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BERLIN

Zehn Liebeserklärungen von Malern an die Stadt. Plus: Serviceteil 2015

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Erich Heckel, Fränzi liegend, 1910, € 150.000–300.000, 106. Auktion, 12. Mai 2015

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Bilder des 19. Jahrhunderts Mag. Monika Schweighofer, T +43 1 532 42 00-10, schweighofer@imkinsky.com
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Jugendstil & Design Mag. Roswitha Holly, T +43 1 532 42 00-19, holly@imkinsky.com
Klassische Moderne Mag. Claudia Mörth-Gasser, T +43 1 532 42 00-14, moerth-gasser@imkinsky.com
Zeitgenössische Kunst Mag. Astrid Pfeiffer, T +43 1 532 42 00-13, pfeiffer@imkinsky.com

Zusätzlich zu unseren Expertinnen stehen Ihnen Michael Kovacek und Ernst Ploil,
geschäftsführende Gesellschafter des Auktionshauses im Kinsky, auf Wunsch Auktionshaus im Kinsky GmbH
als Berater zur Verfügung. Private Sale: Wir vermitteln auch privat! Palais Kinsky, 1010 Wien, Freyung 4
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UNSER
TITELBILD
TITELBILD: Christoph Niemann für WELTKUNST; Bilder rechts: Christie‘s Images Ltd. 1988; Karen Bartsch, Berlin/Grisebach, Berlin 2007/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; akg-images

Bei Lesser Ury (1861–1931) ist


das Brandenburger Tor immer
wieder Kulisse für Flaneure
und den noch jungen Automo-
bilverkehr. Rechts oben: Rot
leuchtet das Tor 1990 bei Karl-
Horst Hödicke. Ernst Ludwig
Kirchners Vision aus dem Jahr
1915 (re.) wirkt bedrohlich

Das Brandenburger Tor ist zum Wahrzei­ ben ist schon der Mauerfall reflektiert, der seit tens empfohlen, besonders wenn im Juni
chen der Stadt geworden, seitdem der klassi­ dem Schicksalsjahr 1989 ebenfalls im Bran­ die Linden blühen, ihren einmaligen Duft
zistische Bau von Carl Gotthard Langhans denburger Tor sein Symbol gefunden hat. verströmen und sämtliche Baustellen verges­
1791 fertiggestellt wurde. Schon seit Langem Unser Coverkünstler Christoph Nie­ sen lassen.
inspiriert es die Künstler. Der Expressionist mann, bekannt für seine Titelbilder der Zeit­ Wenn Sie mehr von Christoph Niemann
Ernst Ludwig Kirchner malte 1915 in giftigen schrift »New Yorker«, greift zusätzlich eine sehen wollen: Im Museum für Angewandte
Farben und steilen Perspektiven eine dy­ weitere Berliner Sehenswürdigkeit auf. Er be­ Kunst in Wien läuft vom 1. Juli bis 11. Septem­
namisch­unheilvolle Metropolis. In den freit die über 3000 Jahre alte Nofretete aus ber seine Ausstellung »Unterm Strich«, und
Zwanzigerjahren tauchte Lesser Ury den ihrem dunklen Zuhause im Neuen Museum in Berlin zeigt die Galerie Max Hetzler in der
Boulevard Unter den Linden in sein verreg­ und lässt sie in sommerlichem Outfit durch Charlottenburger Goethestraße zum Gallery
net­atmosphärisches Großstadtlicht, und in das Brandenburger Tor radeln. Das Fahrrad­ Weekend ab Ende April seine neuesten
Karl­Horst Hödickes Leinwand in Signalfar­ fahren sei Ihnen in Berlin übrigens wärms­ Zeichnungen. MATTHIAS EHLERT

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INHALT

Bilder: Gerhard Westrich/laif; Antje Voigt/Staatliche Museen zu Berlin, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst; Bilder rechts: Christian Werner; Achim Hatzius; Galerie Michael Schultz, Berlin; Lempertz
Künstlerhäuser S. 22

Die großen Geschichten


12 Verliebt in Berlin 39 Freigeist im Museum
Wie sich Berliner Künstler der Anna-Catharina Gebbers
Liebe in all ihren Facetten wid-
men. Dazu schreibt Jan Brandt 39 Die freie Kuratorin
über magische Momente an Clara Meister
einem Frühlingstag in Kreuzberg
40 Der Auktionator
22 Künstlerhäuser David Bassenge
Work-Life-Balance: Die Wohn-
ateliers der Maler und Bildhauer 42 Der Lieblingskünstler
erzählen von ihrer Persönlichkeit Julian Charrière

34 Wir sind die Neuen 43 Die Tippgeber


Neun Aufsteiger, die die Kunst- Nina Trippel, Sven Hausherr
szene der Stadt schon heute
prägen – und in Zukunft noch 44 Stein gegen Stein
wichtiger werden Die Berlinische Galerie zeigt
den architektonischen Streit von
36 Die Netzwerkerin Ost und West im geteilten Berlin
Kriegsopfer Kunst S. 58
Isabel Bernheimer
50 »Mach mal Berlin Style!«
36 Die Trendgaleristen Die Altbauwohnung eines
Amadeo Kraupa-Tuskany Kunstsammlers verblüfft mit
und Nadine Zeidler exzentrischem Möbelmix

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Wir sind die Neuen S. 34 Verliebt in Berlin S. 12
Agenda
58 Kriegsopfer Kunst 74 Stil ohne Grenzen 100 Schatztruhe am Ku’damm
1945 verbrannten im Flakbunker Die große Zero-Ausstellung Das Auktionshaus Leo Spik
Friedrichshain Hunderte Bilder im Martin-Gropius-Bau hält die Tradition hoch
und Skulpturen. An diesen
Verlust erinnert das Bode-Museum 76 Ausstellungen 102 Auktionshäuser
Museen, Kunstvereine, Samm- Wo überall der Hammer fällt
64 Träumen und nie aufwachen lungen – Adressen und Termine
Ein Gespräch mit Christian Plus: Rembrandt in der Gemälde- 104 Experte in fünfter Generation
Boros über sein Privatmuseum galerie, Hans Christiansen im Wolfgang Mecklenburg führt das
und das Glück der Außenseiter Bröhan-Museum und »Queen- Autografenhaus Stargardt
size« in der Sammlung Olbricht
68 Phantom der Moderne 110 Auf ein Frühstücksei mit Grosz
Fast vergessen: Der Kunsthändler 82 »Sind wir nicht alle gescheitert?« Die Berliner haben ihre
Otto Feldmann zeigte erstmals in Klaus Staeck verabschiedet sich Künstler zum Fressen gern
Berlin Picasso und die Kubisten als Präsident der Akademie der
Künste mit einer Ausstellung

84 Mit jungen Künstlern gewachsen


Clemens Fahnemann ist seit
30 Jahren Galerist

86 Gallery Weekend
50 Galerien laden für ein
Wochenende in ihre Räume

87 Galerien
Adressen und Ausstellungen

92 Lager, Labs und Boxen


Neue Kunstorte in der Stadt
Auktionshäuser S. 102
94 Lücken schließen
Händler Thomas Derda folgt
dem Sog der Hauptstadt
8 Editorial
96 Kunsthandel 10 Mitarbeiter des Monats
Spezialisten für Antiquitäten 114 Vorschau/Impressum
Berlin Style S. 50

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EDITORIAL

Liebe Leserinnen,
liebe Leser,
Berlin ist ein Magnet. 28,7 Millionen Übernach-
tungen buchten Besucher aus dem In- und Aus-
land im letzten Jahr. Damit ist wieder ein neuer
Rekord erreicht, und dieses Jahr werden es wohl

Bilder: Wolfgang Stahr; Dieter Urbach/Berlinische Galerie/Repro: Kai-Annett Becker


noch einmal mehr werden. Willkommen! Das
Amt für Statistik Berlin-Brandenburg berichtet
außerdem, dass die meisten der 4,5 Millionen
ausländischen Gäste aus Großbritannien, den
USA und Italien kommen. Auch bei Südkorea-
nern, Iren und Portugiesen wird Berlin immer blik errichtet. Jetzt gehört das Gebäude, das auf
beliebter. Die durchschnittliche Aufenthalts- dem Bild noch Zukunftsmusik ist, längst selbst
dauer beträgt zweieinhalb Tage … aber bitte, der Vergangenheit an, und mehrere Stockwerke
bleiben Sie doch etwas länger! hoch erheben sich stattdessen die Betonwände
Wo so viele Menschen aufeinandertreffen, der Schlossrekonstruktion: Von der Berliner Ge-
spielt auch die Liebe immer eine wichtige Rolle. schichte kann einem schwindelig werden. Die
Wir haben die Berliner Kunstgeschichte unter mit Airbrush bearbeitete Fotocollage ist übri-
diesem Aspekt durchstöbert und präsentieren gens Teil der Ausstellung »Radikal Modern« in
Ihnen eine Auswahl an Werken aus verschiede- der Berlinischen Galerie, die ab Mai das Bauerbe
nen Epochen, die vom zarten Gefühl bis zum der 1960er-Jahre in Ost- und West-Berlin unter
wilden Trieb reichen (S. 12). die Lupe nimmt (S. 44). Wie schrieb Karl Scheffler
Was Sie hier unten auf dem futuristisch an- 1910 über Berlin? »Immerfort werden, nie sein.«
mutenden Panorama von Dieter Urbach aus Das mit dem Werden stimmt, aber die Gegen-
dem Jahr 1972 sehen, ist der Berliner Schloss- wart ist in Berlin ebenfalls quicklebendig.
platz, damals Marx-Engels-Platz, mit Blick von
Südwesten auf den Dom und Fernsehturm. Das Ihre Lisa Zeitz
Schloss war schon dem Erdboden gleichge- Chefredakteurin
macht, bald darauf wurde der Palast der Repu-
twitter.com/WeltkunstNews
instagram.com/lisazeitz

facebook.com/weltkunst

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Galerie Max Hetzler Berlin | Paris

Allora & Calzadilla


Cory Arcangel
Bernadette Corporation

Open Source Ian Cheng


Simon Denny
Jeff Elrod
Art at the Eclipse of Capitalism John Gerrard
Calla Henkel & Max Pitegoff
Pierre Huyghe
Curated by
Lisa Schiff
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Leslie Fritz Daniel Keller
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9 March – 19 April 2015
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Berlin-Charlottenburg
Prinzenstraße 81, Mark Leckey
Berlin-Kreuzberg Michel Majerus
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Berlin-Tiergarten
Leipziger Straße 54, Katja Novitskova
Berlin-Mitte Albert Oehlen
in collaboration with
Art Production Fund,
Laura Owens
New York Seth Price
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12 March – 18 April 2015
Bleibtreustraße 45 Sebastian Lloyd Rees
Goethestraße 2/3 Tabor Robak
D-10623 Berlin Pamela Rosenkranz
13 March – 18 April 2015 Hugh Scott-Douglas
57, rue du Temple Steven Shearer
F-75004 Paris
Reena Spaulings
Online exhibition Frank Stella
Artuner Rirkrit Tiravanija
artuner.com
Kelley Walker
Christopher Wool

maxhetzler.com

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MITARBEITER
DES MONATS
Herlinde Koelbl
Ob »Männer« (1984), »Jüdische Portraits«
(1989) oder »Spuren der Macht« (1999): Ihre
Fotobücher sind längst legendär. Herlinde
Koelbl geht den Menschen auf den Grund,
mit der Kamera und im Gespräch. Souve-
rän führt sie das in ihrem Interview mit
dem Sammler Christian Boros vor (S. 64).
»Er ist offensiv und selbstbewusst. Darum

Bilder: Bénédicte Savoy; Johannes Rodach; Oliver Kohlmann


hat er mich interessiert«, erzählt Koelbl.
»Ich wollte wissen: Was ist dahinter?«
Boros hat sich ihr offenbart und Einblick
in seine wenig bekannten Seiten gegeben.

Bernhard Schulz
Seit 25 Jahren ist er Redakteur des Tagesspiegel, da macht ihm nie-
mand etwas vor, wenn es um die Kunst- und Museumsgeschichte
Berlins geht. Vor allem ist Bernhard Schulz immer dann mit jour-
nalistischer Leidenschaft engagiert, wenn sich die Dramen der jün-
geren Historie fatal auf die Kunst auswirkten. Das Trauma des
Bode-Museums ist so ein Fall: der Bunkerbrand im Mai 1945, durch
den Berlin rund 2000 kostbare Kunstwerke verlor (S. 58).

Christian Werner
Bei allem Gegenwartsbezug der Fotografie beschäftigt sich
Christian Werner viel mit Geschichte. Denn der 1977 gebo-
rene Wahlberliner, der unter anderem für das ZEITmagazin
und die Spex fotografiert, arbeitet gerade an zwei Büchern
über das Verschwinden des alten Westdeutschlands. Wir ha-
ben ihn mit der Zukunft konfrontiert und ihn die Aufstei-
ger der Berliner Kunstszene porträtieren lassen (S. 34). »Be-
sonders die unterschiedlichen Arbeitsorte waren interessant«,
so Werners Fazit. »Vom Plattenbau bis zur Grunewaldvilla.«

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WWW.GALLERY-WEEKEND-BERLIN.DE

ARRATIA BEER HALEH REDJAIAN


GALERIE GUIDO W. BAUDACH ERIK VAN LIESHOUT
BLAIN | SOUTHERN FRANÇOIS MORELLET
GALERIE ISABELLA BORTOLOZZI CALLA HENKEL & MAX PITEGOFF
BQ BOJAN ŠARČEVIĆ
GALERIE BUCHHOLZ ISA GENZKEN
BUCHMANN GALERIE WILLIAM TUCKER
CAPITAIN PETZEL LAURA OWENS
CARLIER | GEBAUER MARIA TANIGUCHI
MEHDI CHOUAKRI N. DASH
CONTEMPORARY FINE ARTS TAL R; MARIANNE VITALE
CROY NIELSEN OLGA BALEMA; DARJA BAJAGIĆ & ALEKSANDER HARDASHNAKOV
GALERIE EIGEN + ART MARTIN EDER; ROSS CHISHOLM
KONRAD FISCHER GALERIE GIOVANNI ANSELMO
GERHARDSEN GERNER PER INGE BJØRLO
GALERIE MICHAEL HAAS FRANCIS PICABIA; FRANZ GERTSCH
GALERIE MAX HETZLER IDA EKBLAD, NAVID NUUR
JOHNEN GALERIE ROMAN ONDÁK; TINO SEHGAL
KEWENIG PEDRO CABRITA REIS
KICKEN BERLIN HELMUT NEWTON
JOHANN KÖNIG KATHARINA GROSSE; JEPPE HEIN
KOW MARIO PFEIFER; RENZO MARTENS/INSTITUTE FOR HUMAN ACTIVITIES
KRAUPA-TUSKANY ZEIDLER DANIEL KELLER
TANYA LEIGHTON GROUP SHOW CURATED BY SANYA KANTAROVSKY
MEYER RIEGGER ROSA BARBA
GALERIE NEU KLARA LIDÉN
NEUGERRIEMSCHNEIDER RENATA LUCAS; MICHEL MAJERUS, ALBERT OEHLEN & LAURA OWENS
GALERIE NORDENHAKE SIROUS NAMAZI
PERES PROJECTS MARK FLOOD
GALERIA PLAN B NAVID NUUR
GALERIJA GREGOR PODNAR TOBIAS PUTRIH
PSM DANIEL JACKSON
AUREL SCHEIBLER DAVID SCHUTTER
ESTHER SCHIPPER DANIEL STEEGMANN MANGRANÉ
GALERIE MICKY SCHUBERT BENEDICTE GYLDENSTIERNE SEHESTED
GALERIE THOMAS SCHULTE JUAN USLÉ; RICHARD DEACON
SOCIÉTÉ TIMUR SI-QIN
SPRÜTH MAGERS MARCEL VAN EEDEN; CYPRIEN GAILLARD
SUPPORTICO LOPEZ ATHENA PAPADOPOULOS
GALERIE BARBARA THUMM VALÉRIE FAVRE
VW (VENEKLASEN/WERNER) ELLIOTT HUNDLEY
GALERIE BARBARA WEISS THOMAS BAYRLE; BERTA FISCHER
WENTRUP GREGOR HILDEBRANDT
KUNSTHANDEL WOLFGANG WERNER FONTANA, VON GRAEVENITZ, GRAUBNER, MORELLET & POHL
WIEN LUKATSCH HAEGUE YANG
ŻAK | BRANICKA AGNIESZKA POLSKA; MAGDALENA ABAKANOWICZ
DELMES & ZANDER HARALD BENDER

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Verliebt
in
Berlin
Der Frühling ist da und mit ihm die
herrlichen Gefühle. Wir zeigen hier, wie
sich Berliner Künstler der Liebe in
all ihren Facetten widmen – von zärt-
licher Zweisamkeit bis zu wilder
Entgrenzung. Dazu streift Jan Brandt an
einem Frühlingstag durch Kreuzberg
und beschreibt magische Momente,
die man so geballt nirgendwo sonst in
Deutschland erleben kann

R E DA K T ION
SI M ON E S ON DE R M A N N

VON
N A M E N A M E R IC H

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V ER LI EBT I N BER LI N

Bild vorherige Seite: Rainer Fetting; Bild links: Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin, The Pace Gallery and Galerie Jousse Entreprise/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Bild rechts: Jochen Littkemann/Contemporary Fine Arts/VG Bild-Kunst, Bonn 2015
TIM EITEL
»Ohne Titel (Umarmung)«, 2014
Zwei Freunde waren zu Besuch in seinem Berliner Atelier, und ihre Geste erschöpfter
Innigkeit schien ihm lohnenswert, festgehalten zu werden. Der 1971 geborene Künstler galt
schon früh als Shootingstar der Neuen Leipziger Schule, emanzipierte sich vom Hype
und pendelt seit ein paar Jahren zwischen Paris und Berlin. Stets hängt ein Grauschleier
über Eitels Bildern, seine Menschen sind wie Inseln, losgelöst von der Welt um sie herum.

Vorherige Seite:
RAINER FETTING DANIEL RICHTER
»Psychedelic East I«, 1990 »Warum ich kein Konservativer bin«, 2000
Er ist der Bekannteste der Berliner »Neuen Wilden«, die Ende Bis zur Jahrtausendwende malte Daniel Richter nur abstrakt,
der 1970er-Jahre eine Selbsthilfegalerie am Moritzplatz dann erfolgte die Wende zum Gegenständlichen – was ihn zu
gründeten, um ihrer rohen, figurativen Malerei eine Plattform einem der wichtigsten und international erfolgreichsten deut-
zu geben. Bis heute hat Fetting sein Atelier in Kreuzberg, schen Gegenwartskünstler werden ließ. Seitdem bevölkern
wo er Jahrzehnte lang das ausschweifende Mauerleben West- Polizisten, Gorillas im Rollstuhl oder Luftgitarrenspieler seine
Berlins einfing, bevor ihm die Geschichte neue Sujets oft großformatigen, neon flackernden Stadtlandschaften. Oder
zuspielte. Vor schreiendem Gelb blickt einem ein Transvestit Paare, bei denen man sich fragt, was sie einander in die Arme
in Liza-Minnelli-Pose ins Gesicht und begrüßt eine neue trieb. Schutzbedürfnis? Drogenrausch? Oder sehen wir einfach
Epoche: die surreal-wilden Jahre der Nachwendezeit. nur ein Bild der Liebe, stets ebenso elementar wie lächerlich?

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Bild: Jörg P. Anders/SPSG

FRIEDRICH GEORG WEITSCH


»Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise«, 1799
In der Geschichte der oftmals inzestuösen royalen Zwangsverheiratungen stellen sie die glückli-
che Ausnahme dar. Zwar war auch ihre Ehe selbstverständlich arrangiert, doch waren sich der
Kronprinz von Preußen und Luise von Mecklenburg-Strelitz ernsthaft zugetan und entsprachen
damit einem neuen Liebesideal, das der bürgerlichen Welt entstammte. Dass Weitsch das
Königspaar in einer zärtlichen Berührung porträtierte, ist also durchaus Abbild der Wirklichkeit.
Selbst Napoleon soll von der großen, attraktiven Luise sehr begeistert gewesen sein.

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V ER LI EBT I N BER LI N
Bilder: Galerie Michael Schultz, Berlin; VAN HAM Kunstauktionen/Saša Fuis/VG Bild-Kunst, Bonn 2015

CORNELIA SCHLEIME
»Erste Liebe«, 2008
Sie weiß, was Verlust bedeutet. Als die Künstlerin 1984 nach
ihrem Ausreiseantrag und jahrelanger Bespitzelung durch die
Stasi von Ost- nach West-Berlin übersiedelte, verschwand
in der DDR fast ihr gesamtes bisheriges Werk. Auch vor diesem
Hintergrund ist die Intensität bewegend, mit der die heute
61-Jährige den Augenblick des Verlangens eingefangen hat –
als Moment ewiger Gegenwart, der keine Last kennt durch
das, was war, und niemals den Tod der Erfüllung erfährt.

GEORGE GROSZ
»Dr. S und Frau«, 1921
Er war der Chronist Berlins in der Weimarer Republik. Teil der
Dada-Szene, vorübergehend KPD-Mitglied. Mit viel Sinn
für Blasphemie und Groteske hielt Grosz vor allem in seinem
grafischen Werk ein sich überschlagendes Zeitalter fest.
Seine Darstellungen von Liebenden sind oft pornografisch, er
feierte die Derbheit des Großstadtlebens, wie es nur ein
waschechter Berliner kann. Nach der Emigration in die USA wäh-
rend der Nazizeit kehrte er in den Fifties in seine Heimatstadt
zurück – und starb dort stilecht an den Folgen der Trunkenheit.

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V ER LI EBT I N BER LI N

KERSTIN DRECHSEL
»Im Wärmeland #2« (Detail), 1998
Ihre Ölgemälde sind so schillernd-leicht
im Auftrag, als wären sie mit Wasserfarben
gemalt. Was in einem bemerkenswerten
Spannungsfeld steht zu ihren drastischen
Sujets wie vermüllte Messie-Wohnungen
oder lesbischer Sex im öffentlichen Raum.
Ihren künstlerischen Werdegang begann
die 1966 in Reinbek geborene Berlinerin mit
einem Bühnenbildstudium an der HdK
Berlin. In ihren frühen, in Vitrinen angeord-
neten »Malerei-Installationen«, zu denen
auch die Orgie im Sportclub zählt, wirkt der
theatralische Einfluss noch nach.

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Bild links: Courtesy of the artist and Vane/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Bild unten: Galerie Bassenge, Berlin; Bild rechts: bpk/Nationalgalerie, SMB/Bernd Kuhnert/VG Bild-Kunst, Bonn 2015

CLEMENS GRÖSZER
»Hallo Fräulein, bitte melden«, 1984
Der Rückbezug auf die Neue Sachlichkeit
und vor allem auf Otto Dix ist unverkennbar.
Nach seiner Zeit als Meisterschüler an
der Akademie der Künste in Ost-Berlin por-
trätierte der Maler Clemens Gröszer
dieses zwischen New Wave und Dandytum
changierende Paar der Achtzigerjahre –
und pries damit eine Individualität, die in
der späten DDR nur wenig erwünscht
war. Nach der Wende war der gebürtige Ber-
liner auch als Bildhauer tätig, im Herbst
vergangenen Jahres ist er unerwartet mit
63 Jahren verstorben.

HEINRICH ZILLE
»Hofball bei Zille«, 1925
Mit frechem Strich und Humor fing Heinrich
Zille sein »Milljöh« ein. Berliner Hinterhöfe,
Bierkutscher, Prostituierte und bettelnde
Kinder zeichnete er voller Mitgefühl, sodass
man beim Anblick all der Armut oft nicht
weiß, ob man lachen oder weinen soll. Auf
der Vorzeichnung für ein Plakat des Zille-
Hofballs im Großen Schauspielhaus (heute
Friedrichstadtpalast) konzentrierte er
sich auf das Vergnügen, auf die drallen Tän-
zerinnen und Tänzer – und verewigte sich
selbst in dem bärtigen Mann. Am Tag nach
dem Ball berichtete das Berliner Tageblatt:
»Jeschwooft wurde bisn Morjen.«

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Bild: Peres Projects, Berlin

DOROTHY IANNONE
»Dieter and Dorothy«, 2007
Nur sieben Jahre lang waren sie ein Paar. Doch ihre Freundschaft hielt ein Leben
– und darüber hinaus. Als die Wahlberlinerein Dorothy Iannone dieses Doppel-
selbstporträt zweier eng Verschlungener schuf, war Dieter Roth schon fast zehn
Jahre tot, und ihre Trennung lag mehr als drei Jahrzehnte zurück. Der Moment,
als sie den Schweizer Künstler vom Schiff aus am Pier von Reykjavík das erste Mal
sah, war zum Schlüsselereignis ihres Lebens geworden. Eine Liebe wie ein Blitzschlag.

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V ER LI EBT I N BER LI N

E
Es ist Mittwochnachmittag, einer der ersten
warmen Frühlingstage, 14 Grad und strah-
lender Sonnenschein, als ich aus dem Haus
Und als ich durch die Nachrichten meiner
Freunde scrolle, lese ich von Statikschäden
der Friedrichswerderschen Kirche, von Va-
Plötzlich riecht es nach Kiff. Ich öffne die Au-
gen, ein Typ sitzt neben mir, eine Hanfpflan-
ze in der Hand, einen Joint im Mund. Ich las-
trete und den Lausitzer Platz überquere. Den roufakis’ Finger und der baldigen Sonnen- se das Bier stehen, ich glaube, er hat schon
Menschen, die mir entgegenkommen, ist finsternis. Ich gehe und gehe und lese und dran geleckt, und gehe weiter, an Yogastu-
ihre jahreszeitenbedingte Unentschlossen- lese, den Kopf nach unten gebeugt; ich habe dios vorbei, an Feldenkrais-Zentren, somati-
heit deutlich anzusehen: Einige tragen noch keinen Blick für meine Umgebung, ein paar schen Akademien und an einem Institut für
Wintersachen, Parkas mit Fellkragen und Mal stoße ich fast mit einem der Entgegen- Phytotherapie – »Heilen mit Pflanzen«.
Wollmützen, als trauten sie dem Wetter kommenden zusammen. Auf der Admiralbrücke versammeln
nicht; andere laufen schon in Rock und Auf der Hobrechtbrücke spielt ein Gei- sich die Liebenden. An der Art, wie sie auf
T-Shirt herum, erleichtert, den Berliner Win- ger Vivaldi. Die Umstehenden filmen, ans den Pollern sitzen, zeigt sich der Grad der In-
ter hinter sich zu haben, und bereit, sich dem Geländer gelehnt, jede seiner Bewegungen. timität: eng umschlungen, um nicht herab-
kommenden Glück entgegenzustürzen. Die Straße ist frisch geteert, die Baustelle am zufallen, oder einander gegenüber, einen Me-
An allen Hauseingängen kleben Zettel, Maybachufer gibt es nicht mehr. Ich muss an ter zwischen sich lassend, Nähe suchend und
auf dem ein Fotoautomatbilderstreifen abge- einen Spaziergang im Dezember vergange- doch Distanz haltend. Eine junge Frau lä-
druckt ist – ein Mann mit einem Kind auf nen Jahres denken, als ich an diesem Ort chelt mich an, und ich lächle zurück. Anstatt
dem Schoß, ein alleinerziehender Vater, ein staunend und überrascht wie ein Kind vor sie anzusprechen, gehe ich weiter. Als ich
Technomusiker aus dem Berghain, der, da einem Sandberg und einer Grube stand. Je- mich nach hundert Metern nach ihr umdre-
ein Investor das Haus in der Manteuffelstra- mand hatte an langen Drähten befestigte he, ist sie verschwunden. Ich überlege schon,
ße, in dem die beiden wohnen, gekauft und Schilder in den Sand gesteckt, die wie Be- einen Zettel an eine der Laternen zu heften,
allen Mietern gekündigt hat, eine neue Blei- schriftungen für Kunstwerke anmuteten: aber dann denke ich an all die Verzweifelten
be in der Gegend sucht. »Wir bezahlen gerne »Berg, Baustellensand« stand da, und: »Reise mit ihren Zetteln, ihren unerfüllbaren Hoff-
500 Euro Belohnung für einen erfolgreichen zum Mittelpunkt der Erde, Erdaushub«. Sol- nungen und Sehnsüchten, an all die tollen,
Tipp.« Jeden Tag erzählen Wohnungsvertrie- che magischen Momente, in denen der öf- aber traurigen Berliner, und lasse es bleiben.
bene auf diese Weise ihre Geschichte, nie- fentliche Raum zur Kunst erklärt wird, er- Vorm Kaisers am Kotti spielt ein junger
mand reißt je die Kontaktdaten ab. lebt man nur in einer Stadt wie dieser. Mann – Parka, Vollbart, Wollmütze – auf ei-
An den Wänden prangen neue Graffiti: Beim Getränkehändler mit dem Slogan ner E-Gitarre sphärischen Postrock. Neben
»Fight on – Solidarity with Greece« und »Hier lacht der Durst« bestelle ich Bier. ihm hocken Penner auf dem Boden. Motz-
»Todo para todos – alles für alle«; von den »Wie viel will er denn?«, fragt der Mann verkäufer, Flaschensammler, Plakatkleber,
Balkonen wehen Transparente mit der Auf- hinterm Tresen. tütenbehangene Einkäufer, Eis essende Hips-
schrift »Refugees welcome«. Im Görlitzer »Eins will er«, sage ich, wühle in meiner ter – sie alle kommen hier zusammen. Junge
Park stehen die Dealer wieder Spalier, nach- Hosentasche nach Kleingeld und halte ihm Leute fallen sich in die Arme und tanzen.
dem sie, um Polizeirazzien zu entgehen, über ein Zweieurostück hin. »Der Kaisers am Kotti«, denke ich, »ist die
Monate in die Nebenstraßen ausgewichen »Wenn er will«, sagt er, »kann er auch Weltzeituhr von Kreuzberg, ein Treffpunkt,
sind. Vor der Gerhart-Hauptmann-Schule in mit Kupfer zahlen«, und zeigt auf die Cent- ein Schmelztiegel der Ethnien und Emotio-
der Ohlauer Straße, in der Flüchtlinge unter- münzen in meiner Hand. nen, Heimat der Verlorenen, der Freaks, der
gebracht sind, hat es in der Nacht zuvor ge- »Will er«, sage ich, lege ihm die Münzen Feierwilligen.« Und der Musiker, der sich,
brannt – ein Zeichen des Protests gegen die auf den Tisch, öffne die Flasche und trete wie ich den im Gitarrenkoffer bereitgelegten
bevorstehende Räumung. Davon ist nur ein wieder nach draußen. Bier trinkend folge ich selbst gebrannten CDs entnehme, Peace-
schwarz-weißer Fleck auf dem Pflaster geblie- dem Landwehrkanal, erst in die eine Rich- tomate nennt, liefert den Soundtrack dazu.
ben. Während ich Richtung Landwehrkanal tung, dann in die andere. Ich habe, wie so Für einen Moment hält er inne, ein Zuhörer
gehe, blicke ich auf mein Smartphone. Auf viele hier, nichts anderes zu tun. Auf dem klatscht, dann gehen alle weiter, als hätten
Facebook werden Fotos aus Frankfurt herü- Wasser glitzern Sonnenstrahlen. Schwäne sie nur auf diese Pause gewartet. »Peacetoma-
bergespült, wo heute Blockupy zum Wider- balgen sich ums Brot. Zwei Frauen paddeln te – was für ein bescheuerter Name«, denke
stand gegen die Einweihung des EZB-Gebäu- auf Surfbrettern an mir vorbei. Ein Paar hat ich auf dem Rückweg. Später, da bin ich
des aufgerufen hat: Fotos von brennenden eine Hängematte zwischen zwei Stämme ge- schon zu Hause, erhalte ich auf Facebook die
Polizeiwagen, von Wasserwerfern, Demons- spannt. Perfekt gestylte Mütter schieben per- Nachricht, dass Peacetomate, offenbar eige-
trationszügen und vermummten Steinewer- fekt gestylte Kinderwagen mit perfekt gestyl- nen Zweifeln folgend, seinen Namen geän-
fern; Rauch schwebt über der Stadt, und mit- ten Kindern vor sich her. Alle Bouleplätze dert hat: Jetzt heißt er PEACETOMATE. ×
tendrin schiebt ein Brezelverkäufer seinen sind besetzt. Mit geschlossenen Augen sitze
Karren vor sich her. So wie dort sieht es hier ich am Ufer, lasse die Beine von der Mauer Jan Brandt ist Schriftsteller, zuletzt veröffentlichte
in Kreuzberg an jedem 1. Mai aus. baumeln, höre dem Klacken der Kugeln zu. er den Reisebericht »Tod in Turin«

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Die Häuser der Künstler
Work-Life-Balance der besonderen Art: Ob hochherrschaftlich am Wannsee oder im
verarmten Hinterhof – Wohnateliers sind ein Spiegel ihrer einstigen Besitzer
VON
I R MG A R D BER N ER
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K Ü N S T L E R H ÄU SE R

Bild vorherige Seite: Gerhard Westrich/laif; Bild links: Anja Büchner; Bilder rechts: Fritz Escher/Sächsische Landesbibliothek Dresden (SLUB), Abt. Deutsche Fotothek/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Robert Conrad/VG Bild-Kunst, Bonn 2015
F
Fast ein Wunder, dass dieses Haus noch steht.
Wie ein letztes zartes Pflänzchen zwängt sich
die aprikotfarbene Fassade in den hässlichen
gearbeitet. 1948, als aufgrund der Kriegszer-
störungen Arbeitsräume knapp waren, mei-
ßelte der junge Künstler hier, bevor ihm ein
Nachwende-Modernismus von Berlins poli- großer Raum im einstigen »Staatsatelier« sei-
tischer Mitte. Ein Medaillon und zwei Supra- nes Lehrers Arno Breker in Dahlem, im Ber-
porten geben Auskunft, wer dieses Haus liner Südwesten, angeboten wurde.
einst erbauen ließ: Johann Gottfried Scha- Die Fahrt dorthin führt schnell hinaus
dow (1764–1850), wichtigster deutscher Bild- aus der hektischen Innenstadt. Durch breite
hauer des Klassizismus und in Diensten des Alleen geht es bis an den Rand des Grune-
Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III. Die walds. Am Käuzchensteig steht das zwischen
Quadriga auf dem Brandenburger Tor um 1939 und 1942 für Hitlers Lieblingsbildhauer
die Ecke schuf Schadow 1793. errichtete Ateliergebäude. Noch ist der ro-
Das Schadowhaus ist tatsächlich das buste, martialische Backsteinbau eingerüstet.
einzige erhaltene klassizistische Gebäude der Zurzeit erfährt er eine Metamorphose zum
Dorotheenvorstadt. 1805 hatte es sich der Kunsthaus Dahlem, das sich der Nachkriegs-
Bildhauer errichten lassen, möglich machte moderne in West- und Ost-Berlin widmen
ihm das sein Mäzen, der König. »Der gab sei- wird – mit besonderer Würdigung des Bild-
nem Hofbildhauer das Geld und sagte: ›Bau hauers Bernhard Heiliger. Im Juni ist Eröff-
dir ein Haus davon.‹ Kunst und Politik trafen nung. Derweil streifen im Garten die letzten
sich hier in idealer Weise«, sagt Andreas Strahlen der Nachmittagssonne Heiligers
Kaernbach, als er mich an der Pforte abholt. Bronzeskulptur »Großer Phönix III« von
Er ist Kurator der Kunstsammlung des Bun- 1966/92, bis sich das Licht auf das dunkle Ei-
destages, die hier ihren Sitz hat. Die Erinne- sen vom »Tor der Kugel« von 1988 legt.
rung an Schadow, sein folgenreiches Wirken Ein halbes Jahrhundert hat Heiliger von
im Geist der Aufklärung, wird durch Ausstel- SCHADOWHAUS Der klassizistische Bild- hier aus gewirkt und prägte damit das Kul-
hauer Johann Gottfried Schadow ließ sich
lungen im Dialog mit zeitgenössischer Kunst turleben West-Berlins maßgeblich mit – als
1805 in der Dorotheenvorstadt ein Palais
lebendig gehalten. Professor an der Hochschule der Künste und
erbauen. Zu den Soireen der Schadows
Im achteckigen Speisezimmer kann kamen die Gebrüder Humboldt, Friedrich
als Künstler: Schlagartig bekannt machten
man sich heute wieder an einen Tisch setzen. Schleiermacher und Königin Luise ihn Anfang der Fünfzigerjahre seine präg-
Die Wände sind mit Ornamenten und Bor- nant verschliffenen, zunehmend aufgelösten
düren bemalt, an der Decke schimmern Porträtköpfe. Später wurde sein Werk ab-
Weinranken durch. »Wenn man die Fenster strakt und informell, schließlich konstruktiv.
zum Hof öffnete, war es, als säße man in ei- Bis an die Grenzen reizte er Material, Bewe-
ner Weinlaube«, sagt Kaernbach. wieder auf die darunter liegenden Original- gung und die Balance von Volumen aus und
Das Schadowhaus teilt das gleiche fresken verweisen. Von Kriegsbomben war begründete den internationalen Ruf der
Schicksal wie andere noch verbliebene der Bau verschont geblieben. Die DDR-Füh- deutschen Bildhauerkunst neu.
Künstlerhäuser in Berlin: Vertreibung und rung gab das Haus zwar dem Verfall preis, Dorothea Schöne, die erste Direktorin
Kriegszerstörungen haben zum Verlust zahl- riss ihn aber nicht ab. Nach der Wende ging des neuen Kunstzentrums, öffnet die schwe-
loser kunstgeschichtlicher Orte geführt. das Schadowhaus an den Berliner Senat über, re Tür zum Ostflügel, einem entkernten
Dass dieses und andere Künstlerhäuser jetzt seit 1997 gehört es dem Bundestag. Der ließ Raum mit Empore, Kassettendecke und
aber wieder Sehenswürdigkeiten sind, ist en- es akribisch nach den Vorgaben der Denk- Oberlicht. Von 1949 bis 1995 schuf Heiliger
gagierten Bürgerinitiativen und dem persön- malpflege instandsetzen, 2013 wurde das hier Werke wie die »Flamme« am Ernst-Reu-
lichen Einsatz Einzelner zu verdanken. Als Haus eröffnet. Nun kann man sich gut vor- ter-Platz oder den »Auftakt« in der Philhar-
ich meine Reise antrete, ist mir selbst noch stellen, wie prächtig der Salon ausgesehen ha- monie. »Das Atelier«, sagt Schöne, »soll als
nicht klar, welche Geschichten, welche ben muss mit weißen Büsten, Reliefs und Heiliger-Raum wieder auferstehen.«
Schätze zu entdecken sind und welche Fens- Statuen. Das rote Steinwerk ist illusionistisch Der Nazibau spielte nämlich für die
ter in die Vergangenheit sich auftun – so wie gemalt – wie alles hier. Im Hof ragt ein brei- Nachkriegskunst in Berlin eine bedeutende
in diesem Juwel in der Schadowstraße, wo ter Erker aus dem linken Seitenflügel. Dort Rolle. Hier arbeiteten Emilio Vedova, Wolf
die rekonstruierten Wandmalereien immer hat kurzzeitig Bernhard Heiliger (1915–1995) Vostell oder Dorothy Iannone. Den Ort ge-

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24
HEILIGER-ATELIER Von 1949 bis zu
seinem Tod 1995 arbeitete Bernhard
Heiliger im linken Trakt des Atelierge-
bäudes (u.), das 1942 für Hitlers Lieb-
lingskünstler Arno Breker in Dahlem
errichtet worden war. Davor stehen
Werke aus Heiligers konstruktiver Pha-
se. Links der Bildhauer im Atelier in
den Fünfzigern, als er mit abstrahie-
rend verschliffenen Figuren bekannt
wurde. Das ganze Gebäude wird als
Kunsthaus Dahlem wiedereröffnet

ü 25
prägt aber hat Heiliger. Er wohnte mit seiner Friedrich-Ebert-Büste für den Reichstag. Hit-
Familie im Hausmeisterhäuschen; nach sei- ler lehnte er ab, das ist gut bezeugt, trotzdem
nem Tod zog die nach ihm benannte Stif- bemühte er sich um öffentliche Aufträge und
tung ein. Und gleich nebenan duckt sich das schuf in den 1930er Jahren athletische Men-
Brücke-Museum zwischen die Kiefern. schenbildwerke, die heute oft als Anbiede-
Eine ganz andere Szenerie bietet sich, rung an die NS-Ästhetik verstanden werden.
wenn man die Innenstadt auf der Westachse Doch diese Deutung ist umstritten, Kolbe im
über den Großen Stern, den Kaiserdamm, Dritten Reich ist ein verzwickter Fall jenseits
entlang der Heerstraße verlässt – bis dorthin, von Schwarz und Weiß.
wo sich links der Teufelsberg, Berlins Trüm- Dass der »Sammelort« seines Werks er-
merhalde, hochwölbt und rechts hinter der halten bleiben und öffentlich zugänglich
S-Bahnbrücke die schmale, kopfsteingepflas- sein solle, hat Kolbe testamentarisch festge-
terte Sensburger Allee erstreckt. Unter den legt. Heute ist das Ensemble ein Museum, in
hohen Kiefern springt hier sofort der kubi- dem nicht nur Kolbe und seine Zeit aufgear-
beitet, sondern auch zeitgenössische Skulp-
turen gezeigt werden. Für seine Tochter Leo-
nore ließ Kolbe ein zusätzliches Haus
errichten. Es beherbergt das beliebte Café K,
wo die meisten Besucher ihren Kulturausflug
ins Westend abrunden.
Fährt man von hier nach Süden, vorbei
an den Havelufern bis zum Großen Wannsee,
erreicht man ein Künstlerhaus, dessen Re-
strukturierung eine wahre Nachwende-Er-
folgsgeschichte ist: die Liebermann-Villa.
Dass dieses Symbol für die Blütezeit Berlins
sche Backsteinbau im Bauhaus-Stil ins Auge. und des jüdischen Bildungsbürgertums wie-

Bilder: XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX
»Sensburg« nannte der Bildhauer Georg Kol- derauferstehen konnte, ist der Hartnäckig-
be (1877–1947) das Wohn- und Atelierhaus, keit engagierter Bürger zu verdanken.
das er sich von dem Schweizer Architekten Max Liebermann (1847–1935), der bedeu-
Ernst Rentsch als Rückzugsort bauen ließ. tende deutsche Impressionist, erfüllte sich
1929 zog er ein. Außen ist die Anlage von ei- hier im Alter von 63 Jahren seinen Traum
ner Mauer umschlossen und gewährt kaum vom Leben im Grünen. Konsequent konzi-
Einblick. Der Garten mutet fast klösterlich pierte er sein Sommerdomizil als Künstler-
an: Die Bepflanzung ist schlicht, vor allem haus. Am meisten aber war ihm an der Pla-
Rhododendren, hohe Grunewaldkiefern nung des Gartens gelegen. Mit Alfred
markieren den Wald. Den Sichtschutz Lichtwark, dem Direktor der Hamburger
brauchte Kolbe aber auch, weil er mit nack- Kunsthalle und Reformer der Gartenkunst,
ten Modellen arbeitete. Auf dem Dach hatte tauschte er sich lange und intensiv darüber
er sich ein Freiluftatelier eingerichtet. aus. »Eine 400-seitige Korrespondenz belegt
Schon im Vorgarten erwartet den Besu- das«, erzählt der Museumsleiter Martin Faass.
cher die in Bronze gegossene »Große Sitzen-
de« von 1929. Im Park dann, rund um das
Museum gruppiert, monumentale Männer-
figuren, Skulpturen in bewegten Posen. Sie
knien, rennen, strecken sich verzückt, ver-
harren kämpferisch oder still in Einsamkeit
wie die »Pietà«. Das Herzstück ist die Tänze-
rin auf einem Brunnenbecken von 1922. Die
junge Frau wirbelt herum und wirft voller
Anmut die Arme in die Luft.
Durch das Entrée gelangt man direkt in
Kolbes Wohnatelier. Polstersessel und kleine
Skulpturen auf dem Sims, gut bestückte Bü- LIEBERMANN-VILLA Am Wannsee erschuf
cherregale drücken den bürgerlichen Zeit- sich Max Liebermann sein Arkadien.
geist der Zwischenkriegszeit aus. Eine große Seit 1910 verbrachte er hier alle Sommer
Tür öffnet sich zum eigentlichen Arbeits- und hielt Haus und Garten in rund 200
raum hin, einem lichten Saal mit Parkett farbtrunkenen Bildern und Papierarbeiten
und hohen Fenstern zum Skulpturengarten. fest, wie »Birkenweg« von 1926 (o. li.)
oder »Blick auf den Wannsee«, um 1925 (o.)
Kolbe war ein Star in der Weimarer Republik.
Politisch gilt er heute als wankelmütig. Er
war SPD-Anhänger, schuf 1925 die große

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Bilder: XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX

Vorne der Staudengarten, hinten die Blu- Leuchtend weiß steht nun auch der Teepavil- booten hat er eingefangen. Diese fruchtbaren
menterrasse und die Beete. Von hier er- lon wieder am Ufer, malerisch führt ein Steg Malerjahre brachten über 200 Gemälde, Pas-
streckt sich die große Wiese bis zum Ufer, aufs Wasser. telle und Grafiken hervor.
rechts von einem Birkenhain gesäumt. Die Seit 1910 verbrachte Liebermann die Das weitere Schicksal seines Gartenpa-
Heckengärten zur Linken bilden eine dreitei- Sommer in seinem »Schloss am See«. Der radieses und seiner großen Liebe hätte Lie-
lige Einheit: Das Lindenkarree spendete im Garten wurde zum zentralen Motiv seines bermann, wäre er noch am Leben gewesen,
Sommer Schatten, der ovale Garten war eine Spätwerks. Herrliche, farbglühende Impres- wohl das Herz gebrochen: Haus und Grund-
Art Freiluftwohnzimmer, der Rosengarten sionen der Blumenlandschaften, des Garten- stück wurden von den Nationalsozialisten
eine fulminante Geruchs- und Farborgie. häuschens oder des Wannsees mit den Segel- enteignet, seine Frau Martha nahm, ehe sie

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27
HEA DZEILE

GEORG-KOLBE-HAUS Seit 1950 ist das


Gebäude Museum, li. der Garten mit Kolbes
»Tänzerinnenbrunnen« von 1922. Hier in
Westend verbrachte der Bildhauer 18 Jahre
bis zu seinem Tod 1947 (u. im Jahr 1946).
Im Atelier finden Ausstellungen statt, etwa
von Robert Metzkes, 2014

28 ü
K Ü N S T L E R H ÄU SE R

JEANNE-MAMMEN-ATELIER Zurückgezo-
gen lebte die Malerin im Hinterhausstudio
am Ku’damm – 56 Jahre lang. Hier über-
stand sie auch die innere Emigration in der
Nazizeit, rechts eine Aufnahme von 1943

ins Konzentrationslager Theresienstadt de-


portiert werden konnte, eine Überdosis Ve-
ronal. Nach dem Krieg erhielt seine Enkelin
das Anwesen zurück und verkaufte es 1958
ans Land Berlin. Erst war es ein Kranken-
haus, dann Sitz eines Tauchvereins.
Nach der Wiedervereinigung erreichte
Bilder links: Enric Duch; Georg Kolbe Museum, Berlin/VG Bild-Kunst, Bonn 2015 (2); Bild rechts: Archiv Förderverein der Jeanne-Mammen-Stiftung e.V.

die 1995 gegründete Max-Liebermann-Gesell-


schaft, dass die Villa – mit Geldern von pri-
vaten Stiftern und vielen Helfern – zum Mu-
Bilder vorherige Seite: Max Liebermann/SMB-Nationalgalerie; Archiv der Akademie der Künste; Christoph Adam/MLG;

seum umgebaut werden konnte. Auch der


Garten wurde rekonstruiert. »Ganz wichtig
waren dafür die Gemälde und Zeichnungen
von Liebermann«, betont Faass. Im April
2006 wurde die Eröffnung gefeiert. Da es kei-
nerlei erhaltenes Inventar gibt, wird das pri-
vat finanzierte Museum durch Leihgaben ge-
fördert. Rund 40 Werke können im einstigen
Atelier im Obergeschoss ausgestellt werden.
»Wir verstehen uns als Wissenschaftszen-
trum für Liebermann-Fragen«, erklärt Faass,
130 ehrenamtliche Mitarbeiter tragen zum
Charme des Hauses bei. Ein gemeinsamer
Wille und viel Herzblut haben bewirkt, dass
man im Sommer wieder auf Liebermanns
Gartenterrasse und im Café sitzen kann.
Um eine ganz andere Garten-Künstler-
welt aufzusuchen, muss man sich hoch in
den Nordwesten der Stadt begeben: nach
Heiligensee, wo die Straßennamen Erpel-
grund, Wildganssteig, Spießergasse und An
der Wildbahn heißen. Hier lebte die Dadais-
tin Hannah Höch (1889–1978) von den späten
1930ern bis zu ihrem Tod. Sie hinterließ ein
einzigartiges, kolossales Kunstwerk, das bis
heute erhalten ist: den »Collagen-Garten«.
»Wild ist der Garten schon«, sagt der jet- denken und Sinne Höchs fortzuführen. In ihrem Atelier mit zwei Fensterreihen zum
zige Bewohner Johannes Bauersachs, als wir Durch einen verwinkelten Flur betreten wir Garten hängen noch Originalplakate und ei-
durch Hortensien, Phlox, Sommerflieder das Atelier der Künstlerin, die 1919 den Ber- nige ihrer Mini-Aquarelle, die sie gern als
und Hibiskus stapfen. Das Grundstück ist lin-Dada mitbegründete. Damals lebte die Zahlungsmittel beim Bäcker benutzte oder
mit mehr als 800 Pflanzenarten bestückt, die gelernte Grafikerin noch in Friedenau. Dort beim Friseur für ihren Bubikopfschnitt. Zu
Hannah Höch zum Schutz vor den Nazis so zwang man sie, eine Hakenkreuzfahne aus ihrem 80. Geburtstag ließ der Bezirk Reini-
arrangierte, dass ihr Haus von der Straße aus dem Atelierfenster zu hängen. »Das ekelte sie ckendorf den Atelieranbau errichten. Als Ge-
kaum einzusehen war. »Besuchern stellte sie an«, erzählt Bauersachs. Weil sie nicht wie genleistung überschrieb Hannah Höch das
die Blumen vor«, sagt er. Den Duft des Laven- viele ihrer Künstlerfreunde emigrieren woll- Anwesen dem Land. Ihre Gartenkunstwelt
dels oder das Unkraut, das sich schämt, weil te, zog sie in das einsame Haus in Heiligen- lebt weiter, besonders im Sommer, wenn
es nicht duftet. Ein knorriger Buchsbaum, see. Obwohl mit Malverbot belegt, »hat sie Bauersachs Künstler und Gäste zu Lesungen
mittlerweile 120 Jahre alt, wuchs hier schon, rumgemalt wie eine Irre«, sagt Bauersachs, in die blühende Oase einlädt.
als Höch das Haus 1937 kaufte. »und ein Wahnsinnsœuvre hinterlassen.« Gut möglich, dass sich Hannah Höch
Bauersachs, selbst Künstler, zog 1987 Angst hatte sie trotzdem, denn sie versteckte und Jeanne Mammen begegnet sind, bei
mit seiner Familie in das Häuschen. Mithilfe Bilder von Hans Arp und Max Ernst unter Gerd Rosen etwa, der nach dem Krieg als Ers-
von Freunden erwarb er das Areal 2005 vom den Dachsparren. »Nichts wegwerfen«, sei ter die Werke der Avantgarde-Künstlerinnen
Land. Er leitet auch den Verein Künstlerhaus stets ihre Devise gewesen, schließlich brauch- am Kurfüstendamm ausstellte. Schräg gegen-
Hannah Höch. Gerne hat er die Verpflich- te sie Zeitungen, Zeitschriften und Papierres- über von seiner Galerie lebte und arbeitete
tung übernommen, Haus und Garten im An- te für ihre großartigen Collagen. nämlich Jeanne Mammen (1890–1976) zu-

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K Ü N S T L E R H ÄU SE R

Die katastrophalen Brüche Berlins, bedingt


durch NS-Zeit, Krieg und Jahrzehnte der Tei-
lung, sind auch an den beiden Künstlerhäu-
sern im Nordosten der Stadt abzulesen. In
Pankow, in der denkmalgeschützten Erich-
Weinert-Siedlung, hat sich die Nachkriegs-
moderne eines aufstrebenden Kultursozialis-
mus erhalten. Fast vergessen ist heute diese
Kolonie der frühen DDR, erbaut zwischen
1945 und 1952, um die »Deutsche Intelligenz«
nach Ost-Berlin zu locken.
Büsche verdecken den Blick von der
Straße auf das niedrige, unscheinbare Haus.
Hier wohnte der Maler Max Lingner (1888–
1959) von 1950 bis zu seinem Tod. An die 1000
seiner Werke, meist Arbeiten auf Papier, la-
gern noch in den Schränken. Etliche hängen
an den Wänden der einstigen Wohn- und
Atelierräume, darunter Skizzen zu Lingners
monumentalem Fries am heutigen Finanz-
ministerium an der Leipziger Straße, wo im

Bilder links: Peter Rytz; Johann Bauersachs; Wolfgang Stahr; Bild rechts: Wolfgang Stahr
Oktober 1949 die DDR gegründet wurde –
HANNAH-HÖCH-HAUS Seit 1939 lebte die ein Programmbild, das den euphorischen
Dada-Künstlerin in dem Häuschen in Aufbruch der Arbeiter und Bauern überhöht,
Heiligensee. Mit über 800 Arten bepflanzte ausgeführt in Platten aus Meißner Porzellan.
sie ihren Garten und schuf auch in der In dem sauber-sachlichen Atelier mit
NS-Zeit viel, obwohl sie Malverbot hatte original DDR-Linoleum auf dem Boden
steht eine Staffelei, darauf ein Mädchenpor-
trät, pariserisch elegant mit über der Stirn
aller Milieus lassen vermuten, dass Mammen hochgebauschter Frisur. Das Gesicht indes ist
bewegten Anteil an den »wilden Zwanzi- voll und breit. Aber die stalinistischen Kul-
gern« hatte. In Aquarellen erstehen die Cafés turpolitiker wollten diesen Stil nicht. Ling-
und Bierschwemmen wieder auf. Die »kunst- ner sollte »nationale«, »deutsche« Porträts
seidenen Mädchen« der Schriftstellerin Irm- malen, »keine westlich dekadenten«. Höchst-
gard Keun, frivole Herren und das Elend der persönlich korrigierte Hobbymaler Walter
Ausgegrenzten – Zustandsbeschreibungen Ulbricht die Figuren des großen Wandbildes.
der Weimarer Gesellschaft. Diese Arbeiten Lingner hatte schon vor 1933 in Paris
für Magazine, besonders für den Simplicissi- Zuflucht gesucht. Er war Mitglied der Kom-
mus, verhalfen ihr zum Durchbruch. munistischen Partei und mit Henri Matisse
Nach Hitlers Machtergreifung beende- und Fernand Léger befreundet, deren Ein-
rückgezogen im Hinterhaus. Ihr Wohnate- te sie selbst ihre Karriere: Sie kündigte, wähl- fluss in seinem Werk immer wieder anklingt.
lier im fünften Stock ist bis ins letzte Detail te die innere Emigration. 1936 lernte sie den Sein zunächst herb-realistischer Stil wurde
erhalten. Es riecht nach Geborgenheit und Naturwissenschaftler und späteren Nobel-
Arbeit: das schwarze Ledersofa, der aus Keil- preisträger Max Delbrück kennen, der zu ih-
rahmen gezimmerte Couchtisch, die von ihr rem Freund und Unterstützer in der Nach-
bemalten Schränke und vollen Büchervitri- kriegszeit wurde. Doch selbst die bitteren
nen und ja, die farbbeklecksten Pinsel, Palet- Hungerjahre waren künstlerisch fruchtbar.
ten, die wunderfunkelnden Bilder an den ho- »Die Tür zum Nichts« von 1946 zeigt hohle
hen Wänden bis fast unter den Stuck. Das Fassaden, zusammengeklappt wie Karten-
Licht, das durch ein großes Nordfenster he- häuser. Geister tauchen auf, mystische Zei-
reinfällt, lässt Glanzpapierfelder elektrisie- chen spuken durch ihre Gemälde, als wollte
rend leuchten und schimmert auf den Bron- sie den Horror darin bannen. Die Werke
zeköpfen auf dem Tisch. wurden abstrakter, und Mammen collagier-
Die Malerin, Illustratorin, Zeichnerin te Glanzpapier in die gemalten Lasuren, weil
hat hier 56 Jahre bis zu ihrem Tod gelebt und die Farbe ihr nicht genug leuchten wollte.
gearbeitet. Als sie 1920 einzog, hatte die be- In ihrem Wohnatelier hängen die Bilder
gabte junge Frau mit dem satirisch-scharfen still und ruhig. »Einige haben Reiseverbot,«
Blick bereits ein Kunststudium in Paris, betont Cornelia Pastelak-Price, Vorstands- RUTHILD-HAHNE-HAUS Die Bildhauerin
Brüssel und Rom hinter sich. Nach der Rück- mitglied des Fördervereins der Jeanne-Mam- kam 1952 von West-Berlin in den Ostteil der
kehr fühlte sie sich fremd in ihrer Geburts- men-Stiftung, der sich um den Erhalt dieses Stadt, weil sie dort ein Atelierhaus gewann.
stadt Berlin, fasste aber bald Fuß als Mode- kleinen Museums kümmert. Fragil ist diese Lenin, Stalin und ein sozialistisches Paar
Illustratorin. Die Porträts von Menschen wundersame Welt der Jeanne Mammen. zeugen vom Glauben an den neuen Staat

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MAX-LINGNER-HAUS Der Maler kam 1949


aus dem französischen Exil zurück, weil er
in Ost-Berlin eine Professur und ein Atelier-
haus erhielt. Seit 2010 ist es saniert und als
Erinnerungsort zugänglich. Unten: Max
Lingner in den Fünfzigern beim Zeichnen

Bilder: bpk/Zentralarchiv, SMB/Gerhard Kiesling/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Wolfgang Stahr/VG Bild-Kunst, Bonn 2015
Haus und die Kunst gesorgt. Noch vor ihrem gang Hahnes. Wir sehen, wie die an Breker-
Tod 2007 überführte sie Gebäude und Archiv Ästhetik geschulte Meisterschülerin des aka-
in eine unselbstständige Stiftung. Deren demischen Realisten Wilhelm Gerstel in den
Treuhänder ist seither die Rosa-Luxemburg- 1930ern konzentriert meißelt. Glücklich
Stiftung. Mit Thomas Flierl, dem vormaligen lacht die Berliner Fabrikantentochter, voller
Berliner Kultursenator der Linkspartei, hat Tatendrang. Später wirkte sie in der Wider-
die Lingner-Stiftung einen engagierten Vor- standsgruppe Rote Kapelle mit, wofür sie
stand, sodass hier nun Kunstfreunde, Kultur- nach der Aufdeckung ins Zuchthaus kam.
wissenschaftler, Historiker, Architekten, Erst 1952 zog sie von West- nach Ost-Berlin –
Schriftsteller zu Lesungen, Debatten, Kon- freiwillig: Als Gewinnerin einer Ausschrei-
zerten und Festen zusammenkommen. bung für ein DDR-Denkmal war ihr ein Ate-
bald durch und durch französisch, betont Auch das Künstlerhaus von Ruthild lierhaus zugesprochen worden. Sie wünschte
grafisch, leicht erotisch und charmant, nie Hahne (1910–2001), auf der Straßenseite ge- es sich im Toskana-Stil. Von einem Romeo-
pathetisch oder inhaltsschwer. Nach dem Ein- genüber, soll bald unter das Dach der Rosa- und-Julia-Balkon aber habe sie der Architekt
marsch der Deutschen wurde er interniert, Luxemburg-Stiftung schlüpfen. Noch hält gerade noch abbringen können, erzählt ihr
konnte aber fliehen und ging in die Résistan- ihr Sohn Stefan Hahne die Erinnerung auf- Sohn schmunzelnd.
ce. Als die SS ihn 1944 verhaftete, entkam er recht. »Nicht erschrecken«, sagt er beim Ein- Kaum eingezogen wurde Ruthild Hah-
mit gefälschten Papieren. Im Nachkriegs-Pa- tritt in die Bildhauerwerkstatt seiner Mutter. nes Haus 1953 verstaatlicht. Und der Großauf-
ris war er ein anerkannter Maler. Und tatsächlich, der Raum bietet einen im- trag – ein monumentales Thälmann-Denk-
Zur Rückkehr aus dem französischen posanten Kontrast zum kleinbürgerlich an- mal in Berlin-Mitte mit 120 Figuren – wurde
Exil bewog Lingner 1949 schließlich eine Pro- mutenden Ambiente des Lingner-Hauses. nie realisiert. Ihr pathetischer Stil war seit
fessur an der Kunsthochschule Weißensee – Eine Halle mit hohem Fenster; zwischen ei- den späten Sechzigerjahren überholt. Sie
mit 61 Jahren. 1950 zog er in das kleine, grau ner Schar von Köpfen – darunter Stalin, Le- schuf noch weitere Plastiken, widmete aber
verputzte Haus in Pankow. Hier malte er die nin, Ulbricht, Pieck und Liebknecht samt To- viel Zeit ihrer zweiten Passion, dem Reisen.
anmutigen »Weintraubenverkäuferinnen in tenmaske –, zwischen Kinderporträts und 2001 starb sie in ihrem Künstlerhaus.
Nîmes«, schwelgte in Reminiszenzen an Pa- Kleinplastiken ragt eine riesige, hellgraue Fi- Hier schließt sich der Kreis, in der Sied-
ris, die Tanzlokale und die Fabrikarbeiterin- gur im Sozialistischen Realismus heraus: Es lung in Pankow, benannt nach Erich Wei-
nen. Die schlichten Hellerau-Möbel sind neu ist Ernst Thälmann, der die Faust in den Ate- nert, dem linken Lyriker, Satiriker und Anti-
mit Leinen bezogen, die Bibliotheksregale lierhimmel reckt. Er wolle nicht die DDR faschisten, der ebenfalls in diesem
des Malers akkurat geordnet. In einem läng- ausstellen, betont Stefan Hahne, und auch Künstlerrefugium der DDR gelebt hat. Die
lichen Raum steht ein großer Tisch mit vie- nicht ihre Helden gutheißen. Es sei ihm ganze Geschichte der Siedlung wäre erzäh-
len Stühlen, es gibt ein winziges Büro, eine wichtig, dass seine Mutter nicht primär eine lenswert; die kulturarchäologische Zeitreise
Küche, sogar ein separates Club-Zimmer- politische, sondern eine gute Bildhauerin kann also weitergehen. Vieles wurde zerstört,
chen. Hier treffen sich seit der aufwändigen war. Erst nach dem Krieg habe sie sich auf ist untergegangen in Kriegen, in Zwangsre-
Restaurierung mit Bundesmitteln die Mit- Büsten von KP-Kämpfern spezialisiert. gimes wie im Erneuerungswahn des demo-
glieder und Gäste der Max-Lingner-Stiftung. An den hohen Torflügeln, mit denen kratischen Westens. Die Künstlerstadt Berlin
Lange Zeit hatte die Lingner-Vertraute sich der Raum in den Garten öffnen lässt, aber boomt und bringt ständig Neues hervor.
und Nachlass-Erbin Gertrud Heider für das hängen Fotos. Sie illustrieren den Werde- Sicher auch bald wieder Künstlerhäuser. ×

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SE RV IC E

Berliner Künstlerhäuser im Überblick

1
1 ––– Hannah-Höch-Haus
Die Familie Bauersachs, die in dem
2 3
Atelierhaus lebt, hält Hannah
Höchs Andenken hoch und pflegt
den Garten, den sie seit 1939 mit
mehr als 800 Pflanzenarten anlegte. 4
6 5
Nach Voranmeldung kann man
das Anwesen besuchen. Der Förder-
Bilder: Peter Rytz; Wolfgang Stahr; Wolfgang Stahr/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Robert Conrad; Liebermann Villa

verein Künstlerhaus Hannah Höch 7


unterstützt die Familie bei der 7 ––– Bernhard-Heiliger-Atelier
8 1942 für Arno Breker errichtet,
wurde der massive Bau nach dem
Krieg in Einzelateliers unterteilt.
Neben anderen arbeitete hier von
1949 bis 1995 Bernhard Heiliger.
Jetzt wurde alles zusammengefasst
und in das Kunsthaus Dahlem
3 ––– Max-Lingner-Haus etwa der Bildhauerin Anna umgewandelt. Ausstellungen sollen
Der Architekt Hanns Hopp entwarf Franziska Schwarzbach (20. Mai bis die Berliner Nachkriegsmoderne be-
1950 das Haus als Teil der Erich- 18. Oktober). Dann kann man sich leuchten. Ein Trakt ist für Heiliger
Instandhaltung von Haus und Weinert-Siedlung für Künstler und auch in Listen für Führungen durch reserviert. Im Juni ist Eröffnung.
Garten. Zudem veranstaltet er hier Intellektuelle, die aus dem Exil die historischen Räume anmelden. Käuzchensteig 8, Dahlem
Kunst-Workshops, Einführungen in heimkehrten. Der Maler Max Schadowstraße 12/13, Mitte bernhard-heiliger-stiftung.de
Hannah Höchs Werk, Dichterle- Lingner kam 1949 aus Paris nach schadow-gesellschaft-berlin.de kunsthaus-dahlem.de
sungen und Konzerte im Grünen. Ost-Berlin. Die Max-Lingner-Stif- Führungen unter 030 83 22 72 58
An der Wildbahn 33, Heiligensee tung kümmert sich um die Pflege
hannah-hoech-haus-ev.de und Erforschung seines Werks und 5 ––– Jeanne-Mammen-Atelier
Voranmeldung unter 030 431 48 24 erfüllt das sanierte Haus mit Leben. Die Wohn- und Arbeitsräume von 8 ––– Liebermann-Villa
Beatrice-Zweig-Straße 2, Pankow- Jeanne Mammen sind das am In bester Wannseelage ließ sich Max
max-lingner-stiftung.de authentischsten erhaltene Ate- Liebermann 1909/10 eine Villa
2 ––– Ruthild-Hahne-Haus Voranmeldung unter 030 486 80 19 lier-Ensemble in Berlin. Wegen der erbauen, in der er die Sommermo-
Stefan Hahne, der Sohn von vielen fragilen Werke und Gegen- nate verbrachte und seine herr-
Ruthild Hahne, lebt in dem Haus, stände dürfen immer nur wenige lichen Gartenimpressionen malte.
das die West-Berliner Bildhauerin Besucher gleichtzeitig kommen. Nach einigen Besitzerwechseln
1952 auf Einladung der DDR bezog. Aber es lohnt sich, es ist ein konnte die Max-Liebermann-Gesell-
Im Atelier sind ihre sozialistisch wundersames Kunstreich. schaft das Haus sanieren und den
realistischen Figuren zu sehen. Sie Kurfürstendamm 29, Charlottenburg
arbeitete lange an einem monumen- jeanne-mammen.de
talen Ernst-Thälmann-Denkmal, des- Voranmeldung unter 030 881 87 53
sen Ausschreibung sie gewonnen
hatte. Hiervon haben sich Entwürfe
und Figuren erhalten, zudem viele 6 ––– Georg-Kolbe-Museum
Dokumente aus Hahnes Leben. 4 ––– Schadowhaus Der Bildhauer Georg Kolbe ließ
Beatrice-Zweig-Straße 1, Pankow Johann Gottfried Schadow, der sich 1928/29 von Ernst Rentsch ein
Voranmeldung unter 030 486 80 19 klassizistische Bildhauer und bequemes, kubisch-modernes Ate-
Schöpfer der Quadriga auf dem lierhaus bauen. Seit 1950 ist es Mu-
Brandenburger Tor, erbaute sich seum für Kolbes Werk und Ort zur Garten rekonstruieren. Seit 2006
1805 das Palais in der Dorotheen- Auseinandersetzung mit Tendenzen erinnert eines der schönsten
vorstadt. Seit 1997 gehört es dem der Skulptur. Bis Ende Juni wegen Museen der Stadt an den großen
Bundestag, der es bis 2013 sanierte Sanierung geschlossen, das schöne Berliner Künstler.
und die Malereien in den Salons Café K ist aber offen. Colomierstraße 3, Wannsee
rekonstruierte. Hier sitzt die Sensburger Allee 25, Westend liebermann-villa.de
Kunstsammlung des Bundestages. georg-kolbe-museum.de Mi–Mo 10–18 Uhr, Do/So bis 19 Uhr
Öffentlich ist es zu Ausstellungen, Ab 28. Juni: Di–So 10–18 Uhr Okt. bis März: Mi–Mo 11–17

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Der Künstler Julian Charrière ist gerade
sehr im Gespräch, weil er unangenehme
Wahrheiten wie die Zerstörung der Umwelt
in faszinierende Werke übersetzt

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P ORT R ÄT S

Wir
sind
die
Neuen
Berlin lebt vom ständigen Wandel, das gilt besonders
für das Kulturleben. Jede Generation bringt frische
Ideen in die Metropole. Wir stellen neun Aufsteiger vor,
die die Kunstszene in der Stadt heute schon sichtbar
mitgestalten – und die in Zukunft noch wichtiger werden

FOTOS
CHR ISTI A N W ER N ER

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P ORT R ÄT S

DIE NETZWERKERIN DIE TRENDGALERISTEN


Isabel Bernheimer Amadeo Kraupa-Tuskany / Nadine Zeidler

Gegenüber der Berliner Museumsinsel stehen die Zeichen Ein kluger Kritiker sagte neulich einmal, das Interessante an
auf Zukunft. Sie besteht aus Luxusapartments, Loftbüros der Galerie Kraupa-Tuskany Zeidler sei doch, dass man die
und einer Markthalle, die bis 2017 fertig sein soll. Isabel Kunst, die sie ausstellen und vertreten, oft gar nicht so rich-
Bernheimer, die Tochter des Münchner Kunsthändlers tig begreife. Eigentlich, so meinte er und erinnerte sich an
Konrad O. Bernheimer, wird schon im Sommer hier einzie- eine Videoinstallation der Künstlerin Katja Novitskova, die
hen. Im gemusterten Mantel begutachtet sie ihre Räume, die dort ihre eigene Version einer Marsexpedition präsentiert
momentan noch nicht mehr sind als eine Baustelle. Insge- und damit das Verhältnis von Wissenschaft und Science-Fic-
samt sind es elf. »Ich finde, junge Menschen sollten sich an tion hinterfragt hatte, verstehe man meist fast nichts. Nur
Großem versuchen: große Räume übernehmen, große Pro- sei das gar nicht schlimm, sondern sehr gut, weil hinter all
jekte realisieren. Think big!«, erklärt sie begeistert. Als klas- dem Nichtverstehen das Gefühl überwiege, an etwas Wich-
sische Galeristin versteht sich die 35-Jährige nicht, mit ihrer tigem, an etwas Wahrem dran zu sein.
Kunstagentur will sie Moderatorin, Managerin und Netz- Und genau so ist es: Wer den Kosmos von Kraupa-
werkerin sein. Eingeweiht werden die 700 Quadratmeter al- Tuskany Zeidler betritt, fühlt sich betroffen, angeregt, denkt
lerdings doch mit einer Ausstellung: Unter dem Titel »Soci- nach. Schon der Weg in die Räume dieser dreieinhalb Jahre
al Responsibility« zeigen junge Designer wie Dirk Biotto jungen Galerie ist von Fragezeichen gesäumt. Erst einmal
und Jan Kuck ihre Arbeiten. Entdeckt hat sie beide in Fried- muss man in einen Aufzug. Man läuft durch nüchterne,
richshain, wo sie seit einigen Jahren lebt. »Für mich muss niedrige Gänge und schwingende Glastüren, vorbei an Ver-
Kunst mehr leisten, als an der Wand zu hängen. Den sozia- treterbüros und Import-Export-Geschäften und fragt sich
len Aspekt teilen bei mir alle.« Kooperationen mit Galerien irgendwann, ob das stimmen kann, dass hier eine der auf-
sind geplant, auch mit Konzernen möchte Bernheimer ar- strebendsten Galerien der Stadt sitzt. Für Amadeo Kraupa-
beiten. »Gäbe es die Start-up-Szene in der Kunst, wäre ich Tuskany und seine Partnerin Nadine Zeidler bietet das alte
Teil davon.« LAURA STORFNER DDR-Bürogebäude am Alexanderplatz jedoch den perfek-
ten Rahmen für ihre Arbeit: Nichtmodernes, nichtlineares
Denken aus dem Zentrum der Moderne, also der Unifor-
mität des Bürohauses, heraus zu fördern.
Mit dem Soziologen Bruno Latour als gedanklichem
Paten bedeutet die Galeriearbeit für den promovierten Ju-
risten und die Kunsthistorikerin in erster Linie, einen Raum
zu schaffen, in dem Gedanken und Konzepte ausgetauscht
werden können. »Die Galerie gibt uns und unseren Künst-
lern die Freiheit, uns gemeinsam auszuprobieren, Dinge zu
tun, die wirtschaftlich vielleicht erst einmal wenig Sinn ma-
chen. Etwa die Deodorantlinie, die wir vor einiger Zeit mit
der New Yorker Trendagentur K-Hole entwickelt haben«,
sagt Amadeo Kraupa-Tuskany: »Wir sind an künstlerischer
Praxis interessiert, die das Konzept von Komplexität
umarmt, die also nicht versucht zu simplifizieren, sondern
im Gegenteil Vielschichtigkeit ausstellt.«
Mit Novitskova, Daniel Keller, Avery Singer oder dem
Kollektiv GCC hat die Galerie erfolgreich die gerade heiß dis-
kutierte Post-Internet-Art-Bewegung mitbestimmt. Eine viel
besprochene Ausstellung zu dieser Strömung im Kasseler Fri-
dericianum war im letzten Jahr maßgeblich von diesen
Künstlern geprägt. Doch Post-Internet ist für Kraupa-Tuska-
ny nur ein Aspekt. »Es geht um mehr, nämlich darum, was
passiert, wenn die Idee des aufgeklärten Menschen überkom-
men wird, um post-humanism, um Fragen nach Sprache, na-
tionaler Identität, Religion, Gender und der Vermischung
von Kulturräumen. All diese Dinge, die wir etwa mit Künst-
lern wie Slavs and Tatars, die gerade für den Preis der Natio-
nalgalerie nominiert wurden, anreißen.« Genauere Antwor-
ten will Kraupa-Tuskany nicht geben. Denn dann, so meint
er, bräuchte es die Galerie nicht mehr. ANNABELLE HIRSCH

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P ORT R ÄT S

EIN FREIGEIST IM MUSEUM DIE FREIE KURATORIN


Anna-Catharina Gebbers Clara Meister

Darf man in Berlin, wo Conceptstores kuratiert werden, ei- Als Kuratorin liebt es Clara Meister, wenn in der handfesten
gentlich noch laut sagen, dass man Kurator ist? »Den Begriff Zusammenarbeit mit Künstlern etwas Neues entsteht. Viel-
fand ich aus diesem Grund eine Zeit lang sehr problema- leicht kommt es daher, dass die gebürtige Münchnerin (Jahr-
tisch. Ausstellungsmacherin klang besser, aber zu monu- gang 1981) schon während des Studiums in Künstlerateliers
mental. Vielleicht habe ich mich, weil ich Germanistin und arbeitete – etwa bei Anri Sala oder Elmgreen & Dragset: »Ich
Philosophin bin, in Hinsicht auf die Ausstellungsnarration fühle mich wohl auf der Seite der Kunst – und der produzie-
und Dramaturgie eher als visuelle Essayistin gesehen«, sagt renden Künstlerinnen und Künstler.«
Anna-Catharina Gebbers und lacht. Sie sitzt im leeren Zim- In ihrer Praxis als Kuratorin befördert Meister das Wan-
mer eines DDR-Plattenbaus, vom Fenster aus sieht man den dern künstlerischer Ideen durch verschiedene Medien: So
Friedrichstadtpalast. Warum Gebbers in den Neunzigerjah- stellte sie im Projektraum Ludlow 38 in New York Gedichte
ren das beliebteste Fotomodell des Künstlers Bernhard Prinz aus, welche der Künstler Saâdane Afif von Freunden schrei-
war, merkt man schnell. ben ließ. Die Lyrik wurde auch in einer New Yorker U-Bahn-
Sie ist schön, ohne unnahbar zu wirken. Elegant, ohne Station präsentiert – gesungen von einem Straßenmusiker.
angestrengt modisch zu sein. In der Art, wie sie Sätze baut, Flüchtigkeit und Situationismus sind kennzeichnend für vie-
liegt eine intelligente Leichtigkeit, mit der sie selbst den Post- le von Meisters Projekten. Sie war Kokuratorin des geheim-
strukturalismus so erklären könnte, dass am Ende jeder zu- nisumwitterten Performanceprojekts »Home Work« bei dem
hört. Gebbers, die aus Hamburg kommt, war schon Lekto- zwei Berliner Sammler Performer und Publikum in Personal-
rin, Journalistin, Autorin und Kuratorin, bevor andere das union bilden. Es wird diese poetisch informierte Kunstem-
Wort interdisziplinär überhaupt kannten. Früh arbeitete sie phase brauchen, um den allzu routinierten, inzwischen auch
mit Christoph Schlingensief, plante mit ihm einen Katalog, von Erstarrung bedrohten Kern des Berliner Kunstbetriebs
aus dem später seine erste Retrospektive werden sollte. Seit aufzubrechen. KITO NEDO
Januar kuratiert sie nicht mehr nur frei, sondern auch fest –
am Hamburger Bahnhof, wo sie gerade die Shortlist-Ausstel-
lung zum Preis der Nationalgalerie zusammenstellt. »Hier
passt die Berufsbezeichnung Kurator. Als Teil eines großar-
tigen Teams bin ich von einer fantastischen Sammlung um-
geben, die ich dem Wortsinn entsprechend pflegen darf.«
Wenn man sie so über das Museum sprechen hört, denkt
man, dass sie das schafft. Man ist sich sicher, dass es ihr ge-
lingt, das Gegenwartsgespür und den persönlichen Umgang
mit der Kunst auf die Routine eines Hauses zu übertragen,
das als instutioneller Apparat schnell unspontan wirken kann.
Die Wohnung, in der sie von früher erzählt, sollte an-
fangs nicht mehr sein als ein Ort, um Bücher zwischenzula-
gern. Nach über zehn Jahren liegen nur noch ein paar Kata-
loge, die Künstler und Publizisten dagelassen haben, aus.
Vorträge, Filmabende und Aktionen gibt es in der Biblio-
thekswohnung aber immer noch. Aus Rücksicht auf die Mie-
ter dauern sie nicht länger als vier Stunden. »Was ich mache,
ist eher die Performance einer Ausstellung«, fügt sie hinzu.
Das Vernissagepublikum, das von Eröffnung zu Eröff-
nung zieht, um sich selbst auszustellen, würde Gebbers Pro-
jekte hinter vorgehaltener Hand vermutlich als »schwierig«
bezeichnen. Denn das, was gezeigt wird, will nicht auf den
ersten Blick gefallen. Man muss nachdenken und darüber
sprechen. Über die Fotos von Heji Shin, die die Prostitution
am Oranienburger Tor in ihre Bilder holte, oder über die Be-
tonobjekte, mit denen Arno Brandlhuber den Plattenbau zi-
tierte. In dieser Vielfalt liegt wohl das Besondere an Gebbers’
Art der Vermittlung: Sie bewegt sich an den Rändern der
Genres und schafft es subtil, das zu integrieren, was anderen
zu spröde oder populär ist. Sie sagt: »Es bringt wenig, sich
nur im Elfenbeinturm einzurichten«. LAURA STORFNER

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P ORT R ÄT S

DER AUKTIONATOR ter« (1817), eine restituierte Zeichnung von Friedrich Olivier,
sensationelle 2,6 Millionen Euro und damit das zweitbeste
David Bassenge Auktionsresultat in Deutschland. Hierfür gab die langjäh-
rige Expertise des Hauses den Ausschlag, ist sich David
Wie schafft man es, dass der einzige Sohn freiwillig in die Bassenge sicher. Auch wenn der Markt digitaler und globa-
Fußstapfen des Vaters tritt? Und sich genauso begeistert im ler geworden ist, sei das durch Kennerschaft erarbeitete Ver-
familiären Betrieb engagiert wie die Generationen zuvor? trauen noch immer das wichtigste Kapital. »Wir haben eine
Ganz einfach: Man übt keinen Druck aus, hält die Leine lo- Größe, wo man sich gut um alles kümmern kann«, be-
cker und vertraut insgeheim auf die Attraktivität der Firma. schreibt er die Vorzüge des Familienbetriebs. Und verweist
»Meine Eltern haben mich nie zu irgendwas gedrängt«, er- auf zwei italienische Veduten aus der ersten Hälfte des
zählt David Bassenge. »Aber ich bin seit Kindheitstagen im- 18. Jahrhunderts, die im Juni zur Versteigerung kamen und
mer schon hier im Haus gewesen, es war ein natürliches Auf- stolze Ergebnisse von 960 000 und 730 000 Euro erreichten.
wachsen mit der Kunst.« »Sie kamen aus Berliner Privatbesitz, wo sie über hundert
Das Haus, das ist die ein wenig verwunschen wirkende Jahre gehangen hatten, waren also völlig marktfrisch«, be-
Villa im Grunewald mit ihren knarzenden Dielen, vollge- richtet er mit ansteckender Begeisterung über diesen Coup,
stopften Bücherregalen und alten Gemälden an den Wän- der auf langjährigen persönlichen Kontakten beruhte. Die
den, in der die nach der Großmutter benannte »Galerie Kunst des 15. bis 19. Jahrhunderts ist sein Metier, während
Gerda Bassenge Kunst- und Buchauktionen« seit 1968 ihre sich der 72-jährige Vater in erster Linie um die Buchauktio-
Heimstatt hat. David Bassenge arbeitet hier in der Abteilung nen kümmert. »Wir haben das Glück, dass sich bei uns die
Kunst und teilt sich mit seinem Vater Tilmann Bassenge als Generationen nicht aneinander reiben, sondern ergänzen«,
Komplementär die unternehmerische Verantwortung. Nach beschreibt sein Sohn das Verhältnis.
der Schule hatte der heute 40-Jährige zunächst eine Bank- Auch wenn Bassenge gerade einen Lauf hat und in der
lehre absolviert, merkte dann aber schnell, dass ihm »kul- nächsten Kunstauktion Ende Mai sein Glück erneut mit ei-
turell etwas fehlt«, und hängte ein Studium der Kunstge- nem Olivier-Blatt versucht, weiß der Junior um die Heraus-
schichte, Philosophie und BWL hinten dran. Einen Tag nach forderungen der Zukunft. »Den klassischen, bestens infor-
dessen Beendigung trat er in die väterliche Firma ein, knapp mierten Sammler wird es weiterhin geben, aber es werden
zehn Jahre ist das jetzt her. auch neue Käuferschichten hinzukommen, die weniger Zeit
Für das Auktionshaus Bassenge war das eine erfolgrei- haben, sich mit den Werken zu beschäftigen, und gut kura-
che Zeit. Der weltweit anerkannte Spezialist für Arbeiten tierte und strukturierte Angebote brauchen.« Für sie wird
auf Papier und Bücher hat sich mit der Fotografie ein drittes man in den nächsten Monaten einen Bassenge-Marketplace
Standbein geschaffen und reüssiert auch zunehmend mit auf der Online-Plattform Auctionet eröffnen. Der klassische
Gemälden. Letzten Herbst erzielten die »Welken Ahornblät- Auktionshandel geht neue Wege. MATTHIAS EHLERT

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DER LIEBLINGSKÜNSTLER aus und macht Arbeiten mit kritischem Potenzial, die trotz-
dem schön anzuschauen sind. Den Eisblock im Meer zum
Julian Charrière Beispiel malträtierte der Künstler über Stunden mit einem
Bunsenbrenner. Schmelzen wollte der zwar nicht, aber die
Es wird gerade viel über Julian Charrière gesprochen. Dabei Fotos der Performance mit der einsamen Figur auf dem wei-
ist der gebürtige Schweizer eigentlich nie greifbar, sondern ßen Berg sehen unglaublich gut aus. Dass man unwillkür-
mal auf einem Eisberg in Island, dann im Elbsandsteinge- lich an Caspar David Friedrich und sein Gemälde vom Krei-
birge oder in einer verstrahlten Region von Kasachstan un- defelsen denkt, war vielleicht Absicht. Ganz sicher aber das
terwegs. Seine knappe Zeit im Berliner Atelier hat er jüngst mulmige Gefühl beim Betrachten: Die Polarkappen lösen
mit dem Zerteilen enormer Salzblöcke verbracht. Den Rest sich ohnehin auf, weil wir das Klima verändern. Und dann
musste der Assistent zersägen. Charrière, Jahrgang 1987, ist kommt einer und heizt diesen Prozess noch für alle sichtbar
schon wieder auf Reisen. auf einer fotografischen Serie an.
Kuratoren, Kritiker und Jurys scheinen geradezu ver- Julian Charrière ist da gnadenlos. Die Ästhetik seiner
narrt in den großen, lässigen Jungen. Das liegt zum einen Materialien nutzt er, um unseren Umgang mit der Erde zu
an seiner Biografie: Schüler von Ólafur Elíasson beobachtet thematisieren. Pseudowissenschaftlich, aber stets mit wah-
der Kunstbetrieb besonders scharf, weil der Abglanz ihres rem Kern. Und nicht als Mahner in der Wüste – wo er na-
prominenten Lehrers auf sie abfärbt. Andererseits können türlich schon war. Sondern mit dem nüchternen Blick der
die Erwartungen extrem auf einem lasten. Charrière hält das Post-Internet-Generation, die weiß, dass es immer mehr vom
Menschen dauerhaft zerstörte Landschaften geben wird. Für
eine Ausstellung im Pariser Centre Culturel Suisse schliff
der Künstler vergangenes Jahr 13 Globen aus diversen Jahr-
hunderten ab und ließ sie über einem Tisch schweben, auf
dem die Schleifpartikel eine Miniaturlandschaft formten.
Ein faszinierendes Bild für die globale Erosion und den
Hunger nach Ressourcen. »The Future of Memory« hieß ein
anderes Projekt der Kunsthalle Wien, in dem Charrière
kürzlich noch einmal eine Aufnahmen aus Kasachstan zeig-
te. Entstanden ist sie auf einem Gelände für Atomwaffen-
tests, in einer Landschaft mit seltsam geformten Betonbau-
ten, die wie Skulpturen einer fremden Kultur wirken. Da
man die Strahlung nicht sehen kann, streute Charrière ver-
seuchte Erde auf die Negative. Zurück blieben Lichtflecken,
die Schönheit evozieren, tatsächlich aber für den Tod der
Gegend stehen. Ähnlich subtil ist seine aktuelle Arbeit für
die Wiener Ausstellungshalle TBA 21. Hier hat er Elemente
des Glasdaches eingefärbt, das Licht fällt sanft grün oder
gelb ins Haus. Erst wenn man liest, dass die Installation »The
Third Element« (2015) auch Lithium enthält, wird klar, was
der zurückhaltende Eingriff in der Ausstellung »Rare Earth«
soll: Ins Gigantische vergrößert, bilden die farbigen Felder
jene Salzwasserbecken in Bolivien ab, aus denen der elemen-
tare Stoff, etwa für Handys, aufwendig gefiltert wird.
Von hier stammen auch die Salzblöcke. 15 Tonnen hat
Charrière im Winter 2014 per Schiff nach Lausanne kom-
men lassen und einiges davon für seine Soloschau im dorti-
gen Kunstmuseum verwendet. Sie war Teil des Manor
Kunstpreises für ihn. Den Rest zerstückelt Charrière nun im
Atelier sukzessive für künftige Arbeiten. Recycling auf
künstlerische Art. Sein Atelier ist voll von Spuren älterer
Projekte. Schimmelnde Mauern unter Glas. Würfel aus Wei-
denruten und ausgestopfte Tiere. Auf dem Tisch liegen Zie-
gel aus rötlichem Himalayasalz, daneben steht eine Packung
Spülmaschinensalz, Marke »Somat«. Beide sind Überbleib-
sel kleinerer Experimente, während Charrière auf die Fracht
aus Übersee wartete. Was er mit den Ziegeln anstellt? Keine
Ahnung. Für das »Somat« aber wäre der perfekte Ort wohl
die Küche nebenan. CHRISTIANE MEIXNER

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DIE TIPPGEBER
Nina Trippel / Sven Hausherr
Ist die Crema auf dem Espresso die neue Konzeptkunst?
Kann man Macarons mit Minimal Art vergleichen? Das sind
Blödsinnsfragen, klar, Journalistenprovokationen. Nina Trip-
pel und Sven Hausherr würden sie so nie stellen. Und doch
kann man nicht übersehen, dass in Berlin seit einigen Jahren
ernsthaft über das Verhältnis von Kunst und Essen nachge-
dacht wird. Daran sind unter anderem Trippel und Hausherr
schuld: Jeden Donnerstag flattert ihr Cee-Cee-Newsletter ins
E-Mail-Postfach, jede Woche gibt es Tipps zu bisher unent-
deckten Restaurantperlen, aktuellen Lieblingsbars, Mode-
läden, in die man sich sonst nie verirren würde – aber auch
zu Ausstellungen in Galerien oder Off-Spaces.
Das Konzept ist freundschaftlich, persönlich (häufige
Personalpronomen: »ich«, »du«, »wir«) und so erfolgreich,
dass eine Reihe von Empfehlungen bereits in einem Cee-Cee-
Buch gebündelt wurden. Dort befinden sich dann auf einer
Doppelseite die Concierge-Coffee-Bude und Between
Bridges, der Galerieraum des Fotografen Wolfgang Tillmans.
Verkrampfte Kunstkritiker mögen darüber ins Zähneknir-
schen geraten, doch für Nina Trippel ist die Kombination nur
folgerichtig: »Ich kann mich an all diesen Dingen gleicher-
maßen erfreuen. Ein gutes Essen ist genauso ein unglaubli-
cher Genuss wie eine spannende Ausstellung.«
Eine verlockende Vorstellung: Einmal eine Schau in den
Kunst-Werken so relaxed und genusssüchtig betreten wie
den neuen Burgerladen in Neukölln. 20 000 Abonnenten hat
Cee Cee bereits, und da sich die freischaffende Redakteurin
und der Grafikdesigner zwischen Luc Tuymans und Danh Vo
gut auskennen, wird man künftig mehr und mehr ihrer Fol-
lower auf Vernissagen antreffen. »Kunst ist die neue Party«,
sagt Hausherr. Wir freuen uns drauf. TIM ACKERMANN

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R A DI K A L E MODE R N E

Bild: Dieter Urbach/Berlinische Galerie/Repro: Kai-Annett Becker

Stein gegen Stein


In den Sechzigerjahren wurde der Systemwettstreit im geteilten Berlin auch auf dem
Feld der Architektur ausgetragen. Beide Seiten bedienten sich dabei im
Arsenal der Moderne, woran eine Ausstellung in der Berlinischen Galerie erinnert

VON
M AT T H I A S E H L E RT

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R A DI K A L E MODE R N E

D
Der Berliner Journalist und Verleger Wolf
Jobst Siedler veröffentlichte im Frühjahr 1964
ein Buch, dessen Impetus noch heute wir-
kungsmächtig ist. In »Die gemordete Stadt«
prangerte er die in seinen Augen traurigen
Resultate moderner Planung im Westteil der
Stadt an und verklärte zugleich den Charme
von Gründerzeitfassaden und großstädti-
schen Hinterhöfen des alten Berlin. Siedler
konstatierte einen doppelten Verlust: Auf die
Verwüstungen des Krieges wären die des
Wiederaufbaus gefolgt, wo unter dem Zei-
chen der Moderne historisch gewachsene Ur-
Bild: Boening/Zenit/laif/VG Bild-Kunst, Bonn 2015

banität rücksichtslos ausradiert worden sei.


Einen Abgesang auf Putte und Straße, Platz
und Baum sah er allenthalben und stand da-
mit nicht allein: Auch viele Zeitgenossen
empfanden den Übergang in eine neue archi-
tektonische Welt als zu radikal.
Siedlers bürgerliche Polemik erschien Hans Scharouns 1963 errichtete Philharmo- dabei, Parallelen zwischen Ost und West he-
zu einem Zeitpunkt, als die Moderne in der nie am Kulturforum zählt zu den bleibenden rauszuarbeiten und die Architekturgeschich-
Stadt gerade umfassend triumphierte. Sie Bauten der Nachkriegsmoderne. Vier Jahre te nicht wie sonst üblich getrennt darzustel-
hatte sich nicht nur im Westen durchgesetzt, später entstand das DDR-Außenministerium len, sondern aufeinander bezogen und von
sondern auch im Osten den stalinistischen (li. Seite: Bildmontage), das die Wende den gleichen internationalen Entwicklungen
Klassizismus abgelöst. Nach dem Mauerbau nicht überlebte. 1996 wurde es abgerissen geprägt. Da war zunächst einmal die politi-
im August 1961, der paradoxerweise in der sche Lage als Frontstadt des Kalten Krieges.
DDR für kurze Zeit zu einer größeren geisti- Sie fand ihren Niederschlag ganz unmittel-
gen Freiheit geführt hatte, sahen beide Seiten der traditionellen Stadt im Sinne Siedlers bar in der Architektur, wie beim bekanntes-
ihre Stadthälften als Schaufenster für die At- war damit praktisch ausgeschlossen. ten Beispiel, dem Axel-Springer-Hochhaus in
traktivität der in ihnen jeweils herrschenden Heute prägen die in dieser Zeit entstan- der Kochstraße. Der Verleger Axel Springer,
Gesellschaftssysteme. Das mündete in einen denen Bauten und Plätze noch immer das ein beherzter Kämpfer für die deutsche Wie-
beispiellosen Bauboom, der sich ziemlich un- Stadtbild, haben es aber – bis auf wenige Aus- dervereinigung, hatte Ende der Fünfzigerjah-
gehindert entfalten konnte, da durch die nahmen – in der öffentlichen Wahrnehmung re beschlossen, seinen Verlagssitz von Ham-
Kriegsschäden in der Stadt ausreichend schwer. Oft stoßen sie auf emotionale Ableh- burg nach Berlin zu verlegen. Für sein neues,
Brachflächen vorhanden waren. nung, selbst unter Denkmalschützern finden 78 Meter hohes Gebäude wählte er ein
Für die Architekten und Stadtplaner sie keine große Lobby. Die Ausstellung »Ra- Grundstück an der Sektorengrenze im ehe-
war das eine ideale Situation. Angetrieben dikal Modern. Planen und Bauen im Berlin maligen Zeitungsviertel, um damit ein poli-
von Zukunftsoptimismus und Technikgläu- der 1960er Jahre«, mit der Ende Mai die Ber- tisches Zeichen zu setzen. Die DDR-Oberen
bigkeit konnten sie darangehen, ihre kultu- linische Galerie wiedereröffnet wird, möchte ärgerte dieser weithin sichtbare, direkt hinter
rellen und gesellschaftlichen Visionen zu ver- sich nun an einer kritischen Neubewertung der Mauer emporragende Bau mitsamt seiner
wirklichen. Dabei war klar, dass man dieser Epoche versuchen. Anhand von Zeich- 1963 über dem Dach aufgepflanzten Leucht-
ästhetisch weder auf den Monumentalismus nungen, Fotografien, Dokumenten, Filmen schrift so sehr, das sie ihn später mit Hoch-
der Nazizeit noch auf das wilhelminische aus öffentlichen und privaten Archiven, aber hausriegeln auf der Leipziger Straße abzu-
Gründerzeiterbe zurückgreifen konnte – bei- auch von Kunstwerken, soll der Geist dieser schirmen versuchten.
des galt als ideologisch kontaminiert. An- Epoche wieder erlebbar und ein unvoreinge- Der Wettstreit der Systeme fand nicht
schlussfähig war einzig die Moderne der nommener Blick auf dieses jüngere Bauerbe nur in Mauernähe statt. Zu Austragungsor-
Zwanzigerjahre, die sich über den Umweg ermöglicht werden. ten avancierten auch zwei zentrale Stadtplät-
Amerika inzwischen zum International Style Wichtig war es der Kuratorin Ursula ze, der Alexanderplatz auf der einen Seite
weiterentwickelt hatte. Ein Wiederaufbau Müller und ihrem wissenschaftlichen Beirat und der Breitscheidplatz auf der anderen, die

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R A DI K A L E MODE R N E

in den Sechzigerjahren gestaltet wurden. Welt fähig sei. Vorbilder für das Hochhaus Das Panoramafoto des Alexanderplatzes
Mit dem Breitscheidplatz am Bahnhof Zoo waren das Rockefeller Center und das Lever schuf 1972 Heinz Lieber. Es zeigt die riesigen
erhielt das nunmehr von der alten histori- House, die der Architekt Helmut Hentrich Dimensionen des kurz zuvor fertiggestell-
schen Mitte abgeschnittene West-Berlin ein 1954 bei einem New-York-Besuch kennenge- ten Areals, das als neues Zentrum der DDR-

Bilder: Rechtsnachfolger Heinz Lieber/Repro: Kai-Annett Becker; Arvid Rudling/flickr/VG Bild-Kunst, Bonn 2015
neues Zentrum. Aus der Trümmerbrache des lernt hatte. Von Letzterem lieh man sich so- Hauptstadt diente. Unten das Mosaikfries
Zweiten Weltkriegs sollte hier eine moderne gar die Idee einer Eislaufbahn, die allerdings »Unser Leben«, mit dem Walter Womacka
1964 das Haus des Lehrers schmückte.
Stadtlandschaft emporwachsen, frei fließend in der Berliner Variante überdacht war und
Rechte Seite: Eine Collage von 1968 ver-
und von heterogenen Elementen geprägt. Ih- 1980 geschlossen wurde. Es war der Ameri-
deutlicht den geplanten Wohn- und Gewer-
ren Mittelpunkt bildet die von Egon Eier- can Way of Life, der hier gefeiert wurde, die bekomplex an der Leipziger Straße, mit dem
mann wiedererrichtete und 1961 geweihte naive Freude am Konsum – und daran hat das Axel-Springer-Hochhaus in unmittel-
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, ein geo- sich, trotz des etwas angestaubten Inneren, barer Nachbarschaft an der Grenze aus dem
metrisch streng gegliederter Bau, der den bis heute nichts geändert. Sichtfeld gerückt werden sollte
neoromanischen Turmtorso der zerbombten Das Pendant zum Breitscheidplatz bil-
Kirche miteinbezieht. Ursprünglich wollte dete im Ostteil der Stadt der Alexanderplatz,
der Architekt die Ruine komplett abreißen dessen architektonische Neuordnung eben-
lassen, doch der geballte Protest der West- falls Anfang der Sechzigerjahre begann. Statt
Berliner hinderte ihn daran. Inzwischen er- einer Kirche und eines Konsumtempels war
scheinen die beiden so gegensätzlichen es hier ein Ort der Aufklärung, der von der
Strukturen wie zusammengewachsen und Überlegenheit der neuen Zeit künden sollte.
bilden gemeinsam ein solitäres, weltweit ein- Das 1964 eingeweihte Haus des Lehrers von
maliges Friedensmahnmal. Hermann Henselmann nebst angeschlosse-
Das zweite markante Gebäude des neu-
en Breitscheidplatzes war das 1965 fertigge-
stellte Europa-Center von Helmut Hentrich
und Hubert Petschnigg. Mit 86 Metern war
es das größte Hochhaus der Stadt, ein Wahr-
zeichen des Wirtschaftswunders, gekrönt
von einem riesenhaften Mercedes-Stern. Das
damals ultramoderne Scheibenhochhaus
mit einer Aluminiumvorhangfassade wurde
durch eine massive, zweigeschossige Laden-
passage horizontal ergänzt. In Auftrag gege-
ben hatte es der Radio- und Fernsehgroß-
händler Karl Heinz Pepper, ein gewiefter
Investor, der damit demonstrieren wollte, zu
welchen Großtaten die kapitalistische, freie

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ner Kongresshalle wirkt mit seiner curtain pagiert und von den Planern für gut gehei- men, im Zuge des allgemeinen Sechzigerjah-
wall und der Kombination aus Hoch- und ßen wurde, gilt heute als Irrweg der Moderne. re-Bashings sind sie ohnehin als »unwirtlich«
Flachbau wie die sozialistische Replik auf das Stattdessen wird mit Blockrandbebauung und »zugig« verschrien.
Europa-Center. Genutzt wurde es als Kultur-, und Verdichtung um jeden Preis die Rück- Mit den gleichen Vorwürfen hat auch
Bildungs- und Informationszentrum für kehr zur »alten europäischen Stadt« postu- ein anderer, inzwischen zentraler Stadtraum
Lehrer und Eltern. Das riesige, umlaufende liert, was meist zu wenig harmonischen zu kämpfen, der ebenfalls ein Produkt dieser
Mosaikfries »Unser Leben« (hinter dem sich Überformungen und Fragmentierungen Epoche ist: das Kulturforum. Hier entstan-
das Buchmagazin verbarg) hat der populäre führt. Auf die Anlage der Stadtplätze als den mit der Neuen Nationalgalerie (1968)
DDR-Künstler Walter Womacka geschaffen. Ganzes wird dabei kaum Rücksicht genom- von Mies van der Rohe und Scharouns Phil-
Auch bei diesem Gebäude stand der Interna-
Bild: Manfred Zumpe/Berlinische Galerie/Repro: Markus Hawlik

tional Style Pate, doch eher in seiner latein-


amerikanischen Variante: Henselmann be-
nannte Oscar Niemeyers Regierungsbauten
für Brasília als Referenz, das kolossale Wand-
gemälde hat in den mexikanischen Murales
eines Diego Rivera oder David Alfaro Siquei-
ros seine Vorbilder.
Nach der Wende wurden das Haus des
Lehrers und die Kongresshalle von der städ-
tischen Wohnungsbaugesellschaft WBM auf-
wendig saniert. Heute werden sie als Büros
und für Veranstaltungen genutzt. Als städte-
bauliches Denkmal und schönstes Hoch-
hausensemble der DDR sind sie allgemein
anerkannt und werden dennoch von hässli-
cher Investorenarchitektur (wie der Shop-
pingmall Alexa) umstellt und an den Rand
gedrängt. Der Alexanderplatz hat hier das
gleiche Problem wie der Breitscheidplatz, wo
die neuen Hochhausbauten der Eiermann-
Kirche bedrohlich zu Leibe rücken und ihr
die Wirkung nehmen.
Es ist das Resultat eines Ideologiewech-
sels: Die Entdichtung und Auflockerung des
Stadtkörpers, die noch in den Sechzigerjah-
ren von Architekten wie Hans Scharoun pro-

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R A DI K A L E MODE R N E

Bild: Georg Kohlmaier/Elisabeth von Sartory/Berlinische Galerie/Repro: Markus Hawlik/VG Bild-Kunst, Bonn 2015
So wie das Auto ein Symbol des Fortschritts war, so auch das
industrialisierte Bauen mit seinen vorgefertigten
Standardlösungen, die heute als monoton und seelenlos gelten.

harmonie (1963) zwei spektakuläre, unum- ihre Hände im Spiel hatten, sodass man sich Bürger geben. Geplante Autobahnkreuze
strittene Bauten, die das Bild West-Berlins über die Tristesse jetzt nicht wundern muss. mitten in der Stadt, Fußgängerbrücken, die
ähnlich prägen wie der Ost-Berliner Fernseh- Eine der ersten Beschädigungen erfuhr für flüssigen Verkehr sorgen, und andere gru-
turm (1969). Doch der weitere Ausbau des das Kulturforum jedoch bereits durch ein ty- selige Einfälle, die zum Glück in der Schub-
Areals, auf dem sich hochkarätige Museums- pisches Dogma der Sechzigerjahre: das Kon- lade blieben, zeugen von diesem Denken.
bauten wie Gemäldegalerie und Kupferstich- zept der »autogerechten Stadt«. Gleich hinter Nicht nur das Auto war ein Symbol der
kabinett sowie der Kammermusiksaal und den Scharoun-Bauten senkte man hart die Moderne, sondern auch das industrialisierte
die Staatsbibliothek versammeln, gilt allge- Westtangente der Stadtautobahn ab, die erst Bauen. Rationalisierte Bautechniken, die mit
mein als missglückt. Die Ursprungsplanun- 2006 durch den Tiergartentunnel ersetzt vorgefertigten Standardlösungen arbeiteten,
gen Scharouns, dem eine organische Stadt- wurde. Sie erwies sich als beständiges Hin- galten als zukunftsorientiert. Mit ihnen lie-
landschaft vorschwebte, in der etwa die dernis bei der Weiterentwicklung des Fo- ßen sich die drängenden sozialen Fragen
Staatsbibliothek als »Bergrücken« und die rums. Was heute nur noch Kopfschütteln schneller und ökonomischer lösen; noch im-
Potsdamer Straße als »Tal« erlebbar werden hervorruft, war damals Common Sense. Das mer lebte eine Mehrheit der Bevölkerung un-
sollten, blieben Theorie. Niemand weiß, ob Auto war ebenso wichtig wie der Mensch, ter fragwürdigen Bedingungen. Außenklo
sie in der Praxis funktioniert hätten. Was Stau und Smog noch kein Thema. Wenn und Ofenheizung waren die Norm auf bei-
man weiß, ist, dass bei diesem Gelände jahr- man schon in einer eingemauerten Stadt leb- den Seiten der Mauer. Hier Abhilfe zu schaf-
zehntelang zu viele Planer und Architekten te, sollte es wenigstens freie Fahrt für freie fen, tat Not. Die Idee der Großsiedlungen in

ü 48
R A DI K A L E MODE R N E

Soziales Experiment: Mit Retortenstädten


wie dem Märkischen Viertel versuchte man
in den Sechzigerjahren die Wohnungsnot
zu mildern. Unten: die nicht realisierte Pla-
nung für ein Autobahnkreuz am Oranien-
platz; ein Zubringer endet abrupt an der
Mauer. Links: Rollende Gehsteige wie auf
einem Flughafen sollten 1969 am Kurfürs-
tendamm den Verkehr beschleunigen
Bilder: Heinrich Kuhn/Sabine Krüger/Repro: Isabell Kanthak; Georg Kohlmaier/Elisabeth von Sartory/Berlinische Galerie/Repro: Markus Hawlik/VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Randlagen setzte sich durch, zunächst im


Westen mit dem Märkischen Viertel, dann
im Osten mit dem Salvador-Allende-Viertel.
Auch dieses Kapitel, das heute oft als so-
ziale Fehlkalkulation bewertet wird, spart
die Ausstellung nicht aus. Am Beispiel des
Märkischen Viertels, das von 1963 bis 1974 für
50 000 Menschen gebaut wurde, zeigt sich der
rasante Imagewechsel der Moderne. Die Be-
geisterung, mit der die Architekten zunächst
ans Werk gingen, um die Vision von Le Cor-
busiers Wohnmaschine mit »angewandter
Sonne« zu realisieren, zerschellte bald an den
Problemen der Infrastruktur. Die Bewohner,
deren Lebensbedingungen sich doch eigent-
lich verbessert hatten, fühlten sich aus der
Stadt gedrängt und klagten über Monotonie
und Anonymität. »Die Hölle is det hier«, me-
ckerte im Jahre 1968 ein Anwohner einem
Spiegel-Reporter in den Block.
Und auch für die Architekten erwies
sich der industrielle Fortschritt als zwei-
schneidig. Fenster, Türen, Fußbodenbeläge
kamen nun aus der Serienfabrikation, sie
funktionierten, waren aber irgendwie seelen-
los geworden. Im Ostteil diktierte die Bau-
akademie eine »rücksichtslose Normierung
und Typisierung«, wie sich der Architekt
Hermann Henselmann beklagte , deren Fol-
gen im Wohnungsbau »abschreckend genug«
seien. All das mündete in zunehmenden Bür-
gerprotest gegen den »Bauwirtschaftsfunk-
tionalismus«, für den Wolf Jobst Siedlers
Buch die Stichworte lieferte. Man begann die
»Urbanität« wiederzuentdecken, auf einmal
wurden Altbauten nicht mehr abgerissen,
sondern saniert. Die Postmoderne bekämpf-
te das Problem der Typisierung mit neuen
Spielereien und Schnörkeln, heute schließ-
lich – form follows money – bestimmt der Im-
mobilienmarkt die Ästhetik.
Sich diese Entwicklungslinien einmal
zu vergegenwärtigen und vielleicht etwas
versöhnlicher auf das radikale Weltverbesse-
rungssprogramm der Sechzigerjahre-Moder-
ne zu schauen, dafür wird diese Ausstellung
eine gute Gelegenheit bieten. ×

»Radikal Modern«, Berlinische Galerie,


29. Mai bis 26. Oktober

ü
49
»Mach mal
Berlin Style!«

ü
Die Charlottenburger Altbauwohnung eines Kunstsammlers
verblüfft mit einem exzentrischen Möbelmix und
unerschrockenen Anleihen aus Geschichte und Gegenwart

VON FOTOS
J E A N N E T T E R IC H T E R AC H I M H AT Z I U S

ü
HEA DZEILE

ü 52
BER LI N ST Y LE

I
Interiordesign kann eine komplizierte Sache
sein. Da werden lange Gespräche geführt,
um in die Seele des Auftraggebers zu blicken
und ihm seine geheimen Wünsche zu entlo-
cken. Da werden dicke Auktions- und Mö-
belkataloge gewälzt, um aus abstrakten Vor-
stellungen reale Mitbewohner zu destillieren.
Da werden Grundrisse, Stoffproben, Einbau-
schrankskizzen und Türklinken so lange hin-
und hergeschickt, bis am Ende keiner mehr
durchsieht. Das ist die Regel.
Und hier kommt die Ausnahme. Vier
Worte für 280 Quadratmeter Altbau in Char-
lottenburg: »Mach mal Berlin Style!«
So lautete die Ansage eines Frankfurter
Bilder: Achim Hatzius/VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Unternehmers und Kunstsammlers für sei-


nen hauptstädtischen Zweitwohnsitz, in
dem er und seine jüngere Frau gern mal ein
außergewöhnliches Wochenende verbringen.
Ein solches Briefing setzt eine Menge Ver-
trauen voraus und vor allem die feste Über-
zeugung, dass der Interiordesigner selbst
schon eine Art aktuellen Berlin Style verkör-
pert, an dem man teilhaben möchte.
Wer Stephan Schilgen trifft, den Raum-
künstler, der diese wilde Wohnung erschaf-
fen hat, versteht sofort, woher dieses Vertrau-
en rührt. Schilgen ist eine Art Peter Fox der
Berliner Designerszene. Ein Selfmademan,
den es gleich nach der Wende in den Osten
verschlug, wo er Partys feierte, in verlassene Der sieben Meter lange Flur trägt ein Patch- sah, als ob da gleich ’ne Nonne um die Ecke
Sowjetkasernen einstieg, sein Studium ver- work aus Perserteppich-Fliesen. Links kommt«? Überraschend gut, muss man sa-
nachlässigte, einen angesagten Club eröffne- ein Stuhl aus dem Brecht-Haus, rechts über gen, trotz der teilweise radikalen Interventio-
te (den Kurvenstar in Mitte), erste Ausstat- dem Perriand-Sideboard ein Lüpertz- nen. Denn den Charakter der Wohnung als
tungen fürs Fernsehen, für Messen, Bars und Gemälde aus dem Parsifal-Zyklus. Repräsentations- und Rückzugsort, ihre His-
Linke Seite: Blick in die Küche. Das Hals-
Restaurants im In- und Ausland übernahm torizität ließ Schilgen unangetastet, ja, er ar-
präparat des Antilopenkopfes war ein
und sich eine riesige Möbelsammlung zuleg- beitete sie sogar noch stärker heraus.
Gastgeschenk des ugandischen Diktators
te. All das hat seine Persönlichkeit auf eine Ausgangspunkt für seine Gestaltungs-
Idi Amin an DDR-Staatschef Honecker.
sehr originäre Art geprägt, angefangen vom Vorige Doppelseite: Über dem Chesterfield- überlegungen war der Stuck. Wie ein Denk-
unkonventionellen Kleidungsstil (mit ein- Sofa im Salon hängt ein Bild von Tracey malschützer näherte er sich ihm, wusch auf-
deutigen Referenzen zum Luden-Chic der Emin, zum Abstellen von Gläsern und Lek- wendig mit Dampf die alten Schichten
Franz-Biberkopf-Zeit) bis hin zu einer metro- türe dienen Golden-Wheat-Tischchen heraus und entdeckte dabei – etwa im Berli-
politanen Schnoddrigkeit, die sich mit gro- von Coco Chanel aus den frühen 1970ern ner Zimmer –, dass der übliche Blütenkranz
ßer Neugier, unorthodoxem Ideenreichtum von kubistisch-afrikanischen Begleitern um-
und verlässlichem Perfektionismus mischt. spielt wurde. So etwas freut ihn ungemein.
Doch wie verträgt sich Berlin Style »Die Alten haben es uns vorgemacht, was
anno 2015 mit einem klassisch bürgerlichen man alles mischen kann und was trotzdem
Ambiente? Mit drei imposanten Räumen funktioniert«, konstatiert er und formuliert
nach vorne raus, einem unterbelichteten Ber- damit zugleich sein eigenes eklektisches Pro-
liner Zimmer und einem endlos langen, gramm. Nachdem er gerettet hatte, was noch
weiß gekalkten Flur, der, laut Schilgen, »aus- zu retten war, hätte er sich zurücklehnen

ü 53
HEA DZEILE

Das Berliner Zimmer wird ganz klassisch als Speisezimmer genutzt. Das Thema Essen
greifen links und an der Stirnseite die Bilder von David Salle auf, rechts eine Arbeit
von Juergen Teller. Die Vorliebe der Hausherrin für Midcentury-Design spiegeln die
Saarinen-Stühle und das Sideboard von Raymond Loewy wider.
Rechte Seite: Die Bar hat der Interiordesigner Stephan Schilgen aus einzelnen Metall-
lamellen gefertigt, die an Wand und Scheuerleiste (!) befestigt sind. Darauf arrangiert: ein
Cluster aus farbenfrohen Flohmarktfunden. Die Arbeit des südkoreanischen Künstlers
Do Ho Suh (unten) entstand 2009 während seiner Zeit als Gast des Berliner DAAD-Künst-
lerprogramms und nimmt Bezug auf architektonische Details seiner Stipendiatenwohnung

54 ü
BER LI N ST Y LE

ü
55
BER LI N ST Y LE

ü 56
und seine Funde wie im Museum ausstellen
können. Doch das erschien ihm nicht »im
Geist der Alten«. Stattdessen begann er er-
gänzend zu agieren, gab dem Liniengewirr
an der Decke einen warmen Sandsteinton
und versetzte es mit Goldapplikationen, die
an eine römische Villa erinnern. In der Bi-
bliothek, wo die Stuckrosette mit ihrem
Humboldt-Früchtekorb aus Kakao, Ananas
und Kaffee auf ein streng gotisches Muster
traf, zwitschern nun zusätzlich kleine Vögel-
chen in irisierenden Farben und »symbolisie-
ren die Leichtigkeit der Gedanken«.
Aus diesem Stuckornament entwickelte
er auch ein Möbelunikat für die Bibliothek –
ein direkt unter der Rosette platziertes run-
des Sofamodul, in dessen Lehne ein heraus-
fahrbarer Fernseher und sämtliche Technik
verborgen sind. In einem der Salons der Stra-
ßenfront war es »ein eigenartig grün-creme-
farbener Kachelofen«, der die Farben der
Wände und des Teppichs diktierte. Das Mo-
biliar, das die Vorliebe der Hausherrin für
Bilder vorherige und diese Seite: Achim Hatzius/VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Midcentury-Design widerspiegelt, erscheint


wie aus einem Guss und dennoch individua-
listisch. Vintage-Highlights wie ein Side-
board von Charlotte-Perriand im Flur treffen
auf Lokalmatadoren wie die Brecht-Haus-
Stühle oder extravagante Eigenschöpfungen
von Schilgen. Ein Eyecatcher ist seine aus ein-
zelnen Metalllamellen gefertigte Bar, die
wirkt, als ob sie aus der Wand herauswachsen
würde, und mit verschiedenen Farben illu-
miniert werden kann.
Angewandten Berlin Style findet man
auch in der Küche. Dass hier ein Sofa und
kein megalomaner Bulthaup-Block steht, ist
rein praktischen Erwägungen geschuldet.
»Wofür nutzen denn meine Klienten ihre Kü-
che, habe ich mich gefragt: um einen Espres-
so zu trinken und um mal ’ne Flasche Scham- Der Interiordesigner Stephan Schilgen mit als Interiordesigner einen gewissen Vor-
pus aus dem Kühlschrank zu holen. Zum seinem Kater Dagobert. Viele der hier ab- sprung: »Wenn jemand sagt, ich möchte ei-
Essen geht man doch sowieso nach draußen.« gebildeten Möbel und Objekte stammen nen grünen Raum, dann kann ich mir sofort
Erkundet man anschließend noch das Berli- aus seinem K-Star-Fundus. Links das 1000 grüne Sachen holen und muss nicht
ner Nachtleben und kommt womöglich erst Schlafzimmer, das Schilgen als »Dunkel- mühsam im Internet recherchieren.«
zum Sonnenaufgang heim, dann bietet das kammer« konzipierte. Blickdichte Vorhänge Mit dem Ausbau von Wohnungen hat
schaffen im hinteren Bereich der 280-qm-
Schlafzimmer am Ende des langen Flures Schilgen erst in jüngerer Zeit begonnen, weil
Wohnung eine runde Insel der Ruhe
eine Oase der Ruhe. Schilgen hat hier in ei- er zunehmend Lust hatte, »auch im Privaten
nen eckigen Raum einen runden eingefügt, etwas Bleibendes zu schaffen«. Sein neuestes
der von blickdichten Verdunkelungsvorhän- Projekt kann man nun sogar öffentlich be-
gen abgeschirmt wird – »ideal zum Hango- sichtigen. Mitte März hat er am Strausberger
ver-Kurieren«. Platz in einem der Henselmann-Bauten die
Vieles, was man in der Wohnung findet, Galerie Central Berlin eröffnet, wo er ausge-
stammt aus dem K-Star Fundus (www.kstar- wähltes sozialistisches Design – vom Mao-
berlin.de), den Schilgen über viele Jahre auf- Wandteppich bis zu Lampen aus dem Palast
gebaut hat. Er ist ein exzessiver Sammler, der der Republik – zu schicken Wohnboxen ar-
sich nur ungern von seinen Schätzen trennt rangiert hat. Seine Formel für den Berlin Sty-
und sie deshalb lieber an Filmfirmen oder le, diese unerschrockene Mischung aus high
Eventagenturen verleiht anstatt sie zu verkau- and low, exzentrisch und historisch, hat hier
fen. Diese ausufernde Möbel- und Objektkol- einen norwegischen Immobilieninvestor so
lektion, die heute auf über 3500 Quadratme- sehr begeistert, dass er ihm die Räume erst
tern in Berlin-Spandau lagert, verschafft ihm mal unentgeltlich zur Verfügung stellte. ×

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DA S V E R S C H W U N DE N E M U SE U M

Bilder: Antje Voigt, Berlin; Bild: Bildarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Kriegsopfer Kunst
Im Mai 1945 verbrannten im Flakbunker Friedrichshain viele hundert
Gemälde und Skulpturen, darunter weltberühmte Meisterwerke. Jetzt erinnert
das Bode-Museum in einer Ausstellung an diesen traumatischen Verlust

VON
BER N H A R D SCH U LZ

ü
58
DA S V E R S C H W U N DE N E M U SE U M

F
Friedrichshain! Was für jüngere Berlin-Tou-
risten ein Stadtteil mit dem Versprechen un-
gestörten Partymachens darstellt, ist für alle
len, so gewaltig der Brand, dass von Gemäl-
den und Holzskulpturen nicht einmal die ge-
ringsten erkennbaren Partikel übrig blieben.
Mitarbeiter, Freunde und Kenner der Staatli- Dieses »Nichts« war es, was immer wie-
chen Museen ein Ort des Schreckens. Denn der Anlass zu der verzweifelten Hoffnung
dort, im Bunker mit seinem Flak-Leitturm, gab, die Rote Armee – die Berlin im April
gingen im Mai 1945 – die Kampfhandlungen 1945 allein erobert hatte, bevor Anfang Juli
ruhten seit 2. Mai in der Reichshauptstadt – die westlichen Alliierten in ihre Sektoren
rund 2000 Kunstwerke in zwei aufeinander- einrückten – habe die Schätze womöglich
folgenden Bränden verloren. Genauer: 434 aus dem Flakturm geborgen und die Brände
Gemälde und 1507 Skulpturen und Objekte. zur Vertuschung gelegt. Doch diese Hoff-
Zwar hatte die Rote Armee den Flakturm nung ist weitgehend zerstoben, seit immer

M
übernommen, aber ihn nicht weiter bewacht. mehr Einzelheiten der Auslagerung bekannt
Am 5./6. Mai kam es zu einem ersten Brand, geworden und auch reale Fundstücke aufge-
nach dem zumindest noch das dritte Ober- taucht sind, wie sie etwa das Moskauer
geschoss intakt war, wie eine Besichtigung Puschkin-Museum 2005 unter dem Titel »Ar-
durch den Generaldirektor der Museen, Otto chäologie des Krieges« zeigte.
Kümmel, in Begleitung sowjetischer Offizie- Siebzig Jahre nach Kriegsende, so der
re ergab. Der zweite Brand zwischen dem 14. Schweizer Julien Chapuis, Leiter der Skulp-
und 18. Mai zerstörte dann alles. So stark war turensammlung im Bode-Museum (dem ehe-
die Hitze, die das Feuer im Betonbunker ent- maligen Kaiser-Friedrich-Museum), sei es an
fachte, dass die Glasur auf Terrakotten der der Zeit, die Dimension der Kriegsverluste,
Florentiner Della-Robbia-Werkstatt schmolz der Zerstörungen und Teilzerstörungen,
und beim Erkalten einen neuen, von Asche aber auch der Erbeutung durch die Sieger
verschmutzten Überzug bildete. So heiß war deutlich zu machen. Aus diesem Gedanken
es, dass Marmorstatuen zu Kalkstaub zerfie- erwuchs die Ausstellung »Das verschwunde-
ne Museum«, die in sechs Kapiteln im Bode-
Museum das Schicksal der Gemälde- und der
Skulpturensammlung darstellt.
Erstaunlich scharfe Schwarz-Weiß-Fo-
tos, von den Glasnegativen aus der Vorkriegs-
zeit aufs Originalformat vergrößert, lassen
die einstige Wirkung der verbrannten Ge-
mälde erahnen. Etwa die Werke von Rubens,
denen im Kaiser-Friedrich-Museum ein gan-
zer Saal gewidmet war. Sie sind alle ver-
schwunden, zehn großformatige Bilder, die
man in den Bunker Friedrichshain ausgela-

Schöner kann man um Kunst nicht trauern:


Saal im Bode-Museum mit Fotos verlorener
Gemälde: (v. li.) Reni, Zurbarán, Ribera, zwei
Caravaggios, Petrus Christus. Die Gipsab-
güsse erinnern an eine Statue, die Wilhelm
von Bode Michelangelo zuschrieb, und eine
Bronzebüste von Giulio Mazzoni, um 1560.
Links: Alles verbrannt im Flakbunker Fried-
richshain, hier 1946 nach der Sprengung

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DA S V E R S C H W U N DE N E M U SE U M

gert hatte. Von den wenigsten Gemälden die Museumsgeneral Kümmel, ein strammer
gibt es Farbabbildungen, so von der »Schule Nazi, bereits 1935 geäußert haben soll, wurde
des Pan«, die Luca Signorelli in Florenz um nicht verfolgt, sondern erst aufgegriffen, als
1490 für Lorenzo I. de’ Medici (den »Prächti- Die Berliner Museen im es dafür bereits zu spät war. Stattdessen wur-
gen«) ausführte – vor dem Krieg ein berühm- de die Belegung der Flaktürme vorgezogen.
tes Schaustück der Sammlung. Heute kennt
Zweiten Weltkrieg Die Luftangriffe im Spätherbst 1943, die er-
es kaum noch jemand. Kriegszerstörte hebliche Schäden auf der Museumsinsel an-
Kunstwerke verschwinden mangels Sichtbar- 1941 Mit den zunehmenden Bomben- richteten, rückten stillgelegte Kali- und Salz-
keit meist auch aus der Forschung. angriffen auf Berlin begann man, die bergwerke in Mitteldeutschland in den Blick.
Die Ausstellung ist beeindruckend und Schätze der Museen in die Flakbunker am Doch wenig geschah außer Besprechungen
bestürzend zugleich. Eindrucksvoll die Rei- Zoo und am Friedrichshain auszulagern. und Expertenbefragungen.
he der Werke, oder besser: ihrer fotografi- Als im Sommer 1944 die Eroberung Ber-
schen und gipsernen Stellvertreter. Und 1944 Tausende Werke wurden (noch lins immer wahrscheinlicher wurde, konn-
bis April 1945) in Bergwerke, meist in Mittel-
schockierend die Erkenntnis, dass alle diese ten immerhin zwanzig Eisenbahntransporte
deutschland, evakuiert. Dort kamen sie
Schätze unwiederbringlich verloren sind. Zu nach Grasleben in Niedersachsen organisiert
später großenteils in die Obhut der US-Army.
einem Zeitpunkt, da die Welt hilflos den Zer- werden. Doch die wertvollsten Schätze ver-
störungen im Nahen Osten zusehen muss, ist blieben in den Berliner Bunkern. In der jet-
1945 Im Mai wurden 434 Gemälde und
die Erinnerung an diesen Kriegsverlust mit- 1507 Skulpturen bei Bränden im Bunker zigen Ausstellung ist erstmals ein Belegungs-
ten in Europa durchaus angebracht. Friedrichshain vernichtet oder stark be- plan für den Leitturm in Friedrichshain zu
Die Auslagerung in die Flaktürme schädigt. Was noch transportierbar war, sehen. Viel Platz war den Museen da nicht
Friedrichshain und Zoo, beide 1941 errichtet, requirierte die Rote Armee. Vor Ankunft der eingeräumt, es galt vorrangig, Militär und
kam erst in den letzten Monaten des Krieges Amerikaner räumte sie den Zoo-Bunker leer. Schutz suchende Berliner unterzubringen.
in Gang. »Die Museen blieben sich selbst Erst im März 1945, die Rote Armee
überlassen«, klagte kurz nach Kriegsende 1958 stand schon fast vor den Toren Berlins, inter-

Bilder: Archiv Gemäldegalerie; D. Köcher, Berlin; SMB-Zentralarchiv


Die Sowjetunion gab 1,5 Millionen
Carl Weickert, der Direktor der Antiken- Kunstwerke an die DDR zurück. Rund eine venierten die Museen beim zuständigen
sammlung. Die Idee eines »Kunstbunkers«, Million Objekte blieben in Russland zurück. Reichsministerium für Erziehung. Am

Luca Signorellis »Schule des Pan«, um 1489/90


(o. li.), war ein Hauptwerk im Kaiser-Friedrich-
Museum, dem heutigen Bode-Museum. Ebenso
das elfenbeinerne Kreuzigungsrelief aus der Hof-
schule Karls des Großen, um 800. Von ihm über-
lebten 1945 nur einige verkohlte Fragmente, hier
auf ein Foto der Tafel gelegt. Kürzlich fand
sich ein Grundriss des Flakbunkers Friedrichs-
hain (li.) mit Eintragung der Kunstlagerungen

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DA S V E R S C H W U N DE N E M U SE U M

Bis auf zwei Porträts van Dycks verbrannten


1945 wohl alle Gemälde im Rubenssaal des
Kaiser-Friedrich-Museums. Tullio Lombardos
Schildträger, um 1493, im Vorkriegszustand
(u. li.) und mit den Brandschäden aus dem
Jahr 1945 (u. re.). Eine Auslagerungsliste
zeigt, wohin man die Schätze des Museums
gegen Ende des Kriegs brachte

8. März befahl Hitler die »sofortige Siche-


rung« der Kunstschätze. Die Museumsdirek-
toren waren einhellig gegen die riskante Ver-
Bilder: Staatliche Museen zu Berlin, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst/Zentralarchiv SMB; Archiv SBM; SMB-Zentralarchiv; Antje Voigt, Berlin

lagerung der Kunstgüter, die nur noch über


die Straße möglich war. So ergingen die
Marschbefehle gen Westen direkt an die Kus-
toden, die mit der Aufsicht in den Flaktür-
men betraut waren. Insgesamt zehn LKW-
Transporte konnten durchgeführt werden
– der letzte noch am 7. April, nicht einmal
vier Wochen vor der Kapitulation Berlins; er
kam in Grasleben unmittelbar vor dem Ein-
treffen der US-Armee an. Keine der Trans-
portlisten verzeichnet eines der großformati-
gen Gemälde, sodass auch die bisweilen
geäußerte Vermutung, manche Werke seien
in die USA gelangt und dort »verschollen«,
ins Reich der Spekulation gehört.
Die Büste der Nofretete kam ebenfalls
mit einem der Transporte in Sicherheit und
wurde von den schnell vorrückenden Trup-
pen der West-Alliierten geborgen. Der Kino-
film »Monuments Men« hat jüngst den Wett-
lauf zwischen Sowjets und Amerikanern um
die Bergungsorte nach Hollywood-Art dra-
matisiert. So wie im Film war es nicht, doch
den Willen zur Konfiszierung der Berliner
Kunstschätze hatten beide Seiten.
Die Großformate der Gemäldegalerie,
obgleich transportfest verpackt, mussten in
Berlin zurückbleiben: Die Förderkörbe der
Bergwerke waren zu klein. Hingegen gingen
aus der Nationalgalerie alle Bilder auf die
Reise, so unverpackt, wie sie in den Regalen
lagen. »Der Mut, dieses Risiko in Kauf zu
nehmen, hat sie vor der Vernichtung be- Überall in ihrem Machtbereich sichteten sie stellung zu sehen, zu der Tafel von Francesco
wahrt«, urteilte Irene Kühnel-Kunze, die Museen und Auslagerungsorte, um die wert- di Giorgio Martini, die wundervoll die Ent-
selbst als Kustodin an den Auslagerungen be- vollsten Stücke in die Sowjetunion zu brin- deckung der Zentralperspektive in einer
teiligt war, 1984 in ihrem Standardwerk über gen, wo sie in Geheimdepots verschwanden. menschenleeren Stadtansicht der Frühre-
»Die Berliner Museen in den Jahren 1939 bis Am stärksten betroffen waren die Museen in naissance demonstriert. Unter dem Titel
1959«. Im Bunker Friedrichshain verblieben, Berlin und Dresden. Hier kann die Ausstel- »Schätze der Weltkultur von der Sowjetuni-
so damals Generaldirektor Kümmel, »etwa lung auch berichten, wie die UdSSR dem on gerettet« feierte die DDR die spektakuläre
500 Gemälde der Gemäldegalerie, vor allem Brudervolk in der DDR einen Großteil der Heimkehr der Kunst in gleich zwei großen
große, z. T. ersten Ranges, noch wertvollere Kriegsbeute zurückgab. Rund 1,5 Millionen Ausstellungen auf der Museumsinsel.
Teile der Skulpturensammlung«. Aber auch Kunstwerke kehrten von September 1958 bis Beschädigte Werke wurden damals
im Flakturm am Bahnhof Zoo blieben wert- Januar 1959 in 300 Eisenbahnwaggons aus nicht gezeigt. Sie verschwanden in den De-
volle Bestände, etwa der Fries des Pergamon- Moskau und Leningrad zurück. Doch vieles pots, manche bis heute. So ist Chapuis’ Aus-
altars. Den Zoo-Turm räumten Sowjetsolda- blieb zurück, rund eine Million Beutekunst- stellung auch eine Expedition ins Innere des
ten leer, bevor die US-Truppen ihren Sektor Objekte lagern noch in Russland. eigenen Reichs. Denn hier erforscht die
besetzen konnten. Friedrichshain hingegen Bei der Rückführung 1958 erhielt jedes Schau ihr zweites Thema: Wie soll man um-
blieb den Plünderern überlassen. Stück ein Transportblatt, auf dem die sowje- gehen mit dem, was mit starken Beschädi-
Dann kamen die Brände. Und die »Tro- tischen Museumskustoden den Zustand fest- gungen gerettet werden konnte? Sollen die
phäenkommissionen« der Roten Armee. hielten. Ein solcher »Pass« ist jetzt in der Aus- Kriegsschäden als Teil der Geschichte des

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DA S V E R S C H W U N DE N E M U SE U M

man sich überhaupt für die Präsentation von


Skulpturen inmitten von Gemälden wün-
schen würde. Und das in einem Saal, in dem
auch noch Guido Reni, Tintoretto und An-

Bilder: Jörg P. Anders/Staatliche Museen zu Berlin, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst; Antje Voigt/Staatliche Museen zu Berlin, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst; SMB-Zentralarchiv
drea del Sarto vertreten sind! Wenn auch, tra-
gischerweise, nur in Schwarz-Weiß.
Chapuis deutet an, dass es im Kreis der
Museumsmitarbeiter heftige Diskussionen
gab, ob Kriegsbeschädigungen als Teil der
Werkgeschichte sichtbar belassen oder berei-
nigt werden sollen. So zeigt der Kopf des
»Amor« von François Duquesnoy eine bruta-
le Einschussstelle in der Schläfe. Der Abguss,
zum Vergleich hinzugestellt, ist natürlich
makellos und illustriert dadurch umso mehr
die Blessur. Wie bestimmt die hier belassene
Kriegsbeschädigung unsere heutige Wahr-
nehmung des Werkes? Lenkt sie nicht ab
vom kunsthistorischen Kontext und von der
ästhetischen Wirkung, die dem Original
einst Bedeutung verlieh? Das sind heikle Fra-
gen, wie sie die Ausstellung aufwirft.
Eine der vielen traurigen Geschichten
ist auch die Ausrahmung des zwei Meter gro-
ßen Tondos von Botticelli: »Maria mit dem
Kind und Leuchter tragenden Engeln« aus
der 1821 angekauften Sammlung des Englän-
Mit den sichtbaren Brandschäden von 1945 war ders Edward Solly. Das Rundbild auf Pappel-
Antonio Rossellinos entstandenes Madonnenrelief holz verbrannte, der nicht ausgelagerte Rah-
jahrzehntelang im Bode-Museum zu sehen (o. li.). men dagegen blieb im Keller auf der
Bei der Restaurierung 2012 ergänzte man nach den Museumsinsel unversehrt erhalten – was für
Gipsabgüssen die zerstörten Partien. Jetzt ist eine düstere Ironie der Geschichte. Jetzt füllt
die Ästhetik der Frührenaissance um 1450 wieder ein Schwarz-Weiß-Foto den goldenen Pracht-
voll erlebbar. Li.: Zeitungsartikel zur Rückkehr rahmen; das sagt mehr als viele Worte. Zu
der Berliner Kunstwerke aus der Sowjetunion, 1958 der ganzen Tragik gehört der Gedanke, dass
zwei oder drei Wachleute genügt hätten, den
Flakbunker Friedrichshain vor Zutritt, Plün-
Objekts unverändert gezeigt werden – oder Dann der Abguss aus dem Jahr 1902 und derung und Brandschatzung zu schützen.
kann die Wiederherstellung der ästhetischen schließlich das Relief in seiner restaurierten All die Verhandlungen, die – wenn-
Einheit des Kunstwerks ein legitimes Ziel Fassung von 2012. Daneben noch ein Foto gleich bislang völlig ergebnislos – um die
sein? Für die vernichteten Gemälde stellt sich mit dem Zustand aus der Brandruine nach Rückgabe einzelner Werke aus Russland ge-
diese Frage nicht, wohl aber für Skulpturen. der Rückgabe aus der Sowjetunion. Bei der führt wurden; all die Hoffnungen, dass ir-
Bei ihnen haben wir die einstige Bedeutung Restaurierung ergänzte man mit Silikonfor- gendwann wenigstens ein Teil der erhaltenen,
noch deutlicher vor Augen, denn Abgüsse men, hergestellt nach dem Abguss von 1902, aber fast nie gezeigten Kunstbeute zurück-
aus der Gipsformerei der Staatlichen Museen. die schmerzlichen Fehlstellen, vor allem Ma- kommen könnte: Der ganze Komplex steht
können in vielen Fällen die Leerstellen der rias Hand, die den Kopf des Kindes hält, und im Schatten dieses gewaltigen Kulturverlus-
verlorenen Originale ausfüllen. Die Abgüsse, figürliche Szenen im Hintergrund. Jetzt ist tes, den auch eine solche Schau nur ansatz-
teilweise schon im 19. Jahrhundert herge- das Relief wieder als Ganzes erlebbar – er- weise vorstellbar machen kann. 2000 ver-
stellt, sind ein kostbarer Fundus für die Re- kauft mit einem Drittel nichtoriginaler Sub- nichtete Werke – mit diesem Trauma aus
konstruktion der Sammlung. Ohne die For- stanz. Jeder Besucher kann selbst urteilen. dem von Deutschland entfesselten Krieg
men und Modelle der Gipsformerei, so Im besonders eindrucksvollen Saal mit müssen die Berliner Museen, muss jeder
Chapuis, wäre die Ausstellung nicht möglich, den Großfotos der Gemälde Zurbaráns, Ri- Kunstfreund leben. Es ist ein großes Ver-
ja nicht einmal erdacht worden. beras oder Caravaggios steht die Statue eines dienst der Ausstellung, dieser klugen und be-
An einer Wand, die dem um 1450 datier- schönen Jünglings, die Wilhelm von Bode hutsamen Inszenierung von Julien Chapuis
ten Marmorrelief »Madonna mit Kind« von einst dem jungen Michelangelo zuschrieb: und seinen Kollegen im Bode-Museum, das
Antonio Rossellino gewidmet ist, lässt sich Johannes der Täufer oder eher wohl Aristai- wir darüber ins Nachdenken kommen und
die Problematik gut nachvollziehen. Die Rei- os, der Gott der Imkerei. Bereits 1910 wurde zugleich diesen desaströsen Verlust erstmals
he beginnt mit einem Lichtbild des unver- mit besseren Argumenten eine Autorschaft sinnlich nachvollziehen können. ×
sehrten Reliefs aus der Vorkriegszeit. Es folgt der Florentiner Brüder Pieratti und die Ent-
das Foto eines Vergleichswerks, an dem die stehung in den Jahren 1625/30 vorgeschlagen. »Das verschwundene Museum. Die Berliner Skulp-
ursprüngliche Farbigkeit eines Florentiner Der Gipsabguss aus dem Jahr 1888 jedenfalls turen- und Gemäldesammlungen 70 Jahre nach
Renaissance-Reliefs studiert werden kann. nimmt den Raum in einer Weise ein, die Kriegsende«, Bode-Museum, bis 27. September

ü
62
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C H R I S T I A N B ORO S

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C H R I S T I A N B ORO S

»Ich will träumen und


nicht aufwachen«
Die Sammlung von Christian Boros ist ein Who ’s who der Gegenwartskunst, sein
Privatmuseum in Mitte zieht Besucher aus aller Welt an. Ein Gespräch
über die Kindheit im Flüchtlingslager und das Glück und Unglück der Außenseiter

F O T O S & I N T E RV I E W
H E R L I N DE KOE L B L

M
Herr Boros, in den 70er-Jahren kamen Sie ten das nicht, weil wir kein Geld hatten, das
mit Ihren Eltern als Flüchtling nach Deutsch- war schon grausam. Ich bin ein sehr positiver
land. In Polen wurden Sie »Scheißdeut- Mensch, ich erinnere mich immer nur an die
scher« genannt und hier »Scheißpolacke«. schönen Dinge, aber aus dieser Zeit ist da
Meine Eltern waren Deutsche und ha- nicht mehr viel, ich habe anscheinend eine
ben immer davon geträumt, wieder ins Ge- Menge verdrängt. An das erste Mal Farbfern-
lobte Land zurückzukehren. Welch Freude sehen, die Olympischen Spiele 1972 in Mün-
Mit 18 Jahren begann er Kunst zu sammeln, das für alle war, endlich in den goldenen chen, daran erinnere ich mich, das war groß-
er kaufte Werke des jungen Fotografen Wolf- Westen zu gelangen, und dann diese Begrü- artig. Den Olympiade-Aufkleber hab ich
gang Tillmans, als diesen noch keiner kann- ßung. Das war schon hart. Wir landeten im heute noch.
te. Christian Boros gehört zu den schillernds- Flüchtlingslager Friedland, wo es jedoch kei-
ten Figuren der deutschen Sammlerszene neswegs friedlich zuging, sondern sehr ag- Sie waren ein richtiger Milchbubi, wie Sie
und ist ein klassischer Selfmademan. Das gressiv. In Polen hatten wir ein großes Haus selber sagen, wollten aber nicht zu den Op-
Kind polnischer Flüchtlinge gründete nach mit Garten und vielen Zimmern, und hier fern gehören, sondern lieber Täter sein.
dem Designstudium eine Werbeagentur, die waren wir in einem kleinen Raum zusam- Ich wollte kein Opfer sein, nein, nie-
mit provokativen Kampagnen von sich reden mengepfercht. Meine Eltern sprachen vom mals, nie! Bereits mit 16 Jahren verlor ich
machte. Für seine Sammlung erwarb er 2003 Zeitpunkt unserer Ankunft an nur noch meine Haare, und ich war immer der Kleins-
einen markanten Ort: den ehemaligen Deutsch mit uns Kindern. Da ich nur Pol- te. Im Sport war ich jedes Mal der Letzte, der
Reichsbahnbunker in Berlin-Mitte, der in nisch konnte, verstand ich meine Eltern ausgewählt wurde. Kennen Sie das noch?
der DDR als Lager für Südfrüchte diente und nicht mehr. Aber nur so ging es. Ich wollte Zwei Leute wählen andere in ihre Gruppe.
nach der Wende einen der wildesten Techno- ein guter Deutscher werden, also habe ich Erst den Besten, dann den Zweitbesten und
Clubs der Stadt beherbergte. Die Sammlung dann eben sehr schnell die Sprache gelernt. so weiter. Irgendwann steht man alleine da,
Boros ist nach Voranmeldung unter www. als Letzter. Entweder springt man dann von
sammlung-boros.de öffentlich zugänglich, Es war also kein Gelobtes Land? Wie war es? der Brücke, oder man gibt im Leben Gas. Ich
auf 3000 Quadratmetern sind hier Werke von Meine Mitschüler sind allesamt nach habe, seit ich mich erinnern kann, die Faust
Künstlern von 1990 bis heute zu sehen. Mallorca in den Urlaub gefahren. Wir konn- in der Tasche geballt.

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C H R I S T I A N B ORO S

Waren Sie ein Außenseiter? Einsam? Aber nicht jeder will gleich provozieren. in einem Chaos lebt. Ich kann das nicht. Ich
Natürlich. Im Mittelfeld ist man mit Meine Promotion bei Bazon Brock habe Angst, mich zu verlieren. Meine Frau
ganz vielen in der Gruppe, ist man aber der schrieb ich über die Ästhetik des Bösen bei ist wesentlich entspannter, wenn sie kocht,
Erste, ist das immer mit Einsamkeit verbun- James Bond. Der Böse ist immer interessan- sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld, und
den. In Deutschland war alles Neuland für ter als James Bond. Ich nenne mich ja auch wenn ich koche, dann ist das wie bei einem
mich, ein fremdes Land, keine Freunde, aber ganz bewusst Tätertyp mit der Assoziation, Fernsehkoch, die Zwiebel geschnitten in ei-
ich wollte unbedingt etwas daraus machen. dass natürlich Täter nicht immer nur Gutes nem Schälchen, Brettchen und Messer liegen
Wenn ich etwas tue, dann will ich auch he- vollbringen. Wissend, dass man mit der aufgeräumt, es ist alles im Lot.
rausragen. Bei mir gab es sehr viele Superlati- Gabe, andere Menschen mitzureißen, ande-
ve. Ich war der Klassenbeste. Irgendwann re zu überzeugen, aufpassen muss, dass man Bleiben wir beim Thema Frauen. Sie waren
war ich dann Deutschlands jüngster Samm- diese Kraft für das Gute einsetzt. klein, hatten eine Glatze und waren ein
ler, dann einer der jüngsten Unternehmer. Außenseiter. Wie war die Pubertät?
Wohl wissend, dass man an der Spitze immer Was ist das Dunkle in Ihnen? Da gab’s natürlich ganz viele Mädchen,
auch einsam ist. Die Sehnsucht, Erfolg zu haben. Wenn die sagten, das ist ein Vollidiot, der fährt ja
man Erfolg hat, sucht man diesen Sonnen- immer noch Fahrrad, der könnte doch einen
Ist das nicht auch Kompensation? strahl immer wieder. Das hat Suchtpotenzial. Golf fahren. Aber es gab ein paar, die das ir-
Manche haben Probleme, auf einem Po- Und die Eitelkeit, dieser klebrig süße Trank, gendwie sehr absonderlich fanden, dass da
dest zu stehen, und andere haben den Drang an dem man so gerne nascht. Im Lauf der jemand mit 18 im Kinderzimmer eine Intui-
nach Exponiertheit. Dieser Ehrgeiz führte Zeit wurde ich vielleicht bescheidener oder tionskiste von Joseph Beuys hat. Die guten
bei mir aber auch zu einer großen Enttäu- demutsvoller. Weniger getrieben … Seit ei- Mädchen haben sich dafür interessiert.
schung. Ich wollte unbedingt Künstler wer- nem Jahr brauche ich weniger Bühne als frü-
den, Fotograf. Während der Schulferien her. Ich bin mit wehenden Fahnen nach Ber- Wie sind Ihre Eltern mit diesem komischen
habe ich gearbeitet, um mir eine Hasselblad lin gekommen und wollte auch hier einen Kind umgegangen, das lieber Kunst kauft
und eine Nikon F3 kaufen zu können, und Footprint hinterlassen. Aber jetzt ist es für als ein Prestigeobjekt?
musste feststellen: Werkzeug allein ist nicht mich das schönste Glück, in der Uckermark Sie haben sehr gelitten, waren enttäuscht,
der Garant für gute Fotos. Und bereits wäh- spazieren zu gehen. Da klatschen keine Vö- dass ich so absonderlich, dass ich nicht nor-
rend meines Designstudiums wurde mir klar, gel, da bewundern einen nicht die Rehe. mal bin. Anscheinend wollen Eltern, dass ihr
dass ich gar kein so guter Designer bin. Das Kind normal ist. Weil sie wissen, dass jede
waren schlimme Erkenntnisse der eigenen Sie sammeln auch blanke Totenschädel, die Abnormalität das Risiko birgt, traurig und
Mittelmäßigkeit. Aber dann hatte ich einen Sie auf Ihren Schreibtischen platzieren und einsam zu werden. Mir als Vater ist das un-
wunderbaren Lehrer an der Universität in die für das Desaströse stehen, die Faszinati- verständlich. Ich erziehe meine Kinder an-
Wuppertal, der bis heute noch wie ein Ersatz- on des Schreckens, wie Sie sagen. ders und versuche, ihnen das Glück des Un-
vater für mich ist, Bazon Brock, der meinte Der Schädel ist natürlich das Symbol ternehmertums nahezubringen, wie herrlich
zu mir: Christian, es gibt eine Rettung für für Vergänglichkeit. Wenn man den Schä- es ist, selbstbestimmt zu sein, wie grausam es
dich. Lies meine Schriften und erkenne! Man del vor Augen hat, weiß man, dass nie genug sein muss, wenn man nach Hause kommt
kann das Scheitern zu einer Form des Gelin- Zeit ist, dass man jeden Tag nutzen muss, und noch am Abendbrottisch frustriert ist
gens transformieren. Wenn man sich sein um etwas zu schaffen, was bleibt. Vielleicht über den Chef. Meine Eltern sagten immer,
Scheitern in gewissen Dingen ehrlich einge- möchte ich mir aber auch damit das Häss- ich wäre merkwürdig. Es ist doch nichts
steht und sich nicht selbst belügt, kann man liche bewusst machen, was das Trauma in schöner, als wenn etwas würdig ist, es sich zu
daraus etwas Positives machen. Wenn ich diesem Flüchtlingslager ausmachte. Ja, es ist merken. Meine Kindergärtnerin, die vor
also kein wirklich guter Künstler bin, kann da, das Hässliche, aber ich will’s schön ha- Kurzem gestorben ist, hat sich noch an mich
ich vielleicht ein besserer Sammler oder Un- ben. Selbst wenn ich allein bin, gieße ich erinnert, die kannte Tausende von Kindern,
ternehmer werden. mir meinen Rotwein lieber in ein geschlif- aber an mich hat sie sich erinnert.
fenes Glas von Baccarat ein. Es ist ein Unter-
Mit Ihrer Werbeagentur haben Sie jeden- schied, ob man mit einem versilberten Löf- Haben sich Ihre Eltern versöhnt mit dem,
falls provoziert. In der ersten Kampagne für fel oder mit einem 925er-Löffel isst. Der ist was der Sohn geworden ist?
den Fernsehsender VIVA unter Ihrer Ver- schwerer, die Leitfähigkeit der Wärme ist Auf eine wunderbare Art und Weise.
antwortung war ein in den Schnee gepinkel- anders. Das hat auch mit Selbstachtung zu Als mein Vater in Rente ging, hat er mich ge-
tes Kreuz zu sehen. Damit sind Sie sofort tun. Keiner zwingt mich, meinen Schreib- fragt, ob er bei mir mithelfen könnte. Er hat
aus dem Mittelfeld herausgestochen. tisch aufzuräumen, aber ich fühle mich erst dann bis zu seinem Tod die Finanzen ge-
Es ist sehr befriedigend, gegen Bedeu- wohl, wenn der Stift parallel zur Tischkante macht. Das ist schon versöhnend. Und meine
tungslosigkeit zu agieren. Ich finde, man be- ist … ich ordne alles orthogonal an. Ist das Mutter hat irgendwann aufgehört sich zu
kommt ein Leben geschenkt, und das zu nut- zwanghaft? schämen, wenn sie beim Friseur auf mich an-
zen ist letztlich die einzige zivilisatorische gesprochen wurde. Ich hatte sehr früh eine
Leistung, die wir haben. Wir haben als Men- Vielleicht brauchen Sie die Ordnung für Arbeit von Sarah Lucas gekauft, eine Maschi-
schen die Aufgabe, ein Stück an der Gesell- sich, um nicht ins Dunkle zu gehen? ne, die eine Onanierbewegung zeigt. Die
schaft zu arbeiten und etwas zu hinterlassen, Ja. Es war wirklich ein Trauma, Peter Bild-Zeitung hat das herausgefunden, ein
was von Bedeutung ist. Weibel zu besuchen, ein genialer Geist, der Foto von mir abgedruckt mit der Headline:

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C H R I S T I A N B ORO S

»Man kann das Scheitern zu


einer Form des Gelingens
transformieren. Wenn man
sich nicht selbst belügt,
kann man daraus etwas Posi-
tives machen. Wenn ich
also kein guter Künstler bin,
kann ich vielleicht ein
besserer Unternehmer oder
Sammler werden.«

Dieser Mann kauft Wichsmaschinen. Meine Oftmals ist es ja so, dass man, wenn man zig dann einen kaufte, verlor ich schlagartig
Mutter ist nicht mehr aus dem Haus gegangen. gnadenlos zu sich selbst ist, es auch zu ande- jegliches Interesse daran. Sehnsüchtig ver-
ren Menschen ist. misste ich das Träumen. Ich wollte nie ir-
Sehen Sie an Ihren Kindern etwas, das Sie Ja. Da müssten Sie meine Mitarbeiter gendwo ankommen, sondern ich wollte so
an sich selbst nicht mögen? und meine Frau interviewen. Ich sage selten, wie Lucky Luke immer der Sonne entgegen-
Ja, das ist erschreckend. Ich mag an mir jetzt reicht’s oder es ist genug. Aber ich glau- reiten. Ein großartiges Bild.
nicht, dass ich manchmal nachlässig oder be, nur so kann man etwas schaffen, was
faul bin. Sachen hätten besser werden kön- bleibt. Das ist doch wirklich für einen Wer- Das heißt also, wenn Sie mal mit sich zufrie-
nen, und man hat sie nicht wirklich zur Voll- ber grausam, dass man ein Plakat macht, den wären, wäre das kurz vor Ihrem Tod?
endung gebracht, sondern nur mittelmäßig und nach drei Wochen ist es wieder über- Natürlich. Man müsste genau wissen,
abgeschlossen. Dem inneren Schweinehund klebt. Wenn es aber so gut ist, dass es im Ge- wann man stirbt, um dann vielleicht so die
oder der Faulheit nachgeben und sich’s gut dächtnis bleibt, dann ist es noch da, auch letzten Minuten zu genießen. Aber bis dahin
gehen lassen, das sind Dinge, die ich hinter- wenn es physisch weg ist. Ich will Dinge ma- gibt’s kein Ruhebänkchen. Es ist ja noch so
her bereue. Dann gefällt mir nicht, dass ich chen, die nicht trivial sind. viel zu tun.
rauche, das ist eine Macht, die stärker ist als
ich, unerträglich, wo ich doch so gerne be- Das Kind aus dem Auffanglager Friedland Der, der voranreitet, ist immer auch einsam,
stimme und entscheide. hat sich also seinen Traum erfüllt? er reitet allein.
Nein. Jeglicher Reiz ginge im Moment Ja, klar. Bazon Brock sagte, auf dem
Sind Sie gnadenlos mit sich selbst? der Traumerfüllung verloren. Ich will lieber Gipfel ist man einsam, wenn du ganz oben
Ich scheue wenig Mühe. Als der Bunker träumen und nicht aufwachen. Mich be- auf dem Berg bist, auf der Spitze, hat keiner
fertig war, was wirklich hart war, habe ich so- glückt nicht das Gefühl, etwas geschaffen zu neben dir Platz, da bist du ja ganz oben.
fort mit dem nächsten Hausbau angefangen. haben, sondern der Schaffensprozess. Ich
Ich finde keine Ruhe, Ruhe ist ja ein Äquiva- habe immer davon geträumt, mir einen Por- Wie nahe sind Sie dem Gipfel?
lent zu Gnade. Insofern bin ich gnadenlos. sche zu kaufen. Als ich mir mit Mitte zwan- Nicht in Sicht. ×

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DI E N E U E G A L E R I E

Phantom der Moderne


Der Kunsthändler Otto Feldmann ist fast vergessen. Zu Unrecht, denn seine
»Neue Galerie« zeigte in Berlin kurz vor dem Ersten Weltkrieg erstmals
Picasso und die Kubisten. Und deren Beeinflussung durch afrikanische Plastik

VON
R A I N E R S TA M M

D
Bild: privat
Direkt am Tiergarten, in der feinen Lenné- veau-Grafiker Théophile Steinlen Unterricht
straße, eröffnete im Oktober 1913 die Neue nahm. Im Café du Dôme lernte er neben den
Galerie. Während sich, nicht weit davon, in Avantgardekünstlern auch die deutschen
der Victoriastraße, Paul Cassirers Kunst- Kunsthändler kennen, die in Paris ihre Ent-
handlung in erster Linie der impressionisti- deckungen machten.
schen und postimpressionistischen Malerei Aus Feldmanns eigenem Schaffen sind
widmete und Herwarth Waldens Sturm-Ga- nur einzelne Werke bekannt, wie etwa das
lerie im September 1913 mit dem »Ersten Porträt des dandyhaft-nervös gezeichneten
Deutschen Herbstsalon« in der Potsdamer Händlers Alfred Flechtheim, das sich heute
Straße vor allem auf Werke der deutschen Ex- im Museum Ludwig in Köln befindet. An-
pressionisten und französischen Futuristen fang 1912 gründete Feldmann in Köln eine ei-
setzte, präsentierte die Neue Galerie die ak- gene Galerie, den Rheinischen Kunstsalon.
tuelle französische Kunst. Frisch aus Paris im- Hier zeigte er Werke von Renoir, Cézanne,
portierte Werke von Derain, Braque, Picasso, van Gogh, Derain, Braque und – nach der
van Dongen, Kisling, Marie Laurencin, Ma- Münchner Galerie Thannhauser – die zweite
tisse oder Pascin wurden hier gezeigt, zudem Einzelausstellung Picassos in Deutschland.
die jüngsten Werke der Deutschen Max Pech- Auch August Macke und die rheinischen Ex-
stein, Hans Purrmann, Franz Nölken und pressionisten waren in der Galerie präsent.
Rudolf Großmann. Und als sei das nicht Im Jahr 1913 setzte Feldmann darauf,
schon genug Avantgardeschock für die Ber- auch Berlin mit der jungen französischen
liner, zeugten auch noch afrikanische Skulp- Das einzige bekannte Foto von Otto Feld- Avantgarde bekannt zu machen. Bedeutende
turen, wie sie die Kubisten zu ihren radika- mann. Wahrscheinlich entstand es in Leihgaben dafür erhielt er von Daniel-Henry
len Bildern inspiriert hatten, von einem den Twenties im Rheinland. Was er nach Kahnweiler, dem deutsch-französischen Ga-
neuen Geist in der Kunst. Das hatte die Stadt Aufgabe der Neuen Galerie im Herbst leristen. Die damals »Negerkunst« genannten
bislang noch nicht gesehen. 1914 beruflich machte, ist unbekannt. 1942 Werke, die Vlaminck, Derain und Picasso zu-
Über Otto Feldmann, den Gründer wurde er im KZ Sobibor ermordet vor zu ihren bahnbrechenden Bilderfindun-
und Betreiber der Neuen Galerie, wissen wir gen angeregt hatten, kamen von Joseph
wenig. Er wurde 1881 in Wien geboren, hatte Brummer, der sich in Paris auf »Art nègre«
in München Kunst studiert und war dann spezialisiert hatte. Das Vorwort zum Katalog
nach Paris gegangen, wo er beim Art-Nou- der ersten Ausstellung der Neuen Galerie

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DI E N E U E G A L E R I E
Bilder: privat; Georg Tappert/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; bpk/Hamburger Kunsthalle/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; privat (2)

1 2

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Die Neue Galerie hat nur wenige Spuren hinterlassen: 1 Plastik der Baule, Elfen-
beinküste, 1913/14, in der Schau »Picasso. Negerplastik«, Foto aus Carl Einsteins
Buch »Negerplastik«, 1915 2 Ausstellungsplakat von Georg Tappert 3 André
Derains »Stillleben« von 1911 hing 1914 in Feldmanns Galerie, heute im Besitz der
Hamburger Kunsthalle 4 Katalogcover von 1914 5 Werbekarte der Neuen Galerie
3
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DI E N E U E G A L E R I E

schrieb kein Geringerer als Carl Einstein, nicht bekannt, wie sich die Auflagen von je
Schriftsteller und Kritiker aus dem Kreis des 25 signierten Exemplaren bis zum Ausbruch
Café du Dôme, der später mit seinen Bü- des Ersten Weltkriegs absetzen ließen.
chern »Negerplastik« und »Die Kunst des In ihren beiden letzten Ausstellungen,
20. Jahrhunderts« Epoche machen sollte. Eu- im April bis Juni 1914, widmete sich die Neue
phorisch verkündete Einstein in Feldmanns Galerie schließlich den aktuellen Strömun-
Katalog: »Die Künstler werden den Beschau- gen in Deutschland: Im April und Mai zeigte
er verwandeln!« sie 86 Werke von 23 Künstlern der Neuen Se-
Mit einem Paukenschlag hatte sich die cession, darunter César Klein, Wilhelm
Neue Galerie in die Reihe der bedeutendsten Morgner, Hans Richter, Karl Schmidt-Rott-
Kunsthandlungen der Avantgarde eingereiht. luff, Hermann Stenner, Georg Tappert, aber
Doch im Gegensatz zu Paul Cassirer, Her- auch Raoul Dufy, Othon Friesz und Marie
warth Walden oder Alfred Flechtheim sind Laurencin. Tappert gestaltete das Plakat zur
Feldmanns Name und die Geschichte seiner Ausstellung, und erneut schrieb Carl Ein-
Galerie heute fast vollständig vergessen. stein den Katalogtext. Das Denkwürdige die-
Wohl weil die Neue Galerie nur wenige Mo- ser Ausstellung war jedoch, dass Feldmann
nate bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrie- nach der afrikanischen Plastik erneut die
ges Bestand hatte. Zudem sind bislang kei- Gattungsgrenzen übertrat – mit dem Werk
nerlei Archivalien oder Fotografien der eines Outsider-Künstlers, auch wenn es diese
Kunsthandlung bekannt. Auch das Haus in Bezeichnung noch lange nicht gab: Karl Jun-
der Lennéstraße 6/6a ging im Bombenkrieg ker, 1912 verstorben, hatte seit 1889 als Eigen-
und in der Wiederaufbauzeit vollständig un- brötler das »Junkerhaus« in Lemgo erbaut

Bilder: Sammlung Gemeentemuseum The Hague/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; privat


ter. So steht eine umfassende Würdigung des und als Gesamtkunstwerk mit selbst geschaf-
wagemutigen Galeristen Feldmann bis heute fenen Möbeln und Gemälden geschmückt.
aus. Erst seit einigen Jahren fahndet weltweit Kritikern wie Glaser galt er als deutscher
eine Hand voll Kunsthistoriker – einer davon Rousseau, und Feldmann konfrontierte in
der Verfasser dieses Textes – nach Spuren die- seiner Galerie die Werke der jungen Sezessio-
ser faszinierenden Keimzelle der Moderne in nisten mit Möbeln und Gemälden Junkers,
Deutschland. Immerhin konnten wenigstens die in diesem Kontext eigentümlich expres-
einige der in den Katalogen genannten Wer- sionistisch wirkten. In Junkers Arbeiten sah
ke identifiziert und ihr heutiger Standort lo- Feldmann einen Wahlverwandten der jüngs-
kalisiert werden. ten Bestrebungen: »Das Streben nach Ent-
Sieben Ausstellungen hat Feldmann bis Picassos »Frau mit Senftopf« von 1910 hing äußerlichung, nach Verinnerlichung, nach
1913/14 in Otto Feldmanns Ausstellung
zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in sei- Primitivität des Ausdrucks«.
»Picasso. Negerplastik« (o. der Katalog der
nen Räumen an der Lennéstraße präsentiert. Im Juni 1914 zeigte die Galerie mit
bahnbrechenden Schau). Heute gehört das
Zu jeder ist eine eigene Publikation erschie- Bild dem Gemeentemuseum in Den Haag
»Rheinische Expressionisten«, darunter
nen. Die Kataloghefte im einheitlichen De- Campendonk, Macke und Max Ernst, ihre
sign sind heute bibliografische Raritäten; vor wohl letzte Ausstellung. Die für den Herbst
allem der Katalog der zweiten Ausstellung des Jahres angekündigte Werkschau Ernst
»Picasso. Negerplastik« ist so selten, dass der Ludwig Kirchners kam nach Ausbruch des
Picasso-Biograf John Richardson noch im Derain, der damals »in Paris am meisten un- Krieges nicht mehr zustande. Von Otto Feld-
Jahr 1996 mutmaßte, er sei nie erschienen. ter den Jungen gepriesen« wurde, wie Curt mann verlieren sich die Spuren nun nahezu
Mit dieser Schau führte Feldmann den kubis- Glaser in der Zeitschrift »Kunstchronik« vollständig. Nach der Auflösung der Galerie
tischen Picasso erstmals in Berlin ein und schrieb. In Berlin waren mehr Werke des geht er zurück ins Rheinland; als Kunsthänd-
stellte seine Werke in den Dialog mit afrika- Künstlers zu sehen als irgendwo sonst. Die ler tritt er nicht mehr in Erscheinung. In
nischer Plastik. Die Faszination der »Époque Galerie Kahnweiler, die Derain exklusiv un- Köln heiratet er Ida Levy. Mit ihr und deren
nègre« wurde so dem Publikum sinnlich fass- ter Vertrag hatte, verfügte nur über einen Tochter flieht er Anfang 1939 vor den Natio-
bar vor Augen geführt. »Es ist weder Willkür kleinen Raum in Paris und konnte daher nalsozialisten in die Tschechoslowakei. Nach
noch Zufall, daß wir mit der Picasso-Ausstel- längst keine so umfassende Werkschau des der Besetzung durch deutsche Truppen im
lung eine erlesene Sammlung alter Neger- Künstlers zeigen. »Bestellen Sie sich sofort ei- März 1939 wird er verhaftet, 1941 ins Ghetto
plastik vereinigt haben«, hieß es im Katalog- nen Extrazug und fahren Sie hierher«, emp- Theresienstadt und schließlich in das Ver-
text: »Picasso war einer der ersten, der den fahl der Maler Hans Meid daher der befreun- nichtungslager Sobibor deportiert. Dort
hohen künstlerischen Wert dieser Werke er- deten Anita Rée in Hamburg: »Schrecklich wird er 1942 ermordet. Ida und ihre Tochter
kannte, die man früher nur mit überlegenem der Gedanke, dass von den 65 Perlen Derain- können sich nach Amerika retten.
Lächeln als ethnographische Kuriosa be- scher Malerei eine fehlen würde!! Sei es Als Galerist der Avantgarde war Otto
trachtet hat.« durch Verkauf oder Diebstahl!« Feldmann ein Pionier. Zu Recht hat Florian
Schlag auf Schlag folgten auf diese In der folgenden Ausstellung mit Grafik Illies ihn in seinem Panorama »1913. Der
bahnbrechende Schau die Präsentationen von Jules Pascin präsentierte sich Feldmann Sommer des Jahrhunderts« verewigt. Denn
neuester Kunst. Feldmanns dritte Ausstel- auch als Editeur: »Mit diesen in unserm Ver- die Neue Galerie am Tiergarten gehört zu
lung in Berlin, Anfang 1914, präsentierte fast lag erscheinenden 17 Blättern tritt J. Pascin den faszinierendsten Orten der Moderne.
50 Gemälde sowie zahlreiche Zeichnungen, zum ersten Mal als Radierer in die Öffent- Auch wenn sie, so wenig wir über sie wissen,
Holzschnitte und Radierungen von André lichkeit«, verkündete er stolz. Doch es ist fast ein Phantom der Kunstgeschichte ist. ×

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Wir zeigen ab 20. März 2015 unsere Jubiläumsausstellung
9 5 JA H R E GA L E R I E N I E R E N D O R F

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Öl auf Leinen, 1928 Menschen im Wald Farbholzschnitt, 1918 Auf Bett sitzender Mädchenakt
Radierung, 1909

OTTO MU E LLE R C H RISTIAN ROH LFS OTTO DIX


Zwischen Bäumen stehen. Mädchen Prophet Wassertempera, 1923 Studie II. Ungleiches Paar
Aquarell und Farbkreiden, um 1925 Aq u a re l l / G o u a ch e , 19 2 5

JOSE F SC HARL KARL SC HMI DT-ROTTLU FF


Masken Öl auf Leinen, 1931 Pappeln vor Häusern Aquarell über Tuschpinsel, 1967

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ü
Ausstellungstipps und Kurzporträts, Auktionshäuser
und Kunsthändler, das Gallery Weekend sowie
die wichtigsten Berliner Adressen und Termine

AGENDA
Bilder: Jürgen Baumann/Sarah Haffner/VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Unverkennbar Berlin: Gelbrote S-Bahn-Züge gleiten durch das Zentrum der Stadt, in dem die
Brandmauern wie uralte Kreidefelsen aufragen. »S-Bahn in der Sonne« (2012)
und weitere Impressionen der Metropole von der deutsch-britischen Malerin Sarah Haffner
zeigt die Kunststiftung Poll (Gipsstraße 3, Mitte) noch bis zum 18. April

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AG E N DA

AUSSTELLUNGEN

Bild: Stedelijk Museum, Amsterdam/VG Bild-Kunst, Bonn 2015


Stil ohne Grenzen
Die große Zero-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau zeigt, wie sich in
den Fünfzigerjahren die junge Avantgarde in Europa vernetzte

Wem gehört das Licht? Keinem, sollte man suchte, musste in der Gladbacher Straße 69 aufbrach, hatte jedoch eine vielfältige, euro-
meinen. Oder allen. Vermutlich wussten an einem ausgebombten Vorderhaus vorbei. päische Besatzung. Weil diese die gemeinsa-
Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker Erst dann ging es die Stiege zu Otto Pienes me Erfahrung von Krieg und Hass zwischen
um die Ambivalenz der Antwort, als sie 1966 Atelier hinauf. Zu sehen gab es dort etwa ein den Nationen teilte, blieb Zero gar kein an-
ihre provokante Frage stellten. Was aus heu- rotes Rasterbild von Piene, »Dynamische derer Ausweg, als optimistisch und interna-
tiger Sicht jedoch besonders bemerkenswert Strukturen« von Mack, ein Nagelbild von tional zu sein, denn alles andere wäre ein
erscheint, ist die Tatsache, dass zu diesem Uecker – und einen roten Teller des französi- Rückschritt gewesen. Genau dies führt auch
Zeitpunkt bereits eine ganze Generation jun- schen Meisters der Monochromie, Yves Klein. die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau in
ger Künstler in Europa das Licht zum Thema Er hatte ihn aus Paris mitgebracht. Berlin vor Augen. Sie präsentiert 43 Künstler,
ihrer Kunst gemacht hatte. Es war die retro- »Wir dachten an den Countdown vor die zwischen 1957 und 1967 in so unterschied-
spektive Gegenreaktion auf die Dunkelheit dem Raketenstart«, so erklärte Piene 1964 lichen Städten wie Amsterdam, Antwerpen,
des Krieges, die den Kontinent gut zwei Jahr- den Namen der Zero-Gruppe. Darauf ge- Düsseldorf, Bern, Paris oder Mailand an der
zehnte zuvor beherrscht hatte. kommen waren er und Mack 1957 bei einem gemeinsamen Vorstellung einer neuen Kunst
Zero wurde in Ruinen geboren. Es be- Kneipenabend in »Fatty’s Atelier« – zwei arbeiteten. »Zero hat nicht nur künstlerische
steht daran kein Zweifel. Wer im April 1958 Deutsche am Vorabend des Sputnik-Starts. Grenzen überschritten, sondern auch ver-
in Düsseldorf die 7. Abendausstellung der Das Raumschiff namens Zero, welches da- sucht, geografische Grenzen aufzuheben.
sich noch locker formierenden Gruppe be- nach auf seine Reise in neue Kunstgalaxien Zero hat die Aufnahme von anderen Kultu-

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ren und Bräuchen ermöglicht und war damit Den gemeinschaftlichen Charakter betont
Wegbereiter für ein vereintes Europa«, sagt nun auch die Ausstellung, weil sie den Räu-
Mattijs Visser, Direktor der Zero Foundation men nicht einzelne Künstler oder Länder zu-
in Düsseldorf, die die Berliner Ausstellung ordnet, sondern im fließenden Übergang
organisiert und kuratiert hat. Themen wie »Farbe«, »Bewegung« oder auch
Als Gemeinschaft wurde Zero durch En- »Feuer« abhandelt. So werden ästhetische
thusiasmus und Freundschaften zwischen In- Übereinstimmungen der Künstler hervorge-
dividuen zusammengehalten – und durch ei- hoben, und es wird ebenso deutlich, dass
nen zunehmenden Grad an Mobilität in den jede Kategorisierung artifiziell wäre, weil
Fünfzigerjahren, der das Netzwerk enger Zero, wie Otto Piene einmal sagte, eben
Bilder: Margert Mack/ZERO foundation/Heinz Mack/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Axel und May Vervoordt Foundation, Antwerpen/ZERO foundation/SIAE, Rome/VG Bild-Kunst, Bonn 2015

schnürte. So besorgte Lucio Fontana, Über- »kein Stil« war, sondern »ein Standpunkt«.
vater der Bewegung, seinem befreundeten Natürlich findet man die »panchromati-
Kollegen Jef Verheyen 1957 eine Ausstellung schen Malereien« von Jef Verheyen, in denen
in der Mailänder Galleria Pater. Verhey