldner und wurde vor etlichen
Jahren von MET2000 für die damals neu geformte Argus-Agentur an-
geworben. In seiner Zeit bei Argus entstand ein faszinierendes Labyrinth
von redigierten, geheimen und ultrageheimen Dokumenten, die eine
Geschichte unzähliger Reisen rund um den Globus erzählen, und zwar
in seiner Funktion als Undercoveragent, als offizieller Militärberater und
als inoffizieller Agent, für den sämtliche Dateien entweder fehlen oder be-
schädigt sind. Es heißt, dass ein Mensch in der Morgen- und Abenddäm-
merung den längsten Schatten wirft, und für Thorn ist diese Redensart
in gewisser Weise prophetisch – wir wissen das meiste über den Beginn
seiner Karriere und über seine gegenwärtigen Tätigkeiten, aber der größ-
te Teil des Blutvergießens und der Betrügereien aus der Zeit dazwischen
bleibt Vermutungen und Schätzungen überlassen.
> Wenn du es schon schwierig findest, dieses Durcheinander von
außen zu durchblicken, dann stell dir vor, wie es ist, wenn du den
Job machst. Bei euch Shadowrunnern wird der Markt nicht von
Aufträgen beherrscht, bei denen man ständig im Zweifel ist, was
man da überhaupt macht, warum oder für wen.
> Thorn
Rory Michael Caolain wurde im Denby-Green-Krankenhaus in
Belfast, Irland geboren. Es gibt Aufzeichnungen über Reisen aus der
Zeit vor der Weihnachtsansprache von 2034, als die relativ offenen
Grenzen Irlands der Caolain-Familie ermöglichten, Verwandte in
Edinburgh und London zu besuchen. Die Gründung von Tír na nÓg
setzte diesen Möglichkeiten ein Ende, und aus der Zeit danach gibt es
auch keine Reisedaten mehr.
Rory schrieb sich 2035 an der Queen’s University in Belfast ein.
Dort beteiligte er sich an Anti-Tír-Demonstrationen und wurde nach
einer Kundgebung im dritten Semester seines Studiums vom Tír Re-
publican Corps als Dissident markiert. Von da an eskalierte die Lage
schnell – wie es unweigerlich immer der Fall ist, da gemäßigte De-
monstranten nach ihrem ersten Zusammenstoß mit dem Gesetz ent-
weder die Bewegung verlassen oder sich kopfüber hineinstürzen – und
nur wenige Monate später verließ er die Universität und reiste in ein
paramilitärisches Trainingscamp.
> Mitte der 30er, hm? Dann war das Camp entweder auf dem Bal- > Alles Arschlöcher, der ganze Haufen. Ein Bande amerikanischer
kan oder irgendwo im Nahen Osten, wobei man in beiden Regionen
ziemlich ähnliche Sachen lernte. Man kann gutes Geld mit solchen
Trainingscamps verdienen, wenn man über die nötige moralische
Flexibilität und pädagogische Fähigkeiten verfügt.
> Aufheben
Caolains Rückkehr nach Tír na nÓg traf mit einem überraschenden
Anstieg der Aktivitäten der Irish National Liberation Army zusammen.
Seine Adeptenfähigkeiten waren während seiner Ausbildung erkannt
worden, und er wurde schnell zu einer Trumpfkarte der INLA. Das
TRC hat bis heute ein ausführliches Dossier über ihn und erinnert sich
mit großem Missvergnügen an ihn. Erst vor zwei Jahren spielte seine
Verbindung zu Argus und deren Weigerung, ihn auszuliefern, eine gro-
ße Rolle dabei, dass die Vertragsverhandlungen der Agentur mit dem
Tír abgebrochen wurden. Wenn man die Seltenheit von Adepten zu
jener Zeit und die überwältigende magische Überlegenheit
des TRC bedenkt, dann war die Maximierung seiner
Aktivitäten seitens der INLA schlicht und einfach
strategisch sinnvoll.
> Ah, die wilden, vergeudeten Tage meiner un-
beherrschten Jugend. Zu meiner Verteidigung
muss ich sagen, dass ich nicht klar denken konn-
te, als ich damals angeworben wurde. Es war
eine Maid im Spiel, müsst ihr wissen.
> Thorn
> Ist das nicht immer so?
> Slamm-0!
Die Medien überschlugen sich, als sie
Ende 2039 über eine Massenexekution
wichtiger INLA-Anführer und Besu-
cher der Knights of the Red Branch
berichteten. Weder die Ulster Re-
volutionary Force noch das New
Ulster Revolutionary Movement
noch irgendeine andere der
zahlreichen paramilitärischen
Gruppen der damaligen Zeit
bekannte sich zu dem Anschlag,
und bis heute findet man in den TRC-Da-
teien keine Hinweise darauf, dass mehr als
ein Schütze beteiligt war. Die Führungsrie-
ge der INLA brauchte Jahre, um sich nach
dem Anschlag zu stabilisieren, und das Ver-
hältnis zwischen INLA und Red Branch war
für Jahrzehnte getrübt.
> Wenn Rory für das Wren-Day-Massaker
verantwortlich war, dann ist es ein Wun-
der, dass er nicht schon früher in die Luft
gegangen ist. Wie die meisten Anti-Tír-
Gruppen sind auch die INLA und Red
Branch im Laufe der Jahre immer anti-
metamenschlicher geworden und ha-
ben sich im Endeffekt in Hass-
gruppierungen verwandelt.
Caolains Aufnahme in die
INLA zeigt nur, wie drin-
gend sie ihn brauchten.
> Kay St. Irregular
Bastarde, die im alten Land herumstolzieren und behaupten, die
wahren Iren zu sein, nur weil sie runde Ohren haben, genau wie
die Tír-Spinner auf dem Gegenteil beharren. Red Branch? Orden
von Cu Chulainn? Scheiß auf sie beide. Wer sind sie denn mit ihren
Pfaden und geheimen Handschlägen und dem ganzen Scheiß, dass
sie entscheiden wollen, wer ein Krieger ist und wer nicht?
> Thorn
Danach verwandelt er sich für die Interpol-Dateien in ein Ge-
spenst, und auch seine offiziellen Argusakten sind voller Fragezeichen
und Vermutungen. Man glaubt, dass er sich auf dem Terroristenmarkt
als Mietkiller angeboten hat, wahrscheinlich über Kontaktleute, die er
bei seiner Ausbildung kennengelernt hat. Es gibt unzählige Gerüchte
darüber, wo genau er während dieser fast zwei Jahre gedient haben soll.
RUNNER
Wir wissen nur, dass er im Oktober 2040 von MET2000 angeheu-
ert wurde, nachdem er in diesem Jahr als Söldner im Iran-/Irak-Krieg
gekämpft hatte (wobei die Berichte sich uneins sind, für welche
Seite er kämpfte).
> Ein ausgebildeter Adept war damals noch eine Rarität,
und diese Fähigkeiten gaben dem Betreffenden das nötige
Rüstzeug zum erfolgreichen Söldner. Nehmt noch die Erfah-
rung hinzu, die Thorn bis dahin schon gesammelt
hatte, und es ist kein Wunder, dass er gut
beschäftigt war.
>
Red Anya
Thorn nahm einige Jahre lang an Stan-
dard-Militäroperationen der MET2000
teil, bis zur offiziellen Gründung von Ar-
gus. Diese Organisation verzichtete auf
die Tradition der schweren Panzerung,
wie sie für ihre Mutterorganisation cha-
rakteristisch ist, und Caolains Akten
zeigen, dass er eine umfassende Infante-
rieausbildung erhielt, erst als einfacher Soldat, dann als
Fallschirmjäger, als Scharfschütze und schließlich als
Spezialagent. Die wenigen nicht redigierten Dateien
aus jener Zeit zeigen eine gesunde Mischung aus Dis-
ziplinarmaßnahmen und Belobigungen.
Argus wurde 2045 offiziell als eigene Konzer-
nentität gegründet, und man findet „Agent Thorn“
in der Liste der ersten Agenten. Er diente Argus als
Speerspitze, so ähnlich wie damals vor Jahren der
INLA. Geheimdienste scheuen die Datentranspa-
renz, aber die Natur von Argus machte viele der
erfolgreicheren Operationen der Agentur zu all-
gemeinem Konzernwissen, und es ist kein Zufall,
dass bei vielen dieser Operationen Agent Thorn
eine wichtige Rolle spielte. Seine anfänglichen
Erfolge verschafften ihm gewaltigen Respekt in-
nerhalb der Organisation, und damit ging auch
ein gewisses Maß an operativer Entscheidungs-
freiheit einher. Interessanterweise wird Agent
Thorn nur selten als Leiter einer Operation auf-
geführt, sondern fast immer als Feldagent.
Caolains Dienst bei Argus umfasst einen
Zeitraum von etwa 28 Jahren, die genaueren
Details darüber fehlen jedoch, widerspre-
chen sich oder wurden überar-
beitet. Gewisse Anhaltspunk-
te deuten auf eine Neigung zu
Thorn 81
 Attentaten und anderen vergleichsweise offenen Operationen hin,
die im Einklang mit Argus’ Natur als verlängerter Arm einer militä-
rischen und nicht korporativen Entität stehen. Agent Thorn war eher
für Blutvergießen als für raffinierte Intrigen bekannt, aber er war in
beidem sehr versiert. Unsere Wege haben sich während unserer Karri-
eren mehrmals gekreuzt, und wir tragen beide noch die Narben dieser
Begegnungen.
Dank seiner früheren Erfahrungen wurde Thorn von Argus oft bei
Verträgen eingesetzt, bei denen der Auftraggeber der Unterlegene war.
Rory bewies ein ausgesprochenes Talent dafür, Aufständische, para-
militärische Rebellen, lokale Milizen und Ähnliches zu organisieren
und zu instruieren, ob es nun bei der Verteidigung neu entdeckter
Diamantenminen in Afrika war, beim Angriff auf Konzerninteressen
in Europa oder als angeblich unbeteiligte Partei bei der Weiterleitung
verdeckter UCAS- und Sioux-Unterstützung an terroristische Zellen
RUNNER
in Tír Tairngire. Jeder, der Argus’ Gebühren zahlen konnte und keine
direkten Aktionen gegen deutsche Staaten verlangte, konnte die Agen-
tur anheuern, und Thorn glänzte in diesen bestenfalls halblegalen Jobs,
die sonst vielleicht an Shadowrunner gegangen wären.
Thorn hielt die Verbindungen zu seinen Unterwelt- und unabhängi-
gen Kontakten aufrecht, nachdem er sich als Konzernmann verpflichtet
hatte; man ermutigte ihn sogar, sie beizubehalten, um sie als Informan-
ten nutzen zu können. Mehr als einmal riss er eine schwierige Operation
herum, indem er die örtliche Unterwelt als Joker verwendete. Manch-
mal setzte er Straßengangs als zusätzliche Muskeln oder Mitglieder von
Go-Gangs als Fahrer ein. Oft war er offen an kriminellen Aktivitäten
beteiligt, um seine Connections bei der Stange zu halten und seine Tar-
nidentitäten zu kultivieren. Häufig verschaffte er diesen Informanten
Waffen und andere Ausrüstung, damit sie loyal blieben, und dadurch
und durch seine Erfahrungen im Umgang mit Aufständischen entwi-
ckelte er eine Vorliebe für Waffenschmuggel im kleineren Maßstab.
> Die russojapanische Unterwelt ist sich immer noch nicht sicher,
ob er einen Undercoverjob hatte oder einfach nur ein bisschen
Profit nebenher machte, aber angeblich wurde er irgendwann vor
ungefähr zehn Jahren bei einem dieser Jobs geschnappt und nach
Sibirien geschickt.
> Red Anya
> Diese Gerüchte sind mir auch bekannt, und sie passen mit
einem Zeitraum zusammen, aus dem es sehr wenige Dokumente
über Thorn gibt. Sollte es stimmen, dann dürfte das einer von
drei Fällen während seiner Karriere sein, in denen er eine Gefäng-
niszelle von innen sah und es nicht im Zuge einer verdeckten
Operation war.
> Fianchetto
Wenn er nicht im Feldeinsatz war, arbeitete Thorn meistens als An-
werbungs- und Ausbildungsoffizier. Er zog es vor, seine Ausbildung
in Kriegsgebieten abzuhalten, wo die Rekruten unmittelbar spürten,
wie wichtig die Lektionen waren, aber oft nutzte er auch die Argus-
Ausbildungsstätte außerhalb von Hannover. Er ist immer noch einer
von Argus’ besten Anwerbern, wenn er in einer Tarnidentität in neut-
ralem Territorium unterwegs ist. Er übertrifft regelmäßig die üblichen
Quoten dieser Tätigkeit, und man kann davon ausgehen, dass er ein
ausgedehntes Netzwerk an Informanten pflegt.
Aus der jüngeren Vergangenheit konnten wir Thorns Darstellung
der Ereignisse in Nairobi bestätigen. Es ist sicher, dass seine Informati-
onen über den UN/Konzerngerichtshof/MET2000-Angriff aus erster
Hand stammen und dass er eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung
und Durchführung dieses Angriffs spielte. Und es besteht auch kein
Zweifel daran, dass es sein letzter Einsatz für Argus war. Als der Angriff
auf Kibera vorüber war, kehrte er nicht mehr in die Zentrale zurück
82 Thorn
und kommunizierte auch nicht mehr mit seinem Führungsoffizier,
und seither wird er in den Akten von MET2000 nur noch als Zielper-
son geführt, nicht mehr als Agent.
Gerüchte lokalisierten ihn seitdem an einem halben Dutzend Orte
in Nordamerika, wo er unter verschiedenen Identitäten unterwegs
war, oft mit einem Reiseplan, der mit einer Serie von Morden überein-
stimmt. Es wird wild spekuliert, für wen er jetzt arbeitet, wenn über-
haupt, doch viele der in letzter Zeit Ermordeten waren Leute, für die
er in der Vergangenheit gearbeitet hatte. Leute, die Thorns Weg von
Berufs wegen gekreuzt haben, scheinen in letzter Zeit unter erhöhter
Sterblichkeit zu leiden, und niemand weiß, wer ihn auf sie ansetzt.
Das psychologische Profil von Thorn zeigt, dass er am leistungsfä-
higsten unter einer lockeren Führung ist – werden die Zügel zu eng
angezogen, reißt er sich los, aber ganz ohne Anleitung scheint er sich
treiben zu lassen –, und wer ihm im Moment die Richtung vorgibt,
bleibt noch herauszufinden. Ist er sich selbst überlassen, sucht er nach
Führung, indem er Aufträge annimmt, daher ist es unwahrscheinlich,
dass er jetzt ganz auf eigene Faust handelt.
> Von ein paar Kollegen habe ich gehört, dass der alte Mann im
Moment reinen Tisch macht und sich auch nicht scheut, sich in
den Schatten Unterstützung zu holen. Die Leichen in seinem Kel-
ler werden ans Tageslicht gezerrt und in Stücke geschossen. Wir
haben doch alle schon mal mit einem Johnson zu tun gehabt, dem
wir am liebsten eine Kugel verpasst hätten, aber dann haben wir
doch für den Credstick darauf verzichtet, nicht wahr? Vielleicht
lebt Thorn ja gerade diesen Traum aus.
> Riser
> Thorn hatte nicht so viele alte Jobs in Nordamerika. Wenn er
den Kontinent auf einem Rachefeldzug durchstreift, so weit ent-
fernt von seinen europäischen und afrikanischen Kumpeln, braucht
er jemanden mit kräftigem Einfluss, der ihm den Rücken stärkt.
> Sticks
Ob Thorn nun auf JackPoint akzeptiert wird oder nicht – ich rate
meinen Mitpostern jedenfalls, ihn nicht zu unterschätzen. Er ist ein
erfahrener Feldagent, der auf dem Gebiet der militärischen Geheim-
dienste schon länger tätig ist, als manche von euch alt sind, und für
den das Alter nur ein Grund zum Lachen ist. Dank seines Metatyps
ist er seit drei Jahrzehnten in seinen besten Jahren, seine Adeptenfähig-
keiten sind seit seinen frühen turbulenten Jahren ständig besser gewor-
den – in einer Zeit, wie man nicht vergessen sollte, voller erfolgreicher
Fluchten vor und aktiver Angriffe auf die Reach Fuileach –, und er ist
ein sehr vielseitiger und gefährlicher Mann.
Lassen wir mal einen Moment die üblichen Fertigkeiten beiseite,
die einen erfolgreichen Spion oder Terroristen ausmachen, wie etwa
Fahren unter Kampfbedingungen, improvisierte Sprengstoffe, Situati-
onseinschätzung, Infiltrationstalent, ein beweglicher Geist und exzel-
lente Körperbeherrschung. Sogar ohne all das muss ich speziell seine
Fähigkeiten im Nahkampf erwähnen.
Mit dem Gewehr ist er ein unübertrefflicher Schütze, was man bei sei-
ner Erfahrung im Feld auch erwarten sollte, aber auch sein Umgang mit
einer Seitenwaffe ist erwähnenswert. Da sich Handwaffen hervorragend
verbergen lassen, sind sie seit einigen Jahren seine Waffen der Wahl, und
er hat mit ihnen ein fast schon artistisches Geschick entwickelt. Thorn
hat eine Vorliebe für Flechettemunition, aber schwer gepanzerte Gegner
sollten sich dadurch nicht in falsche Sicherheit wiegen lassen; seine Treff-
sicherheit ist Weltklasse. Er hat offenbar keine bestimmte Lieblingswaffe,
sondern sieht Handwaffen als die austauschbaren Werkzeuge an, die sie
sind. Man muss immer damit rechnen, dass er mindestens eine davon
greifbar hat, je nachdem, was gerade auf dem lokalen Schwarzmarkt ver-
fügbar ist oder von verstorbenen Gegnern verfügbar gemacht wurde.
 Thorn besitzt außerdem eine fast schon über-
natürliche Fähigkeit, nicht getroffen zu werden.
Er ist nicht so widerstandsfähig wie der übliche
Straßensamurai oder ein vercyberter Söldner, aber
das spielt selten eine Rolle, da er eine Begabung
dafür hat, gegnerischem Feuer auszuweichen. Er
scheint instinktiv jedem Fadenkreuz, Smartlink
und Lasermarkierer zu entkommen und jede Ge-
fahr vorauszuahnen, sodass er mit unheimlicher
Vorahnung zur Seite tritt. Lässt man ihm einen
Moment der Vorbereitung, kann man das Glei-
che auch über magische Angriffe sagen.
Vielleicht kann ich seine Gefährlichkeit am
besten durch Folgendes deutlich machen: Ich
weiß mit Sicherheit nur von drei Fällen aus sei-
ner jahrzehntelangen Karriere, bei denen er da-
rauf angesetzt wurde, jemanden zu töten, und
versagte. Und einer davon war ein Hoher Prinz
von Tír Tairngire. Wer ihn unterschätzt, tut das
auf eigene Gefahr.
> Ich will ihn vielleicht nicht auf JackPoint,
aber das heißt nicht, dass ich in nächster Zeit
vorhabe, etwas gegen ihn zu unternehmen.
> Picador
> Gut. Es gibt keinen Grund, davon auszuge-
hen, dass er in irgendeiner Weise etwas mit
Matadors Tod zu tun hatte. Schuld durch Sip-
penhaft sollte kein Grund für dich sein, ihm
jedes Mal eins überzubraten, wenn er etwas
postet, ganz zu schweigen von einer direkteren
Aktion. Du hast die Leiche schon begraben.
Bleib zivilisiert und lass es gut sein.
> Pistons
> „Wie kein Bund die Löwen und Menschen-
kinder befreundet, auch nicht Wölf’ und Läm-
mer in Eintracht je sich gesellen.“
> Picador
> „Sondern bitterer Hass sie ewig trennt von-
einander.“ Meinetwegen.
> Thorn
> Bei all dem unverhohlenen Hass, den Mr.
Caolain für Tír na nÓg und den dortigen Le-
bensstil an den Tag legt, gibt es ein interes-
santes Muster in seinem Leben. Er folgt ihrem
Pfad des Rades, ohne es zuzugeben. Als er
jung und zornig war, war er ein Krieger, doch
Argus glätte seine rauen Kanten und machte
aus ihm einen Hüter und Spion. Er lebte und
arbeitete als Barde und Druide, als er junge
Kämpfer ausbildete und an den Universitäten
der ganzen Welt Informanten rekrutierte. Jetzt
ist er etwas anderes. Mehr als vorher. Keines
von allem und doch alles. Ein gereifter Geist,
der schließlich sein Schicksal erfüllt.
> Arete
> Huh.
> Thorn
THORN
K G R S C I L W M EDG ESS INI ID
5 7 6(9) 5 7 5 6 5 14 7 5 11(14) 1(4)
Zustandsmonitor (K/G): 11/11
Panzerung (B/S): 4/3
Fertigkeiten: Athletik-Fertigkeitsgruppe 6, Bodenfahrzeuge (Radfahrzeuge) 5 (+2), Cracken-
Fertigkeitsgruppe 2, Einfluss-Fertigkeitsgruppe 6, Einschüchtern 4, Elektronik-Fertigkeits-
gruppe 4, Entfesseln 4, Erste Hilfe (Kampfverletzungen) 3 (+2), Fälschen 3, Flugzeuge 3,
Geschütze 3, Gewehre 5, Handwerk (Schauspielerei) 4 (+2), Heimlichkeit-Fertigkeitsgrup-
pe 6, Klingenwaffen 3, Knüppel 3, Mechanik-Fertigkeitsgruppe 2, Natur-Fertigkeitsgrup-
pe 4, Pistolen (Halbautomatische) 7(9) (+2), Schiffe 4, Schlosser 5, Schnellfeuerwaffen 5,
Schwere Waffen 3, Sprengstoffe (Improvisiert) 5 (+2), Tauchen 4, Unterricht 5, Waffenbau
(Feuerwaffen) 3 (+2), Waffenloser Kampf (Kampfkunst) 6 (+2), Wahrnehmung (Visuell)
6 (+2)
Wissensfertigkeiten: Afrikanische Politik 5, Betriebswirtschaft (Megakonzerne) 2 (+2), Che-
mie 2, Europäische Politik 4, Geschichte (Europäische) 5 (+2), Gute Küche (Alkoholische
Getränke) 4 (+2), Literatur 4, Magischer Hintergrund 6, Philosophie (Antike) 4 (+2),
Schmuggelrouten 3, Sicherheitsdesign 5, Sicherheitsprotokolle (Militär) 5 (+2), Söldne-
reinheiten 4, Spionage-Handwerkszeug 6, Taktiken von Grenzpatrouillen 3, Tír-na-nÓg-
Politik 5, Tír-Tairngire-Politik 5, UCAS-Politik 3, Afrikaans 3, Arabisch 3, Deutsch 4,
Englisch 6, Französisch 5, Hausa 3, Irisches Gälisch M, Italienisch 5, Japanisch 4, Russisch
3, Schottisches Gälisch 6, Spanisch 5, Sperethiel 6, Swahili 3, Walisisch 5, Yoruba 3
Gaben: Adept, Beidhändigkeit, College-Abschluss, Glück, Kampfkunst (+1 Schaden Waffen-
los, Waffe Bereitmachen als Freie Handlung, Zielen als Freie Handlung), Katzenhaft, Mut,
Talentiert (Pistole)
Handicaps: Dossier, Feind (diverse), Immunabstoßung, Schlechte Selbstbeherrschung: Rach-
sucht, SIN-Mensch
Initiatengrad: 8
Metamagie: Adeptenzentrierung, Erkenntnis, Flexible Signatur, Infusion, Maskierung, Phy-
sische Kontrolle
Adeptenkräfte: Adrenalinkick (Geschicklichkeit) 1, Gegenangriff 1, Geschärfte Sinne (Schall-
dämpfung, Selektiver Geräuschfilter), Geschickte Finger, Gesichtsformung 1, Gesteigerte
Reflexe 3, Kampfsinn 2, Keratinkontrolle, Körpersprache 3, Kritischer Schlag 2, Magiere-
sistenz 2, Meister der 1000 Gesichter, Melaninkontrolle, Mystischer Mantel 1, Sprachta-
lent, Stimmkontrolle, Todeskralle, Verbesserte Fertigkeit (Infiltration) 1, Verbesserte Fer-
tigkeit (Pistolen) 2
Ausrüstung: Aces High Gepanzerte Jacke [B/S 3/3], 4 Automatische Dietriche 6, Brille [Stufe
4; Bildverbindung, Sichtverbesserung 3, Sichtvergrößerung, Smartlink], Kommlink [Tran-
sys Avalon mit Iris Orb; Prozessor 4, Signal 4, Firewall 3, System 3], Panzerkleidung [B/S
4/0], 6 Stimulanz-Patches, Triumph Bonneville Rennmotorrad (Werte wie Indian Path-
finder)
Waffen:
Ares Viper Slivergun [Schwere Pistole | Schaden 8K(f ) | PB +5 | HM/SM | 30(s)]
IR-Rauchgranate [Granate | Sprengwirkung 10 m Radius | 4 Kampfrunden]
Thorn 83
 TOMMY TALON
> Das Interessante an jemandem wie Tommy Talon ist, wie viele > Das war gar nicht so ungewöhnlich. Vergiss nicht, wir reden
Leute ihn kennen oder von ihm gehört haben. Deshalb dachte ich
mir, dass es vielleicht eine ganz gute Idee ist, diesen Artikel über
ihn als eine Art Open-Source-Artikel zu behandeln – Winterhawk
hat die Grundlagen zusammengetragen und genug Raum für den
Rest von euch (und den einen oder anderen Gast) gelassen, damit
ihr den wirklich interessanten Kram einfügen könnt. Los geht’s!
> FastJack
RUNNER
Als talentierter Zauberer und Runner, der es bis unter die besten
unseres Gewerbes gebracht hat, hat Tommy Talon am eigenen Leibe
erfahren, dass wahre Magie aus dem Herzen und der Seele kommt und
dass man sehr vorsichtig sein muss, was man sich wünscht, denn die
Ergebnisse können später auf einen zurückfallen. Und in Talons Fall
war das tatsächlich so. Fangen wir mit den Grundlagen an: Talon ist
ein Straßenmagier, der überwiegend in Seattle, Los Angeles und Bos-
ton gearbeitet hat. Er ist ein bekannter Partner von Assets, Inc., sowie
von Toshi Akimura („Silk“) und Smedley Pembreton III. („Boom“),
beide ehemalige Mitglieder von Dunkelzahns Beobachtern.
> Talon lief mit Pembreton in Boston und Seattle und arbeitete in
den 2050ern mit Akimura in den Schatten von Seattle zusammen,
also kannte er sie wahrscheinlich beide schon, bevor und während
sie für Dunkelzahns Beobachter angeworben wurden. Keiner, mit
dem ich mich unterhalten habe, weiß mit Sicherheit, ob Talon di-
rekt für den großen Wurm gearbeitet hat, aber er hatte auf jeden
Fall mit einem Haufen Leuten aus seinem Umfeld zu tun.
> Sunshine
> Soweit ich weiß, hat Talon nicht direkt für Dunkelzahn gearbei-
tet. Aber natürlich hat sich der alte Weiswurm nicht in die Karten
sehen lassen, also kann es gut sein, dass Talon ein „Schläfer“ war
oder anderweitig in Dunkelzahns Machenschaften verwickelt war,
ohne es vielleicht selbst zu wissen.
> Frosty
DIE FRÜHEN JAHRE
Talon wurde irgendwann um 2030 im Bostoner Metroplex geboren.
Er war SINlos, wie so viele andere Kinder auch, die in den städtischen
Ballungszonen des Nordwestens nach dem ersten Crash und der Grün-
dung der UCAS geboren wurden (mit all dem bürokratischen Durch-
einander, das das zur Folge hatte). Er verbrachte seine frühe Kindheit
und seine jungen Jahre in einem katholischen Waisenhaus im Süden
Bostons.
Als Teenager verließ Talon das Waisenhaus, vielleicht weil zu der
Zeit gerade sein magisches Talent Erwachte, ein Phänomen, das zur
damaligen Zeit noch kaum verstanden wurde. Später ging er an das
MIT&T, mit einem Konzernstipendium von Mitsuhama Computer
Technologies.
> Vom Waisenkind zum Studenten eines der besten thaumatur-
gischen Programme an einer der besten Unis der Welt? Wie war
das möglich?
> Cosmo
84 Tommy Talon
GEPOSTET VON: WINTERHAWK
hier von einem gerade erblühenden Magier nur eine Generation
nach dem Erwachen. Die Konzerne rekrutierten immer aggressiver
Erwachte, und arme, sozial benachteiligte oder SINlose Kids waren
die vielversprechendsten Rekruten, da die meisten von ihnen nur
zu bereitwillig ihr Leben den Konzernen überschrieben, wenn sie
dafür die Aussicht auf einen Weg aus ihren miesen Lebensbedin-
gungen erhielten. Der Konzern finanzierte dann ihre Ausbildung,
solange sich diese Investition auszuzahlen schien – in Form eines
loyalen Lohnmagiers. Also so ähnlich wie bei talentierten College-
sportlern, nur mit einem magischen Hintergrund.
> Ethernaut
> Aber da gibt es immer noch eine Lücke. Allem Anschein nach
ging Talon in der Mitte seiner Teenagerjahre auf die Straße, schrieb
sich aber erst einige Jahre später am MIT&T ein. Für etwa zwei bis
vier Jahre fehlen alle Informationen.
> Mr. Bonds
> Es gibt da eine interessante Korrelation, wenn man mal die Bosto-
ner Nachrichtenarchive aus der Zeit durchforstet. Kurz bevor Talon
aufs MIT&T ging, wurde eine Gang aus Südboston, die Asphalt Rats,
ausgelöscht. Sie gerieten in einer Seitenstraße in einen Hinterhalt
und wurden durch einen magischen Feuerball getötet. Die Magiefo-
rensik der Bostoner Polizei bestätigte das, doch die Ermittlungen
verliefen im Sande und man führte die Tat auf einen Streit zwischen
Wizgangs oder einen aus dem Ruder gelaufenen Straßendeal zurück.
Das Interessante daran ist, dass nur wenige Tage zuvor die Asphalt
Rats in einen Zwischenfall verwickelt waren, bei dem anscheinend
einige Mitglieder der Gang einen jungen Mann erschossen. Der Name
des Opfers war Jason Vale, und die Cops suchten nach einem Au-
genzeugen des Verbrechens – Vales jüngerem Lebensgefährten, der
anderen Zeugen zufolge den Namen „Tommy“ getragen haben soll.
> DangerSensei
> Also legten Ganger Talons damaligen Freund um, und er machte
Briketts aus ihnen? Das würde bedeuten, dass er schon eine ganze
Menge Magie konnte, bevor er mit seinem Studium begann, und das
heißt wiederum, dass er bereits auf der Straße Magie gelernt hat.
> Haze
> Nach dem bisschen, das ich über Jason Vale in Erfahrung bringen
konnte, war er ein Straßenmagier, der sein Talent dazu einsetzte,
den Einheimischen zu helfen. Er könnte Talon das eine oder andere
beigebracht haben, während sie zusammen waren.
> Hannibelle
> Ich weiß ein bisschen was über die Sache mit den Asphalt Rats.
Die Straße, in der sie getötet wurden, wurde danach noch lange „Fire
Alley“ genannt. Und da hing ein ziemlich übles Juju in der Luft, das
kann ich euch sagen. Nicht nur von der Sorte, wie man es ohnehin
erwartet, wenn mehrere Leute bei lebendigem Leibe verbrannt werden
(das ist schon schlimm genug); was auch immer da geschehen ist, es
war ziemlich kranke Magie daran beteiligt. Aber irgendjemand muss
da aufgeräumt haben, denn ein Bekannter in Boston hat mir erzählt,
dass die Fire Alley jetzt schon seit einigen Jahren astral sauber ist.
> Ethernaut
 Allem Anschein nach hat Talon einige seiner Straßenkontakte wei-
terhin gepflegt, während er am MIT&T studierte. Und während seines
zweiten Studienjahres begann er, nebenher in den Bostoner Schatten
zu arbeiten. Am Ende des Semesters wurde Talon in einer Prüfung bei
einem Täuschungsversuch erwischt und flog von der Uni. Bevor MCT
sich auf die Strafklausel seines Vertrages berufen konnte, wurde der
volle Geldbetrag, der in Talons Ausbildung gesteckt worden war, auf
Heller und Pfennig zurückgezahlt, und der Vertrag erlosch.
> Wer hat es bezahlt?
> DangerSensei
> Möglicherweise Talon selbst, mit Geld, das er durch Shadowruns
verdient hat. Aber trotzdem ist es ein ziemlich happiger Betrag,
> Wobei die Einzelheiten an anderer Stelle endlos diskutiert werden.
> Frosty
> Hat Talon etwas von Dunkelzahn geerbt?
> Slamm-0!
> Anscheinend nicht, es sei denn, es gelangte auf Umwegen zu ihm,
was durchaus möglich ist. Vielleicht hat er daher den Kraftfokus, der
so etwas wie sein Markenzeichen ist? Talon wird im Testament sel-
ber nicht namentlich erwähnt, aber was wir von Dunkelzahns Plänen
wissen, ist ja ohnehin nur die Spitze des Eisbergs. In einem Post auf
Shadowland vom Oktober 2057 erzählt Talon, wie er Dr. Miles Swin-
burne half, der ein altes Tarotkartenspiel von Dunkelzahn geerbt hat,
und dabei erwähnt er keinerlei Verbindung zum Drachen oder seinem

RUNNER
also hatte er vielleicht noch Hilfe von anderer Seite. Testament (nicht dass er es hätte tun müssen, wenn es so wäre).
> Mr. Bonds > Pistons

> Talon wurde nicht beim Bescheißen „erwischt“. Wie ich es ge- > Einige Jahre nach Dunkelzahns Tod, und nachdem er Assets, Inc.,
hört habe, hat er absichtlich geschummelt und es darauf angelegt, verlassen hatte, begann Talon, einen Kraftfokus zu tragen, der „Dra-
sich erwischen zu lassen, um seinen Vertrag zu verletzen und die gonfang“ heißt und der aussieht wie ein Fangzahn aus Kristall an
Strafklausel wirksam werden zu lassen. Anscheinend hatte er auf einer silbernen Halskette mit keltischen Symbolen. Das könnte ein
einem Run in Boston herausgefunden, dass Mitsuhama die Asphalt Erbstück von Dunkelzahn sein.
Rats dafür bezahlt hatte, seinen Freund umzubringen. Talon hat- > Axis Mundi
te ihr Angebot eines Stipendiums zuvor abgelehnt, doch als ihn
nichts mehr in den Straßen Bostons hielt, nahm er es an. Er zahlte > Dicht dran, aber nicht ganz.
MCT mit Geld aus ihren eigenen Safes aus, gründlich gewaschen > Man-of-Many-Names
und mit einem Lächeln überreicht, dann tauchte er in den Schat-
ten unter. Er wollte immer den verantwortlichen MCT-Mittelsmann > Auch wenn ich das jedes Mal frage: Weißt du wirklich etwas oder
ausfindig machen, aber ich weiß nicht, ob es ihm gelungen ist. haust du nur auf die Kacke?
> Frosty > Snopes

> Es ist.
> FastJack

KARRIERE

Nach seinem Weggang vom MIT&T war Talon noch eine Weile in den
Bostoner Schatten tätig, bis er sich auf den Weg nach Los Angeles mach-
te, wo er etwa ein Jahr lang arbeitete, bevor er mit dem Trollrocker Boom
(Smedley Pembreton) nach Seattle ging. In Seattle arbeiteten die beiden
mit Toshi Akimura (Straßenname „Silk“) zusammen. Pembreton und
Akimura arbeiteten später als Beobachter auf Abruf für den Großen
Drachen Dunkelzahn, allerdings wurde ihre Verbindung zum Dra-
chen erst nach dessen Tod bekannt.

PERSÖNLICHE DATEN: TOMMY TALON

Alter: etwa 43 Größe: 1,76 m
Gewicht: 78 kg Haarfarbe: Braun
Augenfarbe: Braun Geschlecht: Männlich
Metatyp: Mensch Erwacht: Ja
(Hermetischer Magier)

Tommy Talon 85
 > Die Antwort wird kommen, doch nicht von mir.
> Man-of-Many-Names
Talon machte im Shadowrunnerspiel einen gewaltigen Sprung nach
oben, als er die Zusammenarbeit mit Assets, Inc., begann, einem Elite-
team von Runnern unter der Leitung des Adepten Quicksilver (der seine
eigenen Verbindungen zu Dunkelzahn hatte). Talon arbeitete mit dem
Team auf Ad-hoc-Basis zusammen, aber schließlich verließ er es wieder
und kehrte in seine Heimatstadt Boston zurück.
> Talon ersetzte die vorherige Magierin des Teams, Miranda, die bei
einem Einsatz ums Leben kam.
> Kay St. Irregular
> Wenn man den Bildern aus der Zeit glauben darf, hatte Assets de-
RUNNER
finitiv positive Auswirkungen auf Talons Erscheinungsbild: Kurz nach-
dem er mit ihnen zu arbeiten begonnen hatte, ließ er sich die Haare
kurz schneiden, legte seinen schmuddeligen „Straßenmagier“-Look
ab und kleidete sich in eine (für damalige Verhältnisse) modischere
Kluft. Eine deutliche Verbesserung, wenn ihr mich fragt.
> Aracos
> Außerdem schaffte er sich irgendwann in dieser Zeit einen ma-
gischen Dolch an. Talon war daran beteiligt, Mary Beth Tyre, die eben-
falls in Dunkelzahns Testament erwähnt wird (Seht ihr das Muster? Es
ist so deutlich, dass man es vom Weltraum aus erkennen kann!), aus
einem Nest von Ameisengeistern zu retten. Miss Tyres Berichte über
ihre Rettung erwähnen, dass Talon einen „glühenden goldenen Dolch“
schwang, mit magischen Buchstaben und einem Edelstein im Knauf.
> Axis Mundi
> Er heißt „Talonclaw“. Er hat ihn selbst gemacht.
> Aracos
> Talon verließ Assets, Inc., gleich nach dem Mary-Beth-Tyre-Run
und zog nach Boston um, aber nicht bevor seine Wohnung in DeeCee
in die Luft flog. Angeblich war seine Trennung von Assets nicht gera-
de freundschaftlich, es soll sogar zu Handgreiflichkeiten gekommen
sein.
> Kay St. Irregular
> Das stimmt so nicht. Quicksilver und Talon hatten nach dem Tyre-
Run einen Streit, das ist richtig, aber die Sache mit seiner Wohnung
hatte nichts mit Assets zu tun, ebenso wenig seine Rückkehr nach
Boston. Beides hatte private Gründe.
> Jane-in-the-Box
> Wie oben schon gesagt wurde: Man sollte vorsichtig sein, was man > Ich dachte schon, ihr würdet nie fragen. Ein Beispiel, das ich anfüh-
sich wünscht, wenn Magie im Spiel ist. Jane hat recht: Talon muss-
te sich damals in Boston um persönliche Angelegenheiten kümmern,
und die waren es unter anderem auch, die ihn dort hielten.
> Aracos
In Boston gründete Talon ein neues Team in Zusammenarbeit mit sei-
nem alten Partner Boom, inzwischen Besitzer des Nachtclubs Avalon und
etablierter Schieber. Sie stellten ein Team zusammen, das schnell als eines
der besten im Metroplex bekannt wurde und viele Jobs im Kielwasser solch
hochkarätiger Ereignisse wie der Gründung des Dunkelzahn Instituts for
Magical Research erledigte. Auch aufstrebende Konzerne wie Manadyne,
die aggressiv auf den Markt drängten und nach jedem Vorteil gierten,
wurden nützliche Klienten. Zu Talons Team gehörten Harlan „Hammer“
Hammarand aus NYC, Trouble (eine Hackerin aus der Atlantikregion)
und Valkyrie, eine aus Europa stammende Fahrerin und Pilotin.
86 Tommy Talon
> Ein späteres, weniger bekanntes Mitglied von Talons Team in jener
Zeit versteckte sich meist vor aller Augen. Talon wurde manchmal von
einem Falken mit goldbraunen Federn oder einem Wolf mit silbernem
Fell und glühenden Augen begleitet, mit ziemlicher Sicherheit ein
Verbündetengeist. Es gibt Gerüchte über ein mittelmäßig wichtiges
Mitglied der Illuminates of the New Dawn, das in Boston einen be-
stimmten Gegenstand an Talon „verlor“. Der Mann hatte angeblich
gesehen, wie sich das Motorrad, auf dem Talon fuhr, in besagten Fal-
ken verwandelte und Talon dabei half, seine magische Verteidigung
zu durchdringen! Der fragliche Gegenstand tauchte später beim Dun-
kelzahn Institut in Cambridge auf.
> Ethernaut
> Ein Verbündeter in Gestalt eines Motorrads? Das ist der absurdeste
Blödsinn, den ich je gehört habe.
> Snopes
> Och, ich weiß nicht. Ich habe schon Seltsameres gesehen.
> Aracos
> Das ist gar nicht so unsinnig. Viele traditionelle Sagen berichten
von Zauberern, die von einem Verbündeten in der einen oder ande-
ren Gestalt befördert wurden, etwa von fliegenden Pferden, Rentieren
oder Ziegen, ganz zu schweigen von wandernden Hütten oder flie-
genden Teppichen. Ein Geist, der in der Lage ist, die Gestalt eines
Motorrads anzunehmen und auch die Grundfunktionen dieser Gestalt
auszuführen, ist zumindest theoretisch denkbar. In der Magie haben
oft die absurdesten Ideen den größten Effekt.
> Axis Mundi
Talon stieg mit seinem Team in höhere Kreise auf und hielt sich dort
auch einige Zeit. Dazu gehörten Deals mit dem Dunkelzahn Institut,
Saeder-Krupp, Cross Applied Technologies und einigen der Gruppierun-
gen, die in den Bostoner Schatten tätig waren, etwa den irischen Exilan-
ten der Knights of the Red Branch.
> Das ist eine schon fast kriminell kurze Zusammenfassung der Jahre,
in denen wir zusammengearbeitet haben, aber ich habe auch nicht
erwartet, dass dazu allzu viele Informationen im Umlauf sind. Ich
kann euch sagen, dass viele dieser „Deals“ sich als weit mehr heraus-
stellten, als sie zu sein schienen, wie meine Teamkollegen aus eigener
Erfahrung berichten könnten.
> Boom
> Würde es dir etwas ausmachen, ein paar Details preiszugeben?
> Snopes
ren kann, ist der Run, bei dem Talon seinen Kraftfokus „Dragonfang“
bekam. Er war ein Geschenk von Lofwyr, ein Andenken an ein beson-
ders unerfreuliches Erlebnis in Europa. Wir waren beauftragt worden,
einen vermissten Archäologen zu finden, sowie das Artefakt, das er
mitgenommen hatte, aber wir wussten nicht, dass dieses Artefakt als
Falle für Lofwyr dienen sollte. Als die Falle später beim Übergabe-
treffen ausgelöst wurde, war ich mir sicher, dass wir Lofwyrs Tod auf
dem Gewissen hatten und für den Rest unseres zweifellos sehr kurzen
Lebens auf der Flucht vor Saeder-Krupp oder dem Verantwortlichen
für die Falle sein würden, oder vor beiden. Wie sich herausstellte, war
Lofwyr absichtlich in die Falle getappt, um herauszufinden, wer da-
hintersteckte. Dragonfang war offenbar seine Art, sich zu bedanken...
oder vielleicht auch die nächste Falle aufzustellen, wer weiß. Sollte
das der Fall sein, habe ich allerdings nichts wieder davon gehört.
> Boom
> Wann war das?
> Snopes TOMMY TALON

> Oh, ungefähr vor zehn Jahren, während der Europaphase der K G R S C I L W M EDG ESS INI ID
Ragnarock-Welttournee. Du kannst es nachschlagen.
3 3 4 2 5 4 3 6 9 4 5,7 8 1
> Boom

> Was ist mit den Knights of the Red Branch? Irgendwann um
2061 verloren sie ihren Anführer und hätten sich fast aufge-
löst. Hatte Talon etwas damit zu tun?
> Thorn
> Indirekt. Wir konnten die Knights daran hindern, ein gefähr-
liches Kampfgift im Metroplex freizusetzen. Was nur recht und
billig war, denn wir waren in gewisser Weise dafür verantwort-
Zustandsmonitor (K/G): 10/11
Panzerung (B/S): 8/6
Fertigkeiten: Arcana 5, Askennen 5, Astralkampf 4, Beschwören-Fertigkeitsgruppe
6, Bodenfahrzeuge 2, Einfluss-Fertigkeitsgruppe 3, Hexerei-Fertigkeitsgruppe 6,
Infiltration 2, Klingenwaffen (Dolche) 3 (+2), Pistolen 3, Verzaubern 3, Waffen-
loser Kampf 2

lich, dass sie es überhaupt bekommen hatten. Aber welcher
Runner war nicht schon einmal in einer solchen Situation?
> Boom
> Schon viele, aber nicht alle haben sich die Mühe gemacht,
die Situation wieder zu bereinigen.
> Riser
RUNNER
Wissensfertigkeiten: Combat Biking 2, Große Drachen 2, Katholische Kirche 3,
Magische Artefakte 4, Magische Gruppen 5, Motorradhersteller 3, Runnergrup-
pen 4, Straßenwissen (Bostoner Schatten) 4 (+2), UCAS-Politik 3, Englisch M,
Spanisch 2, Sperethiel 2
Gaben: Erhöhte Konzentrationsfähigkeit, Zauberer (Hermetischer Magier)

Nach dem Vorbeiflug des Halleyschen Kometen und der ersten
SURGE-Welle in der Gegend um Boston ließen die Aktivitäten
von Talon und seinem Team etwas nach. Innerhalb von zwei Jah-
ren verschwand Talon mehr oder weniger aus den Bostoner Schat-
ten, während einige seiner Partner – wie etwa Pembreton – immer
noch dort tätig sind. Talons gegenwärtiger Aufenthaltsort und
Status sind unbekannt.
> Und so wird es auch bleiben. Aber FastJack hat mich hier
nur unter der Voraussetzung eingeladen, dass ich zumindest
ein bisschen entgegenkommend bin, also hier ein paar zusätz-
liche Informationen: Zwei der Leute, mit denen Talon in Seattle
arbeitete, gingen zu Dunkelzahns Beobachtern. Auch wenn er
nicht ausdrücklich in Dunkelzahns Testament erwähnt wird,
arbeitete er später mit Assets, Inc., zusammen, einem von
Dunkelzahns persönlichen Schattenteams, und in dieser Zeit
sah er Dinge, die nur wenige Menschen zu Gesicht bekommen.
Später wurde er von Lofwyr auserwählt, ihm als Strohmann bei
einer Auseinandersetzung mit dessen Bruder Alamais in Eur-
opa zu dienen, und wurde mit einem Geschenk belohnt, das
den Teil eines uralten magischen Relikts enthält. Erkennt ihr
ein Muster? Wie wäre es damit: Im Jahr des Kometen, als die
Shedim erschienen, ging Talon in die Tiefen der Metaebenen,
um den Geist seines vor langer Zeit ermordeten Geliebten zu
suchen. Er erzählte, dass er auf seiner Queste zu einem Ort,
über den ich nicht einmal Andeutungen machen kann, gespürt
habe, wie sich etwas an ihm vorbei bewegt habe, etwas Gewal-
tiges und Mächtiges und Altes,, und dass er ein Triumphgebrüll
im Äther gehört und einen kalten Wind verspürt habe. Das war
an dem Tag, als Ghostwalker aus dem Riss in Washington kam.
Manchmal hat man gar keine andere Wahl, als sich mit Drachen
einzulassen.
> Aracos
> Korrigiere mich, wenn mich mein Gedächtnis im Stich lässt,
aber heißt „Aracos“ nicht „Falke“ auf Gälisch?
> Ethernaut
Initiatengrad: 5
Metamagie: Abschirmung, Maskierung, Reinigung, Verbündetenbeschwörung,
Zentrierung (Gesang oder Gesten)
Zauber: Betäubungsblitz, Blitzstrahl, Geistessonde, Heilen, Levitieren, Magie Auf-
spüren, Manablitz, Physische Barriere, Physische Maske, Trugbild, Zauberfin-
ger
Gebundene Geister: Üblicherweise je ein Erd-, Feuer-, Luft- und Wassergeist mit
Kraft 5 und 3 Diensten
Ausrüstung: Kraftfokus [Kraft 4, „Dragonfang“], Panzerjacke [mit Kohlefasersä-
ge im rechten Ärmelaufschlag] [B/S 8/6], Seesack [gefälschte IDs, 1.000 ¥ in
Hardcopy oder beglaubigten Credsticks, 2 Trauma-Patches, persönliche Ge-
genstände], Sichtgerät 2 [Bildverbindung, Mage Sight], Waffenfokus [Kraft 5,
„Talonclaw“]
Bodytech: Datenbuchse, Kommlink [Spezialanfertigung; Prozessor 6, Signal 5,
Firewall 6, System 4]
Waffen:
Colt America L36 [Leichte Pistole | Schaden 4K | PB – | HM | RK – | 11(s) | La-
sermarkierer]
Talonclaw [Dolch und Waffenfokus | Reichweite – | Schaden 3K | PB –]
Verbündetengeist: Aracos [Kraft 4; Gestalten: goldener Falke, silberner Wolf,
Yamaha Rapier (Motorrad); Kräfte: Astrale Gestalt, Bewusstsein, Realistische
Gestalt, Sinnesverbindung, Verbannungsresistenz; Fertigkeiten: Antimagie 4,
Askennen 5, Astralkampf 4, Ausweichen 4, Fliegen 4, Waffenloser Kampf 4,
Wahrnehmung 4]
Anmerkungen: Diese Werte repräsentieren Talon auf dem Höhepunkt seiner Karri-
ere, etwa zwischen den Romanen Ragnarock und Zeit in Flammen. Am Ende von
Zeit in Flammen wird Aracos ein Freier Geist (Straßenmagie, S. 121).

> In der Tat.

> Aracos
Tommy Talon 87
 WINTERHAWK
PERSÖNLICHE DATEN: WINTERHAWK
Alter: 37 Größe: 1,77 m
Gewicht: 79,1 kg Haarfarbe: Schwarz/Grau
Augenfarbe: Braun Geschlecht: Männlich
Metatyp: Mensch Erwacht: Ja
RUNNER
(Hermetischer Magier)
Winterhawk ist ein Mann, mit dem ich mich identifizieren kann, denn
wir haben beide zwei Seelen in unserer Brust wohnen: Die eine Sei-
te von uns würde sich gerne in stille akademische Studien versenken,
doch unsere abenteuerliche Seite lässt uns nicht zur Ruhe kommen.
Das liegt zum Teil daran, dass efeubewachsene Mauern und endloses
Bücherstudium den Geist letztlich zu sehr einschränken und lähmen.
Außerdem ist die Welt viel zu interessant, um die ganze Zeit stillzusit-
zen und zu ignorieren, was sie uns zu bieten hat.
Der Mann, der heute unter dem Namen Winterhawk bekannt ist,
nahm einen Weg in die Schatten, der nicht geplant, aber nichtsdesto-
trotz unvermeidlich war. Er ist nicht unter solch alptraumhaften Bedin-
gungen aufgewachsen wie viele von uns hier, aber er musste trotzdem
um alles kämpfen. Der unter dem Namen Alexander King geborene
junge Mann war davon überzeugt, dass eine gute Ausbildung der beste
Weg aus einem mühseligen Leben sei. Sein Vater war gestorben, als er
ein Jahr alt war, und seine Mutter verlor bei einer Konzernfusion ihren
Job als Rezeptionistin. Sie musste sich und ihr Kind in Ipswich durch-
schlagen, so gut es eben ging. Sie hatte eine SIN, aber sonst kaum etwas,
und es gelang ihr nie mehr, einen Konzernjob zu finden. Alexander
sah sich den gleichen Problemen gegenüber wie alle Kinder in seiner
Situation – Druck durch Straßengangs, Angebote, als Drogendealer zu
arbeiten, und dergleichen –, aber er schaffte es, seine Finger aus allem
herauszuhalten und in der Schule gute Noten zu erzielen.
> Reden wir davon, dass er tatsächlich seine Finger heraushielt,
oder dass er einfach nie genug anstellte, um die Behörden auf sich
aufmerksam zu machen?
> Goatfoot
> Eher Letzteres. Winterhawk ist ein rational denkender Mensch
und neigt normalerweise nicht dazu, Probleme mit Gewalt zu lö-
sen, wenn es nicht nötig ist, aber genau diese Rationalität lässt
ihn auch erkennen, dass es Situationen gibt, in denen die gezielte
Anwendung von Gewalt eine langfristige Sicherheit garantieren
kann. Er war nicht gerade das stärkste Kind in seinem Viertel, aber
er lernte das eine oder andere darüber, wann man Gewalt einsetzt
und wie man sie am besten einsetzt.
> Fianchetto
Als er alt genug war, bekam er von Zeta-ImpChem ein Stipendium
für die University of East Anglia. Sein Weg schien vorgezeichnet – Uni-
versität, ein Job als Chemieingenieur, ein solides Leben, das ereignislos
sein mochte, aber ihm immer eine warme Mahlzeit garantierte.
88 Winterhawk
GEPOSTET VON: FIANCHETTO
Doch in seinem ersten Semester Erwachte er.
Wie die meisten frisch Erwachten konnte Winterhawk seine Be-
gabung nicht verbergen, denn er leuchtete im Astralen wie ein Feuer-
werk. An der Universität gab es genug Leute, die erkannten, was mit
ihm geschah, und eine gute Vorstellung davon hatten, wie sie das Beste
aus seinem Talent machen konnten. Sie machten sich vorsichtig an ihn
heran und ließen ihn wissen, dass sein Leben nicht notwendigerweise
dem Weg folgen musste, der bis dahin unvermeidlich erschienen war.
Doch noch etwas anderes erwachte in Winterhawk zusammen mit
dem magischen Funken. Er erkannte, dass er zum ersten Mal in sei-
nem Leben etwas hatte, das andere wollten, und dass ihm das eine
gewisse Macht verlieh. Er entschied klugerweise, dass er auf keinen Fall
sofort eine Entscheidung treffen musste, denn er hatte immer noch
sein Stipendium von Zeta-ImpChem. Er beendete seine allgemeine
Ausbildung unter Z-ICs Schirmherrschaft, dann schritt er zur Tat. Er
kontaktierte einen seiner Umwerber – die Draco Foundation – und
erklärte, dass er in ihrem Namen Forschungen betreiben würde, wenn
sie ihn aus den Klauen von Zeta-ImpChem befreien würde. Er achtete
darauf, einen Deal zu machen, bei dem er nach seinem Abschluss kei-
nen Vollzeitjob ausführen musste.
> Diese Phase seines Lebens trug sehr dazu bei, Winterhawks
Weltanschauung zu formen. Er hatte nicht erwartet, dass sich viel
ändern würde, doch plötzlich waren alle möglichen Leute an ihm
interessiert. Und über ihr Interesse konnte er sie leicht manipu-
lieren. Wahrscheinlich hatte er schon als Alexander King einen
gewissen Hang zum Zynismus, doch seine Erfahrungen bei der Ma-
nipulation seiner Interessenten verstärkten diese Tendenz noch
einmal kräftig. Zum Glück für uns alle macht ihn dieser Zynismus
eher amüsiert als verbittert.
> Pistons
Winterhawks Manöver waren erfolgreich. Er wechselte zum Studi-
um der Thaumaturgie, machte seinen Abschluss und lehnte standhaft
alle Angebote einer dauerhaften Anstellung ab. Stattdessen nahm er
Jobs an, die ihn auf Wanderschaft brachten – als Gastdozent hier, als
Gastwissenschaftler dort, und natürlich immer mal wieder als Mietzau-
berer. Er nahm den Namen Winterhawk an, um sich so etwas wie
ein persönliches Markenzeichen zu geben, was auch den gewünschten
Effekt hatte – sein Name ist in magischen Kreisen wohlbekannt, und
er ist an einem Punkt angekommen, wo er sich seine Arbeit danach
aussuchen kann, was ihn interessiert.
> Ich würde schwer erröten, wenn ich nicht wüsste, dass das nicht
ganz der Wahrheit entspricht. Ja, für gewöhnlich habe ich eine
ausreichende Zahl an Möglichkeiten zur Auswahl, doch die Welt ist
zu kompliziert und verwickelt, als dass ich einfach dorthin gehen
könnte, wohin mich meine Interessen ziehen. Wie bei jedem, der
lange genug in diesem Geschäft tätig ist, gibt es auch bei mir ein
paar Leute, die mich nicht mögen, und ein paar Leute, die mir zu
ihrem eigenen Vorteil einen Job aufzwingen wollen. Ein schnelles
Beispiel – ich habe ein paar interessante Dinge über eine Entde-
ckung in der Antarktis gehört und würde liebend gern einen Job
annehmen, um mir die Sache genauer anzusehen, aber nach allem,
was ich gehört habe, könnte mich die Mission leicht in Kontakt
mit einigen Aztechnology-Teams bringen, und ich stehe mit Big A
momentan nicht auf allzu gutem Fuß. Ich will nicht sagen, dass
ich Angst vor ihnen habe, aber wenn ich mich mit einigen ihrer Kampfmagi-
er auseinandersetzen muss, noch dazu mit missgünstigen Kampfmagiern,
dann möchte ich dabei lieber nicht inmitten einer kalten, unendlichen
Einöde stecken.
> Winterhawk

Eines von Winterhawks besonderen Interessengebieten ist die Frage, wie

menschliche Angelegenheiten und andere Ereignisse die magische Charakte-
ristik einer bestimmten Region beeinflussen können. Dieses Interesse führte
auch dazu, dass er vor Kurzem an einer Expedition in die Tiefe Lacuna
teilnahm, worüber er schon ein paar Worte in der Konzernenkla-
ven-Datei verloren hat. Er hat jedoch nicht erwähnt, dass er dort
in einem Mini-U-Boot unterwegs war, als einige Geister, die von
Caltech-Wissenschaftlern beschworen worden waren, angegriffen
wurden. Das U-Boot befand sich etwa fünfzehn Meter über den

RUNNER
Geistern, und alles schien völlig normal zu sein, bis die Geister
plötzlich verschwanden. Einer von ihnen hatte eine telepathische
Verbindung zu Winterhawk hergestellt, kurz bevor er sich auf-
löste, und Winterhawk beschrieb das Gefühl, „als würde einem
das Gehirn ganz schnell durch eine Käsereibe gedrückt“. Er
sagt, es geschah für den Geist viel zu schnell, als dass er hätte
überrascht sein können, aber er behauptet auch, einen Fetzen
Musik aufgeschnappt zu haben – etwas, das wie eine Ma-
yaflöte klang –, bevor die Verbindung abriss. Er will
nicht verraten, ob es etwas ist, was der Geist
gehört hat, oder etwas, an das er dachte, be-
vor er sich auflöste.

Winterhawk 89
 > Ich habe dir das vertraulich erzählt, Fian-o. Ich mag es nicht,
wenn solche Gedanken oder Ideen breitgetreten werden, bevor sie
ausgereift sind.
> Winterhawk
> Gibt es nicht Ritualzauberer, die Musik verwenden, um es der
Gruppe damit zu erleichtern, sich gemeinsam zu fokussieren?
> Picador
> Wie gesagt, meine Theorie ist noch nicht ganz ausgereift, aber
das ist etwas, was mir auch in den Sinn gekommen ist.
> Winterhawk
Weitere interessante Nachforschungen, die Winterhawk in letz-
ter Zeit betrieb, fanden am Tunguska-Krater statt. Ich will ihn selbst
RUNNER
über seine Entdeckungen berichten lassen, wenn er so weit ist, doch
eine Sache, die er wahrscheinlich nicht erzählen wird, ist eine Be-
gegnung mit jakutischen Gestaltwandlern auf dem Rückweg. An-
scheinend hatten er und die anderen Wissenschaftler nicht die rich-
tigen Genehmigungen, und die örtlichen Beamten waren nicht allzu
glücklich darüber. Das Ganze hätte in einer offenen Feldschlacht
ausarten können, doch das wäre ein Fehler gewesen – es war nicht
möglich festzustellen, wie viele Gestaltwandler wirklich dort waren,
und Winterhawk wollte die jakutischen Behörden nicht noch mehr
verärgern als ohnehin schon. Da er schon fast eine Woche lang die
Hintergrundstrahlung der Region und ihre Auswirkungen auf die
lokale Fauna und Flora studiert hatte, beschloss er, sein Wissen ein-
zusetzen. Winterhawk ließ sich fröhlich von den Gestaltwandlern
jagen und rannte dabei durch eine Ansammlung von Jani-Farnge-
wächsen, die er dabei in Brand setzte. Der Bewuchs war klein ge-
nug, dass die Gestaltwandler bequem darum herum laufen konnten,
doch Winterhawk hatte sie auf die windabgewandte Seite gelockt,
sodass sie eine ordentliche Portion Rauch in die Lungen bekamen.
Die halluzinogene Wirkung setzte sofort ein und wurde von Win-
terhawk noch durch eine Kollektion von Illusionszaubern verstärkt.
Zehn Stunden später waren Winterhawk und seine Begleiter an der
Grenze, und die jakutischen Gestaltwandler saßen immer noch im
Krater, starrten auf ihre Hände und fragten sich, wann wohl die
Augen in ihren Handflächen verschwinden würden.
> Gibt es dort tatsächlich so viel Orichalkum, wie man be-
hauptet?
> Haze
> Es gibt auf jeden Fall eine beträchtliche Menge davon, und es
wirkt sich stark auf die Umgebung aus. Die Critter dort beschützen
die Vorkommen eifrig, und dank ihrer Mutationen halten sie für
Besucher manche unangenehme Überraschung bereit. Man sollte
sowohl Betäubungsgewehre als auch K.O.-Gas mitbringen, denn
viele der Viecher sind gegen das eine oder das andere immun.
> Winterhawk
Die Frage, die sich Winterhawk jetzt stellt, ist, inwieweit er sich an
der Jagd nach Artefakten beteiligen wird, die momentan an mehreren
Orten der Welt im Gange ist. Artefakte sind normalerweise nicht sein
Hauptinteressengebiet, doch da sich alle großen magischen Gruppie-
rungen der Welt daran beteiligen, dürfte es für ihn schwer werden, sich
90 Winterhawk
herauszuhalten. Allein schon die Tatsache, dass andere etwas wissen
könnten, was er nicht weiß, dürfte ausreichen, ihn aus dem Haus und
auf die Artefaktjagd zu treiben.
> Das und die Tatsache, dass dabei eine Menge Geld im Spiel ist.
Ich bete das Wissen an, aber ich habe auch etwas für Essen üb-
rig.
> Winterhawk
Das Problem bei der Artefaktjagd ist, dass die Mächte, die sich auf
diesem Gebiet tummeln, es schwierig machen, neutral zu bleiben. In
diesem Spiel kommen immer wieder Unabhängige zum Einsatz, doch
sie werden nur angeheuert, um den Plänen der Mächtigen zu dienen.
Winterhawk könnte sich dafür entscheiden, auch als Unabhängiger
einzusteigen, doch dann könnte er die Artefakte nicht selbst studieren
– wenn er eins in die Hände bekäme, müsste er es gleich an seinen Auf-
traggeber weitergeben. Wenn er selbst etwas aus diesen Artefakten er-
fahren will, muss er versuchen, ein paar starke Verbündete zu finden.
Falls er sich für diesen Weg entscheidet, dann vermute ich, dass er
sich nicht mit einer bestehenden Gruppe zusammentun, sondern sein
eigenes Team unabhängiger, gleichgesinnter Magier zusammenstellen
wird. Er würde nicht versuchen, sich jemandem wie etwa der Draco
Foundation in den Weg zu stellen – dazu bräuchte es schon etwas mehr
als eine Gruppe Magier –, sondern gewisse Druckmittel gegen sie in
die Hand zu bekommen. Wahrscheinlich würde er ihnen eine Nach-
richt schicken, dass er ihnen die Ressourcen seiner neuen magischen
Gruppe zur Verfügung stellt, wenn sie sich auf seine Bedingungen ein-
lassen. Und diese Bedingungen würden sicherlich eine gewisse Zeit für
eigene Untersuchungen an den Artefakten beinhalten.
> Moment mal – willst du damit sagen, dass Winterhawk darüber
nachdenkt, seine eigene magische Version von Assets, Inc., zu
gründen?
> Mihoshi Oni
> Das will er vielleicht sagen, aber er liegt falsch. Ich habe viel
Zeit unter meinen Mitmagiern verbracht und weiß, dass sie ein un-
berechenbarer Haufen sind. Es fällt ihnen schon schwer, mit sich
selbst einer Meinung zu sein, ganz zu schweigen mit anderen. Der
Versuch, einen solchen Haufen anzuführen, ist schlimmer als ein
Einstieg in die Politik. An so etwas habe ich kein Interesse.
> Winterhawk
> Dann verstehe ich das so, dass du leugnest, neulich ein Treffen
diverser Runner-Magier arrangiert zu haben, unter anderem mit
unserem Jimmy No und einigen Magiern, die du selbst ausgebildet
hast? Ich glaube übrigens nicht, dass das, woran Winterhawk ar-
beitet, so etwas wie Assets, Inc., sein wird. Es wird eine lockerere
Koalition sein, die den unabhängigen Geistern der Magier, auf die
Winterhawk anspielt, eher gerecht wird. Auch Leute, die ansonsten
ihre Differenzen haben, können viel erreichen, wenn ihnen klar
ist, dass sie die gleichen Interessen verfolgen.
> Fianchetto
> Ich stelle fest, dass weder Winterhawk noch Jimmy No auf Fian-
chettos Kommentar antworten...
> Kay St. Irregular
WINTERHAWK

K G R S C I L W M EDG ESS INI ID

3 4 5 4 5 5 6 4 11 10 6 10 1

Zustandsmonitor (K/G): 10/10

Panzerung (B/S): 5/3

Fertigkeiten: Askennen 5, Beschwören-Fertigkeitsgruppe 4, Boden-

fahrzeuge 4, Fingerfertigkeit 2, Flugzeuge 3, Führung 5, Gebräu-

RUNNER
che (Akademische Welt) 4 (+2), Hexerei-Fertigkeitsgruppe 6, Klin-
genwaffen 3, Pistolen 2, Überreden 3, Unterricht 4, Verzaubern 3,
Wahrnehmung 4

Wissensfertigkeiten: Britische Rockmusik 4, Chemie 2, Geographie

der Welt 4, Magietheorie 4, Magische Artefakte 3, Magische Grup-
pen 4, Mode 2, Weine 4, Englisch M, Französisch 3, Japanisch 2,
Sperethiel 2

Gaben: Aufmerksamkeit, College-Abschluss, Erhöhte Konzentrations-

fähigkeit, Zauberer

Initiatengrad: 5

Metamagie: Abschirmung, Flexible Signatur, Intensivierung, Psycho-

metrie, Reinigung

Zauber: Beeinflussen, Betäubungsblitz, Chaotische Welt, Energieblitz,

Feinde Aufspüren, Flammenwerfer, Gefühle Beherrschen, Gegen-
mittel, Geisterlöscher, Heilen, Heimlichkeit, Magie Aufspüren (Er-
weitert), Manaball, Panzerung, Physische Barriere, Schildbrecher,
Stoß, Trideo-Trugbild, Troll Erschlagen, Wahrheit, Wahrheit Analy-
sieren, Zielfähigkeit Steigern

Ausrüstung: gefälschte SIN 5, Gehstock [Zauberspeicher, Kraft 4],

Kommlink [Transys Avalon mit Iris Orb, Prozessor 4, Signal 4,
Firewall 3, System 3], Manschettenknöpfe [Spruchabwehrfokus,
Kraft 3], Monokel [Stufe 4; Bildverbindung, Blitzkompensation,
Infrarotsicht, Sichtvergrößerung], Mortimer of London: Berwick-
Kollektion (Anzugjacke, Hose, Hemd) [B/S 5/3]

Waffen:
Colt America L36 [Leichte Pistole | Schaden 4K | PB – | HM | RK – |
11(s) | Angepasster Griff, Lasermarkierer]
Messer [Klingenwaffe | Reichweite – | Schaden 3K | PB –]

Winterhawk 91
SECHSMAL
STARB ICH
Das erste Mal, als ich starb, war ich noch zu jung, um mich an allzu
viel zu erinnern. Es sind hauptsächlich Bilder. Eindrücke. Laute Ge-
räusche. Ich kann sie ansehen wie Standbilder oder wie ein Video, bei
dem der Ton nicht synchron läuft. Es könnte genauso gut ein Traum
gewesen sein. Für jedes andere Baby wäre es das wohl auch.
Ich erinnere mich an eine Pistole. An den Geruch von Öl. Die
Waffe war entsichert. Als ich dieses Modell zum ersten Mal bei einem
Einsatz sah, setzte ich mich, sobald ich konnte, von den anderen ab
und hockte weinend im Auto. Das war das erste und letzte Mal, dass
mir so etwas passierte.
Ich erinnere mich an meine Mutter. Sie weinte nicht. Selbst als
die Pistole nur noch Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war. Sie
sprach in einem drängenden Flüsterton. In dem Flüsterton, den sie
verwendete, wenn ich sie in der Öffentlichkeit verärgert hatte. Sie hielt
mich an sich gedrückt. Ich hörte ihren Schrei, als sie geschlagen wurde
und zu Boden fiel.
Ich erinnere mich an Zähne. An einen Ork- oder Trollzahn. Meine
winzige Hand versuchte, in diesem Mund danach zu greifen. Zu mir
sprach er in einem tröstenden Ton, aber mit den anderen barsch. Ich weiß
nicht mehr, ob es seine Waffe war, die auf meine Mutter gerichtet war.
Ich erinnere mich, dass ich fiel, ich fiel anscheinend tagelang. Der
Himmel war friedlich. Die Wolken hielten an, um zuzusehen. Licht-
blitze kamen von irgendwo unter mir. Dann wurde ich wieder von
starken Armen gehalten, ich spürte Panzerkleidung an meiner Haut.
VON
ROBERT WIELAND
Ich erinnere mich an dunkles Haar. Es war an den Schläfen an-
gegraut, wie das Haar eines älteren Herrn. Unter dem Haar waren
Augen, die kälter waren als die meiner Mutter. Er sprach in einem
strengen Ton, als er mich hielt. Er sprach nicht mit mir. Ich begann
zu weinen.
Ich erinnere mich, dass meine Mutter meinen Namen rief, um
mich zu beruhigen. Ich erinnere mich nicht, wie dieser Name lautete.
Das Leben ist voller Momente wie diesem. Ein Zentimeter weiter
links. Eine Sekunde später. Dummköpfe tun sie als göttliche Fügung
oder einfach nur als Glück ab. Überlebenskünstler lernen aus diesen
Momenten und werden jedes Mal neu geboren.
Ich bin eine Überlebenskünstlerin.
*
Beim zweiten Mal, als ich starb, kann ich mich nicht mehr an die
Explosion erinnern. Ich kann nicht mehr sagen, wie oft sich der Wa-
gen überschlug. Meine Mutter warf vom Fahrersitz aus ihren Arm
vor mich, um mich zu schützen, wie sie es jedes Mal tat, wenn sie
scharf bremsen musste. Ich erwische mich immer wieder dabei, wie
ich es selbst auch tue, als Erwachsene, obwohl ich weiß, dass begabte
Ingenieure mit Millionen von Nuyen Sicherheitssysteme entwickelt
haben, die wesentlich ausgeklügelter und effektiver sind als mein
Arm.
 Ich erinnere mich hauptsächlich an den Geruch von verbranntem
Plastik. Eine schwere Hand bedeckte meinen Mund. Sie drückte fest
zu, kniff mir die Nase zu. Ich bekam kaum Luft. Meine Sicht war
verschwommen. Mein Kopf hämmerte, wenn ich die Augen aufhielt.
Wenn sie geschlossen waren, war es noch schlimmer. Wenn sie geschlos-
sen waren, hatte ich nur noch den Geruch. Nicht nur Plastik. Fleisch.
„Verdammter Vollidiot! Du solltest den Wagen anhalten, nicht ver-
schrotten!“, sagte eine ferne Stimme.
„Er steht, oder?“, sagte eine andere.
Mein Gesicht war nass. Tränen? Blut? Beides. Meins? Mutters? Bei-
des. Etwas Schweres traf die Seite des Wagens. Mein Kopf protestierte,
als Metall auf Metall kratzte. Als es auf eine Weise aufschrie, wie ich es
nicht konnte. Einer der Männer sprach, während er arbeitete.
„Nightskys... haben die gleichen... Metalllegierungen wie... Kampf-
flugzeuge.“
Ein letzter Ruck, und die Tür ging auf. Das Gesicht, das herein-
starrte, hatte silberblaue Augen, die mich an ein Insekt erinnerten.
Heute werden solche Cyberaugen nicht mehr hergestellt. Nicht nach
Chicago.
„Treffer. Dieses Gesichtserkennungs-Upload funktioniert prima.“
Er streckte die Hand nach mir aus. Alles, was ich tun konnte, war
zusehen. Glänzendes Chrom bewegte sich bedächtig. Eine schmale
Klinge schnappte aus seinem Handgelenk. Das kühle, flache Metall
glitt an meiner Kehle entlang. Es glitt unter den straffen Sicherheits-
gurt und schnitt ihn durch. Die Klinge schnappte zurück, als hätte es
sie nie gegeben.
Der Cyberarm packte die Schulter meiner Schuluniform und zog
fest. Zweimal. Jedes Mal fühlte ich, wie sich der Arm meiner Mutter
anspannte und mich festhielt. Ihr Gesicht war eine schmierige Masse
aus Blut und Fleisch. Ich glaube, ihre Zunge bewegte sich. Sie war
irgendwie immer noch am Leben.
„Ich bekomme sie nicht frei. Irgendwas... sie hängt fest. Irgendwas
hält sie... Verdammter Mist...“
Der Arm verschwand für einen Moment. Ich blickte auf den Arm
meiner Mutter hinab. Splitter aus Plastik und Metall hatten sich in ihr
Fleisch gegraben. Ich erkannte den Arm als etwas Lebendiges, Mensch-
liches, trotz der Verletzungen. Und irgendwie war sie immer noch am
Leben.
Ich fühlte, wie sich der Arm meiner Mutter ein letztes Mal an-
spannte. Den Schuss hörte ich nicht.
*
Das dritte Mal, als ich starb, war ich eine halbe Meile gelaufen. Es war
Nacht. Es war kühl. Der Regen in Seattle hatte ausnahmsweise aufge-
hört. Mein Knie blutete.
Ich bemerkte, dass das Fenster meines Zimmers eingeschlagen war.
Stück für Stück entfernte ich vorsichtig die restlichen Glasscherben, bis
das Loch groß genug war, um hindurchzukriechen. Das Fenster war
kleiner, als ich dachte. Ich war stolz darauf, dass ich nicht aufschrie.
Als ich im Kofferraum des Wagens gelegen hatte, hatte ich genau
darauf geachtet, wo wir hinfuhren. Ich zählte Kurven, schätzte Entfer-
nungen und hörte jeder Unterhaltung zu, die ich aufschnappen konn-
te. Ich hoffte, dass ich wusste, wo ich war. Wenn ich recht hatte, gab es
einen halben Kilometer entfernt eine Lone-Star-Wache. Ich hatte dort
einmal eine Nacht verbracht, nachdem ich von früheren Entführern
laufengelassen worden war.
Jetzt war ich draußen, bewegte mich, konzentrierte mich so sehr
darauf, wohin ich ging, dass ich nicht darauf achtete, wo ich war. Ich
war mitten auf der Straße, als ich einen Motor hörte. Ich drehte mich
um, aber ich wurde von ankommenden Scheinwerfern geblendet. Ich
hielt die Hand vor meine Augen.
 Einer meiner Entführer kam aus dem Nichts und packte mich mit bei-
den Armen. Er war schnell genug, um mich zu erreichen, doch der Wagen
wurde nicht langsamer. Er traf uns frontal mit voller Geschwindigkeit. Ich
hörte keine Bremsen. Die Lichter schwenkten nicht zur Seite.
Da war das grässliche Geräusch von Metall, das auf Fleisch traf und
es zerriss. Wir rollten über den Wagen. Seine Arme hielten mich fest.
Wir rutschten vom Wagendach auf den Asphalt. Ich sah zu dem Ge-
sicht einer Frau auf dem Beifahrersitz hinauf. Ihre Augen waren vor
Schreck weit aufgerissen. Ich landete auf meinem Entführer, und seine
Arme wurden schlaff.
Er hatte den größten Teil der Aufprallenergie abgefangen. Seine
Kompositknochen und die Dermalpanzerung schützten mich zusätz-
lich. Er bog den Rücken durch, als ich aufstand. Die Verbindung zu
seinen Cyberarmen war unterbrochen worden, als er sich das Rückgrat
dreifach brach.
„J...Jungs... wo sind...“, waren seine letzten Worte.
Die anderen Runner kamen nicht zu ihrem gefallenen Kameraden.
Ich sah sie in einer Seitenstraße, die zur Hauptstraße führte. Sie strit-
ten. Sie stritten, bis sie die Sirenen hörten.
Das Paar, das uns überfahren hatte, blieb bei uns, bis Lone Star
eintraf. Ich blieb wieder auf der Wache. Sie erinnerten sich noch vom
letzten Mal an mich. Als die Leute von der Schule kamen, bekam ich
einen Wutanfall. Ich sagte, ich wolle nicht nach Hause gehen. Sie lie-
ßen mich in einer der leeren Zellen schlafen. Am Morgen ging ich
zurück in die Schule.
*
Das vierte Mal, als ich starb, lachte ich am Ende beinahe. Der Plan war
kühn. Jemand rollte eine Betäubungsgranate unter der Trennwand der
Waschkabine hindurch, die ich in der Schule benutzte. Ich hätte nie
damit gerechnet, dass es jemand in der Schule probieren würde. Ich
sah nicht rechtzeitig genug weg. Sie lieferten sich eine wilde Jagd mit
Mitsuhamas Sicherheitskräften. Sie schüttelten ihre Verfolger ab, als
sie in Gegenrichtung in den Tunnel des Hochgeschwindigkeitszuges
fuhren. Bis heute weiß ich nicht, ob ich wirklich die Zielperson war
oder ob sie nur die Schule in Misskredit bringen wollten. Mitsuhama
zog seine Unterstützung zwei Tage nach meiner Entführung zurück,
und die Schule wurde kurz darauf geschlossen.
Ich lag in einem Bulldog-Lieferwagen. Ich war gefesselt und gekne-
belt und hörte meinen Entführern zu, wie sie sich stritten.
„Wie können wir uns denn verfahren haben?“, sagte der Linke. Im-
mer, wenn er sprach, wackelte sein pinkfarbener Irokesenschnitt vor
Aufregung.
„Du hast gesagt, du weißt, wie wir zum Treffpunkt kommen, Mit-
tens“, sagte der Rechte. Kurzgeschorenes Haar. Verspiegelte Sonnen-
brille.
„Ich habe nicht mit dem Abstecher durch den Bahnhof gerech-
net, Bagman“, sagte der Mittlere. Er war Indianer und Ork. Wenn er
sprach, ließen seine Zähne die Konsonanten zischen. „Wolltest du uns
umbringen, Bleifuß?“
Bleifuß’ Iro wackelte. „Wenn sie uns erwischt hätten, wären wir
sowieso tot, möglicherweise könnte sich das auf meine Richtungswahl
ausgewirkt haben. Vielleicht wenn wir kurz GridGuide anpingen...“
„Wenn wir uns wieder ins Grid einloggen“, sagte Bagman, „haben
wir in Nullkommanichts wieder die Sicherheit am Arsch. Dank unse-
rer nicht ganz leisen Abfahrt vom Schulgelände haben sie bestimmt die
RFID-Daten dieses Lieferwagens.“
„Wir können uns nicht nach dem Weg erkundigen“, sagte Mittens.
„Wenn wir jemanden fragen, sieht er das Mädchen.“
„He, ich weiß, es sind nur noch ein paar Blocks. Lasst uns einfach
weiterfahren“, sagte Bleifuß.
„Wir müssen diesen Wagen loswerden und uns einen anderen be-
sorgen“, sagte Bagman.
„Und was machen wir mit ihr, während wir uns ein neues Fahrzeug
beschaffen?“, fragte Mittens.
Bevor sie weiter streiten konnten, räusperte ich mich ein paarmal.
„Ich glaube, sie will etwas sagen, Mittens“, sagte Bagman. Wir
wechselten einen Blick. Irgendwie brachte ihn das dazu, mir den Kne-
bel abzunehmen.
„Haben Sie versucht, das GridGuide-System zu rebooten?“, frag-
te ich. Den Ausdrücken auf ihren Gesichtern nach zu urteilen, hätte
ich genauso gut fragen können, ob sie es mit einer Zeitreise versucht
hatten.
„Ich kenne einen Hacker, der es schaffen würde, da reinzukom-
men“, sagte Mittens. „Aber nicht, das ganze System lahmzulegen.“
„Nicht das ganze System“, sagte ich. „Nur das in Ihrem Wagen.“
„Ich habe doch gesagt, wir hätten warten sollen, bis dein Rig ins-
talliert ist“, murmelte Bagman und klatschte Bleifuß einen Schlag auf
den Hinterkopf.
„Es geht auch ohne Rig“, sagte ich. „Es ist sogar ziemlich ein-
fach. Der Chip in Ihrem Wagen sorgt dafür, dass GridGuide weiß,
wo Sie sind. Wenn Sie ihn aus dem Gehäuse bekommen, können Sie
ihn booten, genau wie ein Gebrauchtwagenhändler es macht, wenn
er den Wagen übernimmt. Der Chip bleibt nur für kurze Zeit leer,
aber lange genug, um einen Kurs zwischen hier und dem Versteck zu
berechnen.“
Sie starrten mich mit offenem Mund an.
Für den Fünfminutenjob brauchten sie zwanzig, aber bald waren
wir auf dem Weg zu ihrem Versteck. Der Lieferwagen bog um die
Ecke. Alle Insassen fluchten. Mindestens ein halbes Dutzend Sicher-
heitsfahrzeuge parkten vor dem Versteck.
„Bleifuß?“, fragte ich. „Kennen Sie sich in der Gegend aus?“
Sein pinkfarbener Irokese hüpfte auf und ab.
„Wie weit sind wir vom See entfernt?“
Das letzte Mal, als ich sie lebend sah, segelten wir durch die Luft
auf den See zu. Der Fluchtplan war einfach. Ich würde in die eine
Richtung schwimmen, sie in die andere. Der Lieferwagen prallte auf
das Wasser. Ich wurde durch die Windschutzscheibe geschleudert, und
alles wurde schwarz.
*
Das fünfte Mal, als ich starb, dachte ich, ich würde zufriedener sein.
Jede offene Gefälligkeit und jedes bisschen Geld, das ich gespart
hatte, ging in den Kauf von Informationen. Die Spur führte mich
in eine Bar im Untergeschoss eines Gebäudes irgendwo im Norden
Chicagos. Die Insektengeister waren gekommen und gegangen, aber
die Menschen blieben. Flüchtlinge. Sicherheitsleute. Söldner. Aus-
gebrannte.
Zwei Betrunkene wankten von der Tür weg. Sie schloss sich zö-
gernd hinter mir. Die Bar war voller zerbrochener Leben und abge-
nutzter Barhocker. Jeder starrte ins Leere. Die Drinks waren alle noch
fast voll. Ein leises Murmeln kam von einer antiken Musikanlage und
absorbierte das Husten, Seufzen und das Scharren der Stühle. Nie-
mand beachtete mich, als ich zur Theke ging.
 Er wandte mir den Rücken zu. Meine AR bestätigte seine Identität,
aber das wäre nicht nötig gewesen. Ich hatte drei Tage in seiner Ge-
genwart verbracht. Ich erinnerte mich an jede Linie seines Gesichts.
Er roch noch genauso. Sein Haar war grau geworden und wilder. Er
hatte schon lange aufgehört, professionell in den Schatten zu arbeiten,
hauptsächlich weil sein rechter Arm fehlte. Ich näherte mich ihm von
der Seite und setzte mich auf den leeren Barhocker neben ihm.
„Hatten Sie nicht einen Cyberarm?“ Ich beugte mich zu ihm hin-
über und sprach leise.
„Verkauft. Novatech hat Yamatetsu-Fahrer nicht mehr unterstützt,
als der Konzern den Namen gewechselt hat. Der Arm funktionierte
eine Zeit lang ganz gut, aber dann fing er an zu spinnen. Wollte mir ei-
nen Ersatz besorgen, aber der Schieber ist mit dem Vorschuss getürmt.
Hab ihn an einen kleinen Scheißer verkauft, der sich jetzt für einen
echten Samurai hält.“
„Erinnern Sie sich an mich?“
„Sie würden das hier nicht machen, wenn Sie nicht irgendeine Rü-
ckendeckung hätten.“
„Stimmt. Es sind mindestens zwei Leute hier, die ich sehr gut dafür
bezahlt habe, dass sie auf mich aufpassen. Erinnern Sie sich an mich?“
Er lächelte und nickte leicht. Die gleichen Cyberaugen. Selbst ohne
Pupillen wusste ich, dass er mir nicht ins Gesicht sehen konnte. Er sah
sich in der Bar um, um festzustellen, ob ich bluffte. Er suchte nach
Leuten, die uns beobachteten oder plötzlich bewegungslos waren.
Selbst nach Jahren wusste er noch, wie man das Spiel spielte.
„Erinnern Sie sich an mich?“
„Johnson“, sagte er nach einer langen Pause. „Richtig?“
Ich machte meinen Zug. Die Spritze rutschte aus meinem Ärmel, und
ich jagte sie ihm in den Nacken. Ich hatte gehofft, ihm die Droge in den
Drink tun zu können, aber er war nicht daran interessiert, zu trinken. Er
sprang auf die Füße. Er vergeudete einen Moment, um nach meinen Leu-
ten Ausschau zu halten. Mein Bluff hatte funktioniert – ich hatte keine.
Er war immer noch schnell. Anscheinend hatte er seinen Reflex-
booster upgraden lassen. Es gab eine verschwommene Bewegung und
ich schlug hart auf dem Boden auf. Ich bekam kaum mit, wie er den
Barhocker unter mir wegriss und ich zu Boden stürzte. Mein Kopf
dröhnte, als er sich über mich beugte. Er legte den Barhocker über
meinen Hals. Die Querstange drückte unangenehm.
„Wissen Sie, warum ich nicht trinke?“, fragte er.
Meine Sicht verschwamm. Mir war heiß. Er stützte sich auf den
Barhocker und presste ihn auf meinen Hals.
„In der Nacht vor einem großen Run habe ich mich betrunken.
Ziemlich heftig. Ich war nervös, das brachte mich zum Trinken, und
das brachte mich auf Drogen, und das führte dazu, dass ich in keiner
guten Verfassung zum Einsatz ging. Alle waren so sauer auf mich, dass
sie, als ich mir von meinem Anteil meine neuen Cyberaugen installie-
ren ließ, dem Doc sagten, er sollte mir den besten Giftfilter einbauen,
den er finden konnte.“
Ich drückte ohne viel Erfolg gegen den Barhocker. Sein volles Ge-
wicht presste ihn nach unten. Mein Kopf hämmerte. Er war nur noch
ein unscharfer Umriss gegen das Licht. Meine Finger kribbelten. Sie
berührten etwas aus Plastik, etwas Leichtes. Mein Bewusstsein fokus-
sierte sich. Ich schloss die Finger um die Spritze, die immer noch aus
seinem Hals ragte und riss sie so brutal wie nur möglich heraus.
Er taumelte zurück. Ich schien Stunden zu brauchen, um wieder
auf die Beine zu kommen. Er war noch am Boden. Keiner der anderen
Gäste hatte sich bewegt. Ich zog eine Pistole und stemmte mich an der
Theke hoch.
„Leben Sie noch?“, fragte ich und deutete mit der Pistole auf ihn.
Er nickte schwach. Blut schoss aus seinem Hals.
„Ich habe eine gute Nachricht für Sie. Wenn Sie meine Fragen be-
antworten, werde ich DocWagon rufen, damit die Sie zusammenfli-
cken. Wollen Sie mir meine Fragen beantworten?“
Er versuchte vergeblich, auf die Beine zu kommen. Einen Moment
später nickte er.
Ich setzte mich auf den Stuhl, den er verlassen hatte. Ich nippte an
seinem Drink. Er war grässlich.
„Sagen Sie mir meinen Namen“, verlangte ich.
*
Als ich das sechste Mal starb, wäre es das wert gewesen. Ausnahmswei-
se hatte der Pilot seine Fähigkeiten nicht zu teuer verkauft. Leise wie
die Nacht selbst glitten wir über die Stadt dahin. Das einzige Geräusch
im T-Bird war das eigentümliche Räuspern, das der Rigger jedes Mal
von sich gab, wenn er tiefer ging. Das grüne Licht ging an und die Tür
glitt auf. Ich atmete tief ein und machte einen Schritt nach vorn.
Der Wind rauschte unter mir. Meine Atmung war gleichmäßig.
Der Fallschirm öffnete sich. Mein Winkel war etwas spitz, aber ich
traf das Fenster perfekt. Ich stolperte in das Penthouse und löste den
Schirm. Mein Bewegungsimpuls trug mich bis in das Esszimmer. Ich
blieb auf den Füßen. Es war noch jemand hier, also zog ich die Pistole
und entsicherte sie.
Ich hielt die Pistole ruhig. Sie war schallgedämpft, aber immer noch
laut genug, um die Wachen zu alarmieren. Das gehörte zum Plan. Sie
würden auf der Bildfläche erscheinen und feststellen, dass ihr Meister
umgebracht worden war. Würde ich bleiben, damit sie mich töteten?
Würde ich auf dem gleichen Weg, auf dem ich gekommen war, wieder
gehen, in der vagen Hoffnung, dass mir der Basejump, den ich nie
zuvor versucht hatte, gelingen würde? Der T-Bird-Pilot wusste, dass
ich nicht zurückkam – ich hatte ihn im Voraus bezahlt.
Der alte Mann war in der Küche, beleuchtet vom Licht des Kühl-
schranks. Das Grau seiner Schläfen hatte den Kampf mit dem Rest sei-
ner Haare gewonnen. Er trank den Orangensaft in großen Schlucken
direkt aus dem Behälter. Seine Augen waren geschlossen. Die Hand,
die den Saft hielt, trug einen Ring, der allein schon etwas Fünfstelliges
wert war. Er setzte den Behälter ab und betrachtete ihn sinnierend.
Als er ihn schief hielt, erklangen die Geräusche eines Orangenhains
in der AR.
„Als Attentäterin sind Sie eine Niete“, sagte er.
„Vielleicht habe ich ja einfach Spaß an meiner Arbeit?“
Er stellte den Orangensaft zurück in den Kühlschrank. „Ein Mord
ist nie ein Spaß.“
„Wollen Sie damit sagen, dass es rein geschäftlich ist?“
„Nein“, sagte er und sah mich an. „Das ist es nie.“
Ich dachte, ich müsste ihm meinen Namen nennen. Aber ich
brauchte es nicht. Er kannte ihn. Wir sahen uns zwei Sekunden lang in
die Augen und überbrückten dreißig Jahre.
„Meine Leibwächter werden in wenigen Augenblicken hier sein.
Sie werden Sie verprügeln, um sich selbst besser zu fühlen. Wenn Sie
sich erholt haben, rufen Sie das Büro in Nagoya an. Sagen Sie Miss
Niyoshi, dass Sie den regionalen Verkaufsleiter sprechen wollen. Wie
soll ich Sie jetzt nennen?“
„Tess“, sagte ich. Er nickte. Das war das einzige Mal, dass ich ihn
den Kopf beugen sah.
 WILLIAM „BULL“ MACCALLISTER
GEPOSTET VON: BULL

den Rest seines Lebens glauben lässt, dass er ein zwölfjähriges

Schulmädchen ist.
PERSÖNLICHE DATEN: BULL > Bull

Alter: 41 Größe: 2,06 m > Bull...

Gewicht: 159 kg
Augenfarbe: Braun
Metatyp: Ork
> FastJack
Haarfarbe: Braun/Grau
Geschlecht: Männlich
> Ja, ja. Sorry. Er hat es drauf angelegt. *seufz* In den meisten
seiner Geschichten liegt ein Körnchen Wahrheit, aber wie üblich
sind sie bis ins Unkenntliche aufgeblasen worden.
Erwacht: Nein
> Bull

> Heilige Scheiße! Ich hab gerade eine Matrixsuche gestartet, und
es gibt wirklich ein Videospiel! Sogar eine ganze Serie: „Bull, der
SCHIEBER & JOHNSONS

> Okay, Onkel Bull, erzähl uns eine Geschichte! Du hast es ver-
sprochen!
> Slamm-0!
> Richtig. Zeit für eine Geschichte. Aber ich habe FastJack ver- >
sprochen, ihm meine Geschichte zu erzählen, nicht euch. Also be-
nehmt euch.
> Bull
> Aber ich will hören, wie du der „Beste Orkdecker, den ihr niemals > Bull
getroffen habt!“ geworden bist.
> Slamm-0!
> Tja, Bull, das wirst du jetzt nie wieder los.
> Winterhawk
> Und erzähl uns davon, wie du gegen die riesige Wespenkönigin
in Chicago gekämpft hast! Und wie du Lofwyr getroffen hast! Und
wie du die Welt gerettet hast, als du einen uralten mächtigen Geist
in Ares’ Daedalus-Orbitalstation in die Falle gelockt und getötet
hast, indem du die Station auf die Erde krachen ließest!
> Slamm-0!
> Bist du jetzt fertig?
> Bull
> Oh, sei doch nicht so bescheiden. Ich kenne alle deine Taten
– ich habe das Videospiel gespielt, als ich klein war. Es war eins
meiner Lieblingsspiele. Und habe ich schon erwähnt, wie du und
der Laughing Man ein Duell hattet und er deinen Partner tötete?
> Slamm-0!
> Schluss jetzt, Fred. Sofort!
> Bull
> Oder wie der Mayakiller deine Tochter umbrachte? Oder wie
j(*gb^&*bkjn--- *Signal unterbrochen*
> Slamm-0!
> Oje!
> Netcat > Und ich dachte, ich sei zynisch. Ich gebe dir recht, aber trotz-
dem. Verdammt.
> Keine Sorge, es geht ihm gut. Mehr oder weniger. Aber, ’Cat, > Pistons
du solltest den kleinen Scheißer ein bisschen besser im Zaum
halten. Es gibt nur einen Grund, dass er jetzt noch atmet, und
zwar weil seine Mutter mir einmal den Arsch gerettet hat und ich
ihr noch was schulde. Wenn er noch einmal mit Rebecca anfängt,
haue ich ihm ein Stück psychotropes IC um die Ohren, das ihn für
Orkdecker: Flucht aus Bug City“, „Bull, der Orkdecker: Grauen der
Vorzeit“, „Bull, der Orkdecker vs. Jabberwocky“ usw., usw. Ziemlich
alt schon, an die fünfzehn Jahre. Ich weiß gar nicht, ob sie auf
meinem Kommlink laufen, aber ich lade sie mal runter. Ich werde
berichten!
/dev/grrl
> Und das, Chummer, ist nur einer der Gründe, weshalb es so viele
abgedrehte Geschichten über mich gibt. Aber ich greife vor. Wir
sollten am Anfang beginnen, nicht wahr?
Als FastJack sagte, dass er einen Artikel über mich zusammenstellen
wollte, habe ich erst mal nichts gesagt, denn ich bin der „Neue“ auf
JackPoint. Einige von euch kennen mich aus den alten Shadowland-
Tagen, aber die meisten der Jüngeren unter euch kennen mich nicht
über Hatchetman, also dachte ich mir, ich gehe hin und poste selber
was, anstatt abzuwarten, was andere für Mist ausgraben. Da draußen
kursieren haufenweise Fehlinformationen, und es ist ein echter Alb-
traum, sich da durchzukämpfen.
Mein Name ist William MacCallister, aber man kennt mich besser
als Bull oder in letzter Zeit auch einfach als MacCallister. Ich habe
schon einige Zeit in den Schatten hinter mir und kann die nötigen
Narben vorzeigen, um es zu beweisen. Ich bin vor ein paar Jahren aus
dem Spiel ausgestiegen, deshalb habe ich ’Jack zuerst abgesagt, als er
mich zu seinem kleinen Club hier einlud. Es kommt nicht oft vor, dass
jemand von uns die Chance erhält, sich zur Ruhe zu setzen. Das ist
der ultimative Traum, der kleine Funken Hoffnung, an dem wir alle
festhalten und den der Zynismus, Hass, Zorn und Horror, den das
Schattenlaufen mit sich bringt, nie ganz in uns löschen kann. Und ich
kann euch sagen, es war großartig. Ich kaufte mir eine Farm irgendwo
im Norden von Geht-euch-nichts-an und ließ mich mit meiner Frau
und meinen Kids nieder. Ich habe den Crash 2.0 verpasst, weil ich –
ob ihr’s glaubt oder nicht – an dem Tag nicht eingeloggt war. Ich habe
mit meinem Sohn Baseball gespielt. Es war ein gutes Leben. Es war ein
Traum. Ich wollte, dass es nie endet.
Aber es war genau das: ein Traum. Und jeder Traum endet irgend-
wann. Wenn es eine Moral gibt, die ihr aus meiner Geschichte mit
nach Hause nehmen könnt, dann diese: Jeder Traum endet irgend-
wann.
Meine Geschichte ist ziemlich typisch. Meine Eltern starben beim
Alamos-20.000-Anschlag auf den Sears Tower 2039, zusammen mit
Tausenden anderen. In dem Durcheinander wurde auch ich für tot
gehalten. Stellt euch vor, ihr seid sieben Jahre alt, keiner weiß, dass

96 William „Bull“ MacCallister

ihr noch lebt, und ihr habt keine aktive SIN. Ein Scheißleben. Also, tions und Verwandte von uns entführte und uns durch Rätsel und
damals war ich noch ein Mensch. Schockierend, ich weiß. Ich gobli- vage Hinweise durch eine Reihe von Todesfallen lockte. Und zu allem
nisierte ein paar Jahre später, und das Leben wurde noch beschissener. Überfluss nahm er das Ganze auch noch auf Trideo auf. Man kann es
Wenn ihr glaubt, dass der Rassismus von Humanis, Alamos oder der immer noch auf den meisten Filesharingseiten finden.
Renraku-Führungsetage schlimm ist, dann solltet ihr es mal mit einer Es war ziemlich lächerlich. Wir lösten Bomben aus, sprangen von
Gruppe zwölfjähriger Waisen versuchen. Brücken und jagten durch ganz Chicago unserem eigenen Schwanz
Also die übliche Schwierige-Jugend-Geschichte. Mir blieb nur die hinterher. Aber lustigerweise hat dieses Video mehr für unsere Repu-
Wahl, entweder ein Krimineller zu werden oder Batman, und da meine tation getan als ein ganzes Jahr voller Shadowruns. Man kann über
Eltern mir keine Milliarden hinterlassen hatten, war die Wahl relativ kühle, ruhige Professionalität sagen, was man will, aber manchmal
leicht. Außerdem sehe ich in Strumpfhosen ziemlich albern aus. sucht Mr. Johnson gezielt nach jemanden, der sich nicht zu schade
ist, auch mal ein bisschen verrückt zu sein und etwas Gefährliches zu
> Ganz bestimmt. Außerdem bist du mehr der Spiderman-Typ: im- versuchen.
mer nur Pech.
> FastJack > Bull ist hier unnötig bescheiden. Der „Oberschurke“ war kein an-
derer als Kyle Morgan, einer der weltbesten Auftragskiller der 50er
> FastJack andererseits wäre durchaus für den Elastan-Look ge- und der einzige, der einen Drachen als Partner hatte. Kyle befasste
eignet. Und wenn ich so an die Mode der 50er denke, würde es sich jahrelang mit Bull, zog immer mal wieder die Daumenschrau-
mich nicht wundern, wenn er es auch das eine oder andere Mal ben an. Ich bin mir sicher, er hätte Bull und seinen Partner jeder-
versucht hätte... zeit töten können, aber er hatte seinen perversen Spaß daran, sie
> Kat o’Nine Tales durch seinen Reifen springen zu lassen.
> Winterhawk
Ich bin genauso in das Shadowrunner-Business gestolpert wie die

SCHIEBER & JOHNSONS

meisten von euch. Ich lief zuerst mit einem indianischen Kojotenscha-
manen namens Johnny 99, und wir versuchten, uns in den Straßen von
Chicago einen Namen zu machen. Das gelang uns auch, aber nicht so,
wie wir es geplant hatten. In diesem ersten Jahr schien alles, was wir
anpackten, in die Hose zu gehen. Die Fehler, die wir begingen, und
die Dinge, die wir daraus lernten, waren prägend für unsere Karriere in
den nächsten zehn Jahren.
Wir lernten früh (und oft!), dass man sich dadurch, dass man sich
Feinde schafft und Leute vor den Kopf stößt, nur noch mehr Proble-
me aufhalst. Es schien so, als würde jedes Mal, wenn wir jemanden
tot glaubten, derjenige kurz darauf mit einer Bombe in einem Piz-
zakarton vor unserer Tür auftauchen. Es war eine Komödie von
Fehlern, die schließlich in dem kulminierte, was wir „das Video“
nannten, und dem später „das Spiel“ folgte. Ich bin absolut nicht
stolz darauf, aber man muss nun mal mit den Konsequenzen sei-
ner Handlungen leben.

> Schießwütige Runner sind oft schon bald tote Runner. Von
einem Kon zu klauen, gehört zum Geschäft, und irgendwie ak-
zeptieren die meisten Konzerne das. Zumal sie es ja genauso ma-
chen. Aber wenn man anfängt, Sicherheitsleute zu erschießen oder
ein Labor in die Luft zu jagen, verursacht man Kosten, die weit
über die Kosten der geraubten Daten, Objekte oder Angestellten
hinausgehen. Sterbegelder, Pensionen, Wiederaufbaukosten, Kolla-
teralverluste zusätzlicher Forschungsergebnisse und Prototypen.
Das alles kostet den Konzern sehr viel mehr Geld, und solche
Sachen führen dazu, dass die roten Lichter angehen – man
kommt auf die Schwarze Liste und wird „nicht beschäfti-
gungsfähig“, zumindest für diesen Konzern. Was zuge-
gebenermaßen immer noch besser ist, als von ihnen
gejagt zu werden.
> Winterhawk

Auf einem Run, bei dem wir ein gekidnapp-

tes Mädchen bergen sollten, konnte ich in das
Sicherheitssystem der bösen Jungs reinhacken
und bekam Zugriff auf die Gelder, die ihnen
der Konzern, der hinter dem Ganzen steck-
te, hatte zukommen lassen. Wie jeder guter
Decker sah ich das als meine Chance, ein
bisschen zusätzlichen Profit zu machen, und
räumte das Konto ab. Dann versuchte ich, mei-
ne Spur zu verwischen und es so aussehen zu
lassen, als hätte die kleine Gruppe Aztechnology
einen ordentlichen Haufen Geld aus dem Kreuz
geschwindelt. Ich war längst nicht so gut, wie ich
dachte, und der Oberschurke bekam es heraus. Also machte
er sich daran, sich zu rächen, indem er Freunde, Connec-

William „Bull“ MacCallister 97

 > Ja. Zum Glück konnten wir uns ein paar Jahre, bevor er getö-
tet wurde, einigen und so etwas wie Frieden schließen. Und auch
wenn es alle zu glauben scheinen, mit seinem Tod hatte ich nichts
zu tun. Wäre er nicht so ein erbarmungsloser, kaltblütiger Killer
gewesen, hätten wir vielleicht sogar Freunde werden können. Aber
ich bin froh, dass Perianwyr jetzt nicht mehr im Killergeschäft
tätig ist. Das Musikbusiness passt viel besser zu ihm.
> Bull
> Wer sagt denn, dass er sich komplett daraus zurückgezogen hat?
> Snopes
Einige Jahre später wurde eine Reihe von Matrixspielen veröf-
fentlicht. Ich fand nie heraus, wer dafür verantwortlich war, aber sie
sind von der gleichen Art wie „das Video“, deshalb glaube ich, dass
sie auch vom gleichen Urheber stammen. Die Spiele drehten sich um
hoffnungslos übertriebene Versionen von Jobs, die wir erledigt hatten,
aufgebauscht bis zum Gehtnichtmehr und immer so aufgemacht, dass
ich wie der letzte Idiot dastehe. Zu der Zeit hatten wir uns bereits eine
ziemlich stabile Reputation aufgebaut, deshalb wirkten die Spiele sich
nicht allzu sehr auf unsere Arbeit aus. Aber über einige der besonders
lächerlichen Szenen in den Spielen kann ich mich heute noch ärgern.
SCHIEBER & JOHNSONS
> Okay, die Grafik dieser Dinger ist grauenhaft. Ich musste ein
paar Emulatorprogramme runterladen, um sie überhaupt ans Lau-
fen zu kriegen. Aber die Spiele machen tatsächlich Spaß. Aber
hammermäßig schwer! Ich habe noch nie ein Spiel gespielt, bei
dem man sogar schon auf dem Startscreen getötet werden kann!
Wer auch immer sie programmiert hat, hatte auf jeden Fall großen
Spaß daran, Bull sterben zu sehen. Aber „Wendigo Bull“ war wirk-
lich klasse. Eine Frage nur: Du bist doch ein Hacker, oder? Warum
hast du in jedem Spiel eine Sturmkanone als Standardwaffe?
> /dev/grrl
> Bull
> Es ist ja nicht so, dass ein Hacker nicht auch ein Spezialist für
schwere Waffen sein kann. Ich arbeite auch damit. > Ich weiß, dass du alt bist und Veränderungen fürchtest, Bull,
> Black Mamba aber die Terminologie hat sich weiterentwickelt. Heutzutage heißt
es „Hacker“, nicht „Decker“. Sei nicht so altmodisch!
> Es soll so etwas wie ein Witz sein. Ich hatte schon immer was > Pistons
für dicke Kanonen übrig, und nachdem es mit ein paar beson-
ders großen und üblen experimentellen Cyberparamonstern einmal > Pah. Rotznasige Kids, die sich ein Kommlink gekauft und ihre
ziemlich knapp war, habe ich angefangen, Panther-Sturmkanonen
zu sammeln, um immer irgendwo eine greifbar zu haben.
> Bull
Wir waren mitten in Bug City, als die Containment Zone errichtet
wurde. Ich bin davor auch schon ein paarmal Insektengeistern über
den Weg gelaufen, und ich weiß, hinterher haben genug Leute be-
hauptet, wir hätten es kommen sehen müssen, aber woher, bitte schön,
hätten wir das wissen sollen? Im einen Moment war alles normal, im
nächsten war die Hölle los. Anders kann ich es wirklich nicht beschrei-
ben. Ich, Johnny, unsere Freunde und Familien, wir alle waren dort ein
Jahr lang gefangen. Während dieser Zeit verloren wir viele gute Leute.
So wie jeder. Ich machte einen Deal mit dem Teufel, um rauszukom-
men, und wusste es nicht einmal.
Danach zog ich ein bisschen durch die Gegend. Tauchte tiefer in
die Schattenszene ein. Lernte viele Freunde auf Shadowland kennen
und viele Connections im Business. Dann fiel mein Deal mit dem
Teufel auf mich zurück und einige aus meinem Team starben, dar-
unter auch Johnny. Inzwischen hatte ich mehr als zehn Jahre in den
Schatten überlebt. Ich nahm meine Familie, nahm meine Ersparnisse
und stieg aus. Ich fand einen Ort, an dem nicht alles asphaltiert war,
wo es Bäume und frische Luft gab. Wo keine Gangs oder Mafiosi oder
Konzerngardisten mich umzulegen versuchten. Ich glaubte törichter-
weise, meinen Traum erfüllt zu haben, auch wenn mein bester Freund
es nicht mehr miterleben konnte.
> Ein Deal mit dem Teufel? Magst du das näher erläutern?
> Netcat
98 William „Bull“ MacCallister
> Eigentlich nicht. Sagen wir einfach, dass dieser spezielle Teu-
fel eines Tages eine Verabredung mit dem Magazin einer Panther-
Sturmkanone haben wird.
> Bull
Ich habe zwei Kinder. Hatte. Hatte zwei Kinder. Verdammt. Ich
hatte zwei Kinder, Rebecca und William Jr., Zwillinge. Eines Tages
kamen sie zu mir und sagten, dass sie nach Seattle ziehen wollten. Reba
hatte die Highschool beendet und wollte sich an der University of Wa-
shington einschreiben. Billy dagegen wollte Shadowrunner werden,
und er wollte damit in Seattle anfangen. Sie hatten ihre Entscheidung
getroffen, und sie waren alt genug, dass ich nicht viel dagegen tun
konnte.
Billy ist ein Hacker, und er ist gut. Besser, als ich in seinem Alter
war, und ich glaube, er wird eines Tages besser sein, als ich es je war,
und das wird nicht mehr lange dauern. Reba war magisch aktiv, eine
Magierin, aber ich dankte Gott, dass sie nicht in das Business einsteigen
wollte. „Kill den Magier zuerst“ ist nicht einfach nur ein Sprichwort,
und sie hatte sowieso nie das Temperament, um ein Shadowrunner zu
sein. Sie wollte Orkkultur studieren, etwas über ihre Herkunft lernen
und vielleicht anderen Orks helfen. Der Ork-Untergrund in Seattle
faszinierte sie.
> Ein bisschen gefährlich, die Namen der eigenen Kinder hier so
öffentlich zu posten, oder?
> Beaker
> Reba – na ja, lies weiter. Billy dagegen ist einfach viel zu stolz.
Dummer Junge. Er macht kein Geheimnis daraus, dass er mein Sohn
ist und gibt gerne damit an, dass er meinen sogenannten Titel
als „bester Orkdecker“ übernehmen wird. Er läuft in den Schatten
unter dem Namen Tauren, falls ihr mal in Seattle seid und einen
verdammt guten Decker braucht.
Programme auf irgendwelchen billigen Shareware-Sites gesaugt
haben, aber nicht mal eine CPU von einem Megapuls unterschei-
den können? Das sind Hacker. Sie haben keinen blassen Schimmer
davon, wie man einen vernünftigen Programmcode raushaut. Was
mich angeht, so ist jeder, der wirklich weiß, was er da tut, wenn
er in der Matrix unterwegs ist, ein Decker. Und der Begriff „Hacker“
ist übrigens schon fast ein Jahrhundert alt. So viel zum Thema
„altmodisch“.
> Bull
> Ich glaube nicht, dass Bull sich je ändern wird. Er trägt immer
noch sein uraltes Cyberdeck-Gehäuse mit sich herum. Angeblich
soll sich da drin allerdings ein brandheißes Kommlink befinden.
> Winterhawk
Die Kids zogen also nach Seattle, und ich beschloss, ihnen zu fol-
gen. Ich hatte allerdings nicht vor, wieder in den Schatten zu laufen.
Ich bin einfach zu alt für so was. Alles knarrt, knackt und ploppt, wenn
ich morgens aufstehe. Dinge tun mir weh, von denen ich nicht wusste,
dass sie überhaupt wehtun können. Schattenlaufen ist ein Spiel für
die Jungen, und ich war nie der Typ dafür, meinen Deckerjob aus der
Ferne zu erledigen, also fiel diese Option flach. Aber nachdem ich ein
paar alte Freunde besucht hatte, erkannte ich, dass ich meine Erfah-
rungen auch auf andere Weise nutzen konnte. In Seattle herrscht ein
nie endender Bedarf an guten Schiebern. Und auf diese Weise konnte
ich Billy im Auge behalten. Also begann ich damit, Runs zu organi-
sieren, wobei ich mich vor allem auf die neuen Talente in Seattle kon-
zentrierte.
 Und an dem Punkt platzte der Traum. Nicht durch unser Busi-
ness, wohlgemerkt. Durch etwas Dummes, etwas Banales. Ein Se-
rienmörder terrorisierte Seattle über zwei Jahre lang, bis Knight Er-
rant ihm das Handwerk legen konnte. Keine sechs Monate später
machte ein Nachahmungstäter da weiter, wo der Maya-Schnitter
gestoppt wurde, und Rebecca war eins seiner ersten Opfer. Sie lebte
unten im Ork-Untergrund und schrieb an einer Arbeit über die Ge-
schichte des Untergrunds. Wenn ich meine alte Gang noch gehabt
hätte, hätte ich den Dreckskerl selber zur Strecke gebracht. Statt-
dessen setzte ich die jungen Talente, mit denen ich arbeitete, auf
ihn an und ließ ihn lebend zu mir bringen. Ich ließ meine Frau den
Abzug drücken.
> Das wusste ich nicht, Bull. Mein Beileid. Rebecca war ein
nettes Mädchen.
> Pistons
Danach setzte ich einen Teil von Rebeccas Arbeit fort und er-
forschte die Geschichte des Ork-Untergrundes. Das Orkrechte-Ko-
mitee nahm übrigens auch mit mir Kontakt auf, eine Organisation,
der Rebecca beigetreten war und mit der sie an einer Kampagne
gearbeitet hatte, den Ork-Untergrund als vollwertigen Stadtteil Se-
attles anzuerkennen, wogegen die Stadt bislang immer verzweifelt
gekämpft hat. Ich kann es nicht beweisen, aber es gibt da eine Ver-
bindung zu Rebeccas Tod. Ich weiß es.
So, das ist meine Geschichte. Macht daraus, was ihr wollt. Trotz
allem bin ich zurück in den Schatten, zurück bei euch armseligem
Haufen aus niederträchtigem Abschaum und Schleim. Wo ich hin-
gehöre.
BULL
K G R S C I L W EDG ESS INI ID
8 4 5(8) 6 5 4 6(9) 4 6 3,44 9(12) 1(4)
Zustandsmonitor (K/G): 12/10
Panzerung (B/S): 8/6
Fertigkeiten: Athletik-Fertigkeitsgruppe 4, Ausweichen 5, Bo-
denfahrzeuge 4, Computer 6, Datensuche 6, Elektronische
Kriegsführung 6, Erste Hilfe 3, Fahrzeugmechanik 3, Füh-
rung 4, Gebräuche (Matrix) 5 (+2), Gewehre 4, Hacking 6,
Hardware 6, Heimlichkeit-Fertigkeitsgruppe 4, Matrixkampf
(IC) 6 (+2), Nahkampf-Fertigkeitsgruppe 4, Pistolen (Revol-
ver) 5 (+2), Schnellfeuerwaffen 4, Schwere Waffen (Sturmka-
nonen) 5 (+2), Software 6, Verhandlung 5, Wahrnehmung 4
Wissensfertigkeiten: Chicagoer Straßengangs 4, Comics 4,
Computerhardware 5, Computersoftware 6, Insektengeister
6, Konzernsicherheit 4, Matrixsicherheit 6, Ork-Untergrund
4, Ortskenntnis Chicago 5, Ortskenntnis Seattle 3, Polizei-
prozeduren 3, Science Fiction des 20. Jahrhunderts 4, Seattler
Politik 4, Seattler Straßengangs 2, Shadowrunnerkunde 6,
Englisch M, Japanisch 3, Sioux 3, Spanisch 2
Gaben: Außergewöhnliches Attribut (Logik), Talentiert (Ha-
cking)
> Bull verursacht in letzter Zeit einigen Wirbel in der Seattler Politik,
indem er versucht, das „Projekt Freiheit“ des ORC durchzudrücken.
Projekt Freiheit würde den Ork-Untergrund zu einem offiziellen Di-
strikt von Seattle machen, mit dem Recht, Steuern zu erheben, rich-
tige Straßen und Krankenhäuser zu bauen und in den städtischen
Knight-Errant-Kontrakt einzusteigen. Das ist ein teures Unterfangen,
und die Stadt ist ohnehin schon knapp bei Kasse, aber das ORC hat es
geschafft, genug Druck auf Brackhaven und seine Regierung auszuü-
ben, dass die Sache dieses Jahr zum Wahlkampfthema wird.
> Kat o’Nine Tales
> Es sieht aus, als könnte es ein hässlicher Kampf werden, und Bull
heuert immer wieder Leute an, um der Sache des ORC zu helfen.
Die Regierung scheut vor den Kosten und dem Chaos zurück, das
mit der Anerkennung des Ork-Untergrundes als offizieller Distrikt
einhergehen dürfte, und auch viele Bewohner des OU selbst sind
nicht sonderlich begeistert von der Idee. Sie sind ganz froh darüber,
dass man sie größtenteils ignoriert. Momentan ist es ein Paradies
für Kriminelle, denn Knight Errant geht ohne triftigen Grund und di-
rekten Befehl der obersten Vorgesetzten nicht dort hinunter, mit der
Begründung, dass der Ork-Untergrund nicht Teil des Vertrages ist.
> Snopes
SCHIEBER & JOHNSONS
> Natürlich will die Regierung nicht, dass der OU einen offiziellen
Status bekommt. Brackhaven hat doch hauptsächlich seine heuch-
lerischen Rassistenkumpels in seine Reihen berufen. Sie würden den
Untergrund am liebsten mit Beton ausgießen, und zwar solange die
stinkenden Troggys noch unten sind.
> Butch
Handicaps: Allergie (Mittel, Gold)
Bodytech (alles Betaware): 2 Datenbuchsen, Enzephalon 2,
Mathematische SPU, SimSinn-Booster, Smartlink; Mnemo-
verstärker 3, Synapsenbeschleuniger 3, Zerebralbooster 3
Ausrüstung: Panzerjacke [B/S 8/6], AR-Kontaktlinsen [mit Bild-
verbindung, Infrarotsicht, Sichtverbesserung 3, Sichtvergrö-
ßerung], Kommlink [Spezialanfertigung; System 9, Prozessor
8, Firewall 10, Signal 7; Biometrisches Schloss (Elektroscho-
cker), Maßgeschneidertes Interface, Härte 6, Panzergehäuse
10, Prozessorverstärkung 6, SimSinn-Beschleuniger]
Programme: Analyse 8, Angriff 9, Aufspüren 6, Ausnutzen 6,
Befehl 7, Biofeedback-Filter 8, Blackout 9, ECCM 7, Edi-
tieren 6, Empathie 6, Medic 6, Panzerung 9, Scannen 8,
Schleicher 9, Schmöker 6, Schnüffler 6, Schwarzer Hammer
9, Schwarzes Angriffs-IC 9, Verschlüsselung 6
Waffen:
Ruger Super Warhawk [Schwere Pistole | Schaden 6K | PB –6 |
RK 0 | 6(tr) | Angepasster Griff, Biometrisches Schloss (Sper-
re), Smartlink; APDS-Munition]
Panther XXL [Sturmkanone | Schaden 10K | PB –5 | RK 1 |
15(s) | Angepasster Griff, Biometrisches Schloss (Sperre),
Smartlink]
William „Bull“ MacCallister 99
 HANNIBELLE
PERSÖNLICHE DATEN: HANNIBELLE
Alter: 28 Größe: 1,87 m
Gewicht: 75 kg Haarfarbe: Grau,
soweit vorhanden
Augenfarbe: Weiß Geschlecht: Weiblich
Metatyp: Ghul Erwacht: Ja (Infiziert)
SCHIEBER & JOHNSONS
> Ich habe lange nachgedacht, bevor ich mich entschlossen habe,
Sunshines Beitrag mit aufzunehmen. Ich dachte an den möglichen
Schaden, den er verursachen konnte, und das mögliche Risiko für
Hannibelle. Ich nehme diesen Beitrag hier nicht mit hinein, um
Hannibelle öffentlich bloßzustellen – ich nehme ihn hinein, weil
ich glaube, dass JackPoint am besten funktioniert, wenn wir alle
übereinander Bescheid wissen. Wenn wir ehrlich und offen damit
umgehen, was wir tun und was wir erlebt haben, ist es für uns alle
besser. Und wenn das bedeutet, dass einige unangenehme Dinge
ans Tageslicht gezerrt werden, damit wir uns darüber unterhalten
können, dann soll es so sein.
> FastJack
Ich glaube, wir sollten mal eine Minute darüber nachdenken, was
wir hier eigentlich machen. Wir haben so etwas wie eine Lagerfeu-
eratmosphäre heraufbeschworen und erzählen uns Geschichten, eine
aufregender als die andere, und dabei tun wir so, als würden wir uns
entspannen und hätten unseren Spaß. Aber in Wirklichkeit knacken
wir hier die Schalen, die viele Leute um sich herum aufgebaut haben,
stecken unsere Nase in Dinge, die sie aus guten Gründen verschwiegen
haben, und zerren zu unserer Unterhaltung Geheimnisse ans Licht.
Wenn das jetzt so klingen sollte, als würde ich mich für das, was
ich vorhabe, schuldig fühlen, dann liegt das daran, dass es tatsächlich
so ist. Aber wenn es hier darum geht, bemerkenswerte Geschichten
auszutauschen, dann passt diese auf jeden Fall hinein.
Ich kann nicht alle Geheimnisse Hannibelles ausplaudern, denn
sie hat es geschafft, die meisten außerhalb meiner Reichweite zu hal-
ten. Ihr richtiger Name ist eines davon. Sie hat ihren jetzigen Namen
erst angenommen, als sie bereits infiziert war, und irgendwann in der
Vergangenheit hat sie es geschafft, ihre Identität so gründlich zu ver-
graben, dass ich sie nicht finden konnte.
Auch wenn ihr Name verlorengegangen ist, so gilt das nicht für ihre
Vergangenheit. Sie mag in der Lage gewesen sein, die Papier- und Ma-
trixspuren ihres Namens zu vernichten, aber wenn man auffällig und
ungewöhnlich ist (was sie ja definitiv ist), dann bleiben zumindest die
Erinnerungen der anderen Menschen, die man nicht löschen kann. Es
ist mir gelungen, einige Leute zu finden, die sie von früher kannten, und
aus dem, was sie mir erzählten, konnte ich mir ein Bild über ihre Ver-
gangenheit zusammenbasteln. Fangen wir also mit etwas an, worüber
Hannibelle nicht gerne redet: Ihre ersten Schritte in den Schatten machte
sie bei Tamanous. Genau, sie ist eine Ghulin, die für Organschmuggler
gearbeitet hat. Wenn sie jetzt auch noch eine Technomancerin wäre, so
würde sie die schlimmsten Ängste der Metamenschheit verkörpern.
100 Hannibelle
GEPOSTET VON: SUNSHINE
> Sie kann genauso wenig dafür, dass sie ein Ghul ist, wie TM
dafür können, dass sie so sind, wie sie sind. Jeder, der ihr das zum
Vorwurf macht, ist ein Fanatiker und Idiot. Ich rechne nur ihre
Zusammenarbeit mit Tamanous, die sie selbst zu verantworten hat,
zu ihren Ungunsten. Das andere ist etwas, das ihr einfach passiert
ist, und das ist kein Grund, sie auszugrenzen.
> Netcat
> Eine Abscheulichkeit wird nicht dadurch weniger abscheulich,
dass sie ihrer Natur gemäß handelt. Ihr könnt so viel über Ghul-
rechte reden, wie ihr wollt, aber am Ende bleibt immer noch ihr
Hunger auf Menschenfleisch.
> Clockwork
Wie viele andere Tamanous-Mitarbeiter auch ließ sich Hannibel-
le aus Verzweiflung anwerben und blieb aus Scham dabei. Als junge
Ghulin in den Straßen von Seattle, lange bevor irgendjemand sich Ge-
danken über die Rechte der Infizierten machte, war es für sie schwer,
über die Runden zu kommen. Ihre Eltern waren tot, die Behörden
wollten nichts mit ihr zu tun haben, kein Obdachlosenasyl nahm
sie auf, und sie hatte keine vermarktbaren Fähigkeiten. Alles, was sie
hatte, war ein brennender Hunger, eine rasche Auffassungsgabe und
das Cyberdeck ihres Vaters, das er ihr gegeben hatte, kurz bevor er im
Kreuzfeuer eines Bandenkrieges starb. Glücklicherweise – oder auch
nicht, je nachdem, wie man es sieht – reichte das, um sie für Tamanous
interessant zu machen. Sie an den Haken zu bekommen, war nicht
schwer – Tamanous verfügt über einen ständigen Nachschub an fri-
schem menschlichem Fleisch, und sie mussten der halbverhungerten
Ghulin nur ein bisschen davon vor die Nase halten, um sie dazu zu
bringen, fast alles für sie zu tun.
Am Anfang verlangten sie nicht viel von ihr. Ihr Kommlink war
kein bekannter Tamanous-Kanal, und soweit sie wussten, wurde es
auch nicht überwacht, deshalb war es ein sicherer Weg, um Nachrich-
ten weiterzuleiten. Das war eine Zeit lang alles, was sie zu tun hatte,
und auch wenn ihr Lohn gering genug war, dass ihr Hunger nie ganz
gestillt wurde (was bei einem Ghul sowieso nie der Fall ist), bekam sie
zumindest genug Nahrung, um zu überleben.
> Eine Sache, die man bei einer Organisation wie Tamanous nie
vergessen darf, ist, dass alles, was sie tun, immer durch den ei-
gentlichen Inhalt ihrer Tätigkeit verdorben wird. Nachrichten wei-
terzuleiten, erscheint einigermaßen unschuldig, bis einem klar
wird, dass sich viele dieser Nachrichten darum drehen, Personen
ausfindig zu machen, die ersetzbar sind und die niemand vermis-
sen wird, wenn sie verschwinden, oder um Versteigerungen be-
stimmter Organe an reiche Arschlöcher. Diese Nachrichten ziehen
immer Leichen nach sich.
> Goatfoot
Für Tamanous zu arbeiten, hindert einen normalerweise daran, sich
eine andere Arbeit zu suchen. Man möchte die Organisation nicht ger-
ne in seinem Lebenslauf stehen haben oder als Referenz angeben, und
wer für sie arbeitet, fühlt sich meist irgendwie besudelt und hat das
Gefühl, es nicht besser verdient zu haben. Deshalb bleiben die meisten
in diesem Teufelskreis des Organschmuggels hängen.
Es war für Hannibelle nicht gerade hilfreich, dass ihre Arbeit für
Tamanous sich immer mehr vertiefte. Sobald ein sauberes Cyberdeck
einmal für illegale Aktivitäten eingesetzt wird, bleibt es nicht lange
sauber, und Hannibelle stellte fest, dass sie einigen zusätzlichen Auf-
wand betreiben musste, um ihre Nachrichten sicher weiterzuleiten. Sie
lernte die Grundlagen der Verschlüsselung und der Umleitung, lern-
te, ihre Spuren zu verwischen, und einige andere Tricks, um in der
Matrix nicht aufzufallen. Sie hatte eine Begabung dafür, und es kam
ihr zugute, dass das alte Cyberdeck ihres Vaters ein recht gutes war.
Hannibelle bastelte an dem Deck herum und lernte dabei, was wich-
tig war und worauf sie verzichten konnte. Ihre Basteleien lehrten sie
die verschiedenen Methoden, Daten über Netzwerke zu übertragen,
ohne aufzufliegen – Kabelverbindungen, Kurzwellen- und andere Ra-
diofrequenzen mit geringer Bandbreite, Laserpunktverbindungen usw.
Tamanous sorgte dafür, dass sie immer zu viel zu tun hatte, um sich
nach anderer Arbeit umzusehen, und aufgrund der Tatsache, dass sie
eine Ghulin mit Verbindungen zu Tamanous war, gingen ihr andere
aus dem Weg, was ebenfalls verhinderte, dass sie alternative Einkom-
mensquellen fand. Aber zum Schluss wurde sie doch gut genug, um
sich aus den Krallen von Tamanous zu befreien – was der Orga-
nisation auffiel, als Hannibelle ein Täuschungsmanöver aufzog,
bei dem sie Tamanous auf eine wilde Odyssee durch einige
der gefährlichsten Knoten, unberechenbarsten Leitungen und
unangenehmsten Sites führte, mit deren Hilfe es ihr auch heu-
te noch gelingt, unsichtbar zu bleiben.
> Lasst euch das eine Lehre sein, Kinder. Es mag ef-
fizienter und einfacher sein, mit euren kleinen
Spielzeugen alles machen zu können, aber
die alte Matrix hatte doch
auch ihr Gutes.
Es gab haufenweise Möglichkeiten, die eigenen Tätigkeiten und
die eigene Identität zu verschleiern und zu vernebeln, bevor UMS
2.0 auf den Markt kam. Heute ist das doch alles das Gleiche. Man
kann keine Nachrichten mehr von isolierten Sprach-, Daten-, Rig-
ging- oder Matrixnetzwerken ausschicken, um sich die Bullen vom
Hals zu halten. Es ist einfacher, im Wald zu entkommen als in der
Wüste.
> Bull
> Das ist kein Problem, wenn sie niemals erfahren, dass man da
war, alter Mann.
> /dev/grrl
Ein innerer Druck baute sich bei Hannibelle auf. Sie wusste, dass
sie ihr Leben verändern wollte, aber sie hatte keine Vorstellung da-
von, wie sie das bewerkstelligen sollte. Sie wollte ihr Glück woanders
suchen, aber ihr war nur zu bewusst, dass ihr Ruf – und die
Bemühungen ihrer Kollegen, diesen Ruf zu verbreiten – sie
in Tamanous’ Krallen festhielt. Aber es musste etwas ge-
SCHIEBER & JOHNSONS
schehen, und so kam es dann auch. Es war keine schöne
Geschichte, Hannibelles Familie wurde hineingezogen,
aber als es vorüber war, hatte Hannibelle sich endlich von
Tamanous gelöst.
> Ich muss einfach mal fragen – soll dieses Zeug über
Tamanous jetzt diese große Enthüllung sein? Han-
nibelle hat nie allzu offen über ihre Verbindung zu
Tamanous gesprochen, aber für jeden, der nur ein
bisschen in der Lage ist, zwischen den Zeilen
zu lesen, war sie doch ziemlich offensichtlich.
Für mich sind das keine Neuigkeiten.
> Pistons
Hannibelle 101
 > Warum liest nie jemand ein Dokument ganz durch, bevor er ei- > Wie zu erwarten, ist sie besonders gut darin, infizierte Runner in ein
nen Kommentar abgibt? Es kommt noch mehr.
> Sunshine
Hannibelle ging auf den freien Markt als Hackerin mit einer be-
sonderen Begabung dafür, Datenspuren zu verwischen und Informa-
tionen für ihre Klienten zu verstecken. Diese Art von Arbeit lässt sich
gut von zu Hause aus erledigen, und genau so zieht Hannibelle es auch
vor. Sie weiß, wie die meisten Leute auf ihr Äußeres reagieren, deshalb
vermeidet sie persönliche Treffen, soweit es geht.
Aber ganz ehrlich, in einer Gruppe, zu der FastJack und Smiling
Bandit gehören, ist es für die Elite unter uns alles andere als unge-
wöhnlich, persönliche Treffen zu vermeiden, und sie sind ja auch meis-
tens gar nicht nötig. Hannibelle gehört zu der Klasse von Hackern,
die nicht um den ganzen Globus reisen müssen, um ein Team, das
in Kiew arbeitet, zu unterstützen, oder um die elektronischen Spuren
eines Schiebers in Philadelphia zu verwischen, dem das Finanzamt auf
den Hacken ist. Sie hat es auf dem Gebiet der Heimlichkeit und Täu-
schung in der Matrix durch eine Kombination von Voraussetzungen
SCHIEBER & JOHNSONS
zur Meisterschaft gebracht. Erstens ist sie eine hervorragende Hacke-
rin, die die Feinheiten von Datenspuren, Routing und allen Arten von
Aufspürmaßnahmen kennt. Zweitens haben ihre Erfahrungen beim
Frisieren, Auseinandernehmen und Zusammensetzen von Hard- und
Software ihr fundierte Kenntnisse der Programmierung verschafft, die
ihr natürliches Talent noch ergänzen. Und drittens hat Hannibelle, wie
sie auf JackPoint mehrmals angedeutet hat, eine umfassende Kennt-
nis der Matrixtopographie und kennt die besten Orte und Routen,
mit deren Hilfe man auch den hartnäckigsten Verfolgern entkommen
kann.
> Für jemanden, der so selten aus seinem Versteck gekrochen
kommt, hat Hannibelle eine beachtliche Liste an Tutoren oder
Mentoren, oder wie immer man Leute wie Grid Reaper bezeichnen
mag, aufgebaut. Das Gleiche gilt für ihr Wissen um all die blinden
Flecke und Engpässe – es ist schon nett, wenn man die Hilfe eines
ehemaligen GOD hat.
> Clockwork
> Ich glaube, ich weiß, wen du meinst. Er war ein Bundesbulle,
kein Konzerncop.
> Pistons
Sobald sie sich von Tamanous befreit hatte, wurde Hannibelles Ruf
immer besser. Sie war gut und ehrlich und erlag nie der Versuchung, die
Daten, die sie verstecken sollte, heimlich zu kopieren und als kleinen
Nebenverdienst zu verkaufen. Sie bekam immer mehr Aufträge, und da
sie von ihrem Stützpunkt aus mehrere Jobs gleichzeitig ausführen konn-
te, lernte sie nach und nach einige Shadowrunner kennen. Mit ihrem
neuen Ruf, ehrliche Arbeit zu liefern, und ihrem ständig wachsenden
Netzwerk an Connections wurde sie zu einer Instanz, an die man sich
wandte, wenn man eine Einschätzung über das Talent und die Fähigkei-
ten des einen oder anderen Runners suchte. Sobald die Leute anfangen,
einen zu fragen, ob bestimmte Leute gut zusammenarbeiten könnten
und was man von der und der Teamzusammenstellung hält, ist es nur
noch ein kurzer Schritt, selbst zum Schieber zu werden.
Als Schieber arbeitete sie mit der gleichen Ehrlichkeit und Zuver-
lässigkeit wie als Hackerin. Wenn sie jemanden für einen Job emp-
fiehlt, dann nicht, weil sie demjenigen einen Gefallen schuldet oder
weil er sie dafür bezahlt hat, ihn zu empfehlen. Sie macht es, weil sie
denkt, dass diese Person genau die richtige für den Job ist, und Punkt.
Ihre Einschätzungen sind zuverlässig, und sie hat ein gutes Gespür für
die Chemie eines Teams.
102 Hannibelle
Team zu integrieren. Sie weiß, wie man die Stärken der Leute am bes-
ten verkauft und Befürchtungen über die Zusammenarbeit mit ihnen
ausräumt. Sie versucht nicht, einem Team Schuldgefühle einzureden,
damit es einen Infizierten aufnimmt – stattdessen erstellt sie eine Über-
sicht über die Fähigkeiten und bisherigen Erfahrungen des Runners
und preist ihn so an, dass das Team ganz wild darauf ist, den Neuling
aufzunehmen. Wenn sie dann feststellen, dass der Kandidat infiziert
ist, stutzen sie nur kurz, da sie unbedingt seine Fähigkeiten in ihrem
Team haben wollen.
> Stone
Also, wo bleibt jetzt der Skandal? Bis jetzt klingt das Ganze wie die
übliche Erlösungsstory – Ghul ist verzweifelt, gerät in Schwierigkeiten,
überwindet Schwierigkeiten, beginnt neues Leben.
Doch die Geschichte endet hier noch nicht. In jeder Erlösungsge-
schichte gibt es die Möglichkeit eines Rückfalls. Und damit haben wir
es hier auch zu tun.
Ich muss betonen, dass ich nicht in der Position bin, über Hanni-
belle zu urteilen. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, ein Ghul zu sein.
Ich muss nicht mit ansehen, wie jeder, dem ich über den Weg laufe, zu-
rückschreckt. Ich muss nicht mit dem Brennen leben, das jeden Ghul
überkommt, wenn er nicht genug zu essen bekommt, ein Gefühl, das
den Beschreibungen nach wie Säure ist, die einen von innen heraus
auffrisst. Ich gebe frei heraus zu, dass ich nicht weiß, wie schwer sie
es hatte.
Ich weiß nur, dass Hannibelle, nachdem sie eine Zeit lang frei
von Tamanous gewesen war, sich ihnen wieder näherte. In gewisser
Weise wäre es verrückt gewesen, es nicht zu tun. Sie bleibt die meiste
Zeit im Haus, vermeidet jeden metamenschlichen Kontakt, und es
gibt nun einmal nicht viele Organisationen, die sowohl regelmäßi-
gen Zugriff auf frisches totes Fleisch als auch ein entsprechendes
Netzwerk haben, mit dem sie es verteilen können. Sie konnte einige
Jahre widerstehen, doch schließlich wandte sie sich wieder an ihre
Tamanous-Kontakte und bat sie um Nahrung. Diesmal musste sie
nicht um einen Gefallen bitten. Sie war in der Lage, sie gut genug
dafür zu bezahlen, dass sie ihr Körperteile lieferten, die sonst nie-
mand wollte. Also wurde eine Übereinkunft getroffen, und seither
wird sie beliefert.
Es gibt vieles, was man zur Rechtfertigung anführen könnte. Ta-
manous muss für sie keine zusätzlichen Jobs erledigen – sie geben ihr
einfach etwas von den Resten. Niemand stirbt nur deshalb, damit sie
etwas zu essen hat, was wahrscheinlich besser ist, als wenn sie sich
selbst Nahrung beschaffen würde. Und ihre Verbindung zu Tamanous
ist strikt von ihrer eigentlichen Arbeit getrennt und hat keinerlei Aus-
wirkungen auf ihre Tätigkeit als Schieberin.
Es ist jedoch eine unleugbare Tatsache, dass Tamanous etwas für
sie tut, was die Organisation sonst für niemanden tut. Hannibelle be-
zahlt dafür, richtig, aber allein die Tatsache, dass Tamanous ihr diesen
Dienst leistet, ist eine Gefälligkeit. Und Tamanous ist keine Organi-
sation, die jemandem einen Gefallen erweist, ohne irgendwann eine
Gegenleistung dafür zu erwarten. Irgendwann werden sie etwas von ihr
verlangen. Und ich kann nur sagen, dass ich keiner von Hannibelles
regulären Runnern sein möchte, wenn die Zeit gekommen ist, den
Gefallen zurückzuzahlen.
> Du hast so getan, als wolltest du objektiv Tatsachen mitteilen, und
dann beendest du das Ganze mit diesem unverantwortlichen Schwall
reiner Spekulationen. Jeder, mit dem ich zusammengearbeitet habe,
weiß, dass er mir vertrauen kann und dass ich ihn respektvoll behand-
le. Und daran wird sich auch nichts ändern.
> Hannibelle
> Das hört sich für mich nicht gerade nach einer Erklärung an.
> Goatfoot
> Ich glaube nicht, dass ich etwas zu erklären hätte.
> Hannibelle
> Ich gebe dir recht. He, die Lady macht mehr, als die meisten von
sich sagen können. Sie sorgt dafür, dass sie zu essen hat, sie tut nieman-
dem weh und sie behandelt ihre Runner korrekt. Auch wenn einige
von euch Tamanous nicht mögen – mir ist es egal.
> Kane
> Hm, wenn die eigenen Gedankengänge von Kane moralisch gutge-
heißen werden, ist es an der Zeit, sie noch einmal zu überdenken.
> Winterhawk
> Um einmal den Advocatus Diaboli zu spielen (nichts für ungut,
Mädchen): Ich schätze, dass Hannibelle es vorzieht, ihr Arrange-
ment mit Tamanous beizubehalten. Sie hat sie schon einmal abser-
viert, und das ganz ohne Kampf. Im Schmuggelbusiness, vor allem
bei einem Netzwerk wie diesem, ist es eher unüblich, jemanden
HANNIBELLE
K G R S C I L W EDG ESS INI
6 3 4 7 2 6 6(9) 5 6 4 10
Zustandsmonitor (K/G): 11/11
Panzerung (B/S): 6/4
Fertigkeiten: Ausweichen 3, Bodenfahrzeuge 3, Cracken-Fertig-
keitsgruppe 6, Einschüchtern 3, Elektronik-Fertigkeitsgrup-
pe 6, Fahrzeugmechanik 3, Flugzeuge 2, Führung 3, Gewehre
(Schrotflinten) 3 (+2), Knüppel 3, Survival 3, Unterricht 2,
Verkleiden 2, Wahrnehmung 3(6)
Wissensfertigkeiten: Elfische Anatomie 2, Matrix-Sicherheits-
design 5, Menschliche Anatomie 4, Orkische Anatomie 3,
Trollische Anatomie 3, Zwergische Anatomie 3, Englisch M,
Japanisch 1, Or’zet 3, Spanisch 2, Sperethiel 2
Gaben: Außergewöhnliches Attribut (Logik), Dualwesen, Ge-
steigerte Sinne (Gehör, Geruch), Natürliche Waffe (Klauen,
Reichweite –, Schaden 5K, PB –)
Handicaps: Allergie (Sonnenlicht, Leicht), Nahrungsbedarf
(metamenschliches Fleisch)
einfach so davonkommen zu lassen. Diese Leute sind „Verrätern“
gegenüber ziemlich unnachsichtig, denn sie können sich ganz und
gar keine undichten Stellen oder Erpressungen leisten. Und eine
Organisation, die auch noch besagtem Verräter das Essen frei Haus
liefert, hat ganz sicher ihre eigenen Pläne. Bulls Kommentar weiter
oben schneidet einen interessanten Punkt an, denn physische Anti-
Überwachungsmaßnahmen haben tatsächlich moderneren Methoden
der Signaltarnung und Desinformation Platz gemacht. Tamanous
braucht kein Essen zu beschaffen – sie haben mehr frische Leichen,
als selbst das beste Schiebernetzwerk besorgen könnte. Aber sie ha-
ben Feinde en masse, und dies ist ein Krieg. Jede Kriegsführung ba-
siert auf Täuschung, und sie haben eine der Besten auf ihrer Seite.
Sie ist eine Ghulin, und es gibt nichts, was das ändern könnte. Das
bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht auch ihren Teil dazu beitra-
gen könnte, diese organschmuggelnden Monster davon abzuhalten,
noch mehr Unheil anzurichten als ohnehin schon.
Aber vielleicht ist sie auch selbst nur ein kaltblütiges Monster;
in dem Falle dürften ihre Runner wohl schon seit Längerem dazu
missbraucht werden, ein großes Menschenfleischgelage vorzube-
SCHIEBER & JOHNSONS
reiten.
> Thorn
Bodytech: Cyberaugen [Stufe 4; Blitzkompensation, Infra-
rotsicht, Restlichtverstärkung, Sichtverbesserung 3, Sicht-
ID vergrößerung, Smartlink], Kommlink [Spezialanfertigung;
1 Prozessor 7, Signal 5, Firewall 7, System 6], Riggerkontrolle,
Simrig; Zerebralbooster 3
Programme: Analyse 5, Angriff 5, Aufspüren 5, Ausnutzen 4,
Befehl 6, Biofeedback-Filter 5, ECCM 5, Entschärfen 4,
Entschlüsselung 6, Entwaffnen 4, Panzerung 4, Scannen 5,
Schmöker 4, Schnüffler 5, Schwarzer Hammer 4, Täuschung
6, Verschlüsselung 6
Ausrüstung: Atmosphärensensor 3, 2 Aztechnology Cruiser [mit
Riggeradapter, Waffenhalterung (normal, extern, festmon-
tiert, ferngesteuert)], Bereichsstörsender 9, 2 gefälschte SINs
5, Latex-Gesichtsmaske 5, Mini-Schweißgerät, Panzerweste
[B/S 6/4], RFID-Löscher, 10 Sicherheits-RFID-Marker, 10
Spionage-RFID-Marker, 20 Standard-RFID-Marker, Satelli-
tenverbindung, 5 Shiawase Kanmushi [mit Chamäleonfarbe,
Relaiseinheit, Riggeradapter]
Waffen:
Defiance T-250 [Schrotflinte | Schaden 6G(e) | PB –Hälfte |
HM | RK 1 | 5(m) | Smartgun, Vordergriff; 100 Schuss Scho-
ckermunition]
Betäubungsschlagstock [Knüppel | Reichweite 1 | Schaden 6G(e)
| PB –Hälfte]
Hannibelle 103
 HANS BRACKHAUS
PERSÖNLICHE DATEN: HANS BRACKHAUS
Alter: Unbekannt Größe: Unterschiedlich
Augenfarbe: Schwarz, Haarfarbe: Grau
Grau, Blau oder Schwarz
Gewicht: Unterschiedlich Geschlecht: Männlich
Metatyp: Unterschiedlich Erwacht: Nein
SCHIEBER & JOHNSONS
Hans Brackhaus könnte eine Person sein, mehrere Personen, ein Großer
Drache oder alles auf einmal. Auf jeden Fall ist Hans Brackhaus aber
die Art von Gespenstergeschichte, die sowohl Shadowrunner als auch
Konzernmanager ihren Kindern erzählen, wenn sie nicht brav sind. Er
ist der ultimative Buhmann des Business. Und deshalb geraten die Ge-
schichten manchmal ziemlich wild, was es verdammt schwierig macht,
die Wahrheit herauszufiltern. Dabei hilft es auch nicht gerade, dass
schon mehr als ein Konzernmann von Saeder-Krupp unter dem Namen
Brackhaus tätig geworden ist, wobei ich Vertuschungsoperationen, bei
denen Mr. Johnson vorgibt, für S-K zu arbeiten, gar nicht mitzähle. Es
geht natürlich das Gerücht, dass Hans Brackhaus ein Name ist, den Lof-
wyr selbst benutzt, wenn er menschliche Gestalt annimmt (eine andere
als seine übliche), um sich persönlich um seine Operationen zu küm-
mern. Aber ein Gerücht wäre kein Gerücht, wenn es nicht langlebig
wäre, und dieses ist bereits seit Jahrzehnten im Umlauf. Jeder weiß, dass
man sich nicht mit Drachen einlassen soll – auch wenn es sich in der
Praxis als recht lukrativ erweisen kann –, aber es gibt noch eine Regel,
die genauso wichtig ist: Legt euch nicht mit Hans Brackhaus an.
Dieser Post ist meine ganz persönliche Hans-Brackhaus-Gespens-
tergeschichte. Und ich hoffe, er wird einigermaßen erklären können,
warum ich dieses Dossier über Brackhaus, seine Interessen und Metho-
den und all die verschiedenen Dinge, die der Name Brackhaus bedeu-
ten kann, zusammengestellt habe.
Ich habe in meiner Karriere mindestens dreimal für einen Hans
Brackhaus gearbeitet. Das erste Mal war 2061, am Ende des Sonden-
wettlaufs. Damals war ich noch ziemlich feucht hinter den Ohren, naiv
genug zu glauben, ich sei unbesiegbar und hätte schon alles gesehen,
was die Schatten zu bieten haben.
Schockiert es euch, zu hören, dass ich unrecht hatte?
Mein Team hatte den größten Teil des Jahres in Europort verbracht,
wir standen für einen Mr. Johnson auf Abruf bereit, den unser Decker
ohne große Schwierigkeiten zu Saeder-Krupp zurückverfolgen konnte.
Wir hatten ein paar Personenschutzjobs gemacht und ein bisschen In-
dustriespionage betrieben, hauptsächlich gegen Proteus, um S-K eine
bessere Ausgangsbasis für den Sondenwettlauf zu verschaffen. Aber ich
hatte ständig das Gefühl, dass wir eigentlich nur als Ausweichteam zur
Verfügung standen, als B-Team, als Kavallerie, die als Reserve bereit-
stand, für den Fall, dass die Kacke ans Dampfen geriet.
Und dann war die Kacke am Dampfen.
Wir bekamen einen Anruf von unserem Johnson, uns sofort zur
Zentrale von Arianespace/S-K in Bewegung zu setzen und einen hoch-
rangigen S-K-Manager zu extrahieren, einen Zwerg namens Lukas
Grey, der für Saeder-Krupps Externe Sicherheit zuständig war. Wir
waren nur noch einen Block vom Arianespace-Gebäude entfernt, als
104 Hans Brackhaus
GEPOSTET VON: STONE
unser Schamane die ersten Anzeichen dafür bemerkte, dass etwas nicht
in Ordnung war. Er sagte, der Astralraum um die große Kommunika-
tionsantenne auf dem Dach des Gebäudes herum sei völlig überladen
und würde Funken sprühen. Er sagte, es sehe so aus, als würde Mana
hindurchfließen, mehr Mana, als die Antenne bewältigen konnte.
Wir machten uns keine größeren Gedanken darum. Wir hatten ei-
nen Job zu erledigen. Die Wachen im Eingangsbereich waren bewusst-
los oder tot. Es sah nach dem Job eines professionellen Schattenteams
aus. Das gesamte Gebäude war in Aufruhr, und wir wollten wieder
weg sein, bevor wir den örtlichen Bullen irgendwelche unangeneh-
men Fragen beantworten mussten. Unser Decker empfing das Signal
von Greys persönlichem RFID-Datentransmitter aus dem Unterge-
schoss. Das Gebäude sollte eigentlich kein Untergeschoss haben, also
statt uns den Weg durch den Sicherheitsknoten zu hacken, brachen
wir einfach die Fahrstuhltüren auf und seilten uns ab.
Von dem, was wir dort unten sahen, bekomme ich heute noch Alp-
träume. Es war eine Art Laboratorium. Unser Decker sagte, es sehe aus
wie ein Raumfahrtkontrollzentrum, so wie sie es bei Ares Space haben.
Die Mitte des Raums wurde von einer riesigen Maschine beansprucht,
die sich von einem Gewirr von Drähten und Leitungen an der De-
cke bis zu einer Art Thron in der Raummitte erstreckte. Tote Saeder-
Krupp-Sicherheitsleute lagen auf dem Boden verstreut, ihre Körper
zerfetzt, obwohl sie volle Panzerung trugen. Und dann waren da die
Opfer, die so etwas wie einen rituellen Kreis um die Plattform bildeten,
alle gefesselt und geknebelt, aufgeschlitzt und ausgeblutet.
Es waren Kinder.
Zu behaupten, der Astralraum um das Untergeschoss herum sei
verzerrt gewesen, wäre eine grobe Untertreibung. Was auch immer es
war, unser Schamane sah es zuerst. Bis dahin war er unerschütterlich
gewesen. Doch was er da im Astralen sah, ließ ihn in katatonische
Starre fallen. Ich hatte mir in der Vergangenheit schon oft gewünscht,
selbst den Astralraum sehen zu können, um so bei manchen Runs
einen zusätzlichen Vorteil zu haben, aber dies hier ließ mich dankbar
dafür sein, dass ich mundan war.
Das Ding, in das Greys Transmitter immer noch implantiert war, war
nicht einmal mehr metamenschlich. Ganz bestimmt war es kein Zwerg.
Sein Körper war mit der Maschine verschmolzen und völlig außer Kon-
trolle geraten. Gewebestränge waren mit Leitungen verschmolzen und
bildeten Tentakel, mit denen es die Sicherheitsleute und Wissenschaft-
ler durchbohrt, zerfetzt und in Stücke gerissen hatte. Wir vergaßen die
Extraktion, den Run, dachten nur noch an unser Überleben.
Wir eröffneten das Feuer und feuerten weiter, bis sich außer uns
absolut nichts mehr bewegte. Als wir durch den Fahrstuhlschacht und
aus dem Gebäude flüchteten, verloren wir unseren Hacker und unse-
ren Schamanen. Wir schafften es, den Polizeikordon zu durchbrechen
und versuchten, unseren Johnson zu kontaktieren. Nichts. Tatsächlich
waren alle unsere Connections in Europort versiegt.
Mir fehlt der wissenschaftliche oder magische Hintergrund, um
vernünftige Vermutungen anzustellen, was in Europort geschehen ist.
Alle späteren Unterhaltungen mit Techfreaks und Magiern haben mich
auch nicht weitergebracht. Aber wenn ihr ein paar wilde Spekulationen
hören wollt: Anscheinend hatte Grey eine Sonde losgeschickt, die mit
magischen Telesma und anderen Spielzeugen beladen war, und sie nahe
genug an den Halleyschen Kometen gebracht, um einen Teil seiner ma-
gischen Energie abzusaugen und irgendwie zur Erde, und insbesondere
in Grey selber, zu übertragen. Was Grey damit zu erreichen vorgehabt
hatte, weiß ich nicht, aber es lief jedenfalls nicht wie geplant.
> Stone, du hast recht. Du weißt wirklich nicht, wovon du redest. Teile deiner
Geschichte mögen plausibel sein – die Theorie, dass der Halleysche
Komet in Wirklichkeit ein Geist von beträchtlicher Macht sei, wurde ’61
in akademischen Kreisen ernsthaft diskutiert –, aber andere ergeben
einfach keinen Sinn. Magie ist von der Biosphäre der Erde abhängig und
wird von ihr begrenzt. Die Hintergrundstrahlung im Weltraum ist so-
zusagen astronomisch hoch. Genau wie Schall kann auch Mana nicht
durch ein echtes Vakuum übertragen werden. Der Gedanke, auf ri-
tuelle Weise magische Energie aus dem Kometen zu saugen, ist
verlockend, aber es gibt schlicht und einfach keine Möglichkeit,
so viel Mana zur Erde zu übertragen.
> Ethernaut

> Ich will dich nicht der Lüge bezichtigen, Stone, aber Saeder-
Krupps Sonde hieß Dulcio und wurde am 26. Mai 2061 „versehent-
lich“ von einem orbitalen Verteidigungslaser von Ares abgeschos-
sen, bevor sie auch nur in die Nähe des Kometen kam.
> Orbital DK

> Es sei denn, sie haben eine zweite Sonde abgeschickt, die noch ge-

SCHIEBER & JOHNSONS

heimer war als Dulcio...
> Plan 9

Wir hatten die Hosen voll und machten uns so schnell wie möglich aus dem
Staub. Unser Fahrer hatte Verbindungen zu den Vory, und sie schmuggelten ihn
nach Wladiwostok. Das war das Letzte, was ich je von ihm sah. Ich und das
letzte verbliebene Mitglied meines damaligen Teams flüchteten nach Westen,
wobei wir mehrfach die Richtungen und Transportmittel wechselten, um
potenzielle Verfolger abzuhängen. Es endete damit, dass wir uns in einem
Wohnwagen in der Mojavewüste versteckten, billiges Bier schlürften und
uns zu überlegen versuchten, was wir jetzt machen sollten. Wir verfolg-
ten die Nachrichten nach Meldungen über das Blutbad in Europort. Die
ganze Geschichte wurde irgendwelchen Ökoterroristen angelastet. Keine
Erwähnung meines Teams oder des Dings im Keller.
Brackhaus brauchte weniger als einen Monat, um uns zu finden.
Wahrscheinlich noch weniger, um ehrlich zu sein. Vielleicht hatte er
noch ein paar wichtigere Dinge in seinem Terminkalender. Eines Tages
klopfte er einfach an unsere Tür. Ein gutaussehender Ork – den man
leicht für einen unauffälligen Menschen halten konnte – in einem
maßgeschneiderten Zehntausend-Nuyen-Anzug. Er hatte dunkles,
kurzgeschorenes Haar, das an einigen Stellen allmählich ergraute,
und seine Augen, das weiß ich noch, waren schwarz. Er trug eine
Aktentasche bei sich, und hinter ihm im Staub stand ein Hub-
schrauber, den wir aus irgendeinem Grund nicht gehört hatten.
Er hatte sich kaum vorgestellt (in gutem Englisch mit einem
leichten deutschen Akzent), als mein Partner die Nerven verlor
und anfing, mit einer Waffe vor Brackhaus’ Gesicht herumzuwe-
deln. Es schien ihn kalt zu lassen.
„Es würde Ihnen nichts nützen, mich zu töten“, sagte Brack-
haus. „Ich komme immer wieder.“
Ich brachte ihn dazu, die Waffe wegzustecken. Ich konnte
zwar keine Verstärkung sehen, aber ich hatte das mulmige Ge-
fühl, dass dies eine Situation war, in der uns ein Colt Manh-
unter nicht weiterbringen würde.
„Was wollen Sie?“, fragte ich. Ich wollte ihn nicht belei-
digen, aber ich war noch nie besonders gut mit Höflichkeiten,
zumindest mit denen, die in Arschkriecherei ausarten.
„Sie beide“, sagte er und fügte unsere Namen hinzu, alle
Namen, die wir beide im Laufe unseres Lebens verwendet
hatten, „sind verantwortlich für den Tod von Lukas Grey.
Oder besser gesagt: von dem, was von ihm übrig war.“
Mein Partner machte den Mund auf, um es abzustrei-
ten, also fiel ich ihm schnell ins Wort, denn wenn Brackhaus

Hans Brackhaus 105

 unseren Tod gewollt hätte, wären wir längst tot. „Das ist richtig. Und?“
Ich hoffte, nicht so verängstigt zu klingen, wie ich war. Mein Partner
sah mich an, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen.
„Nun, zunächst einmal möchte ich Ihnen dafür danken“, sagte
Brackhaus, wobei er nach der Aktentasche griff, die neben ihm stand,
woraufhin mein Partner zusammenzuckte.
„Ich war Greys direkter Vorgesetzter. Was er tat, tat er ohne mein
Wissen, ohne meine Zustimmung und offensichtlich in Überschät-
zung seiner Fähigkeiten. Er hat bekommen, was er verdient hat.“
Schon damals hatte ich dermaßen viel Mist von Dutzenden von
Konzernschlipsen zu hören bekommen, dass ich ein ziemlich feines
Gespür dafür entwickelt hatte. Brackhaus sagte entweder die Wahrheit,
oder er war ein fantastischer Lügner. Nachdem er seiner Dankbarkeit
Ausdruck verliehen hatte, bat Brackhaus noch um unsere Diskretion in
dieser Angelegenheit und um eine angemessene Wartezeit, bis wir die
Geschichte an andere weitererzählten. Als Gegenleistung ließ er seine
Aktentasche zurück, die gefüllt war mit beglaubigten Credsticks.
> Hältst du es für klug, uns jetzt die Geschichte zu erzählen? Du
SCHIEBER & JOHNSONS
scheinst gerade gegen deinen eigenen Rat zu verstoßen, sich nicht
mit Brackhaus anzulegen.
> Hard Exit
> Wenn zwölf Jahre keine angemessene Wartezeit sind, dann weiß >
ich es auch nicht. Außerdem gibt es Dinge, die ein Mann nicht für
immer in sich verschließen kann.
> Stone
Das nächste Mal sah ich Hans Brackhaus in Manhattan. Das war
vor zwei Jahren. Sein Alter war das gleiche und auch seine äußere Er-
scheinung, doch dieser Brackhaus war eindeutig menschlich und, noch
wichtiger, ließ keinerlei Anzeichen erkennen, dass er mich wiederer-
kannte. Ich erinnere mich, dass er altmodische Tabak-und-Papierziga-
retten rauchte. Lucky Strikes, um genau zu sein. Das war mit meinem
jetzigen Team, allerdings war einer unserer Artilleristen noch nach dem
letzten Run in Behandlung und wir hatten einen örtlichen Ganger ge-
mietet, um das Team zu komplettieren (das letzte Mal, dass ich diesen
Fehler begangen habe).
Ein Job war in die Hose gegangen, und Brackhaus wollte, dass
möglichst wenig davon ans Licht kam. Er hatte ein Team losgeschickt,
das den Hauptrechner eines Konzerns anzapfen sollte, aber die Runner
hatten die Sache verpfuscht und sich in eine Schießerei mit den Si-
cherheitskräften verzettelt. Einige konnten untertauchen, andere wur-
den verhaftet, und ein paar waren tot. Brackhaus wollte, dass wir sie
zurückbrachten, und zwar in das Lagerhaus, in dem wir uns mit ihm
getroffen hatten. Der Run selber war von der einfachen Sorte, aber die
Entscheidung, ihn anzunehmen, fiel uns alles andere als leicht. Un-
ser Magier askennte Brackhaus – als Teil unserer üblichen Vorsichts-
maßnahmen – und sagte, er habe die Aura eines westlichen Drachen
gesehen, eines verdammt großen westlichen Drachen, die Brackhaus’
Körper überlagerte.
Einige Teammitglieder hatten moralische Bedenken, ein anderes
Runnerteam als Snack für einen Weiswurm auszuliefern. Doch am
Ende war das Honorar einfach zu gut, und die Mehrheit siegte. Wir
stöberten die Runner auf, die noch am Leben waren, sogar den ei-
nen, der im Gewahrsam von NYPD, Inc., war, und brachten sie zu
Brackhaus. Die meisten waren vernünftig und kamen freiwillig mit.
Allerdings hatten wir auch nicht ausdrücklich darauf hingewiesen,
dass sie als Drachenfutter vorgesehen waren. Der Möchtegern-Runner
allerdings, den wir bei uns hatten, hatte ziemlich geschlampt, als er
ihre Adeptin nach Waffen durchsucht hatte. Sie zog eine Holdout und
schoss Brackhaus direkt in den Kopf.
106 Hans Brackhaus
Und da geschah etwas Merkwürdiges: Brackhaus starb einfach.
Kein verankerter Notzauber, keine hochkarätigen, bis an die Zähne
vercyberten Bodyguards, keine Verwandlung in einen Drachen, der
über die Spielzeugpistole lachte und alle in Stücke riss. Er fiel einfach
um und war tot. Hinterher – und ich fürchte, wenn ihr neugierig seid,
wie wir diese peinliche Situation geklärt haben, muss ich euch im Un-
gewissen lassen – kam unser Magier zu dem Schluss, dass er wohl doch
keinen Drachen gesehen hatte. Nur einen „normalen“ initiierten her-
metischen Magier, der seine astrale Signatur maskiert hatte.
> Tatsächlich spielen viele Saeder-Krupp-Johnsons in und um
Hamburg, die den Namen Brackhaus verwenden, diese Art von
Spielchen. Es gibt ihnen das Gefühl, unverwundbar zu sein, da sie
wissen, dass Runner und anderer Straßenabschaum es nie wagen
würden, etwas gegen sie zu unternehmen, wenn sie davon ausge-
hen müssen, dass Brackhaus Lofwyr oder einer seiner Stellvertreter
ist.
> Red Anya
> Ich will ja nicht paranoid klingen oder irgendwas, aber woher
willst du wissen, dass der Brackhaus, den euer Magier beim ersten
Treffen askennt hat, dasselbe Individuum war, das hinterher die
Ware in Empfang nehmen wollte?
Winterhawk
Ich habe noch ein drittes Mal für einen Hans Brackhaus gearbeitet,
aber ich fürchte, im Interesse meiner Professionalität kann ich euch
nichts Näheres dazu erzählen.
Doch ich kann euch sagen, dass ein Johnson, der sich Hans Brack-
haus nennt, auf mindestens drei verschiedene Weisen verstanden wer-
den kann, die leicht miteinander zu verwechseln sind. Aber wenn man
weiß, welche in welcher Situation richtig ist, kann das den Unterschied
zwischen Leben und Tod ausmachen. Erstens kann Hans Brackhaus
einfach nur für einen Johnson stehen, der die Interessen von Saeder-
Krupp vertritt. Genauso wie „Mr. Satou“ die Renraku-Version von Mr.
Johnson ist, verwenden Execs von Saeder-Krupp oft den Namen Hans
Brackhaus. Der Hans Brackhaus, den ich in Manhattan sterben sah,
war nicht der erste und nicht der letzte. Zweitens kursiert das hartnä-
ckige Gerücht, dass Lofwyr selbst sich oft als männlicher Mensch mitt-
leren Alters mit stahlgrauem Haar und dem Namen Hans Brackhaus
ausgibt. Die weite Verbreitung dieses Gerüchtes erklärt wiederum,
weshalb so viele S-K-Johnsons den Namen Brackhaus benutzen. Wer
legt sich schon gerne mit Lofwyr an?
> Gut, das erklärt, warum Joe Lohnsklave, der für S-K Prime arbei-
tet, den Namen Brackhaus verwendet. Aber warum sollte es Lofwyr
selbst von Nutzen sein, diesen Namen zu verwenden? Würde das
nicht die Chance erhöhen, ihn aufzuspüren, zu identifizieren und
aufs Korn zu nehmen?
> Pistons
> Vielleicht weil so viele Brackhaus-„Klone“ im Umlauf sind, dass
er dadurch die Möglichkeit erhält, völlig inkognito unterwegs zu
sein, um bei seinen Operationen nach dem Rechten zu sehen? Oder
vielleicht, weil es immer von Vorteil ist, wenn die Gegner einen
unterschätzen.
> Winterhawk
> Er hat gute Gründe, die Brackhaus-Legende zu verbreiten. Da-
durch werden alle seine Agenten genauso gefürchtet und respek-
teinflößend wie er selber.
> Cosmo
> Das klingt so ein bisschen nach einem Markenna-
men. Wenn auf einem Anzug „Armanté“ steht, erwar-
tet man eine entsprechende Qualität. Wenn ein John-
son sich Hans Brackhaus nennt, geht man davon aus,
dass man nur einen Schritt davon entfernt ist, sich
mit einem Drachen einzulassen.
> Dr. Spin

Und drittens ist da noch der „echte“ Hans Brackhaus.

Ein wirklich existierendes Individuum, dessen Machen-
schaften in den letzten Jahrzehnten praktischerweise
durch die zahlreichen anderen Brackhause vernebelt und
getarnt wurden. Und dieser Hans ist es, von dem ich
euch berichten will, obwohl nur schwer zu sagen ist, wo
die Fakten aufhören und die Legenden beginnen.
Es gibt Aufzeichnungen, die darauf hindeuten, dass
Hans Brackhaus 2003 in Bremen geboren wurde, was
bedeutet, dass er dieses Jahr 70 wird oder wurde. Au-
genzeugenberichten zufolge soll er jedoch wie ein Mann

SCHIEBER & JOHNSONS

aussehen und sich bewegen, der zwanzig oder dreißig
Jahre jünger ist, was möglicherweise an Leonisationsbe-
handlungen liegen könnte – oder anderen finsteren Vor-
kehrungen.

> Wie was genau? Babyblut-Infusionen?

> Glasswalker
Beide Eltern waren Angestellte bei ThyssenKrupp.
Konzernakten zeigen, dass es auf ThyssenKrupps Lohn-
listen seit den 20ern einen Hans Brackhaus gab. 2029, in
den Nachwehen des ersten Matrixcrashs, leitete Brack-
haus die Übernahme der Deutschen Telekom durch
Ruhr Data Fax in die Wege. Es ist schwer festzustellen,
wann genau er Lofwyr traf, aber es muss irgendwann in
dem Jahrzehnt gewesen sein, dass Brackhaus Lofwyrs
Schützling wurde.
Brackhaus wurde öffentlich von Wilhelmina Graff-
Beloit, der Witwe von Michael Beloit (und erbitterten
Feindin Lofwyrs), beschuldigt, als Lofwyrs Agent in den
Tod ihres Mannes verwickelt zu sein. Er wurde jedoch nie
offiziell angeklagt. Finanzakten deuten darauf hin, dass er
auch für die Gründung der Briefkasten- und Strohfirmen
verantwortlich war, die sich in den BMW-Aktienbestand
einkauften und so Lofwyrs feindliche Übernahme des
Konzerns 2037 ermöglichten. Als Graff-Beloit eine Be-
lohnung auf den Kopf des Großen Drachen aussetzte
(Spoiler-Alarm: er überlebte), scheint ein anderes Team,
das von ihr angeheuert wurde, Brackhaus schwer verletzt
zu haben. Er erschien erst in den 50ern wieder auf der
Bildfläche. Berichten zufolge könnte er die verstrichene
Zeit in einem künstlichen Koma verbracht haben, in
dem er mit der besten Cyberware, die man für Geld kau-
fen konnte, ausgestattet wurde, gefolgt von einer langen
Reha-Phase. Das scheint eine ziemlich lange Zeit für eine
medizinische Behandlung zu sein, deshalb bezweifle ich,
dass wir hier schon die ganze Geschichte kennen.

> Natürlich gibt es auch Leute, die glauben, dass der

echte Brackhaus spätestens 2040 tot war und Lofwyr
in den nächsten zehn Jahren allmählich begann, die-
sen Namen zu benutzen.
> Fianchetto

107
 Auf jeden Falls war Brackhaus in den 2050ern wieder da und agier-
te von nun an als Mittelsmann zwischen S-K Prime und der globalen
Schattenszene. Natürlich hat die zunehmende Zahl anderer, die seinen
Namen verwenden, einen fast undurchdringlichen Schleier um seine
wirklichen Aktivitäten gelegt. Er war sehr wahrscheinlich für die Or-
ganisation der Schattenaktivitäten verantwortlich, mit denen die Swiss
Bank Corporation geschwächt und ihre Übernahme durch S-K im
Zuge des Zusammenbruchs von Fuchi 2059 vorbereitet wurde. Ge-
genwärtig steht derselbe Hans Brackhaus auf den Gehaltslisten von
sowohl Æetherlink als auch Hermes Matrix Services, zwei von S-Ks
größten Matrix-Tochterfirmen. Der Mann hat persönlich die Auferste-
hung der Matrix aus der Asche von zwei globalen Crashs miterlebt und
zeigt ein starkes Interesse an der Matrixtechnologie und dem Krieg um
Informationen.
> Brackhaus hat mein Team angeheuert, um eine der EMP-Bomben
in den Tunneln unter Berlin beim Crash 2.0 zu entschärfen. Ich
weiß noch, wie wir damals alle dachten, die Welt würde unterge-
hen, aber er war die Ruhe selbst. Unser Magier sagte, dass Brack-
SCHIEBER & JOHNSONS
haus im Astralen weltlich aussah, dass er sich in seiner Gegenwart
aber unbehaglich fühlte. Ich weiß nicht, wie das in deine Taxono-
mie der Brackhause (Brackhäuser?) passt.
> Clockwork
In letzter Zeit hat Brackhaus zahlreiche Runs gegen Horizon-Toch-
tergesellschaften in der ganzen Welt arrangiert, vor allem gegen Singu-
larity und andere Horizon-Firmen, die sich mit Matrixentwicklungen
befassen. Diese Operationen haben es Saeder-Krupp ermöglicht, die
öffentliche Netzwerk-Infrastruktur in Europa, Russland und dem Na-
hen Osten zurückzugewinnen. Brackhaus hat außerdem Shadowrun-
ner für Operationen angeheuert, die Saeder-Krupps Präsenz in Caracas
und in Dallas stärken sollen.
Eine Sache, die in all den Jahren zu einem von Brackhaus’ Hauptin-
teressen gezählt werden muss, sind seine Anwerbungen für S-K Primes
eigene verdeckte Operationen. Neben seinen Rekrutierungen aus Krei-
sen des Urban Brawl und der Wüstenkriege wirbt Brackhaus auch gern
die besten Shadowrunner an, meistens indem er ihnen ein Angebot
unterbreitet, das sie nicht ablehnen können. Ihr solltet euch darüber
im Klaren sein, dass – ob ihr wollt oder nicht – jeder Run für Brack-
haus gleichzeitig auch immer ein Test ist.
> Eine Methode, die er gerne anwendet, besteht darin, Vete-
ranen der Wüstenkriege oder des Urban Brawl zu besuchen, die
gerade in Stücke geschossen wurden und jetzt im Sterben lie-
gen oder in einem Nährtank schwimmen. Er verspricht ihnen,
sie mit der besten Deltaware, die es auf dem Markt gibt, wieder
zusammenzusetzen, wenn sie einen Vertrag mit S-K Prime Black
Ops unterzeichnen. Und er steht zu seinem Wort. Natürlich lässt
er in den Kliniken auch gerne kleine Zusatzpräsente einbauen,
von implantierten RFID-Markern über Carcerands bis hin zu Cor-
texbomben.
> Butch
> Und woher weißt du das?
> Kane
> Schon mehr als einmal hat mich einer dieser stolzen neuen Mit-
arbeiter dafür bezahlt, die Mods nachzuchecken, die Brackhaus
bei ihm hat machen lassen. Eine zweite Meinung über potenzielle
Implantate einzuholen ist etwas, das man besser spät als gar nicht
macht.
> Butch
108 Hans Brackhaus
> Einmal wurde ich zusammen mit dem Team, mit dem ich damals
unterwegs war, von Knight Errant geschnappt und in den Knast ge-
steckt. Na ja, das passiert den besten von uns, oder? Ein Troll – ein
Troll –, der sich Hans Brackhaus nannte, kam zu uns in den Knast. Er
würde uns rausholen und alle Spuren aus unserem Vorstrafenregister
löschen, wenn wir einen Job für ihn erledigten. Fragt mich nicht,
warum ein Saeder-Krupp-Johnson solche Kontakte bei Knight Errant
hatte, aber es war so. Was blieb uns anderes übrig? Wir sagten ja.
Alles, was er uns über den Job erzählte, war der Name des Kon-
taktmannes, der uns am Zielort treffen würde. Als nächstes saßen
wir in einem Charterflieger nach Argentinien, und von dort flogen
wir mit einem winzigen, arschkalten Propellerflugzeug nach Gott-
weiß-wohin.
„Gott-weiß-wohin“ entpuppte sich als S-K-Forschungsstation mit-
ten auf dem Brunt-Schelfeis. Das ist in der Antarktis, für diejenigen
unter euch, die in Geographie nicht so auf dem Laufenden sind.
Unser Kontaktmann stellte sich als vermisst heraus, ebenso wie die
gesamte restliche Belegschaft der Station. Der Buschpilot, der uns
dort abgesetzt hatte, warf uns ein bisschen Polarausrüstung zu,
aber er hatte es eilig wegzukommen, murmelte etwas von einem
Sturm, der sich zusammenbraute. Unsere Kommlinks hatten keinen
Empfang, also blieb uns nichts anderes übrig, als uns einen Weg
in die Station zu suchen, wenn wir uns nicht buchstäblich die Eier
abfrieren wollten.
Die Station war verlassen. Leere Labore, leere Schlafräume, ein
leerer Gemeinschaftsraum. Kein Blut. Keine Leichen. Das Essen
stand noch auf den Tischen der Messe, es war kalt, aber nicht
verdorben. Türen und Fenster waren verbarrikadiert worden. Der
Magier, den wir dabei hatten, versuchte, die Umgebung zu asken-
nen, um herauszufinden, was geschehen war.
Das Einzige, was er fand, war eine Nachricht, die in astralen Pig-
menten auf die Wand gekritzelt war. „Nicht projizieren!“, stand
dort. Wir fanden bald heraus, warum.
Die Sonne ging schon fast unter, als sie kamen. Manchmal machten sie
überhaupt kein Geräusch, manchmal stießen sie dieses entsetzliche
Jaulen aus. Sie kamen in den Körpern der Stationsbewohner, aber es
waren nicht sie. Die Leichen waren steif vom Frost, die Haut schwarz
und blau, die Laborkittel und Polaranzüge mit Eis und Schnee verkru-
stet. Ihre Augen trugen kein Leben in sich, aber sie glühten. Shedim
nannte sie unser Magier. Aber ich erkenne einen Zombie, wenn ich
einen sehe, und das waren gottverdammte Zombies. Sie kamen in
Wellen. Für fünf, die wir töteten, kamen zehn neue in der nächsten
Welle, stärker, schneller und zäher als die ersten. Wir setzten alles
ein, was wir mitgebracht hatten, und irgendwann hatten wir nur
noch ein paar Schuss in den Waffen, die wir in der Forschungsstation
gefunden hatten. Wir hatten uns in den operativen Sektor zurückge-
zogen und waren von allen Seiten umzingelt.
Dann gab es einen lauten Knall, wie von einer Explosion, und ich
wurde bewusstlos. Ich kam nur langsam wieder zu Bewusstsein,
war zwischendurch immer wieder weg. Ich bekam mit, dass wir von
gespenstischen S-K-Sicherheitsleuten evakuiert wurden, die matt-
schwarze Militärpanzerungen und verspiegelte Helme trugen, die
ihre Gesichter komplett verbargen. Als ich endlich wieder richtig
zu mir kam, war ich in einem Konzernkrankenhaus in Buenos Aires.
Irgendwie schaffte ich es dann, wieder nach Seattle zu kommen.
Ich habe nie erfahren, was Brackhaus eigentlich von uns wollte
oder was dort in der Forschungsstation geschah. Ich habe nie wie-
der von Brackhaus gehört, aber er hatte Wort gehalten und meine
kriminellen Daten gelöscht, also war ich frei.
Aber was zur Hölle war da los? Wenn ihr irgendeine Idee habt, dann
sagt’s mir.
> Sounder

HANS BRACKHAUS
K G R S C I L W EDG ESS INI ID
4 3(5) 5(6) 4 5 6 5(6) 5 5 2,22 11(12) 1(2)
Zustandsmonitor (K/G): 10/11
Panzerung (B/S): 8/7
Fertigkeiten: Ausweichen (Fernkampf ) 3 (+2), Bodenfahrzeuge
2, Einschüchtern (Geistig) 5 (+2), Elektronik-Fertigkeits-
gruppe 3, Fälschen 3, Fingerfertigkeit 3, Führung 5, Gebräu-
che (Konzern) 6 (+2), Pistolen (Holdouts) 4 (+2), Überreden
4, Verhandlung (Handeln) 6 (+2), Verkleiden 6, Waffenloser
Kampf (Blocken) 2 (+2), Wahrnehmung 5
Wissensfertigkeiten: Konzernpolitik 6, Psychologie 5, Runner-
verstecke 6, Saeder-Krupp 6, SOTA-Technologie 6, Deutsch
M, Englisch 5
Gaben: Fotografisches Gedächtnis, Schlechte Verbindung, Un-
auffälligkeit
Bodytech: Datenbuchse (Betaware), Fingerkuppenbehälter (Be-
taware), Geruchsbooster 6 (Betaware), Nanitenbrüter 3 [mit
Oxyrush 5, Universal-Nantidoten 8, Universellen Nanitenjä-
gern 6], Schockhand (Betaware), Talentleitungen 5 (Betawa-
re); Knochenverstärkung 2, Muskelstraffung 2 (Alphaware),
Orthoskin 2, Synapsenbeschleuniger 1, Thrombozytenfabrik,
Zerebralbooster 1 (Alphaware); Genwischer, Larve
Ausrüstung: DocWagon-Vertrag (Platin, 5 Jahre), gefälsch-
te SIN [Stufe 6, mit Lizenz für verdecktes Mitführen 6], 2
Dosen Jazz, Kommlink [Hermes Ikon; Prozessor 5, Signal
5, Firewall 5, System 5; Biometrischer Scanner, Elektroden,
Skinlink, Subvokalmikrofon], Linguasofts [Afrikaans, Franzö-
sisch, Italienisch, Japanisch, Kantonesisch, Or’zet, Mandarin,
Russisch, Spanisch, Sperethiel, alle Stufe 5], Monokel [Stufe
4; Bildverbindung, Blitzkompensation, Restlichtverstärkung,
Smartlink], Mortimer of London Greatcoat [Chemische Iso-
lierung 2, Thermische Isolierung 2, Elektrische Isolierung 5]
[B/S 6/5], Nanitencreme-Verkleidung, Ohrstöpsel [Stufe 2;
Audioverbesserung 3, Rekorder], 2 Dosen Psyche, White-
Noise-Generator 6
Programme: Analyse 4, Befehl 2, Editieren 4, IC-Agent [Stufe 5;
Angriff 5, Aufspüren 5, Panzerung 5, Schleicher 5, Schwarzer
SCHIEBER & JOHNSONS
Hammer 5], Schmöker 4
Waffen:
Schockhand [Reichweite 0 | Schaden 6G(e) | PB –Hälfte]
Walther Secura Kompakt [Schwere Pistole | Schaden 5K | PB –5
| HM | RK 1 | 9(s) | Angepasster Griff, Smartgun, Tarnhols-
ter; APDS-Munition]
Morrissey Élan [Holdout | Schaden 6G(e) | PB –Hälfte | HM |
RK 1 | 5(s) | Angepasster Griff, Smartgun, Tarnholster; Scho-
ckermunition]
Walther Palm Pistol [Holdout | Schaden 4G + Toxin | PB +2 |
EM/SM | RK 1 | 2(k) | Angepasster Griff, Keramik/Plasstahl-
Komponenten, Smartgun, Versteckte Armhalterung; Kap-
selgeschosse mit Warp (Kraft 10, Geschwindigkeit: Sofort,
Durchdringung –1, Geistiger Schaden, Desorientierung,
Halluzinationen)]
Hans Brackhaus 109
 JONATHAN BLAKE
GEPOSTET VON: FIANCHETTO

einen großen Anteil an Wuxing-Aktien hinterlassen hatte. Niemand

PERSÖNLICHE DATEN: JONATHAN BLAKE
Alter: 52
Gewicht: 102 kg
Augenfarbe: Grün
Metatyp: Mensch
SCHIEBER & JOHNSONS
verstand, was den Drachen dazu bewogen hatte, und viele waren über-
rascht, dass es überhaupt eine Verbindung zwischen Dunkelzahn und
dem Konzernschieber gegeben hatte. Und Blake schwieg. Er hielt sich
Größe: 1,90 m versteckt, denn Lofwyr hatte einen Haftbefehl für Blake erwirkt und
eine beträchtliche Belohnung für seine Gefangennahme ausgesetzt. Ich
Haarfarbe: Schwarz kam ihm ’59 sehr nahe, als ich ihn bis zu einem kleinen Dorf in der
Nähe von Burg Eltz in der Eifel verfolgte, und dann noch einmal ’60,
Geschlecht: Männlich
als er in Mailand gesehen wurde.
Erwacht: Ja (Adept) Es dauerte weitere drei Jahre, bis Blake wieder auf der Bildfläche
erschien, anscheinend war er dem DIMR in die Hände gefallen. Im
Herbst 2063 unternahm Nadja Daviar eine Reise in den Vatikan, um
sich mit dem Papst zu treffen. Als sie Rom verließ, wurde sie von Blake

Unauffällig zwischen den zahlreichen wohlhabenden Enklaven von
Seattle liegt eine Villa, die einem Verrückten gehört. Anhand der äu-
ßeren Erscheinung des Hauses würde man nie darauf kommen. Es
gibt nichts, was es von den anderen Villen der Gegend unterschei-
det, bis auf die Initialen auf dem gusseisernen Eingangstor: JB. Der
Besitzer zahlt seine Steuern, sorgt dafür, dass jedes Zimmer täglich
gereinigt wird, und achtet sogar darauf, dass die Inneneinrichtung
des Hauses immer den neuesten Trends folgt. Alles an der Villa ist
perfekt, mit der einen Ausnahme, dass die Villa seit vierzig Jahren
ständig gereinigt und neu eingerichtet wird, ohne dass jemals jemand
darin wohnt.
> Ich bin kein Mathematiker, aber wenn das Haus da seit vierzig
Jahren steht und der Mann Anfang fünfzig ist, dann muss er es
gekauft haben, als er gerade in die Pubertät kam.
> Baka Dabora
> Ich habe seinen Hintergrund gecheckt, als ich das erste Mal
für ihn gearbeitet habe. Ich war schockiert, wie viel seiner Ver-
gangenheit offen zugänglich ist. Es gibt einen Jonathan Blake,
der die Piedmont Elementary in Bellevue und danach die Bellevue
Preparatory School besucht hat. Also deutet alles darauf hin, dass
er in Seattle aufgewachsen und zur Schule gegangen ist, allerdings
gibt es nirgendwo in den Schulakten Fotos von ihm, und niemand
kann sich an ein Kind dieses Namens erinnern.
> Slamm-0!
Einen guten Spion erkennt man daran, dass er sorgfältig ausgear-
beitete Tarnidentitäten besitzt. Einen Verrückten erkennt man daran,
dass er seine wahre Identität so inszeniert, als wäre sie eine Tarniden-
tität. Und so lernte ich Jonathan Blake kennen, einen Mann, dessen
wahre Identität genauso gut gepflegt und leer ist, wie es das Haus in
Seattle seit Jahrzehnten ist.
Das Geheimnis im Umgang mit Blake besteht darin, dass man
lernen muss, Wahrheit von Fiktion zu trennen. Die Täuschung be-
ginnt schon bei den Umständen seines Arbeitsverhältnisses, in dem er
die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens stand. Blake arbeitete lange
Jahre als Sonderakquisiteur für Saeder-Krupp, bis zu jener heißen Au-
gustnacht 2057, in der der Große Drache Dunkelzahn getötet wurde.
Innerhalb von Stunden nach Dunkelzahns Tod verschwand Blake so
vollständig von der Bildfläche, dass Gerüchte laut wurden, sein Ver-
schwinden und der Tod des Drachen hingen irgendwie zusammen.
Aus Spekulationen wurden Anschuldigungen, als sich später bei Dun-
kelzahns Testamentseröffnung herausstellte, dass der Drache Blake
begleitet. Diese Paarung erregte die Aufmerksamkeit einiger mächtiger
Gruppierungen, die genauer nachzuforschen begannen, wer Blake ei-
gentlich war. Er wurde schnell als einer von Dunkelzahns Beobachtern
erkannt (Leute, die in Organisationen eingeschleust worden waren, an
denen der Drache besonders interessiert war, um dort Informationen
zu beschaffen). Das war überraschend, doch eine noch größere Über-
raschung stand bevor – kurz nach Blakes Gefangennahme zog Lofwyr
den Haftbefehl zurück.
> Blake hatte kurz nach der Landung in DeeCee ein Zerwürfnis mit
Nadja Daviar, weil er sich weigerte, für das DIMR zu arbeiten oder
es zu unterstützen. Er hatte seine eigenen Vorstellungen davon,
wie Dunkelzahns Vermächtnis gefördert werden sollte, und das
ging nicht konform mit dem, was die Draco Foundation tat.
> Frosty
> Ich hatte das Vergnügen, kurz nach Lofwyrs Rückzieher mit Bla-
ke Geschäfte zu machen. Er erweckte nicht den Eindruck eines
Mannes, der glücklich darüber war, dem Zorn eines Drachen ent-
gangen zu sein. Er schien fast sauer zu sein, dass Lofwyr ihn nicht
getötet hatte.
> Black Mamba
> Warum hat Lofwyr überhaupt einen Rückzieher gemacht? Blake
ist kein so großer Fisch, dass Daviar den ganzen Einfluss der DF in
die Waagschale werfen würde, um ihn zu schützen.
> Aufheben
Nachdem man ihn wieder ins Licht gezerrt hatte, steckte Blake sei-
nen Kopf nicht zurück in den Sand. Er nahm sein Erbe entgegen und
begann, für Wuxing zu arbeiten, wobei er das Gleiche machte wie da-
mals für S-K. Das Arbeitsverhältnis war nur von kurzer Dauer. Wuxing
hatte Blake in der Annahme eingestellt, ihm Informationen darüber
entlocken zu können, wie S-K arbeitete und was der Konzern plante.
Als er sich weigerte, ihnen diese Informationen zu geben, kaufte der
Konzern ihm seinen Aktienanteil deutlich über dem Marktwert ab,
und so trennten sich ihre Wege.
Blake schwamm im Geld und konnte jetzt seine eigenen Interes-
sen verfolgen. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätte ich mir eine
tropische Insel gekauft, die weit genug von der Zivilisation entfernt
ist, dass man sich keine Sorgen um eventuelle Mordanschläge ma-
chen muss. Aber wie schon gesagt, Jonathan Blake ist ein Verrückter.
Er nahm Kontakt zu Samantha Villiers auf und bot ihr seine Dienste
als leitender Manager an. Sie erteilte ihm eine Abfuhr, ohne sich

110 Jonathan Blake

überhaupt mit ihm getroffen zu haben. Verärgert, aber unverdros-
sen, bot Blake seine Fähigkeiten Nicholas Aurelius von Cross Ap-
plied Technologies an. Wieder wurden seine Dienste nicht benötigt.
Geschlagen und gedemütigt schlich er sich wieder in die Haut seiner
alten Identität zurück. Nach über vierzig Jahren kehrte Jonathan
Blake nach Hause zurück.

> Blake fühlte sich durch die Art und Weise, wie Villiers und Aure-
lius ihn abgewiesen hatten, ernsthaft beleidigt. Er hatte sich für
einen wertvollen, begehrten Aktivposten in der Konzernwelt ge-
halten und musste auf grobe Weise erfahren, dass er es nicht war.
Es kann natürlich sein, dass Lofwyr oder auch Wuxing ihn auf die
Schwarze Liste gesetzt hatten, aber eine so einfache Erklärung
würde er nie akzeptieren. Er betrachtete die Abweisungen als
persönliche Angriffe und reagierte heftig darauf.
> Mr. Bonds

> Ich glaube, ich war ein Teil dieser Reaktion. Ich habe ein
paar eigenartige Jobs für Blake erledigt, kurz vor dem Crash.

SCHIEBER & JOHNSONS

Es war Wetwork und sollte wie Unfälle aussehen, aber die
Opfer schienen rein zufällig gewählt zu sein und nichts mit-
einander zu tun zu haben. Eine Krankenschwester, ein Taxi-
fahrer, eine Schneiderin und andere harmlose Opfer, deren
einzige Verbindung darin bestand, dass sie kurz vorher
Kontakt zu Samantha Villiers’ innerem Kreis hatten.
> Riser

> Blake ist ein Experte im Aufdecken von Spionagenetz-

werken, und die Opfer, die du erwähnt hast, klingen nach
Kurieren. Ich glaube, Blake wollte Villiers’ Netzwerk aus-
schalten, um ihr eine Botschaft zu schicken.
> Hard Exit

An dem Tag, als Jonathan Blake nach Seattle zog, hielt er ein
geheimes Treffen mit Mary Luce, Evos Direktorin für den Be-
reich Nordamerika, ab. Man weiß nicht, worüber geredet wurde,
aber die beiden wurden erst im letzten Jahr wieder zusammen gesehen,
als sie sich mitten in der Innenstadt von Seattle zu einem sehr öffent-
lichen und sehr intimen Kaffeetrinken trafen. All diese Aktivitäten
passen zu seinem sorgfältig inszenierten Image eines Milliardärs mit
besten Beziehungen, der trotzdem noch ein Mann des Volkes ist.

> Luce sollte es sich lieber noch einmal überlegen, ob sie auf die-
sen Zug aufspringen will. Blake war während seiner Anstellung bei
S-K fünfmal verheiratet, und nur drei der Frauen überlebten diese
Erfahrung. Eine beging Selbstmord, die andere wurde abends beim
Joggen ermordet.
> Sunshine

> Ist er verwandt mit Jerroldine Blake, der ehemaligen Direktorin

der Seuchenbehörde?
> lan 9

> Sie war Ehefrau Nummer zwei. Sie ist die Einzige, die den Namen
behielt, und die Einzige, die Blake in Nordamerika geheiratet hat.
Es wird darüber spekuliert, dass er im Zuge seiner Tarnidentität
Jerroldine verführte und heiratete, als er für Lofwyr in den Staaten
tätig war.
> Sunshine

> Es gibt Gerüchte, dass Luce ebenfalls eine von Dunkelzahns Beo-
bachtern war. Ihr Treffen mit Blake unterstützt diese Theorie.
> Axis Mundi

Jonathan Blake 111

 Seit seiner Rückkehr pflegt Blake sehr sein Image als Lokalheld, um
auf diese Weise eine reale Person um den hohlen Kern seiner Identität
herum aufzubauen. Er spendete größere Beträge an das Bellevue Art
Museum und finanzierte sogar den Wiederaufbau eines Flügels des
Cougar Mountain Hospital, der ’71 bei einer ungeklärten Explosion
schwer beschädigt worden war. Er gibt Abendgesellschaften für die
lokale Konzernprominenz, vor allem für die, die mit Ares’ und Gaea-
tronics’ Aktivitäten in Bellevue zu tun haben, was zu Spekulationen
Anlass gab, er plane eine Kandidatur als Bürgermeister von Bellevue
gegen Daniel Reynolds. Nach allem, was ich von Blake weiß, bin ich
mir sicher, dass das Bürgermeisteramt nicht sein Endziel ist. Sein Grö-
ßenwahn wird ihn dazu treiben, sich um einen Posten zu bewerben,
der hoch genug ist, um seine zentnerschweren Komplexe zu vertreiben.
Seine langfristigen Pläne könnten den Gouverneursposten beinhalten,
einen Sitz im Senat oder vielleicht sogar eine Präsidentschaftskandi-
datur.
> Wie sollte ihm das gelingen, nach allem, was du über seine
Identität sagst? Der Hintergrund eines politischen Kandidaten
SCHIEBER & JOHNSONS
wird ziemlich gründlich durchleuchtet. Würde seine Vergangenheit
ihm da nicht einen Strich durch die Rechnung machen?
> Picador
> Ich bin mir sicher, dass er erst kandidieren wird, wenn er eine
unanfechtbare falsche Spur gelegt hat. Da so etwas jedoch eine
ganze Menge Zeit beansprucht, gehe ich davon aus, dass er jetzt
schon mehrere Runnerteams auf diesen Job angesetzt hat. Be-
stimmt werden in nächster Zeit jede Menge Leute auftauchen, die
auf der Piedmont Elementary oder der Bellevue Preparatory School
waren und sich plötzlich bestens an einen Mitschüler namens
Jonathan Blake erinnern, und ihnen werden haufenweise kluge
Bemerkungen und herzerwärmende Anekdoten einfallen, die sich
perfekt in die Wahlkampfwerbung integrieren lassen.
> Kay St. Irregular
Um seine politische Karriere vorzubereiten, hat Blake jetzt auch
noch den Posten eines CEO zu seinem beruflichen Lebenslauf hinzu-
gefügt. Beim Ausverkauf von Cross Applied Technologies hat er Cen-
turion Security in Seattle gekauft. Er hat das Betätigungsfeld der Firma
um Spionageabwehr, Luft- und Seetransporte und Abwehrdienstleis-
tungen erweitert und so aus der Sicherheitsfirma effektiv ein Söldner-
unternehmen gemacht.
> Er hat sich außerdem die Dienste einiger Seraphim gesichert,
die nicht mehr daran interessiert sind, für die Aurelius-Fraktion zu
arbeiten. Er hat immer zwei von ihnen als persönliche Leibwächter
in seiner Nähe. Ihr könnt gerne spekulieren, wofür er die anderen
einsetzt.
> Mihoshi Oni
> Blake baut sich zurzeit eine breite Basis an Kontakten in Seattle
auf, was die Gerüchte über seine geplante politische Karriere noch
weiter anheizt. Er hat die Freundschaft von Vizeadmiral John Lien-
hard, dem Kommandanten der USS Colin Powell, die in den Everett
Shipyards stationiert ist, gewonnen. Diese Verbindung ist deshalb
interessant, weil sich Blake damit direkt ins Fadenkreuz des Kom-
mandanten der Joint Task Force Seattle, Brigadegeneral John E.
Darcy, stellt, der alles andere als glücklich mit dem kontaktfreu-
digen Vizeadmiral ist.
> Sounder
Als Person ist Jonathan Blake niemand, mit dem ich persönlich be-
kannt sein möchte. Er ist in fast schon fanatischer Weise auf sein Image
112 Jonathan Blake
bedacht, sowohl körperlich als auch in den Medien. Er brüstet sich
damit, sieben Sprachen zu sprechen und jeden Tag zwei Stunden zu
trainieren. Ich kann nichts über seine Fähigkeiten als Manager sagen,
aber als Johnson und Schieber ist er so gut und gefährlich, wie diese
Leute eben sind. Er hat mich mehrmals angeheuert, obwohl ich ihn
zweimal fast erwischt hätte, als er damals von Lofwyr gesucht wurde,
aber vielleicht auch gerade deswegen. Er respektiert Talent.
> Blake ist eine Waffe ohne jemanden, der sie führt. Er war immer
im Auftrag einer höheren Macht tätig, aber seit ihm diese Art von
Führung fehlt, ist er ein bisschen durchgeknallt. Er will Macht und
Einfluss in der Konzernwelt und der Politik, und dazu baut er sich
ein immer größeres Vermögen auf, in erster Linie durch Runs, die für
ihn günstige Marktsituationen schaffen. Seine genauen Ziele sind
unklar, hängen aber eindeutig mit seinem Größenwahn zusammen.
Er ist rachsüchtig und machtgierig und hat nach außen eine un-
glaublich hohe Meinung von sich selbst, braucht aber auch immer
andere, die genauso gut von ihm denken. Er trifft sich gern persön-
lich mit Runnern, damit sie wissen, mit wem sie es zu tun haben.
>
Hard Exit
> Klingt nach einer ziemlich schlechten Strategie für jemanden,
der in ein politisches Amt will.
> Baka Dabora
> Da bin ich mir nicht so sicher. Wenn man weiß, dass man für
Blake arbeitet, dann weiß man auch, wozu er in der Lage ist. Er
verbringt eine Menge Zeit damit, an seinem öffentlichen Image
zu basteln, und ganz offensichtlich weiß er auch, wie man Ge-
fahren für dieses Image beseitigt. Die eigentliche Gefahr ist, dass
er zufällig mit bekannten Shadowrunnern gesehen wird, aber man
muss auch bedenken, dass dieser Mann es geschafft hat, sich sechs
Jahre lang vor Lofwyr zu verstecken. Blake benutzt seine Seraphim
und seine Agentenvergangenheit geschickt, um dafür zu sorgen,
dass seine Treffen sicher sind. Ihr werdet den Mann nicht vor die
Kamera bekommen, wenn er es nicht will.
> Kay St. Irregular
> Wenn ihr euch die anderen Beobachter anseht, dann hat jeder
eine ganz bestimmte Besonderheit, sei es eine hohe Moral oder
eine bestimmte Fähigkeit. Was hat Blake, das einen Drachen ver-
anlasst hat, ihn als Spion einzusetzen?
> Mika
> Seine Position. Die Arbeit, die Blake bei S-K Prime erledigt hat,
drehte sich weniger um Anwerbung, sondern war mehr die Kontrol-
le über Lofwyrs gewaltiges Netzwerk von Spionen in Konkurrenz-
unternehmen. Blake koordinierte sein eigenes Spionageteam für
Lofwyr, während er für Dunkelzahn spionierte.
>
> Das ist natürlich ein extrem gefährliches Unterfangen, aber die
Tatsache, dass Blake daran beteiligt war und es überlebte, sagt
nicht gerade wenig über seine beachtliche Chuzpe. Blake ist ein
Mann, der sich mit Drachen eingelassen und überlebt hat, und ihr
könnt sicher sein, dass die anderen Drachen sich dessen bewusst
sind. Wenn die Drachen sich bei den zunehmenden Spannungen
für eine Seite entscheiden, werden einige von ihnen gern Blake
auf ihrer Seite haben wollen, während andere ihn lieber aus dem
Weg räumen möchten. Ich bin sicher, dass er bereits an Deals und
Vorkehrungen arbeitet, um dafür zu sorgen, dass er noch länger
unter den Lebenden weilen wird.
> Frosty
> Deshalb versteckt Jonathan Blake sich in einem Meer von Be-
kloppten. Die Reichen und Schönen sind doch nichts anderes als
ein Haufen Irrer, bei denen man die übelste Scheiße findet, die
man sich vorstellen kann. Hinter ihren verschlossenen Türen fin-
det man BTL-Missbrauch, Temposucht, sexuellen Missbrauch und die
abgedrehtesten Fetische, die man sich denken kann. Der einzige
Unterschied zwischen ihnen und uns: Sie haben genug Geld, um ihre
Laster zu verbergen. Wenn ihr mich fragt, dann ist Blake die sprich-
wörtliche Nadel im Heuhaufen, die sich zwischen den Reichen und
Wahnsinnigen versteckt. Oh, Moment, das ist nicht politisch korrekt,
es muss heißen: zwischen den Privilegierten und Exzentrischen.
> Aufheben

JONATHAN BLAKE

K G R S C I L W M EDG ESS INI ID

5 5 5(7) 5 6 6 5 4 6 6 6 11(13) 1(3)

Zustandsmonitor (K/G): 11/10

SCHIEBER & JOHNSONS

Panzerung (B/S): 10/4

Fertigkeiten: Athletik-Fertigkeitsgruppe 4, Beschatten (Abschütteln)

6 (+2), Bodenfahrzeuge 4, Datensuche 4, Einfluss-Fertigkeitsgrup-
pe 6, Einschüchtern 6, Fingerfertigkeit (Taschendiebstahl) 5 (+2),
Flugzeuge 3, Führung 4, Gebräuche (Wirtschaft) 4 (+2), Infiltration
(Stadt) 6 (+2), Navigation 4, Pistolen (Halbautomatische) 5 (+2),
Schnellfeuerwaffen (Maschinenpistolen) 5 (+2), Verkleiden (Kos-
metik) 6 (+2), Waffenloser Kampf (Kampfkunst) 5 (+2), Wahrneh-
mung 6(9)

Wissensfertigkeiten: Data Havens 4, Konzerngeschichte S-K 4, Kon-

zerngeschichte Wuxing 4, Matrixsicherheitsprozeduren 5, Medien
6, Öffentlichkeitsarbeit 6, Reden halten 6, Schieber 5, Schikanie-
rungstaktiken 3, Verdeckte Überwachungstechniken 5, Deutsch 6,
Englisch M, Französisch 4, Italienisch 4, Japanisch 4, Mandarin 4,
Spanisch 3

Gaben: Adept, Berühmt (Lokale Berühmtheit), Mut, Natürlicher Ath-

let

Adeptenkräfte: Adrenalinkick (Charisma) 2, Gesteigerte Reflexe 2,

Körpersprache 3, Mystischer Panzer 1, Natürliche Immunität 1, Ver-
besserte Wahrnehmung 3

Ausrüstung: Atemgerät 3, Bereichsstörsender 8, Brille [Stufe 3; Bild-

verbindung, Infrarotsicht, Smartlink], Formangepasste Körperpan-
zerung (Halbkörper) [B/S 4/1], Kommlink [Spezialanfertigung;
Prozessor 6, Signal 5, Firewall 7, System 5], Zoé Executive Suite
Kollektion (kurze Jacke, Hemd, Hose) [B/S 5/2]

Programme: Analyse 3, Verschlüsselung 4

Waffen:
Ares Predator IV [Schwere Pistole | Schaden 5K | PB –5 | HM | RK – |
15(s) | 100 Schuss APDS-Munition]
HK MP-5TX [Maschinenpistole | Schaden 5K | PB –4 | HM/SM/AM |
RK 2 (3) | 20(s) | Smartgun; 100 Schuss APDS-Munition]

Jonathan Blake 113

 KIA
PERSÖNLICHE DATEN: KIA
Alter: 27 Größe: 1,74 m
Gewicht: 69 kg Haarfarbe: Schwarz
Augenfarbe: Braun Geschlecht: Männlich
Metatyp: Mensch Erwacht: Nein
SCHIEBER & JOHNSONS
Kia ist die seltenste aller Kreaturen – ein idealistischer Runner. Er
glaubt an Dinge wie „richtig“ und „falsch“, und wenn er darüber redet,
wie etwas getan werden sollte, dann meint er mit „richtig“ nicht immer
das, was einem das meiste Geld einbringt.
Das heißt aber nicht, dass er ein unschuldiger Naivling ist, den die
Zynischeren dieser Welt ohne Weiteres ausnutzen können. Er kennt
das Business und die Brutalität der Welt und weiß, was man manchmal
tun muss, um einen Job zu erledigen. Er ist verschlagen genug, sich ein
halbes Dutzend hinterhältiger, mieser Tricks für jedes Stadium einer
Mission auszudenken, aber statt diese Tricks selber gegen Unschuldige
anzuwenden, nutzt er sein Wissen, um sich gegen das, was andere mit
ihm anstellen könnten, zu wappnen. Diese Vorausschau von Proble-
men und möglichem Verrat hat dazu geführt, dass Kia bei geschäft-
lichen Treffen sehr vorsichtig vorgeht; die meisten Treffen finden per
Kommlink statt, in der AR oder in Virtuellen Privaten Netzwerken.
Und wenn er sich wirklich unbedingt mit jemandem persönlich treffen
muss, dann könnt ihr darauf wetten, dass er genug physische und ma-
gische Rückendeckung mitbringt, um nicht so einfach einen schlech-
ten Deal aufgedrückt zu bekommen.
Und das bedeutet auch nicht, dass er ein gesetzesfürchtiger Pfad-
finder ist. Kias Vorstrafenregister ist genauso lang wie das von jedem
von uns (mal abgesehen von so überambitionierten Leuten wie Kane).
Für ihn sind „richtig“ und „falsch“ keine Synonyme für „legal“ und
„illegal“. Das ist auch der Grund, weshalb er kein Sararimann mehr
ist. Aber ich greife vor.
> Es ist keine so große Sache, wie Baka Dabora es darstellt. Im
Endeffekt läuft es darauf hinaus, dass Kia über die Konsequenzen
seiner Handlungen nachdenkt – wie sie sich auf lange Sicht aus-
wirken und was sie für andere Leute bedeuten. Im Grunde ist das
nur eine praktische Herangehensweise. Wenn man jemanden umle-
gen will, ist es nicht das Schlechteste, sich vor dem Abdrücken zu
überlegen, wer darüber sauer sein wird und was er unternehmen
wird, um sich zu rächen.
> Picador
> Kia muss vorsichtig sein. Wenn er immer noch die Garderobe
aus seinem früheren Leben trägt oder noch andere materielle Be-
sitztümer von früher hat, besteht die Chance, wie gering sie auch
sein mag, dass irgendein Mitarbeiter der Eastern Tiger Corporation
ihn wiedererkennen könnte. Ich würde mich an seiner Stelle von
allem trennen, was aus seinem alten Leben stammt, und einen
ganz neuen Stil annehmen.
> Jimmy No
114 Kia
GEPOSTET VON: BAKA DABORA
Kias Kleidung sieht aus, als gehöre sie einem vielversprechenden
ostasiatischen Jungmanager, und genau das war er früher. Geboren
wurde er in Pusan und wuchs, wie viele andere Konzernabkömmlinge
der Stadt auch, mit dem Evangelium der Eastern Tiger Corporation
auf: Eastern Tiger wird Korea zu Weltbedeutung führen. Eastern Ti-
ger wird die Pacific Prosperity Group dominieren. Eastern Tiger wird
vom ganzen Osten beneidet werden, von der ganzen Welt, und es
wird alle Gewinne nach Hause nach Korea bringen, zum Nutzen der
gesamten Nation, aller Konzernangestellter und Nicht-Konzernange-
stellter usw. usw.
Als Teenager sah Kia dann auch die Auswirkungen dieses ETC-
Evangeliums: schnelle Autos, Macht, eine große Auswahl an Frauen/
Männern als Sexualpartner usw. Man kann nicht in Pusan leben, ohne
immer wieder mitzubekommen, wie es ist, wenn ein hochrangiger
ETC-Manager ein Restaurant oder eine Bar betritt, und man ist kein
Mensch, wenn nicht auch ein kleiner Teil von einem selbst schreit:
„Das will ich auch!“
> Offiziell will ich das natürlich nicht. Aber inoffiziell...
> Aufheben
Kia hatte genug Grips im Kopf, und er konnte gut mit Leuten
umgehen. Er war gerade aufsässig genug, um als Rebell oder Nonkon-
formist zu gelten, doch ohne etwas zu tun, das dem oberen Manage-
ment hätte Sorgen bereiten können. Sein Studium wurde von ETC
finanziert, er übersprang ein oder zwei Jahre, machte seinen Abschluss
und stieg in den Job ein, der schon auf ihn wartete. Alles verlief nach
Plan, als er immer mehr in das Leben hineinfand, das für ihn vorge-
sehen war.
Bis er erkannte, dass er das gar nicht wollte.
Es gab kein bestimmtes einzelnes Ereignis, das seinen Weggang
von ETC verursachte, doch eine Episode illustriert besonders gut die
Probleme, die er hatte. Eastern Tiger stieg in das Geschäft mit Austras
Koks ein. Das ist eine seltene Pflanze, deren Eigenschaften noch nicht
vollständig erforscht sind, man weiß jedoch, dass sie die Fähigkeit be-
sitzt, Metalle aus dem Boden zu ziehen und in sich selbst abzulagern.
Das Endergebnis erweist sich bei der Erschaffung von Telesma als sehr
nützlich. ETC hatte etwas Grundbesitz in einer ländlichen Region
unweit von Pusan, und so beschloss man, dort Austras Koks expe-
rimentell anzubauen, ohne allerdings die möglichen Auswirkungen
eines Anbaus zu untersuchen. Man baute so viel an wie möglich, und
nach ein oder zwei Jahren verbreiteten sich die Samen, wie Samen es
nun einmal tun, und siedelten sich in einem nahegelegenen Wald an.
Dieser Wald war die wichtigste Einnahmequelle eines kleinen Dorfes,
und die ETC-Leitung bemerkte die Ausbreitung der neuen Bäume
nicht (oder nahm sie nicht zur Kenntnis). Durch das abgelagerte
Metall können die Austras-Koks-Bäume schwere Schäden an Holzfäl-
lerausrüstung anrichten, und die Dorfbewohner verloren einige sehr
teure Geräte, bevor sie erkannten, was los war. Ein großer Konzern
wie ETC hätte den Verlust dieser Ausrüstung ohne Schwierigkeiten
verkraften können, aber für die kleinen Betriebe des Dorfes war es
ruinös. Die Betriebe gingen ein, und die Wälder wurden von ETC
aufgekauft, das schließlich alle Dorfbewohner als Arbeiter einstellte
– und ihnen die Hälfte dessen zahlte, was sie vorher verdient hatten.
ETC betrachtete das natürlich als ganz normalen Gewinn, aber Kia
war der Auffassung, dass der Konzern dabei zu rücksichtslos und hab-
gierig vorgegangen war.
 Der Kern von Kias Moralvorstellungen ist der Gedanke der Ko-
existenz – er ist der Überzeugung, dass jeder darüber nachdenken
sollte, was für Entscheidungen er trifft und wie diese sich auf andere
auswirken. Das bedeutet nicht, dass negative Auswirkungen auf ande-
re immer vermieden werden sollten. In Kias Auffassung gibt es einige
Leute, die hauptsächlich negative Auswirkungen auf andere haben,
und wenn man denen Schaden zufügt, hat das als Nettoeffekt positive
Auswirkungen auf die Welt. Das ist eine komplizierte Mischung aus
Karma und Kommunitarismus, und es würde mich nicht wundern,
wenn sogar Kia selbst nicht alle Einzelheiten seiner Überzeugung aus-
gearbeitet hätte. Aber wie dem auch sei – diese Überzeugung bildet
die Basis dessen, was Kia tut. Und sie ist einer
der Gründe dafür, dass er so ein guter Schie-
ber wurde.

SCHIEBER & JOHNSONS

> Kia behandelt
die Runner, mit
denen er arbeitet,
nicht als Familien-
mitglieder – so ge-
mein ist er nicht. Er
behandelt sie auch nicht
als Nachbarn – so gleichgültig
ist er nicht. Er behandelt sie als die Art
von Leuten, die man fragt, ob sie einem beim Um-
zug helfen wollen. Er ist zuverlässig, geradeheraus
und weiß, wie man einen Job erledigt. Wenn das
Kommunitarismus ist, dann kann ich damit leben.
> Lyran

Der erste Job, den Kia organisierte, war auch sein erster
Shadowrun überhaupt – nämlich seine eigene Extraktion
von ETC. Es dauerte eine Weile, bis er ihn arrangiert hatte,
denn aus seiner Zeit auf der Handelsschule und im mittle-
ren Management hatte er natürlich nicht allzu viele Kon-
takte zur Runnerszene. Er hatte einen Jugendfreund, der
unter dem Namen Jjang in die Schatten gegangen war,
und das war ein Anfang. Er kontaktierte seinen Freund
und traf dann nach und nach Jjangs Connections in
den Schatten. Er achtete sehr darauf, wen er auswähl-
te, denn er hatte ein bestimmtes Ziel vor Augen. Er
wollte seine alte ID sterben lassen, sie auf eine Weise
auslöschen, dass niemand mehr nach ihm suchen
würde. Er brauchte Leute, die die nötigen Bewei-
se fälschen konnten und die in der Lage wären,
an der ETC-Sicherheit vorbeizukommen und
diese Beweise an der richtigen Stelle zu de-
ponieren. Die Zeit und Sorgfalt, die er in
diese Mission steckte, waren es wert – als
der Job erledigt war, lag eine Leiche in
seinem Büro. Sie wurde zweifelsfrei als
Kia identifiziert, und er wurde als tot
erklärt. Und so war Kia frei, einen
neuen Namen anzunehmen und
ein neues Leben zu beginnen.

Kia 115
 > Und wie passt es zu seiner Koexistenz-Philosophie, dass er die > Man sollte hierbei nicht vergessen, dass der Exec so oder so tot
Leiche eines anderen Typen in seinem Büro deponierte und als er
selber ausgab?
> Nephrine
> Eines der Dinge, die ich bei meinen frühen Nachforschungen
lernte, war, wie man problemlos an Leichen von Leuten kommt, für
die es besser ist, wenn sie tot sind. Bandenkriege können durchaus
positive Nebeneffekte haben.
> Kia
Nach seiner Extraktion stürzte Kia sich in die Schatten. Da er
wusste, dass er als Neuling keine große Wahl hatte, übernahm er so
ziemlich jeden Job, den er kriegen konnte (außer Wetwork). Er lernte
die wertvolle Lektion, dass es gar nicht so wichtig war, wie viel Ge-
walt er wirklich anwendete, sondern vielmehr, was die Leute glaubten,
dass er einzusetzen bereit war, und so wurde er ganz gut darin, sich
als rücksichtslos und brutal auszugeben, wenn es die Situation erfor-
derte. Seine Treffsicherheit mit Schusswaffen half ihm dabei – nichts
SCHIEBER & JOHNSONS
macht jemanden nervöser, als wenn man ihm einen Knopf von der
Jacke schießt. Wie jeder Runner-Neuling sah auch er sich manchmal
gezwungen, Jobs anzunehmen, die nicht so ganz mit seinen Überzeu-
gungen konform gingen, aber er schaffte es, seine Wertvorstellungen
nicht allzu sehr zu strapazieren.
Ein Run aus der damaligen Zeit zeigt besonders deutlich einige der
Methoden, die er auch heute noch anwendet. Er gehörte zu einem
Team, das einen Wuxing-Exec im Auge behalten sollte, den man ver-
dächtigte, Industriegeheimnisse an einen der Japanokons zu verkau-
fen. Das Team war nicht von ihm selbst zusammengestellt worden,
und es entsprach auch nicht seinem Qualitätsstandard. Eine von Kias
Teamkollegen, eine Hackerin namens Petula, wurde, als sie den Exec
von einem Hochhaus gegenüber seines Büros aus beobachtete, von der
Zielperson gesehen. Der Exec schickte sofort ein Sicherheitsteam los,
um das Überwachungsnest auszuheben. Petula wollte verschwinden,
was ein vernünftiger Gedanke war, doch Kia erkannte die Gunst der
Stunde. Wenn die Sicherheitsleute losgeschickt wurden, um sich um
sie zu kümmern, dann bedeutete das, dass auf der anderen Straßenseite
weniger Sicherheitsleute zurückblieben. Also gingen er und Petula aufs
Dach, benutzten einen Enterhaken und ein Seil, um auf das Gebäu-
de auf der anderen Straßenseite zu gelangen, und drangen mit etwas
Spontanhacking in das Gebäude ein.
Als sie drin waren, zog Kia seine Show ab. Er zuckte und sabberte,
ganz der gemeingefährliche Irre, und dann fing er an zu schießen. Mit
dem ersten Schuss traf er den Stiel eines Martiniglases. Mit dem zweiten
das Gesicht von Alice auf dem Buchrücken einer Printausgabe von Alice
im Wunderland, die der Exec in seinem Bücherregal stehen hatte. Mit
dem dritten Schuss traf er einen der Manschettenknöpfe des Execs. Zu
diesem Zeitpunkt war der Exec bereits mit den Nerven am Ende und
wie Wachs in Kias Händen. Kia brachte ihn dazu, zu gestehen – aber
erst nachdem er ihn davon überzeugt hatte, dass er mit seinen Vorge-
setzten verhandeln sollte, damit seine Familie nicht unter seinen Verge-
hen leiden musste. Die Mission war erfolgreich, die Wahrscheinlichkeit
tödlicher Nebenwirkungen reduziert worden, und das Ganze wurde
obendrein mit einem gehörigen Maß an Schießkunst erledigt.
> Die tödlichen Nebenwirkungen mögen reduziert worden sein,
aber sie wurden nicht eliminiert. Der Exec brachte sich um, kurz
nachdem Kia weg war.
> Jimmy No
116 Kia
war, solange Kia seinen Job korrekt erledigte. Sobald die Beweise
gegen ihn gefunden waren, war er erledigt. Allerdings konnte Kia
verhindern, dass die Schande des Execs auf seine Familie fiel, was
man ihm hoch anrechnen muss. Man findet selten jemanden in den
Schatten, der so viele Gedanken an das Wohlergehen von Leuten
verschwendet, die er nicht einmal kennt.
> Frosty
> Es ist selten, weil es dumm ist. Ich will damit nicht sagen, dass
wir fröhlich unseren Weg mit Leichen pflastern sollen, aber zu
unserem Job gehört es doch, den Job so effizient wie möglich zu
erledigen, und nicht auf eine Weise, mit der wir Leuten helfen, die
wir nie getroffen haben. Wenn man anfängt, Komplikationen wie
diese in seine Arbeit einzubauen, macht man sich selbst schwä-
cher. Und man kann leichter von jemandem ausgenutzt werden,
der weiß, wie man denkt.
> Riser
Heutzutage hat Kia leider nicht mehr allzu viele Gelegenheiten,
seine kreative Schießkunst zu demonstrieren. Mit seinen zahlreichen
Connections und seinem Talent im Umgang mit anderen war Kia
der ideale Schieber, und in dieser Rolle ist er im Laufe der Zeit auch
aufgegangen. Seine Ansichten von „richtig“ und „falsch“ scheinen
ihn nicht sonderlich zu behindern, auch wenn seine gelegentlichen
Anflüge von Intoleranz Leuten gegenüber, die nicht seinen Stan-
dards entsprechen, ihn manchmal dazu treiben, talentierte Runner
abzulehnen. Er behandelt seine Runner anständig und erwartet von
ihnen das Gleiche. Tun sie es nicht, können sie leicht auf seine Liste
der Leute geraten, die der Welt insgesamt zu sehr schaden. Er wird
sich dann zwar nicht die Mühe machen, sie selbst aus dem Weg
zu räumen, aber sie werden von ihm keine Jobs mehr bekommen.
Und sie sollten lieber nicht in die Reichweite seiner Waffen geraten
– nicht einmal einen oder zwei Querschläger von seiner direkten
Schusslinie entfernt – oder er könnte spontan die Entscheidung
treffen, die Welt mit einem schnellen, raffinierten Schuss ein wenig
besser zu machen.
> Reitet Baka Dabora deshalb so sehr auf Kias Schießkünsten he-
rum, weil er selber nicht viel mit Waffen am Hut hat? Ich meine,
im Zeitalter von Magie und Cybertechnologie – ist da das, was Kia
macht, wirklich so beeindruckend?
> Marcos
> Ja, ist es. Der Trick dabei ist ja nicht nur, dass er so genau
schießt. Es ist vielmehr die Theatralik dabei. Ein effektives Schieß-
kunststück funktioniert nicht, weil es genau ist, sondern weil es
so getimt ist, dass es das Opfer überrascht, und weil es eine Stelle
trifft, die auf jeden Fall seine Aufmerksamkeit erregt. Kia beobach-
tet seine Zielpersonen sorgfältig, er weiß, wie sie sich bewegen
und wohin sie schauen, und wenn er dann feuert, reagieren sie
genau so, wie er es geplant hat.
> Riser
Kia spielt seit Kurzem eine prominente Rolle in der südostasiati-
schen Unterhaltungsindustrie. Sein Hang zur Dramatik wird von vie-
len Agenten und Produzenten geteilt, die viel Werbung für ihn ma-
chen, indem sie die Geschichten über seine Fähigkeiten als Runner
und vor allem seine Treffsicherheit in Umlauf bringen.
> Versteht mich bitte nicht falsch. Ich will nicht an Kia oder an
seinen Fähigkeiten Kritik üben. Aber er ist nun einmal jemand,
der vor allem Leute beeindruckt, die Äußerlichkeiten höher be-
werten als Substanz. Schießkunststücke sind was Feines, genaue
Schüsse sind noch besser, aber sie sind nicht das Nonplusultra des
Schattenlaufens, und sie haben nur sehr wenig damit zu tun, was
es bedeutet, ein guter Schieber zu sein. Aber in einem Gewerbe,
in dem man den nächsten Musicalstar anhand der Kreativität und
Genialität seiner Frisur auswählt, ist es gar nicht so ungewöhnlich,
einen Schieber auszusuchen, der einer Fliege die Flügel abschie-
ßen kann. Es ergibt nicht viel Sinn, aber so ist es nun einmal.
> Kat o’Nine Tales
Viele Runs in der Unterhaltungsindustrie sind Spionagejobs – um
herauszufinden, was die anderen Studios machen, Informationen über
laufende Projekte zu sammeln, auszuschnüffeln, wer welchen Vertrag
KIA
K G R S C I L W EDG ESS INI ID
4 7(11) 5(7) 3 6 6 4 5 8 2,73 11(13) 1(3)
Zustandsmonitor (K/G): 10/11
Panzerung (B/S): 14/8
Fertigkeiten: Ausweichen 4, Beschatten 2, Bodenfahrzeuge 4,
Einschüchtern (Körperlich) 3 (+2), Führung 5, Gebräuche
(Konzern) 4 (+2), Gewehre 4, Laufen 2, Pistolen (Schwere
Pistolen) 7 (+2), Schiffe 2, Überreden (Schnellreden) 5 (+2),
Verhandlung 6, Waffenloser Kampf 2, Wahrnehmung 5
Wissensfertigkeiten: ETC-Struktur 4, Feuerwaffenhersteller
4, Geschäftspraktiken 3, Japanische Baseball-Profiliga 2,
Japanokons 3, Kriminalpsychologie 3, Pistolenhersteller 3,
Runner-Netzwerke 4, Japanisch 4, Koreanisch M, Mandarin
4, Spanisch 2
Gaben: Außergewöhnliches Attribut (Geschicklichkeit), Glück,
Talentiert (Pistolen)
unterschreiben will, usw. Aber es gibt auch eine hässlichere Seite in
diesem Business, und Kia wird immer mehr der angesagte Mann dafür.
Es geht über Extraktionen hinaus – er hat eine ganz ordentliche Armee
an Unterhändlern, Hackern und sozialen Adepten um sich geschart,
die brutale Propagandakriege ausfechten können, bis hin zum offenen
Rufmord.
> Unabhängig von dem, was Kat oben sagt, kann sich Kias Talent
als Kunstschütze auf diesem Gebiet durchaus als nützlich erweisen.
Manchmal führt man einen Propagandakrieg mit einem Sperrfeuer
an negativen Informationen, aber manchmal kann das auch ab-
stumpfen und den angestrebten Effekt zunichtemachen. Ein gutes
Team schleust eine vernichtende Information ein und wartet dann
ab, was daraus wird. Kia weiß, wie man Leute anheuert, die solche
tödlichen PR-Schüsse abgeben können.
> Dr. Spin
SCHIEBER & JOHNSONS
Handicaps: SIN-Mensch
Bodytech (alles Betaware): Cyberaugen [Stufe 4; Blitzkompen-
sation, Infrarotsicht, Restlichtverstärkung, Sichtverbesserung
3, Sichtvergrößerung, Smartlink], Cyberohren [Stufe 3; Au-
dioverbesserung 3, Balanceverstärker, Dämpfer], Reflexboos-
ter 2; Muskelstraffung 4, Orthoskin 3
Ausrüstung: Bereichsstörsender 6, Formangepasste Körperpan-
zerung (Ganzkörper) [B/S 6/2], 2 gefälschte SINs 4, 3 ge-
fälschte Waffenlizenzen 5, Kommlink [Fairlight Caliban mit
Iris Orb; Prozessor 4, Signal 4, Firewall 3, System 3], Mor-
timer of London: Berwick-Kollektion (Anzugjacke, Hose,
Hemd) [B/S 5/3], Nanitencreme-Verkleidung (großer Be-
hälter)
Waffen:
Ares Predator IV [Schwere Pistole | Schaden 5K | PB –1 | HM
| RK – | 15(s) | Angepasster Griff, Smartgun; 50 Schuss
APDS-Munition, 100 Schuss EX-Explosiv-Munition, 100
Schuss Schockermunition]
Franchi SPAS-22 [Schrotflinte | Schaden 7K | PB –1 | HM/
SM | RK 1 | 10(m) | Angepasster Griff, Smartgun; 50 Schuss
APDS-Munition, 20 Schuss Gelmunition]
Kia 117
 TESS VAN HAMA
PERSÖNLICHE DATEN: TESS VAN HAMA
Alter: 33 Größe: 1,67 m
Gewicht: 50 kg Haarfarbe: Schwarz
Augenfarbe: Grau Geschlecht: Weiblich
Metatyp: Mensch Erwacht: Nein
SCHIEBER & JOHNSONS
Tess van Hama wuchs in den Schatten auf. Sie ist einer der besten
Schieber der Szene, da sie die Schatten im Blut hat. Viele von uns sind
seit langer Zeit in den Schatten, doch die meisten kommen aus ande-
ren Welten. Vielleicht hatten wir die Schnauze voll von der Konzern-
plackerei. Vielleicht sind wir an etwas Geld gekommen, indem wir ein
paar Squatter ausgequetscht haben. Vielleicht waren wir es leid, dem
Oyabun einen Prozentsatz abzudrücken, und haben uns selbstständig
gemacht. Tess van Hama dagegen wurde buchstäblich auf einem Sha-
dowrun geboren und kam nie wirklich zurück ins Licht. Sie wurde auf
der Flucht geboren und wuchs in den Straßen auf.
Tess hat gute Verbindungen zu mächtigen Leuten, die noch daher
stammen, dass ihre Mutter die Geliebte eines hochrangigen Mitsuha-
ma-Execs war. Eine solche Position bringt einen luxuriösen Lebensstil
mit sich. Ihre Mutter lebte in einer Penthouse-Suite, wurde überall
hingefahren und verbrachte ihre Tage damit, sich aufregende Dessous
zu kaufen, die sie trug, wenn der Exec sie mit seiner Anwesenheit be-
ehrte. Als sie schwanger wurde, endete die Affäre. Der Exec sorgte da-
für, dass Tess und ihre Mutter finanziell abgesichert waren, und hielt
sich von da an fern. Er versuchte, diskret zu sein, doch wie sich heraus-
stellte, war er nicht diskret genug. Der Name von Tess’ Mutter sickerte
in die Schatten durch, und es dauerte nicht lange, bis ein Runnerteam
nach ihr suchte.
> Tess van Hama? Englisch-holländisch-japanische Herkunft?
> Slamm-0!
> Das ist offensichtlich ein erfundener Straßenname. Ruft deine
Mutter dich Slamm-0!?
> Hannibelle
> Deine Mutter tut es.
> Slamm-0!
> Namen sind wichtig, vor allem, wenn man sie sich selbst gibt.
„Tess“ ist die Kurzform von Theresa oder Esther; „van“ ist hollän-
disch und heißt „von“; und „Hama“ ist japanisch und heißt „Kü-
ste“ oder „Strand“. Die Tatsache, dass ihr Nachname die Hälfte von
Mitsuhama ist, könnte eine Anspielung auf ihre Herkunft sein.
> Man-of-Many-Names
Ihre Mutter bekam während der Extraktion die Wehen. Tess schaffte
es irgendwie in diese Welt und konnte zusammen mit ihrer Mutter der
Gefahr entkommen. Sie wurden zu Flüchtlingen; Mutter und Toch-
ter verbrachten Tess’ erstes Lebensjahr auf der Flucht. Shadowrunner
118 Tess van Hama
GEPOSTET VON: RIGGER X
suchten sie, um die Belohnung zu kassieren. Mitsuhama-Suchtrupps
waren hinter ihnen her und jagten sie von Land zu Land, und auch
die Feinde von Tess’ Vater waren an ihnen interessiert. Tess’ Mutter
nahm schließlich die Hilfe einiger Konzernleute in Anspruch, die Tess’
Vater den Beweis ihrer Loyalität lieferten. Sie erhielten neue SINs und
wurden in Sicherheit gebracht, ihn sahen sie nie wieder.
Tess blieb während ihrer gesamten Kindheit ein beliebtes Zielob-
jekt. Keiner weiß, wie oft sie das Ziel von Extraktionen, Anschlägen
und anderen Operationen wurde. Aber ob es nun zwei waren oder
zwei Dutzend, jedenfalls überlebte sie und endete auf der anderen Sei-
te. Ob sie es ihrem Glück oder ihren Fähigkeiten zu verdanken hatte,
spielt keine Rolle. Ihre Mutter hatte nicht so viel Glück – sie wurde bei
einem der Entführungsversuche getötet. Tess wurde von Versteck zu
Versteck geschickt und lief schließlich davon. Sie landete auf der Straße
und schaffte es irgendwie, dort zu überleben.
> Der Name ihrer Mutter war Esther.
> Kia
> Kia, wie lange kennst du Tess?
> Bull
> Länger, als sie mich glauben ließ...
> Kia
Indem sie auf ihren Erfahrungen als Zielperson von Shadowruns
aufbaute, begann Tess bald, selber welche zu organisieren. Sie war jung
und intelligent und konnte einige Teams durch ihre rasche Auffas-
sungsgabe beeindrucken. Schon bald zogen Johnsons sie heran, um
sich bei ihr nach den besten Teams zu erkundigen. Ihre Karriere als
Schieberin war geboren, ebenso ihr neuer Name Tess van Hama. Sie
sah sich spöttischem Grinsen ausgesetzt, wenn Runner merkten, dass
ihr Schieber kaum alt genug war, um in die Disco gelassen zu werden,
aber da es ihr immer wieder und immer besser gelang, die besten Run-
ner mit den richtigen Jobs zusammenzubringen, versiegte das Geläch-
ter irgendwann. Aus Geringschätzung wurde Respekt.
Das alles war Teil eines Plans. Tess wusste, wenn sie nur lange und
hart genug daran arbeitete, würden die Puzzleteile irgendwann ein
komplettes Bild ergeben. Die losen Fäden würden sie nicht nur zu den
Mördern ihrer Mutter führen, sondern auch zu den Leuten, die dahin-
tersteckten. Sie plante, sich den Luxus der Rache zu gönnen, wenn sie
machbar geworden war. Ihr Plan ist noch nicht ganz vollendet – die
Runner, die ihre Mutter getötet haben, sind noch nicht alle tot. Ob sie
im Laufe der Jahre auch Rache an den Runnern nehmen wird, die an
ihren anderen Entführungen beteiligt waren, bleibt abzuwarten. Aber
wenn ihr etwas über Tess’ Rachsucht hören wollt, dann erwähnt das
nächste Mal, wenn ihr in einer Runnerkneipe seid, mal die Namen
derjenigen, die sie bereits zur Strecke gebracht hat: CarbonClaw, Jo-
sette, Kobura. Ihr werdet ein paar haarsträubende Geschichten vom
Sturz aus den Höhen der Runnerkarriere in die blutigen Tiefen des
Leichenschauhauses hören.
Tess wollte unbedingt ihren Vater treffen, doch ihr Abtauchen in
die Schatten trennte die beiden. Anscheinend wollte er nichts mit ihr
zu tun haben. Er hatte ihre Mutter geliebt, distanzierte sich aber von
seinem Kind. Sie war das Symbol für etwas, das seine Feinde dazu
benutzen konnten, um ihn von seiner hohen Position bei Mitsuhama
abzuschießen. Tess traf ihn nie persönlich, bis sie eines Tages einen
wagemutigen Überfall auf sein Penthouse in Kyoto startete. Jeder, der
sie kannte, war überzeugt, dass nur einer von beiden dieses Treffen
überleben würde; sie oder ihr Vater, aber nicht beide. Aber irgendwie
überlebten sie beide, und nicht nur das – am Ende des Treffens stand
sie in seinen Diensten.

> Wer ist denn jetzt ihr Daddy, Tiger oder Toshiro?
> Sounder
> Schwer zu sagen. Ich schätze, sie ist Anfang bis Mitte 30, was
beide Mitsuhamas zu möglichen Kandidaten macht. Wenn sie Ti-
gers Tochter ist, wurde sie geboren, kurz bevor seine erste Ehe
zerbrach. Wenn sie Toshiros Kind ist, dann hat er kurz danach
unglücklich geheiratet.
> Kia

> Ich würde auf Tiger tippen.

> Bull

SCHIEBER & JOHNSONS

Tess’ einzigartige Position macht sie zu einer hervorragenden Wahl
für die Erfordernisse ihres Vaters. Weder kann sie als uneheliches Kind
die Erbschaft des Mitsuhama-Vermögens antreten, noch kann sie, da
sie eine Frau ist, in der Yakuza in einen hohen Rang aufsteigen. Aber
trotzdem müssen ihr beide Organisationen den gebührenden Respekt
erweisen. Die Yakuza arbeitet viel zu lange mit Mitsuhama zusammen,
um jemandem, der mit dem Konzern verwandt ist, keinen Respekt zu
erweisen. Tess wird für gewöhnlich hinzugezogen, wenn ihr Vater eine
Meinungsverschiedenheit mit jemandem hat oder wenn er absolut si-
chergehen will, dass etwas zu seiner vollsten persönlichen Zufrieden-
heit erledigt wird.
Tess vertritt hauptsächlich Mitsuhama-Interessen. Wenn ihr einen
Anruf von ihr bekommt, heißt das, dass ihr die Aufmerksamkeit des
Konzerns erregt habt. Ob ihr den Anruf entgegennehmt oder nicht,
hängt wahrscheinlich davon ab, was für Runs ihr in letzter Zeit erledigt
habt. Tess ist professionell genug, auch Teams zu kontaktieren, die be-
reits gegen MCT gearbeitet haben, denn sie weiß, dass es nun einmal
zum Geschäft gehört, und gute Leute sind nicht so leicht zu finden.
Mitsuhama hat genug andere Leute, die sich mit denjenigen befassen,
die dem Konzern zu sehr an den Karren gepinkelt haben, also muss
Tess sich darum keine Gedanken machen. Wenn ihr euch mit Tess
trefft, geltet ihr zwar als ersetzbarer Aktivposten, aber nichtsdestotrotz
als wertvoller. Und wertvolle Aktivposten erhalten ihre Informationen
im Voraus – Tess ist dafür bekannt, dass sie immer ein paar zusätzliche
Daten für Teams zur Verfügung hat, denen sie vertraut.
Runner, die für Tess arbeiten, werden oft gegen Shiawase-Projekte
und -Einrichtungen eingesetzt. Tess hat Spaß daran, diese Jobs zu ar-
rangieren, da sie die ultrakonservative Einstellung des Konzerns ver-
achtet. Ob Shiawase allerdings etwas mit dem Run zu tun hatte, bei
dem ihre Mutter getötet wurde, weiß nur sie allein. Vielleicht organi-
siert sie diese Runs auch nur, um sich Shiawases Aufmerksamkeit zu si-
chern, denn mittlerweile geht der Konzern davon aus, dass die meisten
Runs, die gegen ihn durchgeführt werden, von Tess ausgehen. Selbst
wenn das nicht stimmt, so tragen diese Anti-Shiawase-Runs jedenfalls
kräftig zu ihrer Reputation bei – und zu Shiawases Akte über sie. Doch
das nimmt sie gern in Kauf. Ihre Runs gegen Shiawase mögen rein
geschäftlich sein, doch sie arrangiert sie mit der brutalen Effizienz von
jemandem, der es persönlich nimmt.
Obwohl die meisten Runs, die Tess heutzutage organisiert, eine
Verbindung zu Mitsuhama haben, arbeitet sie auch mit vielen Yaku-
za-gumi auf der ganzen Welt zusammen. Ihre Verbindungen zu den
Konzernen halten sie normalerweise aus den Querelen zwischen den
einzelnen Fraktionen und Familien heraus. Sie respektiert die Yaku-
za-Traditionen, obwohl sie selbst kein Mitglied ist. Sie würde sich al-

Tess van Hama 119

 lerdings nie anmaßen, an Yakuza-Ritualen teilzunehmen, obwohl so
manches Mitglied schon über ihr Wissen um die diversen Zeremonien
und Zeichen gestaunt hat.
Die einzige Ausnahme von ihrem Respekt den Yakuza-Familien
gegenüber sitzt in Neo-Tokio. Der frühere Oyabun hatte seine Verach-
tung für Tess und ihre nicht-traditionelle Herkunft etwas zu deutlich
zum Ausdruck gebracht. Sie wurde nicht mit dem Tod des Oyabun in
Verbindung gebracht, doch der Kumicho, der momentan die Familie
leitet, „Onkel“ Hiro Kuromota, vermutet, dass sie etwas damit zu tun
hatte. Kuromota wird die Familie leiten, bis der Sohn des Oyabun in
einigen Jahren alt genug ist. Bis dahin ist Tess gut beraten, sich nicht
in Neo-Tokio sehen zu lassen und sich aus allen Belangen der Familie
herauszuhalten. In den seltenen Fällen, in denen Tess aus dringenden
geschäftlichen Gründen in die Stadt musste, war die Lage zwischen ihr
und Onkel Hiro äußerst angespannt.
> Das bringt mich noch mal auf ihren Namen zurück, denn „van“
ist eine sehr interessante Wahl. Die grobe japanische Entsprechung
dafür ist „no“. Außerdem gibt es kein Schriftzeichen oder Symbol
SCHIEBER & JOHNSONS
für den Laut „v“ im Japanischen, deshalb dürften traditionelle
Muttersprachler Probleme haben, ihren Namen auszusprechen.
> Mihoshi Oni
> Je mehr ich über den Namen nachdenke, desto faszinierender
wird er.
> Man-of-Many-Names
> Es ist ein interessantes Spiel. Wenn Tess darüber gelogen hat, wer
sie ist, läuft sie Gefahr, dass Tiger ihr ein Team auf den Hals schickt,
um ihr Manieren beizubringen. Wenn der Name die Wahrheit erzählt,
dann hat sie seine Unterstützung, aber auch seine Feinde.
> Bull
Gerüchte bringen Tess mit Gregor Pendzich, einem Manager von
Trans-Latvian Enterprises, in Verbindung. Zuerst nahm man an, dass
diese Verbindung eine Aktion MCTs gegen NeoNET ankündigte. Das
mag durchaus noch geschehen, doch wenn dem so ist, dann hat Tess
die Angelegenheit dadurch verkompliziert, dass sie sich auf eine ro-
mantische Beziehung mit Gregor eingelassen hat. Die Schatten sind
bei solchem Klatsch längst nicht so gut wie die Regenbogenpresse, aber
es scheint, als hätte Tess den Richtigen gefunden. Gregor ist älter als
sie, genießt den Ruf eines ernstzunehmenden Geschäftsmannes, und
seine Firma soll angeblich eine Scheinfirma eines Verbrechersyndikats
sein. Sollte da tatsächlich etwas ins Rollen kommen, dürfte es interes-
sant sein zu beobachten, wie sie mit dem Interessenkonflikt umgeht.
Claudia Romanow ist ein anderer Name, der in nicht ganz so
freundschaftlicher Weise mit Tess in Verbindung gebracht wird. Tess
war in einige Runs gegen die Medienexpertin verwickelt, die kurz nach
ihrer Ankündigung erfolgten, dass sie von Johnny Spinrad schwanger
sei. Diese Runs passten nicht in ihr übliches Schema, aber sie zog sie
trotzdem durch, und Saeder-Krupp bekam ein paar Eier ins Gesicht.
S-K hat nicht zurückgeschlagen, doch Claudia weist seitdem eifrig je-
den, der bereit ist, ihr zuzuhören, auf Gregors Aktivitäten hin. Nie-
mand möchte sich in einer Flüsterkampagne mit Claudia Romanow
anlegen. Einige Leute fragen sich, ob vielleicht Johnny Spinrad hinter
Tess’ Runs gegen S-K gesteckt haben mag. Wenn das der Fall ist, hat
sich Johnny aber in Rekordzeit von seinem Herzeleid erholt.
Viele von Tess’ Runs werden von Nagoya, Japan, aus in die Wege ge-
leitet. Nagoya ist eine Stadt, die ungefähr in der Mitte der Insel Honshu
liegt. Sie blickt auf eine lange Geschichte als Industriestadt zurück. Die
meisten Japanokons haben in Nagoya investiert, was für sie alle Grund
genug ist, sich in der Stadt mit Aktionen zurückzuhalten. Das macht sie
zu einem hervorragenden Ort für ungestörte Treffen und ermöglicht es
120 Tess van Hama
Runnern, sich in relativer Ruhe zu sammeln und Pläne zu schmieden.
Der Hafen treibt genauso viele Geschäfte mit Schmugglern und T-Birds
wie mit legalen Ein- und Ausfuhren. Tess trifft sich mit ihren Runnern
gern in den Bahnhöfen der Hochgeschwindigkeitszüge. Wenn sie einen
Treffpunkt mit mehr Abgeschiedenheit benötigt, arrangiert sie ein Tref-
fen auf dem Gelände der Weltausstellung von ’05.
Aufgrund ihrer Auseinandersetzungen mit Shiawase und ihrer alles
andere als idealen Beziehung zum Kopf der Yakuza in Neo-Tokio ver-
bringt Tess in letzter Zeit zu ihrer eigenen Sicherheit immer weniger
Zeit in Japan. Sie benutzt San Francisco als Operationsbasis, wenn sie
in Nordamerika nach Talenten Ausschau hält. Sie trifft sich mit poten-
ziellen Teams in Fisherman’s Wharf, mitten zwischen den grellen und
blinkenden Lichtern der Segmente, die den einzelnen Japanokons ge-
hören. Ein beliebter Treffpunkt ist die Fähre zu Mitsuhama präsentiert:
Das Erlebnis Alcatraz. Die Fahrt dauert etwa fünfzehn Minuten, was
ihr bei ihrem knappen professionellen Stil sehr gelegen kommt. Wenn
die Runner nicht interessiert sind, bezahlt sie die Fahrt und schickt
sie ihrer Wege. Wenn sie den Job wollen, fährt sie mit ihnen wieder
zurück und bespricht dabei die Einzelheiten.
Ruhige öffentliche Orte sind in einer Welt voller AR und Head-
spam schwer zu finden, aber es gibt sie. Tess trifft sich lieber draußen
als in lauten Clubs oder Bars. Das mag vielleicht ein Überbleibsel aus
ihrer Jugend sein, als sie Schwierigkeiten hatte, in Clubs eingelassen
zu werden. Aber es gibt auch einiges, das für ein Treffen in einem Park
oder bei einem Springbrunnen spricht. Sie hat Verstärkung durch ei-
nen ihrer Geschäftspartner in der Nähe. Die Größe und Sichtbarkeit
dieser Rückendeckung hängt davon ab, wie viele Runner bei dem Tref-
fen zusammenkommen. Wenn die Runner nur einen Vertreter schi-
cken, kommt sie allein. Anderenfalls bringt sie für jeden Runner, mit
dem sie sich trifft, mindestens einen sichtbaren Bodyguard mit.
Als ich das erste Mal einen Run für Tess machte, trafen wir uns in
einem Park in Nagoya. Sie sprach schnell und klar und verschwendete
keine Zeit damit, irgendwelche Sympathie bei uns erwecken zu wollen
oder uns daran zu erinnern, dass wir Shadowrunner-Abschaum waren.
Sie war der erste Schieber, den ich jemals traf, der zugab, eine Frage über
den Run nicht beantworten zu können. Die meisten Schieber zucken nur
die Schultern oder bieten mehr Geld oder versprechen, die Infos später
von Johnson zu beschaffen. Es war erfrischend. Bei Unterhaltungen mit
anderen Runnern, die mit ihr gearbeitet haben, habe ich erfahren, dass sie
schon Runner von einem Job ausgeschlossen hat, die zu viel Geld verlang-
ten oder zu viele Kommentare darüber abgaben, dass Johnsons ja sowieso
nur darauf aus seien, Runner übers Ohr zu hauen. Es gibt mindestens eine
gute Hackerin in Nagoya, die nie einen Anruf von Tess erhalten wird, weil
sie einmal ohne Absprache Paydata hat mitgehen lassen. Tess beauftragte
Leute, die in ihre Wohnung einbrachen und die geklauten Daten zurück-
holten und anschließend ihre Kommlinks und ihre Klamotten verbrann-
ten und sogar ihre Go-Ninja-Bunny-Team-Sammlung vernichteten.
Trotz ihres Hintergrundes arrangiert Tess auch Runs gegen den
Konzern ihres Vaters. Sie hat mich auf eine MCT-Anlage angesetzt,
obwohl sie dabei etwas unbehaglich aussah. Sie gab uns Boni dafür,
dass keine Kollateralschäden entstanden, was mittlerweile eine Stan-
dardklausel bei den MCT-Jobs ist, auf die sie uns schickt. Und dazu
zählen auch Konzerngardisten und Angestellte. Sie weiß, dass es ge-
wisse Risiken gibt, aber sie weiß ein Team zu schätzen, das unnötige
Verletzungen und Risiken minimiert.
Tess ist eine Frau von mittlerer Größe und mittlerem Gewicht mit
schwarzem Haar und leicht asiatischen Gesichtszügen. Ihr Kleidungs-
stil mischt professionelle, modische und legere Elemente. Sie hat ein
paar Cybermodifikationen, gibt sich aber Mühe, sie zu verbergen. Sie
trägt das Haar lang genug, um die Datenbuchse hinter ihrem Ohr zu
verstecken. Sie zieht es vor, bei einem Treffen nicht aufzufallen. Sie
bevorzugt schwarze und andere dunkle Kleidung und Accessoires, bis
hin zu ihrem dunklen Lippenstift. Der größte Teil ihrer Ausrüstung
stammt von MCT, aber eigentlich benutzt sie das, was ihr am nütz-
lichsten erscheint. Sie bietet ihren Runnern oft zusätzliche Tech oder
Waffen statt zusätzlicher Bezahlung an.
Tess ist alles, was sich ein Runner von einem Schieber wünscht. Sie
hat hervorragende Kontakte zu Konzernen und Syndikaten. Sie kann
auf Gefälligkeiten zurückgreifen, um sich und jedem Team, das für sie
arbeitet, den Rücken freizuhalten. Sie arbeitet von verschiedenen Städ-
ten aus und belohnt gute Teams mit Extraprämien. Wenn ihr von ihr
wie Profis behandelt werden wollt, dann behandelt sie wie einen.
Aber seid vorsichtig in euren Verbindungen zu ihr, falls sie einmal
von einem der vielen Drahtseile fällt, auf denen sie balanciert.
TESS VAN HAMA
K G R S C I L W EDG ESS INI ID
3 3 3 3 6 5 4 5 6 4,16 8 1 Waffen:
Zustandsmonitor (K/G): 10/11
Panzerung (B/S): 8/6
Fertigkeiten: Akrobatik 5, Ausweichen 5, Beschatten 4, Com-
puter 3, Einschüchtern 5, Entfesseln 4, Erste Hilfe 4, Fall-
schirmspringen 3, Fälschen 3, Fingerfertigkeit 4, Führung
4, Gebräuche 4, Gewehre 4, Infiltration 4, Klettern 3, Klin-
genwaffen 4, Knüppel 4, Kybernetik 4, Medizin 4, Pistolen
4, Schlosser 3, Schnellfeuerwaffen 4, Überreden 4, Verhand-
lung 6, Verkleiden 4, Waffenloser Kampf 4, Wahrnehmung
4, Wurfwaffen 2
Wissensfertigkeiten: Baseball-Statistiken 2, Mitsuhama-Klatsch
5, Mitsuhama-Technologie 5, Origami 2, Schlupfwinkel in
Nagoya 5, Triadentraditionen 5, Englisch M, Japanisch 5
Gaben: Gelöscht (10 GP), Hohe Schmerztoleranz (15 GP),
Mut, Schlechte Verbindung, Unauffälligkeit
Bodytech (alles Alphaware): Datenbuchse; Adrenalinpumpe 3
Ausrüstung: Actioneer Geschäftskleidung [B/S 5/3], 5 Antidot-
Patches 6, Chamäleonanzug [B/S 6/4], DocWagon-Super-
platin-Vertrag, Eurocar Westwind 3000, Harley-Davidson
Scorpion, Kommlink [Novatech Airware mit Iris Orb], Mit-
> Wie immer stellt sich dabei die Frage, wie lange beide Seiten
voneinander profitieren können. Tess selber hat das Zeug, es in
ihrer Position noch sehr lange auszuhalten, also ist der, auf den
es ankommt, Tiger (vorausgesetzt, Bull hat recht und er ist der
Vater). Tess ist sehr gut in ihrem Job und organisiert viele erfolg-
reiche Runs, aber wenn sie zu viel Status erlangt, wird das Tiger
– und, noch wichtiger, auch anderen MCT-Execs – nicht verborgen
bleiben, und man wird eine Möglichkeit finden, sie wieder an Land
zu ziehen. Wie sie das machen wollen und wie Tess darauf reagie-
ren wird, bleibt abzuwarten.
> Baka Dabora
subishi Nightsky, Oberschicht-Lebensstil, Panzerjacke [8/6],
Sichtgerät [Smartlink], 10 Trauma-Patches
SCHIEBER & JOHNSONS
Hämmerli 620S [Leichte Pistole | Schaden 4K | PB 0 | HM | RK
1 | 11(s) | Gasventil 1, Schalldämpfer, Smartgun; 5 Steifen
APDS-Munition, 5 Streifen Schockermunition, 20 Streifen
Standardmunition]
HK XM30 [Sturmgewehr | Schaden 6K | PB –1 | HM/SM/AM |
RK (1) | 30(s) | 5 Streifen APDS-Munition, 20 Streifen Stan-
dardmunition]
HK XM30 [Granatwerfer | Schaden wie Granate | PB wie Gra-
nate | EM | RK 0 | 8(s)]
HK XM30 [Schrotflinte | Schaden 9K(f ) | PB +6 | HM | RK (1)
| 10(s) | 10 Streifen Flechettemunition]
HK XM30 [Karabiner | Schaden 5K | PB 0 | HM/SM/AM | RK
(1) | 30(s) | 5 Streifen Explosivmunition, 20 Streifen Stan-
dardmunition]
HK XM30 [Scharfschützengewehr | Schaden 7K | PB –2 | HM
| RK (1) | 10(s) | 5 Streifen Schockermunition, 15 Streifen
Standardmunition]
HK XM30 [LMG | Schaden 6K | PB –1 | SM/AM | RK 2 (3)
| 100(gurt) | 1 Gurt APDS-Munition, 2 Gurte Standardmu-
nition]
Katana [Klingenwaffe | Reichweite 1 | Schaden 5K | PB –1]
4 Splittergranaten [Granate | Schaden 12K(f ) | PB +5 | Spreng-
wirkung –1/m]
4 Sprenggranaten [Granate | Schaden 10K | PB –2 | Sprengwir-
kung –2/m]
4 Betäubungsgranaten [Granate | Schaden 6G | PB –3 | Spreng-
wirkung 10 m Radius]
Tess van Hama 121
 YANKEE
PERSÖNLICHE DATEN: YANKEE
Alter: 66 Größe: 1,79 m
Gewicht: 81 kg Haarfarbe: Graumeliert
Augenfarbe: Blau Geschlecht: Männlich
Metatyp: Mensch Erwacht: Ja (Adept)
SCHIEBER & JOHNSONS
Um eine Sache vorweg klarzustellen: Yankee ist nicht mein Vater. Er
hat damals in den 50ern den Smoker’s Club gegründet, und ich kann
ehrlich sagen, dass ich ohne ihn nicht das wäre, was ich heute bin –
wahrscheinlich nicht einmal mehr am Leben. Wir Smokers sind wie
eine Familie, aber das bedeutet nicht, dass er etwas mit meiner Mutter
hatte. Ich glaube, die Gerüchte sind durch die Art und Weise entstan-
den, wie er aufgewachsen ist.
> Oder sie sind entstanden, weil Yankee sie in die Welt gesetzt
hat. Er hat die Vater-und-Sohn-Tarnung aufrechterhalten, bis die
Smokers immer mehr Zulauf bekamen. Ich bin mir gar nicht sicher,
ob er die Sache überhaupt fallengelassen hat. Es scheint so, als
hätte er sich eine Wunschfamilie aus den Runnern, die ihm über
den Weg liefen, zusammengestellt.
> Kat o’Nine Tales
Yankee wuchs in New York auf. Er entstammt einem typischen Mittel-
klasseleben – Mom, Dad und Hund. Yankee hatte eine Begabung dafür,
zu erspüren, was die Leute hören wollten oder, noch wichtiger, was sie
kaufen wollten. Es wurde sehr früh klar, dass er ein Talent besaß, das ande-
re nicht hatten, und nach und nach wurde man auf ihn aufmerksam. Als
er zwölf war, galt er als aufstrebender Stern am Himmel der Datenanalytik
und schien eine großartige Konzernkarriere vor sich zu haben. Das alles
endete an dem Tag, als er mitbekam, wie sein Vater seine Mutter verprü-
gelte. Er ging dazwischen und wollte seinen Vater zurückhalten, aber er
war nur ein Kind. Sein Vater schlug ihn bewusstlos. Als Yankee zu sich
kam, lag er neben der Leiche seiner Mutter. Sein Vater lag besoffen im
Wohnzimmer auf der Couch und schlief. Yankee tat, was wohl jeder Sohn
in dieser Situation getan hätte – er marschierte in die Küche, schnappte
sich ein Küchenmesser und stieß es seinem Vater in die Kehle.
Die Gerichte waren sehr verständnisvoll. Yankee erhielt eine Be-
währungsstrafe und einen vom Gericht zugeteilten Therapeuten. Er
landete in einem Waisenhaus, weit genug entfernt von seinem alten
Viertel, um einen neuen Anfang machen zu können. Plötzlich war er
ein Straßenkid, eine Waise und auf sich allein gestellt. Seine Eltern
waren ohnehin nicht wohlhabend gewesen, und wegen seines Mordes
sorgte der Rest der Familie dafür, dass er nichts von dem Erbe bekam.
Doch bald begann Yankee, ein Doppelleben zu führen. Irgendein
entfernter Verwandter – Yankee weiß entweder nicht, wer er war, oder
er will es nicht sagen – bezahlte für seinen Besuch auf der angesehe-
nen Hunter Academy, einer der besten weiterführenden Schulen der
UCAS. In seiner Zeit an der Hunter legte Yankee den Grundstock für
sein ausgedehntes Netzwerk an Connections, das ihm später ermög-
lichte, seine zweite Karriere zu beginnen.
122 Yankee
GEPOSTET VON: RISER
> Yankee hat nie einen Abschluss an der Hunter Academy gemacht
und auch nie für ein Klassenfoto posiert, aber wenn man auf ei-
nige der interessanteren Absolventen aus der Zeit zurückblickt,
als er an der Schule gewesen sein kann, findet man solche Namen
wie etwa Christopher Arkins, den Pressesekretär des Manhattan
Development Consortiums.
> Slamm-0!
> Wer war denn nun dieser mysteriöse Verwandte? Und warum hat
er ihm das Geld in den Rachen geworfen?
> Snopes
> Hab mir gerade die Bilder angesehen. Einige dieser Leute sind
ganz hohe Konzerntiere. Warum sind sie auf die örtliche Schule
gegangen?
> Baka Dabora
> So läuft das eben in Manhattan. Statt ihren Kindern in Konzern-
silos die Bildung einzutrichtern, schicken alle Konzernexecs ihre
Kids auf dieselbe Schule. Auf diese Weise wollen sie herausfinden,
wie die andere Seite denkt, und bei der Gelegenheit vielleicht das
eine oder andere Konzerngeheimnis mitgehen lassen.
> Mr. Bonds
Jeden Abend, nachdem er mit den ganzen reichen Kids zur Schule
gegangen war, ging er zurück in sein Waisenhaus, was genau die Art
von Etablissement war, in dem man um jede Decke und jedes Kopf-
kissen kämpfen musste. Das war, wie sich herausstellte, mehr, als er
verkraften konnte. Als Yankee sechzehn war, trieb er sich mit Gangs
herum, aber auf diese Phase seines Lebens will ich nicht näher einge-
hen. Wir stehen uns nicht mehr so nahe wie früher, und ich habe nicht
die Absicht, alle seine Geheimnisse auszuplaudern.
> Was hat sich zwischen euch abgespielt? Ein Streit unter Lie-
benden?
> Sticks
> Immer noch das gleiche Arschloch, was, Sticks? Als wir zusam-
menarbeiteten, waren wir eine Familie. Jetzt ist er ein Schieber
und ich ein Runner. Unsere Beziehung hat sich verändert. Er kann
meine Interessen nicht mehr so vertreten wie früher. Ich werde ihn
immer respektieren, aber jetzt ist er für mich ein Kunde. Und traue
niemals einem Kunden.
> Riser
> Es könnte noch einen anderen Grund für Risers Schweigen ge-
ben. Ich habe ein paar Freunde im Rotten Apple, die von einem
Typen namens Yankee erzählt haben, der Leutnant bei den Cutters
in New York war. Sie sagen, die Zeit, in der dieser Kerl für die
Cutters arbeitete, überschneide sich mit der Zeit, die Riser in New
York verbracht hat. Das würde bedeuten, dass Yankee für das glei-
che Team spielte wie Riser, was auch diese Vater-Sohn-Geschichte
erklären würde.
> FastJack
Als er achtzehn wurde, meldete Yankee sich zur Armee. Er fand
schnell seinen Weg in Richtung verdeckte Operationen. Trotz seines
patriotisch klingenden Namens hatte Yankee sich nicht aus fehlgelei-
tetem nationalistischem Stolz eingeschrieben. Er ging zur Armee, um
dort Dinge zu lernen, die ihm sonst niemand beibringen konnte. Ich
ließ meinen Hacker nach seinen Militärakten suchen, als ich diesen
Post hier vorbereitete, aber alles, auf dem sein Name zu finden ist,
wurde redigiert. Wenn man ihm glauben will – und ich glaube ihm –,
dann hat er sich damals auf Spionageabwehr spezialisiert. Er sagt, er
habe den größten Teil seiner Militärzeit in Osteuropa zugebracht, wo
er Spione extrahierte und enttarnte.
an, ein Laster, das er sich, wie er sagt, in Osteuropa angewöhnt hatte.
Nach gut zehn Jahren zog Yankee sich ’63 aus dem Team zurück. Er
nannte es seinen Ruhestand. Er kaufte sich eine Wohnung in New
York, eine Bahnstation vom Baseballstadion entfernt. Das war’s dann;
dachten wir zumindest.
> He, warte mal – du gehst einfach so über zehn Jahre Smoker’s
Club hinweg? Mach schon, erzähl uns ein paar wilde Geschichten!
> /dev/grrl

> Seit Jahren kursieren Gerüchte um ein Team amerikanischer Spe- > Manchmal sollte man die Vergangenheit ruhen lassen. Vor allem,
zialagenten, die Wilhelmina Graff-Beloit während der Eurokriege wenn es Wichtigeres gibt.
finanzielle und propagandistische Unterstützung leisteten. Den > Riser
Gerüchten zufolge soll Graff-Beloit dem Team gestattet haben, in
engem Kontakt mit ihr zu arbeiten, um bei der UCAS-Regierung
Pluspunkte zu sammeln. Sie galt als Freund des Staates, und im
Gegenzug konnte S-K einen ganzen Haufen Kontakte in der Re-
gierung knüpfen. Viele Insider aus Regierungskreisen vermuten,
dass diese Kontakte und die Geheimnisse, die sie aus umgedrehten

SCHIEBER & JOHNSONS

Spionen herausholte, ihr überhaupt erst ermöglicht haben, so lan-
ge gegen Lofwyr auszuhalten. Wenn Yankee die Wahrheit sagt, ist
er das erste Mitglied dieses Teams, das jemals aus den Schatten
getreten ist, wenn auch unbeabsichtigt.
> Fianchetto

Ich lernte Yankee bei meinem ersten Gefängnisaufenthalt ken-

nen. Damals war er schon von verdeckten Operationen
zu Trickbetrügerei übergegangen. Er suchte mich auf
und gab sich als Anwalt aus, der meinen Fall eh-
renamtlich übernehmen wollte. Ich bin eigentlich
der Meinung, dass ich Blödsinn normalerwei-
se ziemlich schnell erkenne, aber der Typ hat
mich wirklich hinters Licht geführt. Ich habe
erst gemerkt, dass der Kerl nicht echt war, als
er es mir erzählt hat.

> Ich würde fast glauben wollen, dass Yankee

ein sozialer Adept ist, aber das Talent dürfte ei-
gentlich nicht funktionieren, wenn man so viel
Cyberware hat wie er.
> Lyran

> Er könnte trotzdem einer sein. Die ganzen Tests

waren damals noch kein Standard, und das Adep-
tenphänomen wurde auch noch nicht so ganz ver-
standen, deshalb könnte es gut sein, dass man ihn
damals nur als besonders charmanten jungen Mann
mit einer hervorragenden Menschenkenntnis ange-
sehen hat. Wenn ihn die richtigen Leute rechtzei-
tig gefunden hätten, hätte er sein magisches Talent
vielleicht ausbauen können. Stattdessen könnte das
der Beginn einer traurigen Geschichte über ein ver-
geudetes Talent sein.
> Frosty

Yankee versuchte damals, mich anzuwerben, aber ich

hatte andere Pläne. ’53 trafen wir uns wieder. Und da
hatte er ein Dossier über mich und ein paar andere, die
ihn auch interessierten, gegen das jede offizielle Akte wie
ein Tappen im Dunkeln erschien. Die Informationen, die
er gesammelt hatte, bildeten den Grundstock für den ur-
sprünglichen Smoker’s Club. Wir nahmen diesen Namen
wegen Yankees Vorliebe für feine Zigarren und Zigaretten

Yankee 123
 Yankees Ruhestand war nur von kurzer Dauer. Eines Tages ver-
schwand er einfach. Alles, was wir herausfinden konnten, war, dass
ein Privatjet mit ihm an Bord von Long Island abgehoben hatte. Alle
Flugtickets und Flugpläne waren über Dummykonzerne umgeleitet
worden, deshalb dauerte es einige Zeit, herauszufinden, wer dahin-
tersteckte – und glaubt mir, wir gaben uns Mühe, denn diese Reise
kam wirklich völlig überraschend für uns. Der erste Jet landete auf
dem JFK, angeblich wegen Motorproblemen. Kurz darauf hob eine
weitere Gulfstream, die demselben Konzern gehörte, nach London,
England, ab. Wir verfolgten die Flugzeuge zu einer Firma namens
Terra Nocti zurück und diese wiederum zu Wilhelmina Graff-Beloit.
Aber wir wussten, dass er sich nicht mit ihr oder einem ihrer Leute
treffen würde, denn die waren mittlerweile alle ins Zürich-Orbital
umgezogen.
Drei Tage später war Yankee zurück in der Stadt. Er rief uns an, um
sich von uns zu verabschieden, und kündigte seinen Umzug nach Europa
an. Danach hörten wir fast ein Jahr lang nichts mehr von ihm. Er meldete
sich, weil er einen Magier brauchte, dem er vertrauen konnte und der sich
in London auskannte. Wir gaben ihm Winterhawks Nummer.
> Ich habe mich schon gefragt, wie er daran gekommen ist. Richte
SCHIEBER & JOHNSONS
Seta meinen Dank aus. Es war eine profitable Zusammenarbeit.
> Winterhawk
> Kannst du uns was darüber erzählen?
> Snopes
> Ich kann hier nicht ins Detail gehen, aber Yankee wollte, dass
ich ein Team unterstützte, das eine biologische Probe von Johnny
Spinrad beschaffen sollte. Das Team sollte ohne unnötige Gewalt
vorgehen, aber er hatte seine Zweifel, ob sie dafür gut genug wa-
ren. Und er hatte recht. Als wir es mit Spinrads Sicherheitsleuten
zu tun bekamen, wurden die Runner nervös und stiegen auf töd-
liche Munition um. Ich war gezwungen, einen von ihnen auszu-
schalten, damit die Mission innerhalb der Parameter blieb.
> Winterhawk
> Was geschah mit der Probe?
> Baka Dabora
> Sie gelangte in die Hände von Claudia Romanow, die damit be-
wies, dass Spinrad der Vater ihres Kindes war. Das war das Ende
von Spinrads Beziehung zu Queen Caroline.
> 2XL
> Willst du andeuten, dass Yankee die Aufdeckung von Spinrads
Vaterschaft inszenierte, damit Spinrad sich aus dieser Beziehung
zurückziehen konnte? Es gibt absolut keine Beweise dafür.
> Snopes
> Wenn der Schuh passt... Wie auch immer, es gab eine Million
Gründe für Spinrad, diese Beziehung zu beenden. Der wichtigste
war Geld. Es reichte ihm, sich mit Queen (damals Prinzessin) Ca-
roline sehen zu lassen, um mit Celedyr an einen Tisch zu kommen.
Sobald dieser Kontakt geknüpft war, brauchte er die Prinzessin
nicht mehr. Nachdem sie sich getrennt hatten, verkaufte er einen
ganzen Haufen Londoner Firmen an HKB.
> 2XL
Dieser erste Run in England brachte Yankees Reputation kräftig
nach oben, und er stellte fest, dass England, und später Europa, ganz
nach seinem Geschmack war. Es gefiel ihm auch, nicht mehr in der
direkten Schusslinie zu stehen (in seinen letzten Jahren beim Smoker’s
Club hatte er immer öfter Rollen hinter den Kulissen übernommen),
und so gingen seine Tätigkeiten immer mehr in die Richtung eines
124 Yankee
Schiebers, und nach ein paar einfacheren Jobs mit Freiberuflern orga-
nisierte er immer regelmäßiger Runs. Zumindest habe ich es so gehört
– er ist nicht allzu mitteilsam, was die Einzelheiten angeht.
Ich will nicht darüber spekulieren, für wen Yankee heute Runs arran-
giert, aber ich kann euch sagen, dass er in dieser Phase seines Lebens mehr
daran interessiert ist, was hinter einem Job steckt, als daran, was dabei
herausspringt. Das soll nicht heißen, dass er ein Moralapostel ist. Er stellt
nur gerne sicher, dass seine Vorstellungen und die seines Klienten in die
gleiche Richtung gehen, damit es nicht zu Unannehmlichkeiten kommt.
Angeblich lebt er in einem Zug und hält sich nie lange genug an ei-
nem Ort auf, um aufgespürt zu werden. Es gibt immer noch viele Leu-
te, die ihn lieber tot sähen, angefangen bei Chimera. Diese Fehde geht
auf einen Zwischenfall zurück, bei dem Sergei Malenkin und Yankee
wegen eines Jobs aneinandergerieten, für den Chimera beauftragt wor-
den war. Dem Auftraggeber gefiel der Zeitplan nicht, den Chimera für
die Arbeit veranschlagt hatte, deshalb fragte er bei Yankee nach, ob der
jemanden in seinem Stall hatte, der den Job schneller erledigen konnte.
Als Malenkin herausfand, was der Auftraggeber hinter seinem Rücken
arrangiert hatte, legte er ihn um und wollte sich dann um Yankee küm-
mern (mit dem Gedanken, dass man solche Gepflogenheiten am besten
dadurch im Keim erstickt, dass man die Ratten, die hinter dem eigenen
Rücken angeheuert werden, um den Job zu erledigen, wegpustet). Das
brachte Yankee voll in die Schusslinie und führte dazu, dass er eine
Weile quer durch Europa fliehen musste. Schließlich wurde Chimera
von anderen Jobs zu sehr vereinnahmt, um die Verfolgung aufrechtzu-
erhalten, aber wenn sich die Gelegenheit ergäbe, wäre Malenkin nur zu
gerne bereit, Yankee umzulegen.
Der Aufschub der Jagd durch Chimera gestattet Yankee, sich neu
auf seine Arbeit zu konzentrieren. Die Chimera-Affäre verursachte eine
Menge Frustration bei ihm, da er es nicht gewohnt war, wegzulaufen,
statt sich einfach der Leute zu entledigen, die ihm auf die Nerven ge-
hen. Er war zu seiner Zeit ein hervorragender Schütze, aber aufgrund
seines Alters hat er sich immer mehr darauf verlegt, Probleme auf dem
Verhandlungsweg statt durch Waffengewalt zu lösen. Chimera zwang
ihn, das zu ändern. Zuerst arbeitete er daran, sich selbst besser in Form
zu bringen, und dann sorgte er dafür, dass er sein Netzwerk besser
nutzen konnte, indem er Geschäftspartner – vor allem solche, die ihm
etwas schuldeten – immer in seiner Nähe hielt, damit er jederzeit Un-
terstützung rufen konnte, wenn er sie brauchte. Er ist nicht mehr die
Einmannarmee, die er vielleicht während seiner Zeit bei den Smokers
war, aber er hat neue Wege gefunden, gefährlich zu sein.
Und im Endeffekt ist das die Moral dieser kleinen Gutenachtge-
schichte. Yankee ist älter und langsamer geworden, aber er ist ein Ve-
teran. Er hat seinen Weg gefunden, immer noch gefährlich zu sein. Er
ist jetzt Mitte 60, nach Runnermaßstäben ein Relikt, aber dank seiner
jüngsten Trainingsbemühungen ist er immer noch gut dabei. Er hat
den größten Teil seiner alten Cyberware entfernen lassen und ein Ver-
mögen in Bioware gesteckt, die er sich bei den besten Schattenklini-
ken, die Europa zu bieten hat, besorgt hat. Das Ergebnis ist ein Schie-
ber, der durch Sicherheitskontrollen gelangt, ohne allzu viele Alarme
auszulösen, und der längst nicht so gefährlich aussieht, wie er ist.
> Manche Leute werden im Alter abgeklärter, andere werden ver-
rückter. Da Yankee sich jetzt stärker fühlt als in seinen 50ern,
sinnt er auf Rache an denen, die ihm das Leben schwer gemacht
haben. Das Problem ist nur, wenn man anfängt, Leute aus Rache
umzulegen, dann ist das im ersten Moment sehr befriedigend –
und suchterzeugend. Also sucht man nach immer mehr Leuten,
an denen man sich rächen kann. Und das endet dann damit, dass
man jemanden umlegt, weil er einem vor fünfundzwanzig Jahren
einmal die Autoreifen aufgeschlitzt hat.
> Pistons
> Ist das so?
> Kane
YANKEE

K G R S C I L W M EDG ESS INI ID

4 3(6) 4(6) 4(6) 6 5 6(8) 5 4 5 4,1 9(11) 1(3)

Zustandsmonitor (K/G): 10/11

Panzerung (B/S): 12/6

Fertigkeiten: Bodenfahrzeuge 3, Computer 4, Datensuche 3, Einfluss-

Fertigkeitsgruppe 5, Einschüchtern (Körperlich) 4 (+2), Erste Hilfe
3, Feuerwaffen-Fertigkeitsgruppe 5, Flugzeuge 4, Gebräuche (Sha-
dowrunner) 1 (+2), Heimlichkeit-Fertigkeitsgruppe 3, Klingenwaf-
fen 4, Knüppel 3, Waffenloser Kampf 4, Wahrnehmung 4

SCHIEBER & JOHNSONS

Wissensfertigkeiten: Attentatstechniken 5, Internationale Politik 4,
Manhattan Development Consortium 3, Polizeistrategien 3, Run-
nergruppen 4, Seattler Straßen 2, Strafvollzugssysteme 3, UCAS-
Militärtechniken 2, Deutsch 3, Englisch M, Japanisch 4, Spanisch 3

Gaben: Adept, Soziales Chamäleon, Überlebenswille

Handicaps: Feind

Adeptenkräfte: Körpersprache 3, Kritischer Schlag 4, Mystischer Panzer

2, Todeskralle

Bodytech (alles Deltaware): Cyberaugen [Stufe 1; Smartlink]; Kno-

chenverstärkung 3, Mnemoverstärker 2, Muskelstraffung 3, Mus-
kelverstärkung 2, Thrombozytenfabrik, Synapsenbeschleuniger 2,
Zerebralbooster 2

Ausrüstung: DocWagon-Superplatin-Vertrag, Formangepasste Kör-

perpanzerung (Ganzkörper) [B/S 6/2], Kommlink [Spezialanferti-
gung; Prozessor 5, Signal 6, Firewall 6, System 4], 5 Dosen Laés,
Magschlossknacker 6, RFID-Löscher, Victory Globetrotter Schwere
Panzerkleidung (mit Feuerresistenz) [B/S 4/2], White-Noise-Genera-
tor 5, Zielgerichteter Störsender 8

Programme: Analyse 4, Aufspüren 4, ECCM 3, Panzerung 3, Schlei-

cher 4, Schmöker 4, Schnüffler 4, Verschlüsselung 4

Waffen:
Beretta 200ST [Leichte Pistole | Schaden 4K | PB – | HM/SM | RK 1
(2) | 12(s) | Gasventil 1, Smartgun; 100 Schuss APDS-Munition, 100
Schuss Schockermunition]
Franchi SPAS-22 [Schrotflinte | Schaden 6G(e) | PB –Hälfte | HM/SM |
RK 2 (3) | 10(m) | Gasventil 2; 100 Schuss Schockermunition]

Yankee 125
Lose Enden
VON RUSSELL ZIMMERMAN & JAMES D. MEIERS
Leutnant Rudi Vollstedt erteilte das Zugriffskommando über sein in-
tegriertes Kommunikationssystem. Sein Achtmannteam explodierte
vor Aktivität, als der Befehl in ihren Ohren erklang; die Hälfte von
ihnen, darunter auch die Magierin, verschafften sich durch das Fens-
ter des Wohnzimmers, in dem die Zielperson zuletzt gesehen worden
war, Zugang. Zwei drangen durch Schlafzimmerfenster ein, um die-
sen potenziellen Fluchtweg abzuriegeln. Vollstedt selbst und das letzte
Teammitglied sprengten mit einer Mossberg Combatgun das Schloss
von der Eingangstür des Hauses und stürmten hinein.
Zuerst verlief alles, wie Vollstedt es erwartet hatte. Es war wie Mu-
sik in seinen Ohren, all das klirrende Glas und die zersplitternden Tü-
ren, das dumpfe Geräusch der Betäubungsgranaten, das Stampfen von
Kampfstiefeln auf dem Pseudohartholzboden.
Doch dann hörte er das verhaltene Husten einer Feuerwaffe und das
dumpfe Geräusch eines schwer gepanzerten Körpers, der auf den Boden
fiel, dann noch einer. Er hörte die knatternde Antwort ungedämpften
Feuers und das Krachen einer Schrotflinte, das Stampfen von Stiefel-
schritten, wieder das verhaltene Husten. Er und der Soldat stürmten
durch den desorientierenden Rauch im extravaganten Eingangsbereich
– wer von seinen Leuten hatte eine gottverdammte Rauchgranate einge-
setzt? – in die Richtung der hallenden Echos weiterer Schüsse. Sie wand-
ten sich nach links, um die Küche zu sichern, dann zurück und hinein
in den großen Wohnbereich. Durch den Schleier des Rauches, der ihn
benommen machte und ihm die Sicht nahm, obwohl seine Cyberaugen
sich wild durch die verschiedenen Sichtmodi schalteten, konnte er eine
gepanzerte Leiche auf dem Boden erkennen. Einer seiner Leute.
Dann ein erneuter gedämpfter Schuss von irgendwo vor ihm, wie-
der kam das Gurgeln eines sterbenden Soldaten über die Headware des
Leutnants. Vollstedts Soldat, der nur einen Schritt vor ihm war, stürzte
auf die Action zu, bis er über die Leiche von Greta, ihrer Aspektzau-
berin, stolperte, und Vollstedt hielt kurz an, um ihm Zeit zu lassen,
das Gleichgewicht wiederzufinden. Aber er fiel einfach weiter, knallte
auf den Boden, dann lag er da, blutend, und erst da sah der Leutnant
das ausgefranste Loch hinten in der Sturmhaube seines Teamkollegen,
genau zwischen dem Helm und der gepanzerten Rückenplatte. Eine
Sekunde später registrierte er das Ploppen einer schallgedämpften
Waffe irgendwo hinter ihm, halb übertönt von seinen eigenen schwe-
ren Stiefeltritten. Der Leutnant riss seine Maschinenpistole hoch und
wollte sich umdrehen.
„Halt!“, rief jemand auf Deutsch.
Er erstarrte; wurde noch starrer, als er fühlte, wie ein Waffenlauf
gegen seinen Nacken gepresst wurde.
„Passend zu meiner neuen Postanschrift würde ich gerne Eng-
lisch mit Ihnen reden. Ist das okay?“ Der Lauf war warm, und er
schob sich ein wenig unter seinen Helm. Er würde tot sein, bevor er
den Boden berührte. „Ich weiß, dass Sie Englisch sprechen, Kumpel,
sonst hätte man Sie nicht hierher nach Denver geschickt. Einfach
nur nicken.“
Er nickte und versuchte, trotz der plötzlichen Angst, die seine Keh-
le zudrückte, zu schlucken. Vollstedts Gedanken rasten.
„Nehmen Sie die Praetor in die linke Hand, und mit der rechten
nehmen Sie das Magazin heraus und legen den Sicherungshebel um,
aye?“ Vollstedt tat wie geheißen. Er gehorchte instinktiv, nicht nur
wegen des Waffenlaufs in seinem Nacken, sondern auch, weil da ein
gewisses Etwas in der singenden Stimme an seinem Ohr war. Er hielt
die leere Maschinenpistole ungeschickt von sich weg. „Guter Junge.
Jetzt lassen Sie sie fallen. Nehmen Sie Ihren Helm ab und werfen Sie
ihn in den Flur.“
Vollstedt zögerte, und sein Gegner stupste ihn leicht mit dem Lauf
an. „Ich weiß von dem Flash-Pack, das in die Vorderseite des Helmes
eingebaut ist, ich war damals dabei, als die Dinger getestet wurden.
Machen Sie schon.“
Er gehorchte erneut, dann drehte er sich langsam um, als er fühlte,
wie die Waffe von seinem Nacken genommen wurde. Der Rauch löste
sich allmählich auf, zog aus dem geräumigen Flur durch die zerschla-
genen Fenster hinaus. Ein Elf in Jogginghose und Sweatshirt stand
vor ihm, höchstens einen Meter entfernt. Er entdeckte keine Spur
von Blut an ihm, auch sonst keine Anzeichen dafür, dass er gerade ein
Feuergefecht hinter sich hatte. Der Elf hielt eine Ares Viper Slivergun
auf Vollstedt gerichtet. Weder die Waffe noch seine leuchtend grünen
Augen bewegten sich, als der Elf mit der anderen Hand ohne hinzu-
sehen in die Küche nebenan langte. Die Hand kehrte mit einer Tasse
dampfenden Tees zurück.
„Tut mir leid, aber das Wasser kochte gerade, als ihr Jungs hier rein-
geplatzt kamt. Ich war nicht da, wo ich sein sollte – es war ein reiner,
dummer Zufall“, sagte der Elf mit seinem melodiösen irischen Akzent,
offensichtlich amüsiert darüber, dass so eine Kleinigkeit einen solchen
Unterschied ausmachen konnte.
Man hatte Vollstedt gewarnt, dass die Zielperson überall in der
Wohnung Waffen versteckt haben würde, aber sie hatten nicht mit
einer Spezialgranate gerechnet, die gleichzeitig normale und Infrarot-
sicht ausschalten konnte. Er malte sich aus, wie der Elf in dem Chaos
die Granate warf und seelenruhig die Pistole aus dem Kühlschrank
nahm, wo sie zwischen der Sahne und der Butter gelegen hatte. Diese
Vorstellung hatte etwas Surreales. Vollstedt konnte nicht anders, als
zuzuhören, als der Elf weiterredete.
„Und danach ging für euch alles den Bach runter, was? Nur acht
Leute, um mich in meinem Haus anzugreifen, und das ganz ohne
Geisterunterstützung? Und nur ein Zauberer und dann auch noch
Greta Schmidt, dieser Junkie?“, sagte er mit einem mitfühlenden klei-
nen Seufzer. Rauchfetzen trieben hinter ihm vorbei, enthüllten mehr
Leichen. Der Elf schnalzte mit der Zunge. „Zu selbstsicher, die Aus-
führung. Zu schlampig. Und ich dachte immer, ein Mann Ihres Alters
müsste es besser wissen.“
„Sie haben sie alle...“ Vollstedt befeuchtete seine Lippen, als der Elf
seelenruhig an seinem Tee nippte, er rang nach Worten. „Sie sind alle
tot, oder?“
„Ja. Umso schlimmer, aber Sie haben die Regeln festgelegt, als Sie
auf diese Weise hier eindrangen. Kein Schalldämpfer, kein Versuch,
diskret zu sein, keiner hatte Handfesseln griffbereit. Ganz zu schwei-
gen von den beiden Burschen mit ihren Mossberg CMDTs. Die feuern
nur Schrotmunition ab; die Kammer kommt nicht mit nicht-tödlicher
Munition klar. Wenn die Jungs diese Waffen dabeihaben, ist es klar,
dass ihr nicht wegen einer Extraktion hier seid, sondern um mich um-
zulegen. Oh, und vergessen wir nicht die kleine Greta Schmidt, eine
ausgebildete Kampfmagierin, die als zweite durch mein Fenster kam.
Sie mag ihre beste Zeit hinter sich haben, aber ich weiß sehr gut, wel-
chen Schaden sie hätte anrichten können.“
Je länger der Elf sprach, desto mehr fühlte Vollstedt sich von ihm
festgehalten, diese Stimme fesselte seine Aufmerksamkeit mehr, als
es der Lauf der Slivergun konnte. Dann nahm der Elf wieder einen
Schluck Tee und ließ seine Elfenschultern ein winziges Stückchen sin-
ken, was so etwas wie Resignation anzudeuten schien.
„Also: Ja, sie sind tot. Ihr habt beschlossen, nach den Regeln der
großen Jungs zu spielen. Ich erkenne ein Killerteam, wenn ich eins
sehe.“
 „Und was ist mit mir?“
„Wir beide wissen doch, wer Sie und Ihr Team losgeschickt hat,
aye? Nur die Abzeichen von der Uniform zu lösen, reicht nicht, um zu
verbergen, dass Sie MET2000 sind. Aber ich will wissen, wer genau Sie
geschickt hat. Wie weit oben in der Befehlskette. Und warum.“
„Sie wissen, warum.“
„Fein. Ich will wissen, wer.“
„Nein.“
Die Hand des Elfen knickte ab und die Slivergun bellte auf und
jagte Metallsplitter in Vollstedts Schienbein. Sie trafen ihn direkt unter
dem verstärkten Kniepolster seine Panzerung und direkt oberhalb des
Kevlargewebes seiner Kampfstiefel. Das Knie des alten Söldners knick-
te ein, und er stolperte gegen die Wand, um sich abzustützen.
„Hören Sie mir gut zu“, sagte der Elf und richtete seine smaragd-
grünen Augen auf Rudi. Etwas in diesen Augen machte es dem Söld-
ner unmöglich, seinen Blick abzuwenden. Etwas in dieser Stimme
durchdrang die Schmerzen seines zerschmetterten Beines und ließ ihn
aufmerksam zuhören. „Ich kenne hundert Stellen, die Ihre Panzerung
nicht schützt, und ich glaube, mein Dossier hat Ihnen berichtet, was
für ein Schütze ich bin, aye? Also bitte. Sparen wir uns das. Wer war es,
der Sie... der...“ Der Elf seufzte tief.
„Ach, verdammt. Was soll’s?“ Der Elf ließ den Lauf der Slivergun
sinken. Er lehnte sich an die Wand neben Vollstedt und sah dort in
dem Halbdunkel fast so alt aus wie er. „Ich bin es so leid, diese ganze
Prozedur durchzugehen. Dieses ganze Spiel hängt mir so zum Hals
raus.“
Sein mürrischer, gereizter Ton ließ Vollstedt wie aus einem Zauber-
bann erwachen. Grüne Augen schweiften durch den blutverschmierten
Flur, blieben kurz auf den Stellen haften, an denen hektische Söldner
Löcher in die verzierten Zimmerwände geschossen hatten. Für einen
Moment sah der elfische Killer nur wie ein Hausbesitzer aus, der frust-
riert das Durcheinander in seinen geheiligten vier Wänden betrachtet.
„Ich vermute, meine Baird-Tarnung ist jetzt endgültig im Eimer.
Verdammt. Ich fing gerade an, Denver zu mögen. So ein großes Haus,
das ist nicht billig, müssen Sie wissen.“ Der Elf tat einen tiefen Atem-
zug, dann stieß er die Luft in einem tiefen, mitleidigen Seufzer aus.
„Hören Sie, es tut mir leid wegen Ihres Schienbeins. Aber glauben Sie
mir, man wird Ihnen mit Freuden ein neues bezahlen.“
Vollstedt stieß etwas auf Deutsch aus, wobei er aus dem Dossier des
Elfen genau wusste, dass der die Sprache gut genug beherrschte, um
die Beleidigungen zu verstehen.
„Seien Sie nicht so unhöflich. Ich tue Ihnen gerade den größten
Gefallen Ihres Lebens.“ Die Augen des Elfen verengten sich etwas, und
die Slivergun ruckte wieder hoch. „Also, hören Sie mir gut zu. Ich bin
das alles so was von leid. Deshalb bin ich gegangen, und das war auch
der einzige Grund. Ich habe jede Menge Geld auf die Seite gelegt. Ich
habe meinen Job nicht hingeschmissen, um ihre verdammten dämli-
chen Geheimnisse zu verkaufen. Ich brauche das Geld nicht, hören
Sie? Ich habe nicht vor, irgendjemandem irgendwas zu verkaufen. Sa-
gen Sie ihnen das.“
Der Elf warf die Teetasse auf den Boden, bei dem Chaos und der
Zerstörung spielte es keine Rolle mehr. Er sah angewidert aus. Frust-
riert. Wütend.
„Erzählen Sie ihnen, dass ich schon immer genug Geld hatte, um
zu verschwinden, und genügend Tarnidentitäten. Ich spiele dieses Spiel
schon eine verdammt lange Zeit, und jeder, der es spielt, kennt auch
die Regeln und schafft sich schon aus Prinzip jede Menge Hintertüren.
Ich habe mir genügend SINs besorgt, um sie ohne Zögern gegen Acht-
mann-Killerteams einzutauschen, wann immer sie mich finden. Sagen
Sie ihnen das.“ Seine Augen wurden hart wie Smaragde, und sein Ton
zwang Vollstedt, ihm in die Augen zu sehen, ihm zuzuhören, erweckte
in ihm den Wunsch, die Nachricht weiterzuleiten. „Sagen Sie ihnen,
dass ich diese Materialschlacht noch lange durchhalten kann und dass
es sie jedes Mal Geld kostet, wenn sie versuchen, mich zu töten. Ich
habe genug Schlupflöcher und Deckungen, die auf mich warten.“
Vollstedt blinzelte, bevor der Elf es tat, und schüttelte die melo-
dische Kraft der sanften Elfenstimme ab. Er räusperte sich. Er hatte
immer gewusst, dass sein Job ihn irgendwann umbringen würde.
„Was ist...“ Der Söldner hustete, dann blickte er den Elfen mit ei-
nem herausfordernden Grinsen an. „Was ist, wenn nächstes Mal mehr
als ein Achtmannteam kommt?“
Smaragdaugen verengten sich begreifend. Die Slivergun bellte und
Vollstedts anderes Schienbein zersplitterte. Er ächzte vor Schmerzen,
als seine Knie auf den Pseudohartholzboden knallten, dann blickte er
voller Wut auf, als der Elf Vollstedts Praetor nahm und das Magazin
wieder hineinschob. Der Kopf des Elfen neigte sich ein wenig zur Sei-
te, als würde er auf etwas lauschen. Und so, wie er sich umdrehte und
den Flur entlangging, schien er auch etwas gehört zu haben.
„Bilden Sie sich nur nichts ein. Das macht keinen guten Eindruck.“
Er drehte sich halb zurück und blickte Vollstedt über die Schulter an.
Der Elf entsicherte die Praetor, ließ ein Geschoss in die Kammer glei-
ten und legte sie in einer flüssigen Bewegung an. „Sie und Ihre Head-
ware haben nur dafür gesorgt, dass noch mehr von Ihren Kollegen
sterben müssen.“
Er verschwand um die Ecke und ließ Rudi Vollstedt zurück, der vor
sich hin blutete und über gepanzerte Leichen nachdachte.
„Oh. Da fällt mir ein...“, sagte der Elf, als er sich halb um die Ecke
zurück beugte, den Lauf von Rudis eigener Praetor im Anschlag. Seine
Augen hinter der Kimme der Waffe waren hart und kalt. „In Kürze
stehen mir acht weitere Leute zur Verfügung, aus denen ich mir einen
besseren Kurier aussuchen kann.“
Die Praetor feuerte. Vollstedt gesellte sich zu seinem Team.
*
Rory Caolain – Agent Thorn – würde seine Michael-Baird-Tarniden-
tität vermissen. Er musste anderthalb Wochen über den ganzen Kon-
tinent reisen, um darüber hinwegzukommen, dass es Baird nicht mehr
gab, aber das hieß noch lange nicht, dass es ihm gefiel. Als er seine
Maschine durch den Verkehr in Washington, D.C., lenkte, hielt er in
seinem Kopf eine Beerdigung ab. Jedes Mal, wenn eine Tarnidentität
endgültig aufgeflogen war, wenn es Zeit war, für immer Goodbye zu
sagen, hielt Thorn eine angemessene Abschiedsfeier ab, erinnerte sich
an die Arbeit, die er unter dieser Identität erledigt hatte, brach alle
Verbindungen zu ihr ab und machte sich klar, dass sie für immer und
ewig weg und verloren war. Er hatte beim ersten Mal achtzehn Monate
als Baird gelebt, hatte die Identität abgelegt, als er andere Aufgaben zu
erfüllen hatte, dann hatte er sie wieder angenommen und jetzt fast vier
Jahre als Baird verbracht.
Es waren aufregende Zeiten gewesen, die Baird-Jobs. Er hatte
Waffen und Sprengstoff durch die Schmuggelkanäle Denvers nach
Portland geschleust, dann hatte er den Anti-Tír-Aufständischen Tipps
gegeben, wie sie sie am besten einsetzen konnten. „Militärberater“ war
eine sehr harmlose Bezeichnung für eine sehr blutige Arbeit. Argus
hatte ihn da hingeschickt, da die Organisation über seine INLA-Zeit
Bescheid wusste, über seine Konflikte mit dem anderen Tír auf der an-
deren Seite des Atlantiks, und weil sie wusste, dass er ein Experte darin
war, unter einem repressiven magischen Regime zu überleben. Und er
konnte den Aufständischen dabei behilflich sein, hin und wieder einen
guten Schwinger zu landen und sogar den Tír Ghosts gelegentlich ein
blaues Auge zu verpassen. Die Arbeit war hart und gefährlich, aber
selten langweilig.
 Als er also nach all den Jahren Argus offiziell verließ und sich dafür
entschied, sich in Denver niederzulassen, schien es eine vernünftige
Entscheidung zu sein, seine Baird-Identität hervorzuholen und abzu-
stauben. Die SIN passte zu einer Anschrift in Denver, es gab keine Ver-
bindungen zu kriminellen Aktivitäten in den UCAS, dafür genügend
angenehme Erinnerungen und zahlreiche lokale Kontakte. Doch das,
was ihm achtzehn Monate lang in den UCAS und im Tír Deckung
verschafft hatte und dann sechsundvierzig weitere Monate, die er mit
reichlich wilder Arbeit für Rinelle ke’Tesrae verbracht hatte, war von
diesen schwerfälligen Idioten bei MET2000 traurigerweise in weniger
als einem Monat aufgestöbert und vernichtet worden. Zur Hölle mit
ihren Datenbanken. Zur Hölle mit ihm, dass er vergessen hatte, in wie
vielen Argusdateien seine Erfolge als Baird verzeichnet waren.
Und zur Hölle mit dieser roten Ampel.
Sein Triumph-Motorrad blitzte ihm eine Ampelwarnung zu, sein
AR-Visier füllte sich mit Hinweisen auf eine drohende Kollision.
Er verzog das Gesicht, als er mit Hand- und Fußbremse gleichzeitig
bremste und gerade noch rechtzeitig zum Stehen kam. Mit einem Au-
genblinzeln jagte er die Warn-Popups aus seinem Blickfeld, sein Smar-
tHelm registrierte seine Befehle und führte sie aus, und gleich hatte er
wieder einen freieren Blick auf die Straße vor ihm, überblendet nur von
der GPS-Karte. Er zwang sich zur Konzentration – diese wunderbare
Maschine hatte viel zu lange unter der Staubschutzhülle gestanden,
und Thorn war ein bisschen eingerostet –, indem er sich sagte, dass ein
Zusammenprall mit der Limousine irgendeines korrupten Politikers
ein ziemlich jämmerlicher Tod wäre.
Er beugte sich über den Lenker und versuchte, nur an die Straße
und das Motorrad zu denken und alle Gedanken an Baird, die Tírs,
Argus, MET2000 und den ganzen anderen Mist aus seinem Kopf zu
verbannen. Schließlich hatte er eine Verabredung zum Mittagessen,
und eine Dame ließ man nicht warten. Der Verkehr hier in Kansai
Village war nicht der schlimmste der Stadt, aber Thorn war auch nicht
der Einzige, der auf dem Weg zum Lunch an der Waterfront war. Und
noch wichtiger war, dass er den Kopf für die Unterhaltung mit ihr
freibekam.
Sie war atemberaubend. Das musste Thorn zugeben, als er parkte
und sein Bein über die Triumph schwang. Er hatte natürlich schon
vorher gewusst, wie sie aussah. Er hatte vor dem Treffen seine Hausauf-
gaben erledigt und kannte genug Tricks, mit denen man sein Äußeres
effektiv verändern konnte. Trotzdem war die Ähnlichkeit verblüffend.
Daviar-Imitationen gab es wie Sand am Meer, auch wenn diese Mode
schon vor etwa einem Jahrzehnt ihren Höhepunkt überschritten hatte,
aber sie war wirklich bemerkenswert. Irgendetwas an ihr oder an dem
Straßencafé, das sie ausgesucht hatte, erinnerte ihn an Paris.
Es liegt an ihr, dachte er, als er sich durch die Tische schlängel-
te. Die Tische und Stühle sahen aus wie in einem Pariser Straßencafé,
aber die Hintergrundgeräusche passten nicht. D.C. arbeitete zu hart,
vor allem in diesem von Shiawase kontrollierten Stadtteil. Paris hatte
andere Prioritäten.
„Miss Corinna, nehme ich an?“ Thorn lächelte sie an, als er sich auf
den Stuhl ihr gegenüber setzte und seinen Helm auf den Boden legte.
Sein melodischer irischer Akzent war verschwunden, jetzt sprach er ein
fast reines Schulenglisch. „Verzeihen Sie meine Verspätung. Ich habe
den Verkehr unterschätzt.“
„Keineswegs. Sie sind genau pünktlich, Mister...“
Ihre Stimme hatte einen leicht fragenden Ton, als sie abbrach, wo-
mit sie ihm höflich zu verstehen gab, dass sie nicht wusste, unter wel-
cher Identität er momentan tätig war.
„Carter, Ma’am.“ Er lächelte, heute war er ganz blondes Haar und
blaue Augen, der Prototyp des hellhäutigen Briten, seit er diese SIN
gewählt hatte. Eine Drahtbrille ruhte locker auf seinem Nasenrücken
und gab seinem jungenhaften Aussehen einen leicht akademischen
Touch. Ein leuchtender Union Jack auf seinem T-Shirt lugte aus der
offenen Ace-of-Clubs-Jacke hervor. „Aber bitte nennen Sie mich Mi-
chael.“
„Michael also.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln, als sie über den Tisch
langte, um seine Hand zu schütteln. Sie war dunkler als er, irgendwie
erdiger. Er wusste, dass sie nur eine Imitation war, dass sie nicht wirk-
lich die Estin war, die als Sprecherin eines Drachen gearbeitet hatte,
aber nach allem, was er über das Original gesehen und gelesen hat-
te, war diese Kopie makellos. Der Akzent fehlte, aber das war ja auch
nicht anders zu erwarten von jemandem, der so lange in D.C. gelebt
hatte wie sie.
Sie plauderten über Belangloses, bis die Kellnerin kam, und Corin-
na, die erfahrene Cafébesucherin, bestellte mit Thorns Einverständnis
für sie beide. Als die Drinks kamen und sie wussten, dass sie jetzt etwas
Zeit hatten, bevor die Kellnerin zurückkommen würde, war das Vor-
spiel beendet, und das Gespräch wandte sich dem Geschäftlichen zu.
„Ist alles, was ich arrangiert habe, bereit?“ Er nippte an seinem Eis-
wasser, eine Augenbraue hochgezogen.
„Bereit, an dieser Adresse abgeholt zu werden.“ Sie lächelte erneut
und beugte sich leicht vor, als sie etwas über den Tisch schob.
Sie kannte die alten Tricks, bemerkte Thorn; das Lächeln und die
Art und Weise, wie durch ihre Bewegung das Oberteil des Zoé-Kos-
tüms gerade genug aufklaffte, um einen kurzen Blick auf ihr Dekolleté
zu gestatten. Das waren Tricks, mit denen sie verbarg, dass sie eine
Notiz über den Tisch schob, Tricks, mit denen eine atemberaubende
elfische Agentin wie Corinna das Auge von dem Stück Papier ablen-
ken konnte. Wenn man bedachte, wo und als was sie arbeitete, ergab
es natürlich Sinn, dass sie die Regeln dieses Spiels beherrschte. Das
Stück echtes Papier allerdings war eine erfrischende Abweichung von
der Norm. Er dachte an sein Motorrad und unterdrückte ein Lächeln.
Er erinnerte sich daran, dass „Retro“ in Mode war – und außerdem
konnte niemand ein Blatt Papier hacken.
„Und das neue Kommlink wird da sein?“
„Mit dem Rest der Informationen, die Sie angefordert haben, ja.“
Sie lächelte wieder, lieb und nett, sagte damit dem Publikum – die bei-
den zogen einige neugierige Blicke auf sich –, dass sie nur zwei Freunde
waren, die zusammen zu Mittag aßen. Das war der Trick für geschäft-
liche Abwicklungen in der Öffentlichkeit, das wussten sie beide. Ganz
normal reden. Flüstern erregte Aufmerksamkeit. Wenn man sich bei-
läufig unterhielt, ignorierten die Leute einen.
„Unser japanischer Geschäftspartner steht auf der Liste der Kontak-
te in ihrem neuen Hermes Ikon.“
Sie hatten beide bekommen, was sie wollten, also setzten sie das
Essen fort. Sie waren nur Freunde, die sich zum Mittagessen trafen,
Elfen, die überteuerte Ciabatta-Sandwiches in einem angesagten Bio-
Café aßen. Keiner von ihnen benutzte Wörter wie Mord oder Ziel-
person oder Einsatz, nicht einmal Gefälligkeit. Sie redeten nicht über
Munition, Feuerwaffen, Bomben oder Sprengstoff. Er hatte das Geld
bereits überwiesen; die Einzelheiten hatten sie durch Mittelsleute ge-
klärt – eine letzte Gefälligkeit von Bairds alten Connections, als Thorn
nach Osten reiste –, lange bevor er in D.C. angekommen war. Dieses
persönliche Treffen war nur eine Höflichkeit; ein Profi machte Urlaub
auf dem Territorium eines anderen, und so suchten beide eine Gele-
genheit, sich höflich gegenseitig zu taxieren.
Thorn aß den Rest seines Sandwichs, sie plauderten noch ein biss-
chen darüber, was die Medien über die jüngsten mystischen Wirren
berichteten, dann gaben sie sich die Hand und trennten sich. Als er auf
seine Triumph stieg und sie zu ihrem schnittigen BMW hinüberging,
wusste Thorn, dass sie sich nicht wieder treffen würden, bis es nicht
mindestens einen Toten gegeben hatte.
 CERBERUS
PERSÖNLICHE DATEN: CERBERUS
Die üblichen persönlichen Daten ergeben
für Cerberus keinen Sinn.
Vor etwas mehr als einer Woche erschien eine Datei auf meinem
Kommlink. Erschien einfach so, war ohne das kleinste Zucken an mei-
nem Spamfilter vorbeigeschlüpft (und an meiner Firewall). Nachdem
ich mit der ersten Paranoia durch war – ihr wisst schon, dreimal das
Kommlink rigoros durchkämmen, um zu sehen, was sie mitgenom-
men haben, was sie verändert haben –, war ich eigentlich nur noch
neugierig. Also habe ich das Ding gelesen. Und ich habe ein bisschen
nachgeforscht. Und was ich herausgefunden habe, ist, offen gesagt,
schockierend.
Und ja, dieser Artikel hier ist von mir.
Die Datei war ein ziemliches Durcheinander aus freigegebenen und
redigierten internen Mitteilungen, die von der heutigen Zeit bis in die
50er zurückreichen und sich um etwas drehen, was sich Projekt Cerbe-
ANDERE
rus nennt. Die Anmerkungen, die eingefügt wurden, besagen, dass die
Datei von einem Hacker namens Neurosis zusammengestellt wurde.
Als mir klar wurde, was ich da vor mir hatte, lief es mir kalt den Rü-
cken runter. Wenn es euch noch nicht klar ist, keine Sorge, ich werde
es euch gleich erklären. Projekt Cerberus wurde von einem Seattler
Forschungskonzern namens Emerging Futures initiiert. Der Konzern
war damals in den 50ern von Ares mit Forschungen beauftragt wor-
den, bei denen Tiere mit der Matrix verbunden werden sollten.
> Zu welchem Zweck?
> Snopes
> Damals dachte man noch – und ihr müsst bedenken, das war in
den Zeiten, als SmartFrames und SKs noch aufregende Neuentwick-
lungen waren –, dass man buchstäblich so etwas wie Matrix-Wach-
hunde erschaffen könnte. Man wollte die Rechenkapazität eines
organischen Gehirns für die Matrixsicherheit nutzbar machen.
Billigere, effektivere Agenten waren das Ziel. Wie die Geschichte
lehrt, hat es nicht wirklich funktioniert.
> Bull
> SmartFrames? SKs? Egal. Ich will es gar nicht wissen.
> /dev/grrl
Emerging Futures wurde von Ares aufgekauft, und 2057 wurde es
von Transys Neuronet übernommen. Dann, nach dem zweiten Crash,
wurde es zusammen mit Transys bei der Fusion zu einem Teil von
NeoNET. Wie ich aus den Daten erfahren habe, die mir zugespielt
wurden, war der größte Budgetposten von Emerging Futures immer
das Projekt Cerberus, ein Codename, der sich auf keinen Geringeren
als Eliohann bezieht, der von den 2050ern bis zum Crash 2.0 sowohl
der CEO von Emerging Futures als auch die einzige Testperson von
Projekt Cerberus war.
Eliohann ist der einzige Drache, von dem man weiß, dass ihm eine
funktionierende Datenbuchse installiert wurde. 2047 war er nur ein
130 Cerberus
GEPOSTET VON: PLAN 9
ganz gewöhnlicher westlicher Feld-Wald-und-Wiesen-Drache, der sei-
ne Zeit hauptsächlich damit verbrachte, in den Sinsearach-Stammes-
ländern unweit von Tír Tairngire umherzuwandern. Er war noch ein
Kind – was auch immer das für Drachenverhältnisse bedeutet –, als er
(von Shadowrunnern) entführt und in den Laboratorien von Emer-
ging Futures als Versuchskaninchen benutzt wurde. Die Datenbuchse
der ersten Generation, die sie ihm verpassten, blieb nicht ohne Kom-
plikationen, was nur eine nette Umschreibung dafür ist, dass die her-
vorgerufene kognitive Dissonanz ihn in den Wahnsinn trieb.
> Er tut mir tatsächlich leid. Stellt euch vor, man würde euch
entführen und als Versuchskaninchen missbrauchen.
> Sunshine
> Oooch, das arme süße schnuckelige kleine Drachenbaby. Ich
glaub, mir wird schlecht.
> Jimmy No
Vor, während und nach Ausbruch seines Wahnsinns konnte Elio-
hann über die Matrix-Liveverbindung, die Emerging Futures ihm im-
plantiert hatte (manche sagen: aufgezwungen hatte), so einiges über
die Welt und wie sie funktioniert, lernen. Offenbar genug, um – über
die Matrix und durch astrale Projektion – durch Mittelsleute eine Ak-
tienmehrheit an Emerging Futures zusammenkaufen zu lassen. Elio-
hann war, sozusagen, ein gemachter Drache.
> Also kaufte er den Konzern auf, dessen Versuchskaninchen er
war – während er das Versuchskaninchen war? Na, wenn das nicht
beeindruckend ist.
> Kat o’Nine Tales
Ares, das seine Augen auf Emerging Futures geworfen und den
Konzern praktisch schon an der Angel hatte, war nicht erfreut. Sie
schickten ein professionelles Killerteam los, um Projekt Cerberus zu
eliminieren – das sie ohnehin nie autorisiert hatten –, doch Eliohann
kam mit dem Leben davon. Gerade eben. Die Einzelheiten, soweit
ich sie in Erfahrung bringen konnte, sind etwas unübersichtlich, doch
durch die Vermittlung einiger Runner, die nicht mehr unter uns wei-
len, gelangten Ares und Eliohann zu einer Übereinkunft. Ares kaufte
den Konzern und verschaffte Eliohann als Chefwissenschaftler einen
Sitz im Vorstand. Die ehrgeizigen Manager, die für Projekt Cerberus
verantwortlich waren, kamen nicht so gut davon.
Das war der Status quo bis 2057. Eliohann stürzte sich mit Begeiste-
rung auf die Matrixforschung, wobei er selbst als wichtigste Testperson
diente. Tatsächlich verbrachte er so viel Zeit in der Matrix, dass es sicher
nicht übertrieben ist, ihn als Junkie zu bezeichnen. Die Auswirkun-
gen, die das auf ihn hatte, waren sehr ernst und wurden überraschend
gründlich dokumentiert. Tatsächlich waren es diese Nebenwirkungen,
die verhinderten, dass Eliohann/Emerging Futures ihre Erbschaft aus
Dunkelzahns Testament in Anspruch nehmen konnten. Wahrschein-
lich vertrieb er sich immer noch die Zeit damit, die letzten Macken in
seiner Matrixverbindung zu beseitigen, als sich der Crash 2.0 ereignete.
Jedenfalls hatte Eliohann 2057 bereits deutliche Anzeichen einer ernst-
haften dissoziativen Persönlichkeitsstörung entwickelt.
 Ares hielt Eliohann sorgfältig bedeckt. Erst 2057 erfuhr der Große Drache Celedyr zum ersten Mal von
Eliohann und Emerging Futures. Eliohann war zu dieser Zeit ein sehr gut bezahlter Ares-Angestellter, und so
bekamen viele Runner Arbeit, als Transys Neuronet Eliohanns Überlaufen in die Wege zu leiten versuchte.
Anscheinend war mein mysteriöser Wohltäter, Neurosis, einer von ihnen und wurde bei der tatsächlichen
Extraktion beinahe von Ares-IC geröstet. Auf jeden Fall wechselte Eliohann zum letzten Mal in seinem Leben
die Seiten.
Von 2057 bis zum Crash 2.0 war Eliohann ein von seiner Arbeit besessener Drache.
Eine dank Transys Neuronet upgedatete Datenbuchse machte den meisten
seiner Matrixneurosen den Garaus. Als Schützling des Großen
Drachen Celedyr hatte Eliohann ein fast unbegrenztes Bud-
get und die nötige Handlungsfreiheit, sich um sein
Lieblingsprojekt zu kümmern – eine Datenbuchse
zu entwickeln, die sicher genug und kompati-
bel mit der einzigartigen Physiologie von
Drachen und anderen Erwachten
Wesen sein sollte, aber auch mit
der besonders intelligenter welt-
licher Tiere wie Delfinen oder
Elefanten. Celedyr ließ ihn auch
an dem Problem der Kommunika-
tion zwischen Delfinen und Elefanten
und der Metamenschheit arbeiten, das einen
separaten Punkt in Dunkelzahns Testament
ausmacht.

> Soweit ich weiß, sind beide Probleme

noch nicht gelöst. Die Entwicklung der
drahtlosen Matrix und die Ära der Naniten-

ANDERE
creme-Troden haben auch nicht dazu beigetragen,
die fundamentale Inkompatibilität zwischen neuralen Interfaces,
die für Menschen konstruiert sind, und einer nicht-menschlichen Neuro-
physiologie zu überwinden.
> Nephrine

> Was bedeutet, dass die vierzig Millionen Nuyen, die Z-O-Konten und die
Insel in den Caymans noch zur Disposition stehen.
> Mr. Bonds

> Und nicht zu vergessen der persönliche Besuch von Lofwyr.

> Elijah
Neben seiner Arbeit für Transys Neuronet streckte Eliohann in
echter Drachenmanier seine Klauen noch nach anderen Kuchen
aus. Er investierte in einige Matrixclubs, die ihm gefielen, und
kaufte einen Anteil am Management der Silicon Surfers. Auch
wenn die Jahre zwischen 2057 und 2064 gute Jahre für Eliohann
waren, nahm seine Geschichte kein Happy End.
So wie jeder, der etwas auf sich hielt, war auch Eliohann bei
Novatechs Börsengang an der Ostküstenbörse vor Ort, als die Mat-
rix, wie wir sie kannten, ihr Ende fand. Wahrscheinlich hatte er auch
finanzielle Interessen an Novatech, aber auf jeden Fall war er da, um zu
sehen und gesehen zu werden, um an etwas teilzunehmen, das man als
wichtiges historisches Ereignis betrachtete (und das historischer wurde, als
alle vermutet hatten).
Wie so viele am Morgen dieses 2. November erlitt auch Eliohann einen
Kollaps, sein Bewusstsein wurde vom Jormungand-Virus zerschmettert und hin-
terließ nur eine leere, leblose Hülle. Doch anders als bei den meisten zog man bei
Eliohann nicht den Stecker. Er wurde nie begraben oder verbrannt. Stattdessen blieb sein Körper
auf unbegrenzte Zeit an die Lebenserhaltungssysteme angeschlossen, es gab Befehle von Celedyr
persönlich, ihn unter keinen Umständen von der Matrix zu trennen. Die Datei, die ich erhalten
hatte, enthält Kopien dieser Befehle. Ich habe auch finanzielle Daten darüber, dass das Budget für
Projekt Cerberus unmittelbar nach dem Crash 2.0 in ungeahnte Höhen schoss und sich dann wieder auf
die Beträge aus der Zeit normalisierte, als Eliohann noch am Leben war. Doch es wird noch besser.

Cerberus 131
 Mir liegen Aufzeichnungen vor, dass im Laufe der letzten knapp
zehn Jahre der „tote“ Drache weiterhin an den Aktionärsversammlun-
gen von Emerging Futures und Transys Neuronet teilnahm und das
Stimmrecht ausübte, das ihm seine Anteile verleihen. Aber es geht noch
weiter. Wenn ihr das hier lest, dann denkt doch mal über die Jobs
nach, die ihr in den letzten zehn Jahren erledigt habt. Habt ihr jemals
für jemanden gearbeitet, den ihr nur in der Matrix getroffen habt und
der sich Cerberus nannte?
> Machst du Witze? Allein letzte Woche habe ich ein halbes Dut-
zend Leute getroffen, die sich Cerberus nennen. Das ist ein ziem-
lich beliebter Name, schon gemerkt? Genauso wie Hades, Loki, Baal
und der ganze andere mythologische Quatsch. Nach jeder Figur aus
irgendeinem Märchen einer untergegangenen Kultur benennen sich
jeden Tag mindestens zehn Leute.
> Slamm-0!
> Wer im Glashaus sitzt...
> Netcat
Dieser Cerberus tritt meistens als silberne dreiköpfige Dogge mit
glühenden grünen Augen auf. Er ist allerdings auch schon als langwei-
liger, buchstäblich gesichtsloser, grau gekleideter Schlipsträger erschie-
nen, ein katastrophal langweiliges Icon, das normalerweise perfekt wie-
dergegeben wird und manchmal einen Anstecker in Form einer drei-
köpfigen Dogge trägt. Meine Nachforschungen haben ergeben, dass
verschiedene Runnerteams – die hier ungenannt bleiben sollen – von
dieser Entität kontaktiert und für diverse Aufträge rekrutiert wurden.
ANDERE
Die Beinarbeit, die sie im Zuge der Aufträge erledigten, deutet darauf
hin, dass die Runs im Allgemeinen den Interessen des Großen Dra-
chen Celedyr dienten.
> Das kann ich bestätigen. Ich habe vor ein paar Jahren so einen
Job angenommen. Mr. Johnson – dein Cerberus, wie ich annehme,
auch wenn er sich „N“ nannte – wollte eine Datei aus einem ge-
sicherten Konzernlabor. Wo und von wem, tut nichts zur Sache.
Die Datei, die wir bargen, stellte sich als KI heraus. Eine echte
Labertasche. Das verdammte Vieh hielt während unserer gesamten
Flucht keinen Augenblick die Klappe. Es schien sich zu freuen, den
Johnson zu sehen, und man versicherte uns, das Ganze sei nur ein
großer Spaß.
> Rigger X
> Und ich habe so einen Job einmal abgelehnt. Der Johnson – auf
dessen Icon die Beschreibung haargenau passte – wollte, dass wir
ein Black-Box-System aus einer der versiegelten oberen Ebenen
des SCIRE beschafften. Bei dem Job habe ich lieber gepasst. Ich
will nicht herausfinden, was Deus uns hinterlassen hat, nicht für
dieses Geld. Ich habe nie herausgefunden, was in dieser Black Box
sein sollte.
> Ma’fan
Wie selbst dem geistig Unbeweglichsten unter euch inzwischen
klargeworden sein dürfte, läuft diese kleine Geschichtslektion darauf
hinaus, dass Eliohann in Wirklichkeit nicht gestorben ist. Jedenfalls
nicht in der Matrix. Er führt sein Leben in der Matrix weiter, als Geist
in der Maschine, als rein virtuelle Gestalt. In dieser Form scheint er
immer noch die gleichen Interessen zu verfolgen wie während seines
physischen Lebens. Er nimmt seine Konzernaufgaben bei Emerging
Futures wahr, arbeitet als Johnson und Mittelsmann für Celedyr, be-
treibt Forschungen zu nicht-metamenschlichen Matrix-Interfaces und
Kommunikationsmöglichkeiten und untersucht sogar die Phänome-
ne, die zum Weiterbestand seines Bewusstseins geführt haben. Natür-
132 Cerberus
lich wäre es nicht korrekt zu sagen, dass Eliohann Cerberus ist und
dass Cerberus Eliohann ist. Tatsächlich scheint Eliohann/Cerberus den
Berichten zufolge, die ich gehört habe, seine drachische Natur gänzlich
abgelegt zu haben und sein Dasein als reine Matrixkreatur vollkom-
men akzeptiert zu haben.
> Okay. Ich habe mir das lange genug angehört, ohne mich einzu-
mischen. Du weißt schon, dass das, was du hier postest, absolut
unmöglich ist, oder? Selbst wenn wir großzügig annehmen wür-
den, dass die Gerüchte über Geister in der Maschine wahr sind,
könnte ein Drache nie einer davon werden. Drachen sind durch
und durch magische Kreaturen, und ihre Existenz, ihre Seele, kann
nicht auf die Matrix übertragen werden. Es wäre genauso, als wür-
de man behaupten, ein Freier Geist wäre ein Geist in der Maschine.
Lächerlich. Drachen funktionieren einfach nicht so.
> Winterhawk
> Man hat auch gesagt, es sei unmöglich, einen Drachen mit einer
Datenbuchse auszustatten.
> Clockwork
> Netter Versuch, aber eine Datenbuchse und ein Geist in der
Maschine sind doch etwas andere Kaliber.
> Snopes
> Wenn wir mal von dem Standard von vor zehn oder zwanzig
Jahren ausgehen, wie viele „unmögliche“ Dinge haben wir alle
dann heute schon vor dem Frühstück gemacht? Hier in der Sechs-
ten Welt ist die Frage, ob etwas möglich oder unmöglich ist,
nicht auf ewige Zeiten in Stein gemeißelt. Alles ändert sich stän-
dig, entwickelt sich ständig. Gerade dieses starre, dogmatische
„Das ist unmöglich!“ ist es doch, was die Großen Drachen, die
Tír-Bosse und die ganzen anderen Großkotze am Nur-für-Elfen-
Tisch in ihrem Elfenbeinturm so süffisant über den Rest von uns
lachen lässt.
> Frosty
> Ah, das ist es also. Gut zu wissen.
> Bull
> Die Gedanken, die du da äußerst, kommen mir irgendwie be-
kannt vor, Frosty. Hast du Ehran den Schreiber gelesen?
> Icarus
> Ihr ignoriert die Möglichkeit, dass es nicht unbedingt so sein
muss, dass der E-Geist Cerberus tatsächlich in irgendeinem vagen
metaphysischen Sinne mit Eliohann identisch ist. Viel wichtiger
ist doch, dass Cerberus ziemlich sicher zu glauben scheint, dass er
Eliohann ist, oder zumindest eine Kopie von ihm, und dass er von
Celedyr alle entsprechenden Privilegien zugewiesen bekommen hat
und sich entsprechend verhält.
> Plan 9
Zum Schluss enthält die Datei, die ich erhalten habe, noch einige
interessante Hinweise darauf, was Celedyr vielleicht in der Zukunft
vorhaben mag. Es gibt Anhaltspunkte, dass Cerberus KIs und andere
Matrixkuriositäten um sich sammelt. Außerdem habe ich ein internes
Memorandum vorliegen, aus dem hervorgeht, dass Cerberus zusam-
men mit einem Dr. Gordon Browne der Leiter eines Forschungspro-
jektes ist, das als Projekt Imago bezeichnet wird. Die Ziele und genau-
eren Umstände des Projektes sind zu gut gesichert, als dass ich etwas
Konkretes darüber herausbekommen konnte, aber es scheint etwas mit
dem Upload von Bewusstseinsinhalten zu tun zu haben.
 Aber Cerberus scheint sich durch die Bank um die Schattenakti-
vitäten von Transys Neuronet, Celedyr und NeoNET zu kümmern
und dabei an den merkwürdigsten Orten aufzutauchen. Jüngste Ge-
rüchte berichten davon, dass ein Icon, das seiner Beschreibung ent-
spricht, Einsatzkräfte der Ritter des Zorns und von freiberuflicher
Seite für einen Einsatz gegen Horizons Singularity-Niederlassung
koordiniert. Wie ihr euch vorstellen könnt, macht es sein Status als
E-Geist für ihn schwierig, sich die Hände schmutzig zu machen,
aber ich habe mindestens von einem Runner gehört, der ihn „im
Feld“ gesehen hat. Anscheinend lenkte er – wobei man hier wohl
besser von „Besessenheit“ reden sollte – eine MCT-Akiyama-Droh-
ne. Wenn ihr schon mal eine gesehen habt, dann könnt ihr euch
vorstellen, wie gruselig das ist. Wer auch immer dieser Neurosis ist,
ich möchte nicht in seiner Haut stecken, aber er schien in seinen
Anmerkungen ziemlich großen Wert darauf zu legen, dass ich ihn
als Quelle nenne, wenn ich die Informationen veröffentliche, also
tue ich ihm den Gefallen.
> Ich glaube, du musst dir keine Sorgen um Neurosis machen,
Omae. Neurosis – der echte Neurosis – wurde bei Eliohanns Extrak-
tion nicht „beinahe getötet“. Er wurde getötet. Ich weiß es von
dem Freund eines Freundes.
> Pistons
> Aber das würde heißen...
> Slamm-0!
> Dass Cerberus auch den Namen Neurosis benutzt, genau. Schon
seit er wirklich lebte.
> The Smiling Bandit
> Wenn Neurosis Cerberus ist, dann heißt das, dass Cerberus selbst
wollte, dass wir diese Informationen bekommen. Dass er wollte,
dass ich dies alles der Welt mitteile. Ich kann nicht sagen, dass
mich das völlig überrascht, nach allem, was ich über ihn in Erfah-
CERBERUS
K G R S C I L W EDG ESS INI ID
– – – – 7 8 7 9 5 – 14 3 2 mechanische Arme, Rumpfstabilisator 3, Prozessor 6, Sig-
Zustandsmonitor (K/G): 14
Fertigkeiten: Computer 7, Datensuche 7, Einfluss-Fertigkeits-
gruppe 5, Elektronische Kriegsführung 7, Geschütze 5, Ha-
cking 7, Infiltration 5, Läufer (Zweibeiner) 5 (+2), Matrix-
kampf 7, Software 7, Wahrnehmung 5
Wissensfertigkeiten: Ares-Personal 3, Futuristische Theorien 5,
Geschichte des 21. Jahrhunderts 4, Große Drachen 6, Kon-
zernpolitik 4, Matrix-Hardware 5, NeoNET-Personal 4, Psy-
chologie 3, Singularity-Forschung 4, Wuxia-Action-Trideos
3, Deutsch 4, Englisch M, Japanisch 5, Sperethiel 6
Gaben: Codefluss, Drohnenpilot, Redundanz, Rootkit
Handicaps: Fragmentierung (Persönlichkeitsspaltung), Kor-
rumpiert
rung gebracht habe. Dieser Artikel hier ist seine Coming-Out-Party,
genau wie er es wollte (die Geister wissen, warum). Das bedeutet
aber auch, dass alle Informationen, die ich euch gegeben habe,
von ihm überprüft wurden.
> Plan 9
> Natürlich will ich, dass ihr alle von meiner Wiederauferstehung
erfahrt. Die Griechen und Römer hatten den Phönix, die Ägypter
hatten ihren Osiris, die Christen hatten ihren Lazarus und die Ma-
trix hat mich.
> Neurosis
> Äh, ’Jack? Warum ist er hier?
> Glitch
> Weil er höflich gefragt hat, weil er einige interessante Erkennt-
nisse über die wilderen Seiten der Matrix mitzuteilen hat, und
vor allem, weil er wirklich das zu sein scheint, was er zu sein
behauptet, und das hat meine Neugier geweckt. Wenn ihr ein
Problem mit ihm habt, dann benutzt seinen Rep-Button; wie bei
jedem Mitglied, egal ob KI, Technomancer oder sonst was. Fürs Er-
ste beschränke ich Neurosis’ Zugriffsrechte auf diesen Thread hier,
zumindest bis wir wissen, wie sich die Sache entwickelt.
> FastJack
> Lazarus? Denkst du wirklich so von dir, Neurosis?
> Fianchetto
>
ANDERE
Im Gegenteil. Ich bin nichts Besonderes. Ich bin aus geschäft-
lichen Gründen hier, genau wie ihr alle. Meine Wiedergeburt – mein
gegenwärtiger Status – ändert nur wenig. Ich behaupte nicht, der
erste meiner Art zu sein, und ich bin sicher, dass ich nicht der
letzte sein werde. In der Welt der Mikroprozessoren werden wir alle
wiedergeboren werden.
> Neurosis
Ausrüstung: Mitsuhama Akiyama [Handl. +3, Beschl. 5/15,
Geschw. 40, Rumpf 4, Panzerung 10, Sensor 6; Chamäleon-
farbe, Cyborgadaption, ECM 6, Geckofüße, Läufer-Modus,
nal 6, Firewall 6, System 6], Transys Cú Roí Nexus (Heimat-
knoten) [Prozessor 6, Signal 6, Firewall 6, System 7; Stufe-6-
IC-Agent (Analyse 6, Aufspüren 6, Ausnutzen 6, Panzerung
6, Schleicher 6, Schwarzer Hammer 6)]
Programme: Analyse 7, Angriff 7, Aufspüren 7, Ausnutzen 7,
Befehl 7, Editieren 7, Panzerung 7, Realitätsfilter 7, Scannen
7, Schleicher 7, Schmöker 7, Schwarzer Hammer 7, Täu-
schung 7
Anmerkungen: Cerberus’ Werte hängen von dem Knoten ab,
mit dem er verbunden ist. Die angegebenen Werte gelten für
seinen Heimatknoten. Cerberus’ Initiative entspricht seiner
Intuition + Prozessor, sein Matrix-Zustandsmonitor ist 10
plus die Hälfte seiner Systemstufe.
133
 HESTABY
PERSÖNLICHE DATEN: HESTABY
Alter: In ihrer metamenschlichen Gestalt er-
scheint Hestaby als menschliche Frau von Ende
30 oder Anfang 40 mit markanten Gesichtszü-
gen. Es gibt keine definitiven Informationen
darüber, wie alt Hestaby wirklich ist, aber sehr
wahrscheinlich ist sie über 3.000 Jahre alt.
PERSÖNLICHE DATEN:
METAMENSCHLICHE GESTALT
Größe: 1,78 m Gewicht: etwa 60 kg
Haarfarbe: Kastanienbraun
ANDERE
Augenfarbe: Braun Geschlecht: Weiblich
Rasse: Mensch Metatyp: Großer West-
licher Drache
Erwacht: Ja
Manchmal scheint es so, als würde der Großen Drachin Hestaby ein-
fach nicht der Durchbruch gelingen. Seit ihrem ersten öffentlichen
Erscheinen 2053, als sie den Vorstoß der Truppen Tír Tairngires zum
Mount Shasta gewaltsam beendete, kämpft sie mit dem Problem, dass
sie von den Ereignissen in Nordamerika in den Schatten gestellt wird.
Als sie den Mount-Shasta-Damm und die umliegenden Regionen zu
ihrer Domäne erklärte, arbeitete der andere Große Drache in Nord-
amerika, Dunkelzahn, gerade eifrig daran, die Massen in den UCAS
auf seine Seite zu ziehen und sich einen Ruf als „Drache des Vol-
kes“ aufzubauen. Die Nachrichten über die offizielle Anerkennung
von Dunkelzahns Staatsbürgerschaft, seine anschließende Präsident-
schaftskandidatur, sein Tod und die Eröffnung seines Testaments hiel-
ten das Interesse von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt
gefangen, genau wie später die Gründung der Draco Foundation
(DF) und des Dunkelzahn Institute for Magical Research (DIMR).
Diese beiden Institutionen sorgten dafür, dass das Vermächtnis einer
wahrhaft einzigartigen und populären politischen Ikone noch für Ge-
nerationen weiterleben wird. Und viele Medienleute waren nur zu
gerne bereit, dieses Bild in romantischen Farben zu malen und wieder
einmal die Aufmerksamkeit von Hestaby und ihren Plänen an der
Westküste abzulenken.
Als der Medienrummel um Dunkelzahn und die mysteriösen Um-
stände seines Todes allmählich nachließen, kehrte Ghostwalker auf die
Erde zurück und hielt seinen spektakulären Einzug nach Denver. Als
Hestaby begann, eigene Schlagzeilen zu machen, als sie 2062 zu ei-
nem der Tír-Prinzen wurde, gab es nicht wenige Nachrichtensender,
134 Hestaby
GEPOSTET VON: FROSTY
die sich stattdessen lieber auf Lofwyr und Aithne Oakforest und deren
mysteriöse Abdankung aus dem Rat der Prinzen konzentrierten. Trotz
dieser vielen Rückschläge machte Hestaby einigen Boden gut, als sie
internationale Anerkennung dafür erlangte, dass sie die Gräueltaten
anprangerte, die General Saito in seinem Kalifornischen Protektorat
gegen Metamenschen beging, und dass sie dem jugendlichen Kaiser
Yasuhito und seinen revolutionären Reformen, zu denen auch die
Schließung der metamenschlichen Konzentrationslager auf der Insel
Yomi gehörten, ihre Unterstützung zusagte. Diese Aktivitäten haben
Hestaby oft in direkten Konflikt mit Organisationen wie Humanis,
Human Nation und Alamos 20K gebracht. Doch selbst diese sensati-
onellen Schlagzeilen wurden bald vom dramatischen Sturz des Rates
der Prinzen in Tír Tairngire während des zweiten Matrixcrashs über-
schattet.
Seither wird in der Matrix wild darüber spekuliert, ob der Ein-
fluss Hestabys in Nordamerika allmählich im Schwinden begriffen ist,
nachdem es um die „Orange Queen“ einige Jahre lang relativ ruhig war
und sie sich bis vor Kurzem hauptsächlich auf die Wiederaufbaube-
mühungen in Tír Tairngire konzentriert hat. Ihre letzten öffentlichen
Bemühungen scheinen sich auf Tír Tairngire selbst beschränkt zu ha-
ben, etwa ihre Fürsprache für die Öffnung der Tírgrenzen für Auslän-
der, ihre Förderung von Handel und Kommerz zum Wiederaufbau
der Wirtschaft und ihre unermüdliche Arbeit für einen dauerhaften
Frieden zwischen der Tír-Nation und den Bewohnern des Northern
Crescent (ein Frieden und eine Stabilität, die ihr immer wieder durch
die Finger zu schlüpfen scheinen).
Mit ihrer Rede jedoch, die sie am 23.Juli 2073 so eloquent vor der
Generalversammlung der Vereinten Nationen hielt, hat Hestaby sich
wieder in das internationale Rampenlicht katapultiert und die Auf-
merksamkeit sowohl der drachischen als auch der metamenschlichen
Kulturen wieder auf sich gelenkt. In ihrer Rede erwies sie sich als star-
ke Fürsprecherin für die Entwicklung engerer Beziehungen zwischen
Drachen und Metamenschen. Die UNO wie auch die Weltöffentlich-
keit sahen sie als kühne Vorreiterin, die mutig jahrtausendealten Dra-
chentraditionen den Rücken kehrt und Seite an Seite mit der Meta-
menschheit die Terroranschläge Sirrurgs in Südamerika verurteilt. Ihre
Rede und ihre öffentliche Unterstützung haben der UNO offenbar
den politischen Willen gegeben, endlich die internen Streitereien ein-
zustellen und gemeinsam die Stimme gegen Sirrurg zu erheben, was
dazu führte, dass der Große Drache nur wenige Wochen nach ihrer
Rede als Kriegsverbrecher angeklagt wurde. Hestaby erschien der Öf-
fentlichkeit als ein Drache voller Vernunft und Verstand und wollte als
Verfechterin für Gerechtigkeit und metamenschliches Gesetz gesehen
werden, aber auch als jemand, der großes Interesse daran hat, das Le-
ben der anderen Großen Drachen zu schützen, selbst eines so brutalen
und rücksichtslosen Drachen wie Sirrurg. Hestaby tat, was ihr not-
wendig erschien, um die wachsende Gefahr zu verdeutlichen, die ihrer
Meinung nach die anderen Großen Drachen für die Metamenschheit
darstellen. Sie ist der Überzeugung, dass die wachsende Feindseligkeit
der Drachen gegenüber der Metamenschheit, die auf dem beruhen,
was Aztlan 2064 Dzitbalchén antat, und ihre zunehmende Neigung,
ihre Überlegenheit über die Metamenschheit zu demonstrieren, zu ei-
ner gefährlichen, unhaltbaren Situation führt. Durch ihre Rede stellte
sie ihre persönliche Sicherheit in Frage, da einige der anderen Drachen
ihre Worte alles andere als gutheißen und sie nur zu gerne wegen ihrer
unkonventionellen und unverschämten Methoden permanent zum
Schweigen bringen würden.
> Okay, ich muss jetzt mal unterbrechen. Hestaby ist kein Schutzengel, kein Schutzpatron der
Metamenschheit, keine Märtyrerin oder wie auch immer ihr sie nennen wollt. Sie ist eine Medi-
enhure. Sie wird alles tun, was in ihrer Macht steht, um ins Rampenlicht zu geraten und sich so
zu präsentieren, als würde sie für unser aller Interesse
arbeiten. Tatsache ist jedoch, dass sie an ih-
rem Image genauso sorgfältig feilt wie
jeder Megakonzern. Und es ist sicher
kein Zufall, dass die neue Regie-
rung von Tír Tairngire jetzt so
eine enge Beziehung zu Ho-
rizon hat, dem führenden
PR-Konzern der Welt. Ich
bin sicher, dass Hesta-
by ihre Klauen tief in
dieser Beziehung ste-
cken hat und deshalb
eine weit bessere
Presse bekommt, als
ihr sonst aus eigener
Kraft möglich wäre.
Bei diesem sorgfältig
ausgearbeiteten öffent-
lichen Image ist es un-
möglich zu sagen, wie ihre
wahren Pläne aussehen. Nach
allem, was wir wissen, könnten
sie denen von Lofwyr ähneln (wenn
nicht sogar schlimmer sein).
>

ANDERE
> Nun, Mr. Anonymous, ich freue mich, dass du dich in deiner Anonymität sicher genug
fühlst, Hestaby eine „Medienhure“ zu nennen. Hestaby hatte früher Zugang zu Shadowland,
und man vermutet, dass sie unter dem Namen „Orange Queen“ heute noch Zugang zu Sha-
dowSea hat. Was du hier sagst, könnte ihr durchaus zu Ohren kommen. Und wenn du nicht
gerade ein anderer Großer Drache bist oder sehr mächtige Freunde hast, solltest du dich
lieber in Acht nehmen. Sie lässt Beleidigungen nicht so einfach durchgehen.
> Slamm-0!

> Ich entschuldige mich nicht für das, was ich gesagt habe. Die Wahrheit spricht für sich
selbst. Allein letztes Jahr hat Hestaby mehr Presseerklärungen abgegeben als selbst Lofwyr
(ganz zu schweigen von dem, was immer wieder über ihre Terminpläne „durchgesickert“ ist und
die Medien darauf aufmerksam gemacht hat, was sie gerade tat und wohin sie reiste). Da stimmt
doch etwas nicht, meiner bescheidenen Meinung nach.
>
> Bist du sicher, dass du nicht Eyebright bist? Deine Tirade klingt wie sein Post auf Shadowland
vor etlichen Jahren.
> Bull

Kurz nach ihrer Rede erfuhr Hestaby, dass ein enger persönlicher Freund von ihr, der Anführer der
Shasta-Schamanen, Eliot Eyes-of-Wyrm, von einem Attentäter mit einem in Deutschland hergestellten
Scharfschützengewehr umgebracht worden war. Man vermutet, dass Hestaby Eyes-of-Wyrm schon seit
2055 kannte, als er die magische Gruppe der Shasta-Schamanen gründete. Viele sahen in Eyes-of-Wyrm
das, was einem metamenschlichen Dolmetscher Hestabys am nächsten kam. In der Öffentlichkeit schie-
nen sie die gleichen politischen Ansichten und die gleichen Ziele zu teilen. Jahrelang sah man Eyes-of-
Wyrm in ihrer Begleitung durch Tír Tairngire reisen, wo er mit Hestaby daran arbeitete, diplomatische
Beziehungen zwischen dem Tír-Adel und den Metamenschen des Northern Crescent aufzubauen.
Hestaby gab Lofwyr die Schuld am Eyes-of-Wyrms Tod, und nachdem sie ihren teuren Freund
eine Woche lang betrauert hatte, schlug sie gegen mehrere Saeder-Krupp-Objekte zurück. Ihre Vergel-
tungsschläge riefen weltweite Spekulationen über die Möglichkeit eines ausgewachsenen Drachenkrieges
hervor, bei dem die Loyalitäten der einzelnen Drachen geteilt sein würden, da die einen starr an
ihren Traditionen festhielten, während die anderen der Meinung waren, dass ihre Beziehungen
zur Metamenschheit möglicherweise darauf hindeuteten, dass Veränderungen vonnöten waren.

Hestaby 135
 Masaru und Rhonabwy verkündeten öffentlich ihre Unterstützung
für Hestaby, und beide gelten als entschieden pro-metamenschliche
Drachen. Lofwyr hat zum ersten Mal seit seinem Erwachen um Un-
terstützung innerhalb der Drachenkultur geworben, wobei er sich an
Drachen wandte, die einst seine eingeschworenen Feinde waren, aber
möglicherweise auf der Basis des „Überlebens des Stärkeren“ mit ihm
sympathisieren würden.
Hetzreden antidrachischer und antimetamenschlicher Gruppie-
rungen scheinen die Großen Drachen zu polarisieren, während sie
gleichzeitig auch große Teile der metamenschlichen Bevölkerung
aufrütteln. Vergeltungsschläge gegen Metamenschen für Verbrechen
gegen drachisches Blut scheinen inzwischen ein ernstes Anliegen zu
sein. Viele Leute, die mit Drachenreagenzien handelten, werden aktiv
verfolgt oder gar brutal ermordet. Gruppen, die mit Drachenreagenzi-
en wie etwa Klauenabschnitten arbeiten, mussten feststellen, dass ihre
Vorräte von unbekannten Angreifern geplündert wurden. Schamanen
verschiedener magischer Gruppen und mit einer breiten Auswahl an
Schutzpatronen haben in den letzten Wochen begonnen, zu prophe-
zeien und Visionen von Blutvergießen und Zerstörung zu verkünden.
In vielen dieser Visionen spielen Hestaby und Lofwyr eine Rolle.
Viele Medienexperten haben in den letzten Wochen erklärt, dass ein
Konflikt zwischen den Großen Drachen unvermeidbar ist und dass er
Auswirkungen auf uns alle haben wird, sollten die Dinge weiter ihren
bisherigen Gang gehen.
Während Hestabys Schattenteams auf ihrem Rachefeldzug an-
dere wichtige Einrichtungen von Saeder-Krupp im Nahen Osten
zerstörten, tauchte die Drachin persönlich in Dubai auf und griff
dreist die Zentrale von Saeder-Krupp Middle East an. Es kursie-
ANDERE
ren Theorien auf ShadowSea, dass Hestaby damit die Nachricht an
Lofwyr schicken wollte, dass sie nur zu bereit sei, ihre Schlachten
persönlich und nicht über Stellvertreter (wie etwa Attentäter) auszu-
tragen. Andere spekulieren, dass ihr Erscheinen auch eine Botschaft
an uns sei und zeigen solle, dass Hestaby zwar die Interessen der Me-
tamenschheit unterstütze, letztlich aber immer noch ein mächtiger
Drache sei, mit dem man rechnen muss und dem äußerster Respekt
gebührt. Bei jedem Angriff ließen sie oder ihre Agenten genug Zeit
zur Evakuierung der Gebäude, wodurch Verluste an Menschenleben
vermieden wurden. Bei Hestabys Angriff in Dubai wurde nicht nur
beobachtet, wie sie Geister einsetzte, um Personen von dem Ge-
bäude fernzuhalten, das sie magisch in Stücke riss und bei dessen
Einsturz beträchtliche Kollateralschäden entstanden, sie ließ sogar
Sicherheitsleute, die das Gebäude verteidigen wollten, von Geistern
zurückdrängen. Im Endeffekt kamen bei der Zerstörung des sieben-
undvierzigstöckigen Gebäudes nur wenige Leute zu Schaden und,
was noch wichtiger ist, niemand zu Tode. Das allein hat ihr schon
eine loyale Anhängerschaft unter den Metamenschen verschafft und
deren Überzeugung gefestigt, dass Hestaby den Schutz der Meta-
menschheit und ihrer Interessen wirklich ernst meint. Ihre Hand-
lungen werfen nach Meinung vieler eine neue Frage auf: Wie wird
Lofwyrs nächster Zug aussehen?
> Das ist nicht schwer zu beantworten. Da Hestaby als Prinz in
Tír Tairngire sitzt, wird es für Lofwyr eine hohe Priorität haben,
die Zentrale des Nordamerika-Zweiges von S-K von Portland in das
Tsimshian-Protektorat (nach Kitimat, um genau zu sein) zu verle-
gen. Interessanterweise hat Saeder-Krupp schon ein knappes Jahr
vor Hestabys Rede begonnen, Land in Kitimat zu kaufen. Da fragt
man sich doch: Was genau wusste Lofwyr, dass er schon plante,
seine Zentrale zu verlegen, noch bevor Hestaby überhaupt anfing,
etwas Leben in die Bude zu bringen? Und woher wusste er es? Oder
war das plötzliche Interesse an Kitimat einfach nur ein glücklicher
Zufall?
> Kay St. Irregular
136 Hestaby
> Wenn ich Lofwyr wäre, würde ich nicht einmal daran denken, die
Nordamerika-Zentrale zu verlegen. Ich würde sie lassen, wo sie ist.
Wenn es eine noch grundlegendere und wichtigere Regel für das
metamenschliche Leben gibt als „Bleib in Deckung, ziele genau,
spare Munition und lass dich nie mit einem Drachen ein“, dann
ist es „Kack nicht da, wo du isst“. Wenn Hestaby weiß, was gut
für sie ist, wird sie Lofwyr und Saeder-Krupp nicht gerade in dem
Land, das sie mitregiert, Probleme bereiten – vor allem jetzt, wo sie
durch Wählerentscheid in diese Position gelangt ist. Egal wie gut
ihre Schattenaktivitäten geheim gehalten werden, es besteht immer
die Möglichkeit, dass sie auf sie zurückfallen. Deshalb dürfte es von
Hestaby eine kluge Entscheidung sein, die Konflikte in einem ande-
ren Teil der Welt, etwa dem Nahen Osten, auszutragen.
> Pistons
> In den Straßen von Tír Tairngire heißt es, dass drei extrem wohl-
habende Elfen (angeblich Mitglieder der Brat’mael, dieser elfischen
Rassistentruppe) bei der nächsten Wahl gegen Hestaby antreten
wollen. Im Moment scheint keine Gefahr zu bestehen, dass sie
ihren Sitz verliert. Doch wenn ihr Konflikt mit Lofwyr und anderen
antimetamenschlichen Drachen sie bis nach Portland und nach Tír
Tairngire verfolgt, könnte sich das schnell ändern.
> Axis Mundi
> Nicht alle sind glücklich damit, was Hestaby getan hat. Humanis
sowie einige Medienanstalten, die Humanis nahestehen, behaupten,
Hestaby habe „dunkle“ Magie eingesetzt, um das Gebäude zu eva-
kuieren. Sie sagen, dass Hestaby und ihre Leute Magie einsetzten,
um einigen Managern und leitenden Angestellten (die die nötige
Autorität hatten, eine Evakuierung des Gebäudes anzuordnen) den
freien Willen zu rauben, und sie dann „umprogrammierten“, um das
Gebäude zur richtigen Zeit räumen zu lassen. Im Endeffekt läuft
es auf die Behauptung hinaus, dass Hestaby und ihre Gefolgsleute
das Personal von Saeder-Krupp geistig vergewaltigt haben sollen,
um die von ihnen gewünschten Resultate zu erzielen. Viele Huma-
nis-Sympathisanten behaupten, dass einige dieser Arbeiter wegen
dieses Eingriffs in ihren Geist nie wieder die sein werden, die sie
vorher waren. Ob das nun stimmt oder nicht, bleibt offen, aber man
sollte es zumindest im Hinterkopf behalten, wenn man darüber
nachdenkt, was Hestaby tun wird, um ihre Ziele zu erreichen.
> Sunshine
Hestaby hat außerhalb des Tír einige Interessen, die für Vergel-
tungsschläge anfällig sein könnten. Die Shasta-Schamanen sind wahr-
scheinlich die bekanntesten von Hestabys Verbündeten. Sie wurden
bereits von Anti-Hestaby-Kräften angegriffen und mussten einige Ver-
luste erleiden, zuerst die Tötung ihres Oberschamanen und dann den
Diebstahl der Klauenabschnitte von Hestaby. Die Shasta-Schamanen
zählen etwa dreihundert Mitglieder, die aus einer breiten Auswahl an
schamanistischen Traditionen und Nationen stammen. Auch unter
den Gypsies des Northern Crescent hat Hestaby starke Verbündete.
Bei ihnen handelt es sich um eine Gruppe von Leuten aller Rassen
und Metatypen, die früher Bewohner von Nordkalifornien waren, bis
die Tír Peace Force ihr Leben auf den Kopf stellte und ihr Eigentum
und ihren wertvollen Grundbesitz konfiszierte. Jetzt leben sie mit dem
Segen der Großen Drachin am Mount Shasta. Jüngste Schätzungen
ordnen die Zahl der Gypsies irgendwo zwischen dreihundertfünfzig
und fünfhundert ein. Man vermutet, dass die Gypsies dabei behilflich
sind, die Gegend um den Mount Shasta zu schützen und Ausschau
nach Leuten zu halten, die nicht dorthin gehören. Außerdem scheinen
die Gypsies so etwas wie ein lokales Spionagenetzwerk für Hestaby zu
sein, das sie über die aktuellen Ereignisse in der Region auf dem Lau-
fenden hält.
 In der Vergangenheit gab es Gerüchte, dass sich bei Hestaby ein
kleiner Stamm Otaku aufhalte, dessen Aufgabe es sei, die Shasta-Ma-
trixverbindungen aufrechtzuerhalten. Angeblich wurde dieser Ota-
kustamm das Gelege genannt. Seit Jahren hat niemand mehr etwas
von ihnen gehört, daher weiß man nicht, ob sie alle dem Schwund
anheimgefallen sind und ihre Fähigkeiten verloren haben oder ob ei-
nige (oder alle) von ihnen zu Technomancern geworden sind. Sollte
das Gelege noch existieren, dürfte es ein wertvoller Aktivposten für
Hestaby sein.
Einer der vielleicht wichtigsten Aktivposten für Hestaby – einer, der
zu einem Primärziel ihrer Feinde werden könnte – ist der Mount Shas-
ta selbst. Der Mammutbaumwald um den Berg herum ist Erwacht.
Im Laufe der Jahre hat er ein außergewöhnliches Wachstum an den
Tag gelegt (vergleichbar mit dem amazonischen Regenwald), ist die
Heimat mehrerer Arten paranormaler Tiere (unter anderem natürlich
des Shasta-Hirsches) geworden und soll angeblich über Erwachte Ver-
teidigungsmittel verfügen, die die meisten Auswärtigen darin hindern,
zu tief in den Wald einzudringen. Mount Shasta pulsiert vor magischer
Energie und leuchtet als Ort der Kraft sehr hell im Astralraum. Viele
magische Gruppen der ganzen Welt lecken sich die Finger nach der
Qualität der Telesmas und der Reagenzien, die man in diesen Wäldern
findet. Sollten sich die Feindseligkeiten verschärfen, dürften Hestabys
Feinde ihr ziemlich sicher die Kontrolle über den Mount Shasta streitig
machen, um sie daran zu hindern, mit seiner Kraft ihre Ritualmagie zu
verstärken (ein Talent, in dem Hestaby selbst von den anderen Großen
Drachen anscheinend nicht übertroffen wird).
Hestaby hat zudem eine ganze Reihe von Konzernbeziehungen, die
für ihre Rivalen von Interesse sein könnten. Eine ihrer interessantesten
ANDERE
Allianzen ist die mit der Draco Foundation. Hestaby ist mit der DF
häufig zusammen in der Öffentlichkeit aufgetreten, wobei sie immer
den Eindruck erweckte, in einer engen Verbindung zu dieser Orga-
nisation zu stehen. In den letzten Jahren hat Hestaby mehrfach die
DF-Zentrale in DeeCee besucht, wo sie sich mit Vorstandsmitgliedern
traf, um sich mit ihnen über verschiedene Aspekte ihrer laufenden Pro-
jekte zu unterhalten. Im Tír unter der Regierung Larry Zincan hat sich
Hestaby immer wieder dafür eingesetzt, der DF eine Forschungsexpe-
dition in die verbotenen Regionen des Crater Lake zu genehmigen.
Trotz dieser Gesten scheint die DF in ihrem Umgang mit Hestaby
recht reserviert (fast schon kühl) zu sein. Diese Spannung scheint sich
hauptsächlich über die ASPS (Astral Space Preservation Society; Ge-
sellschaft zur Bewahrung des Astralraumes) entzündet zu haben. 2057
forderte Dunkelzahns Testament die DF und das DIMR auf, die ASPS
zu gründen und ihre Arbeit zu beaufsichtigen. Doch kurz nachdem
die ASPS ihre Arbeit aufgenommen hatte, manövrierte Hestaby sich
in die Position des größten Mäzens der Gesellschaft – und zwar in
einem solchen Maße, dass die ASPS schon bald die Unabhängigkeit
von beiden Organisationen erlangte. Heute gilt die ASPS als eines der
Kronjuwelen unter Hestabys Konzernen, sehr zum Missfallen und zur
Entrüstung derjenigen Personen in der DF, die durch ihre Aktionen
ins Hintertreffen gerieten.
> Die Fehde um die Astral Space Preservation Society ist nicht
das Einzige, das die Beziehungen zwischen der Draco Foundati-
on und Hestaby ziemlich frostig werden ließ. Als Hestaby sich
das letzte Mal mit der Draco Foundation traf, bat die DF aus-
drücklich um eine private und diskrete Audienz. Stattdessen
tauchte sie mit ihrer gesamten Medienbagage auf. Hestabys
Erklärung war, dass ihr Terminplan wohl irgendwie an die Medi-
en durchgesickert sei und sie die Medien ja wohl kaum zwingen
konnte, fernzubleiben. Niemand in der Draco Foundation kaufte
ihr diese Entschuldigung ab, da offenbar niemand naiv genug
war zu glauben, dass ein Großer Drache jemals so nachlässig
sein konnte. Die DF will aber offensichtlich immer noch mit He-
138 Hestaby
staby zusammenarbeiten. Sich komplett von einer so mächtigen
Ressource wie Hestaby abzuwenden, wäre ziemlich dumm. Aber
glaubt mir, hinter diesen lächelnden Gesichtern verstecken sich
jetzt viele Dolche.
> Kay St. Irregular
> Sieht nach einem weiteren Beispiel dafür aus, wie Hestaby etwas
völlig anders darstellt, als es eigentlich ist. Große Überraschung.
Man muss sich fragen, ob an Hestaby überhaupt irgendwas echt
ist.
>
Seit ihrem Erwachen unterstützt Hestaby entweder direkt oder
über die Shasta-Schamanen die United Talismongers Association (die
Vereinigung der Taliskrämer, von der sie bei mehr als einer Gelegen-
heit als „Ehrendrache“ der Vereinigung bezeichnet wurde), vor allem
bei ihren Bemühungen, „Magie- und Naturreservate“ zu schaffen. Es
gibt mindestens vier leitende Angestellte der Amerikanischen Verei-
nigung zur Förderung der Thaumaturgie, die aktive Mitglieder der
Shasta-Schamanen sind. Hestaby hat dieser Organisation seit 2061
zwei Millionen Nuyen pro Jahr gespendet, um diese Freundschaft zu
vertiefen. Vor einigen Jahren hat sie zwei weitere Millionen dem von
Dunkelzahn gegründeten John-Timmons-Gedächtnisfond gespendet
und sich gelegentlich bei dessen Benefizveranstaltungen sehen lassen.
Zu weiteren kleineren Investitionen Hestabys zählen Starfield Botani-
cal Engineering, Harburgh Detox Labs und Phoenix Biotechnologies.
Viele dieser Konzerne und viele der Projekte, an denen sie arbeiten,
stehen in Zusammenhang mit Hestabys anderem großen Anliegen:
dem Schutz der Umwelt.
Hestaby unterstützt nicht nur Konzerne, deren Agenda der Schutz
und die Wiederherstellung der Umwelt ist, sie trägt auch tatkräftig
dazu bei, andere Konzerne, die Umweltgesetze verletzen und die
Natur zerstören, aus dem Geschäft zu drängen. Man vermutet, dass
Hestaby, seit sie erwachte und zum ersten Mal in der Öffentlichkeit
erschien, ihren Einfluss dazu nutzte, etwa fünfundzwanzig AA- und
A-Konzerne zu infiltrieren und die Kontrolle zu übernehmen. An-
schließend wurden diese Konzerne geschlossen, damit sie nicht länger
die Umwelt schädigen konnten. Leider löschten der Crash 2.0 und
Hestabys hervorragender technischer Stab alle konkreten Hinweise auf
ihre Beteiligung an diesen geschäftlichen Transaktionen. Sollten jemals
Beweise wieder auftauchen, die Hestaby mit dem Verlust Hunderter
von Arbeitsplätzen in Verbindung bringen, könnte das einen Skandal
bedeuten und einen schweren Rückschlag für die Drachin, die sich als
„Streiterin für die Metamenschheit“ darzustellen versucht.
> Eher nicht. Ja, die Leute, die ihre Jobs verloren haben, werden
vielleicht stinkig sein, aber viele Menschen teilen Hestabys Sorge
um die Umwelt und werden ihre Handlungen positiv bewerten.
> Ecotope
In der Vergangenheit hat Hestaby auch zahlreiche ökologische
Gruppierungen unterstützt, von denen manche als Ökoterroristen
gelten. Dazu gehören Gruppen wie Save Our Seas, Sierra, Inc., Glo-
balwatch, Earth Guard und TerraFirst! Einige Gerüchte deuten darauf
hin, dass ein Teil von Hestabys Geldern im letzten Jahr sogar bis zu
GreenWar gelangt sein könnte, einer der extremistischen Ökogrup-
pen, die zurzeit Sirrurg unterstützen. Sollten diese Gerüchte jemals
bestätigt werden, wird Hestabys Ruf als Schützerin der Metamensch-
heit vor Sirrurgs Aggressionen ziemlich sicher darunter leiden, und
Verschwörungstheoretiker werden Amok laufen und behaupten, dass
Sirrurg und Hestaby in Wirklichkeit zusammenarbeiten und dass das,
was Hestaby tut, nur verschleiern soll, dass Sirrurg noch etwas viel
Größeres mit Aztlan und dem Rest der Welt vorhat.
> Wenn wir mal davon ausgehen, dass Hestaby sich gerne in Kon-
zernangelegenheiten mischt und dass viele dieser Konzerne dieselben
sind, die mit Arthur Vogel in Verbindung gebracht werden – wie ste-
hen dann die Chancen, dass Hestaby irgendeine Übereinkunft mit Vo-
gel getroffen hat? Könnten Vogel und Hestaby für einige der Probleme
verantwortlich sein, die Ares gegenwärtig damit hat, einige von Da-
mien Knights Aktivitäten zu vereiteln, als Gegenleistung für etwas,
das Hestaby haben will? Vielleicht einen Sitz im Ares-Vorstand?
> Icarus
> Das ist immer möglich, schätze ich. Ein weiteres wichtiges Pro-
jekt von Hestaby bestand darin, Beziehungen zu Minderheitsak-
tionären aller Megakonzerne aufzubauen und Übereinkünfte mit
HESTABY
K G R S C I L W M EDG ESS INI ID
29 13 17 53 20 20 19 30 36 6 12 37 2
Zustandsmonitor (K/G): 23/23
Panzerung (B/S): 20/20
Bewegung: 23/60 (Flug 45/90)
Reichweite: +2
Fertigkeiten: Antimagie (Kampfzauber) 16 (+2), Arcana 10, As-
kennen 10, Astralkampf 6, Ausweichen 6, Beschwören-Fertig-
keitsgruppe 10, Einfluss-Fertigkeitsgruppe 6, Einschüchtern
6, Exotische Fernkampfwaffe 8, Fliegen 8, Ritualzauberei
(Kampfzauber) 17 (+2), Spruchzauberei (Manipulationszau-
ber) 16 (+2), Verzaubern 6, Waffenloser Kampf 7, Wahrneh-
mung 9
Wissensfertigkeiten: Bildbearbeitung 6, Drachengebräuche 5,
Drachengeschichte 4, Drachengesellschaft 6, Medien 6, Me-
tamenschliche Architektur 5, Metamenschliche Gesetze 7,
Metamenschliche Kultur 5, Metamenschliche Magiegruppen
5, Metamenschliche Sitten 5, Öffentlichkeitsarbeit 7, Öko-
gruppen 5, Reagenzien 7, Reden Halten 6, Tír-Tairngire-
Politik 6, Englisch M, Gälisch 4, Japanisch 4, Mandarin 3,
Spanisch 3, Sperethiel 6
Kräfte: Bewusstsein, Drachensprache, Dualwesen, Elementarer
Angriff (Feuer), Gesteigerte Sinne (Breitbandhören, Geruch,
ihnen zu treffen, sodass sie deren Stimmrechte stellvertretend
ausüben kann. Zwei bekannte Aktionäre, die eine solche Überein-
kunft mit Hestaby getroffen haben, sind Aikiro Tokunado und Lou-
is Mendroit. Beide hatten in Shiawase investiert. Man vermutet,
dass Hestaby seither ihren Einfluss auf zumindest einige kleinere
Aktionäre bei allen Megakonzernen, die in Aktionärsbesitz sind,
ausgeweitet hat. Sie hat (bis jetzt) keinen großen Einfluss auf die
Konzerne, aber zumindest hat sie Zugang zu ihnen und bekommt
Informationen.
> Ethernaut
> Klingt ein bisschen so, wie Lofwyr bei BMW angefangen hat.
> Snopes
Restlichtverstärkung), Gift, Grauen, Infrarotsicht, Meta-
menschliche Gestalt, Mystischer Panzer 20, Natürliche Waffe
(Biss/Klauen: 18K, PB –4), Schicksalsmacht, Tierbeherr-
schung, Übler Atem, Verstärkter Panzer 20
Gaben: Schnellheilung, Vertrautes Terrain (Mount Shasta), Zau-
berer
Initiatengrad: 30+
ANDERE
Metamagie: Abschirmung, Absorption, Anrufung, Erweiterte
Maskierung, Filterung, Flexible Signatur, Geomantie, Großes
Ritual, Intensivierung, Maskierung, Psychometrie, Reinigung,
Sensibilisierung, Spiegelung, Strömung, Verankerung
Zauber: Adlerauge, Beeinflussen, Blitzstrahl, Chaotische Welt,
Drachen Aufspüren, Durastahl Formen, Durastahl Vernich-
ten, Durastahl Zertrümmern, Elfen Aufspüren, Energieball,
Energieblitz, Erdaura, Erde Reinigen, Erdwand, Falsche Erin-
nerung, Feinde Aufspüren (Erweitert), Feuerball, Flammen-
werfer, Gedanken Beherrschen, Geisterbarriere, Glas Formen,
Individuum Aufspüren, Kugelblitz, Luft Reinigen, Magie
Analysieren, Manaball, Manabarriere, Manablitz, Manastö-
rung, Meute Beherrschen, Panzerung, Physische Barriere,
Plasbeton Formen, Plasbeton Vernichten, Rundum Gestoh-
lene Sicht, Schildbrecher, Tarnung, Todeshand, Übersetzen,
Verbesserte Unsichtbarkeit, Wahrheit Analysieren, Wasser
Reinigen, Wasseraura, Wasserwand, Winterschlaf
Geister: 5 Erdgeister (Kraft 15), 1 Geist des Tieres in Großer Ge-
stalt (Kraft 20, manifestiert als Wyvern), 4 Luftgeister (Kraft
10), 5 Pflanzengeister (Kraft 15), 5 Wassergeister (Kraft 15)
Hestaby 139
 KALTENSTEIN
PERSÖNLICHE DATEN: KALTENSTEIN
Alter: In seiner metamenschlichen Gestalt er-
scheint Kaltenstein als ein männlicher Troll
gestandenen Alters, dessen besonderes Kenn-
zeichen ist, dass er humpelt. Es existieren un-
zureichende Informationen über sein wahres
Alter, aber es ist anzunehmen, dass Kaltenstein
weit über 3000 Jahre alt ist.
PERSÖNLICHE DATEN:
METAMENSCHLICHE GESTALT
Größe: 2,65 m Gewicht: 350 kg
ANDERE
Haarfarbe: weiß Augenfarbe: meergrün
Geschlecht: Männlich Rasse: Troll
Metatyp: Großer Westlicher Drache
Erwacht: Ja
Da es viele falsche Auffassungen über den Großen Westlichen Dra-
chen gibt, der sich selbst Kaltenstein nennt, nutze ich (mal wieder)
die Gelegenheit, das Bild etwas gerade zu rücken und etwas Licht
in die Schatten zu bringen, in denen der Drache normalerweise zu
operieren pflegt.
Der sicherlich größte urbane Mythos über Kaltenstein ist sein ver-
meintlicher Tod im Jahre 2012, einige Wochen nach seinem Erwachen
auf – oder besser unter – dem Grund der verschmutzten Nordsee.
Die Geschichte um den Angriff von Nebelherr auf den Großdrachen,
um ihn davon abzuhalten, Feuerschwinge in die SOX nachzufolgen,
ist vielfach erzählt worden. Lofwyr griff damals in den Kampf ein,
um Kaltenstein zu stoppen. Das Ereignis wirft bis heute Fragen auf:
Warum war es Kaltenstein so wichtig, Feuerschwinge zu folgen? Was
war seine Beziehung zu der feuerroten Großdrachin? Welche Moti-
vation hatte Nebelherr, sich einzumischen, und warum hat Lofwyr
interveniert?
> Drachenexperten haben inzwischen anhand alter Filmaufnahmen
und Vergleichen mit Hestaby „bewiesen“, dass es sich bei Feuer-
schwinge tatsächlich um einen weiblichen Großdrachen gehandelt
haben muss.
> Zeitgeist
140 Kaltenstein
GEPOSTET VON: ECOTOPE
Auf Feuerschwinge werde ich unten gesondert eingehen, zu den ande-
ren Punkten kann ich auch nur bedingt etwas sagen, auch wenn im-
mer vermutet wurde, dass aufgrund der Affinität beider Drachen zum
Wasser (und das als Westliche Drachen) Nebelherr möglicherweise
von Kaltenstein aufgezogen wurde. Wer weiß, welche Motivation der
Meister-Strippenzieher hatte, dass er auf Tuchfühlung mit dem phy-
sisch größeren Drachen ging.
> Wenn es um den Boss geht, kann man davon ausgehen, dass er
trotz des Risikos einiges zu gewinnen hatte.
> Heisenberg
Fakt ist, dass es beiden Drachen gemeinsam gelang, den giganti-
schen Kaltenstein so stark zu verwunden, dass er flugunfähig in den
Hochschwarzwald krachte, wo ihm die beiden anderen Drachen nicht
nachsetzten (Nebelherr, weil er zu stark verletzt war, Lofwyr, weil sein
Ziel offensichtlich nicht war, Kaltenstein zu töten, sondern nur, ihn
auszubremsen). Kaltenstein wurde jedoch bei seinem Fall aus großer
Höhe so stark verletzt, dass er sich eine bleibende Verwundung zuzog.
Allen Augenzeugenberichten zufolge – und ich kann das bestätigen
– humpelt der blaugrün-grau geschuppte Drache aufgrund eines ver-
narbten linken Hinterbeins, und auch Kaltensteins metamenschliche
Gestalt – ein eindrucksvoller Troll in den besten Jahren – besitzt dieses
steife Bein als deutliches Erkennungszeichen.
> Allen Sichtungen zufolge sind Kaltensteins Proportionen auch
für einen Großdrachen ungewöhnlich groß. Er übertrifft selbst
große Westliche Großdrachen wie Ghostwalker, Dunkelzahn oder
den Boss an Spannweite und Körperlänge. Ob die Größe der Grund
für die metamenschliche Form und Hinweis auf ein größeres Alter
ist, ist unbekannt. Vielleicht fühlt Kaltenstein aber nur eine ge-
wisse Verbundenheit mit Trollen, wer weiß das schon.
> Heisenberg
> Wann immer Kaltenstein in seiner metamenschlichen Form auf-
getreten ist, wurde von einem ziemlich grantigen, bärbeißigen Troll
berichtet. In Freiburg hat er es sich sogar herausgenommen, FBV-
Chefin Stüeler-Waffenschmidt bei ihrer Begegnung eine zu verpas-
sen, nachdem sie ihm wohl etwas erwiderte, was ihm nicht gefiel.
Nach allem, was man über seine Agenda weiß, meint er es wohl gut.
Über die Art und das Maß (ich sage nur Erdbeben) mag man streiten.
Da scheint Kaltenstein weniger mit Lofwyrscher Präzision als mit
dem Dampfhammer vorzugehen. Nicht alle Drachen kommen wohl
mit der komplexen Struktur der Sechsten Welt gut zurecht.
> Corpshark
Nach diesem Ereignis verschwand er für fast zehn Jahre, bis er am
19. Mai 2021 mit der Zerstörung des Petroleumhafens in Hamburg
wieder von sich reden machte, bei dem er plötzlich aus dem Wasser her-
aus etliche Großtanker und Passagierschiffe kentern ließ und versenkte,
bevor er sich an den Anlagen im ehemaligen Waltershof in der Neuen
Mitte austobte. Da Kaltenstein dabei nicht alleine vorging, sondern von
Grünen Zellen unterstützt wurde, gilt es als gesichert, dass er bereits vor
2021 mit diesen Gruppen in Kontakt war und bis heute ist.
> Aufgrund der Brutalität dieser frühen Aktion in den Zwanzigern,
auch wenn keine hundert Leute zu Tode kamen, nennen viele heu-
te Kaltenstein in einem Atemzug mit Sirrurg den Zerstörer. Das
Potenzial dazu hat er sicherlich, allerdings muss man den Drachen
schon sehr reizen, damit er entgegen seiner metahumanitären Art
zu solchen Mitteln greift. In der giftigen Suppe zu erwachen, war
vielleicht etwas zu viel des Guten.
> Heisenberg
In den nachfolgenden Jahren wurde es wieder ruhig um den Dra-
chen. Kaltenstein trat erst 2038 bei einem Angriff auf das Luftschiff
Lothar Späth über dem Schwarzwald (von dem vermutet wird, dass es
ihm auf Geheiß von S-K, eines Konzerns oder der Allianz-Regierung
nachspionierte) sowie 2044 mit dem Drachenflug über München, der
das Ende der Hunggarten-Regierung und der Südallianz einläutete,
wieder in Erscheinung.
> Hat man eigentlich Informationen zu den anderen Drachen, die
an dem Flug beteiligt waren?
> Snow-WT
> Ich glaube auch nicht, dass Kaltenstein den Einzugsort seines
Hortes ungezielt wählte. Das Erwachen des Schwarzwaldes mit sei-
ner feindlichen Parafauna ist kein Zufall. Irgendetwas ist beson-
ders an der Region, auch wenn es uns bis jetzt verborgen bleibt.
> Enigma
Interessanterweise gehörte es anscheinend nie zu Kaltensteins Plan,
das Trollkönigreich aus dem Schatten heraus auf Dauer zu kontrollie-
ren. Auch wenn man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich-
keit sagen kann, dass es sich bei Berthold nicht um Kaltenstein selbst
handelte, ist die Identität des ehemaligen Königs bis heute ungeklärt.
Dass die Geschäfte des Königreichs nach dem Verschwinden Bertholds
im Alter von 52 Jahren ungestört weiterliefen und Kanzler Hugo von
Hasslach, der zuvor lange Jahre Vorsitzender der Volksvertretung ge-
wesen war, bis er von Berthold geadelt wurde, die politische Führung
übernahm, lässt den Schluss zu, dass Berthold nach Konsolidierung
des Königreichs gezielt von Kaltenstein „aus dem Spiel“ genommen
und die Erben des Landes frühzeitig positioniert wurden, um den Weg
in eine Demokratie zu ebnen.

> Das meiste waren wohl nur Alpenlindwürmer, Draka und andere
Drakomorphe, die in den Alpen heimisch sind. Ob sich ein weiterer,
tatsächlicher Drache in dem „Schwarm“ befunden hat, ist bis heu-
te ungeklärt.
> Zeitgeist

Was nicht heißt, dass er nicht hinter den Kulissen aktiv war. Gera-

ANDERE
de in den späten Dreißigern, die mit der Gründung der Südallianz
aus Bayern und Württemberg und den Pogromen sowie Plänen zu
Sammellagern und Massenvernichtung von Meta-
menschen ein neues, dunkles Kapitel des Rassismus
in Deutschland aufschlugen, trieb Kaltenstein
den Widerstand der Metamenschen, vor allem
Orks und Trolle, voran. Die Kampfhandlungen
zwischen der ultrakonservativen Regierung und
den Metamenschen gipfelten schließlich in den
„Trollkriegen“ (2038-2044), die den Grundstein
für das spätere Trollkönigreich Schwarzwald unter
Berthold I. legten („zufälligerweise“ um Kaltensteins
alten Hort am Feldberg). Auch die Naturmagie des Troll-
Things, eines losen Bundes von Troll-Animisten, die dem späteren
König während des „Krieges“ zur Seite standen und als Verursacher
der Erdbeben im Oberrheingraben gelten, die in der Eifel zu Vulkan-
ausbrüchen führten und Karlsruhe verheerten, wird Kaltenstein zu-
geschrieben. So rief der Drache vermutlich nicht nur die Gruppe ins
Leben, er kann auch als Begründer dieser ursprünglichen Zaubertra-
dition angesehen werden. Er war es auch, der Naturmagie in diesem
großen (und rohen) Stil – in Anlehnung an den Großen Geistertanz
– überhaupt ermöglichte, wenn er nicht sogar aktiv und maßgeblich
an dem Ritual beteiligt war. Auch heute kann das Troll-Thing und das
ihm unterstellte Naturkraftseminar Waldshut unter Sprecher Rudolf
von Triberg als eine direkt mit dem Drachen verbundene Gruppe an-
gesehen werden.

> Triberg selbst ist ein ziemlicher Hardliner, der dem Dra-
chen total ergeben ist und als Strippenzieher für die grü-
ne Agenda des Drachen bisweilen als Schmidt auftritt.
Soweit bekannt, operiert der Animist vom Feldberg aus
und „verwaltet“ in Abwesenheit Kaltensteins dessen ehe-
maligen Hort.
> Corpshark

Kaltenstein 141
 Zum Beispiel indem er mit Hasslach einen klassischen Politiker an
die Spitze brachte. Der erste Schritt in die Demokratisierung wurde
kürzlich getan, als Berthold 2071, zehn Jahre nach seinem Verschwin-
den, für tot erklärt wurde und so dem Königreich die Möglichkeit
eröffnete, sich 2072 in eine Republik umzuwandeln. Nach der Grün-
dung von zwei großen Parteien bereitet sich das Land für 2074 auf
seine erste demokratische Wahl vor.
> Das Recht auf Selbstbestimmung seiner „Kinder“ scheint Kal-
tenstein dabei extrem wichtig zu sein. Traut man Berichten von
S-K Prime, konferieren sowohl Hugo von Hasslach als Chef des
Freiheitlich-Liberalen Metabündnis als auch Ariane vom Kinzigtal,
Tochter des ehemaligen Herzogs und Kampfgefährten Roman vom
Kinzigtal und Chefin der konservativen Troll-Alternative, mit dem
Drachen, der nur noch als Berater des Herzogtums agiert. Anders
kann es nicht gedeutet werden, dass sich die Trollrepublik unter
von Hasslach Megakonzernen wie dem FBV und S-K öffnete (beide
von Drachen bzw. Drakes gegründet und geleitet), die Kaltenstein
mehr als verabscheut.
> Heisenberg
> Und was ist jetzt mit Berthold?
> Spime
> Unklar. Selbst S-K Prime wusste nichts über den Verbleib des
Trolls. Falls es sich um einen normalen Troll gehandelt hat, ist er
mit 64 Jahren vermutlich sehr alt oder schon über die Wupper.
Handelte es sich um einen Drake (oder einen Drachen), hält Kal-
ANDERE
tenstein ihn vermutlich in seinem Hort unter Verschluss, damit der
Mysterienkult um den „verschwundenen König“ abebbt.
> Heisenberg
Auch über die Troll-Republik hinaus verfolgt Kaltenstein eine me-
tahumanitäre Agenda. So war der Drache maßgeblich an dem Sturm
der Entrüstung beteiligt, der in den Sechzigern über die Schweizer
Eidgenossenschaft (als den deutschen Teil der Schweiz) hinwegfegte,
als Nachrichtensender der Genom Corporation in Basel vorwarfen,
sie hätte mit der Zustimmung von mindestens einem Dutzend hohen
Regierungsbeamten ungesetzliche Sterilisationen an Metamenschen
vorgenommen. Der politische Eklat, der folgte und an dem sich neben
den Vereinten Nationen und Erwachten Staaten auch die Trollrepublik
beteiligte, führte schließlich Anfang der Siebziger zur Abschaffung des
Metamenschen-Rassentrennungsgesetzes.
> Wobei der Drache gerne bereit ist, bestimmten Bewegungen eine
„helfende Klaue“ zu reichen. Vor allem, wenn dazu illegale Mit-
tel benötigt werden, die sich solche Institutionen aufgrund ihrer
ethischen Grundsätze eigentlich nicht erlauben dürfen.
> Zeitgeist
Kaltenstein verfügt dabei anscheinend über zahlreiche Unterstüt-
zer in den verschiedensten Kommissionen der Vereinten Nationen
(wie etwa der Kommission für Metamenschenrechte und der UNEP)
und überwacht die Vorgänge von seinem Hort in der Alpeninterdikts-
zone aus, einem Naturschutzgebiet, das die gesamten Schweizer Alpen
umfasst.
> Angeblich soll der Hort irgendwo in der Nähe des Göscheneralp-
sees liegen, der zwischen den Dreitausendern Sustenhorn, Dam-
mastock und Galenstock eingebettet ist und an dem der Drache
von Schweizer Gebirgsjägern mehrfach beim Auftauchen beobach-
tet wurde (unterirdischer Zugang nicht ausgeschlossen).
> Heisenberg
142 Kaltenstein
Derzeit ist unklar, wie Kaltenstein die aktuellen Vorgänge in den
Vereinten Nationen wie das Kippen des Metamenschenrechtsabkom-
men für vernunftbegabte Nicht-Metamenschen oder die Rede von Hes-
taby zur Situation zwischen Menschen und Drachen bewertet (auch
wenn er die Aktionen von Sirrurg sehr kritisch sieht). Soweit bekannt,
hat Kaltenstein bis dato Abstand davon genommen, in drachische Int-
rigen involviert zu werden. Allerdings berichten Aussteiger-Kommunen
in der AIZ zunehmend von Drachenaktivitäten in den Alpen.
> Was auch erklärt, warum der Siegfried-Bund in der Schweiz und in
Österreich in den letzten Monaten deutlich aktiver geworden ist.
> Zeitgeist
Ansonsten verfolgt Kaltenstein vor allem eine grüne Agenda, was
für einen Drachen tendenziell nicht ungewöhnlich ist, aber in vielen
Fällen einen anderen Fokus als nur reinen Umweltschutz besitzt. Auch
wenn Kaltensteins Interesse deutlich dem Wasser und Meer gilt (vor
allem der toxischen Nordsee) und er viele Umweltaktivisten in Nord-
deutschland unterstützt, unabhängig davon, ob es sich um Ökoan-
archisten wie den Klabauterbund oder grüne Sprawlguerilla wie die
Grünen Zellen handelt, achtet der Drache stark darauf, ob sich solche
Gruppen radikalisieren und unter toxische Einflüsse geraten. Dabei
unterhält der Drache auch über die ADL hinaus ein Netzwerk zu pan-
europäischen Gruppen und Aktivisten.
Kaltenstein subventioniert die Gruppen jedoch weniger durch
Geld, sondern operiert auf Quid-pro-quo-Basis (also Gefallen gegen
Gegen-Gefallen). Außerdem unterhält er wohl gute Beziehungen zu
dem Seedrachen und den Handlangern des Großen Leviathans.
Was die grüne Terrororganisation GreenWar angeht, hat Kalten-
stein mehrfach seine Beziehungen im linken Sprawlguerilla-Umfeld
(und den Schatten) spielen lassen, um Pläne von GreenWar zu verei-
teln, was ihn stark von Sirrurg unterscheidet, der mehr als bereit ist,
mit GreenWar zur Ausrottung der Menschheit gemeinsame Sache zu
machen. Da Hamburg als Sitz von mehreren GreenWar-Anführern
(z.B. der toxischen Druidin Myriam Hergheim) vermutet wird, nutzt
Kaltenstein lokale Vertraute, unter anderem die ungarische Ökoakti-
vistin Levél, um der Gruppe hinterherzuspionieren.
> Wobei die Dame derzeit auch ein großes Interesse an aktuellen
Vorgängen in Pomorya hat, wie man so hört.
> Pirapit
Die Vergiftung des Geistes und der Effekt, den sie auf Metamenschen
und speziell Magie haben kann (sogenannte spirituelle Verseuchung
und Fanatismus), scheinen den Drachen hierbei besonders zu inte-
ressieren.
> Aha, daher weht also der Wind. Ich habe dein Horizon-Profil
gelesen. Lass mich raten. Der Drache war aktiv an der „Säuberung“
von Toxikern in grünen Gruppen in den Sechzigern beteiligt.
> Heisenberg
> Sagen wir, unsere Gruppe und er teilen die Sorge, welche Aus-
wirkungen toxische Einflüsse in unseren Zirkeln haben. Wir wollen
alle keine zweite GreenWar-Gruppierung mit ihren Schlächtern und
Verwüstern.
> Ecotope
Sein Interesse an der SOX geht ebenfalls stark in diese Richtung,
auch wenn es hier sicherlich noch eine persönlichere Komponente gibt.
Alles deutet daraufhin, dass Kaltenstein und Feuerschwinge Gefährten
gewesen sein könnten, falls das bei Drachen überhaupt möglich ist.
Aufgrund von Sichtungen von „Feuerschwinge“ oder eines „Atom-
Drachen“ in der SOX und an anderen toxischen Zo-
nen der Erde (z.B. 2015 auf Island) hielt der Drache
in den letzten Jahrzehnten ein Auge auf die SOX
oder nutzte Runner für Aufklärungsmissionen. Seit
sich Anfang der Siebziger die Jünger des Reinigen-
den Feuers als organisierte Gruppe unter den Glow-
punks herauskristallisierten, die aus zahlreichen
Vergiftern und toxischen Adepten besteht, ist der
Drache wieder aktiver geworden. Erst kürzlich ließ
er von mehreren Runnerteams einen hochrangigen
toxischen Trollschamanen aus dem näheren Um-
kreis der berühmt-berüchtigten Kultführerin Igni-
fera aus der SOX extrahieren – angeblich, um ihn
zu befragen. Die Aktion hat viele Leute in und um
die SOX (inklusive der französischen Druiden) in
Alarmzustand versetzt, zumal die Bedrohung durch
den atomaren Kult wieder zuzunehmen scheint. Da
braut sich auf jeden Fall was zusammen.
> Anfang 2071 wurde eine Außenstelle des Kultes
in Hamburg in Gestalt einer lokalen Niederlas-
sung der Sekte des Weges der Reinheit durch
Einheiten des Bundesamtes für Innere Sicherheit
aufgelöst, nachdem dem Innenministerium vom
Konzernrat der SOX Material zugespielt worden
war, das die Niederlassung mit dem Kult in Ver-
bindung brachte.
> Justizopfer
> Wenn wir etwas seit dem Erwachen gelernt
haben, dann folgende zwei Dinge. Erstens: Dra-
chen können als astrale Wesenheiten sehr lange
außerhalb ihres Körpers existieren. Zweitens:
Die Interaktion von Radioaktivität und Magie ist
noch nicht verstanden, und beides zusammen
führt zu unvorhersehbaren Effekten. Wer weiß
also, was mit der astralen Form sterbender Dra-
chen in einer Zone passieren kann, die durch die
erwachende Magie signifikant verzerrt wurde? Die
Berichte lassen auf jeden Fall das Schlimmste
befürchten. Und ich würde mal vermuten, Kalten-
stein hat ähnliche Befürchtungen.
> Enigma
> Aufgrund einer aktuellen Recherche die Frage:
Was ist mit Hans Brühl?
> Snow-WT
> Dem Faustianer und USPD-Angehörigen, von
dem in den Schatten spekuliert wurde, dass er als
eines von sieben Kindern entführt, von Kalten-
stein aufgezogen und ausgebildet wurde? Soweit
wir wissen, arbeitet er in Karlsruhe, allerdings
konnte bisher niemand eine Beziehung zu dem
Drachen nachweisen. FALLS er für den Drachen
arbeitet, würde ich vermuten, dass er für den
Drachen Informationen über die Operationen der
Faustianer und des IAES in Karlsruhe sammelt.
Was aus den anderen Kindern geworden ist oder
ob es ein Einzelfall ist: keine Ahnung. Kinder
entführen und auszubilden würde irgendwie zu
der archaischen Art des Drachen passen.
> Imperativ
KALTENSTEIN
K G R S C I L W M EDG ESS INI ID
35 10 13 60 18 24 18 20 20 6 12 37 2
Zustandsmonitor (K/G): 26/18
Panzerung (B/S): 20/20
Bewegung: 15/40* (Flug 45/90)
Reichweite: +2
Fertigkeiten: Antimagie (Kampfzauber) 10 (+2), Arcana 4, Askennen 8,
Astralkampf 7, Ausweichen 7, Beschwören-Fertigkeitsgruppe 6, Ein-
fluss-Fertigkeitsgruppe 5, Einschüchtern 8, Exotische Fernkampfwaffe
9, Fliegen 8, Ritualzauberei 17, Schwimmen 6, Spruchzauberei 12,
Unterricht 6, Verzaubern 4, Waffenloser Kampf 9, Wahrnehmung 8
Wissensfertigkeiten: Drachengebräuche 5, Drachengeschichte 6, Dra-
chengesellschaft 5, Europäische Gebirgsketten 6, Gewässer und
Meere 5, Grüne Gruppen 5, Kriegstaktik 5, Metamenschenrechte 4,
Metamenschliche Geschichte 4, Metamenschliche Kultur 4, Politik
4, Schwarzwald 6, SOX 5, Toxische Magie 7, Troll-Republik 5, Um-
ANDERE
weltschutz 5, Deutsch (alle Dialekte inkl. Schweiz und Österreich) N,
Englisch 3, Französisch 3, Italienisch 3, Tschechisch 3, alle skandina-
vischen Sprachen 3, alle Balkansprachen 3
Kräfte: Bewusstsein, Drachensprache, Dualwesen, Elementarer Angriff
(Feuer), Gesteigerte Sinne (Breitbandhören, Geruch, Infrarotsicht,
Restlichtverstärkung), Grauen, Metamenschliche Gestalt, Mystischer
Panzer 20, Natürliche Waffe (Biss/Klauen: Schaden 22K, PB –6),
Schicksalsmacht, Tierbeherrschung, Verstärkter Panzer 20, Zwang
Gaben: Zähigkeit, Zauberer
Initiaten-Grad: 23+
Metamagie: Abschirmung, Absorption, Anrufung, Erweiterte Maskie-
rung, Filterung, Flexible Signatur, Geomantie, Großes Ritual, Inten-
sivierung, Maskierung, Reinigung, Sensibilisierung, Spiegelung, Strö-
mung, Sympathetische Verbindung, Verankerung, Zentrierung
Zauber: Augen des Rudels, Böse Ahnung, Dekontamination, Energieball,
Energieblitz, Entgiftung, Feinde Aufspüren (erweitert), Geistessonde, Hei-
len, Huckepack, Kampfsinn, Magie Analysieren, Manabarriere, Manablitz,
Mananetz, Manastörung, Nebel, Panzerung, Physische Barriere, Physische
Tarnung, Projektilabwehr, Schildbrecher, Schmerzresistenz, Stein Formen,
Strahlenbarriere, Strahlenschild, Tsunami, Übersetzen, Umgebungssinn
(erweitert), Waffenfokus Verdrängen, Wasseraura, Wasserhose
Geister: 4 Pflanzengeister (Kraft 10), 5 Ratgebergeister (Kraft 12), 1
Schutzgeist in Großer Gestalt (Kraft 15, manifestiert als Alpenlind-
wurm), 4 Tiergeister (Kraft 10), 4 Wassergeister (Kraft 12)
* aufgrund seiner Behinderung ist Kaltensteins Bewegung an Land
reduziert
Kaltenstein 143
 LOFWYR
PERSÖNLICHE DATEN: LOFWYR
Alter: Lofwyr scheint in seiner metamensch-
lichen Gestalt etwa Mitte 50 zu sein. Es gibt
keine definitiven Informationen darüber, wie
alt Lofwyr wirklich ist, doch sehr wahrschein-
lich ist er älter als 3.000 Jahre.
PERSÖNLICHE DATEN:
METAMENSCHLICHE GESTALT
Größe: 1,83 m Gewicht: 86 kg
Haarfarbe: Stahlgrau Augenfarbe: Gold
ANDERE
Geschlecht: Männlich Rasse: Mensch
Metatyp: Großer Westlicher Drache
Erwacht: Ja
> Ich kenne Wyrm Watcher jetzt schon seit einigen Jahren. Und
viele von euch kennen ihn oder seine Posts von Shadowland oder
ShadowSea. Er ist zu einem der führenden Schattenexperten für
Drachen und Artverwandte geworden und studiert sie nun schon
fast so lange wie Plan 9 und Snopes ihre Verschwörungstheorien.
Von Wyrm Watcher stammt das ausführliche Kapitel über Drachen in
dem Wildwechsel-Post von vor einiger Zeit. Ich habe ihn erneut ein-
geladen, diesmal um uns etwas detailliertere Informationen über
einen Drachen zu liefern, den wir alle so gerne hassen: Lofwyr
> FastJack
Lofwyr dürfte wohl seit Dunkelzahns Tod der prominenteste und
bekannteste der Großen Drachen sein. Er herrscht über den größten
Konzern, der je existiert hat, einen, der es mit jedem von Menschen
errichteten Imperium der bekannten Geschichte aufnehmen kann,
einschließlich Ägypten, Persien und Rom. Saeder-Krupp genießt un-
ter Lofwyrs Herrschaft ein Ansehen, das nicht einmal von den anderen
Megakonzernen übertroffen wird. Lofwyr ist in vielerlei Hinsicht die
moderne Inkarnation von Julius Cäsar.
Saeder-Krupps Einfluss ist allgegenwärtig und in unterschiedli-
chem Umfang in jedem Land der Erde spürbar. Geschäftliche Deals
in Europa und dem Nahen Osten werden oft von Konzernmanagern
abgeschlossen oder gebrochen, deren einzige Sorge es ist, wie der CEO
von Saeder-Krupp auf ihre geplanten Transaktionen reagieren wird,
und das sogar auf AA- oder A-Niveau. Nur sehr wenige Leute glau-
ben, dass ihre geschäftlichen Transaktionen, so undurchsichtig und für
144 Lofwyr
GEPOSTET VON: WYRM WATCHER
Saeder-Krupp scheinbar bedeutungslos sie auch sein mögen, der Auf-
merksamkeit des Großen Drachen und seines gewaltigen Imperiums
entgehen können. Ich muss wohl nicht extra betonen, dass Geschäfte
in Lofwyrs Hinterhof im besten Fall als „heikel“ bezeichnet werden
können, denn niemand kann mit Sicherheit sagen, wo (oder wann)
seine Interessen mit denen des Drachen in Konflikt geraten. Um die
Sache für Konzerne, die in Europa Geschäfte betreiben wollen, noch zu
verkomplizieren, hat Lofwyr dazu beigetragen, im Juni 2063 die Neue
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (NEEC) ins Leben zu rufen, auf
die er und sein AAA-Konzern beträchtlichen Einfluss ausüben. Viele
glauben, dass die NEEC eigentlich nur von Lofwyr gegründet wurde,
um seine politische Machtbasis in Europa zu verstärken und gleichzei-
tig seine nicht-europäischen Konkurrenten zu behindern. Eine Zeit
lang hat sich Lofwyrs politischer Einfluss bis nach Nordamerika er-
streckt, wo er von 2036 bis 2062 im Rat der Prinzen von Tír Tairngire
saß, auf Wunsch des damaligen Hohen Prinzen Lugh Surehand.
> Vieles von dem, was Lofwyr als Prinz unternahm, wird immer
noch von der gegenwärtigen Tír-Regierung unter Verschluss gehal-
ten oder ging (praktischerweise) beim zweiten Matrixcrash verlo-
ren. Es geht jedoch das Gerücht, dass einer der Gründe, weshalb
Lofwyr bereit war, einen Sitz im Prinzenrat anzunehmen, der war,
dass er bestimmte wichtige Interessen im Tír verfolgen wollte. Ge-
rüchte auf Shadowland aus der Zeit deuten an, dass Lofwyr einen
Hort innerhalb von Tír Tairngire gehabt haben könnte, während
andere vermuten, dass der Drache vielleicht ein Nest mit Eiern in
der Elfennation hatte. Doch diese Spekulationen scheinen mittler-
weile irrelevant zu sein. Wenn Lofwyr einen Hort oder ein Nest im
Tír hatte, dürfte er sie bis zu seinem Rücktritt aus dem Rat längst
ausgeräumt haben.
> Frosty
> Nur weil Lofwyr jetzt kein Tír-Prinz mehr ist, heißt das noch
lange nicht, dass die alte Goldschnauze nicht mehr daran arbei-
tet, seinen Einfluss in Nordamerika auszuweiten. Seit er vor einem
Jahrzehnt von seinem Prinzenposten zurückgetreten ist, hat Sae-
der-Krupp Nordamerika sowohl in den NAN als auch in der CAS ein
stetiges Wachstum erlebt. Und jetzt, wo die UCAS-Regierung Ares
wegen dessen jüngster Fehltritte zunehmend die kalte Schulter
zeigt, sieht es so aus, als würde Saeder-Krupp seine Bemühungen
verstärken, sich auch in die UCAS auszubreiten – angefangen mit
den Regierungsverträgen, die noch vor einem Jahrzehnt automa-
tisch an Ares gegangen wären. Anscheinend richtet Lofwyr seinen
Blick jetzt auf Dunkelzahns alte Jagdgründe in DeeCee.
> Kay St. Irregular
> Dunkelzahn würde sich bei dem bloßen Gedanken daran im Gra-
be umdrehen. Falls er, natürlich, ein materielles Grab hätte.
> Slamm-0!
> Jetzt warte mal. Es gab Gerüchte, dass Lofwyr ein Nest mit
Dracheneiern hatte? Soll das heißen, dass heute irgendwo ein paar
Mini-Lofwyrs rumlaufen könnten? Ich glaube mal gehört zu haben,
dass Dracheneier ungefähr fünfzig Jahre brauchen, um heranzu-
reifen, und da er jetzt seit einundsechzig Jahren erwacht ist...
rechnet selber nach.
> Sticks
> Ich weiß nicht. Warum fragst du ihn nicht selbst? Ich bin sicher, er würde nur
zu gerne über seine Familie plaudern. Und wenn du schon dabei bist, dann
frag ihn doch nach dieser speziellen Beziehung, die er zu Ludmilla Reanka,
der Chefin von S-K Nordamerika, hat. Ich bin mir sicher, dass er auch darüber
gerne reden wird. Aber vergiss nicht deine feuerfeste Rüstung.
> Slamm-0!

> Wo wir gerade von Ludmilla reden – seit die Spannungen zwischen Lofwyr
und Hestaby zugenommen haben, hat es eine zunehmende Zahl von Dro-
hungen gegen Ludmilla gegeben, hauptsächlich von Gruppen, die
man als militante Drachengegner bezeichnen könnte. Als Re-
aktion darauf hat Lofwyr die Sicherheitsvorkehrungen für sie
verdoppelt, offenbar sehr zu Ludmillas Missfallen. Ich frage
mich, welche Art von Arbeit wohl für den Rest von uns ab-
fällt, sollten diese Drohungen tatsächlich Früchte tragen.
> Frosty

Lofwyrs Name ist praktisch ein Markenzeichen für sich,

vor allem in der Welt des Marketing, der Werbung und
der Öffentlichkeitsarbeit. Darüber hinaus ist er auch noch
der mysteriöseste und rätselhafteste der Großen Drachen,
der seine langfristigen Pläne mit niemandem teilen will.
Ein Rätsel ist er oft sogar für die anderen Großen Drachen,
von denen er viele dauerhaft auf Abstand hält. In einer Welt, in der globale
Kommunikation überlebenswichtig ist, hat Lofwyr keine metamenschliche
Stimme, durch die er mit der Metamenschheit außerhalb seines Konzern-
imperiums kommunizieren kann. Fast die gesamte Medienpräsenz von
Saeder-Krupp wird durch die metamenschlichen Angestellten der Abteilung

ANDERE
für Öffentlichkeitsarbeit abgewickelt. Dieses Fehlen einer öffentlichen Per-
sona, in Verbindung mit den seltenen Gelegenheiten, bei denen man Lof-
wyr dabei beobachtete, wie er sich im Himmel über einigen europäischen
Sprawls mit rivalisierenden Drachen anlegte (und seinen Gegner dabei für
gewöhnlich vernichtete), haben dazu beigetragen, Lofwyrs Ruf als einer der
mächtigsten und gefürchtetsten Großen Drachen der Welt zu festigen.
Konzernmanager, sogar bei Saeder-Krupp selbst, fürchten seine gna-
denlosen Geschäftstaktiken, seine Aggressivität, seine Dominanz bei Vor-
standssitzungen und seine Fähigkeit, in diesem anscheinend sorgfältig in-
szenierten Schachspiel zwischen dem Großen Drachen und dem Rest der
Welt seinen Konkurrenten und Feinden immer mindestens einen Schritt
voraus zu sein. Shadowrunner erschauern, wenn sie einen Run für oder
gegen Saeder-Krupp erledigen sollen, aus (wahrscheinlich unbegründeter)
Angst davor, im Laufe des Jobs möglicherweise mit dem goldenen Drachen
selbst zusammenzutreffen. Lofwyr ist einer der Hauptgründe, weshalb es die
Regel „Lass dich nie mit einem Drachen ein!“ gibt. Er kann kalt und berech-
nend sein, rachsüchtig und übellaunig, und er ist selten nachsichtig. Es gibt
ein Zitat von ihm, das möglicherweise nicht echt ist, aber angeblich während
einer Vorstandssitzung geäußert worden sein soll, und das seine Philosophie per-
fekt formuliert: „Wenn ich den Eröffnungszug zu einem Plan gemacht habe, sei es
durch direkte Verhandlungen, durch Gewaltaktionen oder durch kluges Taktieren,
dann habe ich schon gewonnen.“
Lofwyrs Fähigkeit, auf Jahre oder sogar Jahrzehnte im Voraus zu planen, sollte auf kei-
nen Fall unterschätzt werden. Während die meisten Megakonzerne von Deus’ und Win-
ternights Anschläge auf die Matrix 2064 völlig überrascht wurden und daher beim Crash
weitreichende Schäden erlitten, hatte Saeder-Krupp in weiser Voraussicht Notfallpläne
aufgestellt, die es möglich machten, den Konzern und den größten Teil Europas im Falle
einer Katastrophe von der Matrix zu trennen. Das Ergebnis war, dass Saeder-Krupp von
allen Megakonzernen die geringsten Schäden erlitt und sofort dazu übergehen konnte,
seinen Marktwert zu erhöhen, während seine Konkurrenten noch dabei waren, sich
vom Crash zu erholen. Die anderen Megakonzerne mussten sich mit internen Tur-
bulenzen, desaströsen Schäden und manchmal sogar brutalen Kämpfen auseinan-
dersetzen, nur um zu überleben, doch Saeder-Krupp erzielte enorme Gewinne
und florierte in den Jahren nach dem Crash 2.0 und hatte keine Probleme
damit, der größte Konzern der Welt zu bleiben.

Lofwyr 145
 Historisch gesehen ist Lofwyrs größter und erbittertster Konzern-
rivale Ares Macrotechnology. Ares konkurriert auf vielen Märkten mit
Saeder-Krupp, hauptsächlich in Waffen, Munition, Schwerindustrie
und Luftfahrttechnologie. Nichts würde Lofwyr mehr entzücken, als
Damien Knight und Ares in Flammen aufgehen zu sehen. Um auf
dieses Ziel hinzuarbeiten, heuert Lofwyr immer wieder Runner an, um
von außen intensiven Druck auf Ares auszuüben. Wenn man Matrix-
gerüchten Glauben schenken darf (und ich bin sicher, Lofwyr tut es),
dann gibt es bei Ares bereits interne Differenzen zwischen Knight, Vo-
gel und Aurelius. In den letzten Jahren ist auch NeoNET auf Lofwyrs
Feindesliste nach oben gewandert, als es sich einen Sitz in der NEEC
sicherte. Seit ein paar Jahren kommt es immer wieder zu offenen Aus-
einandersetzungen zwischen Lofwyr/S-K und NeoNET innerhalb der
NEEC, wobei der Drache versucht, eine weitere Expansion von Neo-
NETs Einfluss in Europa zu verhindern.
> Die Person, die am besten über Lofwyrs rachsüchtige Seite
Bescheid gewusst haben dürfte, war Wilhelmina (Mina) Graff-Be-
loit, die ehemalige CEO von BMW. Sie wurde 2037 von dem Weis-
wurm ohne Umschweife gefeuert, nachdem er durch Strohmän-
ner, Scheinfirmen und andere Hinterzimmerdeals unglaubliche
63 Prozent der BMW-Aktien gekauft hatte. Mina wehrte sich mit
Händen und Füßen, zuerst indem sie versuchte, Lofwyr umbrin-
gen zu lassen. Als das fehlschlug, begann sie einen Feldzug, um
die Interessen des Drachen zu sabotieren. Es heißt, Lofwyr habe
sie für ihren Mut und ihre Kühnheit, sich ihm entgegenzustellen,
bewundert, doch das hielt ihn nicht davon ab, sie zu vernichten.
Er wischte sie weg, richtete ihr gesamtes Vermögen zugrunde
ANDERE
und brachte alle ihre Kontakte und jeden um, der ihr auch nur im
Entferntesten loyal gesinnt war. Einige Verschwörungstheoretiker
behaupten sogar, dass er für den Schlaganfall verantwortlich war,
den sie im Zürich-Orbital erlitt, ungefähr zur gleichen Zeit, als
Lofwyr Nachtmeister tötete. Es dauerte noch sieben Monate, bis
sie am 25. Januar 2063 starb, ohne Zweifel von ihrem blanken
Hass am Leben erhalten.
> Fianchetto
> Man sollte nie vergessen, dass ungeachtet der ganzen Pres-
sescheiße wirklich jeder Große Drache extrem rachsüchtig und
übellaunig sein kann, nicht nur Lofwyr. Selbst der allseits gefei-
erte verstorbene UCAS-Präsident Dunkelzahn, der unentwegt als
„metamenschenfreundlich“ lobgepriesen wurde und wird, zeigte
dieselben Charakteristika. In seinem Testament beraubte Dunkel-
zahn ein armes Schwein sämtlicher Bürgerrechte und ließ ihn eine
ganze Woche lang von anderen jagen, die scharf auf die ansehn-
liche Belohnung auf seinen Kopf waren. Niemand weiß, ob der Kerl
überlebt hat, aber es spielt auch keine Rolle. Im Endeffekt sind
alle Drachen eiskalt. Das ist ihre Natur. Etwas anderes anzunehmen
oder zu glauben, hieße, an eine Lüge zu glauben.
> begangen hatte. Bis zu diesem historischen Tag hatten sich alle Großen
> Eine andere wichtige Sache, die man über Lofwyr wissen sollte:
Er hockt nicht einfach nur in seiner Konzernfestung und überwacht
sein riesiges Imperium von seinem Durastahl-Schloss aus. Er küm-
mert sich genauso gern selbst um alles. Es gibt Berichte aus erster
Hand, dass Lofwyr manchmal persönlich Shadowrunner anheuert
(was natürlich die Befürchtung vieler Runner verstärkt, dass sie
bei S-K-Jobs mit Lofwyr zusammentreffen könnten). Gerüchte und
Geschichten in der Matrix deuten darauf hin, dass Lofwyr Run-
ner unter dem Decknamen „Hans Brackhaus“ anheuert, der übli-
cherweise von S-K-Johnsons verwendet wird. Er hat noch ein paar
weitere Identitäten und Decknamen, die er aber nicht öffentlich
kundtut. Das letzte Mal, bei dem Lofwyr anscheinend persönlich
146 Lofwyr
Shadowrunner angeheuert hat, liegt drei Monate zurück, als Hans
Brackhaus Runner beauftragte, Geheimdienstnachrichten zwischen
Horizon und Amazonien abzufangen, die etwas mit dem Krieg zu
tun hatten. Lofwyr schien sich dabei besonders für die Aktivitäten
von Metamenschen und Drachenartigen in und um Bogotá zu in-
teressieren. Es scheint, dass Lofwyrs Interesse an der Stadt seit
Ausbruch des Krieges noch zugenommen hat. Da fragt man sich
doch, was er wohl über die Region weiß und was seiner Meinung
nach dort von Wert sein könnte, oder?
> Cosmo
Neben seiner rohen Kraft, seiner imposanten Präsenz und seinem
außergewöhnlichen Geschäftsverstand ist Lofwyr auch ein Überle-
benskünstler. Seit März 2012, als er in die Sechste Welt erwachte, hat
Lofwyr zahlreiche Mordanschläge überlebt. Er hat Anschläge durch
Metamenschen und direkte Konfrontationen mit anderen Drachen
überlebt. 2012 unterstützte Lofwyr einen anderen Drachen, Nebel-
herr, in seinem Kampf gegen Kaltenstein und half Nebelherr, den
stärkeren Drachen zu besiegen. Warum Lofwyr Nebenherr half, wurde
nie bekannt. Eine verbreitete Vermutung ist, dass Lofwyr es tat, da-
mit Nebelherr in seiner Schuld stand. Angeblich soll Nebelherr diese
Schuld noch heute, einundsechzig Jahre danach, abbezahlen. Am 21.
Juni 2062 kämpfte Lofwyr am Himmel über Frankfurt gegen einen
anderen Großen Drachen, Nachtmeister, und tötete ihn. Im Lau-
fe der Jahre hatte Nachtmeister sich als ernsthafter Dorn in Lofwyrs
Auge erwiesen und war immer wieder mit Saeder-Krupps Interessen
im Frankfurter Bankenverein aneinandergeraten. Man vermutet, dass
Lofwyr mit diesem schicksalhaften Tag viele seiner europäischen Fein-
de ernsthaft schwächen konnte, indem er ihren stärksten Verbündeten
tötete, was dazu führte, dass der Frankfurter Bankenverein sich nicht
mehr so ohne Weiteres gegen Saeder-Krupps Interessen stellen konn-
te. In diesen wenigen, sorgsam ausgewählten Kämpfen demonstrierte
Lofwyr seine Bereitschaft, sich auch physisch mit anderen Drachen
auseinanderzusetzen, auch mit Großen Drachen, und zeigte keinerlei
Anzeichen, sich seine Überlegenheit über seinesgleichen und natürlich
auch über die Metamenschheit streitig machen zu lassen.
Ein Ereignis der jüngsten Zeit mag Lofwyr jedoch gezwungen ha-
ben, einige seiner langfristigen Strategien zu überdenken und zu mo-
difizieren, vor allem, was die anderen Großen Drachen angeht. Das
besagte Ereignis hat die Loyalitäten der Drachen gespalten und könn-
te dazu führen, dass sich innerhalb der Drachenkultur neue Verbin-
dungen und Bündnisse bilden. Diese Spaltung begann mit der Rede
Hestabys vor der UNO im Juli 2073, in der sie die Vollversammlung
vor einer zunehmenden Feindseligkeit gegenüber der Metamenschheit
seitens der Großen Drachen warnte. In derselben Rede verurteilte sie
Sirrurg wegen der Gräueltaten, die er in Süd- und Mittelamerika an
unschuldigen Metamenschen begangen hatte, und sagte den Vereinten
Nationen ihre Unterstützung bei den Bemühungen zu, Sirrurg wegen
der Kriegsverbrechen anzuklagen, die er im Amazonien-Aztlan-Krieg
Drachen an die Tradition gehalten, ihre Meinungsverschiedenheiten
und Fehden privat auszutragen und in der Öffentlichkeit respektvoll
miteinander umzugehen. Drachen schienen alles zu tun, damit Me-
tamenschen nicht zu sehr in ihre persönlichen Auseinandersetzungen
mit anderen Drachen hineingezogen wurden. Doch das änderte sich,
als Hestaby ihre Rede vor der UNO hielt und die wahre Einstellung
einiger Drachen gegenüber der Metamenschheit enthüllte. Angesichts
Lofwyrs hohen Rangs in der Drachengesellschaft (man vermutet,
dass er der Sagenmeister ist) mag er es für notwendig erachtet haben,
diesem Bruch mit den heiligen Traditionen und Gebräuchen ein so-
fortiges Ende zu setzen, und sei es nur, um zu verhindern, dass noch
andere Große Drachen ihr Schweigen brechen und ungeahnte dunkle
Geheimnisse über ihn verbreiten.
 Exakt eine Minute nach dem Ende von Hestabys Rede wurde der An-
führer der Shasta-Schamanen ermordet. Ein in Deutschland hergestelltes
Scharfschützengewehr wurde am Tatort gefunden, und sofort wurden Spe-
kulationen laut, Lofwyr sei für den Anschlag verantwortlich. Er selbst schweigt bis jetzt dazu.
Offenbar glaubte Hestaby den Gerüchten und schlug eine Woche später mit einem Rachefeldzug zu-
rück, bei dem sie wichtige Aktivposten von Saeder-Krupp im Nahen Osten zerstörte, darunter auch die
Zentrale von Saeder-Krupp Middle East in Dubai. Es gibt Gerüchte, dass Masaru, ein enger Verbündeter
Hestabys, nach ihrer Rede am Mount Shasta gesehen wurde, und auch Rhonabwy soll eine Nachricht an
Hestaby geschickt haben, in der er ihr seine Unterstützung zusagte. Für viele Beobachter sieht das so aus,
als würde sich eine Kluft zwischen den Drachen auftun.
Das alles scheint Lofwyr zum ersten Mal seit seinem Erwachen ins Hintertreffen gebracht zu haben.
Aus Lofwyrs Sicht mag es eine Sache sein, sich einem einzelnen Großen Drachen im Kampf stellen
zu können, mag es nun eine direkte physische Konfrontation sein oder auf subtileren, ver-
schlungeneren Wegen geschehen; aber wenn man es mit mindestens drei (und im Laufe
der Zeit vielleicht noch mehr) mächtigen Großen Drachen zu tun hat, die als geschlos-
sene Front agieren, dann kann das niemand, nicht einmal jemand so Mächtiges wie
Lofwyr, über längere Zeit überleben. Und angesichts seiner wackligen Beziehungen
mit fast allen anderen Großen Drachen könnte Lofwyr die Notwendigkeit ver-
spürt haben, schnell zu handeln, damit die anderen Drachen nicht „Blut lecken“
und die Gelegenheit nutzen, sich mit Hestaby zu verbünden und kollektiv
über ihn herzufallen.

> Meine Lieblingstheorie über die Ermordung von Eliot Eyes-of-

Wyrm: Es war nicht Lofwyr, sondern Alamais, der den Anschlag
arrangierte. Für diejenigen, die nicht wissen, wer Alamais
ist: Man vermutet, dass er ein Bruder von Lofwyr ist.
Und zum Pech für Lofwyr scheint es zwischen ihm und
Alamais nichts mehr zu geben außer einer erbitterten

ANDERE
Blutsfehde, die nur mit dem Tod eines der beiden enden
kann – ich würde auf Alamais tippen, wenn ich eine Wette
abschließen müsste.
Als Alamais erfuhr, dass Hestaby vor der UNO sprechen würde, erkann-
te er die Gelegenheit, seinem Bruder etwas in die Schuhe zu schieben,
denn er wusste, dass die meisten Leute sofort Lofwyr für das Verbrechen
verantwortlich machen würden. Und es würde Hestaby so aufbringen,
dass sie schließlich vielleicht versuchen würde, Lofwyr den Garaus zu
machen. Und wenn ein Drachenkrieg ausbräche, würde das den antime-
tamenschlichen Drachen die Gelegenheit geben, den Metamenschen die
wahre Macht der Drachen zu demonstrieren und uns auf den uns zustehen-
den Platz unter ihren Klauen zu verweisen, was Alamais schon seit Jahren
fordert.
Meine Theorie wird weiter dadurch unterstützt, dass nach
allem, was ich in der Allianz Deutscher Länder gehört habe,
Lofwyr direkt nach der Ermordung Eliot Eyes-of-Wyrms
seine Schattenteams auf mehrere Ziele angesetzt hat,
die Alamais gehören. Während der Woche, als wir
alle wussten, dass Hestabys Rache kommen würde,
wurden vier gesuchte Extremisten, die
zu Gruppen gehörten, die von Alamais
unterstützt wurden, von Interpol ge-
fasst, und etwas zwischen zwölf und
dreißig ihrer globalen Terrorzellen
wurden von Lone Star und anderen
Sicherheitsfirmen gesprengt. Nach
allem, was ich weiß, läuft dieser
Feldzug gegen Alamais’ Interes-
sen immer noch, auch nachdem
Hestaby sich auf Lofwyr gestürzt
hat. Ich sollte noch hinzufügen,
dass Lofwyr sehr wütend darüber
ist, dass man ihm die Schuld für den
Mord in die Schuhe schiebt.
> Sunshine

147
 > Es sind offenbar nicht nur Drachen, die Blut geleckt haben. Seit
Hestabys Angriffen auf Saeder-Krupp im Nahen Osten und den
Störungen von S-Ks dortigen Aktivitäten wurde in einigen Presse-
mitteilungen behauptet, Saeder-Krupp sei in den Konzernrankings
vorübergehend vom ersten auf den zweiten Platz, direkt hinter Neo-
NET, abgerutscht. Die überwiegende Mehrheit an Veröffentlichungen
listet immer noch Saeder-Krupp als den weltgrößten Konzern, aber
sollte es zu einem länger anhaltenden Kampf gegen Hestaby und
mögliche Verbündete von ihr kommen, könnte Saeder-Krupps Titel
in ernster Gefahr sein und zum ersten Mal in der Geschichte an Neo-
NET fallen. Ich bin sicher, dass NeoNET hinter den Kulissen Hestaby
„helfen“ wird, und sei es nur, um diesen begehrten Titel und die
damit einhergehende Medienaufmerksamkeit zu erhalten.
> Dr. Spin
> Diese „Pressemitteilungen“, die behaupten, NeoNET sei die neue
Nr. 1, wurden nicht zufällig von NeoNET selber oder von Tochter-
firmen herausgegeben?
> Snopes
Aus diesem Grunde scheint Lofwyr in den letzten Wochen Frie-
densangebote in Richtung Ghostwalker und Lung ausgeschickt zu ha-
ben. Viele mögen denken, dass diese beiden eine ungewöhnliche Wahl
als potenzielle Verbündete sind und dass ein Friedensangebot an sie ein
Zeichen der Verzweiflung seitens des goldenen Drachen sein könnte,
aber es gibt Gründe für Lofwyrs Wahl. Ghostwalker ist kein großer Be-
fürworter der Metamenschheit, ist es nie gewesen. Seine Art und Wei-
se, über Denver zu herrschen, könnte man mit der eines mittelalterli-
ANDERE
chen Königs vergleichen. Er hat die Bürgerrechte in der Front Range
Free Zone eingeschränkt und gleichzeitig seine eigene Herrschaft über
Denver gefestigt. Viele Leute bezeichnen diese Politik der harten Hand
als tyrannisch. Obwohl Ghostwalker immer wieder öffentlich seine
Abneigung gegen Saeder-Krupp und Lofwyr gezeigt hat, gibt es doch
mildernde Faktoren, die Lofwyr dazu benutzen könnte, um Ghost-
walker davon zu überzeugen, dass eine Allianz, egal wie befristet und
wacklig sie auch sein mag, zu seinem eigenen Besten wäre.
Lofwyr könnte damit argumentieren, dass es die Metamenschen
und ihre leichtfertige Anwendung der Beschwörungsmagie waren,
die Zebulon vernichteten, den Geist von Denver, der (aktuellen Ge-
rüchten zufolge) eine sehr enge Beziehung zu Ghostwalker hatte. Und
keiner der beteiligten Zauberer kam aus Aztlan, für dieses Verbrechen
muss also noch der Gerechtigkeit Genüge getan werden. Lofwyr kann-
te noch nie irgendwelche Skrupel, zu seinem eigenen Vorteil mit den
Gefühlen anderer zu spielen. Zweitens waren es Metamenschen, die
dafür verantwortlich waren, dass Denver mit schädlichen Geistern und
kranker Magie verunreinigt wurde. Es dürfte Lofwyr nicht schwerfal-
len, Ghostwalker davon zu überzeugen, dass alle Probleme und Schädi-
gungen, die seine Domäne im Laufe der Jahre über sich ergehen lassen
musste, von Metamenschen verursacht wurden und dass dies die ideale
Gelegenheit wäre, alle Zurückhaltung, die er bis jetzt gegenüber den
Einwohnern Denvers gezeigt hat, fallen zu lassen und eine lange Liste
von offenen Rechnungen zu begleichen. Lofwyr könnte darauf hin-
weisen, dass, nur weil Aztlan aus Denver rausgeflogen ist (und gerade
dabei ist, sich auf dem Umweg über den PCC wieder hineinzumo-
geln), das noch lange nicht heißt, dass alle, die sich an Ghostwalkers
Interessen in Denver vergangen haben, entlarvt und bestraft worden
sind. Und bei der weltweit zunehmenden antidrachischen Stimmung
könnte Ghostwalker eine Allianz durchaus als notwendiges Übel be-
trachten, das seinen langfristigen Drachenplänen am besten dient.
> Man sollte auch nicht vergessen, mit welcher Entschlossenheit
Ghostwalker Aztlan (und Aztlans langen Konzernarm Aztechnology)
loswerden will. Lofwyr könnte Ghostwalker seine Hilfe dabei anbie-
148 Lofwyr
ten, irgendwann in der Zukunft dieses Ziel zu erreichen, als Gegen-
leistung für seine Hilfe gegen Hestaby und die anderen Drachen
jetzt. Bei Lofwyrs Ressourcen dürfte ein solches Angebot für Ghost-
walker recht verlockend sein, wenn nicht sogar unwiderstehlich.
> Frosty
> Falls irgendwelche Fühler dieser Art in Richtung Denver ausge-
streckt wurden, ist es bislang noch zu keiner dramatischen ableh-
nenden Reaktion gekommen (also kein Kopf eines Kuriers, der auf
einen Speer aufgespießt in den Rhein-Ruhr-Plex zurückgeschickt
wurde, oder dergleichen). Also können wir das wohl als Zeichen
deuten, dass Ghostwalker zumindest bereit sein dürfte, Lofwyr zu
diesem Thema anzuhören.
> Kay St. Irregular
Auch dass Lung sich in diesem Konflikt möglicherweise auf Lof-
wyrs Seite stellt, dürften viele für unwahrscheinlich halten. Im Großen
und Ganzen, wenn man seine öffentlichen Begegnungen mit Meta-
menschen als Maßstab nimmt, hat Lung ein relativ gutes Verhältnis
zur Metamenschheit, und nichts deutet darauf hin, dass Lung die Ab-
sicht hat, Lofwyrs Lager zu verstärken, vor allem wenn es dabei darum
geht, die Dominanz der Drachen über die Metamenschenwelt zu si-
chern und Rache für Dzitbalchéns Tod 2064 zu nehmen. Die meisten
Leute sind davon überzeugt, dass Lung Dzitbalchéns Ermordung al-
lein als Werk Aztlans und nicht als Schuld der gesamten Metamensch-
heit ansieht. Allerdings würden viele Lung-Experten einwenden, dass
Hestabys krasse Missachtung einiger heiliger Drachengebräuche und
-traditionen ihn wahrscheinlich zu einem Feind Hestabys gemacht hat.
Keiner in der Drachenwelt scheint sich mehr den Traditionen und Ge-
bräuchen verpflichtet zu fühlen als Lung. Und da Lofwyr einen hohen
Rang in der Drachenkultur innehat (und gegenwärtig dank Dunkel-
zahns Testament im Besitz des Juwels der Erinnerung ist), dürfte es
für ihn ein Leichtes sein, eine wenn auch wacklige Allianz mit Lung
zu schmieden und seine Dienste einzufordern, indem er sich auf eben
die Gebräuche beruft, die Hestaby zu verleugnen scheint – und denen
viele Drachen immer noch auf fast religiöse Weise anhängen.
> Das Juwel der Erinnerung? Ich dachte, es gab da vor Jahren eine
Geschichte, dass Alamais es von Lofwyr gestohlen hat. Täusche
ich mich?
> Ma’fan
> Nein, du hast recht. Aber wenn man bedenkt, dass Lofwyr nach
der Testamentseröffnung als Erster bei der Draco Foundation auf-
tauchte, um sein Artefakt in Empfang zu nehmen, bin ich mir si-
cher, dass er ein kleines Vermögen ausgegeben hat, um es von
Alamais wiederzubeschaffen. Außerdem hatte er mehr als ein Jahr-
zehnt Zeit dafür. Das ist für jemanden, dem so umfangreiche Res-
sourcen zur Verfügungen stehen wie Lofwyr, mehr als genug Zeit.
Es sich nach dem Diebstahl nicht zurückzuholen, vor allem, wenn
es von einem anderen Großen Drachen gestohlen wurde, dürfte als
Zeichen der Schwäche seitens Lofwyrs angesehen werden. Und wie
jedem eigentlich klar sein dürfte, ist das etwas, was Lofwyr nie
zulassen würde.
> Frosty
Für jemanden, der so wenige Freunde, ob Drachen oder Metamen-
schen, an seiner Seite zu haben scheint, ist Lofwyr offenbar trotzdem
perfekt in der Lage, andere dazu zu manipulieren, ihm zu helfen oder
in seine Dienste zu treten, um so alle Wirren zu überleben und sei-
ne uralten Pläne weiter zu verfolgen. Wieder einmal läuft es auf ein
Schachspiel hinaus und auf die Frage, wen Lofwyr als Schachfiguren
einsetzt (ob sie es wollen oder nicht).
LOFWYR

K G R S C I L W M EDG ESS INI ID

32 15 13 57 23 22 24 24 27 6 12 35 2

Zustandsmonitor (K/G): 24/20

Panzerung (B/S): 20/20

Bewegung: 23/60 (45/90 Flug)

Reichweite: +2

Fertigkeiten: Arcana (Kampfzauberdesign) 6 (+2), Askennen 9, Astral-

kampf 6, Ausweichen 6, Beschwören-Fertigkeitsgruppe 8, Einschüch-
tern 6, Exotische Fernkampfwaffe 8, Fliegen 6, Führung (Überzeu-
gen) 9 (+2), Gebräuche 6, Hexerei-Fertigkeitsgruppe 12, Überreden
(Schnellreden) 7 (+2), Unterricht 5, Verhandlung (Absichten erspüren)
9 (+2), Verzaubern, 6, Waffenloser Kampf 7, Wahrnehmung 9

Wissensfertigkeiten: Ares 6, Aztechnology 5, Drachengebräuche 6, Dra-

chengeschichte 8, Drachengesellschaft 6, Evo 4, Horizon 5, Konzern-
politik (Konzerngerichtshof ) 6 (+2), Metamenschliche Geschichte 3,
Metamenschliche Psychologie 5, Mitsuhama 4, NeoNET 6, Öffent-

ANDERE
lichkeitsarbeit 6, Reden halten 6, Renraku 4, Shiawase 4, Tír-Tairngire-
Politik 5, Wuxing 4, Arabisch 5, Chinesisch 6, Dänisch 4, Deutsch M,
Englisch 6, Französisch 5, Italienisch 5, Japanisch 6, Russisch 5, Spa-
nisch 5

Kräfte: Bewusstsein, Drachensprache, Dualwesen, Einfluss, Elementarer

Angriff (Feuer), Gesteigerte Sinne (Breitbandhören, Geruch, Restlicht-
verstärkung), Gift, Grauen, Infrarotsicht, Metamenschliche Gestalt,
Mystischer Panzer 20, Natürliche Waffe (Biss/Klauen: 20K, PB –6),
Schicksalsmacht, Verstärkter Panzer 20, Zwang

Gaben: Schnellheilung, Zauberer

Initiatengrad: 25+

Metamagie: Abschirmung, Absorption, Anrufung, Erweiterte Maskierung,

Filterung, Flexible Signatur, Geomantie, Intensivierung, Maskierung,
Reinigung, Spiegelung, Strömung, Weissagung, Verankerung

Zauber: Beeinflussen, Blitzstrahl, Böse Ahnung, Dekontamination, Druck-

welle, Elf Erschlagen, Elfen Aufspüren, Energieblitz, Feinde Aufspüren
(Erweitert), Feuerball, Feuerwand, Feuerwasser-Aura, Flammenwer-
fer, Gedankenmuster, Geisterlöscher, Geistessonde, Heilen, Hellsicht,
Kampfsinn, Kugelblitz, Manabarriere, Manablitz, Mensch Erschlagen,
Mob-Bewusstsein, Mob-Laune, Napalmwand, Offensive Manabarrie-
re, Ork Erschlagen, Panzerung, Physische Barriere, Raketen Vernichten,
Schusswaffen Vernichten, Todeshand, Troll Erschlagen, Übersetzen,
Verbesserte Unsichtbarkeit, Versteinern, Verwirrung, Waffenfokus Ver-
drängen, Wahrheit, Wahrheit Analysieren, Winterschlaf

Geister: 5 Erdgeister (Kraft 10), 1 Feuergeist in Großer Gestalt (Kraft

15), 5 Helfergeister (Kraft 10), 5 Luftgeister (Kraft 10), 4 Schutzgeister
(Kraft 12, als Drake manifestiert)

Lofwyr 149
 LUGH SUREHAND
Lugh Surehand war einst eines der mächtigsten, einflussreichsten und
wichtigsten Staatsoberhäupter der Welt. Als erster (selbsternannter)
Hoher Prinz von Tír Tairngire – und, wie manche behaupten, der
letzte wirkliche Hohe Prinz – hat er in der internationalen Politik mit-
gemischt und das Schicksal einer Nation gestaltet. Er war außerdem
ein machiavellistischer Manipulator höchsten Grades, für den Meta-
menschen nur Schachfiguren in einem großen Spiel waren. So wichtig
Surehand auch gewesen sein mag, er war auf so hoher politischer Ebe-
ne tätig, dass er für das tägliche Leben freiberuflicher Krimineller (wie
all derer, die das hier lesen) praktisch keine Rolle spielte. Der Hohe
Prinz bewegte sich einfach in ganz anderen Kreisen als wir.
Jedenfalls bis er abgesetzt und ins Exil vertrieben wurde.
Als das geschah, veränderte sich alles. Lugh Surehand war frei, kei-
ne Verantwortung hielt ihn mehr davon ab, seine persönlichen Ziele
und Pläne zu verfolgen, ihm standen die vollen Ressourcen des Staats-
schatzes zur Verfügung, den er in seinen letzten Tagen als Herrscher Tír
Tairngires ausgeräumt hatte. Manche sagen, er sei zum gefährlichsten
Mann der Erde geworden, zumindest aber unter den Top Ten. Aber was
noch wichtiger ist: Er betrat unser Spielfeld. Er wurde zu einem poten-
ziellen Auftraggeber – und zu einer potenziellen Zielperson.
Um das Spiel zu verstehen, dass Surehand heute spielt, muss man
wissen, woher er kommt. Das Problem ist nur: Niemand weiß es.
Lugh Surehand scheint im Jahre 2030 aus dem Nichts erschienen zu
sein. Man weiß von keiner Mutter, keinem Vater, keinen Geschwis-
ANDERE
tern, und der Name Surehand selbst scheint eine Erfindung zu sein.
2035, nur fünf Jahre nach seinem ersten öffentlichen Auftreten, er-
klärte Surehand die Geburt und Unabhängigkeit einer neuen Nation,
die er im südlichen Teil des damaligen Gebietes des Salish-Shidhe-
Rates ausrief. Ihr fragt euch vielleicht, was genau Surehand in diesen
fünf entscheidenden Jahren trieb. Wie man sich denken kann, hat er
nicht nur Däumchen gedreht.
> Dabei, um das Ganze mal mit ein paar Hintergrundinformationen
zu versehen, haben die Salish erst 2029 ihre Grenzen für Metamen-
schen geöffnet. Das macht Surehands kometenhaften Aufstieg an
die Macht in den Grenzen dieser Nation noch erstaunlicher.
> Traveler Jones
> Ein Cascade Crow namens Walter Bright Waters, der im Rat der
Salish-Shidhe saß, trug entscheidend dazu bei, die Salish dazu
zu bringen, Metamenschen zu akzeptieren, eine Entscheidung, die
etwa um die Zeit seines Todes 2028 offiziell getroffen wurde. Für
einen Menschen hatte er eine verblüffende Ähnlichkeit mit Ehran
dem Schreiber.
> Man-of-Many-Names
Als Surehand 2030 auftauchte, kam er nicht allein. Mit ihm kamen
zwei seiner engsten Freunde und Mitstreiter, Sean Laverty und Aithne
Oakforest. Die beiden erschienen genauso mysteriös auf der Bildfläche
wie Surehand, und beide gehörten zu den Prinzen des ersten Rates von
Tír Tairngire.
> Mysteriös? Wirklich? Haben die Medien denn nie Nachfor-
schungen über ihre Vergangenheit angestellt? Ich finde, das ist
etwas schwer zu schlucken. Sie alle waren zumindest mittelmäßig
berühmt. Sollen wir wirklich glauben, dass sie nie ein Interview
gaben, nie eine Biographie schrieben, sich nie auf irgendeine Wei-
se darüber äußerten, was sie vor 2030 gemacht haben?
> Sunshine
150 Lugh Surehand
GEPOSTET VON: FROSTY
> Das ist unheimlich, hm?
> Haze
Oakforest und Laverty stürzten sich sofort in die Salish-Shidhe-
Politik und forderten eine Neubesiedlung der südlichen Städte, die
während der Konflikte und Gewalttaten um den Vertrag von Den-
ver verlassen worden waren. Ihr Plan einer Renaissance des südlichen
Salish-Shidhe – einer Renaissance, die einen Ort für Einwanderer, vor
allem für Metamenschen, schaffen würde – zog viele gleichgesinnte
und brillante Köpfe an, vor allem Wissenschaftler, Techniker und In-
genieure. Surehand wurde zu einem der Wortführer dieser Bewegung,
und seine Erinnerungen an die damalige Zeit, Die Verheißung, hielten
sich jahrelang in den Bestsellerlisten. Diese Position erwies sich auch
als förderlich bei seiner Wahl zum ersten Bürgermeister von Portland,
als diese Stadt zur Salish-Nation kam. Als Surehand das Amt des Bür-
germeisters von Portland antrat, waren die ersten Saaten dessen, was
einst Tír Tairngire werden würde, gesät.
In den folgenden vier Jahren erlebte die Region um Portland eine
tiefgreifende kulturelle Umwälzung, und der urbane Kern lockte eine
Bevölkerung von fast einer Million an. Surehand, Oakforest, Laverty
und die anderen aus dem inneren Kreis der engsten Vertrauten – zu-
fälligerweise alles Elfen – krempelten die Infrastruktur der Stadt um
und machten aus der verlassenen Ruine ein modernes Wunder. Und
sie genossen die Unterstützung der Cénesté, einer Untergruppe des
Elfenstammes der Sinsearach. Als Surehand heimlich das Kommuni-
kationsnetzwerk der Stadt duplizierte, einen Polizeiapparat errichtete
und noch weitere Vorbereitungen traf, wurde der Salish-Shidhe-Rat
durch die Berichte von Surehands Agenten, die nichts von Bedeutung
weitergaben, über die Vorgänge in Portland im Ungewissen gehalten.
Als Lugh Surehand – mittels einer privaten Satellitenübertragung von
bisher unbekannter technischer Qualität – die Unabhängigkeit der neu-
en Nation Tír Tairngire, des „Landes der Verheißung“, erklärte, war der
Salish-Shidhe-Rat wie vor den Kopf geschlagen. Surehand hatte bereits
die Grenzen der Region Portland-Salem-Eugene geschlossen und eine
Armee mobilisiert. Die Militärkräfte des Salish-Shidhe-Rates, die eilig
zusammengezogen worden waren, um die Sezession Tír Tairngires nie-
derzuschlagen, wurden von dem beeindruckenden Arsenal an schwerer
Artillerie, das Surehand irgendwie aufgebaut hatte, schwer dezimiert.
Den Salish, wie auch dem Rest der NAN, blieb keine andere Wahl, als
Surehands neue Nation anzuerkennen. Tír Tairngire war jedoch noch
nicht fertig damit, seine militärische Stärke zu demonstrieren, und so
drang eine überraschend gut ausgerüstete, gut ausgebildete und Erwachte
Armee unter Surehands Befehl nach Süden vor, vertrieb die Kalifornische
Nationalgarde aus Redding und biss einen großen Happen Territorium
vom nördlichen Ende des Freistaates Kalifornien ab.
> Es gibt nur eine Möglichkeit, wie Surehand an solche Men-
gen moderner Schwerartillerie gelangen konnte. Er muss sie aus
Konzernquellen erworben haben, allerdings erscheint es unwahr-
scheinlich, dass er über die nötige Liquidität verfügte, sie direkt
zu kaufen. Da Tír Tairngire eine deutlich negative Einstellung ge-
genüber Konzernexpansionen und Extraterritorialität an den Tag
legte, bleibt die Frage offen, was es für den Konzern, der ihn
damals unterstützte, zu holen gab.
> Mr. Bonds
Als Surehand Tír Tairngire schuf, schuf er für sich auch das Amt
des Hohen Prinzen, mit allen Absichten, als Diktator auf Lebenszeit zu
regieren, auch wenn er es nicht so nannte. Selbst als er seine Mitstrei-
ter Aithne Oakforest, Sean Laverty und die elfische Rassistenschlam-
pe Jenna Ni’Fairra (und schließlich auch Ehran den Schreiber) in den
Rat berief, sorgte er dafür, dass es ein System gegenseitiger Kontrolle
> He, Thorn, du scheinst dich sehr deutlich an diesen einen An-
schlag erinnern zu können.
und des Gleichgewichts gab, das leicht so von ihm manipuliert werden
konnte, dass er für alle Zeiten an der Macht bleiben konnte. Doch
> Fianchetto

Surehand schuf nicht einfach nur eine Infrastruktur und eine Regie-
rung. Zusammen mit den anderen Prinzen erschuf er eine elfische > Kein Kommentar.
Kultur, in der Tír Tairngires Image als magisches Land eine wichtige > Thorn
Rolle spielte – es war sauber, intellektuell, wohlhabend, erhaben und
Doch schließlich war auch Surehands Glück zu Ende. Es begann mit
überhaupt besser als jedes andere Land der Welt.
dem Tod des UCAS-Präsidenten Dunkelzahn 2057. Surehands Ent-
Über Jahrzehnte spielte er ein extrem subtiles politisches Spiel, um
scheidung, die Grenzen des Tír zu schließen, hatte katastrophale Aus-
den Einfluss des Prinzenrates zu erhalten und auszuweiten. Indem er sich
wirkungen auf die Wirtschaft. Der direkte Schaden war
den Ruf erwarb, ein unparteiischer Politiker der Mitte zu sein, ein gemä-
schon schlimm genug, aber noch übler war der öko-
ßigter Vermittler und Schlichter, meisterte er die byzantinischen Intrigen
nomische Druck in Form von Schutzzöllen und
des von ihm geschaffenen Systems, während er Tír Tairngire von höchster
Handelsrestriktionen, die dem Tír von seinen
Ebene aus regierte. Während seiner Herrschaft blühte die Wirtschaft auf,
Nachbarn – und hier insbesondere vom Seattle
und Seattle wurde Tír Tairngires offizieller Exporthafen.
Metroplex – auferlegt wurden. Die Tír-Blase
Surehand berief immer mehr Prinzen in den Rat, sorgsam darauf
platzte. Surehand und die anderen Prinzen tru-
bedacht, nur willensschwache Speichellecker und Lakaien auszuwäh-
gen die Last des wirtschaftlichen Niedergangs
len, die er leicht manipulieren konnte, um sich so eine unerschüt-
nicht aus eigener Tasche, sondern erhöhten die
terliche Mehrheit zu sichern. Viele dieser Jasager entwickelten später
Steuern, während sie gleichzeitig den
jedoch eigene politische Ambitionen, die stärker waren als ihre Lo-
Aufstiegsritus, mit dem ein Aufstieg
yalität Surehand gegenüber. Einer von ihnen wurde schließlich sein
in eine höhere Klasse möglich war,
Nachfolger, ein anderer sein größter Feind; darauf komme ich gleich
auf unbestimmte Zeit aussetzten.
noch zurück. Surehand benutzte sein Recht, Prinzen zu ernennen, au-
Beide Maßnahmen riefen eine
ßerdem dazu, Minderheiten im Land zu beschwichtigen, und berief
starke Unzufriedenheit in der
zwei Zwerge, einen Ork (den gegenwärtigen Prinzen Larry Zincan)
Bevölkerung hervor.
und einen Sasquatch in den Rat.
Die Rinelle ke’Tesrae (etwa:
Es heißt, man könne einen Menschen anhand der Stärke seiner
„Rebellen der Turmspitze“)
Feinde beurteilen. Das ist sicher wahr – und auf Surehands aktuelle
war geboren. Die Bewegung
Feinde werden wir gleich noch kommen –, aber das Gleiche kann man
forderte wirtschaftliche und

ANDERE
auch über die Stärke seiner Freunde sagen. Surehand unterstützte die
soziale Reformen, ein Ende
Ernennung erst Lofwyrs und später Hestabys in den Prinzenrat, und
des Isolationismus und noch
in beiden Fällen dienten Timing und Umsetzung perfekt seinen Inter-
einiges mehr und demonst-
essen. Aber so oder so ist Surehand eine Person, die sich schon oft mit
rierte gegen die Korruption
Drachen eingelassen und es nicht nur überlebt, sondern auch noch
und Habgier von
Vorteile daraus gezogen hat.

> Tatsächlich ist Surehand mehrmals nur knapp

mit dem Leben davongekommen, auch wenn
diese Fälle nichts mit Drachen zu tun hat-
ten. Der Hohe Prinz war während seiner Regie-
rungszeit mehrfach das Ziel von Mordanschlägen.
Chimera, die Schwarze Hand, Mossad, CIA, sucht euch
was aus. Surehand selbst soll in mehreren Disziplinen,
vor allem in Carromeleg, eine gründliche Kampfaus-
bildung erhalten haben. Bei einem denkwürdigen An- PERSÖNLICHE DATEN: LUGH SUREHAND
schlag 2047 blieb die sorgfältig gezielte Kugel eines
Scharfschützengewehres mitten in der Luft stehen und Alter: Unbekannt, scheint Ende 30 zu sein
schwebte nur wenige Zentimeter vor Surehands Gesicht.
Größe: 1,93 m Gewicht: 102 kg
> Thorn
Haarfarbe: Dunkelbraun Augenfarbe: Grün
> Höchstwahrscheinlich ein verankerter Abwehrzauber, aller-
dings muss man bedenken, dass das in einer Zeit war, bevor die Geschlecht: Männlich Metatyp: Elf
Verankerung eine allgemein bekannte Technik war. Es muss wohl
nicht extra betont werden, dass Surehand offenbar ein herme- Erwacht: Ja
tischer Magier von beträchtlicher persönlicher Macht ist. Das hat
ihm schon öfter den Arsch gerettet.
> Haze

> Genauso oft, wie er überlebte, weil seine persönliche Schutz-

truppe, die Paladine (auch als Bratach Gheal oder „das Weiße Ban-
ner“ bekannt), die Besten auf ihrem Gebiet sind. Surehand mag
ein höllenmäßiger Zauberer sein, aber niemand ist unsterblich.
> Black Mamba

Lugh Surehand 151

 Surehand und seinem inneren Kreis. Surehand schlug hart zurück und
machte gleichzeitig kleinere Zugeständnisse an die Rinelle-Mitglieder
aus der Oberschicht, während er mit brutalen Mitteln gegen Dissiden-
ten aus den unteren Klassen vorging. Surehand befahl Razzien, Mas-
senhinrichtungen und die Inhaftierung Hunderter von Bürgern. Doch
letzten Endes fachte diese Politik der harten Hand das Feuer der Unzu-
friedenheit nur noch mehr an.
Am Ende zerbrach das System im Zentrum. Im Chaos des Zweiten
Crashs sah sich der Prinzenrat angesichts des zunehmenden öffentlichen
Drucks gezwungen, zurückzutreten. Tír Tairngire wurde zu einer Art De-
mokratie, regiert von den gewählten Repräsentanten der neuen Sternen-
kammer und einem demokratisch gewählten Hohen Prinzen, dem frühe-
ren Quotenork Larry Zincan. In den letzten Stunden seiner Herrschaft
organisierte Surehand jedoch noch seinen eigenen Rückzug, wobei er die
ohnehin schon arg geplünderte Staatskasse um gewaltige Beträge erleich-
terte und sich Gott weiß was sonst noch für Vorteile verschaffte.
Auch wenn Zincan und die gegenwärtige Regierung Surehand im
Großen und Ganzen vergeben haben, gibt es noch genug Leute im
Tír, die nach seinem Blut schreien. Einige der extremeren Kräfte in-
nerhalb der Rinelle ke’Tesrae – immer noch eine einflussreiche poli-
tische Organisation innerhalb des Landes – haben geschworen, nicht
eher zu ruhen, bis sie den letzten der ehemaligen Prinzen zur Strecke
gebracht und getötet haben. Andere, wie etwa die Schwarze Sonne,
wollen Tír Tairngire von allem „nicht-elfischen Abschaum“ befreien.
Heute ist Tír Tairngire ein Meer der Unruhe und ein Morast politi-
scher Machtkämpfe, und Lugh Surehand und die anderen ehemaligen
Prinzen üben aus der Ferne immer noch ihren Einfluss aus, vor allem
durch loyale Agenten, die sie im Land gelassen haben. Doch während
Surehand immer noch Teile der Tír-Regierung kontrolliert, sähen an-
dere es lieber, wenn er strafrechtlich verfolgt oder sogar getötet würde.
ANDERE
Surehand ist technisch gesehen auf der Flucht und wird seit dem Sturz
der Tír-Regierung 2064 von Ghost-Kommandos gesucht.
> Ich weiß zufällig, dass Surehand einen Zwischenstopp in Seattle
einlegte, um irgendwelche wichtigen Geschäfte zu erledigen, als er
im Chaos des zweiten Crashs aus dem Tír gejagt wurde. Einige Chum-
mer von mir haben sogar für ihn als Lockvögel gearbeitet, als er die
Stadt verließ. Aber keiner weiß, um was für Geschäfte es da ging.
> Rigger X
> Angeblich soll Surehand immer noch einen oder zwei Schlupf-
winkel im Elfengetto Tarislar in den Puyallup Barrens haben. An-
scheinend bekommt er starke Unterstützung von den Einheimi-
schen dort – was bescheuert ist, da er wahrscheinlich etliche von
ihnen eigenhändig aus dem Tír ins Exil gejagt hat –, und es heißt,
dass er entweder den Schutz der Laésa oder der Ancients genießt,
je nachdem, wen man fragt.
> 2XL
> Niemand sollte den Fehler begehen, Surehand als schutzlos oder
gar als leichtes Opfer einzuschätzen. Er hat genug Ressourcen,
außerdem nahm er einige seiner ergebensten Paladine mit, als
er aus dem Prinzenrat zurücktrat und Tír Tairngire verließ. Auch
wenn sich ihre Reihen dank der vielen Leute, die hinter ihm her
sind, deutlich gelichtet haben – man kann ihren Leichen wie einer
Spur aus Brotkrumen folgen und sich so ein Bild davon machen,
wo Surehand im Laufe der Zeit aufgetaucht ist –, sind die wenigen,
die übrig sind, immerhin professionelle Spezialagenten mit jahr-
zehntelanger Erfahrung.
> Fianchetto
Neben den Extremisten der Rinelle ke’Tesrae hat sich Lugh Surehand
in den dreißig Jahren seiner Herrschaft über Tír Tairngire noch eine
ganze Reihe weiterer Feinde gemacht. Besonders beachtenswert ist da-
bei Jonathon Reed, einer von Surehands Mit-Exilanten. Jonathon Reed,
152 Lugh Surehand
der bei Beginn des Erwachens in Finnland geboren wurde, wurde 2035
von Surehand in den Prinzenrat berufen. Fast dreißig Jahre lang diente
er Surehand loyal und war für Tír Tairngire als operativer Direktor des
Informationssekretariats tätig, ein Erzspion, der die Ergebnisse seiner
Spionagetätigkeit direkt an Surehand berichtete. Doch aus unbekannten
Gründen ging ihre Beziehung irgendwann plötzlich in die Brüche. Auch
wenn beide heute Tír-Exilanten und international gesuchte Flüchtlinge
sind, hat diese Erfahrung keine verbindende Wirkung auf sie gehabt.
> Das ist nett gesagt. Tatsächlich versuchen die beiden seit Jah-
ren, sich gegenseitig umzulegen.
> Thorn
> Weiß man, warum?
> Winterhawk
> Kurz vor der Revolution im Tír gab es böses Blut zwischen den
beiden. Anscheinend zeigte Reed Ambitionen, dem Hohen Prinzen
den Thron zu entreißen, wobei es mysteriöse Hintermänner gab,
die etwas mit der gescheiterten Neuen Revolution 2064 zu tun
hatten. Doch bevor Reed seine Pläne umsetzen konnte, sorgten
Surehand und andere Mitglieder des Rates dafür, dass Reed ge-
demütigt und aus dem Land gejagt wurde. Du schaffst es nicht zu
putschen, also fliegst du raus, war die Botschaft. Das geschah, um
ihm eine Lektion zu erteilen, sowohl für seinen Größenwahn als
auch für einige verwerfliche Dinge, die er als Chef der Tír-Geheim-
polizei getan hatte. Für Reed war das eine tödliche Beleidigung,
und seither versucht er, Surehand vor die Flinte zu bekommen.
>
Kay St. Irregular
> Surehand und Reed setzen beide ihre Paladine ein, um nach
einem magischen Artefakt zu suchen, dem Sextant der Welten.
Warum? Ich weiß es nicht, aber ich würde tippen, dass Surehand
glaubt, mit dessen magischer Macht die Herrschaft über Tír Tairn-
gire wiedererlangen zu können, während Reed glaubt, dass das Ar-
tefakt ihm ermöglichen könnte, Surehand vom Spielbrett zu fegen.
> Elijah
> Zufälligerweise sind sie nicht die Einzigen, die danach suchen.
Bei Weitem nicht.
> Frosty
In seinem Schattenkrieg gegen seinen ehemaligen Mitstreiter Reed –
und bei zahlreichen anderen, besser verborgenen Machenschaften, in die
er mit Sicherheit verwickelt ist – hat Surehand eine Handvoll vertrauens-
würdiger Verbündeter und Ratgeber. Einer, den er vor Kurzem verlor, war
Reiner Graff, sein langjähriger Handlanger und Unterstützer im Prinzen-
rat. Anders als Surehand hatte Graff seinen Notfallplan nicht gründlich
genug durchdacht, und so wurde er bei den Unruhen im Tír von einem
wütenden Mob buchstäblich in Stücke gerissen. Viele von Surehands Pa-
ladinen erlitten in den letzten neun Jahren ein ähnliches Schicksal, sie
wurden verraten, in Hinterhalte gelockt und getötet. Nach und nach hat
Surehand ihre Leben dafür geopfert, sein eigenes zu verlängern.
Eine Ausnahme ist ein Mann namens Alexander Tintagel, ein ehe-
maliger Captain der Tír Ghosts, der bis heute überlebt hat und Surehand
treu ergeben ist. Tintagel ist Surehands persönlicher Paladin und Auge
und Ohr des ehemaligen Prinzen. Und wenn nötig auch sein Schwert.
Einmal wurden Surehand und seine Paladine – die meisten von ihnen
ebenfalls ehemalige Ghosts – von einem Kommando der Tír Ghosts in
Sichtweite von Seattle gestellt. Sie wurden angegriffen, obwohl man ih-
nen zugesichert hatte, keine Vergeltungsmaßnahmen gegen sie einzulei-
ten, wenn sie schworen, nie wieder nach Tír Tairngire zurückzukehren.
Außer Surehand war Tintagel der Einzige, der das Massaker überlebte,
was, so glaube ich, einiges über die Zähigkeit der beiden aussagt.
 Es sind nur Spekulationen, aber Gerüchte aus gewissen Kreisen > Hm? Habe ich was verpasst?
(mysteriösen elfischen Kreisen) deuten darauf hin, dass Surehand eine
weitere ungewöhnliche Verbindung eingegangen ist, und zwar zu der
> Slamm-0!
aus Politik und Medien bekannten Samantha Roth (ehemals Colonel
der UCAS Defense Intelligence Agency). Wenn Tintagel Surehands
> Fällt wahrscheinlich unter die Kategorie „lange und schmerzhafte
Geschichte“, aber man sollte vielleicht nicht unerwähnt lassen, dass
Hand ist, dann ist Roth seine Stimme, mit der er die Personen und
Roth öffentlich aussagte, an der Unterwanderung von Surehands
Organisationen angreift, die an seinem Sturz beteiligt waren. Wie es
Herrschaft beteiligt gewesen zu sein. Wenn das, was Frosty sagt,
hier auf JackPoint so oft der Fall ist, habe ich dafür keine Beweise, also
stimmt, könnte das interessante politische Auswirkungen haben.
verwendet diese Information mit der gebotenen Vorsicht.
> Kay St. Irregular

> Ach, die alte Schlampe. Die beiden haben sich wirklich ver- Was Roth dafür als Gegenleistung bekommt, ist unklar, aber es
scheint, als wäre sie nur eine weitere Person, für die Surehand so eine Art
dient.
> Bull Schutzherr ist. Interessanterweise endet es bei den meisten von Surehands
Protegés irgendwann damit, dass sie ihn verraten. Oder tot sind.

LUGH SUREHAND Erschlagen, Mob-Laune, Nova, Offensive Manabarriere, Panzerung, Phy-

sische Barriere, Physische Maske, Projektilabwehr, Reflexe Steigern, Rund-
K G R S C I L W M EDG ESS INI ID um Gestohlene Sicht, Schildbrecher, Schloss, Schmerzresistenz, Stabilisie-
5 7(17) 6 5 8(18) 6 7 6(16) 16(20) 6 6 12(15) 1(4) ren, Stärke Steigern, Stille, Telepathie, Telepathisches Netz, Todeshand,
Traum, Trugbild, Tsunami, Übersetzen, Umgebungssinn, Verbesserte Un-
sichtbarkeit, Versteinern, Wahrheit Analysieren, Wasserhose, Willenskraft
Zustandsmonitor (K/G): 11/11(16) Steigern

Panzerung (B/S): 22/17 Gebundene Geister: Erdgeist (Kraft 12, 5 Dienste), Feuergeist (Kraft 12, 5
Dienste), Luftgeist (Kraft 12, 5 Dienste), Wassergeist (Kraft 12, 5 Dienste)

Fertigkeiten: Arcana 6, Askennen 6, Astralkampf 6, Athletik-Fertigkeitsgrup-
pe 4, Ausweichen 6, Beschwören-Fertigkeitsgruppe 6, Bodenfahrzeuge 3,
Einfluss-Fertigkeitsgruppe 6, Einschüchtern (Geistig) 6 (+2), Elektronik-
Fertigkeitsgruppe 3, Entfesseln 5, Erste Hilfe 4, Feuerwaffen-Fertigkeits-
gruppe 2, Flugzeuge 1, Handwerk 6, Heimlichkeit-Fertigkeitsgruppe 4,
Hexerei-Fertigkeitsgruppe 6, Klingenwaffen (Schwerter) 5 (+2), Medizin
4, Natur-Fertigkeitsgruppe 4, Projektilwaffen (Bögen) 5 (+2), Schiffe 3,
Schlosser 5, Unterricht 4, Verzaubern 6, Waffenbau 4, Waffenloser Kampf
(Carromeleg) 5 (+2), Wahrnehmung 6, Wurfwaffen 5
Wissensfertigkeiten: Anthropologie 5, Archäologie 5, Betriebswirtschaft 5,
Chemie 4, Gartenbau 4, Gute Küche 4, High Society von Tír Tairngire 6,
Klassische Kunst 5, Klassische Literatur 5, Klassische Musik 5, Linguistik
5, Literatur 5, Magietheorie 6, Magische Bedrohungen 5, Ortskenntnis
Portland 6, Ortskenntnis Seattle 3, Parazoologie 5, Philosophie 5, Recht 5,
Schach 5, Tír-na-nÓg-Politik 4, Tír-Tairngire-Konzerne 5, Tír-Tairngire-
Politik 6, Weine 4, Deutsch 5, Englisch 6, Französisch 5, Italienisch 5,
Japanisch 5, Sperethiel M
Gaben: Außergewöhnliches Attribut (Logik), Erhöhte Konzentrationsfähig-
keit 2, Kampfkunst (Carromeleg), Zauberer
Initiatengrad: 10
Metamagie: Abschirmung, Anrufung, Erweiterte Maskierung, Großes Ritual,
Intensivierung, Maskierung, Reinigung, Verankerung, Verbündetenbe-
schwörung, Zentrierung
Zauber: Adlerauge, Astrales Fenster, Astralpanzer, Beeinflussen, Betäubungs-
ball, Betäubungsblitz, Blitzstrahl, Blizzard, Charisma Steigern, Drachen
Aufspüren, Drachen Erschlagen, Eiswand, Elf Erschlagen, Energieblitz,
Ernährung, Erwachen, Falsche Erinnerung, Feinde Aufspüren (Erwei-
tert), Frost, Gedanken Beherrschen, Gedankenscan, Gegenmittel, Geis-
tessonde, Geschicklichkeit Steigern, Gestaltwandlung, Gestohlene Sicht,
Handlungen Beherrschen, Heilen, Heimlichkeit, Heißes Eisen, Hellhören,
Hellsicht, Individuum Aufspüren, Kampfsinn, Klammer, Konservieren,
Krankheit Heilen, Laser, Levitieren, Licht, Logik Steigern, Magie Aufspü-
ren (Erweitert), Manaball, Manabarriere, Manablitz, Manafenster, Mensch
ANDERE
Ausrüstung: Armschiene aus kaltgeschmiedetem Eisen [Kampf-Spruchab-
wehrfokus Kraft 10], Formangepasste Körperpanzerung (Ganzkörper)
[B/S 6/2], 3 gefälschte SINs [Stufe 6, jeweils mit Stufe-6-Lizenzen für
verdecktes Mitführen und Zauberei, ausgestellt auf verschiedene Namen],
Geister-Bindungsmaterialien [Kraft 16], Kommlink [Fairlight Caliban;
Prozessor 5, Signal 5, Firewall 5, System 7; Stufe-7-IC (Analyse 7, Angriff
7, Aufspüren 7, Panzerung 7, Schwarzer Hammer 7, Verschlüsselung 7),
Skinlink], Kontaktlinsen [Stufe 3; Bildverbindung, Blitzkompensation,
Smartlink], Magisches Refugium [Kraft 16], Mortimer of London Great-
coat [Elektrische Isolierung 6] [B/S 6/5], zueinander passende Ringe aus
Orichalkum und Onyx an den kleinen Fingern [zwei Zauberspeicher, je
Kraft 10], Saphiramulett [Kraftfokus, Kraft 4], Zinnbrosche in Form eines
Eichenbaums [Manipulations-Spruchabwehrfokus, Kraft 10]
Kampftechniken: Ausweichen, Bodenkampf, Fußtritt, Wachsamkeit
Waffen:
Rapier [Klingenwaffen | Reichweite 1 | Schaden 5K | PB –1 | Waffenfokus
Kraft 7]
Morrissey Elite [Schwere Pistole | Schaden 7K(f) | PB 0 | HM | RK 1 | 7(s) |
Angepasster Griff, Smartgun, Vergrößerter Ladestreifen; Panzerbrechende
Flechettemunition]
Anmerkungen: Einige von Lugh Surehands indirekten Kampfzaubern ver-
wenden die Regeln für alternative Elementare Effekte (Straßenmagie, S.
194). Surehand hat ständig die folgenden Zauber auf sich selbst inten-
siviert, alle mit Kraft 10 und maximaler Erfolgszahl: Charisma Steigern,
Geschicklichkeit Steigern, Kampfsinn, Panzerung, Reflexe Steigern und
Willenskraft Steigern (das ist in seinen Werten bereits berücksichtigt).
Surehand hat die folgenden Zauber verankert: Heilen (Kraft 16 mit 10
Trefferpunkten, wird ausgelöst durch überschüssigen Körperlichen Scha-
den an ihm), Projektilabwehr (Kraft 16 mit 10 Trefferpunkten, wird aus-
gelöst durch jeden Fernkampfangriff auf ihn), Sauerstoffmaske (Kraft 16
mit 12 Trefferpunkten, wird ausgelöst durch Fehlen atembarer Luft). Und
schließlich hat Surehand noch 100 ungenutzte Karmapunkte, die er ein-
setzen kann, wie es ihm geraten erscheint. 153
Lugh Surehand
 MARTIN DE VRIES
GEPOSTET VON: HANNIBELLE

Seine offizielle Verlagsbiographie ist ein dampfender Haufen Fä-

kalien, so groß wie sein Ego (das, nebenbei bemerkt, ungefähr die
PERSÖNLICHE DATEN: MARTIN DE VRIES Größe Australiens hat), deshalb hier ein paar Fakten, die ihr wissen
Alter: 62 (sieht aus wie Ende 20) solltet: Geboren wurde er in Nimwegen, Niederlande, am 16. Juni
2011. Nach außen ist er ein exzentrischer und auf seltsame Weise char-
Größe: 1,88 m Gewicht: 72 kg manter Gelehrter, der sich mit Verschwörungstheorien auskennt und
Haarfarbe: Schwarz Augenfarbe: Nussbraun von Infizierten fasziniert ist. Hinter dieser Fassade dagegen ist er ein
eiskalter Mörder, hauptsächlich (wenn auch nicht ausschließlich) an
Geschlecht: Männlich Infizierten.
Metatyp: Menschlicher Vampir Denn, wisst ihr, seine Bücher sind keine reine Fiktion; Martin de
Vries ist Darrien Cross. Er ist ein professioneller Vampirjäger, und das
Erwacht: Ja (Hermetischer Magier) ist er seit fast vierzig Jahren.
Ach ja. Eins habe ich noch vergessen: Er ist selber ein Vampir.

> Ein Extremfall von „Kenne deinen Feind!“, was?

Manchmal nimmt das Schicksal einen merkwürdigen Lauf. Fragt ein-
fach Martin de Vries.
Für alle, die historisch minderbemittelt sind und auch jeglichen
Kontakt zur modernen Kultur verloren haben: Martin de Vries ist der
Autor der Bestsellerromane um den Vampirjäger Darrien Cross. Von
den bisher erschienenen vier Büchern der Serie wurden weltweit um
die fünfzig Millionen Exemplare verkauft. Während von dem ersten
ANDERE
> Slamm-0!
> Er ist natürlich nicht der einzige Vampirjäger, den es gibt, aber
er ist sicherlich einer der besten. In den letzten zehn Jahren hat
er zudem daran mitgewirkt, eine lockere Organisation von Leuten
seines Gewerbes ins Leben zu rufen. Sie hat meines Wissens keinen
formellen Namen, aber man hat auf der Straße gelegentlich „die

Roman, Schatten am Mittag, nur sechs Millionen Stück verkauft wur- Gilde“ erwähnt.
den, überschritt der zuletzt erschienene, In der Kälte der Sonne, gerade > Stone
die Sechzehn-Millionen-Grenze.
De Vries war eine Zeit lang aus dem Rampenlicht verschwunden, > Das ist der Name von Darriens Netzwerk in den Büchern. Das
doch zurzeit werden eifrig die Werbetrommeln für den neuen Darrien- lässt die Maske des Nosferatu in ganz neuem Licht erscheinen...
Cross-Roman Das Haus von Saint Béla gerührt. Wir können davon > /dev/grrl
ausgehen, dass wir sein lächelndes Gesicht und seine allgegenwärtigen
Saeder-Krupp-Noir-Zigaretten in den nächsten Wochen noch öfter zu Einige von euch mögen sich vielleicht noch daran erinnern, wie er
sehen bekommen. 2055 zum ersten Mal die Aufmerksamkeit von Shadowland erweck-
te, doch die anderen sollten an 2057 zurückdenken. Dieses Jahr war
der Wendepunkt seiner Karriere. 2057 versuchte de Vries, Schatten
am Mittag zu veröffentlichen, einen akademischen Wälzer über eine
angebliche Vampirverschwörung zur Übernahme der Weltherrschaft.
DARRIEN CROSS – VAMPIRJÄGER Er hatte exakt null Erfolg, jemanden dazu zu bringen, überhaupt nur
einen Blick hineinzuwerfen.
Titel Erscheinungsdatum
Schatten am Mittag April 2063 > Das war mitten im Wahlkampffieber in den UCAS, und damals
wurde jede Menge seltsames Zeug veröffentlicht. Wenn man die
Die Maske des Nosferatu Oktober 2066 gewaltige Menge an absolutem Blödsinn bedenkt, der in Form von
Sachbüchern veröffentlicht wurde, dann muss sein Misserfolg, ei-
Fremde Gezeiten Oktober 2068 nen Verleger zu finden, für de Vries extrem frustrierend gewesen
sein und seine bereits bestehende Paranoia noch weiter verstärkt
In der Kälte der Sonne Oktober 2070 haben.
Das Haus von Saint Béla Oktober 2073 > Dr. Spin

Das Problem bestand anscheinend darin, dass er ein Akademiker der

alten Schule war, und auch in unserer modernen Welt auf altmodische
Weise an die Frage der Veröffentlichung heranging. Im akademischen
> Ich liebe diese Bücher. Die Hingabe zum Detail ist einfach un- Verlagswesen ist es nun einmal so: Wenn man die falschen Leute vor den
glaublich! Kopf stößt, dann ist es praktisch unmöglich, seine Arbeit zu publizieren,
> /dev/grrl und Martin hatte bis zum Frühjahr 2057 eine Menge Leute kräftig vor
den Kopf gestoßen. Eine Menge Leute. Denn auch wenn man es bei sei-
> Tatsächlich? Ich hätte nie gedacht, dass du mit so dicken Wäl- nen fast charmanten (und nahezu allgegenwärtigen) Medienauftritten der
zern etwas anfangen kannst. letzten Jahre kaum glauben mag – de Vries hat die zwischenmenschlichen
> Winterhawk Fähigkeiten eines Megalodons, dem ein Dutzend Harpunenpfeile zwi-

154 Martin de Vries

schen den Kiemen stecken, und dieser entzückende Charme hatte nicht
gerade dazu beigetragen, ihn im Ordo Maximus, dem er eine Zeitlang
angehörte, beliebt zu machen. Und der Ordo ist ein hermetischer Verein,
der den nötigen Reichtum und Einfluss besitzt, um jemanden aus dem
akademischen Verlagswesen zu verdrängen.

> Ich hatte einen Onkel, der fast dreißig Jahre an der University
of Pennsylvania gelehrt hat. Sie haben diese Sache mit dem „Ver-
öffentliche oder verschwinde!“ wirklich eng gesehen, und wenn
sie wollten, dass jemand verschwindet, dann fanden sie auch eine
Möglichkeit, ihn dazu zu bringen. Das ist de Vries schon einige
Zeit, bevor er versuchte, Schatten am Mittag zu veröffentlichen,
widerfahren, und ich glaube, das ist einer der Gründe, weshalb
er den Ordo so sehr hasst. Einer der kleineren Gründe auf einer
langen Liste.
> FastJack

> Jede große Spaltung beginnt mit einem kleinen Riss. Keine von
Martins Arbeiten wurde veröffentlicht (der Ordo hat mindestens
zwei seiner Arbeiten abgelehnt), und so hat sein narzisstisches,
zwangsneurotisches kleines Gehirn angefangen herumzustochern,
bis er seine geliebte Verschwörungstheorie entdeckte. Ich will
nicht sagen, dass es das Einzige war, was ihn
so gegen den Ordo aufgebracht hat, aber das
war wahrscheinlich der Anfang.
> Fianchetto

Der Ordo Maximus ist nicht nur ein Saufclub für rei-

ANDERE
che Briten mit einem möglicherweise verhängnisvollen Hang
zur Magie, sondern auch eine der wichtigsten hermetischen Initi-
ationsgesellschaften der Welt. Martin de Vries hatte gerade seinen
Doktor der Thaumaturgie in Oxford gemacht und war ein aufstre-
bender junger Initiat. Dann, 2036, war er plötzlich kein Initiat im
Ordo mehr; die Diskussionen um die Umstände seines Ausscheidens
dauern bis heute an. Das war der Punkt, an dem der Ordo für de
Vries der Teufel wurde und an dem er eine Verbindung zwischen dem
Ordo und seiner Vampirverschwörung herstellte. Jahre später war der
Ordo angeblich auch der Grund dafür, dass Schatten am Mittag nie als
akademischer Sachtext das Licht der Veröffentlichung erblickte. Sie
schafften es sogar, die Veröffentlichung zu verhindern, als er es 2058
im Eigenverlag herausgeben wollte, und das braucht schon einigen
Einfluss.

> Oder zumindest ein fettes Bankkonto und ein paar gute De-
cker – was dem Ordo beides durchaus zur Verfügung stehen dürfte.
Und wenn man einige der Sachen bedenkt, in die der Ordo in den
letzten Jahren verwickelt war, dann könnte de Vries sogar recht
haben. In gewisser Weise ist er wirklich der Teufel.
Die Originalversion von Schatten am Mittag ist übrigens immer
noch im Umlauf; interessantes Buch, obwohl ich glaube, dass mir
die Romanfassung besser gefällt.
> Bull

> De Vries’ Hass auf Vampire begann schon etwas früher, bevor er
aus dem Ordo flog. Etwa um die Zeit, als er seinen Doktor machte,
heiratete er eine junge Frau namens Josephine. Er hat einen guten
Geschmack; sie war sehr hübsch. Sie hatte Pech und wurde etwa
im Jahr 2033 Infiziert. Angeblich soll sie eins von de Vries’ ersten
Opfern gewesen sein, wenn nicht sogar das erste. Man muss sich
nicht sehr anstrengen, um sich vorzustellen, was so etwas mit dem
eigenen Geisteszustand anstellen kann. Ich kann es mir jedenfalls
gut vorstellen.
> Winterhawk

Martin de Vries 155

 > Nehmen wir noch ein paar ohnehin schon fragwürdige psy-
chische Neigungen hinzu, und es erklärt eine ganze Menge.
> Haze
Bis zum Frühjahr 2062 hatte er sein Buch aufgegeben und sich wie-
der völlig seiner Tätigkeit als Vampirjäger verschrieben, die er schon seit
etwa 25 Jahren ausübte. Als daher ein Mann namens Marshall Presnell
Kontakt zu ihm aufnahm, war das wie Balsam für ein Ego, das drin-
gend etwas Aufmerksamkeit brauchte. Presnell war ein Verlagsagent
mit weitreichenden Beziehungen in der Verlagswelt und zudem einer
der wenigen, der Schatten am Mittag gelesen hatte. Er hatte einige der
Machenschaften des Ordo Maximus zur Unterdrückung des Buches
mitbekommen und war zu dem Schluss gelangt, dass vielleicht doch
etwas an de Vries’ Tiraden über die Gesellschaft dran sein könnte.
Presnell, der selbst ein Fan von Verschwörungstheorien war, schlug
einen Weg vor, die Informationen an die Öffentlichkeit zu bringen, ei-
nen Weg, der außerhalb der beträchtlichen Reichweite des Ordo lag: De
Vries sollte das Buch als Abenteuerroman neu schreiben, die beteiligten
Personen nur minimal unkenntlich machen und den Ordo Maximus in
einem noch schlechteren Licht darstellen. Er garantierte de Vries, dass er
das Buch veröffentlichen würde, denn der akademische Einfluss des Ordo
reichte nicht bis in literarische Kreise. Als de Vries einige Wochen später
den Roman Presnell gab, ging der Agent damit hausieren. Es gelang ihm
nicht nur, das Buch zu verkaufen, er konnte sogar einen Vertrag über drei
Bücher und einen Vorschuss von fast einer Million Nuyen aushandeln.
Im April 2063 wurde de Vries’ erster Roman veröffentlicht.
Und Ende Mai hatte er seinen ersten Fanclub.
Wie sich herausstellte, verkaufen sich Abenteuerromane über einen
ANDERE
Vampirjäger, der mit List, Magie und einem scharfen Schwert gegen eine
übermächtige geheime Verschwörung direkt vor der Nase der Öffent-
lichkeit kämpft, wie von selbst. Wer hätte das ahnen können? Sicherlich
nicht de Vries, der zwar damit gerechnet hatte, dass seine Theorien sich
herumsprachen, aber sicherlich nicht mit den Unmengen an Fans, den
Interviewanfragen und all dem. Auch wenn es in den Schatten ein offe-
nes Geheimnis war, wollte er nicht, dass die ganze Welt erfuhr, dass er
ein Vampir ist, und so überlegte er, sich in der Öffentlichkeit von einem
Schauspieler vertreten zu lassen. In Anbetracht seiner unterentwickelten
sozialen Fähigkeiten (die ihm, wie man zu seiner Verteidigung sagen
muss, selbst schon seit Langem bewusst waren), schien das ein guter
Plan zu sein. Doch Presnell dachte anders darüber und überzeugte ihn
davon, sich einfach als exzentrischer Autor zu präsentieren.
Diese Strategie zahlte sich voll und ganz aus. Er ließ sich nur auf
Interviews ein, die nachts stattfanden oder in der Matrix, wo er die
Bedingungen kontrollieren konnte. Die Medien liebten es, die Fans
waren begeistert – und de Vries fand überraschenderweise auch Gefal-
len daran. Die Bewunderung schmeichelte seinem Ego, das Geld be-
gann zu fließen, und der Vatikan stieß einen Seufzer der Erleichterung
aus, als der Ordo Maximus als neues Lieblingssubjekt verworrener Ver-
schwörungstheorien die Katholische Kirche ablöste.
> Und das war natürlich genau das, was de Vries gewollt hatte.
Bei seinen öffentlichen Auftritten reitet er immer auf der Vampir-
verschwörung herum, und da er alles, was er sagt, als etwas prä-
sentiert, dass nicht ihm, sondern seiner heißgeliebten Hauptfigur
widerfährt, kann er das Messer genüsslich in der Wunde herumdre-
hen. (Es schadet auch nicht, dass sein Publikum ihn ohnehin für
einen Halbverrückten hält und deshalb erwartet, dass er sich ein
bisschen bekloppt benimmt.) Und der Ordo Maximus kann einen
Scheißdreck dagegen tun – jedenfalls nicht öffentlich.
> Thorn
> Das stimmt im Großen und Ganzen. Aber sie haben auch eine
Rechtsabteilung und scheuen sich nicht, sie einzusetzen. Es gibt
156 Martin de Vries
zurzeit einige offene Verfahren gegen de Vries und seinen Verlag.
Und das ist nicht die einzige Front, an der sie kämpfen – in den
letzten fünf, sechs Jahren wurden auch einige Schattenoperati-
onen gegen ihn in die Wege geleitet.
> Winterhawk
> Es ist erstaunlich, dass sich diese ganze Anti-Vampir-Hysterie in
der heutigen Atmosphäre der „Rechte für Infizierte“ und derglei-
chen so gut verkauft.
> Hard Exit
> Trotz des ganzen Medienhypes ist die Forderung nach Rechten
für Infizierte längst nicht so weit verbreitet, wie man uns glauben
machen will. Jüngste Umfragen zeigen, dass die Bevölkerung im
Durchschnitt immer noch entschieden gegen Infizierte eingestellt
ist. Martys Erfolg fügt sich weit besser in den aktuellen Zeitgeist der
Welt ein als in das, was die Medien davon wahrnehmen wollen.
> Hannibelle
Wenn man die öffentlichen Auftritte sieht, vergisst man leicht das eine
oder andere über Martin. Im Trideo präsentiert er sich als verweichlichter
Snob. Das ist reine Tarnung, nichts anderes; unter diesen 5.000¥-Anzü-
gen versteckt sich ein Körper, hart wie Stahl. Er hat jahrzehntelang in den
besten Fitnessstudios und Dojos der Welt trainiert, und es hat sich be-
zahlt gemacht. Er kämpft weit oberhalb seiner Gewichtsklasse und kann
es praktisch mit jedem Vampir oder Wendigo aufnehmen, ohne großartig
ins Schwitzen zu geraten. Seine Kampfkunst lässt einen tatsächlich leicht
vergessen, dass er ein hermetischer Magier mit beträchtlichen Talenten
und Fertigkeiten ist. Und darüber hinaus ist er auch noch ein Vampir, der
genau weiß, wie er seine Fähigkeiten am besten einsetzt.
> Vollkommen richtig. Vor einigen Jahren hatte ich bei einem
Job in Chicago einige Aufklärungsdrohnen ausgeschickt und stieß
dabei in einer Seitenstraße nicht weit von den Shattergraves auf
de Vries, der ein Tänzchen mit einem Wendigo wagte. De Vries ist
ein großer Kerl, aber dieser Wendigo war an die sechzig Zentimeter
größer als er und doppelt so breit. Die beiden tanzen umeinander,
de Vries mit einem Schwert, der Wendigo mit gefletschten Zähnen,
und beide gestikulieren von Zeit zu Zeit; ich schätze, sie haben
sich ein bisschen mit Mojo beworfen.
Plötzlich macht de Vries etwas, das den Wendigo überrascht. Ohne
aus dem Rhythmus zu kommen, greift de Vries das Biest an, wobei
er sich schneller bewegt als erwartet. Viel schneller – ich musste
mir hinterher noch mal die Aufzeichnung ansehen, um alles mit-
zubekommen. An einem Punkt schießt er sich selbst in die Höhe,
direkt auf seinen Gegner zu, und hackt den haarigen Bastard dia-
gonal mitten durch, von der linken Schulter bis zur rechten Hüfte.
Er reinigt sein Schwert und zündet sich eine Zigarette an, bevor
sich der Staub gelegt hat, und ist, nach allem was ich erkennen
kann, kein bisschen außer Atem.
Ich habe schon vorher gesehen, wie jemand getötet wurde, aber
nie mit einer solchen Nonchalance, wie de Vries sie in dieser Nacht
demonstrierte. Das war eine der merkwürdigsten Sachen, die ich
je gesehen habe.
> Rigger X
> Dr. de Vries kann eine Tötung sehr beiläufig aussehen lassen, wenn
er will. Er stellt sich gerne Mann gegen Mann seiner Beute, aber er ist
nicht dumm. Er heuert auch Unterstützung an, wenn es die Situation
erfordert. Er zahlt gut und stellt auch hervorragende Ausrüstung zur
Verfügung, wenn sie gebraucht wird, aber er verlangt die besten Leute
und kann Dummköpfe nicht gut ertragen. Eigentlich gar nicht.
> Stone
> Persönliche Erfahrungen, Stone?
> Pistons
> Nee. Ich habe schon mit genügend anderen Soziopathen gear-
beitet. Einige Freunde und Geschäftspartner von mir haben aller-
dings in letzter Zeit den einen oder anderen Job von ihm ange-
nommen. Der Mann hat anscheinend so viel Geld, dass er gar nicht
weiß, was er damit machen soll, und er scheut sich nicht, es auch
auszugeben.
Und er kommt ziemlich herum; in den letzten Jahren wurde er in
New York, Seattle, Houston, Glasgow, Minsk, Johannesburg, Kyoto
gesehen... und das sind alles Orte, an denen er keine öffentlichen
Auftritte hatte. Da fragt man sich, wann er Zeit findet zu schlafen,
ganz zu schweigen davon, seine Bücher zu schreiben.
> Stone
MARTIN DE VRIES
K G R S C I L W M EDG ESS INI ID
4 8 8 5 5 7 5 7 13 7 2W6+4* 15 2
*siehe Anmerkungen
Zustandsmonitor (K/G): 10/12
Panzerung (B/S): 6/2
Fertigkeiten: Arcana (Kraftfokusdesign) 5 (+2), Askennen (Ast-
ralsignaturen) 6 (+2), Astralkampf (Waffenfoki) 5 (+2), Ath-
letik-Fertigkeitsgruppe 3, Ausweichen (Fernkampf ) 4 (+2),
Beschatten (Verfolgen) 6 (+2), Beschwören-Fertigkeitsgruppe
6, Bodenfahrzeuge (Autos) 3 (+2), Computer (Kommlinks) 4
(+2), Datensuche (Nachrichtenindizes) 4 (+2), Einschüchtern
(Geistig) 5 (+2), Erste Hilfe 4, Feuerwaffen-Fertigkeitsgruppe
5, Hexerei-Fertigkeitsgruppe 6, Nahkampf-Fertigkeitsgruppe
5, Spurenlesen (Stadt) 4 (+2), Verhandlung (Diplomatie) 5
(+2), Verzaubern (Fokusherstellung) 5 (+2), Wahrnehmung
(Hören) 5 (+2)
Wissensfertigkeiten: Astralforschung 4, Biologie (Vampiris-
mus) 6 (+2), Design (Zauber) 5, Geschichte 3, Literatur 3,
Magietheorie 6, Magietrideos 5, Magiewissen 6, Parazoologie
(MMVV-Varianten) 5 (+2), Psychologie (Vampire) 6 (+2),
Recht 3, Vampirkunde 6, Verschwörungstheorien (Vampir-
verschwörungen) 5 (+2), Virologie (MMVV) 5 (+2), Deutsch
6, Englisch 5, Französisch 3, Griechisch 4, Japanisch 4, La-
tein 4, Niederländisch M, Russisch 3
Gaben und Kräfte: Erhöhte Konzentrationsfähigkeit 2, Essenz-
entzug, Fangzähne, Gesteigerte Sinne (Gehör, Geruch), Im-
munität (Alter, Pathogene, Toxine), Infektion, Infrarotsicht,
Nebelgestalt, Regeneration, Zauberer (Hermetiker)
Handicaps und Schwächen: Allergie (Holz, Schwer), Allergie
(Sonnenlicht, Mittel), Erzwungener Schlaf (Luftmangel), Es-
senzverlust, Nahrungsbedarf (Metamenschliches Blut)
Initiatengrad: 7
Metamagie: Abschirmung, Absorption, Flexible Signatur, Mas-
kierung, Sensibilisierung, Spiegelung, Zentrierung
> Er scheint sein Betätigungsfeld etwas auszuweiten. Er war schon
immer mit einiger Besessenheit hinter MMVV-I-Infizierten her,
während er über Infizierte mit MMVV II und III zwar so manches
Üble zu sagen hatte, sie aber im Großen und Ganzen in Ruhe ließ.
Das hat sich in den letzten sechs bis acht Monaten geändert. Um
sie kümmert er sich allerdings selten selbst; ich schätze, dass auch
zwangsneurotische Soziopathen irgendwann Probleme mit ihrem
Zeitmanagement bekommen. Die meisten der Jobs, die er in letz-
ter Zeit zu vergeben hatte, drehten sich um das Ausheben von
Bandersnatch-Nestern und dergleichen, und weniger um Rücken-
deckung für ihn, wenn er einen Nosferatu jagt.
Ich habe noch nichts davon gehört, dass er über Ghulgruppen herge-
fallen ist, aber wenn er jetzt angefangen hat, auch Jarka- und Cris-
cione-Opfer umzubringen, könnte das nur eine Frage der Zeit sein.
> Picador
Ausrüstung: Eurocar Westwind 3000, Formangepasste Kör-
perpanzerung (Ganzkörper) [B/S 6/2], Goldamulett mit
Sternzeichensymbol Fische [Zauberspeicher Kraft 2 für Sau-
erstoffmaske-Zauber], Gold-Ehering [Kraftfokus Kraft 4],
Jadefigur einer vierarmigen Dämonin [Essenzfokus Kraft 4
(siehe Anmerkungen)], modische Kleidung, silberne Patro-
ne [Zauberspeicher Kraft 3, für Kampfsinn-Zauber], weitere
Ausrüstung je nach Bedarf
Zauber: Banshee Aufspüren, Banshee Erschlagen, Betäubungs-
ANDERE
ball, Betäubungsblitz, Blitzstrahl, Böse Ahnung, Dzoo-Noo-
Qua Aufspüren, Dzoo-Noo-Qua Erschlagen, Energieball,
Energieblitz, Feuerball, Flammenwerfer, Goblin Aufspüren,
Goblin Erschlagen, Hellhören (Erweitert), Hellsicht (Erwei-
tert), Individuum Aufspüren, Kampfsinn, Katalog, Leben
Aufspüren, Magie Aufspüren, Manaball, Manabarriere, Ma-
nablitz, Nebel, Nosferatu Aufspüren, Nosferatu Erschlagen,
Physische Barriere, Sauerstoffmaske, Schatten, Todeshand,
Vampir Aufspüren, Vampir Erschlagen, Vampir Metzeln,
Wahrheit Analysieren, Wendigo Aufspüren, Wendigo Er-
schlagen
Waffen:
Colt Manhunter [Schwere Pistole | Schaden 5K | PB –1 | HM |
RK 1 | 16 (s) | Angepasster Griff, Biometrisches Sicherheits-
system, integrierter Lasermarkierer]
Cougar Fineblade, lange Klinge [Klingenwaffe | Schaden 5K | PB
–1 | Reichweite 0 | Angepasster Griff, Waffenfokus 4]
HK MP-5 TX [Maschinenpistole | Schaden 5K | HM/SM/AM
| RK 3 | 20(s) | Angepasster Griff, Biometrisches Sicherheits-
system, Gasventil 2, integrierter Lasermarkierer]
Schwert [Klingenwaffe | Schaden 6K | Reichweite 1 | Angepass-
ter Griff, Waffenfokus 4]
Anmerkungen: Martin de Vries besitzt einen außergewöhnli-
chen Essenzfokus, der seinen aktuellen Essenzwert um 4 er-
höht und es ihm so ermöglicht, seine Essenz bis auf 16 zu
erhöhen. Wenn seine Essenz 4 erreicht (was ohne den Fokus
0 entspräche), so stirbt er nicht. Stattdessen erleidet er ku-
mulative Einbußen von –1 auf seinen Würfelpool, während
seine Essenz nach den normalen Regeln weitersinkt. Wenn
seine Gesamtenergie 0 erreicht (was ohne Fokus –4 entsprä-
che), muss er nach den Standardregeln Essenz entziehen oder
stirbt. Er trägt den Fokus immer bei sich und wird alles Er-
denkliche tun, um ihn zurückzubekommen, sollte er ihm
abgenommen werden.
Martin de Vries 157
 MONIKA STÜELER-WAFFENSCHMIDT
PERSÖNLICHE DATEN:
METAMENSCHLICHE GESTALT
Alter: 52
Größe: 1,93 m Gewicht: 70 kg
Haarfarbe: Weißblond Augenfarbe: Grün
Geschlecht: Weiblich Rasse: Elf
Metatyp: Gemeiner Drake Erwacht: Ja
Monika Stüeler-Waffenschmidt alias „Die Waffenschmidt“ (oder kurz
MSW): toughe Powerfrau, skrupellose Elfe, eine der mächtigsten Frau-
en der Welt, eine der zwanzig bekanntesten Deutschen, vermeintliche
Erzfeindin von Lofwyr, Elite-Macherin, Mäzenin und Vorbild einer
ganzen Banker-Generation, die alle gerne Protegé und Erbe eines
Großdrachen wären.
Dieses Bild ist natürlich ein reines Kunstprodukt, das Gerüchte, et-
was Wahrheit und konzipierte Wahrnehmungen zu einem öffentlichen
ANDERE
Bild zusammenfasst, das für jeden etwas parat hält. Es soll Mainstream
und Nische gleichzeitig mit den richtigen Assoziationen versorgen.
Die Person hinter der Fassade ist allerdings eine ganz andere, und
ich muss es wissen, denn ich habe sie von verschiedenen Seiten und in
sehr unterschiedlichen Situationen während ihrer Karriere erlebt.
Der offizielle Lebenslauf von MSW ist ein Vorbild an Können, Leis-
tung und dem Willen zum Aufstieg. 2022 wird sie im Alter von zwei
Jahren von dem Frankfurter Rechtsanwaltsehepaar Sandra und Andreas
Stüeler-Waffenschmidt adoptiert, besucht dann zuerst die internationa-
le Metropolitan School in Frankfurt, bevor sie an eine konzerngeförderte
Privatschule in der Schweiz wechselt, um dort mit 17 ihr Abitur zu ma-
chen. Nach dem Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften
sowie diversen Praktika bei Siemens (S-K), dem FBV und Tochterge-
sellschaften der IFMU tritt sie in die Kanzlei ihrer Eltern ein, die auf die
juristische Beratung bei Unternehmensübernahmen spezialisiert ist und
schon damals exklusiv den FBV berät (die Kanzlei gehört inzwischen
zum Herzstück des juristischen Geschäfts des Konzerns). Bereits nach
drei Jahren wechselt sie (gefördert durch „Ersatzvater“ Léon Fischer)
in die Geschäftsführung des FBV und steigt dort rasant zur Präsidentin
der Holding auf, nicht zuletzt durch die Protektion des Großdrachen
Nachtmeister selbst. 2061 verschwindet sie überraschend für einige Zeit
aus der Öffentlichkeit, und es werden Gerüchte über einen wie auch
immer gearteten „Unfall“ laut. Dennoch gelingt es der Waffenschmidt
nach dem Tod Nachtmeisters und ihrer Rückkehr innerhalb weniger
Monate, das entstandene Machtvakuum zu füllen und sich die Aktien-
mehrheit des Konzerns zu sichern.
> Nicht zu vergessen eine mutmaßliche Entführung im Rahmen
der Ares-Proteus-AGC-FBV-Verstrickungen, die 2063 die Schatten
beschäftigten.
> Queeqeg
Durch Erfolge während des Crashs 2.0 konsolidiert sie den FBV
und stärkt ihre Position, auch wenn sie durch das Überlaufen von Fi-
nanz-Methusalem Clemente Ferreira-Lobos – einem von Nachtmeis-
ters ehemaligen Getreuen – zum Konkurrenten Commerzbank (und
damit zu Lofwyr) einen schweren Schlag hinnehmen muss.
158 Monika Stüeler-Waffenschmidt
GEPOSTET VON: CORPSHARK
Privat und im gesellschaftlichen Leben der Finanzmetropole Frank-
furts gibt sich MSW zunehmend distanziert und unterkühlt, was die
Boulevardpresse dazu veranlasst, sich regelmäßig neue – männliche wie
weibliche – Traumpartner für sie auszudenken.
Wirft man allerdings einen Blick hinter die Kulissen dieses makel-
losen Lebenslaufs (auch wenn einem dabei wirklich jede Menge Steine
in den Weg gelegt werden), stößt man auf Fakten, die ausreichen, um
eine Verschwörungstheorie um die Waffenschmidt zu unterfüttern.
Bereits 2015 (vier Jahre nach dem Erwachen) findet man im Um-
feld des Anwalts und Bankiers Gideon Schreiber – ein Alias Nacht-
meisters – eine finnische Dienstleistungsfirma namens GENscope,
die sich vornehmlich mit der automatisierten DNA-Analyse für Ab-
stammungsgutachten und „Klärung medizinisch-diagnostischer Fra-
gen“ beschäftigt. In den folgenden Jahren ist die Firma während des
Ausbaus des Bankenkonglomerats immer wieder für diverse Töchter
des FBV tätig, offiziell um Aussagen über das persönliche Erkran-
kungsrisiko von Versicherten zu machen und in Vaterschaftsklagen
und Strafrechtsprozessen unabhängige Gutachten zu erstellen. Auch
wenn einiges sicherlich den Tatsachen entspricht (um den Schein zu
wahren), subventioniert Schreiber das Unternehmen mit mehrstelli-
gen Millionenbeträgen, und es gibt Hinweise, dass die Firma Akti-
va unterhält, die für Schreiber illegale Beschaffungen von gewissen
medizinischen Daten und Gewebeproben durchführen (vor allem in
Osteuropa und auf dem Balkan, aber auch bei der Schweizer Genom
und anderen an UGE forschenden Instituten). Im Zuge der ersten
Goblinisierungswelle pumpt Schreiber weitere Millionen in die Firma
und stattet sie bereits vor dem Crash 1.0 mit den besten Datenservern
aus, die Frankfurter und Schweizer Banken zu diesem Zeitpunkt zu
bieten haben.
Weitere Details sind hier erst einmal irrelevant. Unter dem Stich-
wort „verilinjaa” (finnisch für Blutlinie) findet man auch ein Anfang
2020 geborenes, weibliches Elfenbaby, das 2022 aus einem nicht
näher spezifizierten osteuropäischen Land extrahiert und später im
Jahr an eine – über drei Ecken Nachtmeister gehörende – Adopti-
onsagentur in Frankfurt übergeben wird, bei der die Familie Waffen-
schmidt Kunde ist. Da nach den mir vorliegenden – allerdings nicht
ganz vollständigen – Unterlagen nur ein weibliches Elfenbaby im
interessanten Zeitraum vermittelt wurde, scheint die Angelegenheit
eigentlich recht eindeutig. Allerdings war MSW nicht das einzige
Kind, das auf diese Weise neuen Eltern zugeführt wurde, wobei
die Informationen über deren Identität sehr mager sind, da immer
andere Adoptionsagenturen verwendet wurden. Man kann davon
ausgehen, dass Nachtmeister im Wissen und in der Erwartung an-
stehender Ereignisse die ganze Welt nach geeigneten Kandidaten für
sein Imperium absuchen ließ.
Nach der Adoption MSWs stimmt ihr Lebenslauf erst einmal wie-
der mit der offiziellen Geschichte überein, abgesehen von regelmäßi-
gen medizinischen Untersuchungen und Förderprogrammen.
> Personen mit magischem Talent hat übrigens nicht nur Nacht-
meister in deren jungen Jahren akquiriert. Auch andere Drachen
und Organisationen haben da seit dem Erwachen mitgespielt, und
auch heutzutage geht die Suche weiter, zumal man, was die Ver-
bindung zwischen Vererbung und tatsächlichem Erwachen von ma-
gischem Talent angeht, ja immer noch in den wissenschaftlichen
Kinderschuhen steckt.
> Sermon
> Wobei es diesem Drachen hier wohl nicht nur um magisches
Talent ging.
> Corpshark
> Man glaubt gar nicht, was für Aufträge in der Branche auftau-
chen! „Suche 1 m große, schuppige Eier“ kommt da durchaus auch
mal vor.
> Zwieblblootz

Monika Stüeler-Waffenschmidt
stellt jedoch zu irgendeinem
Zeitpunkt ihres Lebens
fest, dass sie „anders“
ist, was auch immer
das genau für
sie bedeutet.

Basierend auf
Berichten von Kom-
militonen aus ihrer
Studienzeit und Abschriften
mehrerer psychologischer Be-
ratungsgespräche kommt man zu
dem Schluss, dass sich MSW
zunehmend emotional abson-
derte und auch nicht die Dinge tat, die ande-
re Studenten so zu tun pflegen. Angeblich
ging ein Psychologe sogar so weit, ihr eine
„dissoziale Persönlichkeitsstörung“ zu attestieren
(was, wenn man die Fakten auf den Tisch legt,
möglicherweise gar nicht so weit weg von
der Wahrheit ist), allerdings verlor der Arzt

wegen sexuellen Missbrauchs von Schutz-
befohlenen (einer anderen „Patientin“)
wenige Wochen später seine Approbation.
Nach ihrem Studienabschluss beginnt für
MSW die intensive Vorbereitung auf ihr Erbe
als rechte Hand des Großdrachen und Chefin
des Finanzkonglomerats. Als sie 2052
nach dem Rückzug Nachtmeisters aus
dem operativen Geschäft im Alter von
gerade mal 30 Jahren die Leitung des
Finanzimperiums als CEO übernimmt,
beschwören viele eine Katastrophe herauf, die aller-
dings ausbleibt, da sich die Waffenschmidt durch eine Reihe takti-
scher Übernahmen und Transaktionen die Mehrheit an der Allianz
Versicherungs AG und der Münchner Re sichert und mit diesem
Coup Nachtmeisters Wahl untermauert. Erst 2061 beginnt der Ban-
kenverein, in unruhige Gewässer zu geraten, als Waffenschmidt aus
„gesundheitlichen Gründen“ ihren Chefposten zeitweise niederlegen
muss. Allerdings handelt es sich weder um einen Unfall noch um eine
Krankheit. Es ist ihr Erwachen, das im Zuge eines Manaschubs wäh-
rend der Rückkehr des Halleyschen Kometen ihre wahre Natur, die
eines magiebegabten Gemeinen Drakes, hervorbrechen lässt.
> Echt jetzt? All die Verschwörungstheorien um MSW, und du
springst hier auf den Drake-Zug auf?
> Sermon
> Keine Theorie, keine Vermutung. Glaubwürdige Zeugen, Bilder,
Videos, Unterlagen. Ihre Dracoform-Gestalt hat etwa Trollpropor-
tionen und besitzt ein dunkelgrünes, schon fast ins Schwarz ge-
hendes Schuppenkleid. Dass Stüeler-Waffenschmidt eine Drake ist,
ist eine Tatsache, allerdings eine, die zu kolportieren entsprechend
gefährlich ist. Deswegen haben wir diese Info damals auch aus
der Frankfurter Shadowpedia herausgehalten. Also zügle deinen
Wissendurst in diesem einen Fall. Du weißt ja: Neugier hat die
Katze getötet.
> Corpshark
ANDERE
> Bzw. ihren Dad.
> Queeqeg
> Das war jetzt aber etwas geschmacklos.
> Anne Archiste
Man kann davon auszugehen, dass Nachtmeister basierend auf
den GENscope-Daten nicht von der Entwicklung überrascht war und
wahrscheinlich sogar auf diesen Tag hingearbeitet hat. Da man aus den
anonymen Berichten anderer Drakes, die von der Draco Foundation
mit der Öffentlichkeit geteilt wurden, weiß, wie einschneidend und
verwirrend die Erfahrung dieser Art des Erwachsens (die sogenannte
Dracomorphose) sein kann, ist anzunehmen, dass der Großdrache sie
direkt unter seine Fittiche genommen hat.
Statt Krankenhausaufenthalt und Rehabilitation verbringt MSW die
Monate ihrer Abwesenheit an der Seite ihres Mentors (und wird vermut-
lich von ihm ausgebildet). Nach ihrer Rückkehr als CEO nimmt ihr
„Training“ im Juni 2062 allerdings ein jähes Ende, als Nachtmeister in ei-
nem spektakulären Luftduell über Frankfurt durch Lofwyr getötet wird.
> Am Ort seines Absturzes im Frankfurter Palmengarten erinnert eine
lebensechte, nicht maßstabsgetreue, 3,80 m große Statue an Nachtmei-
ster. MSW besucht diese mindestens einmal im Jahr inkognito, sprich mit
relativ wenigen Bodyguards. Nur für die, die es mal versuchen wollen...
> Flitter

Monika Stüeler-Waffenschmidt 159

 Zwar verfällt die Waffenschmidt durch Nachtmeisters Tod nicht
in Schockstarre, dennoch muss sie in den nachfolgenden Jahren den
Großteil ihrer Zeit darauf verwenden, das Machtvakuum so schnell
wie möglich auszufüllen und sich das Erbe und ihre Machtstellung
im Imperium zu sichern. Ihr Besitz des FBV ist jedoch nicht so klar
abgesteckt, wie es manchmal auf dem Papier erscheint. Offiziell besitzt
Monika Stüeler-Waffenschmidt zwar die Aktienmehrheit (83,6 %) an
dem Großkonzern, aber Insider haben schon mehrmals durchblicken
lassen, dass es sich bei 30 % davon nur um Stimmvollmachten han-
delt und niemand die eigentlichen Aktien je gesehen hat. Untermauert
wird diese Aussage durch zahllose vom FBV veranlasste Runs, die In-
formationen über den Verbleib von FBV-Aktien beschaffen sollen, die
nicht frei am Markt gehandelt werden, jedoch in ihrer Gesamtheit eine
Sperrminorität ausmachen.
> Soweit bekannt, ließ Waffenschmidt nach Besitzergreifung
des Erbes die Zugangscodes des Drachen knacken, um auf
Nachtmeisters persönlichen Datenspeicher in seinem Hort ir-
gendwo in Frankfurt oder Umgebung (der wohl inzwischen ein
Rückzugsort der Waffenschmidt ist) zugreifen zu können, womit
sie die Mehrheit der Aktien an sich riss. Anscheinend waren
aber nicht alle Aktien dort abgelegt, weswegen weitere Horte
vermutet werden.
> Zeitgeist
> Vor allem hatte sie wohl Angst, dass Lofwyr doch noch seinen
Anspruch auf die Beute geltend machen würde. Andererseits wis-
sen wir nicht, was Großdrachen für eine angemessene Frist bei
solchen Angelegenheiten halten…
> Enigma
ANDERE
Auch wenn Frau Waffenschmidts Kontrolle des FBV derzeit unbe-
stritten ist, zeichnet sich, was die Agenda ihres Mentors und gewisses
„Hintergrundwissen“ anbelangt, ein deutlich anderes Bild ab. Man
kann davon ausgehen, dass die „Unterweisung“ Waffenschmidts un-
vollständig und ihr Wissen um die „wirklichen großen Zusammen-
hänge“ sehr rudimentär ist. Ob dieses Wissen von Nachtmeister gezielt
vor ihr verborgen wurde oder ob aufgrund des plötzlichen Todes des
Drachen nicht genug Zeit war, sie in seine Agenda einzuweihen, lässt
sich heute nicht wirklich sagen.
Sie scheint jedoch sehr gewillt, dieses Defizit mit den ihr zur Ver-
fügung stehenden Mitteln aufzuholen. So gelangte sie durch die Über-
nahme des Hortes in Frankfurt in den Besitz zahlreicher Artefakte und
Schriften, die sie von Fachleuten (Historikern, Magiern, Wissenschaft-
lern, Sprach- und Schriftexperten) analysieren lässt, die alle meterlange
Geheimhaltungsvereinbarungen unterschrieben haben.
> Logischerweise interessieren sich auch eine Reihe von Orga-
nisationen, Konzernen, Institutionen und Privatleuten für diese
arkanen Relikte und würden gerne mal einen Blick auf die Drachen-
artefakte werfen. Gut bezahlte Runs, aber der Sternenschutz, dem
der Schutz der Gegenstände obliegt, versteht da keinen Spaß und
fackelt nicht lange.
> Zeitgeist
Außerdem greift sie vor allem auf zwei Mitglieder von Nachtmeis-
ters früherem innerem Kreis zurück, die in diesem Zusammenhang
eine besondere Rolle spielen. Während Dr. Léon Fischer – seines Zei-
chens Magistratspräsident von Frankfurt, Jurist, Diplomat, ehemaliger
Vorsitzender der Alfred Herrhausen Stiftung für politische Bildung,
Chef-Lobbyist des FBV und mit großer Wahrscheinlichkeit hochran-
giger (mundaner) Freimaurer der Loge zur Einigkeit zu Frankfurt – für
MSW einen Vaterersatz und Mentor darstellt, ist ihre Beziehung zu
Abraham Jesaja Fromm inzwischen deutlich zwiespältiger.
> Hinter der Loge zur Einigkeit versteckt sich auch eine Loge
Rasputins der Schwarzen Loge, und man kann davon ausgehen,
dass Fischer als zwar nichtmagisches, aber durchaus mächtiges
160 Monika Stüeler-Waffenschmidt
und wohlhabendes Mitglied der mundanen Baumeistervereinigung
gewisse Einsichten in Strukturen hat, die Normalsterblichen ver-
schlossen sind.
> Enigma
Fromm, der Head of Operations des FBV im Rhein-Ruhr-Plex,
einst von Nachtmeister eingesetzt, um Lofwyrs Aktivitäten im Auge
zu behalten, steht unter ständiger Beobachtung durch MSW, seit klar
wurde, dass er mehr über die Agenda ihres Mentors und seine Bezie-
hung zu Lofwyr und Drachen im Allgemeinen weiß als sie, anschei-
nend aber nicht bereit ist, alles Wissen – und eine Reihe von Arte-
fakten, die er von Nachtmeister persönlich erhielt (und die er als sein
Eigentum betrachtet) – mit ihr zu teilen. Ob Fromm dabei nur stur
den Plänen Nachtmeisters folgt oder mittlerweile eine eigene Agenda
verfolgt, ist derzeit unklar. Fromms verstärkter Personenschutz von au-
ßerhalb des Sternschutzes trägt jedoch nicht gerade dazu bei, wieder
eine Vertrauensbasis herzustellen.
Jenseits dieser beiden Insider nutzt MSW die schwarzen Kassen des
Bankenvereins (und ihre Schmidts), um Spionagedienste wie Infolio,
Aegis Cognito, Argus oder auch Shadowrunner anzuheuern, um Infor-
mationen über Drachen, Elfenintrigen, Artefakte und weitere Verstecke
von Nachtmeister in Erfahrung zu bringen sowie Legenden, Geheim-
nisse und Sagen zu hinterfragen und zum Kern dieser Geschichten
durchzudringen. Zusammengenommen bildet dieses Konglomerat,
fein sonderlich abgegrenzt von den normalen Strukturen des FBV, seit
über zehn Jahren Waffenschmidts ganz private Schatten(informations)
armee. Man sollte vor allem nach Jaana Paihanen, der Gründerin von
NPP Consulting, in Frankfurt Ausschau halten. Sie agiert bei beson-
ders prekären Runs, bei denen die Waffenschmidt den FBV nicht mit
reinziehen will, als Schmidt.
> NPP Consulting ist eine Art Frankfurter Kuriosität. Dahinter
verbirgt sich eine unscheinbare Firma mit dem Namen Neumann,
Paihanen & Partner, die man auf den ersten Blick für eine Kanz-
lei oder Werbefirma halten könnte. Laut ihrem Matrixauftritt ist
NPPC aber eine international tätige Unternehmensberatung mit
Sitz in Frankfurt und dem Geschäftsfeld „Executive Risk Consul-
ting“. Grob gesagt heißt das, dieses Unternehmen berät keine
Firmen, sondern hochrangige Manager als Privatperson in Fra-
gen der persönlichen Karriere, des Managements und bestimmter
„Problemlösungen“. Hinter der Fassade ist NPPC nämlich ein
wichtiger Teil der Frankfurter Schatten und der Frankfurter Schu-
le. Es handelt sich sozusagen um einen institutionalisierten Job-
Schieber, der hochrangigen Klienten (darunter auch Managern
großer ExTer-Firmen wie eben der Waffenschmidt) unterstützend
unter die Arme greift.
> Flitter
> Achtung: Eigenwerbung! ;-)
> Heisenberg
Darüber hinaus verfolgt Monika Stüeler-Waffenschmidt noch eine
weitere, private Agenda: die ihrer Herkunft und Rasse. Während sie
ihr magisches Talent (praktizierende Vollzauberin und Initiatin), das
sie fast nie in der Öffentlichkeit anwendet und das eines der am bes-
ten gehüteten Geheimnisse des FBV ist (gut, von ihrer Drake-Natur
wissen vermutlich noch weniger), aufgrund ihres zeitintensiven Jobs
als CEO nur selten weiterbildet (und wenn, dann durch mächtige
Privatpersonen, vermutlich aus der Führungsriege der Faustianer oder
Prager Zirkeln), versucht sie sehr wohl, mehr über die Fähigkeiten von
Drakes und ihre Herkunft und Beziehung zu den Großdrachen her-
auszubekommen.
> Wie die meisten Drakes, die sich nicht mit Fragen über sich und
ihre Art an Große Drachen wenden können, bleiben für sie wahr-
scheinlich viele Fragen offen, die Nachtmeister nie beantworten
konnte (oder wollte).
> Enigma
> Wobei inzwischen als gesichert gilt, dass MSW Zugriff auf die al-
ten Daten von GENscope hat. Nachtmeister ließ die Firma ab 2061
gezielt in den Bankrott gehen, um dann die Spuren zu beseitigen.
Allerdings gibt es da durchaus ein paar lose Enden im Bereich
der illegitimen Aktivitäten der ehemaligen Firmen. Zumindest ein
glatzköpfiger Zwerg aus dem Baltikum und eine stark vercyberte
Dänin sind noch immer ziemlich angefressen, damals von Nacht-
meister im Regen stehen gelassen worden zu sein, und warten
noch auf ihren „Zahltag“.
> Heisenberg
In dieser Hinsicht können auch die Treffen mit Kaltenstein in
Freiburg (das für MSW nicht so gut verlief, was aber möglicherweise
weniger an der Drake-Thematik lag) und mit Nadja Daviar kürzlich
in Hannover gedeutet werden. Inwieweit die Waffenschmidt hier als
private Unterstützerin die Drake-Agenda der Draco Foundation zum
Schutz vor der Verfolgung durch Großdrachen unterstützt, ist unklar,
wäre aber in meinen Augen nicht überraschend. Allerdings gibt es auch
Anzeichen, dass FBV und Draco Foundation sich annähern, vor allem
durch finanzielle Unterstützung diverser Draco-Foundation-Projekte
in Hannover über die Lobbying-Kassen des FBV.
MONIKA STÜELER-WAFFENSCHMIDT
K G R S C I L W M EDG ESS INI ID
4 [8]* 6 5 4 [9]* 7 5 5 6 14 5 6 10 1
Zustandsmonitor (K/G): 10 [12]*/11
Panzerung (B/S): 5/3 [4/4]*
Bewegung: 10/25 [Flug 20/50]*
Reichweite: 0 [+1]*
Fertigkeiten: Akrobatik 4, Antimagie 5, Askennen (Auren lesen)
3 (+2), Astralkampf 5, Ausweichen 4, Binden 3, Bodenfahr-
zeuge 2, Computer 3, Datensuche (Finanzberichte) 3 (+2),
Einschüchtern (Geistig) 3 (+2), Erste Hilfe 1, Führung (Über-
zeugen) 6 (+2), Gebräuche (Konzern-Chefetagen) 5 (+2), Her-
beirufen 4, Infiltration 3, Klettern 2, Laufen 3, Projektilwaffen
(Bögen) 4 (+2), Ritualzauberei 2, Schwimmen (Langstrecken)
3 (+2), Spruchzauberei 6, Tauchen 2, Überreden 4, Verbannen
2, Verhandlung (Diplomatie) 6 (+2), Verkleiden (Kosmetik) 3
(+2), Waffenloser Kampf 4, Wahrnehmung 4
Wissensfertigkeiten: Geschichte 3(4), Konzernpolitik 5, Lite-
ratur (Philosophische Werke) 4(5) (+2), Magietheorie 4(5),
Matrix-Sicherheitsprozeduren 2, Medienwesen 3, Okkultis-
mus (Pendeln) 4 (+2), Ökonomie (Finanzmarkt) 5(6) (+2),
Parazoologie (Drachen) 3(4) (+2), Recht (Konzernrecht) 4(5)
(+2), Sicherheitssysteme 2; Altgriechisch 2, Deutsch M, Eng-
lisch 6, Japanisch 5, Latein 4, Spanisch 4
Kräfte (in Drakegestalt): Dualwesen, Elementarer Angriff
(Feuer), Gesteigerte Sinne (Gehör, Geruch, Infrarotsicht,
Restlichtverstärkung), Mystischer Panzer 4, Natürliche Waffe
(Biss/Klauen: 7K, PB –), Verstärkter Panzer 4
Gaben: Außergewöhnliches Attribut (Charisma), College-Ab-
schluss, Drake, Schutzpatron (Weiser Krieger), Zauberer
> Es ist durchaus anzunehmen, dass hier auch der Informations-
austausch über Drachen eine wichtige Rolle spielt.
> Imperativ
Soweit bekannt, ist Fischer kein Freund dieser Verbindung und Ak-
tivitäten, da es Waffenschmidt – und damit auch den FBV – in das
Kreuzfeuer von Großdrachen und ihren Zielen bringen könnte, aber
wie es scheint, macht er derzeit noch gute Miene zum bösen Spiel.
Was uns zu Lofwyr bringt. Im Gegensatz zu den oft geäußerten
Gerüchten, dass MSW schon bei der Erwähnung von Lofwyrs Na-
men in die Luft geht, scheint sie die Sache deutlich pragmatischer zu
sehen. Zwar hat Lofwyr ihren Meister umgebracht und ist ein gefähr-
licher wirtschaftlicher Konkurrent, andererseits kann man es sich in
diesem Business nicht leisten, eine auf Emotionen basierende Fehde
mit Lofwyr zu führen, der außerdem nie einen persönlichen Groll
gegenüber MSW an den Tag gelegt hat. Da der FBV außerdem von
der von S-K und Lofwyr vorangetriebenen NEEC profitiert und man
bezüglich der ADL mal mehr, mal weniger „Hand in Hand“ arbeitet,
wird MSW vermutlich nie ein Freund Lofwyrs, aber sie scheint ihn
zumindest als Gegner in dem großen Schachspiel zu respektieren.
Initiatengrad: 8
Metamagie: Abschirmung, Anrufung, Erweiterte Maskierung,
Maskierung**, Psychometrie, Spiegelung, Weissagung (Pen-
deln), Zentrierung (Latein)
ANDERE
Zauber: Astrales Fenster, Beeinflussen, Betäubungsball, Betäu-
bungsblitz, Energieblitz, Entgiftung, Falsche Erinnerung,
Feinde Aufspüren, Gefühle Beherrschen, Geistessonde,
Handlungen Beherrschen, Heilen, Hellsicht, Herausputzen,
Kampfsinn, Levitieren, Magie Aufspüren, Mob-Laune, Ne-
bel, Panzerung, Physische Maske, Schildbrecher, Schmerz-
resistenz, Traum, Übersetzen, Verbesserte Unsichtbarkeit,
Wahrheit, Wahrheit Analysieren, Winterschlaf, Zauberfinger
Ausrüstung: Bereichsstörsender 6, Kommlink [MCT Tactical
in ziviler Hülle; Spezialanfertigung; Prozessor 7, Signal 7,
Firewall 7, System 7, Skinlink], Maßgeschneiderte Geschäfts-
kleidung [B/S 5/3], Kraftfokus [Kraft 4; Ohrring], Sonnen-
brille [Designerstück; Bildverbindung, Blitzkompensation],
White-Noise-Generator 6, Zentrierungsfokus [Kraft 2]
Programme: Analyse 6, Befehl 5, ECCM 7, Editieren 5, Scan-
nen 5, Schmöker 7, Verschlüsselung 7
Anmerkungen: In ihrer Machtposition hat Stüeler-Waffen-
schmidt Zugang zu praktisch jeder Ausrüstung, die sie gerade
benötigt. Sie genießt den Luxus einer medizinischen Rund-
um-die-Uhr-Totalüberwachung einschließlich in Schmuck-
stücken verborgener medizinischer Nanowaresysteme (Uni-
versal-Nanitenjäger 6 und Universal-Nantidote 8). Sie wird
permanent von einem Team aus sechs stark körpermodifizier-
ten bzw. Erwachten Leibwächtern geschützt und hat außer-
dem ein taktisches Einsatzteam auf Abruf.
* in Drakegestalt
** Monika Stüeler-Waffenschmidt maskiert sich normalerweise
als nichtmagisch, um ihre magische Begabung und ihr drachi-
sches Erbe zu verbergen.
Monika Stüeler-Waffenschmidt 161
Ich Bin Legion
VON JAMES D. MEIERS & RUSSELL ZIMMERMAN
Corinna stand in ihrem Büro und starrte aus dem Fenster, während
Majia Wrights Stimme über die Freisprechfunktion des Telefons er-
klang. Corinna hatte ein kleines, aber repräsentatives Büro zwischen
Eastern Market und der Capitol-Hill-Bannmeile, das von einem ihrer
Ex-Klienten bei Reality Inc. bezahlt wurde.
„...DED und Tigersharks verfolgten sie über Star Island, als sie ein-
fach so verschwanden“, sagte Majia.
„Nun, Ihre Vermutungen sind korrekt. Der Direktor versucht
nicht, Sie zu diskreditieren. Es ist einfach eine Frage langfristiger Pri-
oritäten, und es würde das Beste sein, der Sache ihren Lauf zu lassen.
Hier werden noch einige Entscheidung gefällt, und ich werde Sie da-
rüber auf dem Laufenden halten.“ Corinna war so großzügig, nicht
zu erwähnen, dass Majia, als sie das letzte Mal zu viel Druck gemacht
hatte, von der IDEA gefeuert worden war.
„Fein“, antwortete Majia. „Aber wenn meine Leute wieder auf sie
stoßen sollten, werden sie keine Rücksicht nehmen.“
„Ich verstehe. Danke, dass Sie sich meine Argumente angehört ha-
ben.“
„Keine Ursache. Auf Wiedersehen.“
Die Leitung schwieg. Corinna drehte sich um und setzte sich an
ihren Schreibtisch. Eines Tages würde man jemanden von Thorns Ka-
liber beauftragen, Majia Wright zu töten. Ein Jammer, dass er nur auf
der Durchreise war, denn jemanden mit seinen Fähigkeiten könnte
sie wirklich gut gebrauchen. Stattdessen würde sie durch eine andere
Nadja in der Runnerszene von Miami verbreiten lassen, dass keine Jobs
gegen Wright angenommen werden sollten. Die Elfe checkte ihren
Terminplan und eilte aus dem Büro. Nächster Stopp: Judiciary Square.
Sie hatte ein Treffen mit dem Koordinator für Konzernsicherheit von
FedPol.
*
Corinna überquerte den Platz vor der Zentrale der Federal Capitol
Police Force, und niemand würdigte sie eines Blickes. Sie war zwei
Meter groß und trug eines der berühmtesten Gesichter der Erde,
aber niemand achtete auf sie. Alle bewegten sich in ihren eigenen
privaten Blasen, waren Teil der DeeCee-Kultur, in der es üblich war,
dass man sich in sein Kommlink versenkte und alles um einen he-
rum ignorierte. Die Polizisten und privaten Wachleute waren auch
nicht besser. Ihre AR-Displays wurden von jedem Kommlink in der
Umgebung mit Informationen bombardiert, deshalb blendeten sie
99 Prozent der Anzeigen sofort aus, ohne die Besitzer der Komm-
links auch nur eines Blickes zu würdigen. Ein Hoch auf die Techno-
logie, dachte sie, als sie unbemerkt über den Platz schritt und das
bunkerartige Gebäude betrat.
Ihr Ziel war ein Eckbüro. Die vier Fenster waren dreißig Zentime-
ter breite Schlitze aus Densiplast und mit einer kugelsicheren Abschir-
mung versehen, aber der begrenzte Ausblick, den sie boten, war immer
noch besser als das, womit die meisten Leute sich hier zufriedengeben
mussten. Captain Clarkes Büro war in einem toten Beige gestrichen,
das er dadurch zu verstecken versuchte, dass er den Raum mit Erin-
nerungsstücken aus seinem Leben und seiner Karriere vollstopfte. Im
Moment erfüllte es eine Doppelfunktion als Büro und als Gefängnis-
zelle für jemanden, der ein Mann der Tat gewesen war, bevor er die Sei-
ten wechselte; unter dessen Namensschild in der Eingangshalle „Fire
Strike“ stand.
Sie trat ein und schenkte dem Gefangenen ein freundliches Lä-
cheln. „Ohne Sie wird es hier einfach nicht mehr so sein wie vorher,
Frank. New York ist fantastisch, aber was ist mit uns anderen hier?“
Sie meinte es ernst. Seit er der Verbindungsmann zwischen FedPol,
Konzerncops und UCAS-Bundespolizei war, war er eine Connection,
die sie nicht gerne verlor.
„Na ja, das hängt davon ab, ob ich den Job bekomme“, sagte der
Ork und lehnte sich in seinem Stuhl so weit zurück, dass sein Haar fast
den Hubschrauberhelm auf dem Regal hinter ihm berührte.
„Natürlich. Ich habe einige sehr gute Kontakte da oben“, sagte sie
und meinte damit Valeria, eine ihrer „Schwestern“. „Ich will ehrlich
sein und Ihnen verraten, dass einige Mitglieder des MDC ihre eige-
nen Kandidaten haben, und sie machen mächtig Druck. Aber das ist
glücklicherweise zu Ihrem Vorteil, denn das spaltet den Einfluss und
wird den Bevollmächtigten veranlassen, einen dritten Weg zu suchen,
um niemandem zu sehr auf die Füße zu treten.“ Valeria hatte sie mit
Yankee, einem anderen Schieber in Manhattan, in Kontakt gebracht,
und der hatte hervorragende Arbeit erledigt, als er Informationen über
den Auswahlprozess und die Entscheidungsträger gesammelt hatte.
„Wir können Sie in einer Woche da oben hinbringen, und dann
können Sie das NYPD und die MDC-Leute abklappern. Wir wollen,
dass sie von Anfang an auf Ihrer Seite stehen, um mögliche Probleme
von vornherein zu vermeiden.“
„Großartig. Das sind wirklich gute Neuigkeiten.“
„Gut, da das geklärt ist, hätte ich noch eine Bitte an Sie. Fragen Sie
doch bitte jemanden bei Desert Storm nach einem bestimmten Gent-
leman von Yamatetsu Naval. Das sollte die Aufmerksamkeit des MFID
wecken.“ Corinna reichte dem Captain einen kleinen optischen Chip,
der ihn entgegennahm und sich aufrichtete.
„Yamatetsu? Geht es um, äh...“ Clarke deutete mit einem schlaffen
Winken auf ihr Gesicht. Corinna blickte den Ork finster an, dann
nickte sie. Eigentlich war es ihr egal, wenn jemand auf ihr Leben als
Puppe anspielte, aber bei Leuten wie Clarke war es ganz hilfreich, die
Illusion zu erwecken, dass es ihr unangenehm sei. Dadurch konnte er
sich wie ein tapferer Ritter oder etwas Ähnliches fühlen.
„Ja, mache ich gerne. Ich werde gleich Montesinos anrufen.“
„Vielen Dank“, sagte sie. Corinna stand auf und ging.
*
„Nun, dann übermittle ihr noch einmal meinen Dank. Der Minister
war eine echte Plage.“ Das Trideobild einer Frau, die genau wie Corin-
na aussah, überlagerte Corinnas Blick auf den Washington Circle, als
sie von der Terrasse im sechsten Stock von Powell Hall hinunterblickte.
Die Frau am anderen Ende der Leitung war Irina, eine der anderen
Nadja-Daviar-Doppelgängerinnen, aus denen ihr kleines Schieber-
netzwerk bestand. Irina arbeitete in Südeuropa. „Sie und die anderen
sind gute Leute.“
„Natürlich. Die Muñecas schulden mir – uns – noch etwas für den
Deal letztes Jahr, als ich Global Sandstorm ein Dutzend Sklaven in
Palmar de Caridad freikaufen ließ. Deine Leute sollten jetzt keine Pro-
bleme mehr haben, nach Bogotá zu gelangen. Sie sollen aber unbe-
dingt bei Silver vorbeischauen und ihr danken. Dann wird Marcos sie
in das Kampfgebiet bringen.“
 „Ausgezeichnet.“ Die Einblendung verblasste, und Corinna been-
dete ihre Email an Silver, die Muñeca-Schieberin. „Vielen Dank für
Ihre Hilfe mit dem Minister und dem General. Wenn Sie etwas brau-
chen, können Sie sich jederzeit melden.“ So viel sie auch gemeinsam
hatten, Corinna konnte keine engere Verbundenheit zu den Muñecas
empfinden, vor allem verglichen mit Irina und einigen anderen. Nur
weil sie alle ehemalige Fleischpuppen und jetzige Schieber waren,
machte sie das noch lange nicht zu Schwestern. Corinna arbeitete mit
den anderen Nadjas zusammen, weil der, der sie gerettet hatte, ihr ein
Angebot gemacht hatte, das sie nicht ausschlagen konnte. Die Schie-
berinnen in Caracas waren Geschäftspartner und manchmal Konkur-
renten. Corinna interessierte sich nicht sehr für ihre Anti-Sklaverei-
Agenda.
Das Kommlink der Elfe gab eine Warnmeldung aus. Ihre Kontakt-
person war angekommen. Sie löste den Blick von der Menüleiste ihres
AR-Displays und fokussierte eine Reihe von Emails, die während ihres
Treffens angekommen waren. Corinna sah sie durch und verschob die
meisten sofort mit einem kleinen Muskelzucken oder einer leichten
Pupillenerweiterung in die Ordner für Empfehlungen und Rückrufe.
Eine perfekte Muskel- und Körperkontrolle hatte viele Vorteile, aber
der für den Alltag nützlichste war, dass sie sich durch ihr elektronisches
Leben navigieren konnte, ohne sich tatsächlich bewegen zu müssen.
Die AR-Zeichensprache hatte sich rasant im Distrikt verbreitet, daher
war es kein ungewöhnlicher Anblick, auf dem Weg zum Bahnhof viele
Leute mehr oder weniger wild um sich schlagen zu sehen, während sie
selber ruhig mit ihrem spezialgefertigten Ditko-Interface arbeitete.
Ich treffe mich lieber in offenem Gelände. In der Natur, dachte die
Elfe. Es mag gefährlich sein, aber es ist ein akzeptables Risiko; und vor
allem liebe ich das Gefühl, draußen in der Welt zu sein. Es ist so befreiend,
verglichen mit der Enge eines Hinterzimmerdeals.
„Hallo, Miss Cee“, rief eine Stimme hinter ihr, als sie weiter zur
Statue von George Washington hinunterblickte.
„Ich sollte Sie von diesem gottverdammten Dach werfen“, sagte sie
sachlich, ohne ihre Stimme zu erheben oder zu verändern und ohne
auch nur im Geringsten verärgert zu wirken. Das war vielleicht die ef-
fektivste Taktik – in einem perfekt ruhigen Ton brutale Dinge zu sagen.
Sie drehte sich um und sah den jungen Mann an, einen Menschen von
kleiner, untersetzter Statur – die ungünstigsten Eigenschaften seiner
irisch-deutschen Mischung hatten sich in ihm vereinigt. Er schreckte
bei ihrer Bemerkung zurück, die so unpassend schien für eine Elfe,
die in ihrem von Toastycake designten Bodyline-Kostüm (limitierte
Edition) und ihrer überteuerten Armanté-Sonnenbrille wie eine der
überprivilegierten Studentinnen der George-Washington-Universität
aussah.
„Was...“, stammelte der Runner, der wusste, dass sie ihn ohne Zö-
gern töten würde.
„Sie erwarten, dass ich meinen Job erledige, obwohl Sie Ihren nicht
hinkriegen? Ist es das? Scheiße. Werft der Hure genug Geld hin und
sie macht, was wir ihr sagen.“ Sie fuhr fort: „Ich sollte Sie umlegen.
Sie und ihr Team. Und Zenith, weil er uns zusammengebracht hat.“
Sie würde den albinotischen Schieber nie töten, aber das musste der
Runner ja nicht wissen. Der Schieber hatte sie gebeten, den Runner
kräftig zusammenzufalten, nachdem mehrere Runs in die Hose gegan-
gen waren.
„Hören Sie, wir haben genau das getan, was man uns gesagt hat.
Was soll das also?“, fragte er.
„Ja, Sie haben genau Ihren Job erledigt, aber Sie waren auf nichts
vorbereitet. Sie kennen doch die Redensart: ‘Es ist kein Run, bevor
man nicht zweimal übers Ohr gehauen wurde’. Und genau das ist das
Problem. Was soll ich jetzt mit Ihnen anfangen?“ Corinna huschte an
dem Runner vorbei und ging auf das Restaurant zu. Sie lächelte zwei
Orks in Anzügen zu, die sich von einer Gruppe ähnlich gekleideter
Männer und Frauen gelöst hatten und an ihr vorbeigingen. Es war
gerade mal drei Uhr nachmittags, und dieser Haufen dienstfreier Ge-
heimagenten war bereits auf der Jagd nach Studentinnen.
„Na ja... wir... äh, ich meine, ich... ich dachte, dass…“
„Ich bekomme ein Paellabrötchen. Was nehmen Sie? Ich lade Sie
ein.“
Der Mensch hörte auf zu stottern und blickte verwirrt auf den Tre-
sen, bevor er sie wieder ansah.
„Äh... danke, nichts. Na ja, wir haben etwas anderes gefunden.
Also, Dexxy hat es gefunden.“
„Ist das so? Und war das Teil ihres Auftrages?“, fragte Corinna, jetzt
in einem besorgten und fast schon mitfühlenden Ton.
„Nein, aber es war...“
„Sehe ich aus wie Ihre Mutter?“, fragte sie und starrte den armen
Mann in Grund und Boden, während der Marokkaner hinter dem
Tresen etwas zusammenmatschte, das man vor einigen Jahrzehnten
vielleicht noch als Neuerfindung eines traditionellen spanischen Ge-
richtes gefeiert hätte, das heute aber nur ein weiteres Fastfoodprodukt
war.
„Was? Nein. Ich w...“ Er unterbrach sich eine Sekunde zu spät. Co-
rinna hätte gelacht, wenn es nicht ihn und sein Team das Leben hätte
kosten können.
„Fein. Fein. Jetzt geben Sie mir die Daten, und ich werde ein paar
Vorkehrungen treffen.“ Er reichte ihr einen optischen Chip. Sie nahm
ihn, und er verschwand irgendwo in ihrem hautengen Kostüm. „Hö-
ren Sie mir gut zu. Ich habe nicht vor, diese Unterhaltung noch einmal
mit Ihnen zu führen.“ Ihre Stimme klang hart. „Nächstes Mal sollten
Sie vorsichtiger sein, wenn Sie oder Ihre Freunde beschließen, kreativ
zu sein.“
Die Elfe nahm ihr Brötchen und ging. Sie wussten beide, dass sie
sich nie wieder treffen würden. Ein angemessener Preis dafür, dass sie
ihm seinen dämlichen Arsch gerettet hatte.
*
Als Nadja-Daviar-„Klon“ war es kaum möglich, etwas zu unterneh-
men, ohne dass es mindestens ein Dutzend interessierter Parteien mit-
bekam. Sie könnte einen unauffälligeren Weg einschlagen und eine
andere Identität annehmen. Das hier war nicht ihre wahre Identität,
und je länger sie unter dieser Maske lebte, desto öfter wurde sie ge-
fragt, warum sie es tat. Anders als einige der anderen (ein paar von
ihnen hatten mit einem gewissen Erfolg versucht, ein eigenes Leben
zu leben oder zumindest eines, das verschieden war von dem, das man
ihnen aufgezwungen hatte) wusste Corinna genau, wie zerbrechlich
jede Identität sein konnte. Während die anderen lieber von dort weg-
zogen, wo man sie gefunden hatte, und ständig weiterzogen und ihre
Identitäten wechselten, blieb Corinna in Washington. Sie konnte
nicht anders. Sie hatte früher als Spionin für die Aktionsdivision der
Direction Générale de la Sécurité Extérieure gearbeitet, den französi-
schen Geheimdienst. Ihr heutiges Leben war eine Fortsetzung ihres
früheren.
„Sie wissen, dass ich unsere frühere Verbindung und unsere heu-
tigen Geschäfte immer strikt auseinandergehalten habe“, sagte Co-
rinna, als sie den Zwerg in seinem makellosen blauen Berwick-Anzug
anblickte. Sie saßen auf dem Rücksitz seiner Limousine und fuhren
auf der Pennsylvania Avenue vom Hart Senate Office Building zum
Farragut Square.
„Höre ich da ein ‘aber’?“
„Nicht doch. Ich bitte Sie nur darum, auf die lange Geschichte un-
serer Geschäftsbeziehungen zurückzublicken und mir zu vertrauen.“
„Warum Niccolo’s? Warum muss es von all den verdammten Läden
ausgerechnet dieser sein?“
„Weil ich Sie um einen Gefallen bitte.“
„Ich hasse diesen gottverdammten Royer und seinen Schatten. Aber
Ihnen zuliebe werde ich mich mit ihm und diesem Telestrian-Gauner
treffen.“
Die Limousine navigierte durch den Verkehr entlang der Mietska-
sernen an der Nordseite der Massachusetts Avenue, die Shiawase und
Ares nach den Unruhen von 2055 für die Tausenden von Flüchtlingen
der Compensation Army gebaut hatten, und die nach den späteren
Unruhen von 2057, 2061 und 2064 jeweils erweitert worden waren.
Corinna diskutierte erregt mit einigen ihrer Schieberkolleginnen, um
gewisse Probleme, die sich ergeben hatten, einzudämmen. In einem
Fall arbeitete Mischa in L.A. daran, einen Job zu vertuschen, der aufge-
flogen war. Sie hatte eine freundliche Extraktion eines Caltech-Thau-
maturgen zu Manadynes Büros in Boston in die Wege geleitet. So klein
die magische Forschungsszene auch war, es sprach sich herum, und
Pueblo wurde wütend. Die Rechtsprechung des Konzerngerichtshofes
hatte schon vor langem dem Pueblo-Konzernrat die gleichen Rech-
te der Rückführung flüchtiger Bürger zugesprochen wie den anderen
Megakonzernen. Zusammen mit Sofia, ihrer besten Schieberin für
Matrixangelegenheiten, verzögerte Corinna die Aktionen des zustän-
digen Justizangestellten lange genug, dass sie eine Abfindung zwischen
Manadyne und dem PCC aushandeln konnte. Der ganze Deal hing
jetzt von Wuxings Jonathan Blake ab, der als unabhängiger Vermittler
fungierte und die Ressourcen von Wuxing Financial im Rücken hatte,
um die Pueblos auszuzahlen, ohne dass Manadyne irgendwo Fingerab-
drücke hinterlassen musste.
Als sie in der 17. Straße ankamen, stieg Corinna aus der Limousine.
Auf dem Parkplatz eines alteingesessenen Restaurants stieg sie in einen
anderen Wagen, der sie ans Ziel bringen würde, getrennt von Senator
Tillman, der erst ankommen würde, wenn Corinna bereits bei Senator
Royer war.
Niccolo’s war ein klassisches Promi-Restaurant nicht weit nördlich
des Weißen Hauses. Als Corinna eintrat, spürte sie die Blicke vieler
Stammgäste – Lobbyisten, Karrieristen, Politikveteranen – auf sich, als
sie auf den Tisch im hinteren Bereich zuging, an dem Senator Royer
zusammen mit Steve Atkins, seinem Stabschef, und Moire Hale, dem
Cheflobbyisten von Telestrian, wartete. Sie sah und spürte die Seiten-
blicke, das anzügliche Grinsen und die verdrehten Augen der anderen
Gäste, die nicht viel davon hielten, dass dieses lebende Abbild einer
Person, die viele von ihnen kannten und bewunderten – oder in eini-
gen Fällen verachteten – hierher kam, um zusammen mit anderen ein-
flussreichen Personen zu speisen und Geschäfte abzuwickeln. Corinna
setzte sich neben Atkins und begrüßte alle am Tisch Sitzenden.
Während sie auf Senator Tillman wartete, schickte ein Newsfeed
eine Liste von Klatsch und Informationen aus DeeCee auf das Display
ihrer Drahtbrille. Man hatte bereits Notiz von ihrem Treffen mit dem
Senator und dem Lobbyisten genommen. Doch wichtiger war für sie
im Moment eine Chatanfrage von Natalia in Seattle.
„Hallo.“ Natalia war die bei Weitem Blasseste von allen Nadjas, was
Corinna immer wieder faszinierte. „Mein spezieller Buchhalter-Freund
konnte durch seine Verbindungen bei NeoNET etwas für dich arran-
gieren. Dein Klient hat vierundzwanzig Stunden lang Zugang zum
National Technical Center, keine Sekunde länger.“
„Ausgezeichnet!“, tippte Corinna heimlich unter dem Tisch in das
Chatfenster. „Das ist mehr als genug Zeit.“
„Gut. Durch diese Bitte stehe ich jetzt bei Tess in der Schuld. Ich
mag es nicht, jemandem bei MCT etwas schuldig zu sein.“
„Ich verstehe. Bist du dafür nicht mit NeoNET quitt? Keine Sorge.
Ich werde sehen, was ich tun kann, um das schnell wieder auszuglei-
chen.“ Chat Ende. Plötzlich ging ein neues Fenster auf. Yelena, die
erste Nadja.
„Gibt es bei euch nicht genug zu tun, dass du auch noch in die
Schatten von Seattle tauchen musst?“ Verdammt, fluchte Corinna im
Stillen. Dann verfluchte sie Sofia, bestimmt war sie es gewesen, die
Yelena Zugriff auf ihre Unterhaltung mit Natalia verschafft hatte.
„Nur eine lokale Angelegenheit, aber sehr kurzfristig. Was gibt’s?“
„Ich übertrage dir die Verantwortung für eine Sache, die Nata-
lia das Leben retten könnte. Es gibt eine Hackerin und Schieberin
namens Hannibelle. Sie geht immer dreister gegen Natalias Neben-
beschäftigung vor, und es wäre in ihrem besten Interesse, wenn sie
es eine Zeit lang etwas ruhiger angehen lassen würde. Einige Leute
fangen an, sich zusammenzureimen, dass sie in dem Gewerbe tätig
ist, und das ist für keine von uns gut. Und ich werde verdammt
noch mal nicht zulassen, dass eine von euch aus reiner Dummheit
getötet wird.“
„Ich werde mich darum kümmern“, sagte Corinna mit einem Flüs-
tern, das gerade laut genug war, dass die anderen am Tisch es bemerk-
ten.
„Wie bitte?“, fragte Atkins.
„Nichts.“ Sie drehte sich um und sah Senator Tillman auf den Tisch
zusteuern. Sie lächelte, als er näher kam – das Lächeln war falsch, aber
sie hoffte, dass es überzeugend war. Er ging um den Tisch herum und
setzte sich neben sie. Als sie sich zu ihm hinüber beugte, flüsterte er
ihr etwas zu.
„Ich habe gerade einen Anschiss vom Präsidenten bekommen, weil
ich mich mit den beiden treffe. Ich hoffe, das war es wert“, sagte er mit
einer solchen Intensität, dass ein Tropfen Spucke auf ihrem Ohrläpp-
chen landete. Sie lehnte sich zurück und lächelte.
*
Es war fast ein Uhr morgens, als Corinna endlich nach Hause in das
friedliche Haus in Friendship Heights kam, das genau auf der Grenze
zwischen Washington und Chevy Chase in Montgomery County lag.
Sie ging durch die Hintertür und nahm aus dem Kühlschrank eine
Flasche Waldnebel, dieses wahnsinnig teure, magisch gefilterte Wasser
aus Tír Tairngire. Sie setzte sich an den Küchentisch und öffnete die
Flasche mit der einen Hand, während sie mit der anderen ihr Haar
löste. Sie hörte die Schritte ihres Mannes die Treppe herunterkommen,
bevor der schlanke, schwarze Ork in seinem Fletcher-School-T-Shirt
um die Ecke in die Küche kam.
„Hey, Honey. Wie war dein Tag?“, fragte er, als er zum Kühlschrank
ging und sich auch eine Flasche Tír-Wasser nahm.
„Ach, wie immer“, sagte sie mit einem Lächeln, als er sich über
sie beugte und sie küsste. Er war der Einzige, den sie nicht ständig
anbetteln, umschmeicheln oder anderweitig manipulieren musste,
und wahrscheinlich war sie nur deswegen noch nicht wahnsinnig ge-
worden.
 NADJA DAVIAR
PERSÖNLICHE DATEN: NADJA DAVIAR
Alter: 59 Größe: 2,00 m
Gewicht: 85 kg Haarfarbe: Schwarz
Augenfarbe: Grün Geschlecht: Weiblich
Metatyp: Elf Erwacht: Ja (Adept)
Dieses recht interessante Dossier habe ich nach dem Wiederauftau-
chen von Nadja Daviar erhalten und ich dachte mir, dass es gut in
meine Sammlung faszinierender Charaktere passt. Die Quelle hat ihre
eigenen Ansichten (wie ihr feststellen werdet), aber sie bietet uns auch
einen ungewöhnlich detaillierten Blick auf eine sehr interessante Per-
sönlichkeit, die seit ihrer Rückkehr offenbar ein ausgeprägtes Interesse
an den Schatten zeigt. Das Dossier enthält viele nützliche Informati-
onen, die ich euch nicht vorenthalten will, auch wenn ihr vielleicht
nie etwas mit Daviar und den Kreisen, in denen sie verkehrt, zu tun
ANDERE
haben werdet.
//Lade Email :: User FastJack :: 25.08.73 //
Betreff: Nadja Daviar
Nachdem Nadja Daviar fast neun Jahre verschwunden war, hielt
man sie schon für tot oder dachte zumindest, sie würde nie zurück-
kommen. Zur Zeit ihres Verschwindens 2064 galt sie allgemein als
die mächtigste und einflussreichste Frau der Welt. Nachdem sie dem
Großen Drachen Dunkelzahn als persönliche Übersetzerin und As-
sistentin gedient hatte, wurde sie nach seiner Ermordung quasi zu
seiner Nachfolgerin. Sie verwaltete seinen Nachlass, setzte seine fi-
nanziellen Wünsche und testamentarischen Anweisungen um und
trat sein politisches und soziales Erbe als Vizepräsidentin der UCAS
an, ein Amt, das sie sieben Jahre innehatte. Eine spezielle Hinter-
lassenschaft, nämlich die Firma Gavilan Ventures und deren Akti-
enanteil an Ares Macrotechnology, verstärkte zudem ihre Präsenz im
Konzernsektor.
Ihr mysteriöses Wiederauftauchen ereignet sich in einer für die
Draco Foundation chaotischen Zeit. Die kommissarische Vorsitzen-
de der Foundation, Aina Dupree, wurde am 18. Juli in den Trüm-
mern des Watergate Bunker tot aufgefunden. Am darauffolgenden
Tag beschlossenen die verbliebenen Treuhänder, dass angesichts
dieser Entwicklung eine dauerhafte Lösung gefunden werden müs-
se, und vereinbarten, sich zwei Wochen nach Duprees Todestag in
Washington, D.C., zu treffen. In ihrer Funktion als kommissarische
Vorsitzende hatte Dupree einen sehr autoritären und zentralistischen
Führungsstil eingeführt, und ohne sie war die größte steuerbefrei-
te Organisation der Geschichte ohne rechtmäßige administrative
Leitung. Drei Tage nach Duprees Tod reichten Anwälte der Draco
Foundation einen Antrag auf Wiederinkraftsetzung der SIN 8S3K-
3U1R-HF45 – Nadja Simyonova Daviar – ein, ohne öffentlich dazu
Stellung zu nehmen. Daviar selbst gab nur einen einzigen öffentli-
chen Kommentar ab, in dem sie ihre Absicht verkündete, „verlorene
Zeit aufzuholen“.
166 Nadja Daviar
GEPOSTET VON: FASTJACK
HISTORISCHER HINTERGRUND
Nadja Daviar wurde am 19. März 2014 in Tallinn, Estland, als einziges
Kind einer Familie geboren, die effektiv zu existieren aufhörte, als sie
acht Jahre alt war. Ihre Eltern wurden bei Unruhen in der Hauptstadt
Estlands getötet, die durch das Auftreten eines zweiten VITAS-Stam-
mes in den Nachwehen der Goblinisierung ausgelöst wurden. Dass sie
überlebte, grenzt fast an ein Wunder. Offiziell wurde sie in ein staatli-
ches Waisenhaus eingewiesen, aber Nachforschungen haben ergeben,
dass sie sich dort nur dem Papier nach aufhielt und sich stattdessen auf
eigene Faust in einer Stadt durchschlug, die ihren UGE-„gestraften“
Kindern bestenfalls neutral gegenüberstand.
> Einige Leute versuchten mit allen denkbaren (und teilweise auch
undenkbaren) Methoden, Verwandte von ihr aufzuspüren, vor allem
nachdem sie verschwunden war. Der Foundation gelang eine bemer-
kenswerte Leistung, sie nicht für tot erklären zu lassen, während
sich Dupree kommissarisch um ihre Angelegenheiten kümmerte.
> Kay St. Irregular
Daviar wies – und weist auch heute noch – kognitive Funktionen
auf, die deutlich über dem Durchschnitt liegen. Bis zu ihrem Ver-
schwinden wurde immer wieder über ein mögliches magisches Poten-
zial spekuliert, vor allem seit Forschungen aus der Mitte der 60er Jahre
die mögliche Existenz latenter Erwachter Fähigkeiten beschrieben, die
bis dahin größtenteils unbekannt waren; Fähigkeiten, die sich auf ko-
gnitive und soziale Funktionen auswirken, in denen Daviar es bereits
zur Meisterschaft gebracht haben soll. Die genauere Erforschung dieser
Fähigkeiten ist noch nicht abgeschlossen.
In ihren schwersten Zeiten hatte Daviar nur ein Ziel: überleben.
Die Welt schien kurz vor dem Untergang zu stehen, und ein Drittel
all derer, die sie kannte, überlebten diese Periode nicht. Sie beschloss
zu fliehen. Während ihrer Bemühungen, sich selbst genug über die
Welt beizubringen, fand sie Verbündete, meistens Elfen wie sie selbst,
die ebenfalls Ambitionen hatten, die über die nächste Mahlzeit hin-
ausgingen. Einer dieser Freunde und Mentoren war ein junger Finne
namens Jonathon Reed. Er öffnete ihr die Augen dafür, wie wertvoll
ihre Talente, selbst als Jugendliche, für diejenigen waren, die sich dank
ihrer Rücksichtslosigkeit, ihres Idealismus oder ihres Wahnsinns in
dem allgemeinen Chaos behaupteten.
> Meine neue Heldin. Schade, dass weder Dunkelzahn noch sie
selbst je diesen Aspekt ihrer Vergangenheit hochgespielt haben.
Aber andererseits hilft es auch nicht viel, wenn der Job eigentlich
vor allem ein hübsches Gesicht erfordert.
> /dev/grrl
Offiziell verließ sie das Waisenhaus 2030, jedenfalls wurde es so in
der hastig hingekritzelten Handschrift eines Verwaltungsangestellten
vermerkt, der Tallinn kurz vor der russischen Invasion evakuierte. Die
Wahrheit ist, dass sie und Reed zu den vielen gehörten, die versuchten
– und zu den wenigen, die damit Erfolg hatten –, von den Schatten und
grauen/schwarzen Märkte zu profitieren, die durch die Eurokriege ge-
schaffen wurden. Dank ihres Charismas und ihrer Attraktivität hätte sie
leicht eine Karriere einschlagen können, bei der sie sich auf diese beiden
Eigenschaften stützte. Doch so ist Daviar nicht und war es auch nie.
> In der Lage zu sein, die komplexen logistischen Zusammenhän-
ge zu überblicken und zu handhaben, die einen Schwarzmarkt in
einem Kriegsgebiet ausmachen, dürfte dazu beigetragen haben,
Daviar stärker und einflussreicher zu machen. Aber sie schien fest
entschlossen zu sein, Gutes zu tun, und das verhinderte, dass sie
genauso schnell in höhere Machtregionen aufstieg wie rücksichts-
losere Profiteure wie zum Beispiel Inazo Aneki.
> Fianchetto

> Aneki ist tot und Daviar ziemlich lebendig. Was sagt uns das?
> Netcat
Dieses Gewerbe kann sehr lukrativ sein, und Daviar kümmerte sich
gut um ihre Finanzen. Als die Kriege zu Ende gingen und die Ordnung
wiederhergestellt wurde, wurde es zunehmend wichtiger, über die Ein-
nahmen Buch zu führen. Die Antwort bestand darin, ein komplexes
Geldwäschegeflecht einzurichten, das die anschließend sauberen Gel-
der in einen kleinen Konzern fließen ließ, den sie ohne Bedenken seine
eigenen Geschäfte treiben ließ, solange er ihre Investitionen schützte.
Dieser Konzern war Reality Inc.

> Was zur Hölle...? Warum hast du das nie erwähnt, FastJack?
> Mr. Bonds
> Nur weil wir dabei waren, heißt das noch lange nicht, dass wir
alles wissen oder verraten.
> Thorn

ANDERE
Ihre Einnahmen flossen in zahlreiche Unternehmungen – karitati-
ve, soziale, kommerzielle und politische –, als sie ihr Wissen und ihre
Beziehungen zunehmend dazu nutzte, sich im Nachkriegseuropa einen
Namen zu machen. Ihr Treffen mit Dunkelzahn auf einer Adam-Alo-
né-Ausstellung in Paris 2039 war der Wendepunkt, die Möglichkeit
für sie, etwas von globaler Bedeutung zu tun. Sie zog zum Lake Louise
um und übernahm bald das Imperium des Drachen. So dachte sie.
Mit der Organisation von Dunkelzahns Präsidentschaftswahlkampf
bewies Daviar der Welt ihre organisatorischen und administrativen
Fähigkeiten. Sein Tod jedoch stellte sie vor die schwere Aufgabe, die
Führung eines Schattenimperiums zu übernehmen, dessen Ausmaße
nur der Drache kannte. Hinzu kamen noch ihre Pflichten als Vize-
präsidentin der UCAS, die an der Seite des Präsidenten mit Macht
und Einfluss jonglierte, und ihre Aufgaben als einer der Hauptaktio-
näre und Direktoren von Ares während des Konzernkriegs 2059-61.
Ihr verstorbener Wohltäter und Freund hatte zahlreiche Wege für sie
vorgezeichnet, doch interessanterweise reichte keiner davon über das
Jahr 2064 hinaus. Bis dahin hatte sie ihre Rolle als Diplomatin unter-
mauert, indem sie nach Ghostwalkers Erscheinen eine Übereinkunft
über die Teilung der Macht in Denver vermittelte, erfolgreich 2060
zusammen mit Haeffner für die Präsidentschaft kandidierte, Umfang
und Breite der Tätigkeiten der Draco Foundation ausweitete und eine
wichtige Rolle bei Ares einnahm.
Dann ging wieder einmal die Welt fast unter, und Nadja Daviar
verschwand.

Nadja Daviar 167

 DAVIARS BESITZTÜMER

Nadja Daviars Rückkehr bringt Probleme mit sich. Rechtlich gese-

hen ist sie lebendig und gesund. Es wird weiterhin Anzweiflungen
ihrer Identität geben, und einige Leute werden versuchen, die Teile
ihres Imperiums, die sie während ihrer Abwesenheit verwaltet ha-
ben, permanent in ihren Besitz zu bringen, doch das ist nun einmal
der Preis, den sie für ihre fast zehn Jahre lange Abwesenheit zu zah-
len hat. Ihre Hauptsorge, wenn auch nicht die einzige, gilt ihrem
Imperium.

DRACO FOUNDATION
Nadja Daviar... vermache ich den größten Teil meiner Güter, ausgenom-
men die Dinge, die in diesem Testament gesondert erwähnt werden.
Nach seinem Tod vererbte Präsident Dunkelzahn bekanntlich
eine unglaubliche Menge an Objekten und Geldern an Personen
und Organisationen auf der ganzen Welt. Alles andere ging an Da-
viar und nicht an die Draco Foundation. Die Draco Foundation
wurde gegründet, um als langer Arm Daviars in ihrer Rolle als
Testamentsvollstreckerin seine Wünsche umzusetzen, und dazu
gehörte auch, eine Kontrolle über ihre Besitztümer sicherzustel-
len. Der plötzliche Tod Dunkelzahns und die nachfolgenden Un-
tersuchungen ließen es ratsam erscheinen, ihren neuen Besitz in
eine Treuhandorganisation zu stecken, die von der Foundation
kontrolliert wurde. Dabei ging es nicht nur darum, ein Format
zu finden, das moralisch unanfechtbar war, sondern auch um die
ANDERE

Schaffung einer Steueroase. Der aktuelle Vorstand der Treuhänder

erkennt Daviar als die durch das Testament Begünstigte an und
hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie das Erbe, das Dunkel-
zahn ihr hinterließ, erhält.
Es gibt Personen innerhalb der Foundation, denen die bis-
herige Situation entgegenkommt, doch insgesamt sieht sich die
Belegschaft in einem Konflikt. Einige sind voller Erwartungen,
während andere diese Anerkennung der rechtlichen Lage als Ver-
rat an Dunkelzahn sehen. Die Ziele der Foundation sind in ihren
Gründungsdokumenten und in Dunkelzahns Testament klar for-
muliert; es ist bekannt, wofür die Mittel der Organisation verwen-
det werden. Aber viele, die sich auf die Foundation als Wegbereiter
sozialer Veränderungen verlassen, befürchten, dass die Organisa-
tion, wenn Daviar sie jetzt für ihre eigenen Zwecke an sich reißt,
sozusagen entkernt und damit machtlos wird. Sie finden Trost da-
rin – oder sorgen selbst dafür –, dass Daviar für die Entwirrung
ihrer Besitztümer sehr viel Zeit, Anwälte und eine beträchtliche
Menge ebendieser Besitztümer aufwenden muss. Doch damit er-
weisen diese Leute dem Vermächtnis des Drachen natürlich einen
Bärendienst.
Die Draco Foundation hatte vor Daviars Rückkehr bereits die
Vorsitzende und die Vizevorsitzende verloren. Auf der Vorstands-
versammlung am 1. August wurde Daviar wieder als Vorsitzen-
de bestätigt und Frank Hardy zum Vizevorsitzenden gewählt.
Gleichzeitig wurde der Rücktritt der Treuhänder Midori Kane-
matsu und Miguel Torres bestätigt. Miss Kanematsu hatte sich
zwar bei der Verwaltung des riesigen finanziellen Imperiums als
äußerst wertvoll erwiesen, doch das System, das sie eingerichtet
hatte, funktionierte genauso gut auch ohne sie. Die verbliebenen
Mitglieder bildeten nach den Gesetzen und Vorschriften von FDC
und Finanzamt einen neuen Vorstand, und die Vorsitzende Daviar
gab bekannt, dass Betty Jo Pritchard (UCAS) und Ivory McCabe
(CAS) damit betraut wurden, drei neue stimmberechtigte Mitglie-
der sowie Mitglieder für einen noch zu gründenden Beratungsaus-
schuss zu suchen.

168 Shadowrun 4
> Kanematsu und Dupree brachten nach Daviars Verschwinden
eine härtere Linie in die DF, indem sie einige Hardliner aus Japan
anwarben, die nicht mit Kaiser Yasuhito auf einer Wellenlinie la-
gen. Anscheinend hat Daviar das nicht gefallen.
> Mihoshi Oni
Intern ist die Draco Foundation ein riesiger Konzern. Sie hat Dut-
zende von Vertretungen und Projekten auf der ganzen Welt und un-
terhält kooperative Verbindungen zu vielen Organisationen, die vom
Dunkelzahn Institute for Magical Research bis zu den Vereinten Na-
tionen reichen. Als die Angestellten der Foundation Daviar vor ihrem
Verschwinden das letzte Mal sahen, war allgemein bekannt, dass sie
sich nur wenig mit den alltäglichen operativen und administrativen
Tätigkeiten befasst, was sich grundlegend vom Führungsstil der kom-
missarischen Vorsitzenden Dupree unterschied, die ihr nachfolgte.
Jetzt, nach ihrer Rückkehr, hat sie die Absicht geäußert, ihre Führungs-
aufgaben aufzuteilen und zu delegieren. Sie hat bereits Rex Coll zum
neuen Geschäftsführer ernannt, und man erwartet, dass viele Ange-
stellte in Zweigstellen und im mittleren Management um ihre Jobs
kämpfen müssen.
> Sexy Rexy ist in jeder Hinsicht ein Tier von einem Mann. Wenn
irgendein Konzerngeier eine Übernahme durchzieht, holt man ihn,
damit er die neue Anschaffung ausweidet und seinen Bossen die
leckeren Happen hinwirft, während der Rest der Firma mit we-
henden Fahnen untergeht.
> Cosmo
Im Laufe der Zeit ist die Foundation zu einem Zufluchtsort für die
wenigen Drakes geworden, die weltweit aufgetaucht sind und denen
sie Rat und Schutz gewährt. Ryan Mercury, selbst ein Drake, leitet
dieses Programm zurzeit zusammen mit seiner Lebensgefährtin, einer
östlichen Drake namens Azadeh. Mercury und Daviar haben lange
Zeit zusammen für Dunkelzahn gearbeitet, und Mercury musste nach
ihrem Verschwinden einige schwierige Entscheidungen treffen. Er
suchte einige Jahre lang auf dem ganzen Globus nach ihr, bis er eines
Tages mit der Erkenntnis zum Lake Louise zurückkehrte, dass er als
Anführer und Mentor der Drakes arbeiten musste. Aufgrund seiner
früheren engen Beziehung zu Daviar unterstützt er sie jetzt wieder voll
und ganz. Ihr Verhältnis ist nicht frei von Konflikten, doch die klären
sie rein privat.
REALITY INC.
Reality Inc. wurde von Daviar noch vor dem ersten Crash als Sam-
melbecken für ihre Einkünfte gegründet, die nach Durchlaufen eines
beeindruckenden Geldwäschesystems in die Firma flossen. Die Firma
wurde zu einem ausgewachsenen Wirtschaftsunternehmen, als Davi-
ar ihr mehr und mehr Kontrolle über ihre Mittel einräumte, da ihre
Arbeit für Dunkelzahn einen immer größeren Teil ihrer Zeit in An-
spruch nahm. Große Aufmerksamkeit erregten die Übernahmen von
Reality Inc. auf dem Sicherheitssektor, vor allem von Eagle Security
und Cavalier Arms, doch der Finanzpool, auf den Reality Inc. für die-
se Erwerbungen zurückgriff, gehört zu den inoffiziellen Aktivposten
des Konzerns. Seit ihrer Rückkehr hat sich Daviar im Zuge der Kon-
solidierung und Umorganisation ihrer Besitztümer zweimal mit der
Konzernleitung getroffen und scheint deren bisherige Aktivitäten zu
begrüßen.
Damien Knight befindet sich ohnehin schon in einer prekären Lage,
was Ares angeht, und als Daviar zurückkehrte, kostete ihn das mögli-
cherweise einige Jahre seines Lebens. Daviar besitzt Gavilan Ventures
direkt, doch dessen Geschäftsführer und Vertreter im Ares-Vorstand,
Nicholas Aurelius, wird seit einigen Jahren von anderen Personen kon-
trolliert. Die wichtigste langfristige Sorge von Gavilan Ventures ist die
Festlegung des eigenen Wertes und die Ziele und langfristigen Opera-
tionen des Konzerns, abgesehen von den Anteilen an Ares. Möglicher-
weise könnte der Konzern in Reality Inc. aufgehen oder ein anderes
Schicksal finden.
> Wer gern darüber Buch führen möchte: Nadja besitzt jetzt einen
Anteil an Lone Star, Eagle Security und Knight Errant. Das sind
die Konzerne, die für die öffentliche Sicherheit in drei der vier
Sektoren Denvers zuständig sind.
> Kay St. Irregular
> Dazu noch ein paar Hintergrundinformationen. Ungeachtet ihrer
Vermögenswerte wird die DF aufgrund ihrer Gründungsart niemals
ein extraterritorialer Megakonzern sein. Jüngste Ereignisse haben
gezeigt, dass Reality Inc. derartige Probleme nicht hat. Howard
Hughes hat schon vor einem Jahrhundert bewiesen, dass die Idee
einer steuerbefreiten Organisation als Holdinggesellschaft Unsinn
ist, und das war lange vor den Business Recognition Accords. Es
wäre wesentlich besser für Daviar, die Foundation als Tochterge-
sellschaft von Reality Inc. einzurichten – vorausgesetzt natürlich,
sie kann die Heerscharen an Anwälten, Politikern, Konzernen und
Sonstigen abwehren, die sie daran hindern wollen.
> Mr. Bonds
GHOSTWALKER
Als Ghostwalker 2061 aus dem Dunkelzahn-Riss in Washington kam,
ANDERE
war Daviar maßgeblich an den Verhandlungen um seine Übernahme
Denvers beteiligt. Sie half dem Drachen dabei, die politische Situati-
on auf dem Kontinent und in Denver zu verstehen, und diskutierte
mit ihm über Dunkelzahns Vermächtnis. Beide arbeiten intensiv auf
die Verwirklichung des Vermächtnisses hin, doch im Laufe der Zeit
zeigten sich immer mehr Unterschiede in der Durchführung, was ins-
besondere darin klar wird, wie Ghostwalker Personen und Ereignisse
in seinem eigenen Interesse manipuliert, also etwa bei der Übernahme
Denvers oder auch in der Einflussnahme auf die Kinder des Drachen
und ihren Ableger, die Wiedergeborenen Kinder des Drachen.
Daviar ist derzeit der Meinung, dass Ghostwalker ihr Abkommen
gebrochen hat, sowohl was seine Vorgehensweise als auch was seine
Ziele angeht. Sie plant, sich seinen Aktionen entgegenzustellen, bzw.
Dunkelzahns Pläne gezielter voranzutreiben, jedenfalls so wie sie sie
versteht. Sie will Ghostwalkers momentane Schwäche und Ablenkung
ausnutzen, um seine Aktivitäten und Ambitionen um die laufenden
Vertragsverhandlungen in Denver und andere Projekte zu durchkreu-
zen. Daviar und ihre Agenten versuchen zurzeit, sich Gruppierungen
im Bereich Denver anzunähern, etwa den Geistern im Hub oder den
Mitgliedern von Dunkelzahns altem Beobachter-Netzwerk, die jetzt
mit Ghostwalker zusammenarbeiten oder sich selbstständig gemacht
haben. Sie ist zudem mit den Führungsriegen der beiden KdD-Sekten
in Dialog getreten, nachdem sie eingestanden hat, dass die langjährige
Politik der Foundation, jeden Kontakt mit ihnen zu verweigern, ein
Fehler war.
> Die Nadja, die in Denver gesehen wurde, mag vielleicht nicht
die echte gewesen sein, aber anscheinend arbeitete sie direkt in
Daviars Auftrag.
> Snopes
> Ich bin fest davon überzeugt: Entweder Daviar oder Ghostwal-
ker, oder beide, war an der Neuen Revolution beteiligt. Abgesehen
von dem ganzen „Säg nicht an dem Ast, auf dem du sitzt“-Kram,
der mit dem Weggang der Einheits-Koalition aus Denver nach
Nadja Daviar 169
 Ghostwalkers Rückkehr einherging, änderte sich in Denver nichts,
während der Rest des Kontinents im Chaos versank. Wenn ihr Ziel
darin bestand, Nordamerika wiederzuvereinen, dann sollte doch
die Vernichtung einer Stadt, die ein lebendes Sinnbild für das ist,
was an Amerika heute „falsch“ ist, ganz oben auf der Liste stehen.
Aber es geschah nichts, was auch nur annähernd in die Richtung
ging.
> Riser
> Oh Gott.
> Kay St. Irregular
> Ja, du weißt es natürlich besser. Aber ich glaube, dass der
„misslungene“ Aufstand nur eine Finte war. Damals, und heute
noch mehr, war klar, dass diese Bekloppten nie auch nur die Spur
einer Erfolgschance hatten. GW war nie in Gefahr, da er genau
Bescheid wusste, was geschehen würde. Doch jetzt hat er sich in
seinen Hort verkrochen, und das sagt mir, dass er sich nicht mehr
länger sicher fühlt.
> Riser
POLITIK
Dank ihres früheren Amtes genießt Daviar in DeeCee einige Privilegi-
en. Sie hat speziellen Zugang zu bestimmten Leuten und Mitteln, was
sie zu einer wertvollen Ressource für alle macht, die bestimmte Pläne
verfolgen. Und darüber hinaus wollen alle möglichen Leute, angefan-
gen bei Präsidentin Colloton bis hin zur Seattler FBI-Dienststelle, Ge-
ANDERE
naueres darüber wissen, was sie in den letzten zehn Jahren so gemacht
hat, wobei die Präsidentin sich sogar schon mehrmals heimlich mit
Daviar getroffen hat. Das letzte Treffen, von dem ich weiß, drehte sich
um die politische Zukunft der beiden, vor allem da Colloton sich und
die Finanzmittel der Republikanischen Partei voll der Ratifizierung
des neuen Vertrags von Denver verschrieben hat. Daviar hatte nie als
Mitglied einer Partei oder einer anderen nationalen Organisation kan-
didiert; ihre politischen Aktivitäten konzentrierten sich immer nur auf
die jeweilige Wahl, nicht auf eine langfristige politische Karriere. Doch
die Dinge haben sich geändert, und jetzt braucht sie die dauerhafte
Unterstützung einer politischen Organisation, um ihre kurz- und lang-
fristigen nationalen und internationalen Ziele zu verfolgen.
> Ich wäre gern im Westflügel gewesen, als sie zu Besuch kam.
„Der Boss ist da! Tut alle so, als hättet ihr was zu tun!“
> Riser
Seit sie die Welt wieder mit ihrer Anwesenheit beehrt, setzt Daviar
ihren Einfluss direkt und indirekt ein. Sie leitet Initiativen in die Wege,
um rund um die Vertragsverhandlungen in Denver Informationen
und Einfluss zu koordinieren und um die Beobachterrolle der Dra-
co Foundation bei der UNO mit neuem Elan auszuüben. Die Draco
Foundation hat immer die geheime Kommission für Megakonzern-
Angelegenheiten unterstützt, doch seit Iker Lezabatxe, der frühere
baskische Präsident, Generalsekretär ist, hat er es sich zur Aufgabe
gemacht, die KOMA und die „wirtschaftsfeindlichen“ Programme sei-
ner Vorgänger sowie deren Unterstützer zu bekämpfen. Hestabys Rede
vor der UNO-Generalversammlung hat noch weiter das Augenmerk
auf die Beziehungen zwischen Drachen und Metamenschen gerichtet,
und das ist ein Thema, das für die Draco Foundation von besonderer
Bedeutung ist.
Der überraschendste Schritt, den sie auf dem politischen Parkett
machte, war eine Reihe heimlicher Treffen mit Lugh Surehand und
Jonathon Reed, die kurz nach dem Watergate-Zwischenfall in Wa-
shington stattfanden. Seit der Auflösung des Prinzenrates waren sich
170 Nadja Daviar
die beiden aus dem Weg gegangen. Es gelang ihr, die beiden zusam-
menzubringen, indem sie die Hilfe eines dritten Prinzen in Anspruch
nahm, Dar Varien, der in DeeCee war, um Leute für seine geplante
private Militärorganisation anzuwerben. Dies ist ein europäisches und
globales Sicherheitsthema, das Daviars Eigentümerschaft an Reality
Inc., die Aktivitäten der Foundation innerhalb der UNO und Daviars
baltische Wurzeln berührt.
> Was war da beim Watergate los? Einige Minuten lang dachten
wir, Washington sei ausradiert worden, und alle Killersatelliten
und Orbitalplattformen sind auf Alarmstufe Rot gegangen.
> Orbital DK
> Die UCAS haben gar nichts gemacht. Ghostwalker ist absichtlich
in den Riss zurückgekehrt. Er flog durch den Riss, und der schloss
sich hinter ihm. Aber wären da nicht die Aktionen bestimmter
Individuen gewesen, hätte die „Kernexplosion“, die seine Tat ver-
ursachte, leicht DeeCee zerstören können.
> Frosty
> Ich hätte nicht fragen sollen.
> Orbital DK
> Es ist interessant, dass sie Varien als Vermittler eingesetzt hat. Er
hat Deals mit dem BIS, der Spionageabwehr der ADL, abgeschlos-
sen, und sie kann seine Expansionspläne unterstützen, indem sie
ihm einen potenziellen Kunden auf der einen Seite (DF) und einen
potenziellen Lieferanten auf der anderen (Reality) vermittelt.
>
Fianchetto
MEDIEN
Daviar war die meiste Zeit ihres Erwachsenenlebens ein Medien-
liebling. Mit 21 tauchte sie regelmäßig in den europäischen Medien
auf, nach ihrem Treffen mit Dunkelzahn in Paris erregte sie globale
Aufmerksamkeit, und ihr Bekanntheitsgrad hat im Laufe der Zeit
immer mehr zugenommen. Bei dem gewaltigen Interesse und den
Spekulationen um ihr Verschwinden hätte jeder Sender natürlich
gern als Erster ein Live-Interview mit ihr, denn das würde sicher-
lich bessere Quoten erzielen als die diesjährige Desert-Challenge-
XXVII-Meisterschaft.
Bevor sie verschwand, war Daviar ebenso sehr eine Stilikone wie
eine prominente Geschäftsfrau und Politikerin. Als sie verschwand,
schossen ihr Bekanntheitsgrad und ihre Medienpräsenz rasant in die
Höhe – und normalisierten sich hinterher wieder –, da viele Leute
weiterhin an ihrer Funktion als Medien- und Stilikone festhielten. Ihre
Rückkehr verursachte einen ähnlichen Anstieg, und die Zunahme in
Produktion und Verkauf von professionellen und Fanartikeln hat ei-
nen kollateralen Anstieg in der Zahl der Gerichtsverfahren und der
Schattenaktivitäten zwischen den Produzenten nach sich gezogen.
> Man hätte erwarten können, dass sie sich kurz nach ihrem Wie-
derauftauchen kopfüber in die Medien stürzen würde. Doch indem
sie das hinauszögert, hält sie die Gerüchteküche in Gang und baut
geschickt die Erwartungen an ein ausführliches Interview auf.
> Dr. Spin
Ihr Stil und ihr sozialer Einfluss erstrecken sich auch auf die Grup-
pe von Schieberinnen, die als „die Nadjas“ bekannt sind. Es ist schwer
zu beschreiben, wie merkwürdig und schwierig es ist, mit diesen Frau-
en Geschäfte zu machen. Ich weiß nicht, wie loyal sie Daviar gegen-
über sind oder ob es irgendwelche finanziellen Vereinbarungen gibt.
Ich weiß nicht einmal, wie viele von ihnen es gibt. Namentlich weiß
ich nur von sechs, dem Ruf nach von einem Dutzend. Das Gruselige
an ihnen ist, dass sich das psychologische Profil, das zur Verstärkung
der körperlichen Ähnlichkeit bei ihnen implantiert wurde, mit ihren
ursprünglichen Psychen vermischt hat. Wer auch immer dafür verant-
wortlich war, diese Bunraku-Puppen zu erschaffen, die bis in geneti-
sche Details identisch sind, hat seinen Job zu gut gemacht, und deshalb
sind sie jetzt ehemalige Puppen.
> Ich mag Natalia nicht, die in Seattle. Sie hat mich immer so
angesehen, als wäre ich ihr Mittagessen. Und dann gibt es da noch
die beunruhigende Tatsache, dass Frauen, die sie über die Grenze
schleust, es nicht immer bis nach Seattle schaffen.
> /dev/grrl
> Vielleicht versucht sie, ihr Geschäftsfeld auszuweiten.
> Butch
DIE ZUKUNFT
Die großen Fragen bei Nadja Daviar sind: Was will sie, und was wird sie
tun, um es zu erreichen? Die Möglichkeiten, die ihr zur Verfügung ste-
hen, sind praktisch unbegrenzt. Ihre früheren Aktivitäten sind ein Indika-
tor, aber keine Garantie für ihr Verhalten in der Zukunft. Ihre Aktionen
vor ihrem Verschwinden deuten auf ein Engagement für Dunkelzahns
NADJAR DAVIAR
K G R S C I L W M EDG ESS INI ID
3 5 4 3 9 6 6 6 9 6 6 10 1
Zustandsmonitor (K/G): 10/11
Panzerung (B/S): 6/2
Fertigkeiten: Athletik-Fertigkeitsgruppe 3, Bodenfahrzeuge 2,
Computer 3, Datensuche 6, Einschüchtern 6(10), Erste Hilfe
2, Führung 5, Gebräuche 6(10), Handwerk (Harfe) 2 (+2),
Infiltration 4, Überreden 5, Verhandlung 7(11), Verkleiden
2, Waffenloser Kampf 3, Wahrnehmung 6
Wissensfertigkeiten: Ares Macrotechnology 4, Arkanarchäo-
logie 3, Bankwesen (Steueroasen) 4 (+2), Betriebswirtschaft
(Finanzen) 5 (+2), Diplomatie 5, Draco Foundation 6, Dra-
coformen (Große Drachen) 5 (+2), Europäische Politik 4,
Geschichte (Europäische) 5 (+2), High Society (DeeCee) 5
(+2), Klassische Musik (für Harfe) 4 (+2), Literatur 4, Ma-
gischer Hintergrund 4, Militär (UCAS) 3 (+2), Mystische
Legenden 5, Philosophie (Politische) 3 (+2), Psychologie 4,
Recht (UCAS) 4 (+2), Schmuggelrouten (Europa) 2 (+2),
Schmuggler-Treffpunkte (Europa) 2 (+2), Sicherheitsfirmen
2, Spionage 3, Spionagetricks 3, UCAS-Politik 6, Volkswirt-
schaft 3, Deutsch 4, Englisch 5, Estnisch M, Finnisch 6,
Französisch 4, Polnisch 4, Russisch 6, Spanisch 3
Vision hin, dass die Metamenschheit trotz aller kurzfristigen Rückschläge
und Hindernisse das Potenzial hat, sich weiterzuentwickeln.
Es gibt Anzeichen, dass ein Teil der Welt von dieser Botschaft No-
tiz nahm. Ein kompletter AAA-Megakonzern scheint sich gegenwär-
tig dieser Vision verschrieben zu haben. Doch Macht, die man einmal
hat, gibt man selten freiwillig wieder ab. Bequemlichkeit und Effizi-
enz sind nicht das Gleiche wie Weiterentwicklung. Mehr Menschen
als je in der Geschichte der Menschheit haben Zugang zu Wissen und
zu anderen Menschen, und doch liegen die Hilfsmittel, mit denen das
bewerkstelligt wird, in den Händen weniger Personen und Organisa-
tionen, die dieses Privileg jederzeit widerrufen können, sollte es ihnen
nicht länger von Nutzen sein.
Daviar erledigt den größten Teil ihrer Aktivitäten virtuell oder
durch Stellvertreter, so ähnlich wie Dunkelzahn es vor seinem Tod
machte. Sie gibt sich nicht damit zufrieden, von einem physischen
oder elektronischen Elfenbeinturm wie der Zentrale der Draco Foun-
dation in Friendship Heights aus zu herrschen. Die Technik hat ihre
Möglichkeiten, zu reisen und zu kommunizieren, erweitert, während
sie die logistische und operative Kontrolle über ihre Aktivitäten ausübt.
Wenn man ihre Beziehung zu den Nadjas und ihre eigene Vergangen-
heit betrachtet, ist es möglich – und wahrscheinlich –, dass sie eine ak-
tive Rolle übernimmt und sich persönlich um viele Einzelaspekte ihrer
Pläne kümmert, im Gegensatz zu ihrer verkündeten Absicht. Sie ver-
fügt über die nötigen Mittel, um verdeckt tätig zu werden, und jüngste
Ereignisse deuten darauf hin, dass sie trotz ihres nur allzu bekannten
Gesichts auch in der Lage ist, unerkannt zu agieren.
ANDERE
Gaben: Adept, Analytischer Geist, Außergewöhnliches Attribut
(Charisma), Fotografisches Gedächtnis, Talentiert (Verhand-
lung)
Handicap: Pazifist 1
Initiatengrad: 3
Adeptenkräfte: Analytik 4, Befehlsstimme, Körpersprache 3,
Multitasking, Mystischer Mantel 8, Sprachtalent, Verbesserte
Fertigkeit (Einschüchtern) 4, Verbesserte Fertigkeit (Gebräu-
che) 4, Verbesserte Fertigkeit (Verhandlung) 4
Metamagie: Erkenntnis, Maskierung, Zentrierung
Ausrüstung: Bereichsstörsender 2, Eurocar Westwind 3000,
Kamerabrenner 6, Kommlink [Transys Cybernaut mit NSA
Sentinel; Prozessor 9, Signal 8, Firewall 10, System 10;
AR-Handschuhe, Biometrische Scanner (Retina, Fingerab-
druck, DNA, Stimme), Elektroden, IC (Stufe 10; Analyse
10, Angriff 10, Aufspüren 10, Blackout 10, Panzerung 10,
Verschlüsselung 10), Richtantenne, Satellitenverbindung,
Singularity Encore 10, Skinlink, Subvokalmikrofon, Transys
Florence 10], Relais-Drohne 2, White-Noise-Generator 6,
smaragdgrünes Zoé-Kleid [B/S 6/2] oder hellgraues Berwick-
Kostüm [B/S 5/3]
Anmerkungen: In ihrer Machtposition hat Daviar Zugang zu
praktisch jeder Ausrüstung, die sie gerade benötigt.
Nadja Daviar 171
 NEBELHERR
PERSÖNLICHE DATEN: NEBELHERR
Alter: Von Nebelherr ist keine metamenschliche
Form bekannt. Als herkömmlicher westlicher Dra-
che beherrscht er auch nicht die Kraft der meta-
menschlichen Gestalt. Über sein Alter gibt es keine
gesicherten Angaben, auch die Schätzungen gehen
weit auseinander. Für einen westlichen Drachen
scheint er ein gewisses Alter zu besitzen, allerdings
ist er jünger als Lofwyr oder Kaltenstein.
> Es gibt viele Drachenkenner, doch nur wenige wissen auch mit
jenen Vertretern dieser Art etwas anzufangen, die nicht zu den
Global Playern gehören. Ein profunder Experte für das Who-is-
who der Drachenwelt stammt aus dem Mutterland Lofwyrs, und er
weiß über jene Exemplare zu berichten, die nicht zu den Großen
ANDERE
ihrer Art gehören. Der Mann heißt Heisenberg. Als ehemaliger
Problemanalytiker von S-K Prime kennt er sich in der deutschen
wie internationalen Drachenszene hervorragend aus, weshalb es
an ihm ist, euch das Profil über den folgenden Drachen näher-
zubringen.
> FastJack
Wer an die Allianz Deutscher Länder (ADL) und an Drachen denkt,
dem fällt üblicherweise sofort Lofwyr ein – was angesichts seiner welt-
weiten Bedeutung nicht verwunderlich ist. Bei aller Bedeutung der
Großdrachen geriet aber ein normaler westlicher Drache beinahe voll-
kommen in Vergessenheit, obwohl er jahrelang einen festen Platz in den
News hatte. Das änderte sich aber schlagartig, als besagter Drache nach
seinem spurlosen Verschwinden wieder in das Licht der Öffentlichkeit
trat. Die Rede ist von Nebelherr.
Nebelherr erwachte 2012, als er im vollbesetzten Keller einer bay-
rischen Gaststätte aus dem Boden hervorbrach. Zwar forderte die aus-
brechende Panik unter den Besuchern einige Schwerverletzte, doch
kam überraschenderweise niemand zu Tode. Nur wenige Wochen
danach machte der grau-weiß gefärbte Drache bei dem Versuch von
sich reden, Kaltenstein davon abzubringen, in die SOX zu fliegen.
Der Große Drache wollte sich jedoch nicht aufhalten lassen und fügte
dem deutlich kleineren Nebelherr schwere Verletzungen zu. Erst mit
dem Einschreiten Lofwyrs konnte Kaltenstein von seinem Vorhaben
abgehalten werden. Welche Schuld Nebelherr bei Lofwyr für dessen
Hilfe begleichen musste, blieb unbekannt. Zu meiner Zeit bei S-K
Prime hätten einige von uns ihre Eltern und Kinder dafür verkauft,
um hinter das Geheimnis zu kommen, was Nebelherr dem Boss für
seine Hilfe schuldete. Dafür konnte ich etwas anderes in Erfahrung
bringen: Nebelherr stammt aus einem Gelege, das in Kaltensteins
Hort schlüpfte, und wurde von ihm aufgezogen. Der Große Drache
ist quasi der Ziehvater des Drachen, der sich dann gegen ihn stellte.
Dies ist vermutlich der Grund, weshalb Kaltenstein dem wesentlich
kleineren Nebelherr derart zusetzte.
Nach dem Duell mit Kaltenstein zog sich Nebelherr zurück, um
seine zahlreichen Wunden zu lecken. Als Ort für seinen Hort wählte er
die Insel Herrenchiemsee im Chiemsee aus. Frühere Vermutungen, der
172 Nebelherr
GEPOSTET VON: HEISENBERG
Drache habe die Insel einfach in Beschlag genommen und besetze die
Insel dauerhaft, erwiesen sich jedoch als falsch, da Nebelherr als offizi-
eller Eigentümer der Insel in den Akten der Landesregierung geführt
wird. Wie er in den Besitz der Insel mitsamt dem darauf stehenden
Schloss Herrenchiemsee gelangte, ist nicht geklärt.
> Es handelt sich wohl eher um ein gut gehütetes Geheimnis. Die
notarielle Beglaubigung liegt tief auf einem gesicherten Server
verborgen, der von einer Sondereinheit der Schwarzen Sheriffs ge-
sichert wird und der noch ganz andere hochbrisante Informationen
enthalten soll.
> Zeitgeist
Der katholischen Kirche auf der benachbarten Fraueninsel war
und ist der Erwachte Nachbar ein Dorn im Auge. Es entwickelte
sich ein regelrechter Kleinkrieg zwischen den beiden Inselbesitzern.
Der badende Drache brachte mehr als einmal ein Motorboot der
Kirche zum Kentern, natürlich immer unabsichtlich. Die Ankla-
gen des Vatikans wegen versuchten Mordes scheiterten allesamt vor
Gericht. Der Konflikt verlagerte sich danach auf die symbolische
Zurschaustellung von Kunstwerken, um die jeweils andere Seite zu
kränken: Nebelherr wählte übergroße Steinstauen, die sich lasziv
und obszön am Strand räkeln, die Kirche ließ an den Außenwänden
ihres Klosters Gemälde wie das des Heiligen Georg anbringen, der
einen Drachen erschlägt.
Das Schloss unterzog Nebelherr einigen Umbaumaßnahmen, da-
mit er sich frei in ihm bewegen kann. Glaubwürdigen Quellen zufolge
hat der Drache darauf geachtet, dass das Schloss seinen Charme behält,
und einige Bereiche sind weiterhin im Originalzustand erhalten. Ein
besonderes Faible besitzt der Schlossherr für die ausgeprägte Gartenan-
lage, da er oft auf der großen Gartenterrasse in der Sonne liegt. Seine
ausgedehnten Badeausflüge im Chiemsee machten ihn schnell zu einer
landesweiten Berühmtheit, denn wo kann man schon einen Drachen
beim Baden beobachten?
> Für Nebelherr hatte der Rummel auch seinen Vorteil: Wer so in
der Öffentlichkeit steht, der kann nicht so leicht attackiert wer-
den. Auch Lofwyr dürfte es schwerfallen, mit so jemandem nach
Gutdünken zu verfahren.
> Zwieblblootz
In den politischen Unruhen der 2030er Jahre und der folgenden
Rezession in Süddeutschland kaufte sich Nebelherr in den Dallmayr-
Konzern ein, dessen Hauptanteilseigner er bis heute ist. Die Führung
des Feinkost-Konzerns, zu dem auch Feinkost Käfer gehört, überließ
der Drache bislang immer einer Geschäftsführerin, die sich um die Um-
setzung seiner Anweisungen kümmert. Daneben besaß er zahlreiche
Aktienportfolios, zu denen auch sieben Prozent der DeMeKo gehörten.
Diese erwarb der Drache im Zuge der Fusion zur DeMeKo, bei der er
als einer der Geldgeber agierte. An den Vorstandssitzungen nahm er nie
persönlich teil. Ab Anfang der 2060er Jahre überließ er es einer Unter-
händlerin namens Amélia Bezerra, für ihn zu sprechen.
> Die Wahrheit offenbart sich erst auf dem zweiten Blick. Der
Drache nutzt Dallmayr zur Informationsgewinnung. Das Personal
hat nicht nur Zugang zu zahllosen Haushalten und verköstigt die
oberen Zehntausend Münchens, es gelangt in ebenso viele nichtöf-
fentliche Gebäude, und niemand misstraut dem stets hilfsbereiten
und überaus freundlichen Dallmayr-Personal, das seine Augen und
Ohren offenhält.
> Zwieblblootz
 Auch wenn er nie ein Interview gab, tauchte
Nebelherr regelmäßig in den Society-Magazinen
auf, was ihn zu einer wahren Touristenattraktion
machte. Im Süden der ADL, vor allem in Mün-
chen, entstand ein regelrechter Hype um den Dra-
chen, der in Plüschdrachen und einer geplanten
Animationsserie gipfelte. Man rühmte sich da-
mit, dass Nebelherr einer der ihren sei. Immer
wieder wurde gemunkelt, Nebelherr verwande-
le sich in einen Metamenschen, um sich in
den besten Clubs Münchens unter die fei-
erwütige Menge zu mischen und mit hüb-
schen Frauen zu verschwinden. Ebenso soll
er in metamenschlicher Gestalt als angeb-
licher Dallmayr-Manager an Festlichkeiten
teilgenommen haben, um zu erfahren, was
in seinem Konzern vorgeht.

> Es gab sogar Vaterschaftsklagen von

Möchtegern-Sternchen, die gegen Nebel-
herr angestrebt wurden und scheiterten.
Selbst wenn nur ein Viertel der Gerüchte
stimmt, hat es der Drache wohl regelmäßig
krachen lassen.
> Snow-WT

Der Wirbel um Nebelherr endete ab-

rupt mit dem zweiten Matrixcrash von
2064: Quasi über Nacht verschwand
der Drache spurlos von seiner Insel,

und niemand wusste, wohin. Infolge der
chaotischen Zustände des Crashs ist das
genaue Datum des Verschwindens nicht
bekannt. Als sich die Lage wieder normalisiert hatte,
entdeckte ein Trideochopper die Verwüstungen auf der Insel des Dra-
chen. Das Schloss schien weitgehend intakt, aber die sonst so gepflegten
Außenanlagen waren verwüstet und vereinzelte Bäume ausgerissen.
Noch vor der polizeilichen Untersuchung hatte S-K Prime ein Team
aus Ermittlern und magischen Forensikern vor Ort, das sich auf der
Insel umsah und jeden Stein zweimal umdrehte. Doch selbst deren
Bemühungen führten zu keinem Ergebnis. Bei den weiteren Untersu-
chungen geriet zwangsweise Nebelherrs Vertraute Bezerra ins Visier der
Ermittler. Doch auch hier konnten S-K Primes sonst überaus erfolgrei-
che Methoden keine Resultate erzielen.
> Was Heisenberg hier so euphemistisch formuliert, heißt im
Klartext knallhartes magisches, mit Drogen unterstütztes Zwangs-
verhör mit anschließender Gedächtnislöschung. Es grenzt an ein
Wunder, dass Bezerra noch ihren Verstand besitzt.
> Zeitgeist
Die Dallmayr-Geschäftsführerin Ursula Mosel entzog sich ge-
schickt dem Zugriff von S-K Prime, ihr Verhör durch die Polizei blieb
ergebnislos.
Das nach Essen übersandte Ergebnis war deshalb alles andere als zu-
friedenstellend: Auf der gesamten Insel konnte nicht ein konkreter Hin-
weis auf Nebelherrs aktuellen Aufenthaltsort gefunden werden. Eine
Täuschung seitens des Drachen wurde nicht ausgeschlossen. Allerdings
erschien die Option fragwürdig, da schwache Rückstände eines bis dato
unbekannten Gases sowie arkane Restspuren gefunden wurden. Daher
blieb nur die Theorie von einer Entführung des Drachen. Allerdings
gab es nie Beweise, die diese oder eine der anderen Theorien verifizieren
oder falsifizieren konnten.
> Verdächtige gab es damals genug. Ganz weit vorne stand die
römisch-katholische Kirche. Immerhin hat der Drache einige ihrer
Glaubensbrüder auf dem Gewissen. Daneben hat er dem Vatikan
ANDERE
nicht nur symbolisch, sondern auch juristisch
einige Niederlagen beschert. Unklar ist, wel-
chem Orden die Verstorbenen angehörten. Aber die
Silvestriner hätten wohl ihre Freude gehabt, dem Drachen eins
überzubraten. Nicht minder froh wäre die Vigilia Evangelica ge-
wesen, da Nebelherr ihnen in der Vergangenheit einige begehrte
Artefakte vor der Nase wegschnappte. Angeblich floh der Drache
vor einer gemeinsamen Kommandoaktion des Vatikans. Durch die
magisch begabten Silvestriner sind dann auch die arkanen Rest-
spuren vor Ort zu erklären. Nicht weniger im Verdacht stand S-K
selbst. Vielleicht hat Nebelherr seine Schuld nicht richtig begli-
chen, und Lofwyr wollte seinem Artgenossen Respekt beibringen.
Die Theorie, nach der verstimmte Väter der Münchener High Soci-
ety den Drachen loswerden wollten, weil er ihre Töchter nach und
nach vernaschte, konnte sich nie durchsetzen.
> Zwieblblootz
> Nebelherr ist nicht vor einem drohenden Anschlag auf ihn ge-
flohen, sondern ihm nur knapp entkommen. Urheber waren aber
weder die Kirche noch S-K, sondern der Siegfried-Bund. Der Angriff
auf einen normalen Drachen bildete nur den Testlauf, bevor man
sich an einen der Großen wagen kann. Ob der Siegfried-Bund eine
derartige Aktion alleine durchgeführt hat, ist fraglich. Sicherlich
wird er von anderer Stelle Unterstützung bekommen haben. Und
wer bietet sich da mehr an als ein verstimmter Nachbar?
> Enigma
Nach den Ermittlungen zog sich S-K wieder von der Insel zurück,
da diese weiterhin im Besitz des Drachen war. Als Bevollmächtigte ver-
anlasste Bezerra die Beseitigung der vorhandenen Schäden und küm-
merte sich weiterhin um ihre Arbeit bei der DeMeKo. Die Leitung
des Dallmayr-Konzerns übernahm kommissarisch die amtierende Ge-
schäftsführerin Ursula Mosel. Wenn man von der nicht unbedeutenden
Tatsache absieht, dass der Drache verschwunden war, arbeiteten seine
Untergebenen anscheinend in seinem Sinne weiter.

Nebelherr 173

AMÉLIA BEZERRA
Alter: 48 (vermutet)
Metatyp: Mensch
Bis zum Wechsel der DeMeKo-Anteile vertrat Be-
zerra Nebelherr im Vorstand des Konzerns. Nach
seinem Verschwinden überwachte sie die Aufräum-
arbeiten auf Herrenchiemsee und lebte auf der In-
sel, von der aus sie nach dem Drachen suchen ließ.
Ansonsten ist nur wenig über die gebürtige Portu-
giesin bekannt. Über ihren bisherigen Werdegang
gibt es ebenso viele Spekulationen wie über ihre
Zusammenarbeit mit Nebelherr. Den häufigsten
Vermutungen nach kann Bezerra auf eine erfolg-
reiche Karriere bei Aegis Cognito zurückblicken. Sie
soll in einer Vielzahl von Zweigstellen tätig gewe-
sen sein, bis der Drache sie abwarb. Ob sie einfache
Informationsbrokerin oder eine Effizienzspezialis-
tin war, kann nicht abschließend geklärt werden.
Bezerra spricht mehrere Sprachen fließend, offen-
bar auch ohne entsprechende Software. Inwiefern
sie Implantate besitzt, ist unbekannt. Ihre ehema-
ligen nachrichtendienstlichen Tätigkeiten machen
die Portugiesin zu einem wertvollen Werkzeug für
ANDERE
Nebelherr, der seiner loyalen Mitarbeiterin anschei-
nend vertraut. Angesichts ihrer Erfahrungen ist es
nicht überraschend, dass Bezerra für den Drachen
als Kontaktperson zur Schattenszene agiert.
Die Spekulationen über Nebelherrs Verbleib seit 2064 scheinen zahl-
los. Die Polizei wie auch S-K Prime gingen einigen Hinweisen nach, die
letztlich allesamt im Sand verliefen. Lediglich Nebelherrs eigener Kon-
zern wirkte überraschend ruhig, für Beobachter beinahe zu ruhig. Es
schien fast so, als wäre das leitende Personal lange im Voraus auf eine
derartige Situation vorbereitet worden und erfüllte nun die Pläne seines
Meisters. Auch hier führten die Bemühungen der Ermittler ins Leere.
Schon wenige Monate nach Nebelherrs Verschwinden schliefen die Er-
mittlungsarbeiten der Polizei vollkommen ein, die eigens eingerichtete
SOKO wurde aufgelöst, und selbst S-K Prime fuhr seine Bemühungen,
den Drachen aufzufinden, auf ein absolutes Minimum zurück.
Letztlich blieb nur die schiere Masse der angeblichen Sichtungen.
Auf Geheiß meines ehemaligen Arbeitsgebers ging S-K Prime solchen
‘Berichten’ in ganz Europa nach und erstellte ein umfangreiches Dossi-
er. Neben den üblichen Spinnereien und abstrusen Verschwörungsthe-
orien gibt es einige wenige glaubhafte Hinweise, die sich zu einem Bild
zusammenfügen lassen. Auffällig oft stößt man auf Wien, Venedig und
Paris. Wie Nebelherr die Städte erreicht und wo er sich versteckt hat, ist
ungewiss. Es ist davon auszugehen, dass er nicht nur in seiner natürli-
chen Form die Städte aufsuchte, sondern auch mittels Magie mehrere
metamenschliche Aussehen angenommen hat, um seine Spuren zu ver-
wischen und Verfolger in die Irre zu führen.
> Dabei soll er nicht nur die Rasse, sondern auch das Geschlecht
regelmäßig gewechselt haben, um noch mehr Verwirrung zu stif-
ten. Eins sollen seine metamenschlichen Erscheinungsformen ge-
meinsam gehabt haben: Charme und Eleganz.
> Zwieblblootz
174 Nebelherr
Aber zurück zu den Städten. Alle sind für ihre kulturellen Angebote
bekannt, und es scheint, als habe sich der Drache während seiner Auszeit
ein Kunstprogramm gönnen wollen. In Wien soll er zum Beispiel regel-
mäßig die Staatsoper und das Kunsthistorische Museum besucht haben,
um Kontakte zu einflussreichen Personen aufzubauen. In den Wintermo-
naten besuchte er anscheinend Salzburg, um dort Verbindungen zu den
Reichen und Schönen des Landes zu knüpfen. Für diesen Zweck eignet
sich in der Ski-Saison kaum eine Stadt so gut wie Salzburg, die ein fester
Anlaufpunkt der Grand Tour des europäischen Hochadels und der obe-
ren Zehntausend ist. Angeblich traf er dort Bernhard Swarovski (CEO)
und andere einflussreiche österreichische Familien. Glaubt man lokalen
Gerüchten, so verbrachte Nebelherr einige Sommermonate in den weit-
läufigen Landschaften des Waldviertels, einer Grundgebirgslandschaft in
Niederösterreich, die zu großen Teilen der Familie Habsburg gehört.
> Das klingt so, als habe der Drache lediglich einen schönen lan-
gen Urlaub verbracht. Dabei soll es hinter den Kulissen ordentlich
gescheppert haben. In Venedig soll Nebelherr in einem alten Do-
genpalast nach irgendeinem obskuren Artefakt gesucht haben, das
angeblich in Verbindung zum Vatikan steht. Außerdem gibt es zwei
gesicherte Berichte über Vorfälle, bei denen ein westlicher grau-wei-
ßer Drache in abgelegenen Klöstern auf dem Balkan mit Eingreiftrup-
pen der Kirche aneinandergeraten ist. Ob Nebelherr und der Vatikan
dasselbe suchen oder ob der Drache dem Vatikan einfach wirklich bei
irgendwas in die Suppe spucken will – wer weiß das schon.
> Zeitgeist
Ins Licht der Öffentlichkeit trat Nebelherr erstmals wieder am 18.
Mai 2072, wenn auch nicht in persona. An jenem Tag übertrug der im-
mer noch verschwundene Drache seine DeMeKo-Anteile an Myriam
Teleam, die Präsidentin des gleichnamigen pomoryanischen Telekom-
munikations- und Staatskonzerns, dessen Ende kurz bevorstand. Die
notariell beglaubigte Verfügung war bei der renommierten Münch-
ner Anwaltskanzlei Stark, Theissen und Van der Mer bereits seit 2064
hinterlegt. Mit der Überschreibung seiner Aktienanteile verpasste der
Drache S-K in absentia einen gehörigen Dämpfer, da sich innerhalb
der DeMeKo nun eine Front gegen Lofwyr gebildet hatte. Sämtliche
Manöver und juristischen Tricks, mit denen Ætherlink versuchte, die
Übertragung anzufechten, scheiterten.
> Das Datum alleine ist geschichtsträchtig. Es handelt sich um
den Jahrestag von Feuerschwinges Absturz über der SOX.
> Enigma
> Die Entscheidung wirkt sich auch auf die politische Situation in
Pomorya aus. Durch die Stärkung Teleams wird gleichzeitig Lofwyrs
Einfluss durch Ludmilla Reanka im Land zumindest eingedämmt.
> Zwieblblootz
Nebelherrs nächster Überraschungscoup ließ nicht lange auf sich
warten. Die Wogen hatten sich nach der Neuordnung der DeMeKo-
Anteile gerade wieder geglättet, als der nächste Paukenschlag folgte.
Am 23. September 2073, nur wenige Sekunden nach dem Anstich
des ersten Bierfasses auf dem Oktoberfest, erschien Nebelherr wie aus
dem Nichts am strahlend blauen Münchener Himmel, drehte einige
schwungvolle Runden über der Theresienwiese und flog anschließend
in Richtung Chiemsee davon.
Die Helikopter, die ihm folgten und über Herrenchiemsee kreis-
ten, ließ Nebelherr kurzerhand von der Polizei vertreiben. Es versteht
sich von selbst, dass die überraschende Rückkehr des Drachen das Ge-
sprächsthema Nummer eins in München war und weit über die Wiesn
hinaus erneut spekuliert wurde, wo sich der Drache wohl aufgehalten
hat. Rein äußerlich erscheint Nebelherr unverändert, auch seine tägli-
chen Badeausflüge in den Chiemsee hat er nach seiner Rückkehr wieder
aufgenommen. Dafür ist Amélia Bezerra häufiger auf der Insel gesichtet
worden. Sie war es auch, die im Namen des Drachen alle bisherigen
Interviewanfragen höflich, aber bestimmt zurückgewiesen hat. Nur we-
nige Tage nach seiner Rückkehr bestellte Nebelherr Frau Mosel ein. Das
Treffen der beiden dauerte rund eine Stunde, danach flog die Gute di-
rekt in die Dallmayr-Zentrale zurück. Die Gesprächsinhalte sind selbst-
redend unbekannt, doch nur wenige Tage später verkündete Dallmayr
die Eröffnung der ersten Catering-Abteilungen in Wien und Salzburg
sowie einige Umstrukturierungsprozesse im Dallmayr-Vorstand.
> Mosel blieb jedoch entgegen einiger Erwartungen auf ihrem
Posten. Die an sie ausgezahlte Bonuszahlung wirkt vielmehr wie
ein Treuebonus für geleistete Dienste in der Abwesenheit des Dra-
chen. Vielleicht wusste sie doch mehr, als sie zugab? Jedenfalls
hat Nebelherr nicht eine einzige Entscheidung von ihr rückgängig
gemacht.
> Zeitgeist
Das nächste Highlight bildete der majestätische Neujahresempfang
am 1. Januar 2074 auf Herrenchiemsee, zu dem Nebelherr ausgesuchte
Vertreter der Münchener High Society eingeladen hatte. Einen Bericht
dazu erstellten eigens auserkorene Journalisten der DeMeKo. Über-
haupt war es das erste Mal, dass Reporter einen Fuß auf die Insel des
Drachen setzen durften. Dass nur an zuvor sorgsam ausgewählten Stel-
len Aufnahmen gemacht werden durften, versteht sich von selbst. Aber
längst nicht jeder, der in München Rang und Namen hat, erhielt auch
eine Einladung.
> Besonders lustig sind die Nicht-Einladungen, mit denen der
Drache einigen Personen deutlich gemacht hat, dass er zwar eine
riesige Party schmeißt, sie aber dazu explizit nicht einlädt. Damit
hat sich Nebelherr nicht nur Freunde gemacht.
> Zwieblblootz
NEBELHERR
K G R S C I L W M EDG ESS INI ID
18 10 10 40 14 15 12 12 17 6 12 25 2
Zustandsmonitor (K/G): 17/14
Panzerung (B/S): 11/11
Bewegung: 15/40 (Flug 30/60)
Reichweite: +2
Fertigkeiten: Askennen 8, Beschwören-Fertigkeitsgruppe 6,
Einschüchtern (geistig) 3 (+2), Exotische Fernkampfwaffe 6,
Fliegen 6, Hexerei-Fertigkeitsgruppe 8, Schwimmen 4, Ver-
handlung (Diplomatie) 4 (+2), Waffenloser Kampf 6, Wahr-
nehmung 6
Wissensfertigkeiten: Dallmayr 5, Drachengebräuche 5, Drachen-
geschichte 3, Drachengesellschaft 3, Europäische Adelshäuser
5, Europäischer Jetset 5, Konzernpolitik 3, Kunstgeschichte
4, Magietheorie 4, Magische Gruppen 3, Metamenschliche
Etikette 5, Psychologie 4, Verschwörungstheorien 3
Nicht nur Münchener Größen folgten der Einladung des Drachen.
Aurora Teleam war ebenso anwesend wie ihre Schwester Myriam Te-
leam, die die Gelegenheit nutzte, sich persönlich für die Übertragung
der Aktienpakete zu bedanken. Die Paparazzi waren besonders von den
zahlreichen Gästen des europäischen Jetsets angetan, die ebenfalls zu
der Party geladen waren. Besondere Aufmerksamkeit erregte Zita An-
tonia Habsburg-Lothringen, die Tochter der österreichischen Kanzle-
rin und It-Girl der Wiener Szene, die mehrfach die Tanzfläche für sich
einnahm. Auch wenn sie scheinbar den ganzen Abend keinen Kontakt
mit dem Drachen hatte, sich dafür aber exzellent mit Modedesignerin
Anuschka Joop-Anielski und Zeiss-Technokratin Božena Nepovíma
unterhielt, heißt es dennoch, dass sie schließlich über Nacht auf Her-
renchiemsee blieb und erst am Morgen übermüdet in ihr Hotel am
Arabell-A-park in München zurückkehrte.
> Was ist eigentlich mit Nebelherrs Mitgliedschaft bei den Baye-
rischen Illuminaten? Darüber wurde noch kein Wort verloren. Ist
das Ganze nur ein Gerücht oder steckt da wirklich was dahinter?
> Spime
> Was willst du hören? Nebelherr wird wohl nichts dazu sagen.
Wieder mal gibt es mehr Gerüchte als harte Fakten. Nebelherr soll
einigen Treffen beigewohnt haben, doch will dies niemand offiziell
bestätigen. Vielleicht sollte auch mal geklärt werden, was die Ba-
yerischen Illuminaten wirklich bezwecken. Wollen die Wissen hor-
ten oder es sammeln, um die Metamenschheit weiter nach vorne
zu bringen? Oder ist das letztlich nur ein illustres Treffen von Ge-
schäftsleuten, die irgendwelche Absprachen miteinander treffen?
> Snow-WT
ANDERE
Kräfte: Bewusstsein, Drachensprache, Dualwesen, Einfluss, Ele-
mentarer Angriff (Feuer), Gesteigerte Sinne (Breitbandhören,
Geruch, Infrarotsicht, Restlichtverstärkung), Grauen, Mys-
tischer Panzer 11, Natürliche Waffe (Biss/Klauen: Schaden
10K, PB –2), Nebelgestalt, Verstärkter Panzer 11, Zwang
Gaben: Zauberer
Initiatengrad: 14+
Metamagie: Abschirmung, Absorption, Erweiterte Maskierung,
Intensivierung, Maskierung, Sensibilisierung, Spiegelung,
Zentrierung
Zauber: Chaotische Welt, Druckwelle, Energieschlag, Entzün-
den, Fahrzeug Rammen, Fahrzeug Zertrümmern, Falsche Er-
innerung, Feinde Aufspüren, Gefühle Beherrschen, Individu-
um Aufspüren, Interferenz, Manabarriere, Manablitz, Mana-
netz, Mob-Kontrolle, Napalm, Nebel, Orgasmus, Panzerung,
Projektilabwehr, Schallbarriere, Schildbrecher, Versteinern,
Vollrausch, Wahrheit
Geister: 2 Helfergeister (Kraft 6), 1 Schutzgeist (Kraft 12), 3
Wassergeister (Kraft 10), 3 Watcher
Nebelherr 175
 RAEL WHITEOAK
PERSÖNLICHE DATEN: RAEL WHITEOAK
Alter: 48 Größe: 1,73 m
Gewicht: 57 kg Haarfarbe: Braun
Augenfarbe: Blau Geschlecht: Weiblich
Metatyp: Elf Erwacht: Nein
Ich liebe die Nachrichtensender – nicht weil sie sich der Wahrheit
oder irgendwelchen tiefgreifenden Informationen oder Einsichten ver-
schrieben hätten (mit Ausnahme meiner Beiträge, natürlich). Ich liebe
sie, weil man immer weiß, was man bekommt: Lügen. Ich suche nicht
nach der Wahrheit. Ich suche nach etwas Interessantem. Und wenn
es etwas gibt, das mein Blut so richtig in Wallung bringt, dann ist das
ein gutes, altmodisches Mysterium. Vor allem, wenn dieses Mysterium
eine Person ist.
Neulich stromerte ich ein bisschen in der Matrix herum, steckte
ANDERE
meine Nase hier und dort hinein, wie ich es nun einmal gerne mache,
und blätterte dabei ein paar Informationen über Charisma Associates
durch. Ich mag diese Leute. Sie sind in vielerlei Hinsicht revolutionär
und waren immer freundlich zu mir und meinesgleichen, auch da-
mals, als ich mit einem Team loszog und mich ein bisschen in den
Schatten umsah, Kugeln auswich und mein eigenes angesengtes Haar
roch, nachdem wir etwas zu nah an einen von Feuerbällen begeisterten
Magier geraten waren. Ja, der Run hat wirklich Spaß gemacht. Andere
nicht so sehr. Aber ich schweife ab...
Zurück zu Charisma Associates. Da die Firma ja einen sehr hohen
Bekanntheitsgrad hat, war ich neugierig auf die Vizepräsidentin, Miss
Rael WhiteOak. Sie koordiniert die Aktivitäten des Konzernzweiges,
der bei Horizon für die Schattenaktivitäten zuständig ist, doch wie sich
herausstellte, findet man nicht viel über sie selbst – jedenfalls nichts,
was älter ist als ein paar Jahre. Nein, ich will jetzt nicht Plan 9 heraus-
hängen lassen und mich kopfüber in Verschwörungstheorien stürzen,
aber ich wollte wirklich etwas mehr über sie wissen. Also tat ich, was
ich immer tue. Ich steckte meine Nase in die Angelegenheiten anderer
und fand ein paar Sachen heraus.
> Sie hält sich absichtlich bedeckt, da sie nicht als das Gesicht
von Charisma Associates bekannt werden will. Wenn ein PR-Mensch
selbst zu berühmt wird, dann kann es passieren, dass er mit sei-
nem Glanz die Leute überstrahlt, für die er arbeitet. Und das mö-
gen seine berühmten und profilneurotischen Kunden gar nicht.
> Dr. Spin
Und das habe ich herausgefunden: Miss WhiteOak hat intern Kar-
riere gemacht – sie hat etwa vier Jahre für Horizon gearbeitet, bevor
sie auf ihre jetzige Position berufen wurde. Ihr Verantwortungsbereich
bei Horizon, als sie dort anfing, waren die immer wieder beliebten
„nicht näher bezeichneten Aufgaben“. Ihre Personalakte aus der Zeit
ist hauchdünn, sie enthält ein paar persönliche Angaben und sonst
nichts. Ich fand keine internen Memos oder andere Hinweise, aus de-
nen man entnehmen konnte, mit was sie sich in ihrem Berufsleben
176 Rael Whiteoak
GEPOSTET VON: SINSHINE
befasste. Doch eine kleine Sache fand ich in ihrer Akte, die mir ein
bisschen weiterhalf.
Es gab eine medizinische Information in ihrer Datei – sie war
zwei Wochen krankgeschrieben und ließ bei Horizons interner me-
dizinischer Abteilung etwas erledigen, das als „Schultergelenkersatz“
beschrieben wird. Eine ungewöhnliche Operation für eine Elfe Mitte
vierzig, von der sie sich noch dazu extrem schnell erholt haben muss.
Also folgte ich meiner Intuition und führte ein paar Suchläufe zu den
üblichen Stichworten durch – zweiter Vorname, Geburtsort, Straßen,
in denen sie gewohnt hatte, und dergleichen.
Ich musste ziemlich tief graben und etliche Leute befragen, aber
schließlich stieß ich auf die Geschichte einer Elfe namens Vorilhon,
die einen Schuss in die Schulter bekam, als sie versuchte, einen PR-
Manager bei Aztechnology zu extrahieren. Das geschah unmittelbar
vor dem Termin, an dem WhiteOak ihre „Schulterersatz“-Operation
hatte. Aber der beste Treffer war der Name. Für die unter euch, die sich
nicht mit religiösen Randgruppen des 20. Jahrhunderts auskennen – es
gab eine Gruppe, die von einem Kerl namens Claude Vorilhon ge-
gründet wurde, und diese Gruppe übernahm später den Namen, den
Vorilhon sich selbst gab. Dieser Name war Rael.
> Okay, soll ich etwas Platz für Plan 9 reservieren, damit er be-
haupten kann, dass WhiteOak Claude Vorilhon ist, nur Erwacht und
mit Geschlechtsumwandlung und Leonisation und...?
> Slamm-0!
> Ihr werdet es mir wahrscheinlich nicht glauben, aber auch ich
habe meine Grenzen.
> Plan 9
Die Leute, die mit dieser Runnerin Vorilhon gearbeitet hatten, wa-
ren ein ziemlich verschlossener Haufen. Sie erzählten gern über ihre
früheren Runs, als ich sie aufspürte und befragte, aber sie wollten nicht
viel über Vorilhon erzählen, und übrigens auch nicht über die anderen
Mitglieder ihres Teams. Sie lieferten mir keine Beschreibung von ihr
(nicht einmal ihren Metatyp) und sagten auch nichts über ihre Per-
sönlichkeit. Aber die Handlungen einer Person erzählen genug über
ihre Persönlichkeit, wie ich immer wieder festgestellt habe, und die
Geschichten, die sie erzählten, enthielten einige interessante Details.
Eine Geschichte, die ich mehrere Male hörte, drehte sich um einige
schmutzige Tricks während eines Wahlkampfes (aber auch hier wollten
mir die Runner nicht verraten, um welchen Wahlkampf es sich handel-
te). Wir wissen alle, dass es heute nicht mehr ausreicht, die Wähler da-
von zu überzeugen, dass ein Politiker unehrlich ist – sie gehen ohnehin
davon aus, dass jeder Politiker ein Gewohnheitslügner ist, daher kann
man mit mangelnder Ehrlichkeit niemanden mehr schockieren. Doch
Wähler davon zu überzeugen, dass ein Politiker von jemandem gekauft
ist, der völlig entgegengesetzte Interessen als sie hat, das ist schon etwas
anderes. Dabei ist es nicht so sehr die Unehrlichkeit, die die Wähler
aufregt; es ist die Tatsache, dass Leute, die sie nicht mögen, sich auf
ihre Kosten Vorteile verschaffen.
Da lief also dieser Wahlkampf für den Bürgermeister irgendeiner
Stadt, der eine Menge Zeit auf Schadenseindämmung verwendete,
wie es Politiker nun einmal tun – Gerüchte dementieren, sich gegen
Angriffe anderer Kandidaten verteidigen und solche Sachen. Dann
platzte die Bombe – es kam Trideomaterial zum Vorschein, das den
Kandidaten dabei zeigte, wie er in einem Bunrakusalon die Dienste
einer Fleischpuppe in Anspruch nahm, die exakt wie Richard Villiers
aussah. Nun, die Nutzung von Bunrakudienstleistungen (egal, ob
gleich- oder fremdgeschlechtlich) reicht normalerweise noch nicht
aus, die Wahlkampagne eines Politikers zum Entgleisen zu bringen,
doch der Villiers-Fetisch hätte vermutlich genügend Wähler verstört.
Die meisten Beobachter glaubten, das Trideomaterial sei eindeutig
gefälscht, und darauf baute die Kampagne des Bürgermeisters auf,
in der Hoffnung, das Thema damit zu neutralisieren. Doch weit ge-
fehlt – die Flammen der Empörung (angefacht durch wohlplatzierte
Geschichten und Gerüchte von Vorilhons Team) schlugen höher, und
schließlich sah sich der Bürgermeister zu einem dramatischeren Schritt
gezwungen. Er gab bekannt, dass das Trideomaterial nicht echt sein
konnte, da er zu dem Zeitpunkt, als es angeblich aufgenommen wurde,
zweitausend Kilometer entfernt war. Was ja alles gut und schön war,
nur war der Ort, an dem er sich befand, ein privater Erholungsort
für leitende Angestellte von Renraku Amerika. Statt wortwörtlich mit
einem Villiers-Double im Bett gewesen zu sein, konnte er als Alibi nur
vorweisen, dass er metaphorisch mit Renraku im Bett war. In den Au-
gen der Wähler war das womöglich noch schlimmer, und so verlor er
die Wahl. Durch wohlplatzierte Fehlinformationen, gefolgt von einer
hartnäckigen Flüsterkampagne, hatten Vorilhon und ihr Team einen
unblutigen Coup gelandet.

> Eine interessante soziologische Erkenntnis: Menschen fürchten,

als Gruppe oder als Individuum, am meisten die Dinge, die sie
sich am besten vorstellen können. Eine schwer vorstellbare Mög-
lichkeit, etwa ein Meteor, der die Erde zerstört, erzeugt längst
nicht so viele schlaflose Nächte wie der hypothetische Tod eines

ANDERE
Kindes. Deshalb ist es ja so effektiv, den Wählern zu zeigen, dass
ein Politiker sich zu gut mit bestimmten Konzernen versteht, denn
sie fürchten insgeheim, dass alle Politiker nur Konzernmarionetten
sind und dass ihre Stimmen weit weniger wichtig sind als die Wün-
sche des Konzerns, was ja eine durchaus berechtigte Sorge ist. Die
Tatsache, dass sich ihre Befürchtungen als wahr erweisen, macht
es dann nur noch schlimmer.
> Winterhawk

Diese Mission demonstriert WhiteOaks grundlegende Philosophie

bei der Planung von Runs und der Rekrutierung von Runnern. Werft
einen Stein in die Barrens, und ihr trefft immer zwei oder drei Runner,
die recht passable Schützen sind, aber einen Runner zu finden, der
weiß, wie man Information als Werkzeug – oder besser noch: als Waffe
– benutzt, ist schon wesentlich schwieriger. Das ist die Art von Run-
nern, die WhiteOak will, und das sind die Leute, die sie anheuert.
WhiteOak war in ihren Runnertagen erfolgreich genug, um die
Aufmerksamkeit von Horizons oberem Management zu wecken. Sie
arbeitete eine Zeit lang als Johnson für Horizon-Runs und leistete auch
dabei so gute Arbeit, dass sie sich damit den Weg an die Spitze von
Charisma Associates ebnete. In ihrer Zeit als Johnson war WhiteOak
in Horizons inneren Kreisen berühmt dafür, dass sie es immer schaffte,
absolut vertrauenswürdig zu erscheinen, auch wenn sie gerade dabei
war, ihren Runnern den Teppich unter den Füßen wegzuziehen. Das
ging so weit, dass ihr in einem Fall die Runner sogar dann noch loyal
waren, nachdem sie sie komplett übers Ohr gehauen hatte.
Bei besagtem Run ging es gegen Iris Software im PCC. Es war ein
Datenklau – die Runner suchten nach einem bestimmten Programm-
prototypen, den Horizons Programmierer in die Finger bekommen
wollten, um den Anschluss an die Konkurrenz nicht zu verlieren.
WhiteOak legte den Grundstein für den Run früh genug, sorgte dafür,
dass den Runnern Gerüchte über fragwürdige Forschungen zu Ohren
kamen, bei denen psychotropes IC in BTL-Chips auf eine Weise ein-
gekapselt wurde, dass es so gut wie unmöglich zu entdecken war, bis es
sich auf den nichtsahnenden User stürzte. Als sie aus dem Forschungs-

Rael Whiteoak 177

 labor flüchteten, waren die Runner davon überzeugt, etwas extrem Il-
legales in den Fingern zu haben, und das Auftauchen einer Drohne der
SecForce-Matrixbrigade machte sie nur noch nervöser. Sie eilten zur
vereinbarten Übergabe, die in ein Chaos ausartete, als sowohl PCC als
auch NeoNET auftauchten, um sich einzumischen. Nach etwas Ge-
schrei, ein paar Schüssen und ein paar hastigen Matrixkämpfen gelang
es WhiteOak, alle zu beruhigen und die Situation zu entwirren. Die
SecForce konfiszierte die illegale Software, die NeoNET-Kräfte wurden
zum Rückzug gezwungen, und den Runnern wurde gesagt, dass man
sie nicht wegen des Besitzes gemeingefährlicher BTL-Software ankla-
gen würde, wenn sie den PCC verließen. Die Runner akzeptierten die
Bedingungen nur zu gern, da sie wussten, dass der PCC nicht allzu
freundlich zu ausländischen BTL-Schmugglern ist. Sie wurden nicht
bezahlt, sangen aber Loblieder auf WhiteOak, weil die sie aus einer
ausweglosen Situation gerettet hatte.
Die Situation war natürlich von WhiteOak arrangiert worden.
Dank Horizons enger Beziehungen zum PCC hatten die Sicherheits-
kräfte von Anfang an über die Operation Bescheid gewusst. Die Ne-
oNET-Sicherheitsleute, die bei der Übergabe auftauchten, waren Fäl-
schungen, die WhiteOak organisiert hatte. Der PCC teilte die konfis-
zierten Daten mit Charisma Associates, was bedeutete, dass WhiteOak
die gewünschte Software bekam, ohne dafür bezahlen zu müssen. (Sie
hatte ein paar Ausgaben für die falschen Sicherheitsleute, aber ein paar
Schauspieler dafür zu bezahlen, dass sie sich ein bisschen verkleideten,
war deutlich billiger, als für einen Datenklau zu zahlen.) Und das alles
gelang ihr, indem sie Runner ausnutzte, die, als alles vorüber war, je-
derzeit wieder für sie arbeiten würden, wenn sie nur mit dem kleinen
Finger winkte.
ANDERE
> Nicht jeder ist so gut auf sie zu sprechen, da nicht alle so ver-
trauensselig sind. Sie versuchte etwas Ähnliches bei einem Run
gegen Renraku in Seattle, und auch wenn sie die Runner im Chaos
der Übergabe übers Ohr hauen konnte, erledigten sie hinterher ihre
Beinarbeit und fanden heraus, was WhiteOak da abgezogen hatte.
Sie sind eifrig damit beschäftigt, die Sache weiterzuerzählen.
> Stone
> Aber es dürfte niemanden überraschen, dass negative Kampa-
gnen gegen Charisma und WhiteOak nicht allzu gut laufen.
> Dr. Spin
Die genaue Quelle ihrer Überzeugungsfähigkeit ist unklar. Manche
Leute behaupten, sie sei vercybert, andere sagen, sie sei ein sozialer
Adept. Ich würde eher zu Ersterem neigen, da es keine Hinweise dar-
auf gibt, dass man jemals eine Erwachte Aura an ihr wahrgenommen
hätte. Es hilft natürlich, dass sie von Natur aus charmant ist und einige
Gerissenheit besitzt. Womit ich nicht sagen will, dass sie nicht auch
in einer dunklen Seitengasse ihre Frau stehen könnte, ob es nun ums
Geschäft oder ums Vergnügen geht. Charisma hat, wie jede andere
Organisation auch, Grund genug, nach besonders heiklen Jobs reinen
Tisch zu machen, und anfangs war WhiteOak an einigen dieser Fälle
persönlich beteiligt. Aber je mehr sie in ihren Job hineinwuchs, desto
eher war sie geneigt, solche Aufgaben an Untergebene zu delegieren.
> Oh, sie ist definitiv vercybert. Unter anderem mit Fingernägeln,
gegen die Tigerkrallen harmlos wirken.
> Butch
Manchmal gibt sie sich damit zufrieden, nur das Gedächtnis der
Leute auszulöschen statt der Leute selbst. Dazu gehört für gewöhn-
lich eine Dosis Laés, wovon sie immer einen Vorrat bei sich hat, aber
manchmal lässt sie auch ihre magiebegabten Untergebenen eine Ge-
dächtnislöschung durchführen oder, wenn es ein besonders komplizier-
178 Rael Whiteoak
ter Job ist, eine Gedächtnisveränderung. Diese Gedächtnislöschungen
sind natürlich auch einer der Gründe, dass es so wenige Informationen
über sie gibt, da viele der Leute, die mit ihr zu tun hatten, sich schlicht
und einfach nicht mehr erinnern können.
Aber ich glaube nicht, dass dieser Mangel an persönlichen Infor-
mationen über sie allein darauf beruht. Vielleicht ist sie nur eine be-
sonders zurückgezogene Person. Und sie will nicht, dass irgendwelche
schmierigen Skandalreporter ihren Müll durchwühlen. Und dieser Da-
tenmangel hat ihrer Karriere sicherlich nicht geschadet – sie wird von
ihren Kollegen sehr respektiert.
Bei einigen der wichtigsten Projekte, die Charisma in letzter Zeit
abgewickelt hat, hat Rael persönlich mitgearbeitet. Sie ist regelmäßig
in Tír Tairngire – dafür zu sorgen, dass dort alles glatt läuft, ist beson-
ders wichtig, da Horizons CEO Gary Cline den Ruf von CA vom Er-
folg im Tír abhängig macht. Der Erfolg des Konzerns hat Larry Zincan
zu einem von CAs treuesten Kunden gemacht, und er arbeitet nicht
nur mit WhiteOak zusammen, um die PR-Bemühungen weiterzufüh-
ren, sondern auch, um auf potenzielle zukünftige Herausforderungen
vorbereitet zu sein. Dazu gehört unter anderem, Lugh Surehand so gut
wie möglich im Auge zu behalten, was keine einfache Aufgabe ist.
WhiteOak hat auch dazu beigetragen, Horizons Reaktion auf den
Tod der Sängerin Christy Daee zu koordinieren und dafür zu sorgen,
dass das Volk auf der Straße nichts von den pikanteren Details ihres
Todes erfährt, insbesondere nicht von den Gerüchten über ein Sextape,
das kurz vor ihrem Tod aufgenommen wurde. Dank WhiteOaks Be-
mühungen (und der diverser Runnerteams, die Kommunikationska-
näle überwachten und dafür sorgten, dass keine unvorteilhaften Infor-
mationen in Umlauf kamen) gilt Daee allgemein als zarte Blume, die
viel zu früh gepflückt wurde, und die posthumen Verkaufszahlen ihrer
Alben haben auf dieses Image freudig reagiert.
> Es ist erstaunlich, wie man das Image eines Popstars aufpolieren
kann, wenn er selbst nicht mehr da ist, um alles zu versauen.
> Dr. Spin
Wie es bei jedem guten Vizepräsidenten der Fall sein sollte, hat
auch WhiteOak einige geheime Projekte, an denen sie arbeitet. Sie hat
sich bisher mit 48 Frauen unterhalten, weil sie Leute für eine Spezi-
aleinheit sucht. Ich weiß nicht, ob es sich um eine neue Werbekam-
pagne handelt, Guerilla-Marketing oder so was, aber wie ich gehört
habe, soll mehr als eine der Kandidatinnen eine gewisse Ähnlichkeit
mit Nadja Daviar haben.
> Es ist zu spät, um noch in das bestehende Netzwerk der Nadjas
einzusteigen. Ich schätze, dass sie vielleicht von deren Ruf profi-
tieren will. Wenn die Nachfrage nach Schiebern besteht, die wie
Nadja Daviar aussehen, warum sollte man diesen Trend dann nicht
ausnutzen?
> Kia
> Es geht um mehr als nur um Befriedigung der Nachfrage. Gibt es
eine bessere Methode, ein Netzwerk von Nadjas zu infiltrieren, als
mit einem eigenen Nadja-Netzwerk?
> Kay St. Irregular
Die Propaganda um den Az-Am-Krieg ist ein weiteres wichtiges
Betätigungsfeld für sie. Die Aussicht, irgendeinen Vorteil, und sei er
noch so klein, über Aztechnology zu erlangen, ist sehr verlockend, des-
halb ist WhiteOak immer sehr an den Berichten des Agenten „Agent“
interessiert und arbeitet sie immer gründlich durch, um Möglichkeiten
zu finden, einen Vorteil für Charisma und Horizon herauszuschlagen.
Ich gehe davon aus, dass in nächster Zukunft einige kühnere Schritte
unternommen werden.
RAEL WHITEOAK

K G R S C I L W EDG ESS INI ID

3 5(7) 5 3 8 5 5(7) 6 6 3,93 10 1

Zustandsmonitor (K/G): 10/11

Panzerung (B/S): 9/5

Fertigkeiten: Akrobatik 3, Bodenfahrzeuge 2, Einfluss-Fertigkeitsgruppe

6, Elektronik-Fertigkeitsgruppe 4, Erste Hilfe 4, Fälschen (Bildbear-
beitung) 3 (+2), Flugzeuge 4, Laufen 2, Pistolen (Leichte Pistolen) 4
(+2), Spurenlesen 2, Tauchen 2, Verkleiden 3, Waffenloser Kampf 3,
Wahrnehmung 5, Wurfwaffen 3

Wissensfertigkeiten: Horizon-Konzernstruktur 6, Öffentlichkeitsarbeit

5, Politische Kommunikation (Nachrichtenkontrolle) 5 (+2), Psycho-
logie 6, Psychologische Kriegsführung 4, Soziologie 3, Tír-Tairngire-
Politik 5, Deutsch 4, Englisch M, Japanisch 5, Mandarin 4, Or’zet 3,
Spanisch 5, Sperethiel 5

Gaben: Fotografisches Gedächtnis, Soziales Chamäleon

Handicaps: SIN-Mensch

ANDERE
Bodytech (alles Betaware): Cyberaugen [Stufe 3; Infrarotsicht, Rest-
lichtverstärkung, Sichtverbesserung 3, Smartlink], Cyberohren [Stufe
2; Audioverbesserung 3, Dämpfer]; Maßgeschneiderte Pheromone 3,
Muskelstraffung 2, Nierensieb 3, Orthoskin 3, Schlafregulator, Zere-
bralbooster 2

Ausrüstung: Altskin (mit Panzerung), Bereichsstörsender 9, DocWagon-

Superplatin-Vertrag, Kommlink [Spezialanfertigung; Prozessor 5,
Signal 4, Firewall 6, System 4], 10 Dosen Laés, Nanitencreme-Ver-
kleidung (kleiner Behälter), RFID-Löscher, Zoé Executive Suite Kol-
lektion (lange Jacke, schlichte Bluse, Rock) [B/S 6/2]

Programme: Analyse 3, Aufspüren 2, Panzerung 3, Schleicher 4, Schmö-

ker 4, Verschlüsselung 4

Waffen:
Hämmerli 620S [Leichte Pistole | Schaden 6G(e) | PB –Hälfte | RK 1 |
6(s) | Angepasster Griff; 100 Schuss Schockermunition]
3 IR-Rauchgranaten [Granate | Schaden – | PB – | Sprengwirkung 10 m
Radius]

Rael Whiteoak 179

 RICHARD VILLIERS & MILES LANIER
Da wir uns alle über „Ziele genau, spare Munition und lass dich nie-
mals mit einem Drachen ein“ einig sein dürften, besteht der nächste
Schritt darin, einmal genau zu definieren, was wir denn unter einem
„Drachen“ verstehen. Nicht alle Drachen sind große, schuppige, feuer-
spuckende Reptilien – einige der gefährlichsten sind die Drachen, die
sich unter Menschenhaut verbergen. Wenn ihr lange genug in unserem
Gewerbe tätig seid, habt ihr mit Sicherheit schon mit Richard Vil-
liers und Miles Lanier zu tun gehabt, auch wenn ihr es vielleicht nicht
gewusst habt und einige Mittelsmänner zwischen ihnen und euch
standen. So sehr dieses auch das Zeitalter der Freien Geister, Otaku,
Cyborgs, Großen Drachen und KIs sein mag – der Ehrgeiz und die
Pläne dieser beiden weltlichen Menschen haben die Welt ebenso sehr
geformt wie all diese exotischen Wesen. Dieser Text soll natürlich mehr
sein als nur eine Würdigung ihres globalen Einflusses. Es gibt einige
praktische Dinge, die man über die beiden wissen sollte. Wenn ihr
danach strebt, in irgendeinem auch nur halbwegs legalen Bereich ge-
schäftlich tätig zu werden und richtiges Geld zu machen, dann solltet
ihr Richard Villiers studieren. Und wenn ihr eher kriminell veranlagt
seid und euch regelmäßig für Industriespionage anheuern lasst, dann
ist Miles Lanier, Villiers’ rechte Hand, der Mann, vor dem ihr euch am
meisten fürchten solltet.
Die beiden Wörter, die am häufigsten benutzt werden, um Richard
ANDERE
Villiers zu beschreiben, sind „skrupellos“ und „brillant“.
Richard Villiers wurde 2007 in Boston geboren und wird dieses
Jahr 66 – er sieht eindeutig jünger aus, aber er scheint sich keiner Leo-
nisationsbehandlung unterzogen zu haben. Sein Vater war Börsenmak-
ler, seine Mutter war Pädagogin für Früherziehung.
> Wo wir gerade bei den Trivia sind – wusstet ihr, dass Villiers
Yankees-Fan ist? Ungewöhnlich für jemanden, der in Boston auf-
gewachsen ist.
> Dr. Spin
Er machte mit Auszeichnung seine Abschlüsse an weiterbildenden
Schulen, in Harvard, und dann, 2030 im Alter von 23 Jahren, seinen
Betriebswirt an der Harvard Business School, völlig unbeeindruckt
vom Crash 2029. Der konzentrierte, zielstrebige und ehrgeizige Vil-
liers war ein junger Konzernhai, der sich ins kalte Wasser stürzte und
sofort das Schwimmen lernte. In der ersten Hälfte der 2030er arbeitete
er als Heuschrecke und Kostenkiller, er kaufte Firmen, strukturierte
sie um und verkaufte sie mit Gewinn weiter, ein Vorhaben, für das
ihm sein wohlhabender Vater und seine reichen Freunde von der HBS
genug Startkapital gegeben haben dürften.
Ende 2033 nahm Villiers an einer Vorführung des ersten schreib-
tischgroßen Cyberterminals der Bostoner Firma Matrix Systems teil,
und damit begann sein Aufstieg in die Annalen der Finanzgeschichte.
Matrix Systems gehörte Ken Roper und Michael Eld, beides Veteranen
von Echo Mirage, die ihr Produkt lokalen Investoren vorführten, die
wie Villiers nach lohnenden Investitionsobjekten suchten. Villiers er-
kannte sofort das Potenzial dieser Entwicklung und versuchte, Matrix
Systems zu kaufen. Roper und Eld weigerten sich und begrenzten sei-
nen Aktienbestand auf 49 Prozent. Matrix Systems brachte das Portal
2034 auf den Markt, mit gewaltigem Erfolg und Gewinn. Bevor die
Besitzer von Matrix Systems jedoch Villiers aus der Firma herauskau-
fen konnten, starben beide durch „Unfälle“, und ihre Daten wurden
gelöscht. Ohne Zweifel war dies das Werk von Shadowrunnern der
allerersten Generation, angeheuert von Villiers selbst.
180 Richard Villiers & Miles Lanier
GEPOSTET VON: MR. BONDS
> Erscheint mir ein bisschen zu offensichtlich. Wurde Villiers denn
nicht angeklagt?
> Kane
> Er stand eine Zeit lang unter Verdacht, wurde aber nie offiziell
angeklagt. Damals kursierten Gerüchte in den Schatten, die UCAS-
Regierung habe die Aktion gebilligt, um zu verhindern, dass die
Echo-Mirage-Technologie in die Hände ausländischer Regierungen
oder Unternehmen fiel. Wie so oft werden wir auch hier nie genau
wissen, wer wirklich dafür verantwortlich war. Aber Villiers hat
sicherlich am meisten davon profitiert.
> Kay St. Irregular
Villiers konnte den Rest von Matrix Systems zu einem Spottpreis
kaufen – die Firma wurde später zu einer Tochtergesellschaft von Fu-
chi, dann Teil von Novatech und gehört heute zu NeoNET – und
gelangte auf irgendeine mysteriöse Weise in den Besitz der technischen
Daten für das Portal, einiger Prototypen der nächsten Generation und
der restlichen Daten, die von den Rechnern von Matrix Systems ver-
schwunden waren. Er nahm Kontakt zu Fuchi Industrial Electronics
auf und tauschte die Cyberdecktechnologie der nächsten Generation,
sein eigenes umfangreiches Konzernportfolio und JRJ International
gegen ein Drittel von Fuchi sowie die Kontrolle über den Nordameri-
kazweig des Unterhaltungselektronikgiganten. Und so gesellte sich der
Name eines amerikanischen Geschäftsmannes zu Yamana und Naka-
tomi als Vorstand. Der von diesem Triumvirat geleitete Konzern warf
das CTD-1000, das erste kommerzielle Cyberdeck, auf den Markt.
Der Rest ist Geschichte.
> Was ist so wichtig an JRJ International?
> Clockwork
> Nur dass das einer der ursprünglichen sieben Megakonzerne war,
die einen Sitz im Konzerngerichtshof hatten.
> Cosmo
> Nur wenige Leute erinnern sich daran, da es von der explosiven
Auflösung Fuchis überschattet wird, aber Villiers Einstieg in die
höchsten Ränge von Fuchi ging auch nicht ganz ohne Zwischen-
fälle über die Bühne. Korin Yamana wollte Villiers im Boot haben,
damit Fuchi das erste Cyberdeck für den Massenmarkt produzie-
ren und sich dumm und dämlich verdienen konnte, aber Kiyoshi
Nakatomi, der zu dieser Zeit die andere Hälfte der Fuchi-Anteile
kontrollierte, hatte seine Gründe, den Deal abblocken zu wollen.
Also wurde er von seinem Chauffeur umgelegt, der dann prakti-
scherweise selbst umgelegt wurde, bevor er vor Gericht gestellt
werden konnte, sein Sohn Shikei Nakatomi erbte seine Anteile,
und der Deal ging über die Bühne. Weder Yamana noch Villiers
wurden wegen irgendwas angeklagt, obwohl sicherlich einer von
ihnen (oder beide) dahintergesteckt haben dürfte.
> Rigger X
Jetzt müssen wir kurz innehalten, um über Miles Lanier, Villiers’
Spießgesellen, zu reden. Lanier wurde 2013 geboren, ebenfalls in Bos-
ton. Laniers Mutter war, wie Villiers’ Mutter, Pädagogin, doch sie war
Lehrerin an einer öffentlichen Schule, und Laniers Vater war Mechani-
ker. Lanier wuchs in Südboston auf, in einem rauen irischen Arbeiter-
 ANDERE
PERSÖNLICHE DATEN: MILES LANIER
Alter: 60 Größe: 1,80 m
Gewicht: 72,6 kg Haarfarbe: Kastanienbraun
Augenfarbe: Braun Geschlecht: Männlich
Metatyp: Mensch Erwacht: Nein

PERSÖNLICHE DATEN: RICHARD VILLIERS

Alter: 66 Größe: 1,75 m
Gewicht: 81,6 kg Haarfarbe: Schwarz
Augenfarbe: Braun Geschlecht: Männlich
Metatyp: Mensch Erwacht: Nein

Richard Villiers & Miles Lanier 181

 viertel (manche würden es vielleicht sogar als kriminalitätsverseuchtes
Ghetto bezeichnen), und obwohl seine Prüfungsergebnisse immer im
obersten Prozentbereich lagen, sah seine Zukunftsperspektive auch mit
finanzieller Unterstützung und Stipendien keinen Besuch an einer Eli-
teuniversität vor. Da er nicht an den Angeboten interessiert war, die
ihm die Talentscouts diverser Konzerne unterbreiteten, ging er 2031,
nach seinem Highschool-Abschluss, zur UCAS Army und zeichnete
sich bald als Scharfschütze bei den UCAS Army Rangers aus.
> Hier untertreibt Mr. Bonds ein kleines bisschen. Seinen Mili-
tärakten zufolge hatte Lanier 21 bestätigte Tötungen, eine da-
von aus mehr als 2.000 Metern Entfernung. Diese Canuck-Scharf-
schützenausbilder wussten wirklich, wie man den Leuten etwas
beibringt.
> Picador
Lanier nahm 2036 nach fünf Jahren Militärdienst seinen ehren-
haften Abschied. Die Gerüchte darüber, warum er ging, sind wider-
sprüchlich – manche behaupten, er sei verwundet worden oder habe
eine Nahtoderfahrung gehabt, andere sagen, er habe einfach das Inte-
resse verloren und sich nicht mehr gefordert gefühlt –, aber was auch
immer der Grund war, er ging jedenfalls in die Privatwirtschaft. Er war
einer der Ersten, die Villiers einstellte, nachdem er sich seinen Weg in
den Fuchivorstand geebnet hatte, und bald wurden die beiden enge
Freunde, obwohl ihre Persönlichkeiten kaum unterschiedlicher sein
konnten. Villiers ist extrovertiert und weltgewandt, ein begabter Selbst-
darsteller und Verkäufer, während Lanier kalt, ruhig und berechnend
ist, nur selten redet und lieber die Rolle des Beobachters einnimmt.
ANDERE
Obwohl Laniers neue Position ihn mehr geistig als körperlich for-
derte, sorgten seine natürliche Intelligenz und seine detaillierte Be-
obachtungsgabe – zusammen mit der Präzision und Geduld, die ein
Scharfschütze benötigt – für einen schnellen Aufstieg durch Fuchis
Reihen. Im Laufe der nächsten zehn Jahre wurde er der Direktor für
Innere Sicherheit bei Fuchi. Als Villiers’ rechte Hand wehrte Lanier
durch seine brillanten und komplexen Sicherheitspläne nicht nur Ge-
fahren von außen ab (etwa durch Shadowrunner), sondern bewahrte
auch das subtile Gleichgewicht zwischen den drei ehrgeizigen Famili-
en, die zu der Zeit um die Kontrolle über Fuchi rangen: Villiers, Yama-
na und Nakatomi.
Der Tod Präsident Dunkelzahns 2057 änderte für Lanier alles –
zumindest muss es damals den Anschein gehabt haben. Dunkelzahn
hinterließ Lanier vier Millionen seiner Aktienanteile an Renraku – und
den Sitz im Renraku-Vorstand, der von diesen Anteilen kontrolliert
wurde. Das brachte Lanier in einen offensichtlichen Loyalitätskonflikt,
da er für die innere Sicherheit des einen AAA-Konzerns verantwortlich
war, während er gleichzeitig einen Sitz im Vorstand eines anderen hatte.
Die Sicherheitsmanager bei Fuchi rannten herum wie aufgescheuchte
Hühner und versuchten, Notfallpläne auf die Beine zu stellen, doch
es kam noch schlimmer. Denn dasselbe Testament vermachte Villiers
genug Fuchi-Aktien, um ihm die Kontrolle über weitere zwei Prozent
des Konzerns zu verschaffen.
Am gleichen Tag noch reichte Fuchis Direktor für Innere Sicherheit
seine Kündigung ein, um als Renraku-Exec eine ruhige Kugel zu schie-
ben. Die enge Freundschaft, die Villiers und Lanier während ihrer Zeit
bei Fuchi verbunden hatte, löste sich in einem hitzigen öffentlichen
Streit auf. Lanier führte eine Reihe wirtschaftlicher und schattiger An-
griffe gegen seinen früheren Arbeitgeber, wobei er Insiderwissen nutzte,
um für seine neuen Herren bei Renraku einige Fuchi-Tochtergesell-
schaften zu übernehmen. Fuchi setzte mehrmals inoffizielle freie Mitar-
beiter auf Laniers Leben an, doch keiner der Anschläge war erfolgreich.
Es dürfte keinen überrascht haben, dass es sich als schwierig herausstell-
te, Lanier zu töten, vor allem durch Leute, die in vielen Fällen von ihm
ausgebildet worden waren oder zumindest für ihn gearbeitet hatten.
182 Richard Villiers & Miles Lanier
Laniers Wechsel zu Renraku war für beide Konzerne eine große
Sache, auch für alle drei Fraktionen bei Fuchi. Für Renraku war es
die Gelegenheit, Fuchis Sicherheit zu durchdringen und dem Kon-
kurrenten größeren Schaden zuzufügen, doch es bestand auch immer
die Möglichkeit, dass Lanier vielleicht ein Fuchi-Maulwurf war. Das
Renraku-Management stellte alle nur möglichen Nachforschungen an,
überwachte Lanier rund um die Uhr, durchleuchtete gründlich seinen
Hintergrund, doch nach zwei Jahren der Zusammenarbeit mit Lanier
trauten sie ihm endlich. Für Yamana und Nakatomi bedeutete dies,
dass ihr Konkurrent einen gefährlichen Vorteil erlangt hatte, was sie
zum ersten Mal seit Jahren dazu brachte, zusammenzuarbeiten. Und
für Villiers bedeutet Laniers scheinbarer Verrat, dass er den geringen
Vorteil, den er über seine internen Konkurrenten erlangt hatte, ver-
loren hatte und jetzt schnell handeln musste oder das Risiko einging,
alles zu verlieren.
> Und für den Rest von uns bedeutete es, dass viele Shadowru-
nner reich wurden und anonym blieben, während andere berühmt
wurden und starben.
> FastJack
Während der Schattenkrieg zwischen Renraku und Fuchi tobte
und Lanier seine neuen Kumpel anscheinend dabei unterstützte, sei-
nen früheren Arbeitgeber auseinanderzunehmen, blieb Villiers nicht
untätig. Säuberungsaktionen im Management der Vertretungen und
Tochtergesellschaften, die er direkt kontrollierte, sorgten dafür, dass
nur noch Angestellte übrigblieben, die ihm gegenüber loyal waren.
In der Zwischenzeit begann Villiers, in aller Stille eigene Konzerne zu
kaufen, und zwar durch Strohfirmen wie Cambridge Holdings, Nor-
thwest Assets, Blue Cap Limited und Blaze PLC. Er beschränkte seine
Erwerbungen nicht auf Fuchi-Tochterfirmen, sondern weitete seinen
Konzernbesitz allgemein aus.
Schließlich, im Juni 2059, klagte Fuchi Miles Lanier vor dem Kon-
zerngerichtshof der Industriespionage an. Zur Dringlichkeitssitzung
des Konzerngerichtshofes mussten alle Richter persönlich und phy-
sisch im Zürich-Orbital erscheinen, und die Beratungen fanden unter
Matrixausschluss statt.
> Das war wieder einer der Fälle, wo wir einem ausgewachsenen
Konzernkrieg sehr nahe kamen. Gerüchte bei Renraku schienen
darauf hinzudeuten, dass der Konzern einen militärischen Präven-
tivschlag gegen Fuchi vorbereitete, und die beiden Gegner und
auch alle anderen AAAs vollführten einen komplizierten strate-
gischen Tanz, um sicherzustellen, dass ihre militärischen Kräfte
optimal positioniert waren, falls die Hölle losbrechen sollte. Eine
Omega-Order, EMP-Schläge, ja sogar die nukleare Option standen
zur Debatte. Offensichtlich (und glücklicherweise) kam es nie so
weit, doch es gab etliche „Grenzscharmützel“, die die Lage kräftig
anheizten.
> Kia
Nach achtzehn Stunden angespannten Schweigens verkündete der
Konzerngerichtshof schließlich seine Entscheidung. Lanier musste sei-
ne vier Millionen Renraku-Anteile etwas unter Marktpreis verkaufen
(wodurch Renrakus Aktienkurse sanken), bei Renraku ausscheiden
und sich selbst Fuchis interner Sicherheit ausliefern. Dieses Urteil,
das Fuchi Zeit gegenüber Renraku verschaffte, die Schützengräben
innerhalb des Konzerns aber tiefer aushob, kam für viele Beteiligte
überraschend, nicht jedoch für Villiers und Lanier. Wie wir heute
wissen, war das Ganze das möglicherweise größte Schurkenstück des
21. Jahrhunderts, gemeinsam inszeniert von Villiers und Lanier, um
Fuchi und Renraku zu schwächen und die Geburt von Novatech vor-
zubereiten.
 Im September 2059, am Weißen Montag während des Crashs der
Börse von Tokio, vollendete Richard Villiers seinen Meisterstreich.
Er gründete Novatech Incorporated, nachdem er seine Fuchi-Anteile
abgestoßen hatte – die erste Hälfte davon verkaufte er, um den Akti-
enkurs abstürzen zu lassen, und als Nakatomi und Yamana in einem
Bieterkrieg die Kurse wieder in die Höhe getrieben hatten, verkaufte
er die zweite Hälfte.
> Mr. Bonds lässt hier allerdings die Tatsache aus, dass es Villiers war,
der den Börsencrash von Tokio überhaupt erst inszeniert hatte.
> Plan 9
> Eine „Tatsache“, die vermutlich deshalb ausgelassen wurde, weil
jegliche Beweise dafür fehlen.
> Snopes
Der finale Schlag bestand darin, dass Villiers die Kontrolle über
JRJ International zurückerlangte und damit auch die Kontrolle über
Fuchis Sitz im Konzerngerichtshof und den Richter, der dort saß (und
der ein Villiers-Loyalist war). Der Rest von Fuchi brach auseinander,
als Yamana und Nakatomi bis aufs Blut um das kämpften, was üb-
rig war. Die Überreste des Konzerns wurden schließlich von Renraku
und Shiawase gefleddert. In einem einzigen brillanten Schachzug hatte
Villiers Renraku ernsthaft geschwächt und Fuchi vernichtet. Seine ers-
te Amtshandlung nach der Gründung von Novatech bestand darin,
Lanier als Leiter der Sicherheitsabteilung in den Vorstand zu berufen
und somit die Welt über den Schwindel in Kenntnis zu setzen. Diese
Taktik, die eigene Position oder den eigenen Konzern zu sabotieren,
während man heimlich etwas Stärkeres und Besseres aufbaut, ist heute
als „Villiers-Manöver“ bekannt.
> Es versteht jeder, warum das so wichtig ist, oder? Normalerweise
vernichten Personen keine Konzerne – Konzerne vernichten Per-
sonen. Villiers, und sein Spießgeselle Lanier, sind die Ausnahme,
die die Regel bestätigt oder auch nicht.
> Baka Dabora
Der neugegründete Konzern Novatech war effizient und durch-
strukturiert, doch sein anfänglicher Erfolg war nur kurzlebig. Selbst
mit den Milliarden, die er durch geschickte Aktiengeschäfte gewonnen
hatte, hatte sich Villiers eine Menge Geld leihen müssen, um die letzte
Phase seines Plans umzusetzen, und jetzt, da die anderen Megas auf die
neue Konkurrenz reagierten, sah er sich Angriffen von vielen Seiten
ausgesetzt. Ein Angriff aus ungewöhnlicher Richtung kam von einem
gewissen Art Dankwalther, einem ehemaligen Fuchi-Angestellten, der
Villiers die Schuld für die Zerstörung des Konzerns und seines frühe-
ren Lebens gab. Dankwalther sah sich selbst als Villiers’ Nemesis. Da
Villiers von allen Seiten bedrängt wurde, sah er sich gezwungen, mit
Novatech an die Börse zu gehen und zwanzig Prozent der Konzernan-
teile anzubieten, in der Hoffnung, genug Liquidität zu erlangen, um
die Angriffe zurückzuschlagen und Novatech am Leben zu erhalten.
> Dankwalther konnte seine Angriffe gegen Villiers nur führen, weil
ihm in Dunkelzahns Testament ein riesiges Vermögen hinterlassen
worden war. Das bedeutet, dass Big D für die Rollen von Villiers, La-
nier und Dankwalther in diesem kleinen, schäbigen Konzerndrama,
das sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit entfaltete, verantwort-
lich war. Es ist schade, dass wir niemals wissen werden, warum.
> Frosty
Genau während Novatechs Börsengang ereignete sich der Crash
2.0. Ebenso wie Villiers als erster das gewaltige wirtschaftliche Poten-
zial der ersten Generation Cyberdecks erkannt hatte, erkannte er auch
als erster das Potenzial der neuen WiFi-Technologie, vor allem in einer
Post-Crash-Gesellschaft. Bevor sich der Staub des Crashs gelegt hat-
te, hatte Villiers schon eine Übereinkunft mit Anders Malmstein von
Transys-Erika getroffen, einem Konzern, der mit seiner WMI (Wire-
less Matrix Initiative) Pionierleistungen auf dem Gebiet der Kommu-
nikationstechnologie geleistet hatte. Diese Zusammenarbeit resultierte
darin, dass sich NeoNET, ein Name, der wohl nicht näher erklärt wer-
den muss, aus der Asche erhob, erneut mit Villiers am Ruder. Anders
Malmstein behielt einen Kontrollanteil, der Große Drache Celedyr,
der hinter Transys-Erikas Partner Transys Neuronet steckt, hält nur
einen Minderheitsanteil. (Art Dankwalther übrigens überlebte den
Crash 2.0 nicht, Grund war eine Omega-Order des Konzerngerichts-
hofes und ein anschließender Treffer mit einer Thor-Geschoss.)
> Autsch.
> Kane
Gegenwärtig ist Richard Villiers der CEO von NeoNET, Anders
Malmstein der Vorstandsvorsitzende. Villiers hält mit einem leichten
Vorsprung das größte Einzelaktienpaket mit 22 Prozent. Malmstein
besitzt 18 Prozent, der Große Drache Celedyr 13,5 Prozent, Trans-Lat-
vian Enterprises 11 Prozent, und Zehntausende von Kleinaktionären
halten zusammen weitere 24,5 Prozent. Miles Lanier hat einen Anteil
von 4 Prozent – Peanuts (obwohl Peanuts in diesem Fall Millionen und
Abermillionen Nuyen bedeuten), aber gerade genug, um die Waag-
schale zugunsten eines der anderen Hauptaktionäre zu neigen. Die
restlichen 7 Prozent des Konzerns gehören Villiers’ Exfrau Samantha
Villiers.
ANDERE
Neben Lanier gibt es nur sehr wenige Leute, denen Villiers vertraut,
und die meisten davon sind nahe Verwandte. Samantha Villiers und
ihr Mann ließen sich scheiden, weil sie sich zu ähnlich waren, was ja
schon einiges über sie aussagt. Genau wie ihr Exmann ist sie charmant,
ehrgeizig und absolut skrupellos. Obwohl sie ein für ein geschiedenes
Paar recht enges Verhältnis haben – sie gehen hin und wieder mitein-
ander aus, und wenn man der Regenbogenpresse glauben darf, flackert
die gegenseitige Anziehungskraft immer mal wieder heiß auf –, ist Sa-
mantha alles andere als eine willige Komplizin für die Machenschaften
ihres Exmannes. Neben ihren Aufgaben als operative Direktorin von
NeoNET Seattle kümmert sie sich um ihre eigenen Projekte (wenn sie
nicht gerade aus Spaß an der Freude seine Pläne durchkreuzt). Kürz-
lich hat „die Frau hinter dem Mann“ eigene Firmenankäufe abseits des
NeoNET-Imperiums getätigt.
Richard und Samantha Villiers haben eine Tochter, Caroline Tara
Villiers – kurz Cara –, und der Apfel fiel nicht weit vom Stamm. Cara
Villiers ist aus ihrer rebellischen Teenagerphase herausgewachsen und
wird zurzeit als Richards Nachfolgerin aufgebaut.
> Das ist nicht die ganze Geschichte dieser kleinen Prinzessin
und ihrer „rebellischen Phase“. 2053 versuchte sie tatsächlich, ihre
Mutter umzubringen, während sie unter dem Einfluss – magisch,
psychotrop oder sonst wie – eines terroristischen Policlubs stand.
Der Anschlag misslang, und Cara verlor dabei eine Hand. Danach
lief sie eine Zeit lang unter dem Namen Rouge in den Schatten,
bevor sie in den Schoß der Familie zurückkehrte.
> Kat o’Nine Tales
> Das Miststück hat alles, was sie von unserer Seite des Gewerbes
gelernt hat, mitgenommen und leitet jetzt NeoNETs Black Ops in
Seattle. Wenn ihr euch mit einem NeoNET-Johnson trefft, dann
besteht eine Fifty-Fifty-Chance, dass er in ihrem Auftrag unter-
wegs ist. Um bestimmte sensible Angelegenheiten kümmert sie
sich gelegentlich sogar selbst.
> Riser
Richard Villiers & Miles Lanier 183
 Villiers hat zwei Brüder, Darren und Martin. Darren ist ein
Zwerg und initiierter Adept, was ihn zum einzigen Metamenschen
und einzigen Erwachten im Stammbaum der Villiers-Familie macht.
Er war erst bei Fuchi, dann bei Novatech, ist jetzt bei NeoNET für
Schattenoperationen zuständig und damit praktisch das Schwert ne-
ben Laniers Schild. Inzwischen wurde er befördert und arbeitet jetzt
bei NeoNET TransAsia. Darrens jüngste Entscheidung, sich den
Rittern des Zorns anzuschließen, die direkt dem Großen Drachen
Celedyr unterstehen, hat zu ernsthaften Spannungen in der Bezie-
hung der Brüder geführt, die noch durch Darrens Unterstützung
für Samanthas Expansionspläne in Asien verstärkt werden. Richards
anderer Bruder Martin ist das einzige Familienmitglied, das nicht
bei NeoNET angestellt ist. Er ist als Wohltäter bekannt, der vie-
le Millionen aus dem Gewinn, den er bei Novatechs Börsengang
machte, an zahlreiche wohltätige Organisationen gespendet hat und
angeblich politische Ambitionen und gute Chancen haben soll, sie
zu verwirklichen. Richard und Martin verstehen sich gut, haben
aber geschäftlich nur wenig miteinander zu tun, da Martin sich in
ganz anderen Kreisen bewegt als sein Bruder.
Wenn das Richard Villiers’ Leute sind, wer sind dann Miles Lani-
ers Leute? Nun, es gibt keine. Lanier hat mehrere vertrauenswürdige
Angestellte, einen Freund (Villiers) und keine Familie. Er war nie ein
Mann, der sich schnell, einfach oder leichtfertig auf persönliche Bezie-
hungen einließ.

> Ist Lanier schwul?

> Kat o’Nine Tales
> Jedenfalls nicht nach den Medienspekulationen, die ich kenne.
ANDERE

Und es ist ja nicht so, dass wir in einer Zeit leben (jedenfalls all-
gemein gesehen), in der man so etwas verbergen müsste.
> Sunshine

> Ich weiß aus guter Quelle, dass Lanier ein uneheliches Kind von
einer Prostituierten in Chiba hat, das 2057, nach seinem „Überlau-
fen“ zu Renraku, zur Welt kam. Er hat den Jungen nie adoptiert oder
offiziell anerkannt, ihm auch nicht seinen Namen gegeben, doch
er hat dafür gesorgt, dass lokale Schattenaktivisten ihn schützten,
als er 2059, auf dem Höhepunkt des Renraku-Fuchi-Krieges und
kurz vor der Auflösung Fuchis, vor den Konzerngerichtshof zitiert
wurde. Lanier behielt den Jungen bis 2064 im Auge, doch durch
den Crash 2.0 verlor er seine Spur.
> Icarus

> Woher weißt du das? Nicht, dass ich dir nicht glaube, aber... wie
kommst du darauf?
> Slamm-0!

> Kann ich dir zwar auch nicht sagen, Omae, aber ich bin sicher,
dass es nicht daran liegt, dass er die Mutter ist.
> Pistons

Die Tatsache, dass sein Boss die einzige echte menschliche Bezie-
hung in seinem Leben ist, scheint im Laufe der Zeit an Lanier genagt
zu haben. Genauso wie die Erkenntnis, dass er sein ganzes Leben lang
von den Medien und dem Rest der Welt nur als der Kumpel und Hel-
fershelfer betrachtet wurde. Nie wurde er wegen seiner eigenen Leis-
tungen gewürdigt, auch wenn es Lanier war, der den Coup inszenierte,
durch den Renraku geschwächt, Fuchi eliminiert und Novatech er-
schaffen wurde. Es ist schwer zu sagen, welcher Tropfen das Fass zum
Überlaufen brachte, aber anscheinend hat das ständige Ackern unter
Villiers’ Joch schließlich irgendetwas hervorgerufen, denn seit eini-
gen Monaten wurde Lanier nicht mehr bei NeoNET gesehen. Wenn

184 Richard Villiers & Miles Lanier

Laniers Verschwinden das ist, was es zu sein scheint, dann stellt sich
die Frage nach Laniers Aktienanteilen, die das Machtgleichgewicht
innerhalb des Konzerns verschieben könnten. Außerdem hat Laniers
Abwesenheit ein Machtvakuum an dem Punkt verursacht, wo sich die
Konzerninteressen mit den Schatten treffen, ein Vakuum, das Cara nur
langsam füllen kann.
> Ich weiß nicht, ob Neid und Eifersucht wirklich ausreichen dürf-
ten, die Freundschaft dieses dynamischen Duos zu untergraben
und Lanier dazu zu bringen, von Bord zu gehen. Vergesst nicht,
dass die beiden schon einmal ein „Zerwürfnis“ öffentlich zelebriert
haben.
> Stone
> Eine andere Möglichkeit wäre, dass Lanier von einer Gefahr für
NeoNETs Sicherheit Wind bekommen hat, die so fundamental ist,
dass er ohne Konzernunterstützung auf eigene Faust tätig werden
musste, um niemanden misstrauisch zu machen. Sollte das der Fall
sein, würde das die Frage aufwerfen, ob Villiers überhaupt weiß,
dass Lanier noch auf seiner Seite ist.
> Fianchetto
> Was könnte das für eine Gefahr sein?
> Rigger X
> Wahrscheinlich etwas Internes. Samanthas Ambitionen, Celedyrs
Randprojekte, die wahren Besitzer von Trans-Latvian, wer auch im-
mer sie sind. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt.
>
Icarus
> Art Dankwalthers Rückkehr von den Toten, Eliohanns Geist...
> Plan 9
> Er nun wieder.
> Snopes
> Wenn wir uns an Ockhams Rasiermesser halten, wäre eine ein-
fachere Erklärung die, dass Lanier einfach nur zurück zu seinen
Wurzeln wollte, lieber im direkten Einsatz arbeiten als hinter dem
Schreibtisch. Vielleicht eine Art Midlife-Crisis.
> Picador
Neben den Auswirkungen, die Laniers Abwesenheit auf den Kon-
zern hat, scheint auch Villiers’ Gesundheitszustand darunter zu leiden.
Die Situation ähnelt auf ironische Weise der Farce, die Villiers nach
Laniers „Überlaufen“ zu Renraku vor mehr als zehn Jahren inszeniert
hatte. Villiers ist isoliert, seine Position geschwächt, und er hat nie-
manden, dem er vertrauen kann. Zwar besetzen drei seiner Verwand-
ten wichtige Positionen im Konzern, doch alle drei sind, genau wie
er, heimtückische Schlangen. Samantha und Darren verfolgen ihre
eigenen Pläne einer aggressiven Expansion in Asien, was Richards
Wunsch, einen Zusammenstoß mit den Japanokons zu vermeiden,
zuwiderläuft. Die Person, der Villiers momentan am meisten trauen
kann, ist seine Tochter Cara, doch auch da muss er wachsam bleiben,
da Samantha sie möglicherweise umwerben könnte. Und ganz sicher
kann er nicht Celedyr, Malmstein, Verghese oder einem der anderen
Aktionäre trauen.
> Alleingelassen und innen und außen von Feinden umgeben. Das
muss sich für Villiers genau wie damals bei Fuchi anfühlen, eine
Rückblende in die alten Tage, als er nicht wusste, ob Yamana oder
Nakatomi als Erster versuchen würde, ihn zu töten.
> Baka Dabora
Aber trotzdem verfolgt Villiers unbeirrt seine Ziele, um seine Kont-
rolle über den dritten Megakonzern, den er aufgebaut hat, zu festigen.
Gegenwärtig dürften seine Prioritäten, aus einer strategischen Perspek-
tive betrachtet und in keiner bestimmten Reihenfolge, folgende sein:
• Seine Exfrau Samantha im Auge behalten, vor allem ihre Aktivitä-
ten in Asien und ihr Interesse an denselben magischen Artefakten,
hinter denen auch Celedyr her ist.
• Celedyr im Auge behalten und aufpassen, dass er mit seinen leicht-
sinnigen und bizarren Forschungsprojekten nicht zu viel Kapital
verheizt, das anderweitig besser genutzt werden könnte, und dass
seine Ritter des Zorns keine Aktionen gegen ihn unternehmen, um
sich einen größeren Anteil am Konzern zu sichern.
• Die kleine Investmentfirma Reality Inc. für ihre feindliche Über-
nahme von Cavalier Arms bestrafen.
• Swaraj Vergheses Expansion nach Afrika aufhalten, um ihn daran
zu hindern, sich eine unabhängige Machtbasis zu schaffen.
• Die Kontrolle über NeoNETs finanzielle Struktur durch Novatechs
Zentrale in Boston sichern, um es seinen Feinden zu erschweren,
ihm die Zügel aus der Hand zu reißen.
• Mehr über Trans-Latvian Enterprises herausfinden, insbesondere
wer die eigentlichen Besitzer sind und welche Gefahr sie darstellen.
Die populärsten Theorien behaupten, der Konzern sei eine Strohfir-
ma der europäischen Mafia, der Vampir-Geheimgesellschaft Ordo
Maximus oder der Römisch-Katholischen Kirche.
• Herausfinden, wo Miles Lanier steckt.
Wahrscheinlich war es eines dieser Ziele, insbesondere Nummer
ANDERE
eins, zwei oder sechs, das Miles Lanier verfolgte, als er vom öffentli-
chen Radar verschwand. Angeblich soll Lanier Nachforschungen über
Trans-Latvian angestellt haben, als er verschwand, doch er kann ge-
nauso gut eins von Villiers’ anderen Zielen verfolgt haben. Was auch
immer er getan hat und was auch immer es bedeutet, jedenfalls ist das
Machtduo dadurch in der gefährlichsten Situation seit dem Konzern-
krieg von 2059. Aber wir wissen ja alle, wo sie damals endeten – näm-
lich ganz oben.
> Ich weiß, dass Lanier wochenlang von den Rittern des Zorns,
Celedyrs Privatbande, durch Europa verfolgt wurde, die ihrerseits
wieder von Leuten von Hildebrandt-Kleinfort-Bernal, Celedyrs al-
ten Feinden, verfolgt wurden. Vor Kurzem wurde jedoch das Team
der Ritter, das ihm auf den Fersen war, bis auf einen Mann aus-
gelöscht. Man weiß nicht, ob Villiers, HKB oder sonst jemand da-
hintersteckte.
> Frosty
> Kann es vielleicht sein, dass Lanier einfach nur umgelegt wurde?
Ich weiß, wir haben schon erwähnt, dass er schwer zu töten ist, aber
„schwer“ ist nicht „unmöglich“, und er wird ja auch nicht jünger.
> Hard Exit
> Unwahrscheinlich. Ein Mann mit seinen Fähigkeiten, seinem
Insiderwissen über Villiers’ (und NeoNETs) Geschäfte und seinem
Aktienanteil wäre für jeden Konkurrenten lebendig unendlich viel
mehr wert.
> Fianchetto
> Wenn Lanier wirklich noch heimlich mit Villiers zusammenarbei-
tet, müssen sie irgendeine Möglichkeit der Kommunikation haben,
etwas Geheimes und Sicheres. Aber selbst ein toter Briefkasten
oder ein Kassiber dürfte bei jemandem, der so wie Villiers in der
Öffentlichkeit steht, schwer zu realisieren sein.
> Thorn
Richard Villiers & Miles Lanier 185
 > Wisst ihr, schon mehrmals, in London, Berlin und Yokohama,
habe ich als Mittelsmann Jobs arrangiert, bei denen geringe
Mengen relativ wertlosen Krams – ein Bierfass, eine Kiste Whis-
ky, eine Dose voll Cocktailschirmchen – in Ladungen geschmug-
gelt wurden, die nach Boston gingen. Genauer gesagt an diese
ziemlich unauffällige Bar in der Innenstadt. Die Bezahlung war
RICHARD VILLIERS
K G R S C I L W EDG ESS INI ID
4 4 4(5) 3 6 7 6 6 8 4,12 11(12) 1(2)
Zustandsmonitor (K/G): 10/11
Panzerung (B/S): 11/5
Fertigkeiten: Athletik-Fertigkeitsgruppe 3, Ausweichen (Fern-
kampf ) 5 (+2), Biotech-Fertigkeitsgruppe 3, Bodenfahrzeuge
3, Cracken-Fertigkeitsgruppe 2, Einschüchtern 6, Elektronik-
Fertigkeitsgruppe 5, Fälschen 5, Flugzeuge (Festflügelmaschi-
nen) 2 (+2), Führung 6, Gebräuche (Konzern) 6 (+2), Heim-
lichkeit-Fertigkeitsgruppe 4, Mechanik-Fertigkeitsgruppe 1,
Navigation 3, Pistolen (Halbautomatik) 3 (+2), Schiffe 2,
Survival 3, Überreden 5(6), Unterricht 5, Verhandlung (Dip-
ANDERE
lomatie) 7 (+2), Waffenloser Kampf 3, Wahrnehmung 6
Wissensfertigkeiten: Baseball 6, Betriebswirtschaft 6, Geschich-
te 4, Gute Restaurants 4, Klassische Autos 3, Literatur 3, Ma-
trixdesign 5, NeoNET 6, Psychologie 4, Recht 5, Segeln 3,
Sicherheitsdesign 3, Sicherheitsprozeduren 3, Volkswirtschaft
6, Deutsch 3, Englisch M, Japanisch 6, Spanisch 2
Gaben: Außergewöhnliches Attribut (Intuition), Fotografisches
Gedächtnis, Glaubwürdigkeit (Überreden), Glück, Talentiert
(Verhandlung), Vertrautes Terrain (Boston)
Bodytech (alles Deltaware): Datenbuchse; Diätmodifikation, Ge-
steigerte Aufnahmefähigkeit 2, Maßgeschneiderte Pheromone
3, Metabolismusfilter, Synapsenbeschleuniger 1, Thrombozy-
tenfabrik, Toxinextraktor 6, Traumadämpfer; Genwischer
186 Richard Villiers & Miles Lanier
jetzt nicht gerade verdächtig hoch, nur ein kleines bisschen mehr
als üblich, wenn man von normalen Schmugglertarifen ausgeht.
Anhand des Gewichtes und der Verhandlungen kann ich mit Si-
cherheit sagen, dass es keine Waffen, Drogen oder BTLs waren.
Fiel mir gerade so ein.
> 2XL
Ausrüstung: Actioneer Geschäftskleidung [mit Chemischer Iso-
lierung 2, Elektrischer Isolierung 2, Feuerresistenz 2, Ther-
mischer Isolierung 2] [B/S 5/3], Anzüge (maßgeschneidert)
von Armanté, Brooks Brothers und Zoé Executive Suite,
Formangepasste Körperpanzerung (Ganzkörper) [B/S 6/2],
Kommlink [Spezialanfertigung; Gerätestufe 9; Biometrischer
Scanner, Skinlink, Subvokalmikrofon], Kontaktlinsen [Stufe
3; Blitzkompensation, Restlichtverstärkung, Smartlink], Lin-
guasofts [je nach Bedarf, jeweils Stufe 5], Ring der Yankees
2013 World Series, Vitalmonitor
Fahrzeuge: Gulfstream Luxe V Jet [Handl. +1, Beschl. 40/150,
Geschw. 800, Pilot 3, Rumpf 14, Panzerung 10, Sensor 3],
Harland & Wolf Classique III Jacht [Handl. –1, Beschl.
10/25, Geschw. 35, Pilot 2, Rumpf 24, Panzerung 8, Sensor
2], Mitsubishi Nightsky [Handl. –2, Beschl. 15/25, Geschw.
100, Pilot 6, Rumpf 12, Panzerung 20, Sensor 6; Diebstahl-
sicherung, Fahrgastsicherheitssystem, Insassenpanzerung
10, Panzerungs-Upgrade, Pilot-Upgrade, Sensor-Upgrade,
Smartpanzerung 10 und Chauffeur]
Programme: Analyse 9, Editieren 9, Scannen 9, Schmöker 9,
Verschlüsselung 9, IC-Agent [Stufe 9; Angriff 9, Aufspüren 9,
Ausnutzen 9, Blackout 9, Panzerung 9, Schleicher 9]
Waffen:
Hämmerli 620S [Leichte Pistole | Schaden 6K oder 6G(e) | PB
0 oder –Hälfte | HM | RK 1 | 2x 5(s) | Gasventil (intern),
Geckogriff, Schalldämpfer, Skinlink, Smartgun, Tarnholster,
Zusätzlicher Ladestreifen; Panzerbrechende Flechettemuniti-
on, Schockermunition]
MILES LANIER
K G R S C I L W EDG ESS INI ID
5 5(9) 5(8) 5(9) 4 6 7 6 7 1,97 11(14) 1(4)
Zustandsmonitor (K/G): 11/11
Panzerung (B/S): 14/10
Fertigkeiten: Athletik-Fertigkeitsgruppe 4, Ausweichen (Fern-
kampf ) 4 (+2), Bodenfahrzeuge 3, Cracken-Fertigkeitsgruppe
5, Einfluss-Fertigkeitsgruppe 4, Einschüchtern 6, Elektronik-
Fertigkeitsgruppe 5, Entfesseln 3, Erste Hilfe (Kampfverlet-
zungen) 4 (+2), Flugzeuge 3, Geschütze 3, Gewehre (Scharf-
schützengewehre) 7 (+2), Heimlichkeit-Fertigkeitsgruppe 6,
Klingenwaffen (Messer) 3 (+2), Knüppel (Schlagstöcke) 3
(+2), Natur-Fertigkeitsgruppe 4, Pistolen (Halbautomatik) 6
(+2), Schlosser 3, Schnellfeuerwaffen (Sturmgewehre) 3 (+2),
Schwere Waffen 3, Sprengstoffe 4, Waffenbau 4, Waffenloser
Kampf (Boxen) 5 (+2), Wahrnehmung 6, Wurfwaffen 3
Wissensfertigkeiten: Architektur 3, Baseball 5, Betriebswirt-
schaft 3, Gegengifte 3, Ingenieurswissenschaften 3, Magi-
etheorie 6, Matrixtheorie 6, Militärtaktik 6, NeoNET 6,
Parazoologie 4, Recht 3, Renraku 3, Sicherheitsdesign 6, Si-
cherheitsprozeduren 6, Sicherheitstheorie 6, Volkswirtschaft
3, Englisch M, Japanisch 6
Gaben: Außergewöhnliches Attribut (Logik), Kampfkunst (Bo-
xen, +2 Schaden bei Angriffen mit Waffenlosem Kampf ),
Magieresistenz 2, Mut, Talentiert (Gewehre), Überlebenswil-
le 2, Zähigkeit
Bodytech (alles Deltaware): Datenbuchse, Kunstmuskeln 4,
Retinamodifikationen (Restlichtverstärkung, Smartlink);
Knochenverstärkung 4, Orthoskin 2, Schadenskompensator
6, Synapsenbeschleuniger 3, Synthacardium 3, Thrombozy-
tenfabrik, Toxinextraktor 6; Genwischer
Ausrüstung: Bereichsstörsender 10, Formangepasste Kör-
perpanzerung (Ganzkörper) [B/S 6/2], Gasmaske, Hand-
sensor [Signal 3; Cyberware-Scanner 6, Geruchsscanner 6,
MAD-Scanner 6], Kletterhandschuhe, Kommlink [Spe-
zialanfertigung; Gerätestufe 9; Biometrischer Scanner,
Satellitenverbindung, Skinlink, Subvokalmikrofon], Kon-
taktlinsen [Stufe 3; Bildverbindung, Blitzkompensation,
Sichtverbesserung 3], Medkit 6, Mikrofon [Stufe 6; Audio-
verbesserung 3, Richtungsdetektor, Selektiver Geräuschfil-
ter 2], Mikro-Transceiver 6, Plasstahl-Handschellen, Ring
der Red Sox 1906 World Series, SecureTech-PSB-System
(Unterarmschützer, Arm-/Beinschützer, Schienbeinschüt-
zer, Suspensorium) [B/S +2/+4], 20 Sicherheits-RFID-
Marker, Sichtgerät [Stufe 6; Blitzkompensation, Infrarot-
sicht, Sichtverbesserung 3, Sichtvergrößerung, Ultraschall],
Slap-Patches [5 Stimulanz-Patches 6, 5 Tranq-Patches 10,
1 Trauma-Patch], 20 Spionage-RFID-Marker, Survival-
Kit, Synergist Business-Kollektion: Langer Mantel (mit
Feuerresistenz 2, Thermischer Isolierung 2, Elektrischer
Isolierung 2) [B/S 4/2], Tasche mit Einbruchswerkzeug
[mit Automatischem Dietrich 6, Brecheisen, Drahtzange,
Elektronik-Werkzeugkiste, Enterhakenkanone (mit 100 m
Camouflageseil und Katalysatorstab), Magschlossknacker
6, Mini-Schweißgerät, Sequenzer 6, Thermit-Brennstab],
Zielgerichteter Störsender 10
Programme: Analyse 9, Befehl 9, Biofeedback-Filter 9, ECCM
9, Editieren 9, Entschlüsselung 9, Scannen 9, Schmöker 9,
Schnüffler 9, Verschlüsselung 9, IC-Agent [Stufe 9; Angriff 9,
Aufspüren 9, Blackout 9, Medic 9, Panzerung 9, Schleicher
9], Offensiver Agent [Stufe 9; Angriff 9, Ausnutzen 9, Ent-
schlüsselung 9, Panzerung 9, Schleicher 9, Täuschung 9]
ANDERE
Kampftechniken: Angriffsposition, Finaler Schlag
Waffen:
Faustschlag [Reichweite 0 | Schaden 10K | PB 0]
Ares Predator IV [Schwere Pistole | Schaden 5K | PB –5 | HM
| RK 1 | 19(s) | Angepasster Griff, Nahkampfverstärkung,
Schalldämpfer, Skinlink, Smartgun, Tarnholster, Verbesser-
te Sicherheit (Elektroschocker), Vergrößerter Ladestreifen;
APDS-Munition]
Ares Desert Strike [Scharfschützengewehr | Schaden 8K | PB –9
| HM | RK 1 (2) | 14(s) | Elektronisches Feuern, Schalldämp-
fer, Schockpolster, Skinlink, Smartgun (extern), Verbesserter
Reichweitenmesser, Zerlegbarkeit, Zielfernrohr; Panzerab-
wehrgeschosse]
HK G12A4m [Sturmgewehr | Schaden 8K | PB –2 | HM/SM/
AM | RK 2 (3) | 32(s) | Elektronisches Feuern, Gasventil 2,
Hochleistungspatronenlager, Schallunterdrücker, Skinlink,
Smartgun (extern), Unterlaufschrotflinte; Hochleistungsge-
schosse]
Unterlaufschrotflinte [Schrotflinte | Schaden 9K(f ) | PB +5 |
HM | RK (1) | 5(m) | Flechettemunition]
Richard Villiers & Miles Lanier 187
Prestige
VON RUSSELL ZIMMERMAN & JAMES D. MEIERS
Rory wusste, dass sie in Wirklichkeit gar nicht in der Suite wohnte,
doch der Höflichkeit zuliebe taten sie so als ob. Thorn wartete kurz im
Flur, bevor Corinna ihn lächelnd hereinbat. Er beglückwünschte sie
dazu, wie gemütlich und geräumig die Suite aussah, und sie tauschten
noch ein paar weitere Artigkeiten aus. Höflichkeit gehörte zum Spiel,
und es war nur recht und billig, dass er mitspielte.
„Ja, und das Bild dort ist großartig.“ Er hatte sich wieder als Mi-
chael Carter zurechtgemacht, aber als er den White-Noise-Generator
sah, der auf dem Couchtisch aus brasilianischem Kirschholz vor sich
hin summte, ließ er von seinem britischen Oxfordakzent ab und verfiel
wieder in seinen singenden irischen Tonfall. Thorn nickte mit dem
Kopf zu einer der Wände ihres Wohnzimmers, auf die das Trideo die
Abendprogramme projizierte.
„Nur die Nachrichten“, sagte sie träge und winkte mit ihrer Hand
achtlos vor den Sensoren, die in die Wand eingebaut waren. Die Pro-
gramme verstummten, liefen aber weiter. Redende Gesichter redeten
weiter, aber keiner hörte ihnen zu, also wandte sie sich ab und blickte
ihn wieder an. „Eine unglaubliche Anzahl an Kanälen, aber nichts, was
sich zu sehen lohnt.“
„Oh, in diesem Raum gibt es genug, das sich zu sehen lohnt“,
sagte er mit einem leichten Lächeln und blinzelte ihr spielerisch zu.
Sie trug die gleiche Garderobe wie beim letzten Mal, aber das Zoé-
Kostüm schien etwas anders geschnitten zu sein – etwas zurück-
haltender, aber immer noch für ihre Figur maßgeschneidert. Was
Nadja-Daviar-Klone anging, so war das hier einer, den anzuschauen
sich lohnte.
„Viel zu sehen, aber auch viel zu bereden.“ Corinna überkreuzte die
Arme und zog eine Augenbraue hoch. Genug der Artigkeiten. Zeit fürs
Geschäftliche. „Alle neunzehn, Mr. Carter?“
„Rory genügt. Oder Mr. Caolain, wenn Sie es formell wollen“,
sagte er mit einem Schulterzucken und einem Nicken in Richtung
eines anderen Anti-Abhörgerätes, das er bereits bemerkt hatte. Er
war sicher, dass sich noch mehr davon im Raum befinden mussten,
und dank dieses Wissens entspannte er sich so weit, dass sein Haar
die Farbe zu wechseln begann. Innerhalb weniger Herzschläge war
die Farbe seiner Augen von einem kühlen Blau zum Grün frisch
gemähten Grases gewechselt und sein blondes Haar wieder irisch
schwarz geworden. „Solange Ihre kleinen Spielzeuge aktiviert sind,
möchte ich Sie bitten, mich nicht mit dem Namen eines Engländers
anzureden.“
Ihre demonstrativ hochgezogene Augenbraue hatte sich nicht ge-
senkt und ihre Frage hing immer noch schwer in der Luft.
„Oh, und ja, alle neunzehn.“ Er warf die Hände in die Luft und
kämpfte gegen ein Grinsen an, als er fortfuhr. „Ich bin mir sicher, dass
Sie die Dateien überflogen haben, bevor Sie sie mir geschickt haben.
Es ist doch nicht meine Schuld, dass Kanagawa seine Sicherheitsleu-
te in sechs kleinen Dreimannteams losgeschickt hat. Wenn man seine
Patrouillen in kleinen Häppchen herum schickt, muss man sich nicht
wundern, wenn ich sie alle töte.“
„Wir hatten den Eindruck, dass Ihr Interesse an Mr. Kanagawa ge-
schäftlich war, nicht persönlich, Mr. Caolain.“ Ihre Arme waren im-
mer noch überkreuzt, ihr Ton unzufrieden. Hinter ihr bewegten die
redenden Gesichter der Nachrichtensender weiter ihre Lippen, aus
denen nichts Hörenswertes herauskam.
„Aye. Das war ja auch der Eindruck, den ich erwecken wollte.“
Rory zuckte ungerührt die Schultern. Hinter der Brille wurden seine
grünen Augen stechend und hart wie Smaragde, als er sich an einen
russischen Winter erinnerte, den er in Elend und Zorn verbracht hatte,
und daran, warum er es ertragen hatte. „Ich schuldete ihm etwas, und
ich habe seine Leute getötet, um an ihn heranzukommen. Ich würde es
wieder tun, wenn ich könnte.“
Sie blickte finster bei seiner Antwort, doch bei seinem letzten Satz
wurde ihr Gesichtsausdruck sanfter.
„Das würden Sie? Es wieder tun, wenn sie könnten?“
„Abgesehen von Shedim“, sagte er mit hochgezogener Augenbraue,
„kann man so etwas im Allgemeinen pro Person nur einmal tun.“
„Ich rede nicht von ihm“, sagte sie und ignorierte seinen Witz. „Ich
meine andere wie ihn. Bei denen Sie vielleicht nicht die gleiche per-
sönliche Motivation haben, für die aber eine finanzielle Motivation
angeboten werden könnte...“
„Haben Sie es nicht mitgekriegt, Mädchen? Es ist längst durch
Puzzle Palace und all die anderen trendigen Shadowrunner-Foren ge-
gangen: Ich habe mich zur Ruhe gesetzt.“
„Mr. Kanagawa und achtzehn seiner Angestellten wären sicherlich
anderer Meinung.“ Sie grinste.
„Ah. Mit anderen Worten: Sie wollen wissen, wie sehr ich mich zur
Ruhe gesetzt habe?“
„Und wenn es so wäre?“
Er antwortete mit einem Seufzen.
„Mr. Caolain, ich vertrete gewisse Parteien, die Ihren Wert sehr gut
kennen und bereit sind, Sie mit den Informationen und der Unterstüt-
zung zu versorgen, die Sie brauchen, um...“
„Leute umzulegen?“ Er blickte finster drein.
„Probleme zu lösen.“
„Indem ich Leute umlege“, sagte er mit einem Nicken. „Miss, ich
verstehe, dass Sie wegen meiner Motivation in dieser Sache verwirrt
sind, aber ich will es Ihnen gerne erklären. Ich habe Kanagawa gehasst.
Wir beide hassten uns von dem Augenblick an, als er mich vor zwölf
Jahren in Kobe vom Flughafen abholte, weil seine Auftraggeberin mich
für einen Job wollte, den sie ihm allein nicht zutraute.“
„Miss Kanematsu?“
„Tun Sie nicht so. Sie wissen ganz genau, für wen er die Si-
cherheitsarbeit erledigte, sonst hätten Sie mir nicht grünes Licht
und ein Dossier gegeben.“ Sein Gesicht war ernst, das Lachen von
vorhin verflogen. Auch sie war jetzt völlig geschäftsmäßig. Aalglatt
wie eine Politikerin. Aber mit etwas, das nicht mehr ganz so war
wie eben...
„Wollen Sie damit sagen, Mr. Caolain, das es nur Ihre persönlichen
Motive waren, die Sie zu Mr. Kanagawa trieben? Dass Sie nicht vorha-
ben, diese Art von Aktivitäten weiter zu betreiben?“
Er starrte an ihr vorbei auf die leeren Gesichter der Nachrichten-
sprecher und einen alten B-Film auf dem Trideoschirm, während er
über ihre Frage nachdachte.
„Ich will damit sagen“, antwortete er schließlich, „dass ich nicht
unbedingt Probleme lösen möchte, aber ich weiß nicht, was ich sonst
gut kann. Ich weiß nicht, wie ich sonst die Dinge wettmachen soll, die
ich getan habe. Kanagawa war ein mieses Arschloch, und er hat mich
vor langer Zeit betrogen. Als MET2000 meine Tarnung auffliegen ließ
und ich erfuhr, dass Kanagawa in DeeCee war, dachte ich mir, dass ich
genauso gut losfahren und ihn erledigen könnte.“
„Einfach so?“ Sie blickte jetzt nicht mehr finster oder unzufrieden,
sondern schien ehrlich neugierig zu sein. „Sie sind einfach so durch
zwei Länder gereist, um einen Mann zu töten?“
„Drei, um genau zu sein. Ich habe einen eher indirekten Weg ge-
nommen, habe ein gutes Stück mehr als Luftlinie zurückgelegt. Aber,
ja. Einfach so.“ Er schnippte mit den Fingern. „Denn ich hatte nichts
Besseres zu tun, er wusste, was ihm blühte, und was macht schon einer
mehr aus?“
„Neunzehn mehr.“
„Tropfen.“ Er zuckte die Schultern. „Ein paar Tropfen mehr in ei-
nem riesengroßen Fass.“
„Wo wir gerade von MET2000 reden, Mr. Caolain, und von diesen
Unannehmlichkeiten in Denver mit Ihrem früheren Arbeitgeber...“
Ihr Satz endete in einem fragenden Ton. Es war halb eine Frage, halb
eine Bitte um Information.
„Kein Grund der Sorge, Miss. Es waren nur sechzehn.“ Er zuckte
die Schultern und legte sich in diese neue Wendung der Unterhaltung
wie mit seinem Motorrad in eine enge Kurve. „Nur ein mittelmäßi-
ger Bastard, der mich immer dafür gehasst hat, dass ich Gefälligkeiten
eingefordert habe, und der ein paar Killerteams zusammengewürfelt
hat. Ein paar verbrauchte alte Offiziere, ein Junkie als Magier. Es war
mehr eine Bereinigung der Personalliste als irgendwas anderes. Keine
ordentliche Argus-Mission.“
„Sind Sie sicher, dass es keine weiteren Verwicklungen geben
wird?“
„Wahrscheinlich nicht. Aber wer kann da schon sicher sein?“ Er
zuckte philosophisch die Schultern. „Wie schon gesagt, es war keine
richtige Argus-Mission, und sie wollten mich gar nicht wirklich um-
bringen. Wenn es ihnen wirklich ernst gewesen wäre, hätten sie einen
anderen Agenten auf mich angesetzt, nicht einen Haufen Infanterie-
Armleuchter und einen einzelnen Halbmagier. Sie wissen doch, wie
diese MET-Heinis sind, aye? Außerhalb ihrer Panzer ziemlich un-
brauchbar. Keine große Sache.“
„Sechzehn ausgebildete Kampfsoldaten, einer davon ein Aspekt-
zauberer, könnte man schon als große Sache bezeichnen.“
„Für manche mag das gelten. Für mich war es nur ein gereizter
Major in Hannover, der dachte, er hätte eine Chance, mich zurück-
zuholen, und der ein paar Idioten auf den Job ansetzte. Wenn Argus
mich tot sehen wollte, wirklich und wahrhaftig tot, dann würden sie
jemanden wie mich schicken. Es wird keine Schwadron Soldaten mit
schweren Springerstiefeln sein, die mich erwischt, das kann ich Ihnen
versprechen.“
„Argus hat mehr Leute wie Sie?“
„Oh, sicher. Tausende von uns, haben Sie nicht die Werbung ge-
sehen? Und ich habe jeden einzelnen davon ausgebildet. Da gibt es
natürlich Agent Thorn, und ich bin hingegangen und habe sie alle
ausgebildet, Agent Splinter, Needle, Nail, Staple, Thumbtack, Safety
Pin...“
Sie seufzte und unterbrach seine Auflistung, indem sie aufstand
und davonging. Es war ein entspanntes Schlendern, und Thorn nahm
an, dass er ihr folgen sollte.
Sie ging in den Essbereich der Suite, wo ein unberührtes Champa-
gnerglas stand. Die auf sie abgestimmten Trideobilder tanzten in ih-
rem Kielwasser an den Wänden entlang, folgten ihr treu von Raum zu
Raum. Er war sich nicht sicher, ob das ein psychologischer Trick von
ihr war oder ob sie sich mit den Anti-Abhör-Einrichtungen des fens-
terlosen Raumes einfach sicherer fühlte. Aber wenn das ein Spiel war,
dann konnte er auf jeden Fall mitspielen. Sie setzte sich an die Stirnsei-
te des Tisches, während Rory am entgegengesetzten Ende stehenblieb,
seinen Rücken den Trideonachrichten auf der Wand zugewendet.
Ihr Ausdruck änderte sich nicht, als er in diesem Abstand von ihr
stehenblieb. „Mr. Caolain, lassen Sie mich eins klarstellen. Ich versu-
che, Ihnen ein ernsthaftes Angebot langfristiger materieller und finan-
zieller Unterstützung zu unterbreiten. Ich bin nicht hier, um Witze zu
machen.“
Er zuckte fröhlich mit den Schultern, entweder als entschuldigende
Geste, um zu demonstrieren, dass er ihr zuhörte, oder als schnippische
Geste, um zu zeigen, dass es ihm egal war, weshalb sie hier war. Sie
entschied sich für das Erste und fuhr fort.
„Sie wissen, womit ich mein Geld verdiene und mit welchen Leuten
ich zu tun habe. Ich kann Menschen sehr, sehr gut lesen. Was Ihnen
fehlt, Mr. Caolain, ist sehr einfach, und ich bin hier, um es Ihnen anzu-
bieten.“ Sie hob den Kopf minimal und traf seinen Blick ohne Furcht,
obwohl sie wusste, wie viele Leben er beendet hatte. „Es ist nicht die
Motivation, die Ihnen fehlt, Rory. Es ist ein Ziel. Eine Richtung.“
Seine Augen hielten den Blickkontakt aufrecht.
„Sicher, fehlt uns das nicht allen?“
„Nicht im Geringsten. Ich weiß genau, warum ich hier bin und was
ich hier zu tun habe.“
„Und wissen Sie auch...“ Er redete langsam, betont, seine Augen
fest auf sie gerichtet, um ihre Reaktion zu beobachten. Er nahm die
Brille mit dem Drahtgestell ab, steckte sie in die Jackentasche und sah
jetzt noch ernster aus. „...genau, wer Sie sind?“
Das brachte sie zum Schweigen.
„Erleuchten Sie mich.“ Ihre Stimme war flach, aber sie zog eine
geschwungene Augenbraue hoch.
„Sie sind nicht Corinna. Ihr Benehmen ist anders, die Körperspra-
che ist kälter. Ihre Absätze sind flacher und das Kleid länger, obwohl
dies ein privateres Treffen ist als unser letztes. Aber es ist nicht nur Ihre
Kleidung. Ihre Haltung ist anders, sie drücken den Rücken weniger
durch, um ihre Brust zu betonen. Sie haben sicherlich die richtige Fi-
gur, um Ihre Sexualität einzusetzen, das soll jetzt keine Beleidigung
sein, aber Sie sind nicht so schnell damit zur Hand wie sie. Sie hät-
te längst versucht, mich zu verführen, wir beide ganz allein in ihrem
Schlafzimmer.“
Während er redete, zählte Rory die Unterschiede an den Fingern
ab.
„Die Augen passen perfekt, aber nicht die Linien darum herum. Es
ist nicht das Alter, nein, also sind Sie eine echte Elfe, aber Ihre Fält-
chen sind mehr so wie meine. Ein paar Krähenfüße. Ein paar winzig
kleine Linien, die zeigen, dass Sie ein bisschen blinzeln, es gewohnt
sind, genau hinzusehen, dass Sie viel mehr gesehen und getan haben als
Corinna. Sie spielen das Spiel schon viel länger als sie.
Die Akzente sind sehr ähnlich, aber beide sind falsch. Sie kultivie-
ren beide das DeeCee-Näseln, und Sie machen es beide sehr gut. Man
fängt an mit einem schleppen CAS-Tonfall für die gesamtamerikani-
sche Wirkung, betont ein bisschen die Neuengland-Besonderheiten,
um politische Macht anzudeuten, und rundet es mit dem langen ka-
nadischen O ab; der perfekte Politikerakzent, der ein breites Spektrum
von UCAS-Wählern anspricht. Der Unterschied ist nur: Corinnas Ak-
zent ist echt, Ihrer antrainiert. Bei Ihnen klingt so etwas wie Finnisch
durch, ich kann mich aber auch täuschen. Man hört es an Ihren „V“s,
wenn Sie nicht aufpassen.
Und Corinna hat einen etwas kälteren Blick in den Augen und
einen etwas härteren Zug um den Mund. Sie versteckt es gut, keine
Frage, aber wissen Sie, was ich glaube? Sie hasst jeden Mann, mit dem
sie zu tun hat. Sie manipuliert uns, um sich selbst zu beweisen, dass
sie es kann, und weil sie nicht mehr weiß, wie es ist, es nicht zu tun.
Und Sie? Ich glaube, Sie manipulieren jeden. Mann, Frau und alles
andere, was Ihnen über den Weg läuft. Und Sie tun es nicht, weil Sie
die Leute, mit denen Sie reden, hassen. Sie tun es, weil Sie etwas von
ihnen wollen.“
Rory beobachtete ihre Schultern, als er sprach, die Linie ihres Na-
ckens. Gesichter konnten lügen. Es war der Rest des Körpers, der die
Geheimnisse preisgab. Er hatte sich nicht getäuscht.
„Sie sind also nicht Corinna. Sie sind freundlich und entgegenkom-
mend, Ihre Organisation hat mir die Informationen und die techni-
sche Unterstützung geliefert, die ich für den Job brauchte, und alles lief
glatt. Ich bin hier, weil als Teil unserer Vereinbarung von Ihrer Seite ein
Folgetreffen gewünscht wurde. Es beunruhigt mich nicht allzu sehr,
dass Sie nicht Corinna sind, aber meine Neugier ist geweckt.“
Als sie es immer noch nicht leugnete, immer noch nichts sagte,
fuhr er fort.
„So, und nachdem mir dann klar war, wer Sie nicht sind, fragte
ich mich natürlich, wer Sie sind.“ Diese winzigen Linien, die er er-
wähnt hatte, der einzige Hinweis auf sein wahres Alter, erschienen um
seine Augen, als er lächelte. „Da Frauen genauso territorial sind wie
Männer, erschien es mir unwahrscheinlich, dass Sie nur eine Kollegin
von Corinna sind. Nein, nein. Nicht einfach nur ein weiterer Klon,
der ihre Nachbesprechung übernimmt, ihr Territorium. Corinna ist zu
sehr wie eine Katze, um einfach eine andere Nadja einen Deal von ihr
übernehmen zu lassen. Aber hauptsächlich war es das Trideo, das mich
darauf gebracht hat.“
Er nickte zur Wand hin, wo die Trideos immer noch flackerten und
sie beide in ihr Leuchten hüllten. Sie beäugte ihn mit steinernem Ge-
sichtsausdruck, anstatt seiner Geste zu folgen.
„Nachrichten sind was Feines. Für alle, die nicht Lippen lesen kön-
nen, schreiben sie am unteren Rand des Bildschirms auf, was gerade
los ist. Anhaltendes Chaos und Unruhen in Dunkelzahns Lieblings-
organisation, sagen sie. Gerüchte über die Sicherheit der Foundation
nach dem Verschwinden von Chefberater Kanagawa, sagen sie. Ver-
mutungen, dass er nach Japan geflohen ist und Midori hängen lassen
hat, sagen sie. Midori hängt in der Luft, bereit zum Pflücken, sagen sie.
Durcheinander im Vorstand der Draco Foundation wegen der trium-
phalen Rückkehr und der Umstrukturierungen einer gewissen Person,
sagen sie.“
Rory schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.
„Sie kennen sicher den Trick, wie man herausfindet, wer einen At-
tentäter angeheuert hat, oder? Ganz einfach. Man muss nur heraus-
finden, wer davon profitiert, dass der Abzug gedrückt wird. Kanagawa
war der Teppich unter Midoris zierlichen kleinen Füßen, und als er
umgelegt wurde, fiel sie auf den Hintern.“
Ihre Lippen bewegten sich. Als sie den Mund öffnete, in dem Se-
kundenbruchteil zwischen ihrem Atemholen und ihrem ersten Wort,
unterbrach er sie mit einem breiten Lächeln.
„Freut mich, Sie kennenzulernen, Madame Vizepräsidentin. Oder
ziehen Sie ‘Miss Daviar’ vor?“ Er blinzelte ihr scherzhaft zu.
Nadja lächelte. „Gut, lassen Sie uns reden. Bitte nehmen Sie Platz.“
Rory ging zu einem Lehnstuhl zu ihrer Rechten und setzte sich, wäh-
rend sie sich zu ihm hinüber beugte. „Mein Angebot ist echt, Rory. Ich
habe einen Plan und einige Dinge, die erledigt werden müssen, aber
ich kann meine Ziele nicht verfolgen, wenn mir Kanagawa oder einige
andere Leute aus dem Vorstand im Weg stehen.
Ich habe nicht die Veranlagung zur Gewalt, wie sie andere haben;
harte Männer wie Sie, natürlich, aber auch Leute wie Kanagawa und
Dupree, denen es nichts ausmacht, Befehle zu erteilen, mit denen sie
Männer und Frauen in den Tod schicken, als wären es Schachfiguren.“
Rory beobachtete ihre Augen und ihren bedächtigen Tonfall und
wusste, dass sie etwas Bestimmtes im Sinn hatte. „Aye, aber Sie waren
der Kopf der Foundation und Vizepräsidentin für... wie lange? Sieben
Jahre? Acht? Sicher mussten Sie diese Befehle auch das eine oder andere
Mal erteilen.“
„In der Tat. Darum geht es. So wenig es auch nach meinem Ge-
schmack ist, kann und will ich nicht so tun, als wäre Ihre Art der Ge-
walt vom Aussterben bedroht. Sie ist ein notwendiges Übel, damit die
Welt funktioniert. In diesem speziellen Fall ließ mich Corinna wissen,
dass Sie hierher unterwegs waren und Rache an Mr. Kanagawa neh-
men wollten, und zwar wegen genau der Sorte von Aktionen, wegen
derer ich seine Position in meiner Foundation überdenken musste.“
„Sie meinen natürlich Dunkelzahns Foundation.“ Rory musste lä-
cheln.
„Dunkelzahn ist tot“, sagte Nadja mit harter Stimme. Rory ver-
stand. Er wurde ernst. „Anscheinend bin ich die Einzige, die wirklich
versteht, dass unsere Aktivitäten sein Vermächtnis sind. Es geht nicht
darum, was er unserer Meinung nach wollte, sondern darum, was wir
aus dem, was er uns hinterlassen hat, machen.
Ich hoffe, Sie verstehen jetzt meine Besorgnis wegen Ihrer Gewalt.
Ich befürworte Ihre Aktion gegen Kanagawa, aber ich bin nicht allzu
glücklich über die Nebenwirkungen. Wir könnten den ganzen Tag
über Theorien um den gerechten Krieg und über Thomas von Aquin
diskutieren, aber lassen Sie mich nur sagen, dass ich daran interessiert
bin, in Zukunft Kollateralschäden zu minimieren. Das ist etwas, auf
dem Dunkelzahn immer bestand, und ein Ziel, das ich auch verfol-
gen werde.“
Rory beugte sich vor, die Ellbogen auf den Knien, die Hände ver-
schränkt, und hörte zu – aufmerksam und konzentriert. „Wenn wir
mal einen Moment die Tatsache beiseitelassen, dass ich die Sorte Leu-
te, die in Kanagawas persönlicher Sicherheitstruppe arbeiteten, bestens
kenne, stellt sich mir die Frage: Warum ich? Was ist mit Ihrem Kumpel
Mercury? Oder mit dem Rest der Armee von Agenten, die Sie jederzeit
aus Ihren maßgeschneiderten Ärmeln ziehen können?“
„Ryan muss einem anderen Weg folgen, und dieser Weg hängt eng
mit einem anderen Aspekt von Dunkelzahns Vermächtnis zusammen.
Die Beobachter, die für einen neuen Weg empfänglich sind, sind im-
mer noch mit diesem Netzwerk verbunden. Selbst die Klone von mir
haben nur einen begrenzten Nutzen. Sie sind Söldner, und sie hegen
nicht unbedingt große Sympathien für mich – aus offensichtlichen
Gründen.“
„Das sehe ich ein. Also, wie lautet Ihr Angebot?“
„Arbeiten Sie für mich und wir können die Welt verändern. In den
letzten zwanzig Jahren haben sich der Welt eine ganze Reihe neuer
Möglichkeiten eröffnet, aber Verbesserungen der Effizienz und des
Komforts sind nun einmal nicht das Gleiche wie Freiheit oder Mensch-
lichkeit. Es wird Zeit, dass sich etwas ändert. Was noch schlimmer ist
und was auf Sie mit Ihrer langen Geschichte Ihrer Sympathien für den
Underdog hoffentlich einen gewissen Eindruck macht, ist die Tatsa-
che, dass alles irgendwann wiederkommt.
Horizon ist ein gutes Beispiel. Der Konzern leistet gute Arbeit,
aber genau wie die Draco Foundation ist er eine riesige Institution,
in der es Leute gibt, die gewaltsam und brutal vorgehen und Dinge
tun, die ich gar nicht gern sehe. Darüber hinaus sind die Menschen so
misstrauisch gegenüber dem Konzept der sozialen Verantwortung von
Konzernen geworden, dass viele nur darauf warten, dass das ‘wahre
Gesicht’ hinter der Fassade zum Vorschein kommt. Die Tatsache, dass
Horizon ein Medienproduzent ist, ist eine zusätzliche Last, denn eine
Organisation, deren Daseinszweck es ist, zum eigenen Vorteil und zum
Vorteil ihrer Kunden die Realität zu formen und zu manipulieren, ist
grundsätzlich verdächtig, zumindest für diejenigen, die wissen, wie die
Welt funktioniert.
Es ist an der Zeit, eine neue Seite aufzuschlagen, Mr. Caolain. Sie
können dabei sein und dazu beitragen, dass es geschieht, oder sie kön-
nen am Spielfeldrand sitzen und den anderen bei der Arbeit zusehen.“
Ihr Lächeln war umwerfend, brillant, strahlend. Sie streckte die
Hand aus, nicht nur für den symbolischen Handschlag, sondern auch
damit er sich zu ihr hinüberlehnen musste, seine Position sowohl kör-
perlich als auch geistig verändern musste.
„Nach allem, was ich in Ihrer Akte gelesen habe, Rory, weiß ich,
dass Sie lieber eine aktivere Rolle übernehmen wollen.“
Sie wusste, dass sie ihn hatte. Sein psychologisches Profil und sein
Lebenslauf hatten ihn in ihre Hände gebracht, bevor sie überhaupt zu
reden angefangen hatte. Er gehörte jetzt ihr, zum Teil, weil er nichts
Besseres zu tun hatte und niemand Besseren, für den er es tun konnte,
aber auch, weil ihr Angebot für einen Mann der Tat attraktiv war. Er
würde tun, was sie von ihm verlangte, bis zu dem Moment, in dem
er – ganz einfach, ganz plötzlich – es nicht mehr tun würde. Ihr Job
bestand also darin, das Meiste aus ihm herauszuholen, solange ihr seine
Aufmerksamkeit gehörte. Sie schüttelten die Hände, und in der Ge-
schichte des Killers wurde eine neue Seite aufgeschlagen.
*
Nachdem Rory gegangen war, blieb Nadja in der Suite. Sie ging ins
Schlafzimmer und schloss die Doppeltür hinter sich. Sie setzte sich an
das Fußende des Bettes, strich ihr Kostüm glatt und schloss die Augen.
Sie begann sich zu zentrieren, all ihre magischen Energien darauf zu fo-
kussieren, ein geistiges „Spielbrett“ zu erschaffen. Sie konzentrierte sich
auf ihre Atmung, atmete langsam in einem bestimmten Rhythmus ein
und aus, und vor ihrem geistigen Auge erschienen Unmengen an men-
talen Knoten, Erinnerungs- und Gedankenknoten, die von ihren ma-
gischen Fähigkeiten mit einer Informationsfülle angereichert wurden,
die selbst den brillantesten weltlichen Bewusstseinen unbekannt war.
Die Knoten arrangierten sich zu einem nahezu endlosen Netzwerk,
veränderten dabei ihre Farbe und Größe, um die Art und Wichtigkeit
der Personen widerzuspiegeln, die sie repräsentierten.
Nadja stand im Zentrum dieser dreidimensionalen Einflusssphäre,
war das Hirn und Herz des Netzwerks, und sie wählte eine blaue Kugel
aus, die mit einem halben Dutzend verschiedener vernetzter und sich
überlappender Knoten verbunden war. Die Kugel stand für Rory; sie
zog sie näher an sich heran, schuf eine direkte Verbindung zwischen
sich und dem Spion, vorbei an den Nadjas, den Beobachtern, den
Verbündeten bei JackPoint, ihren Verbindungen bei Argus und den
diversen indirekten Verbindungen, die sie umgaben.
Er würde ein wertvoller Aktivposten werden, wenn er das notwen-
dige Maß an Diskretion wahren konnte. Wenn sie ihn an einer Leine
von genau der richtigen Länge hielt, so wusste sie, konnte sie praktisch
unbegrenzt auf seine Dienste zählen. Der Trick, das wusste sie aus Co-
rinnas Akten, bestand darin, ihm genau die richtige Menge an Freiheit
zu gewähren. Sie merkte sich den Hinweis als Corinnas persönliche
Einschätzung. Ihre Klone hatten nicht immer die richtige Perspektive,
aber das war auch nicht anders zu erwarten, schließlich waren sie letzt-
lich ganz normale Menschen, denen ein schadhaftes psychologisches
Profil aufgeprägt worden war. Sie kannte die Gerüchte, dass die in Se-
attle, Natalia, nebenher als Sklavenhändlerin arbeitete, und die in Ma-
drid, Irina, angeblich Verbindungen zu Aztechnology hatte. Doch das
spielte im Moment keine Rolle. Sie traute ihnen gerade gut genug.
In ihrem Geist schob Nadja alles in ihrem riesigen Gewebe aus Plä-
nen, Figuren, Ausrüstung, Programmen und dergleichen von sich weg,
alles bis auf eine Handvoll Kugeln, zu denen auch Rorys gehörte. Sie
pflückte eine davon aus der Tintenschwärze und platzierte sie direkt
vor sich. Sie war weiß, so weiß, dass sie einen bläulichen Glanz hatte,
und ihre Oberfläche war geschuppt. Eine zweite Kugel erschien hin-
ter der weißen, etwas weiter rechts. Sie war unten blau und oben rot.
Diese Kugel hatte eine federartige Textur. Eine dritte Kugel erschien
vor der weißen und etwas nach rechts versetzt. Eine Kugel aus reinem
Platin. Noch eine Kugel tauchte zwischen ihr und der gefiederten Ku-
gel auf, ein wirbelndes Chaos aus Rot, Blau, Grün, Weiß und Gelb.
Eine gelbliche Kugel erschien dahinter und unterhalb der weißen, sie
leuchtete hell. Noch mehr Kugeln tauchten vor ihr auf: grüne, blaue
und silberne, purpurrot schillernde, kupferfarbene, graue, rote und
eine aus wirbelnden Schatten von Weiß, Blau, Grün und noch ande-
ren Tönungen.
Als sie fertig war, hatte Nadja Daviar aus ihrer großen logistischen
Wolke ein dreidimensionales Schachbrett aus Runnern, Schiebern,
CEOs, Politikern, Anwälten und anderen Figuren herausdestilliert.
Doch es war kein Schach; es war überhaupt kein Spiel.
Direkt über ihrem geistigen Avatar schwebte eine große königsblaue
Kugel. Sie sah sie an und konzentrierte sich. Sie streckte die Hand aus
und ergriff die Kugel, hielt sie in ihren Händen, und eine Woge von
Emotionen drohte sie zu überwältigen. Nadja fokussierte ihre ganze
Willenskraft und zentrierte sich. Sie hielt die Kugel fest in den Hän-
den, und ihre Intensität und Farbe verblassten, Teilchen begannen von
ihr weg zu schweben. Sie kämpfte gegen die sich auflösende Kugel
mit brennender Intensität, bis nichts mehr davon übrig war. Als sie
verschwunden war, machte sie eine Bestandsaufnahme ihres mentalen
Spielbrettes und zentrierte sich auf die Kugeln, die sie umgaben.
Nadja lächelte, als sie die Augen öffnete. Die Elfe beobachtete, wie
die stummen Trideobilder die Ereignisse des Tages rekapitulierten, und
ihr Lächeln wurde breiter, als sie daran dachte, dass ihre Pläne bald
Früchte tragen würden.
„So wird es sein.“
GESCHICHTEN
VON MORGEN
VON BRANDIE TARVIN
16. September 2072
Ray Simon verließ sein Privatflugzeug und trat auf den Asphalt des
Denver International Airport. Der Wind aus den Bergen packte seine
ergrauten Zöpfe und warf sie hin und her. Er hielt einen Moment inne,
um die Gerüche der Stadt in sich aufzunehmen, und runzelte über die
Verdorbenheit, die er spürte, die Stirn. Bevor er etwas dazu sagen konn-
te, kam sein jüngster Sohn Oak die Rampe heruntergestolpert, völlig in
das AR-Spiel versunken, das er schon die gesamte Reise über spielte.
„Clouds-in-Eyes“, sagte Ray.
„Ja, Sir?“ Der Trollsekretär wankte die Rampe hinab, wobei er mit
den Außenseiten seiner Füße auftrat. Seine faltigen Hände zitterten,
seine Hörner waren schuppig, beides Anzeichen seines hohen Alters.
Ray seufzte und fragte sich, wann der Mann wohl in den Ruhe-
stand gehen würde. Clouds-in-Eyes war eines der ersten Goblinisie-
rungsopfer und würde nicht mehr lange in dieser Welt sein. „Nehmen
Sie Oak bitte bei der Hand?“
Clouds-in-Eyes nickte und legte eine Hand auf die Schulter des
Jungen.
Ray drehte sich um und ging auf einen kleinen Hangar zu. Im Han-
gartor, im Schatten des Daches, standen drei Wahrheitstänzer. Dem Stil
ihrer Schamanentracht nach – braune Lederhosen, weite Lederhemden,
perlenbestickte Stiefel und Knochenverzierungen – waren sie Blackfoot.
Zierfedern steckten in ihrem Haar, oder waren vielleicht ihr Haar, Ray
konnte es nicht erkennen. Grelle Farbstreifen zierten ihre Gesichter und
machten es Ray unmöglich, ihr Geschlecht zu erkennen.
Die Wahrheitstänzer senkten die Köpfe, ein Zeichen des Respekts
vor Rays Position im Souveränen Stammesrat. Ray seinerseits legte die
Handflächen aufeinander und verbeugte sich halb als Zeichen seines
Respektes vor ihrem Amt. Wahrheitstänzer konnten gefährliche Feinde
sein. Mit ihrer mächtigen Magie konnten sie dem Geist eines Men-
schen die Wahrheit entreißen, was ihnen in den NAN eine immense
Macht verschaffte. Das Wort eines Wahrheitstänzers konnte über das
Schicksal eines Menschen entscheiden, und wenn er darüber log, was er
fand, dann würde es nur ein anderer Wahrheitstänzer jemals erfahren.
Also erwies Ray ihnen allen Respekt, der ihnen von einem Fremden
zustand, auch wenn diese Wahrheitstänzer und er von gleichem Blut
waren – von gleichem Stamm und gleicher Kultur.
„Du hast um unsere Hilfe gebeten“, sagte der mittlere Schamane
mit einer Tenorstimme.
Ray blickte über seine Schulter zurück. Clouds-in-Eyes hatte Oak
in die Ecke des Hangars geführt, wo der Junge in Ruhe sein lächerli-
ches Rollenspiel weiterspielen konnte. Beruhigt wandte er seine Auf-
merksamkeit wieder den Wahrheitstänzern zu. „Das habe ich. Roger
Soaring Owl ist in Denver. Findet ihn. Befragt ihn. Entlarvt ihn als
das, was er ist.“
Der linke Schamane legte seinen – ihren? – Kopf schräg. „Du
verdächtigst ihn schon lange, dass er Sioux-Geheimnisse an Ares ver-
kauft.“
Bevor Ray antworten konnte, unterbrach ihn der rechte Schamane
mit einer tiefen Stimme, die wie zerriebenes Glas klang. „Nein. Dass er
Geheimnisse an die UCAS-Regierung verkauft. Eine viel schlimmere
Anschuldigung.“
Ray nickte. „Ja. Und ich möchte, dass er als Verräter entlarvt wird.“
„Und wenn er kein Verräter ist?“, fragte der mittlere Schamane.
„Oh, das ist er“, versicherte Ray ihr. Ihm.
Ray ballte seine Faust. Er wünschte, sie würden sich ihm vorstellen.
Sitte, Tradition und politischer Takt verlangten von ihm, dass er es
akzeptierte, wenn sie anonym bleiben wollten. Die Wahrheitstänzer
waren das Rückgrat der Geheimdienstmaschinerie der NAN, sie waren
ein Gesetz für sich. Sie hatten ihre Gründe, ihre Namen und Gesichter
geheim zu halten. Sie waren schwerer zu unterwandern, wenn man
nicht wusste, wen man erpressen oder bestechen musste.
Die Schamanen reagierten nicht auf Rays Frustration. Doch sie nick-
ten sich zu, als würden sie telepathisch miteinander kommunizieren.
Der rechte Schamane blickte wieder Ray an. „Wir werden Soaring
Owl finden. Du wirst in Denver bleiben, bis unser Auftrag erledigt ist.
Wir werden dir dann berichten.“
Erleichtert entspannte Ray seine Schultern. „Danke.“
„Dank uns noch nicht“, antwortete der linke Schamane. „Es gibt
viel zu tun. Und wenn sich herausstellt, dass die Anschuldigungen, die
du gegen Soaring Owl erhebst, unberechtigt sind, wirst du dich öffent-
lich entschuldigen und deine Vendetta aufgeben müssen.“
Ray hob das Kinn und nickte knapp. „Ich verstehe. Keine Sorge.
Roger selbst wird euch alle Beweise liefern, die ihr braucht.“
„Wir werden sehen“, sagten die Wahrheitstänzer im Chor.
Als sie gingen, kam Clouds-in-Eyes zu ihm herüber, wobei er Oak
vor sich her schob. „Wie lief es, Sir?“
„Ausgezeichnet. Die Tänzer werden Roger jedes Geheimnis, das er
jemals hatte, aus dem Geist reißen und ihn als nutzlose Hülle zurück-
lassen. Da fällt mir ein, Clouds-in-Eyes, haben Sie bereits den Hacker
angeheuert?“
„Ja, Sir. Tatsächlich hat heute Morgen ein Freund von mir gehört, wie
Jan Drysik ein Gerücht über eine anstehende Privatauktion erwähnte.
Anscheinend hat Roger Soaring Owl die feste Absicht, die Geheimnisse
seines früheren Arbeitgebers an den Meistbietenden zu verkaufen.“
Ray schnaufte. „Ausgezeichnet. Stellen Sie die Einzelheiten der
Auktion und alle unbestreitbaren Hinweise zusammen, dass Roger
dahintersteckt.“
Clouds-in-Eyes nickte. Oaks Arme flogen in die Luft, Hände fum-
melten an unsichtbaren Ausrüstungsgegenständen und Hebeln herum.
Ray seufzte und schüttelte den Kopf über seinen Jüngsten. „Ich weiß,
dass der Junge mehr magisches Talent in sich hat als ein MIT&T-Ab-
solvent, auch wenn die Schamanen anderer Meinung sind. Und er hat
nichts Besseres zu tun, als seinen Geist mit diesem AR-Mist zu vergiften.
Erinnern Sich mich daran, seinen Matrixzugang zu sperren, wenn wir
wieder zu Hause sind. Wenn er sich nicht mehr einloggen kann, wird er
vielleicht endlich Fortschritte bei seinen Magielektionen machen.“
„Ja, Sir.“
*
Der O’Hare Aerospaceport rumorte wie ein riesiges, unbeholfenes Ungeheuer. In den Gängen,
durch die Einzelpersonen und kleine Grüppchen eilten, summte es vor Aktivitäten und Unter-
haltungen. Manche trugen Gepäck, andere schoben beladene Karren vor sich her. Noch mehr
nahmen in einem der zahlreichen Restaurants des Flughafens ein schnelles Mittagessen zu sich.
Damien saß im Dom Pierre, einem der luxuriöseren Fresstempel, und beobachtete das Chaos
um sich herum, versuchte zu berechnen, was es wohl benötigen würde, wenn er die Leute dazu
bringen wollte, mit bestimmten Geschwindigkeiten in bestimmte Richtungen zu gehen.
Er trommelte mit den Fingern auf seinem Oberschenkel herum, eine nervöse Angewohnheit,
die noch aus der Zeit seiner Grundausbildung vor über siebzig Jahren stammte. Er ertappte sich
dabei und presste Handflächen und Finger flach auf den Schenkel. Sein Besuch bei O’Hare
Unlimitech war sowohl frustrierend als auch aufregend gewesen. So viele Möglichkeiten,
so viele Probleme.
Roger würde wissen, wie man die Probleme lösen konnte. Er war ein Organisati-
onsgenie.
„Mr. Knight?“, fragte Damiens Begleiter, ein Sioux mittleren Alters mit dem Na-
men Captain Tyler Climbing-Bear. „Ist alles in Ordnung?“
„Alles bestens, mein Sohn.“ Damien lenkte seine Hand ab, indem er nach dem
Glas Pinot griff und einen Schluck nahm. „Sagen Sie mir, Tyler, warum sind Sie bei
Knight Errant geblieben, als so viele Ihrer Kollegen gekündigt haben?“
Tyler lehnte sich gegen die Wand und beäugte die Gäste des Restaurants. „Nun,
aus mehreren Gründen, Mr. Knight. Beruf-
liche Sicherheit, ein regelmäßiger Gehalts-
scheck, das Wissen, dass ich von Freunden
umgeben bin, die mir in schwierigen Situa-
tionen den Rücken decken.“
„Und was sagen Sie über die Dinge, die Sie
heute bei Unlimitech gesehen haben?“
Tyler kaute einen Moment auf seiner Unterlippe,
dann zuckte er die Schultern. „Ich kann mich nicht ge-
nau daran erinnern, überhaupt etwas gesehen zu haben,
Mr. Knight. Tatsächlich glaube ich nicht, dass es zu meinem
Job gehört, Dinge zu bemerken, Sir.“
Damien stieß ein raues Lachen aus. „Sie sind im Sicherheitsge-
schäft tätig, mein Sohn. Wenn ich richtig informiert bin, sind Sie Captain eines Firewatch-
Teams. Dinge zu bemerken, ist der zentrale Punkt ihrer Jobbeschreibung.“
„Ja, Sir. Aber nicht, meine Nase in Konzernpolitik und Konzernprojekte zu stecken.
Ich bin nicht so weit unten im Totempfahl, dass meine Meinung von irgendwelcher
Bedeutung wäre.“
Damien runzelte bei diesem Vergleich die Stirn und nahm einen weiteren Schluck.
Er beschloss, seinen Begleiter zu korrigieren. „Die unterste Position im Totempfahl ent-
spricht der eines Tagelöhners oder Sklaven.“
„Entschuldigen Sie, aber dieser Vergleich des weißen Mannes ist falsch. Bei Stäm-
men, die Totempfähle benutzen, ist der unterste Mann im Totempfahl der Mächtigste
und der, der am meisten verehrt wird. Das höchste Gesicht ist es, das den geringsten
Einfluss hat.“
„Tatsächlich?“ Damien schwenkte sein Glas und beobachtete, wie sich die Bläs-
chen an der Oberfläche gegenseitig jagten. Jetzt mal sehen, wie weit Loyalität getrie-
ben werden konnte. „Offenbar habe ich noch einiges zu lernen. Sagen Sie, Tyler,
wenn ich Ihnen und Ihrem Trupp einen speziellen Einsatz anbieten würde, würden
Sie ihn annehmen?“
„Sie sind der Boss, Mr. Knight. Wir tun, was Sie uns sagen.“
„Und wenn ich Ihnen Zugang zu der Biotech, der Panzerung und den Waffen
anbieten würde, die von Unlimitech entwickelt wurden? Natürlich nur, um Sie vor
den Gefahren zu schützen, die Ihnen auf dieser Mission begegnen könnten.“
Nachdem er den Köder ausgeworfen hatte, blickte Damien den Mann nicht
einmal mehr an. Er saß einfach da und trank und stellte sich das Zögern in Tylers
Augen vor. Veränderte sich der Gesichtsausdruck des Captains? Damien konnte fast
schmecken, wie Tylers instinktive Besitzgier mit seiner Furcht kämpfte. Der Captain
war dabei gewesen, als die Mauern um Chicago hochgezogen wurden, doch er
war nicht in Chicago selbst gewesen. Er hatte nicht die gleichen Phobi-
en wie Roger, nicht die gleiche sture Dickköpfigkeit. Tylers Antwort
würde sich auf Damiens Pläne, wie er die neue Technologie der Welt
vorstellte, auswirken. Bei einer ablehnenden Reaktion würden die Ur-
sprünge der Technologie nicht preisgegeben werden.
Natürlich würde sich Damien Captain Tyler Climbing-Bears entle-
digen müssen, wenn er diese Gelegenheit ausschlug. Es wäre nicht gut,
offene Enden zurückzulassen, die ihren Weg zu Roger finden konnten.
„Wie ich schon sagte“, antwortete Tyler ohne das geringste Zittern
in der Stimme. „Sie sind der Boss.“
Grinsend leerte Damien sein Glas. „Gut, Captain. Beordern Sie
Ihren Trupp zu O’Hare. Wir müssen einige Vorbereitungen treffen.“
*
21. September 2072
Schreie durchdrangen den Funkäther. Gute Männer und Frauen
starben in den Klauen einer brodelnden Masse riesiger Insekten. Die
Bugs waren überall, zermalmten, töteten, rissen in Stücke.
Die Decke seines Apartments flog nach oben weg, abgerissen von
den Kiefern einer hundert Meter großen Schabe. Das Geräusch, das
er dabei hörte, war das metallische Reißen eines Wagendaches. Die
Schabe blickte zu ihm hinunter, warf das Dach weg.
Roger Soaring Owl drehte sich um, suchte nach einem Fluchtweg.
Bugs blockierten jeden Eingang, jeden Ausgang. Das Glas des Fens-
ters kräuselte sich und wurde zu Millionen winziger Spinnen, die zu
gigantischen Proportionen anwuchsen, als sie auf den Boden fielen.
Er begann zu laufen, doch obwohl sich seine Beine bewegten, kam er
nicht voran.
Dann kippte die Erde zur Seite. Der Himmel bewegte sich, und
Roger konnte sich frei bewegen, obwohl er flog.
Er drückte sich in die Polster des Flugzeugsitzes, und der feuchte
Geruch von Schweiß und Angst stieg ihm in die Nase. Keiner der an-
deren Passagiere schien ihn zu beachten, aber Roger wusste es besser.
Er erinnerte sich an die überraschten Blicke, als er an Bord gegangen
war, die verstohlenen subvokalen Unterhaltungen, als er seinen Platz
eingenommen hatte, das Scharren der Füße und das allzu offensicht-
liche plötzliche Interesse an AR-Meldungen. Die meisten hatten sein
Gesicht erkannt.
Seine gepanzerte Lederjacke lag auf dem Sitz neben ihm, helle Fle-
cken dort, wo vorher die Knight-Errant-Abzeichen und sein Namens-
schild gewesen waren, ein Relikt aus einem Leben, das ihm einst teuer
war – das ihm immer noch teuer war – und das er nicht aufgeben
konnte. Auf seiner Ablage stand ein Glas bernsteinfarbener Whisky
mit halb geschmolzenen Eiswürfeln. Daneben lag eine Packung Erd-
nusskekse, ungeöffnet.
Roger schluckte, versuchte sich zu erinnern, wie er hierher gekom-
men war, fragte sich, wohin die Schabe verschwunden war. Er griff
nach der Kekspackung, fühlte das Plastik unter seiner Berührung. War
er im Flugzeug eingeschlafen?
Eine Erinnerung stieg in ihm auf. Wie er einen Urlaubsantrag bei
Ares HR einreichte und dann einen Suborbitalflieger auf dem O’Hare-
Rollfeld anhielt. Ohne Ticket, Gepäck und Erklärung das Flugzeug
bestieg und dem Piloten befahl, zu starten. Das war geschehen. Das
war real.
Eine analoge Uhr tickte, das Geräusch riss ihn aus der Erinnerung.
Roger starrte auf die Ablage vor ihm. Die Seite des Glases war be-
schlagen, die Feuchtigkeit sammelte sich zu einer langsamen Träne,
die schließlich das Glas hinablief und in die kleine Pfütze darunter
fiel. Die Pfütze nahm die Träne in sich auf, vernichtete sie durch Ab-
sorption.
„Dich hatte ich immer am liebsten, Roger“, sagte eine vertraute
Stimme in wehmütigem Ton. „Und dann hast du mich verraten.“
Roger blickte auf und sah Damien Knight, CEO von Ares Corpo-
ration und Rogers ehemals bester Freund, auf dem Sitz neben sich. Das
war nicht richtig. Damien war nicht auf dem Flug von Chicago dabei
gewesen. „Ich habe dich nicht verraten.“
„Du bist gegangen, hast mich mit Ares und Knight Errant allein
gelassen. Ist das etwa kein Verrat?“
„Ich habe Urlaub genommen, Damien, um einen klaren Kopf zu
bekommen. Du hast mich gefeuert, während ich weg war. Ich habe
es aus dem Trideo erfahren. Du hast mich gefeuert und durch diesen
Bastard Clayton Wilson ersetzt.“
Damien lachte in sich hinein. „Dieser Bastard wird tun, was ich
ihm sage, wenn ich es ihm sage. Nicht so wie du. Er wird Knight Er-
rant zu neuen Höhen führen, die du dir niemals vorstellen, geschweige
denn erreichen könntest.“
„Traue ihm nicht, Damien. Er wird den Einfluss, den du ihm gibst,
dazu verwenden, seinen Konzern zurückzubekommen.“
„Und dann wird Ares Lone Star und Knight Errant besitzen.“
Roger schnaubte. „Ich versuche, dich zu warnen...“
„Und ich warne dich, Roger Soaring Owl.“ Damiens Stimme wur-
de schärfer. „Zuerst lässt du mich im Stich, wenn ich dich am meis-
ten brauche, und dann bietest du meine Geheimnisse auf dem freien
Markt an. Ich bin kein Mann, der Verrat hinnimmt. Du hast zwei
Möglichkeiten. Du kannst freiwillig zu Ares zurückkehren oder du
wirst wie der räudige Hund gejagt, der du bist.“
Roger streckte die Hand nach Damien aus, doch er berührte nur lee-
re Luft. Sein Bewusstsein registrierte das geräuschlose Schnappen sich
auflösender Magie, als er in seinem Bett hochschreckte. Seine klammen
Beine hatten sich in den Laken verfangen, und kalter Schweiß lief sei-
nen Rücken hinab. Denvers allgegenwärtige Lichtverschmutzung glüh-
te hinter den Vorhängen und warf skurrile Schatten an die Wände.
Er keuchte in geräuschloser Panik und versuchte, in seinem Geist zu
klären, was gerade geschehen war. Er war schon oft genug die Zielper-
son von Magiern gewesen und erkannte einen Traumzauber, wenn er
einem ausgesetzt war. Ares’ Magier mussten die Ritualprobe verwendet
haben, die Roger als Teil seiner Einstellungsbedingungen abgegeben
hatte, und in seinen immer wiederkehrenden Albtraum eingedrungen
sein, um Damiens Nachricht zu übermitteln.
Unbeabsichtigt entfuhr ihm ein Lachen, er war sich nicht sicher, ob
er für die Unterbrechung dankbar sein sollte oder nicht. Seine Hände
zitterten, als er die Bettdecke aus seinem starren Griff entließ.
Als sich sein Herzschlag beruhigt hatte, stand Roger auf und ging
duschen. Nach dieser Drohung hatte es keinen Zweck mehr, dass er
noch versuchte zu schlafen. Damien oder seine Repräsentanten wür-
den nach Denver kommen, in der ausdrücklichen Absicht, Roger zu-
rück nach Detroit zu extrahieren. Während Roger die Schrecken der
Nacht von sich abspülte, überdachte er seine Möglichkeiten. Das Team
würde Anweisungen für Plan B haben. Wenn sie ihn nicht extrahieren
konnten, würden sie ihn töten.
Mit einer Grimasse drehte Roger das Wasser ab und trat aus der
Dusche. Er war erst seit einer Woche in Denver. Nicht lange genug,
um Kontakte und andere vertrauenswürdige Ressourcen aufzubauen.
Er war nicht scharf darauf, Shadowrunner einzusetzen, aber ihm blie-
ben nicht allzu viele Optionen. Er konnte sich an das Sioux-Militär
wenden oder an OMI, aber wenn er sich Sinopa gegenüber diese Blöße
gab, würde sie ihn schälen wie eine reife Pampelmuse.
Er griff nach einem Einweg-Kommlink und wählte eine Privat-
nummer, die er letztes Jahr von einem zugedröhnten Shadowrunner
bekommen hatte. Er wartete darauf, dass es am anderen Ende klin-
gelte, und hoffte, dass die Nummer wirklich das war, was der Runner
behauptet hatte: eine Direktverbindung zum Denver Nexus.
Sein Agent verfolgte das Signal und speicherte jeden Knoten, durch
den es auf seiner Reise kam. Der Liste zufolge, die auf dem ARO her-
unterscrollte, ging der Anruf zweimal um die Welt und einmal hinauf
zum Z-O, bevor er zurück in Rogers eigenes Apartment kam.
 Roger zögerte, dann erkannte er, dass die Verbindung hergestellt
war und nicht wirklich zu seinem Kommlink zurückverbunden war.
„Ich benötige SilveryK für einen Nachforschungsjob. Er muss zu-
verlässig, subtil und diskret erledigt werden. Bezahlung: zehntausend,
Hälfte im Voraus. Wenn die Infos gut sind, besteht die Möglichkeit
zukünftiger Aufträge. Rufen Sie mich zurück.“ Er fügte seine Kontakt-
informationen zum Kopf der Nachricht hinzu und schickte sie ab.
Wenn der Nexus so gut war, wie man behauptete, konnte er inner-
halb der nächsten Stunde mit dem Rückruf rechnen.
Fünfzehn Minuten später pingte das Kommlink. SilveryK war on-
line und bereit zu reden. Roger goss sich einen Whisky ein, setzte sich
in seinen Lehnstuhl und ging in einen privaten Chatraum.
SilveryKs Icon, ein silberner Regen aus Glitzerteilchen, wogte vor
ihm. „Sie haben angerufen?“
„Vielen Dank für den Rückruf. Ich brauche jemanden, der in der
Lage ist, Ares’ Kommunikationsgitter anzuzapfen.“
Der Glitzerregen hielt inne. „Sind Sie immer so unambitioniert?“
Die Glitzerteilchen schimmerten in leuchtendem Rot, offensichtlich
ein Ausdruck von Sarkasmus.
„Der Nexus hat den Ruf, Informationen beschaffen zu können, die
normalerweise unmöglich zu bekommen sind. Wollen Sie mir sagen,
dass dieser Ruf unberechtigt ist?“
Das Glitzern bebte. „Nein, das will ich nicht. Na gut, Süßer. Nach
welcher Art von Kommunikation suchen Sie?“
„Alles, was mich erwähnt.“
Etwas in dem Glitzerregen veränderte sich, ein Teil der fallenden
Kaskade strömte nach oben. „Aktuell? Alt? Nennen Sie mir ein Zeit-
fenster.“
„Alles ab der letzten Woche bis zu den nächsten paar Tagen.“
SilveryKs Glitzerregen tanzte, und das Feilschen begann. Als sie sich
auf einen für beide Seiten akzeptablen Preis geeinigt hatten, transferier-
te Roger die Hälfte des Honorars auf ihr Konto. Er loggte sich aus und
nahm einen Schluck Whisky. Die kühle, samtige Süße rann seine Kehle
hinunter und beseitigte den bitteren Geschmack in seinem Mund.
In dem Moment pingte sein reales und wesentlich besser gesicher-
tes Kommlink. Roger checkte die ID und stöhnte. Gern hätte er den
Anruf ignoriert, aber er wagte es nicht. Als Direktorin des Office of
Military Intelligence hatte die Frau sein Apartment wahrscheinlich
verwanzt und ließ es überwachen. Wie er sie kannte, hatte sie wahr-
scheinlich das PAN seines Apartments überwacht und sofort Bescheid
bekommen, als er aufgestanden war. Wahrscheinlich wusste sie auch,
dass er geduscht und sich einen Drink gemacht hatte.
Roger öffnete die Verbindung. Eine dunkle Lakota-Schönheit mit
glänzenden Augen starrte ihn an. „Sinopa.“
„Soaring Owl“, antwortete sie. Ihre Stimme triefte vor Honig. „Sie
waren ein böser Junge.“
Roger fühlte sich ertappt, aber er schaffte es, ein unbewegtes Gesicht
und eine ruhige Stimme zu bewahren. Sie konnte nichts von seinem
Kontakt zum Nexus wissen, noch nicht. Er hatte den Entschluss, dort
anzurufen, erst unmittelbar vorher gefasst. „Sie müssen mir vergeben.
Ich bin gerade erst aufgestanden, und mein Kopf ist noch ein bisschen
benebelt. Könnten Sie etwas konkreter werden?“
„Spielen Sie nicht den Dummen, Soaring Owl. Das steht Ihnen nicht.
Seit fast einem Jahr, seit das Militär Sie als Berater angestellt hat, weigern
Sie sich, Ihre Informationen über Knight Errant mit uns zu teilen. Das
verstehe ich. Sie haben eine lange Zeit für KE gearbeitet und fühlen sich
verpflichtet, die Leute zu schützen, die unter Ihnen gearbeitet haben. Da-
für respektiere ich Sie. Habe Sie respektiert. Bis heute Abend.“
Roger kratzte sich am Kopf. „Und was hat sich heute Abend ge-
ändert?“ Trotz der undurchdringlichen Routing-Vorkehrungen des
Nexus erwartete er halb, dass sie etwas zu seiner Unterhaltung mit
SilveryK sagte.
„Heute Abend bekam OMI durch zuverlässige Kanäle Wind da-
von, dass Sie diese Informationen der internationalen Geheimdienst-
szene auf einer Privatauktion anbieten.“
Rogers Mund war trocken. Er schluckte seinen Schock herunter.
Sinopa tat, als hätte sie es nicht bemerkt. „Sagen Sie mir, was zur
Hölle da vor sich geht! Oder muss ich Sie zu einer Sitzung mit meinen
besten Verhörspezialisten einladen?“
„Ich habe einen Vertrag unterschrieben, Sinopa. Einen Eid abge-
legt. Informationen über Knight Errant sind tabu. Es handelt sich um
konzerninterne Informationen, über die ich nicht reden darf. Ich ver-
kaufe nichts davon.“
„Wirklich? Dann schicke ich Ihnen mal die Unterhaltungen, die
wir aufgeschnappt haben. Morgen früh um elf können Sie es mir, Ge-
neral Running Deer und dem SSR-Vertreter erklären.“
Roger setzte sich auf. „SSR-Vertreter? Warum einer von ihnen und
nicht jemand aus dem Rat der Häuptlinge?“
„Oh, haben Sie es nicht gehört?“ Der Honig war wieder in ihrer
Stimme. „Der Mann, der Denver besucht, ist der Sioux-Repräsentant
im Souveränen Stammesrat. Er ist hier, um eine Intervention in ihrer
Sache in die Wege zu leiten. Ich glaube, es ist ein alter Jugendfreund
von ihnen. Sagt Ihnen der Name Ray Simon etwas?“
Kälte drang in Rogers Magen ein, hielt sein Herz an, fror seine See-
le ein. Er spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. „Scheiße.“
Ein ARO öffnete sich am Rand seines Gesichtsfeldes. Verschlüsselter
Download beendet. Datei öffnen J/N?
„Im Eagle’s Nest, morgen früh um elf. Versuchen Sie, pünktlich
zu sein, Soaring Owl. Eine Verspätung würde keinen guten Eindruck
erwecken.“
Die Verbindung brach ab. Roger blieb in seinem Lehnstuhl sitzen,
nippte an seinem Whisky und ignorierte die blinkende Mitteilung. Als
das Glas leer war, hatte er sich einigermaßen gefasst. Er entschlüsselte
und las Sinopas Datei, während er sich anzog, und seine Wut nahm
immer mehr zu, je weiter er las.
„Verdammt. Kein Wunder, dass Damien stinksauer ist.“
Roger dachte darüber nach, SilveryK noch einmal anzurufen, ver-
warf den Gedanken dann aber. Sich auf Hilfe aus den Schatten zu
verlassen, war so, als würde er einen völlig Fremden darum bitten, sich
an ihn anzuschleichen und ihm die Kehle durchzuschneiden. Der Job,
um den er SilveryK gebeten hatte, war rein passive Informationsbe-
schaffung. Das hier war anders. Wenn irgendwelche Runner Wind
davon bekämen, dass er Informationen über KE verkaufte, würde er
sofort zu einer Zielperson werden. Seine früheren KE-Kollegen waren
da schon vertrauenswürdiger, aber wenn er sie um Hilfe bat, würde er
ihren Kopf auf Damien Knights Richtblock legen.
Und das würde er ihnen nicht antun.
Also blieb nur eine Person übrig. Ray Simon.
Es war zwei Uhr morgens. Der Adrenalinschub, mit dem er aufge-
wacht war, war noch nicht verflogen und versorgte ihn noch mit genug
Energie, um das zu tun, was er immer tat, wenn er einen klaren Kopf
bekommen musste: eine Schießanlage finden und ein paar Zielübun-
gen absolvieren.
Also steckte Roger seine modifizierte Ares Predator in sein Holster,
ließ ein paar zusätzliche Munitionsstreifen in seine Tasche fallen und
schlüpfte in seine gepanzerte Jacke. Er fuhr das Netzwerk des Apart-
ments herunter und schloss die Tür hinter sich ab. Sein AR-Display
zeigte ihm eine Liste der nächstgelegenen Schießstände, mit Anfahrts-
plan, Öffnungszeiten und Waffensonderangeboten.
Roger wählte einen in der Mitte, einen kleinen Schießstand im
Hub, der für seine internationale Klientel bekannt war. Der Weg dort-
hin wurde auf der Karte in seinem Display angezeigt, zusammen mit
dem Angebot, ein Automatentaxi zu rufen, das ihn vor dem kalten
Nieselregen schützen würde, der die Stadt schon den ganzen Tag heim-
suchte. Roger lehnte ab, schlug seinen Kragen hoch und beschloss, die
Strecke zu Fuß zurückzulegen. Seine Kleidung war wasserdicht. Ein
bisschen Regen würde ihm nichts anhaben.
Der Routenplaner führte ihn zwei Hügel hinab und einen hinauf.
Der stramme Schritt, den er einschlug, erzeugte eine angenehme Span-
nung in seinen Wadenmuskeln.
Leichter Verkehr summte über die Straße, platschte gelegentlich
durch Pfützen. Er sah vereinzelte Pkws, einige Laster und große
Lücken dazwischen. Die Bürgersteige waren verwaist, abgesehen
von ein paar nassen Hunden oder Waschbären. Roger runzelte die
Stirn. Jede Stadt, in der er jemals gewesen war, hatte ein Nachtle-
ben. Zumindest hatte er erwartet, die hiesige zwielichtige Klientel
zu sehen.
Ein Joy-Cola-Laster fuhr vorbei und pingte aktive PANs an. Ohne
Vorwarnung erschien ein sexy Model in seinem Blickfeld, das mit einer
Coladose sein Dekolleté kühlte. „Halt den Durst auf Abstand. Trink
Joy Cola!“
Genervt schaltete Roger den Spot ab. Als wäre das ein Signal gewe-
sen, warf plötzlich jeder vorbeifahrende Lkw und jedes Schaufenster,
an dem er vorbeikam, Werbespots in seine Richtung.
„Lästige Abflussprobleme? Kommen Sie zu Sock-n-Wrench. Wir
haben alles, was Sie für ein freies Rohr brauchen.“
„Damit sie sich wie eine richtige Frau fühlt. Maßgeschliffene Dia-
manten zum halben Preis, aber mit vollem Wert.“
„Denvers Daily News – hier finden Sie alles, was Sie über Denver
wissen müssen.“
Angewidert schaltete er sein PAN gerade in dem Moment auf pas-
siven Modus, als ihm zwei bewaffnete und gepanzerte Frauen in den
Weg traten. Er spannte sich an, machte sich für einen Kampf bereit.
„SIN und Ausgangslizenz, bitte“, sagte die Größere der beiden, eine
Elfe.
Die kleinere, menschliche Frau beäugte seine Jacke. „Und die Waf-
fenlizenz.“
Er musterte ihre Regenkleidung, die Militärmäntel über den un-
auffälligen Uniformen, die ZDF-Abzeichen auf ihren Schultern. In ih-
ren Hüftholstern steckten verdeckte Walther PB-120, in den Händen
hielten sie Ares Crusaders. Die Art und Weise, wie sie dastanden – die
Füße fest auf den Boden geheftet, die Schultern entspannt, die Köpfe
gerade und die Hände leicht und selbstbewusst auf den Crusaders –,
verriet ihm ihren Lebenslauf; nur professionell ausgebildete Soldaten
hatten eine solche Körpersprache.
Die Anspannung wich aus seinen Muskeln, und er lud seine SIN
und seine Waffenlizenz in ihre PANs. „Was ist eine Ausgangslizenz?“
Die kleinere Frau schnaubte. „Ihre Genehmigung, sich nach der
Ausgangssperre auf der Straße aufzuhalten. Versuchen Sie im Ernst,
sich als Roger Soaring Owl auszugeben, Sie Idiot? Wenn Sie jemanden
täuschen wollen, dann sollten Sie sich eine Persona aussuchen, die kei-
ner kennt. Ihre Nanitencreme-Verkleidung ist grauenhaft.“
Die Elfe tippte ihrer Partnerin auf die Schulter, ein Stirnrunzeln
zog sich über ihr ausdrucksstarkes Gesicht. Eine subvokalisierte Un-
terhaltung folgte, die kleinere Frau wurde erst wütend, dann blass. Die
beiden Frauen wandten sich ihm wieder zu.
„Entschuldigen Sie bitte, Mr. Soaring Owl“, sagte die Elfe. „In
Denver gibt es viele Leute, die vorgeben, jemand anders zu sein. Wir
mussten erst Ihre Identität verifizieren.“
„Ich verstehe“, sagte er und fühlte sich durch die Gewissenhaftig-
keit der Elfe etwas beruhigt.
„Sie sind neu in Denver, Sir, deshalb werden wir heute Nacht ein
Auge zudrücken. Aber für die Zukunft sollten Sie sich merken, dass
Ghostwalker eine stadtweite Ausgangssperre verhängt hat. Wenn Sie
nicht angehalten oder verhaftet werden wollen, brauchen Sie einen le-
gitimen geschäftlichen Grund, um nachts unterwegs zu sein. Es sollte
für Sie kein Problem sein, bei der Sioux-Sektorverwaltung eine Aus-
nahmegenehmigung zu bekommen.“
Roger nickte, von seinen nassen Haaren tropfte es ihn in die Augen.
„Ich werde mich darum kümmern.“ Er seufzte, als die Frauen ihre Pa-
trouille wieder aufnahmen, und schüttelte in plötzlicher Enttäuschung
den Kopf.
„Fast Knight-Errant-würdig“, murmelte er und setzte seinen Weg
fort. „Bis ihr mich laufen lassen habt. Wer bildet euch Leute bloß
aus?“
Die Sektorsicherheit ließ ihn die Sioux-Grenze passieren, aber sie
überprüfte seine Legitimationen genauer als die ZDF-Patrouille. Auf
der UCAS-Seite des Grenzübergangs sprang ihm einer der Wachleute
fast auf die Zehen, seine Augen leuchteten vor Bewunderung.
„Ich bin ein großer Fan Ihrer Arbeit, Sir“, sagte der Wachmann,
als er Roger durchließ, nachdem er kaum einen Blick auf seine SIN
geworfen hatte.
Rogers Instinkte ließen ihn erschauern. Bestimmt hatte der Rat von
Denver die Möglichkeit, einheitliche Sicherheitsmaßnahmen für die
Sektoren vorzuschreiben. Wussten die Ratsvertreter denn nicht, was
man mit solchen Unterschieden in den Kontrollprozeduren anstellen
konnte? Er war gerade dabei, eine Notiz über das Thema zu verfassen,
als die Straßenlaterne über ihm im Zuge ihres Kühlungszyklus schwä-
cher wurde.
Rogers Karte erinnerte ihn an eine bevorstehende Kursänderung,
und er bog um eine Ecke. Ein Textmitteilungs-ARO poppte in sein
Blickfeld, mit SilveryKs Signatur im Nachrichtenkopf. Er minimierte
alle anderen AROs.
Eine weitere Straßenlaterne verdunkelte sich. Er ging durch die
Dunkelheit, brauchte keine Beleuchtung.
Die Nachricht war kurz und einfach. Ist es das, wonach Sie suchen?
An die Nachricht angehängt waren ein Marschbefehl für die Verlegung
eines Firewatch-Teams nach Ares O’Hare – was hatte Captain Clim-
bing-Bear in Chicago zu suchen? Er war ein Soldat, kein Mietbulle –
und diverse Kündigungsschreiben, Entlassungsgespräche und interne
Memos. Als er die Namen überflog – Theo, Agatha, Stiletto, Frankie,
Drake und andere –, erkannte er die Kündigungsvereinbarungen aller
siouxstämmigen KE-Mitarbeiter, die gegangen und Roger nach Wes-
ten gefolgt waren.
Über diesen Dokumenten hatte SilveryK ein Risikobewertungsdo-
kument von Ares Firewatch eingefügt und markiert, das zwei Monate
zurück datierte (also deutlich vor dem Zeitfenster, das Roger ihr ge-
nannt hatte) und mögliche Rückführungsoptionen für einen gefährli-
chen und brisanten Mitarbeiter enthielt. Der Mitarbeiter wurde nicht
namentlich genannt, doch die Liste seiner Fähigkeiten und der Hin-
weis „Alle erforderlichen Mittel einsetzen!“ verrieten ihm, dass Ares ihn
als Gefahr einstufte.
SilveryK war gut. Sie hatte sich nicht nur zusammengereimt, wo-
nach er wirklich suchte, sie hatte auch noch sein Hochsicherheits-
Kommlink gehackt, um ihm die Informationen zu schicken, die er
brauchte.
Er rief sein Bankkonto auf und fügte noch einen Bonus zu SilveryKs
Honorar hinzu. Bevor er die offene Transaktion abspeichern konnte,
blendete ihn ein greller Lichtblitz. Ein Stiefel platschte in eine Pfütze.
Etwas traf ihn an der Schulter, und der Boden kam ihm entgegen.
*
„Roger, Roger, Roger.“
Die Worte krochen in sein Bewusstsein, wühlten sich durch den
Schleier seiner Verwirrung. Er kannte diese Stimme. Sie war ihm so
geläufig wie seine eigene. Eine vertraute Stimme. Eine Stimme des
Verrats.
 „Was hast du mir angetan?“, fuhr die Stimme fort.
Schuld und Vorahnung schlugen eine misstönende Saite in ihm an.
Sein Herz zog sich zusammen. Seine Instinkte schrien und drängten
ihn, sich ein Versteck zu suchen. Schlimme Dinge standen bevor. Er
konnte hören, wie sie sich in den Schatten zusammenrotteten.
Er wurde sich stückweise wieder seiner selbst bewusst. Kalter Be-
ton drückte gegen sein wundes Gesicht. Kabelbinder bissen in seine
Handgelenke, hielten seine Hände hinter dem Rücken fest. Augen, die
darum kämpften, sich zu öffnen, zugeklebt von Blut und anderen Flüs-
sigkeiten. Aufgeplatzte Lippen, geschwollene Zunge, der Geschmack
von salzigem Kupfer im Mund. Eine Kehle so trocken, dass das Death
Valley dagegen wie ein tropischer Regenwald erschien.
Die Spitze eines stahlbeschlagenen Schuhs stupste Rippen an,
die protestierend ächzten. „Ich weiß, dass du wach bist, Roger. Du
brauchst dich nicht zu verstellen.“
Sein Bewusstsein brach durch den Schleier und zerrte ihn aus seiner
Traumzuflucht. Zwei Wörter tauchten in ihm auf. Das erste purzelte
durch seinen Kopf und fasste seine Lage sehr schön zusammen.
Verschissen.
Das zweite kratzte an Stimmbändern vorbei, die eigentlich viel zu
wund waren, um etwas zu sagen. „Damien.“
Damien Knight lachte und zog seinen Fuß zurück. „Willkommen
zurück bei Ares, Roger. Wir haben dich vermisst.“
Sein linkes Auge schaffte es endlich, sich zu öffnen. Grelles Licht
stach in seine überempfindliche Hornhaut. Er erhaschte einen Blick auf
Wände aus Betonblöcken, eine abgehängte Decke und Damiens teure
gepanzerte Hose. Er versuchte, den Kopf zu drehen, um zu sehen, wer
– oder was – noch mit ihm in dem Raum war, aber die Kopfschmerzen
erwachten hinter seinen Augen brüllend zum Leben und verhinderten,
dass er mehr erkannte. Er schloss die Augen vor Schmerz.
„Fahr... Hölle“, keuchte er. So sehr er die Wut wollte, sie brauchte,
um sich zu konzentrieren, so leicht schlüpfte sie ihm aus den Fingern
wie Wasser durch ein Sieb. Eine Gänsehaut bildete sich an seinem
ganzen Körper. Er saß dermaßen in der Tinte. Das alles war derma-
ßen falsch. „...nicht gegangen. Du... mich... gefeuert. Weißt... nicht
mehr?“
Schwielige Finger berührten seine Wange mit der Leichtigkeit ei-
ner Feder. Er konnte die Form seines Atems hören, das Gewicht seiner
Überraschung spüren. „Takuwe, Roger? Warum bist du nach Denver
geflohen?“
Takuwe. Das Wort wirbelte um ihn herum, wie ein Blatt in einer
Brise, als er darum kämpfte, es zu verstehen. Es war kein Muscogee, die
Sprache seines Stammes, der Creek. Auch nicht Tsalagi, die andere indi-
anische Sprache, die er fließend sprach. Takuwe. Dann fiel es ihm ein.
Takuwe, Lakota für „warum“.
Damien sprach Lakota?
Seltsam. Er hatte geglaubt, ihn zu kennen. Er war fast drei Jahr-
zehnte lang sein bester Freund gewesen. Er kannte seine Stimmungen,
konnte seine Gedanken vorhersagen, schützte ihm den Rücken wie ein
Habicht. Aber die Unlimitech-Sache hatte gezeigt, wie wenig Damien
mit ihm gemeinsam hatte. Und jetzt fand er auch noch heraus, dass er
Lakota sprach.
„Antworte mir, verdammt. Was ist bei Unlimitech passiert?“
Sein Rachen verkrampfte sich protestierend, als er die Worte hin-
auszwang. „Ich werde diesen Pfad nicht noch einmal mit dir beschrei-
ten, Damien. Du weißt verdammt gut, was geschehen ist.“
Die Pause dauerte eine Mikrosekunde zu lange. „Sag es mir trotz-
dem.“ Die Worte waren wie Schlangen, sie glitten an der Innenseite sei-
nes Schädels entlang. „Lass uns deine Version der Geschichte hören.“
Seine linke Schulter schmerzte. Flüssige Wärme sickerte seinen Arm
hinab. Ein stechender Schmerz schoss durch seine Stirn und brachte
eine Erinnerung zum Vorschein.
Das Platschen eines Stiefels im Wasser hallte durch die Gasse. Sein Gesicht
lag im Dreck, an den feuchten Schotter der Straße gepresst. Seine Augen waren
aufgerissen. Ein Ork-Straßensamurai trat aus den Schatten, seine Guardian-
Pistole funkelte im Licht der Straßenlaternen. „Wir haben ihn.“
Eine Zwergin kam aus einer anderen Richtung, Armbänder und Ket-
ten klapperten auf ihrer Cyberware. „Das ist Roger Soaring Owl? Ich hatte
ihn mir größer vorgestellt.“
Schritte spritzten von hinten heran.
Seine eigene Waffe, eine stark modifizierte Ares Predator, drückte sich
in seine Seite, eingeklemmt zwischen ihm und dem Straßenpflaster. Seine
Hand bewegte sich langsam nach unten.
„Dev, er greift nach seiner Waffe!“, schrie die Zwergin.
„Idiot“, zischte eine Stimme, ein männlicher Akzent in der Tönung des
Denveraner Sioux-Sektors.
In dem erinnerten Geräusch des Regens fand er seine Mitte und
kam zur Ruhe. Damiens Stimme polterte weiter, befragte ihn, droh-
te ihm. Doch es war eine jämmerliche Imitation einer Stimme, die
von Nachrichtensendungen aufgenommen worden war, schwach und
schmeichelnd statt stark und donnernd. Roger war von den besten
Ares-Magiern darin ausgebildet worden, Zaubern zu widerstehen, und
so stieß er langsam seinen Atem aus und übte mit seinem Geist Druck
aus. Die Illusion zersprang in Stücke.
„Verdammt!“, schrie einer seiner Entführer.
Er öffnete die Augen. Ein Kellerraum aus Betonblöcken? Korrekt.
Seine Hände gefesselt? Korrekt, aber nur mit einer billigen Schnur,
nicht mit Kabelbindern. Kopfverletzungen? Nur Kopfschmerzen.
Schulter? Eindeutig eine Schussverletzung, nicht verbunden.
Der Lakota, der sich als Damien ausgegeben hatte, blickte an ihm
vorbei. Die Zwergin und der Ork bewachten den Eingang einer offenen
Treppe. An Rogers Seite standen ein Magier und eine Schamanin.
„Was ist?“, fragte der Damien-Imitator.
„Er ist...“, keuchte die Schamanin und kippte mit einem Loch mit-
ten in der Stirn nach hinten.
Die Entführer wandten sich der Treppe zu.
Roger sprang auf und trat mit dem Fuß nach der Kehle des Imita-
tors. Knochen knackten, und er flog nach hinten.
Die Zwergin und der Ork griffen nach ihren Waffen, schienen aber
unschlüssig, in welche Richtung sie sich wenden sollten. Das dump-
fe Ploppen einer schallgedämpften Waffe erklang erneut und löste ihr
Problem. Die Zwergin ging mit drei Kugeln in der Brust zu Boden.
Der Magier hob die Hände, ein Hauch von Farbe glühte an seinen
Fingerspitzen. Roger trat dem Magier die Füße unter dem Körper weg
und wand seine Hände aus den Fesseln.
Der Ork wandte sich Roger zu. Der Magier fluchte und setzte zu
einem neuen Zauber an; Feuer leckte an seinen Fingern. Ein dunkel-
häutiger Mann mittleren Alters sprang aus dem Treppenschacht und
schoss dem Magier mitten ins Auge.
Der Ork traf seine Entscheidung und feuerte auf den Neuankömm-
ling, dessen Reflexe gut genug waren, sich in letzter Minute zur Seite
zu werfen. Der Ork zielte erneut auf den Neuankömmling, doch der
Lauf seiner Waffe bebte. Seine Knie zitterten. Roger konnte die Unent-
schlossenheit über das Gesicht des jungen Mannes zucken sehen.
Roger fühlte mit ihm mit. Einen Moment lang erwog er, den Ork
sich ergeben oder entkommen zu lassen, aber die verinnerlichten Re-
flexe seiner langjährigen Militärausbildung hatten die Kontrolle über-
nommen. Er hatte seine Predator bereits gezogen. Roger drückte den
Abzug zweimal, und die Kugeln hämmerten in die Brust des Orks.
Der Ork blickte mit einem überraschten Winseln über seine Schul-
ter. Blut schoss ihm aus dem Mund, als sein Finger sich um den Abzug
verkrampfte. Die Guardian feuerte und riss den Arm des Orks zur Sei-
te. Die Kugel drang in die Wand und warf ein Wölkchen Staub auf.
Seine Augen starrten in die Rogers, groß und fragend.
 Takuwe, schienen diese Augen zu fragen.
Dann brach der Blick, und der Körper des Orks stürzte zu Boden.
Der dunkelhäutige Mann erhob sich, ein leichtes Lächeln spielte
auf seinen Lippen. „Ich grüße Sie, Mr. Soaring Owl.“
Roger richtete seine Pistole auf den anderen. „Sie werden mir ver-
geben, wenn ich erst frage, wer zur Hölle Sie sind.“
„Sie können mich Kay nennen. Jeder nennt mich so. Zany Zuni
schickt seine Grüße.“ Ein Bild blitzte in Rogers AR auf, das Icon eines
aufrecht gehenden Hasen, der wie ein Zuni-Krieger gekleidet war und
ein Schild hochhielt, auf dem „Schöne Grüße!“ auf Muscogee stand.
Rogers Gesichtsmuskeln zuckten. Die Versuchung ließ seinen Zeige-
finger jucken. Er konnte einfach den Abzug durchziehen und diesen Kay
genauso tot zurücklassen wie die Idioten, die ihn entführt hatten. Aber
würde das irgendwelche Probleme lösen? „Zany Zuni existiert nicht.“
Kay zuckte die Schultern, seine Automatikpistole baumelte locker
in seiner Hand. „Und doch habe ich gehört, dass Sie bereits seine Be-
kanntschaft gemacht haben.“
Drei Herzschläge donnerten in seinen Ohren, bevor Roger seine
Waffe sinken ließ, woraufhin Kay seine wegsteckte.
„Wie viel hat er Ihnen dafür gezahlt, dass Sie mich befreien?“, fragte
Roger.
Kay grinste und hob den Finger. „So funktioniert das Exchange-
Netzwerk nicht. Ich wurde gebeten, Ihnen eine Gefälligkeit zu erwei-
sen. Ja, ich werde irgendwann in der Zukunft etwas dafür bekommen,
aber das kann alles Mögliche sein, und ob Geld dabei im Spiel sein
wird, ist zweifelhaft.“
Roger steckte seine Predator ein und versuchte es noch einmal. „Sie
sagen also, dass diese Befreiung meine Bezahlung ist?“
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Was haben Sie für das Exchange-
Netzwerk getan?“
Als Roger nicht antwortete, grinste Kay. „Willkommen in Denver,
Mr. Soaring Owl. Genießen Sie Ihren Besuch. Vielleicht sehen wir uns
eines Tages wieder.“
Kay ging aus dem Keller hinaus und ließ Roger mit einem Haufen
Leichen und genauso vielen offenen Fragen zurück.
*
Als Roger wieder an die Oberfläche kam, fand er sich im schlimms-
ten Teil Denvers wieder, in den Aurora Warrens. In dieser öden und
gesetzlosen Gegend lebten nur die SINlosen, die Ghule und der Bo-
densatz der Gesellschaft. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind war auf
sich allein gestellt. Selbst die Touristen wussten, dass sie die Warrens
meiden sollten. Wer hierher kam und nicht in der Lage war, sich selbst
zu schützen, kam für gewöhnlich nicht wieder zurück.
In dem Dunst kurz vor Sonnenaufgang aktivierte Roger die Rest-
lichtverstärkung seiner Kontaktlinsen, um besser sehen zu können.
Verfallene Gebäude erhoben sich über ihm. Ein paar verrostete Ge-
rippe ausgeschlachteter Fahrzeuge standen verstreut in den Straßen,
Glasscherben, Müll und unbrauchbarer Schutt waren vom Wind zu
unregelmäßigen Haufen zusammengeweht worden. Die Straßenlater-
nen waren zerschlagen, bei vielen ragten blanke Drähte aus großen Lö-
chern im Fundament. Einschusslöcher, Graffiti (aus richtiger, physischer
Farbe, nicht AR) und Flecken verschiedener getrockneter Flüssigkeiten
verzierten die Bürgersteige und Häuser. Auf den ersten Blick schienen
die Straßen leer zu sein. Aber er konnte das Huschen von Krallen auf
Beton hören und Bewegung in den Schatten erahnen, die so tief waren,
dass die Restlichtverstärkung nichts gegen sie ausrichten konnte.
Er stellte fest, dass er tatsächlich hoffte, dass es Ghule waren. Ghule
konnte man töten. Aber Insekten... Um Gottes Willen bloß keine In-
sekten, nicht einmal weltliche Insekten normaler Größe. Er hatte ein
Problem mit Schaben.
Roger straffte sich und legte seine beste „Harter-Typ“-Körper-
sprache an wie einen Mantel. Er zog seine Pistole, machte seine Jacke
zu und zog eine Karte der Gegend aus der Matrix. Sofort wusste er,
dass es ein Fehler war. Die Einzelheiten, die neben dem leuchtenden
„Standort“-Cursor angezeigt wurden, ähnelten nicht im Entferntesten
dem, was er sah. Aber zumindest ermöglichte ihm die Karte eine grobe
Orientierung, also setzte er sich in Bewegung.
Aus einem Impuls heraus rief er seinen Agenten auf und startete
ihn mit der Anweisung, die lokalen Runnersites nach der Position des
Fleischmarktes, dieses berüchtigten Ghul-Treffpunktes, abzusuchen.
Auch wenn Roger lieber Ghulen als Insektengeistern begegnen würde,
wäre er ein Idiot, wenn er ihnen direkt in die Arme liefe.
Schatten folgten ihm, als er sich vorwärts bewegte. Metall schabte
über das Straßenpflaster. Schuhleder schrammte über Schotter. Geflüs-
ter hallte in dunklen Gassen wider.
„...ihn schnappen“, tuschelte eine Stimme unerkennbaren Ge-
schlechts.
Ein Zischen brachte sie zum Schweigen.
Roger hob die Waffe und feuerte ungezielt in die Richtung der
Stimmen. Der Schuss zerriss donnernd die Stille. Ein Kreischen ant-
wortete. Etwas Blechernes schlug auf den Boden und hastige Fußtritte
flohen in die entgegengesetzte Richtung.
Danach blieb er allein, erhaschte nur gelegentliche Blicke auf Gestal-
ten, die sich hinter irgendwelchen Dingen versteckten, als er vorbeiging.
Er brauchte fast eine Stunde, um aus den Warrens zu kommen. Er
sah keine Grenze, keinen Zaun, der die Unerwünschten einsperrte.
Im einen Moment wanderte er noch durch eine verwüstete Hölle, im
nächsten überquerte er einen verlassenen Bauplatz neben einem Ferti-
gapartment-Komplex. Der Komplex war eingezäunt, mit Sicherheits-
maßnahmen mittlerer Güte geschützt, und die Karte, die er aufgerufen
hatte, ergab wieder Sinn.
Da er seine Lektion als Fußgänger in Denver gelernt hatte, bestellte
Roger ein Automatentaxi an die nächste Straßenecke.
„Ihr Ziel?“, fragte es, als er einstieg.
Roger gab die Adresse seines Apartments an und ließ das Taxi den
Fahrpreis abbuchen. Abgesehen von einem spektakulären Sonnenauf-
gang, der die Wolken in violette, rote und orange Farben tunkte, war
die Fahrt ereignislos. Er öffnete sein Suchprogramm und forschte nach
Informationen über Exchange und Zany Zuni. Nach weniger als zwei
Sekunden hatte er Dutzende von Treffern. Nach einer halben Minute
waren es schon Hunderte. Als das Taxi vor seinem Apartmentkomplex
hielt, war sein Kommlink von Hunderttausenden von Links über-
schwemmt.
Die ersten drei Links verwiesen auf Nachrichten über die Tokyo
Stock Exchange, die Börse von Tokio, einige weitere führten zu Läden
mit „Exchange“ im Namen. Dann waren da noch Wörterbücher, die
das Wort definierten, und diverse öffentliche Foren, auf denen man
Babykleidung, Spielzeug und alte interaktive Sims tauschen konnte.
Seufzend wies Roger seinen Agenten an, die Suchergebnisse zu fil-
tern, indem er seine Suche spezifizierte. Der Agent bestätigte die An-
weisung und machte sich an die Arbeit.
Als er zu Hause war, untersuchte Roger seine Schulter. Er hatte
schon Schlimmeres gesehen. Die Wunde war ein ziemlich sauberer
Durchschuss, allerdings hatte die Kugel sein Schlüsselbein gestreift. Er
holte sein erstklassiges Medkit hervor und versorgte die Wunde mit
einem wasserfesten Kompressionsverband, einer Schnellheilungsinjek-
tion und einer Dosis Antibiotika. Dann duschte er und zog sich um.
Sein Frühstück bestand aus einer Schüssel trockener Cerealien und ei-
nem Whisky mit einem Spritzer echtem Orangensaft.
Ein Anruf kam herein, als er sich gerade einen Löffel voll Soyflakes
in den Mund gesteckt hatte. Die ID des Anrufers war ganz in Blau
gehalten und zeigte das Logo der Atlantean Foundation. Roger schloss
das Fenster und leitete den Anruf an seine Mailbox weiter. Das Letzte,
was er jetzt brauchte, war ein Haufen bekloppter magischer Artefaktjä-
ger ohne Sinn für persönliche Grenzen.
Als er mit dem Frühstück fertig war, reinigte er seine Waffe und
füllte den Ladestreifen nach, dann öffnete er noch einmal Sinopas
Nachricht. Er wählte zufällig einen Videoclip aus.
Das Apartment um ihn herum verblasste, die Möbel verwandelten
sich in Stehtische und Barhocker. Um ihn her amorphe Gestalten, die
das Nachtleben genossen. Lichter blitzten im Takt eines Dancebeats
aus den Charts der letzten Woche. Ein paar Mädchen kreischten vor
Begeisterung, als ein junger Mann eine von ihnen zum Tanzen auf-
forderte. Die Kamera scannte den Raum und malte unsichtbare Fa-
denkreuze auf die Gesichter. Jedes Mal wurde kurz darauf eine Linie
diagonal übers Gesicht projiziert, als die Gesichtserkennungssoftware
keine Übereinstimmung fand.
Eine ältere Frau fuchtelte mit der Hand in die Richtung der Kame-
ra, und das Bild fiel plötzlich nach unten, zeigte ein Stück Fußboden,
das sich rasend schnell drehte, bevor die Kamera sich wieder aufrichte-
te und ihren Weg fortsetzte.
Eine Kameradrohne, vermutete Roger.
Gesicht für Gesicht wurde von der Software aussortiert, bis in einer
entfernten Ecke zwei chinesische Gesichter mit grünen Auren markiert
wurden. Die Drohne flog über ihren Tisch und kam irgendwo über
ihnen schwebend zum Stehen. Die Stakkatounterhaltung der Män-
ner bestand aus harten Silben und unverständlichen Wörtern. An der
Seite des Bildes öffnete sich ein Übersetzungsprogramm. Es lief von
Mandarin und Kantonesisch durch verschiedene andere Sprachen, bis
es schließlich bei Pu Xian stehenblieb. Untertitel tauchten unter dem
Bild auf, während die Männer redeten.
„...wirklich gute Neuigkeiten. Das Goldene Dreieck ist tatsächlich
interessiert. Aber woher sollen wir wissen, dass dieses Angebot echt ist
und nicht ein Trick der Sioux?“
„Ich habe die Informationen aus einer verlässlichen Quelle. Und
Roger Soaring Owl ist in Denver. Ich bezweifle, dass er hier wäre, wenn
er nicht wirklich vorhätte, den Deal durchzuziehen.“
„Wann findet die Auktion statt?“
„Freitag in einer Woche, um Mitternacht. Ein privater Chatraum
in der Matrix.“
Die Männer gaben sich die Hand. Die Drohne fing das Knistern
von Papier auf, aber kein Bild davon. Dann endete das Video, der Rest
war herausgeschnitten worden.
Roger griff nach einem Müsliriegel und öffnete er das nächste Video.
*
Willst du ein Spiel spielen? Die Nachricht unterbrach Oak, als er gerade
das einundneunzigste Level von „Nacht der lebenden Shedim“ erreicht
hatte. Er wollte es gerade mit dem Boss aufnehmen, einem Ghul, der
von einem der Shedim-Mafiosi besessen war, als der Text unten in der
VR durchlief.
Oak wollte die Nachricht löschen, doch dann erkannte er das Icon
eines aufrecht gehenden Hasen, der wie ein indianischer Krieger geklei-
det war. Ein weiterer Zombie-Ghul kam auf ihn zu geschlurft, bewaffnet
mit einer Kettensäge. Oak lächelte und hielt das Spiel an. Ja, chattete er
zurück. Ich habe keine Lust mehr, hinter meinem Vater her zu rennen.
Glaubst du, du kannst dich in einen Club hacken?
Ha! Das ist einfach, Zany. Hast du nichts Komplizierteres für mich?
Hätte ich, aber dann würde alles viel zu ernst werden. Mir ist es lieber,
wenn du Spaß dabei hast.
Welcher Club?
Das Bumpers, ein kleiner Schuppen in Detroit. Ein Bullenclub. Leute
von Knight Errant haben den Laden übernommen.
Oak tauchte aus der virtuellen Realität auf. Sein Vater und sein
Babysitter hatten das Hotel verlassen. Er streckte sich, machte es sich
auf der Couch bequem und tauchte wieder ein. Klingt spannend. Was
soll ich tun?
Ein Datenpaket beschaffen. Liefere es an den Nexus, aber nur an ein
Mädchen namens Perri.
Was ist in dem Paket?
Zany Zuni klopfte mit seinem langen Hinterlauf auf den Boden.
Also, Oak. Du weißt, dass ich es dir nicht sagen kann. Und komm nicht
auf die Idee, zu schnüffeln. Das Paket ist verschlüsselt. Ich merke es, wenn
du dich daran zu schaffen machst.
Ach, komm schon, Zany. Kannst du mir nicht wenigstens ein kleines
bisschen sagen?
Eines von Zany Zunis Ohren klappte um. Er hüpfte nachdenklich
auf und ab. Sagen wir einfach, dass ich einem Drachen auf Kosten eines
alten Generals einen Streich spielen möchte, und dabei belassen wir es.
Oak runzelte die Stirn, dann nickte er. Okay.
Zany Zunis Ohren richteten sich wieder auf. Der Hase gab Oak die
nötigen Einzelheiten, und der Junge machte sich an die Arbeit. Wie
sich herausstellte, war die Sicherheit des Bumpers hauptsächlich Show
mit wenig dahinter. Jeder, so schien es, konnte in den Knoten ein-
dringen, wenn er sich ein bisschen anstrengte. Die Musik hämmerte
mit einer ohrenbetäubenden Lautstärke, und an den Wänden wurden
diverse Sportereignisse übertragen – für Besucher in AR alles live. Die
virtuellen Drinks dampften.
In seinem Erwachsenen-Icon, gekleidet in die Uniform eines KE-
Frischlings (eine Empfehlung von Zany für den Fall, dass Oak etwas
vermasselte und jemand merkte, dass er noch nie dort gewesen war),
schlenderte Oak durch die Bar und versuchte, sich ungezwungen zu
benehmen. Man warf ihm ein paar böse Blicke zu, wenn er mit an-
deren Icons zusammenstieß, aber die anderen Cops lachten, wenn sie
seinen Rang sahen, und ließen ihn vorbei.
Nachdem er ein bisschen gesucht hatte, fand Oak das Datenpaket
in einer Ecke. Es lag auf einem einsamen Tisch, der immer wieder
verblasste und dann wieder deutlicher wurde, so als wäre er getarnt. Er
loggte sich mit einem Admin-Passwort ein, gab das Codewort für die
Verschlüsselung an, und der Tisch hörte auf zu verblassen. Er nahm
das winzige Päckchen, das in Geschenkpapier mit Knight-Errant-Logo
eingepackt war. Obendrauf klebte eine verschlüsselte Karte mit dem
Symbol des Exchange-Netzwerkes. Darunter konnte Oak die verwa-
schenen Spuren eines anderen Accounts erkennen, aber wer das war,
würde er nur herausfinden, wenn er das Päckchen hackte.
Oak seufzte. Er hatte versprochen, nicht hineinzusehen. Er nahm
das Päckchen, routete sich nach Denver zurück und kroch dann durch
die Hintertür in den Nexus, wo die Frau, die Zany ihm beschrieben
hatten, schon auf ihn wartete.
„Genau rechtzeitig“, sagte sie. „Ich bin Perri. Freut mich, dich ken-
nenzulernen, Oak Simon.“
„Äh, ja. Hi.“ Ein warmes, verschwommenes Gefühl wirbelte in
Oaks Magen herum. Er grinste wie ein Idiot und reichte ihr das Päck-
chen, während er fieberhaft nach etwas suchte, was er sagen konnte.
In dem Moment erwischte ihn der Auswurfschock. Oak schrie vor
Schreck. Als er die Augen öffnete, stand sein Vater über ihm, die AR-
Brille baumelte in seiner Hand.
„Und das, denke ich, reicht erst mal. Keine weiteren Spiele, Junge.
Es wird Zeit, dass du auf Entzug kommst und zu deinen schamanis-
tischen Studien zurückkehrst. Sobald du bewiesen hast, dass du die
Magie tanzen kannst, bekommst du wieder begrenzten Zugang.“
Ray Simon zerschlug das Sichtgerät am Nachttisch, während Oak
ihm in hilfloser Agonie zusah.
*
Die meisten Informationen, die Sinopa zusammengetragen hatte,
waren so ähnlich wie das erste Video, sie enthielten einzelne Details
über die Auktion. In jedem Beweisstück wurde Rogers Name erwähnt.
„Soaring Owl ist in Denver“ war das wiederkehrende Mantra, und
ein unangenehmes Gefühl machte sich immer mehr in Rogers Magen
breit, als er Sinopas Sorge zu verstehen begann.
Sein Kalender schickte ihm eine Erinnerung an das morgendliche
Treffen. Mit einem verärgerten Grunzen bestellte Roger ein neues Taxi
und fuhr damit Richtung Eagle’s Nest. Das Taxi schoss wie eine Rakete
durch die Straßen Denvers. Es tanzte und kurvte und wand sich zwi-
schen Pkws und Lkws hindurch wie ein Motorrad.
„Achtung“, sagte die Computerstimme des Fahrzeugs. „Gemäß Den-
verstatuten Vierunddreißig, Paragraph Eins Achtzehn, ist es Fahrgästen
untersagt, in die Bedienung eines Automatentaxis einzugreifen. Verlet-
zungen dieser Vorschrift werden mit einem Bußgeld von zweitausend
Nuyen geahndet. Ihr Gesicht und Ihre SIN wurden von der internen Si-
cherheit aufgezeichnet und unterliegen der strafrechtlichen Verfolgung.“
„Ich mache doch gar nichts!“, rief Roger, als das Taxi scharf nach
links abbog.
Das System ignorierte seinen Protest und wiederholte die Warnung.
Ein schriller Pfeifton, dazu gedacht, die Konzentration eines Hackers
zu stören, durchdrang die Taxikabine. Roger kannte das System. Er
hatte vor Jahrzehnten etwas Ähnliches für Knight Errant entwickelt. Er
wusste auch, wie man es umging. Er zog ein Paar Ohrstöpsel hervor.
Das Taxi fuhr quietschend um eine weitere Straßenecke und schleu-
derte Roger in die andere Ecke des Fahrgastraumes. Einer der Ohrstöp-
sel fiel ihm aus der Hand und rollte unter den Sitz.
„Verdammter Mist!“
Er versuchte, nach dem Ohrstöpsel zu angeln, aber die ständigen
Richtungswechsel des Taxis ließen ihn taumeln wie einen betrunkenen
Matrosen. Gerade als er es geschafft hatte, eine stabile Position auf
dem Boden einzunehmen, und unter den Sitz langte, bremste das Taxi
scharf ab. Sein Kopf knallte gegen das Armaturenbrett, und auch der
andere Ohrstöpsel verschwand in den finsteren Tiefen.
Sterne schwebten durch sein Gesichtsfeld, das am Rand schwarz
wurde. Seine Schulter schmerzte wieder, doch der Verband hielt. Ro-
ger war noch dabei, sich hochzustemmen, als die Türen aufgerissen
wurden. Er konnte zwei menschliche Jungen im Teenageralter erken-
nen – Go-Ganger, den imitierten Lederklamotten und den stilisierten
Gesichtstattoos nach zu urteilen –, die mit Maschinenpistolen auf ihn
zielten. Von der anderen Seite des Taxis langte eine in einem Schock-
handschuh steckende Hand über seine Schulter.
„Wir können das auf die harte Tour machen oder auf die leichte“,
schnurrte eine weibliche Stimme.
Roger nahm die Hände hoch. „Leicht ist gut. Ich mag es leicht.“
„Raus aus dem Wagen. Langsam.“
Roger stieg langsam aus, beobachtete dabei genau seine Angreifer,
ihre Waffen und ihre Positionen.
Sie hatten alle ein bisschen SURGE abbekommen. Der eine hatte
Kiemen, der andere Federn statt Haaren. Die dritte, als er einen kur-
zen Blick auf sie erhaschte, hatte deformierte Anime-Katzenaugen. Die
hätten auch Cyberware sein können. Aber die Kleidung der drei war
schäbig, an Knien und Nähten aufgerissen. Sie hatten dunkle Ringe
um die Augen, und ihre Haut erschien blass und staubig. Also zu arm,
um sich richtige ’Ware zu leisten.
Doch sie hielten ihre Waffen, als wüssten sie, wie man sie benutzt.
Und sie waren schlau genug, ihn auf den Parkplatz eines verlassenen
Lagerhauses im UCAS-Sektor entführt zu haben. Er versuchte, eine
Karte aus der Matrix aufzurufen, doch sein Kommlink war gestört.
„Ich glaube, ihr habt den Falschen erwischt“, sagte er.
„Schnauze“, sagte Kieme.
„Sie sind Roger Soaring Owl, nicht wahr?“, fragte Federkopf.
„Nein.“
Katzenauge lachte. „Lügner“, sagte sie. „Tau hat Ihre SIN gecheckt,
bevor sie das Taxi gehackt hat.“
„Fein. Nehmen wir mal an, ich bin der, für den ihr mich haltet.
Was habt ihr mit mir vor?“
Kieme wippte auf den Zehen. „Sie umlegen, Sie Bastard. Sie sind be-
rühmt. Wir lochen Ihre Fahrkarte, und unsere Rep schießt nach oben.“
Roger seufzte. Er hatte gehofft, dass es mit diesem Unsinn vorbei
war, nachdem er seinen Job bei Knight Errant verloren hatte. „Warum
habt ihr es dann noch nicht getan?“
„Äh, was?“, fragte Federkopf.
Zwei Jungs, ein Mädchen. Er konnte nirgends eine vierte Person
erkennen. Was bedeutete, dass Tau aus der Ferne arbeitete. Auf einem
leeren Parkplatz konnte sie nur das Taxi gegen ihn einsetzen. Aber ein
Störsender arbeitete in beide Richtungen. Solange der Störsender ak-
tiv war, konnte Tau nicht auf das Taxi zugreifen, so sehr sie es auch
versuchte.
„Wenn ihr mich töten wolltet, um euren Straßenruf zu pushen“,
antwortete Roger, „hättet ihr mich erschossen, als ich noch im Taxi
war. So operieren Profis.“
Kieme ließ verwirrt seine Waffe sinken. „Aber das wäre nicht fair.“
„Genauso wenig wie das, was ich mit euch machen werde.“
Die Teens blinzelten überrascht. Roger zuckte mit einem entschul-
digenden Gesichtsausdruck die Schultern, dann legte er los.
*
„Habe ich Ihnen gesagt, dass Sie pünktlich sein sollen, oder habe ich es
Ihnen nicht gesagt?“ Sinopa kochte.
Anscheinend war das Leitmotiv von Sinopas Büroeinrichtung die Far-
be Grau. Ein einfacher Tisch und mehrere Stühle passten farblich genau
zu den ungeschmückten Wänden. Zwei halbhohe altmodische graue Ak-
tenschränke standen in einer Ecke, auf einem stand ein Kaffeeservice.
Roger trat ein und hängte seine Jacke über eine Stuhllehne. „Tut
mir leid. Geschäftliche Angelegenheiten.“
„Im UCAS-Sektor“, bemerkte Ray Simon. „Ja, das wissen wir.“
Trotz seiner ruhigen Haltung schimmerte Ärger in den Tiefen seiner
Augen. „Ich hoffe, du bist gut dafür bezahlt worden.“
Wut stieg in Rogers Brust auf, eine ungezähmte Bestie, die danach
drängte, freigelassen zu werden. „Ich habe gerade drei Kids getötet, die
dachten, es wäre lustig, mich auf eine Spazierfahrt mitzunehmen und
mir eine Kugel durchs Hirn zu jagen. Nicht, dass es dich interessieren
würde, Simon. Du nimmst ja nur dich selbst wichtig.“
„Wie kannst du es wagen!“ Ray ballte die Fäuste und starrte Roger
wütend an.
„Kinder!“, rief Sinopa. „Es reicht.“
Roger riss sich selbst vom Abgrund zurück. „Wo ist der General?“
„Er hat einen vollen Terminkalender. Er konnte nicht warten, um
Ihre Reaktion auf die Neuigkeiten zu beobachten.“
Verwirrung stieg in Roger auf, gefolgt von Neugier. „Weiß er denn
nicht, dass Sie mich gestern Nacht angerufen haben?“
„Hast du es nicht gehört? Er hat es nicht gehört!“ Ray lachte in
sich hinein, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die
Finger. „Du hast eine Gnadenfrist erhalten.“
Roger blinzelte und blickte fragend in Sinopas finsteres Gesicht.
„Ich weiß nicht, wie zur Hölle Sie es angestellt haben“, antwortete
sie. „Die Vorladung kam über offizielle Kanäle.“
„Was für eine Vorladung?“
„Eine Vorladung in Ghostwalkers Verbindungsbüro. Der Drache
will Sie sprechen.“
Rogers Knie wurden weich. Er ließ sich auf den nächsten Stuhl
fallen. „Was?“
 Ray stand auf und klopfte Roger auf die Schulter. Er beugte sich
hinunter und murmelte in Rogers Ohr: „Du weißt doch, was Ghost-
walker mit Spionen macht, oder?“
Roger riss sich zusammen. „Ich bin kein Spion.“
Ray zuckte die Schultern. „Sag das dem Drachen, wenn er deine
Überreste aus seinen Zähnen pult.“
Damit entschuldigte sich Ray Simon und ging.
Sinopa holte die Kaffeekanne, schenkte zwei Tassen Soykaf ein und
reichte eine davon Roger. Als sie sich wieder gesetzt hatte, nahm sie
Unterhaltung wieder auf. „Erzählen Sie mir etwas über Ray.“
„Sie sind die Direktorin von OMI. Ich glaube kaum, dass ich Ihnen
etwas erzählen kann, was Sie noch nicht wissen.“
Sinopa blies in ihre Tasse. „Tun Sie mir den Gefallen. Erzählen Sie
mir, warum Sie beide nicht miteinander auskommen.“
Roger wärmte seine Hände an der dampfenden Tasse. Der Geruch
nach gerösteten Kaffeebohnen beruhigte sein Gemüt. Er nahm einen
kleinen Schluck des Gebräus und ließ ihn über seine Zunge rollen, um
Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.
„Ich war Militärpilot, damals, als die UCAS noch die Vereinigten
Staaten von Amerika waren. Ray war mein Wingman. Wir flogen Ein-
sätze gegen die US Air Force. Eines Tages schien die USAF alles zu
wissen, was wir vorhatten. Es war, als könnten sie unsere Gedanken
lesen. Ray geriet in Panik, floh und hinterließ eine große Lücke in
unserer Formation. An dem Tag starben viele Leute.“
Sinopa nickte und nahm einen Schluck. „Sie sind danach befördert
worden.“
„Ray hatte diese Streifen gewollt. Er wollte sogar Sterne. Ich schät-
ze, er hat irgendwann seine Meinung geändert.“
Es gab nichts, was er noch hinzufügen konnte, also tranken sie
schweigend. Als Roger seine leere Tasse auf den Tisch stellte, berührte
Sinopa seine Hand. Eine unidentifizierbare Gefühlsregung lauerte in
den Tiefen ihrer fantastischen braunen Augen.
„Nur damit Sie es wissen – ich glaube nicht, dass Sie ein Spion
sind.“
Roger drückte ihre Hand. „Ich sollte lieber sehen, was Ghostwalker
von mir will.“
*
Roger machte sich zum Hub auf, aber er ging nicht direkt zum Verbin-
dungsbüro. Stattdessen machte er bei ein paar Geschäften halt, kaufte
sich neue Kleidung und einen Tiegel Nanitencreme, schloss sich in
einer öffentlichen Toilette ein und veränderte sein Aussehen.
Unterwegs musste er eine neue Karte aus der Matrix herunterladen,
um sich nicht zu verlaufen. Beim dritten Versuch (die ersten beiden
Karten waren alt) fand er eine, die für die Olympischen Spiele ange-
fertigt worden war. Fluchend kaufte er sich bei einem Straßenhändler
einen Becher Soykaf.
„Ich muss wirklich öfter aus dem Eagle’s Nest herauskommen“,
murmelte er zu sich selbst. „Ich kenne die Stadt so gut wie gar nicht.“
Von der Touristenkarte geleitet, unternahm er einen Rundgang
durch die Restaurants und Clubs, die bei den Informationen, die Sino-
pa ihm geschickt hatte, eine Rolle spielten. Irgendjemand musste doch
etwas über die Auktion wissen. Er ließ ein paar Hinweise und ein paar
Nuyen in die Hände von Türstehern, Barkeepern und Kellnerinnen
fallen. Er ging sogar zum Wonderland, um die berühmte Alyss zu se-
hen, doch er wurde an der Tür abgewiesen.
„Leute wie Sie sind hier nicht willkommen“, sagte der stämmige
Trollrausschmeißer.
„Ich bin ein zahlender Gast wie jeder andere“, protestierte Roger.
Der Troll schnaufte verächtlich. „Sie riechen nach Militär, oder
nach Cop. Oder nach Spion.“ Er beugte sich herunter, seine Hauer
nur Zentimeter von Rogers Kinn entfernt. „Sie sind doch kein Spion,
oder?“
„Nein“, protestierte Roger, vielleicht etwas zu laut. Blicke schwenk-
ten in seine Richtung. Roger gab auf, trat zurück und überdachte seine
Strategie. Informationsbeschaffung war nicht so leicht, wie sie schien.
Er ging eine andere Straße entlang, als eine neue Nachricht von
SilveryK in seinem Maileingang ankam. Diesmal enthielt sie die mor-
gendlichen Einreiseberichte des Sioux-Sektors mit einer Liste von
Ares-Angestellten, die nach Denver gekommen waren. Lohnsklaven
und Manager, ein paar Handelsreisende, Tyler Climbing-Bear, eine
ganze Reihe von Anwerbern. Roger brauchte ein paar Sekunden, bis
er die Bedeutung von Climbing-Bears Namen erkannte. Daher war
Roger, als er einen Augenblick später einen Anruf von Tyler erhielt,
hin und her gerissen zwischen aufrichtiger Freude, seinen alten Schüler
wiederzusehen, und der plötzlichen Bestürzung, dass Tyler möglicher-
weise hier war, um ihn zu töten.
Er rief ein Bild mit seinen echten Gesichtszügen auf, um dem An-
rufer nicht sein verkleidetes Gesicht zu zeigen, und nahm den Anruf
an.
„Heya, Boss“, sagte Tyler mit einem schiefen Grinsen. „Haben Sie
Zeit zu plaudern?“
„Leider nicht. Ich bin auf dem Weg zu einem Meeting.“
Tyler machte ein langes Gesicht. „Dann rufen Sie mich an, wenn
Sie fertig sind. Ich bin gerade im Hub und könnte einen Freund ge-
brauchen.“
Roger zögerte. Anne Ravenheart war immer sein bevorzugter
Schützling gewesen, aber Tyler kam gleich dahinter auf dem zweiten
Platz. Der jüngere Mann hatte sich auf allen Gebieten, von Taktik bis
Waffenfertigkeiten, als Naturtalent erwiesen. Tyler war ein Adept von
bemerkenswerter Begabung und für Roger fast so etwas wie der Sohn,
den er nie hatte.
Es schmerzte ihn, dass Damien von allen ausgerechnet Tyler ge-
schickt hatte, um ihn zurückzuholen.
Der Schmerz verschwand bei Tylers nächsten Worten.
„Ich war in Chicago, Roger. Ich habe...“ Die Worte versiegten. Ty-
ler schluckte und fuhr fort: „...es gesehen.“
Es. Es brauchte keine nähere Erläuterung. Roger war auch in Chi-
cago gewesen. Er wusste genau, wovon Tyler redete.
Die Erinnerung traf ihn plötzlich und hart, Bilder wie Vorschlag-
hämmer, die er so tief vergraben hatte, dass die Wahrheitstänzer sie
nicht hervorholen konnten.
Er hätte die Datei nie öffnen sollen. Er wusste eigentlich, dass er Nach-
richten auf seinem privaten Kommlink nicht trauen durfte. Es hatte nicht
die Sicherheitsvorkehrungen, die er auf seinem Firmenkommlink hatte.
Aber die Nachricht kam offenbar vom Exchange, diesem mysteriösen Ge-
fälligkeitsnetzwerk, über das jeder gern Näheres wüsste. Malware- und
Virusscans blieben ohne Ergebnis, also gab er seiner Neugier nach.
Das Unlimitech-Logo baute sich auf, zusammen mit verstörenden
Fotos von Laborarbeitern, Insektengeistern in Wahrer Gestalt und einem
Moskitogeist, der eine KE-Sicherheitsoffizierin bedrängte. Roger hätte das
alles für nicht echt gehalten, wenn er nicht die Offizierin auf dem letzten
Bild erkannt hätte. Er wusste ihren Namen nicht mehr, aber sie war eine
gute Soldatin gewesen, sehr pflichtbewusst, und sie war auf einer Reise ver-
schwunden, bei der sie als Eskorte eines hochrangigen Unlimitech-Mana-
gers gedient hatte. Einige Tage später war ein Entlassungsgesuch mit ihrem
Namen bei KE angekommen.
Über die Ränder des Dateisymbols scrollten die Worte: „La cucaracha,
la cucaracha...“
Er löschte die Datei. Desinfizierte sein Kommlink und holte sich ein
neues, dieses Mal mit der besten Sicherheitssoftware von Knight Errant
bestückt, der Besten vom Besten, die nicht einmal die Kunden von KE
bekamen.
 Es nützte nichts. Am nächsten Tag hatte er eine Nachricht auf seiner
Mailbox, ohne dass überhaupt ein Anruf eingegangen wäre. Die ID des
Anrufers lautete Zany Zuni. Die Stimme des Hasen verfolgte ihn bis in
seine Träume. „Sie müssen mir einen Gefallen tun, Roger. Einen kleinen
Gefallen. Gehen Sie hin und sehen Sie nach.“
„Boss? Roger!“ Tylers Stimme brach den Bann. „Ist alles okay?“
„Alles bestens.“ Roger wischte sich die feuchten Hände an der Hose
ab und entfernte dabei etwas von der Nanitencreme. „Gut, treffen wir
uns. Wo sind Sie?“
„Hotel Luna, im CAS-Sektor, direkt neben dem Hub.“
„Gut. Geben Sie mir zwanzig Minuten.“ Er beendete das Gespräch
und stand einen langen Moment mitten im Trubel des Hubs, versuch-
te, wieder zu Atem zu kommen. Sein Herz schlug heftig, hatte sich in
seiner Brust zusammengezogen. Eine federleichte Berührung streifte
an seiner Hose entlang.
Rogers Hand schoss vor und umklammerte das Handgelenk einer
schlanken Frau in einem Geschäftsanzug.
„Hallo, schöner Mann“, sagte sie. Ihr Gesicht hellte sich auf, ihre
vollen Lippen öffneten sich, ihre Augen funkelten. Sie sah ihn mit ei-
ner Mischung aus Scheu, Begierde und Anmut an, ihre langen Wim-
pern klimperten.
Einen Moment lang saugte ihn die Stärke ihrer Persönlichkeit auf,
nahm seine volle Aufmerksamkeit gefangen. Dann bemerkte er, wie
sich ihr Handgelenk unter seinem Griff wand, ihre Hand war um ein
kleines Objekt geschlossen, das sie nicht fallen lassen wollte, nur um
von ihm loszukommen.
„Sozialer Adept, hm?“, fragte er mit einem frechen Grinsen. Seine
Finger drückten auf einen Nerv in ihrem Handgelenk, und sie gab
ein leises Quieken von sich. Ihre Finger verkrampften sich und eine
Minidrohne fiel zu Boden. „Aha. Hat Ihnen denn keiner gesagt, dass
Spionieren in Denver verboten ist?“
„He, ein Mädchen kann doch mal sein Glück versuchen.“ Sie
schenkte ihm ihren schönsten Hundeblick, und er verspürte den
Drang, nachzugeben.
Roger trat auf die Drohne und zermalmte sie mit seinem Schuh.
„Versuchen Sie es mit jemand anderem.“
Er ließ sie los, und mit einem finsteren Blick über die Schulter
stapfte sie davon.
Er machte sich auf die Suche nach einer öffentlichen Toilette und
murmelte dabei vor sich hin: „Ich glaube, so langsam beginne ich Den-
ver zu hassen.“
*
Das Luna war ein kleines Hotel, eingeklemmt zwischen einem vorneh-
men Restaurant und einem Bürogebäude. Es war schmal und hoch,
die Fassade nicht breiter als ein kleiner Lieferwagen. Doch was ihm an
Breite fehlte, machte es durch Höhe und Tiefe wett, es erstreckte sich
fünfzehn Stockwerke nach oben und hatte fast achtzig Zimmer, die so
groß waren wie manche Einzimmerwohnung.
Am Aufzug, der einen genauso eingeengten Eindruck machte wie
die Rezeption, hing ein „Defekt“-Schild. Seufzend ging Roger die
steile Treppe zum achten Stock hoch. Immer höher ging es. Irgendwo
zwischen dem vierten und fünften Stock blieben seine Zehen an der
nächsten Stufe hängen und brachten ihn zu Fall. Er konnte sich mit
den Händen abfangen, sodass sein Kopf nicht auf die Stufen schlug.
Doch seine Kniescheibe knallte auf die Kante einer Stufe. Schmerzen
schossen durch das Knie und seine verletzte Schulter.
„Einfach nicht mein Tag heute“, sagte er.
Irgendwie schaffte er es, die restlichen Treppen hinter sich zu brin-
gen. Er trat in den Flur. Moder und Staub fielen über seine Nase her,
zusammen mit einem leichten Hauch von Verwesung. Dann ver-
schwanden diese Gerüche, vertrieben vom künstlichen Blumenduft
eines Lufterfrischers in der Ecke. Roger ging zu Zimmer 806. Das
Geräusch laufenden Wassers erklang durch die Tür, von einer Dusche
oder einem Waschbecken.
Er zögerte, Erinnerungen gingen ihm durch den Kopf.
Stella. Das war ihr Name. Eine intelligente junge Frau mit einer viel-
versprechenden Zukunft. Roger hatte sie dreimal getroffen, und jedes Mal
hatte sie ihn mit ihrer Cleverness und ihren unorthodoxen Lösungsvor-
schlägen für schwierige Probleme beeindruckt.
Also ging er nach Chicago. Nicht auf Drängen dieses Fremden, den er nie
getroffen hatte. Sicherlich nicht, um dem Exchange-Netzwerk einen Gefallen
zu tun. Er ging, weil Stella eine von ihnen war und er es gewusst hätte, wenn
sie wirklich für die Sicherheitsabteilung bei Unlimitech gearbeitet hätte.
Er rief nicht an, er warnte niemanden vor. Er tauchte einfach aus
heiterem Himmel auf und bat um eine ausgedehnte Besichtigungstour. Er
verlangte sie, um genau zu sein, als hätte er das Recht dazu. Niemand
stellte seine Berechtigung infrage. Roger Soaring Owl war berühmt. Er war
ein Freund von Mr. Knight.
Also zeigten sie ihm alles. Und erklärten ihm alles.
Die Bilder von Zany Zuni kamen der Wirklichkeit nicht einmal im
Entferntesten nahe.
Roger schauderte. Seine Faust war nur Zentimeter von der Tür ent-
fernt.
Er rief Damien an, traf sich mit ihm in seinem virtuellen Büro. Ver-
langte Antworten. Und dieser verdammte Bastard, sein bester Freund auf
der ganzen Welt, lachte ihn aus.
„Die beste Panzerung, die man sich denken kann, Roger. Waffen, die
durch alles hindurch schneiden. Wir könnten die Welt mit dieser Biotech
erobern“, sagte Damien.
„Finanziell gesprochen“, fügte er noch hinzu.
Roger fühlte sich verraten und betrogen, doch er versuchte, seine Wut
im Zaum zu halten. Aber die Saat des Zerwürfnisses war bereits gesät.
Und Damien hatte nicht nur Roger verraten. Er hatte auch Anne verraten,
Anne, dieses Juwel, und ihr Firewatch-Team. Er hatte jeden Knight-Er-
rant-Soldaten verraten, der in Chicago gekämpft hatte, jeden, der gefallen
war oder in die Falle geriet. Auch jeden Zivilisten, der hinter der Mauer
gefangen war, und jeden, der es geschafft hatte zu entkommen.
Mitten in ihrem Streit sagte Damien zu Roger, er solle es akzeptieren
und die Klappe halten.
Roger war schockiert und sprachlos. Und die Gelegenheit ging vorü-
ber.
Damien schickte in raus. Warf ihn aus seinem Büro, als wäre Roger
ein Knecht oder nur ein niedriger Angestellter und nicht der Mann, der
Damien so lange Jahre den Rücken gedeckt hatte.
Tyler war in Chicago gewesen. Sein ganzes Team war dort gewesen.
Die Frage war: Waren sie zurückgekehrt?
Roger biss sich auf die Lippe. Er schmeckte Blut auf der Zun-
ge. Jemand musste Damien aufhalten. Im Gegensatz zu dem, was
Knight glaubte, wusste Roger, dass sich Insektengeister nicht zäh-
men oder kontrollieren ließen. Doch Roger hatte keinen Einfluss
mehr auf Damien Knight, und ihm fehlten die Ressourcen, um
es mit dem CEO eines Megakonzerns aufzunehmen. Der Rat der
Häuptlinge konnte Ares vielleicht aus seinem Hoheitsbereich ver-
bannen, wenn Roger ihnen die Wahrheit erzählte, aber über ihre
Bereitschaft, sich auf einen Krieg mit Damien einzulassen, machte
er sich keine Illusionen.
Unlimitech könnte der Anfang eines ganz neuen Supernestes sein.
Selbst wenn jemand Roger ernst nahm, hatte Ares einen zu langen
Arm. Diese Situation erforderte die Unterstützung durch jemanden,
der bereit war, sich mit einem Megakon anzulegen, der keine Angst
vor den Konsequenzen hatte und der in der Lage war, sich selbst zu
schützen. Der Nexus konnte ihm helfen, die Informationen zu schüt-
zen, aber er wusste aus sicherer Quelle, dass die Hacker dort auch
Kinder großzogen, und er würde keine Kinder diesem Risiko aus-
setzen.
Sein Kommlink schickte ihm eine Erinnerung, und ein Fenster
ging auf, in dem Sinopa ihn aufforderte, die Spielereien sein zu lassen
und zu sehen, was der Drache wirklich wollte.
Der Drache.
Mit einer Grimasse ging Roger zum Ende des Flures, wo ein Fens-
ter auf die Straße hinausblickte. Das große grüne Vordach des Hote-
leingangs nahm ihm die Sicht auf den Bürgersteig, doch das war ihm
egal. Er öffnete eine Leitung, zögerte einen Moment, als er sich noch
einmal alles durch den Kopf gehen ließ, dann rief er bei Ghostwalkers
Verbindungsbüro an.
Als die Vorzimmerdame das Gespräch annahm, stellte er sich vor.
„Ich muss mit Ghostwalker reden.“
Die Frau neigte den Kopf. „Ghostwalker ist zurzeit nicht zu spre-
chen. Möchten Sie einen Termin vereinbaren?“
„Er hat mich gebeten, ihn zu kontaktieren.“
„Nein, Mr. Soaring Owl“, tadelte sie ihn. „Er bat um Ihre Anwe-
senheit, aber Sie müssen trotzdem einen Termin vereinbaren. Ghost-
walker ist ein sehr beschäftigter Drache. Er wird seine Termine nicht
nach Ihnen ausrichten. Sie werden Ihre Termine nach ihm ausrichten.
Möchten Sie einen Termin vereinbaren?“
„Ist sein Sprecher im Haus?“
„Mr. Whitebird? Ich fürchte, er ist im Moment ebenfalls indispo-
niert. Möchten Sie einen Termin vereinbaren?“
Frustriert ging Roger vor dem Fenster auf und ab. In den Augen-
winkeln fing er eine Bewegung auf, eine Tür öffnete sich, doch er igno-
rierte es. „Kann ich eine Nachricht hinterlassen?“
Die Vorzimmerdame nickte. „Natürlich. Ich werde Sie an Mr.
Whitebirds Mailbox durchstellen.“
Moder, Staub und Verwesung hingen in der Luft. Roger verzog an-
geekelt das Gesicht. Er kannte den Geruch irgendwoher; wenn er nur
wüsste, woher.
Das Kommlink zeigte eine erfolgreiche Verbindung zur Mailbox
an. „Mr. Whitebird, hier ist Roger Soaring Owl. Ich glaube, Ghost-
walker wollte mich sprechen. Ich... ich muss ihn auch sprechen. Bitte
rufen Sie mich zurück. Da gibt es etwas, das er wissen sollte. Etwas,
das uns alle betrifft.“
Eine Hand tippte ihm auf die Schulter. Er nickte und winkte ab.
Nachdem er entschieden hatte, dass er nichts mehr hinzufügen konn-
te, ohne zu viel zu verraten, unterbrach er die Verbindung und drehte
sich um.
Captain Tyler Climbing-Bear war ein kleiner, stämmiger Mann,
der seit ihrer letzten Begegnung offenbar ein paar Pfunde zugelegt hat-
te. Sein schwarzes Haar war militärisch kurz geschnitten, und er hat-
te braune Augen und gebräunte Haut. Er trug Jeans, ein T-Shirt und
seine Knight-Errant-Panzerjacke. Roger konnte keine Fühler, Klauen,
Facettenaugen oder sonstige insektoide Merkmale erkennen. Es gab
keine Anzeichen dafür, dass Tyler ein Insektengeist in Fleischgestalt
war. Kurz gesagt, Tyler sah wie der normale Mensch aus, der er auch
sein sollte.
„Hallo, Boss.“
„Captain.“ Roger gab Tyler einen kräftigen Klaps auf den Arm,
dann schüttelte er seine schmerzende Hand. Tylers Knight-Errant-
Jacke fühlte sich an, als wäre sie mit Panzerplatten gepolstert. „Haben
Sie Ihre Jacke modifiziert?“
Tyler grinste. „Gelpolster. Sie verfestigen sich bei Stoßeinwirkung,
schon vergessen?“
Roger nickte und antwortete in so beiläufigem Ton, wie ihm mög-
lich war. „Die müssen neu sein. Die Gelpolster, die ich kenne, verhär-
ten sich erst bei höherer Krafteinwirkung.“
Tyler blinzelte. Ein Ausdruck von Befremden zog über sein Ge-
sicht, bevor er seine Miene wieder unter Kontrolle bekam. „Gehen wir
in mein Zimmer. Ich will nicht im Flur darüber reden.“
„Das verstehe ich.“
Wie Hotelzimmer in der ganzen Welt enthielt auch dieses Zimmer
gleichzeitig Bett und Bad. Die üblichen langweiligen Bilder zierten die
Wände. Der Schrank hatte keine Tür und das Zimmer kein Fenster,
doch die Bettwäsche schien sauber zu sein und der Boden gesaugt.
Aber Roger bekam einfach nicht diesen Geruch aus der Nase. Er ver-
folgte ihn.
„Ich habe leider keine Stühle“, sagte Tyler entschuldigend.
Roger lachte leise und setzte sich auf eine Ecke des Bettes. „Das ist
okay. Ich habe schon schlechter gesessen.“
Tyler schnaubte und setzte sich neben ihn. „Da bin ich mir sicher.
Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten.“
„Für einen alten Freund immer.“
Die Unterhaltung schlief ein. Tyler rutschte hin und her. Er spielte
mit dem Reißverschluss seiner Jacke. Roger dehnte das Schweigen aus.
Er wusste, welche Gefühle in Tylers Herz tobten.
Tyler sprang auf und ging im Zimmer hin und her. „Sie haben mein
Team genommen.“
„Wie?“
„Knight hat uns zu Waffentests in die Unlimitech-Anlage abkom-
mandiert. Das war es, was er uns erzählt hat, was er uns versprochen
hat.“
Roger unterdrückte ein Grinsen. „Sie waren schon immer scharf
auf die neuen Spielzeuge.“
Tyler knurrte. „Wie viel haben Sie gesehen, Boss?“
Rogers Gesicht glättete sich. Alle Anzeichen von Belustigung waren
verschwunden. „Genug. Zu viel.“
„Wir kamen in ein Labor, wo die Techniker lauter Spritzen, Nano-
bot-Sprays und anderes Zeug auf ihren Tischen liegen hatten. Sie be-
fahlen meinen Leuten, sich auszuziehen. Jeder bekam eine Injektion.
Kleine weiße Pillen, die wie Reiskörner aussahen, wurden unter ihre
Haut implantiert. Dann wurden alle mit einem weißen, klebrigen
Zeug eingesprüht, das wie Spinnweben aussah.“
Roger versteifte sich. „Kokons?“
„Nein.“ Tyler winkte die Befürchtung beiseite. „Wir... sie konnten
sich immer noch bewegen und herumgehen. Das Zeug bedeckte nur die
Haut. Nicht so dick wie ein Insektenkokon. Das Zeug war harmlos.“
„Sie klingen, als wären Sie sich da nicht so sicher.“ Roger Stimme
klang sogar für ihn selbst leer und verzweifelt. Er zuckte zusammen
und versuchte, normal zu reden. „Was geschah dann?“
„Die ersten beiden Tage waren okay. Die Techies fütterten das Team
jeden Morgen mit Gelee Royale und sagten, das würde die Sache be-
schleunigen. Am dritten Morgen verschwand Donna. Sie war noch bei
uns, als wir ins Bett gingen, aber nicht mehr da, als wir aufwachten.“
„Sie starb?“ Eine naheliegende Vermutung. Die meisten Leute star-
ben, wenn Insektengeister im Spiel waren.
„Ja. Nein. Ich weiß es nicht. Ich habe nicht gefragt. Es war nicht
mein Job, so etwas zu wissen.“
Roger warf einen scharfen Blick auf seinen ehemaligen Schützling,
und Tyler hatte den Anstand, betroffen auszusehen. „Sie sind der An-
führer, Tyler. Zu wissen, was mit Ihren Leuten passiert oder passieren
wird, gehört zu Ihrem Job. Sie zu beschützen, gehört zu Ihrem Job.“
„Ja, Boss. Ich weiß. Es ist nur... in dem Moment wurde es richtig
übel. Die Schmerzen. Sie können es sich nicht vorstellen. Als würden
Millionen Insekten einen unter der Haut beißen. Alle Nerven stehen
in Flammen. Jeder Versuch, zusammenhängend zu denken, ist unmög-
lich. Zwischendurch immer wieder kurze Moment der Klarheit, in de-
nen man sich erinnert, wer man ist und was man macht. Und dann
geht es wieder von vorne los.“
 „Sagen Sie, Tyler, ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, nein zu sagen?“
„Machen Sie Witze, Boss? Sehen Sie sich das an.“ Tyler zog seine Jacke aus, dann sein
T-Shirt. Braune Chitinplatten bedeckten seine Arme und seine Brust, verschwanden un-
ten in seiner Jeans.
Grauen durchfuhr Roger. Der modrige, staubige Verwesungsgeruch war stärker gewor-
den, als Tyler sich ausgezogen hatte. Roger hatte sich geirrt. Der Mann, der Tyler Clim-
bing-Bear gewesen war, war tot, ersetzt durch einen Insektengeist in Fleischgestalt. Roger
spürte, wie sein Herz wieder einmal brach. Wie viel davon musste er noch ertragen?
„O mein Gott. Bitte nicht.“
„Verstehen Sie mich nicht falsch, Boss.“ Die Kreatur, die einmal Tyler ge-
wesen war, beugte die Arme. Scharfe, messerartige Stacheln schoben sich
aus seinen Handflächen. „Es tat gewaltig weh. Aber das war es wert. Ich
bin ein ganz neuer Mensch. Nichts kann mich mehr verletzten. Nicht
einmal Sie.“
Roger sprang auf und zog seine Waffe. Er schob sich langsam zur
Tür.
Der Insektengeist grinste und zeigte weiße Zähne, genau wie der echte
Tyler. In seltenen Fällen kam es vor, dass die Fleischgestalten die Erinne-
rungen und Persönlichkeiten ihrer menschlichen Wirtskörper behielten. „Mr.
Knight ist extrem enttäuscht von Ihnen, Boss. Er will, dass Sie zurückkom-
men oder getötet werden.“
„Das wird nicht passieren.“
„Natürlich nicht, aber was ist, wenn ich Ihnen ein besseres Angebot ma-
che?“
Roger zögerte, sein Zeigefinger lag locker auf dem Abzug. „Wie bitte?“
„Meine Königin braucht Ihre Hilfe, Roger. Wenn Sie ihr helfen, aus die-
sem verhassten Laboratorium auszubrechen, wird Sie Ihnen alles geben, was
Sie wollen. Geld, Ruhm, Besitz. Was Sie nur wollen.“
Rogers Fuß stieß an die Türschwelle. „Und wenn ich mich weigere?“
Der Insektengeist zuckte unglücklich die Schultern. „Dann muss ich
Sie töten. Wir können nicht zulassen, dass sich herumspricht, dass Knight
die Situation nicht so unter Kontrolle hat, wie er glaubt.“
Roger langte mit seiner freien Hand nach der Türklinke. Als der
Insektengeist sich auf ihn stürzte, feuerte er zweimal. Der erste Schuss
ging daneben. Die andere Kugel prallte von der Panzerung der Fleisch-
gestalt ab.
„Ich habe es Ihnen gesagt, Boss. Ich bin unverwundbar.“
Der Insektengeist hieb mit ausgefahrenen Stacheln nach Roger. Roger
riss die Tür auf und schlug sie dem Geist entgegen. Ein Stachel drang in das
billige Holz, und der Insektengeist heulte.
Roger rannte.
Da seine Pistole nutzlos war, steckte er sie ins Holster und suchte nach einer
anderen Waffe. Doch in dem leeren Flur gab es nichts. Also rannte er die Trep-
pen hinab, immer zwei oder drei Stufen auf einmal nehmend. Die zischende
Monstrosität jagte ihm nach und schrie ihm unflätige Beschimpfungen hinter-
her. Dann fiel etwas in der Mitte des Treppenhauses nach unten. Roger schwang
sich um die fünfte Ecke und vor ihm zog sich gerade der Insektengeist hoch.
„Hallo, Roger.“
Roger verpasste ihm einen Roundhouse-Kick. Der Insektengeist wankte zu-
rück, ging aber nicht zu Boden.
Der Insektengeist drohte ihm mit dem Finger. „Wann werden Sie einsehen,
dass Sie diesen Kampf nicht gewinnen können? Ich habe ein Geschenk für Sie.“
Er zog eine pulsierende weiße Kapsel von der Größe einer Haarbürste unter
seinen Chitinplatten hervor.
Keuchend drehte Roger sich um und rannte wieder zum sechsten Stock
hinauf. Am Ende des Flurs sah er eine Klappe, über der „Notausgang“
stand. Er riss sie auf und befand sich direkt vor einer gemauerten
Wand.
„Verdammt!“
Er drehte sich um und floh zum straßenwärts gelegenen Ende des Flures. Die Tür zum Treppen-
haus öffnete sich, als er daran vorbeikam.
„Sie können mir nicht entkommen, Boss. Akzeptieren Sie es.“
 „Niemals, du Missgeburt!“ Fest davon überzeugt, dass es besser war,
bei einem Sturz auf die Straße zu sterben, als zum Wirt eines Insek-
tengeistes zu werden, zog Roger seine Waffe und feuerte. Das Fenster
zersplitterte an zwei Stellen und zerbrach vollends, als er sich dagegen
warf. Sein Bewegungsimpuls trug ihn vorwärts. Schreie füllten seine
Ohren. Grün füllte sein Blickfeld.
Im letzten Moment erinnerte sich Roger an die Markise über dem
Eingang. Das starke, nanitengefertigte Gewebe hielt seinen Sturz auf.
Anstatt durch den Stoff hindurch zu fallen, rollte er über den Rand. Er
verlor genug Geschwindigkeit, dass er sich nur den linken Arm brach, als
er, Schulter voran, auf dem Pflaster landete. Er schrie auf, als der Knochen
brach. Aber besser sein Arm als sein Hals. Er taumelte auf die Füße.
Die Passanten wichen vor ihm zurück, mit Ausnahme eines küh-
nen jungen Mannes, der Rogers fallengelassene Waffe aufhob. Roger
schickte ihn mit einem Nackenschlag zu Boden und schnappte seine
Pistole. Er blickte zur Markise hoch und dachte über seine nächsten
Schritte nach.
Ein Magier in den Farben der Zone Defense Force schob sich durch
die Menge. „Waffenlizenz und SIN bitte, Sir.“
Die Markise beulte sich durch, als jemand – oder etwas – von oben
in ihr landete.
„Weg hier!“, schrie Roger. Er stieß den Magier beiseite, als der Stoff
zerriss. Der Insektengeist stürzte hindurch und kam mit der gleichen
Bewegung auf die Füße.
Ein neugieriger Junge entkam dem Griff seiner Eltern und rannte
nach vorne, um sich alles anzusehen.
„Nein!“ Roger rannte auf den Jungen los.
Es war zu spät. Der Insektengeist säbelte dem Jungen den Kopf ab,
Blut spritzte in einem hohen Bogen. Die Mutter kreischte. Überra-
schungsschreie verwandelten sich in Entsetzensschreie. Die Menge ge-
riet in Panik. Leute liefen auf die befahrene Straße. Bremsen quietsch-
ten. Blech traf auf Blech. Metall kreischte protestierend und Hupen
ließen ihrem Ärger freien Lauf, als die Fußgänger in ihrem primitiven
Fluchtinstinkt alle Verkehrsregeln missachteten.
Der Magier war vor Schreck erstarrt, sein Mund bewegte sich.
„Weg hier, Mann.“ Roger packte seinen Arm und zog ihn mit sich.
Die beiden Männer rannten, verfolgt von dem Insektengeist.
„Was ist das für ein Ding?“, fragte der Magier.
„Insektengeist. Fleischgestalt. Wir müssen ihn von den Passanten
wegbekommen, bevor wir gegen ihn kämpfen.“
Der Magier schüttelte den Kopf. „Gegen ihn kämpfen? Aber womit
sollen wir ihn anlocken?“
Roger presste die Lippen zusammen und knurrte. „Mit mir.“ Ein
Blick über die Schulter verriet ihm, dass der Insektengeist ihnen auf
den Fersen war. Und schnell näher kam.
Der Magier blickte zurück und keuchte.
„Schneller!“, drängte ihn Roger.
Sirenen erklangen, ihr Jaulen war über der Panik deutlich zu hören.
Zivilfahrzeuge machten Platz, ob ihre Fahrer es wollten oder nicht.
Zwei Ares Roadmaster schossen um die Ecke. Rote und weiße Lichter
blinkten auf ihren Dächern.
„Verstärkung“, seufzte der Magier erleichtert.
Roger hätte fast über die Ironie gelacht, dass Ares-Fahrzeuge ka-
men, um ihn vor einer Ares-Gefahr zu schützen. Doch der Gedanke
verflog, als eine Hand seinen gebrochenen Arm packte und ihn nach
hinten riss.
„Halt oder wir eröffnen das Feuer“, rief der Fahrer des ersten Fahr-
zeugs über seine Außensprechanlage.
Der Insektengeist lachte, als er Roger zu sich heranzog. „Nur zu!“
Im Geiste stellte sich Roger das Klicken Dutzender von Waffen vor.
Er konnte die Befehle hören, so wie er sie früher immer wieder erteilt
hatte. „Entsichern! Ziel erfassen!“
„Was hast du gesagt?“, fragte der Insektengeist.
Roger blinzelte, dann grinste er, als ihm klar wurde, dass er laut
geredet hatte. „Feuer.“
Ein einzelner Schuss erklang. Die Predator ruckte in seiner Hand.
Die Fleischgestalt jaulte auf.
„Mein Fuß!“
Roger riss sich aus dem gelockerten Griff des Insektengeistes los und
warf sich auf den Boden. Der Lautsprecher rief: „Alle Mann: Feuer!“
Donner erfüllte die Luft. Roger schützte seinen Kopf mit dem rech-
ten Arm. Der Lärm schien nicht aufhören zu wollen. Dann erklang ein
Geräusch wie ein Brüllen, und etwas Heißes fegte an Roger vorbei. Es
klang wie ein Feuerball.
Ein langgezogener, schriller, hoher Todesschrei durchdrang die
Luft. Er schien sich bis in die Knochen zu bohren. Auch nachdem die
Hitze erstorben war, konnte Roger ihn noch hören. Er lag still, wagte
sich nicht zu bewegen. Der anhaltende Kugelhagel würde ihn umbrin-
gen, wenn er im falschen Moment aufstand.
Schließlich berührte eine Hand seinen Arm. Erschreckt blick-
te Roger auf, doch es war der Magier. Seine Lippen bewegten sich,
aber es war nichts zu hören. Es brauchte einen Moment, bis Roger
erkannte, dass nicht mehr geschossen wurde. Er ließ sich von dem
Magier auf die Beine helfen und sah sich um. Er stand neben einem
geschwärzten Fleck des Straßenpflasters, in dem Klumpen von Asche
und Chitin lagen.
Ein Stück halbgeschmolzenes Plastik rollte über das Pflaster. Roger
hielt es mit seinem Fuß auf. Das verzerrte Bild von Captain Roger
Climbing-Bear starrte ihn an. Das war der letzte Überrest seines ehe-
maligen Schützlings.
Regentropfen fielen auf Rogers Wangen. Ein passender Tribut,
dachte er, doch dann sah er den sonnigen Himmel. Und erkannte,
dass er weinte.
„Tyler. Mein Gott, warum?“
Der Magier wedelte mit der Hand vor Rogers Gesicht, dann deu-
tete er auf seinen linken Arm. Als Roger verstand, dass der Magier ihn
heilen wollte, nickte er.
Aber die Tränen fielen weiter.
*
Oak schmollte in einer Ecke des Hotelzimmers vor sich hin. Egal, was
Ray zu ihm sagte, der Junge weigerte sich, mit ihm zu reden. Schließ-
lich gab Ray es auf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
„Er wird reden, wenn er so weit ist, Sir“, sagte Clouds-in-Eyes.
„Ich will keinen Sohn, der matrixabhängig ist. Er wird aufwachsen
und ein mächtiger Schamane werden, genau wie seine Schwester und
sein Bruder.“
„Natürlich, Sir.“
„Sagen Sie mir, dass Sie meine Dateien haben.“
Der Trollsekretär reichte ihm einen Datenchip. „Alles, was Sie be-
nötigen, um zu beweisen, dass Roger Soaring Owl ein Verräter an den
Sioux und den Native American Nations ist, Sir.“
„Wunderbar.“ Ray schlug vor Freude die Hände zusammen. „Wo
haben Sie sie her?“
„Bei allem Respekt, Sir, Sie sollten keine Fragen stellen, auf die Sie
die Antworten nicht wissen wollen.“
„Ich muss Ihnen eine Gehaltserhöhung geben, Clouds-in-Eyes.“
Der Troll verbeugte sich. „Wie Sie wünschen, Sir.“
Ray schob den Chip ein und begutachtete die Details von Ro-
ger Soaring Owls Untergang. Der Hacker hatte an alles gedacht, an
Matrixposts, SIN-Spuren und Geldtransfers. Es fehlte nur noch eine
Kleinigkeit. Es musste dafür gesorgt werden, dass Soaring Owl auch
wirklich bei seiner eigenen Auktion auftauchte.
 Ray war so versunken, dass er das Klopfen an der Zimmertür nicht
bemerkte.
Clouds-in-Eyes sagte etwas. Er wiederholte es noch einmal, etwas
näher an Rays Ohren. „Soll ich aufmachen, Sir?“
„Hm? Ja, ja.“
In einem plötzlichen Schwall von Hitze und Luft verpuffte die Tür
des Hotelzimmers in Tausende Splitter verbrannten Kohlenstoffs. Oak
kreischte. Ray drehte sich halb herum, immer noch auf seine Dateien
fokussiert. Die drei Wahrheitstänzer, die er angeheuert hatte, standen
im Türrahmen. Sie kamen herein, als gehörte das Verdampfen von Tü-
ren zu ihren alltäglichen Verrichtungen.
„Was zur Hölle soll das?“ Ray stand auf. „Jetzt muss ich diese ver-
dammte Tür bezahlen. Wenn ihr Neuigkeiten über Soaring Owl habt,
hätte auch ein Anruf genügt.“
„Ray Simon“, intonierten die Schamanen, „du wirst vor unseren
Kreis des Tanzes vorgeladen. Wir ersuchen dich, vor dem Souverä-
nen Stammesrat die Wahrheit zu sagen, und nichts als die Wahr-
heit.“
„Ihr könnt mich nicht vorladen. Ich bin ein Ratsmitglied.“
„Nicht mehr“, sagte Oak. „Zany hat gesagt, dass du rausfliegst, weil
du das Spiel nicht mitspielst.“
Die Schamanen sahen Oak an, dann Rays verwirrten Gesichtsaus-
druck, dann wieder Oak.
„Zany?“, fragte einer von ihnen.
„Welches Spiel?“, fragte ein anderer.
Oak sprang auf die Füße. „Mein bester Freund, Zany Zuni. Das
Exchange-Spiel. Ihr wisst doch, wie das funktioniert. Wenn Zany ei-
nem ein Geschenk gibt, dann muss man ihm eins zurückgeben. Aber
Dad hält sich nicht an die Spielregeln. Er nimmt immer, aber er gibt
nichts zurück.“
„Interessant.“ Der dritte Schamane hob seine (ihre?) Hand und leg-
te einen Bindezauber um Rays Arm. „Ich sehe, dass wir über vieles zu
reden haben. Ich hoffe doch, dass du keine vertraulichen Dokumente
herumliegen lassen hast. Es würde mir gar nicht gefallen, wenn dein
Sohn ein Sicherheitsrisiko wäre.“
Ray erbleichte. Seine Knie gaben nach, und er sank zu Boden.
*
Roger brauchte drei Tage, um sich von seinem Abenteuer zu erholen,
und diese Zeit verbrachte er komplett in seinem Apartment oder im
Eagle’s Nest, wo er Sinopa zu erklären versuchte, dass er keinen inter-
nationalen Zwischenfall heraufbeschwören wollte. Er erzählte ihr nur
das Wichtigste: Damien hatte ein Team auf ihn angesetzt, und die
Sache geriet außer Kontrolle. Ja, gut, da war ein Feuerball gewesen.
Aber da Roger weder Magier noch Schamane war, konnte sie ihn da-
für nicht verantwortlich machen.
Sobald seine Heilung jedoch weit genug vorangeschritten war,
konnte ihn nichts mehr im Haus halten. Wenn er längere Zeit in Den-
ver bleiben wollte, musste er die Gegend kennenlernen. Also mietete er
sich einen Wagen und fuhr einen ganzen Tag lang herum. Dann ging
er in den Hub und verbrachte zwei weitere Tage damit, den Distrikt
von einem Ende bis zum anderen zu erkunden.
Dabei stieß er auf das Altitude, eine kleine, gemütliche Bar, etwas
abseits gelegen, die ihn fast beim Namen zu rufen schien. Also nahm er
sich eine Auszeit von seiner selbst auferlegten Mission, um sich einen
Drink zu genehmigen. Außerdem konnte er mit einem Whisky in der
Hand besser denken.
„Möchten Sie noch einen Drink?“
Roger blickte auf die polierte Oberfläche der Theke und nutzte die
spiegelnde Fläche dazu, den Mann zu mustern, der das gesagt hatte.
Es war ein Ork, gut gekleidet und höflich, mit einem Gesicht, das
nur ein Idiot – oder jemand, der ganz neu in Denver war – nicht
erkennen würde.
„Nicholas Whitebird“, sagte Roger. „Was machen Sie hier?“
Der Ork lachte kurz auf und glitt auf den plötzlich leeren Barho-
cker neben Roger. „Das Altitude ist meine Lieblingsadresse, um mich
zu entspannen. Jeder in Denver weiß das.“
Das war fast so etwas wie eine Unterstellung, dass Roger seinen
professionellen Biss verlor.
Was aber nicht stimmte.
Er war nur mit den Nerven herunter. Die Ereignisse dieser Wo-
che hatten ihm ziemlich zugesetzt. Zu viele Leute waren aus zu vielen
Gründen hinter ihm her, und sie alle wollten, dass er seinen ehema-
ligen besten Freund verriet. Außer Damien – der wollte seinen Kopf.
Konnte er Whitebird trauen? Vielleicht. Aber Whitebirds Arbeitgeber
war wieder etwas ganz anderes.
Roger hob seinen Finger und winkte nach der elfischen Barkeepe-
rin. Sie nickte ihm zu, während sie die Japanese Spirit Bomb zu Ende
mixte.
Sie schob den fast toxischen Drink dem Troll am anderen Ende der
Theke zu, dann kam sie herüber und nahm Rogers leeres Glas.
„Noch ein Whisky?“
Er nickte. „Pur diesmal.“
„Setzen Sie es auf meine Rechnung“, sagte Whitebird.
Die Barkeeperin nickte mit einem Lächeln auf ihren dunklen Lip-
pen. „Okay, Mr. Whitebird.“
„Sie müssen das nicht tun“, sagte Roger.
Whitebird zuckte die Schultern. „Ich erkenne das Gesicht eines
Mannes, der mit Dämonen ringt. Wenn ich helfen kann, auch wenn
es nur ein bisschen ist, dann kann ich heute Nacht besser schlafen.“
Eine diskrete und höfliche Eröffnung. Es wäre so einfach, jetzt alle
Karten auf den Tisch zu legen. Aber was konnte er dem Drachen wirk-
lich als Gegenleistung für seine Unterstützung anbieten? Und konnte
er Damien so einfach verraten?
„Eine lebhafte Stadt haben Sie hier“, antwortete Roger. „Einiges
von dieser Tech habe ich noch nie gesehen.“
„Das Neueste auf dem Gebiet der Anti-Überwachung. Sie werden
feststellen, dass viele Orte in Denver bestens ausgerüstet sind, um mit
den meisten Problemen fertigzuwerden.“
„Und was für Probleme dürften das sein?“
Whitebird zuckte die Schultern. „Das Übliche. Schmuggel, Dro-
genhandel, Spionage.“
„Es heißt, Big G würde das alles nicht tolerieren.“
„Tut er auch nicht. Offiziell.“
„Wo ist Ihr Boss eigentlich?“
Whitebird grinste. „Das sind Geschichten von morgen, vorausge-
setzt wir überleben. Wo ist Ihr Boss? Ex-Boss, meine ich.“
Roger schwieg. Die Barkeeperin nutzte die Gesprächspause, um
Roger seinen Whisky und Whitebird einen rötlich-klaren Drink in ei-
nem zierlichen, dünnen Glas hinzustellen; einen Drink, der verdächtig
nach einem Shirley Temple aussah.
Der ehemalige KE-Vizepräsident sah den Drink an, dann Whitebirds
Gesicht und dann wieder den Drink, als Whitebird daran nippte.
„Was?“, fragte der Ork, sein Gesicht eine Maske der Unschuld. „Ich
bin im Dienst.“
Zum ersten Mal seit zwei Wochen lachte Roger Soaring Owl.
LICHT AUS, SPOT AN!
Am Ende eines Runs sind Runner tot – oder
haben Geschichte geschrieben. Einige besondere
Personen draußen in den Schatten und Lichtern
der Gesellschaft sind immer wieder Teil solcher
Geschichten. Personen, von denen man sich hinter
vorgehaltener Hand erzählt. Einige von ihnen sind
Profis, andere hatten einfach Glück, und ein paar
gehören zu den mächtigsten Wesen der Sechsten Welt.
Alle aber haben eines gemeinsam: Sie sind Legenden.
Straßenlegenden stellt über 30 bekannte
Personen aus dem Shadowrun-Universum vor:
Darunter Shadowtalker wie Haze, Rigger X und
Puck, Runner wie Serrin Shamander oder Tommy
Talon, mächtige Größen wie Lugh Surehand,
Nadja Daviar oder der Großdrache Lofwyr. In
dieser deutschen Version des Buches sind zudem
die Drachen Nebelherr und Kaltenstein, die Vorsitzende
des Frankfurter Bankenvereins Stüler-Waffenschmidt
und das Kommando Konwacht beschrieben. Kurzgeschichten,
Hintergründe, Agenden: Mit diesen Informationen werden die
Größen der Shadowrun-Welt von fernen Sternen zu echten
Akteuren am Spieltisch.

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