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Deutschsprachige Literatur

der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts


(Einführung – Lyrik der Moderne)
Prof. Dr. Michael Hofmann (Universität Paderborn)
ISLAS Moknine (Université de Monastir)
Gliederung

• Was heißt „Literatur der Moderne“?


• Autonomie der Kunst und Literatur („Ästhetik“, Aufklärung, „Kunstperiode“ um 1800)
• Literatur der Moderne: Großstadt, Technisierung/Industrialisierung, Entfremdung, Verlust von Traditionen
• Grundlagen der Literaturtheorie: Literatur und „Wirklichkeit“, Literatur und andere Diskurse der Moderne
• Grundlagen der Interpretation von Literatur: Hermeneutik, Rezeptionsästhetik, Dekonstruktion
• Grundlagen der Literatur: Gattungen
• „Lyrik der Moderne“
• Rilke
• Expressionismus: Heym, Benn
• Brecht
Was heißt „Literatur der Moderne“?

• „Moderne“: technisch-industriell, kulturell, literaturgeschichtlich


• Moderne technisch-industriell: Übergang von einer agrarischen zu einer städtischen, durch Technik
bestimmten Lebensform; negative Begleiterscheinungen: entfremdete Arbeit, Anonymität, Masse
• Moderne kulturell: Verlust religiöser und politischer Ordnungen und Gewissheiten: Kritik an religiösen
Dogmen (Reformation, Aufklärung), Kritik an traditionellen politischen Ordnungen (Französische Revolution)
• Moderne literaturgeschichtlich: früh etwa in Frankreich (Baudelaire), Überwindung traditioneller Formen
und Gattungen/Poetiken (Romantik, Realismus), radikale Infragestellung traditioneller Ordnungen (Reflexion
der technisch-industriellen und politischen Moderne); Einsamkeit, Isolation und Verzweiflung des modernen
Ich, Kritik an harmonisierenden Vorstellungen früherer literarischer Epochen (Weimarer Klassik)
• Der Erste Weltkrieg als technisierter Krieg (u.a. Gas; Schlacht bei Verdun): Bruch mit allen überkommenen
Idealen und Traditionen
Autonomie der Kunst und Literatur
(„Ästhetik“, Aufklärung, „Kunstperiode“ um 1800)

• Mittelalter: Kunst/Literatur abhängig von der Religion/Theologie, Rationalismus der Aufklärung:


Kunst/Literatur abhängig von der Philosophie
• Entwicklung im Laufe des 18. Jahrhunderts: Kunst und Literatur als eigenständige Wissensformen,
unabhängig von Religion und Philosophie
• Begründung der „Ästhetik“ durch Baumgarten: zunächst Aufwertung der sinnlichen Wahrnehmung
gegenüber dem rationalen Denken, dann Theorie der Kunst und Literatur als eigenständiger Formen des
Wissens
• „Kunstperiode“ um 1800: Weimarer Klassik und Romantik sind überzeugt davon, dass Kunst und Literatur
eine eigene Wahrheit haben und eine Welt für sich darstellen
• Autonomie der Kunst/Literatur: Kunst/Literatur folgen eigenen Gesetzen und sind nicht von religiösen,
moralischen oder philosophischen Normen abhängig
• Analogie zu Prinzipien der Aufklärung: Mündigkeit und Gebrauch des eigenen Verstandes (Kant)
Literatur der Moderne:
Großstadt, Technisierung/Industrialisierung, Entfremdung, Verlust von Traditionen

• Literatur der Moderne reflektiert die Erfahrungen von Großstadt und Industrialisierung
• Beispiel Großstadtlyrik – Baudelaire A une passante (flüchtige Begegnung in der Anonymität der Großstadt)
(Erfahrung eines Verlusts, gleichzeitig neue ästhetische Attraktion (Einmaligkeit der Begegnung)
Grundlagen der Literaturtheorie:
Literatur und „Wirklichkeit“, Literatur und andere Diskurse der Moderne

• Traditionelle Vorstellung: Literatur ist ein Abbild der Wirklichkeit (Nachahmung, Mimesis)
• Perspektive der Moderne: Literatur gibt eine fiktive Reflexion der Wirklichkeit und stellt alternative
Möglichkeiten dar
• Literatur als ein Diskurs unter anderen Diskursen: Wissenschaft, Politik, Moral, Literatur sind jeweils eigene
Bereiche mit eigenen Regeln
• Literatur als „Metadiskurs“ oder „Interdiskurs“ (Foucault)?
Grundlagen der Interpretation von Literatur:
Hermeneutik, Rezeptionsästhetik, Dekonstruktion

• Hermeneutik: sinnhafter Bezug zwischen den Teilen und dem Ganzen (hermeneutischer Zirkel)
• Rezeptionsästhetik: hoher Anteil des Rezipienten an der Bedeutung/der Interpretation von Literatur; diese
bietet „Leerstellen“ oder „Unbestimmtheitsstellen“, die im Akt der Rezeption gefüllt werden müssen
• Vieldeutigkeit der Literatur durch unterschiedliche Rezeption und durch Veränderungen der
Bedeutungszuschreibung in der „Wirkungsgeschichte“
• Dekonstruktion: Infragestellung des hermeneutischen Modells – jede „Totalisierung“ von Sinn läuft Gefahr,
einzelnen Phänomenen bzw. Elementen des Textes nicht gerecht zu werden; verschiedene Lesarten sind
möglich, ohne dass ein endgültiger „Sinn“ eine Textes erreicht wird
Grundlagen der Literatur: Gattungen

• Im 18. Jahrhundert normative Gattungspoetik (Gottsched)


• Seit der Romantik „Gattungsmischung“
• „Gattung“ und „Genre“ als Kategorien wichtig; aber: jeder einzelne Text soll als „Individuum“ angesehen
werden, der durch die Gattung nicht determiniert ist
• Drei Gattungen: Epik, Dramatik, Lyrik
• Epik: erzählende Texte (Roman, Epos, Novelle usw.)
• Dramatik: eine Handlung wird vorgeführt (Tragödie, Komödie; vgl. aber „episches Theater“)
• Lyrik: kurze Texte meistens in Versen („Gedichte“), bei denen der Bildlichkeit der Sprache eine besondere
Bedeutung zukommt
„Lyrik der Moderne“

• Ausdruck bzw. Reflexion von Erfahrungen der Moderne


• Kritischer Bezug auf konventionelle Lyrik, vor allem der Romantik (Gedichtformen wie Sonett, Geregeltes
Metrum, Reim usw.)
• Teilweise Abkehr vom Reim und von konventionellen Formen (Vorbild bereits Klopstock im 18. Jahrhundert:
„freie Rhythmen“)
• Abkehr von der „Erlebnislyrik“ (d.h. von der Idee, dass ein Gedicht subjektive Gefühle ausdrückt)
• Parodie konventioneller Formen
• Spannung zwischen Destruktion von Sinn uns neuer Erfahrung von Sinn
Rilke

• Kritische Verwendung traditioneller Formen


• Bezüge zum Ästhetizismus (l‘art pour l‘art) als demonstrative Abwendung von der „Wirklichkeit“
• kritischer Bezug zur Romantik und zu religiösen Formen
• Spannung: Beibehaltung konventioneller Formen, gleichzeitig Erfahrung eines Sinnverlusts in der Moderne
Rainer Maria Rilke: Der Panther. Im Jardin des Plantes, Paris (1903)

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe


so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,


der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille


sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Expressionismus: Heym, Trakl

• „Expressionismus": literarische Strömung ca. 1900-1925


• „Ausdruckskunst“: radikale und kompromisslose Darstellung von Empfindungen angesichts der Entfremdung
in der Moderne
• Wichtigste Gattung: Lyrik – teilweise Verwendung konventioneller Gedichtformen, ausdrucksstarke Bilder,
Farbsymbolik usw.
• Auseinandersetzung mit Großstadt und Krieg
• Beispiel Georg Heym: Der Gott der Stadt (Großstadtlyrik)
• Beispiel Georg Trakl: Grodek (Erster Weltkrieg)
Georg Heym Der Gott der Stadt (1910)

1 Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.


2. Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
3. Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
4. Die letzten Häuser in das Land verirrn.

5. Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,


6. Die großen Städte knien um ihn her.
7. Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
8. Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.

9. Wie Korybanten - Tanz dröhnt die Musik


10. Der Millionen durch die Straßen laut.
11. Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
12. Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.
Georg Heym Der Gott der Stadt (1910)

13. Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen.


14. Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
15. Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
16. Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.

17. Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.


18. Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
19. Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
20. Und frisst sie auf, bis spät der Morgen tagt.
Georg Trakl: Grodek (1914)

• Am Abend tönen die herbstlichen Wälder


• Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
• Und blauen Seen, darüber die Sonne
• Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
• Sterbende Krieger, die wilde Klage
• Ihrer zerbrochenen Münder.
• Doch stille sammelt im Weidengrund
• Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt
• Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle;
• Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
Georg Trakl: Grodek (1914)

• Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen


• Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
• Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
• Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.
• O stolzere Trauert ihr ehernen Altäre
• Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
• Die ungebornen Enkel.

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