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Dietmar von der Pfordten

Normative Ethik

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Dietmar von der Pfordten

Normative Ethik

De Gruyter

0_Titelei.indd 3 23.04.2010 10:59:15


ISBN 978-3-11-022690-4
e-ISBN 978-3-11-022691-1

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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84,5 × 69,2 cm, entstanden in der ersten Hälfte des 16. Jhd.
im venezianischen Stil, traditionell Tizian, Giorgione und
Sebastiano del Piombo als Gemeinschaftschaftswerk zugeschrieben,
seit 1926 im Detroit Institute of Arts, Inv. 26.107
Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, www.da-tex.de, Leipzig
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Für Leonard
Vorwort

Wie sollen wir handeln? Was ist gut oder schlecht? Diese und ähnliche Fragen erschei-
nen uns für unser Leben wesentlich. Wir beantworten sie im Rahmen vieler kleiner und
großer Wertungen und Entscheidungen unseres Alltags. Die Antworten können solche
der Moral, des Rechts, der Politik, der Religion, der Erziehung oder der Ratschläge des
guten Lebens sein. Die normative Ethik dient der Kritik und Recht�fertigung dieser
Antworten.
Zur Erfüllung dieser Aufgabe der Kritik und Rechtfertigung benötigt die normative
Ethik€ – so die zentrale inhaltliche These der vorliegenden Untersuchung€– fünf Ele-
mente: erstens die einzelnen Menschen bzw. Lebewesen als Ausgangspunkt, zweitens
ihre Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, also ihre Belange, drittens der Bezug
dieser Belange auf alle Handlungsteile im weiteren Sinn, nicht nur auf einzelne wie
den guten Willen oder die Konsequenzen, viertens die Notwendigkeit einer Abwägung,
schließlich fünftens als Kriterium dieser Abwägung die relative Unabhängigkeit der Be-
lange von den Anderen bzw. der Gemeinschaft.
Die hier entfaltete normative Ethik markiert mit ihren fünf Elementen einen dritten
Weg jenseits von kantischer Ethik bzw. Deontologie auf der einen Seite und Utilitaris-
mus bzw. Konsequentialismus auf der anderen Seite. Sie versucht auf dieser Grundla-
ge Antworten auf konkretere ethische Fragen zu geben, etwa nach dem Bestehen von
Pflichten gegen sich selbst, nach der Zulässigkeit paternalistischen Entscheidens für An-
dere sowie nach der Beurteilung überpflichtgemäßen Handelns.
Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1


1. Der Begriff der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . 1
2. Theorien der normativen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . 14
3. Fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen . . . . . . . . . . . . . . 23


1. Präzisierung des normativen Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . 23
2. Normativ-individualistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . 28
3. Die Wahl der Bezeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
4. Sachliche Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . 32
5. Begründung des Individualprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . 38
6. Begründung des Allprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . 46
7. Begründung des Prinzips
der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . 46
8. Die ontologische Voraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . 48
9. Asymmetrie und Symmetrie der Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. 49

II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden


Individuen: Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen
(Belange bzw. Interessen) . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. 50
1. Kritik verschiedener Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . 50
2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . 57
3. Das Kontinuum zwischen subjektiver Manifestation
und objektiver Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
4. Belange bzw. Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . 67
5. Interessen und Präferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
6. Weitere Qualifikationen von Belangen bzw. Interessen . . . . . . . . . . . . . . 72
7. Menschenwürde und Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . 74
8. Die moralisch zu berücksichtigenden Eigenschaften
und die Handlungsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . 87
9. Eine Bestätigung des normativen Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. 88
X Inhalt

III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen:
grundsätzliche Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . 90
1. Die sieben Teile der Handlung im weiteren Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . 91
2. Versuche einer psychologisch-handlungstheoretischen Reduktion:
Gründe und Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . 95
3. Versuche einer ethischen Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . 99
4. Die deskriptive Begründung
der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . 101
5. Die normative Begründung
der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . 102
6. Der Grund für das Scheitern der Beschränkung des Bezugs . . . . . . . . . . 105
7. Handlungen und Normen bzw. Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . 107
8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . 107
9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem) . . . 117
10. Sollen die Zahlen zählen? . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. 128
11. Handeln als Tun und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . 135

IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung


der divergierenden Belange: Vollständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . 150
1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . 151
2. Die Wirklichkeit einer Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . 159
3. Die Notwendigkeit einer Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . 159
4. Gut, richtig und gerecht als Begriffe der Abwägung
bzw. Zusammen�fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 尓. . . . . . . . . . . . . . . . . . 尓. . . 162

V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung


der divergierenden Belange: das Prinzip der relativen Individual-
und Ander- bzw. GemeinschaftsÂ�abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . 165
1. Der Fokus der Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . 165
2. Kritik des Vertragsprinzipsâ•›/â•›Diskursprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . 169
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . 175
4. Kritik des Maximierungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . 191
5. Kritik weiterer Prinzipien: Gleichheit, Genügenâ•›/â•›Suffizienz,
Pareto, Aufopferungâ•›/â•›Kaldor-Hicks, Maximin, Utilex,
Leistung, Priorität . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . 201
6. Das Prinzip der relativen Individual- und Ander-
bzw. GemeinschaftsÂ�abhängigkeit der Belange . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . 210
7. Die Belange der Individualzone . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . 214
8. Die Belange der Relativzone . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . 220
9. Die Belange der Sozialzone . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone . . . . . . . . . . . . . . 224
11. Der Widerstreit zwischen Belangen verschiedener Zonen . . . . . . . . . . . . 239
12. Die Hierarchie der Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . 243
 XI

VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . 245


1. Eine Analyse der fünf Elemente normativer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. 248
2. Eine Metaethik der individualistisch-objektivistischen Kohärenz . . . . . . . 252

VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände . . . . . . . . . . . . 259


1. Bewertung, Norm und Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . 259
2. Pflicht (Verbot, Gebot) und Pflichtfreiheit
(Erlaubnis, Freistellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . 261
3. Zum Verhältnis zwischen Wertungen sowie
Normen und Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . 263
4. Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . 264

VIII. Pflichten gegen sich selbst? . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 272


1. Die fünf möglichen Relationspole einer Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . 272
2. Worauf bezieht sich das „gegen“ bei den Pflichten
gegen sich selbst? . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . 274
3. Die Pflichten gegen sich selbst in traditionellen Ethiken
und bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . 275
4. Die Pflichten gegen sich selbst nach der hier entfalteten Ethik . . . . . . . . 276

IX. Typen von Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . 281


1. Unterlassenspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . 281
2. Tuns- bzw. Hilfeleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . 285
3. Gemeinschaftspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . 286
4. Pflichten zwischen Fremden . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . 288
5. Pflichten zwischen Bekannten . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . 289
6. Pflichten in Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . 290
7. Tugendpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . 292

X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln


(Super- und Supraerogation) sowie Indifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . 294
1. Überpflichtgemäßes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . 294
2. Unterpflichtgemäßes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . 304
3. Indifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . 305
4. Weitere deontisch-axiologische Kombinationen? . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . 305

XI. Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen


(Paternalismus) . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . 307
1. Der Begriff des Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . 307
2. Normativer Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . 310
3. Keine Verwirklichung von Pflichten gegen sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . 311
4. Die entscheidenden Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . 312
5. Spezifik der Sozialethik, politischen Ethik und Rechtsethik . . . . . . . . . . . 315
XII Inhalt

XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . 319


1. Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen
bezüglich einer Akteurshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . 321
2. Zwei Pflichten gegenüber einem Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . 322
3. Pflichten gegenüber zwei Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . 324
4. Pflichten gegenüber drei und mehr Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . 332
5. Kollision zwischen moralischen und rechtlichen Pflichten . . . . . . . . . . . . 337

XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . 338


1. Sind nur empfindungsfähige Lebewesen zu berücksichtigen? . . . . . . . . . . 339
2. Sind Naturkollektive wie Arten oder Ökosysteme
zu berücksichtigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . 341
3. Sind die Lebewesen alle gleich oder ungleich zu berücksichtigen? . . . . . . 343
4. Wie weit reicht die Würde? . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . 352


1. Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
2. Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . 356
3. Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . 363
4. Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . 364

XV. Individualethik und Sozialethik . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . 365


1. Der zentrale Unterschied: Gemeinschaft und Repräsentation . . . . . . . . . 366
2. Mitglieder und Nichtmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . 369
3. Strukturen der Gerechtigkeit in Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
4. Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . 377

XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . 381


1. Arzt und Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . 381
2. Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . 385
3. Gentechnik beim Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . 391

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . 401

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . 403

Index . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . . . . . . . . . . . . . . . . . å°“. . 419


Einleitung

1. Der Begriff der Ethik

Ethik ist eine Art unserer Suche nach Erkenntnis. Aber Erkenntnis wovon? Eine erste
Antwort ist einfach: von zu Erkennendem, das heißt ihrem Gegenstand im formalen
Sinn, ihrem Er�kennt��nis�objekt. Die Unterscheidung von Erkenntnissuche und Erkennt-
nisobjekt ist grundlegend, denn jede Suche nach Erkenntnis richtet sich als zielori-
entiertes menschliches Handeln auf einen bestimmten Gegenstand im formalen Sinn.
Durch diese Richtung auf einen bestimmten Gegenstand im formalen Sinn unterschei-
det sie sich notwendig, wenn auch nicht ausÂ�schließÂ�lich, von anderen Arten der Suche
nach Erkenntnis.
Gegenstand der Ethik in einem ersten, noch vorläufigen und damit eingeschränkten
Verständnis sind praktische Tatsachen im engeren Sinn, also auf jeden Fall wirklich beste-
hende Normen, Regeln, Wertungen und Überzeugungen, die unser Handeln und Ent-
scheiden bestimmen, etwa Moral (Sitte), Recht, Religion, Erziehung, Politik, Technik,
Medizin, Konventionen und Einsichten des guten Lebens (Ethos), seien diese Normen,
Regeln, Wertungen und Überzeugungen jeweils individuell oder sozial, autonom oder
heteronom, kategorisch oder hypothetisch.

Ethik

Moral Recht Religion Erziehung Politik Technik Medizin Konvention gutes Leben ...

a) Primäre und sekundäre Normordnungen

Sowohl die Normen und Regeln der Moral, des Rechts usw. als auch die Beschreibun-
gen, Bewertungen und Verpflichtungen der Ethik sind menschliche Gestaltungen. Worin
unterscheiden sie sich?
2 Einleitung

Die Normen der Moral, des Rechts usw. bestehen zum einen nicht nur zufällig,
sondern notwendig auch als reale, das heißt wirkliche einstellungs- und handlungsbe-
stimmende praktische Tatsachen in Raum und Zeit, und zwar als innere wie äuße-
re Tatsachen. Sie leiten und beeinflussen zum anderen unser gesamtes Handeln und
unsere gesamten Einstellungen unmittelbar und primär. Man kann deshalb auch von
primären Wertungen, Normen, Regeln und Überzeugungen sprechen, oder, sofern es
sich wie regelmäßig um eine systematisch verbundene Mehrzahl derartiger Denk- und
Sprachformen handelt, von primären Wertungs-, Normen-, Regel- und Überzeugungs-
ordnungen.
Die Ethik als eine Art unserer Suche nach Erkenntnis besteht dagegen zum einen
nicht begrifflich not�wendig als wirkliche einstellungs- und handlungsbestimmende
Tatsache in Raum und Zeit. Sie kann vielmehr ein nur mögliches Gedankengefüge, ein
bloßes Ideal sein, das sich zwar in verschiedenen inneren Normen und äußeren Hand-
lungsverpflichtungen verwirklichen kann, eine derartige Verwirklichung aber anders als
die primären Normordnungen nicht begrifflich notwendig voraussetzt. Die Ethik bezieht
sich zum anderen nicht unmittelbar und primär auf unsere gesamten Handlungen,
sondern nur mittelbar und sekundär auf primäre Normordnungen, also Moral, Recht,
Religion usw., die unser tägliches Handeln und Entscheiden unmittelbar bestimmen.
Die Ethik ist somit€– die verbundene Mehrzahl ihrer Denk- und Sprachformen vor-
ausgesetzt€– eine sekundäre BeschreiÂ�bungs-, Bewertungs- und Verpflichtungsordnung.
Die Alltagssprache mit ihrer häufig sehr feinen und sensiblen Differenzierung markiert
die Demarkationslinie zwischen dem Wirklichkeitscharakter der primären Moral und
dem Möglichkeitscharakter der sekundären Ethik ganz deutlich: Eine Moral kann man
„beschreiben“, nicht aber „schreiben“. Eine Ethik dagegen kann man€– wie es hier un-
ternommen wird€– „schreiben“, nicht aber nur „beschreiben“.
Angesichts der regelmäßigen Mannigfaltigkeit derartiger menschlicher Gestaltungen
ist der Unterschied zwischen dem Wirklichkeitscharakter der primären Normordnun-
gen und dem Möglichkeitscharakter der Ethik in der Realität allerdings kein absoluter,
sondern lediglich ein relativer. Denn als menschliche Artefakte haben auch tatsächlich
bestehende primäre Normordnungen wie Moral und Recht, insofern sie Wertungen
und Utopien realisieren, gewisse idealische Züge. Und die idealische Ethik muss, um
primäre Normordnungen wie Moral und Recht wirksam rechtfertigen und kritisieren
zu können, wenigstens bis zu einem gewissen Grade ihrerseits wirklich, das heißt formu-
liert werden, sich also in inhaltlich bestimmenden Konkretisierungen, wie Erklärungen,
Briefen, Artikeln, Büchern usw. niederschlagen. Aber wie beim Unterschied von Tag
und Nacht schließt die Unklarheit über die genaue Demarkationslinie der Dämmerung
die beiden klaren Alternativen und die Vielzahl eindeutig zuzuordnender einzelner Phä-
nomene nicht aus. Sie macht die Unterscheidung vielmehr umso notwendiger.
Der mittelbare und sekundäre Bezug der Ethik auf die unmittelbar und primär ein-
stellungs- und handlungsleitenden Wertungen, Regeln, Normen und Überzeugungen
schließt deren Beschreibung und Erklärung ein. Er dient aber auch und vor allem ihrer
Bewertung sowie Normierung in Form einer Kritik bzw. Rechtfertigung. Die Möglichkeit,
eine solche Kritik bzw. Rechtfertigung und damit eine normative Ethik mit Wahrheits-
1. Der Begriff der Ethik 3

oder zumindest Richtigkeitsanspruch, also objektiv, durchzuführen, ist im Alltag akzep-


tiert. Einige Philosophen ziehen sie aber prinzipiell in Zweifel.1 Eine eingehende Erörte-
rung dieser Zweifel würde eine eigene, auf einer tertiären Ebene operierende Metaethik,
das heißt eine auf einer sekundären Reflexionsebene angesiedelte Untersuchung der on-
tologischen, erkenntnistheoretischen und sprachlichen Voraussetzungen der Ethik und
ihrer Gegenstände erfordern.

Metaethik

Ethik

Moral Recht Religion Erziehung Politik Technik Medizin Konvention gutes Leben ...

Eine solche Untersuchung der Ethik und ihres Gegenstandsbezugs durch eine Metaethik
ist zwar isoliert durchführbar. Sie wird aber€– soviel lässt sich in wissenschaftstheoreti-
scher Perspektive vielleicht behaupten€– mangels Fähigkeit, die Widersprüchlichkeit des
Begriffs einer normativen Ethik apriori zeigen zu können, die Entscheidung über ihre
Möglichkeit mittels eines Verwirklichungsversuchs nicht von vornherein ausschließen
können. Die hier unternommene normative Ethik ist ein solcher Verwirklichungsver-
such. Aus Gründen der Beschränkung von Raum und Zeit kann die Objektivitätsfrage
der Metaethik aber nur am Rande erörtert werden (Kapitel€VI).
Ethik in einem ersten Verständnis ist also die mögliche bzw. idealische Suche nach
der ErkenntÂ�nis notwendig auch wirklicher und primärer, also unmittelbar handlungslei-
tender Wertungen, Normen, Regeln und Überzeugungen wie sie sich in Moral, Recht,
Religion, Erziehung, Politik, Technik, Medizin, Konventionen, Einsichten des guten
Lebens (Ethos) usw. finden, und zwar in Form der Beschreibung, Erklärung, Bewertung
sowie Verpflichtung, also auch der Kritik und Rechtfertigung.2

1 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe Band 1, 9.€Aufl. Frankfurt a.╛M. 1993,
6.42–6.422; Moritz Schlick, Fragen der Ethik, 2.€Aufl. Frankfurt a.â•›M. 2002; Alfred Jules Ayer, Language,
Truth and Logic, London╛/╛New York 1987, S.€136╛ff.; Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philoso-
phy, Cambridge 1985; Jonathan Dancy, Ethics Without Principles, Oxford 2004.
2 Für eine Unterscheidung zwischen Moral und Ethik auch: William K. Frankena, Ethics, 2.€Aufl. Engle-
wood Cliffs, S.€5; Tom L. Beauchamp und James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, 6.€Aufl.
Oxford 2009, S.€1╛ff.; Mark Timmons, Morality without Foundations. A Defense of Ethical Contextua-
lism, Oxford 1999, S.€87, Fn.€11; Wilhelm Vossenkuhl, Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21.€Jahr-
4 Einleitung

Die Ethik ist dabei nicht auf die akademische bzw. wissenschaftliche Suche nach
Erkenntnis beschränkt, sondern findet sich ursprünglich in der alltäglichen Erörterung
primär handlungs- und einstellungsleitender Normen, vorausgesetzt diese alltägliche
Erörterung erreicht eine gewisse Vernünftigkeit, das heißt Beschreibungs-, Erklärungs-
undâ•›/â•›oder Begründungskraft. Die sprachliche Äußerung des A „Du sollst den B nicht
töten!“ wäre in einer konkreten Situation also eine solche der Moral. Auch die Â�bloße
Bekräftigung „Ich will es so!“ wäre eine moralische. Die Begründung „…, weil es den Be-
langen des Opfers widerspricht“ wäre dagegen ebenso wie die Beschreibung „C will, dass
A den B nicht tötet“ eine solche der Ethik. Die konkrete Institutionalisierung umfang-
reicher primärer Normordnungen kann wie beim modernen Recht und der modernen
Politik dann allerdings auch viele Beschreibungen und Begründungen einschließen€ –
mit der notwendigen Folge, dass diese zusammen mit der primären Normierung eben-
falls Gegenstand einer sekundären ethischen Beschreibung und Bewertung werden.
Der sekundäre Beschreibungs- und Begründungscharakter der Ethik überschreitet
den primären Normierungscharakter etwa der Moral oder des Rechts und lässt es des-
halb eo ipso unerheblich sein, ob der Beschreibende oder Begründende selbst als Autor
oder Adressat an der konkreten moralischen oder rechtlichen Normierungs�situation oder
auch nur an der ihr zu Grunde liegenden moralischen oder rechtlichen Gemeinschaft
teilnimmt. Das schließt nicht aus, dass die Teilnahme an der konkreten moralischen
oder rechtlichen Normierungssituation oder wenigstens an der ihr zu Grunde liegenden
Gemeinschaft regelmäßig die Sensibilität für eine adäquate ethische Konfliktlösung er-
höhen wird€– wenn auch die in allen Kulturen etablierten Institutionen der neutralen
Beratenden oder Entscheidenden, etwa in den Personen von Priestern und Richtern,
umgekehrt die Alltagseinsicht beglaubigen, dass Distanz, Neutralität und Objektivität
der ethischen Recht���fertigung ebenfalls wichtig sind.
Wissenschaftliche Ethik, wie sie das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist, lässt
sich von derartigen alltäglichen ethischen Beschreibungen und Begründungen der Mo-
ral nicht prinzipiell unterscheiden. Sie ist diejenige Ethik, die als säkular-immanentes
Unternehmen bestimmten, relativ weitergehenden wissenschaftlichen Standards wie
Allgemeinheit, Genauigkeit, Differenziertheit, Begründetheit, WiderÂ�Â�spruchsfreiheit,
Kohärenz, Vollständigkeit, Einfachheit, Originalität, FruchtbarÂ�keit und Wahrheit oder
wenigstens Richtigkeit genügt. Die wissenschaftliche Ethik stellt also nur eine relative
Erweiterung der alltäglichen ethischen Vernünftigkeit dar, so wie etwa auch die empi-
rischen Wissenschaften keine grundsätzlich neuen ErkenntÂ�nisquellen im Vergleich zu
unseren Alltagserfahrungen erschließen. Die wissenschaftliche Ethik setzt wie die Ethik
generell somit kein Fundament außerhalb der Moral voraus. Sie setzt auch nicht voraus,
dass der Ethiker nicht selbst am fraglichen moralischen Konflikt beteiligt ist. Sie schließt
dies aber auch nicht aus. Der Sekundärcharakter der ethischen Bezugnahme auf die pri-
mären Normen führt zur prinzipiellen Unerheblichkeit der Teilnahme an den primären
Regelungen.

hundert, München 2006, S.€18, 40â•›ff. Vgl. ebenfalls die Differenzierung zwischen „positive morality“
und „critical morality“ bei H.â•›L.â•›A. Hart, Law, Liberty and Morality, Oxford 1963, S.€20, 22.
1. Der Begriff der Ethik 5

b) Die Unterscheidung von Moral und Ethik

Der Ausdruck ta ethika wurde im Rahmen wissenschaftlicher Erörterungen, soweit wir


wissen, zum ersten Mal von Aristoteles zur Bezeichnung der Untersuchung des tat-
sächlichen éthos (Gewohnheit, Sitte, Brauch), ēthos (gewöhnlicher Aufenthalt, Wohn-
sitz, Gewohnheit, Charakter) und nómos (Brauch, Sitte, Gewohnheit, Satzung, Gesetz,
Setzweise, Tonart, Gesang, Lied) verwendet.3 Er diente dann auch als Titelteil zweier
seiner Abhandlungen zur praktischen Philosophie, der Nikomachischen Ethik und der
Eudemischen Ethik€– wobei zweifelhaft ist, ob diese Titel von Aristoteles selbst stammen
oder eine Hinzufügung späterer Herausgeber seiner Werke darstellen. Die Geschichte
der Philosophie hat Hunderte von „Ethiken“ hervorgebracht.
Bentham und Kant verwenden dann am Ende des 18.€Jahrhunderts den Ausdruck
zwar nicht mehr im Titel, perpetuieren die klare Unterscheidung zwischen primärer
Normierung und sekundärer Beschreibung bzw. Begründung dieser Normierung in
ihren Werktiteln aber durch die Vorschaltung von „Prinzipien“ (bei Bentham: Introduc-
tion to the Principles of Morals and Legislation) bzw. „Metaphysik“ (bei Kant: Grundle-
gung zur Metaphysik der Sitten). Kant betont überdies am Anfang seiner Schrift, dass die
alte griechische Einteilung der Philosophie in Physik, Ethik und Logik „vollkommen
angemessen“ sei und man „an ihr nichts zu verbessern“ habe, „als etwa nur das Prinzip
derselben hinzu zu thun“.4 Man mag sich fragen, warum beide „Ethik“ dann nicht
auch in ihre Titel aufnahmen? Vermutlich wollten sie die Neuheit ihrer Konzeptionen
betonen, sich also vor allem von der aristotelischen Glücks- und Tugendethik abgren-
zen. Henry Sidgwick wählt dann 1874 wieder den Titel The Methods of Ethics und Max
Scheler 1913 Der Formalismus in der Ethik und die Materiale Wertethik. Beide kehren
also zum klassischen Ausdruck „Ethik“ im Titel zurück. Eine Abgrenzung zur antiken
Glücks- und Tugendethik war offenbar nicht mehr nötig oder vielleicht auch nicht
gewollt.
Heute werden vereinzelt in der Alltagssprache und sogar in wissenschaftlichen Un-
tersuchungen die Begriffe Ethik und Moral nicht mehr klar getrennt.5 Das erscheint
aber sowohl begriffs- und worthistorisch€– wegen der mit der griechischen Unterschei-
dung von éthos, ēthos sowie nómos und ta ethika sowie der lateinischen Unterscheidung
von mos (Sitte, Gewohnheit, Brauch) und philosophia de moribus6 bzw. philosophia

3 Aristoteles, Metaphysik, 987b1. Es finden sich auch noch „ethische Theorie“ (ethikes theorias, Analytica
Posteriora 89b9), „in ethischen Büchern“ (en tois ethikois, Politik 1261a31) und „ethische Beschäfti-
gungâ•›/â•›Abhandlungâ•›/â•›AngeÂ�legenheit“ (ethike pragmateia, Magna Moralia 1181b28).
4 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kants gesammelte Schriften, hg. von der
Â�Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademieausgabe), Berlin 1902â•›ff., Nachdr. 1968,
S.€387.
5 Vgl. Simon Blackburn, Ruling Passions, Oxford 1998, S.€2; Svend Andersen, Einführung in die Ethik,
2.€Aufl. Berlin 2005, S.€2; Richard B. Brandt, Ethical Theory. The Problems of Normative and Critical
Ethics, Englewood Cliffs 1959, S.€2 Fn.
6 Marcus Tullius Cicero, De Fato 1, 1.
6 Einleitung

moralis erreichten Differenzierung€– als auch sachlich€– wegen der für jede Form der
Suche nach Erkenntnis notwendigen Trennung eben dieser Erkenntnissuche und ih-
res Objekts€– ein Rückschritt im Phänomenverständnis. Jeder unterscheidet etwa die
Physik von Materie und Energie oder die Literaturwissenschaft von Romanen, Erzäh-
lungen und Gedichten als ihren Erkenntnisgegenständen. Im Übrigen differenzieren
wir klar und ohne Zweifel zwischen der Ethik auf der einen Seite und Recht, Religion,
Erziehung, Politik, Technik, Medizin, Konventionen usw. als ihren€– neben der Mo-
ral€– übrigen notwendig tatsächlich bestehenden Gegenständen auf der anderen Seite.
Warum mit Bezug auf die Moral als einer Recht, Politik usw. vergleichbaren, primären
Normenordnung die Unterscheidung zwischen Erkenntnissuche und Erkenntnisobjekt
verzichtbar sein soll, ist nicht einzusehen. Die Tatsache, dass die Pflichten der Moral
im Gegensatz etwa zu solchen von Recht und Konventionen vom Adressaten auch eine
innere Überzeugung fordern, hebt die eingangs erwähnten zentralen Unterschiede zwi-
schen Wirklichkeits- und Möglichkeitscharakter sowie primärer Handlungs- und Ein-
stellungsnormierung und sekundärer Bezugnahme auf diese primäre Handlungs- und
Einstellungsnormierung nicht auf. Die Unterscheidung der primären Normordnungen
in Moral, Recht, Religion, Erziehung usw. ist Ergebnis eines langen historischen Diffe-
renzierungsprozesses der Phänomene, dessen Erkenntnis nicht durch die Verwechslung
von Ethik und Moral verdunkelt werden darf.7
Der Grund für die gelegentlich anzutreffende Ersetzung des Ausdrucks „Moral“
durch den Ausdruck „Ethik“ in der Sprache des Alltags dürfte in der allgemeinen
Tendenz mancher gegenwärtiger Sprecher zum vermeintlich Besseren, Höheren und
Wichtigeren liegen. Immobilienmakler preisen als Teil eines durchsichtigen Marketings
heute nicht mehr „Häuser“, sondern „Wohnresidenzen“ an. Da dem Ausdruck „Moral“
immer das HandÂ�lungsÂ�beschränkende, das „Moralinsaure“ kategorischer Pflichten an-
haftet, versuchen manche mit dem Ausdruck „Ethik“ mehr Reflexion, Verständnis und
Bejahung zu suggerieren€– eine Verwirrung des Sprachgebrauchs in Kauf nehmend.
Warum auch in wissenschaftlichen Untersuchungen zum Teil nicht mehr zwischen
„Moral“ und „Ethik“ unterschieden wird, lässt sich nur vermuten. Ein Faktor mag neben
dem immer weiter fortschreitenden Szientismus der zunehmende Einfluss der angel-
sächsischen Sprache und Begrifflichkeit sein. Das Englische kennt den Unterschied zwi-
schen „moral(s)“ und „morality“, welcher im Deutschen nicht einfach reproduzierbar ist.
Während „moral(s)“ dem deutschen „Moral“ vergleichbar nur primäre Verpflichtungen
bzw. Verpflichtungsordnungen ausdrücken kann und einen Plural kennt, hat „morali-
ty“, das wie „Ethik“ nicht im Plural stehen kann („Ethiken“ ist nur eine Abkürzung für
die verschiedenen ethischen Theorien einzelner Autoren oder einzelne Bereichsethiken),
schon eine stärker sekundäre, das heißt beschreibende und begründende Bedeutung.8

7 Vgl. Verf., Über die Begriffe Moral, Recht und Ethik, in: Religion und Ethik als Organisationen? Hg. von
Jan Hermelink und Stefan Grotefeld, Zürich 2008, S.€175–193.
8 Langenscheidt, Muret-Sanders, Großwörterbuch Englisch-Deutsch, Berlin 2001, S.€733â•›f., wo, anders als
bei „moral“, bei „morality“ auch „Ethik“ und „Sittenlehre“ als Wortbedeutung angegeben ist.
1. Der Begriff der Ethik 7

Darüber hinaus hat sich seit Hobbes sowie Hume und fortgeführt etwa durch Witt-
genstein und Ayer im angelsächsischen Raum eine grundsätzliche Skepsis gegenüber
normativ-ethiÂ�schen Rechtfertigungen ausgebreitet, was für manche die Beschränkung
auf eine Beschreibung oder gar bloße Selbstbeschreibung der Moral nahelegt. Während
die externe Beschreibung als deskriptive Ethik zwar reduktiv, aber zumindest möglich
erscheint, wäre die bloße Selbstbeschreibung der Moral widersprüchlich und deshalb
unmöglich, da die gleich noch näher zu erörternde notwendige Funktion der Moral
gerade nicht in der Beschreibung liegt und es auch keinen kollektiven Akteur der Moral
gibt, der eine solche Beschreibung durchführen könnte.
Während der Begriff der Ethik in der Tradition von Aristoteles bis ins 19.€Jahrhun-
dert die gesamte praktische Philosophie umfasste, wird er heute als Folge der Spezialisie-
rung zumindest im akademischen Kontext verschiedentlich enger verstanden. Die Ethik
ist danach lediglich ein Teil der praktischen Philosophie, die etwa noch die Beschreibung
und Erklärung von Handlungen, Entscheidungen, Gefühlen, Einstellungen und Wer-
tungen, also die Handlungstheorie, die Entscheidungstheorie sowie die Theorie der Gefüh-
le, Einstellungen und Wertungen umfasst. Diese sind im Grunde genommen theoretische
Untersuchungen praktisch relevanter Eigenschaften des Menschen, das heißt prakti-
scher Tatsachen im weiteren Sinn, auf die sich die Bewertungen, Normen, Regeln und
Überzeugungen der Moral, des Rechts, der Politik usw., also die Gegenstände der Ethik
bzw. praktische Tatsachen im engeren Sinne wertend und verpflichtend beziehen, von
denen sie ihrerseits aber auch beeinflusst werden. Untersuchungen dieser praktischen
Tatsachen im weiteren Sinne sind regelmäßig deskriptiv bzw. erklärend-rekonstruktiv
und nicht recht�fertigend-normativ, jedenfalls nicht in einem engeren kategorischen,
sondern allenfalls in einem rationalitätstheoretisch-hypoÂ�thetischen Sinn. Für katego-
risch-normative Rechtfertigungen besteht kein Grund, weil diese Gegenstände anders
als viele Normen der Moral, des Rechts, der Religion und der Erziehung nicht katego-
risch verpflichten. Aber die Verbindungen zwischen den praktischen Tatsachen im enge-
ren und im weiteren Sinn sind so eng, dass jede strikte Trennung problematisch ist.

c) Subdisziplinen der Ethik

Die Ethik lässt sich wenigstens in zwei Richtungen weiter differenzieren:


Sie kann zum Ersten im Hinblick auf die Teile ihres Gegenstands unterschieden wer-
den. Sie richtet sich dann jeweils auf einzelne der erwähnten primär handlungsleitenden
Normordnungen. Als Ethik der Moral bzw. Moralphilosophie (Ethik im engsten Sinn) be-
zieht sie sich etwa auf die Moral, als Rechtsethik auf das Recht, als Ethik der Religion auf
religiöse Normen, als Ethik der Erziehung auf die Erziehung, als politische Ethik auf die
Politik, als Technikethik auf die Technik, als Medizinethik auf die Medizin, als Ethik der
Konventionen auf konventionelle Regeln und Bewertungen und schließlich als Ethik des
guten bzw. glücklichen Lebens auf Einsichten guter Lebensführung. Man fasst diese Teil-
bereiche der Ethik unter den Bezeichnungen „Angewandte Ethik“, „Praktische Ethik“
oder „Bereichsethiken“ zusammen.
8 Einleitung

Metaethik

Ethik

Ethik der Moral Rechtse. relig. E. Erze. pol. E. Technike. Medizine. konv. E. E. d. g. Lebens

Moral Recht Religion Erziehung Politik Technik Medizin Konvention gutes Leben ...

Innerhalb dieser Gegenstandsdifferenzierung lassen sich notwendig Andere betreffende und


nicht notwendig Andere betreffende Normordnungen gruppieren: Fragen der Moral, des
Rechts, der Religion, der Erziehung und der Politik setzen notwendig die Betroffenheit
Anderer voraus. Fragen der Medizin als solche sowie der Technik, der Konventionen und
des guten Lebens usw. setzen nicht notwendig die Betroffenheit Anderer voraus, weil es
ja auch medizinische, technische und konventionelle Gestaltungen geben kann, die nur
den Anwender betreffen. Es handelt sich um Normen- bzw. Überzeugungsordnungen,
die sich auf die eigenen Ziele, Wünsche und Bedürfnisse beschränken können.
Innerhalb dieser Gegenstandsdifferenzierung kann man weiterhin notwendig kate-
gorisch verpflichtende Normordnungen und nicht notwendig kategorisch verpflichtende
Normordnungen unterscheiden. Kategorisch sind Normen, die konkret zustimmungs�
unabhängig Akzeptanz oder Befolgung fordern. Hypothetisch sind dagegen Normen, bei
denen die Forderung nach Akzeptanz oder Befolgung von der konkreten Zustimmung
des Verpflichteten abhängt. Moral, Recht, Religion, Erziehung und Politik enthalten
notwendig auch kategorische Normen und sind deshalb kategorische Normordnungen.
Bei der Medizin, Technik und den Konventionen hängt dies von der konkreten Aus-
gestaltung ab. Während etwa Ärzte früher häufig kategorische Βefolgung forderten, ist
heute in jedem Fall die aufgeklärte Zustimmung des Patienten notwendig.
Die Ethik kann zum Zweiten im Hinblick auf ihr Erkenntnisziel eingeteilt werden.
Man kann das Ziel der Beschreibung und Erklärung von dem der Bewertung und Ver-
pflichtung bzw. normativen Kritik und Rechtfertigung unterscheiden, wobei die Bewer-
tung und Verpflichtung auf der Beschreibung und Erklärung aufbauen.9 Somit gäbe es
eine deskriÂ�ptive, eine evaluative und eine präskriptive Ethik. Die beiden letzteren Formen
werden allerdings regelmäßig€– so auch hier€– unter dem allgemeineren, wenn auch we-

9 Zur Unterscheidung dieser drei sprachlichen Grundfunktionen: Verf., Deskription, Evaluation, Präskrip-
tion, Berlin 1993.
1. Der Begriff der Ethik 9

niger präzisen Begriff der normativen Ethik zusammengefasst, so dass sich die deskriptive
und die normative Ethik gegenüberstehen.
Hinsichtlich der ersten Art der Differenzierung, also des Rekurses auf Teile des Ge-
genstands der Ethik, ist der vorliegende Versuch grundsätzlich ein allgemeiner, das heißt
prinzipiell auf alle primären Normordnungen bezogener, wobei aber eine Konzentrati-
on auf die notwendig auf Andere bezogenen und kategorischen Normordnungen der
Moral, des Rechts, der Religion, der Erziehung und der Politik stattfindet (Ethik im
objektbezogen engeren Sinn).
Im Hinblick auf die zweite Art der Differenzierung, also mit Rekurs auf das Er-
kenntnisziel, ist er ein solcher der normativen Ethik. Im Vordergrund steht somit das
Ziel der normativen Kritik und Rechtfertigung von primären Normordnungen, nicht
ihre Beschreibung und Erklärung bzw. Rekonstruktion, wobei die Beschreibung und
Erklärung wie gesagt im Prinzip notwendige Bedingung jeder normativen Kritik und
Rechtfertigung ist.
Allerdings erfordert die wissenschaftliche Untersuchung der Vielzahl und Vielgestal-
tigkeit der primären Normordnungen eine weitere pragmatische Auswahl. Da die Moral
gegenüber dem Recht, der Religion, der Erziehung und der Politik die am wenigsten von
weiteren sozialen Gestaltungen und Institutionen abhängige Form der Regelung unseres
Verhaltens ist, wird die normative Ethik in dieser Untersuchung zunächst modellhaft auf
die Moral bezogen. Aber weil Recht, Religion, Erziehung und Politik der Moral in den
wesentlichen Hinsichten des notwendigen Bezugs auf Andere und der Kategorizität äh-
neln, ist die Ethik der Moral auf diese weiteren primären Normordnungen relativ leicht
erweiterbar. Das Verständnis des Bezugs der Ethik auf die Moral als derart modellhaften
Gegenstand ermöglicht also auch die Einsicht in die Ethik des Rechts und der Politik.
Die Religion ist auch kategorisch, aber letztlich transzendent und deshalb vollkommen
anders zu rechtfertigen. Die Erziehung enthält auch kategorische Elemente, setzt aber
spezielle Einsichten in die Entwicklungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen voraus.
Technik, Medizin, Konventionen und Ratschläge des guten bzw. glücklichen Lebens
sind dagegen heute regelmäßig nicht kategorisch verpflichtend, sondern nur hypothe-
tisch bzw. empfehlend und bedürfen deshalb keiner starken normativen Begründung,
sondern nur einer schwachen Untersuchung der Zweckmäßigkeit ihrer Normen.

d) Die Moral

Mit dem bloßen Ziel der Beschreibung und Erklärung kann die Moral ebenso wie
die anderen primären Normordnungen nicht nur Gegenstand der deskriptiven Ethik,
sondern auch Gegenstand anderer Wissenschaften sein, etwa der Soziologie, der Ge-
schichte, der Ethnologie, der Anthropologie oder der Psychologie, je nachdem, wel-
ches Untersuchungsziel in den Vordergrund gerückt wird.10 Man könnte vielleicht noch

10 Vgl. Edward Westermarck, The Origin and Development of the Moral Ideas, 2 Bde., Nachdr. der 2.€Aufl.,
London 1912â•›/â•›17; Hartmut Kliemt, Moralische Institutionen. Empiristische Theorien ihrer Evolution,
10 Einleitung

weitergehend behaupten, dass die deskriptive Ethik nichts anderes als Soziologie, Ge-
schichte, Ethnologie, Anthropologie oder Psychologie der Moral ist, also gar kein phi-
losophisches, sondern vielmehr ein einzelwissenschaftliches Unternehmen. Warum ist
das so? Vermutlich weil die bloße Beschreibung, anders als die Normierung, welche ja
die Beschreibung einschließt, keine umfassende und damit philosophische Perspektive
auf einen Gegenstand entwirft.
Die Moral ließe sich also zumindest im Rahmen einer reinen Beschreibung und
Erklärung unabhängig von der normativen Ethik untersuchen und darstellen. Weil
aber der hauptsächliche Gegenstand und das Ziel der vorliegenden Untersuchung die
normative Ethik ist, wird hier auf eine nähere Erörterung der Moral jenseits dieser
normativ-ethischen PerÂ�spektive verzichtet. Da für den Fortgang der Überlegungen un-
entbehrlich, muss jedoch eine tentative Präzisierung des Phänomens bzw. Begriffs der
Moral und damit eine Abgrenzung zu anderen primären Normordnungen vorgeschla-
gen werden, ohne diesen Präzisierungsvorschlag hier näher erläutern oder rechtfertigen
zu können:11
Moral bzw. Sitte ist danach die wirkliche, das heißt in einer konkret realisierten Ge-
sellschaft, also in Raum und Zeit, bestehende Gesamtheit oder Teilgesamtheit von pri-
mären Wertungen, Normen, Regeln und Überzeugungen, die vor allem folgendem Ziel
dienen: zwischen wenigstens potentiell divergierenden und damit konfligierenden Lebens-
vorstellungen zu vermitteln, um unsere Einstellungen und unseren Charakter sowie unser
Entscheiden und Handeln zu beurteilen und zu lenken.12 Von anderen, einem ähnlichen
Ziel dienenden primären Normordnungen unterscheidet sich die Moral durch folgende
weitere spezifische Mittel und Sekundärziele:
–â•fi Erstens enthält die Moral wie Recht, Religion, Erziehung und Politik auch Pflichten,
das heißt Gebote und Verbote, und weitergehend kategorische Pflichten,13 nicht nur
hypothetische, also nicht bloße Empfehlungen und Wertungen im Allgemeinen,
wie die Regeln der Technik und der Medizin, die allgemeinen Empfehlungen und
Gewohnheiten der Konventionen und die Ratschläge des guten Lebens. Moral,
Recht, Religion, Erziehung und Politik unterscheiden sich also von anderen Norm�
ordnungen wesentlich durch ihre Kategorizität. Dieses Erfordernis schließt nicht
aus, dass der Verpflichtete konkret oder abstrakt tatsächlich zustimmt oder abstrakt

Freiburg 1985; Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a.â•›M. 1995;
Lawrence Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt a.â•›M. 1996.
11 Zu Kennzeichen der Moral: Günther Patzig, Moral und Recht, in: ders., Ethik ohne Metaphysik, 2.€Aufl.
Göttingen 1983, S.€7–31, S.€9â•›ff.; Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 2.€Aufl. Berlin
2007, S.€8╛ff.
12 Zur Annahme, dass die Moral widerstreitende Gesichtspunkte bzw. soziale Probleme zu lösen hat:
Richard B. Brandt, Ethical Theory, S.€ 89╛ff., 258. Auf den Kampf um limitierte Ressourcen und den
Ausgleich fehlender Sympathie verengend: John L. Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong, London
1990, S.€111. Gegen ein einheitliches Ziel der Moral dann aber Richard B. Brandt, A Theory of the Good
and the Right, Neuauflage, Amherst 1998, S.€184.
13 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€414–420; Henry Sidgwick, The Methods of
Ethics, Indianapolis 1981, S.€3, 391; Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, Frankfurt a.╛M.
1975, S.€257╛ff.
1. Der Begriff der Ethik 11

zustimmen können müsste. Es schließt auch nicht aus, dass derartige Verpflichtun-
gen notwendig zu begründen sind und von anderen Bedingungen als der konkreten
Zustimmung des Betroffenen abhängen.
–â•fi Zweitens normiert die Moral nicht allein durch äußere, von anderen gesetzte und
formale Regelungen wie das Recht (verstanden als positives Recht), sondern auch
mittels innerer Wertungen und Verpflichtungen.14
–â•fi Drittens dient die Moral nicht zur zumindest partiell transzendenten Konstitution
und Anleitung einer kultisch-religiösen Praxis wie die Religionen, die allerdings häu-
fig sehr viel komplexer sind und als umfassendes soziokulturelles Phänomen auch
allgemeine und damit genuin moralische Normen enthalten können.
–â•fi Viertens dient die Moral nicht hauptsächlich der Entwicklung noch nicht voll ein-
sichtsfähiger Menschen und anderer Lebewesen wie die Erziehung.

Wirklich bestehende Normen bzw. Wertungen der Moral sind in vielen Gesellschaften
zum Beispiel das Tötungsverbot, das Folterverbot, das Verletzungsverbot, das Lügen-
verbot, das Verleumdungsverbot, das Hilfsgebot in Notlagen, das Fairnessgebot sowie
die Tugenden und damit positiven Bewertungen der Klugheit, Stärke, Besonnenheit,
Gerechtigkeit, Friedfertigkeit, Hilfsbereitschaft, Wohltätigkeit, Großzügigkeit usw.
Eine bloße Konvention wäre dagegen die in der westlichen Welt vielfach als norÂ�
mativ verbindlich akzeptierte Regel, beim Essen nicht zu schmatzen. Diese kulturab-
hängige Konvention gilt offenbar in manchen Teilen Asiens nicht. Ein Asiate könnte
bei einer Essenseinladung durch einen Europäer eine Befreiung von dieser europäischen
Konvention erbitten, etwa weil er mangels Übung nicht in der Lage sei, sie einzuhalten,
oder weil ihm das Essen im Falle der Einhaltung dieser Regel keine Freude bereite.
Die Begründetheit dieser Bitte zeigt, dass ihre Verpflichtungskraft von seiner konkreten
Zustimmung abhängt, die Konvention also nicht kategorisch verpflichtet. Er könnte
dagegen sicherlich keine Befreiung vom allgemeinen Tötungsverbot in AnÂ�spruch neh-
men, weil dessen Verpflichtungskraft nicht von seiner konkreten Zustimmung abhängt,
also kategorisch wirkt.
Die Politik nimmt gegenüber Moral, Recht, Religion und Erziehung insofern ei-
nen gewissen Sonderstatus ein, als es bei ihr nicht auf den spezifischen Regelungstyp,
sondern auf eine Eigenschaft des Handelnden ankommt, nämlich auf die Eigenschaft,
als Vertreter einer repräsentierenden Gemeinschaft mit dem realistischen Anspruch auf
Letztentscheidung zu handeln (vgl. Kapitel€XV).15 Die Politik kann sich deshalb mit
allen anderen spezifischen Normierungstypen verbinden. Sie kann moralisch, recht�lich,
religiös oder erzieherisch regeln.
Bei manchen zeitgenössischen Theoretikern findet sich die häufig nicht näher be-
gründete Annahme, dass das Ziel bzw. die „soziale Funktion“ der Moral die Verbes-
serung oder wenigstens Erhaltung des „Wohlergehens“ (well-being) und „Wachsens“

14 Vgl. Verf., Was ist Recht? Ziele und Mittel, Juristenzeitung 2008, S.€641╛ff.
15 Zu diesem Verständnis von Politik: Verf., Politik und Recht als Repräsentation, in: Jan Joerdenâ•›/â•›Roland
Wittmann (Hg.), Recht und Politik, Stuttgart 2004, S.€51–73.
12 Einleitung

(flourishing) der Menschen und anderen Lebewesen sei.16 Das Zweifelhafte dieser An-
nahme liegt darin, dass sie bereits eine Wohlfahrtsorientierung der Menschen und damit
einen gewissen antiindiÂ�viÂ�duaÂ�listischen Konsequentialismus impliziert, welche für eine
bloße Phänomenbeschreibung der Moral nicht überzeugen können (vgl. Kapitel€III). So
sind etwa religiöse Moralen häufig nicht wohlfahrts-, sondern jenseitsorientiert.
Der modernen Ethik ist im Übrigen verschiedentÂ�lich eine zu starke Konzentration
des Moralverständnisses auf Pflichten, Normen und das Sollen vorgeworfen worden.17
Wie hoch der faktische Anteil von Bewertungen und Normen ist, kann aber als kontin-
gente Tatsache dahinstehen. Dahinstehen kann auch die weiterführende deskriptiv-phä-
nomenale Frage, worin die Wirklichkeit der Moral genau besteht, etwa in ihrer Befol-
gung oder in ihrer Akzeptanz, das heißt in ihrer Internalisierung, oder in beidem, und
ob Sanktionen zur Förderung ihres Zieles der Konfliktvermittlung und zur Sicherung
von Befolgung oder Akzeptanz eine Rolle spielen.
Was die Grundlage der kategorischen Verpflichtungskraft der Moral ist, ob sie nur
auf einer Metanorm beruht oder sachlich oder gar ontologisch-metaphysisch begründet
ist, kann hier ebenfalls offen bleiben. Im Rahmen des schon angekündigten metaethi-
schen Exkurses wird der Zusammenhang zwischen der Kategorizität von auf Andere
bezogenen primären Normordnungen und der Objektivität ihrer normativ-ethischen
Begründung näher untersucht werden. Die notwendige Kategorizität von Moral, Recht,
Religion, Erziehung und Politik scheint mit dem gemeinsamen Ziel aller dieser Norm�
ordnungen zusammenzuhängen, zwischen wenigstens potentiell divergierenden und
damit konfligierenden Lebensvorstellungen unterschiedlicher Akteure zu vermitteln,18
während Technik, Medizin, Konventionen und Ratschläge des guten Lebens auch und
vor allem die widerstreitenden Belange ein und desselben Akteurs ins Verhältnis setzen
und Empfehlungen aussprechen. Wegen der Freiheit des Akteurs, diese Empfehlungen
anzunehmen oder zu verwerfen, brauchen letztere die Normrealisierung nicht mittels
kategorischer Verpflichtungen zu garantieren.
Die Eigenschaft der Kategorizität bedingt zwei weitere Merkmale der Moral, welche
immer wieder festgestellt wurden, für die Moral aber nicht spezifisch sind, da sie auch
bei Recht, Religion, Erziehung und Politik vorkommen:19 ihre Allgemeinverbindlichkeit
und ihr Anspruch auf Rechtfertigung:
Weil die Normen und Werte der Moral notwendig auch kategorisch verpflichten,
also nicht von der konkreten Zustimmung des jeweils Verpflichteten abhängen, können
sie sich€– ihre abstrakte sprachliche Fassung vorausgesetzt€– an alle Personen mit glei-
chen Eigenschaften in allen Situationen richten, also allgemein verpflichten. Die Allge-
meinverbindlichkeit ist allerdings praktisch sekundär gegenüber der Kategorizität, weil

16 Mark Timmons, Morality without Foundations, S.€88╛f.


17 G.â•›E.â•›M. Anscombe, Modern Moral Philosophy, in: dies., Ethics, Politics and Religion (The Collected
Philosophical Papers of G.â•›E.â•›M. Anscombe, Vol.€ 3), Minneapolis 1981, S.€ 26–42; Michael Stocker,
Plural and Conflicting Values, Oxford 1990, S.€2, 95╛ff.
18 Zum Ausschluss von Pflichten gegen sich selbst aus einer säkularen Moral siehe Kapitel€VIII.
19 Vgl. etwa Norbert Hoerster, Was ist Moral? Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2008, S.€13–18.
1. Der Begriff der Ethik 13

nur die Kategorizität als Mittel zur Erreichung des Ziels der Lösung konkreter Konflikte
notwendig ist, nicht aber die Allgemeinverbindlichkeit. Ob auch andere Personen in an-
deren vergleichbaren Situationen ähnlich handeln (sollen), kann demjenigen, der eine
Moralnorm in einer bestimmten Situation äußert oder vernimmt, gleichgültig sein. Die
Allgemeinverbindlichkeit der Moral ist also regelmäßig lediglich eine nichtbeabsichtigte
Folge ihrer Kategorizität.
Und weil die Normen und Werte der Moral kategorisch sind, also nicht von der kon-
kreten Zustimmung des jeweils Verpflichteten abhängen, erheben sie diesem gegenüber
häufig einen Anspruch auf Rechtfertigung, welche die aus Respekt vor dessen Autonomie
prinzipiell notwendige Zustimmung ersetzen kann. Auch diese Folge ist ein nichtbeab-
sichtigtes Resultat der Kategorizität, denn für denjenigen, der eine Moralnorm äußert, ist
ein implizit erhobener Anspruch auf Rechtfertigung kein notwendiges Mittel zur Errei-
chung des Vermittlungszwecks der Moral. Allerdings wird dieser Vermittlungszweck der
Moral durch einen gegenüber dem Verpflichteten überÂ�zeugend erhobenen Anspruch auf
Rechtfertigung naturgemäß erheblich befördert werden.

e) Die Metaethik

In der akademischen Philosophie hat sich, beginnend in der Neuzeit mit Hobbes, Des�
cartes u.╛a. und dann im 20.€Jahrhundert vor allem seit G.╛E. Moores Principia Ethica
von 1903, die Metaethik zunehmend von der Ethik verselbständigt und€ – allerdings
nicht ohne signifikante Gegenbewegungen€– mehr und mehr in den Vordergrund ge-
schoben, etwa mit Moores Leitfrage, was „das Gute“ sei.20 Dabei ist der durch die Meta-
ethik erzielte Gewinn an Reflexionstiefe bedeutsam und begrüßenswert. Der Verlust an
normativer Relevanz derartiger metaethischer UnterÂ�suÂ�chungen für die ethische Kritik
und Rechtfertigung der primären Normordnungen ist allerdings der dafür zu entrich-
tende, hohe Preis. Für manche ist die Metaethik wohl nicht ganz zu Unrecht gar keine
Subdisziplin der praktischen Philosophie, sondern eine der theoretischen Philosophie.
Der Ausdruck „Metaethik“ ist im Übrigen unpräzise, denn er suggeriert, dass man sich
nur auf die Ethik und nicht auch auf die Relation zu deren Gegenständen bezieht.
Viele Theoretiker machen aber gar keinen deutlichen Unterschied oder richten ihre
Überlegungen ohne weitere Diskussion auf die Moral, ohne zu realisieren, dass dann
die Unterscheidung zwischen deskriptiver Ethik und Metaethik zu kollabieren droht.21
Der allgemeine Zug zur tertiären Ebene der Metaethik impliziert im Übrigen eine Art

20 Vorrang der Metaethik zum Beispiel bei: Richard B. Brandt, Ethical Theory; Michael Quante, Einfüh-
rung in die Allgemeine Ethik, Darmstadt 2003. Gegenbewegungen: John Rawls, A Theory of Justice,
Oxford 1973, und die zunehmend normativ-ethischen Bücher von Richard M. Hare, Freedom and Re-
ason, Oxford 1963, und Moral Thinking. Its Levels, Method and Point, Oxford 1981. Die Bücher von
William K. Frankena, Ethics, und Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, sind dagegen
normativ-ethisch ausgerichtet.
21 Nico Scarano, Moralische Überzeugungen, Grundlinien einer antirealistischen Theorie der Moral, Pader-
born 2001, S.€11; Gerhard Ernst, Die Objektivität der Moral, Paderborn 2008, S.€9â•›f.
14 Einleitung

disziplinären Rationalismus und Deduktivismus der Abstraktion, also eine disziplinä-


re top-down-Haltung, die ihrerseits gegenüber einem Empirismus und Induktivismus,
also einer disziplinären bottom-up-Haltung, mit einem Ausgangspunkt der ethischen
Erkenntnis in den praktischen Tatsachen keinen apriorischen Vorrang beanspruchen
kann. Nach der hier vertretenen Ansicht lässt sich ein derartiger disziplinärer Rationa-
lismus und Deduktivismus nicht von vornherein rechtfertigen. Den Vorzug verdient
vielmehr eine Kohärenz der Überzeugungen auch zwischen diesen disziplinären Ebe-
nen, also ein Erkenntnismodell, das deduktive und induktive Elemente verbindet.22 Die
vorliegende Untersuchung ist deshalb nicht nur aus praktischen Gründen der zeitlichen
und räumlichen Beschränkung, sondern auch aus sachlich-methodischen ÜberÂ�zeuÂ�gunÂ�
gen eine primär normativ-ethische. Eine von der Ethik isolierte Metaethik, die sich nur
noch indirekt und hypothetisch oder in rationalistisch-deduktiver Manier auf die Ethik
und ihre Gegenstände bezieht, kann nicht wirklich fruchtbar unabhängig von einer
entfalteten normativen Ethik betrieben werden. Um sich aber auf die normative Ethik
und ihre Gegenstände als Erkenntnisobjekt der Metaethik zu beziehen, ist es erforder-
lich, die normative Ethik erst einmal näher zu untersuchen. Sie kann nicht von vornÂ�
herein, a priori und quasi aus dem Lehnstuhl von der Meta��ethik begrenzt und bestimmt
werden. Wie eine WissenschaftsÂ�theorie, die es versäumt, als Wissenschaftsgeschichte
und Wissenschaftssoziologie auch die empirische Wissenschaft in den Blick zu nehmen
und somit nur über sie phantasiert, ist auch eine Metaethik, die sich nicht auf eine
tatsächlich entfaltete oder zumindest mit guten Argumenten als mögliche Entfaltung
vorgeschlagene normative Ethik bezieht, methodisch fragwürdig.

2. Theorien der normativen Ethik

Zur Rechtfertigung moralischer, aber auch rechtlicher und sonstiger primärer Normen
haben sich im Verlauf der Entwicklung der normativen Ethik vier große rivalisierende
Theoriefamilien herausgebildet.

a)€Vier große Theoriefamilien

Im historischen Rückgang, das heißt angefangen bei der jüngsten, lassen sich diese vier
großen Theoriefamilien der Ethik folgendermaßen charakterisieren: Die Vertragstheorie
(Kontraktualismus) sieht den hypothetischen Vertrag als Kern der normativen Ethik
und damit als Quelle moralischer und sonstiger Normen und Bewertungen an, der Uti-
litarismus bzw. Konsequentialismus und die teleologische Ethik den größten Nutzen aller
oder, genereller, die besten Konsequenzen, die deontologische Ethik mit dem Kantianis-
mus als Hauptversion die Befolgung unserer Pflichten, die Tugendethik schließlich die

22 Verf., Für eine Kohärenz normativer Überzeugungen ohne Fundierung in Konventionen, im Erscheinen.
Vgl. Kapitel€VI.
2. Theorien der normativen Ethik 15

Tugenden (wobei sie allerdings nicht immer klar zwischen normativer Ethik der Moral
und Theorie des guten Lebens unterscheidet, sich also auf beide Bereiche bezieht).23
Daneben findet sich eine unübersehbare Menge mittlerer und kleinerer Ethiktheorien,
etwa die Mitleidsethik, die Diskursethik, die Ethik der Sorge (care ethics), die Klugheits-
ethik (Prudentialismus).24 Schließlich werden gelegentlich auch Versuche der Hybridi-
sierung zweier oder mehrerer dieser Theorien unternommen.
Wie soll man sich angesichts dieser Vielzahl erheblich unterschiedlicher Vorschläge
der normativen Ethik entscheiden? Vier Reaktionsmöglichkeiten liegen auf den ersten
Blick nahe, die zum besseren Verständnis des hier eingeschlagenen Wegs einleitend kurz
erwähnt werden sollen, ohne dass sie näher untersucht werden können, da dies Aufgabe
der Metaethik, genauer einer Wissenschaftstheorie ethischer Theorien ist: ein Monis-
mus, Relativismus, Partikularismus oder Skeptizismus der Theoriewahl.25
Ein Monismus der Theoriewahl entscheidet sich für eine dieser Theorien und ver-
sucht sie gegen die Einwände anderer Theorien zu verteidigen. So verfahren etwa man-
che Utilitaristen, Kantianer und Tugendethiker. Diese Strategie erscheint im Falle der
normativen Ethik angreifbar, weil€ – so die hier quasi-axiomatisch zu Grunde gelegte
und natürlich weiter erläuterungs- und begründungsbedürftige Auffassung€– zentrale
Elemente zumindest der vier großen Theoriefamilien wesentliche Gesichtspunkte ei-
ner begründeten normativen Ethik bilden. Dies gilt sowohl für die Notwendigkeit der
wenigstens potentiellen Zustimmung der Betroffenen (Vertragstheorie), etwa in der
MedizinÂ�ethik, als auch für das Maximierungsprinzip (Utilitarismus) und die Konse-
quenzen, etwa bei manchen Entscheidungen mit umfangreichen äußeren oder gesell-
schaftlichen Auswirkungen, sowie für das Prinzip der möglichen Verallgemeinerung
einzelner Pflichten (Deontologie) in Fällen, in denen ein Handeln eine gemeinschaftli-
che Praxis zugleich voraussetzt und negiert, wie bei der Lüge oder dem falschen Verspre-
chen, und schließlich auch für die Tugenden (Tugendethik), etwa in der Individualethik
persönlicher Beziehungen.
Ein Relativismus der Theoriewahl bezieht die Ethik auf einzelne, potentiell divergieren-
de Quellen der theoretischen Rechtfertigung in unterschiedlichen praktischen Tatsachen.

23 Zur Kritik der deontologisch-teleologisch-Unterscheidung vgl. Verf., Die fünf Strukturmerkmale nor-
mativ-ethischer Theorien, in: Georg Meggle (Hg.), Analyomen 2, Proceedings of the 2nd Conference
„Perspectives in Analytical Philosophy“, Vol.€III, Berlin 1997, S.€306–315.
24 Zu drei der vier Haupttheorien: Marcia W. Baronâ•›/â•›Philip Pettitâ•›/â•›Michael Slote, Three Methods of Ethics:
A Debate, Malden 1997. Vgl. auch die vier Bände von Stephen Darwall (Hg.), Consequentialism; Con-
tractarianism╛/╛Contractua�lism; Deontology; Virtue Ethics, alle Malden, MA, 2003. Zur Mitleidsethik:
Arthur Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, 3.€Aufl. Zürich 1994. Zur Diskursethik:
Karl-Otto Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. Zum
Problem einer rationalen Begründung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft, in: ders., Transformation
der Philosophie II, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a.â•›M. 1973, S.€358–435;
Jürgen Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 3.€Aufl. Frankfurt a.â•›M. 1988; ders.,
Erläuterungen zur Diskursethik, 2.€Aufl. Frankfurt a.â•›M. 1992. Zur Care-Ethik: Virginia Held, Feminist
Morality. Transforming Culture, Society, and Politics, Chicago u.â•›a. 1993. Zum Prudentialismus: Chri-
stoph Lumer, Rationaler Altruismus. Eine prudentielle Theorie der Rationalität und des Altruismus,
Osnabrück 2000.
25 Weitere Möglichkeiten wären ein Eklektizismus und ein Pragmatismus.
16 Einleitung

Die Folge dieser relativistischen Bezugnahme wäre, dass mehrere oder sogar alle Theorien
der Ethik gerechtfertigt erschienen,26 dass also kein einziger letzter Standard der Kritik
und Rechtfertigung der Moral angenommen werden könnte. Dadurch werden Wider-
sprüche in der Bewertung der Moral seitens der Ethik möglich. Das kann im Extremfall
dazu führen, dass keine konsistente Stellungnahme der Ethik zu moralischen Streitfragen
mehr gelingt, welche wir aber allgemein und relativ unangefochten voraussetzen.
Ein Partikularismus der Theoriewahl kritisiert die Allgemeinheit bzw. Abstraktheit
aller ethischen Theorien und die Akzeptabilität ethischer Prinzipien schlechthin. Er plä-
diert für konkrete, situative Konfliktlösungen.27 Die dadurch mögliche Annahme, in
moralisch vergleichbaren Situationen könnten unterschiedliche moralische Normen be-
stehen, begrenzt aber unsere kognitiven Möglichkeiten der Abstraktion und Vereinheitli-
chung ohne Grund und bringt die Moralphilosophie auf diese Weise in einen Gegensatz
zu anderen Wissenschaften, ja zum Faktum rationaler Erkenntnis schlechthin, welches
eine derartige Begrenzung der Abstraktion und Vereinheitlichung nicht akzeptiert.
Ein Skeptizismus der Theoriewahl sieht schließlich im Pluralismus der ethischen
Theorien eine RechtÂ�Â�Â�fertigung für die Annahme, eine normative Ethik sei grundsätzlich
unmöglich. Aber eine derartige Folgerung ist natürlich nicht gültig, weil jederzeit bis-
her nicht bedachte Theorievorschläge zu einer überzeugenden normativen Ethik führen
könnten.

b) Eine Lösung

Es gibt aber wenigstens noch eine weitere, aus der hier eingenommenen Sicht vorzugs-
würdige Art und Weise, um auf die Vielzahl der normativ-ethischen Theorien der Moral
zu reagieren und zu einer begründeten normativen Ethik zu gelangen. Sie lässt sich als
„phänomenal“ sowie „analytisch-synthetisch“ charakterisieren. Man kann sich erstens
wieder mehr auf die Sachfragen konzentrieren und die in der modernen Philosophie
immer mehr die Sachfragen überwuchernde Diskussion von Theorien über Theorien
mit ihrem zunehmenden Selbstzweck- und Betriebscharakter in den Hintergrund treten
lassen. Man kann zweitens komplementär dazu die bisher vorgeschlagenen Theorien
in ihre einzelnen Bestandteile analysieren sowie zum einen mit den Bestandteilen an-
derer Theorien vergleichen und zum anderen im Hinblick auf die Sachfragen bewer-
ten.28 Dazu können, soweit erforderlich, etwa aus unseren allgemeinen moralischen und

26 Vgl. Klaus-Peter Rippe, Ethischer Relativismus, Paderborn 1993; Gilbert Harmanâ•›/â•›Judith Jarvis Thomp-
son, Moral Relativism and Moral Objectivity, Oxford 1996; Thomas M. Scanlon, What We Owe To
Each Other, Cambridge 1998, Kapitel€8, S.€328╛ff.
27 Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philosophy; Bernward Gesang, Kritik des Partikularismus,
Paderborn 2000; Jonathan Dancy, Ethics without Principles (ohne klare Unterscheidung zwischen Moral
und Ethik). Zur Kritik: Sean McKeeverâ•›/â•›Michael Ridge, Principled Ethics. Generalism as a Regulative
Ideal, Oxford 2006.
28 Zu einer ähnlichen Verbindung einzelner Theorieelemente: Günther Patzig, Der Kategorische Imperativ
in der Ethik-Diskussion der Gegenwart, in: ders., Ethik ohne Metaphysik, 2.€ Aufl. Göttingen 1983,
S.€164 und passim; ders., Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine
3. Fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik 17

ethischen Überzeugungen, weitere oder veränderte Elemente treten. Diese bekannten


Theoriebestandteile und neuen Elemente können dann zu einer weiterentwickelten
normativen Ethik synthetisiert werden. Der Analyse-, Vergleichs- und Syntheseprozess
hat als solcher keine ethische Begründungskraft und soll deshalb nicht in Einzelheiten
nachgezeichnet werden. Von einigen gelegentlichen Bezugnahmen abgesehen wird hier
deshalb nur sein Ergebnis vorgestellt und begründet.
Dieses besteht in fünf Elementen einer adäquaten normativen Ethik, die in den ers-
ten fünf Kapiteln dieses Buches erläutert werden. Daran schließt sich wie erwähnt ein
Kapitel€der metaethischen Reflexion an. Die folgenden Kapitel€dienen dazu, die in den
ersten fünf Kapiteln entfaltete normative Ethik für einzelne Fragen zu konkretisieren:
Pflichten und Rechte, Pflichten gegen sich selbst, überpflichtgemäßes Handeln, Han-
deln für Andere (Paternalismus), moralische Konflikte, Schuld, Gerechtigkeit, Verant-
wortung, Verhältnismäßigkeit, Sozialethik usw.

3. Fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik

a) Fünf Fragen

Jede normative Ethik muss wenigstens die folgenden fünf Fragen beantworten: (1)€Wel-
che Wesen sind ethisch in letzter Instanz relevant? (2)€ Welche Eigenschaften dieser
ethisch relevanten Wesen sind normativ entscheidend? (3)€Worauf in der Welt bzw. im
Akteur beziehen sich diese normativ entscheidenden Eigenschaften? (4)€Wie ist der mo-
dale Status einer Verbindung dieser Bezugnahmen der normativ entscheidenden Eigen-
schaften auf die Welt, sofern sie divergieren, das heißt, wie ist der modale Status einer
Zusammenfassung dieser Eigenschaften? (5)€Wie kann, sofern sie zumindest möglich
ist, diese Zusammenfassung der normativ entscheidenden Eigenschaften bzw. Bezug-
nahmen auf die Welt inhaltlich stattfinden?
Die Reihenfolge dieser fünf notwendigen Fragen einer normativen Ethik ist keine
beliebige. Die fünf Fragen bauen vielmehr aufeinander auf. Jede ethische Rechtferti-
gung und Kritik der Moral ähnelt also einem Pfad mit vier Weggabelungen. Man er-
reicht vom Ausgangspunkt jede der Weggabelungen nur, wenn man die dahin führende
Wegstrecke zurückgelegt hat. An jeder Weggabelung muss man sich erneut entscheiden
(formale Pfadabhängigkeit).
Jede säkulare, das heißt nichtreligiöse normative Ethik muss€– so lautet das zentrale
Ergebnis dieser Untersuchung€– als Antwort auf diese fünf Fragen wenigstens die fol-
genden fünf Elemente bzw. Prinzipien enthalten.
Erstens: Moralische Normen, Regeln, Bewertungen und Überzeugungen lassen sich
in letzter Instanz ausschließlich durch grundsätzlich gleiche Berücksichtigung aller be-

Bedeutung für die Ethik, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. I, Göttingen 1994, S.€72–98, S.€76; Tom L.
Beauchamp╛/╛James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S.€361╛f., passim; William K. Frankena,
Ethics, S.€52, 70.
18 Einleitung

troffenen Einzelnen rechtfertigen. Das ist das Prinzip des normativen Individualismus,
welches den Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen einer adäquat begründeten
Ethik bildet. Die hier vorgeschlagene Ethik kann deshalb auch „Ethik des normativen
Individualismus“ heißen. Man könnte sie aber auch als eine radikal humanistische bzw.
personale Ethik bezeichnen, sofern man damit keine antireligiösen oder antitranszen-
denten Annahmen verbindet und sich nicht von vorn�herein auf moralische und sonstige
Konflikte zwischen menschlichen bzw. personalen Wesen beschränkt.
Zweitens: Die entscheidenden normativ-ethisch rechtfertigenden Eigenschaften der
Einzelnen sind ihre Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, zusammengefasst
ihre Belange bzw. Interessen. Das ist das Prinzip der Belange als normativ-ethisch recht�
fertigende Eigenschaften.
Drittens: Die Belange der Einzelnen und damit die moralischen Bewertungen, Nor-
men und Regeln beziehen sich in grundsätzlich gleicher Weise auf alle möglichen Teile des
Handelns von Individuen im weitesten Sinne, nicht primär oder gar ausschließlich auf
einzelne ihrer Elemente wie den guten Charakter, den guten Willen oder die guten Fol-
gen bzw. Konsequenzen. Das ist das Prinzip des Handlungsuniversalismus.
Viertens: Es besteht sowohl eine Möglichkeit, Wirklichkeit als auch Notwendigkeit, die
Belange der Individuen mit Hilfe eines Abwägungsprinzips zusammenzufassen und auf
diese Weise zur Recht�fertigung und Kritik moralischer Verpflichtungen und Bewertun-
gen zu gelangen. Das ist das Prinzip der modalen Vollständigkeit.
Fünftens: Die Einzelnen müssen sich im Rahmen der Abwägung in je größerem
Maße eine Relativierung ihrer Belange gefallen lassen, je weitergehend diese Belan-
ge von den Anderen bzw. einer Gemeinschaft abhängen. Als erstes und abstraktestes
maßgebliches Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzip wird damit ein Prinzip der
relativen Einzel- und Ander- bzw. Gemeinschaftsbezogenheit der Individualbelange vorge-
schlagen, das als Metaprinzip die Anwendung konkreterer Prinzipien und Abwägungen
wie diejenige des Gleichheitsprinzips, des Maximierungsprinzips, des Differenzprinzips
oder des Paretoprinzips steuert.

b) Die Reihenfolge der Antworten

Anknüpfend an die Reihenfolge der fünf Fragen jeder normativen Ethik, also ihre for-
male Pfadabhängigkeit, ist auch die Abfolge dieser fünf notwendigen Elemente einer
adäquaten normativen Ethik keine beliebige. Die Elemente zwei bis fünf lassen sich zwar
nicht logisch aus dem ersten Element des normativen Individualismus oder den jeweils
nächsten Elementen folgern. Aber eine rechtfertigende Abhängigkeit und damit eine
sachlich begründete Abfolge gibt es gleichwohl. Jedes der folgenden Elemente lässt sich
nur adäquat erörtern und normativ bestimmen, wenn und weil das vorherige Element
akzeptiert wurde. Man kann dies in Ausfüllung des Rahmens der bloß formalen Pfadab-
hängigkeit jeder normativen Ethik ihre normativ-inhaltliche Pfadabhängigkeit nennen.
Auf diese Weise erhält man auch eine Begründung für die externe Vollständigkeit
dieser fünf Elemente einer begründeten normativen Ethik. Da die fünf Elemente rechtÂ�
3. Fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik 19

fertigend voneinander abhängen, kann kein weiteres vollkommen unabhängiges externes


Element fehlen. Denkbar wäre nur, die interne Differenzierung einerseits zu verfeinern
oder zu vergröbern, um die Elemente weiter aufzuteilen oder zusammenzufassen oder
dem fünften Element andererseits noch ein sechstes oder weiteres abhängiges Element
folgen zu lassen.
Weil die fünf Elemente zum einen nur zusammen eine adäquate normative Ethik
bilden und zum anderen rechtfertigend voneinander abhängen, ist es auch nicht sinn-
voll, eines dieser Elemente isoliert zu betrachten. Das wäre, als wollte man die einzelnen
Zahnräder einer Maschine isoliert voneinander beschreiben. Natürlich weisen diese auch
isoliert beschreibbare Eigenschaften auf, etwa ihre Größe, ihr Gewicht, ihre chemische
Zusammensetzung. Aber entscheidend für ihre Bestimmung als inÂ�einandergreifende
Zahnräder ist doch ihre Funktion für die Maschine als Ganzes. Bei gedanklichen Kom-
plexen wie einer Ethik lassen sich für die einzelnen Teile nun nicht einmal derart körper-
liche Eigenschaften isolieren. Die Teile sind vielmehr nur im funktional-intentionalen
Zusammenhang einer ethischen Begründung bzw. Rechtfertigung sinnvoll charakteri-
sierbar. Deshalb können die Elemente einer normativen Ethik nur zusammen sinnvoll
dargestellt und diskutiert werden. Der Zusammenhang muss im Zweifel auch in der
Darstellung primär gegenüber der Detailliertheit der Analyse der einzelnen Elemente
sein. Aus diesem Grund werden in diesem Buch alle fünf notwendigen Elemente der
normativ-ethischen Rechtfertigung erläutert, unter Inkaufnahme, dass die einzelnen Ele-
mente nicht so ausführlich diskutiert werden können, wie dies zumindest quantitativ,
aber eben nicht qualitativ-funktional möglich wäre, würde man nur eines der Elemente
analysieren. Der vorliegende Versuch ist also methodisch von einem tiefen Zweifel ge-
genüber verschiedentlich anzuÂ�treffenden Unternehmen getragen, die einzelnen Elemente
der normativen Ethik isoliert und dann vielleicht statt in eine umfassende normative
Ethik eingebettet sogar mit ihrer bloßen Bedeutung für ein gutes Leben, das heißt ihrer
Klugheitsfunktion zu erörtern, etwa das Wohlergehen, die Wünsche oder die Bedürf-
nisse.29 Diese Begriffe können als ethische Begriffe nur in ihrem jeweiligen funktional-
intentionalen Zusammenhang einer deskriptiven oder einer normativ-verpflichtenden
Theorie, also einer Psychologie der Moral oder einer normativen Ethik adäquat bestimmt
werden, weil es sich nicht um konkrete deskriptive Begriffe handelt, die sich auf einfache
empirische Tatsachen beziehen (und selbst da wäre die Isolierung problematisch), son-
dern um theoretische und damit im Hinblick auf die normative Ethik stark normativ
geprägte und abstrakte Instrumente der Erkenntnis. Eine normative Ethik kann Normen
der Moral nur als Ganzes kritisieren oder rechtfertigen. Deshalb müssen ihre Elemente
im Hinblick auf diese Aufgabe auch in ihrer Funktion für das Ganze der Begründung
untersucht werden.
Man könnte nun fragen: Richtet sich diese Skepsis gegenüber isolierten Untersu-
chungen einzelner Elemente der Ethik nicht auch gegen das hier durchgeführte Unter-

29 Vgl. etwa James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance, Oxford 1986;
Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness, and Ethics, Oxford 1996; David Braybrooke, Meeting Needs,
Princeton 1987; Garrett Thomson, Needs, London 1987.
20 Einleitung

nehmen einer normativen Ethik im engeren Sinn, also einer Ethik, die sich zunächst
modellhaft auf die Kritik und Rechtfertigung von Moral und dann von Recht und
Politik beschränkt? Sollte die normative Ethik nicht vielmehr im Zusammenhang einer
umfassenden Ethik, die auch Fragen des guten Lebens behandelt, oder vielleicht einer
umfassenden, alle Fragen berücksichtigenden praktischen oder sogar allgemeinen Philo-
sophie untersucht werden? Eine Antwort darauf hat wenigstens zwei Teile. Der erste Teil
lautet: Es wäre besser, aber es stößt an pragmatische Grenzen der Produktionsfähigkeit
des Autors und der Rezeptionsfähigkeit des Lesers. Der zweite Teil lautet: Anders als bei
ihren einzelnen Elementen erscheint eine isolierte Darstellung der normativen Ethik
mit Bezug auf einzelne Gegenstände vertretbar, weil wir hier mit der Moral zum Ersten
einen klar abgrenzbaren tatsächlichen Gegenstand der Bezugnahme dieser normativen
Ethik vor uns haben und die normative Ethik der Moral zum Zweiten innerhalb der
Ethik eindeutig die Interpretationshoheit der Grenzziehung beansprucht. Fragen, wel-
che die Relation zwischen Problemen der Moral und solchen des guten Lebens be-
treffen, etwa ihren Vorrang oder ihre partielle oder vielleicht sogar vollständige Über-
schneidung, können dann zwar noch nicht erörtert werden. Aber es ist nicht ersichtÂ�Â�lich,
warum die normative Ethik der Moral nicht zunächst selbständig entwickelt werden
könnte, bevor diese Fragen diskutiert werden. Es scheint sich also eher um Fragen zu
handeln, die zunächst die Entfaltung einer Theorie der Moral und einer Theorie des
guten Lebens voraussetzen, um adäquat behandelt werden zu können, als dass sie um-
gekehrt Voraussetzung der Entfaltung dieser Theorien wären. Fragen der Moral und des
guten Lebens sind erst in Gemeinschaften, insbesondere politischen Gemeinschaften,
untrennbar miteinander verbunden. Darauf wird in den letzten Kapiteln näher einge-
gangen werden. Eine umfassende praktische oder sogar allgemeine Philosophie kann
nur Ergebnis einer Arbeitsteilung oder eines Lebenswerks sein.

c) Die Grenze der Betroffenheit

Wie sich gezeigt hat, unterscheiden sich Normen der Moral, des Rechts, der Religi-
on, der Erziehung und der Politik einerseits und Fragen der Technik, der Medizin, der
Konventionen und des guten Lebens andererseits im Hinblick auf die notwendige Be-
troffenheit Anderer und die Kategorizität der Normierung. Diese Grenzziehung im-
pliziert€– wie sich im Kapitel€VIII erweisen wird€– eine Ablehnung moralischer Pflich-
ten gegen sich selbst. Natürlich kann diese Grenzziehung zwischen kategorischen und
nichtkategorischen Normordnungen ihrerseits Gegenstand von Zweifeln und Fragen
sein: Kann nicht jedes Handeln im weitesten Sinne Andere betreffen? So mag etwa das
Wissen, dass jemand über seine eigene berufliche Zukunft nicht gründlich und vernünf-
tig nachdenkt, bei Anderen Unbehagen erzeugen. Und dass jemand schlechte statt gute
Musik hört oder schädliches statt gesundes Essen zu sich nimmt, mag bei Anderen Miss-
billigung hervorrufen. Auf diesen Einwand gegen eine Grenzziehung zwischen kategori-
schen und nichtkategorischen Normen sind zwei Antworten möglich, eine Antwort, die
auf Fakten verweist, und eine normative.
3. Fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik 21

Die auf Fakten verweisende Antwort wird geltend machen, dass die Menschen zu-
mindest in unserer Zeit und in unserer Gesellschaft Bereiche des Lebens in Anspruch
nehmen, die Andere nicht betreffen und die sie deshalb nichts angehen, etwa unsere
Geschmacksurteile, unser individuelles Denken und Fühlen, unsere Einrichtung der ei-
genen Wohnung oder unsere Gestaltung des je eigenen Tagesablaufs. Es mag spezielle
Situationen geben, in denen selbst in diesen Fällen Andere moralisch betroffen sind,
etwa wenn das Denken in einem Mordplan besteht, die Wohnung als Versteck der Mord-
waffe dient oder die Gestaltung des eigenen Tagesablaufs das Verbrechen des Mordes
einschließt. Aber das sind extreme Fälle, in denen Handlungen, die Andere normaler-
weise nicht betreffen, für diese direkt und stark negativ werden. In den meisten Fällen
sehen wir derartige Handlungen aber als moralisch neutral an. Wer etwa Pop statt Klassik
hört, dem kann kein moralischer Vorwurf gemacht werden. Konstatiert man die Fakti-
zität einer derartigen Grenzziehung zwischen Fragen des guten Lebens und der Moral,
kommt man allerdings nicht umhin, ihre partielle historische und kulturelle Relativität
anzuerkennen. Das kulturübergreifende Faktum der Grenze als solcher wird durch die
kulturrelative Variabilität der konkreten Grenzziehung aber nicht dementiert.
Die normative Antwort auf die Infragestellung der Grenzziehung wird auf die Nor-
mativität von Moral und Ethik im engeren Sinn verweisen. Weil Moral und Ethik im
engeren Sinn, wie sich sogleich im ersten Kapitel€zeigen wird, das Individuum als we-
sentliche Quelle moralischer und ethischer Normativität akzeptieren, muss den Indivi-
duen ein Bereich der eigenen Lebensführung zugestanden werden, der nicht oder nicht
wesentlich unter dem Vorbehalt der Berücksichtigung Anderer und damit einer Moral
steht.

d) Die Janusköpfigkeit der fünf Elemente

Der funktionale Zusammenhang der nachfolgend entfalteten fünf Elemente einer ad-
äquaten normativen Ethik und daraus resultierend ihre Fähigkeit, gemeinsam eine sol-
che Ethik zu bilden, zeigt sich in folgender spezifischer Charakteristik: Jedes einzelne
der fünf Elemente ist in seinen Eigenschaften janusköpfig, das heißt doppelt relational
sowohl zum vorherigen als zum nachfolgenden Element gewendet. Man kann das mit
fünf Menschen vergleichen, die sich an den Händen fassen und auf diese Weise eine
Kette formen. Eine Ausnahme bilden dabei naturgemäß nur das erste und das letzte
Element der Kette, da hier die „Hände“ bzw. Relationen über die ethische Theorie hin-
ausreichen. Das erste der fünf Elemente, das Element des normativen Individualismus,
verknüpft die normative Ethik mit der sehr grundlegenden ontologischen Entscheidung
zwischen Einzelnen oder Gemeinschaften. Das letzte der fünf Elemente, das Prinzip der
relativen Einzel- und Ander- bzw. Gemeinschaftsbezogenheit der Einzelbelange, voll-
endet die Objektivität und damit intersubjektive Notwendigkeit, die eine normative
Ethik zur Erfüllung ihrer Aufgabe der Kritik und Rechtfertigung der Moral benötigt,
und mündet damit in den Zweck dieser normativen Ethik, den Zweck der Kritik und
Rechtfertigung der Moral. Das erste Element verbindet die Ethik mit der real bestehen-
22 Einleitung

den Welt der Dinge und Tatsachen. Das letzte Element richtet die Ethik normativ auf
die Moral als ihren spezifischen Gegenstand der Rechtfertigung und Kritik aus.
Zusammengenommen überbrücken die fünf Elemente den Unterschied zwischen
dem Faktischen und dem Normativen. Sie geben also eine Antwort auf das Problem
der Sein-Sollen-Dichotomie bzw. des naturalistischen Fehlschlusses. Der Übergang
von jedem der Elemente zum nächsten enthält einen Hiatus zwischen Faktischem und
Normativem und ist deshalb kein logischer oder semantischer. Insofern sind die Sein-
Sollen-Dichotomie und die Kritik am naturalistischen Fehlschluss vollkommen berech-
tigt. Aber in ihrer funktionalen Verbindung zur Rechtfertigung des moralischen Ziels
der Vermittlung möglicher gegenläufiger Belange stellen die fünf Elemente zusammen-
genommen einen solchen Übergang vom Faktischen zum Normativen her. Sie zeigen
damit, dass die RechtÂ�fertigungskraft der normativen Ethik sich auch auf natürliche Fak-
ten wie Individuen und Eigenschaften stützen kann, ohne naturalistisch zu sein und
deshalb der berechtigten Kritik am naturalistischen Fehlschluss anheim zu fallen.
I. Die letztlich zu berücksichtigenden
Wesen: Individuen

Welches sind die letztlich ethisch relevanten und damit moralisch bzw. rechtlich vor-
rangig zu berücksichtigenden Wesen? Als Alternative kommen grundsätzlich Einzelne
oder Gemeinschaften bzw. Kollektive in Betracht. Die These des normativen Individu-
alismus bzw. Humanismus lautet, dass im Rahmen einer säkularen, also nichtreligiösen
Ethik in letzter Instanz ausschließlich die Einzelnen und zwar alle betroffenen Einzelnen
zu berücksichtigen sind, nicht aber irgendwelche Gemeinschaften bzw. Kollektive. An
diese These schließen sich zwei Fragen an: Wie ist dieses erste Element des normativen
Individualismus genauer zu verstehen? Wie lässt es sich begründen?

1. Präzisierung des normativen Individualismus

Das Prinzip des normativen Individualismus enthält drei Teilprinzipien, das Individual-
prinzip, das Allprinzip und das Prinzip der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung:

a) Die drei Teilprinzipien

(1) Individualprinzip: Ausschließlich Individuen können letzter Ausgangspunkt einer le-


gitimen primären Verpflichtung bzw. Wertung und damit als betroffene Akteure bzw.
Andere erstes Element einer adäquaten normativen Ethik sein, nicht aber Gemeinschaf-
ten oder Kollektive, etwa die Nation, das Volk, die Gesellschaft, die Rasse, die Fami-
lie, die Sippe, die Kommunikationsgemeinschaft, das Ökosystem oder die Biosphäre.1
Der verpflichtende und deshalb letztlich ethisch zu berücksichtigende Andere muss also
ebenso wie der Akteur in letzter Instanz immer ein Einzelner sein. Oder anders formu-
liert: Das normativ-ethische Grundverhältnis Akteur-Anderer kann in letzter Instanz
nur zwischen Einzelnen bestehen. Man kann dieses Prinzip das „Individualprinzip“ des
normativen Individualismus nennen (zu seiner Begründung vgl. sogleich Kapitel€I, 5).
(2) Allprinzip: Alle von einer Handlung bzw. Entscheidung betroffenen Einzelnen
sind bei deren ethischer Rechtfertigung zu berücksichtigen, nicht nur einer oder einige

1 Zum Gegenmodell einer kollektiven bzw. holistischen Ethik: Ludwig Siep, Konkrete Ethik. Grundlagen
der Natur- und Kulturethik, Frankfurt a.╛M. 2004, S.€14, 16, 24, 26╛ff.; Martin Gorke, Artensterben. Von
der ökologischen Theorie zum Eigenwert der Natur, Stuttgart 1999.
24 I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

wenige. Das heißt im Rahmen der letztinstanzlichen Rechtfertigung einer Handlung


oder Entscheidung müssen alle von dieser Handlung oder Entscheidung betroffenen
Individuen Beachtung finden. Man kann dieses Prinzip das „Allprinzip“ des norma-
tiven Individualismus nennen. Verschiedentlich wird auch vom „Universalismus“ ge-
sprochen.2
Das Allprinzip des normativen Individualismus impliziert nicht€– das sei besonders
betont€ – dass die solchermaßen zu beachtenden Belange aller zu berücksichtigenden
Individuen sich dann auch vollständig oder auch nur teilweise durchsetzen. Das ist€–
obzwar individuell häufig wünschenswert€– natürlich nicht immer möglich, sonst wäre
die Moral als Lösung potentieller Widerstreite zwischen Belangen und damit auch die
Ethik im engsten Sinn überflüssig.
(3) Prinzip der Gleichberücksichtigung: Alle von einer Handlung bzw. Entscheidung
betroffenen Einzelnen müssen grundsätzlich gleich berücksichtigt werden. Man kann die-
ses Prinzip das „Prinzip der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung“ nennen. Es be-
deutet: Niemand, der prinzipiell Beachtung verdient, darf von Moral und Ethik bzw.
dem fraglichen Handelnden von vornherein ohne weiteren Grund weniger berücksich-
tigt werden.3
Allerdings kann es natürlich jenseits dieser grundsätzlichen Pflicht zur Gleichbe-
rücksichtigung im Falle konkreter Bedingungen bzw. Situationen möglicherweise
Gründe für eine Erlaubnis oder gar Pflicht zur spezifischen Ungleichbeachtung, Un-
gleichbehandlung oder Ungleichstellung geben. Eltern etwa dürfen, ja sollen ceteris pa-
ribus nach einer noch zu diskutierenden normativ-ethischen Auffassung ihre Kinder in
vielfältiger Weise faktisch viel stärker beachten und besser behandeln als fremde Kinder,
weil sie ihnen aufgrund der Zeugung und des vorherigen Zusammenlebens in besonde-
rem Maße moralisch, rechtlich und ethisch verantwortlich sind. Das gleiche gilt nach
dem Sozialstaatsprinzip in Bezug auf sozial Bedürftige für die politischen Institutionen.
Aus dem Prinzip der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung folgt also nicht ohne wei-
teres eine Pflicht zur konkreten Gleichbeachtung, Gleichbehandlung oder gar Gleich-
stellung. Man muss hier vielmehr mit zusätzlichen Gründen zum einen oder anderen
Ergebnis kommen.

b) Erklärung einzelner Begriffe

Wichtig für das Verständnis des normativen Individualismus und seiner Teilprinzipien
ist zunächst eine Erklärung des Begriffs des Individuums. Der Begriff des Individuums
kann in diesen Prinzipien nicht bloß ontologisch oder physikalisch verstanden werden,

2 Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights, Oxford╛/╛Cambridge 2002, S.€92╛ff., 101╛ff., 169.
3 Vgl. für neuere Formulierungen des Prinzips: Walter Pfannkuche, Die Moral der Optimierung des
Wohls. Begründung und Anwendung eines modernen Moralprinzips, Freiburg 2000, S.€190 (Prinzip der
starken Unparteilichkeit); Ronald Dworkin, Sovereign Virtue, Cambridge 2002, S.€5, und stärker auf das
Handeln abstellend: Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus,
Frankfurt a.╛M. 2003, S.€128, 153.
1. Präzisierung des normativen Individualismus 25

denn letzte Individuen in einem ontologischen Sinn sind nicht mehr weiter rückführ-
bare Seiende. Und letzte Individuen in einem physikalischen Sinn sind nach derzeiti-
gem Wissen Partikel bzw. Quarks. Aus der ontologisch und physikalisch abgrenzbaren
Menge der möglichen Dinge müssen im Rahmen der Ethik und damit auch dieser
Prinzipien vielmehr diejenigen ausgewählt werden, für welche die Unterscheidung zwi-
schen Individuen und Kollektiven überhaupt einen normativ-sozialen Sinn bzw. eine
Funktion der Konfliktlösung haben kann. Dies können im Normalfall nur Individuen
nach dem Verständnis einer gewissen mittleren Sinnebene unseres Handelns und unse-
rer möglichen Handlungsbeeinflussung sein.
Individuen in einem normativ-ethischen Sinn sind danach prinzipiell einzelne Men-
schen, Tiere, Pflanzen, Mikroben bzw. vergleichbare Objekte auf einer sozial relevanten
Ebene wie Steine usw.€– wo die Grenze verläuft wird noch zu erörtern sein€– im GegenÂ�
satz zu Kollektiven als Verbindung dieser Individuen, also Gruppen von Menschen,
Tieren, Pflanzen, Mikroben, Naturobjekten, etwa Familien, Nationen, Staaten, Rassen,
Biotope, Ökosysteme, Landschaften und die Biosphäre. Die Grenzen der normativ-
ethisch relevanten Ebene gegenüber sehr kleinen und sehr großen seienden Dingen wer-
den von der grundsätzlichen Erkennbarkeit, BerücksichtigungsÂ�fähigkeit und möglichen
Handlungsbeeinflussung der je betroffenen Anderen bestimmt.
Auch der für alle drei Teilprinzipien des normativen Individualismus wichtige Be-
griff der Betroffenheit bedarf näherer Erläuterung. Es handelt sich um eine Relation zwi-
schen der fraglichen Handlung und den moralisch relevanten Individuen. Diese Rela-
tion besteht darin, dass die Handlung den moralisch relevanten Individuen mit ihren
moralisch entscheidenden Eigenschaften im konkreten Einzelfall entweder entsprechen
oder widersprechen kann, und zwar in praktischer, nicht nur in logischer Form. Das
heißt, es bestehen zwei Voraussetzungen: Zum einen müssen die fraglichen Betroffenen
grundsätzlich moralisch relevante Individuen sein. Zum anderen muss im konkreten
Einzelfall ein Widerspruch oder eine Entsprechung zu einer moralisch entscheidenden
Eigenschaft zumindest möglich erscheinen. Dabei ist mit dem Erfordernis einer mora-
lisch relevanten Eigenschaft schon auf das im nächsten Abschnitt zu erörternde zweite
Element einer konkreten normativ relevanten Eigenschaft der Individuen verwiesen.
Hier zeigt sich also die oben erwähnte janusköpfige bzw. kettenartige Verbindung der
ersten beiden Elemente der normativ-ethischen Rechtfertigung.
Sowohl das Individualprinzip als auch das Allprinzip und das Prinzip der grundsätz-
lichen Gleichberücksichtigung des normativen Individualismus sind inhaltliche Prinzi-
pien der normativen Ethik, nicht lediglich prozedurale Prinzipien. Das heißt: Sie setzen
unseren Einstellungen und unserem Handeln primär inhaltliche Standards. Nur sekun-
där implizieren sie auch prozedurale Verpflichtungen jedes moralisch Handelnden, etwa
die Verpflichtung, den Belangen aller betroffenen Individuen grundsätzlich gleicher-
maßen Gehör zu schenken (audiatur et altera pars), sie zu erwägen, eine Entscheidung
gegenüber den Beteiligten nicht geheim zu halten, diese zu begründen usw.
Als Gegenpart des normativen Individualismus kann man den normativen Kollek-
tivismus formulieren. Seine zentrale These lautet: Moralische Normen, Regeln und
Bewertungen können ihre letzte Rechtfertigung in einem politische Legitimität ver-
26 I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

leihenden Kollektiv, das heißt dem Staat, der Nation, dem Volk, der Rasse, der Sippe,
der Familie, der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Sprach- oder Kulturgemeinschaft, der
Nachbarschaft, der Diskursgemeinschaft, dem Ökosystem, der Biosphäre usw. finden.
Die konträre These des normativen Kollektivismus beinhaltet also, dass wenigstens
die Rechtfertigung einzelner moralischer Verpflichtungen in letzter Instanz nicht auf
die betroffenen Individuen zurückzuführen ist, sondern auf Gemeinschaften, wie die
Nation, das Volk, die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Nachbarschaft, das Biotop, das
Ökosystem usw. Stärkere Versionen des normativen Kollektivismus vertreten sogar, dass
alle oder wenigstens die wesentlichen moralischen Verpflichtungen letztlich mit Bezug auf
Kollektive zu rechtfertigen sind.

c) Andere Möglichkeiten ontologischer Anknüpfung

Die beiden Alternativen des normativen Individualismus und des normativen Kol-
lektivismus schließen andere Möglichkeiten einer theorieexternen ontologischen AnÂ�
knüpfung der normativ-ethischen Rechtfertigung an unser allgemeines Bild der Welt
logisch-begrifflich nicht aus. Denkbar sind etwa religiöse, wertobjektivistische bzw. na-
turrechtliche sowie naturalistische Recht��fertigungen. Derartige Recht�fertigungen haben
jedoch in der Neuzeit für eine säkulare Ethik wegen ihres starken religiösen, metaphy-
sischen oder naturalistisch-reduktiven Anspruchs, welcher nicht mehr allgemein aner-
kannt wird, immer mehr an genereller Überzeugungskraft eingebüßt.
Religiöse Rechtfertigungen setzen religiöse Überzeugungen voraus. Da die Mitglie-
der anderer Religionsgemeinschaften diese religiösen Überzeugungen nicht teilen, kön-
nen sie auch die religiösen Rechtfertigungen zurückweisen. Religiöse Rechtfertigungen
scheiden deshalb per definitionem als letzter ontologischer Ausgangspunkt für eine
säkular-immanente, philosophische Ethik mit allgemeinem RechtfertigungsanÂ�spruch
aus (anders aber natürlich für eine transzendente, religiöse Ethik und damit für jeden
einzelnen Gläubigen als Mitglied einer Religionsgemeinschaft). Wertobjektivistische
Rechtfertigungen enthalten zwar keine religiösen, aber immerhin starke metaphysische
Annahmen über das Bestehen empirisch nicht sinnlich wahrnehmbarer objektiver Wer-
te, die von sehr vielen in Zweifel gezogen werden.4 Naturalistische Rechtfertigungen
implizieren eine Reduktion normativ-ethischer Begründungen auf die Beschreibung
natürlicher Tatsachen, die ebenfalls vielfach abgelehnt wird.5

4 Neuere realistisch-wertobjektivistische Konzeptionen: Franz von Kutschera, Grundlagen der Ethik,


2.€Aufl. Berlin 1999, S.€213â•›ff.; Christoph Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, Frank-
furt a.â•›M. 2007. Die am meisten beachtete Kritik formuliert hat John Mackie, Ethics. Inventing Right
and Wrong, S.€15╛ff.
5 Neuere naturalistisch-objektivistische Positionen: David O. Brink, Moral Realism and the Foundations of
Ethics, Cambridge 1989; Peter Schaber, Moralischer Realismus, Freiburg 1997, S.€18╛ff., 89╛ff.
1. Präzisierung des normativen Individualismus 27

Die Diskussion dieser weitergehenden ontologischen Anknüpfungen ist Aufgabe


der Metaethik und nicht der hier entfalteten normativen Ethik. Ihre Erörterung kann
aber auch deshalb dahinstehen, weil derartige religiöse, wertobjektivistische oder na-
turalistische Quellen der Verpflichtung und Bewertung€– sofern sie tatsächlich anzu-
nehmen wären€– immer durch Subjekte, das heißt durch einzelne Individuen oder zu
Kollektiven verbundene Individuen erkannt und in ihre Einstellungen aufgenommen
werden müssten, um handlungs- und betroffenheitsrelevant zu werden,6 so dass sich die
Alternative normativer Individualismus versus normativer Kollektivismus auch dann
stellen würde, wenn auf einer noch fundamentaleren ontoÂ�loÂ�giÂ�schen Ebene derartige
religiöse, wertobjektivistische oder naturalistische Quellen der Verpflichtung und Be-
wertung aufgewiesen werden könnten. Dabei ist es zwar prinzipiell nicht ausgeschlos-
sen, prima facie aber nicht erkennbar, dass derartige weitere ontologische Quellen die
Entscheidung zwischen normativem Individualismus und normativem Kollektivismus
in die eine oder die andere Richtung beeinflussen.
Es soll an dieser Stelle nicht verhehlt werden, dass der Autor dieser Untersuchung
jenseits religiös-transzendenter Überzeugungen auf einer säkular-immanenten Ebene
weitere wertobjektivistische oder naturalistische Fundierungen der Moralbegründung
weder für möglich noch für nötig hält. Warum letzteres so ist, wird in Kapitel€VI näher
erläutert.

d) Graduelle Abstufungen

So wie die Thesen des normativen Individualismus und des normativen Kollekt�ivis�
mus formuliert wurden, erlauben sie keine graduellen Abstufungen oder Kompromisse
zwischen beiden Alternativen. Das würde zutreffen, wenn ethische Rechtfertigungen
lediglich aus einem einzigen natursprachlichen Satz bestünden. Komplexere ethische
Theorien bestehen aber natürlich nicht nur aus einem einzigen Satz. Folglich können
bei ihnen manche Teile normativ-individua�listisch, andere normativ-kollektivistisch
sein. Das führt allerdings selbstredend zu internen Konsistenzproblemen. Die Theorie
des Thomas Hobbes lässt sich etwa in ihrem Ausgangspunkt bei der Etablierung des
Staates bzw. des „Leviathans“ als normativ-individualistisch ansehen. Ist der Staat aller-
dings einmal etabliert, so sind kaum Vorkehrungen für eine weitere Berücksichtigung
der Individuen getroffen, so dass man die Theorie in ihrer Gesamtheit nicht als rein
normativ-individualistisch qualifizieren kann. Hobbes hat also den Terminus „letzter
Ausgangspunkt“ in der obigen Definition des Individualprinzips des normativen Indivi-
dualismus nur in einer sehr eingeschränkten und zweifelhaften Weise konkretisiert.7

6 Das gestehen auch Vertreter eines Wertobjektivismus zu: Christoph Halbig, Praktische Gründe und die
Realität der Moral, S.€277, 298â•›f.
7 Vgl. Verf., Rechtsethik, München 2001, S.€296â•›ff.
28 I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

2. Normativ-individualistische Theorien

Viele neuzeitliche normativ-ethische Konzeptionen stimmen bei genereller Betrachtung


zumindest im Ausgangspunkt oder in manchen Zügen mit dem normativen Individu-
alismus überein, etwa der Kantianismus, der Utilitarismus, aber auch die Vertragsethik
(Kontraktualismus). Nur bei der Tugendethik liegen die Verhältnisse komplizierter und
ebenso bei einer Klugheitsethik des aufgeklärten Eigeninteresses (Prudentialismus), der
Mitleidsethik oder einer Ethik der Sorge (care ethics):
Nach Kants zweiter Formel des Kategorischen Imperativs dürfen sowohl der Akteur
als auch jeder Andere als Personen (genauer: die Menschheit in ihnen) niemals bloß als
Mittel, sondern sie müssen jederzeit zugleich als Zweck „gebraucht“ werden.8 Eine Welt
vernünftiger Wesen ist nach der dritten Formel des Kategorischen Imperativs als Reich
der Zwecke nur durch die „eigene Gesetzgebung aller Personen als Glieder“ gekenn-
zeichnet.9 Die Allgemeinheit des Gesetzes setzt also die Berücksichtigung aller autono-
men Individuen voraus. Freilich stellt sich die in Kapitel€V. 3 noch näher zu erörternde
Frage, ob das Abwägungsprinzip des Kategorischen Imperativs die Individuen wirklich
ernst nimmt. Im Übrigen beschränkt Kant den Kreis der zu berücksichtigenden Indi-
viduen auf vernünftige Wesen, schließt also die Berücksichtigung von Lebewesen ohne
Vernunft wie Tiere um ihrer selbst willen aus.
In der politischen Philosophie hat Kant das Recht der politischen Partizipation und
das Wahlrecht auf männliche und erwachsene Selbständige beschränkt.10 Aber zwischen
der Möglichkeit politischer Partizipation und der moralischen bzw. ethischen Berück-
sichtigungswürdigkeit und Verantwortlichkeit muss klar unterschieden werden. Kant war
ohne Zweifel der Ansicht, dass Frauen und Kinder als einzelne Vernunftwesen selbständig
moralisch zu berücksichtigen sind, wenn er Ersteren auch€– aus zeitbedingten, heute nicht
mehr überzeugenden Gründen€– das politische Wahlrecht nicht zuerkennen wollte.
Der klassische Utilitarismus nimmt seinen Ausgang bei Lust und Leid der betroffenen
Individuen.11 Auf dieser Basis wird die Nutzensumme ermittelt. An diesem normativ-
indiviÂ�duaÂ�listiÂ�schen Ausgangspunkt ändert sich auch nichts, wenn, wie im modernen
Präferenzutilitarismus,12 statt Lust und Leid die Präferenzen entscheidend werden. Aller-
dings verhindert, wie noch näher zu erläutern sein wird (V. 4), das utilitaristische Prinzip
der Maximierung des kollektiven Nutzens die umfassende und adäquate Berücksichti-
gung der Individuen mit ihren ethisch relevanten Eigenschaften.
Die Vertragstheorie geht in ihren verschiedenen Varianten bei Hobbes, Locke, Rous-
seau, Gauthier, Rawls und Scanlon trotz großer Unterschiede in Einzelheiten immer

8 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€429.


9 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€438.
10 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Kants ge-
sammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VI, Berlin
1907╛/╛14, Nachdr. Berlin 1968, S.€314╛f.
11 Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789), Nachdr. Buffalo
1988, S.€1╛f.
12 Vgl. zum Beispiel Peter Singer, Practical Ethics, 2.€Aufl. New York 1993.
2. Normativ-individualistische Theorien 29

von Individuen aus,13 die in letzter Instanz als vertragsschließend angesehen werden. Die
Unterschiede betreffen die Frage, wie die Individuen zu verstehen sind, welche ihrer Ei-
genschaften entscheidend sein sollen und wie der Vertragsschluss zu interpretieren ist.
Die Tugendethik akzeptiert dagegen bereits die in der Einleitung zu Grunde gelegte
Trennung zwischen Moral und Fragen des guten Lebens nicht. Ihr Fokus ist nicht auf
den von einer Handlung betroffenen Anderen gerichtet, sondern regelmäßig akteurs-
zentriert.14 Entscheidend soll der Charakter des Akteurs sein, nicht der Andere als indi-
viduell Betroffener. Damit wäre das Allprinzip verletzt. Dieser negative Befund bedarf
aber einer Einschränkung: Es wäre voreilig, dieser Grundorientierung der Tugendethik
kritiklos zu folgen. Denn sie beruht auf einer fragwürdigen Entscheidung. Hat man den
betroffenen Anderen zu berücksichtigen, so ist es nicht ausgeschlossen, sondern sogar
sehr wahrscheinlich, dass dessen Wünsche und Ziele sich nicht nur auf die Handlungen
und Konsequenzen, sondern auch auf die Charaktereigenschaften derjenigen Akteure
richten, deren Handeln ihn betrifft (vgl. Kapitel€III). Warum ist das so? Jeder von uns
kann häufig sicherer sein, dass seine Wünsche und Ziele nicht missachtet werden, wenn
Akteure, deren Handlungen ihn betreffen, einen guten Charakter aufweisen. Insofern
wird jeder von uns wünschen, dass Akteure einen derartigen guten Charakter haben
oder zumindest in der Zukunft ausprägen. Ob und wann dieser Wunsch berechtigt
ist, ist eine weitere Frage, die noch zu erörtern sein wird. Entscheidend ist, dass eine
Berücksichtigung des Charakters des Akteurs nicht akteurszentriert sein muss, sondern
mit einer normativ-individualistischen Berücksichtigung des Anderen vereinbar ist.
Bei der Tugendethik muss zwischen klassischen Versionen, etwa denjenigen von Pla-
ton und Aristoteles, und modernen Versionen unterschieden werden. Platons Ethik ei-
ner Gerechtigkeit in der Polis wendet sich mit ihrem Grundprinzip, dass jeder das Seine
zur Polis beitragen soll,15 zwar auch an individuelle Akteure, ist aber insgesamt eher auf
das Wohl der Gemeinschaft gerichtet, also bis zu einem gewissen Grade kollektiv orien-
tiert. Aber bereits bei Platon ist diese Gemeinschaftsorientierung in verschiedener Hin-
sicht relativiert: Es sind die Bedürfnisse der Individuen, die zur Begründung der Polis
führen.16 Neben der Gerechtigkeit in der Polis steht auch die des Einzelnen in Frage.17
Die Sorge um die Seele und die Tugendhaftigkeit des Einzelnen sind ein Ziel der Po-
lis.18 Aristoteles verstärkt diesen normativen Individualismus. Das Glück des Einzelnen
rückt ins Zentrum der Ethik.19 Statt der Verpflichtung jedes Einzelnen, das Seine zur
Polis beizutragen, akzentuiert er den Grundsatz „Jedem das Seine“.20 In der modernen

13 Vgl. etwa Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€229, 218–223.
14 Michael Slote, Virtue Ethics, in: Marcia W. Baronâ•›/â•›Philip Pettitâ•›/â•›Michael Slote, Three Methods of Ethics.
A Debate, S.€175–238, S.€177.
15 Platon, Politeia, 433a9.
16 Platon, Politeia, 369c10.
17 Platon, Politeia, 368e2.
18 Platon, Nomoi, 631c5–8, 963d2, 965d3; vgl. auch Minos 321d1–3 (Platons Autorschaft ist umstritten).
19 Aristoteles, Nikomachische Ethik I 1095a18.
20 Aristoteles, Nikomachische Ethik V 1133b3.
30 I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

Tugendethik wird der Schwerpunkt dann explizit auf das tugendhafte Individuum mit
seinen inneren Veranlagungen, Dispositionen und Motiven gelegt.21 Die moderne Tu-
gendethik folgt also grosso modo und mit einigen retardierenden Momenten dem allge-
meinen Trend der neuzeitlichen Ethik zu normativ-individualistischen Konzeptionen.
Bei anderen akteurszentrierten Ethiken, wie der Mitleidsethik, der Ethik der Sorge
(care ethics) und der Klugheitsethik des aufgeklärten Eigeninteresses (Prudentialismus),
ergibt sich Ähnliches wie bei der Tugendethik. Auch sie können aufgrund ihrer Be-
schränkung auf das Mitleid, die Sorge oder die Klugheit des Akteurs die Berücksichti-
gung des Anderen zwar partiell und indirekt, aber nicht vollständig und direkt in ihre
Theorie integrieren. Ihr normativer Individualismus bleibt deshalb ein halbierter, aus-
schließlich oder zumindest dominant auf den Akteur bezogener, auch wenn der Andere
bei der Mitleidsethik, der Klugheitsethik und der Ethik der Sorge zumindest vermittelt
über Gefühle oder Vernunfterwägungen des Akteurs berücksichtigt wird.

3. Die Wahl der Bezeichnung

Elemente und Aspekte des normativen Individualismus tauchen in der ethischen Dis-
kussion unter den verschiedensten Bezeichnungen auf: „Individualismus“, „legitimato-
rischer Individualismus“, „IndiviÂ�dualität“, „Wert des Einzelnen“, „Person“, „Humanis-
mus“, „Liberalismus“, „Subjektivismus“ (normativ-ethisch verstanden), „Kooperation“,
„Selbstbestimmung“, „Autonomie“, „Freiheit“.22 Dennoch scheint der Ausdruck „nor-
mativer Individualismus“ den anderen Alternativen überlegen zu sein, und zwar aus
folgenden Gründen:
„Individualismus“ schlechthin kann sich auch auf ein rein soziologisch zu beschrei-
bendes Faktum der Individualisierung beschränken. „Legitimatorischer Individualis-
mus“ betont zwar die Legitimation. Aber auch diese kann nur als bloßes Legitimati-
onsfaktum beschrieben werden. „Individualität“ wird eher als psychologische denn als
ethische Kategorie verstanden. „Wert des Einzelnen“ schränkt die Ethik von vornherein
auf eine Werttheorie ein. Der „Wert des Einzelnen“ kann überdies auch als bloße Er-

21 Michael Slote, Virtue Ethics, S.€177.


22 Für „Individualismus“: Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights, S.€169. Für „legitimatorischen
Individualismus“: Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S.€45â•›ff.
Für „Wert des Einzelnen“: Heiner Hastedt, Der Wert des Einzelnen. Eine Verteidigung des Individualis-
mus, Frankfurt a.â•›M. 1998. Für „Freiheit“: Friedrich A. von Hayek, The Constitution of Liberty, Chicago
1960. Für „Humanismus“: Joseph Raz, The Morality of Freedom, Oxford 1986, S.€194, der den Termi-
nus dann aber auf wenig einleuchtende Weise nichtindividualistisch interpretiert. Für „Subjektivismus“:
John L. Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong, Chap. I, 2.; Rainer W. Trapp, „Nicht-klassischer“
Utilitarismus. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.╛M. 1988, S.€304, 310╛ff.; Franz von Kutsche-
ra, Grundlagen der Ethik, 2.€Aufl. Berlin 1999, S.€59, 121â•›ff. Für „Kooperation“: Julian Nida-Rümelin,
Demokratie als Kooperation, Frankfurt a.â•›M. 1999, S.€162â•›ff. Für „Selbstbestimmung“: Volker Gerhardt,
Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999; ders., Individualität. Das Element der
Welt, München 2000, S.€155â•›ff. Für „Autonomie“: Tom L. Beauchampâ•›/â•›James F. Childress, Principles
of Biomedical Ethics, S.€99╛ff.; Jerome Schneewind, The Invention of Autonomy, Cambridge 1998; Joel
Feinberg, Harm to Self, Oxford 1986, S.€27╛ff.
3. Die Wahl der Bezeichnung 31

gänzung in einer kollektivistischen Theorie anerkannt werden. Im Übrigen wird mit


„Wert“ der notwendige Aspekt der kategorischen Verpflichtung in moralischen Kon-
flikten nicht klar genug ausgedrückt. „Humanismus“ impliziert von vornherein eine
Beschränkung auf Menschen. Dieser Begriff schließt also Tiere und andere Lebewesen
aus. Das ist ohne Begründung nicht zu rechtfertigen. Die hier entwickelte Ethik ist aber
natürlich im Hinblick auf Menschen eine humanistische in einem weiteren Sinne. Sie
ist es allerdings nicht in dem engeren Sinne, in dem der Begriff neuerdings von man-
chen zur Kennzeichnung einer Ethik des Wohlergehens in Abgrenzung zum normativen
Individualismus gebraucht wird.23 Der Terminus „Person“ hängt stark von seinem spe-
zifischen Verständnis ab. Es gibt Theorien der „Person“, die mit der Wahl dieses Aus-
drucks sehr viel weiter gehende metaphysische Vorstellungen verbinden, etwa wie Hegel
die Selbstbestimmung des Individuums als Allgemeines.24 Deshalb erscheint es sinnvoll,
zunächst einen neutraleren und weniger anspruchsvollen Begriff zur Kennzeichnung
der ethisch relevanten Individuen zu wählen. „Normativer Individualismus“ und „Li-
beralismus“ sind sich sehr nahe. Es gibt trotzdem einen wesentlichen Unterschied: Der
normative Individualismus ist legitimatorisch grundlegender, weil er den direkten Be-
zug zu den entscheidenden, legitimationstragenden Wesen klarstellt. Er ist ein rechtfer-
tigendes Prinzip bzw. eine rechtfertigende Theorie, während der Liberalismus eher ein
gesellschaftliches, politisches und rechtliches Programm als wesentliche Auswirkung des
normativen Individualismus formuliert. Aber es besteht keine strikte legitimatorische
Korrelation. Der Liberalismus ist als politisches Programm zum Beispiel prinzipiell auch
auf religiöser oder naturrechtlicher Grundlage möglich.
„Subjektivismus“ wird von vielen nicht nur als normativ-ethischer Bezug auf die In-
dividuen, sondern als methodische bzw. metaethische Entscheidung für den Verzicht auf
eine objektive ethische Konfliktlösung verstanden.25 Dabei wird angenommen, dass die
Pluralität und Beliebigkeit individueller Belange eine objektive Ethik ausschließen. Das ist
aber, wie sich im Kapitel€VI zeigen wird, ein Irrtum. Man kann sich bei der normativen
Rechtfertigung im Ausgang ausschließlich auf die Individuen und ihre zum Teil kontin-
genten Eigenschaften beziehen und trotzdem€– wie es hier geschieht€– eine objektivisti-
sche normative Ethik vertreten.
„Kooperation“ ist eine zentrale Folge des normativen Individualismus, steht aber wie
„Liberalismus“ schon zu weit in der Anwendung.
Der Terminus der „Selbstbestimmung“ bzw. „Autonomie“ weist gegenüber dem des
normativen Individualismus drei Nachteile auf: Der erste Nachteil liegt darin, dass er
auch als eine bloße empirisch-psychologische Beschreibung verstanden werden kann.
Das Begründungsziel der normativen Ethik wird deshalb nicht in ähnlicher Weise wie
beim Begriff des normativen Individualismus deutlich. Der zweite Nachteil besteht dar-
in, dass der Begriff der Selbstbestimmung von vornÂ�herein auf einsichtsfähige Menschen

23 Vgl. Joseph Raz, The Morality of Freedom, S.€194.


24 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswis-
senschaft im Grundrisse, Werke 7, Frankfurt a.â•›M. 1986, §§ 34â•›ff., S.€93â•›ff.
25 John Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong, S.€18.
32 I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

beschränkt ist. Nicht einsichtsfähige Menschen, Tiere, andere Lebewesen sowie Gott
können mit ihm nicht erfasst werden. Die Frage, wer moralisch zu berücksichtigendes
Individuum ist, würde auf diese Weise bereits durch den BeÂ�griffsgebrauch entschieden.
Für den ethischen Hauptfall des Konflikts einsichtsfähiger Menschen ist der Begriff
der Selbstbestimmung also hilfreich. Aber seine Verwendung darf nicht dazu führen,
dass andere Wesen nicht als ethisch zu berücksichtigende Individuen wahrgenommen
werden. Es verwundert nicht, dass der Begriff der Selbstbestimmung insbesondere auf-
taucht, wo regelmäßig ausschließlich einsichtsfähige Menschen eine Rolle spielen, etwa
in der Medizinethik,26 nicht aber in der Tierethik oder der ökologischen Ethik. Der drit-
te Nachteil liegt darin, dass der Begriff der Autonomie nicht auf Individuen beschränkt
ist. Der ursprüngliche griechische Begriff Autonomie bezeichnete zunächst vor allem die
Selbstbestimmung politischer Gemeinschaften.27 Dieser politische Sinn von Autonomie
findet sich auch noch in der Gegenwart, etwa im Prinzip der „Selbstbestimmung der
Völker“ in Artikel€1 Nr.€2 der Charta der Vereinten Nationen. Der Begriff der Selbstbe-
stimmung ist demnach allein nicht in der Lage, das Individualprinzip des normativen
Individualismus auszudrücken. Seine Verwendung ist aber immer dort sinnvoll, wo sich
ein Gebiet der Angewandten Ethik primär auf einsichtsfähige Individuen bezieht, wie
etwa die Medizinethik und die politische Ethik, etwa bei Fragen des Arzt-Patienten-
Verhältnisses, der Euthanasie, der politischen Partizipation und Repräsentation.

4. Sachliche Abgrenzung

Sachlich lässt sich der normative Individualismus durch einige negative Abgrenzungen
weiter charakterisieren:
Das ethische Prinzip des normativen Individualismus ist selbstredend mit der An-
erkennung der Tatsache vereinbar, dass die Individuen faktisch regelmäßig mehr oder
weniger eng in Gemeinschaften, Ehen, Familien, Nachbarschaften, Gemeinden, Staa-
ten etc., eingebunden sind, also tatsächlich sozial bzw. kollektiv leben. Keine realisti-
sche Ethik kann dies bestreiten. Zwischen dem Faktum des sozialen Zusammenlebens
und der normativen Rechtfertigung von potentiell widerstreitenden Belangen ist aber
klar zu unterscheiden. Ein deskriptiver Kollektivismus sozialer Tatsachen wäre mit dem
normativen Individualismus durchaus vereinbar, wobei eine stark kollektivistische Be-
schreibung aufgrund der zunehmenden Individualisierung der modernen Gesellschaf-
ten zumindest für die westlichen Industriestaaten kaum mehr als zutreffend angesehen
werden kann.28 Die Menschen leben zwar nach wie vor überwiegend in Gemeinschaf-
ten wie Ehen, Partnerschaften, Familien, Gemeinden und Staaten. Aber die Bindungen

26 Vgl. zum Beispiel Tom L. Beauchamp╛/╛James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S.€99╛ff.
27 Rosemarie Pohlmann, Artikel „Autonomie“, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Phi-
losophie Bd. 1, Darmstadt 1971, Sp. 701–719, Sp. 701.
28 Ulrich Beckâ•›/â•›Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Ge-
sellschaften, Frankfurt a.â•›M. 1996.
4. Sachliche Abgrenzung 33

zwischen den einzelnen Mitgliedern dieser Gemeinschaften haben sich€– man mag dies
bedauern oder nicht€– gelockert.
Aus dem Faktum des Zusammenlebens der Menschen resultiert zweitens, dass Kol-
lektive Ziele formulieren und Interessen haben können. Der normative Individualismus
schließt die Berücksichtigung dieser Ziele und Interessen von Kollektiven nicht aus.
Was er fordert, ist lediglich die letztinstanzliche, normativ-ethische Rückführung derar-
tiger kollektiver Ziele und Interessen auf die Belange von Individuen. In letzter Instanz
dürfen also nur solche Ziele und Interessen von Kollektiven Berücksichtigung finden,
die, wenn auch vielleicht nur indirekt, rechtfertigend auf die jeweils betroffenen Indivi-
duen rückführbar sind.
Der normative Individualismus bestreitet im Übrigen nicht, dass die einzelnen In-
dividuen in der Bildung und Formulierung ihrer Belange von ihrer sozialen Umgebung
beeinflusst werden. Er leugnet also keinen partiellen genetischen oder faktischen Kollek-
tivismus. Er behauptet aber, dass zwischen dem Faktum der Einbettung der Einzelnen
in kollektive Lebensgemeinschaften sowie der daraus resultierenden teilweise kollek-
tiv bestimmten Genese ihrer Bedürfnisse, Wünsche und Ziele und den moralisch und
ethisch zu berücksichtigenden Belangen klar zu unterscheiden ist.29 Die soziale Prägung
macht individuelle Eigenschaften nicht zu kollektiven. Die moralisch zu beachtenden
Individuen gewinnen ihre moralische Berücksichtigungswürdigkeit gerade aufgrund
der Tatsache, dass sie ihre Belange als ihre je eigenen begreifen, vertreten und gewahrt
wissen wollen. Ethik und Moral dürfen diesen grundlegend individualistischen Impuls
der Selbstbestimmung30 nicht durch den Verweis auf nicht zu leugnende soziale Bedin-
gungen unterdrücken. Selbst wenn die Ziele der Individuen vollständig sozial bedingt
wären, würde dies die Tatsache, dass die Individuen diese Ziele als die je ihren ansehen,
bejahen und berücksichtigt wissen wollen, und damit die Grundlage und Rechtferti-
gung des normativen Individualismus nicht entwerten. Dies gälte selbst dann, wenn
die individuelle Bejahung und Berücksichtigung ihrerseits als Ziel sozial bedingt wäre.
Insofern muss klar zwischen dem Sein sozialer Bedingungen und dem Sollen individu-
eller Belange bzw. Interessen (das allerdings natürlich auch den Charakter einer, wenn
auch normativen Tatsache hat) unterschieden werden. An dieser Stelle darf sich kein
naturalistischer Fehlschluss einschleichen.
Der normative Individualismus impliziert des Weiteren keinen psychologischen oder
sonstigen Egoismus.31 Mit der allgemeinen Sozialpsychologie geht er vielmehr davon aus,
dass die Individuen regelmäßig in erheblichem Umfang altruistische Wünsche und ide-
alistische Ziele haben. Diese fließen allerdings nicht als objektive Wahrheiten, sondern
als individuelle Belange und Vorstellungen in die Bewertung des moralischen Konflikts
ein. Der normative Individualismus fördert auch keinen Egoismus, da nicht erkennbar

29 Anders als Michael J. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982, S.€50╛ff., das tut.
30 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; Jerome Schneewind, The Invention of
Autonomy; Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität.
31 So aber zum Beispiel Franz von Kutschera, Grundlagen der Ethik, S.€302.
34 I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

ist, wieso dieser im längerfristigen und umfassend verstandenen Interesse der Individu-
en liegen sollte.
Der normative Individualismus impliziert auch keinen Relativismus der Moral oder
der ethischen Rechtfertigung im Sinne einer Beliebigkeit ihrer Normen. Die individu-
ellen Belange, welche die Grundlage seiner Normen bilden, sind zwar vom Willen der
betroffenen Menschen abhängig und insofern relativ und damit auch zufällig. Aber zum
einen gibt es menschliche Grundbedürfnisse, auf deren Befriedigung kein Mensch€ –
sofern er weiterleben will€ – vollständig verzichten kann, etwa Atemluft, Wasser und
Nahrung. Und bei vielen weiteren Wünschen besteht im Grundsätzlichen große Über-
einstimmung, etwa bei dem Wunsch nach Wärme, Trockenheit, Sauberkeit, Helligkeit,
Handlungsfreiheit, SchmerzÂ�freiheit, Schutz vor Tötung und Verletzung usw. Zum an-
deren muss man annehmen, dass sich bei widerstreitenden Interessen zumindest eine
relativ objektive Grenze der besten Konfliktlösung finden lässt (oder mehrere). Diese
metaethische Frage des Verhältnisses von Subjektivismus und Objektivismus wird noch
in Kapitel€VI erörtert.
Zu betonen ist weiterhin, dass eine normativ-individualistische Position nicht mit
einer libertären Theorie bzw. der Konzeption eines Ultraminimalstaats zu verwechseln
ist.32 Die Restriktion gemeinschaftlicher Entscheidungen bzw. der Moral auf das, was
sich in einem tatsächlichen KoorÂ�diÂ�naÂ�tionsÂ�prozess unter Verwendung der Methode der
Unsichtbaren Hand ergeben würde, lässt sich nicht auf den normativen Individualismus
stützen, da die Individuen auf diese Weise gehindert werden, die ihren Belangen nicht
ausreichend Rechnung tragenden, mageren Resultate dieses Prozesses€– etwa fehlende
Förderung der Kultur, Bildung, Infrastruktur usw.€– zu vermeiden. Liegt es im Interesse
der Individuen, die Beschränkung auf einen selbstlimitierenden und selbstschädigenden
Prozess zu umgehen, und schränken sie sich auch faktisch nicht derart ein, so muss man
annehmen, dass diese Beschränkung nicht zu rechtfertigen ist.
Der normative Individualismus darf auch nicht mit der Vertragstheorie gleichgesetzt
werden.33 Die Vertragstheorie war zwar historisch eine wesentliche Ausprägung des
normativen Individualismus. Aber auch der Utilitarismus, der Kantianismus und in
beschränktem Sinne und in manchen Varianten sogar die Tugendethik gehen, wie sich
ergab, von den Individuen aus und sind deshalb zumindest bis zu einem gewissen Grade
normativ-individualistische Theorien. Die Vertragstheorie ist ein Modell und damit eine
von mehreren möglichen Konkretisierungen des normativen Individualismus. Manche
Vertragstheoretiker haben die tatsächliche Einstimmigkeit der betroffenen Individuen
als notwendige Bedingung der moralischen Rechtfertigung angesehen, also deren fak-

32 Vgl. Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia, New York 1974, S.€18.
33 Dies gilt für beide Zweige der Vertragstheorie, die mittlerweile unterschieden werden: den sog. „Con-
tractarianism“, der zum Beispiel von Thomas Hobbes und David Gauthier vertreten wird, und den sog.
„Contractualism“, der zum Beispiel von Jean-Jacques Rousseau, John Rawls und Thomas M. Scanlon als
begründet angesehen wird. Während Ersterer die eigenständige Verfolgung hauptsächlich egoistischer
Interessen in einem Prozess des Aushandelns aus der Perspektive der Individuen in den Vordergrund stellt,
soll bei Letzterem eher die gemeinschaftliche Perspektive der allgemeinen Zustimmung zu Regeln ent-
scheidend sein. Vgl. die Einleitung in Stephen Darwall (Hg.), Contractarianism╛/╛Contractualism, S.€1╛ff.
4. Sachliche Abgrenzung 35

tische Zustimmung.34 Dieses Erfordernis mag jenseits der Moral in eng umgrenzten
Bereichen der Politik als repräsentativem Handeln gerechtfertigt sein, wenn es etwa um
fundamentale Verletzungen von Menschenrechten, zum Beispiel der Menschenwürde
oder des Rechts auf Leben geht. Als generelles Erfordernis der Moral stünde das Prinzip
der faktischen Einstimmigkeit jedoch im Widerspruch zur moralischen Grundsituati-
on, weil eine begrifflich notwendige Bedingung der Moral im hier verstandenen Sinn
gerade im zumindest möglichen Widerstreit der Belange besteht, also zumindest die
Möglichkeit der Nichtübereinstimmung voraussetzt.
Viele Vertragstheoretiker haben auf das Fehlen einer tatsächlichen Einstimmigkeit
mit dem Erfordernis der fiktiven Einstimmigkeit reagiert, den Vertrag also als hypo-
thetischen Vertrag verstanden. Der fiktive Vertrag kann anders als der faktische auf die
tatsächliche Nichtübereinstimmung und damit auf die moralische Konfliktsituation
reagieren. Allerdings gilt: Resultat des hypothetischen Vertrags kann nur das sein, was
man vorher in Form von quasi-axiomatischen Grundannahmen in ihn hineingesteckt
hat. Das Vertragsmodell ist also legitimatorisch nicht so grundlegend wie das Prinzip des
normativen Individualismus.
Der normative Individualismus schließt weiterhin nicht aus, dass Gemeinschaftsbe-
ziehungen an einem bestimmten Punkt der Moral und ethischen Theorie zu speziellen
Verpflichtungen und theoretischen Differenzierungen führen. Es wird zum Beispiel viel-
fach angenommen, dass wir gegenüber unseren Eltern und Kindern erhöhte Verant-
wortungs- und Hilfspflichten haben, die etwa aus früherem Verhalten und dem spezifi-
schen Nähe- und Vertrauensverhältnis zu ihnen resultieren. Man darf aber die Frage der
grundsätzlichen moralischen Berücksichtigungswürdigkeit nicht mit der Frage erhöhter
spezifischer Anforderungen aus besonderen Näheverhältnissen verwechseln. Vorausset-
zung für erhöhte Verantwortungs- und Hilfspflichten ist die selbständige Berücksichti-
gungswürdigkeit unserer Eltern und Kinder als Individuen im ethischen Grundverhält-
nis Akteur-Anderer. Gegenüber einem unselbständigen Organ unseres Körpers, etwa
unserer Leber, haben wir trotz möglicherweise im Einzelfall schädigenden Vorverhal-
tens durch übermäßigen Alkoholgenuss und einem unleugbaren Näheverhältnis keine
grundsätzlichen oder gar erhöhten moralischen Verantwortungs- und Hilfspflichten,
weil unsere Leber Teil unser selbst als Betroffene und deshalb kein eigenständig mora-
lisch zu berücksichtigendes Individuum ist.
Der normativ-individualistische Ausgangspunkt von Ethik und Moral schließt auch
in keiner Weise aus, dass im Interesse der betroffenen Menschen gemeinsame Handlun-
gen und Gemeinschaften gefördert und kollektive Ziele wie Patriotismus, Gemeinsinn oder
Gleichheit angestrebt werden. Der normative Individualismus ist also mit einem gemä-
ßigten praktischen Kommunitarismus vereinbar. So wird sich der normative Individu-
alismus zum Beispiel im Interesse der Menschen gegen den Zwang zu isolierenden und
vereinzelnden Lebensformen wenden. Er wird politische und rechtliche Regelungen ab-
lehnen, die derartige isolierende und vereinzelnde Lebensformen zur einzigen Möglich-

34 Dazu: Peter Stemmer, Die Rechtfertigung moralischer Normen, in: Zeitschrift für philosophische For-
schung 58 (2004), S.€483–504.
36 I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

keit machen, etwa eine Bauplanung, die anonyme Wohnblöcke ohne Infrastruktur weit
vor der Stadt errichtet. Er wird Ehe, Familie und Partnerschaft vielfach stärker als bisher
unterstützen. Er wird freiwillige Gemeinschaften fördern. Aber alle kollektiven Ziele
müssen sich letztlich an den Belangen aller betroffeÂ�nen Einzelnen messen lassen. Sie
dürfen keinen ultimativen SelbstÂ�zweck haben. Der normative Individualismus schließt
also einen strikten Kommunitarismus aus, insbesondere einen solchen, der gegen den
klaren Willen der betroffenen Individuen in letzter Instanz einer Gemeinschaft und
ihren Eigenschaften den Vorzug geben will.
Der normative Individualismus stellt in der hier vorgestellten Formulierung zu-
nächst eine schwächere Form der Abgrenzung zu allen kollektiven Theorien der Ethik
dar. Nicht ausgeschlossen sind damit€– wie sich oben ergab€– metaethische Positionen,
die objektive Werte, Pflichten oder sonstige normative Tatsachen als letzte Quelle der
Rechtfertigung ansehen. Behauptet wird nur, dass diese objektiven Werte, Pflichten oder
sonstigen normativen Tatsachen€– sofern sie bestehen€– in letzter Instanz immer durch
die betroffenen Individuen erkannt und als eigene oder fremde Belange für die morali-
sche Konfliktsituation zur normativen Relevanz erhoben werden müssen, um normativ
entscheidender Teil einer säkularen ethischen Rechtfertigung sein zu können.
Im Hinblick auf eine vergleichbare Begriffsbildung in den Sozialwissenschaften mag
schließlich fraglich sein, warum nicht von „methodologischem“ oder „methoÂ�dischem“ In-
dividualismus gesprochen wird.35 Der methodologische Individualismus vertritt die Auf-
fassung, dass soziale Phänomene nur durch den Bezug auf Individuen zu beschreiben
und zu erklären sind:36

35 Die Wortverbindung „methodologischer Individualismus“ scheint vor allem auf Karl Popper und John
W.â•›N. Watkins zurückÂ�zugehen: Vgl. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2.€ Aufl.
München 1970; John W.â•›N. Watkins, The Principle of Methodological Individualism, The British Jour-
nal for the Philosophy of Science 3 (1952), S.€186–189; ders., Ideal Types and Historical Explanation, in:
Herbert Feiglâ•›/â•›M. Brodbeck (Hg.), Readings in the Philosophy of Science, New York 1953, S.€729–732;
ders., Methodological Individualism: A Reply, in: Philosophy of Science 22 (1955), S.€ 58–62; ders.,
Historical Explanation in the Social Sciences, in: P. Gardiner (Hg.), Theories of History, New York 1959,
S.€503–514, S.€512. Vgl. auch Paul Oppenheimâ•›/â•›Hilary Putnam, Unity of Science as a Working Hy-
pothesis, in: H. Feiglâ•›/â•›M. Scrivenâ•›/â•›G. Maxwell (Hg.), Concepts, Theories, and the Mind-Body Problem,
Minneapolis 1958, S.€3–36, S.€17. Vgl. zu umfassenderen Darstellungen, Analysen und Diskussionen:
John O’Neill (Hg.), Modes of Individualism and Collectivism, New York 1973, Teil 3 und 4; Viktor J.
Vanberg, Die zwei Soziologien: Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, Tübingen 1975;
Rajeev Bhargava, Individualism in Social Science. Forms and Limits of a Methodology, Oxford 1992.
36 Die sachliche Annahme beginnt sich bereits seit dem 18.€Jahrhundert zu entwickeln. Vgl. Bernard de
Mandeville, The Fable of the Bees, or, Private Vices, Publick Benefits, London 1924, Teil II; David
Hume, A Treatise of Human Nature, hg. von L.â•›A. Selby-Bigge, 2., rev. Ausg. hg. von P.â•›H. Nidditch,
Oxford 1978, Book€III, Part II, Sec. II, S.€495; Adam Smith, An Inquiry into the Nature & Causes of
the Wealth of Nations, hg. von R.╛H. Campbell╛/╛A.╛S.€Skinner╛/╛W.╛B. Todd, Bd. 1, Oxford 1976 (= The
Glasgow Edition Vol. II, 1), S.€26╛ff.; John S.€Mill, A System of Logic Ratiocinative and Inductive, hg.
von J.╛M. Robinson, Toronto 1974 (Collected Works Vol. VIII), S.€879. Die sozialwissenschaftliche Ver-
wendung des Begriffs „Individualismus“ wird auf Friedrich A. von Hayek, Individualism and Economic
Order, Chicago 1948, S.€1â•›ff. zurückgeführt. Von Hayek unterscheidet allerdings begrifflich nicht zwi-
schen methodologischem und normativem Individualismus, sondern spricht nur von „individualism“.
Nach einer Bestimmung als Theorie des Verstehens (S.€ 6) folgen auch normative Regeln, die jenseits
bloßer Beschreibung und Erklärung liegen. Von Hayek hat also auch in der Sache noch keine klare Diffe-
renzierung zwischen den zwei Arten des Individualismus eingeführt. In seinem späteren Hauptwerk, The
4. Sachliche Abgrenzung 37

Es handelt sich also erstens um eine Antwort auf die Frage, welcher Art Hypothe-
sen bzw. Theorien sind, mit denen wir beschreiben und erklären können, was in der
„sozialen Welt“ vor sich geht.37 Die normative Ethik kann sich dagegen nicht auf eine
bloße Beschreibung und Erklärung beschränken, sondern muss ein normatives Prinzip
der Recht�fertigung angeben. Anders als dem methodologischen Individualismus geht es
dem normativen Individualismus also nicht um Beschreibung und Erklärung, sondern
um Begründung und Kritik.
Das Ziel der Begründung und Kritik des normativen Individualismus führt zweitens
zu einer anderen Differenzierung der Anwendungsbereiche. Der Anwendungsbereich
des normativen Individualismus geht einerseits prinzipiell über den Bereich des Sozialen
hinaus und betrifft auch individuelles Werten und Handeln ohne allgemeine gesell-
schaftliche Folgen, während dies für den methodologischen Individualismus€– zumin-
dest soweit er in der Sozialethik vertreten wird€– ohne Bedeutung ist. Im Spektrum des
Sozialen ist der Anwendungsbereich des ethisch zu Rechtfertigenden dafür andererseits
gegenüber dem zu Beschreibenden und Erklärenden kleiner. Während der methodo-
logische Individualismus alle möglichen sozialen Folgen kollektiven wie individuellen
Handelns beschreiben und erklären, also eine umfassende Theorie des Sozialen liefern
soll, geht es dem normativen Individualismus im Bereich des Sozialen nur um eine Kri-
tik und Rechtfertigung moralischen, rechtlichen und politischen Handelns usw., also
um eine moralische, politische und rechtliche Ethik, nicht um eine allgemeine Theorie
aller sozialen Phänomene.38
Beide Gesichtspunkte hängen drittens eng zusammen. Manche allgemeine sozia-
le Phänomene, etwa die Entwicklung der Bevölkerungszahl oder der Prozentsatz der
Eheschließungen, sind selbstredend Ergebnis einzelner menschlicher Handlungen. Sie
sind aber zunächst im Regelfall nicht als kollektive moralische, politische oder rechtli-
che Handlung intendiert oder zumindest relevant und damit weder normativ-indivi�
dualistisch rechtfertigungsfähig noch -bedürftig, sondern lediglich methodologisch-
individualistisch erklärbar, also als Ergebnis individuellen Handelns.39 Für den engeren
Bereich von Moral, Recht und Politik ist die Charakterisierung als rechtÂ�fertigungsfähige
und -bedürftige Handlung aber zumindest weitgehend und in zentralen Bereichen plau-
sibel, so dass nur hier eine normativ-indiÂ�viÂ�duaÂ�listiÂ�sche Rechtfertigung möglich, aber
auch€– will man in seinem Verstehen nicht reduktionistisch bleiben€– notwendig ist.
Damit soll nicht behauptet werden, dass eine sozialwissenschaftlich-kausale Erklärung
politischer Phänomene keinen Wert hätte. Aber zumindest im Kernbereich moralischen,

Constitution of Liberty, Chicago 1960, tritt der Be�griff des Individualismus dann auch ganz hinter den
Begriff der Freiheit zurück.
37 Viktor J. Vanberg, Die zwei Soziologien: Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, S.€3,
Fn.€3.
38 Fraglich ist dann allerdings, wozu man das Handeln nichtpolitischer Gemeinschaften, wie Vereine, Un-
ternehmen, Verbände usw., zählt. Aber selbst wenn man dieses auch der Sozialethik zuordnet, ist deren
Bereich immer noch kleiner als der Bereich der Sozialtheorie des methodologischen Individualismus, der
ja auch alle sozialen Folgen rein individuellen Handelns berücksichtigt.
39 Derartige Handlungen können aber natürlich individualethisch bedeutsam sein.
38 I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

rechtlichen, religiösen, erzieherischen und politischen Entscheidens überwiegt für uns


doch der Charakter der sozialen Phänomene als rechtfertigungsfähiges und rechtfer-
tigungsbedürftiges Handeln gegenüber dem lediglich blinden und zufälligen Resultat
sozialer Prozesse. Sozialwissenschaftlich-kausale Faktoren werden von Prozessen der
Kommunikation, Deliberation und Rechtfertigung überlagert und verlieren deshalb im
Zentrum von Moral, Recht und Politik an Relevanz.
Viertens divergieren auch die Traditionsbezüge: Für die Sozialwissenschaften waren
Bernard Mandeville, Adam Smith, David Hume, Edmund Burke und Alexis de Tocque-
ville Theoretiker des methoÂ�doÂ�loÂ�gischen Individualismus, weil sie kollektive Phänomene
als ungewollte Folgen individuellen Handelns erklärten.40 Hobbes wird von ihnen da-
gegen teilweise als methodologischer Kollektivist angesehen, weil der Staat als Leviathan
einem Gesamtplan entspringen soll,41 während Hobbes nach dem Verständnis der Ethik
einen€– wenn auch sehr eingeschränkten und mangelhaften€– normativen Individualis-
mus vertreten hat. Der normative Individualismus sieht sich dagegen in der Tradition
der philosophischen Vertragstheorien, aber auch des Utilitarismus, Kantianismus und
anderer liberaler Theorien sowie der Tugendethik.
Nunmehr ist zu fragen, wie der normative Individualismus zu begründen ist. Dabei
ist es sinnvoll, zwischen seinen drei Teilen, also dem Individualprinzip, dem Allprinzip
und dem Prinzip der prinzipiellen Gleichberücksichtigung zu unterscheiden.

5. Begründung des Individualprinzips

Wie sich ergab, legen die wesentlichen heute vertretenen Theorien der normativen
Ethik, wie die Vertragstheorie, der Kantianismus, der Konsequentialismus sowie die Tu-
gendethik das Prinzip des normativen Individualismus zu Grunde. Insofern steht man
mit ihm im Lager der weit überwiegenden Auffassung. Da diese Auffassung aber häufig
nur implizit besteht und nicht explizit geäußert wird, muss gefragt werden, wie der nor-
mative Individualismus begründet werden kann. Warum können in letzter Instanz nur
Individuen moralische Verpflichtungen bzw. Wertungen rechtfertigen? Warum gilt also
das Individualprinzip des normativen Individualismus?42

40 Friedrich A. von Hayek, Individualism and Economic Order, S.€4, spricht auch von John Locke. Aber
diese Nennung dürfte nur auf die fehlende klare Abgrenzung von methodischem und normativem Indi-
vidualismus zurückzuführen sein.
41 Viktor J. Vanberg, Die zwei Soziologien: Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, S.€6,
S.€172╛ff. Anders aber Rajeev Bhargava, Individualism in Social Science. Forms and Limits of a Methodol-
ogy, S.€1.
42 Vgl. zu einer modernen Kritik des normativen Individualismus aus perfektionistisch-konse�quentialisti�
scher Perspektive: Joseph Raz, The Morality of Freedom, S.€193╛ff.
5. Begründung des Individualprinzips 39

a) Der Kern der Begründung

Eine Begründung muss ihren Ausgangspunkt beim Sinn und Zweck der Moral und da-
ran anÂ�knüpfend der Ethik nehmen. Die Moral dient€– wie eingangs festgestellt wurde€–
dazu, unseren Charakter sowie unser Handeln und Entscheiden angesichts zumindest
potentiell widerstreitender Lebensvorstellungen zu bestimmen und zwischen diesen po-
tentiell widerstreitenden Lebensvorstellungen zu vermitteln, und zwar nicht nur mittels
Ratschlägen und Empfehlungen, sondern auch mittels kategorischer Pflichten. Die Mo-
ral hat also als Teil der menschlichen Kultur den Sinn und Zweck, faire und vernünftige
Lösungen eventuell gegenläufiger Charakter-, Handlungs- und Entscheidungsoptionen
zu ermöglichen, die dann auch handlungsleitende, kategorische Verpflichtungen umfas-
sen. Das erfordert, dass Handelnder und Betroffene nicht Teil eines einzigen, normativ
letztentscheidenden Kollektivs sind. Denn wären sie Teil eines einzigen, normativ letztÂ�
entscheidenden Kollektivs, so würde das bedeuten, dass sie zueinander nur im Ver-
hältnis einer internen, also die Elemente dieses Kollektivs verbindenden normativen
Relation stünden, nicht im Verhältnis einer externen, also auch zu Nichtelementen die-
ses Kollektivs bestehenden normativen Relation. Stünden sie aber zueinander nur im
Verhältnis einer internen normativen Relation als Teil eines einzigen umfassenden und
normativ letztentscheidenden Kollektivs, so wäre nicht zu erklären, warum zwischen
ihnen kategorische, handlungsbegrenzende Pflichten bestehen sollten, wie sie für die
Moral begrifflich-kennzeichnende Voraussetzung sind. Innerhalb eines einzigen, nor-
mativ letztentscheidenden Kollektivs mit ausschließlich internen Relationen kann es
gute Gründe der Klugheit geben, einzelne widerstreitende Handlungsgesichtspunkte zu
bevorzugen oder zu benachteiligen. Kategorische Verpflichtungen müssen ihren letzten
Ausgangspunkt aber außerhalb eines solchen Kollektivs finden, denn nur dann hän-
gen sie nicht von den an Kollektivzielen orientierten Entscheidungen des Kollektivs
mit unmittelbarer Wirkung für seine abhängigen Teile ab. Hängen Konfliktlösungen
von derartigen Entscheidungen des Kollektivs für seine abhängigen Teile ab, so erfolgt
keine externe kategorische Verpflichtung, sondern eben nur eine interne, unmittelbar
wirksame Klugheitsentscheidung einer Zentrale für die Peripherie. Kollektive bedürfen
für interne normative Letztentscheidungen keiner kategorischen Verpflichtungen. In-
nerhalb eines normativ letztlich relevanten Kollektivs herrscht keine Moral und damit
auch keine Ordnung, deren Verpflichtungen auf externen Relationen basieren, sondern
die Faktizität der kollektiven, mehr oder weniger klugen Entscheidung über interne
Relationen seitens einer Zentrale.
Nun könnte man einwenden, dass damit der normative Individualismus noch nicht
begründet sei, weil sich ja nicht nur Individuen, sondern auch Kollektive in externen
Relationen gegenüberstehen können, etwa wenn eine Räuberbande eine Reisegruppe
überfällt. Warum sind in letzter Instanz die Belange der überfallenen einzelnen Reisen-
den als Andere für die Räuber handlungsbegrenzend und nicht die der Reisegruppe als
Ganzes?
Kollektive wie Reisegruppen, Räuberbanden, Familien oder politische Gemeinschaf-
ten lassen sich intern noch einmal normativ differenzieren. Innerhalb der Reisegruppe
40 I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

besteht etwa für jeden einzelnen Reisenden die moralische Verpflichtung, die Gruppe
in dieser Situation zu verteidigen. Für diese interne Verpflichtung gilt nun aber die im
letzten Absatz formulierte Einsicht: Eine genuin moralische Verpflichtung kann sie nur
sein, wenn sie sich im Hinblick auf eine externe normative Relation ergibt, nicht aber
als eine interne normative Relation, die in normativer Hinsicht in letzter Instanz nur
von der Entscheidung des Kollektivs abhängt. Kollektive kann man immer noch ein-
mal moralisch und ethisch hinsichtlich ihrer eigenen Mitglieder intern beurteilen, also
rechtfertigungstheoretisch analysieren. Deshalb kann die Kollektiventscheidung nicht
letzter Maßstab der begründeten moralischen Rechtfertigung sein.
Zwischen Individuen und Kollektiven besteht insofern eine unhintergehbare mo-
ralische und damit ethische Asymmetrie. Wir sprechen zwar von den Belangen bzw.
Interessen von Kollektiven und akzeptieren damit das Bestehen derartiger kollektiver
Belange bzw. Interessen. Daran lässt sich aber immer die Frage anschließen: Entspre-
chen diese kollektiven Belange bzw. Interessen auch wirklich den dahinter stehenden
moralisch zu berücksichtigenden Belangen bzw. Interessen der Mitglieder des Kollek-
tivs? Liegt etwa ein bestimmtes Handeln eines Unternehmens auch wirklich im Interes-
se der Arbeitnehmer und Aktionäre? Das Umgekehrte gilt aber nicht: Wenn Individuen
moralisch betroffen sind und nicht in speziellen Rollen als Repräsentanten eines Kollek-
tivs handeln, so kann man€– so jedenfalls unsere phänomenologisch zu ermittelnde all-
gemeine Auffassung€– nicht normativ bzw. moralisch, sondern nur faktisch bzw. kausal
sinnvoll fragen: Entsprechen die Belange der betroffenen Individuen auch wirklich in
moralischer Hinsicht den dahinter stehenden, individuenÂ�unabhängigen Belangen des
Kollektivs?
Selbst Marx’ Klassentheorie ist hier kein Gegenentwurf, sondern eine Bestätigung.
Denn Marx hat seine Klassentheorie nur als naturalistisch-historistische Theorie ent-
worfen, nicht als normativ-moralische.43 Das heißt, die Belange der Individuen sind
faktisch-historisch Ausdruck ihrer Zugehörigkeit zu einer Klasse in einer bestimmten
historischen Situation. Aber sie können nicht als normativ-moralisch durch diese Zuge-
hörigkeit bestimmt angesehen werden.

b) Weitere Rechtfertigungen

Die Rechtfertigung des Individualprinzips des normativen Individualismus zeigt sich


auch in folgenden Konkretisierungen:
Erstens: Jedes Handeln eines Akteurs, das Andere in deren Handeln betrifft, im-
pliziert eine zumindest partielle Verschiebung des Handlungswillens und der Hand-
lungsausführung von diesen Betroffenen auf den Handelnden. Der Handelnde reißt
also durch sein Handeln das Handeln eines anderen Betroffenen und damit dessen
Handlungswillen und Handlungsausführung wenigstens teilweise an sich. Wer einem

43 Vgl. Brian Leiter, The Hermeneutics of Suspicion: Recovering Marx, Nietzsche, and Freud, in: ders., The
Future for Philosophy, Oxford 2004, S.€7–105, S.€76â•›ff.
5. Begründung des Individualprinzips 41

Anderen die Geldbörse stiehlt, bestimmt bis zu einem gewissen Grade den Handlungs-
willen und die Handlungsausführung des Betroffenen hinsichtlich dieser Geldbörse. Er
nimmt ihm nämlich die Möglichkeit, mit dem Geld, das sich darin befindet, etwas zu
kaufen. Da aber nur Individuen in einem vollen Sinne Akteure sind und Kollektive nur
über sie repräsentierende Individuen handeln können, betrifft die Verschiebung von
Handlungswille und Handlungsausführung in letzter Instanz immer die handelnden
Individuen. Dann muss sich aber auch die Rechtfertigung letztlich auf diese Individuen
beziehen, um die ultimative Verschiebung des Handlungswillens und der Handlungs-
ausführung durch den Akteur von den eigentlich Betroffenen auf ihn selbst zu legitimie-
ren. Andernfalls kann man nicht von ethischer Rechtfertigung in einem vollen Sinne
sprechen.
Zweitens: Das Handeln gegenüber anderen Betroffenen führt zu einer Diskrepanz
zwischen Handlungsausführung durch den Akteur und Handlungsinteresse bei den Be-
troffenen. Eine ethische Theorie muss darauf reagieren. Eine Rückbindung der Hand-
lungsausführung an das Handlungsinteresse kann aber nur gelingen, wenn die Recht-
fertigung diese Diskrepanz zwischen Handlungsausführung durch den Akteur und
Handlungsinteresse beim Betroffenen überwindet. Dies ist gegenüber den Individuen
aber nur möglich, wenn die Individuen selbst letzter Bezugspunkt der RechtÂ�fertigung
sind und nicht nur ein undifferenziertes Kollektiv aus Akteur und Betroffenen.
Drittens: Das Handlungsinteresse der Individuen manifestiert sich in einem tat-
sächlichen RechtÂ�fertigungsverlangen. Zwar erheben auch Kollektive Forderungen nach
Rechtfertigung von Handlungen durch andere. Aber Kollektive tun dies erstens regel-
mäßig in letzter Instanz nur in Vertretung ihrer Mitglieder, etwa eine Familie für ihre
Mitglieder, eine Aktiengesellschaft für ihre Aktionäre, eine Gesellschaft beschränkter
Haftung für ihre Gesellschafter, ein Verein für seine Mitglieder, ein Staat für seine
Staatsbürger. Und zweitens wäre die bloße Befriedigung des RechtÂ�fertigungsÂ�verlangens
des Kollektivs nicht hinreichend, um auch das Rechtfertigungs�verlangen der hinter dem
Kollektiv stehenden Individuen zu befriedigen.
Die grundlegende Asymmetrie der moralischen bzw. ethischen Berücksichtigung
von Individuen und Kollektiven manifestiert sich phänomenologisch am deutlichsten
in der unterschiedlichen Auflösbarkeit. Lässt man religiöse oder sonstige transzendente
Erwägungen außer Betracht, so sehen wir anders als bei Individuen keinen ethischen
Grund, warum Kollektive gegen den klaren Willen, das heißt die Wünsche und unab-
hängigen Ziele aller Beteiligten, bestehen bleiben sollten.44 Stimmen alle Beteiligten
bewusst und freiwillig zu, so ist die Auflösung von Kollektiven ethisch nicht verwerflich.
Man hat es etwa nicht allgemein als verwerflich angesehen, dass die Sowjetunion oder
die Tschechoslowakei aufgelöst wurden, allenfalls als unzweckmäßig. Ebenso sieht man
es nicht als ethisch verwerflich an, wenn Freundschaften auseinander gehen oder ein
Verein seine Selbstauflösung beschließt. Nur enttäuschte Erwartungen, nicht erfüllte
Verpflichtungen oder andere Belange bzw. Interessen der Individuen können in solchen

44 Die Frage, was gilt, wenn Individuen freiwillig der Unauflöslichkeit einer Gemeinschaft zugestimmt
haben, etwa der Ehe oder dem Eintritt in einen geistlichen Orden, bleibt hier außer Betracht.
42 I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

Fällen zu einer negativen ethischen Bewertung und zu entsprechenden Verzögerungs-


und Kompensationspflichten führen, nicht aber die Beendigung der Gemeinschaft als
solche. Sie ist ethisch neutral, weil die Gemeinschaft als solche unabhängig von ihrer
Bejahung durch die Individuen keinen eigenen Wert hat.
Wie bei der Frage der Auflösbarkeit zeigt sich der Unterschied in der Berücksich-
tigung von Individuen auch bei der Ersetzbarkeit. Kollektive lassen sich, sofern alle
betroffenen Individuen zustimmen, ohne ethische Beschränkungen durch andere Kol-
lektive substituieren. Niemand hat es etwa als ein ethisches Problem angesehen, dass in
Frankreich die Vierte Republik durch die Fünfte Republik ersetzt wurde. Und niemand
sah es als ethisches Problem an, dass die Europäischen Gemeinschaften Teil der Europä-
ischen Union wurden. Die Umwandlung von Unternehmen einer Rechtsform in eine
andere ist tägliches Brot der Wirtschaftsberater, Rechtsanwälte und Registergerichte.
Würde dagegen jemand zwei Menschen töten und dann zwei neue zeugen, um die
Getöteten zu ersetzen, so würden wir das unter allen Umständen für ethisch verwerflich
halten und als Mord bzw. Totschlag qualifizieren.45 Wir sind davon überzeugt, dass indi-
viduelle Menschen anders als Kollektive nicht wechselseitig ersetzbar sind. Viele würden
das auch für Tiere akzeptieren, während es bei Bäumen schon zweifelhaft wäre€– was
die noch zu erörternde abnehmende Berücksichtigungswertigkeit dieser Gruppe von
Individuen zeigt.

c) Einwände

Es ist zwar nicht logisch zwingend und auch nicht ohne weiteres empirisch belegbar,
dass alle Individuen selbständig und frei entscheiden.46 Aber keine Ethik kann sich auf
logische Notwendigkeiten oder empirisch vollständig erfasste Daten stützen. Sie muss
vielmehr von allgemein akzeptierten Fakten ausgehen. Ein Faktum ist, dass der einzelne
Mensch anders als Kollektive im Laufe seiner kindlichen und jugendlichen Entwicklung
mit zunehmender körperlicher und geistiger Reife regelmäßig aus sich selbst heraus
sowohl in der Lage als auch willens ist, über zentrale Fragen seines Lebens selbstän-
dig und selbstbestimmt zu entscheiden.47 Es gibt zwar ganz bestimmte Lebenssituati-
onen, wo manche Handlungen, die uns betreffen, bis zu einem gewissen Grade auch
von vertrauenswürdigen Experten abhängen,48 etwa dem Arzt, dem Rechtsanwalt, dem
Apotheker oder dem Pfarrer. Aber erstens ist es sicherlich nicht so, dass es sich hierbei
um die meisten Fragen unseres Lebens handelt.49 Zweitens wollen wir auch in diesen

45 Dieses Beispiel stammt von Marcia W. Baron, Kantian Ethics, in: Marcia W. Baronâ•›/â•›Philip Pettitâ•›/
Michael Slote, Three Methods of Ethics: A Debate, S.€3–91, S.€24.
46 So ein Gegenargument von Ludwig Siep, Konkrete Ethik, S.€111╛f.
47 Davon geht auch das Recht aus: „§ 1626 BGB Elterliche Sorge: (2) Bei der Pflege und Erziehung berück-
sichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem
verantwortungsbewußtem Handeln. […]“
48 So ein weiteres Argument Ludwig Sieps, Konkrete Ethik, S.€112.
49 So die Annahme Sieps.
5. Begründung des Individualprinzips 43

Fällen zunächst autonom entscheiden, ob und wie weitgehend wir uns den Experten
anvertrauen. Drittens versuchen die meisten trotz dieser Verantwortungsübertragung an
Experten ein Höchstmaß an Kontrolle über deren Handeln zu behalten. Der Arzt soll
etwa nicht beliebig, sondern nur mit der aufgeklärten Zustimmung des Patienten be-
handeln. Er muss den Patienten laufend über die Diagnose und Therapie informieren.
Schließlich stehen die Experten gerade nicht notwendig oder auch nur häufig in einem
besonderen familiären, freundschaftlichen oder sonstigen Kollektivverhältnis zu uns.
Wir konsultieren sie vielmehr regelmäßig als Fremde und aus zweckrationalen Überle-
gungen, um bestimmte Ziele zu erreichen, die wir allein nicht realisieren können, etwa
um unsere Gesundheit wiederzuerlangen, einen Prozess zu gewinnen, ein Medikament
zu erhalten oder religiöse Sakramente zu empfangen. Die Experten haben für uns pri-
mär die Funktion, unser Leben zu fördern, obwohl wir sie natürlich, weil sie Menschen
und damit moralisch zu berücksichtigende Individuen sind, nicht nur als Mittel zum
Zweck behandeln dürfen.
Joseph Raz hat den normativen Individualismus mit folgender Erwägung in Frage
gestellt:50 „Is there anything wrong with moral individualism? Are any collective goods
intrinsically desirable? I will suggest that some collective goods are intrinsically desirable
if personal autonomy is intrinsically desirable. If this is so then right-based theories can-
not account for the desirability of autonomy.“ An dieser Aussage ist schon die keinesfalls
notwendige Verbindung von normativem Individualismus und einer Rechte-basierten
Ethik problematisch, denn die Rechte-basierte Ethik kann€– wie sich im nächsten Ab-
schnitt noch erweisen wird€– allenfalls als eine mögliche KonÂ�kretisierung des normativen
Individualismus angesehen werden. Aber sieht man von diesem Einwand ab, so gilt:
Raz geht davon aus, dass Autonomie im Sinn von Wahlfreiheit intrinsisch gut für ein
Leben ist. Wenn Autonomie intrinsisch gut für ein Leben ist, dann soll es auch intrin-
sisch gut sein, eine hinreichend große Zahl von möglichen und akzeptablen Optionen
für die autonome Wahl zu haben, etwa die Möglichkeit, Architekt zu werden, oder die
Möglichkeit, als Homosexueller eine eheähnliche Gemeinschaft einzugehen. Das Ideal
der persönlichen Autonomie soll also nach Raz dazu führen, dass wenigstens einige der
entsprechenden kollektiven Güter intrinsisch gut sind, was den normativen Individua-
lismus widerlegen soll.51
Diese Erwägung steht und fällt mit der Auszeichnung der Autonomie als intrinsisch
gut. Aber dafür liefert Raz keine Rechtfertigung. Autonomie im Sinne von Wahlfreiheit
ist jedoch ein Spezialfall unter den Gütern. Sie ist gerade nicht unabhängig von den
Individuen und ihren Belangen absolut, sondern nur relativ zu diesen Individuen und
ihren Belangen gut. Sie selbst und das Maß ihrer Güte hängen von ihrer Forderung
und Bewertung durch die betroffenen Individuen ab. Wir würden es nicht als gut an-
sehen, wenn jemandem Autonomie im Sinne von Wahlfreiheit jenseits des von ihm
gewünschten Maßes aufgedrängt würde, weil darin eine Missachtung des Individuums

50 Joseph Raz, The Morality of Freedom, S.€199–207.


51 Joseph Raz, The Morality of Freedom, S.€206: „The ideal of personal autonomy entails, therefore, that
collective goods are at least sometimes intrinsically valuable.“
44 I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

läge. Das zeigt aber, dass die Autonomie im Sinne der Wahlfreiheit, zumindest sofern
sie gemeinschaftlich erzeugt und gewährt wird, in ihrer tatsächlichen Realisierung kein
intrinsisches Gut ist, sondern die Bejahung durch die Betroffenen zur notwendigen
Bedingung hat. Autonomie im Sinne von Wahlfreiheit ist eine erste und wesentliche
Konkretisierung des normativen Individualismus. Es mag etwa sein, dass sich in einer
Gesellschaft alle Menschen endgültig gegen bestimmte Optionen der Berufs- oder Part-
nerwahl entscheiden, etwa aus religiösen, nicht weiter objektivierbaren Gründen. Der
Vertreter intrinsischer kollektiver Werte bzw. Güter müsste dann behaupten, dass diese
intrinsischen kollektiven Werte bzw. Güter gegen den Willen aller Betroffenen bestehen
bleiben oder durchgesetzt werden sollen. Aber die Autonomie der Wahlfreiheit des Ein-
zelnen kann im Extremfall zur berechtigten Entscheidung für die Existenz als Eremit
führen und damit jede Gesellschaft sowie alle in ihr erreichbaren kollektiven Güter
negieren. Die Möglichkeit und Berechtigung dieses Extremfalls zeigt, dass kollektive
Güter in einer Gemeinschaft nicht unabhängig von individuellen Interessen intrinsisch
wertvoll sein können. Man kann den Einwand gegen Raz noch allgemeiner fassen: Selbst
wenn es von menschlicher bzw. sonstiger individueller Bewertung unabhängige Güter
oder Werte gäbe, wäre es doch notwendig, dass Individuen diese Güter oder Werte zu-
nächst erkennen und dann vor allem mittels eigener Bedürfnisse, Wünsche oder Ziele
zum für sie und andere moralisch relevanten Belang erheben. Denn es ist nicht ersicht-
lich, woraus ohne eine solche individuelle Bewertung im Rahmen einer immanenten,
nichtreligiösen Perspektive die normative Kraft dieser Werte resultieren sollte.
Autonomie kann nun aber nicht nur die Wahlfreiheit äußerer kollektiver Optionen
meinen, sondern auf einer fundamentaleren Ebene auch die Willens- und Handlungs-
freiheit, also die grundsätzliche Möglichkeit, zu wollen und gemäß diesem Wollen zu
handeln. Aber diese Autonomie als Willens- und Handlungsfreiheit ist nun weder ein
kollektiver Wert noch ein kollektives Gut. Es handelt sich vielmehr um eine€– im Fall
der Willensfreiheit umstrittene€ – natürliche Bedingung individuellen menschlichen
Handelns.
Kann es eine Rechtfertigung oder Widerlegung des normativen Individualismus
geben, die ontologisch noch grundlegender ist als die hier vorgestellte? Gibt es etwa
ein grundlegendes „Prinzip der Individualität“?52 Oder gibt es umgekehrt einen grund-
legenden Kollektivismus, wie ihn manche strikte Kommunitaristen annehmen? Wie
erwähnt, scheinen hier Zweifel angebracht zu sein. Sobald man versucht, im Rahmen
der ersten Frage der moralisch zu berücksichtigenden Wesen noch grundlegender und
damit notwendig noch ontologischer zu argumentieren, büßt die normativ-ethische
Fundierung zwangsläufig an Begründungskraft ein. Man stellt dann zwar vielleicht eine
ontologische Beschreibung bzw. Behauptung auf, formuliert aber kein Element einer
normativen Ethik, das schon eine gewisse normative Kraft aufweisen muss, um erster
Teil einer rechtfertigungsfähigen Ethik sein zu können.

52 Vgl. Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität.


5. Begründung des Individualprinzips 45

d) Akteur und Anderer

Das normativ-ethische Grundverhältnis, also die Konkretisierung der Kritik und Recht-
fertigungsfunktion der normativen Ethik im engeren Sinn mit Bezug auf die Relation
Akteur-Anderer, lässt sich folgendermaßen visualisieren, wobei der durchbrochene Pfeil
die fragliche Handlung mit Bezug auf den betroffenen Andern symbolisiert und der
nicht durchbrochene Pfeil die potentiell gegenläufige Verpflichtung des Handelnden
durch den betroffenen Anderen:

A A

K N

T D

E E

U R

R E

Auf dieser Stufe der Theorie ist mit der abstrakten Unterscheidung zwischen Akteur und
betroffenem Anderen noch nicht ausgeschlossen, dass beide im konkreten Fall ein und
dasselbe Individuum sind, dass also Pflichten gegen sich selbst bestehen. Kapitel€VIII
wird aber zeigen, warum derartige Pflichten nicht anerkannt werden können.
Die Verpflichtungs- und Handlungsrelationen können natürlich auch umgekehrt
bestehen, so dass der Akteur zum Anderen wird und der Andere zum Akteur. Sind beide
Beteiligte nicht nur moralisch betroffene Andere, sondern auch moralisch einsichtsfähig
handelnde Personen wie etwa beim Standardfall zweier Erwachsener, so sind Handlun-
gen und Verpflichtungen regelmäßig wechselseitig:

A A

K N

T D

E E

U R

R E

R
46 I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

6. Begründung des Allprinzips

Warum sind alle von einer Handlung betroffenen Individuen zu berücksichtigen und
nicht nur einige, zum Beispiel eine Elite, wie es etwa manche Äußerungen Nietzsches
nahe legen,53 warum gilt also das Allprinzip?
Die Trennung zwischen dem Handelnden und dem von einer Handlung moralisch
Betroffenen und damit das Individualprinzip des normativen Individualismus setzen
voraus, dass der Betroffene moralisch relevante Eigenschaften aufweist oder entfaltet
(welche, wird im nächsten Kapitel€zu erörtern sein). Ist dies nicht der Fall, so kann er
nicht selbständig moralisch berücksichtigungswürdig sein. Dieses Erfordernis der Ent-
faltung moralisch relevanter Eigenschaften gilt nun aber für alle moralisch zu berück-
sichtigenden Einzelnen in gleicher Weise. Alle moralisch zu berücksichtigenden Indi-
viduen stehen unter dem Erfordernis, eigenständige moralisch relevante Eigenschaften
aufzuweisen oder zu entfalten. Ist dies aber die entscheidende Voraussetzung für die
moralische Berücksichtigungswürdigkeit, dann ist kein Grund ersichtlich, warum nicht
alle Wesen, bei denen diese moralisch relevanten Eigenschaften bestehen, also die erste
Voraussetzung für die moralische Berücksichtigungswürdigkeit zutrifft, grundsätzlich
moralisch bzw. ethisch zu berücksichtigen sein sollen (vorbehaltlich der anderen vier
Elemente der Rechtfertigung). Für alle moralisch zu berücksichtigenden Individuen
ergibt sich eine Betroffenheit, sofern die Individuen eine entsprechende moralisch re-
levante Eigenschaft aufweisen und die Handlung im konkreten Einzelfall dieser Eigen-
schaft entweder entsprechen oder widersprechen kann.
Diese Einsicht bereitet auch die noch näher zu erörternde Frage vor, wie weit die
Grenze der moralisch zu berücksichtigenden Arten von Individuen zu ziehen ist (vgl.
Kapitel€XIII).

7. Begründung des Prinzips


der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung

Mit dem Individualprinzip und dem Allprinzip des normativen Individualismus not-
wendig verbunden ist das dritte Teilprinzip des normativen Individualismus, das Prinzip
der fundamentalen Gleichheit der Berücksichtigung aller Individuen. Wenn alle betroffe-
nen Individuen zu berücksichtigen sind, so gibt es keinen Grund, einzelne Individuen
von vornherein und als solche ungleich zu berücksichtigen, sofern sie grundsätzlich
betroffen sind. Keiner hat einen prinzipiell herausgehobenen Status. Denn worauf sollte
dieser sich stützen, wenn keine religiösen oder ontologisch-metaphysischen Zusatzan-
nahmen gemacht werden? In der Abwägung von Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und

53 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Sämtliche Werke 5, hg. von Giorgio Colli und Mazzino
Montinari, Studienausgabe München 1980, S.€205â•›ff.
7. Begründung des Prinzips der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung 47

Strebungen ist grundsätzlich jeder gleichermaßen Quelle von Normativität. Wenn die
betroffenen Individuen als Individuen zu berücksichtigen sind, so gibt es keinen Grund,
sie auf einer fundamentalen Ebene als ungleich zu berücksichtigen. Jede Form einer
grundsätzlichen UngleichbeÂ�rückÂ�sichtigung von Frauen und Männern, von Erwachse-
nen und Kindern, von Alten und Jungen, von Bürgern und Nichtbürgern, von Armen
und Reichen, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist deshalb ethisch ausgeschlossen.
Allerdings muss zwischen dem grundsätzlichen Prinzip der Gleichberücksichtigung
als erstem Element der normativ-ethischen Theorie und verschiedenen anderen Ausprä-
gungen des Gleichheitsgedankens klar unterschieden werden:
Erstens: In Kapitel€V wird sich zeigen, dass bei der Abwägung der fraglichen Belange
das Prinzip der Gleichheit der Interessenbefriedigung eine Rolle spielt. Dabei wird sich
aber erweisen, dass es sich weder um das einzige noch um das grundlegende Abwä-
gungsprinzip der normativen Ethik handelt.
Zweitens: Vom Prinzip der Gleichberücksichtigung und dem Prinzip der Gleich-
heit der Interessenbefriedigung muss des Weiteren die Pflicht zur Gleichberücksichtigung
bzw. Gleichbeachtung klar unterschieden werden. Die Pflicht zur Gleichberücksichti-
gung bzw. Gleichbeachtung ist ein mögliches Ergebnis der gesamten normativ-ethischen
Rechtfertigung, also ein Ergebnis der Verbindung aller fünf Elemente der normativ-
ethischen Begründung primärer Normordnungen. Dabei kann es natürlich mit guten
Gründen im Einzelfall oder in bestimmten Typen von Fällen eine Erlaubnis oder sogar
eine Pflicht zur Ungleichberücksichtigung geben. Eigene Kinder etwa verdienen mehr
Aufmerksamkeit als fremde€– sofern nicht spezielle Umstände hinzukommen, etwa die
Übernahme einer besonderen Aufsicht über die fremden Kinder. Nicht ausgeschlossen
ist also€– wie noch näher zu erläutern sein wird –, dass auf der Basis des fundamentalen
Prinzips der Gleichberücksichtigung spezifische Belange und Interessen einzelner In-
dividuen in unterschiedlichen Konfliktsituation unterschiedlich stark beachtet werden
müssen.
Drittens: Vom Prinzip der Gleichberücksichtigung, dem Prinzip der Gleichheit der
Interessenbefriedigung und der Pflicht zur Gleichberücksichtigung sind schließlich
sorgfältig die Pflichten zur Gleichbehandlung und zur Gleichstellung zu unterscheiden.
Die Pflicht zur Gleichbehandlung ist wie die Pflicht zur Gleichberücksichtigung kein
Teil eines der fünf Begründungselemente, sondern ein mögliches Ergebnis der fünf Ele-
mente einer adäquaten normativen Ethik. Dabei kann es im Einzelfall oder in bestimm-
ten Typen von Fällen natürlich gute Gründe für eine Erlaubnis oder sogar eine Pflicht
zur Ungleichbehandlung geben. Behinderte müssen etwa unter bestimmten Umständen
bevorzugt werden. Vergleichbares gilt für eine noch weiter gehende Pflicht zur Gleich-
stellung.
Man sollte sich an dieser Stelle das Verhältnis zwischen den ersten beiden Teilen des
Prinzips des normativen Individualismus und dem Prinzip der grundsätzlichen Gleich-
heit der Berücksichtigung der Individuen deutlich machen. Das Individualprinzip und
das Allprinzip des normativen Individualismus sind fundamentaler. Das Prinzip der
grundsätzlichen Gleichheit der Berücksichtigung der Individuen stellt eine wesentliche
Folgerung aus den ersten beiden Teilprinzipien des normativen Individualismus dar.
48 I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

8. Die ontologische Voraussetzung

Wie jeder ethischen Theorie liegt auch dem normativen Individualismus eine gewisse
Minimalontologie als notwendige, wenn auch nicht normativ bestimmende, also hin-
reichende Bedingung zu Grunde. Ausschließlich Individuen als in letzter Instanz mora-
lisch zu berücksichtigend anzusehen setzt voraus, dass derartige Individuen zum einen
als prinzipiell bestehend (wenn auch vielleicht erst in der Zukunft) und zum anderen
als von anderen Wesen unterscheidbar angenommen werden. Vorauszusetzen ist also
eine individualistische Sozialontologie.54 Allerdings handelt es sich dabei wie gesagt nur
um eine minimale Ontologie und auch nur um eine Sozialontologie als Teil der allge-
meinen Ontologie. Es ist zum Beispiel durchaus mit dem normativen Individualismus
vereinbar€– und im Übrigen empirisch sehr gut begründet –, davon auszugehen, dass
es keine völlig isolierten Individuen ohne Relationen zu anderen Individuen gibt. Jeder
Mensch hat etwa biologische Eltern. Mit dem normativen Individualismus ist es auch
vereinbar, anzunehmen, dass alle Individuen Teil eines größeren Ganzen, etwa der Welt
als Ganzes, sind.
Nur drei sehr extreme ontologische Auffassungen sind denkbar, welche den nor-
mativen Individualismus prinzipiell ausschließen würden. Die erste wäre ein absoluter
ontologischer Holismus, also eine Theorie der absoluten metaphysischen Einheit bzw.
Identität der Welt, wonach nur ein einziges, intern nicht differenziertes Seiendes be-
stünde.55 Die zweite wäre ein absoluter ontologischer Nihilismus, wonach nichts besteht.
Die dritte wäre ein absoluter ontologischer Kollektivismus, wonach die Welt nur in Kol-
lektive zerfällt, die wiederum nicht in Individuen zerfallen€– was immer man darunter
zu verstehen hätte, denn es scheint so zu sein, dass der Begriff des Kollektivs bereits den
der Individuen als Teil dieses Kollektivs voraussetzt.
Keine dieser extremen Varianten einer Ontologie wird ernsthaft vertreten. Würde
eine der ersten beiden Varianten zutreffen, so wäre ohnehin mangels Differenzierung
von Handelndem und Betroffenem jede Moral und Ethik undenkbar. Diese beiden
ontologischen Varianten sind also rein begrifflich mit der Frage nach einer Moral und
Ethik ausgeschlossen. Die dritte Variante eines absoluten ontologischen Kollektivismus
widerspricht nicht nur allen unseren Annahmen über die Welt, sondern wird€– soweit
ersichtlich€– weder von Philosophen im Allgemeinen noch von holistischen Ethikern im
Besonderen auch nur in Erwägung gezogen.

54 Vgl. zu einer dazu passenden allgemeinen Ontologie: Peter F. Strawson, Individuals. An Essay in Descrip-
tive Metaphysics, Nachdr. London 1990.
55 Vgl. dazu: Verf., Absolute Identityâ•›/â•›Unity, in: The Review of Metaphysics LXII (2009), S.€803–818.
9. Asymmetrie und Symmetrie der Verpflichtungen 49

9. Asymmetrie und Symmetrie der Verpflichtungen

Moralisch und ethisch verpflichtet können nur einsichtsfähige Menschen sein (sog.
moralische Subjekteâ•›/â•›moral agents). Stehen sie in einem moralischen Konflikt nicht glei-
chermaßen einsichtsfähigen Menschen, sondern anderen moralisch zu berücksichtigen-
den Individuen (sog. moralischen Objektenâ•›/â•›moral patients) gegenüber, so resultiert eine
Asymmetrie der Verpflichtung.
Begegnen sich dagegen in einem moralischen Konflikt zwei einsichtsfähige Men-
schen, so tritt zur fundamentalen Gleichheit der moralischen Berücksichtigung eine
Symmetrie als moralisch Handelnde und Wissende hinzu. Oder abstrakter ausgedrückt:
Einsichtsfähige Menschen verdienen nicht nur passiv in gleicher Weise durch den jeweils
Anderen Berücksichtigung. Sie sind einander auch aktiv in gleicher Weise verpflichtet.
Schließlich wird auch das jeweilige Wissen einsichtsfähiger Menschen, das diesen aktiven
wie passiven Aspekten der Verantwortung und Berücksichtigung zu Grunde liegt, prinzi-
piell als gleich angenommen, obwohl es sich in der Realität natürlich unterscheidet.
II. Die entscheidenden Eigenschaften
der zu berücksichtigenden Individuen:
Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen
(Belange bzw. Interessen)

Akzeptiert man den normativen Individualismus als erste und grundlegende Forderung an
die Moral und damit als erstes und grundlegendes Element bzw. Prinzip der normativen
Ethik, so stellt sich die weitere Frage: Welche Eigenschaften der in letzter Instanz moralisch
zu berücksichtigenden Individuen sollen für eben diese Berücksichtigung relevant sein?1

1. Kritik verschiedener Vorschläge

a) Zwei Adäquatheitsbedingungen

Zur Frage der moralisch entscheidenden Eigenschaften der Individuen gibt es eine
schier unübersehbare Vielzahl von Vorschlägen, etwa Selbsterhaltung (Hobbes), Wil-
le, Willkür (Rousseau, Kant), Geschädigtsein (harm, Mill), individuelle menschliche
Entwicklung (human flourishing, Pogge), Glück (eudaimonia, happiness, Aristoteles),
Freiheit (von Hayek), Funktionen und Fähigkeiten (capabilities, Sen), Wohlergehen,
Wohl�fahrt (well-being, welfare, Griffin, Raz, Sumner), Lust und Leid bzw. Nutzenbe-
friedigung, sog. Hedonismus (Bentham, Mill, klassischer Utilitarismus), das moralische
Gesetz „in mir“ (Kant), Autonomie (Selbstgesetzgebung, Kant), Gefühle (Tugendhat),
Mitleid (Schopenhauer), Rechte (Nozick, Dworkin), faktische Einwilligung (Locke),
fiktive Zustimmung bzw. Rechtfertigung (Scanlon, Habermas, Koller), Bedürfnisse
(Marx, Apel), Wünsche (desires, Sidgwick), Ziele (aims, goals), Strebungen, Interessen
(Höffe, Hoerster, Patzig), Präferenzen (Arrow, Gauthier).2

1 Der Begriff der Eigenschaft wird dabei in einem sehr weiten Sinn verstanden, also einschließlich zwei-
und mehrstelliger Relationen und auch im Sinne von Tätigkeits- und Ereignistypen.
2 Thomas Hobbes, Leviathan, hg. von Richard Tuck, Cambridge 1991, Kap. XVII, S.€117; Jean-Jacques
Rousseau, Du Contrat Social, Paris 1992, 2. Buch, 3. Kap., S.€54; Immanuel Kant, Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten, S.€ 393; ders., Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der
Rechtslehre, S.€ 230; John S.€ Mill, On Liberty, hg. von Elizabeth Rapaport, Indianapolis 1978, S.€ 9;
Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights, S.€26╛ff.; Amartya K. Sen, Inequality Reexamined,
3.€Aufl. New York 1995, passim; Friedrich A. von Hayek, The Constitution of Liberty, passim; James
Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance; Joseph Raz, Ethics in the Public
Domain, Oxford 1994, S.€3╛ff.; Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness, and Ethics; Jeremy Bentham,
An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. I 1., S.€1; Immanuel Kant, Kritik der
1. Kritik verschiedener Vorschläge 51

Diese umfangreiche, aber noch keineswegs vollständige Aufzählung von Vorschlägen


soll davor bewahren, sich zu schnell und ohne weiteres auf einen von ihnen zu beschrän-
ken, wie dies häufig geschieht3 und was zu wenig umfassenden, das heißt philosophisch-
methodisch zweifelhaften Erklärungsversuchen führt. Man wird sich vielmehr zunächst
fragen müssen, wie man überhaupt aus diesen verschiedenen Vorschlägen auswählen soll.
Zwischen diesen Vorschlägen lässt sich nur mit Hilfe zweier Adäquatheitsbedingun-
gen entscheiden. Diese zwei Adäquatheitsbedingungen sind€– wie in der Einleitung zu
den Elementen einer begründeten normativen Ethik erläutert€– janusköpfig: Die erste
blickt quasi auf das erste Element des normativen Individualismus zurück. Die zwei-
te schaut auf die Auswahl zwischen möglichen Charakterformen, Handlungen bzw.
Entscheidungen und dann weitergehend auf das normative Ziel der ethischen Recht�
fertigung voraus:
Die erste dieser Adäquatheitsbedingungen ergibt sich aus einer Anwendung des
normativ-indiviÂ�duaÂ�listiÂ�schen Grundprinzips auf einer sekundären, theoriebestimmen-
den Ebene:4 Sieht man die Individuen als letzten Ausgangspunkt der normativen Ethik
an, so darf man ihnen von außen keine bestimmte Eigenschaft als ethisch entscheidend
zuschreiben. Man darf ihren Entscheidungsspielraum nicht einschränken, welcher As-
pekt ihrer Individualität im Rahmen der moralischen Berücksichtigung für die KonstiÂ�
tuierung des Konflikts und damit in der Abwägung mit den Belangen Anderer we-
sentlich sein soll. Eine derartige Selbstbestimmung durch einzelne konkrete Individuen
ist natürlich im Rahmen einer intersubjektiv notwendigen Abwägung der Moral bzw.
einer abstrakten Theorie, wie sie eine Ethik notwendig sein muss, unmöglich. Dann
wird man aber zumindest Annahmen machen müssen, durch welche die Individuen
in ihrer Freiheit und Individualität möglichst zur Geltung kommen. Die gesuchte Ei-
genschaft der Individuen darf also nicht zu eng und pater�nalistisch sein, soll sie das
normativ-individualistische Prinzip der selbständigen Berücksichtigung der Individu-
en nicht unzulässig einschränken. Notwendig ist deshalb, dass eine subjektive Haltung
und Bewertung eine wesentliche Rolle spielt. Die Eigenschaft darf also nicht rein aus

praktischen Vernunft (1788), Kants gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie
der Wissenschaften, Bd. V, Berlin 1908, Nachdr. Berlin 1968, A 288, S.€161; John S.€Mill, Utilitaria-
nism, hg. von H.╛B. Acton, London╛/╛Melbourne 1972; Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia, S.€IX;
Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, Cambridge 1977, S.€ 184╛ff.; John Locke, Two Treatises of
Government (1691), hg. von Peter Laslett, Cambridge 1991, The Second Treatise, § 95; Thomas M.
Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€189╛ff.; Peter Koller, Moderne Vertragstheorie und Grund-
gesetz, in: Winfried Brugger, Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Ge-
sellschaftstheorie, 1.€Aufl. Baden-Baden 1996, S.€361–393; Karl-Otto Apel, Transformationen der Phi-
losophie€II, Frankfurt a.╛M. 1973, S.€425; Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, Indianapolis 1981,
S.€43â•›ff., Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S.€55â•›ff.; Norbert Hoerster, Ethik
und Interesse, Stuttgart 2003; Günther Patzig, Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven
Interessen und seine Bedeutung für die Ethik; Kenneth J. Arrow, Social Choice and Individual Values,
2.€Aufl. New Haven 1963, S.€11╛ff.; David Gauthier, Morals by Agreement.
3 Etwa bei Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness and Ethics; James Griffin, Well-Being. Its Meaning,
Measurement and Moral Importance.
4 Dies zeigt, dass das erste, ontologisch-fundamentale Element des normativen Individualismus grundle-
gender als die anderen Elemente ist, weil es auch die anderen Elemente mitbestimmt.
52 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

der Perspektive eines bloßen Beobachters festgelegt werden. Jede objektive Feststellung
muss die Selbstzuschreibung der Betroffenen berücksichtigen.5
Die zweite Adäquatheitsbedingung ergibt sich aus der Funktion bzw. dem Ziel der
normativ-ethischen Untersuchung: Die normativ-ethische Untersuchung dient nicht der
bloßen Beschreibung der Moral, sondern auch und vor allem ihrer Begründung und
Kritik. Sie ist also notwendig normativ im Sinne einer Fähigkeit, die Moral bzw. andere
primäre Normordnungen zu begründen und zu kritisieren. Diese Normativität muss aus
ihren Elementen erwachsen. Das erste Element des normativen Individualismus trifft
zwar eine Auswahl zwischen ontologisch möglichen Alternativen und kann damit inner-
theoretisch die Grundlage für die anderen, normativ wirksamen Elemente liefern. Aber
es schafft allein noch keine extern wirksame Normativität, die eine Rechtfertigung und
Kritik moralischer Verpflichtungen ermöglichen würde. Die moralisch entscheidende
Â�Eigenschaft der Individuen hat dagegen diese Normativität zumindest in einer noch ro-
hen und durch die nachfolgenden Elemente der Theorie weiter zu formenden Gestalt zu
liefern. Die gesuchte Eigenschaft der Individuen muss also in der Lage sein, die ethische
Relation zwischen den Individuen normativ zu bestimmen. Das heißt, es muss sich zwar
um eine be�schreib�bare Tatsache bzw. Eigenschaft handeln. Aber anders als rein faktische
Eigenschaften wie die Körpergröße oder das Gewicht einer Person braucht die für Moral
und Ethik entscheidende Eigenschaft auch eine normative Dimension. Als Eigenschaft
der moralisch und ethisch allein relevanten Individuen muss sie zur letzten Quelle der
moralischen Normativität taugen€– auch wenn sich diese, wie wir noch sehen werden,
natürlich nicht in ihr erschöpft, da sie hinsichtlich der potentiell widerstreitenden Belan-
ge allein noch keine Objektivität der Konfliktlösung gewährleisten kann.
Im Folgenden werden nun einzelne Vorschläge mit Hilfe dieser beiden Adäquat-
heitsbedingungen untersucht:

b) Einzelne Möglichkeiten

Das Streben nach Selbsterhaltung mag ein zentrales Interesse der Menschen sein. Aber es
gibt daneben noch andere Bedürfnisse und Wünsche, welche die Menschen befriedigt
sehen wollen, etwa die Verwirklichung ihrer religiösen, kulturellen und gesellschaftli-
chen Überzeugungen. Die Beschränkung der moralisch relevanten Eigenschaft auf das
Streben nach Selbsterhaltung ist also zu eng und paternalistisch und genügt der ersten
Adäquatheitsbedingung einer weiten, die umfassende Berücksichtigung der Selbstzu-
schreibung der Individuen ermöglichenden Eigenschaft nicht.
Der Willensbegriff verengt nach dem heutigen Verständnis€ – abweichend von der
sehr spezifischen Kantischen Interpretation, zu der gleich noch etwas zu sagen sein
wird€– die Bestimmung der RechtferÂ�tigungsrelaÂ�tion auf einen tatsächlich bestehenden
psychischen Zustand eines IndiÂ�viduums mit höheren kognitiven Fähigkeiten. Die BeÂ�
rücksichtigung der Belange von Neugeborenen, Komatösen usw. wird damit problemaÂ�

5 Vgl. Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness and Ethics, S.€27╛ff.


1. Kritik verschiedener Vorschläge 53

tisch. Entsprechendes gilt für die Belange von Erwachsenen, wenn sie der jeweiligen
Person nicht bewusst sind. Dem psychologischen Willensbegriff fehlt es also sowohl an
Weite als auch an normativer Bestimmungskraft.
Weder hinreichend weit und offen noch hinreichend normativ sind auch die Ei-
genschaften der Schädigung und der menschlichen Entwicklung. Wir erwarten auch die
Berücksichtigung von Belangen und Wünschen, welche nicht durch Schädigungen oder
Ziele der menschlichen Entwicklung motiviert sind. Der Begriff der menschlichen Ent-
wicklung hat überdies den Nachteil, dass er bereits rein begrifflich nichtmenschliche
Lebewesen wie Tiere als moralisch und ethisch relevante Seiende ausschließt, die nach
dem ersten Element des normativen Individualismus nicht von vornherein unberück-
sichtigt bleiben dürfen.
Interpretiert man die Freiheit entweder als innere psychologische Handlungsbedin-
gung oder als Unabhängigkeit von äußerem Zwang, so ist sie als Bestimmung zu ein-
seitig und zu wenig normativ, um als grundlegende moralisch relevante Eigenschaft der
Individuen zu taugen.
Funktionen und Fähigkeiten der Individuen sind zwar wichtige Eigenschaften. Aber
sie bleiben rein objektivistisch, ohne die je spezifische, subjektive Haltung der Betrof-
fenen zu ihnen ausdrücken zu können. Sie nehmen die eigenen Entscheidungen der
Individuen, also die erste Adäquatheitsbedingung, nicht hinreichend ernst. Verweigert
jemand die Ausübung von Funktionen oder den Erwerb von Fähigkeiten, so ist das nor-
mativ-ethisch hinzunehmen. Beiden Eigenschaften fehlt überdies die nach der zweiten
Adäquatheitsbedingung erforderliche normative Kraft. Die Eigenschaften sind als Ziele
der Entwicklungspolitik propagiert worden und haben dort sicher einen sehr guten
Sinn.6 Aber sie sind als alleinige normativ begründende Eigenschaften der Individuen
im Rahmen einer grundlegenden, normativ-ethischen Theorie nicht hinreichend. Steht
etwa in Frage, ob Versprechen zwischen Privaten gehalten werden sollen, so kann es
nicht entscheidend sein, ob dadurch Funktionen und Fähigkeiten gefördert werden.
Vergleichbares gilt für den Glücksbegriff. Das Glück bzw. ein glückliches Leben kann
zwar in einem sehr formalen Sinn als abstraktestes Ziel vieler Menschen angesehen wer-
den. Aber es bleibt doch zweifelhaft, ob dies wirklich für alle zutrifft, etwa für Märtyrer.
Die Aspekte des Glücksbegriffs müssen überdies konkretisiert werden, um innerhalb ei-
ner normativ-ethischen Theorie als normativ wirksame Elemente dienen zu können. Im
Übrigen ist der Glücksbegriff offen für eine rein objektivistische Bewertung durch Drit-
te und genügt damit der in der ersten Adäquatheitsbedingung geforderten Bestimmung
durch die subjektive Selbstzuschreibung der Betroffenen nicht. Zumindest begrifflich
ist es nicht widersprüchlich, jemanden „zu seinem Glück zu zwingen“.
Ähnliches spricht dagegen, Wohlergehen bzw. Wohlfahrt als die grundlegende Eigen-
schaft anzusehen. Wir müssen annehmen, dass die betroffenen Individuen selbst noch
einmal mit Rekurs auf ihre Ziele, Wünsche und Bedürfnisse über ihr Wohlergehen
entscheiden wollen, und zwar jenseits aller objektivistischen Vorgaben.

6 Martha Nussbaum, Woman and Human Development. The Capabilities Approach, Cambridge 1999, S.€5╛ff.
54 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

Für Lust und Leid, also den Hedonismus gilt: Es mag sein, dass manche unserer nor-
mativ relevanten Eigenschaften faktisch-kausal auf Lust und Leid rückführbar sind oder
zumindest auch Aspekte von Lust und Leid beinhalten. Aber wir nehmen als entschei-
dungsfähige Wesen für uns in Anspruch, die wesentlich körperlichen Strebungen von
Lust und Leid noch einmal durch unseren Willen und unsere mentalen Fähigkeiten zu
bewerten und zu beurteilen. Wir setzen etwa ein Fußballspiel trotz verletzungsbedingter
Schmerzen fort. Wir helfen Anderen, weil es notwendig ist, selbst wenn es Gefühle der
Unlust in uns erzeugt. Diesem Anspruch auf voluntativ-mentale Bewertung und Beur-
teilung der physischen Zustände von Lust und Leid, der zentraler Ausdruck unserer In-
dividualität und unseres Selbstverständnisses ist, muss eine adäquate normativ-ethische
Theorie Rechnung tragen. Sähe man Lust und Leid als ethisch entscheidende Eigen-
schaften an, würde man also die erste Adäquatheitsbedingung verletzen. Das bereits
von Sidgwick formulierte „fundamentale Paradox des Hedonismus“ spricht im Übrigen
dagegen, Lust und Leid als grundlegende moralische Eigenschaft aufzufassen: Unmit-
telbares Streben nach Lust verhindert das Erreichen höchster Lust, sobald es dominant
wird.7 Wer etwa beim Hören schöner Musik die Intention auf die Maximierung seiner
Lust richtet, wird nicht die höchstmögliche Lust erzielen.
Kants Annahme eines „moralischen Gesetzes in mir“,8 auf das der Wille jedes einzel-
nen Handelnden ausgerichtet sein soll, ist mit zwei Problemen behaftet: Bei der Annah-
me der Existenz dieses Gesetzes handelt es sich zum einen um eine starke metaphysische
Spekulation, die wegen der Dunkelheit des Gesetzesbegriffs und der Zweifelhaftigkeit
der individuellen Lokalisierung des Gesetzes kaum allgemein vorausgesetzt werden
kann. Aber selbst wenn man ein solches „moralisches Gesetz in mir“ als bestehend anse-
hen würde, so wäre zum anderen das Resultat eine akteurszentrierte Ethik. Der Akteur
müsste nur seinem eigenen moralischen Gesetz in sich folgen, nicht aber die Belange
der anderen Individuen als genuinen Ausdruck ihrer Individualität unmittelbar ernst
nehmen. Dies widerspricht der ersten Adäquatheitsbedingung der Realisierung des nor-
mativen Individualismus.
Gefühle sind ohne Zweifel wesentliche psychisch-kausale Bestimmungsfaktoren un-
serer Bedürfnisse, Wünsche und Ziele. Insofern spielen sie in jeder Beschreibung der
Moral eine wichtige Rolle. Aber in letzter normativer Hinsicht sehen wir sie nicht als
alleinentscheidend an. Wir fragen etwa, ob sich ein Gefühl zu einem Bedürfnis, einem
Wunsch oder einem Ziel entwickelt hat, um über seine moralische Signifikanz zu urtei-
len. Hat zum Beispiel jemand verwirrte Gefühle, die er bei Befragung nicht als Ziele,
Wünsche oder Bedürfnisse artikulieren kann, so dürfen wir uns im moralischen Kon-
flikt nicht allein auf seine Gefühle stützen. Die Gefühle sind ein wesentlicher Ausgangs-
punkt, nicht aber der Endpunkt des Entscheidungsprozesses eines Individuums im
Hinblick auf seine in moralischen Konflikten entscheidenden Eigenschaften. Und für
die Moral, das heißt für die Konfliktlösung und die Handlungspflichten der Akteure, ist
dieser Endpunkt des Entscheidungsprozesses moralisch wesentlich, denn sonst würden

7 Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, S.€48.


8 Immanuel Kant, Kritik der Praktischen Vernunft, A 288, S.€161.
1. Kritik verschiedener Vorschläge 55

die von der Handlung betroffenen Individuen in ihrer Individualität bzw. Humanität
durch eine Beurteilung des Akteurs auf den Ausgangspunkt ihrer Belange reduziert.
Der Begriff der Rechte€ – verstanden in einem subjektiven Sinn€ – ist wichtig, um
zentrale Lebensvorstellungen der Menschen zu kennzeichnen. Aber der Begriff ist für
die umfassende Bestimmung der ethischen Relation zwischen Individuen aus meh-
reren Gründen wenig geeignet. Die RechtfertiÂ�gungsrelation bedarf eines norÂ�mativen
Transfers von den betroffenen In�divi�duen auf die ethische Entscheidung. Der ethischen
EntscheiÂ�dung wird durch diesen Transfer die Unrechtmäßigkeit genommen. Der Be-
griff des „subjektiven Rechts“ impliziert daÂ�gegen zumindest in einer von vielen ange-
nommenen Interpretation umgekehrt, dass die Individuen eine Handlung oder Un-
terlassung fordern können, enthält also€ – was in Kapitel€ VII, 4 noch zu diskutieren
sein wird€– einen Anspruch.9 ManÂ�che Interessen der Individuen münden sicherlich in
einen solchen AnÂ�spruch, so dass sich in derartigen Fällen die Unterscheidung zwischen
Interesse und Recht erübrigt. Aber Interessen, deÂ�nen kein sinnvoller, über das Interesse
an der Erfüllung hinausgehenÂ�der Anspruch auf das Handeln eines anderen zuzuordnen
ist, werden durch den Rechtsbegriff nicht erfasst. Wir haben zum Beispiel ein Interesse,
dass alle sich soweit wie möglich bemühen, Tatsachen korrekt zu beschreiben. Aber es
er�scheint nicht gerechtfertigt, ein generelles subjektives Recht im Sinne eines subjekti-
ven Anspruchs gegenüber Anderen auf die bestmögliche Beschreibung von Tatsachen
zu behaupten.
Man kann den Rechtsbegriff natürlich so weit ausÂ�dehnen, dass er nicht mehr einen
Anspruch auf ein spezifisches subjektbezügliches Handeln, sondern allgemein die Be-
achtung aller Interessen des EinÂ�zelnen meint. Dann wären Rechts- und Interessenbe-
griff synonym. Das würde aber den Rechtsbegriff als spezifischeren Begriff und damit
spezifi�scheres Instrument der normativen Ethik und des Rechts entwerten. Diese Stra-
tegie ist also wenig überzeugend. Man sollte den Rechtsbegriff deshalb besser für beson-
dere Interessen reservieren, die mit einem Anspruch des Begünstigten verbunden sind,
und nicht versuchen, ihn so auszudehnen, dass er zur Bezeichnung der grundlegenden
Eigenschaft der betroffenen Individuen tauglich wird.
Die Eigenschaft der faktischen Einwilligung bzw. Zustimmung kann sowohl als weit
genug und damit dem normativen Individualismus entsprechend als auch als normativ
bestimmend anÂ�geÂ�sehen werden. Aber sie wird nur in den seltensten Fällen tatsächlich
vorliegen. Und wenn sie vorliegt, bedarf es keiner Moral und damit keiner Ethik. Dies
drückt der klassische Grundsatz „volenti non fit iniuria“ aus.
Das Erfordernis der faktischen Einwilligung ist ein sehr starkes Erfordernis. Man
sollte sich vor Augen führen, dass es viel stärker als die Eigenschaften der Bedürfnisse,
Wünsche oder Interessen ist. Die faktische Einwilligung setzt die vollständige Entspre-
chung voraus. Bedürfnisse, Wünsche oder Interessen kann man dagegen nur zum Teil
oder im Extremfall auch gar nicht befriedigen, ohne dass ihre prinzipielle Berücksich-
tigung aufgehoben würde. Dies entspricht dem Normalfall der Moral und Ethik viel

9 Vgl. Wesley N. Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning (1919), West-
port 1978; Judith J. Thomson, The Realm of Rights, Cambridge 1990.
56 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

eher, weil die Moral ja in der Vermittlung zwischen widerstreitenden Belangen ihr Ziel
hat. Und es scheint für eine Rechtfertigung auch zu genügen, weil die Moral keine all-
gemein organisierte und institutionalisierte Zwangsgewalt darstellt, sondern ein diffuses
Netz von Regeln und Wertungen. Allenfalls für die sehr viel speziellere und massiver
eingreifende Etablierung einer kollektiven Zwangsgewalt wird man deshalb vielleicht
das erheblich stärkere Erfordernis der faktischen Zustimmung verlangen dürfen.
Das Problem der Stärke und des fehlenden Bestands der faktischen Einwilligung
versucht der Begriff der fiktiven Einwilligung bzw. Zustimmung zu lösen. Dieser Begriff
erfüllt zwar das Erfordernis der ersten Adäquatheitsbedingung. Er bedarf jedoch der
Konkretisierung. Er muss objektiv handhabbar gemacht werden, um normativ wirksam
werden zu können. Das heißt, er muss hinreichend bestimmt werden, um rechtferti-
gend zu wirken. Manche greifen dazu auf die Vernunft zurück,10 andere auf den idealen
Diskurs.11 Auf diese Weise wird aber kaum etwas an zusätzlicher Konkretisierung und
damit normativer Bestimmtheit gewonnen. Das Kriterium der fikti�ven Einwilligung
ist deshalb einerseits zu schwach, andererseits zu stark. In manÂ�chen SiÂ�tuationen genügt
es nicht, bloß eine „fiktive“ Einwilligung einzuholen, weil der BeÂ�troffene tatsächlich
befragt werden kann und muss. Nötig ist dann die tatsächliche Einwilligung, etwa in
Form der aufgeklärten Zustimmung bei medizinischen Heilbehandlungen, die nur in
seinem Interesse vorgenommen werden und nicht das Ergebnis einer moralischen In-
teressenabwägung sind. In anderen Fällen finden sich keinerlei Anhaltspunkte für eine
tatsächliche Haltung des Betroffenen zu der konkreten Streitfrage. Dann von einer fik-
tiven Einwilligung auszugehen, wäre eine bloße Verschleierung der externen, objektivie-
renden Beurteilung im allenfalls mutmaßlichen Interesse der betroffenen Individuen.

c) Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen, Interessen, Präferenzen

Damit verbleiben von den oben aufgezählten Vorschlägen noch sechs: die Ziele, die
Wünsche, die Bedürfnisse, die Strebungen und die Interessen, die man mit einem
deutschstämmigen Wort auch als „Belange“ bezeichnen kann, sowie die Präferenzen.
Diese Vorschläge genügen grundsätzlich den beiden oben aufgestellten Adäquatheits-
bedingungen für die normativ-ethisch relevante EigenÂ�schaft der Individuen: Sie sind
nicht so eng und rein objektivistisch, dass sie das normativ-individualistische Paradigma
von vornherein zu sehr einÂ�schränken und keine Rücksicht auf die Selbstbewertung der
Individuen nehmen würden. Und sie weisen einen über die bloße Faktizität hinaus-
gehenden, konkret-individuellen normativen Anteil auf. Es handelt sich um faktische
Eigenschaften, die aber auch einen Anspruch auf Berücksichtigung und Befriedigung
geltend machen. Sie sind also in der Lage, die ethische Relation zwischen den Indi�vi�du�
en normativ zu bestimmen.

10 Thomas M. Scanlon, What We Owe To Each Other, S.€189╛ff.


11 Jürgen Habermas, Diskursethik€– Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußt-
sein und kommunikatives Handeln, S.€53–126, S.€103; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, S.€134.
2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen 57

Aber da es sich noch um mehrere Eigenschaften handelt, stellt sich die Frage nach
ihrem Verhältnis. Man muss sie zueinander in Beziehung setzen, um bei der Bestim-
mung der ethisch relevanten Eigenschaften einen Fortschritt zu erzielen. Dabei ist der
Begriff des Belangs bzw. Interesses der abstrakteste, das heißt umfassendste. Der Begriff
der Präferenz kann, wie noch näher zu erläutern sein wird, zu ihm synonym verstanden
werden. Die Begriffe der Ziele, der Wünsche, der Bedürfnisse und der Strebungen sind
jeweils konkreter und damit der Realität näher stehend. Sie sollen zunächst erörtert wer-
den, weil man sich mit diesen Eigenschaften im Rahmen der Gesamttheorie der norma-
tiven Ethik der faktischen Welt am weitesten annähert. Es handelt sich um tatsächlich
bestehende und deshalb auch empirisch wahrnehmbare Eigenschaften der Individuen,
die aber zusätzlich eine normative Dimension aufweisen und deshalb im Rahmen ihrer
Einbettung in eine Ethik auch normativ relevant werden.

2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen

Die soeben genannten, sowohl subjektiv-individualistisch offenen als auch normativ


funktionsfähigen Eigenschaften müssen nun näher analysiert und verglichen werden.
Was auffällt, ist, dass diese Eigenschaften offenbar ein Kontinuum zwischen Körperlich-
keit und Geistigkeit des Menschen abdecken, ein Kontinuum, das dann sekundär auch
ein Kontinuum von Passivität und Aktivität ist und eine Systematisierung ermöglicht:

a) Strebungen

Strebungen sind rein vegetativ-körperlich fundierte und orientierte, vollständig passivische


Eigenschaften, die der Aufrechterhaltung der körperlichen Integrität dienen und auf der
Wirkung der physikalischen Grundkräfte aufbauen.12 Sie lassen sich als lokale und zeit-
weilige Umkehrung der allgemeinen physikalischen En�tropie kennzeichnen und finden
sich nur bei Mikroorganismen, Pflanzen, Tieren und Menschen, nicht aber bei lebloser
Materie, wie Steinen oder Gewässern. Strebungen setzen keine Bewusstheit oder mentale
Beeinflussbarkeit voraus. Strebungen des menschlichen Körpers wären zum Beispiel seine
Regulation des Temperaturausgleichs sowie seine Abwehr schädigender Mikroorganismen
mit Hilfe des Immunsystems. Strebungen der Pflanzen wären zum Beispiel ihre Was-
seraufnahme entgegen der Schwerkraft und die Wendung ihrer Blätter ins Sonnenlicht.
Strebungen sind nicht normativ iterierbar, das heißt, es kann keine Strebung „über“ eine
Strebung geben. Strebungen sind allenfalls schwer, indirekt und partiell mental beeinfluss-
bar. Sie sind deshalb kaum variabel und relativ eindeutig objektiv bestimmbar.

12 Der Begriff wird hier enger als im Alltag verstanden, wo jemand etwa „nach Erfolg streben“ kann, was
eher einen Wunsch oder ein Ziel darstellt. Die hier vorgenommene Abgrenzung zu den anderen Eigen-
schaften soll ein Phänomen beschreiben, enthält aber zum Zweck der Präzisierung unscharfer Begriffs-
grenzen auch einen gewissen stipulativen Anteil.
58 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

b) Bedürfnisse

Bedürfnisse haben regelmäßig eine körperliche Basis, sind aber in verschiedener Hinsicht
notwendig mental beeinflussbar, wenn auch nur relativ schwach, etwa im Hin�blick auf
den Zeitpunkt und den Umfang ihrer Befriedigung. Sie setzen also die Möglichkeit
eines mentalen Bedürfniszustands voraus und sind nicht mehr vollständig passivisch.
Bedürfnisse müssen im Gegensatz zu bloßen Strebungen empfunden werden können.
Zweifelhaft ist, ob die mentale Komponente von Bedürfnissen so stark ausgeprägt ist,
dass man sie immer als intentional auf ein Objekt gerichtet ansehen kann, wie dies bei
Wünschen und Zielen der Fall ist.
Bedürfnisse finden sich nur bei Menschen und Tieren, etwa das Bedürfnis nach
Nahrung, nach Flüssigkeit, nach Schlaf und Ruhe, nach Ausscheidung, nach Schutz vor
den Unbilden des Wetters, nach Freiheit von Schmerz usw. Man kann im Deutschen
kaum davon sprechen, dass eine Pflanze ein „Bedürfnis“ hat, allenfalls einen „Bedarf“
im Sinne des Inhalts einer Strebung. Allerdings scheinen sich hier die Begriffsgrenzen
des Deutschen und des Englischen zu unterscheiden. Das englische „need“ ist offenbar
weiter und setzt nicht die Möglichkeit eines mentalen Bedürfniszustands voraus. Der
Ausdruck „need“ würde dann sowohl Bedürfnisse als auch Strebungen umfassen.
Bedürfnisse können stark sozial orientiert oder beeinflusst sein, etwas das Bedürfnis
nach sozialer Gemeinschaft, nach Kommunikation und nach Anerkennung. Die kör-
perliche Basis kann weitgehend zurückgedrängt werden, ja vielleicht im Extremfall sogar
fast ganz verschwinden, wobei man dann auch schon von Wünschen sprechen kann.
Bedürfnisse sind wohl wie Strebungen im Regelfall nicht iterierbar. Wir können also
normalerweise nicht das Bedürfnis nach einem Bedürfnis haben, weil die mentale Kom-
ponente zu schwach ist, um eine intentionale Bezugnahme auf einer sekundären Ebene
zu erlauben. Aber die Übergänge zwischen Bedürfnissen und Wünschen sind fließend,
so dass sich nicht vollständig ausschließen lässt, dass sich etwa ein Wunsch bezüglich
eines Bedürfnisses derart zu einer Obsession verfestigt, dass er bei genügend unabhän-
giger Intentionalität bedürfnisartige Züge annimmt. Aber in derartigen Extremfällen
wird man doch fragen müssen, ob es sich wirklich um ein unabhängiges Bedürfnis nach
einem Bedürfnis handelt oder ob die Ebenentrennung in der Realität nicht doch in
einem umfassenden Bedürfnis kollabiert. Bedürfnisse können sich im Normalfall auch
nicht als Eigenschaften zweiter Stufe auf Strebungen, Wünsche oder Ziele beziehen.
Bedürfnisse sind in stärkerem Maße beeinflussbar und damit variabler als Strebun-
gen. Man muss insofern zwischen instrumentellen Bedürfnissen und grundlegenden,
kategorischen bzw. absoluten Bedürfnissen unterscheiden.13 Instrumentelle Bedürfnisse
sind von kontingenten Zielen abhängig und damit selbst kontingent, etwa das Bedürf-
nis, sich ein paar Stunden zurückzuziehen, um einen wissenschaftlichen Vortrag vorzu-
bereiten. Dieses instrumentelle Bedürfnis hängt von dem kontingenten Wunsch ab, den

13 Harry Frankfurt, Necessity and Desire, in: ders., The Importance of What We Care About, Cambridge
1988, S.€104–116, S.€108â•›ff.; Garrett Thomson, Needs; David Wiggins, Needs, Values, Truth, 3.€Aufl.
Oxford 1998, S.€14.
2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen 59

Vortrag vorzubereiten. Daneben gibt es aber auch grundlegende, absolute Bedürfnisse


(basic needs), die nicht von kontingenten Zielen abhängen und deshalb normalerweise
feststehend und damit zumindest als grundlegendes Faktum objektiv bestimmbar sind,
etwa das Bedürfnis jedes Menschen nach Essen und Trinken.
Aber selbst derartige normalerweise feststehende Bedürfnisse können der Relati-
vierung unterliegen, etwa im Hinblick auf ein höchstes Ziel, ein andersartiges „gutes“
Leben zu führen. Wenn jemand nicht mehr weiterleben will und beschließt, sich selbst
zu töten, also das normale Ziel, am Leben zu bleiben, aufgibt, so kann er auf Essen
und Trinken, auf Schlaf und Schutz vor den Unbilden des Wetters verzichten. Es sind
also keine wirklich absoluten Bedürfnisse erkennbar, die unseren Wünschen und Zielen
notwendig übergeordnet wären. Die Unterscheidung zwischen instrumentellen Bedürf-
nissen und „absoluten“ Bedürfnissen ist nur eine graduelle.
Bedürfnisse werden gelegentlich dadurch definiert, dass ihre Nichtbefriedigung zu
einem Schaden führt.14 Das trifft sicher für die grundlegenden körperlichen Bedürfnisse
zu, etwa das Bedürfnis nach Essen und Trinken, nach Schlaf und Ruhe, nach Wetter-
schutz. Es gilt wohl auch für die permanente Nichterfüllung der meisten Bedürfnisse.
Aber es ist doch zweifelhaft, ob es notwendig für alle Bedürfnisse zutrifft, etwa für
soziale Bedürfnisse. Ob einen eine Nichtbefriedigung des Bedürfnisses nach Kommu-
nikation wirklich schädigt, ist offen. Es kommt wohl alles auf das Maß an. Eine gewisse
Gelegenheit zu kommunikationsloser Reflexion€– etwa im Falle einer Krankheit€– mag
mancher im Nachhinein sogar als positiv empfinden. Und auch bei einigen körperli-
chen Bedürfnissen kann die Nichtbefriedigung eher nutzen als schaden, etwa die Nicht-
befriedigung des Bedürfnisses nach Süßwaren.

c) Wünsche

Wünsche haben häufig auch eine körperliche, im Gegensatz zu Strebungen und Be-
dürfnissen primär aber eine mentale Komponente.15 Wünsche sind deshalb notwen-
dig intentional, also auf einen Gegenstand oder Zustand gerichtet.16 Und die mentale
Komponente kann sich anders als bei Bedürfnissen vollständig sachlich und zeitlich

14 Harry Frankfurt, Necessity and Desire, S.€109; David Wiggins, Needs, Values, Truth, S.€14.
15 Ich verstehe Wünsche hier im engen Sinn des Alltagsverständnisses, nicht in einem in der Literatur häufig
anzutreffenden weiten, alle motivational handlungswirksamen Einstellungen wie wollen, beabsichtigen,
anstreben, herbeisehnen, erhoffen, befürchten usw. umfassenden Sinne. Vgl. zu diesem weiten Begriff:
Holmer Steinfath, Orientierung am Guten, Frankfurt a.╛M. 2001, S.€ 52╛ff. Die weite Auffassung, die
offenbar auch Strebungen und Bedürfnisse umfassen soll, führt dazu, dass Steinfath dann zwischen passi-
vischen und aktivischen Wünschen unterscheiden muss, wobei diese Unterscheidung weniger differenziert
ausfällt als die hier vorgeschlagene zwischen vollständig passivischen Strebungen, weitgehend passivischen
Bedürfnissen, partiell aktivischen Wünschen und vollständig aktivischen Zielen.
16 Vgl. David Wiggins, Needs, Values, Truth, S.€6; Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness, and Ethics,
S.€53╛ff., 124.
60 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

gegenüber der körperlichen Komponente durchsetzen, also die Befriedigung des Wun-
sches zur Gänze inhaltlich modifizieren oder gar unterdrücken. Wünsche sind schon
partiell aktivisch, wenn auch im Gesamtzusammenhang unserer Einstellungen, Haltun-
gen, Wertungen und Gefühle verankert und deshalb nicht immer ad hoc erzeugbar.17
Wünsche finden sich hauptsächlich bei Menschen, möglicherweise auch bei höheren
Tieren, etwa der Wunsch nach Geselligkeit, Arbeit, Unterhaltung, neuen Erlebnissen,
Gesundheit, Lustmehrung und Leidminderung, Abwechslung und Abenteuer. Die
Grenze zwischen Bedürfnissen und Wünschen ist fließend. So ist der Paarungstrieb bei
höheren Tieren wohl nur ein Bedürfnis, während man beim Menschen das Bedürfnis
nach geschlechtlicher Vereinigung und den Wunsch nach einer liebevollen Partnerschaft
unterscheiden kann. Menschen können zölibatär leben, wobei das Bedürfnis nach ge-
schlechtlicher Vereinigung dann bei manchen Menschen latent bestehen bleibt, aber
nicht befriedigt wird.
Wünsche sind notwendig in Raum und Zeit instanziierte mentale Eigenschaften.
Schlafen wir oder sind wir bewusstlos, so haben wir Wünsche nur in einem weiteren
Sinn, nicht aber im Sinne einer tatsächlich bewussten, aktualen Zielgerichtetheit. Wün-
sche sind im Gegensatz zu Bedürfnissen und Strebungen ohne Zweifel und in jedem
einzelnen Fall iterierbar, das heißt, wir können uns Wünsche wünschen. Manche sagen
etwa: „Ach hätte ich doch nur den Wunsch, weiter mit diesem Menschen zusammen-
zuleben!“ Wünsche können sich auch anders als Bedürfnisse auf die anderen normativ-
ethisch relevanten Eigenschaften beziehen. Wir können also etwa den Wunsch haben,
eine Strebung oder ein Bedürfnis zu entwickeln oder zu befriedigen. Wir können sogar
den Wunsch haben, Ziele zu fassen und zu erreichen. Wünsche manifestieren sich re-
gelmäßig in aktuellen oder früheren Willensbekundungen. Wünsche sind viel variabler
und subjektiver als Bedürfnisse und deshalb ohne konkrete Willensbekundung des je-
weils wünschenden Individuums nur schwer objektivierbar.

d) Ziele

Ziele (Absichten) sind ausschließlich mentale, genauer intentionale Eigenschaften und


nach allem, was wir wissen, im Wesentlichen Menschen vorbehalten. Vielleicht haben
aber auch höhere Tiere wie Menschenaffen oder Delphine Ziele. Ziele sind vollständig
aktivisch.18 Ziele wären etwa das Erreichen eines Ortes mit der Bahn, das Verfassen eines
Buches, das Bestehen eines Examens, das Ansparen eines Vermögens, die Durchführung
einer Reise, das Erringen einer gewissen beruflichen Stellung, die Veränderung der Ge-
sellschaft, die Verwirklichung seiner selbst, der Erwerb von Ruhm, die Gewinnung der

17 Holmer Steinfath, Orientierung am Guten, S.€55â•›ff. und passim, spricht deshalb zu Recht von „widerfah-
renden“ bzw. „neigungsförmigen“ Wünschen.
18 Vgl. zu ihrer Abgrenzung gegenüber Wünschen: Holmer Steinfath, Orientierung am Guten, S.€69â•›ff.
2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen 61

ewigen Seligkeit. Ziele müssen klar von Wünschen unterschieden werden.19 Sie diver-
gieren in wenigstens vierfacher Hinsicht:
Während Wünsche als generell oder wenigstens durch den Akteur unerfüllbar an-
gesehen werden können, müssen Ziele erstens vom Akteur für prinzipiell erreichbar
gehalten werden. Man kann etwa den Wunsch haben, noch einmal ein Kind zu sein,
nicht aber das entsprechende Ziel. Zur Erreichung von Zielen werden regelmäßig Mit-
tel gesucht und eingesetzt. Geschieht dies, so werden die Ziele in der Perspektive ihrer
Verbindung mit Mitteln zu Zwecken. Ein Ziel kann man fassen, ohne schon konkrete
Mittel zu seiner Erreichung bestimmt zu haben, einen Zweck dagegen nur, sofern man
bereits mögliche Mittel gewählt hat. Wünsche stehen dagegen nicht in diesem notwen-
digen begrifflichen Zusammenhang zu Mitteln ihrer Realisation.
Ziele sind zweitens, anders als Wünsche, unabhängig von jeweiligen konkreten
mentalen Instanziierungen. Auch von einem momentan Schlafenden oder Bewusstlo-
sen, der gegenwärtig keine Wünsche haben kann, nehmen wir etwa an, dass er weiterhin
das Ziel verfolgt, sein Studium zu beenden. Notwendig ist nur, dass er irgendwann
einmal die entsprechende Absicht gefasst und seither nicht aufgegeben hat. Ziele sind
also anders als Wünsche keine kontinuierlichen mentalen Zustände. Sie setzen nur eine
einmalige mentale Initiationsabsicht voraus, die nicht dementiert oder vollständig in
Vergessenheit geraten sein darf.
Ziele können drittens€– worauf oben schon hingewiesen wurde€– als abhängige Ziele
auch Kollektiven wie Unternehmen, Vereinen oder Staaten zugesprochen werden. Für
Wünsche ist das dagegen zweifelhaft und für Bedürfnisse sicher unmöglich.
Ziele sind viertens anders als Wünsche, fasst man letztere nach dem Alltagsverständ-
nis eng, regelmäßig Teil eines umfassenderen Lebensentwurfs. Wünsche beziehen sich
als singuläre mentale Instanziierungen häufig erst einmal nur auf einzelne Tatsachen,
also Zustände oder Handlungen, etwa der Wunsch, den Zug zu erreichen, um an das
Reiseziel zu gelangen. Ziele sind dagegen regelmäßig zu längerfristigen oder umfangrei-
cheren Plänen und Projekten verbunden. Das Ziel, einen Ort aufzusuchen, ist etwa Teil
unseres weitergehenden Ziels, unserer Arbeitsverpflichtung gewissenhaft nachzukom-
men. Einzelne Ziele sind deshalb in letzter Instanz immer Teil unseres umfassendsten
Ziels, ein gutes Leben zu führen.20
Ziele sind wie Wünsche iterierbar, jedoch in einer ganz spezifischen Art und Weise:
Ziele können zu anderen Zielen in einem Zweck-Mittel-Verhältnis stehen. Man spricht
dann von untergeordneten und übergeordneten Zielen. So dient etwa das untergeord-
nete Ziel, den Ort zu erreichen, dem übergeordneten Ziel, die Arbeitsleistung zu erbrin-
gen. Ziele manifestieren sich wie Wünsche in aktuellen, früheren oder mutmaßlichen

19 Dies tun, wie erwähnt, viele in der Literatur nicht. Vgl. etwa Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness,
and Ethics, S.€122. Eine einigermaßen klare Unterscheidung findet sich aber zum Beispiel bei Joseph Raz,
The Morality of Freedom, S.€291, Fn.€1.
20 Vgl. zu diesem umfassenden Ziel: Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, 2.€Aufl. Mün-
chen 1995; Wilhelm Vossenkuhl, Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21.€Jahrhundert.
62 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

Willensbekundungen. Wie Wünsche können auch Ziele Eigenschaften zweiter Ord-


nung sein. Ziele können sich also auf Strebungen, Bedürfnisse und Wünsche beziehen,
wobei in dieser Abfolge die Möglichkeiten der Erzeugung, Beeinflussung und Unter-
drückung wegen der abnehmenden Körperbestimmtheit steigen.
Ziele sind von allen hier aufgeführten Bestimmungen im interpersonalen Vergleich
am variabelsten. Verschiedene Menschen prägen in ihrem Leben die unterschiedlichsten
Ziele aus. Der eine will ein kontemplatives Leben führen, der andere ein aktives, der
eine will das Tanzen lernen, der andere das Golfspielen, der dritte eine Fremdsprache.
Der eine will eine herausgehobene berufliche Stellung erreichen, dem anderen ist das
vollständig gleichgültig.
Der Unterschied zwischen Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen und Zielen lässt
sich gut an den vorherrschenden sprachlichen Bezeichnungen für ihre Realisation er-
kennen: Strebungen verwirklichen sich, Bedürfnisse werden befriedigt, Wünsche erfüllt,
Ziele schließlich erreicht. Trotz der soeben aufgewiesenen Unterschiede bleiben die
Grenzen zwischen Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen auf dem Konti-
nuum Geistigkeitâ•›/â•›Körperlichkeit bzw. Aktivitätâ•›/â•›Passivität fließend. Die Begriffe sind
lediglich Analyseinstrumente und implizieren keine raum-zeitliche oder in sonstiger
Weise reale Teilung. Für die Ethik besteht auch nicht die Notwendigkeit einer derarti-
gen Teilung und damit einer scharfen Grenzziehung in jedem Einzelfall, weil jede die-
ser Eigenschaften im Zusammenhang mit den anderen unabhängig von ihrer genauen
Kategorisierung die beiden Adäquatheitsbedingungen der subjektiv-individualistischen
Sensibilität und der normativen Kraft erfüllt und damit ethisch bzw. moralisch relevant
ist. Die Abgrenzung spielt allerdings für das bessere Verständnis der im speziellen Fall
moralisch relevanten Eigenschaft, die Abwägung und die Notwendigkeit einer Beurtei-
lung durch Andere, also im Falle des Paternalismus eine Rolle, denn über Strebungen
und Bedürfnisse Anderer lassen sich regelmäßig leichter Mutmaßungen anstellen als
über deren Wünsche oder gar deren Ziele.

e) Das Verhältnis zwischen diesen Eigenschaften

Wie ist nun das Verhältnis zwischen Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen und Zielen ge-
nauer zu bestimmen? Die beiden Einflußfaktoren der Körperlichkeit und der Geistigkeit
bzw. Passivität und Aktivität führen zu zwei gegenläufigen Kontinua der Vorrangigkeit.
Fragen wir, welche Alternativen der je Betroffene in einem möglichen Konflikt re-
gelmäßig als primär, also aus der Warte seiner Geistigkeit für eine einzelne Handlung
und Entscheidung vorrangig einstufen wird, so sind das im Normalfall unsere Ziele.
Unseren Zielen ordnen wir im Konflikt häufig, wenn auch nicht immer unsere Wün-
sche, Bedürfnisse und Strebungen unter. Haben wir etwa das Ziel, einen Ort mit einem
Zug zu erreichen, so verzichten wir regelmäßig auf die Befriedigung des Wunsches, in
der Bahnhofsbuchhandlung zu schmökern und unterdrücken das Bedürfnis, noch etwas
zu trinken. Das Bedürfnis zu trinken können wir zwar nicht ganz ausschalten, aber seine
Befriedigung doch aufschieben, bis wir im Zugrestaurant oder am Ziel der Reise sind.
2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen 63

Selbst die grundlegendsten Bedürfnisse, wie das Bedürfnis zu essen und zu trinken, wer-
den also häufig den höchsten Zielen untergeordnet. Ist es unser Ziel, nicht mehr weiter-
zuleben, so können wir auf Essen und Trinken verzichten. Dies ist für Moral und Ethik
wichtig, denn ordnet jemand sein Ziel zu sterben allen anderen Bedürfnissen über, so
darf er von anderen nicht mit dem Verweis auf diese anderen Bedürfnisse zwangsweise
am Leben erhalten werden.
Im Verhältnis von Wünschen und Bedürfnissen ziehen wir regelmäßig die Wünsche
vor. Haben wir etwa den Wunsch, einen Freund zu treffen, oder sind wir sogar zu einem
bestimmten Zeitpunkt mit ihm verabredet und haben wir den Wunsch, die Verabre-
dung einzuhalten, so verschieben wir im Normalfall die Befriedigung des Bedürfnisses,
sofort etwas zu essen.
Alle drei bisher genannten Eigenschaften der Ziele, Wünsche und Bedürfnisse über-
wiegen schließlich für uns gegenüber den rein körperlichen Strebungen, soweit wir diese
wenigstens partiell kontrollieren können.
Bei diesem Rangverhältnis handelt es sich allerdings wie gesagt nur um ein regelmäßi-
ges und typisierendes des jeweiligen Trägers dieser Eigenschaften. Wir können natürlich
auch anders entscheiden und lieber in der Bahnhofsbuchhandlung schmökern oder auf
die Toilette gehen, statt den Zug zu erreichen. Wir können auch eher etwas essen als den
Freund zu treffen. Manche propagieren sogar eine Lebensauffassung, die einen regelmä-
ßigen Vorrang der Befriedigung unserer Bedürfnisse gegenüber der Erfüllung unserer
Wünsche und der Erreichung unserer Ziele vorschlägt. Das tun etwa Sekten, die ein
Leben im Hier und Jetzt undâ•›/â•›oder „aus dem Bauch heraus“ predigen. Eine solche Le-
bensauffassung mag vielleicht tatsächlich zu einem glücklicheren Leben führen. Aber ob
das stimmt, ist eine Frage des guten Lebens und nicht der normativen Ethik im engeren
Sinn. Jeder Einzelne muss sie selbst für sich entscheiden. Für die normative Ethik im
engeren Sinn als Theorie der Moral und anderer kategorischer Normordnungen kann
ein derartiges Ideal des guten Lebens nicht maßgeblich sein, solange es nicht allgemein
geteilt wird. Maßgeblich muss vielmehr sein, was die tatsächlich lebenden Menschen
in ihrer großen Mehrheit vorziehen. Insofern lässt sich empirisch feststellen, dass die
Menschen ihre Ziele regelmäßig ihren Wünschen und ihre Wünsche ihren Bedürfnissen
und Strebungen überordnen, zumindest sofern ein Mindestmaß an wesentlichen Bedürf-
nissen befriedigt ist. Wäre es anders, so könnten etwa keine Schulen und Universitäten
existieren. Denn um unser Ziel des Erwerbs von Wissen zu erreichen, ist ein Verzicht auf
die sofortige Befriedigung mancher aktueller Wünsche und Bedürfnisse erforderlich.
Man erhält also folgendes Kontinuum des typischen, geistig bestimmten Vorrangs
seitens des Entscheiders: Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen. Damit ist nicht ge-
sagt, dass diese Reihenfolge auch moralisch wesentlich ist. Dies wird sofort deutlich,
wenn wir für den Primat zwischen diesen Eigenschaften nicht die Geistigkeit und damit
die vernünftige Wahl auf einer Metaebene entscheidend sein lassen, sondern die Kör-
perlichkeit und damit die schiere Notwendigkeit für unsere Lebensführung. Dann sind
Strebungen wie die Erhaltung unserer Körpertemperatur oder unseres Immunsystems
absolut essentiell. Grundlegende Bedürfnisse sind auch häufig notwendige Bedingun-
gen für unsere Wünsche und Ziele, etwa das Bedürfnis zu essen und zu trinken. Auf
64 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

einzelne Wünsche können wir häufig verzichten und fast immer auf bestimmte Ziele.
Der Vorrang kehrt sich also gegenüber der geistigen Bewertung um.
Wie ist nun zwischen diesen beiden Alternativen des Vorrangs zu entscheiden?
Hierbei kann wieder das Prinzip des normativen Individualismus helfen: Soll man die
Individuen als Individuen berücksichtigen, so erfordert das, sie auch in der normativ-
ethischen Entscheidung über die grundsätzlich brauchbaren Alternativen ernst zu neh-
men. Welche der Alternativen normativ relevanter Eigenschaften der Individuen sehen
wir also in einem potentiellen Konflikt als maßgeblich an? Dies sind regelmäßig die
Ziele. Das Kontinuum zwischen Körperlichkeit und Geistigkeit ist insofern asymmet-
risch, als bei höheren Lebewesen und insbesondere beim Menschen die ganz oder stär-
ker körperlichen Eigenschaften der Strebungen und der Bedürfnisse regelmäßig durch
die eher geistigen Eigenschaften der Wünsche und der Ziele bewertet und beurteilt wer-
den. Der Mensch gewinnt einen wesentlichen Teil seines je eigenen Selbstverständnisses
durch diese Beurteilung. Wir bemühen uns von klein auf, Strebungen, Bedürfnisse und
schließlich mit zunehmendem Alter auch Wünsche im Hinblick auf unsere Ziele bzw.
Absichten zu bewerten und diesen Zielen anzupassen. Wir lernen etwa, unsere Atmung
als Strebung je nach unseren Bedürfnissen, Wünschen und Zielen zu regulieren. Wir
verzichten€– wie wir sahen€– regelmäßig auf die Befriedigung des Bedürfnisses, etwas zu
trinken oder des Wunsches, noch etwas in der Bahnhofsbuchhandlung zu schmökern,
wenn dies unser Ziel, mittels des Zuges einen Ort zu erreichen, vereiteln würde. Ziele
und Absichten€– oder handlungsbezogen gesprochen: unser Wille als Ausdruck unserer
Selbstbestimmung€ – sind deshalb höchster Ausdruck unseres Selbstverständnisses als
menschliche Wesen. Deshalb müssen unsere tatsächlichen Willensbekundungen, oder
bei Eingriffen die Einwilligung, im Rahmen der Berücksichtigung der ethisch entschei-
denden Eigenschaft im Vordergrund stehen. Allerdings gilt dies natürlich nur, wenn wir
sie selbst in den Vordergrund stellen. Will jemand einen Wunsch gegenüber einem Ziel
vorrangig erfüllt sehen, so ist das für Andere im Rahmen der moralischen Abwägung
verbindlich. Bekundet jemand also das abstrakte Ziel, das Rauchen aufzugeben, äußert
er dann aber doch in einer einzelnen Situation den Wunsch nach einer Zigarette, so
ist das maßgeblich. Wir dürfen ihm die Zigarette nicht mit Verweis auf das allgemein
erklärte Ziel wegnehmen. Ob wir ihm aber eine Zigarette geben sollten, ist eine andere
Frage, die von der Abwägung vieler weiterer Faktoren abhängt.
Eine ähnliche mögliche Umkehrung des typischen Vorrangs gilt für Bedürfnisse im
Verhältnis zu Wünschen und Zielen. Bedürfnisse gewinnen in bestimmten Situationen
gegenüber Wünschen und Zielen die Oberhand. Wenn es gar nicht anders geht, dann
müssen wir Wünsche und Ziele unerfüllt bzw. unerreicht lassen, um ein dringendes
Bedürfnis zu befriedigen. Ziele und Wünsche sind zwar kognitiv-subjektiv in unserer
eigenen Bewertung grundsätzlich primär. Die stärkere körperlich-natürliche Basis der
Bedürfnisse kann uns aber dazu zwingen, ihnen in bestimmten Situationen den Vor-
rang einzuräumen. Haben wir etwa ein „dringendes Bedürfnis“, werden wir im Zweifel
darauf verzichten müssen, den Zug zu nehmen. Aber dieser Vorrang von Bedürfnissen
gilt€– wie wir sahen€– nur für untergeordnete Ziele, wie das Ziel, den Zug zu erreichen,
nicht aber für das höchste Ziel, ein gutes Leben zu führen. Dieses Ziel ist aber derart ab-
3. Das Kontinuum zwischen subjektiver Manifestation und objektiver Beurteilung 65

strakt und umfassend, dass es ohne weiteres den Vorrang der Befriedigung eines „drin-
genden Bedürfnisses“ gegenüber der Erreichung konkreterer Ziele einschließt.
Für nichtmenschliche Lebewesen, die keine Ziele bzw. Absichten haben, reduziert
sich die typische Abfolge der ethisch relevanten Eigenschaften auf Wünsche, Bedürfnis-
se und schließlich Strebungen. In bestimmten Anwendungsbereichen der Ethik kann
es überdies auch für den Menschen nahe liegen, statt von den prinzipiell vorrangigen
Zielen von den Wünschen oder sogar den Bedürfnissen auszugehen. So kommt es etwa
in der politischen Ethik und der Sozialethik anders als in der Individualethik weniger
darauf an, individuelle Ziele und Wünsche zu verwirklichen bzw. zu erfüllen. Vielmehr
wird zunächst die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse, wie Nahrung, Klei-
dung, Schlaf und Schutz im Vordergrund stehen. Dies gilt zumindest, solange diese
Bedürfnisse noch nicht befriedigt sind, etwa in Entwicklungsländern, wo Menschen
noch an Unterernährung oder Unterkühlung sterben. Sind die grundlegenden Bedürf-
nisse allgemein befriedigt, so werden Wünsche und Ziele als Richtschnur politischen
Handelns wichtiger werden, etwa der Wunsch nach Arbeit und das Ziel beruflicher
Selbstverwirklichung.
Die obige graphische Darstellung des ethischen Grundverhältnisses lässt sich nun
wie folgt durch unsere normativ-ethisch relevanten Eigenschaften ergänzen:

A (1) Ziele /Absichten (1) Ziele /Absichten A

K (2) Wünsche (2) Wünsche N

T (3) Bedürfnisse (3) Bedürfnisse D

E (4) Strebungen (4) Strebungen E

U R

R E

3. Das Kontinuum zwischen subjektiver Manifestation


und objektiver Beurteilung

Das erste Element des normativen Individualismus führt zu einem weiteren wichtigen
Aspekt: Die ethisch relevanten Eigenschaften stehen auch in einem Kontinuum zwi-
schen der eigenen subjektiven Manifestation der Betroffenen und der objektiven Be-
urteilung durch Andere. Die ethische Verpflichtung des Akteurs zur Berücksichtigung
Anderer setzt notwendig dessen Beurteilung der normativ relevanten Eigenschaften
dieser Anderen voraus. Nach dem soeben Gesagten ist dies bei Menschen zunächst ty-
pischerweise das Ziel, wie es sich in einem aktuellen tatsächlichen Willen manifestiert,
66 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

es sei denn, der Betroffene ordnet selbst seinen Zielen eigene Wünsche, Bedürfnisse
oder Strebungen vor. Aber Ziele setzen keinen permanenten tatsächlichen Willen vor-
aus. Und alltägliche Situationen des Lebens können dazu führen, dass ein tatsächlicher
Wille bei Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen nicht immer gebildet wird,
erkennbar ist oder berücksichtigt werden kann. So haben Bewusstlose keinen aktuel-
len Willen. Ist ein von unserem Handeln Betroffener nicht unmittelbar präsent, so
können wir seinen aktuellen Willen nicht erkennen. Dies gilt etwa, wenn wir einem
Bekannten ein Geschenk schicken wollen und nicht wissen, ob es ihm gefallen wird.
Schließlich kann der aktuelle Wille auch zu anderen früheren oder mutmaßlichen Be-
kundungen des Willens eines Betroffenen in Widerspruch treten. Man denke sich einen
Weinliebhaber, der das Weinglas zum Mund führt, ohne zu ahnen, dass jemand Gift
hineingeschüttet hat. Der aktuelle konkrete Wille des Weinliebhabers beinhaltet ohne
Zweifel, den Inhalt des Glases zu trinken. Aber dieser Wille beruht auf der falschen
Überzeugung, dass sich ausschließlich Wein in dem Glas befindet und steht zu dem
generellen abstrakten, früheren oder zumindest mutmaßlichen Willen in Widerspruch,
nicht vergiftet zu werden.
In derartigen Fällen muss statt des aktuellen konkreten Willens eine Kaskade von
Substituten berücksichtigt werden: An erster Stelle dieser Kaskade steht ein genereller
abstrakter höherrangiger Wille. Ein zweiter Substitutionsschritt wird besonders bei Pati-
enten wichtig, die nicht mehr einwilligungsfähig sind. Haben sie vorher eine Patienten-
verfügung verfasst, so tritt der frühere tatsächliche Wille, zumindest insofern er eindeutig
und fehlerfrei ist, an die Stelle des aktuellen Willens. Da aber auch ein früherer tat-
sächlicher Wille häufig nicht zu ermitteln ist oder im Widerspruch zu anderen früheren
Willensbekundungen stehen kann, wird man als dritten Substitutionsschritt konkrete
Mutmaßungen über den tatsächlichen Willen einbeziehen und nach dem mutmaßli-
chen Willen fahnden müssen. Dabei werden neben früheren Äußerungen über Wert-
vorstellungen auch die objektiv bewerteten Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen des
Betroffenen eine stärkere Rolle spielen. Hilft auch das nicht weiter, ist schließlich auf
die abstrakten Strebungen und Bedürfnisse eines relevant ähnlichen Individuums bzw.
des typischen Mitglieds einer möglichst konkret vergleichbaren Gruppe zurückzugreifen.
Man wird annehmen können, dass diese Berücksichtigung der hypothetischen Strebun-
gen und Bedürfnisse dem generellen Willen der meisten Menschen entspricht.
Plausibel erscheint also folgende Kaskade: Erstens ist der aktuelle konkrete Wille
entscheidend, zweitens der generelle abstrakte und höherrangige Wille, drittens der frü-
here tatsächliche Wille, viertens der mutmaßliche Wille und fünftens der hypothetische
Wille, wie er mit Bezug auf abstrakte Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen vermutet
werden kann.
Die beiden erwähnten Kontinua bzw. Abstufungen sind im Hinblick auf die zu
berücksichtigende Eigenschaft der Individuen insofern miteinander verkoppelt, als das
erste Kontinuum dem zweiten den Ausgangspunkt des aktuellen konkreten Ziels bzw.
Willens vorgibt. Im Rahmen der Entfaltung des zweiten Kontinuums muss dann aber
auch bei Menschen und höheren Tieren bei der Substituierung immer stärker auf vor-
hergehende Stufen des ersten Kontinuums zurückgegriffen werden, also auf Wünsche,
4. Belange bzw. Interessen 67

Bedürfnisse und schließlich Strebungen. Die folgende Tabelle zeigt den realistischen
Schwerpunkt der Berücksichtigung, wenn beide Kontinua verbunden werden. Der Aus-
gangspunkt ist in der linken oberen Ecke:

aktueller, genereller, früherer mut- hypothe-


konÂ�kreter abstrakter tatsächlicher maßlicher tischer
Wille Wille Wille Wille Wille

Ziele X X X
Wünsche X X X X
Bedürfnisse X X X
Strebungen X X

4. Belange bzw. Interessen

Die Vielgestaltigkeit und Komplexität dieser beiden Kontinua der ethisch zu berück-
sichtigenden Eigenschaften legt es nahe, zur Vereinfachung der Darstellung nach einem
einzigen, abstrakteren und damit zusammenfassenden Terminus bzw. Begriff Ausschau
zu halten. Dazu bieten sich die bereits erwähnten synonymen Termini „Belang“ und
„Interesse“ an, sofern man sie nicht egoistisch verkürzt. Die Begriffe Belang und Interes-
se umfassen sowohl Ziele als auch Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen. Sie können
subjektiv im Sinne des aktuellen konkreten oder generellen oder früheren tatsächlichen
Willens, aber auch ein Stück weit objektivierend im Sinne des mutmaßlichen oder sogar
hypothetischen Willens, das heißt der mutmaßlichen oder hypothetischen Wünsche,
Bedürfnisse und Strebungen verstanden werden.21 Sie implizieren dabei allerdings be-
reits eine eigene interne Abwägung des Interessenträgers zwischen seinen je eigenen
Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen.
Die Ausdrücke „Belang“ bzw. „Interesse“ sind synonym und unterscheiden sich nur
in der Etymologie. „Belang“ ist deutschstämmig, „Interesse“ lateinischstämmig. „In-
teresse“ kommt von lateinisch „intersum“ bzw. „interest“. Neben der eher subÂ�jektiven
Bedeutung im Sinne von „für jemand wichtig sein“ gab und gibt es auch eine intersub-
jektive BedeuÂ�tung im Sinne von „daÂ�zwiÂ�schen liegen“, „sich dazwischen befinden“.22
Diese janusköpfige Bedeutung hat sich in den juristischen Fachtermini für Schaden
„subjektives Interesse“ und „objektives Interesse“ erhalten.23 In dieser BeÂ�deuÂ�tungsÂ�vaÂ�

21 Vgl. Günther Patzig, Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine Bedeu-
tung für die Ethik.
22 Vgl. Karl E. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches und deutsch-lateinisches Handwörterbuch,
Leipzig 1880, Teil 1, Bd. 2, S.€330╛ff.
23 Vgl. allgemein zu den römisch-rechtlichen Quellen: Hermann G. Heumannâ•›/â•›Emil Seckel, Handlexikon
zu den Quellen des römischen Rechts, 9.€ Aufl. 1907, Nachdr. Graz 1971, S.€ 281. Eine umÂ�fassende
68 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

riante impliziert der Ausdruck somit eine gewisse Form von InterÂ�subÂ�jektiviÂ�tät, die je-
weils eigenständige PoÂ�siÂ�tioÂ�nen der Subjekte erÂ�mögÂ�licht und zuÂ�gleich inteÂ�griert. Nimmt
man beide Bedeutungsvarianten des Ausdrucks zusammen, so kann man feststellen: Der
Begriff ist sowohl subjektiv als auch intersubjektiv, das heißt schwach objekÂ�tiv interpreÂ�
tierbar. Er kann auf keine der beiden Möglichkeiten ohne größeren Verlust reduÂ�ziert
werden.24 Er enthält überdies soÂ�wohl eine beschreibende als auch eine beÂ�Â�werÂ�tende und
eine normaÂ�tive KompoÂ�nente. Man kann „Interesse“ nicht einfach mit „Lust“, „Emp-
findung“ oder „Glück“ gleichÂ�setzen. InterÂ�essen sind auch nicht notÂ�wendig oder nur reÂ�
gelmäßig mit LustÂ�gefühÂ�len verbunden oder auf diese gerichtet. Wichtig ist also, dass der
Interessenbegriff als zentrale subjektive und intersubjek�tive Recht�ferti�gungs�kate�gorie
nicht hedo�nistisch oder auch nur kon�se�quentia�listisch verengt wird. Viele In�teressen
beziehen sich nicht auf Lust und Leid, nicht auf das eigene Wohlergehen und nicht auf
die KonseÂ�quenzen von Handlungen einÂ�zelner oder der Tätigkeit von InÂ�stitutionen, sonÂ�
dern auf die HandÂ�lung und die TäÂ�tigkeit selbst (vgl. Kapitel€III).
Eine egoistiÂ�sche InterÂ�pretation des InteresÂ�senbeÂ�griffs würde ebenfalls eine VerÂ�kürÂ�zung
bedeuten. Viele In�dividual�interessen sind altruisti�sch und richten sich auf das Wohler-
gehen anderer In�dividuen, zum Beispiel das Interesse der Eltern, die Gesundheit ihrer
Kinder zu fördern. Schließlich bezieÂ�hen sich eiÂ�nige IndiÂ�viÂ�duÂ�alÂ�inÂ�terÂ�esÂ�sen auch auf verÂ�
schie�dene Gemeinschaftsfor�men, politische (etwa als politische Utopien) und nichtpoli-
tische (etwa als Ziele von Vereinen oder Unternehmen).25 Der Interes�senbegriff umfasst
in diesem weiten VerÂ�ständnis also auch Ziele bzw. Werte und Ideale.
Man kann im Übrigen terminologisch zwischen den Eigeninteressen des Akteurs und
den Anderinteressen des von einer Handlung betroffenen Anderen unterscheiden. Der
Begriff des Interesses bzw. Belangs ist zwar stark durch seine Funktion in der Moral
geprägt. Er findet aber selbstredend auch in anderen Lebensbereichen Anwendung. So
haben wir zum Beispiel ein Interesse an schönem Wetter, ohne dass ein Akteur mora-
lisch verpflichtet wäre, das Wetter positiv zu beeinÂ�flussen.
Die Auszeichnung der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen als ethisch re-
levante Eigenschaften der Individuen und die Zusammenfassung dieser Eigenschaften
mit Hilfe des Begriffs des Belangs bzw. Interesses impliziert keine fundamentalistische
Ethik in dem Sinne, dass diese Eigenschaften oder die Belange bzw. Interessen das allei-

Geschichte des Interessenbegriffs findet sich in dem ArÂ�tiÂ�kel „InÂ�terÂ�esÂ�se“ von Wolfgang Orth in: Otto
Brunnerâ•›/â•›Werner Conzeâ•›/â•›Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 3, Stuttgart 1982,
S.€305–365. Nachfolgend wird der Begriff des Interesses nicht in der speziÂ�fischen Form Kants verwendet,
der ihn wesentlich psycho�logisch und nicht normativ bestimmt, vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten, BA 121, 122, S.€459: „Interesse ist das, wodurch VerÂ�nunft praktisch, d.â•›i. eine den
Willen bestimmende Ursache wird. Daher sagt man nur von einem vernünftigen Wesen, daß es woran
ein Interesse nehme, vernunftlose Geschöpfe fühlen nur sinnliche Antriebe.“ Vgl. auch ders., Grundle-
gung zur Metaphysik der Sitten, BA 38, S.€413; ders., Kritik der praktischen Vernunft, A 141, S.€79.
24 Vgl. Günther Patzig, Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine Bedeu-
tung für die Ethik, S.€86â•›ff., 90.
25 Vgl. ausführlich: Verf., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der
Natur, Reinbek 1996, S.€204╛ff.
5. Interessen und Präferenzen 69

nige Fundament oder die alleinige Quelle aller moralischen Normativität wären.26 Sie
sind, wie in Kapitel€VI näher erläutert werden wird, nur ein, allerdings unverzichtbares
Element der Begründung moralischer Normen. Eine ethische Begründung und damit
eine adäquate normative Ethik muss dagegen alle fünf hier entfalteten Elemente um-
fassen.
Derjenige Begriff, welcher dem Begriff des Belangs bzw. Interesses am nächsten
steht, ist der Begriff des Willens. Aber es gibt doch Unterschiede, die nicht übersehen
werden dürfen, denn nicht jeder, der ein Interesse an etwas hat, hat auch den Willen,
die entsprechende Handlung auszuführen. Das hat zwei Gründe: Zum einen schließt
der Wille immer ein zumindest rudimentäres Bewusstsein ein. Strebungen können als
bewusstlose Phänomene einem Willen somit nicht zugrunde liegen. Der Wille erfordert
also anders als ein Belang bzw. Interesse notwendig ein Bedürfnis, einen Wunsch oder
ein Ziel. Er kann deshalb nur bei bewusstseinsfähigen Lebewesen bestehen. Aber ein Be-
dürfnis, ein Wunsch oder ein Ziel genügen anders als beim Belang bzw. Interesse noch
nicht, um einen Willen zu bejahen. Die obige Formulierung zeigt das ganz deutlich.
Man kann ein Interesse an etwas haben, etwa an einem Zustand, zum Beispiel einem
aufgeräumten Schreibtisch, ohne den Willen zu haben, den Schreibtisch aufzuräumen.
Der Wille ist immer unmittelbar handlungsbezogen bzw. handlungsleitend, sei es mit Be-
zug auf eine eigene oder auf eine fremde Handlung, welche zumindest hypothetisch
angenommen werden muss. Man kann etwa den Wunsch bilden, dass es regnet. Aber
man kann nicht den Willen haben, dass es regnet, weil man dies nicht durch eine eigene
oder fremde Handlung bewirken kann.
Die Notwendigkeit des Handlungsbezugs des Willens impliziert nicht, dass die
Handlung dann auch tatsächlich ausgeführt wird, denn es können noch Hinderungs-
gründe auftreten. So kann man etwa den Willen haben, etwas zu tun, und dann kommen
einem Bedenken oder ein Anderer verhindert die Ausführung. Aber mit dem Willen ist
jedenfalls ein mentales Phänomen benannt, das ohne die Notwendigkeit weiterer men-
taler Phänomene die kognitive Seite von Handlungen und ihre Realisierung erklärt.

5. Interessen und Präferenzen

Insbesondere mathematisch und ökonomisch geprägte Theoretiker sprechen statt von


„Belangen“ bzw. „Interessen“ nicht selten von „Präferenzen“.27 Dagegen bestehen keine
Bedenken, wenn unter „Präferenzen“ nichts anderes als die Belange bzw. Interessen im
soeben erläuterten um- und zusammenfassenden Sinne verstanden werden. Häufig ist
dies allerdings nicht der Fall. Unter Präferenzen werden erstens nicht selten nur Ziele
und Wünsche im Sinne des ersten, soeben erläuterten Kontinuums, also des Kontinu-

26 Dies kritisiert mit Recht Julian Nida-Rümelin, Vernunft und Freiheit, im Erscheinen, S.€4, 6.
27 Amartya K. Sen, Collective Choice and Social Welfare, San Francisco 1970; Kenneth J. Arrow, Social
Choice and Individual Values. Vgl. zum Beispiel Christoph Fehigeâ•›/â•›Ulla Wessels (Hg.), Preferences, Ber-
lin 1998.
70 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

ums von Geistigkeit und Körperlichkeit aufgefasst. Zweitens werden Präferenzen als
tatsächlich bestehende Willensbekundungen verstanden (sog. revealed preferences), um
Spekulationen über mentale Zustände zu vermeiden, so dass auch das zweite, soeben
erläuterte Kontinuum zwischen subjektiver Manifestation und objektiver Beurteilung
nicht vollständig entfaltet wird. Drittens werden Präferenzen insbesondere von mathe-
matisch und ökonomisch geprägten Ethikern häufig auf Besser-Schlechter-Bewertungen
(ordinale Vergleiche) reduziert, etwa in manchen Varianten des Präferenzutilitarismus.
Die Interessen sollen auf diese Weise intra- und interpersonell vergleichbar gemacht
oder zumindest einer Vergleichbarkeit angenähert, also wissenschaftlich rationalisiert
werden. Damit wird aber die Möglichkeit einer bloßen Bewertung als gut oder schlecht
(klassifikatorischer Vergleich) oder einer darüber sogar hinausgehenden Bewertung in
Zahlen (kardinaler Vergleich) ausgeblendet.
Obwohl das Ziel der wissenschaftlichen Rationalisierung grundsätzlich Unterstüt-
zung verdient, kann der Preis für die Erreichung dieses Zieles im Einzelfall doch zu hoch
sein. Es ist kaum bestreitbar, dass sich manche Willensbekundungen als Besser-Schlech-
ter-Bewertungen und damit als Präferenzen auffassen lassen, insbesondere ökonomische
Kaufentscheidungen. Wir ziehen es etwa normalerweise vor, ein Radio zum niedrigeren
Preis zu erwerben, statt zum höheren, wenn alle anderen Parameter wie Service oder
Einkaufsweg vergleichbar sind. Die wirklich wichtigen Fragen unseres Lebens lassen sich
aber regelmäßig nicht ohne Verkürzung und Missachtung der tatsächlichen Wünsche
und Ziele in ein derartiges Präferenzschema pressen. Im Hinblick auf zentrale Belange,
wie Familie, Beruf und Ausbildung, können wir häufig nicht sagen, welcher von ihnen
uns wichtiger oder weniger wichtig ist. Zentrale Rationalitätspostulate einer derartigen
ordinalen Reihung der Interessen sind dann nicht erfüllt, etwa das der Transitivität. Wer
Äpfel lieber als Birnen und Birnen lieber als Bananen mag, müsste auch Äpfel gegenüber
Bananen vorziehen. In der Realität ist das aber häufig nicht der Fall.28
Der Präferenzbegriff beinhaltet so verstanden also eine Einschränkung des normativ-
individualistischen Paradigmas. Um sich diese Einschränkung zu verdeutlichen, muss
man ihn mit dem Interessenbegriff vergleichen. Der Interessenbegriff kann sowohl klas-
sifikatorisch als auch ordinal und kardinal interpretiert werden. Der Präferenzbegriff ist
dagegen in dieser eingeschränkten Form regelmäßig ordinal zu verstehen. Legt man nun
statt des Interessenbegriffs mit seinen Differenzierungsmöglichkeiten den Präferenzbe-
griff zugrunde, so wird von manchen Interessen zu viel verlangt und von manchen zu
wenig: Interessen, die sich nur klassifikatorisch einordnen lassen, werden in eine ordina-
le Relation gezwungen und Interessen, die sogar kardinal bewertbar wären, zum Beispiel
monetäre Interessen, werden unterhalb der eigentlichen Möglichkeit ihrer Zusammen-
fassung behandelt. Das spricht natürlich nicht dagegen, den ordinalen Präferenzbegriff
zu verwenden, etwa in der Entscheidungstheorie. Aber für eine umfassende normative
Ethik ist die Eigenschaftsreferenz des ordinalen Präferenzbegriffs nicht hinreichend.

28 Vgl. Daniel Kahnemanâ•›/â•›Amos Tversky, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, in: Econo-
metrica 47(1979), S.€263–291.
5. Interessen und Präferenzen 71

Der Präferenzbegriff schränkt aber, sofern er Teil einer Aggregationstheorie ist, die
individuellen Interessen, die moralische Entscheidungen legitimieren können, noch
weiter ein. Bei diesen Einschränkungen handelt es sich nicht um inhaltliche, sondern
um formale und zwar folgende:29 Es wird (1) von einer endlichen Alternati�venmenge
ausgeÂ�gangen, wobei (2) alle Alternativen voneinander unabhängig sein sollen. Das Indi-
viduum muss nun seine Präferenzen in Form von (3) ordinalen Besser-Schlechter- bzw.
Indifferenzurteilen über (4) paarweise Alternativen ausdrücken, und zwar (5) vollstän-
dig, das heißt, es muss alle möglichen Paarbildungen innerhalb der AlterÂ�nativenmenge
bewerten. Alle diese einschränkenden Annahmen€ – zu denen dann noch weitere
RationalitätsanfordeÂ�rungen an das Individuum, wie das der Transitivität, treten kön-
nen30€– werden vorausgesetzt, um die mathematisch-loÂ�gische Zusammenfassung der in-
dividuellen EntÂ�scheidungen zu einer kollektiven Wohlfahrtsfunktion zu ermöglichen.
Man vergleiche damit die Einfachheit und Voraussetzungslosigkeit des Interessen-
begriffs. Das Interesse von Personen richtet sich auf eine be�stimmte gemeinsame Ent-
scheidung, zum Beispiel die Entscheidung, eine Schule zu bauen. Hier spielen weder
die AlternatiÂ�venmenge noch die Unabhängigkeit der Alternativen noch eine Präferenz-
bildung über paarÂ�weise AlterÂ�nativen oder die Vollständigkeit eine Rolle. Trotzdem kann
man ohne weiteres durch Zusammenfassung der Interessen die Legitimität der Ent-
scheidung erreichen, zum Beispiel nach dem Ein�stimmigkeits�prin�zip: Wenn alle Betrof-
fenen ein Interesse am Bau der Schule bekunden, ist der Bau gerechtfertigt. Denkbar ist
aber auch die Anwen�dung des Mehrheitsprinzips: Wenn eine Mehrheit der betroffenen
Personen ein InterÂ�esse am Bau der Schule äußert, wird die Schule gebaut.
Man könnte nun einwenden, dass das Präferenzmodell diese einfachere direkte Be-
zugnahme von Interessen auf EntscheidungsalterÂ�nativen mit enthalte. Man könnte zum
Beispiel die jeweiligen klassifikatorischen Interessen, die Schule zu bauen, als ordinale
Präferenzen fassen: Jede Person hält es für besser, die Schule zu bauen, als sie nicht zu
bauen. Aber was ist mit dieser Formulierung der Frage ge�wonnen? Ein Erkenntnisvor-
teil für die Zusammenfassung der Individualbelange ist nicht erkennbar.
Sinnvoll erscheint die Verwendung des Präferenzbegriffs nur, wenn mindestens zwei
echte, konträre und nicht nur kontradiktorische Alternativen zur Wahl steÂ�hen. Dann
werden die formalen Einschränkungen des Präferenzmodells aber auch proÂ�blematisch.
In der Realität werden häufig gerade zenÂ�trale LebensÂ�interesÂ�sen von den Entscheidern
nicht in die ordinaÂ�le Präferenzstruktur einer „Besser-SchlechÂ�ter-OrdÂ�nung“ geÂ�bracht
oder auch nur als indifferent ausgezeichnet. Warum soll sich ein Mensch entscheiden,
ob er lieber heiraten oder einen Beruf ergreifen oder gegenüber beidem indifferent blei-
ben will? Offen�sichtlich haben viele Menschen an beidem (gleich�zei�tig) ein In�teresse,
das auf der In�dividual�ebene prinzipiell auch zu verwirklichen ist und erst auf der Ebene
der Beeinflussung durch Entscheidungen von GemeinÂ�schaften möglicherweise kollidiert
bzw. durch ent�spre�chen�de Strukturen und Institutionen verhindert wird. Die Ethik ist
verÂ�pflichtet, die Interessen in Form ihrer (partiellen) individuellen UnabÂ�hängigkeit oder

29 Lucian Kernâ•›/â•›Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, München 1994, S.€3.


30 Lucian Kernâ•›/â•›Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, S.€3â•›ff.
72 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

kollektiven Abhängigkeit voneinander zu berücksichtigen. Die uniforme Forderung


nach Unabhängigkeit der Alternativen idealisiert hier.
Aus all dem kann man folgendes Fazit ziehen: Die Zusammenfassung der vier nor-
mativ relevanten Eigenschaften, der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, soll-
te im Rahmen einer umfassenden normativen Ethik durch den Begriff des Belangs bzw.
Interesses erfolgen. Der Präferenzbegriff kann dann in speziellen Fällen in klar definier-
ter Form zum Einsatz kommen.

6. Weitere Qualifikationen von Belangen bzw. Interessen

Manche Belange erscheinen uns für eine Moral und Ethik schlechterdings inakzeptabel.
Einige Autoren meinen deshalb, solche Belange müssten von vornherein ausgeschieden
werden. So kann es uninformierte Interessen geben, etwa wenn jemand eine Brücke
betreten will, von der er nicht weiß, dass sie einsturzgefährdet ist.31 Es kann irrationale
Interessen geben, etwa wenn jemand im vollen Bewusstsein der schädigenden Wirkung
raucht. Es kann rein andergerichtete Interessen geben, etwa wenn jemand seinen Nach-
barn dazu bringen will, seine Wohnung aufzuräumen. Es kann schließlich fremdschä-
digende oder sogar verbrecherische Interessen geben, etwa wenn jemand einen anderen
verletzen oder gar umbringen will.
Im Falle uninformierter Interessen liegt der entscheidende Grund, warum es gerecht-
fertigt erscheint, den Mann€– sofern wir ihn nicht mehr rechtzeitig warnen können,
so dass er selbst entscheiden kann€– vom Betreten der Brücke zurückzuhalten oder im
obigen Beispiel das Weinglas mit dem Gift wegzuschlagen, nicht in der mangelnden
Information, sondern in der internen Widersprüchlichkeit der Belange oder von Teilas-
pekten der Belange. In beiden Fällen kollidiert der aktuelle konkrete Wille, die Brücke
zu betreten oder den Inhalt des Weinglases zu trinken, mit dem generellen abstrakten
Willen, am Leben zu bleiben. Der Grund, warum wir den aktuellen konkreten Willen
missachten dürfen, liegt also nicht in der fehlenden Information, sondern im inter-
nen Widerspruch der Interessen bzw. Willensmomente. Die fehlende Information ist
nur die faktische Ursache, nicht aber der rechtfertigende Grund. Man nehme als Ge-
genbeispiel ein Nahrungsmittel, das gesundheitsfördernd wirkt. Nimmt jemand dieses
Nahrungsmittel ohne KenntÂ�nis der gesundheitsfördernden Wirkung zu sich, so dürfen
wir es ihm, anders als das Glas mit dem vergifteten Wein, nicht wegschlagen, obwohl
er ebenso wenig informiert ist wie beim Trinken des vergifteten Weins. Der Grund liegt
darin, dass hier kein Widerspruch zum generellen abstrakten Willen besteht, weil jeder
von uns regelmäßig den Wunsch bzw. das Ziel hat, seine Gesundheit zu fördern.
Beim Beispiel der einsturzgefährdeten Brücke kann man den Unterschied deutlich
sehen, sofern man die Situation der generellen abstrakten Interessen verändert. Nimmt
jemand statt des allgemein anzunehmenden abstrakten Willens, das eigene Leben zu

31 John S.€Mill, On Liberty, S.€95. Vgl. zu einer Diskussion auch James Griffin, Well-Being. Its Meaning,
Measurement and Moral Importance, S.€10–17, 24–26.
6. Weitere Qualifikationen von Belangen bzw. Interessen 73

erhalten, eine sehr risikofreudige Lebenshaltung ein, die auch das Betreten einsturz-
gefährdeter Brücken einschließt und keine weiteren Informationen über den Zustand
derartiger Brücken erwartet, etwa um den Nervenkitzel zu erhöhen, so dürfen wir ihn
nicht vom Betreten der Brücke zurückhalten, auch wenn er nicht weiß, dass gerade
diese Brücke, welche er betreten will, einsturzgefährdet ist. Alles hängt also am internen
Widerspruch der Interessen und nichts an der fehlenden Information. Die fehlende
Information kann allenfalls die Bedingung eines Widerspruchs und damit ein Indiz
dafür sein, dass innerhalb der Interessen des Betroffenen ein Widerspruch besteht. Im
Übrigen ist es völlig unbestimmt, welcher Grad an Informationsmangel nötig ist, um
Interessen eines Anderen nicht zu berücksichtigen. Was ist etwa, wenn der Betroffene
ein vages Gerücht über die Baufälligkeit der Brücke gehört hat? Was ist, wenn er als
Laie technische Angaben über den Zustand der Brücke nicht verstanden hat? Insgesamt
kann eine fehlende Information die Berücksichtigung der Interessen nicht ausschließen,
weil nach Maßgabe des normativen Individualismus auch die Haltung des Betroffenen
zu seiner eigenen Informiertheit bzw. Uninformiertheit berücksichtigt werden muss.
Im Fall irrationaler Interessen besteht kein Widerspruch zwischen den Interessen ei-
ner Person, sondern ein Widerspruch zwischen diesen Interessen und einer objektiven
Beurteilung des Wohlergehens dieser Person durch Dritte, etwa wenn Dritte die Erhal-
tung der Gesundheit der Person als erheblich wertvoller einschätzen als deren Freude
zu rauchen. Aber dieses Beispiel zeigt schon, dass es hier nicht um einen rein logischen
Widerspruch oder ein faktisch widersprüchliches Verhalten gehen kann, sondern nur
um einen Wertungswiderspruch. Dann muss aber wiederum zwischen den Interessen
der Person und der Beurteilung durch Dritte eine Wertentscheidung getroffen werden.
Man muss also entscheiden, was einem wichtiger ist, die eigene Gesundheit oder die
Freuden des Rauchens. Und diese Entscheidung ist keineswegs eindeutig. Manch einer
wird auch bei voller Information über die Fakten den langjährigen Genuss des Rauchens
einer sehr wahrscheinlichen Lebensverlängerung vorziehen. Der normative Individu-
alismus fordert, dass diese Wertentscheidung durch die betroffenen Individuen selbst
getroffen wird und nicht durch Dritte. Insofern kann es keine Rechtfertigung geben,
irrationale Belange von vornherein auszuschließen.
Bei stark andergerichteten Interessen hat man den Eindruck, dass sich jemand um
Dinge kümmert, die ihn nichts angehen. Aber unser Leben umfasst nicht zuletzt das
Zusammenleben mit anderen und damit auch die Bezugnahme von Interessen auf diese
Anderen. Die Grenze zu zweifellos berechtigten Interessen ist insofern schwer zu ziehen.
Man wird es klarerweise nicht ausschließen, wenn sich eine Mutter um das Wohl ihres
Kindes sorgt. Aber wo hört die berechtigte Sorge auf und wo beginnt die unberechtigte
Einmischung? Eine Entscheidung darf hier nicht schon durch Restriktion des Interes-
senbegriffs, also beim zweiten Element der ethischen Rechtfertigung, getroffen werden,
sondern muss beim fünften Element der Abwägung mit den Belangen der betroffenen
Anderen erfolgen. Je älter und selbständiger ein Kind ist, desto gewichtiger sind seine
Interessen an einer selbständigen Lebensführung. Im obigen Beispiel des Interesses eines
Nachbarn, den Anderen dazu zu bringen, seine Wohnung aufzuräumen, ist wenig zwei-
felhaft, dass das Interesse des Anderen, die Gestaltung seiner eigenen vier Wände selbst
74 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

zu bestimmen, Vorrang haben wird. Es besteht also kein Grund, auf Andere gerichtete
Interessen von vornherein nicht zu berücksichtigen.
Bei fremdschädigenden oder verbrecherischen Interessen gilt Vergleichbares. Diese
Klasse von Belangen kann nicht von vornherein ausgeschieden werden, weil umstritten
ist, welche Belange fremdschädigend oder verbrecherisch sind. Manche dieser Belange
sind in der Abwägung doch berechtigt, etwa das Interesse, gegenüber einem Angrei-
fer Notwehr zu üben. Der Ausschluss derartiger Interessen muss also ebenfalls auf der
Ebene der Abwägung erfolgen, nicht schon bei der fundamentaleren Anerkennung als
moralisch relevante Eigenschaft.
Man kann zusammenfassen: Der normative Individualismus fordert, die Individuen
mit ihren ethisch relevanten Eigenschaften soweit wie möglich zu berücksichtigen. Sie
sollen selbst entscheiden, was ihnen wichtig und was ihnen unwichtig ist. Deshalb kann
keine dieser Einschränkungen der moralisch relevanten Belange überzeugen, sofern sich
einzelne Belange nicht innerhalb eines einzigen Individuums widersprechen.
Nach dieser Erörterung des zweiten Elements einer adäquaten normativen Ethik ist
es nun möglich, das Prinzip des normativen Individualismus weiter zu konkretisieren:
Alle Handlungen, die Andere betreffen, finden ihre letzte Rechtfertigung ausschließ-
lich in den aktuellen konkreten, generellen abstrakten, früheren, mutmaßlichen oder
hypothetischen Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen (in dieser Reihen-
folge), also den intern widerspruchsfreien Belangen bzw. Interessen aller von der jewei-
ligen Handlung betroffenen Individuen.

7. Menschenwürde und Autonomie

Als moralisch relevante Eigenschaft werden nicht selten auch die Menschenwürde und
die Autonomie angesehen. Deshalb muss man sich die Frage stellen, wie ihr Verhält-
nis zu den bereits bejahten moralisch relevanten Eigenschaften der Ziele, Wünsche,
Bedürfnisse und Strebungen, also der Belange bzw. Interessen ist? Um diese Frage zu
beantworten, ist es notwendig, den Begriff der Würde zu analysieren.32

a)€Zufällige und notwendige Würde

Zunächst lässt sich eine zufällige (kontingente, externe) von einer notwendigen (inhärenten,
internen) Würde unterscheiden.33 In der Literatur wird vergleichbar von „Leistung“ und
„Mitgift“ gesprochen.34 Die zufällige (kontingente), auf der Leistung des Würdeinhabers

32 Vgl. zum Folgenden: Verf., Tierwürde nach Analogie der Menschenwürde, in: Michael Brenner (Hg.),
Tiere beschreiben, Erlangen 2003, 105–123.
33 Vgl. dazu Philipp Balzerâ•›/â•›Klaus P. Rippeâ•›/â•›Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur: BeÂ�
griffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, Freiburg 1998, S.€17.
34 Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, Archiv für öffentliches Recht 118 (1993),
S.€353–377.
7. Menschenwürde und Autonomie 75

beruhende Würde bzw. Anerkennungswürdigkeit ist eine veränderliche Eigenschaft. Sie


besteht in dem Ausdruck der Gelassenheit, der inneren Unabhängigkeit, des In-sich-
selbst-Ruhens gegenüber äußeren Veränderungen und Anfechtungen.35 Dabei ist in un-
terschiedlichen Situationen verschieden würdevolles Verhalten möglich. Im Laufe eines
Lebens kann man eine solche kontingente Anerkennungswürdigkeit erwerben, aber auch
wieder verlieren. Daraus folgt praktisch, dass die Eigenschaft der zufälligen Würde un-
gleich verteilt ist und ungleich ausgeübt wird.36
Die kontingente Würde umfasst einen ästhetischen Teil, etwa die Gravität, Monu-
mentalität und das In-Sich-Ruhen einer Person, einen institutionell-sozialen Teil, etwa
die Würde eines Amtes als Minister oder Bischof oder der öffentlichen Stellung (dies
war die Urbedeutung von lat. „dignitas“37), und einen expressiven Teil des würdevollen
Verhaltens, etwa die Hinnahme einer Niederlage oder eines Verlustes mit Gelassenheit
und innerer Unabhängigkeit.
Dabei ist allerdings klar zwischen der zufälligen Eigenschaft der kontingenten Würde
und der Fassung dieser Würde als ethischem Belang zu unterscheiden. Die kontingente
Würde kann als bloße faktische Eigenschaft nicht selbst normative Quelle ethischer
Verpflichtungen sein. Man kann die Rolle der bloß faktischen Eigenschaft der kontin-
genten Würde mit der des Hungers vergleichen. Eine ethische Hilfspflicht besteht ge-
genüber tatsächlich Hungernden. Der Hunger ist also eine notwendige Bedingung der
ethischen Hilfspflicht. Er ist aber nicht selbst die normative Quelle der Verpflichtung.
Die kontingente Würde kann in ähnlicher Weise Bedingung und damit Inhalt einer
ethischen Verpflichtung sein. Wer etwa in seinem Amt nicht die amtsgemäße Würde
wahrt, kann von Anderen nicht verlangen, seine Würde als Amtsinhaber zu achten. Die
Verpflichtung zum Respekt gegenüber dem Amtsinhaber resultiert aber nicht aus sei-
nem zufälligen Verhalten. Das kontingente Würdeverhalten als solches kann also nicht
Teil der letzten normativ-ethisch relevanten Eigenschaften sein.
Die letzten normativ-ethisch relevanten Eigenschaften können€– sieht man von ei-
ner transzendent-religiösen Ebene ab€– nur die Belange bzw. Interessen der betroffenen
Individuen sein. Diese Belange bzw. Interessen bedürfen eines Inhalts. Und ein mög-
licher Inhalt ist auch die kontingente Würde. Allerdings ist die veränderliche Eigen-
schaft der kontingenten Würde nur ein ethischer Inhalt unter vielen und keinesfalls der
wichtigste. Vorrangig ist zu verhindern, dass Menschen getötet, verletzt oder geschä-

35 Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: Robert Spaemannâ•›/â•›Ernst-Wolfgang BöckenÂ�
förde (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen€ – säkulare Â�Gestalt€ –
christliches Verständnis, Stuttgart 1987, S.€295–313, S.€299. Vgl. zu einer prägnanten phänomenalen
Analyse: Aurel Kolnai, Dignity, in: Robin S.€Dillon (Hg.), Dignity, Character, and Self-Respect, New
York 1995, S.€53–75, S.€66: „Undignified is everything antithetic to distance, discretion, boundaries,
articulation, individuation and autonomy.“
36 Philipp Balzerâ•›/â•›Klaus P. Rippeâ•›/â•›Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur: Begriffsbestim-
mung, Gentechnik, Ethikkommissionen, S.€19. Ebenso: Robert Spaemann, Über den Begriff der Men-
schenwürde, S.€304.
37 Vgl. Bernhard Giese, Das Würde-Konzept. Eine normfunktionale Explikation des Begriffs Würde in Art.
1 Abs. 1 GG, Berlin 1975, S.€23╛ff.
76 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

digt werden, weil dies wichtigere Belange missachtet. Die veränderliche Eigenschaft der
Würde ist also als Interesse ethisch zu berücksichtigen. Sie stellt dann aber regelmäßig
nur einen mittelwichtigen Belang unter vielen dar. Diese Einsicht findet eine Parallele
in der rechtsphilosophischen und verfassungsrechtlichen Diskussion. Die Qualifikation
der Würde als „Leistung“ konnte sich als Interpretation des Würdeschutzes in Art. 1 des
Deutschen Grundgesetzes nicht durchsetzen. Sie wird im Wesentlichen nur von Sozial-
wissenschaftlern vertreten, die jede normative Ethik ablehnen.38

b) Die notwendige Würde

Angesichts der Schwäche der kontingenten Würde in der Menge ethischer Belange muss
der Schwerpunkt der Frage nach der Menschenwürde auf der anderen Möglichkeit ei-
nes Würdeschutzes liegen, auf der notwendigen (inhärenten) Würde bzw. der Würde als
„Mitgift“. Damit ist allerdings selbstredend nicht die noch bis ins 18.€Jahrhundert bei
Burke und selbst noch an einigen peripheren Stellen bei Kant mit „dignitas“ bezeichnete
soziale Würde der Mitglieder höherer Stände gemeint,39 sondern die in der christlichen
Tradition, aber auch seit der Renaissance angenommene, allen Menschen zukommende
Menschenwürde.40
Dabei lassen sich prinzipiell drei Alternativen unterscheiden: Nach der ersten Alter-
native findet die ethische Verpflichtung zur Berücksichtigung des Menschen ihre Quelle
in der Menschenwürde. Nach der zweiten Alternative ergibt sich mit der inhärenten
Menschenwürde quasi ein zusätzlicher Aspekt der ethischen Verpflichtung zur Berück-
sichtigung des Menschen. Die dritte Auffassung lehnt schließlich die Menschenwürde
als eigenständige Quelle oder auch nur eigenständigen Aspekt ethischer Verpflichtung ab.
Sie verzichtet dann entweder ganz auf die Berücksichtigung der Menschenwürde in
der Ethik oder sie behauptet, dass die ethische Verpflichtung zur Berücksichtigung des
Menschen und seiner Menschenwürde identisch sind, womit sich eine eigenständige
Berücksichtigung der Menschenwürde ebenfalls erübrigt.
Für die Auffassung, dass die Menschenwürde die Quelle ethischer Verpflichtung
sei, lassen sich überraschenderweise kaum signifikante Vertreter finden. Im Rahmen
religiös inspirierter Ethiken ist die Menschenwürde zwar wichtig. Quelle der ethischen
Verpflichtung sind aber göttliche Gebote oder zumindest eine gottgegebene Eigenschaft
des Menschen, etwa die Gottesebenbildlichkeit, nicht aber eine rein inhärente Qualität.

38 Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, Berlin 1965, S.€53╛ff.


39 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S.€328. Vgl.
dazu Michael J. Meyer, Kant’s Concept of Dignity and Modern Political Thought, History of European
Ideas 8 (1987), S.€319–332.
40 Vgl. dazu Kurt Bayertz, Die Idee der Menschenwürde: Probleme und Paradoxien, Archiv für Rechts- und
Sozialphilosophie 81 (1995), S.€465–481; ders., Human Dignity: Philosophical Origin and Scientific
Erosion of an Idea, in: ders. (Hg.), Sanctity of Life and Human Dignity, Dordrechtâ•›/â•›Bostonâ•›/â•›London
1996, S.€73–90.
7. Menschenwürde und Autonomie 77

Deshalb wird die dignitas in der Ethik des Thomas von Aquin zur essentiellen Eigen-
schaft und spielt eine gewisse, aber keine alles fundierende Rolle.41 Folgerichtig formu-
liert SpaeÂ�mann: „Weil der Mensch als sittliches Wesen Repräsentation des Absoluten ist,
darum und nur darum kommt ihm das zu, was wir ‚menschliche Würde‘ nennen.“42
Die Renaissance hat dann zwar die Würde des Menschen unabhängig von unmit-
telbaren religiösen Bezugnahmen zu einem wesentlichen Faktor ihrer Anthropologie
gemacht. Aber sie hat keine wirkmächtige Ethik auf dieser Grundlage entfaltet. Kant
hat schließlich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 die Würde des
Menschen betont.43 Dies hat manche Interpreten dazu veranlasst, der Würde des Men-
schen eine zentrale Rolle in der kantschen Ethik zuzuerkennen.44 Dabei erscheint jedoch
schon philosophiehistorisch Vorsicht geboten.45 Zunächst spricht gegen diese zentrale
Rolle, dass der Begriff der Würde in Kants Ausarbeitung der Ethik, in der Kritik der
praktischen Vernunft von 1788, nicht mehr auftaucht. Er erscheint erst wieder 1798 in
der Metaphysik der Sitten und zwar dort ausschließlich im zweiten Teil, in den Metaphy-
sischen Anfangsgründen der Tugendlehre. Aber auch in der Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten wird der Begriff der Würde erst sehr spät eingeführt, nämlich im Rahmen der
Entfaltung der dritten Formel des Kategorischen Imperativs. Der Würdebegriff wird
zwar nicht selten mit der zweiten Formel des Kategorischen Imperativs „Handle so, dass
Du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jeder-
zeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“46 in Verbindung gebracht.47
Dies geschieht im Übrigen auch in der von vielen akzeptierten Interpretation48 des Men-
schenwürdegebots in Art. 1 des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht als

41 Thomas von Aquin, Summa Theologica I, qu. 29 a 3; vgl. Christoph Enders, Die Menschenwürde
in der Verfassungsordnung, Tübingen 1997, S.€180–184; Bernhard Giese, Das Würde-Konzept. Eine
normfuktionale Explikation des Begriffs Würde in Art. 1 Abs. 1 GG, S.€27; J. Lenz, Die Personwürde des
Menschen bei Thomas von Aquin, Philosophisches Jahrbuch 49 (1936), S.€139–166.
42 Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, S.€304.
43 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€434╛ff.
44 Neil Roughley, Artikel „Würde“, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissen-
schaftstheorie Bd. 4, Sp-Z, Stuttgartâ•›/â•›Weimar 1996, S.€784–787, S.€784; Josef Santeler, Die Grundle-
gung der Menschenwürde bei I. Kant, Innsbruck 1962.
45 Vgl. zum Folgenden ausführlich: Verf., Zur Würde des Menschen bei Kant, in: Recht und Sittlichkeit bei
Kant, Jahrbuch für Recht und Ethik 14, hg. von Sharon Byrd u.â•›a., Stuttgart 2006, S.€501–517.
46 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€429.
47 Beat Sitter-Liver, „Würde der Kreatur“: Grundlegung, Bedeutung und Funktion eines neuen Verfas-
sungsprinzips, in: Julian Nida-Rümelinâ•›/â•›Dietmar von der Pfordten (Hg.), Ökologische Ethik und
Rechtstheorie, 2.€Aufl. Baden-Baden 2002, S.€355–364, S.€359. Auch Norbert Hoerster, Zur Bedeutung
des Prinzips der Menschenwürde, Juristische Schulung 23 (1983), S.€93–96, S.€93, setzt ohne Bezug auf
die zweite Formel „Würde“ und „Selbstzweckhaftigkeit“ gleich.
48 Urheber ist Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, Archiv des öffentlichen Rechts
81â•›/â•›2 (1956), S.€117–157, S.€128: „Es verstößt gegen die Menschenwürde als solche, wenn der konkrete
Mensch zum Objekt eines staatlichen Verfahrens gemacht wird.“; ders., in: Theodor Maunzâ•›/â•›Günter
Dürig (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München 2001, Art. 1, Rn 28. Vgl. Tatjana Geddert-Steinacher,
Menschenwürde als Verfassungsbegriff. Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu
Art.€1 Abs.€1 Grundgesetz, Berlin 1990, S.€31╛ff.
78 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

Verbot der Verobjektivierung des Menschen (sog. Objektformel).49 Aber Kant erwähnt
im Rahmen der Entfaltung dieser zweiten Formel des Kategorischen Imperativs den
Würdebegriff gar nicht.50 Das kann kein Zufall sein, sondern lässt sich erklären. Die
zweite Formel des Kategorischen Imperativs gebietet zwar die Anerkennung Anderer
und des Handelnden selbst als Zweck. Aber dies geschieht aus der Perspektive des ein-
zelnen Handelnden. Erst im Rahmen der Betrachtung des Reichs der Zwecke wird die
Perspektive eines nicht selbst verpflichteten, gottgleichen Beobachters eingenommen,
der nicht explizit Adressat des Kategorischen Imperativs ist. Nur im Rahmen dieser gott-
gleichen Perspektive, der Kant im Gegensatz zur Kategorie der „Vielheit“ für die zweite
Formel die Kategorie der „Allheit“ zuordnet,51 erwähnt er die Würde des Menschen.52
Worin besteht nun aber der Unterschied zwischen Zweckhaftigkeit an sich und
Würde des Menschen? Kant bestimmt die Würde als Eigenschaft eines vernünftigen
Wesens, „das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“.53 Entschei-
dend ist also, dass jedes würdebegabte Wesen selbst Autor seiner ethischen Einschrän-
kungen ist. Dies ist mit der Selbstzweckformel noch nicht notwendig ausgesagt, denn
die Selbstzweckformel behauptet nur, dass der Handelnde andere nicht zum beliebigen
Mittel machen darf. Warum er Andere nicht zum beliebigen Mittel machen darf, aus
welcher Quelle also die Verpflichtung zur Berücksichtigung der eigenÂ�ständigen Zwecke
Anderer resultiert, ist damit nicht festgelegt. Denn es ist ja nicht notwendig, dass die
Pflicht zur Beachtung eigenständiger Zwecke Anderer von dem Anderen als Inhaber
dieser Zwecke selbst herrührt. Denkbar wäre etwa auch eine Verpflichtung durch gött-
liche Gebote. Die Selbstzweckformel als zweite Formel des Kategorischen Imperativs
behauptet also nichts anderes als die Notwendigkeit der ethischen Berücksichtigung des
Menschen um seiner selbst willen.

49 BVerfGE 5, 85 (204); 7, 198 (205); 27, 1 (6): „Es widerspricht der Menschenwürde, den Menschen zum
bloßen Objekt im Staat zu machen.“; 28, 386 (391); 45, 187 (228); 50, 166 (175); 56, 37 (43). Vgl.
Christian Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, Juristenzeitung 36 (1981),
457–464.
50 Insofern unverständlich bzw. unzutreffend: Philipp Balzerâ•›/â•›Klaus P. Rippeâ•›/â•›Peter Schaber, Menschenwür-
de vs. Würde der Kreatur: Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, S.€23. Die angegebene
Stelle BA 79, 80 enthält die zweite Formel gar nicht, sondern den Rest der dritten Formel und eine
Zusammenfassung aller Formeln. Im Rahmen der zweiten Formel bei BA 66â•›ff. wird die Würde definitiv
nicht erwähnt.
51 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€436.
52 Allerdings erfolgt 14 Jahre später in der Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tu-
gendlehre, eine Identifizierung von Würde und Selbstzweckhaftigkeit: Immanuel Kant, Die Metaphysik
der Sitten, S.€462: „Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen
(weder von Anderen noch sogar von sich selbst) blos als Mittel sondern muß jederzeit zugleich als Zweck
gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle
anderen Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sa-
chen erhebt.“ Der Klammerzusatz „die Persönlichkeit“ hinter der Erwähnung der Würde deutet aber an,
dass der Würdebegriff hier anders als in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ gebraucht wird.
Norbert Hoerster, Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde, S.€96, lässt den Klammerzusatz „(die
Persönlichkeit)“ bezeichnenderweise weg.
53 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€434.
7. Menschenwürde und Autonomie 79

Erst die Einordnung des Menschen in das Reich der Zwecke schließt andere nor-
mative Quellen aus, etwa die Quelle der ethischen Verpflichtung jenseits des jeweils
Betroffenen in Gott. Dies geschieht auf zweifache Weise: Zum einen ermöglicht die
Einordnung des einzelnen Menschen in das Reich der Zwecke die Behauptung der Voll-
ständigkeit der zwecksetzenden Wesen. Das Reich der Zwecke stellt ein „Ganzes aller
Zwecke“ dar.54 Zum anderen wird in das Reich der Zwecke auch Gott als Möglichkeit
integriert. Während sich die Selbstzweckformel eindeutig nur auf die „Menschheit“ be-
zieht, so besteht nach Kant das „Reich der Zwecke“ nicht nur aus „Gliedern“, die zwar
allgemein gesetzgebend, aber auch diesen Gesetzen selbst unterworfen sind, sondern
auch aus einem „Oberhaupt“, das als gesetzgebend keinem Willen eines Anderen un-
terliegt.55 Während in der christlichen Tradition die Ebenbildlichkeit des Menschen
zu Gott als Quelle der Menschenwürde angesehen worden war,56 konstruiert Kant die
Würde des Menschen nunmehr als Gleichheit der Menschen mit Gott als moralische
Gesetzgeber in einem gemeinsamen Reich der Zwecke. Allerdings führt diese KonstrukÂ�
tion des Reichs der Zwecke zum Postulat, dass nur vernünftige Wesen in ihm gesetz-
gebend sein können. Da Tiere nicht in diesem anspruchsvollen Sinne vernünftig sind,
kann ihnen die Stellung eines gesetzgebenden Gliedes im Reich der Zwecke nicht zuge-
billigt werden. Sie können also nach Kant nicht wie die Menschen eine inhärente, mo-
ralisch relevante Würde in Anspruch nehmen. Für Kant besteht keine direkte ethische
Verpflichtung gegenüber Tieren, sondern nur gegenüber Menschen.57
Die Differenz zwischen der Eigenschaft der Selbstzweckhaftigkeit und der Selbst-
gesetzgebung als Voraussetzung der Würde wird an verschiedenen Stellen deutlich. So
schreibt Kant: „das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an
sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d.â•›i. einen Preis, sondern einen
inneren Wert, d.â•›i. Würde.“58 Die Würde wird hier also als „Bedingung“ der Selbst-
zweckhaftigkeit angesehen. Und an einer anderen Stelle heißt es: „Autonomie ist also
der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“59
Die Selbstgesetzgebung, die Autonomie des Menschen, ist somit das Fundament
der kantschen Ethik. Im Zusammenhang eines Reichs der Zwecke konstituiert diese
Selbstgesetzgebung die Würde des Menschen. Sie führt in der einzelnen ethischen Kon-
fliktsituation zur Verpflichtung, die Selbstgesetzgebung des anderen oder seiner selbst
als Teil der Menschheit zu achten. Für Kant sind von den Lebewesen nur Menschen
um ihrer selbst willen zu berücksichtigen und nur Menschen kommt Würde zu. Aber
die Würde ist nicht der letzte Grund der ethischen Verpflichtung. Der letzte Grund

54 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€433.


55 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€433.
56 Vgl. für eine Formulierung dieser Auffassung Josef Santeler, Die Grundlegung der Menschenwürde bei
I.€Kant, S.€282.
57 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, S.€442. Vgl.
Verf., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, S.€42â•›ff.
58 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€435.
59 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€436.
80 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

der ethischen Verpflichtung liegt vielmehr in der Fähigkeit des Menschen zur Selbst-
gesetzgebung, im „Faktum der Vernunft“60 bzw. im „moralischen Gesetz in mir“61. Die
Würde ist ein Resultat dieses letzten Grundes der ethischen Verpflichtung, nämlich der
Stellung des Menschen im Reich der Zwecke als gesetzgebend. Die Verpflichtung zum
Respekt gegenüber der Selbstzweckhaftigkeit gemäß der zweiten Formel des Kategori-
schen Imperativs ist dagegen ein Resultat dieses letzten Grundes aus der Perspektive der
unmittelbaren Handlungsnormierung im einzelnen Konfliktfall.
Diese Auffassung Kants von der Grundlage ethischer Verpflichtung ist aber sachlich
zweifelhaft.62 Die Annahme des moralischen Gesetzes im Menschen und damit seiner
Autonomie in einem starken Sinne ist hoch metaphysisch und damit problematisch.
Der Mensch besitzt zwar im Gegensatz zu Tieren Vernunft. Er allein ist in der Lage,
seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Ziele umfassend vernünftig zu relativieren, in-
dem er auf einer zweiten Stufe Ziele und Wünsche bezüglich Bedürfnissen, Wünschen
und Zielen der ersten Stufe bildet. Deshalb kann er im Gegensatz zu Tieren moralisch
handeln, also ethischer bzw. moralischer Akteur (moral agent) sein, nicht nur ethisch
bzw. moralisch Betroffener (moral patient). Er ist nicht nur selbst ethisch bzw. moralisch
zu berücksichtigen, sondern muss auch andere Wesen ethisch bzw. moralisch berück-
sichtigen. Er ist in der Lage, seine Bedürfnisse, Wünsche und Ziele der ersten Stufe
zugunsten ethischer Gesichtspunkte zu relativieren. Aber damit ist nicht begründet,
warum nur die Interessen auf der zweiten Stufe oder die Inhaber derartiger Interessen
zweiter Stufe ethische Berücksichtigung verdienen. Auch die Belange zweiter Stufe sind
nur normativ zu berücksichtigende Eigenschaften im moralischen Konflikt wie die Be-
lange erster Stufe. Sie verdienen deshalb ethisch keine alleinige oder auch nur generell
bevorzugende Behandlung.

c) Kritik weiterer Konzeptionen

Externe bzw. intersubjektive Deutungen der Menschenwürde verringern ihre Gewich-


tigkeit im Vergleich zu unseren höchstrangigen Belangen wie Leben, Gesundheit sowie
geistiger und körperlicher Unversehrtheit. Sie machen die Menschenwürde damit zu
einem Interesse, das wie die kontingente Würde stark relativierbar ist. Dies gilt etwa
für die Auffassung, die Menschenwürde werde durch die Anerkennung von Seiten An-
derer konstituiert63 oder sie bestehe in der äußeren Repräsentation von Selbstrespekt64

60 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 56, S.€31.


61 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 288, S.€161.
62 Vgl. Verf., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur,
S.€42╛ff., zu einer Kritik.
63 Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde; Peter Baumann, Menschenwürde und das Bedürf-
nis nach Respekt, in: Ralf Stoecker (Hg.), Menschenwürde. Annäherung an einen Begriff, Wien 2003,
S.€19–34, S.€26–29.
64 Vgl. Avishai Margalit, The Decent Society, Cambridge 1996, S.€ 51â•›ff.; Julian Nida-Rümelin, Über
menschliche Freiheit, Stuttgart 2005, S.€131╛ff.
7. Menschenwürde und Autonomie 81

und führe daher zur Forderung nach nichtdemütigender, die Selbstachtung wahrender
Behandlung durch Andere. Niemand wird bestreiten, dass wir ein berechtigtes Interesse
haben, von Anderen anerkannt und respektvoll behandelt zu werden. Dieses ohne Frage
berechtigte und hochrangige Interesse mit der Menschenwürde zu identifizieren, er-
scheint aber doch aus drei Gründen problematisch: Zum Ersten kennen wir respektloses
Verhalten Anderer, von dem wir nicht annehmen, es verletze unsere Menschenwürde.
Stibitzt etwa jemand einem Anderen ohne weiteres etwas vom Teller, so wird man das als
respektlos und in bestimmten Fällen demütigend ansehen, ohne ernsthaft eine Verlet-
zung der Menschenwürde annehmen zu können. Oder wenn jemand abfällige Bemer-
kungen über einen nichtanwesenden Dritten macht, so ist das respektlos, tangiert aber
im Normalfall nicht dessen Menschenwürde. Zum Zweiten hat eine derartige externe
und intersubjektive Auffassung der Menschenwürde Schwierigkeiten, die Bejahung der
Menschenwürde in bestimmten Lebensstufen bzw. Lebensformen zu erklären, etwa bei
geistig Schwerstbehinderten, Komatösen und Neugeborenen. Diese Menschen haben
kein aktuelles und bewusstes Bedürfnis nach Anerkennung oder Respekt (bei der ersten
Gruppe muss das natürlich jeweils im Einzelfall geprüft werden). Zum Dritten steht
eine derartige externe bzw. intersubjektive Deutung der Menschenwürde, welche diese
zu einem Belang der in Kapitel€V noch zu erläuternden Relativzone unserer Interessen
herabstuft, zu unseren Grundannahmen über ihren Status im Gefüge unserer Belange
im Widerspruch. Zum einen glauben wir, dass die Menschenwürde in der Wertigkeit
zumindest auf einer Ebene mit Leben, Gesundheit und geistiger wie körperlicher Un-
versehrtheit liegt (was nichts über ihre eventuelle Abwägbarkeit aussagt). Zum anderen
stellen alle neueren Verfassungs- bzw. Menschenrechtsordnungen die Menschenwürde
entweder über oder zumindest neben diese wichtigsten Belange der Menschen.65 Man
muss aus diesen drei Einwänden den Schluss ziehen, dass die Menschenwürde nicht ex-
tern bzw. intersubjektiv, sondern intern und individuell zu verstehen ist. Sie ist unseren
wichtigsten Belangen wie Leib und Leben wenigstens gleichzustellen.
Nach einer anderen Auffassung66 soll die Menschenwürde mit einer Gruppe unab-
dingbarer Rechte verbunden sein, erstens einer Versorgung mit den zur biologischen
Existenz notwendigen Gütern, zweitens einer Freiheit von starken und andauernden
Schmerzen, drittens einer minimalen allgemeinen Freiheit, viertens einem minimalen
Selbstrespekt. Es dürfte nicht zweifelhaft sein, dass diese Belange bzw. Rechte wesentlich
sind und Berücksichtigung verdienen. Aber es ist doch fraglich, warum gerade diese
Rechte unter der Bezeichnung „Menschenwürde“ zusammengeführt werden sollen. Das
Gemeinsame und gleichzeitig Spezifische der Menschenwürde scheint damit nicht ge-
troffen.67

65 Vgl. Art. 1 I des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ UN-Charta; EU-
Grundrechtecharta.
66 Dieter Birnbacher, Ambiguities in the Concept of Menschenwürde, in: Kurt Bayertz (Hg.), Sanctity of
Life and Human Dignity, Dordrechtâ•›/â•›Bostonâ•›/â•›London 1996, S.€107–121, S.€110â•›ff.
67 Vgl. zu einer Kritik auch Philipp Balzerâ•›/â•›Klaus P. Rippeâ•›/â•›Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der
Kreatur: Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, S.€27.
82 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

Dagegen wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass die Verletzung der Menschen-
würde eine besondere Erniedrigung und Herabsetzung erfordert.68 Die Menschenwürde
impliziert ein Recht, nicht erniedrigt zu werden. Aber was heißt das genauer? Jemand
ist erniedrigt, wenn er sich selbst nicht achten kann. Die Würde eines Menschen be-
steht also in seiner Selbstachtung. Das erscheint einleuchtend. Allerdings reicht diese
Bestimmung nicht hin. Die Selbstachtung ist ja nichts anderes als eine Selbstbewer-
tung. Diese Selbstbewertung kann sich aber auf alles Mögliche beziehen. Jemand kann
zum Beispiel seine Selbstachtung verlieren, wenn er ein Examen nicht besteht oder eine
Sportart nicht so erfolgreich ausübt, wie er sich das wünscht. In diesen Fällen wird man
aber nicht davon sprechen wollen, dass er in seiner Menschenwürde verletzt wurde.
Die Erniedrigung und Herabsetzung muss sich deshalb auf eine bestimmte zentrale
Eigenschaft des Menschen richten, die bei jedem Menschen einen wesentlichen und
unabdingbaren Teil der Selbstachtung ausmacht.

d) Menschenwürde als Selbstbestimmung


über die eigenen Belange

Die Antwort auf die Frage nach der Menschenwürde sollte von der ethischen Grund-
einsicht des normativen IndiÂ�viÂ�dualisÂ�mus ausgehen: Wenn ausschließlich Individuen die
letzte ethisch rechtfertigende Instanz sein können und wenn sie über die rechtfertigenden
Eigenschaften im Prinzip autonom entscheiden, dann können und dürfen konkretere
typisierte Belange wie Leib, Leben sowie körperliche und geistige Unversehrtheit usw.
die Menge der möglichen Belange nicht ausschöpfen. Der erste und wichtigste Belang ist
vielmehr auf einer sekundären Ebene das Ziel und der Wunsch bzw. das Interesse, primä-
re Belange, das heißt Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen zu haben.
Der Schlüssel zum Verständnis der notwendigen (inhärenten) Menschenwürde liegt
damit in einer wichtigen Einsicht, die schon en passant in Kapitel€II, 2 bei der Frage
nach den moralisch relevanten Eigenschaften erwähnt wurde. Dort war festgestellt wor-
den, dass es zwischen den vier moralisch relevanten Eigenschaften, also den Zielen, den
Wünschen, den Bedürfnissen und den Strebungen einen fundamentalen Unterschied
gibt: Strebungen und Bedürfnisse können sich nicht auf andere Strebungen, Bedürfnisse,
Wünsche oder Ziele beziehen. Es gibt also keine Strebungen nach Strebungen und keine
Bedürfnisse nach Strebungen oder Bedürfnissen. Aber es gibt sekundäre Wünsche und
Ziele mit Bezug auf primäre Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele. Wir können
also etwa den Wunsch entwickeln, häufiger das Bedürfnis nach Sport zu haben oder den
Wunsch nach schöner Musik zu entfalten. Und wir können das Ziel ausprägen, unser
Bedürfnis nach Schlaf zu verringern, unseren Wunsch nach Süßspeisen einzuschränken
und uns ehrgeizigere ökologische Ziele zu stecken. Wünsche und Ziele sind somit im Ge-
gensatz zu Bedürfnissen und Strebungen iterierbar bzw. mögliche Eigenschaften zweiter

68 Philipp Balzerâ•›/â•›Klaus P. Rippeâ•›/â•›Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur: Begriffsbestim-
mung, Gentechnik, Ethikkommissionen, S.€29.
7. Menschenwürde und Autonomie 83

Ordnung gegenüber anderen moralisch relevanten Eigenschaften. Ein Grund liegt viel-
leicht darin, dass nur Wünsche und Ziele immer notwendig intentional sind, während
die Intentionalität bei Bedürfnissen zweifelhaft bzw. kontingent ist. Nur weil Wünsche
und Ziele intentional sind, können sie sich auf andere moralisch relevante Eigenschaften
beziehen. Die Intentionalität ist dabei nicht nur eine repräsentierende, sondern auch eine
bewertende. Wir haben also mit unseren Wünschen und Zielen die Fähigkeit, uns nicht
nur repräsentierend auf die anderen moralisch relevanten Eigenschaften zu beziehen,
sondern auch bewertend. Wir können auf diese Weise zwischen unseren moralisch rele-
vanten Eigenschaften eine eigene, subjektive Rangordnung herstellen. Wir können etwa
das Ziel, einen Brief zu beenden, dem Bedürfnis, etwas zu essen, überordnen.
Die Menschenwürde besteht in der Selbstbestimmtheit und Offenheit der Entschei-
dung, das heißt dem Verhältnis der Wünsche und Ziele zweiter und gegebenenfalls
höherer Ordnung hinsichtlich der eigenen Belange erster bzw. niederer Ordnung.69
Ein wesentlicher Teil unseres Selbstverständnisses und unserer Selbstachtung beruht
auf dieser Selbstbestimmtheit und Offenheit unserer Entscheidungen über unsere Zie-
le, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen. Das Bedürfnis nach Anerkennung dieses
Selbstverständnisses und dieser Selbstachtung ist dann nur eine sekundäre Folge der
solchermaßen verstandenen Menschenwürde, nicht jedoch ihre Grundlage.
Die Auffassung der Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Be-
lange passt sehr gut zur häufigen€– wenn auch textinterpretatorisch für Kant zur Zeit
der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nicht gerechtfertigten70€– Identifikation des
Menschenwürdebegriffs mit dem Verbot der ausschließlichen Instrumentalisierung des
Menschen in Kants zweiter Formel des Kategorischen Imperativs.71 Fragt man sich, was
es überhaupt bedeuten kann, den Anderen ausschließlich als Mittel anzusehen, so wird
es hierfür nicht genügen, einzelne ethisch relevante Eigenschaften, das heißt Belange
erster Stufe zu missachten. Werden dagegen die aktuellen oder wenigstens potentiel-
len Wünsche und Ziele hinsichtlich eigener Belange, also die ethischen Eigenschaften
zweiter Stufe negiert, dann impliziert das auch eine vollständige Missachtung aller Be-
lange erster Stufe, denn wenn jemand nicht einmal mehr über seine Wünsche und Ziele
bezüglich seiner eigenen Belange entscheiden darf, dann sind auch alle Belange erster
Stufe als eigenständige entwertet. Wer also die Belange zweiter Stufe negiert, verneint
auch alle Belange erster Stufe, selbst wenn er dies nicht für jeden einzelnen Belang erster
Stufe selbständig und direkt tut. Auf diese Weise wird verständlich, wie ein Anderer
vollständig instrumentalisiert werden kann.

69 Harry Frankfurt, Freedom Of the Will and the Concept of a Person, in: ders., The Importance Of What
We Care About, Cambridge 1988, S.€11–25, hat für den Begriff der Person Wünsche zweiter Ordnung
für kennzeichnend gehalten, die sich auf handlungsmotivierende Wünsche erster Ordnung beziehen, also
einen Willen (second-order volitions).
70 Vgl. oben und Verf., Zur Würde des Menschen bei Kant.
71 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€429: „Handle so, daß du die Menschheit,
sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß
als Mittel brauchest.“
84 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

Die Interpretation der Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Be-
lange kann auch sehr gut erklären, warum die Menschenwürde in den Normen und
Regeln der Moral und des Rechts, etwa den Verfassungen, erst sehr viel später als der
Schutz von primären Belangen wie Leben, Leib, Freiheit und Eigentum auftritt. Wie
bei allen Metaphänomenen ist auch beim Phänomen der Selbstbestimmung über die
eigenen Belange eine abstraktere und damit weiter gehende Reflexion erforderlich, die
zunächst die Erkenntnis und den Schutz der konkreteren Belange der ersten Stufe, wie
Leben, Leib, Freiheit und Eigentum voraussetzt.
Die Würde als die Fähigkeit des Menschen (oder anderer Lebewesen), sich gegen-
über den eigenen Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen noch einmal auf ei-
ner Metaebene vernünftig bzw. potentiell vernünftig bewertend verhalten zu können, ist
als wesentliche Grundlage der Selbstachtung eine Fähigkeit des In-Sich-Ruhens und der
inneren Unabhängigkeit besonderer Art. Diese Fähigkeit erschöpft sich zwar nicht im
Vermögen, moralisch zu handeln, weil die Bedürfnisse, Wünsche und Ziele erster Stufe
nicht unbedingt Andere betreffen müssen, sondern sich auch praktisch ausschließlich
auf den Akteur beziehen können. Aber sie ist doch eine notwendige Voraussetzung, um
moralisch zu agieren, weil jedes genuin moralische Handeln eine derartige Einschrän-
kung eigener Triebe und Neigungen auf einer Metaebene der Bewertung eigener und
fremder Wünsche und Interessen voraussetzt.
Die Bestimmung der Würde als Bewertungsfähigkeit auf der MetaÂ�ebene gegenüber
eigenen und fremden Wünschen und Interessen hat den Vorteil, dass sie keiner starken
metaphysischen oder religiösen Annahmen bedarf. Sie kann also auch von metaphysi-
schen Skeptikern und Agnostikern akzeptiert werden. Christen oder anderen Gläubigen
wird aber gleichzeitig die Möglichkeit eröffnet, diese Würdebegabung religiös zu in-
terpretieren. Ein wesentlicher Aspekt der spezifischen Gottesebenbildlichkeit bestünde
dann in der einzigartigen Fähigkeit des Menschen, Belange auf einer MetaÂ�ebene gegen-
über eigenen und fremden Belangen erster Stufe zu entwickeln.

e) Typische Verletzungen:
Zwangsernährung, Lügendetektoren, Folter, Sklaverei

Fasst man die notwendige, inhärente Würde des Menschen derart als seine aktuelle oder
wenigstens potentielle Fähigkeit zum vernünftigen oder wenigstens potentiell vernünf-
tigen Verhalten gegenüber eigenen und fremden Belangen erster Stufe, so lassen sich
typische Verletzungen der Würde, wie Zwangsernährung, die Verwendung von LügenÂ�
detektoren, die Folter und die Sklaverei erklären.
Wenn Häftlinge in Hungerstreik treten, so haben sie eine sehr ungewöhnliche und
damit eigenständige Bewertung ihrer Bedürfnisse und Wünsche der ersten Stufe vor-
genommen. Sie haben das Höchstbedürfnis der Nahrungsaufnahme zum Lebenserhalt,
das normalerweise alle anderen Bedürfnisse überragt, dem sekundären Wunsch nach
politischem oder humanitärem Protest untergeordnet. Dies ist ein Akt, der in starkem
Maße die Fähigkeit zur Relativierung eigener Bedürfnisse und Wünsche der ersten Stufe
7. Menschenwürde und Autonomie 85

auf einer zweiten, übergeordneten Entscheidungsstufe verdeutlicht, also ein Akt, der
die eigene Würde, die innere Unabhängigkeit der Gefangenen eminent manifestiert.
Die Zwangsernährung unterdrückt diese eigenständige Würdeausübung und Würde-
manifestation der Gefangenen und verletzt deshalb deren Menschenwürde€– zumindest
solange die Gefangenen bei Bewusstsein sind. Verlieren sie dagegen das Bewusstsein, so
verstößt ihre künstliche Ernährung nicht gegen die Menschenwürde, denn dann han-
delt es sich nicht mehr um eine Zwangsernährung im natürlichen Wortsinn, da kein
Zwang mehr ausgeübt werden muss. Allerdings ist auch der einfache Wunsch, selbst im
Falle der Bewusstlosigkeit nicht künstlich ernährt zu werden, ethisch, moralisch und
rechtlich zu beachten.
Vergleichbar wirkt der Einsatz eines Lügendetektors. Wenn Angeklagte lügen, so be-
werten sie die eigenen Belange und die Interessen der Anklagebehörde auf einer Meta-
ebene. Sie entscheiden sich gegen die Zusammenarbeit mit der Anklagebehörde und
nehmen das Risiko in Kauf, der Unwahrhaftigkeit überführt zu werden. Diese Mög-
lichkeit der Bewertung zweiter Stufe und damit der Ausübung der Menschenwürde
wird durch den Lügendetektor abgeschnitten. Deshalb verletzt sein Gebrauch oder der
Gebrauch ähnlicher Mittel wie Psychopharmaka die Menschenwürde.
Was macht die Folter zu einer Verletzung der Menschenwürde? Sowohl die Zufü-
gung von Leid ohne die Zustimmung des Betroffenen als auch der Zweck der Willens-
brechung widersprechen wichtigen Bedürfnissen, Wünschen und Zielen des Betroffe-
nen und sind deshalb schon als solche negativ zu bewerten. Aber es kann bestimmte
Situationen geben, in denen eine dieser Formen der negativen Einwirkung auf den
einzelnen als gerechtfertigt angesehen werden muss, etwa die Verurteilung zu einer
Freiheitsstrafe wegen einer Straftat (Zufügung von Leid) oder der unmittelbare Zwang
der Polizei zur Gefahrenabwehr (Brechung des Willens). Das Besondere der Folter
liegt in der zweckgerichteten Verbindung beider grundsätzlich negativ zu bewertender
Arten der Einwirkung, also der instrumentellen Verbindung von physischer oder psy-
chischer Leidzufügung mit der Willensbrechung: Das physische oder psychische Leid
wird zugefügt, um den Willen auf einer sekundären Ebene zu brechen. Durch das
Leid und den Schmerz drückt der eigene Körper oder die Psyche des Gefolterten
dabei nicht wie im Normalfall den eigenen, sondern quasi den fremden Willen des
Folterers aus.
Der Wille des Gefolterten, nichts preiszugeben, und sein eigener Körper oder seine
eigene Psyche, welche das Leid und den Schmerz für den Betroffenen unerträglich ma-
chen und so die Preisgabe erzwingen, werden auf diese Weise zueinander in einen für
den Betroffenen zerstörerischen Widerspruch gezwungen. Die natürliche Verbindung
von Wille und Körper bzw. Psyche wird „auseinandergerissen“. Der Gefolterte erlebt
sich durch die Folter in seiner normalen Einheit als freies, willensbestimmtes Geistwe-
sen und als leid- und schmerzempfindliches Körper- und Seelenwesen negiert. Die na-
türliche Fähigkeit, durch Wünsche und Ziele über die eigenen körperlichen Strebungen
und Bedürfnisse zu entscheiden, wird so eliminiert.
Im Fall der Sklaverei wird dem Betroffenen jede Möglichkeit genommen, auf einer
sekundären Ebene seine primären Belange zu bestimmen.
86 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

f ) Grenzfälle

Man mag an dieser Stelle fragen, ob angesichts dieser Begriffsbestimmung auch Emb-
ryonen und Säuglingen sowie geistig Verwirrten inhärente Würde zukommt. Fasst man
die Menschenwürde in der soeben erläuterten engen Art und Weise, so kann bei diesen
Menschen eine direkte, gegenwärtige Verletzung der tatsächlich bestehenden Fähigkeit
zur Bewertung der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen auf einer zweiten Stufe
nicht eintreten. Die Belange dieser Menschen sind ethisch zu berücksichtigen, etwa ihr
Interesse, am Leben zu bleiben, oder ihr Wunsch nach Freiheit von Schmerzen. Aber
sie können nicht in ihrer tatsächlich bestehenden Selbstbestimmung zweiter Stufe be-
einträchtigt werden. Allerdings muss man eine Vor- und Nachwirkung der Fähigkei-
ten zweiter Stufe annehmen. So wie Handlungen, die erst in der Zukunft jemanden
schädigen, bereits gegenwärtig moralisch falsch sind, so ist auch bereits bei Embryonen
und Säuglingen die künftige Aktualisierung der Fähigkeit zu Bewertungen zweiter Stufe
verletzbar, etwa wenn sie konstruiert und selektiert werden. Ebenso wirkt bei geistig Ver-
wirrten und Komatösen die inhärente Würde als Anspruch an andere fort, weil sie ihre
Selbstbestimmung jeweils auch auf die Zukunft bis zu ihrem Lebensende und in einigen
Aspekten sogar darüber hinaus gerichtet haben. Im Übrigen ist es praktisch nie sicher,
dass ein Mensch nicht wieder die Fähigkeit erlangt, seine Selbstbestimmung über seine
primären Belange auszuüben. Man muss deshalb annehmen, dass allen Menschen vom
Lebensanfang, das heißt auch schon vor der Geburt mit der Verschmelzung von Ei- und
Samenzelle, bis zum Lebensende und in einigen Aspekten darüber hinaus eine inhärente
Würde zukommt. Die weitergehende Frage, ob die Würde über die Gattung Mensch
hinausreicht, wird an anderer Stelle erörtert (Kapitel€XIII, 4).

g) Autonomie

Sehr komplex und schwierig ist schließlich der Begriff der Autonomie. Er ist zum einen
mit dem Begriff der Menschenwürde verbunden, denn wer die Würde eines Anderen
beeinträchtigt, schränkt auch dessen Autonomie ein. Aber der Begriff der Autonomie
erschöpft sich nicht in einer Beeinträchtigung der Menschenwürde, denn auch wer ein-
fache Ziele, Wünsche und Bedürfnisse Anderer missachtet, beeinträchtigt deren Auto-
nomie. Anders als der Begriff der Menschenwürde ist der Begriff der Autonomie also
nicht auf Belange, das heißt Wünsche und Ziele zweiter Stufe im Verhältnis zu Belangen
erster Stufe beschränkt. Er umfasst alle bewussten Belange erster und zweiter Stufe ei-
nes Lebewesens. Dies impliziert natürlich auch eine Zusammenfassung und Abwägung
zwischen diesen Belangen erster und zweiter Stufe.
Jede Beeinträchtigung des Willens ist auch eine solche der Autonomie. Aber hier
gilt Vergleichbares wie beim Interessenbegriff. Während man beim Willen wie beim
Interesse einen Willen erster und einen Willen zweiter Stufe unterscheiden kann, fasst
der Autonomiebegriff beide Stufen zusammen.
8. Die zu berücksichtigenden Eigenschaften und die Handlungsmotivation 87

Die bloße Nichtbefriedigung eines Bedürfnisses, die Nichterfüllung eines Wunsches


oder die Nichterreichung eines Ziels erster oder zweiter Stufe eines Anderen stellt noch kei-
ne Beeinträchtigung seiner Autonomie dar, denn eine solche muss ständig erfolgen, wenn
moralisch, rechtlich oder ethisch abgewogen und dann entsprechend gehandelt wird. Wer
etwa auf die Einhaltung eines Versprechens verzichten muss, weil der Versprechensgeber
einem in Lebensgefahr schwebenden Unfallopfer zu helfen hat, erlebt die Nichterfüllung
seines Wunsches, ohne dass seine Autonomie beeinträchtigt wird. Die Beeinträchtigung
der Autonomie erfordert also mehr als die bloße inhaltliche Nichterfüllung. Sie setzt die
komplette prinzipielle Negation von Bedürfnissen, Wünschen oder Zielen voraus. Wer
etwa die Belange eines Anderen bei seinem Handeln nicht einmal berücksichtigt, der
schränkt dessen Autonomie ein, weil er diese Belange komplett negiert.
Die Autonomie ist schließlich von der Handlungsfreiheit zu unterscheiden. Die
Handlungsfreiheit kann auch durch äußere Ereignisse beeinträchtigt werden, etwa
durch einen Erdrutsch, der vor einem Autofahrer die Straße blockiert. Der Erdrutsch
raubt dem Autofahrer aber nicht seine Autonomie, weil seine Belange nicht komplett
formal negiert werden. Er kann etwa wenden und zurückfahren oder aussteigen.

8. Die moralisch zu berücksichtigenden Eigenschaften


und die Handlungsmotivation

Die moralisch zu berücksichtigenden Eigenschaften der Individuen, also deren Ziele,


Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen (Belange bzw. Interessen) liefern€– dies muss be-
tont werden€– isoliert noch keinen guten Grund für eine moralische Handlung. Sie kön-
nen allein noch keinen Akteur zu einer moralischen Handlung motivieren. Die moralisch
zu berücksichtigenden Eigenschaften der Individuen sind vielmehr zunächst lediglich Teil
einer adäquaten ethischen Begründung bzw. Theorie. Nur diese ethische Begründung
bzw. Theorie als Ganzes kann sich normativ, das heißt bewertend und verpflichtend, also
rechtfertigend und kritisierend, auf die tatsächlich bestehenden Normen, Regeln und
Wertungen der Moral beziehen, welche ihrerseits die faktischen Gründe und Motive un-
serer realen moralischen Einstellungen und unseres realen Handelns bilden. Wenn also
beispielsweise Anna ein Versprechen einhält, so tut sie dies häufig, wenn vielleicht auch
nicht immer, auch aus Gründen und Motiven der Moral, etwa weil sie der Auffassung
ist, dass es moralisch richtig ist, Versprechen einzuhalten (interner Grund), oder weil sie
den moralischen Normen ihrer Gesellschaft folgt, die gebieten, Versprechen einzuhal-
ten (externer Grund). Erst wenn sie nach der über das bloße Bestehen einer primären
Norm hinausgehenden Verbindlichkeit, das heißt nach der Rechtfertigung oder Kritik
ihrer moralischen Auffassung oder der moralischen Normen ihrer Gesellschaft fragt, wird
die ethische Begründung bzw. Theorie unmittelbar für ihre Moral und mittelbar für ihre
Handlung relevant. Relevant ist dann aber auch die Begründung bzw. ethische Theorie als
Ganzes, das heißt alle fünf Elemente als eine Einheit (Einleitung, 3), wovon die moralisch
zu berücksichtigenden Eigenschaften dann wiederum ein nicht isolierbarer Teil sind. Man
darf die normativ zu berücksichtigenden Eigenschaften der Ethik also nicht mit tatsäch-
88 II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

lich wirksamen Motiven einer Handlung, seien diese moralische oder nichtmoralische,
verwechseln. Erst vermittelt über das kaum bestreitbare Faktum der moralischen Bestim-
mung menschlicher Handlungen wird die Ethik ihrerseits bestimmend.

9. Eine Bestätigung des normativen Individualismus

Am Schluss dieses Kapitels soll eine Reflektion des Zusammenhangs zwischen dem ersten
und zweiten Element der hier entfalteten normativen Ethik stehen. Warum können wir
nur mit Bezug auf Einzelne fragen, ob eine Handlung wirklich in letzter Instanz gerecht-
fertigt ist? Ein wesentlicher Grund liegt auch darin, dass Gemeinschaften offensichtlich
keine moralisch und ethisch relevanten normativen Eigenschaften wie Strebungen, Be-
dürfnisse, Wünsche oder Ziele in einem letzten natürlichen Sinn aufweisen. Niemand
würde etwa annehmen, dass ein Unternehmen Strebungen hat, wie etwa ein Mensch,
ein Tier oder eine Pflanze. Niemand würde auch behaupten, dass ein Unternehmen als
solches Bedürfnisse im natürlichen Sinne hat, so wie wir vom Bedürfnis eines Menschen
oder eines Tieres ausgehen. Bedürfnisse sind nun aber ohne Zweifel moralisch relevant
(was nicht heißt, dass sie unmittelbar moralische Pflichten erzeugen oder gar allein und
ohne weitere Abwägung moralische Tatsachen sind). Und wenn ein Individuum sie oder
andere moralisch relevante Eigenschaften nicht aufweist, so kann es selbst nicht mora-
lisch relevant sein.
Vergleichbares gilt für Wünsche. Niemand würde annehmen, dass ein Unternehmen
eigene letzte Wünsche in einem natürlichen Sinne hat, so wie wir annehmen, dass ein
Mensch Wünsche hat. Wünsche setzen immer auch eine konkrete subjektive mentale Ver-
fassung voraus, die wir für Gemeinschaften wie Unternehmen nicht konstatieren können.
Das einzige, was man manchen strukturierten und mit Organen versehenen Kol-
lektiven wie Unternehmen, Vereinen, Staaten€ – nicht aber etwa Gesellschaften oder
Rassen€– zuschreiben kann, sind Ziele, vermutlich weil Ziele als solche keine körperliche
Komponente erfordern. Man spricht etwa von den „Zielen eines Unternehmens“ bzw.
den „Unternehmenszielen“. Und Ziele sind nun nach den bisherigen Überlegungen die-
ses Kapitels durchaus moralisch relevant. Aber bei den Zielen eines derartigen Kollektivs
ist es ganz eindeutig, dass sie vollständig von den Zielen der Mitglieder des Kollektivs
abhängen, also rein faktisch nicht unabhängig von den Zielen der hinter dem Kollektiv
stehenden Individuen sind. Es kann keine „Ziele eines Unternehmens“ geben, die nicht
von den Inhabern und Arbeitnehmern des Unternehmens oder in Vertretung dieser In-
haber und Arbeitnehmer von bestimmten Repräsentanten wie der Mitgliederversamm-
lung, dem Aufsichtsrat, dem Vorstand usw. formuliert werden, weil Ziele im eigentli-
chen Sinne zumindest subjektive mentale Eigenschaften voraussetzen. Die Annahme
zugeschriebener, abhängiger Ziele eines Kollektivs kann also die Annahme des normati-
ven Individualismus nicht entkräften, sondern bestätigt sie vielmehr. In letzter Instanz
sind nur Einzelne mit ihren unabhängigen Zielen moralisch bzw. ethisch relevant.
Die Rede von Belangen bzw. Interessen einer Gemeinschaft, etwa eines Unterneh-
mens oder eines Staates stützt sich also auf abhängige und nicht auf unabhängige Ziele.
9. Eine Bestätigung des normativen Individualismus 89

Es handelt sich damit auch nur um abhängige und nicht um unabhängige Belange bzw.
Interessen. Der Begriff des Belangs bzw. Interesses leistet schon auf einer begrifflichen
Ebene eine Zusammenfassung der natürlichen Eigenschaften auf der primären Ebene.
Es ist deshalb nicht überraschend, dass der Zusammenfassungsbegriff des Belangs bzw.
Interesses, anders als die stärker natürlichen Eigenschaftsbegriffe Strebung, Bedürfnis
oder Wunsch, ohne Weiteres auch auf Gemeinschaften anwendbar ist.
Nun könnte man als letzten Ausweg argumentieren, dass Kollektive wie Unterneh-
men, Vereine oder Staaten zwar weder Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen oder unabhän-
gige Ziele aufweisen, aber andere moralisch relevante Eigenschaften. Aber welche sollten
das sein? Ein Unternehmen empfindet weder Lust noch Leid und auch kein Glück. Der
Bestand eines Unternehmens ist kein Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck der-
jenigen, die es für ihre Zwecke gegründet haben bzw. es weiterführen und unterstützen,
also der Aktionäre bzw. Inhaber, der Arbeitnehmer und der regional und überregional
betroffenen Bevölkerung.
Mit dem Ausschluss dieser möglichen moralisch relevanten Eigenschaften von Kollek-
tiven verschiebt sich die Argumentationslast immer weiter zulasten des normativen Kol-
lektivismus. Es ist auch keine eindeutige und unabhängige ethisch relevante Eigenschaft
ersichtlich. Und solange diese nicht aufgewiesen ist, wie dies für Individuen geschah, ist
der normative Individualismus nicht widerlegt.
III. Die sieben Teile der Handlung,
auf die sich die Belange beziehen:
grundsätzliche Pluralität

Hat man die ethisch relevante Eigenschaft der Individuen aufgeklärt, so erhebt sich die
weitere Frage, worauf in der moralischen Interaktion sich diese Eigenschaft bezieht. Die
Frage stellt sich ähnlich für denjenigen, der eine der anderen diskutierten Eigenschaften
wie etwa Lust und Leid für entscheidend hält. Auch diese anderen Eigenschaften müs-
sen nämlich, wenn schon nicht intentional, so doch notwendig zweiwertig relational
auf die moralische Interaktion bezogen werden, sollen sie überhaupt ethisch relevant
sein. Eine nicht zweiwertig relationale Eigenschaft, die nur im Verhältnis zum fraglichen
Individuum steht und keinerlei Bezug auf sonstige Tatsachen in der Welt hat, wäre für
eine normativ-ethische Theorie ungeeignet. Auch der klassische Hedonismus muss also
etwa fragen: Welche Tatsachen in der Welt erzeugen Lust und Leid? Aber es wird sich
erweisen, dass die im vorigen Kapitel€vorgeschlagenen ethisch relevanten Eigenschaften
der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen (Belange bzw. Interessen) für die Fra-
ge des Bezugs beim dritten Element der Ethik einem ganz bestimmten Ergebnis zum
Vorzug verhelfen.
Von den Tatsachen der Welt, auf die sich die ethisch relevanten Eigenschaften der
Individuen beziehen, kommen für Moral und Ethik nur solche in Betracht, die entwe-
der in menschlichem Handeln bestehen oder durch menschliches Handeln wenigstens
irgendwie beeinflussbar sind oder waren, indem sie die beeinflussbaren Bedingungen
oder Konsequenzen derartigen Handelns darstellen (bei „waren“ kommen nur Wert-
urteile, keine Verpflichtungen in Frage).1 Die normative Ethik benötigt also einen sehr
weiten Handlungsbegriff, der neben dem Handeln im engeren Sinn sowohl die beein-
flussbaren Bedingungen als auch die beeinflussbaren Konsequenzen von Handlungen
umfasst.2

1 Die Handlungstheorie zählt verschiedentlich die tatsächlichen Konsequenzen nicht zur Handlung in einem
deskriptiven Sinne. In moralischer Hinsicht sind die beeinflussbaren Konsequenzen aber selbstredend rele-
vant. Deshalb ist es sinnvoll, sie in einen umfassenden ethischen Handlungsbegriff einzubeziehen.
2 Dieser Handlungsbegriff ist vom Begriff des Verhaltens abzugrenzen, der die mentalen Teile der Hand-
lung unberücksichtigt lässt.
1.€Die sieben Teile der Handlung im weiteren Sinn 91

1.€Die sieben Teile der Handlung im weiteren Sinn

Innerhalb einer ethisch relevanten Handlung im weiteren Sinn lassen sich dann wenigs-
tens sieben mögliche und regelmäßig vorhandene Teile unterscheiden, wobei es natür-
lich auch einzelne Handlungen gibt, die nicht alle diese Teile umfassen oder bei denen
einzelne dieser Teile zusammenfallen:

(1) die inneren, äußeren und allgemeinen Bedingungen des Handelns im engeren Sinn,
also sein Kontext, das heißt als innere Bedingungen: Werte, Gefühle, Gedanken, Ge-
wohnheiten, Tugenden, Gemütszustände, Strebungen, Bedürfnisse und allgemeine
Überzeugungen des Akteurs; als äußere Bedingungen: die Umgebung, in der der Ak-
teur lebt, seine Fähigkeiten, sein Beruf, sein Vermögen, sein bisheriges Verhalten, etwa
die Abgabe von Versprechen; als allgemeine Bedingungen: die moralische Lage in der
Gesellschaft usw.

(2)€die allgemeinen handlungsorientierten Überzeugungen (a) und Wünsche (b) des Ak-
teurs, die im Rahmen eines Überlegungsprozesses zur Fixierung einer handlungsleiten-
den Absicht bzw. eines Ziels führen, also abstrakter ausgedrückt: der kognitive und der
volitive Teil seines Denkens bzw. seiner Seele. Dazu gehören auch externe Vorgänge wie
Gespräche und Beratungen. Die entscheidenden Überzeugungen werden regelmäßig
evaluativ oder normativ sein. Aber auch deskriptive Überzeugungen sind relevant.

(3)€ das spezifische handlungsleitende Ziel bzw. die Absicht (Intention), die der Akteur
fasst, wobei mehrstufige Absichten möglich sind.

(4)€der Prozess der Suche nach Mitteln zur Realisierung dieser spezifischen Absicht und
die Wahl zwischen mehreren möglichen Mitteln, das heißt der Entscheidungsweg zum
konkreten Handlungswillen. Eine Rolle spielen hier deskriptive Zweck-Mittel-Annah-
men und evaluative Verhältnismäßigkeitsbewertungen,3 die vom handlungsleitenden
Ziel mittels Auswahl eines effektiven (geeigneten), effizienten (erforderlichen) und an-
gemessenen (verhältnismäßigen) Mittels zur Bildung des konkreten Handlungswillens
führen. Die schon unter (1) erwähnten Bedingungen können hier erneut eine Rolle
spielen, zum Beispiel Vorlieben, die einen eher zum einen als zum anderen Mittel grei-
fen lassen. Zum Willensbildungsprozess gehören abermals auch externe Vorgänge wie
Gespräche und Beratungen.

(5) der aus dem Willensbildungsprozess als Auswahl eines Mittels erwachsende konkrete
Handlungswille, der das Handeln unmittelbar steuert. Nicht selten werden sich mehrere

3 Deskriptiv: Mittel und Ziel müssen für sich möglich sowie das Mittel zur Zielerreichung geeignet sein;
evaluativ: Das Mittel muss erforderlich, also das beste bzw. mildeste sein; das Mittel darf nicht außer
Verhältnis zum Ziel stehen. Vgl. Kapitel€XIV, 4.
92 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Teilwillen ergeben, weil mehrere Teilhandlungen zur Erreichung des er�strebten Ziels
erforderlich sind.

(6) das tatsächliche, willentlich gesteuerte Handeln des Akteurs im engsten Sinn als un-
mittelbares Ergebnis des Überlegungsprozesses, das von diesem verschieden ist, also die
innere oder äußere Handlungsausführung bzw. anders ausgedrückt: die Realisierung der
Mittel zur Erreichung des Ziels. Das Handeln des Akteurs kann innerlich oder äußerlich
sein, also etwa in einem Vergessen oder einer Armbewegung bestehen. Es kann€– wie
in Kapitel€III, 11 noch näher zu erläutern sein wird€– ein aktives Tun oder ein passives
Unterlassen sein.

(7) die Konsequenzen der Handlung oder die Quasikonsequenzen des Unterlassens. Man
kann hier innerhalb eines Kontinuums der Bezugnahmen der Teile eins und zwei (Wissen)
und der Teile drei und fünf (Wollen im weiteren Sinn) unterscheiden zwischen den a) be-
absichtigten, b) den gewollten, c) den vorhergesehenen, d) den vorhersehbaren und e) den un-
vorhersehbaren Folgen der Handlung.4 Die beabsichtigten Folgen sind solche, auf die sich
das Handlungselement drei der Absicht bezieht, die gewollten Folgen solche, auf die sich
das Handlungselement fünf des Handlungswillens bezieht, die vorhergesehenen Folgen
solche, auf die sich der kognitive Teil der Handlungselemente eins und zwei bezieht, die
vorhersehbaren solche, auf die sich nach den tatsächlichen Bedingungen des Handlungs-
elements eins das Handlungselement zwei hätte beziehen können, die unvorhersehbaren
schließlich solche, auf die sich nach den tatsächlichen Bedingungen des Handlungsele-
ments eins das Handlungselement zwei nicht hätte beziehen können.

Diese sieben Teile sind in der regelmäßigen zeitlichen Reihenfolge ihres Auftretens
in einer konkreten Handlung geordnet. (1) Aus den Bedingungen des Lebens eines
Akteurs erwachsen im RahÂ�men eines Überlegungsprozesses, (2) unter Bildung von
Überzeugungen undâ•›/â•›oder Wünschen, (3) bestimmte Ziele bzw. Absichten, zu deren
VerÂ�wirklichung der Akteur (4) Zweck-Mittel-Überlegungen und Verhältnismäßigkeits-
bewertungen anstellt, die (5) in einem Handlungswillen ihren Abschluss finden, der
dann (6) eine Handlungsausführung steuert, also zum Tun oder UnterÂ�lassen führt, wor-
aus sich schließlich (7) Konsequenzen bzw. Quasikonsequenzen ergeben. Dabei kann es
aber natürlich auch zu „Rückkopplungseffekten“ kommen. Sieht etwa jemand ein, dass
es für ihn keine Mittel zur Realisierung eines Wunsches gibt, so besteht eine mögliche
Reaktion darin, den Wunsch aufzugeben.

4 Das deutsche Strafrecht kennt eine vergleichbare Unterscheidung zwischen der Absicht (dolus directus
1.€Grades), dem direkten Vorsatz (dolus directus 2. Grades), dem bedingten Vorsatz (dolus eventualis),
der Fahrlässigkeit und der Nichtfahrlässigkeit. Vgl. Kapitel€III, 11.
1.€Die sieben Teile der Handlung im weiteren Sinn 93

Teile der Handlung im weiteren Sinne:

1 2 3 4 5 6 7

Bedingungen Überzeugungen Absicht Suche u. Wahl Handlungswille Handeln Konsequenzen

(innere: Wünsche Ziel/Zweck der Mittel im eng. Sinn


Werte, Gefühle,
Tugenden;
äußere:
Gemeinschaft,
Beruf;
allgemeine:
Sozialverhältnisse
Gründe instrumentelle Gründe

Ein Beispiel für eine allgemeine, zunächst einmal moralisch nicht signifikante Hand-
lung: Weil Peter sich gerne mit Literatur beschäftigt, aber arm ist, bittet er Paula, ihm
ein teures Buch zu leihen, damit er es lesen kann. Paula leiht Peter das Buch:

(1) Bedingungen: Innere: Peter liest gerne. Er hat ein Bedürfnis zu le-
sen. Er glaubt, dass Lesen bildet. Er nimmt an, dass
Paula das Buch hat; äußere: Peter ist arm. Er hat
seiner Mutter versprochen, regelmäßig Bücher zu
lesen. Er kennt Paula; allgemeine: Es ist üblich, dass
Bekannte sich DinÂ�ge des Alltags wie Bücher leihen.
(2) a) Überzeugungâ•›/â•› Peter hat die Überzeugung, dass es gut wäre, das
b) Wunsch: Buch zu lesen. Und er hat den Wunsch, es zu lesen.
(3) Absichtâ•›/â•›Zweckâ•›/â•›Ziel: Peter entwickelt die Absicht, das Buch zu lesen.
(4) Suche nach Mittelnâ•›/â•›Wahl Peter glaubt, dass er seine Absicht realisieren kann,
eines Mittels: wenn Paula ihm das Buch leiht, und dass sein Vor-
teil durch die Lektüre größer ist als Paulas Nachteil
durch den kurzzeitigen Verzicht auf das Buch.
(5) Handlungswille: Peter will das Buch von Paula leihen.
(6) Handlungsausführungâ•›/ Peter bittet Paula, ihm das Buch zu geben,
Realisation des Mittels: und nimmt es von ihr entgegen.
(7) Konsequenzen: Peter liest das Buch (beabsichtigte Konsequenz). Pe-
ter hat das Buch von Paula erhalten und ist nun in
seinem Besitz (gewollte Konsequenz). Peter benötigt
einen Platz für das Buch (vorhergesehene Konse-
quenz). Peter ist verpflichtet, das Buch zurückzuge-
ben usw. (vorhergesehene Konsequenz). Das Buch
94 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

wird durch den Gebrauch etwas abgegriffen (vor-


hersehbare Konsequenz). Zwischen den Zeilen des
Buches findet Peter etwas mit Geheimschrift Ge-
schriebenes (im Normalfall unvorhersehbare Konse-
quenz).

Als Beispiel für eine moralische Handlung nehme man den anschließenden Vorgang der
versprochenen Rückgabe des Buches. (1) Der Charakter, die Emotionen, die Gedanken,
die Tatsache der Versprechensabgabe, die präsumtiven Erwartungen desjenigen, dem
das Versprechen gegeben wurde usw. bilden die entscheidenden inneren und äußeren
Bedingungen. Aus diesen inneren und äußeren Bedingungen ergibt sich (2) unter For-
mung bzw. Hinzuziehung von Überzeugungen (Peter ist überzeugt, dass Versprechen ge-
halten werden müssen) und Wünschen (er will das Versprechen erfüllen) im Wege eines
Überlegungsprozesses (3) eine Absicht, das Versprechen einzuhalten; diese Absicht geht
(4) in einen Willensbildungsprozess von Zweck-Mittel-Erwägungen ein, der schließlich
(5) zum Willen führt, das Buch zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten
Ort an Paula zurückzugeben, woran sich (6) die tatsächliche Handlungsausführung der
Rückgabe anschließt, die bei Paula und möglicherweise auch bei anderen Personen (7)
zu bestimmten Konsequenzen führt: Paula hat das Buch wieder in ihrem Besitz. Sie
freut sich. Sie liest das Buch noch einmal. Die Kette von Konsequenzen ist prinzipiell
endlos, muss aber im Rahmen ethischer Überlegungen aus praktischen Gründen auf die
intendierten, gewollten, vorausgesehenen und voraussehbaren Folgen begrenzt werden.
Diese sieben Elemente sind€– so kann man vielleicht annehmen€– in den meisten
Handlungen im weitesten Sinne anzutreffen. In manchen Handlungen können aller-
dings einzelne Elemente auch zusammenfallen, zum Beispiel die Absicht, die Zweck-
Mittel-Erwägung und der Wille, etwa wenn man sich mit jemandem unterhält, ohne
damit eine über die Unterhaltung hinausgehende Absicht zu verfolgen. In anderen
Handlungen können einzelne Elemente fehlen. Es mag etwa Handlungen, wie das In-
die-Luft-Schauen, geben, die keine über das Handeln in signifikanter Form hinaus-
gehenden Folgen haben. Oder es kann vielleicht absichtsloses Handeln geben. Und
es gibt möglicherweise ein Handeln ohne Überzeugungen und Wünsche. Trotz dieser
Möglichkeiten des Zusammen- und Ausfallens einzelner der Elemente ist es wichtig, die
sieben möglichen Teile der Handlung im weiten Sinn so detailliert wie möglich aufzu-
schlüsseln, um die mögliche Bezugnahme der Belange und Interessen auf die Handlung
adäquat zu verstehen.
2. Versuche einer psychologisch-handlungstheoretischen Reduktion 95

Man erhält dann folgende Verfeinerung des moralischen Grundverhältnisses:

A (1) Bedingungen A

K (2) Überzeugung / Wunsch N

T (3) Ziele /Absichten Belange / Interessen D

E (4) Mittelwahl E

U (5) Handlungswille R

R (6) Handlungsausführung E

(7) Konsequenzen R

Man könnte nun natürlich aus handlungstheoretischer Sicht einzelne dieser Elemente
genauer diskutieren oder die Differenzierung noch verfeinern und vielleicht auch in
Zweifel ziehen. Für die normative Ethik ist eine derartige Detaildiskussion aber€– mit
der noch zu erörternden Ausnahme der Handlungsformen des Tuns und Unterlassens€–
nicht notwendig. Ihr geht es nicht um eine detaillierte Handlungstheorie als Teil einer
umfassenden praktischen Philosophie, sondern nur um eine grundsätzliche Bestim-
mung des Bezugs der moralisch relevanten Eigenschaft der Belange bzw. Interessen auf
die Handlung, und zwar genauer um die Frage, ob generell einem Element oder einzel-
nen Elementen der Handlung im weiteren Sinn im Rahmen von Moral und Ethik eine
besondere Bedeutung zukommt oder ob sie grundsätzlich alle gleich wichtig sind. Ein
Versuch, die grundsätzliche Pluralität dieser Handlungselemente zu reduzieren, kann
wenigstens auf zwei verschiedenen Ebenen stattfinden. Die erste, grundlegendere Ebene
ist eine psychologisch-handlungstheoretische, das heißt motivationale, die zweite, weni-
ger grundlegende Ebene ist eine ethische.

2. Versuche einer psychologisch-handlungstheoretischen Reduktion:


Gründe und Motive

Als Menschen sind wir ab einem bestimmten Alter und im Gegensatz zu Tieren, Pflan-
zen und unbelebten Gegenständen in der Lage, in gewissem Umfang einsichtsfähig zu
handeln. Dies ist eine der grundlegenden Überzeugungen, die unser Leben bestimmen.
Sie mag aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive zweifelhaft, naiv oder verkürzend
sein. Solange sich diese grundlegende Überzeugung jedoch nicht wandelt, bleibt sie auf
der Sinn-Ebene für alle weiteren Überlegungen einer normativen Ethik elementar.
Einsichtsfähiges Handeln bedeutet, dass der Mensch selbst bestimmt, was er tut.
Aber wie geschieht das? Die Antwort lautet: mittels Gründen. Die Einsichtsfähigkeit des
Handelnden und die Gründe seines Handelns sind wie zwei Seiten einer Medaille. Die
eine Seite ist die dem Handelnden, die andere ist die der Handlung zugewandte. Weil
96 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

der Handelnde einsichtsfähig ist, handelt er aus Gründen, und weil er aus Gründen
handelt, ist er einsichtsfähig, das heißt vernünftig.
Dann stellt sich die Frage, was Gründe des Handelns sind. Zunächst wird man
zwischen realen, tatsächlich im Akteur wirksamen Gründen und idealen, „guten“, nicht
tatsächlich wirksamen Gründen unterscheiden müssen. Reale, tatsächlich im Akteur
wirksame Gründe sind „motivationale Gründe“ oder kurz „Motive“. Ideale, „gute“
Gründe sind „normative, gedankliche Gründe“. „Gute“ Gründe werden häufig nicht zu
Motiven. Verurteilen wir etwa einen Verbrecher, so werfen wir ihm vor, dass er die guten
Gründe, die gegen das Verbrechen sprechen, in der einzelnen Situation nicht zu seinen
handlungsleitenden Motiven gemacht hat.
Welche Phänomene kommen als Gründe, seien es motivierend-reale oder normativ-
ideale, in Betracht? Eine Ansicht, die häufig auf David Hume zurückgeführt wird,5
lautet, dass nur Überzeugungen (beliefs) und Wünsche (desires), also interne Gründe,
zu Motiven unseres Handelns werden können, wobei die Wünsche dominieren sollen.
Das ist die Auffassung einer reduktionistisch-internalistischen Handlungstheorie.6 Die
Wünsche des Handelnden sollen gleichsam als kausal-mechanisches Instrument not-
wendig, aber auch allein entscheidend sein, um die Handlung in Gang zu bringen.
Die Kritik wendet sich in verschiedenen Stufen von diesem Modell der Dominanz von
Wünschen als Motiven ab. Nach einer Auffassung sind Wünsche zwar regelmäßig trivi-
alerweise zur Motivation erforderlich, aber nicht notwendig dominierend, weil manche
Wünsche auf Überzeugungen und damit auf anderen Gründen beruhen.7 Nach einer
etwas weiter gehenden Ansicht können auch bloße Überzeugungen ohne eine Betei-
ligung von Wünschen motivieren.8 Noch weiter geht die Auffassung, dass praktisch
ausschließlich Überzeugungen motivieren, nicht aber Wünsche.9 Am radikalsten ist
schließlich die antipsychologistische, vollständig externalistische Meinung, dass selbst
Überzeugungen nicht motivieren, sondern nur die Tatsachen, die Überzeugungen zu-
grunde liegen.10 So soll etwa die Not eines Ertrinkenden unsere Rettungshandlung un-
mittelbar veranlassen, nicht aber unsere Überzeugung hinsichtlich des Notfalls oder
unser Wunsch zu helfen.
Die soeben verwandten Begriffe des Grundes und des Motivs müssen nun der obi-
gen verfeinerten Analyse der Handlung im weiteren Sinne zugeordnet werden. Dabei

5 David Hume, Enquiries. Enquiry Concerning the Principles of Morals, hg. von L.â•›A. Selby-Bigge, Nach-
dr. der 2.€Aufl. Oxford 1951, S.€293╛f.; ders., A Treatise of Human Nature, S.€415, 457.
6 Bernard Williams, Internal and External Reasons, in: ders., Moral Luck, Cambridge 1981, S.€101–113.
Auf S.â•›105 definiert Williams Wünsche allerdings in einem weiten Sinn, der auch Wertungsdispositio-
nen, Strukturen emotionaler Reaktionen, persönliche Loyalitäten und verschiedene Projekte, die Ver-
pflichtungen des Akteurs enthalten, umfasst.
7 Thomas Nagel, The Possibility of Altruism, Princeton 1970, S.€30╛ff.
8 Julian Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft,
Stuttgart 2001, S.€30╛ff.
9 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€8, 18, 33╛ff.
10 Jonathan Dancy, Practical Reality, Oxford 2000, passim; Rüdiger Bittner, Doing Things for Reasons,
New York 2001, dt.: Aus Gründen handeln, Berlin 2005.
2. Versuche einer psychologisch-handlungstheoretischen Reduktion 97

kommen als fundierende Gründe und Motive die Elemente eins und zwei in Frage,
also sowohl die inneren, äußeren und allgemeinen Bedingungen, als auch die auf die
einzelne Handlung bezogenen Überzeugungen und Wünsche des Akteurs. Wir kön-
nen etwa sagen, dass jemand eine Revolution plante, weil die Regierung korrupt war
(Element eins), weil er die Überzeugung hatte, dass die Regierung korrupt war, oder
weil er den Wunsch hatte, die Regierung zu stürzen (Elemente zwei a und b). Daneben
gibt es auch instrumentelle Gründe bzw. Motive im Rahmen der Mittelwahl für ein
angestrebtes Ziel, also im Rahmen des Elements vier. Derartige instrumentelle Gründe
bzw. Motive sind unbestritten. Sie taugen aber in keinem Fall€ dazu, die Bildung der
Handlungsabsicht bzw. des Handlungsziels, also des Elements drei, zu erklären, denn
diese muss zumindest in groben Umrissen abgeschlossen sein, bevor wir nach Mitteln
zu ihrer Realisation suchen.
Im Rahmen dieser Untersuchung zur normativen Ethik ist keine umfassende Dis-
kussion der verschiedenen oben aufgeführten motivationstheoretischen Alternativen
erforderlich. Es genügt die Zurückweisung der ersten Alternative, der engen internalis-
tischen Handlungstheorie, die Wünsche immer für notwendige und dominante Motive
hält. Denn wären die Wünsche des Akteurs nicht nur beteiligt, sondern stets allein
faktisch handlungswirksam, so wäre die Annahme einer anderen Quelle der Normati-
vität sinnlos. Der Akteur würde immer nur gemäß seiner Wünsche handeln. Die Ziele,
Bedürfnisse und Strebungen des Anderen könnten nur im Falle einer zufälligen Paralle-
lität mit den Akteurswünschen oder vermittelt durch die Akteurswünsche handlungsre-
levant werden. Dies würde ein allgemeines, genuin moralisches Handeln ausschließen,
da in vielen Fällen die Wünsche des Akteurs und die Belange des Anderen nicht über-
einstimmen werden.
Die Zurückweisung der These der engen internalistischen Handlungstheorie könnte
prinzipiell auf zwei divergente Weisen erfolgen. Zum einen könnte man diese Auffas-
sung auf einer logischen oder apriorischen Ebene als inkonsistent aufzeigen. Zum an-
deren könnte man ihre empirisch-phänomenale Überzeugungskraft angreifen. Die erste
logische oder apriorische Ebene erscheint kaum erfolgversprechend. Es ist nicht logisch
oder apriorisch widersprüchlich, anzunehmen, dass Wesen nur durch ihre Wünsche
motiviert werden. Sähe man Wünsche verengend als Direktiven für die Auswahl von
Bewegung an und schränkte man die Anforderungen an Intentionen im Rahmen einer
Handlung ein, so könnte man glauben, dass ein Roboter nur seinen Wünschen „folgt“,
nicht aber anderen Gründen. Es wäre nicht logisch oder apriorisch widersprüchlich, die
Menschen als derartige wunschgesteuerte „Roboter“ aufzufassen.
Die enge internalistische Interpretation erscheint aber auf einer zweiten, empirisch-
phänomenalen Ebene kaum überzeugend. Sieht man Wünsche nicht in einem sehr wei-
ten und trivialen Sinne als „Pro-Haltungen“ an und setzt man sie auch nicht einfach mit
unseren Absichten gleich, so bilden Wünsche zwar eine eigenständige interne Quelle der
Handlungsnormativität. Aber die Vorstellung, dass wir allein und ausschließlich gemäß
dieser einzelnen, internen Quelle handeln, erscheint bizarr. Fragt man den Revolutionär,
warum er den Umsturz plant, so genügt es vollständig, wenn er auf die Korruptheit der
bestehenden Regierung oder seine Überzeugung, die bestehende Regierung sei korrupt,
98 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

verweist. Der Versicherung, er wünsche den Umsturz, würde man in diesem Fall€kaum
eine zusätzliche begründende bzw. motivationale Kraft zuerkennen. Noch signifikanter
sind aber Fälle des Konflikts zwischen Wünschen und sonstigen, verpflichtenden Grün-
den. So kümmern wir uns zum Beispiel gelegentlich um Angehörige, obwohl dies unse-
ren Wünschen, die Zeit angenehmer zu verbringen, zuwiderläuft. Der Anhänger eines
strikten Internalismus wird an dieser Stelle behaupten, dass wir eben einen dominanten
Wunsch hatten, uns um unsere Angehörigen zu kümmern. Dies nimmt aber dem Be-
griff „Wunsch“ sein spezifisch subjektiv-voluntatives Verständnis, denn hier wäre die
Charakterisierung der Motivation als „Überzeugung, eine Pflicht zu haben“ viel ange-
messener. Der deliberative Anteil dominiert in diesen Fällen den subjektiv-volunÂ�taÂ�tiÂ�ven
eindeutig. Ist dies aber der Fall, so ist der Weg für eine unmittelbare Berücksichtigung
der Interessen Anderer und damit für einen genuinen Altruismus frei.
Manche Handlungen eines Akteurs werden ausschließlich oder weit überwiegend
von seinen Wünschen bestimmt, etwa regelmäßig Kaufentscheidungen. Es gibt aber
offensichtlich auch Handlungen, bei denen bestimmte Überzeugungen unmittelbar
eine Zielabsicht hervorrufen. So führt etwa eine Überzeugung, dass es erforderlich und
richtig ist, Prüfungsarbeiten zu bewerten, zu der Absicht, diese Arbeiten zu korrigieren.
Fragt man nach den Gründen für diese Absicht, so wird man kaum sagen, dass man
den „Wunsch“ hatte, Prüfungsarbeiten zu korrigieren. Es handelt sich vielmehr um eine
externe Notwendigkeit, von der man überzeugt ist. Deshalb bildet man eine Zielabsicht
und einen Handlungswillen aus. Man braucht keinen Wunsch, die Prüfungsarbeiten zu
korrigieren, um einen motivierenden Grund für die Korrektur zu entwickeln.
Das bedeutet im Hinblick auf die normative Ethik, dass die Belange Anderer auch
ohne Wünsche des Akteurs Teil seiner guten und motivierenden Handlungsgründe wer-
den können. Es genügt, dass diese Belange eines Anderen bestehen, der Akteur von
ihrer Existenz überzeugt ist und ihre Berechtigung in einem Prozess der Abwägung
mit eigenen Interessen einsieht. Die hier vertretene zentrale These lautet also: Morali-
sche bzw. ethische Verpflichtungen durch Andere unterscheiden sich von allen anderen
Handlungsgründen darin, dass sie nicht als bloßer Teil von Bewertungen in einem inter-
nen Abwägungsprozess des Akteurs gebildet werden können und so seine Überzeugung
formen. Sie können nicht rein intern als besser oder schlechter bestimmt werden. Das
bedeutet nicht, dass tatsächliche VerÂ�pflichÂ�tungen durch Andere vom Akteur immer zu
befolgen wären. Die Qualifikation als „moralisch“ erfordert einen Abwägungsprozess.
Aber dieser Abwägungsprozess unterscheidet sich in zweifacher Hinsicht fundamental
vom internen Abwägungsprozess der Bewertung des guten Lebens oder richtigen Han-
delns. Zum einen stehen sich nicht Wertungen gegenüber, sondern Belange bzw. Inte-
ressen. Zum anderen ist dieser Abwägungsprozess immer notwendig extern, das heißt
er bezieht die Belange Anderer und eine angenommene Objektivität der Bewertung
dieses Prozesses mit ein. Der Akteur kann keine vollständig eigene und interne Bewer-
tung vornehmen, wie etwa bei der Entscheidung, Beethoven statt Bartók zu hören. Er
muss vielmehr eine potentiell objektive, externe Abwägung für sich akzeptieren. Seine
Überzeugung von der Richtigkeit der Handlung ergibt sich also unmittelbar als Resultat
eines als objektiv oder zumindest objektivierbar aufgefassten Abwägungsprozesses, den
3. Versuche einer ethischen Reduktion 99

er subjektiv nachvollzieht, weil das Resultat einen guten normativen Grund für sein
Handeln erzeugt. Dazu wird in Kapitel€VI noch mehr zu sagen sein.

3. Versuche einer ethischen Reduktion

Aber nicht nur in der psychologisch-motivationalen Handlungstheorie, sondern auch


in der Ethik wurde immer wieder der Versuch unternommen, eines der Handlungs-
elemente grundsätzlich als primär oder gar ausschließlich auszuzeichnen, auf das sich
moralische Normen stützen: in der klassischen Tugendethik die Tugenden, im KonÂ�
sequenÂ�tiaÂ�lismus die Konsequenzen.11 Und nach Kant soll nichts ohne Einschränkung
gut sein als ein guter Wille,12 woraus man schließen kann, dass der Wille grundsätzlich
ethisch primär ist. Die Maximen als subjektive Prinzipien des Wollens sollen dem Test
der Verallgemeinerung unterworfen werden.13
Die Welt moralischer Normen ist jedoch nicht so einfach strukturiert, wie das zur
Konstruktion einer möglichst abstrakten und sparsamen ethischen Theorie wünschens-
wert wäre. Keiner der Versuche zur Beschränkung moralischer Normen auf einen primä-
ren Typus des Handlungsbezugs konnte allgemein und auf Dauer überzeugen.14 Dies gilt
in doppelter Hinsicht: faktisch und normativ. Faktisch lässt sich feststellen, dass in den
bestehenden Moralsystemen etwa für die moralische Beurteilung einer Handlung Tugen-
den nicht grundsätzlich weniger wichtig sind als der gute Wille des Handelnden oder
die Konsequenzen der Handlung. Normativ-theoretisch konnte nicht begründet werden,
warum nur ein Handlungselement moralisch und ethisch primär relevant sein soll, warum
sich also eine Ethik vor allem auf die Tugenden, den Willen des Handelnden oder die
Konsequenzen der Handlung beschränken soll. Die Tugendethik, der Kantianismus bzw.
deontologische Positionen und der Konsequentialismus, die jeweils einen solchen Vorrang
implizieren, stehen sich nach wie vor€– neben einigen weiteren Alternativen€– unversöhn-
lich und ohne erkennbare Verdrängung der anderen Positionen gegenüber. Deutlich wird

11 Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, S.€70. „The general ten-
dency of an act is more or less pernicious, according to the sum total of its consequences: that is accord-
ing to the difference between the sum of such as are good, and the sum of such as are evil.“ Vgl. auch
S.€6. J.╛J.╛C. Smart, An Outline of a System of Utilitarian Ethics, in: J.╛J.╛C. Smart und Bernard Williams,
Utilitarianism. For and Against, Cambridge 1973, S.€4: „Roughly speaking act-utilitarianism is the view
that the rightness or wrongness of an action depends only on the total goodness or badness of its conse-
quences, […].“
12 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€393.
13 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€400, Anm.*: „Maxime ist das subjektive
Prinzip des Wollens“; S.€ 421: „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser:
handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz
werde.“
14 Vgl. zu einer Kritik an der Unterscheidung zwischen Deontologie und Teleologie: Verf., Die fünf Struk-
turmerkmale normativ-ethischer Theorien. Vgl. zu einer umfassenden, wenn auch in verschiedener Hin-
sicht anders begründeten Kritik des Konsequentialismus: Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequen-
tialismus.
100 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

dies etwa in Falltypen wie dem sog. „Jim-Fall“:15 Jim wird in einer südamerikanischen
Stadt vom Anführer einer Bande vor folgende Alternative gestellt: Entweder er tötet€– als
geehrter Gast€– selbst einen von zwanzig gefangenen Indios oder alle zwanzig werden um-
gebracht. Während der Konsequentialismus hier eine Tötungsverpflichtung Jims mit Blick
auf die Konsequenzen für die zwanzig gefangenen Indios bejaht, wird diese von Anhängern
einer deontologischen Ethik zum Beispiel mit dem Argument, dass jeder in erster Linie
selbst für das verantwortlich ist, was er tut, also vor allem der eigene Wille zählt, abgelehnt.
Beide extremen Lösungen erscheinen aber wenig befriedigend, um alle in diesem Fall€re-
levanten Gesichtspunkte aller Betroffenen zu erfassen (vgl. zu diesem Fall€ eingehender
Kapitel€XII, 4).
Gelingt es somit nicht, die Pluralität der Typen moralisch relevanter Handlungs-
elemente zu reduzieren,16 dann besteht ein Ausweg darin, zu erklären, warum diese
Pluralität offenbar unhintergehbar ist. Dazu wird man zunächst akzeptieren müssen,
dass nicht nur faktisch manchmal einzelne dieser Elemente nicht Teil einer Handlung
sind, sondern dass sich auch normativ moralische Wertungen, aber auch moralische
Verpflichtungen gelegentlich nur auf eines oder einige dieser sieben Elemente einer voll
entfalteten Handlung im weiten Sinne beziehen können. Wir bewerten etwa manch-
mal nur Charaktereigenschaften einer Person oder deren Wünsche. Oder wir halten
bestimmte Handlungen im engeren Sinne für falsch, etwa Folter, ohne überhaupt nach
anderen Teilen der Folterhandlung im weiteren Sinn, etwa den der Folter zugrunde
liegenden Absichten oder den Konsequenzen der Folterhandlung zu fragen.
Zu betonen ist weiterhin, dass der Anfangs- und der Endpunkt der Handlung im
weiteren Sinne, also die Bedingungen sowie die Konsequenzen, selbstredend in einem
kausalen Verständnis quasi unbestimmt ausgedehnt werden können und in extremster
Form viele Teile der vergangenen und zukünftigen Welt umfassen (wobei die Existenz
des Handelnden naturgemäß den Anfang begrenzt). Davon kann nur ein kleiner Teil
für die Bewertungen und Verpflichtungen von Moral und Ethik relevant sein. So wird
man€– wie bereits erwähnt wurde€– bei den Bedingungen und Eigenschaften zunächst
prinzipiell nur diejenigen für moralisch relevant ansehen können, die der Handelnde in
seinem Leben irgendwann einmal in einem praktischen Sinne beeinflussen konnte. Es
mag etwa in einem kausalen Sinne bedeutsam sein, dass ein Akteur in sozial zerrütteten
Verhältnissen aufwuchs. Diese äußere Tatsache rechtfertigt aber nur eine negative Be-
wertung des Handelns der Eltern oder der Erzieher, nicht aber des Akteurs€– jedenfalls
solange er seine Situation selbst nicht verbessern konnte. Auf der anderen Seite werden
von modernen Versionen des Konsequentialismus alternativ nur die beabsichtigten, vo-
rausgesehenen oder zumindest individuell oder allgemein voraussehbaren Folgen eines

15 Bernard Williams, A Critique of Utilitarianism, in: J.â•›J.â•›C. Smartâ•›/â•›Bernard Williams, Utilitarianism For
and Against, Cambridge 1973, S.€98╛f.
16 Vgl. zu einer leichten Erweiterung des konsequentialistischen Modells: Rainer W. Trapp, „Nicht-klassi-
scher“ Utilitarismus. Eine Theorie der Gerechtigkeit, S.€317. Trapp konstatiert, dass auch Handlungen
selbst sowie das Gewahrwerden ihrer Umstände unabhängig von den Folgen interessenbefriedigend sein
können. Allerdings spricht er auf S.€300 bei der Interpretation des gerechtigkeitsutilitaristischen Prinzips
„GU“ wiederum von den „Nutzenniveaus“ der „konsequentiell“ Betroffenen.
4. Die deskriptive Begründung der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs 101

Handelns berücksichtigt.17 Trotz dieser beiden Einschränkungen lässt sich die grund-
sätzliche Pluralität des Handlungsbezugs auf zwei Ebenen und folglich mit zwei Erklä-
rungen begründen.

4. Die deskriptive Begründung der


grundsätzlichen Pluralität des Bezugs

Zunächst gilt deskriptiv: Die Moral, also die tatsächlich in einer Gesellschaft beste-
henden Verpflichtungen, Wertungen und Überzeugungen mit den in der Einleitung
genannten weiteren Eigenschaften, sind nicht auf eine oder mehrere der soeben analy-
sierten Elemente einer Handlung im weiteren Sinne beschränkt. Man nehme als Bei-
spiel folgende bekannte Episode aus dem Alten Testament: Kain tötet Abel aus Miss-
gunst. In diesem Fall€beurteilen wir sämtliche Aspekte der Handlung moralisch negativ.
Wir halten Missgunst für eine schlechte Charaktereigenschaft. Wir verurteilen Kains
Wunsch, einen anderen Menschen zu töten, und auch eventuelle weitere Gründe, etwa
seinen Bruder loswerden zu wollen. Wir schätzen jede Tötungsabsicht grundsätzlich
negativ ein, es sei denn, es bestünden spezielle Umstände, etwa eine Notwehrsituation.
Da der Zweck moralisch verwerflich ist, kann die Mittelwahl von vornherein nicht gut
sein. Manche glauben zwar€– fehlerhafterweise€– an das jede Mittelbewertung ausschlie-
ßende Prinzip „Der Zweck heiligt die Mittel“. Aber niemand würde behaupten: „Die
Mittel heiligen den Zweck“. Auch der Handlungswille, einen unschuldigen Menschen
zu töten, ist moralisch schlecht, ebenso wie die Handlung des Tötens und deren Kon-
sequenz, also in diesem Fall€Kains unnatürlicher Tod ohne spezielle Rechtfertigung, wie
sie eine Notwehrsituation darstellt.
Um zu einer Untermauerung der ersten deskriptiven Behauptung zu gelangen, dass
tatsächlich bestehende Moralsysteme alle Elemente der Handlung im weiteren Sinne
bewerten, müsste man selbstredend entsprechende empirische Untersuchungen anstel-
len. Man kann vermuten, dass sich dabei durchaus kulturell bedingte Wertungsakzen-
tuierungen zwischen stärker tugendorientierten Gesellschaften, etwa den antiken Poleis,
stärker deontologisch orientierten Gesellschaften, etwa den Gesellschaften des christli-
chen Mittelalters, und stärker konsequentialistisch orientierten Gesellschaften, etwa den
heutigen materialistisch geprägten Gesellschaften der westlichen Welt, ergeben würden.
Aber man wird kaum finden, dass in einer Gesellschaft Tugenden, gute Absichten oder
gute Konsequenzen eine ausschließliche oder dezidiert primäre Rolle spielen.
Die Feststellung einer tatsächlichen Pluralität der Bezugnahmen der Belange im
Konflikt gilt im Übrigen auch für andere primäre Normordnungen. Auch im Recht
lässt sich etwa feststellen, dass weder allein die Konsequenzen noch allein der gute Wille
entscheidend sind. Die verschiedenen Voraussetzungen einer Bestrafung etwa wegen
Körperverletzung, die subjektive TatbestandsÂ�mäßigkeit (Vorsatz, Fahrlässigkeit), objek-

17 Vgl. Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€178â•›ff.; William H. Shaw, Contemporary
Ethics. Taking Account of Utilitarianism, Oxford 1999, S.€29.
102 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

tive Tatbestandsmäßigkeit (Verletzungshandlung), Rechtswidrigkeit und Schuld decken


praktisch alle der oben genannten sieben Teile der Handlung ab.

5. Die normative Begründung der grundsätzlichen


Pluralität des Bezugs

Die zweite, normativ-ethische Begründung lautet, dass es auch keinen guten ethischen
Grund gibt, den Bezug moralischer Normen und dann in der Konsequenz auch den
Bezug ethischer Analysen und Rechtfertigungen grundsätzlich primär oder gar aus-
schließlich auf eines der oben genannten sieben Handlungselemente zu richten. Um
dies zu zeigen, soll zunächst kurz die Unhaltbarkeit verschiedener Reduktionsversuche
dargelegt werden. Zum Abschluss wird dann ein positiver Grund genannt, warum alle
Reduktionsversuche notwendig scheitern müssen.
Tugenden sind zwar ein möglicher Gegenstand moralischer Bewertungen und Ver-
pflichtungen. Aber sie sind nicht deren einziger Gegenstand. Denn Tugenden haben
zwar einen Einfluss auf Handlungen. Aber dieser Einfluss ist lediglich ein empirisch-
probabilistischer. Zwar mag es sein, dass jemand, der tugendhaft ist, häufig auch gut
handelt. Aber dies ist nicht notwendig so. Auch der Tugendhafte kann gelegentlich
schlecht oder moralisch neutral handeln. Und daraus können sich katastrophale Interes-
senverletzungen ergeben. So mag derjenige, der einen Verbrecher aus Mitleid oder Men-
schenliebe früher als geboten aus der Haft entlässt, weitere Verbrechen mit schrecklichen
Folgen für die Opfer ermöglichen. Umgekehrt kann ein ansonsten wenig tugendhafter
Mensch sich in einer bestimmten Notsituation vorbildlich verhalten, etwa weil gerade
diese spezifische Situation ihm einen Anstoß gibt, endlich einmal richtig zu handeln.
Kants These, dass nur ein guter Wille ohne Einschränkung gut ist, und die Folge-
rung, dass nur die subjektiven Prinzipien des Wollens, die Maximen, der Verallgemeine-
rungsprüfung zu unterwerfen sind, genügt zwar einer ins Extrem gesteigerten ethischen
Sicherheitserwartung des Akteurs, weil eine fehlgehende Handlung und insbesondere
schlechte Konsequenzen dann nicht auf den Akteur zurückfallen, berücksichtigt aber
den je konkreten Anderen, der von einer Handlung betroffen ist, nicht hinreichend (die
Verallgemeinerbarkeitsbedingung bezieht dann Andere aber zumindest auch ein). Die
Ansprüche dieses Anderen sind zwar nicht allein ausschlaggebend für die Beurteilung
einer Handlung. Aber ihre Existenz und normative Kraft machen die Beurteilung der
Handlung eines Akteurs erst zu einer umfassenden ethischen. Beurteilt der Akteur sein
Handeln in letzter Instanz nur im Hinblick auf sich selbst, seine eigenen Bedürfnisse,
Wünsche oder sein Wollen, so bleiben zentrale Teile von Moral und Ethik in einem ge-
haltvollen Sinne unerklärt. Man hat dann allenfalls eine erweiterte Rationalitätstheorie,
einen strikten ethischen Subjektivismus, wonach etwa altruistisches Handeln lediglich als
Handeln aus Angst vor Sanktionen aufzufassen wäre.18 Berücksichtigt man aber auch den

18 Ein solcher ethischer Subjektivismus wird allerdings immer wieder vertreten: Vgl. John L. Mackie, Ethics.
Inventing Right and Wrong; Peter Stemmer, Handeln zugunsten anderer. Eine moralphilosophische Un-
5. Die normative Begründung der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs 103

von der Handlung betroffenen Anderen mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Zielen,
so vermag Kants Annahme, dass nur der gute Wille des Akteurs absolut gut ist, nicht
zu überzeugen. Denn für den Anderen kann selbst ein guter Wille des Akteurs schlecht
sein, das heißt, seine Belange ohne eine faire Abwägung missachten. Man denke an eine
Mutter, die zwar das objektiv Beste für ihr Kind will, dabei aber dessen vielleicht sogar ir-
rationale Wünsche vollkommen unberücksichtigt lässt. Damit soll nicht gesagt sein, dass
die Belange des von der Handlung betroffenen Anderen für die ethische Bewertung allein
ausschlaggebend sind. Aber sie müssen bei der Bewertung einer Handlung in ihrer tat-
sächlichen Ausprägung beachtet werden, so dass der bloße gute Wille des Akteurs ohne
Berücksichtigung der faktischen Interessen der Anderen in einem moralischen Sinn nicht
absolut gut sein kann. Dies gilt selbst dann, wenn man „Wille“ wie Kant nicht in einem
psychologischen Sinn versteht, sondern auf das „moralische Gesetz in mir“ bezieht, denn
auch dieses muss die realen Belange der betroffenen Anderen mit einbeziehen, wenn
wirklich eine adäquate Rechtfertigung moralischer KonÂ�fliktlösungen stattfinden soll.
Ein vergleichbares Argument lässt sich auch gegen die Beschränkung des Bezugs
moralischer Normen auf die Konsequenzen durch den Konsequentialismus vorbringen.
Wird mit der Perspektive des betroffenen Anderen ein externer Standpunkt eingenom-
men, so ist kein Grund ersichtlich, warum dessen Interessen auf die Konsequenzen der
Handlung des Akteurs beschränkt werden sollten.19 Die Konsequenzen einer Hand-
lung mögen für uns in manchen Fällen gravierender sein als der schlechte Wunsch, die
schlechte Absicht, die schlechte Zweck-Mittel-Wahl, der schlechte Handlungswille oder
die schlechte Handlung im engeren Sinn. Aber in vielen Fällen beurteilen wir bereits un-
abhängig von den negativen Konsequenzen den Wunsch, die Absicht, die Zweck-Mittel-
Verbindung, den Handlungswillen undâ•›/â•›oder die Handlung im engeren Sinn als negativ.
Wenn jemand sich unrechtmäßig bereichern möchte und dazu jemanden hintergehen
will und täuscht, so ist das im Normalfall bereits moralisch verwerflich, unabhängig da-
von, welche Folgen intendiert sind und daraus letztlich resultieren. Daran ändert sich
auch nichts, wenn sich im Endeffekt aus dem Betrug, wie beabsichtigt, positive Folgen
ergeben, etwa wenn der Betrügende mit dem Erlös eine Hilfsorganisation unterstützt,
während wir den durch den Betrug erlangten Betrag sonst für Luxusgüter ausgegeben
hätten. Nur in speziellen Fällen führen weit überwiegende positive Folgen dazu, dass
schlechte Wünsche, Absichten und Handlungsausführungen im Rahmen einer Gesamt-
bewertung der Handlung im weiteren Sinn in Kauf genommen werden dürfen. Dies
wäre etwa wohl dann der Fall, wenn eine leichte Täuschung dazu dienen soll, ein le-
benswichtiges und nicht anders erlangbares Medikament für einen Sterbenskranken von
einem Apotheker zu erlangen und der Apotheker mit seiner Weigerung, das Medikament
herauszugeben, seiner eigenen Pflicht zur Hilfeleistung nicht nachkommt, also seinerseits
unmoralisch handelt (dazu näher Kapitel€XII, 3).

tersuchung, Berlin 2000, S.€101, 118â•›f.; ders., Normativität, Berlin 2008.


19 In der Literatur findet sich immer wieder die nicht weiter begründete und sachlich unberechtigte Gleich-
setzung der Berücksichtigung von Interessen mit der Beschränkung auf Konsequenzen. Vgl. etwa Norbert
Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, in: Manfred Riedel (Hg.), Re-
habilitierung der praktischen Philosophie Bd. II, Freiburg 1974, S.€455–475, S.€474.
104 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Moderne Utilitaristen haben eine Zwei-Ebenen-Strategie entwickelt, um bestimmten


Einwänden, insbesondere dem Einwand der Überforderung, zu begegnen. En passant
wird dabei auch die Beschränkung der Berücksichtigung auf die Konsequenzen relati-
viert. Unter konsequentialistischen Primärprinzipien sollen unmittelbar handlungsre-
gelnde, nichtkonsequentialistische Sekundärprinzipien rangieren. Diese Hierarchisierung
wirft aber zwangsläufig die Frage auf: Was soll im Konfliktfall entscheidend sein, die
konsequentialistischen Primärprinzipien, wie ein modifizierter Aktkonsequentialismus
annimmt,20 oder die Sekundärprinzipien, wie es der Regelkonsequentialismus vertritt?21
Beide Alternativen sind, wie sich in Kapitel€V, 4 noch zeigen wird, unbefriedigend. Beim
modifizierten Aktkonsequentialismus sind letztlich doch die Konsequenzen in Form des
Primärprinzips entscheidend. Die Sekundärprinzipien sind nur erste allgemeine prima-
facie-Regeln. Er erlaubt überdies keine verbindliche Ausprägung von Tugenden und habi-
tuellen Regelbefolgungen. Beim Regelkonsequentialismus gelten dagegen die Regeln auch
im Einzelfall unabhängig von den Konsequenzen der jeweiligen Handlung. Damit liegt
aber kein wirklicher Konsequentialismus mehr vor. Man muss sich vielmehr fragen, auf
welcher ethischen Grundlage die Einzelfallgeltung der Regeln gerechtfertigt sein soll.
Einen interessanten Mittelweg hat in Form eines sog. „indirekten Konsequentia-
lismus“ Dieter Birnbacher vorgeschlagen.22 Danach soll den Sekundärprinzipien eine
weitergehende Autorität als beim modifizierten Aktkonsequentialismus zukommen.
Diese Autorität ist allerdings nicht unbegrenzt, sondern wird durch eine Generalklausel
eingeschränkt, die analog zum rechtfertigenden Notstand im Strafrecht in Situationen
eines schwerwiegenden Konflikts mit dem Primärprinzip Ausnahmen zulässt und in
Einzelfällen von der Befolgung der Sekundärprinzipien entbindet. Die Sekundärprinzi-
pien sollen auch viel stärker als beim Aktkonsequentialismus emotional im Individuum
verankert sein. Sie sollen selbst dann gelten, wenn ihre Begründbarkeit durch das Pri-
märprinzip nicht unmittelbar einsehbar ist.
Dieser Kompromissvorschlag hat den Verdienst, sowohl die Berücksichtigung der
Konsequenzen als auch der Tugenden und des regelgeleiteten Handelns zu integrieren. Er
kommt also einer Pluralität des Handlungsbezugs moralischer Verpflichtungen bereits sehr
nahe. Allerdings bleibt der Konsequentialismus als Primärprinzip erhalten. Das Problem
liegt in der Entscheidung, wann zwischen Primär- und Sekundärprinzipien ein „schwer-
wiegender Konflikt“ anzunehmen ist. Und es stellt sich die weitere Frage: Quis judicabit?
Wer entscheidet? Im Übrigen sollen sich nach Birnbacher in schwerwiegenden Konflikten
letztlich doch die Konsequenzen durchsetzen. Das lässt sich aber mit unseren grundlegen-
den Überzeugungen nicht in Einklang bringen. Man erinnere sich an bekannte Beispiele,
wie dasjenige der Entnahme der Organe eines nur leicht erkrankten Patienten, um mit die-
sen Organen fünf andere Patienten zu retten. Hier liegt ohne Zweifel ein schwerwiegender
Konflikt zwischen dem nichtkonsequentialistischen Sekundärprinzip des Lebensschutzes

20 So Richard M. Hare, Moral Thinking. Its Levels, Method and Point, S.€192.
21 Richard B. Brandt, Toward a Credible Form of Rule-Utilitarianism, in: Hector-Neri Castanedaâ•›/â•›George
Nakhnikian (Hg.), Morality and the Language of Conduct, Detroit 1965, S.€107–143.
22 Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€213â•›f.
6. Der Grund für das Scheitern der Beschränkung des Bezugs 105

Unschuldiger und dem konsequentialistischen Primärprinzip der allgemeinen Leidmini-


mierung vor. Trotzdem würde hier niemand ernsthaft die Superiorität der konsequentia-
listischen Lösung behaupten. Auch Birnbachers Versuch, den prinzipiellen Vorrang der
Konsequenzen gegenüber den anderen Teilen der Handlung zu rechtfertigen, kann also
letztlich nicht überzeugen.

6. Der Grund für das Scheitern der Beschränkung des Bezugs

Aus welchem Grund scheitert nun aber der Versuch einer Beschränkung des Bezugs ethi-
scher Normen auf ein einziges Element der Handlung im weiteren Sinne? Jede adäquate
Ethik setzt notwendig die Berücksichtigung der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Stre-
bungen der von der Handlung eines Akteurs betroffenen Anderen voraus, also jedenfalls
der betroffenen Menschen, möglicherweise aber auch der Tiere und anderen Lebewesen.
Diese Interessen der Anderen beschränken sich nun aber faktisch nicht auf einzelne As-
pekte der Handlung des Akteurs. Sie können und werden sich regelmäßig auf alle Ele-
mente der Handlung im weiteren Sinn erstrecken. Für den betroffenen Anderen mögen
etwa neben den Konsequenzen einer Handlung auch die Tugenden und sonstigen Eigen-
schaften des Akteurs, aber auch sein Wille wichtig sein. Es kann mir nicht gleichgültig
sein, wenn mein Partner ein habitueller Mörder ist, selbst sofern er aktuell keinen kon-
kreten Handlungswillen oder auch nur eine abstrakte Handlungsmaxime zur Tötung hat.
Es kann mir aber auch nicht gleichgültig sein, wenn mein Partner zwar immer das Beste
will, seine Handlungen aber meine Belange€– etwa weil sie ungewöhnlich sind€– nicht
berücksichtigen oder wegen fahrlässig verursachter Unfähigkeit der Konsequenzbeherr-
schung regelmäßig oder auch nur einmalig in katastrophalen Konsequenzen für mich en-
den. Wenn ich die Verwirklichung meiner Belange ernsthaft will, so will ich nicht nur die
guten Konsequenzen, sondern im Normalfall alle Vorstufen der Handlung bis zur Reali-
sierung dieser Konsequenzen. Die einzig plausible Schlussfolgerung kann deshalb lauten:
Alle Teile der Handlung im weiteren Sinne sind grundsätzlich gleichwertiger Gegenstand
moralischer Normen und ethischer Rechtfertigungen, weil sie alle zu dem führen können,
was der Ausgangspunkt der Moral ist: zu möglichen Konflikten im weiteren Sinn einer
Interessendivergenz. Deshalb werden sich die Belange der einzelnen am Konflikt Beteilig-
ten auf alle möglichen Teile der Handlungen Anderer richten. Keine der oben analysierten
sieben Teile der Handlung im weiteren Sinne ist also absolut gut oder schlecht. Alle Teile
der Handlung können nur relativ gut oder schlecht im Rahmen einer Gesamtbewertung
des moralischen Konflikts sein. Um zu einer adäquaten Beurteilung einer moralischen
Konfliktsituation zu gelangen, sind folglich prinzipiell immer alle oben analysierten sie-
ben Teile der Handlung im weiteren Sinne zu berücksichtigen.
Wie kann nun das Verhältnis von Teil- und Gesamtbewertung der Handlung aus-
sehen? Sind alle Teile der Handlung im weiteren Sinne entweder als gut, schlecht oder
neutral zu bewerten, so ist die Gesamthandlung im weiteren Sinne ebenfalls ohne Wei-
teres als gut, schlecht oder neutral zu bewerten. Sind einzelne Teile der Handlung im
weiteren Sinne einheitlich als gut oder schlecht und andere Teile als neutral zu bewerten,
106 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

so ist die Gesamthandlung gut oder schlecht, weil neutrale Bewertungen an der guten
oder schlechten Bewertung einzelner Handlungselemente und in der Folge auch an der
Gesamtbewertung nichts ändern. Problematisch sind die Fälle, bei denen eine Handlung
im weiteren Sinne sowohl gute als auch schlechte Teile enthält, also den Interessen der
Beteiligten sowohl ent- als auch widerspricht. Man denke also zum Beispiel an Fälle,
bei denen die Mutter subjektiv und objektiv gute Absichten für ihr Kind hat, diese aber
wegen divergierender Wünsche des Kindes zu schlechten Konsequenzen (Missachtung
und Verärgerung des Kindes) und damit zu paternalistischen (oder vielmehr: maternalis-
tischen) Konflikten führen. Man denke umgekehrt an Fälle wie den oben geschilderten
Betrug des Apothekers, in denen schlechte Absichten und Handlungen gute Konsequen-
zen bewirken. In derartigen Fällen muss eine Abwägung zwischen der Bewertung der
einzelnen Teile der Handlung im weiteren Sinne stattfinden. Dabei wird ein schlech-
ter Teil nur dann nicht zur Gesamtbewertung der Gesamthandlung als schlecht führen,
wenn er durch wenigstens einen guten und gleichzeitig im konkreten Fall€sehr viel ge-
wichtigeren Teil ausgeglichen wird. Für die beiden soeben genannten Beispielfälle führt
dies zu folgenden Resultaten: Die subjektiv und objektiv guten Absichten der Mutter
rechtfertigen die maternalistische Durchsetzung der Handlung nur dann, wenn die dro-
henden negativen Konsequenzen für das Kind gewichtiger und die erzeugte Missachtung
und Verärgerung des Kindes lediglich marginal und kurzzeitig sind. Das bedeutet: Mit
zunehmendem Alter und zunehmender geistiger und voluntativer Eigenständigkeit des
Kindes wird der Gesichtspunkt der MissÂ�achtung seiner Wünsche und der Verärgerung
immer gewichtiger werden.23 Die maternalistische Durchsetzung des elterlichen Willens
wird sich in immer weniger Fällen begründen lassen.
Die Täuschung des Apothekers lässt sich nur rechtfertigen, weil die gute Konsequenz
der Lebensrettung des Patienten sehr gewichtig und der Apotheker seinerseits zur Hilfe-
leistung verpflichtet ist. Die Täuschung wäre sicher nicht zu begründen, wenn es nur um
die Erlangung eines Kopfschmerzmittels ginge, selbst wenn der Apotheker seinerseits zur
Herausgabe des Mittels moralisch oder rechtlich verpflichtet wäre.
Im Rahmen der Gesamtbewertung einer Handlung im weiteren Sinn können also
nur erheblich gewichtige gute Teile schlechte Teile kompensieren und die Gesamthand-
lung zu einer guten oder zumindest neutralen werden lassen. Dies entspricht im Übri-
gen den Regeln des Notstandes, wie sie im deutschen Recht, etwa in den §§ 34 StGB,
228€BGB, niedergelegt sind: Man darf dem Anderen dessen Spazierstock nicht gegen
dessen Willen aus der Hand nehmen, um eine lästige Fliege abzuwehren. Aber man darf
den Spazierstock an sich reißen, um sich gegen einen tollwütigen Fuchs zu verteidigen,
der einen in Lebensgefahr bringt.24

23 Dies entspricht übrigens auch der gesetzlichen Regelung des elterlichen Erziehungsrechts: § 1626 II S.€1
BGB: „Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wach-
sende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln.“
24 § 34 Strafgesetzbuch (StGB): „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben,
Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich
oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden
7. Handlungen und Normen bzw. Regeln 107

Divergieren die einzelnen Teile einer Gesamthandlung, so hat das auch Konsequen-
zen für das Verhältnis zwischen der Bewertung dieser Handlung und der Verpflichtung,
sie auszuführen. Während man zu guten Handlungen, sofern weitere Bedingungen wie
die Erheblichkeit gegenüber der Autonomiebeschränkung des Verpflichteten erfüllt sind,
im Normalfall verpflichtet ist, kann das nicht gelten, wenn eine derartige Handlung nur
deswegen insgesamt als gut anzusehen ist, weil schlechte Elemente der Handlung im
Rahmen der Gesamtbewertung durch erheblich gewichtigere gute Elemente kompen-
siert werden. Nur in den seltensten Fällen wird man annehmen können, dass jemand
verpflichtet ist, etwas Schlechtes zu wollen oder zu tun, um erheblich gewichtigere gute
Konsequenzen zu realisieren. Im Regelfall wird eine derartige Handlung allenfalls erlaubt,
nicht aber geboten sein. Nur im Falle einer überragenden Disproportionalität der Bewer-
tung divergierender Teile der Handlung kann sich ein Gebot oder Verbot ergeben.

7. Handlungen und Normen bzw. Regeln

Die potentiell widerstreitenden Belange können sich nach den Überlegungen dieses Kapi-
tels gleichermaßen auf alle Teile der Handlung im weiteren Sinne beziehen. Dies gilt dann
auch für alle spezielleren Formen von Handlungen. Neben einfachen tatsächlichen Hand-
lungen sind dies etwa sprachliche Handlungen und unter diesen wiederum Normen, also
normative Sprechakte. Innerhalb der Normen gilt es weiterhin für allgemeine Normen,
also Regeln. Wie eine einzelne einfache Handlung ist also auch eine Regel als Handlung
dem potentiellen Widerstreit divergierender Belange ausgesetzt, der sich auf alle ihre Teile
erstreckt: ihre Bedingungen, die Wünsche und Überzeugungen, die ihr zugrunde liegen,
die Ziele, die Mittelwahl, der Regelungswille, die Regelsetzung und die Konsequenzen.
Allerdings kann natürlich der spezifische Charakter von Regeln zu spezifischen Ge-
wichtungen führen. Wenn Regeln etwa eine allgemeine und diffuse Quelle haben, so
werden die ihnen zu Grunde liegenden Überzeugungen ebenfalls diffus sein und können
deshalb nicht im Zentrum des moralischen Interesses stehen. Dies gilt umso mehr, wenn
Regeln, wie etwa Regeln des positiven Rechts, schon sehr lange gelten und ein möglicher
personaler Urheber, der sie vielleicht einst aufgestellt hat, nicht mehr existiert. Auch die
Absichten werden dann eine beschränkte Rolle spielen. Das bedeutet, dass die Ausführung
und die Konsequenzen der Regeln ein stärkeres Gewicht erlangen.

8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt

Die Frage nach der Singularität oder Pluralität der ethisch relevanten Handlungsteile
hat ihren Niederschlag in verschiedenen Doktrinen, Thesen und Problemen gefunden,
von denen einige wesentliche nachfolgend erörtert werden sollen, um die grundlegen-

Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das
geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt.“
108 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

de These der Pluralität des Bezugs auf die verschiedenen Handlungsteile plastischer
werden zu lassen. Die älteste dieser Doktrinen ist die Doktrin vom doppelten Effekt.25
Nach ihr soll eine Handlung, die außer guten auch schlechte Folgen hat, zulässig sein,
sofern vier Bedingungen erfüllt sind:26

(1) Die Handlung ist moralisch gut oder wenigstens indifferent.


(2) Die Handlungsabsicht ist gut, weil sie sich nur auf die guten Folgen richtet. Die schlech-
ten Folgen sind nicht beabsichtigt bzw. bezweckt, sondern allenfalls vorausgesehen.
(3) Die schlechten Folgen sind nicht Mittel zum Zweck der Handlung, sondern nur ein
möglicher Nebeneffekt.
(4) Die schlechten Folgen sind den guten Folgen angemessenâ•›/â•›proportional.27

Eine mögliche Kritik oder Rechtfertigung der Doktrin vom doppelten Effekt lässt sich
am besten anhand einzelner Fälle diskutieren:

a)€Einzelne Fälle

Fall€1 (Selbstverteidigung gegen den Einbrecher): A ertappt den Einbrecher E auf fri-
scher Tat und schießt auf ihn, um sich zu verteidigen und ihn zu vertreiben. Der Einbre-
cher wird verletzt, was A nicht beabsichtigt, aber für möglich gehalten hat.

A hat die gute Absicht der Selbstverteidigung bzw. Vertreibung des Einbrechers. Die
schlechte Folge der Verletzung des Einbrechers ist nicht beabsichtigt, sondern allenfalls
vorausgesehen. Die schlechte Folge der Verletzung des Einbrechers ist nicht Mittel zur
Erreichung des guten Zwecks seiner Vertreibung, weil der Einbrecher prinzipiell auch
ohne diese Verletzung hätte vertrieben werden können, etwa durch das Anschalten des
Lichts, das Aufheulen der Alarmanlage oder das Auftauchen der Polizei. Die schlechten
Konsequenzen der Verletzung des Einbrechers sind den guten Konsequenzen der Ver-

25 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II, qu. 64, 7. Ob Thomas das Prinzip hier tatsächlich
vertritt, ist umstritten: Joseph T. Mangan, An Historical Analysis of the Principle of Double Effect, Theo-
logical Studies 10 (1949), S.€41–61; Thomas A. Cavanaugh, Aquinas’s Account of Double Effect, The
Thomist 61 (1977), S.€107–127; Gareth B. Matthews, Saint Thomas and the Principle of Double Effect,
in: Scott MacDonaldâ•›/â•›Elonore Stump (Hg.), Aquinas’s Moral Theory, Ithaca 1999, S.€63–78; Gregory M.
Reichberg, Aquinas on Defensive Killing: A Case of Double Effect?, The Thomist 69 (2005), S.€341–370;
zur allgemeinen Geschichte des Prinzips: Lucius I. Ugorji, The Principle of Double Effect: A Critical
�Appraisal of its Traditional Understanding and its Modern Reinterpretation, Frankfurt a.╛M. 1985.
26 Vgl. zur vorliegenden Formulierung: Tom.â•›L. Beauchampâ•›/â•›James F. Childress, Principles of Biomedical
Ethics, S.€162â•›f., wobei sie „Proportionalität“ im Sinne eines „Überwiegens“ („outweigh“) verstehen. Aber
dies ist zweifelhaft, denn dann wäre ein maximierender Konsequentialismus gefordert und das Prinzip
vom doppelten Effekt wäre nur seine Verschärfung.
27 Etwas anders formuliert Joseph M. Boyle, Jr., Toward Understanding the Principle of Double Effect,
Ethics 90 (1980), S.€527–538, S.€528: „(1) the agent’s end must be morally acceptable (honestus), (2) the
cause must be good or at least indifferent, (3) the good effect must be immediate, and (4) there must be
a grave reason for positing the cause.“ Der Unterschied betrifft also vor allem das vierte Merkmal.
8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt 109

treibung und Sicherung der gefährdeten Güter wohl auch angemessen (das ist umstrit-
ten). Nach der Doktrin vom doppelten Effekt wäre die Selbstverteidigung des A also
erlaubt (nicht aber wohl die Tötung des Einbrechers).

Fall€2 (Strategische Bombardierung der Munitionsfabrik): Im Rahmen eines legitimen


Verteidigungskriegs wird eine Munitionsfabrik des angreifenden Landes bombardiert,
um den Krieg zu verkürzen. Dabei sterben jedoch, was allgemein vorherzusehen, aber
nicht zu vermeiden war, einige in der Nähe wohnende Zivilisten.

Die Verkürzung des Kriegs ist ein gutes Ziel einer legitimen Kriegshandlung. Die Zer-
störung der Munitionsfabrik ist ein legitimes Zwischenziel bzw. Mittel, sofern der Krieg
selbst legitim ist. Die Tötung der Zivilisten ist nicht beabsichtigt, sondern nur vor-
ausgesehen. Sie ist kein Mittel zum Zweck der Zerstörung der Munitionsfabrik, weil
diese prinzipiell auch so zerstört werden könnte. Die schlechten Konsequenzen sind den
guten nicht unangemessen, sofern der Krieg signifikant verkürzt werden kann und da-
durch viele andere Menschen gerettet werden. Nach der Doktrin vom doppelten Effekt
darf die Munitionsfabrik somit bombardiert werden.

Fall€ 2a (Terroristische Bombardierung Unschuldiger): Wie Fall€ 2, aber es wird keine


Munitionsfabrik bombardiert, sondern eine vergleichbare Anzahl nicht kämpfender,
also unschuldiger Personen, um die Zivilbevölkerung zu demoralisieren, was den Krieg
allerdings wie im Fall€2 verkürzen und viele andere Menschen retten würde.

Die Verkürzung des Kriegs ist ein legitimes Ziel. Die Tötung der Zivilisten ist dage-
gen kein legitimes Ziel. Sie könnte allenfalls als nichtbeabsichtigter Nebeneffekt erlaubt
sein. Hier ist aber die Tötung der Zivilisten anders als in Fall€2 nicht nur vorhergesehen,
sondern zumindest gewollt, wenn nicht sogar beabsichtigt. Die zweite Bedingung der
Doktrin vom doppelten Effekt ist also nicht erfüllt. Die Zivilisten werden im Übrigen
als Mittel zur Erreichung des legitimen Ziels der Kriegsverkürzung gebraucht. Ihr Tod
könnte nicht hinweggedacht werden, ohne die Erreichung des Ziels zu vereiteln. Auch
die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt ist somit nicht gegeben. Die
Zivilisten dürfen nicht bombardiert werden. Derartiger Terror ist unzulässig.

Fall€3 (Rettung einer Schwangeren durch Entfernung der Gebärmutter): Die schwan-
gere Frau F hat Gebärmutterkrebs. Um ihr Leben zu retten, muss die Gebärmutter
entfernt werden, was zum Tod des Kindes führt.

Die Rettung der F ist eine gute Handlung und die entsprechende Absicht legitim. Die
Tötung des Kindes ist nicht beabsichtigt, sondern nur vorhergesehen. Sie ist auch nicht
Mittel, weil die Rettung allein auf der Entfernung der Gebärmutter beruht und deshalb
prinzipiell auch ohne Tötung des Kindes geschehen könnte. Die schlechten Konse-
quenzen sind den guten angemessen. Nach der Doktrin vom doppelten Effekt darf die
Gebärmutter entfernt werden.
110 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Fall€4 (Rettung der Mutter durch Entfernung des im Gebärmutterhals feststeckenden


Kindes): Die schwangere Frau G kann nur überleben, wenn das beim Geburtsvorgang
im Gebärmutterhals stecken gebliebene Kind getötet wird.

Die Rettung der G ist eine legitime Absicht. Die Tötung des Kindes ist nicht beabsich-
tigt. Sie ist aber Mittel zum beabsichtigten Zweck, weil die Rettung die Tötung des
Kindes voraussetzt. Man muss deshalb davon ausgehen, dass sie zumindest gewollt und
nicht nur vorhergesehen ist. Die schlechten Konsequenzen sind den guten wohl noch
angemessen (bestreitbar). Nach der Doktrin vom doppelten Effekt darf das Kind in
diesem Fall€nicht getötet werden, um die Mutter zu retten. Hier stellt sich die Frage, ob
der Unterschied zu Fall€3 so gravierend ist, dass er eine abweichende Entscheidung zu
rechtfertigen vermag.28

Fall€5 (Indirekte Sterbehilfe): Der sterbenskranke S leidet unter unerträglichen SchmerÂ�


zen. Zur Linderung dieser Schmerzen ist die Gabe von Morphium notwendig, was sein
Leben allerdings verkürzen kann, also eine sog. indirekte Sterbehilfe darstellen würde.

Die Linderung der Schmerzen des S ist ein legitimes Ziel. Die Verkürzung des Lebens ist
nicht beabsichtigt, aber vorhergesehen. Sie ist nicht Mittel zum beabsichtigten Zweck
der Schmerzlinderung, da diese nicht notwendig davon abhängt. Eine mögliche nicht
gravierende Lebensverkürzung erscheint zu diesem Zweck angemessen. Nach der Dok-
trin vom doppelten Effekt ist die Linderung der Schmerzen zulässig.

Fall€6 (Rettung der Höhlenforscher):29 Eine Gruppe von Höhlenforschern kann eine
Höhle nicht verlassen, weil ein Mitglied ihrer Gruppe, ein sehr dicker Mann, der als
Erster hinaussteigen wollte, den Eingang blockiert. Die Flut steigt und alle drohen zu
ertrinken. Die Höhlenforscher sprengen€– was faktisch die einzige Rettungsmöglichkeit
darstellt€– den Eingang frei und nehmen den Tod des sehr dicken Mannes in Kauf.

Das Rettungsziel der Höhlenforscher ist legitim. Die Tötung des sehr dicken Mannes
ist aber€– so wird angenommen€– notwendiges Mittel zur Rettung, so dass das Instru-
mentalisierungsverbot der dritten Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt nicht
beachtet ist. Im Übrigen ist die Tötung des sehr dicken Mannes zwar nicht beabsichtigt,
aber zumindest gewollt und nicht nur vorausgesehen, so dass auch die zweite Bedingung
nicht erfüllt ist. Angesichts der größeren Anzahl Geretteter kann man die Konsequen-
zen vielleicht als angemessen ansehen. Trotzdem wäre hier die Tötung nach der Doktrin
vom doppelten Effekt nicht zulässig, da der sehr dicke Mann bewusst und gewollt zum

28 Dies ist verschiedentlich bezweifelt worden, etwa von H.â•›L.â•›A. Hart, Intention and Punishment, in: ders.,
Punishment and Responsibility, Oxford 1968, S.€ 113–135; Tom L. Beauchampâ•›/â•›James F. Childress,
Principles of Biomedical Ethics, S.€163╛ff.
29 Dieser Fall€stammt von Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, in:
dies., Virtues and Vices and Other Essays in Moral Philosophy, Oxford 1978, S.€19–32, S.€21.
8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt 111

Mittel der Rettung gemacht wird. Ohne seine Tötung ist die Rettung nicht möglich.
Hier stellt sich die Frage, ob die Rettung der vielen Höhlenforscher nicht den Tod des
einen, im Ausgang stecken gebliebenen Höhlenforschers rechtfertigt.

Fall€7 (Verurteilung des Unschuldigen): Richter R kann Massenunruhen mit vielen To-
ten verhindern, wenn er den€– wie ihm bekannt ist€– unschuldigen U verurteilt.

Die Verhinderung von Massenunruhen ist eine legitime Absicht. Die Verurteilung
des€U wird von R nicht beabsichtigt. Aber sie ist Mittel zur Verhinderung der Massen-
unruhen und deshalb gewollt und nicht nur vorhergesehen. Selbst wenn man dieses
Mittel als angemessen ansehen würde, wäre die Verurteilung des R daher nicht erlaubt,
da er instrumentalisiert wird.

b) Einbettung in die allgemeine Theorie

Wie lässt sich die Doktrin vom doppelten Effekt in die allgemeine normativ-ethische
Theorie einbetten? Die wichtigste Einsicht besteht zunächst darin, dass die Doktrin
vom doppelten Effekt zwischen einem strikten Konsequentialismus und einer strikt
deontologischen Auffassung angesiedelt ist und damit beide, jeweils eines der Hand-
lungselemente vereinseitiÂ�genden Theorien, ein Stück weit relativiert bzw. transzendiert.
Sie nähert sich also zumindest der hier vertretenen These der grundsätzlichen Pluralität
des Bezugs der Belange bzw. Interessen auf die Handlungselemente an und ist deshalb
in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse.
Für den Konsequentialismus ist die Relativierung leicht zu erkennen. Er würde die
ersten drei Bedingungen der Doktrin vom doppelten Effekt weglassen und sich auf die
vierte Bedingung der Angemessenheit der Folgen beschränken, dort allerdings€– sofern
es sich um die gängige Version der Verbindung von Konsequentialismus und Maximie-
rungsprinzip handelt€– die Angemessenheit bzw. Proportionalität als Überwiegen der guten
Konsequenzen interpretieren bzw. fordern. So wäre im Fall€1 die Selbstverteidigung nur
zulässig, wenn die möglichen Verletzungen des Einbrechers nicht schwerwiegender wä-
ren als der Wert der Sicherung. Im Fall€2 wäre die Bombardierung nur erlaubt, wenn
die durch sie herbeigeführte Beschleunigung des Kriegsverlaufs mehr Menschen retten
würde, als durch die Bombardierung sterben würden.
Für eine strikt deontologische Ethik ist die Relativierung dagegen nicht so leicht
zu erkennen. Kants primäre Auszeichnung des guten Willens setzt€ – in einer starken
Lesart€– wohl voraus, dass alle Willenselemente in einem weiteren Sinne von „Wille“
gut sind. Die Unterscheidung einer enger verstandenen Absicht der Handlung von ei-
ner bloßen Voraussicht weiterer schlechter Nebeneffekte wäre deshalb vermutlich nach
Kant unzulässig. Eine strikt deontologische Ethik würde sich also auf die erste und dritte
Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt beschränken und insbesondere die zweite
und vierte Bedingung als Einschränkung der ersten Bedingung ablehnen. Soweit ersicht-
lich hat Kant die Doktrin vom doppelten Effekt nie diskutiert. Auch seine Beispiele
112 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

lassen sich mit ihrer Hilfe nicht in seinem Sinne interpretieren. Im Gegenteil: Hätte er
die Doktrin akzeptiert, so hätte er an verschiedenen Stellen anders entscheiden müssen.
Dies wird besonders im berühmten Beispiel des Verbots der Lüge zur Rettung eines
Verfolgten deutlich:30 Ein Mörder kommt an die Haustüre und fragt, ob sich der ver-
folgte Freund des Hausherrn in das Haus geflüchtet hat. Selbst in dieser Situation soll
der Hausherr nach Kants Überzeugung wahrheitsgemäß Auskunft erteilen, also den Tod
des Freundes in Kauf nehmen. Nach der Doktrin vom doppelten Effekt wäre die wahr-
heitswidrige Auskunft dagegen gerechtfertigt: Die Rettung des Opfers vor dem Mörder
ist ein legitimes Ziel. Die Täuschung des Mörders ist nicht beabsichtigt, sondern nur
vorhergesehen. Sie ist im Übrigen wohl kein notwendiges Mittel, um die Rettung des
Opfers zu erreichen, denn prinzipiell könnte der Mörder auch mit anderen Mitteln von
der Tat abgehalten werden, etwa indem der Hausherr einfach nicht aufmacht oder die
Polizei ruft. Schließlich ist die Täuschung selbstredend angemessen, um das Opfer vor
dem Mord zu retten.
Die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt, also die Bedingung des
Ausschlusses der Instrumentalisierung, stellt€ – wie sich ergab€ – eine Einschränkung
des Konsequentialismus dar. Fraglich ist allerdings, ob diese Einschränkung einer strikt
deontologischen Theorie wie derjenigen Kants genügen würde. Das hängt von der In-
terpretation der Kantischen Theorie ab. Kant fordert bekanntlich in der zweiten Expli-
kationsformel des Kategorischen Imperativs, der sog. Zweck-Mittel-Formel, man solle
immer so handeln, dass man die Menschheit sowohl in der eigenen Person als auch
in jeder anderen Person niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck
„brauche“.31 Lässt man einmal die Tatsache, dass nach Kant nur Maximen dem Verallge-
meinerungstest unterworfen werden sollen, außer Betracht, so stellen sich zwei Fragen.
Erstens: Lässt sich die Zweck-Mittel-Formel auf einen einzigen Handlungskontext,
in dem immer nur eine einzige Instrumentalisierung in Rede stehen kann, beschränken?
Nur insofern man dies bejaht, kann die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten
Effekt das Erfordernis der Zweck-Mittel-Formel erfüllen. Zweitens: Ist das Gebot, den
Einzelnen immer auch als Zweck zu „brauchen“, bereits dadurch und immer dann er-
füllt, dass und wenn man ihn nicht nur als Mittel benutzt, oder setzt die Zweck-Mittel-
Formel eine zusätzliche Anerkennung als zweckhaftes Wesen voraus?32 Nur im Falle der
ersten, schwächeren Lesart der Zweck-Mittel-Formel würde die dritte Bedingung der
Doktrin vom doppelten Effekt den strikt-deontologischen Anforderungen Kants ge-
nügen. Entschiede man sich dagegen für eine stärkere Lesart der Zweck-Mittel-Formel,
wonach eine zusätzliche Anerkennung als zweckhaftes Wesen notwendig wäre, so würde

30 Immanuel Kant, Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen, in: Kants gesammelte
Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, Berlin 1912,
S.€423╛ff.
31 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€429.
32 Vgl. zu dieser Differenzierung: Warren S.€Quinn, Actions, Intentions, and Consequences: The Doctrine
of Double Effect, in: Philosophy and Public Affairs 18 (1989), S.€334–351, S.€350, Fn.€25. Quinn lehnt
ein eventuelles Erfordernis der zusätzlichen Berücksichtigung als Zweck nach der stärkeren Lesart ab.
8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt 113

die Doktrin vom doppelten Effekt eine Abschwächung gegenüber dem kantschen Er-
fordernis der notwendigen Berücksichtigung des Anderen als Zweck bedeuten. Für die
hier verfolgten systematischen Zwecke kann die Frage des historisch richtigen Verständ-
nisses der kantschen Zweck-Mittel-Formel allerdings dahinstehen.
Jedenfalls zeigt sich in der Doktrin vom doppelten Effekt eine grundsätzliche Plurali-
tät der Bezugnahme auf die sieben oben erwähnten Teile der Handlung im umfassenden
Sinne, in dem nun neben der Absicht (Element drei) und den Konsequenzen (Element
sieben) auch die Mittelwahl (Element vier) und der Wille zur Mittelausführung (Element
fünf ) sowie das Element des tatsächlichen Handelns (Element sechs) Berücksichtigung
finden. Dabei wird allerdings ebenfalls deutlich, dass diese Pluralität der Bezugnahme im
Rahmen der Doktrin vom doppelten Effekt noch eine eingeschränkte und damit nicht
hinreichende ist, und zwar aus zwei Gründen: zum einen, weil statt aller sieben Elemente
nur fünf Elemente für relevant erklärt werden, denn die Elemente eins und zwei der
inneren und äußeren Bedingungen und der Überzeugungen und Wünsche werden nicht
berücksichtigt. Zum anderen, weil die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten
Effekt, also das Instrumentalisierungsverbot, ihrerseits absolut gesetzt wird. Während das
Erfordernis der guten Absicht, wie es sich in der zweiten Bedingung ausdrückt, durch
die Erlaubtheit der voraussehbar negativen Konsequenzen, also die Bedingungen zwei
und drei und die alleinige Berücksichtigung der Konsequenzen durch die Bedingun-
gen eins bis drei eingeschränkt werden, gilt das Verbot der Instrumentalisierung nach
der klassischen Formulierung der Doktrin vom doppelten Effekt absolut. Dieses Verbot
wird in vielen Fällen zu Recht den Ausschlag geben, etwa im Fall€ 7 der Verurteilung
eines Unschuldigen. Aber es scheinen doch Situationen vorzukommen, in denen das
Instrumentalisierungsverbot der Doktrin vom doppelten Effekt durch einen zusätzlichen
Gesichtspunkt relativiert werden muss, etwa im Fall€4 des Schwangerschaftsabbruchs zur
Rettung des Lebens der Mutter und im Fall€6 der Rettung der Höhlenforscher durch die
Opferung des sehr dicken Manns. In beiden Fällen sind Opfer bzw. Instrumentalisierter
und Handelnde(r) bzw. Begünstigte(r) zu einer Art Schicksalsgemeinschaft verbunden.
Im Fall€ 4 der Schwangerschaft sind sie körperlich eins. Im Fall€ 6 der Höhlenforscher
sind sie in einer Situation gemeinsam als Gruppe und gleichermaßen durch eine einzige
Gefahr bedroht. Das Verbot der Instrumentalisierung anderer selbständig zu berücksich-
tigender Individuen durch die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt kann
als legitime Konkretisierung der Grundforderung nach Berücksichtigung aller moralisch
relevanten Individuen, also als zentrale Doktrin des normativen Individualismus ver-
standen werden. Diese Konkretisierung des normativen Individualismus zum Verbot der
Instrumentalisierung muss allerdings dort ihre Grenze finden, wo spezielle Grundbedin-
gungen der Situation die absolute normative Trennung in zwei sich selbständig gegen-
überstehende Individuen nicht zulassen. Dies ist vor allem in den beiden soeben genann-
ten Ausprägungen einer Schicksalsgemeinschaft der Fall, in der speziellen Situation der
körperlichen Verschränkung, wie sie im Rahmen einer Schwangerschaft vorliegt, und in
der Situation einer gemeinschaftlichen, gleichermaßen drohenden Gefahr. In beiden Fäl-
len führt eine spezifische Bedingung, also das spezifische Handlungselement eins dazu,
dass das Instrumentalisierungsverbot mit Bezug auf die Handlungselemente vier und
114 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

fünf nicht absolut gelten kann. Das Handlungsverbot durch die Doktrin vom doppelten
Effekt wird hier also durch zusätzliche Bedingungen relativiert. Umgekehrt können zu-
sätzliche Bedingungen jedoch auch zum Verbot einer nach der Doktrin vom doppelten
Effekt erlaubten Handlung führen.33 So kann etwa das Versprechen, kein Morphium zu
nehmen oder zu geben, die im Fall€5 nach der Doktrin vom doppelten Effekt an sich
erlaubte indirekte Sterbehilfe verbieten.
Man kann also festhalten: Die Doktrin vom doppelten Effekt führt gegenüber
Theorien, die ein einzelnes Handlungselement absolut oder zumindest primär setzen,
wie dem Konsequentialismus und einer strikt deontologischen Ethik, zu einem großen
Fortschritt, weil sie mehrere verschiedene Handlungselemente berücksichtigt. Sie geht
allerdings zum einen in dieser Pluralisierung des Bezugs auf verschiedene Handlungs-
elemente noch nicht weit genug, denn sie bezieht noch nicht alle Teile der Handlung
in die Berücksichtigung der Interessen ein. Zum anderen ist sie zu strikt, weil sie das
Instrumentalisierungsverbot absolut setzt. Eine erweiterte Version, welche das Instru-
mentalisierungsverbot relativiert, würde also etwa lauten:

(1) Die Handlung ist moralisch gut oder wenigstens indifferent.


(2) Die Handlungsabsicht ist gut, weil sie sich nur auf die guten Folgen richtet. Die schlech-
ten Folgen sind nicht beabsichtigt bzw. bezweckt, sondern allenfalls vorausgesehen.
(3) Die schlechten Folgen sind nicht einmal Mittel zum Zweck der Handlung, son-
dern nur ein möglicher Nebeneffekt, es sei denn, Begünstigter und Benachteiligter
befinden sich in einer nicht anders auflösbaren Schicksalsgemeinschaft oder andere
spezielle Bedingungen der Situation schließen die Einschränkung aus.
(4) Die schlechten Folgen sind den guten Folgen angemessenâ•›/â•›proportional.

In den oben erläuterten Fällen ist deutlich geworden, dass man zwischen wenigstens drei
mentalen Stufen unterscheiden muss: (1) der Absicht, (2) dem Gewolltsein und (3) dem
bloßen Vorhersehen einer Konsequenz. Die Absicht entspricht dem Handlungselement
drei des Handlungsziels. Das bloße Gewolltsein entspricht dem Handlungselement fünf
des Willens zur Handlungsausführung, also dem Willen zur Verwirklichung des Mittels
als subjektivem Ergebnis der Mittelauswahl im Handlungselement vier, um das Ziel zu
erreichen. Die zweite Stufe des Gewollt�seins wird sowohl in der Formulierung der Dok-
trin vom doppelten Effekt als auch in der allgemeinen Diskussion regelmäßig vernach-
lässigt. Dies führt dazu, dass Gegner wie Befürworter der Doktrin vom doppelten Effekt
die subjektive Komponente häufig fehlerhaft, nämlich dem Element der Absicht oder
dem nur Vorhergesehenen zuordnen. So soll etwa jemand, der wissentlich und willent-

33 Frances M. Kamm, Intricate Ethics, Oxford 2007, S.€21, betont, dass auch andere Gründe als die Dok-
trin vom doppelten Effekt zum Verbot einer Handlung führen können. Aber mit dieser Einsicht ist nur
eine Hälfte der Relativierung der Doktrin vom doppelten Effekt erfasst. Denn es kann auch Elemente
geben, die eine eigentlich durch die Doktrin vom doppelten Effekt verbotene Handlung erlaubt machen,
wie in der Diskussion der Fälle 4 und 6 deutlich wurde.
8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt 115

lich eine Folge hervorbringt, diese auch beabsichtigen.34 Oder eine eindeutig als Mittel
zur Erreichung des Ziels eingesetzte Folge soll nicht gewollt, sondern nur vorausgesehen
sein. Das moderne Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft sind insofern deutlich dif-
ferenzierter.35 Es ist kein Grund ersichtlich, warum die Ethik hinter diese Differenzie-
rung zurückfallen sollte, die abwägungs- und damit konfliktlösungsrelevant ist.
In der Sache stellt sich die Frage, wie mit derartigen nicht beabsichtigten, aber doch
gewollten Folgen umgegangen werden soll. Die Doktrin vom doppelten Effekt zeigt
dies ganz deutlich in ihrer dritten Bedingung. Man muss dabei voraussetzen, dass ein
Mittel, das vom Akteur als notwendig für die Erreichung des Ziels erkannt und realisiert
wird, auch gewollt wird, nicht jede gewollte Folge aber notwendiges Mittel ist. Sofern
die schlechten Folgen Mittel zur Erreichung des Zwecks sind, ist die Handlung grund-
sätzlich unzulässig, sofern nicht€ – wie oben in den Fällen 4 und 6 der Schicksalsge-
meinschaft€– zusätzliche Faktoren hinzutreten.36 Sofern die schlechten Folgen dagegen
keine Mittel sind, wäre die Handlung als solche zulässig, wenn der Akteur die Folgen
nicht will. Die Gesamthandlung wird also durch die subjektive Haltung des Akteurs
schlecht, denn der Betroffene muss es nicht akzeptieren, dass jemand schlechte Folgen,
die er zwar an sich um des guten Zwecks willen herbeiführen dürfte, nicht nur toleriert,
sondern sogar weiter gehend will.

c) Einwände

Gegen die Doktrin vom doppelten Effekt ist eingewandt worden, dass der bloße Un-
terschied in der Absicht keine unterschiedliche Bewertung der Handlung rechtfertigen
könne.37 Rachels versucht dies mit Hilfe des folgenden Falls zu erläutern: Jack und Jill
besuchen ihre kranke Großmutter, die bald ihr Testament verfassen wird, Jack weil er
sie gern hat, Jill weil sie im Testament berücksichtigt werden will.38 Wenn beide mit
dem Besuch ihrer Großmutter eine Freude bereiten, so soll man nach Rachels nicht
sagen können, dass die Handlung von Jack richtig war, die von Jill jedoch falsch. Jede
Handlung soll gleich bewertet werden. Die Richtigkeit oder Falschheit einer Handlung
ergebe sich aus den Gründen bzw. Konsequenzen, und die Absichten seien nicht Teil der

34 Vgl. Tom L. Beauchamp╛/╛James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S.€164, und schon Philippa
Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, S.€20. Vgl. dagegen überzeugend
Frances M. Kamm, Intricate Ethics, S.€106.
35 Vgl. § 15 StGB und Peter Cramerâ•›/â•›Detlev Sternberg-Lieben, in: Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch.
Kommentar, 27.€Aufl. München 2006, § 15, Rn 64â•›ff.: Es wird zwischen Absicht, Willen im Sinne siche-
ren Wissens, Eventualwillen und Fahrlässigkeit unterschieden.
36 Anderer Meinung ist Frances M. Kamm, Intricate Ethics, S.€100, 107. Hier soll die Doktrin vom doppel-
ten Effekt anwendbar sein. Aber sie missachtet die Bedingung (3) des Instrumentalisierungsverbots und
auch die Korrelation von Mittel und Wollen.
37 Vgl. zu dieser Frage ausführlich: Alec Walen, Intention and Permissibility. Learning from the Failure of
the DDE, unveröffentlichtes Manuskript.
38 James Rachels, More Impertinent Distinctions and a Defense of Active Euthanasia, in: Bonnie Stein-
bockâ•›/â•›Alastair Norcross (Hg.), Killing and Letting Die, 2.€Aufl. New York 1994, S.€139–154, S.€140â•›f.
116 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Gründe. Aber das ist nach den bisherigen Überlegungen nicht zutreffend. Berücksich-
tigt man die betroffenen Anderen, dann können und werden sich ihre Belange nicht nur
auf die Handlungsausführung im engeren Sinn und die Konsequenzen richten, sondern
auch auf die Absichten des Handelnden. Das Beispiel zeigt den Unterschied ganz deut-
lich: Die Großmutter möchte natürlich im Regelfall aus Zuneigung oder wenigstens
verwandtschaftlicher Verbundenheit besucht werden und nicht aus Geldgier. Die gute
Absicht macht die Handlung Jacks für sie gut, die schlechte Absicht die Handlung Jills
für sie schlecht. Ihr Interesse an den Absichten von Jack und Jill ist zwar nicht allein
ausschlaggebend für die Bewertung der Gesamthandlung. Es ist aber im Normalfall, der
mangels weiterer Kenntnisse der Situation unsere ethische Bewertung bestimmen muss,
ein wesentlicher Faktor, der nicht unberücksichtigt bleiben darf. Man kann insofern die
äußere Handlung auch nicht einfach von der mit ihr verfolgten Absicht trennen, weil
die Handlung nur als Ganze einschließlich der sie motivierenden Absicht verstehbar
und bewertbar ist.
Judith J. Thomson verweist auf eine spezifische Variante der Fälle 2 und 2a, also des
strategischen und des terroristischen Bombardements, in der ein Kinderkrankenhaus
neben der Munitionsfabrik liegt.39 Sie fragt, ob es für die Bewertung denn wirklich
darauf ankommen soll, ob der Pilot im einen Fall€die Zerstörung der Munitionsfabrik
beabsichtigt und die des Kinderkrankenhauses nur voraussieht und im anderen Fall€die
Zerstörung des Kinderkrankenhauses beabsichtigt? Soll der Pilot wirklich entscheiden,
indem er in sein Inneres und damit auf seine Absichten sieht, mit denen er die Bomben
abwirft? Entscheidend sind nach Thomson nicht die Absichten, sondern die Konse-
quenzen.
Natürlich setzt die Unterscheidung von beabsichtigten und nur vorhergesehenen
Effekten voraus, dass die Divergenz in der volitiven Situation des Akteurs auch hand-
lungswirksam werden kann, sofern dies nach den Umständen faktisch möglich ist. Es
wird also vorausgesetzt, dass der Pilot im einen Fall€auf die Munitionsfabrik zielt und
im anderen Fall€ auf das Kinderkrankenhaus. Kann sich dieses unterschiedliche „Zie-
len“ auch auswirken, weil der Pilot die Bomben jeweils anders platziert, so dass die
Bombardierung des Kinderkrankenhauses mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz oder zum
größten Teil vermieden wird, so rechtfertigt dies eine unterschiedliche Bewertung. Der
Pilot darf dann die Bombardierung durchführen, wenn er nur auf die Munitionsfabrik
zielt und nicht auf das Kinderkrankenhaus. Oder anders ausgedrückt: Er darf nur auf
die Munitionsfabrik zielen und nicht auf das Kinderkrankenhaus.
Aber was ist, wenn die Größe der Bombe und die Lage von Munitionsfabrik und
Kinderkrankenhaus eine Differenzierung des „Zielens“ nicht zulassen, wenn die Bombe
also in jedem Fall€für den Piloten klar erkennbar die Munitionsfabrik und das Kinder-
krankenhaus gleichermaßen und gleich wahrscheinlich oder fast gleich wahrscheinlich
treffen wird? Auch in diesem Fall€würde die unterschiedliche Absicht einen Unterschied
bewirken, aber dieser Unterschied würde im Ergebnis nicht entscheidungsrelevant sein,

39 Judith J. Thomson, Self-Defense, Philosophy and Public Affairs 20 (1991), S.€283–310, S.€293.
9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem) 117

denn die dritte und vor allem die vierte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt
wären nicht erfüllt. Die Bombardierung des Kinderkrankenhauses wäre als Mittel unzu-
lässig und in der Abwägung der Folgen unangemessen. Hier liegt der Unterschied zum
Fall€3, der Entfernung der Gebärmutter mit der sicheren Folge der Tötung des Fötus.
In diesem Fall€kann man€– wie sich oben ergab€– die dritte und vierte Bedingung der
Doktrin vom doppelten Effekt bejahen, so dass es auf die gute oder schlechte Absicht
des Arztes ankommt. Thomsons Gegenbeispiel überzeugt also nicht, weil es nicht klar
spezifiziert, ob der Unterschied der Absicht für das Handeln überhaupt relevant werden
kann. Kann der Unterschied der Absicht für das Handeln relevant werden, dann vermag
er auch eine unterschiedliche ethische Bewertung zu rechtfertigen, kann er dagegen für
das Handeln nicht relevant werden, dann schließen schon andere Faktoren die Zuläs-
sigkeit der Handlung aus, etwa die Instrumentalisierung der unschuldigen Opfer oder
die Unangemessenheit.
Man muss somit nicht auf den Vorschlag von FitzPatrick zurückgreifen, wonach es
für die moralische Zulässigkeit einer typischen Gesamthandlung nicht auf die tatsäch-
liche und damit zufällige Handlungsabsicht eines tatsächlichen und damit zufälligen
Akteurs in einer speziellen Situation ankommt, sondern darauf, ob eine entsprechende
Handlung grundsätzlich unter den Bedingungen der Doktrin vom doppelten Effekt
rechtfertigbar ist.40 Das Problem dieses Vorschlags liegt darin, dass die tatsächliche,
wenn auch in der allgemeinen Diskussion natürlich typisierte Handlungsabsicht für
die Beurteilung der Gesamthandlung relevant sein muss, will man die Doktrin vom
doppelten Effekt und generell die These der Pluralität der Bezugnahme der Belange auf
alle Handlungsteile nicht aufgeben.

9. Das Straßenbahnproblem
(runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem)

Eine stärker intuitionistische, fallorientierte und die erste, zweite und dritte Bedingung
der Unterscheidung von Absicht, gewolltem Mittel und bloß vorausgesehenem Effekt
weitgehend außer Betracht lassende Renaissance hat die Doktrin vom doppelten Effekt
und damit der berechtigte Widerstand gegen die Reduktion des Konsequentialismus
und der strikt deontologischen Doktrin mit der neueren Diskussion um das sog. „Stra-
ßenbahnproblem“ (runaway-tram-problemâ•›/â•›trolley problem) erfahren.

40 Vgl. die Zurückweisung entsprechender Einwände bei William J. FitzPatrick, Acts, Intentions, and Moral
Permissibility. In Defence of the Doctrine of Double Effect, in: Analysis 63 (2003), S.€317–321.
118 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

a)€Der Ausgangsfall

Der Ausgangsfall wurde bereits von Philippa Foot formuliert:41

Fall€8 (Ablenkung der Straßenbahn): Eine Straßenbahn rast mit versagenden Bremsen
auf eine Gruppe von fünf Gleisarbeitern zu und würde sie bei unveränderter Weiterfahrt
töten. Der Fahrer der Straßenbahn könnte die fünf Gleisarbeiter nur retten, wenn er die
Bahn auf ein Neben�gleis lenkt. Auf dem Nebengleis steht allerdings ein anderer Gleis-
arbeiter, der dann getötet würde.

In derartigen Fällen soll es nach der Auffassung einiger Autoren unsere Intuition dem
Fahrer erlauben, die Straßenbahn auf das Nebengleis zu lenken, oder dies sogar gebie-
ten.42 Um fünf Menschen zu retten, ist es also offenbar erlaubt oder sogar geboten, einen
Menschen zu opfern. Dieses Prinzip wird aber durch gegenläufige Überzeugungen in
folgenden Fällen relativiert:

Fall€ 9 (Organtransplantation):43 Ein Chirurg könnte fünf sterbende Patienten mit sehr
seltener Blutgruppe dann und nur dann retten, wenn er ihnen die Organe eines weiteren
Patienten mit derselben Blutgruppe, der fast gesund ist und kurz vor der Entlassung aus
dem Krankenhaus steht, transplantiert. Keiner der fünf sterbenden Patienten kommt dage-
gen für eine Organspende in Frage, weil ihre Organe schon zu sehr beeinträchtigt sind.
Kaum jemand wird bezweifeln, dass die Tötung des einen Patienten zur Rettung der
anderen fünf Patienten ethisch nicht rechtfertigbar ist. Aber worin liegt der relevante
Unterschied, der es erlaubt, die Fälle 8 und 9 verschieden zu bewerten, nämlich einmal
so zu handeln, dass fünf Menschen überleben und ein Mensch stirbt, und ein andermal
so, dass fünf Menschen sterben und ein Mensch überlebt?
Der Unterschied liegt sicher nicht im spezifischen Handlungsmodus des Unterlas-
sens oder Tuns, wie Foot annahm,44 dass man also den Gleisarbeiter im Fall€8 sterben
lässt, während der Patient im Fall€9 aktiv getötet wird. Ob die Unterscheidung von Tun
und Unterlassen ethisch signifikant ist, wird im Abschnitt 11 dieses Kapitels noch zu
erörtern sein. Im vorliegenden Fall€kann sie nicht wesentlich sein, weil der Fahrer der
Straßenbahn, wenn er diese auf das Nebengleis lenkt, jedenfalls ebenso aktiv tätig wird
wie der transplantierende Chirurg.45

41 Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, S.€23. Vgl. daran anknüp-
fend: Judith J. Thomson, Killing, Letting Die, and the Trolley Problem, in: dies., Rights, Restitution and
Risk. Essays in Moral Theory, Cambridge 1986, S.€78–93; dies., The Trolley Problem, in: dies., Rights,
Restitution and Risk. Essays in Moral Theory, S.€94–116. Vergleichbare Fälle werden bereits lange als sog.
„Weichenstellerfälle“ im Strafrecht diskutiert.
42 So Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, S.€ 23, und Judith
J.€Thomson, The Trolley Problem; Frances M. Kamm, Intricate Ethics, S.€25, 92.
43 Judith J. Thomson, The Trolley Problem, S.€95.
44 Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, S.€25╛ff.
45 Vgl. zu diesem Einwand gegen Foots These: Judith J. Thomson, The Trolley Problem, S.€95╛ff.
9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem) 119

Ein Unterschied könnte jedoch darin liegen, dass der eine getötete Gleisarbeiter im
Fall€8 der Ablenkung der Straßenbahn nicht als Mittel zur Rettung der fünf anderen
Gleisarbeiter eingesetzt wird, während dies bei dem getöteten Patienten im Fall€9 der
Transplantation der Fall€ist. Dass der Patient, dessen Organe den anderen fünf Patien-
ten eingesetzt werden, als Mittel zum Zweck der Rettung dieser anderen fünf Patienten
gebraucht wird, ist nicht zu bezweifeln, denn seine Körperteile werden unmittelbar zum
Ersatz versagender Organe der fünf anderen Patienten benutzt. Seine Tötung ist notwen-
dig, um die anderen fünf Patienten zu retten. Im Fall€der Ablenkung der Straßenbahn
ist die Situation bezüglich des einen getöteten Gleisarbeiters zweifelhafter. Das primäre
Mittel zur Rettung der fünf Gleisarbeiter ist das Umlenken des sie bedrohenden Zugs
auf das andere Gleis. Ob dort noch ein weiterer Gleisarbeiter steht oder nicht, ist für die
Verwirklichung des Ziels der Rettung unerheblich. Die Rettung würde auch gelingen,
wenn der Gleisarbeiter nicht auf dem anderen Gleis stünde. Seine Existenz kann also
ohne Schwierigkeiten hinweggedacht werden, ohne den Rettungserfolg zu gefährden.
Auch nach der Doktrin vom doppelten Effekt wäre im Fall€8 der Straßenbahnablenkung
die Rettung der fünf Gleisarbeiter somit erlaubt, während die Instrumentalisierung des
einen Patienten im Fall€9 der Organtransplantation verboten wäre.

b) Varianten der Instrumentalisierung und die Verbindung


zu einer Schicksalsgemeinschaft

Aber auch im Fall€8 der Ablenkung der Straßenbahn kann man sich fragen, ob diese
Lösung wirklich ethisch überzeugt. Kann es dem einen unschuldigen und an sich nicht
bedrohten Gleisarbeiter wirklich zugemutet werden, sich töten zu lassen, um die Ret-
tung der anderen fünf Gleisarbeiter zu ermöglichen? Die klassische deontologische Auf-
fassung, wonach die Tötung Unschuldiger absolut verboten ist, würde dies verneinen.
Aber selbst wenn man diese Auffassung nicht als absolutes ethisches Prinzip akzeptieren
würde, bliebe ein Zweifel. Kant hätte hier vermutlich eine Instrumentalisierung des
Gleisarbeiters behauptet und wäre€– zumindest in der oben erwähnten strikteren Les-
art€– über das Standardverständnis der Doktrin vom doppelten Effekt hinausgegangen.
Die Opferung des einen Gleisarbeiters zur Rettung der fünf anderen wäre also nicht zu-
lässig. Man kann nämlich auch eine Instrumentalisierung annehmen, wenn eine Hand-
lung zu einem anderen Zweck voraussehbar den sicheren Tod eines individualisierten
Menschen verursacht (indirekte Instrumentalisierung). Worin unterscheidet sich dann
aber dieser Fall€ von den Fällen 1 (Selbstverteidigung gegenüber dem Einbrecher), 2
(Strategische Bombardierung der Munitionsfabrik), 3 (Rettung der Schwangeren durch
Entfernung der Gebärmutter), 4 (Rettung der Schwangeren durch Tötung des im Ge-
bärmutterhals feststeckenden Fötus), 5 (Indirekte Sterbehilfe) und 6 (Rettung der Höh-
lenforscher), bei denen die Opferung einer Person zur Rettung einer oder mehrerer
anderer für zulässig gehalten wurde? Dazu ein weiterer Fall:
120 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Fall€10 (Ablenkung der Lawine): Eine Lawine geht zu Tal und rollt gleichzeitig auf eine
Gruppe von sechs Bergsteigern zu, fünf am rechten Rand und einen Nachzügler am
linken Rand einer Schlucht. Durch schnelles Vorschieben eines Lawinengatters könnte
die Lawine von einem weiter oben stehenden siebten und letzten Bergsteiger der Grup-
pe so nach rechts oder links abgelenkt werden, dass statt aller sechs entweder die fünf
Bergsteiger am rechten oder der eine Bergsteiger am linken Rand der Schlucht ums
Leben kämen.

Angesichts dieser Situation der gleichzeitigen gemeinsamen Bedrohung einer Grup-


pe durch ein Naturereignis wird man wohl kaum bezweifeln können, dass es zumin-
dest zulässig, wenn nicht sogar geboten ist, die Lawine so abzulenken, dass nicht alle
sechs Bergsteiger sterben, sondern nur der eine. Dabei wird der eine Bergsteiger wie
im Fall€ 8 der Straßenbahn zwar nicht nach der engeren Interpretation der Doktrin
vom doppelten Effekt als Mittel benutzt, also direkt instrumentalisiert, aber nach der
strikteren Interpretation der zweiten Explikationsformel des Kategorischen Imperativs,
der Zweck-Mittel-Formel, zumindest indirekt instrumentalisiert. Worin liegt der Un-
terschied zum Straßenbahnfall? Im Lawinenfall 10 sind alle sechs Bergsteiger in gleicher
Weise, gemeinsam und gleichzeitig vom identischen Naturereignis bedroht. Sie bilden
also das, was man eine „Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten“ nennen könnte. In-
nerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten kann es zumindest dann nicht
verboten sein, die Zahl der Opfer zu reduzieren, wenn die Betroffenen nicht direkt zum
Mittel gemacht werden, wie etwa im folgenden, anders gelagerten Fall:

Fall€11 (Kannibalismus unter Schiffbrüchigen):46 Sechs Schiffbrüchige sind bereits seit


Wochen auf hoher See in ihrem Rettungsboot. Sie haben zwar Wasservorräte, werden
aber verhungern, wenn sie nicht einen von ihnen töten und verspeisen.

Hier besteht eine Schicksalsgemeinschaft wie im Lawinenfall. Innerhalb dieser Schick-


salsgemeinschaft ist es nun aber wohl nicht erlaubt€– wenn auch vielleicht moralisch
und strafrechtlich entschuldbar€– einen der Schiffbrüchigen zur Sicherung des Über-
lebens der anderen gegen seinen Willen zu töten und zu essen. Der Grund liegt darin,
dass die anderen Todgeweihten ihn in Abweichung vom Lawinenfall direkt instrumen-
talisieren.
Der Unterschied zwischen dem Fall€ 8 der Ablenkung der Straßenbahn und dem
Fall€10 der Ablenkung der Lawine besteht also nicht in der Instrumentalisierung, son-
dern im Charakter der Schicksalsgemeinschaft. Im Fall€10 der Ablenkung der Lawine
sind alle sechs durch dasselbe Naturereignis gleichzeitig und gemeinsam dem Tode ge-
weiht, während dies im Fall€ 8 der Ablenkung der Straßenbahn nicht gilt. Greift der
Fahrer im Fall€8 der Ablenkung der Straßenbahn nicht ein, so wird die Straßenbahn
nur die fünf Arbeiter auf dem einen Gleis erfassen, nicht aber den einen Arbeiter auf
dem anderen Gleis. Im Fall€der Lawine ist der eine Bergsteiger am linken Rand selbst

46 Dies ist ein realer Fall, vgl. das Urteil Regina von Dudley & Stephens 14 Q.â•›B. 273 (1884).
9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem) 121

todgeweiht, im Fall€der Straßenbahn der eine Gleisarbeiter auf dem Nebengleis nicht,
sofern das Ereignis sich so wie bisher weiter entwickelt. Der eine Gleisarbeiter auf dem
Nebengleis befindet sich nur in Gefahrennähe, ist aber selbst nicht Teil der Schicksals-
gemeinschaft der Todgeweihten. Dies wird deutlicher, wenn man den Straßenbahnfall
etwas anders formuliert:

Fall€8a (Ablenkung der Straßenbahn mit Fernwirkung): Der Fahrer einer Straßenbahn
fährt mit versagenden Bremsen auf eine Gruppe von fünf Gleisarbeitern zu und würde
sie bei unveränderter Weiterfahrt töten. Er könnte die Bahn jedoch auf ein Nebengleis
lenken. Dann würde der Zug allerdings einen Prellbock durchbrechen und in einen
kleinen Fluss stürzen. Während der Fahrer sich vorher durch einen Sprung aus dem
Zug retten könnte, würde€– was voraussehbar ist€– die durch die herabstürzende Bahn
verursachte Flutwelle einen Angler, der mehrere hundert Meter weiter unten am Fluss
steht, mitreißen und töten.

In dieser Variante ist der Angler eindeutig nicht Teil der Schicksalsgemeinschaft der
Gleisarbeiter, sondern ein unbeteiligter Dritter, der durch die Ablenkung der Bahn zwar
nicht direkt, aber doch indirekt instrumentalisiert würde, so dass man die Ablenkung
nicht für zulässig halten wird. Man kann zusammenfassen:
Die Schicksalsgemeinschaft relativiert als äußere Bedingung im Rahmen des Hand-
lungselements eins die durch den normativen Individualismus gebotene individuelle
Berücksichtigung der Individuen derart, dass€– wie der Fall€10 der Ablenkung der Lawi-
ne zeigt€– beim Handlungselement vier der Mittelwahl eine ansonsten verbotene indi-
rekte Instrumentalisierung zulässig wird. Die direkte Instrumentalisierung ist aber€– wie
der Fall€11 des Kannibalismus unter Schiffbrüchigen erkennen lässt€– auch innerhalb
der Schicksalsgemeinschaft nicht zulässig.
Ohne das Bestehen einer derartigen Schicksalsgemeinschaft, also einer relativieren-
den Bedingung im Rahmen des Handlungselements eins, ist, wie Fall€8 der Ablenkung
der Straßenbahn und noch klarer Fall€8a der Ablenkung der Straßenbahn mit Fernwir-
kung verdeutlichen, und anders als Thomson und andere meinen, nicht einmal eine
indirekte Instrumentalisierung zulässig. Hier setzt sich das an das Handlungselement
vier der Mittelauswahl anknüpfende Verbot der Instrumentalisierung mangels einer Re-
lativierung durch eine spezifische Bedingung des Handlungsteils eins durch.
Die im Rahmen der Fälle zur Doktrin vom doppelten Effekts diskutierten ethisch
gerecht�fertigten Handlungen sind nun alle Handlungen, bei denen auch im Rahmen
des Handlungselements eins der Bedingungen der Handlung eine Besonderheit vor-
liegt, welche die normativ-individualistische Stellung des einzelnen Betroffenen relati-
viert und damit zumindest eine indirekte, wenn nicht sogar eine direkte Instrumenta-
lisierung gestattet:
Im Fall€1 der Verteidigung gegenüber dem Einbrecher hat dieser durch sein verbre-
cherisches Handeln die Notwehrsituation selbst als äußere Bedingung herbeigeführt, so
dass er sich nicht nur eine indirekte, sondern sogar eine direkte Instrumentalisierung
gefallen lassen muss.
122 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Im Fall€2 der strategischen Bombardierung der Munitionsfabrik sind die Zivilisten


zwar nicht selbst Angreifer, aber doch Teil des angreifenden Landes. Sie unterstützen
durch ihre Arbeitsleistung zumindest indirekt die Kriegsfähigkeit und Kriegsführung
des Angreifers. Diese Unterstützung und die dadurch herbeigeführte Gemeinschaft des
kriegsführenden Staates relativiert ihre normativ-individualistische Unabhängigkeit und
erlaubt zumindest ihre indirekte Instrumentalisierung.
Im Fall€3 der Rettung der Schwangeren durch Entfernung der Gebärmutter führt die
Schicksalsgemeinschaft der körperlichen Verschränkung von Mutter und Kind im Sinn
des Handlungselements eins zur Zulässigkeit von dessen indirekter Instrumentalisierung.
Im Fall€ 4 der Rettung der Schwangeren durch Tötung des Fötus im Gebärmut-
terhals ist über die bloße Schicksalsgemeinschaft hinaus das Leben der Mutter gerade
durch den Fötus selbst bedroht. Dies stellt eine besondere Bedingung im Rahmen des
Handlungsteils eins dar und recht�fertigt wie im Fall€1 der Selbstverteidigung gegen den
Einbrecher sogar die direkte Instrumentalisierung des Fötus.
Im Fall€5 der indirekten Sterbehilfe liegt die besondere Bedingung des Handlungs-
elements eins darin, dass Veranlasser der Handlung und Betroffener identisch und da-
mit per se in so etwas wie einer unauflöslichen Schicksalsgemeinschaft verbunden sind,
welche zumindest die Selbstgefährdung des einzelnen durch sich selbst erlaubt.
Im Fall€6 der Tötung des feststeckenden Höhlenforschers besteht eine Schicksalsge-
meinschaft der Höhlenforscher als Todgeweihter. Dies würde wie im Fall€10 der Ablen-
kung der Lawine auf jeden Fall€seine indirekte Instrumentalisierung zur Rettung ande-
rer Todgeweihter erlauben. Die Tötung des sehr dicken Höhlenforschers ist nun aber
nicht nur eine indirekte, sondern eine direkte Instrumentalisierung. Insofern ähnelt der
Fall€nicht dem Lawinenfall 10, sondern€– was die Rettungshandlung anbelangt€– dem
Fall€11 des Kannibalismus unter Schiffbrüchigen. Warum würde man hier aber anders
als im Fall€11 wohl die Opferung des feststeckenden Höhlenforschers für erlaubt halten
können? Der Unterschied in den äußeren Bedingungen des Handlungselements eins
besteht darin, dass im Fall€6 der Rettung der Höhlenforscher nicht nur eine Schicksals-
gemeinschaft besteht, sondern dass der eine sehr dicke Mann zusätzlich eine spezifische
Ursache der Bedrohung darstellt, denn allein er blockiert ja den rettenden Ausgang. Es
liegen also kumulativ zwei besondere Bedingungen im Rahmen des Handlungselements
eins vor, welche das Handlungselement vier relativieren: die Schicksalsgemeinschaft und
die spezifische Bedrohung wie im Fall€1 der Selbstverteidigung gegen den Einbrecher
und im Fall€4 der Rettung der Mutter durch Tötung des im Gebärmutterhals festste-
ckenden Fötus. Wie in diesen Fällen wird man deshalb hier auch die direkte Instrumen-
talisierung für ethisch zulässig halten müssen.

c) Weitere äußere Bedingungen

Weitere äußere Bedingungen im Rahmen des Handlungselements eins können die Ent-
scheidung beeinflussen. Thomson sieht etwa in folgendem Fall€die Ablenkung der Stra-
ßenbahn von den fünf Gleisarbeitern auf ein Opfer als nicht gerechtfertigt an:
9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem) 123

Fall€8b (Ablenkung der Straßenbahn auf Speisende):47 Wie Fall€8 der Ablenkung der
Straßenbahn, mit dem Unterschied, dass das Nebengleis ein Abstellgleis ist, das seit
zehn Jahren nicht mehr benutzt wurde. Der Bürgermeister des Ortes, der auch für die
Straßenbahn verantwortlich ist, hat dort Picknicktische aufstellen lassen und die Ge-
nesenden des nahen Krankenhauses zum Essen eingeladen. Er hat ihnen feierlich ver-
sprochen und garantiert, dass das Straßenbahngleis auf keinen Fall€befahren wird, weil
der Verkehr dort durch die Stadtwerke eingestellt wurde. Der eine Genesende hätte sich
niemals an einen Tisch auf dem Gleis gesetzt, wenn der Bürgermeister diese Einladung
nicht ausgesprochen und die Garantie nicht abgegeben hätte. Nun ist der Fahrer der
Straßenbahn bewusstlos geworden. Darf der Bürgermeister, der an der Weiche steht,
die Weiche umstellen und die Straßenbahn auf das Nebengleis lenken, um die fünf
Gleisarbeiter zu retten?

Selbst wenn man im Fall€8 die Ablenkung der Straßenbahn wie Thomson und andere
als zulässig ansieht, wäre es im Fall€8b nicht erlaubt, den Zug abzulenken, weil hier als
zusätzliche äußere Bedingung im Rahmen des Handlungselements eins ein feierliches
Versprechen seitens des zuständigen Bürgermeisters gegenüber den Betroffenen abgege-
ben wurde. Ein solches feierliches Versprechen schließt aber die Relativierung durch eine
Schicksalsgemeinschaft Todgeweihter aus. Hätte im Fall€10 der Ablenkung der Lawine
der oben am Gatter stehende Bergsteiger dem einen Todgeweihten am linken Rand der
Schlucht versprochen, seinen Tod unter keinen Umständen zu beeinflussen, so würde
dieses Versprechen die Ablenkung der Lawine auf ihn ethisch verbieten. Das ist nicht un-
problematisch, weil damit auch die Rettung der anderen Bergsteiger unterbleiben müsste.
Damit könnten sich zwei zum Nachteil Anderer einigen. Im Recht gibt es ein Parallelpro-
blem: Das Recht erklärt Verträge mit Verbindlichkeit zulasten Dritter für unzulässig.48
Man fragt sich, warum in der Ethik und Moral eine Einigung bzw. ein Versprechen
zum Nachteil Anderer zulässig sein soll. Grundsätzlich gilt natürlich auch in der Ethik
und Moral, dass Einigungen nicht zulasten Dritter getroffen werden dürfen. Und wenn
sie getroffen werden, dann rechtfertigen sie nicht eine Handlung, die Dritte beschwert.
Wenn A dem B verspricht, den C zu beleidigen, macht das die Beleidigung des C durch
A nicht weniger verwerflich als ohne das Versprechen. Ein derartiges Versprechen ist im
Übrigen€– da auf ein erkennbar verbotenes Handeln gerichtet€– sowieso nicht bindend,
denn derjenige, dem das Versprechen gegeben wurde, kann nicht erwarten, dass der Ver-
sprechensgeber eine verbotene Handlung ausführt. Im Fall€8b der Ablenkung der Stra-
ßenbahn auf Speisende und der Versprechensabgabe im Lawinenfall 10 ist die Situation
jedoch eine spezielle: Zum einen wird hier etwas Positives und Erlaubtes versprochen,
nämlich der Schutz bzw. die Sicherung des Betroffenen. Zum anderen ist die Tötung ei-
nes Unschuldigen zur Rettung Anderer im Prinzip ohnehin unzulässig. Nur die besonde-
ren äußeren Bedingungen der Schicksalsgemeinschaft können dieses Prinzip relativieren.

47 Judith J. Thomson, The Trolley Problem, S.€111╛f.


48 Umkehrschluss aus § 328 des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs. Vgl. BGH 54, 247; 58, 219; 61, 351;
78, 374â•›f. Grüneberg in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 68.€Aufl. München 2009, Einf. vor § 328, 5c.
124 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Im Fall€8b der Ablenkung der Straßenbahn besteht nun wie im Ausgangsfall 8 gar keine
solche Schicksalsgemeinschaft. Im Fall€10 der Ablenkung der Lawine liegt zwar eine sol-
che Schicksalsgemeinschaft vor, aber auf die durch sie herbeigeführte Relativierung des
normativ-individualistischen Status des einzelnen Betroffenen darf der Handelnde als
Ergebnis seiner allgemeinen Freiheit zur Lebensgestaltung vor dem unwahrscheinlichen
Eintritt einer Notlage auch mit Wirkung gegenüber den Mitgliedern der Schicksalsge-
meinschaft verzichten. Der Hilfsanspruch der Anderen geht nicht so weit, dass sie eine
derartige individuelle Freiheit des Handelnden bzw. Sicherung eines Betroffenen nicht
hinnehmen müssten, sofern sich diese Sicherung nicht direkt und bewusst gegen sie rich-
tet. Die Sicherung durch ein solches Versprechen ist der Vorsorge durch materielle Siche-
rungsmittel vergleichbar. Jeder darf etwa sein Auto durch eine Wegfahrsperre besonders
gegen Diebstahl sichern, selbst wenn dies in sehr seltenen Notfällen dazu führen mag,
dass ein Unfallopfer durch Dritte nicht schnell genug ins Krankenhaus gebracht werden
kann, weil die Wegfahrsperre die Nutzung des Autos zu diesem Zweck verhindert.
Während das Versprechen gegenüber jemandem, ihn nicht zu schädigen, die ein-
schränkende Bedingung der Schicksalsgemeinschaft relativiert, führt der gegenüber
diesem Versprechen gegenteilige Akt der Einwilligung, sich im Zweifel zur Rettung An-
derer schädigen zu lassen, dazu, dass auch ohne Schicksalsgemeinschaft die Opferung
des Einwilligenden erlaubt ist. Hat also im Fall€8 der Ablenkung der Straßenbahn der
eine Gleisarbeiter auf dem Nebengleis€– aus welchen Gründen auch immer€– vorher
eingewilligt, in vergleichbaren Fällen sein Leben zu opfern, so ist die Ablenkung anders
als im Ausgangsfall 8 ethisch erlaubt. Die Einwilligung stellt wie das Versprechen eine
äußere Bedingung im Sinne des Handlungsteils eins dar, die das Verbot der Instrumen-
talisierung relativiert: Wer einwilligt, wird nicht instrumentalisiert.

d) Das Erfordernis der Individualisierung

Fall€8 der Ablenkung der Straßenbahn ist von einem scheinbar sehr ähnlichen Fall€ab-
zugrenzen:

Fall€12 (Ablenkung eines abstürzenden Flugzeugs): Die Triebwerke eines Verkehrsflug-


zeugs fallen aus. Es droht in ein belebtes Stadtzentrum zu stürzen. Viele Tote und Ver-
letzte sind zu befürchten. Der Flugzeugführer könnte das Flugzeug allerdings noch in
ein Industriegebiet am Stadtrand lenken, in dem nur sehr wenige Menschen leben.

Hier scheint die Situation derjenigen der Ablenkung der Straßenbahn im Fall€ 8 zu
gleichen: Eine indirekte Instrumentalisierung ist mangels weiterer relativierender Fakto-
ren beim Handlungselement eins wie des Bestehens einer Schicksalsgemeinschaft, einer
körperlichen Nähe, einer eigenen Gefahrverursachung oder einer Einwilligung unzuläs-
sig. Insbesondere besteht hier keine Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten, denn das
abstürzende Flugzeug bedroht ebenso wenig die im Industriegebiet lebenden Menschen,
wie im Fall€8 die Straßenbahn den einen Gleisarbeiter auf dem Nebengleis bedroht. Der
9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem) 125

Flugzeugführer dürfte also die wenigen Menschen im Industriegebiet prinzipiell nicht


zugunsten der vielen Menschen im Stadtzentrum opfern.
Die meisten würden in einem derartigen Fall€aber doch zumindest eine Erlaubnis des
Flugzeugführers annehmen, das Flugzeug in das Industriegebiet zu steuern. Worin liegt
der Unterschied zur Ablenkung der Straßenbahn im Fall€8? Der Unterschied liegt darin,
dass der Ausschluss einer Rettungshandlung wegen der Instrumentalisierung Dritter die
Individualisierung dieser Dritten voraussetzt, also die Möglichkeit, die Nichterfüllung
einzelner Belange einigermaßen sicher einzelnen Individuen im sozial bzw. ethisch re-
levanten Sinn zuzuordnen. Dieser Aspekt der Individualisierung ist eine weitere Kon-
sequenz des Grundprinzips des normativen Individualismus. Sind die Betroffenen für
den Handelnden nicht individualisiert oder zumindest nicht ohne Weiteres individuali-
sierbar, so hat ihre Instrumentalisierung in der Abwägung ein geringeres Gewicht, weil
es dann ja Beliebige treffen kann. Die Ablenkung ist dann eher eine allgemeine Risi-
koerhöhung. Eine derartige allgemeine Risikoerhöhung ist aber zulässig, sofern sie der
Verminderung des Risikos einer signifikant größeren Anzahl anderer ethisch zu berück-
sichtigender Individuen dient und sofern das Gewicht der Belange in der Abwägung
vergleichbar ist. Der Flugzeugführer darf also das allgemeine Risiko von den vielen Men-
schen im Stadtzentrum auf die wenigen Menschen im Industriegebiet ablenken, weil
hier mangels Individualisierung der wenigen Betroffenen der Aspekt der Instrumenta-
lisierung weit weniger gewichtig ist. Die Handlung des Flugzeugführers gleicht hier der
Verwirklichung eines Naturereignisses. So wie jeder einem gewissen Risiko ausgesetzt ist,
durch Blitzschlag umzukommen, so ist er auch dem Risiko ausgesetzt, durch Rettungs-
handlungen Dritter geschädigt zu werden, die der allgemeinen Risikominderung dienen
und somit allen ohne Ansehen der einzelnen Person zugutekommen. Man kann dies mit
der Einschränkung einiger Verkehrsregeln beim Einsatz des Blaulichts durch Rettungs-
fahrzeuge vergleichen. Um die Rettungschancen der Unfallopfer signifikant zu erhöhen,
nimmt man in Kauf, andere unschuldige, aber nicht individualisierte Verkehrsteilneh-
mer durch nicht ganz ungefährliche Blaulichtfahrten etwas stärker zu gefährden.
Schwierig ist aber folgender Fall€13, der nach den Anschlägen auf das World Trade
Center in New York im Jahr 2001 praktisch relevant wurde:49

Fall€13 (Abschuss des gekidnappten Flugzeugs): Terroristen haben ein Verkehrsflugzeug


entführt und drohen es mitsamt seinen Passagieren in eine Stadt zu stürzen. Darf der
Pilot eines Kampfjets das Verkehrsflugzeug über einem freien Feld abschießen, um die
Bewohner der Stadt zu retten?

Fraglich ist zunächst, ob diese Konstellation dem Fall€ 10 der Ablenkung der Lawine
gleicht. Man könnte argumentieren, dass die Passagiere in dem Verkehrsflugzeug und
die Bewohner der Stadt hier eine Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten bilden. Wie

49 In § 14 III des Luftsicherheitsgesetzes wurde der Abschuss von Verkehrsmaschinen zu derartigen Ret-
tungszwecken erlaubt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Regelung wegen Verstoß gegen die Men-
schenwürde nach Art. 1 I GG für verfassungswidrig erklärt: Entscheidungen des Bundesverfassungsge-
richts 115, S.€118╛f.
126 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

im Fall€10 der Ablenkung der Lawine wäre es dann zulässig, innerhalb dieser Schick-
salsgemeinschaft die Zahl der Getöteten zu reduzieren. Die Passagiere des Verkehrsflug-
zeugs werden nicht direkt instrumentalisiert, weil ihre Tötung als solche nicht für die
Rettung der Bewohner der Stadt notwendig ist. Das Verkehrsflugzeug könnte auch leer
sein.50 Die indirekte Instrumentalisierung wäre also wie beim Fall€10 der Ablenkung
der Lawine aufgrund der Schicksalsgemeinschaft zulässig. Im Fall€13 bestehen aber drei
signifikante Unterschiede zum Fall€10, welche die Zulässigkeit des Abschusses fraglich
erscheinen lassen.
Erstens: Die Bewohner der Stadt sind nicht individualisiert und damit nicht indi-
viduell bedroht, sondern nur abstrakt gefährdet. Die Anzahl und Identität der Todge-
weihten in der Stadt steht nicht fest. Die Passagiere des Verkehrsflugzeugs sind dagegen
zumindest über die Passagierlisten individualisiert und damit individuell bedroht, weil
sicher ist, dass alle Passagiere im Flugzeug ums Leben kommen werden. Die Todge-
weihten im Flugzeug stehen hinsichtlich Anzahl und Identität fest. Für den Piloten des
Kampfflugzeugs ist diese Individualisierung allerdings nicht konkret nachvollziehbar,
sondern nur abstrakt, da er ja allenfalls einige Passagiere aus der Ferne am Fenster sehen
kann. Fraglich ist, ob zwei so unterschiedliche Gruppen wie die Passagiere und die Be-
wohner der Stadt eine einzige Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten bilden.
Zweitens: Die Bewohner der Stadt sind bloße Opfer, während die Passagiere des Ver-
kehrsflugzeugs zwar unfreiwillig, aber doch faktisch Teil des gefährdenden Objekts sind.
Fraglich ist wieder, ob dieser Unterschied der beiden Gruppen die Zusammenfassung zu
einer Schicksalsgemeinschaft ausschließt.
Drittens: Der Tod der Passagiere in dem Verkehrsflugzeug hängt von menschlichen
Handlungen bzw. Entscheidungen ab und ist zwar sehr wahrscheinlich, aber keines-
falls sicher. Während im Fall€ 10 der Lawine das Naturereignis mit naturgesetzlicher
Sicherheit seinen Lauf nehmen wird, könnten sich die Flugzeugentführer in der Passa-
giermaschine aus welchen Gründen auch immer, etwa aus Mitleid mit den Passagieren
oder Furcht vor dem eigenen Tod, noch anders entscheiden und darauf verzichten, das
Flugzeug zum Absturz zu bringen. Oder sie könnten von den Passagieren in letzter
Minute überwältigt werden.
Alle drei Aspekte, die eine Schicksalsgemeinschaft zwischen den Passagieren und
den Stadtbewohnern fragwürdig erscheinen lassen, wirken überdies kumulativ.
Andererseits ist zu bedenken, dass die Passagiere selbst Teil des die Stadtbewohner
bedrohenden Objekts als Ganzes sind. Dadurch wird das Verbot der Instrumentalisie-
rung zusätzlich zum Aspekt der eventuellen Schicksalsgemeinschaft relativiert. Insofern
besteht eine Parallele zum Fall€ 1 der Selbstverteidigung gegen den Einbrecher, zum
Fall€4 der Rettung der Mutter durch Tötung des im Gebärmutterhals feststeckenden
Fötus und zum Fall€6 der Rettung der Höhlenforscher.
Der Fall€des Abschusses des Verkehrsflugzeugs ist insofern ein echter Grenzfall, bei
dem eine Qualifizierung als ethisch erlaubt oder nicht erlaubt schwierig ist. In einer

50 Damit wird hier das Sonderproblem der Piloten und Flugbegleiter des Verkehrsflugzeugs beiseitegelassen.
9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problemâ•›/â•›trolley problem) 127

derartigen Pattsituation kann dann die Ethik keine Entscheidung mehr für die eine oder
die andere Alternative treffen.
Allerdings sollte diese offene allgemeinethische bzw. moralische Bewertung nicht
zum voreiligen Schluss auf die Zulässigkeit einer rechtlichen Erlaubnis des Abschusses
führen. Wie noch zu erörtern sein wird, hat das Recht spezielle Bedingungen, die es in
derartigen Zweifelsfällen nicht rechtfertigen, eine generelle Ermächtigung zur Tötung
Unschuldiger auszusprechen.51
Zwischen den klaren Lösungen des Verbots der Ablenkung der Straßenbahn im
Fall€ 8 und der Erlaubnis der Ablenkung der Lawine im Fall€ 10 liegt auch folgende
Fallkonstellation:

Fall€ 14 (Steuerung des Lastwagens): Bei einem Lastwagen versagen auf abschüssiger
Straße die Bremsen. Er rast auf eine Weggabelung zu, an welcher der Fahrer entweder
nach rechts oder nach links steuern kann. Auf der Straße nach rechts stehen fünf Men-
schen, auf der Straße nach links stehen fünf Menschen. Sie würden jeweils durch den
Lastwagen getötet werden, würde er in diese Straße gelenkt.

Fall€14 unterscheidet sich von der Ablenkung der Lawine im Fall€10 dadurch, dass das
drohende Ereignis alle involvierten Menschen nicht kumulativ zu Bedrohten macht,
sondern nur alternativ. Wer tatsächlich von den alternativ Bedrohten getötet wird, hängt
von der Entscheidung und Handlung des Lastwagenfahrers ab. Allerdings sind anders
als im Fall€8 der Ablenkung der Straßenbahn alle tatsächlich bedroht, wenn auch eben
nur alternativ. Man scheut sich hier im Gegensatz zum Fall€10 der Ablenkung der Lawi-
ne von „Todgeweihten“ zu sprechen, weil der Tod hier erst durch die Entscheidung und
Handlung des Lastwagenfahrers herbeigeführt wird, der sich aber für die eine oder die
andere Straße entscheiden muss. Im Gegensatz zum Straßenbahnfall 8 sind die Betrof-
fenen aber Teil einer Schicksalsgemeinschaft. Sie sind jeweils unter die Notwendigkeit
der Entscheidung des Lastwagenfahrers über Leben und Tod gezwungen. Der natürliche
Verlauf hat hier keine eindeutige Richtung, so dass er nur die fünf Menschen auf der
einen Straße oder der anderen Straße bedroht. Man wird deshalb jede Entscheidung des
Lastwagenfahrers für ethisch erlaubt halten.

e) Besteht ein Gebot zur Rettung?

Bisher waren vor allem Erlaubnisse Thema. Fraglich ist weiterhin, ob in einigen der
erörterten Fälle nicht sogar ein Gebot zur Rettung besteht. Ein solches Gebot zur Ret-
tung wird man in der�artigen Konfliktsituationen allenfalls unter zwei Bedingungen
annehmen können: zum einen, wenn es um die Rettung Anderer geht, nicht nur um

51 Zum vergleichbaren Fall€ der Frage nach staatlicher Folter: Verf., Ist staatliche Folter als fernwirkende
Nothilfe ethisch erlaubt?, in: Wolfgang Lenzen (Hg.), Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Paderborn
2006, S.€149–172.
128 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

die Rettung des Akteurs durch sich selbst. Anders wäre hier nur dann zu entscheiden,
wenn man€– was in Kapitel€VIII noch zu erörtern sein wird€– Pflichten gegen sich selbst
annähme. Zum anderen, wenn die Abwägung völlig eindeutig ist. Vor diesem Hinter-
grund erscheint die Verschärfung der Erlaubtheit zur Gebotenheit allenfalls im Fall€10
der Ablenkung der Lawine gerechtfertigt: Wer hier die Anzahl der Todgeweihten nicht
reduziert, handelt unethisch (dazu im folgenden Abschnitt mehr). In allen anderen Fäl-
len geht es um mehr als um eine rein interne Reduktion der Anzahl der Todgeweihten.
Nicht notwendig Todgeweihte werden entweder indirekt oder sogar direkt zur Rettung
Anderer instrumentalisiert. Diese Instrumentalisierung bedeutet in jedem Fall€ einen
ethisch problematischen Eingriff in die Lebenssphäre Anderer und kann deshalb von
Helfenden nicht ohne Weiteres erwartet werden.

10. Sollen die Zahlen zählen?

Folgender Fall€wurde Ausgangspunkt einer Diskussion über die Bedeutung der Anzahl
geretteter Personen:

Fall€15 (Verteilung eines lebensrettenden Medikaments):52 Ein Arzt könnte mit einer
Dosis eines schwer zu beschaffenden Medikaments entweder fünf Patienten mit jeweils
einem Fünftel der Dosis oder einen Patienten, der einen fünffachen Bedarf hat, mit der
ganzen Dosis retten.
Die Rettung der fünf Patienten statt des einen Patienten soll nach Meinung John
Taurecks nicht schon aufgrund der größeren Anzahl, also der besseren Konsequenzen,
moralisch erlaubt sein.53 Beschränkt man den Fokus in derartigen Fällen€– wie dies in der
Diskussion zum Teil geschieht€– auf die größere oder geringere Anzahl, so reduziert man
die Fragestellung auf die Konsequenzen, also auf das Handlungselement sieben. Hierfür
ist kein Grund ersichtlich. Entscheidend sind vielmehr auch in derartigen Konstellatio-
nen die Belange der jeweils Betroffenen, die sich auf alle Handlungselemente beziehen
können. Um dies zu verdeutlichen, ist es sinnvoll, weitere Fälle zu betrachten.

Fall€16 (Verteilung des Medikaments an David oder andere Patienten): wie Fall€15, aber
der Arzt, der über die Vergabe des Medikaments entscheiden muss, ist mit dem einen Pa-
tienten (David) eng befreundet, während die fünf anderen Patienten Unbekannte sind.

Fall€17 (Verteilung des Medikaments an sich selbst oder andere): wie Fall€15, aber der
eine Patient, der das Medikament benötigt, ist der Arzt selbst.

52 Der Fall€wird ebenfalls schon bei Philippa Foot, Abortion and the Doctrine of Double Effect, S.€24, er-
wähnt. Bekannt wurde er durch John M. Taureck, Should the Numbers Count?, Philosophy and Public
Affairs 6 (1977), S.€293–316, S.€294. Vgl. die Rekonstruktion und Kritik durch Derek Parfit, Innumerate
Ethics, Philosophy and Public Affairs 6 (1977), S.€285–301.
53 John M. Taureck, Should the Numbers Count?
10. Sollen die Zahlen zählen? 129

Fall€18 (Rettungsschiff ):54 Der Kapitän eines Rettungsschiffs kann entweder eine klei-
nere Anzahl von Personen auf der Südspitze einer Insel oder eine größere Anzahl von
Personen auf der Nordspitze einer Insel vor einem ausbrechenden Vulkan retten.

John Taureck gesteht zu, dass der Kapitän im Fall€18 verpflichtet ist, die größere Anzahl
von Personen zu retten. Dies folgt aber seiner Meinung nach nicht aus den besseren
Konsequenzen der Rettungshandlung, sondern aus der besonderen Pflichtbindung des
Kapitäns. Der Kapitän müsse wegen seiner spezifischen Berufspflicht als Führer eines
Rettungsschiffs die größere Anzahl retten. Die Grundlage dieser Pflicht liege in der
Übereinkunft, durch die er sich bereit erklärt habe, das Schiff zu führen, um Menschen
zu retten. Das erscheint überzeugend. Bei der Übereinkunft handelt es sich um eine
äußere Bedingung, also das Handlungselement eins. Fraglich ist aber, ob nicht jeder
Kapitän jedes beliebigen anderen Schiffes ebenso handeln müsste.
Im Fall€ 16 besteht aufgrund der Freundschaft des Arztes zu David eine spezifi-
sche Verpflichtung gegenüber dem Freund, also eine spezifische äußere Bedingung als
Handlungselement eins. DerÂ�artige spezifische äußere Bedingungen wie Übereinkünfte
oder besondere Näheverhältnisse erzeugen besondere Hilfspflichten. Allerdings gelten
diese selbstredend nicht absolut. Und sie schließen weder logisch noch praktisch aus,
neben den äußeren Bedingungen des HandÂ�lungsÂ�elements eins auch die Konsequenzen
einer Handlung, also das Handlungselement sieben zu berücksichtigen. Dabei ist aller-
dings die Formulierung „Anzahl“ bzw. „Zahl“ irreführend. Die bloße Anzahl von In-
dividuen oder Fakten ist ethisch natürlich irrelevant. Relevant ist allein die Abwägung
zwischen den Belangen der Betroffenen, also den Belangen des Akteurs und den Be-
langen der von der Handlung des Akteurs betroffenen, ethisch zu berücksichtigenden
Anderen. Das Interesse der von einer Handlung Betroffenen kann sich nun aber auf
alle möglichen Handlungselemente richten. Die Konsequenzen können auch darunter
sein. Richtet sich das Interesse nur auf die Konsequenzen, so kann dieses Interesse den
Ausschlag geben.
Steht jemand vor der Alternative, nichts zu tun oder ohne größere Anstrengung und
Gefahr jemand anderem zu helfen, wodurch dessen Tod vermieden wird, so wird das
dringende Interesse des Betroffenen, den Tod zu vermeiden, den Ausschlag geben. Was
gilt nun aber in den Fällen 15 bis 18?
Im Fall€18 des Rettungsschiffs ist der Kapitän in jedem Fall€durch das Interesse der
Betroffenen, seine Zusage zu erfüllen, gebunden. Er muss deshalb die größere Anzahl
retten. Im Fall€16 der Verteilung des Medikaments an David oder andere ergibt sich
aufgrund der engen Freundschaft als äußere Bedingung bzw. Handlungselement eins
sowohl beim Arzt als auch bei David ein besonderes Interesse an der Hilfeleistung und
damit eine besondere Pflicht des Arztes, David zu helfen. Wäre gleichzeitig nur eine
einzige andere unbekannte Person zu retten, der gegenüber lediglich eine allgemeine
Hilfspflicht gegenüber Unbekannten bestünde, so wäre die Entscheidung eindeutig:
Das Interesse, dem Freund zu helfen, wäre sowohl beim Handelnden als auch beim

54 John M. Taureck, Should the Numbers Count?, S.€310.


130 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Freund gewichtiger und deshalb auch die Pflicht des Handelnden. Der Arzt müsste den
Freund retten und nicht den Fremden.
Fraglich ist aber, was gilt, wenn es möglich ist, statt David fünf Unbekannte zu
retten? Insofern ist der Grundfall 15 einfacher als der Fall€16, weil im Fall€15 der Vertei-
lung des lebensrettenden Medikaments keine besondere Nähebeziehung zu dem einen
Patienten besteht. Der Grundfall 15 soll deshalb zuerst erörtert werden. Die entschei-
dende Frage lautet dann, ob die Verfünffachung der Anzahl der Personen und damit die
Verfünffachung der auf die rettende Hilfe gerichteten Interessen ausschlaggebend sein
soll. Dabei ist die pure Anzahl, wie gesagt, per se ethisch irrelevant. Die wesentliche Fra-
ge ist auch nicht, ob die Konsequenzen zählen. Sie zählen grundsätzlich als Gegenstand,
auf den sich Belange beziehen können, sind aber nicht allein ausschlaggebend, weil sich
die Belange auch auf andere Elemente der ethisch problematischen Handlung beziehen
können. Die entscheidende Frage lautet vielmehr, auf welche Weise die in der konkreten
Situation widerstreitenden Belange hier eine Rolle spielen: Der Arzt ist von Berufs we-
gen zur Lebensrettung verpflichtet. Die Verabreichung des Medikaments stellt für ihn
weder einen großen Aufwand noch ein Risiko dar, so dass seine Belange vernachlässigt
werden können. Es stehen sich also die Belange des einen Patienten und die Belange
der fünf anderen Patienten gegenüber. Fraglich ist, ob die Tatsache, dass auf der einen
Seite fünf Belange von fünf Patienten stehen, ethisch relevant sein kann. Man wird
diese Frage nicht beantworten können, ohne zu erwägen, was überhaupt die Grundlage
derartiger Hilfeleistungspflichten ist. Die Grundlage derartiger Hilfeleistungspflichten
ist€– wie in Kapitel€IX, 2 noch näher zu erläutern sein wird€– unsere Gemeinschaft mit
Anderen. Weil wir mit Anderen in Kontakt stehen€– sei dieser auch noch so indirekt,
etwa als Teil der Menschheit auf der Erde€– sind wir verpflichtet, uns wechselseitig Hilfe
zu gewähren. Die jeweiligen Belange der Anderen werden dann in konkreten Situa-
tionen nach erfolgter Abwägung zu berechtigten Belangen. Diese Belange sind nicht
einfach addierbar. Andererseits stehen sie aber auch nicht völlig isoliert, sofern eine ein-
zige Handlung bzw. die durch diese Handlung implizierte Unterlassung mehrere dieser
Belange betrifft. Die Belange kommen dann zwangsläufig zueinander in eine Situation
der Abwägung und Zusammenfassung. Würde man sie nicht zusammenfassen, so wür-
de man die Individuen als Individuen nicht ernst nehmen und nicht berücksichtigen.
Zunächst gilt dann, wie sich oben ergab, dass die Belange alle in grundsätzlich gleicher
Weise Beachtung verdienen. Das bedeutet: Stehen sich zwei exakt gleichrangige, aber
gegenläufige Belange gegenüber, so neutralisieren sie sich in der Abwägung. Deshalb
gibt ein zusätzlicher Belang von nicht ganz unerheblichem Gewicht den Ausschlag. Im
Fall€15 stehen sich das Interesse des einen Patienten, das Medikament zu erhalten, und
das Interesse eines jeden der fünf anderen Patienten, das Medikament zu bekommen, als
exakt gleichrangige, aber gegenläufige Belange gegenüber und neutralisieren sich somit
wechselseitig. Stünden in der fraglichen Situation keine weiteren Belange in Rede, so
könnte der Arzt beliebig wählen, wen er retten will, oder tatsächlich, wie Taureck meint,
das Los entscheiden lassen. Im Fall€15 kommen aber zu den beiden sich wechselseitig
neutralisierenden, exakt gleichrangigen Belangen die Belange der vier anderen Patienten
aus der Gruppe der fünf Patienten hinzu. Würde der Arzt hier frei wählen, wen er retten
10. Sollen die Zahlen zählen? 131

will, oder würde er das Los entscheiden lassen, so würde er die Belange der weiteren
vier Patienten nicht angemessen berücksichtigen, weil sie neben dem neutralisierten
Belang des fünften Patienten nicht zählen würden. Ihre angemessene Berücksichtigung
entscheidet damit die Pattsituation als zusätzliche, gewichtige Belange.55 Der Arzt muss
deshalb das Medikament an die fünf Patienten geben.
Es gibt in derartigen tragischen Situationen auch keinen guten Grund, wie vorge-
schlagen wurde,56 eine gewichtete Lotterie entscheiden zu lassen, in welcher der einzelne
Patient eine Chance von einem Sechstel und die fünf Patienten eine Chance von fünf
Sechsteln haben oder anders ausgedrückt, bei der jeder Patient eine Chance von einem
Sechstel hat, denn wenn die Belange der vier zusätzlichen Patienten aus der Gruppe
der fünf Patienten zu berücksichtigen sind, dann bedeutet dies, dass es möglich sein
muss, dass sie den Ausschlag geben. Wenn sie aber den Ausschlag geben können, dann
ist nicht einsehbar, warum ihre Berücksichtigung nur zu einer Chancenerhöhung und
nicht zu einer Entscheidung der Pattsituation führen soll.57
Gegen die Zusammenfassung der überwiegenden Belange ist eingewandt worden,
dass hier dann doch nicht die Individuen als einzelne zählen, sondern die größere Grup-
pe.58 Es erfolge eine Aggregation, die ähnlich wie die Maximierung des Utilitarismus
die größere Anzahl der Gruppe den Ausschlag geben lasse. Aber dieser Einwand über-
zeugt nicht, denn man muss klar zwischen der Berücksichtigung der Interessen einer
Gruppe, dem Zusammenfassungsprinzip der Maximierung der Konsequenzen und der
prinzipiellen Abwägung bzw. Zusammenfassung von Belangen in einer einzigen, nicht
anders lösbaren Konfliktsituation unterscheiden. Die Berücksichtigung der Interessen
einer Gruppe steht hier gar nicht in Rede, weil die fünf Patienten über die Tatsache hin-
aus, dass sie alle in einer einzigen Situation ein ähnliches Interesse an einem Fünftel der
Dosis haben, nichts verbindet. Sie können etwa alle auf unterschiedlichen Kontinenten
leben und nichts voneinander wissen, so dass sie keine Gruppe bilden. Die Berücksich-
tigung von Interessen einer Gruppe wurde oben in Kapitel€I auch als letzte Rechtfer-
tigung ausgeschlossen. Der normative Individualismus verdient€– wie sich ergab€– vor
einem normativen Kollektivismus den Vorzug. Die Forderung, die Belange der fünf
Patienten in einer Situation der Entscheidung gleichermaßen zu berücksichtigen, kon-
stituiert auch keine Gruppe und impliziert deshalb keinen normativen Kollektivismus,
denn es ist vollkommen arbiträr, dass die unterschiedlichen, eine bestimmte Handlung
recht�fertigenden Belange von mehreren Individuen geltend gemacht werden. Man den-
ke sich folgenden Fall:

55 Vgl. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€232╛ff., und Rahul Kumar, Contractualism
on Saving the Many, Analysis 61 (2001), S.€165–170, zu einer kontraktualistischen Begründung, die zum
selben Ergebnis kommt.
56 John Broome, Selecting People Randomly, Ethics 95 (1984), S.€38–55, der die Lösung aber nur erwähnt
und nicht vertritt. Für diese Lösung: Jens Timmermann, The Individualist Lottery: How People Count,
but not their Numbers, Analysis 64 (2004), S.€106–112, S.€110â•›ff.
57 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€234.
58 Michael Otsuka, Scanlon and the Claims of the Many Versus the One, Analysis 60 (2000), S.€288–293, S.€291,
und Jens Timmermann, The Individualist Lottery: How People Count, but not their Numbers, S.€107, 110.
132 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Fall€19: Ein Arzt kann mit einer Dosis eines seltenen Medikaments entweder A Schmer-
zen ersparen und B vor einer schweren Erkältung bewahren oder C, der älter und ge-
brechlicher ist, vergleichbare Schmerzen wie A ersparen, ihn vor einer ähnlichen Er-
kältung wie B bewahren und schließlich auch noch vor dem fast sicheren Verlust eines
wichtigen Körperglieds retten.

Obwohl hier auf der einen Seite A und B mit ihren Belangen die größere Anzahl von
Personen bilden, ist der Arzt ohne Zweifel verpflichtet, die Dosis dem C als Einzel-
person zu geben, weil seine Belange zusammengenommen weit gewichtiger sind als
diejenigen von A und B. Die Tatsache, dass die zusammen gewichtigeren Belange im
Ausgangsfall 15 von fünf verschiedenen Individuen geltend gemacht werden, ist also
für die Abwägung irrelevant. Entscheidend ist nur, dass eine der in Rede stehenden
Handlungsalternativen sie gleichermaßen erfüllen kann, was sie in der Abwägung dieser
Handlungsalternative mit der anderen Handlungsalternative faktisch und dann auch
normativ relevant auf einer Seite der Abwägung positioniert. Mit der kollektiven Be-
rücksichtigung der Träger dieser Belange als Gruppe größerer Anzahl hat diese Positio-
nierung der fünf Belange auf einer Seite der Abwägung nichts zu tun.
Die Abwägung zugunsten der fünf Belange der fünf Patienten impliziert auch we-
der einen Konsequentialismus noch eine Anerkennung des Maximierungsprinzips. Der
Konsequentialismus wird durch diese Lösung nicht anerkannt, weil die anderen mögli-
chen Handlungselemente eins bis sechs neben den Konsequenzen relevant bleiben und
prinzipiell zu einer anderen Lösung führen könnten, also etwa ein vorheriges Verspre-
chen des Arztes, die Dosis dem einen Patienten zu geben, ein Verzicht der fünf Patienten
zugunsten des einen Patienten usw. Im Fall€15 sind derartige weitere Gesichtspunkte nur
nicht ersichtlich. Wenn sich aber in einer Situation die relevanten Belange der zu be-
rücksichtigenden Individuen zufällig ausschließlich auf die Konsequenzen einer Hand-
lung, also das Handlungselement sieben richten, so fordert der normative Individua-
lismus, diese Entscheidung der betroffenen Individuen ernst zu nehmen. Dann dürfen
auch keine weiteren Handlungselemente außer den Konsequenzen Berücksichtigung
finden. Der normative Individualismus postuliert einen grundsätzlichen Pluralismus
der zu berücksichtigenden Handlungselemente und schließt den Konsequentialismus
als allgemeines Prinzip der Beschränkung des Bezugs der Belange auf die Konsequenzen
aus. Aber er fordert auch, dass die Konsequenzen grundsätzlich wie die anderen Hand-
lungselemente zu beachten sind. Das bedeutet: Sind in einer spezifischen Situation die
Belange der beteiligten Betroffenen zufällig so ausgestaltet, dass sie sich nur auf die Kon-
sequenzen der fraglichen Handlungsalternativen richten, so verlangt er logischerweise,
dass in dieser spezifischen Situation auch nur diese Belange, die sich ausschließlich auf
die Konsequenzen beziehen, ausschlaggebend sein sollen.
Die Abwägung der gleichartigen Belange im Rahmen der obigen Lösung impliziert
im Übrigen keine Anerkennung des Maximierungsprinzips, denn es kommt nicht auf
die Maximierung eines hinter den Belangen stehenden Wertes wie Lust, Freude, Wohl-
befinden oder ähnliches an. Die Gewichtung und Zusammenfassung der Belange auf-
grund der faktisch möglichen Handlungsalternativen stellt keine Maximierung dar.
10. Sollen die Zahlen zählen? 133

Allerdings findet eine Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange statt. Wie sich
im nächsten und übernächsten Kapitel€noch zeigen wird, ist eine solche Abwägung bzw.
Zusammenfassung auch notwendig, wenn Verpflichtungen und Wertungen ethisch
gerechtfertigt werden sollen. Sie kann nicht vermieden werden, will man überhaupt
zu einer rationalen Ethik gelangen und die einzelnen Individuen mit ihren Belangen
gemäß dem Prinzip des normativen Individualismus berücksichtigen. Schließt man€–
was alle Autoren tun€– aus, dass der Arzt im Fall€15 gar nichts tun darf, so muss er
zu einer Entscheidung kommen, wem er das Medikament gibt. Muss er aber zu einer
Entscheidung kommen, wem er das Medikament gibt, so implizieren alle vorgeschlage-
nen Lösungen eine Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange der in der Situation
von der Entscheidung betroffenen Patienten. Wenn John Taureck zugesteht, dass der
Arzt das Medikament an den einen Patienten geben müsste, sofern die fünf anderen
Patienten nicht da wären, so verändern die zusätzlichen Belange der fünf anderen Pa-
tienten die normativen Anforderungen, weil nun, statt das Medikament an den einen
zu geben, das Los entscheiden soll. Die Belange der fünf Patienten werden also berück-
sichtigt und damit im Vergleich zum Belang des einen Patienten zusammengefasst bzw.
abgewogen, allerdings in einer bestimmten Art und Weise, die eine Berücksichtigung
mehrerer gleichartiger Belange auf der Seite der einen Handlungsalternative ausschließt.
Noch deutlicher wird die Zusammenfassung beim Vorschlag der gewichteten Lotterie.
Hier wird mit der gewichteten Lotterie ein kompliziertes Verfahren angewandt, um zu
einer Zusammenfassung bzw. Abwägung zu kommen. Dieses Verfahren stellt nun zwar
tatsächlich neben Taurecks Nichtgewichtung und der vollen Gewichtung eine dritte,
im Ergebnis dazwischen liegende Möglichkeit dar. Aber man kann diesen Vorschlag
nicht mit der Behauptung rechtÂ�Â�fertigen, hier fände keine Abwägung bzw. Zusammen-
fassung der Belange statt,59 weil die beiden Handlungsalternativen mit der jeweils mög-
lichen Befriedigung der Belange des einen Patienten auf der einen Seite oder der fünf
Patienten auf der anderen Seite ja zu der Lotterie als prozeduralem Abwägungs- und
Zusammenfassungsmechanismus führen. Sind aber alle drei denkbaren Lösungen€– die
Taurecksche nichtgewichtete Lotterie, die gewichtete Lotterie und die hier favorisierte
Neutralisierung gegenläufiger Belange mit der ausschlaggebenden Berücksichtigung zu-
sätzlicher Belange auf der einen Seite€– mögliche Formen der Abwägung bzw. Zusam-
menfassung, dann muss man sich fragen, worin das besser begründete bzw. begründbare
Prinzip der Zusammenfassung liegt. Mit den bereits erwähnten Argumenten kann dies
nur das Prinzip der Neutralisierung gleicher gegenläufiger Belange mit dem Ausschlag
zusätzlicher einigermaßen gewichtiger Belange auf einer Seite sein, denn nur durch die-
ses Prinzip werden alle in der Situation betroffenen Individuen mit ihren jeweils in Rede
stehenden Belangen gleich berücksichtigt.
Im Fall€17 der Verteilung des lebensrettenden Medikaments durch den Arzt an sich
selbst oder die fünf Patienten gilt dagegen: Die Belange Anderer verpflichten uns, ihnen
zu helfen. Aber sie verpflichten niemanden zur Selbstaufopferung, also zum Verzicht auf

59 So aber Jens Timmermann, The Individualist Lottery: How People Count, but not Their Numbers,
S.€111.
134 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

das eigene Weiterleben. Die „Gemeinschaft“, die jeder Einzelne mit sich selbst hat, ist
für ihn die wichtigste aller Gemeinschaften. Ohne sie wäre sein Leben als Bedingung
alles weiteren Handelns unmöglich. Er ist deshalb€– zumindest wenn man sich auf eine
immanente Bewertung beschränkt und religiös-transzendente Gründe ausklammert€–
befugt, diese „Gemeinschaft“ mit sich selbst im Fall€eigener gewichtiger Belange in der
Abwägung von Rettungspflichten allen Belangen und damit Pflichten gegenüber An-
deren überzuordnen. Es gibt also gute Gründe, warum der Einzelne das Medikament
nicht an die fünf Anderen herausgeben muss. Niemand muss sein Leben€– beschränkt
man sich auf eine immanente Bewertung€– ohne spezifische weiter gehende Gründe für
Andere opfern, denn dieses Leben ist die Bedingung aller seiner Handlungen und Be-
lange. Nicht ausgeschlossen wird damit selbstredend die Pflicht, gewisse Gefährdungen
des eigenen Lebens im gewichtigen Interesse Anderer in Kauf zu nehmen, etwa Andere
zu retten, falls die Rettungshandlung zumutbar ist, oder Andere bzw. das eigene Volk
im Krieg zu verteidigen.
Am zweifelhaftesten ist Fall€16 der Entscheidung zwischen David und den anderen
fünf Patienten. Die enge Freundschaft zwischen dem Arzt und David erzeugt gewichtige
Belange auf beiden Seiten. Daraus ergibt sich eine gesteigerte Pflicht zur Hilfeleistung
des Arztes gegenüber David. Würde auf der anderen Seite nur ein einziger Fremder
stehen, so dürfte€– wie bereits erwähnt€– der Arzt das Medikament auf jeden Fall€an
David herausgeben, ja er müsste es aufgrund der gesteigerten Pflicht gegenüber David
sogar. Aber welche Folgen hat die Tatsache der zusätzlichen Personen auf der anderen
Seite? Ihre Belange müssen jeweils berücksichtigt werden. Aber wie hat die Abwägung
zwischen den gesteigerten Belangen unter engen Freunden und den zusätzlichen Belan-
gen Dritter auszusehen? Darf der Arzt seinen Freund David den fünf Unbekannten vor-
ziehen oder muss er deren Belange höher gewichten? Diese Frage ist deshalb so schwer
zu beantworten, weil hier Belange mit Bezug auf zwei verschiedene Handlungselemente
im Widerstreit stehen: zum einen das Interesse an der Freundschaft als äußere Bedin-
gung bzw. Handlungselement eins bei David, zum anderen das Interesse an den Konse-
quenzen der Handlung als Handlungselement sieben bei fünf Fremden. Die gesteigerte
Pflicht gegenüber David wiegt grundsätzlich viele andere Pflichten gegenüber Dritten
auf, weil die spezifische Gemeinschaft zwischen dem Arzt und David zu berücksichtigen
ist. Aber die Lebenserhaltung ist für die meisten Menschen der wichtigste Belang und
die Pflicht zur Lebenserhaltung€– vorbehaltlich weiterer im übernächsten Kapitel€noch
zu erörternder Prinzipien€– eine der wichtigsten Pflichten. Deshalb wird man anneh-
men müssen, dass das Interesse an der Lebenserhaltung den Vorzug vor der Erhaltung
und Förderung der Freundschaft verdient. Die jeweiligen Pflichten der Lebenserhaltung
gegenüber den fünf zusätzlichen Patienten sind also wichtiger als die Freundschafts-
pflicht. Der Arzt muss demnach die fünf Fremden retten. Sollte er sich allerdings für die
Rettung Davids entscheiden, dann würde man ihn zwar nicht für gerechtfertigt halten.
Aber es bietet sich an, auch in Moral und Ethik ebenso wie im deutschen Strafrecht
zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung zu unterscheiden. Im Strafrecht führt die
Entschuldigung dazu, dass eine Strafe unterbleibt. In der Moral ist es gerechtfertigt, auf
moralische Sanktionen zu verzichten.
11. Handeln als Tun und Unterlassen 135

11. Handeln als Tun und Unterlassen

Von den sieben Teilen der Handlung im weiteren Sinn soll nun das sechste Element,
also das Element der tatsächlichen Handlungsausführung näher untersucht werden.60 Es
umfasst zwei, nicht selten für ethisch und moralisch unterschiedlich signifikant gehal-
tene Teilformen: Tun und Unterlassen. Einen anderen Menschen zu belügen oder zu
betrügen, also durch aktives Tun bei ihm einen Irrtum hervorzurufen, wird etwa von
vielen für unmoralischer gehalten, als seinen schon bestehenden Irrtum nicht aufzuklä-
ren, also durch passives Unterlassen zu perpetuieren, mag der durch die unterlassene
Aufklärung erwachsende Schaden auch genauso groß oder sogar größer sein. Im Recht
findet man vergleichbare Wertungen: Wer einen Nichtschwimmer in einen See stößt,
damit er ertrinkt, wird in Deutschland wegen Totschlags oder Mordes mit Freiheitsent-
zug bis zu fünfzehn Jahren oder sogar lebenslänglicher Inhaftierung bestraft. Unterlässt
er dagegen die Rettung eines schon im See Ertrinkenden, so kann er, sofern keine spe-
ziellen Hilfspflichten aus Verwandtschaft, schuldhaftem Vorverhalten oder Vertrag be-
stehen, allenfalls wegen unterlassener Hilfeleistung mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr
oder Geldstrafe belangt werden (§ 323â•›c StGB). Die Bestrafung wegen unterlassener
Hilfeleistung setzt überdies voraus, dass die Hilfeleistung zumutbar ist, der Retter also
zum Beispiel schwimmen kann und sich nicht selbst in Lebensgefahr bringt. In Öster-
reich ist die unterlassene Hilfeleistung sogar ganz straflos. Die Unterscheidung zwischen
Tun und Unterlassen ist für tatsächlich bestehende primäre Normordnungen wie Recht
und Moral also außerordentlich wichtig. Aber worin liegt der Unterschied?

a)€Die physische oder psychische Veränderung als Kriterium


der Unterscheidung

Zunächst sollte man sich klarmachen, dass die Zuordnung zu einer der beiden Katego-
rien in der Wahrnehmung des Alltags verschiedentlich nicht nur mit Rekurs auf eine
isolierte natürliche Grundlage, das heißt rein beschreibend erfolgt. Wie jede andere
Tatsache ist das Handeln vielmehr Teil umfassender faktischer Zusammenhänge und als
umfassender faktischer Zusammenhang umgekehrt auch in Teile zerlegbar. Das Han-
deln kann folglich auf verschiedenen Abstraktionsstufen unserer Weltbeschreibung ver-
schieden erfasst und verstanden werden. Bewegt etwa ein Unternehmer Daumen und
Zeigefinger, kann das als Führen eines Stifts (Tun), Leisten einer Unterschrift (Tun),
Abschluss eines Schriftstücks (Tun), Verzicht auf das Einlegen eines Rechtsmittels (Un-
terlassen), Nichtrealisieren einer vermögenssichernden Handlung (Unterlassen), Zulas-
sen der Insolvenz des eigenen Unternehmens (Tun oder Unterlassen?) und Zerstörung

60 Vgl. grundsätzlich: Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, Stuttgart 1995; Armin Berger, Unterlassungen.
Eine philosophische Untersuchung, Paderborn 2004. Berger unterscheidet zwar auch zwischen „Handlung“
und „Handeln“ (S.€22â•›ff.), versteht unter „Handeln“ aber nicht nur die tatsächliche Handlungsausführung
im Sinne des Elements sechs, sondern alle mentalen Elemente. „Handeln“ ist für ihn das, was wir unmittel-
bar tun, „Handlung“ dasjenige, was wir mit dem Tun in der Welt hervorbringen (S.€33).
136 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

der eigenen ökonomischen Lebensgrundlagen (Tun oder Unterlassen?) interpretiert


werden. Vergisst jemand, die Herdplatte abzustellen (Unterlassen), so setzt er damit
möglicherweise das Haus in Brand (Tun) und verspielt angesichts der hohen Schadens-
ersatzforderungen seine Zukunft (Tun).61 Die Zuordnung des Alltags scheint sich also
nicht nur an natürlich-beschreibenden Kriterien zu orientieren, sondern ist offenbar
darauf gerichtet, bestimmte interpretative Aspekte des tatsächlichen Handelns zu be-
rücksichtigen, die funktional und normativ wesentlich sind.62
Trotz dieser wesentlichen Einschränkung kann man davon ausgehen, dass der Diffe-
renzierung von Tun und Unterlassen auf den grundlegenderen Stufen der Handlungsbe-
schreibung zumindest die Überzeugung von einer natürlichen oder wenigstens naturnah interÂ�
pretierbaren Unterscheidung zu Grunde liegt. Arthur C. Danto hat sog. „Basishandlungen“
als Ergebnis einer möglichst weit gehenden Analyse komplexerer Handlungen identifiziert:
Da wir durch ein „Handeln“ handeln können, etwa grüßen, indem wir die Hand heben,
muss es auch atomares Handeln geben, dem kein weiteres Handeln zu Grunde liegt.63
Das lässt sich für die Unterscheidung von Tun und Unterlassen folgendermaßen konkre-
tisieren: Tun erfordert entweder eine äußere KörperÂ�bewegung oder einen inneren mentalen
Akt im Sinne einer über Wünsche, Überzeugungen, Absichten, die Mittelwahl und den
Handlungswillen hinausgehenden psychischen Veränderung.64 Unterlassen setzt das Fehlen
der äußeren Körperbewegung oder der soeben spezifizierten inneren psychischen Veränderung
voraus. Dabei sind wie beim Tun alle vorhergehenden Handlungsteile zumindest rudimen-
tär vorhanden, also, lässt man einmal die Fahrlässigkeit als noch zu erörternde Sonderfrage
beider Handlungsformen außer Betracht, der Wunsch bzw. die Überzeugung, die Absicht,
die Wahl der Mittel zur Realisierung der Absicht und der Handlungswille. Beim Unter-
lassen wird aber als sechster Teil der Handlungsausführung der Handlungswille, also der
Teil fünf, festgehalten bzw. perpetuiert. Der Handlungswille schlägt also anders als beim
Tun nicht in eine äußere oder innere Veränderung um. Wer etwa einen Ertrinkenden sieht
und dessen Rettung unterlässt, der hat bestimmte Wünsche und Überzeugungen, bildet
eine dem Tun vergleichbare Absicht, wählt das Mittel des Nicht-ins-Wasser-Springens und
fasst den entsprechenden Willen, nicht ins Wasser zu springen. Dann hält er an diesem
Willen bis zum Ende der faktischen Rettungsmöglichkeit, also bis zum Verschwinden des
Ertrinkenden oder bis zum Verlassen des Unglücksorts, fest.
Im Fall€eines inneren Akts des Unterlassens ist die Feststellung naturgemäß erheblich
schwieriger als im Fall€eines äußeren Tuns. Wer den Arm hebt, tut etwas äußerlich, wer

61 Vgl. zu diesem Beispiel Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€27.


62 Vgl. Armin Berger, Unterlassungen, S.€18, 160, 188, 254╛ff., 302╛ff., der dann aber Unterlassungen voll-
ständig von Normen abhängig auffasst.
63 Arthur C. Danto, Analytical Philosophy of Action, Cambridge 1973, S.€28╛ff.
64 Vgl. Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€34╛ff., wobei Birnbacher zwar im Titel Tun und Unter-
lassen kontrastiert, hier aber Handeln und Unterlassen. Armin Berger, Unterlassungen, S.€15, 109╛ff.,
212â•›ff., wendet sich zwar gegen die Körperbewegung als Unterscheidungskriterium, berücksichtigt aber
innere Akte nicht. Sein eigener Vorschlag der absichtlichen Verwirklichung oder Nichtverwirklichung
einer Handlungsmöglichkeit (S.€110â•›ff.) ist zwar anders formuliert, aber in der Sache mit der hier ver-
tretenen Ansicht vergleichbar, denn wenn „(Nicht-)Verwirklichen“ nicht nur das fünfte Element der
Mittelwahl meint, dann muss es sich um das sechste Element der Handlungsausführung handeln.
11. Handeln als Tun und Unterlassen 137

ihn nicht hebt, unterlässt etwas äußerlich. Wer sich eine Äußerung mit Absicht merkt,
tut etwas innerlich, wer sie sich mit Absicht nicht merkt, unterlässt etwas innerlich, näm-
lich das Merken. Er bildet eine Absicht, wählt das Mittel des Nichtmerkens, fasst den
Willen, sich die Äußerung nicht zu merken, und hält dann an diesem Entschluss so
lange fest, bis die Verankerung im Gedächtnis nicht mehr möglich ist. Lag etwa in Kants
berühmtem, in seinem „Gedächtnisbüchlein“ niedergelegten Entschluss „Der Name
Lampe muss nun völlig vergessen werden!“65 ein Tun oder ein Unterlassen, wenn Kant
seinen wegen Unbotmäßigkeit entlassenen Diener tatsächlich vergaß? Sein Entschluss,
Lampe zu vergessen, war wohl anders als die soeben erwähnte Entscheidung, sich etwas
nicht zu merken, ein Tun, denn der bereits fest im Gedächtnis verankerte Name „Lampe“
sollte aus dem Gedächtnis verbannt werden. Die Realisierung dieser Absicht setzte eine
zusätzliche psychische Veränderung voraus, nämlich die Aufhebung der Verankerung des
Namens „Lampe“ in Kants Gedächtnis. Ob man eine derartige Verankerung bzw. Auf-
hebung der Verankerung tatsächlich absichtlich bzw. willentlich herbeiführen kann, ist
eine empirisch-psychologische Frage, keine philosophische. Kant glaubte offenbar daran.
Und auch im Alltag sehen wir es regelmäßig nicht als sinnlos an, wenn man jemanden
oder etwas vergessen will, etwa einen ehemaligen Partner oder ein schreckliches Ereignis.
„Aus den Augen, aus dem Sinn.“ rät der VolksÂ�mund zur Verwirklichung.

b) Die Bedingung der Möglichkeit

Das Unterlassen hat eine weitere Eigenschaft zur Bedingung, die wir für das Tun ohne
weiteres als notwendig ansehen. Jedes Tun erfordert seine Möglichkeit, und zwar nicht
nur seine logische und physikalische Möglichkeit, sondern weiter gehend auch seine
praktische MöglichÂ�keit, also die Fähigkeit und Gelegenheit des Akteurs, das Tun zu
realisieren.66 Das Unterlassen verlangt nun nicht nur vergleichbar dem Tun modallo-
gisch die Möglichkeit seiner selbst, also die Möglichkeit des Unterlassens, das heißt des
Nicht-Tuns, sondern darüber hinaus auch die logische, physikalische und praktische
Möglichkeit des Tuns.67 Ist es jemandem etwa praktisch unmöglich, einen Ertrinkenden
zu retten, weil dieser sich unerreichbar auf einem anderen Kontinent befindet, so wäre
es€– obwohl ihm zwar das Unterlassen möglich war€– absurd anzunehmen, er hätte die
Rettung unterlassen. Nur wenn er selbst am Rande des Sees steht und den Ertrinken-
den faktisch retten kann, ihm also auch das Tun möglich ist, kann sein Nichtstun als
Unterlassen qualifiziert werden. Was man dann in speziellen Konstellationen noch als
möglich oder nicht möglich ansieht, wie strikt man also die praktischen Anforderun-

65 Vgl. Immanuel Kant, zitiert in Karl Vorländer, Immanuel Kants Leben, neu hg. von Rudolf Malter,
Hamburg 1974, S.€ 201. Der in der Akademieausgabe herausgegebene handschriftliche Nachlass ver-
zeichnet die Äußerung dagegen nicht, wohl weil sie im „Gedächtnisbüchlein“ eingetragen war.
66 Vgl. dazu Armin Berger, Unterlassungen, S.€88╛ff.
67 Dies konstatiert bereits Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II, qu. 79, ad 2; Georg Henrik von
Wright, Norm and Action. A Logical Inquiry, 2.€Aufl. London 1971, S.€45; Dieter Birnbacher, Tun und
Unterlassen, S.€32â•›f.; Walter Stree, in: Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, Vorbem. § 13, Rn. 141â•›ff.
138 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

gen subjektiv und objektiv fasst, überschreitet ab einer gewissen Konkretisierungsstufe


allerdings die Grenze der allgemeinen philosophischen Begriffsbildung und ist von den
spezifischen Normen- und Bewertungsordnungen abhängig, die eine Normierung und
Bewertung des Unterlassens aussprechen.68
Sowohl für das Tun als auch für das Unterlassen gilt also gleichermaßen die Bedin-
gung der Möglichkeit des Tuns, wobei diese Bedingung nur für das Unterlassen eine
spezifizierende Wirkung gegenüber weiteren möglichen Veränderungen in der Welt hat,
weil die Klassifikation eines Handelns als Tun seine Möglichkeit, wie erwähnt, bereits
modallogisch voraussetzt. Da die Möglichkeit des Tuns gleichermaßen für das Tun wie
für das Unterlassen notwendig ist, kann diese Bedingung aber nicht zur Differenzierung
beider Handlungsformen taugen. Tun und Unterlassen unterscheiden sich also zunächst
nur in der äußeren Körperbewegung oder der zusätzlichen inneren mentalen Verände-
rung, die beim Unterlassen fehlen.

c) Wissen und Wollen des Handelnden

Die äußere Körperbewegung oder der innere mentale Akt sind zwar notwendige Be-
dingungen des Tuns. Sie sind aber bereits auf einer phänomenal-begrifflichen Ebene
noch nicht hinreichend, denn die Körperbewegung kann auch ein bloßer Reflex sein
oder durch Naturereignisse bzw. andere Menschen herbeigeführt werden, ohne dass der
Betroffene handelt. Und der innere mentale Akt kann äußerlich bewirkt werden, wie
etwa ein Schreck durch einen Knall. Handeln in den Formen des Tuns und Unterlassens
setzt deshalb bereits auf der phänomenal-begrifflichen Ebene ein gewisses Maß an Wis-
sen und Wollen des Handelnden voraus. Mit diesem Erfordernis wird aber das sechste
Element der Handlung im umfassenden Sinn überschritten. Das Wissen ist eine innere
Bedingung im Sinne der Handlungselemente eins und zwei und das Wollen in seiner
konkretisierten Form nichts anderes als das Handlungselement fünf des Handlungswil-
lens und als Absicht bzw. Ziel das Handlungselement drei. Wissen und Wollen sind da-
bei in ihrer Stärke Kontinua. Und es stellt sich die Frage, wie stark Wissen und Wollen
ausgeprägt sein müssen, damit man von einem Handeln sprechen kann. Zu dieser Frage
wurde mit den bisherigen Überlegungen schon in abstracto eine Antwort gegeben. Aber
die Gründe sollen nun noch etwas eingehender auch unter Berücksichtigung des Rechts
und der Rechtswissenschaft, in denen diese Fragen eine wesentliche Rolle spielen und
die deshalb eine besondere Sensibilität gegenüber den Phänomenen entwickelt haben,
erläutert werden.
Das Recht und die Rechtswissenschaft haben zur Frage des Wissens und Wollens
beim Handeln einen großen Reichtum an Differenzierungen hervorgebracht. Allerdings

68 Vgl. zur entsprechenden Diskussion im Strafrecht etwa Bernd Schünemann, Grund und Grenzen der
unechten Unterlassungsdelikte. Zugleich ein Beitrag zur strafrechtlichen Methodenlehre, Göttingen
1971, S.€20–22, 30â•›ff. Schünemann setzt enger als Birnbacher keine Kenntnis aller relevanten Situations-
umstände voraus; Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, Besondere Erscheinungsformen der
Straftat, München 2003, § 31 II, Rn 8â•›ff.
11. Handeln als Tun und Unterlassen 139

wird dabei der Kontinuitätscharakter beider Eigenschaften häufig missachtet und vor al-
lem auf den Erfolg rekurriert, wodurch die klare Unterscheidung zwischen Handeln, das
heißt dem Handlungselement sechs, und den Konsequenzen des Handelns, das heißt
dem Handlungselement sieben, verwischt wird. Recht und Rechtswissenschaft unter-
scheiden zwischen Absicht als direktem Vorsatz 1. Grades, direktem Vorsatz 2. Grades,
bedingtem Vorsatz und Fahrlässigkeit.69 Eine Absicht ist gegeben, wenn es dem Täter
auf den Erfolg ankommt, sei dies auch nur ein Zwischenziel. Die Absicht entspricht
also dem Handlungselement drei. Beim direkten Vorsatz 2. Grades weiß der Täter oder
betrachtet es als gesichert, dass er den Tatbestand verwirklichen wird. Da er die Hand-
lung will, will er auch deren sichere Folgen, hat also das Handlungselement fünf voll-
ständig oder fast vollständig realisiert. Beim bedingten Vorsatz herrscht Uneinigkeit. Die
deutsche Rechtsprechung folgt weitgehend der sog. „Einwilligungstheorie“. Danach ist
kognitiv zunächst erforderlich, dass der Täter den Erfolgseintritt als möglich und nicht
ganz fernliegend erkennt. Das genügt jedoch noch nicht. Voluntativ muss er darüber
hinaus den Erfolg auch „billigend in Kauf nehmen“, also seinen Eintritt hinnehmen.70
In der juristischen Literatur wird das voluntative Element dagegen von manchen abge-
schwächt. Nötig soll nur sein, dass der Täter dem Erfolgseintritt gleichgültig gegenüber-
steht (Gleichgültigkeitstheorie).71 Andere Autoren stellen dagegen ausschließlich oder
fast ausschließlich auf das kognitive Element ab. In verschiedenen Varianten soll der
Täter den Eintritt des Erfolgs entweder für wahrscheinlich72 oder gar nur für möglich73
halten. Fahrlässig handelt der Täter, wenn er zwar den Erfolgseintritt voluntativ nicht
will und auch nicht billigend in Kauf nimmt, aber kognitiv voraussehen konnte und
sich objektiv sorgfaltspflichtwidrig verhält.74
Problematisch ist bei diesen Abgrenzungen generell, dass nicht immer klar genug
zwischen der Zuordnung von Wissen und Wollen zum Handeln im Sinne des Hand-
lungselements sechs und zu den Konsequenzen des Handelns im Sinne des Handlungs-
elements sieben unterschieden wird. Bei der Fahrlässigkeit will der Akteur zwar den
Erfolg, also die Konsequenzen als Handlungselement sieben nicht. Aber ein zumindest
minimales Wollen im Sinne eines Akzeptierens des Handelns als Handlungselement
sechs ist erforderlich, sonst kann keine Handlung im umfassenden Sinn angenommen
werden. Wessen Körperbewegung oder innere Veränderung nicht einmal mit einem
Minimum an Wissen und Wollen, also Fahrlässigkeit, erfolgt, der kann nicht als Urhe-
ber eines Tuns gelÂ�ten. Das bloße Wissen genügt dabei nicht. Es muss ein mindestens
minimales Wollen des Tuns im Sinne eines Akzeptierens des Handelns (nicht jedoch

69 § 15 StGB. Vgl. Peter Cramerâ•›/â•›Detlev Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 64â•›ff.; Tröndle-Fischer, Strafgesetz-
buch und Nebengesetze, 54.€Aufl. München 2007, § 15, Rn. 5â•›ff.
70 BGH Entscheidungen in Strafsachen Bd. 7, S.€363; 21, S.€283; 36, S.€9; 46, S.€35.
71 Vgl. Peter Cramerâ•›/â•›Detlev Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 84.
72 Z.╛B. Hellmuth Mayer, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Stuttgart 1967, S.€121.
73 Z.â•›B. Rudolf Schmidhäuser, Die Grenze zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Straftat („dolus eventua-
lis“ und „bewußte Fahrlässigkeit“), Juristische Schulung 20 (1980), S.€241–252, S.€242.
74 Peter Cramerâ•›/â•›Detlev Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 118–127.
140 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

des Erfolgs) hinzukommen. Reißt etwa eine Flutwelle dem badenden A den Arm mit
seinem klaren Wissen, aber vollständig gegen oder ohne sein Wollen hoch, so kann man
weder vorsätzliches noch fahrlässiges Handeln des A annehmen. Dem A geschieht et-
was, aber er handelt nicht. Das Handlungselement sechs kann also beim Tun nicht ohne
zumindest rudimentäre Wollensformen des Handlungselements fünf realisiert werden.
Gilt für das Unterlassen das gleiche Erfordernis des wenigstens minimalen Wissens
und Wollens?75 Oder ist ein Unterlassen ohne jegliches Wissen und Wollen der Nicht-
Körperbewegung bzw. der inneren Nichtveränderung möglich? Bedarf es also, wie oben
behauptet wurde, der kognitiven und volitiven Pendants zur Nicht-Körperbewegung
oder zur inneren Nichtveränderung? Oder genügt beim Unterlassen anders als beim
Tun vielleicht wenigstens das bloße Wissen als notwendige Bedingung des Handelns,
ohne dass auch ein nur minimales Wollen hinzukommen müsste?76
Angenommen der A schluckt versehentlich ein tödliches Gift, das zunächst nicht zu
äußeren Veränderungen führt. Der Arzt B kommt zufällig hinzu und könnte A durch
ein Gegengift retten. Aber er weiß nichts von der Vergiftung des A und hat auch keinen
Anhaltspunkt für eine Vergiftung, der eine Aufklärung erforderlich machen würde. Er
gibt ihm deshalb das Gegengift nicht. Kann man hier behaupten, B habe es unterlassen,
den A zu retten? Sicher nicht. Ohne ein handlungsrelevantes Wissen um die Situation
oder um Faktoren, die eine Aufklärung erfordern, kann B die Handlungsalternative
des Unterlassens nicht verwirklichen. Er hilft A zwar in diesem Fall€nicht. Aber man
kann nicht behaupten, er habe es „unterlassen“, ihm zu helfen. Die bloße Negation
des aktiven Tuns als Handlung kann neben der Körperbewegung auch das notwendige
Wissen und Wollen negieren. Das Unterlassen unterscheidet sich aber von dieser bloßen
Negation des aktiven Tuns als Handlung. Dieser Unterschied liegt im Erfordernis einer
zumindest minimalen Kenntnis der Situation oder zumindest der situationsrelevanten
Faktoren. Man kann zwar einen ganz weiten Unterlassensbegriff ohne ein derartiges
Wissen definieren,77 widerspricht damit aber zum einen unserem allgemeinen Verständ-
nis vom Handeln als kognitiv gesteuertem Verhalten und gewinnt zum anderen auch
keinen tauglichen Ansatzpunkt für primäre und sekundäre Normen, weil ohne ein
wenigstens rudimentäres Wissen über die relevanten Faktoren der Situation und die
Handlungsmöglichkeiten keine Normierung des Unterlassens möglich ist. Auch hier
gilt der Grundsatz „ultra posse nemo obligatur“ (Jenseits seines Könnens ist niemand
verpflichtet). Das Strafrecht verlangt für die Begehungsweise der Fahrlässigkeit kein un-
mittelbares Wissen um die konkreten Umstände der Situation. Erforderlich sind aber
zumindest ein abstraktes Wissen und ein Wissen um Umstände, die eine Aufklärungs-
handlung nahe legen.

75 Bejahend für den Vorsatz etwa Peter Cramerâ•›/â•›Detlev Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 98; Michael Kahlo, Die
Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt. Eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersu-
chung zur Theorie des personalen Handelns, Frankfurt a.╛M. 2001, S.€268.
76 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€37–42.
77 Georg Henrik von Wright, Norm and Action. A Logical Inquiry, S.€45╛ff.
11. Handeln als Tun und Unterlassen 141

Birnbacher bejaht zwar das Erfordernis des Wissens für den Unterlassensbegriff,
sieht in diesem Wissen aber keine selbständige zusätzliche Bedingung, sondern lediglich
einen Aspekt der psychischen Handlungsmöglichkeit des Akteurs.78 Man kann sich fra-
gen, ob hier der Begriff der Möglichkeit zum Handeln bzw. der Fähigkeit nicht zu weit
gefasst wird. Aber letztlich ist das nur eine Frage der Kategorisierung. Am sachlichen
Erfordernis des zumindest rudimentären Wissens für ein Tun wie für ein Unterlassen
besteht kein Zweifel.
Fraglich ist nun zweitens, ob dieses wenigstens rudimentäre Wissen beim Unterlassen
genügt oder ob nicht auch eine zumindest minimale Realisierung des Handlungselements
fünf, also ein zumindest minimales Wollen im Sinne eines Akzeptierens hinzukommen
muss, um ein Unterlassen zu bejahen. Was ist, wenn der Arzt B im soeben geschilderten
Fall€zwar alles in der fraglichen Situation Wesentliche weiß, also weiß, dass A das tödliche
Gift geschluckt hat und durch das Gegengift gerettet werden könnte, die Rettung aber
trotzdem nicht durchführt, und zwar gegen seinen Willen, wobei dies entweder geschieht,
a) weil ihn ein Anderer physisch daran hindert, oder b) weil er von einem Anderen in ein
wichtiges Gespräch verwickelt wird? Kann man in diesem Fall annehmen, dass B die Ret-
tung unterlassen hat? Im Fall€a) der physischen Hinderung durch einen Anderen ist schon
die oben erwähnte grundsätzliche Bedingung der Möglichkeit des Tuns zu verneinen. Es
kommt also gar nicht darauf an, dass die Nichtinjektion des Gegengiftes ohne oder gegen
seinen Willen geschieht. In keinem Fall€liegt ein Unterlassen vor. Im Fall€b) hat der Arzt B
dagegen die Möglichkeit, dem A das Gegengift zu verabreichen, also das Erforderliche zu
tun. Aber er ist so in das wichtige Gespräch vertieft, dass er die Injektion des Gegengifts
versäumt, obwohl er€– wie er hinterher beteuert€– A retten wollte. Man kann natürlich
fragen, ob der Arzt B A wirklich retten wollte, wenn er die Rettung trotz prinzipieller
Möglichkeit wegen eines bloßen Gesprächs mit einem Dritten nicht ausführt. Dies ist
besonders zweifelhaft, wenn B weiß, dass die Rettung nur noch kurze Zeit möglich sein
wird, also Eile geboten ist. Hat B zwei Handlungsmöglichkeiten, nämlich die Rettung und
das Gespräch und wählt er das Gespräch im vollen Bewusstsein der Rettungsmöglichkeit,
so ist kaum vorstellbar, dass er das Nicht-Tun der Rettung nicht akzeptiert. Sind also die
bisherigen drei spezifischen Anforderungen an das Unterlassen€– das Nicht-Tun, das heißt
die Nicht-Körperbewegung bzw. Nicht-Änderung des zusätzlichen inneren Zustands, die
Möglichkeit des Unterlassens und Tuns und das wenigstens rudimentäre Wissen um die
relevanten Aspekte der Situation€– verwirklicht, so sind kaum realistische Fälle denkbar, in
denen man nicht davon ausgehen kann, dass der fragliche Akteur das Nicht-Tun zumin-
dest in einem sehr schwachen Sinn akzeptiert, also zumindest ein rudimentäres Wollen im
Sinne des Handlungselements fünf des Handlungsentschlusses hat.
Die menschliche Psyche ist jedoch vielfach widerspruchsvoll. Und es ist nicht auszu-
schließen, dass der Arzt in der geschilderten Situation tatsächlich glaubhaft beteuern kann,
dass er den A retten wollte. Man kann nun diese Beteuerung bezweifeln und im Rahmen
der strafrechtlichen Bewertung zumindest ein Akzeptieren der Nichtrettung vermuten.

78 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€37╛ff.


142 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Aber beides, Bs Beteuerung und die strafrechtliche Bewertung des vorsätzlichen Unter-
lassens zeigen, dass auch das Unterlassen in gleicher Weise wie das Tun ein zumindest ru-
dimentäres Wollen im Sinne eines Akzeptierens des Unterlassens voraussetzt. Auch beim
Unterlassen kann also das Handlungselement fünf des Wollens nicht ganz wegfallen.
Man kann dieses Ergebnis auch theoretisch rechtfertigen: Die einzelnen Elemente
der Handlung können nur dann zur Handlung als Ganzer beitragen, wenn sie nicht
vollständig von der Natur oder anderen Menschen bestimmt werden. Ein Verhalten,
das reflexhaft oder gänzlich von anderen bestimmt abläuft, ist kein Tun und damit kein
tatsächliches Handeln als taugliches Element sechs der Handlung im weiteren Sinn. Für
ein Unterlassen ist nicht einsehbar, warum diese Anforderung schwächer ausfallen sollte,
warum also ein bloß reflexhaftes oder gänzlich von anderen bestimmtes Nicht-Tun zur
Konstitution des Unterlassens als eine Form des Handelns im Sinne des Handlungsele-
ments sechs ausreichen sollte.
Man könnte nun argumentieren, dass die soeben aufgestellten Bedingungen ja nur
für die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen auf der Basisebene des natür-
lichen Handelns tauglich seien, während auf abstrakteren Ebenen der Handlungska-
tegorisierung die zu Beginn dieses Abschnitts erwähnte normativ geleitete Pluralität
der Verständnisse eines Geschehens herrsche. Aber es gibt gute Gründe, auch für die
übergeordneten Ebenen eine gewisse Einschränkung der normativen Zuordnung zu den
Handlungsalternativen Tun und Unterlassen anzunehmen.
Zum Ersten bleibt die soeben erläuterte Differenzierung auf der Basisebene auch nicht
ohne Bedeutung für die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen auf abstrakÂ�teren
Ebenen, da die Basisebene einschränkend bzw. bestimmend wirkt. Besteht etwa auf der
Basisebene ein Tun, so kann nur eine starke Determination auf einer abstrakteren Ebene
zur Bewertung als Unterlassen führen.
Zum Zweiten liefert die Einbettung des tatsächlichen Handelns als sechstes Element
der sieben Handlungselemente Unterscheidungskriterien. Beim obigen Beispiel stellt
sich etwa die Frage, ob der Handelnde die Absicht hatte, die eigene Insolvenz herbeizu-
führen und sein Leben zu ruinieren oder ob er zumindest fahrlässig gehandelt hat, wie
also die Handlungselemente drei und fünf verfasst sind. Hat er etwa Frau und Kinder, die
er versorgen muss, so sind die beiden abstraktesten Handlungsebenen ethisch und mo-
ralisch bedeutsam, sonst nicht. Der Verzicht auf das Rechtsmittel kann auch aus anderen
Gründen ethisch relevant sein, etwa wenn er mit AlleinverÂ�tretungsmacht ausgestattet war
und dem Mitinhaber seines Unternehmens die Einlegung des Rechtsmittels versprochen
hatte. Dann würde die Bedingung des Versprechens, also ein wichtiger Aspekt des Hand-
lungselements eins, zur Relevanz einer bestimmten Beschreibungsebene des Handelns,
also des Handlungselements sechs führen, nämlich der Relevanz des Handelns als Unter-
lassen der Rechtsmittelverfolgung.
Zum Dritten sind alle sieben Teile der Handlung im weiten Sinn nur insofern mora-
lisch wesentlich, als sich Belange anderer Betroffener auf sie beziehen. Dies gilt natürlich
auch für die verschiedenen möglichen Beschreibungsebenen des Handelns. Für die Frau
und die Kinder des Unternehmers ist es moralisch nicht relevant, dass er seinen Dau-
men und Zeigefinger bewegt oder ein Schriftstück unterzeichnet. Moralisch relevant sind
11. Handeln als Tun und Unterlassen 143

für sie die Insolvenz des Unternehmens und damit der Verlust ihrer ökonomischen Le-
bensgrundlage. Für den Kompagnon ist dagegen der Bruch des Versprechens durch den
Rechtsmittelverzicht und die Insolvenz des Unternehmens relevant, nicht aber€– sofern
es sich nicht um einen Freund oder Verwandten handelt€– der Verlust der wirtschaftli-
chen Basis seines Partners als Individualperson.
In der strafrechtlichen Literatur ist umstritten, ob nur die Körperbewegung,79 der
Energieeinsatz,80 die Kausalität81 oder eine Kombination dieser Aspekte82 bei der Be-
stimmung der Handlungsmodalität wesentlich sein sollen. Die These der Pluralität der
Handlungselemente stützt hier die Berücksichtigung aller möglichen Anknüpfungs-
punkte und€– auf einer zweiten Stufe und erweitert um normative Gesichtspunkte€– die
Auffassung der Rechtsprechung, die zur Abgrenzung bei normativer Betrachtung und
unter Berücksichtigung des sozialen Handlungssinns danach fragt, wo der Schwerpunkt
des strafrechtlich relevanten Verhaltens liegt.83

d) Das Verhältnis zu den Folgen

Zweifelhaft und umstritten sind beim Unterlassen nicht nur das Verhältnis des Hand-
lungselements sechs zu den Handlungselementen eins, zwei sowie drei und fünf, son-
dern auch das Verhältnis zum Handlungselement sieben, also das Verhältnis zu den
Folgen des Handelns. Das Tun erzeugt derartige Folgen im Normalfall kausal.84 Worin
kann dann eine Art Kausalität oder Quasikausalität des Unterlassens liegen?85 Für eine
Antwort sind zwei Einsichten wesentlich. Einerseits wirkt das Unterlassen mangels äu-
ßerer Körperbewegung oder inneren, mentalen Akts auf der Ebene der fundamentals-
ten Beschreibung tatsächlich nicht in gleicher Weise natürlich-kausal im Sinne einer

79 Karl Heinz Gössel, Zur Lehre vom Unterlassungsdelikt, ZStW 96 (1984), S.€321–335, S.€326â•›ff.
80 Joerg Brammsen, Tun oder Unterlassen? Die Bestimmung der strafrechtlichen Verhaltensformen,
Goltdammer’s Archiv (GA) 149 (2002), S.€193–213, S.€200â•›ff.; Karl Engisch, Die Kausalität als Merkmal
der strafrechtlichen Tatbestände, Tübingen 1931, S.€29â•›ff.; ders., Tun und Unterlassen, in: Festschrift für
Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag, hg. von Karl Lackner u.â•›a., Berlin 1973, S.€163–196, S.€170â•›ff.
81 Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31, Rn 78â•›ff.; Erich Samson, Begehung und Unter-
lassung, in: Festschrift für Hans Welzel, hg. von Günther Stratenwerth u.â•›a., Berlin 1974, S.€579–603,
S.€587╛ff.
82 Gunnar Duttge, in: Münchener-Kommentar zum Strafgesetzbuch, München 2003, § 15, Rn. 207; Rolf
D. Herzberg, Die Differenz zwischen Unterlassen und Handeln im Strafrecht, in: Stefan Machura (Hg.),
Recht-Gesellschaft-Kommunikation, Festschrift für Klaus F. Röhl, Baden-Baden 2003, S.€ 270–286,
S.€282, 284.
83 BGH Entscheidungen in Strafsachen Bd. 6, S.€46, S.€59; 40, S.€257, S.€265â•›f.; BGH, Neue Zeitschrift für
Strafrecht (NStZ) 1999, S.€607. Kristian F. Stoffers, Die Formel „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ bei
der Abgrenzung von Tun und Unterlassen?, Berlin 1992.
84 Es stellt sich aber natürlich die Frage, was darunter zu verstehen ist. Ich lasse probabilistische Deutungen
außer Betracht.
85 Vgl. dazu: H.â•›L.â•›A. Hartâ•›/â•›A.â•›M. Honoré, Causation in the Law, 2.€Aufl. Oxford 1985; Dieter Birnbacher,
Tun und Unterlassen, S.€65â•›ff.; Armin Berger, Unterlassungen, S.€165–188.
144 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

�
Energie- bzw. Bewegungsübertragung wie das Tun.86 Andererseits bewertet die Alltags-
auffassung das Unterlassen wie das Tun ohne weitere Zweifel als ursächlich. Die schuld-
haft unterlassene Unwetterwarnung wird etwa als ursächlich für das Schiffsunglück
angesehen, die unterlassene Aufsicht der Eltern als ursächlich für den Sturz des Kindes
vom Balkon. Aber wie kann diese Diskrepanz zwischen natürlich-kausaler Beschreibung
und alltäglicher Beurteilung erklärt und gerechtfertigt werden?
Birnbacher hat einen erweiterten Kausalitätsbegriff vorgeschlagen, bei dem nicht
nur positive Ursachen und Randbedingungen, sondern auch negative Randbedingun-
gen wie das Unterlassen im Rahmen einer für ein Wirkungsereignis w hinreichenden
Gesamtursache als notwendig angesehen werden.87 Danach sind Kausalfaktoren alle
Komponenten von kausal hinreichenden Gesamtursachen, die für sich genommen für
das Wirkungsereignis w nicht kausal hinreichend, aber in dem Sinne nicht-redundant
sind, dass sie aus der Gesamtursache nicht herausgekürzt werden können, ohne ihr
den kausal hinreichenden Charakter zu nehmen. Das Unterlassen, den Ertrinkenden
aus dem See zu ziehen, ist in diesem Sinne im Rahmen der hinreichenden Gesamt-
ursache, die zum Ertrinken führt, eine nicht-redundante Bedingung, denn wenn der
Ertrinkende aus dem Wasser gezogen worden wäre, so wäre das Wirkungsereignis w des
Ertrinkens nicht eingetreten und die anderen Kausalfaktoren wären im Rahmen des
Gesamtgeschehens nicht hinreichend gewesen.
Man kann den Kausalitätsbegriff natürlich in diesem weiten Sinn verstehen, muss
sich aber klar vor Augen führen, dass derartige nicht-redundante, negative Randbe-
dingungen sich von einer Kausalität im engeren Sinn einer Energie- bzw. Bewegungs-
übertragung fundamental unterscheiden. Fasst man den Kausalbegriff in einem derart
weiten Sinn der nicht-re�dun�danten und zusammen hinreichenden Bedingungen, so
bezieht man sich nicht mehr auf eine natürliche Realität, die durch äußere Körperbewe-
gungen und innere mentale Akte zumindest beeinflusst wird, sondern nur noch auf die
abstrakten modallogischen Kategorien der notwendigen bzw. hinreichenden Bedingun-
gen. Diese Erweiterung des Kausalbegriffs lässt die Differenz in der enger verstandenen
Wirksamkeit von Tun und Unterlassen verblassen. Zur Klarstellung der unterschiedli-
chen Begriffsverständnisse erscheint es sinnvoll, dann nicht mehr von Kausalität, son-
dern von „Quasikausalität“ oder von „Zurechnung“ zu sprechen.
Für die normativ-ethische Relevanz des Unterlassens ist es sekundär, ob man es im
Sinne aller notwendigen Elemente einer hinreichenden Gesamtbedingung für vergleich-

86 Vgl. Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€ 66â•›ff., zu einer überzeugenden Kritik aller Versuche
einer Angleichung. Arthur Kaufmann, Die Bedeutung hypothetischer Erfolgsursachen im Strafrecht,
in: Paul Bockelmann (Hg.), Festschrift für Eberhardt Schmidt zum 70. Geburtstag, Göttingen 1961,
S.€200–231.
87 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€73–79, v.â•›a. 77â•›f. Das strafrechtliche Pendant zu dieser Auf-
fassung ist die Lehre von der Kausalität als „gesetzmäßiger Bedingung“. Vgl. Karl Engisch, Die Kausalität
als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, S.€29â•›ff.; Ingeborg Puppe, Der Erfolg und seine kausale Er-
klärung im Strafrecht, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 92 (1980), S.€863–911,
S.€ 895â•›ff., 899â•›ff.; Eric Hilgendorf, Fragen der Kausalität bei Gremienentscheidungen am Beispiel des
Lederspray-Urteils, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 14 (1994), S.€561–566, S.€564; Claus Roxin,
Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31 V, Rn. 42, S.€640.
11. Handeln als Tun und Unterlassen 145

bar kausal hält. Ausreichend für die normativ-ethische Relevanz ist, dass die Verhinderung
der Folgen bzw. Zustände für den fraglichen Akteur möglich war und ihm eine Pflicht zur
Verhinderung eben dieser Folgen bzw. Zustände oblag. Praktisch bedeutsam ist allerdings,
wie hoch die Verhinderungschance des Akteurs gewesen sein muss. Die deutsche Recht-
sprechung fordert für das Strafrecht nach wie vor eine „an Sicherheit grenzende Wahr-
scheinlichkeit“, während für manche Autoren schon eine Risikominderung genügt.88
Birnbacher hat neben den Handlungsformen des Tuns und Unterlassens noch eine
komplexere Handlungsform des „Geschehenlassens“ vorgeschlagen.89 Damit sollen
Unterlassungen bezeichnet werden, welche die Rolle von Ursachen oder Teilursachen
ethisch relevanter Güter oder Übel spielen. Entscheidend sei nicht, dass A es unterlasse,
ins Wasser zu springen, sondern dass der Ertrinkende B nicht gerettet werde. Der Begriff
des „Geschehenlassens“ lenkt den Blick also vor allem auf die Konsequenzen des Unter-
lassens. Dabei soll es dann aber auch ein Geschehenlassen durch Handeln geben, etwa
das Abstellen des Beatmungsgeräts durch den Arzt. Ein solches Geschehenlassen des A
liegt nach Birnbacher immer dann vor, wenn das Handeln eine von A oder einem Ande-
ren initiierte Handlungskette beendet, die ein andernfalls wahrscheinliches Ereignis ver-
hindert, das nicht seinerseits von A verursacht ist, und das Ereignis daraufhin eintritt.90
Dieser Vorschlag begegnet mehreren Bedenken: Das Alltagsverständnis unterschei-
det nicht trennscharf oder auch nur vage zwischen den Begriffen des Unterlassens und
des Geschehenlassens. Das würde zwar noch nicht dagegen sprechen, eine solche neue
Unterscheidung durch die normative Ethik vorzuschlagen. Aber ein Problem liegt darin,
dass der Begriff des Geschehenlassens nicht mehr derart natürlich ist wie die Begriffe des
Tuns und Unterlassens. Er operiert schon auf einer abstrakt-theoretischen, stärker nor-
mativ bestimmten Ebene, suggeriert aber eine faktische Differenzierung auf derselben
Ebene wie Tun und Unterlassen. Im Übrigen ist die besondere Beachtung der Folgen
bereits Ausfluss einer bestimmten ethischen Theorie, nämlich der Theorie des Konse-
quentialismus. Der Begriff ist also schon in starkem Maß theoriebestimmt. Lehnt man
wie hier den Konsequentialismus ab und hält man eine grundsätzlich gleiche Berück-
sichtigung der Handlungselemente im Rahmen einer ethischen Theorie für geboten, so
entfällt ein wesentlicher Grund, die Einführung dieses konsequentialistischen BeÂ�griffs
zu befürworten. Das hindert nicht daran, in bestimmten Fällen, etwa einer unrettbar
tödlichen Krankheit, dem natürlichen Ablauf der Ereignisse eine besondere Bedeutung
bei der Bewertung zuzubilligen, so dass die Nichteinleitung oder der Abbruch der Be-
handlung wertungsmäßig kaum von der handlungstheoretischen Alternative Tun oder
Unterlassen abhängen (vgl. Kapitel€XIV, 2). Aber diese Wertung sollte als solche deut-
lich bleiben und nicht durch Einführung einer weiteren, scheinbar ebenso natürlichen
Handlungskategorie verschleiert werden.

88 Wilhelm Gallas, Studien zum Unterlassungsdelikt, Heidelberg 1989, S.€24╛ff.; Claus Roxin, Strafrecht.
Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31 V, Rn. 46â•›ff., S.€642â•›ff.
89 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€100╛ff.
90 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€114.
146 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Neben den erörterten Handlungselementen eins, drei, fünf und sieben sind natür-
lich alle weiteren Handlungsteile, die beim Tun beteiligt sind, auch beim Unterlassen zu
berücksichtigen. Wie dem Tun liegen etwa auch dem Unterlassen regelmäßig bestimm-
te Wünsche im Sinne des Handlungselements zwei zu Grunde. Und sofern mit dem
Handeln ein bestimmtes Ziel verfolgt wird, muss auch beim Unterlassen eine Zweck-
Mittelauswahl im Sinne des Handlungselements vier erfolgen. Dabei können gleichzeitig
Formen des Tuns und des Unterlassens als mögliche Mittel zur Erreichung des Ziels in
Erwägung gezogen werden. Wer etwa das Ziel hat, seinem Partner zu verdeutlichen, dass
er manche seiner Verhaltensweisen missbilligt, kann entweder das Mittel einer deutli-
chen Erklärung, also eines Tuns, oder das Mittel eines weniger deutlichen Unterlassens
einzelner Aufmerksamkeiten wählen. Beide Mittel haben Vor- und Nachteile. Das Tun
ist eindeutiger, aber auch verletzender und konfliktträchtiger. Das Unterlassen ist weniger
eindeutig, aber auch weniger verletzend und weniger konÂ�fliktträchtig, weil dem Anderen
keine expliziten Vorhaltungen gemacht werden.
Zusammenfassend wird man also davon ausgehen können, dass wie beim Tun auch
beim Unterlassen regelmäßig alle anderen Handlungselemente verwirklicht sind, sofern
sie nicht wegen des speziellen Charakters der Handlung aus- oder zusammenfallen. Es
ist also irreführend, das Unterlassen als „Nichts“ oder als „Nicht-Tun“ zu charakteri-
sieren.91 Das Unterlassen ist vielmehr prinzipiell eine Handlung im weiteren Sinn mit
all den sieben Elementen der normalen Handlung im weiteren Sinn, von denen die
Elemente eins bis fünf sowie sieben denen des Tuns grundsätzlich gleichen, während das
Element sechs verändert ist, aber im Zusammenhang der Gesamthandlung auch nicht
als völlig fehlend angesehen werden kann, da sich die kognitiven Elemente eins, zwei,
drei und fünf auf es beziehen.
Nicht unerwähnt bleiben soll zum Abschluss dieser Erörterung des Unterlassensbe-
griffs, dass einzelne Normordnungen weitere Erfordernisse an das Unterlassen statuieren
können und das auch faktisch tun. So soll im deutschen Recht etwa eine Handlungserwar-
tung als notwendige Voraussetzung des Unterlassens anzunehmen sein.92 Hierbei handelt
es sich aber nicht mehr um allgemeine phänomenologisch-begriffliche Voraussetzungen
der jeweiligen Handlungsform, sondern um zusätzliche normative Anforderungen der
Interpretation einzelner kontingenter Normensysteme. Diese zusätzlichen Anforderun-
gen können systemintern ethisch gerechtfertigt sein oder auch nicht. Sie stellen aber
keine notwendigen Merkmale des allgemeinen Unterlassungsbegriffs dar und müssen
deshalb der Erörterung einzelner Bereichsethiken überlassen bleiben.

91 Im zweiten Sinn: Gustav Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem,
Berlin 1904, S.€140â•›ff.; Armin Kaufmann, Die Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte, Göttingen
1959, S.€87╛ff.; Hans Welzel, Das Deutsche Strafrecht. Eine systematische Darstellung, 11.€Aufl. Berlin
1969, S.€203. Dagegen Bernd Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte.
Zugleich ein Beitrag zur strafrechtlichen Methodenlehre, S.€ 12. Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner
Teil, Bd. II, § 31 II, Rn. 3, S.€628.
92 Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31 I, Rn. 6, S.€629.
11. Handeln als Tun und Unterlassen 147

e) Die Frage nach der ethischen Signifikanz der Unterscheidung

Nachdem Tun und Unterlassen nun zumindest auf einer Basisebene phänomenal un-
terschieden wurden, stellt sich die Frage, ob sie auch ethisch und dann auch moralisch
und rechtlich grundsätzlich unterschiedlich zu bewerten sind93 oder ob die sog. „Äqui-
valenzthese von Tun und Unterlassen“ akzeptabel ist, wonach es keine grundsätzliche
Rechtfertigung für eine normative Differenzierung gibt.
Für den Akteur können die Handlungselemente eins bis drei als Ausdruck seiner
Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele, also seiner Belange, in grundsätzlich glei-
cher Weise zu einem Unterlassen wie zu einem Tun führen. Für den von der Handlung
des Akteurs betroffenen Anderen gilt, dass sich seine Belange nicht nur grundsätzlich
gleich auf alle sieben Handlungselemente des Akteurs, sondern auch gleichermaßen auf
die beiden Alternativen im Rahmen des Elements sechs, also auf Tun und Unterlassen,
richten können. Dabei ist die Differenzierung des Bezugs auf Tun und Unterlassen al-
lerdings in einem konkreten Konflikt grundsätzlich nur von partieller Relevanz, weil
sich die Belange des Anderen prinzipiell nicht nur auf das Element sechs, sondern auf
alle Handlungselemente richten (können). Ein potentielles Opfer will€– wie sich oben
ergab€ – nicht nur vermeiden, dass A es aktiv tötet, sondern auch, dass A dies plant,
die Mittel dazu auswählt, einen Tötungswillen fasst und dann das Ergebnis des Todes
herbeiführt. Ebenso will das potentielle Opfer nicht nur, dass A es aus der Todesgefahr
rettet, sondern auch, dass er die Absicht ausprägt, es zu retten, dass er die Mittel dazu
auswählt, dass er den konkreten Rettungswillen fasst und schließlich den Erfolg der
Rettung herbeiführt. Das bedeutet, dass die Unterscheidung von Tun und Unterlassen
allenfalls dort besonders relevant sein kann, wo das Handlungselement sechs in seinen
beiden unterschiedlichen Modi selbst besonders relevant ist.
Bedeutet dies, dass das Tun gegenüber dem Unterlassen nicht als solches, sondern al-
lenfalls wegen einer faktisch höheren Bedrohungswahrnehmung aufgrund der äußeren
Körperbewegung oder der inneren Veränderung eine strengere Bewertung verdient?94
Oder haben die tatsächlich feststellbaren Unterschiede in der äußeren Körperbewegung
und im inneren, mentalen Akt, also im Element sechs, und dann als Folge im Element
sieben, also der Kausalität im engeren Sinn einer Energie- bzw. Bewegungsübertragung,
eine grundsätzliche ethische Signifikanz? Eine solche grundsätzliche ethische Signifikanz
ist auf einer sehr fundamentalen Ebene in einer bestimmten nicht ganz marginalen,
aber auch nicht sehr prinzipiellen Hinsicht zu konÂ�statieren, ohne als Grundlage für eine
alles entscheidende oder auch nur sehr tief greifende Differenzierung der normativen
Bewertung zu taugen. Trifft der normative Individualismus zu, dann stehen sich in den
potentiellen Konflikten individueller Belange, deren Lösung durch primäre Normen

93 Im Strafrecht wurde dieser Unterschied von einigen Autoren sogar zu einem „Umkehrprinzip“ gesteigert,
wonach das Tun das komplette Gegenteil des Unterlassens sein soll. Vgl. Armin Kaufmann, Die Dog-
matik der unechten Unterlassungsdelikte, S.€87╛ff.; Hans Welzel, Das Deutsche Strafrecht. Eine systema-
tische Darstellung, S.€203. Die weit überwiegende Auffassung lehnt diese Zuspitzung heute jedoch zu
Recht ab. Vgl. etwa Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31 I, Rn. 3, S.€628.
94 So Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€127, 200–212, 231â•›ff.
148 III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

die Ethik zu beurteilen hat, letztlich zwei oder mehrere Individuen gegenüber. Diese
Individuen konstituieren durch ihre Belange mit Wirkung für sich und für alle ande-
ren Räume der Betroffenheit um sich. Die primären und sekundären Normordnungen
von Moral und Recht versuchen, faire Grenzen zwischen diesen Räumen der Betrof-
fenheit zu ziehen. Die äußere Körperbewegung des Tuns kann nun im engeren Sinne
der Kausalität, also im Sinne einer Energie- bzw. Bewegungsübertragung, diese Grenze
der Betroffenheitsräume zwischen den ethisch zu berücksichtigenden Individuen ohne
weitere normative Pflichten eher rein faktisch überschreiten, als dies das Unterlassen
kann. Für die Überschreitung dieser Grenze zwischen den Betroffenheitsräumen durch
Unterlassen muss immer eine Handlungspflicht normiert werden, die von zusätzlichen
Bedingungen abhängt und durch unterschiedliche Normensysteme unterschiedlich
ausgestaltet werden kann. Wenn Ethik, Moral und Recht das Ziel der Vermittlung zwi-
schen möglichen widerstreitenden Belangen haben, dann wird dieses Ziel durch aktives
Tun also tendenziell eher gefährdet als durch Unterlassen. Insofern erscheint das Tun
gegenüber dem Unterlassen prinzipiell ethisch gefahrvoller, weil konfliktträchtiger. Ent-
sprechende prinzipielle Differenzierungen im Rahmen der abstrakten Regeln einzel-
ner Normensysteme wie im Strafrecht sind also gerechtfertigt. Diese Differenzierungen
beruhen aber lediglich auf einer grundsätzlichen Tendenz. Im konkreten Fall€bzw. in
konkretisierten Konflikttypen kann das Unterlassen natürlich einer viel stärkeren Be-
wertung und Verpflichtung unterliegen als das Tun. Das Gebot, einem Verhungernden
Nahrung zu geben, um sein Leben zu retten, ist selbstredend ethisch erheblich gewichti-
ger als das Verbot, ihn zu beleidigen. Entsprechend ist die schärfere Sanktionierung des
Unterlassens, den Verhungernden zu retten, die zumindest Personen mit einer direkten
Garantenpflicht€– etwa Verwandte€– trifft, gerechtfertigt.
Diese abstrakte Bewertung der ethischen Signifikanz von Tun und Unterlassen be-
darf allerdings sofort der Qualifizierung. Man kann feststellen, dass die Unterscheidung
von Tun und Unterlassen in Fällen verschiedener sozialer Distanz unterschiedlich be-
deutsam ist.95 Im absoluten Nahbereich zwischen Personen, also etwa zwischen Mutter
und Kind, und im absoluten Fernbereich, also etwa zwischen Angehörigen verschiede-
ner Kulturen und Generationen ohne persönliche Bekanntschaft, spielt die Unterschei-
dung allenfalls eine geringe Rolle. Nur im mittleren Entfernungsbereich des Verhältnis-
ses zwischen Bekannten, Anwesenden sowie Mitgliedern von Gemeinschaften lässt sich
eine größere Signifikanz konstatieren. Diese Differenzierung kann gut mit Hilfe der
Unterscheidung zwischen den sieben Elementen der Handlung erklärt werden:
In Nähebeziehungen spielen ein bestimmter Aspekt des Handlungselements eins,
eben die Nähebeziehung als äußere Bedingung, und die Bezugnahme der Belange auf
dieses Handlungselement eins eine zentrale Rolle. Alle anderen Bezugnahmen der Be-
lange auf andere Handlungselemente werden dadurch relativiert und zwar offenbar um
so stärker, je weiter sie sich in der Abfolge der Handlungselemente eins bis sieben vom
alles dominierenden Gesichtspunkt der Nähebeziehung als Teil des HandlungsÂ�elements
eins entfernen.

95 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.€21, 306, 312╛ff.


11. Handeln als Tun und Unterlassen 149

Für Fernbeziehungen gilt nun genau das Umgekehrte€– allerdings mit vergleichbarer
Wirkung für das Handlungselement sechs. In Fernbeziehungen ist praktisch ausschließ-
lich relevant, was an Folgen bei den Betroffenen „ankommt“. Entscheidend ist also der
Bezug der Belange auf das Handlungselement sieben der Konsequenzen. Bestimmte
Handlungsbedingungen beim Akteur, seine Wünsche und Gründe, seine Absichten,
seine Mittelwahl, sein Wollen und schließlich die spezifische Form des Handelns spielen
mangels direkter Wahrnehmung der einzelnen Elemente der Handlung durch weit ent-
fernte Betroffene keine wesentliche Rolle. Für die Hungernden in den ärmsten Ländern
der Welt ist es zum Beispiel praktisch wenig relevant, ob die Hebung ihres Lebensstan-
dards seitens der Industrieländer durch aktives Tun€ – etwa durch das Einführen von
Schutzzöllen€– oder durch passives Unterlassen€– etwa das Versäumen von Hilfsliefe-
rungen€– vereitelt wird.
IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw.
Abwägung der divergierenden Belange: Vollständigkeit

Die drei bisher erörterten Elemente einer adäquaten normativen Ethik haben aus den
seienden Dingen dieser Welt diejenigen ausgewählt, die letztlich normativ-ethisch und
damit für eine begründete Moral und andere primäre Normordnungen relevant, das
heißt normativ bedeutsam sind: Individuen mit ihren Eigenschaften der Ziele, Wün-
sche, Bedürfnisse und Strebungen (Belangen bzw. Interessen), die sich auf alle sieben
möglichen Teile einer Handlung im weiten Sinn beziehen können: Bedingungen, Wün-
scheâ•›/â•›Überzeugungen, Ziele, Mittel, Handlungswille, Handlungsausführung, Konse-
quenzen. Da die Moral, wie in der Einleitung vorausgesetzt, die Aufgabe hat, zwischen
potentiell widerstreitenden Belangen zu vermitteln, um unsere Handlungen und Ent-
scheidungen zu bestimmen, muss die normative Ethik nunmehr die Frage beantworten,
ob und wie die in einem potentiellen oder aktuellen Konflikt stehenden Belange zu-
sammengefasst bzw. abgewogen werden können. Sind die in einer Situation relevanten
Belange vollständig gleichlaufend oder sind sie zwar nicht gleichlaufend, können aber
nicht konfligieren, so ist keine Vermittlung durch die Moral nötig und entsprechend
auch keine normativ-ethische Kritik bzw. Rechtfertigung dieser Vermittlung.
Mit diesem vierten Element einer Verbindung potentiell widerstreitender Belange
bzw. Interessen verlässt man das Feld der Eigenschaften und Tatsachen, deren zumin-
dest partiell in Raum oder Zeit lokalisierbare Wirklichkeit mit Bezug auf die tatsächlich
bestehenden Individuen und die tatsächlich bestehende Konfliktsituation vorausgesetzt
werden kann. Man erreicht nunmehr ein Element menschlicher Findung, das heißt des
rekonstruierenden menschlichen Tätigseins. Die in Frage stehende Zusammenfassung
bzw. Abwägung ist€– wie schon die Substantivierungen der Tätigkeitsverben zeigen€–
keine einfache Eigenschaft eines moralisch relevanten Individuums oder des moralischen
Widerstreits, sondern eine Eigenschaft der Lösung dieses Widerstreits. Wir müssen den
moralischen Konflikt lösen€– was, wie sich in Kapitel€VI noch zeigen wird, keinesfalls
impliziert, dass die von uns gefundene Lösung in Weg oder Ergebnis beliebig wäre. Man
denke an die geometrische Teilung eines Kreises in zwei gleich große Hälften. Für die
Teilung ist eine geometrische Konstruktion erforderlich. Aber diese Konstruktion und
ihre Resultate sind keinesfalls beliebig. Es gibt vielmehr einige eindeutig bestimmbare
Wege und nur ein einziges notwendiges Resultat.
Hat man anerkannt, dass es sich bei der Verbindung bzw. Abwägung der in Frage
stehenden Belange um eine menschliche Findung handelt, so stellt sich die Frage nach
deren modalem Status. Fraglich ist also, ob die Verbindung bzw. Abwägung der Belange
möglich, wirklich oder sogar notwendig ist.
1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung 151

Bei dieser modalen Frage könnte man mit der Untersuchung der Notwendigkeit
anfangen. Wäre die Notwendigkeit im Sinne der metaphysisch-ontologischen Notwen-
digkeit gemeint, so würde dies die Bejahung der schwächeren modalen Alternativen
der Wirklichkeit und Möglichkeit implizieren. Weitere Erörterungen zu den anderen
beiden Fragen wären dann nicht mehr nötig. Es ist aber offensichtlich, dass man eine
metaphysisch-ontologische Notwendigkeit der Abwägung, also ein notwendiges Beste-
hen einer Zusammenfassung unter allen Umständen prinzipiell nicht zeigen kann. Bei
der Abwägung handelt es sich um eine menschliche Findung. Und diese ist zwar in ihrer
Ausgestaltung und ihren Ergebnissen nicht beliebig. In ihrer tatsächlichen Durchfüh-
rung steht sie den Menschen aber frei und ist nicht metaphysisch-ontologisch notwen-
dig. Wir können uns prinzipiell eine Welt vorstellen, in der moralische Belange niemals
und von niemandem abgewogen werden, etwa eine Welt der durchgängigen Lösung
moralischer Konflikte mittels physischer Gewalt. Eine solche Welt wäre nicht wün-
schenswert und moralisch wie ethisch verwerflich, aber sie ist metaphysisch-ontologisch
nicht unmöglich. Ist dies aber so, dann muss umgekehrt vorgegangen und es müssen
zunächst die Möglichkeit und Wirklichkeit der Abwägung gezeigt werden, um danach
noch einmal zu fragen, was die Notwendigkeit im vorliegenden Zusammenhang ande-
res als metaphysisch-ontoÂ�logische Notwendigkeit heißen könnte.

1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung

Verschiedentlich bezweifelt wird bereits die Möglichkeit einer Zusammenfassung wi-


derstreitender Belange im Einzelfall oder zumindest die Verallgemeinerung einer sol-
chen Zusammenfassung zu einem abstrakten Prinzip, das als Element einer normativen
Ethik tauglich wäre. Eine Begründung für diese Zweifel lautet, dass die Belange bzw.
Interessen der Betroffenen grundsätzlich unvergleichbar sind. Sollten die Belange bzw.
Interessen der in einem moralischen Konflikt betroffenen Individuen tatsächlich grund-
sätzlich unvergleichbar sein, so wäre eine rationale moralische bzw. normativ-ethische
Zusammenfassung unmöglich.

a) Der Einwand der Unvergleichbarkeit

Zur Frage der Unvergleichbarkeit („incommensurability“â•›/â•›„incompaÂ�raÂ�bility“) hat sich


eine verzweigte Diskussion entwickelt.1 Dabei fällt auf, dass regelmäßig die Unver-
gleichbarkeit von „Werten“ oder „Optionen“ in Frage gestellt wird,2 und zwar nicht
nur interpersonal in moralischen Konfliktsituationen, sondern auch und vor allem in-

1 Vgl. Ruth Chang (Hg.), Incommensurability, Incomparability, and Practical Reason, Harvard 1997.
2 Ruth Chang, Incommensurability, Incomparability, and Practical Reason. Introduction, S.€1╛ff.; Joseph
Raz, The Morality of Freedom, S.€ 322╛ff.; James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and
Moral Importance, S.€79╛ff.
152 IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange

trapersonal im Fall von Entscheidungen des guten Lebens. So wird etwa gefragt, ob es
unvergleichbar ist, eine Karriere als Arzt oder als Klarinettist zu wählen. Es dürfte nach
den bisherigen Überlegungen zur Berücksichtigung Anderer einleuchtend sein, dass für
die Frage der Moral vor allem die interpersonale Unvergleichbarkeit in Rede steht. Ob
in Konflikt stehende Interessen jeweils intrapersonal unvergleichbar sind, kann für den
moralischen Konflikt nur eine Rolle spielen, wenn man die abzulehnenden Pflichten
gegen sich selbst bejaht (vgl. VIII). Im Folgenden wird im Vorgriff auf diese Ablehnung
der Pflichten gegen sich selbst vom unbe�streitbaren moralischen Hauptfall potentiell
widerstreitender Belange zwischen mehreren Individuen ausgegangen. Dann fällt aber
ein wesentlicher Einwand,3 das Problem der mangelnden Transitivität von Interessen
innerhalb eines einzigen Interessenträgers, von vornherein weg.
Versteht man den moralischen Konflikt letztlich als Widerstreit der betroffenen In-
dividuen mit ihren Belangen und Interessen, so kann es€– dies sollte man sich vorab
vergegenwärtigen€– bei der fraglichen Unvergleichbarkeit zumindest im Falle des mo-
ralischen Konflikts nicht primär um Werte gehen. Es geht vielmehr um Ziele, Wün-
sche, Bedürfnisse und Strebungen, also um Belange bzw. Interessen. Manchmal werden
hinter den Zielen und Wünschen zwar auch Wertungen bzw. Werte stehen. Aber für
Strebungen ist das auszuschließen und für Bedürfnisse zweifelhaft. Und selbst wenn den
Zielen, Wünschen und Bedürfnissen Werte zu Grunde liegen, so müssen diese nicht wie
die Interessen konfliÂ�gieren. So mögen etwa zwei Personen gleichermaßen den Wert der
Freiheit bejahen und trotzdem im Falle einer Beleidigung über die Grenze zwischen der
Freiheit der Rede und der Freiheit der Ehre ganz verschiedener Meinung sein. Und um-
gekehrt lässt sich das gleiche Interesse an der Freiheit der Rede mit Hilfe unterschiedli-
cher Werte begründen, etwa den Werten der Freiheit, der Gleichheit, des Friedens usw.
Werte bzw. Wertungen sind regelmäßig abstrakter und weit weniger handlungsbezogen,
während Belange bzw. Interessen konkreter und handlungsbezogener sind und regelmä-
ßig direkt in einen Widerstreit geraten, sofern sie in einer Situation divergieren. Solange
zwei Personen über Werte uneins sind, liegt noch kein moralischer Konflikt vor, son-
dern eine abstrakte Meinungsverschiedenheit der Weltanschauung. Erst, wenn sich aus
den Werten, seien sie nun von beiden geteilt oder nicht, widerstreitende Belange bzw.
Interessen ergeben, die handlungsrelevant werden und sich in unterschiedlichen Wil-
lensäußerungen ausprägen, setzt der moralische Widerstreit ein. Die moralische Kon-
fliktlösung muss deshalb zunächst bei Belangen bzw. Interessen ihren Ausgangspunkt
nehmen, wenn auch bei der Abwägung Werte indirekt eine Rolle spielen können.
Man kann zwischen kardinaler und ordinaler Unvergleichbarkeit unterscheiden,
also zwischen der Unvergleichbarkeit im Sinne einer quantitativen Skala (sog. „incom-
mensurability“) und Unvergleichbarkeit im Sinne einer Besser-schlechter-Reihung (sog.
„incomparability“).4 Ein kardinaler Vergleich von Interessen mag im Einzelfall möglich
sein, etwa wenn bei einer Versteigerung ein Bieter €â•›1000 für ein Kunstwerk bietet und
der andere €â•›1100, sofern man annimmt, dass diese Gebote jeweils auch das kardinale

3 Joseph Raz, The Morality of Freedom, S.€325╛ff.


4 Ruth Chang, Incommensurability, Incomparability, and Practical Reason. Introduction, S.€1╛ff.
1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung 153

Verhältnis der Belange ausdrücken. Und aus Gründen der ExaktÂ�heit und rationalen
Nachvollziehbarkeit wird man einen derartigen kardinalen Vergleich auch regelmäßig
als wünschenswert ansehen, sofern er erreichbar ist. Aber die Annahme, die kardinale
Vergleichbarkeit wäre in moralischen Konflikten immer oder auch nur regelmäßig mög-
lich, ist nicht zu rechtfertigen. Alle Versuche, ein gemeinsames Maß, etwa der Überset-
zung in Geldeinheiten, zu finden, sind bisher unbefriedigend geblieben. So sind etwa
die Interessen, eine Freundschaft zu erhalten und seine Ehre zu bewahren, niemals in
Geldeinheiten übersetzbar, weil sowohl der Belang der Freundschaft als auch der Belang
der Ehre jede monetäre Bewertung ausschließen. Wer danach fragt, wie viel ihm jemand
zahlen würde, um die Freundschaft zu erhalten oder die Ehre zu bewahren, hat bereits
gezeigt, dass genuine Freundschaft bzw. Ehre nicht in Rede steht.
Für die moralische Konfliktlösung und die dazu nötige Vergleichbarkeit der Inter-
essen genügt aber eine bloße Besser-schlechter-Reihung der Belange, also ihre ordinale
Vergleichbarkeit. Es reicht aus, festzustellen, dass es moralisch besser ist, dass A die B
nicht beleidigt, um den moralischen Konflikt zwischen beiden zu lösen. Um wie viel
es quantitativ besser ist, spielt für die moralische Konfliktlösung zumindest in derart
einfachen Fällen keine Rolle. Im Folgenden wird die Frage der Möglichkeit oder Un-
möglichkeit eines Vergleichs deshalb in ihrer schwächeren Deutung der Besser-schlech-
ter-Reihung, also der ordinalen Vergleichbarkeit (sog. „comparability“ oder „incompa-
rability“) gestellt. Dabei soll aus den eben erwähnten Gründen nicht versucht werden,
Einwände gegen die Vergleichbarkeit zu widerlegen, die sich auf einen Vergleich von
Werten beziehen. Es soll vielmehr verdeutlicht werden, wie der Vergleich moralisch
relevanter Belange aussehen kann.

b) Der gemeinsame Referenzpunkt

Die Tatsache des moralischen Widerstreits führt zunächst anders als bei möglichen Ver-
gleichen des guten Lebens dazu, dass mit dem Gegenstand des Konflikts jedenfalls ein
gemeinsamer Vergleichspunkt der widerstreitenden Belange vorhanden ist. Liegen Han-
delnder und Betroffener in einem moralischen Konflikt€– im sehr weiten Sinn potenti-
ellen Widerstreits€– so muss sich dieser Konflikt auf die gemeinsame Frage des Konflikts
beziehen, nämlich die Frage der Gebotenheit, Verbotenheit, Erlaubtheit oder Freistellung
der fraglichen Handlung des Akteurs, zum Beispiel der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit
einer Beleidigung des Betroffenen. Ohne gemeinsamen Kon�fliktpunkt gibt es keinen
Widerstreit und damit keine Moral und dann auch kein Problem der interpersonalen
moralischen Vergleichbarkeit und der ethischen Begründung. Existiert aber ein gemein-
samer Punkt des Konflikts und damit ein gemeinsamer Relationspunkt, auf den sich
die widerstreitenden Belange bzw. Interessen beziehen, so können€– das wird sogleich
gezeigt€– die widerstreitenden Interessen nicht vollständig unvergleichbar sein.
Der gemeinsame Referenzpunkt des Konflikts ist zunächst ein faktischer, etwa die
potentielle Beleidigung des B seitens des A. Jenseits dieses gemeinsamen faktischen Re-
ferenzpunkts setzt aber jeder moralische Vergleich auch einen gemeinsamen normativen
154 IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange

Referenzpunkt voraus.5 Widerstreitende Belange müssen im Hinblick auf eine gemeinsa-


me Wertung vergleichbar sein. Aber welche kommt dafür in Frage? Die ultimative Wer-
tung des Vergleichs ist die Wichtigkeit bzw. Gewichtigkeit der in Rede stehenden Belange.
Ein Widerstreit zwischen zwei Belangen bzw. Interessen wird dadurch zusammengefasst,
abgewogen und entschieden, dass begründet behauptet werden kann, dass der eine Be-
lang wichtiger als der andere ist. Unabhängig von der natürlich nicht ganz einfachen,
umstrittenen und noch zu erörternden Frage, was unter der „Wichtigkeit“ eines Belangs
zu verstehen ist, lassen sich bereits an dieser Stelle einige Unterscheidungen treffen:
Zunächst gilt, dass im Hinblick auf die Relation der Wichtigkeit zwischen zwei
Belangen A und B genau zwei Typen von Lösungen möglich sind. Beide Belange kön-
nen entweder (1) gleich wichtig sein oder (2) ein Belang kann wichtiger als der andere
sein, wobei sich im letzteren Fall dann wiederum zwei Möglichkeiten ergeben: A kann
wichtiger sein als B oder B wichtiger als A. Aber die letztere Unterscheidung ist für
die prinzipielle Erörterung irrelevant. Beide Hauptmöglichkeiten sollen nun diskutiert
werden, wobei vorausgesetzt wird, dass überhaupt ein moralischer Konflikt besteht, dass
also beide Belange nicht gleich laufen oder zugleich voll zu verwirklichen sind:

(1) Sind in einem Konflikt beide Belange gleich wichtig, dann gibt es nur zwei Möglich-
keiten:

(a) Beide Belange sind zugleich realisierbar, aber nur teilweise, das Resultat der Befrie-
digungshandlung ist also teilbar. Beispiel: Zwei gleich Durstige finden gleichzeitig eine
Oase mit einer sehr kleinen Wasserquelle. Dann müssen die Belange beider jeweils zur
Hälfte befriedigt werden. Das bedeutet: Beide dürfen je zur Hälfte aus der Quelle trin-
ken, was allerdings ihren Durst nicht vollständig stillen kann (sonst läge ja gar kein
moralischer Konflikt vor).

(b) Beide Belange sind nicht zugleich realisierbar, das Resultat der Befriedigungshand-
lung ist also nicht teilbar. Beispiel: A und B benötigen in gleicher Weise eine lebens-
rettende Notfallbehandlung, die aber nur einmal verfügbar ist. In solchen Fällen kann
es keine ethisch begründete Entscheidung geben und man muss entweder eine ethisch
unbegründete Entscheidung nach Neigungsgesichtspunkten treffen oder losen. Die An-
wendung des Prioritätsprinzips wäre hier auch eine Form der ethisch unbegründeten
Entscheidung, denn es ist sachlich irrelevant, wer die Notfallbehandlung zuerst benötigt
hat. Das bloße zeitliche Auseinanderfallen der Belange determiniert in diesem Fall nicht
ihre Wichtigkeit.
Anders ist die Situation, wenn etwa A und B beide die letzte Theaterkarte wollen.
Dann wird man das Prioritätsprinzip anwenden und die Karte dem überlassen, der sich
früher angestellt hat. Das zeitigere Anstellen ist in diesem Fall ein gewisses Indiz dafür,
dass die Interessen doch nicht gleich wichtig sind. Wer sich eher um Karten bemüht,

5 Dies betont Ruth Chang, Incommensurability, Incomparability and Practical Reason. Introduction, S.€6,
zu Recht.
1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung 155

hat in der Regel einen stärkeren Wunsch, das Theaterstück zu sehen. Es liegt also in
Wirklichkeit der andere Fall ungleich wichtiger Belange vor.

(2) Sind beide Belange nicht gleich wichtig, dann gibt es wiederum nur zwei Möglichkeiten:

(a) Beide Belange sind nicht zugleich realisierbar, das Resultat der Befriedigungshand-
lung ist also nicht teilbar. Beispiel: A und B benötigen eine Notfallbehandlung, die nur
einmal verfügbar ist. Diese Notfallbehandlung ist bei A notwendig, um sein Leben zu
retten, bei B, der nicht in Lebensgefahr schwebt, ist sie nur notwendig, um schneller
gesund zu werden. In derartigen Konflikten ist eindeutig, dass der wichtigere Belang
verwirklicht werden muss, also€– weitere Gesichtspunkte einmal außen vor gelassen€– A
die Notfallbehandlung zu erhalten hat. Dies ist bereits begrifflich notwendig, wenn man
entschieden hat, welcher Belang wichtiger ist, denn „wichtiger“ impliziert notwendig
„prinzipiell bevorzugt zu verwirklichen“.

(b) Beide Belange sind zugleich befriedigbar, das Resultat der Befriedigungshandlung ist
also teilbar. Beispiel: Zwei unterschiedlich Durstige finden gleichzeitig eine sehr kleine
Quelle in einer Oase. Dann muss die unterschiedliche Wichtigkeit der Belange zu ihrer
unterschiedlichen Berücksichtigung führen.

c) Der Bewertungsmaßstab der Wichtigkeit

Wie lässt sich nun der Bewertungsmaßstab der Wichtigkeit verstehen? Dafür gibt es zwei
grundsätzliche Alternativen: eine subjektive und eine objektive.
Die subjektive Interpretation sieht für die Wichtigkeit den jeweiligen Träger des zu
bewertenden Belangs selbst als entscheidend an, die objektive Interpretation Andere, sei-
en es reale andere Personen oder der Träger des Belangs von einem fiktiven unpartei-
ischen Standpunkt. Das Prinzip des normativen Individualismus scheint es zunächst
nahezulegen, nicht nur die primären Interessen, sondern vor allem auch die sekundären
Interessen der Betroffenen an diesen primären Interessen, also die jeweils eigene Be-
wertung der eigenen Belange auf einer sekundären Ebene heranzuziehen. Gegen die
Annahme, dass diese subjektive Interpretation der Wichtigkeit der Belange ausschlagge-
bend sein soll, spricht aber folgendes Argument: Dann könnte sich der Einzelne durch
die Entwicklung besonderer sekundärer Interessen an den eigenen primären Interessen
einen Sondervorteil in der Abwägung verschaffen. Die Abwägung wäre subjektiv beein-
flussbar und würde keine faire Vermittlung zwischen den primären Interessen der Indi-
viduen mehr bedeuten. Ließe man zu, dass der Träger eines Interesses selbst bestimmt,
wie wichtig dieses Interesse in der Abwägung mit anderen Interessen ist, so könnte jeder
die Abwägung beliebig für sich entscheiden und die anderen Betroffenen hätten im
Konflikt das Nachsehen, oder€– falls sie ihren Belangen ebenfalls eine besondere Wich-
tigkeit zuerkennen€– es würde eine Konkurrenz der Bewertungen der jeweils eigenen
Belange auf der Metaebene entstehen. Jeder würde den Anderen mit seiner Bewertung
156 IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange

zu übertrumpfen suchen. Beide Alternativen führen nicht zu einer akzeptablen Lösung


des moralischen Konflikts. Die subjektive Interpretation der Wichtigkeit von Belangen
kann also nicht ausschlaggebend sein.
Somit muss die objektive Interpretation der Wichtigkeit entscheiden. Im Folgenden
wird genauer zu fragen sein, was das heißt. Nicht ausgeschlossen ist damit jedenfalls, dass
subjektive Bewertungen der eigenen Belange durch die jeweils Betroffenen eine gewisse,
wenn auch beschränkte Rolle spielen können. Denn für diese beschränkte Rolle gibt es
ein gewichtiges Argument: Verlangt das Prinzip des normativen Individualismus, dass
die Individuen beim zweiten Element der rechtfertigenden Eigenschaft im Prinzip selbst
entscheiden, welche Eigenschaften für sie wesentlich sind, ist also ein gewisses Maß an in-
dividueller Normativität notwendig, um zu einer ethischen Rechtfertigung zu gelangen,
so ist nicht einzusehen, warum zwar die Wünsche auf der ersten Ebene, nicht aber die
Wünsche bzw. Bewertungen auf der zweiten Ebene bezüglich der Bedürfnisse, Wünsche
und Ziele auf der ersten Ebene eine Rolle spielen sollen. Die Menschenwürde war ja
genau derart verstanden worden. Der subjektiven Bewertung eines Belangs als wichtig
kommt also eine gewisse, gleich noch näher zu erläuternde Bedeutung der Verstärkung
bzw. Abschwächung der grundsätzlich objektiv zu interpretierenden Wichtigkeit zu.
Wie kann nun die objektive Bewertung der Wichtigkeit genauer verstanden werden?
Die jeweils in einem moralischen Widerstreit befindlichen Betroffenen, im einfachsten
Fall ein Akteur und ein Anderer, konstituieren, sieht man von Pflichten gegen sich selbst
ab, um sich einen Quasi-Raum ihrer Belange und InÂ�teressen und demgemäß der Betrof-
fenheit: einen Betroffenheitsraum.6 Dieser Quasi-Raum ihrer Interessen mani�festiert sich
teilweise tatsächlich räumlich, etwa im eiÂ�genen Zimmer, in der eigenen Wohnung, im
eige�nen Auto, am eigenen Ar�beitsplatz. Entscheidend ist dabei nicht das rechtliche Ei�
gen�tum, sondern die Konstituie�rung des je eigenen Belang- bzw. Inter�essenbereichs. Sie
drückt sich etwa in dem Satz „My home is my castle“ metaphoriÂ�sch aus. Natürlich sind
solche Räume auch Sozialräume. Und wir belächeln denjenigen, der dies nicht wahrhaÂ�
ben will. Aber im Kern pochen wir auf die Beachtung der Individualzuordnung. Der Ver-
mieter darf etwa die Wohnung des Mieters nicht ohne dessen Zustimmung betreten.
Entscheidend ist nun, dass den Belangen bzw. Interessen im Betroffenheitsraum je-
weils unter�schiedliche objektive Wichtigkeit zu�gemessen wird. Man kann insofern gene-
ralisierend von einer zwiebelartigen Struktur mit einem Kernbereich und verschiede�nen
radialen Schalen sprechen. Den Kern des BeÂ�troffenÂ�heitsÂ�raums bilden regelmäßig Leben
und Würde, wobei das Verhältnis dieser Kerninteressen bei verÂ�schiedenen Menschen
unterschiedlich ausgeÂ�prägt ist. Eine extreme Persönlichkeit ist in dieser Hinsicht etwa
der Selbstmörder. Er verzichtet auf sein Leben. Konstatieren lässt sich darüber hinaus,
dass die empirisch-statistisch feststellbaren Unter�schie��de gra�duell zunehmen, je weiter
die Interessen an den Randbereich des je eigenen BeÂ�troffenÂ�Â�heitsraums rücken. RapmuÂ�
sik-Beschallung durch sog. Ghettoblaster auf Straßen und in öffentlichen Verkehrsmit-
teln empfindet der Eine als exÂ�trem störend und als reine Lärmbelästigung, wähÂ�rend der

6 Vgl. zu den folgenden Überlegungen bereits: Verf., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen
Verhaltens gegenüber der Natur, S.€221â•›ff.
1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung 157

Andere sie als Ausdruck pulsierender Lebensfreude willkommen heißt. Die Gefährdun-
gen des modernen Straßenverkehrs ängstigt die Eine furchtbar, während die Andere sie
als Herausforderung der mobilen Gesellschaft begreift.
Das Modell wird weiter verkompliziert, weil sich die individuelÂ�len Betroffenheitsräu-
me an verschiedenen Stellen auch ohne irgendwelche usurpierenden Aktionen schein-
bar untrennbar überlappen. Dies ist in jedem Alltagsgespräch der Fall, wenn etwa A
etwas sagen möchte, was B nicht hören will. Man sollte derartige Fälle der Überlappung
aber nicht überbewerten. Sie stellen nur einen Teil der Interaktionssituationen dar. Und
auch bei diesem Teil lässt sich eine zumindest tentative Grenze der Betroffenheitsräume
markieren. Man muss Anderen zwar zuhören, wenn sie etwas sagen. Aber es gibt kei-
ne grundsätzliche Verpflichtung, Gespräche immer und überall zu führen oder endlos
weiterzuführen. Jeder darf ein GeÂ�spräch, das seine Belange mehr als nur marginal beein-
trächtigt, (höflich) beenden und damit auch die ÜberÂ�lapÂ�pung der Betroffenheitsräume.
Solange jeder Akteur seine Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen zu erreichen
bzw. zu befriedigen sucht, ohne in den Betroffenheitsraum des Anderen einzudringen,
bleiben die jeÂ�weiÂ�ligen Interessen des Anderen und ihre Verfolgung bloßes Faktum. Man
beobachtet, dass der Andere atmet, isst, trinkt, schläft usw. Sobald ein Akteur aber die
Grenze zum Betroffenheitsraum des Anderen überschreitet, ergeben sich für beide nor-
mative Wirkungen. Solange sich etwa beide Akteure nur aus ihrem eigenen Kühlschrank
versorgen, bleibt dies für den je anderen eine bloß äußerliche Tatsache. Sobald ein Akteur
aber den Kühlschrank des Anderen leert, zwingt er den Betroffenen durch sein Verhalten
zur Duldung. Dieser muss in seiner InteressenÂ�verfolgung zurückstehen. Gleichzeitig sieht
sich aber auch der Akteur einer Präskription gegenüber. Die Belange des betroffenen An-
deren weisen ihn ab. Eine spezielle Form der Überschreitung der BeÂ�troffenÂ�heitsgrenze
der Belange zwischen Akteuren ist die explizite verbale Aufforderung zu einem Tun oder
Unter�lassen. Der Andere wird zu einem bestimmten Ver�halten verpflichtet und muss auf
die ent��sprechende Entfaltung seiner eigenen Belange verzichten.
In der möglichen normativen Wirkung des Überschreitens der Betroffenheitsgrenze
des Anderen durch tatÂ�sächliches Verhalten oder verbale Vorschriften liegt der Grund
für die Suche nach normaÂ�tiv-ethischen RechtÂ�fertigungen: Der Betroffene verwehrt die
ÜberÂ�schreitung der Betroffenheitsgrenze und sucht dafür€– falls er selbst kognitiv dazu
in der Lage ist€– nach Rechtfertigungen. Der Akteur will diese Grenze nicht anerkennen
und sucht seinerÂ�seits nach Rechtfertigungen für ihre ÜberÂ�schreitung. Diese Konstituti-
on und Abwägung jeweiliger Betroffenheitsräume ist eine, für die gute Gründe bestehen
können und die deshalb objektiv zu beurteilen ist. Es ist nicht ersichtlich, warum es für
die relative Wichtigkeit der Belange keine derartigen guten Gründe geben sollte. Wir er-
kennen derartige gute Gründe täglich an, etwa wenn wir das Interesse am Schutz des Le-
bens marginalen ökonomischen Vorteilen überordnen. Natürlich mag es in Grenzfällen
Meinungsverschiedenheiten geben. Aber sie sind nicht Ausdruck einer grundsätzlichen
Unmöglichkeit, die relative Wichtigkeit von Belangen mit guten Gründen zu bewerten,
sondern entweder Ergebnis eines vollständigen oder annähernden Patts der Wichtigkeit
oder eine Frage der Wahl des richtigen inhaltlichen Abwägungsprinzips, die im nächs-
ten Kapitel€beim fünften Element der normativen Ethik noch zu erörtern sein wird.
158 IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange

d) Arrows Unmöglichkeitstheorem

Steht der Möglichkeit einer Abwägung der in einer Situation widerstreitenden Belange
das von Kenneth Arrow formulierte sog. Unmöglichkeitstheorem entgegen, sofern man es
auf das hier vorgeschlagene Modell der Abwägung von Belangen übertragen kann? Nach
dem Unmöglichkeitstheorem lassen sich indiviÂ�duelle Präferenzordnungen nicht in eine
den logischen Bedingungen der ReÂ�flexivität, Transitivität und VollÂ�ständigkeit genügen-
den kollektiven Wohlfahrtsfunktion€– also eine Gemeinschaftsentscheidung€– integrie-
ren, wenn drei BeÂ�dingungen erfüllt sind: (1) der Ausschluss der Diktatur, das heißt, es darf
kein Individuum geben, dessen sämtliche strikÂ�te PräÂ�feÂ�renÂ�zen die kolÂ�lektiven strikten Prä-
ferenzen determinieren; (2) das Paretoprinzip, das heißt, wenn alle Individuen einer Ge-
meinschaft eine strikte Präferenz haben, so muss sich auch eiÂ�ne gleichlautende kollekÂ�tive
strikte Präferenz ergeben; (3) die UnabÂ�hängigÂ�keit von irreÂ�leÂ�Â�vanÂ�ten Alternativen, das heißt,
das kollektive Resultat für eine PräfeÂ�renz darf nur von den individuellen Entscheidungen
hinÂ�sichtlich dieser spezifischen PräfeÂ�renz abÂ�hängig sein, nicht von anderen Präferenzen.7
Das Unmöglichkeitstheorem von Arrow setzt mindestens drei Entscheidungsbeteiligte
und drei Entscheidungsalternativen voraus.8 Bereits diese Voraussetzung verhindert seine
Anwendbarkeit auf die meisten moralischen Konflikte der Individualethik, weil entweder
nur zwei Personen betroffen sind oder nur zwei Handlungsalternativen in Rede stehen.
Nur in Fällen mit drei oder mehr Betroffenen und drei oder mehr Entscheidungsalterna-
tiven kann das Unmöglichkeitstheorem also überhaupt zur Anwendung kommen. Dann
erfordert es aber des Weiteren die Übernahme des Präferenzbegriffs. Der Präferenzbegriff
wurde oben in Kapitel€II, 5 bereits als problematisch kritisiert. Ob das Theorem auch für
Belange bzw. Interessen gilt, ist fraglich und müsste detailliert untersucht werden, was
hier nicht geleistet werden kann.9 Schließlich verlangt das Unmöglichkeitstheorem, dass
die individuellen Präferenzen in Form einer Ordnung vorliegen, also reflexiv, vollständig
und transitiv sind. Das ist jedoch für empirisch erfahrbare Präferenzen unrealistisch.10
Aber selbst wenn in einer moralischen Konfliktsituation individuelle Präferenzordnun-
gen gegeben wären, so gälte, dass die dritte Bedingung des Theorems, also die Bedingung
der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen, durch die inhaltlich differenzierende
Gewichtung der Interessen bzw. Präferenzen seitens einer normativ-ethischen Begrün-
dung konterkariert wird. Das fünfte Element der Abwägung bzw. die im nächsten Ka-
pitel€entfaltete normativ-ethische Theorie führt gerade zu einer solchen inhaltlich diffe-
renzierenden Gewichtung. Für die politische Ethik und die Rechtsethik wurde das an

7 Vgl. Kenneth J. Arrow, Social Choice and Individual Values, S.€46╛ff.; Amartya K. Sen, Collective Choice
and Social Welfare, S.€ 37â•›ff.; Lucian Kernâ•›/â•›Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen,
S.€32â•›ff. Arrow hatte das Theorem ursprünglich „possibility theorem“ genannt und war von fünf Bedin-
gungen ausgegangen. Ich folge hier der moderneren Darstellung in Lucian Kernâ•›/â•›Julian Nida-Rümelin,
Logik kollektiver Entscheidungen.
8 Lucian Kernâ•›/â•›Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, S.€27.
9 Vgl. für eine Übertragung auf den, vom Interessenbegriff zu unterscheidenden allgemeinen Nutzenbe-
griff: John E. Roemer, Theories of Distributive Justice, Cambridge 1996, S.€4, 14╛ff. und passim.
10 Vgl. die obige Kritik in Kapitel€II, 5.
2. Die Wirklichkeit einer Zusammenfassung 159

anderer Stelle genauer gezeigt.11 Darauf soll hier verwiesen werden. Als Ergebnis bleibt
festzuhalten, dass das Unmöglichkeitstheorem von Arrow die Zusammenfassung und
Abwägung der Belange im Rahmen einer inhaltlich gehaltvollen, die individuellen Be-
lange gewichtenden normativen Ethik nicht generell ausschließt.

2. Die Wirklichkeit einer Zusammenfassung

Die Wirklichkeit der Zusammenfassung bzw. Abwägung individueller Belange lässt sich
als empirisches Faktum konstatieren. Wir lernen von klein auf, unsere eigenen Belange
im Hinblick auf weitere eigene Belange und die Belange Anderer einzuschränken. Wir
verzichten etwa darauf, Andere zu gefährden, zu belästigen, zu schädigen usw. Wir ma-
chen keinen Lärm, damit kleine Kinder schlafen können. Wir unterstützen Hungernde.
Wir helfen Verletzten in Notfällen. In all diesen Situationen stellen wir eigene, weniger
wichtige Belange gegenüber den wichtigeren Belangen Anderer zurück. Die Realität
derartiger Abwägungen ist also empirisch nicht bestreitbar.
Dies impliziert allerdings nicht, dass in allen Situationen, in denen ein moralischer
Konflikt besteht, der Akteur dann auch tatsächlich abwägt oder, falls er abwägt, dass er
das in gut begründeter Art und Weise tut, denn die Missachtung moralischer Anforde-
rungen ist ubiquitär. Es impliziert auch nicht notwendig, dass jeder einzelne Handelnde
wenigstens von Fall zu Fall abwägt. Der vollständige Amoralist ist prinzipiell denkbar,
wenn auch praktisch kaum real. Selbst der größte Verbrecher nimmt regelmäßig Rück-
sicht auf andere Lebewesen.

3. Die Notwendigkeit einer Zusammenfassung

Eine metaphysisch-ontologische Notwendigkeit der Zusammenfassung der individuel-


len Belange ist auszuschließen. Das war das Ergebnis der ersten Abschnitte dieses Kapi-
tels. Was kann dann aber anderes unter der „Notwendigkeit“ einer Zusammenfassung
der Belange verstanden werden? Notwendigkeit meint hier praktische Gefordertheit, das
heißt normative Notwendigkeit zur Erreichung einer moralischen oder sonstigen pri-
mären Konfliktlösung.
Wenn erstens die Individuen mit ihren Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebun-
gen, also ihren Belangen bzw. Interessen, die letzte normative Quelle der Ethik und Moral
sind, wie dies der normative Individualismus annimmt, und diese Interessen zweitens im
Rahmen eines jeden moralischen Konflikts unabdingbar wenigstens potentiell im Wider-
streit stehen, so ist zur KonÂ�fliktlösung für jede Ethik und Moral eine Zusammenfassung
der Interessen notwendig, und zwar in jedem Einzelfall, zum Zweck der Rechtfertigung
aber auch allgemein. Moral und Ethik bestehen wesentlich und unabdingbar in einer sol-
chen Zusammenfassung. Sie erfordern begrifflich notwendig eine Konfliktlösung. Da die-

11 Verf., Rechtsethik, S.€503╛ff.


160 IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange

se Konfliktlösung aber nachhaltig und legitim nur mittels der Zusammenfassung der Inte-
ressen gelingt, folgt die normative Notwendigkeit einer derartigen Zusammenfassung.
Zur Rechtfertigung der Moral und zur Konstruktion der Ethik müssen die konkre-
ten Zusammenfassungen in einzelnen Konflikten zu einem Prinzip der Zusammenfas-
sung vereint werden. Dabei sollte man sich aber darüber im Klaren sein, dass sowohl
der tatsächliche Konflikt der konkret betroffenen Individuen als auch die tatsächlichen
Belange mit ihrer normativen Kraft nur im konkreten Fall bestehen. Die Normativität
der Belange erwächst also ausschließlich aus konÂ�kreten Eigenschaften im Einzelfall.
Das Allprinzip des normativen Individualismus entfaltet eine negative Dimension.
Es gilt nicht bloß, dass alle Betroffenen zu berücksichtigen sind, sondern auch, dass nur
alle Betroffenen zu berücksichtigen sind. Wer von einem moralischen Konflikt nicht be-
troffen ist, also keine eigenen Belange geltend machen kann, kann nicht erwarten, dass
seine bloß abstrakte Meinung zu diesem Konflikt eine Rolle bei der Abwägung spielt.
Die Betroffenheit in moralischen Konflikten bleibt nun aber in der Individualmoral€–
anders als etwa in der politischen und rechtlichen Moral€– häufig lokal begrenzt. Wenn
A die B beleidigt oder körperlich verletzt, so sind zunächst einmal nur A und B in
diesem moralischen Konflikt betroffen. Natürlich mag es auch sekundär Betroffene ge-
ben, etwa Bs Kinder, Eltern, sonstige Angehörige und Freunde. Wenn B wegen der
Verletzung ins Krankenhaus eingeliefert werden muss, so kann sie etwa nicht mehr für
ihre Kinder sorgen. Diese sind dann auch tangiert. Sie müssen als sekundär Betroffene€–
allerdings regelmäßig schwächer€ – berücksichtigt werden. Es kann aber zum Beispiel
keine Rolle spielen, dass C, der zufällig vorbeikommt, der Meinung ist, der schon lange
offenbaren Impertinenz der B wäre eine Beleidigung durch A gerade angemessen. Die
bloße Meinung eines Dritten, und sei es auch die einer „moralischen Autorität“ oder
eines Religionsführers, kann wegen des normativen Individualismus keine Form der Be-
troffenheit sein und darf somit in der Abwägung keine Rolle spielen, denn sonst würden
letztlich nicht die betroffenen Individuen, sondern besonders bevorzugte Personen oder
die anonyme Öffentlichkeit derjenigen, die abstrakte Meinungen über das richtige oder
falsche Verhalten Anderer entwickeln, entscheiden.
Es gibt zwar vor allem von Vertretern des Utilitarismus Versuche, externe Präferenzen,
das heißt Präferenzen Dritter hinsichtlich der Präferenzen Betroffener als abwägungsrele-
vant anzusehen.12 Dies wird deshalb für gerechtfertigt gehalten, weil die Befriedigungszu-
stände entscheidend sein sollen. Auch ein Dritter werde frustriert, wenn seine Meinungen
bzw. externen Präferenzen missachtet werden. So seien etwa die externen Präferenzen von
nicht selbst als Eltern betroffenen Abtreibungsgegnern relevant, weil sie befriedigt oder
nicht befriedigt werden könnten. Auf diese Weise ist es aber jeder beliebigen Person mög-
lich, sich selbst in den Angelegenheiten anderer zum relevanten Mitentscheider zu erheben.
Derjenige, der für sich selbst ein besonders hohes Frustrations- oder Befriedigungspotential
in Angelegenheiten Dritter aufbaut, müsste dann besonders berücksichtigt werden, wäh-
rend derjenige, der sich nicht in die Angelegenheiten anderer mischt, weil er vor deren per-
sönlichen Lebensentscheidungen Respekt hat, nicht zu berücksichtigen wäre. Man sieht

12 Bernward Gesang, Eine Verteidigung des Utilitarismus, Stuttgart 2003, S.€57╛ff.


3. Die Notwendigkeit einer Zusammenfassung 161

sofort, dass das nicht überzeugen kann, weil es der Willkür Tür und Tor öffnet und die
Individualberücksichtigung im konkreten Konflikt der Belange kollektiviert. Moralische
Konflikte werden dann durch willkürliche Entscheidungen Dritter, an sich nicht Betroffe-
ner entschieden oder zumindest mit entschieden. Daran zeigt sich, dass der Utilitarismus
zwar einen normativ-individualistischen Ausgangspunkt hat, bei der Durchführung der
Gesamtmaximierung im Ergebnis den normativen Individualismus aber missachtet.
Man könnte allerdings weiter argumentieren, jede Form der Interaktion zwischen
A und B betreffe alle anderen Menschen oder wenigstens alle anderen Mitglieder der
politischen Gemeinschaft, in der beide leben. Wenn A die B beleidige und die Allge-
meinheit oder die politische Gemeinschaft das zulasse, so müsse sie es auch im Falle an-
derer Beleidigungen zulassen. Wir lebten dann in einer Gemeinschaft, in der regelmäßig
Beleidigungen stattfänden, was für alle schlecht wäre. Deshalb müsste die Allgemeinheit
bzw. politische Gemeinschaft ein Zusammenfassungsprinzip „Beleidigungen Unschul-
diger sind verboten!“ annehmen und durchsetzen.
Wer so argumentiert, wechselt aber schon von der Individualmoral und Individualethik
zur politischen Moral und politischen Ethik. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass zur tat-
sächlichen Verringerung mancher moralisch inakzeptabler Verhaltensweisen politische und
rechtliche Normen sowie Sanktionen notwendig sind. Es mag etwa sein, dass sich A von
Beleidigungen gegenüber B nur durch das Risiko einer gerichtlichen Verurteilung und einer
staatlichen Strafe abhalten lässt. Aber die sekundäre Frage nach der tatsächlichen Verrin-
gerung moralisch inakzeptabler Verhaltensweisen darf die primäre Frage nach dem Inhalt
und der Normativität moralischer Konfliktlösungen und ihrer ethischen Rechtfertigung
nicht ersetzen. Entscheidend müssen zunächst nach dem Prinzip des normativen Indivi-
dualismus die vom Konflikt primär Betroffenen sein. Die gesamte Menschheit und die
Mitglieder einer politischen Gemeinschaft sind dann allenfalls ganz peripher und sekundär
über die allgemeine Etablierung bestimmter Praxen tangiert. Diese periphere und sekundäre
Betroffenheit kann nur in speziellen und gravierenden Ausnahmefällen€– wenn überhaupt€–
die Freiheit der Entscheidung der primär Betroffenen und damit die primäre moralische
Konfliktlösung im Einzelfall einschränken. Das Verbot der Tötung auf Verlangen oder der
sittenwidrigen Körperverletzung sind umstrittene und auf die Höchstinteressen von Leib
und Leben beschränkte kollektive Regelungen allgemeiner Praxen gegen den Willen einiger
unmittelbar Betroffener. Daraus muss man aber den Umkehrschluss ziehen, dass für die
weitaus überwiegende Zahl der moralischen Konflikte die Interessen der primär und kon-
kret Betroffenen entscheidend sein müssen. Sie durch kollektive Regelungen zu überspielen
würde dem normativen Individualismus widersprechen und wäre Ausdruck eines normati-
ven Kollektivismus der Menschheit, eines Volkes oder einer sonstigen Gemeinschaft.
Man sollte sich im Übrigen vor Augen halten, dass politische und rechtliche Konflikt-
lösungen aus rein praktischen Gründen immer nur einen sehr kleinen, wenn vielleicht auch
wichtigen Teil des moralisch zweifelhaften Verhaltens normieren und sanktionieren können.
Es gibt etwa keine Rechtsordnung, die ein allgemeines Lügenverbot erfolgreich normiert
und sanktioniert hätte. Viele moralisch problematische Verhaltensweisen des Alltags, etwa
Unfreundlichkeit und Unaufmerksamkeit, sind nicht rechtlich normier- und sanktionier-
bar. Das Strafrecht kann nur einen geringen Teil sehr gravierender Konflikte regeln.
162 IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange

4. Gut, richtig und gerecht als Begriffe


der Abwägung bzw. ZusammenÂ�fassung

Die Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit der Abwägung bzw. ZusammenÂ�


fassung der individuellen Belange wird durch verschiedene bewertende und normativ
bestimmende BeÂ�griffe ausgedrückt. Deshalb sollen die wesentlichen dieser Begriffe hier
kurz erörtert werden. Dabei gibt es jeweils ein grundlegendes Adjektiv und ein davon
abgeleitetes Substantiv, das als sekundäre, von der Alltagsverwendung schon erheblich
weiter entfernte und damit künstlichere, nicht selten von Philosophen erfundene SubÂ�
stantivierung erheblich problematischer ist als das grundlegende Adjektiv.

a) Gut

Der allgemeinste dieser Begriff ist der Begriff „gut“.13 Die Abwägung mit Hilfe des Be-
griffs „gut“ umfasst dabei nicht nur Fragen der normativen Ethik im engeren Sinn, also
Fragen der Moral, sondern auch solche aller anderen möglichen Bewertungen, Normen
und Regeln unserer Einstellungen und unseres Handelns, also auch solche der Religion,
des Rechts, der Konventionen, der Empfehlungen des guten Lebens usw. (vgl. Einlei-
tung, 1). Man würde etwa eine Handlung nicht in einem umfassenden Sinne als gut be-
zeichnen, wenn sie zwar moralisch erlaubt und als überpflichtgemäßes Handeln vielleicht
sogar moralisch positiv zu bewerten, vom Standpunkt der Religion oder des glücklichen
Lebens aber negativ einzuschätzen wäre. Wer sich zum Beispiel eines pflegebedürftigen
Angehörigen weit über das normale und erforderliche Maß hinaus annimmt, mit der
Folge, dass er sein eigenes Lebensglück vollständig zerstört, dessen Handeln würden wir
zwar als moralisch hochstehend bewerten, denn es wäre moralisch überpflichtgemäß.
Wir würden also sagen, er handelt „moralisch gut“. Wir würden uns aber scheuen, sein
Handeln in einem ganz umfassenden Sinne als „gut“ zu bezeichnen, da dies auch eine
Berücksichtigung des guten Lebens erfordert. Bei moralischen Helden wie Mutter The-
resa gehen wir regelmäßig davon aus, dass sie in ihrem überpflichtgemäßen moralischen
Engagement auch eine mögliche und ihnen angemessene Form der Lebenserfüllung fin-
den, sonst können wir ihr Leben als Ganzes nicht als insgesamt gut qualifizieren. Will
man die Bezeichnung der Abwägung mit Hilfe des Begriffs „gut“ auf die Belange der
Moral begrenzen, so muss man den weiten Begriff von „gut“ also einschränken und von
„moralisch gut“ sprechen.
Henry Sidgwick hat „good“ bzw. „ultimate good“ mit „well-being“ gleichgesetzt, und
manche sind ihm€– insbesondere auch zur Ermöglichung einer Quantifizierung€– darin
gefolgt und sehen das „Wohl“, das „Wohlbefinden“ oder „Wohlergehen“ als moralisch
bzw. ethisch umfassendstes Ziel und damit als ethisch entscheidend an.14 Aber das ist

13 Vgl. zur Abwägungsfunktion von „gut“: Verf., Deskription, Evaluation, Präskription, S.€260â•›ff.
14 Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, S.€3, 392; James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measure-
ment and Moral Importance, S.€40╛ff.; Walter Pfannkuche, Die Moral der Optimierung des Wohls. Be-
4. Gut, richtig und gerecht als Begriffe der Abwägung bzw. ZusammenÂ�fassung 163

von vornherein limitierend und deshalb außerordentlich problematisch, denn selbst wenn
etwas unser Wohlbefinden steigert oder sogar optimiert, muss es nicht in einem umfassen-
den Sinne gut sein. Die Steigerung des Wohlbefindens kann etwa zu einer geringer ent-
falteten, oberflächlichen Persönlichkeit, das heißt zu einem Verlust an Lebenserfahrung,
Wahrnehmungsfähigkeit, emotionaler Empfindsamkeit, Religiosität oder Intelligenz füh-
ren, den wir nicht wollen und der deshalb nicht unseren reflektierten und grundlegen-
den Belangen bzw. Interessen entspricht. Es gibt offensichtlich Belange wie die soeben
genannten, die jenseits des bloßen Wohlbefindens gut sind. Das Wohlbefinden ist somit
nur ein Aspekt des Guten unter mehreren. Weil wir über diese Aspekte in einer normati-
ven Ethik aber nicht von vornherein vom Lehnstuhl aus entscheiden können, ohne gegen
das Prinzip des normativen Individualismus zu verstoßen, bleiben nur die Belange bzw.
Interessen als ultimative Eigenschaft der zu berücksichtigenden Individuen und damit der
moralischen bzw. ethischen Rechtfertigung.

b) Richtig

Während sich der Begriff „gut“ auf alle möglichen Gegenstände beziehen kann, also Cha-
rakterzüge, Tugenden, Absichten, Zweck-Mittel-Abwägungen, den Willen, Handlungen,
Zustände, Konsequenzen, ist der Begriff „richtig“ eher auf das Handeln begrenzt. Man
würde wohl kaum von einem „richtigen Zustand“ sprechen, und auch ein „richtiger Cha-
rakter“, eine „richtige Tugend“, ein „richtiger Wunsch“ oder eine „richtige Konsequenz“
klingen zumindest ungewöhnlich. Der Grund liegt darin, dass „richtig“ auf die Handlung
im engeren Sinn, also die Handlungsausführung fokussiert ist. Nun kann ein sehr weiter
Handlungsbegriff€– wie sich in Kapitel€III ergab€– auch die inneren, äußeren und allge-
meinen Bedingungen der Handlung, also etwa die Charakterzüge und Tugenden, sowie
die Wünsche, die der Handlung zu Grunde liegen, und die Konsequenzen der Handlung
umfassen. Man könnte dann einen im Gegenstand weiteren und einen im GegenÂ�stand en-
geren Begriff von „richtig“ unterscheiden, je nachdem, ob er alle Handlungselemente eins
bis sieben einschließt oder auf die Handlungselemente drei bis sechs beschränkt bleibt.
Jedenfalls kann man auch von einer Handlung als „richtig“ sprechen, sofern sie jenseits
der Moral in einem technischen Sinn zweckmäßig ist. Der Begriff erreicht insofern fast
den Umfang von „gut“. Man kann den Begriff dadurch einschränken, dass man nur von
„moralisch richtig“ spricht. Dann wäre er allerdings im Gegenstand immer noch enger als
„moralisch gut“.

gründung und Anwendung eines modernen Moralprinzips, S.€203–207; John Broome, Weighing Lives,
Oxford 2004, S.€2, 12╛ff.
164 IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange

c) Gerecht bzw. das Gerechte oder die Gerechtigkeit

„Gerecht“ können Tugenden, aber auch Handlungen und Konsequenzen sein. Aller-
dings ist Gerechtigkeit immer nur gegenüber Anderen möglich. Gegenüber einer La-
wine kann man sich etwa tapfer oder besonnen verhalten, nicht aber „gerecht“. Und
auch gegenüber sich selbst kann man nicht gerecht sein. „Selbstgerechtigkeit“ ist ein
Fall falscher Selbstentschuldigung, aber keine begriffliche Form von Gerechtigkeit. Der
Begriff der Gerechtigkeit schließt also in jedem Fall Pflichten gegen sich selbst aus. Da-
bei ist er aber ähnlich wie „gut“ und „richtig“ nicht auf die Moral beschränkt, sondern
kann auch alle anderen Arten von primären und unmittelbaren Normen, Regeln und
Bewertungen qualifizieren, etwa das Recht, Konventionen usw. In den Kapiteln XIV, 2
und XV, 3 wird der Begriff der Gerechtigkeit noch näher erläutert werden.
V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung
der divergierenden Belange: das Prinzip der relativen
Individual- und Ander- bzw. GemeinschaftsÂ�abhängigkeit

Das fünfte und letzte Elements einer adäquaten normativen Ethik muss zeigen, wie die
Zusammenfassung bzw. Abwägung der ethisch relevanten, das heißt potentiell diver-
gierenden Belange nun tatsächlich inhaltlich vonstattengehen soll. Bevor dazu einzelne
Kriterien bzw. Prinzipien diskutiert werden, ist es sinnvoll, den grundsätzlichen Fokus
der Zusammenfassung zu klären, also deutlicher herauszuarbeiten, auf welcher Ebene
die Abwägung überhaupt stattfindet.

1. Der Fokus der Zusammenfassung

Die im Rahmen der Zusammenfassung zu berücksichtigenden Belange des in einer


Situation handelnden Akteurs und der betroffenen Anderen beziehen sich notwendig
auf die potentielle Handlung dieses Akteurs mit ihren sieben Teilen. Dabei sind die Be-
lange des Akteurs und der betroffenen Anderen selbst Aspekte ihrer eigenen Handlung,
genauer der eigenen Handlungsteile eins bis drei, das heißt der inneren Bedingungen
(Strebungen und Bedürfnisse, eins), der Wünsche und Überzeugungen (zwei) sowie der
Ziele (drei). Bevor die Belange aber überhaupt abgewogen werden können, müssen be-
stimmte für die Rechtfertigung grundlegende Voraussetzungen erfüllt sein. Man kann
insofern wenigstens vier, sich erweiternde Radien im Hin�blick auf die Handlung des
Akteurs unterscheiden:

a) Interne Handlungskonsistenz

Der erste Radius ist der einer internen Konsistenz der Einzelteile der Handlung des Akteurs.
Es kommt also zunächst darauf an, dass die Handlung mit ihren Komponenten als solche
nicht in sich widersprüchlich ist. Ein Beispiel für einen handlungsinternen Widerspruch
wäre, dass der Akteur etwas über seine Handlung denkt oder sagt und gleichzeitig etwas
mit diesem Gedachten oder Gesagten Unverträgliches verwirklicht. Der Akteur kann
etwa ein nach seiner eigenen Auffassung ungeeignetes Mittel (Element 4) zur Verfolgung
seines Ziels (Element 3) wählen, etwa wenn er jemand anderen durch bloße böse Ge-
danken körperlich verletzen will. Oder er kann den Willen haben, einem Anderen etwas
Angenehmes zu tun (Element 5) und ihm gleichzeitig Schmerz zufügen (Element 6). In
166 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

diesen Fällen handelt er schon auf einer ersten, rein tatsächlichen Ebene der internen
Handlungskonsistenz widersprüchlich. Eine derart selbstwidersprüchliche Handlung
kann aus logischen Gründen von vornherein keine ethisch und moralisch gerechtÂ�fertigte
Handlung sein, so wie ein rundes Quadrat schon aus begrifflich-logischen Gründen un-
möglich ist, so dass sich die Frage nach seiner tatsächlichen Existenz gar nicht stellt.
Für den Ausschluss derartiger begrifflich-logischer Handlungswidersprüche benötigt
man kein Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzip der Belange. Es genügt die For-
derung nach interner Konsistenz der Handlung.1 Diese Forderung nach interner Konsis-
tenz bezieht sich auf alle sieben Elemente der im dritten Kapitel€analysierten Handlung
im weiteren Sinne, also (1) auf die äußeren, inneren und allgemeinen Bedingungen,
(2)€auf die Überzeugungen und Wünsche, (3) auf die Ziele bzw. Absichten, (4)€auf die
Zweck-Mittel-Abwägung, (5) auf die Fassung des konkreten Handlungswillens, (6) auf
die Handlungsausführung und (7) auf die beabsichtigten, gewollten, vorausgesehenen
oder zumindest voraussehbaren Konsequenzen.
Eine interne Inkonsistenz der Handlung führt dazu, dass die Handlung nicht als
Ganzes bewertet werden kann, sondern regelmäßig nur die einzelnen Teile der Bewertung
isoliert unterliegen. So ist das Ziel, anderen Angenehmes zu tun, positiv, das Handeln
ihnen Schmerzen zu bereiten dagegen negativ. Die Handlung gelangt mangels interner
Konsistenz nicht als Ganzes auf die Ebene der Abwägung mit den Belangen anderer.

b) Interne Kohärenz der Belange des Akteurs

Der zweite Radius ist der einer internen Kohärenz der Belange des Akteurs. Belange des
Akteurs, die sich auf die in Frage stehende Handlung beziehen oder mit ihr realisiert
werden, können einzelnen, über die Handlung hinausgehenden Belangen des Akteurs
widersprechen. Dann bestehen gute, akteursinterne Gründe, die Handlung zu unterlas-
sen. Der Akteur kann etwa das Bedürfnis nach einem Gespräch haben, gleichzeitig aber
den generellen Wunsch verspüren, mehr für sich selbst zu sein. Es kann nicht strittig
sein, dass es in der Realität solche Inkohärenzen der Belange beim Akteur gibt. Strittig ist
nur ihre Interpretation. Diese Interpretation fällt auch in den Bereich der sog. Pflichten
gegen sich selbst und wird in Kapitel€VIII erörtert. Für die hier in Rede stehende inter-
subjektive Abwägung zählt von inkohärenten Belangen natürlich hauptsächlich derjenige
Belang, der vom Individuum schließlich gewollt wird und sich in der Handlungsausfüh-
rung realisiert. Im soeben erwähnten Beispiel wäre das also das Bedürfnis nach einem
Gespräch, nicht der generelle Wunsch, mehr für sich selbst zu sein. Aber die Pluralität
des Bezugs der Interessen Anderer auf alle Handlungsteile eröffnet auch den Bezug dieser
Interessen auf nicht handlungs�wirksame Belange.

1 Vgl. für eine detailliertere Aufschlüsselung derartiger Inkonsistenzen rationalen Handelns: Â�Onora
O’Neill, Consistency in Action, in: Paul Guyer (Hg.), Kant’s Groundwork of the Metaphysics of
Â�Morals. Critical Essays, Lanham 1998, S.€103–131, S.€114â•›ff.
1. Der Fokus der Zusammenfassung 167

c) Widerspruch des Handlungswillens oder der Handlungsausführung


zu sozialen Institutionen oder Konventionen

Der dritte Radius ist der eines Widerspruchs des Handlungswillens oder der Handlungs-
ausführung, also der Handlungselemente fünf und sechs eines Akteurs, zu sozialen InÂ�
stitutionen oder Konventionen, die der Akteur mit seinem Handeln selbst in Anspruch
nimmt, denen er also zumindest implizit zustimmt. Bei diesem Radius handelt es sich
etwa um den von Kant als Ausschlusskriterium vorgeschlagenen und noch näher zu dis-
kutierenden Widerspruch der Maxime eines Handelns im Denken.2 Wer in Not ein fal-
sches Versprechen gibt, wohl wissend, dass er es nicht wird halten können, handelt nach
Kant selbstwidersprüchlich, weil er mit seinem Versprechen die allgemeine Annahme,
dass Versprechen regelmäßig nicht ohne Erfüllungsabsicht gegeben werden, voraussetzt.
Es ist aber natürlich rein faktisch möglich, dass sich der Einzelne derart als „Trittbrett-
fahrer“ einer sozialen Institution wie dem allgemeinen Vertrauen auf die Ernsthaftigkeit
eines Versprechens verhält. Der signifikante Widerspruch besteht also zwischen dem
äußeren Verlautbarungscharakter des Handelns und dem inneren Willen. Auch hier
spielen wie beim ersten Radius daher die Belange des Akteurs und der betroffenen An-
deren keine direkte Rolle.3 Nicht die aus Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen und
Zielen, also den Handlungsteilen (1–3) synthetisierten Belange treten direkt zueinander
in Widerspruch, sondern der konkrete Handlungswille (5) undâ•›/â•›oder die Handlungs-
ausführung (6) beim Akteur im Verhältnis zur sozialen Institution oder Konvention.
Allerdings findet hier zumindest indirekt eine Entscheidung zwischen divergierenden
Belangen statt, denn hinter jedem konkreten Handlungswillen und jeder konkreten
Handlungsausführung stehen als Rechtfertigung die Belange des Akteurs und jede so-
ziale Institution und Konvention verkörpert ihrerseits eine Lösung der Abwägungsfrage
hinsichtlich der Belange aller Beteiligten. Insofern ist es gerechtfertigt, diesen dritten
Radius€– wie es nachfolgend geschehen wird€– wenigstens indirekt als eine Form der
Abwägung zwischen den Belangen der Betroffenen anzusehen.
Wie sich noch erweisen wird, hat Kant auch eine Inkonsistenz der Handlungsziele
im Rahmen eines „Widerspruchs im Wollen“ vorgeschlagen. Mit den Zielen ist dann
aber bereits ein€ – bzw. bei rationalen Wesen sogar das wichtigste€ – Teilelement der
Belange miteinbezogen. Man erreicht damit also schon den vierten Radius, weil sich
die Ziele nicht von ihrer Bewertung und Relativierung der Wünsche, Bedürfnisse und
Strebungen ablösen lassen.

2 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€421.


3 Vgl. dazu Onora O’Neill, Consistency in Action, S.€103â•›ff.
168 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

d) Divergenz der Belange zweier moralisch relevanter Individuen


bezüglich einer Handlung

Der vierte Radius betrifft schließlich die Hauptfälle der Ethik und Moral, in denen die
Belange zweier oder mehrerer jeweils eigenständig moralisch zu berücksichtigender Indivi-
duen direkt bezüglich der Handlung des Akteurs divergieren, also zum Beispiel der Fall der
gezielten Tötung, Verletzung oder sonstigen Schädigung eines anderen moralisch zu
berücksichtigenden Wesens oder der Hilfeleistung für dieses Wesen.

e) Verschiedene Prinzipien

Im Folgenden wird nur die Zusammenfassung der Belange in den letzten beiden Radien
als zentrale Frage der Moral bzw. Ethik diskutiert. Beim ersten Radius handelt es sich
lediglich um handlungstheoretische Voraussetzungen der moralischen bzw. normativ-
ethischen Abwägung, die eher in das Gebiet der Handlungsphilosophie fallen. Auf die
Frage nach den Pflichten gegen sich selbst, also den Radius zwei, wird im Kapitel€VIII
eingegangen.
In Theorien der Ethik sind viele verschiedene Abwägungs- bzw. Zusammenfassungs-
prinzipien der Belange bzw. Interessen der Betroffenen vorgeschlagen worden: das Ver-
trags- bzw. Zustimmungsprinzip, das Diskursprinzip, das Verallgemeinerungsprinzip,
das Maximierungsprinzip, das GleichheitsÂ�prinzip, das Genügensprinzip (satisficing-
principle), das Paretoprinzip, das Aufopferungsprinzipâ•›/â•›Kaldor-Hicks-Prinzip, das Ma-
ximinprinzip (Differenzprinzip), das Utilexprinzip, das Leistungsprinzip, das Prioritäts-
prinzip usw. Im Folgenden wird die Grundthese vertreten, dass allen diesen ernsthaft
vorgeschlagenen Prinzipien eine gewisse partielle Berechtigung zukommt. Aber sie zer-
fallen in zwei Klassen, deren Mitglieder aus unterschiedlichen Gründen die jeweils an
das fünfte Element gestellte Aufgabe der Abwägung bzw. Zusammenfassung der Indivi-
dualbelange allein nicht adäquat zu erfüllen vermögen:
Die Prinzipien sind entweder zu abstrakt und formulieren deshalb mehr oder min-
der nur alle oder wenigstens die wesentlichen der hier bereits erläuterten und akzeptier-
ten vier Elemente einer adäquaten normativen Ethik. Sie können deshalb die Abwägung
nicht inhaltlich und damit kon�kret steuern (Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip, Dis-
kursprinzip). Oder sie sind zu konkret und deshalb allenfalls in bestimmten Fallkonstel-
lationen als alleiÂ�niges oder auch nur hauptsächliches Prinzip der Abwägung überzeugend
(Verallgemeinerungsprinzip, Maximierungsprinzip, Gleichheitsprinzip, Paretoprinzip,
Genügensprinzip, Maximinprinzip, Aufopferungsprinzipâ•›/â•›Kaldor-Hicks-Prinzip, Util-
exprinzip, Leistungsprinzip usw.).
Diese kritische Grundthese kann hier für die einzelnen erwähnten Prinzipien nur
skizziert werden, bevor dann mit dem Prinzip der relativen Individual-, Ander- bzw. Ge-
meinschaftsabhängigkeit der Individualbelange ein Metaprinzip vorgeschlagen wird, das
als fünftes Element und allgemeines Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzip einer
adäquaten normativen Ethik weder zu abstrakt noch zu konkret ist und deshalb die zu
2. Kritik des Vertragsprinzips╛/╛Diskursprinzips 169

abstrakten Prinzipien zum einen konkretisieren und die zu konkreten Prinzipien zum
anderen bis zu einem gewissen Grade bestimmen kann.

2. Kritik des Vertragsprinzipsâ•›/â•›Diskursprinzips

a) Vertragsprinzipâ•›/â•›Zustimmungsprinzip

Das Vertragsprinzip bzw. Zustimmungsprinzip war sowohl in seiner klassischen Fassung


bei Hobbes, Locke, Rousseau und Kant als auch in seiner modernen Fassung bei Rawls
zunächst auf die Rechtfertigung politischer oder gesellschaftlicher Konfliktlösungen be-
schränkt.4 In neueren Theorien findet sich aber der Versuch, seinen Anwendungsbereich
auszuweiten und es zum allgemeinen Abwägungsgrundsatz der normativen Ethik, also
zum generellen Prinzip der Lösung aller individuellen und sozialen Konflikte der Moral
und anderer primärer Normordnungen zu erheben. Nach einer Version des Vertrags-
bzw. Zustimmungsprinzips, die Thomas Scanlon vorgeschlagen hat,5 soll eine Handlung
genau dann moralisch falsch sein, wenn ihre Durchführung unter den gegebenen Umständen
von jeder Menge von Prinzipien zur Regelung des Verhaltens verboten würde, die niemand
als Basis informierter, ungezwungener und allgemeiner Zustimmung vernünftigerweise zu-
rückweisen könnte.6
„Vernünftig“ („reasonable“) wird dabei nicht wie bei manchen anderen Theoreti-
kern als „zweckrational“ im Verhältnis zu den Zielen des Akteurs verstanden, sondern
setzt beim jeweils zu Berücksichtigenden eine gewisse Menge an Informationen und
relevanten Gründen voraus.7 Scanlon gesteht allerdings von vornherein zu, dass das
Vertragsprinzip nicht alle primären Normordnungen rechtfertigen kann, sondern nur
den Teil, in dem wir anderen etwas „schulden“ („what we owe to each other“), in dem
es also um „richtig“ oder „falsch“ geht, nicht um Werte und Lebensideale.8 Im Übrigen
entfaltet er das Prinzip zunächst als Prinzip der Motivation,9 erstreckt es dann aber auch
auf die normative Rechtfertigung und den Inhalt moralischer Konfliktlösungen.10
Bereits im Rahmen der Diskussion des normativen Individualismus als erstem
Element einer adäquaten normativen Ethik wurde darauf hingewiesen, dass das Ver-

4 Vgl. zu einer Darstellung neuerer Theorien: Peter Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin 1998.
5 Eine andere erweiterte Version des Vertragsprinzips findet sich bei David Gauthier, Morals by Agree-
ment, Oxford 1986.
6 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€153: „It holds that an act is wrong if its perform-
ance under the circumstances would be disallowed by any set of principles for the general regulation of
behavior that no one could reasonably reject as a basis for informed, unforced general agreement.“ Vgl.
zu einer ersten Version dieser Formulierung des Prinzips: ders., Contractualism and Utilitarianism, in:
Amartya K. Senâ•›/â•›Bernard Williams, Utilitarianism and Beyond, Cambridge 1982, S.€103–128, S.€116.
7 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€192.
8 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€6╛ff., 171╛ff., 342╛ff.
9 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€148╛ff.
10 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€189.
170 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

tragsprinzip, zumindest so wie es von allen wichtigen klassischen und modernen Ver-
tragstheoretikern verstanden wurde, dieses erste Element des normativen Individua-
lismus grundsätzlich enthält.11 Allerdings gilt dies uneingeschränkt nur für das erste
Teilprinzip des normativen Individualismus, also das Individualprinzip. Im Hinblick
auf das zweite Teilprinzip des normativen Individualismus, also das Allprinzip, fordert
das Vertragsprinzip zwei Einschränkungen. Diese resultieren aus der Annahme, dass die
mögliche Zustimmung bzw. die unmögliche Zurückweisung durch andere entschei-
dend sein soll. Zum einen wird von vornherein ausgeschlossen, dass der Akteur und
der Andere identisch sind, dass es also Pflichten gegen sich selbst gibt, was mit dem
Allprinzip prinzipiell vereinbar wäre. Zum zweiten werden Individuen, die niemals zu
einer sprachlich-kommunikativen Zustimmung in der Lage sein werden, also Tiere und
Pflanzen, grundsätzlich nicht wie Menschen als selbständige, moralisch relevante We-
sen berücksichtigt.12 Das dritte Teilprinzip des normativen Individualismus€– also das
Prinzip der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung€– scheint dagegen wieder im Ver-
tragsprinzip enthalten zu sein.
Hinsichtlich des zweiten Elements der moralisch relevanten Eigenschaft wird da-
gegen eine Vorauswahl getroffen, indem die Eigenschaft der potentiellen Zustimmung
als entscheidend angesehen wird, wobei Scanlon aber verschiedentlich auch in einem
offenbar weiteren Sinn von „Belastungen“ („burdens“) und „Kosten“ („costs“) spricht.13
Beim dritten Element des Bezugs der Belange auf die Handlung des Akteurs impliziert
das Vertragsprinzip grundsätzlich€– wie oben sachlich vorgeschlagen€– keine Bevorzu-
gung eines Handlungselements, weil die potentielle Zustimmung durch die Betroffenen
sich ja prinzipiell auf alle möglichen Teile der Handlung des Akteurs erstrecken kann.
Scanlon spricht aber wie schon Rawls14 an verschiedenen Stellen ohne weitere Erläu-
terung von den „Konsequenzen“ bzw. „Effekten“ der Handlung als entscheidend15€ –
scheinbar ohne sich zu verdeutlichen, dass diese Beschränkung der potentiellen Zu-
stimmung auf die Konsequenzen vom Vertragsprinzip als solchem nicht gefordert wird.
Schließlich impliziert das Vertragsprinzip hinsichtlich des vierten Elements der Modali-
tät der Zusammenfassung wie oben die Annahme der normativen Notwendigkeit, weil
es impliziert, dass die im Konflikt stehenden Belange abgewogen werden müssen.
Man kann also zusammenfassen, dass das Vertragsprinzip mit den bereits diskutierten
und bejahten vier Elementen einer adäquaten normativen Ethik teils übereinstimmt, teils
restriktiver ist. Wichtig ist aber nun: Zwar fordert das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip
wie die bisher bejahten vier Elemente€– abgesehen von den erwähnten Einschränkungen€–
eine Abwägung der individuellen Belange. Es kann aber nicht zeigen, wie diese Abwägung
bzw. Zusammenfassung konkret vonstatten gehen soll. Das Vertragsprinzip verlangt also
zwar eine Zusammenfassung der individuellen Belange und ist somit gemäß den bisheri-

11 Vgl. Kapitel€II, 2 c).


12 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€177╛ff.
13 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€195, 208, 205.
14 John Rawls, A Theory of Justice, S.€30.
15 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€203, 213.
2. Kritik des Vertragsprinzips╛/╛Diskursprinzips 171

gen Überlegungen€– sieht man von seinen Restriktionen ab€– berechtigt, liefert aber selbst
kein konkreteres Prinzip, das eine derartige Zusammenfassung der individuellen Belange
steuern oder strukturieren könnte. Es bleibt somit als fünftes Element einer adäquaten
normativen Ethik zu abstrakt und damit unterbestimmt. Die Bewertung, dass eine Hand-
lung nur dann falsch sein soll, wenn sie von jeder Menge von Prinzipien verboten würde,
die niemand vernünftigerweise zurückweisen könnte, ist mit allen möglichen konkreteren
Prinzipien der Zusammenfassung€– die im Fortgang noch näher erläutert werden€– kom-
patibel, etwa mit dem Maximierungsprinzip des Utilitarismus,16 dem Gleichheitsprinzip,
dem Genügensprinzip, dem Paretoprinzip oder dem Maximinprinzip, je nachdem, was
man als Grund für eine vernünftige Verneinung eines dieser konkreteren Prinzipien akzep-
tiert. John Rawls glaubte etwa, dass das Vertragsprinzip im Rahmen der politischen Ethik
das Maximinprinzip begründet,17 während Scanlon als Rawls’ Schüler bezeichnenderweise
eine Rechtfertigung des Maximinprinzips als allgemeines Prinzip der Ethik ablehnt.18
Dabei kann eine tatsächliche Durchführung des Vertrags- bzw. Übereinstimmungs-
prozesses, die für konkrete Fälle selbstredend zu eindeutigen Ergebnissen führen könnte,
nicht entscheidend sein,19 denn sie ermöglicht zwar eine faktische Lösung des Konflikts
im Einzelfall. Sie kann aber diese faktische Lösung des Konflikts im Einzelfall nicht als
allgemeines Prinzip der Lösung aller anderen einzelnen Konflikte und damit als allge-
meines normativ-ethisches Prinzip rechtfertigen, denn warum sollten andere Individu-
en durch die zufällige individuelle Standfestigkeit oder Nachgiebigkeit, also das zufällige
Verhandlungsgeschick der Vertragspartner normativ-ethisch gebunden sein?
Scanlon bewertet die Offenheit des Vertragsprinzips als Vorzug.20 Aber auch wenn man
diesen Vorzug anerkennt, bleibt festzuhalten, dass das Prinzip zu abstrakt und damit zu
unbeÂ�stimmt ist, um hinsichtlich des fünften Elements der Abwägung zu einer inhaltlichen
Bestimmung zu gelangen. Auf eine derartige inhaltliche Bestimmung der Abwägung kann
die normative Ethik aber nicht verzichten, soll sie ihre Funktion der Rechtfertigung und
Kritik der Moral und anderer primärer Normordnungen erfüllen.

b) Das Diskursprinzip

Das Diskursprinzip „D“ lautet nach Jürgen Habermas: „Jede gültige Norm müsste die
Zustimmung aller Betroffenen, wenn diese nur an einem praktischen Diskurs teilneh-
men würden, finden können.“21 Während Scanlon nur die hypothetische Unmöglich-

16 Dies gesteht Scanlon selbst zu: Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€189.
17 John Rawls, A Theory of Justice, S.€152╛ff., 175╛ff.
18 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€223, 228╛ff.
19 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€394, Fn.€5, 395, Fn.€18, 168.
20 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S.€216.
21 Jürgen Habermas, Was macht eine Lebensform rational?, S.€32; vgl. ders., Diskursethik€– Notizen zu
einem Begründungsprogramm, S.€103.
172 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

keit der Zurückweisung seitens aller Betroffenen als Kriterium ansieht, fordert Haber-
mas also die hypothetische Zustimmung. Ob dies in der Sache einen Unterschied ergibt,
hängt von der Frage ab, ob die hypothetische Zurückweisung und Zustimmung kontra-
diktorisch oder nur konträr zueinander stehen. Von dieser etwas unterschiedlichen For-
mulierung abgesehen, ist ein wesentlicher sachlicher Unterschied zum Vertragsprinzip
im Hinblick auf die hier interessierende Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsfunktion
aber nicht erkennbar.22 Die soeben wiedergegebene Einschätzung des Vertragsprinzips
gilt somit in grundsätzlich gleicher Weise auch für das Diskursprinzip.
Allerdings führt Habermas noch einen Universalisierungsgrundsatz „U“ als „Argu-
mentationsregel“ ein, der als Ausgangspunkt für die „sparsame Formel“ D dienen soll:
„Jede gültige Norm muss der Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkun-
gen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes
Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden
können.“ Diese Formel ist restriktiver als das Diskursprinzip, weil sie sich auf die „Fol-
gen und Nebenwirkungen“ beschränkt. Eine derartige Beschränkung auf die Konse-
quenzen wurde im Rahmen der Erörterung des dritten Elements aber bereits kritisiert
und abgelehnt. Sie wird sogleich noch einmal beim inhaltlich vergleichbaren „Argu-
ment der Verallgemeinerung“ Marcus George Singers erörtert.
Sieht man von dieser konsequentialistischen Einschränkung durch den Universali-
sierungsgrundsatz U ab, so geht die Diskursethik offensichtlich nur in ihrer Forderung
nach tatsächlichen Diskursen und Konsensen und nach legitimen Diskursbedingungen
über das Vertragsprinzip hinaus. Diese Forderung nach Diskursen und Konsensen lässt
sich als praktische Forderung auch durch den normativen Individualismus rechtfertigen,
sofern man sie als Konkretisierung der Verpflichtung zur Berücksichtigung aller betrof-
fenen Individuen versteht. Diese Verpflichtung zur Berücksichtigung aller betroffenen
Individuen führt zur Pflicht, im konkreten moralischen Konflikt alle kommunikativen
Mittel zu ergreifen, um die Belange der Betroffenen zu erkennen, zur Gel�tung zu bringen
und zu harmonisieren. Damit ist aber die Frage nach einem adäquaten ethischen Abwä-
gungsprinzip noch nicht beantwortet. Die tatsächliche Durchführung eines Diskurses
und die tatsächliche Erzielung eines Konsenses können einen moralischen Konflikt zwar
faktisch lösen. Dann aber braucht man jenseits des Gebots zur Suche nach faktischen
Konfliktlösungen weder Moral noch Ethik. Moral und Ethik werden also überhaupt
nur relevant, wenn sich ein moralischer Konflikt nicht durch faktische Prozeduren und
einen faktischen Konsens lösen lässt, etwa weil beide Konfliktparteien einfach auf ihrem
Standpunkt beharren. Der Konflikt zwischen dem Mörder, der morden will, und dem
Opfer, das nicht ermordet werden will, lässt sich nicht durch einen faktischen Diskurs

22 Ein Unterschied liegt allerdings darin, dass Scanlon von „Handlungen“ und „Prinzipien“ spricht, Haber-
mas von „Normen“. Aber „Prinzipien“ sind in diesem Zusammenhang sicherlich „normative Prinzipien“.
Und mangels einer eindeutigen Unterscheidung von Moral und Ethik bei Scanlon kann das Vertragsprin-
zip nicht auf ein bloßes Metaprinzip ethischer Prinzipien beschränkt werden. Die weitere kommunikati-
onstheoretische Einbettung des Diskursprinzips, etwa die Begründung durch das oben erwähnte Prinzip
„U“, kann für die hier zu erörternde spezifische Frage der Abwägung unerörtert bleiben.
2. Kritik des Vertragsprinzips╛/╛Diskursprinzips 173

oder Konsens lösen, sondern nur durch ein kategorisches moralisches und rechtliches
Gebot, außer in Fällen der Notwehr nicht zu töten. Dieses Tötungsverbot kann nun
aber seinerseits nicht durch faktischen Diskurs und Konsens gerechtfertigt werden, weil
es im Falle eines Konsenses keines kategorischen Verbots bedarf.
Somit bleibt nur der hypothetische Diskurs bzw. Konsens als Kriterium der Ab-
wägung. Das Kriterium des hypothetischen Diskurses bzw. Konsenses ist nun aber
nichts anderes als das oben erörterte Prinzip der möglichen Zustimmung bzw. Nicht-
zurückweisung einer Lösung, also das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip. Das bedeu-
tet: Der faktische Diskurs und Konsens kann zwar konkret konfliktlösend wirken, ist
aber ethisch und moralisch nicht universell rechtfertigend, der hypothetische Diskurs
und Konsens kann zwar prinzipiell universell rechtfertigend sein, ist aber mangels ei-
nes spezifischeren Abwägungsprinzips nicht konkret konfliktlösend. Es ist also nicht
erstaunlich, dass Habermas sein zu abstraktes Diskursprinzip sofort um das regelkon-
sequentialistische Prinzip U ergänzen muss, das nun aber wiederum zu speziell ist und
dessen Probleme in Kapitel€V, 4 noch erörtert werden. Diese sofortige Ergänzung des
zu abstrakten Diskursprinzips durch ein zu konkretes bzw. spezielles Abwägungsprinzip
entspricht im Übrigen genau dem Vorgehen Rawls’, der das abstrakte Vertragsprinzip
sofort um das Prinzip der Gleichberücksichtigung von Freiheiten und das Maximin-
prinzip ergänzen muss und große Schwierigkeiten hat, zu begründen, dass diese konkre-
ten Abwägungsprinzipien aus dem abstrakten Vertragsprinzip folgen. All dies zeigt, dass
das Zustimmungsprinzip als solches die Aufgabe einer inhaltlichen Abwägung nicht
bewältigen kann.

c) Annahme der Zustimmung


auf der Basis gemeinsam geteilter Interessen

Weitere Versuche der Ergänzung und Konkretisierung des Zustimmungsprinzips finden


sich bei einigen Theoretikern, die in der Nachfolge von Hobbes für eine Minimalmoral
plädieren.23 Danach soll man eine hypothetische Zustimmung und damit eine ethische
Rechtfertigung der Moral nur insofern annehmen können, als sich zeigen lässt, dass die
Moral Interessen dient, die so elementar sind, dass sie so gut wie jeder Mensch besitzt,
dass sie uns also allen gemeinsam sind. Das soll sich nur für fundamentale Interessen, wie
etwa die Interessen, nicht getötet, verletzt, gezwungen, bestohlen, belogen und betrogen
zu werden, annehmen lassen.
Grundsätzlich verdient diese Konkretisierung des Vertrags- bzw. Zustimmungs-
prinzips im Hinblick auf die genannten fundamentalen Interessen Unterstützung. Nie-
mand wird bestreiten, dass ein moralischer Schutz dieser grundlegenden Belange in

23 Vgl. Richard B. Brandt, A Theory of the Good and the Right, S.€219; Norbert Hoerster, Moralbegrün-
dung ohne Metaphysik, Erkenntnis 19 (1983), S.€225–238; ders., Ethik und Interesse, Stuttgart 2003,
S.€ 162â•›ff.; ders., Was ist Moral? Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2008, S.€ 57â•›ff.; Bernard
Gert, Morality. Its Nature and Justification, New York╛/╛Oxford 1998, S.€157╛ff.
174 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

jedermanns besonderem Interesse liegt. Das Problem dieser Auffassung besteht aber im
Ausschluss von Interessen, die nicht alle gemeinsam haben oder die gar nur ein Einzel-
ner aufweist. Man fragt sich: Warum soll es zur Lösung eines konkreten moralischen
Konflikts mit konkreten Interessen konkreter Personen entscheidend sein, dass alle an-
deren Nichtbeteiligten die gleichen Interessen haben? Was berühren die je in einem
Widerstreit Betroffenen die Interessen der Nichtbeteiligten? Müssen die Moral und die
Rechtfertigung der Ethik nicht auch dazu dienen, gerade in einem Konflikt mit einem
ganz einmaligen und singulären Interesse einer einzelnen konkreten Person zu einer Lö-
sung zu gelangen? Verdient etwa das Interesse an einer ungewöhnlichen Lebensführung,
das vielleicht nur ein einziger Mensch hat, keine Berücksichtigung, weil es nicht von
allen geteilt wird, etwa das offenbar zunehmend verschwindende Interesse, nicht überall
vom Geräusch und den Bildern öffentlicher Fernsehübertragungen („Public Viewing“)
behelligt zu werden (wobei meine Hoffnung weiterbesteht, dass dieses Interesse noch
andere teilen)?
Die minimalmoralische Auffassung differenziert nicht hinreichend zwischen der
Moral als Ganzer, die natürlich nur gerechtfertigt sein kann, sofern sie ihrem grund-
sätzlichen, von allen geteilten Ziel der Vermittlung widerstreitender Belange genügt,
und der konkreteren Recht�fertigung einzelner Teile bzw. Normen der Moral, die nicht
in jedem Fall gemeinsame Interessen voraussetzen kann, soll sie dem Prinzip des nor-
mativen Individualismus genügen und nicht in einen normativen Kollektivismus der
Beschränkung auf das „gemeinsam Geteilte“ verfallen. Es vermag also nicht zu überzeu-
gen, das Prinzip der notwendigen allgemeinen Zustimmung auf diejenigen Interessen
zu beschränken, die uns allen oder auch nur einer großen Mehrheit gemeinsam sind. Im
Übrigen ist damit ja selbst für die zu berücksichtigenden gemeinsamen Interessen noch
nicht gezeigt, wie nun die Abwägung im Konfliktfall aussehen soll, ob man etwa den
Mörder belügen darf, um das Leben des Opfers zu retten. Die abstrakte Beschränkung
der Menge der Interessen liefert kein inhaltliches Abwägungsprinzip für die Lösung
zwischen konkret konfligierenden Interessen.
Die Beschränkung der Moral auf gemeinsam geteilte Interessen scheint aber noch
aus einem anderen Grund zu restriktiv. Selbst wenn man den rationalistischen Aus-
gangspunkt der Notwendigkeit einer konkreten individuellen Zustimmung Einzelner
akzeptierte, könnte es für den Einzelnen notwendig sein, um des Schutzes seiner ei-
genen hochrangigen Interessen willen auch Moralnormen zuzustimmen, welche Inte-
ressen dienen, die er selbst nicht teilt. Um etwa Schutz vor der Tötung durch Andere
mittels eines moralischen Tötungsverbots zu erlangen, könnten die Anderen prinzipiell
etwa auch den Respekt vor spezifischen religiösen Kulthandlungen oder beliebige an-
dere Belange zur Bedingung erheben. Den Einzelnen mag dieses Interesse gleichgültig
lassen. Aber es kann für ihn rational sein, neben dem Verzicht auf die Tötung Anderer
diese geringe zusätzliche Einschränkung seiner Handlungsfreiheit in Kauf zu nehmen,
um den ihm so wichtigen Schutz des eigenen Lebens durch ein allgemeines Tötungs-
verbot zu erlangen. Ein Grund, warum die Freiheit und das Bestreben der Individuen,
alle ihre Belange auch auf diesem Weg so weit als möglich zu realisieren, eingeschränkt
werden sollte, ist nicht ersichtlich.
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips 175

3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips

Um das Verallgemeinerungsprinzip zu kritisieren, muss es zunächst vom Prinzip der


Generalisierung abgegrenzt werden.

a) Der Unterschied zwischen dem Prinzip der Verallgemeinerung


und dem Prinzip der Generalisierung

Das Prinzip bzw. Argument der Verallgemeinerung unterscheidet sich in seinem Anspruch,
moralisch und ethisch signifikantes Abwägungskriterium zu sein, von einem logischen
oder quasi-logischen und damit für die ethische Abwägung nicht signifikanten Prinzip
der Generalisierung, Universalisierung bzw. Gleichheit einzelner Handlungen oder Zu-
stände.24 Das Prinzip der Generalisierung bzw. Universalisierung lautet etwa: „Wenn die
Handlung a für A gut ist, so ist sie auch für jede andere ähnliche Person B in ähnlichen
Umständen gut.“ Mit Hilfe dieses Prinzips kann die Frage, ob die Handlung a für A
gut ist, aber nicht beantwortet werden, denn diese Annahme wird in ihm ja bereits als
Bedingung vorausgesetzt. Das Prinzip der Generalisierung ist also als ethisches Abwä-
gungsprinzip divergierender Belange nicht tauglich. Für die ethische Abwägung allein
tauglich kann das Prinzip bzw. Argument der Verallgemeinerung sein. Es existiert in
vielen Versionen, von denen nachfolgend zwei diskutiert werden sollen:

b) Kants Verallgemeinerungsprinzip

Am bekanntesten ist die kantsche Formulierung als Kategorischer Imperativ: „Handle


nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allge-
meines Gesetz werde.“25 Dieses Kriterium soll nach Kant im Fall der Unmöglichkeit
der Verallgemeinerung eines Tuns zu dessen Verbot und im Fall der Unmöglichkeit der
Verallgemeinerung eines Unterlassens zu dessen Gebot führen.26

24 Vgl. Richard B. Brandt, Ethical Theory, S.€ 19â•›ff.; „Prinzip der Gleichheit“ findet sich bei Norbert
Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, 2.€Aufl. Freiburg 1977, S.€52, 56╛ff. Vgl. auch
Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, Frankfurt a.â•›M. 1980, S.€231–235; Jörg Schroth, Die
Universalisierbarkeit moralischer Urteile, Paderborn 2001, S.€11╛ff. Die Terminologie ist uneinheitlich.
Teilweise wird auch das moralisch signifikante Verallgemeinerungsprinzip „Universalisierungsprinzip“
genannt.
25 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€421. Ich beschränke mich im Folgenden
aus Raumgründen auf die allgemeine Formel und die Berücksichtigung der Naturgesetzformel. Die
Formeln sollen nach Kant äquivalent sein.
26 Die Möglichkeit der Verallgemeinerung eines Tuns führt also nicht zu seinem Gebot, sondern nur zu
seiner Erlaubnis, die Möglichkeit der Verallgemeinerung eines Unterlassens nicht zum Verbot des Tuns,
sondern zu seiner Erlaubnis. Es gibt somit auch moralisch indifferente Handlungen, die allenfalls den
Regeln der Klugheit unterfallen. Vgl.â•›H.â•›B. Acton, Kant’s Moral Philosophy, London 1970, S.€21; Nor-
bert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, in: Manfred Riedel
(Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie Bd. II, Freiburg 1974, S.€456; Marcus G. Singer,
176 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Mit der Verallgemeinerung wird dabei nicht direkt die einzelne Handlung oder ein
Teil der einzelnen Handlung beurteilt, sondern nur indirekt über eine Prüfung ihrer
Maxime als „subjektives Prinzip“.27 Zwischen die einzelne konkrete Handlung sowie
den einzelnen konkreten Willen und die abstrakte Verallgemeinerung wird also die
mehr oder minder abstrakte Maxime eingeschoben. Fraglich ist nun zunächst, welchem
Teil oder welchen Teilen der Handlung im Sinne der im Kapitel€III unterschiedenen
sieben Handlungselemente die Maxime entspricht, welchen Teil oder welche Teile der
Handlung Kant also überhaupt der Verallgemeinerung und damit der Maximenbildung
unterwerfen wollte. Prinzipiell in Frage kommen nach dem oben Gesagten (1) die äuße-
ren, inneren und allgemeinen Bedingungen, (2) die Überzeugungen und Wünsche, (3)
die Ziele bzw. Absichten, (4) die Zweck-Mittel-Abwägung, (5) die Fassung des konkre-
ten Handlungswillens, (6) die Handlungsausführung oder (7) die Konsequenzen.
Kant beginnt den ersten Abschnitt seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
mit dem Satz „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu
denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein
ein guter Wille.“28 Er macht anschließend deutlich, dass nur die Beurteilung dieses „gu-
ten Willens“ für die Moralität einer Handlung entscheidend sein kann. Die inneren
und äußeren Bedingungen einer Handlung, etwa die des inneren Charakters oder die
äußerer „Glücksgaben“ wie Macht, Reichtum oder Ehre, also Faktoren, die das Hand-
lungselement eins konstituieren, können zu schlechten Handlungen führen und sind
deshalb nicht Teil des „guten Willens“. Ebenso nicht Teil des „guten Willens“ sind die
rein tatsächlichen Konsequenzen der Handlung, also das Element sieben, da diese dem
Zufall äußerer Einwirkungen unterworfen sind.29 Auch der bloße Wunsch, also das Ele-
ment zwei, kann nach Kant nicht entscheidend sein. Nötig ist vielmehr „die Aufbietung
aller Mittel, sofern sie in unserer Gewalt sind“.30 Damit verbleiben die Elemente drei
bis sechs, also das Handlungsziel bzw. die Absicht, die Mittelwahl, der konkrete Hand-
lungswille und die Ausführung der Handlung. Die Ausführung der Handlung ist als
äußeres Geschehen vom Handlungswillen als ihrem inneren Antrieb abhängig. Es gibt
also keine äußere Handlung ohne einen sie steuernden konkreten Handlungswillen.
Kant sagt überdies: „Es kommt bei der Ethik nicht auf die Handlungen, die ich tun
soll, sondern das principium an, woraus ich sie tun soll. Maxime.“31 Die tatsächliche

Verallgemeinerung in der Ethik, Frankfurt a.â•›M. 1975, S.€279; Dieter Birnbacher, Analytische Einfüh-
rung in die Ethik, S.€139. Ich übergehe hier die historisch-exegetische Frage, ob Kant sein Kriterium
wirklich als Testverfahren verstanden wissen wollte.
27 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€420 Fußnote.
28 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€393.
29 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€394. Dies betont auch Otfried Höffe,
Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, Zeitschrift für philosophische Forschung
1977, S.€354–384, S.€359. Damit sind aber natürlich die beabsichtigten Folgen als Teil des Handlungs-
ziels nicht ausgeschlossen.
30 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€394.
31 Immanuel Kant, Reflexion 119, in: Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie, aus Kants hand-
schriftlichen Aufzeichnungen hg. von Benno Erdmann und Norbert Hinske, Stuttgartâ•›/â•›Bad Cannstatt
1992 (Neudruck der Ausgabe Leipzig 1882â•›/â•›1884).
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips 177

Handlungsausführung kann daher zunächst einmal außer Betracht bleiben. Übrig sind
dann die Handlungselemente drei bis fünf, also das Handlungsziel, die Mittelwahl und
der konkrete Handlungswille, der zur Ausführung der Handlung führt. Alle drei Ele-
mente lassen sich sprachlich gut unter dem weit verstandenen Terminus des „guten
Willens“ fassen, denn das Handlungsziel kann man auch als „Zielabsicht“ bzw. „Zielwil-
len“ bezeichnen. Wie lässt sich nun zwischen diesen drei Elementen entscheiden? Oder
vielleicht muss man das überhaupt nicht, weil Kant alle drei Elemente im Rahmen der
Verallgemeinerung berücksichtigen wollte?
Zu einer Antwort ist es hilfreich, Kants nachfolgende Unterscheidung zwischen ei-
nem Widerspruch im Denken und einem Widerspruch im Wollen, die jeweils zu einer
vollkommenen und einer unvollkommenen Pflicht führen sollen, zu berücksichtigen
(vgl. zu einer Erläuterung sogleich).32 Soll diese Unterscheidung sinnvoll sein, so kann
der zweite Fall des Widerspruchs im Wollen nur ein Unterfall der generell möglichen
Inkohärenz des „guten Willens“, also der Elemente drei bis fünf der Handlung im wei-
testen Sinn sein. Denn wären „guter Wille“ und das Wollen des Widerspruchs im Wol-
len identisch, dann wäre€– vorausgesetzt der „gute Wille“ umfaßt den ethisch relevanten
Bereich€– der Widerspruch im Denken kein eigenständiger Fall. Das bedeutet also, dass
der allgemeine „gute Wille“ aus dem ersten Abschnitt der Grundlegung und der Wille,
der beim Widerspruch im Wollen geprüft wird, nicht identisch sein können. Der Wille
beim Widerspruch im Wollen muss vielmehr ein Teil des allgemeinen „guten Willens“
sein. Aber welcher?
Dies lässt sich mit Hilfe der Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvoll-
kommenen Pflichten klären. Kant schreibt: „Übrigens verstehe ich hier unter einer voll-
kommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum Vorteil der Neigung verstattet,
[…]“33 Bei vollkommenen Pflichten, das heißt bei einem Widerspruch im Denken,
kann also die Neigung keine Rolle spielen, während sie bei unvollkommenen Pflichten,
also bei einem Widerspruch im Wollen, bedeutsam zu werden vermag. Wo kann die
Neigung im Rahmen der Handlungselemente drei bis fünf nun eine Rolle spielen? Die
Antwort lautet: bei der Auswahl der Mittel, also beim Handlungselement vier. Ist ein
Akteur nur auf ein bestimmtes Handlungsziel (Element drei) moralisch verpflichtet,
so steht ihm gemäß seinen Neigungen die Auswahl der Mittel (Element vier) frei, vo-
rausgesetzt die Mittel sind zur Erreichung des Ziels im Wesentlichen gleich gut geeig-
net. Wer etwa einen Verdurstenden in der Wüste findet, kann ihm von seinen beiden
Wasserflaschen entweder die eine oder die andere reichen, er kann also einer Neigung,
eine der beiden Wasserflaschen lieber für sich zu behalten, etwa weil sie schöner ver-
ziert ist, nachgeben. Ist dagegen der konkrete Handlungswille (Element fünf ) moralisch
verpflichtend, so hat der Akteur keinen wesentlichen Spielraum mehr, gemäß seinen

32 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€421â•›ff., 424: „Einige Handlungen sind so
beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden
kann; weit gefehlt, daß man noch wollen könne, es sollte ein solches werden. Bei andern ist zwar jene
innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, daß ihre Maxime zur All-
gemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde.“
33 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€421, Fußnote.
178 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Neigungen zwischen verschiedenen möglichen Mitteln zu wählen. Wer etwa verpflich-


tet ist, kein lügenhaftes Versprechen abzugeben, hat keine Möglichkeit der Mittelwahl
beim Handlungselement vier. Damit ist erklärt, auf welches Element der Handlungsele-
mente drei bis fünf sich das Verallgemeinerungskriterium bezieht: Der allgemeine „gute
Wille“, der moralisch entscheidend ist, umfasst sowohl den Zielwillen als auch die Mit-
telwahl und den Handlungswillen. Dabei bezieht sich ein möglicher Widerspruch im
Denken, der zu einer vollkommenen Pflicht führt, auf den konkreten Handlungswillen,
also das Handlungselement fünf und damit auch notwendig auf die Mittelwahl, also
das Handlungselement vier, die im Falle einer pflichtmäßigen Bestimmung des Hand-
lungswillens nicht beliebig sein kann. Ein möglicher Widerspruch im Wollen, der eine
unvollkommene Pflicht erzeugt, welche die Auswahl der Mittel zur Berücksichtigung
der Neigungen offen lässt, richtet sich dagegen nur auf die Fassung des Handlungsziels,
also das Handlungselement drei. Damit ist auch die Zwei�stufigkeit des Verallgemeine-
rungstests erklärt. Zunächst muss man bei der Prüfung des allgemeinen „guten Willens“
als Steuerungskern einer Handlung auf einer ersten Stufe fragen, ob nicht schon der
Handlungswille (Element fünf ) als Konkretisierung der Mittelwahl (Element vier) in
seiner durch die Maxime typisierten Form gedanklich widersprüchlich ist, so dass eine
vollkommene Pflicht gerechtfertigt wäre. Ist dies nicht der Fall, dann ist auf einer zwei-
ten Stufe zu prüfen, ob nicht wenigstens das hinter dem Handlungswillen und der Mit-
telwahl stehende Handlungsziel (Element drei) in seiner durch die Maxime typisierten
Form, also das verallgemeinerte Handlungsziel, zu einem Widerspruch im Wollen und
damit zu einer unvollkommenen Pflicht führt.
Der Handlungswille, also das Handlungselement fünf, wäre in Kants Beispielen
etwa der Wille des A in der typisierten Situation S, sich selbst zu töten oder ein falsches
Versprechen abzugeben, Dieser Wille wird auf seinen Widerspruch im Denken über-
prüft. Hinter all diesen relativ konkreten Handlungswillen steht aber auch ein Hand-
lungsziel, weil jedes Handeln ein Ziel hat.34 Dieses Ziel ist aber als typisiertes Ziel nur
für den möglichen Widerspruch im Wollen, nicht für den möglichen Widerspruch im
Denken entscheidend. Kant nennt als Beispiele, seine Talente brachliegen zu lassen und
einem anderen in Not nicht zu helfen. Auf der ersten Stufe des Verallgemeinerungstests
werden also der Handlungswille und die Mittelwahl als Elemente fünf und vier auf ih-
ren Widerspruch im Denken überprüft, also etwa die Absicht sich selbst zu töten oder
ein falsches Versprechen abzugeben. Auf der zweiten Stufe des Verallgemeinerungstests,
beim Widerspruch im Wollen, wird dann das hinter dem Handlungswillen stehende ty-

34 Bereits Aristoteles hat das bekanntlich konstatiert, vgl. Nikomachische Ethik, I 1, und Kant wiederholt
es: Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, S.€ 385.€ – Christine
M. Korsgaard, Kant’s Analysis of Obligation. The Argument of Groundwork I, in: dies., Creating the
Kingdom of Ends, Cambridge 1996, S.€43–76, S.€57â•›f., schließt allerdings fälschlich aus der zutreffen-
den Tatsache, dass ein Handeln ohne Ziel nicht möglich ist, dass das jeweilige Handlungsziel nicht nur
immer als solches in die Maximen eingeht, sondern auch immer dem Verallgemeinerungstest unterfällt.
Im Übrigen können Handlungsziel und Handlungswille in einigen speziellen Situationen vermutlich
auch zusammenfallen, etwa wenn jemand einen Spaziergang macht, ohne damit weitere Ziele€– etwa
der Entspannung, Naturerfahrung oder Gesunderhaltung€– zu verbinden, oder wenn jemand tief ein-
atmet, ohne weitere Ziele damit zu verfolgen.
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips 179

pisierte Handlungsziel dem Verallgemeinerungstest unterworfen, also etwa das typisier-


te Handlungsziel, seine Talente brachliegen zu lassen oder einem anderen in Not nicht
zu helfen, ganz gleich welche Mittel zur Erreichung dieses Ziels eingesetzt werden.
Wie sieht nun die Maximenbildung als Voraussetzung der Verallgemeinerung ge-
nauer aus? Bei der Maximenbildung treten an die Stelle der konkreten Handlung h und
der konkreten Situation s der verallgemeinerte Handlungstyp H und der verallgemei-
nerte Situationstyp S.€Damit wird aber auch der konkrete Handlungswille hw, in der
Situation s die Handlung h auszuführen, zum generellen Handlungswillen HW, in der
Situation S die Handlung H auszuführen. Die konkrete Mittelwahl mw wird zur gene-
rellen Mittelwahl MW. Schließlich wird€– nimmt man an, dass alles Handeln zielgerich-
tet ist€– auch das konkrete Handlungsziel hz notwendig zum generellen Handlungsziel
HZ.35 Dies impliziert, wie sich aus dem soeben Gesagten ergibt, aber nicht, dass der
Verallgemeinerungstest immer auch das Handlungsziel HZ umfasst. Maximen haben
nach Kant selbst „noch Regeln unter sich“,36 sind also keine bloßen einfachen Vorsät-
ze oder Regeln, sondern letzte, allgemeinste Bestimmungsgründe bzw. eine allgemei-
ne Willensrichtung unseres Handelns und Lebens.37 Lässt man die Fälle von Pflichten
gegen sich selbst außer Betracht, so führt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten zwei Beispiele für eine moralische Konfliktlösung mit Hilfe eines Verallgemeine-
rungstests der Maximen durch den Kategorischen Imperativ an:

c) Das Beispiel des lügenhaften Versprechens

Beim ersten Beispiel eines Widerspruchs im Denken, der zu einer vollkommenen Pflicht
gegenüber Anderen führen soll, sieht sich jemand „durch Noth gedrungen“, Geld mit
der Versicherung zu borgen, es zurückzuzahlen, obwohl er weiß, dass er es nicht zurück-
zahlen kann und deshalb auch nicht zurückzahlen wird. Er gibt also ein lügenhaftes
Versprechen ab. Nach Kant wäre die Maxime eines entsprechenden Handlungswillens
und folglich einer entsprechenden Handlung nicht verallgemeinerbar, „denn die All-
gemeinheit eines Gesetzes, dass jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen
könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen
und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand
glauben würde, dass ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung als
eitles Vorgehen lachen würde“.38

35 Maximen enthalten zwar notwendig Ziele bzw. Intentionen, vgl. Marcus G. Singer, Verallgemeinerung
in der Ethik, S.€283â•›f., sind aber keine bloßen Intentionen, wie Singer, S.€287, anzunehmen scheint.
Sie sind auch keine bloßen „obersten Zwecksetzungen“, wie Reiner Wimmer, Universalisierung in der
Ethik, S.€333, formuliert. Für eine umfassendere Auffassung: Onora O’Neill, Consistency in Action,
S.€106╛f.
36 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S.€19.
37 Otfried Höffe, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, S.€359–362.
38 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S.€423.
180 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Die einzelnen Schritte des Verallgemeinerungstests lassen sich folgendermaßen prä-


zisieren:

(1) Willeâ•›/â•›Handlung des lügenhaften Versprechens: A fasst den konkreten Handlungs-


willen hw (Element fünf ), sich in der konkreten Situation s der Geldnot als Mittel (mw)
Geld zu leihen (h, Element sechs), um sich aus dieser Notsituation zu befreien (hz,
Element drei), wohl wissend, dass er es nicht zurückzahlen kann.

(2) Maxime des lügenhaften Versprechens: A fasst den generellen Handlungswillen


HW, sich in typisierten Situationen S der Geldnot als generelles Mittel (MW) Geld zu
leihen (H), um sich aus solchen Notsituationen zu befreien (HZ), wohl wissend, dass er
es nicht zurückzahlen kann.

(3) Hypothetische Verallgemeinerung der Maxime des lügenhaften Versprechens: Jeder


fasst den generellen Handlungswillen HW, sich in typisierten Situationen S der Geldnot
als Mittel (MW) Geld zu leihen (H), um sich aus solchen Notsituationen zu befreien
(HZ), wohl wissend, dass er es nicht zurückzahlen kann.

Das allgemeine Vertrauen auf die Ernsthaftigkeit von Versprechen, geliehenes Geld zu-
rückzuzahlen, ist eine tatsächlich bestehende gesellschaftliche Institution. Der Verstoß
gegen diese tatsächlich bestehende gesellschaftliche Institution ist dem A weder logisch
noch faktisch unmöglich. Jeder Einzelne kann logisch widerspruchsfrei ein derartiges
lügenhaftes Versprechen abgeben. Aber das ist nicht entscheidend, weil der Nichtwi-
derspruch ja nicht in der einzelnen Handlung (1), sondern zwischen der Maxime dieser
Handlung (2) und ihrer hypothetischen Verallgemeinerung (3) liegen soll.
Im Übrigen ist es auch nicht entscheidend, dass die gesellschaftliche Institution des
Vertrauens auf die Ernsthaftigkeit eines Versprechens, geliehenes Geld zurückzuzahlen,
durch massenhafte lügenhafte Versprechen erodieren und rein faktisch widerspruchsfrei
verschwinden kann.39 Für die Frage der Verallgemeinerungsfähigkeit der Handlung des
A ist die Notwendigkeit der im möglichen Widerspruch stehenden gesellschaftlichen
Institution irrelevant. Es genügt ihr tatsächliches Bestehen.
Die zentrale Frage lautet also, ob die Maxime (2) zur hypothetischen Verallgemei-
nerung (3) im Widerspruch steht. Nimmt man an, dass die allgemeine Praktik des
lügenhaften Versprechens die gesellschaftliche Institution des Vertrauens auf die Ernst-
haftigkeit des Versprechens, geliehenes Geld zurückzuzahlen, ausschließen würde,40 so
bestünde zwischen Maxime (2) und Verallgemeinerung (3) tatsächlich ein gedanklicher

39 Dieser Einwand findet sich bei Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€149.
40 Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€147, scheint anzunehmen, dass allgemei-
nes lügenhaftes Versprechen in Notsituationen die gesellschaftliche Institution des Vertrauens auf die
Ernsthaftigkeit nicht zerstört. Aber man muss annehmen, dass der Geldgeber die konkrete Situation
kennt, also weiß, dass sich der Versprechende in einer Notsituation befindet. Das Vertrauen auf Ver-
sprechen in Notsituationen wird dann unweigerlich zerstört. Es ist also für den Verallgemeinerungstest
gleichgültig, wie eng oder weit der Situationstyp gefasst wird.
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips 181

Widerspruch.41 Es ist gedanklich unmöglich, dass alle im Falle der Geldnot selbst lü-
genhafte Versprechen abgeben sowie dies auch von sich und allen anderen wissen und
gleichzeitig auf die Ernsthaftigkeit der Versprechen Anderer vertrauen.42 Derartige Ver-
sprechen können dann nicht mehr als Versprechen abgegeben werden, denn sie haben
keine Aussicht, beim Anderen Vertrauen als notwendige Bedingung für die Bereitschaft,
Geld zu verleihen, zu erzeugen. Das bedeutet also, dass die Maxime gedanklich nicht
verallgemeinerbar ist.43
Dabei kommt es für den Widerspruch im Denken nicht darauf an, mit welchem
Handlungsziel HW (Element drei) A das lügenhafte Versprechen abgegeben hat. Kant
erwähnt dieses Handlungsziel zwar zum Zweck der Situationsbeschreibung, nämlich
um sich „aus Not zu helfen“.44 Aber entscheidend für den Widerspruch in der Verall-
gemeinerung ist hier nicht das abstraktere Handlungsziel (Element drei), sondern der
typisierte Handlungswille (Element fünf ) und die typisierte Mittelwahl (Element vier)
bzw. die durch beide gesteuerte typisierte Handlung (Element sechs). Das Handlungs-
ziel bzw. der Zielwille, also das Element drei, könnten auch ganz andere sein, etwa sich
ein schönes Leben zu machen oder andere zu unterstützen. Das würde zwar den Situati-
onstyp ändern, wäre aber für den Widerspruch des verallgemeinerten Handlungswillens
des lügenhaften Versprechens im Denken nicht entscheidend.45

41 Der gedankliche Widerspruch ist kein formallogischer, aber auch kein bloß empirischer. Die Möglich-
keit eines derartigen gedanklichen Widerspruchs bleibt bei Korsgaards Unterscheidung zwischen einem
logischen, einem teleologischen und einem praktischen Widerspruch unberücksichtigt. Vgl. Christine
M. Korsgaard, Kant’s Formula of Universal Law, in: dies., Creating the Kingdom of Ends, S.€77–105,
S.€78╛ff. Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, S.€458╛ff.,
geht dagegen von der Suche nach einem logischen Widerspruch aus, nennt aber dann auch einen prag-
matischen Widerspruch. Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S.€339, unterscheidet einen
logischen und einen transzendentalpragmatischen Widerspruch und bejaht nur letzteren.
42 Einen Widerspruch bejahen auch Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S.€ 295–299,
Günther Patzig, Der Kategorische Imperativ in der Ethik-Diskussion der Gegenwart, S.€156, Otfried
Höffe, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, S.€376–378, William K. Frankena,
Ethics, S.€31, und Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflich-
ten, S.€465, während Richard B. Brandt, Ethical Theory, S.€32, und Dieter Birnbacher, Analytische
Einführung in die Ethik, S.€149â•›ff., zwar den Widerspruch im Denken ablehnen, den Widerspruch im
Wollen aber akzeptieren, der allerdings lediglich zu einer unvollkommenen Pflicht führt. Auch Reiner
Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S.€347, bejaht nur einen transzendentalpragmatischen Wider-
spruch im Wollen, der überdies kein Kriterium der Moralität ist.
43 Joachim Aul, Aspekte des Universalisierungspostulats in Kants Ethik, Neue Hefte für Philosophie 22
(1983), S.€ 62–94, S.€ 73, hält dies mit folgendem Argument nur in der empirischen, nicht in jeder
möglichen Welt für zutreffend: In einer Welt, deren Bewohner immer wieder vergessen, dass bisher alle
ihre Versprechen lügenhaft gewesen sind, würde man Versprechen allgemein Glauben schenken. Aber
das allgemeine Glaubenschenken setzt ja die Annahme voraus, dass man sich an die Abgabe der Ver-
sprechen erinnern kann. Wie die Bewohner dann immer wieder vergessen sollen, dass die Versprechen
lügenhaft waren, ist nicht einsehbar.
44 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€422.
45 Allerdings sieht Kant beim ersten Beispiel einer vollkommenen Pflicht gegen sich selbst, dem Verbot
des Suizids aus Selbstliebe, den Widerspruch nicht im Willen zur Tötungshandlung als solcher, sondern
in der Selbstwidersprüchlichkeit einer Selbstliebe, die gleichzeitig das Leben befördert und zerstört
(Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€422). Hier wird die Selbstliebe aber nicht als Handlungs-
ziel bzw. Zielwille relevant, sondern als Faktum der natürlichen Selbsterhaltung, das zum typisierten
182 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Beim Widerspruch des verallgemeinerten lügenhaften Versprechens kommt es nach


Kant auch nicht darauf an, ob wir die soziale Institution des Vertrauens auf die Ernsthaf-
tigkeit von Versprechen, geliehenes Geld zurückzuzahlen, für gut oder schlecht halten,
denn sie wird bei der in Rede stehenden Handlung des falschen Versprechens einfach
vorausgesetzt. Aber kann das überzeugen? Es ist eingewandt worden, dass der Kate-
gorische Imperativ nicht nur die Erhaltung von wünschenswerten, sondern auch von
nicht wünschenswerten Institutionen unterstützt, denn der Wert der Institution ist für
den hypothetischen Widerspruch zwischen der Maxime und ihrer Verallgemeinerung
irrelevant.46 Daran ist zutreffend, dass der Verallgemeinerungstest die Recht�fertigung
der sozialen Institution selbst nicht begründen kann. Insofern ist er nicht in der Lage,
eine vollständige Antwort auf die Frage nach der Moralität einer Handlung zu geben. Er
sichert zwar die prinzipielle Gleichberücksichtigung aller, setzt aber die Belange, welche
die Handlung des Akteurs rechtfertigen, und die Belange, welche die soziale Institution
legitimieren, voraus.
Beim Verallgemeinerungskriterium des Widerspruchs im Denken liegt ein weiteres
Problem in der Nichtberücksichtigung der jeweiligen Ziele jenseits der Situationsbe-
schreibung. Ihr genuiner moralischer Wert ist damit ohne Bedeutung. So mag man sich
fragen, ob das lügenhafte Versprechen oder die Lüge generell nicht vielleicht doch in
extremen Notsituationen der Lebensrettung erlaubt sein müssten, wie es ja bereits der
Begriff der „Notlüge“ nahelegt. Kant selbst war sicher nicht dieser Auffassung, wie seine
strikte Ablehnung der Lüge zur Verhinderung eines Mordes bzw. Totschlags in seinem
Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen zeigt. Aber die Verallge-
meinerung der Maxime, in Situationen der Irreführung eines Mörders aus Notwehr zu
lügen, würde allenfalls ein mögliches Vertrauen von Mördern und anderen Straftätern,
keine Notwehr erwarten zu müssen, untergraben. Ob auf diese Weise die Kollision
zweier grundsätzlicher moralischer Pflichten, der Pflicht, die Wahrheit zu sagen, und
der Pflicht, nicht zur Tötung Unschuldiger beizutragen, in einem Konflikt angemessen
gelöst wird, erscheint außerordentlich zweifelhaft. Wie sich in Kapitel€III ergab, ist der
vollständige Verzicht auf die Berücksichtigung der voraussehbaren Folgen einer Hand-
lung auch auf der abstrakten Ebene der Bestimmung allgemeiner Prinzipien der Moral
ebenso wenig zu rechtfertigen wie die Beschränkung auf die Berücksichtigung dieser
Folgen oder deren Primärsetzung durch den Konsequentialismus.
Das bedeutet in Kants Beispiel: Das Verallgemeinerungskriterium des Widerspruchs
im Denken enthält als Anerkennung der hypothetischen Möglichkeit eines gleichen
Handelns aller ein wichtiges Element ethischer Beurteilung und konkretisiert damit das
Allprinzip des normativen Individualismus in begründeter Weise. Aber es ist nicht in
der Lage, allein die vollständige ethische Rechtfertigung einer Handlung zu garantieren,
weil es zum einen die beim möglichen Widerspruch vorausgesetzten sozialen Institu-

Willen des Suizids in Widerspruch treten soll. Da eine soziale Tatsache hier nicht zur Verfügung steht,
muss Kant ein natürliches Faktum im Akteur finden, um einen€– kaum überzeugenden€– Widerspruch
annehmen zu können.
46 Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, S.€468; Dieter
Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€151.
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips 183

tionen nicht ihrerseits adäquat bewerten und zum anderen Pflichtenkollisionen nicht
immer umfassend und deshalb allgemein lösen kann.

d) Das Beispiel der unterlassenen Hilfe

Beim zweiten Beispiel eines Widerspruchs im Wollen und damit einer unvollkomme-
nen Pflicht gegenüber Anderen weigert sich ein Akteur, zum Wohlbefinden eines Ande-
ren oder zu dessen Hilfe in Not beizutragen, obwohl er dies ohne Schwierigkeiten tun
könnte, ihm also eine Hilfeleistung zumutbar wäre. Die Erwägung hinter dem Unter-
lassen der Hilfe lautet: „Mag doch ein jeder so glücklich sein, als es der Himmel will,
oder er sich selbst machen kann, …“47 Die entsprechende Maxime, die Hilfeleistung
zu unterlassen, würde nach Kant zwar nicht zu einem Widerspruch im Denken, aber
zu einem Widerspruch im Wollen führen und wäre deshalb nicht verallgemeinerbar.
Kant begründet dies folgendermaßen: „Denn ein Wille, der dieses beschlösse, würde
sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche ereignen können, wo er
anderer Liebe und Teilnehmung bedarf, und wo er durch ein solches aus seinem eigenen
Willen entsprungenes Naturgesetz, sich selbst alle Hoffnung des Beistandes, den er sich
wünscht, rauben würde.“48

Man kann die einzelnen Schritte dieses Verallgemeinerungstests folgendermaßen prä-


zisieren:

(1) Willeâ•›/â•›Handlung der unterlassenen Hilfe: A fasst den konkreten Handlungswillen


hw (Element fünf ), einem Anderen in der konkreten Situation s seiner Not nicht zu
helfen (mw, h), obwohl er ohne Weiteres helfen könnte, damit jeder so glücklich ist „als
es der Himmel will oder er sich selbst machen kann“ (hz) (Element drei).

(2) Maxime der unterlassenen Hilfe: A fasst den generellen Handlungswillen HW, ei-
nem Anderen in der typisierten Situation S seiner Not stets nicht zu helfen (MW, H),
obwohl er ohne weiteres helfen könnte, damit jeder so glücklich ist „als es der Himmel
will oder er sich selbst machen kann“ (HZ).

(3) Hypothetische Verallgemeinerung der Maxime der unterlassenen Hilfe: Jeder fasst
den generellen Handlungswillen HW, einem Anderen in der typisierten Situation S sei-
ner Not nicht zu helfen (MW, H), obwohl er ohne weiteres helfen könnte, damit jeder
so glücklich ist „als es der Himmel will oder er sich selbst machen kann“ (HZ).

Anders als beim ersten Beispiel gibt es hier keine soziale Institution, zu der das verallge-
meinerte Handeln, also die Maxime bzw. der verallgemeinerte Handlungswille aller in

47 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€423.


48 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€423.
184 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Widerspruch treten könnte. Fraglich ist deshalb kein Widerspruch zum Handlungswil-
len bzw. der Mittelwahl, also zu den Handlungselementen fünf und vier, sondern nur
ein Widerspruch, der das Handlungsziel, also das Handlungselement drei betrifft. Das
Handlungsziel umfaßt nun aber, dass jeder so glücklich sein soll „als es der Himmel will
oder er sich selbst machen kann“.49 Fraglich ist also, ob die verallgemeinerte Maxime
dieses Handlungsziels in sich widersprüchlich ist.
Dafür wurde ins Feld geführt, dass jemand, der den Willen hat, in der Not ohne
Hilfe zu sein, nicht seine eigene Glückseligkeit zum Zweck haben kann und also sein ei-
genes Unglück will, was unmöglich ist.50 Dies sei eine analytisch-apriorische Wahrheit.
Allerdings wird damit zum einen schon wie von Kant die Verfolgung der eigenen Glück-
seligkeit als notwendiger Wille und damit als naturteleologische Tatsache vorausgesetzt.
Zum anderen setzt die Verfolgung der eigenen Glückseligkeit nicht analytisch-apriorisch
notwendig die Inanspruchnahme fremder Hilfe voraus. Im Begriff der Glückseligkeit ist
die Inanspruchnahme fremder Hilfe nicht bereits begrifflich enthalten, denn man kann
folgende Überlegung anstellen: Wer in schwierigen Situationen von vornherein auf die
Hilfe Anderer setzt, wird sein Leben sicherlich mit geringerer Aufmerksamkeit auf Ri-
siken führen und verzichtet überdies auf die Kultivierung eigener Fähigkeiten, was ein
unglücklicheres Leben nach sich zöge. Insgesamt wären also alle vielleicht glücklicher,
wenn auf eine generelle Hilfeleistung in Not verzichtet würde. Das mag angesichts der
conditio humana eine wenig realistische Erwägung sein, aber sie ist durch den Glücks-
begriff nicht apriorisch-analytisch ausgeschlossen.
Weiterhin wurde für Kants Lösung folgendermaßen argumentiert:51 Im Unterschied
zum BeÂ�griff des Wünschens rechne es Kant analytisch zum Begriff des Willens, sich nicht
bloß Ziele zu setzen, sondern diese Ziele auch mit den erforderlichen und dem Wollen-
den zu Gebote stehenden Mitteln zu verfolgen. Es gehöre aber zum Begriff der Notlage,
dass man gewisse lebenswichtige Ziele wolle und sie gleichwohl nicht aus eigener Kraft
realisieren könne. Dann könne es eine Person aber nicht als Naturgesetz wollen, einer-
seits lebenswichtige Ziele zu wollen und den einzigen Weg der Realisierung in der Hilfe
anderer zu sehen, diesen Weg der Realisierung seiner Ziele aber nicht zu wollen.
Es dürfte nicht zweifelhaft sein, dass jemand, der im Einzelfall lebenswichtige Ziele
will und diese nur mit Hilfe Anderer realisieren kann, allen Grund hat, deren Hilfe zu
wollen. Problematisch ist hier aber die Bewertung der Verallgemeinerung. Die Verknüp-
fung von Zielen und Mitteln ist in einer empirisch-kontingenten Welt immer auch empi-
risch-kontingent und deshalb subjektiven Einschätzungen und Wertungen unterworfen.
Es kann deshalb gute Gründe geben, ein Mittel nicht zu wollen, welches als einziges

49 Verschiedentlich wird dieses Ziel anders bestimmt. So meint Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in
der Ethik, S.€308, allerdings ohne textliche Grundlage, die Gründe, sich so zu entscheiden, seien „ganz
klar die, dass er die Unbequemlichkeiten und Opfer vermeiden will, die die Hilfe für andere mit sich
bringen würde“.
50 Julius Ebbinghaus, Deutung und Mißdeutung des Kategorischen Imperativs, in: ders., Gesammelte
Aufsätze, Vorträge und Reden, Darmstadt 1968, S.€80–96, S.€94.
51 Otfried Höffe, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, S.€382â•›ff. Vgl. zu einer ähn-
lichen Argumentation: Onora O’Neill, Consistency in Action, S.€123.
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips 185

Mittel das gewollte Ziel realisieren könnte. Im Beispielsfall mag zwar die fremde Hilfe das
einzige denkbare Mittel in einer konkreten Notlage sein. Aber eine hypothetisch verall-
gemeinernde Überlegung wird berücksichtigen müssen, dass die generelle Akzeptanz der
Hilfe Anderer zur sinkenden Aufmerksamkeit auf Risiken und zur Abnahme der Kultivie-
rung eigener Kräfte führen wird. Ob die allgemeine Inanspruchnahme der Hilfe Anderer
unseren Zielen generell besser entspricht oder nicht, ist eine kontingente Frage der Ein-
schätzung und Bewertung. Im Übrigen kann die Prüfung der typisierten Mittelwahl nach
dem oben Gesagten allenfalls zu einem Widerspruch im Denken führen, nicht aber zu
einem Widerspruch im Wollen, wie er von Kant für diese Beispiel angenommen wird.
Mit der Verweigerung der Hilfeleistung setzt sich der Akteur anders als beim falschen
Versprechen nicht zu einer selbst in Anspruch genommenen sozialen Praxis in Wider-
spruch, denn er nimmt damit selbst keine Hilfe in Anspruch. Er kann also ohne Weiteres
die Hilfe verweigern und für sich selbst auf Hilfe verzichten. Das wäre sicher sehr unklug.
Aber ein prinzipieller Widerspruch wie beim falschen Versprechen liegt darin nicht.52 Ein
Widerspruch entstünde allenfalls, sofern man einen von zwei möglichen zusätzlichen
Faktoren ins Spiel brächte:
Der eine mögliche zusätzliche Faktor wäre die Annahme einer teleologischen Na-
tur des Akteurs, die ihn zur Erhaltung seines Lebens mit allen denkbaren geeigneten
und notwendigen Mitteln verpflichtete.53 Da die Inanspruchnahme der Hilfe Anderer
wohl ein solches Mittel wäre, würde die Verweigerung der Hilfeleistung für Andere
bei grundsätzlicher notwendiger Bereitschaft, selbst Hilfe anzunehmen, einen Wider-
spruch darstellen. Dieser Widerspruch kann aber nur auf der Grundlage der stark me-
taphysischen Annahme einer derartigen teleologischen Natur des Menschen zu Stande
kommen. Da derartige Annahmen in einer säkular-immanenten Ethik jedoch nicht
vorausgesetzt werden können, darf man diesen Faktor in einer derartigen Ethik nicht
zur allgemeinverbindlichen Rechtfertigung eines Widerspruchs heranziehen.
Der andere mögliche zusätzliche Faktor wäre, die Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und
Strebungen des Akteurs ins Feld zu führen, kurz, seine Belange, die ihn dazu bestim-
men, fremde Hilfe zu akzeptieren. Und diese Bestimmung besteht tatsächlich: Die Be-
lange der Menschen sind vielfach auf die eigene Erhaltung und das eigene Lebensglück
gerichtet. Sie beziehen sich dann aber auch auf mögliche Mittel zur Realisierung dieser
Ziele, also auf das wohl nötige Mittel, die Hilfe Anderer anzunehmen. Aber das Ziel
der Selbsterhaltung ist, sofern man es nicht mit der ersten Alternative teleologisch fasst,

52 Einen Widerspruch verneinen bei diesem Beispiel auch Henry Sidgwick, The Methods of Ethics,
S.€389â•›f.; William K. Frankena, Ethics, S.€33, und Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die
Ethik, S.€153â•›f., bejaht wird er außer von Ebbinghaus und Höffe etwa von Marcus G. Singer, Verall-
gemeinerung in der Ethik, S.€ 307–316, Barbara Herman, Mutual Aid and Respect for Persons, in:
Paul Guyer (Hg.), Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals. Critical Essays, S.€133–164, und
Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S.€353╛ff., allerdings von letzterem nur als transzen-
dentalpragmatischer Widerspruch, der lediglich die fehlende Zweckrationalität, nicht das moralische
Verbot erweisen soll.
53 Für eine teleologische Interpretation vgl.â•›H.â•›J. Paton, The Categorical Imperative. A Study in Kant’s
Moral Philosophy, 3.€Aufl. London 1958, S.€108╛ff., 149╛ff., 261╛ff., Reiner Wimmer, Universalisierung
in der Ethik, S.€336, 355╛ff.
186 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

bloß ein empirisch-kontingentes. Jeder einzelne Mensch kann sich ohne Weiteres dage-
gen entscheiden. Der Selbstmörder tut dies per definitionem. Ist dies möglich, so kann
er sich aber auch für das Prinzip entscheiden, dass generell keine Hilfe geleistet werden
soll. Die eigenen Belange können dieses Prinzip nicht allgemein widersprüchlich ma-
chen, sondern führen in einen wenig überzeugenden Relativismus, je nachdem, ob der
Einzelne selbst Hilfe wünscht oder nicht.54
Man hat bei diesem Beispiel also nur zwei gleichermaßen unbefriedigende Optio-
nen: starke metaphysische Annahmen oder ein Überschreiten der kantschen Grundvor-
aussetzungen unter Hinzuziehung empirisch-kontingenter Belange, was aber auch nicht
zu einem Widerspruch führt. Kant selbst wählt selbstredend die erste Option. Aber die-
se Wahl stößt vor dem Hintergrund einer säkular-immanenten normativ-individualistiÂ�
schen Ethik auf Bedenken. Die Folge ist, dass das zweite Beispiel als Konkretisierung des
Prinzips der Verallgemeinerung nicht überzeugen kann. Es gibt also offenbar Normen
wie das Gebot zur Hilfeleistung, die wir allgemein als ethisch gerechtfertigt ansehen, die
sich aber nicht mit Hilfe des Verallgemeinerungskriteriums in der kantschen Version
begründen lassen.

e) Ist der Verallgemeinerungstest bei vollkommenen Pflichten begründet?

Man könnte allerdings vermuten, die Zweifelhaftigkeit des Verallgemeinerungskrite-


riums entstehe nur für Fälle einer positiven Hilfspflicht. Fraglich ist also, ob das Ver-
allgemeinerungskriterium wie beim Beispiel des lügnerischen Versprechens wenigstens
für alle Fälle unzweifelhafter Handlungsverbote bzw. für alle vollkommenen Pflichten
zu einer begründeten Abwägung führt. Das allgemeine Tötungsverbot müsste etwa als
grundlegendes moralisches Verbot durch einen solchen Widerspruch begründbar sein.
Man nehme folgendes Beispiel: Der A überlegt, ob er den B aus Rache für eine Ehrver-
letzung töten darf. Wille, Maxime und Verallgemeinerung lassen sich dann folgender-
maßen präzisieren:

(1) Willeâ•›/â•›Handlung der Tötung: A fasst den konkreten Handlungswillen hw, den B
in der konkreten Situation s zu töten (mw, h), um sich für eine Ehrverletzung des B zu
rächen (hz).

(2) Maxime der Tötung: A fasst den generellen Handlungswillen HW, einen anderen X
in der typisierten Situation S zu töten (MW, H), um sich für dessen Ehrverletzung zu
rächen (HZ).

(3) Hypothetische Verallgemeinerung der Maxime der Tötung: Jeder fasst den generel-
len Handlungswillen HW, einen anderen X in der typisierten Situation S zu töten (MW,
H), um sich für dessen Ehrverletzung zu rächen (HZ).

54 Vgl. Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, S.€472╛f.
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips 187

Die Verallgemeinerung (3) wäre sicher dann widersprüchlich, wenn alle getötet wür-
den, denn dann würde auch A getötet und könnte selbst niemanden töten. Aber die
hypothetische Verallgemeinerung führt nur dazu, dass jeder in seiner Ehre Verletzte den
Ehrverletzer aus Rache tötet. Dies ist aber widerspruchsfrei annehmbar, weil man nicht
voraussetzen kann, dass alle in der Ehre Verletzte auch Ehrverletzer sind. Ein Wider-
spruch im Denken entsteht also nicht.55
Um hinsichtlich der Tötungsmaxime wenigstens einen Widerspruch im Wollen an-
zunehmen, ist angeführt worden, dass man als rationaler Akteur alles wolle, was not-
wendig ist, um ein rational Handelnder zu sein. Deshalb wolle man am Leben bleiben.
Man könne also nicht widerspruchsfrei zum Willen, am Leben zu bleiben, die verallge-
meinerte Maxime wollen, aus Rache zu töten.56 Aber davon einmal abgesehen, dass ein
bloßer Widerspruch im Wollen nur zu einer unvollkommenen Pflicht führt, die unseren
Annahmen hinsichtÂ�lich der ethischen Bewertung des Tötungsverbots kaum entspräche,
kann diese Überlegung aus folgendem Grund nicht überzeugen: Entscheidend ist hier die
Bedingung der Ehrverletzung in der Maxime und ihre hypothetische Verallgemeinerung.
Nur der andere, der per definitionem Ehrverletzer ist, wird also hypothetisch getötet. Das
ist aber ohne Weiteres mit dem Willen jedes rationalen Agenten vereinbar, am Leben zu
bleiben, denn er ist ja nicht notwendig oder auch nur wahrscheinlich gezwungen, selbst
ein Ehrverletzer zu sein. Auch ein Widerspruch im Wollen ist also nicht ersichtlich. Das
Handlungsziel bzw. der Zielwille, Ehrverletzer aus Rache für Ehrverletzungen zu töten,
würde zwar zu einer gewalttätigen Gesellschaft führen, ist aber nicht widersprüchlich, so-
fern man keine teleologischen Zusatzannahmen des notwendigen Strebens nach Selbster-
haltung oder empirisch-kontingenÂ�te Belange einer stärkeren Sicherung gegen Tötungen
aus Gründen der Ehrverletzung hinzunimmt. Eine Gesellschaft wechselseitiger privater
Tötungen aus Rache für Ehrverletzungen würde zwar grundlegenden Belangen der meis-
ten Mitglieder zuwiderlaufen. Sie ist aber nicht nur im Hinblick auf den Handlungs-
willen, sondern auch im Hinblick auf das Handlungsziel bzw. den Zielwillen einzelner
Tötungen nicht prinzipiell widersprüchlich. Der Verallgemeinerungstest kann also insge-
samt das Verbot der Tötung aus Rache für Ehrverletzungen nicht begründen.
Onora O’Neill führt verschiedene weitere scheinbar sehr einfache Beispiele der An-
wendung des Verallgemeinerungstests an:57 Die Maxime, ein Sklave zu werden, sei nicht
verallgemeinerbar, denn wenn jeder ein Sklave würde, so gäbe es niemanden mit Eigen-
tumsrechten, also keine Sklavenhalter, so dass niemand ein Sklave werden könnte. Das
gleiche gelte umgekehrt für die Maxime, ein Sklavenhalter zu werden, denn wenn jeder
ein Sklavenhalter würde, so gäbe es keine Sklaven, also auch keine Sklavenhalter. Ver-
gleichbares gilt für Maximen des Zwangs, der Täuschung oder der Abhängigmachung
der eigenen Urteile von den Urteilen anderer. Wenn alle zwingen, kann niemand ge-

55 Selbst Kantianer bzw. Kantianerinnen gestehen dies zu, etwa Marcia W. Baron, Kantian Ethics, S.€73╛ff.;
Christine M. Korsgaard, Kant’s Formula of Universal Law, S.€100.
56 Marcia W. Baron, Kantian Ethics, S.€73╛ff.
57 Onora O’Neill, Consistency in Action, S.€119â•›ff. Als weiteres Beispiel dieser Art findet sich bei Marcus G.
Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S.€305, das Beispiel eines Vergewaltigten bzw. Vergewaltigers.
188 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

zwungen werden. Wenn alle täuschen, kann niemand getäuscht werden. Und wenn alle
ihre Urteile von den Urteilen anderer abhängig machen, dann kann niemand dies tun,
weil es dann keine unabhängigen Urteile mehr gibt, von denen er sein Urteil abhängig
machen könnte.
In all diesen Fällen scheitert die Verallgemeinerung an der Tatsache, dass jeweils
asymmetrisch relationale Handlungen vorliegen, die zwei Personen mit unterschiedli-
chem Status als Relationsglieder voraussetzen. Wenn der Status einer Person, das heißt
eines Relationsglieds wie dem Sklaven oder dem Sklavenhalter, universalisiert wird, so
schließt das aus, dass noch Personen übrigbleiben, die den Status des anderen Relations-
glieds einnehmen können. Die Folge ist, dass die Relation als solche unmöglich wird
und damit auch die Verallgemeinerung der Handlung der einzelnen Relationsglieder.
Aber es stellt sich die Frage, ob damit dann auch die ethisch bzw. moralisch negative
Bewertung der jeweiligen Relation bzw. des Tuns der Relationsglieder erwiesen ist.
Man nehme folgendes Beispiel: Arzt A will den B mit dessen Einverständnis un-
ter Narkose operieren. Die Maxime würde dann lauten: A operiert einen Anderen mit
dessen Einverständnis unter Narkose. Die Verallgemeinerung der Maxime wäre: Alle
operieren einen Anderen mit dessen Einverständnis unter Narkose. Unter der Voraus-
setzung, dass es unmöglich ist, gleichzeitig einen Anderen mit dessen Einverständnis
unter Narkose zu operieren und selbst unter Narkose operiert zu werden, wäre diese
Verallgemeinerung unmöglich. Die Folge wäre, dass es Ärzten verboten wäre, Andere
mit deren Einverständnis unter Narkose zu operieren€– ein Ergebnis, das niemand im
Ernst für akzeptabel halten würde. Wie lässt sich dies erklären? Die bloße Asymmetrie
von Handlungen, welche die Verallgemeinerung ausschließt, rechtfertigt für sich allein
noch keine ethische Bewertung der Handlung. Denn es handelt sich schlichtweg um die
ethisch bzw. moralisch vollkommen neutrale Notwendigkeit des Unterschieds zweier
Relationsglieder einer asymmetrischen Relation, weil sonst ein Widerspruch zur Voraus-
setzung der Asymmetrie auftreten würde. Wendet man nun das Asymmetriekriterium
so an, dass alle Relationsglieder wie eines der beiden Relationsglieder sein sollen, so ist
der Widerspruch zur Voraussetzung der Asymmetrie unvermeidlich. Das Phänomen
zeigt sich aber auch bei einer so ethisch vollkommen insignifikanten Relation wie der
Relation zwischen einem größeren und einem kleineren Stein. Es ist unter Annahme
dieser faktischen Größer-Kleiner-Relation unmöglich, sich alle Steine als größere oder
kleinere oder in der Größe identisch mit dem größeren oder kleineren Stein zu denken.
Das zeigt aber, dass eine solche Unmöglichkeit der Verallgemeinerung nicht hinrei-
chend ist, um die ethische Negativität einer Handlung zu erweisen. Nötig ist vielmehr
zusätzlich der Widerspruch zu einer sozialen Institution oder weitere, außerhalb des
Verallgemeinerungstests liegende Gründe.
Man kann zusammenfassen: Das Verallgemeinerungsprinzip des Kategorischen Im-
perativs eignet sich zum Ausschluss einiger spezieller Handlungen, wie dem lügenhaften
Versprechen, die bestimmten sozialen Institutionen zuwiderlaufen.58 Es kann aber selbst

58 Eine andere Handlung, die gegen eine soziale Institution verstößt, sie aber gleichzeitig voraussetzt, ist
der Dieb�stahl von Eigentum. Man kann es nicht als allgemeines Gesetz wollen, dass jeder beliebig steh-
3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips 189

bei diesen Handlungen nicht alle Aspekte der moralischen Beurteilung erfassen, weil die
sozialen Institutionen und ihre Bewertung ihrerseits vorausgesetzt werden müssen. Das
Verallgemeinerungsprinzip des Kategorischen Imperativs kann aber verschiedene sons-
tige, allgemein akzeptierte moralische Normen wie das Tötungsverbot aus Rache und
das allgemeine Hilfsgebot nicht ethisch rechtfertigen, weil insofern eine Verallgemei-
nerung möglich ist. Umgekehrt bestehen manche ethisch neutrale oder sogar positive
Handlungen den Verallgemeinerungstest nicht. Das Verallgemeinerungsprinzip kann
also in einzelnen Fällen zu einer ethischen Bewertung führen. Es ist aber als generelles
Prinzip der Zusammenfassung weder hinreichend noch notwendig für die ethische Ab-
wägung. Es eignet sich deshalb nicht als einziges Prinzip zur Lösung aller ethischen bzw.
moralischen Konflikte.59 Erforderlich sind vielmehr weitere Prinzipien der Abwägung
bzw. Zusammenfassung und ein Metaprinzip, das den jeweiligen Einsatz der verschie-
denen konkreteren Prinzipien steuert.

f ) Singers Argument der Verallgemeinerung

Marcus George Singer hat folgendes „Argument der Verallgemeinerung“60 vorgeschla-


gen: „Wenn jeder x tun würde und die Folgen wären negativ, so sollte niemand x tun“.
Singers Argument der Verallgemeinerung ist also auf die konsequentialistische Bewer-
tung der Folgen eingeschränkt.61 Akzeptiert man die Kritik am Konsequentialismus in
Kapitel€III, so ist das Argument der Verallgemeinerung schon allein deshalb als allge-
meines Abwägungsprinzip untauglich. Allenfalls in gewissen Fällen der Beschränkung
der relevanten Belange auf die Folgen könnte es zum Einsatz kommen. Gilt es wenigs-
tens in diesen Fällen der Beschränkung auf die Folgenbewertung allgemein?
Ein Beispiel: Professor A hat lange gearbeitet und überlegt spät abends, zur Abkür-
zung des Weges von seinem Büro zur S-Bahn die liebevoll gepflegte und deshalb für
die allgemeine Betretung gesperrte Rasenfläche der Universität zu überqueren. Unter
der Voraussetzung, dass in der Dunkelheit niemand zur Nachahmung angeregt würde,
wären die Folgen dieser Handlung positiv, denn A würde einige Minuten sparen und

len kann, denn dann würde es kein Eigentum mehr geben und ein Diebstahl wäre unmöglich. Dieses
Beispiel zeigt deutlich, dass der Zweck des Diebstahls beim Widerspruch im Denken bezüglich des
Handlungswillens gleichgültig ist. Vgl. zu einer Bejahung der Unmöglichkeit der Verallgemeinerung
des Diebstahls: Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S.€292.
59 Diese Folgerung lässt sich wohl durchaus als allgemeines Ergebnis der Diskussion der kantschen Theo-
rie in den letzten Jahrzehnten ansehen. Man kann feststellen, dass auch nichtkantianische Theoretiker
wie Birnbacher und Frankena Kants Beispiel des lügenhaften Versprechens anerkennen, während selbst
Kantianer(innen) wie Baron und Korsgaard einräumen, dass der Verallgemeinerungstest bei Tötungs-
handlungen aus Rache versagt.
60 Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S.€86.
61 Singer leitet das Argument der Verallgemeinerung aus dem Prinzip des Handlungsutilitarismus („Prin-
zip der Folgen“) und dem Prinzip der Gleichheit („Prinzip der Universalisierung“) ab: Marcus G.
Â�Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S.€87â•›ff. Vgl. zu einer sehr detaillierten und überzeugenden
Kritik: Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, S.€41–108.
190 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

der Rasen würde nicht dauerhaft bzw. wesentlich geschädigt, sofern ihn nur eine einzige
Person betritt. Aus einer handlungsutilitaristischen Warte wäre es dem A also erlaubt,
die gesperrte Rasenfläche zu überqueren. Das Argument der Verallgemeinerung führt
dagegen zu einem Verbot, über den Rasen zu gehen, da bei ihm nicht die realen Folgen
der einzelnen Handlung, sondern die hypothetischen Folgen der allgemeinen Ausfüh-
rung dieser einzelnen Handlung entscheidend sein sollen. Diese hypothetischen Folgen
der allgemeinen Ausführung wären€– so sei angenommen€– negativ: Der Rasen würde
durch das Betreten aller Universitätsangehörigen zerstört, was€– so die Voraussetzung
des Beispiels€ – in der Gesamtbilanz schlechter ist als der summierte Zeitgewinn für
diejenigen, die den Rasen überqueren.
Nun gilt aber selbst in derartigen Fällen der Beschränkung auf die Folgenbewer-
tung die konsequentialistische Version des Verallgemeinerungsprinzips nicht allgemein.
Manche Handlungen hätten zwar negative Folgen, wenn alle entsprechend handelten.
Haben aber gar nicht alle ein Interesse an der Ausführung der Handlung, muss das be-
rücksichtigt werden. Dann ist nicht ersichtlich, warum die Handlung einigen verwehrt
bleiben sollte:62 Wären etwa die Gesamtfolgen negativ, wenn alle Golf spielten, etwa
wegen des unverhältnismäßigen Flächenverbrauchs und des Ausfalls an Arbeitsleistung,
so würde das nicht rechtÂ�fertigen, einigen das Golfspiel zu untersagen, wenn ohnehin
nur wenige spielen wollen und durch deren Spiel keine gravierenden negativen Folgen
eintreten. Selbst im eingeschränkten Bereich der Folgenbewertung kann das Prinzip
also nur unter der Bedingung gelten, dass die negativen Folgen bereits eintreten, wenn
alle, die dies können, die Handlung vermutlich auch ausführen wollen (was natürlich
manchmal schwer vorhersagbar ist). Oder allgemeiner formuliert: Das Argument der
Verallgemeinerung kann nur in denjenigen Fällen der folgenbeschränkten Unfairness
überzeugen, in denen so viele eine Handlung ausführen wollen, dass ihr Handeln ne-
gative Folgen hätte. Maßt sich dann jemand eine Ausnahmestellung an und hält er sich
auf Kosten der Anderen nicht an die Verpflichtung, um sich einen Vorteil zu sichern, so
handelt er unfair, das heißt unethisch.63
Das Beispiel des Verbots, den Rasen zu überqueren, zeigt ganz deutlich, in welchen
Fällen das Argument der Verallgemeinerung zu einer begründeten Abwägung führt: in
den Fällen der Inanspruchnahme allgemeiner Güter, Einrichtungen oder Institutionen,
die für eine größere anonyme Gruppe möglich und gewollt ist, und die allgemein prak-
tiziert diese Güter, Einrichtungen oder Institutionen, deren positiver Wert wie beim
kantschen Verallgemeinerungskriterium vorausgesetzt werden muss, schädigen oder
erschöpfen würde. In diesen speziellen Fällen kommt es nicht auf eine umfassende Ab-
wägung aller Aspekte der je individuellen Belange an. Es kommt also nicht darauf an
festzustellen, warum jemand über den Rasen gehen will oder ob es in der individuellen
Abwägung sinnvoll ist, den Rasen zu erhalten, statt kürzere Wege zu ermöglichen. Es
genügen die negativen Konsequenzen des hypothetisch verallgemeinerten Handelns,
die alle vermeiden wollen, um das Handeln als grundsätzlich unfair zu kennzeichnen.

62 Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€157â•›ff.


63 Vgl. Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, S.€111–115.
4. Kritik des Maximierungsprinzips 191

Aber selbst wenn die Konsequenzen des hypothetisch verallgemeinerten Handelns ne-
gativ sind, so dass das Argument der Verallgemeinerung Anwendung findet und ein allge-
meines Verbot rechtfertigt, kann auch dieser Verallgemeinerungstest nur zu einer partiellen
ethischen Beurteilung der Handlung führen. Denn zum einen muss die Folgenbewertung
immer vervollständigt werden: Wenn etwa am anderen Ende des Rasens jemand zusam-
mengebrochen ist und dringend erste Hilfe zur Rettung seines Lebens benötigt, so wird das
Betretungsverbot ohne Zweifel durch das Hilfsgebot gegenüber dem Verletzten relativiert
und man darf den Rasen überqueren. Zum anderen lässt sich die ethische Beurteilung einer
Situation€– wie sich in Kapitel€III ergab€– prinzipiell nicht auf die Folgenbewertung be-
grenzen: Hat man etwa dem Universitätspräsidenten hoch und heilig versprochen, zu einer
genau angegebenen Uhrzeit bei ihm zu einem außerordentlich wichtigen Termin zu erschei-
nen und ist das nur durch Überquerung der gesperrten Rasenfläche möglich, so relativiert
das die hypothetische Folgenbewertung durch das Argument der Verallgemeinerung.

g) Zusammenfassung

Sowohl die Fälle, in denen die kantsche Form des Verallgemeinerungstests der HandÂ�
lungsÂ�maxime eine Handlung als unethisch erweist, als auch die Fälle, in denen das
Singersche Argument der Verallgemeinerung eine Handlung wegen der negativen Fol-
genbilanz ethisch verwirft, ähneln sich: Vorausgesetzt sind soziale Institutionen wie das
Vertrauen auf Versprechen oder öffentliche Güter bzw. Einrichtungen wie Rasenflä-
chen, bei denen die individuelle Missachtung oder Inanspruchnahme und die kollektive
Erhaltung in einen Widerspruch geraten können. Das Prinzip der Verallgemeinerung
kann in derartigen speziellen Fällen unter Beachtung der oben genannten Einschrän-
kungen zu einer begründeten Abwägung der betroffenen Interessen führen. Es genügt
aber nicht als einziges allgemeines Abwägungsprinzip der Ethik.

4. Kritik des Maximierungsprinzips

Das Maximierungsprinzip fordert, dass der entscheidende Wert oder das entscheidende
Gut maximiert wird.64 Das Maximierungsprinzip wird außer vom sog. Perfektionismus65
vor allem vom Utilitarismus vertreten.66 Der Utilitarismus verbindet das Maximierungs�
prinzip mit dem Konsequentialismus im engeren Sinn, also der Beschränkung der Ma-
ximierung auf die Folgen der Handlung einerseits sowie einer bestimmten Werttheorie

64 Gelegentlich wird statt von Maximierung auch von „Optimierung“ gesprochen. Aber das ist nicht
durchgehend der Fall. Walter Pfannkuche, Die Moral der Optimierung des Wohls, S.€191–202, ver-
steht unter „Optimierung“ etwa ein Prinzip, das nicht dem Maximierungs-, sondern dem Rawlsschen
Differenzprinzip entspricht.
65 Thomas Hurka, Perfectionism, Oxford 1993.
66 Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, S.€1╛ff.
192 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

(Lust, Glück, Wohlergehen usw.) andererseits.67 Diejenige Handlung soll dann ethisch
bzw. moralisch geboten sein, deren Folgen die Summe der fraglichen Werte für alle Be-
troffenen maximiert, also den positiven Wert bzw. Nutzen möglichst erhöht und den
negativen Wert bzw. Schaden möglichst verringert.
Wie sich im dritten Kapitel€ergab, ist die Beschränkung der Abwägung auf die Fol-
gen der Handlung zu restriktiv und deshalb nicht zu rechtfertigen. Dies gilt auch dann,
wenn man€– wie viele Utilitaristen€– nicht die tatsächlich realisierten, sondern nur die
bezweckten Folgen für entscheidend hält, denn außer den bezweckten Folgen können
auch die hinter der Zweckwahl stehenden Bedingungen, die Tugenden, die Wünsche,
die Absichten, die Mittelwahl und die Handlungsausführung für die in einer morali-
schen Konfliktsituation Stehenden Bezugspunkt ihrer Belange und damit ethisch rele-
vant sein.
Aber da das Maximierungsprinzip nicht begrifflich-analytisch mit der Beschrän-
kung auf die Folgen, das heißt dem Konsequentialismus im engeren Sinn verknüpft
ist, sondern auch als Teil einer perfektionistischen oder auf alle Handlungselemente
bezogenen Ethik auftreten kann, muss seine Berechtigung als allgemeines Prinzip der
Abwägung der Belange unabhängig von den in Kapitel€III erhobenen Einwänden gegen
den Konsequentialismus im engeren Sinn geprüft werden. Für die Moral und ihre Ethik
kann dabei allerdings nur ein kollektiver Perfektionismus relevant sein, da es der Moral
ja€– sofern man die in Kapitel€VIII noch zu kritisierenden Pflichten gegen sich selbst
außer Betracht lässt€– ausschließlich um die Lösung intersubjektiver Konflikte geht. Also
stellt sich die Frage, ob in allen Fällen der moralischen bzw. ethischen Abwägung der
Belange in einem Konflikt deren kollektive Maximierung im Hinblick auf alle ethisch zu
berücksichtigenden Individuen zu fordern ist.

a) Widerspruch zum normativen Individualismus

Das Maximierungsprinzip nimmt, allgemein angewandt, die von der fraglichen Hand-
lung betroffenen Individuen mit ihren Interessen zwar als Ausgangspunkt, nicht aber
als Ziel der Abwägung ernst. Es erlaubt, dass um des größten Gesamtnutzens willen
einzelne Individuen im Hinblick auf die je individuelle Befriedigung ihrer Belange stark
benachteiligt oder sogar ganz übergangen werden. Es negiert damit die normativ-indivi-
dualistische Separierung der Individuen, die nur dann hinreichend als Einzelne berück-
sichtigt werden, wenn sie mehr als nur Faktoren in einer Gesamtrechnung sind.68 Bei
Anwendung des Maximierungsprinzips werden die Individuen quasi als bloße einzelne
„Gefäße“ des zu maximierenden Gutes angesehen. Diese einzelnen „Gefäße“ können
zur Gesamtmaximierung des Inhalts des „Gesamtgefäßes“ quasi beliebig gefüllt oder
gelehrt werden. Das Maximierungsprinzip nimmt somit keine Rücksicht auf die interne
Verteilung der Güter bzw. die je individuelle Berücksichtigung der Interessen, wenn die

67 Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, S.€6, 70.
68 John Rawls, A Theory of Justice, S.€29: „[…] utilitarianism is not individualistic […].“
4. Kritik des Maximierungsprinzips 193

Maximierung nicht von der Verteilung abhängt.69 Als einziges Abwägungskriterium für
alle Fälle gerät das Maximierungsprinzip deshalb zum ersten Teil des Grundprinzips
des normativen Individualismus in Widerspruch. Die Individuen werden nur im Aus-
gangspunkt, nicht aber im Ziel einer größtmöglichen individuellen Befriedigung der
Belange als letzter Relationspunkt der normativ-ethischen Rechtfertigung beachtet. Die
Beispiele, die das illustrieren, in denen das Maximierungsprinzip also zu Ergebnissen
führt, welche die Individuen als Individuen mit ihren individuellen Belangen zwar als
Ausgangspunkt, nicht aber in hinreichendem Maße als Ziel berücksichtigen, sind zahl-
reich. Zwei seien hier erwähnt:70
A hat B am Freitag versprochen, am Samstagnachmittag in einem Café mit ihm
Schach zu spielen. Am Samstagmorgen bittet C seinen guten Freund A, ihm am Nach-
mittag beim Umzug zu helfen. A kann B nicht mehr erreichen, um die Schachpartie ab-
zusagen. A würde, so kann man annehmen, durch seine Hilfe beim Umzug des C mehr
Gutes tun, nämlich einer Familie Kosten ersparen, als durch sein Schachspiel mit C,
das A und B nur etwas Freude bereitet und wenig gewichtige Belange befriedigt. Insbe-
sondere wäre Bs Enttäuschung über As Nichterscheinen durch As Beitrag zum Umzug
mehr als aufgewogen. Trotzdem ist A€– so nehmen wir allgemein an€– verpflichtet, seine
Verabredung einzuhalten und damit die Interessen des B als Individuum bzw. Verspre-
chensempfänger zu erfüllen, auch wenn dies das Gesamtwohl bzw. die Gesamtfreude
nicht maximiert. Versprechen im Interesse anderer Individuen verpflichten unabhängig
von einer Maximierung des Gesamtwohls bzw. der Gesamtfreude. Das bedeutet nicht,
dass derartige Versprechen und damit die Belange des Versprechensempfängers der Ab-
wägung der Belange in einer Konfliktsituation ganz entzogen wären. B müsste etwa auf
die Erfüllung des Versprechens verzichten, wenn ein schwerverletztes Unfallopfer drin-
gend As Hilfe benötigte. Versprechen können also in der Abwägung relativiert, dürfen
aber keiner einfachen Maximierung des Gesamtwohls unterworfen werden.
Oder man denke an den oben im Kapitel€III, 9 erwähnten Fall 9 einer Organent-
nahme bei einem fast gesunden Patienten, um fünf andere Patienten zu retten. Selbst
wenn man alle externen Effekte unberücksichtigt ließe, also sicherstellen könnte, dass
niemand anderes von dieser Handlung erführe und verunsichert würde, bliebe die Ma-
ximierung der Folgen durch die „Ausweidung“ des gesunden Patienten grundsätzlich
unzulässig.
Beim Widerspruch des Maximierungsprinzips zum normativen Individualismus
handelt es sich auch nicht nur um eine kognitive Überforderung,71 die durch eine Zwei-
ebenenstrategie, wie sie etwa R.â•›M. Hare mit einer ersten Regel- und einer zweiten
Maximierungsebene vorgeschlagen hat,72 vermieden werden könnte. Die kollektive Ma-
ximierung der Belange ist vielmehr als einziges Abwägungsprinzip in vielen moralischen

69 William K. Frankena, Ethics, S.€41.


70 Vgl. zu diesem und weiteren Gegenbeispielen: Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallge-
meinerung, S.€21╛f.
71 So aber Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€194â•›ff.
72 Richard M. Hare, Moral Thinking. Its Levels, Method and Point.
194 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Konfliktsituationen, in denen kein Grund ersichtlich ist, die Individuen mit ihren je
individuellen Belangen der Maximierung unterzuordnen, prinzipiell unethisch. Es gibt
etwa Fälle, die€– wie sich noch ergeben wird€– eine grundsätzliche Gleichverteilung ver-
langen, etwa wenn mehrere in gleicher Weise ein gemeinsames Projekt realisiert haben.
Und es gibt Fälle, in denen eine Einschränkung grundlegender Belange bzw. Rechte,
wie Leib, Leben, körperliche und psychische Unversehrtheit zum Zweck der Maximie-
rung des Gesamtwohls nicht als gerechtfertigt angesehen werden kann. Warum etwa ein
Mensch Leib, Leben oder körperliche und psychische Unversehrtheit hingeben sollte,
um mehreren anderen die Verwirklichung individuell weniger wichtiger oder weniger
konkretisierter Interessen wie Sicherheit, Komfort oder gar Luxus zu ermöglichen, ist
nicht einsehbar.73 Das grundsätzliche Folterverbot ist etwa Ausfluss dieser Einschrän-
kung der kollektiven Maximierung um jeden Preis.
Das Maximierungsprinzip erscheint deshalb nur in einem gewissen Bereich ethischer
Fragen, und zwar vor allem bei anonymen gesellschaftlichen und politischen Entschei-
dungen ohne Verletzung gravierender individueller Höchstbelange, das heißt insbesonde-
re gravierender individueller Rechte und Vertrauenspositionen aus Vereinbarungen oder
Versprechen, als einziges oder hauptsächliches Abwägungsprinzip gerechtÂ�fertigt, etwa der
Bewerbung einer Stadt um die Olympischen Spiele, der Verbesserung des Schulsystems,
des Ausbaus des Straßennetzes, der Finanzplanung der öffentlichen Hand, der Rationa-
lisierung von Verwaltungsabläufen, der vorteilhafteren Gestaltung internationaler Ver-
kehrswege, der für alle günstigeren Bedingungen des globalen Handels usw.

b) Individuelle Überforderung

Das Maximierungsprinzip verlangt vom individuellen Akteur bei jeder einzelnen Ent-
scheidung in jeder einzelnen Situation, die Folgen€ – so der Utilitarismus€ – oder die
sonst maßgeblichen Werte, Güter oder Belange aller Betroffenen€– so der Perfektionis-
mus€– zu maximieren.74 Diese Pflicht führt dazu, dass sich die Menschen nicht mehr auf
eine einfache und vernünftige Führung ihres Lebens konzentrieren können. Sie müssen
bei jeder einzelnen Entscheidung das Wohl des gesamten Weltverlaufs berücksichtigen
und maximieren. Der einzelne Mensch wird auf diese Weise zum Mittel einer Ideolo-
gie der Wertmaximierung der Welt, ohne dass eine ausreichende Begründung für diese
extreme Anforderung erkennbar wäre. Der Maximierungsimperativ erlaubt im Übrigen
auch keine stabile Verankerung allgemeiner moralischer Prinzipien im Bewusstsein der
individuellen Akteure.75

73 Dies gestehen auch Utilitaristen zu. Vgl. etwa: Bernward Gesang, Eine Verteidigung des Utilitarismus,
S.€94, 97, der einen „Stachel“ bzw. eine „Schwachstelle“ anerkennt.
74 Paul E. Hurley, Does Consequentialism Make Too Many Demands, or None at All, Ethics 116 (2006),
S.€ 680–706, bestreitet dies und behauptet, der Konsequentialismus gebe nur Standards vor, keine
Handlungsgründe (S.€686â•›ff.). Aber jede Ethik rechtfertigt per definitionem moralische und sonstige
Konfliktlösungen und stellt somit Handlungsgründe bereit. Die Trennung ist künstlich.
75 Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€215.
4. Kritik des Maximierungsprinzips 195

Man könnte einwenden: Aber wenn wir handeln, so sind wir doch ethisch bzw.
moralisch verpflichtet, gut zu handeln? Und bedeutet „gut“ nicht „möglichst gut“, das
heißt „maximierend“? Darauf lässt sich erwidern: Wir sind sicherlich ethisch verpflich-
tet, in einem moralischen Konflikt in dem Sinne „gut“, das heißt „möglichst gut“ zu
handeln, dass wir eine gute, das heißt möglichst gute Abwägung der Belange finden.
Aber dieser Forderung nach einer möglichst guten, das heißt besten Lösung des mo-
ralischen Konflikts impliziert nicht€– obwohl viele Anhänger des Maximierungsprin-
zips diesen Übergang mehr oder minder stillschweigend vollziehen€ – die Forderung
nach Maximierung eines bestimmten addierbaren Parameters, sei es die Gesamtsumme
des Wohls, des Glücks, der Freude, der Folgen usw. Die möglichst gute und damit
beste Abwägung der widerstreitenden Belange in einem moralischen Konflikt kann in
der Bewahrung von Leib, Leben oder körperlicher Unversehrtheit eines Individuums
liegen, auch wenn diese Bewahrung dazu führt, dass mehrere andere Menschen oder
Lebewesen ein Quäntchen weniger Wohl empfinden, mit der Konsequenz, dass die
Gesamtsumme des Wohls oder der Lust nicht maximiert wird. Dabei soll nicht be-
stritten werden, dass es moralische Konflikte gibt, in denen ein derartiger Parameter
maximiert werden sollte, etwa in den schon erwähnten allgemeinpolitischen Fragen,
zum Beispiel im Rahmen der Fernwirkung globaler Infrastrukturentscheidungen ohne
direkte Beeinträchtigung individueller Rechte oder Versprechen. Aber es lässt sich nicht
zeigen, dass das Maximierungsprinzip für alle ethischen, moralischen und rechtlichen
Konflikte als alleiniges Abwägungskriterium gerechtfertigt ist und nicht zu einer Über-
forderung führt.

c) Missachtung persönlicher Bindungen

Das Maximierungsprinzip nimmt keine spezielle, über die Nutzenmaximierung hin-


ausgehende Rücksicht auf persönliche Bindungen, obwohl diese in der Abwägung für
uns eine besonders wichtige Rolle spielen. Persönliche Bindungen dürfen nach dem
Maximierungsprinzip per definitionem nur insoweit berücksichtigt werden, als sie den
zu maximierenden Wert beeinflussen. Sind etwa zwei Kinder verletzt, müsste man nach
dem Maximierungsprinzip zunächst demjenigen Kind helfen, dem man mehr Gutes
tun kann, selbst wenn der Vorteil nur marginal ist und es sich bei dem anderen Kind
um das eigene Kind handelt. Oder angenommen, A eilt zu einem brennenden Flugzeug,
in dem sich das eigene Kind und ein weltberühmter Chirurg befinden. Der Chirurg
beherrscht als einziger eine bestimmte, für viele lebensrettende Operationstechnik.76
Das Maximierungsprinzip muss zur Rettung des Chirurgen verpflichten, während uns
die allgemeine Akzeptanz und mögliche Rechtfertigung der Berücksichtigung persönli-
cher Bindungen die Rettung des eigenen Kindes zumindest erlauben, wenn nicht sogar
gebieten.

76 Vgl. zu dem Beispiel: Bernward Gesang, Eine Verteidigung des Utilitarismus, S.€98.
196 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

d) Desintegration der Persönlichkeit

Das Maximierungsprinzip führt zu einer Desintegration der handelnden Personen, da


diese bei jeder Handlung den Nutzen maximieren müssen, was zur Folge hat, dass sie
ihre längerÂ�fristigen Projekte und Verpflichtungen nicht verwirklichen können. Hat je-
mand sein Leben einem bestimmten legitimen längerfristigen Projekt gewidmet, will
er etwa ein vor allem religiöses, familienorientiertes, wissenschaftliches oder sportliches
Leben führen, so erscheint es nicht gerechtÂ�fertigt, nur aufgrund der Tatsache, dass die
Handlungen Anderer die allgemeine Situation in einer bestimmten Art und Weise be-
stimmen, eine utilitaristische Fall-zu-Fall-Maximierung zu verlangen, welche die Un-
möglichkeit der Verfolgung seines längerfristigen Projekts zur Konsequenz hätte. Es
ist nicht denkbar, dass eine Person ihr persönliches Lebensglück erreichen kann, wenn
sie gezwungen ist, immer und überall jede Handlungsoption zu ergreifen, welche die
gesellschaftliche Summe des Wohlergehens maximiert.77 Die Anderen könnten im Falle
einer allgemeinen Verbindlichkeit des Maximierungsprinzips das Leben jedes einzelnen
Menschen in beinahe beliebiger Weise determinieren, weil sich seine Lebenspläne im
Rahmen der maximierenden Summierung gegenüber der Vielzahl der Lebenspläne an-
derer grundsätzlich nicht durchsetzen könnten.78

e) Widerspruch zwischen kollektivem Realisationsimperativ


und singulären Handlungspflichten

Das Maximierungsprinzip fordert die kollektive Maximierung des fraglichen Wertes.


Dieser Imperativ der kollektiven Maximierung kann aber zu den singulären Hand-
lungspflichten in einen unüberbrückbaren Widerspruch geraten, denn es kann sein,
dass eine maximierende Handlungseinstellung des Akteurs gerade nicht zur kollektiven
Maximierung und damit zur Realisierung des Maximierungsprinzips führt, etwa weil
sie sein Lebensglück zerstört, ohne dass dies anderen sehr viel hilft.79 Zur kollektiven
Realisierung des Maximierungsprinzips wäre dann aber zu fordern, dass die singulä-
ren Handlungspflichten nicht die individuelle Maximierung gebieten. Das würde aber
wiederum bedeuten, dass um der kollektiven Maximierung willen konträre singuläre
Handlungspflichten verbindlich gemacht werden müssten. Das handelnde Individuum
würde auf diese Weise verpflichtet, instrumentell eine Einstellung zu wählen, die dem
eigentlichen Ziel der Maximierung und damit dem Gesamtziel des fraglichen Kollektivs
nicht entspricht. Diese Spaltung zwischen individuellem und kollektivem Ziel wäre nur
durch ein umfassendes System der Täuschung bzw. Propaganda aufrechtzuerhalten, das
ethisch nicht akzeptabel ist, weil es die Individuen mit ihrem berechtigten Interesse an
Wahrheit missachtet.

77 Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, S.€89â•›ff.


78 Bernard Williams, A Critique of Utilitarianism, S.€116╛ff.
79 Bernard Williams, A Critique of Utilitarianism, S.€118╛ff.
4. Kritik des Maximierungsprinzips 197

f ) Fundamentaler Widerspruch zu unserem System


lange reflektierter Moralvorstellungen

Das Maximierungsprinzip würde€ – allgemein angewandt€ – in einen fundamentalen


Widerspruch nicht nur zu einigen, sondern zu sehr vielen lange gehegten und vielfach
reflektierten moralischen Überzeugungen geraten.80 Natürlich können diese Überzeu-
gungen, da sie ja selbst der ethischen Begründung bedürfen, nicht ihrerseits ethisch
begründend wirken. Und die ethische Reflektion kann und muss selbstredend vielfach
zur Kritik an bestehenden moralischen Überzeugungen führen. Aber wenn moralische
Überzeugungen in einem langen, von ethischer Reflektion begleiteten Prozess entwi-
ckelt wurden, dann haben sie die ethische Reflektion dieses Prozesses quasi inkorporiert.
In diesem Fall bedarf es gewichtiger Begründungen, warum die gegenwärtigen Über-
zeugungen und die ihnen zu Grunde liegende lange ethische Reflektion fundamental
verfehlt sein sollen. Dies gilt umso mehr, wenn es sich nicht nur um einzelne moralische
Überzeugungen handelt, sondern um das gesamte System unserer, nach vielen Jahr-
hunderten und Jahrtausenden der Kritik und Diskussion als nicht völlig unaufgeklärt
anzusehenden moralischen Überzeugungen. Es ist nicht ersichtlich, wie die Anhänger
des Maximierungsprinzips diesen fundamentalen Widerspruch erklären könnten.

g) Maximierung der Regeln bzw. der Regelcodes?

Da das Maximierungsprinzip wegen der soeben erwähnten Schwächen als allgemeines


Abwägungsprinzip nicht zu rechtfertigen ist, wird es von manchen Vertretern des Kon-
sequentialismus und Utilitarismus auf die Maximierung genereller Regeln, seien es solche
der Moral, des Rechts, der Politik, der Konventionen, oder sogar eines gesamten morali-
schen, rechtlichen, politischen oder konventionellen Regelcodes beschränkt.81 In Verbin-
dung mit einer konsequentialistischen oder utilitaristischen Werttheorie ergibt sich dann
der Regelkonsequentialismus oder Regelutilitarismus, der einem Akt- bzw. Handlungskon-
sequentialismus oder Akt- bzw. Handlungsutilitarismus entgegengestellt wird.
Zunächst sollte man sich klarmachen, dass es sich bei dieser Beschränkung auf
die allgemeinen Regeln bzw. den Regelcode durch den Regelkonsequentialismus bzw.
Regelutilitarismus um ein geschicktes Rückzugsmanöver der Vertreter des Maximie-
rungsprinzips handelt. Im Falle allgemeiner Regeln bzw. ganzer Regelordnungen wie
der Moral oder des Rechts wirkt der entindividualisierende Effekt des Maximierungs-
prinzips auf den ersten Blick nicht so stark, weil die individuellen Belange der einzel-
nen Menschen in konkreten Situationen nicht notwendig um der Gesamtmaximierung
willen geopfert werden müssen. Die Berücksichtigung der einzelnen Menschen mit der

80 Das gestehen fast alle Vertreter des Konsequentialismus zu. Vgl. etwa Shelly Kagan, The Limits of
Morality, Oxford 1989, S.€1╛ff.
81 Richard B. Brandt, A Theory of the Good and the Right, Amherst 1998, S.€200╛ff., 208, 217; Brad
Hooker, Ideal Code, Real World. A Rule-Consequentialist Theory of Morality, Oxford 2002.
198 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Bezugnahme ihrer Belange auf die verschiedenen Teile der Handlung des Akteurs ist im
Rahmen einer solchen Regelbewertung naturgemäß zu typisieren. Regeln, die Individu-
en starke Rechte einräumen, lassen sich als allgemein nutzenmaximierend begründen.
Nähebeziehungen, persönliche Bindungen und individuelle Versprechen können bei
typisierenden Regeln per se keine entscheidende Rolle spielen. Die individuelle Über-
forderung wird abgeschwächt, weil ja nur die Konformität mit den allgemeinen Re-
geln bzw. dem allgemeinen Regelcode verlangt wird, nicht aber die Maximierung jeder
einzelnen Handlung in jedem moralischen Konflikt, koste es, was es wolle. Deshalb
ist auch die Verfolgung längerfristiger Projekte durch die Verpflichteten eher möglich,
sofern die Regeln diese Projekte berücksichtigen. Der Regelkonsequentialismus ist also
auf den ersten Blick erheblich überzeugender als der Handlungskonsequentialismus.
Er entspricht auch den urÂ�sprünglichen Intentionen der klassischen Utilitaristen Jeremy
Bentham und John Stuart Mill in viel höherem Maße, denn beiden ging es ja zuvorderst
um eine politische Ethik, nicht um eine allgemeine Individualethik. Trotzdem stößt
auch die Anwendung des Maximierungsprinzips auf generelle Regeln bzw. einen Regel-
code auf grundlegende Bedenken:
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich zunächst, dass der Regelkonsequentialismus als
Abwägungsprinzip in individualethischen Fragen noch viel kollektivistischer ist als der
Aktkonsequentialismus. Während beim Aktkonsequentialismus die konkreten Individuen
im Einzelfall zumindest im Ausgangspunkt zu berücksichtigen sind, kann der Regelkonse-
quentialismus im Prinzip beliebige Regeln rechtfertigen, vorausgesetzt, sie maximieren ein
kollektives Gut, wie den kollektiven Nutzen usw. Die allgemeine Ersetzung der situativen
Handlungsbeurteilung mit Bezug auf wirklich bestehende, konkrete Belange durch die
Maximierung abstrakter Regeln mit Bezug auf kollektive Güter gerät somit zum ersten und
wichtigsten Prinzip einer gerechtfertigten Ethik, dem Prinzip des normativen Individualis-
mus, in noch stärkeren Widerspruch als der Aktkonsequentialismus. Es ist kein Grund er-
sichtlich, warum die Individuen in privaten moralischen Konflikten nicht eine Abwägung
ihrer konkreten Interessen (unter Zuhilfenahme typisierender Prinzipien), sondern eine
Abwägung aller möglichen Interessen einer großen Gemeinschaft als Grundlage kategori-
scher Verpflichtungen akzeptieren müssten. Warum sollen abstrakte Regeladressaten und
nicht die tatsächlich Betroffenen mit ihren Belangen entscheidend sein?
Auf einer fundamentalen Ebene der Problemformulierung ist im Übrigen schon die
Entgegensetzung von Akten bzw. Handlungen und Regeln inadäquat. Handlungen sind
das Verpflichtungsobjekt primärer Normencodes, also der Moral, des Rechts, der Politik
usw., nicht aber unmittelbarer Gegenstand der sekundären Kritik und Rechtfertigung der
normativen Ethik. Diese hat€– wie sich in der Einleitung ergab€– die primären Normen,
Wertungen, Regeln und Überzeugungen der Moral, des Rechts, der Politik usw. zum Ge-
genstand. Bei diesen primären Normen handelt es sich nun aber sowohl um konkrete, auf
einzelne Handlungen bezogene aktbestimmende Normen, als auch um abstrakte, auf viele
Handlungen bezogene Regeln. Die Ethik kommt also keinesfalls umhin, beide Formen
der Handlungsbestimmung, Aktnormen und Regeln, zu untersuchen und zu kritisieren,
da beide Formen der Handlungsbestimmung faktisch bestehen. Und sie kommt auch
nicht umhin, das tatsächliche Verhältnis zwischen diesen beiden Formen der HandlungsÂ�
4. Kritik des Maximierungsprinzips 199

bestimmung zu beschreiben und zu kritisieren. Dieses tatsächliche Verhältnis ist durch ei-
nen grundsätzlichen Anwendungsimperativ der Regeln gegenüber den Handlungsnormen
gekennzeichnet. Regeln fordern eo ipso prinzipiell Vorrang vor einzelnen Handlungsnor-
men, sonst wären sie keine Regeln. Diese Forderung ist auch grundsätzlich gerechtfertigt,
weil sich Einzelnormen im Prinzip deduktiv aus Regeln ableiten lassen, nicht aber um-
gekehrt Regeln aus Einzelnormen. Allerdings sind die verschiedenen Formen der Reali-
sierung des moralischen Ziels der Konfliktvermittlung kein Selbstzweck, sondern bloßes
Mittel zum Zweck einer bestmöglichen Konfliktlösung. Das bedeutet, dass sie als Mittel
keine Absolutheit für sich in Anspruch nehmen können. Daraus folgt aber, dass der grund-
sätzliche Vorrang der Regel gegenüber den Einzelnormen€– entgegen der Auffassung des
Regelutilitarismus€– seine RechtÂ�fertigung einbüßt, wenn die Regel zu krass inadäquaten,
das heißt sehr ungerechten Ergebnissen der Konfliktlösung im Einzelfall führt.
Der Regelkonsequentialismus steht des Weiteren vor dem Dilemma, welche Regeln
für die jeweilige Handlung entscheidend sein sollen: die bereits wirklich in einer Gesell-
schaft bestehenden oder neue, bloß mögliche, das heißt idealische Regeln? Die bereits wirk-
lich in einer Gesellschaft bestehenden Regeln sind mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht
immer folgenmaximierend. Sie unterscheiden sich des Weiteren zumindest teilweise von
Gesellschaft zu Gesellschaft und ändern sich auch in der Zeit, so dass nicht erkennbar
ist, wie sie den Gesamtnutzen auf der Welt maximieren sollen.82 Im Übrigen können die
bereits wirklich bestehenden Regeln seitens einer normativen Ethik nicht von vorn�herein
für endgültig erklärt werden, denn sonst würde diese ihre spezifische Funktion der Kritik
und Rechtfertigung tatsächlicher moralischer Konfliktlösungen verfehlen. Alle mögli-
chen bzw. idealischen Regeln stehen dagegen vor der grundsätzlichen Frage, warum man
sie für verbindlich halten soll, da ihre generelle Etablierung, das heißt allgemeine Befol-
gung oder Akzeptanz ja keinesfalls gesichert ist. Der Einzelne steht immer vor der Gefahr,
sich als einziger an die idealisch optimale Regel zu halten, mit unter Umständen sehr
negativen Folgen für ihn, so dass niemandem eine Verbesserung zuteil wird. Wählen etwa
fast alle eine Abkürzung des Weges über einen Rasen und wäre deshalb zur Erhaltung
des Rasens die ideale Regel des Betretungsverbots gerechtfertigt, so erscheint es sinnlos,
von einem Einzelnen die Befolgung dieser Regel zu fordern, wenn zu erwarten ist, dass
fast alle Anderen oder wenigstens die große Mehrheit sie nicht befolgen wird, so dass die
Befolgung des Einzelnen im Ergebnis irrelevant bleibt. Im Falle idealischer Regeln stellt
sich auch immer die Frage der Möglichkeit und des Aufwands ihrer allgemeinen Reali-
sierung im Verhältnis zu den bereits bestehenden Regeln. Diese Frage ist generell schwer
abzuschätzen. Man wird also häufig nicht entscheiden können, ob es nicht besser wäre,
bei den bisherigen, vielleicht nicht ganz optimalen Regeln zu bleiben.
Beide Versionen des Regelkonsequentialismus müssen schließlich€– wegen des oben
geschilderten grundsätzlichen Verhältnisses von Einzelnorm und Regel€– beantworten,
was in einem echten Konflikt zwischen direkter Akt- und indirekter Regelmaximie-
rung geschehen soll, wie der Einzelne also handeln soll, wenn die Maximierung im
Einzelfall etwas anderes fordert als die allgemeine Regel. Es mag etwa den allgemeinen

82 William K. Frankena, Ethics, S.€40╛ff.


200 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Nutzen maximieren, wenn eine Regel das Lügen verbietet. Wie soll der Einzelne dann
aber handeln, wenn die Lüge im konkreten KonÂ�flikt einem Mörder das Versteck seines
Opfers verheimlichen, also den Nutzen maximieren würde? Die Anhänger des Maxi-
mierungsprinzips haben hier zwei Möglichkeiten: Entweder sie lassen die Maximierung
im Einzelfall, also in unserem Beispiel die Lüge zu, dann handelt es sich um einen
einfachen Aktkonsequentialismus, der sich allen oben erwähnten Einwänden ausgesetzt
sieht. Oder sie beharren auf der Befolgung der Regel des Lügenverbots um der abstrak-
ten Maximierung durch die allgemeine Regelbefolgung willen. Dann schließen sie die
konkrete Maximierung für einzelne Fälle aus und unterwerfen die Individuen einem
kollektivistischen Regelregime, das ihre individuellen Belange nur als Faktoren der Ge-
samtmaximierung eines Regelcodes berücksichtigen kann und das in noch stärkerer
Weise als die Maximierung des Aktkonsequentialismus gegen das Grundprinzip des
normativen Individualismus verstößt.
Um diesem Dilemma zu entgehen, haben die Anhänger des Utilitarismus in den
letzten Jahren nach einem dritten Weg zwischen diesen gleichermaßen unattraktiven
Alternativen gesucht. Brad Hooker schränkt den Regelutilitarismus etwa durch die Me-
taregel der „Abwehr von Desastern“ zu Gunsten des Handlungsutilitarismus ein:83 Im
Rahmen einzelner Handlungen müssen die allgemeinen Regeln befolgt werden, selbst
wenn sich daraus in der konkreten Situation negative Folgen ergeben, es sei denn, es
droht ein Desaster. Im Falle eines Desasters ist also die Maximierung im Einzelfall ge-
boten, und es gilt der Handlungskonsequentialismus. In ähnlicher Weise schlägt Dieter
Birnbacher einen „indirekten Konsequentialismus“ vor, wonach in Fällen, in denen das
von den allgemeinen Regeln Geforderte „in krasser Weise“ von dem nach der Hand-
lungsmaximierung Gebotenen abweicht, der Handlungskonsequentialismus entschei-
dend sein soll.84
Im Grunde handelt es sich bei beiden Vorschlägen um echte Hybridmodelle zwi-
schen Regel- und Handlungskonsequentialismus. Auch wenn die Bestimmung, wann
ein „Desaster“ oder eine „krasse Abweichung“ vorliegt, naturgemäß außerordentlich
vage ist und in der Praxis große Interpretationsunsicherheiten erzeugt, stellen diese Hy-
bridmodelle in wenigstens dreifacher Weise einen echten Fortschritt dar: Sie werden
erstens dem Faktum gerecht, dass in der Realität primärer Normordnungen immer kon-
krete Handlungsnormen und allgemeine Regeln nebeneinander existieren und ein Aus-
gleich zwischen diesen beiden Normtypen gefunden werden muss. Sie nehmen zweitens
den oben erwähnten Anwendungsimperativ der Regeln gegenüber den Handlungsnor-
men auf, der kein absoluter sein kann, weil die Regelungsformen der Handlungsnorm
und der Regel ihrerseits nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zur Erreichung des Ziels
der Konfliktlösung seitens der Moral sind. Sie kommen damit drittens faktisch beste-
henden Not�standsregelungen in Moral und Recht sehr nahe, im Recht etwa Regelungen
des strafrechtlichen Notstands, des zivilrechtlichen Notstands oder des staatsrechtlichen

83 Brad Hooker, Ideal Code, Real World, S.€86, 98╛ff., 121, 124, 129╛ff., 133╛ff., 146, 165╛ff., 173.
84 Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€213â•›ff.
5. Kritik weiterer Prinzipien 201

Notstands in Art. 20 IV Grundgesetz. Auch die im deutschen Recht anerkannte „Rad-


bruchsche Formel“, wonach Rechtsnormen dann nicht gelten bzw. als Recht anzusehen
sind, wenn ihr Widerspruch gegenüber der Gerechtigkeit ein unerträgliches Maß er-
reicht oder mit ihnen Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wurde,85 drückt einen ver-
gleichbaren Kompromiss zwischen Regelkonformität und Einzelfallabwägung aus. Das
Verhältnis von einzelnen Handlungsnormen und allgemeinen Regeln erscheint durch
diese Hybridmodelle einleuchtend erfasst. Allerdings bleiben natürlich die allgemeinen
Einwände gegen den Konsequentialismus und das Maximierungsprinzip auch gegenÂ�
über diesen Hybridmodellen erhalten, so dass diese letztlich die Abwägungsaufgabe im
Rahmen des fünften Elements der Ethik nicht umfassend lösen können. Es besteht
im Übrigen keine begriffliche Notwendigkeit, die Beurteilung von Handlungsnormen
und Regeln sowie ihres Verhältnisses zueinander auf die Konsequenzen einerseits und
die Maximierung andererseits zu beschränken, so dass die einleuchtende Erfassung des
Verhältnisses von Handlungsnormen und Regeln auch mit anderen, adäquateren Abwä-
gungsprinzipien verbunden werden kann.

5. Kritik weiterer Prinzipien: Gleichheit, Genügenâ•›/â•›Suffizienz, Pareto,


Aufopferungâ•›/â•›Kaldor-Hicks, Maximin, Utilex, Leistung, Priorität

Neben den erwähnten Prinzipien gibt es viele weitere, von denen nachfolgend einige
wichtige skizziert werden sollen:

a) Das Gleichheitsprinzip

Ein wesentlicher Aspekt des Prinzips der Gleichheit bestimmt€ – so das Ergebnis des
ersten Kapitels€– als Teil des Grundprinzips des normativen Individualismus Ethik und
Moral: Jedes ethisch zu berücksichtigende Individuum muss mit seinen Belangen bzw.
Interessen grundsätzlich gleich berücksichtigt werden. Im Rahmen der konkreteren Frage
nach dem richtigen Abwägungs- und Zusammenfassungsprinzip dieser Belange steht
nun aber nicht diese spezifische Ausprägung der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung
jedes ethisch relevanten Individuums in Rede, sondern die weiter gehende Anwendung
des Gleichheitsprinzips als Prinzip der Zusammenfassung einzelner Belange. Fraglich
ist also, ob die potentiell oder tatsächlich widerstreitenden Belange in jedem einzel-
nen Fall der Abwägung nicht nur formal grundsätzlich gleich zu berücksichtigen, son-
dern immer auch inhaltlich gleich zu verwirklichen sind. Zu einer derartigen gleichen

85 BVerfGE 3, S.€119; 3, S.€233; 6, S.€138; 6, S.€414╛ff.; 23, S.€106; 54, S.€67╛ff.; 95, S.€135╛ff.; BGHZ 3,
S.€107; 23, S.€181; BGHSt 2, S.€177; 2, S.€238; 3, S.€362╛ff.; BGHSt 39, S.€15╛ff.; 39, S.€183╛ff.; 40,
S.€232; 40, S.€244â•›ff. Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: ders.,
Rechtsphilosophie. Studienausgabe, hg. von Ralf Dreier und Stanley L. Paulson, 2., überarb.€ Aufl.
Heidelberg 2003, S.€216.
202 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Verwirklichung gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Man kann die Betroffenen


entweder gleich behandeln oder gleich stellen. Im Fall der Gleichbehandlung wird ohne
Ansehen des Ausgangszustands agiert. Jeder wird tatsächlich inhaltlich gleich behandelt,
Güter und Lasten werden etwa gleich verteilt. Im Fall der Gleichstellung wird dagegen
der Ausgangszustand berücksichtigt und das Ziel verfolgt, ein inhaltlich gleiches Ergeb-
nis herzustellen, erfordere dies auch eine inhaltliche Ungleichbehandlung bis hin zur
Wegnahme einiger Güter von Privilegierten. Zahlt etwa eine Aktiengesellschaft auf jede
Aktie mit dem gleichen Nennwert die gleiche Dividende, so erfolgt eine Gleichbehand-
lung. Bekommen dagegen die Ärmsten mehr, damit sie genauso viel wie alle Anderen
haben, so liegt eine Gleichstellung vor.
Es gibt sicher Fälle, in denen eine Entscheidung nach dem Gleichheitsprinzip im
Sinne der Gleichbehandlung gerechtfertigt ist. Wenn etwa mehrere Personen zusammen
etwas erarbeitet oder hervorgebracht haben, dann ist das Ergebnis grundsätzlich gleich
zu verteilen. Haben zum Beispiel mehrere Mitglieder einer Familie einen Kuchen ge-
backen, so können prima facie alle Familienmitglieder Anspruch auf ein gleich großes
Stück erheben€ – zumindest gilt dies, wenn alle den gleichen Beitrag geleistet haben.
Man kann also formulieren: Das Gleichheitsprinzip im Sinne des Prinzips der Gleich-
behandlung ist als Abwägungsprinzip widerstreitender Belange zumindest immer dann
gerechtfertigt, wenn mehrere Individuen gleichermaßen zu einem gemeinsamen Projekt
beigetragen haben.
Es gibt aber auch moralische Konflikte, bei denen diese beiden Bedingungen nicht
erfüllt sind. Ein Beispiel ist bereits der umgekehrte Fall, dass ein Einzelner etwas für
sich hervorgebracht hat, was Andere wünschen oder benötigen. Man nehme an, jemand
habe ein Kunstwerk geschaffen, das er nun besitzt. Ein Anderer will gleich behandelt
werden, also vom Künstler ein vergleichbares Kunstwerk erhalten. Es wäre absurd, hier
eine Gleichbehandlung zu fordern, denn die Schöpfung eines Kunstwerks ist etwas so
Einmaliges und Persönliches, dass kein Grund ersichtlich ist, warum der Urheber es
auch einem Anderen in gleicher Weise verschaffen müsste.
Aber selbst wenn es sich nicht um ein höchstpersönliches Gut wie ein Kunstwerk,
sondern um allgemeine Güter wie Nahrungsmittel handelt, wird man die Gleichbe-
handlung nicht unmittelbar für geboten halten können. Der Besitzer ist zur Hilfe ge-
genüber anderen Bedürftigen verpflichtet, aber allenfalls bis zur Grenze des Genügens
für diese Anderen, nicht aber in gleichem Maße wie für sich selbst. Kein Sozialsystem
der Welt schreibt eine durchgängige und vollständige wechselseitige Gleichbehandlung
aller Bürger vor.
Die Forderung nach Anwendung des Gleichheitsprinzips durch Gleichstellung ist
viel radikaler, weil sie ein unter Umständen extrem gesellschaftsveränderndes Potenzial
enthält. So fordern manche Strömungen des Feminismus nicht nur die Gleichbehand-
lung, sondern die Gleichstellung der Frau. Gleichstellung würde bedeuten, dass alle
schlechter Gestellten auf das Niveau der am besten Gestellten gehoben werden oder€–
falls das aus faktischen Gründen nicht geht€– den Bessergestellten soviel weggenommen
wird, wie nötig ist, um alle gleich zu stellen. Letzteres mag vielleicht in engen familiären
oder monastischen Gemeinschaften vollständiger Solidarität gerechtÂ�Â�fertigt sein und viel-
5. Kritik weiterer Prinzipien 203

leicht in gewisser Hinsicht auch im Hinblick auf die Gleichheit der Geschlechter. Aber
die konkret-individuelle Wegnahme, das heißt die Schädigung bestimmter Personen,
um ein gleiches Durchschnittsniveau zu erreichen ist nicht als generelles, alle morali-
schen, rechtlichen und ethischen Abwägungen bestimmendes Prinzip zu rechtfertigen.86
Das zeigt wieder das obige Beispiel: Ein Künstler ist nicht verpflichtet, alle anderen
Personen auf dasselbe Niveau des Besitzes von Kunstwerken zu heben. Und selbst die
allgemeine Sozialhilfe hat nirgendwo das Ziel, alle gleichzustellen, weil dadurch jede
Selbstverantwortung für das eigene Leben und somit ein großer Teil der individuel-
len Freiheit des Menschen aufgehoben würde. Auch die von der UNO proklamierte
Entwicklungshilfe der reicheren gegenüber den ärmeren Ländern soll keine Gleichheit
herstellen, sondern fordert lediglich, 0,7â•›% des Bruttosozialprodukts zu leisten (was im
Übrigen die allermeisten Länder nicht erreichen). Oder man denke sich einen Verhun-
gernden, der von einem Reichen Hilfe benötigt. In diesem Fall steht das Interesse des
Verhungernden, Essen zu bekommen, gegen das Interesse des Reichen, sein Vermögen
zu behalten. Ein konkretes gemeinsames Projekt mit gleichen Beiträgen, das über das
anonyme Zusammenleben in einer Massengesellschaft hinausginge, ist nicht ersichtlich.
Trotzdem ist eine Zusammenfassung der divergierenden Belange notwendig. Das ad-
äquate Abwägungsprinzip wird zu der Entscheidung führen, dass hier eine Hilfspflicht
besteht. Aber es fordert keine völlige Egalisierung des Vermögens. Eine solche Forde-
rung würde zusätzliche Gründe voraussetzen. Sie ist außer in Fällen gleicher Beiträge zu
gemeinsamen Projekten nur auf freiwilliger Basis möglich, etwa im Falle des Eintritts in
einen Mönchsorden oder der Vereinbarung einer ehelichen Gütergemeinschaft.
Die allgemeine Anwendung des Gleichheitsprinzips ist auch im Fall der Verteilungs-
abhängigkeit der Summe der zu distribuierenden Güter problematisch. Die Wahl des
Abwägungsprinzips kann zu einer Vermehrung oder Verminderung der Gesamtmenge
der zu verteilenden Güter führen. Dies ist etwa bei ökonomischen Verteilungen der Fall:
Werden gemeinsam erzeugte Güter gleich verteilt, so vermindert sich der Anreiz zu be-
sonderen Anstrengungen, mit dem Ergebnis, dass die Gesamtmenge der zu verteilenden
Güter kleiner ausfällt als dies bei Anwendung des Maximierungsprinzips der Fall wäre.
Bei einer Güterverteilung, die Ungleichheiten zulässt, können unter Umständen sogar
die Schlechtestgestellten besser stehen als bei einer Gleichverteilung, sofern die gemein-
sam erzeugte Gesamtmenge der Güter größer als bei der Gleichverteilung ist. Dann
wäre das noch zu erörternde Maximin- oder Differenzprinzip dem Gleichheitsprinzip
überlegen. Die unabweisbare Folgerung aus dieser Einsicht lautet: Das Gleichheits-
prinzip ist in seinen beiden Alternativen der Gleichbehandlung und der Gleichstellung
nicht für alle denkbaren Abwägungen ethischer Konflikte adäquat, sondern nur für
bestimmte, in denen zusätzliche Gründe eine Gleichbehandlung oder sogar Gleich-
stellung rechtfertigen können, etwa gemeinsame Beiträge zu Projekten oder ungleiche
Startbedingungen.

86 Sog. „leveling down objection“. Vgl. Derek Parfit, Gleichheit und Gerechtigkeit, in: Angelika Krebs (Hg.),
Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt a.╛M. 2000, S.€93.
204 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

b) Das Genügensprinzipâ•›/â•›Suffizienzprinzip

Das Genügensprinzip (Suffizienzprinzip, „satisficing-principle“) stellt eine Abschwächung


des Maximierungsprinzips und des Gleichstellungsprinzips und eine Steigerung gegenüber
dem Gleichbehandlungsprinzip dar. Danach soll es nicht geboten sein, die Summe des
fraglichen Guts zu maximieren oder eine Gleichstellung herbeizuführen. Aber man bleibt
auch nicht bloß auf die Gleichbehandlung verpflichtet. Geboten ist vielmehr, ein jeweiliges
„Genügen“, eine „Suffizienz“ bei den Schlechtergestellten zu realisieren, das heißt in einer
schwächeren Form entweder bessere statt schlechtere Maßnahmen durchzuführen oder,
in einer stärkeren und eindeutig konsequentialistischen Form, die schlechter Gestellten
möglichst auf einen bestimmten Schwellenwert anzuheben, wobei es dann wieder striktere
und weniger strikte Varianten gibt.87 In vielen Fällen ist die Forderung nach Genügen
sicherlich gerechtfertigt. So haben wir etwa eine ethische Verpflichtung, unserer Rolle als
Vater oder Mutter gegenüber unseren Kindern zu „genügen“. Es besteht hingegen keine
Verpflichtung, die Konsequenzen unseres Verhaltens gegenüber unseren Kindern in allen
Situationen und unter allen Umständen zu maximieren. Und auch unserer Hilfspflicht
gegenÂ�über Anderen müssen wir, wie sich soeben ergab, offensichtlich regelmäßig nur „ge-
nügen“, nicht aber deren Wohlergehen unter allen Umständen optimieren. Dies gilt etwa
in der gemeinschaftlichen Form der Sozialhilfe. Sie muss den Bedürftigen „genügend“
Hilfe leisten, wobei natürlich umstritten ist, was das bedeutet.
In vielen anderen moralischen Konflikten ist dagegen eine über das Genügen hin-
ausgehende Erfüllung möglich und geboten. Wurde etwa ein Versprechen abgegeben
und sind keine guten Gründe erkennbar, die gegen seine Einhaltung sprechen, so führt
die beste Abwägung zur Verpflichtung, das Versprechen in vollem Umfang einzuhalten.
Der Versprechensgeber muss sich nicht auf eine „genügende“ Teilerfüllung beschrän-
ken, bei der in vielen Fällen bereits unklar sein wird, worin sie besteht. Der Anspruch
einer besten Lösung der Abwägung darf in der Ethik also nicht aufgegeben werden. Wie
sich ergab, ist es nicht notwendig, diesen Anspruch immer mit dem Maximierungsprin-
zip zu verbinden. Das Genügensprinzip kann vielmehr in manchen Fällen eine solche
beste Lösung sein. Aber es sind andere moralische Konflikte denkbar, in denen das
Genügensprinzips nicht zu einer gut begründeten Abwägung der Belange führt, etwa
die bereits erwähnten Fälle, in denen eine Gleichverteilung oder eine Maximierung
gefordert ist, also etwa die Fälle gleicher Beiträge zu gemeinsamen Projekten und die
Fälle politischer Vorhaben ohne gravierende Beeinträchtigung individueller Belange. Im
Fall des gemeinsam gebackenen Kuchens muss sich niemand mit einem „genügenden“
Stück zufriedengeben und im Fall des Neubaus einer Straße darf man nicht nur eine
„genügend“ gute Trasse auswählen, sondern muss die entscheidenden Parameter, etwa

87 Michael Slote, Beyond Optimizing. A Study of Rational Choice, Cambridge 1989, S.€ 138╛ff. (mit
einem SchwerÂ�punkt auf der Rationalitätstheorie, nicht auf kategorischen Normordnungen und ihrer
ethischen Rechtfertigung und mit einer wenig klaren Beschränkung auf die erste Form); Harry Frank-
furt, Equality and Respect, Social Research 64 (1999), S.€3–15; Roger Crisp, Equality, Priority, and
Compassion, Ethics 113 (2003), S.€745–763; Paula Casal, Why Sufficiency Is Not Enough, Ethics 117,
S.€296–326.
5. Kritik weiterer Prinzipien 205

Baukosten, Lärmbelästigung, Naturbeeinträchtigung etc. optimieren. Jeder Versuch,


das Genügensprinzip als alleiniges Prinzip für alle Fragen der Abwägung von Belangen
heranzuziehen, scheitert also.

c) Das Paretoprinzip

Auch beim Paretoprinzip handelt es sich um eine Abschwächung des Maximierungsprin-


zips sowie des Gleichstellungsprinzips und eine Steigerung des Gleichbehandlungsprin-
zips. Nach dem Paretoprinzip ist eine Handlung geboten oder zumindest erlaubt, wenn
sie bewirkt, dass wenigstens einer besser und keiner schlechter steht. Die Ungleichbe-
handlung und Ungleichstellung wird also zugelassen, anders als beim Maximierungsprin-
zip aber nur, wenn dadurch niemand einen Nachteil erleidet. Das Paretoprinzip kann vor
allem Verträge rechtfertigen, bei denen jede der vertragschließenden Parteien annimmt,
nach dem Vertragsschluss je individuell besser oder zumindest gleich gut zu stehen wie
vor dem Vertragsschluss. Das Pareto-Prinzip kann also nur in sog. „Win-Win“- bzw.
Plus-Summen-Situationen zur Anwendung kommen.88
Allerdings können moralische Konflikte auftreten, bei denen sich die „Win-Win“-
Frage mangels Verbesserungsmöglichkeit gar nicht stellt, die also keine Plus-Summen-
Situationen sind. In derartigen Situationen muss nur entschieden werden, ob die Be-
lange mehrerer Betroffener gar nicht, zum Teil oder voll verwirklicht werden sollen.
Bei jeder Lösung steht notwendig einer der Betroffenen€– relativ zu seinen Interessen€–
schlechter. Das Paretoprinzip kann hier keine Entscheidung liefern. Es bleibt somit in
seiner Reichweite beschränkt. Sein hauptsächlicher Anwendungsfall ist der freiwillige
Austausch ökonomischer Güter innerhalb einer ordnungspolitisch strukturierten Wirt-
schaftsordnung.

d) Das Kaldor-Hicks-Prinzip bzw. Aufopferungsprinzip

Das Kaldor-Hicks-Prinzip oder Kaldor-Hicks-Kriterium ist eine Verbindung aus dem


Maximierungsprinzip und dem Paretoprinzip. Das Paretoprinzip wird quasi erweitert.
Danach soll die Maximierung und damit die Besserstellung einiger über das Pareto-
prinzip hinaus auch dann erlaubt bzw. geboten sein, wenn zwar nicht alle gleich gut
stehen, weil sie faktisch durch die Veränderung tangiert werden, sich aber zumindest
wertmäßig nicht verschlechtern, weil sie für einen Eingriff vollständig, das heißt wert-
gleich entschädigt werden bzw.€– in einer weiteren Abschwächung€– entschädigt werden
könnten. Es handelt sich also um eine Anwendung des Aufopferungsgedankens, der
allerdings auf große Wertunterschiede beschränkt bleibt: In bestimmten Fällen muss
man im weit überwiegenden Interesse Anderer oder der Allgemeinheit weit weniger
wichtige Interessen aufgeben, etwa ein Kleidungsstück oder einen Haushaltsgegenstand

88 Präziser müßte man sagen „Win-No-Loss-Situationen“.


206 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

zur Rettung von Leib oder Leben eines Anderen, hat dann aber Anspruch auf wert- oder
sogar sachgleiche Entschädigung.
Das Aufopferungsprinzip findet in vielen Normen Anwendung. Um einem Ertrin-
kenden Hilfe zu leisten, muss der Retter es etwa in Kauf nehmen, dass seine Kleider nass
bzw. beschädigt werden, er Zeit verliert oder sich vielleicht sogar erkältet. Er hat aber
moralisch und rechtlich Anspruch auf Entschädigung.89 Der Finder ist verpflichtet, die
gefundene Sache zu verwahren und zu erhalten sowie die Unannehmlichkeit der Abliefe-
rung auf sich zu nehmen. Dann stehen ihm jedoch ein Ersatz seiner Aufwendungen und
der Finderlohn zu.90 Der Anteilseigner einer Aktiengesellschaft, der die weit überwiegen-
de Anzahl der Aktien hält, kann das Unternehmen vollständig übernehmen. Er muss
die anderen Eigner jedoch vollständig in Geld entschädigen (sog. „Squeeze Out“).91 Das
Sacheigentum darf zum Wohl der Allgemeinheit enteignet werden. Dann muss aber eine
vergleichbare Sache beschafft oder eine angemessene Entschädigung gezahlt werden.92
An diesen Beispielen wird allerdings schon die Grenze des Aufopferungsprinzips
deutlich. Es kommt vor allem bei weniger wichtigen, ersetzbaren Belangen wie Sachei-
gentum, Sachbesitz oder kurzzeitigen Handlungen ohne gravierende Gefahr für Leib
oder Leben in Betracht. So gibt es etwa keine Befugnis, jemanden zu längerer Zwangs-
arbeit zu verpflichten, selbst wenn der Vorteil daraus sehr groß wäre.93 Das Aufopfe-
rungsprinzip ist nur für einen kleinen Bereich von Fällen positiver Hilfspflichten unter
Einsatz weniger wichtiger, ersetzbarer Belange zur Erreichung sehr viel wichtigerer Ziele
Anderer gerechtfertigt, taugt aber nicht als allgemeines Abwägungsprinzip in allen mo-
ralischen, rechtlichen und ethischen Konflikten mit zum Teil nur geringen Wertunter-
schieden, wie dies im Kaldor-Hicks-Prinzip ausgeprägt ist.

e) Das Maximinprinzip

Das Maximinprinzip (Differenzprinzip) geht in seiner Wirkung für den einzelnen noch
stärker über das Paretoprinzip hinaus als das Aufopferungsprinzip. Es sucht nach einem
sozialeren Kompromiss zwischen dem Maximierungs- und dem Gleichverteilungsprinzip.
Für eine Ungleichverteilung soll es danach anders als beim Paretoprinzip nicht genügen,
dass niemand schlechter gestellt wird. Vielmehr ist sie nur dann gerechtfertigt, wenn sich
die individuelle Situation der am schlechtesten Gestellten durch die Ungleichverteilung
gegenüber der Gleichverteilung soweit wie möglich verbessert.94 Das bedeutet: Nur wenn
die zu verteilende Gesamtmenge des fraglichen Guts distributionssensitiv ist, also durch

89 Vgl. § 683, 670 BGB: Ersatz von Aufwendungen für eine berechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag.
90 §§ 970, 971 BGB.
91 §§ 327aâ•›ff. AktG, §§ 39aâ•›ff. Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz.
92 Vgl. Art. 14 III Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
93 Vgl. Art. 12 II, III Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
94 John Rawls, A Theory of Justice, S.€152╛ff.; Thomas Nagel, Equality and Partiality, New York 1991,
S.€66; Walter Pfannkuche, Die Moral der Optimierung des Wohls, S.€192╛ff.
5. Kritik weiterer Prinzipien 207

die Ungleichverteilung erhöht werden kann, ist ein Abweichen vom Gleichheitsprinzip
grundsätzlich zulässig. Ansonsten bleibt es bei der Gleichverteilung. Eine gewisse Un-
gleichbehandlung und Ungleichverteilung wird also in Kauf genommen, um das Ergebnis
für jeden Einzelnen zu maximieren, sofern dies gerade durch die Wahl des Differenzprin-
zips möglich ist, das zum einen von der Gleichverteilung abweicht und zum anderen die
Schlechtestgestellten besser stellt. Lassen sich die Schlechtestgestellten bei zwei oder mehr
Abwägungsprinzipien gleich gut bzw. gleich schlecht stellen, so ist die möglichst weitge-
hende Verbesserung der Zweitschlechtestgestellten entscheidend, sind auch hier zwei oder
mehr gleichwertige Alternativen möglich, die Verbesserung der Drittschlechtestgestellten
usw. Da auf diese Weise eine hierarchische Ordnung der Niveauverbesserungen von un-
ten nach oben entsteht, spricht man auch von einer „lexikographischen Ordnung“ bzw.
präziser vom „lexikographischen Maximinprinzip“ oder „Leximinprinzip“.
Wie das Paretoprinzip kann das Maximinprinzip nur in Situationen der Güter-
verteilung zur Anwendung kommen, und zwar nur dann, wenn sich gegenüber einer
Gleichverteilung die Situation für alle verbessern lässt, wenn es sich also nicht um eine
Null-Summen-, sondern eine Plus-Summen- bzw. Win-Win-Situation handelt. Dies
ist in einfachen moralischen Konflikten, etwa der Frage, ob man ein Versprechen auch
im Falle schwerer Nachteile halten muss, regelmäßig nicht der Fall. In derartigen Kon-
flikten muss entschieden werden, welche Interessen den Vorzug verdienen, ohne dass
die Ungleichbehandlung die zur Interessenbefriedigung vorhandenen Güter vermeh-
ren könnte. Das Maximinprinzip ist also zwar unter Umständen für gewisse Fälle der
vor allem ökonomischen Güterverteilung, nicht aber als umfassendes Abwägungs- und
Zusammenfassungsprinzip der Ethik einsetzbar. So kann es etwa kaum bei der Frage
helfen, ob ein Versprechen auch unter der Bedingung eines Unfalls gehalten werden soll,
wenn der Versprechensempfänger durch die Nichteinhaltung des Versprechens prinzi-
piell schlechter gestellt wird.
Aber auch in Fällen der Güterverteilung kann das reine Maximinprinzip aus wenigs-
tens zwei Gründen nicht als alleiniges Abwägungsprinzip überzeugen: Es berücksichtigt
nur die Bedürftigkeit, nicht aber das eigenverantwortliche Vorverhalten der fraglichen
Personen, ist also im Ergebnis nicht normativ-individualistisch genug. Und es kann
krass ineffizient sein, etwa wenn zum Zweck einer minimalen Verbesserung der Schlech-
testgestellten auf eine eminente Verbesserung der Zweitschlechtest- oder Drittschlech-
testgestellten verzichtet werden muss.

f ) Das Utilexprinzip

Das Utilexprinzip verbindet Maximierungs- und Differenzprinzip.95 Anders als bei der
bloßen Maximierung sind danach das bisherige Niveau und die realisierte Verteilung

95 Christoph Lumer, Utilex€– Verteilungsgerechtigkeit auf Empathiebasis, in: P. Kollerâ•›/â•›K. Puhl (Hg.),
Current Issues in Political Philosophy: Justice in Society and World Order, Wien 1997, S.€99–110;
ders., Rationaler Altruismus, Osnabrück 2000, S.€616â•›ff.
208 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

nicht gleichgültig. Die am schlechtest Gestellten sollen wie beim Differenzprinzip be-
vorzugt werden. Aber diese Bevorzugung soll nicht so weit gehen, jeweils unter allen
Umständen das Niveau der Schlechtestgestellten so weit wie möglich zu maximieren,
selbst wenn diese Verbesserung nur minimal und eine viel größere Verbesserung bei
weniger schlecht Gestellten möglich wäre. Die Verbesserung der Betroffenen soll viel-
mehr in Abhängigkeit vom bisherigen Niveau gewichtet werden. So erscheint es etwa
geboten, einem Schwerverletzten das Leben zu retten, selbst wenn dadurch einem sicher
Sterbenden, also einem noch mehr Geschädigten, die ansonsten mögliche leichte Linde-
rung seines Sterbens vorenthalten werden muss.
Das Utilexprinzip ist stärker verteilungssensitiv als das Maximierungsprinzip. Und
es vermeidet anders als das Differenzprinzip krasse Ineffizienz. Es verdient also in be-
stimmten Fällen gegenüber dem reinen Maximierungs- und dem reinen Differenzprin-
zip den Vorzug. Allerdings vermag es auch nicht allen Einwänden gegen diese Prinzipien
zu entgehen. So kann es wie diese nur bei Güterverteilungen in Plus-Summen-Situatio-
nen zur Anwendung kommen. Im Übrigen wird wie beim Maximierungsprinzip das ei-
genverantwortliche Vorverhalten der Personen nicht berücksichtigt. Schließlich kommt
beim Utilexprinzip alles auf die Wahl des Gewichtungsfaktors an. Wie dieser begründet
und realisiert werden soll, ab welcher Grenze also auf eine kleinere Verbesserung der
Schlechtestgestellten zu Gunsten einer größeren Verbesserung Bessergestellter verzichtet
werden soll, ist nicht entschieden. Man kommt insofern um eine vorherige Gewichtung
der Interessen der Betroffenen nicht herum. Auch das Utilexprinzip kann also nicht für
sich in Anspruch nehmen, als umfassendes Prinzip in allen ethischen bzw. moralischen
Konflikten allein zu einer gerechtfertigten Abwägung zu führen.

g) Das Leistungsprinzip

Das Leistungs- bzw. Beitragsprinzip gebietet, die Abwägung zwischen konfligierenden


Belangen nach der Leistung bzw. dem Beitrag der einzelnen Betroffenen vorzunehmen.
Wenig mitfühlend sagt der Volksmund: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht
essen!“ Das Leistungsprinzip hat seine partielle Berechtigung bei der Verteilung von
gemeinsam erarbeiteten Gütern, wenn die Beiträge unterschiedlich hoch waren, sofern
dies nicht nur auf natürliche oder individuell unbeeinflussbare Faktoren zurückzufüh-
ren ist, sondern auf die je individuelle Leistung. Wer mehr beiträgt, der darf auch mehr
erwarten, das heißt seine Belange sollen in höherem Maße befriedigt werden.
Deutlich ist aber, dass die Leistung nur ein Aspekt der Vermittlung in einem mora-
lischen Konflikt sein kann. Stehen etwa wie oben Versprechen und Notfall im Konflikt,
vermag das Leistungsprinzip nicht zu einer Lösung zu führen. In anderen Fällen ist die
alleinige Berücksichtigung der Leistung ungerecht, denn sie kann etwa auf natürlichen
Faktoren wie Schönheit oder Intelligenz beruhen, die einer Person nur aufgrund von
Glück in der Geburtslotterie der Natur zugefallen sind und die sie nicht durch persönli-
che Anstrengung erworben hat. Auch das Leistungsprinzip taugt also nicht als alleiniges
Abwägungsprinzip.
5. Kritik weiterer Prinzipien 209

h) Das Prioritätsprinzip

Nach dem Prioritätsprinzip sollen die Belange nach der Priorität ihres Entstehens oder
ihrer Artikulation befriedigt werden.96 Opernkarten erhält etwa derjenige zuerst, der
sich als Erster an der Kasse anstellt. An der Ladentheke wird der Erste zuerst bedient.
Und auch bei der Transplantation von Organen spielt die Reihenfolge der Anmeldung
häufig zumindest eine Rolle.
Dabei ist grundsätzlich kein guter Grund ersichtlich, warum der bloße, mehr oder
minder zufällige Zeitpunkt der Entstehung oder Artikulation eines Belangs seine be-
vorzugte Realisierung recht�fertigen sollte. Bei der Verteilung von Opernkarten nach
Priorität mag das frühzeitige Anstehen einen besonders starken Wunsch, die Oper zu
sehen, beglaubigen und die Bevorzugung der Ersten in der Reihe sachlich rechtfertigen.
Die Zeitpunkte des Anstellens an der Ladentheke und des Entstehens eines Transplan-
tationsbedürfnisses sind dagegen regelmäßig dem puren Zufall geschuldet. Das Priori-
tätsprinzip kann dann nicht auf einen sachlichen Grund für die Bevorzugung der früher
entstandenen oder artikulierten Belange gestützt werden. Es gewinnt seine Legitimität
allein aus dem Vorteil, eine geordnet-rationale Beilegung des Verteilungskonflikts zu
ermöglichen. Streit und Unsicherheit über die Lösung des Konflikts der Belange werden
so vermieden. Jeder weiß, woran er ist, und kann sich darauf einstellen. Damit ist aber
auch deutlich, dass sich das Prioritätsprinzip nicht als allgemeines Abwägungsprinzip
eignet, weil die soeben erwähnte sekundäre Rechtfertigung der Vermeidung von Streit
und Unsicherheit nicht allein ausschlaggebend sein kann, sofern andere inhaltlich ent-
scheidende Gründe für den Vorrang oder Nachrang einzelner Belange sprechen.

i)€Fazit

Das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip ist in seiner allgemeinen Form gerechtfertigt,


umfasst aber nur die schon in den früheren Kapiteln erörterten Elemente eins bis vier ei-
ner adäquaten normativen Ethik, ist also zu abstrakt und leistet deshalb nicht genug für
eine notwendige inhaltliche Konkretisierung der Abwägung. Die anderen diskutierten
Prinzipien, also das Verallgemeinerungsprinzip, das Maximierungsprinzip, das Gleich-
heitsprinzip usw., sind nur zur Lösung einzelner Typen ethischer Konflikte gerecht-
fertigt. Diese Prinzipien sind jeweils zu konkret, um als allgemeines ethisches Abwä-
gungsprinzip akzeptabel zu sein. Nötig ist deshalb ein Prinzip, das einerseits konkreter
als das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip und andererseits abstrakter als die anderen
erwähnten Prinzipien ist. Es muss in seiner Abstraktionshöhe zwischen diesen beiden
Ebenen liegen, um gleichzeitig alle möglichen Konflikte umfassen und als Metaprinzip
die Anwendung der konkreteren Prinzipien steuern zu können.

96 Dieses Prinzip ist von dem Prinzip der sog. „priority-view“ als eine Art verbessertem Maximinprinzip
zu unterscheiden. Vgl. zu diesem: Derek Parfit, Equality and Priority, Ratio 10 (1997), S.€202–221.
210 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

6. Das Prinzip der relativen Individual- und Ander-


bzw. GemeinschaftsÂ�abhängigkeit der Belange

Ein adäquates ethisches Abwägungsprinzip muss der Vermittlung der potentiell wider-
streitenden Belange der Betroffenen im Konflikt dienen. Dann lautet die zentrale Frage:
Wie sind diese potentiell widerstreitenden Belange der Betroffenen im Konflikt zu ge-
wichten, das heißt wechselseitig zu bewerten?
Die Konfliktvermittlung durch primäre Normordnungen wie Moral, Recht und Po-
litik geschieht vor dem Hintergrund bereits bestehender Akteur-Anderer-Beziehungen
bzw. Gemeinschaften im weitesten Sinn, denen die betroffenen Individuen als Akteur
und Anderer angehören. Die Bandbreite dieser Gemeinschaften reicht von zwei oder
mehr einander vollkommen Fremden, die als Menschen lediglich Teil der relativ schwa-
chen Gemeinschaft der Menschheit als Ganzes sind, bis hin zu den Mitgliedern der
engsten Gemeinschaft, die denkbar ist, der Ehe und Familie. Die Konfliktvermittlung
dient nicht zuletzt der Ermöglichung und Aufrechterhaltung dieser Gemeinschaften.
Die einzelnen Belange, die als normative Eigenschaften für die Konfliktlösung entschei-
dend sind, hängen nun aber teilweise von diesen faktischen Gemeinschaften ab. Sie sind
deshalb für jedes einzelne Individuum in mehr oder minder starkem Maße ein Eigenes
oder Fremdes, ein Eigenes seiner selbst oder ein Fremdes der Gemeinschaft der Betrof-
fenen. Dann erscheint es aber gerechtfertigt, dass jeder an einem Konflikt Beteiligte ge-
genüber den anderen Beteiligten um so stärker die Verwirklichung des im Konflikt ste-
henden fraglichen Belangs erwarten darf, je stärker dieser Belang sein Eigenes und nicht
ein Fremdes der Gemeinschaft ist, je weniger der Belang also von der Gemeinschaft der
Beteiligten abhängt. Oder umgekehrt ausgeÂ�drückt: Jeder im Widerstreit der Interessen
Stehende muss sich eine umso stärkere Relativierung seines Belangs in der Abwägung
gefallen lassen, je stärker dieser Belang von Anderen bzw. der Gemeinschaft abhängt,
also bereits faktisch-individuell relativiert ist. Das heißt: Die normative Berechtigung
eines Individuums, sich mit seinen eigenen Belangen in einem Konflikt der Interessen
gegen die gemeinschaftliche Relativierung der individuellen Belange durchzusetzen,
nimmt ab, je weiter gehend diese Belange von der Gemeinschaft selbst abhängen. Dieses
allgemeine Prinzip der ethischen Abwägung soll „Prinzip der relativen Individual- und
Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit der Belange“ heißen. Es lautet präzisiert:

Je stärker der Belang eines im Konflikt zu berücksichtigenden Individuums von der Gemein-
schaft der Betroffenen abhängt, desto eher muss sich das Individuum eine Relativierung dieses
Belangs in der Abwägung gefallen lassen.

Zum weiteren Verständnis dieses Prinzips der ethischen Abwägung soll erläutert werden,
was „Abhängigkeit von der Gemeinschaft der Betroffenen“ bedeutet. Diese Abhängigkeit
kann sich unter allen Aspekten ergeben, die prinzipiell Relationen bestimmen können:
Die Abhängigkeit des Belangs von der Gemeinschaft kann etwa aus der kausalen
oder quasikausalen Verursachung des Belangs beim Einzelnen herrühren, zum Beispiel
weil ein Versprechen beim Empfänger die Erwartung seiner Erfüllung erzeugt hat. Sie
6. Das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. GemeinschaftsÂ�abhängigkeit 211

kann aber auch final auf die Realisierung des Belangs in der Gemeinschaft gerichtet sein,
etwa der Wunsch nach Anerkennung durch die Anderen in gemeinschaftlich etablierten
Formen der Belobigung wie der Gewährung von Leistungsprämien, der Vergabe von
Orden oder der Berufung in Ämter. Die Abhängigkeit des Belangs von der Gemein-
schaft kann eine der Physis sein, etwa aus der sehr starken physischen Abhängigkeit
zwischen Mutter und Kind im Mutterleib erwachsen, oder eine solche der Psyche, etwa
den starken Gefühlen zwischen Liebenden entspringen. Die Abhängigkeit des Belangs
von der Gemeinschaft kann weiterhin vom Gesichtspunkt der Zeit bestimmt werden:
(1)€ historisch und vergangenheitsorientiert, weil eine bestimmte Praxis mit Anderen in
einer Gemeinschaft notwendige EntÂ�stehungsbedingung der Ausprägung des Belangs
beim Beteiligten war, etwa der Bestand öffentlicher Einrichtungen die notwendige Be-
dingung positiver Erfahrungen und damit in der Folge die Quelle des Wunsches, die-
se Einrichtungen beizubehalten; (2)€ gegenwärtig, weil ein Belang im Zusammenhang
mit den Belangen Anderer steht, etwa die wechselseitige Erwartung der Aufrichtigkeit;
(3)€ zukunftsorientiert, weil ein Belang auch in Zukunft nur in der Praxis mit Ande-
ren oder in einer bestimmten Gemeinschaft mit ihren Einrichtungen realisiert werden
kann, etwa das Interesse, auch in Zukunft zusammenzuarbeiten und an den gemein-
schaftlichen Einrichtungen der Hilfe und Fürsorge zu partizipieren. Die Abhängigkeit
des Belanges von einer Gemeinschaft kann sich aber auch aus dem Gesichtspunkt des
Raumes ergeben, etwa weil beide Beteiligte Nachbarn sind und aus dem nachbarschaft-
lichen Zusammenleben Erwartungen erwachsen. Die Abhängigkeit des Belangs kann
eine solche des psychischen Akts selbst sein oder eine solche seines Inhalts.
Warum ist das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsab-
hängigkeit als allgemeines Metaprinzip der Abwägung gerechtfertigt? Nach dem Prinzip
des normativen Individualismus kann die letzte legitime Quelle für die Rechtfertigung
von Normen und Regeln gegenüber Anderen ausschließlich in den betroffenen Indi-
viduen selbst liegen. Die Individuen sind€– lässt man religiöse Begründungen einmal
außer Betracht€– der letzte Grund, warum das Handeln einzelner Anderer auch ohne
deren konkrete Zustimmung, also kategorisch durch Normen, Bewertungen und Re-
geln der Moral, des Rechts und anderer primärer Normordnungen eingeschränkt wer-
den darf. Dem Prinzip des normativen Individualismus liegt der Gedanke zu Grunde,
dass die Interessen der Individuen so weit wie möglich verwirklicht werden sollen. Die
Autonomie der Individuen muss bestmöglich realisiert werden. Jede Nichterfüllung der
individuellen Belange ist prima facie negativer als ihre auch nur partielle Erfüllung.
Dann bedarf aber jede Einschränkung der Interessenverwirklichung der Rechtfertigung.
Diese Rechtfertigung muss umso stärker ausfallen, je stärker die jeweiligen Belange im
konkreten Konflikt eingeschränkt werden. Dies ist aber umso weniger möglich, je stär-
ker die Belange Eigenes und nicht Fremdes sind. Umgekehrt gelingt die Rechtfertigung
der Einschränkung der individuellen Belange umso eher, je weniger diese Belange von
den Individuen selbst abhängen, je weniger sie also Eigenes der Individuen und je mehr
sie Fremdes, von der Gemeinschaft Kommendes darstellen. Denn dann ist der letzte
Grund der Berücksichtigung der Belange der Individuen€– die Individuen selbst mit
ihrer Freiheit als ultimativer Quelle berechtigter Normen€– umso weniger faktisch tan-
212 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

giert und normativ bestimmend. Das hat zur Folge: Die Einschränkung der individu-
ellen Belange darf um so eher stattfinden, je eher ein Belang nicht von dem fraglichen
Individuum, sondern von Anderen undâ•›/â•›oder der sozialen Gemeinschaft abhängt. Oder
anders ausgedrückt: Je mehr dasjenige, was als Eigenes letzte Quelle von Normativität
ist, wirklich Eigenes ist, desto stärker ist man berechtigt, darüber zu verfügen, je weniger
es dagegen wirklich Eigenes ist und je mehr vielmehr Fremdes, von der Gemeinschaft
Kommendes, desto weniger ist man als Individuum berechtigt, darüber zu bestimmen,
und umso mehr darf die Gemeinschaft verfügen, weil „Verfügung“ rein begrifflich
nichts anderes bedeutet als „wie Seines zu behandeln“. Hinter dem Prinzip der rela-
tiven Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit steht also ein Prinzip
der Urheber- bzw. Erhalterlegitimität: „Wer etwas hervorgebracht hat undâ•›/â•›oder erhält,
darf darüber entscheiden oder zumindest€– wenn es auch andere hervorgebracht haben
undâ•›/â•›oder unterhalten€– mitentscheiden.“ Weshalb darf derjenige, der etwas hervorge-
bracht hat oder unterhält, darüber entscheiden bzw. mitentscheiden? Wer etwas hervor-
gebracht hat oder unterhält, steht in enger zeitlicher, räumlicher, kausaler und sonstiger
sachlicher Beziehung zu dem Hervorgebrachten bzw. Unterhaltenen. Setzt man voraus,
dass die Hervorbringung bzw. Unterhaltung nicht unethisch ist, ist kein Grund er-
sichtlich, warum der faktische Zusammenhang von Hervorbringungâ•›/â•›Erhaltung und
Hervorgebrachtem╛/╛Erhalte�nem durch die Intervention Anderer unterbrochen oder
eingeschränkt werden dürfte. Die Intervention Anderer bedarf vielmehr ihrerseits der
ethischen Recht�fertigung. Warum jemand befugt sein soll, einen ethisch nicht zu bean-
standenden Zustand des faktischen Zusammenhangs von Hervorbringungâ•›/â•›Erhaltung
und Hervorgebrachtem╛/╛Er�haltenem zu unterbrechen, ist nicht ersichtlich. Das Prinzip
der Urheber- bzw. Erhalterlegitimität ist in vielen alltäglichen Regelungen der Moral
und des Rechts wirksam. Wer etwa selber etwas aus anderen Teilen zusammenbaut, er-
wirbt daran das Eigentum und darf darüber verfügen. Oder wer ein Kunstwerk schafft,
hat daran nicht nur das Eigentum, sondern für einen gewissen Zeitraum auch ein Ur-
heberrecht. Wer schließlich eine Erfindung macht und zum Patent anmeldet, darf diese
eine gewisse Zeit lang ausschließlich nutzen und verwerten.
Das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit
und das Prinzip der Urheber- bzw. Erhalterlegitimität sind letztÂ�lich nichts anderes als
konkretisierende Antworten des Grundsatzes des normativen Individualismus in seinem
ersten Teil, also des Individualprinzips, auf die spezifische Frage nach einem adäqua-
ten Prinzip der Abwägung. Wer das Prinzip des normativen Individualismus akzeptiert,
muss auch diese Konkretisierung auf die Abwägung als Prinzip akzeptieren, weil im
Vergleich mit den anderen erörterten Prinzipien nur dieses Prinzip die Freiheit der In-
dividuen in Interessenkonflikten bestmöglich wahrt.
Man kann sich fragen, ob die Verknüpfung von faktischer Gemeinschaftsabhän-
gigkeit der Belange und normativer Verpflichtung zu ihrer Berücksichtigung durch das
Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit nicht
einen naturalistischen Fehlschluss darstellt. Das wäre nur dann so, wenn das normati-
ve Prinzip der Abwägung selbst auf der faktischen Gemeinschaftsabhängigkeit basieren
würde. Das ist jedoch nicht der Fall. Das Prinzip ist vielmehr Ausfluss der Autonomie
6. Das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. GemeinschaftsÂ�abhängigkeit 213

der Individuen und des Prinzips des normativen Individualismus in Anwendung auf das
Abwägungsproblem. Deshalb bestehen keine Bedenken, die normative Gewichtung der
Belange von der faktischen Gemeinschaftsbedingtheit abhängig zu machen.
Die relative Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit der Indivi-
dualbelange formt ein Kontinuum. An dessen einem Ende stehen Belange, die sehr
wenig oder praktisch gar nicht von den jeweils betroffenen Anderen bzw. der konkre-
ten Gemeinschaft der Beteiligten abhängen, sondern durch sie allenfalls indirekt ge-
fördert werden, etwa das Interesse des Einzelnen an seinem physischen Leben, seiner
körperlichen Unversehrtheit, seinem Denken und Wollen usw. Diese Belange bestehen
in allen Ländern der Erde und in allen Kulturen und Gesellschaften unabhängig von
ihrer spezifischen Ausgestaltung durch historisch kontingente Gemeinschaften. Und sie
lassen sich in allen Ländern der Erde und in allen Kulturen und Gesellschaften realisie-
ren. Das Interesse, nicht gefoltert zu werden, verbindet zum Beispiel die jeweils kaum
gemeinschaftsabhängigen Interessen an der eigenen körperlichen Unversehrtheit und
der eigenen Willensentschließung und potenziert damit quasi deren je einzelne starke
Individualabhängigkeit. Deshalb muss das Interesse, nicht gefoltert zu werden, in höchÂ�
stem Maße frei von relativierenden Abwägungen bleiben.97 Am anderen Ende dieses
Kontinuums der Gemeinschaftsabhängigkeit der Individualbelange stehen fast vollstän-
dig von Anderen bzw. Gemeinschaften abhängige Belange, wie etwa das Interesse, mit
anderen zusammenzuarbeiten, gemeinsam Sport zu treiben, Familienfeste zu feiern,
öffentliche Einrichtungen wie Museen oder Verkehrsmittel zu nutzen, das Interesse an
sozialer Unterstützung, an der gemeinsamen Wirtschaft, an natürlichen Ressourcen wie
sauberer Luft oder Mineralöl. Zwischen beiden Extremen liegen zum Beispiel Belange
der respektvollen Behandlung, der Einhaltung von Versprechen, der Aufklärung über
persönlich wichtige Tatsachen, der Erwerbstätigkeit, der freien Meinungsäußerung, der
Nutzung eigener Güter usw.
Da das Kontinuum der Abhängigkeit der Belange der Individuen von Gemeinschaf-
ten in der Abwägung praktisch schwer handhabbar ist, erscheint es sinnvoll, zwischen
verschiedenen Abschnitten auf diesem Kontinuum zu unterscheiden. Man kann dann
idealtypisch drei Arten oder Zonen von Belangen differenzieren, und zwar: (1) die Be-
lange einer Individualzone, die praktisch nicht von bestimmten Anderen abhängen,
nämlich Leben, Leib, physische und psychische Unversehrtheit sowie Gesundheit, also
Belange, die innerhalb einer symbolischen Prima-facie-Grenze des Körpers des jeweili-
gen Individuums lokalisierbar sind, (2) die Belange einer Relativzone, die partiell von
Anderen oder einer Gemeinschaft abhängen, etwa die allgemeine Freiheit der Hand-
lung, der Respekt durch Andere, die Erwartung der Erfüllung von Versprechen, die Hil-
fe seitens Anderer in Notlagen, die Freiheit der Meinung, die Freiheit der Religion, die
Freiheit des Berufs, (3) die Belange einer Sozialzone, die weitgehend oder fast vollständig
von Anderen oder einer Gemeinschaft abhängen, etwa das Interesse an gemeinsamen
Aktivitäten der Familie, der Kultur oder des Sports, an einem System der Anerkennung
durch Andere, an einer Praxis der Aufrichtigkeit, an der hoch arbeitsteiligen und von

97 Vgl. Verf., Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt?
214 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Infrastruktur abhängigen modernen Wirtschaft, an der Schaffung von Verkehrswegen,


an der Nutzung natürlicher Ressourcen, an der Gleichheit sozialer Chancen.
Zur praktischen Abwägung zwischen potentiell widerstreitenden Belangen ist es
sinnvoll, das abstrakte Grundprinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Ge-
meinschaftsbezogenheit mit Hilfe dieser Typisierung in drei Zonen zu konkretisieren.
Man muss dazu die potentiell widerstreitenden Interessen der jeweils in einem Konflikt
konkret Betroffenen einer der drei idealtypischen Zonen zuordnen. Dann ist entschei-
dend, ob sich Belange der gleichen Zone oder unterschiedlicher Zonen widerstreiten.
Beide Alternativen werden nachfolgend analysiert. Zuvor wird aber die Zuordnung der
Belange zu den einzelnen Zonen näher erläutert.

7. Die Belange der Individualzone

Einige Individualbelange sind praktisch nicht durch bestimmte Andere oder ei�ne be-
stimmte GeÂ�meinÂ�schaft bedingt. Dies gilt am deutlichsten für das Interesse des einzelnen
an seinem biologischen Leben bzw. an seiner Le�benserhaltung. Wir verdanken unser bio-
logisches LeÂ�ben zwar der Zeugung durch unsere ElÂ�tern€– in neuerer Zeit gelegentlich
reproduktionsmedizinisch unterstützt. Aber nach der Geburt hängt es als biologischer
Metabolismus nur von unseÂ�rer genetischen AusÂ�stattung und natürlichen StoffÂ�wechÂ�
selÂ�vorÂ�gängen wie Atmung und Verdauung ab. Andere und Gemeinschaften bieten zur
Sicherung unseres biologischen Lebens zwar Unterstützung, zum Beispiel durch die
Nahrungsversorgung, den Bau von Wohnungen usw. Aber diese Sicherung durch eine
bestimmte Gemeinschaft ist für unser biologisches Leben nicht notwendige Bedingung,
so wie etwa ein bestimmtes Unternehmen oder eine bestimmte Behörde notwendige
Bedingung für einen spezifischen Arbeitsplatz ist oder ein bestimmtes System des öf-
fentlichen Nahverkehrs notwendige Bedingung spezifischer Formen von Mobilität. Wir
können bestimmte Gemeinschaften jederÂ�zeit verlassen und unser biologisches LeÂ�ben als
im Wesentlichen identisches in einer anderen Gemeinschaft oder im Extremfall sogar
außerhalb jeglicher Gemeinschaft führen, während wir den Arbeitsplatz nicht in andere
Gemeinschaften mitnehmen können und auch nicht unsere Form der Nutzung des öf-
fentlichen Nahverkehrs. Ist aber das biologische Leben nicht durch bestimmte Andere
oder eine bestimmte Ge�mein�schaft konstituiert oder auch nur wesentlich bedingt und
können wir es Letzterer ohne weiteres durch Ortswechsel entziehen, dann ermöglicht
dies eine weitgehende Unabhängigkeit des Lebensinteresses. Diese Unabhängigkeit unse-
res Lebensinteresses von bestimmten Gemeinschaften sehen wir als selbstverständlich an.
Besuchen wir etwa fremde Länder, Stämme oder Familien, so gehen wir ohne Weiteres
davon aus, dass unser Lebensinteresse in gleichem Maße berücksichtigt wird wie in un-
serem Heimatland oder unserer Heimatfamilie, anders als etwa bei unserem Interesse an
einem Arbeitsplatz oder an der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, die naturgemäß
von der Situation in der jeweiligen konkreten Gemeinschaft abhängen, die wir aufsuchen.
Wir können etwa nicht erwarten, in jeder fremden Gemeinschaft einen vergleichbaren
Arbeitsplatz zu erhalten, denn die Gemeinschaft kann lediglich aus einzelnen selbstän-
7. Die Belange der Individualzone 215

digen Bauern bestehen, oder es kann hohe Arbeitslosigkeit herrschen. Und wir können
nicht beanspruchen, in jeder fremden Gemeinschaft ein unseren heimischen Ansprüchen
in gleichem Maße genügendes System des öffentlichen Nahverkehrs vorzufinden.
Ist unser Lebensinteresse nicht von bestimmten Gemeinschaften abhängig, dann
dürfen wir erÂ�warten, dass es von allen Anderen und allen Gemeinschaften mit höchster
Priorität beachtet wird. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass jeder Einzelne bestim-
men dürfte, welche konÂ�kreten äuÂ�ßeren Maßnahmen Andere oder eine Gemeinschaft
zum Schutz des biologischen Lebens jedes Einzelnen ergreifen. Das Interesse an spezifi�
schen positiven Schutzhandlungen€– und damit an der spezifischen Hilfe anderer Perso-
nen€– fällt nicht in die Individualzone, sondern in die Relativzone, weil es in stärkerem
Maße von den Gegebenheiten in konkreten Gemeinschaften abhängt.
Die relative Unabhängigkeit des biologischen Lebens von bestimmten Anderen und
bestimmten Gemeinschaften manifestiert sich auch darin, dass das bloße biologische
Leben des einzelnen Mitglieds auf das Leben der Anderen keine direkten Auswirkungen
hat. Bestimmte VerÂ�halÂ�tensweisen und Handlungen führen zu konÂ�kreten KonÂ�sequenzen
für Andere und eine Gemeinschaft. Aber diese Verhaltensweisen und Handlungen kön-
nen die Anderen kanalisieren und limitieren, ohne das biologische Le�ben als Bedingung
dieser Handlungen zu zerstören oder ihm ihren Schutz zu versagen. Eine scheinbare Aus-
nahme sind Nothilfehandlungen, die MörÂ�der und GeiÂ�selnehmer verletzen. Aber letztes
Abwehrziel gegenüber diesen Angreifern muss und darf nicht die ZerÂ�störung des biologi-
schen Lebens als solches sein,98 sondern nur die Verhinderung ihres ver�breche�ri�schen Han�
delns. Ihr auf die Durchführung dieses Handelns gerichtetes Interesse fällt nicht in die
IndividualÂ�zone, sondern in die Relativzone. ReÂ�präsentanten von Gemeinschaften agieren
hier wie private Nothelfer und können im Rahmen einer solchen Verbrechensbekämp-
fung in äußersten Notfällen auch ein Risiko für das Leben des Täters in Kauf nehmen.
Die Tötung des Mörders bzw. Geiselnehmers darf aber nicht ihr letztes Ziel sein, sondern
allenfalls ein Mittel zur Rettung des Opfers.
Die körperliÂ�che UnverÂ�sehrtheit und die Gesundheit sind als physische Basis des Lebens
ebenso von konkreten Gemeinschaften nicht typischerweise wesentlich beeinflusst wie
das Leben selbst. Neben dem Interesse am biologischen Leben sind also auch die Inter-
essen an der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit regelmäßig von bestimm-
ten Anderen bzw. einer bestimmten Gemeinschaft kaum bedingt.
Zweifelhafter ist dagegen die Einordnung des psychischen Teils des Menschen, also
die Qualifikation seiner mentalen Akte, seines DenÂ�kens, seines Wollens, seiner Gefüh-
le, seiner GeÂ�wisÂ�sensbildung und seiner reÂ�ligiösen ÜberzeuÂ�gunÂ�g. Wie Wittgenstein in
seinem Privatsprachenargument99 gehen heute manche Theoretiker100 davon aus, dass
der Einzelne, zumindest im Hinblick auf seine geistige Existenz, durch die Gesellschaft

98 Deshalb muss auch die Todesstrafe ausgeschlossen sein. Vgl. Kapitel€V, 11 a).
99 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.â•›M. 1977, § 243â•›ff., S.€139â•›ff.
100 Vgl. zum Beispiel John Rawls, Political Liberalism, New York 1993, S.€222, 277; Jürgen Habermas,
Faktizität und Geltung, Frankfurt a.â•›M. 1992, S.€640â•›ff.; Michael Walzer, Liberalism and the Art of
Speculation, Political Theory 12 (1984), S.€324.
216 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

konstituiert oder doch wenigÂ�stens stark geÂ�prägt („vergesellschaftet“) ist. Aber das wider-
spricht dem Selbstverständnis des moÂ�dernen MenÂ�schen, das in dem Ruf „Die Gedanken
sind frei!“ seinen Ausdruck geÂ�funden hat, mag dieses Selbstverständnis auch zweifelhaft
sein. Im Übrigen muss man bei der Frage der Abhängigkeit unserer Psyche von Ande-
ren oder Gemeinschaften klar zwischen dem Inhalt und der Form bzw. der Tatsache
des Denkens als geistigem Akt unterscheiden. Mancher Inhalt ist durch Andere und
Gemeinschaften geprägt. Aber die Form und damit die Tatsache des geistigen Akts ist
unsere je eigene, die von unseren biologischen Körpervorgängen untrennbar ist. Und
mit zunehmendem Alter entwickeln wir auch ein Interesse an der Unabhängigkeit un-
serer psychischen Akte von Anderen. Wir wollen unser Denken, unser Wollen, unsere
Gefühle und unser Gewissen nicht von Anderen beeinflussen oder sogar manipulieren
lassen. Wir begreifen unsere Gedanken und Gefühle als zentralen Teil unseres Ichs und
damit als unser Eigenes im Gegensatz zum Fremden der Gedanken und Gefühle An-
derer und der uns umgebenden Gemeinschaften. Wir erwarten wie bei unserem bio-
logischen Leben, unserer körperlichen Unversehrtheit und unserer Gesundheit, dass
die Freiheit unserer geistigen Akte auch in fremden Gemeinschaften respektiert wird.
Natürlich wird die Unabhängigkeit unserer geistigen Akte von Anderen immer bis zu
einem gewissen Grade ein Ideal bleiben. Aber mit zunehmendem Alter wird diese Ab-
hängigkeit von einzelnen Gemeinschaften immer diffuser. Unsere Werte und Überzeu-
gungen sind in unserer Kindheit selbstredend noch stark von unseren Eltern abhängig.
Aber Pubertät und Adoleszenz bestehen in hohem Maße in einer Infragestellung und
Verwerfung bzw. Selbstaneignung dieser Werte und Überzeugungen. Auch wenn wir
eine Wertung irgendwann einmal von jemand anderem gehört oder gelesen haben, so
sind wir doch überzeugt, dass der geistige Akt der Übernahme, Verarbeitung, Einbet-
tung und Rechtfertigung dieser Wertung unsere ureigene Angelegenheit ist und uns
selbst als Ich mitkonstituiert. Selbst wenn dieses Selbstverständnis ein Stück weit illusi-
onär sein mag, so ist es entscheidend, denn zum einen lässt die Tatsache, dass nicht un-
sere geistigen Akte wesentlich sind, sondern sekundär das Interesse an unseren geistigen
Akten, den Charakter des Selbstverständnisses noch deutlicher hervortreten. Und zum
anderen operiert das System der normativen Konfliktlösung ja seinerseits lediglich auf
der Sinnebene unseres Selbst- und Fremdverständnisses und nicht auf einer eventuell
darunter liegenden realeren Ebene.
Auch die Notwendigkeit der Sprache zur Entwicklung und Artikulation höherer Stu-
fen unserer Psyche kann an diesem Befund nichts ändern. Die Sprache ist zwar notwen-
dig, aber nicht konstitutiv, sondern lediglich ein Mittel, dessen wir uns als Individuen
immer souveräner bedienen, je weiter unser psychischer Entwicklungsprozess fortge-
schritten ist. Jedes Individuum verwendet die Sprache ganz individuell. Es kann mit ihr
spielen und sie verändern. Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, die Sprache als umfassenden
und unhintergehbaren Faktor der Vergesellschaftung des Individuums anzusehen, was
immer man an kollektivistischen Vorstellungen unter „Gesellschaft“ haben mag.
Nimmt man die Interessen der Individuen an Leben, körperlicher Unversehrtheit,
Gesundheit und das mentale und emotio�nale Innenleben des Menschen zusammen,
erscheint es sinnvoll, als symbolische Prima-facie-Grenze, welche die Inter�essen der
7. Die Belange der Individualzone 217

IndividuÂ�alzone von den InteresÂ�sen der RelativÂ�zone trennt, die Grenze des KörÂ�pers jedes
einzelnen Menschen anzusehen. Was innerhalb der symbolischen Prima-facie-Körper-
grenze besteht oder geschieht, muss das Individuum deshalb nur sehr eingeschränkt der
Relativierung durch die Belange Anderer unterwerfen. Erst wenn der einzelne Mensch
seine Gedanken und Pläne gegenüber anderen Menschen ausspricht oder in die Tat
umsetzt, also mit ihnen und durch sie die symbolische Grenze des je eigenen Körpers
überschreitet, gewinnen die Interessen an der Meinungsäußerung und der aktiven Re-
alisierung der Handlung eine andere, stärker gemeinschaftsabhängige und damit der
Relativierung unterworfene Qualität.
Man mag als Einwand gegen die Auszeichnung der Körpergrenze als symbolische
Prima-facie-Grenze zwischen den Interessen der Individual- und den Interessen der Re-
lativzone auf die Problema�tik der moralischen und rechtlichen Regelung des Schwan-
gerschaftsabbruchs verweisen. Aber die Körpergrenze ist wie gesagt nur als Prima-facie-
Regel zu ver�stehen. Der Konflikt um die moralische und rechtliche Normierung des
Schwangerschaftsabbruchs ist soweit ersichtlich die zentrale Ausnahme und gewinnt
seine Härte und Tragik gerade aus der Tatsache, dass in diesem speziellen Fall die Prima-
facie-Regel der Körpergrenze nicht gilt, weil Mutter und ungeborenes Kind zwar kör-
perlich vereint, nicht aber nur ein einziger Körper sind.
Andere problematische Fälle lassen sich konstruieren: Welcher Zone sind etwa
die Belange eines Schmugglers zuzurechnen, der mit RauschÂ�gift gefüllte Kondome
schluckt? Welcher Zone sind die Belange eines Selbstmordattentäters zuzuordnen, der
sich eine Bombe in die Bauchhöhle transplantieren lässt? Welcher Zone gehören die Be-
lange eines Menschen an, der sich eine Beleidigung in die Haut tätowiert? In all diesen
Fällen werden andere Menschen erst durch die Überschreitung der Körpergrenze konkret
gefährdet bzw. verletzt. Das Rauschgift wird für andere Bürger erst gefährlich, wenn es
den Magen wieder verlässt, die Bombe erst tödlich, wenn sie explodiert, die Beleidigung
erst ehrverletzend, wenn sie anderen Menschen sichtbar gemacht wird. Auch in diesen
Fällen ist die Prima-facie-Grenze des Körpers also nicht aufgehoben. Es besteht lediglich
ein pragmatisches Problem, weil die fragliche Person ihren Körper für die Schädigung
Anderer jenseits ihrer Körpergrenze nutzt und diese Schädigungen scheinbar kaum an-
ders als durch einen Eingriff in den Körper des Angreifers abgewehrt werden können.
Aber eine Abwehr ist möglich. Man kann den Schmuggler, sofern man seiner habhaft
geworden ist, so lange inhaftieren, bis das mit Rauschgift gefüllte Kondom den Kör-
per auf natürlichem Wege verlassen hat. Man kann den Selbstmordattentäter so lange
isolieren, bis die Bombe ohne Schädigung Anderer explodiert ist (wenn er denn diesen
Weg bevorzugt). Man kann schließlich den Beleidiger verpflichten, seine beleidigende
Tätowierung zu verhüllen, wenn er sich in die Öffentlichkeit begibt.
Welchen Rang nimmt das Interesse an unserer Menschenwürde im Gefüge unse-
rer Belange ein? Dies hängt vom Verständnis der Menschenwürde ab. Externe bzw.
intersubjektive Deutungen der Menschenwürde verringern, wie sich in Kapitel€III, 7
ergab, deren Wertigkeit im Vergleich zu unseren höchstrangigen Belangen wie Leben,
körperliche Unversehrtheit, Gesundheit und Psyche. Sie machen unser Interesse an der
Menschenwürde damit zu einem Belang der Relativzone. Dies gilt etwa für die Auffas-
218 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

sung, die Menschenwürde werde durch die Anerkennung von Seiten Anderer konsti-
tuiert101 oder sie bestehe in der Forderung nach nichtdemütigender, respektvoller Be-
handlung durch Andere.102 Niemand wird bestreiten, dass wir ein berechtigtes Interesse
haben, von anderen anerkannt und nichtdemütigend, das heißt respektvoll behandelt
zu werden. Dieses berechtigte Interesse mit der Menschenwürde zu identifizieren, ist
aber aus den in Kapitel€III, 7 genannten Gründen zweifelhaft. Die notwendige (inhä-
rente) Menschenwürde ist vielmehr nicht extern bzw. intersubjektiv, sondern intern und
individuell zu verstehen. Diese inhärente Menschenwürde besteht, wie sich ergab, im
Verhältnis zwischen den sekundären Zielen oder Wünschen geistiger Lebewesen bezüg-
lich primärer Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen. Wie bei primären Zielen
und Wünschen handelt es sich auch bei diesen sekundären Zielen und Wünschen um
geistige Akte, die wie alle geistigen Akte in die Individualzone fallen. Das Interesse an
der inhärenten Menschenwürde ist also wie der gesamte Bereich unserer Psyche der In-
dividualzone zuzuordnen. Anderes gilt dagegen für das Interesse an der zufälligen (kon-
tingenten) Menschenwürde des äußeren, würdevollen Verhaltens und der würdevollen
Behandlung durch andere: Sie ist ein Belang unter anderen Belangen der Relativzone,
allerdings ein sehr wichtiger.
Die erwähnten Belange der Individualzone sind nur Typisierungen. Das bedeutet:
Diese Belange können als notwendige Folge der individuellen Autonomie vom jeweils
betroffenen Einzelnen selbst im konkreten Fall, sofern dies bewusst und freiwillig ge-
schieht, relativiert und sogar negiert werden, weil sich Pflichten gegen sich selbst auf
säkularer Grundlage nicht begründen lassen (vgl. Kapitel€VIII). Das IndiviÂ�duum darf
also zum Beispiel auch RespekÂ�t für die eigene LeÂ�bensverneinung verlanÂ�gen. Es ist An-
deren deshalb ver�wehrt, den einzelnen mit Zwang oder Ge�walt am Suizid zu hindern,
wenn dieser nicht im Affekt, sondern überlegt, also als sog. „BiÂ�lanzÂ�Â�selbstÂ�mord“ erfolgt.
Der bewusst und gewollt handelnde, erwachsene SuiÂ�zident darf deshalb nicht über länÂ�
gere Zeit zur Sui�zi�d��verhinde�rung inhaftiert wer�den, wie dies ver�schie�dentlich ge�sche�hen
ist,103 es sei denn, er ist psychisch krank, steht unter Schock oder Drogen usw. Allerdings
hat das Individuum keinen grundsätzlichen Anspruch auf die Unterstützung seiner
Selbstverletzung oder Selbsttötung durch Andere, denn das Interesse an der Hilfe durch
Andere liegt als Interesse an einer äußeren Handlung wie das Interesse an der Hilfe zur
Lebenserhaltung jenseits der Prima-facie-Körpergrenze. Das Interesse an derartiger Hil-
fe durch Andere geht deshalb über den SchutzÂ�bereich der Individualzone hinaus.
Fraglich ist des Weiteren, ob der Einzelne auf die Beachtung der Interessen seiner
eigenen IndividuÂ�alzoÂ�ne verÂ�zichten darf, ob er also der Tötung oder Verletzung durch
Andere oder staatliche Organe wirksam zu�stimmen kann. Dies ist prinzipiell zu bejahen,
da die Selbst�be�stim�mung des Menschen ge�rade den Kern des normativen Individualis-
mus und des Interessenbegriffs bildet. Zu be�den�ken ist aber, dass dieser Verzicht auf die

101 Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde; Peter Baumann, Menschenwürde und das Be-
dürfnis nach Respekt, S.€26–29.
102 Vgl. Avishai Margalit, The Decent Society.
103 Vgl. das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, Bayerische VerÂ�waltungsÂ�blätter 1989, S.€205, 219.
7. Die Belange der Individualzone 219

Beachtung der Interessen seiner eigenen Individualzone nur von Seiten des Individuums
die Limitation durch die symÂ�bolische KörperÂ�grenÂ�ze beseitigt, also ein Außerachtlassen
dieser symbolischen Körpergrenze durch Andere erÂ�laubt. Für die andere Person oder
die staatliche Institution, welche die symbolische Körpergrenze überschreitet, ist diese
Überschreitung dagegen nicht Teil des Innenbereichs ihrer symbolischen Körpergren-
ze, sondern eine äußere HandÂ�lung. Die Interessen an dieser Handlung fallen nicht in
die Indivi�d�ual-, sondern in die Relativ- bzw. gelegentlich sogar in die Sozialzone. Das
beÂ�deutet: Der Andere und die Gemeinschaft müssen zum einen entscheiden, ob sie
das Angebot des Individuums annehmen wollen, die starke Beschränkung durch die
Zuordnung der Interessen zur Individualzone und damit die symbolische KörperÂ�grenze
zu überschreiten. Die Überschreitung kann dann zum anderen€– wie bei der noch zu
erörternden aktiven Euthanasie€– als Interessenaktualisierung der Relativzone weiteren
Beschränkungen durch Belange der Relativ- oder Sozialzone Anderer unterliegen. Das
Interesse des Verzichtenden vermag also nicht allein den Ausschlag zu geben. Der Ver-
zicht beseitigt nur die Beschränkung in der Sphäre des Verzichtenden, nicht aber weite-
re Beschränkungen des Handelns aufgrund der Interessen der RelaÂ�tiv- und Sozialzone
Anderer.
Die Anerkennung einer derartigen Individualzone wenig gemeinschaftsabhängiger
Belange enthält eine implizite Kritik an allen relativ kollektivistischeren Theorien des
wesentlich vergesellschafteten Individuums, also zum Beispiel den Positionen von Ha-
bermas, aber auch Rawls und Scanlon, nach denen die Mitglieder einer Gesellschaft bzw.
sonstigen Gemeinschaft über alle Belange oder zumindest über alle Güter der Gemein-
schaft unterschiedslos entscheiden dürfen.104 Warum ist die Anerkennung einer derarti-
gen Individualzone wenig gemeinschaftsrelativer Interessen berechtigt? Geht man vom
Prinzip des normativen Individualismus aus, wonach ausschließlich die Individuen letz-
ter Fluchtpunkt der ethischen Rechtfertigung sein können, und nimmt man an, dass die
Individuen zur Realisation ihrer Belange eine bestmögliche Gestaltung der fraglichen
Gemeinschaft wählen werden, so ist nicht einsehbar, warum sie sich einer starken Re-
lativierung ihrer wenig gemeinschaftsabhängigen Belange unterwerfen sollten, warum
sie also etwa ihr Interesse an ihrem biologischen Leben einfachen Handlungsfreiheiten
Anderer oder gar der allgemeinen Wohlstandsmehrung unterordnen sollten. Theoreti-
ker der Vergesellschaftung schließen fälschlicherweise vom unleugbaren Faktum eines
gemeinschaftlichen Lebens der Menschen auf eine Berechtigung der Gesellschaft zur
Verteilung aller Güter, ohne die Individuen als einzige Quelle normativer Verpflichtun-
gen wirklich ernst zu nehmen.

104 Im Diskursprinzip: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S.€ 138; ders., Die Einbeziehung des
Anderen. Studien zur politischen Moral, Frankfurt a.╛M. 1996, S.€59; vgl. zu einer Kritik: Verf., Recht-
sethische Rechtfertigung€– material oder prozedural? in: Verantwortung zwischen materialer und pro-
zeduraler Zurechnung, hg. von Lorenz Schulz, Stuttgart 2000, S.€17–44.; John Rawls, A Theory of
Justice, S.€17╛ff. Ausdruck findet diese Annahme bei Rawls vor allem in der These, dass die politische
Gemeinschaft über alle sozialen Güter entscheiden darf; Thomas M. Scanlon, Contractualism and
Utilitarianism, S.€110; vgl. zu Theorien der Vergesellschaftung: Dieter Geulen, Das vergesellschaftete
Subjekt. Zur Grundlegung der Sozialisationstheorie, Frankfurt a.â•›M. 1977.
220 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Dem libertären Theoretiker mag dagegen die Ausdehnung der Individualzone nicht
weit genug gehen. Er mag fragen: Warum ist nicht auch das Interesse des Einzelnen an
äußeren Gütern und insbesondere am Eigentum Teil der Belange der Individualzone?
Die Antwort lautet: Versteht man unter Eigentum nicht die Beziehung eines Eigentü-
mers zu seinen eigenen Gütern innerhalb der symbolischen Grenze des Körpers, wie
etwa teilweise John Locke,105 sondern nur zu körperexternen Gegenständen, also als
Sacheigentum, dann ist für jede Aneignung und jeden Transfer des Eigentums eine
Handlung nötig, welche die symbolische Körpergrenze überschreitet. Das Interesse
an einer solchen Handlung ist aber regelmäßig relativ gemeinschaftsabhängig, denn
es richtet sich auf äußere, normalerweise stärker durch Andere und Gemeinschaften
beeinflusste Güter. Da die Menschen regelmäßig in Gemeinschaften leben, ist auch ihre
Güterproduktion in vielfältiger Weise gemeinschaftsabhängig. Die nicht nur im deut-
schen Grundgesetz, sondern auch in vielen anderen Verfassungen und Gesellschaftsord-
nungen statuierte Sozialpflichtigkeit des Eigentums legt davon beredtes Zeugnis ab.

8. Die Belange der Relativzone

Die Relativzone umfasst Belange der Individuen, die partiell individual- und partiell ge-
meinschaftsabhängig sind. Anders als bei den noch zu erörternden Belangen der Sozial-
zone ist bei denjenigen der Relativzone eine spezifische Zuord�nung zu einem konkreten
Individuum aber noch ohne Weiteres mögÂ�lich und auch signifikant. Zur Relativzone
gehören alle InÂ�teressen, die sich auf Lebensumstände des Einzelnen beziehen und die
symÂ�boÂ�liÂ�sche Prima-facie-Körpergrenze überschreiÂ�ten, das heißt alle Interessen an in-
dividuellen Hand�lungen bzw. individuellen Freiheiten zu solchen Handlungen, zum
Beispiel das Interesse am Austausch mit Anderen, an der Einhaltung von Versprechen
durch Andere, an der Wahrhaftigkeit Anderer, an der Achtung seitens Anderer, an der
Wahl eines Partners, an der Freundschaft, an der Freiheit der ReliÂ�giÂ�onsausübung, an der
Freiheit des Berufs, an der körperliÂ�chen BeÂ�weÂ�gung, an der freien Wahl des AufentÂ�haltsÂ�
orts, an der freien Äußerung der eigenen Meinung, an der BilÂ�dung von VereiÂ�niÂ�gungen
und dem Abhalten von Ver�sammlungen, an der Kunst, an der Wis�sen�schaft, an der
SelbstÂ�bestimmung über die eigenen Daten, am IndiÂ�viÂ�dualÂ�einÂ�komÂ�Â�men und am PrivatÂ�
eigentum (mit EinÂ�Â�Â�schränkungen).
Die Reichweite der Belange der Relativzone und damit ihre relative Individual- und
Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit kann stark divergieren, ist also relativ inhomo-
gen. Man kann sich dies am Beispiel der Freiheit der Religionsausübung verdeutlichen.
Bereits ganz persönliche Formen der Religionsausübung im privaten oder häuslichen
Bereich überschreiten die symbolische Körpergrenze, also etwa das Sprechen eines Ge-
bets, das Lesen in einer religiösen Schrift oder das Tragen religiöser Kleidung. Schon
etwas weniger individualgeprägt sind gemeinsame religiöse Andachten. Noch stärker
gemeinschaftsabhängig ist die Religionsausübung im halböffentlichen Raum, also in

105 Vgl. John Locke, Two Treatises of Government, The Second Treatise, § 123.
9. Die Belange der Sozialzone 221

Kirchen, Moscheen, Synagogen oder Tempeln. Schließlich wird die Gemeinschaftsab-


hängigkeit der Interessen relativ stark, wenn sie sich auf Verlautbarungen in der Öffent-
lichkeit richten, denen regelmäßig niemand ausweichen kann, also etwa das Kirchenge-
läut, der Ruf des Muezzins usw. Hier erreicht man schon die Grenze zu Interessen der
Sozialzone, welche sich etwa auf die Etablierung oder Vermeidung einer Staatskirche
oder Staatsreligion richten.

9. Die Belange der Sozialzone

Die Sozialzone umfasst Belange der Individuen, die stark oder fast ausschließlich von
Anderen bzw. einer Gemeinschaft abhängen oder bei denen dies anders als bei den Be-
langen der Relativzone zumindest anzunehmen ist, weil die eindeutige, spezifische Zu-
ordnung des Interesses zu einem konkreten Individuum praktisch nicht möglich oder
wenig signifikant ist. Drei Typen von Belangen der Sozialzone sind denkbar:

a)€Das Interesse an der Verwirklichung gemeinsamer Handlungen, Ziele und Projekte, wenn
deren Realisierung nicht ohne weiteres ausschließÂ�lich einem oder mehreren einzelnen
Individuen zuzuordnen ist. Hierzu gehören etwa ein allgemeines Einverständnis des
Vertrauens in Versprechen, Ordnungen der wechselseitigen Anerkennung, das Bil�
dungsÂ�Â�system, die gemeinsame Kultur, gemeinsame Riten und Gebräuche sowie eine
gemeinsame Religion, in modernen Industriegesellschaften die hoch�ar�beits�teilige
Volkswirtschaft, die Sozialversicherungen und das Verkehrssystem, in tradi�tionellen
Stammesgesellschaften gemeinsame Kulte, Tradi�tionen und Religionen, in Familien
die Solidarität der Familienmitglieder, Familienfeiern, Familienregeln usw. Nicht notÂ�
wendig für die Qualifikation als gemeinsames Projekt ist eine zenÂ�trale Planung. Nicht
notwendig ist auch, dass die Indivi�duen die Verwirklichung des ge�meinsamen Projekts
jeweils einzeln erstreben. Die Etablierung eines institutionellen Rahmens, in dem sich
der Mechanismus der „unsichtbaren Hand“ oder anÂ�deÂ�re MeÂ�Â�Â�chaÂ�Â�nismen der Koordinati-
on entfalten können, genügt.
Von der Tatsache, dass diese Projekte mittlerweile häufig nicht mehr nur einer ein-
zelnen Gemeinschaft oder Gesellschaft zuzurechnen sind, sondern im Rahmen einer
weltweiten oder wenigstens kontinentalen Arbeits�tei�lung entstehen, muss hier aus
Gründen der Vereinfachung abgesehen werden. Auf die abstrakte Konstruktion der ein-
fachen Grundrelation Individual�interes�se-Gemein�schafts�entscheidung hat diese Globa-
lisierung keinen Einfluss. Sie führt lediglich im RahÂ�men der praktischen Anwendung
dieser Konstruktion zu einer Pluralisierung der Gemeinschaften und damit der recht-
fertigungsbedürftigen Entscheidungen.

b)€Das Interesse an der allgemeinen Erhaltung und Nutzung natürlicher, kultureller und
sonstiger gemeinschaftlicher Güter, die keinem bestimmten Individuum bzw. keiÂ�ner
Gruppe von Individuen zuzuordnen sind, also die Erhaltung und Nutzung der ge�
samten nichtindividuellen Natur, des Wassers, der Luft, des Bo�dens, des Lichts, der
222 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Vielfalt der ArÂ�ten, aber auch der Kulturgüter, wie Kunstwerke und Erfindungen, sowie
der gemeinschaftlich geschaffenen Güter, wie öffentliche Gebäude, Straßen und sons-
tige Verkehrswege.
Es dürfte klar sein, dass hier mit der Kennzeichnung als natürliche Güter von einem
Idealbild ausÂ�gegangen wird. Die NaÂ�tur ist heute in vielfältiger Weise durch menschliÂ�che
Eingriffe geÂ�stalÂ�tet. Auf diese Weise sind Mischformen von natürlichen und kulturellen
Gütern entstanden. Ein Beispiel sind Agrarflächen. Sind die Eingriffe in die Natur in-
dividuell zureÂ�chenÂ�bar€– zum Beispiel im Falle der Melioration eiÂ�nes Feldes durch einen
Landwirt€– entsteht ein ZwiÂ�schenÂ�zuÂ�stand zwiÂ�schen Belangen der RelaÂ�tivzone und der
Sozialzone, der eine differenzierte Bewertung erfor�dert. Das individuelle Interesse des
Bauern an der MeÂ�lioration fällt in die Relativzone, das allgemeine Interesse an der Er-
haltung des Bodens in die Sozialzone.
Das Interesse an der konkret-individuellen Nutzung von Naturgütern, wie der
Atemluft, der Beleuchtung, des Trinkwassers sowie der Aneignung wildwachsender
Früchte zur Sicherung des bloßen Lebens wird man dagegen nicht den Interessen der
Sozialzone, sondern denen der Relativzone zuordnen müssen, weil die Nutzung und
Aneignung auch ohne eine entscheidende Mitwirkung einer bestimmten Gemeinschaft
erfolgen kann und der Belang regelmäßig relativ unabhängig von bestimmten Gemein-
schaften entwickelt wird.

c) Situationen mit Gefangenendilemmastruktur, sofern nicht schon von a) oder b) er-


fasst106 Manche Verhaltensweisen sind eindeutig ei�nem konkreten Menschen zuzuord-
nen, so dass die Indivi�d�ual��inter�essen an ihnen entweder kaum (Individualzone) oder
wenig bis mittel (ReÂ�laÂ�tivÂ�zoÂ�ne) gemeinschaftsabhängig sind. In einigen Fällen würde die
ausschließliche tatsächliche Verwirklichung des Verhaltens durch den einzelnen Men-
schen aber wegen bestimmter struktureller BeÂ�dingungen unweiÂ�gerlich für ihn selbst
und alle Betroffenen zu einem schlechteren Ergebnis führen, als wenn von vornher-
ein eine gemeinsame Strategie verfolgt würde (sog. Gefangenendilemma). Fahren zum
Beispiel in einer Großstadt alle mit dem KraftÂ�fahrzeug zur Arbeit, so führt das zu einer
derart hohen Stau- und Luftbe�la�stung, dass die Interessen jedes Einzelnen an guter Luft
und flüssigem Verkehr vereitelt werden. Trotzdem wäre es für jeden EinÂ�zelnen nicht
rational, zur Verbesserung der Situation mit dem Bus zur Arbeit zu fahren, weil sich
die Stau- und Luft�be�la�stung durch den Verzicht einer einzigen Person auf ihr Auto
nur margiÂ�nal verrinÂ�gern würde, die KomforteinÂ�bußen für den EinÂ�zelÂ�nen€ – so kann
man annehmen€– diese marginalen Vorteile aber weit überwiegen würden. Derartige
Einzelverzichte werden also typischerweise selten sein und an der misslichen Gesamtsi-
tuation nichts Wesentliches ändern. Sie können deshalb nicht vorausgesetzt werden.107
Regelmäßig vermag hier nur eine gemeinschaftliche Lösung Abhilfe zu schaffen. Die

106 Vgl. dazu: Lucian Kernâ•›/â•›Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, S.€201â•›ff.
107 Die Wirkung des „Vorangehens mit gutem Beispiel“ wird hier vernachlässigt. Sie wird in anoÂ�nymen
Massengesellschaften oft marginal sein, nicht aber in kleinen, transparenten und re�lativ homogenen
Gemeinschaften.
9. Die Belange der Sozialzone 223

Suche nach einer möglichst vollÂ�kommenen Befriedigung der Individualinteressen er-


fordert dabei den vorausschauenden Ver�zicht auf die unmittel�bare Realisierung dieser
Interessen. Die Interessen an der besseren Bewältigung solcher Situationen mit Gefan-
genendilemmastruktur durch Kooperation fallen in die Sozialzone.
Situationen mit Gefangenendilemmastruktur können mit kollektiven Projekten
oder natürlichen, kulturellen oder gemeinschaftlichen Gütern verbunden sein, also mit
den Situationstypen a) und b). In unse�rem Beis�pielfall ist der Stadtverkehr an sich ein
kollektives Projekt und die Luft, die unÂ�erÂ�träglich belastet wird, ein natürliches Gut. Die
Interessen an der Bewahrung der GroßÂ�stadt vor dem VerkehrsÂ�kollaps werden also durch
alle drei Si�tua�ti�ons�ty�pen der So�zialzone zugeordnet.
Es gibt aber auch Situationen mit der Struktur des Gefangenendi�lemmas, die weder
kollekÂ�tive Projekte noch natürliche oder kulturelle Güter einschließen, sondern in de-
nen nur die bloße Sicherung eines individuell und kollektiv nützlichen Verhaltens der
InÂ�dividuen in Frage steht.108 Ein Beispiel wäre die SituaÂ�tion, die dem GefangenendiÂ�
lemma seinen Namen gab: Zwei voneinander isolierte Gefangene könÂ�nen gestehen oder
nicht gestehen. Sie würden jeweils die geringste Strafe erhalÂ�Â�ten, falls nur sie selbst ge-
stehen und der Andere nicht (ein Jahr) und eine noch relativ geringe Strafe, falls beide
nicht gesteÂ�hen (zwei Jahre). Mangels Kooperationsmöglichkeit werden sie aber jeÂ�Â�weils
geÂ�stehen und müssen eine höhere Strafe in Kauf nehmen (vier Jahre), weil es für jeden
EinÂ�zelnen besser ist, wenn er gesteht, gleichgültig, ob der Andere gesteht oder nicht ge-
steht, denn am schlechÂ�testen wäre es, wenn nur der AnÂ�dere gesteht und dann als Kron-
zeuge gegen einen selbst auftreten kann (sechs Jahre).109 Ein anderes klassi�sches Beispiel
ist der Hobbessche NaturÂ�zustand, in dem jeder jeden töten kann. Für alle wäre es besser,
wenn sie wechselseitig auf die Möglichkeit, den Anderen zu töten, verzichten würden.
NieÂ�mand kann aber aus seinem TöÂ�tungsverzicht den Vorteil der Sicherung vor den Tö-
tungsversuchen Anderer gewinnen, solange er nicht der Tatsache gewiss sein kann, dass
auch die Anderen auf Tötungen verzichten. Also müssen gemeinsame Institutionen dies
soweit als möglich sicherstellen.
In allen drei Situationstypen€– bei gemeinsamen Projekten, natürlichen und kultu-
rellen Gütern und Situationen mit Gefangenendilemmastruktur€– ist eine Zuordnung
der Interessen zu einem bestimmten Individuum praktisch nicht möglich und nicht
signifikant, weil die Interessen stark gemeinschaftsgeprägt sind. Das hat nicht zur Folge,
dass die Individualinteressen bei der Abwägung keine Rolle spielen. Es führt nur dazu,
dass kein Interesse eines IndiviÂ�duÂ�ums im Rahmen der Abwägung direkt mit einem be-
stimmten Individuum verknüpft wird.

108 Für Julian Nida-Rümelin, Der zivile Staat, in: Dissens und Freiheit. Kolloquium Politische Philosophie,
hg. von Andreas Luckner, Leipzig 1995, S.€21–32, S.€26, ist sogar jede Kooperation begrifflich mit einer
GefangenendiÂ�lemmastruktur verbunden. Nach Peter Koller hat das menschliche Leben zumindest „in
wesentlichen Stücken“ die strukturelle Beschaffenheit des Gefangenendilemmas: Peter Koller, Grund-
lagen der Legitimität und Kritik menschlicher Herrschaft, in: Dieter Grimm (Hg.), Staatsaufgaben,
Baden-Baden 1994, S.€739–769, S.€744.
109 Zur entsprechenden Matrix s. Lucian Kernâ•›/â•›Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen,
S.€201.
224 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Nachdem einzelne typisierte Belange typisierten Zonen der relativen Gemeinschafts-


abhängigkeit zugeordnet wurden, stellt sich die Frage, wie nun die Abwägung erfolgen
soll. Dabei ist grundsätzlich zwischen einem Widerstreit zwischen Belangen der gleichen
Zone, also zwischen Belangen grundsätzlich vergleichbarer Gemeinschaftsabhängigkeit,
und einem Widerstreit zwischen Belangen unterschiedlicher Zonen, also zwischen Belan-
gen grundsätzlich verschiedener Gemeinschaftsabhängigkeit, zu unterscheiden.

10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone

Im Fall eines Konflikts zwischen Belangen der gleichen Zone gibt es entsprechend den
drei Zonen drei Möglichkeiten: einen Konflikt zwischen Belangen der Individualzone,
der Relativzone oder der Sozialzone.

a)€Konflikte zwischen Belangen der Individualzone

Stehen sich Belange der Individualzone gegenüber, also etwa Leben gegen Leben oder
körperliche Unversehrtheit gegen körperliche Unversehrtheit, so sind die Belange aller
Betroffenen grundsätzlich gleich zu bewerten, zumindest sofern man davon ausgeht,
dass die Gemeinschaftsabhängigkeit des jeweiligen Lebensinteresses typischerweise
nicht divergiert. Es gilt also prinziÂ�piell das Gebot der Gleichbehandlung, das heißt eine
nicht auf die Konsequenzen reduzierte Variante des Gleichheitsprinzips.
Allerdings sind die Fälle eines Konflikts Leben gegen Leben selten. Im Falle eines
Mordes steht etwa das Interesse des Täters an anderen Zielen, wie Raub, Verdeckung,
Beutesicherung oder Beseitigung des Opfers, gegen das Interesse des Opfers an seinem
Leben. Es liegt also gar kein Konflikt Leben gegen Leben vor, so dass die Abwägung zu
Gunsten des Lebensinteresses des Opfers und das Verbot des Mordes nicht fraglich sein
können. Selbst wenn der Täter, was selten vorkommt, ein direktes Interesse an der Aus-
löschung des biologischen Lebens des Opfers hat, handelt es sich nicht um ein Interesse
am eigenen Leben seitens des Täters, also ein Interesse der Individualzone, sondern um
ein Interesse an der eigenen Handlung der Tötung des Anderen, dessen zentraler Inhalt
jenseits der symbolischen Grenze des Körpers des Täters liegt, so dass sein Interesse in die
Relativzone fällt und das Verbot des Mordes nicht bezweifelbar ist.
Ein genuiner Konflikt Lebensinteresse gegen Lebensinteresse ergibt sich in Not-
wehrsituationen, wenn also A sein eigenes Lebensinteresse durch Notwehr gegenüber
dem B mittels dessen Tötung verteidigen will, was naturgemäß das Interesse des B an
seinem eigenen Leben beeinÂ�trächtigt. Fraglich ist dann, ob die Notwehrhandlung des A
zulässig ist, ob also A sein Leben über das des B stellen darf. Das grundsätzliche Gebot
der Gleichbehandlung der Lebensinteressen führt zunächst dazu, dass A im Rahmen
seiner Verteidigung das Leben des B möglichst zu schonen hat, sofern er sich auf andere,
vergleichbar wirksame Weise zur Wehr setzen kann. Dies gilt umso mehr, je geringer die
Schuld des B ist, etwa weil er betrunken oder minderjährig ist. Aber gesetzt den Fall, A
10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone 225

kann sich nur noch durch Tötung des B retten. Dann stellt sich die Frage der Abwägung
Lebensinteresse gegen Lebensinteresse in reiner Form. Die Lösung des Konflikts kann
wiederum nicht zweifelhaft sein. B muss in einem solchen Fall ein Zurückstehen seines
Lebensinteresses als ultima ratio hinnehmen, weil er den Konflikt als Angreifer herbei-
geführt hat und den A töten wollte, ohne dass dies gerechtfertigt war.
Das Maximierungsprinzip kann dagegen in Fällen des Konflikts Leben gegen Leben
nicht zur Anwendung kommen, weil es das Lebensinteresse des Einzelnen als kaum
gemeinschaftsabhängiges Interesse in erheblichem Maße zu Gunsten kollektiver Ziele
bzw. Güter der Gemeinschaft relativieren würde. Es ist also grundsätzlich nicht erlaubt,
einen Menschen zu töten, um mehrere andere zu retten.
Nur in ganz speziellen, meist theoretischen Fällen kann€– wie sich in Kapitel€III,
10 ergab€– das Maximierungsprinzip zur Lebensrettung sekundär eine Rolle spielen,
nämlich dann, wenn dem Gebot der Gleichbehandlung Genüge getan ist, weil man
zu entscheiden hat, wie viele anonymisierte und damit grundsätzlich gleich behandelte
Individuen in einer konkreten Unglückssituation aus einer Schicksalsgemeinschaft von
Todgeweihten gerettet werden sollen. Hier führt das Maximierungsprinzip auf einer
sekundäÂ�ren Ebene zum Gebot, besser mehr als weniger der gemeinsam Todgeweih-
ten zu retten. Allerdings handelt es sich in solchen Fällen eigentlich nicht um reine
Konflikte Leben gegen Leben der Individualzone, da die Interessen des Retters an der
Rettungshandlung ja solche der Relativzone sind. Aber die Lebensinteressen der je-
weils Todgeweihten, die in ihrem Begehr nach Rettung miteinander konkurrieren, sind
natürlich Interessen der Individualzone. Es liegt also genau genommen ein Konflikt
zwischen verschiedenen Belangen vor: zwischen mehreren Belangen der Individualzone
der Todgeweihten an ihrem jeweiligen Leben und einem Belang der Relativzone des
Retters an seiner Handlung.
Zwischen den einzelnen Belangen der Individualzone gibt es durchaus Unterschiede
in der subjektiven Bewertung. So wird der Einzelne sein Leben im Regelfall höher be-
werten als seine Gesundheit und seine körperliche Unversehrtheit, weil das Leben die
notwendige Bedingung beider ist. Um sein Leben zu retten, wird man im Regelfall auch
BeÂ�einträchtigungen seiner Gesundheit und seiner körperlichen Unversehrtheit in Kauf
nehmen. So erlauben wir es Ärzten, als ultima ratio ein Glied unseres Körpers zu ampu-
tieren, um überleben zu können. Aber diese Unterschiede in der subjektiven Bewertung
einzelner Belange der Individualzone schlagen in der für kategorische Normordnungen
wie Moral und Recht entscheidenden intersubjektiven Perspektive der Abwägung nicht
durch. Niemand muss etwa eine gravierende Schädigung seiner Gesundheit oder sei-
ner körperlichen Unversehrtheit hinnehmen, um das Leben eines Fremden zu retten.
Allenfalls marginale, nicht wesentlich ins Gewicht fallende Schädigungen, etwa eine
Hautabschürfung oder eine Erkältung, können€ – sofern keine andere Rettung mög-
lich ist€– in sekundärer Anwendung des Pareto- oder Aufopferungsprinzips nicht gegen
eine solche Hilfspflicht stehen. Das Strafrecht verlangt in Unglücksfällen entsprechend
nur „zumutbare“ Rettungshandlungen (§ 323c StGB). Dies gilt zumindest dann, wenn
nicht zusätzliche Faktoren eine besondere Einstandsobliegenheit begründen, etwa eine
besondere Nähebeziehung, eine schuldhafte Verursachung des Unglücksfalls durch den
226 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

möglichen Retter oder eine freiwillige Übernahme von Rettungsaufgaben durch Polizei,
Feuerwehr, Technisches Hilfswerk oder Notfallambulanz.
Die Menschenwürde soll nach der Auffassung mancher als Belang der Individualzo-
ne jeder Relativierung entzogen sein. Das würde bedeuten, dass jegliche Verletzung der
Menschenwürde ohne weitere Abwägung untersagt wäre.110 Man muss bei dieser Frage
sorgsam zwischen der primären Ebene der Normierung durch Moral, Recht, Politik usw.
und der sekundären Ebene der Begründung durch die Ethik unterscheiden (hier zeigt
sich im Übrigen, wie wichtig diese, in der Einleitung entfaltete Differenzierung ist). Auf
der sekundären Ebene der Ethik stellt sich die grundsätzliche Frage, ob jede Abwägung
beim Belang der Menschenwürde entfallen kann und€– falls dies bejaht wird€– entfal-
len sollte. Auf der primären Ebene der Moral, des Rechts usw. stellt sich die Frage, ob
man primäre, einstellungs- und handlungsleitende Normen, Regeln und Bewertungen
verwirklichen oder mit Geltungskraft versehen sollte, die eine derartige Abwägung der
Menschenwürde ausschließen. Die Ergebnisse können für jede der beiden Ebenen und
auf der primären Normierungsebene für jede der einzelnen Normordnungen unter-
schiedlich ausfallen, ohne dass eine Inkonsistenz eintritt, denn es kann trotz der prin-
zipiellen Bejahung der ethischen Abwägbarkeit weitere gewichtige, in der Sphäre der
spezifischen Normierung und Normverwirklichung liegende Gründe geben, auf mora-
lischer, juridischer, religiöser, erzieherischer oder politischer Ebene die Relativierung der
Menschenwürde auszuschließen.111
Hier soll es zunächst nur um die ethische Frage der prinzipiellen Abwägbarkeit ge-
hen. Zu untersuchen ist also, ob es prinzipiell möglich ist, die Menschenwürde der
Abwägung bzw. Zusammenfassung der Belange zu entziehen. Dies wäre sicher dann
unmöglich, wenn die Interessen zweier unabhängiger Individuen an der Menschen-
würde kollidieren könnten. Fraglich ist also, ob derartige Kollisionen denkbar sind,
wenn man die Menschenwürde wie in Kapitel€II, 7 als sekundäre Selbstbestimmung
über die eigenen primären Belange versteht. Ein denkbares Beispiel wäre der Fall der
sog. „Rettungsfolter“: Ein Geiselnehmer hält sein Opfer unter menschenunwürdigen
Umständen gefangen, negiert also dessen Selbstbestimmung über die eigenen Belan-
ge. Nach Festnahme des Geiselnehmers erweist sich als einziges Mittel zur Befreiung
des Opfers die Androhung und dann€– falls diese wirkungslos bleibt€– auch Verwirk-
lichung einer Form von Folter, die Schmerzen hervorruft.112 Überzeugende Gründe
sprechen dafür, die staatliche bzw. rechtlich sanktionierte Folter generell zu verbieten

110 So auch zumindest für das Verfassungsrecht die bisher einhellige Meinung zur Interpretation von Art.â•›1â•›I
des Deutschen Grundgesetzes. Abweichend in jüngerer Zeit: Winfried Brugger, Darf der Staat aus-
nahmsweise foltern? in: Der Staat 35 (1996), S.€67–97; Matthias Herdegen, in: Theodor Maunzâ•›/â•›Gün-
ter Dürig (Hg.), Grundgesetz. Kommentar. Ergänzungslieferung, München 2003, Rdnr.€45.
111 Der umgekehrte Fall der Unabwägbarkeit auf ethischer Ebene und der Abwägbarkeit auf der Ebene der
primär verpflichtenden Normen ist dagegen zwar begrifflich, logisch und faktisch ebenfalls möglich,
normativ aber nicht zu rechtfertigen, denn die Unabwägbarkeit auf der Begründungsebene fordert auch
diejenige auf der Ebene primärer Verpflichtungen.
112 Vgl. zu einem solchen Fall: Winfried Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?
10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone 227

und die Abwägung der Menschenwürde verfassungsrechtlich auszuschließen.113 Aber


auf der ethischen Ebene ist ein Konflikt zwischen der Menschenwürde des Opfers und
der Menschenwürde des Geiselnehmers€– so sehr man das bedauern muss€– nicht un-
möglich. Derartige Fallkonstellationen sind zwar extrem selten, aber nicht begrifflich,
logisch oder faktisch ausgeschlossen. Man wird deshalb auf der Ebene der Ethik€– al-
lerdings nur auf dieser, nicht auf der des Rechts, der Moral usw.€– die Menschenwürde
nicht von vornherein jeder Abwägung entziehen können. Für die Abwägung gilt dabei
wie bei den anderen Belangen der Individualzone grundsätzlich das Gebot der Gleich-
behandlung.
Im Übrigen sind auf einer ethischen Ebene auch Konflikte zwischen der Menschen-
würde und den anderen überragenden Belangen der Individualzone nicht unmöglich.
Man nehme folgenden Fall: Ein Geiselnehmer hält zwei Geiseln unter lebensbedro-
henden Umständen gefangen. Eine der Geiseln kann sich befreien. Den Schlüssel zur
Befreiung der anderen Geisel kann sie aber nur durch körperverletzende Handlungen
gegenüber dem Geiselnehmer erlangen, etwa indem sie ihm den Arm auf den Rücken
dreht und so leichte Schmerzen verursacht. Wir würden dies in diesem Fall einer Not-
hilfe der einen Geisel gegenüber dem Geiselnehmer zu Gunsten von Leben und Freiheit
der anderen Geisel kaum ablehnen. Die Rettung des Lebens der Geisel ist wichtiger
als eine relativ marginale Einschränkung der Menschenwürde des Geiselnehmers, der
seinerseits als Aggressor in die Lebenssphäre der Geisel eingedrungen ist und sich Not-
wehr- bzw. Nothilfehandlungen deshalb grundsätzlich gefallen lassen muss. Das be-
deutet: Es ist nicht von vornherein auszuschließen, dass die Menschenwürde auf einer
ethischen Ebene in sehr seltenen Einzelfällen auch gegenüber anderen Belangen der In-
dividualzone wie Leib und Leben relativiert werden muss. Obwohl der Belang der Men-
schenwürde im Regelfall gewichtiger sein wird, können sich Belange, wie das Interesse
an Leib und Leben, in Ausnahmesituationen ethisch auch gegenüber dem Belang der
Menschenwürde durchsetzen. Allerdings gibt es, wie gesagt, viele überzeugende Grün-
de, auf der rechtlichen Ebene des Verfassungsrechts und einfachen Rechts ein absolutes
Folterverbot für Angehörige des Staates aufrecht zu erhalten, weil die staatlichen Behör-
den grundsätzlich institutionell überlegen sowie zu Missbräuchen in der Lage sind und
die Form des Rechts extrem hohe bewusstseins- und verhaltensprägende Wirkung für
Menschen in Gemeinschaften hat.114 Aus vergleichbaren Gründen lässt sich auch ein ab-
solutes moralisches Folterverbot rechtfertigen, so dass der faktische Gesichtspunkt der
Notwendigkeit der Normierung und Normrealisierung in primären Normordnungen
die zunächst davon absehende idealische, ethisch-inhaltliche Abwägung nicht praktisch
werden lässt.
Wie die Abwägung der Belange der Individualzone im Einzelfall weiter vonstatten-
gehen kann, wird noch bei der Diskussion spezifischer moralischer Konflikttypen in
Kapitel€XII erörtert werden.

113 Vgl. Verf., Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt?
114 Vgl. Verf., Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt?
228 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

b) Konflikte zwischen Belangen der Relativzone

Im Falle eines Konflikts zwischen Belangen der Relativzone gilt wegen deren vergleich-
barer Gemeinschaftsabhängigkeit ebenfalls grundsätzlich das Gebot der Gleichbehand-
lung. Es ist etwa nicht ersichtlich, warum die Meinungsäußerung des A prinzipiell bes-
ser oder wichtiger als die Meinungsäußerung des B sein soll. Und es ist nicht ersichtlich,
warum das Versprechen des A gegenüber B mehr wert sein soll als das Versprechen des
A gegenüber C. Allerdings treten auch unterschiedliche Wertungen auf. So kommt etwa
dem Belang eines Menschen A an der freien Äußerung seiner Meinung prima facie ein
stärkeres Gewicht zu als jedem Einzelbelang seiner Mitbürger B, C, D und E, die Mei-
nungsäußerung des A zu beschränken, denn für den A ist sein eigenes Interesse an der
eigenen Meinungsfreiheit nur relativ schwach gemeinschaftsabhängig, weil gegenüber
beliebigen Anderen bestehend, während umgekehrt das Interesse von B, C, D und E,
die Äußerung gerade des A als Anderem zu beschränken, sehr viel stärker gemeinschaftsÂ�
abhängig ist, nämlich gerade aus der Gemeinschaft mit A erwachsend und notwendig
auf dessen spezifische, vielleicht anstößige oder beleidigende Äußerung bezogen. Das
bedeutet, dass das Interesse des A an seiner Meinungsfreiheit im Regelfall in der Abwä-
gung höheres Gewicht haben wird, etwa im Falle einer nicht sehr gravierenden Anstö-
ßigkeit seiner Meinungsäußerung, es sei denn, sie verletzt andere zentrale Belange von
B, C, D und E, etwa deren Anspruch, nicht durch Beleidigungen mehr als marginal in
ihrer Ehre missachtet zu werden.
Für die Bestimmung des Maßes des UngleichÂ�gewichts, mit dem die Interessen der
Relativzone zu berücksichtigen sind, muss man sich vor Augen führen, dass die Relativ-
zone€– wie bereits erwähnt€– anÂ�ders als die IndiviÂ�dualÂ�zone und die Sozialzone als For-
mulierung der beiden extremen Alternativen der Unabhängigkeit und der Abhängigkeit
der jeweiligen Interessen von den Anderen bzw. der Gemeinschaft weniger homogen ist.
Sie reicht von Indi�vidual�interes�sen mit relativ schwacher Ge�mein�schafts�bedingtheit bis
zu Interessen, die stark ge�mein�schaftsbedingt sind, bei denen also der Indivi�dualanteil
geringer als der Gemeinschaftsanteil ist. Die Freiheit der Religionsausübung erstreckt
sich etwa vom häuslichen Gebet über das Tragen religiöser Kleidung auf der Straße, den
Bau von Kirchen, die Abhaltung öffentlicher Gottesdienste bis hin zum Läuten von
Glocken oder dem Ruf des Muezzins. Es dürfte einleuchÂ�tend sein, dass die GeÂ�meinÂ�
schaftsabhängigkeit der Belange im ersten Fall des häuslichen Gebets erÂ�heblich geringer
ist als im letzten Fall des Glockengeläuts. Diese Inhomogenität der Individualbelan-
ge in der Relativzone muss bei der Abwägung berücksichtigt werden. Das bedeutet:
Für die Abwägung der Belange ist die Aufstellung ordinaler Reihen der zunehmenden
GemeinschaftsÂ�abhängigkeit der typisierten Interessen entÂ�scheiÂ�dend. Dann wird jeweils
derjenige Belang den Vorzug oder zumindest eine stärkere Berücksichtigung verdienen,
der weniger gemeinschaftsabhängig ist. Das individuelle Gebet Andersgläubiger darf
etwa durch den Ruf des Muezzins nicht unmöglich gemacht werden.
Im Konflikt von Interessen der Relativzone sind anders als bei Interessen der Indi-
vidualzone viele weitere Gesichtspunkte der Gewichtung zu beachten. So findet etwa
das Genügensprinzip Anwendung, wonach jedenfalls eine genügende Befriedigung der
10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone 229

Belange für jeden Betroffenen erreicht werden muss. Für den Bereich des privaten Aus-
tauschs von Gütern gilt etwa das Paretoprinzip. Niemand darf ohne sein Einverständnis
schlechter gestellt werden, aber andere dürfen sich verbessern.
Für den Bereich des Interesses an ökonomischen Gütern wird man in modernen
Industriegesellschaften bereits eine stärkere Gemeinschaftsprägung annehmen müssen,
da die Güter im Rahmen eines stark gemeinschaftsabhängigen Wirtschaftssystems er-
zeugt wurden. Das führt nicht zu einer vollständigen oder sehr starken Abhängigkeit der
Interessen der Individuen an den erwirtschafteten Gütern, aber zu einer signifikanten.
Diese rechtfertigt, dass bei derartigen gemeinschaftlich erzeugten ökonomischen Gü-
tern unter bestimmten Voraussetzungen von dem Prinzip einer gleichen Freiheit des in-
dividuellen Erwerbs zu effizienteren sowie sozialeren und damit stärker umverteilenden
Prinzipien übergegangen werden muss, etwa dem Genügensprinzip, dem Paretoprin-
zip und dem Maximinprinzip (Differenzprinzip), gegebenenfalls unter Abschwächung
durch das Utilexprinzip. Allerdings ist in jedem Fall eine Relativierung dieser Prinzipien
durch das Leistungsprinzip notwendig, da der Erfolg der gemein�schaftlichen Schaffung
von Gütern von der Leistung jedes Einzelnen abhängt. Auch das Aufopferungsprinzip
findet Anwendung: Wenn der Unterschied in der Wertigkeit der Belange sehr groß
ist oder wenn Güter wie das Sacheigentum einerseits stark gemeinschaftsÂ�geprägt und
andererseits regelmäßig relativ leicht ersetzbar sind, so muss ein Betroffener unter Um-
ständen sogar eine Beeinträchtigung seines Status quo zu Gunsten Anderer in Kauf
nehmen, vorausgesetzt, er wird angemessen entschädigt, das heißt die Verschlechterung
wird hinreichend wertmäßig ausgeglichen.
Das Interesse an ökonomischen Gütern steht in hocharbeitsteiligen VolksÂ�wirtschaften
schon auf der Grenze zu den Belangen der Sozialzone. Die Zuordnung hängt von der
Perspektive ab: Stellt man eher das individuelle Bedürfnis der Lebenssicherung und den
Ausgleich für den individuellen Beitrag in den Vordergrund, dann handelt es sich um
Belange der Relativzone. Insofern muss man also zum Beispiel fragen, was zur Lebens-
führung notwendig und welcher Lohn für die geleistete Arbeit gerecht ist.115 Stellt man
dagegen den Anteil am gemeinsamen Projekt der hocharbeitsteiligen Volkswirtschaft
in den Vordergrund, so muss man die Belange als solche der Sozialzone kategorisieren.
Dieser Aspekt wird sogleich noch ausführlicher erörtert werden.
Im Falle sehr ungleichartiger Interessen der Relativzone ist die Abwägung natur-
gemäß schwierig. Wie soll man etwa entscheiden, wenn A den B beleidigt, also das
Interesse des A an der freien Rede mit dem Interesse des B auf Achtung kollidiert? Hier
hängt viel von den konkreten Umständen ab, etwa wie gravierend das Unwerturteil des
A ausfällt, wie empfindlich B normalerweise reagiert, wie die Gepflogenheiten in den
jeweiligen Kreisen ausfallen. Was in manchen Kreisen als schwerste Beleidigung angese-
hen wird, gilt in anderen als normaler Umgangston.
Schwierig sind auch Abwägungen, bei denen drei oder mehr Personen beteiligt
sind: Wie schwer muss etwa ein Unglücksfall sein und wie gewichtig die sich ergeben-

115 Vgl. dazu zum Beispiel: Walter Pfannkuche, Wer verdient schon, was er verdient? Fünf Gespräche über
Markt und Moral, Stuttgart 2003.
230 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

de Hilfspflicht des A gegenüber dem verunglückten C, damit A das dem B gegebene


Versprechen eines Besuchs hintanstellen darf? Hat sich C bei einem Sturz nur die Hose
zerrissen oder das Fahrrad demoliert, wird sein Interesse nicht gewichtig genug sein.
Anders dagegen im Falle nicht nur marginaler Verletzungen des Körpers, die eine rasche
Wundversorgung erfordern.

c) Konflikte zwischen den Belangen der Sozialzone

Auch im Falle eines Konflikts zwischen den Interessen der Sozialzone gilt wegen der
vergleichbaren Gemeinschaftsabhängigkeit der jeweiligen Belange grundsätzlich das
Gebot der Gleichheit. Was heißt nun aber „Gleichheit“? Zur Beantwortung dieser Fra-
ge empfiehlt es sich, auf die im Kapitel€III dargestellten sieben Elemente der Handlung
zurückzugreifen:

(1) die inneren, äußeren und allgemeinen Bedingungen der Handlung,


(2)€die konkreten handlungsorientierten Überzeugungen und Wünsche des Akteurs,
(3)€das handlungsleitende Ziel bzw. die Absicht (Intention, Zielwille), die der Akteur
fasst,
(4)€den Prozess der Suche nach Mitteln zur Realisierung dieser Absicht und die Wahl
zwischen mehreren möglichen Mitteln,
(5) den aus dem Willensbildungsprozess als Auswahl eines Mittels erwachsende kon-
krete Handlungswillen, der das Handeln unmittelbar steuert,
(6) das tatsächliche, intentional gesteuerte Handeln des Akteurs bzw. anders ausge-
drückt, die Realisierung der Mittel zur Erreichung des Ziels,
(7) die Konsequenzen der Handlung oder die Quasikonsequenzen des Unterlassens.

Die Mitglieder der fraglichen Gemeinschaft müssen in all diesen Elementen gleich be-
rücksichtigt werden. Dabei kann man die drei intentionalen und damit eher individu-
ellen Elemente zwei, drei und fünf zur Vereinfachung weglassen, denn sie werden trotz
möglicher leichter Beeinflussungen durch gemeinschaftliche Entscheidungen von den
Individuen weitgehend selbst geprägt und fallen€– wie sich ergab€– in die Individualzo-
ne. Man erhält also vier Elemente der äußeren Situation der Mitglieder, auf die sich die
Gleichheit oder Ungleichheit einer Ent�scheidung der Gemeinschaft auswirken kann:

(1)€die Bedingungen des Mitglieds, also sein Ausgangszustand,


(2)€die Beteiligung des Mitglieds am kollektiven Entscheidungsverfahren,
(3)€das Handeln des Mitglieds, also sein Beitrag zum gemeinschaftlichen Handeln,
(4)€die Konsequenzen, die das kollektive Handeln für das einzelne Mitglied hat, also das
Ergebnis.

Wendet man das Gleichheitsprinzip auf diese vier Elemente an, so ergeben sich folgende
grundsätzlichen Abwägungsergebnisse:
10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone 231

(1)€Gleichbleibender Ausgangszustand, wenn man von der Abnahme durch den ei-
genen Beitrag (3) und der Veränderung durch das Ergebnis (4) der Zusammenarbeit
absieht: Niemand würde sich an einem gemeinsamen Projekt bzw. einer Gemeinschaft
beteiligen, die seinen Aus�gangs�zu�stand signifikant verschlechtert. Positive Ergebnisse
(4) verÂ�bessern naÂ�türÂ�lich im RegelÂ�fall sukÂ�zesÂ�sive den Ausgangszustand. Aber es ist sinnÂ�
voll, diese VerbesÂ�seÂ�runÂ�gen zunächst getrennt zu berücksichtigen, weil sie zum einen mit
Teilen des AusÂ�gangsÂ�zuÂ�stands karÂ�dinal oder sogar ordinal unÂ�vergleichbar sein können
und zum anderen von den Teil�neh�mern eher zur Ver�besserung des Ergebnises riskiert
werden.
(2)€ Einstimmigkeit des Entscheidungsverfahrens: Entscheidungen im Rahmen eines
gemeinsamen Projekts der Sozialzone werden zunächst einmal grundsätzlich von alÂ�len
Mitgliedern (also plebiszitär) einstimmig getroffen. Jedes Mitglied kann durch diese
Vetoposition seine Interessen schützen. Die Anwendung des Mehrheitsprinzips würde
die Mitglieder ungleich behandeln, weil sich die Meinung der Minderheit nicht durch-
setzen könnte.
(3)€Gleicher Beitrag: Jedes Mitglied muss grundsätzlich den gleichen Beitrag leisten,
sei dies zur Ausführung des gemeinschaftlichen Projekts, zur Schaffung oder Bewahrung
der natürlÂ�iÂ�chen oder kulturellen Güter oder zur Überwindung der für alle nachteiligen
Struktur des Gefangenen�dilem�ma�s.
(4)€Gleiche Ergebnisverteilung: Jedes Mitglied erhält den gleichen Anteil am Ergeb-
nis der Zu�sammenarbeit. Ein Pro�blem kann allerdings entstehen, sofern die gleiche
Ergebnisverteilung, also eine Gleichbehandlung, aus faktischen Gründen unmöglich
ist, wie zum Beispiel bei der Pflege eines Kranken. Als Lösung bietet sich eine tempo-
räre Gleichbehandlung an. Jeder kommt nur für eine gewisse Zeit in den Genuss des
knappen Ergebnisses der Zusammenarbeit. Ist auch das nicht möglich oder praktisch
wenig sinnvoll, müssen Lösungen gesucht werden, die dem Gedanken der Gleichvertei-
lung€– nämlich nieÂ�manden zu bevorzugen€– möglichst nahe kommen, also zum Beispiel
eine EntÂ�scheidung durch Priorität oder Lotterie. Die Notwendigkeit, aus pragmatischen
Gründen auf weniger befriedigende LöÂ�Â�sungen als das Gleichheitsprinzip auszuweichen,
ändert aber an seiner normativen VerbindlichÂ�keit nichts.
Ist das Ergebnis des gemeinschaftlichen Projekts kein Zuwachs, sondern ein Ver-
lust, so muss auch dieser gleich verteilt werden. Das Prinzip der Gleichverteilung der
Ergebnisse führt zur Rechtfertigung der Forderung nach Gleichberechtigung vor den
Normen, nicht aber von vornherein und damit ohne zusätzliche Gründe nach einem
Ausgleich von Ungleichheiten im Ausgangszustand, also nach einer vollständigen
Gleichstellung.
Diese vierfache Konkretisierung des Gleichheitsprinzips zur Regelung der Abwä-
gung der Belange in Gemeinschaften würde eine erste, einigermaßen faire Lösung er-
möglichen. Allerdings wird kaum eine Gemeinschaft ihre Entscheidungen vollständig
am Gleichheitsprinzip orientieren können, denn die Interessen der Individuen sind reÂ�
gelmäßig auf ihre mögÂ�lichst umfassende VerÂ�wirkÂ�lichung gerichtet. Dem wird die so-
eben skizzierte reine Anwendung des Gleichheitsprinzips nur parÂ�tiell genügen können.
Sie birgt zwei gravierende Nachteile in sich: Sie ist ineffektiv und unsozial.
232 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Die Ineffektivität zeigt sich in verschiedenen Aspekten. Die Annahme eines gleichen
Ausgangszustands geht nicht auf unterschiedliche Bedürfnislagen ein. Das Erfordernis
der Einstimmigkeit der Entscheidungen wird einen großen Teil der Entscheidungen blo-
ckieren. Das Prinzip des gleichen Beitrags hält überdurchschnittlich leistungsfähige Bür-
ger davon ab, mehr für die Gemeinschaft zu tun als der Durchschnitt. Schließlich ver-
hindert das Prinzip einer gleichen Ergebnisverteilung eine Optimierung der indi�vi�duellen
Anteile am Gesamtergebnis. Im Rahmen einer solchen Verwirklichung des Gleich��
heitsprinzips werden die Individualinteressen zwar formal bestmöglich beÂ�Â�Â�rücksichtigt,
weil die Ge�mein�schafts�ent�scheidung sie ohne Abstriche integriert, nicht aber inhaltlich.
Eine Effizienzsteigerung wird zu einer bestmöglichen Abwägung und Befriedigung der
Belange der Individuen in Plus-Summen-Situationen notwendig. Man muss zu effizi-
enteren Prinzipien übergehen, das heißt das Gebot der Gleichbehandlung durch ein
Effizienzprinzip ergänzen.
Auch die mangelnde Sozialität liegt auf der Hand: Das blanke Prinzip der Gleich-
heit ist adäquat, wenn unabhängige Geschäftsleute sich treffen, um ein Unternehmen
zu gründen und zu betreiben. Dann werden sie€ – von den soeben erörterten Effizi-
enznachteilen abgesehen€ – von einem gleichen Ausgangszustand, gleichen Beiträgen,
gleichem Stimmrecht und gleichen Ergebnisanteilen ausgehen. Aber ein wirtschaftli-
ches Unternehmen ist nur ein sehr spezieller Typ einer Gemeinschaft mit einem sehr
eingeschränkten Ziel in einem engen Rahmen der allgemeinen Wirtschaftsordnung.
Viele Gemeinschaften sind dagegen Lebensgemeinschaften und dienen nicht oder nicht
primär ökonomischen Zielen: Familien, Freundschaften, Kirchen, Clubs, Staaten und
andere politische Gemeinschaften. Derartige Lebensgemeinschaften erzeugen Abhän-
gigkeiten und stillschweigende Versprechen. Aus diesen Abhängigkeiten und stillschwei-
genden Versprechen erwachsen soziale Pflichten der Hilfe und Fürsorge. Sie machen
Abweichungen vom bloßen Gleichheitsprinzip erforderlich, etwa Schritte, ursprüngli-
che Ungleichheiten des Ausgangszustands zu verringern, die Beiträge Benachteiligter zu
senken und den Ergebnisanteil speziellen Bedürfnissen anzupassen etc., also Schritte zur
Gleichstellung zu unternehmen. Behinderte und die Opfer von Rassen-, Klassen- und
Geschlechterdiskriminierung verdienen zum Beispiel eine spezielle Förderung. Deshalb
muss das Gleichheitsprinzip durch ein Sozialprinzip ergänzt werden, das weiter gehende
Ziele der Gleichstellung realisiert.
Das Effizienzprinzip und das Sozialprinzip werden verschiedentlich entgegengesetzte
Abweichungen vom Gleichheitsprinzip fordern. Aber es bestehen auch Übereinstim-
mungen. Eine effiziente Gemeinschaft kann sozialer sein als eine ineffiziente. Allerdings
gibt es keine empirische Notwendigkeit, dass eine reichere, effizientere Gemeinschaft
in der Realität auch wirklich sozialer ist. Das Gegenteil kann etwa der Fall sein, wenn
die höhere Effizienz zu einem größeren Egoismus ihrer Mitglieder und einer größeren
Ungleichheit führt.
Die im Kapitel€V, 4 und V, 5 diskutierten Abwägungsprinzipien lassen sich als Ab-
weichungen vom Gleichheitsprinzip im Sinne des Gleichbehandlungsprinzips verstehen.
Sie versuchen, die beiden soeben erläuterten Nachteile des Gleichheitsprinzips€– Inef-
fizienz und Unsozialität€ – auszugleichen. Einige Prinzipien machen das Gleichheits-
10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone 233

prinzip effektiver, etwa das Paretoprinzip und das Maximierungs�prin�zip, andere ma-
chen es sozialer, wie das Gleichstellungsprinzip und das Genügensprinzip, aber auch das
Marxsche Prinzip: „Jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (soweit es realisierbar ist) oder
der Vorschlag, die Freiheiten und Fähigkeiten jedes Einzelnen zu verbessern.116 Das
Maximinprinzip bzw. Differenzprinzip versucht beiden Forderungen zu genügen. Die
kollektive Steigerung der Effizienz kommt in jedem Fall auch den schlechtest Gestellten
zugute. Das macht das Maximinprinzip so attraktiv. In Kapitel€V, 5 ergab sich aber,
dass es trotzdem als alleiniges Abwägungsprinzip auf einige Einwände stößt. Man muss
also fragen, welche Abweichungen vom Gleichheits�prinzip sowohl dem Effizienzprin-
zip als auch dem Sozialprinzip genügen können. Dazu empfiehlt es sich, zuerst einmal
ohne Bewertung darzustellen, welche Veränderungen der Verteilung nach dem Gleich-
heitsprinzip grundsätzlich bei den vier oben erwähnten Elementen der Gleichverwirk-
lichung von Interessen der Sozialzone möglich sind. Diese proÂ�gressiven VerändeÂ�rungen
lassen sich€– ohne Anspruch auf Vollständigkeit€– folgenderÂ�maÂ�ßen skizzieren, wobei die
Abweichungen im Ausgangszustand (1) und im Beitrag (3) im Wesentlichen der Erhö-
hung der Sozialität, die Abweichungen im Entscheidungsverfahren (2) und im Ergebnis
(4) im Wesentlichen der Erhöhung der Effizienz dienen. Die Pfeile („→“) markieren
die Stufe um Stufe zunehmende Abweichung vom Gleichheitsprinzip beim jeweiligen
Handlungselement.

(1)€ Ausgangszustand: Keine Änderung des Ausgangszustands (wenn von der Abnahme
durch den Beitrag (3) und der Veränderung durch das Ergebnis (4) abÂ�geÂ�sehen wird)
→⃙ (a) Bevorzugung Benachteiligter aus dem allgemeinen ZuÂ�wachs (4)
→⃙ (b)€Bevorzugung Benachteiligter aus dem allgemeinen ZuÂ�wachs (4) mit dem weiter
gehenden Ziel ei�ner Gleichstellung

(2) Entscheidungsverfahren: Einstimmigkeit


→⃙ (a)€qualifizierte plebiszitäre Mehrheit (AbÂ�stuÂ�fung 100–51â•›%)
→⃙ (b)€qualifizierte plebiszitäre Mehrheit der Abstimmenden
→⃙ (c) einfache plebiszitäre Mehrheit, mehr als 50â•›%117
→⃙ (d) einfache plebiszitäre Mehrheit der AbÂ�Â�stimÂ�menden, mehr als 50%
→⃙ (e) Einstimmigkeit der Repräsentanten
→⃙ (f )€qualifizierte MehrÂ�Â�heit der Repräsentanten, etwa 2â•›/â•›3
→⃙ (g) qualiÂ�fizierte Mehrheit der abstimmenden ReÂ�präÂ�senÂ�tanÂ�ten, etwa 2â•›/â•›3
→⃙ (h) einfache Mehrheit der RepräsentanÂ�ten, mehr als 50â•›%
→⃙ (i) einfache Mehrheit der abÂ�stimÂ�menÂ�den RepräÂ�sentanten, mehr als 50â•›%
→⃙ (j) MinderheitsentÂ�scheidung durch eine ausgewählte Gruppe
→⃙ (k) EntscheiÂ�dung durch eine Person (zum Beispiel den Leiter)

116 €Amartya K. Sen, Inequality Reexamined, 3.€Aufl. New York 1995, S.€39╛ff.
117 Die Reihenfolge zwischen den Abweichungsalternativen (b) und (c) lässt sich anzweifeln. Man muss
sich entscheiden, ob man die Mehrheit oder die Menge der Abstimmenden als wichtiger ansieht.
234 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

(3)€Beitrag: Gleicher Beitrag von jedem


→⃙ (a) proportionaler Beitrag von jedem
→⃙ (b)€niedrigerer Beitrag einiger, unterproportional zur SchlechterÂ�stellÂ�ung in der Aus-
gangslage (1) oder im Ergebniszuwachs (4aâ•›ff.)
→⃙ (c)€niedrigerer Beitrag einiger, proportional zur SchlechterÂ�stellÂ�ung in der Ausgangs-
lage (1) oder im Ergebniszuwachs (4aâ•›ff.)
→⃙ (d)€niedrigerer Beitrag einiger, überproportional zur SchlechterÂ�stellÂ�ung in der Aus-
gangslage (1) oder im Ergebniszuwachs (4aâ•›ff.)
→⃙ (e)€kein Beitrag der Schlechtergestellten in der Ausgangslage (1) oder dem Ergeb-
niszuwachs (4aâ•›ff.), bis eine Gleichstellung erreicht ist

(4) Ergebnis: Gleicher Ergebniszuwachs aller in jeder Periode (Gleichheitsprinzip, GP)


→⃙ (a) ↜ungleicher Zuwachs in einer PeÂ�riode, wenn alle im Ergebnis gegenüber der blo-
ßen Gleichverteilung soweit wie möglich besser stehen und die VerÂ�besserung
derjeniger, die auf diese Weise am wenigsten gewinnen, nicht mehr als um
100€–€xâ•›% (x€<€100) vom Zuwachs der Bestgestellten abweicht (limitiertes Ma-
ximinprinzip)
→⃙ (b)€ ungleicher Zuwachs in einer PeriÂ�ode, wenn alle im ErÂ�gebnis gegenüber der
Gleichverteilung besser stehen (Maximinprin�zip)
→⃙ (c)€ungleicher Zuwachs in einer Periode, wenn 100€–€xâ•›% (x€<€100) einen Vorteil
von yâ•›% gegenüber der Gleichverteilung haben und niemand einen Nachteil hat
(qualifiziertes Paretoprinzip)
→⃙ (d)€ungleicher Zuwachs in einer Periode, wenn keiner gegenüÂ�ber der Gleichvertei-
lung schlechter und min�de�stens einer besser gestellt ist (Paretoprinzip)
→⃙ (e) ungleicher Zuwachs in einer Periode, auch wenn einige in der lauÂ�fenden PeriÂ�
ode weniger Zuwachs haben als bei der Gleich�ver�tei�lung, sofern die Gesamt-
zuwachssumme aller höher als bei (4d) ist (zeit- und ungleichheitslimitiertes
Maximierungsprinzip)
→⃙ (f )€ungleicher Zuwachs in einer Periode, selbst wenn einige in dieser Periode gar
nichts bekommen, sofern die Summe des Gesamtzuwachses aller höher als bei
(4e) ist (zeit�limitiertes Maximierungsprinzip)
→⃙ (g)€ungleicher Zuwachs in einer Periode, selbst wenn einige in dieser Periode gar
nichts bekommen und sogar ihr Zuwachs aus vorheri�gen Perioden aufgezehrt
wird, sofern die Gesamtzuwachssumme aller höher als bei (4f ) ist (gewinnÂ�liÂ�miÂ�
tier�tes Maximierungsprinzip)
→⃙ (h)€ungleicher ZuÂ�wachs, selbst wenn bei einigen absolute Abnahme des AusÂ�gangszuÂ�
stands (1) eintritt, sofern die Summe des GeÂ�samtÂ�zuÂ�wachses höher als bei (4g) ist
(Maximierungsprinzip)

Für Verluste kann das gesamte Abweichungsschema der Ergebnisse (4) entsprechend
angewandt werden.
Es stellt sich nun die Frage, welche der jeweiligen Abweichungen von den vier Ele-
menten in der Abwägung als ethisch legitim anzusehen sind, das heißt vom Effizienz-
10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone 235

prinzip und Sozialprinzip gefordert und gleichzeitig mit dem jeweils anderen Prinzip
vereinbar sind. Dazu sind wenigstens vier Gesichtspunkte zu bedenken:
Erstens: Die verschiedenen Abweichungen vom Anfangspunkt der Gleichverwirkli-
chung bei den einzelnen Elementen müssen faktisch nicht parallel verlaufen. Man nehme
als Beispiel die Entscheidung durch den Leiter eines Vereins. Im Rahmen des Entschei-
dungsverfahrens (2) ist man damit auf die letzte Stufe der Entscheidung durch eine Person
(2k) übergegangen. Eine Veränderung der Beiträge (3) oder Ergebnisse (4) ist mit diesem
Übergang zur Stufe (2k) aber nicht verbunden€– etwa eine Erhöhung der Vereinsbeiträge
oder eine Verbesserung der Trainingsmöglichkeiten. Allerdings sind die Abweichungen
vom Anfangspunkt der Gleichheit zwar faktisch prinzipiell voneinander unabhängig, nor-
mativ-ethisch aber verbunden. Das heißt: Man muss alle vier Elemente im Rahmen jeder
einzelnen Abweichung in eine faire Balance der Abwägung bringen (wobei sie ein unter-
schiedliches Gewicht haben können). Man muss wie ein Jongleur mit vier Bällen gleich-
zeitig spielen, um eine adäquate Abwägung der Interessen der Sozialzone zu erreichen.
Zweitens: Zur Entscheidung der Frage, wie weit eine Abweichung gehen darf, müs-
sen zusätzliche empirische Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Ohne Anspruch auf
Vollständigkeit seien einige dieser Gesichtspunkte aufgezählt: die Lebensbedingungen
der Menschen in einer Gemeinschaft, denn besser gestellte Menschen können es sich
eher erlauben, Risiken einzugehen; die tatsächliche Bereitschaft der Menschen in ei-
ner bestimmten Gemeinschaft, Risiken einzugehen; die Geschichte der Gemeinschaft,
denn es ist besonders für das Sozialprinzip bedeutsam, ob der Lebenszusammenhang
schon seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden besteht oder sich aus neuen Gründern
zusammensetzt. Im letzten Fall sind die sozialen Bindungen geringer, und damit ist die
Berechtigung sozialer Forderungen nach Unterstützung weniger ausgeprägt; das unab-
hängig von derartigen historischen Faktoren tatsächlich bestehende Zusammengehörig-
keitsgefühl zwischen den Menschen in einer Gemeinschaft; das Maß der Arbeits- und
Aufgabenteilung bei der Verwirklichung des Projekts; die internationale Verflechtung
mit anderen Gemeinschaften; die Konkurrenz durch andere Gemeinschaften.
Drittens: Es ist kein Grund ersichtlich, warum man nicht für verschiedene Lebensbe-
reiche einer einzigen Gemeinschaft zu unterschiedlichen Abweichungen kom�men sollte.
Viertens: Weicht man bei den vier Elementen vom Ausgangspunkt der Gleichver-
wirklichung ab, so sind die sozialen Resultate nicht ohne Weiteres vorhersehbar. Man
wird deshalb mit der Methode von Versuch und Irrtum arbeiten und die Abweichungen
im Rahmen der einzelnen Elemente immer wieder veränderten tatsächlichen Situatio-
nen anpassen müssen.
Abstraktion und Konkretion, Universalität und Kontingenz sind keine strikt dualis-
tischen Alternativen, sondern nur Extrempunkte eines Kontinuums. Die empirischen
und damit kontingenten Elemente nehmen in einer normativen Ethik kontinuierlich zu.
Auf einer sehr abstrakten Ebene spielen sie noch keine entscheidende Rolle und können
vernachlässigt werden. Aber mit zunehmender Konkretion werden sie immer stärker.
Ab einer gewissen Stärke kann die Theorie dann nicht mehr konkreter werden, ohne
empirische Beobachtungen und praktische Entscheidungen in großem Umfang einzu-
beziehen. Die Theorie kann dann nur noch sehr beschränkt Vorschläge machen, die im
236 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Rahmen einer praktischen Entscheidung zu berücksichtigen sind. Die Überlegungen zur


Abwägung von Interessen der Sozialzone scheinen nunmehr an diesem Punkt angelangt
zu sein, an dem die massive Einbeziehung empirischer Erkenntnisse und der Übergang
zu praktischen Entscheidungen angezeigt wäre. Die abstrakte Struktur der normativ-
indiviÂ�dualistiÂ�schen Ethik, wie sie bis hierher entwickelt wurde, scheint in hohem Maße
einen universellen Anspruch erheben zu können. Aber die genaue Festlegung, welche
Abweichung von den vier Elementen in einer bestimmten Gemeinschaft jeweils die best-
mögliche Abwägung darstellt, bedarf wegen der soeben aufgeführten empirischen Ele-
mente einer derart starken Berücksichtigung der tatsächlich bestehenden Verhältnisse,
dass sie nicht mehr vom Schreibtisch des Theoretikers aus unternommen werden kann.
Die abstrakte philo�so�phi�sche Betrachtung unter Einschluss eines zumindest minimalen
UniversalisierungsanÂ�spruchs kommt hier an das Ende ihrer Möglichkeiten.
Das bedeutet allerdings nicht, dass man die normative Ethik nicht für einzelne
AnwendungsÂ�komplexe, etwa konkrete ökonomische Verteilungen, weiter ausarbeiten
könnte, sofern man die Spezifika dieses Komplexes berücksichtigt. Es ist nur nicht mög-
lich, für alle Abwägungen zu einer gleichzeitig generellen und konkreten Lösung im Hin-
blick auf die Abweichung vom Prinzip der Gleichverwirklichung bei den vier Elementen
zu gelangen. Das bedeutet schließlich auch nicht, dass es keine guten ArÂ�guÂ�menÂ�te für den
Übergang zwischen den einzelnen AbweichungsstuÂ�fen der vier Elemente gäbe. Aber man
nähert sich nunmehr den Kontingenzen praktischer KomÂ�proÂ�missÂ�bildung. AngeÂ�sichts
dieser Tatsache soll hier nur noch eine kurze Skizze einzelner Prin�zipien zur Steuerung
der Abweichung von der ursprünglichen Gleichheit der vier Elemente folgen:
(1)€Sozialprinzip: Wie erwähnt, fordert dieses Prinzip, den Ausgangszustand (1) zu
egalisieren, den Beitrag (3) der Bedürftigsten zu senken und die Ergebnisse (4) so zu
strukturieren, dass spezifische Interessen berücksichÂ�tigt werden, etwa die Interessen Be-
hinderter an einer speziellen medizinischen Versorgung. Begründet wird das Sozialprin-
zip durch die Hilfs- und Fürsorgepflicht, die aus dem tatsächlichen Zusammenleben der
Menschen in einer Gemeinschaft erwächst.
(2)€ProportioÂ�nalÂ�pÂ�rinzip: Beitrag (3) und Ergebnis (4) dürfen proportional ungleich
verteilt werÂ�den, soÂ�fern der Betroffene dem zustimmt. Ein Beispiel wäre der Übergang zur
Teilzeitarbeit. Die Realisierung dieses Veränderungsprinzips kann sozial problemaÂ�tisch
sein, weil sie zu stark ungleichen Einkommensverteilungen führt. Aber die Zulassung
einer proportionalen Ungleichverteilung erhöht etwa im Fall von Arbeit und Verdienst
die Freiheit der Menschen, zwischen Einkommen und Muße zu wählen, und erscheint
deshalb als Ausfluss des Prinzips des normativen Individualismus gerechtfertigt.
(3)€ Verbesserungsprinzip: Viele Gemeinschaften nehmen für ihr räumliches oder
sachliches Gebiet ein Monopol der Macht und des Zwanges in Anspruch. Die Fol-
ge ist, dass praktisch niemand mehr außerhalb einer Gemeinschaft leben kann. Zur
Kompensation muss jedem Mitglied ein Austrittsrecht zugestanden werden, um in eine
andere Gemeinschaft überwechseln oder anarchistisch leben zu können. Das Austritts-
recht ermöglicht es dem Einzelnen, die KoopeÂ�ration abzubreÂ�chen, wenn sie sich für ihn
nachteilig auswirkt, also vor allem, wenn ein Element zu seinen Ungunsten verändert
wird. Er muss allenfalls eine Art „KündiÂ�gungsÂ�frist“ in Kauf nehmen, um die anderen
10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone 237

Gemeinschaftsmit�glieder, die im Hinblick auf seine Beteiligung an der Gemeinschaft


DispositioÂ�nen getroffen haben, nicht zu schädiÂ�gen.
Allerdings ist die Ausübung des Austrittsrechts in der Realität stark eingeschränkt,
weil es für die Mitglieder häufig mit Nachteilen verbunden ist. Andere Gemeinschaften
nehmen überdies vielfach keine neuen Mitglieder auf. Im Übrigen ist eine völlige Ablö-
sung von der heimatlichen Umgebung und dem Fa�milien�kreis kaum zu�mutbar. Diese
ErÂ�schwerung bzw. praktische Unmöglichkeit der AusÂ�tritts müssen die Gemeinschaften
kompen�sie�ren: Alle Gemein�schafts�mitglieder sind innerhalb der Gemein�schaft besser zu
stellen, als wenn sie völlig autark leben würden. Das heißt, ein völliger Ergebnisausfall
muss in Lebensgemeinschaften unter allen Umständen verÂ�mieden werden. Damit schei-
den im Regelfall das strikte Maximierungs�prin�zip und das gewinnlimitierte Maximie-
rungsprinzip (4h und 4g) als extremste Veränderungsschritte in der Ergebnisverteilung
gegenüber dem Ausgangsprinzip der Gleichverwirklichung aus. Nur Lotterien als reine
Spiel- und Risikoprojekte sind insofern eine Ausnahme.
(4)€Kompensationsprinzip: Jede Gemeinschaft muss im Interesse ihrer Mitglieder be-
strebt sein, die Effizienz ihres Handelns zu erhöhen. Dies geschieht durch eine VerÂ�Â�einÂ�
faÂ�chung des Entscheidungsverfahrens und eine Verbesserung der Ergebnisse, das heißt
eine Veränderung der Elemente (2) und (4). Eine derartige Veränderung kann aber ohne
eine �Besserstellung der Schlechter�gestellten im Ausgangszustand (1) und im Beitrag (3)
nicht als gerecht angesehen werden. Die bloße Erhöhung des individuellen Ergebnisses
entschädigt nicht für die dadurch entstehende Ungleichheit. Dazu ein Beispiel: Wenn
sich eine GemeinÂ�schaft entschließt, von einer bäuerlichen Landwirtschaft zur indus-
triellen Produktion überzuÂ�gehen, so schafft sie ungleiche Zuwächse. Ein BeÂ�hinÂ�derÂ�ter
kann zum Beispiel die neuen MoÂ�bilitäts-, Bildungs- und Vergnügungsmöglichkeiten
nur unterÂ�durchschnittlich nutzen. Er wird€– mit Recht€– auf einer Kompensation beim
Ausgangszustand (1) und beim Beitrag (3) bestehen. Er wird neben einem unterpro-
portional niedrigen Beitrag zum Beispiel fiÂ�nanzielle Entschädigungen und den Bau von
Behinderten�ein�rich�tun�gen fordern.
(5)€RückholÂ�barÂ�keitsprinzip: Es ist nicht anzunehmen, dass jemand willens ist, auf die
Einstimmigkeit beim Entscheidungsverfahren (2) zu verzichten, ohne dass eine Rück-
holbarkeit dieses Verzichts möglich bleibt. Oder anders ausgedrückt: Eine Gemeinschaft
kann vom Einstimmig�keitsprinzip abgehen. Aber dann muss ein Zwei�- oder Mehrebe�nen�
modell der Entscheidungsfindung etabliert werden. Während auf der primären Ebene die
Notwendigkeit eines KonÂ�senses verÂ�bleibt, werden auf der sekundären EbeÂ�ne (bzw. weite-
ren EbeÂ�nen) die Anforderungen an das EntÂ�scheiÂ�dungsverfahren (2) gesenkt. Diese zusätz-
lichen Ebenen dürfen die primäre Ebene aber nie vollÂ�Â�ständig verdrängen. Würde man auf
jegliche Rückholbarkeit verzichÂ�ten, wäre die EinÂ�stimmigÂ�keit endgültig aufgegeben und
das Prinzip des norma�ti�ven Individualismus verletzt. Es ist kein Grund ersichtlich, warum
sich jeÂ�mand einem derarÂ�tigen Risiko einer „Tyrannei der Mehrheit“ ausÂ�setzen sollÂ�te. Im
Übrigen gilt: Es darf kein praktisch unÂ�überwindbar hohes Quorum für die RückÂ�holung
verlangt werden. Herrschaft muss immer bedingt und befristet sein.
(6)€Kontrollprinzip: Selbst im Falle eines ÜberÂ�Â�gangs auf schwächere Entscheidungs-
verfahren (2) muss als Ausfluss des normativen Individualismus bei jedem einzelnen
238 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Mitglied der Gemeinschaft ein Kon�trollrecht ver�bleiben. Ausfluss dieses Kontrollprin-


zips ist die Forderung nach Öffentlichkeit und Transparenz der EntscheiÂ�dungen.
(7)€ Balanceprinzip: Das Entscheidungsverfahren (2) und das Ergebnis (4) dür-
fen nicht kumulativ weitgehend verändert werden. Wenn man beim EntÂ�scheiÂ�dungsÂ�Â�
verfahren zur qualifizierten Mehrheit der Repräsentanten (2f ) oder den folÂ�Â�Â�genÂ�den
Schritten (2g–2k) übergeht, dürfen nicht einzelne oder fast alle Mitglieder von einem
positiven Ergebnis ausgeschlossen werden. Ein Übergang zum zeitÂ�limitierten oder strik-
ten Maximierungsprinzip (4f ff.) ist also ausgeschlossen. Ansonsten bestünde eine gro-
ße GeÂ�fahr des Missbrauchs. Die Entscheidenden könnten sich selbst ungerechtÂ�fertigte
Vorteile verschafÂ�fen. Damit wäre den Forderungen des normativen Individualismus
nicht mehr genügt. Ein AlleinentscheiÂ�der (2k) darf im Übrigen nicht ausschließlich
sich selbst besser stellen, selbst wenn sonst niemand schlechter gestellt wird (4d, Pareto�
prinzip), denn eine gemeinschaftliche Entscheidung muss als Repräsentationsentschei-
dung immer auch anderen dienen. Schließlich gilt: Der Minderheitenschutz ist verfahÂ�
rensrechtlich abzusichern.
(8)€ Sektoralprinzip: In bestimmten Sektoren einer GeÂ�meinÂ�schaft ist der Übergang
von (4) zu (4a ff.), das heißt von der Gleichverteilung des Ergebnisses zur ErgebnisÂ�verÂ�
besserung, nicht zulässig. So darf der Anspruch auf GleichÂ�heit vor den Normen oder
die Gleich�heit der Wahl nicht auf�gegeben werden. Auch die Chancengleichheit bei der
Vergabe von Funktionen, Posten, Subventionen etc. muss gewahrt bleiben. Die Kernele-
mente der Mitgliederbeteiligung und -beÂ�rücksichtigung stehen in unmittelbarem Zu-
sammenhang zu Interessen der Individual- und Relativzone und dienen deren Sicherung.
Dies schließt eine kollektive Effektivierung um den Preis der Ungleichbehandlung aus.
In manchen Sektoren erscheint nur eine sehr moderate Abweichung beim Ergebnis
(4) zulässig. So wäÂ�re etwa eine sehr weit aufgespreizte und starre Hierarchie€– selbst bei
moneÂ�tärer KomÂ�pensation€– nicht zur Ermöglichung des Paretoprinzips (4d) und wohl
auch kaum des qualifizierten Paretoprinzips (4c) zulässig. Man käme hierbei unweigerÂ�
lich mit dem Prinzip des normativen Individualismus in Konflikt.
(9)€Prinzip der Relevanz des Ausgangszustands: Je höher der durchÂ�Â�schnittliche Aus-
gangszustand ist, desto eher erscheint es gerechtfertigt, ein größeres Risiko zu wagen
und beim Ergebnis (4) zu efÂ�fektiÂ�veÂ�ren Abwägungen überzugehen.
Ein anschauliches Beispiel für die interdependent abhängige Veränderung der vier
GeÂ�rechtigÂ�keitselemente bietet gegenwärtig die europäische Einigung, wenn man die
ein�zelnen Staaten als Quasiindividuen ansieht. Der gemeinsame Markt ist ein gemeinsa�
mes Projekt und soll allen Beteiligten Vorteile bringen (Ver�bes�se�rungs�prinzip 3). Da-
bei ist der Ausgangszustand sehr unterschied�lich. Dementsprechend unter�schiedlich
sind BeiÂ�trag und Ergebnis (ProÂ�porÂ�tionalprinzip 2). Aber ein ökonomisch starkes und
exportori�entiertes Land wie die Bun�desrepublik hat nicht nur absolut und proportional
zum Pro-Kopf-EinÂ�kommen aller, sondern häufig sogar überproportional hohe Vorteile
gegenüber anderen Ländern. Es ergibt sich also die Situation (4a). Deshalb streiten die
wirtschaftlich schwächeren Länder um einen unterproportionalen Beitrag, also (3b),
und eine zusätzÂ�liche VerbesseÂ�rung ihres AusÂ�gangszustands (1a, 1b) durch verschiede-
ne UmverÂ�teilungsÂ�maßÂ�nahÂ�Â�Â�men (Sozialfonds, KohäÂ�sionsfonds, Subventionierung der
11. Der Widerstreit zwischen Belangen verschiedener Zonen 239

Landwirtschaft, RegioÂ�nalÂ�fonds etc.). Die wirtschaftlich schwächeren Länder streben an,


einen Teil des unglei�chen Zu�wach�ses zu erhalten, und wollen auf diese Weise eine Ega-
lisierung (1b) erreichen. Die wirtÂ�schaftlich stärkeren Länder sind bereit, einen Teil ihres
Überschusses abzugeben, aber nicht so viel, dass es im Verhältnis zu den schwächeren
Ländern am Ende zu einer Egalisierung kommt. Das Entscheidungsprinzip im Mi-
nisterrat ist für nichtfundamentale Entscheidungen vom Einstimmigkeits- zum Mehr-
heitsprinzip verändert worden.

11. Der Widerstreit zwischen Belangen verschiedener Zonen

Ein Widerstreit zwischen Belangen verschiedener Zonen kommt in zwei Vorrangver-


hältnissen vor, einem absoluten Vorrang der Belange der Individualzone gegenüber sol-
chen der Relativ- und Sozialzone und einem relativen Vorrang der Belange der Relativ-
zone gegenüber solchen der Sozialzone:

a)€Absoluter Vorrang der Belange der Individualzone

Grundsätzlich gilt, dass die Belange der Individualzone vor solchen der Relativ- und
der Sozialzone einen absoluten Vorrang genießen. Einzelnen Betroffenen ist regelmäßig
keine Einschränkung ihrer kaum von bestimmten Anderen oder der Gemeinschaft ab-
hängigen Interessen zur Realisierung sehr viel stärker gemeinschaftsabhängiger Interessen
zumutbar. Weder das Gleichheitsprinzip noch das Maximierungsprinzip oder eines der
anderen erörterten Prinzipien können hier zur Anwendung kommen. Man darf etwa
Andere nicht um religiöser Handlungen oder materieller Güter willen töten. Man darf
ihnen nicht das Leben nehmen, um sich vor ihren künftigen verbrecherischen Hand-
lungen zu schützen, was die Todesstrafe ausschließt. Man darf sie nicht zwangsÂ�weise
sterilisieren, um weitere Sexualdelikte zu verhindern. Man darf sie nicht gegen ihren
Willen durch eine Magensonde ernähren. Man darf ihnen nicht zwangsweise Blut oder
Liquor entnehmen, um sie einer Straftat zu überführen. Man darf ihnen nicht gegen
ihren Willen Brechmittel verabreichen, um das Erbrechen von Beuteln mit Rauschgift
herbeizuführen. Man darf sie nicht um politischer Ziele willen foltern. Man darf sie nicht
zwangsweise an einen Lügendetektor anschließen, um die Wahrheit ihrer Aussagen zu
überprüfen. Ihre Gedanken und Gefühle dürfen nicht gegen ihren Willen unterdrückt
oder manipuliert werden, um ihr Verhalten zu ändern.
Jenseits derartiger direkter Beeinträchtigungen ist fraglich, welche Risikoerhöhung
der Einzelne für Belange seiner InÂ�dividualzone in Kauf nehmen muss. Eine Begrün-
dung, warum er unfreiwillig eine über das allgemeine LeÂ�bensrisiko erheblich hinausge-
hende Gefahr für Leben, Leib oder Psyche akzeptieren sollte, ist nicht ersichtlich. Moral
und Recht verbieten also etwa mit gutem Grund, dass Kraftfahrzeuge mit ab�gefahrenen
Reifen oder defekten Bremsen benutzt werÂ�den oder dass jemand alkoholisiert fährt,
denn Andere werden dadurch an Leib und Leben gefährdet. Die Nutzung der Kern-
240 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

energie zur Stromerzeugung ist jedenfalls dann problematisch, wenn die dadurch her-
beigeführten Risiken nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit für die gegenwärtig Lebenden
und künftige Generationen ausgeschlossen werden können. Die allgemeine Wehrpflicht
ist als Erhöhung des Lebensrisikos allenfalls zur Verteidigung der Bürger des Heimat-
landes vor feindlichen Angriffen auf Leib und Leben und damit als gemeinschaftliche
Notwehr gerechtfertigt, sofern eine Berufsarmee nicht ebenso zu diesem Zweck tauglich
ist. Zu Auslandseinsätzen in fernen Krisenregionen aus allgemein- und weltpolitischen
Gründen der Bündnistreue und der Staatsraison dürfen jedenfalls nur Berufssoldaten
verpflichtet werden.
Was rechtfertigt den über die bloß höhere Gewichtung noch hinausgehenden abso-
luten Vorrang der Belange der Individualzone vor solchen der anderen beiden Zonen?
Die Rechtfertigung liegt offenbar darin, dass die Güter innerhalb der symbolischen
Körpergrenze, auf die sich die Belange der Individualzone beziehen, das eigene Ich des
betroffenen Individuums konstituieren. Der Unterschied wird in folgender fundamen-
talen sprachlichen Differenz deutlich: Man sagt etwa: „Ich wurde verletzt“, aber „Mein
Fahrrad wurde gestohlen“. Bereits bei Platon findet sich die Differenzierung zwischen
der Sorge um sich selbst und dem Tun des Seinigen.118 Das Ich mit seinen Teilen ist
für eine normativ-individualistische Ethik, deren letzte verpflichtende Quelle im In-
dividuum liegt, so fundamental, dass grundsätzlich keine Relativierung durch stärker
gemeinschaftsabhängige Interessen erlaubt sein kann.
Die einzige Ausnahme von der absoluten Sperrwirkung der Interessen der Individu-
alzone scheint die Befugnis zur Notwehr zu sein. Darf man sich des Diebes nicht auch
mit Waffengewalt erwehren und dessen Verletzung in Kauf nehmen? Darf man also im
Rahmen der Notwehr den Schutz des Sacheigentums als Belang der Relativzone den
Belangen von Leib und Leben des Diebes als Interessen der Individualzone überordnen?
Für das deutsche Recht statuiert die Notwehrregel des § 32 Strafgesetzbuch,119 dass alles
getan werden darf, was zur Abwehr des Angriffs erforderlich ist. Nur wenn zwischen Art
und Umfang der aus dem Angriff drohenden Beeinträchtigung und der Gefährdung
oder Verletzung des Angreifers durch die Notwehr ein grobes Missverhältnis liegt, ist
Letztere nicht erlaubt.120 Trotz dieser Einschränkung soll nach der herrschenden Mei-
nung in der deutschen Rechtsprechung und Literatur eine Verteidigung des Sacheigen-
tums mit Waffengewalt, die zur Verletzung des Angreifers führen kann, zulässig sein. Auf
den fliehenden Dieb darf also im Prinzip sogar geschossen werden, sofern der gestohlene
Gegenstand nicht von unbedeutendem Wert ist, die Verteidigung nicht mehr oder we-
niger sicher zum Tod des Angreifers führen würde oder der Angreifer nicht schuldlos
handelt, also etwa ein Kind ist. Vermutlich weichen auch die allgemeinen moralischen
Überzeugungen in der Bevölkerung nicht signifikant von dieser Rechtslage ab.

118 Platon, Alkibiades I, 127e1â•›ff.; Politeia 433a1â•›ff.


119 § 32 StGB: (1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.
(2)€Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff
von sich oder einem anderen abzuwenden.
120 Lencknerâ•›/â•›Perron in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch. Kommentar, § 32, Rn. 50.
11. Der Widerstreit zwischen Belangen verschiedener Zonen 241

Die normative Ethik könnte diese rechtliche und moralische Auffassung natürlich
als unbegründet in Zweifel ziehen und eine Änderung fordern. Man wird sich aber
zunächst fragen müssen, ob es sich wirklich um eine Ausnahme handelt? Dies lässt sich
mit folgender Erwägung verneinen: Jeder erhebliche Angriff auf einen Unschuldigen
impliziert dessen kaum kalkulierbare weitere Gefährdung an Leib und Leben. Der Ein-
brecher wird im Falle seiner Entdeckung möglicherweise körperliche Gewalt anwenden.
Und der fliehende Dieb wird vielleicht stehenbleiben, eine Pistole ziehen und auf den
Verfolger schießen. Selbst wenn sich der Angriff zunächst scheinbar auf Sacheigentum
beschränkt, erzeugt der Angreifer wegen der starken kriminellen Energie, die er mani-
festiert, regelmäßig eine weit über dem allgemeinen Lebensrisiko liegende Gefahr für
Leib und Leben des Angegriffenen. Dann kann die Abwägung den Angegriffenen aber
nicht darauf verpflichten, sich auf eine erheblich risikoreichere und weit weniger erfolg-
versprechende Abwehr zu beschränken, sofern die Verhältnismäßigkeit der Mittel ge-
wahrt bleibt. Der Bestohlene muss also im Regelfall dem Dieb nicht nachlaufen und das
erhebliche Risiko einer Schussverletzung, eines Messerstichs oder eines möglicherweise
tödlichen Faustschlags im Verlauf eines Handgemenges in Kauf nehmen. Bewirken An-
greifer für Unschuldige mit Absicht derartige erhebliche Erhöhungen des Risikos, dann
relativieren sie selbst den absoluten Vorrang ihrer Interessen der Individualzone.

b) Vorrang der Belange der Relativzone

Den Belangen der Relativzone kommt gegenüber den Interessen der Sozialzone ebenfalls
ein grundsätzlicher Vorrang zu. Dem individuellen Interesse, eine bestimmte Handlung
auszuführen, etwa sich von einem Ort zu einem andern zu bewegen, wird man einen
prinzipiellen Primat vor allen gemeinsamen Projekten zuerkennen müssen. Der einzelne
darf zum Beispiel nicht gezwungen werden, im Interesse des Familienwohlstands oder
der Familienehre an einem bestimmten Ort zu leben, einen bestimmen Partner zu wäh-
len, einen bestimmten Beruf zu ergreifen, eine bestimmte Meinung zu äußern oder sein
Leben vollständig oder auch nur zum großen Teil der Familie zu opfern.
Aber der Vorrang der Belange der Relativzone wird regelmäßig nur als ein relativer an-
zusehen sein. Das heißt, bei sehr wichtigen Belangen der Sozialzone und weniger wichtigen
Belangen der Relativzone kann es im Einzelfall dazu kommen, dass die Belange der Rela-
tivzone zurücktreten müssen. Dabei werden die Interessen der Relativzone umso geringer
wiegen, je stärker sie von der Gemeinschaft abhängen. Die Interessen der Sozialzone werden
dagegen ein umÂ�so größeres Gewicht gewinnen, je weitgehender sie ihrerseits von den Indi-
viduen bestimmt sind. Die Einschränkung der Interessen der Relativzone durch solche der
Sozialzone ist der Fall, der von einer normativ-individualistischen, das heißt in bestimmtem
Sinn liberalen Warte aus am problematischsten ist. Lässt man eiÂ�ne derartige Einschränkung
zu, ist Mills libeÂ�rales „Schadensprinzip“ (harm princiÂ�ple), nach dem Freiheitslimitationen
nur dem Schutz Anderer vor SchäÂ�digungen dieÂ�nen dürÂ�fen, verletzt. Fraglich ist also, ob
bestimmte kollektive Projekte in einer Gemeinschaft die Belange der ReÂ�laÂ�tivzone einÂ�schränÂ�
ken dürfen, ohne dem Schutz einzelner Menschen vor Schädigung bzw. deren individueller
242 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Freiheit zu dienen, also ihrerseits wenigstens in einem weiteren Sinn durch Interessen der
Relativzone Anderer gerechtfertigt zu sein. Beispiele solcher Regelungen der Sozialzone,
die Freiheiten der Relativzone limitieren, wären der Schutz des allgemeinen Vertrauens auf
Versprechen durch ein institutionelles System, die Restriktion von Nacktheit und Sexualität
in der Öffentlichkeit durch Ordnungsnormen, der Zwang zum Schulbesuch durch die all-
gemeine Schulpflicht, die generelle Sonn�tags- und Feiertags�ruhe, die Regle�men�tie�rung der
Ladenöffnungszeiten, der Ausschluss der Tötung auf Verlangen sowie Bauvorschriften, die
ästhetische oder landÂ�schaftsÂ�schützende Ideale verfolgen.
Zur Lösung ist zunächst daran zu erinnern, dass sämtliche legitimen Belange, die in
die Sozialzone fallen, Individual�belange sind. Diese Belange sind zwar im Regelfall nicht
so offensichtlich bestimmten Individuen zuzu�rechnen wie die Belange der Relativzone.
Aber sie müssen letztlich notwendig auf Individuen mit ihren Strebungen, Bedürfnissen,
Wünschen und Zielen rückÂ�Â�führÂ�bar sein, wenn sie dem Prinzip des normativen Indivi-
dualismus genügen sollen. Hinter einem System des allgemeinen Vertrauens auf Verspre-
chen steht etwa das grundsätzliche Streben, verlässlich disponieren zu können, hinter der
Restriktion von Nacktheit und Sexualität in der Öffentlichkeit das Bedürfnis, in intimen
Angelegenheiten nicht verletzlich zu sein und keine Anreize zu sexuellen Übergriffen
zu bieten, hinter der allge�meinen Schulpflicht etwa der Wunsch, in einer Ge�sell�schaft
gebildeter und be�ruflich qualifizierter Menschen zu leben, hinter der Sonn�tagsru�he das
Ziel, KonÂ�templation zu ermöglichen, hinter den eingeschränkten LadenÂ�Â�öffnungszeiten
der Belang, nicht das ganze Leben von ökonomischen Transaktionen vereinnahmen zu
lassen und auch den Verkaufsangestellten eine gemeinsame Erholung mit ihren Famili-
en zu ermöglichen, hinter dem allgemeinen Ausschluss der Tötung auf Verlangen der
Wunsch, eine ubiquitäre Tötungspraxis durch Private mit entsprechenden Missbrauchs-
und Brutalisierungsrisiken zu verhindern, hinÂ�ter ästhetischen und landschaftsschützen-
den Bau�vorschrif�ten das Interesse an einem Leben mit an�spre�chen�den Bau�ten und in
unbeÂ�rührter Natur. Diese Belange können regelmäßig nur im Rahmen einer GeÂ�meinÂ�
schaft verwirklicht werden. Es handelt sich um In�teressen, die sich auf ein gutes Leben in
einer bestimm�ten Ge�sellschaft richten, nicht um liberale Frei�heitsin�teressen. Geht man
vom zweiten Teil des Prinzips des normativen Individualismus aus, also dem Allprinzip,
dass alle jeweils betroffenen InÂ�diÂ�viÂ�duen mit ihren InterÂ�essen BeÂ�rücksichtigung verÂ�dieÂ�
nen, müssen auch Interessen der Individuen an einem guten, gemeinschaftlichen Leben
prinzipiell in der Abwägung mit Interessen der Relativzone berücksichtigt werden. Die
typischerweise weniger starke Gemeinschaftsprägung der Belange der Relativzone recht-
fertigt ihre stärkere Gewichtung, nicht aber ihren absoluten Vorrang vor Belangen der
Sozialzone. Sehr gewichtige oder zahlenmäßig große Interessen der Sozialzone können
sich gegenüber Belangen der Relativzone durchsetzen.
Allerdings ist im Falle eines Vorrangs von Belangen der Sozialzone gegenüber solchen
der Relativzone bei einer kategorischen Verpflichtung eines Mitglieds der Gemeinschaft
notwendig das EinstimmigÂ�keitsprinzip nicht erfüllt, sonst bestünde kein Konflikt. Das
heißt, die Konstitution der Belange der Sozialzone unterfällt in jedem Fall bestimmten,
vom normativen Individualismus geforderten Restriktionen. Aus diesem Grund wird man
annehmen müssen, dass sich nur wenig graÂ�vieÂ�rende und sehr sektorale Beschränkungen
12. Die Hierarchie der Prinzipien 243

der Belange der Relativzone durch Belange der Sozialzone rechtfertigen lassen, und zwar
nur solche, bei denen die VerbesÂ�seÂ�rung für die GeÂ�meinÂ�schaft erheblich ist und die Betrof-
fenen zumutbare MöglichÂ�keiten des Ausweichens behalten. Dabei spielen für die BeurÂ�
teiÂ�lung der Frage, welche EinÂ�schränkungen gravierend sind, die empirisch feststellbaren
Gewohnheiten und Le�bens�formen in einer bestimmten Gemeinschaft eine nicht uner-
hebliche Rolle. Die soeben anÂ�geführten Beispiele genügen meiner Ansicht nach prinzipiell
diesen ErÂ�forÂ�derÂ�Â�nisÂ�sen, was allerdings natürlich jeweils näher zu begründen wäre. Nicht
legitim wäre dagegen die Einschränkung von Belangen der Relativzone durch die gemein-
schaftliche Entscheidung für eine totalitaristische Lebensform, die AndersÂ�denkende in al-
len möglichen Lebensbereichen massiv restringiert, zum Beispiel privat, kulturell, religiös,
beruflich, ökonomisch, medial usw. Die moralistische, religiöse, miliÂ�taÂ�ristiÂ�sche, aber auch
ökonomistische, masÂ�senmediale oder automobilistische EinÂ�heitsgesellschaft ist ohne die
freie Zustimmung aller ihrer Mitglieder nicht zu rechtfertigen.
EigentÂ�lich problematisch sind die Zwischenformen zwischen zulässigen, lediglich periÂ�
pheÂ�Â�renâ•›/â•›sektoralen und unzulässigen totalitären Gemeinschaftskonzeptionen. Hier müsÂ�Â�sen
die MehrÂ�heitsverhältnisse bei der Abwägung berücksichtigt werden. Eine MinÂ�derÂ�Â�Â�heit oder
kleine Mehr�heit darf Andersdenkenden keine bestimmte Lebensform auf�zwingen, die ei-
nigermaßen geÂ�wichtige Individualinteressen der Relativzone abÂ�schneiÂ�Â�det. Je gravierender
die Beschränkung, desto größer muss die Mehrheit sein. Die EtaÂ�Â�bÂ�lierung etwa einer ge-
mäßigt religiösen Gemeinschaft bedarf deshalb der Zustimmung mit großer qualiÂ�Â�fizierter
Mehrheit. Dabei wird man wenigstens die Erfüllung folgender sechs Bedingungen erwar-
ten müssen: (1) Absoluter Schutz der Belange der IndiÂ�vidualzone, (2) keine vollständige
Aufhe�bung der Belange An�dersdenkender in der Relativ�zone, (3) nur Zulassung unab-
dingbar notÂ�wendiger Einschränkungen, (4) vollständiger Ausschluss physischen Zwangs,
(5) praktisch keine Limitation der Handlungen in privaten RäuÂ�men, (6) Bewahrung von
Bereichen, in denen man auch andere Lebensformen praktizieren kann, also zum Beispiel
Orte ohne Missionierung, Autoverkehr, mediale Beeinflussung, etwa „Public Viewing“.
Zum Abschluss dieses Kapitels soll die Frage gestellt werden, warum die Sperrwir-
kung der Interessen der Individualzone und der Relativzone unterschiedlich ausfällt. Wa-
rum entfalten also die Belange der Individualzone gegenüber den Belangen der anderen
Zonen in der Abwägung eine absolute Sperrwirkung, während dies bei Belangen der
Relativzone gegenÂ�über solchen der Sozialzone nicht der Fall ist? Die Antwort wurde oben
schon vorformuliert: Leben, Leib, Geist und Psyche des Menschen konstituieren sein Ich
als Individuum, während alle Belange jenseits der symbolischen Körpergrenze nur mehr
oder minder wichtige Aspekte seines äußeren Handelns darstellen.

12. Die Hierarchie der Prinzipien

Die Hierarchie der diskutierten Prinzipien lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:


Als abstraktestes, wenn auch im Wesentlichen nur die Elemente 1–4 der normativen
Ethik wiedergebendes und damit für die inhaltliche Abwägung nicht signifikantes Prin-
zip hatte sich im Abschnitt 1. das Zustimmungs- bzw. Vertragsprinzip ergeben. Als zen-
244 V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

trales Prinzip der inhaltlichen Abwägung erwies sich dagegen das Prinzip der relativen
Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit der Individualbelange. Noch
konkreter und für spezifischere Interessenwiderstreite in bestimmten Konstellationen
einschlägig zeigten sich dann die weiteren diskutierten Prinzipien, also das Verallgemei-
nerungsprinzip, das Maximierungsprinzip, das Gleichheitsprinzip, das Genügensprinzip,
das Paretoprinzip usw. Keines der Prinzipien auf den beiden konkreteren Hierarchieebe-
nen lässt sich strikt deduktiv aus einem der beiden höherrangigen Prinzipien ableiten.
Sie müssen sich vielmehr auch selbständig als gerechtfertigte Konkretionen des Grund-
prinzips des normativen Individualismus und der weiteren Elemente einer adäquaten
normativen Ethik erweisen. Aber durch jedes der abstrakteren Prinzipien wird der Raum
für die Konkretisierung der bestimmteren Prinzipien verengt und strukturiert:

Prinzip des normativen Individualismus

Zustimmungs- / Vertragsprinzip

Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit der Belange

Verallgemeinerung Maximierung Gleichheit Genügen Pareto Aufopferung Maximin Utilex


VI. Metaethik:
individualistisch-objektivistische Kohärenz

Soll die „Metaethik“ wirklich Metaethik, also die auf einer sekundären Reflexionsebene
angesiedelte Untersuchung der ontologischen, erkenntnistheoretischen und sprachli-
chen Eigenschaften der Ethik und ihrer Erkenntnisobjekte sein, so muss sie diesen Ge-
genstand ernst nehmen. Sie darf also ihre basalen Fragen nicht unabhängig von diesem
Gegenstand zu klären versuchen, sondern muss sich sorgfältig auf ihn beziehen.1 Dabei
wird im Folgenden nur der allerdings wohl wichtigere Teil der Metaethik thematisiert,
das heißt derjenige, der sich auf die normative Ethik im engeren Sinn des Objektbezugs
richtet, also auf die normative Ethik der kategorischen primären Normordnungen, so-
mit der Moral, des Rechts, der Religion, der Erziehung und der Politik, nicht aber der
bloß hypothetischen Normordnungen wie der Technik, der Medizin, der Konventionen
und der Ratschläge des guten Lebens.
Die grundlegende Frage der Metaethik lautet, ob die normative Ethik bezüglich die-
ser kategorischen primären Normordnungen wahrheits- oder zumindest richtigkeitsfähig
sein kann, das heißt, ob sie Überzeugungen bzw. (Wert-)Urteile formulieren kann, welche
diese primären Normordnungen objektiv bewerten und kritisieren bzw. rechtfertigen
(Kognitivismus, Objektivismus) oder nicht (Nichtkognitivismus, Subjektivismus mit
den Alternativen des Expressivismus, Emotivismus und Evokationismus). Bejaht man die
Möglichkeit objektiver normativer Überzeugungen bzw. Urteile in der Ethik, so erhebt
sich die weitere Frage, ob sich diese normativen Überzeugungen umfassend sowie norma-
tiv-entscheidend auf Tatsachen beziehen (Realismus) oder nicht (Nichtrealismus).2 Folgt
man der ersten Alternative und glaubt man an die Möglichkeit eines umfassenden sowie
entscheidenden Bezugs normativ-ethischer Überzeugungen bzw. (Wert-)Urteile auf Tat-
sachen, so ergibt sich das Problem der Art dieser Tatsachen, ob es sich also um natürliche
Tatsachen handelt (Naturalismus) oder nichtnatürliche, besondere moralische bzw. ethische

1 Moores Methode einer abstrakten Analyse des Worts bzw. Begriffs „gut“ (George E. Moore, Principia
Ethica, Cambridge 1903) erscheint vor diesem Hintergrund fragwürdig. „Gut“ kann als umfassendste
Bewertung in allen möglichen, also auch nichtethischen Kontexten verwendet werden (vgl. Kapitel€IV,
4). Sein Wortsinn hängt von der Einbettung des Sprechakts ab.
2 Gelegentlich werden Kognitivismusâ•›/â•›Objektivismus und Realismus gleichgesetzt, so etwa bei Christoph
Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, S.€196â•›ff., 201â•›ff. (Er spricht von einem „minima-
len Realismus“.) Aber das ist zweifelhaft, denn auf diese Weise werden epistemologische und ontologische
Fragen nicht klar getrennt und grundsätzlich unterschiedliche Positionen unter einer Kategorie gefasst.
Im Übrigen ist nicht ersichtlich, warum eine Kategorie zwei Namen haben soll. Halbig selbst will dann
auf den S.€207–212 im Widerspruch zu seinen vorigen Aussagen den Begriff des Realismus auf morali-
sche Tatsachen beschränken.
246 VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz

Tatsachen (NichtÂ�naturaÂ�lisÂ�mus). Im Rahmen eines eventuellen Naturalismus lässt sich


dann weiter dahingehend differenzieren, ob sich die Tatsachen auf natürliche Tatsachen
reduzieren lassen (Reduktionismus) oder nicht reduzieren lassen (Nichtreduktionismus).3
Hält man normativ-ethische Urteile für objektiv, vertritt man also einen Objektivismus
bzw. Kognitivismus, glaubt man aber nicht an die Möglichkeit eines umfassenden sowie
entscheidenden Bezugs normativ-ethischer Überzeugungen bzw. Urteile auf Tatsachen, so
stellt sich die Frage, wie die Objektivität der normativ-ethischen Urteile ohne einen Tatsa-
chenbezug erzeugt bzw. gesichert werden kann. Denkbar ist insofern eine Stützung auf ab-
strakte Prinzipien (Rationalismus im engeren Sinn), konkrete Intuitionen (Intuitionismus)
oder die Einpassung in unser Netz allgemeiner Überzeugungen (Kohärentismus).

Normative Ethik (wahrheits-


bzw. richtigkeitsfähig?)

Kognitivismus / Objek- Nichtkognitivismus /


tivismus (ja, warum?) Subjektivismus (nein)

Realismus (Bezug auf Emoti- Expressi- Evokatio-


Tatsachen, welche?) vismus vismus nismus

Naturalismus Nicht- Nichtrealismus


(natürliche T.) naturalismus (aus anderen Gründen)

Reduktionis- Nichtre- Kohären- Rationalis- Intuitionis-


mus duktionismus tismus mus i. e. S. mus

Jede dieser Entscheidungen hängt selbstredend wesentlich vom Verständnis der jeweils
zur Differenzierung herangezogenen Begriffe ab, also von den Begriffen der Wahrheit
bzw. Richtigkeit und Objektivität, der Tatsache, des Natürlichen und der Reduktion. Dabei
fällt auf, dass die Klarheit und Eindeutigkeit dieser Begriffe in dieser Abfolge zunimmt.

3 Vgl. zum Beispiel Alexander Miller, An Introduction to Contemporary Metaethics, Oxford 2003, S.€8 und
passim; Mark Timmons, Morality without Foundations. A Defence of Ethical Contextualism, S.€3╛ff.
VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz 247

Während man die Reduktion als Möglichkeit einer Identifizierung noch einigermaßen
bestimmen kann, wird dies bei der Natürlichkeit schon viel schwieriger. Man mag sie
aber immerhin noch als Fähigkeit zur kausalen Verursachung oder als sinnliche Erkenn-
barkeit verstehen.4 Was nun aber eine Tatsache und was gar Wahrheit bzw. Objektivität
ist, ist sowohl im Alltagsverständnis als auch in der Philosophie vollkommen unklar und
umstritten.5 Die Begriffe sind so abstrakt und damit kontext- bzw. theorieabhängig,
dass es wenig aussichtsreich erscheint, sie von vornherein klar abzugrenzen. Hier kann
nur ein kurzer tentativer Präzisierungsvorschlag folgen:
Tatsachen lassen sich zum einen als Verbindung von Dingen und Eigenschaften bzw.
Relationen verstehen. Tatsachen sind zum anderen nicht nur möglich, sondern im Ge-
gensatz zu bloßen Sachverhalten immer auch wirklich. Beide Voraussetzungen bestehen
nicht alternativ, sondern kumulativ.6
Wahrheit kann sowohl in der Korrespondenz von Überzeugung bzw. Urteil und Re-
alität als auch in der Kohärenz mehrerer Überzeugungen liegen. Bei komplexeren Über-
zeugungen wie etwa ganzen Theorien oder sogar Weltbildern wird man jenseits der Logik
und Mathematik annehmen müssen, dass beide Aspekte wenigstens bis zu einem gewissen
Grade verwirklicht sein müssen, um sie als wahr ansehen zu können. Überzeugungen
können sich auch auf das Nichtbestehen und die bloße Möglichkeit von Tatsachen bezie-
hen. Sie setzen also anders als Tatsachen keine Wirklichkeit voraus.
Richtigkeit erfordert keine Korrespondenz zwischen Überzeugungen und einer Rea-
lität, sei es in Form des Bestehens, des Nichtbestehens oder der Möglichkeit von Tatsa-
chen. Die Lösung einer mathematischen Gleichung kann man etwa als richtig ansehen,
ohne damit ein Urteil über die Korrespondenz dieser Lösung mit einer Realität auszu-
sprechen (diese Einschätzung hängt selbstredend von der Philosophie der Mathematik
ab). Die Richtigkeit beschränkt sich also auf die Kohärenz mehrerer Überzeugungen.
Wie die Wahrheit setzt aber auch die Richtigkeit voraus, dass diese Kohärenz nicht be-
liebig, das heißt kontingent ist.
Wie sind nun die metaethischen Fragen an die normative Ethik zu beantworten?
Zunächst gilt, dass, wie in der Einleitung vorgeschlagen, zwischen dem Gegenstand der
normativen Ethik im vorläufigen und im endgültigen Sinn differenziert werden muss.
Gegenstand der Ethik im vorläufigen Sinn waren zunächst einmal die primären Norm-
ordnungen der Moral, des Rechts, der Religion, der Erziehung, der Politik usw. Bei diesen
Gegenständen handelt es sich ohne Zweifel um Tatsachen, die mittels wahrheitsfähiger
Urteile erfasst werden können. Wir beschreiben etwa die Moral, das Recht oder die Poli-
tik in einer Gesellschaft und wir gehen davon aus, dass diese Beschreibungen wahr oder
falsch sein können. Insofern besteht im Hinblick auf eine deskriptive Ethik kein Zweifel,
dass sie als kognitive und realistische möglich ist. Für die normative Ethik galt aber nicht

4 Alexander Miller, An Introduction to Contemporary Metaethics, S.€11, verbindet ohne weitere Diskus-
sion oder Begründung beide Möglichkeiten. Er versucht allerdings nirgendwo zu bestimmen, was eine
Tatsache oder Wahrheit sein kann.
5 Vgl. zur Frage der Wahrheit: Wolfgang Künne, Conceptions of Truth, Oxford 2003.
6 Vgl. zum Begriff der Tatsache: Wilhelm Halbfassâ•›/â•›Peter Simons, Artikel „Tatsache“, in: Joachim Ritterâ•›/â•›KarlÂ�
fried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Darmstadt 1998, Sp.€910–916.
248 VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz

der vorläufige Gegenstandsbegriff, der sich auf die primären Normordnungen beschränk-
te, sondern der endgültige Gegenstandsbegriff, der auch die Relation zwischen primären
Nor�men�ordnungen und ihrer Bewertung sowie Kritik und Rechtfertigung umfasste.
Nun ist eine Bewertung sowie eine Kritik und Rechtfertigung als Sprechakt natür-
lich auch eine Tatsache. Und sofern sie sich als Tatsache auf die primären Normord-
nungen bezieht, ist sie wiederum Gegenstand der deskriptiven Ethik. Die deskriptive
Ethik kann etwa die tatsächliche Kritik an der herrschenden Moral in einer Gesellschaft
beschreiben, zum Beispiel die Kritik des Schriftstellers Karl Kraus an der herrschenden
Moral zu Beginn des 20.€Jahrhunderts.
Die normative Ethik ist dagegen dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nicht nur de-
skriptiv auf die Tatsache der Bewertung und Verpflichtung sowie Kritik und Rechtferti-
gung an den primären Normordnungen bezieht, sondern normativ, das heißt sie bewertet
und verpflichtet, rechtfertigt und kritisiert die primären Normordnungen selbst. Damit
erhebt sich für die Metaethik bezüglich der normativen Ethik die Frage, ob diese Bewer-
tung und Verpflichtung sowie Kritik und Rechtfertigung seitens der normativen Ethik
gegenüber den primären Normordnungen ihrerseits objektiv bzw. realistisch sein kann.

1. Eine Analyse der fünf Elemente normativer Ethik

Die normative Ethik als Gegenstand der Metaethik ernst zu nehmen bedeutet, sie im
Hin�blick auf ihre normative Rechtfertigung und Kritik differenziert zu untersuchen.
Dies soll zunächst im Hinblick auf die hier vorgeschlagene Ethik des normativen Indivi-
dualismus bzw. der fünf Elemente geschehen. Man denke sich dazu folgendes Beispiel:
B überlegt, ob er C töten darf, um sein Geld zu rauben. A äußert gegenüber B:
„Du darfst den C nicht töten!“ oder „Man darf andere Menschen nicht töten, außer
in Notwehr oder Nothilfe!“ Ersteres ist eine singuläre kategorische Norm der Moral,
Zweiteres eine allgemeine kategorische Norm bzw. Regel der Moral, und zwar jeweils
eine heteronome Norm bzw. Regel. Denkbar wäre auch die autonome Fassung. B würde
sich dann sagen: „Ich darf den C nicht töten!“ oder „Man darf andere Menschen nicht
töten, außer in Notwehr oder Nothilfe!“
B kann dann entweder an A oder an sich selbst mit Bezug auf all diese Verbote die
Frage stellen: „Warum darf ich das nicht?“ Sofern die Antwort ein gewisses Maß an
Vernünftigkeit und damit Begründungskraft erreicht, handelt es sich um eine solche der
normativen Ethik. Die in dieser Untersuchung vertretene Auffassung lautet: Die beste
Antwort und damit die beste normative Ethik muss zu einer Begründung der Norm
„Du darfst den C nicht töten!“ oder „Man darf andere Menschen nicht töten, außer in
Notwehr oder Nothilfe!“ fünf Elemente enthalten, die man wie folgt formulieren kann:
„…, weil:
(1) C wie Du ein Individuum ist und
(2) C wie Du Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, das heißt Belange bzw.
Interessen hat, also moralisch zu berücksichtigen ist, und den konkreten Wunsch
erkennen lässt, nicht getötet zu werden,
1. Eine Analyse der fünf Elemente normativer Ethik 249

(3) wobei sich dieser Wunsch des C auf alle sieben Aspekte Deiner in Frage stehenden
Handlung im weiteren Sinn richten kann, also Deinen Charakter, Deine Wünsche
und Überzeugungen, Deine Ziele, Deine Mittelwahl, Deinen konkreten Handlungs-
willen, die Ausführung Deiner Handlung und deren Konsequenzen, und in concreto
auch richtet,
(4) sich Deine hinter der geplanten Tötungshandlung stehenden konkreten Belange sowie
die konkreten Belange des C widersprechen, also eine Abwägung notwendig ist,
(5) welche nach dem Prinzip der relativen Individual-, Ander- und Gemeinschaftsab�
hänÂ�gigÂ�keit Eurer beider Belange den Belang des C, sein Leben zu erhalten, als sehr
wichtigen Belang der Individualzone höher gewichtet als Deinen allenfalls an der
Peripherie der Relativzone angesiedelten, relativ unwichtigen Belang, Cs Geld zu
erhalten und ihn dazu zu töten.“

Man kann nun bei jedem dieser fünf Begründungsschritte, das heißt Elementen der
ethischen Begründung nach seiner Qualifikation im Sinne der obigen Kategorien der
Metaethik fragen:
(1) Bei der Qualifikation der konkret beteiligten Wesen B und C als Individuen
handelt es sich um eine kognitiv beurteilbare Tatsache, die sinnlich wahrnehmbar und
kausal wirksam ist, also um eine natürliche Tatsache. Wir können empirisch feststellen,
ob etwas im biologischen Sinn ein Individuum oder ein Kollektiv ist. Dies gilt mit
gewissen Einschränkungen hinsichtlich der Natürlichkeit auch für den oben herangezo-
genen sozialen Begriff des Individuums.
(2) Bei der Qualifikation der konkret beteiligten Individuen B und C als Träger der
Eigenschaften von Zielen, Wünschen, Belangen und Strebungen und der konkreten Be-
stimmung dieser Belange handelt es sich ebenfalls um eine kognitiv beurteilbare Tatsa-
che, die sinnlich wahrnehmbar und kausal wirksam ist, also um eine natürliche Tatsache.
Im Falle von Zielen und Wünschen haben diese Eigenschaften aber zusätzlich eine sinn-
hafte Komponente, die adäquat nur durch eine Form des sinnhaften, das heißt geistigen
Verstehens wahrnehmbar ist. Dies schließt die Natürlichkeit der Belange aber nicht aus,
sondern ist nur eine zusätzliche Möglichkeit, komplexere, mental bestimmte Belange
jenseits bloßer Strebungen und Bedürfnisse zu erkennen. Es ist möglich, dass Wünsche
und Ziele von natürlichen mentalen Eigenschaften abhängen.
(3) Bei der Qualifikation, worauf sich die Belange des C richten, handelt es sich
schließlich ebenfalls um eine kognitiv beurteilbare Tatsache, die sinnlich wahrnehmbar
und kausal wirksam ist, also eine natürliche Tatsache. Die Ziele und Wünsche sind
darüber hinaus aber nur adäquat durch sinnhaftes Verstehen wahrnehmbar. Wie beim
Element (2) schließt das aber die Natürlichkeit der Belange nicht aus, sondern stellt nur
eine zusätzliche Möglichkeit der Erkenntnis dar.
(4) Bei der Bestimmung eines Widerspruchs zwischen den in Rede stehenden Be-
langen, der eine Abwägung notwendig macht, handelt es sich um ein kognitives Urteil,
das wahrheitsfähig ist, weil sich derartige wahrheitsfähige Urteile auch auf die Modal-
kategorien und das Nichtbestehen von Tatsachen beziehen können. Aber fraglich ist, ob
darin auch eine Tatsache liegt, und wenn ja, ob diese natürlich ist.
250 VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz

(5) Bei der Abwägung bzw. Zusammenfassung der im Widerspruch stehenden Belange
ist schon fraglich, ob es sich um ein kognitives Urteil handelt, das wahrheits- oder zu-
mindest richtigkeitsfähig ist. Noch zweifelhafter ist die Qualifikation dieser Abwägung
als Tatsache bzw., falls diese bejaht wird, ihre Natürlichkeit.
Die Zweifel betreffen also die Elemente (4) und (5) der normativen Ethik, vor allem
das Element (5). Sie sollen nun detaillierter erörtert werden:
Bei der Bestimmung eines Widerspruchs zwischen den in Rede stehenden Belangen,
der eine Abwägung notwendig macht, handelt es sich€ – so hatte sich ergeben€ – um
ein kognitives Urteil, das wahrheitsfähig ist, weil sich derartige wahrheitsfähige Urteile
auch auf die Modalkategorien und das Nichtbestehen von Tatsachen beziehen können
(Element (4)).
Fraglich ist nun, ob darin auch eine Tatsachenbehauptung liegt. Tatsachen sind€– so
wurde angenommen€– zum einen nicht bloß möglich, sondern wirklich. Sie bestehen zum
anderen aus Dingen und Eigenschaften bzw. Relationen. Beide Voraussetzungen müssen
kumulativ vorliegen. Fraglich ist, ob dies beim Element (4) bejaht werden kann.
Ein Tatsachenurteil wäre sicher zu bejahen, wenn der angenommene Status der Not-
wendigkeit ein solcher der Notwendigkeit im herkömmlichen modalen Sinne wäre, denn
dann würde diese Notwendigkeit auch die Wirklichkeit implizieren. Dies wurde oben bei
der Diskussion des Elements (4) verneint. Die Notwendigkeit ist vielmehr keine modale
im ontologisch-logischen Sinn, sondern nur eine praktische. Diese praktische Notwen-
digkeit impliziert keine Wirklichkeit. Sie setzt vielmehr sogar eine noch nicht bestehende
Wirklichkeit voraus. Denn ist eine Abwägung zwischen den potentiell widerstreitenden
Belangen bereits wirklich, so ist keine praktische Notwendigkeit im Sinne einer norma-
tiven Ethik mehr erforderlich. Damit kann der ethischen Abwägung abgesehen von der
praktischen Notwendigkeit nur der modale Status der Möglichkeit zukommen. Dieser
genügt aber nicht, um sie als Tatsache zu qualifizieren.
Fraglich ist weiterhin, ob das Element (4) aus Dingen und Eigenschaften bzw. Re-
lationen besteht. Das Bestehen eines bestimmten Belangs bei einem betroffenen Indi-
viduum ist eine Tatsache. Diese Tatsache kann als Quasi-Ding durch Relationen mit
anderen Tatsachen zu Tatsachen höherer Stufe verbunden sein. Ein möglicher Wider-
streit der Belange wäre eine solche Relation. Allerdings handelt es sich nur um eine
Möglichkeitsrelation, da der Widerstreit ja nur möglich sein muss. Wegen des ersten
Erfordernisses, dass Tatsachen immer wirklich zu sein haben, wird man derartige Mög-
lichkeitsrelationen aber nicht als ausreichend ansehen können.
Das Gesamtergebnis zum Element (4) lautet also, dass es sich bei seinem Bezug
nicht um eine Tatsache handelt, sondern lediglich um den Inhalt einer kognitiven
Überzeugung, der sich nur auf eine Möglichkeit und eine praktische Notwendigkeit
bezieht. Hier zeigt sich bereits der in der Einleitung postulierte Möglichkeitscharakter
bzw. idealische Charakter der Ethik. Ein Realismus kann beim Element (4) also nicht
angenommen werden.
Bei der Abwägung selbst bzw. ihrem Inhalt, also dem Element (5) der hier vorgeschla-
genen normativen Ethik, ist schließlich schon fraglich, ob es sich überhaupt um einen
möglichen Inhalt einer kognitiven Überzeugung oder eines kognitiven Urteils handelt.
1. Eine Analyse der fünf Elemente normativer Ethik 251

Wird hier Wahrheit bzw. Richtigkeit, das heißt Objektivität behauptet? Fest steht, dass
wir im Rahmen unserer Alltagsüberzeugung davon ausgehen, dass wir mit Behauptungen
wie der des A „B darf den C nicht töten, weil Bs Leben wichtiger als Geld ist“ zumindest
eine richtigkeitsfähige, wenn nicht sogar eine wahrheitsfähige Überzeugung aussprechen.
B könnte etwa entgegnen: „Ich darf den C aber töten, wenn er mich angreift und ich
mich in Notwehr nicht anders zu wehren vermag.“ A würde sich dann in den meisten
Fällen überzeugen lassen, dass unter der speziellen Bedingung der Notwehr die Tötung
des C als ultima ratio zulässig ist. Aber was macht hier die Richtigkeit bzw. Wahrheit ei-
ner entsprechenden Überzeugung bzw. eines entsprechenden Urteils wie „Ich darf den C
töten, wenn er mich angreift und ich mich in Notwehr nicht anders zu wehren vermag“
aus? Wie lässt sich diese von uns allen regelmäßig im Alltag angenommene Richtigkeit
ethischer Begründungen verstehen? Da der erste Teil dieses Satzes die begründungsbe-
dürftige moralische Erlaubnis behauptet, kann er nicht dafür verantwortlich sein. Allen-
falls der zweite Teil der Begründung kommt dafür in Frage. Diese Begründung enthält
zwar einen Verweis auf eine empirische Tatsache („wenn er mich angreift“), aber der Kern
der Begründung liegt ohne Zweifel in der wertenden bzw. abwägenden Annahme, dass
die zur Verteidigung erforderliche Notwehr die Tötung rechtfertigt. Die Gesamtbegrün-
dung bezieht sich somit nicht auf eine empirische Tatsache. Es handelt sich also nicht
um eine empirische Wahrheit. Auch eine logische oder mathematische Tatsache liegt
nicht vor. Damit scheidet ein Realismus aus, will man nicht ad hoc und dogmatisch die
Existenz „moralischer Tatsachen“ behaupten. Übrig bleibt nach der obigen Einteilung
somit nur ein nichtrealistischer Kognitivismus mit seinen Alternativen des Intuitionismus,
Rationalismus und Kohärentismus.
Eine apriorisch-intuitive Wahrheit praktischer Tatsachen ist nicht ersichtlich. Der
Intuitionismus ist als metaethische Theorie zweifelhaft, weil es keine isolierten (norma-
tiven) Überzeugungen gibt, die nicht in bestimmten Situationen zu anderen (norma-
tiven) Überzeugungen in Widerspruch geraten können.7 In einzelnen Äußerungskon-
texten werden verschiedene normative Überzeugungen simultan relevant, geraten in
Konflikt oder ergänzen sich, wobei die eine als ein Spezialfall der anderen erscheint.
Beide lassen sich unter eine dritte (allgemeinere) normative Überzeugung (eine Regel,
eine Gesetzmäßigkeit) subsumieren.
Die Bewertung bzw. Abwägung der Notwehr folgt auch nicht deduktiv-analytisch
aus einer anderen Bewertung oder Abwägung, die als Axiom zu akzeptieren wäre. Der
Rationalismus scheitert am Problem der Letztbegründung: Jede Begründung erfordert
wieder eine Begründung mit den drei gleichermaßen problematischen Alternativen des
dogmatischen Abbruchs, der Zirkularität oder der Fortsetzung ad infinitum.8
Worin kann eine mögliche Wahrheit bzw. Objektivität der Überzeugung bzw. des
Urteils dann bestehen? Gibt es neben der realistischen, der apriorisch-intuitiven und der
rationalistisch-deduktiven Wahrheit bzw. Richtigkeit noch eine andere Form der Wahr-
heit bzw. Richtigkeit? Übrig bleibt nach dem bisher Gesagten ein Kohärentismus, nach

7 Vgl. zu diesem Argument: Julian Nida-Rümelin, Vernunft und Freiheit, § 3, im Erscheinen.


8 Vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, 2.€Aufl. Tübingen 1969, S.€13â•›ff.
252 VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz

dem durch die Einfügung in unser Netz von Überzeugungen eine Begründung erfolgt.
Aber wie hat man sich das vorzustellen?

2. Eine Metaethik der individualistisch-objektivistischen Kohärenz

Dies soll zunächst mit Hilfe einer Analogie zu vier nichtethischen Phänomenen der
Lösung von Relationierungsproblemen erläutert werden:9
(1) Man kann zwei Geraden im zweidimensionalen euklidischen Raum zufällig an-
ordnen. Sind sie nicht parallel, so schneiden sie sich trotz der zufälligen Anordnung an
einem bestimmten, sicher ermittelbaren Punkt. Obwohl die Positionierung der Gera-
den also subjektiv und damit beliebig war, ist als Folge dieser Positionierung im zweidi-
mensionalen Raum ihr Verhältnis nicht beliebig. Es gibt nur eine objektive Antwort auf
die Frage nach dem Schnittpunkt beider Geraden.
(2) Man stelle sich die Züge zweier Spieler auf einem Schachbrett vor. Diese Züge
sind ganz beliebig und unvorhersehbar. Trotzdem ergibt sich durch jeden Zug aufs Neue
eine Stellung, bei der durch Analyse der noch vorhandenen Figuren und der Spielsitu-
ation eine relativ objektive Bewertung des Spielstands jedes Spielers ermittelt werden
kann. Die relative Objektivität dieser Spielstandsanalyse wird von kaum einem Schach-
spieler in Zweifel gezogen.
(3) Man denke sich einen Werkzeugkasten, der Schrauben und Muttern verschiede-
ner Stärke enthält. Verschiedene Schrauben und Muttern können zufällig bzw. beliebig
aus diesem Werkzeugkasten geholt werden. Hat man aber einmal eine Schraube heraus-
genommen, dann gibt es nur eine bestimmte und damit objektive Größe für eine zu der
Schraube passende Mutter. Und es gibt nur eine Art und Weise, Schraube und Mutter
zu verbinden. Auch wenn die Auswahl der Schrauben und Muttern also subjektiv ist, ist
doch ihre Passung und Zusammenfügung objektiv.
(4) Man denke sich den Organisator eines Skirennens, der die Tore am Abfahrts-
hang beliebig steckt. Trotz dieser Beliebigkeit der Platzierung der Tore kann man danach
unter Berücksichtigung ihrer Abstände, des Gefälles des Hangs, der Schneeverhältnisse
etc. eine sog. „Ideallinie“ der bestmöglichen Abfahrt bestimmen. Diese Ideallinie ist
nicht mehr subjektiv und beliebig, sondern wird als relativ objektiv angesehen, mag sie
auch vielleicht in Details Anlass zu Meinungsverschiedenheiten geben.

Ähnliches gilt nun in der normativen Ethik. Es mag sein, dass die Belange bzw. Interessen
der einzelnen in einer Situation betroffenen Individuen relativ subjektiv und beliebig

9 Vgl. zu ersten Ansätzen bzw. Formulierungen dieses metaethischen Vorschlags: Verf., Ökologische Ethik.
Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, S.€ 204–211; Verf., Rechtsethische
Rechtfertigung€– material oder prozedural? in: Lorenz Schulz (Hg.), Verantwortung zwischen materialer
und prozeduraler Zurechnung, Stuttgart 2000, S.€17–44; Verf., Rechtsethik, S.€25–31; Verf., Für eine
Kohärenz normativer Überzeugungen ohne Fundierung in Konventionen, im Erscheinen. Am nächsten
steht der hier vertreten Position vielleicht die von Thomas Nagel, The View from Nowhere, Oxford
1986, S.€240╛ff.
2. Eine Metaethik der individualistisch-objektivistischen Kohärenz 253

ausfallen, wenn auch zumindest solche zentralen Interessen, wie Menschenwürde, Leben,
Leib, Gesundheit, psychische Unversehrtheit sehr einheitlich, das heißt überzeitlich und
übergesellschaftlich sind. Geraten diese Belange aber in einen potentiellen oder aktuellen
Konflikt zu anderen Belangen, dann gibt es wegen der Quasibeschränkung des ethischen
Raumes nur eine richtige, das heißt kohärenteste bzw. beste Lösung. Das bedeutet nicht,
dass diese beste Lösung keine Abwägung verlangt und damit keinen Unschärfebereich
enthält. Und es bedeutet auch nicht, dass diese beste Lösung nicht aus zwei oder mehre-
ren gleichwertigen Lösungsalternativen bestehen kann. Soll man etwa einen Ertrinkenden
retten, so mag die Rettung per Boot oder per Rettungsring bei Abwägung aller Chancen
und Risiken gleich erfolgversprechend und somit die Wahl zwischen diesen Alternativen
erlaubt sein. Aber es bleibt dabei, dass es eine oder mehrere relativ beste Lösungen für das
Problem der Relationierung der im Konflikt stehenden Belange bzw. Interessen gibt. Die
Rettung per Boot oder RettungsÂ�ring ist in jedem Fall eine bessere Abwägungslösung als
das Nichtstun. Es besteht also eine objektiv richtige Abwägung. Warum ist das so? Der
Grund ist ein dreifacher: Zum Ersten bestehen als Begrenzung zwei€– bzw. bei mehreren
Personen mehrere€– Extreme, nämlich die vollständige Befriedigung der Belange des ei-
nen Betroffenen oder die vollständige Befriedigung der Belange des anderen Betroffenen,
welche die Menge der möglichen Lösungen limitieren, nämlich auf diese beiden Extreme
und alle dazwischen liegenden Lösungen. Zum Zweiten ist das Ziel der bestmöglichen
Lösung des Widerstreits vorgegeben. Zum Dritten bestehen weitere Leitlinien für das
Finden der richtigen Lösung. Welche Leitlinien dies genauer sind, ist nicht mehr eine
Frage der Metaethik, sondern eine Frage der normativen Ethik, wie sie in den ersten fünf
Kapiteln dieses Buches entwickelt wurde.
Man kann überlegen, ob die beste Lösung des Problems der Relationierung wider-
streitender Belange eine bloß erkannte oder eine konstruierte ist, ob sie also eher einem
epistemologischen Kognitivismus oder einem Konstruktivismus folgt. Im Falle normativ-
ethischer Lösungen erscheint keine dieser beiden extremen Alternativen befriedigend.
Die beste Lösung wird weder bloß erkannt im Sinne einer sinnlichen Wahrnehmung,
wie wir eine empirische Tatsache erkennen, etwa den Stand der Sonne sehen, Musik hö-
ren oder die Temperatur der Luft fühlen, noch wird die beste Lösung bloß konstruiert,
so wie wir ab ovo eine neue Maschine zu beliebigen, frei gewählten Zwecken konstruie-
ren. Die Lösung wird vielmehr in notwendiger Verfolgung des vorgegebenen Ziels der
Vermittlung zwischen den jeweils konfligierenden Belangen nach bestimmten determi-
nierenden Regeln in die vorhandene Struktur der konkreten Situation eingepasst, so wie
ein Zahnarzt einen künstlichen Zahn in die Reihe der vorhandenen Zähne einpasst oder
wie ein Bobfahrer seinen Bob mit möglichst geringen Abweichungen auf der Ideallinie
zwischen den Banden der Bobbahn hält. Oder man kann auch sagen, die Lösung wird
„eingesehen“, „herausgefunden“ oder „gefunden“. Das Einpassen, Einsehen, Heraus-
finden bzw. Finden ist freier als ein bloß rezeptives Erkennen, aber weniger frei als
ein beliebig-produktives Konstruieren. Es vereint kognitiv-rezeptive und konstruktiv-
pro�duk�tive Elemente zu einer Art einpassendem Vorgang, der begrenzenden Extremen,
einem vorgegebenen Ziel und klaren Regeln der Lösung unterliegt. Das bedeutet, dass
es sich um eine Form nicht-beliebiger Kohärenzherstellung handelt, also eine Form der
254 VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz

Richtigkeit ethischer Überzeugungen. Insofern ist ein Kognitivismus bzw. Objektivis-


mus unserer ethischen Maßstäbe zu bejahen.
Woher resultiert dann die Normativität dieses objektivistischen Einpassens einer re-
lativ besten Lösung in den moralischen Widerstreit? Oder anders ausgedrückt: War-
um wird der Akteur durch die objektiv beste Lösung des moralischen Konflikts ethisch
verpflichtet? Warum soll er die moralische Norm als ethisch gerechtfertigt akzeptieren?
Die Normativität resultiert nach meiner Auffassung aus zwei Quellen, die sich nicht
voneinander trennen oder auf eine der beiden Quellen reduzieren lassen.
Die erste Quelle sind die tatsächlichen normativen Anforderungen, die alle anderen
Betroffenen der Handlung eines Akteurs entgegensetzen. Dies geschieht in Form von
Zielen, Wünschen, Bedürfnissen oder Strebungen, das heißt in begrifflicher Zusam-
menfassung, von Belangen bzw. Interessen.10 Wir sind also in unserem Handeln mora-
lisch bzw. rechtlich usw. limitiert, unter der Bedingung, dass Andere uns ihr Verlangen
nach Beschränkung bzw. zumindest Rechtfertigung unseres Handelns faktisch entge-
genhalten.11 Dabei ist es nicht notwendig, dass dieses Entgegenhalten verbal oder auch
nur kommunikativ geschieht. Es genügt, dass Andere ihre eigenen Belange als eigene
verfolgen und diese Belange zu den Belangen des Handelnden in einen möglichen Wi-
derspruch geraten können, um dem Handelnden die Beschränkung aufzuerlegen. Folg-
lich können uns auch höhere Tiere und vielleicht auch andere Lebewesen durch ihre
Belange in unserem Handeln limitieren.
Verfällt diese notwendige Berücksichtigung der Belange der Betroffenen der ein-
leuchtenden Kritik am Humeschen Fundamentalismus, wonach Wünsche im Zusam-
menhang mit Überzeugungen die einzige Quelle normativer Gründe sind?12 Dies ist aus
mehreren Gründen nicht der Fall: Erstens sind€– wie sich in Kapitel€II ergab€– nicht
allein Wünsche die Grundlagen der zu berücksichtigenden Belange bzw. Interessen,
sondern auch Ziele, Bedürfnisse und Strebungen. Zweitens ist keines dieser vier Ele-
mente, die Belange bzw. Interessen als abstraktere zusammenfassende Kategorie kon-
stituieren, notwendig eigenorientiert. Wir haben selbstverständlich altruistische und
gemeinschaftsorientierte Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, die im Rahmen
der ethischen Abwägung in gleicher Weise wie eigenorientierte Belange zu berücksich-
tigen sind. Drittens setzt die hier angenommene Notwendigkeit der Berücksichtigung
der Belange und damit der Wünsche als einer Form von Belangen nicht voraus, dass
wir nicht auch Gründe für diese Belange bzw. Wünsche haben bzw. haben können. Der
Verweis auf die Begründung von Wünschen stellt ein zentrales Gegenargument gegen

10 Zu Details dieser Kaskade vgl. Kapitel€II. Die Notwendigkeit einer Berücksichtigung der Belange mahnt
auch Uwe Czaniera an, in Kohärentistische Begründung der Moral. Eine neue Parallele zur Wissenschaft
und ihre Probleme, Zeitschrift für philosophische Forschung 54 (2000), S.€67–85, S.€80, 82, 84. Vorher
findet sich diese Forderung auch bei subjektivistischen Theoretikern wie etwa John L. Mackie, Ethics.
Inventing Right and Wrong.
11 Im Rahmen einer säkular-immanenten Ethik schließt dies die Annahme genuiner Pflichten gegen sich
selbst aus. Vgl. Kapitel€VIII.
12 Vgl. Julian Nida-Rümelin, Was ist ein praktischer Grund?, in: ders., Ethische Essays, Frankfurt a.M.
2002, S.€79–95.
2. Eine Metaethik der individualistisch-objektivistischen Kohärenz 255

den Humeschen Fundamentalismus der Wünsche dar.13 Offensichtlich haben wir für
manche Wünsche Gründe, für andere nicht, übrigens anders als bei Bedürfnissen und
Strebungen, für die es merkwürdig wäre, nach Gründen zu fragen. So haben wir etwa
Gründe für den Wunsch, dass jemand bestraft wird. Wir haben aber keinen Grund
für den Wunsch, jetzt ein Stück Schokolade zu essen, sondern eben nur den einfachen
Wunsch, der als Grund ausreicht, um eine Tafel Schokolode zu kaufen. Wichtig ist nun
aber Folgendes: Die Gründe, die wir für Wünsche haben, sind häufig intrasubjektiv-
praktische, aber keine intersubjektiv-moraÂ�liÂ�schen bzw. -ethischen, das heißt auf die
Lösung einer intersubjektiven Konfliktsituation bezogenen Gründe. Das aber hat zur
Folge, dass die Tatsache, dass wir praktische Gründe für diese Wünsche haben, nicht
ausschließt, die Berücksichtigung dieser Wünsche und damit auch diese praktischen
Gründe zu einer wesentlichen Bedingung für die intersubjektiv-ethische Begründung
ethischer Konfliktlösungen zu machen. Wenn ich etwa wünsche, dass mein Sohn nicht
zu laut tobt, habe ich dafür einen intrasubjektiv-praktischen Grund, nämlich das Be-
dürfnis, ungestört zu arbeiten. Dieser Grund ist aber per se noch kein intersubjektiv-
ethischer, konfliktlösender Grund, weil die Belange meines Sohnes bei ihm noch nicht
berücksichtigt sind. Die Konfliktlösung und damit ein intersubjektiv-ethischer Grund
ergeben sich erst dann, wenn auch der Wunsch meines Sohnes, zu toben, der seinem
altersgemäßen Bewegungsdrang entspringt, berücksichtigt wird. Die ethische Konflikt-
lösung und daraus resultierend ein ethischer Grund für beiderseitiges Handeln besteht
dann darin, uns beiden die Verfolgung unserer Bedürfnisse zu ermöglichen, indem wir
etwa beide unsere Zimmertüren schließen, so dass er in seinem Zimmer toben und ich
in meinem Zimmer arbeiten kann, oder€– sofern das nicht geht€– wir unseren Bedürf-
nissen bzw. Wünschen jeweils zu unterschiedlichen Zeiten Rechnung tragen.
Nun mag es aber auch Wünsche geben, deren Begründung tatsächlich in einem
intersubjektiv-ethischen Grund liegt oder zumindest liegen kann. Julian Nida-Rüme-
lin gibt für das Beispiel des Wunsches, dass eine bestimmte Person bestraft wird, etwa
folgenden Grund an: Dies gebiete die Gerechtigkeit.14 Schließt dieser intersubjektiv-
ethische Grund die Annahme aus, dass Wünsche Anteil an der Begründung normati-
ver Überzeugungen haben? Nein, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen sind solche
Begründungen offenbar relativ selten, da es sich vor allem um Wünsche handelt, die
auf das Handeln Anderer gegenüber Dritten gerichtet sind und deshalb quasi implizit
bereits eine ethische Konfliktlösung im Verhältnis zu diesen Dritten vorschlagen. Zum
anderen kann jeder spezifische Wunsch als subjektive Manifestation der Haltung einer
spezifischen Person in einer bestimmten Konfliktsituation für eine andere Frage der
Ethik relevant werden. So mag etwa die Staatsanwaltschaft im vorliegenden Fall aus
Gründen der Billigkeit wegen geringer Schuld eine Einstellung des Verfahrens erwägen.
Der Wunsch nach Bestrafung wird hier für die Staatsanwaltschaft trotz der ethischen Be-
gründung mit Rekurs auf die Gerechtigkeit für die Abwägung mit dem Gesichtspunkt

13 So der zentrale Einwand Julian Nida-Rümelins gegen die humeanische Theorie. Vgl. Was ist ein prakti-
scher Grund?, S.€82; ders., Strukturelle Rationalität, S.€24â•›ff.
14 Ebenda.
256 VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz

der Billigkeit relevant sein, etwa wenn der Wünschende selbst Opfer der Straftat war.
Die Tatsache, dass Wünsche durch dieselbe allgemeine Kategorie der ethischen Gründe
gerechtfertigt werden können, schließt also nicht aus, sie als wesentliche Bedingung für
einzelne ethische Konfliktlösungen anzusehen. Dies gilt zumindest, sofern es in dem
Konflikt nicht genau um die Frage geht, welche die konkrete Begründung des Wunsches
beantwortet. Lediglich wenn nicht die Billigkeit der Bestrafung im Konflikt steht, son-
dern die Gerechtigkeit von Strafe schlechthin, kann in unserem Beispiel die Berufung
auf die Gerechtigkeit natürlich kein guter Grund für den Wunsch nach Bestrafung sein.
Aber dieser Spezialfall der Identität von Begründung und Konfliktgegenstand ist nur ein
singuläres argumentatives Hindernis, schließt die generelle Kompatibilität der Begrün-
dung von Wünschen mit ihrer normativ-ethischen Signifikanz jedoch nicht aus.
Die Entgegensetzung der Belange Anderer erzeugt für den Handelnden eine Form
von Normativität.15 Aber diese Normativität ist natürlich zunächst nur eine subjektive,
die allein noch nicht zu einer inhaltlich-objektiven, ethischen Normativität zur Lösung
des moralischen Konflikts führt, denn bei den Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und
Strebungen des Anderen kann es sich ja um ganz verwerfliche handeln. Geht zum Bei-
spiel jemand spazieren und ein Räuber überfällt ihn, um ihn auszurauben, so sind die
Ziele bzw. Wünsche des Räubers für den Spaziergänger zwar subjektiv-faktisch limitie-
rend, natürlich aber nicht objektiv-ethisch verpflichtend.
Die Belange bzw. Interessen des Anderen können aus ihrer subjektiven Normativität
nur zu einer objektiven und damit für den Handelnden ethisch und dann auch mora-
lisch bzw. rechtlich verbindlichen Normativität erwachsen, wenn sie als ein Element der
Relationierung bzw. Abwägung mit den Belangen des Handelnden in Ausgleich gebracht
wurden. Darin liegt der soeben als Einpassung beschriebene Vorgang der Relationierung
bzw. Abwägung. Er ist die zweite notwendige und von der ersten untrennbare Quelle
objektiver Normativität. Wie die Einpassung, das heißt die Relationierung bzw. Ab-
wägung konkret vonstattenzugehen hat, ist keine Frage der Metaethik mehr, sondern
eine solche der Konfliktlösung im Alltag einerseits und der normativen Ethik als deren
rechtfertigender Rationalisierung andererseits.
Worin unterscheidet sich die hier vorgeschlagene metaethische Position von einer
subjektivistischen Metaethik? Sie unterscheidet sich darin, dass die Belange bzw. Inter�
essen zwar eine notwendige Bedingung für die objektive ethische Lösung darstellen,
diese Lösung sich aber nicht in den Belangen erschöpft oder auch nur auf diese Belange
logisch oder quasilogisch rückführbar ist. Die Belange bzw. Interessen liefern zwar eine
notwendige inhaltliche Determination und einen notwendigen Ausgangspunkt subjek-
tiv-faktischer Normativität, über denen die Abwägungslösung superveniert. Aber aus
dieser inhaltlichen Determination und dieser subjektiv-faktischen Normativität allein
kann mit Rekurs auf den je einzelnen Belang weder direkt noch im Wege eines fakti-
schen oder hypothetischen Vertrags oder im Rahmen der Durchführung eines Diskurses
die ethisch beste Lösung des Konflikts abgeleitet oder begründet werden. Wir müssen

15 Dies bestreitet entgegen aller natürlichen Wahrnehmung in der Realität: Peter Stemmer, Normativität.
Eine ontologische Untersuchung, Berlin 2008.
2. Eine Metaethik der individualistisch-objektivistischen Kohärenz 257

vielmehr eine vernünftige Relationierung bzw. Abwägung in den Konflikt einpassen, die
ihrerseits bestimmten Beschränkungen, Zielen und Prinzipien, vor allem dem Prinzip
des normativen Individualismus gehorcht.
Wird damit eine „prozeduralistische“ Ethik vorgeschlagen? Nein, denn die wesentli-
chen Konstitutionsbedingungen für die Lösung sind mit den widerstreitenden Belangen,
dem notwendigen Ziel und den Regeln zur Lösungsfindung nicht Teil oder Ergebnis
einer Prozedur. Das „Einpassen“ ist eine Handlung, die zwar über ein bloßes Erkennen
im Sinne eines „Sehens“ hinausgeht, aber schon als „Einsehen“ oder „Finden“ richtig
charakterisiert ist. Dafür können natürlich Prozeduren als Mittel wichtig und nützlich
sein, etwa das Befragen und Anhören des Anderen durch den Akteur oder des Anderen
und des Akteurs durch einen Mediator oder auch die Diskussion über eine beste Lösung.
Aber diese Prozeduren haben nur instrumentellen Charakter.
Mit der These der notwendigen Berücksichtigung Anderer mit ihren Belangen in
Moral, Recht und Ethik sind sowohl ein psychologischer als auch ein ethischer Egois-
mus und damit zwei Formen des ethischen Skeptizismus ausgeschlossen. Ausgeschlos-
sen ist aber auch eine Reduktion der allgemeinen Ethik auf eine libertäre Vertragstheorie
rationaler Individuen à la Hobbes, Nozick oder Gauthier. Diese Theorien entsprechen
von vornherein nicht unserem Verständnis von Moral und Recht als tatsächlich beste-
henden, Andere nicht nur rein instrumentell behandelnden, sondern zwar kategorisch
verpflichtenden, aber in ihrer Autonomie als letzte Recht�fertigungs�quelle achtenden
Normordnungen.
Jedes Kind lernt schon sehr früh den objektivierenden Vorgang der Abwägung bzw.
Relationierung widerstreitender Belange, zumindest dann, wenn seine eigenen Belange
nicht immer vollkommen missachtet oder immer vollkommen verwirklicht werden. Die
Fähigkeit der Abwägung ist im Übrigen für alle politischen und rechtlichen Instanzen
wesentlich, etwa die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtsprechung.
Mit dem objektiven Einpassen der besten Lösung in den moralischen Konflikt ist
auch eine Antwort auf die Frage nach der Rechtfertigung der kategorischen Verpflich-
tung durch Normordnungen wie Moral, Recht, Politik, Religion und Erziehung gege-
ben. Die objektiv beste Lösung ist in ihrer Objektivität nicht von der Zustimmung des
Handelnden abhängig. Droht nun aber die Gefahr eines nicht nur marginalen Kon-
flikts, so muss eine Lösung gefunden werden. Da keine Lösung besser begründbar ist
als die objektiv beste Lösung, muss sich der Handelnde die kategorische Verpflichtung
gefallen lassen, sofern eine Mindestschwelle der Erheblichkeit überschritten ist, welche
es in der Abwägung rechtfertigt, die positiv zu bewertende Autonomie seiner Entschei-
dung gegenüber der objektiven Konfliktlösung zurückstehen zu lassen.
Mit dem objektiven Einpassen der besten Lösung in den moralischen Konflikt ist
schließlich auch eine Antwort auf die Frage nach der Motivation zur tatsächlichen Aus-
führung dieser besten Lösung gefunden. Der Versuch der Reduktion jeder möglichen
Motivation auf einen internen Impetus durch den Internalismus ist nicht überzeugend,
weil schlicht der Realität vielfältigster Motivationen im Alltag widersprechend. Man
kann empirisch feststellen, dass wir uns durch alle möglichen Dinge motivieren lassen,
nicht nur durch Wünsche. Die Einsicht in die beste Lösung ist zugleich ein wesentliches
258 VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz

Motiv. Die Einsicht in die beste Lösung ist allerdings nicht immer das einzige Motiv
und kann deshalb€ – ebenso wie übrigens jeder interne Impetus€ – nicht garantieren,
dass der solcherart Motivierte dann auch wirklich im Sinne der besten Lösung handelt.
Wäre dies der Fall, dann wäre das ubiquitäre Phänomen der Nichtverwirklichung bester
Lösungen moralischer Konflikte nicht zu erklären. Und es wäre auch nicht zu erklären,
dass tatsächlich etablierte Normensysteme in Form von Sanktionen vielfach zusätzliche
Maßnahmen zur Motivation der Handelnden aktivieren, um die Verwirklichung der
besten Lösung moralischer, rechtlicher und sonstiger Konflikte widerstreitender Belan-
ge zu sichern.
Als erstes Ergebnis lässt sich somit festhalten, dass das Element (5) relativ objekti-
vistisch zu interpretieren ist. Daran schließt sich die weitere Frage an, ob beim Element
(5) auch eine Tatsache bejaht werden muss, ob also darüber hinausgehend auch eine re-
alistische Interpretation zutrifft. Wird die Abwägung faktisch vorgenommen, so stellt das
rein begrifflich ein Faktum, also eine Tatsache dar. Überdenkt also B im obigen Beispiel
aufgrund der Intervention des A seine beabsichtigte Tötung des C tatsächlich unter
Berücksichtigung ethischer Gründe, so liegt darin eine Tatsache. Allerdings ist dies eine
kontingente Realisierung der Ethik. Das Prinzip der Abwägung der betroffenen Belange
bedarf als Möglichkeit der Ethik€– wie wir in der Einleitung sahen€– nicht dieser Reali-
sierung im konkreten Einzelfall, um als normatives Ideal wirken zu können. Das Prinzip
der Abwägung hat als Teil der normativen Ethik nicht den Status der Wirklichkeit, son-
dern nur der Möglichkeit und der praktischen Notwendigkeit. Im Übrigen werden mit
seiner Hilfe keine Dinge und Eigenschaften zueinander in Beziehung gesetzt, sondern
zwei bzw. mehrere Eigenschaften: die Belange der im moralischen Konflikt zu berück-
sichtigenden betroffenen Individuen. Das Ergebnis lautet also, dass auch Element (5)
nicht als Tatsache anzusehen ist bzw. genauer nicht auf eine Tatsache verweist.
Da nun aber weder Element (4) noch Element (5) der normativen Ethik notwen-
dig Tatsachen darstellen, ist auch die gesamte ethische Rechtfertigung nicht notwendig
auf Tatsachen bezogen. Die Metaethik kommt also zu dem Ergebnis, dass die ethische
Rechtfertigung der Moral zwar kognitivistisch bzw. objektivistisch, nicht aber realistisch
ist. Dies entspricht unseren Alltagsüberzeugungen. Wir glauben, dass ethische Einsich-
ten und Urteile wahrheitsfähig in einem weiteren Sinne, das heißt richtigkeitsfähig bzw.
schwach objektiv bei der Findung einer vernünftigen Lösung von Konflikten sind, nicht
aber, dass sie Tatsachen beschreiben.
VII. Die Realisationsformen der Ethik
und ihrer Gegenstände

Jede Ethik benötigt bestimmte gedankliche und sprachliche Realisationsformen. Diese


Realisationsformen sind wie fast alle Instrumente, die der Mensch sich im Laufe seiner
Kulturgeschichte geschaffen hat, grundsätzlich bloßes Mittel zum Zweck und außeror-
dentlich variabel.1 Sie sind auch nicht spezifisch für die Ethik, sondern finden sich in al-
len möglichen Denk- und Sprachzusammenhängen, etwa in primären Normordnungen,
also den zu rechtfertigenden und kritisierenden Gegenständen der Ethik, das heißt der
Moral, dem Recht, der Politik, der Religion, der Erziehung usw. Es sind multifunktional
anwendbare Denk- und Sprachwerkzeuge, die sich den jeweiligen konkreteren Zielen
und Ergebnissen der Konfliktvermittlung anpassen. Dabei muss man zwischen einem
sehr kleinen, begrifflich notwendigen und damit relativ invariablen Kern, der sich in allen
Ausprägungen dieser Realisationsformen findet, und vielen zusätzlichen spezifischen Ei-
genschaften, die dann jeweils nur in der Ethik, der Moral, dem Recht, der Politik usw. an-
zutreffen sind und in ihrer Gestaltung von diesen jeweiligen Normordnungen abhängen,
unterÂ�scheiÂ�den. Im Folgenden wird es zunächst nur um den kleinen, relativ invariablen
und nicht material bestimmten Kern gehen.

1. Bewertung, Norm und Regel

Die wesentlichen Denk- und Sprachformen der normativen Ethik sowie der primären,
handlungsbestimmenden praktischen Tatsachen sind Beschreibungen, Bewertungen,
Normen und Regeln.2
Beschreibungen dienen der Repräsentation von Sachverhalten. Sie finden sich in al-
len Bereichen unseres Denkens und unserer Sprache, so dass sie als Gegenstand der
allgemeinen Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft hier keiner
näheren Erläuterung bedürfen.

1 Es ist also nicht möglich, materiale Wertungen oder Normen aus diesen gedanklichen und sprachlichen
Formen zu gewinnen, wie es etwa Richard M. Hare in The Language of Morals, Oxford 1952, und in
Freedom and Reason, versucht hat. Vgl. zu einer Kritik derartiger Versuche: Richard B. Brandt, A Theo-
ry of The Good and the Right, S.€2╛ff.; Uwe Czaniera, Gibt es moralisches Wissen?, Paderborn 2001,
S.€204╛ff.
2 In der Einleitung wurden auch noch „Überzeugungen“ genannt. Diese lassen sich als Denkform schwer
einordnen. Sie scheinen eine Verbindung aus Beschreibungen und Wertungen zu sein und folgen dann
deren jeweiligen Regeln in entsprechenden Anteilen.
260 VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände

Bewertungen bzw. Wertungen drücken als axiologische Qualifikationen die Stellung-


nahme des Bewertenden aus. Sie lassen sich in positive und negative Bewertungen un-
terteilen. Der Grundbegriff der positiven Bewertung ist „gut“, der Grundbegriff der
negativen Bewertung „schlecht“.3 Schließlich kann es noch eine Bewertung als „neutral“
geben.4 Im Folgenden wird nicht immer signifikant zwischen Wertungen und Werten
unterschieden. Während die Existenz von Wertungen im Sinne von stellungnehmenden
Denk- bzw. Sprachformen unstrittig ist, setzen nicht mit Wertungen identische oder
von diesen abhängige Werte starke ontologisch-metaphysische Annahmen voraus. Da
die hier vorgelegte Ethik ohne derartige Werte auskommt, besteht keine Veranlassung
zu einer näheren Auseinandersetzung mit der Annahme solcher ontologisch anspruchs-
voll verstandener Werte.
Normen und Regeln statuieren gedankliche und sprachliche Relationen, die einen
Norm- bzw. Regelgeber oder -ursprung und einen Norm- bzw. Regelempfänger vor-
aussetzen, also nichtsymmetrisch sind. Normen und Regeln sind als deontische Qualifi-
kationen handlungsleitend. Normen umfassen dabei im Gegensatz zu Regeln nicht nur
allgemeine Handlungsleitungen, sondern richten sich auch an einzelne Personen in sin-
gulären Situationen, sind also im Ziel begrifflich umfangreicher als Regeln.5 Normen er-
fordern allerdings, zumindest im Zusammenhang primärer Normordnungen, eine reale,
raum-zeitlich konkretisierte Normsetzung bzw. Normierung. Sie sind deshalb im Ursprung
begrifflich weniger umfangreich als Regeln, die als bloße Regelhaftigkeiten auch aus Ge-
wohnheiten ohne bewussten Willensakt entstehen können. Beide Begriffsbedeutungen
bilden also eine nichtleere Schnittmenge, ohne Teilmenge der jeweils anderen zu sein.6
Normen und Regeln umfassen die normlogischen Kategorien der Pflichten (Gebote,
Verbote) sowie der Pflichtfreiheiten bzw. Freiheiten (Erlaubnisse, Freistellungen). Der
Normbegriff wird hier relativ weit verstanden, im Gegensatz zu engeren Normbegriffen,
die etwa eine Berechtigung undâ•›/â•›oder Autorität verlangen7 oder sich nur auf Pflichten be-
schränken und Pflichtfreiheiten nicht umfassen.8 Als explizite Sprechakte sind Normen
und Regeln nicht mit Wertungen identisch, implizieren diese aber regelmäßig, sofern
die Normen und Regeln autonom gesetzt sind. Wertungen können menschliches Han-
deln lediglich empfehlen, leiten es aber nicht wie Normen und Regeln.
Je nachdem, ob diese Denk- und Sprachformen als Mittel der Ethik oder ihrer Ge-
genstände Verwendung finden, nehmen sie deren notwendige Merkmale auf. Im Rahmen

3 Vgl. zu einer differenzierten Logik der Bewertungen: A.â•›A. Iwin, Grundlagen der Logik von Wertungen,
Berlin 1975.
4 Manche sprechen hier auch von „indifferent“. Hier soll der Ausdruck etwas enger verstanden werden und
nur pflichtfreie und wertneutrale Handlungen bezeichnen. Vgl. Kapitel€X, 3.
5 Für manche, etwa Peter Stemmer, Normativität. Eine ontologische Untersuchung, S.€157, müssen Nor-
men dagegen allgemein sein.
6 Vgl. dagegen zu einem noch umfassenderen Normbegriff, der Regeln, Vorschriften usw. umfasst: Georg
Henrik von Wright, Norm and Action. A Logical Inquiry, S.€1╛ff.
7 Vgl. Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, Wien 1979, S.€21.
8 Armin Berger, Unterlassungen, S.€62╛ff.
2. Pflicht (Verbot, Gebot) und Pflichtfreiheit (Erlaubnis, Freistellung) 261

der Moral, des Rechts oder der Politik müssen sie etwa tatsächlich als Sprechakte realisiert
sein, also als faktische Regelungen, während man in der Ethik auch ohne tatsächliche Re-
alisierung von Wertungen und Normen als Teilen des ethischen Ideals sprechen kann.

2. Pflicht (Verbot, Gebot) und


Pflichtfreiheit (Erlaubnis, Freistellung)

a) Normen und Regeln umfassen einerseits Pflichten, also Verbote (V) und Gebote (G),
andererseits die Freiheit von Pflichten,9 also Erlaubnisse (Nicht-Verbote, E) und Freistel-
lungen (Nicht-Gebote, F). Pflichten und Pflichtfreiheiten sind als Konkretisierungen der
handlungsleitenden Denk- und Sprachformen der Normen und Regeln relationale Eigen-
schaften, die handlungsbestimmend wirken, also eine Notwendigkeit des Handelns und deren
Negation statuieren. Pflichten bestimmen Handlungen als notwendig, Pflichtfreiheiten als
nichtnotwendig. Fraglich ist, was „Notwendigkeit“ als zentrales Element des Pflichtbegriffs
bedeutet. Ausgeschlossen werden können insofern nur Formen der Notwendigkeit, die im
Widerspruch zum Handlungsbegriff stehen, also rein kausal-physikalisch wirkende Not-
wendigkeiten. Wer kausal-physikalisch in seiner körperlichen Positionierung verändert
wird, also etwa durch eine Lawine auf einen Anderen geschleudert wird, handelt nicht.
Eine solche Notwendigkeit kann keine Pflicht enthalten. Die Notwendigkeit muss also
praktisch sein. Wie sie aber näher ausgestaltet ist und wo sie ihren Ursprung nimmt, ist
schon nicht mehr invariabler Kern des Pflichtbegriffs, sondern bereits Ergebnis der je spe-
zifischen Normen, Regeln und normativ-ethischen Theorien. So sind etwa Kants Hinzu-
fügung der „Achtung fürs Gesetz“ einerseits und der „Objektivität“ und „Verbindlichkeit“
andererseits in seinen Definitionen der Pflicht bereits Ausfluss einer bestimmten norma-
tiv-ethischen Theorie, die sich nicht auf den Pflichtbegriff anderer normativ-ethischer
Theorien oder der Moral, des Rechts usw. übertragen lassen.10 Was die Notwendigkeit
der Pflicht genauer ist, muss sich aus den jeweiligen primären und sekundären Normord-
nungen ergeben und kann nicht unabhängig davon, das heißt rein begrifflich festgestellt
werden. Ins�besondere kann die Notwendigkeit auch nicht bereits auf der begrifflichen
oder ontologischen Ebene als eine bloß eigene des Akteurs angesehen werden (Internalis-
mus, Instrumentalismus) oder als eine bloß durch Andere herbeigeführte (Externalismus).
Beide Alternativen sind begrifflich möglich und in der Wirklichkeit anzutreffen. A sagt
etwa „Ich habe die Pflichtâ•›/â•›bin verpflichtet …“, aber auch „B hat mir die Pflicht aufer-
legtâ•›/â•›mich verpflichtet …“. Keine dieser Möglichkeiten ist also begrifflich notwendig.

9 Manche sprechen hier von „Indifferenz“. Aber diese Bezeichnung ist irreführend, denn sie suggeriert, dass
die entsprechende Handlung keiner Wertung unterliegt. Wie sich noch zeigen wird, ist dies aber nicht
der Fall. Auch eine nicht gebotene oder nicht verbotene Handlung kann als gut oder schlecht bewertet
werden.
10 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.€400: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer
Handlung aus Achtung fürs Gesetz.“; ebd.â•›S.€439: „Die objektive Notwendigkeit einer Handlung aus
Verbindlichkeit heißt Pflicht.“
262 VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände

b) Die vier Typen von einstellungs- und handlungsbestimmenden Denk- und Sprach-
formen sind nach den Standardregeln der deontischen Logik folgendermaßen vonein-
ander abhängig, wobei „h“ für die Handlung steht:

(a) Was verboten ist, ist nicht geboten, nicht erlaubt und freigestellt vom Gebot der
Durchführung:

V (h) → ¬ G (h)
V (h) → ¬ E (h)
V (h) → F (h)

(b) Was geboten ist, ist nicht verboten, erlaubt, aber nicht freigestellt vom Gebot der
Durchführung:

G (h) → ¬ V (h)
G (h) → E (h)
G (h) → ¬ F (h)

(c) Was erlaubt ist, ist nicht verboten:

E (h) → ¬ V (h)

(d) Was freigestellt ist, ist nicht geboten:

F (h) → ¬ G (h)

Man kann diese Beziehungen in folgendem deontologischen Viereck zusammen stellen:11

G (h) V (h)

E (h) F (h)

= Implikation; = Exklusion; = Disjunktion; = Kontravalenz

11 Vgl. dazu und zu differenzierteren und komplizierteren Darstellungen wie einem deontischen Sechseck
und Zehneck sowie weiterer Literatur: Jan Joerden, Logik im Recht, Berlin 2005, S.€199╛ff.
3. Zum Verhältnis zwischen Wertungen sowie Normen und Regeln 263

3. Zum Verhältnis zwischen Wertungen sowie Normen und Regeln

Sowohl Wertungen als auch Normen und Regeln sind ihrer Form nach bloße Denk- und
Sprachgebilde. Sie sind deshalb in ihrem Einsatz und ihrer Gestaltung wesentlich von
den zu Grunde liegenden widerstreitenden Belangen sowie der objektiven Abwägung
zwischen diesen Belangen abhängig. Ihre spezifische Denk- und Sprachform gewinnt
also jenseits der soeben aufgewiesenen minimalen begrifflichen und logischen Notwen-
digkeiten innerhalb der normativen Ethik keinen eigenen Begründungsstatus.
Daraus ergibt sich, dass zum einen alle, zumeist von Anhängern des Konsequentia-
lismus vorgeschlagenen Versuche abzulehnen sind, Werte oder eine bestimmte „Hand-
lungsbewertung“ bzw. „Werttheorie“ als grundlegend für Pflichten bzw. die gesamte
normativ-ethische Begründung anzusehen.12 Wer die Belange der Betroffenen und die
Vermittlung zwischen diesen Belangen als Grundlage von normativer Ethik und Mo-
ral ernst nimmt, der kann die bloße gedankliche und sprachliche Realisationsform der
Wertung nicht als fundamental oder in sich begründend ansehen. Vertreter des Kon-
sequentialismus bevorzugen Wertungen bzw. Werte gegenüber Pflichten, weil sich die
ihrer Meinung nach entscheidenden Konsequenzen auch als Welt- oder Wohlergehens-
zustände begreifen lassen, die dann als besser oder schlechter bewertet werden können,
und zwar entweder komparativ oder sogar quantitativ. Auf diese Weise werden trotz
teilweiser gegenteiliger Beteuerungen die Konsequenzen bzw. Welt- oder Wohlerge-
henszustände quasi automatisch zum Fundament der Ethik.
Damit sind zum anderen aber auch alle, zumeist von Anhängern einer deontolo-
gischen Ethik vorgeschlagenen Versuche abzulehnen, Pflichten oder eine bestimmte
„Pflichttheorie“ als grundlegend für Wertungen und die gesamte Ethik auszuzeichnen.
Wer die Individuen, die Belange der Betroffenen und die Vermittlung zwischen diesen
Belangen als Grundlage der Ethik ernst nimmt, der kann die bloße gedankliche und
sprachliche Realisationsform der Pflicht nicht als fundamental oder in sich begründend
ansehen. Anhänger einer deontologischen Ethik bevorzugen Pflichten gegenüber Wer-
ten, weil sich die Pflichten häufig direkt auf Absichten und Handlungen beziehen. Auf
diese Weise werden die Konsequenzen von Handlungen dann im Rahmen der ethischen
Beurteilung schon auf der Ebene der begrifflichen bzw. sprachlichen Formen minimiert
oder sogar ganz ausgeblendet.
Noch problematischer, weil noch weiter von den tatsächlich verwendeten Denk- und
Sprachformen und den moralisch relevanten Belangen und Konfliktlösungen entfernt,
sind Versuche mancher Philosophen, im Ausgang von den in Kapitel€IV, 4 erläuterten,
sinnvollen Adjektiven „gut“ und „recht“ bestimmte sekundäre Substantivierungen wie
„das Gute“ (was immer das sein mag) oder „das Rechte“ (was immer das sein mag) als
fundamental bzw. primär auszuzeichnen und zueinander in ein Rangverhältnis zu brin-
gen. Diese von Henry Sidgwick vor einem konsequentialistischen Theoriehintergrund

12 Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S.€194â•›ff., S.€229â•›ff.; John Broome, Weighing
Goods. Equality, Uncertainty and Time, Oxford 1991; ders., Weighing Lives, Oxford 2004; Ulla Wessels,
Die gute Samariterin. Zur Struktur der Supererogation, Berlin 2002, S.€6╛ff.
264 VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände

eingeführte und danach etwa von W.â•›D. Ross und John Rawls übernommene Entgegen-
setzung zweier außerordentlich vager Nominalisierungen sprachlicher und begrifflicher
Realisationsformen ist ein rein philosophisches Kunstprodukt und nicht zuletzt wegen
seiner Unbestimmtheit ohne erkennbaren phänomenal erklärenden oder begründenden
Wert.13 DisÂ�kussionen über einen eventuellen „Vorrang“ des mit einer dieser beiden vagen
Nominalisierungen bezeichneten „Bereichs“ (was immer das sein mag) bleiben regelmä-
ßig unfruchtÂ�bar und führen weder zu einem erkennbaren beschreibenden noch zu einem
rechtfertigenden Erkenntnisgewinn für die Ethik.

4. Rechte

Neben Pflichten und Erlaubnissen bzw. Freistellungen enthalten die primären Norm-
ordnungen und die Ethik auch Rechte im subjektiven Sinn. Derartige subjektive Rechte
spielen sowohl in der modernen Moral und im modernen Recht als auch in der Ethik des
normativen Individualismus eine herausÂ�ragende Rolle. Dies lässt sich als eine unmittelba-
re Folge der besonderen Berücksichtigung der Anderen als Individuen erklären. Subjekti-
ve Rechte konkretisieren und sichern den ethischen, moralischen und rechtlichen Status
der Anderen, aber auch des Akteurs als Individuen. Das schließt nicht aus, dass Rechten
weitere Funktionen zukommen können, und zwar sowohl in der Moral als auch im po-
sitiven Recht. In der Moral können Kollektiven zum Zweck der Interessensicherung der
sie bildenden Individuen neben Interessen auch Rechte zuerkannt werden. Man spricht
etwa vom „Selbstbestimmungsrecht des Volkes“. Die einzelnen Menschen eines Volkes
haben ein Recht auf Selbstbestimmung ihres Lebens und deshalb haben sie dieses Recht
auch als Mitglieder ihres Volkes. Man kann also abgekürzt sagen, dass das Volk ein Recht
hat, nicht durch fremde Völker unterdrückt bzw. fremdbestimmt zu werden. Im positiven
Recht können juridische Rechte von Individuen oder Kollektiven statuiert werden. Ent-
scheidend ist aber nun die Frage: Was ist mit Rechten im subjektiven Sinn gemeint?

a)€Die Mindestbedingungen von subjektiven Rechten

Ein Recht im subjektiven Sinn setzt zunächst zumindest Pflichtfreiheit voraus. Not-
wendige Bedingung eines jeden Rechts ist also, dass keine Pflicht zum Handeln besteht,
also weder ein Verbot, noch ein Gebot, das heißt eine Erlaubnis und Freistellung des
Rechteinhabers. Der Akteur hat aber noch kein Recht, wenn bloß keine Pflicht zum
Handeln existiert, denn andernfalls könnte man sich mit dem Begriff der Pflichtfreiheit
begnügen und bräuchte den Begriff des Rechts nicht. Der Begriff des Rechts muss also
neben der Pflichtfreiheit weitere Bedingungen enthalten.

13 Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, Book 1, Chap. I, IX; W.â•›D. Ross, The Right and the Good,
Oxford 1930; John Rawls, A Theory of Justice, S.€446╛ff.
4. Rechte 265

Eine zweite, auch noch sehr schwache Bedingung liegt in der Möglichkeit, eine
Handlung zu fordern. Rechte eröffnen die Möglichkeit, eine Handlung zu fordern, wo-
bei die Geltendmachung nicht faktisch-persönlich durch den Rechteinhaber erfolgen
muss. Ein Kleinkind kann also Rechte haben, auch wenn es sie mangels Vernunft und
Sprache nicht selber geltend machen kann und dazu eines Vertreters bedarf.
Ein Recht im subjektiven Sinn setzt drittens eine Relation zwischen mindestens zwei
unabhängigen normativ relevanten Wesen voraus. Man mag zwar€– was im Kapitel€VIII
noch zu diskutieren sein wird€– Pflichten gegen sich selbst erwägen. Sicherlich gibt es
aber keine Rechte gegen sich selbst, weil Rechte, wie im vorherigen Absatz deutlich wur-
de, immer die Möglichkeit einer Forderung implizieren. Weil aber eine Forderung nur
gegenüber Anderen sinnvoll ist, richten sich Rechte immer gegen Andere (Bedingung
der Interrelationalität zu anderen normativ relevanten Wesen).14 Der Andere muss dabei
aber zunächst nicht konkretisiert sein. Und auch die geforderte Handlung des Anderen
muss nicht konkretisiert sein. Der A kann etwa ein Lebensrecht haben, das gegenüber
allen möglichen Anderen wirkt. Aus der Bedingung der Interrelationalität ergibt sich,
dass Rechte relationale Eigenschaften sind.15 Die Bedingung der Interrelationalität zu an-
deren normativ relevanten Wesen schließt im übrigen nicht aus, dass Rechte neben dem
Forderungscharakter auch eine Relation zu Sachen aufweisen, also sog. „Sachenrechte“
sind, etwa das Recht des Eigentums an einer Sache. Es wird auch nicht behauptet, dass
sich diese Sachrelation auf die Forderungsrelation reduzieren ließe.
Fraglich und umstritten ist nun aber, welche Relation zwischen dem Berechtigten
und dem Anderen genau besteht. Diese Relation und damit eine weitere, vierte notwen-
dige Bedingung für den Begriff des Rechts sehen manche darin, dass der Andere eine
Pflicht hat (Bedingung der Pflicht).16 Damit A also etwa ein Recht auf die Handlung h des
B hat, muss B€– so diese Auffassung€– eine Pflicht zu h haben. Das Recht des A impliziert
demnach die Pflicht des B zu h. Gegenüber der Bedingung der Interrelationalität setzt
diese Bedingung zunächst zwei Konkretisierungen voraus. Der Verpflichtete muss zum
einen als individuelle Person konkretisiert werden. Und die Handlung, die von ihm er-
wartet wird, muss zum anderen als singuläre Handlung konkretisiert werden, also etwa als
das Unterlassen, den A zu töten, oder das Tun, den A aus einer Todesgefahr zu retten.
Es gibt nun sicher Normordnungen oder Teile von Normordnungen, für deren
Rechtsbegriff eine derartige Implikation von Pflichten aus Rechten gilt, etwa das Recht
der unerlaubten Handlung als Teil des deutschen Zivilrechts. Jede Entschädigungs-
pflicht gibt dort dem Geschädigten grundsätzlich ein Recht zur Einforderung einer

14 Joseph Raz, Ethics in the Public Domain, S.€33; Marcus G. Singer, On Duties to Oneself, Ethics 69 (1959),
S.€202–205, S.€202; ders., Duties and Duties to Oneself, Ethics 73 (1963), S.€133–142, S.€133, 137.
15 Vgl. Markus S.€Stephanians, Rights as Relational Properties. In Defense of Right╛/╛Duty-Correlativity,
Saarbrücken 2005, Manuskript, S.€134â•›ff.
16 Vgl. schon Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre,
S.€239; Wesley N. Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning, S.€36, für
das geltende, positive Recht. Es ist nicht klar, ob Hohfeld dies auch für alle möglichen nichtpositiven
Rechte behaupten wollte. Joseph Raz, The Morality of Freedom, S.€170; Markus S.€Stephanians, Rights
as Relational Properties, S.€194╛ff.
266 VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände

konkretisierten Handlung gegenüber individuell konkretisierten Personen. Aber eine


allgemein notwendige Bedingung des Rechtsbegriffs kann darin nicht gesehen werden,
denn etwa in den Menschenrechtskatalogen fehlt regelmäßig die dazu notwendige Kon-
kretisierung auf einen Verpflichteten. Das Menschenrecht auf Leben hat A gegenüber
allen möglichen Adressaten und im Hinblick auf alle möglichen Handlungen. Insofern
impliziert das Menschenrecht auf Leben keine spezifisch konkretisierte Pflicht eines
konkretisierten Verpflichteten. Es gilt gegenüber öffentlichen Stellen und Privaten, ge-
genüber Inländern und Ausländern, gegenüber Schuldigen und Unschuldigen usw. Und
wenn Außerirdische auftauchten, würde es auch diesen gegenüber bestehen. Es erfordert
zunächst einmal nur seine Anerkennung ohne einen spezifischen Adressaten und eine
spezifische Konkretisierung auf eine Handlung, die man dann einer konkreten Pflicht
unterwerfen könnte.17 Das bedeutet aber natürlich nicht, dass man das Menschenrecht
auf Leben nicht konkretisieren könnte oder konkretisieren sollte. Dafür ist jedoch eine
zusätzliche Gestaltung notwendig.
Aber was kann es dann noch für einen Sinn haben, von einem Recht bzw. Lebens-
recht zu sprechen, wenn ein solches Recht nicht notwendig eine Pflicht impliziert? Man
könnte sich darauf beschränken, das Interesse des A an seinem Leben festzustellen. Aber
das genügt offenbar nicht, denn sonst würde man ja kein Lebensrecht statuieren, das
über die bloße Feststellung von Interessen hinausgeht. Das Interesse wird vielmehr als
berechtigtes und damit zu beachtendes behauptet, das heißt es wird sekundär bewertet
bzw. normiert. Das kann ein taugliches Mittel zur Sicherung dieses Interesses sein. Es
kann aber auch deutlich machen, dass es sich um ein besonders wichtiges Interesse
handelt, das sich regelmäßig gegenüber vielen anderen Interessen durchsetzt. Weiterhin
kann es sich um eine Rechtfertigung von Pflichten handeln. Das Recht wird damit
zur ethischen Quelle von Pflichten. Nach anderen Auffassungen muss mit dem Inter�
esse auch eine besondere faktische Durchsetzungsmacht des Rechtsträgers verbunden
sein, sei es eine eigene oder durch andere verliehene, etwa durch eine sekundäre Norm.
Schließlich setzen manche einen Anspruch oder sogar einen qualifizierten (gerechtfer-
tigten, gültigen) Anspruch voraus,18 wobei es sich je nach dem Kontext der Normen-
ordnung, in die das subjektive Recht eingebettet ist, um einen moralischen, rechtlichen,
ethischen usw. Anspruch handeln soll.
Alle diese zusätzlichen Bedeutungen sind zwar möglich, aber keine notwendigen
Merkmale des Rechtsbegriffs. Notwendig ist nur, dass eines dieser zusätzlichen Merk-
male besteht, sofern dem Recht nicht gemäß der konkreten Normenordnung eine
Pflicht korrespondiert. Korrespondiert dem Recht dagegen eine Pflicht, ist keines dieser

17 Vgl. Herbert J. McCloskey, Rights, Philosophical Quarterly 15 (1965), S.€115–127; ders., Rights€– Some
Conceptual Issues, Australian Journal of Philosophy 54 (1976), S.€ 99–115; Neil MacCormick, Chil-
dren’s Rights: a Test-Case for Theories of Rights, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 62 (1976),
S.€305–316; ders., Rights in Legislation, in: P.â•›M.â•›S.€Hackerâ•›/â•›Joseph Raz (Hg.), Law, Morality and Soci-
ety€– Essays in Honor of H.â•›L.â•›A. Hart, Oxford 1977, S.€189–209; ders., Rights, Claims and Remedies,
Law and Philosophy 1 (1982), S.€337–357.
18 Vgl. Joel Feinberg, The Nature and Value of Rights, in: ders., Rights, Justice and the Bounds of Liberty€–
Essays in Social Philosophy, Princeton 1980, S.€143–158, S.€152.
4. Rechte 267

weiteren Merkmale erforderlich. Es bedarf nicht einmal eines Interesses des Rechtsinha-
bers. So bestehen also wenigstens folgende Möglichkeiten, den Begriff des subjektiven
Rechts zu verstehen:

(1) „Recht 1“ des A: Pflichtfreiheit des A + Möglichkeit, eine Handlung zu fordern +


Interrelationalität + berechtigtes Interesse des A
(2) „Recht 2“ des A: Pflichtfreiheit des A + Möglichkeit, eine Handlung zu fordern +
Interrelationalität + wichtiges Interesse des A
(3) „Recht 3“ des A: Pflichtfreiheit des A + Möglichkeit, eine Handlung zu fordern +
Interrelationalität + Interesse des A, das Pflichten rechtfertigt
(4) „Recht 4“ des A: Pflichtfreiheit des A + Möglichkeit, eine Handlung zu fordern +
Interrelationalität + Durchsetzungsmacht (sog. Willens- oder Kontrolltheorie)19
(5) „Recht 5“ des A: Pflichtfreiheit des A + Möglichkeit, eine Handlung zu fordern +
Interrelationalität + Anspruch des A
(6) „Recht 6“ des A: Pflichtfreiheit des A + Möglichkeit, eine Handlung zu fordern +
Interrelationalität + Pflicht des B

Zwischen den ersten drei Alternativen einer Interessen- oder Begünstigtentheorie20


und der vierten Alternative einer Willens- und Kontrolltheorie bestand bzw. besteht
grundsätzlicher Streit.21 Eine Interessentheorie kommt zu einem relativ weiten Rechts-
begriff, hat aber Schwierigkeiten zu zeigen, wozu man dann neben Pflichten überhaupt
noch Rechte braucht. Die Willens- und Kontrolltheorie kommt zu einem relativ engen
Rechtsbegriff, hat aber Probleme, die Rechte von Kindern und Geisteskranken sowie
moralische Rechte und Menschenrechte zu erklären. Die zusätzlichen Erfordernisse bei-
der Theorien sind aber nicht widersprüchlich. Sie können jeweils für bestimmte Typen
von Rechten bzw. Normordnungen alternativ oder sogar kumulativ bestehen.22 Man
kann gleichzeitig vorpositive Menschenrechte ohne Kontrollmöglichkeit und zivilrecht-
liche Rechte mit Kontrollmöglichkeit finden. Keiner dieser beiden Auffassungen ist es
bisher gelungen zu zeigen, dass nur sie die richtige ist, das heißt, dass nur die Interes-
sen oder der Wille bzw. die Kontrolle notwendige Elemente des Rechtsbegriffs sind.
Die unterschiedlichen Erfordernisse lassen sich auf den Gegensatz von Positivität und
Überpositivität zurückführen und können so lange nicht als exklusiv behauptet werden,

19 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S.€ 239;
H.â•›L.â•›A. Hart, Legal Rights, in: ders., Essays on Bentham. Studies in Jurisprudence and Political Theory,
Oxford 1982, S.€162–193, S.€181â•›ff.
20 Vgl. etwa Jeremy Bentham, General View of a Complete Code of Law, The Works of Jeremy Bentham,
hg. von J. Bowring, Vol. III, S.€159; David Lyons, Rights, Claimants, and Beneficiaries, American Philo-
sophical Quarterly 6 (1969), S.€173–185.
21 Vgl. etwa Jeremy Waldron, Einleitung zu: ders., Theories of Rights, Oxford 1984, S.€ 9╛ff.; James E.
Penner, The Analysis of Rights, Ratio Juris 10 (1997), S.€300–315; Markus S.€Stephanians, Rights as
Relational Properties. In Defense of Rightâ•›/â•›Duty-Correlativity, passim.
22 Es scheint für die Konkretisierung des Rechtsbegriffs also ein Fall von Wittgensteins These der Familien-
ähnlichkeit vorzuliegen, vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 67.
268 VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände

so lange man die Existenz von Rechten in beiden Realisationsformen von Normen an-
erkennt, eine Anerkennung, die etwa die grundlegende Unterscheidung zwischen pri-
mären tatsächlichen und sekundären idealen Normordnungen, also von Moral, Recht,
Erziehung, Religion, Politik usw. auf der einen Seite und Ethik auf der anderen Seite
enthält. Hier zeigt sich wieder, wie wichtig die in der Einleitung betonte klare Unter-
scheidung von Moral und Ethik ist.

b) Implikation des Rechts aus der Pflicht

Verschiedentlich wird angenommen, dass umgekehrt eine Pflicht ein Recht impliziert.
Wenn B also eine Pflicht gegenüber A zur Handlung h hat, so hätte A ein Recht ge-
genüber B auf h.23 Ohne Zweifel können Normordnungen statuieren, dass mit einer
Pflicht immer auch ein Recht einhergeht. Man spricht dann traditionell von vollkom-
menen Pflichten.24 Aber beileibe nicht alle Normordnungen korrelieren Pflicht und
Recht immer auf diese Weise. Im deutschen Zivilrecht gibt es zum Beispiel sog. Natu-
ralobligationen, das heißt es besteht eine Pflicht zur Leistung, ohne dass der Begünstigte
die Leistung verlangen kann, also ein Recht hat, die Leistung vom Verpflichteten zu
fordern.25 Das ist regelmäßig die Ausnahme, aber als tatsächlich bestehende Ausnahme
weder logisch noch begrifflich unmöglich.
Und in der Moral gibt es sog. unvollkommene Pflichten.26 Die Pflicht zur Wohltä-
tigkeit ist etwa eine solche Pflicht. Alle haben eine derartige Pflicht, ohne dass einem
einzelnen Anderen daraus ein Recht auf eine bestimmte Wohltätigkeit durch einen be-
stimmten Wohltäter zustünde.
Denkbar ist auch, dass die Pflicht des B gegenüber A von einem Dritten, etwa dem
Staat statuiert wird, ohne dass A ein Recht erwirbt. So können etwa bestimmte Normen
des Umweltrechts gegenüber B vom Staat zum Schutz des A festgelegt werden, ohne dass
A ein Recht erwirbt bzw. erwerben soll, die Einhaltung dieser Normen von B zu fordern.
Die verwaltungsgerichtliche Klagbarkeit gegen Verwaltungsakte setzt etwa voraus, dass
eine subjektive Rechtsverletzung möglich ist und nicht nur die begünstigende Wirkung
einer Norm geltend gemacht wird, welche andere verpflichtet.27

23 Vgl. zu einer neueren Verteidigung dieser Auffassung: Markus S.€Stephanians, Rights as Relational Pro-
perties. In Defense of Right╛/╛Duty-Correlativity, S.€ 35╛ff. Dagegen: Joel Feinberg, Duties, Rights and
Claims, American Philosophical Quarterly 3 (1966), S.€255–269; David Lyons, Rights, Claimants, and
Beneficieries.
24 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 53, 54, S.€421╛ff.; Dieter Birnbacher,
Analytische Einführung in die Ethik, S.€131.
25 Im deutschen Recht wären das etwa nicht notariell beurkundete Schenkungen nach den §§ 516, 518 BGB.
26 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 53, 54, S.€421╛ff.; Dieter Birnbacher, Ana-
lytische Einführung in die Ethik, S.€131.
27 Vgl. § 42 der Deutschen Verwaltungsgerichtsordnung.
4. Rechte 269

c) Korrelation von Rechten und Pflichten

In manchen Fällen einer Verwendung des Begriffs des subjektiven Rechts und damit in
manchen Normordnungen besteht nun sogar eine Korrelation von Rechten und Pflich-
ten. Das heißt, zwischen Rechten und Pflichten bestehen beide Implikationsbeziehungen:
Immer wenn eine Pflicht existiert, so besteht auch ein Recht und immer wenn ein Recht
existiert, so besteht auch eine Pflicht. Dann stellt sich die Frage, wie weit man die korre-
lativen Begriffe des Rechts und der Pflicht verstehen will. Man kann den Rechtsbegriff
weit verstehen, so dass er auch die Freiheit des eigenen Handelns vor den Verpflichtun-
gen Anderer, also Privilegien, die eigene Macht zur RechtsÂ�gestaltung und die Immunität
vor der Rechtsgestaltung Anderer einschließt.28 Wesley Newcomb Hohfeld hat dage-
gen€– allerdings unter Anerkennung einer vielfach anzutreffenden abweichenden Pra-
xis€– vorgeschlagen, den Rechtsbegriff sehr eng und nur im Sinne eines Anspruchsrechts
(claim-right) hinsichtlich des Tuns Anderer aufzufassen.29 Auch der Begriff der Pflicht
wird eng im Sinne des eigenen Handelns eines Akteurs bestimmt. Nach Hohfeld lässt
sich dann folgendes Schema von Korrelationen zwischen A und B aufstellen:

A Recht (right) Privileg (privilege) Machtâ•›/â•›Fähigkeit Immunität


(power) (immunity)
| | | |
B Pflicht (duty) Nicht-Recht Bindung (liability) Unfähigkeit
(no-right) (disability)

Daraus ergeben sich folgende Gegensätze:

Recht (right) Privileg (privilege) Machtâ•›/â•›Fähigkeit Immunität


(power) (immunity)
| | | |
Nicht-Recht Pflicht (duty) Unfähigkeit Bindung
(no-right) (disability) (liability)

Die einzelnen Begriffe lassen sich nach Hohfeld wie folgt bestimmen:

Recht des Aâ•›/â•›Pflicht des B: Anspruch des A gegenüber B, dass B h tut, zum Beispiel
Anspruch des A gegenüber B, dass B das Land des A nicht betritt, oder Anspruch des A
gegenüber B, dass B A hilft (Anspruchsrecht).

28 Judith J. Thomson, The Realm of Rights, S.€52, 54, 59; Helle Kanger╛/╛Stig Kanger, Rights and Parliamen-
tarism, Theoria 32 (1966), S.€85–115, S.€86â•›ff.; Frances M. Kamm, Rights, in: Jules Colemanâ•›/â•›Scott Shapiro,
The Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, Oxford 2002, S.€476–513, S.€480.
29 Wesley N. Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning, S.€38.
270 VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände

Privileg des Aâ•›/â•›Nicht-Recht des B: Freiheitâ•›/â•›Möglichkeit des A gegenüber B, dass A h tut,


zum Beispiel Freiheitâ•›/â•›Möglichkeit des A gegenüber B, dass A selbst sein eigenes Land be-
tritt, oder Freiheit des A gegenüber B, dass B ihn nicht schädigt (Freiheitsrecht).

Macht des Aâ•›/â•›Bindung des B: Fähigkeit des A gegenüber B, durch sein Tun h seitens
A eine normative Wirkung auch für B herbeizuführen, zum Beispiel Fähigkeit des A
gegenüber B, durch seine Akzeptanz ein Vertragsangebot des B anzunehmen und den
B somit durch einen wirksamen Vertrag zu verpflichten. Oder die Fähigkeit des Ei-
gentümers A, sein Eigentum mit Wirkung gegenüber B (und allen Anderen) an C zu
übertragen (Gestaltungsrecht).

Immunität des Aâ•›/â•›Unfähigkeit des B: Freiheit des A gegenüber B, dass B durch ein Tun keine
normative Wirkung für A herbeiführen kann, zum Beispiel die Freiheit des A, durch bloße
Erklärung des B nicht vertraglich verpflichtet zu werden, die Freiheit des Eigentümers A,
durch B in seiner Eigentümerstellung nicht einseitig tangiert zu werden, oder die Freiheit
des A gegenüber der Auferlegung von Steuern seitens des Staates (Immunitätsrecht).

Diese Korrelation von acht Grundbegriffen ist sicherlich eine mögliche und sinnvolle
Präzisierung des Rechtsbegriffs, sofern man im Gedächtnis behält, dass damit keine not-
wendigen begrifflichen Bedingungen statuiert sind, sondern nur mögliche Festlegungen
einzelner wirklicher Norm- bzw. Moral-, Rechts- oder Politikordnungen usw.
Das Hohfeldsche System ist dann vor allem von Stig und Hille Kanger weiter forma-
lisiert worden.30 Dabei wurde die Unterscheidung zwischen Handeln und Herbeiführen
einer rechtlichen Folge als Herbeiführen eines Zustands S zwischen X und Y vereinheit-
licht (S (X,Y)). Daraus ergeben sich folgende Interpretationen:

(1) Rechtâ•›/â•›Anspruch: Es soll sein, dass Y herbeiführt S (X,Y).


(2) Privilegâ•›/â•›Freiheit: Nicht: Es soll sein, dass X herbeiführt nicht-S (X,Y).
(3) Macht: Nicht: Es soll nicht sein, dass X herbeiführt S (X,Y).
(4) Immunität: Es soll nicht sein, dass Y herbeiführt nicht-S (X,Y).
(5) Nicht-Recht: Nicht: Es soll sein, dass Y herbeiführt S (X,Y).
(6) Nicht-Freiheit: Es soll sein, dass X herbeiführt S (X,Y).
(7) Nicht-Macht: Es soll sein nicht, dass X herbeiführt S (X,Y).
(8) Nicht-Immunität: Nicht: Es soll nicht sein, dass Y herbeiführt nicht-S (X,Y).

In der Realität enthalten subjektive Rechte wie etwa das zivilrechtliche Eigentumsrecht
oftmals mehrere dieser Bestimmungen. Von den 256 Möglichkeiten haben Stig und

30 Helle Kangerâ•›/â•›Stig Kanger, Rights and Parliamentarism. Helle Kanger hat diese Analyse dann in Human
Rights and Their Realisation, Uppsala 1981, auf die Menschenrechte angewandt. Vgl. Edgar Morscher
(Hg.), Was heißt es, ein Recht auf etwas zu haben? Stig und Helle Kangers Analyse der Menschenrechte,
Sankt Augustin 2004.
4. Rechte 271

Helle Kanger 26 Kombinationen identifiziert, die konsistent sind.31 Da es in der vorlie-


genden Untersuchung nicht um Details dieser Sprach- und Realisationsformen geht, sei
auf deren Analyse verwiesen.
Die einzelnen Interpretationen der acht Grundbegriffe lassen sich mit Hilfe der
Standardnotation der deontischen Logik folgendermaßen formalisieren. Ausgangs-
punkt ist dabei der Gebotsoperator der deontischen Logik: „Op“. Das Verbot ist dann
„O¬p“ und die Negation des Gebots die Freistellung „¬Op“ sowie die Negation des
Verbots die Erlaubnis „¬O¬p“. Rechte beziehen sich immer auf einen Rechtsinhaber
(x) und einen Rechtsadressaten (y). Des Weiteren muss bei der Verpflichtung zwischen
Handlung (H) und Handlungserfolg (p) unterschieden werden. Man erhält auf diese
Weise acht einfache Rechtstypen:32

(1) Anspruch: Es ist geboten, dass y so handelt, dass p. OyHp

(2) Freiheit: Es ist nicht geboten, dass x so handelt, ¬OxH¬p


dass nicht p.

(3) Macht: Es ist erlaubt, dass x so handelt, dass p. ¬O¬xHp

(4) Immunität: Es ist verboten, dass y so handelt, dass nicht p. O¬yH¬p

(5) Nicht-Anspruch: Es ist geboten, dass y so handelt, dass nicht p. OyH¬p

(6) Nicht-Freiheit: Es ist nicht geboten, dass x so handelt, dass p. ¬OxHp

(7) Nicht-Macht: Es ist erlaubt, dass x so handelt, dass nicht p. ¬O¬xH¬p

(8) Nicht- Es ist verboten, dass y so handelt, dass p. O¬yHp


Immunität:

Für die hier verfolgten Zwecke einer allgemeinen normativen Ethik ist diese kurze
Darstellung der Realisationsformen von Pflichten, Werten und Rechten ausreichend.
Weitere Einzelheiten und die Diskussion von Zweifeln müssen einer Detailerörterung
vorbehalten bleiben.

31 Helle Kanger╛/╛Stig Kanger, Rights and Parliamentarism, S.€93╛f.


32 Vgl. Heinrich Ganthaler, Das Recht auf Leben in der Medizin. Eine moralphilosophische Untersuchung,
Egelsbach 2001, S.€29. Hierzu: Verf., Logik und das Recht auf Leben in der Medizin, in: Grazer philoso-
phische Studien 64 (2002), S.€209–224 (Rezension zu: Heinrich Ganthaler, Das Recht auf Leben in der
Medizin).
VIII. Pflichten gegen sich selbst?

Von allen möglichen Realisationsformen der Ethik und Moral ist die Pflicht die prak-
tisch wichtigste, weil sie unmittelbar handlungsbestimmend und damit konfliktlösend
wirkt. Deshalb wird in den nächsten Kapiteln der Pflichtbegriff näher analysiert.
Pflichten sind zunächst einmal Relationen. Dann stellt sich die Frage nach den mög-
lichen Relata. Pflichten stehen, wie bereits im letzten Kapitel€ festgestellt wurde, un-
abdingbar in Relation zu Handlungen. Pflichten sind Notwendigkeiten des Handelns.1
Wer eine Pflicht hat, soll handeln, wobei „Handeln“ die Alternativen des Tuns und des
Unterlassens umfasst.
Soll die Notwendigkeit des Handelns mehr als eine bloß kausale sein, so müssen
weitere Wesen als Relata der Pflicht angenommen werden. Fraglich ist etwa, von wem
Pflichten ausgehen und gegen wen sie sich richten können. Als ein Aspekt dieser Frage
soll zunächst erörtert werden, ob sich Pflichten nur gegen Andere oder auch gegen den
Handelnden selbst richten.2

1. Die fünf möglichen Relationspole einer Pflicht

Entscheidend für die Frage nach Pflichten gegen sich selbst ist, wer oder was neben
Handlungen die weiteren Relata bzw. Relationspole einer Pflicht sein können, denn nur
so lässt sich bestimmen, was „gegen sich selbst“ bedeutet. Abgesehen von der fraglichen
Handlung lassen sich fünf Relationspole unterscheiden:
(1) Jede Pflicht hat einen Adressaten. Adressat der Pflicht ist per definitionem der
Handelnde, denn für ihn besteht ja die Notwendigkeit des Handelns.
(2) Jede Pflicht hat einen Ursprung bzw. Urheber. Wer oder was kann dann der
Ursprung bzw. Urheber der Pflicht sein? Dazu gibt es viele grundsätzliche Möglichkei-
ten einerseits und Annahmen andererseits: Gott, der Andere, ein Vertrag, ein Verspre-
chen, eine Gemeinschaft, das moralische Gesetz im Handelnden, der Handelnde selbst,
das Naturgesetz, Werte usw. Vom Standpunkt des normativen Individualismus sind in

1 Vgl. zu diesem weiten Pflichtbegriff auch Cicero, De Officiis, und Lorenz Kähler, Die vergessenen Pflich-
ten gegen sich selbst, unveröffentlichte Magisterarbeit, Göttingen 2007, S.€11, der dieses weite Verständnis
dann aber wieder einschränkt, wenn er von einer Aufforderung aus „ethischer Sicht“ spricht.
2 Dabei wird ein selbstredend mögliches, instrumentelles Verständnis von Pflichten gegen sich selbst zur
Erfüllung von Pflichten gegen Andere ausgeklammert. Vgl. dazu: Otto Neumeier, Why Are We Mor-
ally Responsible for Ourselves?, in: Logos and Language. Essays in Honour of Julius Moravcsik, hg. von
Dagfinn Føllesdal und John Woods, London 2008, S.€61, 63.
1. Die fünf möglichen Relationspole einer Pflicht 273

säkular-immanenter und normativ-ethischer Perspektive nur Individuen als Ursprung


einer Pflicht gerechtfertigt.
(3) Bei einer Pflicht kann es als dritten Relationspol einen Berechtigten geben, der
die Ausführung der pflichtgemäßen Handlung fordern darf.3 Der Berechtigte kann der
Urheber der Pflicht sein, wenn die Pflicht als Verpflichtung statuiert wird. Er kann aber
auch eine Person sein, die vom Ursprung bzw. Urheber verschieden ist, etwa ein Be-
günstigter. Da der Berechtigte eine Person sein muss, ist er immer dann vom Ursprung
verschieden, wenn die Pflicht ihren Ursprung nicht in einer Person hat. Berechtigte
können nur zwei Typen von Personen sein: der Adressat bzw. Handelnde oder Andere
(einschließlich Gott). Dass Andere Berechtigte von Pflichten sein können, steht außer
Zweifel, wobei noch zu erörtern sein wird, welche Individuen dafür letztlich in Frage
kommen. Zweifelhaft ist aber, ob auch der Adressat der Pflicht, also der Handelnde ihr
Berechtigter sein kann. Das ist sicher zu verneinen, wenn es sich um eine Pflicht gegen
sich selbst handelt, denn dann wäre dies gleichzeitig ein Recht gegen sich selbst (was
in Kapitel€VII, 4 a) ausgeschlossen wurde). Anders ist die Lage bei einer Pflicht durch
einen Anderen. Dann würde ein Recht des Handelnden und Adressaten der Pflicht
gegen einen Anderen auf die Pflicht gegen sich bestehen. Das ist möglich, weil die
Pflicht ja im Interesse des Handelnden liegen kann. So kann jemand etwa ein Recht
gegenüber seinem persönlichen Fitnesstrainer aus dem Trainingsvertrag haben, ihn zu
bestimmten Übungen zu verpflichten. Diese Pflichten können sogar kategorisch, das
heißt konkret zustimmungsunabhängig sein. Die dritte Bedingung des Rechtsbegriffs,
die Intersubjektivität, schließt es nur dann aus, den Adressaten der Pflicht auch als deren
Berechtigten anzusehen, wenn Adressat und Urheber der Pflicht identisch sind, denn
dann würden Recht und Pflicht in einer Person zusammenfallen und eine Intersubjek-
tivität wäre unmöglich.4
(4) Eine Pflicht kann schließlich als vierten Relationspol einen Begünstigten oder
Belasteten haben. Zu fragen ist also, zu wessen Gunsten oder Lasten die Pflicht besteht,
das heißt, wer als Begünstigter oder Belasteter in ihr intendiert oder genannt ist.5 Eine
Pflicht wird häufig zugunsten ihres Urhebers undâ•›/â•›oder Berechtigten statuiert. Aber als
Begünstigter kann auch€ – wie sich soeben ergab€ – der Verpflichtete oder ein Dritter
intendiert oder genannt sein. A kann etwa seinen Sohn zur Anfertigung von dessen
Schularbeiten verpflichten, was diesen begünstigt, oder er kann den B zugunsten des C

3 Da, wie sich im vorigen Kapitel€ergab, nicht begrifflich notwendig jeder Pflicht ein Recht korrespondiert,
gibt es nicht zu jeder Pflicht notwendig einen Berechtigten.
4 Joseph Raz, Ethics in the Public Domain, S.€33; Marcus G. Singer, On Duties to Oneself, S.€202; ders.,
Duties and Duties to Oneself, S.€133, 137. Lorenz Kähler, Die vergessenen Pflichten gegen sich selbst,
S.€27, ist dagegen der Auffassung, dass Verpflichteter und Berechtigter identisch sein können: Wie eine
Pflicht könne auch ein Recht als eine Art von ethischen Gründen verstanden werden. Das überzeugt
jedoch nicht, weil die Eigenschaft, guter Grund zu sein, zwar beiden Phänomenen zukommt, aber nur als
schwache notwendige Bedingung. Die restlichen, spezifizierenden Merkmale können dagegen zu einem
Ausschluss führen. Dies ist beim Recht der Fall, das die Möglichkeit, etwas zu fordern, enthält.
5 Lorenz Kähler, Die vergessenen Pflichten gegen sich selbst, S.€15â•›ff., spricht hier von „Rücksicht auf eine
andere Person“, welche die Erfüllung von B verlangen kann. Damit wird aber der klare Unterschied
zwischen dem Berechtigten und dem Begünstigten nicht hinreichend akzentuiert.
274 VIII. Pflichten gegen sich selbst?

verpflichten, etwa dem B vom Ufer zurufen, den neben ihm im Wasser ertrinkenden C
zu retten. Dann ist Urheber der Pflicht der A und Adressat der Pflicht der B, Begüns-
tigter aber ausschließlich der C. Wer in diesem Fall Berechtigter der Pflicht sein soll,
hängt von ihrer Ausgestaltung ab. Entweder der A oder der C oder beide oder keiner
von beiden oder sogar ein Vierter können Berechtigte sein.
(5) Schließlich kann es auch noch einen fünften Relationspol einer Pflicht geben:
den oder die von ihr oder ihrer Ausführung Betroffenen. Während der Begünstigte oder
Belastete durch die Statuierung der Pflicht intendiert sein muss, gilt dies für die weite-
ren Betroffenen nicht. Wenn etwa im obigen Beispiel A den B dazu verpflichtet, den
Begünstigten C vor dem Ertrinken zu retten, so können D, E und F davon betroffen
sein, etwa weil sie von C weiterhin Waren kaufen können, was für sie positiv ist, oder
weil sie weiterhin Cs Marktkonkurrenz ausgesetzt sind, was für sie negativ ist. Während
die Begünstigung immer positiv ist und die Belastung immer negativ, kann die Betrof-
fenheit also entweder positiv oder negativ sein oder beides zugleich.

2. Worauf bezieht sich das „gegen“


bei den Pflichten gegen sich selbst?

Fraglich ist nun, welcher dieser fünf Relationspole einer Pflicht in der Rede von „Pflich-
ten gegen sich selbst“ gemeint sein kann? Was heißt also „gegen“ genauer?
„Gegen“ kann erstens nicht bedeuten, dass der Handelnde auch Adressat der Pflicht
ist, denn das ist er€– wie sich soeben ergab€– per definitionem. Würde das „gegen“ also
auf den Handelnden als Adressaten der Pflicht verweisen, so wäre es redundant.
Das „gegen“ kann zweitens unzweifelhaft bedeuten, dass der Handelnde bzw.
Adressat der Pflicht auch deren Urheber ist.
Fraglich ist drittens, ob das „gegen“ auch bedeuten kann, dass der Adressat der
Pflicht auch deren Berechtigter ist. Das erscheint begrifflich ausgeschlossen, denn ein
Recht besteht immer „für“ und nicht „gegen“ jemanden.
Das „gegen“ könnte viertens ohne Zweifel bedeuten, dass der Adressat der Pflicht
und ihr Begünstigter bzw. Belasteter ein und dieselbe Person sind.
Das „gegen“ kann fünftens nicht bedeuten, dass die Pflicht gegenüber einem bloß Be-
troffenen besteht, denn dessen Betroffenheit ist nicht intendiert, kann also nicht notwen-
diger Teil eines bestimmten Pflichttyps sein. Der Handelnde kann im Übrigen immer
auch von Pflichten gegenüber Anderen betroffen sein. Hat B zum Beispiel eine Pflicht,
dem C zu helfen, so kann das bei ihm selbst positive oder negative Folgen auslösen,
etwa Freude oder Ärger erzeugen. Umgekehrt kann eine Pflicht des Handelnden gegen
sich selbst nach der zweiten oder vierten Alternative auch bei Anderen als Betroffene
bestimmte positive und negative Wirkungen hervorrufen. Nähme man etwa eine Pflicht
des Handelnden an, sich nicht selbst zu töten, so wären davon seine Familienmitglieder
positiv und mögliche Konkurrenten negativ betroffen.
Das Ergebnis dieser Systematisierung lautet: Pflichten gegen sich selbst können sich
also entweder „gegen“ den Urheber oder den Begünstigten richten. Möglich sind somit
3. Die Pflichten gegen sich selbst in traditionellen Ethiken und bei Kant 275

die Alternativen zwei und vier. Möglich wäre aber natürlich auch eine Kombination der
Alternativen zwei und vier, nämlich, dass der Adressat der Pflicht, der Urheber und der
Begünstigte ein und dieselbe Person sind. Für die Bedeutung des Ausdrucks „Pflichten
gegen sich selbst“ gibt es also wenigstens drei Alternativen: (1) Adressat und Urheber
der Pflicht sind identisch, (2) Adressat und Begünstigter der Pflicht sind identisch, (3)
Adressat, Urheber und Begünstigter der Pflicht sind identisch. Welche dieser drei Al-
ternativen gemeint und gewollt ist, hängt von der jeweiligen Normenordnung bzw.
ethischen Theorie ab, in der Pflichten gegen sich selbst vorkommen sollen.

3. Die Pflichten gegen sich selbst in traditionellen Ethiken


und bei Kant

In traditionellen Ethiken wurden als Urheber bzw. Ursprung ethischer, moralischer sowie
religiöser und gelegentlich auch rechtlicher Pflichten Gott oder das Naturrecht ange-
nommen. Ein derartiger metaphysisch-transzendenter Urheber bzw. Ursprung schließt
den Handelnden als gleich�berechtigten Urheber aus, denn man kann nicht annehmen,
dass ein Mensch mit Gott oder dem Naturrecht auf gleicher Stufe steht und Urheber der
Ethik ist. Das hat zur Folge, dass sich das „gegen“ im Rahmen des Ausdrucks „Pflichten
gegen sich selbst“ nicht auf den Handelnden als Urheber der Pflicht, sondern nur als
Begünstigten der Pflicht beziehen kann. Diese Annahme ist nicht nur begrifflich unpro-
blematisch, sondern auch normativ-ethisch gut rechtfertigbar. Es ist nicht einzusehen,
warum Gott oder das Naturrecht einem Handelnden nur Pflichten auferlegen könnte
bzw. sollte, die Andere begünstigen und nicht ihn selbst. Allerdings setzt eine derartige
Begründung von Pflichten gegen sich selbst die Annahme Gottes bzw. eines Naturrechtes
voraus, die nur auf religiöser oder stark metaphysischer Grundlage möglich ist. Einer
philosophischen, das heißt in der letzten Begründung säkular-immanenten Ethik stehen
diese Annahmen nicht zur Verfügung.
Kant hat als Ursprung der ethischen und moralischen Verpflichtung den einzelnen
Menschen angenommen. Das „moralische Gesetz in mir“ ist für ihn die letzte Quelle
aller ethischen und moralischen Pflichten. Damit ist der Teil des Menschen gemeint,
den er im Gegensatz zum homo phaenomenon als homo noumenon bezeichnet.6 Damit
sind bei allen ethischen und moralischen Pflichten per definitionem Handelnder bzw.
Adressat und Urheber der Pflicht ein und dieselbe Person, da man den Gesamtmenschen
als Verbindung von homo phaenomenon und homo noumenon verstehen muss. Danach
wären dann aber, legte man das obige zweite Verständnis des „gegen“ zu Grunde, alle
ethischen Pflichten per se solche gegen sich selbst. Dies erklärt, warum Kant die Pflichten
gegen sich selbst als Grundlage und Bedingung aller Pflichten bezeichnet hat.7

6 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 206, S.€114.


7 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S.€ 417╛f. Vgl. zu verschiedenen Interpretations-
möglichkeiten: Jens Timmermann, Kantian Duties to the Self, Explained and Defended, Philosophy 81
(2006), S.€505–530, S.€510â•›ff.
276 VIII. Pflichten gegen sich selbst?

Da Kant den Ausdruck „Pflichten gegen sich selbst“ aber wie die traditionelle Auf-
fassung auch in Abgrenzung zu „Pflichten gegen Andere“ verwendet,8 kann er das „ge-
gen“ nicht nur auf den Urheber im Sinne des homo noumenon beziehen. Er muss da-
mit auch den Begünstigten bzw. Belasteten meinen, also den Relationspol gemäß dem
obigen vierten Verständnis. Auch für Kant sind Pflichten gegen sich selbst somit solche
gegen den Begünstigtenâ•›/â•›Belasteten, wobei offen bleibt, welcher Teil des Menschen der
Begünstigteâ•›/â•›Belastete ist, der homo noumenon oder der homo phaenomenon. Insofern
ändert sich nichts gegenüber der traditionellen Auffassung. Wie bei der traditionellen
Auffassung von Gott oder dem Naturrecht als Urheber ethischer Pflichten ist es auch für
Kant begrifflich ganz unproblematisch, Pflichten gegen sich selbst anzunehmen.
Ob derartige Pflichten sachlich aus der kantschen Ethik folgen, hängt von den Spe-
zifika dieser Ethik ab. Wesentliche ihrer Bestimmungsgründe wie die Annahme des ob-
jektiven Gesetzes des Wollens, des Kategorischen Imperativs und der Universalisierung
sprechen jedenfalls nicht dagegen. Wenn das zentrale Kriterium der ethischen Normati-
vität die Möglichkeit der Verallgemeinerung der Maxime im Denken und Wollen ist, so
erscheint es vielmehr gut begründet, nicht zwischen dem Handelnden und Anderen als
Begünstigten zu unterscheiden. Kants Annahme von Pflichten gegen sich selbst ist also
im Rahmen seiner ethischen Theorie einleuchtend.9 Wie bei der traditionellen Auffas-
sung kommt nun aber wieder alles darauf an, ob man das moralische Gesetz im Einzel-
nen als Urheber aller ethischen und moralischen Pflichten, als „Faktum der Vernunft“10
akzeptiert. Für eine metaphysisch möglichst sparsame Ethik ist das problematisch. Und
in Kapitel€V ergab sich, dass die Universalisierung nicht als allgemeines Abwägungsprin-
zip widerstreitender Belange akzeptabel ist, sondern nur in den speziellen Fällen sozialer
Institutionen und Einrichtungen.

4. Die Pflichten gegen sich selbst nach der hier entfalteten Ethik

Wie sind die Pflichten gegen sich selbst vor dem Hintergrund der hier entfalteten me-
taphysisch sparsameren Ethik der fünf Elemente bzw. des normativen Individualismus
zu beurteilen? Zu einer Antwort muss man sich zunächst fragen, welches denn der
Ursprung bzw. Urheber dieser Ethik ist. Das ist eine metaethische Frage. In Kapitel€VI
wurden dazu einige Gedanken skizziert. Die hier vorgeschlagene Ethik fußt auf einer
objektiven Vernunftlösung der Vermittlung zwischen den potentiellen Widersprüchen
von Belangen der jeweils in einer Konfliktsituation Betroffenen. Diese objektive Ver-
nunftlösung wird sich im Regelfall auf die Belange verschiedener Individuen stützen.
Aber die Individuen bzw. deren Belange sind nicht der Urheber bzw. Ursprung der
ethischen Verpflichtung. Der Ursprung ist vielmehr die objektive Vernunftlösung selbst.

8 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 53, 54, S.€421.
9 Kantianer bejahen deshalb auch regelmäßig Pflichten gegen sich selbst. Vgl. etwa Jens Timmermann,
Kantian Duties to the Self, Explained and Defended.
10 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 56, S.€31.
4. Die Pflichten gegen sich selbst nach der hier entfalteten Ethik 277

„Gegen“ diese Vernunftlösung der potentiell widerstreitenden Belange verschiedener


Personen kann man aber natürlich keine Pflichten haben, denn diese Vernunftlösung ist
selbst kein Individuum und damit kein Relationspol, dem eigene ethische Berücksichti-
gungswürdigkeit oder eigener ethischer Wert zukommen könnte.
Denkbar ist aber, dass die potentiell widerstreitenden Belange nur in einer einzigen
Person bestehen. Dann ist auch die Vernunftlösung eine solche dieser einzelnen Person,
allerdings nicht im Sinne einer Willkürentscheidung, sondern im Sinne einer prinzipiell
objektiven Lösung. Urheber der Vernunftlösung ist dann der einzelne Handelnde. Frag-
lich ist in diesem Fall aber, was es heißen soll, dass eine „Pflicht“, das heißt eine „Not-
wendigkeit des Handelns“ besteht. Diese Notwendigkeit geht keinen Millimeter über
die Objektivität der Vernunftlösung hinaus. Ob der Handelnde die Vernunftlösung des
Widerstreits seiner eigenen Belange wirklich handlungswirksam werden lässt, hängt al-
lein von ihm selbst ab. Dann ist aber nicht ersichtlich, welches Phänomen eine solche
zusätzliche „Notwendigkeit des Handelns“ jenseits der Objektivität der Vernunftlösung
bezeichnen sollte. Der Ausdruck „Pflicht gegen sich selbst“ ist insofern sinnlos. Aber
vielleicht gibt es doch einen Sinn? Da sich diese Frage für die zweite Alternative der
Interpretation vergleichbar stellt, wird sie bei deren Diskussion erörtert.
Denkbar bleibt also die zweite Möglichkeit des Verständnisses von „Pflicht gegen
sich selbst“, also die Möglichkeit, die Pflichten gegen sich selbst so zu interpretieren,
dass Handelnder und Begünstigter bzw. Belasteter identisch sind. Dies ist, wie sich ergab,
möglich und kommt gelegentlich vor. Es treten Situationen auf, in denen mehrere di-
vergierende Belange des Handelnden im möglichen oder tatsächlichen Widerstreit ste-
hen, so dass nur er der Begünstigteâ•›/â•›Belastete der objektiven Vernunftlösung ist. Es mag
etwa sein, dass der Handelnde hinsichtlich seiner, nur von ihm selbst zu entscheidenden
Abendgestaltung zwischen einem Trinkgelage und einer Bildungsveranstaltung zu wäh-
len hat. Die Bildungsveranstaltung wird dann unter Umständen seinen ernsthaft abge-
wogenen Belangen besser entsprechen als das Trinkgelage. Die Vernunftlösung spricht
hier also für die Bildungsveranstaltung. Fraglich ist nun allerdings, ob der Handelnde
eine Pflicht zur Wahl dieser Vernunftlösung hat?
Die Beantwortung der Frage nach Pflichten gegen sich selbst hängt an dieser Stelle
nicht nur von der Zuordnung zu einem der Relationspole ab, sondern vom näheren
Verständnis des PflichtbeÂ�griffs, also der Frage, was „Notwendigkeit“ in der Definition
der Pflicht als „Notwendigkeit der Handlung“ genauer bedeutet.
In einer sehr schwachen Lesart könnte „Notwendigkeit“ lediglich bedeuten, dass es
gute Gründe für das fragliche Handeln im Handelnden selbst gibt. Würde man diese
sehr schwache Lesart des Pflichtbegriffs akzeptieren, wäre gegenüber Pflichten gegen
sich selbst nichts einzuwenden. Für das Handeln eines Akteurs kann es in ihm selbst
gute Gründe geben, einen Belang einem anderen Belang vorzuziehen. Der Wunsch ei-
nes Handelnden, am Leben zu bleiben, ist etwa ein guter Grund, nicht der Lust am
Abenteuer zu frönen und eine sehr gefährliche Klettertour zu unternehmen. Nach die-
sem Verständnis hat er eine Pflicht gegen sich selbst, die Tour nicht zu wagen. Aber
dann wären alle Handlungen, die aus bloßen Gründen der Klugheit angeraten sind,
auch durch Pflichten gegen sich selbst geboten. Es bestünde zum Beispiel eine Pflicht
278 VIII. Pflichten gegen sich selbst?

gegen sich selbst, preisgünstig statt teuer einzukaufen, oder sich von der Sonne wärmen
zu lassen, weil es angenehmer ist als zu frieren und somit ein guter Grund besteht. Der
allergrößte Teil unserer Handlungen geschieht aus derartigen guten Gründen, ja für
manche sogar alles Handeln. Aber wir gehen erheblich seltener von einer praktischen
Notwendigkeit und damit einer Pflicht aus, Handlungen zu vollziehen. Niemand glaubt
etwa, dass eine Pflicht gegen sich selbst besteht, preisgünstig statt teuer einzukaufen
oder sich von der Sonne wärmen zu lassen, statt zu frieren.
Die praktische Notwendigkeit, welche einer Pflicht zu Grunde liegt, muss also mehr
sein als das bloße Bestehen guter Gründe, die für ein kluges Verhalten sprechen. Frag-
lich ist aber, worin dieses „Mehr“ liegt und woher es kommt. Ist eine externe, nicht mit
dem Akteur identische Instanz wie Gott oder das Naturrecht Ursprung bzw. Urheber
dieser Notwendigkeit, dann lässt sich die Frage nach dem „Mehr“ der praktischen Not-
wendigkeit leicht beantworten. Diese Instanz legt dem Handelnden die Notwendigkeit
auf, weil sie sein Handeln tatsächlich fordert. Kann dagegen eine derartige externe In-
stanz€– wie in einer säkular-immanenten Ethik€– nicht vorausgesetzt werden, so ist es
schwer, eine Quelle dieser zusätzlichen, praktischen Notwendigkeit jenseits anderer im-
manenter Individuen, deren Pflichten immer solche „gegen Andere“ sind, zu finden.
Die jeweiligen Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, das heißt die Belange,
sind es, die beim Handelnden zu einem möglichen Konflikt führen. Aber es ist nicht
erklärbar, wie sie ihm gegenüber dieses „Mehr“ der zusätzlichen, praktischen Notwen-
digkeit jenseits bloß guter Gründen erzeugen sollten. Es handelt sich nur um seine je ei-
genen Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen. Und sie können ihn zwar€– zumin-
dest bei den Strebungen, Bedürfnissen und Wünschen€– ganz oder wenigstens teilweise
faktisch-biologisch nötigen. Aber sie können bei ihm keine praktische Notwendigkeit
erzeugen, die über diese faktisch-biologische Nötigung sowie die damit geschaffenen
guten Gründe hinausgeht, denn er kann sich€– wie sich in Kapitel€II, 2 ergab€– jenseits
dieser faktisch-biologischen Notwendigkeit beliebig gegenüber diesen eigenen Eigen-
schaften verhalten. Er kann etwa die Befriedigung seiner Bedürfnisse hinauszögern und
seine Wünsche und Ziele ganz aufgeben. Das bedeutet aber, dass er, sofern ein Konflikt
zu anderen Belangen auftritt, diesen Konflikt immer durch eigene Disposition über die
konfligierenden Belange lösen kann. Jenseits bloßer guter Gründe, die eigenen, beste-
henden Belange zu realisieren, kann dann aber kein „Mehr“ an praktischer Notwendig-
keit angenommen werden.
Eine Pflicht ist dagegen jenseits bloßer guter Gründe eine solche Form der prak-
tischen Notwendigkeit, die ihre Unaufhebbarkeit durch beliebige Entscheidung des
Verpflichteten über seine Belange in der konkreten Situation voraussetzt. Würde man
Pflichten gegen sich selbst annehmen, so könnte der Handelnde als Begünstigter diese
Pflicht€ – vorausgesetzt, man lokalisiert sie nicht in Gott, dem Naturrecht oder dem
moralischen Gesetz€– selbst jederzeit durch Veränderung seiner Belange aufheben. Das
ist jedoch mit einem gehaltvollen Pflichtbegriff im Sinne praktischer Notwendigkeit
nicht vereinbar.
Worin besteht also die Differenz in der Notwendigkeit zu Pflichten gegen Andere?
Die Differenz besteht in der Möglichkeit, über die Belange und damit über den mög-
4. Die Pflichten gegen sich selbst nach der hier entfalteten Ethik 279

lichen Konflikt zwischen den Belangen zu disponieren. Während der Handelnde über
seine eigenen Belange disponieren kann (mit Einschränkungen bei den Strebungen), ist
ihm dies per definitionem hinsichtlich der Belange anderer Betroffener nicht möglich,
sonst wären es nicht die Belange Anderer, sondern seine eigenen. Andere Betroffene
stellen ihm vielmehr ihre Belange aus ihrer Eigenständigkeit entgegen. Das bedeutet
aber, dass andere Betroffene eine ethische bzw. moralische Abwägungssituation erzwin-
gen können, ohne dass der Handelnde dies wie bei den eigenen Belangen durch Dis-
position über diese Belange zu ändern vermöchte. Die Tatsache der Nichtdisponibilität
wesentlicher konfliktkonstituierender Belange erzeugt eine Notwendigkeit, die jenseits
der bloßen, sehr schwachen Notwendigkeit guter Gründe stärkere Kraft gegenüber dem
Handelnden entfaltet. Es ist eine Notwendigkeit, die ihre Verpflichtungsmacht aus der
in den Belangen der Anderen enthaltenen Normativität schöpft. Diese verpflichtende
Kraft muss sich€– wie sich im Kapitel€VI zur Metaethik ergab€– zwar der Objektivie-
rung durch eine Vernunftlösung unterwerfen. Ist dies aber geschehen und ist somit eine
Verbindung der Verpflichtung durch Andere und der objektiven Vernunftlösung des
Konflikts entstanden, so erzeugt diese Kombination eine Kraft der praktischen Not-
wendigkeit, die der Handelnde durch vernünftige Entscheidung zwischen seinen eige-
nen konfligierenden Belangen nie erreichen kann. Nur diese praktische Notwendigkeit
kann außer den Forderungen Anderer vernünftigerweise als Pflicht angesehen werden,
nicht aber bereits alle guten Gründe im Handelnden, zwischen verschiedenen Belangen
auszuwählen.
Aber wie erklären sich dann die typischen Handlungen, für welche die Befürwor-
ter von Pflichten gegen sich selbst solche Pflichten regelmäßig annehmen, etwa die
Verhinderung der Selbstversklavung oder der Selbsterniedrigung? Unterscheiden sich
derartige Handlungen nicht doch kategorial von trivialen Klugheitsentscheidungen des
Alltags, wie preiswert statt teuer einzukaufen? Der Unterschied zu derart trivialen Klug-
heitsentscheidungen liegt bei Handlungen wie der Selbstversklavung und der Selbster-
niedrigung wenigstens in vier Aspekten:
Zum Ersten verletzen derartige Handlungen regelmäßig auch Pflichten gegen An-
dere. Denn derjenige, der sich selbst versklavt oder erniedrigt, missachtet ja auch eine
Pflicht gegenüber dem Versklaver und Erniedriger, weil er es ihm ermöglicht, sich durch
derartige Handlungen selbst zu schädigen. Der Versklaver und Erniedriger handelt
durch die Versklavung und Erniedrigung gegen seine eigenen Belange, weil er sich zu
einem unethisch instrumentalisierenden und damit bösen Menschen macht. Den Han-
delnden trifft in jedem Fall auch eine Pflicht, nicht bei derartigen Selbstschädigungen
des Versklavers mitzuwirken. Angesichts der Schädigung des Versklavten mag die Selbst-
schädigung des Versklavers geringer wiegen. Aber sie ist nicht vollkommen neutral.
Zum Zweiten verstoßen derartige Handlungen in besonders starkem Maß gegen
außerordentlich wichtige Belange des Handelnden. Wer sich versklavt, beraubt sich für
die Zukunft der Möglichkeit, eigene Bedürfnisse, Wünsche und Ziele zu verwirklichen
und verletzt damit das grundsätzliche, auf einer Metaebene angesiedelte Interesse, seine
eigenen Belange zu realisieren, also seine eigene Menschenwürde. Es sprechen somit
überragende Gründe der Klugheit gegen derartige Handlungen.
280 VIII. Pflichten gegen sich selbst?

Zum Dritten entsteht durch Handlungen wie die Versklavung und Erniedrigung
auch generell großer sozialer und politischer Schaden für alle. Da es aber auch ethische
Pflichten gegenüber den Anderen im Rahmen der jeweiligen Gemeinschaft gibt, ist ein
ethisches wie moralisches und rechtliches Verbot derartiger Praktiken leicht zu erklären
und zu rechtfertigen.
Zum Vierten gefährden Selbstversklavung und Selbsterniedrigung die Realisation
des ethischen Grundprinzips des normativen Individualismus, weil derjenige, der sich
selbst versklavt oder erniedrigt, quasi das Niveau der eigenen Betroffenheit durch die
Handlungen Anderer gegen seine eigenen grundsätzlichen Interessen herabdrückt, also
die normativ-ethische Abwägung praktisch einschränkt.
Im Ergebnis besteht also auch im Fall dieser Beispiele der Selbstversklavung oder
Selbsterniedrigung kein praktisches Bedürfnis, Pflichten gegen sich selbst anzunehmen,
weil gegen derartige Handlungen sowohl Pflichten gegen Andere und die Gemeinschaft
als auch überragende Gründe der Klugheit im Verhältnis zu sich selbst sprechen.
IX. Typen von Pflichten

Die Pflichten, welche die Ethik rechtfertigt und kritisiert, lassen sich in verschiedener
Weise weiter typisieren. Mit Bezug auf die grundlegende Vermittlungssituation gegen-
über Anderen kann man drei Typen unterscheiden, je nachdem, ob der jeweilige Akteur
verpflichtet ist, (1) die Grenze des Betroffenheits�raums, der durch die Manifestation
seiner Belange vom Anderen geÂ�zoÂ�Â�gen wird, nicht gegen dessen WilÂ�len zu überschreiten,
also in einem stärkeren normativen Sinn etwas zu unterlassen, (2) dem Anderen unter
ÜberÂ�schreiÂ�tung dieser Grenze Hilfe zu leisten, also in einem stärkeren normativen Sinn
etwas zu tun, (3) in einer Gemeinschaft mit dem Anderen bestimmte Handlungen vor-
zunehmen.
Typ (1) forÂ�muliert das Verbot einer InÂ�Â�Â�terÂ�essenbeeinträchtigung durch Überschrei-
tung der gedachten Grenze zwischen den Interessenräumen, also das Gebot des Unter-
lassens von Verletzungen, Schädigungen und Beeinträchtigungen, Typ (2) das Gebot
der Hilfe und des Handelns für den Anderen,1 Typ (3) die Verpflichtung zum Tun und
Unterlassen in und aufgrund von Gemeinschaften.

1. Unterlassenspflichten

Zum Verständnis des ersten Typs von Pflichten, des Gebots, Verletzungen, Schädigun-
gen usw. zu unterlassen, wird zunächst noch etwas genauer untersucht, was geschieht,
wenn ein Akteur die Grenze des Betroffenheitsraums eines Anderen gegen oder ohne
dessen Einverständnis überschreitet. Zunächst wird man feststellen müssen, dass darin
eine Art faktischer Verpflichtung liegt, weil der Andere zur Duldung der Interessenbeein�
trächtigung gezwungen wird. Da aber die Ableitung zwiÂ�schen den unterschiedlichen
Sprechakttypen der Beschreibung, Bewertung und Verpflichtung keine logisch gültige
ist,2 ist ein derartiges Verhalten bereits im rein intrapersonalen Akteursmodell nicht
logisch rechtfertigbar. Möglich ist ledigÂ�lich eine schwaÂ�che Form der Plausibilisierung
durch AufÂ�bau eines möglichst kohärenten horiÂ�zontalen und vertikalen RechtfertiÂ�
gungsnetzes. Dieses Netz weist grundÂ�sätzlich eine TenÂ�Â�denz zur Anbindung an die je
eigenen vegetativen Le�bensfunktionen, also die eigenen Strebungen auf. Leidet man

1 In der englischsprachigen Literatur wird hier häufig von „negative“ und „positive duty“ gesprochen. Mir
erscheint das weniger plastisch als die hier vorgeschlagenen Ausdrücke. Damit soll aber kein Unterschied
in der Sache behauptet werden.
2 Vgl. Verf., Deskription, Evaluation, Präskription, S.€280â•›ff. Gerhard Ernst, Die Objektivität der Moral,
Paderborn 2008, S.€41╛ff., nimmt eine Ableitung von Verpflichtungen aus Wertungen an, ohne die unter-
schiedlichen Typen von Sprechakten zu beachten.
282 IX. Typen von Pflichten

Hunger, ist dies ein guter Grund zu essen. Langweilt man sich, so begründet dies intra-
personal eine schwache RechtÂ�fertigung, sich nach einer TätigÂ�keit oder einem Ereignis
umzusehen, welches einem die Langeweile vertreibt.
Fraglich ist im Rahmen der interpersonalen Erweiterung des Modells aber nun,
ob Hunger auch einen BrotÂ�diebstahl und Langeweile ein Anpöbeln Anderer rechtÂ�
fertigen. Voraussetzung dafür wäre zunächst, dass man seine Interessen nicht anderÂ�
wei�tig befriedigen kann. Diese Anforderung ergibt sich schon aus dem intra�personalen
RechtÂ�fertiÂ�gungsÂ�beÂ�dürfÂ�nis. Nur wenn man keine eigenen Lebensmittel hat, ist der Brot-
diebstahl€– der ja einen gewissen Aufwand erfordert und ein gewisses Risiko mit sich
bringt€– erwägenswert. Nur wenn kein besseres Mittel zur Vertreibung der LanÂ�geweile
zur Verfügung steht, kann das Anpöbeln eines AnÂ�deren überhaupt aus der reduzierten
Sicht des Akteurs in Frage kommen.
Ist diese intrapersonale Voraussetzung des Fehlens einer besseren Alternative erfüllt,
gilt für die Frage der interÂ�personalen Rechtfertigung: Der jeweils betroffene Andere
braucht die schwache intrapersonale RechtfertiÂ�gung, die dem Akteur als tatsächlicher
oder vielleicht sogar als guter Grund für sein Verhalten erscheint, nicht anzuerkenÂ�nen.
Nur spezielle ZuÂ�satzannahmen, wie etwa eine vorherige VerpflichÂ�tung, für den Un-
terhalt des Anderen zu sorgen, oder eine geÂ�meinÂ�schaftÂ�Â�liche Güterproduktion in einer
VolksÂ�wirtschaft, können dieses Ergebnis ändern. Darauf und auf das Beispiel des Brot-
diebstahls wird zurückzukommen sein. Für das Beispiel des Anpöbelns zum Zeitvertreib
ist die Situation aber klar. Die einzige mögliche schwache Rechtfertigung im Rechtfer-
tigungsnetz des Akteurs ist seine eigene LanÂ�geweile. Irgendwelche kulturellen Bräuche
oder geÂ�meinÂ�schaftÂ�lichen Aktionen, die zu einer Rechtfertigung führen würden, sind
in unseren Breiten nicht bekannt. Da die eigene schwache Begründung keine interÂ�
subjektive Gültigkeit beanspruchen kann, oder anders ausgedrückt, da ein entsprechen-
der Belang der Relativzone, die eigene Langeweile zu überwinden, schwächer wiegt als
der Belang des Anderen, nicht beleidigt und psychisch verletzt zu werden, ist das Anpö-
beln des Anderen deshalb grundsätzlich nicht gerechtÂ�fertigt.
Im Rahmen des Minimalmodells der je eigenen Interessenräume ist kein Grund
erÂ�sichtÂ�lich, warum der andere Betroffene die je eigene schwache Rechtfertigung des Tä-
ters mit dem Verweis auf dessen eigenes intrapersonales Rechtfertigungsnetz als recht-
fertigend anerkennen müsste. Er mag zwar vielÂ�leicht zuÂ�zugestehen haben, dass er das
entsprechende Rechtfertigungsnetz des Akteurs in seiner Lage auch als schwa�che Recht-
fertigung akzeptieren würde, wenn er sich in die Situation des Akteurs hineinÂ�versetzen
würde. Aber auch wenn er dieses hypothetische Gedankenexperiment durchführen
könnte, ist kein Grund ersichtlich, warum ihn dies zur tatÂ�sächlichen AnerÂ�kennung die-
ser hypothetischen Rechtfertigung und zur Duldung verpflichten sollte. Der Ak�teur
mag für sich wegen seiner Langeweile ein plausibles Interesse entwickelt haben, andere
anzupöbeln. Dies begründet aber für den potentiell Betroffenen keine VerÂ�pflichÂ�tung,
sich anpöbeln zu lassen. Die hypothetische Möglichkeit des gedanklichen PerÂ�spektiÂ�venÂ�
wechsels rechtfertigt keine reale Verpflichtung. Selbst wenn ihm das Anpöbeln nicht viel
ausmachen würde, während für den Akteur damit ein großer Lustgewinn verÂ�Â�bunden
wäre, gälte nichts anderes. Es ist keine RechtÂ�fertiÂ�gung zu erkennen, warum der Betrof-
1. Unterlassenspflichten 283

fene eine BeÂ�einträchtigung seiner Belange in Kauf nehmen müsste, um dem abstrakten
utilitaristischen Glückskalkül zu genügen. InsÂ�gesamt ist also kein Grund ersichtlich,
warum der Betroffene im jeweiligen EinzelÂ�fall eine nicht konsentierte Überschreitung
der Grenze seines Betroffenheits�raums akzeptieren soll�te.
Die Beachtung der Interessen des Anderen ist somit in der jeweiligen Situation
durch den spezifischen Aufbau je individuelÂ�ler Interessenräume quasi ex negativo des-
halb geboten, weil dem Akteur ein interpersonal zwingender Grund zur ÜberschreiÂ�tung
des Betroffenheitsraums des Anderen fehlt. Er kann jenseits der Grenze des eigenen
BetroffenheitsÂ�raums der schwach intrapersonal geÂ�rechtÂ�ferÂ�tigten Normativität des Inter-
essenraums des Anderen nichts ent�gegensetzen. Da es aber der Akteur ist, der die Grenze
überschreitet, müsste er zur Legitimation dieser ÜberÂ�schreitung plausible interpersonal
überzeugende Gründe haben. Diese können nicht nur in dem je eigenen intrapersoÂ�naÂ�
len Recht�fertigungsnetz liegen, weil dieses als schwache Rechtfertigung lediglich zur je
eigenen intra�perso�na�len Plausibilisierung des Akteursverhaltens und zum Aufbau eines
je eigenen Inter�essenraums dienen kann.
Mit seiner Überschreitung der Betroffenheitsgrenze des Anderen nimmt der Ein-
dringling für sich in Anspruch, auf Grund seiner schwachen intrapersonalen Rechtfer-
tigung auch eine interpersonale Rechtfertigung herstellen zu können. Sein Verhalten
impliziert, dass der eigene Betroffenheitsraum auch ohne Einwilligung des Anderen
und ohne dass dieser aus sonstigen interpersonalen GrünÂ�den zur Duldung verpflichtet
wäre, ausÂ�gedehnt werden darf. Dann darf der Akteur sich aber nicht beklagen, wenn der
Betroffene ihn seinerseits in einem Akt der Notwehr am Ein�dringen in seinen eigenen
Betroffenheitsraum hindert oder ihn daraus wieder zurückdrängt, denn dies geÂ�schieht
dann ebenfalls im Rah�men der je eigenen intraper�sonalen Interessenwahrung.
Die Tragfähigkeit des hier skizzierten interpersonalen Modells der Verpflichtung zur
Beachtung der Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele des Anderen manifestiert sich
deshalb in der Anerkennung eines Notwehrrechts des Be�troffenen, dessen Interessenraum
tangiert wird. Das Notwehrrecht muss dabei weit interpretiert werden. Es beschränkt sich
nicht auf einen juristiÂ�schen Rechtfertigungsgrund, sondern ist auch für die Moral und die
anderen primären Normordnungen zentral. Es stellt quasi die berechtigende Ergänzung der
Verpflichtung zur Berücksichtigung der Belange des Anderen und zur Unterlassung von Be-
langverletzungen dar. Das Notwehrrecht des Betroffenen und die Pflicht zur Be�ach�tung der
Belange des Anderen durch den Akteur sind zwei Seiten einer Medaille. Der Betroffene darf
die Überschreitung der Grenze seines Betroffenheitsraums mit Hilfe der Notwehr zuÂ�rückÂ�Â�
weisen, weil der Akteur keine Rechtfertigung für das Eindringen in den BeÂ�troffenÂ�heitsÂ�raum
des Anderen hat. Der Antagonismus von Beeinträchtigung und ZuÂ�rückweisung erwächst
aus dem Antagonismus von Akteur und Betroffenem. Das ethisch begründete Notwehr-
recht umfasst insbesondere auch verbale Verpflichtungen. Denn gegenüber der faktischen
Notwehrreaktion des Betroffenen zur Abwehr desjenigen, der in seinen Interessen�raum ein�
dringt, ist die verbale Zurückweisung regelmäßig das mildere Mittel, solange sie sich darauf
beÂ�schränkt, eine Verletzung des eigenen Interessenraums zu verÂ�Â�hinÂ�dern. Der Akteur muss
ein solches verbales Abwehrgebot der Form „Unterlasse eine VerÂ�letzung meiner Belange!“
hinnehmen, denn solange er die BetroffenheitsÂ�grenze des anderen nicht überschreitet, wird
284 IX. Typen von Pflichten

er durch das Gebot nicht tangiert. Sobald er die BetroffenheitsgrenÂ�ze aber überschreitet,
ak�tualisiert sich gleichsam in derselben logischen Sekunde die Berechti�gung, den Eindring�
ling auf diesem Wege zurückzuweisen. Zwei Beobachtungen mögen die basale Stellung der
Notwehr auch im RahÂ�Â�men einer ethischen Begründung verdeutlichen.
Der moderne Staat beansprucht zwar ein umfassendes Gewaltmonopol für sich. Er
verÂ�zichÂ�Â�tet aber an zentraler Stelle darauf. Den Bürgern ist zur Abwehr von Angriffen
AnÂ�Â�derer ein NotwehrÂ�recht eingeÂ�räumt.3 Angriffe auf ihren Interessenraum müssen die
BürÂ�ger nicht dulden. Die Abwehr kann dabei in extremen Fällen bis zur Tötung des
Angreifers gehen. Verzichtet der Staat trotz der Gefahr von Notwehrexzessen auf die
vollständige Durchsetzung seines GewaltÂ�moÂ�noÂ�pols, kann dahinter nur die Anerken-
nung einer sehr grundlegenden ethi�schen Posi�tion stehen.
Interessant, aber wenig beachtet ist, dass Hobbes im Naturzustand und damit also
vor jeder Konstitution staatlicher Institutionen unabhängig von seinem vertragstheoÂ�
retischen KalÂ�kül zur Einsetzung des „Leviathan“ ein natürliches Recht auf Notwehr
anerkannt hat.4 Man kann sich fragen, warum Hobbes dann nicht auch zur Anerken-
nung einer korrespondierenden Verpflichtung zur Beachtung des Betroffenheitsraums
der Anderen gekommen ist. Die Antwort dürfte in seiner naturalistischen Willens- und
Freiheitstheorie liegen. Hobbes postuliert als „natürliches Recht“ (jus naturale) die Frei-
heit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen
Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach
eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignete Mittel ansieht.5
Hobbes folgert daraus, dass im Naturzustand des Krieges aller gegen alle ein jeder ein
Recht auf alles hat, selbst auf den Körper des Anderen. Hobbes sieht aber nicht, dass
beides im Widerspruch zueinander steht, das Recht eines jeden auf alles und das Not-
wehrrecht der Betroffenen. Er missachtet, dass eine naturalistische Rechtfertigung der je
eigenen Interessenverfolgung des Akteurs zwar für den intrapersoÂ�nalen Bereich adäquat
ist, nicht aber für den interÂ�personalen. Hier wird das „natürliche Recht“ eines jeden von
vornherein durch die Interessensphäre der betroffenen Anderen und deren Notwehrrecht
beschränkt, weil sich kein Übergriff interpersonal rechtfertigen, nur allenfalls (schwach)
naturalistisch mit Verweis auf die je eigene intrapersonale Situation erklären lässt.

3 §§ 32–35 StGB, 227–231 BGB, 904 BGB. Neben der Notwehr im eigentlichen Sinne (also der AbÂ�wehr
eines menschlichen Angriffs) sind hier auch der sog. „Notstand“ und die „Selbsthilfe“ geregelt. Sie setzen
keinen menschlichen Angriff, sondern nur eine Gefahr für Rechtsgüter des Betroffenen voraus. Insofern
haben diese Normen aber eine notwehrähnliche Struktur. Es handelt sich quasi um die Abwehr eines
Angriffs ohne direkten Angreifer, also etwa durch eine Naturkatastrophe, ein Unglück usw. Unschuldi-
ge Dritte dürfen aber bei dieser Abwehr nur unter bestimmten eingeschränkten Bedingungen tangiert
werden.€– Es gibt im deutschen Recht noch wenigstens zwei weitere Ausnahmen vom Gewaltmonopol
des Staates. § 127 Strafprozessordnung gibt jedem Bürger ein FestnahÂ�merecht, wenn jemand auf frischer
Tat bei einer Straftat ertappt wird. Der Bürger wird hier also als Hilfspolizei des Staates tätig. Art. 20 IV
Grundgesetz eröffnet ein Widerstandsrecht gegen den, der es unternimmt, die verfasÂ�sungsmäßige Ord-
nung zu beseitigen. Hier leistet der einzelne quasi dem Staat Nothilfe, der dazu nicht in der Lage ist.
4 Thomas Hobbes, Leviathan, S.€92.
5 Thomas Hobbes, Leviathan, S.€91.
2. Tuns- bzw. Hilfeleistungspflichten 285

Angemerkt sei noch, dass die hier skizzierte Verpflichtung zur Berücksichtigung der
Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele des Anderen nur für die jeweilige Situati-
on mit echter normativer Kraft gilt. Die Ver�pflich�tung zur Be�achtung des Anderen be-
zieht ihre NormativiÂ�tät aus der KonstiÂ�tuierung des Interessenraums durch den Anderen.
Man kann zwar im Wege der praktischen Induktion aus der jeweiligen Be�rechtigung der
einzelnen Betroffe�nen in den jeweiligen Situationen die allge�meine Prima-facie-Regel zur
Berücksichtigung des Anderen gewinnen. Diese induktive Verallgemeinerung führt aber
nicht zu einem universellen praktiÂ�schen Prinzip mit gleich starker normativer Kraft für den
EinzelÂ�fall€– wie einzelne Naturbeobachtungen kein Naturgesetz rechtfertigen können, das
nicht im EinÂ�zelfall falsifizierbar wäre.

2. Tuns- bzw. Hilfeleistungspflichten

Für den zweiten Pflichttyp, also die Verpflichtung des Anderen zur aktiven HilfeleiÂ�stung
bzw. zum Handeln unter Überschreitung der Grenze des eigenen Betroffenheitsraums,
gibt das soeben skizÂ�zierte Rechtfertigungsmodell keine Begründung. Im Rahmen des
einfachen MoÂ�dells der Betroffenheitsräume als Abwehrräume kann die Forderung nach
HilfeÂ�leistung nicht durch Aufbau eines adäquaÂ�ten, intersubjektiv verpflichtenden RechtÂ�Â�Â�
ferÂ�tigungsÂ�netzes begründet werden. Es bedarf anderer RechtÂ�fertigungsÂ�geÂ�sichtsÂ�punkte,
die das soeben skizzierte Modell in speziellen Fällen überlagern. Sie setzen ein vorhe-
riges, spezifisches Verhältnis zwischen Akteur und Anderem voraus und sind deshalb
grundsätzlich schwächer als Unterlassenspflichten, was sich aber natürlich im Einzelfall
unter zusätzlichen Bedingungen umkehren kann.
Ein solches spezifisches Verhältnis besteht etwa, wenn durch ein vorÂ�heriges Verhal-
ten Belange des Anderen hervorgeru�fen wurden. Zen��trales Beispiel sind die Pflichten
von Eltern gegenüber ihren Kindern. Wer einen anderen Menschen in die Welt setzt
oder adoptiert, ist auch für die aktive Berücksichtigung seiner Belange verantwortlich,
solange sich diese in ei�nem normalen und voraus�seh�baren Rahmen halten und der An-
dere sich nicht selbst helfen kann. Anders als etwa Hans Jonas meint,6 erzeugt also nicht
nur die Faktizität der Eltern-Kind-SituaÂ�tion eine normative Verpflichtung zur Verant-
wortung, sondern auch das vorhergehende Verhalten der El�tern.
Ein zweiter, das Grundmodell überlagernder Gesichtspunkt besteht in gegenseiti-
gen Vereinbarungen oder Versprechen, wobei diese auch faktisch oder stillschweigend
geschlossen bzw. gegeben werden können. Das SozialÂ�verÂ�halten der Menschen in einer
Gruppe, in einer räumlichen oder zeitlichen Nähebeziehung, in einem Staat oder auch
in einer Freundschaft erzeugt eine Fülle solcher geÂ�genÂ�seitiger Verpflichtungen zu HilfeÂ�
leistung und kooperativem Verhalten.
Man kann zwar theoretische Fälle der Begegnung zwischen FremÂ�den konstruieren,
in denen keine solche Verpflichtung besteht. Treffen sich etwa ein Mensch und ein Au-
ßerirdischer, die vorher nie miteinander direkt oder indirekt Kontakt hatten, so besteht

6 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a.M. 1984, S.€189.


286 IX. Typen von Pflichten

zwar eine negative Pflicht, die Belange des je Anderen nicht zu beeinträchtigen, also ihn
nicht zu töten, zu verletzen, zu schädiÂ�gen usw., nicht aber eine positive Pflicht, ihm durch
ein Tun zu helfen. Man mag im Falle der Verweige�rung einer sol�chen Hilfe den Akteur
als schlechten und kaltherzigen Menschen ansehen und ihn des Verrats an einem Hu-
manitätsideal zeihen. Man mag ihm entgegenhalten, er habe einem geÂ�nerellen oder konÂ�
kreten aufgeklärten Eigeninteresse zuÂ�widerÂ�gehandelt, weil er bald selbst hilfsÂ�bedürftig
sein könnte. Man kann ihm aber nicht vorwerfen, er habe eine positive moralische
Pflicht zur Hilfeleistung missachtet. Realiter ist eine vergleichbare Situation naÂ�türÂ�lich
heute zwischen Menschen nicht mehr denkbar. Mittlerweile bestehen auf�grund der welt�
umspannenden Medien das Bewusstsein globaler InterÂ�depenÂ�denz und Solidarität und
die Er�war�tung der Hilfeleistung in Notsituationen. Wer sich heute zu einer Ex�pe�di�tion
auf�macht, der erwartet, dass ihm in Notsituationen geholfen wird oder er An�de�ren helfen
muss. Und er kann dies im Urteil aller auch erwarten. Dies genügt, um eine Pflicht zur
Hilfeleistung zu erzeugen, allerdings nur eine re�la�tiv schwache Pflicht. Der Helfer muss
etwa nicht sein Leben aufs Spiel setzen.
Ein dritter Gesichtspunkt, der Handlungspflichten erzeugt, besteht in der frei�
willigen Begründung und Fortführung gemeinsamer Projekte, zu denen jeder einen
Bei�trag leistet und von denen alle profitieren. Verzichten die Mitglieder einer Gesell-
schaft im Inter�esse aller auf ihre Existenzsicherung als subsisten�z�wirtschaf�tende Bau-
ern und ein Leben in Großfamilien, so impliziert dies die positive Verpflichtung der
Gesell�schaft und jedes Ein�zel�nen zur Sicherung und Hilfe in Notlagen, wie Krankheit
und Arbeitslosigkeit. Im obigen Fall desjenigen, der Hunger leidet und deshalb Brot
stiehlt, gilt also: In einer Gesellschaft wie der deutschen, die im Interesse aller eine stark
ar�beitsteilige und hochindustrialisierte Wirt�schafts�ord�nung etabliert hat, erwirbt der
einzelne Betroffe�ne einen Anspruch auf die Versorgung mit Nahrungs�mitteln und dem
Nötigen zum Leben gegenüber der GeÂ�meinschaft und jedem einÂ�zelnen Mitglied. Be-
steht eine gemeinschaftliche Institutionalisierung der Lei�stungen der Gesellschaft, wie
zum Beispiel bei der Sozialhilfe, und liegt kein akuter Notfall vor, so ist allerdings eine
Subsidiarität der individuellen Hilfeleistung geÂ�rechtÂ�Â�ferÂ�tigt, um ungleiche Belastungen
zu vermeiden. Der Brotdiebstahl wäre demnach dann nicht gerechtfertigt, wenn der
HungÂ�rige ohne größere Schwierigkeiten Hilfe vom Sozialamt oder karitativen Einrich-
tungen erlangen könnte. Wäre dagegen die Alternative BrotÂ�diebÂ�stahl oder VerÂ�hunÂ�gern,
so hätte der Bestohlene in einer Gesellschaft wie der deutschen eine VerÂ�pflichÂ�Â�tung zur
Hilfe gegenÂ�über dem Verhungernden. Der BrotdiebÂ�stahl wäre ethisch und moralisch
gerechtÂ�ferÂ�tigt. Er wäre im Übrigen auch nicht strafbar, denn es läge nach § 34 StGB ein
recht�fer�ti�gen�der Not�stand vor.

3. Gemeinschaftspflichten

Besteht über die bloße Interaktion hinaus eine stärkere Bindung zwischen Akteur und
Anderem, die beide als Gemeinschaft in einem engeren Sinn ansehen, etwa eine Ehe,
Familie, Freundschaft usw., so erwachsen spezifische Pflichten der Aufrechterhaltung
3. Gemeinschaftspflichten 287

und Förderung der Gemeinschaft. Gemeinschaften werden dergestalt als ein zeitlich,
räumlich, geistig, körperlich, emotional, wirtschaftlich usw. enger bindendes Verhältnis
konstituiert, so dass die Nichtweiterführung der Gemeinschaft als eine negative Form
von Auflösung begriffen wird. Es gibt zwei Arten von Gemeinschaften: natürlich-fak-
tische und gewollte Gemeinschaften. Natürlich-faktische Gemeinschaften entstehen
durch das faktische Zusammenleben. Dabei können Verwandtschaftsbeziehungen eine
Rolle spielen, zum Beispiel Eltern und Kinder, Geschwister, die zusammenleben, usw.
sie sind aber nicht allein ausschlaggebend. Gewollte Gemeinschaften entstehen durch
Entschluss der Mitglieder, zum Beispiel Ehe, Liebesbeziehung, enge Freundschaften,
Staat, Gemeinde, Verein, Kirche, Orden, Unternehmen, Gewerkschaft, Verband. Viele
Gemeinschaften sind Mischformen. Das heißt, sie haben sowohl eine natürlich-fakti-
sche als auch eine gewollte Komponente.

Man kann somit systematisierend drei Näheformen unterscheiden:

(1) Vollkommen Fremde€– kein Verhältnis (Differenz): Akteur und Anderer hatten nie
vorher Kontakt und stehen auch nicht in einer durch Dritte vermittelten Relation zu-
einander. Beispiel: Menschen treffen auf Außerirdische. Mit dem ersten Kontakt ent-
steht aber bereits eine Form des Verhältnisses. In der globalisierten Welt sind heute alle
Menschen über Handel und Kommunikation miteinander verbunden, so dass diese
Verhältnisform zwischen Menschen nicht mehr vorkommt.

(2) Beziehungâ•›/â•›Bekanntschaft€– Verhältnis (Relation): Zwischen Akteur und Anderem


besteht eine Beziehung, die entweder direkt ist wie beispielsweise bei Bekanntschaften,
Freundschaften, Geschäftsbeziehungen, Handelsbeziehungen, funktionalen Alltags-
beziehungen, etwa zwischen Richter und Angeklagtem, oder indirekt, beispielsweise
vermittelt durch gemeinsame Institutionen, Siedlungsräume, Handels- und Kommuni-
kationsbeziehungen. Diese Gruppe von Relationen ist nicht homogen, denn derartige
Beziehungen können sehr unterschiedlich intensiv sein, zum Beispiel ist die Beziehung
zwischen Bewohnern eines Dorfes naturgemäß enger als zwischen den Bewohnern eines
Landes, und diese ist wiederum enger als die Beziehung zwischen allen Menschen auf
der Erde.

(3) Gemeinschaft als solche (Identität): Es besteht eine Beziehung zwischen Akteur und
Anderem, die beide über die bloße Interaktion hinaus als Gemeinschaft ansehen. Ge-
meinschaften werden dergestalt als ein zeitlich, räumlich, geistig, emotional, körperlich,
wirtschaftlich usw. identitäres Verhältnis interpretiert, so dass die Nichtweiterführung
der Gemeinschaft als eine Form von Auflösung begriffen wird.

Als erstes grundlegendes Prinzip zur fairen Abwägung der Interessen im Konflikt ergab
sich in Kapitel€ V, 6 das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemein-
schaftsabhängigkeit der Individualbelange. Das führt zu einer Proportionalität zwischen
Nähe des Verhältnisses und Ausmaß der Verpflichtung. Je enger und dauerhafter das
288 IX. Typen von Pflichten

Verhältnis zwischen Akteur und Anderem ist, desto mehr dürfen sie wechselseitig von-
einander verlangen. Das hat zwei zentrale Konsequenzen. Es entscheidet zum einen
darüber, welche Art von Belangen des Anderen zu berücksichtigen sind: Unterlassungs-
interessen, Hilfeleistungsinteressen oder auch Gemeinschaftsinteressen. Es entscheidet
zum anderen über die wechselseitige Verschränkung der Lebens- und Interessenräume.
Je intensiver das Verhältnis zwischen Akteur und Anderem ist, desto tiefer dürfen sie
mit ihren Forderungen und Verpflichtungen sowie Handlungen in den Lebens- und
Interessenraum des Anderen eindringen. Das führt zu einem Kontinuum mit drei Ab-
schnittspunkten:

4. Pflichten zwischen Fremden

Zwischen vollkommen Fremden, wenn also keinerlei Beziehung besteht, wird man nur
fordern können, dass der Akteur Eingriffe in den Lebens- und Interessenraum des An-
deren unterlässt. Der Andere hat also einen Abwehranspruch. Er darf vom Akteur nicht
getötet, verletzt, geschädigt, missachtet oder sonst negativ behandelt werden. Der Ak-
teur darf eine gleiche bzw. faire Grenze der beiderseitigen Interessenräume nicht über-
schreiten.

A A

K N

T D

E E

U R

R E

Das Fehlen einer vorherigen Beziehung zwischen Akteur und Anderem impliziert wei-
terhin, dass der Andere vom Akteur vor allem verlangen kann, dass dieser ihn in seinen
äußerlich manifest werdenden Handlungen und Handlungskonsequenzen berücksich-
tigt. Zentral sind hier also für die Interessenkoordination beim Akteur von den Hand-
lungsteilen die Handlungsdurchführung (sechs) und die Konsequenzen (sieben). Der
Handlungswille (Element fünf ) gehört untrennbar zur Handlung. Die Zweck-Mittel-
Abwägung (vier) und die Absicht des Akteurs (drei) sind eng mit der Handlung verbun-
den, so dass sie sekundär und schwächer auch noch zu berücksichtigen sind. Der Andere
kann aber vom Akteur im Regelfall nicht verlangen, dass der Akteur seine Wünsche,
Überzeugungen (zwei) und innere und äußere Bedingungen wie Tugenden, Gefühle,
Beruf, Lebenssituation (eins) verändert. Umgekehrt kann der Andere aber im Regelfall
5. Pflichten zwischen Bekannten 289

auch nicht verlangen, dass seine inneren und äußeren Bedingungen wie Tugenden, Ge-
fühle und die allgemeine Lebenssituation berücksichtigt werden, sofern er sie nicht zum
Gegenstand äußerlich manifester Belange macht.

A (1) Bedingungen (1) Wille / Ziel / Absicht A

K (2) Wunsch / Überzeugung (2) Wunsch / Überzeugung N

T (3) Ziel (3) Bedürfnisse D

E (4) Zweck-Mittel-Abw. (4) Strebungen E

U (5) Wille R

R (6) Handlung E

(7) Konsequenzen R

5. Pflichten zwischen Bekannten

Besteht dagegen eine vorherige Beziehung gleich welcher Art zwischen Akteur und An-
derem, so erfolgt eine wechselseitige Verschränkung der Lebens- und Interessenräume.
Und zwar geschieht dies proportional zur Intensität der Beziehung. Das bedeutet: Je
intensiver die Beziehung zwischen Akteur und Anderem ist, desto enger wird die Ver-
schränkung der Lebens- und Interessenräume. Dies hat zunächst zur Folge, dass der
Andere vom Akteur nicht nur das Unterlassen von Eingriffen, sondern auch aktive Hilfe
verlangen kann. Der Andere hat also gegenüber dem Akteur nicht nur einen Abwehr-,
sondern einen Hilfsanspruch. Diese Pflicht zur Hilfe ist umso intensiver, je enger das
Verhältnis von Akteur und Anderem ist (dies zeigen die verlängerten Pfeile).

A A

K N

T D

E E

U R

R E

R
290 IX. Typen von Pflichten

Die engere Beziehung zwischen Akteur und Anderem hat aber auch zur Folge, dass bei
beiden nunmehr sowohl beim Abwehr- als auch beim HilfsÂ�anspruch zusätzlich die in-
neren und äußeren Bedingungen, beim Akteur einschließlich der Wünsche und Über-
zeugungen, zu berücksichtigen sind. Das bedeutet: Der Akteur kann verpflichtet sein,
auch seine Wünsche, Überzeugungen, Charaktereigenschaften, Tugenden, Gefühle,
Lebensbedingungen usw. zur Realisation des Abwehr- und des Hilfeleistungsanspruchs
des Anderen zu verändern.
Dabei nimmt allerdings die Notwendigkeit der Berücksichtigung vom Handlungs-
element sieben bis zum Element eins ab und richtet sich nach der Intensität und Dau-
erhaftigkeit der Beziehung.

A (1) Bedingungen (1) Wille / Ziel / Absicht A

K (2) Wunsch / Überzeugung (2) Wunsch / Überzeugung N

T (3) Ziel (3) Bedürfnisse D

E (4) Zweck-Mittel-Abw. (4) Strebungen E

U (5) Wille R

R (6) Handlung E

(7) Konsequenzen R

6. Pflichten in Gemeinschaften

In Gemeinschaften im engeren Sinn tritt zur Pflicht zum Unterlassen und zur Hilfe
schließlich noch eine Pflicht zur Aufrechterhaltung und Förderung der Gemeinschaft.
Diese Pflicht ist umso stärker, je enger die Gemeinschaft ist und je intensiver sich der
Akteur faktisch oder explizit gebunden hat. Im Extremfall kann sie bis zur ethischen
Verpflichtung reichen, die Gemeinschaft nicht aufzukündigen. Dieses Verbot der Auf-
kündigung ist aber€– auf der bloßen Grundlage einer säkular-immanenten Ethik, an-
ders aber unter Umständen in religiösen Ethiken€– kein absolutes, sondern kann durch
verschiedene andere Gesichtspunkte relativiert werden. Die Pflicht zur Förderung und
Erhaltung der Gemeinschaft wird umso schwächer, je weniger das Schädigungsverbot
und das allgemeine Hilfsgebot vom Anderen eingehalten werden. Ein Ehemann etwa,
der seine Frau schlägt und ihr nicht hilft, hat keinen oder allenfalls einen geringen An-
spruch auf Aufrechterhaltung der ehelichen Gemeinschaft.
6. Pflichten in Gemeinschaften 291

A A

K N

T D

E E

U R

R E

Die noch engere Beziehung zwischen Akteur und Anderem hat aber auch zur Folge, dass
bei beiden nunmehr sowohl beim Anspruch auf Abwehr, auf Hilfe� und auf Gemein-
schaft die inneren und äußeren Bedingungen sowie die Wünsche und Überzeugungen
noch stärker zu berücksichtigen sind. Das bedeutet: Der Akteur ist in stärkerem Maße
verpflichtet, seine Wünsche, Überzeugungen, Charaktereigenschaften, Tugenden, Ge-
fühle, Lebensbedingungen usw. zur Realisation der berechtigten Interessen des Anderen
zu verändern.

A (1) Bedingungen (1) Wille / Ziel / Absicht A

K (2) Wunsch / Überzeugung (2) Wunsch / Überzeugung N

T (3) Ziel (3) Bedürfnisse D

E (4) Zweck-Mittel-Abw. (4) Strebungen E

U (5) Wille R

R (6) Handlung E

(7) Konsequenzen R
292 IX. Typen von Pflichten

Ein Ehepartner kann zum Beispiel vom anderen erwarten, dass dieser gravierende Las-
ter, negative Emotionen und Gewohnheiten, wenn nicht aufgibt, so doch zumindest
sozialverträglich gestaltet. Trinkt etwa jemand, ohne dass dies zu negativem Verhalten
gegenüber dem Ehepartner führt, so ist das€– von Langzeitschäden einmal abgesehen€–
weitgehend seine Sache. Anders ist die Situation, wenn ein Ehepartner den Anderen
im Rausch regelmäßig beleidigt oder gar schlägt. Dann kann der beleidigte oder ge-
schlagene Ehepartner nicht nur verlangen, dass die verbal und körperlich schädigenden
Handlungen aufhören, sondern auch, dass der Andere seine Trinkgewohnheiten ändert,
die zur Enthemmung führen.

7. Tugendpflichten

Im Rahmen solcher engeren Gemeinschaften spielen auch die sog. Tugendpflichten


eine herausragende Rolle. Das heißt, die aus einer immer wieder stattfindenden Ab-
wägung der Belange erwachsenden Pflichten beziehen sich nicht nur auf äußeres Han-
deln, sondern auch auf die diesem Handeln vielfach zu Grunde liegenden Tugenden,
das heißt die relevanten Charaktereigenschaften. Jeder ist somit verpflichtet, Tugenden
wie Hilfsbereitschaft, Wohlwollen, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Solidarität, VersöhnungsÂ�
bereitschaft usw. zu entwickeln.
Mitleids- und Tugendethiker könnten gegen das hier skizÂ�zierÂ�te Modell einwenden,
kein Mensch könne in eiÂ�ner solch kalten GesellÂ�schaft isoÂ�lierter, prinÂ�zipiell für sich selbst
verantÂ�wortlicher Individuen leben, die nur verÂ�langen könÂ�nen, dass ihre jeweiligen Be-
lange im Rahmen ihrer Betroffenheitsräume nicht aktiv beÂ�einÂ�trächÂ�tigt werÂ�den. Diese
Kritik verkennt aber, dass die Beschränkung auf die Forderung nach Nichtintervention
in den Betroffenheitsraum nur solange gilt, bis sich nicht durch zu��nehmende Kontak-
te zwischen den Personen Ver�ant�wort�lich�kei�ten und gemeinsame Projekte aufge�baut
haben, die eine Vielzahl von posiÂ�tiÂ�ven Pflichten erzeugen. Die Beschränkung auf die
Nichtintervention gälte also in ihrer Reinform nur beim ersten Kontakt zweier völlig
fremder Wesen und müsste danach immer weiÂ�ter einÂ�geschränkt werden, je stärker sich
die Interaktion entwickelt. Aber die Grundforderung nach Nichtintervention in den
Betroffenheitsraum des Anderen bleibt als ultimative Limitation auch im Rahmen sehr
enger Gemeinschaften bestehen. Auch Eheleute dürfen sich etwa nicht wechselseitig
verletzen oder gar töten.
Das Modell betrifft im Übrigen nur das, was tatÂ�sächlich an Beachtung des Anderen
normativ gefordert werden kann. Überpflichtgemäßes VerÂ�halten ist€– wie sich im nächs-
ten Kapitel€ noch zeigen wird€ – nicht ausgeschlossen, sofern dabei nicht Belange des
Anderen missachtet werÂ�den. Wer einen AnÂ�deren zum Beispiel mit Geschenken über-
häuft, muss sich schon einmal fragen, ob der Andere alle diese Dinge haben will und ob
er mit einer entsprechenden Gegen�sei�tig�keits�pflicht sowie Kompensationserwartungen
belastet werden möchte. Natürlich braucht jeder Mensch zum Leben mehr als die kühle
Beachtung seines Be�troffen��heits�raums. Er braucht Geborgenheit, Zuneigung, Vertrau-
en usw. Aber von jedem Fremden darf er dies nicht fordern. Es liegt jenseits der Moral.
7. Tugendpflichten 293

Freundschaf�ten und Paarbeziehungen lassen sich auf dieser Mini�malbasis einer norma-
tiv-ethischen Theorie nicht errichten, aber diese engeren Gemeinschaften können eben
auch nicht kategorisch verpflichtend sein.
Im Übrigen eröffnet das Modell der Gemeinschaft die Möglichkeit der pädago-
gischen und institutionellen SiÂ�cherung der Berücksichtigung Anderer. Damit ist eine
gewisse Habitualisierung durch Erziehung zu Tugendhaftigkeit und Mitleid gerechtfer-
tigt. Gerechtfertigt ist auch die FörÂ�deÂ�rung von Gemeinwohlorientierung und positivem
Sozialverhalten. Aber die BeÂ�gründungsÂ�reihenÂ�folge ist klar: Nicht Mitleid, Tugenden
und GemeinÂ�wohlorientieÂ�rung rechtfertigen die Pflicht zur Berücksichtigung Ande-
rer, sondern die Pflicht zur Berücksichtigung Anderer rechtÂ�Â�Â�fertigt umgekehrt Mitleid,
Tugenden und Gemeinwohlorientierung. Für Mitleid und Tugend bedeutet dies, dass
sie (partiell) durch die Pflicht zur Berücksichtigung Anderer bestimmt und begrenzt
werden. Niemand darf etwa mit Berufung auf seine eiÂ�geÂ�nen Gefühle für den Anderen
dessen wirkliche Belange missachten.
Tugenden, die nur der eigenen Gemein�schaft dienen, aber die Belange von Nicht�
mitÂ�glieÂ�dern der Gemeinschaft unberücksichtigt lassen, wie unbeschränkte Gruppenso-
lidarität und militärische TapferÂ�keit, sind allerdings zu Recht in VerÂ�ruf geraten, weil sie
normativ-ethisch zu berücksichtigende Individuen außerhalb der eigenen Gemeinschaft
missachten. Schließlich kann auch eine Erziehung zu überÂ�mäßiger SelbstÂ�aufopferung
auf dieser säkular-immanenten Grundlage nicht gerechtfertigt werÂ�den.
X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln
(Super- und Supraerogation) sowie Indifferenz

Die Ethik rechtfertigt Pflichten, die ein Handeln fordern. Aber wie ist ein Handeln
jenseits dieser Pflichten zu verstehen und zu beurteilen, also ein sog. überpflichtgemä-
ßes (supereroÂ�gaÂ�toriÂ�sches), unterpflichtgemäßes (supraerogatorisches) und inÂ�differenÂ�tes
Han�deln? Wie stellt sich die Ethik etwa zum Handeln des guten Samariters, der einen
Mann, der unter die Räuber gefallen ist, nicht nur von der Straße aufliest, seine Wun-
den reinigt und ihn in eine Herberge bringt€– das fordert die allgemeine Hilfspflicht
zwischen Menschen –, sondern dem Wirt jenseits dieser Hilfspflicht auch zwei Denare
bezahlt und ihn bittet „Trag Sorge für ihn, und was du darüber noch aufwendest, werde
ich dir auf dem Rückweg zahlen.“?1 Und wie wäre es, wenn der gute Samariter dem Be-
raubten sogar all seine Kleidung und sein Hab und Gut schenkte, was zur Folge hätte,
dass er selbst erfriert oder verelendet?
Derart überpflichtgemäßes Handeln liegt jenseits der idealen Abwägung der in
Rede stehenden Interessen der Beteiligten und ist normativ bzw. deontisch betrachtet
zunächst einmal pflichtfrei, denn nach den obigen Annahmen unterfällt alles Han-
deln, zu dem keine Pflicht, also kein Gebot oder Verbot besteht, der Pflichtfreiheit,
das heißt der Erlaubnis oder Freistellung. Aber mit dieser Qualifikation als normativ
pflichtfrei ist das letzte Wort zur ethischen Qualifikation derartigen Handelns noch
nicht gesprochen, denn es besteht des Weiteren die Möglichkeit zur axiologischen Be-
wertung als gut, schlecht oder wertneutral. Diese zusätzliche axiologische Bewertung
wird nachfolgend für supererogatorisches, supraerogatorisches und indifferentes Han-
deln erörtert.2

1. Überpflichtgemäßes Handeln

Wir bezeichnen das überpflichtgemäße Handeln des Samariters nicht nur als pflichtfrei,
also als erlaubt und freigestellt, sondern darüber hinaus auch als ethisch gut. Superero-

1 Neues Testament, Lukas 10, 30–35.


2 Das unterpflichtgemäße bzw. supraerogatorische Handeln wird in der Literatur nicht selten unter dem
Stichwort „offence“ behandelt. Vgl. Roderick M. Chisholm, Supererogation and Offence. A Conceptual
Scheme for Ethics, in: Ratio V (1963), S.€1╛f., 14; Gregory Mellema, Beyond the Call of Duty. Superero-
gation, Obligation, and Offence, New York 1991, S.€181–209.
1. Überpflichtgemäßes Handeln 295

gatorisches Handeln setzt also zwei voneinander unabhängige Merkmale voraus, ein
deontisches und ein axiologisches. Es ist:3
(1) ethisch pflichtfrei = ethisch nicht geboten und nicht verboten,
(2) ethisch gut.

Dabei muss für die allgemeine Begriffsbestimmung hinsichtlich des zweiten Merkmals
natürlich offen bleiben, auf welcher Grundlage die Handlung als ethisch gut bewertet
wird. Man darf sie nicht von vornherein mit den guten Konsequenzen oder den guten
Absichten identifizieren, sonst würde man bereits in die allgemeine Begriffsdefinition
eine umstrittene Theorie der materialen Ethik schmuggeln.4 Auch kann man nicht an-
nehmen, dass beim zweiten Merkmal schon eine relativ bessere als die schlechteste er-
laubte Handlung genügt,5 denn diese Handlung kann ja immer noch absolut betrachtet
schlecht sein. Das ist dann kein supererogatorisches, sondern ein supraerogatorisches
Handeln. In der Literatur werden außer den beiden genannten Merkmalen gelegentlich
weitere vorgeschlagen, etwa:

(3) dass die Unterlassung der Handlung nicht moralisch falsch bzw. verurteilenswert ist,6

(4) dass niemand sonst von einem die Handlung verlangen und einem die Unterlassung
vorwerfen kann und man selbst dies auch nicht gegenüber anderen tun kann,7

(5) dass die Handlung intentional für das Gute eines anderen getan wird und deshalb
verdienstvoll ist.8

3 Es ist wohl nicht notwendig, den Begriff auf eine bestimmte primäre Normenordnung wie die Moral, das
Recht oder die Politik zu beziehen, obwohl dies sehr häufig mit Rekurs auf die Moral behauptet wird, vgl.
etwa David Heyd, Supererogation. Its Status in Ethical Theory, Cambridge 1982, S.€134. Allerdings muss
die primäre Ordnung notwendig sowohl Normen oder Regeln als auch Wertungen enthalten, so dass
bloße Konventionen, Moden und Ratschläge des guten Lebens oder der Zweckmäßigkeit nicht in Frage
kommen. Hauptanwendungsfeld supererogatorischen Handelns ist zweifellos die Moral. Ulla Wessels,
Die gute Samariterin, Berlin 2002, S.€1â•›ff., lässt vor dem Hintergrund der Annahme eines Bewertungs-
primats für den Begriff der Supererogation ein Gut- und Nichtgebotensein genügen. Aber das ist zu
schwach, denn unabhängig von jeder Theorie über das Verhältnis von Werten und Pflichten erfordert der
Begriff der Supererogation, dass die Handlung nicht verboten ist. Ansonsten unterfällt sie ja einer Pflicht.
Im Übrigen wird supererogatorisches Handeln von Wessels von vornherein in der Form quantitativer Bes-
ser-Schlechter-Bewertungen von Weltzuständen und Aufwänden formuliert, was trotz ihrer gegenteiligen
Annahme nur mit einer konsequentialistischen Ethik vereinbar ist und deshalb nach dem hier entfalteten
pluralistischen Verständnis des dritten RechtÂ�fertigungselements die Ethik zu sehr einschränkt.
4 Dies missachtet David Heyd, Supererogation. Its Status in Ethical Theory, S.€132, wenn er die Auffassung
vertritt, dass die axiologische Bedingung einen konsequentialistischen Wert fordert.
5 So lässt sich Thomas Nagels Auffassung von Supererogation in The View from Nowhere, S.€204, verste-
hen.
6 David Heyd, Supererogation. Its Status in Ethical Theory, S.€115╛ff., Gregory Mellema, Beyond the Call
of Duty. Supererogation, Obligation, and Offence, S.€1╛ff.
7 J.â•›O. Urmson, Saints and Heroes, in: A.â•›I. Melden, Essays in Moral Philosophy, Washington 1958,
S.€198–216, S.€204.
8 David Heyd, Supererogation. Its Status in Ethical Theory, S.€115╛ff.
296 X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln sowie Indifferenz

Vorschlag (3), dass die Unterlassung der Handlung nicht moralisch falsch bzw. verur-
teilenswert ist, zieht neben den grundlegenden handlungsverpflichtenden und bewer-
tenden Denk- und Sprachformen der Pflicht und des Guten die weiteren Denk- und
Sprachformen des Falschen und Verurteilenswerten heran. Diese scheinen aber nicht
auf derselben fundamentalen Ebene wie diejenigen der Normierung und der Bewertung
angesiedelt zu sein. Sie sind deshalb von diesen abhängig. David Heyd gesteht denn
auch zu, dass aus einer deontischen Perspektive zwischen (1) und (3) kein relevanter
Unterschied besteht, sondern nur in der Betonung, wobei (3) dann von (2) abhängen
soll. Aber das ist schon eine materiale, über bloße Begriffsnotwendigkeiten hinauswei-
sende Auffassung. Es erscheint also vorzugswürdig, für eine allgemeine begriffliche Be-
stimmung der Supererogation bei den beiden deontischen und axiologischen Grund-
merkmalen zu bleiben.
Bedingung (4), dass niemand sonst von einem die Handlung verlangen oder einem
die Unterlassung vorwerfen kann und man selbst dies auch nicht gegenüber Anderen tun
kann, scheint nur eine praktische Folgerung aus den Bedingungen (1) und (3) zu sein.
Während es ohne Zweifel unschädlich ist, dass sich der Handelnde hinsichtlich der
Bedingung (1) der Überpflichtgemäßheit fälschlich für verpflichtet hält, soll dies nach
Heyd durch die Bedingung (5) der Intentionalität hinsichtlich der Bedingung (3) der
Güte anders sein. Der Handelnde muss danach, damit sein Handeln als supererogatorisch
qualifiziert werden kann, das Gute auch intentional erstreben und insofern verdienstlich
handeln. Das mag vielleicht zutreffen, wobei sich dann immer das Problem stellt, wie weit
man den Begriff der Intention zieht, ob also auch der einfache Wille oder das bloße In-
Kauf-Nehmen genügen. Fraglich ist aber, ob beide Erfordernisse nicht schon in der Be-
dingung (2) stecken. Heyd interpretiert die Bedingung (2) des guten Handelns eng und
konsequentialistisch; sie bedarf deshalb bei ihm der Ergänzung durch die gute Absicht.
Aber wenn man Bedingung (2) nicht konsequentialistisch einschränkt, dann enthält das
Erfordernis, die Handlung als ethisch gut zu qualifizieren, bereits die Notwendigkeit,
auch die gute Absicht zu berücksichtigen. Mehr kann nicht verlangt werden.
Nach der Definition des Begriffs der Supererogation gilt: Die gesollte Handlung ist
nicht mit der guten Handlung identisch. Wie ist das möglich? Um dies zu verstehen, muss
die hier in den ersten fünf Kapiteln entwickelte normative Ethik interpretiert werden.
Die gesollte Handlung ist nach dieser Ethik diejenige Handlung, die einer gleich berück-
sichtigenden, richtigen und besten Vermittlung potentiell widerstreitender Belange und
damit der Konfliktvermeidung dient. Das bedeutet: Handelt der gute Samariter über-
pflichtgemäß und bezahlt er dem unter die Räuber gefallenen Mann unter Inkaufnahme
von Schulden auch noch seine Übernachtungskosten, so stellt er seine eigenen Belange
gegenüber den Belangen des Beraubten in stärkerem Maß hintan, als dies eine gleichbe-
rücksichtigende Vermittlung der in Rede stehenden und sich widerstreitenden Interessen
und damit eine ethische Abwägung fordern kann. Er weicht also von der gleichen und
richtigen Vermittlungslösung ab, die etwa nur erwarten lässt, dass er den Beraubten mit-
nimmt, seine Wunden versorgt und zu einer Herberge, also in Sicherheit bringt. Im Übri-
gen läge die richtig vermittelnde und damit auch verpflichtende Lösung wohl darin, dass
der Wirt der Herberge dem Beraubten so lange Kredit gewähren müsste, bis der Beraubte
1. Überpflichtgemäßes Handeln 297

selbst aus seinen Ersparnissen, ein anderer Unterhaltspflichtiger oder in letzter Instanz die
politische Gemeinschaft die Übernachtungskosten übernehmen könnte.9
Was bedeutet es dann aber, wenn wir das Handeln des guten Samariters trotz sei-
ner Abweichung von der richtigen Vermittlungslösung und damit trotz seiner Über-
pflichtgemäßheit und Nichtgesolltheit als ethisch gut qualifizieren? Warum kann die
ethische Bewertung von der ethischen Verpflichtung abweichen? Dies ist in letzter In-
stanz deshalb möglich, weil€– wie sich oben ergab€– Verpflichtung und Bewertung nur
instrumentelle, gedankliche und sprachliche Realisationsformen sind. Sie können also
vor dem Hintergrund des eigentlich fundamentalen Ziels der adäquaten Vermittlung
zwischen potentiell widerstreitenden Belangen beliebig eingesetzt werden. Sie haben
keinen Selbstzweck und können sich deshalb nicht grundsätzlich gegenüber der anderen
Realisationsform durchsetzen.
Nicht nur für die Verpflichtung, sondern auch für die Bewertung gilt das Ziel, das
die Ethik aufgrund ihrer Normativität und Evaluativität mit den primären Normord-
nungen verbindet, das heißt das Ziel der Rechtfertigung und Kritik der Vermittlung
potentiell widerstreitender Belange. Aber während die Normierung ein bestimmtes
Handeln leitet, statuiert die Bewertung lediglich eine Stellungnahme. Sie ist also nicht
handlungsleitend, sondern allenfalls indirekt handlungsfördernd bzw. empfehlend. Sie
kann deshalb Gesichtspunkte aufnehmen, deren Berücksichtigung der handlungslei-
tenden Normierung, die immer auch belastend ist, verwehrt bleiben muss, so dass zwar
keine vollständige, aber doch eine gewisse Differenz zwischen Bewertung und Verpflich-
tung möglich ist, die aus ihrem unterschiedlichen Mittelcharakter erwächst. Folgende
Gesichtspunkte können etwa zu einer solchen Differenz führen:10
(1) Das Ergebnis der objektiven ethischen Vernunftlösung ist nicht selten unsicher
und kontrovers. Daher muss es im Hinblick auf das letzte Ziel der Vermittlung wider-
streitender Belange und der Konfliktvermeidung aus einer sekundären Perspektive prin-
zipiell als positiv bewertet werden, wenn jemand über das von ihm eigentlich Erwart-
bare hinaus die Belange der Anderen befriedigt. So können Zweifel und Streit bequem
und sicher vermieden werden. Der Wirt könnte etwa im Fall des guten Samariters argu-
mentieren, dass die Begleichung der Beherbergungskosten durch den Beraubten, seine
Verwandten oder die politische Gemeinschaft sehr riskant sei. Während der Samariter
die Beraubungssituation vor Ort verifizieren konnte, sei es für ihn nicht auszuschließen,
dass der Bericht von der Beraubung nur ein Trick sei, um ihn um die Zeche zu prellen.
Dem Samariter sei es deshalb nicht nur erlaubt, sondern ethisch geboten, durch eine
Anzahlung die Begleichung der Beherbergungskosten zu sichern. Derartige Zweifel und

9 Diese Beurteilung hängt von einigen Annahmen ab, die hier nicht weiter erörtert werden sollen, da der
Fall nur als Beispiel dient. Sollte der Beraubte keinerlei sonstige Hilfe der erwähnten Art erlangen und
sich auch nicht selbst helfen können, und sollte der Wirt ihn€– entgegen seiner eigenen Hilfspflicht€–
sofort wieder auf die Straße werfen, wäre der Samariter vielleicht auch noch zu einem gewissen Einsatz
seiner finanziellen Mittel zur Begleichung der Übernachtungskosten verpflichtet.
10 Vgl. zu weiteren möglichen Gesichtspunkten: J.â•›O. Urmson, Saints and Heroes, S.€211â•›ff.; Thomas Na-
gel, The View from Nowhere, S.€200, 204â•›ff.: Die Supererogation soll die menschliche Natur berück-
sichtigen. Aber das scheint ein Faktor zu sein, der bereits bei der objektiven Vermittlung zwischen den
Belangen eine Rolle spielen muss.
298 X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln sowie Indifferenz

damit Unsicherheiten für den Beraubten und Hilfsbedürftigen schließt der gute Sama-
riter aus, wenn er die Zeche überpflichtgemäß bezahlt.
(2) Die ethische Vernunftlösung, die zu Handlungsgeboten führt, muss von den
bestehenden Belangen der Betroffenen ausgehen. Aber jeder Betroffene kann auf die
Berücksichtigung seiner Belange teilweise oder ganz verzichten. Auch wenn dieser Ver-
zicht nicht gefordert werden kann, so ist er doch aus einer sekundären Perspektive im
Hinblick auf das letzte Ziel der Vermittlung und Konfliktvermeidung verdienstlich. Wir
bewerten es als positiv, wenn der „Klügere nachgibt“, das heißt auf die letzte Durch-
setzung seiner Belange verzichtet, weil dadurch der Konflikt sicherer vermieden wird,
wenn die gleichberücksichtigende Vermittlungslösung umstritten ist. Die Bewertung
kann also auch eine Situation möglicherweise zurückgenommener Belange berücksich-
tigen, was der Verpflichtung verwehrt ist, da sie per definitionem von den tatsächlich
bestehenden Belangen ausgehen muss.
(3) Wir brauchen Vorbilder zur Entwicklung unseres Charakters. Deshalb ist es im
Rahmen des weiter gehenden Ziels der Charakterbildung für die Ethik und Moral sinn-
voll, ein bestimmtes Verhalten als vorbildlich auszuzeichnen. Dabei kann es hilfreich
sein, sehr altruistisches Handeln als besonders lobenswert hinzustellen, um durch das
gute Beispiel einen starken Anreiz zu setzen. Heilige sind deutlichere Vorbilder als Nor-
malbürger mit ihren alltäglichen Nöten und Schwächen. Im Rahmen eines handlungs-
leitenden Gebots kann dieser Anreizgedanke nicht berücksichtigt werden, weil hier die
konkret geforderte Handlung klar bezeichnet werden muss. Im Rahmen einer bloß
empfehlenden, nicht unmittelbar handlungsleitenden Wertung ist dies aber möglich.
(4) Jede extern an uns herangetragene Forderung nach einem bestimmten Handeln
ist vor dem Hintergrund des normativ-individualistischen Ideals eines autonomen Le-
bens prima facie negativ zu bewerten, denn sie nötigt den Betroffenen, etwas zu tun
oder zu unterlassen, was er zunächst nicht will. Das bedeutet, dass jede derartige For-
derung nur gerechtfertigt sein kann, wenn das ihr zu Grunde liegende Bedürfnis der
Vermittlung zwischen potentiell widerstreitenden Belangen eine gewisse Erheblich�keits�
schwelle übersteigt. Sind die in Rede stehenden Belange marginal oder der Widerstreit
unwahrscheinlich, dann kann die Ethik moralische Pflichten weder allgemein noch in
einzelnen Situationen rechtfertigen. Viele Erwartungen der Höflichkeit liegen unter-
halb dieser Erheblichkeitsschwelle einer expliziten Forderung durch Andere. Man kann
etwa erwarten, begrüßt zu werden, aber das Grüßen durch Händedruck wird in unserer
Gesellschaft nicht mehr allgemein gefordert. Pflichtgemäß ist also die Begrüßung, aber
der Händedruck ist überpflichtgemäß, wenn auch€– als besonderer Akt der Freundlich-
keit€– im Regelfall gut. Eine explizite Forderung nach einem Händedruck würden wir
aber wohl nicht mehr als gerechtÂ�fertigt ansehen. Allerdings würden wir es angesichts
der Marginalität auch nicht als gerechtÂ�fertigt ansehen, wenn jemand den geforderten
Händedruck verweigert und damit den Anderen, der ungerechtfertigt gehandelt hat,
brüskiert.
Neben dem prinzipiellen Negativum der Autonomiebeschränkung können auch an-
dere Gründe zur negativen Bewertung der externen Auferlegung einer Pflicht führen,
etwa wenn eine Verpflichtung wahrscheinlich aus sozialen oder persönlichen Gründen
1. Überpflichtgemäßes Handeln 299

zum genauen Gegenteil des Intendierten führen würde. Während der Handelnde ohne
externe Verpflichtung vielleicht zur Ausführung der Handlung geneigt wäre, mag etwa
eine externe Verpflichtung bei ihm eine phobische Panik auslösen. Ist die externe Ver-
pflichtung solcherart ausgeschlossen, kann die Ausführung der Handlung durch den
Phobiker als supererogatorisch angesehen werden.
Das prinzipielle Negativum einer Pflicht gilt aber natürlich nur für externe Forde-
rungen durch Andere, denn nur diese greifen ja in die Autonomie des Handelnden ein.
Es gilt nicht für den Handelnden selbst, der seine eigene Autonomie durch die Annah-
me von Pflichten gegenüber Anderen nicht wie ein Fordernder einschränken kann. Man
wird im soeben erwähnten Beispiel der Begrüßung durch Händedruck also behaupten
können, dass jemand für sich selbst immer noch die Pflicht zu einem Händedruck an-
nehmen und sich im Fall des Unterlassens auch berechtigte Vorwürfe machen kann. Die
autonomieeinschränkende oder auf sonstige Weise kontraproduktive Wirkung externer
Verpflichtungen bewirkt insofern eine gewisse Spaltung der Pflichtperspektiven und da-
mit auch des Supererogatorischen. Für Andere ist der Bereich des Supererogatorischen
größer als für den Handelnden selbst, der durch die Selbstauferlegung einer Pflicht nicht
in seiner eigenen Autonomie tangiert oder auf sonstige Weise beeinträchtigt wird.11
Die soeben aufgeführten vier Gesichtspunkte, welche der Supererogation einen
Spielraum eröffnen, rechtfertigen jedoch nur eine gewisse Überschreitung des ethisch
Gebotenen. Es gibt Grenzen der positiven Auszeichnung supererogatorischen Handelns,
etwa im Falle der Selbstverleugnung, der Selbstaufgabe oder der Selbstzerstörung.12 Wir
würden es zum Beispiel nicht mehr als ethisch gut ansehen, wenn der Samariter dem
Beraubten, wie eingangs als Alternative formuliert, all seine Kleider und sein Hab und
Gut schenken und selbst erfrieren oder verelenden würde. Er würde dann ein Opfer
bringen, das im Ergebnis so weit von einer vernünftigen Abwägung der Belange und da-
mit vom ethisch Gebotenen abweicht wie die Beraubung. Und wir sehen es auch nicht
mehr als ethisch gut an, wenn eine Mutter die an sich wünschenswerte liebevolle Sorge
um ihr Kind ohne Not bis zur völligen Selbstaufopferung steigert€ – vielleicht sogar
mit kontraproduktiven Folgen für die Psyche und die Selbständigkeit des Kindes. Die
Erfüllung der Belange des Anderen, die der Verzicht auf die Verwirklichung der eigenen
Belange ermöglicht, kann also vom Ergebnis einer ethisch vernünftigen Abwägung so
weit abweichen, dass das überpflichtgemäße Handeln nicht mehr als gut zu bezeichnen
ist. Es besteht somit eine Schwelle der völligen Selbstaufopferung, jenseits derer man
nicht mehr von gutem supererogatorischen Handeln, sondern nur von schlechter, weil
unverhältnismäßiger Selbstzerstörung sprechen kann.

11 Vgl. zu einer Unterscheidung zwischen externer und interner Verpflichtung auch Walter Pfannku-
che, �Supererogation als Element moralischer Verantwortung, in: Georg Meggle (Hg.), Analyomen 2,
Â�Proceedings of the 2nd Conference „Perspectives in Analytical Philosophy“, Vol. III, Berlin 1997, S.€300.
Pfannkuche verwischt mit der Qualifikation „moralisch richtig“ aber wie Heyd die klare Grenze zwischen
dem pflichtgemäßen und bloß guten Handeln und schränkt deshalb den Bereich des Supererogatori-
schen zu stark ein.
12 Die Grenze verläuft vielleicht etwa dort, wo überragende selbstbezogene Gründe gegen die Handlung
sprechen, also dort, wo Anhänger der Pflichten gegen sich selbst solche annehmen.
300 X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln sowie Indifferenz

Allerdings werden säkular-immanente und religiös-transzendente Bewertungen


hinsichtlich der Lokalisierung dieser Schwelle naturgemäß stark divergieren. Führt der
Verzicht auf die Erfüllung der eigenen Belange zur ewigen Glückseligkeit oder trägt er
wenigstens in erhöhtem Maße zu ihr bei, ist eine solche Schwelle der Unverhältnismä-
ßigkeit wohl praktisch ausgeschlossen.
Aber auch ohne religiös-transzendente Bewertung kann der Verzicht auf unsere
höchsten Belange zur Erfüllung der höchsten Belange Anderer gerechtfertigt sein. Wir
sehen etwa das Handeln von Pater Maximilian Kolbe, der sein Leben im Konzentrati-
onslager Auschwitz hingab, um einen Familienvater zu retten, auch aus der Perspek-
tive einer säkular-immanenten Beurteilung als ethisch gut an. Und wir rühmen den
Soldaten, der sich auf eine heruntergefallene Handgranate wirft, um das Leben seiner
Kameraden zu retten.13 Erfordert es das Leben ihrer Kinder wirklich unabdingbar, dann
halten wir schließlich auch die völlige Selbstaufopferung der Mutter für gut. Es gibt also
keine absolute Schwelle der Supererogation mit Bezug auf bestimmte höchste Belange,
Güter oder Werte, sondern nur eine relative Schwelle in Abwägung dieser Belange mit
den Belangen Anderer. Diese Schwelle ist nicht leicht zu ermitteln, wird aber am besten
mit dem noch zu erläuternden Begriff der „Unverhältnismäßigkeit“ umschrieben. Ein
größeres Opfer im Vergleich zum angestrebten Ziel wird noch als gut angesehen, nicht
aber ein völlig disproportionales, eben unverhältnismäßiges Opfer. Gäbe der Soldat sein
Leben nicht hin, um das Leben seiner Kameraden zu retten, sondern um die Zerstö-
rung ihrer Uniformen zu vermeiden, so wäre das unverhältnismäßig, also ethisch nicht
mehr als gut zu bewerten und somit kein supererogatorischer Akt, sondern schlichte
Selbstzerstörung.
Supererogatorisches Handeln liegt in seiner Qualifizierung also zwischen zwei
Schwellen, der unteren Schwelle des pflichtgemäßen, die Belange gemäß einer fairen
Vermittlung realisierenden Handelns und der oberen Schwelle einer unverhältnismä-
ßigen Selbstaufopferung. Die meisten Autoren gehen davon aus, dass alles Handeln
zwischen diesen beiden Schwellen gut und damit supererogatorisch ist. Demgegenüber
wird die These vertreten, dass es auch innerhalb dieses Bereichs sog. „Supererogations-
löcher“ gibt, so dass das Schwellenmodell inadäquat sei.14 Man nehme als Â�Beispiel die
Â�Managerin eines Hotels, die eine vielköpfige Familie spätabends nach einer Autopanne
auf Kosten des Hauses unterbringen muss. Sie ist zu dieser Hilfeleistung ethisch ver-
pflichtet, nach allgemeiner Überzeugung aber sicher nicht dazu, der Familie das schöns-
te Zimmer zu geben und das aufwendigste Abendessen zu servieren, um ihr Wohler-
gehen zu maximieren. Wird nun angenommen, dass es die Managerin nichts kosten
würde, das beste Zimmer zu vergeben und das schmackhafteste Abendessen zu servie-
ren und dass dies das Wohlergehen der Familie erheblich steigern würde, weil deren
Lebenstraum in Erfüllung ginge, einmal in der schönsten Suite eines Luxushotels zu
übernachten und fürstlich zu tafeln, dann soll es ethisch falsch sein, nicht das schönste
Zimmer bereitzustellen und das aufwendigste Abendessen zu kredenzen.

13 Vgl. zu dem Beispiel: J.╛O. Urmson, Saints and Heroes, S.€202.


14 Ulla Wessels, Die gute Samariterin, S.€20â•›ff. Das Beispiel stammt ursprünglich von Michael Slote.
1. Überpflichtgemäßes Handeln 301

Das Beispiel leidet an zwei Mängeln, einem behebbaren und einem unbehebbaren.
Zum einen wird in dem Beispiel die Aufwandsgleichheit nicht realistisch geschildert.
Die Bereitstellung eines objektiv schöneren Zimmers und eines objektiv leckereren Es-
sens kostet per definitionem mehr, weil sich dafür unter Marktbedingungen ein höherer
Preis erzielen lässt, auf den das Hotel verzichtet. Aber man kann das Beispiel so fassen,
dass der Aufwand tatsächlich gleich ist und wirklich nur das subjektive Wohlergehen
gesteigert wird. Man denke sich also etwa zwei ansonsten exakt identische Hotelzimmer,
die sich nur in der Farbe unterscheiden. Eines ist rot, das andere grün. Die Familie mag
nun keine roten Zimmer und kann in ihnen nicht gut schlafen, liebt aber grüne und
schläft in diesen sehr gut, während am Markt die Vorlieben gleich verteilt sind. Mit die-
ser Abwandlung des Beispiels ist sichergestellt, dass das Hotel in jedem Fall keinen hö-
heren Aufwand hat. Man wird dann in der Tat sagen können: Es besteht nicht nur eine
abstrakte ethische Hilfspflicht, der Familie irgendein Zimmer zu geben, sondern diese
Hilfspflicht konkretisiert sich auf die Pflicht, ihr das grüne Zimmer zu geben. Ist es für
den Helfenden völlig belanglos, ob er durch die Handlung p oder die Handlung q hilft,
für den Betroffenen aber von einigermaßen erheblichem Belang, dass p eintritt, so wird
man eine entsprechende Konkretisierung der Hilfspflicht zugunsten des Betroffenen
annehmen müssen, p zu realisieren, sofern die Befriedigung der Belange des Anderen
die geringe Einbuße an Autonomie beim Handelnden durch die Konkretisierung der
Handlungspflicht, die man nicht ganz vernachlässigen darf, aufwiegt.
Damit ist aber€– und dies ist der unbehebbare Mangel des Beispiels€– noch nicht
gezeigt, dass es Supererogationslöcher gibt, denn die Pflicht, die abends gestrandete
Familie einzuquartieren, ist ja nicht supererogatorisch, sondern schlicht gebietend.
Die Konkretisierung dieser Hilfspflicht auf das grüne Zimmer bewegt sich also wie die
Hilfspflicht selbst unterhalb des Bereichs supererogatorischen und noch im Bereich des
verpflichtenden Handelns. Sie kann deshalb die Existenz von Supererogationslöchern
jenseits dieser Schwelle nicht beweisen.
Besser geeignet erscheint dazu ein zweites Beispiel:15 Angenommen, eine Spende
von 50â•›€ für die Welthungerhilfe kann einen Verhungernden retten, eine Spende von
5.000â•›€ hundert Verhungernde, eine Spende von 10.000â•›€ einhunderteins Verhungern-
de und eine Spende von 10.050â•›€ zweihundert Verhungernde. Die Korrelation von Auf-
wand und Hilfe ist also nicht proportional, sondern bei 10.000â•›€ erheblich unterpro-
portional und bei 10.050â•›€ erheblich überproportional:

Handlung des A Aufwand Anzahl der Geretteten Bewertung


fi 50â•›€ 1 geboten
fi+1 5.000â•›€ 100 supererogatorisch
fi+2 10.000â•›€ 101 ?
fi+3 10.050â•›€ 200 ?

15 Ulla Wessels, Die gute Samariterin, S.€26╛ff.


302 X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln sowie Indifferenz

Das Beispiel ist nicht sehr realistisch, weil normalerweise mit mehr Geld auch propor-
tional mehr Essen erworben werden kann. Aber man könnte es vielleicht durch die An-
nahme völlig willkürlicher Mengenrabatte bei lebensrettenden Impfstoffen realistisch
gestalten. Man nehme nun an, eine nicht sehr wohlhabende Person A sei ethisch und
dann auch moralisch verpflichtet, 50â•›€ zu spenden, die Spende höherer Geldbeträge sei
für sie dagegen supererogatorisch.
A ist aber ein großer Philanthrop und spendet freiwillig 10.000â•›€. Nun könnte er
aber mit zusätzlichen 50â•›€ neunundneunzig weitere Menschen retten. Hält man ihn
also im Ausgangsfall für verpflichtet, 50â•›€ für die Rettung eines Menschen zu spenden,
so erst recht, weitere 50â•›€ über die 10.000â•›€ hinaus für die Rettung weiterer neunund-
neunzig Menschen. Das soll nun aber bedeuten, dass die Spende von lediglich 10.000â•›€
nicht supererogatorisch ist, weil A ja verpflichtet ist, 10.050â•›€ zu spenden, wenn er
sich entschließt, 10.000â•›€ zu spenden. Damit bestehe bei der Spende von 10.000â•›€ ein
Supererogationsloch. Sei aber erst einmal ein solches Supererogationsloch anerkannt, so
könnten derartige Löcher grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden. Das Schwellen-
modell sei damit durchlöchert und deshalb inadäquat.
Kann diese Argumentation überzeugen? Zunächst ist festzuhalten, dass in diesem
Beispiel anders als im Hotelbeispiel, wo man sich noch im Pflichtbereich bewegt, tat-
sächlich zwei unzweifelhaft supererogatorische Handlungen der Bewertung unterliegen,
die Spende von 10.000â•›€ einerseits und die Spende von 10.050â•›€ andererseits.
Nimmt man als Ausgangspunkt den Moment, in dem A zu Hause ist, noch nichts
gespendet hat und sich überlegt, ob und wie viel er spenden soll, ist die Bewertung ein-
deutig: A ist es lediglich geboten, 50â•›€ zu spenden, also die Handlung fi zu vollziehen.
Es ist ihm weder geboten, 5.000â•›€ zu spenden, noch 10.000â•›€, noch 10.050â•›€. Alle diese
Handlungen sind im Zeitpunkt der Entscheidung zu Hause ohne Zweifel superero�
gatorisch.
A geht nun zur Bank und fasst dort plötzlich den philanthropischen Entschluss,
10.000â•›€ zu spenden.16 Er füllt den Überweisungsträger mit „10.000â•›€“ aus und ist
gerade dabei, ihn dem Bankbeamten zu übergeben. Ein zufällig anwesender Mitarbeiter
der Welthungerhilfe dankt A herzlich für seine Wohltätigkeit, macht ihn aber freund-
lich darauf aufmerksam, dass er mit nur 50â•›€ mehr statt nur einhunderteins sogar zwei-
hundert Menschen retten könnte. Ist A ethisch verpflichtet, nun noch weitere 50â•›€ zu
spenden? Die Antwort hängt von der grundsätzlichen Einschätzung der Situation ab.
Dazu gibt es nur zwei Möglichkeiten: (1) Hält man die Situation in den relevanten
Eigenschaften immer noch für dieselbe wie zu Hause, das heißt, geht man davon aus,
dass A noch nichts gespendet hat und sich noch im Prozess des Spendens befindet, so
gilt nach wie vor die Einschätzung für die Ausgangsituation: A ist verpflichtet, 50â•›€ zu
spenden. So lange er nicht endgültig gehandelt hat, also mit endgültiger Wirkung ge-
spendet hat, ändert sich daran nichts. Bei dieser Beurteilung der Lage lässt sich also kein
Supererogationsloch feststellen. (2) Glaubt man dagegen, dass sich mit dem Entschluss

16 Diese Konkretisierung des Beispiels stammt nicht von Ulla Wessels, sondern wird hier vorgeschlagen.
1. Überpflichtgemäßes Handeln 303

des A, 10.000â•›€ zu spenden, und mit der Ausfüllung des Überweisungsträgers die Si-
tuation, welche Grundlage der ethischen Bewertung war, bereits geändert hat, so gilt:
Mit nur 50â•›€ mehr als der Spende von 10.000â•›€ könnte A neunundneunzig Menschen
retten. Wenn er ursprünglich verpflichtet war, mit 50â•›€ einen Menschen zu retten, so ist
er nun erst recht verpflichtet, mit demselben Betrag neunundneunzig Menschen zu ret-
ten€– allerdings natürlich nur, sofern er nach Spende der 10.000â•›€ noch dazu in der Lage
ist. Also besteht, das ist bei dieser zweiten möglichen Einschätzung der Situation zuzu-
gestehen, für A eine€– durch die ursprüngliche Spende bedingte€– ethische Pflicht, die
Überweisung um 50â•›€ zu erhöhen. Allerdings gibt es nun auch für diese ethische Pflicht
zur Erhöhung der Spende wieder eine Schwelle der Verpflichtung. A wäre also sicher
nicht ethisch verpflichtet, seine Spende um noch 5.000â•›€ oder 10.000â•›€ zu erhöhen,
ganz gleich ob er damit hundert oder tausend weitere Menschen retten könnte. Es gibt
also auch bei dieser Betrachtung der Situation eine eindeutige Supererogationsschwelle,
die man, dies sei einmal vorausgesetzt, irgendwo jenseits der 50â•›€ ansetzen muss, zu de-
ren Spende er ja ethisch verpflichtet ist. Jenseits dieser nunmehr bestehenden Superero-
gationsschwelle bestehen aber keine Löcher, weil es keinen Grund gibt, anzunehmen,
dass A mehr als 50â•›€ spenden muss.
Das bedeutet aber: Im Fall beider alternativer Betrachtungsweisen, für die man sicher
Gründe und Gegengründe anführen kann, besteht eine klare Supererogationsschwelle
der richtigen Abwägung widerstreitender Interessen, und es sind keine ethischen Pflich-
ten jenseits dieser Schwelle erkennbar. Man kommt nur zu einer anderen Bewertung,
wenn man beide Möglichkeiten der Situationsbeurteilung derart kombiniert, dass man
für die Annahme einer Pflicht zur Zahlung weiterer 50â•›€ die zweite Situationseinschät-
zung wählt, dann aber für die Frage, wo die Supererogationsschwelle verläuft und ob
es jenseits dieser Schwelle ethische Pflichten gibt, die erste Situationseinschätzung zu-
grunde legt. Aber diese Vermischung zweier Beurteilungen der Situation ist nicht ge-
rechtfertigt. Man darf zur Feststellung einer ethischen Pflicht bzw. supererogatorischen
Bewertung nicht zwei unterschiedliche Situationseinschätzungen koppeln. Auch das
zweite Beispiel kann demnach die Existenz von Supererogationslöchern nicht zeigen.17
Es bleibt damit bei der Ausgangsannahme eines bestimmten Bereichs der supererogato-
rischen Bewertung zwischen zwei Schwellen, der unteren Schwelle des Pflichtgemäßen
und der oberen Schwelle des Unverhältnismäßigen.

17 Ulla Wessels, Die gute Samariterin, S.€36â•›ff., führt den zweiten Teil des hier vorgebrachten Einwands mit
Verweis auf Kritiker selbst an. Sie antwortet, dass es Situationen geben könnte, die sich nicht in der vor-
geschlagenen Weise aufteilen lassen, weil man nur genau einmal die Möglichkeit habe, einen bestimmten
Betrag zu spenden. Das kann es natürlich aus faktischen Gründen geben, etwa wenn es nur ein Über-
weisungsformular in der Bank gäbe und A ein- und für allemal entscheiden müsste, welchen Betrag er
einsetzt. Aber dann gilt ohne Zweifel die erste Situationseinschätzung, dass eine Spende von 50â•›€ ethisch
geboten ist, alle Beträge jenseits dieser Grenze aber supererogatorisch sind. Es ist nicht ersichtlich, wie
dann Supererogationslöcher angenommen werden können.
304 X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln sowie Indifferenz

2. Unterpflichtgemäßes Handeln

Unterpflichtgemäßes Handeln lässt sich analog zum überpflichtgemäßen Handeln


durch zwei voneinander unabhängige Merkmale definieren:

(1) ethisch pflichtfrei = ethisch nicht geboten und nicht verboten


(2) ethisch schlecht

Fraglich ist, ob es derart unterpflichtgemäßes Handeln gibt, das einerseits nicht ge-
boten oder verboten, also pflichtfrei, andererseits aber als schlecht zu bewerten ist. Im
Bereich der Höflichkeit sind derartige Situationen durchaus denkbar: Tritt etwa jemand
zu zwei Gesprächspartnern hinzu, von denen er nur einen kennt, so entspricht es gu-
tem Benehmen, wenn derjenige, der beide kennt, die einander bisher Unbekannten
wechselseitig vorstellt. Versäumt er diese wechselseitige Vorstellung, sähe man es aber
nicht als gerechtfertigt an, wenn einer der einander Unbekannten explizit die Forde-
rung erheben würde, dem anderen vorgestellt zu werden, denn dadurch würde in nicht
unerheblichem Maße in die Autonomie desjenigen eingegriffen, der die wechselseitige
Vorstellung unterlassen hat. Er würde gegenüber dem Dritten als pflichtvergessen hin-
gestellt und desavouiert. Sich selbst vorzustellen ist deshalb in derartigen Situationen
einer leichten Unhöflichkeit durch den Nichtvorstellenden die angemessene Reaktion.
Während die Ethik hier also vielleicht ein allgemeines moralisches Vorstellungsgebot
recht�fertigen kann, ist es der Moral im Einzelfall sicher nicht zuzugestehen, die tat-
sächliche Forderung Anderer nach einer Vorstellung zu erheben. Es liegt ein moralisch
pflichtfreies, aber schlechtes und damit unterpflichtgemäßes Handeln desjenigen vor,
der die Vorstellung versäumt.
Der Bereich des unterpflichtgemäßen Handeln ist aber erheblich schmaler als der
des überpflichtgemäßen Handelns, denn anders als das überpflichtgemäße Handeln
verringert das unterpflichtgemäße Handeln das Risiko von Konflikten nicht, sondern
erhöht dieses Risiko. Es widerspricht also dem generellen Ziel von Ethik und Moral,
Konflikte zu vermeiden, so dass diese allenfalls einen sehr schmalen Bereich des unter-
pflichtgemäßen Handelns dulden können. Es handelt sich um denjenigen schmalen
Bereich, in dem der Einsatz des formal negativen, weil die Autonomie einschränkenden
Mittels der externen Verpflichtung in der Abwägung als negativer und damit konflikt-
trächtiger einzuschätzen ist, als die minimal konflikthafte Situation, die vermieden oder
geändert werden soll.
Spiegelbildlich zur erwähnten Diskrepanz zwischen der externen und der internen
Perspektive beim supererogatorischen Handeln gibt es auch beim supraerogatorischen
Handeln eine derartige Diskrepanz. Während der Andere die Vorstellung im gerade
erörterten Beispiel nicht fordern darf, wird man es durchaus als gerechtfertigt anse-
hen, dass derjenige, der beide Personen kennt, sich verpflichtet fühlt, die einander noch
Unbekannten wechselseitig vorzustellen und sich im Falle des Unterlassens Vorwürfe
macht. Das bedeutet aber, dass im internen Verhältnis des Handelnden zu sich selbst
auch noch das schmale Band des supraerogatorischen Handelns verschwindet, weil der
3. Indifferenz 305

Handelnde sich selbst ja nicht in seiner Autonomie verletzen kann. Supraerogatorisches


Handeln gibt es also nur gegenüber den Forderungen Anderer.

3. Indifferenz

Da die Denk- und Sprachform der Wertung drei mögliche Ausprägungen kennt, gut,
schlecht und wertneutral, ist schließlich noch eine dritte Alternative pflichtfreier Hand-
lungen möglich: die Indifferenz. Sie lässt sich definieren als Handeln mit folgenden
Merkmalen:

(1) ethisch pflichtfrei = ethisch nicht geboten und nicht verboten


(2) ethisch wertneutral

Viele unserer Handlungen sind solchermaßen ethisch indifferent, etwa rein ästhetische
Werturteile, zum Beispiel dass man gotische gegenüber barocken Kathedralen bevor-
zugt.

4. Weitere deontisch-axiologische Kombinationen?

Bisher wurde nur pflichtfreies Handeln untersucht. Zum Abschluss soll die Frage ge-
stellt werden, ob auch andere Kombinationen deontischer Normierung und axiologi-
scher Bewertung möglich sind, ob also auch ethisch pflichtiges Handeln beliebig mit
den Wertungen gut, schlecht oder wertneutral qualifiziert werden kann. Fraglich ist
also, ob es möglich ist, gebotenes Handeln nicht als gut, sondern als wertneutral oder
gar schlecht zu bewerten? Und umgekehrt ist es fraglich, ob es möglich ist, verbotenes
Handeln nicht als schlecht, sondern als wertneutral oder gar gut zu bewerten?
Dabei soll nicht nach der bloß syntaktischen Möglichkeit der sprachlichen Kombi-
nation gefragt werden, denn so wie wir syntaktisch die Wortverbindung „rundes Quad-
rat“ bilden können, so können wir natürlich auch vergleichbare, rein sprachlich-syntak-
tische Kombinationen deontischer Normierung und axiologischer Bewertung bilden.
Es dürfte auch deutlich sein, dass diese Kombinationen nicht nur syntaktisch, sondern
auch praktisch möglich sind, sofern primäre moralische, rechtliche oder sonstige Nor-
mierung und sekundäre ethische Bewertung unterschiedlichen Ursprungs verbunden
werden, die Quellen der Normierung auf der einen Seite und der Bewertung auf der
anderen Seite also in zwei unterschiedlichen Norm- bzw. Bewertungsordnungen liegen.
Ein Handeln kann etwa von einer Moralnorm verboten, ethisch aber als wertneutral
oder sogar gut zu bewerten sein. Die Ethik wird dann eine Abschaffung des moralischen
Verbots fordern.
Aber wie sieht es mit der doppelten ethischen Qualifikation aus? Sieht man die
deontischen und axiologischen Ausdrücke nicht als Selbstzweck der Ethik an, sondern
nur als Realisationsformen im Dienst der Rechtfertigung bzw. Kritik an der Vermitt-
306 X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln sowie Indifferenz

lung zwischen potentiell widerstreitenden Belangen, so erfordert das Erreichen dieses


Ziels auch eine einheitliche Qualifikation der fraglichen Handlung. Es mag also zwar
möglich sein, bei gebotenem Handeln Teilaspekte als wertneutral oder schlecht und bei
verbotenem Handeln Teilaspekte als wertneutral oder gut zu bewerten. Aber nimmt
man die axiologische Bewertung als Gesamtqualifikation einer Handlung in den Blick,
so darf sie der deontischen Gesamtqualifikation derselben Handlung nicht widerspre-
chen, sonst kann das Ziel der Rechtfertigung und Kritik an der Vermittlung zwischen
potentiell widerstreitenden Belangen nicht erreicht werden. Eine einzige Vermittlungs-
lösung zwischen potentiell widerstreitenden Belangen kann nicht gleichzeitig geboten
und schlecht bzw. wertneutral oder verboten und gut bzw. wertneutral sein. Erfolgt die
deontische Pflicht-Qualifikation autonom, so impliziert sie deshalb die jeweils entspre-
chende, dem Gebot oder dem Verbot parallel laufende axiologische Bewertung, weil
beide als bloße Mittel zum Zweck der Ethik dem einheitlichen Ziel der Rechtfertigung
und Kritik der Vermittlung zwischen potentiell widerstreitenden Belangen dienen.
Wie lässt sich dann die Asymmetrie erklären, dass sich die deontische Qualifikation
als pflichtfrei mit allen möglichen axiologischen Bewertungen verbinden kann, die axio-
logische Bewertung als wertneutral aber nicht mit den beiden möglichen deontischen
Alternativen des Gebots und des Verbots? Die Asymmetrie lässt sich mit dem unter-
schiedlichen Instrumentcharakter der deontischen Verpflichtung und der axiologischen
Bewertung erklären. Beide dienen zwar demselben notwendigen Ziel der Vermittlung
potentiell widerstreitender Belange. Aber nur die deontische Verpflichtung tut dies in
Form des stärkeren Mittels der direkten Handlungsleitung, während die axiologische
Bewertung nicht direkt handlungsleitend, sondern allenfalls indirekt handlungsfördernd
bzw. empfehlend wirkt. Erfolgt demnach mit Bezug auf eine bestimmte Handlung kei-
ne direkte deontische Handlungsleitung, ist sie also pflichtfrei, so ist die Möglichkeit für
unterschiedliche axiologische Bewertungen dieser Handlung als gut, wertneutral oder
schlecht eröffnet. Erfolgt dagegen mit Bezug auf eine bestimmte Handlung eine direkte
deontische Handlungsleitung, so ist die Möglichkeit für unterschiedliche axiologische
Bewertungen der Handlung durch denselben Urheber als gut, wertneutral oder schlecht
nicht eröffnet. Deontische Verpflichtung und axiologische Bewertung unterscheiden
sich im Hinblick auf die Handlungsleitung.
XI. Handeln für Andere ohne oder
gegen deren Willen (Paternalismus)

Die Frage nach dem Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen, also die Frage nach
Begriff und Zulässigkeit des Paternalismus, ist keine periphere Anwendungsfrage der
Ethik.1 Sie erweist sich vielmehr als wichtige Konkretisierung der Ethik als Ganzes, weil
sie auf den zentralen Elementen einer normativen Ethik aufruht, etwa der Frage nach
den von einer Handlung betroffenen Wesen und der Frage nach den moralisch entschei-
denden Eigenschaften dieser Wesen, also etwa den Elementen eins und zwei der hier
entfalteten Ethik. Wie bei manchen anderen Fragen der Ethik, etwa der Frage nach dem
Bezug der Belange auf die einzelnen Teile der Handlung, gilt: Die Paternalismusfrage
kann nur im Rahmen einer allgemeinen normativen Ethik sinnvoll erörtert werden.
Nach einer explikativen Definition geschieht dies nachfolgend in drei, sich zunehmend
konkretisierenden Thesen.

1. Der Begriff des Paternalismus

Was heißt es genauer, paternalistisch zu handeln? Es bedeutet Handeln bzw. Entschei-


den zum Schutz Anderer ohne oder gegen sie selbst,2 umfasst somit drei Elemente:

(1) Handeln bzw. Entscheiden, das Andere betrifft,


(2)€ in deren alleinigem oder wenigstens deren Hauptinteresse (Strebung, Bedürfnis,
Wunsch, Ziel bzw. Gut, Wohl, Glück usw.)
(3) ohne oder gegen deren aktuellen Willen.

Die notwendige und sehr grundlegende Bedingung paternalistischen Handelns bzw.


Entscheidens ist die mögliche Beeinträchtigung Anderer als Betroffener.3 Ist eine Rele-
vanz für Andere von vornÂ�herein nicht denkbar, kann ein Handeln nicht paternalistisch
sein.

1 Vgl. zum Folgenden: Verf., Paternalismus und die Berücksichtigung des Anderen, in: Michael Anderhei-
den u.â•›a. (Hg.), Paternalismus und Recht, Tübingen 2006, S.€93–107.
2 Vgl. zu einer ähnlich weiten Bestimmung: H.â•›L.â•›A. Hart, Law, Liberty and Morality, S.€31: „[…] designed to
protect individuals against themselves.“; John Kleinig, Paternalism, Manchester 1983, S.€13.
3 Der Erste, der dies deutlich ausgesprochen hat, war John S.€Mill, On Liberty, S.€9, 10, 78, 79, 82, 83,
passim.
308 XI. Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus)

Zum Zweck der Bestimmung des Paternalismusbegriffs wird hier der Begriff des
Hauptinteresses im Element (2) anders als der spezifische normativ-individualistische
Interessenbegriff in Kapitel€II sehr weit verstanden. Er umfasst also nicht nur die dort
in normativ-ethischer Hinsicht gerechtÂ�fertigten Eigenschaften der Ziele, Wünsche, Be-
dürfnisse und Strebungen, sondern auch ein von Anderen zugeschriebenes „objektives“
Gut, Wohl oder Glück.
Paternalistisches Handeln erfordert schließlich eine Differenz zwischen den nicht
unmittelbar handlungsbezogenen Interessen in diesem weiten Sinn (Element 2) und
dem unmittelbar handlungsbezogenen aktuellen Willen des betroffenen Anderen (Ele-
ment 3). Will der betroffene Andere die Handlung selbst und aktuell, so kann sie nicht
als paternalistisch qualifiziert werden. Der Akteur handelt dann vielmehr als Vertreter
bzw. Repräsentant des Anderen.
Als „Andere“, zugunsten derer paternalistisch gehandelt werden kann, kommen alle
ethisch zu berücksichtigenden Wesen in Betracht, nicht ausschließlich Menschen. Not-
wendig ist allerdings die grundsätzliche Möglichkeit, „für“ diese Anderen zu handeln.
Eventuelle Wesen auf fernen Planeten scheiden deshalb als Seiende, gegenüber denen wir
paternalistisch handeln können, ebenso aus wie göttliche Wesen, weil wir nicht „für“ diese
handeln können, solange sie uns unbekannt oder nicht erreichbar sind.
Paternalistisches Handeln muss nicht mit Zwang oder auch nur einer Beschränkung
der Handlungsfreiheit Anderer verbunden sein. Man denke sich etwa eine im Sterben
liegende alte Frau, der die Ärzte nicht mitteilen, dass ihr Sohn tödlich verunglückt ist.4
Hier betrifft das Unterlassen der Mitteilung die Sterbende, enthält aber keinen Zwang
und schränkt ihre Handlungsfreiheit auch nicht ein.
Paternalistisches Handeln muss auch nicht der Beeinflussung Anderer in ihrem Han-
deln dienen.5 Dies zeigt das soeben erwähnte Beispiel, denn hier soll nur eine Änderung
des kognitiven Zustands der alten Frau, nämlich die Kenntnis des Todes ihres Sohns ver-
hindert werden, ohne dem Zweck zu dienen, ihr weiteres Handeln zu beeinflussen, weil
sie auf dem Sterbebett kaum zu weiterem Handeln in der Lage sein wird.
Paternalistisches Handeln muss sich schließlich nicht auf die Bewahrung vor Schä-
den beschränken, sondern kann auch der Förderung von Interessen im weiten Sinn
dienen, so etwa die allgemeine Schulpflicht, die den Kindern den Erwerb schulischer
Bildung und damit ein besseres Leben ermöglicht. Die von Mill und anderen verwand-
ten Begriffe des „Schadens“ (harm) und „Wohlbefindens“ (beneficence, wellbeing) sind
regelmäßig utilitaristisch oder zumindest konsequentialistisch verengt und können des-
halb im Rahmen einer allgemeinen, nicht schon durch eine utilitaristische oder konse-
quentialistische Ethik geprägten Begriffsdefinition des Paternalismus keine Verwendung
finden.
In einem neueren Definitionsversuch wurde vorgeschlagen, auf das Element (3) des
Handelns gegen oder ohne den Willen Anderer zu verzichten und dafür neben dem
bereits kritisierten Ziel der Handlungsbeeinflussung lediglich die Anwendung eines

4 Vgl. John Kleinig, Paternalism, S.€5╛ff.


5 So aber zu eng: Danny Scoccia, In Defense of Hard Paternalism, Law and Philosophy 27 (2008), S.€352.
1. Der Begriff des Paternalismus 309

anderen Mittels als desjenigen der vernünftigen Überzeugung zu verlangen.6 Es soll


etwa paternalistisch sein, wenn der Vater dem Sohn eine finanzielle Belohnung für gute
Schulnoten verspricht. Die Verwirklichung des Versprechens sei dabei nur mit Einver-
ständnis des Sohns zu erzielen, so dass nicht gegen oder ohne den Willen des Begüns-
tigten gehandelt werde.
Aber zum einen kommt es hier auf die Abgabe und nicht auf die Erfüllung des
Versprechens durch den Vater an. Die Abgabe des Versprechens geschieht aber zunächst
ohne den Willen des Sohns und kann insofern nach der obigen Definition ohne Wei-
teres paternalistisch sein. Würde das Versprechen dagegen mit dem Willen des Sohns
abgegeben, wäre es nicht paternalistisch. Fraglich ist bei einem Versprechen zum ande-
ren schon, ob es ein Handeln „für Andere“ darstellt. Das Beispiel ist im Übrigen inso-
fern problematisch, als unsere Intuition das Handeln des Vaters in diesem Fall bereits
aufgrund zweier übergeordneter und sehr ausgeprägt paternalistischer Institutionen
als paternalistisch qualifiziert. Die Schule ist eine stark paternalistische Einrichtung,
und das Eltern-Kind-Verhältnis ist eo ipso€– „Paternalismus“ als Bezeichnung kommt
daher€– ausgeprägt paternalistisch. Die Eltern sind immer und überall moralisch und
rechtlich verpflichtet, die Belange ihrer Kinder auch ohne und gegen deren aktuellen
Willen zu fördern, also gegebenenfalls auch paternalistisch zu handeln. Das Angebot
einer finanziellen Belohnung für gute Schulnoten ist Teil dieser notwendig paternalis-
tischen Grundsituation der Eltern-Kind-Beziehung. Das Angebot verstärkt außerdem
den Paternalismus des schulischen Zwangs. Aus diesen beiden Gründen erscheint es
unserer Intuition in jedem Fall als paternalistisch.
Man muss vielmehr an einem neutraleren, nicht in paternalistische Institutionen
eingebetteten Beispiel untersuchen, ob der Verzicht auf das Erfordernis des Handelns
gegen oder ohne den aktuellen Willen des Betroffenen gerecht�fertigt ist. Man denke
sich etwa einen Ehemann, der seine Ehefrau bei sinkenden Außentemperaturen im Lau-
fe des Herbstes dazu veranlassen will, immer wenn sie das Haus verlässt, ihren Mantel
anzuziehen, um ihren sonst sehr häufigen Erkältungskrankheiten als Folge zu leichter
Bekleidung vorzubeugen. Zu diesem Zweck nimmt er ihren Mantel aus dem Schrank
und hängt ihn gut sicht- und leicht greifbar an die Garderobe, damit die Ehefrau das
Überziehen des Mantels nicht wie sonst häufig vergisst. Dies geschieht nicht gegen und
auch nicht ohne, sondern mit dem aktuellen Willen der Ehefrau, die zusieht, wie der
Mann den Mantel aus dem Schrank nimmt, zustimmend nickt und sich über die für-
sorgliche Handlung ihres Gatten freut. In diesem Fall sind alle Voraussetzungen der
abgeschwächten Paternalismusdefinition erfüllt: Die Handlung des Ehemanns soll die
Frau zu einem Verhalten veranlassen, sie dient dem Interesse der Ehefrau und sie be-
nutzt andere Mittel als die vernünftige Überzeugung, nämlich das Mittel, den Mantel
in Sichtweite an die Garderobe zu hängen. Trotzdem würden wir das Handeln des Ehe-
manns nicht als paternalistisch ansehen. Warum? Weil es mit dem aktuellen Willen der
Ehefrau geschieht. Nur wenn es gegen oder zumindest ohne ihren aktuellen Willen statt-
fände, wäre es paternalistisch. Die abgeschwächten Voraussetzungen ohne Ausschluss

6 Danny Scoccia, In Defense of Hard Paternalism, S.€352╛f.


310 XI. Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus)

der Übereinstimmung mit dem aktuellen Willen des Betroffenen sind deshalb nicht
hinreichend für die Qualifikation eines Handelns als paternalistisch. Ein Handeln ge-
mäß dem aktuellen Willen des Betroffenen ist ihm gegenüber nach dem Grundsatz
volenti non fit iniuria regelmäßig gerechtfertigt und stellt nur eine Vertretung bzw. Re-
präsentation des Anderen dar.
In bestimmten Fällen kann es notwendig sein, durch die Handlung auch Dritte ein-
zuschränken. Die betroffenen „Anderen“ im Element (1) einerseits sowie die begünstig-
ten „Anderen“ im Element (2) andererseits müssen also nicht identisch sein. Man unter-
scheidet insofern zwischen „indirektem“ und „direktem“ Paternalismus.7 Das Verbot der
Werbung für Zigaretten, das die Hersteller, Werbeagenturen und Medien um der Ge-
sundheit der Raucher willen einschränkt, ist ein Beispiel für einen derartigen indirekten
Paternalismus, das Verbot der Tötung auf Verlangen gemäß § 216 des deutschen Strafge-
setzbuchs, das außer den Getöteten auch den Arzt bzw. andere aktiv Tötende im Interesse
des Getöteten limitiert, hat wohl ebenfalls einen indirekt paternalistischen Anteil.
Die wesentliche, rechtfertigungsrelevante Unterscheidung im Rahmen paternalisti-
schen Handelns ist diejenige zwischen einem weichen und einem harten Paternalismus.
Weich paternalistisches Handeln ist dadurch gekennzeichnet, dass es in irgendeiner Form
mit Zielen, Wünschen, Bedürfnissen oder Strebungen des Betroffenen übereinstimmt,
während dies bei hart paternalistischem Handeln nicht der Fall ist.8 Für den weichen
Paternalismus genügt also beim Element (2) der Definition der bloße Schutz eines objek-
tiven Gutes, Wohls oder Glücks nicht zur Rechtfertigung. Nur wenn einem „Interesse“ im
engeren Sinn des Kapitels II gedient werden soll, ist das paternalistische Handeln legitim.
Im Folgenden wird die Frage der Rechtfertigung paternalistischen Handelns in drei
Thesen entfaltet:

2. Normativer Individualismus

Erste These: Nur wenn man den normativen Individualismus anerkennt, kann paterna-
listisches Handeln letztlich legitim sein.
Im Sinne der obigen Definition des Paternalismus könnten „Andere“ prinzipiell
auch Kollektive wie Unternehmen, Vereine, Familien oder Staaten sein. Viele Liberale,
wie H.â•›L.â•›A. Hart oder Joel Feinberg, würden in einem derartigen Fall allerdings gar
nicht von „Paternalismus“ sprechen, weil es bei einem derartigen normativen Kollekti-
vismus der Förderung von Gemeinschaften nicht primär darum geht, den Interessen je-
des einzelnen Anderen zu dienen, das Element (2) der Definition nach diesem engeren,
individualistischen Verständnis also nicht erfüllt wäre.9

7 John Kleinig, Paternalism, S.€ 11. Gerald Dworkin, Paternalism, in: Rolf Sartorius (Hg.), Paternalism,
Minneapolis 1983, S.€19–34, spricht von einem „unreinen“ und einem „reinen“ Paternalismus.
8 Vgl. für einen anderen Versuch, die Unterscheidung mit Bezug auf die Mittel zu definieren: Danny Scoc-
cia, In Defense of Hard Paternalism, S.€357╛ff. Hart paternalistisch ist dann der Einsatz von Zwang.
9 Joel Feinberg, Harm to Self, S.€4╛ff.
3. Keine Verwirklichung von Pflichten gegen sich selbst 311

Aber selbst wenn man den Begriff des Paternalismus nicht so eng fassen will, gilt:
Kollektive und ihre Werte und Güter können nach dem im Kapitel€I entfalteten Prinzip
des normativen Individualismus keine letzte ethische Rechtfertigung liefern. Das heißt,
die Interessen von Staaten, Nationen, Völkern, Ethnien, Klassen, Unternehmen, Verei-
nen, Nachbarschaften, Sippen, Familien, Ehen, Freundschaften usw. sind zwar ethisch
und moralisch zu berücksichtigen. Diese Kollektive können insofern auch legitime Be-
günstigte paternalistischen Handelns sein. Aber in letzter Instanz kommen im Konflikt
nur die hinter diesen Kollektiven stehenden Individuen und ihre Belange als normativ-
ethische Quelle der Begründung in Betracht. Damit kann ein Handeln für ein Kollektiv
aus Gründen des kollektiven Interesses ohne eindeutige Rückführung dieses kollektiven
Interesses auf individuelle Interessen, also das, was man einen „superharten Paterna-
lismus“ nennen könnte, letztlich nicht ethisch legitim sein. Will die Regierung eines
Landes etwa ein Unternehmen vor dem Konkurs retten, so ist das ethisch nur recht���
fertigbar, wenn es auch im Interesse der Betroffenen, also der Arbeitnehmer, Anteilseig-
ner und Steuerzahler liegt. Würde der Konkurs nur verschleppt und das Handeln der
Regierung zu einem größeren Verlust von Arbeitsplätzen und einem geringeren Wert
der Unternehmensanteile führen, so kann es nicht als ethisch legitim angesehen werden,
auch wenn insofern ein abstraktes Interesse des Unternehmens an seinem Fortbestand
realisiert würde. Selbst wenn man zugunsten von Kollektiven handeln will, stellt sich
somit immer die Frage nach den dahinter stehenden betroffenen Individuen.
Dies mag dazu geführt haben, dass der Paternalismus überhaupt nur im Kontext
einer normativ-indivi�dua�listi��schen Ethik bedeutsam wurde, etwa bei Liberalen wie John
Stuart Mill, H.â•›L.â•›A. Hart, Gerald Dworkin und Joel Feinberg.10 Nur weil etwa Mill
die legitime Machtausübung des Staates auf die Verhinderung der Schädigung anderer
Individuen beschränkte (sog. harm principle),11 war für ihn die Restriktion der Selbst-
schädigung durch die politische Gemeinschaft problematisch. Und er erlaubte sie nur
in zwei eng begrenzten Ausnahmefällen: der Unkenntnis von Fakten, die den eigenen
Wünschen zugrunde liegen, etwa der nicht erkannten Einsturzgefahr einer Brücke, die
man betreten will, und der Selbstversklavung.12

3. Keine Verwirklichung von Pflichten gegen sich selbst

Zweite These: Der Paternalismus kann nicht als Exekution von Pflichten gegen sich
selbst durch Andere legitim sein.
Akzeptiert man die Ablehnung von Pflichten gegen sich selbst in Kapitel€VIII, so kann
der Paternalismus nicht als Verwirklichung derartiger Pflichten gegen sich selbst ethisch,

10 John S.€Mill, On Liberty; H.╛L.╛A. Hart, Law, Liberty and Morality; Gerald Dworkin, Paternalism; Joel
Feinberg, Harm to Self.
11 John S.€Mill, On Liberty, S.€9.
12 John S.€Mill, On Liberty, S.€95, 101.
312 XI. Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus)

moralisch oder rechtlich zu rechtÂ�fertigen sein. Insofern ist eine grundsätzliche liberale
Skepsis gegenüber dem Paternalismus, wie sie etwa Mill artikuliert hat, berechtigt.

4. Die entscheidenden Eigenschaften

Dritte These: Weil die ethisch entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden


anderen Individuen ausschließlich deren Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen
sind, zusammengefasst, ihre nicht egoistisch verstandenen Belange bzw. Interessen im
engeren Sinn, ist nur ein weicher Paternalismus gerechtfertigt.
Erkennt man den normativen Individualismus an, dann stellt sich€– im zweiten Ka-
pitel€wurde dies gezeigt€– die Frage, welche Eigenschaften der Individuen ethisch recht-
fertigend sein können. Die Frage nach den normativ entscheidenden Eigenschaften ist
der Schritt der ethischen Begründung, bei dem sich klärt, ob paternalistisches Handeln
ethisch berechtigt sein kann.
Wollte man ausschließlich den gegenwärtigen, wirklichen, das heißt den aktuellen
Willen der Individuen ethisch entscheidend sein lassen, so wäre jeglicher Paternalismus
illegitim.13 Es könnte dann kein gerechtfertigtes Handeln im Interesse Anderer ohne
oder gegen deren aktuellen Willen geben, denn dieser aktuelle Wille wäre verbindlich.
Der Betroffene müsste immer selbst über die Konkretisierung der hinter diesem aktuel-
len Willen stehenden Interessen entscheiden.
Hinter der Auffassung, dass nur der aktuelle Wille ethisch maßgeblich sein soll,
steckt ein normativ-individualistischer und damit anerkennenswerter Beweggrund. Der
Sicherheit des Betroffenen hinsichtlich der handlungsbezogenen Konkretisierung seiner
Interessen wird auf diese Weise höchste Priorität eingeräumt. Allerdings muss man be-
rücksichtigen, dass die Individuen bezüglich einer bestimmten Handlung entweder gar
keinen Willen bilden (können) oder eine Vielzahl von aktuellen und potentiellen, kurz-
oder längerfristigen, manifesten und latenten Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen
und Zielen haben. Diese können€– wie sich bereits in Kapitel€II ergab€– zueinander in
Konflikt geraten und sich in unterschiedlichen Willensmomenten ausprägen.
Die erste Möglichkeit legitimen weich paternalistischen Handelns liegt im Fall des
Fehlens eines aktuellen Willens vor, also des Handelns ohne aktuellen Willen, etwa bei
Bewusstlosen, Komatösen oder kleinen Kindern. Allerdings darf hier nur gemäß dem
früheren Willen, dem zukünftigen mutmaßlichen Willen oder€ – falls beide nicht zu
ermitteln sind€– den hinter dem mutmaßlichen Willen stehenden hypothetischen sub-
jektiven Belangen der Betroffenen gehandelt werden, also gemäß deren mutmaßlichen
Zielen, Wünschen, Bedürfnissen oder Strebungen.14 Ohne jeden Anhaltspunkt in den
subjektiv verstandenen Belangen ist ein Handeln, das andere betrifft und damit in ir-
gendeiner Form einschränkt, nicht zu rechtÂ�fertigen.

13 Dies konstatiert auch James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance, S.€10.
14 Vgl. zur Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Interessen: Günther Patzig, Der Unter-
schied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine Bedeutung für die Ethik.
4. Die entscheidenden Eigenschaften 313

Man denke sich für die zweite Möglichkeit des Handelns gegen den Willen des Be-
troffenen folgendes Beispiel: In einem Weinglas, von dem ein Weinliebhaber trinken
will, ist Gift, und er weiß nichts davon. In diesem Fall besteht ein Widerspruch zwi-
schen dem aktuellen und konkreten, aber auf falschen Tatsachenannahmen beruhenden
Willen, den Wein zu trinken, und dem generellen Willen, am Leben zu bleiben und
deshalb kein Gift zu sich zu nehmen, also ein Widerspruch zwischen zwei Willensmo-
menten und den dahinter stehenden Wünschen des Weintrinkers.
Genau an dieser Diskrepanz zwischen fehlerhaftem Willensmoment bzw. Belang
und fehlerfreiem Willensmoment bzw. Belang setzt die zweite Möglichkeit der Berech-
tigung des weichen Paternalismus an, und man muss hinzufügen, die normativ-indivi-
dualistisch begründete Berechtigung. Um den fehlerfreien Willensmomenten und den
diesen zu Grunde liegenden Belangen der Individuen GelÂ�tung zu verschaffen, dürfen
fehlerhafte Willensmomente und damit irregeleitete Belange der Betroffenen hintange-
stellt werden. Somit ist ein weicher Paternalismus normativ-individua�listisch legitim. Es
ist also legitim, auf falschen Tatsachenannahmen beruhendes selbstschädigendes Verhal-
ten einzuschränken, wenn keine Aufklärung erfolgen kann, etwa im Fall des vergifteten
Weines das Glas wegzuschlagen, sofern keine Zeit mehr bleibt, den Weinliebhaber zu
warnen. Voraussetzung ist, dass als sehr wahrscheinlich angenommen werden kann, dass
er im Falle der Aufklärung den Wein nicht getrunken hätte.
Neben diesen beiden Fällen eines legitimen weichen Paternalismus, dem völligen
Fehlen eines aktuellen Willens und dem fehlerhaften aktuellen Willen, dem falsche Tat-
sachenannahmen zugrunde liegen (wobei ein gegenläufiger genereller Wille oder ein ge-
genläufiges generelles Interesse besteht), gibt es aber mindestens zwei weitere Fälle, bei
denen die Legitimität des Paternalismus in Frage steht:
Im einen Fall nimmt der Betroffene bei korrekter und vollständiger Tatsachen-
information eine von einem heute erreichten rationalen Standpunkt falsche zusam-
menfassende Bewertung bzw. Abwägung seiner Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und
Ziele vor, wenn sich etwa ein Raucher trotz klarer Kenntnis der hohen Risiken lieber
für das Rauchen entscheidet oder ein Autofahrer trotz klarer Einsicht in die hohen
Gefahren dafür, sich nicht anzuschnallen. Auch wenn in derartigen Fällen die Be-
wertung bzw. Abwägung falsch sein mag, so gebietet der normative Individualismus
doch den Respekt vor der individuellen Entscheidung des Anderen und damit die
Anerkennung dieser Bewertung bzw. Abwägung, die sich als zusammenfassender Be-
lang bzw. Interesse manifestiert. Bewertungsfragen sind nie vollständig objektivierbar
und immer mit individuellen Ansichten und Vorlieben verbunden. So mag etwa das
Anlegen eines Sicherheitsgurts für einen extrem sensiblen Menschen eine ungeheure
Beklemmung und damit eine sehr gravierende Einschränkung bedeuten, die aus der
objektivierenden Perspektive eines Anderen nicht nachvollziehbar ist. In derartigen
Fällen einer aus der Sicht des paternalistisch Handelnden falschen, dem Interesse im
Sinne eines objektiven Wohls widersprechenden Bewertung der eigenen Strebungen,
Bedürfnisse, Wünsche und Ziele liegt aber anders als in den soeben erörterten Fällen
kein Widerspruch zwischen verschiedenen subjektiven Belangen bzw. Willensmomen-
ten vor. Der Betroffene hat etwa den klaren Wunsch und Willen, zu rauchen oder ohne
314 XI. Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus)

Sicherheitsgurt zu fahren. Das Handeln, das ihn zu seinem vermeintlich objektiven


Wohl bringen will, ist also kein weich paternalistisches. Es ist mangels entsprechender
subjektiver Interessen ethisch illegitim, wenn nicht€– wie sich noch zeigen wird€– in
den spezielleren Normordnungen von Politik und Recht weitere, spezifischere Ge-
sichtspunkte hinzutreten.
Im anderen Fall hat jemand zutreffende Tatsachenannahmen, wägt richtig ab,
kommt also zu einer aus der Sicht des paternalistisch Handelnden zutreffenden Be-
wertung seiner Belange und bildet auch einen entsprechenden generellen Willen. Aus
Willensschwäche ist er aber nicht in der Lage, im Anschluss an diesen generellen Willen
einen konkreten Willen zu fassen und entsprechend zu handeln. Ein Beispiel ist der
Raucher, der ausdrücklich und generell geäußert hat, nicht mehr rauchen zu wollen,
in bestimmten, konkreten Situationen aber nicht in der Lage ist, sein Suchtverhalten
zu kontrollieren und doch raucht. Man könnte argumentieren, dass in derartigen Fäl-
len eine Intervention gar nicht paternalistisch ist, weil sie ja gemäß dem Willen des
Betroffenen erfolgt und nicht ohne oder gegen dessen Willen. Würde es sich bei dem
durch das paternalistische Handeln realisierten Willen um den tatsächlichen, konkreten
Willen handeln, so wäre dieser Einwand zutreffend. Fordert uns ein Raucher auf, ihm
hier und jetzt seine Zigaretten wegzunehmen, so dürfen wir das tun. Wir handeln nicht
ohne oder gegen, sondern mit dem Willen des Betroffenen. Anders ist die Situation
allerdings bei einer generellen Willensäußerung, etwa dem generell geäußerten Willen
des Rauchers, ihm die Zigaretten in Zukunft jedes Mal wegzunehmen, sobald er sie aus
der Tasche holt. Hier kann sich in jeder konkreten Situation ein anderer aktueller Wille
ergeben. Und es ist nicht eindeutig, ob sich im Einzelfall der generell entgegenstehende
Wille wirklich durchsetzen soll, ob also das Rauchen tatsächlich auf Willensschwäche
oder auf dem Willen, in manchen Situationen ausnahmsweise doch zu rauchen, beruht.
Der Raucher kann den Konflikt zwischen seinem generellen Willen und seinem aktuel-
len Willen durch eine Metaentscheidung auf zwei Arten lösen. Er kann entweder festle-
gen, dass sich der generelle Wille immer durchsetzen soll. Oder er kann festlegen, dass
der generelle Wille zwar gilt und konkrete Willensbildungen beeinflussen soll, sich im
Einzelfall aber doch der konkrete Wille realisieren kann, etwa weil das Rauchen in einer
extremen Stresssituation die beste Methode der Beruhigung ist. Diese Metaentschei-
dung darf aber ein paternalistisch Handelnder dem betroffenen Raucher nicht gegen
dessen Metainteresse bzw. Metawillen abnehmen, ohne das Prinzip des normativen In-
dividualismus zu verletzen. In derartigen Fällen der Willensschwäche darf er also nicht
ohne den expliziten und konkreten Willen des Rauchers eingreifen. Allein die Willens-
schwäche rechtfertigt somit paternalistisches Handeln nicht. Allerdings wird man es aus
Gründen des normativen Individualismus und damit im mutmaßlichen Metainteresse
des Betroffenen in beiden erwähnten Fällen eines illegitimen paternalistischen Han-
delns zumindest für zulässig halten dürfen, dann einen Aufschub herbeizuführen, wenn
sehr gravierende, irreversible Schäden drohen. Dies gilt sicher nicht für das Rauchen ei-
ner einzelnen Zigarette. Aber der Selbstmord darf auch gegen den aktuellen Willen des
Suizidenten aufgehalten werden, allerdings nur konkret situativ und nicht permanent.
Niemand darf etwa längere Zeit zur Vereitelung seines nicht durch eine gravierende
5. Spezifik der Sozialethik, politischen Ethik und Rechtsethik 315

psychische Erkrankung verursachten Suizids festgehalten werden, wie es etwa deutsche


Gerichte für zulässig erklärt haben.15
Grundsätzlich nicht rechtfertigbar ist es somit vor dem Hintergrund einer normativ-
indi�vi�dua�listischen Ethik, das objektive Wohl des Betroffenen auch gegen dessen auf-
geklärte tatsächliche, frühere, mutmaßliche oder hypothetische Willensbekundungen,
das heißt letztlich gegen dessen subjektive Interessen durchzusetzen, also jemandem, der
einsichtsfähig ist und weiß, dass und wie er sich gefährdet, dazu zu verpflichten, einen
Gurt anzulegen, einen Helm aufzusetzen, mit dem Rauchen aufzuhören, eine Extrem-
sportart aufzugeben oder sich als Zeuge Jehovas einer Bluttransfusion zu unterziehen.
Nicht zu rechtfertigen ist es etwa, eine frühere Willensäußerung in Form einer Patien-
tenverfügung zu missachten, sofern sie frei und aufgeklärt verfasst wurde, die fragliche
Behandlung hinreichend konkret anspricht und ein Irrtum oder eine Änderung des
früheren Willens nicht erkennbar ist. Das objektive Wohl darf nicht an die Stelle der in-
formierten und freien Willensbekundung des Betroffenen gesetzt werden, solange sich
kein entsprechender zukünftiger mutmaßlicher Wille oder ein mutmaßliches subjekti-
ves Interesse vermuten lässt. Das bloße hypothetische Interesse des Betroffenen kann
nur eine letzte hilfs- und ausnahmsÂ�weise Instanz zur Herbeiführung einer Entscheidung
sein, wenn die Berücksichtigung der dreifachen Kaskade des aktuellen, früheren und
mutmaßlichen, aufgeklärten Willens nicht zu einem Ergebnis führt. Eine Begründung,
warum darüber hinaus auch noch ein objektives Wohl zu berücksichtigen sein soll, ist
nicht erkennbar. Die rechtfertigungsbestimmende Eigenschaft der ethisch zu berück-
sichtigenden Individuen sind, wie sich ergab, die subjektiven Strebungen, Bedürfnisse,
Wünsche und Ziele des Betroffenen, das heißt seine Interessen im subjektiven Sinne,
wie sie sich unmittelbar handlungsbezogen im Willen ausprägen, nicht sein objektives
Wohl. Jede vollständig utilitaristisch- oder konsequentialistisch-objektive Begründung
des Paternalismus verlässt den normativen Individualismus.16 Ein harter Paternalismus
ist somit vor dem Hintergrund einer normativ-individualistischen Ethik nicht zu recht-
fertigen. Das gilt sowohl für die Individualethik als auch für die politische Ethik und die
Rechtsethik. Allerdings gelten bei Letzteren Weiterungen in der Konkretisierung, denen
zum Schluss dieses Kapitels nachgegangen wird.

5. Spezifik der Sozialethik, politischen Ethik und Rechtsethik

Die Sozialethik und die politische Ethik€– welche in Kapitel€XV, 1 noch genauer be-
stimmt werden€– sind durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet. Und bei der RechtsÂ�
ethik tritt noch eine weitere hinzu. Dies führt zu Weiterungen in der Konkretisierung
des auch hier allein ethisch zu rechtfertigenden weichen Paternalismus.

15 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1989, S.€1790.


16 Vgl. zur näheren Darstellung und Kritik konsequentialistischer Rechtfertigungen: John Kleinig, Paterna-
lism, S.€48╛ff.
316 XI. Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus)

In der Sozialethik und politischen Ethik geht es im Hinblick auf das Handeln der
fraglichen Gemeinschaft zum einen in höherem Maß als in der Individualethik um
gemeinschaftliche Belange. Das bedeutet, dass die Berücksichtigung nicht unmittelbar,
sondern nur mittelbar Betroffener und ihrer Interessen eine gewichtigere Rolle spielt,
also etwa bei der Helm- und Gurtpflicht die Berücksichtigung der weiteren Angehö-
rigen, Freunde und Mitarbeiter des Verletzten, die von einem Unfall betroffen wären,
aber auch die Berücksichtigung der Beitragszahler der Krankenkassen, die als Teil der
Solidargemeinschaft für Schwerverletzte aufkommen müssen. Die Verpflichtung wird
somit nicht wegen des Schutzes des Betroffenen, sondern wegen des Schutzes Dritter
erweitert und ist deshalb nicht genuin paternalistisch.17
Wegen des gemeinschaftlichen Charakters politischen Handelns wird zum anderen
in der politischen Ethik die individualethisch klare Grenze zwischen Fragen, die nur den
Handelnden betreffen, also Fragen des guten Lebens, und Fragen, die auch Andere be-
treffen, also Fragen der Moral, des Rechts und der Ethik im objektbezogen engeren Sinn
unscharf. Politisches Handeln dient fast immer nicht nur der Durchsetzung individuel-
ler moralischer, rechtlicher und ethischer Ansprüche, sondern auch der Gestaltung eines
gemeinsamen guten Lebens, etwa bei der Planung von Wohngebieten und Verkehrswe-
gen, der ordnungspolitischen Sicherung des Wirtschaftens oder der Kulturförderung.
Das bedeutet nicht, dass in der politischen Ethik das Prinzip des normativen Individua-
lismus verlassen würde. Aber es rücken individuelle Belange ins Blickfeld, die sich auch
auf die Gemeinschaft und ein gemeinschaftliches Leben richten und nicht mehr als
moralisch und rechtlich bzw. ethisch im engen Verständnis zu qualifizieren sind, etwa
das allgemeine Interesse, die politischen Institutionen funktionsfähig zu halten und un-
nötige finanzielle Aufwendungen der politischen Gemeinschaft zu vermeiden.
Zu diesen beiden Besonderheiten sozialen und politischen Handelns treten nun
beim Recht weitere Spezifika hinzu, die deren Wirkungen verstärken. Das Recht ist
nicht nur in weiten Teilen kategorisch gebietend, sondern auch formal sowie in seinen
modernen Ausprägungen allgemein, öffentlich und häufig mit Sanktionen verbunden.18
Seine Entscheidungen haben eine sehr starke generelle Orientierungskraft für das Ver-
halten der einzelnen Bürger. Das Recht wirkt aufgrund dieser Eigenschaften in weit
höherem Maße repräsentierend und gesellschaftsprägend als moralische und sonstige
politische Entscheidungen. Die Moral erhebt zwar auch einen gewissen Allgemeinheits-
anspruch. Aber verschiedene partielle Moralsysteme können faktisch nebeneinander

17 Eine meist nicht intendierte Nebenfolge liegt gelegentlich auch im Schutz vor Anderen: Die Gurtpflicht
entlastet etwa den Mitfahrer davon, erklären zu müssen, warum er einen Gurt anlegt und damit den
Lenkfähigkeiten des Fahrers scheinbar misstraut.
18 Zur Allgemeinheit und Öffentlichkeit des Rechts: zum Beispiel Lon L. Fuller, The Morality of Law, 2.,
rev.€Aufl. New Havenâ•›/â•›London 1969, S.€39, 46â•›ff. Zur Formalität des Rechts: Robert Summers, How Law
is Formal and Why it Matters, Cornell Law Review 82 (1997), S.€1165–1229. Zur häufigen Sanktionie-
rung des Rechts: Bernd Rüthers, Rechtstheorie. Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts, 2.€Aufl.
München 2005, Rdnr. 58, S.€45; noch weiter gehend im Sinne eines notwendigen Elements des Rechts:
Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2.€ Aufl. Wien 1960, S.€ 34╛ff. Vgl. zu einer Kritik dieser Annahme,
dass Sanktionen ein notwendiges Element des Rechtsbegriffs sind: H.â•›L.â•›A. Hart, The Concept of Law,
2.€Aufl. Oxford 1997, S.€18╛ff.
5. Spezifik der Sozialethik, politischen Ethik und Rechtsethik 317

existieren, etwa gestützt durch unterschiedliche religiöse Überzeugungen. Das gilt in


begrenzterem Maße auch für einzelne Elemente der Politik. Beim heutigen Recht po-
litischer Gemeinschaften ist das anders. Seine grundlegenden Entscheidungen müssen
allgemein sein, um die „Einheit der Rechtsordnung“ zu wahren.19
Alle diese, das Recht zusätzlich kennzeichnenden Merkmale, lassen bei ihm die
gesellschafts- und bewusstseinsprägende Wirkung einer Normierung noch erheblich
stärker ins Gewicht fallen als bei Moral und Politik. Rechtliche Regeln, und hier wie-
der besonders solche des Strafrechts, wie die Strafbarkeit oder Straflosigkeit der Tötung
auf Verlangen, wirken in besonderem Maße gemeinschaftsprägend. Diese Spezifika
von Politik und Recht machen es erforderlich, die Folgerungen aus der Legitimitäts-
grenze des weichen Paternalismus, welche auch für die Sozialethik, die politische Ethik
und die Rechtsethik die Grundlage bleiben muss, wenigstens in zwei Fallgruppen zu
ergänzen:
Die eine Fallgruppe umfasst spezifische starke Gefährdungen des Einzelnen durch
die gemeinschaftlich entwickelte und zum Nutzen aller etablierte Verkehrs- und Indus-
triegesellschaft, sofern die Einschränkungen für den Einzelnen nicht sehr gravierend
sind. Dies betrifft etwa die Helmpflicht und die Gurtpflicht beim Betrieb von Kraft-
fahrzeugen, aber auch spezifische Sicherheitsvorschriften in Industriebetrieben oder
der öffentlichen Verwaltung. Das gemeinschaftliche Interesse, zu verhindern, dass der
kollektiv organisierte und zu verantwortende Verkehr und die industrielle Produkti-
onsweise den Einzelnen und damit in vielfältiger, direkter und indirekter Weise auch
andere Mitglieder des Gemeinwesens schädigt, rechtfertigt wenig gravierende Ein-
schränkungen wie die Helmpflicht und die Gurtpflicht beim Betrieb von Kraftfahr-
zeugen oder Maschinen. Anders stellt sich die Lage bei gefährlichen Sportarten in der
Freizeit, dem Rauchen oder Alkoholgenuss sowie der Bluttransfusion dar. Hier sind die
Gefährdungen zum einen eher privater Natur und nicht Ausfluss eines gemeinschaftli-
chen Verkehrs oder einer gemeinschaftlichen Produktionsweise, zum anderen würden
die Einschränkungen im Unterschied zur Gurt- und Helmpflicht nicht nur eine ge-
wisse Lästigkeit auferlegen, sondern für viele ein Handeln, das eine ganze Lebensform
prägt, zum Beispiel als Sportler, Intellektueller, Lebemann bzw. Lebefrau oder Gläubi-
ger, vollständig verhindern. Die gegenwärtig in fast allen westlichen Ländern geltende
Regelung, das Helm- und Gurttragen beim Betrieb von Kraftfahrzeugen zu gebieten,
das Rauchen, den Alkoholgenuss sowie gefährliche Sportarten jedoch nicht zu verbie-
ten und Bluttransfusionen oder generell medizinische Behandlungen nicht zu gebieten,
erscheint also als eine gut begründete Grenzziehung des in seinen Folgerungen in die-
ser Fallgruppe leicht erweiterten weichen Paternalismus in einem normativ-individua�
listischen bzw. liberalen Gemeinwesen. Sofern das Rauchen in geschlossenen Räumen
wie Behörden oder Gaststätten untersagt wird, kann die ethische Begründung also keine

19 Vgl. Manfred Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, Berlin 1995. Föderale Systeme eröffnen allerdings
die Möglichkeit, auf der Ebene von Gesamtstaat und Gliedstaaten zu partiell unterschiedlichen, jedoch
jeweils ihrerseits für die jeweilige politische Gemeinschaft einheitlichen Regelungen zu gelangen.
318 XI. Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus)

paternalistische gegenüber dem Raucher selbst sein, sondern nur eine allgemeinethische
des Schutzes der Nichtraucher.
Die andere Fallgruppe betrifft Einschränkungen des Verhaltens des Einzelnen, die
zwar nicht durch Gefährdungen der gemeinschaftlich entwickelten und akzeptierten
Verkehrs- und Indus�triegesellschaft zu rechtfertigen, aber doch, wie die Strafbarkeit der
Tötung auf Verlangen sowie das Verbot bestimmter lebensgefährlicher Drogen, durch
einige Spezifika gekennzeichnet sind, und zwar folgende: Zum Ersten handelt es sich
um Belange der Individualzone, also um Höchstgüter des Einzelnen, wie Leben, Leib
und Gesundheit. Zum Zweiten geht es nicht nur um eine Gefährdung, wie bei der
Helm- und Gurtpflicht, sondern um die tatsächliche, einigermaßen wahrscheinliche
Zerstörung oder Schädigung dieser Belange der Individualzone bzw. dieser Höchstgü-
ter. Aber das allein würde nicht ausreichen, denn die passive und indirekte Euthanasie
sowie die Beihilfe zum Suizid sind zu Recht im Interesse der Betroffenen und im Sinne
eines weichen Paternalismus straflos20 (Letztere in der Schweiz allerdings nur bei nicht
selbstsüchtigen Motiven21). Die generelle Zulassung der Tötung auf Verlangen vereitelt
aber zum einen die Interessen aller an einer gemeinsamen, humanistischen Lebensform
des Ausschlusses der Tötung oder schweren Verletzung Unschuldiger durch Andere.
Zum anderen erscheinen bei der Tötung auf Verlangen die Gefährdungen Vieler durch
Missbräuche und Pressionen so groß, dass die Rechtsgemeinschaft den Schutz im In-
teresse aller Menschen durch ein Verbot gewährleisten darf. Die eigene Ausführung
des Suizids beglaubigt die Freiheit und Ernsthaftigkeit seines Verlangens. Das letzte
Argument ist allerdings kein paternalistisches mehr, sondern ein ganz normales Argu-
ment des Schutzes Anderer, so dass man die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen auch
nichtpaternalistisch begründen kann, weil nicht nur der Schutz derjenigen, die eine
Tötung begehren, sondern auch der Schutz derjenigen, die keine Tötung begehren,
gewährleistet werden muss. Hier zeigt sich, wie stark paternalistische und nichtpater-
nalistische Begründungen insbesondere in der politischen Ethik und der RechtsÂ�ethik
ineinander übergehen und wie schwierig derartige Abwägungen und Entscheidungen
deshalb sind. Eine sehr spezifische Form der Tötung auf Verlangen, die aktive Euthana-
sie, das heißt die Tötung auf Verlangen unheilbar kranker, in absehbarer Zeit sterbender
Menschen, wird im letzten Kapitel€noch erörtert.

20 BGHSt 40, 257 (passive Euthanasie); BGHSt 42, 305 (indirekte Sterbehilfe), BGHSt 46, 279 (Beihilfe
zum Suizid).
21 § 115 des Schweizerischen StGB: „Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde
verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Selbstmord ausgeführt wurde, mit Zuchthaus bis zu
fünf Jahren oder mit Gefängnis bestraft.“
XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte

Im Folgenden werden einzelne typische moralische Konflikte analysiert.1 Dies geschieht


im Wesentlichen unter Beschränkung auf moralische Normen und Werte. Nur am
Schluss des Kapitels wird kurz auf einen Konflikt zwischen Moral und Recht eingegan-
gen. Ziel ist es, zu zeigen, wie sich die Ethik des normativen Individualismus angesichts
dieser typischen moralischen Konflikte bewährt.
Manche bezeichnen moralische Konfliktsituationen auch als „Dilemmata“.2 „Di-
lemmata“ klingt nach Ausweglosigkeit. Das erfordert eine Entscheidung, ob „Konflikte“
im Sinne von „Dilemmata“ verstanden werden sollen oder nicht. Man sollte sich zur
Klärung dieser Frage noch einmal vergegenwärtigen, dass Konflikte in einem umfassen-
den Verständnis eines wenigstens potentiellen Widerstreits von Belangen keine Ausnah-
me bilden. Sie sind vielmehr die notwendige Voraussetzung jeder Moral und Ethik im
engeren Sinn. Ist kein Widerstreit im Sinn einer Interessenkollision zu erwarten, so kön-
nen die Beteiligten ihren individuellen Vorstellungen vom guten Leben und glücklichen
Handeln frei folgen. Sie brauchen keine Moral und auch keine Ethik der Rechtfertigung
der Moral bzw. anderer kategorischer Normordnungen wie Recht, Religion, Erziehung
oder Politik.
Werden aber Moral, Recht usw. erst durch das Ziel der Lösung intersubjektiver
Konflikte konstituiert, so würde die Annahme einer generellen Ausweglosigkeit impli-
zieren, dass sie ihren Zweck prinzipiell verfehlen würden. Dies wäre mit unserer empiri-
schen Wahrnehmung dieser gesellschaftlichen Phänomene unvereinbar. Warum sollten
sich die Menschen über Jahrtausende die Mühe mit sozialen Gestaltungen geben, die
prinzipiell nicht funktionieren? Niemand wird das ernsthaft annehmen können.
Die Frage, ob die Ethik generell ausweglos ist, wurde oben im Kapitel€VI schon im
Zusammenhang mit dem Vorschlag einer objektivistischen Metaethik negativ beant-
wortet. In Frage kommt also allenfalls eine partielle Ausweglosigkeit. Versucht man sich
klarzumachen, welche Typen von Konflikten hierfür in Frage kommen, so kann man an
gegensätzliche, gleich starke Pflichten einer Person in einem bestimmten Konflikt den-
ken. Diese gegensätzlichen, gleich starken Pflichten führen aber, wie sich in den Kapi-
teln VII und X ergab, nicht in die Ausweglosigkeit, sondern zur deontischen Alternative
der Indifferenz, also der Erlaubnis bzw. Freistellung. Sie eröffnen damit den Raum für
die Bewertung von Handlungen als supererogatorisch.

1 Vgl. zu praktischen Konflikten im Allgemeinen: Peter Baumannâ•›/â•›Monika Betzler (Hg.), Practical Con-
flicts. New Philosophical Essays, Cambridge 2004.
2 Häufig wird die Verwendung des Ausdrucks „Dilemma“ auf den Konflikt von zwei Pflichten beschränkt.
Die in der metaethischen Literatur diskutierte Frage, ob im Falle eines Dilemmas wirklich zwei Pflichten
bestehen oder nur eine einzige als Ergebnis, scheint nicht mehr als ein Streit um Worte zu sein.
320 XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte

Sind die gegensätzlichen Pflichten dagegen nicht gleich stark, so manifestiert sich
hierin eben ein Gewichtsunterschied in der Abwägung der im jeweiligen Konflikt ste-
henden Belange, welcher für jede ethische Abwägung kennzeichnend ist und welcher zur
alltäglichen Lösung führt, dass der stärkeren Pflicht entsprochen werden muss. Sieht man
Pflichten nicht als Fundament der Ethik an, sondern nur als Realisationsformen der Inter�
essen in der Abwägung bzw. der Abwägung selbst, so ist es nicht problematisch, derartige
gegensätzliche Pflichten anzuerkennen. Was „Ausweglosigkeit“ bzw. „Dilemma“ darüber
hinaus noch bezeichnen soll, ist fraglich. Es erscheint jedenfalls für eine normative Ethik
als nicht besonders bedeutsam und soll deshalb hier nicht weiter diskutiert werden.

Folgende Typen moralischer Konflikte lassen sich unterscheiden:

1. Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen bezüglich einer Akteurshandlung:
eine Pflicht gegenüber einem Anderen
1.a) Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen bezüglich einer Beeinträchtigung
durch den Akteur: eine Unterlassenspflicht
1.b) Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen bezüglich einer Hilfe durch den
Akteur: eine Hilfspflicht
1.c) Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen an einer Gemeinschaft: eine Ge-
meinschaftspflicht

2. Zwei Pflichten gegenüber einem Anderen3


2.a) Zwei Unterlassenspflichten gegenüber einem Anderen
2.b) Zwei Hilfs- bzw. Handlungspflichten gegenüber einem Anderen
2.c) Eine Hilfs- bzw. Handlungs- und eine Unterlassenspflicht gegenüber einem Anderen
2.d) Eine Gemeinschaftspflicht und eine andere Pflicht gegenüber einem Anderen

3. Zwei Pflichten gegenüber zwei Anderen


3.a) Zwei Unterlassenspflichten gegenüber zwei Anderen
3.b) Zwei Hilfs- bzw. Handlungspflichten gegenüber zwei Anderen
3.c) Eine Unterlassens- und eine Hilfs- bzw. Handlungspflicht gegenüber zwei Anderen
3.d) Eine Unterlassenspflicht und eine Hilfserlaubnis gegenüber zwei Anderen
3.e) Eine Gemeinschaftspflicht und eine andere Pflicht gegenüber zwei Anderen

4. Mehrere Pflichten gegenüber drei und mehr Anderen


4.a) Unterlassenspflichten gegenüber drei und mehr Anderen
4.b) Hilfs- bzw. Handlungspflichten gegenüber drei und mehr Anderen
4.c) Unterlassens- und Hilfs- bzw. Handlungspflichten gegenüber drei und mehr Anderen
4.d) Eine Gemeinschaftspflicht und eine weitere Pflicht gegenüber drei und mehr Anderen

5. Kollision zwischen moralischen und rechtlichen Pflichten

3 Bei diesen Fällen wird angenommen, dass die Interessen des Akteurs nur eine untergeordnete Rolle spielen.
1. Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen bezüglich einer Akteurshandlung 321

1. Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen


bezüglich einer Akteurshandlung

a) Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen bezüglich einer


Beeinträchtigung durch den Akteur: eine Unterlassenspflicht

Fall 1.a): A zündet sich im Beisein von B eine Zigarette an. B verträgt den Rauch nicht
und weist A darauf hin. Muss A seine Zigarette auslöschen?
Es handelt sich um einen Konflikt zwischen einem Belang des Akteurs und einem
Belang des Anderen bezüglich einer Beeinträchtigung durch den Akteur, also um ei-
nen Konflikt des Typs 1.a). Fraglich ist eine Unterlassenspflicht des Akteurs. Durch das
Anzünden der Zigarette in Gegenwart des B überschreitet A die Grenze seines Interes-
senraums und dringt in den Interessenraum des Anderen ein. Mit der Gesundheit wird
dabei ein Interesse der Individualzone des B tangiert, während A für seine Handlung
nur ein Interesse der Relativzone ins Feld führen kann. Ob As Lustgewinn aus dem Rau-
chen größer ist als die Beeinträchtigung des B, ist folglich gleichgültig. B kann von A das
Unterlassen des Rauchens verlangen, es sei denn, sie befinden sich in einem Raum, der
ausdrücklich als Raucherbereich gekennzeichnet ist, oder sie sind im Freien und B kann
sich ohne Weiteres entfernen, um dem Rauch zu entgehen.

b) Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen bezüglich


einer Hilfe durch den Akteur: eine Hilfspflicht

Fall 1.b): B droht im Fluss zu ertrinken. Muss A in den Fluss springen, um B zu retten?
Es handelt sich um einen Konflikt zwischen einem Belang des Akteurs und einem
Belang des Anderen bezüglich einer Hilfe durch den Akteur, also einen Konflikt des
Typs 1.b). Fraglich ist, ob für den Akteur eine Hilfspflicht besteht. Sind sich A und B
nicht bekannt, so hat A eine allgemeine Hilfspflicht gegenüber anderen Menschen, die
sich aus der menschlichen Gemeinschaft ergibt. Das bedeutet: Er muss in den Fluss
springen und Bs Leben als Belang der Individualzone retten, wenn ihm dies zumutbar
ist.4 Er muss also eigene Belange der Relativzone zurückstellen. Er muss etwa nasse Klei-
der, den Zeitaufwand und auch eine gewisse marginale Gefahr für seine Gesundheit,
die sein Interesse der Individualzone noch nicht wesentlich tangiert, in Kauf nehmen. A
ist aber nicht dazu verpflichtet, sich in einen reißenden Fluss mit starker Strömung zu
werfen, wenn das mit hohem Risiko für sein Leben verbunden ist. Wir würden dies al-
lenfalls als supererogatorisch gut bewerten. Sind A und B dagegen verwandt, befreundet
oder ist der A dem B aus anderen Gründen stärker verpflichtet (zum Beispiel als Erzie-
her, Mitglied der Wasserwacht, Verursacher des Unglücks usw.), so steigt die Grenze des

4 Jenseits der Ethik findet sich ein Erfordernis der Zumutbarkeit auch in § 323c Strafgesetzbuch: Unterlas-
sene Hilfeleistung.
322 XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte

Erforderlichen an. A muss eine größere Belastung und Gefahr in Kauf nehmen, um B
zu retten, unter Umständen bis hin zu einer gravierenden Lebensgefahr.

c) Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen an einer Gemeinschaft:


eine Gemeinschaftspflicht

Fall 1.c): Die A will die Verlobung mit dem B auflösen. Darf sie das und was muss sie
dabei beachten?
Es handelt sich um einen Konflikt zwischen einem Belang des Akteurs und einem
Interesse des Anderen an einer Gemeinschaft, also einen Konflikt des Typs 1.c). Aus der
Verlobung als Gemeinschaft zwischen A und B erwachsen wechselseitige Pflichten, die
Gemeinschaft zu fördern. Allerdings ist eine Verlobung von vornherein noch nicht auf
unbegrenzte Dauer angelegt. Das ist der zentrale Unterschied zur Heirat. Beide Verlob-
ten wissen das. A hat also zwar die Pflicht, eine Weiterführung der Gemeinschaft mit B
ernsthaft zu prüfen, also die beiderseitigen Interessen der Relativzone an einem Zusam-
menleben zu bedenken. Sie darf sich aber aus der Verlobung lösen, wenn ihr das nach
reiflicher Überlegung für sich selbst und beide der bessere Weg zu sein scheint. Dabei
muss sie jedoch eine generelle Sorgfaltspflicht gegenüber dem Verlobten beachten, die
sich in verschiedener Weise konkretisiert: Sie darf den Verlobten nicht unnötig verlet-
zen, ihn nicht gegenüber Dritten abwerten, keine persönlichen Details weitererzählen,
seine Sachen nicht behalten usw.

2. Zwei Pflichten gegenüber einem Anderen

a) Zwei Unterlassenspflichten gegenüber einem Anderen

Fall 2.a): Jemand steht vor der Alternative, einen Anderen zu belügen oder ihm eine sehr
schmerzliche Mitteilung zu machen, mit der außerordentlich wahrscheinlichen Folge,
dass dieser einen schweren Schock erleidet.
Es handelt sich um einen Widerstreit zwischen zwei Unterlassenspflichten gegenÂ�über
einer Person, also um einen Konflikt des Typs 2.a). Man ist sowohl verpflichtet, Andere
nicht zu belügen, als auch, sie nicht gesundheitlich zu schädigen. Wenn den Anderen die
Wahrheit persönlich betrifft€– etwa der Tod eines nahen Angehörigen –, so muss er sie
erfahren. Er hat insofern ein Interesse der Relativzone. Allerdings gibt es keine Pflicht,
Wahrheiten sofort auszusprechen. Ein gewisser Aufschub kann im Interesse der Indivi-
dualzone des Betroffenen liegen, wenn seine Gesundheit gefährdet wird. Man muss einen
günstigen Augenblick finden, ihn schonend darauf vorbereiten sowie psychologische und
medizinische Hilfe bereithalten, um die Gesundheitsgefährdung auszuschließen.
Betrifft den Anderen die Wahrheit nicht persönlich€– etwa bei einer Katastrophe in
einem fernen Land –, so besteht keine Notwendigkeit, dass er sie erfährt. Man darf ihn
zwar nicht belügen. Aber man darf jede Auskunft mit Verweis auf seine Gesundheitsge-
2. Zwei Pflichten gegenüber einem Anderen 323

fährdung verweigern. Mag er sich die Information anderweitig beschaffen, wenn er sie
trotz der Gefahr einer Selbstschädigung bekommen will.

b) Zwei Hilfs- bzw. Handlungspflichten gegenüber einem Anderen

Fall 2.b): Ein Vater überlegt, ob er seinen volljährigen Sohn weiter finanziell unterstüt-
zen soll. Dies würde dazu führen, dass dieser sich auch in Zukunft nicht um den Aufbau
einer eigenen Existenz bemühen wird.
Es handelt sich um einen Konflikt zwischen zwei Hilfspflichten gegenüber einer
Person, also einen Konflikt des Typs 2.b). Der Vater ist wegen seiner Verwandtschaft
zu seinem Sohn zum einen verpflichtet, ihn finanziell zu unterstützen. Er ist aber zum
anderen auch verpflichtet, den Aufbau einer eigenständigen Existenz des Sohnes zu för-
dern, um ihm ein selbständiges Leben zu ermöglichen. Beide Pflichten sind solche der
Relativzone. Der Wille des Sohnes, weiter finanziell unterstützt zu werden, ist ein wich-
tiger Gesichtspunkt. Dieser Gesichtspunkt kann aber nicht allein ausschlaggebend sein.
Die Förderung eines selbständigen Lebens ist langfristig wichtiger als die Bequemlich-
keit des Sohns. Man wird hier also die Pflicht zur Förderung des Aufbaus einer eigenen
Existenz des Sohnes für vorrangig halten müssen. Der Vater sollte die weitere finanzielle
Unterstützung zeitlich begrenzen und mit der Bedingung eigener Anstrengungen zur Si-
cherung des Lebensunterhalts verbinden. Er sollte dem Sohn Möglichkeiten bzw. Mittel
zur Übernahme eigener Verantwortung zur Verfügung stellen, etwa in Form der Unter-
stützung einer Ausbildung, einer Tätigkeit im elterlichen Betrieb oder als Startkapital
zur Gründung eines eigenen Unternehmens. Es kann allerdings natürlich Fallkonstel-
lationen geben, bei denen die Selbständigkeit keine Priorität haben kann. So mag es in
einer konstitutionellen Monarchie für die Kinder des Monarchen auch im Interesse der
Bevölkerung wichtiger sein, ihre politisch-repräÂ�senÂ�tativen Aufgaben zu erfüllen und die
wirtschaftliche Unselbständigkeit in Kauf zu nehmen.

c) Eine Hilfs- bzw. Handlungs- und eine Unterlassenspflicht


gegenüber einem Anderen

Fall 2.c): Ein Haus steht in Flammen. Der einzige Feuerwehrmann, der das Haus noch
betreten konnte, ist nicht in der Lage, den stark übergewichtigen Bewohner zu tragen und
so vor den Flammen zu retten. Er könnte ihn nur noch aus dem Fenster werfen. Verlet-
zungen wären die unausweichliche Folge, weil kein Sprungtuch zur Verfügung steht.
Hier besteht ein Konflikt zwischen einer Hilfs- und einer Unterlassenspflicht gegen-
über einer Person, also ein Konflikt des Typs 2.c). Der Feuerwehrmann ist wegen seiner
beruflichen Übernahme der Brandbekämpfung in besonderem Maße zur Hilfeleistung
gegenüber dem durch Feuer Eingeschlossenen verpflichtet. Andererseits hat er aber auch
eine Pflicht, Schädigungen Anderer zu vermeiden. Ein entscheidender Gesichtspunkt
wird hier der Wille des Eingeschlossenen sein. Der Feuerwehrmann darf ihn nicht ge-
324 XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte

gen seinen aktuellen Willen verletzen. Eine Hilfeleistung gegen den aktuellen Willen
des Betroffenen ist nur in den im vorherigen Kapitel€dargestellten Grenzen des weichen
Paternalismus zulässig. Allerdings darf er ihm natürlich gut zureden, eine vernünftige
Entscheidung zu treffen.
Ist der Eingeschlossene bewusstlos, so muss der Feuerwehrmann den früheren (was
häufig kaum möglich sein wird) oder mutmaßlichen Willen des Betroffenen im Einzel-
fall ermitteln. Im Normalfall wird die Pflicht zur Hilfeleistung überwiegen, solange die
Verletzung durch den Sturz aus dem Fenster nur leicht oder mittelschwer sein wird. Der
Feuerwehrmann kann davon ausgehen, dass der Eingeschlossene einen entsprechenden
mutmaßlichen Willen hat, wenn keine gegenteiligen Anhaltspunkte erkennbar sind.
Würde der Sturz aus dem Fenster dagegen zu einer schweren Verletzung mit der
hohen Wahrscheinlichkeit des Todes führen, so dass die Todeswahrscheinlichkeit annä-
hernd gleich groß wie beim Verzicht auf die Rettung ist, gilt: Zwei gleichrangige Inter-
essen der Individualzone stehen im Widerstreit. Die Pflicht zur Hilfeleistung und zum
Unterlassen neutralisieren sich. Der Feuerwehrmann hat die Erlaubnis, eine der beiden
Alternativen zu wählen.

d) Eine Gemeinschaftspflicht und eine weitere Pflicht


gegenüber einem Anderen

Fall 2.d): Ein untreuer Ehemann überlegt, ob er seiner Frau den Ehebruch gestehen soll,
was sehr wahrscheinlich zum Ende der Ehe führen würde.
Hier handelt es sich um einen Konflikt zwischen einer Unterlassens- und einer Ge-
meinschaftspflicht gegenüber einer Person, also einen Widerstreit des Typs 2.d) von zwei
Belangen der Relativzone. Der Ehemann ist gegenüber seiner Frau grundsätzlich zur
Wahrheit verpflichtet, da die Untreue seine Frau persönlich betrifft. Aber er ist im Inter-
esse beider auch zur Förderung der Gemeinschaft angehalten. Deshalb mag es vielleicht
Konstellationen geben, bei denen der starke Wille der Ehefrau, die Ehe fortzuführen, zu
einem Überwiegen der Gemeinschaftspflicht führt, wenn es sich nur um einen einmali-
gen Fehltritt gehandelt hat, der die Ehe nicht in ihrer Substanz in Frage stellt.

3. Pflichten gegenüber zwei Anderen

a) Zwei Unterlassenspflichten gegenüber zwei verschiedenen Anderen

Fall 3.a): Bei einem Zug versagen die Bremsen und er rast ins Tal.5 Der Zugführer hat
nur die Möglichkeit, den Zug durch Weichenstellung auf eines von zwei Gleisen zu

5 Hierbei handelt es sich um eine Variante der schon in Kapitel€ III, 9 in anderer Hinsicht diskutierten
„Trolley Fälle“. Vgl. dort und Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect,
S.€23; Judith J. Thomson, Killing, Letting Die, and the Trolley Problem; dies., The Trolley Problem.
3. Pflichten gegenüber zwei Anderen 325

lenken. Auf beiden Gleisen befinden sich Personen, und zwar aa) in der ersten Variante
jeweils eine fremde Person A auf dem einen und eine fremde Person B auf dem anderen
Gleis, die jeweils getötet würden, bb) in der zweiten Variante jeweils eine fremde Person
A auf dem einen und eine fremde Person B auf dem anderen Gleis, von denen die eine
getötet, die andere lediglich verletzt würde, cc) in der dritten Variante jeweils eine frem-
de Person A auf dem einen und die eigene Tochter T auf dem anderen Gleis, die beide
getötet würden, dd) in der vierten Variante jeweils eine fremde Person A auf dem einen
und die eigene Tochter T auf dem anderen Gleis, von denen die fremde Person getötet,
die eigene Tochter aber nur verletzt würde.
Derartige Dreipersonenfälle erfordern zunächst eine sorgfältige Analyse der ethischen
Grundverhältnisse und der verschiedenen, von den möglichen Handlungen betroffenen
Interessen und Pflichten. Es besteht ein Konflikt zwischen Pflichten gegenüber zwei
verschiedenen Personen, wobei mit dem Leben jeweils Belange der Individualzone in
Frage stehen. Etwas zweifelhaft ist, ob man jeweils von Unterlassens- oder Hilfspflichten
ausgehen muss. Da der Akteur als Lokführer für den potentiell schädigenden Zug ver-
antwortlich ist und seinen Lauf auch noch umsteuern kann, wird man hier keine klare
Trennung zwischen der Gefährdung bzw. Schädigung und der Hilfeleistung annehmen
können, wie sie oben in den Fällen 1.b) und 2.b), der Rettung aus dem Fluss oder dem
brennenden Haus, möglich war. Dann wird man davon ausgehen müssen, dass es sich
im Kern um Unterlassenspflichten handelt. Folglich besteht ein Konflikt des Typs 3.a).
Zwei Unterlassenspflichten gegenüber zwei verschiedenen Personen konkurrieren. Die
Tatsache, dass der Zugführer im einen Fall dem Geschehen nur seinen Lauf lassen und
im anderen Fall die Weiche verstellen, also aktiv tätig werden muss, kann angesichts
der Gesamtkonstellation der drohenden Schädigung durch den Zug nicht von Bedeu-
tung sein. In der Variante aa) sind beide Unterlassenspflichten bzw. Schädigungsver-
bote gleich stark, da in beiden Fällen die Lebensrettung in Frage steht. Die Pflichten
neutralisieren sich somit wechselseitig. Der Zugführer hat die Erlaubnis, die Weiche
umzustellen oder nicht und so die Schädigung des A oder des B zu vermeiden. In der
Variante bb) macht die überwiegende Schwere der Beeinträchtigung der Interessen der
Individualzone die Lebensrettung des A zur Pflicht.
In der Variante cc) kommt zur Unterlassenspflicht gegenüber beiden Personen noch
eine zusätzliche spezifische Verpflichtung gegenüber der Tochter T aus dem engen Ver-
wandtschaftsverhältnis hinzu. Der Zugführer ist seiner Tochter stärker verpflichtet als
dem fremden A. Im Normalfall gilt allerdings, dass bei Unterlassenspflichten gegenüber
Anderen spezifische Nähebeziehungen zwischen Personen nicht zum Nachteil einzelner
Betroffener wirken dürfen. In der Moral darf es wie im Recht keine Vereinbarungen
zulasten Dritter ohne deren Zustimmung geben. Jeder Mensch muss ungeachtet spezifi-
scher Verhältnisse zwischen dem Akteur und Dritten in gleicher Weise vor Schädigungen
durch den Akteur bewahrt werden. Die Rechtfertigung liegt darin, dass Unterlassens-
pflichten anders als Hilfspflichten nicht durch Näheverhältnisse begründet werden. Sie
bestehen aufgrund der fairen Abgrenzung der Interessenräume der Betroffenen. Diese
Regel wird allerdings in der vorliegenden speziellen Variante cc) nicht ausschlaggebend,
denn unabhängig von der Nähebeziehung sind für den Zugführer die Pflichten zur Le-
326 XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte

bensrettung gegenüber A und T gleichrangig. Hat der Zugführer aber unabhängig von
der Nähebeziehung die Erlaubnis, entweder A oder T nicht zu schädigen, dann darf er
die Nähebeziehung zu T berücksichtigen und muss es im Innenverhältnis gegenüber
seiner Tochter sogar. Er muss also seine Tochter T retten.
In der Variante dd) sind nun die Unterlassenspflichten wie bei Variante bb) nicht
gleich stark. Die Interessen gehören zwar jeweils zur Individualzone. Aber das Interesse
an der Lebenserhaltung hat wegen der Endgültigkeit des Todes im Regelfall Vorrang.
Dies gilt zwar, wie wir sahen, nicht bei eigener Beteiligung, das heißt niemand muss
schwere Verletzungen zur Rettung des Lebens Anderer auf sich nehmen. Aber es gilt
durchaus, wenn ein Anderer ohne eigene Gefährdung handelt. Der Zugführer ist also
grundsätzlich dazu verpflichtet, den fremden A nicht zu töten. Die Nähebeziehung zu
seiner Tochter T darf bei Unterlassenspflichten nicht zulasten des fremden Dritten wir-
ken, wenn die grundlegende Verpflichtung gegenüber ihm stärker ist.

b) Zwei Hilfs- bzw. Handlungspflichten gegenüber


zwei verschiedenen Anderen

Fall 3.b): Ein Haus steht in Flammen. Jemand kann von zwei Personen nur eine ret-
ten. In dem Haus befinden sich aa) zwei Fremde A und B, bb) ein Fremder A und ein
Freund F, cc) ein Fremder A und ein Freund F, wobei die Rettungschance für den A
besser ist als für den bereits bewusstlosen F, dd) ein Fremder A und ein Freund F, wobei
A vor dem Tod gerettet würde, während F sich nicht in Lebensgefahr befindet, aber vor
Verletzungen bewahrt würde.
Es handelt sich um einen Widerstreit der Belange vom Typ 3.b). Zwei Hilfspflichten
gegenüber verschiedenen Personen im Hinblick auf Belange der Individualzone kon-
kurrieren. In der Variante aa) sind beide Hilfspflichten gleich stark und neutralisieren
sich. Dem Akteur ist es erlaubt zu wählen, ob er A oder B retten will.
Die Variante bb) ähnelt der Variante cc) des vorigen Falls 3.b), allerdings mit dem
Unterschied, dass es sich nicht um Unterlassungs-, sondern um Hilfspflichten handelt.
Hier stellt sich die Frage, ob wie bei Unterlassenspflichten auch bei Hilfspflichten die
spezifische Nähebeziehung unbeachtlich bleiben muss. Dies ist deshalb nicht der Fall,
weil die Hilfspflichten anders als die Unterlassenspflichten nicht nur aus der gleichen
Berücksichtigung der Individuen in abgegrenzten Interessenräume erwachsen, sondern
zusätzlich tatsächlich bestehende Näheverhältnisse zwischen Akteur und Anderem zur
Voraussetzung haben. Der Akteur darf bzw. muss Personen, die ihm näher stehen, re-
gelmäßig in stärkerem Maße helfen als Fremden. Das bedeutet: Die Hilfspflicht des
engeren Verhältnisses zu dem Freund F ist stärker. In Variante bb) besteht also nicht nur
eine Berechtigung, sondern sogar eine Verpflichtung, den Freund F zu retten.
Dabei gibt es allerdings eine Grenze der Abwägung. Der Retter müsste A retten, wenn
dessen Rettung aussichtsreich wäre, während die des Freundes F praktisch kaum Aussicht
auf Erfolg hätte. Die Nähebeziehung ist also ein zusätzlicher Gewichtungsfaktor in der
Abwägung. Sie ist aber nicht allein entscheidend. Das zeigt sich in Variante cc). Hier neu-
3. Pflichten gegenüber zwei Anderen 327

tralisiert die höhere Rettungschance für A die stärkere Rettungsverpflichtung gegenüber F,


so dass die Situation wieder offen ist. Der Retter darf wählen, wen er retten will.
Wenn Lebensrettung gegen Hilfe vor Verletzung steht, so kommt der Lebensrettung
durch Dritte eine höhere Bedeutung zu. Der Handelnde muss also in Variante dd) den
A retten. Die Nähebeziehung kann hier die unterschiedliche Stärke der Hilfspflichten
nicht aufheben.

c)€Eine Unterlassens- und eine Hilfs- bzw. Handlungspflicht


gegenüber zwei verschiedenen Anderen

Fall 3.c) aa): Kants Lügenbeispiel:6 Ein Mörder klopft an die Tür und fragt den Hausei-
gentümer, ob sich sein prospektives Opfer im Haus befindet. Muss der Hauseigentümer
die Wahrheit sagen, mit der Folge, dass der Mörder sein Opfer im Haus töten wird?
Kant hat dies mit Verweis auf die Absolutheit des Lügenverbots bejaht.
Eine sorgfältige Analyse der Situation zeigt, dass es sich um einen Konflikt zwischen
einer Unterlassenspflicht gegenüber einer Person, und einer Hilfspflicht gegenüber einer
anderen Person, also einen Widerstreit des Typs 3.c) handelt. Der Hauseigentümer ist
dem Mörder zur Wahrheit, also zum Unterlassen der Lüge verpflichtet, wobei es sich
um einen Belang der Relativzone handelt. Er ist aber gleichzeitig auch dem Opfer im
Haus zur Hilfe gegenüber der Lebensgefährdung durch den Mörder verpflichtet, also
hinsichtlich eines Belangs der Individualzone. Wer einem Mörder den Aufenthaltsort
seines Opfers offenbart, missachtet seine Hilfspflicht gegenüber dem Opfer.
Unabhängig vom Konflikt der Pflichten ist in dem Beispiel schon fraglich, ob man
hier wirklich eine Auskunftspflicht gegenüber dem Mörder annehmen soll. Warum
muss man einer fremden Person, die an der Haustür klingelt, mitteilen, wer im Haus
ist? Das geht ihn im Normalfall nichts an. Darüber hinaus gilt: Die Frage des Mörders
müsste allenfalls wahrheitsgemäß beantwortet werden, wenn man sich trotz fehlender
Verpflichtung zu einer Antwort entschließt und sie nicht unter der Drohung stünde,
sich gewaltsam Zugang zum Haus zu verschaffen. Niemand ist verpflichtet, eine Fra-
ge zu beantworten oder gar wahrheitsgemäß zu beantworten, die mit einer moralisch
verwerflichen Drohung gestellt wird. Die Verbindung einer Frage mit einer moralisch
verwerflichen Drohung hebt regelmäßig den Anspruch auf Auskunft und auf Wahrheit
auf, denn der Drohende dringt ungerechtfertigt in den Interessenraum des Anderen ein.
Als Akte der Notwehr sind dann das Schweigen oder sogar das Sagen der Unwahrheit
gerechtfertigt. Wer also etwas gefragt wird und bei einer positiven Antwort mit an Si-
cherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine ethisch bzw. moralisch höchst verwerfliche
Reaktion in Form eines Hausfriedensbruchs oder gar Mordes zu erwarten hat, darf die
Antwort aus Gründen der Notwehr verweigern oder die Unwahrheit sagen, soweit er
der Drohung nicht anders ausweichen kann. Dem steht auch das Verallgemeinerungs-
prinzip nicht entgegen, weil die soziale Institution des Vertrauens auf die Aussagen An-

6 Immanuel Kant, Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen.


328 XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte

derer nicht dadurch zerstört wird, dass man gegenüber Drohungen Notwehr übt, indem
man schweigt oder die Unwahrheit sagt. Das Verschweigen der Wahrheit ist hier somit
schon unabhängig von der Hilfspflicht gegenüber dem Opfer im Verhältnis Hauseigen-
tümer€– Mörder gerechtfertigt.
Betrachtet man nun den Konflikt zwischen der Unterlassenspflicht gegenüber dem
Mörder und der Hilfspflicht gegenüber dem Opfer, so gilt: Grundsätzlich sind Un-
terlassenspflichten vorrangig, wenn es sich um Interessen mit vergleichbarem Gewicht
handelt (vgl. oben Kapitel€IX, 2). Man darf also keinen Unschuldigen töten, um ei-
nen Anderen vor dem Tod zu bewahren. Das im vorliegenden Fall periphere Interesse,
nicht belogen zu werden, wiegt allerdings als relativ schwaches Interesse der Relativzone
selbstredend viel geringer als das Interesse der Individualzone des Opfers, am Leben zu
bleiben. Der Hauseigentümer hat hier somit nicht nur die Erlaubnis, sondern sogar die
Pflicht, das Leben des Opfers vor dem Mörder zu schützen. Er muss die Antwort ver-
weigern oder€– falls das sehr wahrscheinlich zum Eindringen des Mörders in das Haus
führen würde€– die Unwahrheit sagen. Bei diesem Ergebnis handelt es sich nicht um
eine konsequentialistische Maximierung, sondern um eine Abwägung der Belange der
jeweils Betroffenen im Rahmen der normativ-individualistischen Ethik.

Fall 3.c) bb):7 Heinz’ Frau ist lebensbedrohlich erkrankt. Der einzige Apotheker am Ort ist
aus einem bestimmten Grund nicht bereit, das lebensrettende Medikament herauszugeben
(mangelnde Bezahlung, fehlendes Rezept usw.). Heinz könnte seiner kranken Frau nur
helfen, indem er in die Apotheke einbricht und das Medikament stiehlt. Darf er das?
Eine Analyse der Konstellation ergibt, dass ein ethisches Grundverhältnis zwischen
Heinz und der Frau und zwischen Heinz und dem Apotheker sowie dem Apotheker
und der Frau besteht. Dabei handelt es sich um einen Konflikt zwischen einer Hilfs-
und einer Unterlassenspflicht gegenüber zwei verschiedenen Personen, einen Konflikt
des Typs 3.c). Heinz ist seiner Frau aufgrund ihres engen Näheverhältnisses zur Hilfe im
Rahmen ihrer Krankheit verpflichtet. Er muss seine Frau mit allen möglichen Mitteln
am Leben erhalten, also ihr Interesse der Individualzone erfüllen. Heinz ist aber auch
dem Apotheker zum Unterlassen des Einbruchs verpflichtet. Das Eigentum des Apo-
thekers als Belang der Relativzone darf nicht verletzt werden. Der Konflikt besteht also
darin, dass Heinz gleichzeitig verpflichtet ist, seiner Frau zu helfen und den Apotheker
nicht zu schädigen. Grundsätzlich genießt die Unterlassenspflicht gegenüber einer Per-
son Vorrang vor der Hilfspflicht gegenüber einer anderen Person. Niemand muss sich
zum Mittel machen lassen, um einem Dritten zu helfen. Aber dieser Grundsatz gilt
nicht uneingeschränkt. Der zentrale Gesichtspunkt zur Lösung ist hier neben der Zuge-
hörigkeit der in Rede stehenden Belange zu unterschiedlichen Zonen, dass ja zwischen
dem Apotheker und der kranken Frau ein weiteres ethisches Grundverhältnis mit einer
Hilfspflicht besteht. Der Apotheker ist selbst der kranken Frau zur Hilfe mittels des
Medikaments verpflichtet. Würde die Frau statt ihres Mannes zur Apotheke gehen, so

7 Vgl. zu einer ausführlicheren Fassung dieses Dilemmas: Lawrence Kohlberg, Die Psychologie der Moral-
entwicklung, Frankfurt a.M. 1996, S.€495.
3. Pflichten gegenüber zwei Anderen 329

müsste er ihr das Medikament auch ohne Rezept oder Bezahlung aushändigen, wenn
keine rasche und wirksame Hilfe zur Lebensrettung auf eine andere Weise möglich wäre.
Diese Pflicht ist zwar anders als bei der Pflicht von Heinz gegenüber seiner Frau nicht
durch ein enges Näheverhältnis geprägt. Aber im Vergleich zur allgemeinen Hilfspflicht
gegenüber Fremden ist sie dadurch gesteigert, dass der Apotheker durch die Ausübung
seines Berufs für die Allgemeinheit die Funktion der helfenden Versorgung mit Medi-
kamenten übernommen hat. Um das Leben der Frau zu retten, müsste der Apotheker
deshalb sogar bestimmte Schäden an eigenen GegenÂ�ständen in Kauf nehmen, etwa ei-
nen Schrank, in dem sich das Medikament befindet und zu dem der Schlüssel fehlt,
aufbrechen. Muss aber der Apotheker selbst der kranken Frau helfen und sogar Beschä-
digungen an eigenen Gegenständen in Kauf nehmen, dann wird man auch Heinz eine
vergleichbare Hilfe zu erlauben haben, sofern eine Lebensrettung nicht anders möglich
ist. Die Unterlassenspflicht gegenüber dem Apotheker ist für Heinz nicht stärker als die
Hilfspflicht gegenüber seiner Frau. Heinz darf also seiner Frau durch den Diebstahl des
lebensrettenden Medikaments helfen.
Die weitergehende Frage lautet: Muss er dies auch? Ist er also sogar verpflichtet,
einen Einbruch zu begehen, um seiner Frau zu helfen? Zur Antwort ist zu überlegen,
wie hoch man die Freiheit des Einzelnen einzuschätzen hat, nicht zu grundsätzlich mo-
ralisch mißbilligenswerten Handlungen wie einem Einbruch verpflichtet zu werden.
Diese Freiheit wird man sicher sehr hoch einschätzen müssen. Heinz wäre also nicht
zu einem Einbruch verpflichtet, um ein lediglich gesundheitsförderndes oder schmerz-
linderndes Medikament zu beschaffen. Aber ist die Freiheit, nichts moralisch an sich
Mißbilligenswertes zu tun, also ein Belang der Relativzone, höher einzuschätzen als die
Pflicht zur Rettung des Lebens einer nahestehenden Person, also zur Erfüllung eines ge-
wichtigen Belangs der Individualzone? Wohl kaum. Heinz ist hier also sogar verpflich-
tet, das lebensrettende Medikament auch durch Einbruch zu beschaffen. Ein wichtiger
Gesichtspunkt ist dabei in moralischer Hinsicht, dass Heinz keine strafrechtliche Verur-
teilung zu erwarten hat, weil seine Tat aufgrund der Regeln des Notstands gemäß § 34
StGB strafrechtlich gerechtfertigt wäre.

d) Eine Unterlassenspflicht und eine Hilfserlaubnis


gegenüber zwei verschiedenen Anderen

Fall 3.d): Aus Mark Twains Roman Tom Sawyer und Huckleberry Finn“8: Becky und
Tom sind Schüler in einem kleinen Städtchen in den amerikanischen Südstaaten. Be-
cky hat verbotenerweise in der Pause ein Pult des Lehrers geöffnet und in dessen Buch
geblättert. Als Tom überraschend in das Klassenzimmer stürzt, reißt sie vor Schreck
versehentlich eine Seite des Buches ein. In der folgenden Schulstunde bemerkt der Leh-
rer die Beschädigung. Er fragt jedes Kind einzeln, ob es die Seite eingerissen hat. Den
Schuldigen bzw. die Schuldige erwartet eine Tracht Prügel, ohne dass man annehmen

8 Mark Twain, Tom Sawyer und Huckleberry Finn, München 1976, S.€143â•›ff.
330 XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte

kann, dass der Lehrer bei der Beurteilung der Tat zwischen Vorsatz, Fahrlässigkeit und
Versehen unterscheiden wird. Als der Lehrer Becky zu fragen beginnt, steht Tom auf
und sagt: „Ich war’s“. Er erhält daraufhin die Tracht Prügel. Das Motiv für seine Lüge
wird nicht ganz deutlich. Es besteht wohl aus einer Mischung von Mitleid, Hilfsbe-
reitschaft und Geltungsbedürfnis. Beckys Vater, der Friedensrichter, lobt Toms Tat.
In diesem Fall bestehen drei ethische Grundverhältnisse, das Verhältnis Becky-Lehrer,
Tom-Lehrer und Tom-Becky. Zu einer Bewertung muss man die einzelnen Verhältnisse
sorgfältig analysieren.
Zum Verhältnis Becky-Lehrer: Das Öffnen des Pults und das Lesen des Buches waren
moralisch falsch, aber keine sehr schwerwiegenden Verfehlungen, sondern allenfalls pe-
riphere Beeinträchtigungen von Belangen der Relativzone. Das Einreißen der Seite war
dagegen nur eine fahrlässige Sachbeschädigung.9 Fraglich ist bereits, ob eine derartige
fahrlässige Sachbeschädigung an einem geringwertigen Gut moralisch sehr verwerflich
ist und eine strenge Bestrafung rechtfertigt. Das wird man verneinen müssen. Fraglich
ist weiterhin, ob Lehrer ihre Schüler schlagen dürfen. Das wird man ebenfalls verneinen
müssen, weil hier Belange der Individualzone missachtet werden. In jedem Fall wäre
es aber ungerechtfertigt, Becky zu schlagen, ohne sie vorher anzuhören und ihre bloße
Unachtsamkeit mildernd zu berücksichtigen. Daraus folgt: Da das Verschweigen der
Wahrheit das einzige Mittel war, um die moralisch ungerechtfertigte Bestrafung durch
den Lehrer abzuwenden, wäre sie als Mittel der Notwehr gegen die drohende Körper-
verletzung erlaubt gewesen.
Zum Verhältnis Tom-Becky: Die Störung Beckys fand im Klassenzimmer als öffent-
lichem Raum statt und war darum moralisch nicht falsch. Aus moralisch zu missbilli-
gendem Vorverhalten erwächst Tom also keine gesteigerte Hilfspflicht gegenüber Becky,
die über die allgemeine Hilfspflicht gegenüber einer Klassenkameradin hinausginge.
Immerhin war die Störung aber das äußere Ereignis, das Beckys Beschädigung des Bu-
ches kausal mit herbeigeführt hat. Damit stellt sich die Frage, ob man aus einem nicht
verwerflichen, aber zumindest kausal mitentscheidenden Vorverhalten stärker zur Hilfe
verpflichtet ist. Hat der Autofahrer, dessen Reifen ohne eigenes Verschulden platzt und
der deshalb einen Unfall verursacht, dem verletzten Anderen in gesteigerter Weise zu
helfen? Man wird das wohl bis zu einem gewissen Grade bejahen müssen. Durch die
Schädigung des Anderen wurde zwar nicht vorsätzlich oder fahrlässig und damit schuld-
haft in dessen Betroffenheitsraum eingegriffen. Der Eingreifer ist also nicht im Sinne
eines Schuldigen verantwortlich. Aber es liegt immerhin ein tatsächlicher Übergriff in
die Interessensphäre des Anderen vor. Das allgemeine Lebensrisiko des Anderen aktua-
lisiert sich gerade durch das Verhalten des Akteurs. Dann wird man annehmen müssen,
dass der Akteur in gesteigertem Maße zur Hilfeleistung verpflichtet ist. Diese Steigerung
der Hilfspflicht erreicht nicht das Maß, das sich bei schuldhaftem Vorverhalten oder der
Übernahme spezifischer Verantwortung durch Beruf oder Näheverhältnis ergäbe. Aber
eine gewisse Erhöhung ist zu bejahen.

9 Nach den §§ 303, 15 StGB, ist die fahrlässige Sachbeschädigung von einfachen Gütern im Gegensatz zur
vorsätzlichen nicht strafbar.
3. Pflichten gegenüber zwei Anderen 331

Diese leicht gesteigerte Hilfspflicht geht jedoch in keinem Fall soweit, selbst die un-
gerechte Bestrafung durch den Lehrer auf sich zu nehmen. Eine derartige Verpflichtung
wäre nur anzunehmen, wenn der Schaden durch die Tracht Prügel für Becky und für Tom
völlig divergieren würde, wenn die Tracht Prügel für Tom zum Beispiel nur eine kleine
Unannehmlichkeit bedeuten würde, für Becky wegen ihrer sehr schwachen Konstitution
aber lebensbedrohlich wäre. Stimmt Becky zu, ist es Tom aber natürlich erlaubt, die Be-
strafung auf sich zu nehmen. Er handelt insofern in Nothilfe. Es bestand also eine Hilfser-
laubnis. Die Übernahme der Prügel durch Tom ist eine supererogatorische Handlung.
Zum Verhältnis Tom-Lehrer: Tom ist gegenüber dem Lehrer verpflichtet, die Wahr-
heit zu sagen. Aber gleichzeitig darf er Becky gegenüber der überzogenen körperlichen
Bestrafung durch den Lehrer helfen. Es handelt sich also um einen Konflikt des Typs
3.d) zwischen einer Unterlassenspflicht der Relativzone und einer Hilfserlaubnis der
Individualzone.
Grundsätzlich geht die Unterlassenspflicht vor. Das gilt aber nicht, wenn die Hilfs-
pflicht Belange der Individualzone betrifft, während sich die Unterlassenspflicht nur auf
Belange der Relativzone richtet. Und es gilt auch dann nicht, wenn derjenige, der An-
spruch auf das Unterlassen hat, sich seinerseits moralisch falsch verhält und nur durch die
Hilfe daran gehindert werden kann. Wenn also eine Vermeidung der ungerechtfertigten
Bestrafung durch den Lehrer nur möglich ist, indem Tom an Stelle von Becky die Un-
wahrheit sagt, so darf er das, wenn Becky ihrerseits die Unwahrheit sagen durfte.
Toms Nothilfe für Becky war also nicht nur mutig und selbstlos, sondern als über-
pflichtgemäßes Handeln auch moralisch erlaubt und lobenswert. Das Lob des Friedens-
richters war somit berechtigt.

e) Eine Gemeinschaftspflicht und eine andere Pflicht


gegenüber zwei verschiedenen Anderen

Fall 3.e): Ein Sohn lebt bei seiner kranken Mutter, die er pflegen muss. Er verspricht
aber auch seiner Geliebten, sie zu heiraten und zu ihr zu ziehen.
Es handelt sich um einen Konflikt zwischen der Gemeinschaftspflicht gegenüber sei-
ner Mutter und der Pflicht, das Versprechen gegenüber seiner Geliebten zu erfüllen (eine
Art Hilfspflicht), also um einen Widerstreit des Typs 3.e) zwischen zwei etwa gleich star-
ken Pflichten der Relativzone. Der Sohn ist zwar aufgrund verwandtschaftlicher Nähe
verpflichtet, die Gemeinschaft mit seiner Mutter zu fördern. Er ist aber nicht verpflichtet,
die Wohngemeinschaft mit ihr unbefristet aufrechtzuerhalten. Er darf die gemeinsame
Wohnung mit seiner Mutter vielmehr aufgeben. Aus der Gemeinschaft mit seiner Mutter
ergibt sich allerdings die Pflicht, dies in möglichst schonender Art und Weise zu tun und
auch einen gewissen Aufschub in Kauf zu nehmen. Er muss überdies die weitere Pflege
seiner Mutter sicherstellen. Wenn sich keine andere Lösung findet, wird er die Mutter zu
sich nehmen oder von seiner neuen Wohnung aus pflegen müssen.
Der Sohn ist des Weiteren verpflichtet, sein Eheversprechen gegenüber seiner Ge-
liebten einzuhalten. Das Eheversprechen geht hier wohl, allerdings abhängig von der
332 XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte

konkreten Ausgestaltung des Falls, der Gemeinschaftspflicht gegenüber seiner Mutter


vor, wobei die soeben genannten Einschränkungen gelten. Allerdings ist klar, dass es
kein absolut bindendes Eheversprechen geben kann. Sollte sich herausstellen, dass die
beiden Partner doch nicht zueinander passen, darf er sein Eheversprechen lösen.

4. Pflichten gegenüber drei und mehr Anderen

a) Unterlassenspflichten gegenüber drei und mehr Anderen

Fall 4.a): Wie bei Fall 3.a) versagen bei einem Zug die Bremsen und er rast ins Tal. Der
Zugführer hat nur die Möglichkeit, die Weiche umzustellen und den Zug auf ein ande-
res Gleis zu lenken. Auf beiden Gleisen befinden sich Personen und zwar aa) mehrere
Personen auf dem einen Gleis und eine Person auf dem anderen Gleis, die jeweils getötet
würden, bb) zwei Personen auf dem einen Gleis und die eigene Tochter auf dem anderen
Gleis, die jeweils getötet würden.
Hier handelt es sich um einen Konflikt zwischen Unterlassenspflichten gegenüber
mehreren Personen, also einen Konflikt des Typs 4.a). In der Variante aa) stehen sich
jeweils gleich starke und damit gleichrangige Unterlassenspflichten bezüglich Interes-
sen der Individualzone gegenüber. In einem solchen Fall muss die Anzahl der Pflich-
ten€– wie sich oben in Kapitel€III, 10 ergab€– den Ausschlag geben. Der Zugführer ist
verpflichtet, die mehreren Personen auf dem einen Gleis zu retten. In der Variante bb)
stellt sich wiederum die Frage, ob das Verwandtschaftsverhältnis zur Tochter ein anderes
Handeln erlaubt oder sogar gebietet. Wie oben im Fall 3.a) dürfen auch hier bei Un-
terlassenspflichten persönliche Näheverhältnisse nur bei wechselseitiger Neutralisierung
der gleichrangigen Pflichten durchschlagen. Eine solche wechselseitige Neutralisierung
besteht im vorliegenden Beispiel aber wegen der überwiegenden Anzahl der Pflichten
gegenüber der Mehrzahl der Personen auf dem einen Gleis nicht. Der Zugführer ist
auch in der Variante bb) verpflichtet, die mehreren Personen auf dem einen Gleis zu
retten.

b) Hilfs- bzw. Handlungspflichten


gegenüber drei und mehr Anderen

Fall 4.b): Wie bei Fall 3.b) steht ein Haus in Flammen. Jemand kann entweder eine Per-
son aus einem Zimmer retten oder mehrere andere Personen aus einem anderen Zim-
mer. Es handelt sich aa) im anderen Zimmer um zwei Personen, wobei alle Personen
Fremde sind, bb) bei der einen Person um die eigene Tochter, bei den anderen Personen
um zwei Fremde, cc) bei der einen Person um die eigene Tochter, bei den anderen Per-
sonen um mehrere hundert Fremde in einem Großraumbüro.
In diesem Fall besteht ein Konflikt des Typs 4.b). Mehrere Hilfspflichten gegen-
über verschiedenen Personen hinsichtlich Belangen der Individualzone konkurrieren.
4. Pflichten gegenüber drei und mehr Anderen 333

Neutralisieren sich Hilfspflichten wegen gleicher Gewichtigkeit, dann ist die Anzahl
der Pflichten im Hinblick auf die Mehrzahl der Betroffenen zu berücksichtigen. In
der Variante aa) sind also die beiden Personen zu retten. In der Variante bb) darf das
persönliche Näheverhältnis zur Tochter dagegen den Ausschlag geben, da es sich nur
um eine Konkurrenz von Hilfspflichten, nicht wie im obigen Zugbeispiel um einen
Konflikt von Unterlassenspflichten handelt. Der Mann darf also seine Tochter retten
und die zwei Fremden umkommen lassen. Allerdings wird man keine Verpflichtung
zur Rettung der Tochter annehmen können, weil die Mehrzahl der Pflichten gegenüber
den mehreren Personen in dem anderen Zimmer die stärkere Hilfspflicht gegenüber
der Tochter neutralisiert. Der Handelnde hat also eine Erlaubnis, aber keine Pflicht zur
Rettung seiner Tochter.
In der Variante cc) wird dagegen die Vielzahl der schwächeren Hilfsgebote gegen-
über den Fremden in der Summe gewichtiger sein als das stärkere Hilfsgebot gegenüber
der Tochter. Der Handelnde muss die mehreren hundert Menschen in dem Großraum-
büro retten. Wo aber genau die Grenze verläuft, ab der die Mehrzahl der schwächeren
Hilfsgebote gegenüber den Fremden gewichtiger ist als das stärkere Hilfsgebot gegen-
über der Tochter, ist fraglich.

c)€Unterlassens- und Hilfs- bzw. Handlungspflichten


gegenüber drei und mehr Anderen

Fall 4.c) aa): Bernard Williams’ Pedro-Beispiel:10 Jim kommt in eine Stadt in Südameri-
ka. Auf dem Hauptplatz will Hauptmann Pedro mit seinen Soldaten zwanzig Indianer
zum Zweck der willkürlichen Maßregelung erschießen. Jim wird als Gast eine besondere
Ehre zuteil. Hauptmann Pedro bietet ihm das Privileg an, selbst einen Indianer zu töten.
Die restlichen würden dann zur Feier des Tages freigelassen. Jim steht also vor der Alter-
native, eigenhändig einen der Indianer zu töten und dadurch die neunzehn anderen zu
retten oder dem Geschehen, also der Tötung der zwanzig Indianer durch Pedro, seinen
Lauf zu lassen. Was soll er tun?
Jim befindet sich in einem Konflikt zwischen einer Hilfs- und einer Unterlassens-
pflicht der Individualzone gegenüber mehreren Personen, also einem Konflikt des Typs
4.c). Jim ist gegenüber dem einen Indianer, den er töten müsste, also dem Opfer, zur
Unterlassung der Tötung verpflichtet. Er ist aber gleichzeitig gegenüber allen Indianern
zur Hilfe vor der ungerechtfertigten Ermordung durch Pedro genötigt.
Hier ist wiederum eine sorgfältige Situationsanalyse erforderlich. Diese verlangt eine
Aufspaltung in die verschiedenen ethischen Grundverhältnisse. Diese Grundverhältnis-
se sind: Jim-Opfer, Jim-zwanzig Indianer, Jim-Pedro, Pedro-zwanzig Indianer, Opfer-
andere neunzehn Indianer.
Zum Verhältnis Jim-Opfer: Gegenüber dem Opfer besteht ein Tötungsverbot.

10 Bernard Williams, A Critique of Utilitarianism, S.€98╛f.


334 XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte

Zum Verhältnis Jim-zwanzig Indianer: Die Indianer sind für Jim Fremde. Das be-
deutet: Er hat ihnen gegenüber eine schwache allgemeine Hilfspflicht zur Rettung.
Zum Verhältnis Pedro-zwanzig Indianer: Es besteht ein Tötungsverbot.
Zum Verhältnis Jim-Pedro: Gibt es eine Verpflichtung, Pedro von seinem Handeln
abzuhalten? Eine solche Verpflichtung besteht kaum gegenüber Pedro, sondern nur ge-
genüber den zwanzig Indianern.
Zum Verhältnis Opfer-andere neunzehn Indianer: Zwischen den Indianern bestand
vorher eine Gemeinschaft. Jetzt befinden sie sich angesichts von Pedros Drohung in
einer Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten. Dann erhebt sich die Frage: Ist einer
der Indianer selbst verpflichtet, sich für die anderen zu opfern? Die Antwort lautet:
Nein. Niemand muss sein Leben für andere opfern (sondern allenfalls wie Polizisten
und Soldaten unter bestimmten Voraussetzungen eine Gefährdung in Kauf nehmen).
Keine Hilfspflicht und auch keine Gemeinschaftspflicht gehen so weit. Ist es den ande-
ren Indianern aber erlaubt, einen aus ihren Reihen zu ihrer eigenen Rettung zu opfern,
wenn sonst alle umkämen? Dieser Konflikt ähnelt den oben in Kapitel€ III, 9 bereits
diskutierten Lawinen- und Seenotfällen. Im Lawinenfall war die Ablenkung der Lawi-
ne zur Reduzierung der Opferzahl innerhalb der Schicksalsgemeinschaft durch einen
Dritten als zulässig angesehen worden, da es sich nur um eine indirekte Instrumenta-
lisierung der Mitglieder einer einzigen Schicksalsgemeinschaft handelt. Im Seenotfall
war dagegen das Verspeisen eines Passagiers zur Rettung der restlichen Besatzung als
direkte Instrumentalisierung nicht für gerechtfertigt gehalten worden, weil hier eine
direkte Instrumentalisierung vorliegt. Allerdings ist in unverschuldeten Notsituationen
die Überschreitung des Betroffenheitsraums zur Rettung der vielen entschuldigt, sofern
alle todgeweiht sind. Fraglich muss im Pedro-Fall nun sein, ob die Drohung durch
einen Dritten eine den Rettungsboots- und Lawinenfällen vergleichbare Situation dar-
stellt, weil es sich ja nicht um einen unabwendbaren Unglücksfall, sondern um ein
bewusstes verwerfliches Tun seitens dieses Dritten handelt. Trotzdem wird man den Fall
der glaubwürdigen Drohung des Dritten bei ähnlicher Wahrscheinlichkeit wohl diesen
Fällen zunächst gleichstellen müssen, auch wenn im Falle des zukünftigen Handelns
eines Menschen eine ähnliche Wahrscheinlichkeit wie bei naturgesetzlich bestimmten
Unglücksfällen nicht besteht.
Jim befindet sich in folgendem Konflikt: Er darf den einen Indianer nicht töten,
muss aber gleichzeitig den anderen Indianern helfen. Dies geht nur durch die Tötung
des einen Opfers. Da aber der eine Indianer nicht selbst gezwungen ist, sich zur Ret-
tung der Anderen zu opfern, ist Jim seinerseits nicht dazu verpflichtet, dieses Opfer
zu erzwingen. Ist es Jim aber wenigstens erlaubt, das Opfer quasi zu verpflichten, die
anderen Indianer zu retten? Fraglich ist, ob die Situation eher dem Lawinenfall der
indirekten oder dem Rettungsbootfall der direkten Instrumentalisierung ähnelt. Davon
hängt ab, ob die Indianer selbst einen von ihnen opfern dürften oder nicht. Meiner An-
sicht nach ähnelt der Fall eher dem Rettungsbootfall der direkten Instrumentalisierung,
weil es gerade auf den einen, individuell ausgewählten Indianer ankommt, um Pedros
Blutdurst zu stillen. Würde Pedro die Gruppe selbst vor die Alternative stellen, sich alle
töten zu lassen oder selbst einen der Ihren zu töten, so dürften sie also nicht einen von
4. Pflichten gegenüber drei und mehr Anderen 335

sich opfern. Dann steht diese Befugnis aber auch keinem Außenstehenden zu. Dazu
kommt aber noch, dass ein Dritter verantwortlich ist. Die Verantwortlichkeit Pedros
für die Tötungen bildet eine grundsätzliche Sperre gegenüber Jims Hilfspflichten, mö-
gen diese auch in der Anzahl überwiegen. Jim darf also das Angebot von Pedro nicht
annehmen.11

Fall 4.c) bb): Ein Arzt könnte fünf Patienten mit einer seltenen Blutgruppe, deren Or-
gane versagt haben, retten, wenn er einen gesunden Patienten, der gerade zu einer Rou-
tineuntersuchung im Krankenhaus ist, töten und seine Organe transplantieren würde.
Hier handelt es sich wiederum um einen Konflikt vom Typ 4.c) bezüglich Belangen
der Individualzone. Eine Unterlassenspflicht gegenüber dem einen gesunden Patienten
konkurriert mit fünf Hilfspflichten gegenüber den Kranken, welche die Organe benöti-
gen. Da der eine gesunde Patient selbst nicht verpflichtet ist, den Kranken unter Hingabe
seines Lebens zu helfen und auch kein unabwendbares Ereignis vorliegt, das alle gemein-
sam zu Todgeweihten oder Gefährdeten einer gemeinschaftlichen Notlage macht, ist die
Unterlassenspflicht gegenüber der Hilfspflicht vorrangig. Hieran würde sich auch nichts
ändern, wenn der Arzt mehrere hundert oder tausend Patienten durch Tötung des einen
Gesunden retten könnte. Die entscheidende Differenz zwischen Unterlassens- und Hilfs-
pflicht kann anders als bei der Konkurrenz von Hilfspflichten in Fall 4.b) auch durch die
größere Zahl der Pflichten nicht verdrängt werden.

Fall 4.c) cc): Ein Terrorist bedroht Millionen von Menschen mit einer Bombe. Das
Foltern seines unschuldigen Kindes wäre das einzige Mittel, ihn dazu zu bewegen, das
Versteck der Bombe preiszugeben. Darf das Kind als unschuldiges Opfer gefoltert wer-
den? Darf dem Terroristen wenigstens mit der Folterung des Kindes gedroht werden?
Hier handelt es sich wieder um einen Konflikt vom Typ 4.c). Einer Unterlassenspflicht
gegenüber dem Kind stehen die Hilfspflichten gegenüber den vielen Opfern entgegen.
Die erste Frage lautet: Müsste das Kind sich selbst opfern? Nein, sicher nicht. Nie-
mand muss sein Leben, seine Würde oder seine Gesundheit als Belange der Individual-
zone für Andere hingeben. Dann darf es aber auch nicht von Anderen geopfert werden.
Ein Unschuldiger darf nicht zum Mittel für die Rettung Anderer gemacht werden, so-
fern er nicht Mitglied einer Gruppe von gemeinsam Todgeweihten oder vergleichbar
Gefährdeten ist.
Zur Abwandlung: Darf mit der Folterung des Kindes gedroht werden? Hier ist das
Kind selbst von der Drohung gegenüber seinem Vater nicht unmittelbar betroffen.
Der Konflikt verschiebt sich also in den Grundverhältnissen. Nunmehr handelt es sich
um einen Konflikt zwischen den Hilfspflichten gegenüber den Opfern der Bombe als
Pflichten der Individualzone und einer Unterlassenspflicht gegenüber dem Terroristen,
ihn nicht zu täuschen, als Pflicht der Relativzone. Der Terrorist ist überdies anders als

11 Eine interessante weitere Frage wäre, was Jim machen müsste, wenn die Indianer selbst, etwa per Los, ein
Opfer bestimmt hätten.
336 XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte

sein Kind nicht unschuldig, sondern will Millionen von Menschen mit seiner Bombe
töten. Er droht mit seinem Handeln verbrecherisch in den Betroffenheitsraum vieler
Menschen einzudringen, so dass gegen dieses verbrecherische Handeln Notwehr und
Nothilfe gerechtfertigt sind. Angesichts der Lebensgefahr für viele ist die Täuschung
des Terroristen somit erlaubt. Man sollte allerdings beachten, dass es sich hierbei um
eine singuläre moralische Erlaubnis in einem absoluten Ausnahmefall handelt. Eine all-
gemeine Legalisierung der systematischen Durchführung solcher Täuschungen ist auf-
grund derartiger Erwägungen nicht gerechtfertigt, da diese wegen der hohen generel-
len Orientierungswirkung des Rechts verschiedene sehr negative Auswirkungen hätte,
etwa die Gefahr von Missbräuchen, die Abstumpfung gegenüber Folter und Gewalt, die
Angst aller vor den Staatsorganen usw.12

d) Eine Gemeinschaftspflicht und eine weitere Pflicht


gegenüber drei und mehr Anderen.

Fall 4.d): Sartres Beispiel für den Existentialismus:13 Ein Franzose überlegt während der
deutschen NS-Okkupation in Frankreich in den Jahren 1940–1944, ob er bei seiner
Mutter bleiben oder sich dem Widerstand gegen die Deutschen anschließen soll. Seine
Mutter würde dadurch schwer betroffen werden.
Es handelt sich um einen Konflikt zwischen einer Gemeinschaftspflicht gegenüber
der Mutter und einer Hilfs- und Gemeinschaftspflicht gegenüber dem französischen
Volk, also einen Konflikt des Typs 4.d). Die Beurteilung dieses Konflikts ist in abstracto
kaum möglich. Man müsste vielmehr verschiedene weitere Faktoren berücksichtigen,
etwa den Grad der Betroffenheit der Mutter, die Effizienz des Widerstands im Allge-
meinen, die individuelle Nützlichkeit des Handelnden für den Widerstand, die Wahr-
scheinlichkeit, im Widerstand getötet zu werden, die Wahrscheinlichkeit, die Besatzer
auch ohne den Widerstand in absehbarer Zeit abzuschütteln, die Stärke der eigenen
Gefühle für die Mutter einerseits und für das französische Volk andererseits usw. Der
Konflikt eignet sich so gut für Sartres Zweck der Illustrierung der Notwendigkeit einer
existentiellen, nicht weiter objektivierbaren Entscheidung jedes einzelnen Betroffenen,
weil er ohne diese Konkretisierungen nicht entscheidbar ist, also eine relativ irrationale
Lösung erforderlich macht.

12 Vgl. dazu detailliert: Verf., Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt?
13 Jean-Paul Sartre, L’existentialisme est un humanisme, Paris 1946.
5. Kollision zwischen moralischen und rechtlichen Pflichten 337

5. Kollision zwischen moralischen und rechtlichen Pflichten

Fall 5: Sophokles’ Drama „Antigone“: Antigone verstößt gegen den Befehl des Königs
Kreon und folgt der moralischen Pflicht, ihren Bruder zu bestatten.
Es handelt sich um einen Konflikt des Typs 5. Die moralische Hilfspflicht gegenüber
dem Bruder kollidiert mit der Pflicht, juridische Normen der politischen Gemeinschaft
zu befolgen. Dabei kann die Frage wiederum auf zwei Ebenen diskutiert werden: auf
der moralisch-ethischen und der juridisch-ethischen. Die juridisch-ethische Ebene kann
hier mangels näherer Informationen über das damals geltende Recht nicht erörtert wer-
den. Die moralisch-ethische Beurteilung setzt ebenfalls weitere Informationen voraus.
Wäre der Befehl Kreons ein bloßer Akt der Willkür oder der Rache und unter keinem
einigermaßen vernünftigen Gesichtspunkt gerechtfertigt, würde also der Widerspruch
des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein unerträgliches Maß erreichen oder Ge-
rechtigkeit von Kreon überhaupt nicht erstrebt werden, so wäre etwa nach der von
deutschen Gerichten nach dem Zweiten Weltkrieg herangezogenen sog. Radbruchschen
Formel14 für Antigone die moralische Pflicht zur Bestattung ihres Bruders vorrangig.

14 Vgl. zu diesen beiden Elementen der sog. Radbruchschen Formel zur Lösung derartiger Konflikte: Gustav Rad-
bruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: ders., Rechtsphilosophie. Studienausgabe, hg. von
Ralf Dreier und Stanley L. Paulson, 2., überarb.€Aufl. Heidelberg 2003, S.€216. Vgl. zur Analyse und Berechti-
gung dieser Formel: Verf., Rechtsethik, S.€186╛ff., mit weiteren Nachweisen zur Diskussion; ders., Was ist Recht?
Ziele und Mittel.
XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?

Zur weiteren Aufklärung der möglichen Relationsglieder von Pflichten primärer und se-
kundärer Normordnungen und zur Bestimmung der Reichweite der hier entfalteten Ethik
des normativen Individualismus muss nun die bisher zurückgestellte Frage erörtert wer-
den, welche Lebewesen, Dinge oder allgemein Seiende ethisch zu berücksichtigen sind.1
Die selbständige ethische Berücksichtigung eines Anderen setzt voraus, dass er ei-
gene Belange, also Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche oder Ziele entfaltet. Der Andere
muss mehr sein und tun als leblose Materie, die nur physikalischen Kräften oder sons-
tigen externen Beeinflussungen unterliegt. Ein Stein verdient keine ethische Berück-
sichtigung, weil er in seiner Existenz und seinen Veränderungen bloß kausales Ergebnis
physikalischer Kräfte ist. Eine Maschine verdient keine ethische Berücksichtigung, weil
sie nicht nur von anderen hergestellt, sondern auch in allen strebungsähnlichen Abläu-
fen durch ihren Konstrukteur bestimmt wird. Was von anderen hergestellt und in all
seinen Prozessen von uns Menschen determiniert ist, dem können wir keine eigenstän-
dige Fähigkeit zuerkennen, unsere Handlungen ethisch, das heißt jenseits der bloßen
Naturgesetze einzuschränken. Denn wir hätten die Maschine auch anders konstruieren
und bestimmen können, ohne dass dagegen von einem ethischen Standpunkt etwas
einzuwenden gewesen wäre. Der Gedanke, dass derjenige, der etwas vollständig oder
praktisch vollständig herstellt und damit in seiner Existenz determiniert, auch darüber
verfügen kann, spielt in vielen ArgumentationsÂ�zuÂ�sammenhängen eine Rolle, zum Bei-
spiel in der Eigentumstheorie John Lockes.2 Danach erwirbt derjenige an einem Gegen�
stand Eigentum, der ihn bearbeitet oder herstellt und damit bestimmt.
Die Entwicklung von Computern begann wie die von anderen Werkzeugen unter
dem Signum einer vollständigen Instrumentalisierung durch den Menschen. Diese voll-
ständige Instrumentalisierung schließt ihre eigenständige ethische Berücksichtigungs-
würdigkeit aus. Auch wenn Computer partiell Selbststeuerungselemente erzeugen, so
bleiben diese doch im Rahmen menschlicher Zwecksetzungen. Avancierte Computer
können mittlerweile primitive Programmierungsschritte ausführen. Dies geschieht aber
nur als Erfüllung menschÂ�licher ProÂ�grammvorgaben höherer Ordnung. Selbst die primi-
tivste Pflanze entwickelt sich dagegen gemäß ihrem genetischen Programm selbst und
wird allenfalls im Rahmen dieser Entwicklung von Menschen instrumentalisiert. Es ist
aber nicht zu leugnen, dass sich beide Klassen von Individuen in ihrer ethischen Signi-

1 Vgl. zu den folgenden Überlegungen: Verf., Eine Ökologische Ethik der Berücksichtigung anderer Le-
bewesen, in: Konrad Ottâ•›/â•›Martin Gorke (Hg.), Spektrum der Umweltethik, Marburg 2000, S.€41–65;
ders., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, S.€237â•›ff.
2 John Locke, Two Treatises of Government, The Second Treatise, § 25â•›ff.
1. Sind nur empfindungsfähige Lebewesen zu berücksichtigen? 339

fikanz mit der zunehmenden Selbststeuerung von Computern und der zunehmenden
Genmanipulation von Pflanzen anzunähern beginnen. Da Computer aber von vornher-
ein für menschliche Zwecke konstruiert wurden, wird man von einem Überschreiten der
Grenze zur ethischen Berücksichtigungswürdigkeit trotz steigender Selbststeuerungsan-
teile erst ausgehen können, sobald sie einen eindeutigen Bruch mit der menschlichen
Vorgabe der Instrumentalisierung vollziehen, also Strebungen entfalten, die signifikant
von diesen menschÂ�lichen Vorgaben abweichen, das heißt, falls sie zum Beispiel selb-
ständig aus den menschlichen Verwertungszusammenhängen ausbrächen, etwa sich als
Roboter „in die Wälder schlagen“ und eine eigenständige Existenz führen würden.

1. Sind nur empfindungsfähige Lebewesen zu berücksichtigen?

Viele Ethiker sind der Auffassung, dass nur empfindungsfähige, das heißt bewusstseins-
fähige Lebewesen, also höhere Tiere mit Nervensystem und Menschen ethisch zu be-
rücksichtigen sind. Man bezeichnet diese Auffassung als „pathozentrisch“. Gegen die pa-
thozentrische Auffassung und für eine „biozentrische“ Haltung, wonach alle Lebewesen,
also auch Tiere ohne Nervensystem, Pflanzen und Mikroorganismen, prinzipiell ethische
Berücksichtigung verdienen, sprechen wenigstens die folgenden vier Argumente:
Konsequente Vertreter der pathozentrischen These müssen erstens jede moralische
Berücksichtigung irreÂ�Â�versibel komatöser Menschen um ihrer selbst willen ausschließen.
Nur die Belange der Angehörigen dieser Menschen oder deren frühere Belange im be-
wussten Zustand können als ethisch und moralisch berücksichtiÂ�gungswürdig angesehen
werden. Dies dürfte mit den allgemeinen Überzeugungen, die hinter der gegenwärtig
akzeptierten Praxis der monate- und jahrelangen, aufwendigen Pflege irreversibel koma-
töser Patienten steht, kaum vereinbar sein. Der Pathozentriker müsste also einen allge-
meinen Irrtum der gegenwärtigen moralischen Auffassungen behaupten und erklären.
Zweitens haben auch bewusstseinsfähige Lebewesen Strebungen, die ihnen selbst nie-
mals bewusst werden und deren Missachtung trotzdem ethisch unerlaubt ist. Die Schä-
digung des Immunsystems des Menschen war sicherlich bereits ethisch verwerflich, be-
vor die Medizin das Immunsystem entdeckte. Sie ist ethisch verwerflich, auch wenn ein
Kind nichts von seinem Immunsystem weiß. Wenn es aber nicht nötig ist, dass sich das
Bewusstsein eines Individuums auf die ethisch relevante Funktion bzw. Strebung seines
Körpers bezieht, so ist kaum einsichtig, warum eine vergleichbare Funktion bzw. Stre-
bung bei anderen Lebewesen ohne Bewusstsein ethisch irrelevant sein soll. Auch Pflanzen
haben zum Beispiel ein Immunsystem, das zwar primitiver, aber demjenigen von Tieren
und Menschen in seiner Strebungsstruktur zum Zweck der Selbsterhaltung jenseits blo-
ßer physikalischer Gesetze vergleichbar ist.
Sieht man das Bewusstsein einerseits als conditio sine qua non für die Anerkennung von
Belangen eines Individuums an, lässt man aber andererseits die Berücksichtigung einzelner
Interessen ohne Bewusstseinssteuerung zu, so führt das zu wenig plausiblen Konsequenzen.
Man gelangt auf diese Weise zu einer Ethik, die uns bei der Wahl eines anderen Kriteriums
ganz absurd erschiene. Niemand würde etwa zugestehen, dass es zulässig wäre, die Menge
340 XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?

der ethisch relevanten Betroffenen nach einem abstrakten Maßstab und vollständig unab-
hängig von den Kriterien für konkrete Interessenverletzungen zu bestimmen, etwa indem
man allgemein festlegte, ausschließlich Weiße seien ethisch zu berücksichtigen, und dann
erst fragt, welche einzelnen Strebungen bzw. Belange dieser willkürlich eingeschränkten
Klasse von Individuen Berücksichtigung verdienen.
Mit der Hypostasierung des Bewusstseinskriteriums als Schibboleth für die Träger
von Belangen werden also€– zumindest auf einer ersten Stufe€– nicht die tatsächlich beste-
henden Strebungen als ethisch relevant angesehen, sondern eine zusätzliche Eigenschaft
ihrer Träger. Dies ist in zweifacher Hinsicht unbefriedigend: Ungelöst bleibt damit zum
einen, was dann als Kriterium für das Bestehen einzelner Interessen fungieren soll. We-
nig einleuchtend erscheint es zum anderen, die wesentliche norÂ�maÂ�tive Begründungslast
nicht in der eigentlich normativ-ethisch signifikanten Eigenschaft der Strebung, sondern
in der kognitiven Trägereigenschaft der Bewusstseinsfähigkeit zu lokalisieren. Man be-
geht damit einen naturalistischen Fehlschluss, denn man knüpft eine Wertung als ethisch
zu berücksichtigendes Individuum nicht an eine ihrerseits normative Tatsache wie die
Strebung, sondern an eine nichtnormative Tatsache wie das Bewusstsein.
Drittens wirft die Koppelung des Interessenbegriffs an die Begriffe Bewusstsein und
Empfindung noch ein tiefer liegendes Problem auf. Die Begriffe des Bewusstseins und
der Empfindung sind zunächst rein empirische Begriffe. Sie finden ihre Anwendung in
ver�schiedenen empirischen Wissenschaften, etwa der Psychologie, der Biologie und der
Medizin. Sie werden dort ausschließlich deskriptiv gebraucht. Eine wertende Kompo-
nente wie bei anderen Begriffen der Ethik, etwa „gut“ oder „gerecht“, ist nicht erkenn-
bar. Der Begriff „Belang“ bzw. „Interesse“ erfüllt dagegen€– zumindest im Zusammen-
hang einer normativ-ethischen Rechtfertigung€– eine praktisch-begründende Funktion.
Er stellt eine rechtfertigende Brücke zwischen Deskriptionen und moralischen bzw.
ethischen Präskriptionen her und ist kein rein deskriptiver Begriff.
Versucht man nun, den solchermaßen praktischen Belang- bzw. Interessenbegriff
durch einen rein deskriptiven Begriff, wie Bewusstsein oder Empfindung, zu konkretisie-
ren, ohne die gesamte ethische Rechtfertigung mit ihrer Verbindung von Tatsachen und
Normen in den Blick zu nehmen, so bleibt diese Konkretisierung zwangsläufig eine bloße
Dezision, ohne wirklich rechtfertigen zu können. Man kann hier auch ein beliebiges en-
geres oder weiteres Kriterium wählen, etwa Sprachfähigkeit oder die Qualität, ein Lebewe-
sen zu sein. Wenn man ein Resultat aus der Diskussion um das Sein-Sollen-Problem und
den naturalistischen Fehlschluss ziehen kann, so ist es das Verbot jeder rein naturalistisch-
deskriptiven Lösung der Qualifikation ethisch zu berücksichtigender Individuen. Der In-
teressenbegriff bedarf natürlich einer Konkretisierung durch stärker deskriptive Begriffe
wie Strebung, Bedürfnis, Wunsch und Ziel, sonst kann er seine Vermittlungsfunktion
zwischen Tatsachen und Normen nicht erfüllen. Aber der Einbau deskriptiver Begriffe
muss seinerseits unter Berücksichtigung der spezifischen RechtÂ�fertigungsfunktion des In-
teressenbegriffs im Rahmen einer praktischen Begründung erfolgen. Andernfalls kann die
ethische Rechtfertigung keine normative Begründungskraft gewinnen.
Die normative Begründungskraft der Strebungen ergibt sich daraus, dass sie€– wie
sich in Kapitel€II, 2 zeigte€– nicht nur einfache Tatsachen sind, sondern eine Form des
2. Sind Naturkollektive wie Arten oder Ökosysteme zu berücksichtigen? 341

Selbstbezugs und des Selbsterhaltungsstrebens aufweisen. Um einen Anderen als ethisch


berücksichtigungswürdig anzuerkennen, ist ein solcher irgend gearteter Selbstbezug, ein
solches eigenes selbstbezogenes Streben jenseits rein physikalischer Kräfte nötig. Stre-
bungen sind wenigstens biologisch, gehen also über rein physikalische Kräfte hinaus
und können deshalb der Voraussetzung eines solchen Selbstbezugs genügen.
Dazu kommt ein weiterer wichtiger Aspekt: Moral und Ethik schränken die Hand-
lungen des Akteurs im Interesse Anderer ein. Das impliziert aber, dass nicht der einzu-
schränkende Akteur entscheiden darf, wodurch er eingeschränkt wird. Teil der Selbstzu-
schreibung der ethisch zu berücksichtigenden Anderen muss demnach auch die Art und
Weise ihres Selbstbezugs sein. Als rationales, sprachbegabtes und empfindungsfähiges
Wesen darf der Mensch deshalb nicht einfach Rationalität, Sprachbegabung oder Emp-
findungsfähigkeit zum notwendigen Kriterium des Interessenbegriffs für andere, von
ihm ethisch zu berücksichtigende Wesen erklären. Denn dann wären nicht der Selbst-
bezug der betroffenen Individuen und damit der ethisch zu berücksichtigende Andere
entscheidend, sondern eine Kategorie, die der Akteur bestimmt, dessen Handlungen
gerade durch die Belange des betroffenen Anderen eingeschränkt werden sollen.
Viertens: Der Vertreter einer pathozentrischen Position könnte sich durch diese Ar-
gumente noch nicht überzeugt zeigen und einwenden, dass es für die Berücksichtigung
der Strebungen von Lebewesen ohne Empfindungsfähigkeit keine besseren Gründe als
für die Beschränkung auf die Berücksichtigung der Strebungen von Lebewesen mit Emp-
findungsfähigkeit gebe. Hier stellt sich die Frage der Beweislastverteilung. Schließt man€–
wie oben€– rein physikalische Einwirkungen auf den Menschen als Grundlage für eine
ethische Berücksichtigung aus, dann verbleibt die Menge der Wesen mit biologischen
Strebungen und als weitere Teilmenge die Menge der Wesen mit bewussten Strebun-
gen, also mit Bedürfnissen, Wünschen und Zielen. Erkennt der Mensch die biologischen
Strebungen anderer Wesen, so ergibt sich€– wenn er überhaupt bereit ist, moralisch bzw.
ethisch und nicht nur eigenorientiert zu handeln –, dass alle diese Strebungen in ihrem
normativen Status gleich sind. Das Fluchtverhalten eines Insekts erkennt er als prinzipiell
genauso eigenbezogen wie das Fluchtverhalten eines empfindungsfähigen höheren Wir-
beltiers. Um nun nur das Fluchtverhalten des höheren Wirbeltiers als ethisch berücksich-
tigenswert anzusehen, bedürfte der Akteur einer Rechtfertigung. Die Argumentationslast
für seine eingeschränkte Berücksichtigung liegt also auf der Seite der pathozentrischen,
nicht aber auf der Seite der biozentrischen Position. Da eine Rechtfertigung für die pa-
thozentrische Einschränkung nicht ersichtlich ist, muss es bei der biozentrischen Position
bleiben. Alle Lebewesen verdienen demnach ethische Berücksichtigung.

2. Sind Naturkollektive wie Arten oder Ökosysteme


zu berücksichtigen?

An dieses biozentrische Ergebnis schließen sich zwei Fragen an: Zunächst ist zu fragen,
was unter „Lebewesen“ zu verstehen ist. Es dürfte unzweifelhaft sein, dass dazu Tiere,
Pflanzen und Mikroorganismen als Individuen gehören. Aber fallen darunter auch Na-
342 XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?

turkollektive wie Arten, Ökosysteme, die Biosphäre oder sogar das Universum, weil ihr
Selbstbezug demjenigen eines Lebewesens entspricht? Sollen wir Arten, Ökosysteme,
die Biosphäre oder sogar das gesamte Universum um ihrer selbst willen schützen und
nicht nur aus menschlichen Interessen? Die Überlegungen sind hier an einem Punkt an-
gelangt, wo die Sachkompetenz der Biologen gefragt wäre. Nach meiner Einschätzung
kann man bei Arten nicht von einem selbstbezogenen Gleichgewichtszustand eines of-
fenen Systems ausgehen. Die Mitglieder von Arten ähneln sich, aber das tun sie nur als
Individuen. Sie interagieren, aber das tun sie nur als Individuen. Arten weisen keinen
Selbstbezug auf wie eine Zelle. Dies zeigt die biologische Definition des „Artbegriffs“.
Es handelt sich um eine „reproduktiv isolierte Gruppe von Populationen, die sich mit-
einander kreuzen können, weil sie dieselben Isolationsmechanismen haben“.3
Ökosysteme und die Biosphäre werden dagegen von manchen immerhin in einem
gewissen selbstregulierenden Gleichgewichtszustand gesehen. Bei ihnen läge im Falle
des Zutreffens dieser Annahme die Parallele zu Lebewesen näher. Allerdings wird dieser
Gleichgewichtszustand ausschließlich durch das Verhalten der Individuen und durch
physikalische Faktoren herbeigeführt und aufrecht erhalten. In einem Ökosystem gibt
es€– soweit ersichtlich€– nichts, was dem Selbstschutz durch ein Immunsystem bei Le-
bewesen oder dem Fluchtverhalten bei Tieren entsprechen würde. Die biologische Defi-
nition des Begriffs „Ökosystem“ unterstützt diese Zweifel: Als Ökosystem gilt demnach
„jede Einheit, die alle Organismen in einem gegebenen Areal umfasst und die mit der
physikalischen und chemischen Umwelt in Austausch steht, so dass ein Energiefluss klar
definierte Nahrungsketten, Mannigfaltigkeit der biologischen Beziehungen und Stoff-
kreisläufe schafft“.4 Auch für Ökosysteme wird man deshalb die ethische Berücksichti-
gung um ihrer selbst willen ablehnen müssen.
Gegen diese Argumentation wurde geltend gemacht,5 dass nicht nur Arten und
Ökosysteme und deren Regulationsmechanismen unter streng reduktionistisch-mechaÂ�
nistischer (kybernetisch-systemtheoretischer) Perspektive betrachtet werden können, son-
dern auch Organismen einschließlich des Menschen und deren Zwecke. Moderne The-
orien der Selbstorganisation gingen grundsätzlich davon aus, dass sich die zielgerichteten
Verhaltensweisen von Lebewesen ausschließlich kausal erklären lassen. Dagegen wird man
einwenden müssen, dass eine rein kausale Erklärung alles Tuns und Handelns auch jede
Ethik aufhebt. Die ethische Einschränkung von Handlungen und die ethische Reflexion
finden sowieso auf einer Ebene statt, die nicht kausal-systemtheoretisch und damit ky-
bernetisch-reduktionistisch erklärbar ist. Das heißt, für die Berücksichtigung Anderer im
Rahmen einer ethischen Theorie muss man in jedem Fall die bloße Kausalgesetzlichkeit
überschreiten. Dann bietet sich aber eine Stufenfolge in der Komplexität des Selbstbezugs
als relevantes Kriterium an. Das Immunsystem einer Pflanze mag partiell kausal erklärbar
sein, aber die Kausalität ist die Binnenkausalität dieser Pflanze, die von der allgemeinen
physikalischen Kausalität ein Stück weit als biologische Strebung emergent abgekoppelt

3 Ernst Mayr, Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens, Heidelberg 1998, S.€401.
4 Eugene P. Odum, Grundlagen der Ökologie Band 1, 2.€Aufl. Stuttgart 1983, S.€10.
5 Martin Gorke, Artensterben. Von der Ökologischen Theorie zum Eigenwert der Natur, S.€272.
3. Sind die Lebewesen alle gleich oder ungleich zu berücksichtigen? 343

und in sich geschlossen ist. Diese Abkopplung und Selbstschließung unterscheidet sich
nicht prinzipiell, sondern nur graduell von menschlichen Belangen. Deshalb gibt es kei-
nen Grund, sie im Rahmen einer Ethik nicht zu berücksichtigen. In einem Ökosystem
mögen etwa Populationen voneinander abhängig sein und in ein Gleichgewicht gelangen.
Aber es gibt keine manifest gewordene, für die Erhaltung des Ganzen zuständige Einrich-
tung, wie etwa ein Immunsystem oder das Fluchtverhalten eines Tieres.
Die Ablehnung einer eigenständigen ethischen Berücksichtigungswürdigkeit von
Arten, Ökosystemen und der Biosphäre bedeutet natürlich nicht, dass ihre Zerstörung
ethisch erlaubt wäre. Allerdings liegt der Grund für die starke Verpflichtung, sie zu be-
wahren, nicht in ihrem Eigenwert als Ganzes, sondern in den Belangen der von ihrer
Zerstörung betroffenen Lebewesen, also den Belangen der betroffenen Menschen, Tie-
ren, Pflanzen und Mikroorganismen.

3. Sind die Lebewesen alle gleich oder ungleich


zu berücksichtigen?

Eine zweite wesentliche Frage lautet, ob die ethisch zu berücksichtigenden Lebewesen alle
gleichwertig oder aber hierarchisch gegliedert zu berücksichtigen sind. Es gibt offensicht-
lich keinen guten Grund, gleichartige Strebungen oder Bedürfnisse unterschiedlich zu
behandeln, nur weil sie von unterschiedlichen Arten von Lebewesen stammen. Allerdings
werden auch bei gleichartigen Lebewesen verschiedenartige Belange unterschiedlich stark
gewichtet. Es gibt Belange, die einer intensiveren, komplexeren und damit eigenständi-
geren, das heißt stärker von den physikalischen Kräften entkoppelten Selbstzuschreibung
entspringen. Dies muss auch über Artgrenzen hinweg ein Kriterium sein. Empfindungsfä-
higkeit, Rationalität und Sprachfähigkeit können daher die ethische Berücksichtigung von
nichtempfindungsfähigen Wesen nicht ausschließen. Aber sie markieren eine intensivere,
komplexere und damit eigenständigere Selbstzuschreibung von Belangen. Sie sind also
nicht für das „Ob?“ einer Interessenzuerkennung entscheidend, wohl aber für das „Wie
stark?“. Plausibel erscheint also eine nichtegalitäre und somit hierarchische biozentrische
Position im Hinblick auf die jeweiligen Belange. Alle singulären Lebewesen verdienen
ethische Berücksichtigung. Aber je komplexer und intensiver ihre Belange werden, des-
to stärkeres Gewicht verdienen diese Belange in der ethischen Abwägung. Das bedeutet
nicht, dass die Belange niederer Lebewesen zwangsläufig denen höherer Lebewesen zu
weichen hätten, sondern erfordert nur eine stärkere Berücksichtigung in der Abwägung.
Die zentralen Leidens- und ÜberlebensinterÂ�essen von Tieren verdienen etwa wohl grund-
sätzlich gegenüber den Gaumenfreuden der Menschen Vorrang, soweit diese sich ohne
größere Schwierigkeiten vegetarisch ernähren können.
Pflanzen sind viel weniger komplex als Menschen. Deshalb sind die Belange von
Pflanzen so schwach, dass sie in den weitaus meisten Fällen gegenüber denen des Men-
schen zurückzustehen haben. Aber es gibt doch Fälle, in denen die Kumulation einer
Vielzahl von tierischen und pflanzlichen Belangen den Ausschlag geben wird, wenn die
Vorteile der Menschen nur gering sind, vor allem bei Großprojekten zum Beispiel Stau-
344 XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?

dämmen oder Kanälen, sofern deren wirtschaftÂ�licher Nutzen zweifelhaft oder marginal
ist. Hier wird sich auch in der Praxis ein großer Unterschied, insbesondere zu pathozen-
trisch-utilitaristischen Positionen ergeben, auch wenn manchmal versucht wird, diese
praktische Differenz nicht allzu groß erscheinen zu lassen. Fest steht, dass die utilita-
ristische Doktrin, die weite Teile unseres traditionellen Denkens gerade in der Politik
mitbestimmt hat, für die massive Ausbeutung der Natur mitverantwortlich ist. Man wird
deshalb nicht zu einem verbesserten Naturschutz kommen können, wenn man den Uti-
litarismus als umfassende ethische Leitlinie nicht aufgibt.
Man kann versuchen, die relative Höherwertigkeit der Belange der einzelnen Arten
von Individuen genauer zueinander in Beziehung zu setzen, indem man die zentrale
Vokabel des Selbstbezugs im Hinblick auf die Grundkategorie der Zeit aufspaltet. Man
erhält dann die Aspekte der Selbstentstehung, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung.
Jedes Wesen wird jedes dieser Elemente zuÂ�minÂ�dest in Rudimenten entwickeln müssen,
um ethisch beÂ�rückÂ�sichÂ�tiÂ�gungsÂ�Â�würÂ�digÂ�zu sein.
Für einzelne Typen von Wesen ergeben sich dann folÂ�gende tentativen Einschätzun-
gen ihres Selbstbezugs, wobei „x“ das bloße Vorhandensein des MerkÂ�mals meint und
mehrere „x“ eine eigenständigere Ausprägung. Nicht imÂ�pliziert ist darin eine interper-
sonale Austauschbarkeit in Form eines NutzenÂ�summenÂ�kalküls. VaÂ�riabilitäten durch
menschliche Manipulationen sind durch Klammern gekennzeichnet und können sich
durch zunehmende technische Möglichkeiten natürlich vergrößern:

Selbstbezug einzelner Arten von Wesen

Selbstent- Selbstent- Selbsterhal�


Belange
�stehung faltung tung
Mensch xxxxxx(x) xxxxxxx xxxxxxx Ja
höh. Wildtier xxxxxxx xxxxx xxxxx Ja
höh. Nutztier xxxxx(xx) xxx(xx) xxx(xx) Ja
Wildtier xxxxxxx xxx xxx Ja
Nutztier xxxx(xxx) x(xx) x(xx) Ja
Wildpflanze xxxxxxx xx xx Ja
Nutzpflanze xxxx(xxx) x(x) x(x) Ja
Mikroorganismus xxxxxxx x x Ja
Nutzorganismus xx(xxxxx) x) x) Ja
Steinâ•›/â•›Fluss – – – Ja
Art – – – Nein
3. Sind die Lebewesen alle gleich oder ungleich zu berücksichtigen? 345

Selbstent- Selbstent- Selbsterhal�


Belange
�stehung faltung tung
Ökosystem ? ? – Nein
Biosphäre ? ? – Nein
Computer – x) x) Nein

Erläuterung:

Höheres Wildtier: Selbstentstehung wie beim Menschen durch Erbgutverschmelzung,


SelbstÂ�entfaltung und Selbsterhaltung ebenfalls, aber mangels Rationalität und entwi-
ckelter Sprache nicht so elaboriert.
Höheres Nutztier: Selbstentstehung wie beim Menschen durch Erbgutverschmel-
zung, aber partiell durch Züchtung und auch schon durch Genmanipulation eingeÂ�
schränkt, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung ebenfalls durch HalÂ�tung eingeschränkt
und mangels Rationalität und entwickelter Sprache nicht so elaboriert.
Wildtier: Selbstentstehung gegeben, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung vorhan-
den, aber nicht so elaÂ�boriert wie bei höheren Wildtieren, zum Beispiel mangelnde EmpÂ�
findungsÂ�fähigkeit usw.
Nutztier: Selbstentstehung durch Züchtung und Genmanipulation eingeschränkt,
ebenso die Selbstentfaltung und Selbsterhaltung.
Wildpflanze: Selbstentstehung gegeben, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung eben-
falls, aber mangels Rationalität, Sprache, Empfindungsfähigkeit, sehr hoch entwickel-
tem Immunsystem usw. nicht so elaboriert wie bei Menschen und Tieren.
Nutzpflanze: Selbstentstehung gegeben, aber durch Züchtung und mittlerweile auch
genetische Eingriffe extrem eingeschränkt, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung ebenÂ�
falls vorhanden, aber mangels Rationalität, Sprache, EmpfindungsfäÂ�higkeit, sehr hoch
entwickeltem Immunsystem usw. nicht so elaboriert und durch Anbau und Kultivie-
rung stark einÂ�geschränkt.
Mikroorganismus: Selbstentstehung gegeben, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung
noch beschränkter als bei Pflanzen.
Nutzorganismus: Selbstentstehung mittlerweile durch Züchtung und Gentechnik
stark eingeschränkt, ebenso die Selbstentfaltung und Selbsterhaltung.
Steinâ•›/â•›Fluss: Entstehung, Entfaltung und Erhaltung nur durch äußere physiÂ�kaliÂ�sche
und chemische Faktoren.
Art: Entstehung, Entfaltung und Erhaltung vollständig auf individuelle (Mutation)
und exÂ�terne physikalische Faktoren (Selektion) rückführbar.
ÖkoÂ�system und Biosphäre: Selbstentstehung und SelbstentfalÂ�tung zweifelhaft, SelbstÂ�
erÂ�haltung jeweils vollständig auf externe physikalische Faktoren oder das VerÂ�halÂ�ten von
EinzelindiviÂ�duen rückführÂ�bar.
Computer: Keine Selbstentstehung, da Konstruktion durch den Menschen, aber
bei den am weitesten entÂ�wickelten Modellen Ansätze zu Selbstentfaltung und SelbstÂ�erÂ�
haltung (auto�ge�ne Funktionskon�trolle usw.).
346 XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?

Insgesamt ergibt sich damit folgendes Bild:

Berücksichtigung von Wesen um ihrer selbst willen

Zunehmende Berück-
sichtigungswürdigkeit

Tiere

Pflanzen

Mikroorganismen

Arten Ökosysteme Biosphäre


verschiedene Wesen

Berücksichtigt man dagegen nur menschliche Interessen, dann ergibt sich folgendes Bild:

Berücksichtigung von Wesen um des Menschen willen

Zunehmende Berück-
sichtigungswürdigkeit

Arten Ökosysteme Biosphäre

Mikroorganismen

Pflanzen

Tiere

verschiedene Wesen
4. Wie weit reicht die Würde? 347

Bringt man beide Gesichtspunkte zusammen, so erhält man folgendes Bild:

Kombination der Berücksichtigung der Wesen um ihrer selbst und um des Menschen willen,
was zu einer vergleichbaren Berücksichtigungswürdigkeit führt.

Zunehmende Berück-
sichtigungswürdigkeit

Tiere Pflanzen Mikroorganismen Arten Ökosysteme Biosphäre

verschiedene Wesen

4. Wie weit reicht die Würde?

Tiere sind um ihrer selbst willen ethisch zu berücksichtigen. Das ergaben die vorigen
Überlegungen. Man kann nun weiterfragen: Besteht so etwas wie eine Tierwürde ent-
sprechend der Menschenwürde?6 Zunächst sei an die obige (Kapitel€III, 7) Unterschei-
dung zwischen zufälliger (kontingenter) und notwendiger (inhärenter) Würde erinnert.
Die zufällige (kontingente), auf der „Leistung“ des Würdeinhabers beruhende Würde ist
eine veränderliche Eigenschaft. Sie besteht in dem Ausdruck der Gelassenheit, der inne-
ren Unabhängigkeit, des In-sich-selbst-Ruhens gegenüber äußeren Veränderungen und
Anfechtungen. Sie umfasst einen ästhetischen Teil, etwa die Gravität, Monumentalität
und das In-Sich-Ruhen einer Person, einen institutionell-sozialen Teil, etwa bei Men-
schen die Würde eines Amtes als Minister oder Bischof oder der öffentlichen Stellung
und einen expressiven Teil des würdevollen Verhaltens, etwa die Hinnahme einer Nieder-
lage oder eines Verlusts mit Gelassenheit und innerer Unabhängigkeit.
Die veränderliche Eigenschaft der kontingenten Würde können wir auch bei Tieren
beobachten, etwa die ästhetische Würde eines Elefanten in seiner Monumentalität, die

6 Vgl. zum Folgenden und zu rechtsethischen und rechtspolitischen Konsequenzen: Verf., Tierwürde nach
Analogie der Menschenwürde?
348 XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?

institutionelle Würde des Gorillamännchens als Anführer seiner Sippe oder die Â�expressive
Würde des unterlegenen Hirschs im Zweikampf mit einem Rivalen. In diesem Sinne
einer veränderlichen Eigenschaft bzw. „Leistung“ der Würde haben Tiere ohne Zweifel
eine Würde.7 Dabei kann allenfalls fraglich sein, ob und wie die Tiere diese Würde selbst
wahrnehmen. Unabhängig von einer derartigen Selbstwahrnehmung8 verdient auch
diese Würde, wie jedes andere Lebensinteresse von Tieren, ethische Berücksichtigung.
Wie wir Tiere nicht ängstigen oder ihnen keinen Schmerz zufügen dürfen, so dürfen wir
auch ihre ästhetische, institutionelle und expressive Würde nicht einschränken, sofern
gute Gründe uns nicht dazu nötigen. Wir dürfen Elefanten nicht unnötig einpferchen,
Gorillamännchen nicht von ihrer Sippe trennen und Hirsche nicht an Unterwerfungs-
gesten hindern. Die Hühnerhaltung in Legebatterien und Schlachtviehtransporte über
weite Strecken verbieten sich also bereits aufgrund der Missachtung der kontingenten
Würde der Tiere, selbst wenn deren Wohlbefinden nicht eingeschränkt wäre.
Dabei ist allerdings klar zwischen der empirischen Eigenschaft der kontingenten
Würde und der Fassung dieser Würde als ethischem Belang zu unterscheiden. Die
kontingente Würde von Tieren kann als empirische Eigenschaft nicht selbst norma-
tive Quelle ethischer Verpflichtungen sein. Man kann die Rolle der bloß empirischen
Eigenschaft der kontingenten Würde mit der des Hungers vergleichen. Eine ethische
Hilfspflicht besteht nur gegenüber tatsächlich Hungernden. Der Hunger ist also eine
notwendige Bedingung der ethischen Hilfspflicht. Er ist aber nicht selbst die normative
Quelle der Verpflichtung. Die kontingente Würde kann in ähnlicher Weise Bedingung
und damit Inhalt einer ethischen Verpflichtung sein. Letzte normative Quelle ethischer
Verpflichtung sind€– sieht man von einer transzendent-religiösen Ebene ab€– nur die
abgewogenen Belange bzw. Interessen der betroffenen Individuen. Diese Belange bzw.
Interessen bedürfen eines Inhalts. Und ein möglicher Inhalt ist auch die kontingente
Würde von Tieren. Allerdings ist die veränderliche Eigenschaft der kontingenten Wür-
de nur ein ethischer Belang unter vielen, keinesfalls der wichtigste. Vorrangig ist zu
verhindern, dass Tiere getötet, verletzt, geängstigt oder dass ihnen Schmerzen zugefügt
werden, weil mit derartigen Verhaltensweisen elementarere Belange der Tiere missachtet
werden. Die veränderliche Eigenschaft der Würde von Tieren ist also ethisch zu berück-
sichtigen€– wenn sie auch nur einen weniger wichtigen Belang unter vielen darstellt.
Angesichts der Schwäche des Belangs der kontingenten Würde im Vergleich mit
anderen ethischen Belangen muss der Schwerpunkt der Frage nach einer Tierwürde in
Analogie zur Menschenwürde auf die andere Alternative der Menschenwürde bezogen
werden, auf die notwendige (inhärente) Würde bzw. die Würde als „Mitgift“. Kommt
Tieren eine solche zu?

7 Ebenso: Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde. Anders Josef Santeler, Die Grundle-
gung der Menschenwürde bei I. Kant, S.€16.
8 Aber selbst wenn man eine derartige Selbstempfindung verneinen würde, wären unbewusste Strebungen
ethisch relevant. So sind wir wie erwähnt verpflichtet, das Immunsystem eines Menschen nicht zu schä-
digen, auch wenn er selbst von diesem Immunsystem nichts weiß.
4. Wie weit reicht die Würde? 349

Befürworter verweisen darauf, dass Tiere um ihrer selbst willen ethisch zu berück-
sichtigen seien. Folglich käme auch Tieren neben der veränderlichen Würde eine not-
wendige Würde zu.9 Vertreter dieser Position gehen dabei regelmäßig folgendermaßen
vor: Sie identifizieren in der Interpretation Kants die Würde mit der zweiten Formel
des Kategorischen Imperativs, der Selbstzweckformel, also der bloßen Berücksichti-
gungswürdigkeit des Menschen, statt richtigerweise, wie in Kapitel€II, 7 erläutert wur-
de, klar zwischen Selbstzweckformel und Würdezuschreibung im Reich der Zwecke zu
unterscheiden. Wird dann Kants Einschränkung der Selbstzweckformel auf vernünf-
tige Lebewesen, also praktisch auf Menschen, mit einleuchtenden Argumenten kriti-
siert, dann folgt die Würdezuerkennung quasi automatisch mit der Ausdehnung des
Kreises der ethisch zu berücksichtigenden Wesen. Das ist aber in zweifacher Hinsicht
problematisch, zum einen weil Kant Selbstzweckformel und Würde nicht ohne weite-
res verbindet,10 und zum anderen weil man selbstredend untersuchen müsste, ob die
Würde tatsächlich der Ausweitung der ethischen Berücksichtigungswürdigkeit der kan-
tschen Selbstzweckformel auf nichtmenschliche Wesen folgt.
Ein anderer Versuch der Ausweitung des Würdegedankens auf nichtmenschliche
Lebewesen lautet so:11 Komme dem Menschen Würde zu, so schulde er sie letztlich der
Natur als seinem Herkunftsort. Dann könne man aber „versuchen“, auch jenem Grund,
aus welchem menschliche Würde fließe, Würde zuzusprechen. Nichtmenschliche Lebe-
wesen „hätten als Manifestationen der Natur“ Würde.12 Aber wenn etwas eine notwen-
dige, aber vielleicht nicht hinreichende Bedingung von etwas anderem Bedingten ist,
so darf man nicht ohne weiteres jedes Prädikat von dem Bedingten auf die Bedingung
übertragen. Wasserstoff ist eine notwendige Bedingung von Wasser. Trotzdem hat Was-
ser spezifische Eigenschaften, die Wasserstoff nicht hat. Die Natur ist zwar eine notwen-
dige Bedingung des Menschen und seiner inhärenten Würde. Aber die inhärente Würde
kann ja eine Eigenschaft sein, die sich nur und erst beim Menschen bildet€– und nach
der Vorstellung Kants ist das selbstredend der Fall. Dann darf aber die inhärente Würde
des Menschen nicht auf die Natur als notwendige Bedingung übertragen werden.
Gegen die Ausweitung der inhärenten Würde auf alle ethisch zu berücksichtigenden
Lebewesen lassen sich im Übrigen vier Gründe anführen:
Erstens spricht dagegen das Prinzip begrifflicher Sparsamkeit, das heißt das Prinzip,
keinen BeÂ�griff einzuführen, der nicht notwendig ist, um etwas Eigenständiges zu be-
zeichnen. Wenn aber die Annahme der Würde nicht über die Annahme der ethischen

9 Vgl. Beat Sitter-Liver, „Würde der Kreatur“; Peter Saladin, „Würde der Kreatur“ als Rechtsbegriff, in:
Julian Nida-Rümelinâ•›/â•›Dietmar von der Pfordten (Hg.), Ökologische Ethik und Rechtstheorie, 2.€Aufl.
Baden-Baden 2002, S.€ 365–369; Gotthard M. Teutsch, Die „Würde“ der Kreatur. Erläuterungen zu
einem neuen Verfassungsbegriff am Beispiel des Tieres, Bern 1995, S.€ 40; Josef Römelt, Jenseits von
Pragmatismus und Resignation. Perspektiven christlicher Verantwortung für Umwelt, Frieden und sozi-
ale Gerechtigkeit, Regensburg 1999, S.€116.
10 Vgl. Verf., Zur Würde des Menschen bei Kant.
11 Beat Sitter-Liver, „Würde der Kreatur“, S.€359â•›ff.
12 Zustimmend zu diesem Argument: Gotthard M. Teutsch, Die „Würde“ der Kreatur, S.€37.
350 XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?

Berücksichtigungswürdigkeit hinausgeht und damit praktisch mit Belangen bzw. InterÂ�


essen der ersten Stufe parallel läuft, dann bezeichnet der Würdebegriff nichts jenseits
dieser Belange bzw. der daraus resultierenden ethischen Berücksichtigungswürdigkeit.
Dies dürfte auch der Grund sein, warum in der utilitaristischen Tradition der Begriff
der Würde kaum verwandt wurde. Die einzige bekannte Ausnahme ist John Stuart Mill.
Mill nennt im Rahmen seines qualitativen Hedonismus den Unwillen eines Menschen,
auf eine seiner Ansicht nach niedere Stufe der Existenz herabzusinken, sei damit auch
eine höhere Summe an Lust verbunden, „sense of dignity“.13 Dieser „sense of dignity“
ist aber nicht mit ethischer Berücksichtigungswürdigkeit gleichzusetzen. Er bezeichnet
gerade die Einsicht des Menschen in seine Differenz gegenüber anderen Lebewesen im
Hinblick auf seine Fähigkeit zu Wünschen und Zielen zweiter Stufe.
Gegen eine weite Fassung des Würdebegriffs im Sinne bloßer ethischer Berück-
sichtigungswürdigkeit spricht aber zweitens auch die Begriffstradition. Die christliche
Überlieferung des Würdebegriffs hat ihn mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen
verbunden. Seit der römischen Antike, insbesondere aber seit der Renaissance, bezieht
sich der Begriff der inhärenten Würde im Übrigen auf die Fähigkeit des Menschen,
sich über die unmittelbaren Lebenstriebe und Alltagsbedürfnisse zu erheben,14 also die
zweite Stufe des reflektierten Bewertens der eigenen Belange einzunehmen. Kant setzt
diese Tradition mit seiner Interpretation der Würde als Selbstgesetzgebung fort. Diese
Begriffstradition aufzubrechen, erscheint wenig sinnvoll.
Die spezifische Fähigkeit des Menschen, sich über die unmittelbaren Lebensstre-
bungen und Alltagsbedürfnisse zu erheben und sie auf einer zweiten Ebene zu bewerten,
wäre drittens ohne eigene, klar abgrenzende Bezeichnung, wenn man den Würdebegriff
derart ausdehnen und mit der ethischen Berücksichtigungswürdigkeit im Allgemeinen
gleichsetzen würde.
Schließlich ist viertens zu bedenken, dass der Impuls zur Wiederbelebung des Wür-
debegriffs im 20.€Jahrhundert von Recht und Politik ausging. Nachdem der Terminus
1919 in der Weimarer Reichsverfassung und 1937 in der irischen Verfassung auftauch-
te, waren es insbesondere die Charta der Vereinten Nationen von 1945, die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte von 1948 und das deutsche Grundgesetz von 1949,
welche die Menschenwürde proklamiert und ihr damit besondere Bedeutung verschafft
haben. Viele Verfassungen und Menschenrechtspakte folgten.15 In diesen verfassungs-
und völkerrechtlichen Normierungen wird aber eindeutig nicht jeglicher ethische oder
rechtliche Anspruch von der Menschenwürde erfasst. Die Menschenwürde wird viel-
mehr nur auf einen engen Kernbereich menschlicher Belange bezogen, sonst wären die
übrigen Menschen- bzw. Grundrechte überflüssig.16 Die ethische Begriffsbildung kann

13 John S.€Mill, Utilitarianism, S.€9.


14 Vgl. Maximilian Forschner, Zwischen Natur und Technik. Zum Begriff der Würde des Menschen, in:
ders., Über das Handeln im Einklang mit der Natur. Grundlagen ethischer Verständigung, Darmstadt
1998, S.€91–119, S.€96.
15 Vgl. Christian Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, S.€457.
16 Vgl. Dieter Birnbacher, Ambiguities in the Concept of Menschenwürde, S.€113.
4. Wie weit reicht die Würde? 351

sich über diese Weiterführung der engen Tradition des Begriffs der Menschenwürde
durch Recht und Politik nicht ohne Weiteres hinwegsetzen.
Was folgt daraus? Es erscheint nur aussichtsreich, den Begriff der Würde aufrecht-
zuerhalten und zu schärfen, wenn man ihm einen eigenen, nicht mit der ethischen
Berücksichtigungswürdigkeit identischen und nicht anders erfassten Gegenstand zuord-
net.17 Angesichts der Notwendigkeit, mit dem Begriff der Menschenwürde eine zentrale
und für ihn selbst wesentliche Eigenschaft des Menschen zu erfassen, und angesichts
der Begriffsprägung in der Tradition von der römischen Antike bis zu Kant und in den
Menschenrechtserklärungen und Verfassungen muss man€– wie sich oben in Kapitel€II,
7 ergab€– die notwendige, inhärente Würde des Menschen in der spezifischen Eigenschaft
der Selbststeuerung bzw. Selbstgesetzgebung des Menschen, das heißt der Wünsche bzw.
Ziele zweiter Stufe gegenüber eigenen und fremden Zielen, Wünschen, Bedürfnissen
und Strebungen erster Stufe lokalisieren.
Da nun aber Tiere, soweit wir wissen, mangels Vernunft niemals die Fähigkeit erwer-
ben können, sich zu ihren Strebungen und Bedürfnissen auf einer zweiten Stufe vernünftig
bewertend zu verhalten, kommt ihnen jenseits der einfachen Strebungen und Bedürfnisse
erster Stufe, welche die ethische Berücksichtigungswürdigkeit ihrer Belange auslösen, kei-
ne inhärente Tierwürde in Analogie zur Menschenwürde zu. Tiere können also zwar eine
veränderliche, kontingente ästhetische, institutionelle oder expressive Würde entfalten,
die auch ethisch zu berücksichtigen ist, nicht aber wie der Mensch eine in diesem Sinne
eng verstandene notwendige, inhärente Würde der Ziele und Wünsche zweiter Stufe be-
züglich der eigenen Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen erster Stufe.

17 Dass dies möglich ist, wird entgegen Norbert Hoerster, Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde,
S.€96, durch die Problematik der Selbstzweckformel nicht ausgeschlossen.
XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung,
Verhältnismäßigkeit

Die primären Normordnungen und die ethische Tradition haben verschiedene Begriffe
bzw. Kategorien geprägt, um spezifische ethische Phänomene zu charakterisieren, zu be-
werten und zu regeln. Vier wichtige Begriffe sollen im Folgenden kurz erläutert werden.
Ziel ist, die Ethik des normativen Individualismus in Auseinandersetzung mit diesen
Begriffen weiter zu entfalten.

1. Schuld

Der Begriff der Schuld hat zwei ganz verschiedene Bedeutungen, die von vornherein
klar unterschieden werden müssen, wiewohl sie in der Realität in einem bestimmten,
gleich noch zu erläuternden Zusammenhang stehen:1 Die erste Bedeutung (Schuld1)
ist gemeint, wenn wir von Schuld zu etwas gegenüber jemandem sprechen, also etwa der
Hilfe, die wir den Eltern schulden, der Gefälligkeit, die wir einem Freund schulden,
oder der Rückzahlung des Darlehens, die wir einem Gläubiger schulden. Der Begriff der
Schuld bezeichnet hier die Pflicht bzw. Verpflichtung. Die zweite Bedeutung (Schuld2)
ist gemeint, wenn wir von Schuld wegen der Nichterfüllung einer Pflicht sprechen, wenn
wir uns also etwas zu Schulden haben kommen lassen bzw. schuldig geworden sind, etwa
weil wir den Eltern die nötige Hilfe, dem Freund die Gefälligkeit oder dem Gläubiger
die Rückzahlung des Darlehens vorenthalten haben. Der Begriff der Schuld bezeichnet
hier die Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit.
Die beiden ganz verschiedenen Bedeutungen des Schuldbegriffs hängen in der Rea-
lität in Form einer asymmetrischen Relation zusammen: Die primäre Schuld als Pflicht

1 Vgl. zur Historie des Schuldbegriffs: Joachim Ritterâ•›/â•›Karlfried Gründer, Historisches Wörterbuch der Phi-
losophie, Bd. 8, Basel 1992, Sp. 1442–1472. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 15.€Aufl. Tübingen 1979,
§ 58, S.€280â•›ff., hat versucht, den Schuldbegriff jenseits jeder Pflicht nur im Sein bzw. Dasein zu verankern.
Schuldigsein soll danach „Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein“, das heißt „Grundsein ei-
ner Nichtigkeit“ sein (S.€283). Das Dasein soll als solches schuldig sein, weil die Sorge als Sein des Daseins
in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt sein soll (S.€285). „Seiendes, dessen Sein
Sorge ist, kann sich nicht nur mit faktischer Schuld beladen, sondern ist im Grunde seines Seins schuldig,
welches Schuldigsein allererst die ontologische Bedingung dafür gibt, daß das Dasein faktisch existierend
schuldig werden kann. Dieses wesenhafte Schuldigsein ist gleichursprünglich die existenziale Bedingung
der Möglichkeit für das ‚moralisch‘ Gute und Böse, […].“ Diese Interpretation impliziert eine extreme,
von einer bestimmten ontologischen Theorie abhängige Ausweitung des Schuldbegriffs.
1. Schuld 353

eröffnet genau zwei Handlungsalternativen: ihre Erfüllung und ihre Nichterfüllung.


Die sekundäre Schuld als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit setzt nun zwar not-
wendig eine Pflicht im Sinne der ersten Bedeutung der Schuld voraus, knüpft aber nur
an eine dieser beiden Handlungsalternativen der primären Schuld als Pflicht an, die
Nichterfüllung der Pflicht.
Die Schuld als Pflicht, also die erste Bedeutungsalternative, kann ihren Ursprung in allem
Möglichen haben: Gott, Moral, Freundschaft, Recht, Vertrag. Innerhalb der Schuld als
Pflicht gibt es aber eine spezielle Art, die ihren Ursprung gerade in einer Schuld als Ver-
antwortung für eine Pflichtwidrigkeit, also der zweiten Bedeutungsalternative, hat. Man
kann insofern von einer Schuld als Pflicht aufgrund einer Schuld als Verantwortung für
eine Pflichtwidrigkeit sprechen. Wenngleich ebenfalls von der Art einer Pflicht ist diese
tertiäre, aus einer Pflichtwidrigkeit erwachsende Schuld von der primären Pflicht, welche
Voraussetzung der sekundären Pflichtwidrigkeit ist, in der Realität strikt zu unterschei-
den. Es ergeben sich also folgende asymmetrische Relationen:

Pflicht 1 (Schuld1) → Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit 1 (Schuld2) → Pflicht€2


(Schuld1)

Bei der tertiären Schuld als Pflicht aufgrund einer Pflichtwidrigkeit stellt sich nun
natürlich wieder die Frage der Erfüllung oder Nichterfüllung mit der einen Möglich-
keit der Nichterfüllung als quartärer Schuld als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit.
Und so lässt sich diese Kette der Relationen von Pflichten und Verantwortlichkeiten
für eine Pflichtwidrigkeit bzw. Schuld in der ersten Bedeutung als Pflicht und in der
zweiten Bedeutung als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit grundsätzlich endlos
verlängern:

Pflicht╯1 (Schuld1) → Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit 1(Schuld2) → Pflicht╯2


(Schuld1) → Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit 2 (Schuld2) → Pflicht╯3 (Schuld1)
→ Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit 3 (Schuld2) → Pflicht╯4 (Schuld1) → …

In der Praxis finden derartige Pflicht-Pflichtwidrigkeitsketten natürlich irgendwann ein


Ende. Ein Beispiel: Jemand schuldet seinem Freund eine Gefälligkeit, etwa eine Einla-
dung (1). Beide vereinbaren ein Abendessen in einem Restaurant. Erfüllt er seine Pflicht
nicht, handelt er also pflichtwidrig (1), so schuldet er seinem Freund neben einer Ent-
schuldigung die Nachholung der Gefälligkeit, also eine Einladung zum Essen zu einem
anderen Zeitpunkt (2). Beide vereinbaren einen anderen Abend: Erfüllt er seine Pflicht
wieder nicht, handelt er also zum zweiten Mal pflichtwidrig (2), so schuldet er seinem
Freund neben einer weiteren Entschuldigung die Nachholung der Gefälligkeit, also eine
Einladung zum Essen zu einem dritten Zeitpunkt (3). Und wieder kann er pflichtwidrig
handeln und das Treffen platzen lassen (3). Das könnte prinzipiell bis zum Tod eines
der beiden so weitergehen, wiewohl der Eingeladene in der Realität sicher irgendwann
von seinem unzuverlässigen Kumpan genug haben und auf weitere Einladungen ohne
verlässlichen Realisierungswillen beim Anderen verzichten wird.
354 XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit

Es gibt also drei, nun näher zu erläuternde Möglichkeiten der Schuld: die Schuld
als Pflicht, die Schuld als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit und die Schuld als
Pflicht aufgrund einer Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit.

a)€Schuld als Pflicht

Der Pflichtbegriff wurde schon in den Kapiteln VII, 2 und VIII, 1 näher charakterisiert.
Wie erwähnt kann sich eine Pflicht und damit eine Schuld als Pflicht, also eine Schuld
in der ersten Bedeutung des Begriffs, aus allen möglichen Ursachen ergeben: Moral,
Recht, Politik, Religion, Ethik. Bei bloß instrumentellen und von unserer Zustimmung
abhängigen Normordnungen, wie den Konventionen, der Technik, der Medizin und
den Ratschlägen des guten bzw. glücklichen Lebens gehen wir dagegen regelmäßig nicht
davon aus, dass wir jemandem etwas „schulden“. Der Schuldbegriff umfasst also nicht
alle Pflichten, sondern offenbar nur kategorische, die€– sind sie einmal mit oder ohne
unsere Einwilligung entstanden€– in der Forderung nach Erfüllung nicht von unserer
Zustimmung abhängen. Das legt auch der Zusammenhang zur zweiten Bedeutung des
Schuldbegriffs als Pflichtwidrigkeit nahe, denn nur wenn wir kategorisch verpflichtet
sind, kann unsere Nichterfüllung der Pflicht negativ bewertet werden. Bei nichtkatego-
rischen Pflichten kann die Nichtzustimmung in der Nichterfüllung der Pflicht liegen
oder es kann eine eigene, explizite Nichtzustimmungserklärung notwendig sein.

b) Schuld als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit

Fraglich ist bei der Schuld als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit zunächst, ob
die Nichterfüllung der Pflicht auch ohne Zutun, also Beteiligung bzw. Handlung eines
Menschen eintreten kann oder nur mit Zutun, also Beteiligung bzw. Handlung eines
Menschen. Im zweiten Fall stellt sich die weitere Frage, ob Handelnder und Schuldiger
verschiedene Personen sein können, ob es also eine Schuld durch das Handeln Anderer
geben kann, oder ob Beteiligter und Schuldiger identisch sein müssen.
Die Schuld ohne Zutunâ•›/â•›Beteiligungâ•›/â•›Handlung eines Menschen findet sich allen-
falls in archaischen Vorstellungen eines Schuldigwerdens durch das bloße Dasein oder
das Schicksal und wird weder in der christlichen Religion oder anderen Weltreligio-
nen noch im modernen Recht anerkannt, bleibt aber als Möglichkeit im Rahmen des
Schuldbegriffs.
Eine Schuld mit Zutunâ•›/â•›Beteiligungâ•›/â•›Handlung von Menschen, aber ohne Identi-
tät zwischen Handelnden und Schuldigem wird etwa durch die christliche Lehre von
der Erbsünde im Alten Testament im Hinblick auf das Handeln durch Adam und Eva
angenommen, wobei aber nach der allgemeinen Sündenlehre nur derjenige schuldig
werden kann, der eine Handlung begangen hat. Die These von einer Kollektivschuld
oder Sippenschuld für die Verbrechen eines Volkes oder einer Sippe ist eine politisch-
säkulare Ausprägung dieser Variante einer Schuld ohne Identität zwischen Handelndem
1. Schuld 355

und Schuldigem. Eine Erbsünde oder Kollektiv- bzw. Sippenschuld lässt sich nur religi-
ös-transzendent begründen. Nimmt man dagegen eine säkular-immanente Perspektive
ein, so schließt der normative Individualismus eine Schuld ohne Identität zwischen
Handelndem und Schuldigem aus. Sind die Individuen letzter Ursprung der ethischen
Rechtfertigung bzw. Kritik, dann muss es für die Beurteilung der Pflichtwidrigkeit ge-
rade auf das Handeln desjenigen Individuums ankommen, das schuldig oder unschul-
dig sein soll. In den säkular-immanenten Normordnungen, also in der Moral, in der
Politik, im Recht, in der Erziehung und in der nicht auf die Religion bezogenen Ethik,
lässt sich somit eine Kollektiv- oder Sippenschuld nicht rechtfertigen. Das moderne
Recht ist durch das Schuldprinzip im weiteren Sinn gekennzeichnet, wonach nur der-
jenige schuldig ist bzw. zur Verantwortung gezogen werden kann, dessen Handlung die
Pflichtwidrigkeit (mit-)herÂ�beiÂ�geÂ�führt hat.
Es gilt also die dritte Alternative, wonach die Schuld grundsätzlich nur mit Zu-
tunâ•›/â•›Beteiligungâ•›/â•›Handlung des Schuldigen eintreten kann. Dabei ist des Weiteren
fraglich, was unter Zutun╛/╛Beteili�gung╛/╛Hand�lung des Schuldigen zu verstehen ist. In
manchen Bereichen des Zivilrechts genügt dafür im Rahmen einer sog. Gefährdungs-
haftung die bloße Eröffnung einer Gefahr für andere, etwa durch Kraftfahrzeuge, Flug-
zeuge oder Atomkraftwerke, und die kausale Verursachung bzw. das pflichtwidrige
Unterlassen der Verhinderung. Für das allgemeine Schadensrecht und das Strafrecht
wird dagegen Vorsatz oder Fahrlässigkeit erwartet.2 Auch für die Moral gilt dies, denn
der notwendige Bezug der Moral auf innere Überzeugungen macht es erforderlich, das
handlungsleitende Ziel bzw. die Absicht als drittes und wesentliches Element der Hand-
lung im weiteren Sinn (Kapitel€III, 1) zu berücksichtigen.
Die Schuld durch Pflichtwidrigkeit kann durch Rechtfertigungsgründe, etwa Not-
wehr, oder Entschuldigungsgründe, etwa Schuldunfähigkeit wegen Volltrunkenheit,
ausgeschlossen werden.

c) Schuld als Pflicht aufgrund einer Verantwortung


für eine Pflichtwidrigkeit

Ist eine Schuld als Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit eingetreten, begründet dies
neue Pflichten und damit eine Schuld im Sinne der ersten Begriffsbedeutung. In Be-
tracht kommen etwa: (1) eine Pflicht zur nachträglichen Erfüllung der ursprünglichen
Pflicht, (2) eine Pflicht zur Wiedergutmachung, das heißt zu Rückgabe, Ersetzung oder
Schadensersatz, (3) eine Pflicht zur Entschuldigung. Den spezifischen ethischen Über-
legungen der Schuldbewältigung bzw. der jeweiligen Normenordnung bleibt es überlas-
sen, welche dieser tertiären Pflichten in welcher Reihenfolge und Ausgestaltung sie an
die Pflichtwidrigkeit knüpft.3

2 Vgl. § 15 Strafgesetzbuch: Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges
Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht.
3 Vgl. etwa zu einem wichtigen Teilaspekt: Lukas Meyer, Historische Gerechtigkeit, Berlin 2005.
356 XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit

2. Gerechtigkeit

Wir gehen davon aus, dass Charaktere, Handlungen, Normen und Institutionen von
Menschen gerecht oder ungerecht sein können. Gerechtigkeit ist demnach eine Eigen-
schaft menschlicher Charaktere, Handlungen, Normen und Institutionen, einschließ-
lich beabsichtigter und fahrlässig bewirkter Folgen.4 Aber was unterscheidet dann die
Gerechtigkeit von anderen Eigenschaften etwa des Charakters bzw. der Handlungen wie
Klugheit, Mäßigkeit, Tapferkeit, Rationalität, Zweckmäßigkeit oder Wohlwollen?
Die anderen Eigenschaften des menschlichen Charakters sowie menschlicher Hand-
lungen, Normen und Institutionen können vollständig ohne jeden Bezug zu Anderen
verstanden werden. Wir können etwa in Situationen, die grundsätzlich erst einmal nur
uns selbst betreffen, zum Beispiel im Fall eigener Schmerzen, klug, besonnen oder tap-
fer, nicht aber gerecht handeln. Man kann sich angesichts einer Lawine klug, beson-
nen oder tapfer verhalten, nicht aber gerecht. Und wir können ein funktionsunfähiges
Werkzeug rational und effizient reparieren, nicht aber gerecht. Selbst das Wohlwollen,
das sich im Regelfall auf Andere richtet, können wir ausschließlich auf uns selbst bezie-
hen. Wir wollen dann unser eigenes Wohl.
Die Gerechtigkeit ist dagegen im normalen Verständnis des Begriffs€– dies ist ent-
scheidend, und Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin haben es bereits festge-
stellt5€– immer auf Andere bezogen, das heißt auf andere Wesen, die moralische und ethische
Berücksichtigung verdienen.6 Die Gerechtigkeit ist deshalb immer eine Tugend oder Ei-
genschaft einer Handlung oder Norm im Verhältnis zu Anderen, also eine relationale
Eigenschaft. Institutionen als kollektive Handlungen implizieren notwendig eine solche
oder vergleichbare relationale Eigenschaft.
Ist das Merkmal des notwendigen Bezugs auf Andere für die Gerechtigkeit spezi-
fisch, dann erscheint es zum Verständnis der Gerechtigkeit zuallererst notwendig, dieses
Merkmal, das heißt die grundlegenden Relationen zu Anderen aufzuklären. Relationen
sind nun aber wesentlich, wenn auch nicht ausschließlich, durch ihre Relata charak-
terisiert. Deshalb wird man auch für die Gerechtigkeit zunächst die möglichen Relata
bestimmen müssen. Lässt man einmal im Rahmen einer säkularen Ethik Gott und aus
Gründen der Vereinfachung auch nichtmenschliche Lebewesen außer Betracht, so blei-
ben nur die menschlichen Lebewesen als Relata des relationalen Aspekts der Gerech-
tigkeit übrig. Die grundlegendste Relation lautet dann: A hat Charaktereigenschaften,
führt Handlungen aus oder setzt Normen, die im Verhältnis zu B als gerecht zu bewer-

4 Vgl. zum Folgenden: Verf., On the Structures of Justice and Its Application to Global Justice, in: Hans
G. Ulrichâ•›/â•›Stefan Heuser (Hg.), Political Practices and International Order, Münster 2008, S.€168–183.
Die metaphysische Frage, ob nichtmenschliche Seiende wie Gott€– sofern sie bestehen€– als gerecht oder
ungerecht angesehen werden können, wird hier beiseite gelassen.
5 Platon, Eutyphron 12e6–8; Gorgias 507a10; Aristoteles, Nikomachische Ethik V 3, 1129b25â•›ff.; V, 15,
1138a4â•›ff., Thomas von Aquin, Summa Theologica II–II, qu. 57, 1, 58, 2.
6 Die ethische Frage, welche Wesen neben Menschen moralische und ethische Berücksichtigung verdienen,
wurde im vorigen Kapitel€erörtert. Es ist nicht vollkommen ausgeschlossen, dass neben der Gerechtigkeit
auch andere menschliche Charaktereigenschaften notwendig auf Andere bezogen sind, etwa das Mitleid.
2. Gerechtigkeit 357

ten sind. Für B gilt das Gleiche gegenüber A, so dass man wechselseitige relationale
Eigenschaften feststellen kann:7
A B

Die Tradition spricht insofern von „iustitia generalis“ oder „iustitia universalis“.8
Die Frage nach der Gerechtigkeit ist bis hierher der allgemeinen Frage nach der
Berücksichtigung Anderer in der normativen Ethik äquivalent, allerdings mit vier Be-
schränkungen:
Die Kennzeichnung als „gerecht“ ist erstens eine Wertung und keine Normierung.
Wie bei den anderen Wertungen der Ethik kann aus der Wertung nicht ohne Weiteres
auf die Normierung geschlossen werden.9 Wird also etwa eine Situation als ungerecht
bewertet, so impliziert das noch nicht logisch oder auch nur faktisch notwendig die
Pflicht zu ihrer Veränderung, weil vielleicht eine Herbeiführung der Veränderung nicht
möglich, nicht verhältnismäßig oder ein Verpflichteter nicht bestimmbar ist.
Die Gerechtigkeit umfasst zweitens keine bloßen Fragen des guten Lebens, des
Ethos. Fragen des guten Lebens betreffen Andere nicht in moralischer Hinsicht und
können nicht zu kategorischen Normen führen. Eine Frage des guten Lebens wäre etwa,
ob jemand mit seinem Freund am Nachmittag Tennis spielen will. Das kann kein Pro-
blem der Gerechtigkeit sein, jedenfalls sofern aus der Freundschaft keine solche Pflicht
zu einer Gefälligkeit entstanden ist.
Die Gerechtigkeit schließt drittens keine Pflichten gegen sich selbst ein. Auch wenn
man also entgegen der Ergebnisse des Kapitels VIII derartige Pflichten gegen sich selbst
annehmen würde, wären sie in jedem Fall nicht Teil der Gerechtigkeit.10
Die Gerechtigkeit umfasst schließlich viertens keine supererogatorischen Handlun-
gen. Supererogatorische Handlungen mögen moralisch und ethisch gut sein. Sie lassen
sich aber nicht als gerecht bezeichnen.
Vermutlich wegen dieser Beschränkungen gewinnt der Begriff der Gerechtigkeit im
einfachen, individualethischen Verhältnis keine besondere Bedeutung. Verletzt etwa A
den B ohne Grund, so kann man zwar sagen, A habe B ungerecht behandelt. Aber man
wird doch eher von einem moralisch schlechten, unmoralischen oder unethischen Ver-

7 Man könnte das berühmte Fragment des Anaximander, das von Simplicius überliefert wurde, als erste
Erwähnung der intersubjektiven Gerechtigkeit ansehen. Vgl.â•›G.â•›S.€Kirkâ•›/â•›J.â•›E. Ravenâ•›/â•›M. Schofield, The
Presocratic Philosophers, 2.€Aufl. Cambridge 1983, S.€117–119. Allerdings beschränkt sich das Fragment
nicht auf Individuen und hat nicht nur einen ethischen, sondern einen weiter gehenden metaphysischen
und ontologischen Sinn. Klare Erwähnungen sind Platon, Eutyphron 11e5â•›ff.; ders., Politeia 331c2â•›ff.
8 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1130b6â•›ff.; Thomas von Aquin, Summa Theologica II–II, qu. 58, 6, 7:
„iustitia generalis“. Thomas von Aquin, Commentary on Aristotle’s Nicomachean Ethics, übersetzt von
C.╛I. Litzinger, Indiana 1993, S.€284╛ff.
9 Vgl. ausführlich dazu: Verf., Deskription, Evaluation, Präskription, S.€280â•›ff.
10 Es gibt zwar im Deutschen den Ausdruck der „Selbstgerechtigkeit“. Aber dieser Ausdruck bezieht sich
zum einen auf Andere und hat zum anderen nur eine übertragene Bedeutung, richtet sich also nicht auf
die Gerechtigkeit im genuinen Sinn. Der vergleichbare englische Terminus „self-righteous“ zeigt dies
deutlicher.
358 XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit

halten oder eben von einer „Verletzung“ sprechen. Stärkere Bedeutung erlangt der Ge-
rechtigkeitsbegriff erst in einem engeren Verständnis, also als Gerechtigkeit im engeren
Sinn, und zwar wenn das Ideal der Gleichheit hinzutritt.11 Dafür sind zwei prinzipielle
Alternativen denkbar:

(1) Die jeweiligen Relationen zwischen A und B können miteinander verglichen wer-
den. Man kann also nicht nur isoliert fragen, ob A den B und ob B den A richtig
behandelt hat, sondern auch, ob die wechselseitigen Behandlungen von A und B dem
Ideal der Gleichheit genügen. Dabei können die jeweils isolierten Behandlungen des
B durch A und umgekehrt moralisch und ethisch einwandfrei sein, während sie im
Vergleich zueinander als ungerecht bewertet würden. A kann B etwa außerordentlich
zuvorkommend behandeln, während B A nur normal behandelt. Das Handeln beider
gegenüber dem jeweils Anderen ist isoliert moralisch und ethisch erlaubt. A handelt
hier supererogatorisch, während B das Pflichtgemäße tut. Aber die Relation zwischen
beiden Handlungen kann im Hinblick auf das Ideal der Gleichheit als ungerecht an-
gesehen werden. B hat durch die außerÂ�ordentlich zuvorkommende Handlung des A
einen Vorteil erlangt. Nun wird man diesen Vorteil noch nicht als ungerecht ansehen,
wenn beide Handlungen nicht aufeinander bezogen sind. Es steht A frei, den B nur
normal zuvorkommend zu behandeln und nichts Überpflichtgemäßes zu tun. Sind aber
beide Handlungen aufeinander bezogen, so entsteht ein wechselseitiges Austauschver-
hältnis. A handelt, weil B handelt, und umgekehrt. Ist dies der Fall, dann ergibt sich
die Erwartung der Gleichheit, denn niemand hat eine Rechtfertigung, ohne weiteren
Grund einen Vorteil aus diesem Tauschverhältnis zu ziehen. Tauschen also A und B be-
wusst Höflichkeiten aus, so werden sie die berechtigte Erwartung der Gleichbehandlung
entwickeln, wenn kein weiterer Grund vorliegt. Der Tausch kann sich dabei auf alle
möglichen Handlungen und Güter beziehen. Diese elementare Form der Gerechtigkeit
im engeren Sinn zwischen zwei Personen ist diejenige der wechselseitigen Tauschgerech-
tigkeit.12 Sie ist nicht auf den Tausch von Gütern beschränkt:13

A B

11 Die zentrale Bestimmung der Gerechtigkeit im engeren Sinn durch das Ideal der Gleichheit ist immer
wieder betont worden. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 1129a26â•›ff., und Stefan Gosepath,
Gleiche Gerechtigkeit, S.€108╛ff.
12 Peter Koller, Internationale Ordnung und globale Gerechtigkeit, in: Information Philosophie März 2009,
S.€8â•›ff., plädiert für vier Arten der Gerechtigkeit, die er ohne Hierarchisierung in folgender Reihenfolge
aufführt: Tauschgerechtigkeit, Politische Gerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Korrektive Gerechtigkeit.
13 Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit, S.€85â•›ff., sieht dagegen die Verteilungsgerechtigkeit als primär
an. Die Tauschgerechtigkeit sei nur sekundär und diene lediglich der Aufrechterhaltung bzw. Wiederher-
stellung eines Zustandes, dessen anfängliche Herstellung ein Gebot des Prinzips der Verteilungsgerechtig-
keit war. Aber unser Beispiel zeigt, dass dies allenfalls für die spezifische Situation einer Güterverteilung
innerhalb einer Gesellschaft gelten kann, nicht aber allgemein für Handlungen und nicht für Mitglieder
unterschiedlicher Gesellschaften.
2. Gerechtigkeit 359

Um die Darstellung zu vereinfachen, wird diese Verbindung der beiden wechselseiti-


gen Relationen zwischen A und B in einem Tauschverhältnis mit einem Doppelpfeil
gekennzeichnet:
A B

(2) Zu den zwei Personen A und B kann aber auch noch ein dritter, handlungs- und be-
rücksichtigungsrelevanter Pol hinzutreten. Dafür gibt es wiederum zwei Möglichkeiten.
Es kann sich bei diesem dritten Pol zum einen um eine dritte Person C und zum andern
um die schon beteiligten A und B in Form einer Gemeinschaft handeln.
A + B oder C

A B
Allerdings genügt in dieser zweiten Alternative das bloße Hinzutreten des dritten Pols
noch nicht. Die Gerechtigkeit im engeren Sinn steht vielmehr nur in Rede, wenn ein
Gesichtspunkt ins Blickfeld rückt, der sich nur in derartigen Drei- und Mehrpersonen-
verhältnissen überhaupt ausprägen kann: die Frage der Gleichheit oder Ungleichheit
mit Bezug auf eine der drei Personen, die man als Gerechtigkeitspol bezeichnen kann,
also C (oder A oder B) oder die Gemeinschaft von A und B. Der Gesichtspunkt der
Gleichheit bzw. der Ungleichheit führt dazu, dass die Relationen von A und B im Ver-
hältnis zum Gerechtigkeitspol C oder A+B eine spezifische Gerechtigkeitsdimension
gewinnen, dass also ein Aspekt der Gleichheit zur normalen moralischen bzw. ethischen
Relation und der Relation der Tauschgerechtigkeit hinzutritt:
A+B/C

(2) (2)

A B
(1)
360 XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit

Möglich ist dabei die Gleich- oder Ungleichheit zum Ersten im Hinblick auf die Berück-
sichtigung, also die Gleich- oder Ungleichberücksichtigung, zum Zweiten mit Bezug auf
die Handlung, also die Gleich- oder Ungleichbehandlung, und drittens mit Bezug auf die
Betroffenen und das Ergebnis der Handlung, also die Gleich- oder Ungleichstellung.
Dabei ist der spezifische Aspekt der Gerechtigkeit in derartigen individualethischen
Verhältnissen nicht permanent auf C gegenüber A und B festgelegt, sondern kann na-
türlich in anderen Situationen auch bei A gegenüber B und C oder bei B gegenüber A
und C liegen. Ein Beispiel: Laden A, B und C einander wechselseitig zu selbstgemach-
tem Kuchen ein, so stellt sich reihum für den jeweiligen Gastgeber neben den normalen
Verpflichtungen zur moralischen und ethischen Behandlung der Anderen die Frage der
Gleich- oder Ungleichverteilung der Kuchenstücke.
Die Tatsache, dass einem Pol, in unserem Beispiel A+B oder C, als Gerechtigkeitspol
eine besondere Bedeutung zukommt, führt zu einer weiteren wichtigen Konsequenz:
Die Relationen zwischen dem Gerechtigkeitspol A+B oder C und den anderen Personen
A und B sind asymmetrisch. A und B können etwa ganz unterschiedlich zu ihrer Ge-
meinschaft A+B beitragen oder dem C ganz divergente Geschenke mitbringen und ihn
insofern ungleich bzw. ungerecht behandeln. Das ist die beitragende Gerechtigkeit oder
Beitragsgerechtigkeit (2). Diese Verpflichtung kann aber auch die umgekehrte Richtung
annehmen. A+B bzw. C sind etwa aufgefordert, A und B gleich zu behandeln. Das ist
die verteilende Gerechtigkeit oder Verteilungsgerechtigkeit (3).
Man muss die jeweils bestehende Asymmetrie zum Gerechtigkeitspol je nach der in
Frage stehenden Handlungsrichtung dann auch graphisch aufspalten:

A+B/C

(2) (3) (3) (2)

A B
(1)

In einem speziellen Fall erfordert die mögliche Vereinigung der beiden Relationen von
A+B bzw. C zu A und von A+B bzw. C zu B aber noch eine besondere Beachtung: wenn
sich das Handeln von A+B bzw. C direkt auf das Tauschverhältnis (1) zwischen A und B
bezieht. Diese Bezugnahme beschränkt sich nun nicht nur auf das Verhältnis zwischen
A und B im Sinne der Gerechtigkeit im engeren Sinn der Tauschgerechtigkeit, sondern
kann sich auf alles Handeln beziehen, also auch Handeln im Sinne der Gerechtigkeit
im weiteren Sinn, das heißt die einzelnen wechselseitigen Relationen zwischen A und B,
2. Gerechtigkeit 361

bevor sie unter dem Gesichtspunkt der Tauschgerechtigkeit zusammengefasst werden.


Man spricht insofern von korrigierender Gerechtigkeit oder Korrekturgerechtigkeit (4):

A+B/C

(2) (3) (3) (2)

(4)

A B
(1)

In Anlehnung an Platon und Aristoteles kann man diese Relationen der Gerechtigkeit
im engeren Sinn, die allerdings regelmäßig mit Bezug auf Gemeinschaften als Gerech-
tigkeitspol entfaltet wurden, wie folgt systematisieren:14
(1) Hinsichtlich der Austauschrelation bzw. der Tauschgerechtigkeit spricht die Tradi-
tion von der „iustitia commutativa“.
(2) Die Relationen der einzelnen Menschen A und B zum Gerechtigkeitspol A+B
oder C finden sich€– mit Bezug auf die politische Gemeinschaft€– bereits bei Platon.15
Sie wurden im Mittelalter „iustitia legalis“ genannt.16 Besser erscheint wie gerade er-
wähnt „beitragende Gerechtigkeit“ oder „Beitragsgerechtigkeit“, weil nicht nur die Befol-
gung von Gesetzen verlangt wird, sondern ein Beitrag.
(3) Die Relation des Gerechtigkeitspols A+B bzw. C zu den einzelnen Menschen
A und B, die nicht als Gerechtigkeitspol angesehen werden, wird ebenfalls bereits bei
Platon erwähnt,17 wurde aber vor allem von Aristoteles sorgfältig entwickelt.18 Sie wurde
traditionell „iustitia distributiva“ genannt.19 Die deutsche Übersetzung lautet „verteilen-
de Gerechtigkeit“ oder „Verteilungsgerechtigkeit“.

14 Dabei kann keine als vorrangig gekennzeichnet werden. Otfried Höffe, Den Staat braucht selbst ein
Volk von Teufeln. Philosophische Versuche zur Rechts- und Staatsethik, Stuttgart 1988, S.€56, und ders.,
Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt a.â•›M.
1987, S.€382â•›ff., plädiert dagegen für einen Vorrang der Tauschgerechtigkeit.
15 Platon, Charmides 161b5â•›ff.; Politeia 370a4; 433a1â•›ff.; Neunter Brief; Alkibiades I 127a14â•›ff.; Aristoteles,
Nikomachische Ethik, V 2, 1129a33â•›ff.
16 Thomas von Aquin, Summa Theologica II–II, qu. 58, 6, 9 ad tertium; ders., Commentary on Aristotle’s
Nicomachean Ethics, S.€293╛ff.
17 Platon, Politeia 433e12â•›ff.
18 Aristoteles, Nikomachische Ethik V 5, 1130b33â•›ff.
19 Thomas von Aquin, Summa Theologica II–II, qu. 61, 1â•›ff.; ders., Commentary on Aristotle’s Â�Nicomachean
Ethics, S. 284â•›ff.
362 XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit

(4) Die Relation des Gerechtigkeitspols zu der Beziehung zwischen mindestens zwei
einzelnen Menschen wurde „iustitia correctiva“ oder „iustitia commutativa“ genannt.
Der weitere Name „iustitia correctiva“ (korrigierende Gerechtigkeit oder Korrekturgerech-
tigkeit) verdient den Vorzug, weil zum einen nicht immer ein Tausch stattfindet, da
sich die Korrektur auch auf einfache Handlungen der Gerechtigkeit im weiteren Sinn
beziehen kann und zum anderen sonst die Gefahr der Verwechslung mit der Tauschge-
rechtigkeit im Verhältnis (1) besteht.

Name Handelnder-Betroffener Erste Erwähnungen bei:

(1) kommutative GeÂ�rechtigÂ� Mensch A ←→ Mensch B Anaximander, Sokrates,


keit, Tauschgerechtigkeit Platon, Aristoteles
(iustitia commutativa)
(2) beitragende Gerechtig- Menschen A, B → Gerechtig- Platon,€(Aristoteles),
keit, Beitragsgerechtig- keitspol A+Bâ•›/â•›C Thomas von Aquin
keit (iustitia legalis)

(3) verteilende Gerechtig- Gerechtigkeitspol A+Bâ•›/â•›C → (Platon), Aristoteles


keit, Verteilungsgerech- Menschen A und B
tigkeit (iustitia distri-
butiva)
(4) korriÂ�gierende Gerechtig- Gerechtigkeitspol A+Bâ•›/â•›C → (Platon), Aristoteles
keit, Korrekturgerechtig- Mensch A€– Mensch B
keit (iustitia correctiva),
(auch: iustitia commu��
tativa)

Mit Bezug auf jede dieser vier Strukturbestimmungen der Gerechtigkeit muss dann für
konkrete Konflikte entschieden werden, wie die Abwägung der Belange der Betroffenen
gemäß den oben entfalteten fünf Elementen der normativ-individualistischen Ethik er-
folgen soll. Das heißt, die hier dargestellten formalen Gerechtigkeitsrelationen müssen
material konkretisiert werden. Für die Gerechtigkeit in Gemeinschaften erfolgt eine
weitere formale Konkretisierung in Kapitel€XV, 3. Für politische Gemeinschaften kann
man noch eine spezifische fünfte Form der politischen Gerechtigkeit der Herrschaftsver-
hältnisse hinzufügen, etwa im Hinblick auf das Verfolgen legitimer Zwecke und die
Unparteilichkeit der Herrscher.20

20 Peter Koller, Internationale Ordnung und globale Gerechtigkeit, S.€10.


3. Verantwortung 363

3. Verantwortung

Der Begriff der Verantwortung hat wenigstens zwei wesentliche Bedeutungen:21 Nach
einer weiteren Bedeutung umfasst er die Gesamtmenge der ethischen und sonstigen primä-
ren Pflichten.22 Die Frage nach der Verantwortung wäre danach nichts anderes als die
allgemeine Frage der normativen Ethik, wie sie etwa in diesem Buch behandelt wurde.
Nach einer engeren Bedeutung ist dagegen mit dem Begriff der Verantwortung nur eine
Teilmenge nicht abstrakt konkretisierbarer oder konkretisierter Pflichten aus dieser Gesamt-
menge der ethischen und sonstigen primären Pflichten gemeint.23 Die Verwendung des
Verantwortungsbegriffs im Alltag scheint eher der zweiten Alternative zuzuneigen. Wir
unterscheiden etwa genau, ob wir einem Lehrer konkrete Pflichten oder die allgemei-
ne Verantwortung gegenüber seinen Schülern zuschreiben. Im Übrigen erscheint ein
synonymer Begriff für den allgemeinen Begriff der Pflicht nicht erforderlich. Deshalb
wird hier der engere Verantwortungsbegriff im Sinn einer Teilmenge des weiteren Ver-
antwortungsbegriffs zugrunde gelegt. Verantwortung in diesem engeren Sinn meint also
Pflichten, die nicht abstrakt konkretisiert oder konkretisierbar sind.
Die Verantwortungs�zuschreibung ist eine dreistellige Relation zwischen erstens
einem Verantwortlichen bzw. Verantwortungssubjekt, also einem einsichtsfähig, ethisch
bzw. primär-normativ Handelnden, zweitens einer Verantwortungsinstanz, also nach
der normativ-individualistischen Ethik letztlich einem anderen ethisch zu berücksich-
tigenden Individuum, und drittens einem Verantwortungsobjekt, also einem seienden
Ding, einem Individuum, einer Handlung oder einem Zustand, für welche der Verant-
wortliche die Verantwortung trägt.24 Verantwortungsinstanz und Verantwortungsobjekt
können ein und dasselbe Individuum sein. Der Verantwortliche kann zur Übernahme
der Verantwortung verpflichtet sein, etwa die Eltern für ihre Kinder, oder sie freiwillig
übernehmen, etwa der Wachmann durch Unterzeichnung des Arbeitsvertrags für die
Sicherheit des Werksgeländes.
Was ist mit der Übernahme von Verantwortung genauer gemeint? Die Formulierung
konkreter Handlungspflichten kann in bestimmten Fällen unmöglich oder zumindest
unzweckmäßig sein. So ist es oft faktisch unmöglich, konkrete Zwecke anzugeben, oder
zwar konkrete Zwecke, nicht aber konkrete Mittel für eine Handlung, etwa im Verhältnis
zu anonymen Anderen, zum Beispiel der Weltbevölkerung oder zukünftigen Genera-
tionen. Auch der spezifische Normtyp der abstrakten Regelung kann verhindern, dass
konkrete Handlungen bzw. Zwecke oder Mittel normiert werden können. Es ist etwa

21 Weitere Bedeutungen wären eine retrospektive Schuldzuweisung, wenn jemand wegen seines Handelns
„zur Verantwortung gezogen wird“ und die Beschränkung auf eine konsequentialistische Ethik, wenn der
„Gesinnungsethik“ die „Verantwortungsethik“ entgegengestellt wird.
22 Vgl. zu einem solchen Verständnis: Otto Neumeier, Moralische Verantwortung. Beiträge zur Analyse
eines ethischen Begriffs, Paderborn u.â•›a. 2008, S.€104, 172, 105–172.
23 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frank-
furt a.â•›M. 1984, S.€56â•›ff., verbindet damit eine Beschränkung auf die Wirkungen, also eine konsequentia-
listische Ethik.
24 Vgl. zu dieser dreifachen Relationalität mit etwas anderen Bezeichnungen: Otto Neumeier, Moralische
Verantwortung, S.€175╛ff.
364 XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit

notwendig, die Eltern zur allgemeinen Förderung des Kindeswohls zu verpflichten, also
eine umfassende Verantwortung für das Kind zu statuieren. Angesichts der Komplexi-
tät des Eltern-Kind-Verhältnisses wäre es aber unmöglich, alle spezifischen Pflichten zur
Konkretisierung dieser Verantwortung im Einzelnen zu spezifizieren. Häufig ist es auch
einfach besser, einem Handelnden nur abstrakte Ziele zugunsten eines Verantwortungs-
objekts vorzugeben, ihm aber die Wahl der konkreten Zwecke und Mittel zur Erreichung
dieser Ziele zu überlassen. Zum einen kann dies effizienter sein, weil der Verpflichtete
die erforderlichen konkreten Zwecke und Mittel besser kennt. Zum anderen kommt
ein derartiger Verzicht auf die Normierung konkreter Zwecke und Mittel der Autono-
mie des Verpflichteten eher entgegen und ist deshalb auch ethisch gefordert. Die bloße
Verpflichtung zur Verantwortung ist also „autonomie-schonender“ als die Verpflichtung
zu konkreten Handlungen. Der normative Individualismus fordert deshalb, dort, wo es
möglich ist, nur zu abstrakten Zielen, nicht aber zu konkreten Zwecken und Mitteln
zu verpflichten. Ein wesentlicher Aspekt des Verantwortungsbegriffs setzt also an der
grundsätzlichen handlungsÂ�theoreÂ�tiÂ�schen Unterscheidung von abstrakten Zielen, konkre-
ten Zwecken und Mitteln an. Während Pflichten, sollen sie erfolgreich zu Handlungen
anleiten, im Regelfall auch konkrete Zwecke und Mittel benennen müssen, kann die
Zuschreibung von Verantwortung darauf verzichten und sich auf die Angabe abstrakter
Ziele beschränken oder sogar mit der bloßen Pflicht zur Verantwortung gegenÂ�über einem
Individuum, einer Handlung oder einem Zustand nur ein einziges abstraktes Ziel setzen:
die Förderung dieses Individuums, dieser Handlung oder dieses Zustands.

4. Verhältnismäßigkeit

Ebenfalls an der handlungstheoretisch grundlegenden Unterscheidung von Zielen und


Mitteln setzt eine Verpflichtung an, die als Konkretisierung der Pflicht zur Abwägung
aller Belange insbesondere im Recht mit seinen vielen sehr abstrakten Regelungen eine
große Rolle spielt: das Gebot der Verhältnismäßigkeit.25 Eine Handlung kann nur
ethisch, moralisch und rechtlich zulässig sein, wenn sie erstens ein legitimes Ziel verfolgt,
zweitens das Mittel zur Erreichung dieses Ziels geeignet sowie drittens erforderlich ist,
das heißt für alle Betroffenen das mildeste unter den gleichermaßen geeigneten Mitteln,
und viertens zum angestrebten Ziel nicht außer Verhältnis steht, also nicht unangemessen
bzw. unverhältnismäßig im engeren Sinne ist. Wann ein Ziel legitim, ein Mittel erfor-
derlich sowie angemessen ist, sind selbstredend Wertungen. Diese Wertungen stellen
Konkretisierungen der allgemeinen ethischen bzw. moralischen und rechtlichen Ab-
wägung dar. So wäre etwa ein Mittel dann ohne Zweifel unangemessen, wenn es ein
Interesse der Individualzone, also etwa Leib und Leben, zur Sicherung eines Interesses
der Relativzone, also etwa eines Sachguts, opferte.

25 Vgl. in der Literatur grundlegend: Peter Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht. Zur Bindung des Ge-
setzgebers an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit, Köln 1961; Lothar Hirsch-
berg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Göttingen 1981; Rainer Dechsling, Das Verhältnismäßig-
keitsgebot, München 1989.
XV. Individualethik
und Sozialethik

Eine zentrale Unterscheidung in der Ethik, die schon den Übergang zur Angewand-
ten Ethik markiert, ist diejenige zwischen der Individualethik und der Sozialethik. Sie
beruht auf einer Eigenschaft des Handelnden. Die Individualethik bezieht sich auf
die Normierung von Handlungen und Entscheidungen des Akteurs für sich selbst, das
heißt im eigenen Namen die Sozialethik auf die Normierung von Handlungen und Ent-
scheidungen des Akteurs in Vertretung einer Gemeinschaft. Der Unterschied zwischen
Individualethik und Sozialethik liegt also nicht darin, dass einer oder mehrere Akteure
handeln. Das können sie sowohl für sich selbst als auch für eine Gemeinschaft. Der
Unterschied liegt vielmehr in der Zuschreibung der Handlung zu einem bestimmten
Urheber, also darin, ob der einzelne Akteur bzw. die Mehrzahl von Akteuren im ein-
zelnen Fall für sich selbst handeln oder mit ihrem Handeln eine Gemeinschaft reprä-
sentieren.
Die Sozialethik umfasst die Ethik politischer Gemeinschaften, also die Ethik der
Nationen, Staaten, Länder, Kommunen und internationalen Beziehungen (politische
Ethik), und die Ethik nicht�politischer Gemeinschaften, also die Ethik der Familien,
Vereine, Kirchen, Unternehmen, Verbände (Sozialethik im engeren Sinn). Da die Un-
terscheidung zwischen Individualethik und Sozialethik auf einer Eigenschaft der Han-
delnden beruht, ist sie im Prinzip von der in der Einleitung erwähnten, auf Eigen-
schaften des Regelungstyps fußenden Unterscheidung zwischen Moral, Recht, Religion,
Erziehung usw. unabhängig. Allerdings bevorzugen viele Gemeinschaften heute in der
Praxis für ihre wichtigsten Entscheidungen den Regelungstyp des Rechts, so dass die
Rechtsethik einen großen Teil der Normierungen der politischen und nichtÂ�Â�politischen
Gemeinschaften umfasst. Die Schnittmenge zwischen Sozialethik und Rechtsethik ist
also groß.
Politische Gemeinschaften unterscheiden sich von anderen Gemeinschaften da-
durch, dass sie für sich eine Kompetenz der Letztentscheidung mit relativer Aussicht
auf Erfolg in Anspruch nehmen. Das bedeutet nicht, dass politische Gemeinschaften
immer und in allen Fragen die letzte Entscheidung treffen. Aber sie beanspruchen
die Möglichkeit, jede Entscheidung an sich zu ziehen. So überlassen etwa moderne
marktwirtschaftliche Staaten die Entscheidung, welche Güter importiert und expor-
tiert werden, im Wesentlichen ihren Bürgern und Unternehmen. Aber sie behalten
sich vor, aus Gründen des Gemeinwohls den Import oder Export bestimmter Güter zu
unterbinden, etwa in Deutschland den Import gefährdeter Tierarten oder den Export
von Waffen.
366 XV. Individualethik und Sozialethik

1. Der zentrale Unterschied:


Gemeinschaft und Repräsentation

Liegt der Unterschied zwischen Individualethik und Sozialethik nicht darin, dass einer
oder mehrere Akteure handeln, sondern in der Zuschreibung der Handlung zu einem
bestimmten Urheber, also darin, ob der einzelne Akteur bzw. die Mehrzahl von Akteu-
ren im einzelnen Fall für sich selbst handeln oder mit ihrem Handeln eine Gemeinschaft
vertreten, so stellt sich die Frage, was Vertretung (Repräsentation) genauer heißt. Na-
türlicherweise wird die Handlung eines Akteurs als Handlung für sich selbst angesehen.
Hebt etwa jemand die Hand, so will er im Normalfall nach etwas greifen, sich strecken
oder jemanden grüßen. Die Handlung ist aus einer natürlichen Perspektive seine eigene,
denn er ist es, der etwas greift, sich streckt oder jemanden grüßt. Entsprechend wird die
sie bestimmende Normierung oder Überzeugung von der Individualethik beurteilt. Das
Heben der Hand wird nur dann zum Votum der Mitglieder im Vorstand eines Vereins
oder zum Abstimmungsakt des Regierungschefs eines Staates auf einer Konferenz, wenn
bestimmte Zuschreibungen es dazu erklären. Sie regeln etwa die Wahl einer Person zum
Vorstandsmitglied oder Regierungschef und normieren dann, wann sein Handeln als
Handeln der Gemeinschaft gilt.
Jenseits einfacher, aus lose interagierenden Individuen bestehender Gemeinschaften
wie Gesprächskreisen, Bands oder Fahrgemeinschaften stoßen wir also auf Gemein-
schaften mit kollektiver Handlungsfähigkeit. Die Voraussetzung dieser kollektiven
Handlungsfähigkeit ist eine Form von Vertretung der einzelnen Mitglieder, wobei „Ver-
tretung“ weit zu verstehen ist, also „Vertretung im Handeln“ und damit auch „Vertre-
tung im Wollen“ meint, nicht aber „Vertretung in den Belangen und Interessen“: Wir
gehen davon aus, dass repräsentierendes Handeln der Gemeinschaft die Entscheidun-
gen der Mitglieder der Gemeinschaft bewusst und gewollt ersetzt. Repräsentation soll
hier also verstanden werden als die sozial zugerechnete Ersetzung unserer Handlungen als
individuell handelnder Individuen durch die Gemeinschaft.
Der Begriff der Repräsentation enthält zwei Momente, ein faktisch-naÂ�türÂ�liÂ�ches und
ein sozial-konstruktives: die faktische Handlungs- bzw. Entscheidungsersetzung und die
soziale Zurechnung. Letztere findet sich bereits bei Max Weber.1 Allerdings erhebt We-
ber die Repräsentation zum einen nicht zum notwendigen Merkmal von Gemeinschaf-
ten wie der politischen Gemeinschaft. Er spricht zum anderen nur von einer möglichen
Repräsentation der bereits etablierten Gemeinschaft durch organschaftliche Repräsen-
tanten wie den Monarchen oder das Parlament.
Dies lenkt den Blick auf das Neuartige des soeben vorgestellten Repräsentationsbe-
griffs. Es soll zunächst zum besseren Verständnis am Spezialfall der politischen Gemein-
schaft verdeutlicht werden: Repräsentation meint zunächst und vor allem die primäre
Repräsentation der Bürger durch die politische Gemeinschaft. Die Vertretung der durch

1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5.€ Aufl. Tübingen
1985, I, § 11, S.€25; III, § 21, S.€171â•›ff.
1. Der zentrale Unterschied: Gemeinschaft und Repräsentation 367

die primäre Repräsentation konstituierten politischen Gemeinschaft durch bestimmte


einzelne Organe ist davon als bloß sekundäre Repräsentation strikt zu unterscheiden.
Das konstitutive Moment der kollektiv handlungsfähigen Gemeinschaft liegt in der
primären Repräsentation. Die sekundäre Repräsentation ist dann nur eine bestimmte
Art und Weise, diese Handlungsfähigkeit praktisch werden zu lassen. Das bedeutet:
Die sekundäre Repräsentation der Gemeinschaft durch ihre Organe setzt die primäre
Repräsentation der Mitglieder durch die Gemeinschaft voraus, nicht aber umgekehrt,
denn es kann ja direkt-demokratische Systeme geben.
Die Repräsentation der politischen Gemeinschaft durch einzelne Organe oder
Â�Politiker ist also nur Repräsentation in einem sekundären Sinne. Der Begriff der „Re-
präsentation“ wird hier demnach nicht wie in der weithin üblichen Unterscheidung in
direkte und repräsentative Demokratie verstanden. Im Rahmen dieser Unterscheidung
schrumpft der Repräsentationsbegriff zum bloßen Alternativmechanismus demokrati-
scher Willensbildung. Dies birgt die Gefahr, die GrundÂ�struktur des Phänomens Politik
zu verschleiern. Denn nicht nur die repräsentative Demokratie ist repräsentativ. Auch
die direkte Demokratie ist es€– ja jede Form politischer Herrschaft, selbst die Dikta-
tur.
Auch ein Diktator bezieht sich im Rahmen der sekundären Repräsentation seines
Volkes bzw. seiner politischen Gemeinschaft auf die primäre Repräsentation der einzel-
nen Menschen durch die politische Gemeinschaft. Er repräsentiert als sekundärer Re-
präsentant der Gruppe von Menschen, die er beherrscht, auch in einem primären Sinne
die einzelnen Menschen, weil er ihre Entscheidungen ersetzt, einschränkt oder ergänzt.
Hitlers Entscheidungen muss man deshalb€– auch wenn sich alles in einem dagegen
sträubt€– aus einer deskriptiv-interÂ�preÂ�tatorischen Perspektive als politische Repräsen-
tation der Deutschen jener Zeit ansehen. Hitler wollte das deutsche Volk und damit
jeden einzelnen Deutschen repräsentieren. Eine Mehrheit hat dies wohl zumindest für
einen gewissen Zeitraum akzeptiert. Allerdings ist mit dieser faktischen Repräsentati-
on im Handeln und Wollen natürlich keine legitime, normativ-rechtfertigende Reprä-
sentation in den Belangen und Interessen impliziert. Jegliche faktische ReÂ�präsentation
muss klar von einer etwaigen legalen oder gar ethisch legitimen Repräsentation unter-
schieden werden. Das bedeutet: Auch wenn man zugestehen muss, dass die Entschei-
dung eines Diktators wie Hitler die ihm unter�wor�fe�nen Menschen faktisch in doppelter
Form sekundär und mittelbar dann auch primär repräsentiert hat, war diese Repräsen-
tation deshalb noch lange nicht legal,2 das heißt den Gesetzen gehorchend, oder gar
ethisch legitim, das heißt gerecht und damit gerechtfertigt. Ein großer Teil der politi-
schen Entscheidungen in Ge�schichte und Gegenwart war illegal und illegitim. Trotz-
dem wird man nicht umhin können, ihren repräsentativen Charakter anzuerkennen.
Man muss vielmehr noch einen Schritt weitergehen: Man muss sich verdeutlichen, dass
erst die Qualifikation einer Entscheidung als faktisch repräsentierend die Frage nach

2 Vgl. zur zweifelhaften Legalität der Machtergreifung Hitlers: Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, 2.€Aufl.
München 2001, S.€481.
368 XV. Individualethik und Sozialethik

ihrer normativen Legalität und Legitimität in einer gehaltvollen, nichttrivialen Weise


als sozialethische Frage auslöst. Denn gerade die Ersetzung der eigenen Handlung und
des eigenen Wollens durch die Repräsentation macht die Repräsentation gegenüber
dem Repräsentierten nicht nur individual- sondern auch sozialethisch rechtfertigungs-
bedürftig.
Aber was wäre mit einer idealen direkten Demokratie, also einer Demokratie, in
der alle Entscheidungen immer direkt von allen betroffenen Bürgern gefällt werden?
Wäre auch sie als repräsentativ in dem hier erläuterten weiteren Sinn zu qualifizieren?
Man sollte sich klarmachen, dass real existierende direkte Demokratien in Geschichte
und Gegenwart weit hinter dem Idealbild einer permanenten und vollständigen di-
rekten Demokratie zurückgeblieben sind und zurückbleiben. Auch in der attischen
Demokratie wurde nur ein Teil der politischen Entscheidungen von „allen“ Bürgern
getroffen, wobei es sich nur um die männliche Bevölkerung unter Ausschluss bestimm-
ter Bewohner wie der Metöken handelte. Die Ausführung lag in den Händen von se-
kundär repräsentierenden politischen Organen. Ähnliches gilt in der Gegenwart für
die Schweiz. Aber selbst wenn eine permanente und vollständige direkte Demokratie
realisierbar wäre, hätte die politische Entscheidung aller versammelten Bürger eben-
falls repräsentativen Charakter in einem primären Sinne. Auch wenn im Rahmen einer
derartigen Versammlung jeder Einzelne immer an allen Entscheidungen beteiligt wäre,
wären die Entscheidungen doch andere, als wenn er selbst entschiede. Denn wenn alle
beteiligt sind, kann er nicht wie bei einer einzelnen Entscheidung in jedem Fall seinen
Willen verwirklichen. Die Anderen haben entweder ein Vetorecht oder müssen dem
Einzelnen zumindest die alleinige Entscheidungsgewalt übertragen. Das bedeutet: Jede
kollektive Entscheidung mit Zukunftswirkung repräsentiert die jeweiligen Teilnehmer
in ihren möglichen Einzelentscheidungen. Auch eine fiktive permanente und vollstän-
dige direkte Demokratie wäre demnach in diesem Sinne immer und notwendig primär
repräsentativ, sofern die Entscheidung in irgendeiner Weise normativ fortwirkt, das
heißt eine zeitliche Dimension in die Zukunft hat und damit individuelles Entscheiden
ersetzt.
Politische Organe, welche die politische Gemeinschaft in einem engeren sekundäÂ�
ren Sinne repräsentieren, tun dies in doppelter Weise. Sie repräsentieren zum einen die
politische Gemeinschaft direkt als Ganze (sekundäre Repräsentation) und zum anderen
indirekt deren Repräsentation des Handelns des Einzelnen (primäre Repräsentation).
In der politischen Philosophie gab es häufig Versuche, den repräsentativen Charakter
politischer Entscheidungen zu überwinden und eine Identität zwischen politischem
Entscheider und Volk zu konstruieren, etwa bei Rousseau oder Carl Schmitt.3 Volk
und Herrscher sollten im Idealfall identisch werden. In der reinen Demokratie soll es
nur die Identität des anwesenden Volkes mit sich selbst, aber keine Repräsentation ge-
ben. Das Programm einer derartigen Identität des Volkes mit sich selbst oder von Volk
und Herrscher ist häufig als utopisch qualifiziert worden. Aber diese Qualifikation

3 Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social; Carl Schmitt, Verfassungslehre, 8.€Aufl. Berlin 1993, S.€235╛f.
2. Mitglieder und Nichtmitglieder 369

ist zu schwach, weil sie die Grundstruktur des Politischen und jeder Gemeinschafts-
bildung missachtet. Die Identität des Volks mit sich selbst oder mit dem Herrscher
ist nicht utopisch im Sinne eines „Nichtortes“ der möglichen Realisierung aufgrund
äußerer Umstände. Sie ist selbstwidersprüchlich und deshalb „unpolitisch“, weil sie
die Bedingungsstruktur des Politischen aufhebt. Identisch kann allenfalls der Einzelne
mit sich selbst sein (und selbst dies wird heute in der Philosophie des Geistes bezwei-
felt). Wird er Teil einer kollektiv handelnden und zukunftsbestimmenden Gruppe, so
impliziert das notwendig eine strukturelle Nichtidentität der Gruppe mit ihm selbst
und seinen Entscheidungen als Einzelner und damit eine unaufhebbare Repräsentation
im primären Sinn. Nimmt man dann noch einen repräsentierenden Vertreter hinzu,
so kann dieser wiederum nicht identisch mit den einzelnen Bürgern oder der Ge-
meinschaft sein. Die Identitätslehre leugnet demnach zwei unaufhebbare Repräsenta-
tions- und damit Ersetzungsbeziehungen: die primäre Repräsentation der Mitglieder
durch die Gemeinschaft und die sekundäre Repräsentation der Gemeinschaft durch
ihre Organe.

2. Mitglieder und Nichtmitglieder

Wird eine Gemeinschaft durch das Handeln ihrer Organe repräsentiert, so führt das un-
ter der Annahme, dass nicht alle ethisch zu berücksichtigenden Wesen Mitglieder dieser
Gemeinschaft sind, bei den von diesem Handeln Betroffenen zu einer wesentlichen Diffe-
renzierung. Bei den Betroffenen kann es sich einerseits um Mitglieder oder andererseits um
Nichtmitglieder der Gemeinschaft handeln. Man spricht auch von einem „Innenverhältnis“
und einem „Außenverhältnis“ oder von „Teilnehmern“ und „Nichtteilnehmern“. Bei ei-
nem Verein gibt es etwa Vereinsmitglieder und Nichtmitglieder, bei einem Staat Staatsbür-
ger und Nichtstaatsbürger, wobei diejenigen, die in dem Staat leben, ohne Staatsbürger zu
sein, eine dritte, besonders zu berücksichtigende Gruppe darstellen. Handelt schließlich
die Menschheit als Ganze, etwa wenn sie große Umweltveränderungen bewirkt, so bleiben
immer noch die nichtmenschlichen Lebewesen, die Tiere und Pflanzen, als von diesem
Handeln der Menschheit betroffene Nichtmitglieder. Die Spaltung der Betroffenen jedes
repräsentativen Handelns für eine Gemeinschaft in Mitglieder und Nichtmitglieder hat
eine zentrale Konsequenz: Man muss bei der ethischen Beurteilung einer Handlung klar
zwischen beiden Gruppen unterscheiden.
Die Bewertung der Beeinträchtigung der Nichtmitglieder (seien es Individuen oder
Kollektive), also die Bewertung des Handelns im Außenverhältnis, kann sich dabei nicht
prinzipiell von derjenigen der individuellen Handlung eines Einzelnen unterscheiden.
Für die Beurteilung einer Handlung ist es zum Beispiel nicht wesentlich, ob jemand von
einer einzelnen Person als Privatperson oder als vertretungsberechtigtes Vorstandsmit-
glied eines Vereins betrogen wird. Und es ist nicht entscheidend, ob jemand von einer
einzelnen Person als Privater oder von der Armee eines Staates getötet wird. Die oben
entfalteten Normen der Ethik der Berücksichtigung Anderer gelten insofern prinzipiell
in gleicher Weise, also die Bewertung der Interessen als solche der Individual-, Relativ-
370 XV. Individualethik und Sozialethik

und Sozialzone, die Unterlassens-, Hilfs- und Gemeinschaftspflichten usw. Die einzige
zentrale Differenz besteht in der Frage der Verantwortlichkeit. Steht hinter dem Han-
deln eines Einzelnen eine repräsentierte Gemeinschaft, so sind prinzipiell auch diese
Gemeinschaft und die sie konstituierenden Mitglieder verantwortlich, etwa wenn es um
Schadensersatz für erlittenes Unrecht geht. Ob Gemeinschaften auch wie Einzelperso-
nen bestraft werden können, ist international umstritten. In Deutschland werden nur
die handelnden Menschen bestraft, nicht die Gemeinschaft, also etwa nur die Manager,
welche die Umweltverseuchung oder den Betrug begangen haben, nicht aber das Un-
ternehmen, für das sie tätig waren. Der Grund liegt in der Annahme, dass die Strafe als
gesteigertes Unwerturteil anders als die bloße Geldbuße eine Schuld erfordert. Schuld
setzt aber einsichtsfähiges Handeln voraus. Und nur Menschen können einsichtsfähig
handeln, nicht aber Gemeinschaften, die immer nur durch reÂ�präsentierende Menschen
fiktiv handlungs- und damit einsichtsfähig sind.
Die Bewertung der Beeinträchtigung der Mitglieder einer Gemeinschaft, also die
Bewertung des Handelns im Innenverhältnis, ist dagegen komplizierter, weil die ein-
zelnen betroffenen Individuen als Mitglieder immer beides zugleich sind: Urheber der
Handlung, also Akteur, und Betroffene der Handlung, also Anderer. Sie sind Urheber
der Handlung, weil die Zuschreibung der Repräsentation ja gerade den Sinn hat, das
Handeln des einzelnen Repräsentierenden nicht ihm selbst, sondern der Gemeinschaft
und damit deren Mitgliedern zuzurechnen. Sie sind aber auch Betroffene der Hand-
lung, weil die Vertretung eine völlige Identität von Repräsentant und Repräsentiertem
ausschließt. Jede Vertretung impliziert vielmehr eine Differenz zwischen Vertreter und
Vertretenem. Das bedeutet aber auch, dass zwischen den vom Vertreter repräsentierten
Interessen der Gemeinschaft und den Interessen jedes einzelnen Vertretenen eine Dif-
ferenz auftritt. Das Interesse bzw. das Handeln der Gemeinschaft kann dann aber nur
legitim sein, wenn es sich aus den Interessen der einzelnen Vertretenen ergibt. Aber wie
hat das zu geschehen? Ein erster Schritt zur Beantwortung dieser Frage besteht in einer
Analyse des Begriffs der Gerechtigkeit in Gemeinschaften, und zwar zunächst seiner
Strukturen:

3. Strukturen der Gerechtigkeit


in Gemeinschaften

Ethisches Handeln in Gemeinschaften von mehr als zwei Personen ist im Wesentlichen
eine Frage der Gerechtigkeit, weil es sich immer auf Andere bezieht und immer auch die
Frage nach Gleichheit und Ungleichheit berührt. Die oben in Kapitel€XIV, 2 entfalte-
ten allgemeinen Grundstrukturen der Gerechtigkeit können deshalb als Ausgangspunkt
dienen:
3. Strukturen der Gerechtigkeit in Gemeinschaften 371

Gemeinschaft A + B

(2) (3) (3) (2)

(4)

A B
(1)

Für jede Gemeinschaft muss zunächst entschieden werden, welche Materien von der in-
tersubjektiven Relation (1) auf die Gemeinschaftsrelationen (2–4) übertragen werden.
In der Realität und dort insbesondere in der Politik gibt es eine Vielzahl von Gemein-
schaften. Diese Gemeinschaften können in zwei fundamental verschiedenen Weisen mit-
einander verbunden sein: 1) in einfachen Relationen wie Individuen oder 2) als Teil einer
größeren Gemeinschaft. Die Differenz führt zur iterativen Anwendung entweder bloß der
Gerechtigkeitsrelation (1) zwischen Individuen (5) oder der Gerechtigkeitsrelationen Â�(1–4)
zwischen Individuen und Gemeinschaft (5–8), also entweder einer horizontalen oder einer
vertikalen Extension.

Horizontal erweitertes Modell

Gemeinschaft A + B Gemeinschaft C + D
(5)

(2) (3) (3) (2) (2) (3) (3) (2)

(4) (4)

A B C D
(1) (1)
372 XV. Individualethik und Sozialethik

Vertikal erweitertes Model

Gemeinschaft E zweiter Ordnung

(6) (7) (7) (6)


(8)

Gemeinschaft A + B Gemeinschaft C + D
(5)

(2) (3) (3) (2)

(4)

A B
(1)

Name Handelnder-Betroffener Erste Erwähnungen


bei:

(5) Tauschgerechtigkeit zwischen Gemeinschaft A+B → Grotius, Kant, Rawls


Gemeinschaften �Gemeinschaft C+D
(6) beitragende Gerechtigkeit Gemeinschaft A+B →
einer Gemeinschaft zu �Gemeinschaft zweiter Ord-
einer Gemeinschaft zweiter nung E
Ordnung
(7) distributive Gerechtigkeit Gemeinschaft E zweiter Ord-
einer Gemeinschaft zweiter nung → Gemeinschaft A+B
Ordnung im VerÂ�hältnis zu
einer Gemeinschaft erster
Ordnung
(8) korrigierende GerechtigÂ�keit Gemeinschaft E zweiter Beitz, Pogge, Höffe
einer Gemeinschaft zweiter Ordnung → Gemeinschaft
Ordnung zum Verhältnis A+B€–GemeinÂ�schaft C+D
mehrerer Gemeinschaften
erster Ordnung.
3. Strukturen der Gerechtigkeit in Gemeinschaften 373

Die Verbindung von Gemeinschaften kann theoretisch ohne Grenzen iteriert werden.
Möglich ist so eine ganze Kaskade von Gemeinschaften. Sie findet sich zum Beispiel
in modernen politischen Gemeinschaften. Wir beobachten etwa die Entwicklung zu-
nehmend komplizierter werdender Mehrebenensysteme von Städten und Gemeinden,
Landkreisen, Ländern und Bundesstaaten. Aber sie findet sich auch auf der internatio-
nalen und globalen Ebene.
Dieses Bild ist bereits ziemlich kompliziert. Aber die Realität ist noch komplizierter,
weil die unterschiedlichen Gemeinschaftsebenen nicht impermeabel, das heißt nicht un-
durchdringlich sind. Die Individuen stehen also nicht nur zur Gemeinschaft erster Ord-
nung, sondern auch zur Gemeinschaft zweiter Ordnung in direkter Beziehung. Und das
Gleiche gilt für Gemeinschaften im Verhältnis zu Gemeinschaften höherer Ordnung.
Für ein Zweiebenenmodell ergibt sich dann folgendes Bild:

Zusätzlich erweitertes Model

Gemeinschaft E zweiter Ordnung

(9) (10) (6) (7) (8) (10) (9) (7) (6)

Gemeinschaft A + B Gemeinschaft C + D

(11) (5)

(2) (3) (3) (2)

(4)

A B
(1)
374 XV. Individualethik und Sozialethik

Name Handelnder-Betroffener Erste Erwähnungen


bei:

(9) beitragende Gerechtigkeit Individuum → Gemeinschaft


eines Individuums gegen- zweiter Ordnung
über einer Gemeinschaft
zweiter Ordnung
(10) distributive Gerechtigkeit Gemeinschaft zweiter
der Gemeinschaft zweiter Â�Ordnung → Individuum
Ordnung im Verhältnis zum
Individuum
(11) korrigierende Gerechtigkeit Gemeinschaft zweiter
der Gemeinschaft zweiter Â�Ordnung → mehrere
Ordnung im Verhältnis Â�Individuuen und Gemein-
zu mehreren Individuen schaft erster Ordnung
sowie der Gemeinschaft
erster Ordnung und deren
Gerechtigkeits�re�la�tio�nen
(1–4).

Beide wichtigen Phänomene des Aufbaus komplexerer Ordnungen von Gemeinschaf-


ten€– die Iteration und die Permeabilität€– führen zu einer entscheidenden Konsequenz
für die inhaltliche Frage nach der Gerechtigkeit. Wir müssen uns nicht nur über die
materiale Ausfüllung der Relationen zwischen den Relata Gedanken machen, sondern
auch fragen, wie wir die Iteration und Permeabilität auf höheren Ebenen ausgestalten
wollen, welche dieser Relationen also überhaupt erst geschaffen werden sollen. Wendet
man diese Einsicht etwa auf das Problem der globalen Gerechtigkeit an, so ergeben sich
wenigstens folgende Alternativen:

(1)€ein bloßer Pluralismus der Nationalstaaten (Hegel, Morgenthau, sog. „Realismus“),


Relation (5).4
(2)€eine Entwicklung der Vereinten Nationen und anderer globaler Einrichtungen, um
zu wirksamen Institutionen zu werden, also zu Gemeinschaften zweiter Ordnung,
die auch die Relationen (6–8) umfassen.
(3)€eine Weiterentwicklung der Vereinten Nationen und anderer globaler Einrichtun-
gen, um zu entwickelten Gemeinschaften zweiter Ordnung zu werden, die nicht nur
die Verhältnisse zwischen den Staaten regeln, sondern auch die Relationen zwischen
den einzelnen Staaten und ihren Bürgern (Relationen 9–11).

4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswis-
senschaft im Grundrisse, Werke 7, Frankfurt a.â•›M. 1986, §§ 321â•›ff.; Henry Morgenthau, In Defense of
the National Interest, New York 1951; ders., Politics among Nations. The Struggle for Power and Peace,
5.€Aufl. New York 1977.
3. Strukturen der Gerechtigkeit in Gemeinschaften 375

Auf der globalen Ebene können wir heute einige Aspekte der Ebene zwei feststellen
und auch erste Anzeichen für einen Übergang zur Ebene drei, etwa die humanitäre
Intervention, um die Menschenrechte der Individuen zu schützen, und die Institutio-
nalisierung des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court, ICC)
in Den Haag.
Hier kann keine umfassende materiale Theorie der Gerechtigkeit für Gemeinschaf-
ten erarbeitet werden. Nur einige Andeutungen sind möglich: Nimmt man den norma-
tiven Individualismus und die restlichen oben entfalteten vier Elemente als Ausgangs-
punkt ernst, so ergeben sich in Gemeinschaften folgende Ziele individueller Belange:
Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Rechte, Gemeinwohl, Effizienz.
In den verschiedenen Gerechtigkeitsrelationen scheinen diese Ziele nun unterschiedli-
ches Gewicht zu haben:

Relation╯(1): Freiheit, Gleichheit als Vertragsgleichheit (do ut des), Solidarität als Verbot
schädigenden Handelns, Verpflichtung zur Hilfe, Wiedergutmachung von
Unrecht.
Relation╯(2):€ Freiheit, Gleichheit als Beitragsgleichheit, Solidarität, Effizienz, Gemein-
wohlorientierung, jeder soll das Seine tun.
Relation╯(3): Gleichheit, Effizienz, Solidarität, jedem das Seine.
Relation╯(4):€ Bedingungen von Gemeinschaftshandlungen, materiale Gleichheit, Fair-
ness, Rechte.
Relation (5): Freiheit, Gleichheit als Vertragsgleichheit der Gemeinschaft (do ut des),
Solidarität als Verbot schädigenden Handelns, Verpflichtung zur Hilfe,
Wiedergutmachung von Unrecht.
Relation (6): Freiheit, Gleichheit als Beitragsgleichheit der Gemeinschaft, Solidarität,
Effizienz, Gemeinwohlorientierung, jede Gemeinschaft soll das Ihre tun.
Relation (7): Gleichheit, Effizienz, Solidarität, jeder Gemeinschaft das Ihre.
Relation (8): Bedingungen von Gemeinschaftshandlungen, materiale Gleichheit, Fair-
ness, kollektive Rechte der Gemeinschaften.
Relation (9):€ Freiheit, Gleichheit als Beitragsgleichheit, Solidarität, Effizienz, Gemein-
wohlorientierung, jeder soll das Seine tun.
Relation (10): Gleichheit, Effizienz, Solidarität, jedem das Seine.
Relation (11):€Bedingungen von Gemeinschaftshandlungen, materiale Gleichheit, Fair-
ness, Rechte.

Wenn die internationalen Beziehungen von der Ebene eins, das heißt bloßen zwischen-
staatlichen Beziehungen (Relation 5), zu den Ebenen zwei (Relationen 6–8) und drei
(Relationen 9–11) übergehen, können wir einen entsprechenden Wandel in den mate-
rialen Prinzipien feststellen bzw. rechtfertigen. Wir sehen etwa einen Wechsel von den
Zielen der Freiheit und der Gleichheit als Vertragsgleichheit mit den Verpflichtungen
zur Schadensvermeidung und zur Hilfe bzw. zur Wiedergutmachung hin zum Schutz
materialer Gleichheit, zu Fairness und Rechten. Dieser Wandel erfasst nicht nur die
Staaten, sondern auch die Individuen, wenn die Ebene drei erreicht wird.
376 XV. Individualethik und Sozialethik

Die wesentliche inhaltliche Frage hinsichtlich der Entwicklung von Ebene zwei zu
Ebene drei ist in der Perspektive des normativen Individualismus die folgende: Werden
die Individuen mit ihren Belangen besser geschützt, wenn man auch Kompetenzen des
innerstaatlichen Handelns von globalen Entscheidungen abhängig macht? Diese Frage
kann nicht einheitlich beantwortet werden. Man muss sich vielmehr die verschiede-
nen Bereiche der Politik gesondert ansehen: Fragen der Umwelt und des Naturschut-
zes haben zum Beispiel in vielerlei Hinsicht globalen Charakter, etwa das Problem des
Treibhauseffekts, während kulturelle Fragen im Wesentlichen nationalen oder sogar
regionalen oder kommunalen Charakter haben und auch behalten sollten, will man
keine flache kulturelle Uniformität herbeiführen (Prinzip der Subsidiarität). Fragen der
Sicherheit scheinen zwischen diesen beiden Alternativen zu liegen. Wir erfahren globale
Bedrohungen der Sicherheit wie den internationalen Terrorismus, der global bekämpft
werden muss, und gleichzeitig lokale Herausforderungen wie alltäglichen Rassismus,
dem lokal entgegenzutreten ist.

In der Debatte über die globale Gerechtigkeit gibt es Ansätze, die

(1) ganz auf der Ebene 1 (Relation 5) verbleiben und nur positive Hilfspflichten
annehmen,5
(2) hauptsächlich auf der Ebene 1 (Relation 5) operieren, aber negative Pflichten zur
Schadensvermeidung und zur Wiedergutmachung hinzufügen,6
(3) auch auf den Ebenen 2 (Relationen 6–8) oder sogar 3 (Relationen 9–11) mit Pflich-
ten der dis�tributiven und korrektiven Gerechtigkeit angesiedelt sind.7

Positive internationale Hilfspflichten auf der Ebene eins bzw. der Relation 5 sind un-
bezweifelbar und auch nicht kontrovers. Negative Pflichten und Pflichten zur Wie-
dergutmachung bestehen dann, wenn tatsächlich Schädigungen erfolgen oder erfolgt
sind und noch Auswirkungen haben. Dies ist eine empirische Frage, die eine sorgfältige
Untersuchung erfordert.8
Eine globale Gerechtigkeit der Verteilung und Korrektur auf den Ebenen zwei und
drei hängt von der Entwicklung einer globalen Gemeinschaft ab.9 Die Frage einer glo-
balen Gemeinschaft ist zum einen eine der Überschreitung einer bestimmten Schwelle
und dann jenseits dieser Schwelle eine graduelle der zunehmenden Vertiefung. Die
entscheidende Frage ist also, ob bereits eine derartige globale Gemeinschaft existiert.

5 John Rawls, The Law of Peoples, Cambridgeâ•›/â•›London 1999.


6 Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights.
7 Wilfried Hinsch, Global Distributive Justice, in: Thomas Pogge (Hg.), Global Justice, Oxford 2001,
S.€55–75.
8 Vgl. Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights, S.€112, 199.
9 Vgl. Andreas L. Paulus, Die Internationale Gemeinschaft im Völkerrecht. Eine Untersuchung zur Ent-
wicklung des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung, München 2001, S.€9â•›ff.
4. Gemeinwohl 377

Die Europäische Union ist wohl bereits eine Gemeinschaft in diesem Sinne, die aller-
dings noch nicht sehr weit jenseits der Schwelle liegt. Für die gesamte Welt wird man
den Gemeinschaftscharakter, der dann auch eine distributive und korrektive globale
Gerechtigkeit erfordert, derzeit dagegen wohl noch bezweifeln müssen. Es gibt zwar
globale Kommunikation und globalen Handel sowie erste Ansätze globaler Produk-
tionsstrukturen. Und mit den Vereinten Nationen besteht eine Institution des globa-
len Konfliktmanagements sowie mit der WTO eine Welthandelsorganisation. Es gibt
auch weitere globale Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds und die
Weltbank. Aber bisher haben wir aus der Perspektive der Staaten und der Individuen
keine klare Übereinstimmung über eine stärkere wechselseitige Verpflichtung und ein
gemeinschaftliches Interesse sowie die Teilung von Risiken. Und es gibt im globalen
Maßstab immer noch Kriege und gewaltsame Konflikte, welche die Annahme einer
globalen Gemeinschaft ausschließen. Selbst Befürworter der globalen Gerechtigkeit
sprechen nicht von einer globalen Gemeinschaft, sondern von „dichter ökonomischer
Kooperation“.10 Das Ergebnis lautet also: Wir haben starke Pflichten, unsere Hilfe für
andere Nationen auszuweiten und Schädigungen zu vermeiden bzw. wiedergutzuma-
chen. Aber es besteht gegenwärtig noch keine globale Gemeinschaft, die ein System
der Umverteilung wie im nationalen Maßstab oder auf der Ebene der Europäischen
Union rechtfertigt. Vieles spricht jedoch dafür, eine solche Gemeinschaft anzustreben.
Und es ist voraussehbar, dass sie sich in näherer oder fernerer Zukunft entwickeln wird.
Eine wesentliche Bedingung ist allerdings der wirksame und dauerhafte Ausschluss von
Krieg und globaler Gewalt.

4. Gemeinwohl

Für Gemeinschaften ist neben dem Begriff der Gerechtigkeit vor allem der Begriff
des Gemeinwohls entscheidend.11 Wie alle Begriffe lässt sich auch der Begriff des Ge-
meinwohls aus verschiedenen Perspektiven analysieren, etwa aus einer rechtsdogmati-
schen, einer politikwissenschaftlichen, einer soziologischen oder einer philosophischen
PerspekÂ�tive. Da für die normative Ethik vor allem die letztere Perspektive wichtig ist
und zu den ersten drei Perspektiven bereits Untersuchungen existieren,12 wird sich der
folgende Abschnitt auf eine kurze philosophische Analyse beschränken.

10 Wilfried Hinsch, Global Distributive Justice, S.€71.


11 Vgl. zum Folgenden ausführlicher: Verf., Über den Begriff des Gemeinwohls, in: Martin Morlok, Ge-
meinwohl und politische Parteien, Baden-Baden 2008, S.€22–37.
12 Vgl.â•›z.â•›B. Winfried Bruggerâ•›/â•›Stephan Kirsteâ•›/â•›Michael Anderheiden, Gemeinwohl in Deutschland, Europa
und der Welt, Baden-Baden 2002; Gunnar Folke Schuppertâ•›/â•›Friedhelm Neidhardt (Hg.), Gemeinwohl€–
auf der Suche nach Substanz, Berlin 2002; Herfried Münklerâ•›/â•›Karsten Fischer (Hg.), Gemeinwohl und
Gemeinsinn im Recht. Konkretisierung und Realisierung öffentlicher Interessen, Berlin 2002; Hans Her-
bert von Arnimâ•›/â•›Karl-Peter Sommermann (Hg.), Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung,
Berlin 2004; Michael Anderheiden, Gemeinwohl in Republik und Union, Tübingen 2006.
378 XV. Individualethik und Sozialethik

Um eine Einsicht in den Begriff des Gemeinwohls zu realisieren, dürfen wir den
Begriff bzw. das Ideal des Gemeinwohls nicht isolieren, sondern müssen ihn im Zusam-
menhang mit dem ab�strakteren und gleichzeitig normativ-indi�vi�dua�listisch gefassten
Begriff des guten Lebens, das heißt konkreter: der Gerechtigkeit, aber auch des Glücks
bestimmen. Die Pervertierung des Gemeinwohlbegriffs durch die NS-Machthaber im
Dritten Reich13 war nur möglich, weil es ihnen gelang, den Gemeinwohlbegriff voll-
ständig von diesen notwendig abstrakteren und damit gemeinwohlbestimmenden BeÂ�
griffen abzulösen.
Was ist nun das gute Leben? Das gute Leben ist in immanenter Perspektive und in
der Konkretisierung durch den normativen Individualismus ein Leben, das den Zie-
len, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen der Menschen und aller anderen Lebe-
wesen entspricht. Gerechtigkeit ist im Rahmen dieses umfassenden guten Lebens das
gute Handeln mit einem notwendigen Bezug auf andere Individuen. Glück ist das gute
Handeln ohne die von vornherein erforderliche Berücksichtigung eines derartigen not-
wendigen Bezugs auf andere Individuen. Der Gemeinwohlbegriff ist nun jeweils eine
Konkretisierung der Gerechtigkeit und des Glücks mit Bezug auf eine Gemeinschaft.
Im Hinblick auf eine Gemeinschaft werden das gute Leben in Form des Glücks und das
gute Leben in Form der Gerechtigkeit zum Gemeinwohl zusammengeführt.

das gute Leben

Glück Gerechtigkeit

Gemeinwohl

Der Begriff des Gemeinwohls hat also gegenüber den Begriffen der Gerechtigkeit und
des Glücks zwei Spezifika: (1) Er ist immer auf eine Gemeinschaft bezogen. (2) Er führt
die Begriffe des Glücks und der Gerechtigkeit als Konkretisierungen des Begriffs des
guten Lebens wieder in einem Begriff zusammen. Der Gemeinwohlbegriff lässt sich
somit im Wege der Abstraktion bestimmen als das gute, das heißt glücksorientierte und
gerechte Handeln in und für eine bestimmte Gemeinschaft. Das hat folgende Konsequenz:
Nur über eine Konkretisierung des guten Lebens bzw. des Glücksfördernden und des

13 Vgl. Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, München 1974.


4. Gemeinwohl 379

Gerechten lässt sich das Gemeinwohl bestimmter angeben. Eine wesentliche Konkreti-
sierung sind dabei etwa die Grundwerte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität.14
Peter Koller hat dafür plädiert, den Gemeinwohlbegriff auf den sozialpragmatischen
Aspekt des gemeinschaftlichen glücklichen Lebens zu beschränken und Fragen der Ge-
rechtigkeit auszuÂ�klammern.15 Diesem Vorschlag liegt das unterstützenswerte Bestreben
zu Grunde, zwischen beiden Aspekten menschlichen Handelns, dem glücklichen Leben
und der Gerechtigkeit, klar zu unterscheiden. Allerdings muss Koller selbst einräumen,
dass sein Vorschlag auf eine engere als die gemeinhin übliche Interpretation hinaus-
läuft.16 Für das Intendierte steht mit dem gemeinschaftlichen glücklichen Leben auch
bereits ein BeÂ�griff zur Verfügung, so dass die Einengung des Gemeinwohlbegriffs nicht
notwendig erscheint. Im Übrigen ist die untrennbare Verschränkung von Zielen des
glücklichen Lebens und der Gerechtigkeit gerade das Spezifikum des Gemeinwohlbe-
griffs. Während sich beim individuellen Handeln beides in manchen Fragen faktisch
trennen lässt, ist gemeinschaftliches Handeln mit dem Ziel des glücklichen Lebens not-
wendig auch Fragen der Gerechtigkeit unterworfen, weil ja immer gegenüber Anderen
und für Andere gehandelt wird. Der Gemeinwohlbegriff drückt diese notwendige Ver-
bindung aus. Schließlich würde der Gemeinwohlbegriff, folgte man der vorgeschlage-
nen Beschränkung, einen Aspekt seines Gegensatzcharakters zum Individualinteresse
verlieren.17
Das Gemeinwohl ist also das Ziel guten Handelns für eine Gemeinschaft, das heißt
eines gerechten und auf das glückliche Leben aller gerichteten Handelns, welches in der
Abwägung der Belange aller Betroffenen besteht.
Die notwendige Verbindung von Gemeinwohl und Gerechtigkeit soll am Beispiel
der Staatsverschuldung verdeutlicht werden. Das Problem der rapide zunehmenden
langfristigen Staatsverschuldung ist ein solches der intergenerationellen Gerechtigkeit.
Es ist ungerecht, zukünftig lebende Individuen mit langfristigen Schulden zu belas-
ten, also Geld durch die Individuen einer Generation zu verbrauchen und von den
Individuen der nächsten zurückzahlen zu lassen. Dies gilt aus zwei Gründen auch für
Schulden zur Finanzierung von Investitionen, die nach Art. 115 I S.€2 des Grundge-

14 Weitere mögliche Formen der Konkretisierung in Anlehnung an die drei Ziele der Zweckmäßigkeit,
der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit finden sich bei Winfried Brugger, Gemeinwohl als Integ-
rationskonzept von Rechtssicherheit, Legitimität und Zweckmäßigkeit, in: Winfried Bruggerâ•›/â•›Stephan
Kirsteâ•›/â•›Michael Anderheiden, Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, S.€17–40. Hans Her-
bert von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, S.€21╛ff., unterscheidet: Freiheit, Gerechtigkeit,
Sicherheit, Frieden, Wohlstand.
15 Peter Koller, Das Konzept des Gemeinwohls. Versuch einer Begriffsexplikation, in: Winfried Bruggerâ•›/â•›
Stephan Kirsteâ•›/â•›Michael Anderheiden, Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, S.€41–70,
S.€48, 52.
16 Peter Koller, Das Konzept des Gemeinwohls. Versuch einer Begriffsexplikation, S.€55.
17 Vgl. zu einer etwas anders argumentierenden Kritik auch Bernd Ladwig, Gemeinwohl und Eigensinn.
Eine Auseinandersetzung mit Winfried Brugger und Peter Koller, in: Winfried Bruggerâ•›/â•›Stephan Kirsteâ•›/â•›
Michael Anderheiden, Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, S.€71–101, S.€82â•›ff.
380 XV. Individualethik und Sozialethik

setzes erlaubt sind und die viele für zulässig halten:18 Erstens sind die Investitionen
des Staates wie Investitionen in Verwaltungsgebäude, Schulen oder Hochschulen in
weit überwiegendem Maße keine echten Renditeinvestitionen wie privatwirtschaftliche
Investitionen. Und auch bei der Bahn oder den Autobahnen war dies bisher nicht der
Fall. Die Investitionen erwirtschaften also keine direkte Rendite, mit der die Zinsen
der Schulden bezahlt werden könnten. Zweitens kann man es von einem normativ-
individualistischen Standpunkt nicht als zulässig ansehen, auf Kosten anderer ohne
deren Einwilligung längerfristige Schulden zu machen. Die immer weiter zunehmende
Staatsverschuldung verstößt also gegen die intergenerationelle Gerechtigkeit und damit
gegen das Gemeinwohl.

18 Roman Herzog, Pluralistische Gesellschaft und staatliche Gemeinwohlsorge, in: Hans Herbert von Ar-
nimâ•›/â•›Karl-Peter SommerÂ�mann (Hg.), Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, Berlin 2004,
S.€31.
XVI. Drei beispielhafte Fragen
der Angewandten Ethik

Zum Schluss sollen beispielhaft drei Fragen der „Angewandten“ Ethik, genauer der Me-
dizinethik, skizziert werden.1 „Anwendung“ kann dabei nicht „Ableitung“, also nicht
bloß logische Deduktion aus den hier vorgeschlagenen fünf Elementen einer adäquaten
normativ-ethischen Theorie bedeuten. Erforderlich ist vielmehr eine wertende Konkre-
tisierung unter induktiver Berücksichtigung spezifischer ethischer, aber auch morali-
scher und sonstiger normativer Einsichten. Im Rahmen dieser wertenden Konkretisie-
rung können Gesichtspunkte übersehen oder falsch gewichtet werden. Jede Anwendung
muss sich deshalb ihre eigene Kritik gefallen lassen.

1.€Arzt und Patient

Die Arzt-Patienten-Beziehung kommt durch das freiwillige Hilfeersuchen des Patienten


und die freiwillige Übernahme professioneller Verantwortung seitens des Arztes zustande.
Sie ist wegen des notwendig höchstpersönlichen Charakters der ärztlichen Untersu-
chung und Behandlung eine Nähebeziehung, die jenseits normaler zwischenmensch-
licher Pflichten zur Hilfeleistung weitergehende Unterlassens- und Hilfspflichten vor
allem des Arztes impliziert. Die Arzt-Patienten-Beziehung ist wesentlich durch eine
gravierende Einschränkung bzw. Veränderung der Symmetrie des ethischen Grundverhält-
nisses geprägt.2 Während es beim Patienten um Gesundheit, Leib oder Leben, also um
Höchstbelange der Individualzone geht, stehen beim Arzt normalerweise nur Hand-
lungsbelange seiner Relativzone in Rede. Das bedeutet, dass die Belange des Patienten
im Hinblick auf die materiale Abwägung grundsätzlich Vorrang genießen. Der Arzt darf
deshalb gegenüber dem Patienten immer nur mit dessen aufgeklärter Zustimmung („in-
formed consent“) handeln. Für die Realisierung dieser materialen Abwägung der Belan-
ge gilt aber: Der Arzt besitzt weit überlegenes Wissen im Hinblick auf die medizinische
Diagnose und Therapie. Er kann die Situation der Interaktion in hohem Maße definie-

1 Zu Anwendungen auf Fragen der Rechtsethik und der Ökologischen Ethik vgl. Verf., Rechtsethik, und
ders., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur. Zu anderen
Bereichen der Angewandten Ethik: Julian Nida-Rümelin (Hg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken
und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch, 2.€Aufl. Stuttgart 2005.
2 Diese Asymmetrie wird verschiedentlich konstatiert: Vgl. Urban Wiesing, Zur Verantwortung des Arztes,
Stuttgart 1995, S.€ 39, 88; Constanze Giese, Die Patientenautonomie zwischen Paternalismus und Wirt-
schaftlichkeit. Das Modell des „Informed Consent“ in der Diskussion, Münster u.â•›a. 2002, S.€84.
382 XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik

ren und lenken. Der Arzt ist überdies der Handelnde, während der Patient, zumindest
im unmittelbaren Arzt-PatienÂ�ten-Verhältnis, regelmäßig nur der passiv Betroffene ist.
Oder in soziologischen Begriffen ausgedrückt: Der Arzt hat Experten-, Definitions-
und Handlungsmacht.3 Nur in drei, allerdings nicht unwesentlichen Hinsichten ist das
behandlungsrelevante Wissen des Patienten demjenigen des Arztes überlegen: Nur der
Patient spürt den Schmerz. Nur der Patient weiß subjektiv um seinen eigenen Krank-
heitszustand. Und nur der Patient erfährt schließlich die unmittelbaren Konsequenzen
der ärztlichen Untersuchung und Behandlung am eigenen Leib.
Diese mehrfache Asymmetrie der Arzt-Patienten-Beziehung macht sie schwieriger
als alltägliche ethische Beziehungen zwischen erwachsenen Menschen. Sie erzeugt vor
allem spezifische Hilfs- bzw. Fürsorgepflichten des Arztes. Der Arzt ist dem Patienten au-
ßer zur bestmöglichen Diagnose und Behandlung auch zur schonenden Wahrhaftigkeit,
zur Verschwiegenheit, zur Verlässlichkeit und zum Schutz der Privatsphäre verpflichtet.4
Diese spezifischen Hilfs- bzw. Fürsorgepflichten sind der rechtfertigbare Kern der alten
Vorstellung eines paternalistischen Verhältnisses zwischen Arzt und Patient.5 Diese Vor-
stellung eines paternalistischen Verhältnisses zwischen Arzt und Patient ist in den letzten
Jahrzehnten zu Recht immer stärker kritisiert worden.6 Denn nimmt man den Terminus
wörtlich im Sinne des lateinischen „pater“ als „Vater“ und setzt die Arzt-Patienten-
Beziehung mit einer Vater-Kind-Beziehung gleich, so erweist sich die Kennzeichnung
als außerordentlich problematisch. Die Vater-Kind-Beziehung ist in noch viel stärkerem
Maße asymmetrisch als die Arzt-Patienten-Beziehung. Sie ist eine zeitlich und sachlich
umfassende Relation, wirkt also lebenslang und erstreckt sich zumindest bei kleinen
Kindern auf alle Lebensbereiche, also Geist, Körper, Glaube, Bildung, Nahrung, Klei-
dung usw. Die Arzt-Patienten-Beziehung ist dagegen viel weniger umfassend. Allenfalls
zum Hausarzt ist sie von einer gewissen Dauer, beim Facharzt nur gelegentlich. Und
selbst die Hausarzt-Beziehung ist keine notwendige und unaufhebbare. Die Beziehung
ist auch sachlich beschränkt. Zwar ist es natürlich wünschenswert, dass der Arzt über die
rein physischen Symptome hinaus auch die psychische und soziale Situation des Patien-
ten berücksichtigt. Aber das kann nur im Hinblick auf die Förderung des Heilprozesses,
nicht auf die Lebensführung als solche geschehen. Der Arzt ist im Normalfall weder in
der Lage noch berufen, wie ein Vater in allen möglichen Lebenslagen und auf Dauer für
seinen Patienten zu sorgen.
Ist dem aber so, dann würde die Kennzeichnung der Arzt-Patienten-Beziehung als
„paternalistisch“ die Beziehung umfassender charakterisieren als sie es in Wirklichkeit
ist und sein soll. Sie würde auf diese Weise die Asymmetrie zwischen Arzt und Patient

3 Johannes Siegrist, Medizinische Soziologie, 5.€Aufl. München 1995, S.€244â•›f.


4 Tom L. Beauchampâ•›/â•›James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S.€288–331.
5 Vgl. dazu: Heta Häyry, Paternalism, in: Encyclopedia of Applied Ethics, hg. von Ruth Chadwick, San
Diego u.â•›a. 1998, Vol. 3, S.€449–457.
6 Vgl. zu einer Beschreibung der Wandlung: Alasdair MacIntyre, Patients as Agents, in: Stuart F. Spickerâ•›/
â•›H. Tristram Engelhardt, Jr. (Hg.), Philosophical Medical Ethics. Its Nature and Significance, Dordrecht
1977, S.€197–212; Bettina Schöne-Seifert, Medizinethik, in: Julian Nida-Rümelin (Hg.), Angewandte
Ethik, S.€690–802.
1.€Arzt und Patient 383

eher verschärfen als verringern. Der normative Individualismus als ethisches Prinzip
und der Höchstwert, den die meisten Menschen ihrer Selbstbestimmung zumessen,
rechtfertigen es dagegen, dass auch im Arzt-Patienten-Verhältnis die Asymmetrie mög-
lichst weitgehend reduziert werden sollte.7 Das bedeutet: Der Arzt muss dem Patienten
die letzte Entscheidung über die Behandlung unter allen Umständen und in allen rele-
vanten Einzelheiten überlassen. Er darf ihn nicht bevormunden, sondern muss ihn als
gleichberechtigten Partner im Hinblick auf das gemeinschaftliche Ziel der Gesundung
anerkennen.8 Er muss ihn möglichst umfassend aufklären und die eigenen überlegenen
Kenntnisse so weit wie möglich auch dem Patienten zukommen lassen, also eine Gleich-
heit des Wissens herstellen. Nur unter den beiden oben in Kapitel€XI erläuterten engen
Voraussetzungen darf der Arzt in speziellen Situationen ohne oder gegen den aktuellen
Willen des Patienten in dessen alleinigem oder wenigstens Hauptinteresse handeln: Ers-
tens im Fall des Fehlens eines aktuellen Willens, also bei Bewusstlosen, Komatösen, klei-
nen Kindern und sonstiger fehlender Einsichtsfähigkeit. Allerdings darf hier nur gemäß
dem früheren Willen, dem zukünftigen mutmaßlichen Willen oder€– falls beide nicht
zu ermitteln sind€ – den hinter dem mutmaßlichen Willen stehenden mutmaßlichen
subjektiven Belangen der Betroffenen gehandelt werden, also gemäß den mutmaßlichen
Zielen, Wünschen, Bedürfnissen oder Strebungen. Ohne jeden Anhaltspunkt in den
subjektiv verstandenen Belangen bzw. Interessen ist ein Handeln, das andere betrifft
und damit in irgendeiner Form einschränkt, nicht zu rÂ�echtÂ�fertigen. Zweitens, um den
fehlerfreien Willensmomenten und den diesen zugrunde liegenden Belangen der Indivi-
duen gegenüber fehlerhaften Willensmomenten und damit irregeleiteten Belangen der
Betroffenen Geltung zu verschaffen.
Auf einer grundlegenden Ebene ist die normativ-individualistische Selbstbestim-
mung des Patienten also letztes autoritatives Prinzip. Das führt aber, richtig verstan-
den, dazu, dass auf einer konkreteren Anwendungsebene bestimmte Regeln, wie die
der umfassenden Aufklärung und des aufgeklärten Einverständnisses, nicht schematisch
angewandt werden dürfen, sondern den spezifischen expliziten oder impliziten Belan-
gen des Patienten Rechnung getragen werden muss. Der Arzt hat also aufzuklären, aber
er sollte die Reichweite seiner Aufklärung den Bedürfnissen, Wünschen und Zielen des
Patienten anpassen, etwa nur allgemein Auskunft geben, wenn ein Patient ausdrück-
lich oder deutlich erkennbar keine Einzelheiten zu wissen wünscht.9 Der Arzt kann

7 Bettina Schöne-Seifert, Medizinethik, S.€575, führt für den Primat der Selbstbestimmung weiterhin an,
dass sonst möglicherweise Entscheidungen getroffen würden, die nicht zum Besten des Patienten sind,
und dass das Gefühl von Selbstbestimmung, von ärztlicher Ehrlichkeit und persönlichem Vorbereitetsein
zum relativen Wohlbefinden eines Patienten beiträgt.
8 Für ein partnerschaftliches Verhältnis auch Erwin Deutschâ•›/â•›Andreas Spickhoff, Medizinrecht: Arztrecht,
Arzneimittelrecht, Medizinprodukterecht und Transfusionsrecht, 5.€Aufl. Berlin 2003, S.€11; Constanze
Giese, Die Patientenautonomie zwischen Paternalismus und Wirtschaftlichkeit, S.€88, konstatiert, dass
die Realität nach wie vor anders aussieht: „Das Arzt-Patientenverhältnis ist demnach auch wegen der
ärztlichen Definitionsmacht als nicht partnerschaftlich anzusehen. Die traditionelle Beziehung, die durch
klare Über- bzw. Unterordnung gekennzeichnet war, kann nicht als Relikt vergangener Tage angesehen
werden. Sie ist€– auch hinsichtlich bestimmter ärztlicher Aufgaben€– noch aktuell.“
9 Hans P. Wolff, Arzt und Patient, Bochum 1989, S.€13.
384 XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik

dem Patienten ein gewisses Maß an Empathie vermitteln, aber nur, wenn der Patient
Einverständnis signalisiert, denn es gibt auch Patienten, die keine übergroße Empathie
wollen. Der Arzt darf im Austausch mit dem Patienten keine reine Fachsprache mit
lateinischen Vokabeln verwenden, die der Patient im Normalfall nicht versteht und die
bei ihm nur Unsicherheit und falsche Ehrfurcht auslöst. Er sollte sich der tendenziellen
atmosphärischen Inhumanität der Zweckrationalität und Technizität der modernen Ap-
paratemedizin bewusst sein und diese auf das absolut Notwendige beschränken sowie
dafür Sorge tragen, dass genügend Zeit und Raum für den Aufbau einer persönlicheren
Beziehung bleibt. Nicht jeder marginale Effizienzgewinn im Verfahrensablauf rechtfer-
tigt zum Beispiel die Aufteilung der Untersuchung oder Behandlung auf mehrere Perso-
nen. Und man wird auch fragen können, ob die Entwicklung moderner Großkliniken
zu riesenhaften fabrikähnlichen Komplexen, die kaum jemand gerne betritt, wirklich in
allen Fällen und in jeder Hinsicht notwendig und sinnvoll war bzw. ist.
Der gute, verantwortungsbewusste Arzt wird sich der Problematik seiner asymmet-
rischen Stellung bewusst sein. Er wird seine Macht nur als fördernde Autorität handha-
ben, die bestimmte Fürsorgepflichten erzeugt. Er wird die ihm zwangsläufig zufallende
Erkenntnis- und Entscheidungsüberlegenheit strikt im Sinne der Selbstbestimmung des
Patienten einsetzen und somit begrenzen. Und er wird sich, wie etwa auch der Lehrer,
Professor, Politiker und überhaupt jeder Mensch, der Macht ausübt, bewusst sein, dass
die Asymmetrie der eigenen Überlegenheit eine zeitlich und sachlich begrenzte ist und
nicht zu einer allgemeinen Asymmetrie der persönlichen Wertschätzung, des Umgangs,
der Höflichkeit usw. führen darf. Der gute Arzt sollte im Gegenteil symbolisch und
kommunikativ deutlich machen, dass Arzt und Patient, von der nun einmal in der
Arzt-Patienten-Beziehung unvermeidlichen fachlichen Asymmetrie abgesehen, in allge-
meinmenschlicher, moralischer, kognitiver und emotionaler Hinsicht gleich sind und
dass diese fundamentale und unaufhebbare Gleichheit für die Gesamtgestaltung der
Arzt-Patienten-Beziehung entscheidend ist, nicht die segmentär-zweckrationale Überle-
genheit des Arztes im Hinblick auf Diagnose und Therapie.
Am Lebensende des Patienten besteht die sachlich unvermeidliche Asymmetrie der
Arzt-Patienten-Beziehung grundsätzlich fort. Aber sie verändert sich. Sie verstärkt sich
einerseits und schwächt sich andererseits ab. Sie verstärkt sich einerseits, weil der Patient
zunehmend physisch und damit oder auch unabhängig davon psychisch hilflos wird.
Der Patient ist im Regelfall nicht nur leicht und lokal eingeschränkt krank, sondern
schwer und umfassend. Der Patient verliert dadurch häufig einen großen Teil seiner
faktischen Selbstbestimmung. Er ist geistig nicht mehr so leistungsfähig wie früher. Er
ist den Notwendigkeiten und Routinen des Krankenhauses in besonderem Maße unter-
worfen. Der Patient nähert sich dem Tod als der neben der Geburt existentiellsten Situ-
ation seines Lebens. Er ist verzweifelt, ratlos, traurig und depressiv. Und das überlegene
Wissen des Patienten um die eigene Situation wird besonders entscheidend, denn im
Gegensatz zu einigermaßen gut objektiv vorhersehbaren Krankheits- und Therapiever-
läufen ist die Haltung zum Tod außerordentlich subjektiv. Nur der Patient kann also
dem Arzt wirklich sagen, wie er das Sterben erlebt und wie er es erleben will. Aus all
diesen Gründen ist das Arzt-Patienten-Verhältnis am Ende des Lebens in besonderem
2. Sterbehilfe 385

Maße asymmetrisch. Deshalb ist der Patient stärker auf die Fürsorge des Arztes und
anderer Menschen in seiner Umgebung angewiesen. Der Arzt ist in besonderem Maße
aufgerufen, die sachlich nicht zu vermeidende Asymmetrie zu begrenzen und sie symbo-
lisch und kommunikativ auszugleichen, wobei allerdings der Patient zu seinem eigenen
Wohl auch mitwirken und seine Empfindungen offenbaren sollte.
Die sachlich unvermeidliche Asymmetrie der Arzt-Patienten-Beziehung schwächt
sich andererseits am Ende des Lebens in entscheidender Hinsicht ab: Das wesentliche
Ziel, weswegen der Patient die Asymmetrie der Arzt-Patienten-Beziehung überhaupt
auf sich genommen hat, die Heilung, ist nicht mehr erreichbar. Damit verliert das über-
legene Wissen sowie die Definitions- und Handlungsmacht des Arztes an Bedeutung.
Angesichts ihrer beider Sterblichkeit sind Arzt und Patient in der für beide Leben we-
sentlichen Dimension des Todes gleich, nur dass der Erstere vermutlich länger leben
wird. Das Zurücktreten des diagnostischen und therapeutischen Ziels und der damit
einhergehenden Asymmetrie schafft die Chance, aber auch die Notwendigkeit zu einer
Verstärkung der allgemein-menschÂ�lichen Seite des Arzt-PatienÂ�ten-Verhältnisses. Das
Technisch-Zweckrationale, das zur Erreichung des Heilungserfolgs seine beschränkte
Berechtigung hatte, kann und muss nun zurückgedrängt werden. Der Arzt ist verpflich-
tet, die Alternative eines Sterbens zu Hause oder in einem Hospiz zu ermöglichen, wenn
es nur irgendwie geht. Sofern der Patient im Krankenhaus stirbt, kann der Arzt sicher
nicht spezifischer Sterbebegleiter, Geistlicher oder naher Angehöriger sein bzw. diese
ersetzen. Aber er entscheidet mit über die Umgebung, in welcher der Patient die letzten
Tage und Stunden seines Lebens verbringt. Insofern kommt ihm eine besondere natür-
liche Verantwortung zu, zumal er eine spezifische Kompetenz hat. Er hat im Regelfall
eine generelle, durch viele erlebte Sterbefälle gesättigte Erfahrung mit dem Sterben und
dem Tod anderer Menschen.

2. Sterbehilfe

Ein wesentlicher Aspekt des Arzt-Patienten-Verhältnisses am Ende des Lebens ist die
Frage nach der Sterbehilfe. Sieht man den normativen Individualismus bzw. die Selbst-
bestimmung des Patienten als vorrangig gegenüber der Leidvermeidung an, so bedeutet
dies: Auch bei der Frage der Sterbehilfe muss die Selbstbestimmung im Vordergrund
stehen. Daraus folgt zunächst, dass das ernsthafte und aufgeklärte Verlangen des Patien-
ten nach Nichtbehandlung oder Behandlungsabbruch, also Behandlungsverzicht, den
Arzt ohne Wenn und Aber bindet, wie es etwa auch das deutsche Strafrecht und die
Richtlinien zur ärztlichen Sterbebegleitung der deutschen Bundesärztekammer fordern.10

10 BGHSt 32, S.€ 367╛ff., 378. Vgl. auch Adolf Laufs╛/╛Wilhelm Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts,
3.€Aufl. München 2002, S.€1381; Richtlinien der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung,
in: Urban Wiesing, Zur Verantwortung des Arztes, Stuttgart 1995, S.€203╛ff.; Erwin Deutsch╛/╛Andreas
Spickhoff, Medizinrecht: Arztrecht, Arzneimittelrecht, Medizinprodukterecht und Transfusionsrecht,
S.€336╛ff.
386 XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik

Verlangt der Patient die Nichtbehandlung oder den Behandlungsabbruch und tritt der
Tod durch den natürlichen Krankheitsverlauf ein, so spricht man von passiver Euthanasie.
Dabei zeigen die beiden Alternativen der Nichtbehandlung und des Behandlungsab-
bruchs, dass für die passive Euthanasie die Qualifikation der Handlung als Tun oder
Unterlassen nicht entscheidend ist. Es ist also nicht entscheidend, ob der Arzt zum
Beispiel das Beatmungsgerät nicht anschaltet oder wieder abschaltet. Entscheidend ist
auch nicht die Absicht von Patient oder Arzt. Entscheidend ist vielmehr, dass die Kau-
salursache für den Tod in der Krankheit liegt und der Patient verlangt, nicht behandelt
zu werden, also folgende drei Elemente:

(1)€Verlangen des Patienten nach einem Behandlungsverzicht


(2)€Behandlungsverzicht durch den Arzt
(3)€Eintritt des Todes des Patienten durch den natürlichen Krankheitsverlauf

Die passive Euthanasie ist ethisch wie moralisch sowie rechtlich für den Arzt nicht
nur erlaubt, sondern geboten. Die Ablehnung eines Eingriffs in den eigenen Körper
ist ein zentraler Belang der Individualzone des Patienten. Ein Eingriff lässt sich ohne
aufgeklärte Zustimmung des Betroffenen oder das Ziel des Schutzes anderer Belange
der Individualzone nicht rechtfertigen. Ein Arzt, der ohne aufgeklärte Zustimmung des
Patienten behandelt oder weiterbehandelt, also einen Belang der Individualzone des
Patienten nicht befriedigt, agiert somit unethisch und macht sich im Übrigen wegen
Körperverletzung strafbar. Dabei wird man den Begriff der Behandlung zum Schutz
der Selbstbestimmung des Patienten weit auffassen müssen. Der Begriff umfasst alle
Eingriffe in den Körper, also auch die künstliche Ernährung und Beatmung, weil sie den
Ausfall normaler Körperfunktionen kompensieren und mit Eingriffen in den Körper,
etwa dem Legen einer Magensonde oder eines Beatmungsschlauchs verbunden sind.
Will der Patient also keine künstliche Ernährung und Beatmung, so muss der Arzt dies
respektieren. Das gilt im Prinzip auch, wenn der Patient selbst keinen aktuellen Willen
mehr äußern kann, für seinen früheren und mutmaßlichen Willen, der dann allerdings
durch eine Patientenverfügung oder einen Vertreter aktualisiert werden muss, wobei
sich aber natürlich schwierige Fragen der Einsichtsfähigkeit, der Freiwilligkeit, des Fort-
wirkens eines früheren Willens usw. stellen.
Die sog. indirekte Euthanasie ähnelt der passiven Euthanasie darin, dass auch hier
der natürliche Krankheitsverlauf zum Tod des Patienten führt, also etwa die Krebser-
krankung den Tod durch Herzstillstand bewirkt. Allerdings ist kein Behandlungsver-
zicht erforderlich und entsprechend auch kein Verlangen des Patienten danach. Kenn-
zeichnend für die indirekte Euthanasie ist vielmehr eine Schmerzbekämpfung durch den
Arzt mit aufgeklärter Zustimmung des Patienten unter Inkaufnahme einer möglichen
Verkürzung des natürlichen, krankheitsbedingten SterbeproÂ�zesses. Bekommt etwa ein
Patient in der Sterbephase Morphium zur Schmerzlinderung, so ändert das nichts an
der natürlich-kausalen Herbeiführung des Todes in Form des Herzstillstands durch die
Krebserkrankung. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die Gabe von Morphium in
einer für einen Gesunden ungefährlichen Dosis die Lebensfunktionen des Sterbenden
2. Sterbehilfe 387

in den letzten Stunden derart beeinflusst, dass der Tod früher eintritt. Die indirekte
Euthanasie ist also durch folgende Merkmale gekennzeichnet:11

(1)€Verabreichung eines Schmerzmittels an einen sterbenskranken Patienten durch den


Arzt
(2)€Aufgeklärte Zustimmung des Patienten zu dieser Verabreichung
(3)€Eintritt des Todes des Patienten durch den natürlichen Krankheitsverlauf

Die Schmerzbekämpfung ist ein wesentlicher Belang des Patienten. Kann sie nicht
anders erfolgen, so wird man es nicht als unethisch ansehen können, sie auch durch
Inkaufnahme einer möglichen Verkürzung des Sterbeprozesses durchzuführen.12 Wir
nehmen viele Lebensrisiken in Kauf, um weniger wichtige Belange zu befriedigen. Der
Arzt muss also den Wunsch des Patienten, die Schmerzen zu lindern, respektieren. Die
grundsätzliche moralische wie rechtliche Verantwortung des Arztes, das Leben des Pati-
enten zu verlängern, kann an dieser Verpflichtung nichts ändern, da der eindeutige Wil-
le des Patienten entscheidend ist. Die indirekte Sterbehilfe ist in Deutschland straflos.13
Der Wille des Patienten gilt dabei auch nach dessen Bewusstlosigkeit weiter.14
Von der passiven und der indirekten Sterbehilfe ist der Suizid des Patienten zu un-
terscheiden. Bei ihm führt nicht der natürliche Krankheitsverlauf, sondern ein vom Pa-
tienten bewusst und gewollt in Gang gesetzter, zusätzlicher und künstlicher Kausalverlauf
zu seinem Tod. Der Arzt kann dazu wie jede andere Person Beihilfe leisten. Folgende
Merkmale sind dafür kennzeichnend:

(1)€Ingangsetzung eines zusätzlichen, künstlichen Kausalverlaufs durch den Patienten,


der zum Tod führt.
(2)€Wille des Patienten, diesen zusätzlichen Kausalverlauf in Gang zu setzen
(3)€Beihilfe des Arztes zur Ingangsetzung dieses zusätzlichen Kausalverlaufs

11 Manche Befürworter der aktiven Sterbehilfe versuchen ihre Argumentation durch eine Annäherung der
indirekten Sterbehilfe an die aktive Sterbehilfe zu stützen. Sie unterschlagen dabei aber den zentralen Un-
terschied im Todeseintritt durch den natürlichen Krankheitsverlauf und die bloß mögliche Beschleuni-
gung des Sterbeprozesses bei der indirekten Sterbehilfe, etwa Norbert Hoerster, Sterbehilfe im säkularen
Staat, Frankfurt a.╛M. 1998, S.€41╛ff.
12 Erwin Deutschâ•›/â•›Andreas Spickhoff, Medizinrecht: Arztrecht, Arzneimittelrecht, Medizinprodukterecht
und Transfusionsrecht, S.€334.
13 BGHSt 42, S.€301╛ff., 305 = MedR 1997, S.€271, 273. Vgl. auch Adolf Laufs╛/╛Wilhelm Uhlenbruck,
Handbuch des Arztrechts, 2002, S.€1380.
14 Vgl. OLG München, Juristische Arbeitsblätter (JA) 1987, S.€579, 583â•›f. mwN, und unter der Annahme,
dass der Bundesgerichtshof in BGHSt 32, S.€367╛ff., 378, zur Frage der Entlassung des Arztes aus der Ga-
rantenstellung keine Stellung genommen hat. Vgl. auch Adolf Laufsâ•›/â•›Wilhelm Uhlenbruck, Handbuch
des Arztrechts, S.€1384. In BGHSt 32, S.€367╛ff., war der Arzt nicht von der Patientin aus der Garanten-
stellung entlassen worden. Die bloße Tatsache des Suizids kann man allerdings€– insofern verdient die
Entscheidung des BGH Zustimmung€– nicht als derartige Entlassung des Arztes aus seiner Garanten-
pflicht werten, sonst dürfte kein Arzt einem Suizidenten mehr helfen.
388 XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik

Die Selbstbestimmung des Patienten ist aus einer säkularen Perspektive auch in die-
sem Fall ethisch und moralisch maßgeblich. Tötet der Patient sich selbst unter Ingang-
setzung einer jenseits der Krankheit liegenden Ursache und unterstützt ihn der Arzt
dabei, leistet er also Beihilfe zum Suizid, so mag dies eine religiöse Ethik verbieten,
etwa weil Patient und Arzt hier selbstherrlich über Gottes Schöpfung entscheiden. Auf
der Grundlage einer säkularen Ethik können der Suizid und die Beihilfe dazu jenseits
weich paternalistischer Gründe aber nicht moralisch verboten werden. Etwas anderes
gilt Â�wegen ihrer in Kapitel€XI, 5 erläuterten speziellen Funktion allerdings für Politik
und Recht. Hier mag es weitere Gründe geben, eine Institutionalisierung zu verhindern
und die Beihilfe für strafbar zu erklären, wie dies anders als in der Bundesrepublik
Deutschland in einigen Ländern geschehen ist.
Die aktive Euthanasie ähnelt dem Suizid und der Beihilfe zum Suizid darin, dass
nicht der natürliche Krankheitsverlauf den Tod herbeiführt wie bei der passiven und
indirekten Euthanasie, sondern eine zusätzliche, künstliche Ursache. Allerdings gibt es
auch einen fundamentalen Unterschied: Anders als beim Suizid und der Beihilfe zum
Suizid wird diese zusätzliche, künstliche Ursache nicht durch den Patienten gesetzt, son-
dern durch einen Anderen, etwa den Arzt€– allerdings mit Willen des sterbenskranken
Patienten, sonst würde es sich um eine einfache Tötung handeln:

(1)€Ingangsetzung eines zusätzlichen, künstlichen Kausalverlaufs durch einen Dritten,


der zum Tod führt
(2)€Wille des sterbenskranken Patienten, diesen zusätzlichen Kausalverlauf in Gang zu
setzen

Dabei ist es wie bei den anderen Formen der Euthanasie nicht wesentlich, ob der An-
dere durch ein Tun oder ein Unterlassen handelt. Das Handeln des Arztes ist etwa als
aktive Sterbehilfe zu qualifizieren, gleichgültig, ob er dem sterbenskranken Patienten
Gift injiziert oder einen Brand in seinem Krankenzimmer nicht löscht.
Im Übrigen ist es zweifelhaft, wann ein Patient als „sterbenskrank“ anzusehen ist.
Man kann hier entweder verlangen, dass der unmittelbare Prozess des Sterbens schon
eingesetzt hat, also der Tod nach aller Erfahrung in wenigen Stunden oder Tagen zu
erwarten ist, oder auch eine länger dauernde Erkrankung, die erst in einigen Tagen,
Wochen oder wenigen Monaten zum Tode führen wird, als ausreichend ansehen, etwa
eine Krebserkrankung im fortgeschritten-irreversiblen Stadium. Andere lassen sogar
eine schwere, aber nicht tödliche Krankheit genügen, etwa eine weitgehende körperli-
che Lähmung, ebnen damit aber den Unterschied zwischen der aktiven Euthanasie und
der Tötung auf Verlangen ein (vgl. zu letzterer Kapitel€XI, 5). Schließlich findet sich
sogar die Ansicht, aktive Sterbehilfe sei jede „gezielte Herbeiführung des Todes durch
Handeln“.15 Aber dann wäre jede Tötung auf Verlangen aktive Sterbehilfe und die Be-
griffsdifferenzierung sinnlos. Die zweite Auffassung einer Erkrankung, die vermutlich
im Verlauf von Tagen, Wochen oder wenigen Monaten zum Tod führen wird, scheint

15 Norbert Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S.€11.


2. Sterbehilfe 389

dem Begriff am ehesten zu entsprechen. Ansonsten wäre die Abgrenzung zur allgemei-
nen Tötung auf Verlangen nicht mehr möglich.
Die aktive Euthanasie ist in Deutschland nach wie vor strafbar und auch durch
die ärztlichen Standesrichtlinien untersagt.16 Der Wunsch des Patienten nach aktiver
Euthanasie ist allerdings, wenn man legitime, aber in einer pluralistischen Gesellschaft
nicht allgemein verbindlich zu machende christlich-religiöse Positionen einer Heiligkeit
des Lebens außer Betracht lässt, als Ausdruck seiner Selbstbestimmung nicht verwerflich
und menschlich verständlich. Jedoch wird man selbstredend keine ethische Verpflich-
tung des Arztes annehmen können, aktiv lebensÂ�beendend tätig zu werden. Zwar sind
die Interessen und Belange Anderer generell zu berücksichtigen, aber, wie sich in Kapi-
tel€V ergab, nur im Rahmen einer Abwägung mit eigenen und allgemeinen Belangen.
Das Interesse, von einem anderen aktiv getötet zu werden, ist kein Interesse der Indivi-
dualzone, sondern ein Interesse der Relativzone an einer externen Handlung und muss
mit dem Interesse der Relativzone des Arztes, keine unschuldigen Menschen zu töten,
abgewogen werden. Die aktive Euthanasie stellt einen massiven Eingriff in die innerste
Lebenssphäre eines Menschen dar, widerspricht der traditionellen ärztlichen Rolle des
Helfens und Heilens in hohem Maße und ist als gesellschaftliche Praxis außerordent-
lich problematisch. Sie kann deshalb nicht generell als Konkretisierung der allgemeinen
Hilfspflicht von Anderen gefordert werden.
Ob die Etablierung der aktiven Euthanasie tatsächlich das Arzt-Patienten-Verhält-
nis schwer belasten oder gar zerstören würde, wie verschiedentlich vermutet wird,17 ist
schwer allgemein vorherzusagen. Kennt der Patient den Arzt gut und glaubt er, ihm
vertrauen zu können, so wird er auch annehmen dürfen, dass der Arzt ihn nicht falsch
berät oder drängt. Allerdings wird bei kürzeren, weniger gewachsenen und technisch-
zweckrationaleren Arzt-Patien�ten-Be�zie�hungen im Krankenhaus ein solches Vertrau-
ensverhältnis regelmäßig nicht gegeben sein, so dass die bloße Möglichkeit eventueller
Beeinflussungen des Verlangens nach Sterbehilfe das Verhältnis zwischen Arzt und Pa-
tient vermutlich allgemein belasten wird. Da mittlerweile der Tod im Krankenhaus der
Normalfall ist, kann man deshalb zu der Annahme neigen, dass in derartigen Fällen die
Gefahr eines Missbrauchs der aktiven Sterbehilfe das Arzt-Patienten-Verhältnis tatsäch-
lich ungünstig beeinflussen könnte.
Der kaum zu leugnenden Erweiterung der Selbstbestimmung einiger Patienten
durch die Ermöglichung der aktiven Euthanasie steht die erhebliche Gefahr einer Ein-
schränkung der Selbstbestimmung vieler Älterer und Kranker durch äußeren Druck
und Beeinflussung seitens der Angehörigen, des Arztes, der Pflegenden und generell
der Gesellschaft gegenüber. Diese Gefahr wiegt aus zwei Gründen schwer. Zum einen
ist der Patient am Ende des Lebens in seiner Entscheidungsautonomie durch Abnahme
der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit geschwächt und zum anderen ist der
Tod als Konsequenz der Sterbehilfe irreversibel.

16 § 216 StGB; BGHSt 37, 376â•›ff.


17 Hanns-Gotthard Lasch, Der Arzt und das Sterben, in: Odo Marquardâ•›/â•›Hans-Jürgen Staudinger (Hg.),
Anfang und Ende des menschlichen Lebens. Medizinethische Probleme, o.â•›O. 1987, S.€47–59, S.€58.
390 XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik

Die Frage, wie hoch tatsächlich die Gefahr des Missbrauchs eingeschätzt werden
muss, ist eine empirische Frage, die man nicht theoretisch entscheiden kann. Ange-
sichts der Tatsache, dass sich die Niederlande in dieser Frage quasi einem kollektiven
Selbstversuch unterworfen haben, erscheint es vernünftig, ja sogar ethisch geboten,
den Ausgang dieses Selbstversuchs in Ruhe, das heißt über einige weitere Jahre oder
Jahrzehnte, abzuwarten€ – so wie man bei neuen Medikamenten auch zuerst größere
Wirkungsstudien abwartet. Der Ausgang dieses Selbstversuchs kann durchaus zeigen,
wie der Selbstbestimmung des Patienten besser gedient wird, durch die allgemeine Er-
möglichung oder durch die allgemeine Verhinderung der aktiven Sterbehilfe. Aber was
ist, wenn das Ergebnis nicht eindeutig ist, wenn sich die Freiheitsgewinne durch die
Zulassung der aktiven Sterbehilfe und die Freiheitsverluste durch Gefahren und Miss-
bräuche ungefähr die Waage halten?€– ein Ergebnis, das aus zwei Gründen gar nicht so
unwahrscheinlich erscheint: zum einen, weil sich bei Annahme eines einheitlichen nor-
mativen Prinzips Unsicherheit und Streit ja über einen längeren Zeitraum immer nur
dann perpetuieren, wenn die Fakten nicht eindeutig sind, zum anderen, weil die Abwä-
gung zwischen individuell-konkreter und individuell-abstrakter Selbstbestimmung nur
schwer vorzunehmen ist.
Dann wird wieder auf die Diskrepanz zwischen individueller moralischer und ethi-
scher Bewertung und der notwendig allgemeinen Regelung durch Politik und Recht zu
verweisen sein. Wenn allein die kollektive Gefährdung Unschuldiger gegen die Eutha-
nasie spricht, so ist aus einer nichtÂ�religiösen Perspektive ein moralisches Unwerturteil
gegenüber Privaten schwieriger als ein politisches und rechtliches Verbot. Die Beurtei-
lung des politischen und rechtlichen Verbots der aktiven Sterbehilfe wird sich danach
richten müssen, ob die politische Gemeinschaft, die zu entscheiden hat, eine derartige
Praxis eher für freiheitssteigernd hält, weil dem Sterbenden eine Wahl eröffnend, oder
für freiheitsverringernd, weil eine inhumane, bedrängende Praxis etablierend. Man wird
sich fragen müssen, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Diese Frage ist€– so
überraschend das erscheinen mag€ – dann ab einem gewissen Punkt und in säkularer
Perspektive keine moralische Frage mehr, sondern eine Frage des guten Lebens. Wenn
sich ethische Erwägungen zur Rechtfertigung oder Kritik politischer oder rechtlicher
Normen die Waage halten, dann schlagen sie nicht mehr durch, und die politische
Gemeinschaft muss entscheiden, wie sie dem Gemeinwohl und damit dem guten bzw.
glücklichen Leben und der Gerechtigkeit der Einzelnen am besten dienen kann. Das hat
dann zur Folge, dass auch religiöse Rechtfertigungen der Heiligkeit des Lebens ebenso
wie säkulare Überzeugungen in der Gesamtentscheidung berücksichtigt werden müs-
sen. Sie dürfen nicht wie bei der säkularen Begründung kategorischer Pflichten wegen
ihres Mangels an allgemeiner Begründungskraft ausgeschlossen werden, denn schließ-
lich sind auch säkulare Meinungen hinsichtlich bestimmter Modelle des guten Lebens
nicht verallgemeinerbar. Die christliche Tradition muss in Deutschland und anderen
christlich geprägten Ländern also eine Rolle spielen dürfen, ebenso wie andere religiöse
Überzeugungen und der säkulare Menschenrechtsschutz durch die Verfassung.
Zu berücksichtigen ist in der Argumentation weiterhin, dass die Zahl derjenigen
Sterbewilligen, für welche die passive und indirekte Euthanasie sowie die Beihilfe zum
3. Gentechnik beim Menschen 391

Suizid nicht zu erlangen ist und eine palliativmedizinische Behandlung, deren Angebote
ausgebaut werden müssen, nicht zur Verfügung steht, nicht sehr groß sein wird. Eine
Gesellschaft, in der die aktive Tötung außer in Notwehr prinzipiell ausgeschlossen ist
und die eine Wertschätzung aller Älteren und Sterbenden ausdrückt, indem sie diese vor
Druck und möglichen Beeinflussungen schützt, erscheint mir bei der Abwägung des Für
und Wider letztlich humaner als eine Gesellschaft, in der die Sterbehilfe eine allgegen-
wärtige und vermutlich von vielen als bedrohlich empfundene Wirklichkeit darstellt.
Die Einschränkung der aktiven Sterbehilfe auf Ärzte kann diese Gefahr abschwächen,
nicht aber wirklich beseitigen.

3. Gentechnik beim Menschen

Was für Konsequenzen ergeben sich aus der hier entfalteten Ethik des normativen In-
dividualismus für die Beurteilung der Gentechnik beim Menschen? Hält man€ – wie
oben in Kapitel€VI geschehen€ – den Realismus auf einer metaethischen Ebene nicht
für überzeugend und verzichtet man deshalb auf ein rein faktisches, gegenüber den
Beteiligten der ethischen Konfliktlage vollkommen externes Fundament€ – seien dies
materiale Werte, ein Sittengesetz usw. –, bleiben, wie wir gesehen haben, nur die Be-
lange bzw. Interessen der Betroffenen als entscheidende normative Eigenschaften für
eine objektivistische Konfliktlösung seitens der Ethik übrig.18 Das bedeutet aber: Damit
jemand überhaupt als ethisch zu berücksichtigendes Wesen anzuerkennen ist, muss er
mindestens eigenständige Strebungen entfalten. Er muss auf diese Weise eine Form der
Selbstbezugnahme entwickelt haben. Ohne eigenständige, selbstbezogene Strebungen,
die der Andere den Handlungen des Akteurs entgegenstellen kann, bricht das in den
ersten sechs Kapiteln skizzierte Modell des normativen Individualismus bzw. des indivi-
dualistisch-objektiven Kohärentismus der Ethik zusammen. Dabei wird „SelbstÂ�bezug“€–
wie sich in den Kapiteln II und XIII gezeigt hat€– nicht eng im Sinne „vernünftiger
Zielgerichtetheit“ verstanden. Das heißt: Die ethische Verpflichtung zur Berücksichti-
gung geht über vernunftfähige Menschen hinaus und schließt auch Embryonen, Tiere,
Pflanzen und Mikroorganismen ein.
Man kann sich das gut verdeutlichen, indem man sich von Menschen gefertigte
Gegenstände vorstellt. Wir würden kaum auf die Idee kommen, einem Automobil ethi-
sche Berücksichtigungswürdigkeit zuzuschreiben. Der Grund liegt darin, dass das AutoÂ�
mobil von uns hergestellt und damit in seiner Funktion vollständig determiniert wurde,
so dass es keine eigenständigen Belange entwickeln kann. Wir hätten die Herstellung
auch unterlassen oder das Automobil anders bauen können. Was wir nicht oder anders
hätten herstellen können, kann keine eigene ethische Verpflichtungskraft gegenüber uns
begründen. Wir können es benutzen wie wir wollen. Wir können es zerstören, wann wir
wollen. Es entfaltet keine eigenÂ�ständigen Strebungen bzw. Belange, die Bedingung für

18 Vgl. zum folgenden Argument: Verf., Klonierung als Manipulation, in: Johann S.€Achâ•›/â•›Gerd Brudermüllerâ•›/â•›
Christa Runtenberg (Hg.), Hello Dolly? Über das Klonen, Frankfurt a.â•›M. 1998, S.€213–219.
392 XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik

eine ethische Einschränkung unseres Handelns durch Andere sind. Der Andere muss
mehr sein und tun als leblose Materie, die nur physikalischen Kräften oder externen
Beeinflussungen unterworfen ist. Eine Maschine verdient keine ethische Berücksichti-
gung, weil sie in strebungsähnlichen Abläufen durch ihren Konstrukteur determiniert
ist. Was in seinen Abläufen von uns Menschen determiniert ist, dem können wir keine
eigenständige Fähigkeit zuerkennen, unsere Handlungen ethisch einzuschränken.
Das Prinzip, dass derjenige, der etwas vollständig oder fast vollständig schafft bzw.
herstellt, auch darüber verfügen kann, spielt in vielen Rechtfertigungen eine Rolle,
zum Beispiel in der Schöpfungstheologie, aber auch in säkularen Ethiken. Man könnte
dagegen geltend machen, dass moderne Computer auch schon einen gewissen Grad
an Selbststeuerung aufweisen, der den Strebungen von Tieren oder gar von Menschen
ähnelt, etwa wenn sie sich selbst programmieren oder wenn sie im Falle eines Strom-
ausfalls ein Notstromaggregat einschalten. Diese Art der Selbststeuerung mag in ihrer
Komplexität noch nicht mit derjenigen von Menschen oder Tieren zu vergleichen sein,
aber Weiterentwicklungen bis hin zum sog. biologischen Computer sind absehbar. Ab
einem gewissen Punkt wird die Grenze zwischen Supercomputern und organischen We-
sen vielleicht nur noch im Hinblick auf die synthetisierten chemischen Elemente und
Moleküle, nicht mehr aber im Hinblick auf die Selbständigkeit des Synthesevorgangs
und die Komplexität der Syntheseprodukte erkennbar bleiben. Dieser Einwand ist ernst
zu nehmen. Aber man denke daran, dass es sich bei der Frage nach der ethischen Be-
rücksichtigungswürdigkeit nicht um eine empirische, sondern um eine normative Frage
handelt. Empirisch-gegenwärtig vorfindbare Eigenschaften spielen eine gewisse Rolle
bei der tatsächlichen Abgrenzung zwischen einzelnen Gruppen von Individuen. Aber
sie können die Normativität der ethischen Rechtfertigung nicht allein bestimmen. Ein
wesentlicher zusätzlicher Gesichtspunkt für die ethische Berücksichtigung Anderer liegt
darin, dass es sich um „Andere“ handelt, das heißt nicht um bloße Instrumente des
Menschen.
Während sich Computer als Maschinen mit ihrer Höherentwicklung der mensch-
lichen Instrumentalisierung möglicherweise allmählich entziehen und vielleicht eines
Tages zu Wesen werden, die ethisch zu berücksichtigen sind, verläuft die biomedizi-
nische Entwicklung umgekehrt: Die Erzeugung des Menschen wird zunehmend tech-
nisch gesteuert und der Mensch auf diese Weise bestimmt. Dies geschieht in einem
Schritt-für-Schritt-Prozess. Während bei der Insemination gegenüber dem natürlichen
Zeugungsakt nur der Gebrauch einer Spritze hinzutritt, führt die In-vitro-Fertilisation
schon zu einer fast vollständigen Technisierung der Befruchtung. Die Entstehung des
zukünftigen Menschen wird auf diese Weise eindeutig instrumentalisiert. Aber diese
Instrumentalisierung beschränkt sich noch auf den Zeugungsakt. Solange nicht in die
Erbsubstanz eingegriffen wird, kann sich das Kind wie ein normaler Embryo entwickeln
und damit eigenständige Strebungen entfalten.
Einen Schritt weiter gehen würden dann aber Eingriffe in die Keimbahn des Men-
schen, sei es zum Zwecke der Klonierung oder zur Manipulation einzelner Gene. In
diesem Fall wird die natürliche Basis eigenständiger Strebungen und damit Interessen
verändert. Der Mensch wird zwar noch nicht zum vollständigen Produkt, einer von ihm
3. Gentechnik beim Menschen 393

selbst verfertigten Maschine vergleichbar. Aber er wird doch zumindest zum Teilpro-
dukt. Fraglich ist, ob ein auf diese Weise entstandener Mensch ethisch wie ein sich selbst
entfaltender Mensch mit eigenen, selbstbestimmten Belangen oder wie eine hergestellte
Maschine ohne derartige eigene Belange zu behandeln ist. Die Basis für eigene Belange
und damit die eigene Selbstbestimmung wird jedenfalls tangiert. Dies hat zumindest
eine Gefährdung der gleichberechtigten ethischen Stellung als ethisch zu berücksich-
tigender Anderer zur Folge. Selbst wenn sich nicht leicht angeben lässt, ab welchem
Punkt durch gentechnische Eingriffe die ethische Selbständigkeit des Menschen massiv
untergraben wird, genügt€– abgesehen von dem sehr hohen technischen Risiko einer
solchen Veränderung19€– schon diese Gefährdung der ethischen Stellung des Menschen,
um gentechnische Manipulationen der Keimbahn als ethisch außerordentlich proble-
matisch zu qualifizieren, zumal es bei der Keimbahntherapie ja immer um ein Individu-
um geht, dessen tatsächliche Einwilligung man nicht erlangen kann. In Fällen fehlender
tatsächlicher Einwilligung des Betroffenen gebietet aber der normative Individualismus,
die mangelnde Einwilligung nur unter äußerster Sorgfalt und Vorsicht mit Rekurs auf
ein sicher zu ermittelndes mutmaßliches Interesse des Betroffenen zu ersetzen. Ansons-
ten agiert man hart paternalistisch und bevormundet den Anderen ungerechtfertigt.
Dagegen ließe sich einwenden, dass die Strebungen bzw. Belange des Menschen
zwar auf seiner natürlichen Disposition, das heißt auf seiner Körperlichkeit aufruhen,
aber in ihrer konkreten Ausprägung doch unabhängig davon sind. Man kann etwa an-
nehmen, dass menschliche Interessen stark sozial bedingt sind oder individuell entwi-
ckelt werden. An diesem Punkt der Argumentation gerät man in metaphysische Sphä-
ren, denn zur Beantwortung dieser Frage kommt es darauf an, ob man ein monistisches
oder ein dualistisches Menschenbild vertritt, ob man also Geist und Körper als getrennt
oder nicht getrennt ansieht. Für den Anhänger eines strikten Dualismus von Geist und
Körper€– etwa Descartes€– kann die Manipulation der biologischen Basis des Menschen
keine sehr gravierenden Auswirkungen auf dessen wesentliche Belange haben. Die ge-
netische Veränderung vermag die Stellung des Menschen als moralisches und ethisches
Subjekt nicht zu gefährden. Aber man kann diesen Dualismus auch abschwächen und
Einwirkungen des Körpers auf den Geist annehmen. Für den Anhänger eines naturalis-
tischen Monismus von Geist und Körper wird die Manipulation der biologischen Basis
dagegen in jedem Fall wesentlichen Einfluss auf die Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche
und Ziele des Menschen haben. Allerdings gelangt der naturalistische Monismus trotz-
dem kaum zu einer ethischen Einschränkung gentechnischer Keimbahninterventionen,
denn wenn man die biologische oder gar physikalische Basis des Menschen als allein
entscheidend ansieht, lässt sich die Möglichkeit eines Akteurs, ethischen Einsichten frei
zu folgen, sowieso kaum mehr plausibel machen. Dann kollabiert jede Ethik.
Hier soll von einem gemäßigten Dualismus in der Frage des Verhältnisses von Geist
und Körper ausgegangen werden, das heißt, menschliche Strebungen, Bedürfnisse usw.
werden vom Körper des Menschen abhängig, nicht aber auf diesen reduzierbar angese-

19 Vgl. Jörg Hacker u.â•›a., Biomedizinische Eingriffe am Menschen. Ein Stufenmodell zur ethischen Bewer-
tung von Gen- und Zelltherapie, Berlin 2009, S.€96╛f.
394 XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik

hen. Für einen derart gemäßigten Dualismus spricht, dass weder ein strikter Monismus
noch ein strikter Dualismus bisher wissenschaftlich begründet werden konnte. Dann
wird man aber die alltägliche Selbstwahrnehmung der Menschen als gemäßigt dua-
listisch nicht mit guten Gründen bestreiten können. Das bedeutet: Die menschlichen
Belange sind€– zumindest beim erwachsenen, vernunftbegabten Menschen€– kein di-
rektes und ausschließliches Derivat seiner natürlichen Basis. Aber man kann eine starke
Beeinflussung annehmen. Ein Mensch, der groß ist, hat partiell andere Interessen als
ein Mensch, der klein ist. Ein Mensch, der gesund ist, hat zum Teil andere Belange als
ein Mensch, der krank ist. Das würde bedeuten, dass eine totale Neukonstruktion der
biologischen Basis des Menschen massive Auswirkungen auf seine Stellung als selbstbe-
stimmtes Wesen hätte. Er wäre über die Veränderung seines Körpers in all seinen Inter-
essen von seinem Konstrukteur abhängig. Die Symmetrie der ethischen Grundsituation
würde sich in eine Asymmetrie verwandeln.
Nun soll versucht werden, diesen wesentlichen Gesichtspunkt der Gefahr einer Aus-
schaltung der ethischen Selbstbestimmung des Menschen fruchtbar zu machen, um
einige konkretere ethische Fragen der Gentechnik am Menschen zu beurteilen.20 Dabei
sollte man sich vor Augen führen, dass der Gesichtspunkt der Gefährdung der ethischen
Stellung des Menschen jeweils von einer sonstigen allgemeinen Interessenabwägung zu
trennen ist. Er tritt zu einer derartigen Abwägung hinzu, die selbstverständlich zunächst
positiv ausfallen müsste, um gentechnische Manipulationen überhaupt in Betracht zu
ziehen.

(1) Eine vollständige Neukonstruktion des Menschen durch andere Menschen kann we-
gen der soeben skizzierten Ausschaltung der ethischen Selbstbestimmung des Betrof-
fenen unter keinen Umständen ethisch zulässig sein. Hier kann keine Nutzenabwä-
gung stattfinden und zu einer anderen Antwort führen, denn der Mensch würde durch
eine derartige vollständige Neukonstruktion als Artefakt seiner Stellung als ethisch zu
berücksichtigendes Wesen beraubt. Dies gilt nicht nur gegenüber dem unmittelbaren
Konstrukteur, also dem Arzt oder Biologen, sondern auch gegenüber Dritten. Wie bei
einer Maschine sind Dritte nur dem Konstrukteur oder Eigentümer gegenüber ver-
pflichtet, nicht der Maschine.

(2) Wie sind nun aber Fälle zu beurteilen, in denen in die Keimbahn eingegriffen, der
Mensch aber nicht vollständig neu konstruiert wird, sondern nur einige Gene der Keim-
bahn verändert werden, Fälle also, auf die die Entwicklung der Gentechnik im Moment
zusteuert und deren Entscheidung wir wohl in fernerer Zukunft gegenüberstehen wer-
den? Man denke sich als Beispiel die Manipulation einzelner menschlicher Gene in den
ersten Phasen der Zellteilung zur Verhinderung bestimmter Erbkrankheiten wie der

20 Vgl. zu den Anwendungsmöglichkeiten der Gentechnik: Bundesminister für Forschung und Technologie
(Hg.), Die Erforschung des menschlichen Genoms. Ethische und soziale Aspekte, Frankfurt a.â•›M. 1991;
Michael J. Reissâ•›/â•›Roger Straughan, Improving Nature? The Science and Ethics of Genetic Engineering,
Cambridge 1996; Ernst-Ludwig Winnacker, Gentechnik. Eingriffe am Menschen. Ein Eskalationsmodell
zur ethischen Bewertung, München 1997; Jörg Hacker u.â•›a., Biomedizinische Eingriffe am Menschen.
3. Gentechnik beim Menschen 395

Sichelzellenanämie oder der Mucoviszidose. Soll man auch hier wie beim ersten Fall
der vollständigen Neukonstruktion des Menschen jegliche Nutzenabwägung mit dem
Verweis auf die Untergrabung seiner ethischen Stellung als selbstbestimmtes Wesen zu-
rückweisen? Auf diese Frage erscheint eine klare Antwort schwierig.21 Man sollte sich die
Konfliktsituation deutlich vor Augen führen:
Normalerweise wäre eine Zustimmung des Betroffenen zum Eingriff in seine Sphäre
nötig. Da diese Zustimmung durch eine Zygote aber nicht gegeben werden kann, wird
man eine schwach paternalistische Interessenabwägung vornehmen müssen. Man wird
also fragen müssen, ob es im mutmaßlichen Interesse des zukünftigen Menschen liegen
kann, dass ein bestimmtes Gen verändert und auf diese Weise eine Krankheit beseitigt
wird, so wie sich der Arzt fragen muss, ob er im Interesse eines Patienten handelt, wenn
er eine Therapie beginnt.
Schon im Hinblick auf die Nutzenabwägung der genetischen Keimbahntherapie,
die Ausgangspunkt der paternalistischen Entscheidung sein muss, wird man zunächst
mit großen Unsicherheiten rechnen müssen. Man wird nur sehr schwer vorhersagen
können, welche Manipulation an welchen Genen welche Krankheit mit welcher Wahr-
scheinlichkeit verhindern kann, zumal Merkmale des Phänotyps sich regelmäßig auf
verschiedene Gene stützen, deren Zusammenspiel noch nicht bekannt ist. Es wird also
vermutlich noch sehr lange dauern, bis eine einfache Nutzenabwägung zu einem positi-
ven Resultat für einen derartigen Eingriff führen wird, bis also mit großer Wahrschein-
lichkeit ein positives Resultat des Eingriffs vorausgesehen und herbeigeführt werden
kann, sofern das überhaupt jemals gelingt.22
Aber selbst wenn diese einfache Nutzenabwägung mit positivem Resultat eines Ta-
ges möglich sein sollte, ist zu bedenken, dass jeder, der die Keimbahn manipuliert,
paternalistisch handelt. Wird im Rahmen eines derartigen paternalistischen Handelns
ohne Zustimmung des Betroffenen in natürliche, nicht krisenhafte Abläufe eingegrif-
fen, so genügt ein einfaches Überwiegen in der Nutzenabwägung nicht, da ja zusätzlich
der Aspekt der Autonomieüberschreitung zu berücksichtigen ist. Will jemand Gegen-
stände eines Anderen ohne dessen Einverständnis retten, so muss dessen mutmaßliches
Interesse sehr groß sein, damit das paternalistische Handeln ethisch gerechtÂ�Â�Â�fertigt ist.
Im Falle eines paternalistischen Eingreifens muss man also viel mehr als bloß eine po-
sitive Nutzenabwägung fordern. Man muss verlangen, dass die Nutzenabwägung unter
Berücksichtigung des Risikos des Eingriffs stark positiv ausfällt und der Betroffene mit

21 Ablehnend: Walther Ch. Zimmerli, Dürfen wir, was wir können? Zum Verhältnis von Recht und Moral in
der Gentechnologie, in: Stephan Wehowsky, Schöpfer Mensch? Gen-Technik, Verantwortung und unsere
Zukunft, Gütersloh 1985, S.€42–68, S.€53â•›ff.; Günter Altner, Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Dargestellt an Medizinethik, Gentechnologie und Behinderung, in: Eduard Zwierlein (Hg.), Gen-Ethik.
Zur ethischen Herausforderung der Humangenetik, Idstein 1993, S.€ 95–104, S.€ 99, mit Verweis auf
die Irreversibilität des Eingriffs und die Unverfügbarkeit des Menschen; Günter Hirschâ•›/â•›Wolfram Eber-
bach, Auf dem Weg zum künstlichen Leben: Retortenkinder, Leihmütter, programmierte Gene, Basel
1987, S.€241â•›ff. Vorsichtig befürwortend: Kurt Bayertz, GenEthik, Reinbek 1987, S.€290â•›ff.; Michael J.
Reissâ•›/â•›Roger Straughan, Improving Nature? The Science and Ethics of Genetic Engineering, Cambridge
1996, S.€223.
22 Jörg Hacker u.â•›a., Biomedizinische Eingriffe am Menschen, S.€96â•›f.
396 XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik

größter Wahrscheinlichkeit zustimmen würde, wenn er selbst entscheiden könnte. Dies


wird man wohl nur bei schweren Erbkrankheiten in Erwägung ziehen können.
Es wurde zu Recht betont, dass ein Eingriff in die Keimbahn den Betroffenen nicht
in seinen Möglichkeiten einschränken und quasi auf ein bestimmtes Gleis festlegen
darf. Erfolgt keine derartige Einschränkung und fällt die Nutzenabwägung positiv aus,
so sollen nach der Auffassung mancher keine weiteren Hindernisse für den Eingriff
bestehen.23 Damit wird aber die spezifische Struktur eines paternalistischen Eingriffs in
natürliche Abläufe übersehen. Wegen der notwendigen Autonomieverletzung wird man
vielmehr ein stark positives Resultat in der Interessenabwägung fordern müssen.
Aber selbst wenn sich in dieser Frage der paternalistischen Interessenabwägung die
Waage massiv zur Seite des Eingriffs gesenkt haben sollte, müsste zusätzlich das Problem
der Paralyse der ethischen Stellung des zukünftigen Menschen berücksichtigt werden.24
Und es ist natürlich wiederum eine Frage, wie stark dies zu geschehen hat. Man wird
hier das doppelte ethische Problem im Auge haben müssen: Der Eingriff geschieht zum
einen ohne Zustimmung des Betroffenen, also paternalistisch, und untergräbt zum an-
deren gleichzeitig dessen Stellung als ethisch zu berücksichtigendes, also zustimmungsfä-
higes Wesen. Diese doppelte ethische Problematik des Eingriffs scheint angesichts wohl
kaum zu vermeidender Risiken eher gegen seine ethische Zulässigkeit zu sprechen.

(3) Wo aber nicht einmal ein therapeutischer Zweck der Heilung von schweren Krank-
heiten verfolgt wird, sondern nur eine Verbesserung der genetischen Ausstattung, verdich-
tet sich diese Argumentation meines Erachtens zur relativ gewissen Überzeugung: Der
bloße Eingriff zur nichttherapeutischen Verbesserung des zukünftigen Menschen, also
zur Steigerung seiner Intelligenz, Körpergröße, Schönheit, Arbeitskraft usw. ist ethisch
problematisch.25 Die paternalistische Autonomieverletzung und die Aushöhlung der
ethischen Selbstbestimmung kann kaum aufgewogen werden, zumal die gesellschaftli-
chen Auswirkungen derartiger Maßnahmen der Menschenzüchtung unübersehbar sind.
Die Spirale der Leistungsgesellschaft würde sich immer schneller drehen und irgend-
wann in einen Antihumanismus umschlagen. Jeder, der in einer derart menschenzüch-
tenden Gesellschaft auf verbessernde Maßnahmen verzichtete, würde der Abwertung
und Ausgrenzung anheimfallen. Man würde vermutlich nurmehr normierten Super-
menschen begegnen. Die Vielfalt menschlicher Völker und Kulturen würde verarmen.

23 Vgl. Kurt Bayertz, GenEthik, S.€289╛f.


24 Diesen Aspekt unterschätzt Bayertz in seiner positiven Einschätzung. Walther Ch. Zimmerli, Dürfen wir,
was wir können?, S.€54, führt hier im Wege eines Gedankenexperiments den Widerspruch an, der sich
ergäbe, wenn die Veränderung eines Gens möglich wäre, das für die Moralität des Menschen verantwort-
lich ist. Aber dieser Gedanke könnte allenfalls die Veränderung dieses einen Gens verbieten, nicht die
Veränderung anderer Gene.
25 Ebenso: Colin Tudge, Wir Herren der Schöpfung. Gen-Technik und Gen-Ethik, Heidelberg 1994,
S.€ 436â•›ff.; Jörg Hacker u.â•›a., Biomedizinische Eingriffe am Menschen, S.╯107â•›ff.; Bayertz, GenEthik,
S.€290, lehnt nur prädeterminierende Züchtung ab, die den Betroffenen zum Beispiel einem guten Fuß-
ballspieler oder einer bekannten Schauspielerin nachformen soll, nicht aber die Verbesserung allgemeiner
Merkmale des Betroffenen, wie Krankheitsresistenz, Ausdauer, Erinnerungsvermögen oder Kommunika-
tionsfähigkeit.
3. Gentechnik beim Menschen 397

Abweichungen von der biologischen Norm, die häufig zu außerordentlichen wissen-


schaftlichen, künstlerischen und sportlichen Leistungen beigetragen haben, gäbe es
nicht mehr.
Im Übrigen würde sich in einer derartigen Gesellschaft der Menschenzüchtung die
gegenwärtig immer weiter zunehmende Tendenz zur Höherbewertung des Körpers ge-
genüber dem Geist bzw. der Seele€– man denke an die Inflationierung von Schönheits-
operationen, „Body-Shops“ und Fitnessmagazinen€– weiter verstärken. Denn körperli-
che Merkmale würden sich wahrscheinlich leichter züchterisch beeinflussen lassen als
Intelligenz und Persönlichkeit, die stark von der individuellen Entwicklung abhängen,
also nicht in vergleichbarem Maße genetisch bedingt sind. Man braucht keine prophe-
tische Gabe, um sich eine Gesellschaft von gezüchteten Menschen als Herde flacher,
dimensionsloser Normwesen vorzustellen.

(4) Als ähnlich zweifelhaft wird man das Klonen von Menschen einschätzen müssen.26
Der klonierte Mensch wird Opfer einer totalen Instrumentalisierung. Wesentliche Inte-
ressen des Klons, als Klon gezeugt zu werden, wie sie vielleicht im Falle der Therapie von
schweren Erbkrankheiten bestehen mögen, lassen sich nicht erkennen. Interessen der
Wissenschaft oder schon lebender Menschen werden den Verlust an ethischer Selbst-
bestimmung des Klons kaum aufwiegen können. Will ein Mensch ein Abbild seiner
selbst oder eines verlorenen anderen€– etwa eines gestorbenen Kindes€– erzeugen, so
kann dieses relativ periphere Interesse keine Abwertung des ethischen Status des neuen
Menschen rechtfertigen. Das im Embryonenschutzgesetz statuierte Verbot der Klonie-
rung darf also in keinem Fall aufgehoben werden.27 Dies gilt in jedem Fall für das sog.
reproduktive Klonen. Beim sog. therapeutischen Klonen muss man zugestehen, dass
einige Gegenargumente entfallen, weil sich der klonierte Embryo nicht zum geborenen
Menschen entwickelt, er also kein Leben als von Anderen erzeugtes Wesen führen muss.
Erkennt man aber€– als Folge der Argumentation in Kapitel€XIII€– bereits den Embryo
mit seinen Strebungen grundsätzlich als ethisch zu berücksichtigenden Anderen an, so
bleibt das zentrale Gegenargument bestehen. Er wird Opfer einer totalen Instrumenta-
lisierung, die abzulehnen ist. Dieser Instrumentalisierungscharakter ist gegenüber dem
reproduktiv klonierten Menschen sogar noch verstärkt, weil dieser wenigstens um seines
eigenständigen Lebens willen, das dann auch Belange impliziert, erzeugt wird, während
der sog. therapeutische Klon ausschließlich als eine Art ErsatzteilÂ�lager zum Zweck der
Vernichtung hergestellt wird. Die Situation ähnelt dem oben in Kapitel€III, 9a) erwähn-
ten Fall der Organtransplantation zur Rettung fünf anderer Patienten.

(5) Dagegen sind gentherapeutische Maßnahmen, die nicht in die Keimbahn des Men-
schen eingreifen, im Hinblick auf die Gefährdung seiner Selbstbestimmung als ethisch zu

26 Vgl. Verf., Klonierung als Manipulation; Jörg Hacker u.â•›a., Biomedizinische Eingriffe am Menschen,
S.€109╛ff.
27 Vgl. § 6 Embryonenschutzgesetz.
398 XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik

berücksichtigendes Wesen weniger problematisch.28 Derartige Maßnahmen verändern


nicht die gesamte genetische Basis, sondern nur einzelne Körperzellen, so dass der we-
sentliche Teil der Strebungen der Betroffenen im Normalfall ganz unbeeinflusst bleiben
dürfte. Im Fall eines erwachsenen Menschen wird auch die zukünftige Entwicklung
nicht wesentlich determiniert. Die zentralen Strebungen haben sich schon entfaltet.
Diese Unbedenklichkeit gilt besonders dann, wenn der Betroffene informiert wurde
und in Ruhe entscheiden konnte. In diesem Fall sprechen keine nennenswerten Ein-
schränkungen der ethischen Stellung des Betroffenen als selbstbestimmtes Wesen gegen
den Eingriff. Es kommt also auf eine positive Risiko-Nutzen-Bilanz an.

(6) Bereits praktiziert wird in einigen Ländern die Präimplantationsdiagnostik, also die
Untersuchung des zum Zweck der In-vitro-Fertilisation im Reagenzglas hergestellten
Embryos nach dem Achtzellenstadium29 auf genetische Defekte. Die Untersuchung
dient dem Ziel einer Auslese vor der Implementation in den Uterus der Frau.30 Die
Präimplantationsdiagnostik stellt gegenüber der In-vitro-Fertilisation einen weiteren
Schritt auf dem Weg zur Instrumentalisierung des Zeugungsvorgangs und des Embryos
dar. Wird eine Zelle des Embryos entnommen und ohne seinen Willen analysiert, so
wird er paternalistisch behandelt. Die Präimplantationsdiagnostik teilt damit das Au-
tonomieproblem aller paternalistischen Maßnahmen. Aber sie weist eine Besonderheit
auf: Die Zellentnahme dient€– zumindest solange keine Therapie möglich ist€– nicht den
Interessen des Embryos, dem die Zelle entnommen wird, sondern nur seiner möglichen
Vernichtung und damit den Interessen Anderer. Denn man kann kaum annehmen, dass
Behinderte generell lieber nicht gelebt hätten. Deshalb können nur sehr schwerwiegen-
de Interessen Anderer, vor allem der Eltern, die Diagnostik und den anschließenden
Verzicht auf die Implementation des Embryos in den Uterus der Frau rechtfertigen.
Dabei hängen die Interessen der Eltern nicht zuletzt bis zu einem gewissen Grade davon
ab, wie Behinderte in einer Gesellschaft behandelt werden.
Zu bedenken ist auch, dass man mit einem gänzlichen Verbot der Präimplantations-
diagnostik in einen Wertungswiderspruch geriete,31 wenn man die Abtreibung aus eu-
genischen Gründen erlaubte. Der Embryo wäre zu implantieren, dürfte dann aber abge-
trieben werden. Der Diskussionsentwurf zu einer RichtÂ�linie der Bundesärztekammer,32
welche die Präimplantationsdiagnostik nur bei Eltern erlaubt, „für deren Nachkommen
ein hohes Risiko für eine bekannte und schwerwiegende, genetisch bedingte Erkran-

28 Vgl. auch Jörg Hacker u.â•›a., Biomedizinische Eingriffe am Menschen, S.€63â•›ff.


29 Nach diesem Stadium sollen die Zellen des Embryos nicht mehr totipotent sein.
30 Vgl. Peter Caesar (Hg.), Präimplantationsdiagnostik. Thesen zu den medizinischen, rechtlichen und ethi-
schen Problemstellungen. Bericht der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz vom 20. Juni
1999, Mainz 1999; Hartmut Kress, Personwürde am Lebensbeginn: Gegenwärtige Problemstellungen im
Umgang mit Embryonen, Zeitschrift für Evangelische Ethik 43 (1999), S.€36–53, S.€43; Regine Kollek,
Präimplantationsdiagnostik, Embryonenselektion, weibliche Autonomie und Recht, Tübingen 2000.
31 Dies betont auch Hartmut Kress, Personwürde am Lebensbeginn, S.€43â•›ff.
32 Vgl. http:â•›//www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.7.45.3274.3277 (Zugriff: 11.10.2009).
3. Gentechnik beim Menschen 399

kung besteht“,33 erscheint deshalb gerade noch vertretbar, sofern man „schwerwiegend“
sehr eng versteht. Nur schwerste Erbkrankheiten kommen als Rechtfertigung der Prä-
implantationsdiagnostik in Frage. Sie sollten in der Richtlinie beispielhaft genannt wer-
den, damit der Begriff „schwerwiegend“ näher bestimmt wird.

(7) Die Entnahme von Stammzellen aus Embryonen, die nicht ihrem eigenen Nutzen
dient, sondern dem Nutzen der Wissenschaft, das heißt Anderen, wird man dagegen
als nicht vertretbar ansehen können, da hier die Konfliktlage einer Schwangerschaft,
die den Interessen der Eltern ein großes Gewicht verleiht, nicht besteht. Akzeptabel
erscheint allenfalls die Entnahme bei Embryonen, die nicht zu diesem Zweck erzeugt
wurden und sowieso der Vernichtung anheimfallen würden, wobei man allerdings zuge-
stehen muss, dass die Haltung zu diesen Fragen stark von der Bewertung der ethischen
Stellung des Embryos abhängt, die näher zu diskutieren wäre.34

Zum Abschluss sei ein Gesichtspunkt erwähnt, der alle gentechnischen Eingriffe betrifft:
Die neuen Techniken zur Veränderung des Erbguts sind nicht nur normativ-ethisch,
also im engeren Sinn einer Ethik des normativen Individualismus problematisch, son-
dern auch aus der Perspektive eines guten bzw. glücklichen Lebens der Individuen, also
aus der Perspektive eines normativen Individualismus im weiteren Sinn, denn sie führen
nicht nur zu einer Manipulation und Instrumentalisierung des Menschen als Objekt
bzw. Anderer. Sie verändern auch den manipulierenden und instrumentalisierenden
Akteur als Subjekt. Durch das zunehmende Manipulieren und Instrumentalisieren wer-
den wir immer mehr zu Manipulateuren und Instrumentalisierern. Diese Tendenz ist
allumfassend. Sie beherrscht alle Lebensbereiche. Man denke etwa an die Veränderung
der natürlichen Mitwelt, der Nahrungsmittel, der natürlichen Lebensgewohnheiten
(zum Beispiel des Aufstehens und Zubettgehens). Man denke an die Verspätung der
Fortpflanzung, die Einebnung lokaler kultureller Besonderheiten durch die Industria-
lisierung und Globalisierung, die Technisierung der Arbeit und der Fortbewegung, die
Schönheitschirurgie, das sog. „human enhancement“ usw.
Man wird sich unablässig fragen müssen, ob diese zunehmende Selbstveränderung
des Menschen durch Instrumentalisierung und Manipulation der Welt seinem Glück
und seiner Lebenszufriedenheit dient. Ab einem gewissen Punkt wird der Grenznutzen

33 Ebd. unter der Rubrik: Indikationsgrundlage. Der Terminus „hohes Risiko“ ist aber viel zu vage. Die
Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz hat eine ähnliche Position wie die Bundesärztekam-
mer eingenommen. Vgl. Peter Caesar, Präimplantationsdiagnostik, S.€ 19, 77. Allerdings ist hier die
Eingrenzung erheblich präziser, S.€78: „Die PGD ist nur dann ethisch zu vertreten, wenn nach einer
kompetenten molekulargenetischen Diagnostik bei einem ‚Hochrisikopaar‘ die Wahrscheinlichkeit der
Weitergabe einer unheilbaren schweren genetischen Krankheit festgestellt wird. Unter einem ‚Hochri-
sikopaar‘ versteht man Paare, die meist schon ein von einer genetischen Erkrankung betroffenes Kind
bekommen haben, Träger einer bestimmten Mutation sind und rechnerisch ein ‚Wiederholungsrisiko‘
für jedes zukünftige gemeinsame Kind je Erbgang von 25% bzw. 50% tragen. Die Zulässigkeit der PGD
muß sich nach der Schwere der Krankheit richten, die durch den Verzicht auf Implantation aufgrund von
PGD ausgeschlossen werden soll.“
34 Vgl. zu einem ersten Versuch: Verf., Gibt es Argumente für ein Lebensrecht des Nasciturus?, in: Archiv
für Rechtsâ•‚ und Sozialphilosophie (ARSP) 76 (1990), S.€69â•‚82.
400 XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik

der Manipulation und Instrumentalisierung nur noch marginal sein, während die Prob-
leme der Selbstveränderung sich akkumulieren. An diesem Punkt erscheint ein Verzicht
auf weitere Manipulationen geboten. Wann dieser Punkt erreicht sein wird, lässt sich
nur schwer vorhersagen. Aber die Aufmerksamkeit der Menschen sollte geschärft sein,
damit jede politische Gemeinschaft für sich entscheiden kann, wann und wie sie der
immer weiter zunehmenden Manipulation und Instrumentalisierung des Menschen
entgegentritt, welche der grundlegenden Überzeugung einer Ethik des normativen In-
dividualismus widerspricht.
Danksagung

Für außerordentlich wertvolle Hilfe beim Verfassen dieses Buches danke ich einigen
Freunden und Mitarbeitern ganz herzlich, unter anderen Tobias Fischer-Trageser,
Â�Johann-Friedrich Fleisch, Holger Gutschmidt, Lorenz Kähler, Georgios Â�Karageorgoudis,
Anna Lutz-Bachmann, Otto Neumeier, Sebastian Rose, Ruth Sandforth, Astrid Strack,
Friederike Wapler, Regina Wenninger und Sebastian Zapf.
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Index

Abhängigkeit des Belangs von der Anspruch 267


�Gemeinschaft 210 Anspruch auf Letztentscheidung 11
Ablenkung der Lawine 120 Anspruch auf Rechtfertigung 12, 13
Ablenkung der Straßenbahn 118, 127 Anspruchsrecht 269
Abschuss des Verkehrsflugzeugs 126 Antigone 337
Absicht 65, 91, 93, 114, 139 Anzahl 129
Absichten des Handelnden 116 Äquivalenzthese von Tun und
absoluter ontologischer Holismus 48 �Unterlassen 147
absoluter ontologischer Kollektivismus Arrows Unmöglichkeitstheorem 158
48 Arten 342, 343, 344, 346, 347
absoluter ontologischer Nihilismus 48 Arzt 381
absoluter Vorrang der Belange der ärztliche Sterbebegleitung 385
�Individualzone vor solchen der Arzt-Patienten-Beziehung 381, 382, 384
�Relativzone 239 asymmetrisch relationale Handlungen 188
Abwägung 130, 150, 170, 226, 326, Aufenthaltsfreiheit 220
328 aufgeklärte Zustimmung 381, 386
Abwägung divergierender Belange 165 Auflösung von Kollektiven 41
Abwägungskriterium 193 Aufopferungsprinzip 168, 205, 229
Abwägung zwischen der Bewertung Ausgangszustand 230, 233
der einzelnen Teile der Handlung Außenverhältnis 369
im weiteren Sinne 106 äußere Körperbewegung 136
Achtzellenstadium 398 Autonomie 30, 31, 43, 44, 50, 74, 79,
Adäquatheitsbedingungen 51 86, 298, 299, 304, 395, 396
Adressaten 272 Autonomieverletzung 396
aktive Euthanasie 388 axiologische Qualifikationen 260
aktive Sterbehilfe 387, 390
Aktkonsequentialismus 104, 198 Balanceprinzip 238
aktueller Wille 312, 324 Basishandlungen 136
Alkoholgenuss 317 Bedeutung der Anzahl geretteter
allgemeine Güter 190 Â�Personen 128
allgemeine Risikoerhöhung 125 bedingter Vorsatz 139
Allgemeinverbindlichkeit 12 Bedingung der Interrelationalität zu
Allprinzip 23, 46, 160, 170 anderen normativ relevanten Wesen
analytisch-synthetisch 16 265
andergerichtete Interessen 73 Bedingungen 90, 93, 95, 100
Anderinteressen 68 Bedingungen des Handelns 91
Anerkennung 81 Bedürfnisse 18, 50, 54, 56, 57, 58, 59,
Angemessenheit 111 62, 63, 65, 66, 67, 83, 88, 89, 278,
Angewandte Ethik 7, 381 338
420 Index

Begründung von Wünschen 254 Diktator 367


Begünstigter 273, 277 Dilemmata 319
Behandlungsabbruch 385 direkte Demokratie 367, 368
Behandlungsverzicht 385 direkte Instrumentalisierung 121, 334
Beihilfe 387 direkter Vorsatz 139
Beihilfe zum Suizid 388, 390 Disjunktion 262
Beitrag 231, 234 Diskursethik 15
Beitragsgerechtigkeit 360, 361, 372, 374 Diskursprinzip 168, 169, 171
Beitragsgleichheit 375 distributive Gerechtigkeit 372, 374
Beitragsprinzip 208 disziplinärer Rationalismus 14
Bekanntschaft 287, 289 Divergenz der Belange zweier moralisch
Belange 18, 56, 67, 89, 130, 151, 154, relevanter Individuen bezüglich einer
165, 168, 210, 239, 278, 338, 340 Handlung 168
Belange der Relativzone 241 Doktrin vom doppelten Effekt 107, 108,
Belasteter 273, 277 110, 111, 112, 113, 115, 117
Berechtigter 273 do ut des 375
Bereichsethiken 7 Dreipersonenfälle 325
Berufsfreiheit 220 dualistisches Menschenbild 393
Beschreibungen 259 Durchsetzungsmacht 267
Betroffenheit 25, 160, 274
Betroffenheit Anderer 20 Effizienz 375
Betroffenheitsraum 156, 283 Effizienzprinzip 232, 234
Bewertung 8, 260 Egoismus 33, 257
Bewertung der Handlung 105, 107 Eigeninteressen 68
Bewertungsmaßstab der Wichtigkeit 155 Eigentum 328
Bewusstsein 339 Einsichten des guten Lebens (Ethos) 1
Bildung von Versammlungen 220 Einstellungen und Wertungen 7
Biosphäre 342, 343, 345, 346, 347 Einstimmigkeit 231
biozentrisch 339, 341, 343 Einstimmigkeitsprinzip 71, 242
Bluttransfusion 315, 317 Einwilligung 124
Einwilligungsfiktion 56
care ethics 28, 30 Elemente der äußeren Situation 230
Computer 338, 345, 392 Elemente der ethischen Begründung 249
Embryonen 86
Deduktivismus der Abstraktion 14 Embryonenschutzgesetz 397
Demokratie 367, 368 Emotivismus 245, 246
Denk- und Sprachformen 262 empfindungsfähige Lebewesen 339
deontische Logik 262, 271 Entscheidung 83
deontische Qualifikationen 260 Entscheidungsautonomie 389
Deontologie 15 Entscheidungstheorie 7
deontologische Ethik 14, 111, 263 Entscheidungsverfahren 230, 233
deontologisches Viereck 262 Entschuldigungsgründe 355
Desintegration der Persönlichkeit 196 Entwicklung 50
deskriptive Ethik 8, 9, 247 Ergebnis 234
deskriptiver Kollektivismus 32 Ergebnisverteilung 231
Diagnose 381 Erkenntnisobjekt 1, 6
Differenzprinzip 168, 206, 207, 229, 233 Erkenntnissuche 1, 6
Index 421

Erkenntnisziel 8 fünf Elemente bzw. Prinzipien der


Erlaubnis 127, 261 �normativen Ethik 17, 21
Erniedrigung 82 Funktionen und Fähigkeiten 50, 53
Ersetzbarkeit 42
Erziehung 1, 3, 11 Gebot der Gleichbehandlung 224, 227,
Ethik 1, 2, 3, 4, 5, 6, 8, 250, 319, 320 228
Ethik der Erziehung 7 Gebot der Gleichheit 230
Ethik der Konventionen 7 Gebote 10, 261
Ethik der Rechtfertigung der Moral 319 Gebot zur Rettung 127
Ethik der Religion 7 Gefangenendilemma 222
Ethik der Sorge 15, 30 Gefühle 50, 54
Ethik des guten bzw. glücklichen Lebens Gegenstand der Ethik 1, 247, 248
7 Gegenstand moralischer Normen und
ethische Selbstbestimmung 396 ethischer Rechtfertigungen 105
ethisches Grundverhältnis 23, 35, 45, Geiselnehmer 226
328 Gelassenheit 75
ēthos 5 Geltungsbedürfnis 330
éthos 5 gemeinsame Projekte 221, 286
evaluative 8 gemeinsamer Referenzpunkt des
Euthanasie 386, 388, 390 �Konflikts der Belange 153
Evokationismus 245, 246 Gemeinschaft 286, 287, 290, 291, 292,
Existentialismus 336 366, 370, 373
Exklusion 262 Gemeinschaftspflicht 286, 320, 322,
Experten 42 324, 331, 334, 336
Expressivismus 245, 246 Gemeinwohl 377, 378
Externalismus 261 Gemeinwohlorientierung 375
externe Präferenzen 160 Gene 394
genetischer oder faktischer
Fahrlässig 139 Â�Kollektivismus 33
Fairness 375 Gentechnik 391, 394
faktische Einwilligung 50, 55 Genügensprinzip 168, 204, 228, 229,
faktische Repräsentation 367 244
falsches Versprechen 185 Gerechtigkeit 29, 162, 164, 292, 356,
feierliches Versprechen 123 360, 361, 362, 370, 375, 377, 378,
Fluss 344, 345 379
Folgen 108, 143 Gerechtigkeitspol 359
Folgenbewertung 189 Geschädigtsein 50
Folter 85, 100, 355 Geschehenlassen 145
Folterverbot 11 gesellschaftliche Institution 180
formale Pfadabhängigkeit 17 Gestaltungsrecht 270
Freiheit 30, 50, 53, 375 Gesundheit 215, 216
Freiheitsrecht 270 Gewichtigkeit 154
Freistellung 261 gewinnlimitiertes Maximierungsprinzip
fremdschädigende oder verbrecherische 234
Interessen 72, 74 Gewolltsein 114
früherer Wille 324, 383 Gleichbehandlung 47, 202, 224, 227,
Fundament der Ethik 320 228
422 Index

Gleichberücksichtigung 23, 24, 26, 47, Herrschaftsverhältnisse 362


49, 201 Hilfe 375
Gleichheit 47, 175, 201, 203, 230, 358, Hilfsbereitschaft 292, 330
370, 375, 384 Hilfserlaubnis 329, 331
Gleichheit als Beitragsgleichheit der Hilfsgebot 11
Gemeinschaft 375 Hilfspflicht 129, 320, 321, 323, 326,
Gleichheitsprinzip 168, 201, 202, 209, 327, 328, 329, 330, 332, 333, 334,
230, 231, 234, 244 335, 336
Gleichstellung 47, 202 homo noumenon 276
Gleichverteilungsprinzip 206 homo phaenomenon 276
globale Gerechtigkeit 375, 376 Humanismus 23, 30
globale Gemeinschaft 376 humanitäre Intervention 375
Glück 50, 53, 378 Humescher Fundamentalismus 254
Gottesebenbildlichkeit des Menschen
350 Ideal 2
Grenze der Abwägung 326 idealischer Charakter der Ethik 250
Grenze des Körpers 217 Immunitätsrecht 270
Gründe 93, 95, 96, 97 Immunsystem 339
Gründe des Handelns 96 Implementation in den Uterus der Frau
Grundsatz des normativen 398
Â�Individualismus 23, 212 Inanspruchnahme allgemeiner Güter
gut 99, 102, 103, 105, 106, 162 190
gute Gründe 277 incommensurability 151, 152
guter Samariter 294, 296, 297 incomparability 151, 152
guter Wille 102, 176 Indifferenz 294, 305, 319
gutes Leben 1, 3, 378 indirekte Euthanasie 386, 390
indirekte Instrumentalisierung 119, 122,
Handeln für Andere 307 124, 334
Handeln im engen Sinn 91, 92, 93, 135 indirekter Konsequentialismus 104, 200
Handlung im weiten Sinn 90, 91, 93, indirekte Sterbehilfe 110
107, 108 Individualbelange 214
Handlungsabsicht 108 Individualeinkommen 220
Handlungsausführung 40, 93, 95, 177 Individualethik 161
Handlungsbegriff 90 Individualisierung 125
Handlungsinteresse 41 Individualismus 23, 30, 36, 37
Handlungskonsequentialismus 198, 200 individualistische Sozialontologie 48
Handlungskonsistenz 166 individualistisch-objektivistische
Handlungspflichten 323, 326, 327, 332, Â�Kohärenz 252
333 Individualität 30, 44
Handlungstheorie 7 Individualmoral 161
Handlungsutilitarismus 200 Individualprinzip 23, 27, 38, 170
Handlungswille 40, 91, 93, 95, 176 Individualzone 213, 214, 215, 218, 224,
harm principle 241, 311 227, 239, 321, 322, 324, 325, 326,
harter Paternalismus 310 327, 328, 329, 330, 331, 332, 335,
Hedonismus 50, 54, 350 381, 386, 389
Helm- und Gurtpflicht 315, 317, 318 individuelle Überforderung 194
Herabsetzung 82 Individuum 24, 25, 369
Index 423

Ineffektivität 232 175, 276, 349


inhärente Menschenwürde 218 Kategorizität 10, 12
inhärente Würde 350 Kausalität oder Quasikausalität des
innere psychische Veränderung 136 Â�Unterlassens 143
innere Unabhängigkeit 75 Keimbahn des Menschen 392
Insemination 392 Keimbahntherapie 395
In-sich-selbst-Ruhen 75 klassischer Utilitarismus 28
Instrumentalisierung 119, 120, 121, Klonen 392, 397
122, 334, 392, 397 Klugheitsethik 15, 30
Instrumentalisierungsverbot 112, 113 Kognitivismus 245, 246, 253, 254
Instrumentalismus 261 Kohärentismus 246, 251
instrumentelle Gründe 93 Kollektive 25, 39, 89, 311, 369
Intentionalität 83 kollektive Wohlfahrtsfunktion 158
Interessen 18, 33, 40, 50, 56, 67, 69, 72, kollektive Ziele 35
73, 74, 321, 340 Kollektivismus 25, 32, 33, 48
Interessen- oder Begünstigtentheorie 267 komatöse Menschen 339
intergenerationelle Gerechtigkeit 379 Kollektivschuld 354
Internalismus 261 Kommunen 365
internationale Beziehungen 365, 375 Kommunitarismus 35
interne Kohärenz der Belange des Â�Akteurs Kompensationsprinzip 237
166 Konflikt von Unterlassenspflichten 333
interne Konsistenz der Einzelteile der Konkurrenz von Hilfspflichten 333
Handlung des Akteurs 165 Konsequentialismus 14, 99, 103, 104,
Intersubjektivität 273 108, 111, 145, 191, 197, 198, 199,
Intuitionismus 246, 251 200, 263
In-vitro-Fertilisation 392 konsequentialistische Maximierung 328
irrationale Interessen 72, 73 Konsequenzen 15, 90, 92, 93, 95, 99,
irreversibel komatöse Menschen 339 100, 103, 114, 145, 170, 230
iustitia commutativa 362 Konstruktivismus 253
iustitia distributiva 362 kontingente Menschenwürde 218
iustitia generalis 357 Kontravalenz 262
iustitia legalis 362 Kontrollprinzip 237
iustitia universalis 357 Konventionen 1, 3, 11
Kooperation 30
jedem das Seine 375 Körpergrenze 217
jeder soll das Seine tun 375 körperliche Unversehrtheit 215, 216
korrektiv 376
Kaldor-Hicks-Prinzip 168, 205 Korrekturgerechtigkeit 361, 362, 372,
Kannibalismus unter Schiffbrüchigen 374
120 Korrelation von Rechten und Pflichten
Kantianismus 14, 28, 99 269
kardinaler Vergleich der Belange 152 kultisch-religiöse Praxis 11
kardinale Unvergleichbarkeit der Belange Kunst 220
152
kategorisch 8, 10, 20, 273 Lastwagenfall 127
kategorische primäre Normordnung 245 Lawinenfall 120, 334
Kategorischer Imperativ 28, 78, 112, Leben 156, 214, 216, 224
424 Index

Lebensentwurf 61 metaphysische Sphären 393


Lebenserhaltung 214 methodologischer Individualismus 36,
Lebensinteresse 215, 224 37
legale Repräsentation 367 Mikroorganismus 344, 345, 346, 347
legitimatorischer Individualismus 30 Minimalmoral 173
legitime Repräsentation 367 Minimalontologie 48
Leid 50, 54 Missachtung persönlicher Bindungen
Leistungsprinzip 168, 208, 229 195
Letztentscheidung 365 Mitglieder 369
lexikographische Ordnung 207 Mitleid 50, 330
lexikographisches Maximinprinzip 207 Mitleidsethik 15, 30
Leximinprinzip 207 Mittel 91, 93
Liberalismus 30, 31 Mittelsuche 93
libertäre Theorien 34 Mittelwahl 95
libertäre Vertragstheorie 257 Mittel zum Zweck 108
limitiertes Maximinprinzip 234 modaler Status der Zusammenfassung
Losentscheid 130 bzw. Abwägung der Belange 150
Lüge 182 Möglichkeit des Tuns 137
Lügenbeispiel 327 Möglichkeit einer Zusammenfassung der
Lügendetektor 85 Belange 151
lügenhaftes Versprechen 179, 182 Monismus der Theoriewahl 15
Lügenverbot 11 Moral 1, 2, 3, 4, 5, 6, 9, 10, 11, 19,
Lüge zur Rettung eines Verfolgten 112 101, 161, 319
Lust 50, 54 moral agents 49
moralische Konflikte 319
Maschine 338 moralische Objekte 49
Mäßigkeit 292 moralische Pflichten 337
materiale Gleichheit 375 moralisches Gesetz in mir 54, 103
materiale Werte 391 moralische Subjekte 49
Maxime 102, 176 moralisch gut 162, 163
Maximierungsprinzip 15, 168, 171, moralisch richtig 163
191, 192, 194, 196, 204, 207, 209, morality 6
225, 234, 244 moral patients 49
Maximinprinzip 168, 206, 207, 229, Moralphilosophie 7
233, 234 moral(s) 6
Medizin 1, 3 Motivation 87, 257
Medizinethik 7, 15 Motive 87, 95, 96, 97
Meinungsäußerungsfreiheit 220 Mucoviszidose 395
Mehrheitsprinzip 71, 231 mutmaßlicher Wille 312, 324, 383
Menschenbild 393 mutmaßliche subjektive Belange 383
Menschenrechte 375
Menschenwürde 74, 76, 77, 79, 80, 81, Nähebeziehung 326
83, 85, 86, 217, 218, 226, 227 Näheformen 287
Menschenzüchtung 396, 397 Näheverhältnis 328, 329
mentale Eigenschaften 60 Nationen 365
Metaethik 3, 13, 245, 252, 256 Naturalismus 245, 246
Metaphysik 5 Naturalistische Rechtfertigung 26
Index 425

naturalistischer Fehlschluss 22, 212, 340 Objektivität der Konfliktlösung 52


Naturalobligationen 268 Offenheit der Entscheidung 83
Naturgüter 222 Ökosystem 341, 342, 343, 345, 346, 347
Naturrecht 275, 276 ontologische Voraussetzung 48
Naturschutz 376 ordinale Unvergleichbarkeit 152
negative Dimension des Allprinzips 160 Ordnung 158
Nichtbehandlung 385 Organtransplantation 118
nichtkategorische Normen 20 Orientierungswirkung des Rechts 336
Nichtkognitivismus 245, 246
Nichtmitglieder 369 Paradox des Hedonismus 54
Nichtnaturalismus 246 Paretoprinzip 158, 168, 205, 229, 234,
nicht notwendig kategorisch 244
�verpflichtende Normordnungen 8 Partikularismus der Theoriewahl 16
Nichtrealismus 245, 246 passive Euthanasie 386, 390
nichtrealistischer Kognitivismus 251 Paternalismus 307, 310, 312, 313, 317,
Nichtreduktionismus 246 324
nómos 5 paternalistisches Handeln 310
normative Ethik 9, 17, 19, 21, 55, 248 paternalistisches Verhältnis 382
normativer Individualismus 23, 27, 30, pathozentrisch 339, 341
31, 32, 88, 132, 169, 310, 311, 376 Patienten 381, 383
normativer Kollektivismus 25, 27, 310 Pedro-Beispiel 333
normativ-ethisches Grundverhältnis 45 Perfektionismus 191
normativ-inhaltliche Pfadabhängigkeit Permeabilität 374
18 Person 30, 31
Normen 1, 2, 107, 260 persönliches Näheverhältnis 195, 333
Nothilfe 331, 336 Pflanzen 57, 343, 346, 347
Notstand 329 Pflichten 10, 39, 177, 178, 183, 186,
Notwehr 224, 240, 283, 327, 330, 336, 261, 265, 267, 272, 281, 286, 319,
355 320, 352
notwendige (inhärente) Würde 74, 76, Pflichten gegen sich selbst 272, 274,
347, 348 275, 311
notwendig kategorisch verpflichtende Pflichten zur Gleichbehandlung 47
Normordnungen 8 Pflichten zur Gleichstellung 47
Notwendigkeit der Zusammenfassung Pflichtfreiheit 261, 264, 294
der Belange 159 Pflichtwidrigkeit 353, 354, 355
Nutzenbefriedigung 50 Pflicht zur Gleichberücksichtigung
Nutzorganismus 344, 345 bzw. Gleichbeachtung 47
Nutzpflanze 344, 345 Pluralität des Bezugs 101, 113
Nutztier 344, 345 Plus-Summe 207
Politik 1, 3, 11
Objektformel 78 politische Ethik 7, 161, 315, 316, 317, 365
objektive ethische Vernunftlösung 297 politische Gemeinschaft 367, 373
objektive Interpretation der Belange 155 politische Gerechtigkeit 362
objektive Normativität 256 politische Moral 161
objektives Gesetz des Wollens 276 politische Philosophie 28
Objektivismus 245, 254 positives Recht 11
Objektivität 4, 21, 247, 251 Präferenzbegriff 71, 158
426 Index

Präferenzen 28, 50, 56, 69, 70, 72, 160 Rationalismus 14, 246, 251
Präferenzutilitarismus 28, 70 Rationalismus im engeren Sinn 246
Präimplantationsdiagnostik 398 Rauchen 314, 315, 317
Praktische Ethik 7 Realismus 245, 246, 251
praktische Philosophie 7 Recht 1, 3, 11, 101, 265, 316, 319
praktische Tatsachen 1 Rechte 50, 55, 264, 375
präskriptive Ethik 8 Rechte-basierte Ethik 43
Prima-facie-Körpergrenze 217 Rechte im subjektiven Sinn 264
primäre Repräsentation 368 Rechtfertigung 2, 8
primäre Wertungen 2 Rechtfertigung der Einschränkung
Prinzip der fundamentalen Gleichheit der individuellen Belange 211
der Berücksichtigung 23, 24, 46 Rechtfertigung der kategorischen
Prinzip der Generalisierung 175 �Verpflichtung 257
Prinzip der Gleichheit 175 Rechtfertigungsfiktion 50
Prinzip der Gleichheit der Rechtfertigungsgründe 355
Interessenbefriedigung 47 Rechtfertigungsverlangen 41
Prinzip der Individualität 44 rechtliche Pflichten 337
Prinzip der modalen Vollständigkeit 18 Rechtsethik 7, 315, 317, 365
Prinzip der relativen Individual- und Reduktionismus 246
Â�Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängig- Reflexivität 158
keit der Individualbelange 18, 210, Regelkonsequentialismus 104, 198, 199
212, 244 Regeln 1, 2, 107, 260
Prinzip der Relevanz des Ausgangs� rein andergerichtete Interessen 72
zustands 238 Relativismus der Theoriewahl 15
Prinzip der Subsidiarität 376 Relativzone 81, 213, 215, 220, 222,
Prinzip der Universalisierung 175 224, 228, 229, 239, 241, 321, 322,
Prinzip der Urheber- bzw. 323, 324, 327, 328, 329, 330, 331,
Â�Erhalterlegitimität 212 335, 381, 389
Prinzip des Handlungsuniversalismus 18 Religion 1, 3, 11
Prinzip des normativen Individualismus religiöse Rechtfertigung 26
18, 23, 211, 237, 242, 257 Repräsentation 366, 367, 368, 370
Prioritätsprinzip 168, 209 repräsentative Demokratie 367
Privateigentum 220 Respekt 81
Privatsprachenargument 215 Rettung der Höhlenforscher 110
Projekte 61 Rettung der Mutter durch �Entfernung
Proportionalität 111 des im Gebärmutterhals
Proportionalprinzip 236 �feststeckenden Kindes 110
prozedurale Verpflichtungen 25 Rettung einer Schwangeren durch
prozeduralistische Ethik 257 Â�Entfernung der Gebärmutter 109
Prudentialismus 28, 30 Rettungsfolter 226
Psyche 216 Rettungsschiff 129
psychologischer oder sonstiger Egoismus richtig 162, 163
33 Richtigkeit 247, 251, 254
Risikoerhöhung 125
Quasikausalität des Unterlassens 143 Rückholbarkeitsprinzip 237

Radbruchsche Formel 337 Sachbeschädigung 330


Index 427

Sachenrechte 265 Sklaverei 84, 85


satisficing-principle 168 Solidarität 292, 375
Säuglinge 86 soziale Institutionen 189, 191
Schadensprinzip 241 Sozialethik 315, 317
Schädigung 53 Sozialität 232
Schicksalsgemeinschaft 120, 122, 123, Sozialprinzip 235, 236
124, 125, 334 Sozialzone 213, 221, 222, 224, 230,
Schmerzbekämpfung 386 239, 241
Schmerzmittel 387 Staaten 365
Schuld 352, 354, 355 Staatskirche 221
Schuldunfähigkeit 355 Staatsreligion 221
Schwangerschaftsabbruch 217 Stein 338, 344, 345
Seenotfall 334 Sterbehilfe 110, 385, 387, 390
Sein-Sollen-Dichotomie 22 Steuerung des Lastwagens 127
Sektoralprinzip 238 Straßenbahnproblem (runaway-tram
sekundär Betroffene 160 problem/trolley problem) 117, 118,
sekundäre Repräsentation 368 119, 127
Selbstaufgabe 299 Strategische Bombardierung der
Selbstaufopferung 299 �Munitionsfabrik 109
Selbstbestimmtheit 83 Strebungen 18, 50, 56, 57, 62, 63, 65,
Selbstbestimmung 30, 31, 32, 82, 83, 66, 67, 83, 88, 89, 278, 338
220, 384, 385, 397 strikt deontologische Ethik 111
Selbstbestimmungsrecht des Volkes 264 subjektive Normativität 256
Selbstbestimmung über eigene Daten subjektives Recht 55
220 Subjektivismus 30, 31, 245, 246
Selbstbezug 341 Suffizienzprinzip 204
Selbstentfaltung 344 Suizid 218, 315, 387
Selbstentstehung 344 Supererogation 294, 296
Selbsterhaltung 50, 52, 185, 341, 344 Supererogationsschwelle 303
Selbsterniedrigung 279 supererogatorisches Handeln 294, 300,
Selbstgesetzgebung 79, 350 331
Selbsttötung 186, 218, 315, 387 Supraerogation 294
Selbstverletzung 218 Symmetrie 49
Selbstverleugnung 299
Selbstversklavung 279 Tatsachen 247, 249, 258
Selbstverteidigung gegen den Einbrecher Tatsachenbehauptung 250
108 tatsächliche Handlungsausführung 135
Selbstzerstörung 299 Tauschgerechtigkeit 358, 361, 372
Selbstzweckformel 78, 349 Technik 1, 3
Selbstzweckhaftigkeit 79 Technikethik 7
Sichelzellenanämie 395 teleologische Ethik 14
Sicherheit 376 teleologische Natur des Akteurs 185
Sippenschuld 354 Terroristische Bombardierung
Sitte 10 �Unschuldiger 109
Sittengesetz 391 Theorie der Gefühle 7
Skeptizismus 15, 257 Therapie 381
Skeptizismus der Theoriewahl 16 Tiere 58, 343, 346, 347
428 Index

Tod 384 utilitaristisch 344, 350


Tötung auf Verlangen 318, 388
Tötung aus Rache für eine Ehrverletung Verallgemeinerung 179
186 Verallgemeinerungsprinzip 168, 175,
Tötungsverbot 11, 333, 334 182, 186, 189, 191, 209, 244, 327
Transitivität 158 Verallgemeinerungstest 99, 102, 178,
Treibhauseffekt 376 180, 183, 186, 187, 191
Trittbrettfahrer 167 Verantwortlichkeit 370
Tugenden 99, 102, 293 Verantwortung 352, 363
Tugendethik 14, 15, 29, 30, 99 Verantwortung für eine Pflichtwidrigkeit
Tugendpflichten 292 353
Tun 135, 136, 140, 144, 147, 386 Verantwortungsinstanz 363
Tunspflichten 285 Verantwortungsobjekt 363
Verantwortungssubjekt 363
überpflichtgemäßes Handeln 294 Verbesserungsprinzip 236
Überpflichtgemäßheit 296 Verbindung potentiell widerstreitender
Überzeugungen 1, 2, 91, 93, 95, 96 Belange bzw. Interessen 150
Ultraminimalstaat 34 Verbote 10, 113, 261
Umwelt 376 verbrecherische Interessen 72
unabdingbare Rechte 81 Vereinbarungen 285
Unabhängigkeit von irrelevanten Vereinbarungen zulasten Dritter 325
�Alternativen 158 Vereinte Nationen 377
unabwendbares Ereignis 335 Verhältnismäßigkeit 364
Ungleichheit 370 Verletzungsverbot 11
uninformierte Interessen 72 Verleumdungsverbot 11
Universalisierung 172, 175, 276 vernünftige Überzeugung 309
Universalismus 24 Verpflichtung 8, 107, 352
Universum 342 Verpflichtungs- und �Handlungsrelationen
Unmöglichkeitstheorem 158 45
Unterlassen 135, 136, 140, 142, 143, Versammlungen 220
144, 146, 147, 386 Versöhnungsbereitschaft 292
Unterlassen: spezifische Anforderungen Versprechen 123, 179, 182, 221, 285,
141 331
unterlassene Hilfeleistung 135, 183, 321 Verteilung eines lebensrettenden
Unterlassenspflichten 281, 320, 321, �Medikaments 128
322, 323, 324, 325, 326, 327, 332, Verteilungsgerechtigkeit 360, 361
333, 335 Vertragsethik 28
unterpflichtgemäßes Handeln 294, 304 Vertragsgleichheit (do ut des) 375
Unvergleichbarkeit 151 Vertragsprinzip 168, 169, 170, 171,
Unverhältnismäßigkeit 300 173, 209, 243
unvollkommene Pflichten 177, 178, Vertragstheorie 14, 15, 28, 34
183, 268 Vertrauen 327
Urheber 272, 276 Vertreter 11
Ursprung 272, 276 Vertretung 366
Utilexprinzip 168, 207, 229 Verurteilung des Unschuldigen 111
Utilitarismus 14, 15, 28, 70, 160, 171, Verwandtschaftsverhältnis 325, 332
191, 197, 344 volenti non fit iniuria 55
Index 429

vollkommene Pflichten 177, 178, 179, Wohlfahrtsfunktion 71


186, 286 Wohlwollen 292
Vollständigkeit 18, 158 Wünsche 18, 50, 54, 56, 57, 59, 60, 62,
Volltrunkenheit 355 63, 65, 66, 67, 83, 88, 89, 91, 93,
Vorbilder 298 96, 97, 254, 278, 338
Vorsatz 139 Würde 74, 76, 86, 156, 347, 348, 350
Würde des Menschen 74, 76, 77, 79,
Wahl eines Mittels 93 80, 81, 83, 85, 217, 218, 226, 227
Wahlfreiheit 43
Wahrheit 247, 251 zeit- und ungleichheitslimitiertes
weicher Paternalismus 310, 312, 313, �Maximierungsprinzip 234
317, 324 Ziele 18, 54, 56, 57, 60, 61, 62, 63, 65,
Wert des Einzelnen 30 66, 67, 83, 88, 91, 93, 95, 278, 338
Wertobjektivistische Rechtfertigung 26 zufällige (kontingente, externe) Würde
Wertungen 1, 2, 260 74, 347
Wertungs-, Normen-, Regel- und zukünftiger mutmaßlicher Wille 383
Â�Überzeugungsordnungen 2 Zumutbarkeit 321
Wichtigkeit der Belange 154, 155 Zusammenfassung bzw. Abwägung der
Widerspruch des Handlungswillens Belange 133, 150, 151, 159, 165
oder der Handlungsausführung 167 Zuschreibung 365
Widerspruch des positiven Gesetzes Zustimmung 381, 386
zur Gerechtigkeit 337 Zustimmungsfiktion 50, 56
Widerspruch im Denken 177, 178, 182 Zustimmungsprinzip 168, 169, 170,
Widerspruch im Wollen 177, 178, 183, 171, 173, 209, 243
185, 187 Zwangsernährung 84
Widerstand 336 Zweck 93
widerstreitende Belange 151 Zweck-Mittel-Formel 112
Wiedergutmachung 375 Zweiebenenstrategie 193
Wildpflanze 344, 345 Zweistufigkeit des Verallgemeinerungs-
Wildtier 344, 345 tests 178
Wille 50, 69, 102, 176, 312, 323, 324, Zygote 395
383
Willensbegriff 52
Willensbildungsprozess 94
Willens- oder Kontrolltheorie 267
Willensschwäche 314
Willens- und Freiheitstheorie 284
Willens- und Handlungsfreiheit 44
Willkür 50
Win-Win-Situation 207
Wissenschaft 220
wissenschaftliche Ethik 4
Wissen und Wollen des Handelnden 138
Wohl 162
Wohlbefinden 162
Wohlergehen 11, 50, 53, 162
Wohlfahrt 50, 53

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